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Full text of "Einführung in das Studium der altranzösischen Literatur im Anschluss an die Einführung in das Studium der altfranzösischen Sprache"

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U     Karl  Dor<z$scf>     D     D 

Itfranzösisd)«  Elkrafur 


'  PRES2NTED 
IN  MEMORY  OF 
PROFESSOR  H.  L.  HUMFHR2Y3 


SAMMLUNG   KURZEB  LEHKBUCHBR 


DK  IC 


ROMANISCHEN   SPRACHEN 

UND  LITERATUREN 


n 

EINFÜHRUNG  IN  DAS  STUDIUM 

DER 

ALTFRANZÖSISCHEN  LITERATUR 


HALLE  a.  8. 

VERLAG  VON  MAX  NIEMEYEK 

L913 


einfuhkim;  in  das  studium 


DER 


ALTFRANZÖSISCHEN   LITERATUR 


IM  ANSCHLU8S  AN   DIB  EINFUHRUNG 
IN  DAS  STUDIUM  DER  ALTFKANZÖSISCHEN  SPRACH K 


VON 


Dr.  CARL  VORETZSCH 

Ü.  PROFESSOR  DER   ROMANISCHEN   PHILOLOGIE   AN   DER   UNIVERSITÄT  KIEL 


ZWEITE  AUFLAGE 


HALLE  a.  S. 
VERLAG  VON  MAX  NIEMEYER 

1913 


^LlBR4f; 


2     19; 


'ITY  OF  TO«Ö* 


tf> 


besonders  das  der  Übersetzung  in  fremde  Sprachen, 
vorbehalten. 


IS-/ 

V7 


Dem  Andenken 


Gaston  Paris 


Vorwort  zur  ersten  Auflage. 

Der  vorliegende  neue  band  der  'Lehrbücher'  bringt  die 
im  vorwort  zum  ersten  band  des  Unternehmens  versprochene 
literarhistorische  ergänzung.  Seine  anläge  und  austührung 
erklärt  sich  aus  dem  allgemeinen  zweck  der  Sammlung  und 
dem  besonderen  des  bnches:  es  soll  in  erster  linie  dem  Studenten 
nützlich  sein,  welcher  nicht  gelegenheit  hat  eine  Vorlesung  über 
alttranzösische  literaturgeschichte  zu  hören  oder  welcher  seine 
kenntnisse  mit  hilfe  eines  gedruckten  bnches  weiter  bilden 
will.  Nebenher  kann  es  vielleicht  auch  den  angehörigen  der 
nachbarfächer  zur  Orientierung  über  dieses  oder  jenes  gebiet 
der  altfranzösischen  literatur  dienen. 

Der  leitende  gedanke  bei  der  ausführung  war  für  mich 
der.  eine  übersieht  über  die  historische  entstehung  und  ent- 
wicklung  der  altfranzösischen  literatur  im  ganzen  und  ihrer 
hanptgattungen  zu  bieten,  die  wichtigsten  werke  zu  besprechen 
oder  wenigstens  hervorzuheben  und  von  allem  eine  möglichst 
konkrete  Vorstellung  zu  geben.  Dabei  schien  es  mir  vom 
pädagogischen  Standpunkt  aus  richtig,  die  anfange,  als  grund- 
lage  der  weiteren  entwicklung,  möglichst  genau,  die  zeit  der 
hauptblüte  (12.  Jahrhundert)  mit  annähernder  Vollständigkeit, 
die  zeit  der  nachblute  (13.  Jahrhundert)  unter  hervorhebung 
des  wesentlichen  darzustellen.  Für  den  ausgang  der  alt- 
französischen periode  (anfang  des  14.  bis  mitte  des  16.  Jahr- 
hunderts) konnte  ich  mich  mit  einer  kurzen  Übersicht  begnügen, 


vi  li  Vorwort. 

da  dieser  Zeitraum  eine  gesonderte  behandhing  in  einem  anderen 
bände  der  Bammhing  finden  soll,  den  kollege  Heuckenkamp 
in  Greifswald  übernommen  hat. 

Da  Vorlesungen  über  altfranzösische  literaturgesehichte, 
soviel  ich  sehe,  an  den  Universitäten  weit  seltener  sind  als 
solche  über  historische  grammatik,  war  es  angezeigt,  in  diesem 
buch  den  rahmen  etwas  weiter  zu  fassen  als  in  der  sprach- 
lichen eiufliliruDg,  welche  eine  ergänzung  durch  Vorlesungen 
oder  durch  das  Studium  eiuer  ausführlichen  grammatik  fordert. 
Ich  habe  daher  hier  alle  notwendige  bibliographie  gegeben, 
damit  der  lernende  selbst  in  der  läge  sei  sich  weiterzubilden, 
wenn  er  keine  gelegenheit  findet  ein  ausführlicheres  kolleg  über 
altfranzösische  literatur  zu  hören.  Dass  ich  die  beziehungen 
zu  den  fremden  literaturen,  sei  es  dass  sie  der  altfranzösischen 
dichtuug  gebend,  sei  es  dass  sie  ihr  empfangend  gegenüber- 
stehn,  eingehend  berücksichtigt  habe,  wird,  denke  ich,  keinem 
Widerspruch  begegnen,  besonders  wo  es  sieh  soviel  um  die 
beziehungen  zur  deutschen  literatur  handelt.  Wesentlich  schien 
es  mir  ferner  für  den  pädagogischen  zweck  des  buches,  auch 
die  verschiedeneu  ineinungen  über  die  schwierigen  ursprungs- 
fragen  der  einzelnen  gattungen  in  ihrer  entwickluug  darzustellen, 
da  es  mir  nicht  darauf  ankommen  konnte,  den  lernenden  zu 
einem  jitrare  in  verba  magistri  zu  veranlassen,  sondern  viel- 
mehr ihm  eine  möglichst  genaue  kenntnis  der  vorhandenen 
ansichten  zu  geben  und  ihn  zu  selbständigem  urteilen  anzuleiten. 
Um  freilich  den  anfänger  nicht  ganz  steuerlos  auf  dem  wogenden 
meer  der  meinungen  herumirren  zu  lassen,  habe  ich,  wo  es 
angebracht  schien,  das  faeit  aus  den  vorgeführten  meinungen 
zu  ziehen  gesucht,  wobei  es  dem  einzelnen  immer  noch  un- 
benommen ist,  lieber  einer  der  vorher  dargestellten  ansichten 
zu  folgen.  "WO  ich  eine  prägnante  Charakteristik  eines  dicht- 
werkes  oder  einer  gattung  bei  einem  meiner  Vorgänger  gefunden, 
habe   ich    sie,   unter    hinweis   auf  die   quelle,   gerade   in   dies 


Vorwort.  ix 

lehrblich  gern  übernommen,  das  eine  „einführung"  sein  und 
zu  weiteren  Studien  anleiten  will. 

Die  eingeschalteten  texte  endlich  sollen  kein  liors  d'ceuvre 
sein  —  dann  hätte  ich  auf  eine  beliebige  Chrestomathie  ver- 
weisen können  — ,  sondern  sie  bilden  einen  integrierenden 
bestandteil  des  ganzen  plans.  Was  helfen  dem  lernenden  alle 
noch  so  sorgfältigen  definitionen  der  pastourelle  oder  der 
Physiologusgeschichten,  wenn  er  nicht  ein  lebendiges  beispiel 
dafür  vor  äugen  hat?  Ich  habe  selbst  Vorlesungen  über 
literaturgeschichte  (nicht  bloss  über  altfranzösische)  mit  be- 
gleitender Interpretation  öfter  gelesen  und  sehr  praktisch  ge- 
funden. Will  der  leser  also  den  rechten  nutzen  aus  dem  buche 
ziehen,  so  darf  er  an  den  texten  nicht  vorübergeh n,  welche  so- 
zusagen die  illustration  zu  den  theoretischen  ausführungen  bilden. 
Die  texte  selbst  setzen  für  das  Verständnis  nur  elementare  kennt- 
nisse  des  altfranzösischen,  etwa  in  dem  umfang  des  in  der  „ Ein- 
führung in  das  Studium  der  altfranzösischen  Sprache"  gegebenen, 
voraus,  daher  ich  bei  seltenern  erscheinungen  auf  diese  „Ein- 
führung" (AS)  verwiesen  haben.  Was  darüber  hinausgeht,  ist, 
abgesehen  etwa  von  den  einzelheiten  der  formenlehre,  in  den 
anmerkungen  erläutert  oder  im  glossar  gegeben.  Da  auch 
texte  aus  verschiedenen,  nichtfrancischen  mundarten  gegeben 
sind,  kann  das  buch  in  dieser  hinsieht  auch  zur  erweiterung 
der  Sprachkenntnisse  dienen. 

In  allen  diesen  pädagogisch -technischen  fragen  rnuss  das 
buch,  wie  das  vorige,  die  feuerprobe  des  praktischen  gebrauchs 
bestehn  und  zeigen,  ob  es  wirklich  dem  zweck  entspricht,  für 
welchen  der  Verfasser  es  bestimmt  hat. 

Meinen  ergebensten  dank  möchte  ich  auch  an  dieser  stelle 
Herrn  Geh.  Regierungsrat  Professor  Wendelin  Foerster  aus- 
sprechen, welcher  mir  seine  materialien  für  das  hier  wieder- 
gegebene stück  des  Thomaslebens  überlassen  hat,  sowie  meinem 
verehrten    lehrer    und    freund    Professor    Hermann   Suchier, 


x  Vorwort. 

welcher  mir  eine  kollution  des  textes  aus  dem  Trojaroman 
mit  der  im  Halleschen  Beminar  befiodtiohen  kopie  der  Mailänder 
haudselirift  besorgt  hat.  — 

So  viele  hervorragende  gelehrte  auch  die  erforschnng  der 

altfranzösischen  literaturgeschichte  durch  spezialstndien  oder 
durch  umfassende,  auf  Quellenstudien  beruhende  darstellungen 
gefördert  haben,  keinem  namen  begegnet  man  so  oft,  keinem 
gelehrten  verdankt  unsere  Wissenschaft  soviel  wie  dem  allzufrüh 
dahingeschiedenen  Gaston  Paris,  dessen  schüler  im  eigent- 
lichen sinn  des  Wortes  gewesen  zu  sein  ich  mich  nicht  rühmen 
kann,  dessen  forschungen  und  darstellungen  aber  jeder,  welcher 
sich  mit  der  literatur  des  mittelalters  beschäftigt,  zu  tiefstem 
dank  verpflichtet  ist.  Ihm  und  seinem  andenken  sei  dieser 
versuch  einer  pädagogischen  darstellung  der  altfranzösischen 
literaturgeschichte  gewidmet. 

Tübingen,  »Sonntag  den  2.  Juli  1905. 

Der  Verfasser. 


Vorwort  zur  zweiten  Auflage. 


Übersiedlung  in  ein  neues  lehranit  hat  die  fertigstellung 
der  neuen  aufläge  über  gebühr  verzögert.  Mein  erstes  bestreben 
war  darauf  gerichtet,  die  neuen  ergebnisse  der  einzelforschung 
seit  dem  erscheinen  der  ersten  aufläge  zu  prüfen  und  zu  ver- 
werten. Hierbei  kam  es  mir  überall  auf  das  wesentliche  an. 
Man  suche  also  in  der  bibliographie  keine  abhandluugen,  welche 
lediglich   die  grammatik  eines  denkmals  behandeln,  ohne  die 


Vorwort.  xi 

literaturgeschichte  zu  fördern.  Auch  habe  ich  bei  leicbt  zu- 
gänglichen neuausgaben  von  texten  mit  literarhistorischer  ein- 
leitung  die  verweise  auf  ältere  einzelliteratur  gekürzt  oder 
ganz  gestrichen. 

Sodann  habe  ich  mich  bemüht,  durch  gelegentliche 
kürzungen  sowie  durch  stärkere  Verwendung  von  petitdruck 
das  buch  ..handlicher"  zu  machen  (die  proben  aus  den  ältesten 
Sprachdenkmälern  habe  ich  ans  sachlichen  gründen  in  die 
sprachliche  „Einführung"  verwiesen).  Freilich  haben  die  un- 
bedingt nötigen  zusätze  den  auf  jenem  wege  ersparten  räum 
wieder  völlig  ausgefüllt.  Aus  diesem  gründe  habe  ich  für 
diesmal  auch  darauf  verzichtet,  einzelne  teile  (wie  die  ein- 
leitung  oder  die  darstellung  des  vierzehnten  Jahrhunderts)  zu 
erweitern.  Im  übrigen  bitte  ich  meine  kritiker  zu  bedenken, 
dass  das  buch  nicht  blos  literaturgeschichte,  sondern  auch 
Chrestomathie  und  Wörterbuch  gibt  und  dass  es  nicht  billig  ist, 
es  nach  seinem  umfang  mit  reinen  literaturgeschichten  oder 
gar  mit  teildarstellungen  der  altfranzösischen  literaturgeschichte 
zu  vergleichen. 

Alle  berichtigungen  und  anregungen,  die  mir  in  recen- 
sionen  oder  Zuschriften  zugekommen  sind,  habe  ich  gewissen- 
haft geprüft  und,  wo  angängig,  dankbar  verwertet.  Der  herr 
Verleger  hat  mit  einer  wesentlichen  herabsetzung  des  preises 
das  seinige  getan. 

Beim  korrekturleseu  hat  mich  herr  cand.  phil.  Max 
Krüger  in  dankenswerter  weise  unterstützt. 

Kiel,  den  5.  Oktober  1912. 

Der  Verfasser. 


Inhalt. 


Seite 

Einleitung 1—55 

Geschichtliches  (S.  1—  20): 

Urbewohner  2.  —  Kelten  2.  —  Römer  (i.  —  Christentum 
10.   —  Germanen  14. 

Sprache  (S.  20  —  27): 

Wortschatz  20.  —  Sonstige  Einflüsse  23.  —  Mundarten  24. 

Die  ältesten  Sprachdenkmäler  (S.  27 — 2S). 

Gebundene  Rede  (S.  23  —  35): 

Allgemeines  29.  —  Versformen  30.  —  Herkunft  33.  — 
Reim  und  Assonanz  34. 

Literatur  (S.  35  —  44): 

Das  keltische  Element  35.  —  Das  römische  Element  3(5.  — 
Das  Christentum  37.  —  Das  germanische  Element  39.  — 
Sekundäre  Einflüsse:  Antike  40.  —  Bretonische  41.  — 
Provenzalische  43.  —  Angelsächsische  43.  —  Orientalische 
44.  —  Bedeutung  der  altfranzösischen  Literatur  45. 

Hilfsmittel  für  das  Studium  der  altfr.  Literatur  (S.  46— 55). 

A.   Die  Zeit  der  Anfänge. 

(Bis  1100.) 
1.  Kapitel:  Die  ältesten  überlieferten  Literaturdenkmäler    56— 7o 

Allgemeines  56.  —  1.  Eulaliasequenz  58.  —  2.  Passion 
Christi  61.  —   3.  Leodegarlied  63.  —  4.  Alexiusleben  65. 

II.  Kapitel:    Die  ungeschriebene  Literatur: 71 — S6 

Allgemeines  71.  —  1.  Die  Zeugnisse  73.  —  2.  Die  Gattungen 
76.   —   3.  Spuren  und  Reste  von  Märchen  und  Sagen  70. 

III.  Kapitel:    Die  Anfänge  der  Heldendichtung     ....    87— 113 

Allgemeines  (S.  S7—  89). 
1.    Zeugnisse  (S.  89—91). 


xiv  Inhalt. 

Seite 

2.  Reste    oder    Umarbeitungen    Iran  z  ö  Bis  eher 

Epik  (S.  (rj  —  ioii): 
1.  Das  Chlotharlicd  92.  —  2.  Das  Baager  Fragment  95.  — 
3.   Lateinische  Gedichte   und  Chroniken   des    12.  Jahr- 
hunderts 97. 

3.  Das  Rolandslied  (S.  100—110): 

Geschichte  und  Dichtung  100.  —  Zeit  und  Ort  der  Ab- 
fassung 102.  —  Inhalt  und  Form  (mit  Textprobe)  102.  — 
Vorgeschichte  107.  —  Bibliographie  107. 

4.  Theorien  über  die  Entstehung  des  altfran- 

zösischen Epos  (S.  110 — 136): 
Historische  Übersicht  llu.  —  Zusammenfassung  117. 


B.   Die  alten  Gattungen  im  12.  Jahrhundert. 

IV.  Kapitel:    Die   geistliche  und   lehrhafte  Literatur  im 

zwölften  Jahrhundert 119 — 155 

Allgemeines  (S.  119—121). 

1.  Legendarisches  (S.  122— 131): 

1.  Brandans  Seefahrt  122.  —  2.  Gregorius  123.  —  3.  Der 
Dichter  Wace  124.  —  4.  Garniers  Thomasleben  (mit 
Text)  124.  —  5.  Sonstige  Heiligenlegenden  12S.  — 
6.  Marienverehrung  130. 

2.  Biblische  Stoffe  (S.  131—136): 
Prosaübersetxungen  132.  —  Das  Hohelied  133.  —  Andere 
Versbearbeitungen  134. 

3.  Kultusdichtung  und  Predigt  (S.  136—144): 

1.  Stopfepisteln  136.  —  2.  Dramatisches:  Latein.  Stücke 

—  Sponsus  —  Adamsspiel  (mit  Text)  —  Niklasspiel  137. 

—  3.  Reimpredigt  und  religiöse  Unterweisung  143. 

4.  Moral-  und  Lehrdichtung  (S.  141 — 150): 

1.  Tierbücher    (mit    Text)    und    Steinbücher    144.    — 

2.  Moralgedicht  und  Satire  117.  —  3  Sprichwort  und 
Lehrgedicht  149. 

5.  Die  Fabel  (S.  150  —  155): 

Allgemeines  150.   —   Marie  de  France  (mit  Text)  153. 

V.  Kapitel:  Die  einheimische  Liederdichtung  im  zwölften 

Jahrhundert 156—183 

Allgemeines  (S.  156). 

1.  Die  Romanzen  (S.  158—161,  mit  Text). 

2.  Tanz-  und  Liebeslieder  (S.  161—168): 
Allgemeines  L61.  —  Refrains  162.  —  Rotroueuge  164.  — 
Reverdie  164.  —  Lieder  der  mal  mariee  (mit  Text)  165. 


Inhalt.  xv 

Seite 

3.  Die  Pastourelle  (8.  168  —  171,  mit  Text). 

4.  Spottlied  und  St  reit  gedieht  (S.  171—173): 
Allgemeines  171.  —  Estrabot  172.  —  Serventoifl  172.  — 
Debat  172. 

'.   Kreuzzugslied  (S.  173). 

6.    Ursprungsfragen  (S.  175  —  183): 

Übersicht  über  die.  Theorien  175.  —  Zusammenfassung 

17'.). 

VI.  Kapitel:  Das  Heldenepos  in  seiner  Blütezeit  ....  184—253 

Allgemeines  (S.  1S4). 

1.  Vortrag  und  Technik  des  Epos  (S.  IST— 192). 

2.  Die  ältesten  bekannten  Epen  (S.  192  —  205): 

1.  Rolandslied  193.  —  2.  Isembart  und  Gormont  193.  — 
3.  Archamp  (Chancon  de  Guillelme)  196.  —  4.  Karls- 
reise 200.  —  5.  Krünungsepos  202.  —  6.  Rainouart- 
lied  204. 

3.  Merowingerepos  (S.  206  — 207): 
Floovent  206. 

4.  Epen  auf  Karl  Martell  (S.  207  — 213): 

Mainet  208.  —  Haimonskinder  209.  —  Girart  von  Rous- 
sillon  211. 

5.  Epen  auf  Karl  den  Grossen  (S.  213  —  219): 
Fierabras   und   Destruction  de  Rome  214.    —    Aspre- 
mont  216.  —  Saisnes  217.  —  Aiquiu  218. 

6.  Ogier  der  Däne  (mit  Text,  S.  219—226). 

7.  Wilhelmsepen  (S.  226  — 237): 

Allgemeine  Fragen  226.  —  Prise  d'Orange  und  Charroi 
de  Nimes  230.  —  Aliscans  und  Vivienepen  231.  — 
Moniage  Guillaume  233.  —  Ergänzungsepen,  Fort- 
setzungen, Nachahmungen  234. 

8.  Raoul  von  Cambrai  (S.  238  — 240). 

9.  Lothringerepen  (S.  240  —  242) : 

Allgemeines  240.  —  Garin  le  Loherenc  241.  —  Girbert 
de  lies  242. 

10.  Aye  d'Avignou   und   die  Geste   von  Nanteuil 

(S.  243  —  244): 
Aye  d'Avignou  243.  —  Gui  de  Nanteuil  243.  —  Doon 
de  Nanteuil  244. 

11.  Amis    und   Amiles    und    die    Geste    de    Blaye 

(S.  244  —  247): 
Amis  und  Amiles  245.    —   Jourdain  de  Blaivies  246. 


xv  i  Inhalt. 

12.   Bertrand  de  Bar-sur-Aube  (S.  248— 252): 

Der  Dichter  248.  -  Aimeri  de  Narbonne  249.  (Uran 
de  Viane  250.        Kritische  Bemerkungen  250. 

s  c  b  1  u  a  b  b  e  m  e  r  k  u  n  g  (8.  2  »2 

C.   Übergänge. 
YM.  Kapitel:  Geschichtliche  Dichtung 254—266 

1.  Kreuzzugsepen  (S.  255  —  25'. > ) : 

Allgemeines  255.  —  Chanson  d'Antioche  und  Chanson 
de  Jerusalem  256.  —  Chevalier  au  Cygne  und  Enfances 
Godefroi  257.  —  Elioxe  258. 

2.  Reimchroniken  (S.  259— 266): 

Gaimars  Chronik  260.  —  Bearbeitungen  von  Galfreds 
Historia  260.  —  Normannenchroniken  262.  —  Kleinere 
normannische  und  anglonormannische  Chroniken  264.  — 
Kreuzzugschronikeu  265. 

VIII.  Kapitel:  Vom  antiken  Epos  zum  Roman 267— 288 

Allgemeines  (S.  267). 

1.  Alexanderepen  (S.  269  — 274): 

Quellen  269.  —  Alberich  269.  —  Zehnsilbnerredaktion 
270.  —  Der  grosse  Alexanderroman  in  Zwülfsilbnern 
270.  —  Fortsetzungen  273. 

2.  Thebenroman  (S.  274  — 276): 

Allgemeines  274.  —  Inhalt  275.  —  Quelle  und  Ver- 
fasser 276. 

3.  Eneasroman  (S.  277— 279): 
Allgemeines  277.  —  Inhalt  und  Quelle  278. 

4.  Beneeits  Trojaroman  (S.  279  —  2S6): 

Die  Trojasage  im  Mittelalter  279.  —  Beneeits  Werk 
2S0.  —  Textprobe  282. 

5.  DerHeracliusGautiers  vonArras  (S.  286 — 288). 

D.   Die  höfische  Dichtung  der  Blütezeit 

und  ihr  Gefolge.    (Bis  etwa  1200.) 

IX.  Kapitel:    Crestien  von  Troyes  und   die  Anfange  der 

höfischen  Diohlnng 289— 345 

Allgemeines  (S.  2vi). 

1.  Crestiens  Leben  und  Werko  (S.  293  — 299). 

2.  Philomena  (S.  299  —  301). 

3.  Erec  (S.  301  —303). 

4.  Cliges  (S.  303  — 308,  mit  Text). 

5.  Lieder  (S.  308  —  311,  mit  Text). 


Inhalt.  XVII 

6.  Lancelot  oder  der  Karrenritter  (S.  311  — 314). 

7.  Yvain  oder  der  Löwenritter  (S.  314  —  322,   mit    Text). 

8.  Wilhelm  von  England  (S.  322  — 323). 

9.  Perceval  oder  der  Gralroman  (S.  323  — 332): 
Inhalt  324.  —  Percevalsage  327.  —  Grallegende  328. 

10.    Theorien    über    die    Herkunft    und   Bedeutung   des 
keltischen  Elements  (S.  332  — 345): 
Keltische  Quellen  333.  —  Überblick  über  die  Ansichten 
.'.34.  —  Erörterung  der  Kernfragen  339. 

X.  Kapitel:  Die  höfische  Dichtung  neben  und  unmittelbar 

nach  Chrestien 346—3*9 

Allgemeines  (S.  346). 

1.  Die  lyrischen  Gattungen  (S.  349  — 359): 
Chanson  350  (mit  Probe).    —   Tenzone  und  Jeu-parti 
352    (mit   Probe).    —    Tagelied    (Aube)    354.    —   Salut 
d'amour  355.    —    Gattungen   musikalischen  Ursprungs 
(Motet  —  Lai  —  Descort)  355. 

2.  Die  ältesten  bekannten  Lyriker  (359  —  363): 
Huon  III.  von  Oisi  359,  Conon  de  Bethune,  Gautier  von 
Dargies,  Richard  von  Semilli,  Gautier  von  Soignies, 
Blondel  de  Nesle,  Castellan  von  Coucy  360,  Jehan 
Bodel,  Gace  Brule,  Guiot  von  Provins  361,  Aubouin  de 
Sezanne,  Gautier  von  Epinal,  Guiot  von  Dijon,  Hugues 
von  Berze,  Richard  Löwenherz,  Morisse  von  Craon, 
Guillaume  von  Ferneres  362. 

3.  Tristanromane  (S.  363— 371): 

Die  Sage  363.  —  Thomas'  Gedicht  365.  —  Berols 
Gedicht  368. 

4.  Gralromane  (S.  371— 373): 

Robert  von  Borron  371.  —  Fortsetzer  Crestiens  373. 

5.  Bretonische  Romane  (S.  373  —  378): 

Ille  et  Galeron,  von  Gautier  von  Arras  373.  —  Der 
Beaus  Desconeüs  des  Renaud  von  Beaujeu  375.  — 
Gauvaindichtung  376. 

6.  Antikisierende  Abenteuerromane  (378  —  380): 
Der  Florimont  Amons  von  Varenne  378.  —  Die  Romane 
Hues  de  Rotelande  379.   —  Athis  und  Prophilias  379. 

7.  Liebesromane     byzantinischen    Charakters 

(S.  380  — 384): 
Floire  et  Blancheflor  381.    —    Guillaume  de  Palerne, 
L'Escoufle  383. 

8.  Sonstige     Liebes-     und     Abenteuerromane 

(S.  384—389) : 


xviii  Inhalt. 

Seite 

Partonopeus  von  Blois  384.    -      Le  Comte  de  Poiriers 

386.  —  Gnillaume  de  Pole  (Roman/,  de  l.i  Rose)  S87.  — 
Robert  der  Teufel  388.  —  Gilles  de  Chiu  388. 

XI.  Kapitel:  Märchen  und  Schwanke  in  Reimpaaren    .    .  390—417 
Allgemeines  (S.  890). 

1.  Die  Lais  (S.  393  —  399): 

Allgemeines  393.  —  Die  Lais  der  Marie  de  France  394.  — 
Lais  anderer  Verfasser  396.  —  Ovidiana  398. 

2.  Roman  de  Reuart  (S.  399  —  409): 

Name  und  Charakter  399.  —  Ursprung  der  Tierepik  400. 
—  Die  iiltesten  Renatbranchen  402.  —  Textprobe  405. 

3.  Die  Anfänge  des  Fablels  (S.  409  — 414): 
Allgemeines  409.  —  Ursprungsfragen  410.  —  Das  älteste 
bekannte  Fablel:  Richeut  411.  —  Auberee  412. 

4.  Rahmenerzählungen  (S.  414 — 417): 

Roman  des  Sept  Sages  415.    —    Dolopathos  4 IC.    — 
Castoiement  d'un  pere  ä  son  fils  41G. 

E.  Die  Zeit  der  Nachblüte. 

(13.  Jahrhundert.) 
XII.  Kapitel:  Die  Epigonenliteratur  des  13.  Jahrhunderts    418—401 
Allgemeines  (S.  418). 

1.  Geistliche  und  lehrhafte  Literatur  (S.  420— 431): 
Legendarisches  420.  —  Marienmirakel,  Contes  devots 
und  Dits  423.  —  Bibelübersetzung  und  Kultusliteratur 
(Drama  und  Predigt)  426.  —  Moral-  und  Lehrgedicht  42S. 

2.  Heldenepos      und      geschichtliche      Dichtung 

(S.  432  — 446): 
Allgemeines  432.  —  Epen  mit  traditioneller  Grundlage 
(Berte  as  grans  pies,  Macair e,  Huon  de  Bordeaux, 
Auberi  le  Bourgoing,  Boeve  de  Haumtone,  Hörn)  433.  — 
Zyklische  und  genealogische  Epen  43"\  —  Neu- 
dichtungen  (Orson  de  Beauvais,  Gaydon,  Aiol  et  Mirabel, 
Ehe  de  St.  Gilles,  Florence  de  Rome)  442.  —  Geschicht- 
liche Dichtung  und  Verwantes  445. 

3.  Der  höfische  Roman  (S.  446  — 453): 
Bretonische  Romane  (Meraugis  von  Raoul  von  Houdeuc, 
Gauvainroinane,  Beaudous  von  Robert  von  Blois,  Fergus 
von  Giiiilaume  le  Clerc  etc.)  447.  —  Abenteuerromane 
verschiedenen  Charakters  (Sone  von  Nansay,  Cleomades, 
Meliacin,  Joufrois,  Octavian,  Guy  de  Warwick)  450.  — 
Märchen-  und  Liebesronjane  (Gerberts  Veilchenroman, 
Romaue  l'hilippes  de  Beaumanoir,  Chastelain  de  Coucy, 
Chastelaiue  de  Vergy,   Chastelaine  de  Saint-Gille)  451. 


Inhalt.  XIX 

4.  Novellen-     und    Schwankdichtung     in    Reim- 

paaren (S.  i:>3— 45S): 
Laidichtung  454.  —  Ovidiana  454.       Tierepos  (Roman  de 
Renart)  454.  —  Fablels  4.").").  —  Kahmenerzähliingeu  1">7. 

5.  Lyrik  (S.  458-460): 

Die  Gattungen.  —  Die  Dichter. 

XIII.  Kapitel:  Neue  Kunstformen  im  13.  Jahrhundert      .    .  102—492 

1.  Die  Prosaliteratur  (S.  462— 474): 

Allgemeines  462.  —  Geschichtliche  Darstellung  (Geoll'roi 
de  Villehardouin,  Jehan  de  Joinville,  Menestrel  de  Keims, 
Jehan  de  Tuim  etc.)  404.  —  Sonstige  wissenschaftliche 
Prosa  460.  —  Prosaromaue  und  Prosanovellen  (Gral- 
und  Artusromane,  Aucassin  et  Nicolete,  Comtcsse  de 
Ponthieu,  Floire  et  Jehaune,  Ami  et  Amile,  Roi  Constant 
l'Empereour)  408.  —  Textprobe  (Aucassin)  471. 

2.  Allegorisch-satirische  Dichtung  (S.  475  —  480): 
Allgemeines  475.  —  Vorläufer  des  Rosenromans  (Liebes- 
theorien, Visionsdichtung,  Allegorie  und  Personifikation) 
470.  —  Der  Rosenromau  (mit  Textprobe)  479.  —  Jehan 
de  Meung  uud  die  Satire  4SI.  —  Allegorische  Dichtung 
nach  dem  Rosenroman  (Weltliche  Allegorien  —  morali- 
sierende Dichtungen)  484. 

3.  Das  weltliche  Theater  (S.  480  — 490): 
Entstehung  486.  —  Jongleurdramen  487.  —  Dramatische 
Spiele  487.  —  Adam  de  le  Haie  und  sein  Laubenspiel 
488.  —  Adams  Singspiel  Robin  et  Marion  (mit  Text)  489. 
—  Folgerungen.  491. 

F.  Der  Ausgang  der  altfranzösiselieii 
Literatur. 

XIV.  Kapitel:   Die  alt  französische  Literatur  vom  14.  zum 

16.  Jahrhundert 493—512 

Historischer  Überblick  (S.  493— 490). 

Die  Entwicklung  der  Ilauptgattungen  (S. 497— 512): 
Erzählende  und  unterhaltende  Dichtung  497.  —  Das 
Theater  5ü2.  —  Lyrik  uud  verwante  Gattungen  500.  — 
Geschichtswissenschaft  und  Übersetzungsliteratur  509. 

Glossar 513—557 

Berichtigungen  und  Nachträge 558 

Verzeichnis  der  Abkürzungen 559 — 561 

Nauieusverzeichuis 562—575 


Einleitung. 


Wenn  wir  die  französische  spräche  im  wesentlichen  als 
eine  unmittelbare  fortsetzung  des  latein  bezeichnen  dürfen,  so 
sind  die  Verhältnisse,  unter  welchen  sieh  die  französische 
literatur  entwickelt,  weit  komplizierter:  sie  ist  keine  unmittel- 
bare fortsetzung  und  nur  zum  geringsten  teil  eine  nachahmuug 
der  lateinischen  literatur,  sie  entwickelt  sich  organisch  nicht 
so  sehr  aus  dieser  als  aus  dem  geiste  des  neu  entstandeneu 
volkes  heraus,  das  wir  das  französische  nennen,  und  ist  in 
ihrem  weiteren  verlauf  von  einer  reihe  von  äusseren  einflüssen 
abhängig,  welche  für  charakter  und  inhalt  der  neuen  poesie 
mindestens  ebenso  wichtig  sind  wie  das  Vorbild  der  lateinischen 
dichtung.  Diese  war  der  entwicklung  der  vulgärsprache  nicht 
gefolgt.  Ihre  autoren,  ob  klassisch-heidnischer  oder  christlicher 
tendenz.  bemühten  sich  so  sehr  als  möglich  klassische  spräche 
und  klassischen  stil  zu  wahren,  ja  selbst  als  Umgangssprache 
der  gebildeten,  besonders  der  geistlichen,  wurde  das  klassische 
latein  oder  hochlatein  —  allerdings  nicht  in  unverfälschter 
echtheit  und  nicht  unbeeinflusst  durch  die  vulgärsprache  — 
ängstlich  festgehalten.  So  war  allmählich  eine  kluft  entstanden 
zwischen  lateinischer  spräche  und  literatur  einerseits  und 
vulgärem  reden  und  empfinden  andrerseits.  Organische  ent- 
wicklung einer  volkssprachlichen  literatur  aus  der  lateinischen 
war  bei  diesem  stand  der  dinge  nicht  mehr  möglich,  wenn- 
gleich die  lateinische  und  zumal  die  christlich -lateinische 
dichtung  für  einzelne  gattungen  der  neuen  Vulgärliteratur 
einen  nicht  unbedeutenden  faktor  bildete. 

Welche  Völker  sind  es  aber,  die  rein  ethnographisch  als 
grundlage  des  französischen  Volkes  gedient  haben?  welche  von 

Voretzsch,   Studium  d.  afrz.  Literatur.     2   Auflage.  \ 


2  Einleitung. 

diesen  Völkern  oder  welche  fremden  Völker  haben  nennenswerte 
kulturelle  einfllisse  auf  das  französische  ausgeübt,  und  in  welcher 
richtung  haben  sich  diese  einfllisse  bewegt V  wie  wirken  sie 
auf  die  spräche,  welche  das  Verständigungsmittel  des  täglichen 
lebens  und  zugleich  die  notwendige  äussere  form  der  poesie 
bildet,  wie  auf  die  literatur  selbst? 

Es  ist  zwar  für  die  entwicklung  des  französischen  volks- 
charakters  von  keiner  nachweislichen  bedeutung,  verdient  aber 
doch  in  diesem  Zusammenhang  hervorgehoben  zu  werden,  da^s 
die  Kelten,  als  sie  in  Gallien  einwanderten,  bereits  andere 
Völkerschaften  vorfanden,  mit  denen  sie  nach  abstammung 
und     spräche    wenig    oder    nicht    verwant    waren:     nämlich 

—  ausser  den  ethnographiseh  nicht  näher  zu  bestimmenden 
urbewohnern  —  im  Südosten  die  Ligurer,  deren  sitze  sich 
von  der  Poebene  über  die  Alpen  hinweg  der  küste  des  mittel- 
ländischen rneeres  entlang  nach  Spanien  hinein  erstreckten, 
und  im  Südwesten  die  Iberer,  welche  Aquitanien  und  den 
hauptteil  der  nach  ihnen  benannten  iberischen  halbinsel 
bewohnten,  in  älterer  zeit  sich  aber  über  Italien,  Corsica  und 
Sicilien  ausdehnten.  Erhalten  hat  sich  die  spräche  der  alten 
Iberer  in  dem  heute  noch  von  rund  600000  menschen  nördlich 
und  südlich  der  AVestpyrenäen  gesprochenen  Baskisch,  das  mit 
keiner  der  europäischen  sprachen  verwantsehaft  zeigt;  den 
namen  Gascogne  (Vascom'a)  verdankt  das  zwischen  Garonne 
und  Pyrenäen  gelegene  land  den  Basken  (Vascönes). 

Wie    weit    sich   nun   ligurisches   und   iberisches   Volkstum 

—  abgesehen  vom  baskischen  —  unter  keltischer  und  römischer 
herrschaft  bewahrt  haben  und  etwa  in  den  späteren  Ver- 
hältnissen wiederspiegeln,  lässt  sich  nicht  abschätzen,  zumal 
auch  die  volkstümlichen  anschauungen  der  verschiedenen  Völker, 
je  primitiver  ihre  kulturstufe  ist,  sich  um  so  näher  mit  einander 
zu  berühren  pflegen.  Aber  dass  wir  mit  dem  fortleben  auch 
solcher  brauche  und  anschauungen  zu  rechnen  haben,  lehrt 
die  im  13.  Jahrhundert  in  der  chantefable  von  Aucassin  und 
Nieolete  begegnende  Verspottung  der  sitte  des  männerkiudbetts 
(couvade),  die,  bei  aussereuropäischen  Völkern  weit  verbreitet, 
in  Europa  gerade  bei  den  Iberern  zu  hause  war. 

Bevor  die  Körner  nach  Gallien  kamen,  waren  bereits  Jahr- 
hunderte lang  die  Kelten  die  politischen  herreu  des  landes. 


Geschichtliches:  Urbewohner.    Die  Kelten.  3 

Ursprünglich,  d.  h.  soweit  wir  sie  in  ihren  sitzen  und 
Wanderungen  zurückverfolgen  können,  im  südlichen  und 
mittleren  Deutschland  ansässig,  dehnten  sie  von  hier  aus  ihren 
machtbereich  allmählich  über  Gallien,  Britannien  und  teile 
der  iberischen  halbinsel  sowie  über  das  nördliche  Italien  aus. 
Lange  zeit  hindurch  waren  sie  der  schrecken  Roms,  das 
sie  390  v.  Chr.,  mit  ausnähme  des  Capitols,  einnahmen  und 
verbrannten.  Seit  dem  3.  jh.  v.  Chr.  hatten  sie  auch  das 
ursprünglich  ligurische  Rhonetal  in  besitz,  wie  sie  sich  auch 
im  westen  bis  zur  Garonne  und  teilweise  darüber  hinaus 
ausdehnten.  So  erschien  Gallien  den  erobernden  Römern  im 
wesentlichen  als  ein  keltisches  land,  und  auch  heutzutage 
betrachten  sich  die  Franzosen  mit  Vorliebe  als  nachkommen 
der  Kelten,  als  eine  romanisierte  keltische  race. 

Art  und  sitte  der  alten  Gallier  ist  von  Caesar  im  sechsten 
buch  seiner  kommentarien  eingehend  geschildert  worden,  und 
oft  genug  hat  mau  die  Übereinstimmung  dieser  Schilderung 
mit  dem  heutigen  französischen  nationalcharakter  und  damit 
die  fortdauer  des  gallischen  elements  darzustellen  versucht. 
Ein  französischer  gelehrter  unserer  tage  sagt:1)  'Les  Romains 
ont  trace'  des  Gaulois  un  portrait  qui  n'est  pas  flatte,  mais 
oü  nous  aurions  mauvaise  gräce  ä.  meconnaitre  quelquesuns 
des  traits  qui  caracterisent  notre  temperament  national.  Une 
bravoure  pouss^e  jusqu'  a.  la  t£m£ritd,  une  intelligence  ouverte, 
l'humeur  sociable,  communicative,  le  goüt  et  le  talent  meme 
de  la  parole,  voilä  pour  les  qualites.  Avec  cela  une  fougue 
aveugle,  une  jactance  insupportable,  peu  de  suite  dans  les 
desseins,  peu  de  fermete  dans  les  entreprises,  peu  de  constance 
dans  les  revers,  une  rnobilite"  extreme,  nul  sentiment  de  la 
regle  et  de  la  discipline'. 

Man  wird  sich  gleich wol  hüten  müssen,  in  den  modernen 
Franzosen  nichts  als  die  nachkommen  der  alten  Kelten  zu 
erblicken,  schon  äusserliche  momente  sprechen  gegen  eine  zu 
weitgehende  gleichsetzung.  Die  Kelten  werden  uns  als  hoch 
gewachsen,  hellfarbig  und  blondhaarig  geschildert,  was  wenig 
zu  dem  französischen  normaltypus  zu  stimmen  scheint.  Wir 
müssen  uns  gegenwärtig  halten,  dass  die  Kelten  ein  eroberervolk 


!)  G.  Bloch  in  der  Histoire  de  France  von  Lavisse  (s.  u.)  I.  2  8.  61. 

1* 


4  Einleitung. 

waren,  das  eine  eingeborene  bevölkeruhg  Bchon  vorfand,  einmal 

die  uns  nicht  näher  bekannten  prähistorischen  Völkerschaften 
und  dann  im  stiden  die  Iberer  und  Lignrer.     Gerade  von  den 

Iberern  (Aquitaniern)  wird  uns  nicht  nur  durch  Cäsar,  sondern 
auch  durch  spätere  autoren  ihr  gesondertes  Volkstum  und  ihre 
besondere  spräche  gegenüber  den  Kelten  bezeugt:  sie  wurden 
anscheinend  romanisiert,  ehe  sie  keltisiert  werden  konnten. 
Endlich  ist  auch  die  starke,  ein  halbes  Jahrtausend  währende 
blutmisehung  mit  den  erobernden  und  kolonisierenden  Römern 
in  allen  teilen  Galliens  nicht  zu  vergessen  —  ganz  abgesehen 
von  der  vielseitigen  und  reichlichen  zufuhr  germanischen  blutes 
seit  den  Kimbern  und  Teutonen  bis  auf  den  Normaunenherzog 
Rollo. 

Kultur,  religion,  Staatswesen  freilich  waren  (die  eigentlichen 
Aquitanier  immer  abgerechnet)  zur  zeit  des  eindringens  der 
Römer  in  Gallien  keltisch,  wie  sich  das  bei  der  herrschenden 
volle  und  wol  auch  überlegenen  kultur  der  Kelten  von  selbst 
versteht.  Das  ursprüngliche  königtum  war  bei  den  meisten 
stammen  schon  einer  aristokratischen  Verfassung  gewichen. 
Ritter  (equites)  und  priester  (druides)  bildeten  die  herrschenden 
stände.  Eine  politische  einheit  zwischen  den  verschiedenen 
stammen  existierte  nicht;  verschiedene  grössere  stamme  machten 
einander  die  Vorherrschaft  streitig,  kleinere  stamme  schlössen 
sich  als  clientes  mächtigeren  stammen  an.  In  bewaffnung  und 
kriegswesen  waren  die  Kelten  den  Germanen  wesentlich  voraus. 
Als  die  Kimbern  und  Teutonen  in  Gallien  einbrachen,  standen 
sie  ratlos  vor  den  bürgen  oder  befestigten  weilern  (op2)ida), 
welche  die  Kelten  ausser  ihren  offenen  dörfern  (vici)  und 
gehöften  (aedificia)  bewohnten:  Städtebau  und  belagerungskunst 
war  auch  den  Germanen  späterer  Zeiten  noch  fremd.  Eine 
reihe  solcher  gallischer  siedelungen  haben  sich,  teils  unter 
ihren  ursprünglichen  keltischen  namen,  vielfach  unter  denen 
des  Stammes  (civitas),  dessen  mittelpunkt  sie  bildeten,  teils 
unter  neuen,  römischem  namen  erhalten:  Rotomagum — Rouen, 
Cabillonum  —  Chfdon-sur-Saöue,  Noviodunum — Nyon  iPicardie); 
Avaricum  —  Bituriges  —  Bourges ,  Lutetia  —  Parisios  —  Paris. 
Limonum  (eigtl.  hauptort  der  Pictones)  — Pictavos  —  Poitiers. 
Condate  —  Redones  —  Reimes,  Durocortorum  —  Remos  —  Reims. 
Tricasses — Troyes;    Cenabum — Aurelianum  —  Orleans.     Auch 


Geschichtliches:  die  Kelten.  o 

der  naine  Lugduuum  (Lyon)  ist  durchaus  keltisch,  (Luy  Dame 
eines  gottes,  dunum  hügel,  festes  sehloss),  trutzdem  wir  die 
stadt  nur  als  römische  gründung  kennen. 

Für  die  geistige  Charakteristik  der  Kelten  ist  bezeichnend 
ihre  starke  religiosität.  die  uns  Caesar  berichtet  (Natio  est 
omnium  Gallorum  admodum  dedita  religionibus).  Er  fand 
in  den  keltischen  göttern,  die  er  uns  mit  ihren  keltischen 
namen  nicht  einmal  nennt,  die  römischen  götter  Merkur, 
Apollo,  Mars,  Jupiter  und  Minerva  wieder.  Die  druiden 
lehrten  Unsterblichkeit  der  seele  und  Seelenwanderung  (non 
interire  animas,  sed  ab  aliis  post  mortem  transire  ad  alios). 
Hieraus  entwickelte  sich  mit  der  zeit  die  Vorstellung  von 
einem  überseeischen  gefilde  der  abgeschiedenen  seeleu,  was 
für  die  spätere  Artussage  nicht  bedeutungslos  ist.  In  der 
natur  verehrten  die  Kelten  vor  allem  quellen  und  bäume, 
auch  die  mistel,  die  unter  besonderen  feierlichkeiten  jährlich 
geschnitten  wurde.  Dem  späteren  bretonischen  feenglauben 
entspricht  bei  den  alten  Kelten  der  glaube  an  die  —  von  den 
Kömern  so  genannten  —  matronen,  an  weibliche  schutzgeister, 
welche  das  geschenk  des  lebens  ansteilen  und  erhalten  (der 
name  selbst,  prov.  fada,  franz.  fee,  ist  lateinisch,  zu  fatum 
gehörig).  Die  druidenlehre  ward  mündlich  in  versen  überliefert, 
während  sich  die  Kelten  sonst,  in  öffentlichen  und  privaten 
angelegenheiten,  des  griechischen  alphabets  bedienten.  Neben 
den  druiden  waren  als  priester  noch  die  von  Cäsar  nicht 
erwähnten  eubagen  tätig.  Auch  über  eine  weltliche  literatur 
verfügten  die  Kelten:  ihre  barden  besangen  bei  festlichen 
gelegenheiten  taten  und  erlebnisse  der  menschen  und  götter, 
wobei  sie  sich  mit  einer  art  harfe  begleiteten.  Im  12.  Jahr- 
hundert tauchen  die  nachkommen  dieser  keltischen  sänger 
auch  in  dem  romanisierten  Gallien  als  conteor  breton  wieder 
auf.  Was  wir  in  der  altfranzösischen  literatur  an  eigentlich 
keltischen  dementen  finden,  geht  in  der  regel  auf  import  aus 
der  keltisch  gebliebenen  oder  im  5.  u.  6.  jh.  wieder  keltisch 
gewordenen  Bretagne  und  aus  Grossbritannien  zurück.  Aber 
in  der  geistesweit  des  niederen  Volkes,  zumal  in  aber- 
glauben  und  brauch,  hat  sich  vermutlich  auch  im  eigentlichen 
Frankreich  manch  keltisches  element  bis  in  späte  Zeiten 
erhalten. 


6  l.inleitung. 

Die  romanisiernng  Galliens  ist  nicht  so  rasch  von 
statten  gegangen,  als  es  bei  oberflächlicher  betrachtnng  scheinen 
möchte.    Einen  verhältnismässig  raschen  verlauf'  Dahin  nur  die 

militärische  und  politische  eroberung  des  landes  durch  die 
Kömer.  Schon  seit  dem  3.  jh.  v.Chr.,  seit  die  Karthager  den 
kolouien  von  Massilia  in  Spanien  gefährlich  geworden  wann, 
bestand  ein  büudnis  zwischen  Massilia  und  Rom,  welches,  als 
der  mächtigere  der  beiden  alliierten,  sich  bald  zum  protektor 
auswuchs.  Als  die  Massilier  154  v.  Chr.  von  ligurischen  Völker- 
schaften bedrängt  wurden,  sandte  Rom  schleunigst  liilfe  und 
schenkte  ihnen  dann  das  den  Ligurern  abgenommene  land. 
Ahnliche  bedrängnisse  Massilias  gaben  den  Römern  i.  j.  125 
erneuten  anlass  zum  einschreiten,  und  so  wurden  in  diesem 
und  den  folgenden  vier  jähren  die  ligurischen  und  keltischen 
Völker  des  Rhonetales  bis  zu  den  Arveruern  und  Allobrogen 
im  norden,  dazu  die  südwestlich  anschliessenden  Völker  bis  zu 
den  Volcae  Tolosates  (hanptort  Tolosa)  unterworfen.  Massilia 
erhielt  den  küstenstreifen  von  der  Rhone  bis  zu  den  Alpen, 
das  übrige  wurde  als  provincia  Narbonensis  eingerichtet  (die 
spätere  sog.  Provence).  Hier  also  haben  die  Römer  zwei 
menschenalter  früher  fuss  gefasst  und  kolonisiert  als  in  dem 
übrigen  Gallien,  was  die  tiefgehende  romanisierung  gerade  des 
Südens  erklärt.  Auf  die  provincia  Narbonensis  bezieht  sich 
das  bekannte  wort  des  Fliuius  'Italia  verius  quam  provincia'. 
In  den  jähren  58 — 51  v.  Chr.  vollendet  Cäsar  die  er- 
oberung Galliens  bis  zum  Ärmelkanal  auf  der  einen  und  zum 
Rhein  auf  der  anderen  seite.  Der  aufstand  des  Vercingetorix 
i.  j.  52  ist  der  letzte  grosse  gallische  Unabhängigkeitskampf 
gegen  die  römische  herrschaft.  Eine  erhebung  unter  führung 
des  Aeduers  Julius  Sacrovir  und  des  Trevirers  Julius  Florus 
21  n.  Chr.  wurde  leicht  unterdrückt.  Unter  Neros  Schreckens- 
herrschaft erhob  im  jähre  68  der  Aquitanier  C.  J.  Vindex,  selbst 
gouverneur  von  Lyon,  die  fahne  der  empörung,  gab  sich  aber 
nach  einer  unglücklichen  schlacht  selbst  den  tod.  Während 
der  wirren,  die  auf  Neros  ende  folgten,  versuchte  Mariccus, 
ein  bauer  aus  dem  stamme  der  Boier,  einen  aufstand,  ward 
aber  leicht  besiegt  und  gefangen  genommen.  Endlich  haben 
sich  eine  anzahl  gallischer  stamme  —  Trevirer,  Lingonen  u.  a. 
—   an   dem   kämpf  der  Bataver   unter  Claudius  Civilis   gegen 


Geschichtliches:  die  Römer.  7 

Rom  beteiligt.  Daniah  sab  man  auch  die  druiden  eingreifen, 
welche  zum  kämpf  gegen  die  fremdherrschaft  schürten.  Seit- 
dem ist  aber  von  nationalen  erbebungen  der  Gallier  nicht 
mehr  die  rede.  Die  späteren  Sonderbestrebungen  ein  gallisches 
provinzialkaisertnm  zu  begründen  entbehren  aller  national- 
keltischen  unterströniungen. 

So  ist  in  einer  verhältnismässig  kurzen  zeit  Gallien  unter- 
worfen und  dauernd  befriedet  worden,  was  vor  allem  dadurch 
möglich  wurde,  dass  Rom  das  besiegte  volk  möglichst  schonend 
behandelte.  Ausser  der  selbstverständlichen  einführuug  römischer 
Verwaltung  und  römischen  rechts  (welches  die  läge  der  ge- 
drückten unteren  klassen  in  Gallien  sogar  wesentlich  ver- 
besserte) begnügten  sich  die  sieger  mit  der  heranziehung  des 
neugewonnenen  Volkes  zum  militärdienst  und  mit  der  erhebung 
von  steuern  (die  allerdings  bei  schlechter  Verwaltung  zu  miss- 
bräuchen  führen  konnte  und  tatsächlich  die  späteren  aufstände 
zum  teil  mit  hervorgerufen  hat).  Nachdem  die  Unterwerfung 
einmal  tatsache  war,  zeigte  sich  der  gallische  adel  römischen 
einflüssen  am  zugänglichsten.  Schon  Cäsar  beschenkte  einzelne 
vornehme  mit  dem  römischen  bürgerrecht,  ja  er  verlieh  es  so- 
gar au  die  ganze  aus  Galliern  zusammengesetzte  legion  der 
Alaudae  (die  lerche  war  ein  lieblingsvogel  der  alten  Gallier, 
daher  der  name).  Seit  kaiser  Claudius  erhielten  auch  ganze 
stamme  (civitates)  das  bürgerrecht,  bis  dieses  durch  das  edikt 
des  kaisers  Caracalla  (zwischen  212  und  217)  allen  reichs- 
angehörigen  zuerkannt  wurde.  Der  keltische  adel  nahm  all- 
mählich an  stelle  der  althergebrachten  namen  die  römische 
nomenclatur  an,  so  dass  seit  dem  4.  Jahrhundert  fast  keine 
keltischen  namen  mehr  begegnen.  So  gelang  es  den  vor- 
nehmen bald,  ihren  lohn  im  dienste  Roms  zu  finden,  in  beer 
und  Verwaltung  bekleideten  sie  bald  die  höchsten  ämter,  wie 
das  beispiel  des  Vindex  zeigt. 

Die  romanisierung  der  einzelnen  eilte  freilich  derjenigen 
der  grossen  masse  weit  voraus.  Diese  ging  von  den  Städten 
aus  und  hat  sich  von  da  sehr  langsam  über  das  platte  land 
verbreitet.  Schon  in  den  alten  Keltenorten  sassen  lange  vor 
der  eroberung  römische  kaufleute.  Einige  dieser  Städte  wie 
Narbo  wurden  zu  römischen  Verwaltungssitzen  erhoben.  Dazu 
kamen    aber    weiter    als    wirksame   romanisierungszentren   die 


8  Einleitung. 

kolonien,  teils  sog.  römische  kolonien  (aus  römischen  bürgern 
bestehend  und  mit  deren  rechten  ausgestattet),  teils  latinische 
kolonien  (mit  dem  beschränkten  —  ehemals  latinischen  — 
bürgerrecht).  Diese  kolonien  sind  übrigens  durchaus  nicht 
lauter  neugründungen,  sondern  häufig  mit  kolonien  belegte 
gallische  siedelungen,  die  neben  den  römischen  beinamen  (nach 
dem  kaiser,  der  sie  angelegt,  oder  nach  der  nummer  der  legion, 
aus  deren  Veteranen  die  kolonie  bestand)  ihren  alten  namen 
fortfuhren  und  in  der  folgezeit  häufig  nur  diesen  bewahren: 
so  Colonia  Julia  Paterna  (nach  Julius  pater  d.  i.  Caesar)  Narbo 
Martins  Decumanorum  (nach  der  10.  legion) — Narbonne,  Colonia 
Augusta  Nemausus — Nimes,  Colonia  Julia  Firma  Secuuda- 
norum  Arausio  —  Orange,  Colonia  Julia  Equestrium  Noviodu- 
num — Nyon  (am  Genfersee).  Auch  die  namen  der  alten 
civitates  pflanzen  sich  öfter  auf  diese  weise  fort:  Colonia 
Lingonum  —  Lingones — Langres,  Colonia  Treverorum — Treviri 
— Trier.  Eine  reihe  solcher  gallischer  städte  erhoben  sich 
bald  zu  grossen  industrie-  und  handelsplätzen. 

Auf  diese  weise,  durch  das  beständige  zuströmen  zahl- 
reicher römischer  demente,  durch  den  fortdauernden  verkehr 
herüber  und  hinüber  wird  uns  die  romanisierung  der  städte 
leicht  begreiflich  (doch  hört  noch  im  2.  jh.  bischof  Irenäus 
die  masse  des  Volkes  in  Lyon  keltisch  reden).  Wesentlich 
langsamer  aber  ging  die  entwicklung  auf  dem  flachen  lande 
vor  sich.  Für  das  fortleben  der  keltischen  spräche  im  3.  und 
4.  jh.  haben  wir  verschiedene  Zeugnisse.  Der  heilige  Hierouyrnus 
(331 — 420)  beobachtete  die  Übereinstimmung  der  spräche  der 
Trevirer,  unter  denen  er  lebte,  mit  jener  der  kleinasiatischeu 
Galater  (eines  durch  wanderzüge  dorthin  verschlagenen  keltischen 
volksstammes).  Die  fortdauer  der  keltischen  spräche,  wenigstens 
in  bestimmten  bezirken,  ist  uns  somit  für  das  4.  jh.  sicher 
bezeugt,  für  das  5.  jh.  noch  wahrscheinlich.  Ein  halbes  Jahr- 
tausend nach  der  eroberung  durch  Cäsar  ist  die  keltische 
spräche  in  Gallien  als  ausgestorben  zu  betrachten  —  just  um 
dieselbe  zeit  also,  wo  das  römische  weitreich  in  trümmer  ging. 
Wenn  sie  heute  in  der  französischen  Bretagne  noch  fortlebt, 
so  hat  sie  das  im  wesentlichen  dem  zurückfluten  der  Insel- 
kelten zu  verdanken,  welche  im  5.  und  6.  jh.  vor  dem  austurm 
der  Angeln  und  Sachsen  auf  das  festland  zurückwichen. 


Geschichtliches:  gallisch -römisches  Bildnngswesen.  9 

Das  aufgehen  keltischen  geistes  in  römischem  kultur-  und 
geisteslebeD  war  freilich  an  die  roinanisierung  des  platten  landes 
nicht  gebunden.  Bildung  und  schule  fanden  ihre  pflege 
in  den  Städten,  und  hier  haben  sich  die  Gallier  als  gelehrige 
sehüler  und  gar  bald  als  treffliche  lehrer  erwiesen.  Ihre 
natürliche  beredsamkeit  kam  ihnen  auch  in  der  neuen  spräche 
zu  statten.  Hasch  blühten  in  verschiedenen  Städten  —  in  Bur- 
digäla  (Bordeaux),  Tolosa,  Augustodununi  (Autun),  Lugdunum, 
Angnsta  Trevirorum  u.  a.  —  rhetorenschulen  auf,  die  bald 
eines  bedeutenden  rufs  genossen.  Schon  Juvenal  (mitte  des 
l.jh.  n.Chr. — 130)  beklagt  den  verfall  der  beredsamkeit  im 
inutterlande  und  rät  zu  ihrer  erlernung  nach  Afrika  oder  Gallien 
zu  gehen,  und  nicht  viel  später,  zur  zeit  kaiser  Hadrians  (117 
— 138),  suchen  die  advokaten  Britanniens  zu  ihrer  ausbildung 
die  gallischen  rhetorenschulen  auf.  Galt  diese  Schulung  auch 
in  erster  linie  der  gewantheit  in  der  haudhabung  der  äusseren 
form,  so  ist  doch  die  hervorragende  Stellung  Galliens  in  dieser 
hinsieht  nicht  zu  bestreiten. 

Wir  sehen  denn  auch,  wie  alsbald  eine  reihe  von  gallisch  - 
lateinischen  Schriftstellern  ersteht,  die,  zum  teil  allerdings 
römischer  herkunft,  zum  anderen  teil  aber  aus  eingeborenen 
familien  stammend,  am  römischen  geistesleben  produktiv  anteil 
nehmen.  Schon  im  1.  jh.  v.  Chr.  hat  die  provincia  Narbonensis 
den  dichter  P.  Terentius  Varro  Atacinus  (nach  dem  fluss  Atax- 
Aude  genannt)  hervorgebracht,  der  von  ca.  82—40  gelebt  und 
verschiedene  beschreibende  und  erzählende  dichtungen,  unter 
anderen  auch  ein  Bellum  Sequahicum,  verfasst  hat;  Zeitgenossen 
und  landsleute  von  ihm  sind  Valerius  Cato,  Verfasser  erotischer 
und  mythologischer  gediente,  und  der  Vertreter  der  erotischen 
elegie  Cornelius  Gallus  aus  Forum  Julii  (Frejus).  Zur  zeit 
des  Titas  Livius  schreibt  der  dem  stamme  der  Vocontier  (am 
linken  Rhoneufer)  angehörige  Pompeius  Trogus  eine  Universal- 
geschichte, ausgehend  von  der  macedonischen  geschiente  (daher 
Ilistoriarum  Philippicarum  libri  XLIV)  sowie  ein  werk  über 
tiere  und  pflanzen. 

Andere  reihen  sich  in  den  folgenden  Jahrhunderten  an. 
aber  der  niedergang  Roms  und  seiner  geistigen  kultur  in  dem 
nachauguste'ischen  Zeitalter  lässt  auch  in  Gallien  keine  be- 
deutenden dichter  entstehen  —  nur  die  rhetorik  blüht  in  dieser 


1"  Einleitung. 

/cit.  Aus  der  epoche,  welche  dem  endgiltigen  siege  des 
Christentums  in  Gallien  vorausgeht,  sind  noch  zwei  dichter  zu 
nennen:  Ansonins  und  Namatianns.  Der  gelegentlich  schon 
erwähnte  Decimns  Magnus  Ausonius  aus  Burdigäla  (ca.  310 
bis  395).  rhetor  und  lehrer  an  der  rhetorenschnle  seiner  Vater- 
stadt, dann  lehrer  des  nachmaligen  kaisers  Gratian  und  inhaber 
der  höchsten  Staatsämter,  hat  epigramme,  episteln  und  namentlich 
20  idyllen  gedichtet,  von  denen  die  bekannteste,  Moseila,  eine 
Rhein-  und  Moselfahrt  von  Bingen  nach  Trier  anschaulich 
schildert.  Er  war  ehrist,  aber  sein  Verhältnis  zum  Christentum 
ist  freilich  sehr  äusserlich.  Sein  jüngerer  Zeitgenosse  Claudius 
Rutilius  Namatianns  erseheint  uns  als  der  letzte  literarische 
Vertreter  des  heidentums  in  Gallien.  In  seiner  dichtnng  De 
reditu  (aus  dem  jähre  416)  erzählt  er  uns  nicht  nur  seine 
heimkehr  zur  see  von  Rom  nach  Gallien,  sondern  gibt  auch 
seinem  enthusiasmus  für  Rom,  die  königiu  der  weit,  und 
ebenso  unverhohlen  seiner  feindschaft  gegen  das  Christentum 
ausdruck. 

Um  jene  zeit  war  der  sieg  des  Christentums  freilich 
nicht  mehr  aufzuhalten,  gerade  durch  Rom  und  vermittels  der 
römischen  spräche  hatte  es  sich  allmählich  über  den  westen 
des  reiches  ausgebreitet.  Denselben  dierst,  welchen  die  gräci- 
sierung  des  Orients  und  die  griechische  spräche  der  ausbreitung 
des  Christentums  im  osten  geleistet  hatte,  bot  ihm  im  westen 
die  romanisieruug  Galliens  und  seiner  nachbarländer  durch 
Roms  herrschaft  und  spräche.  Längst  ehe  das  Christentum 
durch  Konstantin  den  Grossen  zur  Staatsreligion  erhoben  wurde, 
hatte  bischof  Pothinus  in  Lyon  eine  Christengemeinde  begründet, 
die  freilich  bald  genug  vernichtet  ward  (177),  aber  durch  den 
hl.  Irenäus  erneueruug  und  dauernde  begründung  fand.  Wie 
Pothinus  und  seine  getreuen  aus  dem  Orient,  aus  Smyrna,  ge- 
kommen waren  das  Christentum  in  Gallieu  zu  predigen,  waren 
es  auch  sonst  Orientalen  —  meist  kaufleute,  handwerker  u.  ä. 
—  welche  das  Christentum  in  den  gallischen  handelsstädten 
.•uisbreiten  halfen.  Selbst  in  dem  weiterab  gelegenen  Trier  — 
das  allerdings  damals  sitz  der  gallischen  Verwaltung  war  — 
bestand  schon  im  2.  jh.  eine  kleine  gemeinde.  Aber  noch  im 
3.  jh.  musste  der  hl.  Dionysius,  welcher  sich  Paris  und  seine 
Umgebung  als  feld  der  bekehrung  erkoren  hatte,  seinen  versuch 


Geschichtliches:  gallisch -christliche  Literatur.  11 

mit  dem  leben  büssen,  ebenso  wie  Saturninus  zu  Toulouse.  Aueli 
ihren  Bchttlero  and  Dachfolgern  erging  es  teilweise  nicht  besser. 
Erst  durch  kaiser  Konstantin  ward  der  sieg  des  Christentums 
auch  in  Gallien  gesichert.  Zunächst  drang  es  in  den  Städten 
durch,  wo  es  sich  bis  zum  anfang  des  5.  jhs.  zur  herrschenden 
religioD  entwickelt,  allmählich  und  langsamer  auch  auf  dem 
lande,  wo  es  zum  teil  unmittelbar  an  stelle  der  keltischen 
religion  trat.  Schon  im  4.  jh.  wendet  sich  der  hl.  Martin  von 
Tours  ausdrücklich  an  das  lnudvolk  und  predigt  gegen  keltisches 
heidentum.  Nicht  unwesentlich  ist.  dass  die  führer  der  gallischen 
kirche  von  anfang  an  den  Standpunkt  der  Orthodoxie  vertreten: 
im  2.  jh.  kämpft  Irenäus  von  Lyon  gegen  die  gnostiker,  im 
I  jh.  Hilarius  von  Poitiers  gegen  den  arianismus. 

Wie  anderwärts  wurde  auch  in  Gallien  die  kirche  all- 
mählich trägerin  der  bildung,  indem  sie  die  heidnischen 
bildungsformen  sich  aueiguete  und  so  eine  versöhnlichere 
Stellung  zu  der  heidnischen  rhetorenliteratur  einnahm.  Die 
alten  rhetorenschulen  wurden  in  geistliche  bildungsanstalten 
umgewandelt,  auch  neue  schulen  wurden  begründet.  Neben 
die  klosterschulen  traten  die  bischofsschulen,  an  denen  die 
sieben  artes  liberales  (worunter  auch  musik)  gelehrt  wurden. 
Auch  heidnische  schriftsteiler  wurden  an  diesen  schulen  ge- 
lesen, vor  allem  Vergil  und  Cicero,  von  den  Griechen  Xenophou. 
Wie  in  den  alten  rhetoreuschulen  war  auch  hier  die  formale 
ausbildung  der  künftigen  geistlichen  ein  wesentliches  ziel. 
Arles  und  Vienne  waren  berühmte  bischofsschulen,  Lerins 
ebenso  als  klosterschule. 

Die  uuter  diesen  Verhältnissen  entstandene  christliche 
literatur  der  früheren  Jahrhunderte  wendet  sich  nur  in  ge- 
ringem masse  der  dichtung  im  engeren  sinne  zu.  Meist  handelt 
es  sich  um  apologetische,  dogmatische  und  moralisierende 
traktate,  daneben  erscheinen  erklärungen  und  umdichtungen 
biblischer  bücher  sowie  schon  früh  heiligenleben  (vitae)  und 
sonstige  geschichtliche  werke. 

An  der  spitze  der  christlich -gallischen  Schriftsteller  steht 
Hilarius  von  Poitiers,  im  zweiten  Jahrzehnt  des  4.  jhs. 
daselbst  geboren  und  später  ebenda  bischof,  356 — 60  unter 
kaiser  Constantius  wegen  seines  kampfes  gegen  das  arianische 
glaubensbekeuntnis  nach  Kleinasien  verbannt  —  der  „Athanasius 


12  Einleitung. 

des  Abendlandes".  Auch  in  seiner  hanptschrift  De  trinitate 
(contra  Arianos)  vertritt  er  diesen  Standpunkt.  In  zwei 
Kommentaren  gab  er  dem  Abendland  beispiele  einer  allegorisch- 
typologischen  anslegnng  der  Bibel  nach  dem  nmster  der 
alexandrinischen  schule.  Grossen  wert  legt  er  auf  korrektheit 
und  eleganz  des  ausdrucks.  Auch  in  der  eigentlichen  dichtung 
hat  er  sich  versucht  mit  hymnen,  die  echtheit  der  unter 
seinem  namen  überlieferten  hymnen  ist  freilich  wenig  gesichert. 
Ihm  steht  zeitlich  noch  nahe  Sulpicius  Severus  aus 
Aquitauien  (geb.  in  den  sechziger  jähren  des  4.  jhs.,  gest.  420), 
welcher  uns  eine  Vita  seines  lehrers  und  meisters,  des  heiligen 
Martin  von  Tours,  und  in  seiner  Chronica  eine  chronologische 
darstellung  der  kirchengeschichte  (mit  einschluss  eines  abrisses 
der  biblischen  geschichte)  hinterlassen  hat.  Gallier  von  geburt 
ist  auch  Paulinus  von  Nola  (353 — 431),  geboren  zu  Bordeaux 
und  hier  der  schüler  Ausons.  Durch  diesen  zunächst  der 
weltlichen  lauf  bahn  zugeführt,  später  aber  durch  äussere  und 
innere  momente  dem  asketischen  leben  zugekehrt,  gründete 
er  in  Nola  in  Campanien  ein  kloster  und  wirkte  ebenda  die 
zwei  letzten  Jahrzehnte  seines  lebens  als  bischof.  In  seinen 
gedienten,  zumal  in  seinem  poetischen  briefwechsel  mit  Auson, 
spiegelt  sich  das  Vorbild  der  gallisch -lateinischen  rhetorik 
sowie  sein  Übergang  vom  weltkind  zum  asketen  wieder.  Au 
diese  gedichte  schliesst  sich  dann  eine  reiche  geistliche  lyrik: 
gedichte  zu  ehren  seines  Schutzpatrons,  des  heiligen  Felix, 
psalmcnparaphrasen,  gelegenheitsgedichte,  schliesslich  auch 
dichtungen  apologetischen  inhalts  und  prosabriefe. 

Eine  reihe  anderer  christlicher  dichter  und  Schriftsteller 
treten  uns  in  der  folgezeit  in  Gallien  entgegen:  Prosper  von 
Aquitanien  (gest.  463),  der  auch  die  Weltgeschichte  des  hl. 
Hieronymus  fortsetzt,  bekämpft  wie  sein  lehrer  Augustin  den 
pelagianismns,  speziell  den  südgallischen  semipelagianismus,  in 
einem  langen,  hexametrischen  gedieht  De  ingratis;  verschiedene 
dichter  versifizieren  und  erläutern  die  Genesis,  am  freiesten 
und  bedeutendsten  unter  ihnen  Alimus  Ecdicius  Avitus 
aus  der  Auvergne,  bischof  von  Vienne  (gest.  um  526),  welcher 
auch  das  lob  der  gottgeweihten  keuschheit  singt  und  gegen 
den  arianismus  kämpft;  auch  lebensgeschichten  von  heiligen 
werden  jetzt  in  verse  gebracht,  wie  des  Sulpicius  Severus  Vita 


Geschichtliches:  gallisch -christliche  Literatur.  13 

Martini  cfurch  Panlinus  von  Perigueux  (gegen  440),  und 
Paulinua  von  Pella  (illyrischer  abkunft,  aber  in  Bordeaux 
erzogen)  erzählt  in  Fersen  sein  eigenes  leben.  Unter  den 
Prosaschriftstellern  setzt  Gennadius  von  Marseille  des 
Hieronymus  Bchrift  De  viris  ülustrihus  fort  (um  480);  andere 
geistliebe  wenden  sich  dem  moralisch  -  didaktischen  oder 
dogmatisch-polemischen  gebiete  zn  wie  Orientius,  Vincentius 
von  Lerins,  Claudianus  Mamertus;  als  strenger  Bittenrichter 
und  zugleich  als  trefflicher  sittenscbilderer  tritt  Salvianus 
(De  guhcrnatione  Dei,  gegen  mitte  des  5.  jhs),  als  kanzelredner 
bischof  Caesarius  von  Arles  (gest.  543)  hervor.  Steht  bei 
allen  diesen  Schriftstellern  das  christlich -religiöse  momeut  im 
Vordergrund,  so  erscheint  uns  in  dem  namenchristen  Apollinaris 
Sidonius  aus  Lyon  (ca.  430 — 487),  trotz  der  bischofswimle 
von  Clermont-  Ferraud,  im  wesentlichen  ein  fortsetzer  der 
antik-heidnischen  richtung,  welche  er  in  seinen  panegyrischen 
und  sonstigen  gelegenheitsgedichten  mit  rhetorischer  gewant- 
lieit  und  unter  reichlicher  Verwendung  antiker  mythologie 
befolgt  hat  und  auch  in  seinen  geistlichen  gedichten  nicht 
verleugnet.  Mit  dem  vielseitigen  Venantius  Fortunatus, 
der  geistliche  legende  (Vita  S.  Martini)  wie  Zeitgeschichte 
(De  exeidio  Thuringiae),  epik  und  lied,  episteln  und  sonstige 
gelegenheitsgedichte  gepflegt  bat,  und  mit  seinem  freund  und 
Zeitgenossen  Gregor  von  Tours,  dem  ersten  geschicht- 
schreiber  der  Franken,  treten  wir  bereits  in  das  Zeitalter  der 
fränkischen  herrschaft  ein,  in  die  zeit,  in  welcher  auch  die 
fränkischen  eroberer  bereits  anteil  am  religiösen  und  sonstigen 
geistigen  leben  Galliens  nehmen.  Die  christliche  dichtung 
hatte  sich  allmählich  der  meisten  formen  und  gattungen  der 
römisch-heidnischen  dichtung  bemächtigt  und  überliefert  so 
der  folgezeit  christliche  lyrik  und  epik,  episteln,  Satiren  und 
epigrainme  ebenso  wie  in  der  prosa  gesebiehtsschreibung, 
morallehre  und  verwante  gattungen. 

Gallien  weist  also  sehr  bald  nach  der  bekehrung  zum 
Christentum  eine  grosse  zahl  von  christlichen  dichtem  und 
Schriftstellern  auf,  die  innerhalb  der  christlich -lateinischen 
literatur  zum  teil  eine  führende  rolle  spielen.  Die  germanischen 
Völker,  welche  in  Gallien  eindrangen  und  dauernde  herrschaften 
daselbst  aufrichteten,  fanden  ein  christianisiertes  und  zwar  dem 


14  Einleitung. 

orthodoxen  (athanasianischen)  glanbensbekenntnis  anhängendes 
galloromanentnm  vor.  Das  ist  wesentlich  nicht  nur  für  die 
Stellung  der  germanischen  eroberer  zu  den  Römern,  sondern 
anch   für  das  Verhältnis   der  nachmals  znm  athanasianischen 

Christentum  bekehrten  Franken  zu  den  Gothen  und  Burgundern 
Die  ersten  berührungen  germanischer  Völker  mit 
Rom  gelien  freilieh  noch  weit  in  vorchristliche  zeit  zurück. 
Am  Mittel-  und  Niederrheiu  sassen  schon  anderthalb  Jahr- 
hunderte vor  Cäsar  germanische  stamme  auf  dem  linken  ufer, 
die  sich  freilich  mit  den  Kelten  daselbst  vermischten  oder  ganz 
keltisiert  wurden.  Der  einbruch  der  Kimbern  und  Teutonen 
in  Italien  und  Gallien  (113 — 101)  war  für  Rom  sehr  gefahr- 
voll, endigte  aber  mit  der  niederlage  dieser  Völker  durch 
Marias  und  hinterliess  keine  dauernden  naehwirkungen.  Seit 
71  v.  Chr.  hatte  Ariovist  im  mittleren  Gallien  im  lande  der 
Sequaner  eine  suebisehe  herrschaft  begründet,  wurde  aber  58 
von  Cäsar  geschlagen  und  über  den  Rhein  zurückgeworfen. 
Ein  gleiches  Schicksal  widerfuhr  drei  jähre  später  den  Usipeteru 
und  Tenkterern,  noch  ehe  sie  in  Gallien  recht  festen  fuss 
gefasst  hatten.  Die  beiden  rekognoszierungszüge  Cäsars  nach 
Germanien  selbst  (in  den  jähren  55  und  53)  blieben  zwar  ohne 
nachhaltigen  erfolg,  aber  Augustus  setzte  die  politik  der  er- 
obernng  nach  dieser  seite  fort:  die  Römer  gingen  zum  angriffs- 
kriege  vor  und  unterwarfen  sich  weite  gebiete  auf  dem  rechten 
Rheinufer.  Der  sieg  Armins  über  Varus  im  Teutoburgerwald 
im  jähre  9  n.  Chr.  hinderte  die  dauernde  festsetzung  der  Römer 
im  inneren  Deutschland.  Hingegen  wurde  im  laufe  des  jahrhs. 
der  Südwesten  Deutschlands  mit  den  sogenannten  agri  decumates 
dem  römischen  reich  einverleibt,  die  beiden  „Germanien"', 
Germania  superior  und  inferior,  wurden  als  provinzen  ein- 
gerichtet. Seitdem  aber  hat  sich  Rom  den  Germanen  gegenüber 
im  wesentlichen  auf  die  Verteidigung  beschränkt. 

Auch  diese  wie  die  folgenden  Zeiten  haben  Gallien  er- 
hebliche mengen  deutschen  blntes  zugeführt.  Der  aufstand 
des  Claudius  Civilis  sah  Germanen  und  Kelten  vereint  im 
kämpfe  gegen  die  römische  fremdherrschaft.  Des  öfteren 
siedelten  die  Römer  unterworfene  deutsche  stamme  oder  teile 
von  solchen  auf  dem  linken  Rheinufer  an,  so  schon  38  v.  Chr. 
M.  Agrippa   den   ganzen   stamm   der  Ubier   (deren   hauptstadt 


Geschichtliches:  die  Gerinaueii.  1 

später  zu  ehren  der  enkelin  Agrippas,  der  kaiserin  Agrippina, 

den  namen  Colonia  Claudia  Agrippinensis  =  Köln  erhielt),  so 
Tiberius  im  Jahre  9  v.  Chr.  40000  Sugambrer;  so  führte  noch 
Constantius  Chlorus  (unter  Diocletian)  eine  grosse  zahl  Franken 
ans  ihren  sitzen  am  Niederrhein  nach  Nordgallien  fort.  Solche 
unter  römischer  Oberhoheit  stehende  deutsche  stamme  tiber- 
nahmen in  der  regel  die  grenzwacht  gegenüber  den  nicht- 
römischen Germauen.  Wie  vorher  die  Kelten  drangen  auch 
bald  Germanen  in  das  römische  heer  selbst  ein,  sogar  die 
Leibwache  des  kaisers  bestand  schon  im  1.  jh.  n.  Chr.  grossen- 
teils  aus  Germanen.  Vitellius  ward  von  den  germanischen 
legionen  zum  kaiser  erhoben,  und  in  den  späteren  wirren  der 
römischen  kaiserherrschaft  spielen  germanische  truppen  und 
heerführer  häufig  eine  entscheidende  rolle. 

Gleichwohl  hat  sich  gerade  in  Gallien  die  römische  herr- 
Bchaft  mich  etwas  länger  gehalten  als  im  italischen  stamm- 
lande selbst.  Nur  sehr  allmählich  haben  die  germanischen 
Völker  Gallien  von  norden  und  osten  her  in  besitz  genommen, 
während  in  Südgallien  die  Westgothen  schon  412  eine  dauernde 
herrschaft  —  dem  namen  nach  allerdings  zunächst  unter 
römischer  Oberhoheit  —  gründeten  und  nördlich  bis  zur  Loire, 
südlich  allmählich  über  ganz  Spanien  ausdehnten.  Unter  ähn- 
lichen Verhältnissen  wurden  drei  Jahrzehnte  später  (443)  die 
bisher  in  der  gegend  von  Worms  ansässigen  Burgundeu  durch 
Aetius  in  der  Sabaudia  (Savoyen)  angesiedelt:  zunächst  unter 
römischer  Oberherrschaft,  warfen  sie  diese  bald  genug  ab  und 
erweiterten  ihren  besitz  nach  westen  und  Süden  hin.  Aber 
diese  germanischen  stamme  in  Südgallien  und  Spanien  wie 
in  Afrika  bilden  sozusagen  nur  die  vorpostenketten  der 
germanischen  hauptmacht,  sie  erhalten  keine  Verstärkung  aus 
dem  mutterland  wie  die  stets  in  unmittelbarem  zusammenhange 
mit  diesem  bleibenden  nordstämme.  An  zahl  und  kultureller 
tätigkeit  zugleich  den  Romanen  des  eigenen  landes  nachstehend 
gehen  sie  schliesslich  ganz  im  romanentum  auf,  am  raschesten 
die  Burgunden,  die  in  der  hauptsache  wrohl  schon  romanisiert 
waren,  als  sie  den  Franken  unterlagen. 

Nachhaltiger  wirkten  die  angriffe  germanischer  Völker 
gegen  das  römische  Gallien  von  norden  und  osten  her,  dort 
der   Franken,   hier   der  Alainannen.     Diese,   seit   dem    anfang 


16  Einleitung. 

des  3.  jhs.  (213,  zur  zeit  des  Kaisers  Caracalla)  unter  diesem 
oamen  in  der  gesehichte  auftretend  und  in  der  hauptsache  mit 
den  alten  Sueben  identisch,  haben  zwar  kein  selbständiges 
reich  auf  dem  römischen  boden  Galliens  errichtet,  dafür  aber 
weite  strecken  ehemals  römischen  landes  teils  im  kämpf,  teils 
durch  friedliche  besiedelung  in  besitz  genommen  und  dem 
deutschtum  dauernd  gewonnen:  so  die  agri  decumates  (ende 
des  3.  jhs.),  so  allmählich  (im  laufe  des  5.  jh.)  Elsass,  Pfalz 
und  teile  von  Lothringen  und  angrenzendem  Rheinland,  gebiete, 
in  denen  allerdings  teilweise  schon  vorher  germanische  stamme 
gesessen  waren.  Erst  der  zusammenstoss  mit  den  Frauken 
gebot  dem  vordringen  der  Alamannen  halt.  Was  wir  \o\\ 
oberdeutschen,  die  Wirkung  der  hochdeutschen  Lautverschiebung 
zeigenden  dementen  im  altfranzösischen  Sprachschatz  finden, 
verdankt  dieser  alamannischem  einfluss. 

Wie  die  Alamannen  stellen  auch  die  Franken  eine  art 
Völkerbund  dar,  welcher  aus  verschiedenen  stammen  —  Batavern, 
Ampsivariern,  Sugambrern,  Chatten  u.a.  —  zusammengeschweisst 
ist  und  uns  im  3.  jh.  (gegen  240)  zum  erstenmale  unter  dem 
neuen  namen  entgegentritt.  Ihre  von  Gregor  von  Tours  be- 
richtete angebliche  herkunft  aus  Pannonien  könnte  höchstens 
den  geschichtlichen  Hintergrund  haben,  dass  einer  oder  einige 
der  nachmals  fränkischen  stamme  in  alten  zeiten  einmal  in  den 
Donaugegenden  gesessen  wären  —  möglicherweise  handelt  es 
sich  um  blosse  gedächtnismässige  entstelluug  eines  namens,  da 
als  ihre  nächsten  sitze  gleich  die  Rheinufer  bezeichnet  werden. 
Die  in  späterer  zeit  —  von  dem  sog.  Fredegar  (7.  jh.)  —  be- 
richtete abstammung  von  den  Trojanern  beruht  teils  auf  gröb- 
lichen missverständnissen,  teils  auf  gelehrter  fabelei;  auch  der 
angebliche  heros  eponymos  Francus  oder  Francio  ist  eine  post 
i'estum  konstruierte  ligur.  Der  eroberung  Galliens  gingen  einer- 
seits eine  reihe  raub-  und  plünderungsziige  der  Franken,  andrer- 
seits zahlreiche  zwangsweise  ansiedelangen  besiegter  oder 
gefangen  genommener  Franken  im  römischen  Gallien  durch 
die  Römer  selbst  voraus,  wodurch  schon  die  politische  besitz- 
ergreifung  und  germanisierung  Nordgalliens  vorbereitet  wurde. 
Vor  allem  waren  es  die  am  Niederrhein  sitzenden  salischen 
Frauken,  welche  stets  vorwärts  drängten  und  stück  um  stück, 
linie  um  linie  den  Römern  abgewannen.    Bereits  zur  zeit  Julians 


Geschichtliches:  die  Germanen.  1  < 

Apostata,  des  Alamannenbesiegers,  waren  sie  im  unangefochtenen 
besitz  der  linksrheinischen  Landschaft  Toxandria.  Etwa  zwei 
menschenalter  später  (in  den  dreissiger- jähren  des  5.  jh.)  er- 
obert   Chlodio,    der   erste   Merovingerkönig,   der    uns    in    der 

geschiente  begegnet,  Cambrai  und  das  angrenzende  land  bis 
zur  Summe.  Als  476  mit  der  absetzung  des  Romulus  Augustus 
durch  Odovaker  das  ende  des  römischen  Weltreichs  besiegelt 
war,  blieb  das  römische  Gallien  unter  Syagrius  als  selbständige 
herrsch aft  bestehen,  freilich  beschränkt  auf  das  gebiet  zwischen 
Loire  und  Somme,  im  westen  nicht  einmal  bis  zur  küste,  im 
osteu  kaum  bis  zur  Mosel  sich  erstreckend.  Unter  fahrung  des 
zwanzigjährigen  Chlodovech  eroberten  die  Franken  486  diesen 
letzten  rest  römischer  herrschaft.  Die  residenz  des  fränkischen 
reiches  ward  jetzt  von  Cambrai  nach  Soissons  verlegt.  Die 
Franken  waren  freilich  nicht  imstande  dies  weite  gebiet  wirk- 
lich zu  germanisieren,  trotzdem  sie  in  älteren  germanischen 
ausiedlern  bereits  eine  grundlage  antrafen  und  selbst  zahlreiche 
neue  siedeluugen  anlegten.  Vor  allem  blieben  die  städte  im 
wesentlichen  römisch,  und  die  gesamtzahl  der  einwandernden 
Franken  gegenüber  den  Romanen  war,  ganz  abgesehen  von 
kulturellen  momenten,  zu  gering  um  eine  germanisierung 
bewirken  zu  können.  Vielmehr  werden  in  diesen  gebieten 
die  Franken  allmählich  romauisiert,  aber  gerade  dadurch 
tragen  sie  wesentlich  zur  bildung  der  neuen  französischen 
nation  bei,  und  es  leidet  keinen  zweifei,  dass  sie  in 
intellektueller  hinsieht  eine  grosse  bedeutung  für  diese  ge- 
wonnen haben. 

Die  übrigen  eroberungskriege  Chlodovechs  und  seiner 
söhne  in  Gallien  wenden  sich  im  wesentlichen  gegen  germa- 
nische stamme.  Die  Alamannen  werden  496  und  501  besiegt, 
unterworfen  und  aus  den  gegenden  am  Main  und  unteren 
Neckar  ganz  durch  die  Franken  verdrängt.  Der  West- 
gotenkrieg 507/8  dehnt  die  grenzen  des  reiches  nach 
Süden  bis  zur  Garonne  aus,  wodurch  auch  das  romanische 
element  im  Franken  reich  eine  wesentliche  Verstärkung  erfährt 
ebenso  wie  durch  die  Eroberung  des  Burgundenreiches  532. 
Damit  ist  das  ehemalige  Gallien  in  der  hauptsache  wieder 
unter  einer  herrschaft  vereinigt  und  zwar  unter  germanisch- 
fränkischer. 

Voretzsi-h,  Studium  d.  afrz.  Literatur.     2.  Auf  läge.  2 


18  Einleitung. 

Von  wesentlicher  bedeutung  für  die  weitere  Verschmelzung' 
zwischen  Frauken  und  Romanen  in  den  eroberten  gebieten 
war  Chlodovechs   übertritt  zum   Christentum   athanasianischen 

glaubens.  Die  interessengemeiuschaft,  welche  dadurch  zwischen 
ihm  und  den  Romanen  gegenüber  den  arianischen  Westgoten 
und  Burgunden  entstand,  ist  ihm  in  den  kriegen  gegen  diese 
beiden  germanischen  Völker  sehr  zu  statten  gekommen.  Wie 
nahe  sich  hier  politik  und  religion  berührten,  lassen  auch  die 
worte  erkennen,  welche  Gregor  von  Tours  den  Frankenkönig 
zur  motivierung  seines  zuges  gegen  die  Westgoten  zu  den 
seinen  sprechen  lässt:  'Valde  molestum  fero,  quod  lii  Ariani 
partem  teneant  Galliarum.  JEamus  cum  dei  adjutormm,  et  supc- 
ratis  redigamus  terram  in  ditione  nostra'.  Ciiniqae  placuisset 
(fährt  Gregor  fort)  omnibus  hie  sermo,  commoto  exercitu, 
Pectavos  dirigit. 

Mit  der  eroberung  Galliens  durch  die  Franken,  mit  ihrer 
bekehrung  zum  athanasianischen  Christentum  sind  im  wesent- 
lichen die  bedingungen  abgeschlossen,  welche  der  entstehung 
und  entwicklung  der  französischen  nation  zu  gründe 
liegen.  Aus  der  folgezeit  ist  nur  noch  ein  neuer  zufluss  ger- 
manischer bevölkerung  und  kultur  durch  die  festsetzung  der 
Normannen  in  der  nach  ihnen  genannten  Normaudie  hervorzu- 
heben, die  sie  —  nach  zahlreichen  raubzügen  in  das  fränkische 
reich  wie  sie  vor  ihnen  oft  genug  auch  die  Sachsen  zur  see 
ausgeführt  hatten  —  911  durch  ihren  herzog  Rollo  von  Karl 
dem  einfältigen  zu  lehn  erhielten.  Auch  das  ist  nicht  ohne 
belang,  dass  Britannien  —  das  schon  anfaug  des  5.  jhs.  von 
den  Römern  aufgegeben  worden  war  —  seit  449  von  Angeln. 
Sachsen  und  Juten  in  besitz  genommen  wurde.  Die  hierdurch 
hervorgerufenen  kämpfe  zwischen  den  eingeborenen  Kelten  und 
den  germanischen  eindringliugen  —  kämpfe,  in  denen  im  6.  jh. 
auf  Seiten  der  Kelten  herzog  Arthurus  eine  rolle  spielt  —  haben 
die  auswanderung  zahlreicher  keltischer  Briten  nach  dem  be- 
nachbarten festland,  nach  der  halbinsel  Aremorika  (seitdem 
Bretagne),  zur  folge.  In  England  wird  das  germanische  element 
in  späterer  zeit  durch  die  einfalle  der  Dänen  verstärkt.  Hin- 
gegen sind  die  Normannen,  als  sie  1066  unter  herzog  Wilhelm 
England  erobern,  bereits  völlig  romanisiert.  Gerade  aber  durch 
diese    Verbindung    der    französischen   Normaudie   mit   England 


Geschichtliches:  dit*  französische  Nation.  19 

wurden   germanischen    und    auch    keltischen  einflüsseu  breitere 
bahnen  geöffnet. ») 

Überblicken    wir    alles    im    Zusammenhang,    so    zeigt    es 
sieh,    dass    die   französische    Dation    aus    einer   misehung   der 


')  Über  die  im  vorstehenden  skizzierte  geschichtliche  entwicklung 
siehe  genaneres  in  folgenden  werken:  D'Arbois  de  Jubainville,  Les 
prerniers  habitauts  de  l'Europe,  sec.  edition  I.  II.  1889  —  94;  Les  Celtes 
jusqu'en  l'an  100  avaut  notre  ere,  Paris  1904.  Zeuss,  Die  Deutschen  und 
ihre  Nachbarstämme  1837.  —  Mommsen,  Römische  Geschichte,  V.  band, 
1885.  Hübner,  Die  römische  Herrschaft  in  Westeuropa  1890.  E.  Desjardins, 
Geographie  historique  et  administrative  de  la  Gaule  romaiue,  1876 —  93. 
Budinszky,  Die  Ausbreitung  der  lateinischen  Sprache  über  Italien  und 
die  Provinzen  des  römischen  Reiches.  Berlin  1881.  Jung,  Die  romanischen 
Landschaften  des  römischen  Reiches,  Innsbruck  1SS1.  E.  Kornemann,  Zur 
Stadtentstehung  in  den  ehemals  keltischen  und  germanischen  Gebieten  des 
Pömerreiches,  Giessen  (Habilitationsschrift)  1  &9S.  M.  Roger,  L'enseignement 
des  lettres  classiques  d'Ausone  ä  Alcuin,  Paris  1905.  —  Felix  Dahu, 
Urgeschichte  der  germanischen  und  romanischen  Völker,  3.  band,  Berliu 
1883  (Onckens  Allgemeine  Geschichte  in  Einzeldarstellungen,  II.  hauptabt., 
2.  teil).  Bibliothek  deutscher  Geschichte  herausgegeben  von  Zwiedineck- 
Südenhorst,  besonders  Oskar  Gntsche  und  Walter  Schultze,  Deutsche 
Geschichte  von  der  Urzeit  bis  zu  den  Karolingern,  2  bd.,  Stuttgart  1894 
und  1896,  und  Engelbert  Mühlbacher,  Deutsche  Geschichte  unter  den 
Karolingern,  Stuttgart  1896.  —  Histoire  generale  du  4e  siecle  jusqu'a  nos 
jours.  Ouvrage  publie  sons  la  direction  de  MM.  E.  Lavisse  et  A.  Rambaud, 
Paris  1&93  ff. ,  12  bände.  —  J.  Michelet,  Histoire  de  France  depuis  les 
origines  jusqu'eu  1789,  Paris  1832  ff.,  1 7  bd.,  neue  aufläge  1879,  19  bd.  Henri 
Martin,  Histoire  de  France  depuis  les  temps  les  plus  recules  jusqu'en  1789, 
Paris  1853  ff.,  17  bd ,  4.  aufl.  1855  ff.,  illustrierte  Volksausgabe  18(17—85 
in  7  bänden.  E.  Lavisse,  Histoire  de  France  depuis  les  origines  jusqu'ä 
la  Revolution,  Paris  1900  ff.  —  Abrisse:  Victor  Duruy,  Abrege  de  l'histoire 
de  France,  Paris  1855  in  2  bd.  (Schulbuch,  häufig  neu  aufgelegt).  Stern- 
feld, Französische  Geschichte  (Sammlung  Göschen),  21908.  — 

Für  quellenkunde  und  bibliographie:  A.  Potthast,  Bibliotheca  historica 
medii  aevi.  Wegweiser  durch  die  Geschichtswerke  des  europäischen 
Mittelalters,  2.  aufl.,  Berlin  1896,  2  bde.  Ulysse  Chevalier,  R6pertoire  des 
sources  historiques  du  moyen  äge,  Paris  1877  ff.  Gabriel  Monod,  Biblio- 
graphie de  l'histoire  de  France,  Paris  18&8.  H.  Bresslau,  Quellen  und 
Hilfsmittel  zur  Geschichte  der  Roman.  Völker  im  Mittelalter,  in  Gröbers 
Grundriss  der  Roman.  Phil.  III.  band,  3.  abt.;  ebenda  auch  Alwin  Schultz, 
Zur  romanischen  Kulturgeschichte  and  Kunstgeschichte,  sowie  W.  Windel- 
band, Zur  Wissenschaftsgeschichte  der  romanischen  Völker.  Aug.  Molinier, 
Les  sources  de  l'histoire  de  France  des  origines  aux  guerres  d'Italie, 
Paris  1900  ff.  —  Für  literatur  vgl.  die  am  schluss  der  einleitg.  angegebeuen 
werke. 

2* 


20  Einleitung. 

verschiedensten  Völkerschaften  entstanden  ist.  Schon  die  vor- 
romanische bevölkerung  ist  weit  entfernt  einheitlich  zu  Bein, 
wenn  auch  die  Kelten  das  herrschende  Volk  bildeten  und  die 
unterworfenen  Völker  zum  teil  keltisiert  hatten.  Sodann  haben 
die  Römer  den  bewohnern  Galliens  erhebliche  mengen  neuen 
blutes  zugeführt,  und  endlich  haben  die  Germanen  fast  von 
allen  Seiten  —  von  Süden  die  Westgoten,  von  osten  Burgunden 
und  Alamannen,  von  nordosten  und  norden  die  Franken,  von 
nordwesten  die  Normannen  —  die  galloromanische  bevölkerung 
angegriffen  und  mit  germanischem  blute  durchsetzt. 

Über  den  grösseren  oder  geringeren  anteil  dieser  ver- 
schiedenen faktoren  an  der  bildung  der  französischen  uation 
lässt  sich  bestimmtes  nicht  sagen.  Jedenfalls  ist  die  rohe 
volkszahl  nicht  massgebend  für  die  kulturelle  bedeutung  dieses 
oder  jenes  Stammes  oder  Volkes.  In  der  regel  unterliegt  die 
niedrigere  kultur  der  höheren  wie  die  keltische  der  römischen, 
ebenso  der  keltisch- römische  und  der  germanische  polytheismns 
dem  Christentum.  Die  römische  kultur  überwindet  auch  die 
Germanen,  aber  nicht  auf  allen  gebieten:  überall  da.  wo  das 
Römertum  sich  im  niedergang  befindet  oder  sonst  unterlegen 
erweist,  in  kriegswTesen,  Staatsverfassung,  zum  teil  auch  in 
der  rechtsprechung'.  übt  das  germanentnm  tiefgehenden  einfluss 
auf  die  neue  entwicklung  aus. 

Diese  Verhältnisse  spiegeln  sich  zunächst  und  sehr  deutlich 
wieder  in  der  spräche,  besonders  in  ihrem  wertschätz.  Dieser 
ist  seiner  grundlage  nach  durchaus  römisch  wie  die  französische 
spräche  überhaupt.  Auffallend  gering  ist  die  zahl  der  worte 
keltischer  herkunft:  ein  paar  dutzend  worte,  welche  meist 
einzelne  körperteile,  kleidungsstücke  oder  waffen,  sodann  tiere, 
pilanzen,  topographische  ausdrücke  u.  ä.  bezeichnen  (becco — bec, 
braca  —  braie,  crot — rote  roter,  paravercdus —  palefroi,  stamm 

brocc brocke   brochier,    vertragus  —  veltro  —  viautre  vautre, 

gwern  [fem]  —  verne,  duna —  dune).1) 


l)  Vgl.  in  AS  das  zu  den  Worten  roter,  brochier,  petit,  maint 
bemerkte.  —  Über  die  keltische  spräche  siehe:  J.  Caspar  Zeuss, 
Grauimatica  celtica  lb5:>,  neue  aufl.  1871.  —  E.  Windisch.  Keltische 
Sprache,  im  Grundiiss  d.  Rom.  Phil.  I  2^3  —  312  (wo  jedoch  der  einfluss 
des  keltischen  auf  die  gallorouianischen  sprachen  etwas  überschätzt  wird). 


Die  Sprache:  Wortschatz.  21 

Die  zahlreichen  worte  griechischen  Ursprungs  teilt  das 
französische  mit  den  meisten  übrigen  romanischen  sprachen. 
Sie  sind  ihm  weniger  durch  den  speziellen  einfiuss  Afassilias 
und  der  dazu  gehörenden  griechischen  kolonien  als  durch  ver- 
mittelnng  des  Latein  zugekommen,  welches  im  mutterlande 
Italien  eine  grosse  zahl  griechischer  worte  aus  dem  lebendigen 
verkehr  mit  der  Magna  Graecia  sowie  aus  griechischen  literatur- 
werken aufgenommen  hatte. l) 

Ungleich  reichhaltiger  als  griechisches  und  keltisches 
lehngut  ist  das,  was  die  Germauen  zu  dem  Wortschatz  der 
werdenden  französischen  spräche  beigesteuert  haben.  Zählen 
die  worte  keltischer  herkunft  nach  dutzenden,  so  zählen  die 
germanischen  worte  nach  huuderten.  Sehr  treffend  und  über- 
sichtlich hat  Gaston  Paris  in  der  eiuleitung  zu  seiner  literatur- 
geschichte  die  verschiedenen  gebiete  umschrieben,  auf  welchen 
mit  der  sache  oder  mit  dem  begriff  auch  das  bezeichnende 
germauische  wort  mit  übernommen  worden  ist  oder  ein  solches 
das  entsprechende  lateinische  ersetzt  hat:  Staatswesen,  Ver- 
waltung, rechtsprechung,  Kriegswesen,  waffen,  Kleidungsstücke, 
handwerk  und  bauweseu,  Schiffahrt  usw.  Auch  eine  reihe  von 
bezeichnnugen  für  pflanzen,  tiere,  färben  und  farbenabstufungen, 
für  Körperteile,  moralische  begriffe,  gemütszustände  und  ähnliche 
allgemeine  kategorien  stammen  aus  dem  germanischen,  ja  selbst 
einige  adverbien  wie  trop  (<])0)p — firop)  und yucres (<.weigiro) 
uud  suffixe  wie  -ard  <  -hard,  -aud  <  -hald  sind  von  dorther 
eingedrungen  und  sogar  mit  romanischen  stammen  verbunden 
worden.  Endlich  beweist  für  die  tiefgehende  ein  Wirkung  des 
germanischen  elements  die  fortdauer  zahlreicher  germanischer 
namen    im    französischen,    wie    Bernard,    Gautier,    Guillaume, 


—  H.  Pedersen,  Keltische  Grammatik,  19ü9  — 11,  2  bde.  —  Rudolf 
Thurneysen,  Keltoromauisches.   Halle  lv&4  (scharfe  sichtuug  der  keltischen 

idteile  im  frauz.  Wortschatz).  —  Alfred  Fluider,  Altkeltischer  Sprach- 
schatz, 1896 — 1901,  3  bde. 

')  Vgl.  in  AS  piere  perron  zu  nixqa,  chaiere  —  za&idQtc,  trosser 
(trossel)  —  Üioooc,   tresor  —  it^ouvQÖq,  parole  parier —  nccoaßohj,   trover 

—  tqÖtioc    (xQcmo).oy£lv),    torner   —    toqvoq    (zofjrtvoj),     colper    (colp) 

—  xöXatpoq,  sornier  (some)  —  o/r/ua,  chameil  —  xdfiJjkov.  Vgl.  auch 
F.  0.  Weise,  Die  griechischen  Wörter  im  Latein.  Leipzig  1SS2.  Th.  Claussen, 
Die  griech.  Würter  im  Französischen.  Rom.  Fo.  15,  774  ff.  —  Wegen  der 
griechischen  kultworte  siehe  unten. 


22  Einleitung. 

Thierry  (ans  deutsch  Bernhard,  Walthari,  Wilihelm,  ßeodrik).1) 
Der  anteil  der  einzelnen  germanischen  stamme  an  diesem  sprach- 
en lässt  sieh  nicht  leicht  scheiden,  zumal  soweit  die  Über- 
nahme der  betreffenden  worte  vor  der  hochdeutschen  lautver- 
schiebung  stattfand.  Das  meiste  verdanken  die  Franzosen  in 
dieser  hinsieht  naturgemäss  den  Franken,  wenn  auch  dieselben 
worte  grossenteils  im  italienischen  und  spanischen  wieder  be- 
gegnen, wo  sie  am  wahrscheinlichsten  auf  entlehnung  aus  dem 
west-  und  ostgotischen  oder  langobardischen,  zum  teil  auch 
aus  dem  altfranzösischen  beruhen.  Ausdrücke  des  Seewesens, 
auch  bezeichnungen  der  himmelsrichtungen  (wie  nord,  Sud) 
weisen  meist  auf  niederdeutsche,  angelsächsische  oder  alt- 
nordische (normannische)  herkunft  hin. 

Auch  der  kultureinfluss  des  Christentums  lässt  sich 
in  der  bereicherung  des  Wortschatzes  häufig  feststellen.  Es 
kommen  hierbei  vor  allem  die  sogenannten  kultworte  in 
betracht,  bezeichnungen  für  den  Gottesdienst  und  was  damit 
zusammenhängt,  religiöse  begriffe,  kirchliche  ämter.  Be- 
greiflicherweise bilden  griechische  worte  darunter  eine  starke 
gruppe.  Insofern  manche  dieser  kultworte  erst  allmählich 
und  spät  in  die  volksprache  eingedrungen  sind,  treten 
sie  uns  vielfach  nur  in  form  von  lehnworten  entgegen. 
Man  vergleiche  hierzu  Wörter  wie  menestier  <  minister  mm 
(gegen  erbwörtlich  mestier),  preechier  <  praedicure,  cresi'iicn. 
crestientet,  veritet,  diable  <  öiaßokov  (gegen  jorn  <  diumu m), 
reliques,    calice,   martir,  martirie,  prestre   und  prevoire   (pro- 


')  Aus  AS  gebären  hierher  z.  b.:  baron,  bandon,  abandoner;  espiit, 
bende,  geron,  escrepe,  guarnir,  conreer,  atirer,  afeltrer;  herberge,  faldestueil  ; 
guet;  jante;  blatic,  bloi;  drut,  honte,  baldoire,  gab,  ha'ir;  guarder,  croissir. 
guerpir,  lauer,  guter;  vgl.  auch  die  kreuzung  des  Iat.  alt  um  mit  fränk. 
hauh  in  halt.  Von  eigennaraen  sind  fast  alle  nainen  der  zwölf  pers  sowie 
Karls  name  selbst  hierher  zu  rechneu.  —  Über  die  germanischen  worte 
im  altfranzüsischen  vgl.:  Waltemath,  Die  fränkischen  Elemente  in  der 
französischen  Sprache,  Paderborn  1885.  —  Emil  Mackel,  Die  germanischeu 
Elemente  in  der  französischen  und  provenzalischen  Sprache,  Heilbronn 
18^7  (Franz.  Studien  VI,  1).  —  Gottfried  Baist,  Germanische  Seemanusworte 
in  der  franz.  Sprache,  Strassburg  11)03  (Separatdruck  aus  d.  Zeitschr.  f. 
deutsche  Wortforschung,  IV  257 — 76).  —  Vgl.  ferner  Friedrich  Kluge. 
Romanen  u.  Germanen  in  ihreu  Wechselbeziehungen  (in  Gröbers  Grundriss 
d.  rom.  Ph.  I2  498  — 514). 


Hie  Sprache:  Wortschatz.     Lautbildung.  23 

voire)  aus  presbyter  und  presbyterum  (jcQEößvteQov),  patiria/rche, 
archevesque. 

In  ähnlicher  weist'  äussert  sich  auch  der  fortdauernde 
einfloss  des  schriftlatein  durch  die  Übernahme  der  sog.  ge- 
lehrten oder  buchworte,  die  als  solche  durch  ihre  ab  weich  ungen 
von  der  erbwörtlichen  entwicklung  erkennbar  sind.  Man  ver- 
gleiche hier  worte  wie  penser  (gegen  peser),  principel,  rustique, 
chaste,  canele. ') 

Wieweit  nun  die  barbarensprachen,  speziell  keltisch  uud 
germanisch,  über  den  Wortschatz  hinaus  auch  auf  lautbildung 
und  sonstige  entwicklung  der  spräche  eingewirkt  haben, 
ist  eine  viel  umstrittene  frage.  Nabe  genug  liegt  es  ja  anzu- 
nehmen, dass  die  der  romanisierung  unterliegenden  Völker  das 
latein  nicht  so  vollkommen  nachahmten  als  es  die  Kömer  selbst 
sprachen,  dass  sie  angeborene  Sprechgewohnheiten  auf  die  neue 
spräche,  auf  das  latein,  übertrugen.  Aber  es  geht  nicht  an,  die 
Verschiedenheit  der  entwicklung  in  den  verschiedenen  provinzen 
des  römischen  reiches  in  bausch  und  bogen  auf  verschiedene 
ausspräche  des  latein  durch  vorrömische  oder  auch  nachrömische 
bevölkerung  zurückzuführen,  vielmehr  müssen  im  einzelnen  fall 
die  beweise  dafür  geliefert  werden.  So  sprechen  eine  reihe 
von  gründen  dafür,  dass  die  Kelten  den  laut  des  lat.  langeu 
u  nicht  besassen  und  ihn  demgemäss  durch  den  nächstver- 
wanten  laut  ü  ersetzten  (ünum>ün,  purum  > pur).  Ob  auch 
die  entwicklung  von  et  zu  it  sowie  die  erweichung  der  inter- 
vokalen konsonanten  auf  keltischen  einfluss  deutet,  wie  einige 
gelehrte  annehmen,  mag  dahin  gestellt  bleiben:  der  letzte 
Vorgang  beruht  im  wesentlichen  auf  einer  assimilation  der 
stimmlosen  konsonanten  an  die  stimmhaftigkeit  der  umgeben- 
den vokale,  die  an  und  für  sich,  als  organische  entwicklung, 
durchaus  verständlich  ist  und  ausserhalb  liegender  einflüsse 
nicht  bedarf. 

Die  Germanen,  in  eigentlich  römischem  land  zu  gering  an 
zahl  uud  zu  wenig  in  geschlossenen  masseu  gesiedelt,  konnten 


')  Vgl.  über  die  vielbehandelten  buch-  und  kultworte  zuletzt:  Heinrich 
Berger,  Die  Lehnwörter  in  der  französischen  Sprache  ältester  Zeit,  Leipzig 
1S9'.)  (wo  auch  germanische  und  orientalische  lehnwörter  mit  behandelt 
werden). 


IM  Einleitung. 

zwar  als  herrschendes  und  auch  knltturbildendes  volk  dem 
Wortschatz  eine  menge  neuer  elemente  zuführen,  aber  einen 
wesentlichen  einfluss  auf  die  lautliche  und  formelle  ent- 
wicklung  der  spräche  kaum  ausüben.  So  steht  das,  was  man 
über  einflösse  des  fränkischen  auf  die  französische  deklination 
und  konjugation  behauptet  hat,  auf  sehr  unsicheren  füssen.  Der 
Übergang  der  lat.  abstracta  auf  -or  in  das  feminingeschlecht 
(coüleur,  chaleur,  vigueur),  den  man  dem  Vorbild  der  ger- 
manischen abstracta  hat  zuschreiben  wollen,  erklärt  sich 
einfacher  aus  dem  latein  selbst,  wo  die  mehrzahl  der  ab- 
stracta ohnehin  schon  weiblichen  geschlechtes  war  (vgl.  AS 
zu  colors  v.  124). 

Die  Spaltung  des  latein  auf  gallischem  boden  wie  in  den 
übrigen  romanischen  ländern  in  sprachen  und  mundarten 
ist  auf  verschiedene  Ursachen  zurückzuführen.  Dass  Iberer 
das  übernommene  latein  nicht  ebenso  aussprachen  und  weiter- 
bildeten wie  Kelten,  Ligurer  oder  Italiker,  ist  wahrscheinlich, 
und  in  dieser  hinsieht  darf  die  ethnographische  und  sprachliche 
Verschiedenheit  der  romanisierten  Völker  als  eine  die  sprach- 
spaltuug  begünstigende  Ursache  wohl  in  betracht  gezogen, 
aber  im  einzelnen  nicht  ohne  tatsächliche  und  greifbare  beweise 
verwendet  werden.  Schon  die  ausbreitung  des  lateins  über 
ein  so  ausgedehntes,  durch  meere,  flüsse  und  hohe  gebirge 
scharf  gegliedertes  gebiet  musste  notwendig  zur  Verschiedenheit 
der  sprachlichen  entwicklung  führen  und  das  umsomehr,  seit 
die  Zentralgewalt  in  Rom  aufgehört  hatte  zu  existieren  oder 
einen  massgebenden  politischen  und  administrativen  einfluss 
auf  die  provinzen  auszuüben.  Es  ist  dann  ferner  nicht  gleich- 
giltig  die  stärke  der  romanisierung  in  den  einzelnen  gebieten. 
Die  Narbonensis  wurde  nicht  nur  60 — 70  jähre  früher  unter- 
worfen als  das  übrige  Gallien,  sondern  auch  viel  stärker 
kolonisiert  und  romanisiert  (vergleiche  den  oben  s.  6*  zitierten 
ausdruck  des  jüngeren  Plinius):  die  folge  war  jedenfalls,  dass 
hier  das  latein  korrekter,  echter  gesprochen  wurde  als  im 
norden.  Sulpicius  Severus  (s.  o.  s.  12)  lässt  in  einem  seiner 
dialoge  einen  Gallier  aus  Mittelgallien  von  den  Wundertaten 
des  hl.  Martin  berichten  und  sich  vor  den  Aquitaniern,  zu 
denen  er  redet,  wegen  seines  plumpen  latein  entschuldigen. 
Solche    unterschiede    waren   also   schon   früh   vorhanden,    und 


Die  Sprache:  Dialektbildtmg.  25 

gerade  zu  dem  hier  beobachteten  stimmt,  dass  das  französische 
sich  vom  latein  viel  weiter  entfernt  hat  als  das  in  der 
Narbonensis  heransgebildete  provenzalische. 

Die  verschiedene  entwieklnng  beschränkt  sich  aber  nicht 
auf  nord  und  süd  im  ganzen,  sondern  zeigt  sich  auch  inner- 
halb der  beiden  grossen  Sprachgebiete,  in  welche  Frankreich 
zerfällt.  Hierzu  wirken  einmal  die  schon  genannten  allgemeinen 
ur.-achcn,  geographische,  politische,  überhaupt  verkehrsgrenzen 
mit,  sodann  aber  kommt  besonders  für  die  galloromanisehen 
mnndarten  in  betracht,  dass  die  romanisierung  des  landes 
nicht  mit  einem  male,  sondern  allmählich,  von  den  Städten 
und  kolonien  als  mittelj)iinkten  ausgehend,  erfolgte.  Es  ist 
klar,  dass  an  den  grenzen,  wo  die  von  zwei  oder  mehreren 
Sprachzentren  ausgegangenen  romanisierungskreise  endlich  auf- 
einandertrafen, sich  sprachliche  unterschiede  herausstellen  und 
häufen  mussten.  Die  weitere  entwicklung  kann,  bei  starkem 
verkehr  und  namentlich  bei  starker  politischer  Zentralisierung, 
die  unterschiede  teilweise  ausgleichen,  auf  der  anderen  seite 
alter,  infolge  neuer  trennender  momente,  vertiefen. 

Wir  können  somit  auf  französischem  boden  eine  reihe  von 
dialekten  unterscheiden,  die  mit  den  namen  mittelalterlicher 
provinzen  bezeichnet  werden  ohne  sich  darum  in  ihrer  aus- 
dehnuug  völlig  mit  diesen  zu  decken.  Auch  solche  gelehrte, 
welche  das  Vorhandensein  von  dialekten  im  eigentlichen  sinne 
leugnen  und  nur  lautgrenzeu  anerkennen,  bedienen  sich  der 
Bequemlichkeit  halber  dieser  kurzen  bezeichnungen. 

Bevor  wir  die  französischen  dialekte  selbst  betrachten, 
ist  zunächst  im  westen  das  bretonische  vom  romanischen 
Sprachgebiet  abzurechnen  ebenso  wie  im  Südwesten  das 
1  taskiscke.  Im  osten  der  Pyrenäen  ragt  als  romanische  spräche 
das  katalanische  nach  Gallien  herein.  Von  der  mündung  der 
Gironde  im  westen  bewegt  sich  die  nordgrenze  des  proven- 
zalischen  in  einem  weiten  nach  norden  geschlossenen  halbkreis, 
der  die  provinzen  Limousin  und  Auvergne  einschliesst,  nach 
osten,  unterhalb  Vienne  die  Rhone  überschreitend  und  von 
da  zuerst  in  südöstlicher,  dann  (südlich  von  Grenoble)  in 
nordöstlicher  richtung  auf  die  Alpen  zielend,  wo  das  proven- 
zalisehe, in  der  nähe  des  Mont  Cenis,  mit  dem  italienischen 
zusammentrifft. 


26  Einleitung. 

Das  nördlich  dieser  linie  gelegene  romanische  Sprachgebiet 
Galliens  unterscheiden  wir  als  französisch  im  eigentlichen  sinne 
vom  provenzalischen  wie  von  den  übrigen  romanischen  sprachen. 

Im  norden  wird  betontes  freies  a  zu  e,  nach  palatalen  zu  ie 
(amer  chief),  im  Süden  bleibt  in  beiden  fällen  a  {amar — chap 
cap)\  eine  reihe  anderer  lantnnterschiede  treffen  noch  an  dieser 
linie  zusammen.  Nördliche  Dauphine,  Lyonnais,  Savoyen  und 
französische  Schweiz  wandeln  zwar  a  nach  palatal  zu  ie  (chief  . 
bewahren  es  aber  in  den  übrigen  fällen  (amar).  Man  scheidet 
daher  diese  dialekte  vielfach  als  ein  besonderes  romanisches 
Sprachgebiet  aus,  das  seiner  mundartlichen  eigenart  nach 
als  francoprovenzalisch,  seiner  geographischen  läge  nach  als 
mittelrhonisch  oder  südostfranzösisch  bezeichnet  wird.  Eine 
literarische  oder  auch  nur  politische  Selbständigkeit  hat  dieses 
gebiet  freilich  nie  errungen. 

Im  übrigen  pflegt  mau  auf  französischem  gebiet  folgende 
mundarten  zu  unterscheiden: 

im  Zentrum  das  francische,  aus  dem  die  Schriftsprache 
hervorgegangen  ist,  im  norden  bis  Senlis,  im  stiden  bis  in  die 
nähe  von  Orleans,  im  westen  bis  Mautes  und  Dreux,  im  osten 
bis  Provins  und  Sens  sich  erstreckend,  hauptort  Paris; 

im  nordwesten  das  normannische,  das  sich  wieder  in 
ost-  und  westnormannisch  gliedert; 

im  norden  westlich  das  pikardische  mit  dem  arte- 
sischen, hauptstadt  Arras;  östlich  das  wallonische  (im 
heutigen  Belgien  und  angrenzenden  Frankreich),  bis  zur 
Sprachgrenze ; 

südlich    daran    anschliessend    das    champagnische.  das 

sich   wieder   in   westchampagnisch   (Crestien  von  Troyes)  und 

ostchampagnisch  teilt,  und  das  lothringische,  längs  der 
deutschen  Sprachgrenze,  mit  Metz  als  hauptort; 

im  süden  längs  der  provenzalischen  Sprachgrenze  das 
burgundische  (an  welches  im  osten  und  süden  das  franco- 
provenzalischc  anschliesst)  und  die  mnndart  von  Orleans 
und  den  südlich  angrenzenden  gebieten  (Berry  u.  a.); 

endlich  im  westen  die  gruppe  der  sog.  südwestlichen 
mundarten  (Poitou,  Angoumois,  Saintonge,  Aunis)  und  diejenige 


Die  ältesten  Sprachdenkmäler  2  < 

der  Bog.  nordwestlichen  mnndarten  (Tonraine,  Anjou,  Maine, 
franz.  Bretagne.)  0 

Da  das  französische  organisch  aus  dem  Latein  hervor- 
gegangen ist  und  die  romanische  Umgangssprache  in  Gallien 
als  solche  niemals  eine  Unterbrechung  erfahren  hat,  ist  es  an 
und  für  sich  überflüssig,  Zeugnisse  und  spuren  für  die  an- 
wendnng  der  vulgärsprache  aufzuführen,  wie  sie  sieh  in  der 
besonderen  hervorhebung  der  Volkssprache  als  Ungua  'Romana 
gegenüber  dem  latein  in  den  kirchlichen  verboten,  liebeslieder 
und  dergleichen  in  der  Volkssprache  zu  singen,  in  einzelnen 
werten,  wortformen  und  syntaktischen  bildungen  in  lateinischen 
Urkunden  und  handschriften  seit  dem  6.  Jahrhundert  aufzeigen 
lassen.  Die  ältesten  zusammenhängenden  Sprachdenkmäler 
zeigen  die  hauptsächlichen  charakterzüge  des  französischen 
gegenüber  den  übrigen  romanischen  sprachen  fest  ausgeprägt. 
Da  diese  denkmäler  in  das  9.  Jahrhundert  fallen,  müssen  sich 
die  hier  vorhandenen  lauteigentümlichkeiten  bereits  in  den 
vorangehenden  Jahrhunderten  durchgesetzt  haben,  und  mit 
hilfe  früherer  Zeugnisse  sowie  der  vergleichenden  romanischen 
grammatik  lässt  sich  vielfach  auch  die  genauere  Chronologie 
dieser  lautveränderungen  feststellen. 

Den  zusammenhängenden  Sprachdenkmälern  gehen  noch 
einige  glossare  des  8.  und  9.  Jahrhunderts  voraus,  welche  uns 
eine  grosse  zahl  Veränderungen  im  Wortschatz,  vereinzelt  auch 
lautveränderungen  erkennen  lassen:  die  beiden  Reichenauer 
glossare  (hochlateinische  worte  durch  vulgärsprachliche  er- 
läutert) und  das  Kasseler  glossar  (lateinischromanisch  — 
althochdeutsch).  Es  folgen  als  ältestes  zusammenhängendes 
Sprachdenkmal  die  Strassburger  Eide  aus  dem  jähre  842, 
auf  diese  als  erstes  poetisches  denkmal  die  Sequenz  von 
der  heiligen  Eulalia  (achtziger  jähre  des  9.  jahrhs.).  Dem 
10.  Jahrhundert  gehören:  das  bruchstück  der  Jonaspredigt 
und  die  beiden  provenzalisierten  gedichte  von  der  Passion 
Christi  und  dem  heiligen  Leodegar.2) 


')  Vgl.   zu   den   sprachlichen   ausl'iihrungen    die   AS  s.  305  —  6    ver- 
zeichnete literatur. 

2)  Siehe  AS,  279     97. 


28  Einleitung. 

Im  11.  Jahrhundert  ist  zunächst  das  umfangreiche  Alexius- 
lied  nun  1040 — 50)  zu  nennen,  welches  zugleich  ein  wichtiges 
literatnrdenkmal  bildet.  Es  folgen  die  ältesten  epischen 
dichtnngen  (ende  des  11.  bis  anfang  des  12.  jahrhs.): 
Gormond  und  Isembart,  Rolandslied,  das  älteste 
Wilhelmslied  (Changun  de  Gu  Meinte),  Karls  reise.  Die 
geistliehe  literatur  zählt  noch  einige  :ilte  denkmäler,  die  aber 
kaum  mehr  dem  11.  Jahrhundert  zuzurechnen  sind:  einen 
dramatischen  versuch,  den  sog.  Spousus,  eine  lyrische  para- 
phrase  des  Hohenliedes  und  die  sog.  Stephansepistel. 
Alles  das  sind  nicht  nur  sprach-,  sondern  zugleich  literatur- 
denkmäler,  die  au  ihrem  ort  zur  darstellung  kommen 
werden.  *) 

Von  reinen  Sprachdenkmälern  bleibt  noch  zu  erwähnen 
eine  aus  der  Normandie  stammende  Formel  zum  Gottesurteil 
aus  dem  anfang  des  12.  Jahrhunderts  sowie  die  zwisehen  1101 
und  1120  aufgezeichneten  sog.  Gesetze  Wilhelms  des  Er- 
oberers.2) Zwölftes  und  dreizehntes  Jahrhundert  bringen  dann 
noch  eine  reihe  von  denkmälem,  die,  ohne  der  literatur  im 
engerem  sinne  anzugehören,  doch  der  sprachlichen  betrachtung 
dienlich  sein  können:  Urkunden,  juristische,  theologische  und 
sonstige  wissenschaftliche  werke. 

Schon  die  ältesten  literaturdenkmäler  des  französischen 
erscheinen  in  poetischer  form.  Wie  in  anderen  Literaturen 
geht  auch  in  der  französischen  die  dichtuug  in  gebundener 
rede  der  entwicklung  einer  kunstprosa  voran:  sehr  begreiflich, 
da  eben  die  gebundene  form  den  inhalt  über  die  alltagssprache 
hinaushebt  und  erst  allmählich  daneben  die  prosa  als  verwertbar 
für   die   kunstdichtung   erscheint.     In   der  volkspoesie  freilich 


])  Siehe  unten  cap.  I,  III,  IV,  VI. 

2J  Die  Gottesurteilsforniel  ist  gedruckt  im  Altfranz.  Übungsbuch  von 
Foerster  und  Koschwitz4  s.  171  f.  —  Die  Gesetze  Wilhelms  sind  öfters 
herausgegeben :  von  Reinhold  Schmid,  Die  Gesetze  der  Angelsachsen, 
Leipzig  1832,  s.  175  ff.,  21858  8.  322 ff.;  F.  Liebennaun,  Die  Gesetze  der 
Angelsachsen  (1903—06)  I  492—520;  Jubu  E.  Matzke,  Loia  de  Gnillaume 
]•■  Conquerant  en  francais  et  en  latin,  Paris  1899  (Cullectiou  de  textes  pour 
servir  ä  TenseigHeinent  de  l'histoire).  Vgl.  Lieberiuaun,  Ilerrigs  Archiv 
106,  118—38,  und  II.  Suchier,  Literaturblatt  22  (1901)  119  ff. 


Di*.'  gebundene  Rede:  Allgemeines.  29 

liegen  von  an  fang  an  beide  formen  nebeneinander,  indem 
die  rein  erzählenden  gattnngen  wie  märchen  und  sagen  fast 
ausschliesslich    in   prosaform   kursieren.     In  der  knnstdichtnng 

werden  auch  diese  Btoffe  in  vers  und  reim  gebracht 

Die  altfranzösische  versbildung  ist  sehr  mannigfaltig,  wenn 
wir  alle  vorkommenden  versarten  berücksichtigen  wollen,  aber 
sie  erscheint  wesentlich  einfacher,  wenn  wir  uns  an  die  ge- 
bräuchlichsten formen  halten.  Es  bedeutet,  gerade  gegenüber 
den  antiken  metren,  schon  eine  ziemliche  Vereinfachung,  dass 
die  französische  verskunst  den  steigenden  (in  antikem  sinne 
jambischen)  rhythmus  bevorzugt:  das  erklärt  sich  durch  den 
Charakter  der  französischen  spräche,  welche  infolge  Verlustes 
der  meisten  endvokale  den  akzent  im  wort  auf  dem  ende 
desselben  hat.  So  sind  auch  die  klingenden  oder  weiblichen 
versausgänge  in  der  älteren  zeit  weit  seltener  als  die  stumpfen 
oder  männlichen.  Erst  allmählich,  mit  der  ausbildung  der 
verstechnik,  nehmen  sie  zu,  uud  gar  die  regle  d'alternauce  des 
rimes  hat  erst  seit  dem  ende  des  15.  Jahrhunderts  allmählich 
allgemeinere  auwenduug  gefunden. 

Wie  weit  nun  freilich  im  französischen  vers  neben  der  in 
erster  linie  massgebenden  silbenzählung  noch  andere  momente 
für  die  rhythmische  gliederung  in  betracht  kommen,  speziell 
welche  rolle  dabei  einerseits  der  wortakzent,  andrerseits  der 
regelmässige  Wechsel  von  hebung  und  Senkung  spielt,  darüber 
schwanken  zur  zeit  noch  die  meinungen.  Feste  akzente  finden 
wir  überall  am  versende  und  bei  längeren  versen  ausserdem 
noch  vor  der  cäsur,  die  nicht  notwendig  in  die  mitte  des 
verses  zu  fallen  braucht:  an  diesen  stellen  fallen  versictus 
und  wortton  wirklich  zusammen.  Im  übrigen  ist  aber  die 
stelle  der  versakzente  ungewiss:  nach  den  einen  sind  sie 
identisch  mit  den  sinnes-  oder  wortakzenten,  nach  den  andern 
sind  sie  bedingt  durch  den  regelmässigen  Wechsel  von  hebung 
und  Senkung,  so  dass  der  erste  vers  des  Rolandsliedes  in  dem 
einen  falle  zu  skandieren  wäre: 

Charles  li  reis,  nostre  emperere  mäignes, 
im  andern: 

Charles  li  reis,  nostre  emperere  maignes. 


11  Einleitung. 

Hierbei  ist  jedenfalls  zu  bedenken,  dass  wir  es  in  älterer 
zeit  meist  nicht  mit  sprechversen,  sondern  mit  singversen  zu 
tun  haben,  dass  also  der  rhythnms  auch  des  gesprochenen 
verses  in  viel  höherem  masse  als  jetzt  von  der  musik  abhängig 
war.  Nicht  nur  die  lyrischen  gediente,  sondern  auch  die 
nationalen  epen,  die  chansons  de  geste,  wurden,  wie  schon 
der  name  besagt,  gesungen,  selbst  in  achtsilbnern  abgefasste 
geistliche  legenden  der  älteren  zeit. 

In  allen  versarten  kann  wie  im  zwölfsilbner  (vgl.  AS  s.  71) 
auf  die  letzte  betonte  silbe  noch  eine  unbetonte  folgen,  welche 
für  die  silbenzählung  nicht  in  betracht  kommt:  achtsilbner  mit 
weiblichem  schluss,  welche  demnach  in  Wirklichkeit  neun 
silben  zählen,  zehnsilbner  mit  weiblichem  schluss,  welche  elf 
silben  zählen,  aber  gleichwol  als  zehn-  und  achtsilbner  gelten. 
Im  wirklichen  neun-  oder  elfsilbner  müsste  die  neunte  oder 
elfte  silbe  betont  sein  und  könnte  noch  eine  unbetonte  nach 
sich  haben: 

Tmt  cort  si  riche  come  röis  ,  .  ... 

,      ,    j.    .        .  .     .     ,  .  |  achtsilbner 

A  cele  feste  gut  tant  coste  . . .  | 

Quant  mes  cuers  est  ci  sans  moi  remes  —  I  .„ 

Ä11  .  7      ,     7  ,„  neunsilbner. 

Atlons  voir  sur  Les  herbes  nouvetles  | 

In  jenen  versen,  welche  eine  feste  cäsur  haben  (zehn- 
und  zwölfsilbner),  kann  ebenso  eine  überzählige  (unbetonte) 
silbe  nach  der  cäsur  stehen;  der  zehnsilbner  z.  b.  kann  daher 
in  folgenden  versformen  erscheinen: 

XXXxllxxxxxx  Blancunärins  füt  des  plus  saives  paiens 

xxxxllxxxxxxx  Charles  li  reis  nostre  emperere  mdignes 

xxxxxllxxxxxx  De  vasseldge  fut  assez  Chevaliers 

XXXXX  llxxxXXXX  Li  reis  Marsilies   esteit  en  Sarragöce. 

Ebenso  kann  auch  der  zwölfsilbner  jeuachdem  dreizehn 
oder  vierzehn  silben  erhalten  (vgl.  die  beispiele  AS  s.  71). 

In  den  ältesten  denkmälern,  welche  sämtlich  der  geist- 
lichen literatur  augehören,  tritt  uns  am  häufigsten  der  acht- 
silbner entgegen,  meist  mit  männlichem  schluss,  erst  in 
späterer  zeit  öfter  mit  weiblichem  schluss.  Eine  eigentliche 
cäsur  (die  dann  Daturgemäss  hinter  die  vierte  silbe  fallen 
müsste)    hat    dieser   vers   nicht:    nirgends   ist   im   inneren   des 


Die  gebunde  Rede:  die  Vereformen.  31 

b  eine  überzählige  silbe  zu  beobachten  wie  beim  zehn 
oder  zwölfsilbner.  Dass  auf  der  vierten  silbe  der  versictus 
öfter  mit  dem  wortakzent  zusammenfällt  als  auf  der  dritten 
oder  fünften,  erklärt  sich  aus  dein  alternierenden  prinzip,  d.  h. 
ans  dem  jambischen  Charakter  des  achtsilbners.  Zudem  fällt 
auch  in  diesem  falle  oft  genug  die  betonte  vierte  silbe  nicht 
mit  dem  wortende  zusammen:  die  cäsm  würde  also,  wenn 
man  eine  solche  annehmen  wollte,  in  die  mitte  des  Wortes 
fallen,  was  zwar  in  der  antiken  prosodie  nichts  verschlägt, 
aber  dem  begriffe  der  romanischen  cäsur  widerstreitet.  Man 
vergleiche  zu  dem  gesagten  die  oben  gegebenen  beispiele. 

Der  achtsilbige  vers  ist  für  die  geistliche  dichtung 
charakteristisch,  in  welcher  er  zuerst  begegnet,  sodann  wird 
er  auch  der  übliche  vers  für  das  höfische  epos  und  für  die  er- 
zählenden dichtungen  kürzeren  umfangs  wie  novellen,  schwanke. 
tierepik.  In  der  lyrik  findet  er  von  anfang  an  vielseitige 
Verwendung  neben  andern  versarten.  Schliesslich  ist  er  auch 
der  gebräuchlichste  vers  im  drama  geworden.  Sogar  in  den 
chansons  de  geste  begegnet  er  zweimal,  im  epos  von  Isembart 
und  Gormont  sowie  im  ältesten  Alexandergedicht. 

Der  altherkömmliche  vers  der  nationalen  epik  ist  jedoch 
der  zehnsilbner,  wie  er  oben  an  beispielen  aus  dem  Rolands- 
lied dargestellt  worden  ist.  Wenn  er  vorher  hier  und  da  auch 
in  der  geistlichen  dichtung  erscheint  (so  im  provenzalischen 
Boethiusfragment  um  das  Jahr  1000,  im  französischen  Alexius- 
leben  um  1040 — 1050),  so  liegt  hier  wol  entlehnung  aus  der 
weltlichen  epik  vor,  welche  mehrere  Jahrhunderte  früher  bereits 
bezeugt  ist.  Auch  in  der  lyrik  ist  er  von  anfang  an  (so  in 
den  romanzen)  zu  hause.  Die  cäsur  liegt  im  zehnsilbigeu  vers 
in  der  regel  hinter  der  vierten  betonten  silbe  (auf  die,  wie 
bemerkt,  eine  überzählige  unbetonte  folgen  kann),  aber  in 
einer  kleineren  gruppe  von  dichtungen  (Girart  de  Roussillon, 
Aiol  et  Mirabel,  Audigier,  z.  t.  in  Jean  Bodels  Niklasspiel. 
auch  in  der  lyrik)  begegnet  sie  nach  der  sechsten  betonten 
silbe  (je  nachdem  mit  überzähliger  unbetonter): 

„Bele  seur,  douce  atme",      ce  dist  Elies, 
„Nous  somes  mit  e  pövre,      n'avons  dont  vivre, 
Nous  fussiens  pieclia  mört      ne  fust  Vermites  .  .  ." 


32  Einleitung. 

Schliesslich  kommt,  wenn  auch  verhältnismässig  selten,  auch 
Cäsur  nach  der  fünften  silbe  vor.  der  ganze  vers  besteht  dann 
ans  zwei  flinfsilbnerhälften,  der  jambische  rhythmus  wird 
durch  den  trochäischen  ersetzt,  kurz,  der  ganze  Charakter 
dieses  (lyrischen)  verses  weicht  von  dem  des  epischen  zehn- 
silbers  völlig  ab: 

Quant  ce  vient  cn  rncii      lec,  rose  est  panie. 

In  der  lyrik  erscheint  die  cäsur  des  zehnsilbners  nach  der 
vierten  oder  sechsten  silbe  nur  selten,  z.  t.  in  derselben  form 
wie  in  den  chansons  de  yeste,  d.  h.  mit  überzähliger  tonloser 
silbe  dahinter;  meist  steht  sie  nach  der  vierten  unbetonten 
silbe,  d.  h.  die  auf  die  betonte  (dritte)  silbe  folgende  unbetonte 
zählt  als  vollsilbe,  die  silbenzahl  so  gebildeter  verse  ist  immer 
gleich  zehn,  bei  weiblichem  reim  elf.  Man  nennt  diese  durch 
rücksieht  auf  die  gleichmässigkeit  der  melodie  in  der  lyrik 
bevorzugte  (in  der  epik  nur  vereinzelt  vorkommende)  cäsur 
die  lyrische  cäsur,  z.  b.: 

Ma  promesse      m'est  toumee  a  faillir, 
Esperance      s'en  est  de  moi  alee. 

Neben  dem  zehnsilbner  erscheint  seit  der  Karlsreise  auch 
der  zwölfsilbner  in  der  epik  (vgl.  AS  s.  71  ff.).  Zweifellos 
jünger  als  jener  (vermutlich  nur  durch  Verdoppelung  des  einen 
versgliedes  von  sechs  silben  aus  jenem  entstanden)  verdrängt 
er  ihn  allmählich,  so  dass  häufig  alte  zehusilbnerepen  in  zwölf- 
silbige  verse  umgedichtet  werden.  Namentlich  wird  dieser 
vers  seit  dem  ende  des  12.  Jahrhunderts  für  die  dichtungen 
von  Alexander  d.  Gr.  charakteristisch,  weshalb  er  (nachweislich 
seit  der  ersten  hälften  des  15.  Jahrhunderts)  den  namen  vers 
alexandrin  bekommt.  Ausserhalb  der  epischen  dichtung  be- 
gegnet er  öfter  im  drama,  zu  vierzeiligen  Strophen  (quatrains) 
verbunden  in  der  lehrhaften  dichtuog.  Die  cäsur  ist  stets 
nach  der  sechsten  betonten  silbe  (auf  die,  wie  am  versende, 
eine  unbetonte  überzählige  folgen  kann). 

Verse  von  längerer  silbenzahl,  wie  dreizehn-  und  sechzehn- 
silbner,  sind  selten.  Hingegen  erfreut  sich  einer  gewissen 
häufigkeit  noch  der  kurzatmige  sechssilbner,  besonders  in 
der  didaktischen  dichtung  (zuerst  im  Compoz  des  Philipp  von 


Die  gebundene  Rede:  Herkunft  der  Versformen.  33 

Thson);  ausserdem  auch  iu  der  lyrik,  ferner  in  verschiedenen 
chansons  de  geste.  besonders  Wilhelmsepen,  als  abschluss  der 
in  laugversen  gedichteten  laisse.  Wie  alle  andern  verse  kann 
er  männlich  oder  weiblich  schliessen,  entbohrt  aber  natur- 
gemäss  der  cäsur.  Ob  er  als  ahleitnng  aus  der  einen  vers- 
hälfte  des  zehnsilbners  zu  betrachten  ist,  muss  dahingestellt 
bleuten.  Als  beispiel  mögen  die  eiugangsverse  des  Compoe 
dienen: 

Philipes  de  Thaün  A  suu  uncle  l'enveiet 

At  fait  une  raisun  Qne  amender  la  deiet 

Par  praveires  guarnir  Se  rien  i  at  inesdit 

De  la  lei  uiainteuir.  En  fait  u  en  escrit .  .  . 

In  der  lyrik  rinden  wir  schliesslich  auch  viersilbige,  selbst 
■drei-  und  zweisilbige  verse  gelegentlich  verwendet. 

Von  den  versen  mit  ungerader  silbenzahl  ist  im  ganzen 
nicht  viel  zu  bemerken.  Sie  haben  im  gegensatz  zu  den  vorher 
behandelten  versen  trochäischen  rhythmus,  lassen  die  cäsur 
meist  vermissen  und  begegnen  am  häufigsten  in  der  lyrik. 

Der  fünfsilbner  begegnet  uns  in  der  ältesten  reimpredigt 
(vgl.  kap.  IV),  wo  er  vermutlich  gelehrter  nachahmung  seine 
entstehung  verdankt,  nämlich  dem  versus  tripartitus  caudatus. 
Wie  weit  nun  der  fünfsilbige  vers,  wo  er  sonst  vorkommt,  auf 
diese  form  oder  etwa  auf  den  trochäischen  zehnsilbner  (s.  vorige 
seite)  zurückgeht,  ist  kaum  zu  entscheiden.  Der  sieben- 
silbner  ist  besonders  der  lyrik  eigen,  sonst  erscheint  er  noch 
in  den  verspartien  der  chantefable  von  Aucassin  und  Nicolete 
und  zwar  hier  in  laissenform.  Ein  ausschliesslich  lyrischer 
vers  ist  der  neunsilbner,  meist  ohne  cäsur  (beispiele  oben 
s.  30),  desgleichen  der  elfsilbner  (S'est  hien  drois  que  je  face 
sa  volente). 

Die  frage  nach  der  herkunft  der  einzelnen  versarten  ist 
schon  viel  erörtert  worden,  hat  aber  noch  nicht  überall  zu 
festen  ergebnissen  geführt.  Einige  versarten  lassen  sich  ja  als 
ableitung  aus  anderen  erklären  wie  alexandriner  und  vielleicht 
auch  seehssilbuer  aus  dem  zehnsilbigen,  vier-  und  zweisilbner 
aus  dem  achtsilbigen  vers.  Aber  die  herkunft  der  grundfonneu 
bleibt  noch  immer  strittig.  An  germanische  oder  keltische 
iierleitung    (Uhland  —  Bartsch,    Rajna)    ist   freilich   kaum   zu 

Voretzsch,   Studium  d.  afrz.  Literatur.    2.  Auf  läge.  3 


34 


Einleitung. 


denken.  Aber  auch  bei  der  ableitnng  aus  lateinischen  vers- 
formen  erheben  sieh  schwierige  prinzipielle  fragen:  wie  weit 
wir  dabei  au  die  akzentuierende  altlateinische  versform,  den 
satumier,  denken  oder  Umbildung  der  quantitierenden  klassischen 
metra  zu  akzentuierenden  versen  annehmen  dürfen.  !So  hat 
man  den  zehnsilbner  bald  aus  dem  jambischen  trimeter,  bald 
aus  dem  daktylischen  hexameter,  bald  aus  dem  saturnier 
hergeleitet,  ohne  dass  eine  von  diesen  und  den  zahlreichen 
anderen  erklärungen  weitergehende  Zustimmung  gefunden  hätte. 
Hingegen  lässt  sich  der  achtsilbner,  der  uns  zuerst  in  der 
geistlichen  dichtung  begegnet,  mit  einer  gewissen  Wahrscheinlich- 
keit auf  den  rhythmischen  (nicht  quantitierenden)  lateinischen 
achtsilbner  zurückführen,  der  in  der  lateinischen  dichtung  des 
mittelalters  sehr  häufig  ist.  Man  vergleiche  z.  b.  einige  hymnen- 
strophen  des  Venantius  Fortunatus  (s.  o.  s.  13)  mit  dem  anfang 
der  Passion  Christi  und  des  Leodegarliedes: 


Agnoscat  oinne  saeculniu 
Antistiteni  Leontium, 
Burdegalense  praemium 
Dono  superno  reddituin. 

Vexilla  regis  prodennt, 
Fulget  crucis  mj-steriuui, 
Qua  carne  caruis  conditur 
Suspensus  est  patibulo. 


Ilona  vos  die  vera  raizun 
De  Jesu  Christi  passiun. 
Los  sos  affanz  vol  reuieuibrar 
Per  que  cest  mnud  tot  a  salvad. 

Domiue  Deu  devtrups  lauder 
Et  a  sos  sancz  honor  porter 
In  su'amor  cantomps  dels  sanz 
Que  por  lui  augrent  grauz  aanz  . . . 


Zum  mindesten  ist  der  französische  achtsilbner,  falls  er 
anderen,  d.  h.  mehr  volkstümlichen  Ursprung  haben  sollte, 
stark  von  dem  achtsilbigen  lateinischen  hymnenvers  beeinflusst 
wTorden. 

Wie  weit  der  reim  in  der  französischen  dichtung  auf 
das  Vorbild  der  spätlateinischen  zurückgeht  oder  auf  volks- 
tümlichen Ursprung  zurückzuführen  ist,  bleibt  vorläufig  noch 
unklar.  In  der  älteren  zeit  erscheint  an  stelle  des  vollreims 
vielfach  die  blosse  assonanz  (wrie  oben  remembrar  —  salvad). 
Namentlich  ist  diese  in  den  älteren  oder  mehr  volkstümlichen 
dichtgattuugen  durchaus  üblich,  wie  in  den  romanzeu  und  in 
den  chansons  de  geste,  wo  sie  erst  allmählich  durch  den  reim 
ersetzt  wird.  Die  geistlichen  dichter  bemühen  sich  von  anfang 
an,  rein  zu  reimen.     Für  den  höfischen  roman  und  die  formell 


Die  Literatur:  das  keltische  Element  35 

davon   abhängigen  gattungen   ist  der  rollrein)  regeL    Ja  hier 

linden  wir  sogar  das  bestreben  ausgeprägt,  mit  dem  gleichklang 

über  den  betouten  vokal  zurückzugehen,  sog.  reiche  reime  zu 
bilden:  monta  —  douta,  venir  —  tenir,  avra  —  savru, 
cor att  t  —  plorant. l) 

Deutlieber  als  in  der  metrik  und  stärker  als  in  der 
spräche  tritt  der  anteil  der  verschiedenen  nationalen  demente 
in  der  literatur  hervor:  in  den  Stoffen,  in  dem  sie  belebenden 
geist,  in  dem  literarischen  beiwerk.  Das  keltische  dement, 
jedenfalls  weder  durch  die  romanisierung  noch  durch  die 
germanische  Herrschaft  völlig-  überwuchert,  wird  namentlich 
in  den  populären  Überlieferungen  nachgewirkt  haben.  Aber 
der  lateinischen  literatur  stellt  sich  keine  altkeltische  an 
die    seite,   welche   uns   eine   genaue  abmessung  des  keltischen 


')  Über  rhythuiik  im  allgemeinen  und  romanische  metrik  im  besonderen 
vgl.  folgende  werke:  Bücher,  Arbeit  und  Rhythmus,  Leipzig  *  1909.  — 
Stengel,  Komanische  Verslehre  in  Grs.  Gr.  II,  1.  1  —  96.  —  Tobler,  Vom 
franz.  Versbau  alter  und  neuer  Zeit,  Leipzig  M910.  —  F.  Saran,  Die 
Rhythmik  des  franz.  Verses,  Halle  19oj.  —  T.  Aubry,  Les  plus  aneieus 
monuments  de  la  musique  francaise,  P.  1905,  4°. 

Zur  geschichte  und  herkunft  der  versformen:  B.  ten  Brink,  Con- 
jeetanea  in  historiam  rei  metricae  francogallicae ,  Bonn  18(15  (Diss.).  — 
Uhland,  Über  das  altfrauz.  Epos  i.  Gesammelte  Schriften  IV  365  (will  den 
alexandriner  aus  dem  Nibelungen vers,  dem  „epischen  Stammvers  der 
Germanen",  ableiten).  —  Bartsch,  Ein  keltisches  Versmass  im  Prov.  u. 
Franz.,  ZrP  II  195—219;  Keltische  und  romanische  Metrik,  ebda.  III  359— 384. 

—  Ph.  Aug.  Becker,    Über    den   Ursprung   der   romanischen   Versmasse, 
Strassburg  1890. 

Speziell  über  den  zehnsübner:  Diez,  Altroman.  Sprachdenkmale, 
Bonn  1S-46 ,  s.  116  f.  —  Rochat  im  Jahrbuch  XI  74.  —  Gautier,  Epopees 
frangaises,  l2 366  ff.  —  Pio  Rajna,  Origini  dell'  epopea  francese,  Florenz 
1884,  s.  487 ff.  —  Thurneysen  in  ZrP  Xl3(J5ff.  —  V.  Henry,  Contribution 
ä  Fetude  des  origines  du  decasyllabe  roman,  Paris  1886.  —  G.  Holborn, 
Wortakzent  n.  Rhythmus  im  prov.-franz.  Zehnsübner,  Diss.  Greifswald  1905. 

Über  den  reim:  Abbe  L.  Bellanger,  Etüde  historique  et  philologique 
sur  la  rime  francaise,  Paris  1876.  —  Emil  Freymoud,  Über  den  reichen 
Reim  bei  altfranz.  Dichtem,  ZrP  VI  1  —  36,  177  ff.  —  Über  neuere  Metrik: 
Becq  de  Fouquieres,  Traite  general  de  versification  francaise,  Paris  1879. 

—  E.  0.  Lubarsch,   Franz.  Verslehre,   Berlin  1S79.  —  K.  Foth,  Die  franz. 
Metrik.  Berlin  1879. 

3* 


36  Einleitung. 

einflnsses  auf  die  französische  literatur  ermöglichte.  Aus  Gallien 
haben  wir  überhaupt  keine  keltische  Literatur,  und  was  wir  in 
kymrischer  (walesischer)  oder  irischer  mundart  besitzen,  ist 
nicht  älter  als  die  bauptwerke  der  altfranzösischen  literatur 
selbst,  ja  geht  zum  teil  auf  diese  erst  zurück. 

Wieweit  wir  berechtigt  sind,  den  sog.  'esprit  gaulois',  der 
sich  im  mittelalter  vor  allem  in  den  schwanken,  gelegentlich 
auch  in  den  farcen,  später  in  den  novellen,  im  roman 
Rabelais',  in  den  contes  Lafontaines  äussert,  als  keltische-; 
erbgut  zu  betrachten,  muss  unentschieden  bleiben,  da  derartig 
neigungen  auch  ausserhalb  Frankreichs  begegnen  und  mehr  im 
allgemeinen  für  das  jeweilige  hervortreten  populärer  einflüsse 
überhaupt  zeugnis  ablegen.  So  sind  keltische  demente  in  der 
französischen  literatur  im  wesentlichen  erst  zu  konstatieren, 
als  von  aussen  her,  aus  England  oder  aus  der  Bretagne, 
keltische  Stoffe  nach  Frankreich  importiert  werden,  zuerst  in 
der  irischen  legende  von  Brandan,  dann  in  reichem  masse 
in  der  höfischen  epik  und  der  laidichtung:  feenglaube.  zauber- 
wälder,  wunderquellen  und  audere  zauberdinge,  entrtickung 
ins  reich  des  überirdischen,  Vorstellungen  vom  toteureich. 
kurz  die  märchenhaften  demente  der  Artusepik  wie  die 
Artussage  selbst  haben  ihre  wurzel  in  keltisch diretonischer 
phantasie.  *) 

Bei  der  Jahrhunderte  langen  datier  und  der  nachhaltigkeit 
des  römischen  kultureinflusses  ist  nicht  zu  bezweifeln,  dass 
wie  von  den  Kelten  so  auch  von  den  Römern  sich  mauches 
aus  ihrem  glauben  und  aberglauben,  aus  der  sogenannten 
niederen  mytbologie,  in  den  volkstümlichen  Überlieferungen 
Frankreichs  erhalten  und  nachgewirkt  hat.  Aber  in  der 
literatur  treten  auch  diese  primären  einflüsse  wenig  oder  kaum 


')  Vgl.  über  die  Kelten  noch:  E.  Windisch,  Keltische  Sprachen  in 
Ersch  u.  Grubers  Encyclopüdie  d.  Wissensch.  n.  Künste,  II.  Sect.,  35.  bd., 
s.  132  f.  —  Heinrich  Zimmer,  Kuno  Meyer,  Ludwig  Cur.  Stern,  Die  keltischen 
Literaturen  (Kultur  der  Gegenwart,  Teil  1,  Abt.  XI,  1,  s.  1  —  137),  Berlin 
1909.  —  D'Arbois  de  Jubainville,  Iutroduetion  ä  Tetnde  de  la  litterature 
celtique,  Paris  IS1-»;!.  Derselbe  nnd  J.  Loth,  Cours  de  litterature  celtique, 
Paris,  1S83  — 1902,  12  bde.  —  Rud.  Thurneysen,  Sagen  aus  dem  alten 
Irland  (übers.).  Halle  1901.  —  Im  einzelnen  siehe  kap.  VIII.  Vgl.  oben 
s.  20  anm. 


Die  Literatur:  das  römische  und  das  christliche  Element.  37 

fambar  zu  tage.  Sondern,  ähnlich  wie  die  keltischen  elemente 
durch  import  von  aussen  her,  werden  Btoffe  und  motive  der 
lateinischen  Hteratnr  Boznsageo  auf  dem  wege  gelehrten  imports 
in  die  französische  literatur  eingeführt,  wobei  allerdings  die 
weiterprlege  der  Lateinischen  spräche  und  literatur  in  den 
gallischen  untrrrichtsanstalteu  und  überhaupt  der  enge  Zu- 
sammenhang zwischen  lateinischer  und  französischer  spräche 
diesen  eintlüssen  sehr  zu  statten  kam.  In  welchem  masse  die 
lateinische  literatur  gerade  in  Gallien  geblüht  hat.  ist  oben 
(s.  9ff.)  kurz  dargetan  worden.  Die  einwirkuug  der  klassischen 
literatur  auf  die  altfranzösische  äussert  sich  hauptsächlich  auf 
dem  gebiet  d«s  epOB  und  der  fabel:  Vergil.  Ovid  und  Statins, 
Phaedrns  und  Avian  sind  die  antoren,  welche  hier  eingewirkt 
haben.  Ovid  ausserdem  auch  auf  theoretischem  gebiet  mit  Ars 
amandi  und  Remedia  amoris.  Lyrik  und  drama  bleiben  frei 
?on  antiken  eintlüssen,  die  sich  übrigens  auch  in  didaktik 
und  epos  auf  das  stoffliche  beschränken.  Eine  nachahmung 
autiker  formen,  wie  z.  b.  in  der  lyrik,  finden  wir  erst  in  der 
reuaissaneezeit. l) 

Tiefere  spuren  als  keltentum  und  römertum  hat  das 
Christentum  in  dem  geistesleben  de3  französischen  volks 
und  somit  auch  in  seiner  literatur  zurückgelassen,  die  uns,  im 
unterschied  von  der  deutschen,  von  vornherein  im  wesentlichen 
als  christlich  erscheint,  was  vielleicht  am  treffendsten  in 
der  hauptgattung  der  profaudichtung,  im  volksepos,  in  der 
Schilderung  der  Charaktere  und  gefühle,  zum  ausdruck  kommt. 
Dass    es    lateinische    spräche    und    literatur   war,    welche   den 


')  Vgl.  im  allgemeinen:  Hübner,  Grundriss  der  klassischen  Philologie, 
Berlin  21S89.  —  Handbuch  der  klassischen  Altertumswissenschaft,  hgg.  von 
Iwan  Müller,  1885  ff.  Darin:  Martin  Schanz,  Geschichte  der  römischen 
Literatur  bis  auf  Justinian,  1889  ff.  —  Für  literatur  ferner:  Teuffei, 
Geschichte  der  römischen  Litteratur,  5.  anfl.  von  L.  v.  Schwabe,  Leipzig 
1890.  —  Otto  Ribbeck,  Geschichte  der  römischen  Dichtung,  Stuttgart 
l*s7  —  1892,  3  bde  (nur  die  dichtuug  im  engeren  sinn).  —  Clovis  Lamarre, 
Histoire  de  la  litterature  latine,  4  bde,  P.  1901.  —  Vgl.  auch  Mommsen, 
Römische  Geschichte,  bd.  I,  II,  III,  V  die  betr.  abschnitte.  —  Kurze 
Übersichten:  Theodor  Birt,  Eine  römische  Litteraturgeschichte  in  fünf 
Stunden  gesprochen,  1894.  —  Hermann  Joachim,  Geschichte  der  römischen 
Litteratur,  Leipzig  (Sammlung  Göschen)  1896.  —  W.  Kopp,  Gesch.  d. 
röm.  Literatur,  neu  bearbeitet  von  F.  G.  Hubert,  Berlin  18*- 5  u.  ö. 


38  Einleitung. 

bewohncrn  Galliens  das  Christentum  vermittelte,  ist  schon 
früher  betont  worden.  Die  heidnisch-römische  literatnr  hat 
sich  allmählich  in  eine  christlich -lateinische  umgewandelt, 
welche  für   einzelne  gattungen  der  volkssprachlichen  literatnr 

grundlegend  wird,  auch  nach  der  begründung  der  vulgär- 
literatur  weiterlebt  und  sie  durch  das  ganze  mittelalter 
hindurch  begleitet.  Noch  mehr:  diese  lateinische  literatur 
des  mittelalters  wird  auch  im  ganzen  übrigen  Westeuropa 
gepflegt,  sie  ist  international  und  wird  somit  für  sämtliche 
nationalliteraturen  bedeutungsvoll.  'Eine  Weltliteratur,  wie 
sie  Goethe  von  der  Zukunft  erwartete',  sagt  Ebert,  'bestand 
in  der  Tat  schon  im  Mittelalter.  Wie  die  Bildung  desselben 
im  Abendland  eine  gemeinsame  ist,  das  Produkt  des 
Zusammenwirkens  der  germanischen  und  romanischen  Nationen 
auf  der  Basis  der  aus  dem  Altertum  überlieferten  Kultur, 
und  zwar  nicht  allein  der  klassischen,  römisch -hellenischen, 
sondern  auch  der  orientalisch -hellenischen,  d.  i.  spezifisch 
christlichen:  so  ist  die  Literatur,  die  aus  dieser  Bildung 
hervorgeht,  die  selbst  der  Ausdruck  derselben  ist,  auch  eine 
gemeinsame,  ein  einheitlicher  Organismus  .  .  .  Ehe  die  germa- 
nischen und  romanischen  Sprachen  bis  zum  literarischen 
Gebrauche  entwickelt  waren,  war  selbst  die  Sprache  der 
mittelalterlichen  Literatur  im  Abendland  eine  gemeinsame, 
die  lateinische,  und  dieselbe  bleibt  es  auch  noch  längere  Zeit 
auf  einzelnen  literarischen  Gebieten,  bis  sie  allmählich  auf 
dem  einen  früher,  dem  anderen  später  von  den  National- 
sprachen,  die  sich  ihr  auf  diesen  Feldern  zugeselleu,  verdrängt 
wird'. 

Diese  mittellateinische  literatur  bildet  also  zwar  nicht  die 
grundlage  schlechtweg,  wol  aber  einen  wesentlichen  faktor 
für  die  bildnng  der  nationalfranzösischen  literatur.  und  bei 
jeder  dichtgattung  wird  man  zu  fragen  und  zu  untersuchen 
haben,  wie  weit  bei  ihrer  entstehung  lateinische,  wie  weit 
andere,  namentlich  populäre  quellen  in  betracht  kommen. 
Nicht  nur  die  geistliche  literatur  an  sich,  sondern  auch  andere 
gattungen,  wie  fabel,  überhaupt  didaxis,  allegorische  dichtung, 
theater,  stehen  uuter  sichtlichem  einfluss  der  entsprechenden 
lateinisch -christlichen  dichtgattungen,  speziell  das  theater  ist 
in     den     ältesten     überlieferten     stücken     durchaus    religiösen 


Die  Literatur:  das  germanische  Element.  39 

Inhalts  und  aufs  engste  mit  dem  lateinisch-christlichen  drama 
verwant. l) 

Aber  in  ihrer  gesamtheit,  selbst  in  der  ältesten  zeit,  läset 
Bich  die  französische  Literatur  nicht  auf  die  lateinische  zurück- 
führen. Es  kommen  daneben,  zumal  in  der  profanliteratur, 
von  anfang  an  andere  einflüsse  zur  geltung,  vor  allem  der 
einflnss  germanischer  brauche  und  anschauungen,  germanischer 
sage  und  dichtung,  was  sich  bei  der  Jahrhunderte  langen 
politischen  Vorherrschaft  des  Frankenvolks  in  Gallien  zur 
genüge  erklärt.  Die  entstehung  des  französischen  helden- 
oder  volksepos  ist  ohne  deutsche  heldensage  und  heldeu- 
dichtung  gar  nicht  denkbar.  Eine  reihe  von  ganzen  themen 
—  brautfahrtsagen,  Verbannung  oder  Vertreibung  eines  flirsten 
und  rückkehr  mit  hilfe  seiner  getreuen  u.  a,  m.  — ,  viele 
eiuzelmotive  und  episoden.  wie  unverwundbarkeit  des  helden, 
gefolgschaftswesen  und  dienstmannentreue,  entscheidung  des 
kampfes  der  Völker  durch  Zweikampf  der  führer,  zahlreiche 
typen  und  figuren  wie  der  alte  berater  oder  der  getreue 
Waffenbruder,  der  hilfreiche  zwergenkönig,  luft-  und  Wasser- 
geister, furchtbare  riesen  als  gegner  der  beiden,  ja  selbst 
bestimmte  erzählungsformeln  sowie  auch  die  namengebung  an 
pferd  und  schwert  stammen  aus  germanischer,  in  erster  linie 
fränkischer  Überlieferung.  'L'epopee  francaise  du  moyen  äge' 
sagt  G.  Paris,  'peut  etre  definie:  L'esprit  germanique  dans  une 
forme  romane'. 2)  Auch  das  im  12.  Jahrhundert  neben  das 
heldenepos  tretende  tierepos  zeigt  weitgehende  abhängigkeit 
von  germanischeu  Überlieferungen  und  anschauungen,  neben 
welchen    der    einfluss    lateinischer    oder    orientalischer    fabeln 

')  Vgl.  über  die  lateinische  literatur  des  Mittelalters  z.  t.  die  vorhin 
zitierten  werke,  im  besonderen  die  folgenden  spezialdarstellungen:  Adolf 
Ebert,  Allgemeine  Geschichte  der  Literatur  des  Mittelalters  im  Abendlande 
bis  zum  Beginne  des  XL  Jahrhs.,  3  bde.,  Leipzig  1S74  —  87,  I2  1889.  — 
Gustav  Grüber,  Uebersicht  über  die  lateinische  Litteratur,  im  Grundriss 
d.  r.  Ph.  II,  1.  abt.,  97  —  432.  —  Manitius,  Geschichte  d.  lat.  Lit.  des  Mittel- 
alters I,  München  1911  (Iwan  Müllers  Handbuch  IX,  2,  1).  —  H.  v.  Eicken, 
Geschichte  und  System  der  mittelalterlichen  Weltanschauung,  1S87). 

a)  Revue  critique,  1868,  Ier  sem.  s.  385.  Etwas  anders  gewendet  in 
der  'Litterature  francaise  au  moyen  «ige':  'L'epopee  francaise  est  le  produit 
de  la  fusion  de  l'esprit  germanique,  dans  une  forme  romane,  avec  la 
nuuvelle  civilisation  chretienne  et  surtout  francaise'  (s.  25). 


40  Einleitung. 

nur  geriug  anzuschlagen  ist.  Skandinavische  einfliisse  lassen 
die  sagen  der  Norniannenchroniken  erkennen.  Möglicherweise 
reicht  germanischer  einfluss  auch  in  die  französische  lyrik 
hinein,  wenn  man  auf  das  vorwiegen  germanischer  namen  in 
der  erzählenden  lyrik  und  auf  die  enge  verwnutschaft  von 
deren  strophenbau  und  melodik  mit  der  epischen  dichtuug 
wert  legen  will  und  die  neuerdings  vorgebrachte  theorie  von 
der  bedeutuug  der  germanischen  maifeiern  für  die  altfranzösische, 
lyrik  annimmt,  ') 

Im  übrigen  zeigt  gerade  die  lyrik  am  besten,  wie  aus 
dem  durch  mischung  verschiedener  nationaler  demente  ent- 
standenen neuen  volk  allmählich  auch  eine  neue  dichtnag 
herauswächst,  welche  ihrem  geistigen  inhalt  nacb  weder 
römisch  noch  keltisch  noch  germanisch,  sondern  französisch 
ist,  während  in  epos  und  geistlich  -  lehrhafter  literatur  die 
ursprünglichen  demente  sich  viel  deutlicher  erkennen  lassen. 
Allerdings  lässt  sich  auch  in  diesen  gattuugen  mehr  und 
mehr  eine  nationalfranzösische  Weiterbildung  und  ausbildung 
verfolgen,  welche  in  auffassung  und  behandlung  der  stoffe 
allmählich  zu  einer  französischen  literatur  in  eigentlichem  sinn 
hinüberleitet. 

Aber  in  den  Stoffen  selbst  wird  auch  die  französische 
literatur  fort  und  fort  wieder  von  aussen  her  beeiuflusst. 
Während  sie  uns  etwa  bis  zur  mitte  des  12.  Jahrhunderts  in  den 


')  Zur  germanischeu  philologie  im  allgemeineu  vgl.  Grundriss  der 
german.  Phil.  bgg.  von  Hermann  Paul.  Strassburg,  Trübner,  1S91— 93,  in 
3  teilen,  -1901  —  09,  31911ff.  Darin:  Koegel,  Althochdeutsche  Literatur; 
Fr.  Vogt,  Mittelhochd.  Literatur;  Syiuons,  Heldensage;  Mogk,  Mythologie. 

—  Besonders  für  literaturgeschichte  der  älteren  zeit  vgl.  noch:  L.  Unland, 
Geschichte  der  altdeutschen  Poesie.  Vorlesungen  usw.,  2  bde,  1M>5 —  Ort 
(Schriften  z.  deutschen  Dichtung  und  Sage  hgg.  vou  Keller  u.  Holland,  I.  IL). 

—  Johann  Kelle,  Geschichte  d.  deutschen  Lit.  von  der  ältesten  Zeit  bis 
zur  Mitte  d.  11.  Jahrhs.,  Berlin  1^92.  —  Rudolf  Kugel,  Geschichte  d. 
deutschen  Literatur  bis  zum  Ausgang  des  Mittelalters,  I.  bd.,  2  teile 
(althochd.  zeit),  Strassburg  1894  u.  1S97.  —  Mit  besonderer  berücksichtigung 
der  frauz.  literatur:  Wolfgang  Golther,  Geschichte  d.  d.  Lit.  I.  Teil.  Von 
den  ersten  Anfängen  bis  zum  Ausgang  des  MA.,  Stuttgart  1S92.  —  Beziigl. 
der  Wechselwirkungen  vgl.:  Th.  Süpfle,  Geschichte  des  deutschen  Kultur- 
eiuflusses  auf  Frankreich,  2  bde.,  Gotha  1886 —  90.  —  Virgile  Kossei, 
Histoire  des  relations  litt,  entre  la  France  et  l'Allemagne,  Paris  1897. 


Literatur:  das  bretonische  Element.  41 

überlieferten  denkmälera  im  wesentlichen  als  eine  organische 
fortbildung  der  lateinisch-christlichen  Literatur  einerseits  und  der 
grösstenteils  auf  germanischer  grundlage  beruhenden  populären 
Literaturgattungen  andrerseits  erseheint,  erweitert  sich  nach  und 
nach  der  stoffkreis  durch  äussere  einflüsse,  zunächst  durch 
solche  der  antiken  epik  und  zwar  nicht  nur  der  lateinischen 
dichtung,  sondern  auch  der  —  durch  die  lateinische  spräche 
vermittelten  —  griechischen  und  hellenistischen  heroen- 
überlieferung,  wozu  auch  der  bereits  um  1100  in  franco- 
provenzalischer  spräche  behandelte  Alexanderroman  gehört. 

Reichlicher  fliesst  dieser  ström  seit  der  mitte  des  12.  Jahr- 
hunderts mit  Thebanersage,  Trojasage  und  Eneasroman  in  die 
französische  epik  ein,  verstärkt  durch  den  zurluss  griechischer 
und  byzantinischer  liebes-  und  seeromane.  deren  hauptmotive  ein 
wesentliches  element  des  um  dieselbe  zeit  sich  entwickelnden 
höfischen  romaus  bilden  und  weiterhin  auch  auf  ältere  gattungen 
wie  z.  b.  das  eigentliche  heldenepos  einwirken.  In  dieser 
hinsieht  ist  namentlich  der  —  auf  griechische  Vorbilder  zurück- 
geführte —  lateinische  Apolloniusroman  als  vielbenutzte  quelle 
mittelalterlicher  dichtungen  zu  nennen. l) 

Das  wesentlichste  und  quantitav  am  stärksten  hervor- 
tretende dement  des  höfischen  epos  bildet  aber  die  sog. 
'inatiere  de  Bretagne',  welche  in  ihrer  eigenart  schon 
oben  (s.  36)  charakterisiert  worden  ist  und  nicht  nur  die 
Artussage,  sondern  eine  reihe  von  dieser  unabhängiger  oder 
ursprünglich   selbständiger  erzählungsstoffe  umfasst,   die  nicht 


')  Vgl.  iiu  allgemeinen  Christ,  Geschichte  der  griechischen  Literatur, 
188J,  5  UtOS  — 09  von  Wilh.  Schmid  (Iwan  Müllers  Handbuch  VII).  — 
Abrisse:  Kopp,  Gesch.  d.  griech.  Lit.,  7  von  Otto  Kohl,  Berlin  1908. 
A.  Gercke,  Griech.  Lit.-Geschichte  (Sammlung  Göschen)  1898,  2 1905.  — 
Krumbacher,  Geschichte  der  byzantinischen  Literatur  (Handbuch  bd.  IX) 
1891,  2.  aufl.  lS'JT.  —  Erwin  Ruhde,  Der  griechische  Roman  und  seine 
Vorläufer,  2.  aufl.,  Leipzig  1000.  —  Historia  Apollonii  regis  Tyri,  it.  rec. 
Alexander  Riese,  Leipzig  (Bibl.  Teubneriana)  1893.  Elimar  Klebs,  Die 
Erzählung  von  Apollonius  von  Tyrus,  eine  geschichtliche  Untersuchung 
über  ihre  lateinische  Urform  nnd  ihre  späteren  Bearbeitungen,  Berlin  1899. 
H.  Hagen,  Der  Romao  von  König  Apollonius  von  Tyrus  in  seinen 
verschiedenen  Bearbeitungen,  Berlin  1878.  S.  Singer,  Apollonius  von  Tyrus, 
Untersuchungen  über  das  Fortleben  des  antiken  Romans  in  späteren  Zeiten, 
Halle  18lJ5. 


12  Einleitung. 

als  altkeltischea  erbgut,  sondern  auf  dem  wege  des  imports 
in  die  französische  literatur  gekommen  sind. 

Der  höfische  roman  oder  ritterrornan  unterscheidet  sich 
aber  vom  alten  heldenepos  nicht  lediglich  durch  die  neuen 
erzählungsstoffe,  sondern  vor  allem  durch  das  neue  ritterideal, 
welches  sich  in  jener  zeit  gebildet  hat  und  in  der  höfischen 
(Lichtung  überhaupt,  in  der  epischen  wie  in  der  lyrischen, 
seinen  ausdruck  findet.  An  die  stelle  der  alten  ideale,  für 
welche  kaiser  Karl  und  seine  paladine  streiten  —  für  Vater- 
land und  glauben  —  tritt  jetzt  der  höfische  minnedienst,  der 
kultus  der  frau.  und  im  Zusammenhang  damit  persönlicher 
ehrgeiz  und  abenteuersucht. 

Diese  Verherrlichung  des  minnedienstes,  der  ganz  in  die 
formen  des  Vasallenverhältnisses  gekleidet  erscheint,  verdankt 
die  französische  literatur  den  Provenzalen,  welche  ihn  zuerst 
von  den  abendländischen  nationen  in  ihrer  lyrik  ausgebildet 
und  von  da  aus  in  die  umliegenden  länder  und  literaturen 
weitergetragen  haben.  Die  provenzalische  literatur  steht  ja 
im  mittelalter  ganz  selbständig  neben  der  französischen,  so 
selbständig  wie  die  italienische  oder  spanische,  mit  eigener 
spräche  — ■  der  sog.  langue  d'oc1)  — ,  mit  eigener  entwicklung 
und  eigenem  Charakter.  In  ihren  ältesten  denkmälern  nicht 
ganz  so  weit  hinaufreichend  wie  die  französische  bietet  sie 
uns  aber  doch  schon  im  10.  Jahrhundert  einen  —  zu  einem 
lateinischen  lied  gehörigen  —  rein  provenzalischen  refrain  in 
der  art  der  refrains  zu  den  späteren  tageliedern  (alba),  und 
zwischen  950  und  1050  das  257  Zeilen  lange  bruchstück  eines 
Boethiuslebens  in  der  form  des  französischen  volksepos,  d.  h. 
in  einreimigen  tiraden  von  ungleicher  verszahl.  Auch  das 
älteste  gedieht  von  Alexander  dem  Grossen  (vgl.  oben)  ist 
auf  provenzalischem  oder  wenigstens  francoprovenzalischem 
boden  (vermutlich  in  Brian 900  oder  Pisancon,  Dep.  Hautes 
Alpes)  entstanden,  etwa  im  anfang  des  12.  Jahrhunderts.  Um 
diese  zeit  lebte  und  dichtete  bereits  der  älteste  provenzalische 
trobador,    von    welchem    uns    dichtungen    bekannt    sind,    graf 


')  D.  i.  die  spräche,  die  mit  oc  «hoc)  bejaht,  im  unterschied  von 
der  langue  d'oil  «/10c  illud  —  nfr.  oui),  dem  französischen,  sowie  vom 
italienischen,  wo  die  bejahungspartikel  si  (<<  sie)  lautet. 


Literatur:  die  Provenzalen ;  angelsächsische  Stoffe.  13 

Wilhelm  IX.  von  Poitiers,  welcher  neben  liedern  mehr  derben 
Inhalts  bereits  auch  eine  reihe  von  echten  und  rechten  niinne- 
liedern  zeigt  und  auf  diesem  gebiete  zahlreiche  oachfolger 
gefunden  hat  Tatsächlich  zeichnet  sich  die  provenzalische 
literatur  gerade  durch  die  starke  bevorzugung  der  lyrik  aus, 
mit  welcher  sie  für  französischen  und  deutschen  minnesang. 
italienische  und  portugiesische  lyrik  vorbildlich  geworden 
ist.1)  Eine  bekannte  günuerin  der  trobadors  war  Eleonore 
v«ai  Poitiers.  die  enkelin  jenes  grafen  Wilhelm,  uud  durch 
ihre  beiden  töchter.  von  denen  die  ältere,  Marie,  an  den  grafen 
Heinrich  I.  von  Champagne  und  die  zweite,  Alix,  an  dessen 
bruder.  graf  Thibaut  V.  von  Blois,  vermählt  war,  gelangte 
der  minnedienst  und  mit  ihm  die  neue  diehtung  auch  nach 
dem  norden  Frankreichs.  Als  erster  Vertreter  der  neuen, 
provenzalisierenden  lyrik  tritt  uns  Crestien  von  Troyes  ent- 
gegen, der  am  hofe  der  gräfin  Marie  lebt  und  von  ihr  zu 
seinem  Lanzelotroman  la  mauere  et  le  sen  (stoß'  und  leitende 
idee)  erhält.  Die  höfische  diehtung  leitet  eine  neue  epoche 
in  der  entwicklung  der  altfranzösischen  literatur  ein. 

Aber  auch  mit  der  einwirkung  der  provenzalischen  literatur 
sind  die  fremden  einfliisse  noch  nicht  erschöpft.  Durch  die 
enge  Verbindung  der  französischen  Normandie  mit  England 
unter  den  Plantagenets  wird  das  eindringen  angelsächsischer 
erzählungsstoffe  wie  der  Hornsage  gefördert.'2)   Zahlreiche,  nicht 

*)  Vgl.  Fr.  Diez,  Die  Poesie  der  Troubadours,  Zwickau  1 82K ;  Leben 
und  Werke  der  Troubadours,  ebenda  1829,  beide  in  neuer  aufläge  von 
K.  Bartsch  1882  und  1S83.  —  Karl  Bartsch,  Grundriss  zur  Geschichte  der 
provenzalischen  Literatur,  Elberfeld  1S72.  —  Restori,  Letteratura  provenzale, 
Milano  1891.  —  Albert  Stimming,  Provenzalische  Litteratur,  in  Grübers 
Grundriss  der  roman.  Phil.  II.  I ,  s.  1  — 09  (1893  —  97).  —  Suchier,  Die 
Litteratur  der  Provenzalen,  in  Suchier  und  Birch- Hirschfeld,  Geschichte 
der  franz.  Litteratur,  Leipzig  und  Wien  1900,  s.  4H  —  96.  —  Jeanroy,  La 
Poesie  provencale  du  moyen-äge.  Revue  des  deux  niondes  1899,  bd.  151 
und  155.  —  J.  Anglade,  Les  troubadours,  Paris  1908.  —  Ednard  Wechssler, 
Das  Kulturproblem  des  Minnesangs  I,  Halle  1909. 

2)  Für  die  ältere  englische  literatur  vgl.:  B.  ten  Brink,  Geschichte 
der  englischen  Literatur,  fortgeführt  von  A.  Brandl,  I  1^77,  »1899,  II  1893. 
—  B.  ten  Brink  und  A.  Brandl  in  Pauls  Grundriss  d.  germ.  Phil.  II  1893, 
•1909.  —  W.  H.  Schofield,  English  Literatnre  froin  the  Norman  Conquest 
to  Chaucer,  1906.  —  Abriss:  Arnold  Schröer,  Grundziige  u.  Haupttypen 
d.  engl.  Lit.-Gesch.  (Sammmlung  Göschen),  2  teile,  1906,  2 191 1. 


44  Einleitung. 

überall  klar  liegende  fäden  führen  von  den  mittelalterlichen 
Literatiiren  über  Griechenland  und  Byzanz  hinaus  nach  dem 
Orient.  Schon  von  den  heiligeuleben  sind  verschiedene 
orientalischen  Ursprungs,  dem  abendlande  durch  lateinische 
bearbeitnngen  vermittelt.  Die  ins  christliche  gewendete 
geschichte  von  Barlaam  und  Josaphat  geht  auf  die  indische 
Buddhalegeude  zurück,  rahmener/.ählungen  wie  die  von  den 
'Sieben  weisen  Meistern'  weisen  nach  anläge  und  inhalt  auf 
herkunft  aus  Indien.  Soweit  wir  es  wie  hier  mit  ganzeu 
werken  zu  tun  haben,  die  auf  literarischem  wege  fertig  von 
dort  übernommen  wurden,  besteht  an  der  orientalischen  her- 
kunft kein  zweifei.  Aber  daneben  finden  sich  in  schwanken 
und  novellen,  auch  fabeln  und  tiergeschichten,  zahlreiche 
erzählungsstoffe,  die  ihre  parallelen  nicht  nur  im  Orient,  sondern 
auch  in  populären  Überlieferungen  des  abendlandes  finden. 
Auch  hier  werden  wir  häufig  zur  annähme  orientalischer  ent- 
stehung  geführt,  nur  dass  die  Übermittelung  hier  auf  mündlichem 
wege,  von  mund  zu  mund,  von  volk  zu  volk,  erfolgt  ist  und 
zum  teil  noch  in  sehr  alte  Zeiten  hinaufreicht.  Andererseits 
mag  auch  umgekehrt  manches  von  diesen  weitverbreiteten 
motiven  aus  Europa,  z.  b.  aus  Griechenland,  nach  Asien 
gewandert  sein,  und  schliesslich  wird  hier  und  da  eine 
Übereinstimmung  zwischen  orientalischen  und  okzidentalen  er- 
zähluugen  auch  auf  zufall  beruhen  können,  da  unter  gleichen 
oder  ähnlichen  Voraussetzungen  naturgemäss  auch  ähnliche 
produkte  entstehen  können.  Nur  die  Untersuchung  aller 
einzelnen  fälle  für  sich  wird  allmählich  über  das  ganze  klarheit 
schaffen.  Am  meisten  kommen  solche  volkstümliche  oder 
orientaliche  Stoffe  für  die  gattungen  des  schwanks,  der  novelle 
und  später  der  farce  in  betracht,  daneben  für  lehrhafte  und 
romauartige  dichtuug.  *) 


')  Vgl.  die  folgenden  darstellungen,  welche  weitere  nachweise  ent- 
halten: Hermann  Oldenberg,  Die  Literatnr  des  alten  Indien,  Stuttgart  UDd 
Berlin  1903.  Mor.  Winternitz,  Geschichte  der  indischen  Literatur,  I  19U5 — OS 
(i.  d.  'Litteraturen  des  Ostens").  —  Paul  Ilurn,  Geschichte  der  persischen 
Litteratur.  C.  Brockelmann,  Geschichte  der  arabischen  Literatur,  beide 
zusammen  als  VI.  band  der  'Litteraturen  des  Ostens1,  Leipzig  1901.  —  Für 
arabische  literatur  ausserdem  die  ausführliehe  darstellung  von  Brockelmaim: 
Geschichte  der  arabischen  Litteratur,  2  bde.,  Berlin  1899  — 1902. 


Literatur:  Einflüsse  der  franz.  Literatur  auf  fremde  Literaturen.     45 

Alle  diese  fremden  einMüsse  begegnen  und  kreuzen  sieh 
Beil  der  mitte  des  12.  Jahrhunderts  in  der  französischen 
literatur.  werden  hier  verarbeitet  und  sozusagen  französisiert. 
Neue  stoffliche  ein  Müsse  kommen  in  der  folgezeit  nicht  mehr 
hinzu.  Zwar  bildet  die  französische  literatur  im  13.  Jahr- 
hundert die  allegorische  dichtnng,  im  14.  und  15.  Jahrhundert 
das  drama  aus.  aber  das  alles  ist  im  wesentlichen  organische 
Weiterbildung  des  vorhandenen,  z.  t.  unter  erneuter  Zuhilfe- 
nahme christlich-lateinischer  Vorbilder.  Eine  einschneidende 
neuerung  und  Wendung  bringt  erst  die  renaissance,  welche 
die  erreichung  des  höchsten  zieles,  die  gleichwertigkeit  mit 
der  klassischen  dichtnng,  durch  genaue  uachahmung  ihrer 
dichtgattungen  und  dichtformen  zu  bewirken  sucht. 

So  sehr  sich  die  französische  literatur  des  Mittelalters  an 
fremden  Stoffen  aller  art  bereichert  hat,  so  freigebig  ist  sie 
mit  ihrem  eigenen  gut  und  dem.  was  sie  sich  aus  fremdem 
gut  zurechtgearbeitet  hatte,  gegen  andere  literaturen  gewesen. 
Unter  französischem  und  provenzalischem  einfluss  stellt  sich  in 
Deutschland  neben  die  einheimische  lyrik  der  sog.  romanische 
minnesaug.  Mit  seiner  epischen  dichtung  hat  Frankreich  auf 
alle  nachbarländer  romanischer  und  germanischer  zunge,  auf 
Provence,  Spanien  und  Italien,  auf  Deutschland,  Holland. 
England,  ja  bis  nach  Skandinavien  gewirkt.  Helden  des 
volksepos  wie  ritter  der  tafeirunde,  Karl  d.  Gr.,  Roland,  Ogier 
der  Däne,  Artus,  Yvain,  Perceval,  wurden  in  allen  lauden 
heimisch  und  zum  teil  wahrhaft  populär.  Die  italienische 
novellendicbtung  eines  Boccaccio  und  anderer  geht  grösstenteils 
auf  französische  quellen  zurück,  nicht  minder  wie  zahlreiche 
novellen  und  schwanke  der  deutschen  und  mittelenglischen 
literatur. 

So  tritt  die  französische  literatur  ebenbürtig  neben  die 
lateinische  literatur  des  mittelalters,  nicht  Weltliteratur  wie 
diese  in  dem  von  Ebert  gedachten  sinn,  wol  aber  ein  Zentrum 
und  ausgangspunkt  weitreichender  literarischer  bewegung  für 
die  vulgärsprachlichen  literaturen,  als  die  bedeutendste  und 
vornehmste  unter  den  literaturen  der  romanischen  Völker. 


16  Einleitung. 


Hilfsmittel 
für  das  Studium  der  altfranzösischen  Literatur 

(nebst  den  im  folgenden  dafür  gebrauchten  abkiirzungen). 
!.    Darstellungen  der  französischen   Literaturgeschichte. 

Von  vollständigen  darstellungen  sind  nur  diejenigen  genannt,  welche 
die  altfranzösische  literatur  eingehender  berücksichtigen: 

Histoire  litlirairc  de  la  France,  1735  von  den  Benediktiner- 
inönchen  von  St.  Maur  begonnen,  jetzt  von  der  Academie  des 
Inscriptions  et  Beiles -Lettres  fortgesetzt.  Bisher  33  starke  quart- 
bände (I — XXIII  1865 — 1895  neugedruckt,  dazu  Table  generale 
des  15  premiers  volumes,  von  C.  Rivain,  Paris  1875):  die  lat. 
literatur  Galliens,  die  prov.  u.  franz.  lit.  bis  ins  14.  Jahrhundert. 
Keine  zusammenhängende  literaturgesebichte,  sondern  ausführliche 
Sonographien  über  einzelne  dichter,  gattungen  oder  werke.  Wird 
fortgesetzt.  Hist.  litt. 

Histoire  de  la  langue  et  de  la  litter  ature  francaise,  des  origincs 
ä  1900  etc.,  publice  sous  la  direction  de  Petit  de  Jullevilh \, 
Paris  1895 — 1899.  8  bände  (1  und  II  mittelalter),  nicht  nach 
perioden,  sondern  nach  gattungen  eingeteilt,  jede  gattung  von  einem 
spezialbearbeiter  dargestellt,  mit  der  notwendigsten  bibliographie 
sowie  mit  guten  reproduktionen,  für  weitere  kreise  berechnet. 

Petit  de  Jve. 

Suchier  und  Birch-Hirschfeld,  Geschichte  der  französischen 
Litteratur  von  den  ältesten  Zeiten  bis  zur  Gegenwart.  Mit  143  Ab- 
bildungen im  Text,  23  Tafeln  in  Farbendruck,  Holzschnitt  und 
Kupferätzung  und  12  Faksimile -Beilagen.  Leipzig  und  Wien, 
Bibliographisches  Institut,  1900  (neue  aufl.  in  Vorbereitung).  Wie 
das  vorige  werk  für  das  weitere  publikum  bestimmt,  aber  kürzer 
(in  1  band)  und  in  sich  einheitlicher.  Die  altfranz.  literatur,  von 
Suchier,  zeichnet  sich  durch  gründliche  Sachkenntnis  und  selbständige 
entwicklungsgeschichtliche  darstellung  sowie  durch  vortreffliche 
Übersetzungen  einzelner  textproben  aus.  Suchier. 

Kürzere  Darstellungen. 
Ad.  Kressner  (Fr.  Kreyssig,  Gesch.  d.  franz.  Nationallit., 
u1889  in  2  bdn.  von  Ad.  Kressner  u.  Jos.  Sarrazin).  —  Gustave 
Lanson,  Histoire  de  la  litteratwre  francaise,  ll1909.  —  H.  P.  Junker, 
Grundriss  der  Geschichte  d.  franz.  Litteratur,  Münster  1889,  6.  aufl. 
1909  (zu  viel  aus  zweiter  band  gearbeitet  und  daher  nicht  überall 
zuverlässig).  —  Unkritisch  und  ohne  selbständige  kenntnis  ist  die 
darstellung  der  altfranzösischen  literatur  bei  Eduard  Engel  (Gesch. 
d.  franz.  Lit.,  Leipzig  1883  u.  ö.). 


Bibliographie.  47 

II.    Altfranzösische  Literaturgeschichte. 

da  st  on  Paris,  La  littirature  frangaise  au  moyen  äge 
I  XI  —XIV e  siede),  Paris  188S,  4.  aufläge  1909.  Kompendienartig, 
inhaltlich  nach  gattungen  (nicht  nach  perioden)  geordnet,  mit  aus- 
führlicher behandluug  der  hanptfragen  und  einzelner  werke  und 
summarischer  anfzählung  der  übrigen,  von  dem  bedeutendsten  und 
feinsinnigsten  kenner  der  altfranzösischen  literatur.     G.  Paris,  Litt, 

Derselbe,  Fsquissc  historique  de  la  litterature  frangaise  au 
moyen  äge  (depuis  les  origines  jusqu'ä  la  fm  du  XVe  siecle), 
Paris  11)07  (schon  vorher,  London  1903,  in  engl,  übers,  von 
Eannatb  Lynch:  Mediaeval  french  literature).  Eine  historisch 
mach  den  herrscherhäusern  und  regenten)  gegliederte  daistellung, 
mit    kurzer    bibliographie,    für    ein    weiteres    publikum    berechnet. 

G.  Paris,  Esquisse. 

Gustav  Gröber,  Französische  Litteratur,  im  Grundriss  da- 
rum. Ph.  II,  1.  Abt.,  433 — 1247.  Die  vollständigste  zusammen- 
hangende darstellung  der  altfranzösischen  literatur,  auf  gründlicher 
Sachkenntnis  aufgebaut,  mit  reichlichen  bibliographischen  angaben, 
im  ganzen  mehr  für  vorgerückte  als  für  anfäuger.  Gröber. 

Phil.  Aug.  Becker,  Grundriss  der  altfranzösischen  Literatur, 
I  Teil:  Alteste  Denkmäler.  Nationale  Heldendichlung  (Rom. 
Elementarbücher  II,  1),  Heid.  1907  (soll  von  E.  Höpffner  fortgesetzt 
werden).  Becker. 

III.    Zusammenhängende  Werke  allgemeinen  Charakters. 

Heinrich  Morf,  Die  romanischen  Literaturen  (in:  Kultur  der 
Gegenwart,  Teil  I,  Abt.  XI,  1).  B.  1909  (darstelluug  der  franz. 
literatur  im  Zusammenhang  mit  den  übrigen  roman.  lit.). 

Ernest  Bovet,  Lyrisme,  Epopee,  Drame.     P.  1911. 

Willi.  Creizenach,  Geschichte  des  neueren  Dramas.  Halle 
1894—1903,  4bde,  bd.  1  (21911)  behandelt  das  mittelalter. 

Dunlop,  John,  History  of  fiction.  Edinburgh  1814,  21816, 
z1843  (New  edition  by  Henry  Wilson,  London  1888).  Deutsch 
von  Felix  Liebrecht:  John  Dunlop's  Geschichte  der  Prosa- 
dichtungen.   Berlin  1851.    Wichtig  namentlich  für  stoftVergleichung. 

Dunlop  -  Liebrecht, 

Alice  A.  Hentsch,  De  la  litterature  didactique  du  moyen 
äge  s'adressant  spicialement  aux  femmes.     Cahors  1903. 

Ch.  Lenient,  La  poesie  patriotique  en  France  au  moyen  äge. 
Paris  1891.  —  La  satire  en  France  au  moyen  äge.    Paris,  '21877. 

Ch.-V.  Langlois,  La  societe  frangaise  au  XIIIe  siecle  d'apres 
dix  romans  d'aventure.  P.  1904.  —  La  vie  en  France  au  moyen 
äge  d'apres  quelques  moralistes  du  temps.    P.  1908. 


48  Kiiileitung. 

IV.    Sammlungen  von  Essais  und  Spezialabhandlungen  einzelner 
Autoren  zu  Literatur  und  Volkskunde. 

G.  Paris,  La  poesie  du  moyen  äge.     Lerons  et  lectures.     I  ' 
seric.     Paris  1885  (öfter  neu  aufgelegt).  —  Deuxieme  Serie.    Paris 
1895    u.  ö.      Anziehende    und    lehrreiche    behandlnng    allgemeiner 
fragen  oder  spezieller  theinen  und  werke.  G.  Paris,  Poesie. 

Derselbe,  Po'emcs  et  legendes  da  moyen  äge.  Paris  1900. 
Aufsätze    über  Nibelungen    und  Roland,    Huon    von  Bordeaux    usw. 

G.  Paris,  Pocmes. 

Derselbe,  Legendes  du  moyen  äge.  Paris  1903.  Studien  über  die 
schlacht  von  Roncevaux,  den  ewigen  Juden  usw.    G.  Paris,  Legendes. 

Derselbe,  Me  langes  de  litterature  frangaise  du  moyen  äge 
p.  p.  M.  Eoques,  I,  P.  1910  (La  litt,  franc.  au  m.  ä.  —  L'epopee. 
—   Le  roman).  G.  Paris,  Melanges. 

Wilhelm  Hertz,  Spielmannsbuch.  Novellen  in  Versen  aus 
dem  12.  und  13.  Jahrhundert.  Stuttgart  1888,  ^1900.  Enthält 
neben  ausgezeichneten  Übersetzungen  wichtige  exkurse  über  spiel- 
leute,  feenglauben  u.  a.  m. 

Derselbe,  Gesammelte  Abhandlungen,  hgg.  von  Fr.  von  der 
Leyen,  Stuttgart  u.  B.  1905  (Aristoteles,  giftmädchen  u.  a.). 

Heinrich  Morf,  Aus  Dichtung  und  Sprache  der  Bomanen. 
Vorträge  und  Skizzen.  I,  Frankfurt  1904  (aufsätze  über  Rolands- 
lied, Karls  Pilgerfahrt,  französisches  drama,  spielmauusgeschichten 
u.  a.).  —  II.  band   1910. 

Hugo  Schuchardt,  Bomanisches  und  Keltisches.  Strassburg 
1886.  (Virgil  im  mittelalter,  geschichte  von  den  drei  ringen,  reim 
und  rhythmus,  keltische  briefe  usw.). 

Maurice  Wil motte,  Etudes  critiques  sur  la  tradition  liftrraire 
en  France,  P.  1909  (geistl.  drama,  Volkslied,  Villon  usw.). 


Reinhold  Köhler,  Aufsätze  über  Märchen  und  Volkslieder. 
Hrsg.  von  Joh.  Bolte  und  Erich  Schmidt.     Berlin  189 i. 

Derselbe,  JUeinere  Schriften.  Hrsg.  von  Joh.  Bolte.  Berlin 
1895 — 1900,  3  bände  (I.  Zur  Märchenforschung.  IL  Zur  er- 
zählenden Dichtung  des  Mittelalters).  In  allen  bänden  wichtige 
abhandlungen,  rezensionen  und  notizen  zur  stofl'vergleichung. 

Felix  Liebrecht,  Zur  Volkskunde.  Alte  und  neue  Aufsätze. 
Heilbronn  1879. 

Gustav  Meyer,  Essays  und  Studien  zur  Sprachgeschichte 
und  Volkskunde,  2  bände,  Strassburg  1885  und  1893. 

Ludwig  Tobler,  Kleine  Schriften  zur  Volks-  und  Sprach- 
kunde.  Hrsg.  von  J.  Bächtold  und  A.  Bachmann.  Frauenfeld 
1897. 


Bibliographie.  49 

V.    Sammelbände. 

Von  den  zahlreichen  saimnelbänden,  meist  festschriften  zum  ehren- 
tag  eines  älteren  gelehrten,  sind  hier  nur  solche  genannt,  in  welchen 
gegenstände  der  afr.  literaturgeschichte  mehrfach  behandelt  werden  (auf- 
geführt unter  den  uatnen  der  jubilare,  citiert  als  Suchierband,  Melanges 
Wilinotte  usw.). 

Alessandro  d'Ancona,  Raccolta  cli  studi  critici  1901.  — 
Canaille  Chabaneau,  Melanges  Chabaneau  1908.  —  Wendelin 
Foerster,  Beiträge  zur  roman.  u.  engl.  Philologie  1902.  —  Gustav 
Gröber,  Beiträge  z.  rom.  Phil.  1899.  —  Evneato  Monaci,  Scritti 
vairi  di  filologia  1902.  —  Heinrich  Morf,  Aus  romanischen  Sprachen 
und  Literaturen  1905.  —  Adolf  Mussafia,  Bausteine  z.  rom.  Phil. 
1905.  —  Gaston  Paris,  Recueil  de  memoires  philologiques  1889; 
Etudes  romanes  1890.  —  Pio  Rajna,  Studi  leüerari  e  linguistici 
1911.  —  Eduard  Sievers,  Philologische  Studien  1896.  — 
Hermann  Suchier,  Forschungen  z.  rom.  Phil.  1900.  —  Adolf 
Tobler,  Abhandlungen  1895;  Festschrift  1905.  —  Karl  Voll- 
möller, Philologische  u.  volkskundliche  Arbeiten  1908.  —  Carl 
Wahl  und,  Memoires  de  philologie  romane  1895.  —  Maurice 
Wilmotte,  Melanges  Wilmotte  1910. 

VI.    Zeitschriften  und  Serien. 

Kenntnis  und  benutzung  der  Zeitschriften  ist  für  das  genauere  Studium 
der  altfranzösischen  literatur  unentbehrlich,  da  dort  sowohl  wichtige  Unter- 
suchungen als  auch  zahlreiche  texte  gedruckt  sind.  Es  werden  hier  nur 
solche  Zeitschriften  aufgeführt,  welche  der  altfranzösischen  literatur  einen 
nennenswerten  platz  einräumen,  dazu  die  in  diesem  buch  für  die  einzelnen 
zss.  angewanten  kürzungen: 

a)   Zeitschriften  allgemeineren  Inhalts: 
Zeitschrift  für  vergleichende  Litter -aturgeschichte  und  Renaissance- 

litteratur,  hrsg.  von  Koch  und  Geiger,  dann  von  Koch,  zuletzt  von 

Wetz  und  Becher.     Berlin  1887—1910.     18  Bde.  ZvL. 

Studien  zur  vergleichenden  Literaturgeschichte,  hrsg.  von  Koch. 

Berlin  1901  —  09.    Dazu  Bibliographie  von  A.  Jellinek  1903.   StvL. 
Journal    of  comparative   Literature,    ed.   by    G.  E.  Woodberg, 

J.  B.  Fletcher,  J.  E.  Spingarn.     New   York  1903  ff. 

Zeitschrift  für  Völkerpsychologie  uucl  Sprachwissenschaft,  hrsg. 
von  Lazarus  und  Steinthal.     Berlin  1859 — 1890.  ZVps. 

Zeitschrift  des  Vereins  für  Volkskunde.  Begr.  von  K.  Weinhold, 
hrsg.  von  Joh.  Bolte,  seit  1911  von  H.  Michel.    Berlin  1891  ff.  ZVk. 

Archivio  per  lo  studio  delle  tradizioni  popolari.  Rivista 
trimestriale  diretta  da  G.  Pitre  e  S.  Salomone- Marino.  Torino- 
Palermo  1882  ff. 

Voretzsoli,  Studium  d.  afr/..  Literatur.     2.  Auf  läge.  4 


50  Einleitung. 

Neui    philologische  Rundschau,  Gotha   1897 ff.   (halbmonatlich: 

rezensiouen). 

Revue  critiqye  d'histoire  ei  de  litterature  :  Recueil  hebdomadaire, 

Paris  1867  ff.  Ke%-.  crit.,  Rcr. 

Journal  des  Savants  />.  p.  l'Academie  des  Tnscriptions  et 
Belles-Lcttres.    Fan*.  1866 ff.    (ausführliche  recensioneu.)     JdSav. 

Le  Moyen  Age.  Bulletin  mensuel  d'histoire  et  de  philologie. 
Paris  1888 ff.     (recensionen  und  kleine  mitteilnngcn.) 

Studj  medievali,  diretti  e  redatti  da  Francesco  Novati  e  Rodolfo 
Benier.     Torino  1006  ff. 

b)  Neuphilologische  Zeitschriften: 

Archiv  für  das  Studium  der  neueren  Sprachen  und  Literaturen. 
Braunschweig  1846  ff.     Begr.    von   Ludwig  Herrig,  jetet   hrsg. 
A.Brandl  u.  H.  Morf.     Jährlich    2  bde.     Zu  bd.  1— 50,  51—100,. 
101—110,  111—120  register.  Archiv. 

Jahrbuch  für  romanische  and  englische  Literatur  (seit  bd.  VI i I 

Sprache    und   Literatur).     Begr.    von    Ad.  Ebert,    später   hrsg.    reu 
L.  Lemcke.     1850 — 1876.     15  bände.  Jahrbuch. 

Germanisch-romanische  Monatsschrift,  hgg.  von  IL  Sehröder, 
Heid.  1900  ff.  GRM. 

Literaturblatt  für  germanische  und  romanische  Philologie. 
Hrsg.  von  0.  Bchaghel  und  Fr.  Neumann.  F^eipzig  (früher  Heil- 
bronn) 1880 ff.  Kritisches  orgau,  monatlich,  mit  sorgfaltiger  und 
umfangreicher  bibliographie.  Lgi'R 

Neuphilologischc  Mitteilungen,  hgg.  vom  Neuphil.  Verein  in 
Helsingfors,  1800  ff. 

Modern  Language  Notes,  editors  A.  M.  Elliot,  J.  W.  Bright, 
H.   Collitz.     Baltimore  1886 ff.     (monatlich:    aufsätze,    rezeusiuneu.) 

PublicaUons  of  the  Modern  Language  Association,  edited  by 
James  Bright.     1886 ff. 

Modern  Philology.  A  Quartcrly  Journal  devoted  to  research 
in  Modem  Languages  and  Literatures.  Editors  Ph.  S.  Allen, 
Fr.  J.  Carpenter,  C.  von  Klenze.  Chicago,  Leipzig,  London,  seit 
1903. 

c)  Komanistische  Zeitschriften: 

Bomanischc  Studien,  hrsg.  von  Eduard  Boehmcr.  Sirassburg 
1871—1883.     In  6  banden.  Boehiners  Rom.  Stud. 

Zeitschrift  für  romanische  Philologie,  hgg.  von  Gustav  Gröber, 
seit  1011  vo>t  Hoepffncr,  Halle  1876 ff.  (abhandluugen,  auch  texte, 
rezensionen,  zeitschriftenschau,  dazu  beihefte  und  Jahresbibliographie)  ► 
Registerband  zu  bd.  I— XXX   1910.  ZrP. 


Bibli«>j:r.t.  51 

Romanisch  Forschungen.  Organ  für  romanische  Sprachen 
und  Mittellatein,  hrsg.  von  K.  Vollmöller,  lürlangen  1882ff.  In 
zwanglosen  heften,   z.  t.  vollständige  bücher.  KF. 

Zeitschrift  für  französisch  Sprache  und  Literatur,  hgg. 
co/i  D.  Behrens.  Oppeln,  dann  Berlin,  1880  ff.  (abhandlnngen, 
rezensionen,   bibliographie.)  ZfSL. 

Bomania.  Becueil  trimestriel  fände  p.  Paul  Meyer  et  Guston 
Paris,  Paris  1872  ff.,  i>.p.  M.Boqucs  (abhandlnngen,  texte,  rezensionen, 
chronik).     Regißterband  (table)  zu  bd.  I — XXX   1906.  Rom. 

B(  vue  des  langues  romanes  p.  p.  la  SocUU  pour  l'itude  des 
langues  romanes.  MontpelUer  et  Paris  1870  ff.  (bevorzugt  im 
allgemeinen  das  provenzalische  Rdlr. 

Revue   de  phüologie  francaise   et  provengale.     Paris   1 886  ff. 

bd.  XI  u  d.  titel:  Revue  d.  ph.  fr.  et  de  Utterature  p.p.  CUdat. 

Annales  da  Midi  p.  p.  A.  Jeanroy.     Toulouse  1889  ff. 

Bivista  di  filologia  romanza  pubblicata  da  Manzoni,  Monaci 
e  Stengel.  Tmola  1872 — 1876.  2  bde.  —  Giornale  di  filologia 
romanza  pubblicato  da  E.  Monaci.  Born  1878 — 1883.  4  bde.  — 
Studj  di  filologia  romanza  pubblicaü  da  Ernesto  Monaci.  Born 
1881— 1D0-J.     9  bde.  —  Studj  romanei  1901—1907. 

The  Bomanic  Beview,  a  quarterly  Journal,  edited  by  Henry 
Todd  and  Raymond   Weeks,  New  York  1910  ff. 

d )  8  a  m  m  e  1  u  n  t  e  r  n  e  h  m  e  n 

(grösstenteils  dissertatiunssaiLmlungeD) : 

Ausgaben  and  Abhandlungen  aas  dem  Gebiet  der  romanischen 
Philologie  hgg.  von  E.  Stengel.     Harburg  1881  ff.    Über  100  hefte. 

Stengels  AA. 

Französische  Studien  hrsg.  von  G.  Körting  and  E.  Koschailz. 
Heilbronn  (Leipzig)  1881 — 1893.  Franz.  Stud. 

Neuphilologische  Studien  hrsg.  von  G.  Körting.  Paderborn 
1883  ff.     6  hefte.  Neuphil.  Stud. 

Romanische  Studien  veröffentlicht  von  E.  Ebering.  Berlin 
1897  ff.  Eberings  Rom.  Stud. 

Ferner:  Berliner  Beiträge  zur  germanischen  und  romanischen 
Philologie,  Boman.  Abt.,  veröffentlicht  von  Ehering.  Berlin  1894ff. 
—  Erlang  er  Beiträge  zur  englischen  Philologie  and  vergleichenden 
Literaturgeschichte,  hgg.  von  Varnhagen.  —  Marburger  Beiträge 
:<</•  roman. Philologie  hgg.  von  E.  Wechssler,  1910 ff.  —  Münchener 
Beiträgt  zur  romanischen  und  englischen  Philologie,  hgg.  von 
H.  Breyn tan/t  und  J.Schick.     Leipzig  1890 ff. 


Bibliothcque  de  VEcole  des  Hautes  Etudes,  Sciences philologigues 
et  historiques.     Paris,  Vieweg.  Bibl.  Ec.  H.  Et. 

4* 


52  Einleitung. 

Bibliotheque  de  l'Ecole  des  Charles.  Paris,  Picard,  (beide 
Sammlungen  enthalten  gelegentlich  beitrüge  zur  altfranzösiechen 
literatur).  Bibl.  Ec.  Ch. 

Populär  Studies  in  Mythology,  Bomance  and  Folklore  issued 
under  the  gener al  editorship  of  Mr.  Alfred  Null.    London  1899 ff. 

Nutts  Pop.  Stud. 

The  Grimm  Library.  London  1894 — 1901,  15  bde.  (werke 
über  märchen-,  mythen-,  sagenstoffe.) 


VII.  Chrestomathien. 

(meist  mit  glossar,  teilweise  mit  grammatikalischer  Übersicht): 

K.  Bartsch,  Chrestomathie  de  l'ancien  frangais,  10 e  edition 
par  Leo  Wiese.  Leipzig  1910.  (das  grundlegende  buch  dieser  art, 
in  erster  linie  zu  empfehlen.) 

K.  Bartsch  et  A.  Horning,  La  langue  et  la  litterature 
frangaises  depuis  le  neuvieme  siecle  jusqu'au  XLVe  siecle.  Textes, 
glossaire,  grammaire.     Paris,  Strassburg  1887. 

G.  Bertoni,  Testi  anficht  francesi  per  uso  delle  scuole  di 
filologia  romanza,  con  1.0  facsimili.     Borna -Milano  1908. 

L.  C 1  e  d  a  t ,  Morceaux  choisis  des  auteurs  frangais  du  moyen 
äge.     Paris  1877. 

L.  Constans,  Chrestomathie  de  l'ancien  frangais  ä  l'usage 
des  classes  precedee  d'im  tableau  sommaire  de  la  litt,  frone,  au 
moyen-äge  et  suivie  d'im  glossaire  etyniologiquc.    Paris  1885,  z1906. 

Lidforss,  Choix  d'anciens  textes  frangais.     Lund  1877. 

Paul  Meyer,  Becueil  d'anciens  textes  bas-latins,  provengaux 
et  frangais.     Bisher  2  bände.     Paris  1874,  1877. 

G.  Paris  etLanglois,  Chrestomathie  du  moyen  äge.  Extraits 
publies  avec  des  traduetions,  une  introduetion  grammaticale  et  des 
notices  litteraires.     Paris  G1908. 

Toynbee,  Specimens  of  old  French.     Oxford  1892. 

VIII.  Textsammlungen. 

a)  Publikationen  von  Textgesellschaften: 

Bibliothek  des  Literarischen  Vereins  in  Stuttgart  (mit  Sitz  in 
Tübingen).  1839  ff.  Bisher  258  bände,  neben  den  deutschen  texten 
auch  romanische,  besonders  altfranzösische.  Lit.  Ver. 

Gesellschaft  für  romanische  Literatur.  Sitz  in  Dresden, 
begründer  K.  Vollraöller  ebenda,  Vertreter  für  den  buchhandel 
M.  Niemeyer  in  Halle.     1902  ff.,  jährl.  2  —  4  bände,  bisher  27  bde. 

Ges.  f.  Rom.  Lit,  GrL. 


Bibliographie.  53 

Sociöte  des  anciens  zextes  frangcns.  Paris,  Firmin  - Didot 
187 5  ff.,  jährlich  2 — 4  bände,  bisher  im  ganzen  102,  ausschliesslich 
franz.  und  prov.  texte.  Ausserdem  jährlich  2  nummern  Bulletin 
de  la  S.  d.  a.  t.  Soc.  d.  anc.  t.,  Sdat. 

b)  Sammelpublikationen: 

Romanische  Bibliothek  hrsg.  von  Wcndelin  Foerster.  Halle 
1888 ff.     Bisher  20  bände,  z.  t.  in  neuen  auflagen.         Rom.  Bibl. 

Altfranzösische  Bibliothek  hrsg.  von  Wendelin  Foerster.  Heil- 
bronn,  jetzt  Leipzig.     14  bände.  Afr.  Bibl. 

Bibliotheque  francaise  du  mögen  äge  p.  p.  G.  Paris  et  Paul 
Meyer.     Paris  1882  ff.,  8  bände.  Bibl.  franc. 

Bibliotheca  Normannica  hrsg.  von  H.  Suchier.  Halle  1879  ff. 
Bisher  8  bände.  Bibl.  Norm. 

Ausschliesslich  chavsons  de  geste  sind  in  den  folgenden  beiden  älteren 
Sammlungen  enthalten: 

Romans  des  douze  pairs  de  France.  Paris  1833 — 1848. 
12  bände.  Rom.  d.  d.  pairs. 

Anciens  poetes    de    la    France  publies  sous    la   direction   de 

M.  F.  Guessard,   Paris  1858—1870.    10  bde.  Anc.  poetes  d.  1.  Fr. 

Kleine  billige  textausgaben: 

Bibliotheca  Romanica,  begr.  von  G.  Gröber,  Strassburg,  Ed.  Heitz, 
1907  ff.     Jede  nummer  40  Pf.  (Franz.,  ital.,  span.,  portug.  texte). 

Les  Classiques  frangais  du  moyen  äge  publies  sous  la  direction 
de  Mario  Roques,  Paris,  Champion,  1910  ff. 

Testi  romanzi  per  uso  delle  scuole,  pubblicati  da  F.  Monaci,  Rom. 


IX.    Paläographie. 

Bekanntschaft  mit  den  Schriftarten  des  mittelalters  und  den  ge- 
bräuchlichsten abkiirzußgen  ist  für  das  Studium  von  handschriften  oder 
reproduktiouen  solcher  notwendig  (vgl.  AS  281  ff.,  3 14 f.).  In  den  folgenden 
werken  und  abhaudlungen  findet  man  hierüber  belehrung  sowie  verweise 
auf  weitere  literatur: 

Wilhelm  Wattenbach,  Bas  Schriftwesen  im  Mittelalter, 
Leipzig  1871,  U896. 

Wilhelm  Arndt,  Die  lateinische  Schrift.  Pauls  Grundriss 
d.  germ.  Phil.  I  251—265,  21  263—282  (überarbeitet  von  H.Bloch). 

Franz  Steffens,    Lateinische  Paläographie,    21907.     Trier. 

Wilhelm  Schum,  Die  schriftlichen  Quellen  der  romanischen 
Philologie.  Gröbers  Grundriss  d.  rom.  Phil.  I  157 — 196,  überarbeitet 
von  H.  Bresslau  12  205  —  53. 


54  Einleitung. 

Maurice  Prou,  Manuel  de  palidgraphie  latme  et  francaise 
du   VI*  au  XVIIe  siede,  suivi  d'un  dicüormaire  des  abbreviations, 

arec  23  facsimiles  01  phototypie.  3e  ed.  Paris  1910.  Dazu: 
Jiecueil  de  facsimiles  d'ecritures  du  XU'  au  XVII"  stiele  accom- 
pagncs  de  transcriptions.  Paris  1892.  12  tafele.  —  Becueil  de 
facs.  d'ecr.  du  V1'  au  siede  XVIIe  siede.     1904.     50  tafeln. 

Eine  grosse  zahl  romanischer  handschriften  und  wichtiger  texte  sind 
reproduziert  bei: 

Monaci,  Facsimili  di  antiehi  manoscritti  per  uso  delle  scuolc 
di  filologia  neolatina.  Born  1881 — 1892  (insgesammt  100  tafeln). 
—  Facsimili  di  documenti  per  la  storia  delle  lingue  e  delle  letterat  ure 
romanze.     Rom  1910. 

X.    Bibliographie. 

Für  tiefergehende  Studien,  namentlich  für  spezialarbeiten  auf  diesem 
oder  jenem  gebiet,  ist  genaue  kenutnis  der  einschlägigen  wissenschaftlichen 
literatur  notwendig.  Für  die  hier  in  diesem  buch  behandelten  literatur- 
gattungen  und  denkmäler  wird  das  wesentliche  jeweils  an  ort  und  stelle. 
gegeben. 

Ausserdem  ist  für  altfr.  literatur  noch  zu  verweisen  anf: 

G.  Gröber,  Französische  Literatur  (im  Grundriss  8.  o.). 

G.  Paris,  Litt,  francaise  au  moyen  äge  (vgl.  oben).  Dazu 
(im  anschluss  an  G.  Paris'  darstellung): 

C.  Wahl  und,  Ouvrages  de  philologie  romane  et  textes  d'ancien 
frangais  faisant  partie  de  la  bibl.  de  M.  C.  Wahlund  ä  Upsal. 
Upsala  1893. 

Die  angaben  dieser  z.  t.  schon  vor  längerer  zeit  erschienenen  bücher 
müssen  durch  die  seitdem  hinzugekommene  literatur  ergänzt  werden. 
Solche  findet  sich  verzeichnet  in : 

Zeitschrift  für  romanische  Philologie  (s.  o.).  Supplementheft: 
Bibliographie.  Jährlich  1  lieft.  Verzeichnet  die  erscheinungen  des 
gesamtgebietes  nebst  den  darüber  erschienen  rezensionen. 

Zeitschrift  für  französische  Sprache  und  Literatur  (s.  o.).  In  der 
regel  halbjährliche  Verzeichnisse  über  französische  literatur  und  spräche. 

Archiv  für  das  Studium  der  neueren  Sprachen  und  Literaturen 
(s.  o.).     Bibliographie  in  jedem  vierteljahrsheft. 

Literaturblatt  für  germanische  und  romanische  Philologie  (s.  o.). 
In  jeder  nutnmer  (monatlich)  Übersicht  über  die  neuerscheinungen 
der  romanischen,  englischen  und  germanischen  philologie. 

Kritischer  Jahresbericht  über  die  Fortschritte  der  Romanischen 
Philologie  hrsg.  von  K.  Vollmöller.  Seit  1890  11  bände  (bis  1908). 
Gibt  kritische  besprechung  der  neuen  erscheinungen  in  zusammen- 
hängender darstellung.  JrP. 


Bibliographie.  55 

Für  die  zahlreichen  dissertationen,  Programme  u.  ii.  siehe: 

H.  Vamhagen,  Systematisches  Verzeichnis  der  Programm- 
abhandhmgen,  Dissertationen,  Habilitationsschriften  ans  dem  Gebiet 
der  romanischen  und  englischen  Philologie  sowie  der  allgemeinen 
Sprach-  und  Litteraturwissenschaft.  Leipzig  1884,  -  von  Joli.  Martin 
1893.  (Ein  in  manchen  bttchem  angeführtes  ähnliches  werk  von 
.\.  Iletteler  ans  dem  jähre  1898  ist  in  Wirklichkeit  nie  erschienen.) 

Kud.  Klnssmann,  Systematisches  Verzeichnis  der  Abhandlungen, 
welche  in  den  Schulschriften  sämtlicher  am  Programmaustausch 
teilnehmenden  Lehranstalten  erschienen  sind.  Erscheint  periodisch. 
I.  bd.,  Leipzig  1889,  behandelt  die  Jahrgänge  1876—1885,  II.  bd. 
(1886  —  1890)  ebenda  1893  nsw. 

Jahresverzeichnis  der  an  den  Universitäten  erschienenen 
Schriften.     Berlin. 

Jahresverzeichnis  der  an  den  Schulanstalten  erschienenen 
Schriften.     Berlin. 

Ein  Verzeichnis  der  handschriftenkataloge,  deren  be- 
nutzung  für  spezialstudien  häufig  nötig  ist,  gibt  G.  Gröber  auf 
s.  457  f.  seiner  Franz.  Lit. 


Besondere  Abkürzungen 

für  Druckorte  u.  ä. : 

B.  =  Berlin,  Ha.  =  Halle,  Heid.  =  Heidelberg,  L.  —  Leipzig, 
P.  =  Paris,  Str.  =  Strassburg. 

Neue  auflagen  werden  durch  den -entsprechenden  exponenten 
bezeichnet,  also:  Wattenbach,  Schriftwesen  im  Mittelalter,  1871, 
3  1896  =  3.  aufläge   1896. 

Mit  AS  wird  auf  den  I.  band  der  Sammlung,  die  'Einführung 
in  das  Studium  der  altfranzösischen  Sprache'  (4.  aufläge)  verwiesen. 


Erstes  Kapitel. 

Die  ältesten  überlieferten  Literaturdenkmäler. 


Wann  die  ersten  französischen  verse  gedichtet  worden  sind, 
wissen  wir  nicht.  Die  eigentlichen  anfange  der  französischen 
literatur  sind  uns  verborgen.  Um  diese  einigermassen  bloss- 
zulegen,  bedarf  es  nicht  bloss  des  Studiums  des  überlieferten, 
sondern  auch  der  heranziehung  des  verloren  gegangenen,  wozu 
uns  die  philologische  kritik,  die  Verwertung  von  Zeugnissen, 
die  vorsichtige  Wiederherstellung  des  erschliessbaren  dienste 
leisten  können.  Es  sind  nicht  nur  einzelne  dichtungen,  sondern 
sogar  ganze  dichtgattungen  der  älteren  zeit  verloren  gegangen, 
sei  es,  dass  die  schreibkundigen  sie  des  aufschreibens  nicht 
für  wert  hielten  oder  gar  nicht  kannten,  sei  es,  dass  die 
niederschrift  durch  diesen  oder  jenen  zufall  vernichtet  wurde. 

Bevor  man  jedoch  an  die  erschliessung  des  nicht  über- 
lieferten geht,  ist  das  wirklich  vorhandene  zu  betrachten, 
welches  uns  ein  greifbares  material  und  damit  eine  feste 
grundlage  für  weitere  Untersuchungen  bietet.  Die  aus  den  ersten 
Jahrhunderten  der  französischen  literatur  (9. — 11.  Jahrhundert) 
überlieferten  denkmäler  gehören  sämtlich  der  geistlichen 
dichtung  an.  Auch  diese  war  vermutlich  in  Wirklichkeit 
weit  reichhaltiger,  als  die  wenigen  zufällig  erhaltenen  reste 
erkennen  lassen. 

Eine  fortlaufende  oder  sich  allmählich  steigernde  ent- 
wicklung  lässt  sich  an  diesen  wenigen  denkmälern  nicht 
aufzeigen.  Von  individuellen  unterschieden  abgesehen,  stehen 
die  verschiedenen  dichtungen  im  wesentlichen  auf  der  gleichen 
kunststufe.  Ihr  inhalt  ist  meist  erzählender  art.  Werke  der 
christlich -lateinischen  literatur  bieten  das  vorbild  dazu,  deren 


Allgemeines.  57 

inbalt  wird  im  ganzen  getreulich  wiedergegeben  und  höchstens 
durch  einzelheiten  in  der  Schilderung  oder  durch  moralische 
Betrachtungen  erweitert. 

Gegenüber  der  althochdeutschen  Literatur  derselben  epoche 
kann  es  auffallen,  dass  volkssprachliche  Übersetzungen  der 
christlichen  heilswahrheiten  in  Frankreich  gerade  in  den  ersten 
Jahrhunderten  vollständig  fehlen,  während  sich  dort  im  9.  und 
10.  Jahrhundert  lediglich  für  das  praktische  bedürfnis  berechnete 
iin  prosa  verfasste)  Übersetzungen  von  glaubensbekenntnis  und 
vaterunser,  auch  taufgelöbnisse  und  gebete,  in  grosser  zahl 
linden.  Die  Unterweisung  musste  natürlich  hier  wie  dort  in 
der  Volkssprache  geschehen.  Aber  das  bedürfnis  nach  auf- 
zeichnung  der  volkssprachlichen  texte  war  in  dem  längst 
christianisierten  Gallien  wol  nicht  so  gross  wie  bei  den  erst 
Bpäter  bekehrten  deutschen  Völkern  des  Ostfrankenreiches.  In 
der  französischen  literatur  erscheinen  Credo  und  Paternoster 
erst  im  12.  Jahrhundert  und  zwar  dann  in  literarischer  form, 
in  versen. 

Dafür  haben  wir  schon  aus  verhältnismässig  früher  zeit 
einige  zum  teil  ziemlich  umfangreiche  dichtungen  christlich- 
religiösen inhalts  in  französischer  spräche,  welche  auf  lite- 
rarische Wirkung  berechnet,  zum  teil  zum  öffentlichen  Vortrag 
bestimmt  waren.  Diese  dichtungen  bieten  erzählenden  inhalt 
in  lyrischer  form,  d.  h.  in  regelmässig  sich  wiederholenden 
Strophen  oder  auch  in  sequenzenform:  die  Eulaliasequenz, 
die  Passion  Christi,  das  Leodegarlied,  das  Alexiuslied. 
Diese  füllen  die  zeit  vom  ende  des  9.  bis  zur  mitte  des  11.  Jahr- 
hunderts. Das  sogenannte  Jonasfragment  (anfang  des  10.  Jahr- 
hunderts) hat  in  seiner  überlieferten  gestalt  nur  den  wert  eines 
Sprachdenkmals  (vgl.  AS  s.  290). 

Photographien  und  Faksimiles:  G.  Paris,  Album  de  la 
Societe  des  anciens  textes,  Paris  1875  (Eulalia,  Passion,  Leodegar). 
—  E.  Munaci,  Facsimili  di  antichi  manoscritti  (s.  o.)  und  Facsimili 
di  documenti  (s.  o.).  —  Foerster  u.  Koschwitz  (s.  u.). 

Ausgaben  und  Drucke:  Diez,  Altromanische  Sprachdenkmale, 
Bonn  1846  (Eide,  Eulalia,  Boethius).  Zwei  altromanische  Gedichte 
(Passion  und  Leodegar),  Bonn  1852,  2  1876.  —  Koschwitz,  Les 
plus  anciens  monuments  de  la  langue  francaise.  Heilbronn  1879, 
7  L.  1907;  dazu  als  II.  Teil:  Textes  critiques  avec  glossaire. 
L.    1902,    21907.    —    Foerster    und    Koschwitz,    Altfranzösisches 


58  I.  Kapitel.     l>ie  ältesten  überlieferten  Literaturdenkmäler. 

Uebungsbuch.  I.  Die  ältesten  Sprachdenkmäler.  TIeilbronn  1884, 
'1911  (mit  kritischem  apparat,  vollständiger  bibliographie  und 
einzelnen  faksimiles).  —  Stengel,  Die  ältesten  französischen  Sprach- 
denkmäler, Marburg  1884  (nr.  VII  der  Ausg.  und  Abh.),  2  1901.  — 
Monaci,  I  piü  antichi  monumenti  della  lingua  francese,  Rom  1894. 
—  Sonst  mehr  oder  weniger  vollständig  in  den  altfr.  Chrestomathien 
von  Bartsch,  Bartsch  und  Horning,  Bertoni,  Cledat,  Constan?  u.  a. 
(-.  o.  s.  52).  —  Ohne  wissenschaftlichen  wert  sind  Ad.  Krauts 
neudrucke  in  seinen  'Carlovingiennes',  P.  1899. 

Erläuternngsschriften:  Diez,  s.o. —  Lücking,  Die  ältesten 
französischen  Mundarten.  Eine  sprachgeschichtliche  Untersuchung. 
B.  1877.  —  Kosen witz,  Commentar  zu  den  ältesten  französischen 
Sprachdenkmälern.  I  (Eide,  Eulalia,  Jonas,  Hohes  Lied,  Stephan). 
Heilbronn  1886.  Altfr.  Bibl.  X.  —  Stengel,  La  Cancun  de 
Saint  Alexis  und  einige  kleinere  altfranzösische  Gedichte  des 
11.  und  12.  Jahrhunderts  (nr.  I  der  Ausg.  und  Abh.).  1.  Texte, 
Marburg  1881,  2.  Wörterbuch  (vollständiges  Verzeichnis  sämtlicher 
Wörter  und  formen  nebst  belegstell en),  Marb.  1882. 

Bibliographie  am  vollständigsten  im  Afr.  Übungsbuch  von 
Foerster  u.  Koschwitz  (s.  o.). 


1.    Die  Eulaliasequenz. 

A.  Herkunft  und  quelle.  Die  Eulalia,  welche  in  dem 
sogenannten  Eulalialied  gefeiert  wird,  ist  ursprünglich  eine 
spanische  heilige.  Ein  junges,  schwärmerisches  mädchen  von 
edelem  geschlecht  aus  Merida,  soll  sie  im  jähre  304,  am 
10.  dezember,  unter  der  regierung  des  kaisers  Maximian  den 
märtyrertod  erlitten  haben.  Die  Eulalia  von  Barcelona,  die 
neben  ihr  genannt  wird,  ist  ursprünglich  wol  mit  ihr  eins,  und 
die  römische  Eulalia,  die  in  einem  martyrologium  unmittelbar 
hinter  ihr  erscheint  und  als  heldin  unseres  gedichts  auftritt, 
ist  auf  das  vorbild  der  spanischen  Eulalia  zurückzuführen. 
Ein  selbst  aus  Spanien  gebürtiger  christlicher  dichter  des 
4.  Jahrhunderts,  Prudentius,  hatte  einen  lateinischen  hymnus 
auf  die  heilige  von  Merida  gedichtet.  Auch  sonst  erscheint 
sie  häufig  in  der  lateinischen  literatur,  zumal  in  den  martyro- 
logien.  In  einer  handschrift  aus  dem  ende  des  9.  Jahrhunderts 
findet  sich  eine  auf  das  vorbild  des  Prudentius  zurückgehende 
lateinische  sequenz,  im  wesentlichen  lyrischen  Inhalts,  welcher 
auf    der    nächsten    seite    unsere    französische    sequenz    folgt. 


1.    Die  Eulaliaseqnenz.  o9 

Diese  hat  jene  jedoch  nur  für  die  metrische  form  zum  Vorbild 
genommen,  inhaltlich  hat  sie  aus  Prndentins  seihst  geschöpft, 
daneben  wahrscheinlich  noch  aus  dem  martyrologinm  des  eng- 
lischen kirehenhistorikers  Heda  (lebte  674 — 735),  da  dieser 
allein  den  tod  der  heiligen  durchs  sehwert  meldet  (sonst  überall 
feuertod). 

B.  Überlieferung  und  abfassungszeit  und  -ort.  Die 
bandschrift,  ursprünglich  in  dem  benediktinerkloster  Saint- 
Amand-les-Eaux  oder  Elnon,  seit  1791  in  Valenciennes.  wurde 
hier  1837  von  Hoflfmann  von  Fallersieben  wieder  entdeckt,  in 
seinen  Elnonensia  (Monumens  des  langues  romane  et  teutonique 
du  IXe  sifecle,  Grand  1837)  beschrieben  und  in  ihren  wesent- 
lichen stücken  herausgegeben.  Unmittelbar  auf  das  französische 
gedieht  folgt  in  der  handschrift,  von  der  gleichen  hand  ge- 
schrieben, das  deutsehe  Ludwigslied  (JEinan  kuning  weiz  ih, 
heizsit  her  hluduig),  welches  zu  lebzeiten  des  königs  auf  seinen 
sieg  über  die  Normanneu  bei  Saucourt  (am  3.  august  881) 
gedichtet,  aber  erst  nach  seinem  tode  (5.  august  882)  in  unserer 
handschrift  niedergeschrieben  wurde  (wie  die  Überschrift  lehrt: 
Rithmus  teutonicus  de  piae  memoriae  Hluduico  rege  filio 
Hluduici  aeque  regis).  Um  dieselbe  zeit  muss  auch  unsere 
Eulaliasequenz  eingetragen  worden  sein,  d.  h.  jedenfalls  in  den 
achtziger  jähren  des  9.  Jahrhunderts.  Anlass  zur  entstehung 
des  liedes  bot  vielleicht  die  durch  den  erzbischof  Sigebod  von 
Narbonne  veranlasste  auftindung  der  gebeine  der  heiligen  in 
Barcelona,  welche  auch  in  Frankreich  sehr  verehrt  wurde. 
Entstanden  ist  die  dichtung  wahrscheinlich  in  Saint-Amand 
selbst  (in  der  nähe  von  Valenciennes,  Dep.  Nord),  d.  h.  in  der 
nähe  der  pikardisch-wallonischen  dialektgrenze. 

C.  Form.  Sequenz  bezeichnet  zunächst  eine  aus  dem  kultus 
stammende  musikalische  form,  zu  der  sich  erst  nachträglich 
der  text  gesellte.  Es  handelt  sich  um  die  sogenannte  jubilatio 
oder  sequentia,  das  in  der  messe  vom  chor  gesungene  zweite 
hallelujah,  dessen  letzte  silbe  musikalisch  so  erweitert  und  so 
vielfach  variiert  wurde,  dass  man  den  melodien  schliesslich 
lateinische  texte  unterlegte,  um  sie  besser  behalten  zu  können. 
Von  Westfranken  wurden  solche  texte  durch  einen  mönch  des 
von  Normannen  862  zerstörten  klosters  Jumifeges  auch  nach 
Deutschland   und  zwar   nach  St.  Gallen  gebracht,   wo  sie  von 


CO  I.  Kapitel.     Die  ältesten  überlieferten  Literaturdenkmäler. 

Notker  Balbulus  (gestorben  912)  nachgeahmt  und  weitergebildet 
wurden  (deutsch  sequenz  oder  leich,  auch  mit  lateinischem 
namen  modus). 

Die  Sequenzen  zeigen  ihrer  entstehung  gemäss  keine  regel- 
mässige strophenform,  auch  innerhalb  der  verschiedenen  verse 
wechselnde  silbenzahl  mit  wechselnder  rhythmischer  gliederung, 
ursprünglich  auch  keinen  reim.  Jedoch  wird  jeder  musikalische 
satz  wiederholt,  so  dass  im  text  rhythmische  verspaare  (doppel- 
versikel)  entstehen,  deren  beide  teile  aber  metrisch,  d.  h. 
hinsichtlich  der  silbenzahl,  nicht  durchaus  übereinzustimmen 
brauchen.  Die  lateinische  sequenz,  welche  rhythmisch  und 
musikalisch  das  vorbild  der  französischen  war  (Cantica  virginis 
Eulali ae  —  Concine  suavissona  cithara),  zeigt  in  dieser  hin- 
sieht grössere  regelmässigkeit  als  diese,  in  welcher  verschiedene 
verspaare  in  sich  verse  von  ungleicher  silbenzahl  vereinigen. 
Hier  brachte  die  musikalische  taktgliederung  den  rhythmischen 
ausgleich;  an  einzelnen  stellen  liegt  möglicherweise  text- 
verderbuis  vor.  Verbanden  sind  die  beiden  verse  eines  paares 
durch  assonanz,  nur  ausnahmsweise  durch  reim. 

D.  Inhalt  und  darstellung.  Eulalia  war  schön  von 
körper  und  noch  schöner  von  seele,  alle  lockungen  und 
drohungen  der  gottesfeinde  verachtete  sie,  um  Gott  treu  zu 
bleiben  und  nicht  dem  teufel  zu  dienen.  Vor  den  thron 
Maximians  geführt,  bleibt  sie  auch  hier  standhaft.  Sie  wird 
zum  feuertod  verurteilt,  aber  das  feuer  kann  ihr  nichts  an- 
haben. Als  ihr  haupt  unter  dem  schwert  fällt,  fliegt  sie  als 
taube  zum  himmel.  Möge  sie  dort  bei  Christus  unsere  für- 
sprecherin sein ! 

Einfach  und  schmucklos,  ohne  subjektive  zutaten,  wird 
uns  in  25  kurzen  versen  die  geschiente  der  heiligen  erzählt, 
nur  am  schluss  wird  die  naheliegende  bitte  um  fürsprache  im 
himmel  angefügt.  Aber  gerade  diese  kürze  und  knappheit 
des  ausdrucks  rückt  uns  Schicksal  und  Charakter  der  heiligen 
um  so  greifbarer  vor  äugen.  Gleichgeordnet,  meist  ohne  ver- 
bindende konjunktionen,  wird  satz  neben  satz  gestellt:  „Hinein 
ins  feuer  warf  man  sie,  als  ob  sie  sogleich  verbrennen  sollte: 
sie  war  schuldlos,  darum  brannte  sie  nicht.  Darein  wollte  der 
heidnische  könig  sich  nicht  ergeben,  durchs  schwert  befahl 
er  ihr  das  haupt  zu  nehmen.     Das  mädchen  widersprach  dem 


2.    Die  Tassioii  Christi.  61 

nicht,  sie  wollte  die  weit  verlassen,  so  befiehlt  Christus.  In 
gestalt  einer  taube  flog  sie  zum  himmel".  Alle  poetische 
wirkuug  ruht  hier  in  der  kürze  und  einfachheit  der  dar- 
stellung. 

Ausser  den  oben  8.  57  f.  genannten  reproduktionen  und  ausgaben 
vgl.  Magda  Enneccerus,  Zur  lat.  u.  franz.  Eulalia,  Marburg  1897; 
Versbau  und  gesanglicher  Vortrag  des  alt.  franz.  Liedes,  Frankfurt  a.  M. 
1901.  —  II.  Sucbier,  Literaturgeschichte  s.  98  (Faksimile);  Über 
Inhalt  und  Quelle  des  alt.  franz.  Gedichts,  ZrP  15  (1891)  24—46. 
—  Text  mit  erläuterungen  s.  AS  s.  285 — 89. 


2.    Die  Passion  Christi. 

A.  Überlieferung  und  herkunft.  Die  auf  der  stadt- 
bibliothek  zu  Clermont-Ferrand  befindliehe  pergamenthandschrift 
nr.  189  des  10.  Jahrhunderts  enthält  ein  lateinisches  glossar,  in 
dessen  leergebliebene  stellen  spätere  bände  als  füllsel  poetische 
und  prosaische  stücke  eintrugen,  so,  unter  anderem,  hinter  dem 
wort  bellum  das  gedieht  von  der  Passion  Christi,  hinter  dem 
wort  ülustris  das  vom  heiligen  Leodegar.  In  beiden  gedienten 
sind  französische  und  provenzalische  sprachformen  regellos  mit- 
einander gemischt.  Da  ein  grenz-  oder  mischdialekt  derart 
nicht  vorhanden  ist,  bleibt  nur  die  annähme  übrig,  dass  die 
gedichte  ursprünglich  auf  französisch  abgefasst  und  in  Süd- 
frankreich von  provenzalischen  kopisten  teilweise  ins  proven- 
zalische umgeschrieben  wurden,  zum  teil  sogar  unter  änderung 
der  ursprünglichen  reime  und  assonanzen.  Die  Passion  erscheint 
in  stärkerem  masse  provenzalisiert  als  der  etwas  später  — 
ende  des  10.  bis  anfang  des  11.  Jahrhunderts  —  eingetragene 
Leodegar.  Ob  diese  tatsache  dadurch  zu  erklären  ist,  dass 
die  ursprüngliche  französische  mundart  der  Passion  eine  nachbar- 
mundart  des  provenzalischen  (Bourbonnais  oder  Marche)  gewesen 
sei,  wie  Dreyer  will,  muss  dahingestellt  bleiben.  Manche  züge 
sprechen   für  abfassung  des  Originals  im  eigentlichen  norden. 

Die  abfassungszeit  läset  sich  durch  den  binweis  auf  den 
nahe  bevorstehenden  Weltuntergang  (v.  505  f.,  vgl.  AH  s.  294) 
erschliessen,  der  allgemein  auf  das  jähr  1000  erwartet  wurde: 
also  letztes  viertel  des  10.  Jahrhunderts. 


62  I.  Kapitel.     Die  ältesten  überlieferten  Literaturdenkmäler. 

B.  Form  und  umfang.  Das  ganze  gedickt  zählt  129  vier- 
zeilige  Strophen  mit  516  aehtsilbigen  verseu.  Je  zwei  verse 
sind  durch  assonanz  miteinander  verbunden.  Die  Verbindung 
von  zwei  verspaaren  zu  einer  Strophe  kennt  auch  schon  die 
lateinische  hymuenpoesie  (vgl.  oben  s.  34).  Die  stropheu- 
einteilung  wird  in  der  handschrift  nicht  durch  absetzen  der 
zeile,  sondern  durch  grosse  buchstaben  am  Strophenanfang 
bezeichnet,  im  übrigen  durch  die  inhaltliche  und  syntaktische 
gliederung  bestätigt.  Wie  die  über  die  erste  Strophe  über- 
geschriebenen noten  (neumen)  lehren,  war  das  gedieht  zum 
gesangsvortrag  bestimmt. 

C.  Inhalt  und  Verhältnis  zu  den  quellen.  In  den 
drei  ersten  Strophen  kündigt  der  Verfasser  sein  thema  au, 
skizziert  in  kurzen  zügen  Christi  er  den  wallen  und  die  bedeutung 
seines  erlösertodes.  Mit  Strophe  IV  setzt  die  eigentliche  er- 
zählung  ein,  wr eiche  uns  vom  einzug  Christi  in  Jerusalem  bis 
zu  seinem  tod  am  kreuz,  höllenfahrt,  himmelfahrt  und  endlieh 
zur  apostelgeschichte  führt.  Des  dichters  interesse  haftet  am 
tatsächlichen,  die  zwischen  den  ereignissen  erzählten  gleich- 
nisse  und  reden  übergeht  er  ebenso  wie  manche  charakteristische 
einzelheit:  so  die  vorhersage  von  Petrus'  dreimaligem  verrat, 
Jesu  wort  „Mich  dürstet"  (trotzdem  die  essigdarbietung  kurz 
berichtet  wird),  die  im  Johannesevangelium  berichteten  worte 
Jesu  an  Maria  und  Johannes  u.  a.  So  knapp  der  dichter  auch 
erzählt,  so  findet  er  doch  gelegenheit,  kleine  Zusätze  zu  machen 
und  seinem  mitgefühl  ausdruck  zu  geben :  er  spricht  seinen 
abscheu  aus  über  den  verrat  des  Judas,  ausführlich  schildert  er 
den  schmerz  der  leiblichen  mutter  Christi  am  fuss  des  kreuzes. 

Von  den  vier  evangelien  folgt  der  dichter  —  wol  gedächtnis- 
mässig  —  bald  diesem,  bald  jenem,  am  wenigsten  Markus,  am 
meisten  Matthäus  und  Johannes,  nach  beuutzung  derjenigen 
elemente  und  darstellungen  zu  urteilen,  welche  nur  einem  der 
vier  evangelien  eigen  sind.  Ausserdem  hat  er  noch  die  apostel- 
geschichte benutzt,  nach  welcher  er  auferstehung,  himmelfahrt, 
ausgiessung  des  heiligen  geistes  erzählt  und  die  weiteren  Schick- 
sale der  apostel  andeutet,  endlich  auch  apokryphe  Schriften 
(wie  Descensus  Christi  ad  inferos  oder  Nicodemusevangeliuni), 
denen  er  die  Schilderung  von  Christi  Höllenfahrt  (str.  94  —  97) 
entnahm. 


3.    Das  Leodegarlied.  63 

Photographien  und  Faksimiles  s.  o.  s.  57  t*.  —  Ausgaben 
6.  ebenda,  dazu:  ediüo  prineeps  von  Champollion-Figeac  im  VI.  band 
der  Documents  historiques  inedits,  P.  1848,  s.  424  ff.  (darnach  die 
ausgäbe  von  l>irz  1852,  21876).  G.Paris,  La  Passion  du  Christ. 
Rom.  II  (1873)  295  —  314.  Textprobe  AS  292  —  94.  Mundart: 
Diez  s.  4  f.  Lücking,  Alt.  franz.  Mundarten  s.  38  ff.  (hier  franz.  text 
hergestellt).  Suchier,  ZrP  II  (1878)  8.  301  f.  P.  Dreyer,  Zur 
Clermunter  Passion,  Erlangen  1901  (auch  RF  XIII).  —  Vgl.  noch 
Spenz,  Die  syntaktische  Behandlung  des  achtsilbigen  Verses  in  der 
Passion  Christi  u.  im  Leodegarliede,  Marburg  1887. 


3.    Das  Leodegarlied. 

A.  Quelle  und  abfassungsort.  Das  leben  des  heiligen 
Leodegar  ist  iu  derselben  haudschrift  überliefert  wie  die 
Passion.  Leodegar,  zuerst  abt  von  St.-Maixent,  dann  bischol 
von  Autun,  war  in  die  politischen  geschieke  Frankreichs 
verwickelt  und  wurde  678  auf  befehl  seines  alten  nebeubuhlers 
und  geguers  Ebro'in  geblendet  und  dann  enthauptet.  Sein 
leben  wurde  bald  darnach  auf  geheiss  seines  nachfolgers 
Hermenarius  von  einem  mönch  in  Autun  in  einer  lateinischen 
vita  beschrieben,  dann  abermals,  gelegentlich  der  trauslatio 
des  heiligen  nach  St.  Maixeut,  von  einem  mönch  des  klosters 
Liguge"  bei  Poitiers,  namens  Ursinus.  Einer  interpolierten 
handschrift  dieser  zweiten  vita  folgt  unser  dichter.  Kürzungen 
gegenüber  der  vorläge  sind  häufig  und  ziemlich  umfangreich, 
abweichungen  selten,  hier  und  da  begegnen  missverständnisse. 

Gegenüber  älteren  annahmen  hat  Suchier  endgültig  be- 
wiesen, dass  die  mundartlichen  formen  des  dem  überlieferten 
text  zugrunde  liegenden  französischen  originalgedichts  nach 
dem  norden,  in  das  wallonische  gebiet,  weisen. 

Der  vers  ist  der  achtsilbner  wie  in  der  Passion,  jedoch 
ausschliesslich  mit  männlicher  assonauz.  Je  drei  verspaare 
bilden  hier  eine  atrophe. 

B.  Inhalt  und  darstellung.  Zuerst  will  der  dichter 
von  den  ehren  erzählen,  die  Leodegar  unter  zwei  herrschern 
genossen,  dann  von  seineu  leiden  und  von  seinem  peiniger 
Ebro'in.  Schon  als  kiud  brachten  ihn  seine  eitern  an  den  hof 
Lodiers   (Chlothars  IL),  der  ihn  durch  den  bischof  Didon  von 


04  I.  Kapitel.     Die  ältesten  überlieferten  Literaturdenkmäler. 

Poitiers  ausbilden  Hess  und  zum  abt  von  St.-Maixent  machte. 
So  wird  in  ziemlich  trockener  weise  das  leben  des  heiligen 
weiter  erzählt.  Er  wird  vom  könig  (Chlothar  III.)  an  den  hof 
berufen  und  zum  bischof  von  Autun  ernannt.  Nach  dem  tode 
des  küuigs  bildet  sich  gelegentlich  der  wähl  des  neuen  künigs 
eine  gegnerschaft  zwischen  Leodegar  und  dem  grafen  Ebroin 
heraus,  dieser  unterliegt  und  geht  ins  kloster  Luxeu  (in 
den  Vogesen).  Jener  wird  von  dem  neuen  könig  Chilperich 
(historisch  Childerich  IL)  zum  ratgeber  ernannt,  verzichtet 
aber,  von  Verleumdern  beim  könig  angeschwärzt,  auf  alle 
ehren  als  ratgeber  und  bischof  und  tritt  in  dasselbe  kloster  ein, 
wo  Ebroin  weilt  und  eine  Scheinversöhnung  mit  ihm  eingeht. 
Nach  dem  tod  Chilperichs  bricht  die  alte  feindschaft  wieder 
aus.  Leodegar,  wieder  in  Autun  als  bischof,  wird  von  Ebroin 
belagert  und  gefangen  genommen.  Hier,  mit  Strophe  26, 
beginnt  der  dichter  mit  einem  neuen  anhub  den  zweiten  teil 
seines  liedes,  die  leidensgeschichte  des  heiligen,  die  in  den 
fünfzehn  letzten  Strophen  etwas  bewegter  als  das  vorausgehende 
erzählt  wird.  Geblendet,  der  lippen  und  der  zunge  beraubt, 
kann  er  Gott  nicht  mehr  preisen;  aber  Gott  erhört  seine 
gedanken,  die  äugen  des  geistes  ersetzen  die  des  körpers. 
die  seele  schafft  dem  körper  trost  für  seine  leiden.  Nach 
Fecamp  (fescant)  ins  gefängnis  gebracht,  erhält  er  durch  ein 
wunder  Gottes  die  lippen  wieder  und  predigt  dem  volk. 
Wütend  übergibt  ihn  Ebroin  einem  anderen  gefängniswärter. 
aber  dieser  wird  durch  ein  zeichen  vom  himmel  belehrt,  dass 
er  es  mit  einem  Gott  wohlgefälligen  mann  zu  tun  hat.  Alles 
volk  strömt  zu  Leodegars  predigt  herbei,  auch  von  den  vier 
mördern,  die  Ebroin  gegen  ihn  aussendet,  fallen  ihm  drei  zu 
füssen,  aber  der  vierte  schlägt  ihm  das  haupt  ab.  Noch  im 
tode  steht  der  heilige  aufrecht,  selbst  als  ihm  die  füsse 
abgeschlagen  werden.  Möge  er  bei  Gott  für  uns  eintreten! 
Dieser  schlusswunsch  wie  die  wirkungslosen  folterqualen,  die 
standhaftigkeit  des  heiligen,  die  unerbittlichkeit  des  Verfolgers 
erinnern  uns  an  die  Eulaliasequenz. 

Photographien  und  Faksimiles  s.  o.  s.  57f.  —  Ausgaben 
(vgl.  oben  Passion):  Cbampollion-Figeac  s.  446 ff.,  Diez  s.  35 — 51. 
G.  Paris  (Romania  I  273 — 317,  mit  franz.  rekonstruktion.  Textprobe 
AS    s.  295  — 97.    —    Mundart:    siehe    G.  Paris,    Rom.    I  275  ff. 


4.    Das  Alexinsleben.  65 

VII  629,  Lücking  s.  197,  Suchier  ZrP  II  255 ff.,  Mussafiaband 
8.661 — 68.  —  Erläuterungsschriften:  Lücking  9.  17ff,  Spenz 
(s.  Passion)  s.  77 — 80.  —  Quelle:  Monumenta  Germaniae,  SS. 
rerum  Merovingicarnm  V  (hgg.  von  Krusch)  249  ff,  281  ff. 


4.    Das  Alexiusleben. 

A.  Zeit  und  ort  der  abfassung.  Das  einzige  literatur- 
dtnkmal  zwischen  Passion  und  Leodegar  (10.  Jahrhundert) 
einerseits  und  den  epischen  denkmälern  (ende  11.  Jahrhunderts) 
andererseits  ist  das  Alexiusleben,  das  mit  ziemlicher  Wahr- 
scheinlichkeit einem  kanonikus  von  Rouen,  Tetbald  von 
Vernon,  zugeschrieben  wird,  welcher  nach  der  Überlieferung 
lateinische  heiligenleben  in  gereimte  französische  lieder  über- 
tragen haben  soll.  Zeitlich  wäre  das  gedieht  der  mitte  des 
11.  Jahrhunderts  zuzuweisen.  Die  mundart  des  Originals  genau 
zu  bestimmen  ist  schwierig,  weil  die  drei  handschriften,  welche 
es  überliefern,  um  hundert  jähre  und  mehr  jünger  sind 
und  alle  mehr  oder  weniger  anglonormannische  Sprach- 
eigentümlichkeiten zeigen.  Doch  ist  festländische  entstehung 
sicher:  'probablement  dans  la  partie  de  la  Normandie  la  plus 
voisine  de  l'Ile  de  France'  (G.  Paris). 

B.  Überlieferung.  Von  den  drei  handschriften  ist 
die  älteste  um  die  mitte  des  12.  Jahrhunderts  in  England 
geschrieben,  jetzt  in  Hildesheim  befindlich,  früher  im  kloster 
Lamspringe  (im  regierungsbezirk  Hildesheim),  daher  meist 
Lamspringer  handschrift  (L)  genannt.  Auch  die  beiden 
anderen  handschriften  sind  in  England  geschrieben,  die  eine 
(A,  in  Ashburnham)  gehört  noch  ins  12.,  die  andere  (P,  in 
Paris,  Nationalbibliothek)  ins  13.  Jahrhundert.  Ausserdem 
können  für  die  textkritik  die  späteren  bearbeitungen 
unseres  gedichts  verwertet  werden:  eine  aus  dem  13.  Jahr- 
hundert stammende  bearbeitung  in  assonierenden  laissen  (S); 
eine  Umarbeitung  dieser  fassung  in  reimtiraden  aus  dem  ende 
des  13.  oder  anfang  des  14.  Jahrhunderts  (M);  endlich  eine 
umdichtung  von  M  in  vierzeiligen  alexandrinerstrophen  aus 
dem  14.  Jahrhundert  (Q). 

Voretzsch,   Studium  d.  afrz.  Literatur.     2.  Auf  läge.  5 


66  I.  Kapitel.     Die  ältesten  überlieferten  Literaturdenkmäler. 

C.  Herkunft  und  inhalt.  Trotzdem  der  heilige  des 
gedichts  als  geborener  Römer  dargestellt  wird,  ist  die  legende 
syrischen  Ursprungs  und  lässt  sich  als  solche  bis  in  die  zweite 
hälfte  des  5.  Jahrhunderts  zurückverfolgen.  Aus  dem  syrischen 
ins  griechische  übertragen,  wurde  sie  im  9.  Jahrhundert  in 
Konstantinopel,  durch  Vermischung  mit  den  erlebnissen  eines 
anderen  heiligen,  erweitert,  gelangte  in  dieser  gestalt  nach  dem 
abendland  und  verbreitete  sich  hier  mittels  einer  lateinischen 
Übersetzung  in  die  meisten  literaturen.  Die  älteste  bearbeitung 
dieser  lateinischen  vita  in  einer  vulgärsprache  ist  das  alt- 
französische gedieht  des  11.  Jahrhunderts. 

Darnach  ist  Alexis  der  einzige  söhn  des  grafen  Eufemien 
in  Rom,  heiratet  auf  Weisung  seines  vaters  die  tochter  eines 
römischen  grafen,  hat  aber  seine  gedanken  nur  auf  Gott 
gerichtet  und  verlässt  in  der  brautnacht  seine  junge  frau,  ihr 
unter  frommen  ermahnuugen  ring  und  schwertgurt  zurücklassend. 
Er  geht  nach  Kleinasien,  zunächst  nach  Laiice  (Laodicäa), 
dann  nach  Alsis  (Edessa),  wo  er  sein  ganzes  vermögen  den 
armen  verteilt,  selbst  bettler  wird  und  unerkannt  von  seines 
vaters  dienern,  die  ihn  suchen  sollen,  almosen  annimmt.  Nach 
17  jahren  verlässt  er  Alsis,  da  ein  dort  verehrtes,  von  engem 
geschaffenes  bild  seine  heiligkeit  verrät,  und  wendet  sich  über 
Lalice  nach  Tarsus,  landet  aber  ohne  es  zu  wollen  in  einem 
hafen  bei  Rom.  Unerkannt  von  vater,  mutter,  braut  und  dienern 
verbringt  er  hier  abermals  17  jähre,  von  den  resten  der 
väterlichen  tafel  sich  nährend,  zufrieden  mit  einem  lager  unter 
der  treppe,  von  den  dienern  des  hauses  verhöhnt.  Der  schmerz 
der  nächsten  anverwanten,  den  er  täglich  sich  erneuern  sieht, 
rührt  ihn  nicht,  er  gibt  sich  nicht  zu  erkennen.  Als  er  sein 
ende  herannahen  fühlt,  schreibt  er  seine  lebensgeschichte  auf 
ein  pergament  und  verbirgt  es  bei  sich.  Zur  zeit  seines  todes 
tut  eine  stimme  vom  himmel  dreimal  seine  heiligkeit  kund. 
Papst  Innocenz  und  die  kaiser  Honorius  und  Arcadius  kommen 
ihn  im  hause  Eufemiens  zu  suchen.  Das  pergament  meldet 
den  angehörigen,  wen  sie  solange  unerkannt  unter  der  treppe 
beherbergt  haben.  Der  schmerz  des  vaters,  der  mutter,  der 
braut,  die  nacheinander  dazu  kommen,  ist  unermesslich.  Der 
leichnam  des  heiligen  wird  vom  volk  von  Rom  verehrt  und 
tut  grosse  wunder.     Seine  seele  ist  im  himmel. 


4.    Das  Aleziusleben.  67 

Das  gedieht  ist  das  hohe  Lied  der  askese.  Alle  mensch- 
lichen reguugen,  gattenliebe  und  kindespflicht,  pietät  und 
niitleid,  werden  der  himmelssehnsucht  geopfert.  In  wirkungs- 
vollen gegensatz  dazu  stellt  der  dichter  den  schmerz  und 
die  klagen  der  verlassenen  um  den  verschollenen,  als  man 
vergeblich  auf  seine  rückkehr  wartet,  dann  wieder,  als  die 
diener  unverrichteter  weise  von  ihrer  suche  zurückkommen, 
und  abermals,  als  Alexis  unter  der  treppe  wohnung  nimmt, 
endlich  und  am  ergreifendsten  nach  seinem  tode,  welcher  den 
namen  des  bettlers  unter  der  treppe  offenbart. 

D.  Form.  Im  unterschied  von  seinen  Vorgängern  bedient 
sich   der   dichter   des  zehusilbigen  verses  und  der  einreimigen 

asfl Girierenden)  Strophe  zu  fünf  Zeilen;  das  ganze  besteht  aus 
125  solchen  Strophen.  Für  diese  form  war  ihm  zweifellos 
die  damals  schon  vorhandene  heldenepik  vorbildlich,  für 
welche  der  assouierende  zehnsilbner  traditionell  ist,  nur  dass 
die  epischen  laissen  von  ungleicher  verszahl  sind.  Auch  im 
stil  erinnert  manches  an  das  heldenepos.  Wie  dieses  war 
auch  unser  lied  allem  anschein  nach  zum  gesangsvortrag 
bestimmt,  wie  ausser  der  form  noch  der  in  der  handschrift  L 
vorausgeschickte  prosaprolog  andeutet:  Ici  cumencet  amiable 
cangun  e  spiritel  raisun  d'iceol  noble  barun  Eufemien  par 
num  e  de  la  uie  de  sunt  fil  boneuret  del  quel  nus  auuns  oit 
Ure  e  canter.1)  Nach  W.  Foerster  war  es  sogar  direkt  zum 
spielmannsvortrag  bestimmt,  wie  auch  Petrus  Valdus,  der 
gründer  der  Waldensergemeinde,  gerade  durch  den  öffentlichen 
Vortrag  eines  Alexiuslebens  durch  einen  Jongleur  tief  ergriffen 
wurde. 

E.  Als  probe  für  form  und  spräche  sowie  für  die 
kunst  des  dichters  mögen  hier  die  eingangsstrophen  sowie  die 
klagen  um  den  von  den  ausgesandten  dienern  nicht  wieder- 
gefundenen Alexis  folgen: 


')  Angionorm,  (auch  norm.)  um,  un  =  om,  ebenso  nus  —  nos;  ferner 
ieeol  =  icel;    u   und   v    werden    in    den    hss.    nicht    unterschieden,    vgl. 

AS  31 4  f. 


5* 


68  I.  Kapitel.     Die  ältesten  überlieferten  Literaturdenkmäler. 

I   Buons  fut  li  siecles  al  tens  anc'ienor,  1 

Quer  feit  i  ert  e  jnstise  et  amor, 
S'i  ert  credance,  dont  or  n'i  at  nul  prot. 
Toz  est  mudez,  perdade  at  sa  color, 
Ja  mais  n'iert  tels  com  fat  as  ancessors.  5 

II  AI  tens  Noe  et  al  tens  Abraam 

Et  al  David,  cni  Dieus  par  amat  taut, 

Buons  fut  li  siecles:  ja  mais  n'iert  si  vaillanz; 

Vielz  est  e  frailes,  toz  s'en  vait  declinant, 

Si'st  empeiriez,  toz  biens  vait  remanant.  10 


XXVI  Cil  s'en  repaidrent  a  Rome  la  citet,  126 

Noncent  al  pedre  qne  nel  pourent  trover. 
Sed  il  fust  graiins  ne  l'estuet  demander. 
La  buone  medre  s'en  prist  a  dementer 
E  son  chier  fil  sovent  a  regreter.  130 

XXVII   „Filz  Alexis,  por  queit  portat  ta  medre 
Tu  m'ies  fo'i'z,  dolente  en  sui  remese. 
Ne  sai  le  lieu  ne  ne  sai  la  contrede 
0  t'alge  querre:  tote  en  sui  esguarede. 
Ja  mais  n'ier  liede,  chiers  filz,  ne  n'iert  tes  pedre."  135 

XXVIII  Vint  en  la  chambre,  pleine  de  marrement, 
Si  la  desperet  que  n'i  remest  n'i'ent: 
N'i  laissat  palie  ne  nenl  ornement. 
A  tel  tristor  atornat  son  talent, 
Ouc  puis  cel  di  nes  contint  liedement.  140 

XXIX   „Chambre",  dist  ele,  „ja  mnis  n'estras  parede, 
Ne  ja  ledece  n'iert  en  tei  deoienede". 
Si  Tat  destruite  com  s'om  reust  predede, 
Sas  i  fait  pendre  e  cinces  deramedes: 
Sa  grant  onour  a  grant  duol  at  tornede.  145 

1  anc'ienor:  genitiv  gelehrter  bildung  wie  ähnlich  auch  paienor, 
Francor  u.  a.  begegnet.  —  4  Toz  est  mudez:  Subjekt  li  siecles,  ebenso 
im  folgenden.  —  5  com  fut  as  ancessors:  'wie  sie  den  vorfahren  war' 
=  'wie  sie  zur  zeit  der  vorfahren  war'.  —  7  al  David:  'zu  derjenigen 
Davids',  der  artikel  noch  in  demonstrativem  sinn  wie  altfrauz.  u.  prov.  gerade 
in  dieser  Verwendung  öfter  und  noch  heute  im  spanischen  u.  portugiesischen. 

128  Sed:  nebenform  zu  se  (stob),  nach  que  —  qued,  e  —  et  gebildet. 
Sinn:  „Ob  er  betrübt  war,  nicht  braucht  man  es  zu  fragen".  —  131  queit: 
quei  «  quid)  mit  inkliniertem  te,  wie  152  sit  =  si  te,  140  nes  =  ne  se, 
127,  160  nel.  Vgl.  AS  s.  150.  —  134  alge:  konj.  präs.  zu  aler  (für  sonstiges 
aille),  analogisch  nach  mustern  wie  sorge  <  Surgam ,  sperge  <^spargam, 
fenge  <  fingam.  —  143  com  s'om  1.  pr. :  'wie  wenn  man  es  (das  zimmer) 
geplündert  hätte'.    G.  Paris  liest  ost  für  om :  'wie  wenn  ein  beer  .  .  .'. 


4.    Das  Alexiusleben.  69 

XXX   Del  duul  s'assist  la  uiedre  jas  a  terre, 
Si  fist  la  spose  dam  Alexis  a  certes. 
„Dame",  dist  ele,  „jo  ai  fait  si  graut  perte! 
Des  or  vivrai  eo  guise  de  tortrele : 
Quant  n'ai  ton  fil,  ensemble  od  tei  vuoil  estre".  150 

XXXI   Respont  la  medre:  „S'od  tnei  te  vuols  tenir, 
Sit  guarderai  por  anior  Alexis, 
Ja  n'avras  mal  dont  te  puisse  guarir. 
Plaignons  ensemble  le  duol  de  nostre  ami, 
Tu  por  ton  per,  jol  ferai  por  mon  fil".  155 

XXXII  Ne  puot  altre  estre,  tornent  al  considrer, 
Mais  la  dolor  ne  puodent  oblider. 
Danz  Alexis  en  Alsis  la  citet 
Sert  son  seiguor  par  buoue  volentet: 
Ses  enemis  nel  puot  onc  enjaner.  160 

Eine  photographische  reproduktion  der  handschrift  L 
besorgte  E.  Stengel  1882  (photograph  ßödeker,  Hildesheim).  — 
Ausgaben:  Konrad  Hofmann  (nach  hs.  L)  in  den  Sitzungsber.  d. 
Münch.  Akad.  d.  Wiss.,  1868,  I,  1  ff.  —  La  vie  de  St.  Alexis,  p.  p. 
G.  Paris  et  L.  Pannier,  Paris  1872,  anastatischer  abdruck  1887  (nach 
allen  bandschriften,  mit  wichtiger  einleitung,  grundlegend  für  die 
kritische  behandlung  altfranz.  texte  überhaupt).  Darin  auch  die 
späteren  bearbeitungen  (vgl.  oben  unter  B):  S  s.  222  ff.  (poetisch 
die  hervorragendste  bearbeitung,  auch  gegenüber  dem  alten  gedieht), 
M  s.  279 ff.,  Q  s.  346 ff.  —  La  Vie  de  St.  Alexis.  Texte  critique 
p.  p.  G.  Paris,  Paris  1885,  nouv.  ed.  ebda.  1903  (kleine  ausgäbe), 
neudruck  von  M.  Roques  1908,  1911  (Class.  franc.  du  m.  ä.).  — 
E.  Stengel,  La  Cancun  de  Saint  Alexis,  Marburg  1882  (vgl.  oben 
s.  68).  —  Foerster  und  Koschwitz  im  Altfranz.  Übungsbuch,  4 1911, 
s.  98 — 162  (paralleler  abdruck  von  L,  A,  P  nebst  den  Varianten 
von  S  und  M  und  besserungsvorschlägen).  —  Bruchstücke  in  den 
Chrestomathien. 

Für  die  beliebtheit  des  Stoffes  in  späterer  zeit  zeugen  weitere, 
auf  die  lateinische  Vita  zurückgehende  bearbeitungen:  eine  in 
achtsilbigen  reimpaaren  aus  dem  ende  des  12.  Jahrhunderts  (hrsg.  von 
G.  Paris,  Romania  VIII  103  — 180);  eine  ebensolche  in  pikardischem 
dialekt  des  13.  Jahrhunderts  (hrsg.  von  J.  Herz,  Progr.,  Frankfurt  a.  M. 

147  la  spose:  ursprüngliche  form  für  späteres  l'espose,  vgl.  Eulalia  22 
Ad  une  spede.  —  153  Ja  n'avras  —  guarir:  ein  übel,  von  dem  ich 
dich  heilen  kann,  sollst  du  nicht  haben'  =  'soweit  ich  vermag,  sollst  du 
an  nichts  leiden'.  —  156  tornent  al  c. :  'sie  wenden  sich,  richten  sich 
aufs  nachdenken  —  sie  beginnen  nachzusinnen'.  —  160  Ses  enemis:  der 
böse,  der  teufel. 


70  I.  Kapitel.    Die  ältesten  überlieferten  Literaturdenkmäler. 

1879);  eine  bisher  ungedruckte  des  14.  Jahrhunderts,  gleichfalls  in 
achtsilbnern.  Über  die  prosaredaktionen  vgl.  G.  Paris,  s.  165  anm.  4; 
eine  dramatische  bearbeitung  siehe  bei  G.  Paris  et  U.  Robert,  Miracles 
de  Nostre  Dame  par  personnages  VII  279 — 369  (Soc.  d.  anc.  textes, 
Paris  1883),  neben  welcher  noch  andere  aufführungen  von  Alexius- 
dramen  erwähnt  werden.  Noch  im  17.  Jahrhundert  wurde  die  legende 
zweimal  als  tragödie  bearbeitet,  1645  von  Desfontaines,  1655  von 
Massip.  Im  provenzalischen  findet  sich  nur  eine  bearbeitung 
(Suchier,  Denkmäler  prov.  Lit.  u.  Sprache,  I.  Halle  1883,  s.  125  ff.), 
dem  13.  Jahrhundert  angehörig,  ohne  nähere  beziehung  zu  den 
französischen  Versionen;  ausserdem  noch  neuprovenzalische  Volks- 
lieder. In  der  deutschen  literatur  wurde  der  stoff  mehrfach 
bearbeitet,  u.  a.  von  Konrad  von  Würzburg  (gest.  1287);  ebenso  im 
englischen,  spanischen,  italienischen  (nach  lat.  vorlagen),  rumänischen 
(nach  griech.  quelle).  Vgl.  über  die  literar- geschichtliche 
frage:  Amiaud,  La  legende  syriaque  de  Saint  Alexis.  Bibl.  Ec. 
H.  Et.  fasc.  79,  P.  1889.  —  J.  Brauns,  Über  Quelle  und  Entwicklung 
der  altfranz.  Cangun  de  S.  A.,  Diss.,  Kiel  1884.  —  M.  F.  Blau,  Zur 
Alexiuslegende,  Diss.,  Leipzig  1888  (vollständig  in  Germania  1888). 
—  Paul  Müller,  Studien  über  drei  dramatische  Bearbeitungen  der 
Alexiuslegende,  Diss.,  Berlin  1888.  —  G.  Kötting,  Studien  über 
altfranz.  Bearbeitungen  der  A.-legende  mit  Berücksichtigung  deutscher 
und  englischer  A.-lieder,  Progr.,  Trier  1890.  —  Monaci,  Antichissimo 
ritmo  volgare  sulla  legenda  di  Sant  Alessio,  in  Rendiconti  della 
Reale  Accademia  dei  Lincei  16  (1907). 

Die  lateinische  Vita  ist  gedruckt:  Acta  Sanctorum  Juli  (17) 
IV,  s.  251 — 253:  Massmann,  Sanct  Alexius  Leben,  1843,  s.  157  ff. 
(drei  Versionen);  Stengel  (s.  o.)  s.  60 — 64  (im  auszug,  mit  konkordanz 
zu  unserem  gedieht). 


Zweites  Kapitel. 

Die  ungeschriebene  Literatur. 


Die  ältesten  wirklich  überlieferten  denkmäler  der  franzö- 
sischen literatur  sind  religiösen  inhalts,  haben  geistliche  zu 
Verfassern  und  waren  vor  allem  für  geistliche  kreise  bestimmt. 
Das  schliesst  nicht  aus.  dass  daneben  —  oder  gar  vorher  — 
andere  dichtungen  bestanden  haben,  welche  durch  die  Ungunst 
der  Zeiten  verloren  gegangen  sind,  besonders  dichtungen,  welche 
in  laienkreisen,  im  eigentlichen  volk,  verbreitet  und  beliebt 
waren  und  der  religiösen  auffassung  zu  sehr  widersprachen, 
um  von  den  geistlichen  —  die  damals  allein  des  Schreibens 
kundig  waren  —  aufgeschrieben  und  der  nachweit  überliefert 
zu  werden.  Das  volk  aber,  in  welchem  diese  art  dichtung 
zu  hause  war  und  von  mund  zu  mund  weitergetragen  wurde, 
hatte  überhaupt  nicht  das  bedürfnis,  seine  dichtung  schriftlich 
festgehalten  zu  sehen,  ganz  abgesehen  davon,  dass  ihm  die 
hierfür  nötige  kenntnis  der  schrift  abging.  Wir  dürfen  uns 
also  nicht  wundern,  wenn  uns  diese  volkspoesie  der  alten  zeit 
im  wesentlichen  nur  durch  zufällige  anspielungen  und  Zeugnisse 
bekannt  ist. 

Selbst  unter  den  naturvölkern  gibt  es  wenige,  die  nicht 
lieder  und  Sprüche,  märchen  und  sagen  besässen.  Diese  letzten, 
die  prosagattungen  der  volkspoesie,  verdanken  ihren  Ursprung 
dem  gefallen  des  volks  an  j;eschichtenerzählen  und  geschichten- 
hören,  die  lieder  mit  ihrem  rhythmus  begleiten  zunächst 
gemeinsam  ausgeführte  bewegungen,  teils  als  arbeitslieder,  teils 
als  tanzlieder.  Alle  diese  gattungen  führen  in  die  anfange 
der  menschlichen  poesie  zurück,  sie  leiten  sich  nicht  aus  der 
kunstpoesie   her,   sondern   gehen   ihr   voraus.     Die  kunstpoesie 


72  II.  Kapitel.    Die  ungeschriebene  Literatur. 

selbst  baut  sich  auf  der  älteren  volkspoesie  auf,  soweit  sie 
nicht  auf  nachahmung  fremder  literaturen  (wie  z.  b.  einzelne 
gattungen  der  mittelalterlichen  literaturen  auf  derjenigen  der 
christlich  -  lateinischen)  beruht. 

Im  allgemeinen  stellt  also  die  volkspoesie  eine  ältere, 
einfachere  stufe  der  entwicklung  dar  als  die  in  höheren 
bildungsschichten  gepflegte  und  sich  daher  rascher  entwickelnde 
kunstpoesie,  welcher  sie  in  gemessenem  abstand  folgt.  Sie 
entspricht  mehr  dem  geschmack  und  dem  Verständnis  der 
breiten  massen,  zeigt  im  einzelnen  weniger  individuelles  als 
generelles  oder  traditionelles  gepräge,  unterliegt  überhaupt, 
infolge  der  mündlichen  Verbreitung,  viel  stärker  der  ein- 
wirkung  der  allgemeinen  anschauungen,  motive  und  formein 
als  die  auf  einen  verhältnismässig  kleinen  kreis  beschränkte, 
schriftlich  oder  in  neueren  Zeiten  durch  den  druck  verbreitete 
kunstpoesie. 

Eine  solche  volkspoesie  war  auch  im  französischen  volk 
vorhanden,  wie  wir  nicht  nur  a  priori  annehmen,  sondern 
auch  durch  Zeugnisse,  vereinzelt  sogar  durch  kleine  reste 
nachweisen  können,  ganz  abgesehen  von  den  rückschlüssen, 
die  wir  aus  später  auftretenden  denkmälern  der  volkspoesie 
wie  aus  den  mit  dieser  zunächst  verwanten  gattungen  der 
kunstpoesie  machen  können.  In  der  modernen  volkspoesie 
finden  wir  freilich  manches,  was  von  der  kunstpoesie  über- 
nommen ist:  diese  möglichkeit  schliesst  sich  für  die  alte  zeit, 
wo  eine  kunstdichtung  —  ausser  der  lateinischen  literatur  — 
noch  nicht  vorhanden  war,  so  ziemlich  von  selbst  aus.  Zum 
mindesten  sind  die  volkstümlichen  gattungen  als  solche  nicht 
auf  die  kunstpoesie  zurückzuführen. 

Das  Studium  der  volkspoesie  beschäftigt  sich  naturgemäss 
meist  mit  der  modernen  zeit.  Zusammenfassende  werke  sind 
noch  nicht  viele  vorhanden,  die  zahlreichen  einzeluntersuchungen 
sind  grösstenteils  in  den  folkloristischen  Zeitschriften  veröffentlicht. 
Hierbei  ist  zu  beachten,  dass  die  volkspoesie  mehr  als  ein  anderes 
gebiet  der  literarischen  forschung  ein  vergleichendes  Studium  er- 
fordert, weshalb  hier  auf  die  oben  in  der  bibliographie,  besonders 
s.  48  ff.,  genannten  bücher  und  Zeitschriften  zur  Volkskunde  ver- 
wiesen wird.  Eingehende  berichte  über  die  neuerscheinungen  auf 
diesem  gebiet  bringt  Vollmöllers  kritischer  Jahresbericht 
(8.   o.).      Für    die    allgemeinen    fragen    nach    der    entstehung    des 


1.    Die  Zeuginsse.  73 

Volksliedes  vgl.  das  gelegentlich  des  rhythmus  genannte  buch  von 
Bücher,  Arbeit  und  Rhythmus,  41909;  für  französische  volks- 
poesie  im  allgemeinen;  Sebillot,  Le  folklore  de  France,  4  vols., 
P.  1904—07;  Wilhelm  Scheffler,  Die  französische  Volksdichtung 
und  Sage,  2  bde,  L.  1884  u.  1885;  für  das  französische  Volkslied 
Julien  Tiersot,  Histoire  de  la  chanson  populaire  en  France, 
P.  1889,  dazu  Doncieux  et  Tiersot,  Le  Romancero  populaire  de 
la  France,  P.  1904,  und  die  auswahl  von  J.  Ulrich,  Französische 
Volkslieder,  L.  1900. 

Von  Zeitschriften,  welche  in  erster  linie  französische  Volks- 
kunde pflegen,  sind  zu  nennen:  Melusine,  Recueil  de  mythologie, 
litu'-rature  populaire,  traditions  et  usages,  fonde  p.  Gaidoz  et 
Rolland,  P.  1877—1878,  1884—1902,  10  bde.  —  Revue  des 
traditions  populaires.  Recueil  mensuel  p.  p.  Sebillot  (Organ  der 
Societe  des  Trad.  pop.),  P.  1886  ff.  —  La  Tradition.  Revue 
generale  etc.  dirigee  p.  E.  Blemont  et  H.  Carnoy.  P.  1887  ff.  — 
Bulletin  de  folklore  wallon  p.  p.  Monseur  (Organ  der  Societe 
du  folklore  wallon),  Brüssel  1891  ff.     Vgl.  oben  s.  49. 

Zwei  grössere  Sammlungen  volkskundlicher  Überlieferungen 
(auch  ausserfranzösischer  und  aussereuropäischer)  sind:  Les  littc- 
rature s  populaires  de  toutes  les  nations.  P.,  Maisonneuve, 
1880 ff.  —  Collection  de  contes  et  de  chansons  populaires.  P., 
Leroux,  1881  ff. 


1.    Die  Zeugnisse. 

Die  existenz  von  Volksliedern,  auch  von  volkstümlichen 
erzählungen  und  mimischen  darstellungen  in  den  der  eigent- 
lichen literatur  voraufgehenden  Jahrhunderten  wird  uns  durch 
eine  reihe  von  envähnungen  dieser  gattungen  gesichert,  welche 
sich  in  predigten,  erlassen  von  bischöfen  und  anderen  geist- 
lichen behörden,  konzilbeschlüssen  sowie  in  einzelnen  von  den 
fränkischen  königen  erlassenen  kapitularien  finden.  In  diesen 
Schriftstücken  werden  die  erzeugnisse  der  volkstümlichen  poesie 
nur  genannt,  um  —  wegen  ihrer  obscoenität  oder  ihres 
heidnischen  anstrichs  —  verurteilt  und  verboten  zu  werden. 
Übrigens  sind  auch  solche  Zeugnisse,  namentlich  soweit 
kleriker  darin  erwähnt  werden,  genau  daraufhin  anzusehen, 
ob  nicht  lieder  oder  vortrage  in  lateinischer  spräche  gemeint 
sind  (wie  z.  b.  die  in  dem  konzil  von  Auxerre,  573  —  603, 
erwähnten   chori  saecularium  vel  puellarum   cantica).     Ferner 


74  II.  Kapitel.     Die  ungeschriebene  Literatur. 

haben  die  Zeugnisse  um  so  grössere  bedeutung,  je  mehr  sie 
die  Verhältnisse  eines  bestimmten,  enger  umgrenzten  gebietes 
im  äuge  haben,  während  z.  b.  päpstliche  erlasse  oder  überhaupt 
solche,  die  von  Rom  ausgehen,  nicht  ohne  weiteres  für  jedes 
land  und  jede  provinz  bestimmte  Schlüsse  zulassen.  Im 
folgenden  sind  einige  der  wichtigsten  für  vulgärsprachliche 
dichtung  in  Gallien  sprechende  Zeugnisse  ausgehoben. 

6.  Jahrhundert. 

Predigt  des  bischof  Caesarius  von  Arles  (gest.  542). 
Quam  multi  rustici.  quam  multae  rusticae  midieres  cantica 
diabolica,  amatoria  et  turpia  ore  decantant. 

Gregor  von  Tours  Historia  Francorum  VIII,  1. 
(Gunthramms  einzug  in  Orleans  585). 
Processitqae  in  obviam  ejus  immensa  popidi  turba  cum 
signis  atque  vixillis,  canentes  laudes.  Et  hinc  Jingua  Syrorum, 
hinc  Latinorum,  hinc  etiam  ipsorum  Iudaeorum  in  diversis 
laudibus  varie  concrepabat,  dicens:  'Vivat  rex,  regnumque  ejus 
in  populis  annis  innumeris  dilatetur'. 

7.  Jahrhundert. 
Concil  von  Chälons  (639—54). 

Valde  omnibus  noscetur  decretum,  ne  per  dedicationes 
basilicarum  aut  festivitates  martyrum  ad  ipsa  solemnia 
confluentes  obscina  et  turpea  cantica,  dum  orare  debent  aut 
clericus  psallentes  audire,  cum  choris  foemineis  turpia  quidem 
decantare  videntur. ') 

8.  Jahrhundert. 
Capitular  Childerichs  III,  ca.  744. 

Qui  in  blasphemiam  alterius  cantica  composucrit  vel  qui 
ea  cantaverit,  extra  ordinem  judicetur. 


l)  Das  lateiu  dieser  zeit,  bis  zu  der  durch  Karl  d.  Gr.  bewirkten 
renaissance  des  lateinnnterrichts,  ist  sehr  verwildert,  vor  allem  unter 
einfluss  der  Vulgärsprache.  Daher  falsche  formen,  falsche  syntaktische 
konstruktionen  und  in  der  schrift  vertauschung  der  zeichen  wie  e  für  i, 
ae  oder  oe,  wie  umgekehrt  i  für  e  und  ce,  ferner  u  für  o  und  o  für  u. 


1.    Die  Zeugnisse.  75 

Capitnlar  Karls  d.  Gr.  789. 
Ut  episcopi  et  abbates  et  abbatissae  cupplas  canum  non 
habeant  nee  fahones  nee  aeeipitres  nee  joculatores. 

Brief  Alcuins  an  abt  Adalhard  von  Corvey  799. 
Ycreor,    ne    Homer us    (d.   i.   Angilbert)    irascatur    contra 
cartam  prohibentem  speetacula  et  diabolica  figmenta. 

Capitular  Karls  d.  Gr. 
Siquis  ex  scenicis  vestem  sacerdotalem  mit  monosticam  vel 
mulieris  religiosae  vel  qualicunque   ecclesiastico  statu  similem 
indutus  fuerit,  corporedi  poena  subsistat  et  exilio  tradatnr. 

9.  Jahrhundert. 
Coneil  von  Reims  (813). 
Ut   episcopi    et   abbates   ante   se  joca    turpia   facere   non 
prrmittant. 

Coneil  von  Paris  (829). 
.  .  .  magis  convenit  lugere  quam  ad  scurrilitates  et  stulti- 
loquia  in  cachinnos  ora  dissolvere.     Neque  enim  decet  aut  fas 
est  oculos  sacerdotum  Domini  speetaculis  foedari  aut  mentem 
quibuslibet  scurrilitatibus  aut  turpiloquiis  ad  inania  rapi. 

Erlass  des  bischofs  Herard  von  Tours  (858). 
Ne  in  illo  saneto  die  (sc.  domenica)  vanis  fabulis  aut 
locutionibus  sive  cantationibus  vel  saltationibus  stando  in  biviis 
et  plateis,  ut  solent,  inserviant ;  illas  vero  ballationes  et  salta- 
tiones  canticaque  turpia  ac  luxuriosa  et  illa  lusa  diabolica 
non  faciant,  nee  in  plateis  nee  in  domibus  neque  in  ullo  loco, 
quia  haec  de  paganorum  consuetudine  remanserunt. 

Vgl.  Fr.  Diez,  Antiquissima  germanicae  poeseos  vestigia.  Bonn 
(Einladnngsschr.  zur  antrittsrede  als  Ordinarius)  1831.  —  fidelestand 
du  Meril,  Poesies  populaires  latines  du  moyen  äge.  P.  1847, 
bes.  s.  189  ff.;  gelegentlich  auch  desselben  Poesies  populaires  latines 
anterieures  au  douzieme  siecle.  P.  1843.  —  H.  Gröber,  Zur  Volks- 
kunde aus  Concilbeschlüssen  und  Capitularien.  L.  1893;  derselbe, 
Die  mündlichen  Quellen  der  romanischen  Philologie,  im  Grundriss 
1,  197  ff.,  bes.  s.  203  ff.  —  Job.  Kelle,  Deutsche  Literatur,  bes. 
s.  47  ff.  —  Hermann  Reich,  Der  Mimus.  Ein  literar- entwicklungs- 
geschichtlicher Versuch.     I.  bd.  in  2  teilen,  B.  1903,  bes.  s.  744  ff., 


76  II.  Kapitel.    Die  ungeschriebene  Literatur. 

793  ff.  —  Edmond  Faral,  Les  Jongleurs  en  France  au  moyen  äge. 
Bibl.  Ec.  II.  Et,  187,  P.  1910.  A.  Rrandl,  Sitzungsberichte  d.  Berliner 
Akad.,  Phil.-hist.  Klasse  41   (1910)  873  ff. 


2.    Die  Gattungen. 

Am  häufigsten  bestätigen  uns  die  vorausgehenden  Zeugnisse 
das  Vorhandensein  von  liedern,  welche  der  masse  des  volks 
(rustici)  bekannt  waren  und  von  ihm  gesungen  wurden.  Dem 
inhalt  nach  waren  es  allem  anschein  nach  zumeist  liebes- 
lieder  (cantica  amatoria),  welche  der  geistlichkeit  begreif- 
licherweise als  unzüchtig,  hässlich  und  teuflisch  (obscoena, 
turpia,  diabolica)  erschienen.  Gleichfalls  eine  stehende  gattung 
des  Volksliedes  in  alten  und  neuen  Zeiten  bildet  das  spottlied 
{cantica  in  blasphemiam  alterius).  Daneben  wird  gelegentlich 
einmal  (585)  ein  preislied  erwähnt,  allerdings  so,  wie  es  hier 
mitgeteilt  ist,  kaum  ein  lied  in  eigentlichem  sinn.  Toten- 
klagen und  trauerlieder  finden  wir  nicht  für  Gallien  aus- 
schliesslich, sondern  nur  allgemein  bezeugt  durch  einen  erlass  des 
papstes  Leo  IV.  von  847  (Cantus  et  cJwros  mulierum  in  ecclesia 
vel  in  atrio  ecclesiae  prohibete.  Carmina  diabolica  quae  nocturnis 
horis  super  mortuos  vulgus  facere  solet  et  cachinnos,  quos 
exercet,  sub  contestatione  Dei  omnipotentis  vitate). 

Häufig  erscheinen  die  lieder  noch  mit  rhythmischer  be- 
wegung  verbunden,  in  erster  linie  mit  dem  tanz,  wie  die 
erwähnung  von  chori  foeminei  (639 —  54)  oder  cliori  mulierum 
zeigt  (so  853  in  dem  an  das  concil  von  Chälons  erinnernden 
concilbeschluss  von  Rom:  Sunt  quidam,  et  maxime  midieres, 
qui  festis  ac  sacris  diebus  atque  sanctorum  natalitiis  non  pro 
eorum  quibus  delectantur  desideriis,  sed  ballando,  rerba  turpia 
decantando,  clioros  tenendo  ac  ducendo  similituäinem  paganorum 
peragendo  advenire  procurant).  Für  eigentliche  arbeits- 
gesänge  finden  wir  in  dieser  zeit  kein  ausdrückliches  Zeugnis, 
trotzdem  sie  zu  den  ältesten  gattungen  des  Volksliedes  gehören. 
Aber  dass  auch  sie  in  Frankreich  vorhanden  waren,  lehrt  der 
für  die  romauzen  gebräuchliche  name  chansons  ä  toile:  lieder, 
die  von  frauen  und  mädchen  bei  ihren  handarbeiten  gesungen 
wurden. 


2.    Die  Gattungen.  77 

Die  starke  an  teil  nahine  der  frauen  am  volksgesang 
und  namentlich  an  seiner  Verbreitung,  die  wir  in  allen  modernen 
volkspoesien  beobachten  können,  tritt  also  auch  in  diesen 
Zeugnissen  zur  genüge  hervor  und  ist  ein  weiteres  kennzeichen 
für  die  Volkstümlichkeit  der  hier  erwähnten  lieder.  Zum  teil 
mögen  dieselben  allerdings  auf  rechnung  der  provenzalischen 
spräche  (wie  die  von  Caesarius  von  Arles  erwähnten  lieder), 
zum  teil  auf  diejenige  der  deutschen  spräche  zu  setzen  sein, 
wie  die  in  dem  bekannten  Capitular  Karls  des  Grossen  von 
789  (siehe  auch  oben)  den  nonnen  verbotenen  icinileodos,  d.  i. 
freundeslieder  (earum  claustra  sint  bene  firmata  et  nullatenus 
ibi  uuinileodos  scribere  vcl  mittere  praesumant).  In  der  haupt- 
sache  aber  beziehen  sich  die  hier  ausgewählten  Zeugnisse  auf 
das  romanische  Nordfrankreich,  wie  die  Ortsnamen  Chälons. 
Reims,  Paris,  Orleans,  Tours  lehren. 

Wie  weit  wir  nun  in  den  aus  späterer  zeit  überlieferten 
gattungen  und  denkmälern  der  altfranzösischen  lyrik  reste 
oder  nachahmungen  der  hier  bezeugten  Volksdichtungen  er- 
blicken dürfen,  soll  vorläufig  dahingestellt  bleiben.  Wesentlich 
ist  jedenfalls,  dass  wir  in  der  lyrik  des  12.  Jahrhunderts 
deutlich  zwei  schichten  unterscheiden  können:  eine  ältere, 
einheimische  und  einfachere  lyrik  und  eine  jüngere,  den 
Provenzalen  nachgeahmte,  mehr  gekünstelte  lyrik. 

Die  gediente  kleineren  umfangs,  die  wie  anderwärts 
so  vermutlich  auch  in  der  altfranzösischen  volkspoesie  zu 
hause  waren,  wie  sprüch Wörter,  rätsei,  Sprüche,  werden  nicht 
ausdrücklich  erwähnt.  Hingegen  finden  wir  die  fast  allen 
Völkern  eigene  Vorliebe  für  das  geschichtenerzählen  und 
geschichtenanhören  wol  bezeugt:  die  vom  bischof  Herard 
genannten  vanae  fabulae  aut  locutiones  mögen  dem  ent- 
sprechen, was  wir  als  märchen  und  sagen,  contes  und  legendes, 
zu  bezeichnen  pflegen.  Auf  erzählungen  derberer  art  weisen 
die  829  erwähnten  scurrilitates  et  stultiloquia,  welche  in 
cachinnos  ora  dissolrunt:  also  schwanke  {contes),  anekdoten, 
Scherzworte  und  ähnliches.  Damit  sind  uns  die  wesentlichsten 
gattungen  der  volkstümlichen  prosaliteratur  für  jene  zeit 
bezeugt:  schwank,  märchen,  sage.  Alle  diese  gattungen 
lassen  sich  in  der  kunstpoesie  der  folgezeit  als  wirksam 
aufzeigen. 


78  II.  Kapitel.    Die  ungeschriebene  Literatur. 

Endlich  bleibt  noch  die  frage,  wieweit  wir  berechtigt  sind 
mimische  und  dramatische  darstellungen  als  einen  teil 
der  volkstümlichen  Unterhaltung  in  alter  zeit  zu  betrachten. 
Hierfür  ist  namentlich  die  ununterbrochen  bezeugte  existenz 
der  gaukler  und  mimen,  die  in  den  Zeugnissen  bald  mit  alten 
römischen  oder  griechischen  namen  mimi  oder  thymeliöi,  bald 
mit  moderneren  namen  als  joculatores,  joculares  bezeichnet 
werden.  Sie  übten  zunächst  gauklerkünste  wie  seiltanzen, 
messerwerfen,  tierabrichten,  aber  auch  spielen  von  instrumenten, 
gesangs-  und  Sprech  Vortrag,  und,  als  erben  der  römischen  mimi 
und  griechischen  filfioi,  auch  mimische  darstellungen,  sei  es 
mit,  sei  es  ohne  begleitung  der  rede.  Auf  solche  Jongleurkünste 
sind  die  joca  turpia  und  lusa  didbolica  zu  beziehen.  Spätere 
Zeugnisse,  zumal  aus  epischeu  darstellungen,  in  denen  Jongleurs 
auftreten,  lehren  uns,  dass  diese  auch  Puppenspiele  mit  dialog 
vorfühlten  oder  einzelne  typen  wie  den  narren  oder  den 
betrunkenen  darstellten.  Manche  andeutungen,  wie  z.  b.  das 
verbot  an  Jongleure  in  geistlicher  gewandung  aufzutreten, 
lassen  wol  darauf  schliessen,  dass  zuweilen  auch  mehrere 
dieser  fahrenden  sich  zu  wirklichen  dramatischen  Vorführungen 
vereinigten.  Das  plötzliche  hervortreten  des  weltlichen  lust- 
spiels  im  13.  Jahrhundert,  das  sich  nicht  ohne  weiteres  als 
fortentwicklung  des  religiösen  dramas  auffassen  lässt,  würde 
dadurch  eine  annehmbare  erklärung  finden. 

Vgl.  die  zum  vorigen  abschnitt  gegebene  literatur.  Besonders 
über  dramatische  anfange:  H.  Reich,  Mimus,  s.  803  fl'.,  833  ff.  Petit 
de  Julleville,  Les  Comediens  en  France  au  moyen  äge,  P.  1885. 
Über  die  Jongleurs  vgl.  Tobler,  Spielmannsleben  im  alten  Frankreich 
(Im  Neuen  Reich,  1875).  Freymond,  Jongleurs  und  Menestrels, 
Ha.  1883.  Faral  s.  o.  s.  76.  —  Über  Volkslied:  Bücher,  Arbeit  und 
Rhythmus,  passim.  Jeanroy,  Les  origines  de  la  poesie  lyrique  en 
France  au  moyen  äge,  P.  1889,  21904.  G.  Paris,  Les  origines  de 
la  poesie  lyrique  en  Fr.  au  m.  ä.  in  JdSav.  1891  u.  1892  (auch 
separat,  P.  1892:  wichtige  erörterungen  im  anschluss  an  das  buch 
von  Jeanroy).  Julien  Tiersot,  Histoire  de  la  Chanson  populaire  en 
France,  P.  1889.  Maurice  Wilmotte,  La  chanson  populaire  au 
moyen  äge,  Liege  1891  (==  Etudes  critiques  s.  49  —  93).  Egidio 
Gorra,  Delle  origini  della  poeaia  urica  del  medio  evo,  Turin  1895. 


3.    Sparen  und  Reste  von  Märchen  und  Sagen.  79 

3.     Spuren   und   Reste   von    Märchen   und   Sagen. 

Von  dem  inhalt  der  auffrihrungeu  der  mimen  und  Jongleurs 
haben  wir  keine  kenntnis.  Aueli  die  Volkslieder  der  alten 
zeit  sind  uns  verloren.  Wohl  aber  lassen  sieh  von  der 
erzählenden  Volksdichtung  einige  Überbleibsel  aufzeigeu,  weil 
solche  vielfach  in  enger  Verbindung  mit  der  Überlieferung 
geschichtlicher  ereignisse  fortlebt  und  in  diesem  Zusammenhang 
aufnähme  in  die  geschichtsbücher  des  mittelalters  gefunden 
hat.  Märchen  und  sagen  knüpfen  sich  leicht  an  personen 
der  geschichte,  und  die  Chronisten  des  mittelalters  waren  in 
der  scheiduug  von  geschichtlichem  und  sagenhaftem  nicht 
sehr  kritisch. 

Das  märchen  durchsetzt  die  weit  der  Wirklichkeit  mit 
überirdischen  dementen,  ist  an  und  für  sich  weder  an  ort 
noch  an  zeit  gebunden,  will  mehr  der  Unterhaltung  als  der 
belehruug  dienen.  Durch  eine  angehängte  moral  nähert  es 
sich  der  didaktischen  gattung,  es  kann  zur  fabel  werden  wie 
die  sogenannten  äsopischen  fabeln,  die  sich  im  volksmund 
grösstenteils  in  einfacher  märchenform,  ohne  abstrahierte  moral, 
wiederfinden.  So  begegnen  uns  auch  die  aus  dem  frühen 
mittelalter  bezeugten  märchen  meist  im  gewand  der  fabel. 
weil  sie  von  den  handelnden  personen  zur  erreichung  eines 
bestimmten  Zweckes  vorgebracht  werden.  Zum  jähre  612, 
zum  kriege  könig  Theuderichs  IL  von  Burgund  gegen  seinen 
bruder  Theudebert  IL  von  Austrasien,  berichtet  der  in  der 
ersten  hälfte  des  7.  Jahrhunderts  schreibende  Fredegar  (lib.  IV, 
kap.  38),  dass  der  erzbischof  Lesio  von  Mainz  dem  Theuderich 
nach  seinem  sieg  ein  Volksmärchen  (rustica  fahula)  erzählt 
habe,  um  ihn  zur  völligen  Vernichtung  seiner  gegner  zu 
bestimmen:  Rustica  fahula  dicitur,  quod  cum  lupus  ascendisset 
in  montem  et  cum  fdü  sui  jam  venare  coepissent,  eos  ad  se 
in  monte  vocat  dicens  'quam  longe  ocitli  vestri  in  unamquam- 
que  partem  videre  praevalent,  non  habetis  amicos,  nisi  paucos 
qui  de  vestro  genere  sunt;  perficite  igitur,  quod  coepistis'. 
Das  märchen  ist  wol  nicht  ganz  vollständig,  der  bischof  hat 
daraus  nur  entnommen,  was  für  seinen  zweck  passend  war. 
Eine  lehre  oder  nutzanwendung  liegt  von  haus  aus  nicht  darin, 
sie   ergibt  sich   erst   aus   den   umständen,    unter  welchen   die 


80  II.  Kapitel.    Die  ungeschriebene  Literatur. 

gesehichte  erzählt  wird.  Diese  ist  anch  nicht  vom  erzähler 
zu  diesem  zweck  erfunden,  sondern,  wie  der  chronist  aus- 
drücklich sagt,  dem  volksmund  entnommen. 

Unter  ähnlichen  umständen  finden  wir  solche  erzählungen 
noch  öfter.  Theudebald  (söhn  Theudeberts  I.  und  urenkel 
Chlodovechs)  hatte  einen  mann  seiner  Umgebung  im  verdacht 
ihn  bestohlen  zu  haben,  und,  um  ihn  zur  herausgäbe  des 
entwendeten  zu  bewegen,  soll  er  die  fabel  von  der  schlänge 
erfunden  haben,  welche  in  eine  Weinflasche  kriecht  den  wein 
darin  auszutrinken  und  dann  nicht  wieder  heraus  kann  ohne 
zuerst  wieder  von  sich  zu  geben,  was  sie  verschluckt  hat 
(Gregor  von  Tours,  Historia  Francorum  IV,  9).  Die  erzählung 
stammt  nicht  von  Theudebald  selbst,  wir  kennen  sie  als 
weitverbreitetes  tiermärchen  (z.  b.  aus  Siebenbürgen)  vom  dick- 
gefressenen wolf,  das  auch  in  das  tierepos  übergegangen  ist; 
als  fabel  erscheint  sie  bei  Aesop  und  Phaedrus,  hier  von  zwei 
fuchsen  erzählt.  Die  aus  dem  Orient  stammende,  bei  Babrios 
und  Aesop  zur  fabel  gestaltete  gesehichte  vom  gegessenen 
hirschherzen  begegnet  uns  bei  Fredegar  (III,  8)  in  Verbindung 
mit  der  gotischen  Dieterichsage,  bei  Froumund  von  Tegernsee 
(10.  Jahrhundert)  mit  der  bairischen  sage,  was  freilich  mehr 
für  mündliche  Verbreitung  unter  den  Germanen  als  im  west- 
lichen Frankenreiche  spricht. 

Einige  solcher  tiergeschichten  können  wir  auch  in 
lateinischen  dichtungen  wiedererkennen,  die  am  hofe  Karls 
des  Grossen  verfasst  wurden.  Der  Angelsache  Alcuin  gibt  in 
den  Versus  de  gallo  die  erzählung  von  dem  hahn  wieder, 
welcher  vom  wolf  überfallen  wird  und  ihn  mit  list  zum 
sprechen  bringt,  um  aus  dem  geöffneten  rächen  zu  entwischen. 
Der  Langobarde  Paulus  Diaconus  erzählt  mit  epischer  breite 
die  gesehichte  vom  kranken  löwen  und  dessen  heilung.  Wieweit 
hier  freilich  im  einzelnen  Volksmärchen,  wieweit  äsopische 
fabeln  als  quellen  in  betracht  kommen,  ist  nicht  ohne  weiteres 
zu  sagen. 

Häufiger  als  solche  märchenspuren  finden  sich  bei  den 
mittelalterlichen  Chronisten  reproduktionen  von  sagen,  da  in 
den  geschichtlichen  anfangen  eines  volks  sage  und  gesehichte 
sich    beständig  mischen.     Auch  die  sage  entbehrt  häufig  nicht 


3.    Spuren  und  Reste  von  Märchen  und  Sagen.  81 

der  überirdischen  demente  wie  das  märehen,  aber  an  be- 
stimmte personen  der  Vergangenheit  geknüpft,  als  historische 
sage,  bleibt  sie  im  ganzen  mehr  im  Zusammenhang  mit  der 
Wirklichkeit  als  jenes.  In  Verbindung  mit  bestimmten,  durch 
läge  und  aussehen  bemerkenswerten  örtlichkeiten  (felsen,  Ab- 
gründe, ruinen  usw.)  wird  sie  zur  lokalsage,  die  oft  eine 
historische  sage  einschliesst.  Diese  ihrerseits  entsteht  auf 
grund  eines  historischen  ereignisses  oder  einer  historischen 
persönlichkeit  durch  populäre  Übertreibung  der  einzelheiten, 
nene  motivierung  der  bandhing,  zutaten  aus  älteren  sagen  oder 
sagenhaften  Überlieferungen.  Vermischung  von  personen  und 
ereignissen  verschiedener  Zeiten  oder  verschiedener  gegenden. 
Hingegen  werden  historische  einzelheiten,  wie  daten,  neben- 
personen  oder  namen  von  solchen,  überhaupt  für  das  ganze 
gleichgiltige  oder  nebensächliche  züge  vergessen.  Die  von 
mund  zu  mund  gehende  Überlieferung  des  geschichtlichen 
ereignisses  erhält  so  allmählich  eine  feste  gestalt,  ein 
literarisches  gepräge  wie  das  märehen  auch,  sie  nähert  sich 
dieser  gattung,  je  mehr  sie  sich  des  historischen  elements 
entäussert:  sie  wird  so  von  selbst  zur  sage. 

Die  wichtigsten  geschichts werke,  in  welchen  wir  solche 
sagen  wiedergegeben  finden,  sind  namentlich  die  der  Mero- 
wingerzeit,  deren  Verfasser  häufig  zur  mündlichen  Überlieferung 
greifen  mussten,  da  für  die  anfange  des  fränkischen  Volkes 
schriftliche  quellen  meist  fehlten.  Gregor  von  Tours  (540 
bis  594)  hat  eine  bis  auf  seine  eigene  zeit  reichende  Historia 
Francorum  in  zehn  büchern  geschrieben.  Der  Verfasser  ist 
Romane,  in  der  Auvergne  geboren,  schreibt  in  Tours,  in 
romanischem  lande,  und  kennt  die  fränkischen  sagen  wol 
schon  aus  romanischer  Überlieferung.  Die  sogenannte  Chronik 
Fredegars  ist  eine  von  mehreren  bänden  verfasste  kompilation, 
der  schlechtweg  Fredegar  genannte  bearbeiter  des  hauptteils 
hat  die  chronik  bis  zum  jähre  C42  geführt,  in  ßurgund  (viel- 
leicht in  Avenches  in  der  französischen  Schweiz)  geschrieben 
und  häufig  eine  andere  version  der  sage  gekannt  und  wieder- 
gegeben als  Gregor,  dessen  werk  er  übrigens  kennt  und 
benutzt.  In  Neustrien,  in  oder  bei  Paris,  ist,  vor  dein  jähre  727, 
die  dritte  chronik,  der  sogenannte  Liber  historiae  (früher 
Gesta    regum    Francorum    genannt)     von     einem    geistlichen 

Voretzsch,  Studium  d.  afrz.  Literatur.     2.  Auf  läge.  6 


82  II.  Kapitel.    Die  ungeschriebene  Literatur. 

verfasst.  der  wol  Gregor,  aber  nicht  Fredegar  kennt  und  häufig 
ausführlichere  oder  anderslautende  berichte  als  Gregor  gibt. 
Einzelne  sagen  finden  sich  in  anderen  quellen,  wie  in  den  Gesta 
Dagoberti  (9.  Jahrhundert),  in  Widukinds  Res  gestae  Saxonicae 
(10.  Jahrhundert),  in  den  Quedlinburger  Annahn  (ende  11.  Jahr- 
hunderts). In  der  Karolingerzeit  bietet  die  annalistische,  d.  h. 
im  wesentlichen  zeitgenössische  geschichtschreibnog  nicht  viel 
sagenhaftes,  aber  wenigstens  beruht  das  buch  des  sogenannten 
Mönchs  von  St.  Gallen:  De  gesiis  Karoli  imperatoris,  in  der 
hauptsache  auf  mündlicher  Überlieferung.  Der  mönch  schrieb 
auf  geheiss  Karls  des  Dicken,  der  883  das  kloster  St.  Gallen 
besuchte,  diese  erzählungen  nieder,  die  er  als  knabe  von 
seinem  pflegevater  Adalbert,  einem  alten  krieger  Karls  des 
Grossen,  gehört  hatte  und  die  somit  ein  wichtiges  Zeugnis 
für  die  bereits  zu  lebzeiten  des  kaisers  einsetzende  sagen- 
bildung  sind. 

Die  an  die  Merowinger  sich  heftenden  sagen  sind  zunächst 
germanischen,  fränkischen  Ursprungs,  werden  aber  bald  auch 
(wie  Gregors  und  Fredegars  bekanntschaft  mit  ihnen  lehrt) 
in  romanische  Überlieferung  übergegangen  sein.  Je  mehr  die 
Verschmelzung  zwischen  den  christianisierten  Franken  und 
den  Romauen  fortschritt,  um  so  leichter  konnte  auch  bei 
den  Romanen  originelle  sagenbildung  sich  entwickeln.  Eine 
strenge  Scheidung  ist  nicht  überall  möglich,  daher  im  folgenden 
auch  die  ältesten,  rein  fränkischen  sagen  mit  berücksichtigt 
werden. *) 


*)  Für  die  ausgäbe  lateinischer  Chroniken  des  mittelalters  sind  zwei 
grosse  Sammlungen  vorhanden,  der  französische  Becueil  des  histoi-iens  des 
Gaules  et  de  la  France,  begründet  von  dem  benediktiner  Dom  Bouqnet 
(bd.  1— 8,  1 7 .*i S  — 1752,  von  ihm  selbst  hrsg.,  bd.  9  — 23,  1757 — lbGä,  von 
anderen,  das  ganze  1869 — 1880  und  1S93— 1894  neugedruckt),  und  die 
von  Pertz  begründeten  Monumenta  Germaniae  historica  (MG).  Eine 
besondere  abteilung  dieser  bilden  die  Scriptores,  darin  die  SS.  rerum 
Meroi'inyicarum,  deren  I.  bd.  Gregor  v.  Tours,  deren  II.  bd.  Fredegar, 
Liber  historiae,  Gesta  Dagoberti  u.  a.  enthält.  Eine  spezialausgabe 
Gregors,  von  Omont  und  Collon,  ist  in  der  Collection  de  texte»  pour 
eervir  ä  Vetude  et  ä  l'emeignement  de  Vhistoire  (Paris,  Picard)  erschienen. 
Das  buch  des  Münchs  von  St.  Gallen  ist  in  bd.  II,  Widukind  und 
Qnedlinburger  Annalen  in  bd.  III  der  abteilung  Scrij)tores  (SS.)  der  Man. 
Germ,  veröffentlicht. 


:t.    Spuren  and  Koste  von  Härchen  und  Sagen.  83 

Die  eigentliche  stammsage  der  Merowinger,  die 
abkauft  Merowechs  vod  einem  meerstier,  d.  i.  von  einer 
wassergottheit,  berichtet  Fredegar  III,  9,  doch  ist  die  sage 
hier  wol  nicht  ganz  am  rechten  ort,  da  Merowech  als  der 
heros  eponymos  des  geschlechts  gilt,  vor  ihm  aber  bereits 
Chlodion  erscheint.  Merowechfl  söhn  ist  Childerich,  von 
welchem  die  drei  merowingischen  ehr» misten  seine  sagenhafte 
Vertreibung,  seine  liebe  und  che  mit  der  Thiiringerkönigin 
Basina  und  seine  mit  hilfe  des  getreuen  Wiomad  bewirkte 
rückkehr  und  Wiedereinsetzung  berichten  (Gregor  II,  12, 
Fredegar  III.  11,  Lib.  bist.  kap.  6  und  7).  Erst  in  späteren 
Überlieferungen  (Jacques  de  Guise,  14.  Jahrhundert  —  Mon. 
Germ.  Scriptores  XXX)  taucht  ein  anderer,  durchaus  sagen- 
hafter snhn  Chlodions  auf,  Albericus,  dessen  figur  und  sage 
auf  den  deutschen  elbenkönig  Alberich  zurückgeht  und  in 
Auberon,  dem  schutzgeist  Huons  von  Bordeaux,  eine  weitere 
entsprechung  findet. 

Chlodovech,  der  grttnder  des  Frankenreichs,  ist  vor 
allem  durch  seine  brautwerbung  um  Chroteehilde  von  Burgund 
populär  geworden,  die  schon  bei  Gregor  nicht  mehr  rein 
historisch,  bei  den  späteren  Chronisten  aber  ganz  und  gar 
im  stile  germanischer  werbungssagen  ausgeschmückt  erscheint 
(Gregor  II,  28,  Fredegar  III,  17—20,  Lib.  bist.  11—13).  In 
der  deutschen  sage  bekam  er  den  namen  Hugo  (Widukinds 
Res.  g.  Sax.  I,  9  —  Mon  Germ.  SS.  III,  420),  später  Hugdietrich 
(vgl.  Quedlinburger  Aunalen  ad  532  —  Mon.  Germ.  SS.  III,  30  f.), 
die  gediente  von  'Hugdietrichs  brautfahrt '  gehen  auf 
Chlodovechs  brautwerbung  zurück.  In  die  Chronistenberichte 
von  Chlodovechs  kriegen  mischen  sieh  teils  sagenhafte,  teils 
legendarische  züge.  Die  erzählung  von  seinen  anschlagen 
gegen  den  Ripuarierkünig  Sigibert  und  die  salischen  gaukönige 
(Gregor  II,  40 — 42)  ist  durchaus  sagenhaft  gefärbt. 

Von  Chlodovechs  söhnen  haben  vor  allen  Theuderich 
der  bastard  und  Chlothar  I.  auf  die  sage  gewirkt.  An 
Theuderich,  mit  dem  züge  aus  dem  leben  seines  sohnes 
Theudebert  verschmolzen  werden,  heftet  sich  die  sage  von 
dem  fürstensohn,  welchem  neidische  brüder  sein  erbe  bestreiten, 
dem  aber  seine  getreuen  dienstmannen  nach  langen  kämpfen 
wieder  zum   angestammten   throne   verhelfen.     Während  er  so 

6* 


84  II.  Kapitel.    Die  ungeschriebene  Literatur. 

in  der  deutschen  sage  zum  Wolfdietrich  wird,  geht  in 
Frankreich  die  sage  von  ihm  auf  Karl  Martell,  von  diesem 
auf  Karl  den  Grossen  über  (vgl.  den  Mainet);  auch  in  dem 
epos  Parise  la  DucJiesse  scheint  dieselbe  sagt-  nachzuwirken. 
Die  ruhmestat  seines  sohnes  Theudebert  ist  der  von  Gregor 
(III,  3)  berichtete  sieg  über  Chrochilaich  den  Dänenführer,  was 
sich  zwar  nicht  in  der  fränkisch -französischen  sage,  wol  aber 
im  angelsächsischen  Beowulfepos  (Hygelac  =  Chrochilaich) 
wiederspiegelt.  Ahnlich  hat  auch  der  Untergang  des  Thüringer- 
reiches  531  durch  die  Franken,  unter  Theuderich,  und  die 
Sachsen  keine  spuren  in  der  französischen  Überlieferung,  wol 
aber  in  der  deutschen  zurückgelassen  (Widukinds  chronik  — 
Irnfrit  und  Irinc  im  Nibelungenlied).  Chlothar  I.,  Chlodovechs 
jüngster  söhn,  hat  nach  dem  tod  seiner  brüder  558 — 561  das 
ganze  Frankenreich  wieder  in  einer  band  vereinigt.  Seine 
zahlreichen  kriege  sind  uns  mehr  in  geschichtlicher  als  in 
sagenhafter  form  überliefert  (Gregor  ist  sozusagen  noch  Bein 
Zeitgenosse).  Aber  an  ihn  zuerst  hat  sich  vermutlich  die 
sage  geknüpft,  welche  später  von  Dagobert  (in  den  Gesta 
Dagoberti)  erzählt  wird  und  noch  später  in  dem  epos  von 
Floovent  erscheint:  er  war  wirklich  ein  Floovent  =  Chlodovinc, 
d.  i.  söhn  des  Chlodovech,  und  im  prosaroman  von  Loher 
und  Maller,  wo  wir  derselben  geschichte  begegnen,  heisst  der 
held  sogar  noch  Lohier  =  Chlothari.  Verbannung  durch  den 
vater  wegen  einer  jugendlichen  untat,  kämpfe  und  abenteuer 
im  exil,  rückkehr  und  Versöhnung  mit  dem  vater  bilden  den 
inhalt  seiner  sage. 

Von  den  späteren  Merowingern  sind  namentlich  noch  zu 
erwähnen  Chlothar  II.  und  sein  söhn  Dagobert  wegen  der 
im  Lib.  hist.  kap.  44  erzählten  sage  vom  Sachsenkrieg,  die  uns 
im  sogenannten  Farolied  bereits  in  epischer  form  entgegentritt 
und  im  folgenden  kapitel  besprochen  werden  wird.  Sonst 
finden  sich  einzelne  sagenhafte  züge  im  Zusammenhang  mit 
geschichtlichen  ereignissen  noch  ziemlich  zahlreich  in  der 
späteren  Merowingergeschichte. 

Die  Karolingersagen  finden  sich  in  grösserer  zahl,  wie 
bemerkt,  nur  beim  Monachus  Sangallensis.  Die  sagen  von 
Karl  Martell  sind  meist  auf  seinen  gleichnamigen  enkel  Karl 
den    Grossen    übertrafen    worden,    wie    denn    diesem    in    den 


3.    Spuren  und  Reste  von  Märchen  und  Sagen.  85 

späteren  ependichtungen  die  belagenmg  von  Arles  (der  proven- 
salische  Roman  d'Arles),  der  kämpf  gegen  Eudo  von  der 
Gascogne    und    die    Haimonskinder    [Hemmt   de   Montaubari), 

der  kämpf  am  das  augestammte  reich  {Mainet,  vgl.  oben) 
zugesehrieben  wird.  Mit  seinem  wahren  nainen  erseheint  er 
nur  im  Girart  de  Roussillon  und  im  Huon  d'Auvergne.  Was 
die  sagen  von  Karl  Martells  söhn,  Pippin  dem  Kurzen, 
berichten,  geht  ursprünglich  vielleicht  auf  seinen  vater,  Pippin 
den  Mittleren.  Der  Mönch  von  St.  Gallen  erzählt  (lib.  II, 
kap.  23)  Pippins  heldentat  gegen  löwe  und  stier  in  der  arena, 
die  auch  sonst  vielfach  erwähnt  wird:  so  vom  sogenannten 
limousinischen  astronom,  einem  anonymen  biographen  Ludwigs 
des  Frommen  im  9.  Jahrhundert  (Mon.  Germ.  II,  641),  im 
13.  Jahrhundert  in  epischer  form  von  Adenet  le  Roi  in  Berte 
au  gran  pie,  um  dieselbe  zeit  als  bildwerk  an  Notredame  in 
Paris  dargestellt.  Derselbe  Verfasser  weiss  auch  von  einem 
kämpf  Pippins  gegen  einen  dämon  bei  Aachen,  hinter  dem 
sich  ein  germanischer  Wassergeist  in  der  art  Grendels  (Beowulf) 
verbirgt. 

Über  Karl  den  Grossen  und  seine  kriege  weiss  der 
Mönch  viel  sagenhaftes  zu  erzählen:  vom  erscheinen  des 
eisernen  Karl  vor  Pavia,  wo  der  Langobardenkönig  Desiderius 
mit  dem  Franken  Otker  ihn  erwartet  und  dieser  bei  Karls 
anblick  ohnmächtig  niedersinkt;  vom  Slavenkrieg  und  dem 
riesen  Eignere,  der  sieben  bis  neun  Slaven  auf  seine  lanze 
spiesst;  von  der  schwertmessung  im  Sachsenkrieg,  wo  alles 
männliche,  was  das  schwert  überragt,  getötet  wird  wie  im 
kriege  Chlothars  gegen  die  Sachsen.  Ein  zufall  hat  uns  diese 
sagen  über  kaiser  Karl  aufbewahrt.  Eine  reihe  anderer  sind 
verschollen  oder  in  den  späteren  epen  auf  Karl  den  Grossen 
aufgegangen. 

Vgl.  im  allgemeinen:  Pio  Rajna,  Le  origini  dell'  epopea 
francese,  Turin  1884,  bes.  8.  47  ff.  —  G.  Paris,  Histoire  poetique 
de  Charlemagne,  P.  1865,  Neudruck  1905.  —  Godefroid  Kurth, 
Histoire  poetique  des  Merovingieus,  P.  1893.  —  C.  Voretzsch,  Das 
Meiowingerepos  und  die  fränkische  Heldensage,  im  Sieversband 
s.  56  ff.  —  Leo  Jordan,  Studien  zur  fränkischen  Sagengeschichte, 
Archiv  114  —  118  (1905—07). 

Im    besonderen    über    die    merovingische    stammsage:    Müllen 
hoff,    Zs.    für    deutsches   Altertum,    6,  430  ff.    —    Über   Albericus: 


86  II.  Kapitel.    Die  angeschriebene  Literatur. 

Ph.  Aug.  Becker,  ZrP  25  (1902),  26511".  (vgl.  dazu  DL  1902, 
22Glf.).  Counson,  La  legende  d'Oberon  (Extrait  de  la  Revue 
generale),  Bruxelles  1903,  s.  7 ff.  Konrad  Weiaker,  Über  Hugo 
von  Toul  und  seine  altfranz.  Chronik,  Diss.  Halle  1905.  —  Übel 
Chlodovech,  Theuderich,  Theudebald:  Müllenhoff,  Zf.lA  12,  344 ff.; 
13,  185  ff.  Voretzsch,  Epische  Studien,  I,  278 ff.,  292 ff.  —  Über 
Parise  la  Duchesse:  Heinzel,  Sitzungsberichte  d.  phil.-hist.  Classe  d. 
Wiener  Akad.  d.  Wissensch.,  119.  bd.,  III.  abh..  ^.  66ff.  —  Über 
Chlothar  IL  sielie  das  folgende  kapitel,  über  Floovent  kapitel  VI. 
—  Über  Pippin:  G.  Paris,  La  legende  de  Pe'pin  le  Bref,  in  Melanges 
Julien  Havet,  P.  1895,  s.  603  —  633  (jetzt  auch  in  Melauges 
litt.  183  —  215).  Francois  Novati,  Le  duel  de  Pepin  le  Bref 
contre  le  demon,  in  Revue  d'histoire  et  de  litterature  religienses, 
VI,  32 — 41  (Mäcon  1901).  —  Im  übrigen  vergleiche  die  einzelnen 
epen  in  Kapitel  IV. 


Drittes  Kapitel. 

Die  Anfänge  der  Heldendichtung. 


Die  älteste  gattung  der  profandichtung,  welche  uns  in 
sichtbaren  denkmälern  oder  resten  von  solchen  entgegentritt, 
ist  die  heldendichtung,  in  der  form  des  heldenepos  oder 
volksepos,  wie  es  gewöhnlich  im  gegensatz  zum  höfischem  epos 
oder  ritterroman  genannt  wird.  Während  dieser  die  taten 
fremder  beiden,  des  Britenkönigs  Artus  und  seines  kreises  feiert 
oder  ohne  allen  geschichtlichen  hintergrund  die  erlebnisse 
eines  liebespaares  nach  griechischen  oder  byzantinischen 
Vorbildern  erzählt,  beruht  das  heldenepos  auf  den  nationalen 
Überlieferungen  des  Volkes:  die  beiden  und  die  ereignisse 
seiner  geschichte  spiegeln  sich  im  lichte  dieser  dichtung 
wieder.  Hierbei  hat  die  sage,  deren  wirken  wir  im  vorigen 
abschnitt  verfolgt  haben,  der  dichtung  mächtig  vorgearbeitet: 
zeitlich  dieser  vorausgehend  bildet  sie  in  vielen  einzelnen 
fällen  die  notwendige  mittelstufe  zwischen  geschichte  und 
dichtung. 

Der  herkömmliche  name  für  die  nationalepischen  dichtungen 
der  blütezeit  ist  chansons  de  geste.  Diese  charakterisieren  sich 
gegenüber  anderen  epischen  dichtungen  nicht  nur  durch  den 
inhalt,  sondern  auch  durch  die  form,  indem  sie  gegenüber  den 
reiinpaaren  der  älteren  geistliehen  oder  der  späteren  höfischen 
epik  Strophen  von  ungleicher  verszahl  (französisch  laisses  oder 
tirades  monorimes)  zeigen.  Auch  wurden  sie,  wenigstens  in 
der  älteren  zeit,  nicht  vorgelesen,  sondern  vorgesungen,  nach 
einer  jedenfalls  sehr  einfachen  und  nach  ein  paar  versen  sich 
wiederholenden  melodie.  Die  ältesten  epen,  die  wir  kennen, 
gehören    in    das    ende    des    11.    oder    in     den    anfang    des 


88  III.  Kapitel.    Die  ÄDfäiige  der  Ilcldendichtung. 

12.  Jahrhunderts  (oben  s.  28).  Darnach  bliebe  die  weltliche 
epik  immer  noch  um  ein  halbes  Jahrhundert  hinter  dem 
Alexiuslied  und  hinter  den  ältesten  denkmälero  der  geistlichen 
dichtung  gar  um  zwei  volle  Jahrhunderte  zurück,  wenn  wir 
nicht  auf  anderem  woge  die  frühere  existenz  der  heldendichtuug 
erweisen  könnten.  Und  hierfür  gibt  es  verschiedene  mittel. 
Einmal  lassen  manche  der  späteren  epen  deutlich  erkennen, 
dass  sie  nur  Überarbeitungen  älterer  dichtungen  darstellen 
oder  aus  mehreren  älteren  dichtungen  zusammengesehweisst 
sind.  Die  genaue  betraehtung  solcher  epen  führt  uns  in  die 
Vorgeschichte  des  einzelnen  epos  hinein,  gibt  uns  in  der  regel 
aber  keine  aufklärung  über  das  eigene  alter  der  erschlossenen 
Originaldichtungen.  Zweitens  finden  wir  hier  und  da  in 
früheren  Jahrhunderten  doch  einzelne  reste  epischer  dichtungen 
wieder,  zwar  nicht  mehr  in  der  originalform  bewahrt,  aber 
trotz  der  Umsetzung  in  die  lateinische  spräche  oder  auch  des 
Verlustes  der  poetischen  form  noch  immer  als  teile  einer 
ursprünglichen  französischen  dichtung  erkennbar.  Schliesslich 
bieten  sich  uns  noch  die  Zeugnisse  über  poetische  Verherrlichung 
dieses  oder  jenes  helden  dar,  die  uns  in  ziemlich  frühe  zeit 
zurückführen,  aber  häufig  unklar  lassen,  ob  wir  es  wirklich 
mit  französischen  und  nicht  vielmehr  mit  lateinischen  oder 
germanischen  dichtungen  zu  tun  haben,  während  sie  uns  über 
die  äussere  form  der  dichtung  in  der  regel  entweder  nichts 
oder  doch  nichts  sicheres  sagen.  Da  die  Zeugnisse  bis  auf 
das  achte  Jahrhundert  zurückweisen,  haben  wir  mit  diesen  zu 
beginnen. 

Über  das  französische  epos  im  allgemeinen  und  über  seine 
anfange  im  besonderen  vgl.  folgende  werke  und  abhandlungen : 
Ludwig  Unland,  Über  das  altfranz.  Epos,  1812,  in:  Die  Musen 
III.  u.  IV.  bd.,  neugedruckt  1860  in  Unlands  Schriften  z.  Gesch. 
d.  Dichtung  u.  Sage  IV,  326  ff.,  auch  in  den  Uhlaudausgaben  von 
H.  Fischer  und  L.  Ilolthof.  —  Gaston  Paris,  Hist.  poet.  de  Charle- 
magne,  P.  1865,  '21905.  —  Leon  Gautier,  Les  Epopees  francaises, 
I— III,  P.  1865—1868,  21— V,  1888—1897  (unvollendet).  Derselbe, 
L'epopee  nationale,  in  Petit  de  Julleville,  Hist.  etc.  I.  bd.,  P.  1896. 
—  Paul  Meyer,  Recherches  sur  l'epopee  francaise,  Bibl.  Ec.  Ch. 
VI6  serie,  III0  vol.,  auch  separat,  P.  1867.  —  Adolf  Tobler,  Über 
das  volkstümliche  Epos  der  Franzosen,  ZVps  IV  139  — 210  (1866), 
jetzt  Vermischte  Beiträge  V  (1912)  159  ff.  —  Pio  Rajna,  Le 
origini   dell'   epopea   francese,    Florenz   1884.   —   Kristoffer  Nyrop, 


1.    Zeugnisse.  89 

Den  oldfranskc  Heltedigtning,  Kjöbenhavn  1883.  Ins  ita.1.  übers, 
von  E.  Gorra:  Cristöforo  Nyrop,  Storia  delT  epopea  francese 
nel  medio  evo,  Torino  1888.  —  G.  Kurth,  Histoire  poetique  des 
Merovingiens,  P.  1893.  —  G.  Gröber,  Franz.  Litteratur,  im 
Grundriss  II,  1,  447  ff.,  535  ff.  —  II.  Suchier,  Gesch.  d.  franz.  Litt., 
L.  1900,  s.  16  ff.  —  Voretzsch,  Die  franz.  Heldensage,  Akad. 
Antrittsrede  (Tübingen),  Heid.  1894.  Das  Merovingerepos  s.  o. 
Epische  Studien  I,  IIa.  1900.  —  Eduard  Wechssler,  Bemerkungen 
zu  einer  Geschichte  d.  franz.  Heldensage,  ZrP  25  (1901)  449  ff.  — 
Fr.  Ed.  Schneegans,  Die  Volkssage  und  das  altfranz.  Heldengedicht, 
Heidelberger  Jahrbücher,  1897,  58—67.  —  Phil.  Aug.  Becker,  Der 
südfranz.  Sagenkreis  und  seine  Probleme,  Ha.  1898.  Grundriss  d. 
altfranz.  Lit.  I,  1907.  —  Leo  Jordan,  Über  Entstellung  und 
Kntwickelung  des  altfranz.  Epos,  in  Rom.  Forsch.,  XVI,  354  —  370, 
auch  separat.  —  Vicomte  Ch.  de  La  Lande  de  Calan,  Les  personnages 
de  l'epopee  romane,  Redon  1900.  —  Franz  Settegast,  Quellenstudien 
zur  galloromauischen  Epik,  L.  1904.  —  Joseph  Bedier,  Les  legendes 
(•piques,  I,  II,  P.  1908.  De  la  formation  des  chansons  de  geste,  I, 
Rom.  41  (1912)   1  ff . 


1.    Zeugnisse. 

Was  man  an  Zeugnissen  aus  der  zeit  vor  Karl  dem  Grossen 
auzuführen  pflegt,  ist  für  die  französische  heldendichtung  von 
keiner  wesentlichen  bedeutung.  Die  Zeugnisse  eines  Ausonius 
(4.  Jahrhundert),  Apollinaris  Sidonius  (5.  Jahrhundert),  Venantius 
Fortunatus  (G.  Jahrhundert)  beziehen  sich  entweder  auf  andere 
gattungen  als  das  heldenlied  (Ausonius,  Apollinaris)  oder 
ausschliesslich  auf  fränkische  lieder  (Apollinaris,  Venantius). 
So  bleibt  als  ältestes  Zeugnis  von  bedeutung  die  angäbe 
Einhards  im  29.  kapitel  seiner  Vita  Caroli  magni:  Item 
barbara  et  antiquissima  carmina,  quibas  veterum  regitm  actus 
et  bella  canebantur,  scripsit  memoriaeque  mandavit.  Hier  wird 
epische  dichtung  auf  Karls  Vorgänger  —  Pippiniden  und 
Merovinger  —  authentisch  bezeugt.  Ob  es  sich  dabei  um 
gesänge  in  lyrischer  form,  d.  h.  um  Volkslieder,  oder  um 
kürzere  oder  längere  epen  handelt,  lässt  sich  nicht  entscheiden. 
Hinsichtlich  der  spräche  ist  es  am  wahrscheinlichsten,  dass  die 
dichtungen,  für  die  sich  Karl  der  Grosse  interessierte,  deutscher 
herkunft  waren,  wenn  auch  die  möglichkeit,  dass  darunter 
sich  auch  französische  dichtuDgen  befunden  hätten,  nicht  ganz 
ausgeschlossen  sein  mag. 


90.  III.  Kapitel.    Die  Anfänge  der  Ileldendichtung. 

Ausführlicher  als  Einbard  bezeugt  uns  dieselbe  tatsache 
der  sogenannte  Poeta  Saxo,  welcher  im  9.  Jahrhundert  Karin 
des  Grossen  leben  naeb  Einbards  Vita  und  den  sogenannten 
Annalen  Eiubards  in  lateinischen  distichen  bearbeitet  hat. 
Hier  beisst  es  V,  117—120  (Mon.  Germ.  SS.  II): 

Est  quoque  jam  notum :  vulgaria  carmina  maynis 
Laudibus  ejus  avos  et  proavos  celebrant: 

Pippinos,  Carolos,  Hludovicos  et  Thcodricos 
Et  Garlomannos  Hlotariosque  canunt. 

Hat  der  Verfasser  die  tatsache  aus  eigener  kenntnis 
geschöpft,  so  kann  es  sieb  hier  wol  nur  um  deutsche  lieder 
bandeln.  Fusst  er  hingegen,  wie  vermutet  worden,  auf 
Einbards  notiz,  so  hat  sein  zeugnis  nur  beschränkten  wert. 
Immerbin  würde  der  Verfasser  Einbards  angäbe  wol  kaum  in 
sein  gedieht  übernommen  haben,  wenn  nicht  auch  ihm  selbst 
aus  seiner  zeit  ähnliches  bekannt  gewesen  wäre.  In  jedem 
falle  ist  sein  zeugnis  für  den  deutschen  heldensang  wichtiger 
als  für  den  französischen. 

Im  gleichen  Jahrhundert  spricht  Ermoldus  Nigellus 
in  seinem  Leben  Ludwigs  des  Frommen  von  seinem  beiden 
in  ausdrücken,  welche  man  auf  Verherrlichung  im  liede 
deuten  kann,  die  aber  auch  weiter  nichts  als  eine  poetische 
form  zur  bezeichnung  von  Ludwigs  berübmtheit  zu  sein 
brauchen. x) 

Deutlicher  ist  wieder  ein  zeugnis  des  11.  jabrbunderts, 
das  sich  am  Schlüsse  einer  bandsebrift  von  Einbards  Leben 
Karls  des  Grossen  findet:  Beliqua  actuum  ejus  (=  Caroli) 
gesta  seu  ea,  <[iiae  in  carminibus  vulgo  canuntur  de  co, 
non  hie  pleniter  descripta,  sed  require  in  vita  quam  Alchuinus 
de  eo  scribit.  Dies  angebliche  Karlsleben  von  Alcuin  kennen 
wir  nicht. 

Bezogen  sieb  die  bisher  aufgefübrten  Zeugnisse  aus- 
scbliesslicb  auf  die  angehörigen  der  herrseberfamilien  und 
unter   diesen   namentlich   auf  Karl  den  Grossen,  so  zeugt  die 


J)  Haec  canit  orbis  ovans  late  vidgoque  resoyiant. 

Plus  populo  resonavt  quam  canat  arte  melos. 


l.   Zeugnisse.  -91 

folgezeit  nun  auch  für  andere  epische  beiden  aus  der 
Karolingerzeit  und  dadurch  mittelbar  auch  für  epische 
dichtungen,  in  denen  sie  verherrlicht  wurden.  So  nennt  ein 
jüngst    von    Bedier    hervorgehobenes   gefälschtes   diplom    der 

ahtei  von  Saint-Yrieix-de-la-Perche  (Dep.  Haute-Vienne)  vom 
jähre  1090  neben  Karl  dem  Grossen  als  dem  bestätiger  der 
alten  Privilegien  noch  eine  reihe  epenheklen  als  zeugen: 
principibus  nostris  adtestantibus ,  scilicet  domno  Turpione, 
Otgerio  palatino  ac  Guilldmo  Curbinaso,  Bertranno  vdlidissimo, 
Bolgerio  (oder  Botgerio)  Cornualto.  Soleher  Zeugnisse  bietet 
das  folgende  12.  Jahrhundert  uoeh  in  grosser  zahl. 

Noch  weiter  geht  die  aus  dem  jähre  1122  stammende 
Vita  Sancti  Willelmi,  welche  uns  lieder  auf  ihren  beiden 
bezeugt,  die  von  der  menge  gesungen  wurden:  Qui  chori 
javeman,  qui  conventus  populorum,  praeciput  miliium  ac 
nobüium  virorum,  quae  vigiliae  sanctorum  dulce  non  resonant 
et  modulatis  vocibus,  qualis  et  quantus  fuerit .  .  .  Kürzer  drückt 
sich  über  denselben  beiden  in  seiner  Historia  ecclesiastica 
Orderieus  Vitalis  aus,  der  jedoch  auf  berufsmässige  Sänger 
hinweist:  Vulgo  canitur  a  joculatoribus  de  Mo  cantilena. 
Ahnlich  lautet  eine  —  nicht  in  allen  handschriften  vorhandene  — 
notiz  über  Ogier  den  Dänen  im  XL  kapitel  der  sogenannten 
Turpinschen  chronik:  Ogerius  rex  Daciae,  cum  decem  millibus 
heroum  \yenit\.  De  hoc  canitur  in  cantilena  usque  in  hodiernum 
diem,  quia  innumera  fecit  mirabilia. 

Die  letzten  Zeugnisse  sind  wichtig  für  die  epische 
geschiente  der  beiden  helden.  weil  die  wirklich  erhaltenen 
gediehte,  deren  gegenständ  sie  sind,  erst  aus  späterer  zeit 
stammen.  Die  existenz  des  epos  überhaupt  brauchen  sie 
jedoch  nicht  erst  zu  erweisen,  da  aus  jener  zeit  schon  mehrere 
umfangreiche  dichtungen  ganz  oder  teilweise  überliefert  sind. 
Und  die  in  lateinischen  werken  erhaltenen  reste  der  älteren 
dichtung  gestatten  uns  noch  weiter  zurückzugehen. 


92  III.  Kapitel.     Die  Aufiioge  der  Heldcndichtuug. 

2.    Reste  oder  Umarbeitungen  französischer  Epik. 
(Chlotharlied  —  Haager  Fragment  —  Späteres). 

1.   Das  Chlotharlied. 

A.  Die  Überlieferung.  Bruchstücke  eines  liedes,  in 
welchem  der  672  verstorbene  bischof  von  Meaux  Burgundofaro, 
kurz  Faro  genannt,  eine  rolle  spielte  und  das  danach  meist 
kurzweg,  aber  unrichtig,  als  Farolied  bezeichnet  wird,  rinden 
sich  in  einer  Vita  des  heiligen,  die  869  von  dem  bischuf 
Hildegar  von  Meaux  (gestorben  875)  verfasst  wurde.  Hier 
wird  folgendes  erzählt: 

Die  Sachsen  erheben  sieh  gegen  die  Franken,  und  der 
Sachsenkönig  Bertoald  schickt  an  Chlothar  den  Frankenkönig 
gesante  mit  einer  hochmütigen  und  beleidigenden  botschaft. 
Chlothar,  ausser  sich  vor  zorn,  verurteilt  die  boten  zum  tod, 
vergebens  Widerreden  ihm  die  grossen  des  reiches,  erst  Faro 
gelingt  es  vom  könig  wenigstens  einen  aufschub  der  todesstrafe 
zu  erlangen.  Über  nacht  geht  er  in  den  kerker  und  bekehrt 
die  sächsischen  gesanten  zum  Christentum.  Am  morgen  preist 
er  das  göttliche  wunder,  das  die  wilden  beiden  plötzlich 
zu  Christen  gemacht  hat.  Unverletzt  und  noch  dazu  reich 
beschenkt  werden  sie  entlassen.  Nachher  überzieht  Chlothar 
gleichwol  das  Sachsenvolk  mit  krieg  und  Verheerung  und 
lässt  keinen  leben,  welcher  die  höhe  des  königlichen  Schwertes 
überragt.  Infolge  dieses  sieges  geht  ein  lied  von  mund  zu 
mund  —  Ex  qua  victoria  Carmen  publicum  juxta  rusticitatem 
per  omnium  paene  volitabat  ora  ita  canentium,  feminacque 
clwros  inde  plaudendo  componebant: 

De  Chlothario  est  canere  rege  Francorum, 

Qui  ivit  pugnare  in  gentem  Saxonum. 

Quam  grave  provenisset  missis  Saxonum, 

Si  non  fuisset  inclitus  Faro  de  geilte  Burgundionum ! 

Et  in  fine  hujus  carminis: 

Quando  veniant  missi  Saxonum  in  terra  Francorum, 

Faro  ubi  erat  prineeps, 

Instinctu  dei  transeunt  per  urbem  Meldorum, 

Ne  interficiantur  a  rege  Francorum. 


2.   Reste  oder  Umarbeitungen  frauz.  Epik  :  Clilotharlied.  93 

Hoc  enim  rustico  carmine  placuit  ostendere,  quantum  ab 
omnibus  celeberrimus  habebatur. 

B.  Geschichtliche  Grundlage  and  Verhältnis  zum 
Li  her  historiae.  Es  ergibt  sieh  aus  dieser  darstellung  der 
Vita  ohne  weiteres,  dass  Chlotbar  der  beld  des  liedes  war,  das 
seinen  sieg  über  die  Sachsen  feierte,  und  dass  Faro  nur  in  der 
episode  von  der  bekebrnng  oder  errettung  der  gesanten  eine 
rolle  spielte.  Der  Sachsenkrieg  selbst  ist  offenbar  derselbe, 
welchen,  dem  Liber  historiae  zufolge,  Chlotbar  II.  und  sein 
söhn  Dagobert  gegen  den  Sachsenherzog  Bertoald  führen 
(vgl.  o.  S.  84).  Ein  historischer  Sachsenkrieg  liegt  auch  hier 
nicht  zugrunde,  vielmehr  handelt  es  sich  in  letzter  linie  um 
innerfränkische  kämpfe  des  Jahres  604,  denen  der  burgundische 
hausmeier  Bertoald,  als  gegner  Clilothars  II.,  zum  opfer  fiel. 
Die  erzählung  des  Liber  und  der  bericht  der  Vita  setzen  beide 
die  Umbildung  dieses  historischen  ereignisses  zur  sage  von 
Clilothars  Sachsenkrieg  voraus,  aber  die  beiden  Überlieferungen 
sind  nicht  identisch  (selbst  wenn  die  Vita  in  einzelheiten  vom 
Liber  abhängig  sein  sollte).  Diejenige  der  Vita  ist  epischer, 
jünger:  Bertoald  ist  nicht  mehr  dax,  sondern  rex,  wie  die 
Sachsenherrscher  in  den  späteren  epen;  die  herausfordernd 
auftretenden  gesanten  sind  ein  viel  gebrauchtes  motiv  der 
späteren  epischen  dichtung.  Genau  wie  im  späteren  epos  folgt 
hier  aufeinander:  die  hochmütige  aufforderung  der  fremden 
gesanten  an  den  Frankenkönig  sein  land  herauszugeben,  der 
Jähzorn  des  königs  und  die  bedrohung  der  gesanten  mit  dem 
tod,  das  eingreifen  der  grossen,  der  aufscbub  der  ausführung 
des  Urteils  und  die  dadurch  ermöglichte  rettung  der  gesanten. 
Das  alles  zeigt  klar,  dass  hier  keine  hagiographische  erfindung, 
sondern  epische  quelle  zugrunde  liegt. 

Die  einleitung  ist  sonach  in  den  beiden  Überlieferungen 
ganz  verschieden:  im  Liber  historiae  ist  von  gesantschaft 
nicht  die  rede,  sondern  Chlotbar  gilt  für  tot  und  erscheint 
unerwartet,  um  das  fränkische  heer  aus  der  bedrängnis  zu 
befreien.  Beide  Überlieferungen  aber  spiegeln  sich  in  der 
späteren  epischen  dichtung  wieder:  die  des  Liber  historiae 
in  den  Saisnes  und  im  schlussteil  des  Ogier,  die  der  Vita 
Faronis  in  Aspremont. 


94  III.  Kapitel.     Die  Anfange  der  HeldendichtUDg. 

C.  Sprache  und  metrische  Form.  Der  überlieferte 
text  ist  lateinisch,  nicht  französisch.  Die  extremste  schluss- 
folgerung  ans  dieser  tatsache  ziehen  diejenigen,  welche  die 
lateinischen  Zeilen  für  eine  prosaphantasie  des  biographen 
halten  (so  Krusch).  Andere  nehmen  an,  dass  der  biograjih 
ans  einem  gedieht  zitiert,  das  von  haus  aus  lateinisch  und 
zwar  in  rhythmischen  hexametern  abgefasst  war.  Solche 
anschauungen  sind  nur  möglich,  wenn  man  die  klaren  angaben 
des  biographen  (carmen  publicum  juxta  rusticitatem  —  rustico 
carmine  —  per  omnium  paene  volitabat  ora)  für  reine  erfindung 
erklärt.  Will  man  diesen  aber  überhaupt  irgendeinen  wert 
beimessen,  so  bleibt  nur  der  schluss  übrig,  dass  die  Zeilen  aus 
dem  französischen  übersetzt  sind,  uud  dieser  Schlussfolgerung 
widerspricht  nichts  als  das  Vorurteil,  dass  es  im  8.  oder  9.  Jahr- 
hundert noch  keinen  französischen  heldensang  gegeben  haben 
könne.  Aber  nahezu  alles,  was  wir  über  die  form  der  zugrunde 
liegenden  französischen  diebtung  aus  der  Überlieferung  er- 
schliessen  können,  stimmt  zu  der  form  der  späteren  helden- 
dichtung:  der  vers  war,  nach  länge  und  inhalt  der  lateinischen 
Zeilen  zu  urteilen,  vermutlich  der  epische  zebnsilbner;  verbunden 
waren  die  verse  untereinander,  wie  noch  der  lateinische  text 
erkennen  lässt,  durch  die  assonanz.  Die  hier  mitgeteilten 
verse  bildeten  augenscheinlich  an  fang  und  schluss  der  ersten, 
auf  o  assonierenden  laisse,  die  der  berichterstatter  mit  carmen 
bezeichnet,  denn  dass  Carmen  hier  'lied'  bedeute  uud  demgemäss 
das  lied  mit  der  ankunft  der  sächsischen  gesandten  in  Meaux 
geschlossen  hätte,  ist  ganz  unmöglich.  Wir  haben  also  allen 
anlass,  in  diesen  bruchstücken  den  rest  eines  echten  heldenepos, 
einer  chanson  de  geste  (allenfalls  einer  chanson  d'histoire)  zu 
sehen.  Hinsichtlich  der  zeit  wird  man  sich  hüten  müssen, 
die  entstehung  des  liedes  allzu  hoch  hinaufzurücken.  Die 
frühere  annähme,  es  sei  bereits  der  Vita  Kiliani  bekannt 
gewesen,  hat  sich  als  nicht  stichhaltig  erwiesen.  Auch  wird 
das  lied  nicht  älter  sein  als  die  erzählung  des  Liber  historiae, 
die  doch  einen  wesentlich  altertümlicheren  charakter  zeigt. 
Auf  der  anderen  seite  war  es  gewiss  schon  einige  zeit  vor- 
handen, als  Hildegar  es  in  der  Vita  Faronis  verwendete. 
Darnach  kommen  wir  auf  die  erste  hälfte  des  9.  Jahrhunderts, 
vielleicht  auf  die  zweite  hälfte  des  8.  Jahrhunderts. 


2.  Reste  oder  Umarbeitungen  franz.  Epik:  Haager  Fragment.        05 

liabillon,    Acta   Sanctornm    ordinia  St i.  Benedict!,   Saecnlnm  II 

(1669)  607—25.  Kruseh.  MG  S8.  rernm  Merov.  V  171  ff.,  190ff. 
—  II.  Snchier,  Chlothars  II.  Sachsenkrieg  und  die  Anfange  des 
französischen  Yolksepos.  ZrP  18  (1894)  175—194.  Dazu  F.Lot 
und  G.  Paris,  Romania  23,  s.  440  —  445.  —  (i.  Körting,  Das 
'Farolied'  ZfSL  16,  235  —  264.  —  C.  Voretzsch,  Das  Merowinger- 
epos  s.  95— 103,  108ff.  —  G.  Gröber,  Der  Inhalt  des  Paroliedes 
im  D'Anconaband  (1901)  s.  583  —  601.  —  L.  Jordan.  RF  L6, 
368—70,  und  Archiv  115,  354ff.  —  G.  Bertoni,  Rdlr  51,  44  —  59. 

2.    Das  Haager  Fragment. 

Auf  den  letzten  blättern  einer  im  Haag  befindlichen,  aus 
dem  10.  Jahrhundert  oder  der  1.  hälfte  des  11.  Jahrhunderts 
stammenden  handsehrift  des  Liber  historiae  fand  der  begründet* 
der  Monumenta  Germauiae,  G.  H.  Pertz,  ein  lateinisches  prosa- 
fragment.  Dieses  ist  mitten  aus  dem  Zusammenhang  heraus- 
gerissen, aufang  und  schluss  fehlen.  Erzählt  wird  uns  darin 
die  belagerung  einer  heidnischen  Stadt  durch  die  Christen.  Die 
Schilderung  beginnt  mit  szenen  des  allgemeinen  kampfgewühls. 
Dann  erscheinen  nacheinander  die  christlichen  kämpfer:  der 
furchtbare,  von  kämpf begierde  entflammte  Ernoldus,  der  im 
streit  erprobte  Beruardus,  der  furchtlose,  vor  keiner  gefahr 
zurückschreckende  Bertrandus.  Zumal  der  letzte  dringt  mit 
ungestüm  gegen  mauern  und  tore  der  heidnischen  Stadt  vor. 
Ein  hartnäckiger  kämpf  entspinnt  sich,  auf  Seiten  der  Christen 
von  Karl  dem  kaiser,  auf  Seiten  der  belagerten  von  Borel 
geleitet.  Der  jugendliche  Wibelinng  bahnt  sich  einen  weg  zu 
einem  söhne  Boreis  und  streckt  ihn  durch  einen  mächtigen 
hi«b  mitten  auf  die  schlafe  tot  nieder.  Wie  ein  wütender 
löwe  unter  seiner  beute,  haust  Ernaldus  unter  den  feinden. 
Anch  Bertrandus,  welcher  hier  mit  dem  beinamen  palatinus 
(pfalzgraf-paladin)  bezeichnet  wird,  schont  keinen  der  feinde. 
Dem  einen  spaltet  er  mit  furchtbarem  schlage  haupt,  brüst 
und  leib  und  dem  pferde  unter  ihm  noch  den  rücken.  Auch 
Bernardus  weiht  viele  feinde  dem  tode. 

Wir  haben  es  hier  mit  szenen  zu  tun,  wie  sie  uns  aus 
dem  späteren  heldenepos  geläufig  sind,  ganze  Wendungen  und 
sätze  erinnern  an  den  stil  der  chansons  de  geste.  Auch 
die  hier  auftretenden  personen  sind  der  späteren  zeit  nicht 
unbekannt:  Ernaut  oder  Arnaut  de  Girone,  Bernard  de  Brebant 


96  III.  Kapitel.     Die  Anfüuge  der  Ileldeudiclitung. 

(oder  Brusbant)  und  Guibelin  sind  da  brttder,  sie  erscheinen 
gleichwie  Wilhelm  von  Orange  als  sühne  Aymeris  von  Nar- 
bonne,  Bertrand  le  palasin  ist  Bernards  söhn.  Auch  der 
heidenkönig  Borel  mit  seinen  zwölf  söhnen  ist  der  späteren 
diehtung  wol  bekannt.  Besonders  das  epos  Aymeri  de  Narbonnc. 
zeigt  mehrfache  beziehungen  zu  dem  inhalt  unseres  fragments, 
wenngleich  es  nicht  möglich  ist,  über  dessen  eigentlichen 
gegenständ,  zumal  über  den  Schauplatz  und  den  mimen  der 
belagerten  stadt,  genaueres  zu  sagen. 

Aus  alledem  ergibt  sich,  dass  die  grundlage  der 
lateinischen  prosa  eine  diehtung  in  der  art  der  späteren 
chansons  de  geste  gewesen  sein  muss.  Die  Vermittlung  zwischen 
dieser  und  dem  überlieferten  lateinischen  text  hat  sichtlich 
ein  lateinisches  gedieht  in  hexametern  gebildet:  spuren  von 
hexametern  hat  schon  Pertz  in  dem  fragment  entdeckt,  weiteres 
nach  ihm  G.  Paris,  der  auch  ein  kleines  zusammenhängendes 
stück  der  lateinischen  hexameterdichtung  wiederhergestellt 
hat,  und  schliesslich  ist  es  Konrad  Hofmann  gelungen,  den 
ganzen  prosatext  mit  ausnähme  eines  unbedeutenden  restes 
wieder  in  seine  ursprüngliche  hexametrische  form  zu  bringen. 
Das  so  wiederhergestellte  lateinische  gedieht  dürfen  wir  mit 
fug  und  recht  als  die  Übersetzung  einer  echten  chanson  de 
geste  betrachten. 

Die  zeit  des  französischen  Originals  lässt  sich  nur  an- 
nähernd bestimmen.  Aber  schon  das  lateinische  gedieht 
muss  der  zerrütteten  form  der  prosaischen  niederschrift  des 
10.  (11.)  Jahrhunderts  einige  zeit  vorausliegen,  und  ebenso 
wieder  das  französische  gedieht  der  abfassnng  der  lateinischen 
Übersetzung.  So  darf  man  mit  dem  ursprünglichen  gedieht 
noch  bis  in  das  9.  Jahrhundert  zurückgehen,  und  selbst  wenn 
die  handschrift,  wie  neuerdings  vermutet  worden  ist,  erst  in 
die  erste  hälfte  des  11.  Jahrhunderts  gehören  sollte,  würde 
die  abfassnng  der  französischen  Originaldichtung  noch  im 
10.  jahrhuudert  sehr  wahrscheinlich  sein. 

Erste  ausgäbe  des  fragments  von  Pertz  MG,  SS.  III,  708—710, 
neudruck  nebst  Übersetzung  und  faksimile  von  Suchier,  Les 
Narbonnais  (Sdat,  P.  1898),  II,  187—192,  dazu  Romania  29  (1900) 
257—259.  —  Vgl.  G.  Paris,  Hist.  poet.,  s.  50  ff.,  64f.,  84ff.  — 
Konrad    Hofmann,    Sitzungsberichte    der    köuigl.    bayer.    Akad.    d. 


2.  Reste  oder  Umarbeitungen  franz.  Epik:  Latein.  Gedichte.         97 

Wissenschaften,    Phil,  hisi  Kl.,    1871,    s.  328  ff.    —    G.  Gröber, 
Archiv  84,    s.  291  —  322.    —    Suohier,    Narbonnais   II,    eirjleitung 

b.  Lxvitr. 


.'{.    Lateinische  Gedichte  und  Chroniken  des  11.  und 
12.  Jahrhunderts. 

In  späterer  zeit  sind  solche  versuche,  epische  dichtung-en 
aus  der  vulgärsprache  ins  lateinische,  sei  es  in  versen,  sei  es 
in  prosa,  umzusetzen,  nichts  seltenes  mehr.  Daneben  steht  die 
Verwertung  epischer  diehtungen  für  angeblich  geschichtliche 
darstellungen  (chroniken,  viten),  meist  in  form  yon  kurzen 
iiuszügen.  Zuweilen  gehen  die  beiden  gattungen  ineinander 
über.  In  jedem  fall  aber  beweist  der  lateinische  text  für  das 
Vorhandensein  bestimmter  französischer  heldendichtungen,  die 
vielfach  den  wirklich  tiberlieferten  epen  über  dieselben  beiden 
zeitlich  oder  entwicklungsgesckielitlich  vorausliegen. 

Schon  zwischen  1090  und  1100  hat  Radulfus  Tortarius 
von  Floriacum  (Fleury  a.  d.  Loire)  ein  epos  von  Amis  und 
Amiles  gekannt  und  kurz  in  einem  lateinischen  gedieht  von 
101  distichen  wiedergegeben,  während  das  uns  bekannte 
französische  epos  rund  100  jähre  jünger  ist.  Im  12.  Jahrhundert 
erscheint  die  sage  auch  in  lateinischer  prosa. 

In  der  im  jähr  1088  abgeschlossenen  chronik  des  klosters 
Ceutulum  (Saint  Riquier)  in  Ponthieu  berichtet  der  mönch 
Hariulf  kurz  von  dem  sieg  könig  Ludwigs  über  könig  Giulia- 
ni undus  und  den  Verräter  Esimbardus,  augenscheinlich  auf  grund 
eines  epos  von  Isembart  und  Gormund,  vielleicht  des- 
jenigen, von  welchem  uns  ein  bruchstück  in  der  Brüsseler 
handschrift  überliefert  ist.  Der  chronist  selbst  verweist  für 
das  nähere  auf  chroniken  und  lieder:  non  solum  liixtoriis,  sed 
etiam  patriensium  memoria  quo ti die  recolitur  et 
c  antat n  r. 

Die  um  1122  verfasste  Vita  Sancti  Willelmi  (vgl.  s.  91) 
bat  schon  Wilhelmsepen  gekannt  und  benutzt,  die  uns  erst  aus 
der  folgezeit  tiberliefert  sind:  sicher  eine  Prise  d'Orange  und 
vermutlich  noch  manche  andere. 

Der  deutsche  mönch  Metellus  von  Tegernsee  hat  um 
1170  in  einem  seiner  Quirinalia  (lateinische  gedichte  zu 
ehren  des  heiligen  Quirin)  eine  erzähluug  wiedergegeben,   die 

Yoretzacb,  Studium  d.  afrz.  Literatur.    2.  Auf  läge.  7 


98  III.  Kapitel.    Die  Anfinge  der  Ileldendichtung. 

Dach  seinen  eigenen  Worten  aus  französischer  quelle  entlehnt 
ist  und  die  Dachher  in  dem  epos  von  Ogier  drin  Dänen 
eine  stelle  gefunden  bat:  die  erzähltmg  von  dem  jungen  grafen- 
sohn,  der  gegen  den  söhn  des  königa  eine  Schachpartie  gewinnt 
und  dafür  von  dem  gekränkten,  titeln  gegner  erschlagen  wird. 
Der  gleichklang  des  namens  —  Ogier  (Osigerius)  —  hat  den 
deutschen  dichter  veranlasst,  die  geschickte  auf  einen  der  beiden 
brüder,  welche  Tegernsee  gegründet  haben,  auf  den  grafen 
Occarius  zu  übertragen  und  dadurch  den  übertritt  der  beiden 
vornehmen  ins  geistliche  leben  zu  begründen. 

In  einem  lateinischen  Carmen  de  proditione  Guenonis 
aus  der  mitte  des  12.  Jahrhunderts,  in  241  distichen,  ist  die 
Rolandsschlacht  behandelt  worden,  zweifellos  auf  grund 
eines  altfranzösischen  epos,  das  aber  nicht  das  überlieferte 
Rolandslied,  sondern  eine  ältere  und  einfachere  form  desselben 
gewesen  ist:  die  —  mit  Ganelons  botschaft  in  widersprach 
stellende  —  gesantschaft  Blancandrins  fehlt  hier  ebenso  wie 
die  räche  Karls  mit  der  Baligautepisode  und  der  gottes- 
gerichtliche Zweikampf  um  Ganelons  schuld.  Im  einzelnen 
hat  auch  der  lateinische  dichter  augenscheinlich  öfter  gekürzt, 
besonders  bei  einzelschilderungen,  auf  Zählung  von  namen  und 
dergleichen. 

In  prosaischer  form  erscheint  die  Rolandsage  in  der 
sogenannten  Pseudo-Turpinischen  chronik,  in  der  gleich- 
falls um  die  mitte  des  12.  Jahrhunderts  entstandenen  Sistoria 
Caroli  magni  et  Botholandi,  welche,  angeblich  von  dem  an  der 
Rolandsschlacht  selbst  beteiligten  erzbischof  Turpin  von  Rheims 
verfasst,  die  gesamte  geschichte  des  spanischen  feldzuges  Karls 
von  anfang  an  erzählt  und  noch  andere  epen  als  das  Rolauds- 
lied  gekannt  haben  muss.  Dieses  selbst  lag  dem  Verfasser, 
wie  anspielnngen  auf  Blancandrins  gesantschaft  und  die 
erwähnung  Baligants  (ßellvigandns)  lehren,  in  der  uns  bekannten 
Überlieferung  vor,  nur  hat  der  bearbeiter  die  ganze  darstellung 
ohne  Verständnis  für  das  wesentliche  und  unwesentliche  gekürzt 
und  in  Unordnung  gebracht.  Was  dem  Rolaudsliede  inhaltlich 
entspricht,  wird  in  den  kapiteln  XXI  bis  XXIX  berichtet. 

Ein  ähnliches  werk  sind  die  unter  dem  namen  eines  magister 
Philomena  gehenden  Gesia  Caroli  Magni  ad  Carcassonam  et 
Karhonam,    et    de   modi/icationc    monasterii   Crassensis,   meist 


2.  Reste  oder  Umarbeitungen  franz.  Epik:  Latein.  Gedichte.  99 

kurz  als  Pseudo - Philomena  bezeichnet.  Der  gegen  die  mitte 
des  13.  Jahrhunderts  schreibende  Verfasser  benutzt  geistliche 
und  weltliche  quellen,  unter  diesen  verschiedene,  heutzutage 
verlorene  epen,  welche  die  Vorgeschichte  des  spanischen  feld- 
zuges,  zumal  kämpfe  Karls  gegen  die  Sarrazenen  in  Sttd- 
frankreich  behandelten.  Zum  teil  dieselben  epischen  quellen 
sind  auch  in  dem  aus  dem  14  Jahrhundert  (1345)  stammenden 
officium  von  Gerona  verwertet. 

Vom  12.  Jahrhundert  ab  linden  wir  in  grosser  zahl  Zeug- 
nisse für  Verherrlichung  dieses  oder  jenes  helden  im  liede 
oder  auch  kurze  auszüge  aus  den  damaligen  epen  selbst.  In 
dieser  hinsieht  ist  z.  b.  die  um  1241  abgeschlossene  chronik 
des  Alberich  von  Trois-Fontaines  eine  wahre  fundgrube.  Die 
einen  Chronisten  stehen  den  epischen  Überlieferungen  skeptischer, 
andere  wieder  gläubiger  gegenüber.  Mit  der  zeit  wird  mau 
im  allgemeinen  immer  kritikloser,  späte  chrouiken  wie  die  des 
Jean  d'Outremeuse  oder  das  Magnum  chronicon  Belgicum 
nehmen  unbedenklich  alles  auf,  lehren  uns  aber,  da  wir  ihre 
quellen  zumeist  noch  haben  und  kennen,  in  der  regel  nichts 
neues  und  am  allerwenigsten  etwas  über  die  anfangsgeschichte 
der  epischen  dichtung. 

Nächst  den  Zeugnissen  und  den  resten  französischer  epik 
in  lateinischen  werken  sind  es  nunmehr  die  ältesten  epen 
selbst,  welche  uns  eine  Vorstellung  von  dem  heldensang  früherer 
epochen  und  damit  auch  einen  einblick  in  das  werden  dieser 
epischen  dichtung  zu  geben  vermögen.  Vielleicht  nicht  das 
älteste  überlieferte,  wohl  aber  das  durch  gegenständ  und 
sittlichen  gehalt  ehrwürdigste  epos  ist  das  aus  dem  aufang 
des  12.  Jahrhunderts  stammende  Rolandslied,  welches  in  vielen 
punkten  als  typisch  für  die  nationale  epik  gelten  kann. 

Das  gedieht  des  Radulfus  Tortarius  bei  K.  Hofmann,  Amis 
et  Amiles,  Erlangen  2  1882,  s.  XXI ff.  —  Zum  Chronicon 
Centulense  vgl.  R.  Zenker,  Das  Epos  von  Isembard  u.  Gormund, 
Ha.  1896,  s.  85  ff.  —  Zur  Vita  Willelmi  vgl.  W.  Cloetta,  Moniage 
Gnillaume,  II.  bd.,  Paris  1911,  s.  28 ff.  —  Die  Qnirinalia  des 
Metellus  v.  Tegernsee  bei  Canisius-Basnage,  Antiquae  lectioues  III, 
teil  2,  s.  117 ff.,  134f.  Vgl.  Voretzsch,  Über  die  Sage  von  Ogier 
d.  Dänen,  IIa.  1891,  70ff.  —  Ausgabe  des  Carmen  de  proditione 
Guenonis  von  G.  Paris,  Rom.  11  (1882)  465 ff.  Vgl.  ZrP  32  (1908) 
713 ff.   —   Ausgaben  der  Turpinschen  chronik:    De  vita  Caroli 


100  III.  Kapitel.    Die  Anfänge  der  Heldendichtung. 

Magiii  et  Rolamli  historia  Joanni  Turpino  archiepiacopo  Remensi 
vulgo  (ribnta,  emendata  etc.  a  Seb.  Ciampi,  Florenz  1822.  Turpini 
historia  Caroli  Magni  et  Rotholandi,  texte  revu  p.  Ferd.  Castets, 
Montpellier  1880.  Ferner  auch  in  Reiffenbergs  ausgäbe  der 
Ckronique  rhiu'e  des  Philippe  Mousket  I  (Brüssel  1836),  489  ff. 
Vgl.  G.  Paris,  De  Pseudo- Turpino,  P.  1865,  und  die  unten  zum 
Roland  verz.  literatur.  —  Pscudophilomena:  Geßta  Caroli  Magni 
ad  Carcassonam  et  Narbonam  etc.  edita  a  Seb.  Ciampi,  Florenz 
1823.  Gesta  Karoli  Magni  ad  Carcassonam  et  Narbonam.  Lat. 
Text  und  prov.  Übersetzung  mit  Einl.  hrsg.  von  F.  Ed.  Schneegans 
(Rom.  Bibl.  15),  Ha.  1898.  Vgl.  Ed.  Schneegans,  Die  Quellen  des 
sog.  Pseudo-Philomena  und  des  Officiums  von  Gerona  zu  Ehren 
Karls  d.  Gr.  Diss.  Str.  1891.  IL  Kempe,  Die  Ortsnamen  des 
Philomena,  Diss.  Halle  1901.  Jules  Coulet,  Etüde  sur  l'office  de 
Girone  en  l'honneur  de  Saint  Charlemague,  Montpellier  1907.  — 
Albericus  Trium  Foutium  hrsg.  von  W.  Scheffer -Boichorst  i.  Mon. 
Germ.,  SS.  XXIII. 


3.    Das  Rolandslied. 

A.  Geschichte  und  dichtung.  Dem  Rolandslied  liegt 
ein  bekanntes  geschichtliches  ereignis  zugrunde.  Im  jähre  778 
unternahm  Karl  der  Grosse,  von  Ibn-al-Arabi  gegen  den  erair 
Abderrahman  von  Cordova  zu  hilfe  gerufen,  einen  feldzug  nach 
Spanien,  welcher  zur  begründimg  der  spanischen  mark  (bis 
zum  Ebro)  führte.  Auf  dem  rtickzug  wurde  die  nachhut  des 
heeres  auf  der  passhühe  der  Pyrrhenäen  von  beutegierigen 
Basken  überfallen  und  niedergemacht.  Da  die  feinde,  nach 
gewohnter  kampfart,  sofort  nach  erreichung  ihres  Zweckes  sich 
wieder  zerstreuten  und  verschwanden,  musste  die  niederlage 
ungesühnt  bleiben.  Diese  machte  allerwärts  grossen  eindnuk, 
nicht  so  sehr  durch  die  vielleicht  nicht  allzugrosse  zahl  der 
gefallenen  als  durch  den  verlast  mehrerer  hochstehender  mänuer: 
In  (jiio  proelio  Eggihardus  regiae  mensae  praepositus,  Anshelmus 
comes  palatii  et  Hruodlandus  Brittannici  limitis  praefedus  cum 
aliis  comjoluribus  interficiuntur  (Einhards  Vita  Caroli  Magni, 
kap.  9)1).  Ein  lateinisches  epitaph  auf  Aggiwrdus,  regi  summus 
in    aula    —    zweifellos    mit    dem    hier   genannten   Eggihardus 


')  Dass  die  stelle  in  der  Ls.  B   und   der  zu  ihr  gehörigen  gruppe 
fehlt,  ist  kein  hinreichender  aulass  sie  als  interpoliert  zu  verdächtigen. 


3.   Das  Rolandslied.  101 

identisch  —  sichert  den  15.  august  778  als  datum  des  ereigni^< is 
und  somit  des  todes  Rolands. 

Der  geschiente  gegenüber  erscheint  die  vorliegende  dich- 
tung zugleich  einfacher  und  reicher.  Es  ist  eine  wesentliche 
Vereinfachung,  wenn  in  der  dichtung  Eggehard  und  Anshelm 
ganz  vergessen  sind  und  Roland  die  hauptperson  geworden 
ist:  hier  sehen  wir  wol  nicht  das  ergebnis  hewusster  änderung, 
sondern  das  wirken  der  Überlieferung  von  mund  zu  mund  vor 
uns.  Nachher  aber  treten  an  Rolands  seite  wieder  neue 
helden,  die  pairs,  deren  zwölfter  er  selbst  ist,  und  der  streit- 
bare erzbischof  Turpin,  der  zwar  ein  Zeitgenosse  Rolands,  aber, 
soviel  wir  wissen,  an  dem  spanischen  feldzuge  nicht  beteiligt 
war.  Auf  rein  ps}'chologischen  momenteu  beruht  es,  wenn  die 
zahl  der  beiderseitigen  truppen  weit  über  die  wirklichen 
Verhältnisse  gesteigert  und  somit  die  bedeutung  des  ereignisses 
erhöht  wird,  oder  wenn  der  verrat  die  erklärung  für  die  schwer 
empfundene  niederlage  abgeben  muss.  Auf  die  äussere  ge- 
staltung  solcher  umbilduugen  aber  wirkt  häufig  die  spätere 
geschichte  ein:  so  mag  eine  neue,  unter  ganz  ähnlichen  umständen 
erfolgte  niederlage  eines  fränkischen  heeres  unter  den  grafen 
Asinarius  und  Eblus  im  jähre  824  auf  die  Überlieferung  des 
älteren  ereignisses  nicht  ohne  einfluss  gewesen  sein,  so  dient 
der  im  jähre  859  wegen  abfalls  von  seinem  rechtmässigen 
herrn  (Karl  dem  Kahlen)  zum  tode  verurteilte  erzbischof  Wenilo 
von  Sens  als  träger  des  Verrats  in  der  dichtung  (Guenes- 
Ganelon).  Ein  gedächtnisfehler  der  Überlieferung  ist  zunächst 
die  ersetzung  der  Basken  durch  die  Sarrazenen,  gegen  welche 
ja  Karl  in  dem  eigentlichen  feldzug  gekämpft  hatte,  zugleich 
aber  wirken  dabei  auch  die  darstellungen  späterer  Zeiten  mit, 
wo  die  Sarrazenenkänipfe  im  abendlaude,  zumal  in  Italien  und 
Spanien,  noch  eine  grosse  rolle  spielen;  in  Wirklichkeit  handelte 
es  sich  für  Karl  nicht  um  den  schütz  des  glaubens,  sondern 
um  einen  eroberungskrieg.  Und  gerade  an  dem  überfalle  der 
nachhut  waren  Sarrazenen,  aller  historischen  Wahrscheinlichkeit 
nach,  nicht  beteiligt.  "Welchen  anteil  an  dieser  gesamten  Um- 
formung Überlieferung  und  phantasie  des  volkes,  welchen  die 
erfindung  des  einzelnen  dichters  hat,  lässt  sich  heute  nicht 
mehr  entscheiden.  Wir  sehen  im  wesentlichen  nur  das  end- 
ergebnis  der  entwicklung  in  dem  uns  überlieferten  Rolandepos. 


102  III.  Kapitel.    Die  Anfänge  der  Ileldendichtung. 

B.  Zeit  und  ort  der  abfassung.  Einen  eigentlichen 
Verfasser  des  epos  kennen  wir  nicht,  obwohl  TaTerniers  versuch, 
den  am  schluss  sich  nennenden  Turoldus  mit  dem  bischof 
Tnroldus  von  Bayeux  gleichzusetzen,  beachtenswert  ist.  Der 
abfassnngsort  ist  nach  den  meisten  forschem  in  der  Isle  de 
France,  in  Paris  oder  seiner  Umgebung  zu  suchen,  nach  anderen 
mehr  westlich,  in  der  Normandie.  Die  von  G.  Paris  angenommene 
zeit  der  abfassung  zwischen  1006  und  1090,  d.  h.  nach  der 
eroberung  Englands  durch  die  Normannen  und  vor  beginn  der 
kreuzziige,  lässt  sich  nicht  mehr  aufrechterhalten:  der  abfall 
des  t  in  der  3.  sing,  des  präsens,  die  häufige  verschleifung  des 
i  in  der  artikelform  li  und  sachliche  erwägungen  weisen  das 
gedieht  in  den  anfang  des  12.  Jahrhunderts  (aber,  nach  Taver- 
niers  einleuchtender  festellung,  vor  1108).  Von  den  erhalteneu 
acht  (neun)  handschriften  überliefert  keine  den  Originaltext; 
die  mehrzahl  derselben,  sechs  (sieben)  an  zahl,  erweisen  sich 
durch  einfuhrung  des  reims  als  jünger,  ihnen  gegenüber  steht 
die  sogenannte  assonanzredaktion,  die  Oxforder  handschrift 
Digby  23  und  die  Venediger  handschrift  IV,  die  auch  unter 
sich  selbst  noch  sehr  starke  abweichungen  zeigen.  Die  altere 
von  beiden  handschriften  ist  die  Oxforder  (O),  welche  um  die 
mitte  des  12.  Jahrhunderts  in  auglonormannischer  mundart 
geschrieben  ist,  sie  liegt  in  der  regel  den  vorhandenen  aus- 
gaben zugrunde. 

C.  Inhalt  und  form.  In  dieser  ältesten  fassung  zählt 
das  epos  4004  verse.  Der  inhalt  ist  durch  die  vorhin  ange- 
deuteten Veränderungen  bedingt.  Im  mittelpunkt  steht  der  tod 
Rolands  und  der  übrigen  pairs  (v.  841 — 2396),  voraus  geht  der 
verrat  Ganelons  (v.  1 — 840),  der  Schlussteil  erzählt  Karls  räche 
an  den  Sarrazenen  und  Gaueions  bestrafung  (v.  2397 — 4004). 
Die  eigentliche  Rolandsschlacht  wird  breit  und  mit  vielen 
Wiederholungen  geschildert,  um  die  tapferkeit  der  Christen  in 
das  rechte  licht  zu  setzen.  Armeen  auf  armeen  rücken  gegen 
sie  heran,  angriff  auf  angriff  erfolgt,  und  wenn  Marsile  ver- 
wundet entflohen  ist,  bleibt  noch  sein  oheim  der  kalif  mit 
50  000  Äthiopiern.  Die  noch  übrig  gebliebenen  Christen  ver- 
richten wuuder  der  tapferkeit.  Den  kaufen  tötet  Olivier, 
Rolands  Waffenbruder.  Von  seinem  gegner  zum  tod  verwundet 
stürzt  er  sich  von  neuem  ins  kampfgewühl  und  trifft  hier,  das 


3.   Das  Rolandslied.  103 

auge    von    rinnendem    blnt    getrübt,    auf  Roland   —   eine   der 
rührendsten  szenen  des  gedichts: 

1940        Qnant  paiien  virent  que  Franceis  i  out  poi,1)  CXLVII 

Entr'els  cn  ont  e  orgoill  e  cuufort, 

I >ist  Tuns  a  l'altre:  „Li  euipererc  ad  tort". 

Li  algalifes  sist  sor  an  eheval  sor, 

Brechet  lc  bien  des  esperons  a  or, 
1945  Piert  Olivier  deriere  cnmi  lc  dos, 

Le  blaue  osberc  li  ad  desclos  el  cors, 

Par  ini  lc  piz  son  espiet  li  rnist  fors 

E  dit  apres:  „Un  colp  avez  pris  fürt. 

Charles  li  magnes  inar  vos  laissat  as  porz. 
1950  Tort  nos  ad  fait,  neu  est  dreiz  qn'il  s'cn  lot, 

Car  de  vos  sol  ai  bien  vengiet  les  noz". 

( >li\  iers  sent  que  a  ruort  est  feruz,  CXLVIII 

Tient  Flalteclere,  dont  li  aciers  fut  bruns, 

Fiert  l'algalife  sor  l'elme  a  or  agut 
1955  E  flors  e  pierres  eu  acraventet  jus, 

TrencLet  la  teste  d'ici  qu'as  denz  menuz, 

Brandist  son  colp,  si  l'ad  rnort  abatut, 

E  dist  apres:  „PaiieDS,  mal  aies  tu! 

Iqo  ne  di,  Charles  n'i  ait  perdut. 
i960  Ne  a  tnoillier  n'a  dame  qu'as  veüd, 

N'en  vanteras,  cl  regne  dont  tu  fus, 


')  Text  im  anschluss  an  die  ausgäbe  von  Th.  Muller.  Jedoch  sind  die 
anglononuauuisiucu  der  handschrift  beseitigt,  also  u  =  o  durch  o,  c<Cca 
durch  c/i  ersetzt.    Ad  =  at  etc.  weist  auf  crweiclmng  des  auslaute. 


Bemerkungen  im  einzeluon:  1941  Entr'els:  eis  reflexiv,  ebenso 
unteu  lui  1966,  vgl.  AS  8.  269.  1948  fort:  prädikativ  zum  objekt  'als 

einen  starken',  wodurch  der  begriff  fort  mehr  hervorgehoben  wird  als  in 
der  attributiven  Verbindung.  Deutsch  etwa:  'stark  war  der  hieb,  den  ihr 
empfangen'.  —  l'.iäO  neu  est  dreiz:  'nicht  recht,  nicht  iu  der  Ordnung 
ist  es,  dass  .  .  .'  =  'nicht  darf,  nicht  soll  er  sich  dessen  rühmen'.  — 
1954  l'elme:  afr.  helme  erscheint,  trotz  seiner  ableitung  aus  dem  gerin., 
häufig  mit  h  muette,  daher  auch  öfter  ganz  ohne  h  geschrieben  (nach 
G.  Paris  die  aus  dem  provenzalischen  entlehnte  form,  wie  osberc  für 
gerrn.  halsberc).  —  1  '.»57  mort  abatut:  'so  hat  er  ihn  als  einen  toten 
niedergeschlagen'  =  'tot  niedergeschlagen'.  —  1959  Zum  fehlen  des  que 
nach  di  vgl.  AS  s.  277.  Im  abhängigen  satz  der  konjunktiv,  weil  der 
inhalt  nur  vorgestellt  ist;  ne  pleonastisch,  wie  oft,  nach  vorausgehendem 
negativen  hauptsatz:  sinn  also  'sage  das  nicht,  dass  Karl  hier  irgendeinen 
vertust  gehabt  habe'. 


1"1  III.  Kapitel.    Die  Anfänge  der  Heldendichtung. 

Vaillant  denier  que  m'i  aies  tolut, 

Ne  feit  damage  ne  de  inei  ne  d'altrni". 

Apres  escriet  Rollant  qu'il  li  aiut.     Aoi. 
1965        Oliviers  sent  qu'il  est  a  inort  nafrez,  CXL1X 

De  lui  vengier  jaraais  ne  li  iert  sez, 

En  la  graut  presse  or  i  fiert  coine  ber, 

Trenchet  cez  hanstes  e  cez  escuz  boclers 

E  piez  e  poinz,  espalles  e  costez. 
1970  Qui  lui  ve'i'st  Sarrazins  desinernbrer, 

Un  mort  sor  altre  a  la  terre  geter, 

De  bon  vassal  li  poüst  remeuibrer. 

L'enseigne  Charle  n'i  volt  mie  oblier, 

Monjoie  escriet  e  baltemeut  e  cler, 
1975  Rollant  apelet  son  anii  e  son  per: 

„  Sire  compaign,  a  inei  car  vos  jostez. 

A  grant  dolor  ernies  bui  desevret".     Aoi 

Rollanz  reguardet  Olivier  al  visage:  CL 

Teiuz  fut  e  pers,  descolorez  e  pales, 
1980  Li  sans  toz  clers  par  mi  le  cors  li  raiet, 

Encontre  terre  en  cbieent  les  esclaces. 

„Dens!"  dist  li  cuens,  „or  ne  sai  jo  que  face. 

Sire  compain,  mar  fut  vostre  barnages! 

Jamals  n'iert  bom  qui  ton  cors  contrevaillet. 
1985  E!    France  dolce,  com  hui  remandras  guaste 

De  bons  vassals,  confondiie  e  cbaeite! 

Li  emperere  en  avrat  grant  damage". 

A  icest  mot  sor  son  cbeval  se  pasmet.    Aoi. 


1962  Vaillant  denier:  akkusativ  des  gerundiums  'das,  was  einen 
heller  wert  ist  —  soviel  als  ein  heller  wert  ist  —  eines  heilere  wert'. 
Das  ganze  ist  objekt  zu  aies  tolut,  —  1903  ne  de  mei:  wörtlich  'weder 
inbezug  auf  mich  noch  auf  einen  anderen'  —  'weder  an  mir,  weder  mir 
noch  einem  anderen'.  —  19G4  Aoi:  findet  sich  am  ende  zahlreicher 
Strophen  des  Rolandsliedes,  offenbar  zur  bezeichnung  des  stropheu- 
abschlusses.  —  196S  cez  —  cez:  zu  sg.  cest  —  eist  gehörig,  seiner  herkunft 
nach  «  ecce  iste)  demonstrativpronomen,  im  afr.  aber  häufig  im  sinne  des 
blossen  artikels  gebraucht  (wozu  die  entwicklung  des  demoustrativs  illum 
zum  artikel  le  zu  vergleichen  ist).  —  1970  Qui  lui  ve'ist  S.  desmembrer: 
wörtlich  'wer  an  ihm  Sarrazenenzerstückeln  gesehen  hätte'  =  'wer  ihn 
hätte  S.  zerstückeln  sehen'  (vgl.  die  entsprechenden  nfr.  konstruktionen). 
Der  relativsatz  mit  qui  wird  zwar  im  folgenden,  v.  72,  durch  li  wieder 
aufgenommen,  könnte  aber  auch  beziehungslos  stehen  als  Vertreter  eines 
konditionalsatzes  (wie  mhd.  swer  etc.):  'wenn  einer  —  gesehen  hätte'.  — 
1972  häufige  Umschreibungen:  'an  einen  wackern  kämpfer  hätte  es  ihn 
erinnern  können'  =  'das  bild  eines  wackern  kämpfen  hätte  er  da  sehen 
können'.  —  19SG  chaeite:  passt  dem  sinne  nach,  aber  nicht  zur  assonanz. 


3.  Das  Rolandslied.  105 

As  vos  Rollant  sor  son  cheval  pasniet  CLl 

1990  E  Olivier  qni  est  a  inort  nafrez, 

Tant  ad  sainiet,  li  ueil  li  soDt  troblet, 

Ne  loinz  ne  pres  ne  poet  vedeir  si  clor 

Que  reconoisset  nisun  home  uiortel. 

Son  coinpaignon,  com  il  Tat  cncuntrct, 
1995  Sil  fiert  amont  sur  l'helme  a  or  gemet, 

Tot  li  detrenchet  d'ici  que  al  nasel, 

Mais  en  la  teste  ue  l'ad  ui'ie  ades6t. 

A  icel  colp  l'ad  Rollanz  reguardet, 

Si  li  deuiaudet  dolcement  e  soef: 
2000  „Sire  compain,  faitcs  le  vos  de  grcd? 

Qo'st  ja  Rollanz,  qui  tant  vos  soelt  amer. 

Par  nule  gnise  ne  m'avez  desf'iet". 

Dist  Oliviers:  „Or  vos  oi  jo  parier, 

Jo  ne  vos  vei,  veied  vos  damnes  Dens! 
2005  Ferut  vos  ai,  car  le  nie  pardonez". 

Rollanz  respont:  „Jo  n'ai  nient  de  inel. 

Jol  vos  pardoins  ici  e  devant  Den". 

A  icel  mot  Tuns  a  l'altre  ad  clinet: 

Par  tel  amor  as  les  vos  desevrez. 
2010        Oliviers  sent  que  la  mort  molt  l'angoisset,  CLII 

Ambdui  li  ueil  eu  la  teste  li  tornent, 

LVie  pert  e  la  veüe  tote. 

Desceut  a  piet,  a  la  terre  se  colchet, 

D'ores  en  altres  si  reclainiet  sa  colpe, 
2015  Coutre  le  ciel  atnbesdous  ses  mains  joiutes, 

Si  pnet  Deu  que  pare'is  li  doriget 

E  bene'ist  Charlou  e  France  dolce, 

Son  compaignon  Rollant  desor  toz  hoines. 

Falt  li  li  coers,  li  helincs  li  embronchet, 
2<>20  Trestoz  li  cors  a  la  terre  li  jostet: 

Morz  est  li  cuens,  que  plus  ne  se  demoret. 

1096  Tot  li  detrenchet:  Tot  ist  adverb,  zu  dat.  li  ergänze 
akk.  le  (-  Inline),  vgl.  AS  zu  v.  87.  —  2000  de  gred:  'mit  dank  —  mit 
willen,  mit  absieht"  wie  deutsch  mundartlich  'gern'  in  demselben  sinn.  — 
2001  soelt  amer:  soleir  (solere)  zur  bezeichnung  der  fortgesetzt  dauernden 
handlung  'der  euch  stets  so  treu  geliebt  hat'.  —  2002  desf'iet:  einem 
kämpf  oder  angriff  hätte  eine  herausforderung  vorangehen  müssen.  — 
2006  mel:  die  regelrecht  entwickelte  hochtonform  aus  lat.  malum,  während 
mal  die  uebentonige,  unter  einfluss  von  maldire,  maleür  entstandene  form 
ist.  —  2016  donget:  für  donet  (nfr.  donne),  vgl.  oben  s.  6S  zu  v.  134  alge. 
—  2021  que  —  demoret:  'unter  solchen  umständen,  dass  er  nicht  mehr 
bei  sich  ist'  =  'tot  ist  der  graf,  nicht  weilt  er  mehr  unter  den  lebenden'. 
Demoret  mit  g  für  ue  (■<  demg'rat)  erklärt  sich  durch  analogie  nach  den 
endungsbetonten  formen,  wo  nebentonig  g  zu  Q  wird  (demgrons,  demgrer). 


100  III.  Kapitel.     Die  Anfänge  der  Ileldcndichtung. 

Rollanz  li  ber  le  ploret  sil  doloset, 

Jamals  eu  terre  n'orrez  plus  dolent  home. 

Li  cuenz  Rollanz  quaut  mort  vit  son  ami  CLI1I 

2025  Gesir  adenz,  contre  or'i'cnt  son  vis, 

Molt  doleement  a  regreter  le  prist: 

„Sire  compaign,  tant  mar  fustes  bardiz! 

Ensemble  avons  estet  e  anz  e  dis, 

Nein  fesis  mal,  nc  jo  nel  te  forsfis. 
2030  Quant  tu  ies  morz,  dolor  est  qne  jo  vif". 

A  icest  mot  se  pasmet  li  marchis 

Sor  son  cheval  qu"houi  claimet  Veillautif. 

Afermez  est  a  ses  estreus  d'or  fin, 
2034  (Jucl  part  qu'il  alt,  ne  poet  mi'e  chair. 

Diese  episode  wie  überhaupt  die  szenen  zwischen  Roland 
und  Olivier  gehören  zu  den  besten  der  ganzen  dichtung.  Der 
eigentliche  höhepunkt  aber  wird  mit  dem  ende  Kolands  erreicht: 
wie  er,  selbst  schon  erschöpft  und  dem  tode  nahe,  die  leichen 
der  pairs  zusammenträgt,  um  sie  von  Turpin  segnen  zu  lassen, 
wie  er  den  streitbaren  erzbischof,  als  er  verschieden,  nach  der 
weise  seines  landes  beklagt  und  dem  himmel  empfiehlt,  wie  er 
mit  letzter  kraft  einem  räuberischen  Sarrazenen  mit  dem 
elfenbeinhorn  den  sehädel  einschlägt  und  nach  vergeblichen 
versuchen,  sein  gutes  schwert  Durendal  an  den  f eisen  zu 
zerschlagen  und  so  vor  den  beiden  zu  bewahren,  schwert  und 
hörn  unter   sich    legt  und  Gott  seine   schuld  bekennend  stirbt. 

Die  äussere  form  des  gedichtes  wird  durch  die  mitgeteilte 
probe  hinreichend  charakterisiert.  Es  ist  die  form  der  asso- 
nierenden  Laisse  oder  tirade,  der  Strophe  von  beliebiger  vers- 
zalil,  wie  in  der  Karlsreise.  Der  vers  ist  hier  der  zehnsilbner, 
welcher  im  älteren  epos  der  herrschende  ist.  Die  zahl  der 
verse  in  einer  Strophe  ist  verschieden,  wie  das  beispiel  zeigt, 
sie  beträgt  im  Oxforder  Roland  im  mittel  fünfzehn  verse.  Die 
bindung  der  verse  untereinander  beschränkt  sich  auf  den 
gleichklang  der  betonten  vokale,  d.  h.  die  assonauz.  Hierin 
zeigt  das  Rolandslied,  mit  vielen  anderen  epen  der  folgezeit, 
eine  altertümliche  technik  gegenüber  der  gleichzeitigen  und 
selbst  der  älteren  geistlichen  literatur. 

2026  Die  hier  um  den  gefallenen  beiden  angestimmte  totenklage  ist 
typisch  für  ähnliche  fälle  in  den  cbansons  de  geste.  Vgl.  auch  O.  Zimmer- 
mann, Die  Totenklage  in  deu  altfr.  Cb.  d.  g.,  B.  1899  (Eherings  Berl.  Beitr.). 


3.   Das  Rolaudslied.  107 

I).  Vorgeschichte.  Die  Vorgeschichte  des  Rolaudsliedes 
ist  eines  der  interessantesten  und  wichtigsten  probleme  der 
altfranzüsischen  literatnrgeschichte,  doch  sind  bisher  nur  wenige 
Bichere  oder  allgemein  anerkannte  resnltate  erzielt.  Durchaus 
hypothetisch  ist,  was  ober  die  existenz  zeitgenössischer  dich- 
tungen  behauptet  wird,  mag  man  darunter  nun  cantilenen 
i  Volkslieder)  oder  wirkliche  epen  verstehen.  Der  einzige, 
welcher  aus  älterer  zeit  etwas  berichtet,  ist  der  sogenannte 
limousinische  astronom,  Ludwigs  des  Frommen  biograph, 
welcher  die  namen  der  gegen  die  Basken  gefallenen  beiden 
zu  nennen  für  überflüssig  hält:  Quorum  quia  vulgata  sunt 
nomina  dicere  supersedi  Hätte  er  von  liedern  etwas  gewusst, 
so  hätte  er  vermutlich  ebensowenig  wie  spätere  autoren  unter- 
lassen es  hinzuzufügen. 

Mehr  ist  zu  gewinnen,  wenn  man  von  dem  überlieferten 
Rolandslied  und  anderen  bearbeitungen  desselben  gegenständes 
ausgeht.  Dass  schon  der  den  acht  handschriften  zugrunde 
liegende  text  keine  Originaldichtung  war,  ist  ausgemacht: 
Widersprüche,  Ungleichheiten  in  der  darstellung,  Verschieden- 
heiten in  spräche  und  technik  zeigen  es  zur  genüge.  Die  ganze 
Baligantepisode,  rund  1000  verse,  ist  eine  Interpolation;  Blancan- 
drins  botschaft  ist  junge  paralleldichtung  zu  Gaueions  botschaffc. 
Alicr  die  versuche,  die  zu  erschliessende  ältere  dichtung  einer 
bestimmten  gegeud  (Anjou)  oder  zeit  (ende  10.  Jahrhunderts) 
zuzuweisen,  haben  keine  genügend  sichere  unterläge  gefunden. 
Gaston  Paris  erblickte  die  inhaltlich  älteste  form  des  gedichts 
in  der  Tarpinschen  chronik,  die  näehstälteste  in  dem  Carmen 
deproditione  Guenonis,  die  dritte  und  jüngste  in  dem  erhaltenen 
Rolandslied  selbst.  Diese  darstellung  lässt  sich  heute  nur 
noch  teilweise  verteidigen:  Turpin  ist  ein  konfuser  auszug  aus 
dem  bekannten  Rolandslied,  während  das  Carmeu  in  der  tat 
auf  eine  ältere,  verlorene  redaktion  des  liedes  weist  (vgl. 
oben  s.  98). 

Photographien  und  diplomatische  abdrücke:  Das  altfr. 
Rolandslied.  Photogr.  Wiedergabe  von  O,  besorgt  von  E.  Stenge], 
Heilbronn  1878.  —  Das  altfr.  Rol.-ld.  Genauer  Abdruck  der 
Oxforder  Hs.  Digby  23,  bes.  von  E.  Stengel,  Heilbronn  1878.  — 
La  Chanson  de  Roland.  Genauer  Abdruck  der  Venetianer  Hs.  IV, 
bes.    von    Eugen  Kölbing,    Heilbronn    1877.   —   Das   altfr.  Rol.-ld. 


108  III.  Kapitel.    Die  Anfänge  der  Heldendichtung. 

nach  den  IIss.  von  Chäteauroux  (Versailles)  und  Venedig  VII  (jüngere 
Venediger  handsehrift)  bes.  von  W.  Foerster,  Ileilbronn  1883.  Das 
altfr.  RoL-ld.  nach  den  IIss.  von  Paris,  Lyon  und  Cambridge  besorgt 
von  W.  Foerster,  Ileilbronn  1886  (bd.  VI  u.  VII  der  Altfrz.  Bibl.). 

—  Ein  kurzes  fragment,  105  verse,  einer  neuentdeckten  (neunten) 
hs.  hat  Lavergne,  Rom.  35  (1908)  445 ff.,  mitgeteilt.  —  Vgl.  ferner: 
Rolandsmaterialien,  zusammengestellt  von  W.  Foerster,  Ileilbronn 
1886  (1.  zusatzlieft  zum  Altfr.  Übungsbuch). 

Ausgaben:  Editio  prineeps  ist  La  Chanson  de  Roland  p.  p. 
Francisque  Michel,  P.  1837  (neue  ausgäbe  1869).  —  Von  den 
späteren  ausgaben  sind  die  wichtigeren:  La  Chanson  de  Roland. 
Texte  critique,  traduetion  et  commentaire,  grammaire  et  glossaire 
p.  Leon  Gantier,  Tours  1872  u.  oft  (für  den  anfänger  bequem 
durch  die  beigaben,  text  auf  grund  von  0  und  V4,  textkritik  und 
texterklärung  jedoch  lassen  zu  wünschen  übrig).  —  La  Ch.  de  Rol. 
Texte  du  XIe  siecle  precede  d'nne  introduetion  et  suivi  d'un  glossaire 
p.  L.  Clcdat,  P.  2  1887  (auf  grund  von  0,  in  francischen  sprach- 
formen hergestellt).  —  Extraits  de  la  Ch.  de  Rol.  p.  avec  une 
introduetion  litteraire,  des  observations  grammaticales,  des  notes  et 
un  glossaire  complet  p.  G.Paris,  P.  9 1907  (etwa  800  verse  des 
ganzen,  zur  einführung  in  die  dichtnng  sehr  geeignet).  —  Rencesval. 
Edition  critique  du  texte  d'Oxford  de  la  Ch.  de  Rol.  p.  Ed.  Boehmer, 
Ha.  1872.  —  La  Ch.  de  Rol.  Nach  der  Oxforder  Hs.  hrsg.,  erläutert 
von  Theodor  Müller,  I2,  Göttingen  1878  (text  nebst  Varianten  und 
anmerkungen).  —  Das  altfranz.  Roiandslied.  Kritische  Ausgabe  be- 
sorgt von  E.  Stengel.  I.  Text,  Variantenapparat  und  vollständiges 
Namenverzeichnis.  L.  1900  (sucht  einen  wirklichen  kritischen 
text  des  archetypon  auf  grund  sämtlicher  hss.  und  bearbeitungen 
herzustellen).  —  G.  Gröber,  La  Chanson  de  Roland,  Str.  1908 
(Bibl.  Rom.). 

Erläuterungsschriften,  besonders  zur  entstehungsgeschichte: 
A.  Rambeau,  Über  die  als  echt  nachweisbaren  Assonanzen  des  Oxf. 
Textes  der  Ch.  de  Rol.,  IIa.  1878.  —  Graevell,  Die  Charakteristik 
der  Personen  im  Rolandsliede,  Heilbronn  1880.  —  Franz  Scholle, 
Die  Baligantepisode,  ZrP  1  (1877)  26  ff.,  vgl.  auch  ebda.  4,  7 ff, 
195  ff  —  Emil  Dunges,  Die  Baligantepisode,  Heilbr.  1880.  — 
A.  Pakscher,  Zur  Geschichte  und  Kritik  des  Rolandsliedes,  B.  1885. 

—  Hoefft,  France,  Franceis  und  Franc  im  Rolandslied,  Diss.,  Strass- 
burg  1891.  —  Walter  M.  Hart,  Ballad  and  Epic,  Boston  1907 
(Studies  and  Notes  in  philology  and  literature  XI),  bes.  s.  227  ff. — 
Über  das  Verhältnis  von  Roland,  Turpin  und  Carmen:  G.  Paris, 
Rom.  11,  465  ff.  sowie  Extraits  (s.  o.),  Introduetion.  —  E.  Stengel, 
Kritische  Betrachtung  der  Paris'schen  Untersuchung,  ZrP  8  (1884) 
499  ff.  —  G.  Baist,  Verhandlungen  der  43.  (Kölner)  Philologen- 
versammlung, L.  1894.  Derselbe,  Variationen  über  Roland  2074, 
2156  i.  Foersterband  s.  213 — 32.  —  Pio  Rajna,  Un  eeeidio  sotto 
Dagoberto  e  la  leggenda  epica  da  Roncisvalle,  Foersterband  (1902) 


3.   Das  Rolandslied.  109 

253  —  79.  —  W.  Taveraier,  Zur  Vorgeschichte  di-s  altfranz.  Rolands- 
liedes, l'>.  1903  (Eberinga  Koni.  Sind.  V).  —  G.  Brückner,  Das 
Verhältnis  des  franz.  Rol.-lds.  zur  Turpinschen  Chronik  und  zum 
Carmen  de  prod.  Guen.,  Rostock  1905.  Vgl.  zu  beiden  ZrP  32  (1908) 
713  ff.  —  W.  Tavernier,  Beiträge  zur  Rolandforschung-,  ZfSL  26 
(1910)  71  ff.,  27(1911)  83 ff.,  28  (1911)117ff.,  29  (1912)  133  IV. 
(T.'s  neue  tliese,  das  Rolandslied  sei  jünger  als  das  Carmen  und 
habe  aus  diesem  geschöpft,  ist  wenig  überzeugend).  —  Über  moderne 
Rolandsagen:  Carnoy,  Rom.  11,  410 ff.,  dazu  Rom.  12,  139.  Ferner: 
Cerqnand,  Legendes  et  Recits  populaires  du  pays  basque,  Pau  1884, 
IV,  14  ff.  —  Über  jüngere  bearbeituugen  und  erweiterungen  des 
Rolandepos  siehe  die  späteree  abschnitte. 

Auch  auf  das  ausländ  hat  das  Rolandslied  in  reichem  müsse 
gewirkt.  Die  älteste  fremde  bearbeitnng  ist  das  deutsche  Rolands- 
lied  des  Pfaffen  Konrad,  zwischen  1131  und  1133  verfasst.  Aus- 
gaben von  W.  Grimm,  Ruolantes  liet,  Göttingen  1838,  und  von 
Bartsch,  L.  1884.  Über  das  Verhältnis  zur  quelle  (eine  um  1120 
entstandene,  verloren  gegangene  französische  bearbeitung)  siehe: 
W.  Golther,  Das  Rolandslied  des  Pfaffen  Konrad,  München  1887. 
Konrads  werk  wiederum  wird  vom  Stricker  in  seinem  'Karl'  (um 
1230)  benutzt,  sowie  vom  Verfasser  des  niederrheinischen  'Karl- 
meinet' (14.  jahrb..;  ausgäbe  von  A.  Keller,  Tübingen  1857,  Lit. 
Ver.  45;  vgl.  K.  Bartsch,  Über  Karlmeinet,  1861).  Die  Roland- 
bilder oder  Rolandsäulen  in  niederdeutschen  Städten  haben  mit 
held  Roland  lediglich  den  namen  gemein  (vgl.  ZrP  33,  1  ff).  — 
Nach  Skandinavien  gelangte  das  Rolandslied  um  1300  in  einer 
altnordischen  prosaübersetzung  als  teil  der  noch  andere  französische 
Karlsepen  wiedergebenden  Karlamagmissaga  (hrsg.  von  Unger, 
Christiania  1859).  Die  handsehrift,  welche  die  vorläge  des  alt- 
nordischen Übersetzers  bildete,  war  die  nächste  verwante  zu  0  und 
V 4.  Die  Saga  wurde  von  da  sowohl  ins  schwedische  (nur  frag- 
mentarisch erhalten)  als  auch,  stark  gekürzt,  ins  dänische  über- 
tragen (C.  J.  Brandt,  Romantisk  Digtning  fra  Middelalderen  III, 
Kopenhagen  1877;  vgl.  Karl  Steitz,  Zur  Kritik  der  Rolandüber- 
lieferung in  den  skaud.  Ländern,  Dis3.  Bonn,  Erlangen  1907). 
Deutsche  Übersetzung  des  altnordischen  Rolands  (Karlamagmissaga) 
von  Bd.  Koschwitz  i.  Boehmers  Rom.  Stud.  3,  295 — 350.  —  Von 
einer  englischen  Übersetzung  des  13.  jahrhs.  sind  nur  fragmente 
erhalten,  ebenso  von  einer  niederländischen  des  13.  oder  14.  Jahr- 
hunderts; in  kymrischer  (walisischer)  spräche  ist  der  Roland  in 
einer  prosaübersetzung  des  14.  jhs.  überliefert.  —  In  Spanien 
gehen  auf  bekanntschaft  mit  dem  Rolandslied  die  späteren  romanzen 
vom  beiden  'Durendarte'  (ursprünglich  name  von  Rolands  schwert) 
u.  ä.  zurück;  als  Rolands  gegner  und  zugleich  als  spanischer 
national  held  erscheint  in  der  spanischen  dichtung  Bernardo  del 
Carpio.  —  In  Italien  fand  das  Rolandslied  weite  Verbreitung, 
wie    schon    die    beiden    dort    geschriebenen    handschriften    lehren, 


110  III.  Kapitel.    Die  Aufiinge  der  Heldendichtung. 

sowie  selbständige  Weiterbildung.  Den  schlnss  dieser  entwicklung 
hihlcn  die  grossen  epiker  des  15.  und  16.  Jahrhunderts:  Pnlci  1481 
mit  Morgante  maggiore,  Boiardo  1486  mit  Orlando  innamorato  und 
endlich  Ariosto  1516  mit  Orlando  furioso.  Vgl.  Pio  Rajna,  Le 
fonti  dell'  Orlando  farioso,  Florenz  2 1900,  und  II.  Morf,  Von  Koland 
zum  Orl.  fnr.  (Aus  Dichtung  n.  Sprache  der  Rom.  I). 

Weitere  literatur  siedle  bei  Emil  See! mann,  Bibliographie  des 
altfranzösischen  Rolandsliedes,  Ileilbr.  1888,  bei  Gantier  ßpopees2, 
bd.  III  und  V,  neueres  in  den  allgemeinen  bibliographien.  Moderne 
deutsche  Übersetzungen  gaben  W.  Hertz,  Stuttgart  1861,  2  1876, 
E.  Müller,  Hamburg  1891,  G.  Schmilinsky,  Halle  (Hendels  Gesamt- 
bibliothek) 1896,    in   verschiedenartigem  ersatz  für  die  altfr.  laisse. 


4.    Theorien 
über    die   Entstehung    des   altfranzösisehen   Epos. 

Die  für  uns  im  dunkeln  liegenden  nufänge  der  epischen 
dichttrog  lassen  sich  wenigstens  teilweise  etwas  aufhellen  durch 
die  Verwertung  der  vorliegenden  Zeugnisse,  reste  und  ältesten 
denkmäler  dieser  diehtgattung.  Die  nächstliegende  aufgäbe 
besteht  darin,  die  zeit,  in  welcher  die  epische  dichtuug 
begonnen  hat,  und  die  äussere,  technische  form  zu  bestimmen, 
in  welcher  sie  aufgetreten  ist;  die  Lösung  dieser  aufgäbe  steht 
aber  in  engstem  Zusammenhang  mit  den  weiteren  fragen,  wie 
man  sich  das  Verhältnis  des  epischen  Stoffes  zur  geschiente 
zu  denken  hat  und  welche  bedeutung  mau  dem  germanischen 
dement  bei  der  entstehung  des  französischen  heldenepos  bei- 
messen will. 

In  der  ersten  aufläge  seiner  Epopees  francaises  vertritt  Leon 
Gautier  den  Standpunkt,  dass  die  ersten  chansons  de  geste  ihrem 
Ursprung  und  wesen  nach  germanisch  waren:  'Les  epopees  francaises, 
les  chansons  de  geste,  sont  d'origine  et  de  nature  essentiellement 
germaniqnes.  On  peut  meme  affirmer  que  peu  d'origines  sont  aussi 
evidentes,  aussi  entieres  et  qn'aucun  autre  Clement  national  n'est 
venu  se  joindre  ä  l'element  germanique  dans  la  composition  de  nos 
poemes'.  Germanische  Volkslieder  (cantilenen)  sind  der  unmittelbare 
Ursprung  der  französischen  epen  gewesen,  diese  sind  durch  einfache 
aneinander  reihung  solcher  Volkslieder  entstanden:  'Les  premieres 
chansons  de  geste  n'ont  ete  que  des  chapelets  d'antiques  canti- 
lenes'.      Das    Earolied    wie    das    deutsche    Ludwigslied    gelten   ihm 


4.   Theorien  über  die  Entstehung  des  altfranz.  Epos.  111 

als  bcispiele  solcher  cantilenen.  —  Die  in  der  zweiten  aufläge 
hervortretenden  abänderungen  dieser  theorie  beruhen  im  wesentlichen 
auf  der  kritik  Paul  Meyers  (s.  u.),  zum  teil  auch  auf  den  von 
Gaston  Paris  geäusserten  ideen.  Gantier  glaubt  demgemä>s  nicht 
mehr  an  die  entstehung  eines  epos  durch  die  aneinanderreihung 
von  cantilenen,  sondern  die  dichter  der  chansons  de  geste  haben 
sieh  nur  anregen  lassen  durch  die  cantilenen,  zuweilen  auch  durch 
die  mündliche  Überlieferung  (tradition  orale).  Im  Zusammenhang 
damit  wird  auch  die  bedeutnng  des  germanischen  einflusses  etwas 
geringer  eingeschätzt:  'par  son  origine  prochaine  et  immediate, 
l'Kpopce  franeaise  est  romane  ...  la  pöriode  romane  est 
anti'rieure  au  IX1'  siecle  .  .  .  notre  epopc'e  ne  s'est  jamais  confondne 
avec  Celle  des  peuples  germaniques  .  .  .  Mais  l'esprit  germanique 
y  a  persiste"  —  Bref,  eile  est  germanique  par  son  origine  et  romane 
dans  son  developpement'.  Auch  diese  anschauungen  sind  in 
Gautiers  letzter  Veröffentlichung  nicht  unverändert  geblieben.  Den 
anteil,  welchen  er  dort  der  'tradition  orale'  an  dem  worden  des 
epos  zuschrieb,  verneint  er  jetzt,  um  dafür  der  'legende'  eine 
bedeutende  rolle  bei  der  Umbildung  der  Überlieferung  zuzuweisen. 
Worin  jedoch  der  unterschied  zwischen  'tradition  orale'  und 
'legende'  besteht,  hat  er  nicht  auseinandergesetzt  (Gautier,  Les 
Kpopees  franoaises,  I,  s.  10 ff.,  2I,  21  ff.  —  L'Epopee  nationale,  in 
Petit  de  Julleville  I,  49  ff.). 

Gleichzeitig  mit  Gautiers  erstem  bände  erschien  die  üistoire 
poetique  de  Charlemagne  von  Gaston  Paris.  Für  ihn  wird  die 
Vorgeschichte  des  französischen  epos  durch  erwägungen  allgemeiner 
art  bestimmt.  Darnach  geht  dem  epos  bei  allen  Völkern  eine 
'poesie  hero'i'que  ou  nationale'  voraus,  d.  h.  'chants  nationaux", 
welche  der  form  nach  meist  lyrisch,  dem  inhalt  nach  episch  sind  und 
die  stoffliche  grundlage  für  das  epos  hergeben.  Ihren  inhalt  schöpfen 
sie  aus  der  Zeitgeschichte,  es  sind  'cantilenes  contemporaines'.  Die 
ältesten  lieder  dieser  art  waren  deutsch,  aber  schon  zur  zeit  Karls 
des  Grossen  hat  es  sicherlich  auch  romanische  lieder  gegeben. 
Neben  diesen  liedern  haben  auch  volkssagen,  'recits  populaires', 
über  Karl  den  Grossen  existiert.  Gegen  ende  des  10.  Jahrhunderts 
bemächtigt  sich  das  epos  der  populären  zeitgedichte  und  verdrängt 

indem  es  sie  in  sich  aufnimmt.  Berufsmässige  sänger,  die 
Jongleurs,  vereinigen  die  isolierten  lieder  der  alten  zeit,  geben  ihnen 
einen  mittelpunkt  und  eine  allgemeine  idee,  und  am  endo  des 
LI.  Jahrhunderts  ist  das  epos  fix  und  fertig.  —  Später  hat  G.Paris 
die  bedeutnng  des  germanischen  elements  noch  schärfer  hervor- 
gehoben: darnach  lässt  sich  das  französische  epos  des  mittelalters 
definieren  als  'L'esprit  germanique  dans  une  forme  romane',  oder: 
von  den  beiden  eitern  der  französischen  epik  war  der  vater 
germanisch,  die  mutter  romanisch  (vgl.  auch  oben  s.  39  f.).  Während 
aber  G.  Paris  in  seiner  Ilistoire  poetique  noch  die  meinung  vertrat, 
dass  Chlodovech   noch    zu   sehr   eroberer    und    barbar   gewesen  sei, 


112  III.  Kapitel.    Die  Anfänge  der  Heldendichtung. 

am  den  romanischen  Völkern  (euer  zu  werden  und  Volkslieder 
hervorzurufen,  will  er  Bpäter  gerade  mit  Chlodovech,  im  besundoren 
mit  seiner  taufe,  den  selbständigen  romanischen  heldensan  gbeginnen 
lassen.  Die  fränkische  poesie  aber  hat  unmittelbaren  einfluss  auf 
die  französische  nur  wenig  ausgeübt.  Don  ereignissen  gleichzeitige 
oder  beinahe  gleichzeitige  Lieder  sind  unter  allen  umständen  die 
grundlagen  späterer  epen.  Die  mündliche  Überlieferung  oder  volks- 
sage  spielt  in  der  geschichto  des  französischen  epos  keine  rolle 
(Gaston  Paris,  Ilistoire  poetique,  s.  1  ff.,  37  ff.,  457  ff.  —  Revue 
eritique  1866,  I,  s.  11,  1868,  I,  s.  385.  —  Komauia,  13,  59811'.,  kritik 
von  Rajuas  buch.  —  La  litteiature  franc.,  s.  18 ff,  33 ff.  —  Romania, 
23,  441  ff.  anm.,  24,  490.  —  Esquisse  s.  32  ff,  52  ff). 

Die  beiden  werke  von  L.  Gautier  und  G.  Paris  im  jähre  1865 
waren  für  Paul  Meyer  der  anlass,  seine  ansichten  über  die 
bewegenden  hauptfragen  zu  äussern.  Vor  allem  protestierte  er  gegen 
zwei  behauptungen,  welche  am  schärfsten  Gautier,  teilweise  auch 
Paris  aufgestellt  hatte:  gegen  die  epische  Vorstufe  der  cantilenen 
(Volkslieder)  und  gegen  die  bedeutuug  des  germanischen  elements. 
Deutsche  cantilenen  sind  keinesfalls  der  ausgangspunkt  französischer 
epen  gewesen.  Cantilenen,  welche  zeitgenössische  ereignisse  feierten, 
können  dagewesen  sein,  sind  aber  für  die  erklärung  der  entstehung 
des  altfranzösischen  epos  durchaus  überflüssig,  da  dieses  sich  ledig- 
lich auf  grund  der  mündlichen  Überlieferung  bilden  konnte.  Die 
ältesten  Überreste  desselben  gehören  dem  9.  Jahrhundert.  Um  diese 
zeit  aber  hatte  sich  in  Gallien  durch  mischung  der  drei  rassen 
(Kelten,  Römer,  Germanen)  eine  neue  nationalität  herausgebildet, 
die  man  nur  mit  dem  nameu  romanisch  bezeichnen  kann  (Paul  Meyer, 
Recherches  etc.  Bibliothequo  de  l'Ecole  des  Chartes,  6.  serie,  III.  band 
[=  band  XXVIII],  s.  28—63,  304—342).  —  Von  neueren  franzö- 
sischen romanisten  hat  sich  noch  Ferdinand  Lot  zu  gunsten  der 
mündlichen  Überlieferung  (tradition  orale)  als  einer  Vorstufe  des  epos 
geäussert  (Moyen  äge  6,  129  ff,  Rom.  23,  440  ff.). 

Eine  sehr  wesentliche  Verschiebung  erfuhr  die  beurteilung  des 
germanischen  einflusses  durch  das  buch  von  Pio  Rajna  über  die 
anfange  des  französischen  epos  (1884).  Der  Verfasser  wies  zunächst 
die  ins  einzelne  gehende  Übereinstimmung  nach,  welche  zwischen 
chronistischen,  poetisch  gefärbten  Überlieferungen  aus  der  Mero- 
wingerzeit  und  dem  späteren  Karlsepos  vorhanden  ist;  dieses  hat 
sich  demnach  häufig  mit  dementen  der  merowingischen  Überlieferung 
bereichert  oder  direkt  aus  merowingischer  epik  —  deren  dasein 
Rajna  schon  für  frühe  zeit  annimmt  —  umgebildet.  Rajna  zeigt 
nun  weiterhin,  dass  eine  reihe  von  erzähl ungsstoffen,  einzelnen 
motiven,  figuren  und  formein  des  altfranzösischen  heldenepos  und 
auch  schon  der  merowingischen  Überlieferungen  ihr  gegenbild  in  der 
deutschen  heldendichtuug  des  mittelalters  linden  und  daher  aus 
altgermanischer,  fränkischer  epik  herstammen  müssen  (vgl.  oben 
s.  39).      Die   naturgemässen    Vermittler   zwischen  germanischer   und 


4.   Theorien  über  die  Entstehung  des  alt  franz.  Epos.  118 

französischer  epik  bildeten  die  romanisierten  Franken.  So  schloss 
sich  an  das  fränkische  epos  unmittelbar  das  romanische  au  —  die 
annähme  von  cantilenen  wird  damit  Überflüssig.  Aber  auch  die  sage 
spielt  nach  Rajna  in  dieser  entwicklung  keine  rolle  (Pio  Rajna, 
Origini  s.  o.  —  Litbl.  f.  germ.  n.  rom.  Philologie,  1895,  s.  197  1V. 
—  Storia  ed  epopea,  Florenz  19U9,  auch  in  Archivio  storico  italiano 
1909.  —  Una  rivoluzione  negli  studi  intorno  alle  „Chansons  de 
geste"  [gegen  Bödier],  Studj  medievali  3,  331 — 91).  —  Unter  den 
jüngeren  epenforscliern  steht  Leo  Jordan  den  grundanschauungen 
Rajnaa  am  nächsten,  nur  will  er  an  stelle  der  Franken  als  Ver- 
mittler germanischen  geistes  die  Burgunder  setzen,  was  wenig  zu 
ihrer  geringen  zahl  und  bedeutung  und  ebensowenig  zu  der  über- 
ragenden bedeutung  des  Frankenstammes  passt  (RF  14,  322  ff.,  16, 
354ff,  20,  lff,  Archiv   112—118). 

Das  buch  von  Rajna  wurde  für  die  forschung  epochemachend. 
Die  bedeutung  des  germanischen  elements  Avar  in  weitestem  umfange 
erwiesen  und  fortan  unbestreitbar.  So  wurde  auch  dieses  ergebnis 
der  Rajnaschen  Untersuchungen  überall  ohne  Widerspruch  ange- 
nommen, während  man  über  andere  fragen  —  die  art  der  Ver- 
mittlung, die  bedeutung  der  cantilenen  wie  der  mündlichen  Über- 
lieferung —  abweichender  meinung  sein  konnte.  Gaston  Paris  hat 
seinen  Standpunkt  in  einer  ausführlichen  recension  des  buches  im 
XIII.  band  der  Romania  dargelegt.  Kristoffer  Nyrop  hat  in  der 
als  neue  aufläge  geltenden  italienischen  Übersetzung  seines  hand- 
buches  über  das  altfranzösische  epos  die  wesentlichen  resultate  von 
Rajnas  forschung  übernommen  (1883 — 1888).  Er  glaubt  mit  Rajna 
an  eine  ausgedehnte  deutsche  Merovingerepik,  die  in  den  berichten 
der  alten  fränkischen  Chronisten  auszugsweise  erhalten  sei.  Aber 
den  anfaDg  der  französischen  epik  müssen  natürlich  französische 
dichtungen  gebildet  haben.  Der  form  nach  können  die  ältesten 
diehtungen  allgemein  gesungene,  kurze,  episch- lyrische,  strophische 
lieder  (cantilenen)  oder  auch  chansons  de  geste  kleineren  umfangs 
gewesen  sein:  die  Wahrscheinlichkeit  spricht  nach  Nyrop  für  die 
erste  annähme,  erst  für  das  10.  Jahrhundert  wird  eine  wirkliche 
chanson  de  geste  durch  das  Haager  Fragment  erwiesen.  Das 
eigentliche  epos  ist  die  individuelle  Schöpfung  eines  berufsmässigen 
Sängers,  der  eines  tages  alle  ihm  bekannten  lieder  und  sagen  über 
ein  bestimmtes  ereignis,  z.  b.  über  den  tod  Rolands,  sammelte  und 
auf  grund  dieser  zerstreuten  und  zusammenhanglosen  Überlieferungen 
ein  geordnetes,  organisches  ganze,  ein  epos  schuf. 

Von  allgemeiner  bedeutung  sind  auch  die  um  dieselbe  zeit 
erschienenen  Untersuchungen  Albert  Stimmings  über  den  proven- 
zalischen  Girard  von  Roussillon  (Halle  1888).  Der  Verfasser  ver- 
sucht hier  zu  zeigen,  wie  man  durch  kritische  Zergliederung  der 
überlieferten  dichtung  zu  ihren  älteren  entwicklungsstufen  zurück- 
gelangen kann:  nach  ihm  folgt  ganz  allgemein  auf  die  zeit  der 
epischen  Originaldichtungen  eine  zeit  der  Umarbeitung  und  dann  eine 

Voretzsch,   Studium  d.  afrz.  Literatur.     2.  Auflage.  § 


114  III.  Kapitel.    Die  Anfänge  der  Heldendichtung. 

zeit  der  interpolierung.  Bei  der  bildnng  des  Stoffes  wirkt  auch  die 
volkssage  mit.  —  Einzcluntersuchungen  ähnlicher  art,  wenn  auch 
z.  t.  in  anderer  richtung,  sind  in  der  folgezeit  von  Wilhelm 
Cloetta,  Rudolf  Zenker,  Leo  Jordan  und  manchen  anderen 
vorgelegt  worden. 

Gelegentlich  des  Haager  Fragments  hat  Gustav  Gröber  seine 
meinung  aufgesprochen,  die  er  sodann  in  seiner  altfranzösischen 
literaturgeschichte  ausführlich  dargelegt  hat.  Er  misst  der  sage 
keine  bedeutung  für  das  entstehen  der  heldendichtung  zu,  vermeidet 
es  von  cantilencn  zu  sprechen  und  erblickt  die  anfange  einerseits 
in  zeitgedichten,  die  „ein  Ereignis  zur  Sprache  und  das  Urteil  der 
Zeit  darüber  zur  Geltung  brachten",  und  andrerseits  in  carmixn 
regum,  „die  ein  aus  mehreren  Akten  sicli  zusammensetzendes 
kriegerisches  Unternehmen  eines  Königs  unter  Ausprägung  der 
Zeitstimmung  bildartig  vor  Augen  stellten".  Das  Farolied  ist  ein 
zeitgedicht,  die  unter  Karl  dem  Grossen  aufgezeichneten  carmina 
regum  gehören  der  zweiten  gattung  an.  Die  epische  dichtung  ist 
also  so  alt  wie  die  historischen  ereignisse  selbst.  Sie  ist  hervor- 
gegangen aus  den  reihen  der  krieger,  welche  die  ereignisse  selbst 
gesehen  haben  (Gustav  Gröber,  Zum  Haager  Bruchstück  s.  o.  s.  97. 
—  Franz.  Lit.  447 — 57).  Ähnliche  anschauungen  vertritt  auch 
Eduard  Schneegans  in  seiner  Heidelberger  habilitationsvorlesung 
über  'Die  Volkssage  und  das  altfranzösische  Heldengedicht'  (1897). 

Gegenüber  denjenigen  gelehrten,  welche  die  Verherrlichung 
historischer  beiden  im  lied  unmittelbar  an  das  historische  ereignis 
anknüpften  und  damit  das  epische  lied,  teilweise  sogar  das  epos 
selbst,  in  eine  zeit  hinaufiückten,  aus  welcher  Zeugnisse  über  solche 
dichtung  noch  nicht  vorhanden  sind,  wurde  von  andrer  seite,  im 
anschluss  an  die  deutschen  sagenforscher  Uhland  und  Jacob  Grimm, 
als  mittelglied  zwischen  epos  und  geschichte  die  sage  hervorgehoben, 
die  im  volk  umgehenden,  die  form  des  liedes  und  des  epos  ver- 
schmähenden Überlieferungen  von  seinen  beiden  und  ihren  erlebnissen. 
An  der  Umbildung  der  historischen  ereignisse  kann  an  sich  auch 
das  lied  (die  „cantilene")  beteiligt  sein,  aber  wir  dürfen  ihr  Vor- 
handensein nur  annehmen,  wo  es  durch  Zeugnisse  oder  durch  die 
form  der  Überlieferung  sichergestellt  ist.  Ebenso  muss  auch  die 
oxistenz  des  einzelnen  epos  oder  der  epischen  dichtung  überhaupt 
hinreichend  bezeugt  sein:  in  den  sagenhaften  Chronistenberichten 
über  die  Merovingerkönigo  hat  man  demnach  nicht  ohne  weiteres 
spuren  von  epen  zu  erblicken.  Wann  und  wo  sich  im  einzelnen 
fall  sago  und  epos  begegnen,  wie  sich  das  einzelne  epos  zum 
geschichtlichen  ereignis  verhält,  muss  für  jeden  fall  besonders  unter- 
sucht werden.  Die  entwicklung  des  altfranzösischen  heldenepos  hat 
sich  nicht  schematisch  vollzogen  (Carl  Voretzsch,  Ogier  der  Däne, 
1891.  —  Die  französische  Heldensage  1894.  —  Das  Merovinger- 
epos,  1896.  —  Epische  Studien  I,  1900.  —  Zur  Geschichte  der 
Nibelungensagc,  Zeitschr.  f.  deutsches  Altertum  51,  39  ff.  —  Balduins 


4.   Theorien  Über  die  Entstehung  des  altfranz.  Epos.  115 

Tod,  11»  10).  —  Eine  reihe  von  kritischen  einzelfragen,  welche  sich 
an  die  sagentheorie,  die  bedeutung  des  germanischen  antcils,  an  die 
entwicklungsgeschichte  des  epos  überhaupt  knüpfen,  hat  Eduard 
Wechssler  an  verschiedenen  stellen  behandelt  (JrP  IV,  2,  4 IG  ff., 
V,  2,  384 ff.:  ZrP  25,  449 ff.  s.  o.  s.  89). 

Vorwiegend  als  historiker  hat  Godefroid  Kurth  (Ilistoire 
poctiquo  des  Merovingiens,  P.  1893)  in  den  berichten  der  fränkischen 
Chronisten  historische  und  epische  elemente  zu  scheiden  und  in  viel 
weiterem  umfang  als  Rajna  epische  Überlieferungen,  d.  h.  zumeist 
heldenlieder,  nachzuweisen  versucht.  Diese  merovingischen  lieder 
waren  im  wesentlichen  germanisch,  der  karolingische  heldensang 
bereits  französisch. 

Liegt  auch  der  wert  des  buches  mehr  auf  seiten  der  geschichts- 
wissenschaft,  so  hat  es  doch  auch  bei  den  roraanisten  erneute 
erörterung  der  einschlägigen  fragen  hervorgerufen.  Vor  allem  bot 
es  Hermann  Suchier  den  anlass,  mit  einer  Untersuchung  über  das 
ältesto  überlieferte  bruchstück  der  epischen  poesie,  über  das  Faro- 
lied,  hervorzutreten.  Er  zeigte  zunächst,  dass  dieses  nicht  das  alter 
beanspruchen  kann,  das  man  ihm  gewöhnlich  zuschreibt.  Indem  er 
weiter  annahm,  dass  die  im  Liber  historiae  wiedergegebene  fränkische 
Überlieferung  derselben  erzählung  die  quelle  des  Faroliedes  gebildet 
habe,  kam  er  zu  dem  schluss,  dass  das  französische  volksepos  mit 
der  bearbeitung  fränkischer  epen  beginnt  und  dass  daher  kein  grund 
vorliegt,  ihm  eine  periodo  zuzuschreiben,  in  welcher  es  in  der  form 
romanzenartiger  lieder  existiert  hätte.  Die  ältesten  französischen 
Chansons  de  geste  braucht  man  in  keine  frühere  zeit  als  ins  9.  Jahr- 
hundert zu  setzen.  Seine  allgemeinen  anschauungen  hat  Suchier 
dann  in  seiner  Literaturgeschichte  weiter  ausgeführt:  „Den  Inhalt 
des  Volksepos  bildet  die  Geschichte  der  eigenen  nationalen  Ver- 
gangenheit, wie  sie  sich  einem  ungebildeten  Volke  darstellt  .... 
Vielleicht  aber  sind  jene  Ereignisse  eine  Zeit  lang  nur  in  der  Form 
romanischer  Prosa,  als  schlichte  Sage,  erzählt  worden  und  haben 
erst  später  in  das  französische  Epos  Aufnahme  gefunden.  Wann 
die  ältesten  Chansons  de  goste  gedichtet  wurden,  wissen  wir  nicht. 
Im  9.  Jahrhundert  sind  einige  vorhanden  gewesen"  (Farolied,  ZrP  18; 
Franz.  Lit.   16  ff.;  ZrP  32,  734 ff.). 

Neue  wege  in  der  kritik  der  epischen  dichtung  haben  Philipp 
August  Becker  und  Joseph  Bedier  erschlossen.  Becker  bekämpft 
vor  allem  die  annähme  von  verloren  gegangenen  „vorepen",  leitet 
die  erhaltenen  epen  gern  auf  schriftliche  quollen,  z.  b.  auf  gelegent- 
liche chronistische  notizen,  zurück  und  sucht  die  altfranz.  epen  vor 
allem  als  einheitliche  Schöpfungen  eines  einzelnen  dichters  zu 
erklären.  Eine  zusammenhängende  darstellung  des  altfranz.  helden- 
epos  von  diesem  Standpunkt  hat  er  in  seinem  'Grundriss  der  altfranz. 
Literatur'  gegeben.  Doch  lässt  er  hier  auch  'Lokal-  und  Wander- 
sagen'  zu,  wenngleich  sie  dem  dichter  nur  'unansehnliches  Roh- 
material' geboten  haben  sollen:  „man  erinnerte  sich  an  Könige  und 

8* 


116  III.  Kapitel.    Die  Anfänge  der  Heldendichtung. 

Fürsten,  man  wusste  oder  erzählte  von  alten  Schlachten  und  Ereig- 
nissen aller  Art,  die  sichtbare  Spuren  hinterlassen  hatten"  (Die 
altrranz.  Wilhelmssage,  IIa.  1M(J6.  —  Der  südfranz.  Sagenkreis  und 
seine  Probleme,  IIa.  1-898.  —  Grundriss  1908,  s.  o.  s.  47.  —  Zahl- 
reiche recensionen). 

Bedier,  dessen  forschungen  gegenwärtig  im  Vordergrund  der 
wissenschaftlichen  erörterung  stehen,  gelangt  z.  t.  auf  denselben 
wegen  wie  Becker,  z.  t.  auf  eigenen  wegen  zu  neuen  und  bemerkens- 
werten ergebuissen.  Er  beobachtet,  dass  eine  reihe  von  klöstcrn 
grabdenkmäler,  w äffen  oder  sonstige  andenken  von  bekannten  epischen 
beiden  aufzuweisen  haben,  dass  diese  klöster  meistens  an  den  pilger- 
strassen  liegen,  dass  gewisse  beziehungen  zwischen  Jongleurs  und 
klerikern  vorhanden  sind,  dass  ferner  in  lateinischen,  klösterlichen 
chroniken  z.  t.  dieselben  beiden  gefeiert  werden  wie  im  epos,  dass 
dokumente,  welche  die  besitzansprüche  bestimmter  kirchen  und 
klöster  begründen  sollen,  sich  mit  Vorliebe  auf  beiden  der  chansons 
de  geste  berufen,  dass  endlich  alle  diese  tatsachen  und  Zeugnisse 
nicht  vor  1040  einsetzen  und  bis  ins  13.  Jahrhundert  reichen.  Bedier 
zieht  daraus  den  schluss,  dass  die  klöster  zum  teil  die  bewahrer, 
zum  grössten  teil  aber  die  erzeuger  der  epischen  Überlieferungen 
gewesen  sind.  Ausdrücklich  wendet  er  sich  gegen  die  hypothese 
von  den  dem  historischen  ereignis  gleichzeitigen  cantilenen  oder 
epen,  während  er  im  einzelnen  fall  sagenhafte  oder  epische  Über- 
lieferung als  quelle  der  klostertradition  gelten  lässt.  Aber  die 
entstehung  des  epos  selbst  setzt  er  in  verhältnismässig  späte  zeit: 
'les  romans  du  XII e  siecle  sont  des  romans  du  XIIe  siecle,  et  il 
faut  les  expliquer  par  cela  que  nous  savons  du  XIIe  siecle,  du 
XIIe  an  plus  tot,  et  non  point  par  cela  que  nous  ignorons  du 
siecle  de  Charlemagne  ou  du  siecle  de  Clovis'.  Den  Zusammenhang 
des  französischen  epos  mit  Überlieferungen  germanischer  herkunft  und 
die  daraus  sich  ergebenden  fragen  lässt  Bedier  ausser  acht  (Legendes 
epiqnes  s.  o.  —  Keponse  k  M.  Pio  Rajna,  Toulouse  1910,  extrait 
des  Annales  du  Midi,  oct.  1910.  —  Zahlreiche  einzclstudien  in 
verschiedenen  zss.  —  Zuletzt:  De  la  formation  des  chansons  de 
geste,  I,  Rom.  41  [1912]   1—31), 

Siehe  die  notwendigen  literaturangaben  (soweit  nicht  hier  ver- 
zeichnet) o.  s.  109  f.,  115,  117. 

Überblickt  man  im  Zusammenhang  die  hier  zusammen- 
gestellten ergebnisse  der  einzelnen  forschungen,  so  sieht  mau 
wol,  dass  es  der  verschiedenen  meinungen  nicht  viel  weniger 
sind  als  der  namen.  Fasst  man  aber  die  gleichartigen 
anschauungen  zu  gruppen  zusammen,  so  lassen  sich  etwa 
vier  hervorstechende  crklärungsversuche  für  das  entstehen 
des  französischen  epos  unterscheiden:  die  cantilenentheorie 


4.   Theorien  über  die  Entstohung  des  altfranz.  Epos.  117 

(G.Paris,  Gautier),  die  a  1 1  epentheo  r  ie  (Rajna,  Gröber, 
Jordan),  die  Bagentheorie  (Suchier,  Weehssler,  Voretzsch, 
anch  1'.  Meyer  und  F.  Lot),  die  jungepentheorie  (Becker, 
BeMier).    Wenn  wir  von  allem  hypothetischen  möglichst  absehen 

und  vor  allem  die  tatsaehen  reden  lassen,  hoben  sieh  ans 
dem  widerstreit  der  meinungen  ungefähr  folgende  punkte 
hervor: 

1.  Das  absolute  alter  der  französischen  epik  lässt  sich 
nicht  mit  Sicherheit  bestimmen.  Das  Haager  Fragment  bietet 
uns,  auch  bei  sehr  skeptischer  betrachtungsweise,  als  terminus 

ad  quem  das  10.  Jahrhundert.  Das  Chlotharlied  führt  uns, 
wenn  man  dies  Zeugnis  nicht  von  vornherein  als  unglaub- 
würdig verwerfen  will,  mindestens  bis  in  die  erste  hälfte  des 
9.  Jahrhunderts  zurück.  Französischer  heldensang  vor  dieser 
zeit  (sei  es  epos,  sei  es  romanze)  ist  möglich,  aber  nicht 
erweislich. 

2.  Daneben  ist  nicht  zu  unterschätzen,  was  sich  für  das 
relative  alter  der  epischen  dichtung  aus  den  überlieferten 
epen  selbst  gewinnen  lässt.  Auch  die  skeptischsten  kritiker 
müssen  hier  und  da  die  annähme  von  „vorepen"  zugeben, 
und  für  einzelne  epen  müssen  wir  sogar  mehrere  verlorene 
Vorstufen  annehmen.  Es  ist  unwahrscheinlich,  dass  alle  diese 
vordichtungen  in  den  kurzen  Zeitraum  eines  Jahrhunderts  fallen. 
Schon  das  Haager  Fragment  lässt  einen  fest  ausgeprägten 
epischen  stil  erkennen.  Endlich  müssen  auch  die  auf  ältere 
Zeiten  zurückweisenden  anschauungen  der  überlieferten  epen 
in  rechnung  gezogen  werden  (vgl.  hierzu  Jordan  RF  16,  314  ff, 
und  neuerdings  Max  Remppis,  Die  Vorstellungen  von  Deutschland 
im  altfranzösischen  Heldenepos  und  Roman  und  ihre  Quellen, 
34.  Beiheft  zur  ZiT). 

3.  Die  bedeutung  des  germanischen  Clements  für 
das  französische  epos  ist  unbestritten  und  unbestreitbar.  Diese 
demente  können  diesem  ebensogut  aus  fränkischer  sage  wie 
aus  fränkischer  dichtung  zugeflossen  sein.  Unmittelbare  Über- 
setzung einzelner  fränkischer  epen  ins  französische  braucht 
man  hierfür  nicht  anzunehmen,  obwohl  kein  grund  vorliegt, 
diese  möglichkeit  grundsätzlich  auszuschliesseu.  Auch  die 
sorgfältige  bewahrung  so  zahlreicher  germanischer  demente 
spricht  gegen  eine  späte  entstehung  des  französischen  epos. 


118  III.  Kapitel.     Die  Aufänge  der  Heldendichtnng. 

4.  Die  form  muss,  soweit  wir  die  entwicklung  auf  grund 
der  vorliegenden  Überreste  zurückverfolgen  können,  die  der 
späteren  eliansons  de  geste  gewesen  sein.  Darauf  deuten 
übereinstimmend  die  ältesten  überlieferten  epen  selbst  und  die 
ältesten  bekannten  reste  der  epischen  dichtung,  wie  Haager 
Fragment  und  Cblotbarlied.  Auch  die  damalige  form  der 
germauiseb- fränkischen  epik  war  mutmasslich  nicht  strophisch, 
sondern  stichisch,  nicht  lyrisch,  sondern  episch  (vgl.  Beowulf, 
Hildebrand,  Heliand,  selbst  Otfried). 

5.  Das  Vorhandensein  von  cantilenen  im  sinne  von 
allgemein  gesungenen  Volksliedern  lyrischer  form  und  epischen 
inhalts  ist  au  und  für  sich  möglich,  aber  für  die  erklärung 
der  geschichtlichen  entwicklung  nicht  notwendig  und  auch 
nicht  erweislich.  Hingegen  werden  kürzere  dichtungen  in  der 
art  und  form  der  chansons  de  geste,  also  epen  kleineren 
umfangs,  schon  im  9.  Jahrhundert  existiert  haben.  Aus  diesen 
haben  sich  auf  natürlichem  wege,  teils  durch  erweiterung 
einzelner  epen,  teils  durch  Vereinigung  mehrerer  zu  einem 
ganzen,  die  älteren  epen  der  blütezeit  entwickelt. 

6.  Wo  für  die  annähme  von  Volksliedern  oder  epen  im 
einzelnen  fall  Wahrscheinlichkeit  und  beweise  fehlen,  ist  die 
sage  (tradition  orale,  legende)  die  einfachste  und  natürlichste 
form  der  Überlieferung.  Sie  bildet  das  notwendige  bindeglied 
zwischen  dem  geschichtlichen  ereignis  und  allen  denjenigen 
dichtungen,  welche  überhaupt  eine  traditionelle  grundlagc 
haben  und  nicht  unmittelbar  nach  dem  ereignis  oder  in  junger 
zeit  auf  chronistischer  gruudlage  entstanden  sind.  Ihre  existenz 
wird  durch  die  erzählungen  der  alten  fränkischen  Chronisten 
wie  des  Mönchs  von  St.  Gallen  und  anderer  bestätigt. 


Viertes  Kapitel. 

Die  geistliche  und  lehrhafte  Literatur 
im  zwölften  Jahrhundert, 


Nachdem  wir  die  wichtigste  und  in  den  denkmälern  am 
frühesten  vertretene  gattung  der  profandichtung  von  den 
anfangen  bis  zum  ende  des  11.  Jahrhunderts  in  ihrer  ent- 
wicklung  begleitet  haben,  wird  es  zeit  den  blick  zurück  zu 
lenken  nach  der  geistlichen  dichtung,  welche  jener  weltlichen 
parallel  läuft  und  sogar  ältere  denkmäler  aufzuweisen  vermag 
als  diese.  "Wir  haben  diese  geistliche  dichtung  am  schluss 
des  ersten  kapitela  mit  dem  Alexiuslied  verlassen,  dessen 
entstehung  um  1040  bis  1050  angesetzt  wird.  Aus  der  zweiten 
hälfte  des  11.  Jahrhunderts  sind  uns  keine  sicher  datierbaren 
denkmäler  geistlichen  inhalts  überliefert,  und  so  reiht  sich 
an  das  Alexinslied  unmittelbar  die  geistliche  litcratur  des 
12.  Jahrhunderts. 

In  diesem  Jahrhundert  wird  die  geistliche  dichtung  nicht 
nur  an  menge  reicher,  sie  erobert  sich  auch  neue  gebiete, 
sie  pflegt  die  verschiedensten  gattungen  und  nimmt  allerlei 
formen  an,  die  teils  lateinischen  Vorbildern,  teils  auch  solchen 
der  profanliteratur  entnommen  sind.  Im  Vordergrund  steht 
noch  immer,  wie  bisher  fast  ausschliesslich,  die  erzählende 
literatur,  namentlich  heiligenlegenden,  zu  denen  sich  dann  in 
der  zweiten  hälfte  des  Jahrhunderts  noch  die  sogenannten 
frommen  erzählungen,  die  Wundertaten  eines  heiligen  und 
darunter  besonders  die  der  Mutter  Gottes  (contes,  contes 
devots,  miracles)  gesellen.  Eine  sehr  bescheidene  rolle  spielt 
noch  die  religiöse  lyrik.  So  ziemlich  das  einzige  stück  ist 
eine    bearbeitung    des    Hohenliedes,     wenn    man    von    den 


L20  IV.  Kapitel.   Die  geistliche  Literatur  im  12.  Jahrhundert. 

kreuzzugsliedern    absieht   (vgl.   kap.  V).     Übersetzungen    oder 
bearbeitungen   einzelner  teile  der  Bibel  sind  auch  Bonst  nicht 

selten,  teils  in  poetischer  tonn,  teils  auch  in  prosa.    Eine  voll- 
ständige Bibelübersetzung  bringt  erst  das  folgende  Jahrhundert. 

In  engem  Zusammenhang  mit  dem  kultus  entwickeln 
sich  einige  neue  gattnngen  der  geistlichen  dichtung:  die 
'epitres  fareies'  (stopfepisteln)  sowie  die  ersten  dramatischen 
versuche  in  französischer  spräche  verdanken  ihre  entstehung 
dem  bestreben,  die  lateinisch  verlesene  epistel  oder  den 
lateinischen  dialog  der  an  hohen  festtageu  das  evangelium 
illustrierenden  personen  dem  Verständnis  des  laien  zugänglich 
zu  macheu.  Iu  diesem  sinne  war  schon  die  Verordnung  des 
konzils  von  Tours  im  jähre  813  gegeben,  wonach  die  predigt 
in  der  vulgärsprache  gehalten  werden  sollte.  Hat  sich  aus 
frühereu  Zeiten  von  französisch  aufgezeichneten  predigten 
nur  das  sogenannte  Jonasfragment  erhalten  (s.  o.  s.  27),  so 
treten  uns  im  12.  Jahrhundert  einige  predigten  entgegen,  die 
schon  ihrer  äusseren  form  wegen  zu  der  literatur  im  engeren 
sinne  gerechnet  werden  müssen:  die  sogenannten  'Reim- 
predigten ',  neben  denen  uns  französische  prosapredigten,  und 
diese  erst  aus  dem  lateinischen  übersetzt,  nicht  vor  schluss 
dieses  Zeitraumes  begegnen.  Nah  verwant  mit  der  predigt  ist 
die  auf  moralische  belehruug  gerichtete,  sowie  die  mehr 
didaktische  dichtung,  welche  gleichfalls  in  den  händen  der 
geistlichen  ruht  und  einen  wesentlichen  bestandteil  der 
geistlichen  literatur  bildet. 

Schon  die  erste  hälfte  des  Jahrhunderts  zeigt,  ausser  der 
weiteren  pflege  der  heiligengeschichte,  neue  ausätze  auf  fast 
allen  eben  erwähnten  gebieten:  neben  den  erzählenden  gattnngen 
namentlich  die  ersten  lyrischen  und  dramatischen  versuche. 
Die  zweite  hälfte  des  Jahrhunderts  führt  sonach  im  wesentlichen 
die  bisher  eingeschlagenen  richtungen  weiter.  Doch  tritt  jetzt 
die  Marienverehrung  mehr  hervor  als  in  der  ersten  hälfte, 
nicht  nur  in  bearbeitungen  ihrer  lebensgeschichte,  sondern 
auch  in  den  erzählungen,  welche  ihre  Wundertaten  feiern. 

Bemerkenswert  ist  an  dieser  geistlich-moralischen  literatur 
des  12.  Jahrhunderts  der  starke  anteil,  den  daran  die  aus  der 
Normandie  stammenden  dichter,  in  weiterem  sinne  die  dichter 
des   anglonormaunischen   königreichs  haben:   Wace,    Benedikt 


Allgemeines.  121 

(Verfasser  des  ßrandan),  wühl  auch  der  Verfasser  des  Gregoriua 

stummen  :111s  der  Normandie;  Philipp  von  Thaon,  Gruillaume 
de  Berneville,  Simoo  de  Fresne,  Clcmenee  de  Berekinge  halten 
in  England  gelebt  und  gedichtet;  ja  auch  angehörige  der 
Isle  de  France  wie  Garnier  von  Pont-Sainte-Maxence  und  die 
älteste  französische  dichterin,  die  wir  kennen.  Marie  (gewöhnlich 
Marie  de  France  genannt),  dichteten  in  England.  Philipps 
Compoz  und  Bestiaire  nebst  Benedikts  Brandan  stellen 
die  ersten  auglonormaunisclien  dichtmigen  dar.  Die  anglo- 
normannisehen  könige,  besonders  Heinrich  I.  (1100  bis  1137) 
und  Heinrich  II.  (1154  bis  1189)  nebst  ihren  gemahlinnen, 
waren  tatkräftige  freunde  und  besehützer  der  dichtknnst. 
Suchier  hat  daher  in  seiner  literaturgeschichte  die  literatnr 
des  anglonormanuischen  königsreichs  getrennt  von  derjenigen 
des  königsreichs  Frankreich  behandelt,  und  G.  Paris  hat  den 
ans  der  französischen  Normandie  stammenden  dichtem  eine 
besondere  betrachtung  gewidmet. 

Vgl.  P.  Meyer,  Ilist.  litt.  33,  254  —  458  (Versions  des  Vies  des 
Peres;  Legendes  liagiographiques).  G.  Paris,  La  litterature  normande 
avant  l'annexion  (912  —  1204),  P.  1889.  Suchier,  Lit,  s.  105  ff., 
115  ff.  Vgl.  auch  die  entsprechenden  abschnitte  in  Gröbers  Franz. 
Lit.,  in  G.  Paris'  Litterature,  in  Petit  de  Jullevilles  llistoire  (Poesie 
narrative  religieuse,  von  P.  d.  J.;  Litterature  didactique  — 
Sermonnaires  et  traduetions,  von  Arthur  Piaget),  sowie  ten  Blink, 
Engl.  Lit.  I  141  ff,  160ff.  —  Ad.  Mussafia,  Studien  zu  den  mittel- 
alterlichen Marienlegenden,  I — V,  Sitzungsber.  d.  Wien.  Akad.  d. 
Wiss.,  Phil.-hist.  Kl.  1887—1898.  R.  Keinsch,  Die  Pscudo-Evangelien 
von  Jesu  und  Marias  Kindheit  in  den  rom.  u.  germ.  Litt.,  II.  1879. 
Über  die  latein.  legenden  vgl.  Heinrich  Günter,  Die  christliche 
Legende  des  Abendlandes,  Heid.  1910.  —  Samuel  Berger,  La  Bible 
fran»;.  au  moyeu  äge.  Ktudes  sur  los  plus  anciennes  versions  de  la 
Bible  ecrites  cn  prose  de  langue  d'oi'l,  P.  1884.  J.  Bonnard,  Les 
traduetiona  de  la  Bible  en  vers  fr.  au  moyen  äge,  P.  1884.  Zu 
beiden  werken  nachtrage  von  Suchier,  ZrP  8,  413  ff.  —  Bourgain, 
La  chaire  fran<;.  au  X1IC  siccle,  P.  1879.  A.  Lecoy  de  la  Marche, 
La  chaire  fran^-.  au  m.  äge,  specialement  au  XI1P  siccle,  P.  1868, 
2 1886.  —  Friedrich  Laudiert,  Geschichte  des  Physiologus,  Str.  1889. 
—  Die  ältesten  hierhergehörigen  texte  wie  Hohes  Lied,  Stephans- 
epistel, Sponsus  u.  a.  finden  sich  im  Altfranz.  Übungsbuch  von 
Foerster  und  Koschwitz,  teilweise  auch  in  den  Chrestomathien. 


122  IV.  Kapitel.   Die  geistliche  Literatur  im  12.  Jahrhundert. 

1.    Legendarisches. 

1.  Brand  au  s  Seefahrt. 
Die  erste  heiligengeschichte.  die  wir  in  uuserem  Zeitraum 
finden,  ist  das  gedieht  von  Brandans  Seefahrt.  Sauet  Brandan 
ist  ein  irischer  heiliger  des  6.  Jahrhunderts,  dem  aussei  eiuer 
Lateinischen  vita  die  schon  aus  dem  10.  Jahrhundert  stammende 
Navigatio  Sancti  Brandani  gewidmet  wurde:  diese  letzte  liegt 
dem  französischen  gedieht  zu  gründe,  welches  in  England  bald 
nach  1121,  auf  veranlassung  der  zweiten  gemahlin  Heinrichs  I., 
Aaliz  (=  Adelheid),  von  einem  geistlichen  namens  Benedeiz 
gedichtet  wurde.  Die  paarweis  gereimten  verse  sind  durch- 
gängig, auch  die  weiblich  ausgehenden,  zu  acht  silben,  während 
sonst  dem  männlich  ausgehenden  achtsilbner  der  weibliche 
vers  von  neun  silben  entspricht,  d.  h.  unser  gedieht  mischt,  in 
der  üblichen  terminologie  ausgedrückt,  männliche  achtsilbner 
und  weibliche  siebensilbner.1)  Dem  inhalt  nach  ist  es  nicht 
mit  unrecht  als  eine  möuehsodysse  bezeichnet  worden.  Auf 
der  fahrt  nach  der  insel  der  seligen  sieht  Brandan  mit  seinen 
geführten  die  wunderbarsten  dinge:  so  eine  insel  mit  weissen 
schafen  so  gross  wie  hirsche,  einen  riesigen  fisch,  dessen  rücken 
die  Seefahrer  für  eine  insel  halten,  das  vogelparadies,  einen 
kämpf  zwischen  zwei  grossen  fischen,  einen  kämpf  zwischen 
greif  und  drache,  auf  einem  fels  im  meer  den  Judas  lscharioth 
und  vieles  andere,  bis  sie  das  irdische  paradies  erreichen  und 
unter  fuhrung  eines  engeis  besichtigen  dürfen.  Irische  phantasie 
hat  die  meisten  demente  zu  dieser  frommen  legende  geliefert 
—  das  erste  auftauchen  keltischer  elemente  in  der  französischen 
dichtung,  freilich  zunächst  noch  vermittelt  durch  die  lateinische 
literatur. 

Handschriftliche    abdrucke:     Suchier,     Boehmers    Rom.    Stud., 
1     (1875)     553  ff.     (daselbst     auch     über     andere     bearbeitungen). 


])  Der  aufang  des  gedichts  lautet: 

Donne~Aaliz  la  reine,  Por  les  armes  HenrHe  rci 

Par  qui  valdrat  lei  diviue,  E  par  lc  conseil  qui  ert  en  tei, 

Par  qui  creistrat  lei  de  terre  Saluet  tei  mil  et  mil  feiz 

E  remandrat  tante  guerre,  Li  apostoilea  danz  Benedeiz. 


1.  Legendarisches.  123 

Auracher,  ZrP  2  (1878)  438  ff.  —  Ausgabe:  Les  Voyages 
merveilleux  Je  St.  Brandan  p.  p.  Francisque  Michel,  P.  1878.  Vgl. 
II.  Calmund,  Prolegoniena  zu  einer  kritischen  Ausgabe  des  altfranz. 
Brandanlebens,  Diss.,  Bonn  1903.  —  Über  die  quelle:  II.  Zimmer, 
ZdA  33  (1889)  129ff.,  257  ff.  AI  fr.  Schulze,  ZrP  30  (1906)  257  IV. 
(nacli  ihm  wäre  nicht  die  Navigatio,  sondern  eine  verloren  ge- 
gangene Vita  die  quelle).  Über  die  lat.  Navigatio  vgl.:  Steinweg,  I >i<? 
handschriftlichen  Gestaltungen  der  lat.  Nav.  Br.  (Hall,  diss.),  Rom. 
Forsch.  7,  1  ff.  —  (her  eine  lat.  prosabearbeitung  des  anglonorm. 
gedichts  E.  Pfitzner,  ZrP  35  (1911)  31  ff.  —  Eine  prosabearbeitung 
der  lat.  Nav.  im  pikardischen  dialekt,  ende  des  13.  jhs.,  wurde 
herausgegeben  von  Carl  Wahlund,  Upsala  1900  (vgl.  A.  Schulze, 
ZrP  31,  188  ff).  Derselbe  über  eine  prov.  Übersetzung  im  Foerster- 
band  s.  175  ff.  Die  deutschen  bearbeitungen  gehen  nicht  auf 
altfrauzösische,  sondern  lateinische  texte  zurück. 

2.  Gregorius. 

Nächst  dem  Braudan  vermutlich  das  älteste,  wenn  auch 
nicht  so  genau  datierbare  lieiligenleben  ist  das  noch  aus  der 
ersten  hälfte  des  Jahrhunderts  stammende  Leben  Gregors. 
Die  erzählung  knüpft  sich  au  den  namen  eines  papstes  Gregor, 
in  welchem  wir  keinen  der  geschichtlichen  päpste  dieses 
namens  wiederzuerkennen  vermögen.  Ihr  inhalt  weist  wiederum 
—  wie  die  Alexiuslegende  —  auf  herkunft  aus  dem  Orient: 
die  Verwandtschaft  mit  der  Oedipussage  ist  nicht  zu  ver- 
kennen. Der  held  der  erzählung  wird  als  ein  kind  der  süude, 
aus  blutschande  zweier  geschwister,  geboren,  ausgesetzt,  fern 
der  heimat  und  ohne  kenntnis  seiner  herkunft,  erzogen,  wird, 
als  er  erwachsen  ist,  seinem  inneren  dränge  folgend  ein 
ritter,  heiratet,  ohne  es  zu  ahnen,  seine  eigene  matter  und 
btisst,  als  alles  entdeckt  wird,  seine  und  seiner  eitern 
Sünden  17  jähre  lang  auf  einem  einsamen  fels  im  meer,  bis 
bei  der  papstwahl  eine  göttliche  stimme  ihn  als  den 
würdigsten  bezeichnet  und  so  auf  den  stuhl  Petri  führt.  Das 
gedieht  ist  in  regelrechten  paarweisen  achtsilbnern  ge- 
schrieben. 

Ausgabe  von  Luzarche,  Tours  1856.  Vgl.  über  die  hss.  Miehl, 
ZrP  10,  321  ff,  dazu  C.  Keller,  Einl.  zu  einer  krit.  Ausgabe  der 
mittelengl.  Gregoriuslegende,  Diss.  Kiel  1909.  —  Der  Gregorius 
Hartmanns  von  Aue  geht  auf  eine  uns  nicht  bekannte  altfrauzösische 
version  zurück.  Zur  geschichte  der  legende  vgl.  Pauls  einleitung  zu 
seiner  ausgäbe  des  mittelhochdeutschen  gedichts,   Ha.  1882,  41910. 


1-1  I  V.  Kapitel    Die  geistliche  Literatur  Im  12.  Jahrhundert. 

3.  Der  Dichter  Waee. 
Um  die  mitte  des  12.  Jahrhunderts  hat  der  auf  der  insel 
Jersey  im  anfang  des  Jahrhunderts  geborene  dichter  Wace, 
/.ucrst  clerc  lisant  (nach  Suchier  „dozierender  kleriker",  nach 
Stengel  „der  die  Messe  oder  den  Psalter  lesende  junge  Kleriker") 
in  Caeu,  später  kanonikus  in  Bayeux,  mehrere  heiligenleben 
gedichtet:  so  —  wol  als  erstes  —  ein  Nieolasleben,  zu  ehren 
des  heiligen  Nicolaus  (von  Myra),  welcher  als  Schutzpatron  der 
Schiffer  galt  und  daher  in  der  Normandie  besondere  Verehrung 
genoss;  ferner  ein  Margaretenleben,  in  welchem  die  Schick- 
sale einer  orientalischen  märtyrerin  erzählt  werden;  und 
schliesslich  ein  gedieht  auf  das  Leben  der  Mutter  Gottes, 
welches  die  einfuhrung  des  festes  der  Coneeptio  Immaculata 
in  England  zur  veranlassung  hatte.  Bestritten  ist  noch  seine 
autorschaft  eines  Lebens  des  heiligen  Georg  (von  Lyssa). 
Überall  liegen  lateinische  Vorbilder  zu  gründe,  im  besonderen 
für  die  Mariengedichte  apokryphe  evangelien  und  sonstige 
Überlieferungen  der  spätchristlichen  literatur.  Über  seine 
Persönlichkeit  äussert  sich  G.  Paris,  dass  er  'nous  präsente  pour 
la  premiere  fois  le  vrai  type  de  l'ecrivain  de  profession.  Wace 
vivait  de  sa  plume,  et  aussi  de  celle  de  ses  copistes;  ear  il 
faisait,  quand  il  avait  assez  d'argent  pour  eela,  exeeuter  de  ses 
oeuvres  des  exemplaires  qu'il  tächait  de  vendre  un  bon  prix. 
Mais  il  les  composait  d'abord  sur  commande,  et  le  premier 
patron  etait  naturellement  celui  qui  payait  le  mieux'. 

Vgl.  über  Wace  G.Paris,  Rom.  9,  592  ff.,  Litt.  norm.  25  ff.  — 
Maistre  YVace's  St.  Nicholas  hrsg.  von  Nicolaus  Delhis,  Bonn  1850. 
—  La  vie  de  Ste.  Marguerite  p.  p.  A.  Joly,  P.  1879  (hier  auch 
über  andere  bearbeitungen  der  legende).  Die  legende  erscheint 
häufig  auch  in  den  provenzalischen,  italienischen,  deutschen, 
englischen  u.  a.  literatirren.  —  Vie  de  la  Vierge  Marie  p.  p. 
V.  Luzarche,  Tours  1859.  Ältere  ausgäbe  von  Mancel  et  Trebutien, 
Caen  1842. 

4.  Garniers  Thomasleben. 
Von  den  besprochenen  älteren  dichtungen  unterscheidet 
sich  wesentlich  die  zwischen  1172  und  1176  entstandene 
darstellung  des  lebens  von  Thomas  Beeket,  die  Vie  de  saint 
Thomas  le  martyr  von  Garnier  von  Pont-Sainte-Maxence.  Es 
handelt   sich    hier   um   die   Verherrlichung    eines   heiligen   der 


1.    Legeudarisches.  125 

jüngsten  Vergangenheit:  117o  war  Thomas,  erzbischof  von 
Canterbury,  in  der  kathedrale  daselbst  —  wol  nicht  ohne 
selinld  Heinrichs  II.  —  ermordet  worden,  drei  jähre  darauf 
wurde  er  heilig  gesprochen.  Lateinische  lind  französische 
dichtnng  bemächtigte  sich  bald  des  aufsehen  erregenden  gegen- 
ständes, dichter  und  pnbliknm  nahmen  für  oder  gegen  den 
künig  partei.  So  kommt  hier  von  vornherein  ein  subjektiver, 
leidenschaftlicher  ton  in  die  darstellung.  Unser  dichter  steht 
auf  seiten  des  heiligen  und  gibt  seinen  Sympathien  und 
autipathien  offen  ausdruck,  wie  aus  den  im  folgenden 
wiedergegebenen  stücken  leicht  hervorgeht.  Es  ist  an  fang 
und  schluss  des  gediehts  nebst  einigen  Strophen,  welche 
zeigen,  wie  klar  und  anschaulich  der  Verfasser  die  Vorgänge 
schildert. ') 

1  Tuit  li  fisic'ien  ue  sont  ades  buen  mire, 
Tuit  clerc  ne  sevent  pas  bien  chanter  ue  bien  lire, 
Alquant  des  troveors  faillent  tost  a  bien  dire, 
Tels  choisist  le  noalz,  ki  le  rnielz  cuide  eslire, 
Et  tels  cuide  estre  inieldre,  des  altres  est  li  pire. 

6  Se  nuls  vuelt  controver  et  treitier  et  escrire, 
De  bien  dire  se  paint,  ke  nuls  n?en  puisse  rire 
Ne  par  alcune  rien  s"ovraigne  desconfire. 
Mette  le  sens  avaut  et  li  mals  seit  a  dire: 
Del  bien  ainende  l'uns,  et  nuls  hom  n'en  empire. 


')  Das  gedieht  ist  nur  in  anglonormannischen  hss.  überliefert,  der 
Verfasser  sagt  aber  selbst  (siehe  v.  5S20),  dass  er  aus  Frankreich  stammt 
und  reines  französisch  schreibt,  weshalb  die  handschriftlichen  Schreibungen 
e  für  et,  o  für  ue,  u  für  o  oben  durch  die  kontinentalen  d.  h.  francischen 
lautformen  ie,  ue,  o  ersetzt  sind.  Der  diphthong  ei  ist  noch  bewahrt 
(noch  nicht  oi).  Hingegen  zeigen  die  hss.  bezüglich  der  auflösung  des  l 
schwanken:  autre  neben  alqwvnt,  auch  doppelschreibung  wie  in  mauls 
und  vollständigen  Schwund  (nach  i  und  ü,  wie  fiz,  nus  neben  nuls).  Für 
die  spräche  des  dichters  ist  wahrscheinlich  noch  festes  l  anzunehmen; 
auch  die  Vermischung  von  ai  und  ei  {seint  für  Saint)  ist  wohl  erst  den 
köpfeten  zur  last  zu  legen.  Auch  in  den  formen  finden  sich  in  den  hss. 
anglonormannismeu,  die  oben  durch  die  entsprechenden  francischen  formen 
ersetzt  sind. 


Im  einzelnen.  Vers  3  faillent  a  bien  d.:  'sie  greifen  fehl  im, 
beim  gut  erzählen,  beim  dichten".  —  10  amende:  intransitiv,  als  gegensatz 
zu  empire  'wird  besser,  bessert  sich". 


120  IV.  Kapitel.    Die  geistliche  Literatur  im  12.  Jahrhundert. 

1 1   Tor  <;o  Tai  coinincneie,  kc  je  vuldrai  descrire, 
Se  Jesus  Criz  le  soffre,  ki  de  nos  toz  est  sire, 
La  v'i'e  saint  Tomas,  celni  de  Cantorbire, 
Ki  por  sa  mere  iglise  fu  ocis  par  martire : 
Or  est  halz  sainz  el  ciel,  nuls  nel  puet  contredire. 

16  De  molt  divers  corages  et  de  diverse  v'i'e 

,Sont  en  cest  siecle  gent,  n'est  nuls  hom  quil  drsd'iV: 

Plusoi  ont  poverte,  li  alquant  raanant'ie; 

Alquant  aiment  le  sen  et  plusor  la  fol'i'e; 

Li  alquant  aiment  Den,  Satan  les  plusors  gu'i'e. 

21  Seignor,  por  amor  Deu  et  por  salvac'i'on, 
Laissiez  la  vanite,  entendez  al  sermon. 
N'i  a  celui  de  vos,  ki  n'entende  raison. 
Laissiez  del  tot  ester  le  conseil  al  felon: 
Malvais  est  li  guaainz,  ki  torne  a  damnaison! 

2G  Et  Deu  et  seinte  iglise  et  les  clers  honorez, 
Les  povres  herbergiez  et  paissiez  et  vestez, 
Et  voz  dimes  par  tot  dreiturelment  donez; 
Des  pechiez  criminals  de  trestoz  vos  guardez! 
Veiremcnt  le  vos  di,  Damnedeu  aorez. 

31  Molt  par  fu  sainte  iglise  en  cel  tens  defolce, 
Et  del  conseil  le  rei  a  grant  tort  demenee; 
Deus  en  seit  merciez,  ki  or  l'a  regardee! 
Par  saint  Tomas  sera  trestote  relevee, 
Ki  en  sofri  de  mort  de  son  gre  la  colee. 

36  Faire  soleit  li  reis  as  clers  et  force  et  tort, 
S'a  forfait  fnssent  pris,  ja  n'i  cnst  resort 
K'il  nes  fesist  jugier  as  lais  a  lor  acort. 
Saint  Tomas  les  maintint:  n'ourent  altre  confort; 
Por  eis  se  conbati  tant  k'en  soft'ri  la  mort. 


5101)  La  meisnieo  al  Satan  est  el  mostier  venue 
En  sa  destre  main  tint  chaseuns  s'espee  nue, 
En  Pautre  les  cuigniees  et  li  quarz  besagiie. 
Un  piler  ot  iluec,  la  volte  a  sostenue, 
Qui  del  saint  arcevesqne  lor  toli  la  vöue   . 

5411  D'nne  part  del  piler  en  sont  li  trei  ale, 
„Le  tra'itor  le  rei"  ont  quis  et  demande. 
Keinalz  de  l'altre  part  un  moine  a  encontre. 


38  K'il  nes  f.:  nes  =  ne  les,  ne  pleonastisch  wie  nach  iviter. 


Sinn 


des  ganzen:  'es  hätte  kein  ausweichen,  keine  hilfe  dagep  "  gegeben,  dass 
er  sie  durch  die  laien  hätte  nach  ihrem  belieben  richten  lassen'. 


1.    Legcudarisches.  127 

Demanda  „l'arcevcsque",  dune  a  Li  sainz  parle: 
..  Reinalz,  se  tu  me  quiers",  fait  il  „ci  m'as  trovfi". 

5410  Le  non  do  traitor  sainz  Thomas  n'entendi, 
Mais  al  non  d'arcevesque  restut  et  ateudi, 
Et  eueontre  Roinalt  dcl  degre  descendi. 
..  Reinalz,  so  tu  me  quiers,  trove"  fait  il  „m'as  ci". 
Rar  l'acor  del  mantel  l'aveit  Reinalz  saisi. 

"'121   „Reinalz,  tanz  biens  t'ai  fait"  fait  li  bnens  ordenez 
„E  que  quiers  tu  sor  mei  en  sainte  iglise  armez?" 
Fait  Reinalz  li  fiz  Urs:  „Ccrtes  vos  le  savrez". 
Sachic  l'aveit  a  sei,  qne  toz  fu  remuüz. 
„Tnü'tre  le  rei  estes"  fait  il  „§a  en  veudrez!" 

2426  Car  hors  del  samt  mostier  tra'i'uer  le  cuida. 
Bien  crei  que  sainz  Thomas  cele  feiz  s'a'i'ra 
De  $o  que  eil  Reinalz  le  detraist  et  sacha. 
Si  ad  enpaint  Reinalt  qu'ariere  reusa 
E  l'acor  del  mantel  hors  des  mains  li  sacha. 

5431   „Fui,  malvais  hom,  d'ici!"  fait  li  sainz  coronez 
„Jo  ne  sui  pas  traitre,  n'en  dei  estre  retez". 
„Fuiez!"  fait  li  Reinalz,  quant  se  fu  porpensez. 
„Nel  ferai",  fait  li  sainz  „ici  me  troverez 
Et  voz  granz  felon'ies  ici  acomplirez". 

5430  Devers  Tele  del  nort  s'en  est  li  ber  alez 
Et  a  un  piler  s'est  tenuz  et  acostez. 
Entre  dous  alteis  est  eil  pilers  maiserez: 
A  la  mere  Deu  est  eil  de  desoz  sacrez, 
El  non  saint  Beneeit  est  li  altre  ordenez. 

5441  La  l'ont  trait  et  mene  li  ministre  enragie: 
„Assolez"  fönt  il  „cels  qui  sont  escomengie 
Et  cels  qui  sont  par  vos  suspendu  et  lacie". 
„N'en  ferai"  fait  il  „plus  que  je  n'ai  comencie". 
A  ocire  l'ont  donc  ensemble  manacie. 

5446  Fait  il:  „Do  voz  manaces  ne  sui  espoentez; 
Del  martire  sofrir  sui  del  tot  aprestez. 
.Mais  les  mienz  en  laissiez  aler,  nes  adesez, 
Et  l'aites  de  mei  sol  50  que  faire  devez". 
N'a  les  suens  li  bnens  pastre  a  la  mort  obl'i'ez. 

5451  Ainsi  avint  de  Deu  quant  il  ala  orer 
Desor  mont  Olivete  la  nuit  a  l'avesprer, 
E  eil  li  comencierent,  quil  ([uistrent,  a  cr'i'er: 
„0  est  li  Nazareus?"  —  „Ci  me  poez  trover", 
Fist  lor  Deus  ,, mais  les  miens  en  laissiez  toz  aler". 


128  IV.  Kapitel.    Die  geistliche  Literatur  Im  12.  Jahrhundert. 

5811  Guarniers  li  clera  del  Tont  fiue  ci  son  sermon 
Del  martir  saint  Thomas  et  de  sa  passYön, 

Et  mainte  feiz  le  list  a  la  tombe  al  baron. 

Ci  n?a  mis  un  sol  uaot  sc  la  verite  non. 

De  ses  mesfaiz  li  face  li  pius  Deus  veir  pardon. 

5816  Aiuc  niais  si  buens  romanz  ne  fu  faiz  ue  trovez. 
A  Canturbire  fu  et  faiz  et  ameudez. 
N'i  ad  mis  un  sol  mot  qui  ue  seit  veritez. 
Li  vers  est  d'une  riuie  en  eine  clauses  coplez. 
Mes  languages  est  bucns:  car  en  France  fni  nez. 

5^-21  L?an  secont  que  li  sainz  fu  en  s'iglise  öcis, 
Comengai  cest  romanz  et  molt  m'en  entremis. 
Des  privez  saiut  Thomas  la  verite  apris. 
Mainte  feiz  en  ostai  90  que  jo  ainz  escris, 
Por  oster  la  men^onge.    AI  qnart  an  fin  i  mis. 

5826  I90  sachent  tuit  eil  qui  ceste  v'ie  orrout, 
Que  pure  verite  par  tot  o'ir  porront. 
Et  50  sachent  tuit  eil  qui  del  saint  traitie  out, 
0  romanz  o  latin,  et  cest  chemiu  ne  vont 
0  el  dient  que  jo,  cöntre  verite  sont. 

5831  Or  pnons  Jesu  Crist,  le  fil  saiute  Marie, 

Por  amor  saint  Thomas  nos  doinst  la  söe  aie, 
Que  riens  ne  nos  sofraigne  a  la  corporal  v'ie 
Et  si  nos  esneions  de  seculer  folie 
Qu'al  morTaut  aions  la  söe  conipaignie.     Amen. 

Ausgaben  von  Immanuel  Bekker,  B.  1838,  von  C.  Hippean, 
P.  1859.  Kritische  ausgäbe  angekündigt  von  Wendelin  Foerster 
(dem  ich  die  materialien  zu  den  hier  gegebenen  stücken  verdanke). 
—  Vgl.  noch  E.  Estienne,  La  vie  de  St.  Th.  Etüde  liist.,  litt,  et 
philologique.  Nancy  1883.  —  Dem  anfang  des  13.  Jahrhunderts 
gehört  das  Thomaslcben  des  mönchs  Benedeit  von  St.  Alban  (Eng- 
land), hrsg.  von  Michel  in  Waces  Clironique  des  ducs  de  Normandie, 
der  mitte  des  13.  Jahrhunderts  ein  drittes,  anonymes  Thomasleben, 
hrsg.  von  Paul  Meyer  (Soc.  d.  anc.  t.  1885). 

5.  Sonstige  Heiligenlegenden. 
Das  werk  Garniers  bleibt  mit  der  Verehrung  eines  modernen 
heiligen  vereinzelt.  Um  so  reicher  sind  die  heiligen  der  älteren 
zeit  in  der  französischen  diehtung  gegen  ende  des  12.  Jahr- 
hunderts vertreteD.  Aus  der  ersten  hälfte  des  Jahrhunderts 
bleibt  hier  nur  noch  die  neue  bearbeitung  des  alten  Alexius- 
lebens  in  laissenform  zu  erwähnen  (vgl.  kap.  I,  4  anni.).    Nach 


1.    Logendarisclies.  129 

Brandan  ist  Patrick  der  zweite  irische  heilige,  der  uns  hier 
begegnet:  am  1190  hat  die  schon  vorher  durch  versnovellen 
und  fabeln  bekannt  gewordene  dichterin  Marie  de  France 
(d.  i.  aus  Frankreich)  nach  lateinischer  vorläge  das  'JEspurgatoire 
de  St.  Patrice'  gedichtet  und  darin  sowol  eine  Schilderung 
des  fegefeuers  als  auch  des  orts  der  seligen  gegeben,  als 
gewährsmann  den  ritter  Owen  nennend,  welcher  diese  statten 
in  24  stunden  durchwandert  haben  soll.  Auch  das  leben  der 
irischen  heiligen  Modwenna  fällt  noch  in  dieselbe  zeit  oder 
nicht  viel  später.  Von  angelsächsischen  heiligen  wird  um 
diese  zeit  der  heilige  Edmund,  der  im  jähre  870  im  kämpfe 
gegen  die  Dänen  gefallene  könig  von  Ostangeln,  durch  Denis 
Piramus  gegenständ  der  dichtung.  Französische  heiligenleben, 
welche  hierher  gehören,  sind  das  des  —  im  7.  Jahrhundert 
wirkenden  —  heiligen  Egidius,  der  von  dem  englischen 
kanonikus  Guillaume  de  Berneville  in  der  Vie  de  St.  Gilles 
verherrlicht  wird;  des  heiligen  Eemigius,  der  den  Chlodovech 
getauft,  von  dem  dichter  Kicher;  das  der  heiligen  Genoveva 
von  Renaud.  In  das  Vaterland  der  märtyrerin  Eulalia  (siehe 
kap.  I)  führt  uns  das  leben  des  auf  dem  rost  gebratenen 
heiligen  Laurentius,  dessen  legende  wiederum  ein  in  England 
lebender  dichter  behandelt. 

Mit  nicht  geringerer  neigung  aber  als  den  abendländischen 
heiligen  wante  man  sich  denen  des  morgenlandes  zu,  deren 
legenden  häufig  in  noch  viel  höherem  masse  als  jene  den 
einfluss  üppiger  phantasie  und  volkstümlicher  erzählung  er- 
kennen lassen.  Nachdem  die  dichtungen  über  Alexius,  Gregorius 
und  Nicolas  vorausgegangen  sind,  die  —  durch  Vermittlung- 
lateinischer  viten  —  entweder  ihren  beiden  oder  die  mit 
demselben  verbundene  geschichte  aus  dem  Orient  erhalten 
haben,  folgt  jetzt  eine  dichtung  über  die  mannigfachen  folter- 
qnalen  und  Wundertaten  des  heiligen  Georg,  von  Simon  de 
Freine  gegen  1200  in  siebensilbnern  verfasst,  während  autorschaft 
und  abfassungszeit  einer  anderen  bearbeitung  derselben  legende 
unsicher  ist  (vgl.  oben  Wace).  Derselben  zeit,  wenn  nicht  schon 
dem  anfang  des  13.  Jahrhunderts,  gehört  eine  episch  gefärbte 
bearbeitung  der  Placidas-Eustachiuslegende  an,  welche 
neben  den  legeudarischen  auch  zahlreiche  romanhafte  demente 
enthält   (Placidas,    auf  der  jagd   durch    das   erscheinen   eines 

Voretzsob,  Studium  d.  afrz.  Literatur.     2.  Auflage.  Q 


130  IV.  Kapitel.   Die  geistliche  Literatur  im  12.  Jahrhundert. 

kreuzes  über  dem  geweih  eines  verfolgten  birselies  bekebrt, 
erhält  in  der  taufe  den  namen  Eustachius,  muss  dünn  allerlei 
unglück,  Verarmung,  trennuug  von  seiner  familie,  erdulden, 
wird  endlicb  mit  den  seinen  wieder  vereinigt  und  erleidet  mit 
ibnen  standbaft  den  märtyrertod). 

Sehr  zahlreich  sind  unter  den  dichtungen  orientalischer 
Herkunft  namentlich  die  über  weibliche  heilige,  von  denen, 
ausser  dem  oben  erwähnten  Margaretenleben  von  Wace,  dem 
12.  Jahrhundert  noch  gehören:  das  leben  der  heiligen  büsserin 
Marie  von  Egypten,  sowie  das  der  heiligen  Thais,  welche 
beide  aus  weltkindern  zu  büssenden  einsiedlerinnen  wurden 
(das  gedieht  von  Thais  wurde  anfang  des  13.  Jahrhunderts  von 
dem  Verfasser  des  Föhne  moral  in  dieses  sein  lehrgedicht  mit 
übernommen);  die  heilige  Catherina,  deren  legende  von  der 
nonne  Clemence  de  Berekinge  in  England  gedichtet  wurde; 
die  heilige  Euphrosyne,  welche  kühn  die  Versuchung  selbst 
aufsucht  und  tapfer  besteht  (in  der  form  der  chansons  de 
geste,  aber  mit  dem  normalmass  von  zehn  alexandrinern  für 
die  durchgereimte  strophe).  Das  13.  Jahrhundert  fügt  zu  diesen 
dichtungen  neubearbeitungen  der  schon  behandelten  legenden 
sowie  zahlreiche  neue  legenden  hinzu. 

Ausgaben:  Espurgatoire  de  St.  Patrice  zuerst  in  Roqueforts 
Poesies  de  Marie  de  France,  P.  1820,  bd.  2,  neuerdings  von 
T.  Atkinson  Jenkins,  Chicago  1894  und  1903.  Vgl.  Phil,  de 
Feiice,  L'autre  monde,  P.  1906.  —  Vie  Seint  Edmund  le  rei,  publ. 
by  Florence  Leftwich  Ravenel,  Philadelphia  1906.  —  Vie  de 
St.  Gilles  p.  p.  G.  Paris  et  A.  Bos,  P.  1881  (Soc.  d.  anc.  t.).  —  (Euvres 
de  Simund  de  Freine  p.  p.  J.  E.  Matzke,  P.  1909  (Sdat)  s.  61  ff.  — 
C.  Ott,  Das  altfr.  Eustachiusleben  (nach  Bibl.  Nat.  f.  fr.  1347),  RF 
32,  481  ff.,  auch  separat  (Erlangen  1911).  —  Im  übrigen  vgl.  die 
bibliographischen  angaben  bei  G.Paris  §  145  ff,  Petit  de  Jullevillc 
I,  47  ff  und  Gröber  s.  641  ff.  —  Über  Wilhelm  von  England  siehe 
kap.  VIII. 

6.  Marienverehrung. 
Im  engen  Zusammenhang  mit  der  Heiligendichtung  steht  die 
Verehrung  der  Mutter  Gottes,  wie  sie  uns  zuerst  in  französischer 
dichtung  bei  Wace  begegnet  ist.  Aber  die  lateinische  diehtuug 
hatte  auch  Hier  schon  kräftig  vorgearbeitet.  Waces  gedieht 
beruht  auf  lateinischer  vorläge.  Vor  allem  war  die  Jungfrau 
Maria    im    11.    und    12.  Jahrhundert    gegenständ    zahlreicher 


2.   Biblische  Stoffe.  131 

erzählender  dichtungen  geworden,  in  welchen  sie  zur  bekeliruug 
eines  Sünders  oder  zur  rettung  eines  getreuen  handelud  ein- 
greift: es  sind  die  sogenannten  mirakel,  wie  solche  auch 
von  anderen  heiligen  kursierten.  Meist  aber  wurden  sie  auf 
die  Mutter  Gottes  bezogen  und  im  12.  Jahrhundert  mehrfach  zu 
mirakelsammlnngen  zusammengefasst.  Aus  diesen  lateinischen 
niiiakeln  gehn  nun  in  der  folgezeit  teils  einzelne  französische 
gedichte  {contes  pieux,  coittes  dcvots),  teils  ganze  mirakel- 
saimnlungen  in  französischer  spräche  (miracles)  hervor. 

Neben  Wace  ist  als  Verfasser  eines  Marienlebens  der 
um  die  mitte  des  12.  Jahrhunderts  dichtende  Hermann  von 
Valenciennes,  kanonikus  daselbst,  zu  nennen,  der  auch  die 
Genesis  in  versen  bearbeitet  hat.  Die  einzelnen  mirakel- 
dichtungen  gehören  im  wesentlichen  erst  dem  13.  Jahrhundert 
an.  Dagegen  finden  wir  noch  im  12.  Jahrhundert  —  vielleicht 
schon  mitte  des  12.  Jahrhunderts  anzusetzen  —  eine  42  legenden 
umfassende  Sammlung  von  dem  anglonormannischen  mönch 
Adgar.  Die  einzelnen  geschienten  lassen  sich  sämtlich  in 
lateinischen  Sammlungen  nachweisen,  nach  seiner  eigenen 
angäbe  hat  er  auch  tatsächlich  aus  dem  latein  übersetzt,  aber 
seine  eigentliche  vorläge,  das  von  ihm  zitierte  buch  des  meister 
Älbi,  ist  uns  nicht  bekannt.  Allem  anschein  nach  hat  sich 
Adgar  eng  an  seine  vorläge  gehalten  und  erzählt  so  die 
geschichte  von  dem  judenknaben,  der  mit  seinen  christlichen 
altersgenossen  zur  christenkirche  geht  und  durch  Maria  in  dem 
glühenden  ofen,  in  den  ihn  der  zornige  vater  wirft,  lebend 
und  heil  bewahrt  wird;  von  dem  kranken  mönch,  der  von 
der  Mutter  Gottes  mit  ihrer  milch  geheilt  wird;  das  leben  der 
Maria  von  Egypten,  die  Theophiluslegende  u.  a. 

Vgl.  im  allgemeinen:  Adolf  Mussafia,  Marienlegenden,  Wien 
1887  — 1898  (s.  o.).  —  Adgars  Marionlegenden  hrsg.  von  Carl 
Neuhaus,  Heilbronn  1886,  Afr.  Bibl.  9. 


2.    Biblische  Stoffe. 

Nicht  in  demselben  masse  wie  die  legenden  waren  die 
biblischen  erzählungen  gegenständ  von  Übersetzungen  und 
bearbeituugen:    das  unterhaltende   element  war   hier  weniger 

9* 


132  IV.  Kapitel.   Die  geistliche  Literatur  im  12.  Jahrhundert. 

stark  als  dort  vertreten,  belehrung  fanden  die  laien  zur  genüge 
in  epistel  und  predigt,  ein  näheres  interesse  daran  hatten 
zunächst  nur  die  geistlichen,  welche  zudem  in  der  regel  über 
eine  hinreichende  kenntnis  des  lateins  verfügten,  um  die  Vulgata 
zu  verstehen.  Erst  mit  der  Waldenserbewegung  beginnt  sich  ein 
stärkeres  interesse  der  laienweit  an  einer  Bibelübersetzung  zu 
dokumentieren,  doch  sind  uns  von  'diesen  durch  Petrus  Valdus 
gegen  1170  veranlassten  auszügen  aus  der  Bibel  nur  wenige 
fragmente  erhalten. 

Prosaübersetzungen. 

Die  ältesten  Übersetzungen,  die  wir  nach  der  Passion  des 
10.  Jahrhunderts  finden,  sind  für  den  gebrauch  von  geistlichen 
bestimmt,  in  prosa,  meist  in  wörtlicher  wiedergäbe  des 
lateinischen  textes  der  Vulgata,  daher  für  uns  im  wesentlichen 
nur  von  sprachlichem  interesse: 

Zwei  Übersetzungen  des  Psalters,  wahrscheinlich  im 
anfang  des  12.  Jahrhunderts  angefertigt,  der  ursprünglich  aus 
dem  kloster  Montöbourg  stammende  sogenannte  Oxforder 
Psalter  (nach  dem  sogenannten  psalterium  gallicanum)  und  der 
aus  Canterbury  stammende  sogenannte  Cambridger  Psalter, 
eine  interlinearversion  zu  der  von  Hieronymus  auf  grund  des 
hebräischen  Urtextes  gefertigten  lateinischen  Übersetzung  (dem 
sogenannten  psalterium  hebraicum); 

die  um  1170  in  England  entstandene,  aber  auch  in 
mehreren  festländischen  handschriften  überlieferte  Übersetzung 
der  Vier  Bücher  der  Könige  (inbegriffen  die  zwei  Bücher 
Samuelis),  deren  Verfasser  sich  gegenüber  dem  original  manche 
freiheit  gestattet,  durch  erläuternde  zusätze  das  ganze  seinen 
lesern  nahe  zu  bringen,  Widersprüche  auszugleichen,  allzu 
realistische  ausdrucksweise  zu  mildern  sucht  und  gelegentlich 
reime  in  seine  prosa  einmischt; 

aus  dem  Neuen  Testament  eine  frühestens  in  das  ende  des 
12.  Jahrhunderts  gehörende  Übersetzung  der  Apocalypse. 

Vgl.  im  allgemeinen  Samuel  Berger,  La  Bible  francaise.  — 
Ausgabo  der  beiden  psalter  durch  Fr.  Michel:  Libri  Psalmorum 
versio  antiqua  Gallica  (Oxford),  P.  1880,  und  Le  Livrc  des  Psaumes 
(Cambridge),  P.  1876.  —  Les  quatro  livres  des  rois  p.  p.  Le  Ronx 
de  Lincy,  P.  1841.  Li  quatre  livre  des  reis  hgg.  v.  Ernst  R.  Curtius, 
Dresden  1911  (GrL  26).  Bruchstück  im  Afr.  Übungsbuch  8.  191—206. 


2.   Biblische  Stoffe.  133 

Das  Hohelied. 
Von  den  versbearbeitungen  ist  als  ältestes  und  merk- 
würdigstes stück  die  paraphrase  des  Hohenliedes  an  die 
Bpitze  zu  stellen,  welche  von  einigen  sogar  noch  dem  ende 
des  11.  Jahrhunderts  zugeschrieben  wird.  Die  form  der  sog. 
schweifreimstrophe  scheint  dem  Vorbild  der  geistlichen  dichtuug, 
der  lateinischen  sequenz,  nachgebildet  zu  sein,  berührt  sich 
aber  durch  die  Verbindung  mehrerer  miteinander  assonierender 
zehnsilbner  mit  abschliessendem  kurzvers  auch  mit  der  strophen- 
form  der  weltlichen  lyrik,  besonders  der  chanson  ä  toile  (siehe 
das  folgende  kapitel).  Auch  die  Stilisierung  des  anfangs 
(strophe2ff.)  gemahnt  an  weltliche  dichtgattungen: ') 

1  Quant  li  Bolleiz  couverset  en  leoD,  I 

Eu  icel  teus  qu'est  ortus  pliadon, 
Per  uut  matin 

4  Une  pulcellet  odi  inolt  gent  plorer  II 

Et  son  ami  dolcement  regreter 
Co  jo  lli  dis: 

7  „Gentilz  pucellet,  molt  t'ai  odit  plorer  III 

E  tum  ami  dolcement  regreter. 
Et  chi  est  illi?" 

ld  La  virget  fud  de  bon  entendement,  IV 

Si  respoudiet  molt  avenablement 
Por  son  ami: 


!)  Der  dialokt  des  Stückes  scheint  nach  dem  osten  zu  weisen  (früher 
Übergang  von  en  zu  an:  49ff.,  Jerusalem  im  reim  zn  amant),  einzelnes 
(verstummen  von  auslautendem  t,  ab  für  ot  ■*—  apud)  besonders  nach  dein 
Südosten.  Die  Schreibung  zeigt  manches  bemerkenswerte:  erhaltung  des 
intervokalen  11  {pulcellet,  nulle:  vielleicht  latinismus),  darnach  auch 
nnorganiaches  11  (solleiz);  ferner  Verdoppelung  in  liaison  (jo^lli  dis, 
enn^ested);  zahlreiche  unorganische  -t  (unt  =  un,  virget  =  virge:  um- 
gekehrte  Schreibung,  da  dem  kopisten  auslautendes  t,  d  überall  stumm 
war)  und  ebenso  unorganische  -z;  vertauschung  von  auslautendem  m  und  n 
{tum  =  tun  ton);  ei  für  e  <—  d  {seit  <—  sapit).  —  In  dem  oben  gedruckten 
text  sind  it  nud  r,  i  und  j  voneinander  geschieden,  die  übrigen  eigenarten 
beibehalten. 

1—2  leon  Sternbild  des  löwen,  pliadon  Siebengestirn;  die  form 
erklärt  sich  aus  dem  griech.  genitiv  (>}  tJitzoXij  xd>v  TLktiäSwv  —  ortus 
Pliadon).  —  9  illi:  einsilbig  (metrum!),  also  wohl  =  iL  —  10— 12: 
lückenhaft  überliefert  und  z.  t.  ergänzt.    Por:  hs.  so. 


13  I  IV.  Kapitel.   Die  geistliche  Literatur  im  12.  Jahrhundert. 

13  „Li  miens  ainis,  il  est  de  tel  paraget  V 

Qae  neuls  on  nen  seit  conter  lignaget 
De  l'nne  part. 

16  II  est  plus  gensz  que  solleiz  enn  ested,  VI 

Vers  lui  no  puet  tenir  nulle  clartez, 
Tant  par  est  belsz. 

19  Blans  est  et  roges  plus  que  jo  nel  sai  diret,  VII 

Li  sueus  senblansz  nen  est  cntrelz  cent  ruilic 
21  Nc  ja  nen  iert  .  .  . 

Die  Jungfrau  (die  christliche  kirche)  erzählt  weiter,  welche 
Schönheiten  ihr  geliebter  (Christus)  an  ihr  gepriesen,  wie  sie 
ihrerseits  nach  ihm  gesucht  habe  und  von  den  Wächtern 
misshandelt  worden  sei.  Vor  5000  jähren  hat  er  eine  andere 
freundin  gehabt,  aber  verlassen,  da  sie  nicht  de  bei  servise 
war,  und  dann  die  Jungfrau  erwählt.  Abraham,  Isaak,  Jakob 
und  andere  hat  er  ihr  als  boten  gesant,  durch  seinen  letzten 
boten  hat  er  sie  für  sich  begehrt. 

Das  Vorhandensein  einer  normannischen  versbearbeitung 
aus  der  ersten  hälfte  des  Jahrhunderts  bezeugt  Samson  von 
Nanteuil  (mitte  des  12.  Jahrhunderts,  siehe  folgende  seite). 

Eine  ausführliche  paraphrase  des  Hohenliedes,  in  engerem 
anschluss  an  den  Bibeltext,  gab  zwischen  1176  und  1181  Landri 
von  Waben  (bei  Montreuil-sur-Mer)  für  den  grafen  Balduin  IL 
von  Guines  und  Ardres. 

Text  des  ältesten  Hohenliedes  im  Afr.  Übungsbuch,  vgl.  dazu 
Koschwitz,  Cornmentar.  Jean  Acher,  Essai  sur  le  poeme  Quant  IL 
solleiz,  ZfSL  28  (1911)  47  ff.  —  Wegen  der  beiden  anderen  siehe 
Suchier,  ZrP  8  (1884)  413  ff. 

Andere  Versbearbeitungen. 
Eine  reihe  von  bearbeitungen  einzelner  teile  des  Alten 
und  Neuen  Testaments  in  versen  ist  noch  im  12.  Jahrhundert 
entstanden,  die  erzählenden  stücke  teils,  wie  die  älteren 
legenden,  in  reimpaaren,  teils  in  der  form  der  chansons  de 
geste,  die  lyrischen  stücke  meist  in  reimpaaren,  wobei  sowol 
der   sechssilbner   als   auch   der   achtsilbner   erscheint.     Grosse 


20  senblansz:  sein  aussehen,  seines  gleichen.  —  entrelz:  entre 
les;  hs.  entreiz,  das  nieist  als  intra  ijpsum  (ij)sos)  erklärt  wird  (lat.  text: 
electus  ex  millibus). 


2.   Biblische  Stoffe.  135 

Selbständigkeit  und  dichterische  kunst  ist  diesen  bearbeitungen 
meist  nicht  nachzurühmen. 

Von  den  beiden  bearbeitungen  der  Genesis  ist  die  ältere, 
diejenige  des  obengenannten  Hermann  von  Valenciennes, 
aus  der  mitte  des  12.  Jahrhunderts,  zugleich  auch  die  dichterisch 
höherstehende,  freiere,  nicht  nur  in  der  metrischen  form,  sondern 
auch  im  stile  der  chansons  de  geste  gehalten,  während  die 
jüngere,  in  achtsilbigen  reimpaaren  von  Evrart  (oder  Evrat) 
zwischen  1192  und  1200  für  Marie  de  Champagne  gedichtet, 
meist  den  Bibeltext,  unter  einmischung  von  glossen,  wiedergibt. 

Für  dieselbe  fürstin  Marie  wurde  auch  der  41.  psalm 
(Eructavit  cor  meum  verbum  honum)  in  achtsilbigen  reimpaaren 
übersetzt  und  erläutert  (zwischen  1181  und  1187  —  ob  wirklich 
durch  Adam  von  Perseigne,  ist  sehr  ungewiss).  Jeder  satz  des 
Vulgatatextes  gibt  dem  Verfasser  anlass  zu  ausführlichen,  z.  t. 
recht  weit  hergeholten  erörterungen,  so  dass  der  kurze  psalm 
(rund  40  Zeilen)  hier  zu  einer  dichtung  von  2168  versen  auf- 
geschwellt erscheint.  Gegen  ende  des  Jahrhunderts  entsteht 
auf  grund  des  Oxforder  Prosapsalters  eine  vollständige 
versbearbeitung  des  Psalters  in  sechszeiligen  Strophen  mit 
schweifreim  (aab  —  ccb),  in  versen  von  je  sechs  silben. 

Die  Sprüche  Salomonis  wurden  schon  um  die  mitte 
des  Jahrhunderts  von  Samson  de  Nanteuil  in  England  in  aus- 
führlicher,   dichterisch   ausgezeichneter   darstellung  behandelt. 

Um  diese  zeit  ist  auch  die  in  normannischer  mundart 
verfasste  Geschichte  Josephs  {Estoire  Joseph)  entstanden, 
in  sechssilbigen  reimpaaren,  im  wesentlichen  auf  grund  der 
erziihluug  im  ersten  buch  Moses',  am  schluss  durch  eine 
vergleichung  von  Josephs  leben  und  handeln  gegenüber  vater 
und  brüdern  mit  dem  erlösungswerk  Christi  bereichert. 

Die  älteste  bearbeitung  der  Bücher  der  Makkabäer 
gehört  erst  dem  ende  des  12.  Jahrhunderts  (oder  dem  anfang 
des  13.  Jahrhunderts)  an.  Kur  in  einem  kleinen  bruchstück 
erhalten,  zeigt  sie  durchaus  epische  form  (laissen  aus  zehn- 
silbnern)  und  darstellung. 

Endlich  lässt  sich  hier,  im  weiteren  sinne,  auch  noch  das 
gedieht  von  der  Zerstörung  Jerusalems  {La  Venjeance 
nostre  Seiyneur)  anreihen,  das  zwar  keinen  biblischen  stoff  im 
eigentlichen  sinne   behandelt,   aber  die  Zerstörung  Jerusalems 


136  IV.  Kapitel.    Die  geistliche  Literatur  im  12.  Jahrhundert. 

(durch  Titas  i.  j.  70)  als  strafe  für  die  kreuzigung  Christi 
hinstellt,  mit  der  angeblichen  lioilung  des  kaisers  Vespasian 
durch  das  schweisstuch  der  heiligen  Veronica  in  Verbindung 
bringt  und  zum  schlnss  Vespasian,  Titas  und  sein  volk 
Christen  werden  lässt.  Das  in  der  form  der  chansons  de  geste 
(alexandrinerlaissen)  verfasste  gedieht  gehört  erst  dem  ende 
des  12.  Jahrhunderts  an. 

Vgl.  im  allgemeinen  Bonnard.  Eine  probe  von  Hermanns 
Genesis  bei  Bartsch  et  Horning  s.  101  ff.,  von  Evrarts  Genesis 
s.  303  ff,  von  Samsons  Proverbia  s  149  ff.  —  Eructavit,  pnblished 
by  T.  Atkinson  Jenkins,  Dresden  1909  (GrL  20).  —  Histoire  de 
Joseph  hrsg.  v.  W.  Steuer,  Erlangen  1903,  (RF  16),  besser  von 
E.  Sass,  L'Estoire  Joseph,  Dresden  1906  (GrL  12).  —  E.  Stengel, 
Frammenti  di  una  versione  libera  dei  libri  dei  Maccabei,  Rivista 
di  fil.  rom.  2  (1875)  82  —  90.  —  Zur  Zerstörung  Jerusalems  siehe 
Walther  Suchier,  ZrP  24  (1900)  s.  161  ff,  25  s.  94ff 


3.    Kultusdichtung  und  Predigt. 

Wie  oben  bemerkt,  fanden  die  laien  ihr  bedürfnis  nach 
Bibelkenntnis  in  erster  linie  durch  den  kultus,  durch  epistel 
und  predigt  befriedigt.  War  seit  dem  konzil  von  Tours,  813, 
schon  die  predigt  in  der  Volkssprache  vorgeschrieben,  so 
fand  diese  nun  auch  bald  in  andern  teilen  des  kultus  eingang, 
wo  zunächst  das  latein  geblieben  war,  indem  man  auf  den 
lateinischen  text  eine  erläuterung  in  der  Volkssprache  folgen 
Hess  oder  ihn  schliesslich  ganz  durch  den  französischen  text 
ersetzte. 

Vgl.  im  allgemeinen:  Edelestand  du  Möril,  Poesies  populaires 
latines  anterieures  au  12e  siecle,  P.  1845  (dazu  Magnin,  JdSav 
1844,  1 — 20);  Melanges  archeologiques  et  litteraires,  P.  1850. 
L.  Gautier,  Histoire  de  la  poesie  liturgique  au  m.  ä.  Les  Tropes  I. 
P.  1886. 

1.    Stopfepistelu. 

Die    lateinisch    verlesene    epistel   wurde   dem   Verständnis 

des   publikums  durch  eine  Umschreibung  in  der  vulgärsprache 

und  zwar  in  dichterischer  form  nahe  gebracht.    Solche  fareitnren 

oder   stopfepistelu   wurden   zuerst   und  am  häufigsten  auf  den 


3.    Kultusdiclitung  und  Predigt.  137 

Stepbanstag  (26.  dezember),  auf  die  erzählung  vom  märtyrertod 
des  heiligen  Stephan  (Apostelgeschichte  VI,  8—10,  VH,  54—59) 
gedichtet.  Die  älteste  uns  bekannte  dichtnng  der  art  —  meist 
den  ältesten  Sprachdenkmälern  zugerechnet  — •  gehört  zeitlich 
der  ersten  hälfte  des  12.  Jahrhunderts,  mundartlich  der 
Tonraine  an.  Es  sind  insgesamt  zwölf  Strophen  zu  je  fünf 
durch  gleichen  reim  verbundenen  zehnsilbnern,  in  der  regel 
entspricht  je  eiue  strophe  je  einem  vers  der  lateinischen 
epistel. 

Ausserdem  existieren  zahlreiche  jüngere  Stephansepisteln, 
ferner  ebensolche  Stopfepisteln  auf  Epiphanias,  den  Johannistag 
und  das  fest  der  unschuldigen  heiligen  (Apocolypse  XIV),  teils 
in  reimpaaren,  teils  in  laissenform  verfasst. 

Text  der  ältesten  epistel  im  Afr.  Übungsbuch  (dort  bibliographie), 
bei  Stengel,  Bartsch  u.  a.,  vgl.  dazu  kommentar  von  Koschwitz. 
Siehe  ferner  Th.  Link,  ZrP  11,  22  ff. 

2.  Dramatisches. 
(Sponsus  —  Adamsspiel  —  Niklasspiel.) 
A.  Allgemeines.  Wie  die  stopfepisteln  sind  auch  die 
ältesten  dramatischen  versuche  aus  dem  kultus  hervorgegangen 
und  hier  wiederum  der  rücksicht  auf  das  laienpublikum  ent- 
sprungen „um  das  ungelehrte  volk  im  glauben  zu  stärken", 
wie  gelegentlich  bemerkt  wird.  Im  anschluss  an  den  Bibeltext 
bildeten  sich  zunächst  lateinische  responsorien,  wechsel- 
gesänge  zwischen  priester  und  gemeinde  oder  zwischen  zwei 
halbchören,  heraus.  Seit  dem  10.  Jahrhundert  wurden  diese 
responsorien  durch  sogenannte  tropen  (textparaphraseu  unter 
Wiederholung  der  voraufgehenden  melodie)  erweitert.  In  solcher 
weise  linden  wir  vor  allem  den  Ostertext,  die  auferstehung 
Christi,  in  dialogform  behandelt.  Im  Zusammenhang  damit 
stellte  man  die  bestattung  des  kreuzes  dar,  dann  auch  die  szene 
am  grabe,  wobei  ein  klosterbruder  den  engel  darstellte,  drei 
andere  die  frauen,  welche  Christi  leichnam  suchen.  Indem 
mau  den  darstellen]  auch  den  gesungenen  dialog  in  den  mund 
legte,  entstand  das  liturgische  Osterspiel.  Zu  der  szene  von 
der  Verkündigung  von  Christi  auferstehung  durch  den  engel 
am  grabe  kamen  bald  andere  Szenen,  wie  der  wettlauf  von 
Petrus  und  Johannes  nach   dem  grab,  der  bericht  der  Maria 


138  IV.  Kapitel.    Die  geistliebe  Literatur  im  12.  Jahrhundert. 

Magdalena  an  die  beiden  jünger,  später  aus  den  wechsel- 
gesängen  des  Weihnachtsfestes  das  Weihnaclitsdrama,  bei 
welchem  sich  zu  den  szenen  aus  Christi  kindheit  darstellungen 
der  propheten  und  weiterhin  überhaupt  stücke  aus  dem  Alten 
Testament  gesellten. 

Die  darsteiler  waren  junge  kleriker,  ort  der  platz  neben 
dem  altar,  spräche  das  latein,  zuerst  in  prosa,  dann  in  versen. 
Die  ältesten  aufführungcn  der  art  sind  für  das  10.  Jahrhundert 
bezeugt,  zuerst  in  England,  bald  darauf  auch  in  Frankreich 
(besonders  in  llouen)  und  Deutschland.  Allmählich  machte 
sich  auch  hier,  wie  bei  der  epistel,  das  bedürfnis  nach  vulgär- 
sprachlichen  texten  geltend.  Wir  finden  einzelne  französische 
verse  zuerst  als  refrains  am  Schlüsse  der  lateinischen 
Strophen. 

Creizenach  (oben  s.  47)  I.  bd.  —  Petit  de  Julleville,  Les 
mysteres,  P.  1880,  2  bde.  Le  theätre  en  France,  P.  M897.  — 
E.  Lintilhac,  Histoire  generale  du  theätre  en  France  I  (Le  th. 
serieux  m.  ä.),  P.  1904.  —  Mortensen,  Medeltids  draraat  i  Fiankiike, 
Göteborg  1899,  trad.  p.  Philipot  (Le  th.  fr.  au  m.  ä.),  P.  1903.  — 
G.  Cohen,  Geschichte  der  Inszenierung  im  geistl.  Schauspiel  des  MA 
in  Frankreich,  aus  d.  franz.  übertr.  von  C.  Bauer,  L.  1907.  — 
M.  Wilmotte,  Etudes  critiques  s.  1  ff.  (La  naissance  du  dramc 
liturgique),  s.  93 ff.  (L'element  comique  dans  le  th.  religieux.)  — 
Morf,  Aus  Dichtung  u.  Sprache  d.  Rom.  I  s.  101  ff.  —  Willi.  Meyer 
(aus  Speier),  Fragmenta  Burana,  Festschr.  d.  Kgl.  Ges.  d.  Wiss.  zu 
Göttingen,  1901,  e.  1  ff. 

B.  Lateinische  Stücke  mit  eingestreuten  französischen 
Versen.  Solche  stücke  können  als  Übergang  vom  rein  lateinischen 
zum  französischen  drama  betrachtet  werden.  In  der  ersten 
hälfte  des  12.  Jahrhunderts  hat  Hilarius,  ein  schüler  Abälards, 
drei  kurze  lateinische  drameu  gedichtet,  von  denen  nur  der 
Daniel  keine  französischen  verszeilen  hat.  In  der  Suscitatio 
Lazari  redet  Martha  zu  Jesus  und  darnach  zu  den  Juden  in 
folgender  weise: 


Ex  culpa  veteri, 

Damuantur  posteri 

Mortales  fieri. 

Boi  ai  dolor! 

Hör  est  inis  frere  morz 

Por  que  gei  plor  — 


Mors  execrabilis, 

Mors  detestabilis, 

Mors  mihi  Hebilis! 

Lasse,  chaitive! 

Des  que  mis  frere  est  morz, 

Por  que  sui  vive?  — 


3.    Kultusdichtung  und  Tredigt.  139 

worauf  jedesmal  noch  drei  weitere  Strophen  mit  demselben 
refrain  folgen.  In  ähnlicher  weise  ist  französisch  in  eine 
nene  anrede  an  Jesus  eingemischt.  Dieser  (dessen  reden  nur 
in  lateinisch  gehalten  sind)  heisst  den  stein  vom  grabe  weg- 
nehmen, betet  zum  Vater  und  erweckt  den  Lazarus,  mit  dessen 
huldigung  an  Jesus  das  stück  schliesst.  —  In  dem  Ludus 
super  iconia  sancli  Nicolai  sind  in  ähnlicher  weise 
französische  verse  in  die  reden  des  beiden  eingeschaltet, 
welcher  dem  heiligen  Nicolaus  seine  schätze  anvertraut  und 
sie  dann,  als  sie  in  seiner  abwesenheit  gestohlen  worden  sind, 
mit  hilfe  des  heiligen  wieder  zurückerlangt.  —  Auch  in  einem  zu 
Beauvais  entstandenen  anonymen  Daniel  werden  französische 
Worte,  und  zwar  mitten  in  die  lateinische  rede,  eingemischt 
(Vir,  propheta  Bei,  Daniel,  vien  al  rei  —  Veni,  desiderat 
parier  a  tei). 

E.  Du  Meril,  Origines  latines  du  theätre  moderne,  P.  1849, 
s.  225  ff.  Champollion,  Hilarii  versus  et  ludi,  P.  1838.  Coussemaker, 
Dramea  litnrgiques  au  moyen  äge,  Rennes  1860. 

C.  Sponsus.  Eine  regelrechte  mischung  von  latein 
und  französisch  begegnet  uns  in  dem  sogenannten  Sponsus 
(Mystere  de  Vejpoux),  einer  94  verse  zählenden  dramatischen 
szene,  welche  die  erzählung  von  den  klugen  und  törichten 
Jungfrauen  wiedergibt,  mit  einem  die  ankunft  des  bräutigams, 
d.  i.  Christi,  ankündigenden  chor  beginnt  und  nach  den 
dialogen  der  törichten  Jungfrauen  mit  den  klugen  sowie  mit 
den  kaufleuten  mit  der  erscheinung  Christi  und  seinem 
Verdammungsurteil  über  die  törichten  Jungfrauen  schliesst. 
Die  48  lateinischen  verse  geben  die  dialogischen  partien 
des  Evangeliums,  Matthaens  25,  1 — 12,  in  erweiternder  form 
wieder  und  bilden  für  sich  allein  das  ursprüngliche  liturgische 
stück.  Die  46  französischen  verse  paraphrasieren,  durch  freie 
Übersetzung  des  dialogs  oder  hinzufügen  eines  refrains, 
und  erweitern,  durch  die  antwort  der  kaufleute,  den 
lateinischen  text.  Entstanden  ist  der  romanische  text  in 
der  ersten  hälfte  des  12.  Jahrhunderts  in  dem  dialekt  des 
Augoumois,  hart  an  der  grenze  der  provenzalisch- limousinischen 
mundart. 


1 10  IV.  Kapitel.   Die  geistliche  Literatur  im  12.  Jahrhundert. 

Text  in  Chrestomathien,  zuletzt  von  W.  Cloetta,  Romania  22 
(1803)  177  IT.,  wo  auch  über  spräche  und  metrum.  Bezüglich  dei 
entstehung  des  textes  siehe  H.  Morf,  ZrP  22  (1898)  385  ff. 

D.  Das  Ad  am  s  spiel.  Gehörte  der  Sponsus  dem  Oster- 
zyklus  an,  so  finden  wir  mitte  des  12.  Jahrhunderts  in  dem 
anglonormannisch  überlieferten,  aber  wahrscheinlich  auf  dem 
normannischen  festland  entstandenen  Adamsspiel  ein  voll- 
ständiges Weilmaclitsdrama,  dessen  handlung  in  drei  ziemlich 
unvermittelt  aneinander  gefügte  teile  —  sündenfall,  Kains 
brudermord,  auftreten  der  propheten  —  zerfällt  und  sich  gerade 
durch  den  letzten  teil  an  den  weihnachtszyklus  anschliesst. 
In  einer  pseudo-augustinischen  predigt  nämlich  waren  die 
propheten  und  personell  aufgeführt,  welche  die  ankunft 
des  Messias  geweissagt  hatten;  die  dramatisicrung  dieser 
predigt  ergab  das  lateinische  prophetenspiel,  das  sich  wie 
das  lateinisch-liturgische  drama  überhaupt  allmählich  zum 
französischen  prophetenspiel  entwickelte.  Der  grösste  teil 
unseres  Stückes  freilich,  nahezu  600  verse  (achtsilbige  reim- 
paare,  gelegentlich  von  vierzeiligen  Strophen  in  zehnsilbneru 
unterbrochen),  stellt  den  sündenfall  dar,  etwa  150  verse  entfallen 
auf  den  tod  Abels,  der  rest  von  200  versen  auf  die  propheten 
von  Abraham  bis  auf  Nebukadnezar,  der  die  geschiente  von 
den  drei  männern  im  feurigen  ofen  erzählt.  Mitten  in  seiner 
rede  bricht  das  stück  ab.  In  den  beiden  ersten  teilen  tritt 
auch  Gott  selbst,  als  Figura  bezeichnet,  auf.  Auch  dämonen 
erscheinen,  um  Adam  und  Eva  nach  dem  fall  zu  fesseln  und 
zur  hülle  zu  schleifen.  Das  stück  wurde  vor  der  kirchentür, 
nicht  mehr  im  innern  gespielt,  was  mit  der  zeit  die  regel 
wurde.  Das  paradies  wurde  auf  einem  erhöhten  ort  dargestellt 
und  mit  blumen,  laub  und  draperien  ausgeschmückt.  Zahlreiche 
und  eingehende  bühnenauweisungen  (diese  in  lateinischer 
spräche)  geben  eine  klare  Vorstellung  von  ausstattung  und 
Vorgängen. 

Als  probe  des  Stücks  und  zugleich  des  älteren  geistlichen 
dramas  folgt  hier  die  Verführung  der  Eva,  an  die  sich  der 
teufe!  wendet,  nachdem  er  bei  Adam  keinen  erfolg  gehabt 
(vers  204  —  270  der  ausgäbe  von  Grass.  D.  =  Diabolus, 
E.  =  Eva). 


3.    Kultusdichtung  und  Predigt. 


141 


D. 

E. 
D. 
E. 
D. 


Eva,  (;a  sui  vemiz  a  tei. ') 
Di  mei.  Sathan,  e  tu  pur  quei? 
Jo  vuis  qaerant  tun  pro,  t'ouor. 
Qo  dünge  Deus ! 

N'aiez  pöur! 
Holt  a  graut  tens  jo  ai  apris 
Toz  les  conseils  de  paraYs. 
One  partie  t'en  dirrai. 
ür  le  couience,  e  jo  l'orrai. 
Orras  uie  tn? 

Si  ferai  bien, 
Ne  te  curecerai  de  rien. 
Celeras  ni'en? 

O'i'l,  par  fei, 
Jer  descoverz? 

Nenil  par  mei. 
Or  uie  iuettrai  en  ta  creance, 
Ne  vueil  de  tei  altre  f'iance. 
Bien  te  pues  creire  a  uia  parole. 
Tu  as  este"  en  bone  escole. 
Jo  vi  Adain,  ruais  trop  est  fols. 
Un  poi  est  durs. 

II  serra  mols. 
II  est  plus  durs  qne  neu  est  fers. 
II  est  malt  francs. 

Ainz  est  muH  sers. 
Cure  neu  voelt  prendre  de  sei, 
Car  la  preuge  sevals  de  tei. 
Tu  es  fieblette  e  tendre  chose 
E  es  plus  fresche  que  n'est  rose, 
Tu  es  plus  blanche  que  cristal, 
Que  neif  qui  chiet  sor  glace  en  val. 
Mal  cuple  em  fist  li  cnatur: 
Tu  es  trop  tendre  e  il  trop  dur. 
Mais    neporquant    tu    es    plus 


E 


En  grant  sens  as  inis  tun  corrage. 
Por  150  fait  bon  traire  a  tei. 
Parier  te  vueil,  ure  i  ait  fei, 
N'eu  sache  nuls. 

Kil  deit  saveir? 
Neis  Adam. 

Nenil  par  veir. 
Or  te  dirrai,  et  tu  in'ascute ! 
N'a  que  nus  dous  en  ceste  rnte, 
E  Adam  la,  qui  ne  nus  ot. 
Parlez  en  halt,  n'en  savrat  rnot. 

D.  Jo  vus  acoint  d'un  graut  engiu, 
Qui  vus  est  faiz  en  cest  gardin: 
Le  fruit  que  Deus  vus  ad  dun6, 
Neu  a  en  soi  gaires  bont6; 

Cil  qu'il  vus  ad  tant  defendu, 
II  ad  en  soi  mult  grant  vertu. 
En  celui  est  grace  de  v'ie, 
De  poeste,  de  seignorie, 
De  tut  saveir,  e  bien  e  mal. 

E.  Qael  savur  a? 

D.  Celest'i'al. 
A  tun  bei  cors,  a  ta  figure 
Bien  covendreit  tei  aventure 
Que  tu  fusses  dame  del  mund, 
Del  suverain  e  del  parfnnt, 

E  seussez  quanque  est  a  estre, 
Que  de  tout  fuissez  bone  maistre. 

E.  Est  tels  li  fruiz? 

D.  Oil,  par  veir. 

Tunc  diligenter  intnebitur  Eva 
fructum  vetitum,  quo  diu 
eins  intuitu  dicens: 

Ja  me  fait  bien  sul  le  veeir. 

D.  Si  tul  maugues,")  que  feras? 

E.  E  jo,  que  sai? 


')  Die  Sprache  des  dichters  zeigt  ei  aus  lateinischem  freien  g,  %  noch 
als  ei,  auch  noch  die  diphthongeu  ie  und  ue  aus  freiem  e  und  0  (während 
später  anglonormannisch  e  und  0  dafür  erscheinen);  dagegen  schon  ai  vor 
schwerer  konsonauz  zu  e  (maistre:  estre).  Speziell  anglonormannisch  ist 
u  (0)  statt  ü  aus  lateinisch  (7,  daher  dur  (durum)  und  criatur  (creaturem) 
miteinander  reimeu  können.  Das  zweikasussystem  erscheint  nicht  mehr 
ganz  fest. 

2)  mangues:  lies  niandtjues,  aus  mandücas,  das  zu  mandües  und 
unter  einfluss  von  manducare  —  mang i er  zu  mangues  (g  =  di)  wird. 


142  IV.  Kapitel.   Die  geistliche  Literatur  im  12.  Jahrhundert. 


D.  Nc  rao  crerras? 

Primes  le  pren  e  Adaru  duce. 
Del  cicl  avrez  sempres  curune, 
AI  creatnx  serrez  pareil, 
Ne  vus  purra  celer  cuuseil. 


Puis  que  del  fruit  avrez  mangie, 
Sempres  vus  iert  le  euer  changie, 
Conto  Deus  serrez  sanz  faillance, 
D'egal  boute,  d'egal  puissance. 
Guste  del  fruit! 


Ältere  ausgäbe  des  Stücks  von  Luzarche,  Tours  1854,  neue 
ausgäbe  von  Karl  Grass,  Rom.  Bibl.  6,  Ha.  1891,  21907.  —  Deutsch 
von  Elisabeth  Grahl- Schulze,  Kiel   1910. 


E.  Das  Niklasspiel  des  Jehau  Bodel.  Wahrscheinlich 
noch  am  ende  des  12.  Jahrhunderts,  spätestens  in  den  ersten 
jahren  des  13.  Jahrhunderts,  wurde  schliesslich  auch  ein 
niinikelspiel  verfasst,  das  eine  Wundertat  des  heiligen  Nikolas 
schildert  {Jeu  Saint  Nicolas).  Verfasser  ist  Jehan  Bodel 
aus  Arras,  der  auch  das  epos  von  Karls  Sachsenkrieg  und 
lyrische  poesien  gedichtet  hat.  Das  stück  zeichnet  sich  aus 
durch  starke  beimischung  weltlicher  demente.  Es  beginnt 
mit  einem  kämpf  zwischen  beiden  und  kreuzfahrern,  wobei 
diese  besiegt  werden.  In  realistischer  darstellung  wird  uns 
nachher  eine  gaunerschenke  vorgeführt.  Eigentlicher  mittel- 
punkt  und  verbindendes  element  des  ganzen  ist  der  heilige 
Nicolaus,  welcher  die  kraft  besitzt,  anvertraute  schätze  sicher 
aufzuheben  (vgl.  s.  139),  dem  heidnischen  könig  die  diesem 
von  dieben  geraubten  schätze  wieder  verschafft  und  dadurch 
zugleich  einen  Christen,  welcher  dem  heidnischen  könig  die 
wunderkraft  des  heiligen  gerühmt  hatte,  das  leben  rettet. 
Das  mirakel  ist  hart  an  der  grenze  des  weltlichen  dranias, 
was  sich  durch  die  dichterische  eigenart  oder  Vielseitigkeit 
Bodels  erklärt.  Erwähnenswert  ist  auch  der  name  Auberon 
für  den  schnellen  boten  des  königs:  der  dichter  hat  diesen 
namen  wohl  aus  einem  uns  nicht  erhaltenen  Huonepos  des 
12.  Jahrhunderts  von  dem  zwergenkönig  Auberon  (vgl.  kap.  XII) 
entlehnt. 

Text  bei  Monmerque  et  Michel,  Theätrc  franoais  au  moyen 
äge,  P.  1839,  s.  157  ff.  Vgl.  0.  Kohnström,  Etüde  sur  Jehan  Bodel, 
These  de  doct.,  Upsala  1900,  s.  41  ff.  Georg  Manz,  Li  jus  de  saint 
Nicolai,  text  mit  Untersuchungen,  Heid.  Diss.,  Erlangen  1904  (vgl. 
A.  Schulze,  ZrP  30,  101—8). 


3.  Kultnsdichtung  und  Predigt.  143 

3.    Reimpredigt  und  religiöse  Unterweisung. 

Uie  älteste  reimpredigt  und  zugleich  die  älteste  vollständig 
erhaltene  predigt  in  französischer  spräche  ist  die  nach  den 
anfangsworten  benannte  predigt: 

Grant  mal  fist  Adam. 

Sie  ist  im  anfang  des  12.  Jahrhunderts  in  der  Normandie 
gedichtet  worden,  trotzdem  die  drei  vorhandenen  hss.  sämtlich 
in  England  geschrieben  sind.  Es  ist  eins  der  besten  produkte 
der  geistlichen  literatnr,  ein  selbständig  gedachter,  nur  hier 
und  da  mit  einem  zitat  versehener  scrmon,  wie  der  anonyme 
Verfasser  selbst  seine  predigt  am  schluss  nennt,  in  einem  flotten 
tone  und  lebhaften  metrum  vorgetragen.  Der  Verfasser  betont 
die  gleichheit  aller  menschen  als  folge  ihrer  gemeinsamen 
abstammung  von  Adam  und  Noah,  stellt  den  reichen  das  bild 
Christi  auf  dem  esel  inmitten  des  niederen  Volkes  vor,  fordert 
zum  verzieht  auf  irdische  guter  auf  um  des  ewigen  heiles 
willen  und  verweist  auf  das  jüngste  gericht.  Weil  er  für 
das  einfache  volk,  nicht  für  die  letres  predigt,  hat  er  in  der 
Volkssprache  gedichtet.  Die  predigt  ist  also  wirklich  vor- 
getragen worden.  Zum  flotten  inhalt  passt  der  kurzatmige 
fünfsilbner  in  der  schweifreimstrophe. l) 

Andere  Reimpredigten. 
Den    le    omnipotent.     Etwas    jünger    ist    die    anglo- 
normannische    reimpredigt    Deu    le    omnipotent,    in    ähnlicher 

')  Als  beispiel  für  die  form  mögen  die  drei  scblussstrophen  dienen: 


127  A  la  simple  gcnt     128  Por  icels  enfanz 
ai  fait  simplement  le  fis  en  romanz, 


un  simple  sarmuu. 
Nel  fis  as  letrez, 
car  il  unt  assez 
escriz  e  raisun. 


qui  ne  sunt  letre; 
car  mielz  entendrunt 
la  langue  dunt  sunt 
des  enfance  use. 


129  ür  lairai  a  tant, 
ne  voil  dire  avant, 
car  criem  quäl  enuit. 
Bien  at  sens  d'enfant 
qui  ceo  vait  sevant 
que  toztena  li  fuit. 

Suchier  leitet  die  versform  von  den  mit  binnen-  und  endreim  ver- 
seheneu lattänisclieu  bexametern  ab,  die  sich  von  selbst  in  je  drei  teile 
zu  fünf  silben  gliedern: 

0  miseratrix,  |  o  dominatrix,  |  praecipe  dictu, 
Ne  devastemur,  |  ne  lapidemur  |  grandinis  ictu. 


111  IV.  Kapitel.    Die  geistliche  Literatur  im  12.  Jahrhundert. 

form  wie  jene.  Sie  ist  durchaus  iu  asketischem  sinn  gehalten, 
betrachtet  als  die  drei  feinde  des  menschen  teufel,  well  und 
fleisch  und  gibt  an,  wie  man  den  sieg  durch  erinnerung  an 
die  heilstat  Christi  erringen  kann. 

Guichard  von  Beaulieu.  Von  diesem  Verfasser,  der 
wol  mit  einem  anderwärts  genannten  Guichard  III.  von  Beanjeu 
identisch  ist,  stammt  ein  sermon  de  temptacion  du  stiele,  der 
ein  ähnliches  thema  behandelt  wie  der  vorige.  Vermutlich 
sind  andere  dichtungen  des  Verfassers  verloren  gegangen,  da 
dieser  sermon  ihm  wol  kaum  den  von  "Walter  Map  erwähnten 
beinamen  'Homer  der  laien'  eingetragen  hätte. 

Religiöse  Unterweisung. 

Im  12.  Jahrhundert  finden  wir  eine  reihe  von  vers- 
bearbeitungen  von  glaubensbekenntnis,  vaterunser,  litanei, 
gebeten  usw.:  so  ende  des  12.  Jahrhunderts  ein  Credo  in 
schweifreimen  (wie  die  älteste  reimpredigt),  ein  anderes  in 
zehnsilbnern,  ein  drittes  in  paarweisen  zwölfsilbnern ;  ein 
vaterunser  in  paarweisen  achtsilbnern  (nach  dem  muster  der 
älteren  geistlichen  dichtung)  und  in  anderen  formen. 

Reimpredigt  hrsg.  von  II.  Suchier,  Bibl.  Norm.  I,  IIa.  1879 
(darin  Grünt  mal  f.  A.  und  Deu  le  omn.).  Über  Guichard  siehe 
Rom.  I,  248. 


4.    Moral-  und  Lehr  dichtung. 

Ahnliche  th einen  wie  im  sermon  werden  naturgemäss 
auch  in  einer  reihe  anderer  dichtungen  behandelt,  die  nicht 
ftir  den  Vortrag  in  der  kirche  bestimmt  waren.  Mit  dieser 
moralisierenden  literatur  ist  einerseits  die  Satire,  andererseits 
das  eigentliche  lehrgedicht  nahe  verwant.  Im  wesentlichen 
beruhen  auch  diese  gattungen  auf  lateinisch -geistlichen  quellen. 

1.   Tierbücher  und  Steinbücher. 

A.  Allgemeines.  Die  sogenannten  Bestiaires  und 
Lapidaires  sind  ein   stlick  mittelalterlicher  naturwissenschaft, 


•1.    Moral-  und  Lehrdichtang.  145 

richtiger  mittelalterlichen  naturglaubens.  Die  tierbücher  gehen 
in  letzter  linie  auf  den  im  2.  Jahrhundert  n.  Chr.  in  Alexandrien 
entstandenen  Physiologus  zurück:  eine  „populäre  fabel- 
zoologie  mit  christlich -dogmatischem  beiwerke"  (Carus,  Gesch. 
d.  Zoologie),  die  teils  aus  antiken  autoren,  wie  Aristoteles, 
teils  aus  der  Bibel,  teilweise  wol  auch  aus  der  mündlichen 
Überlieferung  geschöpft  hat,  in  zahlreiche  orientalische  sprachen 
übersetzt  worden  und  durch  Vermittlung  einer  im  4.  oder 
5.  Jahrhundert  entstandenen  lateinischen  Übersetzung  auch  in 
das  abendland  und  die  abendländischen  literaturen  gelangt  ist. 
Es  ist  eins  der  verbreitetsten  bücher  des  mittelalters  geworden, 
das  nicht  nur  auf  die  literatur,  sondern  vielfach  auch  auf 
die  bildende  kunst,  namentlich  auf  die  tierdarstelluugen  an 
kirchen,  gewirkt  hat.  Der  Physiologus  berichtet  eine  reihe 
von  charakteristischen  eigentümlichkeiten  einzelner  tiere,  die 
alsdann  in  christlich -moralischem  sinn  ausgelegt  wurden. 
Neben  tieren  werden  gelegentlich  auch  die  eigenschaften 
wertvoller  steine,  wie  z.  B.  die  härte  des  diamanten,  in 
derselben  weise  behandelt.  Ein  aus  späterer  zeit  stammender 
Yolucraire,  von  Osmond,  ist  gleichfalls  aus  dem  Physiologus 
abgeleitet. 

B.  Philipp  von  Thaon.  Der  älteste  französische  Bestiaire 
stammt  aus  England,  von  Philipp  von  Thaon,  der  vorher  bereits 
den  sogenannten  Compoz  (s.  u.)  verfasst  hatte.  Das  um  1125 
entstandene  tierbuch  ist  derselben  königin  Aaliz  gewidmet, 
welche  im  eingang  des  Brandan  (s.  o.)  genannt  wird.  Philipp 
behandelt  nacheinander  Säugetiere,  vögel,  steine,  zum  teil  unter 
benutzung  noch  anderer  quellen  ausser  dem  Physiologus,  zuerst 
in  sechssilbigen,  dann  in  achtsilbigen  reimpaaren.  Hier  finden 
wir  die  Überlieferung  vom  vogel  phoenix,  der  sich  aus  seiner 
asche  verjüngt  erhebt  und  auf  die  auferstehung  Christi 
gedeutet  wird;  den  pelikan,  der  seine  ungeratenen  jungen  tötet 
und  mit  seinem  eigenen  blut  wieder  ins  leben  zurückruft 
(erlösung);  das  wilde  einhorn,  das  im  schoss  der  Jungfrau 
zahm  wird  (Christus);  den  diamant,  dessen  unbesiegbare 
härte  mit  Christus  verglichen  wird.  Als  beispiel  für  die 
betrachtungsweise  dieser  dichtgattung  mag  die  erzählung 
vom  fuchs  dienen,  der  sich  tot  stellt  und  den  teufel  be- 
deutet : 

Voretzsch,  Studium  <].  afrz.  Literatur.     2.  Auf  läge.  10 


146 


IV.  Kapitel.    Die  geistliche  Literatur  im  12.  Jahrhundert. 


1775  Vulpis  de  beste  est  nuns ') 
Que  gnpil  apeluns. 
Gupiz  est  malt  luiriez 
E  forinent  vez'i'ez; 
Quant  preie  volt  conquere, 

17&0  Met  sei  en  rüge  tere, 
Tuz  s'i  enpulderat, 
Cume  niort  se  girat; 
La  gist  gule  baee, 
Sa  langue  hors  getee. 

1785  Li  oisels  ki  la  veit 
Qnide  que  morte  seit, 
AI  gupil  vient  volant 
La  u  i'ait  niort  seniblant; 
Lores  le  volt  uiangier, 

1790  Si  le  prent  a  beehier, 
En  la  buche  li  met 
E  sun  chief  e  sun  bec: 
Li  gupiz  eneslure 
L'oisel  prent  e  devure. 

1795  Aiez  en  renienibrauce, 
C'est  graut  signefi'ance. 
Li  gupiz  signefie 
Di'able  en  ceste  vie. 
A  gent  en  char  vivant 

1S00  Demustre  mort  seniblant, 


Taut  qu'en  mal  sunt  eutre, 
En  sa  buche  ensere; 
Dune  les  prent  eneslure 
Sis  ocit  e  devure, 

1805  Si  cum  li  gupiz  fait 

L'oisel,  quant  Tat  atrait. 
Davit  dit  en  verte: 
„Ki  ne  murent  pur  De 
En  main  de  glaive  irunt, 

1810  De  gupil  part  serunt". 
E  Herode  en  vert6 
A  gupil  fut  esine. 
E  Nostre  Sire  dit 
Par  veir  en  sun  escrit: 

1815  „Dites  a  la  gupille 

Qu'el  fait  graut  inirabille; 
A  la  terre  fait  lait 
Des  fosses  qu'ele  i  fait". 
Par  tere  entendum 

1820  Urne  par  grant  raisun 
E  par  fosse  pechie 
Duut  om  est  engignie, 
Que  d'i'ables  i  fait, 
Par  quei  ume  a  sei  trait. 

1S25  N'en  voil  or  plus  traitier, 
Altre  voil  cumeucier. 


C.  Lapidarien.  Für  die  steinbücher  boten  sich  ausser 
den  entsprechenden  partien  des  Physiologus  noch  besondere 
Vorbilder  in  lateinischen,  gleichfalls  aus  dem  griechischen 
stammenden  lapidarien.  Ein  solches  wurde  von  dem  —  1123 
verstorbenen  —  bischof  Mar b od  von  Rennes,  vermutlich  noch 
im  11.  Jahrhundert,  verfasst.  Eine  französische  versübersetzung 
dieses  lapidars  gehört  noch  in  den  anfaug  des  12.  Jahrhunderts. 
Wie  das  lateinische  Vorbild  entbehrt  auch  die  Übersetzung 
noch  die  christlichen  nutzanweudungen  und  moralisationen,  die 
in  späteren  bearbeitungen  nicht  mehr  fehlen. 


!)  Der  text  ist  in  anglonormannischer  mundart  gegeben,  daher  auf 
den  unterschied  von  u  —  o  und  u  =  ü  zu  achten  ist.  Vgl.  im  übrigen 
das  oben  s.  125  und  141  zu  Tbomasleben  und  Adamsspiel  gesagte. 


1782:  Zum  akkusativ  nach  cume  vgl.  AS  v.  50.  —  1808—10:  vgl. 
hierzu  den  lat.  text:  Intrabunt  in  inferiora  terre,  tradentur  in  manus. 
gladii,  partes  vulpium  enwt. 


4.   Moral-  und  Lehrdiohtung.  147 

Vgl  Friedrich  Laudiert,  Geschichte  des  Physiologus,  Str.  1889. 
—  Le  Bestiaire  de  Philipe  de  Thattn  p.  p.  E.  Walberg,  Luud  et 
Paris  1900.  Vgl.  M.  F.  Mann,  Der  Phys.  des  Pli.  de  Th.  und  seine 
Quellen.  Anglia  7  (1884)  420  ff.)  —  Leop.  Pannier,  Lee  Lapidaires 
francais  du  m.  ä.,  P.  1882  (Bibl.  de  PEcole  des  Ilautes  Etudes 
nr.  52).  Bruchstück  aus  dem  alt.  Steinbuche  auch  im  Afr.  Übungs- 
buch s.  175  ff. 

2.    Moralgedicht  und  Satire. 

Kein  christlichen  Ursprungs  und  inhalts  ist  der  Streit 
zwischen  Seele  und  Leib  (Debat  du  corps  et  de  l'dme),  nach 
dem  vorbild  des  lateinischen  Conflictus  animae  et  corporis. 
Der  dialog  wird  eingeleitet  durch  eine  vision  des  dichters, 
welcher  seinen  toten  körper  und  daneben,  getrennt  von  ihm, 
die  seele  erblickt.  Diese  ergeht  sich  in  heftigen  vorwürfen 
gegen  den  körper  und  seine  Sündhaftigkeit,  während  dieser 
wiederum  die  seele  als  Ursache  alles  Unheils  anklagt.  Zum 
schluss  erscheinen  die  teufel  und  führen  die  seele  zur  hülle. 
Das  gedieht,  in  paarweis  gereimten  sechssilbnern  verfasst 
(bei  Wright  in  langzeilen  zu  zwölf  silben  gedruckt),  gehört 
der  spräche  nach  in  das  erste  drittel  des  Jahrhunderts,  nach 
England.  Das  theina  hat  sich  zunächst  innerhalb  der  lateinischen 
literatur,  besonders  in  anlehnung  an  die  Visio  Pauli  und 
Visio  Macarii,  entwickelt,  ist  aber  auch  schon  früh  in  den 
nationalliteraturen,  so  schon  im  10.  und  11.  Jahrhundert  in  der 
angelsächsischen  literatur,  behandelt  worden.  Unser  gedieht 
ist  auf  eine  verloren  gegangene  lateinische  Version  zurück- 
zuführen, aus  welcher  auch  eine  norwegische  bearbeitung 
hervorgegangen  ist.  Andere  französische  Versionen  folgen  im 
13.  jahrhuudert,  und  im  14.  Jahrhundert  verwertet  Guillaume 
de  Diguilleville  das  motiv  in  seinem  'Pelerinage  de  l'äme'. 

Ein  engverwantes  thema  behandeln  die  in  wallonischem 
dialekt  gedichteten  Verse  vom  jüngsten  Gericht  (Li  ver 
del  jaise),  eine  art  sermon,  der  auch  mit  einer  vision  eröffnet 
wird  und  die  reden  der  seele  wiedergibt,  welche  sie  bei  der 
trennung  vom  körper  —  zuerst  eines  gerechten,  dann  eines 
Sünders  —  sowie  zum  jüngsten  gericht  hält. 

Die  mahnung  an  den  kommenden  tod  bildet  auch  die 
grundlage  des  bussgedichts,  das  Heiin  and  (oder  Elinand),  mönch 
von  Froidmont  (im  Beauvoisis),  zwischen  1194  und  1197  gedichtet 

10* 


148  IV.  Kapitel.    Die  geistliche  Literatur  im  12.  Jahrhundert. 

und  kurzweg  Vers  de  la  mort  betitelt  hat:  eine  nicht  klar 
disponierte,  aber  eindringliche  und  beredte  aufforderung  an 
hoch  und  nieder,  an  geistliche  und  weltliche  grosse  zur  Pflicht- 
erfüllung. Die  anschauung,  dass  mit  dem  tode  alles  aus  sei, 
wird  als  antik  heidnisch  gebrandmarkt,  den  grossen  und 
reichen  wird  die  hülle  in  aussieht  gestellt,  ein  demokratischer 
grundzug  ist  so  wenig  wie  in  der  ältesten  reimpredigt  (oben 
s.  143)  zu  verkennen.  Bemerkenswert  ist  die  allem  anschein 
nach  vom  dichter  erfundene  stropkenform,  zwölf  aehtsilbner  in 
der  reimfolge  aab  aab  bba  bba. 

Der  durch  ein  Georgsleben  (s.  o.  s.  129)  bekannte  Simon 
de  Freine  (in  seinen  lat.  gedienten  Simon  de  Fraxino), 
kanonikus  zu  Hereford  in  England,  hat  ende  des  Jahrhunderts 
ein  lehrgedicht  Roman  de  philosophie  (auch  Dame  Fortune 
genannt)  verfasst,  das  sich  als  eine  freie  bearbeitung  der 
ConsoJatio  philo sophiae  des  Boethius  erweist.  Das  ganze  ist 
in  die  form  eines  dialogs  zwischen  einem  kleriker  und  der 
Philosophie  über  die  vom  kleriker  hart  angeklagte  uud  von 
der  Philosophie  verteidigte  Fortune  gekleidet,  wie  das  Georgs- 
leben in  paarweisen  siebensilbnern  gedichtet. 

Die  Unterweisung  des  Klerikers,  eine  aus  dem  ende 
des  Jahrhunderts  stammende  bearbeitung  der  lateinisch  ge- 
schriebenen Disciplina  clericalis  des  1106  bekehrten  spanischen 
Juden  Petrus  Alphonsi,  findet  ihren  wesentlichen  inhalt  nicht 
so  sehr  in  der  moralischen  Unterweisung  als  vielmehr  in 
den  eingelegten  erzählungen,  schwanken  und  märchen  (vgl. 
kap.  XI). 

Mit  dem  Livre  des  Manieres  (Buch  der  Sitten)  geht 
Estienne  von  Fougeres,  1168 — 1178  bischof  von  Rennes. 
von  der  reinen  moraldichtung  schon  mehr  in  das  gebiet  der 
satire  über:  in  mehr  als  300  einreimigen  Strophen  zu  je  vier 
achtsilbnern  eifert  er  gegen  die  nichtigen  freuden  der  weit 
(wobei  er  sich  auf  Salomons  Ecclesiasticus  beruft),  gegen  die 
Untugenden  der  verschiedenen  stände,  zitiert  beispiele  aus  der 
geschichte  zum  abschrecken  wie  zum  nachahmen  und  wendet 
sich  zum  schluss  an  die  frauen,  die  zunächst  unerbittlich 
getadelt,  dann  aber  auch  nach  ihren  guten  Seiten  anerkannt 
werden:  Bone  fame  est  moult  haute  chose,  —  De  bien  faire 
pas   nes   repose,    —    De   bien   dire  partot   s'alose,    —    Bien 


1.    Moral-  und  Lehrdichtung.  149 

conseilier  et  hien  faire  ose.  In  der  form  zeigt  das  gedieht 
manche  Unebenheiten:  unnütze  Wiederholungen,  gewaltsame 
Übergänge,  ungelenken  ausdruck,  auf  der  anderen  seite  aber 
doch  eine  gewisse  frische  des  tons  und  grosse  anschaulichkeit 
in  der  Schilderung  der  sitten  seiner  zeit. 

Eine  spezielle  satire  gegen  die  frauen  ist  das  Evangile 
aux  fe  mm  es,  ende  des  12.  Jahrhunderts,  in  vierzeiligen 
alexandrinerstrophen.  Je  drei  Zeilen  singen  das  lob  der  frau, 
das  dann  in  der  vierten  zeile  durch  einen  übertriebenen 
vergleich  in  das  gegenteil  verkehrt  wird. 

Ausgabe  des  Dibat  von  Thomas  Wright,  The  latin  poems 
coramonlv  attributed  to  Walter  Map,  London  1841,  s.  321  ff.  Version 
des  13. 'Jahrhunderts  von  Stengel,  ZrP  8  (1884)  s.  74 ff.,  365  f. 
Vgl.  Theodore  Batiouchkof,  Rom.  20  (1891)  1  ff,  513ff,  —  Ver  clel 
jiusc  hrsg.  von  IL  v.  Feilitzen,  Rom.  14  (1885)  146  ff.  —  Vers  de 
la  mort  par  Helinant,  p.  p.  Wulff  et  Walberg,  P.  1905  (Sdat).  — 
Simund  de  Freine,  P.  1909  (oben  s.  130)  s.  1  ff.  —  Petri  Alphonsi 
Disciplina  clericalis,  hgg.  von  W.  Fr.  Val.  Schmidt,  B.  1827,  von 
A.  Hilka  u.  W.  Söderjhelm,  Helsingfors  1911,  Heid.  1912.  Le 
Castoiement  d'un  pere  ä  son  fils  p.  p.  Michael  Roesle,  München, 
Progr.  1898.  —  Ausgabe  des  Livre  des  Munteres  von  F.  Talbert, 
P.  und  Angers  1877;  von  Josef  Kiemer,  Marburg  1887  (Stengels 
AA  39).  —  Evangile  aux  femmes,  edited  by  G.  Keidel  (Romance 
and  other  studies  1),  Baltimore  1895. 


3.    Sprichwort  und  Lehrgedicht. 

Die  gattung  des  Sprichworts  ist  teils  volkstümlichen,  teils 
biblischen  Ursprungs.  Schon  oben  (s.  135)  wurde  Samsons 
bearbeitung  der  Sprüche  Salomonis  erwähnt.  So  treten 
auch  sonst  die  Sprichwörter  in  der  literatur  des  12.  Jahrhunderts 
vielfach  in  Sammlungen  auf,  die  teilweise  wiederum  auf 
lateinischen  Vorbildern  beruhen.  So  wurden  die  lateinischen 
sogenannten  D i stich a  Catonis  (ca.  4.  Jahrhundert)  im 
12.  Jahrhundert  mehrfach  ins  französische  übersetzt:  in  sechs- 
silbigen  reimpaaren  von  Evrard  de  Kirkham,  in  achtsilbnern 
von  Elie  de  Winchester.  Mehr  volkstümlichen  Charakter 
zeigen  die  Unterhaltungen  zwischen  Salomon  und  Marcoul, 
wo  dieser  den  Sprüchen  des  weisen  Salomo  seine  nüchterne 
volksweisheit  entgegenstellt.  Aus  dem  volksmund  geschöpft 
sind    auch    die    Proverbe   au  v ilain,    die    am    ende    des 


150  IV.  Kapitel.    Die  geistliche  Literatur  im  12.  Jahrhundert. 

12.  Jahrhunderts    am    hofe   des  grafen   Philipp   von   Flandern, 
jedoch  in  francischer  mundart,  gedichtet  worden  sind. 

Ein  reines  lehrgedicht  ist  der  Co7npos  (kalender)  des 
Philipp  von  Thaon.  des  Verfassers  des  ältesten  bestiaire.  In 
diesem  früheren,  1113  oder  1119,  entstandenen  gedieht  in 
paarweisen  sechssilbnern,  das  er  selbst  als  sermun  bezeichnet, 
bespricht  er  in  trockener  weise  die  einteilnng  der  zeit  in 
stunden,  tage,  wochen,  inonate.  die  verschiedenen  tierzeichen, 
das  kirchenjahr  usw.,  wobei  allegorische  umdeutnngen  im  stile 
des  Physiologus  nebst  willkürlichen  etymologischen  erklärungen 
eingeschoben  werden:  so  wird  lunsdis  „allegorice"  als  dies 
Iuris  erklärt  und  auf  Adam  im  paradies  gedeutet,  marsdis 
ist  dies  martirii  —  der  ackerbau,  mercredis  —  der  dies 
mercalis  —  das  verkaufen  der  erzeugnisse,  jusdis  —  dies 
gaudii  —  die  freude  darüber. 

Die  hier  genannten  sowie  spätere  sprichwörtersammhmgen 
grösstenteils  bei  Crapelet,  Proverbes  et  dictons,  P.  1839,  und  Le 
Roux  de  Lincy,  Livre  des  Proverbes,  P.  -1859,  2  bde.  —  Die  ältesten 
bearbeitungen  der  Disticba  Catonis  bei  H.  Kühne  und  E.  Stengel, 
Mattre  Elies  Überarbeitungen  der  ältesten  französischen  Übertragung 
von  Ovids  ars  amatoria,  Marb.  1886  (Stengels  AA  47)  s.  106  ff.  — 
Li  Proverbe  au  vilain.  Die  Sprichwörter  des  gemeinen  Mannes. 
Hrsg.  von  A.  Tobler,  L.  1895.  —  Über  jüngere  Sammlungen  siebe 
Stengel  ZfSL  21,  lff.,  und  J.  Ulrich  ebenda  24,  lff,  191  ff.  Vgl. 
auch  F.  Scboppe,  Altfr.  Sprichwörter  und  Sentenzen  aus  den  höfischen 
Kunstepen  über  antike  Sagenstoffe,  Diss.  Greifswald  1905.  —  Li 
Cumpoz  Philippe  de  Thaün,  hrsg.  von  Eduard  Mall,  Str.  1873  (mit 
wichtiger  sprachlicher  einleitung). 


5.    Die  Fabel. 

A.  Allgemeines.  Wie  so  manches  in  der  vorher  be- 
sprochenen literatur,  wie  die  Disticba  Catonis,  wie  die  steiu- 
bücber,  sind  auch  die  fabeln  aus  dem  nichtchristlichen  altertum 
übernommen.  Wir  verstehen  unter  fabel  eine  didaktische 
gattung,  welche  sich  durch  Verbindung  eines  erzählenden 
elements  (meist  aus  dem  tierleben,  hier  und  da  auch  aus  dem 
menschenleben   oder   aus   anderen   naturreichen  geschöpft)   mit 


5.    Die  Fabel.  151 

einer  daraus  gezogenen  praktischen  lehre  charakterisiert.  Die 
nutzanwendung  steht  zuweilen  in  ziemlich  losem  Zusammen- 
hang mit  der  erzählung,  mit  dem  (ivfroq,  ist  häutig  eine 
ganz  andere  als  man  zunächst  erwartet,  vielfach  aber  ist  sie 
sichtlich  von  vornherein  auf  die  moral,  auf  das  ejufivftiov, 
zugeschnitten:  wir  haben  unter  den  fabeln,  und  zwar  schon 
unter  denen  des  altertums,  teils  echte  fabeln,  die  von  haus 
aus  auf  belehrung  zugespitzt  waren,  teils  tiergeschichten,  die 
als  populärer  unterhaltungsstoff,  als  tiermärchen,  umliefen 
und  willkürlich  zu  fabeln  umgewandelt  wurden  (vgl.  auch 
oben  s.  79). 

Die  ältesten  schriftlich  niedergelegten  fabeln  finden  wir  bei 
den  Indern  uud  den  Griechen,  teilweise  sogar  dieselben  fabeln 
hier  und  dort,  wobei  aber  die  Griechen  nicht  lediglich  die 
empfangenden,  sondern  auch  ihrerseits  die  gebenden  gewesen 
sind.  Als  ältester  griechischer  fabeldichter  wird  Aisopos 
genannt;  die  unter  seinem  namen  gehenden  prosafabeln  sind 
aber  erst  im  anfang  des  14.  Jahrhunderts  aufgezeichnet  worden. 
Teilweise  dieselben  fabeln  hat  schon  im  3.  Jahrhundert  n.  Chr. 
Babrios  in  hinkjamben  bearbeitet.  Völlig  abhängig  von 
der  griechischen  ist  die  lateinische  fabeldichtung,  als  deren 
Vertreter  zur  zeit  des  Tiberius  Phaedrus  mit  5  büchern 
fabeln  und  einem  appendix  und  im  4.  bis  5.  Jahrhundert 
Avianus  mit  42  fabeln  erscheint.  Beide  fabelsammlungen 
wurden  in  den  rhetorenschulen  (vgl.  o.  s.  10  ff.)  viel  gelesen 
und  als  grundlagen  von  Übungen  benutzt.  Aber  nicht  unter 
dem  namen  des  Phaedrus  gingen  dessen  fabeln  auf  das 
mittelalter  über.  Zunächst  wurde  durch  unkundige  kopisten 
die  ursprüngliche  poetische  form,  der  jambische  trimeter, 
zerstört,  es  wurden  prosafabeln  daraus.  In  einem  später 
hinzugefügten  prolog  behauptet  ein  gewisser  Romulus,  diese 
fabeln  für  seinen  söhn  Tiberinus  aus  dem  griechischen  ins 
lateinische  übersetzt  zu  haben.  Erst  ein  späteres  miss- 
verständnis  macht  diesen  Romulus  zu  einem  Romulus  imperator. 
Jedenfalls  aber  sind  die  phädrianischen  fabeln  ebenso  wie 
die  auf  ihnen  beruhenden  grösseren  fabelsammlungen  dem 
gesamten  mittelalter  unter  dem  namen  Romulus  bekannt  und 
geläufig.  Dieser  Prosaromulus  wurde  nun  der  ausgangspunkt 
neuer    lateinischer    bearbeitungen    in    versen,    teilweise    unter 


152  IV.  Kapitel.    Die  geistliche  Literatur  im  12.  Jahrhundert. 

erweiterung  durch  hinzunahme  von  fabeln  fremden  Ursprungs. 
Die  Verfasser  dieser  bearbeitungen  sind  nicht  immer  bekannt, 
daher  dieselben  teilweise  nach  ihren  ersten  herausgebem 
benannt  werden.  Der  sogenannte  Ilomulus  Nilantii,  aus  dem 
13.  Jahrhundert,  in  prosa,  enthält  nur  alte  Phaedrusfabeln,  im 
ganzen  52.  Der  in  England  im  letzten  drittel  des  12.  Jahr- 
hunderts entstandene  Uomulus  Neveleti  zählt  60  fabeln  in 
distichen  und  ist  zweimal  ins  französische  übersetzt  worden, 
das  erstemal  anfangs  des  13.  Jahrhunderts  {Lyoner  Yzopd), 
das  zweitemal  im  14.  Jahrhundert  zusammen  mit  den  fabeln 
des  Avian  (Yzopet- Avionnet  oder  Yzopet  I  von  Paris).  Eine 
zwTeite  bearbeitung  in  distichen  gab  anfangs  des  13.  Jahrhunderts 
der  als  fruchtbarer  und  gelehrter  lateinischer  schriftsteiler 
bekannte  Alexander  Keckam  mit  seinem  Novus  Aesopus 
in  42  fabeln.  Aus  diesem  flössen  im  14.  Jahrhundert  zwei 
französische  Übersetzungen,  der  Pariser  Yzopet  II  und  der 
Yzopet  von  Chartres.  Diese  französischen  Übersetzungen,  welche 
ihren  namen  wieder  von  dem  alten  fabelmeister  Aesop  herleiten, 
gehören  sämtlich  erst  dem  13.  und  14.  Jahrhundert  an.  Im 
12.  Jahrhundert  finden  wir  jedoch  den  umfangreichsten  und 
wichtigsten  aller  französischen  Yzopets,  den  der  Marie  de 
France. 

Das  bekannteste  und  wichtigste  indische  fabelbuch  ist  das 
Fantschatantra,  übersetzt  von  Benfey  1B59,  2  bde.,  im  ersten  die 
einleitung  mit  wichtigen  stoffvergleichenden  beitragen.  Neuerdings 
übersetzt  von  Ludwig  Fritze.  —  Aesop,  Babrios,  Phaedrus,  Avian 
sämtlich  in  der  Bibliotheca  Teubneriana.  —  Die  mittelalterlichen 
lateinischen  fabeln  bei:  Hervieux,  Les  fabulistes  latins  depuis 
le  siecle  d'Auguste  jasqu'ä  la  fin  du  m.  ä.  I — II,  P.  1884,  2.  aufl. 
I — V,  P.  1893 — 98.  Ferner:  Österley,  Romulus,  die  Nachahmungen 
des  Phaedrus  und  die  äsop.  Fabel  im  MA.,  B.  1870.  Der  lat. 
Äsop  des  Romulus  und  die  Prosafassungen  des  Phaedrus,  krit. 
Text  von  G.  Thiele,  Heid.  1910  (Auswahl  ebenda  1910).  —  Vgl. 
Edelestand  du  Meril,  Poesies  inedites  du  m.  ä.  precedees  d'une 
histoire  de  la  fable  esopique,  P.  1854.  Jacobs,  The  fables  of 
Aesop.  I.  History  of  the  Aesopic  fable,  London  1889.  B.  Herlet, 
Studien  ü.  d.  Yzopets,  Würzb.  Diss.  1889  (auch  Rom.  Forsch.  4); 
Gymn.-progr.  Bamberg  1892.  L.  Sudre  in  Petit  de  Jve  II,  1  ff.  — 
Bibliographie,  bes.  für  die  ältesten  drucke:  G.  Keidel,  A  manual 
of  Aesopic  fable  lit.,  1.  fasc.  (bis  1500),  Baltimore  1896  (No.  2  der 
Romance  and  other  Studies).  —  Die  hier  erwähnten  französischen 
Yzopets   bei  M.  Robert,    Fables   inedites    des  XIIe,   XUIe  et  XIVe 


5.    Die  Fabel.  153 

siecles  et  les  fahles  de  La  Fontaine,    P.  1825,  2  bde.     Der  Lyoner 
Yzopet  hrs£.  von  W.  Foerster,   Afr.  Bibl.  5. 

B.  Die  dichterio  Marie,  aus  Frankreich  stammend,  ist 
die  älteste  französische  dichterin,  die  wir  kennen.  Sie  hat 
am  englischen  hof  gelebt  und  gedichtet  und  zwar  mitte  der 
sechziger  jähre  die  lais  (liebesgeschichten  in  versen,  meist 
bretonischer  herkunft  —  vgl.  kap.  IX  und  XI),  in  den  siebziger 
oder  achtziger  jähren  das  fabelbuch,  den  Esope,  und  um  1190 
das  fegefeuer  des  heiligen  Patrick  (s.  o.).  Ihre  fabeln  sind  uns 
nicht  80  wichtig  durch  eine  etwaige  Originalität  der  behandlung 
(da  sie  ihrer  —  uns  verloren  gegangenen  —  vorläge  im  ganzen 
treu  zu  folgen  scheint),  als  durch  die  neuheit  eines  grossen  teils 
von  ihnen  und  durch  die  frage  nach  ihrer  herkunft.  Sie  hat  im 
ganzen  102  fabeln  gedichtet,  von  denen  40  dem  Romulus  Nilantii 
entsprechen:  hierunter  z.  b.  die  von  wolf  und  schaf  am  bach, 
von  Stadt-  und  feldmaus,  vom  froschkönig,  von  löwe  und  maus, 
von  der  witwe  von  Ephesus  (die  den  leichnam  des  toten  gatten 
opfert  um  den  neuen  geliebten  zu  retten)  usw.  Von  den  übrigen 
62  fabeln  lassen  sich  die  einen  in  sonstigen  lateinischen  oder 
griechischen  fabeln  nachweisen,  die  zum  teil  auf  mündlichem 
weg  nach  England  gelangt  sein  müssen.  Die  anderen  sind 
ausgeprägt  abendländisch -mittelalterlich,  von  haus  aus  wol 
germanischen  Ursprungs,  wie  namentlich  die  geschichten  von 
fuchs  und  wolf,  fuchs  und  bärin  u.  a.,  die  ihre  parallelen 
meist  in  deutschen,  skandinavischen,  auch  finnischen  tiermärchen 
finden. 

Marie  hat  diese  verschiedenartigen  fabeln  nicht  selbst 
zusammengetragen,  das  hat  vielmehr  der  Engländer  Alfred 
getan,  den  sie  als  quelle  nennt  und  —  darin  wol  schon  einer 
vorhandenen  tradition  folgend  —  mit  dem  könig  Alfred 
gleichsetzt. *)      Sie    hat    also     eine    englische    fabelsammlung 

l)  Im  epilog  v.  9  ff.  sagt  die  dichterin : 

Pur  amnr  le  cunte  Willalme,  de  Griu  en  Latin  le  turna. 

le  plus  vaillant  de  cest  reialme,  Li  reis  Alvrez,  ki  uault  l'auia, 

m'entreims  de  cest  livre  faire  le  translata  puis  en  Engleis, 

e  de  TEngleis  en  Ronianz  traire.  e  jeo  Tai  rime  en  Franceis, 

Esope  apele  um  cest  livre,  si  cum  jol  truvai,  proprement. 
kil  translata  e  fist  escrivre, 


154 


IV.  Kapitel.    Die  geistliche  Literatur  im  12.  Jahrhundert. 


Übersetzt,  und  zwar  allem  vermuten  mich  für  den  grafen 
Wilhelm  Langschwert,  natürlichen  söhn  Heinrichs  II.  und  dir 
Rosamunde  Clifford.  Wesentlich  ist  an  ihren  fabeln  nicht 
nur  das  unmittelbare  englische  Vorbild,  sondern  auch  das 
hereinspielen  germanischer  märchenüberlieferung,  die  uns  bei 
der  entwicklung  der  französischen  tierepik  noch  bedeutsamer 
entgegentreten  wird. 

C.  Als  probe  der  fabeldichtung  folgt  hier  die  altbekannte 
fabel  von  dem  fuchs  und  dem  raben  mit  dem  käse,  deren 
vergleichung  mit  der  ähnlich  gearteten  Physiologuserzäbluug 
von  dem  sich  tot  stellenden  fuchs  (siehe  oben  s.  146)  den 
unterschied  zwischen  allegorischer  und  didaktischer  behandlung 
veranschaulichen  kann: 


Issi  avint  e  bien  puet  estre1) 
que  par  devant  uue  fenestre, 
ki  en  nne  despense  fu, 
vola  uns  cors,  si  a  veü 
furiuages  ki  dedenz  esteient 
e  sur  une  cleie  giseient. 
Un  en  a  pris,  od  tut  s'en  va. 
Uns  gupiz  vint,  si  l'encnntra. 
Del  furniage  ot  grant  desirier 
qu'il  en  peüst  sa  part  mengier; 
par  engin  vohlra  essaier 
se  le  corp  purra  engignier. 
'A,  Deus  sire!'  fet  li  gupiz, 
'tant  par  est  eist  oisels  gentiz! 
El  niuudc  nen  a  tel  oisel! 
Unc  de  mes  uiz  ne  vi  si  bei! 
Fust  tels  sis  chanz  cum  est  sis 
cors, 


il  valdreit  mielz  que  nuls  fins  ors'. 

Li  cors  s'o'i  si  bien  loer 

qu'en  tut  le  munde  n*ut  sun  per. 

Purpensez  s'est  qu'il  chantera: 

ja  pur  chanter  los  ne  perdra. 

Le  bec  ovri,  si  couieuca: 

li  furmages  li  eschapa, 

a  la  terre  l'estut  cha'i'r, 

e  li  gupiz  le  vet  saisir. 

Puis  n'ot  il  eure  de  sun  chant, 

que  del  furmage  ot  sun  talant. 

C'est  essamples  des  orgnillns 
ki  de  grant  pris  sunt  desirus: 
par  losengier  e  par  mentir 
les  puet  hum  bien  a  gre  servir; 
le  lur  despendent  folement 
pur  fals  losenge  de  la  gent. 


Ausgabe  von  Karl  Warnke,  Die  Fabeln  der  M.  de  Fr.,  Bibl. 
Norm.  IV,  IIa.  1898  (ältere  ausgäbe  von  Roquefort,  Podsies  de 
M.   d.   Fr.   1825).    —    Vgl.    dazu:    Ed.  Mall,    De    aetate    rebueque 


')  Die  spräche  der  dichterin  ist  im  wesentlichen  francisch,  aber  mit 
einzelnen  auglonurmannischen  eigentiimlichkeiten.  Die  Orthographie  des 
textes  ist  nicht  uniformiert. 


5.   Die  Fabel.  155 

Mariac  Francicae,  IIa.  18»>7;  Zur  Geschichte  der  mittelalterlichen 
Fabelliteratur,  ZrP  9  (1885)  101  fY.  Warake,  Die  Quellen  des 
Esope  der  Marie  de  France,  im  Suchierband  s.  161  ff.,  auch  separat, 
Ha.  1900.  —  Der  Esope  der  Marie  de  France  hat  seinerseits 
wieder  auf  die  lateinische  fabelliteratur  gewirkt:  der  sogenannte 
erweiterte  Romulus  (LBG),  den  man  früher  zuweilen  als  vorläge 
der  Marie  angesehen  hat,  geht  auf  ihr  werk  zurück,  ebenso  andere 
lateinische,  italienische  und  jüdische  bearbeitungen.  Siehe  Warnkes 
einleitung;  zur  ausgäbe. 


Fünftes  Kapitel. 

Die  einheimische  Liederdichtung 
im  zwölften  Jahrhundert. 


Im  zweiten  kapitel  haben  wir  die  für  die  früheren  Jahr- 
hunderte vorhandenen  Zeugnisse  für  das  Vorhandensein  von 
Volksliedern  zusammengestellt  und  dabei  vor  allem  liebes- 
lieder  und  spottlieder,  ihrer  Verwendung  nach  tanzlieder 
und  wol  auch  arbeitsgesänge  bezeugt  gesehen.  Im  12.  Jahr- 
hundert tritt  uns  die  altfranzösische  lyrik  in  grosser  aus- 
dehnung  und  mannigfaltigkeit  entgegen,  aber  zugleich  auch 
in  einer  form,  die  wir  nicht  ohne  weiteres  als  volksmässig 
bezeichnen  dürfen.  Zum  teil  handelt  es  sich  vielmehr  um 
liedgattungen,  die  sichtlich  aus  der  provenzalischen  trobador- 
lyrik  übernommen,  also  von  aussen  her  eingeführt  und  zunächst 
nur  an  den  fürstenhöfen  gepflegt  worden  sind.  Aber  auch  die 
allem  anschein  nach  autochthouen  gattungeu  werden  meist  in 
demselben  milieu  gepflegt,  atmen  grossenteils  ritterlichen,  selbst 
höfischen  geist,  und  wenn  wir  in  ihnen  nachkommen  alter 
volkstümlicher  gattungen  erblicken  wollen,  müssen  wir  sie  erst 
des  höfischen  gewandes  entkleiden,  mit  dem  sie  sich  im  laufe 
der  zeit  bedeckt  haben,  und  so,  vermutungsweise,  die  zu  gründe 
liegende  volkstümliche  liedgattung  zu  erschliessen  suchen.  Von 
manchen  wird  überhaupt  jeder  Zusammenhang  zwischen  der 
altbezeugten  französischen  volkspoesie  und  der  kunstlyrik  des 
12.  Jahrhunderts  bestritten.  Dann  bleibt  aber  die  frage  völlig 
ungelöst,  woher  denn  die  einheimischen,  nicht  erst  von  den 
Provenzalen  entlehnten  gattungen  der  kunstlyrik  gekommen 
sind,  die  doch  irgendwelche  Vorgänger  in  der  eigenen  literatur 


Allgemeines.  13 1 

oder  in  fremder  literatur  gebabt  haben  müssen.  Und  da 
für  diese  gattnngen  sowohl  das  vorbild  der  provenzalischen 
als  der  lateinischen  lvrik  sieb  aussebliesst,  bleibt  nichts 
anderes  übrig,  als  den  keim  dazu  im  einheimischen  Volkslied 
ZU  suchen. 

Wir  können  also  drei  stufen  in  den  anfäugen  der  fran- 
zösischen lyrik  unterscheiden:  erstens  das  reine  Volkslied,  wie 
es  uns  so  oft  seit  dem  6.  und  7.  Jahrhundert  bezeugt  wird 
(siehe  kap.  II)  —  zweitens  die  darauf  beruhende,  organisch 
entwickelte,  aber  von  höfischem  einfluss  nicht  uuberührte 
kuustlyrik.  mit  der  wir  uns  hier  beschäftigen  wollen  —  endlich 
die  rein  höfische  lyrik,  welche  mit  idee  und  tendenz  auch 
die  gattungen  und  formen  aus  der  provenzalischen  literatur 
entnimmt  (wovon  in  kap.  IX  und  X  die  rede  sein  wird). 
Ein  wesentliches  eharacteristicum  volkstümlicher  herkunft 
oder  volkstümlichen  einflusses  ist  der  refrain,  der  nur  beim 
chorgesang  oder  beim  Wechsel  zwischen  solo  und  chor  seine 
volle  bedeutung  hat.  im  kunstmässigen  solovortrag  dagegen 
nur  noch  dekorativen  wert  behält  und  daher  hier  meist 
schwindet.  Eine  reihe  von  refrains  älterer  lieder  sind  uns 
nur  zufällig  —  als  einschaltungen  in  epische  oder  auch  in 
andere  lyrische  dichtungen  —  erhalten  und  lassen  uns  so 
manches  ältere,  sonst  verloren  gegangene  lied  erschliessen. 

Die  hierher  gehörigen  lieder  sind  uns  grossenteils  —  wie 
namentlich  die  romanzen  —  anonym  überliefert,  teilweise 
stammen  sie  aber  auch  —  wie  eine  grosse  zahl  pastourellen  — 
von  bekannten  Verfassern,  die  sich  sonst  in  der  rein  höfischen 
dichtung,  im  eigentlichen  minnelied,  hervorgetan  haben.  Ein 
grundsätzlicher  schluss  auf  höheres  alter  lässt  sich  natürlich  aus 
der  anonymität  eines  liedes  an  und  für  sich  nicht  machen, 
doch  ist  soviel  richtig,  dass  uns  die  lieder  der  höfisch-proven- 
zalisierenden  kunstlyrik  mit  geringen  ausnahmen  unter  dem 
namen  eines  bestimmten  Verfassers  (gelegentlich  auch  ver- 
schiedener Verfasser)  überliefert  sind,  während  die  meisten 
auonymen  lieder  sich  gerade  unter  den  älteren  einheimischen 
dichtgattungen  finden.  Im  übrigen  geben  uns  spräche,  Vers- 
and Strophenbildung,  art  und  verschlingung  des  reims  mehrfach 
kriterien  für  das  höhere  oder  geringere  alter  der  lieder  an 
die  band. 


158     V.  Kapitel.  Die  einheimische  Liederdichtimg  im  12.  Jahrhundert. 

Die  meisten  lieder,  die  hierher  gehören,  sind  veröffentlicht  von 
K.  Bartsch,  Altfranzösische  Romanzen  und  Pastourellen,  L.  1870 
(daselbst  auch  über  die  benutzten  hss ).  Vgl.  mich  desselben  Alte 
französische  Volkslieder  übersetzt,  Heid.  1882  (mit  allgemeiner 
einleitung).  —  Über  die  herkunft  der  hauptgattnngen  und  den 
Ursprung  der  afr.  lyrik  überhaupt:  G.  Gröber,  Die  altfranzösischen 
Romauzen  und  Pastourellen,  Zürich  1872.  Vgl.  dazu  FerJ.  Orth, 
Über  Reim  und  Strophenbau  in  der  altfranzösischen  Lyrik.  Str. 
Diss.,  Cassel  1882.  —  Alfred  Jeanroy,  Les  origines  de  la  poesie 
lyrique  en  France  au  moyen  äge,  P.  1889,  -1904.  Derselbe,  Les 
Chansons,  in  Petit  de  Jve,  Ilist.  I  345  —  404.  —  G.  Paris,  Les 
origines  de  la  poesie  lyr.  en  Fr.  au  m.  ä.  in  JdSav  1891  und  1892, 
auch  separat  P.  1892.  —  Vgl.  auch  die  weiteren  s.  78  genannten 
Schriften  von  Tiersot,  Wilmotte,  Gorra. 


1.   Die  Romanzen. 

(Chansons  ä  toile  —  Chansons  cVhistoire.) 

Von  allen  überlieferten  altfranzösischen  liedern  sind  die 
romanzen  am  altertümlichsten  in  spräche,  form  und  inhalt.  Der 
name  chansons  ä  toile  scheint  noch  darauf  zu  deuten,  dass  diese 
lieder  aus  arbeitsliedern  (oben  s.  71,  76)  hervorgegangen  sind, 
und  tatsächlich  führen  uns  gerade  diese  lieder  königstöchter 
und  adlige  fräulein  gern  mit  einer  Stickerei  oder  näherei 
beschäftigt  vor.  Bedeutsam  ist  auch,  dass,  wie  im  ältesten 
deutschen  minnesang,  das  weib  der  sehnende,  werbende  teil  ist, 
während  der  mann  sich  bitten  lässt:  so  redet  Schön  Eremborc 
den  unterm  schloss  vorbeiziehenden  ehemaligen  geliebten  Rainald 
an,  der  selber  sie  keines  blickes  würdigt,  und  sucht  ihn  von  ihrer 
treue  und  beständigkeit  zu  überzeugen;  Schön  Aiglentine,  von 
graf  Henri  verführt  und  von  ihrer  mutter  entdeckt,  begibt  sich 
selbst  zu  Henri  ihn  zu  fragen,  ob  er  sie  zum  weibe  nehmen 
wolle;  Schön  Amelot  bittet  ihre  mutter  ihr  Garin  zum  manne 
zu  geben,  worauf  die  mutter  diesen  besendet  und,  nicht  ohne 
reichliche  beigäbe  von  silber  und  gold,  mit  der  tochter  vereint. 
Es  sind  also  sehr  altertümliche  Verhältnisse,  die  uns  hier 
geschildert  werden.  Dass  die  handelnden  personen  den  vor- 
nehmen kreisen  angehören,  spricht  nicht  gegen  populäre  herkunft 
der  gattung,  auch  im  modernen  —  französischen  wie  deutschen  — 


1.    Die  Komanzen.  159 

Volkslied  spielen  die  erzählenden  lieder,  die  balladen,  meisten- 
teila  in  den  familien  von  rittern,  grafen.  markgrafen  und  künigen; 
ja  auch  das  märchen  bewegt  sieh  mit  Vorliebe  in  diesen  kreisen. 
Charakteristisch  gegenüber  dein  späteren  höfischen  minnesang 
ist  für  die  romauzen  endlich  die  liebe  des  ritters  zum  unver- 
heirateten weih,  zum  jungen  mädchen,  während  der  minnedienst 
fast  ausschliesslich  der  verheirateten  frau  gilt. 

Während  ferner  die  minnelyrik  ihrem  wesen  nach  de- 
skriptiv oder  reflektierend  ist,  steht  im  mittel puukt  der  romanze 
immer  ein  wirklicher  Vorgang,  eine  episode  aus  dem  leben  der 
liebe,  meist  zur  Vereinigung  der  liebenden  führend.  Zu  diesem 
epischen,  konkreten  charakter  der  gattung  stimmt  die  ein- 
fllhmng  der  handelnden  personen  mit  namen  der  Wirklichkeit, 
meist  mit  namen  germanischer  herkunft,  wie  sie  in  der  aristo- 
kratie  jener  zeit  üblich  und  daher  auch  in  der  dichtung  — 
wie  z.  b.  auch  in  den  chansons  de  geste  —  gebräuchlich  waren: 
Doon  und  Doette,  Gerard  und  Gaiette,  Garin  und  Amelot, 
Guion  und  Aigline,  Raynald  und  Eremborc  u.  a.  m.  bezeichnen 
die  verschiedenen  liebespaare,  nur  selten  bleibt  der  amis 
ungenannt  wie  im  lied  von  Bele  Yolanz  (Bartsch  I,  7). 

Altertümlich  wie  der  inhalt  ist  auch  die  form.  Vers  ist 
in  der  regel  der  epische  zehnsilbner  mit  epischer  cäsur,  z.  t. 
noch  in  der  altertümlichen  form  mit  cäsur  nach  der  6.  silbe 
(vgl.  o.  s.  31),  daneben  acht-  und  zwölfsilbner.  Statt  des 
reims  genügt  noch  die  blosse  assonanz,  erst  die  jüngeren  stücke 
zeigen  den  vollreim.  Die  Strophen  sind  einfach  gebaut,  je 
drei,  vier,  fünf  (selten  mehr)  verse,  die  innerhalb  der  Strophe 
auf  dieselbe  assonanz  oder  denselben  reim  ausgehen  (wie  die 
laisse  der  epischen  dichtung).  Den  schluss  der  Strophe  bildet 
der  refrain,  aus  ein,  zwei  oder  drei  meist  kürzeren  Zeilen 
bestehend,  die  meist  ihren  eigenen  assonanzvokal  gegenüber  der 
Strophe  haben.  Zu  einigen  wenigen  romanzen  ist  auch  die 
melodie  überliefert.  Erhalten  sind  uns  von  der  ganzen  gattung, 
mit  eiuschluss  der  romanzen  Audefrois  (siehe  anmerkuug),  etwa 
zwanzig  lieder,  zu  einem  teile  nur  in  fragmentarischem  zustand. 
Als  probe1)  folgt  das  von  Bartsch  an  erster  stelle  abgedruckte 


')   Vgl.   zur   form   auch   das   oben   s.  133   zu   der  Übersetzung   des 
Hohenlieds  gesagte. 


160     V.Kapitel.  Die  einheimische  Liederdichtung  im  12. Jahrhundert. 

stiick,    dem   Suchier    wegen    der    erwähnung    des    fränkischen 
kaisers  ein  hohes  alter  zuschreiben  möchte.1) 

1  Quant  vient  en  mai,  que  Ton  dit  as  Ions  jors,  I 

que  Franc  de  France  repairent  de  roi  cort, 
Raynanz  repaire  devant  el  premier  front, 
si  s'en  passa  lez  lo  mes  Arembor, 

5  ainz  n'en  dengna  le  chief  drecier  a  inont. 
E  Raynanz  amis! 

Bele  Erembors  a  la  fenestre  au  jor  II 

sor  ses  genolz  tient  paile  de  color; 
voit  Frans  de  France  qui  repairent  de  cort, 
10  e  voit  Raynaut  devant  el  premier  front: 
en  haut  parole,  si  a  dit  sa  raison. 
E  Raynanz  amis! 

„Amis  Raynauz,  j'ai  ja  vea  cel  jor.  III 

se  passissoiz  selon  mon  pere  tor, 
15  dolanz  fnssiez  se  ne  parlasse  a  vos." 
,.Jal  mesfe'i'stes,  fille  d'empereor, 
autrui  amastes,  si  oblTastes  nos." 
E  Raynauz  amis! 

„Sire  Raynauz,  je  ru'en  escondirai:  IV 

20  a  cent  puceles  sor  sainz  vos  jurerai, 
a  trente  dames  que  avuec  moi  menrai, 
c'onques  nul  home  fors  vostre  cors  n'amai. 
PreDnez  l'emmende  et  je  vos  baiserai." 
E  Raynauz  amis! 

25  Li  cuens  Raynauz  en  monte  le  degre,  V 

gros  par  espaules,  greles  par  le  baudrr, 

blont  ot  le  poil,  menu,  recercelö: 

en  nule  terre  n'ot  si  biau  bacheler. 

Voit  1'  Erembors,  si  comence  a  plorer. 
30  E  Raynauz  amis! 


*)  Das  gedieht  ist  nur  in  einer  hs.  des  13.  Jahrhunderts,  daher  in 
wesentlich  verjüngten  sprachformen  überliefert.  Die  lautformen  sind  in  dem 
obigen  text  nicht  geändert,  hingegen  einige  flexionsformen  (so  Raynauz 
für  mehrfach  liaynaut)  richtig  gestellt  worden. 

Im  einzelnen:  Vers  2  de  roi  cort:  obl.  für  genetiv  mit  fehlen 
beider  artikel  (=  de  la  cort  dd  roi).  —  8  tient  paile:  um  daran  zu 
arbeiten  (vgl.  oben).  —  14  se:  im  sinne  von  lorsque,  quand;  passissoiz 
conj.  impf,  wegen  der  abhiingigkeit  vom  regierenden  konjunktivsatz. 


2.    Tanz-  und  Liebeslieder.  161 

Li  cuens  Raynanz  est  montez  en  la  tor,  VI 

Plorant  la  vit,  dont  Ten  prist  grant  tendror, ') 
si  s'est  assis  en  uu  lit  point  a  h\>rs. 
dejoste  lui  se  siet  belo  Erembors: 
35  Lors  recomencent  lor  premieres  aniors. 
E  Raynauz  aniia! 

Mit  ihrer  einfachen  und  kunstlosen  form,  ihrer  stilistischen 
klavheit  und  ausdrucksfähigkeit,  ihrer  objektiv-epischen  und 
doch  so  viel  mitgefühl  erweckenden  Schilderung  gehören  die 
romauzen  zu  den  schönsten  blttten  mittelalterlicher  lyrik. 

Vgl.  Bnrtsch,  Einl.,  Gröber  s.  9  ff.,  Jeanroy,  Origines  216  ff.  Zur 
form  der  romanzen:  Georg  Schläger,  Über  Musik  und  Strophenbau 
der  franz.  Romanzen,  im  Suchierband  s.  115 — 160,  auch  sep.  —  Die 
eigentliche  romanzendichtung  endigt  mit  dem  12.  Jahrhundert.  Jedoch 
hat  Audefroi  der  Bastard,  ein  dichter  aus  Arras,  anfangs  des  13.  Jahr- 
hunderts versucht,  sie  in  rein  kunstmässiger  art  wieder  zu  beleben 
(Bartsch,  I,  no.  56  —  60):  mit  reinen  reimen,  wobei  die  der  ersten 
Strophe  zuweilen  durch  sämtliche  Strophen  durchgehn,  mit  kunst- 
volleren Strophen,  mit  reicherer  handlang  und  grösserer  ausföhr- 
lichkeit,  so  dass  diese  dichtungen,  deren  längste  173  verse  zählt, 
teilweise  schon  mehr  den  charakter  der  novelle  annehmen.  —  Was 
die  Provenzalen  an  romanzenartigen  liedern  haben,  ist  wenig  und 
scheint  auf  nachahmung  der  französischen  romanze  zu  beruhen. 


2.    Tanz-  und  Liebeslieder. 

A.  Allgemeines.  Zu  den  ältesten  lyrischen  gattungen 
gehören  arbeitsgesänge  und  Tanzlieder,  insofern  sie  beide 
rythmische  bewegung  mit  wort  und  ton  vereinen:  der  Ursprung 
des  Volkslieds  ist  in  erster  linie  in  diesen  beiden  gattungen 
zu  suchen.  Kann  man  die  chansons  de  toile  einerseits  mit 
dem  arbeitslied  in  Verbindung  bringen,  so  betrachtet  sie 
Jeanroy  andrerseits  als  einfachste  und  älteste  form  des  Tanz- 
liedes. Form  und  inhalt  des  tanzliedes  konnten  wechseln, 
wenn   es   nur   den  rythmischen  anforderungen  entsprach.     Der 


')   Der  vers,    welcher  in   der  hs.   fehlt,   ist  von  Suchier,  Lit.  s.  9, 
ergänzt. 

Voretzsch  ,  Studium  d.  afiz.  Literatur.     2.  Auf  läge.  \\ 


162     V.Kapitel.  Die  einheimische  Liederdichtung im  12.  Jahrhundert. 

mittelalterliche  tanz  war  meist  kein  paarweiser,  sondern  ein 
reihentanz  (reigen),  bei  den  Franzosen  carole  genannt,  mit 
einfachen  bewegungen.  Daher  konnten  zur  begleitung  lieder 
verschiedener  art  gebraucht  werden:  das  tauzlied  bezeichnet 
somit  im  anfang  weniger  eine  bestimmte  gattung  von  liedern, 
als  vielmehr  deren  praktische  Verwendung. 

Die  existenz  von  tanzliedern  ist  schon  für  die  älteste  zeit 
durch  die  im  II.  kapitel  besprochenen  Zeugnisse  gesichert. 
Zweifelhaft  sind  angaben  über  tanzlieder  mit  rein  epischem 
inhalt  wie  die  notiz  Hildegars  über  das  Chlotharlied  (vgl. 
o.  s.  92  ff.).  Übrigens  glauben  manche  gelehrte  einen  reigen 
auch  nach  dem  rythmus  einer  (in  ungleich  langen  Strophen 
gedichteten)  chanson  de  geste,  eines  epos,  annehmen  zu  dürfen. 
Ob  die  ungleiche  länge  der  Strophen  in  einzelnen  romauzen, 
die  jene  ansieht  stützen  könnte,  auf  mangelhafter  Überlieferung 
oder  ursprünglicher  anläge  beruht,  muss  freilich  dahingestellt 
bleiben.  Jedenfalls  waren  die  romanzen  in  viel  höherem  grade 
als  die  heldengedichte  geeignet  zur  begleitung  des  tauzes  ver- 
wendet zu  werden.  Die  eigentlichen  tanzlieder  der  älteren 
zeit  aber  müssen  grossenteils  aus  einzelnen  trümmern  erschlossen 
und  widerhergestellt  werden. 

B.  Refrains.  Im  unterschied  von  dem  heutigen  gebrauch 
des  wortes  refrain  J)  als  eines  nach  jeder  strophe  wiederholten 
kürzeren  oder  längeren  Stückes  versteht  man  unter  den  alt- 
französischen refrains  „de  tres  courts  morceaux,  comptaut 
ordinairement  de  un  a  quatre  vers,  toujours  accompagn6s  d'uue 
inelodie  qui  leur  est  propre.  Ces  morceaux  sont  tantöt  isoles, 
tantöt  intercales  dans  d'autres  oeuvres;  mais,  dans  ce  dernier 
cas,  ce  ne  sont  pas  les  memes  qui  sont  rdpetes  apres  chaeun 
des  couplets,  dont  ils  sont  souvent  tout  a.  fait  independauts 
par  le  sens"  (Jeauroy).  So  beschliesst  ein  lied,  welches  das 
zusammentreffen  des  dichters  mit  einer  unglücklich  verheirateten 
frau  schildert  (Bartsch  1,49),  die  erste  strophe  mit  dem  zitat: 

Nus  ne  doit  les  le  bois  aler 
saus  sa  coupaignete  — 


x)  Über  die  etymologie  des  Wortes  (zu  refrangere  —  nebeu  refrain 
auch  refrait  <  refractum,  feruer  refloit  <  *reflectum  und  refroit)  siehe 
0.  Schulti-Gora  ZrP  11,  249  f.  und  Jeanroy  a.  a.  o.  102  ff.,  520. 


2.    Tanz-  und  Liebcbliedcr.  163 

die  zweite  mit: 

N'atoachiöa  pas  a  mon  chainse, 
sire  chevalier  — 

die  dritte  mit: 

Dame  qui  a  mal  inari, 

s'el  fet  aini, 

n'en  fet  pas  a  blasuier  — 

die  letzte  endlich  mit: 

S'aim  trop  iriels  un  poi  de  jole      a  demener 
que  inil  mars  d'argent  avoir  et  puis  plorer. 

Schon  die  verschiedene  metrische  form  dieser  strophen- 
schlüsse  —  während  die  Strophen  selbst  durchaus  gleichniässig 
gebaut  sind  —  weist  auf  entlehnung  aus  vorhandenen  liederu 
hin.  Andere  refrains  finden  sich  in  den  motets,  einer  aus  der 
inusik  hervorgegangenen  dichtgattung,  wieder  andere  sind  in 
erzählende  dichtungen,  in  romane  wie  Giiülaume  de  Dole  oder 
La  Violette,  in  das  spätere  tierepos  (Renart  le  nouvel)  und 
sonst  eingestreut.  Von  der  Verwertung  des  refrains  Or  ai  je 
trop  dormi  —  On  m'a  m'amie  amblee  gibt  folgendes  motet 
eine  Vorstellung: 

Or  ai  je  trop  dormi:  Mielz  amasse  estre  ocis 

On  m'a  m'amie  amblee;  Au  tranchaut  de  m'espee. 

S'ont  fait  mi  aneini;  Or  ai  je  trop  dormi: 

Or  ai  je  trop  dormi.  On  m'a  m'amie  amblee. 

Diese  refrains  sind  reste  alter  tanzlieder:  in  den  romanen 
werden  sie  zum  tanze  gesungen  und  als  chansons  de  carole, 
rondets  de  carole  oder  kurzweg  rondets  bezeichnet,  zuweilen 
enthalten  sie  auch  selbst  schon  die  aufforderung  zum  tanz. 
Freilich  führen  uns  auch  diese  reste  nicht  bis  zu  der  volkspoesie 
der  früheren  Jahrhunderte  zurück.  Aber  es  lässt  sich  doch 
eine  ältere  von  einer  jüngeren  schiebt  rein  höfischen  Charakters 
unterscheiden:  nämlich  solche  refrains,  welche  auf  tanzlieder 
erzählenden  inhalts  deuten,  lieder  von  Robin  oder  Aaliz,  die 
uns  nicht  mehr  oder  nur  fragmentarisch  erhalten  sind.  Dass 
uns  von  den  tanzliedern  so  oft  gerade  die  refrains  allein 
überliefert  sind,  erklärt  sich  aus  ihrer  Vortragsweise:  ein 
Vorsänger  oder  auch  eine  Vorsängerin  sang  die  Strophe,  und 
der  chor  der  tanzenden  antwortete  mit  dem  refraiu,  der  sich 


164     V.  Kapitel.  Die  einheimische  Liederdichtung  im  1 2.  Jahrhundert 

so   dem   gedächtnis   der  menge   viel   fester   einprägte   als  das 
lied  selbst. 

Bestimmte  gattungsnamen  kommen  für  das  tanzlied  als 
solches  ebenso  wie  die  formelle  ausbildnng  einzelner  gattungen 
erst  seit  dem  ende  des  12.  Jahrhunderts  und  teilweise  noch 
später  auf:  so  das  wort  roondet,  roondcl,  das  schliesslich  eine 
ganz  bestimmte,  bis  ins  16.  Jahrhundert  fortlebende  metrische 
form  bezeichnet;  beulete  (zu  baier,  italienisch  ballare  tanzen) 
ist  der  einheimische  name,  für  den  später  das  provenzalische 
balada  eintritt;  estampie  (zu  deutsch  stampön  =  stampfen) 
und  vireli  bezeichnen  noch  jüngere  formen  des  tanzliedes 
(13.  bis  14.  Jahrhundert). 

C.  Rotrouenge.  Mit  dem  namen  rotrouenge  (auch  retrou- 
enge,  retroivange ,  provenzalisch  retroencha)  wird  eine  gattung 
bezeichnet,  die  wie  das  tanzlied  einen  refrain  besass,  auch 
zum  tanz  gesungen  werden  konnte  und  ihrem  inhalt  nach  im 
wesentlichen  liebeslied  war,  hie  und  da  auch  auf  das  politische 
gebiet  übergriff.  Im  Roman  de  Renart  (vgl.  kap.  XI)  sagt 
Renart  der  fuchs  zum  raben  Tiecelin:  Chantes  moi  une 
rotrouenge!  Herkunft  und  ursprüngliche  bedeutung  des  Wortes 
ist  nicht  völlig  klar.  Die  älteren  etymologien,  wie  retroientia 
oder  ableitung  von  rote  (ein  harfenähnliches  instrument,  vgl. 
auch  oben  s.  20),  sind  nahezu  allseitig  aufgegeben.  So  bleibt 
als  beachtenswert  nur  die  von  Suchier  aufgestellte  etymologie 
übrig,  wonach  das  wort  von  dem  eigennamen  Botrou,  speziell 
von  trägem  dieses  namens  unter  den  grafen  von  Perche  im 
11.  und  12.  Jahrhundert,  abgeleitet  ist  und  zunächst  den  helden 
eines  solchen  liedes  —  ähnlich  wie  der  lateinische  modus 
Ottinc,  modus  Carlomanninc  des  10.  Jahrhunderts  —  bezeichnet 
hat.  Das  Hesse  zunächst  wol  an  heldenhafte  oder  satirische 
lieder  denken.  Doch  weist  Suchier  auch  auf  die  möglichkeit 
hin,  dass  der  terminus  den  erfinder  der  melodie  oder  den,  in 
dessen  dienste  sie  erfunden  worden,  bezeichnen  könne.  Nach 
G.  Paris  gehören  zu  den  rotrouengen  'presque  toutes  les  pieces 
lyriques  destin6es  au  chant  qui  n'appartiennent  pas  ä.  l'^cole 
provencalisante'. 

D.  Reverdie.  Zahlreiche  lieder,  namentlich  tanzlieder 
und  refrains,  beziehen  sich  auf  den  frühling,  besonders  auf 
das  maifest,   oder   werden   durch  ein  naturbild  eingeleitet  — 


2.    Tanz-  uud  Liebeslieder. 


165 


ähnlich  wie  in  der  mittelhochdeutschen  lyrik  und  ebenso  auch 
in  unsorm  Volkslied.  Unter  solchen  liedern  unterscheidet 
G.  Paris  als  eine  besondere  gattung  diejenigen,  welche  speziell 
das  grünen  und  blühen  der  natur,  das  singen  der  vögel,  zumal 
der  nachtigall,  und  die  eindrücke  des  dichters  schildern,  wie 


z.  b.  das  folgende : 


1  En  ixtai  au  douz  tens  nouvel 
que  raverdisseut  prael, 
tri  suz  un  arbroisel 
chanter  le  rossignolet: 
5        Saderala  don ! 
tant  fet  bon 
dormir  lez  le  buissonet. 

Si  com  g'estoie  pensis 
lez  le  buissonet  ra'assis: 
10  un  petit  m'i  endornii 

au  douz  chant  de  l'oiselet. 

Saderala  don! 

tant  fet  bon 

dornu'r  lez  le  buissonet. 

15  Au  resveillier  que  je  fis 
a  Toisel  criai  nierci 
qu'il  tne  doint  joie  de  li: 
s'en  serai  plus  jolivet. 


Saderala  don ! 
20        tant  fet  bon 

dormir  lez  le  buissonet. 

Et  quant  je  fui  sus  levez, 
si  comenz  a  citoler 
et  fis  l'oiselet  chanter 
25  devant  moi  el  praelet. 

Saderala  don ! 

tant  fet  bon 

dormir  lez  le  buissonet. 

Li  rossignolez  disoit 
30  (par  un  pou  qu'il  n'enrajoit 
du  graut  duel  que  il  avoit, 
que  vilains  l'avoit  oT): 
Saderala  don! 
tant  fet  bon 
35        dormir  lez  le  buissonet. 

(Bartsch,  Rom.  u.  Past.  I,  27.) 


Der  schon  aus  alter  zeit  für  einzelne  dieser  lieder  belegte 
name  reverdie  (raverdie,  renverdie)  ist  für  diese  art  lieder 
jedenfalls  sehr  bezeichnend,  obwol  sie  sich  nicht  immer  scharf 
von  den  pastourellen  und  den  liedern  der  mal  marie'e  scheiden 
lassen,  da  auch  in  ihnen  zuweilen  mädchen  oder  frauen  in 
die  handlung  eingeführt  werden.  Jüngern  Ursprungs  sind 
wol  diejenigen  stücke  der  gattung,  in  welchen  dem  dichter 
allegorische  figuren  wie  der  liebesgott  oder  die  poesie  selbst 
begegnen. 

E.  Lieder  der  mal  mariee.  Eine  kunstmässig  geübte 
gattung  zweifellos  volkstümlichen  Ursprungs  bilden  die  lieder, 
welche  die  klage  der  verheirateten  frau  über  ihren  mann,  sei 
es  im  monolog,  sei  es  im  dialog  mit  dem  mann,  mit  anderen 
frauen  oder  mit  dem  dichter  selbst,  zum  ausdruck  bringen. 
Der  dichter  führt  sich  immer  selbst,  gewöhnlich  als  zuhörer, 


166     V.  Kapitel.  Dio  einheimische  Liederdichtnog  im  12.  Jahrhundert. 

seltner  als  handelnden,  ein.  Mit  dem  dialog  verbindet  sich 
in  der  regel  die  handlung,  in  dem  ein  liebhaber  —  zuweilen 
der  dichter  selbst  —  die  unglückliche  frau  tröstet  und  für 
die  vom  gatten  empfangenen  Unbilden  mit  seiner  galanterie 
entschädigt.  Das  genre  zeigt  im  ganzen  wenig  Variationen:  in 
jüngeren  stücken  erscheint  an  stelle  der  mal  mariee  eine  ihren 
stand  verwünschende  nonne,  ebensowie  auch  die  stelle  des 
liebhabers  hier  und  da  ein  kleriker  einnimmt.  Überliefert  sind 
uns  im  ganzen  etwa  vierzig  solcher  lieder.  Gröber,  der  sie 
zuerst  als  eine  besondere  gattung  von  romanze  und  pastourelle 
geschieden  hat,  gibt  ihnen  den  namen  sons  (Tumors,  der 
allerdings  eine  etwas  allgemeine  bedentnng  hat.  Jeanroy  nennt 
sie  chansons  dramatiques,  G.  Paris  chansons  ä  personnages. 
Darin,  dass  es  sich  im  wesentlichen  um  lieder  der  mal  mariee 
handelt,  sind  sich  alle  einig. 

Die  technische  form  ist  schon  ziemlich  künstlich,  der 
refrain  fehlt  zumeist  oder  ist  aus  tanzliedern  entlehnt,  das 
ganze  erhält  durch  die  obligate  einftthrung  des  dichters  sowie 
durch  die  dem  gatten  zugewiesene  rolle  als  jalous,  vilain  u.  ä. 
einen  konventionellen,  höfischen  Charakter.  Aber  das  thema 
und  mit  ihm  die  zugrunde  liegende  gattung  ist  von  haus  aus 
durchaus  volkstümlich.1)  'Ce  sont'  sagt  G.  Paris  'des  chansons 
de   femmes   et  des  chansons  de  danse,   que  des  Jongleurs  out 


!)  Wie  sehr  die  mal  mariee  noch  heute  im  Volkslied  beliebt  ist. 
zeigen  die  modernen  lieder  der  mal  mariee,  von  denen  das  folgende  mit 
der  mittelalterlichen  gattung  verglichen  werden  kann  (Julien  Tiersot, 
Melodies  populaires  des  provinces  de  France,  3e  recueil,  Paris,  Hengel 
et  Cie.,  s.  20) : 

I.  Mon  pere  veut  me  marier,  Qui  n'a  ni  maille  ni  denier, 

—  J'entends  le  loup,  le  renard  Horsunbatondevertpommier. 

chanter  —  III.  (Die  beiden  vorigen  verse 

wiederholt.) 
C'est  ponr  m'en  battre  les  cötes. 
IV.   Ah!  s'il  me  bat,  je  m'en  irai. 
V.   Je  m'en  irai  au  bois  jouer. 
VI.   Avec  de  gentils  ecoliers. 
VII.   Ils  m'appendront  le jen  d'aimer. 
VIII.   Le  jen  des  cart',  aussi  des  des. 

Besondere  ühnlichkeit  zeigt  dies  moderne  lied  mit  Bartsch  I,  23  (das 
wegen  seines  refrains  sonst  unter  die  ballettes  gerechnet  wird). 


A  un  vieillard  il  m'a  donne, 
Qui  n'a  ni  maille  ni  denier. 
—    J'entends   le  loup,    le 

renard  et  l'alouette, 
J'entends  le  lonp,  le  renard 
chanter. 
II.   A  un  vieillard  il  m'a  donne, 


2.    Tanz-  und  Liebeslieder. 


167 


enlevees  ;\  leur  milieu  et  qu'ils  ont  munies  d'une  introdnctinn 
fort  simple,  qai  consiste  tont  bonnement  en  ee  qu'ils  se 
representent  ecoutant  les  plaintes  de  la  mal  mart'ee  ....  Je 
erois  pour  raa  part  qu'elle  (sc.  l'intervention  du  poete)  remonte 
aux  Jongleurs  qui  a  l'origine  cbantaient  ees  chansons,  maifl 
eile  est  devenue  de  style  et  a  passe  aux  gens  de  monde, 
quand  il  a  ete  de  mode  pour  eux  de  faire  des  chansons'. 

Als  probe  folgt  eine  dichttrag,  welche  G.  Paris  'tont  a  fait 
caracteristique,  imite^e  visiblement  de  poesies  populaires'  nennt 
(Bartseh,  Rom.  und  Past.  1,21): 


10 


Pansis  aineruusenient 

de  Tornai  parti  l'autrier. 

En  nn  pre  Ions  nn  dostonr 

vi  trois  dames  ombroier, 

mariees  de  novel: 

chascune  ot  nn  vert  chapel. 

La  moinnee  a  dit  ansi: 
'Je  servirai  mon  mari 
lealment  en  len  d'ami'. 

Li  ainnee  an  ot  irour, 

si  li  dit  sans  atargier: 

'Dame  dex  vos  dont  mal  jour! 

Nos  volez  vos  asaier? 

An  euer  ne  m'est  mie  bei'. 


15  Dou  poing  an  son  haterel 
l*ala  maintenant  ferir: 
'Je  ferai  novel  ami 
an  despit  de  mon  mari". 
La  moienne  par  baudour 
20  fn  vestue  an  tens  d'este 
d'nn  riebe  drap  de  colour, 
d'un  vert  qui  fait  a  louer. 
En  avoit  robe  et  mantel 
et  chantoit  cest  cbant  novel, 
25  si  ke  je  Tai  bien  o'i: 

'S'on  trovast  leal  ami, 
ja  n'ensse  pris  mari*. 


Die  in  diesem  abschnitt  vereinigten  liedergattungen  stehen 
sämtlich  untereinander  in  beziehung  durch  das  thema  der 
liebe  in  diesem  oder  jenem  sinne,  meist  auch  durch  die 
beziehung  auf  den  frühling  und  schliesslich  auch  durch  ihre 
Verwendung  als  Tanzlieder.  Dieselbe  bedeutung,  welche  die 
frauen  für  das  ältere  Volkslied  besassen  (vgl.  oben  s.  76), 
haben  sie  auch  hier:  eine  grosse  zahl  dieser  lieder  lassen 
sich  ohne  weiteres  als  frauenlieder  (wenn  auch  nicht  von  frauen, 
so  doch  im  sinne  der  frauen  verfasst)  bezeichnen,  an  den 
maifesten  feierten  diese  ihre  tanze  mit  liedern,  und  auch  bei 
gemischten  tanzen  waren  sie  vielfach  die  Vorsängerinnen. 

Siehe  über  die  hier  besprochenen  gattungen  die  oben  am 
eingang  des  kapitels  verzeichnete  literatur.  Speziell  über  tanz, 
tanzlieder  und  refrains  Jeanroy,  Origines2  s.  102  ff.,  Melangea 
d'ancienue  lyrique,  Toulouse  1902  (s.  51  ff.  refrains  inedits,  auch 
Pvev.  d.  1.  r.  1902),  sowie  in  Petit  de  Jve  I  s.  359  ff;  G.  Paris  JdSav 


168     V.  Kapitel.  Die  einheimische  Liederdichtung  im  1 2.  Jahrhundert. 

1892  s.  407  ff.,  auch  Wahlundband  8.  1  ff.  über  'Bele  Aaliz';  ferner 
Joseph  Bedier,  Les  fetes  de  mai  et  les  commencements  de  la  poesie 
lyrique  au  m.  ä.,  in  Revue  des  deux  mondes  t.  135  (1.  mai  1896) 
8.  146 — 172.  Über  die  refrains  in  der  Chastelaine  de  St.  Gilles  vgl. 
Schultz-Gora,  Zwei  afr.  Dichtungen,  Ha.  1899,  21911,  s.  lOff.  Über 
die  refrains  im  üblichen  sinn  s.  G.  Thurau,  Der  Refrain  i.  d.  franz. 
Chanson,  B.  1901.  —  Über  die  rotrouenge:  Paul  Meyer,  Rom.  19,  36  ff. 
und  Suchier  ZrP  18,  282  ff  Über  die  reverdie:  G.  Paris  JdS  1891 
s.  686  —  688.  Über  die  chanson  de  la  mal  mariee:  Gröber,  Die  afr. 
Rom.  u.  Past.  s.  14 ff,  Jeanroy,  Orig.  s.  84 ff,  G.Paris  JdS  1891 
s.  681  ff.  —  Wie  die  romanze,  ist  auch  die  rotrouenge,  die  estampie 
und  die  mal  mariee  in  der  provenzalischen  dichtung  nachgeahmt 
worden. 


3.    Pastourelle. 

Eine  gesonderte  betrachtung  verlangt  die  schon  öfter 
erwähnte  pastourelle,  einmal  weil  sie  mehr  als  die  bisher 
besprochenen  gattungen  höfisches  gepräge  zeigt,  und  dann 
weil  ihr  Verhältnis  zur  provenzalischen  pastorela  oder  pastoreta 
noch  umstritten  ist. 

Pastorele  bedeutet  hirtin,  Schäferin,  und  in  der  tat  spielen 
diese  die  wichtigste  rolle  in  den  nach  ihnen  genannten  liedern. 
Es  liegt  nahe,  den  Untergrund  der  gattung  in  hirtinnenliedern 
zu  sehen,  die  zu  den  ländlichen  festen  gesungen  wurden,  als 
alte  tanz-  und  frühlingslieder,  wie  G.  Paris  annimmt.  In  der 
überlieferten  form  freilich  ist  die  pastourelle  von  durchaus 
aristokratischem  Charakter.  Der  dichter,  in  der  regel  ein 
ritter,  trifft  auf  seinem  ritt  über  land  eine  Schäferin  und  bittet 
sie  um  ihre  liebe,  die  in  der  mehrzahl  der  fälle  gewährt, 
sehr  häufig  aber  auch  verweigert  wird.  Geschenke  und 
Versprechungen,  zuweilen  auch  rohe  gewalt,  überwinden  den 
widerstand  der  ländlichen  schönen,  die  meist  den  namen 
Marion  (Marot)  trägt.  Schenkt  sie  dem  ritter  nicht  gehör,  so 
ist  es,  weil  sie  ihren  Robin  (Robecon),  Perrin  (Perrot)  oder 
Guiot  vorzieht  und  ihm  treu  bleiben  will.  Im  einzelnen 
wird  das  thema  vielfach  variiert:  der  ritter  gewinnt  den 
süssen  lohn,  indem  er  den  wolf  verscheucht  und  ihm  das 
geraubte  lamm  wieder  abjagt,  oder  Robin,  brüder,  vater 
kommen   Marion    zu    hilfe    und   leuchten   dem    bedroher  ihrer 


3.    Pastourelle.  169 

ehre  mit  prügeln  heim  —  durchaus  Dicht  immer  mit  dem 
einverständnis  der  so  geretteten.  Einen  verhältnismässig  ein- 
fachen typus  stellt  das  folgende  stück  dar  (Bartsch  11,5): 


1  De  Saint -Quentin  a  Cambrai  Sens  delai 

Chevalchoie  l'autre  jour,  20  Ses  amis  serai'. 

Les  nn  buisson  esgardai : 

Touse  i  vi  de  bei  atour. 
5  La  colour 

Ot  freche  com  rose  en  inai. 

De  euer  gai 

Chautaut  la  trovai 


Dont  dist  la  doucete: 

'En  non  Deu,  j'ai  bei  aini, 
Cointe  et  joli, 
Taut  soie  je  brunete'. 
25  Deles  li  seoir  alai 

Et  li  pr'i'ai  de  sainour. 


Ceste  chansonnete:  Celle  dist:  'Je  n'auierai 

10        'En  non  Deu,  j'ai  bei  ami,  Vos  ne  autrui  par  nul  tour, 

Cointe  et  joli,  Sens  pastour, 

Taut  soie  je  bruuete'.  30  Robiu,  ke  fiancie  Tai. 
Vers  la  pastoure  tornai  Joie  en  ai, 

Quant  la  vi  en  son  destour,  Si  en  chanterai 

15  Hautenient  la  saluai  Ceste  chansonnete: 

Etdis'Deusvosdoinstbonjour  En  non  Deu,  j'ai  bei  ami, 

Et  honour.  35        Cointe  et  joli, 

Celle  ke  ci  trove  ai,  Tant  soie  je  brunete'. 

In  der  form  kunstmässig  ist  die  Vereinigung  längerer  und 
kürzerer  verse  in  der  Strophe,  die  reimverschlingung  und  die 
häufige  Verbindung  der  Strophen  untereinander  —  wie  hier  — 
durch  die  gleichen  reime  (durchreimen).  Jüngeren  Ursprungs 
als  die  erzählenden  pastourellen  scheinen  die  beschreibenden 
zu  sein,  in  welchen  der  dichter  die  tanze  und  spiele  der  hirten 
und  hirtinnen  belauscht  und  darstellt:  wie  sie  einen  Spielleiter, 
einen  roi,  wählen  und  als  solchen  schmücken,  wie  sie  dann 
ihre  ländlichen  spiele  und  tanze  aufführen  und  dabei  oft 
genug  in  streit  und  rauferei  geraten.  Gaston  Paris  ist  geneigt, 
zwar  nicht  in  den  überlieferten  stücken  dieser  art,  wol  aber 
in  der  gattung  als  solcher  eine  Weiterbildung  des  alten 
frUhlingstanzliedes  zu  erblicken.  Auch  der  sogenannte  'klassische 
typus'  der  pastourelle  (wie  z.  b.  die  hier  wiedergegebene 
probe)  würde  an  seinem  aristokratichen  Charakter  sehr  ver- 
lieren, wenn  man  als  ursprünglichen  liebeswerber  an  stelle 
des  ritters  einen  mann  anderen  Standes  annehmen  würde,  wie 
es  Pillet  wahrscheinlich  zu  machen  sucht.  Wir  hätten  dann, 
ähnlich  wie  bei  der  mal  mariee,  drei  etappeu,  von  denen  die 
beiden  ersten  allerdings  hypothetisch  sind,   ein  frühlings-  und 


170     V.  Kapitel.  Die  einheimische  Liederdichtung  im  1 2.  Jahrhundert. 

tanzlied  —  als  zweite  die  von  Pillet  angenommene,  aus  den 
überlieferten  pastourellen  erschlossene  nichtritterliche  form  — 
als  dritte  die  vorhandenen  mehr  oder  weniger  höfischen 
pastourellen. 

Während  die  mal  mariee  wenige  gegenstücke  oder  naeh- 
ahnmngen  in  der  provenzalischen  literatur  rindet,  ist  die 
pastorela  (pastoreta)  daselbst  ziemlich  stark  vertreten.  Die 
älteste  überlieferte  provenzalische  pastourelle  ist  von  Marcabrun 
(zweites  drittel  des  12.  Jahrhunderts),  aber  schon  sein  lehrer 
Cercamon  soll  pastourellen  nach  der  alten  manier  {a  la  usansa 
antiga)  gedichtet  haben.  Dazu  stimmen  die  provenzalischen 
und  französischen  dichtungen  in  dem  konventionellen  typus 
wie  in  der  äusseren  technik  so  überein,  dass  nahe  beziehungen 
unabweisbar  sind.  Brakelmann  fand  diese  in  der  abhäugigkeit 
des  Südens  vom  norden,  Schultz-Gora  in  der  abhäugigkeit 
wenigstens  der  späteren  provenzalischen  pastourelle  von  der 
französischen,  während  er  im  übrigen  für  beide  eine  selb- 
ständige entstehung  in  alter  zeit,  hier  wie  dort,  annimmt.  Dem 
gegenüber  nimmt  Jeanroy  einheitlichen  und  zwar  südlichen 
Ursprung  der  pastourelle  an,  wenn  schon  die  französischen 
dichtungen  das  alte  thema  treuer  bewahrt  haben.  G.  Paris  end- 
lich stimmt  der  beeinflussung  der  provenzalischen  pastourelle 
durch  die  französische  zu,  sucht  aber  einen  gemeinsamen 
Ursprung  für  beide  und  findet  diesen  in  liedern  und  spielen 
des  maifestes,  die  sich  zuerst  in  einem  zwischengebiet  — 
Poitou,  Mar  che,  Limousin  —  ausgebildet  hätten:  '11  me  parait 
probable  que  l'origine  speciale  des  pastourelles  du  type  classique 
est  une  espece  de  jeu  oü  un  Chevalier,  une  bergere  et  son 
amoureux,  appele  le  plus  souvent  Robin,  £taient  mis  en  scene. 
C'etait  peut-etre  souvent  une  simple  pantomime,  ou  une  danse 
aecompagude  de  chansons'. 

So  bestechend  die  theorie  von  G.  Paris  ist,  so  muss  sie 
einstweilen  doch  hypothese  bleiben.  Einen  einheitliehen 
Ursprung  für  die  gattung  wird  man  allerdings  annehmen 
müssen,  und  wenn  hier  die  wähl  in  der  hauptsache  zwischen 
französisch  und  provenzalisch  steht,  wird  man  sich  lieber 
zugunsten  des  ersten  entscheiden.  Das  absolute  alter  der 
provenzalischen  pastourelle  fällt  ernstlich  nicht  ins  gewicht,  da 
selbst  Cercamon  nicht  über  das  erste  drittel  des  12.  Jahrhunderts 


4.    Spottlied  und  Streitgedicht.  171 

zurückreicht;  die  verwarten  gattungen  der  romanze  und  der 
chanson  de  la  mal  mariee,  also  überhaupt  die  erzählenden 
lyrischen  dichtnngsarten,  sind  bei  den  Provenzalen  wenig 
vertreten    und    im    wesentlichen    nachahmnngen    französischer 

Vorbilder;  besonders  die  pastourelle  ist  bei  den  Provenzalen 
nachweislich  dem  eintluss  der  französischen  pastonrelle  aus- 
gesetzt gewesen  (wie  schon  der  auch  in  provenzalischen  liedero 
begegnende  durchaus  französische  name  Robin  zeigt),  sie  ist 
in  der  provenzalischen  lyrik  weniger  zahlreich  vertreten  als 
dort  und  hat  sich  vom  ursprünglichen  typus  durch  beimischnng 
fremder  demente,  wie  satire  und  polemik,  viel  rascher  und 
viel  weiter  entfernt. 

Vgl.  Brakelmann,  Jahrbuch  9.  155  ff.  (dagegen  Suchier,  Jahrbuch 
14,  159).  Gröber  a.  a.  o.  18 ff.  0.  Schultz,  ZrP  8  (1884)  s.  106 ff. 
Jeanroy,  Origines  1—44.  G.Paris,  JdSav  1891,  729 ff.  A.  Pillet, 
Studien  zur  Pastourelle,  Breslau  1902,  sep.  a.  d.  Festschrift  zum 
10.  deutschen  Neuphilologentag  (dazu  Jeanroy,  Rom.  31,  620  ff). 


4.    Spottlied,  und  Streitgedicht. 

(Estrabot  —  Serventois  —  Debat.) 

A.  Allgemeines.  Schon  in  den  ältesten  Zeugnissen 
(oben  s.  74,  76)  werden  neben  den  tanz-  und  liebesliedern 
besonders  spottlieder  (cantica  in  blasphemiam  alterius)  erwähnt, 
die  auch  in  der  lyrik  der  uns  hier  beschäftigenden  epoche  nicht 
fehlen  und  in  dieser  somit  zu  den  ältesten  gattungen  gehören. 
Das  lässt  sich  auch  sonst  durch  eine  reihe  von  Zeugnissen 
und  anspieluugen  erhärten.  Im  Rolandslied,  v.  1013 f.,  fordert 
Roland  die  seinen  unter  hin  weis  auf  das  sonst  zu  befürchtende 
spottlied  zum  wackerem  dreinschlagen  auf:  Or  gnart  chaseuns 
que  granz  cols  i  empleit,  Male  changon  ja  chantee  n'en 
seit,  und  ebenso  v.  1466:  Male  changon  n'en  deit  estre  chantee. 
Zum  jähre  1124  bezeugt  der  Chronist  Ordericus  Vitalis  deri- 
soriae  cantiones,  welche  Luce  de  la  Barre,  ein  normannischer 
adeliger,  auf  könig  Heinrich  I.  von  England  gedichtet  und 
öffentlich  vorgesungen  hat.  Vom  könig  zur  Wendung  verurteilt 
entzog  er  sich  der  grausamen  strafe  durch  freiwilligen  tod. 


172     V.  Kapitel.  Die  einheimische  Liederdichtung  im  1 2.  Jahrhundert. 

Nicht  persönlichen  Charakters  sind  die  sogenannten  Debüts, 
welche  sich  am  ehesten  mit  dem  Conflictus  anhnae  et  corporis 
s.  o.  s.  147)  vergleichen  lassen,  aber  von  dem  Vorbild  der 
religiösen  dichtungen  unabhängig  scheinen. 

B.  Estrabot.  Das  estrabot  war  zweifellos  eine  satirische 
liedgattung,  von  der  uns  aber  keine  proben  erhalten  sind. 
Das  wort  ist  gleichen  Ursprungs  mit  italienisch  strambotto: 
von  griechisch  OTQÜßcov  (schielend),  woraus  lateinisch  strabo, 
vulgärlateinisch  strabus  —  strambus.  Der  name  kommt  wol 
von  der  art  der  Strophenbildung  (vgl.  italienisch  strambo 
hinkend,  spanisch  estrambote  schlussstrophe  einiger  gedicht- 
arten): er  bedeutet  nach  G.  Paris  'une  forme  strophique 
compos^e  d'une  premiere  partie  symetrique  et  d'une  queue 
qui  ne  l'&ait  pas  et  pouvait  beaucoup  varier'.  Es  war  also 
eine  strophe  oder  ein  lied  mit  einer  art  refrain.  G.  Paris 
möchte  an  herkunft  aus  der  römischen  volkspoesie  denken 
(man  vergleiche  z.  b.  die  spottlieder  der  Soldaten  auf  den 
seinen  triumph  feiernden  Cäsar).  Benoit  von  Sainte-More  (vgl. 
kapitel  VII  und  VIII)  erzählt  in  seiner  Normannenchronik,  die 
Franzosen  hätten  911  vers  und  estraboz  auf  die  feige  flucht 
des  grafen  Jeble  von  Poitou  gedichtet.  Vielleicht  gehörten 
auch  die  lieder  des  Luce  de  la  Barre  zu  dieser  gattung. 

C.  Serventois.  Auch  mit  dem  namen  serventois  scheint 
man  im  französischen  ursprünglich  ein  scherz-  oder  spottlied 
oder  wenigstens  ein  lied  persönlichen  Charakters  bezeichnet 
zu  haben,  das  sich  jedenfalls  von  dem  provenzalischen 
sirventes,  dem  politischen  kämpf-  und  rügelied,  zunächst 
wesentlich  unterschied.  Genannt  wird  uns  diese  gattung  in 
der  französischen  literatur  seit  der  mitte  des  12.  Jahrhunderts 
(1159  im  fablel  von  Richeut,  1160  oder  etwas  später  von 
Wace  im  Roman  de  Rou);  die  ersten  tiberlieferten  proben 
gehören  erst  dem  ende  des  Jahrhunderts,  also  der  höfischen 
periode  an.  Im  13.  Jahrhundert  bezeichnet  es  mehr  dichtungen 
ernsteren  Charakters,  speziell  solche  auf  die  Mutter  Gottes. 
Der  name  stammt  sichtlich  von  servent  (servientem)  und  erklärt 
sich  nach  gewöhnlicher  annähme  als  lied  eines  dienenden, 
eines  vassallen,  kurz  als  'Soldatenlied'. 

D.  D£bat.  Mit  dem  worte  debat  bezeichnet  man  in  der 
regel   dialoggedichte,   in  welchen  zwei  verschiedene  ansichten 


4.    Spottlied  und  Streitgedicht.  173 

gegeneinander  streiten,  die  aber,  in  der  französischen  literatur, 
streng  genommen  nicht  zur  lyrischen  poesie  gehören,  da  sie 
epische,  nicht  lyrische  (strophische)  form  haben.  Hingegen 
begegnen  sie  in  den  neueren  volkspoesien,  auch  in  der 
französischen  und  in  der  deutschen,  als  Strophendichtungen: 
so  gehört  hierher  das  aus  Mistrals  Mireio  bekannte  Magalilied. 
Zu  den  ältesten  dcbats  epischer  form  gehört  der  dcbat  de 
Vhiver  et  de  l'ctc,  der  streit  zwischen  sommer  und  winter, 
später  finden  wir  noch  den  dcbat  du  vin  et  de  Vau,  auch,  an 
stelle  von  Personifikationen,  wechselreden  zwischen  wirklichen 
]HTKonen,  wodurch  sich  der  dcbat  der  aus  der  Provence 
entlehnten  tencon  nähert. 

Nach  G.  Paris  handelt  es  sich  um  eine  alte,  auf  das 
altertum  zurückgehende  gattuug,  die  vielfach  mit  mimischer 
darstellung  verbunden  wurde  (wie  noch  heute  in  verschiedeneu 
gegenden  Frankreichs  und  Deutschlands),  mit  der  maifeier 
zusammenhing  (worauf  schon  die  Überwindung  des  winters 
durch  den  sommer  deuten  kann)  und  auch  einen  debat 
amoureux  entwickelt  hatte  'caract6ris6  par  un  dialogue  entre 
un  gargon  qui  attaque  et  une  fille  qui  se  defend  par  toutes 
sortes  de  moyens  et  finit  par  ceder'.  Jeanroy  hingegen 
leitet  auch  den  älteren  liebesdebat  der  französischen  literatur 
aus  der  provenzalischen  her,  lässt  ihn  aber  sich  selbständig 
und  originell  weiter  entwickeln,  bis  er  gegen  ende  des 
12.  Jahrhunderts  von  der  provenzalischen  tenzone  umgebildet 
oder  verdrängt  wird. 

Vgl.  P.  Meyer,  Des  rapports  de  la  poesie  des  trouveres 
avec  celle  des  troubadours,  Rom.  19  (1890)  1  ff.  (s.  27  ff.  über  das 
serventois).  Jeanroy,  Origines.  46 ff.  (debat),  in  Petit  de  Jve  I 
s.  347 f.  G.  Paris,  JdSav  1889,  s.  533,  1891,  s.  679 f.,  1892, 
s.  135 ff.  (debat).  Zum  jüngeren  Streitgedicht  (tenzone)  vgl.  die 
literatur  in  kap.  X. 


5.    Kreuzzugslied. 

Zu  den  ältesten  sicher  datierbaren  produkten  der  alt- 
französischen lyrik  gehören  einige  kreuzzugslieder,  die  uns 
allerdings  nur   teilweise   erhalten   sind.     Diese   lieder   fordern 


174     V.  Kapitel.  Die  einheimische  Liederdichtung  im  12.  Jahrhundert. 

die  gläubigen  auf,  das  kreuz  zu  nehmen  und  sich  so  das 
paradies  zu  erwerben:  eine  art  politisch -religiöser  lyrik.  Ein 
solches  lied  wurde  schon  zur  zeit  des  ersten  kreuzzugs 
gesungen,  die  sogenannte  Chanson  d'oltree,  so  benannt  nach 
dem  refrain,  der  allein  vom  ganzen  uns  überliefert  ist  (vgl. 
AS  243).  Auf  den  zweiten  kreuzzug,  1147,  bezieht  sich  ein 
anderes  lied  (Chevalier,  molt  estes  gnariz),  das  in  form  und 
gedanken  von  provenzalisierendem  einfluss  noch  ganz  frei  ist 
und  auch,  wie  das  älteste,  über  einen  refrain  verfügt: 

Ki  ore  irat  od  Loovis, 
Ja  mar  d'enfern  avrat  poour, 
Char  s'alme  en  iert  en  pare'is 
Od  les  angles  nostre  Seignur. 

Das  lied  stellt  Ludwig  VII.  als  nachahmenswertes  muster 
hin,  spricht  von  Christi  leiden,  von  dem  treiben  der  ungläubigen 
und  von  der  notwendigkeit  diesem  entgegenzutreten  und  so 
der  räche  Gottes  zu  dienen. 

Ein  zum  dritten  kreuzzug  verfasstes  lied  (1189)  mahnt 
die  gläubigen  in  kraftvollen  Worten  um  Christi  willen  und  vor 
allem  um  ihres  eigenen  heiles  willen  zum  kämpf  für  Christus: 
so  mancher  denkt  erst  au  sein  Seelenheil,  wenn  es  zu  spät  ist 
(Vos  ki  ameiz  de  vraie  anwr,  —  Esveilliez  vos,  ne  dormeiz 
pais!  —  Ualuete  nos  trait  lou  jour  —  Et  si  nos  dit  an  ccs 
retraiz  —  Que  venus  est  li  joitrs  de  pais). 

In  andern  zum  dritten  kreuzzug  gedichteten  liedern  mischt 
sich  mit  der  annähme  des  kreuzes  schon  der  gedanke  an  die 
zurückbleibende  geliebte,  so  dass  ein  Zwiespalt  im  herzen  des 
dichters  entsteht  zwischen  seiner  liebe  und  seinem  glauben 
(wie  bei  Conon  de  Bethune,  dem  Deutschen  Friedrieh  von 
Hausen  und  anderen).  Bei  ihnen  wird  das  kreuzzugslied  zur 
höfischen  chanson,  auch  in  der  äusseren  form,  wie  sich  schon 
im  fehlen  des  refrains  kundgibt. 

Ausgabe:  J.  Bcdier  et  P.  Aubry,  Les  chansons  de  croisade, 
P.  1909.  Einzelnes  auch  in  P.  Meyers  Recueil  s.  376  ff.  und  in 
Chrestomathien.  —  Vgl.  Oeding,  Das  altfranz.  Kreuzlied,  Diss. 
Rostock  1910,  auch  Kurt  Lewent,  Das  altprov.  Kreuzlied,  Diss. 
Berlin  1905. 


(j.   Urspraugsfragea.  175 

6.    Ursprungsfragen. 

Die  fragen  nach  der  herkunft  uad  ältesten  entwicklung  der 
alttYanzösiscken  lyrik  sind  selir  verwickelt  und  bei  dem  mangel 
an  wirklich  altem  material  —  der  sich  hier  viel  starker  fühlbar 
macht  als  z.  b.  iu  der  heldendichtuug  —  teilweise  überhaupt 
unlösbar.  Zunächst  handelt  es  sich  um  die  auffassuug  der  über- 
lieferten dichtlingen  der  älteren  epoche,  wie  weit  man  ihnen  noch 
volkstümlichen,  wie  weit  schon  höfischen  Charakter  zuerkennen 
will;  dann  um  das  Verhältnis  dieser  dichtung  zu  der  durch  die 
Zeugnisse  bestätigten  volkspoesie  früherer  Jahrhunderte,  ja  zwischen 
beide  schiebt  sich,  wenigstens  bei  einzelnen  gattungen,  noch  die 
professionelle  volkstümliche  lyrik,  die  Jongleurpoesie,  ein.  Es  erhebt 
sich  weiterhin  die  frage,  wann  und  vielleicht  auch  wo  der  Übergang 
von  einer  im  wesentlichen  volkstümlichen  lyrik  zur  ritterlichen 
lyrik  sich  vollzogen  hat,  und  damit  wiederum  steht  die  frage  nach 
den  beziehungen  zwischen  provenzalischer  und  französischer  höfischer 
lyrik  im  engsten  Zusammenhang.  Ist  für  die  letzten  Jahrzehnte 
des  12.  Jahrhunderts  eine  beeinflussung  dieser  durch  jene  unabweisbar 
und  unbestreitbar,  so  ist  die  frage  für  die  epoche,  mit  welcher  wir 
uns  hier  beschäftigt  haben,  noch  sehr  der  erörteruug  unterworfen, 
zumal  für  einzelne  gattungen  der  lyrik  die  antwort  ganz  verschieden 
lauten  kann. 

Die  weitgehende  abhängigkeit  der  französischen  kunstlyrik 
von  den  Provenzalen  hat  schon  Friedrich  Diez  in  seiner  'Poesie 
der  Troubadours'  (1826)  erkannt  und  erhärtet,  und  seine  nächsten 
nachfolger,  wie  Wilhelm  Wackernagel  in  den  'Altfranzösischen 
Liedern  und  Leichen'  (1846)  und  Paulin  Paris  in  der  'Histoire 
litterairc  de  la  France'  (1856)  haben  seine  beobachtungen  durchaus 
bestätigt.  Jedoch  unterliess  Wackernagel  nicht,  auch  auf  die 
selbständigen  elemeute  der  französischen  lyrik,  besonders  auf 
romanze,  lai  und  sequenz,  auch  auf  die  volksmässigkeit  des  refrains, 
hinzuweisen.  Der  kern  seiner  auffassung  liegt  etwa  in  folgenden 
Sätzen:  'Die  Volkspoesie,  die  als  organische  Fortsetzung  auf  den 
älteren  ^ationalgesang  (d.  i.  Epos)  folgte,  musste  dieser  ihrer 
geschichtlichen  Stellung  gemäss  epische  und  lyrische  Elemente, 
epischen  Stoff  mit  lyrischer  Färbung  in  sich  vereinigen.  Und  sie 
entwickelte  sich  alsbald  in  solcher  Fülle,  in  grösserer  vielleicht  als 
die  Kunstlyrik,  dass  schon  daraus  auf  beides  zu  schliessen  ist,  auf 
Befruchtung,  die  sie  letzterer  zugeführt,  und  auf  Einfluss,  den  sie 
selbst  von  daher  empfangen  habe'. 

Eiue  wesentliche  förderung  fand  die  annähme  einer  aus- 
gedehnten französischen  volkspoesie  durch  die  Veröffentlichung  der 
'Altfranzösischen  Romanzen  und  Pastourellen'  durch  Karl  Bartsch 
(1870).  Er  selbst  sagt  von  diesen  beiden  gattungen:  'Beide  ruhen 
auf  volkstümlicher  Grundlage  und  haben  volkstümliche  Elemente 
in    sich   aufgenommen.     Bei   dem   bedauerlichen   Verluste,    der   die 


176     V.Kapitel.  Die  einheimische  Liederdichtung  im  12., Jahrhundert. 

romanische  Volkslyrik  des  Mittelalters  betroffen  hat,  sind  sie  daher 
von  hohem  Werte;  sie  bilden  die  hervorragendsten  und  bedeutendsten 
Gattungen  der  nordfranzösischen  Lyrik,  neben  denen  die  übrigen 
farblos  erscheinen  und  von  der  reicheren  südfranzösischen  überstrahlt 
werden'.  In  der  einleitung  zur  Übersetzung  seiner  'Alten  französischen 
Volkslieder'  hat  er  ein  zusammenfassendes  bild  der  altfranzösischen 
volkslyrik  nach  seiner  auffassung  gezeichnet:  der  romanze,  der 
mehr  lyrischen  lieder,  der  lieder  der  unglücklich  verheirateten 
frau,  der  pastourelle  usw.  Bei  anderer  gelegenheit  hebt  er  die 
volkstümlichen  demente  der  motets  hervor:  'Iu  keine  Gattung, 
vielleicht  nur  die  Romanzen  und  Pastourellen  ausgenommen,  haben 
sich  so  viele  volkstümliche  Elemente  geflüchtet,  die  uns  hier  als 
Trümmer  einer  zum  grössten  Teil  untergegangenen  volksmässigen 
Lyrik  erhalten  sind'. 

Eine  genauere  Scheidung  in  den  erzählenden  gattungen  suchte 
zuerst  Gustav  Gröber  vorzunehmen.  Unter  den  von  Bartsch  als 
romanzen  zusammengefassten  dichtungen  betrachtet  er  die  chansons 
d'histoire  (siehe  oben  unter  nr.  1)  nach  inhalt  und  form  als  Volks- 
dichtung, gepflegt  von  den  Jongleurs,  beliebt  bei  einem  allgemeinen 
publikum.  Hingegen  sind  die  sons  d'amors,  wie  sie  Gröber  nennt 
(siehe  oben  die  lieder  der  mal  mariee),  keine  Volkslieder  und 
nicht  für  das  volk  bestimmt,  sondern  lieder  einer  leichtfertigen 
gesellschaft  der  höfisch  gebildeten  kreise:  eine  Weiterbildung  der 
chansons  d'histoire  durch  Umgestaltung  des  in  ihnen  gegebenen 
motivs  von  Seiten  höfischer  kunstdichter.  Die  pastourellen  endlich 
sind  'offenbar  nicht  nachbildungen  von  im  volke  gesungenen 
schäferliedern',  sondern  'lediglich  die  ins  schäferleben  übertragenen 
sons  d'amors',  'kunstdichtungen,  zu  denen  den  höfischen  dichtem 
das  sujet  durch  die  lebendige  Wirklichkeit  gegeben  war',  die  aber 
'nur  in  kunstmässiger  gestalt  auftreten'  und  daher  'etwas  später 
sein  mögen  als  die  sons  d'amors'.  Gröber  nimmt  also  eine  populäre 
gattung  als  ausgangspunkt  an  und  entwickelt  daraus  die  übrigen 
erzählenden  gattungen  durch  eine  fortschreitende  (mit  der  sozialen 
entwicklung  zusammenhängende)  aristokratisierung,  was  eine 
wesentliche  einschränkung  des  volkstümlichen  elements,  wie  es 
Bartsch  eich  gedacht  hatte,  in  sich  schliesst. 

Hier  sind  auch  die  besonders  die  pastourelle  betreffenden 
Untersuchungen  von  Brakelmann  (1868)  und  0.  Schultz -Gora 
(1884)  zu  nennen,  welche,  wenn  auch  nicht  ohne  Widerspruch  zu 
finden,  doch  die  ansichten  über  das  gegenseitige  Verhältnis  der 
französischen  und  provenzalischen  lyrik  wesentlich  beeinflusst  haben. 
Eine  zusammenhängende  betrachtung  über  die  beziehungen  zwischen 
trobadorpoesie  und  französischer  lyrik  gab  Paul  Meyer  im 
19.  band  der  Romania  (1890),  aber  ohne  berücksichtigung  der  kurz 
zuvor  erschienenen  Untersuchungen  von  Jeanroy. 

Die  'Origines  de  la  poesie  lyrique  frangaise  au  moyen  äge' 
von    Alfred   Jeanroy    (1889)    haben    für    die   lyrische   forschung 


6.    Ursprnngsfragen.  1  i  i 

ungefähr  dieselbe  hedeutung  wie  für  die  epische  Rajnas  'Origiui 
dell'  epopea  francese'.  Eine  reihe  von  landläufigen  irrtümlichen 
ansichten  wurde  hier  widerlegt,  manche  neue  und  eigene  anschauung 
aufs  klarste  erwiesen,  während  anderes  durch  seinen  konstruktiven 
Charakter  zum  Widerspruch  und  dadurch  zu  neuer,  vertiefter 
forschung  reizte.  Eine  zusammenhängende  theorie  von  den 
anfangen  der  französischen  Lyrik  wurde  hier  von  einem  bestimmten 
gesichtspunkt  aus  zu  begründen  versucht.  Jeanroy  stellt  in  den 
Vordergrund  als  ergebnis  seiner  forschungen  die  ansieht,  dass  auch 
die  sogenannten  objektiven  (erzählenden)  gattungen,  wie  pastourelle, 
chanson  dramatique  (mal  marire),  aube  (tagelied),  dazu  der  lyrische 
debat  (tenzone),  höfisches  gepräge  tragen  und  darum  dem  Süden 
entstammen,  obwol  sie  auf  alten  volkstümlichen  themen  beruhen 
können.  'Mais  ils  ont  passe  du  Midi  au  Nord  ä  une  epoque  oü 
l'imitation  n'etait  pas  encore  servile:  ils  ont  donc  pris,  dans  les 
deux  regions,  des  directions  diverses,  et  ils  refletent  fidelement 
l'esprit  des  deux  peuples  qui  les  ont  eultives.  Ils  ont  disparu  plus 
tot  au  Midi,  oü  nous  n'en  retrouvons  que  peu  de  traces,  parceque 
la  poesie  metaphysique  et  subjeetive  ne  leur  a  laisse,  surtout  dans 
les  recueils,  que  tres  peu  de  place,  et  les  a,  pour  ainsi  dire, 
etouffes;  mais  ils  ont  ete  neanmoins  eultives  ä  une  certaine  epoque, 
et  ils  sont  loin  de  constituer  la  partie  originale  et  caracteristique 
de  la  lyrique  purement  fran^aise'.  Die  ursprünglichen  themen  der 
französischen  Lyrik  erschliesst  Jeanroy  aus  den  zahlreich  überlieferten 
refrains,  die  meist  zu  verlorenen  tanzliedern  gehören  (siehe  oben), 
ferner  aus  den  angeblichen  nachahmungen  der  verlorenen  alt- 
französischen Lyrik  in  Italien,  Deutschland  und  Portugal,  und 
schliesslich  lässt  er  wol  auch  die  romanze  (chanson  d'histoire)  als 
ursprüngliches  französisches  gut,  als  sichtbaren  rest  der  alten 
tanzlieder,  gelten.  So  sehr  des  Verfassers  ausführungen  über  den 
refrain  und  seine  bedeutung  für  die  erschliessung  älterer  Lyrik 
anerkennung  gefunden  haben,  so  hypothetisch  sind  den  meisten 
kritikern  seine  Schlussfolgerungen  aus  den  fremden  literaturen 
geblieben,  obwol  auch  sie  zu  erneuter  prüfnng  der  frage  veranlassen, 
wieweit  schon  der  sogenannte  altheimische  minnesang  des  Kürnbergers 
und  anderer  unter  romanischem  einfluss  steht.  —  In  seiner  darstellung 
in  Petit  de  Jullevilles  'Histoire'  hat  Jeanroy  sein  System  in  den 
hauptpunkten  aufrecht  erhalten,  im  einzelnen  aber  sehr  viel  unter 
berücksichtigung  der  neuen  darlegungen  von  G.  Paris  geändert. 

Unter  den  zahlreichen  recensionen  und  Studien,  welche  das 
buch  von  Jeanroy  hervorgerufen  oder  beeinflusst  hat,  darf  die 
ausführliche  besprechung  des  buches  durch  Gaston  Paris  im 
Journal  des  Savants  den  wert  einer  selbständigen,  neue  gesichts- 
punkte  eröffnenden,  bedeutungsvollen  abhandlung  beanspruchen. 
In  viel  höherem  masse  als  Jeanroy  sucht  G.  Paris  die  populären 
demente  der  überlieferten  gattungen  blosszulegen,  wobei  der  direkte 
einfluss  der  provenzalischen  Lyrik  sehr  wesentliche  einschränkungen 

Voretzsch,   Studium  d.  afrz.  Literatur.    2.  Auf  läge.  12 


178     V.  Kapitel.  Die  einheimische  LiederdichtuDg  im  12.  Jahrhundert. 

erfahrt.  So  bespricht  er  eingehend  nacheinander  die  gattungen 
der  mal  mariee,  der  reverdie,  der  pastourelle,  des  debat,  der  aube 
und  am  ausführlichsten  zuletzt  des  tanzliedes.  Den  Ursprung  dieser 
wie  einer  reihe  anderer  gattungen  erblickt  er  in  den  maitänzen,  in 
den  maifesten  heidnisch -römischer  herkunft  (er  denkt  dabei  an  die 
Floralia  der  Kömer).  Gelegentlich  sucht  er  auch  direkte  anknüpfung 
an  die  römische  volkspoesie  wie  z.  b.  bei  den  spottliedern,  im 
wesentlichen  aber  erscheinen  ihm  die  lieder  der  primitiven  epoche 
als  tanzlieder  der  frauen,  daher  monologe  von  frauen,  wie  bei  der 
mal  mariee,  ursprünglich  auch  im  tagelied  usw.,  oder  dialoge,  an 
denen  frauen  beteiligt  sind,  den  kern  dieser  lieder  bilden.  Solche 
maitanzlieder  'ont  du  exister  un  peu  partout  en  Gaule,  mais  leur 
transformation  en  une  poesie  de  societe  aristocratique  a  du  avoir 
lieu  en  un  point  special'.  Als  diesen  entstehungsort  betrachtet 
G.  Paris  weder  den  norden  noch  den  Süden  im  eigentlichen  sinn, 
sondern  ein  mittelgebiet,  nämlich  Poitou  und  Limousin:  'Les  chansons 
de  danse,  soit  poitevines,  soit  limousines,  ont  penetre,  dans  la  France 
du  nord,  bien  avant  les  productions  des  troubadours,  non  pas  dans 
le  peuple,  mais  dans  la  haute  societe,  et  elles  y  ont  ete  imitees 
probablement  Sans  grands  changements  ....  Dans  le  Limousin,  ces 
meines  chansons  ont  subi  la  transformation  reflechie  qui  en  fait 
des  chansons  courtoises,  fideles  longtemps  en  tout  et  toujours  par 
quelques  points  ä  leur  premiere  inspiration  ....  Cette  poesie 
limousine,  bientöt  repandue  dans  la  Gascogne,  le  Perigord  et 
l'Auvergne,  plus  tard  dans  le  Languedoc  et  la  Provence,  etait 
destinee,  on  le  sait,  ä  avoir,  hors  du  domaine  oü  la  langue  qu'elle 
s'etait  faite  pouvait  etre  adoptee,  un  prodigieux  epanouissement, 
susciter  en  France  et  en  Allemagne  une  poesie  lyrique  d'imitation, 
creer  celle  de  l'Espagne  et  du  Portugal,  et  feconder  en  Italie  le 
sol  oü  devaient  plus  tard  fleurir  et  la  poesie  subtile  ou  sublime 
de  Dante  et  la  poesie  delicate  et  raffinee  de  Petrarque.  Tout 
cela  ....  provient  des  reverdies,  des  chansons  executees  en  dansant, 
aux  fetes  des  calendes  de  mai,  dejä  sans  doute  ä  l'epoque  anterieure 
aux  croisades,  par  les  jennes  filles  et  les  jeunes  femmes  des  cam- 
pagnes,  puis  des  chäteaux,  du  Poitou  et  du  Limousin'. 

Nicht  minder  als  das  buch,  das  G.  Paris  den  anlass  zu  diesen 
ausführungen  bot,  haben  diese  selbst  die  gebührende  beachtung 
und  Würdigung  erfahren  (ich  verweise  hier  nur  auf  die  früher 
genannten  abhandlungen  von  Wilmotte  und  Gorra),  und  Jeanroy 
selbst  hat  manches  davon  in  seine  darstellung  der  afr.  lyrik  in 
Petit  de  Jullevilles  Histoire  aufgenommen.  Aber  bei  aller  klarheit 
und  folgerichtigkeit,  welche  dem  System  von  G.  Paris  eignet,  läuft 
doch  auch  manches  hypothetische  mit  unter,  so  dass  modifikationen 
seiner  theorie  im  einzelnen  nicht  ausgeblieben  sind.  So  hat  Joseph 
B  edier  in  der  Kevue  des  deux  mondes  die  entwicklung  des 
tanzliedes  bis  auf  die  daraus  abgeleiteten  höfischen  gattungen 
im    anschluss    an   Jeanroy    und    besonders    an    G.  Paris,    aber    mit 


6.    Ursprungsfragen.  179 

selbständigen  eiuschränkungen,  systematisch  darzustellen  versucht. 
Ihm  vollzieht  sich  diese  entwicklung  vom  populären  maitanzlied  zu 
höfischer  reverdie,  chanson  ä  personnages  und  pastourelle  nicht 
organisch  und  spontan,  sondern  bewusst  und  mit  einem  mal,  durch 
die  dichterische  tat  einer  bestimmten  persönlichkeit:  'vers  le  milieu 
du  XIIe  siede,  en  quelque  cour  seigneuriale,  im  trouvere  ä  jamais 
inconnaissable,  —  mais  qui  fut  vraiment  un  poete,  —  conc,ut  cette 
idce  singulare  et  Julie  d'exploiter  les  chansons  de  mai  et  d'animer 
d*une  vie  plus  complexe  les  personnages  fugitifs  des  rondeaux 
de  la  carole'.  Die  übrigen  höfischen  gattungen,  ausser  den  drei 
genannten,  sind  zu  verschieden  von  dem  volkstümlichen  tanzlied, 
als  dass  sie  als  ableitungen  desselben  gelten  könnten.  Der  stereotype 
natureingang  höfischer  lieder  kann  hierfür  nichts  beweisen,  auch  die 
auffassung  der  liebe  ist  im  höfischen  minnelied  durchaus  verschieden 
von  derjenigen  der  mal  maricc. 

Von  einer  anderen  seite  wurde  die  theorie  von  G.  Paris  wesent- 
lich ergänzt  durch  Hermann  Suchier,  welcher  in  seiner  literatur- 
geschichte  zwar  die  mailiedtheorie  an  sich  übernimmt,  aber  das 
den  ausgangspunkt  bildende  maifest  nicht  als  römisches,  sondern 
germanisches  auffasst  und  damit  die  altfranzösische  volkspoesie  in 
Zusammenhang  mit  dem  germanischen  altertum  bringt.  Zur  stütze 
dieser  ansieht  hat  Eduard  Wechssler  eine  reihe  von  beachtens- 
werten gründen  ins  feld  geführt:  die  meisten  französischen  ausdrücke 
für  tanzen  stammen  aus  dem  germanischen,  der  mai  ist  nur  im 
norden  der  frühlingsmonat,  in  Südfrankreich  hingegen  der  april,  in 
Italien  der  märz. 

Wenn  wir  versuchen,  aus  diesen  forsebungen  die  kern- 
puukte,  um  die  es  sieh  handelt,  herauszuheben,  so  sind  es  die 
folgenden : 

1.  Volkspoesie  und  maitanzlied.  An  dem  Vorhanden- 
sein einer  wirklichen  volkspoesie  schon  in  frühen  Jahrhunderten 
ist  angesichts  der  bestimmt  lautenden  Zeugnisse  (vgl.  kapitel  II) 
nicht  zu  zweifeln.  Welchen  Ursprungs  diese  poesie  war,  ist 
nicht  ebenso  bestimmt  zu  sagen.  Einzelne  gattungen,  wie  das 
spottlied,  hängen  vielleicht  mit  römischer  volkspoesie  zusammen, 
anderes  mag  selbständig  in  dem  neugewordenen  französischen 
volk  entstanden  sein,  wieder  anderes  auf  germanische  Über- 
lieferung zurückweisen.  Den  wesentlichsten  teil  dieser  alten 
volkspoesie  scheint  das  tauzlied  oder  frauenlied  gebildet  zu 
haben.  In  dessen  mittelpunkt  steht  das  maifest,  dessen  feier 
eher  auf  germanische  als  römische  herkunft  zurückweist.  So 
wenig  aber  derartige  frühlings-  und  liebeslieder  ausschliesslich 
am  maifest  gesungen  und  getanzt  wurden,  so  wenig  braucht  man 

12* 


180     V.  Kapitel.  Die  einheimische  Liederdichtung  im  12.  Jahrhundert. 

die  entstehung  aller  derartigen  lieder  nur  auf  das  maifest 
zurückzuführen.  Schon  die  volkstümlichste  liedergattung,  die 
wir  überhaupt  in  der  altfranzösischen  lyrik  noch  haben,  die 
romanze,  bietet  keinen  anläse  zu  einer  derartigen  einschränkung. 
Der  Ursprung  der  altfranzösischen  volkspoesie  braucht  nicht 
in  so  engem  rahmen  gesucht  zu  werden,  schon  der  begriff 
des  'arbeitsgesanges'  (vgl.  s.  76,  161)  weist  auf  eine  weitere 
möglichkeit  der  entstehung. 

2.  Jongleurdichtung.  Die  Jongleurdichtung  lässt  sich 
nicht  ohne  weiteres  mit  der  volkspoesie  identifizieren.  Sie  ist 
an  und  für  sieh  volkspoesie,  weil  sie  für  den  geschmack  des 
Volkes  berechnet  war,  grösstenteils  auch  von  angehörigen  des 
eigentlichen  volks  verfasst  und  verbreitet  wurde,  aber  es  war 
volkspoesie  in  den  händen  berufsmässiger  Sänger.  Schon  hieraus 
ergibt  sich,  dass  diese  weniger  die  für  chorischen  gesang 
berechneten  lieder  bevorzugt  haben  werden  als  vielmehr  solche, 
die  sich  für  solovortrag  eigneten:  erzählende  lieder,  monologe, 
wol  auch  (von  mehreren  vorgetragen)  dialoge  wie  die  debats 
und  ähnliches,  was  sich  mit  mimischem  Vortrag  verbinden 
konnte  (vgl.  oben  s.  78).  Wenn  G.  Paris  für  einige  gattungen, 
wie  die  mal  mariee,  eine  Stufenfolge :  Volkslied  —  jongleurlied 
—  aristokratendichtung  annimmt,  so  ist  damit  nicht  gesagt, 
dass  die  Jongleurpoesie  an  und  für  sich  erst  aus  der  volkspoesie 
hervorgegangen  wäre:  sie  steht  neben  ihr  oder  richtiger  in 
ihr,  und  gerade  durch  die  mimi  (Jongleurs)  können  elemente 
römischer  Volksdichtung  weitergeführt  worden  sein,  die  in  der 
eigentlichen  volkspoesie  nicht  vorhanden  oder  nicht  mehr  vor- 
handen waren. 

3.  Die  ältere  ritterdichtung.  Die  gattungen,  mit 
denen  wir  uns  hier  im  wesentlichen  beschäftigt  haben,  sind 
ihrem  Ursprung  nach  meistens  als  populär,  ihrem  wesen  nach 
als  ritterlicher  auffassung  entsprechend  anerkannt  worden.  Es 
hat  sich  also  zu  einer  gewissen  zeit  der  Übergang  volkstümlicher 
liedergattungen  in  die  pflege  des  dichtenden  adels  vollzogen: 
nach  Jeanroy  im  süden,  nach  G.  Paris  in  Poitou  und  Limousin, 
nach  Bedier  ebenda,  aber  durch  das  eingreifen  eines  einzelnen, 
der  sozusagen  schule  machte.  Es  handelt  sich  hierbei,  wol- 
gemerkt,  noch  nicht  um  die  schlechtweg  poesie  lyrique  courtoise 
oder    genauer    poesie    lyrique    d'origine   provencale    genannte 


6.    UrspriiDgsfragen.  181 

dichtnng,  welche  den  bütisehen  niinnedieust  ausbildet  und  erst 
zur  zeit  Crestiens  von  Troyes  in  Nordfrankreiofa  eingang 
findet,  sondern  um  die  ritterliebe  lyrik  der  voraufgebenden 
periode,  welcher  die  hier  behandelteu  gattuugen  in  ihren 
ältesten  Vertretern  mehr  oder  weniger  augehören  (vgl.  dazu 
besonders  das  oben  gegebene  zitat  aus  G.  Paris). 

Es  fragt  sich  nun,  ob  eine  beteiligung  des  adels  an  der 
lyrischen  dichtnng  seiner  zeit  ohne  weiteres  eine  völlige 
Umgestaltung  derselben  zur  folge  haben  musste,  ob  dadurch 
sogleich  eine  so  neue  und  originelle  dichtart  geschaffen  wurde, 
dass  man  ihre  entstehung  an  einem  ort  und  nach  Bedier 
sogar  nur  in  einem  köpf  suchen  darf.  Nach  Jeanroy  selbst 
waren  literarisches  publikum  und  literarischer  geschmack  bis 
zum  ende  des  12.  Jahrhunderts  im  wesentlichen  einheitlich, 
erst  die  bildung  der  höfischen  gesellschaft  brachte  eine 
Spaltung  hervor:  'En  effet,  jusqu'ä  la  fin  du  XII e  siegle, 
tous  les  genres  poetiques  eultives  dans  la  France  du  nord 
s'adresserent  ä  la  societe  tout  entiere,  saus  aueune 
distinetion  de  caste:  jusque-lä,  vies  de  saints,  narrations  epiques 
et  plaisantes,  si  elles  etaient  applaudies  sur  les  champs  de 
foire  et  les  places  publiques  par  les  bourgeois  et  les  vilains, 
etaient  egalement  goütees  dans  les  salles  des  chäteaux,  oü 
elles  trouvaient  uu  auditoire  n'ayant  pas  une  eulture 
d'esprit  sensiblement  plus  delicate  que  le  reste  du 
public.  Ce  n'est  que  lors  de  la  formation  de  cette  soeiete" 
courtoise  dont  nous  parlions  plus  baut  que  le  public  francais 
se  creusa  un  fosse  qui  depuis  devait  toujours  aller  en 
s'elargissant'  (Origines,  Einleitung  s.  XVIII). 

Wenn  also  vor  eintritt  dieser  trennung  lyrische  dichtung 
vom  adel  geübt  wurde,  musste  das  nicht  ohne  weiteres  eine 
wesenhafte  Veränderung  der  lyrik  bedeuten.  Die  Spottlieder 
des  ritters  Luce  de  la  Barre  auf  könig  Heinrich  I.  im  jähre 
1124  werden  sich  ihrem  wesen  nach  von  den  estraboz  kaum 
unterschieden  haben,  welche  die  Franzosen  911  auf  Jeble 
von  Poitiers  gedichtet  hatten.  Auch  in  den  mehr  lyrischen 
gattungen  kann  es  sich  nur  um  eine  allmähliche  Verschiebung 
des  Standpunktes  des  dichters  zu  den  personen  und  Vorgängen 
der  überlieferten  dichtgattungen  gehandelt  haben:  der  ritter 
schob   mehr   und   mehr  sich  und  seinen  stand,   sein  Verhältnis 


182     V.  Kapitel.  Die  einheimische  Liederdichtung  im  1 2.  Jahrhundert. 

zu  liirtin  und  mal  marire  in  den  Vordergrund.  Wie  sehr  sich 
aber  die  'freie  liebe'  der  med  marice  selbst  in  den  überlieferten 
chansons  dramatiques  ritterlichen  Ursprungs  von  der  auffassuug 
der  höfischen  minne  unterscheidet,  hat  B^dier  (s.  o.)  ausdrücklich 
und  zutreffend  hervorgehoben. 

Für  eine  solche  behandlung  volkstümlicher  poesie  durch 
den  adel  war  überall  da  die  möglichkeit  gegeben,  wo  eine 
volkspoesie  überhaupt  vorhanden  war.  Es  scheint  daher 
unnütz,  nach  einem  bestimmten  ursprungszentrum  für  die 
entstehung  der  ritterdichtung  überhaupt  zu  suchen.  Diese  frage 
erhebt  sich  vielmehr  nur  für  bestimmte  einzelne  gattungen, 
welche  in  einer  bestimmten  formulierung  konventionell  aus- 
gebildet und  so  zur  blossen,  starren  manier  werden. 

4.  Französische  und  provenzalische  ritterdichtung. 
Für  Jeanroy  wie  für  seine  Vorgänger  handelt  es  sich  bei 
dem  Ursprung  bestimmter  genres  nur  um  midi  und  nord,  nach 
unserem  Sprachgebrauch  kurzweg  um  provenzalische  oder 
französische  herkunft.  Diese  auffassung  wird  meines  erachtens 
durch  das  von  G.  Paris  für  die  ritterdichtung  im  allgemeinen 
und  für  die  pastourelle  noch  im  besondern  angenommene  ent- 
stehungszentrum  Poitou-Limousin  nicht  wesentlich  verändert. 
Die  poitevinische  dichtung  spielt  in  der  altfranzösischen 
literatur  keine  wesentliche  rolle,  gerade  von  lyrischer  poesie 
wissen  wir  aus  alter  zeit  von  dort  nichts.  Graf  Wilhelm  IX. 
von  Poitiers  —  der  älteste  trobador,  den  wir  kennen  — 
dichtet  seine  lieder  nicht  auf  poitevinisch,  sondern  limousinisch: 
der  vorrang  dieser  mundart  war  also  damals  bereits  —  ende 
des  11.  Jahrhunderts  —  anerkannt,  und  tatsächlich  ist  Limousin 
die  wiege  der  höfischen  lyrik  Südfrankreiehs  geworden. 
Schalten  wir  also  Poitou  aus  dem  von  G.  Paris  angenommenen 
Zentrum  aus,  so  bleibt  nur  das  kernland  der  provenzalischen 
dichtung  übrig,  d.  h.  die  frage  steht  nach  wie  vor  auf 
französisch  oder  provenzalisch. 

Von  den  hier  besprochenen  gattungen  sind  romanze  und 
mal  marite  in  der  Provence  so  wenig  kultiviert  worden,  dass 
bei  der  ersten  eine  entstehung  daselbst  überhaupt  nicht,  bei 
der  zweiten  kaum  in  betracht  kommen  kann.  Über  die 
pastourelle  sind  die  meinungen  geteilt,  doch  spricht  auch  hier 
mehr    für    den   norden   als   für   den   Süden.     Die   französische 


6.    Ursprnngsfragen.  183 

reverdie  wie  das  tanzlied  Überhaupt  aus  der  provenzalischen 
lvrik  abzuleiten  liegt  kein  grund  vor,  ebensowenig  für  die  hier 
bebandelten  spott-  und  Streitlieder  und  für  das  kreuzlied. 

Hingegen  tritt  der  provenzaliscbe  einfluss  um  so  kräftiger 
hervor  in  der  folgezeit  (s.  kap.  IX  und  X):  in  dem  höfischen 
minnelied,  der  chanson,  im  salut  d'amour,  in  dem  höfischen 
streitgedicht  {tenqon  und  jeu  })arti),  auch  im  tagelied  (aube  — 
provenzalisch  alba). 

Vgl.  im  allgemeinen  die  am  eingang  des  kapitels  zitierte 
literatur,  dazu  ferner:  Diez,  Poesie  der  Troubadours,  1826  (21883), 
s.  239  ff.,  249  ff.  —  Wilh.  Wackernagel,  Altfranzösische  Lieder  und 
Leiche.  Mit  gram.  u.  lit.-hist.  Abhandinngen,  Basel  1846,  s.  165  ff., 
176ff.,  181  ff.  —  P.  Paris,  Hist.  litt,  de  la  France,  tome  XXIII  512  ff. 

—  Karl  Bartsch,  Afr.  Rom.  u.  Past.,  s.  Vff;  Alte  franz.  Volkslieder 
B.Vff.;  ZrP  8,  456  ff.  —  G.  Gröber,  Afr.  Rom.  u.  Past,,  auch  Jahr- 
buch 12,  91  ff.  dazu  Lit.  s.  444 ff,  475ff,  659ff  —  A.  Jeanroy, 
Origines  und  in  Petit  de  Jve.,  dazu:  De  nostratibus  medii  aevi 
poetis    qui    primum    lyrica  Aquitaniae    carmina  imitati  sint  P.  1889. 

—  G.  Paris,  Origines,  auch  Lit.  §118  —  124.  —  Bedier,  RddM, 
t.  135  (1896)  146 ff.,  bes.  166ff  —  Suchier,  Lit.  s.  8ff.,  10.  — 
E.  Wechssler,  Rom.  Jahresbericht  V  (1897—1898)  II  393  ff. 


Sechstes  Kapitel. 

Das  Heldenepos  in  seiner  Blütezeit, 


Im  dritten  kapitel  haben  wir  die  entstehung  des  heldenepos 
verfolgt  und  seine  entwicklung  bis  auf  die  zeit  der  ältesten 
tiberlieferten  epen  begleitet.  Eine  uns  sichtbare,  reichere 
entfaltung  der  gattung  tritt  mit  dem  12.  Jahrhundert  ein, 
welchem  etwa  die  hälfte  der  überkommenen  epen  angehört 
und  das  zum  mindesten  der  masse  nach  als  blütezeit  des 
heldenepos  betrachtet  werden  kann.  Was  freilich  seine  innere 
entwicklung  anlangt,  so  gewahren  wir  unter  den  produkten 
dieser  epoche  bereits  manche  schablonenhaft,  nach  vorhandenen 
mustern,  ohne  besondere  Originalität  gefertigte  werke;  auch 
in  den  dichtungen  mit  altem  kern  findet  sich  neben  dem 
originalen  und  guten  manches  platte,  bloss  nachahmende  oder 
wiederholende  (wie  z.  b.  die  Baligantepisode  im  Roland); 
überhaupt  sind  die  epen  des  12.  Jahrhunderts  in  ihrer  mehrheit, 
z.  t.  auch  noch  die  des  13.  Jahrhunderts,  bearbeitungen  oder 
zusammenschweissungen  älterer  dichtungen,  wie  schon  das 
Rolandslied  sich  als  remaniement  einer  älteren,  wesentlich 
kürzeren  und  einfacheren  dichtung  erwiesen  hat.  Daher  wird 
von  manchen  gelehrten  das  12.  Jahrhundert  schon  als  eine  zeit 
des  Verfalls  betrachtet,  welcher  die  eigentliche  blüteperiode 
bereits  vorausgegangen  sei.  Nach  G.  Paris  dauert  die  periode 
der  anfange  etwa  bis  zum  jähre  1050;  die  zweite,  von  1050 
bis  etwa  1120,  umschliesst  die  drei  ältesten  bekannten  epen 
(Roland,  Karlsreise,  Isembart);  die  dritte,  etwa  1100  — 1180, 
kennzeichnet  sich  bereits  durch  erneuerung  älterer  (verlorner) 
gedichte,  ergänzungsepen  und  reine  erfindungen;  die  vierte, 
etwa  1150  bis  etwa  1360,  bringt  nur  noch  Umarbeitungen  der 


Allgemeines.  185 

überlieferten  epen,  er  rindungen  und  auknüpfung  anderer,  dem 
nationalepoa  ursprünglich  fremder  Btoffe.  Diese  teilung  lässt 
sieh  Dicht  glatt  durchführen:  so  enthält  einerseits  der  Roland 
schon  demente  der  verfallzeit,  andererseits  beruht  z.  b.  noch 
der  Huon  de  Bordeaux,  den  G.  Paris  mit  unrecht  noch  in  das 
ende  des  12.  Jahrhunderts  setzt,  der  vielmehr  schon  seiner 
dritten  periode  angehört,  auf  älteren,  uns  in  ihrer  ursprünglichen 
form  nicht  mehr  bekannten  epen.  Welche  epen  aber  bereits 
im  10.  und  11.  Jahrhundert  vorhanden  waren  und  welcher 
art  sie  waren,  darüber  lassen  sich  nur  vermutungeu  aufstellen. 
Halten  wir  uns  an  das  gegebene,  an  die  überlieferten 
dichtungen,  so  erscheint  uns  das  12.  Jahrhundert  in  der  tat  als 
die  'blütezeit'  des  epos,  mag  auch  seine  eigentliche  'glanzzeit' 
weiter  zurück  liegen,  und  just  in  dieser  blütezeit  erscheint 
neben  manchem  handwerksmässig  arbeitenden  dichter  gerade 
infolge  der  fortschreitenden  Verfeinerung  des  allgemeinen 
kunstgeschmacks  manche  dichterische  individualität,  welche 
mit  eigener  gestaltungskraft  aus  der  epischen  Schablone  eine 
originelle  und  dichterisch  bedeutende  leistung  herausarbeitet. 
So  erblickt  z.  b.  Suchier  die  höhepunkte  des  französischen  epos 
nicht  bloss  im  Rolaudslied,  sondern  auch  in  den  Lothringerepen 
des  12.  Jahrhunderts  und  in  den  dichtungen  des  Bertrand  von 
Bar-sur-Aube  (um  1200). 

Wir  fassen  daher  in  diesem  kapitel  im  wesentlichen  die 
epen  des  12.  Jahrhunderts  zusammen,  mit  gelegentlichem 
übergreifen  in  die  ersten  jähre  des  13.  Jahrhunderts.  Eine 
genaue  datierung  der  überlieferten  werke  ist  vielfach  überhaupt 
noch  nicht  möglich,  daher  sich  auch  zur  zeit  eine  feste 
Chronologie  der  einzelnen  werke  und  eine  innere  entwicklung 
der  ganzen  gattung  noch  nicht  aufstellen  lässt.  Wir  können 
w«»l  beobachten,  dass  in  der  zweiten  hälfte  des  Jahrhunderts 
manche  epen  —  wie  Aye  d'Avignon,  Ogier  der  Däne,  Aiol, 
Foucon  de  Candie  —  einflüsse  des  höfischen  ritterromans 
zeigen,  aber  manche  andere  gleichzeitige  oder  sogar  jüngere 
gediente  lassen  von  diesen  einflüssen  nichts  erkennen,  so  dass 
sich  eine  entwicklungsgeschichtliche  einteilung  darauf  nicht 
aufbauen  lässt.  An  stelle  der  absoluten  Chronologie  hilft  uns 
vielfach  die  relative  Chronologie  aus,  indem  sich  das  eine 
epos   als   nachahmung   und   darum   als  jünger   erweist  als  ein 


186  VI.  Kapitel.     Das  Heldenepos  in  seiner  Blütezeit. 

anderes  oder  mehrere  andere  (so  das  Moniage  Rainonart  gegen- 
über dem  Moniage  Guillanme,  Ansei's  de  Cartage  gegenüber 
Roland  und  den  Saisnes,  Huon  von  Bordeaux  gegenüber  Ogier, 
Renaut  de  Montauban  u.  a.).  Aber  hier  spielt  vielfach  wieder 
die  frage  der  verloren  gegangenen  epen,  der  sogenannten 
„vorepen",  herein,  aus  denen  ja  ein  dichter  ebensogut  wie  aus 
dem  davon  übrig  gebliebenen  remaniement  entlehnt  haben 
kann.  80  sind  auch  über  die  beziehnngen  der  einzelnen  epen 
untereinander  die  meinungen  vielfach  geteilt. 

Die  erst  seit  etwa  1200  aufgekommene  gruppierung  der 
epen  in  zyklen  oder  gesten  (geste  du  roi,  geste  de  Guillanme, 
geste  Nodale)  einer  darstellung  des  epos  zugrunde  zu  legen  ist 
allerdings  gegenüber  den  für  andere  einteilungen  bestehenden 
Schwierigkeiten  bequem,  erweckt  aber  von  der  entwicklung 
des  altfranzösischen  epos  leicht  falsche  Vorstellungen,  da  auf 
diese  weise  relativ  alte  und  ganz  junge  dichtungen  zusammeu- 
gefasst,  häufig  die  letzten  aus  äusseren  gründen  —  weil  sie 
die  jugend  des  beiden  oder  die  geschichte  seiner  ahnen 
erzählen  —  an  die  spitze  gestellt  werden. 

Im  folgenden  werden,  nach  einer  allgemeinen  betrachtung 
über  Vortrag,  form  und  komposition  des  epos,  zunächst  die 
zeitlich  ältesten  dichtungen  besprochen;  sodann  von  den  übrigen 
epen  des  12.  Jahrhunderts  zuerst  diejenigen,  welche  mit  ihrem 
sagenhaften  kern  auf  die  Merowinger  und  auf  Karl  Martell 
zurückweisen,  alsdann  die  Karlsgedichte  in  engerem  sinne, 
darnach  epen,  welche  anderen  beiden  aus  der  zeit  Karls  des 
Grossen  (Ogier,  Wilhelm)  gewidmet  sind,  weiterhin  epen  mit 
jüngerer  historischer  grundlage  oder  ohne  erkennbare  grnndlage 
solcher  art,  Stoffe  freier  errindung  oder  fremder  herkunft; 
schliesslich  die  dichtungen  Bertrands  von  Bar  als  abschluss 
dieser  epoche. 

Die  hier  behandelten  epen  sind  grösstenteils  analysiert  und 
besprochen  in  bd.  XXII  der  Hist.  litt,  und  in  Gautiers  Ep.  fr.  III 
u.  IV,  herausgegeben  meist  in  den  s.  52 f.  genannten  Sammlungen 
und  textgesellschaften  (die  älteren  ausgaben  hauptsächlich  in  den 
Romans  des  dorne  pahs  und  den  Anciens  poetes  de  Ja  France). 


1.   Vortrag  und  Technik  des  Epos.  18  f 

1.    Vortrag  und  Technik  des  Epos. 

Der  alte  name  für  das.  was  wir  Heldenepos,  volksepos 
oder  mit  den  Franzosen  zur  bezeichnung  der  ganzen  gattung 
ipopee  nationale  nennen,  ist  chanson  de  geste.  Damit  ist 
zunächst  gesagt,  dass  es  sieh  um  eine  gesungene,  nicht 
gesprochene  oder  vorgelesene  dichtung  handelt.  Geste  (lat. 
gesta,  vgl.  Gesta  Francorum,  Gesta  Dagoberti)  bedeutet  'taten 

—  geschichte'.  Wie  die  alte  heldensage,  bildet  das  aus  ihr 
hervorgegangene  nationale  epos  die  geschichtliche  Überlieferung 
des  Volkes.  Zur  Vermehrung  ihrer  glaubwürdigkeit  berufen 
sich  die  Verfasser  von  chansons  de  geste  gern  auf  lateinische 
Chroniken  wie  namentlich  auf  die  Chroniken  von  St.  Denis. 
Der  Untergrund  ihrer  dichtungen  ist  allerdings  zumeist 
historisch,  aber  in  der  regel  schöpfen  sie  nicht  aus  der  reinen 
geschichte,  sondern  aus  der  sage,  oder,  wie  in  der  regel  in 
unserer  epoche,  aus  älteren,  der  sage  näherstehenden  epen- 
dichtungen,  die,  wie  das  Chlotharlied,  wie  die  belagerung  des 
beiden  Borel  durch  Karl  den  Grossen  (Haager  Fragment)  oder 
das  original  des  Rolandsliedes,  im  9.,  10.  oder  11.  Jahrhundert 
dagewesen  sein  müssen.  Aus  den  überlieferten  epen  lassen 
sich  mit  mehr  oder  weniger  Sicherheit  noch  eine  reihe  weiterer, 
uns  verlorener  epen  erschliessen. 

Pflege  und  Vortrag  der  chansons  de  geste  lag  in  der 
hauptsache  in  den  bänden  der  Jongleurs.  Man  hat  neuerdings 
mehrfach  den  aristokratischen  Charakter  der  heldendichtung 
besonders  betont.  Richtig  ist,  dass  in  dieser  in  erster  linie 
die  taten  eines  bestimmten  Standes  gefeiert  wurden,  das  „volk" 
als  solches  spielt  in  diesen  kampfschilderungen  keine  rolle. 
Das  ist  aber  nur  natürlich,  da  sich  das  interesse  der  sage  wie 
der  dichtung  immer  an  die  hervorragende  einzelpersönlichkeit 
heftet,  die  unter  den  damaligen  Verhältnissen  naturgemäss 
meist  ein  fürst  oder  adelsmann  war.  Dass  somit  der  adel  ein 
wesentliches  interesse  und  vergnügen  am  Vortrag  dieser  lieder 

—  sei  es  beim  mahle  und  sonstigen  festlichen  gelegenheiteu, 
sei  es  unterwegs  auf  reisen  —  bekundete,  ist  ebenso 
natürlich,  aber  ein  mindestens  ebenso  grosses  interesse  fand 
an  denselben  dichtungen  auch  das  „volk",  welchem  diese  von 
den  Jongleurs  auf  markten  und  öffentlichen  platzen  vorgetragen 


188  VI.  Kapitel.    Das  Heldenepos  iu  seiner  Blütezeit. 

wurden.  Femer  sind  Verfasser  von  chansons  de  geste  unter 
dem  adel  nicht  gerade  zahlreich :  soweit  wir  die  Verfasser 
kennen,  sind  es  meist  Jongleurs  oder  kleriker.  Schliesslich 
tragen  die  epenstoffe,  soweit  sie  auf  ältere  zeit  zurückgehen, 
meist  die  spuren  volkstümlicher  Überlieferung  und  sagenbildung 
an  sich.  Das  heldenepos  entsprach  nach  herkunft  und 
charakter  dem  geschmack  und  bildungsstand  des  ganzen  volks, 
daher  es  vielfach  auch  „volksepos"  genannt  wird,  während  der 
um  die  mitte  des  12.  Jahrhunderts  aufkommende  ritterroman 
tatsächlich  für  den  höfischen  geschmack  mehr  oder  weniger 
ausschliesslich  berechnet  war. 

Die  melodie,  nach  der  ein  epos  vorgesungen  wurde,  war 
eine  ziemlich  einförmige,  sie  wiederholte  sich  nach  je  zwei 
versen,  wenn  sie  nicht  für  alle  verse  die  gleiche  war.  Daher 
war  es  für  den  musikalischen  Vortrag  auch  gleichgiltig,  von 
welcher  länge  die  epischen  Strophen,  die  laissen  oder  tiraden, 
waren.  Die  Jongleurs  begleiteten  ihren  gesang  —  oder  Hessen 
sich  von  einem  andern  dazu  begleiten  —  mit  der  fiedel 
{viele),  wie  wir  des  öfteren  auch  auf  abbildungen  in  alten 
handschriften  sehen  können  (vgl.  z.  b.  die  tafel  in  Suchiers 
Lit.  s.  18,  ferner  Gautier,  Nyrop  u.  a.).  Erst  später  wurde  die 
fiedel  durch  eine  drehleier  (cifoine)  ersetzt,  was  nicht  zur 
Veredelung  des  Vortrags  beitrug. 

Der  hergebrachte  epische  vers  ist  der  zehnsilbner,  neben 
welchem  der  zwölfsilbner  sich  allmählich  —  freilich  schon  in 
der  Karlsreise  —  eingang  verschafft  und  der  achtsilbner  nur 
ausnahmsweise  im  epos  von  Isembart  und  Gormont  begegnet. 
Die  meisten  in  diesem  kapitel  besprochenen  dichtungen  zeigen 
noch  den  zehnsilbner  (der  Girart  de  Roussillon  mit  der  cäsur 
nach  der  sechsten  silbe);  iu  alexandriuern  sind  ausser  der 
Karlsreise  nur  Floovent,  Mainet,  Fierabras  und  Destruction  de 
Rome,  Saisnes,  Renaut  de  Montauban,  Siege  de  Barbastre, 
Foucon  de  Candie  teilweise,  Aye  d'Avignon,  Doon  und  Gui  de 
Nanteuil  gedichtet.  Übergang  von  der  assonanz  zum  reinen 
reim  zeigt  sich  schon  in  diesem  Zeitraum,  seltener  in  zehnsilbner- 
als  in  zwölfsilbnerdichtungen  (Aspremont,  z.  t.  Aliscanz  — 
Mainet,  Saisnes,  Foucon).  Ein  besonderer  abschluss  der 
Strophe  durch  einen  kürzereu,  sechssilbigen  vers  charakterisiert 
eine    gruppe    der    Wilhelmsepen    nebst    einigen    anderen    (so 


1.   Vortrag  und  Technik  des  Epos.  1  ~'-' 

Amis  und  Aniiles  nebst  Jourdain  de  Blaivies).  In  einigen 
clii'htungen  oder  Handschriften  vmi  solchen,  wie  z.  b.  im  Foncon 
de  Candie,  ist  der  tiradenschluss  als  nnursprünglicher  zneatz 
nachgewiesen.  Auch  an  das  als  kennzeichen  des  strophen- 
sehlusses  im  Rolandslied  dienende  Aoi  ist  hier  zu  erinnern. 

Eine  mehr  stilistische  als  metrische  eigenbeit  einer  grossen 
anzahl  epen  sind  die  sogenannten  wiederholungstiradeu 
(couplets  similaires),  in  welchen  der  inhalt  der  voraus- 
gegangenen tirade  ganz  oder  teilweise,  aber  auf  einen  neuen 
assonanzvokal  oder  reim  wiederholt  wird.  Zuweilen  sind  drei 
aufeinanderfolgende  laissen  auf  diese  art  untereinander  ver- 
knüpft. Schon  im  Rolandslied  finden  sich  beispiele  dafür. J) 
Zunächst  ist  darauf  hinzuweisen,  dass  der  epische  stil  für 
gleichartige  Situationen  sich  mit  Vorliebe  derselben  oder  nach 
möglichkeit  ähnlicher  worte  bedient.  Der  wiederaufnähme  des 
vorausgehenden  strophenendes  aber  durch  den  beginn  der  neuen 
Strophe  („recommencement"  oder  nach  Gröber  „grammatische 
dittologie")  ist  eine  auch  aus  dem  französischen  Volkslied 
wolbekannte  art  der  Strophenverknüpfung:  man  vergleiche 
z.  b.  das  oben  s.  166  abgedruckte  lied  der  mal  maricc,  wo  je 
die  zwei  letzten  Zeilen  der  vorigen  Strophe  die  beiden  ersten 
der   folgenden   bilden.     Durch   allmähliche   erweiterung  dieses 


l)  So  Roland  laisse  III  und  IV  oder  V  und  VI,  wie  folgt: 

Laisse  V  (662—77).  Laisse  VI  (GTS  — SS). 

Li  reis  Marsilies  out  son  conseill  finet,  Li  reis  Marsilies  out  finet  son  conseill, 

Si  'n  apelat  Clarin  de  Balaguer,  Distaseshomes:  „Seiguorvoseuireiz, 

Estramarin  e  Eudropin  son  per,  Branches  d'olive  en  voz  mainz 

E  Priamon  e  Guarlan  le  Darbet,  portereiz, 

E  Machiner  e  son  oncle  Mähen  Si  tue  direz  Charlemagne  le  rei 

E  Jo'i'uier  e  Malbien  d'oltre-uier,  Por  le  snen  deuqu'ilaitmercitderaei. 

E  Blanchandrin,  por  la  raison  conter.  Ainzneverratpassercestpremiermeis 

Des  plus  felons  dis  en  ad  apelez:  Que  jol  sivrai  od  mil  de  mes  fedeilz, 

,,Seignor  baron,  a  Charlemagne  irez,  Si  recevrai  la  chrestiiene  lei, 

II  est  al  siege  a  Cordres  la  citet.  Serai  ses  hom  par  amor  e  par  feid. 

Branches  d'olive  en  voz  mains  por-  S'il  vuelt  ostages,  il  enavratpar  veir". 

Co  senef  iet  pais  et  humilitet.   [terez,  Dist  Blanchandrins:  „Molt  bon  plait 

Par  voz  saveirs  sein  poez  acorder,  en  avreiz".     Aoi. 
Jo  vos  dorrai  or  e  argent  assez, 
Terres  e  fiez  tant  com  vos  en  voldrez". 
Dient  paiien:  „De  co  avons  assez". 


1(JU  VI.  Kapitel.     Das  Heldenepos  in  seiner  Blütezeit. 

recommencement1)  konnten  leicht  laissen  entstehen,  welche 
inhaltlich  zu  einem  grösseren  teil  mit  der  vorhergehenden 
identisch  waren,  und  häufig  sind  es  erst  die  späteren  kopisten 
gewesen,  welche  die  ursprünglichen  recommeticements  derart 
erweitert  haben.  Zur  entstehung  wirklicher  wiederholungs- 
laissen aber  mit  mehr  oder  weniger  übereinstimmendem  inbalt 
mögen  noch  andere,  mehr  auf  künstlerische  Wirkung  berechnete 
Vorbilder  mitgewirkt  haben:  besonders  stellen  wie  Roland 
laisse  173 — 175,  wo  Roland  dreimal  nacheinander  vergeblich 
den  versuch  macht  sein  seh  wert  am  fels  zu  zerschlagen,  oder 
laisse  84  —  86,  wo  Olivier  dreimal  und  immer  dringlicher 
Roland  bittet,  durch  einen  hornruf  Karl  und  sein  heer  herbei- 
zurufen und  jedesmal  dieselben  einwürfe  Rolands  zu  hören 
bekommt.  Solche  Schilderungen  einer  dreimal  wiederholten 
handlung  konnten  leicht  als  stilistische  Wiederholungen  einer 
und  derselben  handlung  aufgefasst  werden  und  zur  ausdehnung 
der  rein  stilistischen  wiederholungslaissen  beitragen;  jedenfalls 
ist  es  zu  einer  gewissen  zeit,  wenn  auch  nicht  für  alle  dichter, 
stil  geworden,  solche  Wiederholungen  einzuflechten. 

Da  die  epische  Schilderung  sich  im  ganzen  mit  den 
einfachsten  mittein  begnügt,  gern  mit  stehenden  formein, 
überhaupt  mit  traditionellen  elementen  arbeitet  und  möglichst 
das  gesamtempfinden  zum  ausdruck  bringt,  begreift  es  sich 
leicht,  dass  im  stil  der  einzelnen  epen  untereinander  keine 
allzu  grossen  Verschiedenheiten  zu  bemerken  sind.  Aber 
gleichwol  ist  es  zu  viel  gesagt,  wenn  man  alle  individuelle 
färbung  des  stils  leugnet,  wie  es  z.  b.  noch  G.  Paris  tut,  wenn 
er  sagt:  'Le  style  n'a  rien  d'individuel:  c'est,  comme  on  l'a 
dit  excellement,  un:  „style  national'".  Schon  die  Charakteristik, 
welche  Gr.  Paris  selbst  an  verschiedenen  stellen  von  dem  dichter 


a)  Solehe  finden  sich  fast  in  allen  cbansons  de  geste,  auch  in  solchen, 
welche  die  eigentlichen  wiederholungslaissen  nicht  kennen.  Als  beispiel 
kann  laisse  IX  und  X  des  Rolandliedes  dienen,  mit  dem  schluss  der  ersten 
und  dem  anfang  der  folgenden  laisse: 

138  Li  emperere  tent  ses  dous  mains  vers  Den,  (IX) 

Baisset  son  chief,  si  commence  a  penser. 

Li  emperere  en  tint  son  chief  enclin.  (X) 

De  sa  parole  ne  fut  mie  hastis, 
141  Sa  costume  est  qu'il  parole  a  leisir  .  .  . 


1.   Vortrag  nod  Technik  des  Epos.  191 

des  Rolandsliedes  gibt,  passt  keineswegs  auf  ändert-  stiieke 
unserer  gattung.  andere  beispiele  bieten  die  Charakteristiken 
des  [sembartliedes  dnrch  Zenker  (s.  u.),  des  dichtere  Bertrand 

de  Bar  durch  Suchier  (in  seiner  Literatargeschichte  s.  37ff.)? 
des  Haondiehters,  des  Gaydondiehters  u.  a.  m. 

Auch  über  umfang  und  komposition  der  handlung  lassen 
sich  kaum  allgemeine  regeln  aufstellen.  Soviel  ist  gewiss, 
dass  die  einfache  manier  des  heldenepos  die  einzelnen  akte 
einer  handlang  oder  die  verschiedenen  handlangen  nacheinander 
schildert,  während  der  kunstvollere  ritterromau  die  ver- 
schiedenen Vorgänge  gern  ineinander  schachtelt.  Sonst  aber 
ist  die  handlung  der  einzelnen  epen  bald  verwickelter,  bald 
einfacher,  ohne  rücksicht  auf  den  äusseren  umfang.  So  stellt 
das  Rolandslied  mit  seinen  4000  versen  eine  im  ganzen 
einheitliche  handlung  in  mehreren  akten  dar.  während  die 
kurze  Karlsreise  in  ihren  870  versen  zwei  ganz  verschieden- 
artige haudlungen  miteinander  verschmilzt.  Die  epen  auf 
Wilhelm  von  Orange  bieten  am  meisten  sogenannte  episoden- 
dichtung.  welche  uns  am  ehesten  eine  Vorstellung  von  art  und 
umfang  der  früher  vorhandenen  epen  zu  geben  vermag.  Die 
Wilhelmsgeste  zählt  denn  auch  nächst  der  Karlsreise  die 
kürzesten  epen  in  ihrer  mitte:  so  das  Charroi  de  Nimes  mit 
1741.  die  Prise  d'Orange  mit  1880,  das  Covenant  Vivien  mit 
1944,  das  Wilhelmslied  mit  1983  versen.  Daneben  stehen  aber 
Moniage  Guillaume  und  Couronnement  Louis  mit  keineswegs 
einheitlichen  handlungen,  aus  anderen  kreisen  die  epen  von  den 
liaimonskindern,  von  Ogier  dem  Dänen  u.  a.,  welche  auf  nach- 
trägliche zusätze  oder  Verschmelzung  ursprünglich  voneinander 
getrennt  vorhandener  epenstoffe  und  epen  deuten.  Dass  auch 
epen  mit  einheitlicher  handlung  in  ihrer  älteren  gestalt 
wesentlich  kürzer  waren  als  in  der  überlieferten  form,  kann 
keinem  zweifei  unterliegen:  so  zählt  z.  b.  das  Rolandslied 
nach  abzug  der  nachträglich  eingeschalteten  Baligantepisode 
statt  4000  nur  noch  3000  verse  und  nähert  sich  schon 
dadurch  sehr  dem  umfang  der  oben  genannten  Wilhelmsepen 
episodischer  art. 

Vgl.  im  allgemeinen  die  oben  8.  88  f.  zitierte  literatur.  Dazu 
ferner:  Wilmotte,  L'evohttion  du  roman  franc.ais  aux  environs  de 
1150,  P.  1903,  s.  4ff.  (anm.).    Adolf  Birch-Hirscbfeld,  Über  die  dea 


192  VI.  Kapitel.    Das  Heldenepos  in  seiner  Blütezeit. 

prov.  Troubadours  des  12.  und  13.  Jahrhunderts  bekannten  epischen 
Stoffe,  Hab.-Schrift,  L.  1878.  —  Ch.  de  La  Lande  de  Calan,  Les 
personnages  de  Tepopee  romane,  Redon  1900  (unkritisch).  E.  Langlois, 
Table  de9  noms  propres  de  toute  nature  compris  dans  les  ch.  d.  g., 
P.  1904.  —  Über  die  Jongleurs  siehe  die  oben  s.  76  verzeichnete 
literatur.  —  Über  den  musikalischen  Vortrag  der  ch.  d.  g.  siehe 
Suchier,  ZrP  19  (1895)  370  ff.  E.  Langlois,  ZrP  34  (1910)  349 ff. 
G.  Schläger,  ZrP  35  (1911)  364  ff.  (auch  Musik  und  Strophenbau 
der  Romanzen,  oben  s.  161).  —  Über  versbau  siehe  die  oben  s.  35 
angeführte  literatur.  Über  den  tiradenschliessenden  kurzvers  siehe 
Ph.  A.Becker,  ZrP  18  (1894)  112ff.  und  Schultz-Gora  ebenda  24 
(1900)  370 ff.  —  Über  die  wiederholungslaissen:  O.Dietrich,  Rom. 
Forsch.  I,  lff,  dazu  Gröber  ZrP  6  (1882)  492  ff.  Alfred  Nordfeld. 
Les  Couplets  similaires,  Programm  Stockholm   1893. 

Sehr  zahlreich  sind  die  abhandlungen  über  einzelne  stilfragen 
sowie  über  die  sogenannten  realien,  wofür  hier  auf  die  bibliographien 
von  Gautier  und  Nyrop,  für  die  neueren  auf  den  JrP  und  die 
bibliographie  zur  ZrP  verwiesen  sei.  Im  allgemeinen  vgl.  Leon 
Gautier,  La  chevalerie,  P.3  1895,  auch  desselben  erläuterungen 
zur  Rolandausgabe,  sowie  Alwin  Schultz,  Das  höfische  Leben  zur 
Zeit  der  Minnesinger,  L.2  1889,  und  desselben  skizze  in  Gröbers 
Grundriss  II,  3,  522  ff. 


2.    Die  ältesten  bekannten  Epen. 

Trotzdem  wir  die  anfange  des  heldenepos  bis  in  das 
9.  Jahrhundert  zurüekverfolgen  können,  sind  uns,  durch  die 
Ungunst  der  Überlieferung,  ganz  oder  teilweise  erhaltene 
epen  in  französischer  spräche  frühestens  aus  dem  ende  des 
11.  Jahrhunderts  bekannt.  Als  ältestes  eiuigennassen  sicher 
datierbares  erscheint  das  Rolandslied  (anfaug  des  12.  Jahr- 
hunderts). Als  mindestens  gleichaltrig,  wenn  nicht  als  älter, 
betrachtet  man  das  epos  von  Isembart  und  Gormont  und  die 
Chanson  de  Guillelme.  Etwas  jünger  ist  die  Karlsreise 
(nach  1108),  die  Chancon  de  Rainouart  (um  1120),  noch 
jünger  Ludwigs  Krönung,  nach  den  einen  um  1130,  nach  den 
anderen  um  1150  verfasst.  Von  verschiedenen  werden  auch  noch 
einige  Wilhelmsepen  —  Charroi  de  Nimes,  Prise  d'Orange, 
Enfances  Guillaume,  Covenant  Vivien  —  der  ersten  hälfte  des 
Jahrhunderts  oder  wenigstens  noch  seiner  mitte  zugeschrieben, 
doch  sind  die  datierungen  dieser  meist  noch  nicht  in  kritischen 
ausgaben  vorliegenden  gedichte  ziemlich  unsicher. 


2.  Die  ältesten  bekannten  Epen:  Rolandslied.  Iseuibart  n.  Gormont.   193 

1.    Rolandslied. 

Von  dem  Rolandslied  ah  solchem  ist  bereits  im  dritten 
kapitel  die  rede  gewesen.  Es  ist,  als  eins  der  ältesten  und 
besten  der  gattung,  vielfach  vorbildlich  gewesen  für  andere 
epen,  namentlich  solche,  welche  schlachten  und  einzelkämpfe 
darstellen  (Ogier,  Anse'is  de  Cartage,  Huon  von  Bordeaux  u.  a.). 
Vor  allem  hat  die  Vorstellung  von  Karl  dem  Grossen  als 
schirmherrn  der  Christenheit  vom  Rolandslied  aus  mächtig 
gewirkt:  eine  reihe  von  epen,  welche  einen  wesentlich  jüngeren 
historischen  kern  haben,  wie  Fierabras,  Äspremont,  FAifanccs 
Ogier  stehen  unter  ihrem  einfluss.  Da7.u  wurde  das  Rolands- 
lied selbst  etwa  um  1165  erneuert  durch  die  sogenannte 
reimredaktion  (s.  0.  s.  102),  welche  nicht  bloss  die  äussere  form 
verändert,  sondern  auch  noch  die  belagerung  von  Narbonne 
—  auf  der  rückkehr  Karls  aus  Spanien  —  in  die  handlung 
einführt  und  somit  in  beziehung  zur  Rolandsage  setzt.  Wie 
hier  durch  einen  einschub  in  das  alte  lied,  wird  dessen  handlung 
später  durch  vollständige  epen  erweitert,  welche  teils  die 
Vorgeschichte,  teils  die  nacbgeschichte  der  Roncesvallesschlacht, 
z.  t.  auch  episoden  aus  der  zeit  des  siebenjährigen  spanischen 
feldzuges  behandeln,  aber  sämtlich  erst  im  13.  oder  14.  Jahr- 
hundert verfasst  sind. 

Vgl.  die  bibliographie  oben  8.  107  ff.  Über  die  ergänzungsepen 
siehe  unten  kap.  XII  und  XIV.  Über  Galien  le  restore,  welcher 
eine  Überarbeitung  des  Rolandsliedes  mit  einer  ebensolchen  der 
Karlsreise  verschmilzt,  siehe  unten. 

2.   Iseuibart  und  Gormont  (Hol  Louis). 

Ein  fragment  von  661  versen  (achtsilbnern)  erzählt  uns 
vom  kämpf  des  fränkischen  königs  Ludwig  und  seines  heeres 
gegen  den  Sarrazenenfürsten  Gormont,  den  der  renegat  Isembart, 
ehedem  ein  fränkischer  grosser,  in  das  land  geführt  hat.  Die 
schlacht  rindet  bei  Cayeux  in  der  Pikardie  statt,  Ludwig  tötet 
selbst  den  Gormont,  auch  Isembart  wird  tödlich  verwundet 
und  erfleht  sterbend  Gottes  Verzeihung.  Finden  sich  auch,  wie 
im  Rolandslied  und  im  epischen  stil  überhaupt,  viele  stereotype 
Wendungen,  so  steht  der  dichter  demjenigen  des  Rolaudsliedes 
doch   in  keiner  weise  nach,   vor  allem  zeichnet  er  sich  aus 

Voretzach,   Stadium  d.  afiz.  Literatv.r.     2.  Auflage.  13 


194  VI.  Kapitel.    Das  Heldenepos  in  seiner  Blütezeit. 

durch  knappheit  des  ausdrucks  und  plastische  Schilderung  der 
einzelnen  kämpfe.  In  der  Verwendung  des  achtsilbners  in  der 
tiradenform  steht  die  dichtung  als  unicum  unter  den  chansons 
de  geste  da  (wenn  wir  dabei  von  dem  ältesten  Alexanderlied 
absehen).  Ein  nach  G  (unter  25)  Strophen  sich  wiederholendes, 
dieselbe  Situation  mit  denselben  worten  schilderndes  doppel- 
reimpaar  ist  von  manchen  fälschlich  als  refrain  aufgefasst 
und  auf  ehedem  mehr  lyrische  form  der  chansons  de  geste 
gedeutet  worden.  Die  mundart  des  gedichts  ist,  wie  die  der 
Karlsreise,  francisch. 

Spätere  bearbeitungen  (wie  im  prosaroman  von  „Loh er 
und  Maller")  und  auszöge  in  lateinischen  und  französischen 
Chroniken  (wie  namentlich  in  Mouskets  Chroniquc  rimce) 
gestatten,  anfang  und  schluss  des  epos  zu  ergänzen.  Darnach 
hat  Ludwig,  söhn  Karls  des  Grossen,  Isembart  verbannt,  weil 
dieser  für  die  ermordung  seines  bruders  durch  heimtückische 
gegner  blutrache  geübt  hat  und  von  einer  Versöhnung  mit 
seinen  feinden  nichts  wissen  will.  Isembart  geht  zu  den 
Sarrazenen  nach  England,  wird  selbst  dem  Christenglauben 
abtrünnig  und  führt  Gormont  mit  seinen  heidenscharen  nach 
Frankreich.  Nach  seinem  tod  in  der  Schlacht  ist  der  sieg  den 
Franken  gesichert,  aber  sie  haben  bald  ihren  könig  Ludwig 
zu  betrauern,  der  sich  (wie  auch  im  fragment  erwähnt)  durch 
den  letzten,  furchtbaren  hieb  gegen  Gormont  eine  innere 
Verletzung  zuzieht,  welche  vor  ablauf  von  dreissig  tagen  seinen 
tod  herbeiführt.  Isembarts  eitern  und  Schwestern  büssen  seine 
schuld  im  kloster. 

Es  ist  längst  erkannt  worden,  dass  die  historische  gruudlage 
des  liedes  in  dem  sieg  Ludwigs  III.  vom  Westfrankenreich  über 
die  Normannen  bei  Saucourt  881  zu  suchen  ist,  in  demselben 
ereignis,  das  auch  im  deutschen  Ludwigslied  (vgl.  o.  s.  59) 
gefeiert  wird.  Doch  haben  auf  die  epische  oder  sagenhafte 
gestaltung  Ludwigs  und  der  Sarrazenenschlacht  noch  andere 
gleichnamige  könige  mit  ihrer  geschichte  eingewirkt,  wie 
Ludwigs  Vorgänger  und  vater,  Ludwig  IL  der  Stammler,  und 
Ludwig  IV.  d'Outremer  (943),  sowie  der  söhn  Ludwigs  des 
Deutschen,  Ludwig  III.  von  Ostfranken,  der  880  einen  grossen 
sieg  über  die  Normannen  bei  Thim^on  im  Hennegau  erfocht. 
Auch  der  tod  von  des  königs  bruder  Hugo  im  epos  rindet  seine 


2.  Die  ältesten  bekannten  Epen:  Isembart  und  Gormont.  195 

historische  parallele  in  diesem  letzten  ereignis.  Als  historisches 
vorbild  Gormonta  kann  der  in  der  schlacht  von  Sanconrt  nicht 
ausdrücklich  genannte,  aber  um  dieselbe  zeit  lebende  Wikinger- 
fuhrer  Guthorm  oder  Gorm  betrachtet  werden,  der  wol  mit 
dem  882  von  Karl  dem  Dicken  besiegten  Wurm  identisch  ist; 
auch  verdient  beachtung,  dass  Ludwig,  der  sieger  von  Saucourt, 
ein  jähr  nach  seinem  siege  durch  einen  Unfall  umkam,  als  er 
der  tochter  eines  gewissen  Germund  nachsetzte.  Die  gleich- 
setzung der  heidnischen  Normannen  mit  den  Sarrazenen  bedarf 
nach  dem  Rolandslied  ebensowenig  wie  die  der  Sachsen  und 
Slaven  einer  besonderen  begrtindung.  Der  Verräter  und  renegat 
Isembart  findet  in  der  fränkischen  geschichte  kein  vorbild,  er 
scheint  zunächst  eine  apriorische  sagenfigur  —  wie  Sibich, 
Sabene  u.  a.  —  gewesen  zu  sein.  Aber  zur  ausgestaltung  seiner 
erscheinung  haben,  wie  beim  Verräter  des  Rolandsliedes,  wol 
auch  historische  demente  mitgewirkt.  Bemerkenswert  ist 
schon,  dass  in  einer  sagenhaften  erzählung  des  Mönchs  von 
St.  Gallen  (vgl.  oben  s.  82,  85).  nämlich  II,  8,  ein  zur  zeit  Karls 
des  Grossen  lebender  und  bei  diesem  in  Ungnade  gefallener 
Isembart,  söhn  Warins,  erscheint  und  dass  bei  Mousket, 
sowie  im  'Loher  und  Maller',  Isembart  gleichfalls  als  söhn 
Warins  bezeichnet  wird.  Auffällig  erscheint  schliesslich  die 
erwähnung  eines  gastalden  (eine  art  königlicher  pfalzgrafen) 
Hisembart  in  der  italienischen  geschichte  860:  er  empört  sich 
mit  andern  gegen  kaiser  Ludwig  IL  von  Italien,  wird  aber 
von  ihm  auf  fürsprache  eines  verwanten  begnadigt.  Von 
seiner  teilnähme  an  der  Sarrazenenschlacht  872  am  Volturno 
ist  nicht  die  rede,  ebensowenig  von  seiner  Verbannung  oder 
seinem  abfall  zum  islam,  wie  ihm  denn  auch  der  name 
Margarie,  welcher  den  französischen  renegaten  kennzeichnet, 
nicht  beigelegt  wird.  So  beachtenswert  Zenkers  ausführungen 
über  den  italienischen  Isembart  auch  sind,  so  tragen  sie  doch 
auch  viel  des  hypothetischen  an  sich,  und  die  entstehung 
unserer  chanson  aus  der  verquickung  dreier  lieder,  nämlich 
eines  Saucourtliedes,  eines  Turmodliedes  (Louis  d'Outremer) 
und  eines  Isembartliedes  (kämpfe  in  Italien)  erscheint  nicht 
minder  hypothetisch. 

Ältere    ausgäbe    von    A.  Scheler,    Brüssel    1876    (Extrait    du 
Bibliophile  beige  X),    neuere   mit  einleitung  und  anmerkungen  von 

13* 


196  VI.  Kapitel.    Das  Heldenepos  iu  seiner  Blütezeit. 

Heiligbrodt,  Rom.  Stud.  3,  549  ft',  G.  et  J.,  reproduction  photo- 
collographique  p.  A.  Bayot,  Brüssel  1906.  —  Über  die  entwickhmg 
der  sage:  Rud.  Zenker,  Das  epos  von  Isembard  und  Gormund, 
Ha.  1896,  und  Tb.  Fluri,  Isembart  et  Gormont,  Züricher  Diss., 
Basel  1895.  Dazu  Pb.  A.  Becker,  ZrP  20  (1896)  549  ff.;  Pb.  Lauer, 
Rom.  26  (1897)  101  ff;  Ferd.  Lot,  Rom.  27,  lff;  Zenker  ZrP  23 
(1899)  249ff;  G.Schläger  LgrP  21  (1900)  135ff;  Zenker  ZrP  30 
(1906)  572—74. 

3.   Die  Schlacht  auf  dem  Arcliamp. 

(Chancon  de  Guillelme.) 
A.   Überlieferung.    Die  handschrift  des  bis  dahin  völlig 
unbekannten  textes   kam  1901  in   den  besitz  eines  englischen 
bibliophilen,  der,  ohne  seinen  narnen  zu  nennen,  den  text  1903 
nach   der  handschrift  drucken  liess   und   zwei   facsimileseiten 
beifügte.    Die  handschrift  ist  in  der  mitte  des  13.  Jahrhunderts 
in  England   geschrieben   und   stammt  aus   einem  sammelband, 
von   dem   auch    noch   andere   teile   bekannt   sind.     Auf  grund 
dieses  drucks  erschienen  nacheinander  die  beiden  für  Seminar- 
übungen berechneten  privatdrucke  von  Baist  (1904,  1908),  die 
kritische    herstellung    der    ersten    1000    verse    durch    Franz 
Rechnitz  (1909)  und  endlich  der  vollständige  kritische  text  von 
H.  Suchier  (1911),  für  welchen  die  handschrift  durch  J.  A.  Herbert 
neu    verglichen    wurde.     An    der    echtheit    des    unerwarteten 
fundes  zu  zweifeln  liegt  trotz  der  heimlichtuerei  des  besitzers 
kein   hinreichender   anlass  vor.     Ein  etwaiger  falscher  müsste 
ebenso    mit    allen    möglichen    verzettelten    anspielungen    der 
Wilhelmsepik  wie   mit  den  eigenheiten  der  alten  spräche  und 
des  epischen  stils  bis  ins  einzelste  vertraut  gewesen  und  dazu, 
mit    einer    raffinierten    kombinationsgabe    zu   werke   gegangen 
sein.     Immerhin    sollte    der    anonyme    besitzer,    um   auch   die 
letzten   zweifei   zu  zerstreuen,   die  wichtige  handschrift  nicht 
länger  der  prüfung  durch  die  Wissenschaft  entziehen.1) 

Die  handschrift  zählt  insgesamt  3554  verse  (zehnsilbner, 
abgesehen  von  den  kurzversen  des  refrains).  Die  trennung  in 
zwei,  von  zwei  verschiedenen  Verfassern  herrührende  diehtuugen 
durch  Suchier  (Chancon  de  Guillelme  v.  1—1983,  Chancon  de 
Rainouart,  1984  bis  schluss)  ist  aus  formellen  und  sachlichen 
gründen  einleuchtend. 

>)  Der  besitzer  der  hs.  ist  seither  gestorben  (korrekturnote). 


2.  Die  ältesten  bekannten  Epen:  Die  Schlacht  auf  dein  Arcbamp.     197 

B.  Inhalt  und  literarischer  Charakter.  König 
Derame\l  von  Cordova  fährt  mit  einer  grossen  flotte  die  Gironde 
hinauf,  verwüstet  die  Marken  und  steckt  Ivs  aluea  (Aluez?)  in 
brand.  Tedbalt  von  Bourges  wird  benachrichtigt,  ist  aber 
gerade  betrunken,  ebenso  wie  sein  neffe  Esturmi,  und  schlägt 
Viviens  rat,  den  markgrafen  Wilhelm,  Guillelme  dl  cxvrb  nts, 
um  hilfe  anzugehen,  in  den  wind.  Am  andern  morgen  ziehen 
Tedbald,  Esturmi  und  Vivien  mit  10000  mann  den  Sarrazenen 
entgegen,  auf  dem  Archamp  am  meer  stossen  sie  auf  das 
feindliche  lager.  Tedbald  und  Esturmi  ergreifen  schmählich 
die  flucht,  ehe  es  zum  kämpfe  kommt ;  Vivien,  söhn  von  Boeve 
Cornebut  und  neffe  Wilhelms,  hat  Gott  gelobt  niemals  aus 
todesfurcht  zu  fliehen,  er  entfaltet  ein  weisses  banner  und 
nimmt  mit  den  tapferen,  die  bei  ihm  bleiben  und  ihm  huldigen, 
den  kämpf  gegen  die  100000  Sarrazenen  auf:  Si  cum  s'esmieret 
li  ors  fors  de  l'argent,  Si  s'en  eslistrent  tote  la  hone  gent. 
Aber  trotz  aller  heldentaten  schmilzt  die  Christenschar  mehr 
und  mehr  zusammen,  von  10000  auf  100,  von  100  auf  20. 
Da  sendet  Vivien  den  jungen  Girart  zu  Wilhelm  nach  Barcelona 
um  hilfe.  Aber  bald  hat  er  von  20  kämpfern  nur  noch  10, 
und  endlich  kämpft  er  noch  allein.  Schwer  verwundet  von 
den  feindlichen  Wurfgeschossen,  zum  tod  erschöpft  wird  er 
von  einem  Berber  getötet,  sein  körper  zerstückelt  und  unter 
einem  bäum  verborgen  (v.  1 — 930).  —  Unterdes  kommt  Girart 
bei  Wilhelm  und  Guiburc  in  Barcelona  an,  schon  am  anderen 
morgen  rücken  sie  mit  30000  mann  aus,  mit  ihnen  Guiborcs 
neffe  Guischart,  der  bekehrte  Sarrazene.  Die  Schlacht  dauert 
drei  tage,  vom  montag  bis  zum  mittwoch,  nur  Wilhelm,  Girart 
und  Guischart  sind  übrig.  Dann  fällt  Girart.  Der  schwer 
verwundete  Guischart  verleugnet  vor  seinem  ende  den  christ- 
lichen glauben.  Aber  weil  ihm  Guiborc  den  Guischart  an- 
befohlen hatte,  nimmt  Wilhelm  den  toten  auf  sein  ross  und 
reitet  mit  ihm  heim  nach  Barcelona  zu  Guiborc.  Beide 
vergiessen  tränen,  aber  schon  hat  des  beiden  weib  neue 
30000  mann  gesammelt,  und  andern  tags  zieht  Wilhelm  aber- 
mals aus,  ungesehen  von  ihm  auch  Viviens  fünfzehnjähriger 
bruder  Gui,  der  sich  bald  durch  klugen  rat  und  kühne  tat 
hervortut.  Vor  der  heidnischen  Übermacht  erliegt  nach  und 
nach  auch  dieses  heer.     Wilhelm  selbst  gerät  in  lebensgefahr, 


198  VI.  Kapitel.     Das  Heldenepos  in  seiner  I.lütezeit. 

wird  aber  durch  Gui  errettet  und  behält  den  sieg:  20000  feinde 
sehlägt  Gui  durch  Gottes  wunder  in  die  flucht,  dem  fuhrer 
Deram6d  haut  Wilhelm  den  einen  Schenkel  ab,  und  Gui  macht 
dem  schwerverletzten  den  garaus,  indem  er  ihm  das  hanpt 
abschlägt,  damit  er  sich  nicht  noch  einen  erben  und  riicher 
zeugen  könne  (v.  931 — 1983). 

Die  darstellung  ist  im  einzelnen,  vielleicht  infolge  mangel- 
hafter Überlieferung,  vielfach  unklar,  zuweilen,  besonders  wo 
es  sich  um  Schilderung  ähnlicher  Vorkommnisse  oder  wieder- 
gäbe ähnlicher  reden  handelt,  sehr  einfach  und  schmucklos, 
da  der  dichter  wörtliche  Wiederholung  langer  stellen  nicht 
scheut.  Auf  der  andern  seite  aber  finden  wir  eine  rasch 
fortschreitende  —  zuweilen  nur  skizzierte  — ,  wolgegliederte 
handlung  und  in  diese  eingestreut  eine  reibe  von  charakte- 
ristischen episoden  (die  betrunkenheitsszene,  die  flucht  Tedbalts 
und  Esturmis,  Girarts  botschaft  und  aufnähme  bei  Guiborc, 
das  eingreifen  des  jungen  Gui).  Vor  allem  zeichnet  die 
dichtung  ein  gesunder  realismus  in  der  Schilderung  der 
Charaktere  wie  der  handlung  aus,  ein  dichterischer  realismus, 
der  in  der  altfranzösischen  epik  kaum  seinesgleichen  findet 
und  uns  alle  personen  greifbar  vor  äugen  stellt. 

In  der  form  eigenartig  ist  die  häufige  Verwendung  kurzer 
laissen  (bis  zu  zwei  versen,  besonders  bei  kurzer  rede  und 
gegenrede).  Im  durchschnitt  beträgt  die  verszahl  der  laissen 
nur  elf  (im  Roland  15).  32  laissen  (unter  180)  schliessen  mit 
einer  art  refrain,  einem  viersilbigen  vers  mit  weiblichem  aus- 
gang,  dem  ein  darauf  assonierender  langvers  folgt.1)  In  der 
mehrzahl  der  fälle  lautet  der  refrain  Litnsdi  dl  vespre,  womit 
der  haupttag  der  einzelnen  schlachten  bezeichnet  wird. 

C.  Kritische  Fragen.  Der  protagonist  der  dichtung  ist 
Vivien,    während   Wilhelm    nur   als   rächer   Viviens   erscheint. 


•)  Als  Beispiel  diene  tirade  XVIII  (v.  146—151): 

Dane  ist  Tiedbalz  de  sa  bone  che. 
AI  dos  le  siwent  dis  mil  d'onies  arniez. 
En  l'Archanip  quistrent  le  paien  Derauied; 
uiais  inalvais  sire  les  i  out  a  guier ! 

—  Lunsdi  al  vesprel  — 
Eu  l'Archamp  viudrent  desur  la  mer  a  destre. 


2.  Die  ältesten  bekannten  Epen:  Die  Schlacht  auf  dem  Archamp.     199 

Den  bis  zu  Viviens  tod  reichenden  teil  der  dichtung  (bis 
v.  930),  der  sich  nach  inhalt  und  form  mehrfach  als  altertümlich 
gegenüber  dem  zweiten  teil  erweist,  könnte  man  ohne  weiteres 
als  Chanson  de  Vivien  bezeichnen.  Die  historische  grundlage 
dieser  Vivieudichtung  liegt,  wie  Suchier  erkannt  und  gegen 
seine  Widersacher  mit  nachdruck  aufrechterhalten  hat,  in 
ereignissen  des  Jahres  851:  in  diesem  jähre  zog  Karl  der  Kahle 
gegen  die  Bretonen  zu  felde,  liess  aber  sein  heer  zwischen 
zweitem  und  drittem  schlachttag  im  stich;  graf  Vivianus  von 
Tours  übernahm  die  fuhrung,  wurde  aber  besiegt  und  getötet, 
seine  leiche  blieb  unbeerdigt  und  ward  die  beute  wilder  tiere. 
Die  Verwandlung  der  den  Franken  feindlichen  Bretonen  in 
Sarrazenen  erklärt  sieh  wie  die  der  Sachsen,  Wikinger,  Basken 
durch  die  übliche  gleichsetzung  von  reichsfeind  und  glaubens- 
feind,  die  Verlegung  des  Schauplatzes  nach  dem  Süden  durch 
einwirkung  der  Wilhelmsepik.  Wilhelm  von  Barcelona  wird 
hier  ohne  weiteres  mit  Wilhelm  cd  curb  nes  (später  al  cort  nes), 
Wilhelm  Fierabrace,  dem  gatten  der  Guiborc,  gleichgesetzt. 
Wenn  er  hier  als  rächer  in  eine  Sarrazenenschlacht  eingreift, 
rührt  es  daher,  dass  die  dichtung  ihn  schon  als  Sarrazenen- 
kämpfer  kannte:  vielleicht  gab  es  schon  vorher  ein  Wilhelms- 
epos, das  ihn  als  tapferen  besiegten  der  Sarrazenen  darstellte 
und  nun  mit  der  Viviendichtung  in  beziehung  gesetzt  wurde. 
Die  verwantschaft  zwischen  Wilhelm  und  Vivien  ist  dichterische 
erfindung.  Das  epos  von  der  Schlacht  auf  dem  Archamp  ist 
der  ausgangspunkt  der  Viviengeste  geworden.  Es  bildet  das 
mittelbare  oder  unmittelbare  vorbild  des  sogenannten  Covenant 
Vivien  (Chevalerie  Vivien),  ebenso  wie  die  als  fortsetzung  zum 
Archampepos  gedichtete  Changon  de  Bainouart  das  vorbild 
für  Aliscans  abgegeben  hat,  das  seinerseits  wieder  neue  fort- 
setzungen  und  erweiterungen  erfahren  hat.  Die  Enfances 
Vivien  erzählen  die  jugendtaten  des  helden  im  anschluss  an 
das  Archampepos. 

Ausgaben:  La  chancun  de  Willame,  London,  Chiswick  Press, 
1903  (mit  zwei  Faksimiletafeln).  —  L'archanz  (La  Changon  de 
Willelme),  Druck  von  G.  Baist,  Freiburg  i.  B.  1904,  Neudruck 
(L'archanz,  La  eh.  d.  G.)  1908.  —  Franz  Rechnitz,  Prolegomena 
und  erster  Teil  einer  kritischen  Ausgabe  der  Ch.  d.  G.,  Bonn  (Diss.) 
1909.    —    Kritische    Ausgabe    von    H.  Suchier,    La    Changon    de 


200  VI.  Kapitel.    Das  Heldenepos  in  seiner  Blütezeit. 

Guillelme,  Bibl.  Norm.  VIII,  Ha.  1911  (hier  Verzeichnis  der  ge- 
samten kritischen  literatnr).  —  Vgl.  noch  W.  Scholz,  ZfSL  38  (1911) 
196  ff.;  Jean  Acher,  Rdlr  55  (1912)   12  ff. 


4.   Karlsreise. 

(Pelerinage   de   Charlemagne   a  Jerusalem   et  Constantinople.) 

Das  kleine  epos  zeigt  einen  wesentlich  anderen  Charakter 
als  das  Rolandslied.  Nicht  als  kämpfer  und  heerführer,  sondern 
als  friedlicher  pilger  tritt  hier  Karl  der  Grosse  mit  seinen 
pers  auf,  und  der  zweite  teil  des  gedichts  zeigt  die  helden 
teilweise  sogar  in  einer  hilflosen,  ja  lächerlichen  rolle.  Die 
beiden  teile  sind  untereinander  nur  lose  verbunden.  Karl 
fordert  zu  St.  Denis  durch  sein  eitles  gebaren  mit  der  kröne 
auf  dem  haupt  die  kritik  der  kaiserin  heraus,  welche  kaiser 
Hugo  von  Konstantinopel  für  stattlicher  hält.  Karl  beschliesst 
diesen  aufzusuchen  und  die  richtigkeit  dieses  Urteils  zu  prüfen, 
geht  aber  mit  den  pers  zuerst  nach  Jerusalem,  wo  er  am  heiligen 
grabe  betet  und  vom  patriarchen  eine  anzahl  reliquien  erhält. 
Dann  erst  begibt  er  sich  nach  Konstantinopel,  wo  die  märchen- 
hafte pracht  und  zaubervolle  einrichtung  von  kaiser  Hugos 
palast  ihn  und  die  seinen  in  erstaunen  setzen.  Nach  genossenem 
mahle,  des  süssen  weines  voll,  gefallen  sich  die  helden  nach 
heimischer  manier  in  prahlereien  (gabs),  welche  kaiser  Hugo 
derart  reizen  und  beleidigen,  dass  er  den  helden  das  leben 
nehmen  will,  wenn  sie  nicht  zeigen  können,  dass  sie  die  taten, 
deren  sie  sich  rühmen,  wirklich  ausführen  können.  Die  Franken 
wären  verloren,  wenn  ihnen  ihre  reliquien  nicht  die  hilfe  Gottes 
sicherten.  Merkwürdigerweise  erkiest  Hugo  als  ersten  probe- 
helden  gerade  Olivier,  welcher  seinem  gab  nur  mit  hilfe  der 
blonden  kaiserstochter  gerecht  werden  kann.  Nachdem  dann 
noch  Wilhelm  und  Bernhard,  beide  söhne  Aimeris,  ihre  gabs 
ausgeführt  und  damit  grossen  schaden  an  palast  und  Stadt 
angerichtet  haben,  ist  kaiser  Hugo  zufriedengestellt.  Beim 
gemeinsamen  kirchgang  erweist  sich  Karl  tatsächlich  grösser 
und  stattlicher  als  Hugo.  Nach  der  rückkehr  legt  Karl  einen 
teil  der  reliquien  —  kreuznagel  und  dornenkrone  —  in  der 
kirche  zu  Saint- Denis  nieder.  Der  kaiserin,  die  ihr  leben 
verwirkt  hatte,  verzeiht  er. 


2.    Die  ältesten  bekannten  Epen:   Karlsreise  201 

Das  motiv,  dass  ein  beld  auszieht  sieb  mit  eiuein  anderen, 
von  dem  er  hat  reden  hören,  zu  messen,  ist  germanischer 
herkunft;  die  einzelnen  gabs,  welche  zur  füllung  des  rahmens 
dienen,  finden  ihre  parallelen  in  den  märchen  und  sagen  ver- 
schiedener Völker.  Demgegenüber  gehört  die  pilgerfahrt  Karls 
mehr  der  geistlichen  legendenbildung  an.  Die  historischen 
grundlagen  für  diese  liegen  in  den  mannigfachen  beziehungen 
Karls  zum  Orient  und  zum  heiligen  grabe.  Harun  al  Raschid, 
mit  dem  der  kaiser  gesantschaften  und  geschenke  wechselte, 
stellte  das  heilige  grab  unter  Karls  gewalt.  Gegen  800  erhielt 
dieser  vom  patriarchen  von  Jerusalem  die  Schlüssel  zum  heiligen 
grabe  sowie  eiue  anzahl  reliquien,  die  später  in  St.  Denis 
aufbewahrt  und  alljährlich  zur  messe  (lendit,  d.  i.  Vcndit) 
ausgestellt  wurden.  Aus  diesen  tatsachen  konnte  sich  sehr 
leicht  die  Vorstellung  entwickeln,  Karl  der  Grosse  wäre 
selbst  in  Jerusalem  gewesen,  und  schon  im  jähre  1000  finden 
wir  sie  in  der  chronik  Benedicts  vom  berg  Soracte  völlig 
ausgebildet. 

Allem  anschein  nach  ist  das  epos  zur  Verherrlichung  der 
in  St.  Denis  befindlichen  reliquien  gedichtet  und  zur  messe 
daselbst  vorgetragen  worden.  Es  wurde  also  vermutlich  um 
1108  zur  zeit  der  einrichtung  des  endit  von  St.  Denis  verfasst, 
jedenfalls  nicht  viel  später,  da  der  sprachzustand  im  wesent- 
lichen mit  dem  des  Rolandsliedes  übereinstimmt.  An  der 
Vermischung  des  heiligen  und  ernsten  mit  dem  profanen  und 
komischen  nahm  das  mittelalter  weniger  anstoss  als  wir 
heutzutage,  so  dass  man  in  dem  gedieht  weder  eine  parodie 
noch  die  absieht  im  ersten  teil  zu  erbauen,  im  zweiten  zu 
ergötzen,  zu  suchen  braucht.  Bemerkenswert  ist,  dass  unter 
den  pers  neben  Roland,  Olivier,  Turpin,  Naimes,  Ogier  u.  a. 
auch  mitglieder  der  Wilhelmsgeste,  Guillelme  von  Orange  selbst, 
seine  brüder  Ernalt  de  Gironde  und  Bernart  und  sein  neffe 
Bertram  erscheinen.  Formell  ist  die  erstmalige  anwendung 
des  zwölfsilbners  im  heldenepos  wichtig. 

Ausgabe  von  Koschwitz,  Karls  d.  Gr.  Reise  nach  Jer.  u.  Konst, 
Afr.  Bibl.  II  5 1907  (von  Thurau).  Weitere  bibliographie  siehe  AS 
im  anhang.  J.  Coulet  (Etudes  sur  Fanden  poeme  fr.  du  Voyage  de 
Charlemagne  en  Orient,  Montpellier  1907)  sucht  mit  unzureichenden 
linguistischen    gründen    die  abfassung  des  gedichts  in  die  mitte  des 


202  VI.  Kapitel.     Das  Heldenepos  iu  seiner  Blütezeit. 

12.  jh.  hcrabzurücken.  —  Das  gedieht  wurde  ins  kymrische,  alt- 
nordische und  faröische  übersetzt.  In  der  franz.  lit.  wurde  es  durch 
den  Galten  (vgl.  b.  193)  weiter  überliefert :  .-uis  der  vorübergehenden 
Verbindung  Oliviers  mit  der  tochter  Hugos,  die  hier  Jacqueline  lieisst, 
geht  der  held  Galien  hervor,  den  Galienne  und  andere  feen  schon 
bei  der  geburt  beschenken  und  der,  erwachsen,  sich  aufmacht  den 
vatcr  zu  suchen  und  ihn  mit  den  einzigen  noch  überlebenden  fünf 
fränkischen  beiden  bei  Roncesvalles  findet.  Dies  im  13.  Jahrhundert 
entstandene  epos  wurde  später  einem  cyclus  über  die  geste  des 
Garin  de  Monglane  einverleibt  und  ist  auch  in  verschiedenen  prosa- 
bearbeitungen  erhalten  (Ausgabe  von  Stengel,  Galiens  li  restores, 
Marburg  1890,  AA  84).  Italienische  bearbeitung  des  15.  Jahrhunderts 
im  'Viaggio  di  Carlo  Magno  in  Ispagna'  (einer  kompilatorischen 
darstellung  des  span.  feldznges). 


5.   Ludwigs  Krönung  (Couronnement  Louis). 

Das  Krönungsepos,  welches  schon  vod  den  zyklischen 
haudschriften  des  13.  und  14.  Jahrhunderts  den  Wilhehnsepeu 
zugerechnet  wird,  zeigt  deutlich,  wie  wenig  im  anfang  eine 
prinzipielle  Scheidung  zwischen  den  verschiedenen  gesten  oder 
zykleu  bestand.  Es  hat  seinen  namen  von  dem  ersten  teil,  in 
welchem  Karl  der  Grosse  seinem  söhn  Ludwig  die  kröne 
übergeben  will,  den  allzu  schüchternen  aber  für  unwert  des 
thrones  erklärt  und  nur  durch  das  dazwischentreten  Wilhelms 
davor  bewahrt  wird,  den  hinterlistigen  ratschlagen  des  ver- 
räterischen Arne'is  von  Orleans  gehör  zu  schenken.  In  den 
folgenden,  z.  t.  nur  äusserlich  miteinander  zusammenhängenden 
teilen  ist  allerdings  Wilhelm  der  eigentliche  held.  Er  befreit 
Rom  und  den  papst  von  den  Sarrazenen  und  dem  riesen 
Corsolt,  büsst  aber,  obwol  am  ganzen  übrigen  körper  durch 
berührung  mit  einer  reliquie,  dem  arm  des  heiligen  Petrus, 
unverwundbar  gemacht,  im  Zweikampf  mit  dem  gegner  die 
nasenspitze  ein,  daher  er  von  da  ab  Guülebnes  cd  cort  ncs 
genannt  wird.  Nach  Frankreich  zurückgerufen,  schlägt  er 
die  empörung  Richards  von  Rouen  und  seines  sohnes  Acelin 
gegen  Ludwig,  den  nunmehrigen  herrscher  nach  Karls  tode, 
nieder,  ebenso  eine  weitere  rebellion  im  Süden  des  reiches,  und 
entgeht  darauf  glücklich  einem  hinterhalt  Richards.  Abermals 
nach  Italien  gerufen,  zieht  er  mit  Ludwig  dorthin,  um  dem 
Papst   gegen  Guion  d'Allemagne   zu   helfen,   besiegt  und  tötet 


2.  Die  ältesten  bekannten  Epen :   Ludwigs  Krönung.  203 

diesen  im  Zweikampf  und  befreit  Rom.  Ludwig  wird  hier 
zum  kaiser  gekrönt.  Die  40  Schlusszeilen  berichten  kurz  eine 
neue  empörung  fränkischer  grosser,  einen  neuen  sieg  Wilhelms 
und  die  Vermählung  seiner  Schwester  Blancheilor  mit  kaiser 
Ludwig.  Hiernach  treten  in  der  dichtung  vier  teile  deutlich 
hervor :  krönung  Ludwigs  —  Wilhelms  kämpf  gegen  Corsolt  — 
sein  sieg  über  die  rebelleu  in  Frankreich  —  Ludwigs  und 
Wilhelms  kämpf  gegen  Guion  d'Allemagne  nebst  kaiserkrönung 
und  Vermählung  Ludwigs. 

Es  sind  also  erzählungen  verschiedenen  inhalts,  die  hier 
miteinander  vereinigt  sind,  auch  Wilhelm  selbst  ist  keine 
einheitliche  figur:  bald  heisst  er  kurzweg  Guilhlme  oder 
Guillelme  fil  Aimeri,  bald  Guillehnc  Fierabrace,  und  im  zweiten 
teil  wieder  Guillelme  cd  cort  nes.  Der  eigentliche  ausgangs- 
punkt  der  sagenfigur  Wilhelms  ist  graf  Wilhelm  von  Toulouse, 
der  zwar  813,  als  Karl  zu  Aachen  seinen  söhn  Ludwig  zum 
könig  krönen  liess,  bereits  verstorben  war  (812),  aber  seit 
790  für  den  zum  könig  von  Aquitanien  gesalbten  unmündigen 
Ludwig  die  regierung  daselbst  führte  und  mehrfach  gegen 
die  spanischen  Sarrazenen  kämpfte.  Damit  ist  seine  rolle  im 
ersten  teil  als  helfer  und  Schützer  Ludwigs  historisch  genügend 
begründet.  Den  beinamen  Ferabrachia  haben  in  der  geschichte 
mehrere  Wilhelme  geführt.  Guilelmus  Ferabrachia,  herzog  von 
Aquitanien  (gestorben  994),  war  in  der  tat  Schwager  des  königs 
von  Frankreich  (seine  Schwester  Adelaide  war  seit  970  mit 
Hugo  Capet  vermählt),  und  sein  vater  Guilelmus  Caput  stupae 
(gestorben  963)  hatte  Ludwig  IV.  (Louis  d'outremer)  gegen 
aufrührerische  vasallen  unterstützt.  Ein  anderer  Guilelmus 
Ferabrachia,  söhn  Tancreds  von  Hauteville,  spielt  in  den 
kämpfen  der  französischen  Normannen  auf  Sizilien  gegen  die 
Sarrazenen  seit  1037  eine  ähnliche  rolle  wie  der  Wilhelm  des 
zweiten  teils  der  dichtung:  er  ist  nach  einer  zuerst  von  Paulin 
Paris  vorgetragenen  und  neuerdings  von  Zenker  und  Suchier 
neu  begründeten  ansieht  das  historische  Vorbild  für  diesen. 
Guion  d'Allemagne  im  vierten  teil  scheint  Guido  von  Spoleto 
(888  —  894)  zu  sein,  der  sich  888  in  Langres  zum  könig  von 
Frankreich,  891  in  Rom  zum  kaiser  krönen  liess  und  seinen 
beinamen  cVAlemaigne  in  der  dichtung  vermutlich  seinem  auf- 
treten als  gekrönter  kaiser  und  als  feind  Frankreichs  verdankt. 


204  VI.  Kapitel.    Das  Heldenepos  in  seiner  Blütezeit. 

Schon  dieses  verhältnismässig  alte  gedieht  (nach  Langlois 
um  1130.  nach  G.  Paris  nm  1150  verfasst)  lässt  die  mannig- 
faltigkeit  der  dem  epischen  Wilhelm  zugrunde  liegenden 
geschichtlichen  personen  und  ereignisse  erkennen,  aber  auch 
die  Schwierigkeit,  über  diese  entstehungsfragen  zu  gesicherten 
ergebuissen  zu  kommen.  Jedenfalls  hält  es  schwer,  alle  die 
zahlreichen  und  z.  t.  überraschenden  Übereinstimmungen  der 
gesehichte  mit  der  dichtung  mit  Be'dier  für  blossen  zufall  zu 
halten. 

Le  Couronnement  de  Louis  p.  p.  E.  Langlois,  P.  1888  (Sdat). 
Vgl.  Suchier,  Die  gekürzte  Fassung  von  Ludwigs  Krönung,  Ha.  1901. 
—  Leonard  Willems,  L'eKiment  historique  dans  le  C.  L.,  Gent  1896. 
A.  Jeanroy,  Rom.  25  (1896)  335  ff.  Rud.  Zenker,  Die  2.  Branche 
des  C.  L.,  Gröberband  s.  171  f.  (auch  sep.,  Ha.  1899);  dazu  Suchier, 
GGA  1901,  408  ff.  Rieh.  Heyer,  Über  die  angeblichen  Interpolationen 
im  C.  L.,  Festschrift  der  0.  R.  S.  der  Francke'schen  Stiftungen  für 
die  47.  Phil. -Vers.,  Ha.  1903,  s.  23—48.  J.  Bedier,  Legendes 
epiques  I  206  ff.  P.  Linnenkohl,  Branche  I  und  II  des  C.  L.  Gegen- 
wärtiger Stand  der  Forschung,  Diss.  Rostock  1912. 

6.   Rainouartlied. 

Das  kleine  epos,  welches  die  heldentaten  Rainouarts  gegen 
die  Sarrazenen  auf  dem  Archamp  feiert,  ist  in  derselben  hand- 
schrift  wie  das  oben  besprochene  lied  von  Vivien  und  Wilhelm 
überliefert,  hier  aber  nur  lose,  mit  mancherlei  Widersprüchen, 
an  dieses  angefügt  und  daher  ursprünglich  wol  nicht  als  eine 
fortsetzung  zu  der  uns  überlieferten,  sondern  zu  einer  inhaltlich 
umgestalteten  ,Chancon  de  Guillelme'  entstanden  zu  denken. 

Wilhelm  findet,  nach  dem  sieg  über  Deram^d  und  sein 
heer,  Vivien  noch  lebend,  aber  schwrer  verwundet,  auf  dem 
Schlachtfeld,  beklagt  ihn  nach  rittersitte  und  spendet  dem 
sterbenden  geweihtes  brot.  Von  den  aufs  neue  anrückenden 
Sarrazenen  wird  Grili  gefangen  genommen,  Wilhelm  erwehrt 
sich  seiner  feinde  und  gelangt  endlich,  in  Sarrazenenrtistung 
und  auf  einem  erbeuteten  Sarrazenenross,  nach  Orange  zurück. 
Er  muss  sich  aber  erst  als  Guiborcs  gatte  ausweisen,  ehe  ihm 
geöffnet  wird:  nämlich  erst  100  gefangene  Christen  aus  der 
gewalt  von  7000  vorüberziehenden  Sarrazenen  befreien  und 
dann  den  heim  abnehmen  und  den  von  einer  früheren  Ver- 
wundung  herrührenden   buckel   auf  seiner  nase  zeigen,   nach 


2.    Die  ältesten  bekannten  Epen:   Kainouartlicd.  205 

welchem  er  Guillelme  Je  marchis  od  le  curb  nc's  heisst.  Am 
folgenden  morgen  bricht  er  auf  nach  Laon,  um  könig  Ludwig 
um  hilfe  anzugehen.  —  Ludwig,  Wilhelms  Schwager,  ver- 
weigert ihm  die  hilfe.  Wilhelm  entbrennt  in  hellen  zorn,  wirft 
dem  kaiser  den  handschuh  vor  die  Füsse,  schmäht  in  groben 
Worten  die  kaiserin,  seine  Schwester,  und  erhält  nun  ein  beer 
von  20000  mann.  Diesem  schliesst  sich  der  ungeschlachte 
küchenjunge  Rainouart  (Renewart)  an,  der  alle  warfen  ver- 
schmäht und  nur  mit  seiner  stange,  seinem  Und,  fechten  will. 
Als  sie  in  Orange  angekommen  sind,  ahnt  Guiborc  bald,  dass 
Rainouart,  der  söhn  Derames  und  der  Oriabel,  ihr  bruder  ist. 
Schon  den  Franken  gegenüber,  die  ihm  gern  einen  streich 
spielen  oder  Verwünschungen  nachrufen,  ein  jähzorniger  und 
furchtbarer  geselle,  wird  er  in  der  neuen  Sarrazenenschlacht 
auf  dem  Archamp  zum  wilden  Berserker,  der  mit  seinem  Und 
ross  und  reiter  zusammenhaut,  die  gefangenen  Christenkämpfer 
(ausser  Gui  auch  Bertram,  Guischard,  Galtier  de  Termes,  Renier) 
befreit,  dann,  als  sein  Und  in  stücken  bricht,  mit  seinen  grossen 
fausten  noch  schlimmer  dreinfährt  als  vorher  mit  der  stange 
und  schliesslich  mit  dem  ihm  vorher  von  Guiborc  aufgedrängten 
schwert  die  entscheidung  herbeiführt.  Aber  von  den  Christen 
bei  der  rückkehr  nach  Orauge  und  beim  siegesmahl  vergessen, 
will  er  in  heilloser  wut  in  seine  alte  heimat  nach  Spanien 
zurückkehren  und  dann  den  Christen  ebensolchen  schaden  tun 
wie  diesmal  den  heiden.  Erst  Guiborc  gelingt  es  ihn  wieder  mit 
Wilhelm  zu  versöhnen,  er  lässt  sich  taufen,  erhält  Ermentrud 
zum  weib  und  erfährt  von  Guiborc,  dass  er  ihr  bruder  ist. 

Auch  in  dieser  dichtung  fehlt  es  nicht  an  erhabenen 
szenen  (so  das  einsame  mahl  Wilhelms  mit  Guiborc  nach  der 
verhängnisvollen  grossen  Schlacht  oder  das  auftreten  Wilhelms 
am  hofe  gegenüber  dem  schwachmütigen  kaiser),  aber  im 
ganzen  arbeitet  der  dichter  mit  gröberen  mittein  als  der  Ver- 
fasser des  alten  Archampliedes,  er  bevorzugt  das  derbkomische 
und  hat  in  Rainouart  eine  groteske,  mehr  auf  lachlust  als  auf 
begeisterung  der  hörer  berechnete  gestalt  geschaffen. 

Text  in  den  drucken  der  Chanson  de  Guillelme  von  1903, 
1904,  1908  (oben  s.  199).  Vgl.  Suchier,  ZrP  29  (1905)  642 ff.,  677ff. 
Rechnitz,  ZrP  32  (1908)  194  ff.  Suchier,  Chanson  de  Guillelme 
s.  LXIff. 


206  VI.  Kapitel.     Pas  Heldenepos  in  seiner  Blütezeit. 

3.    Das  Merowingerepos. 

(Floovent.) 

Von  den  in  grosser  zahl  vorhandenen  Merowingersagen 
sind  uns  die  wenigsten  in  epischer  bearbeitung  überliefert,  und 
von  diesen  epcn  hat  wiederum  nur  eines  den  merowingischen 
namen  seines  beiden  bewahrt:  das  epos  von  Floovent,  welches 
der  oben  s.  84  erwähnten  sage  entspricht. 

Floovent  ist  der  söhn  des  ersten  christlichen  königs  von 
Frankreich,  Clovis.  Er  entehrt  seinen  Waffenmeister,  indem 
er  ihm  während  des  Schlafes  den  bart  abschneidet;  Clovis 
will  ihn  zuerst  töten,  wird  aber  durch  die  königin  daran 
gehindert  und  verbannt  ihn  zur  strafe  auf  sieben  jähre  aus 
Frankreich.  Floovents  treuer  Schildknappe  Richier  teilt  mit 
ihm  Verbannung  und  Schicksal.  Beim  könig  Flore  von  Ausai 
(Elsass)  finden  sie  Unterkunft,  sie  kämpfen  für  ihn  gegen 
Sachsen  und  Sarrazenen  und  erwerben  so  seine  guust.  Des 
königs  tochter  Florete  wendet  Floovent  ihre  liebe  zu  und 
wird  ihm  vom  vater  zur  ehe  versprochen.  Aber  Floovent  fällt 
in  die  bände  der  Sarrazenen  und  wird  nur  mit  hilfe  der 
Sarrazenenprinzessin  Maugalie  wieder  befreit,  die  sich  sogleich 
in  ihn  verliebt  und  ihn  zum  manne  begehrt.  Florete  muss 
sich  daher  mit  Richier  begnügen.  Nach  Frankreich  kommen 
die  beiden  beiden  gerade  rechtzeitig  zurück,  um  den  in  Laon 
belagerten  und  hart  bedrängten  Clovis  zu  befreien,  worauf 
die  Versöhnung  zwischen  vater  und  söhn  folgt. 

Das  in  einer  handschrift  des  14.  Jahrhunderts  überlieferte, 
aber  sprachlich  ins  12.  Jahrhundert  gehörige  gedieht  ist  die 
moderuisierung  eines  alten  sageustoffes:  modern  ist  die  Ver- 
doppelung der  motive  (liebe  der  Florete  und  der  Maugalie), 
das  romanhafte,  wie  die  befreiung  einer  von  den  heiden 
bedrängten  Jungfrau.  Alt  aber  ist  die  rahmenerzähluug  des 
ganzen:  Verbannung  des  heiden  wegen  beschimpfung  seines 
lehrers,  heldentaten  bei  einem  fremden  könig,  liebe  von  desseu 
tochter  zu  ihm,  heimkehr,  Versöhnung.  Die  geschichte  bietet 
uns  freilich  kein  entsprechendes  vorbild,  auch  die  erzählung 
der  Gesta  Dagoberti  (s.  o.  s.  84)  ist  sagenhaft  und  zweifellos  erst 
nachträglich  auf  Dagobert,  söhn  Chlothars  IL,  übertragen  und 


3.  Das  Merowiugerepos.  —  4.  Epen  auf  Karl  Martell.  207 

angepasst  worden.  Der  ursprüngliche  hekl  war  ein  söhn 
Chlodoveehs.  wie  der  name  —  Floovent  >  Chlodovinc  —  lehrt 
und  die  angäbe  des  gedichts  bestätigt,  und  zwar  der  jüngste, 
Chlothar  L,  welcher  558  —  5G1  das  gesarate  Merowingerreich 
wieder  in  einer  band  vereinigte  und  somit  als  wahrer  Dach- 
folger  Chlodoveehs  gelten  musste.  Auch  der  oben  gegebene 
hinweis  auf  die  verwante  erzählung  vou  Loher  (=  Chlothar) 
und  Maller  stützt  diese  identitication.  Das  thema  vom  Sachsen- 
krieg knüpft  an  Chlothars  I.  kriege  von  555  und  556  an.  Die 
Verbannung  des  heldeu  ist  ein  altes  sagenmotiv,  das  uns  schon 
in  der  Childerichsage  (s.  83)  begegnet.  Auf  einzelheiten  haben 
besonders  krönungsepos,  Fierabras,  Ogier  eingewirkt.  Der 
Verfasser  war  allem  anschein  nach  ein  spielmanu. 

Ausgabe  von  Michelant  et  Guessard,  Floovant,  eh.  d.  g.,  P.  1858 
(Anc  poetes  d.  1.  Fr.).  Dazu  P.  Gehitj  Zwei  afr.  Bruchstücke  des 
Floovent,  Freib.  Diss.  1896,  auch  RF  10,  248  ff.  —  Arsene  Darme- 
steter,  De  Floovante  vetustiore  poemate  et  de  Merovingo  cyclo, 
Paris  1877  (These  de  doctorat).  Bangert,  Beitrag  zur  Geschichte 
der  Flooventsage ,  Heilbronn  1879.  Rajna,  Origini  s.  131  ff. 
L.Jordan,  Archiv  116  (1906)  50ff.  Fr.  Settegast,  Floovent  und 
Julian,  9.  beiheft  der  ZrP,  1906.  Gustav  Brockstedt,  Floovent- 
studien,  Kiel  1907.  Eugen  Stricker,  Entstehung  und  Entwicklung 
der  Floovent- Sage,  Diss.  Tübingen,  1909,  dazu  ZdP  41  (1909)  31ff. 
—  Der  Floovent  wurde  auch  in  das  niederländ.  (fragm.)  und  ital. 
übers.  Nur  in  niederländ.,  isländ.  und  ital.  bearbeitungen  ist  er- 
halten der  Flovent,  der  hier  an  stelle  Chlodoveehs  als  Floovents 
vater  erscheint  und  dessen  geschichte  dem  alten  gedieht  nachgebildet 
ist.  Von  diesem  abhängig  ist  auch  der  nur  bruchstückweise  erhaltene 
Syracon  des  13.  Jahrhunderts,  der  ebensowenig  traditionelle  demente 
der  Merowingersage  aufweist  als  die  übrigen  sog.  Merowingerepen 
des  13.  und  14.  Jahrhunderts:  Ciperis  (Chilperich)  de  Vignevanx, 
Charles  le  Chaiive,  Florent  et  Octavian. 


4.    Epen  auf  Karl  Martell. 

(Mainet  —  Haimonskinder  —  Girart  von  Eoussillon.) 

Karl  Martell  hat  wie  in  der  geschichte,  so  auch  in 
der  sage  und  älteren  epik  eine  hervorragende  rolle  gespielt, 
jedoch  sind  die  von  ihm  umlaufenden  sagen  infolge  der  namens- 
gleichheit  meist  auf  Karl  den  Grossen  übertragen,  der  z.  b. 


208  VI.  Kapitel.    Das  Heldenepos  in  seiner  Blütezeit. 

schon  im  Mannt  und  in  den  Haimonskindem  (Iknaut  de  Mont- 
aubari)  an  seiner  stelle  erscheint.  Nur  im  Girart  de  JRoussülon 
sowie  in  dem  späten,  in  Oberitalien  entstandenen  Huon  d'Au- 
vergne  wird  er  mit  seinem  wahren  namen,  Charles  Marteh 
oder  Martiaus,  genannt. 

A.  Main  et.  Das  im  französischen  Originaltext  nur  frag- 
mentarisch, vollständiger  im  Charlemagne  des  Girard  d'Amiens 
(einer  kompilation  von  ca.  1300),  im  niederrheinischen  Karl- 
meinet, im  italienischen  Karleto  und  in  der  spanischen  Cronica 
general  erhaltene  epos  erzählt  die  jugendtaten  Karls  des  Grossen. 
Danach,  wird  Karl,  mit  der  koseform  seines  namens  Charlot 
genannt,  von  seinen  Stiefbrüdern  Heudri  und  Rainfroi,  den 
illegitimen  söhnen  Karls  und  der  falschen  (unterschobenen) 
frau,  nach  dem  tod  Pippins  um  die  nachfolge  im  reich  be- 
trogen, flieht  nebst  einigen  getreuen  nach  Spanien  zum  heiden- 
könig  Galafre,  und  erhält  hier  den  namen  Mainet,  besiegt  im 
dienste  Galäfres  den  Braimaut,  gewinnt  herz  und  hand  der 
königstochter  Galienne  und  erobert  zum  sehluss  sein  an- 
gestammtes reich  zurück.  Die  verschiedenen  Versionen  weichen 
voneinander  sehr  ab,  die  französische  Überlieferung  stimmt  im 
allgemeinen  zur  italienischen,  die  niederrheinische  zuerst  (bis 
zum  tode  Braimauts)  zum  Mainet,  dann  zur  spanischeu  Über- 
lieferung: es  muss  also  zwei  verschiedene  französische  redaktionen 
des  gedichts  gegeben  haben. 

Es  ist  nichts  davon  bekannt,  dass  Karl  der  Grosse  bei 
seiner  thronbesteigung  Schwierigkeiten  zu  überwinden  gehabt 
hätte.  Hingegen  treffen  die  hier  geschilderten  Verhältnisse, 
wie  Rajna  gezeigt  hat,  auf  Karl  Martell  zu,  der  zwar  selbst 
unehelicher  abkunft  (von  Pippins  konkubine  Alpaide)  war, 
aber  gerade  darum  Verfolgungen  durch  Plektrud  zu  erdulden 
hatte,  die  ihrem  enkel  Theodald  die  nachfolge  im  hausmeier- 
amt  sichern  wollte  und  darum  beim  tod  Pippins  Karl  gefangen 
setzte.  Dem  gefängnis  entronnen,  besiegte  Karl  den  neustrischen 
hausmeier  Raginfred  (=  Rainfroi)  sowie  den  könig  Chilperich 
(hierfür  in  der  sage  Childerich  =  Heldri- Heudri)  und  wurde 
so  herr  des  reiches.  Die  sage  hat  die  Verbannung,  das  motiv 
der  treuen  dienstmannen,  die  beziehungen  zu  dem  fremden 
könig,  sowie  die  liebe  und  ehe  mit  dessen  tochter  hinzu- 
gefügt: die  einwirkung  der  Wolfdietrichsage  (oben  s.  83  f.)  ist 


4.  Epen  anf  Karl  Martell:  Ilaimonskinder.  209 

hier  kaum  zu  verkennen.  Das  ganze  aber  ist  später  auf  Karl 
Martells  enkel  tibertragen  worden.  An  dieser  auffassung  wird 
man  auch  gegenüber  BeMiers  neuer  (etwas  komplizierter)  er- 
klärung  festhalten  dürfen. 

Ausgabe  des  fragments  von  G.  Paris,  Rom.  4  (1875)  304  ff. 
Karlmeinet  hersg.  von  Adalbert  Keller,  Bibl.  Lit.  Verein  45,  Tübingen 
1857.  Vgl.  Karl  Bartsch,  Über  Karlmeinet,  Nürnberg  1860.  — 
Vgl.  Rajna,  Origini  s.  202  ff.  Paul  Riebe,  Über  die  verschiedenen 
Fassungen  der  Mainetsage,  Diss.  Greifswald  1906.  Bedier,  La 
legende  des  Enfances  Charlemagne  et  l'histoire  de  Charles  Martel, 
in  Studies  in  Honor  of  A.  Marshall  Elliott,  1911. 

B.  Die  Hainionskinder  (Eenaut  de  Montauban).  Ahnlich 
wie  im  Mainet  verhält  sich  auch  hier  epos  und  geschichte. 
Gegner  der  Haimonskinder  und  ihres  beschützers  Yon  von 
Bordeaux  ist  in  der  überlieferten  chanson  de  geste  Karl  der 
Grosse,  in  Wirklichkeit  aber  wieder  Karl  Martell.  In  dessen 
kämpfen  nämlich  gegen  Chilperich  und  Raginfred  spielte  auch 
könig  Eudo  von  der  Gascogne  eine  rolle:  er  hielt  es  mit 
Martells  Widersachern  und  bekam  dafür  von  diesen  den  königs- 
titel,  lieferte  aber  gleichwol  den  zu  ihm  geflüchteten  Chilperich 
an  Karl  Martell  aus;  ausserdem  hat  er  719  einen  grossen  sieg 
über  die  Sarrazenen  davongetragen  und  ihnen  Toulouse  ab- 
genommen. Er  ist  der  könig  Yon  der  chanson,  der  die  von 
Karl  verfolgten  Haimonskinder  gegen  die  Sarrazenen  in  dienst 
nimmt  und  anfänglich  gegen  Karl  beschützt,  sie  aber  feig 
verrät,  als  Karl  mit  heeresmacht  erscheint  und  ihn  auffordern 
lässt,  Renaud  und  seine  brüder  auszuliefern.  Die  ausfuhrung 
des  Verrats  zeigt  manche  Übereinstimmung  mit  der  spanischen 
sage  von  den  sieben  infanten  von  Lara:  möglich,  dass  sich 
mit  den  historischen  dementen  eine  alte,  schon  vorher  vor- 
handene sage  verbunden  hat.  Jedenfalls  bildet  dieser  teil 
den  kern  des  epos.  Aber  mancherlei  andere  demente  sind 
hinzugekommen:  der  germanisch-mythischer  Überlieferung  ent- 
stammende zauberer  Maugis,  das  ross  Baiart,  das  eine  beinahe 
menschliche  rolle  in  der  ganzen  handlung  spielt,  das  abenteuer- 
leben  der  brüder  im  Ardennenwald,  dazu  erweiterungen  der 
ursprünglichen  handlung  und  entlehnungen  aus  älteren  epen. 

Als  junge  zutaten  erscheinen  anfang  und  schluss  des 
umfangreichen,   rund    20  000  verse   zählenden   epos:    der  ein- 

Voretzsch,  Studium  d.  afrz.  Literatur.     2.  Auf  läge.  ]4 


210  VI.  Kapitel.     Das  Heldenepos  in  seiner  Blütezeit. 

leitende  zwist  Karls  mit  Bueve  d'Aigremont,  dem  bruder 
Aimons,  Doons  de  Nanteuil  und  Girards  de  Roussillon,  der 
tod  des  königssohnes  Loihier  durch  Bueve  und  dessen  tod 
selbst,  das  Schachspiel  zwischen  dem  königsneffen  Bertolais 
und  Renaud,  das  mit  dem  tod  des  ersten  durch  diesen  endet. 
Iu  dieser  ganzen  einleitung  ist  sichtlich  das  Vorbild  der  Ogier- 
dichtung  wirksam.  Es  folgt  die  flucht  der  vier  brlider  nach 
Dordogne  zu  ihrer  mutter  und  von  da  in  den  Ardennenwald, 
ihre  belagerung  daselbst  durch  Karl  in  ihrem  festen  schloss 
Montessor,  ihre  abermalige  flucht,  wobei  das  ross  Baiart  zwei 
brüder  zugleich  trägt,  ihr  siebenjähriger  aufenthalt  im  wald, 
heimkehr  zur  mutter,  die  sie  zuerst  in  ihren  verwilderten 
bettlergestalten  nicht  einmal  erkennt,  aufenthalt  bei  Yon  de 
Bordeaux,  erbauung  des  Schlosses  Montauban,  neue  belagerung 
durch  Karl  mit  zahlreichen  wechselfällen,  flucht  nach  Tremoigne 
(Dortmund),  abermalige  belagerung  und  endliche  freiwillige 
Unterwerfung  der  brüder  unter  des  kaisers  bedingungen: 
Renaud  unternimmt  eine  pilgerfahrt  nach  dem  heiligen  lande, 
wo  er  gelegenheit  findet  das  Christentum  mit  dem  schwert 
gegen  die  Sarrazenen  zu  verteidigen,  während  das  treue  ross 
Baiart,  vom  kaiser  zum  tod  verurteilt  und  mit  einem  mühlstein 
um  den  hals  in  die  Maas  geworfen,  in  den  Ardennenwald  ent- 
rinnt. Zum  schluss  wird  Renaud,  um  Gott  wohlgefällig  zu 
sein,  arbeiter  beim  kirchenbau  zu  Köln  und  verliert  hier  das 
leben  durch  neidische  mitarbeiten  Wunder  verkünden  die 
heiligkeit  des  erschlagenen.  Man  erkennt  hier  leicht  das  un- 
organische der  anknüpfung  an  den  hl.  Rein  wald. 

Neben  ermüdenden  Wiederholungen  derselben  motive  finden 
sich  in  diesem  epos  zahlreiche  episoden  und  stellen  von  wahr- 
haft epischem  gehalt:  so  besonders  das  Verhältnis  Renauts  zu 
seinem  ross,  der  edelmut  Ogiers  gegenüber  den  von  ihm  selbst, 
in  Karls  auftrag,  bedrängten  brüdern,  die  begegnung  der  vier 
brüder  mit  der  mutter  (darnach  Goethes  mutter  „Frau  Aja" 
im  18.  buch  von  Dichtung  und  Wahrheit)  u.  a. 

Ausgaben:  Le  Roman  des  quatre  fils  Aymon  p.  p.  Tarbe, 
Reims  1861.  Renaus  de  Montauban  hersg.  von  H.  Michelant, 
Stuttgart  1862  (Bibl.-Lit.  Ver.  67).  Les  quatre  fils  Aymon  p.  p. 
Castets,  Montpellier  1909  (auch  Rdlr  bd.  49  ff.).  —  A.  Longnon, 
Les  quatre  fils  Aymon,   Revue  des  questions  historiques  25  (1879), 


4.   Epen  auf  Karl  Martell:   Girart  von  Roussillon.  211 

173  ff.  (über  die  historische  grundlage).  G.  Osterhase,  ZrP  11  (1888) 
185  ff.  (über  die  mythischen  demente,  meist  sehr  problematisch). 
K.  Zwick,  Über  die  Sprache  des  R.  d.  M.,  Diss.  Ha.  1885.  L.Jordan, 
Die  Sage  von  den  vier  Haimonskindern,  Erlangen  1905  (auch  RF  20, 
vgl.  noch  Wallonia  14  [1906]  281  ff).  W.  Benary,  Die  german. 
Ermanarichsage  und  die  franz.  Ileldendichtung,  40.  beiheft  zur  ZrP, 
IIa.  1912  (sehr  zweifelhafte  beziehungen).  —  Das  gedieht  wurde  im 
niederländischen  (vgl.  Marie  Loke,  Les  versions  neerlandaises  de 
R.  d.  M.,  These  de  doctorat,  Toulouse  1906)  und  altnordischen 
(Magussaga)  bearbeitet,  wurde  in  Italien  der  ausgangspunkt  zahl- 
reicher bearbeitungen  (vgl.  Rajna  im  Propugnatore  III  1  s.  213  ff, 
2  s.  58  ff.)  und  blieb  auch  in  Frankreich  als  prosaroman  und 
volk9buch  beliebt.  Das  deutsche  gedieht  (hersg.  von  Fr.  Pfaff,  Bibl. 
Lit.  Ver.  174)  geht  mit  den  niederländ.  fragmenten,  das  deutsche 
Volksbuch  mit  der  ndl.  prosa  auf  dieselbe  bearbeitung  zurück  (neu- 
dichtung  von  Tieck  1797  in  den  'Volksmärchen'  und  von  Ludwig 
Bechstein  1830).  —  Rein  literarische  Weiterbildungen  des  14.  Jahr- 
hunderts sind  die  epen  von  Maugis  iVAigremont  und  Yivien 
Vamachour  de  Monbranc,  welche  die  erlebnisse  von  nebenpersonen 
des  alten  gedichts  breit  ausspinnen. 

C.  Girart  von  Roussillon.  Einen  ähnlichen  Charakter 
wie  Karl  der  Grosse  hier  im  'Renaut'  zeigt  Karl  Martell  in 
Girart  de  Roussillon:  rechthaberisch,  eigensinnig,  rachsüchtig 
bis  zum  kindischwerden.  Zunächst  nimmt  er  Girart  dessen 
braut  Elissent  von  Konstantinopel,  um  sie  selbst  zu  heiraten 
und  ihm  die  verschmähte  Berta,  Elissents  Schwester,  zu  über- 
lassen. Dann  fordert  er  von  Girart  sein  schloss  Roussillon  (in 
der  Bourgogne)  und  belagert  ihn  daselbst.  Die  Versöhnung 
nach  der  unentschiedenen  schlacht  von  Valbeton  ist  nicht  von 
langer  dauer.  Nach  mehreren  niederlagen  wird  Girart  in 
Roussillon  eingeschlossen,  verliert  es  durch  verrat,  belagert 
seinerseits  den  könig  in  Roussillon,  wird  aber  in  der  ent- 
scheidungsschlacht  geschlagen  und  flieht  mit  seinem  weibe  in 
den  Ardennenwald.  Er  erwirbt  nahrung  als  kohlenbrenner, 
sie  als  kunstvolle  näherin.  Girart  lässt  sich  tot  sagen.  Erst 
nach  22  jähren  erfolgt  eine  Versöhnung  mit  dem  kaiser  durch 
vermittelung  der  kaiserin  Elissent,  welcher  sich  Girart  am 
karfreitag  unerkannt  naht  und  durch  seinen  verlobungering 
zu  erkennen  gibt.  Auf  bitten  der  kaiserin  und  des  bischofs 
Augis  verzeiht  Karl  Martell  allen  seinen  feinden  und  damit 
auch  Girart.  Dieser  erhält  wenigstens  einen  teil  seiner  alten 
lehen  zurück.    Nach  einem  letzten  kämpf  mit  Karl,  gebrochen 

14* 


212  VI.  Kapitel.    Das  Heldenepos  in  seiner  Blütezeit. 

durch  die  ermordung  seines  sohnes,  beugt  er  sich  vor  dem 
künig  und  vor  allen  seinen  feinden  und,  durch  ein  wunder 
bekehrt,  widmet  er  sein  leben  fortan  frommen  Stiftungen. 

Der  held  des  tiberlieferten  epos  teilt  mehrere  züge  mit 
dem  historischen  grafen  Girart,  welcher  als  beschtitzer  des 
jugendlichen  Karl  von  Provence  (eines  sohnes  kaiser  Lothars  I.) 
und  als  gegner  Karls  des  Kahlen  erscheint,  diesem  870  seine 
festung  Vienne  tibergeben  musste,  die  abtei  zu  Vözelay  gründete, 
875  zu  Avignon  starb  und  mit  seiner  frau  Bertha  in  V^zelay 
begraben  ist.  Eine  klösterliche  tendenz  lässt  sich  dem  epos 
nicht  absprechen,  aber  diese  legendarischen  einzelheiten  bilden 
nur  den  geringsten  teil  des  10000  verse  zählenden  epos.  Die 
diesem  zeitlich  vorausliegende  Vita  nobüissimi  comitis  Girardi 
de  Rossellon  (anfang  des  12.  Jahrhunderts)  hat  anerkannter- 
massen  ein  älteres  epos  gekannt  und  benutzt,  und  es  lässt  sich 
nicht  mit  Sicherheit  behaupten,  dass  der  held  dieses  verlorenen 
epos  schon  mit  dem  klostergrtinder  Girart  identisch  war. 
Jedenfalls  versteht  man  nicht,  wie  der  dichter  dazu  käme, 
Karl  den  Kahlen,  der  sonst  in  sage  und  dichtung  mit  Karl  dem 
Grossen  identifiziert  wird,  in  Karl  Martell  zurückzuverwandeln: 
dieser  name  ist  zweifellos  ursprünglich  und  verweist  die 
eigentliche  grundlage  des  Stoffes  in  die  zeit  der  kämpfe  Karl 
Martells  mit  den  Burgundern,  welche  durch  einsetzung  von 
leudes  (kronvasallen)  im  zäume  gehalten  werden  mussten.  Man 
wird  also  zu  der  annähme  geführt,  dass  der  eigentliche  held 
des  gedichts  ein  —  uns  historisch  nicht  bezeugter  —  Girart 
oder  ein  vornehmer  ähnlichen  namens  ist,  der  als  Widersacher 
Karl  Martells  in  der  erinnerung  fortlebte  und  späterhin  mit  dem 
Girard  aus  der  zeit  Karls  des  Kahlen  vermischt  wurde. 

Das  gedieht  ist  in  mancher  beziehung  merkwürdig.  Wie 
die  meisten  anderen  dieses  Zeitraumes  ist  es  eine  Überarbeitung 
eines  älteren,  kürzeren,  einheitlicheren  epos,  und  Stimming  hat 
versucht,  die  verschiedenen  entwicklungsstufen  des  gedichts 
zu  erschliessen.  Die  erschliessbaren  ältesten  stücke  des  gegen- 
wärtigen epos  sind  auch  die  dichterisch  hervorragendsten  des 
ganzen.  Wahrscheinlich  hat  der  dichter  ausser  dem  alten 
epos  auch  die  Vita  benutzt.  Bemerkenswert  ist  auch  die 
metrische  form  —  zehnsilbner  mit  zäsur  nach  der  sechsten 
silbe  (vgl.  oben  s.  31)  —  und  die  spräche  des  gedichts:  obwol 


4.   Epen  auf  Karl  Martell:   Girart  von  Roussillon.  213 

im  wesentlichen  in  provenzalischer  sprachform  überliefert  und 
vielfach  der  provenzalischeu  literatur  zugerechnet,  gehört  es 
nach  P.  Meyers  Untersuchung  vielmehr  nach  Burgund,  speziell 
in  das  südpoitevinische  dialektgebiet. 

Kritische  ausgäbe  fehlt.  Erste  ausgaben  von  Konrad  Hofmann, 
Berlin  1855  (in  Mahns  'Werken  der  Troubadours')  und  Fr.  Michel, 
P.  1856.  Handschriftliche  abdrücke  und  collationen  von  Foerster, 
Stürzinger,  Apfelstedt  in  Böhmers  Rom.  Stud.  5,  1 — 295.  Einzelne 
stücke  in  Appels  Prov.  Chr.,  in  P.  Meyers  Kecueil  usw.  —  Girart 
de  R.,  chanson  d.  g.  traduite  p.  P.  Meyer,  P.  1884.  —  Vgl.  P.  Meyer 
Rom.  7  (1888)  161  ff.  A.  Longnon,  Rev.  bist.  8  (1878)  241  ff. 
Rajna,  Origini  234 ff.  Albert  Stimming,  Über  den  prov.  G.  v.  R. 
Ha.  1888.  Leo  Jordan,  Girartstudien,  Rom.  Forsch.  14,  322 ff. 
Bedier,  Legendes  epiques  11,1 — 92.  —  Im  14.  Jahrhundert  wurde 
das  epos  in  zwölfsilbnern,  im   15.  in  prosa  umgearbeitet. 

Karl  Martell  hat  in  der  älteren  sage  und  dichtung  eine 
erheblich  grössere  rolle  gespielt  als  die  überlieferten  epen  erkennen 
lassen,  auch  in  hohem  inasso  auf  die  epen  über  Karl  den  Grossen 
gewirkt,  sagengeschichtlich  wichtig  sind  vor  allem  noch  seine 
kämpfe  gegen  die  Sarrazenen  gewesen.  Deren  Vertreibung  aus  der 
Provence  spiegelt  sich  in  dem  prov.  prosaroman  des  15.  Jahrhunderts 
Tersin  oder  Lou  Bouman  d'Arles,  dessen  epische  quelle  auch  in 
der  deutschen  kaiserchronik  benutzt  worden  ist.  Auch  Narbonne, 
dessen  belagerung  durch  Karl  den  Grossen  in  der  epik  des  öfteren 
behandelt  Avorden  ist,  wurde  durch  Karl  Martell  belagert.  Schliesslich 
erscheint  er  als  Karies  Marüaus,  wie  im  'Girart',  auch  in  dem 
späteren,  in  Oberitalien  entstandenen  epos  Huon  d'Auvergne,  hier 
allerdings  unhistorischer  weise  als  nachfolger  Karls  d.  Gr.  Vgl. 
Rajna,  Origini  199  ff.  (s.  auch  unten,  kap.  XIV). 


5.    Epen  auf  Karl  den  Grossen. 

Schon  in  den  vorher  besprochenen  epen  wurde  Karl  der 
Grosse  wiederholt  genannt.  Wie  die  personen  und  taten  der 
vorzeit,  hat  er  auch  die  der  nachfolgenden  epoche  vielfach 
an  sich  gezogen.  Schon  die  sage  wird  die  verschiedenen 
herrscher  des  namens  Karl  vermischt  haben,  die  dichter  taten 
dann  das  ihrige  dazu,  die  Verwechslung  vollkommen  zu  machen. 
In  den  epen  dieser  periode,  soweit  sie  nicht  in  erster  linie 
anderen  beiden  gewidmet  sind  und  Karl  nur  als  deuteragonisten 
betrachten,  erscheint  Karl  der  Grosse  vor  allem  als  Sarrazenen- 
bekämpfer   und   -besieger,   wobei  sich  mit  der  geschichte  des 


214  VI.  Kapitel.     Das  Heldenepos  in  seiner  Blütezeit. 

spanischen  feldzuges  ältere  Überlieferungen  Über  Karl  Kartell 
gekreuzt  haben  mögen.  So  kommt  es,  dass  nun  auch  kämpfe 
ganz  anderer  Zeiten  gegen  Sarrazenen  auf  ihn  übertragen 
werden,  vor  allem  die  kämpfe  der  italienischen  fürsten  und 
der  päpste  gegen  die  von  Afrika  herübergekommenen,  auf 
Sizilien  und  in  Unteritalieu  hausenden  Araber  im  9.  und 
10.  Jahrhundert.  Begründet  wurde  diese  Übertragung  noch 
dadurch,  dass  Karl,  wie  z.  t.  schon  seine  vorfahren  (Pippin) 
und  wieder  seine  nachkommen,  mehrfach  als  Schützer  des 
heiligen  Stuhles  aufgetreten  war.  Im  ganzen  haben  diese  epen, 
trotzdem  die  historischen  ausgangspunkte  teilweise  verschieden 
sind  und  die  dichter  gewöhnlich  irgendeinem  von  Karls  beiden 
ihr  besonderes  interesse  zuwenden,  untereinander  ziemlich  viel 
ähnlichkeit,  sie  werden  meist  nach  vorhandenen  epischen 
mustern  gemodelt,  z.  t.  sind  direkt  alte  epen  für  diese  jüngeren 
dichtungen  verwertet  worden. 

A.  Fierabras  und  Destruction  de  Rome.  Das 
zweite,  kürzere  epos  bildet  die  einleitung  des  ersten.  Der 
emir  Balant  von  Spanien,  begleitet  von  seiner  schönen  tochter 
Floripas  und  seinem  söhn  Fierabras,  unternimmt  mit  einer 
grossen  flotte  einen  rachezug  gegen  Rom,  verheert  das  land 
und  nimmt  mit  list  und  verrat  Rom  ein,  wobei  sich  neben 
Lucafer  de  Balfas  besonders  Fierabras  hervortut.  Dieser  findet 
auch  die  heiligen  reliquien  —  dornenkroue,  kreuznagel  u.  a.  — 
nebst  dem  heiligen  baisam,  mit  dem  Christi  leichnam  ein- 
balsamiert wurde.  Rom  wird  zerstört,  die  kirche  St.  Peter 
geplündert,  der  papst  getötet.  Die  Sarrazenen  sind  schon 
wieder  in  see,  als  das  fränkische  hilfsheer  ankommt,  zuerst 
die  vorhut  unter  Gui  de  Bourgogne,  dann  die  hauptmacht  unter 
Karl  dem  Grossen.  Dieser  setzt  sogleich  mit  dem  ganzen  heer 
nach  Spanien  über,  um  räche  zu  nehmen  und  die  reliquien 
zurückzugewinnen,  doch  bleibt  die  erste  Schlacht  unentschieden. 
—  Hier  beginnt  der  'Fierabras'.  Der  beide  dieses  uamens,  ein 
riese  von  fünfzehn  fuss  höhe,  ist  zunächst  held  des  gedichts. 
Er  fordert  die  christlichen  beiden  zum  kämpf  heraus,  Olivier 
stellt  sich  ihm,  besiegt  und  bekehrt  ihn,  fällt  aber  selbst  in 
die  bände  der  in  überzahl  hervorbrechenden  beiden,  ebenso 
wie  Aubri,  Berart  und  Guillemer.  Gui  de  Bourgogne  nebst 
sechs   anderen   helden   wird  als  gesanter  zu  Balant  geschickt, 


5.  Epen  auf  Karl  den  Grossen:  Fierabras,  Destrnction.  215 

von  diesem  aber  gefangen  gesetzt.  Floripas,  von  leidenschaft 
für  Gui  entflammt,  befreit  und  bewaffnet  die  Frankenbelden, 
die  sich  im  palast  verteidigen,  bis  Karl  mit  dem  beer  ihnen 
zu  hilfe  kommt.  Balant  verliert  lieber  das  leben,  als  dass  er 
seinen  glauben  verleugnet,  Floripas  wird  getauft  und  mit  Gui 
vermählt,  der  sich  mit  Fierabras  in  die  herrschaft  über  Spanien 
teilt.  Auch  die  heiligen  reliquien  gelangen  wieder  in  die 
häude  der  Christen. 

Die  Übereinstimmungen  zwischen  der  chanson  und  der  846 
erfolgten  plünderung  der  kirchen  St.  Peter  und  St.  Paul  durch 
eine  sarrazenische  flotte  nebst  dem  darauffolgenden  entsatz 
Roms  durch  Guido  von  Spoleto  (vgl.  Gui  de  Bourgogne  als 
führer  der  fränkischen  vorhut)  sind  so  schlagend,  dass  man 
in  diesen  ereignissen  die  geschichtliche  unterläge  der  dichtung 
erblicken  muss,  während  eine  weitere  einwirkung  von  Seiten 
der  belagerung  Gregors  VII.  durch  Heinrich  IV.  1083 — 1084 
sehr  zweifelhaft  ist.  Man  darf  ein  altes,  verlorenes  epos 
voraussetzen,  das  die  Zerstörung  Roms  und  die  darauffolgende 
zurückgewinnung  der  reliquien  durch  Karl  und  seine  helden 
zusammen  behandelte,  seinen  Schauplatz  in  Italien,  nicht  in 
Spanien  hatte  und  das  verhältnismässig  am  getreuesten  in  dem 
auszug  in  Mouskets  'Reimchronik'  (v.  4664 — 4717)  erhalten 
ist.  Der  überlieferte  'Fierabras'  gibt  die  plünderung  Roms 
nur  in  einigen  anspielungen  wieder,  verlegt  die  szene  —  in 
anlehnuug  au  das  auch  sonst  vorbildliche  Rolandslied  —  nach 
Spanien  und  malt  vor  allem  den  romanesken  teil,  die  liebe 
der  Floripas  zu  Gui  und  die  gefangenschaft  der  pers  aus,  eine 
episode,  die  in  dieser  form  gewiss  unursprünglich  ist.  Die 
Destrnction  endlich  scheint  teils  auf  grund  des  alten  (ver- 
lorenen) gedichts.  teils  des  überlieferten  Fierabras  nachträglich 
hinzugedichtet. 

Fierabras  p.  p.  A.  Kroeber  et  G.  Servois,  P.  1860  (Anc.  poetes 
d.  1.  Fr.),  dazu  Friedet  Rom.  24  (1895),  lff.  La  Destruction  de 
Rome  p.p.  G.  Gröber  Rom.  2  (1873)  lff.,  dazu  Brandin  Rom.  28 
(1899)  489  ff.  Vgl.  Gröber,  Die  handschr.  Gestaltungen  der  Ch. 
d.  g.  Fierabras,  Diss.  L.  1869.  —  J.  Bedier,  Rom.  17  (1888)  22 ff. 
Ph.  Lauer,  Melanges  d'archeologie  et  d'histoire  de  l'ficole  fr. 
de  Rome  19  (1899)  307  ff.  M.  Roques,  Rom.  30  (1901)  161  ff. 
H.  Jarnik,  Studie  über  die  Komposition  der  Fierabrasdichtungen, 
Ha.  1903.    —    Das   epos    wurde    ins   prov.    (ausgäbe  Imm.  Bekker 


210  VI.  Kapitel.     Das  Heldenepos  in  seiner  Blütezeit. 

1829),  ital.  (Fierabraccia  et  Ulivieri,  hersg.  von  Stengel,  Marb. 
Univ.-Progr.  1880  und  AA  2,  Marb.  1881),  englische  (Sir  Ferum- 
bras  —  The  romance  of  the  Sowdone  of  Babylone)  und,  nach 
einer  bemerkung  des  niederländ.  dichtere  Maerlant,  auch  ins  ndl. 
übersetzt. 

B.  Aspremont.  Die  Chanson  d'Aspremont  ist  nach  dem 
ort  genannt,  bei  welchem  abermals  eine  grosse  Sarrazenen- 
schlacht  stattfindet.  Dieser  ort  ist  in  Calabrien,  in  der  gegend 
von  Reggio  gedacht.  Wir  werden  auch  hier  wieder  auf  die 
historischen  Sarrazenenkäinpfe  Mittel-  und  Unteritaliens  ge- 
wiesen: nachdem  schon  849  und  877  die  Araber  zweimal  zur 
see  besiegt  worden  waren,  sammelte  916  papst  Johann  X., 
unterstützt  von  kaiser  Berengar,  eine  grosse  liga  und  brachte, 
vereint  mit  general  Alberich,  den  Sarrazenen,  die  sich  am 
Garigliano  fest  verschanzt  hatten,  eine  grosse  niederlage  bei. 
Das  historische  ereignis  verknüpft  sich  mit  älterer  sagenhafter 
oder  epischer  Überlieferung.  Zum  mindesten  stimmt  die  ein- 
leitung  auffällig  zu  dem  alten  Chlotharlied  (s.  oben  s.  92  f.): 
wie  dort  der  Saehsenkönig  Bertoald  an  Chlotar  gesante 
schickt,  welche  Chlothars  land  für  Bertoald  beanspruchen, 
sendet  hier  der  Sarrazenenkönig  Agolant  aus  Italien  durch 
seinen  boten  Balant  die  aufforderung  an  Karl  den  Grossen, 
sich  ihm  zu  unterwerfen  und  ihm  sein  land  abzutreten.  Karl 
will  den  dreisten  boten  auf  der  stelle  töten,  Naimes  hindert 
ihn.  Balant  wird  mit  der  kriegserklärung  Karls  entlassen, 
bei  Aspremont  will  sich  dieser  mit  Agolant  messen.  Dem 
nach  Italien  ziehenden  heer  schliesst  sich  unbemerkt  der 
jugendliche  Roland  nebst  einigen  altersgenossen  an,  nachdem 
sie  ihrem  Wächter  zu  Laon  entflohen  sind.  In  der  tat  wird 
Roland  im  weiteren  zum  protagonisten  der  dichtung,  sodass  man 
diese  auch  als  'Enfances  Roland'  bezeichnen  könnte.  In  der 
Schlacht  stösst  Karl  auf  Balants  söhn  Eaumont  und  ist  in 
gefahr,  durch  ihn  das  leben  zu  verlieren,  als  der  junge  Roland 
herbeieilt  und  den  gegner  mit  dessen  eigenem  schwert,  Durendal, 
tötet.  Zum  lohn  erhält  er  dieses  schwert,  mit  dem  er  auch 
im  Rolandslied  erscheint,  und  wird  zum  ritter  geschlagen. 
Der  endgiltige  sieg  der  Christen  wird  durch  ein  wunder  Gottes 
entschieden.  Agolant  fällt,  herr  seines  reiches  und  der  band 
seiner  witwe  wird  Flovent,  königssohn  von  Ungarn. 


5.  Epen  auf  Karl  den  Grossen:  Aspremont,  Saisnes.  217 

Die  existenz  einer  älteren  fassuug  des  gedichts  ist  wahr- 
scheinlich. In  der  vorliegenden  form  wechseln  assonanz  und  reim. 
Agolant  wird  schon  in  Turpins  chronik  (kap.  6 — 14)  erwähnt. 

Gesamtausgabe  fehlt.  Die  ersten  1800  verse  gedruckt  von 
F.  Guessard  et  L.  Gautier,  La  Chanson  d'A.  d'aprea  le  texte  du  ms. 
2495  (Bibl.  Nat).  Der  Roman  von  A.,  nach  d.  Berliner  hs.,  von 
J.  Bekker,  B.  1847  (Abh.  d.  B.  Ak.).  Weitere  teildrucke:  W.  Benary, 
ZrP  34  (1910)  1  ff.,  und  die  Greifswalder  Dissertationen  von  Fr.  Roepke 
(1909),  Jos.  Mayr  (1910).  —  Altnord,  in  der  Karlamagnüssaga,  ital. 
in  den  Reali  di  Francia. 

C.  Saisnes.  Auch  in  dem  epos  vom  Sachsenkrieg, 
welches  von  dem  als  Verfasser  des  Niklasspiels  (oben  s.  142) 
bekannten  Jehan  Bodel  aus  Arras  gedichtet  ist,  mischt 
sich  jüngere  geschichtliche  sage  mit  älterer  Überlieferung. 
Karls  des  Grossen  krieg  gegen  den  Sachsenkönig  Guiteclin 
spiegelt  die  historischeu  kämpfe  Karls  gegen  die  Sachsen 
und  ihren  herzog  Widukind  wieder,  die  schon  früh  in  die 
sage  übergegangen  waren,  wie  die  erzählungeu  des  Mönchs 
von  St.  Gallen  oder  das  Leben  der  heiligen  Mathilde  zeigen 
(hier  wird  der  krieg  durch  einen  Zweikampf  zwischen  Karl 
und  Widukind  entschieden).  Speziell  der  umstand,  dass  Karl, 
in  Bodels  gedieht,  nach  der  Roncesvallesschlacht  und  dem  tod 
Rolands  gegen  die  Sachsen  zu  felde  ziehen  muss,  stimmt  zu 
der  geschichtlichen  Überlieferung,  wonach  er  das  ende  des 
spanischen  feldzugs  beschleunigte,  um  den  aufrührerisch  ge- 
wordenen Sachsen  entgegentreten  zu  können.  Aber  es  konnte 
nicht  fehlen,  dass  auf  die  sagenhafte  und  epische  gestaltung 
dieser  ereignisse  die  Überlieferung  der  früheren,  Jahrhunderte 
alten  kämpfe  zwischen  Sachsen  und  Franken  einwirkte.  So 
berichtet  schon  der  Mönch  von  St.  Gallen  von  Karl  die  schwert- 
messung,  die  wir  aus  dem  Chlotharlied  (oben  s.  92)  kennen. 
Auch  die  Vorgeschichte  des  krieges  ist  sichtlich  nach  einer 
Überlieferung  stilisiert,  die  der  erzählung  von  Chlothars  Sachsen- 
krieg im  Liber  historiae  (s.  84,  93)  entspricht.  Hier  wie  dort 
erheben  sich  die  Sachsen,  weil  sie  die  künde  vom  tod  ihres 
gefährlichsten  gegners  unter  den  Franken  (Chlothar  —  Roland) 
vernehmen,  aber  beidemal  werden  sie  enttäuscht:  der  tot- 
geglaubte  Chlothar  erscheint  dort  selbst  und  besiegt  den 
Bertoald,   während   hier   als  Iiolandus  redivivus  sein  jüngerer 


218  VI.  Kapitel.     Das  Heldenepos  in  seiner  Blütezeit. 

bruder  Balduin  auftritt  und  den  Justamont  besiegt.  Auch 
dieser  Dame,  dessen  träger  nach  sonstiger  Überlieferung  von 
Karls  vater  Pippin  besiegt  wird,  gehört  der  älteren  epischeu 
Überlieferung  an.  Chlothars  Sachsenkrieg  liegt  auch  der 
weiteren  darstellung  teilweise  zugrunde.  Wie  dort  die  Weser, 
trennt  hier  die  Rune  die  beiden  Völker,  der  ganze  kämpf 
spielt  sich  in  der  nähe  von  Köln  ab.  Schliesslich  hat  der 
dichter  auch  den  Floovent  gekannt,  den  er  für  die  einleitung 
seines  gedichts  verwendet,  wo  er  die  Ursache  der  Streitigkeiten 
zwischen  Franken  und  Sachsen  berichtet. 

Gegenüber  einer  anderen  und  relativ  älteren  version,  welche 
in  altnordischer  Übersetzung  in  der  Karlamagnüssaga  bewahrt 
ist  (der  sogenannte  Guitalin),  hat  Jehan  Bodel  seinen  stoff 
sehr  selbständig  und  reichlich  ausgestaltet  durch  Verdoppelung 
der  motive,  namentlich  der  Zweikämpfe  und  schlachten,  durch 
ausführliche  Schilderung  dort  nur  skizzierter  oder  angedeuteter 
Vorgänge,  wie  der  liebe  Balduins  zur  Sachsenkönigin  Sebille, 
sowie  durch  einmischung  ganz  neuer  episoden,  vor  allem  der 
Herupoisepisode.  Die  barons  Herupois  wollen  die,  wie  von 
allen  andern,  so  auch  von  ihnen  verlangte  kopfsteuer  von  vier 
denaren  nicht  zahlen,  sie  bringen  Karl  schliesslich  je  vier 
stahldenare  auf  der  spitze  der  lanze,  und  er  demütigt  sich 
vor  ihnen,  worauf  rasch  die  versöhnuug  folgt.  Sie  beteiligen 
sich  dann  auch  an  dem  langen  und  wechselvollen  kämpf,  der 
mit  dem  siege  Karls  über  Guiteclin  und  der  Verheiratung 
Sebilles  mit  Balduin  endet. 

Ausg.  von  Fr.  Michel,  La  chanson  des  Saxons,  P.  1839  (Rom. 
d.  d.  p.  V  und  VI).  Jean  Bodels  Saxenlied  hersg.  von  F.  Menzel  und 
E.  Stengel,  Marburg  1906—09  (AA  99—100).  —  J.  Dettmer,  Der 
Sachsenkönig  Widukind  nach  Geschichte  und  Sage,  Würzburg  1879. 
Fl.  Meyer,  Die  Ch.  des  Saxons  Bodels  in  ihrem  Verhältnis  zum 
Rolandslied  und  zur  Karlamagnüssaga,  Marb.  1882  (AA  4).  Rajna, 
Origini  259  ff.  (auch  zu  Aspremont).  0.  Kohnström,  Etüde  sur  Jchan 
Bodel,  Upsala  1900,  s.  73  ff.  Franz  Settegast,  Die  Sachsenkriege 
des  franz.  Volksepos,  Leipzig  1908.  Zur  Eune  vgl.  Remppiß,  Deutsch- 
land im  afr.  Heldenepos  (Diss.  Tüb.  1911)  s.  14  ff. 

D.  Aiquin.  In  dem  nur  in  einer  handschrift  und  dazu 
unvollständig  überlieferten  epos  Aiquin  (3087  verse,  ende 
12.  jhs.)  bilden  den  historischen  hintergrund  die  kämpfe  Karls 


5.  Epen  auf  Karl  den  Grossen:  Aiquin.  —  6.  Ogicr  der  Düne.     219 

und  der  fränkischen  könige  überhaupt  gegen  Dänen  und 
Normannen,  die  hier  als  Norois  mit  Persern  und  Türken 
zusammen  genannt  werden  und,  wie  schon  die  Dänen  des 
Isembartliedes,  als  Sarrazenen  erscheinen.  Aiquin  ist  der 
name  des  heidnischen  beiden,  der  sich  der  Bretagne  bemächtigt, 
infolgedessen  von  Karl,  nach  einer  erfolglosen  botschaft,  be- 
kriegt und,  nach  beiderseitigen  siegen  und  niederlageu,  in 
seiner  hauptstadt  Quidalet  belagert  wird.  Diese  fällt  in  die 
bände  der  Frauken,  Aiquin,  glücklich  entronnen,  wird  unter 
den  mauern  von  Carhaix  durch  Naimes  besiegt  und  entflieht, 
seine  frau  lässt  sich  taufen.  Das  allem  anschein  nach  von 
einem  angehörigen  der  französischen  Bretagne  verfasste  gedieht 
bietet  eine  reihe  von  individuellen  zügen:  so  die  dem  herzog 
Naimes  zugewiesene  rolle,  ferner  das  hervortreten  von  Rolands 
vater  Tiori,  der  in  der  schlacht  fällt,  die  persönlichkeit  des 
erzbischofs  Ysore  von  Dol,  der  die  Bretonen  führt  und  dem 
streitbaren  gottesmann  Turpin  nachgebildet  scheint.  Der  Ver- 
fasser schreibt  mit  genauer  geographischer  kenntnis  der  gegend, 
er  verwertet  die  erscheinung  von  ebbe  und  flut,  um  den  ver- 
wundet und  hilflos  am  Strand  liegenden  Naimes  in  eine  lebens- 
gefahr  zu  bringen,  aus  welcher  dieser  erst  im  letzten  moment 
befreit  wird,  auch  streut  er  lokalsagen  ein,  wie  die  von  der 
gattin  des  alten  Hocl  de  Nantes,  welche  durch  das  auffinden 
einer  toten  amsel  an  die  eitelkeit  alles  irdischen  erinnert  wird 
und  deshalb  die  von  ihr  begonnene  Strasse  von  Carhaix  nach 
Paris  unvollendet  lässt. 

Le  Roman  d'Aquin  ou  la  Conqueste  de  la  Bretaigne  pav  le 
roy  Charlemagne  p.  p.  F.  Joüon  des  Longrais,  Nantes  1880,  dazu 
G.  Paris,  Rom.  9  (1880)  445  ff.  Vgl.  ferner  F.  Lot,  Rom.  29  (1900) 
380  ff,  G.  Paris,  ebenda  416  ff,  J.  Loth  und  F.  Lot  s.  604  ff.  Bedier, 
Legendes  epiques  II  93 — 135,  sucht  das  ganze  als  'un  ecrit  de 
propagande  et  un  pamphlet'  im  interesse  der  hierarchischen  an- 
sprüche  des  erzbistums  Dol   zu  erweisen. 


6.    Ogier  der  Däne. 

Ogier   der  Däne   ist   der  held   einer   sage   geworden,   die 
ursprünglich   aus  den  Überlieferungen  vom  Langobardenkriege 


220  VI.  Kapitel.     Das  Heldenepos  in  seiner  Blütezeit. 

Karls  des  Grossen  hervorgegangen  war,  allmählich  aber  eine 
reihe  anderer  demente  aufgenommen  und  so  Ogier  zum  eigent- 
lichen mittelpunkt  des  ganzen  gemacht  hatte.  Es  liegt  also 
eine  ähnliche  entwieklung  vor  wie  bei  Karls  spanischem  feld- 
zug,  wo  Roland  der  wahre  held  der  sage  und  dichtung  ge- 
worden ist.  Ogier  ist  der  historische  Autchnrius  (Audcgarius), 
ein  fränkischer  grosser,  der  Karlmanns  witwe  nebst  ihren  un- 
mündigen söhnen  771  zu  ihrem  vater,  dem  Langobardenkönig 
Desiderius,  brachte,  zusammen  mit  diesem  773  gegen  Karl  den 
Grossen  bei  den  Klausen  kämpfte  und  sich  schliesslich  in  Verona 
nebst  Karlmanns  witwe  und  ihren  söhnen  dem  sieger  ergab, 
worauf  er  im  exil  verschollen  ist.  Er  war  also  gegner  Karls 
des  Grossen  und  erscheint  als  solcher  in  sagenhafter  einkleidung 
bereits  beim  Mönch  von  St.  Gallen  in  der  erzählung  vom 
eisernen  Karl  (II,  17).  Den  ausgangspunkt  seiner  sage  bildet 
somit  der  Langobardenkrieg,  der  auch  in  dem  erhaltenen  epos 
ausführlich  geschildert  wird.  Daran  hat  sich  als  fortsetzuug 
die  tapfere  Verteidigung  Ogiers  im  schloss  Castelfort  in  Toscana 
angeschlossen,  welche  an  seine  belagerung  in  Verona  anknüpfen 
mag,  dabei  aber  durch  die  figur  des  Langobarden  Adelgis,  des 
sohnes  und  mitregenten  des  Desiderius,  beeinflusst  scheint.  Die 
Ursache  des  zwistes  zwischen  Karl  und  Ogier  war  von  der  sage 
ursprünglich  richtig  festgehalten  worden,  wurde  aber  später 
durch  Übertragung  einer  alten  volkssage  verwischt,  welche  den 
söhn  eines  helden  beim  spiel  mit  dem  königssohn  in  streit 
geraten  und  das  leben  verlieren  lässt.  Zu  dem  vorhandenen 
grundstock  von  den  taten  des  fertigen  helden  wurden,  wie  bei 
Karl  dem  Grossen,  bei  Koland  u.  a.,  die  Enfances  hinzugedichtet, 
welche  sich  hier  au  das  vorbild  von  Aspremont  anlehnen  und 
die  dänische  abkunft  des  helden  eingeführt  oder  wenigstens 
näher  begründet  haben.  Schliesslich  wurde  auf  ihn  das  alte 
epos  von  Chlothars  Sachsenkrieg  übertragen,  das  wir  schon  in 
Aspremont  und  Saisnes  wirksam  fanden.  Hier  spielt  noch 
das  motiv  von  Ogiers  mönehtum  herein,  das  an  die  Conversio 
eines  legendarischen  Othgerius  im  kloster  zu  Meaux  anknüpft 
und  nur  lose  mit  dem  alten  gedieht  verbunden  worden  ist. 

Alle  diese  verschiedenen  dichtungen,  deren  existenz  wir 
z.  t.  aus  dem  vorliegenden  epos,  z.  t.  aus  den  fremden  be- 
arbeitungen    erschliessen    können,    sind    in    dem    überlieferten 


C>.   Ogier  der  Däue.  221 

umfangreichen  Ogier  de  Danemarche  (rund  13000  verse)  bereits 
zu  einem  zyklns  vereinigt,  welcher  die  laufbahn  des  beiden 
von  seiner  Jugend  bis  zu  seinem  begräbnis  in  Meaux  im 
zusammenbang  darstellt,  sieb  aber  noeb  jetzt  deutlicb  in  fünf 
teile  sebeidet. 

1.   Als  geisel  von  seinem  vater  Gaufrey  von  Dänemark  an 
Karl  den  Grossen  ausgeliefert,  hat  er  infolge  der  beschimpfung 
fränkischer  gesanter  durch  Gaufrey  sein  leben  verwirkt,  darf 
aber   das   fränkische   beer   noch  nach  Italien  begleiten,   rettet 
Karl    hier    das    leben    und    gewinnt    von    dem    sarrazenischen 
riesen  Brunamont  sein  scharfes  schwert  Corte  und  sein  gutes 
ross  Broiefort.  —  2.  Balduin,  ein  illegitimer  söhn  Ogiers,  spielt 
mit  Karls   söhn  Charlot   schach,   gewinnt  und  wird  von  dem 
jähzornigen  königssohn  erschlagen.    Ogier  tötet  darauf  Lohier, 
den  neffen  der  königin,  muss  aber  schliesslich  den  palast  und 
nach  langem  krieg  auch  das  land  räumen.     Er  geht  zu  könig 
Desier  nach  Pavia,  wo  er  hoch  geehrt  wird.  —  3.  Karl  fordert 
durch  seinen  boten  Bertrant  von  Desier  die  auslieferung  Ogiers, 
und  als  diese  verweigert  wird,  überzieht  er  das  Langobarden- 
land  mit   krieg.     Die   Schlacht  von  St.  Aiose   geht   durch  die 
feigheit    der   Langobarden    und   ihres   königs   verloren,    Ogier 
muss   fliehen,   auch   an    Pavia  vorbei,   dessen   tore   ihm   nicht 
geöffnet   werden.   —    4.    Auf   seiner    flucht    nach    Süden    trifft 
Ogier    das    freundespaar   Amis    und   Amiles    und    tötet    beide. 
Er   verteidigt    sich    kurze    zeit   in    einem   am   weg  gelegenen 
schloss   und   dann   sieben  jähre  lang,    zuerst   mit   vielen   treu 
gebliebenen  waff engefährten,  zuletzt  allein,  in  Castelfort,  teils 
mit  kühnem  dreinschlagen,  teils  mit  list  gegen  Karl  und  das 
fränkische  heer.     Schliesslich,  zur  Verzweiflung  getrieben,  ver- 
sucht er  Karl  mitten  im  fränkischen  lager  zu  töten,  wird  ent- 
deckt und  entkommt  mit  hilfe  seines  treuen  rosses  Broiefort.  — 
5.   Turpin   findet   den  beiden  bei  Jvrea  schlafend  und  bringt 
ihn  zu  Karl.     Nur  mit  mühe  lässt  sich  dieser  bewegen,  Ogier, 
dem  er  den  tod  geschworen,  zu  harter  und  voraussichtlich  ein 
baldiges    ende    herbeiführender   gefangenschaft  in   Rheims  zu 
begnadigen.     Als  aber  Sachsen  und  Sarrazenen  unter  Brehier 
in  Frankreich  einbrechen,  vermag  nur  der  totgeglaubte  Ogier 
Karl   und  sein   reich   zu   erretten:  mit  hilfe  seines  Schwertes 
Corte  und  des  nach  langem  suchen  wieder  gefundenen  Broiefort 


222  VI.  Kapitel.     Das  Heldenepos  in  seiner  Blütezeit. 

besiegt  er  den  furchtbaren  gegner.  Wie  ein  fahrender  Artus- 
ritter  findet  er  dann  gelegenheit,  eine  prinzessin  ans  den 
bänden  mehrerer  Sarrazenen  zu  befreien.  Kr  heiratet  sie, 
wird  von  Karl  mit  Hennegau  und  Brabant  belehnt  und  nach 
seinem  tod  neben  seinem  Waffenbruder  Beneoit  in  Meaux  bei- 
gesetzt. 

Das  gedieht  zeigt  in  sich  zahlreiche  Widersprüche,  die 
sich  durch  die  art  seiner  entstehung  erklären,  häufige  inter- 
polationen,  —  teils  wie  die  Karlotszenen  der  1.  und  3.  brauche 
aus  dementen  der  Ogierdichtung  zusammengesetzt,  teils  aus 
anderen  epen,  wie  z.  b.  Girbert  de  Mes,  entnommen  —  und  daher 
nebeneinander  stücke  von  sehr  verschiedenem  ästhetischem 
wert.  Zu  den  besten  gehören  diejenigen,  welche  dem  Verhältnis 
Ogiers  zu  seinem  ross  gelten  und  die  wol  auch  auf  die 
Schilderung  Baiarts  in  den  'Haimonskindern'  gewirkt  haben. 
Die  folgende  stelle,  welche  uns  Ogier  allein  und  elend  in 
Castelfort  vorführt1),  mag  zugleich  als  stilprobe  eines  epos 
aus  den  letzten  Jahrzehnten  des  12.  Jahrhunderts  dienen: 

1   ^l^ant  fist  li  rois  au  castel  de  la  marche, 

JL    Sept  ans  i  sist  par  vent  et  par  orage; 

Enserre,  ot  Ogier  de  Danemarche: 

Falt  li  vitaille,  ne  set  mais  qe  il  face, 
5  Ne  il  ne  voit  par  ou  fuiant  s'en  aille, 

Conseil  n'i  voit  qui  garison  li  fache. 

Or  voit  li  dux  qn'il  n'a  inais  c'un  formage 

Et  d'un  sanglier  un  pis  et  nne  espaule. 

Trestot  son  vivre  a  mis  desus  la  table. 
10  „Deus!"  dist  li  dus  „ne  sai  mais  qe  je  face". 

Li  dux  s'asist  sus  un  perun  de  uiarbre, 

La  se  demente  forment  eu  son  corage: 

„Deus!"  dist  Ogiers  „biaus  pere  esperitable, 

N'ai  de  vitaille  que  un  senl  denier  vaille. 


*)  Vgl.  v.  8507—  8613  der  ausgäbe  von  Barrois.  Der  text  oben  ist 
im  ansclilnss  an  die  hs.  von  Tours  gegeben,  offenkundige  fehler  und  ver- 
sehen sind  mit  hilfe  der  übrigen  hss.  gebessert.  Die  spräche  ist  nicht 
normalisiert,  daher  der  text  neben  francischen  auch  viele  picardische 
und  anglonormannische  formen  zeigt  (vgl.  face  —  fache  =  fatse,  ce  —  che, 
cavel  —  chascun,  artikel  le  für  la,  peron  —  perun,  lancier  —  lanchier  — 
lancer  u.  a).  Formen  wie  bers  für  ber  sind  jungen  Ursprungs  und  kaum 
dem  archetypon  zuzuschreiben. 


i».   Ogier  der  Däne.  223 

15  Chi  ni'a  assis  li  rois  od  son  barnage; 

La  defors  voi  cent  mil  homes  a  armes, 

N'i  a  un  seul  de  la  mort  ne  me  hace". 

Quatre  jors  fu  Ogiers  de  Dauemarche 

N'ot  que  ruengier,  dont  ce  fu  granz  damages. 
20  Ains  a  tel  fain  a  poi  qe  il  n'esrage, 

De  jeüner  a  Ie  vis  taint  et  pale. 

Pitue^ement  a  regarde  ses  armes, 

A  porpenser  se  prist  en  suen  corage: 

Lancier  ira  a  la  tente  de  paile, 
25  A  son  espitd  ochira  le  roi  Kalle. 

Mult  se  demente  li  bons  Danois  Ogiers, 
11  regarda  son  bon  hauberc  doblier, 

Sa  bone  sele  et  ansdeus  ses  estries, 

Cortain  s'espee,  qi  molt  fist  a  prisier: 
30  „Brans"  dist  li  dux  „molt  vus  doi  avoir  chier, 

Sus  maint  paien  vus  ai  fait  essaier, 

En  mainte  coite  m'av6s  eü  mestier". 

Trait  le  du  fuerre,  molt  le  vit  flambier. 

Or  jura  Den  qi  tot  a  a  jugier: 
35  „Senpres  au  vespre  quant  il  iert  anuitie\ 

M'en  istrai  fors  au  tref  Kallon  lanohier. 

Se  m'i  asaillent  serjant  et  esquier, 

Esproverai  se  m'i  ares  mestier". 

Dist  il  me'ismes:  „Or  le  voil  essaier". 
40  Dreche  l'amont,  sus  un  peron  le  fiert, 

Ne  le  vit  fraindre,  esgriner  ne  perchier, 

Mais  au  peron  fist  trencher  un  quartier. 

„Brans"  dist  li  dus  „si  m'a'it  deus  du  ciel, 

Or  ne  qoit  mie  q'il  ait  millor  sous  ciel". 
45  II  l'a  ben  terse,  el  fuerre  l'embatie, 

A  Bruiefort  est  venus,  son  destrier, 

Si  li  leva  trestos  les  quatre  pies: 

La  ou  n'ot  clau,  li  bers  li  a  fichie, 

Si  l'a  defors  rive  et  reploie. 
50  Tant  l'ot  peü  et  done  a  mengier, 

Grant  ot  le  col  et  le  cavel  plener, 

II  le  tapa,  eil  jua  volentiers 

Come  le  beste  qui  bien  conut  Ogier; 

Li  bers  le  ra  a  l'estaque  loie. 
55  Sor  un  peron  se  rasiet  entaillß, 


17  seul  —  hace:  ergänze  qui;  hace  analogische  konjunetivform  zu 
hair  nach  face,  place.  —  40  ff.  erinnert  sehr  an  den  vergeblichen  versuch 
des  sterbenden  Roland,  Durendal  am  fels  zu  zerschlagen.  —  55  entaillß: 
'gemeisselt,  behauen',  zu  peron. 


224  VI.  Kapitel.     Das  Heldenepos  in  seiner  Blütezeit. 

La  se  demente  li  gentis  Chevaliers: 
Ne  set  que  feire,  car  il  n'ot  que  mengier 
Et  voit  ses  dras  derous  et  depecies, 
Ses  cors  meisines  est  molt  afebloies, 

60  Le  vis  ot  pale,  piauchelti  et  oissie. 
A  sa  car  nne  sist  ses  haubers  doblers, 
Parmi  la  niaille  en  est  li  pels  glacies. 
Melle  estoient,  locn,  recercele, 
Cavels  ot  Ions  contreval  vers  ses  pies, 

65  Piecha  ne  furent  ne  lave  ne  pignie. 
Li  esperon  li  gisent  as  nns  pies. 
II  voit  son  cors  du  tot  afebloi6, 
Dckaiie  iert  tote  la  force  Ogier, 
N'a  fors  le  quir  et  les  os  gros  et  fiers. 

70  Deu  reclauia  qi  tot  a  a  jugier: 

„Pere  de  gloie,  et  car  me  consillies, 
Secor6s,  sire,  le  vostre  Chevalier! 
Chi  m'a  assis  Kalleinaigne  au  vis  fier, 
Qui  plus  me  het  que  home  desous  ciel, 

75  Decachie  m'a  ben  a  dis  ans  entiers. 
En  sa  compagne  a  de  gent  cent  milliers, 
Chascuns  me  het  de  la  teste  a  tranchier. 
Tant  con  j'eüsse  a  boire  et  a  mengier, 
Ne  me  presissent  en  cest  castel  plener: 

SO  La  mers  l'i  bat  et  devant  et  derrier, 
Si  que  Franc,ois  n"i  pueent  aprochier, 
Assalt  livrer  ne  perriere  drechier 
Qui  mal  me  face  le  montant  d'un  denier. 
Si  m'ait  Dens,  ne  me  sai  consillier; 

85  Chi  muir  de  fain  et  si  n'ai  que  mengier  — 
(Ben  a  sept  jors  que  ne  menga  Ogiers). 
Ains  que  me  rende  a  Kallon  au  vis  fier, 
Me  lairai  chi  morir  a  destorbier". 
Ogiers  se  dreche  maintenant  sus  ses  pies, 

90  Vint  a  l'estaque  la  on  Corte  pendie, 
Li  bers  la  Qaint  a  son  flaue  senestrier. 
Puis  a  saisi  maintenant  son  espiel, 


60  piauchelu:  francisch  peancelu,  ableitung  von  pellis  'hautig' 
(ohne  fleisch)  —  'von  welker  haut'.  —  65  piecha:  francisch  piega,  aus 
piec'  a  (=  U  y  a  une  jnece)  'es  ist  ein  stück,  eine  Zeitlang  her  —  vor 
langer  zeit,  soit  langem'.  —  77  de  — tranchier:  in  hinsieht  auf  den  köpf 
zum  abschneiden  —  auf  den  tod,  vgl.  v.  13.  —  86:  auffällig  ist  der  plötz- 
liche Übergang  in  die  dritte  person.  Den  vers  hat  der  dichter  wol 
erläuternd  zum  vorigen  hinzugefügt  ohne  zu  bedenken,  dass  dadurch  die 
direkte  rede  unterbrochen  wird. 


6.  Ogier  der  Däne.  225 

Tos  les  degres  avala  du  planchier, 

Par  la  posterne  qi'st  au  uiiir  batilliez, 
95  S'en  ist  Ogiers  coiement  sans  nuisier. 

Entre  la  rive  et  le  mur  entailliet, 

La  s'arestut  li  bons  Dauois  Ogiers, 

Et  voit  FranQois  environ  lui  logies 

Plus  d'une  liue  aval  le  sablouer  — 
100  De  terre  vuide  trover  n'i  peüssies 

Ou  hon  jetast  uu  bastou  de  pomer, 

Que  ue  ca'ist  sus  tente  ou  sus  destrier. 

Ogiers  les  vit,  bien  les  dut  resognier. 

II  jure  Den  qi  tot  a  a  jugier, 

Qu'il  ne  lairoit  por  tot  l'or  desous  ciel 

Ne  voist  anuit  an  tref  Kallon  lancier: 
107  Si  l'occirra,  sril  pnet,  a  son  espiel. 

Ausgabe  von  Barrois,  La  Chevalevie  Ogier  de  Danemarclie  p. 
Haimbert  de  Paris,  P.  1842  (Rom.  d.  d.  pairs  VIII,  IX).  Raimbert 
ist  nur  der  Verfasser  der  jüngeren  redaktion.  Vgl.  Barry  Cerf, 
A  Classification  of  the  mss.  of  Ogier  le  Danois,  Publications  of  the 
Mod.  Lang.  Ass.  of  America  23,  545 ff.  Balduins  Tod,  Episode  aus 
d.  afr.  Ogierepos  nach  den  Hss.  und  Bearbeitungen  mitgeteilt 
von  C.  Voretzech,  Tübingen  1910  (Doctorenverz.  d.  Phil.  Fak).  — 
Vgl.  C.  Voretzsch,  Über  die  Sage  von  0.  d.  D.  und  die  Entstehung 
d.  Chev.  Ogier,  Ha.  1891.  Rod.  Renier,  Ricerche  sulla  leggenda  di 
Uggeri  il  Danese  in  Francia,  Torino  1891  (Memorie  della  Real 
Accademia,  Serie  II,  bd.  41).  J.  Bedier,  Legendes  epiques  II, 
279  —  316  (überschätzt  die  bedeutung  der  dem  gedieht  nur  äusserlich 
aufgesetzten  klösterlichen  demente).  L.Jordan,  Herrigs  Archiv  112 
(1904)  135 ff,  nimmt  einen  einfluss  der  byzantinischen  Belisarsage 
auf  Ogiers  Sachsenkrieg  an,  aber  das  umgekehrte  Verhältnis  ist 
wahrscheinlicher,  da  die  Belisarsage  noch  von  historischen  ereignissen 
und  personen  des  12.  und  13.  Jahrhunderts  wesentliche  momente 
empfangen  hat  und  vollständig  erst  in  den  dichtungen  des  15.  Jahr- 
hunderts vorliegt.  —  Die  branchen  von  Ogiers  jugendtaten  und 
vom  Sachsenkrieg  sind  ins  altnordische  (Karlamagnüssaga)  und  (mit 
Balduins  tod  verbunden)  ins  italienische  übersetzt  worden  (vgl. 
Rajna,  Rom.  2,  153  ff,  3,  31  ff,  398  ff,  Subak  ZrP  33,  536  ff,  Barry 
Cerf,  Modern  Philology  8,  2).  So  geht  auch  der  dänische  Holger 
Danske  durch  Vermittlung  der  Kmssaga.  auf  franz.  Ursprung  zurück 
(vgl.  noch  L.  Pio,  Sagnet  om  Holger  Danske,  Kopenhagen  1869). 
In  die  spanischen  romanzen  gelangt  Ogier  durch  Vermittlung 
toskanischer  gedickte  als  Urgel,  marquis  von  Mantua  (Lope  de 
Vegas  'Marques  de  Mantua'). 

Das  epos  Gaufrey  (13.  Jahrhundert)  erzählt  die  Schicksale  von 
Ogiers  vater  im  wesentlichen  auf  grund  des  alten  Ogierepos  (vgl. 
Rolf  Seyfang,    Quellen    und    Vorbilder    des    Epos    Gaufrey,    Diss. 

Voretzsch,   Studium  d.  afrz.  Literatur.    2.  Auf  läge.  15 


226  VI.  Kapitel.    Das  ITeldenepos  in  seiner  Blütezeit. 

Tübingen  1908),  der  spätere  prosaroman  Mcurvin  die  taten  seines 
sohnes.  So  hat  sich  auch  nm  Ogier  wie  um  Renaut  von  Montauban 
u.  a.  allmählich  eine  kleine  geste  gebildet. 


7.    Wilhelms epen. 

Wie  Ogiersage  und  Rolandsage,  hat  sich  zunächst  auch 
die  Wilhelmsage  im  Zusammenhang  mit  der  Karlsage  ent- 
wickelt, wie  Haager  Fragment,  Karlsreise  und  Krönungsepos 
lehren.  Schon  in  den  frühesten  epischen  denkmälern  aber  er- 
scheinen brüder  und  neffen  Wilhelms,  auch  sein  vater  Aimeri 
wird  bereits  in  der  Karlsreise  genannt,  sodass  hier  von  vorn- 
herein anlass  zur  ausbildung  eines  epischen  zyklus  gegeben 
war.  Dazu  kam  weiter  das  beständige  einfliessen  jüngerer 
Überlieferungen  von  anderen  helden  desselben  namens  oder 
ursprünglich  fremder  sagen  in  die  alte  Wilhelmsage.  Wir 
finden  daher  die  Wilhelmsepik  schon  im  12.  Jahrhundert 
reichlich  entwickelt,  die  dichter  des  13.  und  14.  Jahrhunderts 
füllten  die  noch  gebliebenen  lücken  mit  neuen  dichtungen 
aus,  sodass  der  ganze  zyklus  vierundzwanzig  epen  umfasst. 
Auch  in  den  handschriften  werden  die  verschiedenen  epen 
meist  zyklisch  zusammengestellt. 

A.  Allgemeine  Fragen.  Die  entwicklungsgeschichte 
der  Wilhelmsage  ist  sehr  verwickelt  und  zur  zeit  noch  immer 
nicht  völlig  klar,  z.  t.  stehen  sich  die  meinungen  unvermittelt 
gegenüber.  Der  eigentliche  ausgangspunkt  der  sagenbildung 
ist  jedenfalls  graf  Wilhelm  von  Toulouse,  der  schon  im  Krönungs- 
epos in  seiner  historischen  Stellung  als  leiter  und  beschützer 
Ludwigs,  sohnes  Karls  des  Grossen,  hervortritt.  Um  790  zum 
grafen  von  Toulouse  bestellt,  war  er  der  nächste  berater  und 
helfer  des  jugendlichen  Ludwig,  der  schon  als  dreijähriges 
kind  (781)  zum  könig  von  Aquitanien  gesalbt  worden  war. 
Zunächst  brachte  Wilhelm  die  aufständischen  Basken  zur  ruhe. 
Im  jähre  793  hatte  er  am  flusse  Orbieu  einen  schweren  kämpf 
gegen  die  spanischen  Sarrazenen  zu  bestehen:  zwar  wurde  er 
von  der  tibermacht  besiegt,  aber  auch  der  gegner  war  so  ge- 
schwächt, dass  er  wieder  umkehrte.     An  der  belagerung  und 


7.  Wilhelmsepen:  allgemeine  Fragen.  227 

einnähme  von  Barcelona  (801  oder  803),  an  der  eroberung 
Cataloniens  hat  sich  Wilhelm  iu  hervorragender  weise  be- 
teiligt: Ermoldus  Nigellus,  in  seinem  lateinischen  gedieht  auf 
das  leben  Ludwigs  des  Frommen,  hat  es  ausführlich  ge- 
schildert. Im  jähre  806  trat  er  als  mönch  in  das  von  ihm 
selbst  begründete  kloster  Gellone.  Hier  starb  er  nach  einem 
gottseligen  leben  am  28.  mai  812. 

Diese  ereignisse  scheinen  sich  in  den  wichtigsten  zügen 
des  epischen  Wilhelm  wiederzuspiegeln.  Sein  Verhältnis  zu 
Ludwig  von  Aquitanien,  sein  eintreten  für  den  jugendlichen 
könig  tritt  im  Krönungsepos  unverkennbar  zu  tage  (oben  s.  202). 
Als  Sarrazenenbekämpfer  erscheint  er  in  den  meisten  der  ihm 
gewidmeten  dichtungen,  und  zwar  nicht  nur  als  sieger,  sondern 
auch  als  tapferer  besiegter.  Deutliche  erinnerungen  an  sein 
mönchtum  bewahrt  das  Montage  Guiüaume.  Dass  auf  Wilhelm 
mit  der  zeit  noch  einzelne  züge  aus  dem  leben  gleichnamiger 
jüngerer  beiden  übertragen  worden  sind  (wie  im  Krönungsepos, 
im  Moniage  I,  vielleicht  auch  in  Archamp),  ist  leicht  be- 
greiflich. Waren  es  auch  nicht  „setze  Guillaume"  (deren  zahl 
B6dier  mit  recht  tibertrieben  findet),  so  doch  drei  oder  vier, 
die  ganze  episoden  oder  einzelne  ztige  beigesteuert  haben. 

Die  deutuug  der  Übereinstimmungen  zwischen  geschichte 
und  dichtung  durch  die  einzelnen  forscher  ist  freilich  sehr 
verschieden.  Während  die  einen  —  so  Gautier,  Suchier 
(zuletzt  ZrP  32,  734  ff.),  Jeanroy  (Rom.  25  u.  26)  und  Gröber 
(ZrP  22,  141  f.)  —  eine  fortlaufende  entwicklung  dieser  alten 
Überlieferungen  durch  sage  oder  lied  hindurch  bis  auf  die  epen 
des  12.  Jahrhunderts  annehmen,  lassen  andere  die  historischen 
demente  erst  nachträglich,  aus  lateinisch-legendarischen  quellen, 
in  die  epen  übergehen.  So  lehrt  Becker  „dass  Graf  Wilhelm 
von  Toulouse  und  sein  geschichtliches  Wirken  nicht  der  Aus- 
gangspunkt für  die  Bildung  der  Wilhelmsage  gewesen  sind  .  .  . 
Die  Übertragung  der  Sage  auf  seine  Person  ist  erst  im  12.  Jahr- 
hundert erfolgt  und  für  das  Epos  erst  durch  das  durch  und 
durch  unhistorische  Montage  besiegelt  worden."  Eine  ver- 
mittelnde Stellung  nimmt  G.  Paris  ein,  der  einen  epischen 
Guillaume  irgendwelchen  Ursprungs  und  frühzeitige  Vermischung 
mit  Wilhelm  von  Toulouse  annimmt:  „Le  heVos  central  est 
Guillaume,  appele*  Guillaume  Fierabrace,  Guillaume  au  Court 

15* 


!2"2^  VI.  Kapitel.    Das  Heldenepos  in  seiner  Blütezeit. 

Nez    et    Guillaume    d'Orange.      Nous    ne    connaissons    aucun 
Guillaunie  qui,  anteVieurement  an  XII"  siecle,  ait  poss&le"   la 
ville  d'Orange,  dont  la  eonquete  sur  les  Sarrasins,  dejä  dann 
des  poemes  du  XI0  siecle,   etait  attribuee  k  ce  heros.     Quoi 
qu'il    eu   soit,    ee   Guillaume   a   de   bonne   heure   iti  identifie 
avec  ud  heros  tres  historique,  Guillaume,  qui,  nomm6  en  790 
comte  de  Toulouse,  livra  sur  les  bords  de  l'Orbieu  en  793  une 
bataille  sanglante  .  .  ."     Ähnlich,  unterscheidet  auch  Gloetta 
einen  'epischen  Wilhelm'  und  einen  'heiligen  Wilhelm':  jener 
hat    nach    herkunft,    verwantschaft,    leben    und    taten    nichts 
gemein   mit   dem   heiligen   von    Gellone,    ein   dichter   hat   ihn 
geschaffen  und  ihm  den  banalen  namen  Wilhelm  gegeben,  und 
der  einfluss  des  heiligen  Wilhelm  ist  nur  im  Moniage  Guillaume 
und   einigen  jüngeren   epen   zu   beobachten.      Dem   gegenüber 
vertritt    Bedier    den    extremsten    Standpunkt:     Wilhelm    von 
Toulouse,  der  heilige  von  Gellone,  ist  der  ausgangspunkt  der 
ganzen   Wilhelmsepik,    aber    nur    vermittels    der    kloster Über- 
lieferungen, die  in  Aniane  und  Gellone  lebendig  blieben  und 
den  wandernden  Jongleuren  und  den  nach  San  Jago  di  Com- 
postella    wallfahrenden    pilgern    in    den    an    der    pilgerstrasse 
liegenden  klöstern  zu  obren  kamen:  'les  auteurs  des  chansons 
de    geste    ont    appris    des    moines    de    Gellone    et    n'ont    pu 
apprendre  que  de  ces  moines  les  quelques  faits  authentiques 
qu'ils   rapportent   de  leur   Guillaume,   et   qui   forment  le   seul 
support  historique  de  leurs  fictions  innombrables'. 

Der  widerstreit  der  meinungen  ist  noch  nicht  gelöst.  Aber 
man  wird  sagen  dürfen,  dass  die  extreme  richtung,  welche 
Wilhelm  von  Toulouse  alle  bedeutung  für  die  ursprüngliche 
entwicklung  der  Wilhelmsage  abspricht,  die  sagenbildende 
kraft  des  historischen  elements  unterschätzt  und  auch  die  ana- 
logien  ausser  acht  lässt,  welche  andere  Sagenkreise,  namentlich 
die  Karlsage,  bieten.  Der  geschichtliche  Wilhelm  von  Toulouse 
erscheint  uns  vor  allem  in  zwei  rollen:  als  beschützer  Ludwigs 
von  Aquitanien,  des  nachmaligen  Ludwigs  des  Frommen,  und 
als  bekrieger  und  besieger  der  Sarrazenen  in  Sudfrankreich 
und  Catalonien.  Das  erste  erklärt  uns  ohne  weiteres,  weshalb 
er  uns  in  sage  und  epos  in  erster  linie  als  Zeitgenosse  und 
paladin  Ludwigs  des  Frommen  erscheint  und  weshalb  hier 
vergessen    wird,    dass    er    schon    812,    ein  jähr   vor   Ludwigs 


7.  Wilheluisepen:  allgemeine  Fragen.  ^29 

krönung  und  zwei  jähre  vor  Karls  des  Grossen  tod,  gestorben 
ist.  War  doch  schon  lange  vorher  der  junge  Ludwig  vom 
parat  Hadrian  zum  könig  von  Aquitanien  gesalbt  worden  und 
war  doch  Wilhelm  zum  'cbef  militaire  et  civil  du  gouverne- 
ment'  eben  dieses  Ludwig  ernannt  worden.  Wie  nahe  lag  es 
der  sage  oder  der  dichtung,  Ludwigs  Salbung  zum  könig  von 
Aquitanien  und  seine  krönung  zum  könig  des  reiches  zusammen- 
zuwerfen und  dann  auch  Wilhelm  von  Toulouse  seinen  platz 
als  hüter  der  kröne  anzuweisen.  Die  Sarrazenenkämpfe  aber 
mussten,  wenn  Wilhelm  einmal  in  die  sage  überging,  beinahe 
mit  naturnotwendigkeit  mit  solchen  früherer  oder  späterer  Zeiten 
vermischt  werden.  Wird  etwa  die  bedeutung  des  historischen 
Karls  des  Grossen  für  die  entwickluug  der  Karlssage  dadurch 
ausgeschaltet,  dass  ihm  auch  der  kämpf  gegen  Yon  von  Bordeaux 
zugeschrieben  wird,  der  nur  seinen  grossvater,  Karl  Kartell, 
angeht?  Oder  ist  es  geschichtlich  nachweisbar,  dass  Karl 
der  Grosse  —  wie  in  Aspremont,  wie  im  Ogier  —  gegen 
Sarrazenen  in  Italien  gekämpft  hatV  Diese  früheren  und 
späteren  demente  sind  auf  ihn  übertragen  worden,  weil  er 
der  nach  weit,  auf  grund  seines  spanischen  feldzugs,  als  Vor- 
kämpfer gegen  die  Sarrazenen  galt.  So  kann  es  auch  nicht 
wunder  nehmen,  wenn  dem  tapferen  kämpfer  vom  Orbieu,  dem 
eroberer  Barcelonas  und  Cataloniens,  die  eroberung  anderer 
Städte  zugeschrieben  wird,  die  ehedem  in  der  hand  der  Sarra- 
zenen waren.  Noch  zu  seinen  lebzeiten  ward  Tortosa  erobert, 
dessen  einnähme  als  die  von  Tortelose  ihm  im  Charroi  de 
Nimes  zugeschrieben  wird.  Nimes  selbst  fiel  in  den  ersten 
Jahrzehnten  des  8.  Jahrhunderts  bald  den  Sarrazenen,  bald 
wieder  den  Christen  in  die  bände  und  wurde  737  von  Karl 
Martell  erobert.  Karls  gegner  in  der  schlacht  bei  Poitiers  hiess 
Abderrahman,  dessen  name  vermutlich  in  dem  im  Archamp 
und  sonst  auftretenden  Sarrazenenkönig  Derame  fortlebt. 

Dass  sich  mit  den  historischen  dementen  im  laufe  der 
entwicklung  unhistorische,  sagenhafte  oder  märchenhafte,  be- 
standteile  vermischten,  ist  selbstverständlich.  Hinter  der  Prise 
d' Orange  versteckt  sich  eine  germanische  werbungssage: 
Wilhelm  hat  von  der  Schönheit  der  Orable  reden  hören  wie 
Ortnit,  Hugdietrich,  Rother  von  der  Schönheit  der  fernen 
königstochter,    die    sie    dann    mit   list   oder  gewalt   erwerben, 


230  VI.  Kapitel.     Das  Heldenepos  in  seiner  Blütezeit. 

oder  wie  der  prinz  im  märchen  vom  getreuen  Johannes. 
Nimes  erobert  der  held  durch  eine  ähnliehe  list  wie  die 
Griechen  Troja  durch  das  hölzerne  pferd.  Selbst  das  Mönchs- 
epos nimmt  solche  themen  auf:  so  das  in  der  märchen-  und 
sagenliteratur  weitverbreitete  thema  von  dem  unerwartet  auf- 
tretenden unbekannten  helfer  und  sieger  und  die  zuerst  in 
der  lateinischen  literatur  von  Walter  von  Aquitanien  erzählte 
räuber-  und  hosengeschichte. 

Nach  alledem  hat  sich  die  erinnerung  an  Wilhelm  von 
Toulouse  auf  zwei  verschiedenen  wegen  fortgepflanzt:  einmal 
in  der  volkstümlichen,  sagenhaften  und  epischen,  Überlieferung, 
der  wir  Haager  Fragment,  Krönungsepos,  Chancon  de  Guillelme, 
Prise  d'Orange,  Charroi  de  Nimes  und  andere  epen  verdanken, 
und  zweitens  in  der  klosterüberlieferung,  welche  durch  Ardos 
schon  um  823  verfasste  Vita  Benedicti  abbaüs  Anianensis 
und  durch  die  um  1122  in  Gellone  entstandene,  schon  ihrer- 
seits unter  epischem  einfluss  stehende  Vita  Guillelmi  dar- 
gestellt wird  und  den  ausgangspunkt  des  Moniage  bildet. 
Es  geht  nicht  an,  alle  die  taten  und  abenteuer  des  epischen 
Wilhelm  aus  der  einseitigen  und  keineswegs  episch  gerichteten 
klosterüberlieferung  abzuleiten.  Nicht  einmal  alle  historisch 
echten  züge,  welche  die  epik  bewahrt  hat,  fanden  sich  dort: 
den  namen  der  Guiborc  enthielt  die  Vita  nicht,  sondern  nur 
die  gefälschte  Schenkungsurkunde,  und  Wilhelms  bruder  Aimer, 
der  gegen  die  Sarrazenen  kämpft  und  nie  unter  einem  dach 
schläft,  ist  zweifellos  der  historische  Hadhemarus ,  caelo  pro 
tecto  utens,  der  mit  Wilhelm  801  gen  Barcelona  zog.  Auch 
ist  das  Moniage  keineswegs  die  älteste  der  Wilhelmsdichtungen, 
schon  die  Vita  Guillelmi  kennt  eine  Brise  d'Orange,  und  der 
held  des  ältesten  Wilhelmsepos,  der  Changon  de  Guillelme,  zeigt 
nicht  die  mindeste  beziehung  zu  dem  heiligen  von  Gellone. 

B.  Prise  d'Orange  und  Charroi  de  Nimes.  Das  erste 
gedieht  wird  meist,  nächst  der  Changon  de  Guillelme,  als  das 
relativ  älteste  des  zyklus  betrachtet:  während  es  in  den  hss. 
stets  mit  dem  Charroi  verbunden  ist,  nimmt  man  eine  ältere, 
selbständige  form  der  Prise  an,  die  noch  vor  der  Vita  Guillelmi 
(1122)  entstanden  sein  muss.  Ein  aus  der  gefangenschaft  ent- 
ronnener Christ  rühmt  vor  Wilhelm  die  Schönheit  der  Sarrazeuen- 
fürstin    Orable,    der    gattin    Tiebauts    von    Orange.     Wilhelm 


7.  Wilhelmsepen:  Prise  cTOrange,  Charroi,  Vivienepen.  231 

beschliesst  sofort  sie  zu  gewinnen,  gelangt  als  Sarrazene  ver- 
kleidet zu  ihr  ins  schloss,  wird  erkannt,  aber  durch  Orable 
gerettet;  Wilhelms  Streiter  kommen  durch  einen  unterirdischen 
gang  mitten  in  die  Stadt,  töten  die  Sarrazenen,  Orable  wird  auf 
den  namen  Guibourc  getauft  und  mit  Wilhelm  vermählt.  Die 
erste  gattin  Wilhelms  von  Toulouse  hiess  in  der  tat  Witburg. 
Sie  wird  in  der  sage  zur  Sarrazenin,  weil  die  zu  gewinnende 
braut  der  brautfahrtsagen  immer  in  fernem,  fremdem  lande 
gedacht  ist.  Die  Verteidigung  Wilhelms  im  türm  Glorietc  mit 
hilfe  Orables  ist  von  einer  reihe  späterer  dichtungen  —  Oyier, 
auch  Perceval,  Huon,  Gaydon  u.  a.  —  direkt  oder  indirekt 
nachgeahmt  worden,  war  auch  den  provenzalischen  trobadors 
schon  vor  1177  bekannt  (bei  Bertran  de  Born  als  tor  Miranda 
bezeichnet).  Mit  der  belagerung  von  Narbonne  verquickt  er- 
scheint die  liebe  Wilhelms  und  Orables  in  den  vermutlich 
etwas  jüngeren  Enfances  Guillaume. 

Die  Wagen  fahrt  nach  Nimes  (vor  1140  verfasst)  be- 
zweckt die  eroberung  dieser  in  Sarrazenechänden  befindlichen 
Stadt,  da  Wilhelm  bei  Verteilung  der  leben  durch  Ludwig  leer 
ausgegangen  ist.  Er  verbirgt  seine  krieger  in  leeren  Wein- 
fässern und  bringt  sie  auf  diese  weise  glücklich  in  die  Stadt, 
wo  er  sich  selbst  für  einen  kaufmann  Tiacre  ausgibt.  Als  es 
mit  den  Sarrazeneufürsten  zum  streit  kommt,  verlassen  die 
Franken  die  fässer  und  erobern  die  stadt. 

C.  Die  Vivienepen  und  Aliscans  (Covenant  oder 
Chevalerie  Timen,  Enfances  Vivien,  Aliscans).  Das  epos  von 
Viviens  schwur  und  tod,  gewöhnlich  Covenant  Vivien, 
auch  Chevalerie  Vivien  genannt,  ist  die  mittelbare  oder 
unmittelbare  nachahmung  des  alten  Archampliedes,  das  nach 
der  begräbnisstätte  bei  Arles  genannte  epos  Aliscans  oder 
Bat  a  ille  d' Ali  sc  ans  die  breite  ausführung  des  alten 
Rainouartliedes.  Beide  zusammen  bilden  daher  eine  fort- 
laufende erzählung  von  Viviens  und  Wilhelms  kämpfen  bei 
Aliscaus  (Elysii  campi,  bei  Arles),  das  hier  neben  Archamp 
und  z.  t.  an  stelle  von  Archamp  als  kampfplatz  genannt  wird. 
Was  in  den  beiden  älteren  dichtungen  als  überflüssig  beiseite 
gelassen  oder  als  bekannt  vorausgesetzt  wird,  erscheint  hier 
zur  begründung  oder  erläuterung  der  haupthandlung  besonders 
ausgeführt. 


232  VI.  Kapitel.    Das  Heldenepos  in  seiner  Blütezeit. 

Nach  dem  Covenant  gelobt  Vivien  schon  beim  ritter- 
schlag  durch  Wilhelm,  nie  einen  fuss  breit  zurückzuweichen. 
Dann  fordert  er  Deram^s  kriegszug  selbst  heraus,  dadurch 
dass  er  ihm  an  Pfingsten  700  verstümmelte  Sarrazenen  zu- 
schickt. Die  Schilderung  des  heidnischen  kriegszugs,  die  auf- 
zählung  der  heidnischen  könige  nimmt  einen  breiten  räum  ein. 
Hingegen  sind  auf  Seiten  der  Christen  Tedbalt  und  Esturmi 
völlig  beseitigt,  Vivien  ist  von  anfang  an  der  befehlshaber 
der  10000  Christen.  Er  wird  von  dem  Sarrazenen  Haucebier 
tötlich  verwundet  und  sterbend  von  dem  zu  hilfe  gerufenen 
Wilhelm  aufgefunden  (1944  verse). 

Hier  beginnt  das  epos  Aliscans:  Wilhelm,  trotz  aller 
tapferkeit  besiegt,  muss  Viviens  leiche  zurücklassen  und,  von 
den  beiden  verfolgt,  nach  Orange  flüchten.  Hier  muss  er,  um 
eingelassen  zu  werden,  dieselben  proben  bestehen  wie  im  alten 
gedieht.  Dann  nimmt  Guiborc  dem  verwundeten  die  warfen 
ab,  lässt  sich  von  ihm  den  hergang  erzählen  und  rät  ihm,  den 
könig  Ludwig,  seisen  Schwager,  um  hilfe  anzugehn.  Ganz 
allein,  x>ovres  et  esgares,  kommt  er  am  königshof  zu  Laon  an, 
wo  auch  seine  eitern,  Aimeri  und  Ermengart,  weilen.  Aber  er 
muss  Ludwig  erst  an  früher  geleistete  dienste,  sowie  an  die 
ihm  gemachten  Versprechungen  erinnern,  ehe  er  die  erbetene 
hilfe  bekommt.  Dann  zieht  er  wieder  nach  Aliscans  und 
besiegt  hier  die  Sarrazenen  in  einer  grossen  schlacht,  in 
welcher  sich  der  ungestüme,  riesenhafte  Rainouart  hervortut, 
der  zum  schluss  die  schöne  Aalis,  könig  Ludwigs  tochter  und 
Wilhelms  nichte,  zur  gattin  erhält.  Fast  alles  ist  hier  breiter 
ausgesponnen  als  im  alten  gedieht  (namentlich  die  ermüdenden 
einzelkämpfe),  manches  aber  auch  wirkungsvoller  zur  darstellung 
gebracht. 

Die  Enfances  Vivien  sind  ein  sekundäres,  in  der  haupt- 
sache  auf  dem  alten  Archamplied  beruhendes  epos,  das  aber 
doch  noch  zu  den  älteren  Vivien-  und  Wilhelmsepen  zu 
rechnen  ist.  Es  erzählt,  wie  Garin  d'Anseüne,  um  der  gefangen- 
schaft  bei  den  Sarrazenen  ledig  zu  werden,  ihnen  seinen  söhn 
Vivien  als  geisel  überlässt,  wie  dieser  durch  könig  Gormont 
aus  todesgefahr  befreit,  als  sklave  verkauft  wird  und  endlich 
seine  erste  heldentat  mit  der  eroberung  und  tapferen  Ver- 
teidigung von  Luiserne  liefert. 


:.  Wilheluisepen:  Vivienepen,  Aliscans,  Moniage  CJnillauuie.      233 

D.  Moniage  Gnillaume.  Das  gedieht  von  Wilhelms 
Mönebtura  ist  uns  in  einer  älteren,  kürzeren  —  nacb  Cloetta 
um  1160  entstandenen  —  fassung  (Moniage  I)  und  in  einer 
jüngeren,  episodenreiehen  fassung  (II)  —  etwa  1180  —  be- 
kannt, wozu  als  dritte  version  noch  die  neunte  branche  der 
altnordischen  Karlamagnussaga  kommt.  Wilhelm  begibt  sieb 
nacb  dem  tod  seiner  frau  Guiborc,  dem  gebot  Gottes  folgend, 
ins  kloster  Genevois  (Genves),  gerät  aber  bald  in  konflikt  mit 
klosterregeln  und  klosterbrüdern.  Deren  absieht,  sich  seiner 
durch  eine  gefährliche  Sendung  durch  einen  von  räubern 
unsicher  gemachten  wald  zu  entledigen,  geht  nicht  in  erfüllung. 
Wilhelm  versteht  es  sich  der  räuber  zu  erwehren,  ohne  die 
klosterregeln  zu  verletzen:  da  der  abt  ihn  heisst  den  räubern 
gutwillig  alles  zu  geben,  ausgenommen  die  hosen,  reizt  er  die 
gier  der  räuber  durch  einen  prächtigen,  mit  goldenen  bändern 
und  knöpfen  verzierten  hosengurt;  er  soll  sich  nicht  mit  blanker 
waffe,  sondern  nur  mit  fleisch  und  bein  verteidigen,  also 
schlägt  er  mit  der  faust  drein  und  als  das  nicht  ausreicht, 
reisst  er  seinem  saumtier  den  einen  Schenkel  aus,  schlägt  damit 
die  räuber  tot  und  setzt  dann  den  Schenkel  mit  Gottes  hilfe 
wieder  ein.  Als  die  mönche  vor  dem  glücklich  zurückgekehrten 
die  klostertür  verschliessen,  hebt  er  die  tür  aus  den  angeln 
und  wütet  derart  unter  den  mönchen,  dass  sie  ihn  bald  um 
gnade  bitten.  Aber  auf  Gottes  geheiss  begiebt  er  sich  nun- 
mehr in  die  verlassene  behausung  eines  von  Sarrazenen  er- 
mordeten einsiedlers  in  der  gegend  von  Montpellier.  Diese 
zelle  verlässt  er  noch  einmal,  um  könig  und  reich  aus  schwerer 
gefahr  zu  erretten,  als  der  Sachsenkönig  Yzor£,  söhn  des  von 
Ogier  getöteten  Brehier,  vor  Paris  erscheint  und  den  von  seinen 
baronen  verlassenen  könig  Ludwig  bedroht  (der  schluss  des 
gedichtes  fehlt,  erhalten  sind  im  ganzen  934  verse). 

Das  Moniage  II  ist  weit  umfangreicher  (0629  verse),  teils 
durch  ausschmüekung  im  einzelnen,  vor  allem  aber  durch 
zahlreiche  neue  episoden,  die  in  den  alten  rahmen  eingefügt 
wurden:  gemeinsamer  kämpf  Wilhelms  und  Gaidons  gegen 
räuber,  wegbeten  von  schlangen,  kämpf  gegen  einen  riesen 
beim  bau  der  einsiedelei,  gefangenschaft  in  Palerne  (sogenannte 
Synagonepisode),  bau  einer  brücke  mit  besiegung  des  den  bau 
hindernden    teufeis.     Liegt    in   Moniage  I   der   nachdruek   auf 


234  VI.  Kapitel.    Das  Heldenepos  in  seiner  Blütezeit. 

dem  gegensatz  zwischen  heldensinn  und  klosterleben  und  der 
dadurch  bedingten  humoristischen  Schilderung,  so  lehnt  sich 
das  Montage  II  mit  der  darstellung  seines  beiden  mehr  an  die 
religiöse  auffassung  au.  Auch  geht  Wilhelm  hier,  wie  in  der 
klösterlichen  Überlieferung,  zuerst  nach  Aniane  (nicht  nach 
Genevois  sour  mer);  vom  tod  seiner  frau  Guiborc  ist  hier 
ebensowenig  die  rede  wie  in  jener.  Auch  die  auffassung 
Wilhelms  in  der  Karlamagnüssaga  ist  stark  klösterlich,  obwol 
diese  sich,  bei  ihrer  freien  gestaltung,  inhaltlich  auf  das  Moniage  I 
zurückfuhren  lässt.  Ob  das  Moniage  II  lediglich  das  Moniage  I 
(und  die  klostertradition)  oder  ein  verlorenes  Urmoniage  zur 
quelle  gehabt  hat,  lässt  sich  schwer  entscheiden.  Das  von 
Cloetta  angenommene  Urmoniage  (ausgäbe  bd.  II,  s.  115,  130) 
unterscheidet  sich  im  inhalt  nicht  wesentlich  vom  Moniage  I. 
E.  Ergäuzungsepen,  Fortsetzungen,  Nach- 
ahmungen. Im  anschluss  an  Aliscans  hat  Grandor  von 
Brie  (in  einer  hs.  Jendeu  v.  B.)  die  Bataille  Loquifer  und 
das  Montage  Rainouart  gedichtet  und  im  ersten  epos 
Rainouarts  kämpf  mit  dem  riesen  Loquifer  sowie  audre  seiner 
taten  geschildert,  z.  t.  schon  unter  ein  Wirkung  des  Artus- 
romans: so  wird  er  durch  feen  nach  Avalon  entführt  und 
kämpft  hier  (wie  sonst  Artus)  mit  dem  katzenungetüm  Chapalu. 
Das  Moniage  Rainouart  ist  eine  vergröberung  von  Wilhelms 
mönchtum.  Erhalten  sind  uns  beide  gedichte  in  einer  Über- 
arbeitung, als  deren  Urheber  Guillaume  von  Bapaume 
sich  nennt.  —  Als  eine  neue,  selbständige  Weiterbildung  von 
Aliscans  kann  der  umfangreiche  Folque  de  Candie  des 
dichters  Herbert  le  Duc  von  Dammartin  bezeichnet  werden. 
Fulko  ist  ein  jüngerer  verwanter  Wilhelms  und  Viviens,  unter 
Candie  ist  Cadix  in  Spanien  verstanden.  Endlose  kämpfe 
füllen  den  hauptteil  der  dichtung,  auf  die  belagerung  von 
Orange  durch  die  Sarrazenen  folgt  die  belagerung  von  Candie, 
sieg  und  niederlage  wechseln.  Dazwischen  fallen  liebesepisoden 
zwischen  Fulko  und  der  heidenprinzessin  Anfelise  im  stile 
jüngerer  epen  (Saisnes,  Anst'is  de  Cartage).  Der  gewante 
Verfasser  gebraucht  den  reinen  reim  und  lässt  Vertrautheit  mit 
der  trobadorsprache  erkennen.  —  Die  schon  oben  erwähnten 
Enfanccs  Guillaume  verquicken  mit  dem  inhalt  der  Prise 
d' Orange,  mit  Wilhelms  werben  um  Orable,  seine  jugendtaten 


7.  Wilhelmsepen:  Ergänzimgsepen.     Bibliographie  235 

auf  der  fahrt  an  Karls  hof.  seine  siege  über  Sarrazenen  sowie 
über  einen  riesen,  den  rittersohlag  durch  Karl  den  Grossen 
und  schliesslich  seinen  anteil  an  dem  entsatz  von  Narbonne.  — 
Von  den  Enfances  Vitien  war  scbon  oben  die  rede.  Andere 
epen  behandeln  die  taten  von  Wilhelms  brüdern.  die  bisher 
nur  als  nebenpersonen  in  den  älteren  epen  auftraten.  Von 
diesen  epigonendichtungen  gehört  in  unseren  Zeitraum  wol  noch 
der  dem  Bertram!  de  Bar  schon  bekannte  Siege  de  Barbastre, 
WO  zuerst,  ähnlich  wie  in  Prise  tV  Orange,  Fierabras,  Floovent  u.a., 
gefangennähme  christlicher  beiden  —  hier  Wilhelms  bruder 
Bovon  und  dessen  söhne  Girart  und  Gui  — ,  dann  befreiung 
durch  einen  beiden,  belagerung  durch  die  Sarrazenen,  lieb- 
schaft  mit  der  Sarrazenenprinzessin  und  schliesslich  entsatz 
durch  ein  aus  der  heimat  ausrückendes  heer  erzählt  wird. 
Auch  das  Verhältnis  Balduins  zu  Sebille  in  den  Saisncs  scheint 
hereinzuwirken. 

Bibliographie.  Allgemeines:  W.  J.  A.  Jonckbloet,  Guillaume 
d'Orange,  La  Haye  I — II  1854  (Bd.  I  ausgaben  von  Conronnement, 
Chatroi,  Prise,  Covcnant  und  Aliscans,  bd.  II  Untersuchungen  und 
Varianten).  —  L.  Gautier,  Epopees  IV2,  P.  1882.  Revillout,  Etüde 
historique  et  litteraire  sur  l'ouvrage  latin  intitule  Vie  de  St.  Guillaume 
(Extrait  des  publ.  d.  1.  Soc.  archeol.  de  Montpellier),  P.  1876.  Ph. 
Aug.  Becker,  Die  altfranzösische  Wilhelmsage  und  ihre  Beziehung 
zu  Wilhelm  dem  Heiligen,  Ha.  1896;  Der  südfranzösische  Sagen- 
kreis und  seine  Probleme,  Ha.  1898.  Alfred  Jeanroy,  Etudes  sur 
le  cycle  de  Guillaume  au  court  nez,  Rom.  25  (1896)  353  ff.,  26 
(1897)  1  ff.  Walther  Goecke,  Die  historischen  Beziehungen  in  der 
Geste  von  Guillaume  d'Orange,  Diss.  Halle  1900.  Richard  Hoyer, 
Das  Auftreten  der  Geste  Garin  de  Monglane  in  den  Chansons  der 
anderen  Gesten,  Diss.  Halle  1900.  H.  Suchier,  Recherches  sur  les 
chansons  de  Guillaume  d'Orange,  Rom.  32  (1903)  353  ff.  Bedier, 
Legendes  epiques  I.,  P.  1908  (auch  zu  den  einzelnen  epen  zu  ver- 
gleichen). 

Einzelne  Epen:  ausgäbe  der  Prise  d'Orange  von  Jonck- 
bloet (8.  o).  Vgl.  H.  Suchier,  Über  die  Quelle  Ulrichs  von  dem 
Ttirlin  u.  die  älteste  Gestalt  der  P.  d'O.,  Paderborn  1873.  Eine 
kurze  fortsetzung  der  P.  d'O.,  den  Siege  d'Orange  durch  den 
Sarrazenenkönig  Thiebant  (347  verse)  hat  Suchier  in  einer  Berner 
hs.  entdeckt.  Vgl.  A.  Fichtner,  Studien  über  P.  d'O..  Diss.  Halle 
1905.  —  Charroi  de  Nimes:  ausgäbe  Jonckbloet;  P.  Meyer,  Re- 
cueil  s.  237  ff.  (krit.  text  von  421  versen).  Vgl.  F.Lot,  Rom.  26 
(1897)  564  ff.  —  Covenant  Vivien:  ausgäbe  Jonckbloet; 
Chevalerie  Vivien  (Facsimile  der  Bologner  hs.)  by  Raymond  Wecks, 


236  VI.  Kapitel.    Das  Heldenepos  in  seiner  Blütezeit. 

University  of  Missouri  Studies  1909;  La  Chevalerie  Vivien  p.  p. 
A.  L.  Terracher,  I,  P.  1909.  Vgl.  Willy  Schulz,  Das  Handschriften- 
Verhältnis  des  C.  V.,  Dies.  Halle  1908;  Der  C.  V.  und  der  gegen- 
wärtige Stand  der  Forschung,  Programm  Wollstein  1911  und 
ZfSL  38  (1912)  126  ff.  —  Aliscans:  ausgaben  von  Jonckbloet; 
Guessard  et  Montaiglon,  P.  1870  (Anc.  poetes  d.  1.  Fr.);  G.  Rolin, 
L.  1894  (Afr.  Bibl.);  Erich  Wienbeck,  Willi.  Hartnacke,  Paul  Rasch, 
Ha.  1903;  vgl.  Paul  Lorenz,  Das  Handschriftenverhältnis  der  Ch. 
d.  g.  A.,  ZrP  31  (1907)  385  ff.  Vgl.  R.  Weeks,  Etudes  sur  Aliscans, 
Rom.  30  (1901)  184  ff,  34,  237  ff,  38,  1  ff.  A.  Klapötke,  Das  Ver- 
hältnis von  A.  zur  Chanson  de  Guillaume,  Diss.  Halle  1907.  Ferner 
die  literatur  zu  Covenant  Vivien  und  Chanson  de  Guillelme.  — 
Enfances  Vivien:  E.  V.  p.  p  C.  Wahlund  et  II.  v.  Feilitzen,  intro- 
duction  par  A.  Nordfeit,  Üpsala  1892;  Die  E.  V.,  kritischer  Text 
hgg.  von  Hugo  Zorn,  Diss.  Jena  1908  (vgl.  dazu  W.  Schulz,  ZfSL  34 
II,  168  ff).  Vgl.  Cloetta,  Die  E.V.  (Überlieferung  und  zyklische 
Stellung),  B.  1898  (Eherings  Rom.  Stud.  4).  0.  Riese,  Untersuchung 
ü.  d.  Überlieferung  der  E.  V.,  Diss.  Halle  1900.  Über  eine  moderne 
Vivienlegende  vgl.  A.  Thomas,  Etudes  G.  Paris  121  ff.  (dazu  G.  Paris, 
Rom.  22,  142  ff).  —  Moniage  Guillaume:  Les  deux  redactions 
du  M.  G.,  2  bde.,  I  Texte,  II  Introduction,  P.  1906  u.  1911  (Sdat). 
Vgl.  Th.  Walker,  Die  afr.  Dichtungen  vom  Helden  im  Kloster,  Diss. 
Tübingen  1910.  —  Bataille  Loquifer:  ein  Stück  gedruckt  bei 
Le  Roux  de  Lincy,  Le  livre  des  legendes,  P.  1836,  s.  246  ff.  Vgl. 
P.  Paris,  Hist.  litt.  22,  532  ff.  E.  Freymond  im  Gröberband  s.  338  ff.  — 
Moniage  Rainouart:  noch  nicht  gedruckt.  Vgl.  Max  Lipke,  Ü.  d. 
Moniage  Rain.,  Diss.  Halle  1904  (dazu  Cloetta,  ZfSL  27  II,  22  ff). 
Über  Grandor  von  Brie  und  Guillaume  von  Bapaume  s.  Cloütta, 
Mussafiband  s.  255  ff,  Ph.  A.  Becker,  ZrP  29  (1905)  744  ff,  Cloetta, 
ZrP  33  (1909)  576  ff.  Vgl.  J.  Runeberg,  Etudes  sur  la  Geste  Rai- 
nouart, Helsingfors  1905.  Zum  riesenmotiv  s.  Fr.  Wohlgemuth,  Riesen 
und  Zwerge  im  afr.  Epos,  Diss.  Tübingen  1906.  —  Foucon  de 
Candie:  ausgäbe  von  Schultz-Gora,  bd.  I  (bis  v.  9882),  1909,  GrL  21. 
Vgl.  Schultz-Gora,  ZrP  24  (1900),  370  ff.  H.  Suchier,  Chanyon 
de  Guillelme  s.  LXVI  f.  —  Enfances  Guillaume:  nicht  gedruckt. 
Vgl.  Gautier,  Ep.  fr.  IV  276  ff.  Suchier,  Ü.  d.  Quelle  Ulrichs  von  dem 
Türlin  (s.  o.).  Ferner  Becker,  Jeanroy,  Bedier,  deren  Schriften  (s.  o.) 
auch  sonst  zu  den  einzelnen  epen  zu  vergleichen  sind.  —  Siege 
de  Barbastre:  nicht  gedruckt.  Ausführl.  inhalt  von  Ph.  A.  Becker 
im  Gröberband  s.  252  ff.  Ende  des  13.  Jahrhunderts  wurde  das 
gedieht  neu  bearbeitet  von  Adenet  le  Roi  unter  dem  titel  Bueve  de 
Commarchis.  Vgl.  unten  kap.  XII,  Adenet.  —  Über  den  im  15.  Jahr- 
hundert auf  grund  einer  zyklischen  hs.  entstandenen  prosaroman 
von  Guillaume  d'Orange  vgl.  Georg  Schläger,  Archiv  97  (1896) 
101  ff,  241  ff,  98  (1897)  1  ff.  {Moniage  G.)  und  die  Hallenser  Diss. 
von  Joh.  Weiske  (Die  Quellen  des  afr.  Prosaromans  von  G.  d'O., 
1898),  Fritz  Reuter  {Bataille  d'Arleschant,  1911),  Wilh.  Castedello 


7.  Wilhelmsepen:  Bibliographie.  237 

(Bataille  Loquifer  u.  Montage  Benouart,  1912),  Carl  Weber  (Cou- 
ronnement  Louis,  Charroi  de  Ntmes,  Prise  d' Orange,  1912),  mit 
textabdruck  der  gen.  stücke. 

Die  früher  viel  erörterte  und  noch  von  G.  Paris  festgehaltene 
annähme,  dass  Wilhelm  als  südfranzösischer  held  zuerst  in  süd- 
französischer Sprache  besungen  worden  sei,  findet  wenig  tatsächliche 
Unterlage.  Es  existiert  kein  einziges  provenzalisches  Wilhelms- 
epos gegenüber  den  zahlreichen  nordfranzösi.schcn,  und  auch  was 
sonst  an  provenzalischer  heldenepik  vorhanden  ist,  geht  meist  auf 
nordfranzösische  vorlagen  zurück.  Wilhelm  von  Toulouse  hatte 
keine  lediglich  lokale  bedeutung.  Einige  lokalsagen,  wie  sie  in 
das  Montage  übergegangen  sind,  konnten  nordfranzösischen  pilgern 
und  wandernden  Jongleurs  leicht  auf  dem  wege  mündlicher  Über- 
lieferung zu  obren  kommen. 

Fremde  bearbeitungen:  Wie  die  Karlsepen  u.  a.,  sind  auch 
die  Wilhelmsepen  vielfach  in  fremde  sprachen  übersetzt  worden, 
teilweise  nach  den  uns  vorliegenden,  teils  auch  nach  verloren  ge- 
gangenen redaktionen.  Im  italienischen  finden  sich  die  meisten 
der  hier  besprochenen  epen  in  der  grossen  kompilation  des  Andrea 
de'  Magnabotti  aus  Barberino  wieder,  die  um  1400  in  prosa  ab- 
gefasst  wurde  und  den  titel  Le  storie  Nerbonesi  trägt.  Über  das 
Verhältnis  zu  den  franz.  epen  vgl.  Becker,  Der  Quellenwert  der 
Storie  Nerbonesi,  IIa.  1898,  und  Ad.  Fr.  Reinhard,  Die  Quellen  der 
Nerbonesi,  Diss.  Halle  1900;  über  verschiedene  Arbeiten  von  Weeks 
siehe  LgrP  1902,  411  f.  In  das  niederländische  ging  nur  das 
Montage  Guillaume  II  über,  in  das  altnordische  (IX.  branche  der 
Karlamagnüssaga)  eine  version  des  Mon.  Guill.  (s.  o.  s.  233  f.).  — 
In  Deutschland  wurde  Aliscans  am  bekanntesten.  Der  Willehalm 
Wolframs  von  Eschenbach  behandelt  die  Aliscansschlacht  in  9  büchern 
(die  unmittelbare  quelle  ist  nicht  bekaunt).  Vgl.  San-Marte,  Ws.  Wh. 
u.  sein  Verh.  zu  d.  altfr.  Dichtungen,  1871.  Saltzmann,  Progr.,  Pillau 
1883.  H.  Suchier,  Die  geschichtlichen  Grundlagen  von  Ws.  Wh. 
(Verhandlungen  der  48.  Phil. -Versammlung,  L.  1906).  E.  Bernhardt, 
ZdP  34,  542  ff.  (zu  J.  M.  Nassau  Noordewier,  Bijdrage  usw.).  Susan 
A.  Bacon,  The  source  of  Ws.  Wh.,  Tübingen  1910.  Eine  niederrheinische 
bearbeitung  desselben  epos  (die  sog.  Kitzinger  fragmente)  gehört  erst 
in  die  2.  hälfte  des  13.  Jahrhunderts  (vgl.  H.  Suchier,  Ü.  d.  niederrh. 
Bruchstücke  der  Schlacht  von  Aleschanz,  Wien  1871,  auch  in  Bartschs 
Germ.  Stud.  I,  134  ff.).  Wolframs  werk  wurde  fortgesetzt  von  Ulrich 
von  Türheim  (1242 — 1250),  der  in  seinem  „Kennewart"  Aliscans, 
Bataille  Loquifer,  Mon.  Bainouart  und  Mon.  Guill.,  vielleicht  auch 
ein  verlorenes  epos  von  Rainouarts  söhn  Maillefer,  kennt  und  ver- 
arbeitet. Schliesslich  hat  Ulrich  von  dem  Türlin  (1261  —  1275)  zu 
Wolframs  Willehalm  eine  einleitung  gedichtet,  welche  Wilhelms 
brautfahrt  nach  Arabele  (Orable)  auf  grund  von  Wolframs  angaben 
erzählt. 


238  VI.  Kapitel.    Das  Heldenepos  in  seiner  Blütezeit. 

8.    Raoul  von  Cambrai. 

Dass  die  bildung  episeher  stoffe  mit  der  zeit  Karls  des 
Grossen  und  seiner  nächsten  nachfolger  keineswegs  abgeschlossen 
ist,  kann  unter  anderen  das  epos  von  liaoul  de  Cambrai  lehren, 
dessen  historische  grundlage  wir  deutlich  in  ereignissen  des 
jahres  943  wiedererkennen,  wie  sie  Flodoard  in  seinen  annalen 
berichtet.  Darnach  starb  in  diesem  jähre  graf  Herbert  von  Ver- 
mandois  unter  hinterlassung  von  vier  söhnen.  Rodulf  von  Gouy 
begann  einen  krieg  gegen  sie,  wurde  aber  nach  mehrjährigem 
kämpfe  selbst  von  ihnen  getötet,  zum  grossen  leid  könig  Lud- 
wigs.1) Wie  Rodulf  von  Gouy,  wie  Herbert  von  Vermandois  sind 
noch  andere  personen  des  gedichts  historisch:  die  vier  söhne 
Herberts,  von  denen  zwei,  Eudon  und  Herbert,  ihre  geschicht- 
lichen namen  behalten  haben;  Ybert  de  Ribemont,  aus  der 
geschiente  als  graf  Eilbertus  bekannt;  Rodulfs  mutter  Aalais 
(Adelaidis)  und  verschiedene  nebenpersonen.  Die  enge  be- 
ziehung  zur  geschichte,  die  auf  das  persönliche  und  örtliche 
interesse  beschränkte  darstellung  gibt  dem  epos  einen  eigen- 
artigen, aller  Schablone  fremden  Charakter,  und  der  dichter 
des  hauptteils  versteht  es  vortrefflich,  uns  die  personen  und 
die  einzelnen  akte  dieser  wilden  familienfehde  greifbar  vor 
äugen  zu  stellen. 

An  einer  stelle  des  gedichts  (v.  2242  ff.)  wird  Bertolai 
von  Laon  als  Zeitgenosse  der  begebenheiten  und  als  Verfasser 
einer  chancon  von  Raoul,  Aalais  und  Guerri  bezeichnet:  das 
scheint  eine  zur  erhöhung  der  glaubwürdigkeit  vorgebrachte 
angäbe  zu  sein  (wie  im  Pseudoturpin,  Pseudophilomena  u.  a.), 
doch  ist  wol  möglich,  dass  ein  Bertolai  an  der  abfassung  einer 
älteren  (wenn  auch  nicht  zeitgenössischen)  dichtung  über  Raoul 
beteiligt  gewesen  ist.  In  der  gegenwärtigen  fassung  stammt 
das  epos  aus  der  zeit  um  1180.  Aber  der  zweite  teil  (v.  5556  ff.) 
ist  sichtlich  jünger  als  der  erste,  und  dieser  wiederum  ist  uns 


l)  Heribertus  comes  obiit,  quem  sepelierunt  apud  Sand  um  Quintinum 
filii  sui;  et  audientes  Rodulf  um,  filium  Rodulfi  de  Gaugiaco ,  quasi  ad 
invadendam  terram  patris  eorum  advenisse,  aggressi  eundem  interemerimt. 
Quo  audito,  rex  Ludouuicus  ualde  tristis  effieiiur.  (Annales  Flodoardi, 
MG,  SS  III,  ad  annnm  943). 


8.   Raoul  von  Cambrai.  239 

nur  in  überarbeiteter  gestalt  Überliefert.  Einen  auszug  aus 
einem  gedieht,  das  mindestens  in  der  ersten  hälfte  des  12.  Jahr- 
hunderts vorhanden  war,  überliefert  uns  die  1152  verfasste 
ehronik  des  klosters  Waulsort  (Historia  Walciodonnsis  mo- 
nasterii).  Die  klösterliche  Überlieferung  hat  sich  also  an  der 
epischen  bereichert,  und  die  in  der  überlieferten  fassung  er- 
kennbaren beziehungen  auf  die  kirche  Saint -Geri  in  Cambrai 
sind,  wie  andere  kirchliche  demente,  erst  nachträglich  in  die 
dichtung  hineingetragen  worden. 

Die  Sympathie  des  dichtere  ist  auf  Seiten  Rodulfs,  der 
als  Raoul  von  Cambrai  dem  gedieht  den  namen  gegeben  hat. 
Er  ist  der  nachgeborene  söhn  Raoul  Taillefers  und  neffe  des 
königs  Ludwig,  verliert  aber  durch  diesen  sein  angestammtes 
lehen  und  soll,  herangewachsen,  durch  Vermandois  entschädigt 
werden,  das  er  sich  aber  erst  von  den  sühnen  des  verstorbenen 
grafen  Herbert  erobern  muss.  Raoul  wütet  mit  mord  und  brand 
im  feindlichen  land  und  zerstört  Origny  mit  dem  dort  befind- 
lichen frauenkloster,  dessen  hundert  nonnen  elend  verbrennen, 
mit  ihnen  die  äbtissin  Marsent,  die  mutter  von  Raouls  knappen 
Bernier.  Darauf  geht  dieser  zum  feinde  über,  wo  er  übrigens 
seinen  vater  Ybert  de  Ribemont  findet,  und  tötet,  nach  mehreren 
ergebnislosen  Versöhnungsversuchen,  Raoul  im  Zweikampf. 
Dessen  neffe  Gautier  übernimmt  die  räche,  der  Zweikampf 
zwischen  ihm  und  Bernier  aber  bleibt  unentschieden,  ein  ver- 
söhnungsversuch  durch  könig  Ludwig  ohne  erfolg.  —  Hier 
beginnt  der  zweite,  kürzere  teil:  Bernier  versöhnt  sich  durch 
eine  heirat  mit  der  feindlichen  partei,  gerät  aber  in  die  ge- 
fangenschaft  des  Sarrazenenkönigs  Corsuble,  zeichnet  sich  hier 
durch  die  besiegung  eines  gefährlichen  feindes  des  königs  aus, 
erhält  die  freiheit  und  nimmt  sein  weib,  das  der  könig  unterdes 
schon  mit  dem  grafen  von  Ponthieu  verheiratet  hatte,  wieder 
in  besitz.  Nach  mancherlei  weiteren  abenteuern  wird  er  von 
dem  alten  Guerri,  seinem  eigenen  Schwiegervater,  erschlagen, 
als  er  diesen  an  dem  orte  der  tat  an  den  tod  seines  neffen 
Raoul  erinnert. 

Der  abschluss  wird  wieder  der  alten  dichtung  würdig, 
während  der  zweite  teil  im  übrigen  eine  Vereinigung  bekannter 
motive  ist.  Der  erste  teil  gibt  uns  ein  realistisch  geschildertes 
bild   der  inneren   zustände  unter  der  sinkenden  königsgewalt 


lM<>  VI.  Kapitel.    Das  Heldenepos  in  seiner  Blütezeit. 

zur  zeit  der  letzten  Karolinger.     Der  könig  Ludwig  der  chun- 
son  ist  Louis  IV  d'Outremer  (gestorben  954). 

Ausgabe:  Raoul  de  Cambrai  p.  p.  P.  Meyer  et  A.  Longnon, 
P.  1882  (Soc.  d.  anc.  t.).  Alt.  ausg.  von  E.  Le  Glay,  P.  1840  (Rom. 
d.  d.  pairs  VII).  Über  bruchstücke  einer  nenen  hs.  vgl.  A.  Bayot,  Revue 
des  bibliotheques  et  archives  de  Beige  IV,  412  fF.  Proben  in  P.  Meyers 
Recueil  253  ff.  und  Constans'  Chrestomatie  47  ff.  —  W.  Kalbfleisch, 
Die  Realien  in  R.  d.  C,  Giessener  Diss.  1897.  Jean  Acher,  Les 
archaismes  apparents  dans  la  Chanson  de  R.  d.  C,  Rdlr  50  (1907) 
237  ff.  (auch  sep.).  F.  Settegast,  ZrP  31  (1907)  588  ff.  G.  Bedier, 
Legendes  epiques  II,  317—439.  A.  Longnon,  Rom.  37  (1908)  193  ff, 
491  ff.:  38  (1909)  219  ff.  J.  Acher,  ZrP  34  (1910)  88  —  90,  Rdlr 
53  (1910)   101  ff. 


9.    Die  Lothringerepen. 

A.  Allgemeines.  Eine  fainilienfeb.de  wie  llaöul  be- 
handeln auch  die  Lothringerepen,  hier  aber  wird  die  fehde 
durch  mehrere  generationen  hindurch  fortgesetzt:  fünf  epen  aus 
verschiedenen  zeiten  und  von  verschiedenen  dichtem  siud  ihr 
gewidmet.  So  plastisch  aber  auch  die  davstellung,  wenigstens 
der  älteren  epen  der  gruppe,  ist,  so  real  die  hier  beschriebenen 
Vorgänge  scheinen,  so  ist  doch  bis  jetzt  ein  fester  historischer 
kern  des  ganzen  nicht  nachgewiesen.  Eine  reihe  von  neben- 
figuren  lassen  sich,  wie  F.  Lot  gezeigt  hat,  mit  historischen 
personen  des  11.  und  12.  Jahrhunderts  identifizieren,  die  haupt- 
personen  nicht.  Der  mangel  an  Zeugnissen  für  die  ehemalige 
existenz  eines  älteren,  einfacheren  epos,  die  genauigkeit  der 
geographischen  angaben  und  manches  andere  scheint  zu  der 
annähme  zu  nötigen,  dass  das  Lothringerepos  oder  richtiger 
der  den  ausgangspunkt  bildende  Garin  le  Loherenc  —  etwa 
in  der  ersten  hälfte  des  12.  Jahrhunderts  —  von  einem  hoch- 
begabten dichter  (die  autorschaft  Jeans  de  Flagy  ist  nicht 
ganz  gesichert)  ohne  historische  oder  epische  unterläge  er- 
funden und  gedichtet  wurde.  'Et  cepeiidaut'  fügen  wir  mit 
F.  Lot  hinzu  'nous  sentons  une  intime  r^pugnance  ä  admettre 
que  ce  beau  poeme,  si  vivant  d'allure  et  de  couleur  si  archaique, 
soit  fabriqu6e  de  toutes  pieces.  Le  fond  historique,  si  tant 
qu'il    existe,    n'est    sans    doute    qu'une    quereile    locale    entre 


'.'.    Lüthriugerepen:  Garin.  241 

persouDages  trop  insignitiants  pour  que  l'histoire  nous  ait  cou- 
serve  leurs  uoms.  Le  theYitre  de  la  lutte  etait  le  nord-est  de 
la  France  (il  s'agit  probablement  de  rivalites  entre  les  Lorrains 
et  leurs  voisins  imm^diats  de  l'Ouest).  L/auteur  du  XII L  siecle 
a  demesurenient  amplifie  et  leurs  personnes  et  le  theätre  de 
leurs  exploits.  Fromont  de  Lens  est  devenu  ainsi  le  ebef  des 
Bordelais  et  l'extension  geographique  de  la  lutte  a  donue  au 
poeuie  une  bonne  part  de  sa  grandeur.  Au  reste,  quand  bien 
meine  le  fonds  du  recit  serait  de  pure  invention,  1'auteur  in- 
connu  du  Garin  n'en  serait  pas  moins  uu  des  esprits  les  plus 
interessants  du  moyen  äge.  Nul  autre  ne  nous  donne  un 
tableau  aussi  frappant  des  passions  et  des  moeurs  feodales. 
Sans  doute  le  recit  est  diffus,  mais  le  style  n'est  pas  banal. 
Ses  qualites  de  pr^cision  de  franche  et  apre  rudesse  ont 
frapp^  les  juges  les  moins  prevenus  en  faveur  de  nos  vieilles 
epop^es.' 

B.  Gar  in  le  Loberenc.  Das  kernepos  des  zyklus  ist, 
wie  bereits  erwäbnt,  Garin.  Der  beld  ist  unter  Pippin  lebend 
gedacbt,  er  ist.  wie  Begue,  söhn  des  durch  seine  Sarrazenen- 
kärupfe  berühmten  Hervis  von  Metz.  Die  belehnung  Begues 
mit  dem  herzogtum  Gascogne  und  seine  bevorstehende  Ver- 
mählung mit  der  königstochter  von  Moriane  (d.  i.  das  arelatische 
königreich)  wecken  den  neid  und  den  hass  des  sogenannten 
geschlechts  der  Bordelesen.  Das  ist  der  pfalzgraf  Hardre, 
sein  bruder  Lancelin  von  Verdun  und  dessen  söhne  namens 
Fromont  und  seine  Schwiegersöhne  Haimon  von  Bordeaux  und 
Wilhelm  von  Biancafort.  Beim  ersten  feindlichen  zusammen- 
stoss  am  hofe  wird  Hardre  getötet.  Darauf  folgt  ein  langer 
krieg,  dessen  Schauplätze  die  gegenden  von  Cambrai,  Saint- 
Quentin,  Soissons  und  Bar-le-duc  sind.  Eine  Verleumdung  von 
Seiten  der  Bordelesen  wird  durch  Zweikampf  zu  gunsten  der 
Lothringer  entschieden,  indem  Begue  Fromonts  neffen  Isore" 
tötet.  Aber  nach  einer  zeit  der  ruhe  beginnen  die  Bordelesen 
von  neuem  den  krieg,  der  diesmal  im  Süden  Frankreichs  ge- 
führt, jedoch  schliesslich  durch  einen  regelrechten  frieden  be- 
endet wird.  Aber  die  ermordung  Begons  durch  versehen  eines 
Bordelesen  auf  der  jagd  ruft  neuen  krieg  hervor.  Für  den 
gefallenen  bruder  nimmt  Garin  grausame  räche,  aber  am  ende 
wird  er  selbst  erschlagen. 

Voretzsch,  Studium  d.  afrz,  Literatur.     2.  Auflage.  16 


242  VI.  Kapitel.   Das  Heldenepos  in  seiner  Blütezeit. 

Formell  ist  noch  bemerkenswert  das  vorherrschen  der 
/-tiraden,  die  nur  gelegentlich  durch  solche  auf  e,  ie,  a  usw. 
unterbrochen  werden. 

C.  Girbert  de  Mes.  Girbert  ist  der  söhn  Garins.  Das 
ihm  gewidmete  epos  bildet  die  fortsetzung  des  ersten  und 
führt  die  handlung  mit  ähnlichen  motiven,  auch  in  ähnlichem 
stil  wie  jenes  weiter.  Neu  ist  jedoch  die  einfuhrung  der 
Sarrazenen  und  ihres  aus  dem  Roland  bekannten  königs  Mar- 
silie,  mit  denen  sich  Fromont  verbündet.  An  die  langobardische 
sage  von  Alboi'n  und  Rosamunde  erinnert  die  grausamkeit 
Girberts,  der  den  schädel  des  gefallenen  Fromont  zu  einer 
trinkschale  formen  und  diese  nachher  dem  söhne  des  er- 
schlagenen, Fromondin,  reichen  lässt.  Dieser  übt  blutige  räche, 
fällt  aber  schliesslich  selbst  Girbert  zum  opfer. 

Die  beiden  epen  sind  noch  nicht  vollständig  herausgegeben. 
Eine  gesamtausgabe  des  zyklus  hat  Stengel  begonnen,  wovon  bisher 
Hervis  de  Mes  (GrL  1,  Dresden  1903)  erschienen  ist  (s.  kap.  XII). 
Zahlreiche  vorarbeiten  Stengels,  sowie  dissertationen  seiner  schüler 
(meist  in  Stengels  AA)  sind  den  Lothringern  gewidmet  (vgl.  Stengels 
referate  im  JrP,  zuletzt  9,  II  s.  50  ff.,  11,  1,222  f.).  —  Garin,  zum 
grössten  teil  hersg.  von  P.  Paris,  1833 — 1835  (Rom.  d.  d.  pairs  IL 
III),  schlussteil  von  Ed.  Du  Meril,  La  mort  de  Garin  le  L.,  P.  1846, 
Bruchstück  von  Stengel,  Marburg  1910  (in  Festschrift  W.  Vietor 
dargebracht  =  Neuere  Sprachen,  Erg.- band).  Proben  bei  Bartsch 
Chr.  s.  63  ff.  und  Bartsch  et  Horning  111  ff.  Vgl.  F.  Lot,  L'element 
historique  de  Garin  le  Lorrain,  in  Etudes  d'histoire  dddiees  ä  Gabriel 
Monod,  P.  1896,  s.  201  ff.  —  Zu  Girbert  siehe  Suchier,  Böhmers 
Rom.  Stud.  1,  376  ff;  Stengel,  ebda.  1,  442  ff,  ZfSL  19  (1897)  297  ff, 
23,  271  ff,  Foersterband  71  ff.  und  Vollmöllerband  s.  141  ff-, 
Th.  Gärtner,  ZrP  30  (1906)  733  ff. 

Im  folgenden  Jahrhundert  wurde  die  geste  noch  erweitert  durch 
ein  einleitungsepos,  den  oben  erwähnten  Hervis  de  Mes,  der  die- 
liebesgeschichte  und  die  heldentaten  von  Garins  vater  erzählt,  sowie 
durch  zwei  fortsetzungen,  Ansei's  de  Mes  und  Yon,  sodass  der 
zyklus  im  ganzen  fünf  epen  von  etwa  36  000  versen  zählt.  Das 
Garinepos  wurde  im  15.  Jahrhundert  in  alexandrinerverse  und  mit 
mehreren  anderen  epen  des  zyklus  im  15.  Jahrhundert  in  prosa 
umgesetzt.  Von  fremden  literaturen  hat  die  niederländische  den 
zyklus  als  Eoman  der  Lotreinen  (2.  hälfte  des  13.  jhs.)  übernommen, 
wovon  eine  reihe  von  fragmenten  im  umfange  von  etwa  10  000  versen 
erhalten  sind.    Vgl.  G.  Huet,  Rom.  21  (1892)  361  ff,  34  (1905)  1  ff. 


10.    Aye  d'Avignon  nnd  die  Geste  de  Nanteuil.  243 

10.    Aye  d'Avignon  und  die  Geste  de  Nanteuil. 

A.  Aye  d'Avignon.  Während  die  Lothringerepen  sich 
mit  der  darstellung  realer  Vorgänge  befassen  und  einen 
historischen  Untergrund  wenigstens  ahnen  lassen,  befinden  wir 
uns  in  dem  epos  von  Aye  auf  dem  boden  der  phautasie.  Wir 
wissen  nicht  einmal  genau,  wo  das  hier  genannte  Nanteuil, 
der  sitz  der  familie,  zu  suchen  ist:  nach  dem  ersten  teil  des 
epos  im  Süden,  in  der  unteren  Rhonegegend,  nach  dem  zweiten 
vielmehr  im  norden,  an  der  grenze  von  Frankreich,  Lothringen 
und  Deutschland,  zwischen  Argonnerwald  und  Maas,  was  am 
ehesten  auf  das  heutige  Nantillois,  im  norden  des  d^partements 
Meuse,  zutrifft.  Aye  ist  mit  Garnier  von  Nanteuil,  Doons 
söhn,  verheiratet,  wird  von  Ganelons  söhn  Berengier  —  nach- 
dem dieser  den  Garnier  beim  könig  erfolglos  verleumdet  hat  — 
nach  Spanien  entführt,  von  dem  emir  Ganor  von  Aigremore, 
in  dessen  bände  sie  darauf  fällt,  in  dem  entlegenen  türm  von 
Aufalerne  gefangen  gehalten  und  schliesslich  von  könig  Marsile 
beansprucht.  Darüber  kommt  es  zwischen  den  beiden  Sarra- 
zenenkönigeu  zum  kämpf,  an  welchem  Ayes  gatte  Garnier  un- 
erkannt auf  Seiten  Ganors  teilnimmt,  um  schliesslich  glücklich 
mit  ihr  nach  hause  zu  gelangen.  Die  hiermit  zum  abschluss 
gebrachte  handlung  wird  durch  einen  fortsetzer  weitergeführt, 
welcher  Garniers  tod,  Ganors  bekehrung  und  seine  Vermählung 
mit  Aye  hinzudichtet.  Einflüsse  des  höfischen  romans,  nament- 
lich der  byzantinischen  entführungs-  und  seegeschichten,  ist 
unverkennbar.  Daneben  sind  aber  auch  historische  personen 
des  9.  Jahrhunderts  durch  irgendwelche  Zwischenstufen  in  die 
dichtung  übergegangen. 

B.  Gui  de  Nanteuil.  Gui  ist  der  söhn  von  Garnier  und 
Aye,  seine  Schicksale  sind  denen  der  eitern  nachgebildet.  Von 
Ganelons  verwanten  bei  hofe  verleumdet,  besiegt  er  im  Zwei- 
kampf den  Verleumder  Hervieu  von  Lyon,  gerät  mit  Karl,  der 
die  Verleumder  begünstigt,  in  krieg,  wird  in  Nanteuil  belagert 
und  gewinnt  schliesslich  Eglantine,  die  tochter  Yons  de  Gas- 
cogne,  seinen  feinden  zum  trotz,  zum  weibe.  —  In  dem  bruch- 
stück  einer  romanze  (Bartsch  1, 13)  heisst  das  liebespaar  Gui 
und  Aigline:  Ja  s'cntramoient  Aigline  et  li  quens  Guts  — 
Guts  ahne  Aigline,  Aigline  aime  Guion.     Der  Zusammenhang 

16* 


211  VI.  Kapitel.    Das  Heldenepos  iu  seiner  Blütezeit. 

beschränkt   sich   wol   darauf,   dass   der   romanzendichter  das 
namenspaar  aus  dem  epos  entnahm. 

C.  Doou  de  Nanteuil.  Doon  wird  schon  in  Aye  als 
Garniers  vater  genannt,  der  Renaut  de  Montauban  kennt  ihn 
als  bruder  von  Aimon  de  Dordogne,  Bovon  d'Aigremont  und 
Girart  von  Koussilon  und  weiss  von  der  wegnähme  seines 
Schlosses  Nanteuil  durch  kaiser  Karl.  Damit  ist  Doon  in  die 
geste  der  rebellen  eingereiht.  Ein  gedieht  des  12.  Jahrhunderts 
über  ihn  und  seinen  kämpf  gegen  Karl  den  Grossen  lässt  sich 
aus  verschiedenen  anspielungen  mit  ziemlicher  Wahrscheinlich- 
keit erschliessen.  Einer  Überarbeitung  dieses  verlorenen  epos 
aus  der  ersten  hälfte  des  13.  Jahrhunderts  durch  Huon  de 
Villeneuve  gehören  die  von  Claude  Fauchet,  einem  gelehrten 
des  16.  Jahrhunderts,  überlieferten  fragmente  an.  Wie  die 
übrigen  epen  des  zyklus,  war  das  remaniement  in  zwölf- 
silbnern  verfasst,  aber  mit  sechssilbigem  tiradenschluss,  was 
auf  bekanntschaft  mit  einem  teil  der  Wilhelmsepen  weist. 

Aye  d'Avignon,  p.  p.  F.  Guessard  et  P.  Meyer,  P.  1861  (Anc. 
po.  d.  1.  Fr.).  Vergl.  Ad.  Mussafia,  Handschriftf.  Studien  II,  323  ff. 
(Wiener  Sitz.- Berichte,  Phil.-hist.  Klasse,  bd.  42,  1863).  P.  Meyer, 
Fragment  d'un  ms.  d'A.  d'A.,  Rom.  30  (1901)  489  ff.  R.  Oesten,  Die 
Verfasser  der  afr.  Ch.  d.  g.  A.  d'Av.  Marb.  Diss.  1884.  F.  Lot,  Notes 
historiques  sur  A.  d'Av.,  Rom.  33  (1904),  145  ff.  Anton  Wihrler, 
Über  die  Sprache  der  afr.  Ch.  d.  g.  A.  d'A.,  Diss.  Würzburg  1909.  — 
Gui  de  Nanteuil  p.  p.  P.  Meyer,  P.  1861  (Anc.  po.  d.  1.  Fr.).  —  Über 
Doon  de  N.  siehe  P.  Meyer,  Rom.  13  (1884),  1  ff. 

Im  13.  Jahrhundert  wurde  die  geste  durch  Parise  Ja  duchesse, 
im  14.  Jahrhundert  durch  Tristan  de  Nanteuil  erweitert.  Jene  ist 
die  Schwester,  dieser  der  söhn  Guis. 


11.    Amis  und  Amiles  und  die  Geste  de  Blaye. 

Noch  mehr  als  die  geste  de  Nanteuil  treten  die  beiden 
epen  von  Amis  und  Amiles  und  von  Jourdain  de  Blaivies 
(Blaye)  aus  dem  eigentlichen  rahmen  der  chansons  de  geste 
heraus,  indem  sie  erzählungen  fremden  Ursprungs  in  legen- 
darischer  Verkleidung  einführen  oder,  wie  der  Jourdain,  einen 
lateinischen  roman  auf  ihren  beiden  übertragen.  Beide  dichtungen 


11     Geste  de  Blayc:   Amis  und  Amiles.  245 

zeigen  am  schluss  ihrer  assonierenden  zehnsilbuertiradeu  den 
sechssilbigen  kurzvers  (vgl.  s.  188  f.).  Nach  den  einen  geboren 
sie  noch  in  das  ende  des  12.,  nach  den  anderen  in  den  aofang 
des  13.  Jahrhunderts.  Der  Verfasser  des  Jburdain  war  ein 
anderer  als  der  des  Amis,  er  ist  jedenfalls  jünger  als  dieser 
und  wol  erst  in  die  ersten  Jahrzehnte  des  13.  Jahrhunderts 
zu  setzen. 

A.  Amis  und  Amiles.  Das  epos  ist  das  hohe  lied  der 
freundschaft.  Die  beiden  alliterierenden  namen,  deren  etyma 
in  Ainicus  und  Aemilius  zu  suchen  sind,  bezeichnen  zwei  treue 
freunde,  die  einander  zum  verwechseln  gleichen.  Ihr  gegen- 
spieler  ist  der  böse  Hardr£,  der  auch  aus  Lothringerepos, 
Ogier  u.  a.  bekannt  ist.  Er  zeigt  Amiles  beim  kaiser  an,  weil 
er  sich  mit  des  kaisers  tochter  Belissent  vergangen.  Amiles, 
der  tat  schuldig,  findet  keine  bürgen  für  den  gottesgericht- 
lichen Zweikampf.  Da  tritt  Amis  unerkannt  an  seine  stelle, 
während  unterdes  Amiles  den  platz  des  freundes  neben  dessen 
gemahlin  Lubias  in  Blaivies  einnimmt,  besiegt  und  tötet  Hardre, 
Karl  verlobt  dem  sieger  seine  tochter.  Nun  tauschen  die 
freunde  die  rollen  wieder,  Amis  kehrt  nach  Blaivies  zurück, 
Amiles,  mit  Belissent  getraut,  zieht  mit  ihr  nach  Riviers. 
Die  strafe  des  himmels  für  den  betrug  trifft  den  Amis,  er 
wird  aussätzig.  Seine  gattin  Lubias  verstösst  und  verfolgt  ihn, 
mit  zwei  treuen  dienern  verlässt  er  das  land,  irrt  jahrelang  in 
aller  weit  umher  und  gelangt  schliesslich  nach  Riviers,  wo 
die  beiden  freunde  sich  wiederfinden  und  erkennen.  Eine 
engelserscheinung  meldet  dem  Amis,  dass  sein  aussatz  durch 
das  blut  der  kinder  seines  freundes  geheilt  werden  könne. 
Amiles,  durch  den  freund  davon  unterrichtet,  opfert  nach  kurzem 
seelenkampf  seine  beiden  knaben,  Amis  wird  geheilt,  aber 
durch  die  gnade  Gottes  werden  auch  die  geopferten  kinder 
wieder  lebendig.  Gemeinsam  unternehmen  die  beiden  freunde 
eine  pilgerreise  nach  dem  heiligen  grabe  und  gemeinsam 
sterben  sie  auf  der  rückreise  in  Mortiers  (Mortara)  in  der 
Lombardei. 

Der  zweite  teil,  die  heilung  des  aussatzes  durch  unschuldiges 
kinderblut,  entspricht  einem  weitverbreiteten  märchen  (bei 
Grimm  „Der  treue  Johannes"),  der  erste  teil  von  den  gleichen 
freunden  oder  brüdern  ist  gleichfalls  volkstümlichen  Ursprungs 


246  VI.  Kapitel.    Das  üeldcncpos  in  seiner  Blütezeit. 

(„Die  zwei  Brüder",  bei  Grimm  no.  60  und  85),  auch  dass  der  eine 
den  anderen  bei  dessen  frau  vertritt  und,  wie  Amiles  bei  Lubias, 
das  trennende  scbwert  zwischen  sich  und  jene  legt,  kehrt  im 
Volksmärchen  wieder,  dessen  thema  hier  in  unserem  gedieht 
ganz  ins  ritterliche  leben  versetzt  und  mit  epischen  zügen 
ausgeschmückt  ist.  Wenn  auch  der  eigentliche  Ursprung  der 
beiden  märchen  weiter,  wol  im  Orient,  zu  suchen  ist,  so  deutet 
doch  manches  —  wie  z.  b.  die  betonung  der  deutschen  abkunft 
der  beiden  freunde  in  der  lateinischen  Vita  —  darauf  hin,  dass 
Frankreich  die  erzählung  aus  dem  germanischen  märchen- 
schatz  bezogen  hat.  Die  älteste  schriftliche  bearbeitung  der 
an  Amicus  und  Amelius  geknüpften  sage  ist  die  lateinische 
Vita  aus  dem  ende  des  11.  Jahrhunderts,  welche  auch  schon 
die  Verbindung  des  ganzen  mit  Karl  dem  Grossen  kennt  und 
mit  unserer  dichtung  so  übereinstimmt,  dass  sie  nur  die  wieder- 
gäbe einer  älteren,  verlorenen  dichtung  oder  die  quelle  der 
uns  überlieferten  sein  kann.  Die  anknüpfuug  an  die  Karlssage 
ist  im  übrigen  willkürlich:  mit  der  sage  von  Eginhard  und 
Emma,  die  man  früher  zur  erklärung  herangezogen  hat,  steht 
das  gedieht  nicht  in  beziehung. 

B.  Jourdain  de  Blaivies.  Ungleich  anderen  nach- 
dichtern,  welche  die  motive  zu  ihren  fortsetzungen  im  wesent- 
lichen aus  dem  originalgedicht  holen  (vgl.  Lothringer,  Gui 
de  Nanteuil  u.  a.),  hat  der  Verfasser  des  Jourdain  einen  ganz 
neuen,  fremden  stoff,  den  Apolloniusroman  (vgl.  oben  s.  41), 
auf  seinen  holden  übertragen.  Jourdain  ist  der  söhn  des 
schon  im  vorigen  gedieht  erwähnten  Girart  und  durch  diesen 
enkel  des  Amis.  Girart  wird  durch  den  schlimmen  Fromont, 
Hardre\s  söhn,  getötet,  und  um  wenigstens  den  jungen  Jourdain 
zu  retten,  gibt  der  getreue  Renier,  der  ihn  aus  der  taufe  ge- 
hoben, seinen  eigenen  knabeu  für  jenen  hin.  Herangewachsen, 
tötet  Jourdain  den  königsneffen  Lohier  —  wie  Ogier  in  dem 
ihm  gewidmeten  gedieht  —  flieht  übers  meer,  entkommt  glück- 
lich den  Seeräubern,  in  deren  gewalt  er  gefallen,  und  gewinnt 
im  fremden  land  die  gunst  des  königs  Marque  durch  seine 
fechtkunst  und  die  hand  der  königstochter  Oriabel  durch 
seine  heldentaten  gegen  die  Sarrazenen.  Aber  auf  einer  meer- 
fahrt verliert  er  die  gattin,  welche  die  abergläubischen  Schiffer 
nebst   ihrem   neugeborenen   kind   aussetzen,   um   ein   Unwetter 


11.  Geste  de  Iilaye:  Jourdain  de  Blaivies.  247 

zu  beschwören.  In  der  folge  werden  auch  mutter  und  kind 
voneinander  getrennt,  die  erste  lebt  jahrelang  als  eingemauerte 
klansnerin  in  Palermo  neben  der  kirehe,  bis  sie  der  gatte 
wiederfindet.  Auch  der  getreue  Renier,  der  den  herrn  zu 
suchen  ausgegangen  ist,  läuft  dem  paar  zur  rechten  zeit  in  die 
bände,  zuletzt  wird  noch  die  verschollene  tochter  ausfindig 
gemacht,  welche  kaiserin  von  Konstantinopel  wird,  während 
Jourdain  mit  Oriabel  das  reich  des  verstorbenen  königs 
Marque  übernimmt.  —  Es  ist  dem  dichter  gelungen,  die  im 
stil  der  chansons  de  geste  gehaltene  einleitung  und  Über- 
leitung von  1200  versen  (bis  zur  flucht  des  helden  übers 
meer)  gut  mit  dem  romanhaften  hauptteil  zu  verbinden.  Das 
nachwirken  der  dichtung  lässt  sich  in  späteren  werken, 
wie  Huon  de  Bordeaux  und  Aucassin  et  Nicolete,  deutlich 
beobachten. 

Ausg.  von  Konrad  Hofmann,  Amis  et  Amiles  und  Jourdains 
de  Blaivies,  1852,  21882.  Dazu  P.  Schwieger,  ZrP  9  (1895)  419  ff. 
H.  Andresen,  ZrP  10,  481  f.,  16,  223  ff,  28  (1904)  571  ff  — 
Vgl.  P.  Schwieger,  Die  Sage  von  Amis  und  Amiles,  Progr. 
B.  1885.  Über  die  märchenhaften  demente  vgl.  Brüder  Grimm, 
Kinder-  und  Hausmärchen  III,  zu  no.  6  und  60  (die  zwei  Brüder), 
Nyrop-Gorra  s.  195,  R.  Köhlers  Kl.  Schriften  I  u.  II  (siehe  register), 
A.  Potter,  Publications  of  the  modern  language  association  23  (1908) 
471  ff.  Zum  trennenden  schwert  vgl.  B.  Heller,  Rom.  36  (1907) 
37  ff,  37,  162 f.  —  J.  Koch,  Über  J.  d.  Bl.,  Diss.  Königsberg  1875. 
Über  den  Apolloniusroman  s.  die  oben  s.  41  zitierte  lit.  F.  Ropohl, 
Das  Verhältnis  des  Assonanzenteils  zum  Reimteile  im  afr.  Apollonius- 
roman  (Jourdains  de  Blaivies),  Diss.  Kiel  1908.  Zum  Apollonius- 
roman vgl.  noch  unten  kap.  X,  7. 

Für  die  weitere  beliebtheit  der  erzählung  von  Amis  und 
Amiles  zeugen  eine  kürzende  anglonormannische  bearbeitung  in 
achtsilbnern  aus  der  1.  hälfte  des  13.  Jahrhunderts,  eine  alexandriner- 
version  des  14.  Jahrhunderts,  mehrere  prosabearbeitungen  des  14. 
und  15.  Jahrhunderts  und  ein  mirakelspiel,  schliesslich  das  Volks- 
buch des  16.  Jahrhunderts.  Aus  der  anglon.  bearbeitung  ging  ein 
englisches  gedieht  hervor,  Amis  and  Amiloun  (zugleich  mit  der 
altfr.  quelle  hersg.  von  Kölbing  1889,  Engl.  Bibl.  II).  Über  alt- 
nordische, dänische,  deutsche,  spanische,  ital.  und  lat.  bearbeitungen 
s.  Hofmans  einleitung.  Ea  ist  einer  der  beliebtesten  erzählungs- 
stoffe  des  mittelalters. 


248  VI.  Kapitel.   Das  Heldenepos  in  seiner  Blütezeit. 


12.    Bertrand  de  Bar-sur-Aube. 

Nachdem  wir  die  epik  bis  an  die  schwelle  des  13.  Jahr- 
hunderts begleitet  haben,  reihen  sich  als  abschluss  passend 
die  dichtungen  des  Bertrand  de  Bar-sur-Aube  an,  der  schon 
die  drei  gesten  unterscheidet,1)  zur  zyklischen  ausbildung, 
namentlich  der  Wilhelmsgeste,  durch  selbständige  erfindung 
selbst  viel  beigetragen,  aber  durch  die  wähl  der  Stoffe  und 
ihre  behandlung  auch  wieder  den  Zusammenhang  zwischen 
den  verschiedenen  zyklen  gewabrt  hat.  Die  beiden  epen,  die 
er  verfasst  hat,  Aimeri  de  Narbonne  und  Girart  de  Viane, 
gehören  äusserlich  dem  Wilhelmszyklus  (geste  de  Garin  de 
Monglane)  an,  bieten  aber  beide  auch  beziehungen  zur  geste 
du  roi,  indem  Aimeri  an  das  Rolandslied  angeknüpft  wird  und 
Girart  in  die  handlung  Roland  und  Olivier  einführt;  das  letzte 
epos  liesse  sich  zugleich  auch  als  rebellenepos  auffassen. 

A.  Der  Dichter.  Bertrand  war  kleriker  und  dichtete 
nach  Suchier  um  1200,  nach  anderen  etwas  später,  zwischen 
1200  und  1220.  Er  hat  die  überkommene  epik  mit  individueller 
gestaltungskraft  weitergebildet,  aber  unter  Währung  ihres 
eigentlichen,  heldenhaften  Charakters.  Suchier  charakterisiert 
ihn  folgendermassen :  „Er  hat  einen  so  feinen  Sinn  für  das 
echt  Epische,  für  fesselnde  Situationen,  für  ergreifende  Züge 
wie  kein  anderer  Dichter  des  französischen  Mittelalters.  Die 
Personen,  die  er  uns  vorführt,  strotzen  von  Kraft  und 
Wildheit,  sprudeln  über  von  Jugendlust  und  Tatendrang.  Ihr 
kriegerischer  Mut  reisst  den  Hörer  mit  sich  fort  und  erfüllt 
ihn  mit  verwegenem  Selbstvertrauen,  mit  jener  Sieges- 
trunkenheit, die  hervorzurufen  man  gelegentlich  den  Spielmann 


')  N'ot  ke  trois  gestes  en  France  la  garnie: 

Dou  roi  de  France  est  la  plus  seignorie  . .  . 
Et  l'autre  apres,  bien  est  droit  que  je  die, 
Est  de  Doon  a  la  barbe  florie, 
Cil  de  Maience  qui  tant  ot  baronie  .  .  . 
La  tierce  geste,  qui  uiolt  fist  a  proisier, 
Fu  de  Garin  de  Monglane  le  fier. 

Garin  gilt  als  Stammvater  der  familie  Wilhelms,  dessen  urgrossvater 
er  in  der  dichtung  ist,  Doon  als  Stammvater  der  empörergeste. 


12.  Bertrand  de  Bar-sur-Aube:  Aitueri  de  Narbonne.  249 

mit  in  die  Schlachten  führte.  Charakteristisch  ist  für  Bertrant 
die  Vorliebe  für  Sentenzen  .  .  .  Er  wendet  sie  vielleicht 
etwas  zu  häufig  an;  doch  weiss  er  ihnen  oft  eine  gehaltvoll 
knappe,  an  Shakespeares  Ausdrucksweise  gemahnende  Form 
zu  geben/' 

B.  Aimeri  de  Narbonne.  Graf  Aimeri  wird  als  vater 
Wilhelms  von  Orange  schon  in  der  'Karlsreise'  genannt.  Ihm 
widmet  Bertrand  seine  dichtung.  Da  Wilhelm  infolge  der 
sagenentwicklung  zum  Zeitgenossen  Ludwigs  des  Frommen 
geworden  ist  (s.  oben  s.  203),  so  ist  logischerweise  sein  vater 
Aimeri  Zeitgenosse  Karls  des  Grossen,  dem  ihn  ßertrand  an 
bedeutung  kühn  an  die  seite  stellt:  Verließ  est,  en  escrit  le 
Wovon,  —  Que  iVAymeri  et  del  fort  roi  Charlon  —  Doivent 
mis  estre  en  estoire  li  non,  —  Cur  par  ces  deus,  de  verte  le 
sauon,  —  Fu  deffändue  a  force  et  a  banclon  —  Crestiente  entor 
et  environ.  Karl  hat  soeben  den  tod  der  zwölf  pers  bei 
Roncevaux  an  den  Sarrazenen  gerächt  und  reitet  betrübt  mit 
dem  rest  seines  heeres  nach  Frankreich  zurück,  als  er  nahe 
am  meer,  auf  einem  hügel,  eine  stolze,  wolbefestigte  stadt 
gewahrt  und  sogleich  erklärt,  sie  einnehmen  zu  wollen:  es  ist 
Narbone  (Narbonne),  wie  der  kundige  Naimes  ihm  zu  melden 
weiss.  Aber  keiner  der  beiden,  den  Karl  mit  der  noch  un- 
eroberten  Stadt  belehnen  will  (wie  ja  auch  Wilhelm  sich  sein 
leben,  Nimes  und  Orange,  erobern  muss),  weder  Dreves  von 
Mondidier  und  Richard  von  der  Normandie,  noch  Girart  von 
Roussillon  und  andere  tragen  verlangen  nach  solchem  leben. 
Karl  will  im  unmut  darüber  Narbonne  gar  allein  belagern,  als 
ihm  Hernaut  de  Beaulande  seinen  jungen  söhn  Aimeri  bringt. 
Im  vertrauen  auf  Gott  übernimmt  dieser  das  schwierige  leben, 
Narbonne  wird  unter  hervorragender  teilnähme  Aimeris  an 
der  entscheidung  durch  Karl  erobert.  Hieran  schliesst  sich 
eine  brautwerbungssage  an:  Aimeri  verliebt  sich  auf  hören- 
sagen  hin  in  Hermengarde,  die  tochter  des  Langobardenkönigs 
Bonifaz  zu  Pavia.  Aimeri  wirbt  zuerst  durch  gesante,  dann, 
nach  erhaltenem  Jawort,  holt  er  die  braut  selbst  ein.  In  der 
Werbungsepisode  hat  der  dichter  viele  selbständige  zutaten 
angebracht.  Auf  die  hochzeit  folgen  neue  Sarrazenenkämpfe. 
Die  aufzählung  von  Aimeris  nachkommenschaft  macht  den 
beschluss,  es  sind,  ausser  fünf  töchtern,  sieben  söhne:  Bernard 


250  VI.  Kapitel.    Das  Heldenepos  in  seiner  Blütezeit. 

de  Brebant,  vater  von  Bertrand  le  palasin;  Guillanme  d'Orange; 
Garin  d'Anseüue,  vater  Viviens;  Hernaut  de  Gironde;  Bovon 
(Beuve),  vater  von  Girart  und  Gui,  die  Barbastre  eroberten; 
A'i'mer  le  Chetif,  der  eroberer  von  Venise;  Guibelin,  Aimeris 
nachfolger  und  erbe  in  Narbonne. 

C.  Girart  de  Viane  (Vienne).  Mit  diesem  epos  geht 
Bertrand  zur  nächstältesten  generation  über:  Girart  ist  der 
oheim  Aimeris,  bruder  Hernauts  de  Beaulande  und  söhn  Garins 
de  Monglane.  Dieser,  alt  und  verarmt,  sendet  seine  vier  söhne, 
Hernaut,  Milon,  Girart  und  Renier,  auf  gut  glück  in  die  weit. 
Die  beiden  letzten  treten  in  den  dienst  Karls  des  Grossen, 
Renier  erhält  die  stadt  Genf  zum  leben,  Girart  einige  zeit 
darauf  das  herzogtum  Burgund  nebst  der  band  der  verwitweten 
herzogin  zugesagt.  Aber  Karl  findet  selbst  an  ihr  gefallen  und 
heiratet  sie,  trotzdem  sie  lieber  den  Girart  gehabt  hätte.  Aber 
dieser  selbst  verschmäht  sie.  Die  kaiserin  rächt  sich,  indem 
sie  Girart,  der  für  Burgund  Viane  als  lehen  erhält,  zum 
huldigungskuss  ihren  nackten  fuss  anstelle  von  Karls  fuss  bietet 
und  bei  späterer  gelegenheit  den  dem  beiden  unbemerkt  ge- 
bliebenen schimpf  vorbringt.  Girart  fordert  rechenschaft  von 
Karl,  es  kommt  zum  kriege,  an  dem  auf  seiten  Girarts  seine 
brüder  und  auch  schon  seine  damals  noch  jungen  neffen  Olivier 
und  Aimeri  teilnehmen,  und  schliesslich  zur  siebenjährigen 
belagerung  des  beiden  in  Viane  durch  Karl.  Ein  Zweikampf 
zwischen  Roland  und  Olivier,  Reniers  söhn,  soll  über  den  aus- 
gang  entscheiden,  aber  nach  mehrtägigem,  unentschiedenem 
kämpf  trennt  ein  engel  die  Streiter,  die  aus  bitteren  gegnern 
treue  Waffenbrüder  werden.  Der  friede  wird  endlich  durch 
den  edelsinn  der  belagerten  herbeigeführt,  welche  zufällig  den 
kaiser  in  ihre  gewalt  bekommen,  ihn  aber  nicht  nur  schonen, 
sondern  um  gnade  anflehn.  Oliviers  Schwester  Alda  wird  mit 
Roland  verlobt,  aber  die  pflicht  gegen  Vaterland  und  glauben 
ruft  ihn  nebst  den  übrigen  beiden  alsbald  nach  Spanien,  von 
wo  die  Sarrazenen  das  reich  bedroheu.  So  bildet  das  ganze 
eine  passende  einleitung  zum  Rolandslied,  das  sichtlich, 
ebenso  wie  verschiedene  empörerepen,  auf  den  dichter  ein- 
gewirkt hat. 

D.  Kritische  Bemerkungen.  Beide  dichtungen  sind 
in    der    schon    öfter    erwähnten    form,    zehnsilbnertirade    mit 


12.  Bertrand  de  Bar-sur-Aube:   (Jirart  de  Viane.  251 

abschliessendem  kurzvers,  verfasst.  Nur  im  Girart  nennt  sieh 
Bertrand  als  dichter,  aber  nach  technik  und  stil  ist  ihm  mit 
Sicherheit  auch  der  Aimeri  zuzuschreiben.  In  beiden  werken 
sind  ältere  traditionen  benutzt,  aber  sehr  selbständig  und  frei 
gestaltet,  was  sichere  Schlüsse  auf  die  epischen  und  historischen 
grundlagen  sehr  erschwert.  Karl  Martell  hat  Narbonne  be- 
lagert und  einen  sieg  über  die  Sarrazenen  bei  dieser  stadr 
davongetragen:  das  mag  die  Übertragung  der  in  Wirklichkeit 
erst  unter  Pippin  erfolgten  eroberung  der  stadt  auf  ihn  (siehe 
Girart  von  Koussillon  v.  3257)  und  weiterhin  auf  Karl  den 
Grossen  (wie  hier,  wie  ferner  in  den  Ncrbonais,  im  Philomena) 
erklären.  Schon  die  belagerung  im  Haager  Fragment  (s.  oben 
s.  95  f.)  weist  nach  Suchier  eher  auf  Narbonne  als  auf  Gerona. 
So  sind  ältere  epische  Überlieferungen  von  der  eroberung 
Narbonnes  durch  Karl  den  Grossen  gewiss.  Die  dem  Aimeri 
hierbei  zugewiesene  rolle  gehört  mehr  oder  weniger  der 
poetischen  errindung  an,  die  Karlsreise  kennt  ihn  als  vater 
Wilhelms,  aber  noch  nicht  als  grafen  von  Narbonne.  Zu 
dieser  letzten  Umformung  mag  die  Übereinstimmung  seines 
namens  mit  den  beiden  vizegrafen  von  Narbonne  (1080 — 1105 
und  1105 — 1119)  beigetragen  haben,  von  denen  der  jüngere 
wirklich  eine  Hirmingard  zur  frau  hatte. 

Von  den  drei  hauptthemen  des  Girart  de  Viane:  ent- 
zweinng  Girarts  mit  Karl  wegen  der  herzogin  von  Burgund, 
belagerung  von  Viane,  Zweikampf  Oliviers  und  Rolands  nebst 
Aldas  Verlobung,  scheint  das  letzte  im  wesentlichen  der  er- 
findung  Bertrands  zu  gehören.  Hingegen  führt  die  belagerung 
auf  einen  historischen  ausgangspunkt  zurück,  auf  den  grafen 
Girart,  819 — 870,  und  seine  kämpfe  mit  Karl  dem  Kahlen, 
besonders  auf  die  belagerung  von  Vienne  870,  die  mit  der  ein- 
nähme der  von  Girarts  frau,  Berta,  verteidigten  stadt  und  der 
flucht  des  ehepaares  die  Rhone  hinunter  endete.  Derselbe  Girart 
hat  auch  anf  Gira/rt  de  lioussillon  eingewirkt  (siehe  oben):  beide 
dichtungen  schöpfen  wol  aus  einem  älteren  Girart  de  Viane. 
Ob  dieser  bereits  auch  das  motiv  von  der  weggenommenen 
braut  —  oder  von  der  „doppelhoehzeit",  wie  es  Jordan  nennt  — 
enthalten  hat,  muss  dahingestellt  bleiben  ebenso  wie  die  von 
demselben  forscher  vertretenen,  aber  nicht  genügend  gesicherten 
beziehungen  zu  Nibelungen  und  Hildesage. 


252  IV.  Kapitel.    Das  Heldenepos  in  seiner  Blütezeit. 

Ausgabe:  Ayraeri  de  Narbonne  p.  p.  L.  Demaison,  P.  1887, 
2  bdc.  (Soc.  d.  a.  t.).  Densusianus  versuch,  den  namen  Aimeris  in 
der  Karlsreise  für  interpoliert  zu  erklären  (Rom.  25,  481  ff.)  ist  nicht 
genügend  begründet.  L.  Karl,  A.  d.  N.  und  die  Heirat  Andreas'  II. 
von  Ungarn  mit  Beatrix,  ZfSL  31  (1907)  31  ff.  (wenig  wahrschein- 
liche historische  beziebungen).  —  Girard  deViane:  Le  Roman 
de  G.  de  V.  p.  p.  P.  Tarbe  (CoU.  des  poetes  de  Champ.  ant.  au 
16e  siecle),  Reims  1850.  P.  Meyer,  Fragments  de  G.  d.  V.,  Rom.  34 
(1905)  444  ff.  Vgl.  Elard  II.  Meyer,  ZdP  3  (1871)  422  ff.,  G.  Paris, 
Rom.  1  (1872)  101  ff.,  L.  Jordan,  Rom.  Forsch.  14,  322ff.  (die  von 
Jordan  auf  grund  arabischer  romane  konstruierte  „französische 
Nibelungenversion"  ist  abzulehnen).  Über  Olivier  s.  H.  Wendt,  Die 
O.-Sage  im  afr.  Epos,  Diss.  Kiel  1911.  —  Der  Aimeri  wurde  auf 
italienisch,  der  Girart  auf  niederländisch  und  altnordisch  (Karla- 
magnüssaga)  bearbeitet.  Über  die  Ermingerdr  der  Orkneyinga  Saga 
8.  H.  Gering,  ZdP  43  (1911)  428  ff.  —  Eine  franz.  umdichtung  des 
Girart  in  alexandriner  am  ende  des  13.  Jahrhunderts,  mit  Garin  de 
Moftglane  und  Galien  (s.  oben  s.  202)  zu  einem  kleinen  zyklus 
verbunden,  bildet  die  grundlage  der  prosabearbeitungen,  vgl.  Gustav 
Lichtenstein  in  Stengels  AA,  Marb.  1899;  vgl.  auch  Karl  Hartmann, 
Ü.  d.  Eingangsepisoden  d.  Cheltenhamer  Version  d.  G.  d.  V.,  Marb. 
Diss.  1889.  Aimeri  ging  als  prosa  in  den  prosaroman  von  Wilhelm 
von  Orange  über,  vgl.  W.  Scherping,  Die  Prosafassungen  des  A.  d.  N. 
und  der  Narbonnais,  Diss.  Halle  1911. 

Nicht  von  Bertrand  verfasst  wurden  die  von  Suchier  heraus- 
gegebenen Narbonais  (P.  1898,  2  bde.,  Sdat),  welche  die  früher 
als  zwei  besondere  epen  unterschiedenen  teile  Departement  des 
enfants  Aymeri  und  Siege  de  Narbonne  umfassen.  Der  inhalt  ist 
im  wesentlichen  der  gleiche  wie  in  den  Enfances  GuiUaume  (siehe 
oben),  nur  dass  die  Verbindung  mit  Oriabel  von  Orange  darin 
fehlt.  Ein  älteres  gedieht,  das  beiden  epen  als  vorläge  diente, 
darf  vorausgesetzt  werden. 


Schlussbemerkung.  Wie  bereits  die  besprechung  der  ein- 
zelnen epen  gezeigt  hat,  müssen  wir  vielfach  mit  dem  verlust 
älterer  epen  rechnen,  die  zum  teil  aus  den  vorliegenden  franz. 
dichtungen,  zum  teil  aus  fremden  bearbeitungen  zu  erschliessen 
sind.  So  bewahren  uns  altnordische,  niederl.  und  niederrheinische 
bearbeitungen  (Karlamagnüssaga  —  Karl  ende  Elegast  —  Karl- 
meinet) den  inhalt  eines  epos,  in  welchem  Karl  auf  Gottes  geheiss 
auf  diebstahl  ausgeht  und  dadurch  von  einer  gegen  sein  leben 
gerichteten  Verschwörung  erfährt.  Ebenso  bezeugen  fremde  be- 
arbeitungen die  existenz  eines  alten  epos  von  der  Königin  Sebille, 
das  franz.  nur  in  einem  fragment  von  200  versen  in  einer  hs.  des 
14.  Jahrhunderts  überliefert  ist  und  die  Verleumdung  und  Verfolgung 
der  unschuldigen  gemahlin  Karls  d.  Gr.  erzählte.     Ähnlichen  inhalt 


Schlussbemerkung. 

hatte  auch  das  uns  nur  im  deutschen  Karlmeinet  überlieferte,  jeden- 
falls jüngere  epos  von  Morant  und  Galienne.  Noch  andere  im 
franz.  nicht  mehr  vorhandene  epen  waren  Ospinel  (niederrheinisch), 
Laidon  (niederländisch),  Flovent  (s.  oben  s.  207). 

Wie  in  franz.  liss.  des  13.  Jahrhunderts  und  weiterhin  in  grossen 
kompilationen   macht   sich   teilweise  auch  im  ausländ  das  bestreben 
geltend,    die  verschiedenen    epen    zyklisch   zusammenzufassen,    teils 
in   anlehnung  an  franz.  Vorbilder,    teils  in  freier  kombination.     Die 
deutschen,  niederländischen  und  englischen  bearbeitungen  sind  meist 
einzeln,  nur  der  niederrheinische,  z.  t.  auf  niederländischen  vorlagen 
fussende    Karlmeinet     (s.    oben    s.  208),     aus     dem    anfang    des 
14.  Jahrhunderts,  fasst  mehrere  epen  —  Mainet,  Karl  und  Elegast, 
Morant    und    Galienne,    Rollant,   Ospinel  —  zu   einer  fortlaufenden 
erzählung    zusammen.    —  Was    von    altnordischen   bearbeitungen 
vorhanden  ist,  finden  wir  grossenteils  in  der  um  1300  auf  anlass  des 
königs   Häkon   Magnüssou    in  prosa  verfassten  Karlamagnüssaga 
in    chronologischer   Ordnung    vereinigt,    nämlich    Karl  d.  Gr.    (nach 
verschiedenen    quellen),    Olive    und   Landri   (verwant  mit  Doon   de 
la  Koche,  vgl.  kap.  XII),  Ogier,  Agoland  (d.  i.  Aspremont),  Guitalin 
(d.  i.  Guiteclin),   Otuel  (=  Otinel,   s.  kap.  XII),   Karlsreise,    Roland, 
Vilbjam    Korneis  (Moniage  Guillaume),  Tod  Karls  d.  Gr.     Ausgabe 
von  C.  R.  Unger,  Karlamagnüs  Saga  ok  kappa  hans,  Kristiania  1860. 
Auszug  von  G.  Paris  Bibl.  Ec.  Ch.  XXV.    Vgl.  Storm,  Sagnkredsene 
om  Karl  den  Store  og  Didrik  of  Bern  hos  de  nordiske  folk,  Kris- 
tiania 1874.      Die   Saga   ging    durch    Übersetzung   ins    schwedische 
(nur  fragmente)  und  ins  dänische  über:  Karl  Magnus  Kronike,  aus- 
gäbe von  C.  J.  Brandt  im  III.  bd.  der  Romantisk  digtning  fra  Middel- 
alderen,   Kjobenhavn  1877.   —   In   Italien   erscheinen    die    franz. 
epen  zuerst,  in  stärkerer  oder  geringerer  italianisierung  der  sprach- 
formen, als  sog.  franco-ital.  gedichte.     Eine  reihe  von  solchen  ver- 
einigt   das    mskr.  XIII    der    Marcusbibliothek    zu  Venedig:    Bovon 
d'Hanstone,  Berte,  Karleto  (Mainet),  Berte  e  Milon,  Ogier,  Macaire. 
Von  Oberitalien  gelangten  diese  und  andere  gedichte  nach  Toscana, 
wo   sie   in  vers   und  prosa  auf  toskanisch  bearbeitet  wurden.     Eine 
reihe  von   prosakompilationen   hat   der  im  jähre  1370  zu  Barberino 
bei  Florenz  geborene  Andrea  de'  Magnabotti  verfafst:    Reali  di 
Francia  (Fioravante,  Buovo  d'Antona,  Berte,  Karleto,  Berte  e  Milone) 
—  Aspremonte  —  Spagna  (Roland)  —  Seconda  Spagna  (Ansei's  de 
Cartage,  s.  kap.  XII)  —  Storie  Nerbonesi  (Nerbonais,  Couronnement, 
Charroi    de    NImes,    Prise    d'Orange,    Covenant   Vivien,    Aliscans, 
Foucon  de  Candie,  Moniage  Rainouart,  Mon.  Guillaume).     Ausgabe 
der  Reali  bd.  I  von  Rajna,  II  von  Vandelli,  Bologna  1872  u.  1892, 
der  Storie  Nerbonesi  von  I.  G.  Isola,  2  bde.,  Bologna  1877  und  1887. 
Vgl.  auch  oben  s.  237. 


Siebentes  Kapitel. 

Geschichtliche  Dichtung. 


Wie  gelegentlich  .schon  früher  bemerkt,  bildeten  die  auf 
dem  boden  der  sage  entsprossenen  chansons  de  geste  die 
geschichtliche  Überlieferung  des  volks.  Die  geschichte  in 
eigentlichem  sinn  ist  in  der  französischen  literatur  zunächst 
überhaupt  nicht  vertreten,  die  geschichtsschreibung  bleibt  den 
latein  schreibenden  klerikern  überlassen.  Es  lag  aber  nahe, 
sich  an  solche  lateinische  quellen  zu  wenden  und  sie  durch 
Übersetzungen  und  bearbeitungen  auch  dem  grossen  publikum 
zugänglich  zu  machen,  sobald  man  nach  anderen  perioden 
der  Vergangenheit  fragte,  über  welche  die  epische  dichtung 
und  die  mündliche  Überlieferung  nicht  mehr  genügend  unter- 
richtete. So  entstehen,  zuerst  in  England  am  normannischen 
hof,  die  sogenannten  reimchroniken,  die  im  wesentlichen 
auf  lateinischen  quellen  beruhen,  gelegentlich  aber  auch 
mündliche  Überlieferung,  soweit  sie  erreichbar  und  verwendbar 
war,  nicht  verschmähen.  Die  behandlung  zeitgenössischer  er- 
eignisse  in  form  der  reimchronik  folgt  darauf  ganz  von  selbst. 
Wir  haben  also  hier  überall  ein  mehr  oder  weniger  unmittel- 
bares Verhältnis  der  poetischen  darstellung  zur  geschichte 
selbst  oder  zur  geschichtlichen  (chronistischen)  erzählung  der 
Vergangenheit. 

Ein  ähnliches,  wenn  auch  nicht  ganz  das  gleiche  Ver- 
hältnis besteht  auch  für  die  darstellung  der  kreuzztige, 
besonders  des  ersten  kreuzzuges,  insofern  die  darstellung  hier 
dem  geschichtlichen  ereignis  noch  sehr  nahe  steht  und  viel- 
fach auf  chronistischen  berichten  beruht.     Indessen  haben  die 


1.   Kreuzzngscpen  255 

Verfasser  der  kreuzzugsdichtungen  von  vornherein  sorge  ge- 
tragen, diese  dem  stil  der  chansons  de  geste  anzupassen  und 
aus  ihnen  mehr  epen  als  reimchroniken  zu  machen.  Das  zeigt 
sich  auch  in  der  äusseren  form :  während  die  reimchronik 
zwischen  der  laissenform  der  epischen  dichtung  und  den  reim- 
paaren  der  geistlichen  und  höfischen  dichtung  schwankt,  sind 
die  kreuzzugsepcn  ausschliesslich  in  alexandrinerlaissen  ge- 
schrieben. Die  epische  Stilisierung  bringt  es  schliesslich  auch 
mit  sich,  dass  in  den  jüngeren  dichtangen  mehr  oder  weniger 
willkürlich  phantastische  elemente  auf  die  beiden  des  ersten 
kreuzzuges  und  ihre  vorgeblichen  ahnen  übertragen  werden. 
Die  kreuzzugsdichtungen  bilden  daher  weniger  einen  zyklus 
innerhalb  der  nati< malen  epik,  als  eine  mittelgattung  zwischen 
epischer  dichtung  und  reimchronik,  und  jn  der  tat  gehen  ihre 
anfange  der  entstehung  der  reimchronik  voraus:  die  kreuzzüge 
haben,  wie  des  öfteren  gesagt  worden  ist,  die  geschicht- 
schreibung  in  der  vulgärsprache  hervorgerufen. 


1.   Kreuzzugsepen. 

A.  Allgemeines.  G.  Paris  bezeichnet  in  seiner  literatur- 
geschichte  das  Verhältnis  der  ältesten  kreuzzugsdichtungen  zu 
den  faits  historiques  —  im  unterschied  von  den  chansons  de 
geste  —  folgendermassen :  'ils  les  racontaient  presque  exacte- 
ment;  ils  n'avaient  gtfere  de  la  poesie  que  la  forme,  au  fond 
ils  £taient  de  Thistoire.  Aussi  l'inspiration  epique  leur  fait- 
elle  generalement  defaut.  A  cet  el^ment  historique  s'est 
jointe,  dans  les  poemes  que  nous  avons,  l'invention  pure  et 
simple  des  Jongleurs  francais.'  Solche  historische,  teilweise 
zeitgenössische  gedichte  auf  den  ersten  kreuzzug  werden  uns 
mehrfach  aus  Nord-  und  Südfrankreich  bezeugt:  so  durch  den 
Chronisten  Lambert  von  Ardres  (anfang  des  13.  Jahrhunderts, 
in  seiner  geschichte  der  grafen  von  Guines)  eine  französische 
chanson  de  geste  (cantilena)  des  12.  Jahrhunderts,  während  bei 
den  Provenzalen  schon  graf  Wilhelm  IX.  von  Poitiers  (siehe 
oben  s.  42  f.)   seine  erlebnisse  auf  dem  kreuzzug  und  Gregoire 


256  VII.  Kapitel:  Geschichtliche  Dichtung. 

Bechada,  zwischen  1106  und  1137,  die  eroberung  des  heiligen 
landes  geschildert  hat.  Diese  dichtungen  sind  samt  und  sonders 
verloren.  Um  1130  schrieb  Richard  der  pilger  haupt- 
sächlich nach  den  lateinischen  Chroniken  Alberts  von  Aachen 
und  Peter  Tudebods  seine  chanson  de  geste  über  die  einnähme 
von  Antiochia,  die  uns  in  einer  Umarbeitung  durch  Graindor 
de  Douai  aus  dem  ende  des  12.  Jahrhunderts  erhalten  ist. 
Dieses  gedieht  bildet  den  ausgangspunkt  der  ganzen  kreuz- 
zugsepik.  An  dieses  schloss  sich  alsbald  eine  fortsetzung  an, 
welche  die  eroberung  von  Jerusalem  behandelte  und  gleichfalls 
durch  Graindor  überarbeitet  wurde.  Zu  diesen,  in  der  haupt- 
sache  geschichtlichen  dichtungen  treten  alsdann  die  genea- 
logischen gediente  freier  erfindung  oder  willkürlicher  Über- 
tragung. 

Vgl.  im  allgemeinen:  P.  Paris,  Hist.  litt.  XXII,  351  ff.  — 
H.  Pigeonneau,  Le  cycle  de  la  Croisade  et  de  la  famille  de  Bouillon, 
St.  Cloud  1877.  —  Nvrop-Gorra,  Storia  dell  epopea  francese  s.  214  ff. 
G.Paris,  Lit.  §  29,  85  ff.  Gröber,  Lit.  471  f.,  574  ff,  813  ff.  Suchier, 
s.  49  ff. 

B,  Chanson  d'Antioche  und  Chanson  de  Jerusalem. 
Graindor,  der  Uberarbeiter  beider,  hat  die  alten  assonanzen  in 
reime  verwandelt  und  sich  auch  im  übrigen  allem  anschein 
nach  im  wesentlichen  auf  formelle  änderungen  beschränkt. 
Der  ursprüngliche  Verfasser  des  zweiten  gedichts  hat  mehr 
aus  mündlichen  berichten  von  teilnehmern  als  aus  schriftlichen 
quellen  (wie  Richard  le  pelerin)  geschöpft,  auch  das  volk 
gegenüber  den  rittern  mehr  zur  geltung  kommen  lassen.  In 
der  überlieferten  form  tritt  die  anlehnung  an  das  Vorbild  der 
chansons  de  geste  deutlich  hervor.  Wie  so  viele  derselben, 
beginnt  unsere  dichtung  mit  einer  anrede  an  das  publikum, 
die  um  ruhe  bittet  und  das  thema  ankündigt:  Seigneur,  soies 
en  pais,  laissies  la  noise  ester  —  Se  vous  voles  chancon  gloriose 
escouter.  —  Ja  de  nule  millor  ne  vous  dira  jougler:  —  C'est 
de  la  sainte  vile  qui  tant  fait  a  loer,  —  Ou  Dieus  laissa  son 
cors  et  plazier  et  navrer  .  .  .  Die  Sarrazenen  werden  wie  in 
den  alten  epen  als  la  pute  gent  averse  bezeichnet  und  mit  den 
Esclavon  zusammengeworfen;  redensarten  wie  Esvous  par  la 
bataille  Godefroi  de  Bouillon  sind  dem  stil  der  chansons  de 
geste  entnommen. 


1.  Kreuzzugsepen:  Autioche,  Jerusalem,  Chev.  au  cygne.  257 

Die  erzählung  beginnt  mit  der  kreuzigung  Christi,  der 
dem  gläubigen  Bchäoher  bereits  den  kreuzzug  prophezeit,  be- 
richtet dann  den  verunglückten  zug  Peters  des  Einsiedlers 
und  in  historischer  folge  die  Vorbereitungen  zum  kreuzzug, 
den  aufenthalt  in  Konstantinopel,  die  einnähme  von  Nicäa, 
sehr  ausführlich  die  belagerung  und  einnähme  von  Antiochia, 
belageruug  durch  die  Türken  und  entsatz.  Dem  Gottes- 
streiter Turpin  im  Rolandslied  gleicht  hier  der  bischof  von 
Puy,  der  gewappnet  in  den  kämpf  zieht  und  die  heilige  lanze 
trägt.  Gottfried  von  Bouillon  wird  als  führer  der  Christen 
entsprechend  hervorgehoben,  der  kämpf,  in  welchem  er  in 
lebensgefahr  gerät  und  glücklich  wieder  befreit  wird,  aus- 
führlich geschildert.  —  Die  fortsetzung,  welche  im  wesent- 
lichen mündlichen  berichten  von  Teilnehmern  folgt  und  gegen- 
über dem  rittertum  mehr  das  volk  zur  geltung  kommen  lässt, 
erzählt  die  belageruug  und  einnähme  von  Jerusalem  aus- 
führlich in  ihren  verschiedenen  Stadien  und  schliesst  mit  der 
wähl  Gottfrieds  zum  könig.  Im  einzelnen  zeigt  sich  in  dieser 
fortsetzung,  die,  nach  Gröber,  „nicht  anders  wie  manche 
chausou  de  geste  zustande  gebracht  wurde",  deutlich  das 
wirken  mündlicher  Überlieferung,  so  unter  anderem  in  der 
hervorragenden  rolle,  welche  dem  sogenannten  roi  Tafnr  mit 
seinen  10  000  ribauds  (eine  art  landstreichercorps)  bei  der  er- 
oberung  der  heiligen  Stadt  zugewiesen  wird. 

Ausg.  der  Chanson  d'Antioche  von  P.  Paris,  P.  1848,  2  bde. 
(Rom.  d.  d.  pairs  XI,  XII).  —  Über  die  prov.  Ch.  d'Ant.  (fragmente, 
1884  hersg.  von  P.  Meyer)  vgl.  G.  Paris,  Rom.  17  (1888)  513  ff.  — 
La  Conquete  de  Jerusalem  p.p.  Hippeau,  P.  1868.  Dazu  Stengel, 
Böhm.  Rom.  Stud.  1,  392  ff.  —  Bei  dem  ersten  kämpf  vor  Jerusalem 
erscheint  plötzlich  Harpin  de  Bourges  mit  Richard  und  anderen 
christlichen  rittern,  die  einer  dreijährigen  gefangenschaft  bei  den 
Sarrazenen  glücklich  entronnen  sind.  Die  märchenhaften  Schicksale 
dieser  ritter,  wie  drachenabenteuer  und  dergleichen,  werden  aus- 
führlich in  dem  epos  Li  Caitif  (Les  Cketifs)  erzählt,  das  uns 
gleichfalls  nur  in  einer  Überarbeitung  (anfang  des  13.  Jahrhunderts) 
überliefert  ist  und  im  zyklus  seinen  platz  zwischen  Antioche  und 
Jerusalem  erhalten  hat. 

C.  Chevalier  au  cygne  und  Enfances  Godefroi. 
Nachdem  die  eigentliche  geschichte  des  kreuzzuges  genügend 
besungen  und  ausgeschmückt  war,  wendete  sich  das  interesse 

Voretzsch,  Studium  d.  afrz.  Literatur.     2.  Auflage.  17 


258  VII.  Kapitel.    Geschichtliche  Dichtuug. 

naturgemäss  dem  haupthelden  und  der  frage  nach  seiner  her- 
kunft  zu.  Die  beiden  gedichte,  welche  davon  berichten, 
gehören  in  der  überlieferten  form  dem  anfang  des  13.  Jahr- 
hunderts an,  aber  die  Verbindung  Gottfrieds  mit  der  schwan- 
rittersage  ist  schon  dem  um  1184  verstorbenen  bischof  Wilhelm 
von  Tyrus  bekannt.  Wie  die  herzöge  von  Bouillon  freilich 
zu  dem  namen  schwauritter  gekommen  sind,  ist  noch  nicht 
genügend  erklärt;  es  lässt  sich  nur  vermuten,  dass  irgend  ein 
äusserer  umstand  den  dichtem  anlass  gab,  die  alte  lothringische 
sage  vom  schwanenritter  auf  sie  zu  übertragen  und  so  eine 
übernatürliche  abstammung  der  familie  Gottfrieds  von  Bouillon 
zu  konstruieren. 

Nach  dem  Chevalier  au  cygne  führt  die  herzogin  von 
Bouillon  vor  kaiser  Otto  zu  Nymwegen  klage  über  den  Sachsen- 
herzog Renier,  findet  aber  keinen  kämpfer,  der  für  sie  den 
gottesgerichtlichen  Zweikampf  gegen  jenen  bestehen  will.  Da 
erscheint  unvermutet  ein  unbekannter  ritter  (Elias)  in  einem 
von  einem  schwan  gezogenen  schiff,  besiegt  den  gegner  und 
heiratet  die  tochter  der  herzogin,  Beatris,  verlässt  sie  aber 
sieben  jähre  darauf,  als  sie  ihn  entgegen  seinem  verbot  nach 
namen  und  herkunft  fragt.  Die  tochter  der  beiden,  Ida, 
heiratet  den  grafen  Eustache  de  Boulogne  und  wird  mutter 
Gottfrieds  von  Bouillon.  —  Die  Enfances  Godefroi,  welche 
unmittelbar  hieran  anschliessen,  behandeln  in  der  hauptsache 
des  beiden  glückliche  errettung  vor  den  anschlagen  des  sultans- 
sohnes  Cornumarant,  welcher  sich  selbst  nach  Bouillon  begeben 
hat,  um  Gottfried  zu  ermorden  und  so  das  den  Sarrazenen 
prophezeite,  durch  die  kreuzfahrer  drohende  unheil  zu  vereiteln. 

D.  Elioxe  (Die  Schwanenkinder).  Den  schlussstein  der 
entwicklung  bildet  die  Übertragung  des  in  Lothringen  und  im 
benachbarten  Wallonien  heimischen  märchens  von  den  sieben 
schwanen  auf  den  schwanenritter  und  seine  geschwister.  Sechs 
brüder  und  eine  Schwester  erscheinen  hier  als  kinder  könig 
Lothars  von  Ungarn  und  der  fee  Elioxe. .  Durch  Verlust  ihrer 
goldenen  ketten  in  schwane  verwandelt,  werden  die  brüder  von 
der  Schwester  gepflegt  und  gefüttert.  Fünf  von  ihnen  werden 
wieder  entzaubert,  darunter  auch  der,  welcher  von  dem  sechsten, 
schwan  gebliebenen  brüder  beständig  begleitet  wird  und  dar- 
nach den  namen  Chevalier  au  cygne  erhält.    Das  Volksmärchen 


1.  Kreuzzugsepen:  Godefroi.   Elioxe.  —  2.  Reimchroniken.      259 

dient  somit  dazu,   eine  post  festum  konstruierte  erklärung  des 
beinamens  zu  geben. 

Der  rasche  tibergang  von  der  geschiente  zum  reinen  roman 
vollzieht  sich  hier  in  der  kreuzzugsdichtung  vor  unseren  äugen. 
Die  dichterisch  bedeutendsten  sind  die  beiden  ältesten  epen, 
Antioehe  und  Jerusalem,  von  den  romanesken  dichtungen  Elioxe 
die  bestgelungene. 

Ausgaben:  La  chanson  du  Chev.  au  cygne  et  de  Godefroi  de 
Bouillon  p.  p.  C.  Hippeau,  2  bde.  P.  1874  und  1877.  Nach  einer 
Überarbeitung  des  14.  Jahrhunderts  von  baron  de  Reiffenberg :  Le 
Chev.  au  cygne  et  Godefroid  de  Bouillon,  2  bde.,  Bruxelles  1846 
n.  1848.  Vgl.  H.  A.  Smith,  On  a  Berne  Manuscript  of  the  chanson 
du  eh.  au  c.  et  de  G.  d.  B.,  Rom.  38  (1909)  120  ff.  —  Elioxe  hersg. 
von  H.  A.  Todd  unter  dem  titel:  Naissance  du  Chev.  au  cygne, 
Baltimore  1889.  Vgl.  G.  Paris,  Rom.  19  (1890)  314 ff,  G.  Huet, 
Rom.  34  (1905)  206  ff.  Eine  andere,  etwas  jüngere  Version  (anf. 
13.  Jahrhunderts)  nennt  die  mutter  der  sieben  Beatris,  siehe  Hippeaus 
ausgäbe.  —  Mit  der  entwicklung  der  schwanrittersage  hat  sich 
I.  F.  D.  Blöte  in  verschiedenen  arbeiten  beschäftigt  —  siehe  be- 
sonders ZrP  21  (1897)  176  ff,  25,  lff,  27,  lff  und  ZdA  42  (1898)  lff. 
—  doch  bleibt  seine  erklärung  des  beinamens  'schwanenritter' 
einstweilen  noch  ziemlich  hypothetisch. 

Die  Gottfriedgenealogie  ist  somit  schon  im  12.  Jahrhundert  in 
der  hauptsache  ausgebaut,  das  13.  und  14.  Jahrhundert  fügt  an  die 
Conquete  de  Jerusalem  die  fortsetzungen  mit  der  weiteren  geschichte 
des  königreichs  Jerusalem  und  den  epen  Baudouin  de  Sebourg 
und  Bastart  de  Bouillon.  Prosabearbeitungen  des  zyklus  oder 
einzelner  teile  finden  sich  seit  dem  13.  Jahrhundert,  eine  jüngere 
wird  im  jähre  1504  gedruckt.  Von  einzelnen  gedienten  sind  auch 
ausländische  bearbeitungen  vorhanden. 

Der  am  schluss  von  Wolframs  Parzival  nach  unbekannter  franz. 
quelle  kurz  erzählte  Loherangrin  (d.  i.  Loherenc  Garin)  verbindet 
den  Schwanenritter  mit  der  Gralsage,  indem  Parzivals  söhn  als 
schwanenritter  zum  schütze  der  fürstin  von  Brabant  entsant  wird. 
Das  epos  Lohengrin  (zw.  1276  und  1290)  beruht  auf  Wolframs 
angaben.  Vgl.  W.  Golther,  RF  5,  103  ff,  R.  Pestalozzi,  Neue  Jahr- 
bücher 23  (1909)  147  ff 


2.    Reimchroniken. 

Die  älteste  reimchronik,  von  der  wir  wissen,  war  genau 
genommen  Richards  Chanson  d'Antioche.  Während  aber  die 
kreuzzugsdichtung  bald  in  die  gattung  des  epos  und  romans 

17* 


260  VII.  Kapitel.     Geschichtliche  Dichtung. 

überging,  entwickelte  sich  in  England  am  normannisch -franzö- 
sischen hof  eine  neue  geschichtsdichtung,  die  ihrem  wesen 
treuer  blieb  als  jene  und  zunächst  die  vorzeit  Euglauds  wie 
der  Normannen,  dann  aber  auch  zeitgenössische  ereignisse  in 
ihren  bereich  zog.  So  hat  schon  1140  die  öfters  genannte 
königin  Aalis  (s.  oben  s.  122,  145)  einen  dichter  David  ver- 
anlasst, das  leben  ihres  verstorbenen  gatten  Heinrich  I.  in  einem 
gedieht  zu  erzählen,  das  allem  vermuten  nach  in  der  form  der 
chansons  de  geste  abgefasst  war,  uns  aber  verloren  ist.  Die 
nächsten   reimchroniken   gehen  von  lateinischen  vorlagen  aus. 

Vgl.  über  die  reimchroniken  Hist.  litt.  d.  1.  France  XXI,  679  ff. 
und  XXIII,  336  ff,  G.  Paris,  Lit.  §  54,  §  92 ff,  M.  Ch.  Langlois  in 
Petit  de  Jve.  II,  271  ff,  ferner  Gröber  und  Suchier  an  verschiedenen 
stellen.  —  Die  von  Fr.  Michel  hersg.  Chroniques  anglonormandes, 
I — III  Rouen  1836 — 1840,  enthalten  nur  im  I.  bd.  franz.  Chroniken 
(auszüge  aus  Gaimar,  Benoit,  einer  fortsetzung  von  Waces  Brut 
und  aus  Pierre  Langtoft),  im  IL  lat.  Chroniken,  im  III.  u.  a.  Crestiens 
Wilhelmsleben). 

A.  Gaimars  Chronik.  Einen  umfassenden  plan  hatte 
die  älteste,  freilich  nur  teilweise  überlieferte  anglonormannische 
reimchronik,  welche  Gefrei  Gaimar  zwischen  1147  und  1151 
für  Robert  Fiz-Gisleberts  gattin  Constance  in  achtsilbigen 
reimpaaren  verfasst  hat  und  die,  nach  dem  erhaltenen  teil, 
gewöhnlich  kurz  als  Histoire  des  Engles  bezeichnet  wird. 
Das  werk  begann  mit  Argonautenzug  und  eroberung  von  Troja 
nach  lateinischen  quellen,  leitete  dann  mit  der  ankunft  des 
Troers  Brutus  in  England  auf  Galfreds  Historia  regum  Brit- 
tanniae  (siehe  unten)  über  und  fügte  daran  nach  sächsischen 
und  normannischen  quellen  die  geschiente  der  insel  bis  zum 
jähre  1100  (tod  Wilhelms  II.  des  Roten).  Der  erste  teil  des 
Werkes  scheint  verloren.  'Ce  qui  en  reste,  est  a  peu  pres 
denne*  de  valeur  litteraire,  mais  n'est  pas  sans  quelque  prix 
pour  l'historien'  (G.  Paris). 

Ältere  ausgäbe  von  Th.  Wright,  London  1850,  neuere  von 
Duffus-Hardy  and  Trice  Martin,  L'estorie  des  Engles,  Lo.  1888,  2  bde. 
(Rerum  brit.  medii  aevi  scriptores).  Vgl.  Max  Gross,  Geoffroi  Gaimar, 
die  Komposition  seiner  Chronik  etc.,  Strassb.  Diss.,  Erlangen  1902. 
Rud.  Imelmann,  Layamon,  Versuch  über  seine  Quellen,  B.  1906. 

B.  Bearbeitungen  von  Galfreds  Historia.  Gruffud  ap 
(=  söhn)  Arthur,  gewöhnlich  nach  seinem  geburtsort  Galfred 


2.   Keiuachroniken:   Gaiinar.    Die  Bruts.  261 

von  Monmouth  genannt,  zuletzt  bischof  von  Saint  Asap, 
sehrieb  zwischen  1118  und  1135  in  lateinischer  prosa  seine 
Historia  regum  Brittanniae,  in  anlehnung  an  die  ältere  1 Iistor ia 
Brittonum  von  Xennius,  aber  unter  benutzung  sowohl  von 
antiken  historikern  als  auch  von  mündlichen  Überlieferungen 
über  den  brittischen  könig  Arthur,  die  er  wol  während  seines 
aufenthalts  auf  dem  festland  kennen  gelernt  hatte.  Sein  buch 
ist  somit  eine  wichtige  quelle  für  die  kenntnis  der  Arthur- 
sage. Bei  ihm  erscheint  Arthur  bereits  als  der  grosse  er- 
oberet" des  westlichen  und  nördlichen  Europa,  als  der  besieger 
von  Sachsen  und  Römern,  der  schliesslich  nach  der  insel  der 
seligen,  nach  Avalon,  entrückt  wird.  Das  rasch  bekannt  ge- 
wordene werk  wurde  alsbald  verschiedene  male  ins  französische 
übersetzt,  zuerst  von  Gaimar  (s.  o.),  dann  noch  drei  weitere 
male  in  demselben  Jahrhundert.  Nach  dem  angeblichen  heros 
eponymos  der  Bretonen  Brutus  werden  diese  französischen 
bearbeitungen  meist  Brut  genannt. 

YVaces  Geste  des  Breton s.  Der  bereits  als  Verfasser 
geistlicher  gedichte  bekannte  normannische  dichter  Wace  (oben 
s.  124,  130)  oder  Gace,  wie  er  hier  sich  nennt,  schrieb  um  1157, 
im  auf  trag  der  königin  Eleonore,  gattin  Heinrichs  II.  von 
England,  seine  Geste  des  Bretons  oder  Brut  in  mehr  als 
15  000  achtsilbnern.  Seine  darstelluüg  beginnt  mit  den  taten 
Uters  Pendragon  und  berichtet  ausführlich  seines  sohnes  Arthur 
geburt,  eroberungen  und  entrückung  ins  feenreich,  worauf  noch 
die  kämpfe  der  Bretonen  mit  Gormont  von  Afrika  und  Isembart 
(vgl.  oben  s.  193)  und  mit  den  Sachsen  folgen.  Wace  weiss 
manches  aus  eigener  kenntnis  mitzuteilen,  wie  denn  bei  ihm 
zuerst  die  berühmte  'Table  ronde'  könig  Arthurs  erwähnt  wird,1) 
aber  den  rein  märchenhaften  elementen  bretonischer  sage  steht 
er   skeptisch   gegenüber:   an   der   berühmten   wunderquelle  im 

»)  Vgl.  Brut  9994  ff.  (ausgäbe  II,  s.  74): 

Por  les  nobles  barons  qu'il  ot,  Tot  chievalnient  et  tot  ingal, 

Dont  cascuns  inieldre  estre  quidot  A  Ia  table  ingaluient  seoient 

—  Cascuns  s'en  tenoit  al  millor,  Et  ingalment  servi  estoient: 

Ne  nns  n'en  savoit  le  pior  —  Nus  d'els  ue  se  pooit  vanter 

Fist  Artus  la  Roonde  Table  j    Qu'il  seist  plus  halt  de  son  per, 

Dont  Breton  dient  mainte  fable.  Tuit  estoient  assis  moiain, 

Hoc  seoient  li  vassal  Ne  n'i  avoit  nul  de  forain. 


262  VII.  Kapitel.    Geschichtliche  Dichtnng. 

zanberwald  von  Broceliande  (vgl.  unten  kap.  IX)  bat  er  nichts 
wunderbares  gesehen  und  erlebt,  wie  er  selbst  im  Roman  de 
Roii  (v.  6395  ff.)  berichtet. 

Andere  Bruts.  Zwei  andere  bearbeitungen  Galfreds 
sind  uns  anonym  und  nur  fragmentarisch  überliefert:  die 
ältere  in  achtsilbigen  reimpaaren,  nach  dem  fundort  der  hand- 
schrift  gewöhnlich  Münchener  Brut  genannt,  führt  trotz 
ihrer  4000  verse  wenig  über  die  eroberung  Brittanniens  durch 
Brutus  hinaus.  Das  jüngere  fragment,  in  laissen  gedichtet, 
zeigt,  dass  selbst  in  späterer  zeit  die  dichter  bei  geschichtlichen 
Stoffen  in  der  wähl  der  form  noch  schwankten. 

Galfreds  Historia  regum  Brittanniae  hersg.  von  San  Harte 
(Albert  Schulz),  Ha.  1854.  Vgl.  H.  L.  Ward,  Catalogue  of  Roman- 
ces  I,  London  1883,  s.  203  ff  —  Roman  de  Brut  par  Wace  p.p. 
Le  Roux  de  Lincy,  Ronen  1836,  2  bde.  A.  Ulbrich,  Das  Verhältnis 
von  Waces  R.  d.  B.  zu  seiner  Quelle,  Diss.  Leipzig  1908  (auch  RF 
26,  181  ff).  —  Der  Münchener  Brut  hersg.  von  K.  Hofmann  und 
K.  Vollmöller,  Ha.  1877. 

C.  Normannenchroniken.  Derselbe  dichter  Wace,  der 
im  Brut  die  sagenhafte  vorzeit  Englands  geschildert,  hat  dar- 
nach, von  1160 — 1174,  im  auftrag  könig  Heinrichs  II.  die 
geschichte  der  Normannen  und  des  anglonormannischen  könig- 
reichs  zu  schildern  unternommen  in  seiner  Geste  des  Normane, 
die  meist  unter  dem  unzutreffenden  namen  Roman  de  Bon 
(nach  herzog  Rollo)  bekannt  ist.  Der  dichter  folgt  darin  zu- 
meist lateinischen  quellen:  für  die  ältere  zeit,  von  herzog  Rollo 
bis  996,  den  Primi  duces  Normandiae,  der  chronik  des  Dudo 
von  St.  Quentin,  die  ihrerseits  schon  manches  fabelhafte  enthält, 
für  die  spätere  zeit  Wilhelm  von  Jumieges,  Wilhelm  von  Poitiers 
und  den  Gesta  regum  Brittanniae  von  Wilhelm  von  Malmesbury. 
Er  steuert  aber  manches  neue,  für  geschichte  oder  sage  in- 
teressante bei:  so  berichtet  er  uns  Taillefers  teilnähme  an  der 
Schlacht  von  Hastings  und  sein  singen  von  Rolauds  tod,1)  auch 


')  Siehe  ausgäbe  v.  8035  ff.: 
Taillefer,  qni  mult  bien  chantout,  Qui  morurent  en  Rencesvals. 

Sor  un  cheval  qui  tost  alout,  i    Qnant  il  orent  chevalchie  tant 
Devaut  le  duc  alout  chantant  Qu'as  Engleis  vindrent  apreismant: 

De  Karleinaigne  e  de  Eollant  „Sire"  dist  Taillefer  „nierci! 

E  d'Olivier  e  des  vassals  Jo  vos  ai  longuement  servi, 


2.    Keimchroniken:  W.ice  und  Beneeit.  268 

die  —  gleichfalls  von  Unland  bebandelten  —  sagen  von  Richard 
Ohnefurcht  und  von  dem  verliebten  mönch  rinden  sich  zuerst 
bei  Wace  erzählt.  Der  dichter  schreibt  ohne  besonderen 
schwung,  aber  klar  und  unterhaltend.  Er  hat  das  werk  in  der 
form  der  chansons  de  geste,  in  alexandriuerlaissen,  begonnen, 
den  zweiten,  grösseren  teil  aber  (12  000  gegen  4000  verse)  in 
kurzen  reimpaaren  (achtsilbnern)  geschrieben.  Eine  kurze 
retrospective  darstellung  der  normannischen  ftirsten  bis  hinauf 
zu  Rollo,  die  in  alexandrinern  gedichtete  sogenannte  Chronique 
ascendante,  sollte  wol  als  prolog  zum  ganzen  dienen.  Ein 
eingestreuter  ausfall  gegen  die  Franceis  forslignies,  fals  et 
suduianz,  cuveitus  d'aveir,  eschars  de  doner  kennzeichnet  den 
Verfasser  als  Normannen. 

Wace  hat  sein  werk  nicht  vollendet,  sondern  vorzeitig  mit 
Heinrichs  I.  sieg  bei  Tinchebray  (in  der  Normandie,  1106)  ab- 
gebrochen: Die  en  avant  qui  dire  en  deit!  ■ —  J'ai  dit  por 
Mestre  Beneeit,  —  Qui  ceste  ovre  a  dire  a  emprise,  —  Com 
li  reis  l'a  desor  lui  mise.  — '  Quant  li  reis  li  a  rove  faire,  — 
Laissier  la  dei,  si  ni'en  dei  taire. 

Dieser  neue  literarische  gtinstling  Heinrichs  IL,  Mestre 
Beneeit,  war  vermutlich  Beneeit  von  Sainte-More  (wol 
Sainte-  Maure  bei  Tours),  der  sich  bereits  durch  seinen  Troja- 
roman  berühmt  gemacht  hatte.  In  42  000  achtsilbnern  hat  er 
die  Histoire  des  ducs  de  Normandie  von  den  anfangen  bis 
zum  jähr  1135  (tod  Heinrichs  I.)  beschrieben,  teilweise  unter 
benutzung  von  Waces  werk  neben  den  lateinischen  quellen. 
Wie  schon  der  äussere  umfang  lehrt,  ist  er  weitschweifiger 
als  Wace,  weniger  durch  neue  zutaten  aus  eigener  kenntnis 
als  durch  grössere  genauigkeit  in  den  einzelheiten  und  durch 
kl  ein  mal  er  ei. 


Tot  mon  servise  me  devez:  Devant  toz  les  altres  se  mist, 

Hui,  se  vos  piaist,  le  me  rendez.  Un  Engleis  feri,  si  Focist: 

Por  tot  guerredon  vos  requier  Desoz  le  piz  parmi  la  pance 

E  si  vos  voil  forment  proier:  Li  fist  passer  nitre  la  lance, 

Otreiez  mei,  que  jo  n'i  faule,  A  terre  estendu  l'abati. 

Le  premier  colp  de  la  bataille."  Pois  traist  l'espee,  aultre  en  feri. 

Li  das  respondi:  „Jo  l'otrei*.  Pois  a  crie:  „Venez,  venez! 

E  Taillefer  poinst  a  desrei,  Qne  faites  vos?    Ferez,  ferez!" 


264  VII.  Kapitel.    Geschichtliche  Dichtung. 

Maistre  Wace's  Roman  de  Rou  et  des  Ducs  de  Normandie, 
hersg.  von  H.  Andresen,  Heilbronn  1877  u.  1879,  2  bde.;  ältere 
ausg.  von  Pluquet,  1827;  deutsch  von  F.  v.  Gaudy,  1835.  Vgl. 
G.  Körting,  Die  Quellen  des  R.  d.  R.,  Diss.  L.  1867.  F.  W.  Lorenz, 
Der  Stil  in  Maistre  Wace's  R.  d.  R.,  Diss.  L.  1885.  —  Chronique  des 
ducs  de  Normandie  par  Benoit  p.  p.  Fr.  Michel,  3  bde.,  P.  1836 — 1844 
(in  der  „Collection  de  documents  inödits  sur  l'histoire  de  France"). 
Vgl.  Franz  Settegast,  Benoit  de  Ste.  More,  Breslau  1876.  Andresen 
ZrPll  (1887),  231ff.,  345ff.,  RF  1,  327 ff.,  2,477ff.  Die  identität 
mit  dem  Verfasser  des  Trojaromans  wird  von  Constans  bestritten 
(s.  kap.  VIII,  4). 

D.  Kleinere  normannische  und  anglonormannische 
Chroniken.  Die  reimchronik  blüht  zunächst  ausschliesslich 
im  anglonormannischen  königreich.  Neben  Wace  und  Beneeit 
ersteht  bereits  1174  in  Jordan  Fantosme,  einem  gelehrten 
geistlichen,  ein  reimehronist,  welcher  uns  zeitgenössische  ge- 
schiente überliefert,  indem  er  den  feldzug  Heinrichs  II.  gegen 
Schottland  (1173 — 1174)  beschreibt:  la  Guerre  d'Ecosse,  in 
laissenform,  aber  in  buntem  Wechsel  von  zehn-,  zwölf-,  vierzehn- 
und  sogar  sechzehnsilbnem.  —  Ebenso  wird  die  eroberung 
Irlands  durch  Heinrich  II.  (1172)  von  einem  anonynius  in  der 
Conquete  d'Irlande,  in  achtsilbigen  reimpaaren,  dargestellt  (nach 
Suchier  erst  aus  den  jähren  1225 — 1231).  —  Schliesslich  fügt 
sich  zur  Zeitgeschichte  die  lokalgescliichte  in  dem  Roman 
die  Mont  Saint- Michel  von  Guillaume  de  Saint-Pair, 
der  hierin  die  geschiente  des  berühmten  klosters  dieses  namens 
an  der  normannischen  küste  gibt  (gegen  1170).  Auch  auf  die 
gedichte  über  Thomas  Becket,  namentlich  auf  dasjenige 
Garniers  von  Pont-Sainte-Maxent,  wäre  in  diesem  Zusammen- 
hang hinzuweisen  (vgl.  oben  s.  124  ff.).  Schon  dem  13.  Jahr- 
hundert gehört  die  anonyme  Histoire  de  Guillaume  le 
Marechal,  comte  de  Striguil  et  de  Pembroke,  an.  Das 
wenige  jähre  nach  dem  tod  seines  an  kämpfen  und  abenteuern 
wie  an  ehren  reichen  helden  (1219)  entstandene  gedieht  gilt 
wegen  seiner  eigenart  in  der  Schilderung  der  Vorgänge  wie 
in  der  Charakteristik  der  Persönlichkeiten  als  das  bedeutendste 
stück  der  gattung. 

Fantosmes  chronik  hersg.  von  Fr.  Michel  im  3.  bd.  von  Benoits 
Chronique,  teile  von  Tobler,  Monumenta  Germ.  bist.  SS.  27,  53  ff.  — 
Conquete    d'Irlande    hersg.  von  Fr.  Michel,    An   anglonorman   poem 


2.   Reimchroniken:   Kreuzzugschroniken.  265 

of  thc  conquest  of  Ireland,  P.  1837.  Neue  ausg.  von  G.  H.  Orpen, 
The  soug  of  Dermot  and  the  Earl,  Oxford  1892.  —  Roman  du 
M.- St.- Michel  hersg.  von  Paul  Redlich,  Marb.  1894  (Stengels  AA  92). 
—  Histoire  de  Üuillaume  le  M.  p.  p.  Meyer,  3  bde.,  P.  1891 — 1901 
(Soc.  de  riiist.  de  France).  —  Die  letzte  französisch  geschriebene 
chronik  auf  englischem  boden  ist  die  im  anfang  des  14.  Jahr- 
hunderts verfasste,  bis  1307  reichende  geschichte  Englands  von 
Pierre  Langtoft  (auszüge  in  Fr.  Michels  Clironiques  anglo-nor- 
mandes,  in  den  Mon.  Germ.  SS.  28,  647  ff.  [Tobler],  ausgäbe  von 
TL  Wright,  L.  1866  —  1868). 

E.  Kreuzzugschroniken.  Nachdem  die  durch  Richart 
1<  l'elerin  mit  der  Chanson  d'Antioche  begonnene  geschicht- 
liche kreuzzugsdichtung  durch  seine  nachfolger  bald  in  das 
gebiet  des  epos  und  des  romans  übergeführt  worden  war,  ent- 
standen am  ende  des  12.  Jahrhunderts  einige  neue  dichtungen 
wieder  von  rein  chronistischem  Charakter,  denen  in  kurzem 
die  prosachroniken  folgen.  So  hat  ein  Verfasser  unbekannten 
namens  die  lateinische  Historia  Hierosolymitana  Baudris  de 
Bourgueil  (gest.  1130)  in  seiner  Estoire  d'Antioche  et 
de  Jherusalem  in  französische  alexandrinerlaissen  tiber- 
setzt. Ein  teilnehmer  des  dritten  kreuzzugs,  Ambroise,  — 
nach  G.  Paris'  Vermutung  ein  Jongleur  aus  der  östlichen 
Normandie  —  hat  nach  seiner  rückkehr  1195 — 1196  seine  er- 
innerungen  und  notizen  zu  einer  umfangreichen  darstellung, 
der  Estoire  de  la  guerre  sainte,  in  11000  achtsilbuern 
verarbeitet,  wo  er  namentlich  die  meinung  der  menue  gent 
zur  geltung  bringt. 

Über  die  Übersetzung  Baudris  s.  P.  Meyer,  Rom.  5  (1876)  lff'., 
6,489  fr.  —  L'Estoire  de  la  guerre  sainte,  bist,  en  vers  de  la  3e 
croisade  p.  Ambroise  p.  p.  G.  Paris,  P.  1897  (Collection  do  Docu- 
ments  inedits).  —  An  Saladin,  den  Wiedereroberer  Jerusalems, 
knüpfen  sich  eine  reihe  erzählungen  und  sagen,  die  auch  im  abend- 
land  kursierten,  sich  jedoch  nicht  zu  einem  zusammenhängenden 
epos  verdichteten,  sondern  einzeln  in  lateinische,  franz.  und  ital. 
werke  —  gedichte,  novellensammlungen  wie  Cento  novelle  antiche 
und  Decamerone ,  romane  und  Chroniken  —  aufgenommen  wurden. 
Vgl.  A.  Fioravanti,  II  Saladino  nelle  leggende  francesi  e  italiane 
del  medio  evo,  Reggio-Calabria  1891,  und  G.  Paris,  La  legende  de 
Saladin  (Extrait  du  JdSav.,  mai  ä  aoüt  1893),  P.  1893. 

Die  darstellungen  des  vierten  kreuzzugs  sind  bereits  in  prosa 
geschrieben  (vgl.  kap.  XII),  ebenso  eine  ende  des  12.  oder  anfang 
des   13.  Jahrhunderts    entstandene    Übersetzung   der   lat.    geschichte 


266  VII.  Kapitel.    Geschichtliche  Dichtung. 

der  kreuzzüge  von  Wilhelm  von  Tyrus,  der  als  historische  leistung 
sehr  geschätzten,  auch  ins  englische,  span.  und  ital.  übergegangenen 
Ilistoria  reiiim  in  partibus  transmarinis  f/estarum  des  palästinen- 
sischen bischofs  Wilhelm  (gestorben  1184).  Die  im  abendland 
angefertigte  Übersetzung  wird  gewöhnlich  Livrc  du  Conquest  de 
Terre  Sainte  oder,  nach  dem  anfang,  Estoire  d'Eracles  betitelt. 
Vgl.  Franz  Ost,  Die  afr.  Übers,  d.  Geschichte  d.  Kreuzzüge  Wilhelms 
von  Tyrus,  Hall.  Diss.  1899.  Eine  fortsetzung  dazu  bildet  die  1228 
in  Palästina  verfasste  Chronique  von  Ernoul  (hersg.  von  L.  de 
Mas-Latrie,  Chronique  d'Ernoul,  P.  1871).  —  Vgl.  noch  E.  Drees- 
bach,  Der  Orient  in  der  altfr.  Kreuzzugsliteratur,  Breslauer  Diss.  1901. 


Achtes  Kapitel. 

Vom  antiken  Epos  zum  Roman. 


Für  die  erzählenden  gattungen  gab  es  im  wesentlichen 
zwei  metrische  formen:  die  der  chansons  de  geste  in  zehn- 
oder  zwülfsilbigen  laissen  und  die  der  geistlichen  legende  in 
achtsilbigen  reimpaaren.  Eine  mittelform  stellen  die  fünf- 
zeiligen  Strophen  des  Alexinsliedes  aus  zehnsilbnern  dar.  Bei 
neu  auftauchenden  Stoffen  schwanken  die  dichter  in  der  wähl 
der  äusseren  form,  wie  das  vorige  kapitel  gelehrt  hat.  So 
werden  auch  die  der  antiken  geschichte  und  sage  ent- 
nommenen erzählungsstoffe  zunächst  in  die  laissenform  der 
chansons  de  geste  gegossen,  dann  aber  bald  in  kurzen  reim- 
paaren behandelt.  Dieser  unterschied  bleibt  kein  rein  formaler. 
Mit  der  form  der  chansons  de  geste  wird  in  der  regel  auch 
ihr  stil,  ihre  epische  anschauung  übernommen,  und  nicht  zum 
geringsten  teil  wird  die  wähl  dieser  form  für  das  älteste 
kreuzzugsgedicht  der  anlass  für  die  ausgestaltung  der  kreuz- 
zugsdichtung  nach  der  epischen  seite  gewesen  sein.  Bei  der 
wähl  der  achtsilbigen  reimpaare,  die  zudem  nicht  mehr  wie 
die  laissen  des  heldenepos  gesungen,  sondern  vorgelesen  wurden, 
wird  der  dichter  naturgemäss  unabhängiger  vom  Vorbild  der 
chansons  de  geste,  er  wird  freier  und  kann  den  gegenständ, 
wie  bei  den  historischen  Stoffen,  mehr  im  anschluss  an  die 
Wirklichkeit,  seien  es  geschriebene  quellen,  sei  es  selbsterlebtes, 
oder,  bei  erzählungen  mehr  romanesken  inhalts,  im  wesentlichen 
seiner  phantasie  folgend  darstellen.  So  finden  wir  in  der  auf- 
nähme der  griechischen  Alexandersage  in  die  französische 
literatur  in   der  hauptsache  eine  erweiterung  des  Stoffgebiets 


268  VIII.  Kapitel.     Vom  antiken  Epos  zum  Human. 

der  chansons  de  geste,  während  die  behandlung  der  Thebaner- 
sage,  des  Trojauerkriegs  und  der  Aeneis  in  kurzen  reimpaaren 
auch  einen  fortschritt  der  erzählungskunst  bedeutet.  Dass 
hierbei  neben  der  freiheit  der  form  auch  der  verschiedene 
charakter  der  vorlagen  sowie  die  dichterische  eigenart  der 
bearbeiter  mitwirkte,  versteht  sich  von  selbst.  Tatsächlich 
aber  vollzieht  sich,  und  zwar  noch  früher  als  in  der  kreuzzugs- 
geste,  auf  dem  gebiet  der  antiken  erzählung  der  Übergang 
vom  epos  zum  roman.  Wie  weit  diese  entwicklung  selbständig 
ist,  wie  weit  dabei  schon  ältere  Artusromane  mitgewirkt  haben 
können,  bleibt  vorläufig  eine  offene  frage. 

Über  das  zeitliche  Verhältnis  der  antikisierenden  romane 
zu  den  Artusromanen,  zunächst  zu  denen  Crestiens  von  Troyes, 
gehen  die  ansichten  ziemlich  auseinander,  zumal  auch  die 
absolute  Chronologie  ebenso  wie  das  gegenseitige  Verhältnis 
von  Trojaroman,  Eneas  und  Thebenroman  keineswegs  feststeht. 
Diese  drei  romane  fallen  in  die  zeit  von  1150 — 1170.  Ziemlich 
allgemein  wird  der  Trojaroman  als  der  jüngste  von  den  dreien 
betrachtet,  nach  G.  Paris  gegen  1160  oder  1165,  nach  Gröber 
1165 — 1170  verfasst.  Ihm  voraus  geht  der  Eneasroman  und 
diesem  wiederum  der  roman  von  Theben,  dessen  abfassung  von 
seinem  herausgeber  Leopold  Constans  zwischen  1150  — 1155  an- 
gesetzt wird.  Die  werke  Crestiens  von  Troyes,  der  noch  in  den 
fünfziger  jähren  zu  dichten  beginnt,  sind  den  antiken  romanen 
also  höchstens  gleichzeitig,  meist  sogar  jünger  als  diese. 
Gautier  von  Arras  hinwiederum  mit  seinem  in  den  abenteuer- 
roman  übergehenden  Heraclius  ist  Zeitgenosse  Crestiens. 

Das  wort  romanz,  unter  welchem  alle  diese  werke  gehn, 
bezeichnet  gemäss  seiner  herkunft  aus  dem  adverb  romanice 
zunächst  ein  werk  in  romanischer  spräche,  im  gegensatz 
zur  lateinischen  (de  latin  en  romanz  metre),  dann  besonders 
erzählende  versdichtungen  unterhaltender  art,  aber  auch 
Chroniken  u.  ä.  Erst  mit  dem  Übergang  dieser  erzählungen  in 
prosaform  (romans  en  prosc),  seit  beginn  des  13.  Jahrhunderts, 
bekommt  das  wort  allmählich  seine  moderne  bedeutung. 

Vgl.  im  allgemeinen  G.Paris,  Lit.  §  43  if.,  Leopold  Constans  in 
Petit  de  Jve.  I,  1 7 1  ff.,  Suchier  passim,  Gröber  s.  578 ff.  Ferner 
Arturo  Graf,  Roma  nel  medio  evo  e  nelle  immaginazioni  del  medio 
evo,  Turin  1882,   2  bde.     Rob.  Dernedde,    Über    die    den    altfranz. 


1.   Alexanderepen:  Quellen  und  älteste  Bearbeitungen.  269 

Dichtern  bekannten  Stufte  des  klass.  Altertums,  Erlangen  1887,  dazu 
auch  Biroh- Hirschfeld  (s.  oben  s.  191)  s.  6 IV.  Maurice  Wilmotte, 
L'cvolution  du  roman  fran^ais  aux  environs  de  1150,  P.  1903. 
E,.  Langlois,  Chronologie  des  romans  de  Thebes,  d'Enöas  et  de 
Troie,  Bibl.  Eo.  Ch.  66  (1905)  107  ff.  —  Zur  entstehungsgeschichte 
des  wortes  roman  siehe  G.  Paris,  Koni.  I,  1  ff,  P.  Voelker,  Die 
Bedeutungsentw.  des  Wortes  Roman,  Diss.  IIa.  1887  (auch  ZrP  10, 
485  ff),  Ed.  Schwan,  Preuss.  Jahrbücher  77  (1892)  309  ff. 


1.   Alexanderepen. 

A.  Quellen  der  abendländischen  Alexander - 
dichtungen.  Die  im  hellenistischen  Orient  ausgebildete 
Alexandersage  wurde  etwa  im  1.  Jahrhundert  n.  Chr.  —  nach 
neueren  erst  im  3.  Jahrhundert  —  in  Ägypten,  vielleicht  in 
Alexandrien,  zu  einer  phantastisch  ausgeschmückten  lebens- 
beschreibung  Alexanders  verarbeitet,  deren  Verfasser  sich  für 
Kallisthenes,  den  begleiter  und  historiker  Alexanders  des 
Grossen,  ausgab  (sogenannter  Pseudo- Kallisthenes).  Dieses 
griechische  werk  gelangte  in  zwei  lateinischen  bearbeitungen 
nach  dem  abendlande:  in  der  im  10.  Jahrhundert  zu  Neapel 
von  dem  arehypresbyter  Leo  verfassten  Historia  (Alexandra 
magni)  de  proeliis  und  in  den  —  schon  in  der  ersten  hälfte 
des  4.  Jahrhunderts  entstandenen  —  lies  gestae  Alexandra 
Macedonis  des  Julius  Valerius,  dessen  bearbeitung  vor  allem 
durch  einen  im  9.  Jahrhundert  daraus  gemachten  auszug,  die 
sogenannte  Epitome  Julii  Valerii,  Verbreitung  fand  und  in 
erster  linie  den  französischen  Alexanderdichtungen  zugrunde 
liegt.  Daneben  kommt  noch  das  im  4.  Jahrhundert  entstandene 
Alexandri  Magni  iter  ad  Paradisum,  sowie  angebliche  briefe 
Alexanders,  namentlich  der  (auch  bei  Julius  Valerius  mit- 
geteilte) brief  an  Aristoteles  über  die  wunder  Indiens,  in 
betracht. 

B.  Alberichs  Alexander dichtung.  Die  älteste 
abendländische  bearbeitung  der  Alexandersage  (ende  des  11. 
oder  anfang  des  12.  Jahrhunderts)  ist  im  nordosten  des  proven- 
zalischen  Sprachgebietes  entstanden:  das  von  Paul  Heyse  in 
einer  Florentiner  handschrift  entdeckte  Alexanderfragment  eines 


270  VIII.  Kapitel.    Vom  antiken  Epos  zum  Roman. 

geistlichen  Verfassers,  der  vom  pfaffen  Lamprecht  in  seinem 
Alexanderlied  als  quelle  zitiert  und  als  Alberich  oder  Eiberich 
von  BesanQon  (Bisenzftn)  bezeichnet  wird,  seiner  spräche  nach 
aber  nach  der  Dauphine  —  vielleicht  Pisanron  oder  Briaucon  — 
gehurt  (daher  in  der  regel  der  provenzalischen  literatur,  von 
»Suchier  der  francoprovenzalischen  zugerechnet).  Seine  quelle 
ist  in  der  hauptsache  die  Epitome  J.  Valerii.  Erhalten  sind 
uns  nur  106  verse  in  achtsilbnerlaissen  (vgl.  Gormont),  in 
welchen  der  dichter  sichtlich  nach  möglichst  gleichlangen 
tiraden  strebt  (unter  15  tiraden  8  zu  6  und  5  zu  8  versen)  und 
sich  zumeist  des  reinen  reims  bedient.  Er  leitet  seine  dar- 
stellung  mit  Salomons  'est  vanitatum  vanitas  et  universa  vanitas' 
ein  und  erzählt  von  Alexanders  herkunft,  geburt  (wobei  er  in 
anlehnung  an  die  geschichtliche  darstellung  des  Orosius  gegen 
Alexanders  angebliche  abstammung  von  einem  encantatour 
protestiert),  von  seinem  achtung  gebietenden  äusseren  und 
dem  Unterricht,  den  er  durch  fünf  lehrer  in  lesen,  schreiben, 
sprachen,  fechten,  saitenspiel  usw.  erhalten.  —  Hier  endet  das 
fragment.  Nur  teilweisen  ersatz  für  das  fehlende  bietet  die 
französische  zehnsilbnerredaktion  und  das  —  späterhin  der 
Historia  de  proelüs  folgende  —  deutsche  Alexandergedicht. 

C.  Die  französische  Zehnsilbnerredaktion.  Alberichs 
gedieht  wurde  im  12.  Jahrhundert  von  einem  französischen 
dichter  —  vermutlieh  im  Poitou  —  in  zehnsilbnerlaissen  um- 
gearbeitet, von  denen  uns  77  zu  je  10  versen  erhalten  sind. 
Die  darstellung  reicht  hier  bis  zum  krieg  Alexanders  gegen 
Nicolas  von  Cäsarea.  P.  Meyer  rechnet  dies  fragment  stilistisch 
unter  die  besten  werke  des  mittelalters. 

D.  Der  grosse  Alexanderroman  in  Zwölfsilbnern. 
(Lambert  le  Tort  und  Alexandre  von  Bernai).  Ihre  Vollendung 
und  weiteste  Verbreitung  fand  die  Alexandersage  erst  durch 
eine  von  mehreren  Verfassern  herrührende  dichtung  in  20000 
zwölfsilbnern,  welche  diesem  vers  den  späteren  namen  vers 
alexandrin  verschafft  hat  (vgl.  oben  s.  32).  Die  dichtung 
entstand  zunächst  als  fortsetzung  zu  der  poitevinischen  zehn- 
silbnerredaktion, doch  wurde  später  auch  diese  dem  ganzen 
angepasst  und  in  zwölfsilbner  umgearbeitet. 

Inhaltlich  lässt  sich  das  epos  in  vier  teile  oder  branchen 
teilen.      Der    erste    (Michelants    ausgäbe    8.   1  —  92)    erzählt 


1.  Alexanderepen:   Gedicht  in  Zwöltsilbnem.  271 

Alexanders  geburt  und  jugend,  die  Zähmung  des  Bucephalus, 
seine  erste  waffentat  gegen  Nicolas  von  Cäsarea,  welcher  von 
Alexanders  Tater,  künig  Philipp,  tribut  fordert  und  dafür 
land  und  leben  verliert.  Nachdem  Alexander  seinen  vater 
gezwungen,  seine  erste  von  ihm  verstossene  gattin  Olympias 
(Alexanders  mutter)  wieder  als  gattin  anzunehmen,  zieht  er 
auf  eroberungen  uach  Asien.  Der  krieg  gegen  Darius  enthält 
viele  abenteuerliche  momente:  die  eroberung  der  schier  un- 
einnehmbaren feste  La  Roche;  la  merveille  dcl  tertrc,  welcher 
beim  passieren  den  feigen  mutig  und  den  mutigen  —  auch 
den  Alexander  selbst  —  feig  macht;  die  Verleihung  der  Stadt 
Tarsus  an  einen  flötenspielkundigen  Jongleur.  Anderes  wieder, 
wie  die  breit  geschilderte  belagerung  von  Tyrus,  weist  auf 
benutzung  rein  geschichtlicher  quellen  (Quintus  Curtius  u.  a.). 
—  Die  zweite  branche  (ausgäbe  s.  93  —  231  oder  249) 
behandelt  ausführlich  (in  mehr  als  5000  versen)  den  Faerre 
de  Gadres  (die  Fouragierung  bei  Gasa).  Das  von  einem 
gewissen  Eustache  verfasste  gedieht  basiert  im  wesentlichen 
auf  rein  dichterischer  erfindung,  begegnet  in  den  handschriften 
auch  öfter  isoliert  und  hat  ursprünglich  jedenfalls  ein  selb- 
ständiges ganze  gebildet,  ehe  es  der  grossen  dichtung  durch 
den  letzten  bearbeiter  einverleibt  wurde.  Diesem  redaktor 
gehören  wol  auch  die  unmittelbar  folgenden  stücke,  welche 
zur  dritten  branche  überleiten  und  den  entscheiduugskampf  mit 
Darius  berichten.  —  Der  dritte  teil  (ausgäbe  s.  249 — 505), 
älter  als  die  übrigen  und  kenntlich  durch  einen  neuen  anhub 
(Or  entendes,  siynor,  que  cest  estore  dist:  —  De  Daire  le 
Persant  Ar 'Alixandres  conquist,  —  De  Porus  le  roi  d'Inde  .  .  .) 
stammt  von  Lambert  le  Tort  und  ist  von  diesem  ursprünglich 
als  fortsetzung  zu  der  alten  zehnsilbnerredaktion  gedichtet. 
Im  anschluss  an  Epitome,  Iter  ad  Paradisum  und  Alexanders 
brief  an  Aristoteles  erzählt  der  Verfasser  die  ermordung  des 
Darius,  Alexanders  räche  an  den  mördern  und  dessen  weitere 
erlebnisse:  wie  er  in  einer  gläsernen  tonne  auf  den  meeres- 
grund  hinabtaucht,  das  Wunderland  Indien  durchzieht,  den 
Porus  besiegt,  von  diesem  zu  den  Säulen  des  Herkules  geführt 
wird,  den  herzog  von  Palatine  für  die  entführung  der  königin 
Candace  bestraft,  die  Alexander  ihre  liebe  weiht,  wie  er  mit 
einem  von  greifen  bewegten  luftschiff  in  die  lüfte  emporsteigt, 


272  VIII.  Kapitel.    Vom  antiken  Epos  zum  Roman. 

Babylon  erobert  und  einen  friedlichen  sieg  über  die  Amazonen 
gewinnt.  Zum  schluss  wird  ein  komplot  von  Antipater  und 
Divinuspater  eingeleitet.  Den  tod  Alexanders  selbst  hüben 
wir  in  Lamberts  fassung  nicht  mehr.  —  Die  vierte  blanche 
berichtet  ausführlich  Alexanders  tod:  durch  vorbedeutende 
zeichen  gewarnt,  sucht  er  sich  vergeblich  gegen  Vergiftung 
zu  sichern,  sterbend  verteilt  er  sein  reich  an  seine  zwölf  pers, 
deren  jeder  dem  toten  herrscher  eine  totenklage  widmet. 

Der  Verfasser  der  ersten  und  vierten  branche  und  der 
überleitenden  stücke,  sowie  der  redaktor  und  Überarbeiter  des 
ganzen  ist  Alexandre  aus  Bernai,  genannt  Alexandre  de 
Paris,  welcher  neben  der  Epitome  auch  die  Historia  de  proeliis 
sowie  die  geschiehtswerke  von  Quintus  Curtius  und  Josephus 
benutzt  und  das  werk  vor  1177  abgeschlossen  hat.  Wie  sich 
zu  ihm  der  in  einigen  handschriften  gleichfalls  als  Verfasser 
des  Schlussteils  genannte  Pierre  von  St.  Cloud  verhält,  ist  nicht 
ganz  klar. 

Es  sind  somit  sehr  verschiedene  dichter  an  dem  gesamt- 
werk beteiligt  gewesen,  das  auch  nach  inhalt  und  darstellung 
keinen  einheitlichen  charakter  trägt.  Der  einleitende  teil  und 
die  Schilderungen  von  krieg  und  kämpf  sind  ganz  im  stil 
der  chansons  de  geste  gehalten:  ein  traumbild  weissagt  dem 
jugendlichen  Alexander  die  eroberung  der  weit  und  frühen 
tod;  die  tributforderung  des  königs  Nicolas  erinnert  an  manche 
ähnliche  szene  in  den  chansons  de  geste;  vor  dem  kämpf 
wählt  sich  Alexander  unter  den  beiden  seine  pers  aus.  Die 
phantastischen  demente,  welche  allerdings  zum  grössten  teil 
den  lateinischen  quellen  entstammen  und  der  dichtung  ein 
stark  romanhaftes  gepräge  verleihen,  gehören  meist  dem 
dritten  teil,  der  Indienfahrt:  hier  erscheinen  die  sirenen 
{femmes  aquatiques),  die  wunderbaren  Völker  (mit  hundeköpfen 
oder  mit  gespaltenem  oberleib  u.  ä.),  die  drei  zauberquellen 
(von  denen  die  eine  tote  wieder  ins  leben  ruft,  die  zweite 
Unsterblichkeit,  die  dritte  neue  Jugend  verleiht),  der  wunder- 
wald  mit  den  blumenjungfraueu,  die  im  frühling  mit  den 
blumen  aus  der  erde  wachsen  und  im  winter  wieder  in  sie 
zurückkehren.  Nicht  zum  mindesten  diese  märchenhaften  und 
romanhaften  elemente  haben  der  dichtung  ihren  grossen  erfolg 
verschafft. 


1.  Alexauderepen:   Fortsetzungen.  273 

E.  Fortsetzungen.  Unabhängig  voneinander  sind  zwei 
dichter  «auf  den  gedanken  gekommen  zum  tod  Alexanders,  die 
sühne,  die  Vengeance  Alexandre,  zu  sehreiben:  einmal,  gegen 
1190,  Gui  von  Cambrai  welcher  belagerung  und  bestrafung 
der  morder  durch  die  zwölf  pers  Alexanders  erzählt,  und 
dann,  vielleicht  um  dieselbe  zeit,  Jean  le  Venelais  (oder 
le  Nevelon),  welcher  nach  Paul  Meyer  zwar  erst  hundert 
jähre  später  gedichtet  hat,  aber  seiner  spräche  wegen  nicht 
so  tief  hinabgeruckt  werden  kann.  Hier  erscheint  als  rächer 
Alexanders  der  jugendliche  Alior,  welcher  aus  der  Verbindung 
Alexanders  mit  der  königin  Candace  hervorgegangen  ist.  Das 
13.  Jahrhundert  bringt  erweiterungen  der  alten  dichtung  durch 
interpolationen,  wie  namentlich  durch  die  umfangreiche  episode 
(1500  verse)  von  dem  feldzug  Alexanders  gegen  herzog  Melcis 
in  Chaldäa,  das  14.  Jahrhundert  weitere  ergänzungsdichtuugen 
mit  den  Vceux  du  paon  und  ihren  nachahmuugen.  Weniger 
im  geiste  der  alten  dichtung  ist  der  bereits  1188  verfasste 
Florimont  des  Aimon  de  Varennes  gehalten,  welcher  hier 
die  erfundenen  Schicksale  von  Alexanders  grossvater  erzählt, 
sich  die  damals  bereits  vorhandenen  höfischen  romane  zum 
muster  nimmt  und  dem  entsprechend  als  form  seiner  dichtung 
den  paarweisen  achtsilbner  wählt. 

Adolf  Ausfeld,  Der  griechische  Alexanderroman,  nach  des 
Verf.  Tode  hgg.  von  W.  Kroll,  L.  1907.  Pseudocallisthenes  hersg. 
von  Meusel,  L.  1871.  Vgl.  Julius  Zacher,  Psendokallistkenes, 
Ha.  1871,  und  W.  Kroll,  Beilage  zur  (Münchener)  Allg.  Zeitung 
1901,  no.  24.  —  J.  Valerii  Epitome  hersg.  von  J.  Zacher,  Ha.  1867, 
vgl.  Cillie,  De  J.  Valerii  Epitoma  Oxoniensi,  Diss.  Str.  1905.  Historia 
de  praeliis  hersg.  von  Landgraf,  Erlangen  1885.  Abseits  steht  die 
neuentdeckte  'Epitome  rerum  gestarnm  Alexandri  Magni'  eines 
anonymus,  hersg.  von  0.  Wagner,  L.  1900.  Fr.  Pfister,  Kleine  Texte 
zur  Alexandersage,  Heid.  (Vulg.-lat.  Texte)  1911.  —  Paul  Meyer, 
Alexandre  le  Grand  dans  la  litt.  fr.  du  m.  ä.,  2  bde.  (I  textes,  II  histoire 
de  la  legende),  P.  1886  (Bibl.  fr.  IV  u.  V).  Derselbe,  Rom.  11  (1882) 
213  ff.  —  Das  älteste  Alexanderfragment  bei  Monaci  (Facsimili), 
Bartsch,  Meyer,  Stengel  u.  a.,  mit  weiterer  bibliographie  im  Afr. 
Übungsbuch  von  Foerster  u.  Koschwitz  4  237  ff.,  vgl.  K.  Kinzel, 
Lamprechts  Alexander,  IIa.  1884.  —  Li  Romans  d'Alixandre 
hersg.  von  H.  Michelant,  Stuttgart  1846  (Bibl.  Lit.  Ver.  13).  Die 
'Alexandriade  p.  p.  F.  Le  Court  de  la  Villethassetz  et  Eng.  Talbot', 
Dinan  u.  Paris  1861,  ist  eine  willkürliche  Zusammenstellung  und 
zustutzung   der   überlieferten   texte   für   ein    weiteres   publikum.   — 

Voretzsch,  Studium  d.  afrz.  Literatur.     2.  Auf  läge.  J§ 


274  VIII.  Kapitel.     Vom  antiken  Epos  zum  Roman. 

Über  eine  in  England  noch  im  12.  jh.  entstandene  franz.  Alexander- 
dichtung, Roman  de  toute  chevalerie  von  Eustache  (Thomas)  von 
Kent,  mit  benutzung  lat.  n.  franz.  vorlagen  (u.  a.  auch  des  Fucnc 
de  Gadres)  siehe  P.  Meyer  2,  273 ff.;  IL  Schneegans,  ZfSL  30  (1906) 
240  ff.,  31  (1907)  lff.;  A.  Bauer,  Die  Sprache  des  F.  d.  G.  im 
Al.-roman  des  E.  v.  K.,  Progr.  Freising  1907;  Joh.  Weynand,  Der 
R.  d.  t.  eh.  des  Thomas  v.  Kent  u.  s.  Quellen,  Diss.  Bonn  1911.  Auf 
dieser  anglonorm.  dichtung  beruhen  die  engl.  Alexanderdichtungen.  — 
Eine  (nicht  im  handel  befindliche)  ausgäbe  der  Vengeance  AI.  von 
Jehan  le  Venelais  gab  Schultz -Gora  1902.  Vgl.  noch  K.  Sachrow, 
Ü.  d.  Veng.  d'Al.  von  Jean  le  Venelais,  Diss.  IIa.  1902.  E.  Walberg, 
Rom.  32  (1903)  150  ff.  —  Über  Florimont  zuletzt  Risop  im  Toblerband 
s.  430  ff.,  über  die  fortsetzungen  des  Alexanderromans  P.  Meyer,  A.  1.  G. 


2.   Thebenroman. 

A.  Allgemeines.  Gegenüber  den  Alexanderepen  zeigt 
der  Roman  de  Thebes  nicht  mehr  die  form  der  chansons  de 
geste,  sondern  den  paarweis  gereimten  achtsilbner,  der  bisher 
vor  allem  in  der  geistlichen  und  didaktischen  dichtung  zu 
finden  war  und  künftig  die  charakteristische  dichtform  des 
höfischen  romans  bildet.  Der  Wechsel  der  form  ist  zunächst 
im  wesentlichen  äusserlicher  art,  nach  iuhalt  und  tendenz 
zeigt  der  Thebenroman  keine  prinzipiellen  unterschiede  gegen- 
über den  Alexanderdichtungen.  Es  sind  im  wesentlichen 
kämpfe  und  kampfszenen,  welche  uns  hier  geschildert  werden, 
z.  t.  mit  ähnlichen  formein  wie  in  den  chansons  de  geste. 
Zwar  spielen  die  frauen,  wie  übrigens  gelegentlich  auch  im 
Alexander,  an  verschiedenen  stellen  eine  rolle,  und  der  schmerz 
der  Jocaste  nach  entdeckung  der  furchtbaren  Wahrheit  ebenso 
wie  die  trauer  der  hinterblie heuen  frauen  und  mädchen  von 
Argos  nach  dem  Untergang  des  argivischen  heeres  vor  Theben 
wird  eingehend  und  anschaulich  geschildert.  Aber  die  Stellung 
des  mannes  zur  frau  ist  von  der  auffassung  der  chansons  de 
geste  nicht  wesentlich  verschieden,  und  der  dichter  hat  auf 
die  Schilderung  der  liebe  und  ihrer  entwicklung  im  herzen 
der  liebenden  keinen  grossen  wert  gelegt.  So  geht  die 
eheschliessung  zwischen  Jocaste  und  dem  mörder  ihres  galten 
sehr  kurz  und  formelhaft,  beinahe  geschäftsmässig  vor  sich, 
ebenso  nachher  die  Verlobung  der  beiden  —  vom  dichter  ihrem 


2.  Thebenroman.  275 

äusseren   nach    mit   Bichtlichem   wolbehagen   geschilderten  — 
töchter  Adrasts  mit  Polyniees  und  Tydeus. 

B.  Inhalt.  Der  'Koman'  erzählt  die  geschichte  Thebens 
vtni  Ödipus  —  hier  Edipus  oder  Edipodes  genannt  —  bis 
zum  ende  des  zugs  der  sieben  gegen  Theben  im  wesentlichen 
im  anschluss  an  die  antiken  Überlieferungen:  zuerst  geburt 
und  anssetznng  des  Ödipus,  seine  erziehnng  bei  Polybus  von 
Korinth,  seinen  mord  an  Laius,  die  besiegung  des  Spin 
(Sphynx),  seine  ehe  mit  Joeaste  (die  hier  wissentlieh  den 
mörder  des  gatten  heiratet),  die  entdeekung  des  freveis  und 
seine  sühne  durch  Ödipus,  welcher  sieh  selbst  blendet.  Das 
pietätlose  benehmen  seiner  söhne  gegen  ihn  entreisst  ihm  den 
väterlichen  flnch,  der  zwist  der  brüder  führt  den  zug  der 
sieben  gegen  Theben  herbei,  welcher  den  hauptteil  des  gedichts 
—  rund  9000  verse  gegenüber  den  1000  versen  der  Vor- 
geschichte —  einnimmt.  Dem  krieg  voraus  geht  die  —  an 
ähnliche  szenen  der  chansons  de  geste  erinnernde  —  botschaft 
des  Tydeus  nach  Theben  und  sein  kämpf  gegen  einen  hinterhalt 
von  fünfzig  mann,  auch  auf  dem  zug  nach  Theben  fehlt  es 
nicht  an  episoden:  das  durst  leidende  heer  wird  von  der 
Jungfrau  Isiphile  (=  Hypsiphyle)  zu  einer  quelle  geführt, 
wobei  aber  das  ihrer  hut  anvertraute  kind  des  köuigs  Ligurge 
(Lykurgos)  von  einer  schlänge  getötet  wird,  welche  die 
griechischen  beiden  nur  mit  mühe  überwältigen;  darauf  wird 
das  sehloss  Monflor  mit  einer  kriegslist  eingenommen.  Die 
eigentliche  belngerung  Thebens  spielt  sich  in  fünf  grossen 
schlachten  ab,  die  z.  t.  durch  episoden  unterbrochen  werden. 
In  der  letzten  schlacht  töten  sieh  Ethiocles  und  Polinices 
gegenseitig,  von  dem  argivischen  heer  bleiben  nur  könig 
Adrastus,  Capaneüs  und  ein  ritter  übrig,  der  die  botschaft 
davon  nach  Argos  bringt.  Die  töchter  des  Adrastus  machen 
sich  mit  einer  grossen  zahl  argivischer  frauen  auf  den  weg 
und  nehmen  hervorragenden  anteil  an  der  eroberung  Thebens, 
welche  der  herzog  von  Athen,  von  Adrastus  um  hüte  angerufen, 
ins  werk  setzt.  Die  toten  werden  begraben,  die  trauernden 
frauen  kehren  nach  Argos  zurück.  Der  dichter  schliesst  mit 
der  mahnung:  Por  co  vos  di:  „Prenez  en  eure,  —  Par  clreit 
errez  et  par  mesure;  —  Ne  faciez  rien  contre  nature,  —  Que 
ne  vengiez  {=  vegniez)  a  fin  si  dure". 

18* 


276  VIII.  Kapitel.     Vom  antiken  Kpus  zum  Roman. 

C.  Verhältnis  zur  Quelle  und  Verfasser.  Da9 
gedieht  zeigt  in  seinem  hauptteil  auffällige  Übereinstimmungen 
mit  der  Thebais  des  P.  Papinius  Statius  (ca.  40 — 96  n.  Chr.), 
welcher  hier  nach  dem  muster  von  Vergils  Aeneis  den  zug 
der  sieben  gegen  Theben  unter  zahlreichen  zutaten  eigener 
erfindung  in  zwölf  büchern  besungen  hat.  Nach  ansieht  des 
herausgebers,  L.  Constans,  hatte  aber  der  Verfasser  des 
R.  d.  Th.  nicht  das  gedieht  des  Statius  selbst,  sondern  einen 
durch  die  Odipussage  bereicherten  auszug  vor  sich.  Episoden, 
wie  die  belagerung  von  Monflor,  Hippomedons  fouragierungs- 
zug  ins  Donautal  und  der  verrat  des  Thebaners  Daire  des 
Roten  hat  der  französische  Verfasser  selbständig  hinzugefügt. 
Dagegen  beseitigt  er  nach  möglichkeit  die  antike  mythologie 
—  das  die  handlung  vielfach  bestimmende  orakel  Apollos  zu 
Delphi  niuss  er  freilich  bestehen  lassen  —  und  stellt  die 
handelnden  wesentlich  im  gewand  und  im  geist  seiner  eigenen 
zeit  dar. 

Der  name  des  seinen  stoff  so  selbständig  formenden 
Verfassers  ist  nicht  bekannt.  Dass  er  mit  dem  Verfasser 
des  Trojaromans,  Beneeit  de  Sainte-More,  identisch  sei,  ist 
unbewiesen  und  unbeweisbar.  Der  spräche  nach  gehört  er  in 
das  gebiet  südlich  der  Loire,  etwa  in  die  gegend  des  Poitou. 
Die  abfassungszeit  fällt  in  die  jähre  1150  —  1155.  Er  eröffnet 
die  reihe  der  antiken  romane  im  eigentlichen  sinne  des  Wortes 
und  verschafft  der  Thebanersage  eine  weitgehende  bekannt- 
schaft,  welche  sich  durch  die  zahlreichen  anspieluugen  in 
anderen  diehtungen  dokumentiert. 

Ausgabe  von  L.  Constans,  Le  Roman  de  Thebes,  2  bde., 
P.  1890  (Soc.  d.  anc.  i).  —  Vgl.  L.  Constans,  La  legende  d'CEdipe, 
P.  1881.  G.  Otto,  Der  Einfluss  des  Roman  de  Thebes  auf  die  afr. 
Literatur,  Diss.  Göttingen  1909.  —  Schon  im  ersten  drittel  des 
13.  Jahrhunderts  entstand  die  erste  prosabearbeitung,  welcher  bald 
weitere  folgten.  Durch  prosaromane  wurde  das  werk  auch  der 
italienischen  und  englischen  literatur  vermittelt:  s.  Constans  i.  d. 
einleitung  zur  ausgäbe,  dazu  für  Italien  P.  Savj -Lopez,  Storie 
Tebane  in  Italia,  testi  inecliti  illustrati,  Bergamo  1905. 


3.  Eneasromau.  27V 


3.  Eneasronian. 

A.  Allgemeines.  Einen  bedeutenden  schritt  vorwärts 
führt  uns  der  Verfasser  des  Eneasromans,  welcher  zwar  auch 
ausführliche  beschreibungen  von  kämpfen  und  sehlachten  gibt, 
daneben  aber  den  frauen  und  der  liebe  eine  weit  wichtigere 
rolle  zuweist  als  der  Thebenroman.  Auf  der  einen  seite  wird 
die  unglückliche  liebe  der  Dido  im  anschluss  an  Vergils  Aeneis, 
auf  der  andern  seite  die  liebe  der  Lavinia,  mehr  selbständig 
und  schöpferisch,  ausführlich  dargestellt.  Wie  Lavinia  vom 
hohen  türm  herab  Aeneas  zum  ersten  male  erblickt  und  sich 
stracks  auf  sein  äusseres  hin  in  ihn  verliebt,  erinnert  an 
manche  ähnliche  szene  der  chansons  de  geste,  wro  namentlich 
die  Sarrazenenprinzessinnen  mit  rascher  leidenschaft  und 
skrupellosem  entgegenkommen  einen  ganz  ähnlichen  typus 
vertreten.  Voraus  aber  geht  hier  eine  lange  Unterhaltung  über 
das  wresen  der  liebe  zwischen  Lavinia  und  ihrer  mutter,  l)  und 
hunderte  von  versen  sind  im  folgenden  dem  entstehen  ihrer 
liebe,  der  Verteidigung  dieser  gegenüber  der  mutter,  den 
ersten  annäherungsversuchen  an  den  geliebten  —  durch  einen 
vermittelst  eines  pfeilschusses  beförderten  liebesbrief  —  ge- 
widmet. Zwar  begegnet  uns  in  der  Schilderung  dieser  liebe 
noch  mancher  naive  oder  gar  rohe  zug,  aber  das  romanhafte 
element    hält    dem    heroischen    hier    bereits    die    wage    oder 


')  Die  mutter  meiut,  die  erfahruug  werde  Lavinia  schon  lehren,  was 
liebe  sei,  aber  Lavinia  verlangt  eine  theoretische  erklärung,  die  ihr 
schliesslich  auch  zu  teil  wird  (v.  7019  ff.) : 

„Pire  est  amors  que  fievre  agüe,  Tels  est  amors  et  sa  nature. 

N'est  pas  retors  quant  Ten  en  sue.        Se  tu  i  vuels  metre  ta  eure, 
D'amor  estuet  sovent  suer  »Suvent  t*estovra  endurer 

Et  refreidir,  fremir,  trenbler  Ce  que  tu  m'oz  ci  aconter 

Et  sospirer  et  baaillier,  i    Et   asez    plus."    —    „N'en    ai    que 
Et  perdre  tot,  beivre  et  mangier,  faire."  — 

Et  degeter  et  tressailir,  j    „Por   qnel?"    —    „Ne   puis   neient 
Muer  color  et  espasmir,  mal  traire."  — 

Giendre,  plaindre,  palir,  penser  ,.C'ist  mala  est  buens,  nel'eschiver!"  — 

Et  senglotir,  veillier,  plorer:  „One  de  buen  mal  n'o'i  parier."  — 

Ce  li  estuet  faire  sovent  „Amors  n'est  pas  de  tel  nature 

Ki  bien  aime  et  ki  s'en  sent.  Com  altre  mals."  .  .  . 


278  VIII.  Kapitel.     Vom  autiken  Epos  zum  Roman. 

überwiegt  es  gar  schon.  Ob  wir  freilieb  den  Verfasser  den 
vater  des  höfischen  romaus  in  Frankreich  nennen  dürfen,  lässt 
sich  nicht  mit  Sicherheit  sagen:  die  priorität  des  Eneas 
gegenüber  Beneeits  Trojaroman  ist  nicht  unbestritten,  wenn 
auch  recht  wahrscheinlich;  das  zeitliche  Verhältnis  zu  Crestiens 
romanen  bleibt  zweifelhaft,  und  selbst  mit  verloren  gegangenen 
dichtungen  müssen  wir  rechnen.  Meist  aber  setzt  man  den 
Eneas  gegen  1160,  den  Trojaroman  etwa  1165  an,  und  Crestiens 
Erec,  das  älteste  von  seinen  erhalten  gebliebenen  werken, 
enthält  unzweifelhaft  anspielungen  auf  den  Eneasroman. 

B.  Inhalt  und  Quelle.  Der  inhalt  des  romans  ist  im 
wesentlichen  durch  die  vorläge,  die  Aeneis  des  Vergil,  gegeben, 
welcher  der  dichter  in  der  hauptsache  und  in  vielen  einzel- 
heiten  getreu  folgt,  so  dass  sich  eine  fortlaufende  Vergleichs- 
tabelle zwischen  beiden  dichtungen  aufstellen  lässt.  Einen  teil 
von  des  Eneas  erzählung  in  Vergils  II.  buch  verwendet  der 
französische  dichter  für  die  einleitung,  die  mit  der  belagerung 
uud  einnähme  Trojas  und  der  flucht  des  Eneas  beginnt,  zur 
erklärung  von  Junos  feindschaft  gegen  die  Troer  das  urteil 
des  Paris  einfügt  und  dann  den  seesturm  anschliesst,  mit  dem 
die  handlung  bei  Vergil  anfäugt.  Die  heidnische  mythologie 
hat  der  französische  dichter  eingeschränkt,  aber  keineswegs 
so  durchgehend  zu  beseitigen  versucht  wie  der  Verfasser  des 
Thebenromans:  Juno  als  tätig  eingreifende  feindin  des  beiden, 
Venus  als  seine  mutter  bleibt  bewahrt,  ebenso  die  beschreibung 
der  unterweit  mit  Cbaron,  Lethestrom  und  Cerberus.  Aus 
anderen  quellen  (Bestiarien,  Thebenroman  u.  a)  hat  er  die 
erzählungen  von  wunderbaren  tieren,  sowie  die  ausführlichen 
und  anschaulichen  beschreibungen  von  grabmälern,  zelten, 
palästen  u.  a,  m.  entnommen,  aus  Ovid  seine  liebestheorie  und 
manchen  einzelzug  in  der  Schilderung  der  liebesepisoden.  In 
dieser  art  der  darstellung  zeigt  er  viel  ähnlichkeit  mit  dem 
Trojaroman,  mit  dessen  Verfasser  er  jedoch  nicht  identisch  ist. 
Er  gehört  wie  der  autor  des  Thebenromans  nach  dem  westen 
des  französischen  Sprachgebietes,  ist  aber  hier  mehr  nördlich, 
etwa  in  der  Normaudie,  zu  lokalisieren.  Seinen  vers  handhabt 
er  mit  grosser  leichtigkeit,  und  namentlich  versteht  er  es 
den  dialog  durch  kurze,  rasch  aufeinanderfolgende  rede  und 
gegen  rede    zu    beleben.      Das    ganze    gedieht    zählt,    wie    der 


3.  Eneasrouiau.  —  4.  Beneeits  Trojaroman.  279 

Thebenroman,  etwas  Über  10000  verse,  wovon  nicht  ganz  der 
vierte  teil  den  sechs  ersten,  der  grosse  rest  den  sechs  letzten 
biichern  der  Aeueis  entspricht. 

Ausgabe  von  J.  Salverda  de  Grave,  Eneas  (Bibl.  Norm.  IV), 
Ha.  1891.  VgL  dazu  Tobler  LgrP  1892,  85 ff.,  und  G.Paris,  Korn. 
21  (1892),  281  ff.  —  K.  0.  Rottig,  Die  Verfasserfrage  des  Eneas 
und  des  Roman  de  Thebes,  Diss.  Ha.  1892.  Alfr.  Dressler,  Der 
Einfluss  des  afr.  Eneas -Romans  auf  die  afr.  Literatur,  Diss.  Göttingen 
1907.  Ed.  Faral,  Ovide  et  quelques  autres  sources  du  R.  d'E., 
Rom.  40  (1911)  161  ff,  dazu  Rom.  41,  lOOff 

Auch  der  Eneas  wurde  zum  prosaromau  umgearbeitet,  der 
seinerseits  wieder  die  quelle  italienischer  und  englischer  be- 
arbeitungen  ward.  Eine  bearbeitung  des  alten  gedichts  ist  die 
Erleide  Heinrichs  von  Veldeke,  welcher  damit  den  höfischen  roman 
in  die  deutsche  literatur  einführt  (der  erste  teil  vor  1 174,  der  zweite 
zwischen  1184  und  1190  entstanden).  Heinrich  hat  nicht  sklavisch 
übersetzt,  hat  gelegentlich  auch  die  lat.  Urquelle  zu  rate  gezogen. 
Ausgabe  von  Behaghel  1882;  über  des  dichters  spräche  siehe  Carl 
Kraus,  H.  v.  V.  u.  d.  mhd.  Dichtersprache,  Ha.  1899,  Prager  Deutsche 
Studien  VIII,  1,  s.  211  ff.  (1908). 

Vergil  war  im  mittelalter  sonst  mehr  als  grosser  zauberer 
denn  als  dichter  bekannt  und  populär.  Vgl.  Comparetti,  Virgilio 
nel  medio  evo,  Livorno   1872,  21896. 


4.   Beneeits  Trojaroman. 

A.  Die  Trojasage  im  Mittelalter.  Weitaus  den 
grössten  erfolg  von  allen  bearbeitern  antiker  epenstoffe  erzielte 
Beneeit  von  Sainte-More  mit  seinem  Roman  de  Troic,  der  mit 
seinen  30000  versen  weit  umfangreicher  als  alle  vorhergehenden 
romane  ist  und  den  geschmack  der  höfischen  gesellschaft  seiner 
zeit  um  so  besser  getroffen  hat,  je  weiter  er  sich  von  dem 
antiken  vorbild  entfernt.  Während  der  Eneasroman  direkt 
auf  Vergil  zurückgeht,  hat  Benoit  ebenso  wie  das  mittelalter 
überhaupt  Homers  dichtungen  nicht  gekannt,  sondern  seine 
kenntnis  aus  zwei  späten  lateinischen  prosabearbeitungen  der 
Ilias  geschöpft:  in  erster  lißie  aus  der  kürzeren,  schlecht 
erzählten  Historia  de  excidio  Trojae  des  Phrygiers  Dares 
(mitte  des  6.  jahrh.  n.  Chr.)  und  dann,  gegen  schluss  des 
gedichts,  aus  der  weit  ausführlicheren  und  stilistisch  gewanteren 
Ephemcris  belli  Trojani  des   Kreters  Dictys   (4.  Jahrhundert). 


280  VIII.  Kapitel.    Vom  antiken  Epos  zum  Roman. 

Beide  Verfasser  geben  sich  als  teilnehmer  und  augenzeugen 
des  trojanischen  krieges  aus,  der  erste  auf  troischer,  der  zweite 
auf  griechischer  seite.  Die  annähme  griechischer  originale  ist 
nunmehr  wenigstens  für  den  Dictys  durch  auffindung  eines 
griechischen  bruchstückes  in  einer  papyrusbandschrift  (250  n.  Cbr.) 
bestätigt  worden.  Die  Historia  des  Dares  ist  sichtlich  aus 
einer  ausführlicheren  darstellung  gekürzt.  Beide  autoren  haben 
dem  christlichen  dichter  vorgearbeitet,  indem  sie  die  homerische 
göttermaschinerie  beseitigt  haben.  Ibre  autorität  das  ganze 
mittelalter  hindurch  war  so  gross,  dass  Homer  daneben  als 
unzuverlässiger  berichterstatter,  wenn  nicht  gar  (wie  bei  Guido 
de  Columna)  als  falscher  erschien.  So  sagt  Beneeit  selbst  von 
Homer  (v.  45 ff.):  Omers,  qui  fu  clers  merveiUos  —  E  sage.s 
e  escientos,  —  Escrist  de  la  destruct'ion,  —  Del  grant  siege  e 
de  Vacheison,  —  Por  quel  Troie  fu  desertee,  —  Que  onc  puis 
ne  fu  rabitee.  —  Mais  ne  dist  pas  ses  livres  veir,  —  Quar 
bien  savons  senz  nul  espeir  —  Qu'ü  ne  fu  puis  de  cent  ans 
nez  —  Que  li  granz  oz  fu  assemblez :  —  N'est  mervcille  s'il 
i  faillit,  —  Quar  onc  n'i  fu  ne  rien  n'en  vit. 

Die  sogenannte  fränkische  Trojanersage  ist  keine  sage  in 
eigentlichem  sinn,  keine  volkssage,  sondern  eine  gelehrte, 
z.  t.  auf  starken  missverständnissen  der  quellen  beruhende 
fabelei  des  Chronisten  Fredegar  (7.  Jahrhundert,  vgl.  s.  81), 
der  zufolge  der  Trojaner  Fraucio  von  den  aus  Troja  ver- 
triebenen zum  anführer  auf  ihren  Irrfahrten  gewählt  wurde 
und  sie  nach  Europa  führte;  spätere  auslegung  machte  ihn  zu 
einem  direkten  nachkommen  des  Priamus.  Diese  kunstsage 
von  der  abstammung  der  Franken  von  den  Trojanern  hatte 
während  des  ganzen  mittelalters  kurs  und  begegnet  noch  im 
16.  Jahrhundert  bei  Jean  Lemaire  de  Beiges  und  Ronsard. 
Hierzu  stimmt  es  auch,  dass  Beneeit  lieber  dem  Phrygier 
Dares  als  dem  Griechen  Dictys  folgt  und  diesen  erst  da 
benutzt,  wo  ihn  jener  im  stich  lässt. 

B.  Beneeits  Werk.  Ausser  Dares  und  Dictys  bat  Beneeit 
für  einzelheiten  auch  noch  andere  quellen  benutzt:  so  eine 
Weltbeschreibung  des  Aethicus,  eine  erzählung  der  Argonauten- 
sage, die  im  überlieferten  Dares  sehr  kurz,  im  Dictys  garnicht 
behandelt  wird,  u.  a.  m.  Unter  berufung  auf  Salomo  leitet  er 
sein    werk    mit    der    motivierung    ein,    dass    man   sein   wissen 


4.  Beueeits  Trojaroman.  281 

amiern  zu  nutz  und  fromm  mitteilen  müsse:  Salcmon  nos 
( nseigne  e  dit,  —  E  sil  list  om  en  son  escrit,  —  Que  nus  ne 
deit  so)i  seh  celer,  —  Ainz  le  deit  om  si  demostrer  —  Que 
Vom  i  ait  pro  e  honor,  —  Qu'ensi  firent  li  ancessor.  Darum 
will  er  die  geschiente  von  Troja  aus  dem  latein  en  romane 
übertragen,  aber  nicht  nach  Homer  (vgl.  oben),  sondern  nach 
Daircs,  ohne  viel  hinzuzusetzen,  ausgenommen  hie  und  da  ein 
hon  dit,  oder  zu  ändern:  Le  latin  sivrai  e  la  letre,  —  Nule  autre 
nt  ii  )ii  voudrai  metre  —  S'ensi  non  com  jol  trais  escrit.  — 
Nt  di  )>ii  e  qu'aucun  bau  dit  —  iVV  niete,  sc  faire  le  sai,  — 
Jinis  la  matire  en  ensivrai.  Immerhin  muss  Beneeit,  auch  wenn 
wir  mit  Körting  und  Coustans  einen  ausführlicheren  Dares  als 
quelle  aunehmeu,  im  einzelnen  manches  hon  mot  hinzugefügt 
haben,  um  auf  den  alle  bisherigen  französischen  dichtungen 
übertreffenden  umfang  seines  Werkes  zu  kommen. 

Die  erzählung  selbst  beginnt  mit  Jason  und  dem  Argonauten- 
zug, mit  der  ersten  Zerstörung  Trojas  durch  Jason  und  Hercules 
und  dem  Wiederaufbau  der  Stadt  durch  Priamus.  Dann  folgen 
die  sühne-  und  racheversuche  der  Troer,  der  raub  der  Helena 
durch  Paris,  die  Sammlung  und  ausfahrt  des  Griechenheeres. 
Die  kämpfe  vor  Troja  werden  in  den  hauptpunkten  im  an- 
schluss  an  die  Überlieferung  erzählt,  im  einzelnen  sehr  aus- 
geführt und  variiert.  Mehr  als  zwanzig  schlachten  werden 
geschildert,  eingehend  auch  das  eingreifen  der  Amazonenkönigin 
Penthesilea.  Auf  die  einnähme  Trojas  und  die  rückkehr  der 
Griechen  folgen  noch  die  Schicksale  einzelner  beiden,  vor  allem 
des  Odysseus  Irrfahrten  und  sein  tod  durch  Telegonus,  seinen 
söhn  von  der  Circe,  der  tod  Agamemnons,  die  geschichte  des 
Orestes,  der  Andromache  und  das  ende  des  Pyrrhus.  Episoden, 
welche  liebesgeschichten  behandeln,  werden  mit  besonderer 
Vorliebe  ausgesponnen :  so  die  liebe  zwischen  Jason  und  Medea, 
die  liebe  des  Achilles  zu  Polyxena  und  vor  allem  die  berühmt 
gewordene  liebesgeschichte  von  Tro'ilus  und  ßrisei'de.  Mag 
der  Verfasser  in  einem  ausführlicheren  Dares  auch  etwas  mehr 
gefunden  haben  als  der  überlieferte  text  bietet,  so  hat  er  doch 
zweifellos  hier  am  reichlichsten  von  seiner  eigenen  phantasie 
hinzugefügt.  Die  seelischen  Vorgänge  werden  von  ihm  ein- 
gehend geschildert,  die  wandelbare  liebe  der  Briseide  so  gut 
wie  die  befürchtungen  und  klagen  der  Andromache. 


282  VIII.  Kapitel.     Vom  antiken  Epos  zum  Roman. 

Die  Parteinahme  des  dichter»  für  die  angeblichen  troischen 
vorfahren  zeigt  sich  in  seiner  Vorliebe  für  Hector,  der,  obwol 
schliesslich  der  Überlieferung  gemäss  von  Achilles  getötet,  im 
ganzen  doch  als  der  überlegene  erscheint.  Als  tapferster  der 
Troer  nach  Hector  gilt  Troülus.  Kämpfer  und  kämpfe  werden 
im  geiste  und  im  stil  der  zeit  Beneeits  dargestellt,  wir  befinden 
uns  mit  der  Schilderung  durchaus  im  ritterlichen  milieu  des 
12.  Jahrhunderts.  Von  den  beschreibungen  macht  Beneeit,  wie 
der  dichter  des  Eneas,  reichlichen  gebrauch,  so  um  den  palast 
des  Priamus  oder  die  Chambre  de  bialte  zu  schildern,  qui  valeit 
une  grant  cite  —  Et  plus  reluist  der  et  resplent  —  Quc  la 
lune  clel  firmament.  Alles  das,  die  reichen  Schilderungen,  die 
darstellung  der  höfischen  sitten,  die  psychologische  auffassung 
der  liebe,  hat  im  Zusammenhang  mit  dem  nationalen  interesse 
für  das  Trojanervolk  dem  roman  seine  berühmtheit  in  Frank- 
reich und  über  Frankreichs  grenzen  hinaus  verschafft. 

C.  Textprobe.  Als  probe  von  Beneeits  erzählungskunst 
und  vor  allem  von  seiner  auffassung  antiker  sage  und  antiker 
art  folgt  hier  die  stelle,  welche  Paris'  Unterhaltung  mit  der 
beim  fest  der  cythäreischen  Venus  geraubten  Helena  schildert 
(ausgäbe  Joly  v.  46 17 ff.,  Constans  4637ff.): 

4637  Paris  e  tnit  si  cumpaignon1)  Fortment    plorot,    grant    duel 
Jurent  la  nuit  a  Tenedon.  faiseit, 

Dame  Heleine  faiseit  senblant  E  dnrement  se  conplaigneit, 

4640  Qu'el  eiist  duel  e  ire  grant,  Son  seignor  regretot  fortment, 


])  Beneeit  schreibt  im  wesentlichen  die  mundart  seiner  heimat,  der 
westlichen  Touraine,  d.  h.  eine  mundart,  die  dem  schriftnormannischen  sehr 
nahe  stand.  So  finden  wir  ei  noch  als  ei  (noch  nicht  oi)  bewahrt  (vgl.  vei, 
seit,  feseit,  aveir),  im  imperfectum  der  I.  konjugation  die  endung  ot  oder 
out  {plorot,  regretot  usw.),  als  betontes  weibliches  pronomen  el  (ursprünglich 
wol  autevokalisches  ele  —  el',  auch  anglonorm.  häufig)  u.  a.  Die  deklination 
ist  schon  ziemlich  zerrüttet,  akkusativ  für  nominativ  häufig  und  umgekehrt. 
—  Der  hier  gegebene  text  auf  grund  des  in  Mailand  befindlichen  codex 
Ambrosianns,  dessen  lesarten  ich  Hermann  Snchier  verdanke.  Auch  die 
Orthographie  ist,  abgesehen  von  selbstverständlichen  oder  naheliegenden 
korrekturen  (amoent  f.  ameient,  trennuug  von  u  und  v,  ferai  f.  farai, 
biaute  f.  biaultie  usw.)  beibehalten.  Man  vergleiche  jetzt  damit  deu 
kritischen  text  bei  Constans  I  239  —  46. 


Vers  4642:  hs.  doucement. 


4.  Beneeits  Trojaroman. 


283 


Ses  frcres,  sa  fille  e  sa  gent, 

4645  E  sa  lignee  e  ses  amis. 
E  sa  contree  e  sou  pats, 
Son  bei  seignor  et  sa  richece 
E  sa  biaute  e  sa  hautece. 
Ne  la  poeit  nus  conforter, 

4650  Quant  les  daines  veeit  plorcr, 
Qui  estelent  o  li  ravies. 
Mout  amoent  petit  lur  vies 
Quant  lor  Beignora  veeient  pris,      4095 
Anqtianz  navrez,  plusors  ocis: 

4655  Tor  poi  li  euer  ne  lnr  parteieut. 
Ceus  esgardoent  e  veeient, 
Qui  lur  erent  seignor  e  pere, 
Oncle,  nevou  e  tili  e  frere.  4700 

Mais  de  leisir  n'aveient  tant 

4660  Qu'a    eus    parlasseut    tant   ne  ; 
quant. 
Les  dames  mistrent  par  esgart 
Par  sei,  les  humes  autre  part.       4705 
Onques  tels  duels  ne  fn  oiz 
Ciim  il  faiseient,  ne  tels  criz. 

4665        Paris  ne  pnet  plus  endurer: 
Heleine  ala  reconforter, 
S'entente  meteit  ebaseun  jor         4710 
En  li  reconforter  del  plor. 
Tot  dreit  a  li  en  est  vennz, 

4670  Mais  merveilles  s'est  iraseuz: 
„Dame"  fait  il  „ce  que  sera 
Ne  si  fait  duel  qui  soferra? 
E  ce  ne  faut  ne  jor  ne  nuit. 
Cuidez  que  mout  ne  nos  enuit? 

4075  Dur  euer  avre.it  e  reneie 
Qui  vos  ne  feriez  pitie. 
Nulc  riens  qui  vos  ot  plorer,        4720 
Ne  puet  de  joie  remenbrer. 
Avoi!    Dames,  confortez  vos! 

4680  Quar  par  la  fei  que  je  dei  vos,  ! 
Plus  avreiz  joie  en  cest  pai's 
E  plus  avreiz  de  vos  plaisirs     <    4725 
Qae  vos  n'aviez  es  contrees 
Dont  l'on  vos  a  §a  amenees. 

46S5  Cil  se  deiveut  bien  esmaier 


Qui  tenu  sunt  en  chaitivier. 
Vos  n'i  sereiz  de  riens  tenues, 
Ne  a  cels  ne  Bereis  toluea 
Qoi  vns  aiment  ni  que  amez: 
Quai  to7,  delivrea  les  avrez. 
Celes  qui  lor  seignors  ont  ci 
Ne  s'aucune  i  a  sou  ami, 
Si  l'avra  tot  quite  e  delivre: 
En  ceste  terre  porreiz  vi  vre 
A  grant  joie  e  a  grant  baudor, 
Ne  vos  iert  faite  desenor, 
Tot  porl'amormadame  Heleine. 
N'i  soferreiz  dolor  ne  peine, 
Ele  sole  vos  en  guarra 
Que  ja  torz  faiz  ne  vos  sera. 
E  au  voleir  de  son  plaisir 
Ferai  tote  Troie  obe'ir: 
Cist  regnes  iert  en  sa  baillie, 
Bien  en  avra  la  seignorie. 
Ja  mar  avront  poor  de  rien 
Cil  a  cui  el  voudra  nuil  bien. 
Riches  mananz  les  porra  faire, 
Ja  nus  ne  Ten  fera  contraire. 
A  la  plus  povre  qui  ci  est 
Porra  docer,  se  bon  li  est, 
Plus  en  un  jor  c'onques  n'en  ot 
Ne  la  plus  riebe  aveir  ne  pot. 
Confortez  vos,  ne  plorez  inie." 
Chascune  donc  merci  li  crie, 
As  piez  li  chieent  les  plusors, 
Qu'il  ait  merci  de  lur  seignors, 
Qui  sunt  destreit  e  en  l'i'ens. 
„Toz  en  farai"  fait  il  „vos  biens 
E  le  plaisir  de  la  reine." 
Ele  parfundement  l'encline: 
„Sire"  fait  el  „s'estre  poüst, 
Ja  ne  vousisse  qu'ensi  fust, 
Mais  quant  ice  vei  e  entent 
Que  il  ne  puet  estre  autrement, 
Si  nos  convendra  a  Bofrir, 
Peist  o  place,  vostre  plaisir. 
Dex  li  doinst  bien  quil  nos  fera 
E  qui  encor  nos  portera: 


Vers  4659:  hs.  E  de  l. 
4696 :  Ja  n.  v.  i.  fait  d.  hs.  - 
—  4725:  Sil  hs. 


-   4639:  hs.  quels. 
4697 :  En  p.  hs.  - 


-   4693:  tot  fehlt  hs.  — 
4714:  Ck.  deles  m.  c.  hs. 


284 


VIII.  Kapitel.     Vom  antiken  Epos  zum  Roman. 


Anmosne  en  porra  grantaveir." 

473(i  „Dame"  fait  il  „vostre  voleir 
Sera  si  faiz  e  aconpliz, 
Come  de  vostre  boche  iert  diz." 
Parmi  la  main  destre  l'a  prise, 
Sor  un  feutre  de  porpre  bise 

4735  Sunt  andui  ale  conseillier, 
Si  li  comence  a  preier: 
„Dame",  ta.it  il  „ce  sachiez  bien, 
Onques  n'amai  mais  nule  rien, 
One  mais  ne  soi  que  fu  amer, 

4740  One  mais  ne  m'i  voil  atorner. 
Or  ai  mon  euer  si  en  vos  mis, 
E  si  m'a  vostre  amors  espris, 
Que  de  tot  sui  aclins  a  vos: 
Leiaus  amis,  leiaus  espos 

4745  Vos  serai  mais  tote  ma  vie, 
D'ice  seiez  seüre  e  fie. 
Tote  riens  vos  obeira, 
E  tote  rieus  vos  servira. 
Se  vos  ai  de  Grece  amenee, 

4750  Plus  bele  e  plus  riebe  encontree 


Verreiz  assez  en  cest  pa'is, 
Ou  toz  iert  faiz  vostre  plaisirs. 
Tot  ce  voudrai  que  vos  voudreiz, 
E  ce  que  vos  comandereiz." 

4755  „Sire"  fait  el  „ne  sai  que  dire, 
Mais  assez  ai  e  duel  e  ire, 
N'en  puet  aveir  nule  riens  plus. 
Car  je  vei  bien,  se  je  refus 
Vostre  plaisir,  poi  me  vaudra. 

47(»0  Por  ce  sai  bien  qu'il  nfestovra, 
Voille  o  ne  voille,  a  consentir 
Vostre  buen  e  vostre  plaisir, 
Qaant  desfendre  ne  me  porreie. 
De  dreit  neient  m'escondireie, 

47G5  Ne  puis  faire,  ce  peise  a  mei. 
Se  me  portez  heuor  e  fei, 
Vos  l'avrdz  sauf  lonc  ma  valor." 
Donc  ne  se  puet  tenir  de  plor, 
Mout  l'a  Paris  reconfortee, 

4770  E  merveilles  l'a  henoree, 

Mout  la  fist  la  nuit  gent  servir, 
Ce  puis  bien  dire  sanz  mentir. 


Ausgabe  von  A.  Joly,  Benoit  de  Sainte  More  et  le  Komau  de 
Troie,  2  vols.,  P.  1870 — 71.  Kritische  ausgäbe  von  L.  Constans: 
Le  K.  d.  Ti\,  6  vols.  (I — IV  Text,  V  Anmerkungen  und  Glossare, 
VI  Einleitung),  P.  1904—12  (Sdat).  —  Die  frage  der  identität  des 
Verfassers  mit  dem  der  Chronique  des  ducs  de  Normandie  (oben  s.  263) 
ist  bisher  von  den  meisten  bejaht  worden  (F.  Settegast,  1876, 
H.  Stock,  Rom.  Stud.  3,  444 ff.,  G.  Paris,  Suchier,  II.  Richter,  Die 
Verbalformen  bei  B.  d.  Ste.  M.,  Diss.  Halle  1908),  wird  aber  jetzt 
von  Constans  entschieden  verneint  (s.  bd.  VI,  165  ff.).  Die  sprach- 
lichen unterschiede  sind  jedoch  nicht  erheblich,  mehr  die  lexikalischen, 
doch  bedingt  hier  der  verschiedene  gegenständ  und  zweck  auch 
Verschiedenheit  der  darstellung.  So  ist  die  frage  auch  jetzt  noch 
nicht  völlig  geklärt.  Auch  Constans'  gründe  zugunsten  der  Priorität 
des  Trojaromans  gegenüber  dem  Eneas  (bd.  VI,  182  ff.,  vgl.  oben 
s.  268  f.)  sind  nicht  durchschlagend. 

Quellen:  Dares  und  Dictys  hersg.  von  F.  Meister,  L.  1872 
und  1873  (Bibl.  Tenbner).  Tebtunis -Papyri,  ed.  Greenfell,  Hunt 
and  Coodspeed,  II  (1907)  s.  9.  —  Die  älteren  Untersuchungen  von 
Dunger,  G.  Körting,  Greif  u.  a.  über  das  quellenverhältnis  s.  bei 
Constans  VI,  192  ff.  Vgl.  besonders  noch  Nath.  E.  Griffin,  Dares  and 
Dictys,  Baltimore  1907,  und  O.  Schissel  von  Fieschenberg,  Dares- 
Studien,  Ha.  1908. 


Vers  4735:  S.  a.  il  dui  c.  hs.  —  4758:  Se  je  desdi  e  j.  r.  hs. 


4.   Beneeits  Trojaroman.  285 

Bearbeitungen:  Eine  franz.  prosabearbeitnng  entstand  gegen 
mitte  des  13.  jahrhdts..  in  den  hss.  vielfach  als  bestandteil  der 
kompilation  Jlistoirc  ancienne  jusqu'ä  C&sar  begegnend.  Zur  weiteren 
Bedeutung  des  R.  d.  Tr.  vgl.  11.  Witte,  der  Binflaas  von  Benoits 
R.  d.  Tr.  auf  die  al'r.  Litteratur,  Diss.  Göttingon  1904.  Eine,  ein- 
leitnng  zu  Benoits  werk  bilden  die  im  14.  Jahrhundert  von  einem 
Italiener  in  franz.  spräche  gedichteten  Enfunces  Hector  (noch  nicht 
hevsg.).  —  Die  älteste  bearbeitung  des  franz.  Trojaromans  in  fremder 
spräche  ist  das  Lief  von  Troye  Herborts  von  Fritzlar  (zw.  1190 
und  1217),  der  nur  in  einzelheiten  änderungen  wagt,  teils  aus 
dichterischem  taktgefÜhl,  teils  aus  nüchtern  logischen  evwägungen. 
Während  er  im  ganzen  zu  kürzen  sucht,  hat  Konrad  von  Würz- 
burg 1287  sein  Buoch  von  Troye  mit  40  000  versen  unvollendet 
hinterlassen,  neben  Benoit  auch  eine  reihe  lat.  dichtungen  (Ovids 
Metamorphosen  und  Heroiden,  des  Statins  Achilleis  u.  a.)  benutzt. 
Spätere  deutsche  Trojadichter  beruhen  grossenteils  auf  Konrad, 
ziehen  z.  t.  Guido  de  Columna  (s.  u.)  oder  Dares  heran  und  ent- 
stellen teilweise,  wie  z.  b.  der  Pseudo -Wolfram  von  Eschenbach 
(14.  — 15.  jahrh.),  den  Stoff  in  unglaublicher  art.  Vgl.  zuletzt 
G.  Baesecke,  Herbort  von  Fritzlar  usw.,  ZdA  50  (1908)  3G6ff., 
R.  Basler,  Konrads  von  Würzburg  Trojan.  Krieg  u.  Benoits  v.  Ste.  M. 
R.  d.  Tr.,  Diss.  B.  1911.  —  Eine  ältere  niederländische  be- 
arbeitung Beneeits  durch  Segher  Dengotgraf  (1.  hälfte  des 
13.  jahrhdts.)  wurde  nicht  vollendet,  aber  von  dessen  nachfolger 
Jacob  von  Maerlant  zu  seiner  Historie  van  Troyen,  um  1264, 
benutzt.  —  Die  englischen,  altnordischen  und  spanischen 
Trojaerzählungen  benutzen  teils  Beneeit,  teils  Dares.  Vgl.  über 
die  spanischen  Mussafia,  Sitz.-Ber.  d.  Wien.  Akad.,  Phil.-hist.  Klasse 
1871,  bd.  69,  s.  38 ff.  —  Italienische  beavbeitungen  sind  mehrere 
vorhanden:  vgl.  Mussafia,  Sitz.-Ber.  d.  Wien.  Akad.  1871,  bd.  68, 
Egidio  Gorra,  Test!  inediti  di  storia  Trojana,  Turin  1887,  P.  Meyer, 
Rom.  14  (1885)  77  ff.,  H.  Morf,  Rom.  21  (1892)  18ff.,  24,  174 ff., 
Bertoni,  Rom.  34  (1910)  570  ff,  Constans  VI,  335  ff.  —  Die  erfolg- 
reichste bearbeitung  von  Benoits  vornan  war  abev  die  lat.  Historia 
destruetionis  Trojae  des  Sizilianers  Guido  de  Columna  (letztes 
drittel  des  13.  jahrhdts.),  die  ihrerseits  wieder  eine  veihe  von  be- 
arbeitungen in  den  Volkssprachen  hervorrief.  Vgl.  Constans  VI,  318  ff. 
—  Auch  spätere  franz.  werke  wie  Jaques  Milets  mystere  Destruction 
de  Troye  (1450 — 1452)  und  Raoul  Le  Fevre's  prosadarstellung 
Becueil  des  Histoires  de  Troie  (1464)  fussen  auf  Guido. 

Die  allem  anschein  nach  von  Benoit  erfundene,  unter  allen 
umständen  aber  von  ihm  zuerst  poetisch  ausgestaltete  liebes- 
geschichte  von  Troilus  und  Brisei'de  beginnt  mit  vers  13  261 
und  begleitet  die  haupthandlung  in  verschiedenen  etappen  bis  zum 
tod  des  Troilus  (v.  21 397  ff).  Priams  söhn  Troilus  und  die  bei 
den  Troern  befindliche  tochter  des  priesters  Calcas,  Brisei'de,  lieben 
sich   innig,    als  Brisei'de  von   ihrem  vatev   zuvückvevlangt   und    den 


28G  VIII.  Kapitel.     Vom  antiken  Epos  zum  Koman. 

Griechen  ausgeliefert  wird.  Aber  Molt  sont  li  euer  vain  et  muable : 
einmal  bei  den  Griechen  lässt  sich  Briseide  bald  die  huldigungen 
des  Diomedes  gefallen  und  vergisst  rasch  den  einstigen  geliebten, 
der  noch  immer  sehnsüchtig  ihrer  gedenkt  und  schliesslich  von 
Achilles  im  kämpfe  getötet  wird.  Boccaccio  hat  die  episode  in 
der  hauptsache  nach  Beuoit,  in  einzelheiten  nach  Guido,  zur  dar- 
stellung  seiner  eigenen  liebesgeschichte  im  Filostrato  benutzt  (hier- 
über Savj -Lopez,  Rom.  27,  442  ff.),  welcher  der  französischen  literatur 
ende  des  14.  Jahrhunderts  durch  die  Übersetzung  Pierres  de  Beauvau 
als  prosaroman  zugeführt  wird.  Endlich  geht  durch  Cliaucers  Ver- 
mittlung auch  Shakespeares  Troilus  and  Cressida  auf  Boccaccios 
gedieht  zurück. 

Über  die  sog.  fränkische  Trojanersage  vgl.  Heeger,  Über 
die  Trojanersagen  der  Franken  und  Normannen,  Progr.,  Landau 
1891.  G.  Kurth,  Hist.  poet.  des  Merovingiens  s.  505  ff.  Dilke,  Die 
fränkischen  Trojanersagen,  Progr.,  Wandsbeck  1896. 


5.    Der  Heraclius  Gautiers  von  Arras. 

Vom  klassischen  altertum  zur  byzantinischen  kaiserzeit  ist 
nur  ein  schritt,  und  so  folgt  auf  Hector,  Aeneas  und  Alexander 
den  Grossen  das  leben  des  kaisers  Heraclius  von  Byzanz,  der 
610  durch  eine  erhebung  gegen  Phokas  auf  den  thron  kam 
und  628  einen  grossen  sieg  über  die  Perser  unter  Chosru  II. 
errang.  Von  den  abendländischen  Chronisten  weiss  schon 
Fredegar  viel  von  ihm  zu  erzählen  (IV,  63— 66):  wie  er  im 
Perserkrieg  Cosdroes  zum  Zweikampf  herausfordert  und  den 
ihm  entgegentretenden  falschen  Cosdroes  mit  list  besiegt  und 
tötet,  wie  er  ganz  Persien  erobert  und  in  einem  weiteren  krieg 
gegen  die  Sarrazenen  elendiglich  umkommt.  Die  historischen 
demente  spiegeln  sich  deutlich  in  dem  ihm  gewidmeten  fran- 
zösischen roman,  sie  sind  hier  aber  verziert  und  überwuchert 
durch  zahlreiche  phantastische  demente,  welche  sich  wol  schon 
im  Orient  an  die  person  des  Heraclius  gehäugt  hatten.  Ein 
griechischer  oder  lateinischer  Heracliusromau  ist  uns  jedoch 
nicht  überliefert,  die  eigentliche  quelle  des  französischen 
gedichts  also  nicht  bekannt. 

Der  Verfasser,  Gautier  von  Arras,  will  mit  diesem  traitie 
alle  seine   früheren   (uns   unbekannten)  werke  übertreffen,  um 


5.   Der  Ileraclius  (iautiers  von  Arras.  287 

des  tapferen,  freigebigen  und  höfischen  fürsten  willen,  dem 
zuliebe  er  das  werk  unternommen:  gemeint  ist  Tiebaut  V. 
von  Blois  (1152 — 1191),  der  gemabl  der  Alix.  der  tochter 
Ludwigs  VII.  und  der  Eleonore  von  Poitiers  (vgl.  oben  s.  43). 
Da  ausserdem  auch  noch  Tiebants  Schwägerin,  die  gräfin  Marie 
von  Champagne,  erwähnt  wird,  muss  der  Heraclius  nach  1164, 
nach  der  vereheliehung  Mariens  mit  Heinrich  I.  von  Champagne, 
vermutlich  bald  darauf,  entstanden  sein.  Die  diclitung  beginnt 
ähnlich  wie  das  Alexiusleben:  der  Senator  Miriados  (Meriadoc) 
in  Rom  lebt  mit  seiner  gattin  Cassine  in  glücklicher,  aber 
kinderloser  ehe,  bis  ihnen  nach  sieben  jähren  durch  die  gnade 
des  himmels  ein  söhn  bescheert  wird,  den  sie  Dieudonne* 
nennen,  der  aber  in  der  taufe  den  namen  Eracle  bekommt. 
Vom  himmel  wird  ihm  die  gäbe  verliehen:  Qu'il  iert  de  fernes 
conissiere  —  Et  quanque  vaut  chevaus  et  piere  —  Savra. 
Nach  des  vaters  tod  verkauft  ihn  die  mutter  mit  seinem  ein- 
verständnis  für  1000  byzantiuermünzen  an  den  seneschall,  um 
von  dem  erlös  den  armen  woltun  zu  können  und  dadurch  der 
seele  des  verstorbenen  einen  platz  im  paradies  zu  verschaffen. 
Am  hofe  des  kaisers  zu  Rom  bewährt  Eracle  seine  gaben :  er 
findet  unter  allen  zum  verkauf  gebrachten  steinen  den  wert- 
vollsten heraus,  der  gegen  wasser,  feuer  und  waffen  schützt, 
und  lässt  die  kraft  an  sich  uud  schliesslich  auch  an  dem 
kaisei  erproben.  Aber  erst  nachdem  er  diesem  auch  noch 
seine  fähigkeit  in  der  kenntnis  der  pferde  bewiesen,  darf  er 
ihm  eine  frau  mit  aussuchen  helfen:  Car  ferne  prendre  est 
mout  granz  chose:  —  Cil  prent  Vortie  et  eil  le  rose;  —  Ale 
foiz  icil  qui  pis  vaut  —  Prent  le  milleur,  et  li  buens  faut. 
Eracle  zeigt  sich  auch  hier  als  meister,  in  dem  er  dem  kaiser 
La'is  (dessen  name  erst  hier  genannt  wird)  die  ebenso  schöne 
als  tugendreiche  Athenais  erwählt.  Diese,  sichtlich  auf  indisch- 
orientalischen motiven  beruhende  erzählung  bildet  gewisser- 
massen  die  exposition  (v.  1  —  2758).  Huimais  comencera  li 
eontes,  sagt  der  dichter  selbst,  um  den  zweiten  teil  einzuleiten: 
den  ausbruch  des  krieges,  des  kaisers  ungerechtfertigtes  miss- 
trauen gegen  die  treue  der  kaiserin  und  den  gerade  dadurch 
erst  hervorgerufenen  liebeshandel  zwischen  ihr  und  Parides, 
der  mit  dem  verzieht  des  kaisers  und  der  dadurch  bewirkten 
Vereinigung   der  liebenden   endet.     Der   dritte   und   letzte  teil 


288  VIII.  Kapitel.    Vom  antiken  Epos  zum  Roman. 

(v.  5118  —  6593)  lehnt  sich  mehr  an  den  historischen  Heraclius 
an.  mit  welchem  hier  die  kreuzlegende  verbunden  erseheint. 
Cosdroes,  uns  rois  paiiens,  hat  Jerusalem  erobert,  das  heilige 
kreuz  vom  grabe  Christi  nach  Persien  entführt  und  den  kaiser 
von  Byzanz,  Foucar,  durch  verrat  töten  lassen.  Die  Byzantiner 
wählen  den  Eracle  von  Rom  zu  ihrem  kaiser.  Eracle  kommt, 
besiegt  zuerst  im  Zweikampf  auf  der  brücke  den  söhn  des 
Cosdroes,  zieht  dann  nach  Persien,  wo  Cosdroes  sich  als  Gott 
verehren  lässt,  tötet  diesen  und  bringt  das  heilige  kreuz  wieder 
nach  Jerusalem  zurück,  auf  Gottes  geheiss  demütig  im  büsser- 
kleide  statt  in  kaiserlichem  gewande.  In  Konstantinopel  fest- 
lich empfangen  regiert  er  hier  zu  allgemeiner  Zufriedenheit  bis 
an  sein  seliges  ende. 

Das  gedieht  ist  in  mehr  als  einer  hinsieht  merkwürdig, 
zunächst  schon  durch  seine  spräche,  denn  der  aus  der  Picardie 
stammende  Verfasser  vermeidet  absichtlich  seine  heimatlichen 
formen,  um  in  der  spräche  der  Isle  de  France  zu  dichten. 
Sein  stil  ist  flüssig,  in  der  erzählung  wie  im  dialog.  Dem 
inhalt  nach  erweist  sich  das  gedieht  als  ein  echtes  und  rechtes 
produkt  der  Übergangszeit:  im  ersten  teil  reine  märchenelemente 
orientalischen  Ursprungs,  im  zweiten  ein  liebesroman,  wie  wir 
ihn  mit  ähnlichen  Verwicklungen  bei  Crestien  von  Troyes 
wiederfinden  werden,  im  Schlussteil  —  trotz  der  reimpaare  — 
eine  wahrhafte  chanson  de  geste  mit  allen  dementen,  kämpf 
um  den  glauben,  entscheidung  des  kriegs  durch  Zweikampf, 
herausfordernd  auftretenden  gesanten  u.  ä.  Insofern  hier  motive 
und  episoden  verschiedener  herkunft  und  verschiedenen 
Charakters  mehr  oder  minder  lose  aneinandergereiht  werden, 
pflegt  man  Gautiers  roman  auch  als  den  ersten  abenteuer- 
roman  zu  bezeichnen.  Möglicherweise  ist  der  Eracle  auch 
nicht  ohne  einfluss  auf  Crestien  von  Troyes  gewesen. 

Erste  ausgäbe  von  Massmann  in  seiner  ausgäbe  der  deutschen 
Übersetzung  Otte's,  Quedlinburg  1842.  Neue  ausg.  von  E.  Löseth, 
P.  1890  (Bibl.  du  m.  a.  VI).  Stück  (a.  d.  II.  teil)  bei  Bartscb-Horuing 
s.  199  ff.  —  Vgl.  W.  Foerster,  Ille  und  Galeron  (Koni.  Bibl.  7),  ein- 
leitung.  Wilniotte  a.  a.  ö.  s.  22  ff.  W.  M.  Stevenson,  der  Einfluss 
des  Gautier  d'Arras  auf  die  afr.  Kunstepik,  Diss.  Göttingen  1910. 


Neuntes  Kapitel. 

Crestien  von  Troyes 
und  die  Anfänge  der  höfischen  Dichtung. 


Das  aufblühen  des  ritterstandes,  das  wachsende  interesse 
der  vornehmen  kreise  an  der  literatur  und  die  dadurch  bedingte 
rücksichtnahme  der  dichter  auf  den  feineren  geschmack,  endlich 
auch  die  aktive  teilcahme  des  adels  an  der  dichtkunst:  alles 
das  bringt  um  die  mitte  des  zwölften  Jahrhunderts  innerhalb 
der  profanliteratur  eine  Wandlung  hervor,  welche  in  der  lyrik 
zu  einer  völligen  Umbildung  des  hergebrachten  und  zugleich 
zu  mancherlei  neubildungen  führt,  in  der  erzählenden  dichtung 
neben  die  bisher  herrschende  gattung  der  chansons  de  geste 
den  roman  stellt  und  durch  diesen  auch  auf  einzelne  werke 
der  heldenepik,  wie  schon  das  sechste  kapitel  verschiedentlich 
gezeigt  hat,  mehr  oder  weniger  einwirkt.  Die  poesie  lyriquc 
courtoise  und  der  vornan  courtois  (im  deutschen  gewöhnlich 
ritterroman  oder  höfisches  epos  genannt)  sind  die  sichtbaren 
und  literargeschichtlich  bedeutsamen  produkte  dieser  bewegung. 
Der  charakter  der  höfischen  lyrik  wird  im  wesentlichen  bedingt 
durch  das  vorbild  der  provenzalischen  minnelyrik  und  des 
darin  zum  ausdruck  gebrachten  ritterlichen  frauendienstes. 
Ähnliche  ideale  werden  auch  im  höfischen  roman  vertreten:  wir 
sehen  hier  vor  allem  an  die  stelle  des  karolingischen  beiden, 
der  für  glauben  und  Vaterland  gegen  die  heiden  streitet  oder 
sein  angestammtes  recht  gegen  seinesgleichen  und,  wenn  es 
not  tut,  auch  gegen  den  könig  und  kaiser  selbst  verteidigt, 
den     ritter    des    zwölften    Jahrhunderts    mit    seinen    idealen 

Voretzsch,   Studium  d.  afrz.  Literatur.    2.  Auflage.  19 


290     IX.  Kapitel.    Crestien  v.  Troyes  u.  Anf  äDge  der  höf.  Dichtung. 

—  chevalerie,  cor  toi  sie,  gdlanterie  —  treten.  Vom  kämpf 
gegen  äussere  feinde,  für  die  dolce  France,  ist  hier  nicht 
die  rede,  es  handelt  sich  um  die  kämpfe  und  erlebnisse  des 
einzelnen  ritters,  um  seinen  persönlichen  rühm  und  seine 
persönliche  ehre.  Seine  Stellung  gegenüber  den  frauen  ist 
eine  andere  als  diejeuige  der  beiden  der  chansons  de  geste, 
in  welchen  die  frau  überhaupt  eine  bescheidene  rolle  spielt 
und  oft  genug  diejenige  ist,  welche  sich  um  die  gunst  des 
helden  bewirbt  ebenso  wie  die  in  den  romanzen  dargestellten 
Jungfrauen.  Der  neumodische  ritter  ist  von  anderer  art,  seine 
höfische  erziehung  lehrt  ihn,  die  gdlanterie  gegen  die  damen 
zu  üben,  ihren  willen  als  massgebend  anzuerkennen  und  ihnen 
zu  liebe  alles,  selbst  das  unmöglich  scheinende,  zu  wagen. 
Bemühungen  des  ritters  um  die  gunst  einer  dame,  oder 
versuche,  die  leichtsinnig  verscherzte  huld  seiner  dame 
wiederzugewinnen,  spielen  hier  eine  grosse  rolle  in  diesen 
erzählungen. 

Es  versteht  sich,  dass  dieses  neue  ritterideal  auch  neuer 
stoffe  und  formen  bedurfte,  um  seinem  Charakter  gemäss  und 
dem  verfeinerten  geschmaek  entsprechend  dargestellt  zu  werden. 
Die  Stoffe  der  chansons  de  geste  widerstrebten  dem  neuen 
geiste  zu  sehr,  um  ihn  ganz  in  sich  aufnehmen  zu  können. 
Auch  war  die  monotone  Vortragsweise  nicht  geeignet,  feiner 
gebildete  obren  auf  die  dauer  zu  befriedigen:  man  ersetzte 
den  gesungenen  vers  durch  den  gesprochenen,  die  einreimige 
oder  assonierende  laisse  durch  die  paarweisen  reimpaare, 
deren  sich  die  geistliche  dichtung  von  jeher  bedient  hatte. 
Wir  haben  diesen  doppelten  Übergang  —  in  der  form  wie  im 
kulturideal  —  schon  in  der  bearbeitung  der  antiken  stoffe 
beobachten  können,  welche  ganz  allmählich  in  den  höfischen 
dichtungskreis  übergeführt  werden  und  dann  eine  reihe  von 
nachahmungen  hervorrufen,  so  dass  man  in  der  regel  die 
antiken  romane  als  einen  besonderen  stoffkreis  des  höfischen 
romans  zu  betrachten  pflegt.  Ihnen  nahe  stehen  die  romane 
byzantinischen  Ursprungs,  wie  vorhin  das  beispiel  des 
'Heraclius'  gezeigt  hat,  der  zwar  eine  historische  persönlichkeit, 
hier  aber  der  träger  einer  durchaus  phantastischen  erzählung 
ist.  Wird  auch  das  historische  element  noch  unterdrückt,  so 
haben   wir  den   reinen   roman,   den   abenteuerroman,  vor  uns. 


Allgemeines.  291 

Übrigens  mischen  sich  in  die  romane  byzantinisch-orientalischen 
Ursprungs  häufig  auch  noch  elemente  anderer  herkunft,  all- 
gemein orientalischen,  arabischen,  indischen  oder  sonstigen 
Ursprungs,  wie  sich  solche  auch  bereits  in  den  heiligenlegenden 

gefunden  haben.  Der  dritte  und  umfangreichste  stoffkreis 
schliesslich  wird  gebildet  durch  die  bretonisch -keltischen 
stoffe,  die  mauere  de  Bretagne,  welche  gleichfalls  um  die 
mitte  des  12.  Jahrhunderts  in  der  französischen  literatnr  auf- 
taucht und  dem  höfischen  roman  vor  allen  anderen  Stoffen  ein 
charakteristisches  gepräge  verleiht.  Wie  weit  die  entwicklung 
dieser  stoffe  zum  höfischen  roman  durch  das  Vorbild  des 
antiken  romans  bedingt  ist,  wie  weit  sie  ihr  von  vornherein 
parallel  läuft,  lässt  sich  beim  stände  der  Überlieferung,  bei  dem 
zweifellosen  Verlust  mancher  älteren  dichtung  sowie  bei  der 
unsicheren  datierung  der  vorhandenen  werke,  einstweilen  nicht 
entscheiden. 

"Wie  schon  die  betrachtung  des  antiken  romans  lehrt,  hat 
sich  die  neue  auffassung  des  heldenideals  nur  allmählich 
durchgesetzt,  und  auch  im  bretonischen  roman  scheint  die 
entwicklung  ähnlich  vor  sich  gegangen  zu  sein,  bei  Crestien 
von  Troyes  selbst  lässt  sich  noch  eine  stufenweise  entwicklung 
erkennen.  Er  erscheint,  wenn  auch  vielleicht  nicht  als  der 
begründer,  so  doch  als  der  hervorragendste  Vertreter  des 
höfischen  romans  im  allgemeinen  und  des  Artusromans  im 
besonderen,  zugleich  auch  als  einer  der  ältesten  Vertreter  der 
provenzalisierenden  lyrik  in  Nordfrankreich.  Die  bekanntschaft 
mit  der  minnelyrik  des  Südens  wurde  den  nordfranzösischen 
dichtem  allem  anschein  nach  in  erster  linie  vermittelt  durch 
einige  kunstsinnige  fürstinnen:  Eleonore  von  Poitiers,  die  enkelin 
des  ältesten  bekannten  trobadors,  Wilhelms  IX.,  1137 — 1152 
die  gattin  könig  Ludwigs  VII.  von  Frankreich,  und  ihre  beiden 
töchter,  Marie,  gräfin  von  Champagne,  und  Alix,  gräfin  von 
Blois  (8.  43  und  287).  Vor  allem  hat  Marie  höfische  sitte  nach 
dem  muster  der  Provenzalen  gepflegt  und  die  am  hofe  von 
Troyes  lebenden  dichter  mit  der  provenzalischen  minnelyrik 
vertraut  gemacht.  Am  hofe  Mariens  bat  auch  Crestien  in  der 
früheren  periode  seiner  dichtung  gelebt  und,  wie  er  z.  b.  im 
Lancelot  selbst  hervorhebt,  dichterische  anregungen  von  ihr 
empfangen. 

19* 


292      IX.  Kapitel.   Crestien  v.  Troyes  u.  Anfänge  der  hüf.  Dichtung. 

Ausgaben:  Christian  von  Troyes,  Sämtliche  erhaltenen  Werke, 
hersg.  von  Wendelin  Foerster,  4  bde.,  Halle  1884—1899.  Bd.  I 
enthält  Cliges,  II  Yvain,  III  Erec,  IV  Lancelot  und  Wilhelmsleben. 
Cliges,  Yvain,  Erec,  Wilhelm  auch  als  textausgaben  in  W.  Foersters 
Rom.  Bibl.  (no.  1,  5,  12,  20).  Philomena  p.  p.  C.  de  Boer,  P.  1909. 
Eine  neuausgabe  des  Perceval  ist  von  G.  Baist  angekündigt. 
Wegen  älterer  einzelausgaben  siehe  unten.  —  Über  Crestien  vgl.: 
W.  L.  Holland,  Über  Cr.  d.  Tr.  und  zwei  seiner  Werke,  Tübingen 
1847.  Derselbe,  Cr.  v.  Tr.,  Eine  lit.-gesch.  Untersuchung,  Tübingen 
1854.  W.  Foersters  Einleitungen  zu  den  verschiedenen  ausgaben, 
besonders  zur  grossen  ausgäbe  von  Cliges  und  zum  Lancelot,  sowie 
zu  den  neuen  auflagen  des  kleinen  Clig6s  und  Yvain.  G.  Paris, 
Hist.  litt.  §  57,  in  Hist.  litt.  d.  1.  France  t.  30,  22 ff.,  zuletzt  JdSav 
1902,  s.  289  ff.  (=  Melanges  de  litt.  229  ff).  Gröber,  s.  485  ff,  497  ff, 
Suchier,  s.  134  ff  Vgl.  auch  die  referate  von  Freymond  und  Hilka 
in  Vollaiöllmers  JrP.  Ferner  Ed.  Wechssler,  Die  Sage  vom  heiligen 
Gral,  Ha.  18y8  (s.  bes.  excurse).  Wilmotte,  L'evolution  du  roman 
fran§ais  aux  environs  de  1150. 

Über  Crestiens  spräche:  Foerster,  Einl.  zu  den  beiden  Cliges- 
ausgaben,  sowie  zum  grossen  Yvain  s.  XXXI  ff.  —  Über  vers,  stil 
und  dichtkunst:  Rudolf  Grosse,  Der  stil  des  Cr.  v.  Tr.,  Strassb. 
Diss.  1881  (auch  Franz.  Stud.  1,  127  ff).  H.  Emecke,  Cr.  v.  Tr.  als 
Persönlichkeit  u.  als  Dichter,  Strassb.  Diss.,  Würzburg  1892.  F.  Saran 
i.  d.  Beiträgen  z.  Gesch.  d.  d.  Spr.  u.  Lit.  21,  290  ff.  (Zur  komposition 
der  Artusromane.)  Otto  Schulz,  Die  Darstellung  psycholog.  Vorgänge 
i.  d.  Romanen  des  Kr.  v.  Tr.,  Halle  1903.  Alfons  Hilka,  Die  direkte 
Rede  als  stilistisches  Kunstmittel  i.  d.  R.  des  Kr.  v.  Tr.,  Halle  1903. 
Rieh.  Herzhofer,  Personifikationen  lebloser  Dinge  in  der  afr.  Lit.  des 
10. — 12.  Jahrh.,  Diss.  B.  1904.  0.  Borrmann,  Das  kurze  Reimpaar 
bei  Cr.  v.  Tr.  mit  bes.  Berücksichtigung  des  Wilhelm  von  England, 
Diss.  Marburg  1907  (auch  RF  25),  vgl.  dazu  W.  Foerster,  LgrP 
29  (1908)  107 ff.  K.  Thüre,  Die  formalen  Satzarten  bei  Cr.  v.  Tr. 
mit  bes.  Berücksichtigung  des  W.  v.  E.,  Diss.  Marburg  1909.  Myrrha 
Borodine,  La  femme  et  l'amonr  au  XII e  siecle  d'apres  les  poenies 
de  Chr&ien  de  Troyes,  P.  1909.  —  Vgl.  auch  P.  Mertens,  Die 
kulturhistorischen  Momente  i.  d.  R.  des  Cr.  de  Tr.,  Erlanger  Diss., 
Berlin  1900.  F.  Meyer,  Die  Stände,  ihr  Leben  und  Treiben,  dargest. 
n.  d.  afr.  Artliusromanen,  Marburg  1892  (Stengels  AA  89).  Valdemar 
Vedel,  Ridderromantiken:  fransk  og  tysk  Middelalder,  Kopenhagen 
u.  Christiania  1906.  H.  Euler,  Recht  u.  Staat  in  den  Romanen  des 
Cr.  v.  Tr.,  Diss.  Marburg  1906. 


1.  Crestiens  Leben  und  Werke.  293 


1.    Crestiens  Leben  und  Werke. 

Vermutlich  stammte  Crestien  aus  der  Stadt  Troyes  selbst, 
Dach  welcher  er  sieb,  z.  b.  im  Erec,  benennt.  Über  sein 
sonstiges  leben  wissen  wir  nur,  was  er  in  seinen  werken 
darüber  sagt  oder  erkennen  lässt.  Darin  sind  sieb  alle  kritiker 
einig,  dass  er  eine  gelehrte  erziehung  genossen  haben  muss, 
wie  sonst  nur  kleriker.  Aber  über  seinen  stand  gehen  die 
meinungen  sehr  auseinander.  G.  Paris  will  aus  einer  stelle  im 
Laneelot  (v.  5591  ff.)  sehliessen,  er  sei  waffenherold  gewesen. 
"Werhssler  erklärt  ihn  auf  grund  einer  stelle  im  Cliges  zum 
caneellarius  oder  schola?tieus  am  katkedralkapitel  von  Beauvais. 
Beide  annahmen  sind  in  den  texten  nicht  genügend  begründet 
und  werden  durch  keine  äusseren  Zeugnisse  gestützt.  Es  scheint, 
dass  Crestien  sich  nach  seinen  gelehrten  Studien  bald  einen 
nameu  als  dichter  erworben  und  dann  sein  unterkommen  an 
den  höfen  gefunden  hat. 

Einen  anhält  über  die  zeit  seines  dichtens  geben  uds  nur 
wenige  seiner  werke.  Der  Lancelot  muss  wegen  der  beziehung 
auf  die  gräfin  Marie  von  Champagne  nach  deren  Verheiratung, 
nach  1164,  geschrieben  sein.  Ihm  sind  allerdings  eine  reihe 
anderer  werke  vorausgegangen,  von  denen  der  Erec  sich  mehr- 
fach auf  den  Eneasroman  bezieht  und  daher  wol  nach  diesem, 
d.  h.  nach  1160,  entstanden  ist.  Crestiens  letztes  werk,  der 
Perceval,  ist  für  den  grafen  Philipp  von  Flandern  gedichtet, 
also  nach  1169,  wo  dieser  zur  regierung  kam,  und  vor  1188, 
in  welchem  jähre  er  das  kreuz  nahm,  nach  G.  Paris  noch 
genauer  vor  1180  (1174 — 1175),  da  Crestien  nirgends  auf  die 
in  diesem  jähre  von  Philipp  übernommene  regentschaft  des 
königreichs  Frankreich  anspiele.  Im  ungefähren  lässt  sich 
darnach  Crestiens  dichtung  der  epoche  von  den  fünfziger  bis 
zu  den  achtiger  jähren  zuteilen.  G.  Paris  bestimmt  die  zeit 
von  Crestiens  dichterischer  tätigkeit  —  wol  etwas  zu  eng  — 
auf  den  Zeitraum  von  1160 — 1175,  während  W.  Foerster  neuer- 
dings den  Cliges  (den  G.  Paris  gegen  1170  entstehen  lässt) 
schon  in  das  jähr  1155  setzt  und  damit  die  abfassung  sämt- 
licher älteren  werke  vor  diesem  jähre  annimmt. 

Mehr  einigkeit  als  über  die  absolute  Chronologie  herrscht 
über  die  ungefähre  reihenfolge  seiner  werke.    Der  ebengenannte 


204      IX.  Kapitel.   Crestien  v.  Troyes  n.  Anfänge  der  hüf.  Dichtung. 

Cligdsroman    enthält   in   dieser   hinsieht   gleich   in   den   ersten 
versen  ein  wichtiges  selbstzeugnis  des  dichters: 

Cil  qui  fist  d'Erec  et  d'Enide  Et  de  la  Hupe  et  de  l'Aroude 

Et  les  Cooiaudemauz  d'Ovide  Et  del  Rossignol  la  Mnance, 

Et  l'Art  d'Amors  an  romanz  mist  Un  novel  conte  recomance 

Et  le  Mors  de  l'Espaule  fist,  D'un  vaslet  qui  an  Grece  fu, 

Del  roi  Marc  et  d'Iseut  la  blonde,  j      Del  lignage  le  roi  Artu. 

Darnach  hat  Crestien  vor  dem  Cligds  ausser  dem  uns  er- 
haltenen Erec  folgende  nicht  —  oder  wenigstens  nicht  unter 
seinem  namen  —  überlieferte  werke  verfasst: 

eine  übersetung  von  Ovids  Ars  amatoria  und  eine  eben- 
solche der  Bemedia  amoris  (da  mit  Comandemanz  und  Art 
kaum  ein  und  dasselbe  werk  gemeint  ist); 

eine  bearbeitung  der  aus  Ovids  Metamorphosen  bekannten 
geschichte  von  der  Verwandlung  der  Procne  und  Philo- 
mela; 

eine  bearbeitung  der  sage  von  Pelops,  für  welche  der 
dichter  aber  wol  eine  ausführlichere  quelle  als  das  in  den 
Metamorphosen  (IV,  403 — 411)  gesagte  gehabt  haben  muss; 

endlich  eine  dichtung  über  könig  Marc  und  die  blonde 
Isolde,   die  man  in  der  regel  auf  einen  Tristan rom an  deutet. 

Nicht  unwahrscheinlich  ist,  dass,  wie  Foerster  vermutet, 
die  Ovidiana  den  anfang  von  Crestiens  dichterischer  tätigkeit 
gebildet  haben.  Die  Philomeladichtung  glaubt  G.  Paris 
in  dem  Ovide  moralise  des  14.  Jahrhunderts  wiedergefunden 
zu  haben,  wo  sich  der  dichter  jedoch  Crestiiens  li  Gois  nennt. 
Das  rätsei  dieses  beinamens  ist  auch  jetzt  noch  nicht  be- 
friedigend gelöst,  und  auch  sprachlich  bleiben  bedenken  gegen 
Crestiens  Verfasserschaft  bestehen. 

Die  erzählung  von  Marc  und  Isolde  ist  verloren.  Sie 
wird  meistens  auf  einen  Tristan  gedeutet,  der  nach  Foersters 
annähme  überhaupt  die  erste  bearbeitung  des  Stoffes  in  fran- 
zösischer spräche  dargestellt  und  die  übrigen  Tristandichtungen 
hervorgerufen  und  beeinflusst  hätte.  G.  Paris  hatte  früher  ver- 
mutet, dass  der  prosaroman  von  Tristan  auf  Crestiens  werk 
zurückgehe.  In  seiner  letzten  schrift  über  Crestien  (JdSav  1902) 
hingegen  hat  er  seinen  Standpunkt  völlig  geändert:  darnach 
hat  Crestien   überhaupt  keinen  Tristan  gedichtet,   sondern  'un 


1.  Crestiens  Leben  nnd  Werke.  295 

pofeme  episodique  qui  mcttait  en  sehne  Marc  et  sa  femme'. 
Diese  ansieht  erscheint  einerseits  etwas  zu  skeptisch,  da  die 
sage  von  Marc  und  Isolde  eng  mit  derjenigen  Tristans  ver- 
bunden zu  sein  pflegt,  andererseits  aber  auch  nicht  ganz  un- 
begründet, da  Crestien  gegen  die  liebe  Tristans  und  Isoldens 
in  seinem  CligSs  mehrfach  polemisiert. 

Wenn  wir  den  Ercc  mit  rücksicht  auf  den  ihm  voraus- 
gehenden Eneasronum  nach  1160  ansetzen,  können  die  älteren 
gediente  noch  in  die  fünfziger  jähre  des  Jahrhunderts  fallen. 
Das  nächste  werk  nach  dem  Free  wäre  dann  der  Cliges,  der 
in  den  sechziger  jähren,  nach  dem  Eracle  Gautiers  von  Arras, 
entstanden  sein  wird  (nach  Foerster  freilich  schon  etwa  1155, 
nach  G.  Paris  erst  gegen  1170). 

Nach  dem  Cligds  hat  Crestien  noch  folgende  werke  ge- 
schrieben: 

Lancelot  oder  le  Chevalier  de  la  charrette; 

Yvain  oder  le  Chevalier  au  Hon; 

Perceval  oder  le  Conte  du  Graal; 

die  Vie  de  Guillaume  d'Angleterre,  als  deren  Verfasser 
sich  wenigstens  ein  Crestien  nennt; 

endlich  eine  anzahl  lieder  (chansons),  von  denen  aller- 
dings nur  wenige  erhalten  sind. 

Den  ' Karrenritter'  hat  er  im  auftrag  der  gräfin  Marie 
von  Champagne  verfasst,  die  ihm  stoff  und  geistigen  geh  alt 
(mauere  et  sen)  dazu  geliefert  hat,  also  jedenfalls  nach  1164, 
nach  Foerster  gegen  1170,  nach  G.  Paris  um  1172.  Der  neue 
geist,  der  hier  zum  ausdruck  kommt,  ist  der  von  den  Proven- 
zalen  in  ihrer  lyrik  ausgebildete  minnedienst,  die  liebe  zur 
verheirateten  frau,  wie  sie  Lancelot  hier  zur  königin  Ganievre 
hegt.  So  werden  auch  Crestiens  lyrische  dichtungen,  welche 
unter  demselben  einfluss  stehen,  in  diese  periode  zu  setzen 
sein.  Der  'Löwenritter'  ist  allem  anschein  nach  jünger  als 
der  Lancelot,  auf  den  er  mehrfach  beziig  nimmt:  nach  älterer 
annähme  1169,  nach  G.  Paris  1173  geschrieben.  Crestiens 
letztes  werk  ist  der  Perceval  oder  Gralroman,  an  dessen 
Vollendung  er  durch  den  tod  gehindert  wurde.  Dieser  fiele 
dann,    bei    G.  Paris'   datierung,    in    das  jähr  1175,   während 


296     IX.  Kapitel.   Crestien  v.  Troyes  u.  Anfänge  der  höf.  Dichtung. 

Wechssler  den  Gralroman  in  die  zeit  setzt,  wo  graf  Philipp 
regent  von  Frankreich  war,  sodass  Crestien  diesen  roman  in 
Paris  am  königshofe  1180  —  1181  verfasst  hätte.  Der  unter- 
schied in  der  datierung  ist  nicht  bedeutend. 

Schwierigere  fragen  knüpfen  sich  an  das  '  Wilbelmsleben', 
das  von  Paul  Meyer,  G.  Paris  u.  a.  unserem  dichter  Überhaupt 
abgesprochen  wird,  hingegen  nach  Foerster,  Wilmotte  u.  a., 
besonders  nach  der  Untersuchung  von  Foersters  schlüer  Rudolf 
Müller  nach  spräche,  reim  und  stil  unserem  Crestien  gehurt. 
Schwierig  bleibt  es  nur,  das  gedieht  an  der  richtigen  stelle 
der  werke  einzureihen,  da  es  in  der  technik  z.  t.  (reim- 
brechung)  altertümlich,  z.  t.  (reiche  reime)  fortgeschritten  ist. 
Halb  abenteuerroman,  halb  legende,  scheint  es  den  Übergang 
vom  Artus-  und  abenteuerroman  (Erec,  Lancelot,  Yvain)  zum 
geistlichen  ritterroman  (Gral)  gebildet  zu  haben. 

Crestiens  entwicklungsgang  lässt  sich  darnach  in  grossen 
zügen  zeichnen:  er  beginnt  mit  Übersetzung  und  bearbeituug 
lateinischer  dichtungen,  teils  erzählenden,  teils  belehrenden 
inhalts  (Ovidiana),  geht  dann  mit  Tristan  und  Erec  zu  den 
bretonischen  Stoffen  über,  verbindet  im  Cligös  einen  byzantinisch- 
orientalischen stoff  mit  der  Artussage,  lernt  am  hofe  der  gräfin 
Marie  die  neue  liebe  und  liebesdoktrin  kennen  und  dichtet  so 
seine  lieder  sowie  den  Lancelot,  kehrt  aber  dann,  vielleicht 
selbst  von  dieser  auffassung  der  liebe  abgestossen,  mit  seinem 
Yvain  zum  reinen  Artusroman  zurück,  gelaugt  von  da  zum 
legendarischen  abenteuerroman  (Wilhelm)  und  von  hier  zum 
geistlichen  ritterroman  (Perceval). 

Noch  sehr  umstritten  ist  seine  literarhistorische  Stellung. 
Die  entscheidung  über  die  frage,  wie  weit  er  an  den  Ver- 
fassern der  antiken  romane  Vorgänger  und  Vorbilder  fand, 
wieweit  er  ihnen  parallel  oder  gar  voraus  ging,  hängt  von 
allerlei  chronologischen  und  sonstigen  erwägungen  ab.  War 
er  ferner  blos  der  verfeinerer  und  meister  des  französischen 
Artusromans  oder  auch  sein  Schöpfer?  Welchen  anteil  dürfen 
wir  an  der  ausgestaltung  seiner  Stoffe  den  von  ihm  benutzten 
quellen,  welchen  seiner  eigenen  dichterischen  errindung  und 
Individualität  zusehreiben,  wie  hoch  ist  namentlich  die  be- 
deutung  der  'matiere  de  Bretagne'  einzuschätzen?  Die  ant- 
worten  auf   alle    diese   fragen   wechseln   sehr,  je   nach   dem 


1.  Crestiens  Leben  und  Werke.  297 

theoretischen   Standpunkt   des   einzelnen   forschen  in  den  all- 
gemeinen kritischen  fragen  (vgl.  unten  abschnitt  10). 

Immerhin  können  wir,  wenn  wir  Crestien  nicht  von  vorn- 
herein als  sklavischen  bearbeiter  verloren  gegangener  fran- 
zösischer oder  keltischer  romane  betrachten  wollen,  seine 
dichterische  kunst  nach  ihren  hervorstechendsten  zügen  dar- 
stellen. Als  meister  zeigt  er  sich  zunächst  in  der  komposition 
seiner  handhing,  indem  er  die  haupthaudlung  in  der  regel  in 
drei  stufen:  exposition,  hauptabenteuer  (konflikt  und  lösung), 
schluss,  darstellt  und  dann  das  hauptabenteuer  von  exposition 
und  schluss  durch  je  ein  Zwischenglied  meist  mit  abenteuer- 
lichen, die  haupthaudlung  künstlich  unterbrechenden  und  retar- 
dierenden elementen  trennt,  sodass  fünf  hauptteile  entstehen, 
innerhalb  deren  sich  die  handlang  abspielt.  Fast  alle  grossen 
romane  Crestiens  sind  nach  diesem  Schema  gearbeitet,  selbst 
der  in  seiner  haudlung  nicht  überall  sehr  durchsichtige 
Lancelot.  Nur  der  Gralroman  mit  seinem  ineinanderschieben 
von  Percevals  uud  Gauvains  abenteuern  zeigt  diese  straffe 
disposition  nicht,  er  unterscheidet  sich  schon  durch  seine 
länge  von  den  übrigen,  meist  7000  verse  zählenden  romanen. 
Die  eingeschobenen  abenteuerlichen  elemente  verfolgen  den 
zweck  die  handlung  zu  strecken,  die  lösung  hinauszu- 
schieben und  dadurch  die  Spannung  des  lesers  zu  erhöhen, 
sowie  durch  ihren  bunten  Wechsel  und  ihren  z.  t.  sehr  phan- 
tastischen inhalt  die  neugierde  des  publikums  zu  erwecken 
und  zu  fesseln.  Eine  mehr  äusserliche  einteilung,  nach  den 
bedürfnissen  des  Vortrags  berechnet,  scheint  die  im  Erec  vom 
dichter  selbst  hervorgehobene  zu  sein,  wo  er  (v.  1844)  mit  Ci 
fme  li  premerams  vers  offenbar  einen  Vortragsabschnitt  ab- 
schliesst,  sodass  die  ganze  dichtung  in  drei  oder  vier  abschnitten 
von  etwa  je  2000  versen  (je  nachdem  etwas  mehr  oder  weniger) 
vorgelesen  worden  wäre. 

Ein  von  Crestien  öfter  angewantes  mittel,  die  hörer  oder 
leser  zu  spannen,  besteht  darin,  eine  hauptperson  erst  bei  vor- 
geschrittener handlung  mit  namen  zu  nennen:  so  Enide  erst 
bei  ihrer  ankunft  an  Artus'  hof  (v.  2081),  der  karrenritter  ent- 
puppt sich  erst  v.  3676  als  Lancelot  del  lac,  Perceval  erfährt, 
d.  h.  errät  seinen  eigenen  namen  erst,  als  er  darnach  gefragt 
wird.     Die   sucht,   den   leser   zu  spannen  und  über  allerlei  im 


208      IX.  Kapitel,   Crestien  v.  Troyes  u.  Anfänge  der  höf.  Dichtung. 

unklaren  zu  lassen,  was  erst  später,  oder,  wie  im  Lancelot,  z.  t. 
garnicht  aufgeklärt  wird,  hat  den  dichter  freilich  manchmal 
zu  Unklarheiten  verleitet. 

So  gross  auch  die  rolle  ist,  welche  bei  Crestien  die  aben- 
teuerlichen elemente  und  namentlich  die  als  füllsei  dienenden 
abenteuerepisoden  spielen,  so  wäre  es  doch  falsch,  seine  werke 
kurzweg  als  abeoteuerromane  zu  bezeichnen.  Es  liegt  ihnen 
in  der  regel  eine  sittliche  idee,  meist  ein  konflikt  zwischen 
liebe  und  ritterehre,  zugrunde,  an  welcher  die  ganze  handlang 
aufgereiht  ist:  so  im  Erec,  so  im  Yvain,  während  im  Lancelot 
die  liebe  allein,  uud  zwar  die  neue,  höfische  liebe  das  leitende 
motiv  ist.  Jedenfalls  ist  Crestiens  verdienst  in  dieser  hinsieht 
unterschätzt,  wenn  man  in  ihm  lediglich  einen  auf  Unterhaltung 
bedachten  geschichtenerzähler  sieht  oder  wenn  man  behauptet, 
erst  der  deutsche  dichter  Hartmann  von  Aue  habe  Erec  und 
Yvain  vergeistigt  oder  mit  ritterlichem  gehalt  erfüllt.  Was 
den  Perceval  anlangt,  so  ist  ja  Wolframs  eigenartige  gestaltung 
der  französischen  dichtung  unbestritten,  aber  wir  wissen  auch 
nicht,  was  Crestien  aus  seinem  stoff  gemacht  hätte,  wenn  er 
den  Gralroman  hätte  vollenden  dürfen. 

In  der  einzelschilderung  geht  Crestien  nicht  so  sehr  darauf 
aus,  die  Charaktere  seiner  beiden  systematisch  zu  entwickeln 
oder  folgerichtig  durchzuführen,  sondern  vielmehr  darauf,  die 
inneren,  seelischen  Vorgänge  zu  zergliedern  uud  uns  wahr- 
scheinlich zu  machen.  In  dieser  psychologischen  Vertiefung 
der  handlang  erscheint  er  namentlich  gegenüber  der  technik 
der  chansons  de  geste  als  vollendeter  meister,  wenngleich  auch 
nicht  ebenso  als  kühner  erfinder,  da  der  Eneasroman  ihm  in 
dieser  hinsieht  vorausgegangen  war.  Reflexionen  des  dichters, 
monologe  seiner  personen  nehmen  daher  einen  grossen  räum 
in  seiner  darstellung  ein.  Allerdings  verfällt  Crestien  hierbei 
leicht  in  das  spintisieren,  manchmal  sogar  in  Wortklauberei 
und  wortspielerei,  wodurch  die  darstellung  nicht  selten  schwer- 
fällig wird. 

Im  übrigen  ist  Crestiens  stil  gewant  und  unterhaltend, 
bilderreich  und  anschaulich.  Er  bedient  sich  der  metapher, 
metonymie,  Synekdoche  u.  a.,  um  anschaulich  zu  wirken. 
Wichtig  ist,  namentlich  mit  hinsieht  auf  die  spätere  ent- 
wicklung,  dass   bei   ihm  —  wie   übrigens  ebenso  in  der  fran- 


1.  Crestiens  Leben  nnd  Werke.  —  2.   Philomcna.  200 

zösischen  lyrik  —  die  fugenden  und  laster,  Überhaupt  allgemeine 

begriffe  wie  liebe,  hass,  tod  schon  personifiziert,  ohne  artikel, 
erscheinen.  Mit  grosser  Vorliebe  bedient  sich  Crestien  der 
direkten  rede  und  zwar,  zur  veranschaulichung  der  seelen- 
kiimpfe  seiner  personen,  des  aufgeführten  monologs,  besonders 
des  sogenannten  liebesmonologs,  aber  auch  des  dialogs  in  den 
verschiedensten  Variationen,  namentlich  auch,  wie  schon  vor 
ihm  der  Eneasroman,  des  dialogs  in  kurzer,  nur  wenige  worte 
oder  silben  zählender  wechselrede,  was  dem  verse  ausser- 
ordentliche lebhaftigkeit  und  der  ganzen  darstellung  drama- 
tischen Charakter  verleiht.  Alles  in  allem  darf  Crestien  ohne 
Übertreibung  als  meister  des  altfrauzösischen  rontanstils  be- 
zeichnet werden. 

G.  Paris  in  seinem  letzten  artikel  hebt  ausdrücklich  neben 
Crestiens  sonstigen  Vorzügen  und  nachfeilen  gerade  seine  stil- 
kunst  hervor.  'Mais  ce  qui  fit  sans  doute  son  prineipal  succes, 
et  ce  qui  le  recommaude  encore,  plus  que  tout  le  reste,  ä 
l'attention  de  la  posteritö,  e'est  son  style:  il  „prenait  le  beau 
franenis  ä  pleines  mains",  —  comme  dit,  au  XIII6  siecle,  Huon 
de  Meri,  —  avec  une  e'le'gance,  une  gräce  et  une  facilite'  qui 
ont  charme"  ses  contemporains  et  provoque  partout  l'imitation. 
Non  pas  que  son  style  meme  soit  sans  fautes,  et  sans  fautes 
graves  .  .  .  Mais  ces  defauts  n'empechent  pas  que  Chretien 
n'ait  manie',  dans  ses  bons  morceaux,  la  langue  poetique  avec 
une  ve'ritable  maitrise  et  ne  l'ait  marquee  de  son  empreinte. 
C'e'tait,  en  somme,  un  homme  d'esprit  beaueoup  plus  que  de 
sentiment,  —  l'amour  qui  tient  la  premiere  place  dans  ses 
poemes,  y  est  le  plus  souvent  repre'sente'  d'une  maniere  subtile 
et  conventioneile  qui  exelut  toute  chaleur,  tout  reelle  parti- 
cipation  du  cocur,  —  un  conteur  adroit  dans  le  detail,  parfois 
maladroit  dans  l'ensemble,  un  e'crivain  habile  qui  n'a  pas  tou- 
jours  su  ou  voulu  donner  k  son  style  la  perfection  qu'il  a 
quelquefois  atteinte.' 


2.    Philomena. 

Die  nicht  mit  Sicherheit  unserem  Crestien  zuzuschreibende 
dichtung  stellt,  wenn  echt,  wohl  das  älteste  von  seinen  erhalten 


300     IX.  Kapitel.   Crestien  v.  Troyes  n.  Anfänge  der  höf.  Dichtung. 

gebliebenen  werken  dar.  Es  bildet  in  der  überlieferten  form 
einen  teil  des  am  ende  des  13.  oder  anfang  des  14.  jahr- 
bunderts  verfassten  Ovide  moralise,  dessen  Verfasser  beim  Über- 
gang zur  geschichte  der  Philolemele  selbst  sagt:  Mais  ja  ne 
descrirai  le  conte  —  Fors  si  com  Crestiens  le  conte  —  Qui 
oien  en  translata  la  letre.  —  Sus  lui  ne  m'en  vueil  entremetre. 
—  Tont  son  dit  vos  raconterai  — Et  Valegorie  en  trairai.  Und 
ebenso  am  sehluss:  De  Philomena  faut  le  conte  —  Si  com 
Crestiens  le  raconte.  In  der  erzählung  selbst  aber  (v.  734) 
nennt  sieb  dieser  dicbter:  Crestiens  li  Gois.  Dass  dieses 
li  Gois  für  de  Gois  stände  und  den  geburtsort  Crestiens 
von  Troyes  bezeichnete,  ist  nicht  mehr  als  eine  hypothese. 

Die  1468  verse  umfassende  darstellung  beruht  auf  Ovids 
Metamorphosen  VI,  482  ff.  Die  entstellung  des  namens  Philo- 
mela  in  Philomena  fand  der  dichter  jedenfalls  schon  in  seiner 
quelle  vor.  Der  Thrakerfürst  Tereus  entehrt  seine  Schwägerin 
Philomena  und  schneidet  ihr,  das  geschehene  zu  verheimlichen, 
die  zunge  aus.  Tereus  gattin,  Progne,  aber  erfährt  durch  eine 
schriftliche  mitteilung  ihrer  Schwester  das  vorgefallene  und 
rächt  die  tat  an  Tereus,  indem  sie  seinen  und  ihren  söhn  Itys 
tötet  und  ihm  als  speise  vorsetzt.  Tereus  wird  zur  strafe  in 
einen  Wiedehopf  verwandelt,  Progne  in  eine  schwalbe,  Philo- 
mena in  eine  nachtigall. 

Der  dichter  unterdrückt  manches,  was  ihm  nicht  geeignet 
für  sein  publikum  scheint,  erzählt  aber  im  ganzen  ausführlicher 
als  Ovid,  schiebt  z.  b.  eine  lange  reflexion  über  die  macht  der 
liebe  sowie  ausführliche  dialoge  ein  und  stellt  das  ganze  im 
sinne  seiner  zeit  dar.  In  auffassung  und  stil  sind  wesentliche 
unterschiede  gegenüber  Crestien  von  Troyes  nicht  zu  be- 
merken, was  sich  aber  bei  einem  Zeitgenossen  oder  nach- 
ahmer  unseres  Crestien  leicht  erklären  Hesse.  Hingegen  sind 
sprachliche  unterschiede  nicht  zu  leugnen,  und  auch  der  auf- 
fällige beiname  bleibt  ein  schweres  bedenken. 

Ausgabe  von  C.  De  Boer,  P.  1909.  —  Vgl.  G.  Paris,  Hist. 
litt,  29,  489  ff.  W.  Foerster,  kleine  ausg.  des  Cliges3  s.  VII  f.  anm. 
Foersters  bedenken  sind  auch  durch  De  Boers  erwiderung  Rom.  41 
(1912)  94  ff.  nicht  hinweggeräumt.  —  Über  die  nachahmungen  Ovids 
im  mittelalter  vgl.  G.Paris,  Hist.  litt.  29,  455  ff.  Leopold  Sudre, 
Publii    Ovidii    Nasonis    Metamorphoseon    libros    quomodo    nostrates 


3.  Erec.  301 

medii  aevi  poetae  iinitati  interpretatique  sint.  (Doctoratsthese), 
P.  1893.  K.  Bartsch,  Albrecht  von  Halberstadt  und  Ovid  im  M.  A., 
Quedlinburg  u.  L.,  1861. 

Ovids  werke,  besonders  Metamorphosen,  Heroiden  und  Ars 
amatoria  wurden  das  ganze  mittelalter  hindurch  von  lateinisch 
dichtenden  autoren  gern  benutzt  und  vielfach  in  den  Volkssprachen 
bearbeitet.  Gleichfalls  auf  die  Metamorphosen  gehen  die  vers- 
erzählungen  von  Pyramus  und  Thisbe  und  von  Narcissus  (s.  kap.  XI) 
zurück,  die  nach  G.  Paris  noch  vor  Crestien  anzusetzen  sind. 


3.    Erec. 


Erec,  der  söhn  des  Lac,  ist  ein  ritter  von  der  tafelrunde 
des  königs  Artus.  Gelegentlich  der  von  Artus  veranstalteten 
jagd  auf  den  weissen  hirsch  wird  er  in  ein  abenteuer  ver- 
wickelt, im  verlaufe  dessen  er  den  Schönheitspreis  in  gestalt 
eines  Sperbers  für  die  tochter  eines  armen  ritters,  bei  dem  er 
zu  gast  gewesen,  erkämpft  und  die  tochter  selbst  heimführt. 
Soweit  reicht  die  exposition  des  romans  (2400  verse).  —  Der 
zweite  teil  enthält  eine  echte  und  rechte  abenteuerfahrt.  Enide 
lässt  sich  durch  das  gerede  der  leute  verleiten,  ihrem  gatten 
vorwürfe  wegen  seines  tatenlosen  lebens  zu  machen,  er  be- 
sehliesst  sofort,  sie  von  seiner  fähigkeit  zu  heldentaten  zu 
tiberzeugen  und  reitet  mit  ihr  aus  unter  der  aufläge,  nie  ein 
wort  zu  sprechen,  selbst  nicht  im  falle  drohender  gefahr. 
Enide  vergisst  das  verbot  öfter,  erhält  aber  stets  Verzeihung. 
So  stossen  sie  nacheinander  auf  drei  Wegelagerer,  auf  fünf 
andere  strauchritter,  auf  die  leute  des  grafen  Galvain,  mit 
dem  Erec  um  Enidens  willen  einen  kämpf  zu  bestehen  hat, 
auf  den  kleinen,  starken  Guivrdt,  der  nach  dem  kämpf  einen 
freundschaftsbund  mit  Erec  schliesst:  tiberall  bewährt  sich 
Erec  als  tapferer  kämpfer,  ebenso  wie  in  den  weiterfolgenden 
abenteuern.  —  Der  dritte  teil,  das  hauptabenteuer,  bringt  die 
Versöhnung  der  beiden  gatten:  Erec,  nach  schwerem  kämpfe 
ftir  tot  gehalten,  wird  in  das  schloss  des  grafen  Limors 
gebracht,  erwacht  aber  noch  rechtzeitig  aus  seiner  ohnmacht, 
um  Enide  aus  den  händen  des  verliebten  und  gewalttätigen 
grafen   zu  befreien  und,   Eniden  vor  sich  auf  dem  pferd,  auf 


•'!<  >li      IX.  Kapitel.    Crestien  v.  Troycs  u.  Anfänge  der  büf.  Dichtung. 

und  davonzureiten.  So,  beim  schein  des  mondes  durch  den 
wald  reitend,  versöhnt  er  sich  mit  der  hinreichend  geprüften 
und  an  seinem  rittertum  nicht  mehr  zweifelnden  gattin.  — 
Der  vierte  (retardierende)  teil  bringt  eine  neue,  feindliche 
begegnung  mit  dem  bei  nacht  unerkannt  gebliebenen  Guivret 
und  dann  die  gefährliche  episode  von  der  'Joie  de  la  Cort', 
wo  Erec  einen  gewaltigen  ritter  besiegt  und  dadurch  von  dem 
bann  erlöst,  den  garten  seiner  geliebten  nicht  verlassen  zu 
dürfen,  worüber  beim  ganzen  hof  grosse  freude  herrscht.  — 
Nach  dieser  letzten  heldenprobe  kehrt  Erec  mit  Eniden  an 
könig  Artus'  hof  zurück  und  wird,  da  sein  vater  gestorben,  in 
Nantes  zum  könig  gekrönt.  Die  Schilderung  des  prächtigen 
krönungsfestes  macht  den  beschluss. 

Crestien  hat  seinen  stoff,  wie  er  selbst  angibt,  aus  einem 
conte  d'aventure  genommen,  also  wol  aus  einer  mündlichen, 
prosaischen  erzählung  bretonischer  herkunft  (die  deutung  des 
conte  durch  G.  Cohn  auf  Crestiens  eigenes  werk  ist  möglich, 
aber  nicht  wahrscheinlich).  Nach  G.  Paris  ist  das  zugrunde 
liegende  sittliche  thema,  das  'malentendu  entre  les  e'poux' 
ebenso  wie  ein  teil  der  abenteuerepisoden  keltischen  Ursprungs, 
nach  Foerster  nur  'die  tatsache,  dass  der  königssohn  Erec 
ein  armes  fräulein  heiratet,  also  die  grundlage  der  erzählung, 
und  dann  noch  der  schluss,  die  joie  de  la  cort,  ausserdem 
etwa  noch  der  Irländer  Guivret.'  Verschiedene  episoden,  die 
entweder,  wie  die  begegnungen  mit  den  strauchrittern,  keine 
charakteristische  färbung  tragen  oder  nur  im  Zusammenhang 
mit  der  leitenden  idee  des  romans  bedeutung  haben,  sind  wol 
ohne  bedenken  Crestien  zuzuschreiben,  andere  episoden  und 
motive,  wie  die  Joie  de  la  cort  und  den  kämpf  um  den 
schönheit^preis,  hat  er  älteren  Überlieferungen  bretonischer 
herkunft  entnommen,  und  es  ist  sehr  wol  möglich,  dass  der 
auf  abenteuerlichem  weg  zur  gewinnung  einer  braut  führende 
preiskampf  den  eigentlichen  inhalt  des  bretonischen  conte 
gebildet  hat.  In  mancher  hinsieht  bemerkenswert  ist  auch, 
dass  ein  historischer  Erec  oder  Guerec  (aus  keltisch  Weroc), 
graf  von  Nantes,  im  10.  Jahrhundert  existiert  hat,  er  regiert 
zuerst  gemeinsam  mit  seinem  bruder  Hoel,  dann  781 — 790 
allein  über  Nantes.  Crestiens  nächste  quelle  war  also  wol 
eine    an    diesen    historischen    Erec    geknüpfte    sage   aus    der 


3.  Erec.    —  4.  Cliges.  303 

französischen  Bretagne,  die  ihrerseits  vielleicht  auf  eine  inscl- 
keltische  sage  zurückgeht. 

In  seiner  äusseren  technik,  in  seiner  polemik  gegen  die 
entstelluug  der  wahren  erzählnng  durch  die  berufsmässigen 
eonteors,  in  der  ganzen  realistischen  darstellang,  welche  an- 
scheinend wunderbares  zwar  vorführt,  al)er  hinterher  immer 
auf  natürliche  weise  erklärt,  ferner  auch  in  der  auffassung  des 
Verhältnisses  zwischen  mann  und  frau  steht  dieser  Crestiensche 
roman  der  hergebrachten  epischen  dichtung,  den  chansons  de 
geste,  noch  sichtlich  nahe.  Die  Stellung  der  Enide  gegenüber 
Erec  ist  kaum  eine  andere  als  die  mancher  dame  in  den 
chansons  de  toile.  Auch  in  der  reimtechnik,  die  zwar  schon 
Crestiens  ausgeprägte  Vorliebe  für  den  reichen  reim  erkennen 
lässt,  aber  auch  noch  manche  unreine  reime  bietet,  erweist 
sich  dieser  roman  als  eins  der  jugendwerke  des  dichters. 

Editio  prineeps  von  Im.  Bekker,  ZdA  10  (1856)  373 ff.,  krit. 
ausg.  von  W.  Foerster  1890,  kl.  ausg.  1896,  2 1909.  Vgl.  G.Paris, 
Rom.  20  (1891)  16ff.,  J.  Loth,  Revue  celtique  13,  482ff.,  Philipor, 
Rom.  25  (1896)  258  ff.,  F.  Lot,  ebda.  588  ff.,  G.  Colin,  ZfSL  38  (1911) 
95  ff.  —  Eine  kürzende  prosaversion  in  Foersters  gr.  ausgäbe.  — 
Der  Erec  Hartmanns  von  Aue  (nach  1191)  und  die  altnordische 
Erex  Saga  (ende  des  13.  jhs)  gehn  auf  Crestien  (in  einer  besonderen 
liss.-gruppe)  zurück.  Vgl.  im  allgemeinen  W.  Foersters  einleitungen 
sowie  die  abhandlungen  von  Bartsch,  Germania  VII  (Ilartmann), 
Kölbing,  Germama  XVI  und  Iveus-Saga  1898  (Saga),  Roetteken 
1887,  Piquet,  Etüde  sur  Ilartmann  d'Aue,  P.  1898  (These  de 
doctorat),  K.  Dreyer,  Ilartras.  E.  u.  8.  afr.  Quelle,  Progr.  Rgymn., 
Königsberg  1893,  und  0.  Reck,  Das  Verh.  d.  Ilartmannschen  E.  zu 
seiner  frz.  Vorlage,  Diss.  Greifswald  1898  (überschätzt  Ilartmann). 
Über  den  kvmr.  Geraint  ab  Erbin  s.  K.  Otbmer,  Dis3.  Bonn  1889, 
R.Edens,  Diss.  Rostock  1910,  W.  Foerster,  ZfSL  38  (1911)  149ff, 
R.  Zenker,  Zur  Mabinogionfrage,  Ha.  1912.  Die  abhängigkeit  des 
Geraint  von  einer  franz.  quelle  ist  sicher,  die  von  Crestien  immer 
noch  sehr  wahrscheinlich. 


4.    Cliges. 
Im  Cliyes  (Clidz^s)  verbindet  Crestien  kühn  einen  orien- 
talischen erzählungsstoff  mit  der  bretonischen  Artussage.     Das 
grundthema    ist    die    liebe    des    neffen    zur  jungen    frau    des 
oheims    und    die   entführung  derselben   unter   anwendung  der 


304      IX.  Kapitel.   Crestien  v.  Troyes  n.  Anfänge  der  Löf.  Dichtung. 

list  vom  Scheintod.  Dadurch  dass  der  vater  des  helden,  der 
griechische  kaisersohn  Alexander,  eine  Zeitlang  am  hofe  könig 
Arturs  lebt  und  dort  in  Gauvains  Schwester  seine  frau  findet, 
wird  die  Verbindung  mit  Artur  hergestellt,  dessen  hof  auch 
weiterhin  in  den  Schicksalen  des  helden  seine  bedeutung  hat. 
Dieser  neue  roman  ist  nicht  so  wie  der  Erec  mit  mehr 
oder  weniger  willkürlich  eingeschalteten  abenteuern  aufgeputzt, 
sondern  enthält  eine  fortlaufende  erzählung,  deren  einzelne 
akte  sich  eng  mit  der  haupthandlung  verknüpfen.  So  ist 
auch  die  abenteuerfahrt,  welche  den  Übergang  von  der 
exposition  zum  hauptabenteuer  bildet,  kürzer  und  in  sich 
einheitlicher  als  der  entsprechende  teil  im  Erec.  Hingegen 
hat  der  dichter  der  eigentlichen  exposition  eine  Vorgeschichte 
vorausgehen  lassen,  welche  ausserhalb  der  haupthandlung 
steht  und  etwas  über  2000  verse  umfasst.  Alexander  ist  der 
älteste  söhn  des  kaisers  von  Byzanz  und  zieht,  um  rühm  zu 
gewinnen,  nach  England  an  Artus'  hof.  Hier  verliebt  er  sich 
sogleich  in  die  schöne  Soredamor.  Die  zwischen  beiden  auf- 
keimende liebe,  die  widerstreitenden  gefühle,  von  welchen 
jedes  von  den  beiden  bewegt  wird,  bringt  Crestien  in  seiner 
oben  bezeichneten  zergliedernden,  z.  t.  mit  Worten  spielenden 
manier  zum  ausdruck,  wovon  das  folgende  stück  eine  be- 
zeichnende probe  gibt.1) 


J)  Crestiens  spräche  ist  die  der  westlichen  Champagne.  Charakteristisch 
sind  für  diese  hauptsächlich  folgende  punkte :  Vnlglat.  o  bleibt  haupttonig 
o  vor  r  oder  feminin-e,  also  enor,  dolor  —  sole  gegen  preu,  neveu  —  seus 
(solus).  Flaupttonig  ai  bleibt  im  auslaut,  wird  ei  in  offener  innensilbe,  e 
in  geschlossener  silbe,  also  ai  (habeo),  ferai  —  feite  (factam)  — fet  (factum), 
et  =  ait  (habeat);  nebentonig  ai^>ei,  wie  meison,  reison.  Wie  cn  zu  an 
wird  auch  e  +  n  zu  a,  also  enseigne >  ensaigne,  regne  (veniam)  >  vaigne. 
Geschlossenes  e  vor  l  wird  zu  oi;  e  +  i  (oder  /)  +  s  (z)  hingegen  -auz: 
also  soloil,  consoil,  mervoille.  aber  rectus  solauz,  consauz,  ebenso  auz  (illos), 
cauz.  Aus  e  oder  g  +  l  oder  l  vor  konsonant  entsteht  -iau-:  also  biaus 
(bellus)  gegen  obl.  bei,  miauz  (melius),  viaut  (*volet)  neben  vuelt,  (Haut 
(dolet),  iauz  (oculos).  I  vor  konsonant  wird  im  allgemeinen  u  (maus,  teus, 
consauz,  iauz  etc.),  fällt  aber  nach  i,  ü,  g:  periz,  fiz,  tms,  cos  (==  cols  zu 
colp),  fos  gegen  vule,  fole  etc.  Unbetontes  on,  Von  «  homo)  wird  zu  en 
geschwächt,  und  von  da  nach  der  allgemeinen  regel  zu  an,  Van  (man).  Die 
lateinische  endung  -etis  erscheint  im  konj.  praes.  und  im  ind.  fnt.  lautgemäss 
als  -oiz  (nicht  ez  =  lateinisch  -atia),  also  parloiz,  parleroiz;  lateinisch 
potuüscm  als  poisse,  poUscs,  polst  etc.  (gegen  francisch  poüsse). 


4.   Cliffcs. 


305 


575    A  LIXANDRES ahmne  et desire 
Celi  qui  por  s'ainor  Bospire; 
Mes  il  ne  set  ne  ne  savra 
De  ci  a  tant  qu'il  an  avra 
Maint  mal  et  uiaint  euui  sofert. 

580  Por  s'auior  la  reine  sert 

Et  les  pnceles  de  la  chaubre; 
Mes  celi  don  plus  li  retnanbre 
N'ose  aparler  ne  aresnier. 
S'ele  osast  vers  lui  desresnier 

5S5  Le  droit  que  ele  i  cuide  avoir, 
Volantiers  li  feist  savoir; 
Mos  ele  n'ose  ne  ne  doit. 
Et  ce  que  li  uus  lautre  voit, 
Ne  plus  n'osent  dire  ne  feire, 

590  Lor  torne  niout  a  grant  contreire, 
Et  l'amors  an  croist  et  alume. 
Mes  de  toz  amanz  est  costuiue, 
Que  volantiers  peissent  lor  iauz 
D'esgarder,  s'il  ne  pueent  miauz, 

595  Et  cuident,  pur  ce  qu'il  lor  plest 
Ce  don  lor  ainors  croist  et  nest, 
Qu'eidier  lor  doie,  si  lor  nuist: 
Tout  aussi  con  eil  plus  se  cuist, 
Qui  au  feu  s'aproche  et  acoste, 

600  Que  eil  qui  arrieres  s'an  oste. 
Ades  croist  lor  ainors  et  nionte; 
Mes  li  uns  a  de  l'autre  honte, 
Si  se  c,oile  et  cuevre  chaseuns, 
Que  il  n'i  pert  flame  ne  funs 

605  Del  cbarbon  qui  est  soz  la  Qandre. 
Por  ce  n'est  pas  la  chalors  mandre, 
Einc.ois  dure  la  chalors  plus 
Dessoz  la  gandre  que  dessus. 
Mout  sont  andui  an  graut  angoisse; 


010  Que  por  ce  que  lau  ne  conoisse 
Lor  complainte  ne  apargoive, 
Estuet  ebaseun  que  il  deeoive 
Par  faus  sanblaut  totes  les  janz. 
Mes  la  nuit  est  la  plainte  granz, 

615  Que  chaseuns  fet  a  lui  me'ismes. 
D'Alixandre  vos  dirai  prinies, 
Comant  il  se  plaint  et  demante. 
Amors  celi  li  represante, 
Por  cui  si  fort  se  sant  greve, 

020  Que  en  son  euer  l'a  ja  navre, 
Ne  nel  leisse  an  lit  reposer: 
Tant  li  delite  a  remanbrer 
La  biaute  et  la  contenance 
Celi,  ou  nra  point  d'esperance, 

025  Que  ja  biens  Tau  doie  avenir. 
„Por  fol",  fet  il,  „nie  puis  tenir  — 
Por  fol?    Voiremant  sui  je  fos, 
Quant  ce  que  je  pans  dire  n'os, 
Car  tost  nie  torueroit  a  pis. 

630  An  folie  ai  nion  panser  mis. 
Don  ne  me  vieut  il  miauz  celer 
Que  fol  me  fe'isse  apeler? 
Ja  n'iert  seü  ce  que  je  vuel. 
Si  celerai  ce  don  me  duel 

635  Ne  n'oserai  de  mes  dolors 
A'i'e  querre  ne  secors? 
Fos  est,  qui  sant  aufermete, 
S'il  ne  quiert,  par  quoi  et  sante, 
[Se  il  la  puet  trover  nul  leu. 

040  Mes  teus  cuide  feire  son  preu 
Et  porquerre  ce  que  il  viaut, 
Qui  porchace  don  il  se  diaut.] 
Et  qui  ne  la  cuide  trover, 
Por  quoi  iroit  consoil  rover? 


Bemerkungen  im  einzelnen:  Vers  597  si  =  und  doch,  vgl. 
unten  065.  —  V.  026  ff.  enthält  eine  reihe  von  rasch  aufeinanderfolgenden, 
z.  t.  sich  kreuzenden  gedankeu :  Alexander  nennt  sich  zunächst  selbst  einen 
narren,  da  er  seine  gefühle  nicht  laut  zu  gestehen  wagt,  was  er  aber 
unterlässt,  weil  sonst  der  schade  leicht  noch  grösser  würde.  Er  macht 
sich  dann  weiter  den  Vorwurf,  dass  er  seinen  siun  überhaupt  auf  torheit 
gerichtet  hat  und  fragt  sich,  ob  es  da  nicht  besser  wäre,  die  sache  geheim 
zu  halten,  als  sich  einen  toren  schelten  zu  lassen.  Sogleich  aber  macht 
er  sich  den  einwand,  dass  er  dann  erst  recht  keine  heilung  für  seine 
schmerzen  finden  würde.  —  V.  639  —  642  wahrscheinlich  interpoliert.  — 
La  v.  643  bezieht  sich  auf  638  sante. 

Voretzsch,  Studium  d.  afrz.  Literatur.    2.  Auf  läge.  20 


306     IX.  Kapitel.    Crestien  v.  Troyes  u.  Anfänge  der  büf.  Dichtung. 

646  11  se  traveilleroit  an  vain.  Ne  sai  don  la  dolors  ra'est  prise. 

Je  sant  le  mien  mal  si  grevain,  605  Ne  sai?    Si  faz,  jel  cuit  savoir, 
Qae  ja  n'an  avrai  garison  Cest  mal  me  fet  Amors  avoir. 

Par  mecine  ne  par  poison  Conaant?    Set  donc  Amors  mal 

Ne  par  herbe  ne  par  racino.  feire? 

650  A  chascun  mal  n'a  pas  mecine:  Don  n'est  il  douz  etdebon'eire? 

Li  miens  est  si  anracinez,  Je  cuidoie  que  il  n'eiist 

Qu'il  ne  puet  estre  mecinez.        '    070  An  Amor  rien  qui  buen  ne  fast, 
Ne  puet?    Je  cuit  que  j'ai  mauti.  Mes  je  Tai  trop  felon  trove. 

Des  que  primes  cest  mal  santi,  Nel  set,  qui  ne  l'a  esprove, 

655  Se  mostrer  l'osasse  ne  dire,  Dequeusjeus  Amors  s'antremet. 

PoTsse  je  parier  au  mire  Fos  est  qui  devers  lui  se  met, 

Qui  del  tot  me  poist  eidier.        \    075  Quil  viaut  toz  jorz  grever  les 
Mes  mout  m'est  gries  a  aplaidier ;  saens. 

Espoir  n'i  deigneroit  antandre  Par  foi,  ses  Jens  n'est  mie  baens, 

660  Ne  nul  loiier  n'an  voldroit  Mauves  joer  se  fet  a  lui, 

praudre.  Car  ses  jeus  me  fera  enui. 

N'est  donc  mervoille,  se  m'esmai;  Que  ferai  donc?   Retreirai  m'an? 

Car  mout  ai  mal,  et  si  ne  sai      i    680  Je  cuit  que  je  feroie  san, 
Qneus  maus  ce  est,  qui  me  justise,  Mes  ne  sai,  comant  je  le  face  . . ." 

Von  ähnlichen  zweifeln  wie  hier  Alexander  wird  auch 
ihrerseits  Soredamor  gequält.  Wie  Siegfried  in  den  Nibelungen, 
wie  Karl  der  Grosse  im  Mainet  und  wie  viele  andere  helden 
erwirbt  sich  Alexander  das  anrecht  auf  die  band  der  holden 
durch  hervorragende  anteilnahme  an  einem  schweren  kämpf, 
der,  hier  gegen  den  Statthalter  Engr^s  geführt,  in  seinen 
einzelheiten  sehr  an  die  entsprechenden  Schilderungen  der 
chansons  de  geste  erinnert.  Das  kind  dieser  ehe  ist  Cligds, 
en  cui  memoire  —  Fu  mise  en  romanz  ceste  esioire.  —  Auf 
diese  Vorgeschichte  folgt  als  erster  hauptteil  die  Vorbereitung 
der  haupthandlung:  der  tod  von  Alexanders  vater,  die  krönung 
des  jüngeren  sohnes  Alis  (Alexis)  zum  kaiser,  die  rückkehr 
Alexanders,  der  verzieht  Alis'  auf  verehelichung  gegen  be- 
lassung des  kaisertitels,  der  tod  Alexanders  und  Soredamors, 
Alis'  wortbruch  und  heirat  mit  der  deutschen  kaiserstochter 
Fenice.     Clig6s  verliebt  sich  beim  ersten  anblick  in  sie,  befreit 

658  m'est  gries:  Subjekt  der  mires  'der  arzt  ist  mir  schwierig  zum 
anreden  —  es  fällt  mir  schwer,  den  arzt  anzureden'.  —  605  Ne  sai?  Si 
faz:  Ich  weiss  es  nicht?  Ich  weiss  es  doch.  Faire  als  sogenanntes 
verbum  vicarium;  si  so,  unter  diesen  umständen  —  trotzdem  doch.  — 
668  eire:  wegen  etymologie  und  geschlecht  vgl.  Meyer-Liibke,  Et.  Wb.  270. 


4.   Cliges.  307 

sie  aus  den  händen  der  sie  entführenden  Sachsen,  weiss  aber 
seine  leidenschaft  zunächst  zu  verbergen.  Alis  wird  von  der 
berührung  der  Fenice  durch  einen  zaubertrauk  zurückgehalten 
(v.  2383 — 4236).  —  Cliges  entschluss,  sich  den  peinlichen  Ver- 
hältnissen durch  eine  abenteuerfahrt  zu  könig  Artus  zu  ent- 
ziehen, leitet  einen,  den  hauptkonflikt  unterbrechenden  und 
hinausschiebenden  teil  ein,  welcher  im  wesentlichen  mit  den 
erlebnissen  des  helden  im  fernen  land  ausgefüllt  ist.  Aber 
die  liebe  treibt  ihn  wieder  nach  haus  zurück  (v.  4237 — 5114). 
—  Es  folgt  nun  die  dominierende  mittelszene  des  ganzen: 
die  entführung  der  Fenice  durch  die  list  des  Scheintodes, 
denn  nur  so,  der  weit  als  tot  geltend,  will  sie  Cliges  an- 
gehören, um  vor  den  äugen  der  weit  nicht  als  eine  neue 
Isolde  zu  erscheinen,  die  zu  gleicher  zeit  ihrem  gatten  und 
ihrem  liebhaber  gehörte.  Die  list  gelingt,  und  die  beiden 
liebenden  geben  sich  im  verborgenen  in  einer  von  CligeV 
treuem  diener  Jean  künstlich  konstruierten  unterirdischen 
wohnung  mit  ummauertem  garten  ganz  ihrer  liebe  hin 
(5115—6424).  —  Der  folgende  teil  bringt  wieder  das  retar- 
dierende dement :  durch  einen  zufall  wird  das  liebespaar 
entdeckt  und  verraten,  entflieht  aber  und  rettet  sich  glücklich 
nach  Brittannien  zu  könig  Artus,  der  sogleich  ein  grosses 
heer  sammelt,  um  Cliges  zu  helfen  (6425 — 6705).  —  Aber 
die  nachricht  vom  tod  des  wahnsinnig  gewordenen  Alis  macht 
den  kriegszug  unnötig  und  bringt  den  liebenden  endlich  die 
dauernde  Vereinigung.  Als  rechtmässiger  gatte  der  Fenice 
nimmt  Cliges  von  dem  angestammten  tron  besitz  (6706 — 6784). 
So  zeigt  sich  auch  hier,  abgesehen  von  der  als  hors 
d'cenvre  vorausgeschickten  Vorgeschichte,  eine  fünffach  ge- 
gliederte handlung,  deren  zwei  letzte  teile  allerdings,  eben 
mit  rücksicht  auf  die  lange  Vorgeschichte,  wesentlich  kürzer 
sind  als  sonst:  exposition,  haupt-  und  mittelszene,  schluss, 
dazwischen  eingeschoben  die  beiden  retardierenden  teile  (auf- 
enthalt  des  helden  in  England  —  entdeckuog  und  flucht  des 
liebespaares).  Die  Verbindung  mit  der  Artussage,  die  ganze 
Vorgeschichte  und  sonst  vieles  einzelne  entstammt  Crestiens 
erfindung,  das  hauptmotiv  aber,  die  entführung  einer  frau 
durch  anwendung  des  Scheintodes,  hat  der  dichter  jedenfalls 
in  dem  livre  gefunden,  das  er  als  quelle  nennt  und  von  dessen 

20* 


30S      IX.  Kapitel.    Crestien  v.  Troyes  u.  Anfänge  der  hüf.  Dichtung. 

inhalt  uns  eine  kurze  erzählung  in  dem  prosaroman  Marques 
de  Borne  (13.  Jahrhundert)  eine  ungefähre  Vorstellung  gibt. 
Die  erzählung  ist  orientalischen  Ursprungs  und  mit  der  mittel- 
alterlichen (in  Deutschland  mehrfach  behandelten)  entführung 
der  frau  Salomos  durch  Mareolf  verwant,  auf  die  auch  im 
gedieht  selbst  angespielt  wird.  Im  übrigen  bietet  der  roman  eine 
reihe  anklänge  an  die  Tristansage  (vgl.  über  diese  das  folgende 
kapitel):  so  die  liebe  des  beiden  zur  frau  des  oheims.  den 
zaubertrank,  die  rolle  der  getreuen  zofe  (Thessala-Brangien), 
das  heimliche  zusammenleben  des  liebespaares.  Daneben  aber 
macht  sich  eine  unverhüllte  polemik  gegen  die  moralische 
grundlage  der  Tristansage  bemerkbar.  Diese  beziehungen 
sind  in  letzter  zeit  mehrfach  und  in  verschiedenem  sinn  dis- 
kutiert worden:  W.  Foerster  erblickt  im  Clig^s  geradezu  einen 
Antitristan,  G.  Paris  hingegen  einen  neuen,  verfeinerten  Tristan. 
Van  Hamel  tritt  im  wesentlichen  Foersters  Standpunkt  bei, 
er  glaubt  Crestiens  polemik  speziell  gegen  den  Tristan  des 
Thomas  gerichtet. 

Ausgaben  von  W.  Foerster  1884,  1888,  1901,  1910  (s.  o.).  Vgl. 
bes.  die  einleitung  zur  letzten  ausgäbe,  ferner  G.  Paris  JdSav  1902 
(=  Melanges  s.  229 ff.),  A.  G.  van  Hamel,  Rom.  33  (1904)  465 ff, 
F.  Setttegast,  ZrP  32  (1908)  400  ff.  (sucht  beziehungen  zur  byzan- 
tinischen geschichte).  Zum  text:  G.  Colin  ZfSL  25  II  (1903)  146  ff, 
27,  117  ff,  A.  Schulze  ebda.  26,  354.,  Archiv  110  (1903)  468  ff.  — 
Eine  franz.  prosafassuug  des  15.  Jahrhunderts  ist  in  Foersters  grosser 
Clige'sausgabe  gedruckt.  —  Zwei  mhd.  bearbeitungen  des  KUes,  von 
Konrad  Fleck  und  von  Ulrich  von  Türheim,  werden  durch  Rudolf 
von  Ems  bezeugt;  die  aufgefundenen  bruchstücke  (ZdA  32,  123 ff.) 
scheinen  dem  Türheimer  zu  gehören.  —  Der  altenglische  Sir  öliges 
hat  mit  dem  beiden  von  Crestiens  roman  nur  den  namen  gemein, 
seinen  eigentlichen  inhalt  bildet  eine  Schwankerzählung. 


5.    Lieder. 

Die  echtheit  der  Crestien  in  den  haudschriften  zu- 
geschriebenen lieder  ist  grossenteils  unsicher.  Von  den  bei 
Holland  s.  226  aufgeführten  sechs  liedern  konnte  Brakelmann 
in    seinen    'Chansonniers    frangais'    nur    drei    als    echt    gelten 


5.  Lieder.  309 

lassen,  von  denen  wir  aus  sprachlichen  gründen  auch  noch 
das  dritte,  als  nicht  in  Crestiens  mundart  gedichtet,  streichen 
müssen.  Es  bleiben  daher  als  echt  oder  sehr  wahrscheinlich 
echt  nur  zwei,  welche  beide  der  gattung  der  chanson,  des 
höfischen  minneliedes,  angehören: 

1.  Amors  tengon  et  bataille  —  Vers  son  champion  a  prise 
(Brakelmann  s.  44). 

2.  D'amor    qui   m'a   tolu   a   moi  —  N'a   li   ne   me   vuet 
retenir.    (Br.  s.  46). 

Dieses  zweite  lied  ist  interessant  durch  die  anspielung 
auf  die  Tristansage,  indem  der  dichter  von  sich  und  seiner 
liebe  sagt:  Onques  del  bevragc  ne  bui  —  Dont  Tristans  fu 
anpoisonez,  —  Mes  plus  me  fet  amer  que  lui  —  Fins  cuers 
et  bone  volantez.  Das  erste  lied  beruht  auf  dem  gedanken, 
dass  nur  der  höfisch  gebildete  der  liebe  fähig  sei,  und  schildert 
im  übrigen  den  Zwiespalt  zwischen  dem  dichter  und  der 
Amor,  als  deren  getreuen  Vorkämpfer  er  sich  fühlt,  die  ihm 
aber  —  bei  seinem  liebeswerben  —  keine  Unterstützung 
zu  teil  werden  lässt.  Das  lied  kann  als  beispiel  der  höfischen 
chanson  dienen : 

1        Amors  tangon  et  bataille 

Vers  son  champion  a  prise, 

Qui  por  li  tant  se  travaille 

Qn'a  desresnier  sa  franchise 
5  A  tote  s'antante  mise. 

N'est  droiz,  qu'a  sa  merci  faille; 

Mais  ele  tant  ne  le  prise 

Que  de  s'a'ie  li  chaille. 

Qui  que  por  Amor  m'assaille, 
10  Sanz  loiier  et  sanz  faintise 

Prez  sui,  qu'an  l'estor  m'an  aille 

Que  bien  ai  la  peine  aprise. 

Mais  je  criem  qu'an  mou  servise 

Guerre  et  ai'e  li  faille. 

Bemerkungen.  V.  C  qu'a  sa  merci  faille:  Subjekt  li  Champions 
'nicht  billig  ist  es,  dass  er  einen  mangel  habe  in  ihrer  (d.  i.  der  Amor) 
gnade  —  dass  er  ihrer  gnade  entbehre'.  —  V.  9 ff.:  mit  dieser  strophe 
geht  der  dichter  ans  der  3.  person  (i.  e.  li  Champions)  in  die  1.  über  — 
13:  en  mon  servise:  dienst  —  lehnsdienst  —  minnedienst,  so  hier:  'bei 
meinem  minnedienen'. 


310      IX.  Kapitel.   Crestion  v.  Troyes  u.  Anfange  der  hüf.  Dichtung. 

15  Ne  vuel  estre  en  nnle  guise 

Si  frans  qu'an  moi  n'et  sa  taille. 
Nuls  s'il  n'est  cortois  et  sages, 

Ne  pnet  d'Ainor  rien  aprandre; 

Mais  tels  an  est  li  usages, 
20  Dont  nus  ne  se  set  deffandre, 

Qu'ele  vuet  l'autree  vandre: 

Et  quels  an  est  li  passages? 

Reison  li  convient  despandre 

Et  inetre  mesure  au  gages. 
25        Fos  cuers  legiers  et  volagea 

Ne  puet  rien  d'Amor  aprandre. 

Tels  n'est  pas  li  miens  corages 

Qui  sert  sanz  merci  atandre. 

Einz  que  m'i  cnidasse  prandre, 
30  Fu  vers  li  durs  et  salvages; 

Or  me  plest,  sanz  reison  randre, 

Qne  ses  preus  soit  nies  damages. 
Molt  m'a  chier  Amors  vandne 

S'enor  et  sa  seignorie, 
35  Qu'a  l'antree  ai  despaudne 

Mesure  et  reison  guerpie. 

Lor  consauz  ne  lor  aie 

Ne  me  soit  jamais  randue. 

Je  lor  fail  de  compaignie, 
40  N'i  aient  nnle  atandue. 

D'Amor  ne  sai  nule  issue, 

Ne  ja  nus  ne  la  me  die, 


16  frans:  ist  im  gegensatz  zu  servise  gedacht;  taille  bedeutet 
'steuer',  weiterhin  ' Steuergewalt',  hier  wie  öfter  in  übertragenem  sinn  von 
der  liebe,  vgl.  z.  b.  Eneas  8078,  wo  es  von  Lavinia  heisst:  Bien  l'a  Amors 
mise  en  sa  taille.  —  21  ff.  ist  unter  dem  bilde  eines  eintrittszolles  oder 
weggeldes  (j'assage)  gedacht,  das  man  in  gestalt  von  reison  und  mesure 
entrichten  oder  verpfänden  muss,  um  zur  wahren  liebe  zu  gelangen  (vgl. 
unten  35).  —  26:  =  v.  18.  —  28  sanz  merci  atandre:  derselbe  gedanke 
wie  oben  v.  lo  sanz  loiier.  —  29  —  30:  Subjekt  zu  cnidasse  ist  amors,  zu 
fu  das  vorausgehende  corages.  —  39  —  40 :  '  Ich  fehle  ihnen  (i.  e.  reison  et 
mesure)  in  bezug  auf  genossenschaft  —  ich  verzichte  auf  ihre  genossen- 
schaft'.  Das  folgende  abhängiger  nebensatz  mit  fehlendem  que  oder 
selbständiger  Wunschsatz:  'nicht  mögen  sie  weiter  erwartung  darauf  (d.  h. 
auf  compaignie)  setzen'.  —  41  issue:  im  gegensatz  zu  antree  21  und  35. 
Im  folgenden  ein  neues  bild:  der  in  die  gewalt  der  liebe  gerateue  als  ein 
im  mauserkäfig  (muc)  befindlicher  jagdvogel.  Ausserlich  kann  er  sich  wol 
verändern,  aber  nicht  im  herzen :  er  hofft  auf  die,  von  welcher  er  den  tod 
fürchten  muss,  und  doch  liisst  sein  herz  darum  nicht  von  ihr  ab. 


5.   Lieder.  —  6.   Lancelot  oder  der  Karrenritter.  311 

Mue'r  puet  an  ceste  mue 

Ma  plnrue  tote  ma  vie; 
45  Mes  cuers  n'i  muera  inie. 

S'ai  an  celi  ra'atandue, 

Que  je  criein  que  ne  ni'ocie, 

Ne  por  ce  cuers  ne  renine. 
Se  mercis  ne  rn'an  a'ie 
50  Et  pitiez,  qni  est  perdue, 

Tart  iert  la  gnerre  fenie 

Qne  j'ai  louc  tens  inaintenue. 

Wie  seinem  ganzen  inbalt  nach  ist  das  liecl  auch  in  der 
form  für  die  aus  der  Provence  entlehnte  lyrik,  besonders  die 
gattnng  der  chanson,  charakteristisch.  Je  zwei  Strophen  sind 
durch  dieselben  reime  miteinander  verbunden  (provenzalisch 
coblas  doblas),  sodass  dadurch  das  ganze  lied  dreiteilig  er- 
scheint. Die  jede  strophe  durchziehenden  zwei  reime  kreuzen 
sich,  doch  so,  dass  im  zweiten  teil  die  umgekehrte  reimfolge 
eintritt:  abab — baba.  Die  angefügte  halbstrophe,  in  den- 
selben reimen  wie  das  schlussstück  der  vorhergehenden 
strophe,  ist  die  provenzalische  tornada,  französisch  envoi,  das 
sogenannte  geleit,  in  welchem  der  dichter  das  facit  zieht  oder 
sich  mit  einer  direkten  anrede  an  den  boten,  an  die  geliebte 
oder  an  einen  gönner  wendet. 

Liedertexte  bei  J.  Brakelmann,  Les  plus  anc.  Chansonniers 
francais,  P.  1870  —  1891,  s.  42  ff.  Vgl.  W.  Foerster,  Einl.  z.  IV.  bd., 
s.  182  f.     G.  Paris,  JdSav  1902,  s.  57  f.  anm.  (Melanges  s.  229  f.). 


6.    Lancelot  oder  der  Karrenritter. 

Von  demselben  geist  wie  Crestiens  lyrik  ist  sein  roman 
vom  Lancelot  beseelt,  welcher  seinen  beinamen  'Karrenritter' 
daher  führt,  dass  er,  um  den  weg  der  von  Meleagant  ent- 
führten königin  Ganievre  zu  erfahren,  gegen  alle  ritterehre 
auf  dem  wagen  eines  zwerges  platz  nimmt.  Er  tut  es  aus 
liebe  zur  königin,  welcher  er  in  echtem  und  rechtem  minne- 
dienst ergeben  ist,  und  ihr  zu  liebe  vollbringt  er  die  grössten 
heldentaten,   nimmt   er  den  grössten  schimpf  auf  sich,   wie  er 


312      IX.  Kapitel.    Crcstien  v.  Troyes  u.  Anfänge  der  hüi.  Dichtung. 

später  auf  eine  botscbaft  von  ihr  alles  vergisst  und  sich  im 
turnier  besiegen  und  auslachen  lässt.  Wir  sehen  hier  den 
zuerst  in  der  lyrik  ausgeprägten  begriff  der  den  mann  ver- 
edelnden höfischen  minne,  der  liebe  zur  verheirateten  frau, 
der  für  die  angebetete  frau  alles  wagenden,  aber  nach  voll- 
brachten leistungen  auch  alles  von  ihr  erhoffenden  und  somit 
schliesslich  in  der  Verherrlichung  des  ehebruchs  gipfelnden 
liebe  auf  das  gebiet  der  erzählenden  dichtung  übertragen. 
Die  verbrecherische  leidenschaft  eines  helden  für  die  frau 
seines  herrn  war  allerdings  an  und  für  sich  wol  schon  vor 
Crestiens  Lancelot  im  Tristan  des  Thomas  dargestellt  worden. 
Crestieu  verbindet  aber  mit  seinem  stoff  die  aus  der  proven- 
zalischen  lyrik  entlehnte  und  am  hofe  von  Troyes  kultivierte 
liebestheorie.  Nicht  nur  den  stoff  (inatiere),  sondern  auch 
die  allgemeine  idee  (sen)  hat  er  nach  seiner  angäbe  von  der 
gräfin  Marie  erhalten.  Aber  dass  eine  tendenz  dieser  art  mit 
der  auffassung  des  Verfassers  von  Erec  und  Clig£s  nicht  über- 
einstimmte, begreift  sich  leicht:  er  hat  seinen  roman  nur  bis 
zur  einmauerung  Lancelots  (etwa  bis  vers  6165)  geführt  und 
den  abschluss  Godefroi  de  Leigni  überlassen. 

In  seiner  handlung  gliedert  sich  auch  der  Lancelot,  trotz 
der  häufung  und  verschachtelung  der  abenteuer  und  eines 
grossen  aufwandes  von  märchenhaften  dementen,  ziemlich 
deutlich  in  fünf  teile.  Die  exposition  erzählt  die  entführung 
der  königin  Ganievre  durch  Meleagant.  Dann  folgt  als  zweiter 
teil  die  abenteuerreiche  fahrt  Lancelots  und  Gauvains  zur 
befreiung  der  königin,  wovon  die  fahrt  Gauvains  zu  der 
unter  wasser  befindlichen  brücke,  zum  ponz  evages,  nur  kurz, 
diejenige  Lancelots  zum  pons  de  Vesjjee  um  so  ausführlicher 
geschildert  wird.  Das  hauptabenteuer  (3.  teil)  zerfällt  der 
exposition  gemäss  in  zwei  teile:  die  befreiung  der  königin 
durch  Lancelot  durch  das  überschreiten  der  schwertbrücke 
und  den  sieg  über  Meleagant  und  die  —  nach  anfänglicher 
Zurückweisung  und  abermaliger  trenuung  —  endlich  erfolgende 
gewährung  des  höchsten  minnelohnes  an  den  befreier.  Der 
vierte,  retardierende  teil  bringt  die  hinterlistige  gefangen- 
setzung und  einmauerung  Lancelots  durch  Meleagant  mit  ihren 
Zwischenepisoden  —  Gauvains  wiederauftauchen,  heimkehr 
der    königin,    heiratsturnier    — ,    der    fünfte    und    letzte    teil 


r>.   Lancelot  oder  der  Karreuritter.  313 

erzählt  Lancelots  endgiltigen  sieg  über  Meleagant  am  hof  des 
künigs  Artus. 

Der  leitende  gruudgedauke  von  der  alles  mutig  und 
geduldig  auf  sich  nehmenden  ritterlichen  liebe  kommt  ebenso 
wie  die,  trotz  allen  beiwerkes,  straffe  gliederung  und  ent- 
wicklung  der  handlung  deutlich  zur  geltung.  Im  einzelnen 
freilich  lässt  der  dichter  manches  unaufgeklärt,  was  er  nur 
geheimnisvoll  andeutet.  Überhaupt  spielen  die  phantastischen 
demente  hier  eine  grössere  rolle  als  in  irgend  einem  seiner 
früheren  romane.  Lancelot  ist  von  einer  fee  erzogen  worden 
(auf  einem  in  einem  see  gelegenen  eiland,  daher  Lancelot  del 
Lac)  und  hat  von  ihr  einen  zauberring  erhalten;  auf  der 
abenteuerfahrt  erlebt  er  in  einem  schloss  auf  dem  'zauberbett' 
wunderbaren  spuk;  auch  die  brücke,  die  über  das  schwarze, 
tosende,  schreckenerregende  wasser  zu  Meleagant  hinüberführt 
und  so  schmal  und  so  scharf  wie  eine  schwertschneide  ist, 
gehört  hierher.  Nach  G.  Paris  haben  wir  es  im  Lancelot  mit 
einem  ursprünglichen  totenmythus  keltischer  herkunft  zu  tun. 
Meleagant  ist  der  fürst  des  totenreiches,  welcher  Ganievre, 
wie  vorher  schon  viele  Untertanen  des  königs  in  sein  reich 
abholt;  Lancelots  kühne  tat  ist  also  eine  bezwingung  der 
todesmacht,  wie  die  fahrt  des  Herkules,  des  Orpheus  oder 
auch  des  Theseus  und  Peirithoos  zur  unterweit.  Der  mythus 
ist  freilich  bei  Crestien  sehr  verblasst,  obwol  einzelne 
Wendungen  wie  Ic  reaume  don  nus  estranges  ne  retorne 
darauf  zu  deuten  scheinen,  dass  ihm  der  ursprüngliche  sinn 
des  conic  noch  verständlich  war.  Aber  er  selbst  hat  alles 
getan,  um  aus  der  mythischen  erzählung  einen  ritterroman  zu 
machen.  Lancelot  als  befreier  der  königin  —  nach  G.  Paris 
erst  nachträglich  au  die  stelle  von  Arthur  selbst  getreten  — 
war  wol  schon  der  älteren  tradition  geläufig,  wie  er  als  solcher 
auch  in  dem  Lanzdet  Ulrichs  von  Zatzikhoven  begegnet,  der 
auf  eine  französische  quelle  zurückgeht.  Aber  die  ver- 
brecherischen beziehnngen  zwischen  der  entführten  und  dem 
befreier  scheinen  erst  in  Crestiens  roman  hergestellt  worden 
zu  sein,  sie  bildeten  einen  teil  des  sen,  der  neuen  minnetheorie. 
Der  name  Lancelot  selbst  übrigens  ist  nicht  keltisch,  sondern 
eine  form  des  germanischen  namens  Lanzo  (kurzform  von 
Lantbrecht,    Lantfred    u.  ä.),    der   in   Frankreich   als   Lancelin 


314     IX.  Kapitel.   Crestien  v.  Troyes  u.  Anfänge  der  höf.  Dichtung. 

häutig  begegnet  und  in  der  französischen  Bretagne  träger  des 
alten  totenmythus  geworden  sein  kann. 

Altere  ausgaben  von  Tarbe,  Reims  1849,  und  Jonckloet,  La 
Haye  1850.  Kritische  ausgäbe  von  W.  Foerster,  Halle  1899  (s.  o.). 
—  Vgl.  P.  Maertens,  Zur  Lancelotsage  (Strassb.  Diss.  1880),  Rom. 
Stud.  5,  557  ff.     G.  Paris,  Rom.  10  (1881)  471  ff.  (Ulrichs  Lanzelet), 

12,  459  ff.  (Crestiens  Lancelot).  Baist  ZrP  14  (1890)  159  f.  (Toten- 
brücke); Foerster,  einleitung  zur  ausgäbe.  Jessie  L.  Weston,  The 
legend  of  Sir  Lancelot  du  Lac  (Grimm  Library),  London   1901. 

Auf     Crestiens     roman     beruht     der     franz.     prosaroman     des 

13.  Jahrhunderts  und  auf  diesem  wiederum  die  meisten  fremden 
bearbeitungen:  die  deutschen  (Ulrich  Füterer  und  seine  nachfolger), 
die  niederländische,  die  italienischen  und  englischen,  hierunter  nach 
Foerster  auch  Malorys  Morte  d'Arthure  (15.  Jahrhundert),  für  welchen 
G.  Paris  ausser  der  franz.  prosa  noch  benutzung  eines  verlorenen, 
vor  Crestien  fallenden  franz.  versromans  annimmt.  Noch  nicht  näher 
untersucht,  z.  t.  noch  nicht  gedruckt  sind  die  span.  und  portug. 
bearbeitungen.  —  Der  mhd.  Lanzelet  Ulrichs  von  Zatzikhoven  darf 
uns  als  ersatz  eines  verloren  gegangenen  franz.  Lancelotromans 
gelten,  der  ausser  der  entführungsgeschichte  noch  eine  reihe  anderer 
episoden  aus  Lancelots  leben  behandelte.  Dieser  verlorene  roman 
weist  mit  Crestiens  werk  auf  eine  gemeinsame  quelle  zurück.  — 
Über  eine  Hartmann  von  Aue  bekannt  gewordene  version  vom 
raube  der  königin  (in  seinem  Yvain)  siehe  Rosenhagen  im  Sievers- 
band s.  231  ff. 

Lancelot  spielt  noch  in  mehreren  romanen  eine  mehr  oder 
weniger  hervorragende  rolle :  so  besonders  im  JRigomer  (s.  kap.  XII) 
und  in  den  prosaromanen  von  der  Gralsuche  (s.  kap.  X,  XIII). 


7.    Yvain  oder  der  Löwenritter. 

Mit  dem  Yvain  kehrt  Crestien  von  der  behandlung  der 
ehebrecherischen  liebe  wieder  zun  thema  der  gattenliebe 
zurück.  Was  uns  im  Yvain  erzählt  wird,  ist  ein  konflikt 
zwischen  gattenliebe  und  ritterlicher  abenteuerlust,  und  nicht 
mit  unrecht  hat  man  diesen  neuen  roman  als  ein  gegenstück 
zum  Erec  bezeichnet.  Aber  die  einwirkung  der  neuen  an- 
schauungen  über  die  liebe  macht  sich  auch  hier  geltend:  war 
es  im  Erec  die  frau,  welche  den  befehlen  und  launen  des 
mannes  zu  gehorchen  hat  und  mit  ihrer  liebe  und  geduld  auf 


7.   Yvain  oder  der  Löwenritter. 


315 


die  härtesten  proben  gestellt  ■wird,  so  muss  im  ' Löwenritter ' 
vielmehr  der  mann  um  die  huld  der  frau  buhlen  und,  um  ihre 
verlorene  gunst  wiederzugewinnen,  schwer  und  hart,  bis  zur 
Verzweiflung,  büssen. 

Wie  im  Erec  wird  auch  hier  die  exposition  durch  die 
erzählung  gebildet,  wie  der  held  zu  seiner  frau  kommt.  Die 
grundlage  dieser  erzählung  bildet  das  abenteuer  von  der 
zauberquelle  im  wald  von  Broceliande,  mit  dessen  erzählung 
Calogrenant  die  abenteuerlust  Yvains  weckt.  Diese  episode  mag 
als  charakteristische  probe  ftir  die  einwirkung  bretonischen 
märchenglaubens  und  ihre  Verarbeitung  durch  Crestien  hier 
folgen : 


270 


MOUT  fui  bien  la  nuit  ostelez, 
Et  nies  chevaus  fu  anselez 
Lues  que  l'an  pot  le  jor  veoir, 
Car  j'an  oi  niout  proiie  le  soir; 
Si  fu  bien  feite  ma  proiiere. 
Mon  buen  oste  et  sa  fille  chiere 

275  A  saint  Esperit  coinaudai, 
A  trestoz  congie  deniandai, 
Si  m'au  alai  Ines  que  je  poi. 
L'ostel  gueires  esloignie  n"oi 
Quant  je  trovai  an  uns  essarz 

280  Tors  sauvages  et  espaarz 
Qui  s'antreconbatoient  tuit 
Et  demenoient  si  grant  bruit 
Et  tel  fierte  et  tel  orguel, 
Se  le  voir  conter  vos  an  vuel, 

2S5  Que  de  peor  me  tres  arriere; 
Que  nule  beste  n'cst  plus  fiere 
Ne  plus  orgnelleuse  de  tor. 
Un  vilain  qui  ressanbloit  mor, 
Grant  et  bidens  a  desmesure, 

290  (Einsi  tres  leide  creature, 

Qu'an  ne  porroit  dire  de  bocbe), 
Vi  je  seoir  sor  une  §oche, 
Une  grant  mac,ue  an  sa  main. 


Je  m'aprocbai  vers  le  vilain, 

295  Si  vi  qu'il  ot  grosse  la  teste 
Plus  que  roncins  ne  autre  beste, 
Cbevos  meschiez  et  front  pele, 
S'ot  plus  de  deus  espanz  de  le, 
Oroilles  mossues  et  granz 

300  Auteus  com  a  uns  olifanz, 

Les  sorciz  granz  et  le  vis  plat, 
Jauz  de  choete  et  n6s  de  chat, 
Boche  fandue  coine  los, 
Danz  de  sangler  aguz  et  ros, 

305  Barbe  noire,  grenons  tortiz, 
Et  le  manton  aers  au  piz, 
Longue  escbine,  torte  et  boQue. 
Apoiiez  fu  sor  sa  ma§ue, 
Vestuz  de  robe  si  estrange 

310  Qu'il  n'i  avoit  ne  lin  ne  lange, 
Einz  ot  a  son  col  atacbiez 
Deus  cuirs  de  novel  escorchiez 
De  deus  toriaus  ou  de  deus  bues. 
An  piez  sailli  li  vilains  lues 

315  Qu'il  me  vit  vers  lui  aprochier. 
Ne  sai  s'il  me  voloit  tochier, 
Ne  ne  sai,  qu'il  voloit  anprandre, 
Mes  je  me  garni  del  defandre 


269  la  nuit:  akk.  der  zeit,  'zur  nacbtzeit,  über  nacht'.  —  279  uns 
essarz:  un  im  plural  =  irgendwelche,  einige,  vgl.  AS  235.  —  280  espaarz: 
herkunft  uud  bedeutuug  unsicher,  vielleicht  'wild'  (zu  esjjave  herrenlos) 
oder  'verschnitten'  (lat.  spado).  —  288  ressanbloit  mor:  ressetnbler,  aus 
re  +  simulare,  afr.  mit  akk.,  erst  nfr.,  nach  etre  semblable  n.  ä.,  mit  dativ. 


316     IX.  Kapitel.    Crestien  v.  Troyes  u.  Anfänge  der  büf.  Dichtung. 


Tant  que  je  vi,  que  il  s'estnt 

320  Au  piez  toz  coiz  et  ne  se  mut, 
Et  fu  inontez  dessor  un  tronc, 
S'ot  bien  dis  et  set  piez  de  lone; 
Si  m'esgarda  et  mot  ne  dist 
Ne  plus  qu'unc  beste  feist; 

325  Et  je  cuidai  que  il  n'eüst 
Eeisun  ne  parier  ne  seüst. 
Totes  voirs  taut  m'anhardi, 
Que  je  li  dis:  „Va,  car  nie  di, 
Se  tu  es  buene  chose  ou  non!" 

330  Et  il  nae  dist:  „Je  sui  uns  honu. 
„Queus  hon  es  tu?"  —  „Teus 

con  tu  voiz. 
Je  ne  sui  autre  nule  foiz." 
„Que  fes  tu  ci?"  —  „Je  m'i  estois, 
Si  gart  cez  bestes  par  cest  bois." 

335  „Gardes?     Por  saint  Pere   de 
Rorne! 
Ja  ne  connoissent  eles  home. 
Ne  cuit  qn'an  piain  ne  auboscage 
Puisse  an  garder  beste  sauvage 
N'an  autre  leu  por  nule  chose, 

340  S'ele  n'est  liiee  ou  anclose." 
„Je  gart  si  cestes  et  jastis, 
Que  ja  n'istront  de  cest  porpris." 
„Et  tu  comant?  Dim'an  le  voir!" 
„N'i  a  celi  qui  s'ost  movoir, 

345  Des  qu'eles  nie  voient  venir. 
Car  quant  j'an  puis  une  tenir, 
Si  la  destraing  par  les  deus  corz 
As  poiuz  que  j'ai  et  durs  et  forz, 
Que  les  autres  de  peor  tranblent 

350  Et  tot  anviron  moi  s'assanblent 
Aussi  con  por  nierci  crier; 


Ne  nus  ne  s'i  porroit  fier 
Fora  moi,  s*antr'eles  s'estoit  inis, 
Que  maintenant  ne  fust  ocis. 

355  Einsi  sui  de  nies  bestes  sire: 
Et  tu  nie  redevroies  dire, 
Queus  hon  tu  ies  et  que  tu  quiers." 
„Je  sui,  ce  voiz,  uns  Chevaliers, 
Qui  qnier  ce  que  trover  ne  puis; 

300  Assez  ai  quis  et  rien  ne  truis." 
„Et  que  voldroies  tu  trover?" 
„Avantures  por  esprover 
Ma  proesce  et  mon  hardeniant. 
Or  te  pri  et  quier  et  demant, 

365  Se  tu  sez,  que  tu  me  consoille 
Ou  d'avanture  ou  de  mervoille." 
„A  ce",  fet  il,  „faudras  tu  bien: 
D'avanture  ne  sai  je  rien, 
N'onques  nies  n'an  oi'  parier. 

370  Mes  se  tu  voloies  aler 

Ci  pres  jus'qua  une  fontainne, 
N'an  revandroies  pas  sanz  painne 
Se  tu  li  randoies  son  droit. 
Ci  pres  tro Veras  or  an  droit 

375  Un  santier  qui  la  te  inaura. 
Tote  la  droite  voie  va, 
Se  bien  viaus  tes  pas  anploiier, 
Que  tost  porroies  desvoiier, 
Qu'il  i  a  d'autres  voies  mout. 
380  La  fontainne  verras  qui  bout, 
S'est  ele  plus  froide  que  marbres. 
Onbre  li  fet  li  plus  biaus  arbres, 
Qu'onques  po'ist  fcire  Nature. 
An  toz  tans  la  fuelle  li  dure, 
3S5  Qu'il  ue  la  pert  por  nul  iver, 
Et  s'i  pant  uns  bacins  de  fer 


330  hon:  ursprünglich  nebentonige  form  von  homo  (=  on  man),  hier 
wie  auch  sonst  öfter  Substantiv  (=  huem).  —  335  Pere:  aus  Petrum, 
nebenforui  zur  regelrechten  hochtonigen  form  Pierre.  —  341  cestes: 
analogische  neubilduug  für  älteres  cez  (vgl.  vers  334).  —  356  redevroies 
dire:  'du  solltest  mir  deinerseits  sagen'.  Diese  häufige  bedeutung 
von  re-  in  kouip.  ergibt  sich  aus  der  eigentlichen  bedeutung  'zurück'. 
Beachte  auch  die  Verknüpfung  des  re-  mit  dem  hilfsverb.  —  365  consoille: 
imperativ  im  abhängigen  Wunschsatz  statt  des  konj.,  häufiges  anakoluth 
wie  auch  mhd.  (ich  teil  dir  sagen,  ivaz  du  tuo  u.  ä.).  —  37S  —  379:  beide 
que  sind  kausal  'denn  du  köuntest,  weil  es  .  .  .  gibt'. 


7.   Yvain  oder  der  Lüwcnritter. 


317 


A  nne  si  longue  chaainne 
Qui  dnre  jusqu'au  la  fontainne. 
Lez  la  fontaione  troveras 
390  Un  perron  tel,  con  tu  verras 
(Mes  je  ne  te  sai  dirc  quel, 
Que  je  n'an  vi  onques  nul  tel), 
Et  d"autre  part  une  chapele 
Petite,  mes  ele  est  mout  bele. 
395  S'au  bacin  viaus  de  l'eve  prandre 
Et  dessus  le  perrou  espandre, 
La  verras  une  tel  taupeste 
Quan   cest  bois  nc  reinandra 

beste, 
Chevriaus  ue  dains  ue  cers  ne 
pors, 
4Ü0  Nes  li  oisel  s'au  istront  fors; 
C'ar  tu  verras  si  foudroiicr. 
Vanter  et  arbres  pe<joiier, 
Plovoir,  touer  et  espartir, 
Que,  se  tu  t'au  puez  departir 
405  Sanz  graut  euui  et  sanz  pesance, 
Tu  seras  de  uieillor  cheauce 
Que  cbevaliers,  qui  i  fust  onques." 
Del  vilain  me  parti  adonques, 
Qui  bien  m'ot  la  voie  uiostree. 
410  Espoir  si  fu  tierce  passee 
Et  pot  estre  pres  de  midi, 
Quant  l'arbre  et  la  chapele  vi. 
Bien  sai  de  l'arbre,  c'est  la  uns, 
Que  ce  cstoit  li  plus  biaus  pins, 
415  Qui  onques  sor  terre  creüst. 
Ne  cuit  qu'ouques  si  fort  pleüst, 
Que  d'eve  i  passast  une  gote, 
Eincois  coloit  par  dessus  tote. 
A  l'arbre  vi  le  baciu  paudre 
420  Del  plus  fiu  or  qui  fust  a  vandre 
Onques  ancor  an  nule  foire. 
De  la  foutainne  poez  croire 
Qu'ele  boloit  com  eve  cbaude. 
Li  perrons  iert  d'une  esmeraude, 
425  Perciez  aussi  com  une  boz, 


Si  ot  quatre  rubiz  dessoz 
Plus  flanboiaoz  et  plus  vermauz 
Que  n'est  au  inatin  li  solauz, 
Quant  il  apert  an  oriaut. 
430  Ja,  que  je  Sache,  a  esciant 
Ne  vos  an  mantirai  de  mot. 
La  mervoille  a  veoir  me  plot 
De  la  tanpeste  et  de  l'orage, 
Don  je  ne  me  tiug  mie  a  sage; 
435  Que  volantiers  m'an  repantisse 
Tot  maiutenant,  se  je  po"i'sse, 
Quant  je  oi  le  perron  crose 
De  l'eve  au  baciu  arose. 
Mes  frop  an  i  versai,  ce  dot; 
440  Que  lors  vi  le  ciel  si  derot, 
Que  de  plus  de  quatorze  parz 
Me  feroit  es  iauz  li  esparz, 
Et  les  nues  tot  pesle  mesle 
Gitoient  noif  et  pluie  et  gresle. 
445  Tant  fu  li  tans  pesmes  et  forz 
Que  cant  foiz  cuidai  estre  morz 
Des    foudres,    qu'antor    moi 

cheoient, 
Et  des  arbres,  qui  depecoient. 
Sachiez  que  mout  fui  esmaiiez 
450  Taut  que  li  tans  fu  rapaiiez. 
Mes  Deus  tant  me  rasseüra, 
Que  li  tans  gueires  ue  dura 
Et  tuit  li  vant  se  reposerent: 
Quant    Den    ne    plot,    vanter 
n'osereut. 
455  Et  quant  je  vi  Ter  cler  et  pur, 
De  joie  fui  toz  a  seür; 
Que  joie,  s'onques  la  conui, 
Fet  tost  obl'fer  grant  enni. 
Des  que  li  taus  fu  trespassez, 
460  Vi  sor  le  pin  tant  amassez 

Oisians  (s'est,   qui  croire  m'an 

vuelle), 
Qu'il  n*i  paroit  brauche  ne  fuelle, 
Que  tot  ne  fust  covert  d'oisiaus, 


413  c'est  la  fins:  'das  ist  sicher,  ausgemacht'  (Tobler).  —  461  s'est, 
qui:  'wenn  es  einen  gibt,  der  .  . .'  —  463  que  tot  ne  fust  covert: 
subjekt  ist  tot  'dass  nicht  alles  (an  dem  bäum)  mit  vögelu  bedeckt  ge- 
wesen wäre'  (F.). 


318      IX.  Kapitel.    Crestien  v.  Troyes  u.  Anfänge  der  hüf.  Dichtuug. 


S'an  cstoit  li  arbres  plus  biaus. 

465  Et  trestuit  li  oisel  cbantoient 
Si  que  trestuit  s'antracordoient, 
Mes    divers    chaDZ    chantoit 

ehascuns ; 
Qu'onques  ce  quo  chantoit  li  uns, 
A  l'autre  cbanter  n'i  01. 

470  De  lor  juie  nie  resjoT, 

S'escoutai  taut  qu'il  orent  fet 
Lor  servise  trestot  a  tret; 
Qu'ains  mes  n'o'i  si  bele  joie 
Ne  mes  ne  cuit  que  nus  bon  l'oie, 

475  Se  il  ne  va  oir  celi, 

Qui  tant  me  plot  et  abeli, 
Que  ja  m'an  dui  por  fol  tenir. 
Tant  i  fui  que  j'o'i  venir 
Chevaliers,  ce  me  fu  avis  — 

480  Bien  cuidai  que  il  fussent  dis: 
Tel  noise  et  tel  fraint  demenoit 
Uns  sens  Chevaliers,  qui  venoit. 
Quant  je  le  vi  tot  seul  venant, 
Mon  chcval  restrains  maintenant, 

485  N'au  monter  demore  ne  fis; 
Et  eil  come  mautalantis 
Vint  plus  tost  qu'uus  alcrions, 
Fiers  par  sanblant  come  lions. 
De  si  haut,  come  il  pot  crier, 

490  Me  coman^a  a  desfier 

Et  dist:  „Vassaus,  mout  m'avez 
Sauz  desfiauce  honte  et  let.    [fet 
Desfier  me  deiissiez  vos, 
S'il  eüst  qnerele  antre  nos, 

495  Ou  au  mains  droiture  requerre, 
Ainz  que  vos  me  meüssiez  guerre. 
Mes  se  je  puis,  sire  vassans, 
Sor  vos  retornera  li  maus 
Del  domage,  qui  est  paranz: 

500  Anviron  moi  est  li  garanz 
De  mon  bois,  qui  est  abatnz. 
Plaindre  se  doit,  qui  estbatnz: 
Et  je  me  plaing,  si  ai  reison, 


Que  vos  m'avez  de  ma  meison 

505  Chaeic  a  foiulres  et  a  pluie. 
Fet  m'avez  chose,   qui  m'euuie, 
Et  dahez  et,  cui  ce  est  bei! 
Qu'an  mon  bois  et  au  mon  chastel 
M'avez  feite  tel  anva'i'e, 

510  Que  mestier  ne  m'eüst  ;üe 

De  jant  ne  d'arines  ne  de  mur. 
Onqnes  n'i  ot  home  a  seiir 
Au  forteresce,  qui  i  fast 
De  dure  pierre  ne  de  fust. 

515  Mes  sachiez  bien  que  des  or  mes 
N'avroiz  de  moi  triues  ne  pes." 
A  cest  mot  nos  antrevenimes, 
Les  eseuz  anbraciez  tenimes, 
Si  se  covri  ehascuns  del  suen. 

520  Li  Chevaliers  ot  cheval  buen 
Et  lance  roide,  et  fu  sanz  dote 
Plus  granz  de  moi  la  teste  tote. 
Einsi  del  tot  a  meschief  fui, 
Que  je  fui  plus  petiz  de  lui 

525  Et  ses  chevaus  plus  forz  del  mien. 
Parmi  le  voir,  ce  sachiez  bien, 
M'an  vois  por  ma  honte  covrir. 
Si  grant  cop  con  je  poi  ferir, 
Li   donai,    qu'onques   ne  m'an 
fains, 

530  El  conble  de  l'escu  l'atains, 
S'i  mis  trestote  ma  puissance 
Si  qu'an  pieces  vola  ma  lance. 
Et  la  soe  remest  antiere, 
Qu'ele  n'estoit  mie  legiere, 

535  Ainz  iert  plus  grosse  au  mien 
cuidier 
Que  nule  lance  a  Chevalier; 
Qu'ains  nule  si  grosse  ne  vi. 
Et  li  Chevaliers  me  feri 
Si  roidemant  que  del  cheval 

540  Parmi  la  crope  contre  val 
Me  inist  a  la  terre  tot  plat, 
Si  me  leissa  honteus  et  mat, 


489  De  si  haut,  come:  haut  'muss  örtlich  genommen  werden  .  .  . 
vielleicht  ist  der  ankommende  auf  der  anhöbe  gedacht'  (F.).  —  500  —  501:  de 
mon  bois  ist  genetivus  epexegeticus  zu  garanz  'rings  um  mich  her  ist  der 
in  meinem  gefällten  wald  bestehende  zenge  —  mein  wald  als  zeuge'. 


Yvaia  oder  der  Lüwenritter. 


319 


Qu'onques  puis  De  me  regarda; 

Mon  cheval  prist  et  moi  leissa, 
545  Si  sc  inist  arriere  a  la  voie. 

Et  je,  qui  mon  roi  ne  savoie 

Remes  aDgoisseus  et  pausis. 

Dclez  la  fontainne  in'assis 

Un  petit,  si  nie  reposal 
550  Le  chevalier  siure  n'osai, 

Qne  folie  feire  dotasse. 

Et  se  je  bien  siure  l'osasse, 

Ne  soi  je,  que  il  se  devint. 

An  la  fin  volantez  nie  vint, 
555  Qu'a  mon  oste  covant  tandroie 

Et  que  par  lui  ni'an  revandroie. 

Einsi  me  plot,  einsi  le  fis; 

Mos  mes  armes  totes  jus  mis 

Por  aler  plus  legieremaut, 
560  Si  ru'an  reviug  honteusemant. 

Quant  ja  ving  la  nuit  a  Toste!, 


Trovai  mon  oste  tot  autel, 
Aussi  lie  et  aussi  cortois, 
I  lome  j'avoie  fet  einQois. 

565  Onques  de  rien  ne  m'apanjai 
Ne  de  sa  fille  ne  de  lui, 
Que  mains  volantiers  me  veissent 
Ne  que  mains  d'euor  me  feTssent, 
Qu'il  avoient  fet  l'autre  nuit. 

570  Grant  enor  me  porterent  tuit, 
Les  lor  merciz,  an  lor  meison 
Et  disoient  qu'onques  mes  hon 
I^ii-rt  eschapez,  que  il  seüsseut 
Ne  qu'il  o'i  dire  l'eüssent, 

575  De  la,  don  j'estoie  venuz, 
Que  n'i  fust  morz  ou  retenuz. 
Einsi  alai,  einsi  reving, 
Au  revenir  por  fol  me  ting. 
Si  vos  ai  conte  come  fos 

5S0  Ce  qu'onques  mes  conterne  vos." 


Durch  diese  crzählung  Calogrenants  wird  in  könig  Artus 
selbst  der  wudscIi  rege,  das  abenteuer  von  der  quelle  zu 
bestehen,  aber  Yvain  eilt  ihm  voraus,  findet  alles  wie  Calo- 
grenant  gesagt,  verwundet  den  herrn  von  der  quelle  tötlieh, 
gelangt  zugleich  mit  ihm  ins  schloss,  bleibt  hier  vermöge 
eines  zauberringes,  den  er  der  zofe  Lunete  verdankt,  drei  tage 
lang  unsichtbar  und  heiratet  dann  die  witwe  des  von  ihm 
erschlagenen.  Crestiens  kunst  offenbart  sich  in  diesem  teil 
besonders  in  der  psychologischen  Schilderung,  wie  die  un- 
tröstliche witwe  teils  durch  Lunetens  zureden,  teils  durch 
eigene  reflexioneu  zu  dem  entschluss  kommt,  dem  mörder 
ihres  gatten  die  band  zu  reichen:  Et  li  morz  est  toz  obliez : 
—  Cll  qui  Vocist,  est  mar'icz  —  An  sa  ferne,  et  ansanble 
gisent,  —  Et  les  janz  aimment  plus  et  prisent  —  Le  vif, 
qu'onques  le  mort  ne  firent  (v.  1 — 2169).  —  Als  gatte  Laudinens 
ist  Yvain  nun  schutzherr  der  wunderquelle  und  wirft  als  solcher 
Keu  vom  pferd,  der  mit  Artus  dorthin  gekommen  war.    Gauvains 


543  que  —  ne:  ohne  dass,  ohne  zu,  vgl.  AS  s.  277.  —  553  que  — 
de  vint:  devenir  mit  refl.  pron.  =  nfr.  einfachem  devenir  'was  aus  ihm 
geworden,  wo  er  hingekommen  war'.  —  564  avoie  fet:  faire  als  verbum 
vicarium  (vgl.  oben  s.  306),  hier  also  =  trover.  —  571  Los  lor  merciz: 
akk.  mit  instrumentalem  sinn,  'durch  ihre  gnade'. 


320      IX.  Kapitel.    Crestien  v.  Troyes  u.  Anfänge  der  höf.  Dichtung. 

rat  folgend  nimmt  Ivain,  um  in  der  ehe  nicht  zu  anpirier, 
ein  jähr  Urlaub  von  seiner  frau,  überschreitet  aber  die  ihm 
bewilligte  zeit  und  wird  von  ihr  Verstössen.  Er  wird  wahn- 
sinnig, findet  aber  heilung  durch  eine  von  der  fee  Morgue 
stammende  salbe,  besiegt  den  grafen  Alier  und  seine  leute 
und  befreit  schliesslich  einen  lüwen  von  einem  feuerspeienden 
serpant.  Der  löwe  folgt  ihm  seitdem  treu  und  verschafft  ihm 
den  namen  Chevalier  au  Hon  (v.  2170 — 3484).  —  Die  abenteuer- 
fahrt führt  ihn  eines  tages  wieder  zur  wunderquelle,  wo  er 
gelegenheit  findet,  für  das  bedrohte  leben  seiner  treuen  h elferin 
Lunete  einzutreten:  nachdem  er  vorher  noch  die  bewohner 
einer  benachbarten  bürg  von  einem  furchtbaren  riesen  befreit, 
besiegt  er  Lunetens  gegner,  den  senescball  nebst  seinen  zwei 
brüdern,  auch  der  löwe  lässt  sich  nicht  abhalten  am  kämpfe  teil- 
zunehmen. Unerkannt  redet  Yvain  mit  Laudine  und  beantwortet 
ihre  aufforderung  zum  bleiben  damit,  er  dürfe  nicht  bleiben, 
ehe  er  sicher  wisse,  dass  seine  herrin  ihm  verziehen  (v.  3485 
bis  4G34).  Dies  mittel-  und  hauptabenteuer  bereitet  also  die 
Versöhnung  der  gatten  vor,  die  nur  künstlich  durch  Yvains 
versteckspiel  hinausgeschoben  wird.  —  Es  folgt  nun  noch  die 
episode  von  dem  erbstreit  der  beiden  töchter  des  herrn  von 
Noire  Espine,  für  deren  eine  Gauvain,  für  deren  audere  der 
löwenritter  eintritt,  der  vorher  gesehwind  noch  eine  anzahl 
gefangener  Jungfrauen  befreit.  Nach  unentschieden  gebliebenem 
kämpf  erkennen  sich  die  beiden  freunde.  Der  erbstreit  selbst 
wird  durch  Artus  beigelegt  (v.  4635  —  6509).  —  Aus  Sehnsucht 
nach  Laudinen  zieht  Ivain  abermals  zur  wunderquelle,  ruft 
hier  das  Unwetter  hervor,  findet  aber  keinen  gegner,  sondern 
statt  dessen  Lunete,  welche  ihn  ihrer  herrin  Laudine  zuführt, 
worauf  rasch  und  leicht  die  Versöhnung  der  gatten  folgt 
{v.  6510—6818). 

Über  die  quelle  des  romans  sind  sehr  verschiedene  an- 
sichten  geäussert  worden.  Indes  herrscht  heute  wol  so  viel 
Übereinstimmung,  dass  ein  conte,  ein  märchen  und  zwar 
keltischen  Ursprungs,  zugrunde  liege.  Nur  erblickt  G.  Paris, 
und  mit  ihm  Baist,  Brown  u.  a.  in  Laudine  eine  fee  oder 
wasserfee,  während  Foerster  an  ihr  nur  rein  menschliche  züge 
findet.  Auch  der  als  grundlage  vorauszusetzende  märchen- 
typus    wird    verschieden    gedeutet.     Wer    vorsichtig   ist,    wird 


7.   Yvain  oder  der  Löwenritter.  321 

sieh  mit  Baist  daran  genügen  lassen,  die  märchenhaften  ele- 
mente  iu  Crestiens  erzählung  bis  zur  gewinnung  der  Landine 
durch  Ivain  hervorzuheben,  ohne  einen  bestimmten  urtypus  zu 
rekonstruieren.  Die  ' wetterquelle '  im  wald  von  Broeeliande 
war  möglicherweise  schon  mit  dem  grundmotiv  verbunden, 
doch  verrät  Crestien  gerade  hier  bekanntschaft  mit  der  oben 
(s.  261)  genannten  stelle  von  Waeea  Xormannenchronik.  Dass 
Laudiue  binnen  drei  tagen  nach  dem  tod  des  gatten  dessen 
mörder  heiratet,  darf  billig  wunder  nehmen:  hier  spielt  wol, 
wie  namentlich  Foerster  betont,  das  motiv  der  leichtgetrösteten 
witwe  von  Ephesus  herein,  doch  ist  auch  an  das  Vorbild  der 
Jocaste  im  Thebeuroman  (oben  s.  275)  zu  erinnern.  'Was  sich 
daraus  entwickelt,  der  psychologisch -politische  Konflikt  und 
seine  Lösung,  ist  echt  Crestienisch'  sagt  Baist,  und  noch 
schärfer  formuliert  Foerster  Crestiens  anteil:  'die  anläge  des 
Romans,  die  Grundidee  und  der  Faden  der  Erzählung  sind  sein 
Eigentum.'  Das  zugrunde  liegende  märchenmotiv  ist  also  vor 
allem  in  der  exposition  zu  suchen  (wie  ähnlich  auch  im  Erec), 
den  hauptteil  des  romans  hat  der  dichter  frei  erfunden,  z.  t. 
mit  benutzung  vorhandener  motive  wie  z.  b.  des  antiken 
Androclusmotivs. 

Auch  in  der  ästhetischen  beurteilung  des  Werkes 
gehen  die  ansichten  sehr  auseinander.  Nach  Foerster  ist  der 
Ivain  'als  der  Höhepunkt  der  französischen  Epik  zu  be- 
trachten', nach  Suchier  hingegen  'bleibt  der  literarische  Wert 
des  Romans  hinter  dem  seiner  Vorgänger  zurück.  Das  Werk 
zerfällt  in  zwei  selbständige  Teile,  die  nur  lose  miteinander 
verbunden  sind,  und  der  zweite  Teil  setzt  sich  aus  einzelnen 
Abenteuern,  wie  ein  Schubladenstück,  zusammen.'  Die  kom- 
position  lässt  in  der  tat  zu  wünschen  übrig,  von  Ivains  ver- 
stossung  ab  erscheint  das  ganze  fast  nur  als  eine  kette  von 
einzelnen  abenteuern,  da  der  dritte  hauptteil,  der  die  Ver- 
söhnung mit  der  gattin  nahe  zum  ziele  führende  kämpf  Yvains 
für  Lunete,  trotz  seiner  länge,  in  seiner  bedeutung  nicht  recht 
zur  geltung  kommt.  Meisterhaft  hingegen  ist  die  psycho- 
logische motivierung. 

Ältere  ausgäbe  von  W.  L.  Holland,  Braunschweig  1864,  3 1885 
(mit  Beiträgen  von  A.  Tobler).  Dazu  Glossar  von  Alfred  Schulze, 
Berlin   1902.     Neue   ausgaben   von    Foerster    1887   (gr.)    und  1891 

Voretzach,   Studium  d.  afrz.  Literatur.    2.  Auf  läge.  21 


322      IX.  Kapitel.    Crestien  v.  Troyes  u.  Auf  äuge  der  büf.  Dichtung. 

(kl.,  3 1906  mit  ausfiibrl.  glossar).  —  Vgl.  Foersters  einleitung  zur 
letzten  ausgäbe,  wo  die  ältere  lit.  verzeichnet  ist,  von  dieser  bes. 
Baist  ZrP  21  (1897)  402  ff.;  Brown,  Iwein,  Studies  and  notes  in 
pbil.  and  lit.  VIII,  Boston  1903  (vgl.  Goltber,  StvL  4,  481  ff.),  The 
Knight  of  the  Lion,  Publ.  MLA  20  (1905)  673  ff.,  Chr.'  Yvain  Mod. 
Phil.  9  (1911)  109 ff.;  A.  U.  Johnston,  The  lion  and  the  serpent, 
ZfSL  30  (1907)  157 ff.  —  Vgl.  noch:  Bellamy,  La  foiet  de  Breche- 
liande,  2  bde.,  Rennes  1896.  Ed.  Griesebach,  Die  Wauderung  der 
Novelle  von  der  treulosen  Witwe  durch  die  Weltlit,,  B.  1886,  U889. 
Von  den  fremden  bearbeitungen  ist  die  älteste  (um  1200)  die 
mhd.  von  Hartmann  von  Aue.  Über  dessen  Verhältnis  zur  quelle 
ältere  Untersuchungen  von  Rauch  1869,  Gflth  1870  (Archiv),  Sette- 
gast  1873,  Gärtner  1875,  Roetteken  1887,  zuletzt  B.  Gaster,  Greifsw. 
Diss.  1896  (zu  schematisch- statistisch)  und  Foersters  einleitungen, 
bes.  zur  gr.  ausgäbe.  Es  lässt  sich  hier  sogar  die  handschriften- 
gruppe  bestimmen,  welcher  Hartmanns  vorläge  angehörte.  Im 
übrigen  schliesst  sich  hier  Haitmann  enger  an  die  quelle  au  als 
in  dem  früher  bearbeiteten  Erec.  —  Ausserdem  Übersetzungen  in 
altnordische  prosa  (um  1300,  darnach  schwedische  und  dänische 
versbearbeitung),  ins  mittel  englische  sowie  ins  kyrnrische.  Vgl. 
Foersters  einleitungen.  Eine  arbeit  über  die  Unabhängigkeit  der 
kvmr.  erzählung  von  Crestien  stellt  Zenker  in  aussieht. 


8.    Wilhelm  von  England. 

Das  gedieht  ist  eine  legende,  kein  roman  wie  die  vorher- 
behandelten diciituDgen,  bleibt  auch  mit  seinen  3360  versen 
um  die  hälfte  hinter  dem  üblichen  romanmass  von  7000  versen 
zurück.  Einen  geschichtlichen  Hintergrund  hat  die  erzählung 
nicht,  da  ihr  inhalt  weder  auf  Wilhelm  I.  noch  auf  Wilhelm  IL 
passt.  Es  ist  vielmehr  die  alte,  zuerst  in  einem  lateinischen 
gedieht  des  8.  oder  9.  Jahrhunderts  behandelte  Eustachius- 
legende  (vgl.  oben  s.  129),  welche  hier  willkürlich  —  durch 
den  dichter  —  oder  zufällig  —  durch  die  mündliche  Über- 
lieferung infolge  irgend  einer  äusseren  analogie  —  auf  einen 
könig  Wilhelm  von  England  übertragen  ist.  Dieser  verlässt 
bei  Crestien,  einer  göttlichen  stimme  folgend,  mit  seiner 
schwangeren  frau  Graciene  (Gratiana)  hof  und  thron,  verliert, 
am  meer  angekommen,  zuerst  die  frau  an  fremde  kaufleute, 
nachdem    sie    ihm    Zwillinge   geboren,    dann   auch   noch   diese- 


8.  Wilhelm  von  England.  —  9.  Perceval  oder  der  Gralroman.      ■  -  ; 

selbst,  den  einen  an  einen  wolf,  den  andern  an  kaufleute, 
welche  dem  wolf  auch  den  ersten  Zwilling  wieder  abjagen  und 
beide  in  ihrer  heiniat  aufziehen  lassen.  Wilhelm  selbst  wird 
unter  dem  namen  Gui  diener,  dann  gesehäftsreisender  bei 
einem  kaufmaun,  fällt  bei  einem  aufenthalt  in  Bistot  (Bristol) 
albn,  auch  seinem  an  seiner  statt  als  könig  von  England 
regierenden  neffen,  durch  seine  ähnlichkeit  mit  dem  vor 
28  jahren  verschwundenen  könig  auf,  gibt  sich  aber  nicht  zu 
erkennen  und  wird  nach  Sorlinc  verschlagen,  wo  er  seine  frau 
als  königin  des  landes  wiederfindet  und  nicht  weit  davon  in 
zwei  plötzlich  auf  ihn  einstürmenden  riltern  seine  söhne  wieder- 
eutdeckt.  Mit  frau  und  söhnen  zieht  der  langgeprüfte  heim 
und  nimmt  seinen  thron  wieder  in  besitz. 

Die  dichtung  ist  ganz  im  stile  der  legendendichtung 
gehalten,  lässt  es  auch  an  wundern  nicht  fehlen,  erinnert 
aber  mit  den  viel  verwendeten  motiven  von  entführung, 
trennung.  seesturm,  wiederfinden  und  wiedererkennen  durch 
ring  oder  irgend  ein  kleidungsstück  zugleich  sehr  an  den 
griechisch-byzantinischen  seeroman,  besonders  an  den  Apollonius 
von  Tyrus.  An  der  autorschaft  Crestiens  braucht  man  nicht 
zu  zweifeln,  die  Schwierigkeit,  das  werk  passend  unter  die 
übrigen  werke  einzureihen,  ist  allein  kein  hinreichender  grund. 

Ältere  ausgäbe  in  Michels  Chroniques  anglonormandes  III 
(oben  ß.  260),  neue  kritische  ausg.  von  Foerster  1899  (Kristians 
Sämtl.  W.  IV),  kl.  ausg.  1910  (Rom.  Bibl.  20).  Zur  verfasserfrage : 
Rud.  Müller,  Untersuchung  über  den  Verfasser  der  afr.  Dichtung 
W.  v.  E.,  Diss.  Bonn  1899.  Die  oben  s.  292  genannten  diss.  von 
Bon  mann  und  Thüre.  Foerster,  ZrP  35  (1911)  470  ff.,  sowie  ein- 
leitungen  zu  den  ausgaben.  Auf  Crestiens  dichtung  beruht  der  am 
ende  des  13.  Jahrhunderts  entstandene  Bit  de  Guillaume  d' Anghit  rre 
(gedr.  bei  Michel),  sowie  der  mhd.  Wilhelm  von  Wenden  des  Ulrich 
von  Eschenbach  (vgl.  E.  Jahncke,  Studien  zum  W.  v.  W.  Ulrichs 
v.  E.,  Diss.  Göttingen  1903). 


9.    Perceval  oder  der  Gralroman. 

Crestiens  letztes  werk  ist  wol  die  eigenartigste  seiner 
Schöpfungen  und  zugleich  diejenige,  welche  den  nachhaltigsten 
erfolg  bei   der  mit-   und  nachweit  erzielt  hat  und  eine  reihe 

21* 


32  I       IX.  Kapitel.    Crestieo  v.  Troyes  u.  Anfänge  der  hüf.  Dichtung. 

kritischer  fragen  zur  beantwortuug  aufgibt.  Keltische  sagen- 
stoffe  erscheinen  hier  mit  christlicher  legende  verknüpft.  Ein 
geheimnisvoller  Schleier  umhüllt  Ursprung  und  bedeutung  des 
grals.  Mehr  als  ein  nachfolger  Crestiens  hat  sich  an  der 
fortsetzung  der  unvollendet  hinterlassenen  dichtung  versucht. 
Das  Verhältnis  Wolframs  von  Eschenbach  zu  Crestiens  roman 
ist  noch  immer  umstritten. 

A.  Inhalt.  Der  von  Potvin  herausgegebene  Conte  del 
Graal  umfasst  rund  60000  verse,  von  denen  weitaus  das  meiste 
auf  das  konto  der  fortsetzer  entfällt.  Crestiens  anteil  endet 
bei  vers  10601.  Hiervon  ist  noch  die  nachträglich  von  einem 
anderen  dichter  zugesetzte  einleitung,  v.  1 — 1282,  abzurechnen, 
welche  die  Vorgeschichte  des  grals,  den  tod  von  Percevals 
vater  und  das  leben  seiner  mutter  in  der  einöde  erzählt.  Es 
bleiben  also  als  Crestiens  eigenes  werk  9319  verse  übrig,  deren 
umfang  schon  anzeigt,  dass  der  dichter  hier  sein  übliches 
romanmass  von  7000  versen  von  vornherein  überschritten  hat. 
Immerhin  zeigt  auch  dieser  roman  an  und  für  eich  eine  regel- 
rechte komposition,  die  nur  durch  die  einschiebung  von  Gau- 
vains  abenteuern  zerstört  wird. 

Als  exposition  dürfen  die  ersten  500  verse  (1283 — 1828) 
gelten.  Au  einem  frühlingstag  reitet  der  söhn  der  witwe  auf 
seinem  jagdpferd  aus  und  begegnet  fünf  in  glänzende  rüstung 
gekleideten  rittern:  er  hält  sie  für  engel.  Von  ihnen  über 
rittertum  und  ritterwaffen  belehrt,  hat  er  keinen  sehnlicheren 
wünsch  als  ein  ritter  zu  werden.  Die  mutter,  erschreckt,  er- 
zählt ihm  das  traurige  geschick  seines  vaters  und  seiner 
beiden  älteren  brüder,  muss  ihn  aber  schliesslich  ziehen  lassen. 
Sie  gibt  ihm  noch  eine  reihe  guter  lehren,  aber  der  abschied 
bricht  ihr  das  herz.  —  Nun  folgt  die  abenteuerfahrt  Percevals 
(v.  1829 — 4084):  in  einfacher  wallisischer  kleidung,  mit  einem 
blossen  jagdspeer  (gavelot)  ausgerüstet,  auf  einem  leichten 
jagdpferd  macht  er  sich  auf,  findet  in  einem  prächtigen  zeit 
ein  schönes  weib  schlafend  und  raubt  ihr,  in  falscher  an- 
wendung  der  mütterlichen  lehren,  einen  kuss  sowie  ihren  ring, 
sodass  der  zurückkehrende  gatte  die  frau  ihre  anscheinende 
untreue  schwer  büssen  lässt.  An  Artus'  hof  angekommen  wird 
er  ob  seiner  bäuerischen  kleidung  und  art  —  er  reitet  mit 
dem   ross   gleich   in   den  saal  und  stösst  Artus  mit  dem  köpf 


'.i.  Perceval  oder  der  Gralroman.  325 

Beines  pferdes  den  liut  vom  köpf  —  zuerst  verhöhnt,  besiegt 
aber  alsbald  den  roten  ritter,  welcher  Artus  einen  goldenen 
becher  geraubt,  legt  mit  hilfe  des  knappen  Yonet  die  rüstung 
des  erschlagenen  an  und  führt  darnach  nun  selbst  den  namen 
roter  ritter.  Er  kehrt  jedoch  nicht  an  Artus'  hof  zurück, 
sondern  reitet  weiter  und  geniesst  eine  Zeitlang  die  Unter- 
weisung des  alten  Gnrnemant  von  Gelbort  in  waffenhandwerk 
und  ritterlichem  benehmen.  Gurnemant  macht  ihn  zum  ritter 
und  ermahnt  ihn  u.  a.,  nicht  zuviel  zu  reden  und  nicht 
neugierig  zu  sein  (Et  gardis  qitc  voits  ne  soiies  —  Trop 
parliers  ne  trop  noveliers  .  .  .  Qui  trop  parole  iiecliit  fu'rf.) 
Der  held  gelaugt  nach  Reaurepaire,  befreit  die  lierrin  der 
bürg,  die  schöne  Blancheflour.  von  ihren  belagerern  und  gewinnt 
ihre  liebe. 

Darauf  folgt  als  hauptabenteuer  Pereevals  anwesenheit 
auf  der  Gralsburg  (v.  4085 — 4864),  deren  rätsei  zu  lösen  ihm 
allerdings  erst  am  schluss  des  romans  besehieden  sein  sollte. 
Die  Sehnsucht  nach  der  mutter  treibt  ihn  von  Blancheflour 
fort.  Er  gelangt  an  ein  unüberschreitbares  wasser,  wird  von 
einem  in  einem  kahn  sitzenden  und  fischenden  mann  zu  gast 
geladen  und  kommt  in  eine  grosse,  schöne  bürg,  wo  er  allerlei 
wunderbares  sieht,  das  ihn  in  staunen  versetzt:  in  einem  grossen 
saal  sind  vierhundert  mannen  versammelt,  in  der  mitte  steht  ein 
ruhebett,  auf  dem  ein  kranker  greis  ruht,  von  welchem  Perceval 
ein  schwert  erhält;  eine  blutende  lanze  wird  durch  den  saal 
getragen,  dann  der  mit  edelsteinen  besetzte,  hell  leuchtende 
gral  (der  auch  nachher  während  der  tafel  bei  jedem  gericht 
erscheint),  schliesslich  ein  silberner  teller.  Eingedenk  der 
mahnung  Gurnemants  wagt  Perceval  nicht  nach  der  bedeutung 
der  dinge  zu  fragen.  Am  andern  morgen,  beim  erwachen, 
findet  er  die  ganze  bürg  leer,  besteigt  sein  ross  und  reitet 
über  die  Zugbrücke,  die  unmittelbar  hinter  ihm  hochgezogen 
wird,  sodass  er  sich  nur  durch  einen  gewaltigen  sprung  mit 
seinem  pferd  retten  kann.  Im  nahen  wald  findet  er  bei  dem 
leiehnam  eines  ritters  eine  Jungfrau,  die  ihm  teilweise  auf- 
klärung  gibt:  der  fischer  und  der  kranke  greis  sind  eine  und 
dieselbe  person,  es  ist  der  rois  peschiere,  der  von  einer  lanze 
durch  beide  Schenkel  (hanches)  hindurch  getroffen  wurde  und 
nun   im   fischen    seine   einzige  Unterhaltung  findet.     Sie  macht 


326     IX.  Kapitel.  Orestien  v.  Troyes  u.  Anfäuge  der  höf.  Dichtnng. 

ihm  vorwürfe,  dass  er  nicht  nach  der  bedentnng  von  lanze, 
gral  und  teller  gefragt  habe,  und  hegehrt  Beinen  namen  zu 
wissen:  Et  eil  lei  son  nom  ne  savoit,  —  Devine  et  dist  gut  il 
avoit  —  Percevaus  li  Gulois  a  nom.  Die  Jungfrau  ist  seine 
base.  Sie  sagt  ihm  noch,  dass  er  durch  seine  frage  den 
könig  hätte  heilen  können,  aber  durch  den  tod  seiner 
mutter,  den  er  verschuldet,  habe  er  schwere  Bünde  auf  sich 
geladen. 

Perceval  bedarf  also  der  sühne  und  läuterung.  bis  er  die 
lösung  der  aufgäbe  mit  besserem  erfolg  unternehmen  kann. 
Diese  lösung,  den  abschluss  des  romans,  hat  uns  Crestien  nicht 
hinterlassen.  Was  noch  folgt  (v.  4865 — 10601),  ist  vielmehr 
eine  reihe  von  abenteuern,  die  den  abschluss  der  handlang 
teils  vorbereiten  sollen,  teils  aufhalten  und  grösstenteils  (etwa 
4200  verse)  nicht  Perceval,  sondern  Gauvain  zum  beiden  haben. 
Von  Perceval  wird  uns  —  v.  4865 — 6095  —  noch  berichtet, 
wie  er  die  von  ihrem  gatten  Orguellos  de  la  Lande  miss- 
handelte frau,  deren  leid  er  selbst  ehedem  verschuldet,  durch 
einen  siegreichen  Zweikampf  mit  Orguellos  wieder  zu  ehren 
bringt;  wie  er  durch  die  färbe  dreier  blutstropfen  auf  weissem 
schnee  an  seine  geliebte  Blancheflour  gemahnt  wird,  ganz  in 
diese  erinnerung  versunken  Saigremor  und  Keu  besiegt  und 
schliesslich  von  Gauvain  zu  Artus  gebracht  wird;  wie  aber 
hier  eine  gralsbotin  erscheint,  ihn  verwünscht  und  die  ritter 
auf  zwei  abenteuer  hinweist,  auf  das  schloss  Orguellos,  wo 
570  ritter  mit  ihren  freundinnen  hausen,  und  noch  verlockender 
auf  die  befreiung  der  herrin  von  Montesclaire.  Nach  dem 
letzten  abenteuer  reitet  Gauvain  aus,  hat  aber  vorher  noch 
allerlei  andere  abenteuer  zu  bestehen,  die  vom  dichter  künst- 
lich ineinandergeschachtelt  werden.  Dazwischen  —  v.  7591 
bis  7892  —  tritt  noch  einmal  Perceval  auf  kurze  zeit  auf: 
er  hat  in  den  fünf  jähren,  die  er  seit  dem  verlassen  von 
Artus'  hof  unter  abenteuern  umhergestreift,  Gott  ganz  ver- 
gessen und  wird,  am  Charfreitag  gewappnet  daherreitend,  von 
einem  alten  ritter  ermahnt,  busse  zu  tun.  Er  beichtet  einem 
einsiedler  uud  erfährt  von  ihm,  dass  er  die  befreiende  frage 
auf  der  gralsburg  nicht  habe  stellen  können,  weil  er  seiner 
mutter  tod  verschuldet.  Der  einsiedler,  zugleich  bruder  des 
roi  iiescheor  und  der  mutter  Percevals,  erteilt  dem  büssenden 


9.  Perceval  oder  der  Gralrouian.  327 

absolution.  was  wol  darauf  hinweist,  dass  der  dichter  nach 
dem  abscbluss  von  Gauvains  abenteuern  die  lösung  des  knotens 
durch  Perceval.  durch  eine  abermalige  und  von  besserem  erfolg 
begleitete  anwesenheit  desselben  auf  der  Gralsburg,  herbei- 
führen wollte. 

B.  Die  Percevalsage.  Crestiens  dichtung  enthält,  wenn 
wir  von  der  einmischnng  Gauvains  absehen,  sichtlich  zwei  ver- 
schiedene, ursprünglich  einander  fremde  grundelemente:  die 
erzäblung  von  dem  in  der  einsamkeit  aufgewachsenen,  mit 
rittersitte  unbekannten  beiden  Perceval  dem  Walliser,  und  die 
in  n^stisches  dunkel  getauchte  legende  vom  heiligen  gral. 
Die  erste  gehört  in  den  kreis  der  Artussagen  und  Artusromane, 
sie  stellt  sich  neben  die  dichtungen  von  Eree,  Ivain  und  so 
vielen  anderen.  Es  ist  eine  sage  keltischen  Ursprungs,  die  uns 
allerdings  bei  Crestien  zum  ersten  male  in  literarisch  gefestigter 
form  entgegentritt.  Aber  wir  können  die  analogien  dazu  schon 
in  irischen  Überlieferungen  des  7.  Jahrhunderts  nachweisen:  wie 
Perceval  wächst  hier  der  irische  nationalheld  Setanta-Cuchuliun, 
oder  kurz  Cuehulinn,  fern  der  weit  in  der  obhut  seiner  mutter 
auf;  er  hört,  noch  als  knabe,  von  dem  leben  seiner  alters 
genossen  am  hofe  Conchobars,  begibt  sich  dorthin  und  besiegt 
sogleich  die  dort  kurzweil  treibenden  knaben,  zuerst  im  spiel, 
dann  im  ernst,  und  dringt  dann  ebenso  täppisch  und  uuhöfisch 
in  Conchobars  saal  ein,  wie  Perceval  in  den  Arturs.  Seinen 
namen  Cuehulinn  erwirbt  er  sich  durch  eine  heldentat,  die  er 
im  alter  von  6  jähren  vollbringt.  Solche  erzählungen  von  einem 
aus  ritterlichem  blut  entsprossenen,  aber  weltfremd  erzogenen 
,.dümmling"  (franz.  nicelot)  begegnen  auch  neben  und  unab- 
hängig von  Perceval  in  der  französischen  literatur:  so  im  lai 
von  Tyolet  (s.  kap.  XI),  im  JBeaus  Desconneüs  Reuauds  von 
Beaujeu  und  seinen  ableitungen  (s.  kap.  X)  und  in  der  jugend- 
geschichte  Laneelots  (bei  Ulrich  von  Zatzikhoven,  vgl.  oben 
s.  313). 

Ob  der  keltische  sagenheld,  dessen  geschichte  Crestien 
als  quelle  diente,  schon  einen  ähnlichen  namen  wie  Perceval, 
etwa  Peredur,  gehabt  oder  ob  Crestien  den  namen  seines  beiden 
—  Perceval  ,.DringdurchstaP'  —  frei  erfunden  hat,  lässt  sich 
nicht  ausmachen.  Doch  nennt  ihn  Crestien  schon  im  Erec 
(v.  1326  Percevaus  li  Galois)  als  Artusritter  neben  Keu,  Gauvain 


328     IX.  Kapitel.    Crestien  v.  Troyes  u.  Anfänge  der  hüf.  Dichtimg. 

u.  a.  Der  kymriscke  (wälsche)  prosaroman  von  Perednr  lässt 
keine  sicheren  Schlüsse  auf  die  existenz  eines  wälscheu  Peredur 
zu,  da  er  in  der  hauptsache  auf  Crestiens  roman  beruht,  mit 
Zusätzen  aus  kymrischer  Überlieferung;  auch  das  mittelenglische 
spielruausgedicht  Sir  Perceval  geht  mit  grosser  Wahrscheinlich- 
keit auf  Crestien  zurück. 

C.  Die  Grallegende.  Das  wort  graal  bezeichnet  ein 
tafelgeschirr,  eine  sehüssel.  Der  mönch  Helinand,  anfangs  des 
13.  Jahrhunderts,  erklärt  das  entsprechende  lateinische  graddlis 
als  eine  grosse  sehüssel,  in  welcher  köstliche  speisen  stufen- 
weise geordnet  serviert  wurden:  scutella  lata  et  aliquant  ul  um 
profunda,  in  qua  preciosac  dapes  divitibus  solent  apponi  yrada- 
tim  unus  morsellus  post  alium  in  diversis  ordinibus.  Über 
das  wesen  des  heiligen  grals  spricht  sich  Crestien  nicht  weiter 
aus,  da  er  die  aufklärung  erst  am  schluss  bringen  wollte.  Wir 
erfahren  nur,  dass  sein  erscheinen  von  einer  blutenden  lanze 
und  einem  silbernen  teller  begleitet  ist,  dass  alle  ihm  tiefste 
ehrfureht  bezeugen  und  dass  er  bei  jedem  neuen  gericht  vorbei- 
getragen wird.  Aus  anderen  gralromanen  (vgl.  kap.  X)  er- 
fahren wir  weiter,  dass  der  gral  die  fähigkeit  besitzt,  gute 
und  böse  von  einander  zu  scheiden,  wunden  zu  heilen  oder 
speise  und  trank  zu  spenden.  Daneben  gilt  er  zugleich  als 
die  abendmahlsschüssel,  die  Joseph  von  Arimathia  dann  erhielt 
und  benutzte,  um  das  blut  des  gekreuzigten  heilandes  auf- 
zufangen, weiter  als  der  kelch  des  abeudmahls  oder  als  hostien- 
behälter.  Die  blutende  lanze  ist  dann  die  lanze,  mit  welcher 
Longinus  den  Herrn  in  die  seite  stach,  der  silberne  teller  die 
patene,  welche  den  abendmahlskelch  bedeckt. 

Der  gral  erscheint  demnach  in  den  vorhandenen  Über- 
lieferungen als  die  Vermischung  eines  märchenhaften  und  eines 
mystisch-religiösen  elementes:  eines  wunschgefässes,  wie  wir 
es  in  den  märchen  vieler  Völker  finden,  und  der  abendmahls- 
schüssel, welche  dann  weiterhin  mit  kelch,  blutschüssel  usw. 
gleichgesetzt  wird.  Über  die  älteste  entwicklung  der  legende 
freilich  sind  wir  im  unklaren,  da  wir  mit  verlorenen  quellen 
zu  rechnen  haben  und  die  ältesten  Überlieferungen  (Crestien  — 
Kobert  von  Borron)  einander  vielfach  widersprechen.  Ver- 
mutlich steht  die  ausbildung  der  grallegende  in  Zusammenhang 
mit   der   legende   von   Joseph   vou    Arimathia,    der   nach   dem 


.    Perceval  oder  der  Gralrouian.  329 

apokryphen  Nieodemnseyangelium  durch  den  auferstandenen 
Heiland  selbst  aus  dem  gefängnis  befreit  wurde,  nach  der 
Vindicta  Salvaioris  hingegen  bis  zur  Zerstörung  Jerusalems 
durch  Titus  im  kerker  blieb  und  während  dieser  zeit  von  Gott 
auf  wunderbare  weise  gespeist  ward.  Die  weitere  ausbildung 
der  Josephlegende  hat  sich  wol  im  keltischen  Brittannien  voll- 
zogen, als  dessen  bekehrer  Joseph  von  Arimathia  galt.  In 
Brittannien  entstandene  lateinische  legendendiehtung  scheint 
dem  grossen  gralroman  Roberts  von  Borron  (1180  — 1200) 
zugrunde  zu  liegen,  der  im  ersten  teil  seines  Werkes  die 
gesebithte  Josephs  von  Arimathia  und  die  des  grals  behandelt. 
Dieser  ist  hier  zunächst  identisch  mit  der  abendmahlsschüssel, 
welche  mit  Christi  leichnam  in  die  bände  Josephs  kommt  und 
beim  waschen  des  leichnams  zum  auffangen  des  aus  den  wunden 
Messenden  blutes  dient.  Im  kerker  erhält  Joseph  aus  den 
bänden  des  Herrn  dieselbe  Schüssel  wieder,  welche  ihn  während 
seiner  langen  gefangenschaft  am  leben  erhält.  Bei  der  Zer- 
störung Jerusalems  aus  dem  kerker  befreit,  wandert  er  aus  und 
gründet  eine  gralgemeinde,  welche  sich  täglich  zum  dienste 
des  grals  um  einen  tisch  versammelt,  an  welchem  stets  ein 
platz  für  den  künftigen  gralbewahrer  frei  bleibt.  Josephs 
Schwager  Bron  wandert  mit  dem  heiligen  gral  nach  westen, 
nachdem  ihn  Joseph  die  geheimnisse  des  grals  gelehrt.  Brons 
enkel  soll  der  letzte  gralbewahrer  sein. 

Die  Vorgeschichte  des  grals  hat  hiernach  durchaus  legen- 
darischen, wenn  auch  nicht  streng  kirchlichen  eharakter.  Die 
gralgemeinde  dient  dem  heiligen  gral,  ohne  rücksicht  auf 
kirchliche  dogmen  und  kirchliche  hierarchie.  Das  ritterliche 
element  kommt  erst  durch  die  'gralsuche'  herein,  indem  Perceval 
und  andere  Artusritter  den  heiligen  gral  aufsuchen  gehen  und 
zu  gralsrittern  werden.  Welche  rolle  in  dieser  Vorgeschichte 
der  walisische  erzähler  Bleheris  gespielt  hat,  der  als  gewährs- 
mann  des  Percevalfortsetzers  AVauchier  de  Denain  genannt  wird 
und  auch  anderwärts  als  famosus  fabulator  und  als  kenner 
brittischer  geschichte  bekannt  ist,  wissen  wir  nicht.  Jedenfalls 
wäre  es  kühn,  aus  den  Zeugnissen  schliessen  zu  wollen,  Gauvain 
sei  der  eigentliche  held  der  gralsage  gewesen  und  Perceval 
erst  nachträglich,  durch  Crestien,  an  seine  stelle  gesetzt 
worden. 


o-)0      IX.  Kapitel.    Crcstien  v.  Troyes  u.  Anfänge  der  liöf.  Dichtung. 

Ausgabe  von  Potvin,  Perceval  le  Gallois  ou  le  Conte  del 
Graal,  Mons  1866,  6  bde.  (I  prosaroman,  II  u.  III  Crestiens  gedicbt, 
III — VI  fortsetzungen).  Crestien's  v.  Tr.  C.  d.  Gr.,  Abdruck  der  Hs. 
Paris,  franeais  794  (von  G.  Baist,  Freiburg  1909,  nicbt  im  handel). 
Krit.  ausgäbe  angekündigt  von  Baist.  —  Der  erste  fortsetzer  von 
Crestiens  gedieht  (ausgäbe  v.  10  601  bis  ca.  21916)  führt  Gauvaius 
abenteuer  weiter,  der  auf  der  gralsburg  zwar  die  notwendigen  fragen 
stellt,  aber  die  lösung  nicht  vollbringen  darf.  Ganchier  de  Dourdan 
(21917 — 34  934),  richtiger  YVauchier  de  Denain,  bekannt  als  Über- 
setzer von  heiligenleben  (P.  Meyer,  Rom.  32.  583  ff),  führt  Perceval 
durch  eine  reihe  von  abenteuern  wieder  zur  gralsburg.  Manecier 
(34  935  —  45  378)  lässt  Perceval  alle  gewünschte  aufklärung  über 
den  gral  zuteil  werden  und  erzählt  seine  weiteren  Schicksale  bis  zu 
gralkönigtum  und  tod.  Ein  späterer  dichter,  Gerbert  de  Montreuil, 
hat  zwischen  Ganchier  und  Manecier  noch  etwa  15  000  verse  ein- 
geschoben (bd.  VI  s.  161  ff.)  und  Perceval  vor  der  endlichen  lösung 
noch  eine  reihe  neuer  prüfungen  und  abenteuer  auferlegt  (neue 
ausgäbe  von  Gerberts  anteil  angekündigt  von  Wilmotte).  Vgl. 
H.  Waitz,  Die  Fortsetzungen  von  Crestiens  Perceval  le  Gallois, 
Strassb.  Diss.  1890,  und  die  Schriften  von  Birch- Hirschfeld  und 
Heinzel  (s.  u.).  Über  Bleheris  {Bledhericus  in  der  Descriptio 
Cambriae  von  Giraldus  Cambrensis,  wol  auch  gleich  Brcri  in 
Thomas'  Tristan)  siehe  Jessie  L.  Weston,  Rom.  33  (1904)  333ff, 
34,  100  ff. 

Die  Gral  sage  ist  in  einer  reihe  von  Untersuchungen  behandelt 
worden,  von  denen  icli  die  neueren  und  an  älteren  nur  die  wichitgsten 
nenne  (zur  älteren  lit.  vgl.  die  sorgfältigen  bibliographien  von 
W.  Hertz  und  E.  Wechssler).  Fr.  Zarneke,  PBB  3,  310  ff.  Birch- 
Hirschfeld,  Die  Sage  vom  Gral,  L.  1877.  E.  Martin,  Zur  Gralsage, 
Str.  1880  (Qu.  u.  Fo.  42).  Alfred  Nutt,  Studies  on  the  legend  of 
the  Holy  Grail,  London  1888,  dazu  II.  Zimmer,  GGA  1890,  s.  488  ff. 
R.  Heinzel,  Über  die  franz.  Gralromane,  i.  d.  Denkschr.  d.  Wiener 
Akad.,  phil.-hist.  Kl.  40,  Wien  1891.  W.  Hertz,  Die  Sage  von 
Parzival  u.  d.  Gral,  Breslau  1881,  neu  bearbeitet  in  der  Übers, 
von  Wolframs  Parzival,  Stuttgart  1898,  s.  413  ff.  Baist,  Artus  u.  d. 
Gral,  ZrP  19,  326  ff.  Ed.  Wechssler,  Die  Sage  vom  heiligen  Gral, 
IIa.  1898.  P.  Hagen,  Der  Gral,  Str.  1900  (Qu.  u.  Fo.  85).  Newell. 
The  legend  on  the  holy  grail,  Cambridge  1902.  Willy  Staerk,  Über 
d.  Ursprung  der  Grallegende,  Tübingen  1903.  Jessie  L.  Weston,  The 
Legend  of  Sir  Perceval,  2  Bde.,  London  1906  —  09.  Sterzenbach, 
Ursprung  u.  Entwicklung  der  Sage  vom  Gral,  Diss.  Münster  1908. 
Baist,  Parzival  u.  d.  Gral,  Rektoratsrede,  Freiburg  i.  B.  1909. 
L.  E  Iselin,  Der  morgenländische  Ursprung  der  Grallegende, 
Ha.  1909.  Will.  A.  Nitze,  The  fisher  king  in  the  Grail  romances. 
Publ.  MLA  24.  Baltimore  1909.  W.  Golther,  Die  Gralsage  bei 
Wolfram  von  Eschenbach,  Rektoratsrede,  Rostock  1910.  Arthur 
C.  L.  Brown,    The    bleediog    lance,    Publ.    MLA   25    (1910)    1  ff . 


9.   Perceval  oder  der  fJralroman.  331 

Leop.  v.  Schroeder,  Die  Wurzeln  der  Sage  vom  hl.  Gral,  Sitz.-Ber. 
d.  Wiener  Akad.,  phil.-hist.  Kl.,  bd.  166  (1910).  Vgl.  Bruggers 
ausführliche  rezensionen  in  ZfiSL,  bes.  36  (1910)  II,  39  (1912)  II. 
Während  nach  der  älteren  auffassung  das  christlich -legendarische 
dement  die  eigentliche  grundlage,  die  keltische  Überlieferung  einiges 
beiwerk  geboten  hat,  erblicken  Martin,  Nutt,  Rhys,  Brown,  Brugger 
das  grundelement  gerade  in  den  keltischen  oder  wenigstens,  wie 
Baist,  in  den  sagenhaften,  nicht  christlichen  hestandteilen.  Die 
versuche,  den  gral  mit  orientalischen  (syrischen,  arabischen,  indischen) 
Überlieferungen  in  beziehung  zu  setzen  (Hagen,  Weston,  Nitze, 
L.  v.  Schroeder)  haben  zu  keinem  greifbaren  ergebnis  geführt,  gehen 
z.  t.  auch  von  falscher  grundlage  (Wolfram)  aus.  Auch  die  herleitung 
des  gral  Zeremoniells  aus  den  brauchen  der  byzantinischen  messe 
oder  aus  'christlicher  mythologie'  (Staerk)  lässt  sicli  nicht  hinreichend 
begründen.  Freilich  haben  auch  die  Vertreter  keltischer  herkunft 
manche  entlegenen  oder  nicht  zutreffenden  parallelen  gezogen. 

Über  die  irische  Cnehulinnsage  und  ihre  beziehungen 
zur  Percevalsage  vgl.  II.  Zimmer,  GGA  1890,  8.  517  f.  Eleanor 
Hüll,  The  Cuchulinn  Saga  in  Irish  Literature  (Grimm  Library  8), 
London  1898. 

Der  franz.  prosaroman  von  Perceval  le  Gallois  (in  Potvins 
I.  bd.)  fusst  auf  Crestien  und  seinen  fortsetzern,  z.  t.  auch  noch 
auf  anderen  gralromanen.  —  Über  den  kymrischen  Perednr  und 
den  raittelenglischen  Sir  Perceval  vgl.  W.  Golther,  Sitz.-Ber. 
der  bayr.  Akad.  1890,  phil.-hist.  Kl.  II,  174 ff.;  über  Peredur  noch 
Mary  Rh.  Williams,  Essai  sur  la  composition  du  roman  gallois  de 
Peredur  (These),  P.  1909,  dazu  Rud.  Thurneysen,  Ztschr.  f.  celtische 
Philologie  1910,  185  ff;  über  Sir  Perceval  Reginald  II.  Griffith,  Sir 
Perceval  of  Galles,  a  study  of  the  sources  of  the  legend,  Chicago 
1911,  und  die  neue  ausgäbe  von  Campion  und  Holthausen, 
Heid.  1912.  —  Die  altnordische  prosabearbeitung  kennt  nur 
Crestiens  gedieht,  aber  nicht  seine  fortsetzer,  ebenso  Wolfram  von 
Eschenbach.  Dieser  nennt  aber  als  seinen  gewährsmann  Kyot 
den  Provenzal  und  polemisiert  gegen  Crestien.  Obwol  die  meiuung, 
Wolfram  habe  diesen  gewährsmann  nur  vorgetäuscht,  um  sein 
publikum  irrezuführen,  neuerdings  mehr  an  boden  zu  gewinnen 
scheint  (Baist,  Golther,  s.  oben),  ist  Wolframs  angäbe  an  sich 
keineswegs  unglaubhaft,  nur  dass  ihm  vielleicht  mit  dem  namen 
—  wie  in  so  vielen  anderen  fällen  —  ein  missverständnis  unter- 
gelaufen ist,  und  auf  einen  anderen  gewährsmann  —  neben  oder 
an  stelle  Crestiens  —  weisen  auch  viele  Übereinstimmungen  Ws. 
mit  nichtcrestien'schen  Gralromanen.  Wegen  der  ähnlichkeit  von 
namen  und  beinamen  liegt  es  nahe,  an  den  lyriker  Guiot  von 
Provins  (kap.  X)  zu  denken.  So  abgelegene  persönlichkeiten  wie 
Philipp  von  Poitou  (Hagen  1906)  können  ebensowenig  in  betracht 
kommen  wie  das  von  Heinzel  angenommene  missverständnis  Kyot 
aus    M  ot  (qui  habuit).     Vgl.   zu  Wolfram    die   literatur  bei  Hertz, 


332     IX.  Kapitel.   Crestien  v.  Troyes  u.  Anfänge  der  höf.  Dichtung. 

Wechssler  (s.  o.),  Panzer  (Bibliographie  zu  W.  v.  E.,  München  1897), 
G.  Ehrismann  ( Wolframprobleme ,  GrM  1909,  657  ff.).  Neuere 
Specialuntersuchungen:  J.  Lichtenstein,  PBB  22,  1  ff.;  L.  Grimm,  Zur 
Entstehung  des  Parzival,  L.  Diss.  1897;  P.  Hagen,  ZdA  45,  187 ff. 
(dazu  G.  Roethe  ebenda  45,  s.  223  ff.),  47,  203  ff,  ZdP  38  (1906)  1  ff, 
198  ff.  (dazu  Brugger,  Archiv  118,  230  ff);  E.Martin,  einleitung  zu 
seiner  Wolframausgabe  II,  §  6  u.  7;  J.  L.  Weston,  Legend  (s.  o.)  II 
(dazu  Blöte,  AZdA  34,  242 ff);  Baist,  1909,  W.Golther,  1910  (s.o.); 
Carsten  Strucks,  Der  junge  Parzival  etc.  etc.,  Diss.  Münster  1910. 
Dass  Wolfram  Crestieus  abenteuerroman  vertieft  und  mit  sittlich  - 
religiösem  geist  erfüllt  hat,  wird  allgemein  zugegeben:  'Sein  „Parzival" 
ist  vielleicht  neben  der  „Göttlichen  Komödie"  die  bedeutendste 
literarische  Leistung  des  Mittelalters'  (Suchier,  Lit.  149). 


10.    Theorien   über  die  Herkunft  und  Bedeutung 
des  keltischen  Elementes. 

Schon  die  betrachtuug  der  einzelnen  werke  Crestieus  hat 
gezeigt,  dass  die  keltischen  sagenelemeute  von  den  modernen 
forschem  in  ihrer  bedeutung  für  die  französische  romanliteratur 
sehr  verschieden  eingeschätzt  werden.  Die  beurteilung  dieser 
frage  hängt  z.  t.  auch  ab  von  der  literarischen  form,  in  welcher 
man  sich  diese  demente  den  französischen  dichteru  zugekommen 
denkt,  von  der  art  und  weise  der  Vermittlung,  vou  dem  nächsten 
ursprungsort,  der  für  die  Franzosen  sowol  in  der  französischen 
Bretagne  als  auch  in  England  liegen  konnte,  von  der  Stellung- 
nahme zur  entwickluug  der  Artussage  und  der  keltischen 
sagenliteratur  überhaupt.  Zur  beantwortung  dieser  fragen  ist 
natürlich  die  Untersuchung  der  Artus-  und  Gralsage  nicht  aus- 
reichend, es  müssen  auch  der  Artussage  ursprünglich  fremde 
Stoffe,  wie  die  Tristansage,  wie  die  laidichtung  herangezogen 
werden,  und  was  die  keltische  literatur  anlangt,  nicht  nur  die 
aus  dem  13.  oder  14.  Jahrhundert  stammenden  ritterromane, 
sondern  auch,  wie  bei  Perceval-Cuchulinn.  die  weit  älteren 
irischen  heidensagen,  welche  vielfach  reine  märchenmotive  in 
sich  aufgenommen  haben. 

Von  vornherein  kommen  für  die  französischen  dichter 
schriftliche  wie  mündliche  quellen  in  betracht.  Die  mündlichen 
quellen  entziehen  sich  naturgemäss  unserer  kontrolle,  wir  müssen 


10.   llcrknut't  und  Bedeutung  des  keltischen  Elementes.  :>;>:> 

uns  an  die  überlieferten  schriftlichen  denkmäler  halten.    Von 
keltischen   quellen  stehen  unseren  französischen  Artusromanen 

inhaltlieh  am  nächsten  die  sogenannten  mabinogion  (plural 
zu  mabinogi):  so  bezeichnet  man  im  allgemeinen  die  wälschen 
(walisischen)  erzählnngen,  die  sieh  im  sogenannten  'Koten 
Buch  von  Hergest'  (Llyfr  codi  o  Hergest),  einer  grossen  sammel- 
handschrift  aus  dem  ende  des  14.  oder  anfang  des  15.  Jahr- 
hunderts, befinden.  Tatsächlich  aber  tragen  nur  die  vier  ersten 
unter  diesen  geschienten  und  noch  dazu  gerade  solche,  welche 
mit  Artus  nichts  zu  tun  haben,  in  der  handschrift  den  namen 
mabinogi,  während  er  auf  die  übrigen  irrtümlich  durch  Lady 
Guest  und  ihre  nachfolger  tibertragen  worden  ist.  Neben 
speziell  kymrischen  Stoffen  finden  sich  hier  auch  bearbeitungen 
des  Dares  Phrygius,  des  Galfred  von  Monmouth,  des  Bueve  de 
Haumtone,  des  Amis  und  Amiles  und  vor  allem  des  Yvain, 
Peredur  und  Erec.  Die  abfassung  dieser  Mabinogion  ist  nach 
J.  Loth  nicht  nach  dem  ersten  drittel  des  13.  Jahrhunderts 
erfolgt. 

In  die  zeit  vor  Crestien  hingegen  führen  uns  die  irischen 
beldensagen  (wie  die  von  Cuchulinn),  die  teilweise  schon 
um  1100,  zum  anderen  teil  um  die  mitte  des  12.  Jahrhunderts 
aufgezeichnet  wurden,  aber  in  ihrer  eutstehung  auf  eine  noch 
viel  frühere  zeit,  auf  9.  und  10.  Jahrhundert,  zurückweisen. 
Sie  bieten  uns  allerdings  nicht  die  unmittelbaren  quellen  der 
altfranzösischen  romane,  wol  aber  zahlreiche  treffende,  durch 
ihr  alter  wichtige  parallelen  zu  einer  reihe  von  kernmotiven 
oder  episoden  der  französischen  romane,  so  dass  der  Zusammen- 
hang mit  keltischen  Überlieferungen  dadurch  eine  festere  stütze 
und  zugleich  eine  genauere  erklärung  gewinnt. 

Schliesslich  werden  in  den  alten  texten  sehr  oft  die 
bretonischen  lais  erwähnt,  welche  von  bretonischen  spiel- 
leuten  vorgetragen  wurden.  Hierunter  verstand  mau  zunächst 
musikalische  stücke,  welche  mit  der  bretonischen  rote  (eine 
art  harfe)  vorgetragen  und  von  einem  liedmässigen  text  er- 
zählenden inhalts,  in  der  regel  eine  kurze  liebesgeschichte, 
begleitet  wurden.  Aus  der  bearbeitung  solcher  erzählungen 
gingen  die  französischen  lais  hervor,  kürzere  erzählungen  in 
paarweisen  reimpaaren  von  etwa  100  bis  1200  versen,  mit 
ähnlichem  inhalt  wie  die  höfischen  romane,  aber  rein  episodisch, 


334      IX.  Kapitel.    Cresticn  v.  Troyes  n.  Anfänge  der  höf.  Dichtung. 

z.  t.  ausschliesslich  märchenhaft  und  grösstenteils  noch  nicht 
oder  nur  sehr  äusserlich  an  die  Artussage  angeknüpft.  Die 
überlieferten  lais  stammen  grossenteils  von  Marie  de  France, 
welche  sie  um  1165  gedichtet  hat,  einige  wenige  sind  älter, 
andere  jünger.  Wir  finden  hier  also  ganz  ähnliche,  z.  t.  die 
gleichen  stoffe  behandelt  wie  in  den  romanen,  aber  in  einer 
relativ  älteren  form.  Gelegentlich  mag  auch  einmal  ein  lai 
die  quelle  eines  romans  gebildet  haben  (vgl.  Eliduc  und  llle 
et  Galeron).  Für  die  Artussage  bleibt  noch  der  einfluss  zu 
berücksichtigen,  den  Galfred  von  Monmouth  und  seine  Über- 
setzer (oben  s.  260  ff.)  auf  die  französische  romandichtung  aus- 
geübt haben  können. 

Vgl.  über  den  namen  mabinogion  Heinrich  Zimmer.  GGA 
1890,  s.  511  ff.  J.  Lotli,  Contributions  ä  l'etude  des  romans  de  la 
Table  Ronde,  P.  1912,  s.  30  ff.  —  Ältere  übers,  von  Ch.  Lady  Guest, 
The  Mabinogion  from  the  Llyfr  Coch  o  Hergest,  3  bde.,  London 
1838 — 1849.  Darnach  deutsch  von  San  Marte  (A.  Schnitze),  Die 
Arthursage  und  die  Mährchen  des  rotheu  Buches  von  Hergest,  2  bde., 
1842.  Neue  übers,  von  J.  Loth,  Les  Mabinogion  traduits  en  franeais 
avec  un  commentaire  etc.,  2  bde.,  P.  1889  (=  bd.  III  und  IV  des 
'Cours  de  litt,  celt.',  oben  s.  36).  —  Zu  den  irischen  heldensagen 
vgl.  Thurneysens  Übersetzung  (oben  p.  36)  und  Gustav  Ehrismann, 
Märchen  im  höfischen  Epos  in  PBB  30,  14  ff.  —  Über  die  lais 
siehe  bes.  Warnkes  einleitung  zu  den  lais  der  Marie  de  France 
(Bibl.  Norm.  III  21900),  dazu  die  weitere  unter  kap.  XI  verzeichnete 
literatur. 

In  der  frage  nach  der  herkunft  der  französischen  romane  mit 
bretonischem  inhalt  handelt  es  sich  zunächst  darum,  ob  dieser  den 
französischen  dichtem  aus  der  französisch-bretonischen  Bretagne,  aus 
der  sogenannten  Aremorica,  oder  von  den  Kelten  Grossbritannieus, 
besonders  aus  Wales,  zugekommen  ist.  In  dieser  frage  kommt  sehr 
viel  auf  die  namensformen  an,  worüber  genau  genommen  nur  die 
Keltisten  zuständig,  leider  aber  noch  nicht  ganz  einig  sind.  Ausser- 
dem spielt  noch  das  Verhältnis  der  wälschen  prosaromane  von 
Geraint  (=  Erec),  Owen  (=  Yvain)  und  Peredur  (=  Perceval)  eine 
rolle  in  der  beurteilung  der  frage.  Wird  England  als  ausgangs- 
punkt  betrachtet,  so  legt  sich  die  frage  nahe,  ob  nicht  die  in 
England  lebenden  französischen  dichter,  die  sog.  Anglonormannen, 
die  Vermittler  des  Stoffes  nach  dem  festland  gewesen  und  damit 
Crestiens  und  seiner  Zeitgenossen  Vorgänger  gewesen  sind.  Hatte 
Crestien  aber  fertige,  umfangreiche  quellen  zur  Verfügung,  so  ist 
sein  anteil  an  der  prägung  des  Stoffes  naturgemäss  ein  viel  geringerer, 
als   wenn    er   nach    kurzen   contes  oder   lais  arbeitete.     Die    ganze 


10.   Herkunft  nud  Bedeutung  des  keltischen  Elementes.  335 

frage  ist  also  schliesslich  für  die  literar- historische  beurteilung 
Crestiens  von  weittragender  bedeutung. 

Es  stehen  sich  im  wesentlichen  zwei  anrichten  gegenüber,  die 
im  laufe  der  zeit  im  einzelnen  allerdings  nicht  anerheblich  modifiziert 
worden  und  dadurch  einander  doch  etwas  näher  gerückt  sind:  die 
ansieht  von  Gaston  Paris  einerseits  und  diejenige  von  Wendelin 
Foerster  andererseits.  Die  übrigen  forscher  —  wenn  wir  von  älteren 
theorien  und  Untersuchungen  absehen  —  lassen  sich  meist  als  Partei- 
gänger des  einen  oder  des  anderen  betrachten.  Foerster  hat  in  der 
einleitung  zu  seiner  Lancelotausgabe  (s.  99  ff.)  selbst  eine  historische 
Übersicht  über  die  verschiedenen  forschungen  gegeben,  so  dass  ich 
mich  hier  auf  die  hauptvertreter  beschränken  kann. 

Gastou  Paris  hat  seine  ansieht  über  die  matiLrc  de  Bretagne 
im  30.  band  der  Histoire  littCraire  de  Ia  France  (1887,  s.  2  — 14) 
niedergelegt  und  bald  darauf  (18b8)  kurz  präzisiert  in  seiner 
Litterature  francaise  au  moyen  äge,  §  53  ff.,  auch  einzelne  punkte 
in  artikeln  und  rezensionen  der  Romania  vorher  (bes.  10,  471  ff.) 
oder  nachher  (so  22,  164 ff.)  diskutiert.  Bretagne  ist  ihm,  in  der 
Verbindung  mutiere  de  Bretagne,  Grossbritannien,  wo  die  Normannen 
romanischen  und  keltischen  geist  einander  nahe  brachten.  Hier 
wurde  die  sagengestalt  Arthurs  geschaffen,  die  uns  um  1136  Gaufrei 
von  Monmonth,  'un  clerc  d'origine  bretonne,  mais  tout  penetre  de 
la  eulture  franco-normande',  im  gewande  der  lateinischen  spräche 
auf  grund  von  'contes  gallois'  darstellt.  'Rien  ne  serait  moins  juste 
d'ailleurs  que  de  regarder,  ainsi  qu'on  le  faisait  volontiers  antrefois, 
VHistoria  regum  Britanniae  corame  la  source  des  romans  du  cycle 
d'Arthur  ....  II  suffit,  pour  s'en  convaincre,  de  reruarquer  que  toutes 
ces  merveilleuses  conquetes  du  pretendu  roi  breton,  qui  oecupent 
tant  de  place  chez  son  historiographe,  sont  absolument  inconnues 
aux  poemes,  oü  nous  voyons  Arthur  sejourner  dans  le  pays  de  Galles, 
ou  tout  au  plus  dans  quelques  autres  parties  de  la  Grande  Bretagne.' 
Verschiedene  stellen  bei  Wace  (vgl.  oben  s.  261)  beweisen,  dass  es 
im  12.  Jahrhundert  noch  'une  foule  de  recits  populaires  sur  les 
aventures  d'Arthur  et  des  compagnons  assis  ä  sa  table'  gab.  Wälsche 
spielleute  brachten  mit  ihren  lais  keltische  sagenstoffe  zu  den 
normannisch -französischen  eroberern  und  schliesslich  auch  nach 
dem  festland  hinüber,  teils  in  der  form  des  gesungenen  lai,  teils  in 
der  des  gesprochenen  conte.  Zu  den  'recits  gallois'  (aus  Wales) 
gesellen  sich  'recits  armoricains'  (aus  der  französischen  Bretagne), 
die  erfindende  phantasie  fügt  weiteres  hinzu.  Auf  diesem  wege 
ging  naturgemäss  die  ursprüngliche  'couleur  nationale'  dieser 
bretonischen  erzählungen  verloren,  den  wälschen  geist  an  und  für 
sich  finden  wir  viel  getreuer  in  den  mabinogion  (ausgenommen  die 
drei  aus  dem  französischen  übersetzten)  wieder. 

Von  diesen  Voraussetzungen  aus  gelaDgt  G.  Paris  zu  der  sog. 
anglonormannischen  hypothese:  'Les  plus  anciens  des  poemes  con- 
sacres  ä  cette  matiere  paraissent  avoir  £te  compose's  eu  Angleterre, 


336      IX.  Kapitel.    Crestien  v.  Troyes  u.  Anfänge  der  höf.  Dichtung. 

et  presque  tou=?  se  sont  perdus.'  Es  bleiben  davon  als  teste  oder 
Zeugnisse  nur  die  fragmente  aus  den  Tristanepen  von  Beroul  und 
TIk mias,  ferner  einige  englische  gediente  des  13.  und  14.  Jahr- 
hunderts, welche  auf  auglonormannische  vorlagen  zurückweisen,  und 
endlich  die  drei  inabinogion  von  Geraint,  Owen  und  Peredur,  welche 
nicht  aus  Crestiens  Erec,  Ivain  und  Perceval,  sondern  aus  anglo- 
normannischen  gedichten  übersetzt  sind.  Erst  von  England  aus  ist 
die  mattere  de  Bretagne  nach  Frankreich  gekommen:  'soit  directe- 
ment  par  les  chanteurs  et  conteurs  bretons,  soit  par  l'intermediaire 
des  conteurs  auglonormands,  soit  deja  mise  en  vers  dans  les  lais 
et  les  poemes  anglonormands.  Les  plus  anciens  ouvrages  qui  lui 
aient  ete  consacres  ou  du  moins  qui  soient  arrives  jusqu'ä  nous, 
sont  ceux  de  Chretien  de  Troies.  ...  La  plupart  des  autres 
poemes   du  cyclo   ont  visiblement  ete    composes  sous  l'influence  de 

Chretien ' 

Demgegenüber  vertritt  Wendelin  Foerster  in  wesentlichen 
teilen  den  entgegengesetzten  Standpunkt,  den  er  in  seinen  ver- 
schiedenen einleitungen  zu  Crestiens  werken,  vor  allem  zum  Ivain 
1887,  Erec  1890,  am  ausführlichsten  zum  Lancelot  1899,  begründet 
hat  (vgl.  noch  seine  anzeige  von  G.  Paris'  Litt.  fr.  au  m.  ä.,  LgrP 
1890,  s.  2b3ff,  den  artikel  'Ein  neues  Artusdocument',  ZrP  22 
s.  243  ff..  526  ff.,  und  zuletzt  'Die  sog.  Mabinogionfrage',  ZfSL  38, 
19 — 95.  Foerster  legt  den  nachdruck  auf  die  dichterische  persön- 
lichkeit Crestiens,  welcher  nicht  übersetzt  oder  nachgeahmt,  sondern 
frei  und  selbständig  die  ideen  seiner  romane  erfunden  und  gestaltet 
hat:  'Seinem  geistigen  Inhalt  nach  muss  der  Artusroman 
eine  französische  Schöpfung  sein.  Es  ist  französischer  Geist 
in  fremdem  Kostüm,  genau  wie  die  klassische  Tragödie  des 
XVII.  Jahrhunderts.'  Die  ideen  des  rittertums  und  der  abenteuer- 
suche,  der  minne  und  des  verliegens  sind  frauzösisch.  Die  bretonische 
ortsstaffage  und  die  bretonischen  namen  der  persönlichkeiten  sind 
nur  'äusserer  Aufputz  .  .  .  äusserlich  eingefügte,  mit  dem  Stoff  in 
keiner  Beziehung  stehende  Mosaiksteiuchen'.  Die  lais  sind  freilich, 
wie  G.  Paris  annimmt,  'wirklich  anfangs  keltischen  Inhalts  und 
mögen  in  England  vielleicht  früher  von  den  Franzosen,  als  auf 
dem  Kontinent  behandelt  worden  sein.  .  .  .  Keines  dieser  lais 
hat  aber  mit  Artus  und  seinen  Rittern  etwas  zu  tun!  .  .  . 
Berühmt  und  bekannt  wurde  Artus  einzig  und  allein  durch  Gottfried 
von  Monmouth.  .  .  .  Unmittelbar  darauf  (Mitte  des  12.  Jahrhunderts) 
sehen  wir  in  Frankreich  die  Artusromane  auftauchen.'  Ein  mittel- 
glied  (d.  h.  eine  anglonormannische  Zwischenstufe)  zwischen  den 
6pielleuten  und  laidichtern,  welche  nun  ihre  alten,  langweilig 
gewordenen  stoffe  mit  Artus  äusserlich  in  Verbindung  brachten,  und 
den  französischen  Verfassern  der  Artusromane  anzusetzen  liegt  kein 
anlass  vor. 

Das    ist    in   ihren    wesentlichen    punkten    die    ansieht,    welche 
Foerster    in    seiner    vorrede    zur    grossen    Ivainausgabe    von    1887, 


10.   Herkunft,  und  Bedeutung  des  keltischen  Elementes.  337 

sowie  im  Litbl.  von  1890  auseinander  gesetzt  bat.  Im  Erec  1890 
bat  er  die  der  Historia  Galfreds  zugeschriebene  bedeutung  zugunsten 
mündlicher,  durch  spielleute  vermittelter  aremorikanischer  Über- 
lieferungen wesentlich  eingeschränkt.  Für  die  bevorzugung  der 
letzten  waren  ihm  vor  allem  die  forschungen  des  keltisten  Heinrich 
Zimmer  massgebend,  demzufolge  sämtliche  namensformen  von  Artus- 
helden in  aremorikanischer  lautform  auftreten,  also  nicht  von  den 
Inselkelten  entstammen  können  (vgl.  H.  Zimmer,  Bretonische  Elemente 
in  der  Arthursage  des  Gottfried  von  Monmouth,  ZfSL  12,  231flf.  — 
Beiträge  zur  Namensforschung  in  den  altfranz.  Arthurepen  ebda.  13, 
lff.  —  GGA  1890,  s.  488 ff.,  s.  785 ff,  —  gelegentlich  auch:  Nennius 
vindicatio.  Über  Entstehung,  Geschichte  und  Quellen  der  Historia 
Brittonum.  B.  1893).  Zur  stütze  dieser  aremorikanischen  herkunft 
der  den  Franzosen  zugekommenen  keltischen  Stoffe  bringt  Foerster 
selbst  im  Lancelot  (Einl.  s.  111  ff)  weitere  gründe  bei.  Auch  die 
Untersuchungen  von  F.  Pütz  über  das  frühzeitige  vorkommen  der 
Artusnamen  in  der  französischen  Aremorica  (ZfSL  14,  161  ff.)  und 
von  F.  Brugger  über  die  bedeutung  der  worte  Bretagne  und 
Breton  (ZfSL  20,  79  ff,  vgl.  auch  27,  69  ff  und  spätere  artikel  und 
rezensionen  in  derselben  zs.)  kommen  Foersters  anschauung  zu 
statten. 

Gegenüber  der  sogenannten  anglonormannischen  hypothese 
betont  Foerster,  dass  kein  einziger  anglonormannischer  Artusroman 
auf  uns  gekommen  ist,  dass  es  nicht  einmal  anglonormannische 
Handschriften  von  Artusromanen  gibt  und  dass  die  annähme  von  anglo- 
normannischen (also  aus  inselkeltischen  Überlieferungen  schöpfenden) 
Vorbildern  für  die  kontinentalfranzösischen  Artusromane  nicht  zu 
den  hier  begegnenden  aremorikanischen  namensformen  stimmt. 

Mit  der  anglonormannischen  hypothese  steht  auch  die  sogenannte 
mabinogionfrage  in  direktem  Zusammenhang,  da  G.  Paris  gerade 
in  den  bekannten  drei  wälschen  prosaromanen  nachklänge  anglo- 
normannischer dichtungen  erblickt  hatte.  Für  den  kymrischen  Owen 
wies  Foerster  selbst  (Einleitung  zu  Ivain  s.  22 ff.)  dessen  abhängig- 
keit  von  Crestiens  roman  nach,  für  den  Geraint  (Erec)  unternahm 
es  sein  Schüler  Othmer  (Bonn.  Diss.  1889),  für  den  Peredur 
(Perceval)  tat  es  Wolfgang  Golther  (Sitzber.  d.  Münch.  Akad.  d. 
Wiss.  1890,  s.  174  ff).  Für  den  Geraint  hat  G.  Paris  seitdem  die 
abhängigkeit  von  Crestien  zugegeben,  nimmt  aber  daneben  noch 
eine  zweite,  verlorene  (französische)  vorläge  au.  Demgegenüber 
hat  Foerster  seine  meinung  durchaus  aufrecht  erhalten  und  in  der 
einleitung  zum  Lancelot  (s.  127  ff.)  nochmals  nach  allen  Seiten 
erhärtet. 

Foerster  fasst  diese  seine  letzten  ausführungen  in  dem  schluss- 
ergebnis  zusammen:  'dass  zwar  die  Figur  des  Artus  als  historische 
Person  aus  Wales  stammt,  der  Sagenkönig  Artus  aber  eine 
Schöpfung  Armorikas  ist,  die  daselbst  weiter  ausgebildet  wurde, 
bis  sie  von  den  benachbarten  Franzosen  die  literarische  Gestaltung 

Vor e tzsc h  ,  Studium  d.  »frz.  Literatur.     2.  Auf  läge.  22 


338      IX.  Kapitel.    Crestien  v.  Troyes  u.  Aul  äuge  der  hüf.  DichtUDg. 

erhielt.  Armorika  ist  also  die  Wiege  der  Artussage  und 
Nordfrankreich  die  Wiege  der  Artusromane.  Ältere  anglo- 
normannische  oder  gar  wallisische  Artustexte  sind  überhaupt  aus- 
geschlossen —  sie  haben  nie  bestanden  und  auch  nicht  bestehen 
können.'  Gemäss  dieser  anschauung  spricht  Foerster  auch  dem  von 
ihm  beschriebenen,  eine  belagerungsszene  mit  namen  von  Artus- 
heldeu  darstellenden  tympanon  am  domportal  zu  Modena  (nach 
Justi  frühestens  um  1130)  jede  literarische  bedeutung  ab,  es 
beweist  lediglich  das  bekanntwerden  der  Artusritter  und  ihrer  taten 
durch  bretonische  erzähler  in  Italien,  was  ebenso  auch  P.  Rajnas 
nachweise  über  das  vorkommen  von  namen  des  Artuskreises  seit 
anfang  des  11.  Jahrhunderts  in  Italien  (Rom.  17,  161  ff.,  355  ff.) 
lehren. 

Im  wesentlichen  nach  Foersters  auffassung  hat  W.  Golther 
seine  darstellung  der  mauere  de  Bretagne  in  seiner  Geschichte  der 
altdeutschen  Literatur  (1892,  Stuttgart,  in  Kürschners  National- 
literatur) s.  142  ff.  gegeben  (vgl.  auch  desselben  'Beziehungen  zw. 
franz.  und  kelt.  Lit.'  in  ZvglL  1890,  s.  409 ff).  Auch  Gröber 
(Franz.  Lit.  491  ff,  495ff)  und  Suchier  (Lit.  s.  129  ff,  140 ff.) 
stehen  mit  ihrer  auffassung  Foerster  näher  als  Paris. 

Dieser  ist  nicht  dazu  gekommen,  seine  theorie,  die  er  an  den 
angegebenen  stellen  in  form  eines  fertigen  Systems  vorgetragen 
hat,  im  einzelnen  genauer  zu  begründen,  nur  in  einzelheiten  hat 
er  hie  und  da  in  rezensionen  seinen  Standpunkt  etwas  zu  motivieren 
gesucht.  Dafür  sind  auch  ihm  und  seiner  theorie  helfer  und  anhänger 
erstanden.  In  einem  artikel  'Des  nouvelles  theories  sur  l'origine 
des  romans  arthuriens'  (Revue  celtique  13,  475  ff,  1892)  hat  sich 
J.  Loth  bemüht,  neben  den  zweifellos  vorhandenen  aremorikanischen 
sagenelementen  vor  allem  die  bedeutung  der  inselkeltischen  (kyin- 
rischen  oder  speziell  wälschen)  demente  zu  erweisen,  wobei  er 
folgerichtig  auch,  wie  G.  Paris,  anglonormannische  dicktuugen  als 
quellen  der  festländischen  Artusromane  annimmt.  In  seiner  neuesten 
schrift  (Contributions  ä  l'etude  des  romans  de  la  table  ronde,  P.  1912) 
tritt  er  vor  allem  für  den  keltischen  Ursprung  der  Tristansage, 
nebenher  auch  für  die  Unabhängigkeit  von  Owen,  Geraint  und 
Peredur  gegenüber  Crestien  ein.  Im  wesentlichen  in  anlehnung  an 
G.  Paris,  im  einzelnen  vielfach  selbständige  auffassungen  vortragend, 
hat  Eduard  Wechssie  r  die  verschiedenen  fragen  behandelt  in 
den  'Excursen'  zu  seiner  'Sage  vom  Heiligen  Gral'  (oben  s.  330 ; 
vgl.  auch  desselben  'Untersuchungen  zu  den  Gralromanen'  ZrP  23, 
135 ff).  Vor  allem  aber  hat  Ferdinand  Lot  zur  klärung  der 
frage  beigetragen  durch  seine  artikelserien  Celtica,  Rom.  24,  321  ff, 
Etudes  sur  la  provenance  du  cycle  arthurien  Rom.  24,  496  ff,  25, 
1  ff,  Nouvelles  etudes  sur  la  prov.  etc.  27,  529  ff,  ferner  bd.  28, 
29,  30.  In  einer  reihe  von  fällen  hat  hier  der  Verfasser  insel- 
keltischen Ursprung  von  namen  und  sagenstoffen  der  mattere  de 
Bretagne  wahrscheinlich  gemacht,  im  übrigen  auch  den  festländisch- 


10.  Herkunft  und  Bedeutung  des  keltischen  Elementes.  '339 

bretonischen  Überlieferungen  ihren  —  freilich  wesentlich  ein- 
geschränkten —  anteil  gelassen  und  so  einen  bereits  bei  G.  Paris 
angedeuteten  (auch  von  Wechssler,  Gralsage  s.  143,  gebilligten) 
weg  der  Verständigung  zwischen  beiden  parteien  beschritten.  Auch 
Bai  st  gedenkt  in  den  resultaten  seiner  in  ZrP  19,  326  ff.  be- 
gonnenen Untersuchungen  vielfach  mit  G.  Paris  zusammenzutreffen. 
Endlich  ist  die  neuerdings  von  Edens  und  Zenker  verteidigte 
zurückführung  des  Mabinogi  von  Geraint  uud  des  Crestien'schen 
Erec  auf  eine  gemeinsame  vorläge  (s.  oben  s.  303)  in  der  richtung 
der  Paris'schen  theorie  gelegen. 

Aus  dieser  übersieht  ergibt  sich,  dass  Über  manche 
fragen  allerdings  einige  klärung  erzielt  ist,  dass  hingegen 
andere  sich  noch  im  flusse  befmden  und  das  ganze  von 
weiteren  Untersuchungen  noch  aufklärung  erwarten  darf. 
Man  wird  daher,  wenn  man  ganz  objektiv  urteilen  will, 
vorläufig  manche  fragen  mit  einem  non  liquet  beantworten 
müssen,  auf  welche  später  vielleicht  ein  glattes  ja  oder 
nein  die  einzige  antwort  sein  wird.  Von  diesem  Standpunkt 
aus  lässt  sich  etwa  folgendes  zu  den  einzelnen  kernfragen 
bemerken : 

1.  Mutiere  de  Bretagne  und  Artusroman.  Der  Artus- 
roman bildet  nur  einen  teil  der  matiere  de  Bretagne,  welche 
ja  auch  den  Tristan  und  die  lais  in  sich  begreift.  Die 
beachtung  dieses  Unterschiedes  löst  manchen  Widerspruch 
zwischen  den  ansichten  von  G.  Paris  und  W.  Foerster,  indem 
dieser  ausschliesslich  den  Artusroman,  jener  den  ganzen  bre- 
tonischen stoffkreis  im  äuge  bat.  Jedenfalls  sind  bei  ent- 
scheidung  der  Ursprungsfrage  auch  dichtungen  wie  die  Tristan- 
romane nicht  ausser  acht  zu  lassen,  von  denen  wenigstens  der 
von  Thomas  verfasste  in  England  entstanden  ist  (vgl.  kap.  X). 
Die  lais  weisen  ihrer  mehrzahl  nach  auf  aremorikanische,  einige 
vielleicht  auf  insulare  herkunft  (vgl.  kap.  XI). 

2.  Die  Bedeutung  des  keltischen  Elementes  für 
den  französischen  Roman.  In  dieser  frage  sind  die  au- 
slebten von  Foerster  und  G.  Paris  einander  gerade  entgegen- 
gesetzt. Dieser  betrachtet  die  keltischen  demente  als  wesentlich 
und  charakteristisch  für  den  Artusroman,  jenem  sind  sie  äusseres 
beiwerk  oder  äusserlich  eingefügte  mosaiksteinchen.  Darin 
hat  Foerster  allerdings  recht,  dass  in  den  französischen  romanen 
der   den   stoff  durchdringende   geist   (der   des  rittertums,   der 

22* 


340      IX.  Kapitel.   Crestien  v.  Troyes  u.  Anfange  der  liof.  Dichtung. 

cottrtoisie  überhaupt)  französisch  ist,  dass  häufig  auch  der 
grundgedanke  oder  die  kombination  der  verschiedenen  zugrunde 
liegenden  demente  dem  französischen  autor  gehört  (wie  z.  b. 
im  Ivain).  Wieviel  hier  der  französische  dichter  hinzutut,  sehen 
wir  am  leichtesten  aus  einem  vergleich  der  romane  mit  den 
lais,  welche  im  wesentlichen  die  Überlieferung  wiedergeben. 

Aber  auf  der  anderen  seite  sind  die  keltischen  demente, 
und  hierbei  namentlich  die  märchenelemente,  als  äusserer  auf- 
putz  oder  als  blosse  Staffage  in  ihrer  bedeutung  zu  gering 
eingeschätzt.  Die  ganze  milieuschilderung  wird  dadurch,  gegen- 
über der  älteren  erzählenden  dichtung,  verändert.  Mit  diesen 
feen  und  tückischen  zwergen,  mit  diesen  Zauberschlössern  und 
wunderquellen,  gefährlichen  brücken  und  zaubergärten  tat  sich 
den  Franzosen  von  damals  eine  neue  weit  auf,  welche  von  der 
poetischen  auffassung  der  nationalepen  von  grund  aus  ver- 
schieden war.1)  Dabei  handelt  es  sich  nicht  nur  um  einzelne 
motive  oder  episoden,  sondern  auch  um  vollständige  märchen- 
themen  oder  sagenstoffe,  die  von  dem  französischen  dichter 
erweitert  und  in  seinem  geiste  verarbeitet  worden  sind  (Lancelot, 
Perceval,  exposition  zum  Erec).  In  der  einleitung  zur  zweiten 
aufläge  des  Ivain  (1902)  gibt  ja  auch  Foerster  selbst  als  erste 
grundlage  dieses  romans  ein  märchenmotiv  (befreiung  einer 
Jungfrau  aus  der  gefangenschaft  eines  riesen)  zu,  auf  welches 
Crestien  das  motiv  von  der  treulosen  witwe  gepfropft  habe, 
nur  ist  das  märchenmotiv  nach  ihm  ebensogut  germanisch  und 
slavisch  als  keltisch.  Aber  wir  müssen  doch  auch  dann  die 
herkunft  solcher  märchen  da  suchen,  wohin  alle  übrigen 
elemente  —  namen  und  örtlichkeiten  —  weisen,  in  deren 
Zusammenhang  diese  märchenmotive  zum  ersten  mal  in  der 
französischen  literatur  auftreten.  Für  ein  plötzliches  hervor- 
treten z.  b.  neuer  germanischer  elemente  im  12.  Jahrhundert 
würden  die  nötigen  Voraussetzungen  fehlen. 


J)  Vgl.  G.  Paris,  Rom.  22,  1G4:  'il  est  difficile  ...  de  ne  pas  voir 
qu'avec  la  matiere  de  Bretagne  an  monde  poetiqae  s'est  fait  jour,  qui  etait 
nonveau,  inconnu  aux  Francis  jnsqu'a  Tadoptation  des  themes  celtiques 
par  nos  contetirs,  et  qni  n'a  pu  sortir  spontanement  de  l'evolntion  sociale 
et  litteraire  fran^aise.  La  question  de  la  provenance  insulaire  ou  con- 
tinentale  de  cet  Clement  est,  en  regard  de  la  premiere,  d'nne  importance 
secondaire*. 


10.  Herkunft  und  Bedeutung  des  keltischen  Elementes.  341 

3.  Das  Ursprungszeutmm  der  keltischen  Über- 
lieferungen. Wir  haben  zu  scheiden  (wie  Übrigens  Lot, 
Foerster  u.  a.  auch  schon  geschieden  haben)  zwischen  dem 
eigentlichen  Ursprung  der  in  frage  stehenden  Überlieferungen 
und  der  quelle,  aus  welcher  die  französischen  dichter  sie 
geschöpft  haben.  Da  die  französischen  Bretonen  erst  im 
6.  Jahrhundert  von  Grossbritannien  her  eingewandert  sind 
(s.  oben  s.  18),  so  müssen  ihre  Überlieferungen  zunächst  insel- 
keltischen Ursprungs  gewesen  sein,  gleichgiltig,  wie  weit  diese 
Überlieferungen  von  ihnen  bei  der  einwandemng  mit  hintiber- 
gebracht,  wie  weit  sie  erst  später  im  wege  des  Verkehrs  von 
den  Inselkelten  von  dorther  übernommen  wurden.  Wir  sind 
also  durchaus  berechtigt,  inselkeltische  Überlieferungen  zur 
erklärung  heranzuziehen.  Die  aus  dem  französischen  über- 
setzten drei  wälschen  romane  (Geraint,  Owen,  Peredur)  scheiden 
hierbei  von  vornhein  aus  (vgl.  oben).  Wol  aber  findet  sich 
echtes  keltisches  sagengut  in  anderen  'mabinogion',  sowie  in 
irischen  märchen  und  sagen.  (Von  Cuchulinn-Perceval  war 
schon  oben  die  rede.  Vgl.  noch  Gustav  Ehrismann,  Märchen 
im  höfischen  Epos,  PBB  30,  1  ff.,  wo  die  hauptstoffe  von 
Crestiens  romanen  auf  keltische  märchenmotive  zurückgeführt 
werden.) 

4.  Die  keltischen  Quellen  der  französischen  Romane. 
Bei  der  oben  angenommenen  entwicklung  sind  von  vornherein 
zwei  möglichkeiten  gegeben :  keltische  Überlieferungen  konnten 
französischen  dichtem  so  gut  in  England  wie  in  Frankreich, 
sowol  von  der  Aremorika  als  auch  von  Wales  und  Cornwall 
aus  übermittelt  werden.  Verwickelt  wird  die  frage  dadurch, 
dass  mündliche  und  schriftliche  Überlieferung,  neben  lied- 
mässigem  Vortrag  (lat)  auch  mündliehe  prosaerzählung  (conte) 
in  frage  kommt.  Nach  G.  Paris  kamen  inselkeltische  spiel- 
leute  auch  nach  dem  kontinent  hinüber,  so  dass  auch  insulare 
Überlieferungen  —  neben  den  aremorikanischen  —  direkt  zur 
kenntnis  französischer  dichter  kommen  konnten,  und  Suchier 
(Lit.  s.  141)  spricht  geradezu  von  einer  Wechselwirkung:  'Corn- 
wall und  die  Bretagne  standen  von  Alters  her  in  engem  Verkehr 
miteinander,  und  so  werden  sie  auch  früh  ihre  Sagen  von 
Arthur  und  seinen  Helden  ausgetauscht  und  ausgeglichen 
haben.'     Bei  diesen  engen  beziehungen   zwischen  kleiner  und 


342      IX.  Kapitel.    Crestien  v.  Troyes  u.  Anfänge  der  hüf.  Dichtung. 

grosser  Bretagne,  zwischen  dem  kontinentalen  Frankreich  und 
dem  anglonormannischen  königreich  waren  somit  der  Ver- 
mittlung keltischer  Stoffe  nach  Frankreich  die  verschiedensten 
wege  geöffnet  und  es  wäre  grundsätzlich  nicht  richtig,  a  priori 
die  eine  der  vorhandenen  möglichkeiten  anszuschliessen.  Selbst 
G.  Paris,  der  Vertreter  der  anglonormannischen  hypothese, 
hat  nicht  erst  Rom.  26  (1897)  s.  231  (was  Foerster  im  schluss- 
wort  zur  einleitung  des  Lancelot  anzieht),  sondern  schon  im 
30.  bände  der  Histoire  litteraire  de  la  Fr.  (1888)  'recits  gallois 
ou  armoricains'  als  quellen  der  französischen  romane 
gelten  lassen.  Nach  den  bisherigen  einzelforschungen  scheint 
allerdings  der  anteil  der  aremorikaniscben  Überlieferungen 
an  dem  stoffkreis  des  französischen  'roman  courtois'  ein 
wesentlich  grösserer  zu  sein  als  derjenige  der  insularen  Über- 
lieferungen. 

5.  Die  Artussage.  Eine  besondere  Stellung  in  der  ganzen 
frage  nimmt  die  person  des  königs  Artus  und  sein  heldenkreis 
ein,  weil  hier  zu  allem  übrigen  noch  die  mögliche  einwirkung 
lateinisch -gelehrter  Überlieferung  in  Galfreds  Historia  regum 
Brittanniae  (vgl.  oben  s.  260  f.)  hinzukommt,  Arthur1)  war 
eine  historische  persönlichkeit,  welche  ende  des  5.  und  anfangs 
des  6.  Jahrhunderts  gelebt  und  sich  in  kämpfen  der  Briten 
gegen  Angeln  und  Sachsen  hervorgetan  hat.  Gildas  in  seiner 
schrift  De  exidio  Brittanniae  (etwa  540)  erwähnt  Arthur  nicht, 
kennt  aber  den  grossen  sieg  der  Briten  über  die  Sachsen  am 
berg  Bado  (ende  des  5.  Jahrhunderts),  welcher  später  dem 
Arthur  zugeschrieben  wurde  und  eine  nachhaltige  Wirkung 
ausübte.  In  der  im  jähre  796  verfassten,  dem  Nennius  zu- 
geschriebenen Historia  Brittomim  erscheint  Arthur  als  dux 
hellorum  —  daneben  als  vniles  —  und  gewinnt  gegen  die 
Sachsen  zwölf  schlachten,  als  letzte  die  am  mons  Badonis.2) 
Hier  ist  schon  die  volkstümliche  heldensage  von  Arthur  ver- 
wertet,  welche   in  der  späteren  zeit  der  not   in  Arthur  ihren 


')  Über  die  deutung  dieses  namens  und  anderer  aus  entsprechenden 
römischen  (Ivain  <<  Eugenius,  Kei<C.Cajus,  Peredur  <  Peritor)  siehe 
Zimmer,  GGA  1890,  818 f. 

2)  Gildas  und  Nennius  hersg.  von  Mominsen  in  MG,  Auct.  autiqu.  XIII. 
Vgl.  H.Zimmer,  Nennius  vindicatio,  B.  1S93,  dazu  Freymond,  JrP  3, 152 ff. 


10.   Herkunft  nnd  Bedeutung  des  keltischen  Elementes.  343 

beiden  erblickte.  Wie  die  Briten  in  England,  haben  auch  im 
6.  Jahrhundert  nach  der  französischen  Bretagne  ausgewanderte 
Bretonen  die  Artiissage  weiterentwickelt,  vor  allem  mit  hilfe 
von  allgemeinen  sagen-  und  märchenelementen :  die  insel 
Avalon,  nach  welcher  Arthur  entrückt  wird,  und  manches 
andere  ist  aremorikanischen  Ursprungs.  Galfred  in  seiner 
Historia  regam  Brittanniae  (s.  oben  s.  260  f.)  verwertet  neben 
anderen  mündlichen  und  schriftlichen  quellen  vor  allem  auch 
aremorikanische  Überlieferungen.  Eine  einwirkung  auf  die 
französische  Artusdichtung,  vielleicht  auch  den  äusseren 
anstoss  dazu,  wird  man  dem  werke  Galfreds  oder  seinen 
Übersetzungen  wol  zugestehen  dürfen.  Aber  die  zahlreichen 
und  mannigfaltigen  Stoffe  der  Artusromane  weisen  über  das 
geschichtswerk  hinaus  auf  die  zugrunde  liegenden  volks- 
tümlichen Überlieferungen,  und  wir  können  nicht  mit  Sicher- 
heit behaupten,  dass  vor  den  Bruts  kein  Artusroman 
existiert  habe. 

6.  Artusromane  vor  Crestien.  Crestiens  Artusromane 
sind  die  ältesten  der  matiere  de  Bretagne  gewidmeten  romane, 
welche  uns  überliefert  sind.  Das  schliesst  die  möglichkeit  nicht 
aus,  dass  unserem  Crestien  schon  andere  dichter  mit  der  be- 
arbeitung  keltischer  stoffe  vorangegangen  sind.  Es  handelt  sich 
dabei  nicht  um  die  sogenannte  anglonormannische  hypothese, 
die  jedenfalls  in  dem  von  G.Paris  angenommenen  umfang  nicht 
aufrecht  zu  erhalten  ist,  da  eine  so  reich  entwickelte  anglo- 
normannische romanliteratur  mehr  spuren  hätte  zurücklassen 
müssen.  Sondern  die  frage  zielt  lediglich  darauf,  ob  vor 
Crestien  überhaupt  romane  keltischen  inhalts  in  französischer 
spräche  —  gleichgiltig,  ob  in  kontinentalfranzösischer  oder 
anglonormannischer  mundart  —  gedichtet  worden  sind.  Zu 
einer  klaren  beantwortung  dieser  frage  fehlt  uns  das  material, 
wir  müssen  mit  einem  non  liquct  antworten.  Dass  die 
'mabinogion'  in  dieser  beziehnng  nicht  verwertbar  sind,  ist 
schon  gesagt  worden.  Auch  die  auf  französischen  vorlagen 
beruhenden  englischen  bearbeitungen  sind  ein  unsicheres 
material.  Die  darstellung  einer  kampfszene  am  domportal  zu 
Modena  —  die  man  sich  doch  nur  als  illustration  einer 
literarischen  bearbeitung,  nicht  einer  blossen  mündlichen  er- 
zählung  denken  kann  —  würde  beweiskräftig  sein,   wenn  sie 


344      IX.  Kapitel.    Crestien  v.  Troyes  u.  Anfänge  der  böf.  Dichtung. 

wirklich,    wie    italienische   beurteiler   wolleD,    aus   den   ersten 
jahren  des  12.  Jahrhunderts  stammte.    Aber  Justis  bestimmung 
'frühestens   ca.  1130'   lässt  soviel  Spielraum  nach  unten,   dass 
mit  dem  denkmal  als  sicherem  zeugen  nicht  gerechnet  werden 
kann.     Der  französische  Lancelot,  den  Ulrich  von  Zatzikhoven 
übersetzt  bat,  ist  von  Crestien  unabhängig,  auch  in  manchem 
altertümlicher   als   dieser,   aber   über  sein  zeitliches  Verhältnis 
zu  Crestiens  Karrenroman   wissen  wir  nichts  bestimmtes.     Mit 
mehr    Wahrscheinlichkeit    kann    man   behaupten,    dass   es   vor 
Crestien  schon  Tristandichtungen  gegeben  hat.    Auch  das  oben 
(s.  329)    erwähnte    zeugnis    über  den  Waliser   Bleuen   kommt 
in    betracht:    wenn    er    wirklich    Zeitgenosse    Wilhelms  VIII. 
von  Poitiers  (f  1137)  war  und  andererseits  um  1200  Wauchier 
de   Deuain    ihn    als    gewährsmann    nennt,    so    wird   Wauchier 
diese    quellenberufung   aus   einem   zeitlich   zwischen   ihm   und 
Bleheri    liegenden   französischen   roman   genommen   haben.   — 
Aus    alledem    geht    hervor,    dass,    wenn    solche    romane    vor 
Crestien    existiert  haben,    sie   nicht   sehr   zahlreich   und   auch 
nicht    erheblich    älter    gewesen    sein    können    als    Crestiens 
anfange.     Vielmehr   sehen    wir,   dass  Crestien   in  seinem  Erec 
der  technik   der   chansons  de  geste  noch  ziemlich  nahe  steht; 
seine  polemik   wendet  sich  nicht  gegen  andere  romandichter, 
sondern     gegen     die     conteor;    weder     er     noch     seine    Zeit- 
genossen   nennen    einen    älteren    Vertreter    des    Artusromans. 
Das    alles    schliesst    die    existenz    älterer    romane   keineswegs 
aus,    aber    die    bedeutung    derselben    ist    jedenfalls    geringer 
einzuschätzen,   als   die   Verfechter   ihrer   existenz  gemeiniglich 
annehmen. 

7.  Crestiens  literarhistorische  Bedeutung.  Crestien 
ist  einer  der  ersten,  vielleicht  der  erste  bearbeiter  keltischer 
stoffe  in  französischer  spräche  gewesen.  Falls  vor  ihm  bereits 
versuche  in  dieser  richtung  vorhanden  waren,  haben  sie  seinem 
rühme  jedenfalls  keinen  grossen  eintrag  getan:  sie  sind  von 
seinen  werken  übertroffen  und  demgemäss  vergessen  worden. 
Neidlos  wird  er  von  der  gesamten  folgezeit  als  der  meister 
des  höfischen  romans  anerkannt  und  gepriesen.  Im  anfang 
sich  noch  an  die  technik  der  nationalen  epik  anlehnend, 
überträgt  er  aus  dem  antiken  roman  einzelschilderung, 
psychologische     analyse     und     höfisches     empfinden     auf    die 


10.   Herkunft  und  Bedeutung  des  keltischen  Elementes.  345 

mauere  de  Bretagne  und  bildet  diese  zu  einer  ausgeprägt 
französischen,  für  die  französische  literatur  des  mittelalters 
ausserordentlich  charakteristischen  dichtungsgattung  um.  In 
der  lyrik  bahnt  er  die  nachahmung  der  provenzalischen 
minnepoesie  an,  deren  geist  er  —  wenn  auch  nur  vorüber- 
gehend —  auch  auf  den  roman  (im  Lancelot)  überträgt.  Mit 
seinem  Perceval  schliesslich  stellt  er  neben  oder  über  das 
äusserliche,  weltliche  rittertum  das  geläuterte,  geistliche 
rittertum. 


Zehntes  Kapitel. 

Die  höfische  Dichtung-  neben  und  unmittelbar 
nach  Crestien 

(bis  etwa  1200). 


In  Crestien  von  Troyes  erblickt  der  höfische  roman 
seinen  bedeutendsten  Vertreter,  die  höfische  lyrik  ihren  ersten 
repräsentanten.  Diese  lyrik  ist  als  etwas  fertiges  aus  dem 
provenzalischen  Süden  übernommen  worden  und  tritt  uns  somit 
von  vornherein  als  ausgebildete,  zu  höherer  entwicklung  kaum 
mehr  befähigte  kunstübung  entgegen.  Der  höfische  roman 
hingegen  hat  sich  erst  allmählich  entwickelt;  seinen  bestimmten 
Charakter  erhält  er  in  erster  linie  durch  die  betonung  der 
ritterlichen  ideale,  in  zweiter  linie  durch  die  einführung  und 
bevorzugung  der  mauere  de  Bretagne.  Dort  bildet  Crestien 
nur  den  vermittler,  neben  den  sich  alsbald  eine  reihe  anderer, 
mit  gleicher  oder  auch  mit  höherer  kunst  nach  provenzalischen 
Vorbildern  arbeitender  dichter  stellen  —  hier  ist  er  von 
vornherein  der  alle  anderen  überragende,  zeitweise  einzige 
Vertreter,  den  sich  die  romandichter  der  folgezeit  unmittelbar 
zum  muster  nehmen.  Von  den  antiken  romanen  und  etwaigen 
verlorenen  dichtungen  abgesehen,  ist  ihm  hier  nur  Gautier 
von  Arras  (s.  oben  s.  286  ff.)  und  Thomas  mit  seinem  Tristan- 
roman (s.  unten)  gleichzeitig.  Die  übrigen  sind  jünger  als 
er  und  zeigen  grossenteils  die  deutlichen  kennzeichen  seines 
einflusses. 

Während  die  auf  nachahmung  und  konvention  beruhende 
lyrik  ein  im  ganzen  einheitliches  und  einförmiges  gepräge 
zeigt,   bietet   der   roman   ein  viel  bunteres  und  daher  nicht  so 


Allgemeines.  34/ 

leicht  zu  übersehendes  bild.  Es  waren,  teils  in  antiker  und 
orientalischer,  vor  allem  aber  in  bretonisch -keltischer  und 
sonstiger  volkstümlicher  Überlieferung  noch  so  viele  originale 
Stoffe  vorhanden,  dass  die  dichter  nur  zuzugreifen  brauchten 
und  auf  die  literarische  ausschlaehtung  der  überkommenen 
französischen  romandichtungen  zunächst  verzichten  konnten. 
Freilich  ist  auch  in  dieser  zeit  schon  die  bearbeitung  derselben 
originaltlienien  durch  verschiedene  dichter  —  wie  bei  der  gral- 
sage  oder  beim  Tristan  —  nichts  seltenes.  Aber  teils  schupfen 
die  dichter  aus  verschiedenen  quellen,  teils  gestalten  sie  selbst 
ihr  thema  individuell  genug,  um  die  einförmigkeit,  welche  die 
lvrik  kennzeichnet,  zu  vermeiden. 

Eine  systematische  und  folgerichtige  einteilung  der 
höfischen  romane  ist  daher  schwer  zu  geben.  G.  Paris  unter- 
scheidet griechische  und  byzantinische  romane,  bretonische 
romane  und  'romans  d'aventure'.  In  der  letzten  gruppe 
begegnen  aber  sowol  Stoffe  griechisch -byzantinischer  als  bre- 
tonischer oder  angelsächsischer  herkunft,  sodass  das  einteilungs- 
prinzip  gestört  ist.  Die  sogenannten  Artusromane  unterscheidet 
G.  Paris  in  episodische  und  biographische  romane,  je  nachdem 
sie  eine  bestimmte  tat  eines  helden  —  wie  Crestiens  Lancelot 
die  befreiung  der  königin  —  oder  sein  ganzes  leben  —  wie 
der  Lanzelet  Ulrichs  von  Zatzikhoven  —  erzählen.  Die  grenze 
ist  aber  nicht  immer  leicht  zu  ziehen,  wie  schon  die  be- 
trachtung  der  Crestien'schen  romane  lehrt,  dazu  sind  auch  die 
episodischen  romane  keineswegs  auf  die  durchftihrung  einer 
einzigen  episode  beschränkt,  auch  nicht  etwa  an  umfang  an 
sich  geringer  als  die  biographischen  romane.  Der  unterschied 
ist  vielmehr  in  der  hauptsache  ein  technischer,  indem  die 
episodischen  romane  in  der  regel  eine  straffere  komposition 
gegenüber  den  übrigen  zeigen.  Man  wird  daher  auch  hier, 
ähnlich  wie  in  der  epischen  dichtung,  lieber  nach  der  materie 
ordnen,  Tristan  und  Gral  von  vornherein  als  selbständige 
Stoffe  ausscheiden,  uud  die  sogenannten  Artusromane  um  die 
einzelnen  helden  gruppieren,  denen  sie  gewidmet  sind.  Es 
verbleiben  dann  noch  eine  stattliche  zahl  von  romanen  ver- 
schiedenen Charakters  und  verschiedener  herkunft:  die  fort- 
setzungen  der  antiken  romane,  die  mit  ihrer  willkürlichen 
häufung    von    entlehnten    oder    rein    erfundenen    abenteuern 


348      X.  Kapitel.   Hüf.  Dichtung  Deben  u.  unmittelbar  nach  Crestien. 

meist  das  gepräge  des  'roman  d'aventure'  an  sieh  tragen;  die 
vielfach  auf  griechischen  oder  orientalischen  erzählungsniotiven 
beruhenden  see-  und  liebesromane,  in  welchen  äussere  ereignisse 
trennung  und  wiederfinden  der  liebenden  bestimmen  (Gröbers 
' Schicksalsdichtungen ');  und  endlich  die  eigentlichen  liebes- 
romane, welche  vielfach  aus  volkstümlicher  Überlieferung 
geschöpft  sind,  zum  teil  auch  auf  literarische  Vorbilder  oder 
freie  erfindung  zurückgehen.  Teilweise  treten  diese  gattungen 
in  reicherer  entfaltung  erst  im  13.  Jahrhundert  auf. 

Die  liebe  bildet  in  diesen  romanen  das  vorherrschende, 
in  der  lyrik  fast  das  ausschliessliche  element.  Die  teilnähme 
der  höfe  und  hier  besonders  der  frauen  an  der  literatur  und 
vor  allem  an  den  fragen  des  minnedienstes  macht  sich  deutlich 
fühlbar.  Wie  gräfin  Marie  in  Troyes,  fesselte  in  Blois  ihre 
Schwester  Alice  dichter  —  wie  z.  b.  Gautier  von  Arras  —  an 
ihren  hof.  Auch  der  Pariser  hof  hat  sich  in  den  letzten  Jahr- 
zehnten des  12.  Jahrhunderts  der  dichtkunst  nicht  verschlossen 
und  schon  damals  einen  einfluss  auf  die  spräche  der  bei  hof 
verkehrenden  dichter  auszuüben  begonnen,  wie  die  klage 
Conons  de  B^thune  über  die  ihm  durch  die  königinmutter  Alix 
—  mutter  Philipp  Augusts  —  widerfahrene  Zurechtweisung 
lehrt.1)  Eine  kodifizierung  der  in  den  vornehmen  kreisen 
damals  herrschenden  anschauungen  über  die  minne  hat  anfangs 
des  13.  Jahrhunderts  der  kaplan  Andreas  in  seinem  lateinisch 
geschriebenen,  im  laufe  des  13.  Jahrhunderts  aber  zweimal  ins 
französische  übersetzten  traktat  De  arte  amandi  et  reprobatione 
amoris  gegeben.  Er  gibt  hier  in  der  hauptsache  die  ideen  der 
höfischen  lyrik  wieder,  behandelt  eine  reihe  von  spitzfindigen 
liebesfragen  (quaestiones) ,  denen  wir  in  tenzonen  oder  jeus- 
partis  wieder  begegnen,  und  gibt  mustergespräche  für  die  Unter- 
haltung  zwischen   männern    und   frauen   verschiedener   stände. 


Le  ro'i'ne  n'a  pas  fait  ke  cortoise, 
Ki  nie  reprist,  ele  et  ses  fius,  li  rois. 
Encor  ne  soit  nie  parole  franchoise, 
Si  le  puet  on  bien  entendre  en  francbois. 
Ne  chil  ne  sont  bien  apris  ne  cortois, 
S'il  m'ont  repria,  se  j'ai  dit  mos  d'Artois, 
Car  je  ne  fni  pas  noris  a  Pontoise. 

(Ausgabe  von  Wallensküld  s.  223). 


1.  Die  lyrischen  GattiiDgen.  349 

Auch  tlie  liebe  zu  den  landschönen  ist  dem  ritter  hier  so 
wenig  verwehrt  wie  in  den  pastourelleu.  Die  «aus  Andreas 
erschlossene  Vorstellung,  es  hätte  im  mittelalter  zur  entseheidung 
schwieriger  liebesfragen  besondere,  ausfrauen  bestehende  'minne- 
höfe'  gegeben,  ist  durch  Diez  als  irrtümlich  erwiesen  worden. 
Auch  G.  Paris  sieht  in  den  angeblichen  liebesnrteilen  nur  'un 
pur  jeu  d'esprit',  während  Trojel,  Rajna  und  Crescini  geneigt 
sind,  in  einzelnen  fällen  wirkliche  Urteilssprüche  über  liebes- 
streitigkeiten  anzunehmen. 

• 

Andreae   capellani   regii  Francorum    de   amore   libri  tres.  Kec. 

E.  Trojel,  Havniae  (Kopenhagen)  1892.  Vgl.  Vinc.  Crescini,  Nuove 
postille  al  trattato  amoroso  d' Andrea  cappellano,  Venezia  1909 — 10 
(Atti  del  Reale  Istitnto  Veneto  di  scienze  etc.,  bd.  69,  1  ff.,  437  ff). 

F.  Diez,  Über  die  Minnehöfe  (Beitr.  z.  Kenntnis  d.  romant.  Poesie  I), 
B.  1825.  G.  Paris,  Rom.  12  (1883)  524  ff.  E.  Trojel,  Middelalderens 
Elskovshoffer,  Kopenhagen  1888,  dazu  G.  Paris  JdSav.  1888,  664  ff, 
727  ff.,  auch  sep.  P.  Rajna,  Storia  del  libro  di  A.,  Studj  di  fil.  rom. 
V,  193 ff.  (1891);  Le  corti  d'amore,  Milano  1890.  Crescini,  Per  la 
quistione  delle  corti  d'amore,  Padova  1891  (Atti  memorie  dell' 
acad.  VII).  K.  Hey],  Die  Theorie  der  Minne  in  d.  alt.  Minneromanen 
Frankreichs,  Diss.  Marburg  1911  (Marb.  Beitr.  4).  Ch.-V.  Langlois, 
La  societe  fr.  au  XIIIe  siecle,  2P.  1904.  —  Über  die  lyrik  vgl.  unten. 


1.   Die  lyrischen  Gattungen. 

In  der  lyrik  wird  die  durch  Crestien  eröffnete  höfische 
richtung  fortgesetzt.  Als  hauptgattung  erscheint  die  schon 
von  Crestien  gepflegte  chanson,  das  höfische  liebeslied,  dem 
die  mehrzahl  der  etwa  2100  nummern  zählenden  höfischen 
lieder  angehören.  Daneben  befindet  sich  das  provenzalische 
Streitgedicht  vertreten,  seltener  in  der  form  der  tengon,  häufiger 
in  der  des  jeu-parti  (provenzalisch  joc-partit  oder  partimen). 
Das  tagelied  aube  (provenzalisch  alba)  ist  in  der  französischen 
lyrik  nur  spärlich  vertreten.  Einige  andere  gattungen  begegnen 
erst  im  13.  Jahrhundert.  Übrigens  werden  auch  die  älteren, 
einheimischen  liedergattungen  noch  weiter  gepflegt,  wenn  auch 
vielfach  nach  form  und  inhalt  modernisiert.  Eine  reihe  von 
höfischen  dichtem  haben  so  pastourellen,  lieder  der  'mal 
marieV  und  ähnliches  gedichtet.     Das  serventois,  ursprünglich 


350     X.  Kapitel,    llöf.  DichtuDg  neben  a.  unmittelbar  nacb  Crestien. 

ein  spottlied,  erscheint  jetzt  unter  provenzalischem  einfiuss  als 
politisches  rügelied  oder  auch  als  höfisches  liebeslied.  Alle 
diese  dichtungsarten  wurden  gesungen.  Wort  und  weise  ge- 
hörten zusammen  und  entstanden  zusammen:  der  dichter  war 
zugleich  komponist.  Die  ältesten  dichter,  die  wir  kennen, 
sind  entweder  selbst  von  adel  oder  leben  an  irgend  einem 
grösseren  oder  kleineren  hof.  Meist  haben  sie  einen  Jongleur 
in  ihrem  dienst,  der  ihre  lieder  vorträgt  oder  der  fernen 
geliebten  überbringt  und  sie  somit  verbreitet. 

A.  Chanson.  Das  wort  chanson  ist  wie  das  provenzalische 
canzo(n)  ein  ziemlich  weiter  begriff,  der  sich  im  wesentlichen 
mit  dem  höfischen  liebeslied  deckt,  aber  auch  nahestehende 
gattungen,  wie  z.  b.  das  kreuzzugslied,  mit  einschliesst.  Als 
muster  nach  form  und  inhalt  kann  das  oben  (s.  309  ff.)  ab- 
gedruckte lied  Crestiens  dienen.  Die  gedanken,  welche  diesen 
ehansons  zugrunde  liegen,  variiren  immer  dasselbe  thema:  die 
liebe  zu  der  unvergleichlich  schönen,  aber  spröden  herrin,  die 
immer  als  die  frau  eines  anderen  gedacht  ist,  die  bitte  um 
erhörung,  am  häufigsten  aber  die  klage  über  mangelndes 
entgegenkommen,  über  grausamkeit,  sei  es  der  geliebten,  sei 
es  der  minne  selbst.  Hie  und  da  mögen  den  klagen  wirkliche 
Verhältnisse  und  Vorkommnisse  zugrunde  liegen,  meist  aber  wird 
es  sich  um  eine  konventionelle  erfindung,  um  eine  dichterische 
form  handeln,  in  welcher  der  sänger  der  gattin  seines  gönners 
seine  huldigung  darbrachte. 

Die  chanson  zählt  meist  5  bis  6  Strophen,  wozu  noch  eine 
kürzere  Schlussstrophe,  das  sogenannte  geleit  (envoi  —  proveu- 
zalisch  tomada),  zu  kommen  pflegt.  Die  Strophen  sind  unter- 
einander entweder  zu  je  zweien  oder  sämtlich  durch  die 
gleichen  reime  verbunden  (provenzalisch  coblas  doblas  —  unis- 
sonas).  Das  envoi  stimmt  in  vers  und  reim  mit  dem  schluss 
der  vorausgehenden  strophe  überein.  Die  Strophen  selbst  sind 
dreigliedrig,  was  sich  in  versform  und  reimbindung  und  deni- 
gemäss  auch  in  der  musik  ausprägt:  auf  zwei  metrisch  gleiche 
teile  folgt  ein  dritter  selbständiger  teil  (vgl.  mhd.  Stollen  und 
abgesang  in  den  aus  französischen  oder  provenzalischen  Vor- 
bildern entnommenen  Strophen,  sowie  die  form  des  in  Italien 
aus  der  trobadorstrophe  entwickelten  sonetts).  Reimver- 
schlingung   und    Verwendung   der  verschiedenen   versarten  ist 


1.   Die  lyrischen  Gattungen:  Cbauson  —  Kreuzzugslied.  351 

sehr  mannigfaltig,  znmal  es  bestimmnng  war,  dass  jedes  lied 
seine  eigene  musikalische  und  metrische  form  haben  müsse. 

Auch  bereits  vorhandene  liedgattnngen  werden  durch  form 
und  inhalt  der  minnediehtung  beeinflusst.  So  bietet  Conon  de 
Bethuue  in  der  form  der  höfischen  chanson  zwei  kreuzzugs- 
lieder,  von  denen  das  eine  mehr  den  Charakter  eines  serventois, 
eines  rügeliedes,  an  die  entarteten  barone  zeigt,  das  andere, 
hier  folgende,  mehr  im  Stile  der  älteren  kreuzzugslieder  (s.  oben 
s.  173  f.)  eine  aufforderung  zur  beteiligung  am  kreuzzug  enthält. 
Beide  aber  geben  zugleich  auch  dem  schmerz  über  die  trennung 
von  der  geliebten  ausdruck. 

I.  II. 

Alii,  Auiours!  com  dure  departie ')  Por    li    m'en    vois    sospirant   en 

Me  covenra  faire  de  le  nieillour  Surie, 

Ki  onkes  fast  amee  ne  servie!  Car  je  ne  doi  fallir  nien  creatour. 

Deus   nie  ramaint   a  li,   par   se  Ki  li  faura  a  ehest  besoing  d'oie, 

douchour,  Sachies  ke  il  li  faura  a  graignour; 

Si  voirement  ke  m'en  part  a  dolour!  Et   sachent   bien   li    graut   et  li 

Las!  k'ai  jou  dit?    Ja  ne  in'en  part  menour 

jou  mie!  [   Ke  la  doit  on  faire  chevalerie 

Se  li  cors  vait  servir  nostre  Seignour,  '    Ou  on  conkiert  paradis  et  honour 

Li   cuers  remaint   dou   tout   en  se  !   Et   los   et   pris    et   l'amour    de 

baillie.2)  s'amie. 


J)  Die  wesentlichsten  eigentümlichkeiten  des  vom  dichter  gebrauchten 
pikardischen  dialektes  (vgl.  oben  s.  348)  sind  die  folgenden :  Scheidung  von 
gedecktem  en  uud  an;  entwicklung  eines  e  neben  r  in  futurformen  wie 
nauteront;  erhaltung  von  c  vor  a  (canter,  caseuns);  Übergang  von  c  vor 
e,  i,  von  ci  sowie  ti  nach  kons,  zu  t$  (chertes  =  certes  <Ccertä,  chi  =  ci; 
douchour  =  dolcor,  fache  =  face;  puisaanche);  fehlen  des  übergangslautes 
d  wie  in  covenra,  faura  =  faldra;  frühzeitiger  Übergang  von  auslautendem 
z  >  s  (aries,  sains);  entwicklung  oder  bewahrung  der  schwachtonigen 
artikel-  und  pronominalformen  le  =  la,  se  =  sa,  sen  =  son,  men  —  mon; 
die  analogischen  (aus  noz,  voz  gebildeten)  pronominalformen  no,  vo  für 
nostre,  vostre.    Vgl.  auch  oben  s.  222. 

2)  Ein  viel  variierter  gedanke,  vgl.  in  desselben  dichters  zweitem 
kreuzzugslied:  Si  en  sui  mout  endroit  l'ame  joians,  Mais  dou  cors  ai  et 
pitie  et  pesanche.  Ähnlich  auch  bei  deutschen  dichtem,  so  bei  Friedrich 
von  Hausen  (Minnesangs  Frühling  s.  47,  neue  ausgäbe  s.  50) : 

Min  herze  und  min  lip  diu  wellent  scheiden, 

Diu  mit  ein  ander  wären  nu  manige  zit : 

Der  lip  wii  gerne  vehten  an  die  heiden, 

So  hat  iedoch  das  herze  erweit  ein  wip.  .  .  . 


352     X.  Kapitel.    Höf.  Dichtung  neben  u.  unmittelbar  nach  Crestien. 


III. 

Dens!    tant    avons    este   prou   par 

oiseuse, 
Ore  i  parra  ki  a  chertes  iert  preus; 
S'irons  vengier  le  honte  doloreuse, 
Dont  cascuns   doit   estre   iri6s   et 

honteus ; 
Car  a  no  tens  est  perdus  li  sains  leus 
Ou   Deus   sofri   por   nous   mort 

augoisseuse; 
S'ore  i  laissons  nos  anemis  morteus, 
Atous  jours  mais  iert  noviehonteuse. 

IV. 

Ki  chi  ne  veut  avoir  vie  anoieuse 
Si    voist   por   Deu    morir   lies   et 

joieus, 
Ke    chele    mors    est   douche    et 

savoreuse 
Dont  on  conkiert  le  regne  prechieus, 
Ne  ja  de  mort  n'en  i  morra  uns  seus, 
Ains  naisteront  en  vie  glorieuse. 
Ki  revenra  mout  sera  eareus; 
A  tous  jours  mais  en  iert  honours 

s'espeuse. 


V. 

Tuit  li  clergie  et  li  home  d'eage 
Ki    en    aumosne    et    en    bien    fait 

manront, 
Partiront  tuit  a  ehest  pelerinage, 
Et  les  dames  ci  castement  vivront 
Et  loiaute  feront  a  chiaus  ki  vont; 
Et  s'eles  fönt  par  mal  conseil  folage, 
A    lasches    gens    et    mauvains    le 

feront, 
Car    tuit    li    bon    iront    en    ehest 
voiage. 

VI. 

Deus  est  assis  en  sen  saint  iretage; 
Ore  i  parra  com  chil  le  secorront 
Cui  il  jeta  de  le  prison  ombrage, 
Cant   il    fa   mors    en   le    crois    ke 

Türe  ont. 
Sachies:    chil    sont    trop    honi    ki 

n'iront, 
S'il   n'ont   poverte    o    vieilleche    o 

malage ; 
Et  chil  ki  sain  et  juene  et  riebe  sont, 
Ne  pueent  pas  demorer  sans  hontage. 


VII. 
Las!  je  m'en  vois  plorant  des  cus  dou  front 
La  ou  Deus  veut  amender  men  corage, 
Et  sachies  bien  c'a  le  meillour  dou  mont 
Penserai  plus  ke  ne  fas  a  voiage. 

B.  Tenzone  und  Jeu-parti.  Die  tenzone  ist  wie  ihr 
provenzalisches  Vorbild  ein  streitgedicht  schlechtweg,  in  welchem 
zwei  dichter  oder  zwei  sonstige  (fingierte)  personen  sich  streiten 
oder  sich  miteinander  unterhalten.  Das  jeu-parti  bezeichnet 
seinem  namen  nach  ein  'geteiltes  spiel',  wie  z.  b.  Lancelot  im 
Karrenroman  seinem  genossen  Gauvain  ein  'spiel  teilt',  d.  h.  die 
wähl  zwischen  zwei  gefährlichen  wegen  lässt  (v.  689,  699); 
ebenso  stellt  hier  der  eine  der  beiden  dichter  dem  anderen  eine 
alternative  und  überlässt  ihm  die  wähl,  welche  partei  er 
ergreifen  will.  Solche  fragen  sind:  Ist  für  einen  liebenden  der 
tod  oder  die  Verheiratung  seiner  geliebten  vorzuziehen?  Ist 
es  für  einen  liebhaber  schmerzlicher,  in  gegenwart  seiner 
geliebten  um  ihretwillen  von  seiner  frau  geschlagen  zu  werden 


1.  Die  lyrischen  Gattungen:  Tenzone  und  Jeu-parti.  353 

oder  zu  sehen,  wie  sie  um  seinetwillen  von  ihrem  gatten 
gesehlagen  wird?  Ist  es  vorteilhafter,  die  gunst  seiner  herrin 
zu  geniessen  oder  unglücklich  zu  lieben  und  künig  von  Persien 
zu  werden?  Welcher  von  zwei  sonst  gleichwertigen  liebhabern 
verliert  mehr  an  aussieht  auf  erfolg,  derjenige,  welcher  bliud, 
oder  derjenige,  welcher  taub  und  stumm  wird?  Solche  fragen 
werden  auch  im  traktat  des  Andreas  Cappellanus  (oben  s.  348) 
behandelt:  der  brauch,  spitzfindige  liebesfragen  zu  stellen  und 
zu  beantworten,  war  allem  anschein  nach  ein  alter,  schon  vor 
dem  joc  partit  geübter  Zeitvertreib  der  vornehmen  gesellschaft, 
während  die  Sammlung  und  aufzeichnung  solcher  minnefragen 
erst  in  späterer  zeit  (14.  Jahrhundert)  erfolgte. 

In  der  tenzone,  seltener  im  jeu-parti,  können  anstelle  der 
wirklichen  disputanten  erfundene  personen  eintreten,  d.  h.  wir 
haben  eine  reihe  von  streitgediehten,  welche  von  einem  einzigen 
Verfasser  herrühren.  In  der  form  unterscheiden  sich  die  streit- 
gedichte  in  keiner  weise  von  der  chanson.  In  der  regel 
antwortet  der  gefragte  in  denselben  reimen  wie  der  fragende, 
so  dass  coblas  doblas  entstehen,  häufig  gehen  die  reime  der 
ersten  Strophe  auch  hier  durch  das  ganze  gedieht  durch. 

Die  tenzone,  in  der  provenzalischen  literatur  ausserordentlich 
beliebt,  ist  in  der  französischen  nur  etwa  durch  zwanzig  bei- 
spiele  vertreten,  eines  der  ältesten  scheint  die  tenzone  eines 
gewissen  ßichart  mit  Gautier  von  Dargies  (Mätzner  s.  73)  zu 
sein.  Das  hauptsächlich  im  13.  Jahrhundert  blühende  jeu-parti 
zählt  etwa  zweihundert  stück,  von  denen  hier  als  probe  das 
älteste  bekannte  jeu  folgt,  das  zwischen  Gace  Brul6  und  einem 
grafen  der  Bretagne  —  wahrscheinlich  Gottfried,  Heinrichs  IL 
söhn  —  gewechselt  wurde. 

I. 

Gasse,  par  droit  me  respondez,  Et  cele  me  vueille  tra'ir 

De  vos  le  me  cuuvient  oft:  A  cui  ui'estoie  abandonez, 

Se  je  nie  sui  abandonnez  Dites  moi,  lequel  nie  loez, 

Loiaument  a  amor  servir,  !    Ou  del  atendre,  ou  del  guerpir? 


I  Et  —  vueille:  dieselbe  konjunktivkonstraktion  im  weitergeführten 
bedingungssatz  wie  im  nfr.  mit  que,  aus  zwei  ursprünglich  getrennten 
bedingungssätzen  zu  erklären  (si  je  me  suis  abandonne ,  qu'elle  me  veuille 
trahir  ...  =  wenn  ich  mich  ergeben  habe,  gesetzt  den  fall,  dass  sie  . . .). 
—  Lequel  — del  at.  ou  del  g.:  auch  nfr.  noch  geläufige  konstruktion 

Voretzsch,  Studium  d.  afrz.  Literatur.    2.  Auf  läge.  23 


354     X.  Kapitel.   Hüf.  Dichtung  neben  u.  unmittelbar  nach  Crestien. 


II. 
Sire,  n'en  sui  pas  esgarez, 
De  ce  sai  bien  le  miens  choisir: 
Se  finement  de  euer  amez 
Et  loial  sont  vostre  desir, 
N'i  a  niant  de  repentir, 
Mais  a  vostre  pooir  servez; 
Nuls  n'iert  ja  tant  d'anior  grevez, 
Qu'ele  ne  poist  cent  tans  merir. 


III. 

Qu'est  ce,  Gasse,  estes  vos  desvez? 
Me  volez  vos  afoletir? 
Ceste  amor,  que  vos  me  loez, 
Devroit  touz  li  mondes  bair. 
Touz  jours  amer,  et  puis  morir! 
Vilainement  me  confortez. 
Quant  j'en  ai  les  maus  endurez, 
Lors  en  devroie  bien  jo'ir. 


IV. 

Sire,  por  Dien,  or  entendez. 
A  droit  et  raison  maintenir, 
Cuers  qui  bien  est  enamorez, 
Couient  puet  il  d'amor  partir? 
Nes  que  je  puis  blons  devenir, 
N'en  poroit  il  estre  tornez. 
Se  vos  plet,  de  ce  me  creez: 
Qu'ami  traf  muerent  martir. 


V. 

Gasse,  bien  sai  que  vos  pensez, 
Mes  amor  lais  a  covenir; 
Ne  sui  pas  si  amesurez, 
Qne  je  plus  li  vueille  obe'ir-, 
Ne  poroie  plus  consentir 
Ses  felenesses  cruautez, 
Et  vos  qui  goutes  n'i  veez, 
Ne  vos  en  savez  revenir. 

VI. 

Sire,  onc  mes  pues  que  je  fui  nez, 
Ne  vos  vi  de  rien  esbahir; 
Ou  la  raison  ne  m'escoutez, 
Que  le  voir  ne  volez  oir. 
Coment  se  puet  avelenir 
Eins  cuers  et  loiaus  volentez? 
Laidement  vers  amor  fausez, 
S'einsi  vos  en  volez  partir. 

VII. 

Gasse,  si  fais  quant  je  m'air: 
Touz  est  li  gens  cors  oubli'ez, 
Et  ses  dous  vis  fres  colorez; 
Ja  ne  quier  mes  que  j'en  sospir. 

VIII. 

Sire,  mout  a  vilain  loisir 
Eins  amis  ba*i'z  ou  amez, 
Se  il  est  d'amors  sormenez, 
S'il  por  ce  la  vnet  relenquir. 
(Ausgabe  von  Huet  no.  XII). 


C.  Das  Tagelied  (Aule  =  provenzalisch  Alba).  Das 
sogenannte  tagelied  spielt  in  der  französischen  literatur  keine 
grosse  rolle.  Von  den  volkstümlichen  abschiedsliedern,  welche 
die  Unterbrechung  des  Zusammenseins  zweier  liebenden  durch 
den  heraufkommenden  morgen  schildern  und  sich  allerorten,  in 


mit  de,  aus  einer  attraktion  -\-  ellipse  zu  erklären  (lequel  des  deux,  ou 
l'at.  ou  le  g.  >•  lequel  des  deux,  ou  de  l'at.  ou  del  g.  >•  lequel,  ou  de  l'at. 
ou  del  g).  —  IV  A  —  maintenir:  konditional  'wenn  es  —  aufrecht 
erhalten  will',  zum  hauptsatz  gehörig.  —  V  amor  lais  a  covenir:  ich 
lasse  liebe  sich  aus  der  angelegenheit  herausziehen,  überlasse  es  der 
liebe  usw.  . . . 


1.  Die  lyrischen  Gattungen:  Tagelied,  Salut  d'amour.  355 

China  so  gut  wie  in  Montenegro  finden,  unterscheidet  sieh  die 
höfische  alba  nicht  nur  durch  die  ritterliche  Umgebung,  sondern 
vor  allem  auch  durch  das  veränderte  Verhältnis  des  liebhabers 
zu  seiner  dame,  die  hier  stets  als  die  frau  eines  anderen  und 
zwar  des  schlossherrn  gedacht  ist,  sowie  durch  die  fiktion  von 
dem  weckenden  Wächter,  der  demnach  nur  für  die  liebenden, 
nicht  aber  für  die  späher  und  losengiers  den  tag  zu  verkünden 
scheint.  Formell  ist  charakteristisch  der  refraiu  und  das  darin 
vorkommende  wort  alba.  Die  heimat  dieses  tageliedes  ist  die 
Provence,  wohin  auch  der  refrain  der  ältesten,  lateiuisch-pro- 
venzalischen  alba  (oben  s.  42)  weist,  von  hier  aus  ist  sie  nach 
Nordfrankreich  und  Deutschland  (Wolfram  von  Eschenbach  u.  a.) 
gelangt.  Die  einzige  vollständig  überlieferte  französische  aube 
ist  das  —  schon  dem  13.  Jahrhundert  angehörige  —  lied  Gaite 
de  la  tor,  das,  wie  die  provenzalische  alba,  die  typische  figur 
des  Wächters,  auch  den  refrain  (aber  ohne  das  wort  aube)  zeigt 
und  im  einzelnen  der  erkläruug  grosse  Schwierigkeiten  bietet. 

D.  Salut  d'amour.  Der  üebesgruss'  ist  eine  epistel  in 
versen,  die  mit  einem  gruss  an  die  dame  beginnt,  welcher  das 
gedieht  gewidmet  ist.  Der  form  nach  sind  die  provenzalischen 
salut  meist  in  paarweisen  reinipaaren  von  achtsilbigen  versen 
gedichtet,  der  älteste  von  Graf  Rambaut  III.  von  Orange  (f  1173). 
Die  französischen  salut  sind  den  provenzalischen  nachgeahmt, 
sie  begegnen  erst  im  13.  Jahrhundert  mit  Philippe  de  Beau- 
manoir  (s.  kap.  XII).  Der  zahl  nach  sind  etwa  12  stück  über- 
liefert. Formell  sind  sie  mannigfaltiger  als  die  provenzalischen 
Vorbilder:  die  meisten  sind  allerdings  in  achtsilbigen  reim- 
paaren  geschrieben,  aber  in  einigen  wird  eine  art  refrain  ein- 
geschoben, andere  sind  überhaupt  in  Strophen  (alexandriner- 
versen)  gedichtet,  einer  in  form  der  epischen  laisse.  Der 
poetische  wert  dieser  dichtungen  ist  gering. 

E.  Gattungen  musikalischen  Ursprungs:  Motet  — 
Lax — Bescort.  Wie  seinerzeit  die  sequenz  aus  einer  kirch- 
lichen melodie  sich  entwickelt  (oben  s.  59),  gehen  in  dieser 
zeit  noch  andere  dichtgattungen  aus  der  musik  hervor,  welche 
vereinzelt  schon  seit  ende  des  12.  Jahrhunderts,  in  grösserer 
zahl  freilich  erst  im  13.  Jahrhundert  begegnen.  Von  den 
Motets  war  gelegentlich  schon  oben  (s.  163)  die  rede.  Es 
sind   ursprünglich   kirchliche    kompositionen   mit   lateinischem 

23* 


35b"      X.  Kapitel.   Hof.  Dichtuug  neben  u.  unmittelbar  nach  Crestien. 

text  für  mehrstimmigen  gesang,  woraus  sieh  dann  dichtungen 
mit  französischem  text  entwickeln:  meist  kürzere  stücke,  welche 
gern  populäre  refrains  verwenden,  mit  besonderer  Vorliebe  im 
13.  Jahrhundert  in  Arras  gepflegt.  Im  gauzen  sind  etwa  fünf- 
hundert solcher  motets  überliefert.  —  Die  Lais,  zum  unter- 
schied von  den  erzählenden  bretonischen  lais  (oben  s.  333  und 
unten  kap.  XI)  auch  als  lyrische  lais  bezeichnet,  stehen  den 
Sequenzen  nahe:  es  sind  ursprünglich  untergelegte  texte  zu 
schon  vorhandenen  melodien,  daher  an  eine  regelmässig  wieder- 
kehrende strophenform  innerhalb  eines  und  desselben  liedes 
nicht  gebunden.  Die  zahl  der  Strophen  in  den  verschiedenen 
liedern  wechselt  sehr,  ebenso  die  verszahl  in  den  einzelnen 
Strophen.  Nach  Birch-Hirschfeld  und  Jeanroy  sind  die  lyrischen 
lais  aus  dem  musikalischen  teil  der  bretonischen  lais  hervor- 
gegangen. Dem  inhalt  nach  sind  es  meist  liebeslieder,  zum 
kleineren  teil  religiöse  lieder.  —  Von  diesen  lais  unterscheidet 
sich  der  Descort  nur  dem  namen  nach:  descort  (gegensatz  zu 
acort,  wegen  mangelnder  Übereinstimmung  im  strophenbau  usw.) 
ist  der  provenzalische  name  für  dieselbe  gattuug.  An  fran- 
zösischen lais  und  descorts  sind  etliche  dreissig  tiberliefert. 
Die  ältesten  stammen  von  Gautier  de  Dargies  und  Colin  Muset. 

Vgl.  ausser  der  lit.  zu  kap.  V  (s.  158  ff.)  folgende  werke: 
Bibliographie:  G.  Raynaud,  Bibliographie  des  Chansonniers  frau^ais 
des  XIlIe  et  XIVe  siecles  comprenant  la  description  de  tons  les 
manuscrits,  la  table  des  chansons  classöes  par  ordre  alphabötique 
de  rimes  et  la  liste  des  trouveres,  2  bde.,  P.  1884  (wichtiges  Ver- 
zeichnis, nach  dessen  numinern  die  lieder  citiert  weiden).  Vgl. 
Ed.  Schwan,  Die  altfranz.  Liederhandschriften,  ihr  Verhältnis,  ihre 
Entstehung,  ihre  Bestimmung,  B.  1886.  —  Handschriftendrucke: 
P.  Meyer  et  G.  Raynaud,  Les  Chansonniers  de  la  bibl.  St.  Germain 
des  Pres,  Bibl.  Nat.  20  050,  I,  P.  1892  (Soc  d.  a.  t.).  Brakelmann, 
Die  Berner  IIs.  389,  Archiv  bd.  41—43;  vgl.  J.  v.  Seydlitz-Kuiz- 
bach,  Die  Sprache  der  afr.  Liederhs.  No.  389  zu  Bern,  Diss.  Halle 
1898.  G.  Steffens,  Die  afr.  Liederhs.  Douce  308  (Oxford),  Archiv 
Bd.  97,  283 ff,  98,  57 ff,  99,  71  ff,  339 ff;  Die  afr.  Liederhs.  von 
Siena,  Archiv  88,  301  ff.  —  Sammelausgaben:  A.  Dinaux, 
Trouveres,  Jongleurs  et  me'nestrels  du  nord  de  la  France  etc.,  4  bde., 
1836,  39,  43,  63.  Wackernagel,  Afr.  Lieder  und  Leiche,  Basel  1846. 
P.  Tarbö,  Chansonniers  de  la  Champagne  aux  XII e  et  XIII6  ss., 
Reims  1850.  Ed.  Mätzner,  Afr.  Lieder,  berichtigt  und  erläutert, 
nebst  Glossar,  B.  1853.  K.  Ilofmann,  Afr.  lyr.  Gedichte  a.  d.  Berner 
Codex  389,  Münchener  Sitzgsber.,  phil.-kist.  Kl.  1867,  II  4  (sep.  1868). 


1.  Die  lyrischen  Gattungen:  Motet,  Lai,  Descort.  357 

J.  Brakelmann,  Les  plns  anciens  Chansonniers  fr.  I.  P.  1870 — 91, 
II  Marburg  1896.  Aug.  Scheler,  Trouveres  beiges  du  XII0  au  XlVe  8., 
Brnxelles  1876,  Nouv.  Serie  1879.  L.  Brandin,  Die  Inedita  d.  afr. 
Liederhs.  Bibl.  Nat.  846,  ZfSL  22  (1900)  230  ff.  A.  Jeanroy  et 
H.  Guy,  Chansons  et  dits  artdsiens  du  XIIIe  s.,  Bordeaux  1898. 
Jeanrov,  Chansons,  jeux  partis  et  refrains  incdits  du  XIII0  s.,  Toulouse 
1902  "(sep.  ans  Rdlr  1896,  1897,  1902).  —  Abhandlungen 
allgemeinen  Inhalts:  P.  Paris ,  Les  Chansonniers  i.  Hist.  litt. 
23,  512  ff.  (1856).  A.  Jeanroy,  De  nostratibus  medii  aevi  poetis 
qui  primum  lyrica  Aquitaniae  carmina  imitati  sint,  P.  1889;  Origines2 
1904;  Les  chansons,  in  Petit  de  Jve.  I,  366 ff.  G.  Paris,  Origines; 
Litt.  §  125  ff.  Ferner  Suchier  Lit.  s.  172  ff;  Gröber  s.  659  ff. 
Wechssler,  Kulturproblem  (oben  s.  43).  Martin  Müller,  Minne  u. 
Dienst  i.  d.  afr.  Lyrik,  Diss.  Marburg  1907.  Binet,  Le  style  de  la 
lyr.  court.,  P.  1891.  Mor.  Schittenhelm,  Zur  stilistischen  Verwendung 
des  Wortes  Cuer,  Diss.  Tübingen  1907.  —  Über  die  musik.  vgl. 
Coussemaker,  L'Art  harmonique  anx  XIP  et  XIIIe  ss.,  P.  1865. 
Restori,  Note  sur  la  musique  des  chansons,  in  Petit  de  Jve.  I,  390  ff. 
J.  B.  Beck,  Die  Melodien  der  Troubodours,  Str.  1908.  Pierre  Aubry, 
Trouveres  et  Troubadours,  P.  21910. 

Einzelne  Gattungen.  Streitgedicht:  K.  Knobloch,  Die 
Streitgedichte  im  prov.  u.  afr.,  Breslau  1888.  Über  das  prov.  Streit- 
ged.  ausserdem  Seibach  1886  (Stengels  AA  57),  Rud.  Zenker,  L. 
1888,  Jeanroy,  Annales  du  Midi  2,  281  ff,  441  ff.  Vgl.  H.  Jantzeu, 
Gesch.  d.  deutschen  Streitgedichts  im  MA.,  Breslau  1896  (Germ. 
Abb.  13).  F.  Fiset,  Das  altfranz.  Jen-parti,  RF  19  (1905)  405  ff. 
Fr.  Lubinski,  Die  Unica  der  Oxforder  Liederhs.  Douce  308,  RF  22 
(1907)  506 ff.  Zu  den  Minnefragen:  Ed.  Wechssler,  Vollmöller- 
band 131  ff,  Ed.  Hoepffner,  ZrP  33  (1909)  695ff,  Alex.  Klein,  Die 
afr.  Minnefragen,  I  (Marburger  Beiträge  I,  1911),  Walther  Suchier, 
ZrP  36  (1912)  221  ff.  —  Tagelied:  K.  Bartsch,  Ü.  d.  roman.  u. 
deutschen  Tagelieder  1865  (jetzt  in  Ges.  Vorträge  u.  Aufsätze, 
Freiburg  1883,  s.  250  ff).  Jeanroy  u.  G.Paris  a.a.O.  G.  Schläger, 
Studien  über  das  Tagelied,  Diss.  Jena  1895.  Restori,  Gaite  de 
la  tor,  Messina  1904  (per  nozze  Petraglione-Serrano),  dazu  Jeanroy, 
Rom.  33,  615  ff.  In  Deutschland  beginnt  die  nachahmung  des  roman. 
tagelieds  mit  Wolfram,  das  unter  dem  namen  Dietmars  von  Aist 
überlieferte  Slafest  du,  friedet  ziere  ist  einheimischen  Ursprungs. 
Vgl.  noch  De  Gruyter,  Das  deutsche  Tagelied,  Diss.  L.  1887. 
L.  Fränkel,  Shakespeare  u.  d.  Tagelied,  Hannover  1893.  —  Salut 
d'amour:  P.  Meyer,  Bibl.  Ec.  Ch.,  6e  ser.,  IIIe  t.  (1867)  s.  124 ff. 
Schultz-Gora,  ZrP  24  (1900)  s.  358  ff.  Fürs  deutsche  vgl.  E.  Meyer, 
Die  gereimten  Liebesbriefe  des  deutschen  MA.,  Diss.  Marb.  1898.  — 
Lai  und  Descort:  F.  Wolf,  Über  die  Lais,  Sequenzen  u.  Leiche, 
Heidelberg  1841.  Lais  et  de3Corts  fr.  du  XIIIC  s.,  texte  et  musique, 
p.p.  Jeanroy,  Brandin  et  Aubry,  P.  1901,  dazu  Restori,  Rivista 
musicale  italiana  8  (1901),  fasc  4,  und  G.  Schläger,  LgrP  24  (1903) 


358      X.  Kapitel.   Hof.  Dichtung  neben  u.  unmittelbar  nach  Crestien. 

s.  286  ff.  0.  Gottschalk,  Der  deutsche  Minneleich  u.  s.  Verhältnis 
zu  Lai  u.  Descort,  Diss.  Marburg  1908.  —  Motet:  Recueil  de  motets 
fr.  des  XII e  et  XIII e  ss.  p.  p.  G.  Raynaud,  2  bde.,  P.  1881  n.  1883 
(Bibl.  franc.  I.  II.).  Die  altfranz.  Motette  der  Bamberger  Hand- 
schrift, hgg.  von  A.  Stimming,  Dresden  1906  (GrL  13).  Cent  motets 
du  XIII0  siecle  publ.  d'apres  le  Manuscrit  Ed.  IV,  6  de  Bamberg  par 
P.  Aubry,  3  bde.,  P.  1908.  A.  Stimming,  Zu  den  Bamberger  Motetten, 
ZrP  33  (1909)  66  ff,  356  ff. 

Die  frage,  wieweit  der  romanische  (franz.  und  prov.)  einfluss 
auf  die  deutsche  lyrik  eingewirkt  hat,  ist  sehr  verschieden  beant- 
wortet worden,  je  nachdem  die  einzelnen  forscher  eine  selbständige 
volkstümliche  liebeslyrik  in  Deutschland  annehmen  oder  nicht,  aus 
der  sich  der  'altheimische  minnesang'  entwickeln  konnte.  In  be- 
jahendem sinne  haben  die  letzte  frage  behandelt  W.  Scherer  (Deutsche 
Studien  I,  II,  Wien  1870—74),  Burdach  (ZdA  27,  1881),  R.  Becker 
(Halle  1882),  R.  M.  Meyer  (ZdA  29),  A.  Berger  (ZdP  19),  während 
Wilmanns  (Walter  v.  d.  Vogelweide  1882,  AZdA  VII)  eine  weit- 
verbreitete deutsche  liebeslyrik  vor  dem  minnesang  leugnet  und 
schon  in  den  älteren  deutschen  minnesängern,  besonders  im  Kürn- 
berger,  romanischen  einfluss  wahrnimmt.  Vgl.  zur  entstehung  des 
d.  minnesangs  noch  die  arbeiten  von  E.  Th.  Walter  (Germania  34), 
K.  Marold  (ZdP  23),  0.  Streicher  (ZdP  24),  A.  Schönbach,  Die 
Anfänge  des  deutschen  Minnesangs  (Graz  1898),  dazu  Wallensköld, 
Neuphil.  Mitteilungen,  Helsingfors  1900.  Schönbach  steht  im  wesent- 
lichen auf  dem  Standpunkt  von  Wilmanns  und  will  das  den  westen 
Deutschlands  überspringende  wirken  romanischen  einflusses  bei  den 
österreichischen  minnesängern  durch  Vermittlung  Oberitaliens,  besonders 
Friauls,  erklären.  Noch  weiter  als  die  deutschen  forscher  geht  in 
seinen  'Origines'  (1889)  A.  Jeanroy,  welcher  die  älteste  deutsche 
minnedichtung  als  reflex  einer  verloren  gegangen  älteren  franz.  lyrik 
betrachtet  (vgl.  oben  s.  177),  wogegen  G.  Schläger  (Tagelied  1895, 
anm.  s.  19  ff.)  eine  reihe  beachtenswerter  einwände  erhebt.  Vgl. 
noch  Anna  Lüderitz,  Die  Liebestheorie  der  Provenzalen  bei  den 
Minnesängern  der  Stauferzeit,  B.  1904. 

Tatsache  ist,  dass  direkte  nachahmungen  romanischer  chansons 
und  Strophenformen  sich  nicht  bei  den  ältesten  deutschen  minne- 
sängern, sondern  erst  seit  der  zweiten  generation,  seit  ende  des 
12.  jh8.,  finden:  so  ahmt  Reinmar  von  Ilagenau  ein  lied  Aubouius 
de  Sözanne,  Bernger  von  Horheim  ein  solches  Crestiens  nach;  Friedrich 
von  Hausen,  Rudolf  von  Fenis,  Heinrich  von  Morungen  nehmen 
provenzalische  trobadors  zum  muster.  Vgl.  die  anmerkungen  zu 
Minnesangs  Frühling  von  Lachmann  und  Haupt  (Neubearbeitung  von 
Fr.  Vogt,  1911),  ferner  Bartsch,  Germania  1,  480ff,  ZdA  11,  195 ff, 
Fr.  Michel,  Heinrich  von  Morungen  und  die  Troubadours  1880, 
O.Schultz,  ZdA  33,  185 ff).  Man  sollte  umgekehrt  engen  anschluss 
an  die  Vorbilder  in  der  älteren  periode  und  freiere  nachahmung  in 
der   späteren   zeit   erwarten   und  wird   daher  mit  H.  Paul  (PBB  2, 


1  Die  ältesten  bekannten  Lyriker.  359 

465  f.  anm.)  zu  scheiden  haben  zwischen  dem  einfluss  höfischer  ideen 
(wie  sie  sich  z.  t.  auch  beim  Kttrnberger  oder  in  Dietmars  6og. 
'tageliet'  finden)  und  der  nachahniung  romanischer  poesie,  welche 
verhältnismässig  jung  ist  und  die  ältesten  deutschen  miunesänger 
nicht  berührt.  Jeanroys  versuch,  aus  der  ältesten  deutschen  minne- 
lyrik  die  verloren  gegangene  ursprüngliche  lyrik  der  Franzosen 
erschliessen  zu  wollen,  ist  nicht  als  gelungen  zu  betrachten:  die 
vorhandenen  Übereinstimmungen  sind  grösstenteils  zu  allgemeinen 
Charakters,  um  beweiskräftig  zu  sein  (vgl.  Schläger  a.  a.  o.). 


2.    Die  ältesten  bekannten  Lyriker. 

Bei  dem  konventionellen  charakter  der  von  aussen  her  fertig 
übernommenen  minnelyrik  der  Franzosen  treten  dichterische 
individnalitäten  wenig-  hervor,  weniger  jedenfalls  als  im  höfischen 
romau  oder  selbst  in  der  nationalen  heldendichtung.  Die 
höfische  lyrik  war  teilweise  schon  im  Süden  zur  manier  entartet, 
als  sie  nach  dem  norden  verpflanzt  wurde.  Die  dichtnng  wird 
somit  weniger  ein  ausdruck  persönlicher  erlebnisse  und  gefühle, 
als  ein  mehr  oder  weniger  geistreiches  spielen  mit  konven- 
tionellen gedanken  in  mehr  oder  weniger  neuen  formen.  Ge- 
pflegt wird  diese  lyrik  zuerst  an  den  höfen,  von  höfischen,  ja 
meist  adeligen  dichtem,  am  ersten,  soviel  wir  wissen,  von 
Crestien.  Hauptpflegestätten  dieser  neuen  lyrik  waren  der 
osten  und  der  eigentliche  norden  Frankreichs:  die  ältesten 
höfischen  lyriker  gehören  meist  der  Champagne  oder  der 
Pikardie  und  dem  Artois  an,  nur  wenige  dem  westen.  Auch 
am  königshofe  zu  Paris  fanden  Sänger  verschiedener  herkunft 
aufnähme,  wie  das  beispiel  Conons  de  Bethune  beweist. 

Einer  der  ältesten  lyriker,  jedenfalls  ein  Zeitgenosse  Crestiens 
wird  Huon  III.  von  Oisi  (i.  d.  Picardie  bei  Cambrai)  gewesen 
sein,  den  der  ebengenannte  Conon  als  seinen  lehrer  nennt  (in 
seinem  zweiten  kreuzzugslied:  Ore  ai  jou  dit  des  barons  me 
sanlanche,  —  Se  lor  en  poise  de  chou  Jce  jel  di,  —  Si  s'en 
prendent  a  men  maistre  d'Oisi,  —  Ki  m'a  apris  a  canter  des 
enfanche).  Doch  ist  uns  von  ihm  nur  ein  lied  überliefert,  das 
allerdings  in  form  und  inhalt  von  dem  üblichen  Schema  ab- 
weicht  und    uns    ein    damentournier    schildert,   während    ein 


360     X.  Kapitel.   Höf.  Dichtung  neben  n.  unmittelbar  nach  Crestien. 

rügelied  gegen  Conon  ihm  wol  nur  irriger  weise  zugeschrieben 
worden  ist.  Doch  geht  aus  Conons  bernfung  auf  Huon  wol 
soviel  hervor,  dass  dieser  auch  schon  rligelieder  (serventois) 
gedichtet  hat. 

Conon  de  Bdthune  (nom.  Cuenes-Quenes)  selbst,  gleich- 
falls Pikarde  und  durch  seine  beteiligung  am  dritten  und  vierten 
kreuzzug  auch  aus  der  geschiente  (z.  b.  aus  Villehardouins 
chronik)  wol  bekannt,  hat  uns  etwa  zehn  lieder  hinterlassen, 
von  denen  namentlich  die  beiden  kreuzzugslieder  persönliche 
empfindung  zum  ausdruck  bringen  (vgl.  oben),  während  die 
eigentlichen  minnelieder,  auch  wenn  sie  einen  realen  hinter- 
grund  haben  sollten,  die  üblichen  Übertreibungen  im  lobe  der 
geliebten,  in  der  Versicherung  der  ergebenheit  u.  ä.  m.  enthalten. 
Originelle  färbung  zeigt  noch  ein  dialoglied  zwischen  einer  alt 
und  nachgiebig  gewordenen  schönen  und  einem  ehedem  feurigen, 
jetzt  aber  spröden  liebhaber.  Dass  ihm  sein  auftreten  am 
hof  zu  Paris  —  wol  um  1180  —  einen  tadel  wegen  seiner 
unpariserischen  ausspräche  eintrug,  wurde  schon  oben  bemerkt. 

Nach  dem  norden  gehören  von  den  dichtem  dieser  zeit 
noch:  Gautier  vonDargies  (bei  Beauvais),  der  ausser  liebes- 
liedern  die  ältesten  franz.  descorts  gedichtet  und  zwei  jeus- 
partis  mit  dem  jüngeren  Zeitgenossen  Richard  von  Fournival 
getauscht  hat;  Richard  von  Semilli  sowie  Gautier  von 
Soignies  (Hennegau),  welche  beide  anlehnung  an  volkstümliche, 
refrainhaltige  dichtformen  suchen  und  u.  a.  rotrouengen  und 
pastourellen  gedichtet  haben;  endlich  Blondel  de  Nesle,  der 
Castellan  von  Coucy  und  Jehan  Bodel  aus  Arras. 

Blondel  (wahrscheinlich  aus  Nesle  im  arrondiss.  Peronne, 
derart.  Somme),  in  der  sage  bekannt  durch  seine  treue  gegen 
Richard  Löwenherz  und  die  zur  auffindung  und  befreiuug  des 
gefangenen  königs  unternommene  fahrt,  besingt  in  den  zwei 
dutzend  liedern,  die  wir  von  ihm  noch  haben,  in  konventioneller 
form  meist  die  leiden,  nur  in  einem  liede  auch  die  freuden 
der  liebe,  mit  sichtlichem  bestreben,  die  heimatlichen  pikar- 
dismen  zu  vermeiden. 

Der  kurzweg  Castellan  von  Coucy  genannte  dichter  ist 
wahrscheinlich  identisch  mit  Gui,  castellan  (d.  i.  richter  und 
Verwalter  eines  schlossbezirkes)  von  Coucy  (in  der  südlichen 
Pikardie,  im  sogenannten  Vermandois)  in  den  jähren  1186  bis 


2.  Die  ältesten  bekannton  Lyriker.  361 

1201.  Er  ist  ausschliesslich  liebeslyriker  (etwa  15  chansons) 
und  liebt  als  solcher  sehr  die  anknüpfung  an  naturbilder,  an 
frühlingszeit  und  vogelsang.  Er  ist  als  teilnehmer  am  vierten 
kreuzzng  1203  auf  dem  schiff  gestorben  und  hat  so  wol  die 
Veranlassung  dazu  gegeben,  dass  das  sogenannte  'herzmaere' 
in  einem  roman  des  13.  Jahrhunderte  auf  einen  castellan  von 
Coucy  übertragen  wurde  (vgl.  kap.  XII). 

Jehan  Bodel  aus  Arras,  der  dichter  des  Kielasspieles 
und  des  Sachsenepos  (oben  s.  142,  217  f.),  reicht  mit  seiner 
lyrik  noch  in  den  anfang  des  13.  Jahrhunderts  hinein. 
Ausser  fünf  pastourellen  ist  von  ihm  namentlich  noch  sein 
abschiedslied,  lli  congie'  (plural),  überliefert,  das  er  etwa  1202 
verfasst  hat,  als  er  sich  wegen  leprose  von  der  weit  zurückzog. 
Andere  dichter  des  13.  Jahrhunderts  und  später  haben  ihn  mit 
ähnlichen  abschiedsliedern  nachgeahmt,  so  dass  der  Gonge  in 
der  folgezeit  eine  besondere  dichtgattung  wird. 

Nach  der  Pikardie  ist  in  dieser  zeit  die  Champagne  am 
fruchtbarsten  an  lyrikern.  Unter  ihnen  ist  Gace  Brule\  den 
wir  bis  zum  jähre  1212  verfolgen  können,  der  aber  schon  in 
dem  anfangs  des  13.  Jahrhunderts  verfassten  roman  Guillaume 
de  Dole  als  bekannter  dichter  genannt  wird,  weitaus  der 
fruchtbarste  und  bedeutendste,  wenn  wir  ihm  auch  von  den 
zahlreichen  unter  seinem  namen  überlieferten  liedern  nur 
etliche  dreissig  mit  Sicherheit  zusehreiben  können  und  bei  zwei 
dutzend  anderen  seine  autorschaft  als  nicht  genügend  gesichert 
betrachten  müssen.  Ausser  dem  oben  abgedruckten  jeu-parti 
sind  es  lauter  minnelieder,  welche  wenigstens  teilweise  einen 
realen  hintergrund  zu  haben  scheinen;  die  trennung  von  seiner 
geliebten,  einer  hochstehenden  darae,  entlockt  ihm  einige  lieder 
von  wahrem  gefühl,  der  verlast  ihrer  liebe  freilich  ebenso 
offenherzige  Verwünschungen. 

Wie  Gace  gehört  auch  Guiot  von  Provins  teils  noch 
dem  12.,  teils  schon  dem  13.  Jahrhundert  an.  Die  füuf  von 
ihm  bekannten  lieder  sind  jedenfalls  in  seiner  früheren  zeit 
entstanden.  Wichtiger  als  diese  lieder  ist  uns  allerdings  die 
satire,  die  er  später  als  mönch  des  klosters  Cluuy  unter  dem 
namen  Bill':  verfasst  hat:  hier  finden  sich  eine  reihe  bemerkens- 
werter erwälinungen  von  dichtenden  oder  bekaunte  dichter 
beschützenden   Zeitgenossen.     Dass   manche  ihn  mit  Wolframs 


362      X.  Kapitel.   Hüf.  Dichtung  neben  u.  unmittelbar  nach  Crestien. 

Kyot  identifizieren,  wurde  oben  bemerkt.  Nach  der  Champagne 
gehört  auch  noch  der  oben  (s.  358)  erwähnte  Aubouin  de 
Sözaune,  von  dem  freilich  nur  zwei  chansons  nnd  eine 
pastourelle  überliefert  sind. 

Weiter  nach  osten,  nach  Lothringen,  gehört  Gautier  von 
Epiual,  der  in  seinen  fünfzehn  liedern  Strophen-  und  vers- 
formen möglichst  variiert,  auch  hie  uud  da  eine  neue  gedanken- 
einkleidung  findet.  In  Burgund  dichtet  um  diese  zeit  Guiot 
von  Dijon  uud  Hugues  von  Berze  (in  der  nähe  von  Mäcon), 
dieser  jedoch  in  francischer  mundart. 

Die  westlichen  provinzen  haben  in  dieser  ältesten  zeit  des 
minnesanges  nur  wenige  Sänger  aufzuweisen,  unter  ihnen  vor 
allem  König  Richard  Löwenherz.  Die  zwei  lieder,  die 
uns  von  ihm  geblieben  sind,  bringen  durchaus  persönliche 
empfindungen  zum  ausdruck;  das  eine  davon,  in  der  form  der 
rotrouenge,  klagt  über  die  lange  gefangenschaft,  in  der  er  sich 
befindet,  und  ist  an  seine  Schwester,  die  gräfin  (Marie  von 
Champagne),  gerichtet.  —  Von  Morisse  von  Craon  (dep. 
Mayenne)  haben  wir  nur  ein  lied,  ein  liebeslied  mit  anknüpfung 
an  die  frühlingszeit,  in  flotter  form.  —  Einiges  mehr  hat  uns 
Guillaume  von  Ferneres,  der  sogenannte  Vidame  von 
Chartres  (viccdominus  d.  h.  militärischer  beschützer  des  bischofs), 
hinterlassen,  welcher,  wie  Renaud  de  Beaujeu  (s.  unten  s.  375) 
u.  a.  schon  im  Guillaume  de  Dole  zitiert  wird  uud  1219  als 
grossmeister  des  tempelordens  in  Damiette  gestorben  ist.  Er 
schwelgt  in  der  poesie  des  liebesschmerzes  so  sehr  oder  mehr 
als  irgend  einer  seiner  dichtenden  Zeitgenossen:  worte  wie 
dolor,  maleürez,  plaindre,  plorer  et  sospirer,  endurer,  qucrre 
garison,  saner  ma  plaie  bilden  seinen  lieblingsphrasenschatz. 
Einmal  singt  er  mit  einem  beinahe  modern  zu  nennenden 
gedanken:  Desconsilliez  plus  que  nuls  Jiom  qui  soit,  —  Charit, 
si  ne  sai  por  quoi  ne  content.  Ein  andermal  kontrastiert  er 
sehr  hübsch  die  süsse,  alles  erschliessende  frühlingszeit  mit 
seinem  drang  zum  besingen  seines  Unglücks.  In  dieser  hinsieht 
darf  er  zum  mindesten  unter  seinen  Zeitgenossen  eine  gewisse 
eigeuart  beanspruchen. 

Von  den  hier  behandelten  dichtem  sind  in  Sonderausgaben 
erschienen:  Conon  de  Bethune,  £d.  crit.  p.  Axel  Wullensköld,  Hel- 
singfors  1891.     Vgl.  Jeanroy,  Denx  chansons  de  C.  d.  B.,  Rom.  21 


3.  Tristanromane:  Die  Sage.  363 

(1892)  418 ff.  —  Richart  de  Scmilli,  Krit.  Text  von  G.  Steffens, 
Foersterhand  s.  331  ff.  —  Blondel  de  Nesle,  Krit.  A.  von  Leo  Wiese 
(Ges.  f.  Rom.  Lit.  5),  Dresden  1U04.  —  Castellan  von  Coucy,  Krit. 
Bearb.  von  Fritz  Fath,  Heidelberg  1883,  dazu  G.  Paris,  Rom.  22, 
485  ff,  und  F.  Davids,  Strophen-  und  Versbau  d.  C.  v.  C,  Progr. 
Hamburg  1887  (Alt.  ausgäbe  von  F.  Michel,  P.  1830).  —  Gace 
Binle  p.  p.  Gddeon  Huet,  P.  1902  (Soc.  d.  a.  t.).  —  Gniot  von 
Provins,  Die  Suite  de  la  Bible  u.  s.  lyrischen  Dichtungen,  von 
A.  Banaler,  Diss.  Halle  1902.  —  Gautier  d'Epinal,  ed.  crit.  p.  Linde- 
löf  et  Wallensköld,  Helsingfors  1901.  —  Die  übrigen  meist  in 
Brakelmanns  lLes  plus  anciens  Chansonniers'  (lluon  d'Oisi,  Aubouin 
de  Sözanne,  Richard  Löwenherz,  Morissc  de  Craon,  Gnillaume  de 
Ferneres  —  hier  ausserdem  auch  Crestien,  Conon  de  Beth.,  Blondel, 
Castellan  von  Coucy,  Gautier  d'Espinal).  Einzelnes  in  den  Sammlungen 
von  Wackernagel,  Mätzner,  Bartsch.  Zu  Jehau  Bodel  vgl.  noch 
Rohnströms  Etüde  (oben  s.  218)  und  die  dort  verzeichnete  lit.  — 
Morisse  von  Craon  erscheint  anfangs  des  13.  jhs.  als  held  eines  mhd. 
versromans,  der  wohl  ein  in  Frankreich  entstandenes  lateinisches 
gedieht  zur  grundlage  hat  (ausgäbe  von  E.  Schröder,  Zwei  altdeutsche 
Rittermären,  B.  1894,  vgl.  dazu  Wechssler,  Rom.  Jahresbericht  4, 
II,  404  f.). 


3.   Tristanromane. 

Von  Tristan  war  schon  oben  gelegentlich  Crestiens  und 
seines  Cliges  (s.  294,  308)  die  rede.  Die  Tristansage  ist  das 
hohe  lied  der  liebe  und  zwar  der  sinnlichen,  über  alle  schranken 
sich  hinwegsetzenden  liebe:  'de  l'amour  illegitime,  de  l'amour 
souverain,  de  l'amour  plus  fort  que  l'honneur,  plus  fort  que 
le  sang,  plus  fort  que  la  mort,  de  l'amour  qui  lie  deux  etres 
Fun  a  l'autre  par  une  cbaine  que  les  autres  et  eux-memes  sont 
impuissants  ä  rompre  ou  ä  relächer'  (G.  Paris).  Verschiedene 
französische  dichter  haben  den  Stoff  noch  zu  Crestiens  zeit 
oder  bald  darauf  bearbeitet  und  dadurch  anderen  literaturen 
zugänglich  gemacht.  Die  eigentliche  herkunft  des  Stoffes  jedoch 
ebenso  wie  der  grössere  oder  geringere  anteil  der  französischen 
dichter  an  seiner  ausgestaltung  hat  sich  noch  nicht  mit  völliger 
bestimmtheit  klarlegen  lassen. 

A.  Die  Sage.  Der  eigentliche  entstehungsort  der  Tristan- 
sage ist  im  keltischen  Grossbritannien  und  zwar  allem  vermuten 


364     X.  Kapitel.   Höf.  Dichtung  neben  u.  unmittelbar  nach  Crestien. 

nach  bei  den  nördlichen  Britten,  d.  h.  eher  in  Wales  als  in 
Cornwall  zu  suchen.  Der  name  des  haupthelden  selbst  ist 
keltischer  herkunft  und  besonders  bei  den  Picten  häufig:  Drust, 
Drostan  u.  ä.  formen  sind  seit  dem  8.  jh.  als  namen  von  Picten- 
königen  belegt,  Drystan,  Trystan,  Tristan  seit  dem  11.  Jahr- 
hundert in  Wales  (der  angeblich  älteste  beleg  für  die  namens- 
form Tristan,  807  aus  der  Bodenseegegend,  beruht  auf  falscher 
lesung).  Auch  der  name  Mark  ist  keltisch.  Mit  den  keltischen 
dementen  haben  sich  weiter  demente  aus  der  zeit  der  Wikinger- 
kämpfe des  9.  und  10.  jhs.  verbunden:  so  erklären  sich  Tristans 
beziehungen  zu  Irland  und  Dublin,  wo  damals  ein  kleines 
Wikingerreich  bestand.  Der  name  seines  gegners  Morholt  ist 
germanisch  (obwohl  man  mit  G.  Paris  auch  an  keltisch  mor  = 
meer  denken  kann),  germanisch  ist  auch  der  name  Iselt  = 
Ishilt  (der  allerdings  nach  Loths  auffassung  ein  ursprünglich 
keltisches  Essylt  ersetzt  hätte)  und  der  ihres  vaters  Gormnnt 
sowie  der  holmgang  (Zweikampf  auf  der  insel)  zwischen  Tristan 
und  Morholt.  Die  zahlreichen  Zauberelemente  —  Isoldens  heil- 
kunde,  der  liebestrank  —  können  sowohl  keltischen  als  ger- 
manischen Ursprungs  sein.  Überhaupt  spielen  eine  menge 
märchenzüge  und  allgemeine  sagenmotive  herein,  deren  Ursprung 
sich  nicht  genau  feststellen  lässt:  so  Isoldens  goldhaar  (worüber 
besonders  Golthers  Studien  zu  vergleichen  sind),  so  der  doppel- 
sinnige reinigungseid,  mit  welchem  sich  Isolde  von  dem  Vorwurf 
unlauterer  beziehungen  zu  Tristan  reinigt,  niemand  als  ihr 
gatte  und  der  bettler,  der  sie  durch  den  fluss  getragen  (d.  i. 
Tristan),  habe  sie  im  arm  gehabt.  Die  auffälligen  Überein- 
stimmungen mit  der  Theseussage  (der  jungferntribut  an  Morholt, 
der  zug  zur  befreiung  der  von  einem  dämonischen  wesen 
geraubten  gattin  des  freundes,  das  weisse  und  das  schwarze 
segel)  sowie  mit  der  sage  von  Paris  und  Oenone  (Verwundung 
des  helden,  verspätete  ankunft  der  heilkundigen  gattin,  tod 
der  beiden)  erklären  sich  am  einfachsten  durch  frühzeitig 
geschehene  mündliche  Übertragung  der  antiken  sage  nach 
dem  Westen.  Bemerkenswert  sind  auch  die  neuerdings  von 
R.  Zenker  betonten  Übereinstimmungen  der  Tristandichtungen 
in  einzelnen  motiven  und  z.  t.  auch  in  der  reihenfolge  mit  dem 
zw.  1042  und  1055  entstandenen  persischen  epos  von  Wis  und 
Ramin,  auch  wenn  man  einzelne  parallelen  (wie  liebestrank  — 


3.  Tristaurouiano:  Thomas.  36a 

niannheitsbindung,  Brangiens  Stellvertretung,  den  völlig  ab- 
weichenden schluss  u.  ä.)  als  unzutreffend  ausser  aelit  lässt.  Aber 
einerseits  ist  das  Verhältnis  der  verschiedenen  Tristandichtuugen 
zu  einander,  andererseits  der  weg  für  eine  veimittlung  des 
persischen  romans  nach  dem  abendlaud  noch  zu  wenig  klar, 
als  dass  man  sichere  Schlüsse  darauf  bauen  könnte. 

Alle  überlieferten  dichterischen  bearbeituugen  setzen  eine 
gemeinsame,  literarisch  gefestigte  quelle,  einen  'Ur- Tristan', 
voraus,  der  vermutlich  französisch  (nach  G.  Paris,  Suchier  u.  a. 
englisch)  abgefasst  war  und  der  ersten  hälfte  des  12.  Jahr- 
hunderts angehört  haben  wird.  Der  erste  teil,  von  Tristans 
kämpf  mit  Morholt,  geht  in  seinem  kern  auf  eine  Wikinger- 
sage zurück.  Der  zwischen  Mark,  Isolt  und  Tristan  spielende 
liebesroman  seheint  keltischer  erfiudung  zu  entstammen,  auch 
das  'drame  moral',  das  allerdings  mit  der  auffassung  der  liebe 
in  der  französischen  höfischen  dichtung  zusammentrifft,  ist  von 
haus  keltisch,  wie  besonders  G.  Paris  und  neuerdings  J.  Loth 
gezeigt  haben.  Das  nebeneinander  der  beiden  Isolden  erklärt 
sich,  nach  den  ansprechenden  Vermutungen  Murets  und  Lots, 
wahrscheinlich  durch  die  Vereinigung  einer  inselkeltischen  und 
einer  aremorikanischen  Tristanüberlieferung.  Alles  das  weist 
deutlich  auf  vorliterarische  sageubildung,  auf  Tristansagen 
vor  dem  'Urtristan',  hin. 

B.  Thomas'  Gedicht.  Altere  Tristandichtungen,  wie 
eine  durch  Marie  de  France  um  1165  bezeugte  oder  die  des 
Pikarden  Li  Kievres,  sind  uns  verloren  gegangen  (wegen 
Crestien  s.  o.).  Die  älteste,  die  wir  haben,  ist  von  dem 
anglonormannischen,  aber  im  wesentlichen  kontinentalfranzösisch 
dichtenden  Thomas,  welcher  etwa  zwischen  1160  und  1170 
gedichtet  hat,  jedenfalls  nach  Waces  Brut  (s.  oben  s.  261),  den 
er  gekannt  und  benutzt  hat.  Das  werk  des  Thomas  ist  uns 
aber  nur  fragmentarisch  erhalten,  in  neun  verschiedenen 
bruchstücken  aus  fünf  verschiedenen  handschriften,  zusammen 
3144  verse,  etwa  ein  sechstel  des  ganzen.  Der  gesamtinhalt 
lässt  sich  mit  hilfe  der  fremden  bearbeituugen  erschliessen : 
des  Tristans  Gottfrieds  von  Strassburg,  anfang  des  13.  Jahr- 
hunderts; der  1226  von  dem  mönch  Robert  verfassten 
norwegischen  prosaübertragung;  des  zwischen  1294  und  1330 
in  Strophen  gedichteten  englischen  Sir  Tristrem.    Dazu  kommen 


366     X.  Kapitel.   Ilüf.  Dichtung  neben  u.  unmittelbar  nacb  Crestien. 

als  weitere  bearbeitungen  die  beiden  altfranzösischen  gediehte 
von  der  Folie  Tristan  (ende  des  12.  Jahrhunderts)  und  eine 
episode  der  italienischen  prosakompilation  Tavola  Bitonda. 
Die  überlieferten  stücke  von  Thomas'  originalgcdicht  gehören 
dem  schluss  des  ganzen  an  und  berichten  Tristans  erlebnisse 
von  seiner  heirat  mit  Isolt  Weisshand  bis  zu  seinem  ende. 

Die  verloren  gegangenen  teile  des  gedichtes  erzählten 
zunächst  Tristans  herkunft  und  Jugend:  wie  er  nach  dem  tod 
des  vaters  im  kämpf  zur  weit  kommt  und  bei  seiner  geburt 
auch  noch  die  mutter  verliert,  wie  er  von  norwegischen  kauf- 
leuten  aus  der  obhut  seines  getreuen  erziehers  Roald  le  Foitenant 
geraubt,  durch  eineu  seesturm  versehlagen  wird  und  nach 
Tintagel  an  den  hof  seines  oheims  Mark  von  Cornwall  kommt, 
wo  er  durch  jagd-  und  waffenhandwerk,  lautenspiel  und 
Sprachenkenntnis  sich  auszeichnet.  Nachdem  er  den  tod  seines 
vaters  gerächt,  besiegt  er  den  Morholt  von  Irland,  lässt  sich 
unter  falschem  namen  (Tantris)  von  Morholts  heilkundiger 
mutter  eine  eben  in  diesem  kämpfe  erhaltene  vergiftete  wunde 
heilen,  kehrt  dann  abermals  nach  Irland  zurück,  um  für  seinen 
oheim  Mark  um  Isoldens  band  zu  werben,  und  trinkt  auf  der 
überfahrt  nach  Cornwall  mit  Isolt  den  liebestrank,  welchen 
deren  mutter  für  Isolt  und  Mark  bestimmt  hatte.  Seitdem 
sind  Tristan  und  Isolt  durch  unauflösliche  liebe  aneinander 
gekettet.  Die  treue  kammerzofe  Brengvein  opfert  ihre  eigene 
ehre,  um  das  vergehen  ihrer  herrin  vor  Mark  zu  verdecken, 
aber  da  Tristan  auch  nach  Markes  hochzeit  seine  beziehungen 
zu  Isolt  fortsetzt  und  jede  gelegenheit  sucht  und  benutzt  sich 
ihr  zu  nähern,  so  wird  das  geheimnis  schliesslich  entdeckt. 
Isolt  reinigt  sich  zwar  durch  den  oben  angegebenen  betrug 
von  der  beschuldigung,  aber  Tristan  wird  gleichwol  vom  hof 
verbannt,  schliesslich  auch  sie  selbst,  und  ao  führen  sie  eine 
Zeitlang  ein  liebesieben  im  walde,  bis  köuig  Mark  sie  eines 
tages,  das  schwert  zwischen  beiden  (vgl.  oben  s.  246 f.),  in 
einer  grotte  schlafend  findet  und  ihnen  verzeiht.  (Hier  setzen 
die  überlieferten  fragmente,  freilich  auch  im  folgenden  noch 
durch  lücken  unterbrochen,  ein.)  Aber  von  neuem  mit  der 
königin  betroffen,  muss  Tristan  fliehen,  gelangt  nach  manchen 
fahrten  in  die  kleine  Bretagne  und  heiratet  hier  Kaherdins 
Schwester  Isolt  as  Manches  mains,  weniger  aus  aufrichtiger 


3.  Tristauruuiaiie:  Thomas.  3(3 1 

neigung  als  darum,  weil  er  namen  und  Schönheit  seiner  geliebten 
in  ihr  wiederfindet  und  so  jene  vergessen  zu  können  hofft. 
Aber  am  hochzeitsabeud  mahnt  ihn  der  ring  der  blonden  Isolt 
au  die  treue,  die  er  ihr  schuldig  ist,  er  verschmäht  den 
ehelichen  verkehr  mit  der  angetrauten  I^ult  und  erbaut  mit 
hilfe  eines  von  ihm  besiegten  rieseu  in  einem  entlegenen, 
verrufenen  wald  einen  prächtigen  saal,  in  dessen  mitte  er 
eine  sprechendähnliche,  süssen  duft  verbreitende  bildsäule  der 
blonden  Isolt  aufstellt,  daneben  eine  solche  der  Brengvein. 
Schliesslich  treibt  ihn  die  Sehnsucht  wieder  nach  England, 
mit  ihm  zieht  Kaherdin  um  der  Brengvein  willen.  Zu 
verschiedenen  malen  und  durch  verschiedene  listen  gelingt 
es  Tristan,  die  geliebte  wiederzusehen.  Nach  der  Bretagne 
zurückgekehrt  wird  Tristan  bei  dem  versuch,  seinem  freunde 
beizustehen  (vgl.  oben),  durch  eine  vergiftete  waffe  verwundet 
und  sendet  Kaherdin  nach  der  blonden  Isolt,  dass  sie  komme 
ihn  zu  heilen,  ein  weisses  segel  soll  das  zeichen  ihrer  ankunft 
sein.  Aber  in  ihrer  eifersucht  meldet  Isolt  Weisshand  dem 
ängstlich  harrenden  ein  schwarzes  segel:  da  gibt  Tristan 
seinen  geist  auf,  und  an  seiner  leiche  sinkt  die  bald  darauf 
herbeigekommene  blonde  Isolt  tot  zusammen. 

Thomas  hat  hier  eine  tragödie  der  liebesleidenschaft 
dargestellt,  die  trotz  aller  sinnlichen  glut  nicht  unmoralisch 
wirkt:  Tristan  ist  ja  nur  das  opfer  des  liebestraukes,  und  er 
wie  Isolt  büsst  die  schuld  mit  leid  und  tod.  Den  stoff  wird 
Thomas  im  wesentlichen  seinen  quellen  entnommen  haben,  ihm 
selbst  gehört  die  lebenswahre,  psychologisch  durchgeführte 
eiuzelscliilderuug.  In  der  Seelenanalyse,  in  der  darstellung 
der  den  helden  oder  die  heldin  bewegenden  widerstreitenden 
empfindungen,  gibt  er  meister  Crestien  nichts  nach,  ja  G.  Paris 
stellt  ihn,  den  'Anglais',  noch  über  diesen,  den  'Francais':  „Le 
Francis  s'attache  surtout  a.  rendre  son  recit  interessant,  amü- 
sant meine,  pour  la  societe  ä.  laquelle  il  est  destine  . .  .  avant 
tout  il  veut  plaire,  et  pense  ä  son  public  plus  qu'a  son  sujet. 
L'Auglais  sent  avec  les  h^ros  de  son  r£cit;  son  coeur  est 
interesse  aux  peines  et  aux  joies  du  leur;  il  cherche  jusqu'au 
fond  de  leur  äme  pour  en  decouvrir  les  replis  cach£s;  son 
style,  embarrasse  et  souvent  obscur  quand  il  s'applique  au 
r£cit  d'aventures  qui  au  fond  ne  l'iuteressent  pas,  devient  vivant 


368      X.  Kapitel.   Hof.  Dichtung  neben  u.  unmittelbar  nach  Crestien. 

et  nuance*  quand  il  essaie  de  rendre  les  sentiments  intimes  qui 
seuls  le  touchent;  il  £crit  pour  lui-menie  et  pour  cenx  qui  ont 
les  memes  besoins  d'emotion  que  lui,  bien  plus  que  pour  un 
public  sensible  surtout  au  talent  du  conteur  et  indifferent  au 
sujet  du  conte". J) 

C.  Berols  Gedicht.  Stellt  Thomas  die  sogenannte 
englische  Version  der  sage  dar,  so  rinden  wir  bei  dem  aus 
der  französischen  Bretagne  stammenden  Berol  (zw.  1190  und 
1200)  die  sogenannte  französische  oder  allgemeine  Version.  In 
den  hauptzügen  stimmt  die  erzählung  mit  derjenigen  bei 
Thomas  überein,  aber  im  einzelnen  sind  manche  unterschiede. 
Isolt  heisst  hier  Iselt  (Iseut)  oder  Isalt,  Mark  ist  nicht  könig 
von  ganz  England,  sondern  nur  könig  von  Com  wall  und  als 
solcher  Zeitgenosse  könig  Arthurs,  Tristan  ist  hier  nicht  herr 
von  Ermenia  (unsicherer  deutung),  sondern  von  Loonois  (Lothian, 
südöstlicher  teil  Schottlands,  dann  auf  L6on  in  der  Bretagne 
umgedeutet).  Die  Wirkung  des  liebestrankes  dauert  hier  nur 
drei  jähre.  Hinzugefügt  erscheint  hier  der  Midascharakter 
des  königs  Mark,  welcher  seine  pferdeohren  unter  einer  Ver- 
hüllung verbirgt,  aber  von  einem  zwerg  entdeckt  wird;  hinzu- 
kommt ferner  das  zur  entdeckung  des  ehebruchs  führende 
eingreifen  des  zwerges  Frocin  und  der  drei  ritter,  die  Ver- 
urteilung Tristans  zum  feuertod  und  sein  entkommen  durch 
den  sprung  aus  dem  fenster  der  kapelle  hinab  über  den 
felsen,  die  auslieferung  der  Iselt  an  die  kranken  bettler  und 
ihre  befreiung  durch  Tristan  und  seinen  getreuen  Gorvernal; 
Tristans  freiwilliges  anerbieten  an  den  könig  (nach  ein- 
dringlichem zureden  des  eremiten  Ogrin),  Iselt  zurückzugeben 
und  manche  andere  züge  und  episoden.  Der  dichter  ist  mehr 
erzähler  der  Vorgänge  als  reflektierender  psych ologe,  aber  er 
schildert  anschaulich  und  klar,  was  er  erzählt,  nicht  ohne 
beimischung  von  humor  und  zugleich  mit  feinem  gefühl  für 
Charakter  und  rolle  seines  beiden.    Mit  seinen  Wiederholungen 


*)  Nicht  uninteressant  ist  es,  mit  dieser  kontrastierung  der  'denx 
g6nies  differents'  durch  Paris  das  urteil  von  Matthias  Claudius  über  zwei 
neuere  Vertreter  der  beiden  volkscharaktere  zu  vergleichen :  '  Voltaire  und 
Shakespeare !  Der  eine  —  Ist,  was  der  andere  scheint.  —  Meister  Arouet 
sagt:  ich  weine,  —  Und  Shakespeare  weint'. 


3.  Tristanroiuaue :  Berol.  369 

und  'recommencements',  mit  seinen  anreden  au  das  publikum 
steht  er  dem  stile  der  chansons  de  geste  nahe. 

Übrigens  ist  auch  Berols  werk  nur  fragmentarisch  über- 
liefert: es  beginnt  mit  dem  Stelldichein  der  beiden  liebenden 
an  der  quelle,  wo  Mark  auf  dem  bäume  sitzend  lauscht,  aber 
von  jenen  durch  sein  Spiegelbild  im  wasser  entdeckt  wird,  und 
führt  bis  zur  rückgabe  der  Iseut  an  den  könig  (v.  2766).  Die 
nächsten  265  verse  bilden  den  später  hinzugefügten  Übergang 
zu  einem  zweiten  teil,  welcher  nach  der  nahezu  einstimmigen 
anschauung  der  gelehrten  einem  anderen  dichter  als  Berol 
gehört  und  die  haudlung,  unter  enger  anlehnung  an  den  Artus- 
kreis,  bis  zu  einer  neuen  Zusammenkunft  des  liebespaares  führt, 
wobei  Tristan  den  lauschenden  Godoine  mit  einem  pfeilschuss 
tötet.  —  Vollständiger  begegnet  uns  die  bei  Berol  vorliegende 
Version  der  sage  bei  dem  deutschen  dichter  Eilhard  von  Oberg 
(1190 — 1200),  welcher  auch  geburt  und  Jugend  Tristans  erzählt, 
im  folgenden  im  wesentlichen  mit  Berol  —  bis  zur  rückgabe 
der  Isolt  —  übereinstimmt,  den  schluss  ähnlich  gibt  wie  die 
anderen  redaktionen.  Die  beiden  fortsetzer  von  Gottfrieds 
von  Strassburg  Tristan,  Ulrich  von  Türheim  (um  1246)  und 
Heinrich  von  Freiberg  (um  1300)  haben  allem  anschein  nach 
keine  französischen  vorlagen,  sondern  nur  Gottfried  und  Eilhart 
benutzt. 

Ausgaben:  Tristan,  Recueil  de  ce  qui  reste  des  poemes  relatifs 
ä  ses  aventures,  p.  p.  Fr.  Michel,  I  — III,  Londres  1835 — 39.  Thomas, 
Roman  de  Tristan,  p.  p.  Joseph  Bedier,  P.  1902,  1905,  2  bde. 
(Sdat).  Beroul,  Roman  de  Tristan  p.  p.  Ernest  Muret,  P.  1903 
(Sdat).  —  Abhandlungen:  Über  die  altern  abh.  im  allgemeinen 
siehe  Wilh.  Röttiger,  Der  heutige  Stand  der  Tristanforschung,  Progr. 
Hamburg  1897,  W.  Hertz,  Übers,  v.  Gottfrieds  Tristan  *  Stuttgart 
1901,  Bedier,  Ausg.  bd.  II  s.  103  ff.,  W.  Golthers  Tristanbuch  von  1907 
(s.  u.),  sowie  die  berichte  von  Freymond,  Hilka,  Vising  im  JrP. 
Vgl.  besonders:  G.  Paris,  Poemes  s.  113  ff,  und  die  arbeiten  von 
Bedier,  Lutoslawski,  Sudre,  Morf,  Soederjhelm,  Muret  in  bd.  15  und 
16  der  Romania.  "Wolfgang  Golther,  Tr.  u.  Is.,  München  1887 
(Hab.- sehr.)  u.  zahlr.  weitere  einzelstudien.  Heinr.  Zimmer,  ZfSL  13 
(1891)  58  f.  F.Lot,  Rom.  25  (1896)  14  ff,  35  (1906)  596  f.  Wilh. 
Hertz,  Gottfrieds  Tristan  2 1894,  3 1901  (bes.  erläuterungen  zur  stoff- 
vergleichung).  E.  Muret,  Rom.  27  (1898)  608 ff.,  einleitung  zu 
Berol  (s.o.),  ZfSL  37  (1911)  II  167 ff.  J.  Bedier,  einl.  zu  Thomas 
(s.  o.)  u.  Folie  Tristan  (s.  u.).  A.  Bossert,  La  legende  chevaleresque 
de  Tr.  et  Iseult,    P.  1902.      Kuno    Meyer,    ZrP  26   (1902)   716  ff, 

Voretzsch,  Studium  d.  afrz.  Literatur.     2.  Auflage.  24 


370      X.  Kapitel.    Höf.  Dichtung  neben  n.  unmittelbar  nach  Crestien. 

28  (1904)  353  ff.  (kelt,  demente).  Deutschbein,  Studien  z.  Sagen 
geschiente  Englands  I,  Cötheu  1906,  s.  171  ff.  W.  Golther,  Tr.  u 
18.  in  den  Dichtungen  des  Mittelalters  u.  der  Neuzeit,  L.  1907 
Kud.  Zenker,  Wis  u.  Ramm,  Erlangen  1910  (auch  KF  29,  321  ff) 
dazu  ZrP  35  (1911)  7 1 5 ff.  Gertrud  Schoepperle,  The  love-potion 
Rom.  39  (1910)  278  ff.  Jakob  Kelemina,  Unters,  z.  Tristansage 
L.  1910  (Teutonia  16).  J.  Loth,  Contributions  (oben  s.  338)  8.  1  ff 
60  ff,  betont  die  bedeutung  von  Cornwall  für  die  ausbildung  der 
sage  und  behandelt  das  fragment  eines  wallisischen  Tristan - 
gedichts. 

Die  Tristanromane  weisen  zahlreiche  episdenhafte  züge  auf. 
Die  überlieferten  lais  sind  aber  nicht  älter  als  Thomas,  ja  beruhen 
z.  t.  auf  den  romanen.  Meist  behandeln  sie  eine  durch  list  herbei- 
geführte begegnung  zwischen  Tristan  und  Isolt:  so  das  von  Marie 
de  France  verfasste  lai  vom  Gaisblatt  {Chievrefeuil  —  siehe  Warnkes 
ausgäbe  der  lais),  so  die  laiartige,  in  den  Donnei  des  Amants 
(v.  453 — 662)  eingeschobene  episode  vom  Stelldichein  im  garten, 
wo  Tristan  Isolden  durch  nachahmen  des  nachtigallenschlages  seine 
anwesenheit  kundgibt  (G.  Paris,  Rom.  25,  508 ff,  535  ff).  'Tristan 
als  Narr'  (La  Folie  Tristan)  ist  in  zwei  fassungen  überliefert:  in 
einer  älteren  und  ausführlicheren  (letztes  viertel  des  12.  jhs., 
998  verse),  an  Thomas  sich  anschliessenden  fassung  (hs.  Douce, 
Oxford)  und  in  einer  kürzeren,  jüngeren  (anfang  13.  jhs.,  574  verse), 
welche  der  durch  Börol  vertretenen  redaktion  folgt  (hs.  Bern,  aus- 
gäbe von  Morf,  Rom.  15).  Beide  gedichte  hgg.  von  J.  Bedier,  Les 
deux  poemes  de  la  folie  Tristan,  P.  1907  (Sdat).  Eudlich  wird 
eine  franz.  laidichtung  vorausgesetzt  durch  das  mhd.,  in  der  2.  hälfte 
des  13.  jhs.  verfasste  gedieht  von  'Tristan  als  Mönch':  hier  lässt 
sich  Tristan  tot  sagen  und  wird  mönch,  um  sich  in  dieser  Verkleidung 
unbehelligt  der  blonden  Isolde  nähern  zu  können.  (Ausgabe  von 
H.  Paul,  Sitzber.  d.  bair.  Ak.,  phil.-hist.  kl.  1895,  III,  317 ff,  dazu 
IV,  687  ff;  vgl.  Alb.  Regis,  Tr.  als  mönch,  Diss.  Str.  1910.)  —  Da 
Tristan  in  den  dichtuugen  überall  als  lautenspieler  gerühmt  wird, 
schrieb  man  ihm  vielfach  auch  die  Verfasserschaft  von  lais  zu,  wie 
ihm  denn  einer  der  ältesten  lyrischen  lais  (vgl.  oben  s.  356),  der 
mit  dem  gegenständ  von  Mariens  gleichnamigem  epischen  lai  in 
beziehung  stehende  lai  dcl  Chievrefeuil  (Wackernagel  s.  19  ff.  und 
Bartschs  Chrest.  sp.  227  ff.)  in  den  mund  gelegt  wird.  Vgl.  Lucien 
Foulet,  Marie  de  France  et  la  leg.  de  Tr.,  ZrP  32  (1908)  161  ff, 
257  ff. 

Aus  verschiedenen  quellen  ist  der  um  die  mitte  des  13.  jhs. 
verfasste,  von  mehreren  autoren  fortgesetzte  und  erweiterte  prosa- 
roman  von  Tristan  geschöpft,  der,  in  zahlreichen  hss.  überliefert, 
in  der  hauptsache  in  zwei  redaktionen  erscheint.  Ausführliche 
analysen  von  E.  Löseth,  Le  roman  en  prose  de  Tristan,  le  rom.  de 
Palamede  et  la  compil.  de  Rusticien  de  Pise,  P.  1890  (Bibl.  Ec.  d. 
Hautes-Et.  82).     Vgl.  noch  W.  v.  Zingerle,  RF  10  (1897)  475 ff. 


4.  Gralromane.  371 

Die  ausgaben  der  mlid.  dichtungea  verzeichnet  Golther  (1907). 
Vgl.  noch  Piquet,  L'originalite  de  Gottfried  de  Strasbourg,  Lille  1905, 
die  neue  ausg.  von  Gottfrieds  Tristan  durch  K.  Marold,  L.  1906, 
und  E.  Gierach,  Zur  Sprache  von  Eilharts  Tristrant,  Prag  1908 
(Prager  D.  Studien  IV).  Der  engl.  Sir  Tristrem  hgg.  von  Kling, 
Heilbronn  1882. 

Eine  für  weitere  kreise  berechnete  widergabe  der  Tristansage 
nach  verschiedenen  quellen  gab  J.  Bedier,  Paris  1900  (deutsch  von 
Zeidler,  1901).  Die  neueren  deutschen  bearbeitungen  der  Tristan- 
sage gehen  sämtlich  auf  Gottfrieds  Tristan  zurück:  so  diejenige  von 
Immermann  (nicht  vollendet,  gedr.  1841),  Hermann  Kurz  (1844, 
3  1877),  Karl  Simrock  (21875),  Wilh.  Hertz  (1877,  41909),  die 
letzten  mit  ergänztem  schluss.  Auf  den  neudichtungen  von  Kurz 
und  Simrock  beruht  der  text  von  R.  Wagners  'Tristan  und  Isolde' 
(1859).  Vgl.  Reinh.  Bechstein,  Tr.  u.  Is.  in  deutschen  Dichtungen  der 
Neuzeit,  L.  1876.  Kufferath,  Tristan  et  Iseult  (Bruxelles  1894). 
Richard  Weltrich,  R.  Wagners  Tr.  u.  Is.  als  dichtung,  B.  1904. 
Golther,  Tr.  u.  Is.,  1907  (s.  o.). 


4.    Gralromane. 

Die  grallegende  steht  im  mittelpunkt  einer  ganzen  reihe 
von  vers-  und  prosadichtungen,  deren  gegenseitiges  Verhältnis 
nicht  überall  mit  Sicherheit  klarzulegen  ist,  zumal  wir  öfters 
auch  mit  verlorenen  Zwischengliedern  zu  rechnen  haben  oder 
statt  der  originalwerke  nur  jüngere  redaktiouen  besitzen.  Hatte 
Crestien  in  seinem  gralroman  mehr  das  ritterliche  element 
neben  dem  legendarischen  zur  geltung  gebracht  und  seinen 
lesern  infolge  der  von  ihm  beliebten  geheimnistuerei  die 
eigentliche  Wissenschaft  vom  gral  vorenthalten,  so  sehen  wir 
neben  ihm  in  Robert  von  Borron  vor  allem  einen  Vertreter  der 
eigentlichen  grallegende,  wie  auch  die  anschliessenden  prosa- 
romane  das  geistliche  element  stärker  betonen  als  Crestien. 
Im  übrigen  variieren  sie  vor  allem  das  thema  von  der  'gral- 
suche'. Auch  diese  prosaromane  bringen  vielfach  noch  neue 
traditionelle  demente  herbei,  so  dass  eine  geschiente  des  grals 
auch  sie  sehr  erheblich  berücksichtigen  muss. 

Robert  von  ßorron.  Wir  besitzen  unter  Roberts  namen 
ein  bruchstück  von  4000  versen,  welehes  im  anschluss  an  eine 
kurze  darstellung  von  Christi  leben  und  leiden  die  legende  von 

24* 


372     X.  Kapitel.    Ilüf.  Dichtung  neben  u.  unmittelbar  nach  Crestien. 

Joseph  von  Arimathia  und  dem  gral  berichtet,  wie  oben  8.  329 
angegeben.    Daran  schliesst  Robert  einen  zweiten  teil,  von  dem 
aber  nur   der   anfang   erhalten   ist.     Gegenstand  dieses  sollte, 
wie  wir  aus  einer  prosabearbeitung  von  Roberts  werk  ersehen 
können,  Merlin  sein,   dessen   Prophezeiungen  Gaufrei  in   seiner 
Historia  regio»  Britanniae  erwähnt  und  dessen  Vita  derselbe 
autor  schon  vorher  in  einem  besonderen  buch  behandelt  hatte. 
Dieser  prophet  und  zauberer  Merlin  begegnet  unter  dem  namen 
Ambrosius  schon  in  des  Nennius  Historia.    Robert  von  Borron 
benutzt,   im    anschluss   an  Gaufrei,   die  figur  Merlins,   um  die 
entstehungsgescbichte    des    grals   (Joseph  von  Arimathia)   mit 
den  vier  weiteren  von  ihm  geplanten  teilen  seines  Werkes  zu 
verbinden,  aber  die  wenigen  hundert  verse  des  zweiten  teiles 
reichen  nicht  einmal  bis   zur  geburt  Merlins  selbst.     Hingegen 
ist  uns  der  ganze  Merlin,  ebenso  wie   der  erste,   die  legende 
Josephs    und    des    grals    behandelnde    teil    in    einer    prosa- 
umarbeitung    aus   dem   anfang   des  13.  Jahrhunderts   erhalten. 
Ob  wir  den   hieran   anschliessenden  Prosaperceval   (den  soge- 
nannten Perceval  der  Didotschen  handschrift  oder  kurz  Didot- 
schen   Perceval,    zu    unterscheiden   von    dem   oben   s.  330  bei 
Crestien   erwähnten,  von   Potvin    gedruckten  prosaroman)   als 
auflösung   eines  dritten   teiles  von  Roberts   gedieht  betrachten 
dürfen,    ist  strittig,    ebenso  wie   die   frage,   ob  Robert  je  die 
von   ihm  v.  3464  ff.  augekündigten   teile   der   grallegende   aus- 
geführt hat. 

Der  wert  von  Roberts  dichtung  liegt  nicht  in  seiner 
dichterischen  kunst  —  er  erzählt,  namentlich  mit  Crestien  ver- 
glichen, sehr  nüchtern  und  schmucklos  — ,  sondern  in  ihrer 
bedeutung  für  die  entwicklungsgeschichte  der  gralsage.  Wir 
finden  hier  wenigstens  teilweise  die  antwort  auf  die  fragen, 
welche  Crestiens  graldichtung  aufgibt  (vgl.  oben  s.  329).  Im 
übrigen  ist  Roberts  zeitliches  Verhältnis  zu  Crestien  nicht  ganz 
klar.  Robert  war  ritter  in  England  zur  zeit  könig  Heinrichs  II. 
(1186  bezeugt)  und  sagt  uns  selbst,  dass  noch  niemand  la 
yrant  estoire  dou  graal  erzählt  hatte,  als  er  sie  bei  Gautier 
von  Mont-Belyal  (Montböliard)  erzählte.  Allem  anschein  nach 
ist  er  unabhängig  von  Crestien,  dessen  Zeitgenosse  er  jedenfalls 
gewesen  ist.  Beide  dichtungen  setzen  bereits  eine  längere 
entwicklung  der  grallegende  voraus. 


4.   Gralroiuan:   Robert  von  Borroii.    Walther  Map.  373 

Zu  den  beiden  gralromanen  von  Crestien  und  Robert 
gesellen  sich  an  versdichtungen  nur  nocb  die  fortsetzer  von 
Crestiens  Perceval  (oben  s.  330),  die  jedoch  fast  alle  erst 
dem  13.  Jahrhundert  angehören.  Ob  der  sonst  als  lateinischer 
Schriftsteller  bekannte  Walt  her  Map  aus  England  (gestorben 
1209  oder  1210),  der  in  dem  Gral-Lanzelotroman  in  prosa  als 
Verfasser  eines  abschnittes  genannt  wird,  etwa  eine  dem  letzteren 
zugrunde  liegende  versdichtung  verfasst  habe,  ist  ziemlich 
ungewiss.  Mit  der  prosaauflösung  von  Roberts  werk  setzen 
dann  anfang  des  13.  Jahrhunderts  die  umfangreichen  prosa- 
romane  vom  gral  ein:  die  Queste  Saint  Graal,  der  Grand 
Saint  Graal  und  der  Perlesvaus. 

Ausgaben:  Roberts  von  Borron  versroman,  bgg.  von  Fr.  Michel, 
Le  roman  du  st.  graal,  Bordeaux  1841.  Die  prosaauflösung  des 
Joseph,  hgg.  von  G.  Weidner,  Der  Prosaroman  von  J.  v.  Ar.,  Oppeln 
1881.  Der  Prosa -Merlin  von  G.  Paris  und  Jakob  Ulrich,  Merlin, 
2  bde.,  P.  1886  (Sdat).  —  Über  das  Verhältnis  Roberts  zum  Liber 
Glastoniensis  s.  Baist,  ZrP  32  (1908)  231,  u.  Gralrede  (oben  s.  330). 
—  Über  den  Didot- Perceval:  Walther  Hoffmann,  Die  Quellen  des 
D.-P.,  Diss.  Halle  1905.  H.  O.  Sommer,  Messire  R.  de  B.  u.  der 
Verfasser  des  D.-P.,  Halle  1908  (17.  Beiheft  z.  ZrP).  Jessie  L.  Weston, 
The  Legend  of  Sir  Perceval  II  (oben  s.  330).  E.  Brugger,  ZfSL  36 
(1910)  II  7  ff.  —  Über  die  prosaromane  vgl.  oben  s.  330 f.,  nament- 
lich Birch-Hirschfeld,  Heinzel,  dazu  Sucbier  ZrP  16,  269  ff.,  auch  Lit. 
b.  160 ff.),  Wechssler  (Gral  s.  124 ff.,  dazu:  Über  die  verschiedenen 
Redaktionen  des  R.  v.  B.  zugeschriebenen  Gr.-L.-Zyklus,   Ha.  1895). 


5.   Bretonische  Romane. 

Die  zahl  der  nachfolger  Crestiens,  welche  die  'mauere  de 
Bretagne'  für  ihre  dichtungen  ausschöpfen,  ist  sehr  gross,  doch 
gehören  nur  die  wenigsten  von  ihnen  noch  dem  12.  Jahrhundert 
an.  Hierbei  ist  allerdings  in  rechnung  zu  ziehen,  dass  so 
manche  von  den  versromanen  des  12.  Jahrhunderts  nur  in 
prosaversionen  oder  ausländischen  bearbeituugen  erhalten  oder 
auch  ganz  untergegangen  sind. 

A.  Ille  et  Galeron,  von  Gautier  von  Arras.  Gautier, 
Verfasser  des  zwischen  antikem  epos  und  höfischem  roman 
stehenden  Heraclius  (oben  s.  286  ff.),  ist  ein  Zeitgenosse  Crestiens 


374      X.  Kapitel.    Ilüf.  Dichtung  neben  u.  unmittelbar  nach  Crestien. 

von  Troyes.  Hat  er  auf  diesen  mit  seinem  Heraclius  möglicher- 
weise noch  eingewirkt,  so  ist  sein  zweiter,  dem  bretonischen 
kreis  gehöriger  roman  etwa  mit  Crestiens  Lanzelot  und  Ivain 
gleichzeitig,  er  ist  um  1167  —  zur  krönung  der  in  den  ersten 
versen  erwähnten  kaiserin  Beatris  oder  bald  darauf  —  verfasst. 
Ille  ist  der  Sohn  eines  ritters  Eliduc  in  der  französischen 
Bretagne.  Nach  mannigfachen,  an  die  helden  der  chansons 
de  geste  (Hörn,  Boeve  de  Haumtone)  erinnernden  jugend- 
erlebnissen  —  flucht  nach  dem  tode  des  vaters,  exil,  rückkehr 
und  Wiedereroberung  des  angestammten  erbes  —  vermählt  er 
sich  mit  Galeron,  der  Schwester  des  herzogs  Conain  von  der 
Bretagne.  In  einem  turnier  des  linken  auges  beraubt  glaubt 
er,  so  entstellt,  seiner  frau  nicht  mehr  würdig  zu  sein  und 
verlässt  sie  heimlich.  In  Rom  wird  er  —  wie  weiland  der 
hl.  Wilhelm  —  erretter  von  volk  und  Stadt  aus  der  band  der 
belagernden  feinde  und  soll  nolens  volens  die  band  der  kaisers- 
tochter  Ganor  erhalten.  Trotz  gegenseitigen  suchens  finden 
sich  die  beiden  gatten  erst  im  letzten  augenblick  wieder  und 
kehren  miteinander  nach  der  Bretagne  zurück.  Nachdem  aber 
Galeron  bei  einer  schweren  geburt  den  Schleier  gelobt,  zieht 
Ille  abermals  nach  Rom,  befreit  die  in  verräterhände  gefallene 
Ganor  und  heiratet  sie.  —  Trotzdem  auch  hier  noch  manche 
einzelheiten  an  die  Stilisierung  der  chansons  de  geste  erinnern, 
befinden  wir  uns  mit  diesem  roman  doch  weit  mehr  im  höfischen 
gedankenkreis,  ja  die  exposition  selbst  scheint  au  eine  am  hof 
der  gräfin  Marie  von  Champagne  behandelte  (von  Andreas 
capellanus  erwähnte)  Streitfrage  anzuknüpfen:  ob  eine  dame 
einen  ritter  zurückweisen  dürfe,  weil  er  im  kämpfe  eine  ent- 
stellnng  davongetragen  habe.  Daneben  spielt  vielleicht  noch 
geschichtliche  sage  (die  ermordung  des  grafen  Hoel  von  Nantes 
durch  einen  beauftragten  herzog  Conans  981)  herein.  Die 
eigentliche  fabel  seines  romans  hat  Gautier  dem  von  Marie  de 
France  verfassten  lai  von  Eliduc  (s.  kap.  XI)  oder  einem  älteren 
Eliduclai  entlehnt.  Gautier  hat  jedoch  versucht,  seinen  helden 
von  der  schuld  des  treubruchs  möglichst  frei  zu  machen.  Lässt 
sich  der  Verfasser  an  zahl  wie  an  kunstwert  seiner  dichtungen 
auch  nicht  mit  Crestien  vergleichen,  so  darf  er  doch  als  einer 
der  ersten  Vertreter  des  höfischen  romans,  als  bearbeiter 
bretonischen  wie  byzantinischen  sagenstoffs  eine  hervorragende 


5.  Bretonische  Romane :   Beaus  Desconeiis.  375 

stelle  in  der  literarischen  entwicklung  des  12.  Jahrhunderts 
beanspruchen. 

B.  Der  Beaus  Desconeiis  des  Renaud  von  Beaujeu. 
Ist  in  'Ille  und  Galeron'  von  Artus  und  seinen  helden  nicht 
die  rede,  so  bietet  uns  Renaud  mit  seinem  'Schönen  Unbekannten' 
das  typische  bild  eines  Artusromans  der  späteren  zeit.  Artus 
hält  hof  zu  Carlion,  als  ein  fremder  ritter  von  jugendlichem 
und  schönem  aussehen  erscheint:  er  weiss  nur,  dass  seine  mutter 
ihn  bei  fd  nannte  (vgl.  Perceval),  daher  ihm  Artus  den  namen 
Biaus  Desconeiis  gibt.  Eine  botin  erbittet  im  namen  der  tochter 
des  königs  Gringar  einen  Artusritter  zu  hilfe,  der  den  fier 
baisier  wagen  wolle.  Niemand  meldet  sich  ausser  dem  B.  D. 
(v.  1 — 316).  Wie  Erec,  Lancelot,  Perceval  besteht  er  auf  der 
fahrt  zum  hauptabenteuer  glücklich  eine  reihe  von  kämpfen 
und  gefahren,  wobei  auch  die  aus  dem  Erec  bekannte  episode 
vom  sperber  als  schönheitspreis  wieder  begegnet  und  ein  liebes- 
abenteuer  mit  der  demoiselle  as  blanchcs  mains  auf  Ile  d'or 
eingeleitet  wird  (317 — 2726),  das  erst  nach  beendigung  des 
hauptabenteurs  weitergesponnen  und  zum  ende  gebracht  wird. 
Das  hauptabenteuer  spielt  sich  in  der  Cite  Gaste  ab.  Der  held 
muss  eine  menge  zauberspuk  über  sich  ergehen  lassen,  zwei 
Zauberer  nach  einander  besiegen  und  schliesslich  durch  den 
furchtlosen  kuss  auf  den  mund  eines  Schlangenungetüms  die 
blonde  Esmeree,  die  tochter  des  königs  Gringar,  erlösen.  Eine 
stimme  kündet  ihm,  dass  er  der  söhn  Gauvains  und  der  fee 
Blanchemal  ist  und  Guinglain  heisst.  Esmeree  bietet  ihm  herz, 
band  und  reich  an  (2727 — 3629).  Guinglain  kommt  dabei  in 
Zwiespalt  mit  seiner  liebe  zur  herrin  von  Ile  d'or,  bei  welcher 
er  nochmals  aufenthalt  nimmt  und  nach  anfänglicher  abweisung 
liebevolle  aufnähme  findet  (3630—4960).  Unterdes  hat  Esmeree 
von  Artur  die  einwilligung  zu  ihrer  heirat  mit  Guinglain 
erhalten,  der  denn  auch  die  fee  verlässt,  um  an  einem  von 
Artus  ausgeschriebenen  turnier  teilzunehmen,  den  sieg  über 
alle  gegner  davonträgt  und  endlich  auf  die  inständigen  bitten 
Artus'  und  des  ganzen  hofes  die  blonde  Esmeree  zur  frau 
nimmt  (4961—6122). 

Es  begegnen  in  dem  roman  eine  reihe  von  bekannten 
motiven  aus  Crestiens  romanen,  zumal  aus  Lancelot,  Erec, 
gelegentlich   auch   Perceval   (auch   aus  Gauchiers   fortsetzung) 


376      X.  Kapitel.    Hof.  Dichtung  neben  u.  unmittelbar  nach  Crestien. 

und  Ivaiii.  Das  bauptabenteuer  selbst  ist  aber  neu  und  gerade 
Crestien  gegenüber  dureh  die  starke  Verwendung  des  märchen- 
haften Clements  charakteristisch.  Dazu  versteht  der  dichter 
flüssig,  unterhaltend  und  gelegentlich  nicht  ohne  guten  humor 
zu  erzählen.  Hinsichtlich  der  komposition  liebt  er  es,  wie 
schon  Crestien  im  Perceval,  ein  abenteuer  durch  ein  anderes 
oder  mehrere  andere  zu  unterbrechen  und  erst  nachher  wieder 
aufzunehmen  ('abenteuerverschränkung'  oder  'einschaehtelungs- 
technik'  nach  Saran).  Der  Verfasser  hat  den  roman,  wie  er 
selbst  im  eingang  sagt,  seiner  dame  zu  liebe  gedichtet,  welcher 
er  auch  den  sens  de  chancon  faire  verdankt.  In  dem  anfangs 
des  13.  Jahrhunderts  verfassten  Guillaume  de  Dole  wird  in  der 
tat  ein  von  ihm  verfasstes  lied  erwähnt,  er  wird  also  noch 
dem  12.  Jahrhundert  zuzuschreiben  sein. 

C.  Gauvaindichtung.  Wenn  der  'Schöne  Unbekannte' 
als  Gauvains  söhn  erscheint,  so  dankt  er  dies  der  berühmtheit, 
welche  Gauvain  in  der  romanliteratur  seit  Crestien  in  steigendem 
masse  gewonnen  hat.  Er  gehört  zu  den  ältest  bezeugten  rittern 
der  tafeirunde.  Dass  seine  kraft  sich  mit  dem  zunehmenden 
tag  verdoppelt,  lässt  an  mythische  herkunft  denken.  Schon 
Wilhelm  von  Malmesbury  erwähnt  ihn  in  seinen  Gesta  regum 
Anglorum  (etwas  nach  1125)  als  neffen  Arturs  und  miles  virtute 
nominatissimus  und  erzählt  von  seinen  kämpfen  gegen  Hengist 
und  die  Sachsen,  von  seiner  Vertreibung  und  seinem  ende. 
Auch  bei  Gaufrei  von  Monmouth  kehrt  er  wieder.  Bei  Crestien 
erscheint  er  schon  im  Erec,  dann  im  Cliges,  mit  wichtigeren 
rollen  im  Ivain  und  im  Lancelot,  wo  er  zeitweilig  den  deutera- 
gonisten  darstellt,  und  im  Perceval  endlich  verdrängt  er  stellen- 
weise den  haupthelden  völlig.  So  erscheint  er  in  der  folgezeit 
als  der  idealritter,  als  muster  der  tapferkeit,  klugheit  und 
höfischheit.  Wie  die  helden  der  chansons  de  geste  hat  er  ein 
mit  namen  bezeichnetes  pferd,  den  Gringalet  (ursprünglich 
allerdings  wol  ein  gattungsname). 

Von  den  ihm  gewidmeten  dichtungen  ist  wol  am  ältesten 
und  noch  ins  12.  Jahrhundert  gehörig:  die  'Dame  mit  dem 
Maultier'  (La  damoisele  a  la  mule  oder  La  mule 
sans  frein)  von  Paien  de  Maisieres,  ein  kurzes  gedieht, 
mehr  von  umfang  und  art  eines  lais  (etwa  über  1100  vv.). 
Eine   dame    erscheint    auf   zaumlosem    maultier    am   hofe  des 


6.  Bretouischer  Romane:  (Jauvaiudicbtung,  La  mule  sans  frein.     377 

köüigs  Artus,  und  bietet  sieb  selbst  als  preis  demjenigen 
tapferen  ritter,  der  ibr  den  zäum  wieder  verschafft.  Der 
grossspreckerische  seneseball  Keu  kommt  naeb  kaum  halb 
bestandenem  abenteuer  besebämt  zurück,  Gauvain  aber  über- 
windet mutig  und  siegreich  alle  gefahren,  dringt  in  das  sich 
beständig  um  sich  selbst  drehende  schloss,  besteht  auch  hier 
alle  proben  des  muts,  der  Tapferkeit  und  der  treue  und  bringt 
glücklich  den  zäum  zurück. 

Ille  und  Galcron:  Ausgabe  von  Löseth,  P.  1890  (Bibl.  du 
m.  ä.  VII),  von  W.  Foerster,  Ha.  1891  (Rom.  Bibl.  7).  Vgl.  G.  Paris, 
Poesie  II,  109  ff.  (zwei  frauen).  F.  Lot,  Rom.  25  (1896)  585  ff. 
(historisches).  John  E.  Matzke,  The  source  and  composition  of  I.  et  G., 
Modern  Philology  4,  471  ff.  —  Beaus  Desconeüs:  Ausgabe  von 
C.  Hippeau,  Le  Bei  Inconnu  ou  Giglain  (sie!)  etc.,  P.  1860.  Vgl. 
G.  Paris,  Hist.  litt.  30,  171  ff.  E.  Philipot,  Rom.  25  (1896)  258  ff. 
Fremde  bearbeitungen  des  romans  oder  des  ihm  zugrunde  liegenden 
(verlorenen)  Originalgedichts  sind  der  mittelenglischc  Lyhiaus  Des- 
conus  (14.  jh.)  und  der  italienische  Cantare  dl  Carduino  von  Pucci 
(14.  jh.).  Vgl.  Alb.  Mennung,  Der  B.  I.  ds.  R.  d.  B.  i.  s.  Verb,  zum 
Lybeaus  D.,  Card,  und  Wigalois,  üiss.  Halle  1890.  Willi.  Henry 
Schofield,  Studies  on  the  Libeaus  Desc,  Boston  1895  (Harvard 
Studies  IV),  wozu  Philipot  Rom.  26,  290  ff.  C.  Strucks,  Der  junge 
Parzival  etc.,  Diss.  Münster  1910.  —  Nur  teilweise  stimmt  der 
inhalt  des  B.  D.  zum  mhd.  Wigalois  des  Wirnt  von  Grafenberg 
(um  1204),  dessen  franz.  grnndlage  durch  Sarans  abhandlung  über 
Wirnt  und  Wigalois  (PBB  21,  253  ff,  22,  151  ff),  und  die  heraus- 
gäbe des  prosaromans  vom  Chevalier  du  papegau  (13.  oder  14.  jh.) 
durch  Ferd.  Heuckenkamp  (Ha.  1895)  in  ein  neues  licht  gerückt 
worden  ist,  insofern  der  Wigalois  mit  dem  'Papageienritter'  viel 
engere  beziehungen  aufweist  als  mit  dem  Desconeüs  und  daher 
einen  verlorenen  franz.  versroman  voraussetzt.  Die  entstehung 
dieses  afr.  Wigalois  (Guiglois?)  braucht  freilich  nicht  durch  Ver- 
schmelzung zweier  älterer  ritterromane  (der  originale  von  Disc.  u. 
Pap.)  erklärt  zu  werden,  eher  möchte  man  Dcsc.  einerseits  und  das 
gemeinsame  Vorbild  von  Pap.  u.  Wig.  andererseits  als  ausflüsse  eines 
einheitlichen,  namentlich  mit  benutzung  Crestien'scher  motive  her- 
gestellten romans  betrachten.  —  Gauvaindichtung.  Vgl.  G.  Paris, 
Hist.  litt.  30,  19 ff.  Jessie  L.  Weston,  The  legend  of  Sir  Gawain 
(Grimm  Library  7),  London  1897,  vgl.  dazu  W.  Foerster,  ZfSL  20 
(1898)  II  95  ff.  —  Der  lat.  Gauvainroman  De  ortu  Wahvanii  nepotis 
Arthuri  (ed.  by  J.  Douglas  Bruce,  Publ.  MLA  13,  3,  Baltimore  1898) 
ist  ebenso  wie  die  Historia  sive  vita  Meriadoci  regis  Camhriae 
(ebenda  15,  326  ff.)  ein  werk  des  abtes  Robert  von  Saiut-Michel 
(1110 — 86),  ein  wichtiges  Zeugnis  für  die  Arthursage  des  12.  jhs. 
Vgl.  Marg.  Shove  Morries,  Publ.  MLA  23  (1908)  599  ff.  —  Die  Male 


o7S      X.  Kapitel.    Ilöf.  Dichtung  neben  u.  unmittelbar  nach  Crestien. 

Sans  frein  hgg.  von  Meon,  Nouveau  recueil  de  fabliaux,  contes  et 
dits,  P.  1823,  I,  1  flf.,  neuerdings  von  R.  Th.  Hill,  La  m.  s.  fr.,  Balti- 
more 1911  (Diss.),  und  15.  Orlowski,  La  d.  a  la  m.,  P.  1911  (These). 
Mittelhd.  bearbeitet  von  Heinrich  von  dem  Türlin  in  seiner  'Krone' 
(um  1220). 


6.   Antikisierende  Abenteuerromane. 

Die  der  alten  geschiebte  entnommenen  erzählenden  gediente 
enthielten  von  vornherein  viele  phantastische  demente,  die  sich 
um  so  stärker  hervordrängten,  je  mehr  die  dichter  den  boden 
der  alten  tradition  verliessen.  So  bildet  sich  gerade  hier,  wie 
wir  im  achten  kapitel  gesehen,  leicht  der  höfische  roman 
heraus,  und  besonders  Gautiers  Heraclius  wird  von  manchen  als 
der  erste  abenteuerroman  bezeichnet.  In  dieser  richtung 
schreitet  denn  auch  die  Weiterentwicklung  des  antiken  romans 
fort.  Man  nimmt  einige  mehr  oder  weniger  bezeichnende  namen 
aus  den  älteren  romanen  heraus,  stempelt  ihre  träger  zu 
beiden  einer  willkürlich  erfundenen  oder  wenigstens  willkürlich 
kombinierten  erzählung,  und  der  neue  roman  ist  fertig.  Auf 
diese  weise  sind  schon  die  späteren  Alexanderdichtungen  teil- 
weise entstanden,  auf  dieselbe  weise  entstehen  auch  die  übrigen 
romane,  welche  noch  eine  gewisse  beziehung  zum  altertume 
zeigen. 

A.  Der  Florimont  Amons  von  Varenne.  Florimont  ist 
wie  schon  oben  (s.  273)  bemerkt,  der  grossvater  Alexanders  d.  Gr. 
und  wird  hier  vor  allem  nach  seinen  jugendtaten  geschildert: 
wie  er,  allen  unbekannt,  dem  könig  Philipp  Macemus  im  kämpf 
gegen  die  Bulgaren  beisteht,  wie  er  (ähnlich  wie  Siegfried) 
ein  ungetüm  tötet  und  aus  dessen  leibe  eine  unverwundbar 
machende  salbe  gewinnt,  wie  er  eine  fee  heimlich  liebt  und 
schliesslich  Philipps  tochter  Romadanople  heiratet.  Der  Ver- 
fasser Amon  war  selbst  längere  zeit  im  byzantinischen  kaiser- 
reich,  und  wenigstens  ein  teil  seines  gedichts  scheint  auf  bvzan- 
tinische  Überlieferungen  zurückzugehen,  die  er  freilich  stark 
mit  eigenen  zutaten  versetzt  hat.  Die  eingestreuten  griechischen 
brocken  lassen  allerdings  auf  eine  nur  mangelhafte  kenntnis 
dieser  spräche  schliessen.     Verfasst  hat  er  sein  werk  übrigens 


C.   Antikisierende  Abenteuerromane.  379 

erst  im  abendlande,  1188,  und  zwar,  trotz  seiner  herkunft  aus 
dem  Lyonnais,  in  der  mundart  der  Isle  de  France. 

B.  Die  Romane  Hu  es  de  Rotelande.  Der  anglo- 
normanniscbe  dichter  Hue  hat  im  letzten  viertel  des  12.  Jahr- 
hunderts zwei  romane,  Ipomedon  und  Protesilaus,  geschrieben, 
die  mehr  mit  den  aus  der  Thebanersage  entnommenen  namen 
ihrer  personen  als  durch  ihren  inhalt  an  das  altertum  er- 
innern. Den  hauptinhalt  des  Ipomedon  bilden  die  verschiedenen 
entwicklungsstadien  der  liebe  des  helden  zu  der  fiirstin  Fiere 
von  Calabrien,  vor  deren  äugen  er  sich,  zuerst  von  ihr  wegen 
seines  taten-  und  ruhmlosen  lebens  zurückgewiesen,  bei  ver- 
schiedenen gelegenheiten  und  unter  verschiedenen  Verkleidungen 
—  so  besonders  in  einem  dreitägigen  turnier  —  als  tapferster 
der  tapfern  beweist.  —  Der  Prothesilaus  nimmt  das  thema  des 
brnderkampfes  aus  dem  Thebenroman  auf:  Daunus  von  Apulien 
und  Prothesilaus  von  Calabrien,  die  söhne  Ipomedons,  geraten 
mit  einander  in  streit,  Prothesilaus  muss  weichen,  erlebt  auf 
Kreta  wie  in  Burgund  zahlreiche  abenteuer  im  kämpf  und  in 
der  liebe  und  erringt  schliesslich  glücklich  sein  angestammtes 
erbe  wieder  nebst  dem  seines  bruders  und  einem  holden  weib. 
Der  dichter  verwertet  geschickt  seine  lesefrüchte  aus  Crestien 
wie  aus  den  antiken  romanen.  Wie  willkürlich  er  aber  die 
verschiedenen  demente  kombiniert,  mag  daran  gezeigt 
werden,  dass  die  königin  lsmene  von  Burgund  durch  könig 
Theseus  von  Dänemark  bekriegt  wird  und  am  ende  den 
Meleander  von  Kreta  heiratet,  während  die  gemahlin  des 
Prothesilaus  von  Calabrien  Medea  von  Kreta  wird. 

C.  Athis  und  Prophilias.  Der  in  einer  längeren  und 
einer  kürzeren  (auch  inhaltlich  abweichenden)  fassung  über- 
lieferte roman,  von  einem  noch  nicht  näher  bestimmten  dichter 
Alixandre,  behandelt  im  ersten  teil,  im  anschluss  an  die 
Disciplina  clericdlis,  in  grosser  ausführlichkeit  das  thema  von 
zwei  treuen  freunden,  deren  einer  (der  Athener  Athis)  eine 
wunderschöne  frau  heiratet  und  dann  seinem  freund  (Porphirias 
aus  Rom)  das  opfer  bringt  sie  ihm  —  zuerst  de  facto,  dann 
auch  de  jure  —  zu  überlassen.  Athis  wird  schliesslich  mit 
des  anderen  Schwester,  Gai'te,  entschädigt,  was  den  kriegszug 
des  königs  Bilas  von  Bile  gegen  Rom  hervorruft.  Auch  die 
langen    kämpfe    des    zweiten    teils    von    Athen    werden    nicht 


380      X.  Kapitel.    Hüf.  Dichtung  neben  u.  unmittelbar  nach  Crestien. 

wegen  politischer  Verwicklungen,  sondern  nur  um  der  Weiblichkeit 
willen  geführt.  Mit  einigen  antiken  namen  —  Theseus  von 
Athen,  Pirithous,  Palamedes,  Resus,  Thoas  u.  a.  —  sucht  der 
Verfasser  seine  in  der  Schilderung  höfischen  lebens  und  krank- 
haften Hebens  aufgehende  erzähluug  zu  einer  Estoire  d'Athenes 
zu  stempeln. 

Andere  romane  mit  antiken  namen  sind  ihres  inhalts 
wegen  schon  mehr  den  byzantinischen  liebesromanen  zu- 
zurechnen. 

Eine  ausgäbe  des  Florimont  wird  von  Alfred  Risop  vor- 
bereitet. Vgl.  J.  Psichari,  Le  r.  de  FL,  in  Etudes  G.  Paris  s.  507  ff., 
dazu  Fr.  Novati,  Rdlr  35  (1892)  481  ff.,  und  G.  Paris  Rom.  22 
(1893)  s.  158  ff.  A.  Risop,  Ungelöste  Fragen  z.  FL,  im  Toblerband 
s.  430 ff.  —  Ipomedon  hg.  von  E.  Kölbing  und  E.  Koschwitz, 
Breslau,  1889.  Vgl.  dazu  E.  Stengel  ZfSL  13,  II,  9  ff,  und  Mussafia 
i.  d.  Sitzber.  d.  Wien.  Akad.,  Phil.-hist.  Kl.  121,  Wien  1890.  — 
Über  Prothesilaus  vgl.  Ward,  Catalogue  of  Romances  I  s.  728ff. 
Fr.  Kluckow,  Sprachliche  u.  textkrit.  Studien  über  H.  d.  R.'s  Pr. 
nebst  Abdruck  der  ersten  1009  Verse,  Diss.  Greifsw.  1909.  F.  Boenigk, 
Lit.-hist.  Untersuchungen  zum  Pr.,  Diss.  Greifsw.  1909.  —  Athis 
und  Porphirias:  druck  des  ersten  teils  von  A.  Weber,  Stoefa  1881, 
von  Harald  Borg,  Uppsala  1882.  Gesamtausgabe  von  Alfons  Hilka, 
A.  u.  Pr.,  I  (bis  v.  8990),  Dresden  1912  (GrL  29).  Vgl.  Lage 
E.  W.  Stael  von  Holstein,  Le  roman  d'A.  et  Pr.,  Etüde  littcraire 
sur  les  deux  versions,  Upsala  1909.  Das  gedieht  wurde  von  einem 
begabten  dichter  um  1214  ins  deutsche  übersetzt.  Vgl.  W.  Grimm, 
Kl.  Schriften  3,  212  ff. 


7.    Liebesromane  byzantinischen  Charakters. 

Gegenüber  den  eben  besprochenen  romanen  charakterisiert 
sich  eine  andere,  teilweise  auch  mit  griechischen  namen 
arbeitende  gruppe  dadurch,  dass  an  stelle  kriegerischer  oder 
sonstiger  heldenhafter  ereignisse  die  liebesgeschichte  eines 
ehe-  oder  liebespaares  den  mittelpunkt  bildet,  wobei  vielfach 
äussere  ereignisse  —  wie  seesturm,  entführung  durch  See- 
räuber u.  ä.  —  die  fortschritte  der  handlung,  die  trennung 
und  Wiedervereinigung  der  liebenden  oder  auch  der  eitern 
und  kinder,  herbeiführen.  In  dieser  hinsieht  darf  Crestiens 
auf  der  Eustachius-Placidaslegende   beruhender  Wilhelm  von 


7.  Liebesromane  byzantinischen  Charakters:  Floire  et  Blancheflor.    381 

England  (oben  s.  332)  als  erstes  beispiel  in  der  franz.  Literatur 
gelten.  Vor  allem  aber  war  der  lateinische  Apolloniusroman 
im  mittelalter  wol  bekannt  und  vielfach  vorbildlich,  z.  t.  wol 
auch  durch  Vermittlung  französischer  bearbeitungen,  auf  welche 
in  französischen  und  provenzalischen  dichtungen  mehrfach  an- 
gespielt wird.  Eine  bearbeitung  in  achtsilbnern,  von  welcher 
jüngst  ein  bruchstiiek  in  der  Danziger  Stadtbibliothek  entdeckt 
wurde,  kann  noch  dem  12.  Jahrhundert  angehören  und  jüngere 
dichtungen  beeinflusst  haben.  Eine  freie  bearbeitung  des 
Apollonius  ist  die  chänson  de  geste  von  Jourdain  de  Blaivies 
(oben  s.  246  f.).  Übrigens  finden  sich  verwandte  themen  ge- 
legentlich auch  in  bretonischen  romanen,  wie  Gautiers  Ille 
und  Galeron  zeigt. 

Über  den  lat.  roman  s.  oben  s.  41.  Alfred  Schulze,  Ein 
Bruchstück  des  afr.  Ap.-romans,  ZrP  33  (1909)  226  ff.  Über  die 
jüngeren  bearbeitungen  (in  prosa)  s.  Charles  B.  Lewis,  Die  afr. 
Versionen  der  lat.  Historia  Apollonii  regis  Tyri,  Diss.  Breslau  1912 
(vollständig  RF  34,  1.  lieft). 

A.  Floire  et  Blancheflor.  Wol  das  älteste  gedieht 
dieses  kreises  (neben  Crestiens  Wilhelm),  jedenfalls  das  be- 
rühmteste und  am  weitesten  verbreitete  von  allen  ist  die  ge- 
schichte  von  den  beiden  am  gleichen  tage  gebornen  liebenden, 
von  dem  heidnischen  königssohn  Floire  und  der  in  der  ge- 
fangenschaft  des  heidenkönigs  geborenen  christlichen  grafen- 
tochter  Blancheflor.  Floires  vater  Felis,  könig  im  heidnischen 
Spanien,  sieht  die  liebe  zwischen  den  beiden  nicht  gern,  er 
sendet  den  söhn  unter  einem  vorwand  zu  einer  verwanten  nach 
Castel  Montoire  und  verkauft  Blancheflor  an  die  kauf  leute,  die 
zufällig  im  hafen  sind  und  das  schöne  mädchen  stracks  nach 
Babylon  bringen  und  um  sein  siebenfaches  gewicht  in  gold 
an  den  emir  verkaufen.  Die  falsche  nachricht,  Blancheflor  sei 
gestorben,  bringt  Floire  zur  Verzweiflung,  er  will  sich  selbst 
das  leben  nehmen,  wird  aber  von  der  mutter  daran  gehindert 
und  erfährt  nun  den  wahren  Sachverhalt.  Mit  einwilligung 
der  eitern  geht  er  auf  die  suche  nach  Blancheflor,  trifft  zum 
glück  überall  menschen,  die  von  ihr  wissen,  und  kommt  so 
nach  Babylon,  wo  Blancheflor  mit  mehreren  hundert  anderen 
mädchen  in  der  tor  as  puceles  (eine  art  harem)  eingeschlossen 
ist.     Mit   hilfe   des   bestochenen  pförtners  gelangt  er  in  einem 


382      X.  Kapitel.    Ilüf.  DichtiiDg  neben  u.  unmittelbar  nach  Crestien. 

blumenkorb  verborgen  zu  Blancheflor,  wird  aber  eines  morgens 
entdeckt  und  mit  ihr  vor  gerieht  gestellt.  Beide  werden  zum 
feuertod  verurteilt,  jedes  von  beiden  sehreibt  sich  selber  die 
schuld  zu,  um  des  anderen  leben  zu  retten,  jedes  drängt  sich 
vor  dem  andern  zum  sterben.  Das  rührt  schliesslich  selbst 
den  grimmen  sultan,  er  begnadigt  das  paar  und  lässt  es  an 
ort  und  stelle  in  der  kirche  trauen,  er  selbst  verspricht, 
Blancheflors  freundin  Claris  nicht  bloss  —  wie  seine  bisherigen 
frauen  —  auf  ein  jähr,  sondern  auf  lebenszeit  zu  heiraten. 
Während  des  festes  bringen  heimische  boten  die  nachricht  vom 
tode  des  köuigs  Felis,  Floire  kehrt  mit  Blancheflor  heim  und 
wird  ihr  zu  liebe  christ,  ebenso  sein  ganzes  volk:  länger  als 
eine  woche  wird  getauft;  wer  nicht  will,  wird  getötet. 

Der  dichter  führt  die  handlang  zielbewusst,  ohne  retar- 
dierende nebenepisoden,  in  rund  3000  versen  zu  ende.  Die 
handlung  besteht  so  überhaupt  nur  aus  exposition  (Vorgeschichte 
bis  zur  Trennung  der  liebenden,  v.  1 — 1018),  haupthandlung 
(finden  und  wiedergewinnen  Blancheflors,  v.  1019 — 2886),  heim- 
kehr  (2887 — 2974)  und  wird  nur  durch  eine  auzahl  eingehender 
und  anschaulicher  beschreibungen  —  wie  die  des  kunstvollen 
grabdenkmals  für  Blancheflor,  des  wertvollen  bechers,  den 
Floire  mit  auf  die  reise  nimmt,  der  stadt  Babylon  und  des 
mädchenturmes  —  oder  durch  reflexionen  wie  die  über  das 
wirken  der  Fortuna  und  ihres  rades  unterbrochen.  Floires 
schmerz  über  den  vermeintlichen  Verlust  der  geliebten,  seine 
vorwürfe  gegen  den  ungerecht  wählenden  tod  weiss  der  Ver- 
fasser eindrucksvoll  zur  darstellung  zu  bringen.  Die  zwie- 
spältigen gefühle,  welche  den  helden  in  Babylon  angesichts 
der  bevorstehenden  Schwierigkeiten  beseelen,  werden  nicht 
ungeschickt  in  form  eines  dialogs  zwischen  ihm  und  Amor 
dargestellt.  Die  liebe  und  treue  der  beiden  kinder  —  Floire 
selbst  zählt  erst  fünfzehn  jähre  und  hat  ein  gesiebt  wie  ein 
junges  mädchen  —  bildet  das  leitmotiv  der  ganzen  handlung. 
Die  herkunft  des  Stoffes  liegt  auch  heute  noch  nicht  völlig 
klar,  einige  nebenzüge  (harem  u.  ä.)  stammen  möglicherweise 
aus  dem  Orient.  Der  zwischen  1160  und  1170  verfasste  roman 
(die  sog.  version  aristoeratique)  wurde  ende  des  Jahrhunderts 
durch  einen  dichter  mehr  populärer  geschmacksrichtung  um- 
gearbeitet (version  populaire). 


7.  Liebesrumaue  byzantinischen  Charakters:  Guill.  de  l'alerue.      o^'-'< 

Ausgaben:  Älterer  text  ligg.  von  Imin.  Bekker,  B.  1844  (auch 
Abb.  d.  Berl.  Akad.),  beide  texte  von  fidelestand  du  Meril,  Fl.  et 
Bl.,  P.  1856.  —  Über  geschickte  und  Verbreitung:  II.  Sund- 
macher,  1).  afr.  u.  uihd.  Bearbeitung  der  Sage  v.  Fl.  u.  Bl.,  Gott. 
Diss.  1872.  II.  Herzog,  Die  beiden  Sagenkreise  von  Fl.  u.  Bl., 
Germania  29  (1884)  13911".  G.  Huet,  Sur  l'origine  de  Fl.  et  BL, 
Rom.  28  (1899)  348  ff.,  35  (1906)  95  ff.  J.  II.  Reinhold,  Fl.  et  Bl., 
Etüde  de  litt,  comparee,  P.  1906.  Rene  Basset,  Les  sources  arabes 
de  Fl.  et  BL,  Revue  des  trad.  pop.  22  (1907)  241  ff.  Oliver 
M.  Johnston,  ZrP  32  (1908)  705  ff.  Über  Boccaccios  Filöcolo  (name 
des  beiden,  aus  (filoj.  und  yöXoc  —  nicht  Filöcopo)  vgl.  die  im 
Rom.  Grundriss  II,  3,  s.  111   cit.  lit. 

Die  erzählung  ist  in  der  älteren  form  namentlich  in  den  ger- 
manischen literatureu  bekannt  und  beliebt  geworden:  zuerst,  um 
1170,  in  einer  nieder  fränkischen  bearbeitung,  dann,  um  1220,  mittel- 
hochdeutsch (Konrad  Fleck),  weiterhin  norwegisch  und  schwedisch, 
niederländisch,  niederdeutsch  und  mittelenglisch.  Die  jüngere  franz. 
bearbeitung  ist  für  ein  einfacheres  publikum  bestimmt  und  mehr 
dem  stile  der  chansons  de  geste  angepasst:  ausführlicher  als  dort, 
mit  erweiterung  der  handluug  (Blanckeflor  wird  eines  Vergiftungs- 
versuchs gegen  den  könig  bezichtigt  und  soll  mit  ihrer  mutter 
verbrannt  werden,  Floire  gewinnt  die  Verzeihung  des  emirs  durch 
seinen  sieg  über  den  plötzlich  auftauchenden  Jonas  de  Handres  u.  ä.), 
aber  mit  geringerer  kunst.  Diese  jüngere  form  kehrt  im  italienischen 
(Cantare  —  Boccaccios  Filöcolo,  zw.  1338  —  40),  spanischen  und 
neugriechischen  wieder. 

B.  Guillaume  de  Palerne  —  L'Escoufle.  Gleichfalls 
noch  in  das  ende  des  12.  Jahrhunderts  (oder  in  die  unmittelbar 
folgenden  Jahrzehnte)  gehören  zwei  in  einer  und  derselben 
handschrift  überlieferte,  aber  nicht  von  einem  Verfasser  her- 
rührende romane,  welche  —  wie  'Floire  und  Blancheflor '  — 
die  über  den  willen  der  eitern  und  alle  anderen  hindernisse 
siegreiche  liebe  eines  jungen  paares  schildern.  In  Guillaume 
de  Palerne  (d.  i.  Palermo)  ist  das  motiv  mit  der  sage  vom 
werwolf  (loup  uarou  oder  kurz  warou,  garou)  verquickt, 
welche  ausser  in  germanischen  auch  in  griechischen  und 
bretonischen  Überlieferungen  (so  in  den  lais  von  Bisclavret 
und  Melior)  heimisch  ist.  —  Der  andere  roman  'L'Escoufle'' 
(Hühnergeier)  trägt  seinen  namen  nach  dem  eingreifen  eines 
hlihnergeiers,  welcher  dem  auf  der  flucht  befindlichen  Liebespaar 
eine  geldtasche  mit  einem  ring  raubt  und  so  die  trennung  des 
helden,  der  ihn  verfolgt  um  ihm  das  geraubte  wieder  abzujagen, 
von  seiner  geliebten  bewirkt.     Ein  hühnergeier,  welcher  den 


384      X.  Kapitel.    Hüf.  Dichtung  neben  n.  unmittelbar  nach  Crestien. 

helden  an  die  Ursache  seines  Unglücks  gemahnt  und  von  ihm 
getötet  wird,  ist  dann  auch  die  Ursache  des  glücklichen  wieder- 
findens  der  liebenden. 

Guillaume  de  Palerne  p.  p.  II.  Michelant,  P.  1876  (Sdat), 
dazu  Mussafia,  ZrP  3  (1879)  244  ff.  Vgl.  W.  Hertz,  Der  Werwolf, 
Stuttgart  1862,  Warnke,  Lais 2,  einl.  s.  99;  über  den  angeblichen 
Verfasser  Jehan  Renart  F.  M.  Warren,  Mod.  Lang.  Notes  23  (1908) 
69  ff,  97  ff.  Über  d.  mittelengl.  bearbeitung  Kaluza  i.  Engl.  Studien 
4,  196 ff  —  L'Escoufle,  p.  p.  H.  Michelant  et  P.  Meyer,  P.  1894. 
Vgl.  Mussafia,  Wien.  Sitzber.  135  (1897),  abh.  14.  Zur  trennung 
durch  den  raub  eines  kleinodes  G.  Paris,  Rom.  18  (1889)  510  ff. 


8.    Sonstige  Liebes-  und  Abenteuerromane. 

Die  grenzen  zwischen  den  verschiedenen  romangattungen 
lassen  sich  nicht  immer  scharf  ziehen,  manche  gehören  (wie 
z.  b.  schon  der  Clig£s)  zu  einem  teil  dieser,  zum  andern  teil 
jener  gattung  an,  und  schliesslich  kommen  noch  solche  romane 
dazu,  welche  direkt  auf  heimischer  Überlieferung,  sei  es  auf 
populären  erzählungen  (contes),  sei  es  auf  historischen  (bio- 
graphischen) dementen  beruhen. 

A.  Partonopeus  von  Blois.  Dieser  zweifellos  nach  den 
werken  Crestiens  von  Troyes,  aber  (nach  Gröber)  vor  dem 
Florimont,  also  vor  1188  entstandene  roman  zeigt  zunächst 
einen  recht  märchenhaften  Charakter,  dessen  einzelne  demente 
im  gedieht  nur  teilweise  eine  reale  erklärung  finden.  Sagen- 
hafte und  literarische  demente  anderer  herkunft  kommen  dazu. 
Durch  den  aus  dem  Thebenroman  stammenden  namen  des  helden 
sowie  durch  die  wideraufnahme  der  trojanischen  abkunft  der 
Frankenkönige  (allem  anschein  nach  aus  Fredegar  oder  einer 
ähnlichen  quelle)  wird  der  anschluss  an  die  antiken  romane 
hergestellt.  Partonopeus  erscheint  hier  als  neffe  des  Clovis, 
der  seinerseits  in  direkter  linie  von  Marcomiris,  Priams  söhn, 
abstammt.  Auf  wunderbare  weise  gelangt  er  in  das  weit 
entlegene,  zauberhaft  ausgestattete  schloss  Chief  d'Oire  (nach 
dem  hier  vorbeifliessenden  Oirefluss  genannt).  Es  gehört  der 
schönen  und  mächtigen  Melior,  welche  ihm  nächtlich  ihre  liebe 
schenkt,   aber   zur   bedingung  macht,   dass  er  sie  nicht  sehen 


8.  Sonstige  Liebes-  und  Abenteuerromane:  Partonopeus.         385 

dürfe,  bis  sie  ihn  offen  vor  allen  ihren  baronen  zum  gatten 
nehmen  werde.  Nach  einem  jähr  auf  kurze  zeit  nach  Frank- 
reich zurückgekehrt  befreit  er  den  könig  und  sein  land  von 
den  gefährlichen  Dänen  und  wird  mit  des  königs  Dichte  ver- 
lobt, kehrt  aber  bald  wieder  reuig  zu  seiner  schönen  fee  zurlick. 
Bei  einem  abermaligen  besuch  in  der  heimat  von  verwanten 
und  geistlichen  misstrauisch  gegen  die  unsichtbare  schöne 
gemacht  verletzt  er  die  von  ihr  gestellte  bedingung,  beleuchtet 
sie  mit  einer  hellen  Interne  und  macht  dadurch  ihre  ganze 
Zauberkraft,  die  sie  als  tochter  des  kaisers  von  Konstantinopel 
gelernt  hat.  zu  schänden.  Trotz  Zuredens  ihrer  Schwester 
Urrake  verstösst  sie  ihn  (wie  Laudine  den  Ivain),  er  kehrt 
nach  Frankreich  zurlick  und  führt  (wiederum  wie  Ivain)  ein 
abenteuerliches  leben  im  walde,  bis  er  von  Urrake  aufgefunden 
wird,  welche  ihm  auch  weiterhin  (wie  Lunete  dem  Ivain) 
beisteht,  die  gunst  Meliors  wieder  zu  gewinnen.  Von  dem 
tückischen  Armant  auf  der  insel  Thenedon  gefangen,  weiss  er 
sich  mit  hilfe  von  Armants  frau  zu  dem  bevorstehenden  heirats- 
turnier  der  gefangenschaft  zu  entziehen  (vgl.  Lancelot),  kämpft 
an  drei  tagen  nacheinander  als  der  beste  ritter  und  erhält 
nunmehr  die  band  der  Melior  und  die  herrschaft  über  das 
reich,  während  Urrake  den  könig  Lohier  von  Frankreich,  ihre 
cousine  Persewis  Gaudin,  den  treuen  genossen  des  Partonopeus, 
heiratet. 

Das  den  mittelpunkt  bildende  abenteuer  (der  held  ver- 
scherzt alles  dadurch,  dass  er  gegen  das  verbot  die  unsichtbare 
geliebte  zu  sehen  trachtet)  zeigt  eine  gewisse  verwantschaft 
mit  dem  antiken  märchen  von  Amor  und  Psyche,  wobei  aller- 
dings die  beiderseitigen  rollen  vertauscht  erscheinen.  Dass  der 
dichter  die  erzählung  des  Apulejus  (im  4.  buch  seiner  Meta- 
morphosen) direkt  benutzt  habe,  wird  jedoch  von  Gröber 
bestritten.  Jedenfalls  hat  der  dichter  noch  eine  reihe  anderer 
Vorbilder  in  die  hauptfabel  verarbeitet:  motive  aus  den  chansons 
de  geste  (Dänenkampf),  vor  allem  aber  aus  Crestiens  romanen 
{Löwenritter,  Lancelot,  Clig^s)  und  aus  den  bretonischen  lais. 
Partonopeus  verirrt  sich  im  wald  auf  der  jagd  nach  einem 
geheimnisvollen  eber  wie  Guingamor,  welcher  dadurch  zu  der 
schönen  fee  ins  land  der  abenteuer  geführt  wird.  Auf  ähnliche 
weise  wird  der  held  im  Graelant  und  im  Lanval  zu  seiner  fee 

Voretzsch,  Studium  d.  afrz.  Literatur.     2.  Auf  läge.  25 


386      X  Kapitel.    Ilöf.  Dichtung  neben  u.  unmittelbar  nach  Crestieu. 

geleitet,  welche  ihm  auferlegt,  anderen  gegenüber  seine  liebe 
zu  verheimlichen  und  ihn  nach  brach  des  Verbots  schwere 
liebesproben  bis  zur  endlichen  Verzeihung  bestehen  lässt.  Im 
Guigemar  kommt  dazu  noch  das  zaubersehiff,  das  den  beiden 
über  das  meer  zu  ihr  trägt,  die  entdeckung  des  heimlichen 
liebesverkehrs  durch  den  kämmerer  u.  a.  m.  Der  dichter  hat 
also  quellen  sehr  verschiedenen  inhalts  in  seiner  umfangreichen 
dichtung  (ca.  11 000  verse)  mit  einander  kombiniert  und  ge- 
schickt verschmolzen. 

Ausgabe  von  Robert,  Partonopeus  de  Blois,  P.  (Verleger 
Crapelet)  1834,  2  bde.  Vgl.  E.  Pfeiffer,  Ü.  d.  Handschriften  des  afr. 
P.,  Marburg  1884  (Stengels  AA  25).  H.  F.  Massmann  (Part,  u. 
Melior.  Afr.  Gedicht  etc.)  gibt  aus  dem  afr.  gedieht  nur  einen 
auszug.  —  Das  gedieht  wurde  ins  mhd.  (etwa  1277,  von  Konrad 
von  Würzburg),  niederl.  (mitte  des  13.  jhs.),  niederdeutsche,  alt- 
nordische und  dänische,  spätmittelenglische,  spanische  übertragen. 
Vgl.  zur  stoffgeschichte  E.  Kölbing,  Ü.  d.  verschiedenen  Ge- 
staltungen der  P.-sage,  i.  Bartschs  Germ.  Studien  II,  55  ff.  (Wien 
1875),  und  Beiträge  z.  vergl.  Gesch.  d.  romant,  Poesie  u.  Prosa  des 
MA.,  Breslau  1876,  s.  80  ff.  Van  Look,  Der  Partenopier  Konrads 
v.  W.  u.  d.  Partenopeus,  Diss.  Str.  1881.  F.  Weingärtner,  Die 
mittelengl.  Fassungen  der  P.-sage,  Diss.  Breslau  1888.  A.  von 
Berkuni,  De  middelnederlandsche  Bewerking  van  den  Parthonopeus- 
roman,  Diss.  Groningen  1897.  K.  Sneyders  de  Vogel,  La  suite  du 
P.  d.  Bl.  et  la  version  hollandaise,  Rdlr  48,  5  ff.  —  Über 
M.  Kawczynski,  P.  de  Blois,  poemat  franeuski  (Krakau  1901)  siehe 
W.  Foerster  LgrP  23  (1902)  s.  28 ff,  auch  grosser  Cliges  s.  339. 
Vgl.  ferner  Gröber  585  ff. 

B.  Le  Comte  de  Poitiers.  Der  noch  im  12.  Jahr- 
hundert (nach  G.  Paris  etwa  1180)  verfasste  roman  stellt  die 
älteste  franz.  behandlung  des  themas  von  der  'wette'  dar, 
welches  G.  Paris  kurz  folgen derrnassen  charakterisiert:  'un 
homme  se  porte  garant  de  la  vertu  d'une  femme  a  l'encontre 
d'un  autre  homme  qui  se  fait  fort  de  la  s^duire;  par  suite 
d'apparences  trompeuses,  la  femme  semble  avoir  en  effet  cC'de 
au  s^dueteur,  mais  enfin  son  innocence  est  reconnue'.  Hier  ist 
es  der  graf  Gerart  von  Poitiers,  welcher  sich  bei  hofe  der 
tugend  seiner  frau  Rose  rühmt  und  mit  dem  herzog  der  Nor- 
mandie  eine  wette  eingeht.  Dieser  gewinnt  dadurch,  dass  er 
die  amme  der  tugendhaften  gräfin  besticht  und  durch  ihre 
Vermittlung   sowol   zehn   haare  der  gräfin  als  auch  ihren  ring 


S.   Sonstige  Liebes-  und  Abenteuerromane.  387 

und  riii  stück  samt  von  ihrem  rock  erhält.  Gerart  will  zuerst 
seine  fi au  tüten,  begnügt  sich  aber  dann  damit,  sie  allein  im 
wald  zurückzulassen,  wo  sein  neffe  Harpin  sie  auffindet.  Durch 
zufall  erfährt  der  graf  den  begangenen  verrat  aus  dem  eigenen 
munde  des  herzogs  und  der  amme,  holt  seine  frau  zurück  und 
erweist  ihre  Unschuld  im  Zweikampf  mit  dem  herzog.  Das 
im  vergleich  zu  anderen  romanen  wenig  umfangreiche  gedieht 
zeigt  einen  ziemlich  altertümlichen  Charakter  und  ist,  trotz 
der  reimpaare,  von  der  höfischen  dichtung  so  gut  wie 
unberührt. 

C.  GuillaumedeDöle  (oder  Romans  de  la  rose). 
Dieser  roman  bietet  eine  andere  Variante  desselben  themas: 
die  zu  erprobende  dame  ist  die  jungfräuliche  Schwester  (Lienor) 
des  helden  (Guillaume  de  Döle),  der  Verleumder  ihrer  ehre 
des  kaisers  seneschall;  der  beweis,  den  dieser  für  ihre  Unehre 
erbringt,  besteht  in  seiner  kenntnis  von  einem  muttermal,  das 
sie  in  form  einer  rose  am  Schenkel  trägt.  Die  verleumdete 
nimmt  selbst  ihre  rechtfertigung  in  die  hand,  überführt  den 
seneschall  vor  versammeltem  hof  und  wird  nun  die  gattin 
dessen,  der  sich  auf  das  lob  ihrer  tugend  hin  in  sie  verliebt 
hatte,  des  deutschen  kaisers  Corras  (Konrad).  Der  dichter  hat 
seinen  roman  als  ordensmönch  zwischen  1199 — 1201  verfasst. 
Er  gibt  ihm  in  technischer  hinsieht  ein  neues  und  originelles 
gepräge  dadurch,  dass  er  zahlreiche  lieder  und  liedstrophen  in 
die  erzählung  einstreut;  nicht  nur  die  lieder,  welche  der  Jongleur 
vorträgt,  werden  uns  mitgeteilt  (gelegentlich  auch  eine  laisse 
aus  einer  chanson  de  geste),  sondern  auch  die  damen  und 
herren  der  gesellschaft  singen  zur  Unterhaltung  tanz-  und 
liebeslieder,  auch  romanzen,  und  der  kaiser  selbst  singt  morgens 
zum  aufstehen  bei  geöffnetem  fenster  ein  leidenschaftliches 
sehnsuchtslied.  Die  lieder,  von  denen  hier  bruchstücke  vor- 
getragen werden,  sind  grösstenteils  auch  sonst  bekannt,  eine 
reihe  von  höfischen  dichtem  des  12.  Jahrhunderts  sind  hier 
mit  liedern  vertreten  (Guillaume  de  Ferneres,  Gace  Brul6, 
Chätelain  de  Coucy,  Renaud  de  Beaujeu  u.  a.),  darunter  auch 
provenzalisehe  trobadors  wie  z.  b.  Bernart  de  Ventadorn.  Diese 
zitate  haben  ihre  selbständige  bedeutung  für  die  entwicklung  der 
lyrik.  Im  übrigen  hat  der  dichter  mit  seiner  erfinduug  schule 
gemacht:   verschiedene   roman e  des  13.  Jahrhunderts,   darunter 

25* 


388      X.  Kapitel.    Ilüf.  Dichtuug  neben  u.  unmittelbar  nacb  Crestien. 

vor  allem  der  das  gleiche  thema  behandelnde  'Veilchenromau' 
Gerberts  von  Montreuil,  ahmen  unsern  dichter  nach. 

Le  Comte  de  Poitiers  p.  p.  Fr.  Michel,  P.  1831.  —  Le 
Roman  de  la  Rose  ou  de  Guillaume  de  Döle  p.  p.  G.  Servois, 
P.  1893  (S.  d.  a.  t).  Dazu  Mnssafia,  Wien.  Sitzber.  136  (1897), 
abh.  7.  Der  dichter  hat  sein  werk  nach  v.  11  Hörnerne  de  la  Rose 
genannt,  aber  der  von  Claude  Fauchet  (16.  jh.)  gewählte  name 
G.  d.  D.  empfiehlt  sich,  um  Verwechslungen  mit  dem  allegorischen 
'Rosenroman'  von  Guillaume  de  Lorris  und  Jehan  de  Meung  zu 
verhüten.  —  Die  zugrunde  liegende  er  Zählung  von  der  wette 
ist  weit  verbreitet  und  in  den  verschiedensten  literaturen  behandelt 
worden.  Vor  allem  sind  ausser  den  zahlreichen  franz.  bearbeitungen 
(Veilchenroman,  prosanovelle  von  Floire  et  Jehane  13.  jh.,  Miracle 
14.  jh.,  novelle  des  15.  jhs.  usw.)  Boccaccios  novelle  (Decamerone  2,  9), 
Shakespeares  Cymbeline  und  Webers  oper  Euryanthe  (statt  Enriaut) 
hervorzuheben.  Das  mhd.  gedieht  Ruprechts  von  Würzburg  ist  aus 
dem  franz.  übersetzt.  Die  zahlreichen  älteren  Untersuchungen  von 
Rochs  (1882),  Ohle  (1890)  u.a.  sind  jetzt  überholt  von  G.Paris: 
Le  cycle  de  la  gageure,  Rom.  32  (1903)  481  ff. 

D.  Robert  der  Teufel.  Auch  dieser,  die  mitte  zwischen 
abenteuerroman  und  legende  haltende  roman  basiert  auf  einer 
weitverbreiteten  volkstümlichen  erzählung.  Robert  ist  von 
geburt  an  dem  teufel  verfallen,  da  seine  mutter,  kinderlos  und 
ohne  hoffnung  beim  himmel  erhörung  zu  finden,  ihn  vom  teufel 
erbeten  hat.  Über  sein  Schicksal  aufgeklärt  tut  er  zur  rechten 
zeit  busse,  befreit  Rom  dreimal  von  den  Türken,  weist  jedoch 
alle  lockenden  belohnungen  von  sich  und  beschliesst  sein  leben 
als  frommer  einsiedler. 

Ausgabe  von  E.  Löseth,  Robert  le  Diable,  P.  1903  (S.  d.  a.  t). 
Siehe  iu  der  einleitung  auch  die  früheren  arbeiten  über  den  gegen- 
ständ. Die  erzählung  ist  nur  äusserlich  an  einen  herzog  Robert 
von  der  Normandie  angeknüpft  (ebenso  wie  Crestiens  Wilhelm  an 
einen  könig  von  England).  Im  franz.  begegnet  die  erzählung  noch 
in  einem  Dit  des  13.  jhs.  (s.  Breul,  Toblerband  s.  464  ff.),  in  einem 
Miracle  des   14.  jhs.  und  in  Volksbüchern. 

E.  Gilles  de  Chin.  Dieser  roman  ist  insofern  anderer 
art  als  der  vorhergehende,  als  er  die  Schicksale  eines  erst  1137 
verstorbenen  ritters  schildert  und  mit  romanesken  abenteuern 
(nach  dem  muster  der  antiken  und  bretonischen  romane)  ver- 
knüpft. Er  ist  somit  auf  der  grenze  zwischen  geschiente  und 
dichtung  und  lässt  sich  als  der  erste  historisch -biographische 


6.  Sonstige  Liebes-  und  Abenteuerromane.  389 

roman  bezeichnen.  Als  Verfasser  nennt  sieb  Gantier  le  Cordier 
aus  Tournai,  dessen  werk  im  14.  Jahrhundert  in  prosa  um- 
gesetzt wurde. 

Ausgabe  vom  baron  de  Reiffenberg,  Monuments  pour  servir  ä 
l'histoire  des  prov.  de  Namur  etc.  7  (1847)  1  ff.  Vgl.  Hist.  litt. 
23,  395  ff. 

Über  einen  teil  der  hier  besprochenen  romane  vgl.  noch  Hist. 
litt.  19,  678  ff,  23,  757  ff,  bes.  782  ff.  —  Ebenso  wie  die  nationale 
epik  der  chansons  de  geste  hat  auch  der  höfische  roman  auf  die 
fremden  literaturen  des  abendlandes  eingewirkt,  wie  bei  den 
einzelnen  romanen  angegeben  worden  ist.  Zusammenhängende 
kompilationen  finden  sieh  hier  jedoch  im  ganzen  seltener  als  bei 
den  Stoffen  der  nationalen  heldendichtung.  Heinrich  von  dem 
Türlin  (oben  s.  378)  hat  in  seiner  Krone  eine  anzahl  von  Artus- 
dichtnngen,  besonders  Gauvainromauen,  kombiniert  und  mit  stücken 
eigener  erfindung  verschmolzen.  Der  Niederländer  Lodewijk  hat, 
im  ersten  viertel  des  14.  jhs.,  in  dem  sog.  Roman  van  Lancelot 
(hgg.  von  Jonckbloet,  1848  —  49)  mit  dem  hauptstoff  verschiedene 
Artusromane  meist  franz.  Ursprungs,  teilweise  auch  einheimischer 
erfindung,  zu  einer  lose  zusammenhängenden  kompilation  vereinigt. 
Aus  dem  norden  lassen  sich  die  Eufemiatisur  anführen,  welche 
um  1300  auf  veranlassung  der  königin  Eufemia,  gemahlin  Hakons 
Magnüsson,  entstanden  und  ausser  dem  deutschen  'herzog  Friedrich' 
Ivain  und  Floire  et  Blancheflor  auf  altnordisch  wiedergeben.  — 
Die  fremden  dichter  der  jüngeren  zeit  verzichten  schliesslich  auf 
die  benutzung  französischer  originale  und  erfinden  Artusromane 
auf  grund  von  älteren  Artusdichtungen  (Hartmann,  Wolfram,  Wirnt 
XL  a.)  mit  Zuhilfenahme  der  eigenen  phantasie.  In  der  hauptsache 
auf  diese  weise  entstanden  sind  von  mhd.  dichtungen  der  sog. 
jüngere  Titurel  (von  Albrecht),  des  Strickers  'Daniel  von  Blumental', 
die  drei  romane  des  Fleiers  u.  a.  m.  Auch  einige  englische  und 
ndl.  romane  sind  hierherzurechnen.  Vgl.  im  allgemeinen  G.  Paris, 
Hist.  litt.  30,  118  ff,  dazu  die  bemerkungen  zu  den  einzelnen  romanen 
ebenda.  Anders  über  Stricker  und  Pleier  Wechssler,  Rom.  Jahres- 
ber.  3  (1891—96)  II  s.  399  f. 

Endlich  ist  nicht  zu  vergessen  der  einfluss,  welchen  die  Artus- 
dichtung auf  die  kunst,  namentlich  auf  die  schnitzkunst  in  elfenbein, 
ausgeübt  hat.  Vgl.  die  abbildungen  bei  Snchier,  Lit.  s.  112  ff,  146f., 
bzgl.  Tristan  siehe  G.  Paris,  Poemes  s.  151  note. 


Elftes  Kapitel. 

Märchen  und  Schwanke  in  Reimpaaren. 


Die  form  des  höfischen  romans  wird  bestimmend  für  die 
erzählende  dichtung  überhaupt,  Einreimige  laissen,  zehn-  und 
zwölfsilbner  bleiben  fast  ausschliesslich  den  chansons  de  geste, 
daneben  noch  geschichtlichen  werken  vorbehalten,  die  sonstige 
erzählungsliteratur  bedient  sich  der  paarweis  gereimten  acht- 
silbner.  Früh  schon  erscheint  neben  dem  umfangreichen,  aus- 
gesponnenen roman  die  kürzere,  episodische  oder  anekdotenhafte 
erzählung,  teils  aus  dem  menschenleben,  teils  aus  dem  tierreich 
geschöpft,  bald  ernsteren,  bald  mehr  heiteren  Charakters.  In 
diesen  reimerzählungen  leben  vor  allem  die  alten  gattungen 
der  ungeschriebenen  erzählungsliteratur  wieder  auf,  welche 
schon  für  frühe  Jahrhunderte  bezeugt  sind:  die  märchen,  tier- 
märchen,  schwanke,  anekdoten  (oben  s.  79).  Bisher  in  münd- 
licher Überlieferung  in  prosaischer  form  weitergetragen,  werden 
sie  jetzt  von  den  dichtem  in  reime  gebracht  und  in  die  kunst- 
poesie  übernommen.  Zu  diesen  aus  dem  volke  stammenden 
erzählungsstoffen  gesellen  sich  noch  ähnliche  stoffe  anderer 
herkunft,  durch  schriftliche  oder  mündliche  Überlieferung  aus 
den  literaturen  des  altertums  oder  des  Orients  überkommen. 
Herkunft  und  art  der  Überlieferung  ist  in  zahlreichen  fällen 
nicht  genau  zu  bestimmen. 

Dem  höfischen  roman  nach  stoff  und  auffassung  nahe  ver- 
want  sind  die  lais,  welche  wie  jener  aus  bretonischen  contes 
schöpfen,  daher  z.  t.  dieselben  stoffe  und  motive  behandeln 
und  sich  im  wesentlichen  in  der  höfischen  weit  bewegen.  Das 
märchenhafte    element    spielt    in    den    meisten    dieser    kurzen 


Allgemeines.  391 

liebesgeschichten  eine  grosse  rolle.  Die  individuelle  erfinduug 
und  ausschnüickung  tritt  zurlick,  so  dass  die  lais  vielfach  eine 
getreuere  wiedergäbe  der  bretonischen  Überlieferungen  darstellen 
als  die  romane.  Gleichwol  sind  sie  im  ganzen  nicht  als  Vor- 
läufer dieser  zu  betrachten,  wenn  auch  einzelne  lais  die  vorläge 
für  bestimmte  romaue  (wie  z.  b.  Gautiers  Ille  et  Galeron) 
gebildet  haben:  die  ältesten  sicher  datierbaren  lais,  die  der 
Marie  de  France,  sind  um  1165  verfasst,  also  zu  einer  zeit, 
wo  die  gattung  des  bretonischeu  romans  bereits  geschaffen  war. 

Im  wesentlichen  aus  märchen,  besonders  aus  tiermärchen, 
sind  auch  die  erzählenden  tiergedichte  hervorgegangen,  welche 
unter  dem  namen  Roman  de  Renart  zusammengefaßt  werden 
und  zunächst  in  objektiver  weise  Vorgänge  aus  dem  tierleben 
mit  diskreter,  aus  der  natürlichen  beobachtung  sich  leicht 
ergebender  Verstärkung  des  seelischen  elements  der  tiere  zur 
darstellung  bringen.  Erst  später,  mit  fortschreitender  anthro- 
pomorphisieruug  der  handelnden  tiere,  stellt  sich  die  satire 
auf  menschliche  zustände  ein.  Erscheinen  die  lais  in  der 
bauptsache  als  bretonischer  import,  so  deutet  die  erzählende 
tierdichtung  mit  ihren  volkstümlichen  wurzeln  auf  das  ger- 
manische element  des  französischen  volkes,  auf  die  Franken, 
mit  einzelnen  motiven  vielleicht  auch  auf  die  Normannen  zurück. 
Eine  mehr  gelehrt-geistliche  Strömung  der  tierdichtung  ver- 
einigt sich  im  12.  Jahrhundert  mit  der  volkstümlich-germanischen. 
Nicht  belehrung,  wie  bei  der  fabel,  sondern  Unterhaltung  ist 
der  zweck  dieser  epischeu  darstellungen,  die  man  als  tier- 
schwänke  auffassen  und  bezeichnen  kann. 

Dem  tierschwank  geht  der  menschenschwank  oder  kurzweg 
schwank  parallel,  welcher  gleichfalls  von  alters  her  einen 
bestandteil  der  volkstümlichen  erzählungsliteratur  bildet  und 
nun  im  12.  Jahrhundert,  wenigstens  in  seinen  anfangen,  in  der 
literarischen  form  des  fablel  begegnet.  Dieses  gibt  im  all- 
gemeinen die  wirklichen  Verhältnisse  des  menschlichen  lebens, 
mit  komischer  oder  satirischer  tendenz  wieder,  verschmäht 
aber  gelegentlich  auch  ernstere  Stoffe  nicht  und  nähert  sich 
dadurch  zuweilen  dem  lai  oder  dem  begriff  der  späteren  novelle. 
Zu  den  einheimischen  quellen  tritt  hier  fremder,  orientalischer 
einfluss,  über  dessen  mass  und  bedeutung  die  meinungen  aller- 
dings noch  nicht  einig  sind,  zumal  hier  nicht  nur  beeinflussung 


392  XI.  Kapitel.     Märchen  uud  Schwanke  in  Reimpaaren. 

durch  einzelne  dem  Orient  entstammende  literaturwerke,  sondern 
vor  allem  auch  mündliche  Überlieferung  orientalischer  erzählungs- 
stoffe  eine  rolle  spielt.  Jedenfalls  ist  die  gattung  als  solche 
nicht  aus  dem  Orient  entlehnt,  ebenso  wenig  wie  tiermärchen 
und  tierschwank  aus  der  antiken  fabel.  Ihre  eigentliche  blute 
erlebt  sie  übrigens  erst  im  13.  Jahrhundert. 

In  zwei  werken  sind  eine  auzahl  von  erzählungen  ver- 
schiedenen Charakters,  von  schwanken,  novellenstoffen ,  auch 
tiergeschiehten,  in  eine  fortlaufende  erzählung,  eine  sogenannte 
rahmenerzählung,  eingefügt:  das  ist  der  direkt  auf  orien- 
talische Vorbilder  zurückgehende  'Koman  von  den  sieben  weisen 
Meistern'  und  die  mehrfach  ins  französische  übersetzte  lat. 
Disciplina  clericalis  des  bekehrten  spanischen  Juden  Petrus 
Alphonsi.  Die  eigentliche  erzählung  bildet  hier  nur  den  faden 
des  ganzen,  der  wesentliche  inhalt  liegt  in  den  aufgereihten 
erzählungen,  weshalb  diese  beiden  werke  an  die  hier  be- 
sprochenen gattungen  sich  ungezwungen  anfügen.  Die  hier 
angewendete  literarische  form  der  rahmenerzählung  ist  orien- 
talischer herkunft. 

Im  einzelnen  gehen  die  hier  charakterisierten  gattungen  zu- 
weilen ineinander  über:  manche  gedichte  bezeichnen  sich  als  lais, 
die  eher  den  namen  fablel  verdienten,  umgekehrt  stehen  ernst 
gehaltene  fablels  mit  liebesmotiven  den  auf  märchenhafte  demente 
verzichtenden  lais  nahe,  auch  kürzere  episodenromane  wie  z.  b.  die 
oben  erwähnte  Damoisele  a  la  Mule  sind  der  laidichtung  nahe 
verwant.  Unter  die  fablels  ist  gelegentlich  auch  ein  tierschwank 
eingemischt.  Daher  finden  sich  in  älteren  textpublikationen  teilweise 
gedichte  aus  sehr  verschiedenen  gattungen  beieinander.  Vgl.  besonders : 
Fabliaux  et  Contes  des  poetes  fr.  des  XI0,  XII6,  XIII e,  XIVe  et  XVe 
siecles  p.  p.  Barbazau,  nouv.  ed.  etc.  p.  Meon,  P.  1808,  4  bde. 
(zitiert  als  Barbazan-Meon).  Nouveau  recueil  de  fabliaux  et  contes 
inödits  etc.  p.  p.  Meon,  P.  1823,  2  bde.  Nouveau  recueil  de  contes, 
dits,  fabliaux  et  autres  pieces  inedites  etc.  p.  p.  Achille  Jnbinal, 
P.  1839  u.  1842,  2  bde.  Poesies  de  Marie  de  France,  poete  auglo- 
normand  du  XIIIe  eiecle,  p.  p.  B.  de  Roquefort,  P.  1819,  I.  bd. 
(enthält  auch  einige  anonyme  lais). 


1.  Lais:   Allgemeines.  393 

1.    Die  Lais. 

A.  Allgemeines.  An  die  herkunft  der  lais  knüpfen  sich 
äbüliche  fragen  wie  an  die  der  Artusromane.  Das  wort  lai 
selbst  ist  allem  ansebein  nach  keltischer  herkunft  (vgl.  irisch 
löid,  laid),  und  zum  iiberfluss  werden  in  den  lais  häufig  die 
lai  breton  erwähnt.  Über  die  keltische  herkunft  der  gattung 
wie  der  stoffe  ist  also  kein  zweifei.  Die  wichtigste  quelle 
für  die  französische  laidicbtung  scheint  nun  die  franz.  Bretagne 
gebildet  zu  haben:  Zeugnisse,  namens-  und  wortformen  (wie 
laüstic  =  bret.  ar  eostik  nachtigall,  bisclavrct  werwolf)  und 
Schauplatz  der  erzählungen  weisen  darauf  hin,  dass  die  mehr- 
zahl  der  Stoffe  den  franz.  dichtem  von  dorther  zugekommen 
ist.  Aber  daneben  steht  doch  eine  kleinere  zahl  von  lais, 
welche  ihren  scbauplatz  in  Grossbritannien  finden  und  dort 
ihre  eigentliche  heimat  zu  haben  scheinen:  so  von  den  lais 
der  Marie  de  France  Yonec,  Milun,  Eliduc,  Chievrefeuil,  von 
anderen  der  Lai  du  cor  und  Tyolet.  Man  wird  also  der 
kleinen  Bretagne  den  hauptanteil  zuweisen,  aber  doch  auch 
Grossbritannien  nicht  alle  bedeutuug  absprechen  dürfen.  Nach 
Brugger  freilich  (ZfSL  20,  79  ff.,  vgl.  oben  s.  337)  sind  die 
englischen  Ortsnamen  unursprünglich  oder  bedeutungslos,  während 
Warnke  lieber  annimmt,  dass  die  keltischen  lais,  auf  welchen 
solche  französische  lais  beruhen,  zwar  in  England,  aber  von 
bretouischen  spielleuten  angefertigt  wurden,  so  dass  die  kl. 
Bretagne,  die  sog.  Aremorika,  als  Ursprungsland  der  gattung 
bestehen  bliebe. 

Auch  über  das  Verhältnis  der  franz.  lais  zu  ihren  breto- 
nischen Vorbildern  sind  verschiedene  meinungen  vorhanden, 
da  die  nachrichten  über  die  form  der  bretonischen  lais  sehr 
unbestimmt  sind.  Das  charakteristische  an  diesen  war  in 
erster  linie  offenbar  das  musikalische  element,  die  melodie  (vgl. 
oben  s.  333).  Da  es  weder  an  Zeugnissen  für  'singen'  noch 
für  'sagen'  fehlt,  erklärt  Bedier  die  bretonischen  lais  als 
'mi-parhis,  mi-chanteV,  in  der  art  etwa,  wie  die  chante- fable 
von  Aucassin  und  Nicolete  verfasst  und  vorgetragen  worden 
ist.  Demgegenüber  haben  die  neuen  forschungen  Foulets  mit 
Sicherheit  ergeben,  dass  lai  ursprünglich  nur  die  melodie 
bezeichnet,  und  dass  gerade  Marie  de  France  das  wort  zuerst 


394  XI.  Kapitel.     Märchen  und  Schwanke  in  Reimpaaren. 

mit  avcnture  in  Verbindung  gebracht  und  damit  schule  gemacht 
hat.  Jedenfalls  geben  die  französischen  laidichter  immer  eine 
epische  erzählung  wieder,  unter  verzieht  auf  die  musikalische 
begleitung,  in  der  form  der  höfischen  romandichtung. 

Die  lais  geben  in  der  regel  an,  wirkliche  Vorkommnisse 
zu  schildern,  und  eine  nicht  geringe  anzahl  von  ihnen  gehört 
durchaus  der  weit  der  Wirklichkeit  an,  so  dass  die  von  Hertz 
bevorzugte  bezeichnur.g  der  lais  als  'novellen'  hier  durchaus 
zutrifft.  Nach  demselben  Hertz  aber  lässt  sich  dieser  begriff 
auch  auf  die  märchenhaften  lais  ausdehnen,  weil  'die  Grenzen 
des  Möglichen  sich  je  nach  Völkern  und  Zeiten  verschieben', 
weil  in  der  bliitezeit  der  lais  'das  Meer  der  Phantasie  das 
Festland  der  Erfahrung  von  allen  Seiten  überflutet  und  daher 
auch  Novelle  und  Märchen  in  eins  zusammenfliessen'.  Will 
man  einmal  die  modernen  begriffe  auf  die  dichtgattungen  des 
mittelalters  anwenden,  so  muss  man  den  'novellen'  freilich 
auch  noch  eine  anzahl  fablels  und  einige  versromane  zu- 
rechnen. 

B.  Die  Lais  der  Marie  de  France.  Unter  dem  namen 
der  Marie  de  France  (oben  s.  129,  153)  sind  uns  zwölf  lais 
überliefert,  welche  um  1165  entstanden  sind  und  jedenfalls 
zu  den  ältesten  stücken  ihrer  gattung  gehören.  Marie  gibt 
die  geschienten,  die  sie  gehört,  allem  anschein  nach  in  der 
Hauptsache  getreu  wieder,  erzählt  klar  und  anschaulich,  sucht 
aus  den  einfachen  erzählungen  und  konflikten  nicht  mehr  zu 
machen  als  in  ihnen  liegt,  und  trifft  gerade  dadurch  den  für 
diese  passenden  und  wirkungsvollen  stil. 

Die  eine  gruppe  ihrer  lais  lässt  sich  ihrem  inhalt  und 
Charakter  nach  als  märchendichtung  charakterisieren.  So  ist 
Lanval  ein  echtes  und  rechtes  feenmärchen,  das,  äusserlich 
an  die  Artussage  angelehnt,  die  liebe  des  beiden  zu  einer  fee 
schildert,  die  ihm  über  ihre  liebe  anderen  gegenüber  schweigen 
auferlegt,  ihn  aber,  als  er  nach  bruch  seines  Versprechens 
in  not  kommt,  im  letzten  moment  errettet  und  nach  Avalon 
entführt.  In  Yonec  und  JB/sclavret  spielt  das  verwandlungs- 
motiv  eine  rolle:  dort  dringt  Muldumarec  in  gestalt  eines 
habichts  zu  einer  im  türm  eingeschlossenen  schönen  frau,  wird 
schmählich  verraten  und  später  durch  seinen  söhn  Yonec  an 
seinem  mörder  gerächt,  hier  ist  der  held  ein  werwolf,  welcher 


I.  Die  Luis:  Marie  de  France.  395 

durch  die  Treulosigkeit  seiner  frau  der  möglichkeit  berauht 
wird  sich  wieder  in  einen  menschen  zurückzuverwandeln,  aher 
schliesslich  glücklich  wieder  entzaubert  wird.  In  Guigcmar 
endlich  ist  das  zugrunde  liegende  feennilirchen  (so  erscheint 
hier  die  zukunftkundige  weisse  kindin,  das  ohne  Schiffer  und 
Steuermann  zum  ziele  führende  zauherschiff)  mit  der  haupt- 
hamllung  in  die  weit  der  Wirklichkeit  übertragen. 

In  einer  zweiten  gruppe  erscheinen  an  stelle  der  märchen- 
haften demente  mehr  solche  romanhaften  Charakters,  wie  sie 
uns  sonst  in  den  byzantinischen  liebesromanen  begegnen,  z.  t. 
knüpfen  die  geschienten  an  bretonischen  Volksglauben  oder 
sagenmotive  an.  So  beruht  Fraisne  auf  dem  aberglauben, 
dass  zwillingsgeburten  auf  ehebrecherischen  Umgang  der  mutter 
deuten,  die  haupthandlung  erzählt  trennung  und  wiederfinden 
von  mutter  und  tochter,  wobei  das  Griseldismotiv  von  der 
geduldig  alles  ertragenden  und  neidlos  entsagenden  liebe 
hereinspielt.  Miliin  erinnert  im  anfang  an  die  Vorgeschichte 
Tristans  (heimliche  geburt  und  erziehung)  und  bringt  dann 
als  hauptmotiv  den  Zweikampf  zwischen  vater  und  söhn  mit 
darauffolgendem  wiedererkennen.  Eliduc  behandelt  das  thema 
von  der  liebe  eines  beiden  zu  zwei  frauen,  von  denen  die  eine 
aus  liebe  zu  ihm  zu  gunsten  der  anderen  entsagt  (vgl.  oben 
s.373  f.  über  llle  et  Galeron). 

Sehr  nahe  stehen  dieser  gruppe  die  übrigen  lais,  nur  dass 
sie  noch  mehr  als  jene  auf  realer  grundlage  sich  bewegen. 
Meist  handelt  es  sich  um  die  tragisch  ausgehende  liebes- 
geschichte  eines  paares,  dessen  namen  vielfach  nicht  einmal 
genannt  werden,  z.  t.  um  lokalsagen.  So  wird  an  das  prioren- 
kloster  Des  deus  Amanz  in  der  Normandie  die  erzählung 
von  der  liebesprobe  geknüpft,  welche  ein  Jüngling  ablegt, 
indem  er  die  geliebte,  um  sie  sich  zu  verdienen,  den  hohen 
und  steilen  berg  hinaufträgt  und  am  gipfel  angekommen,  tot 
zusammenbricht;  auf  seiner  leiche  findet  auch  sie  den  ersehnten 
tod.  Ghaitivel  (oder  Quatre  doels)  besingt  das  traurige 
gesehick  von  vier  rittern,  welche  alle  dieselbe  dame  lieben, 
und  besonders  des  einen,  welcher  die  andern  überlebt  und 
länger  als  diese  den  liebesschmerz  erdulden  muss.  Laüstic 
heisst  ein  dritter  lai  nach  der  nachtigall,  deren  gesang  die 
frau  eines  eifersüchtigen  zum  vorwand  nimmt,  um  zum  fenster 


396  XI.  Kapitel.    Märchen  uud  Schwanke  in  Reimpaaren. 

hinaus  zu  schauen  und  mit  dem  geliebten  gegenüber  blicke 
und  worte  zu  tauschen;  aber  der  gatte  lässt  das  vöglein 
töten  und  macht  so  dem  unschuldigen  liebesverkehr  ein 
jähes  ende. 

Einen  für  die  liebenden  glücklichen  ausgang  hat  von  den 
erzählungen  dieser  art  nur  das  Tristan  gewidmete  lai  vom 
Chievrefeuil:  Tristan,  von  unbezwinglicher  Sehnsucht  nach 
Isolt  ergriffen,  kehrt  heimlich  aus  der  Verbannung  zurück  und 
legt  der  königin  einen  haselnussstock  in  den  weg,  worauf 
geschrieben  steht,  dass  sie  beide  getrennt  voneinander  sterben 
müssten,  ebenso  wie  die  haselnussstaude  und  das  um  diese 
sich  schlingende  gaisblatt,  wenn  man  sie  auseinanderreisse. 
Ein  fröhliches  beisammensein  der  liebenden  und  die  aussieht 
auf  baldige  gänzliche  rückkehr  Tristans  an  den  hof  Markes 
schliesst  die  erzäblung.  Ist  schon  hier  die  überlistuug  des 
ehemannes  ein  mehr  schwankartiges  motiv,  so  rindet  der  lai 
von  Equitan  seine  nächsten  verwanten  in  den  echten  fablels: 
ein  herrscher  verliebt  sich  in  die  frau  seines  seneschalls  und 
kommt  mit  ihr  in  dem  heissen  bad  um,  durch  welches  sie 
beide  den  seneschall  zu  beseitigen  gedachten. 

C.  Lais  anderer  Verfasser.  Die  übrigen  lais  sind 
meist  anonym  überliefert,  nur  von  wenigen  sind  die  Verfasser 
bekannt.  G.  Paris  ist  geneigt,  Marien  auch  die  autorschaft 
einiger  anonym  überlieferter  lais,  so  des  Guingamor,  Tydorel, 
Tyolet,  zuzusprechen,  doch  sind,  wie  Warnke  gezeigt  hat, 
hinreichende  gründe  für  diese  annähme  nicht  vorhanden.  Als 
Verfasser  des  sehr  altertümlichen  —  wahrscheinlich  um  die 
mitte  des  12.  Jahrhunderts  in  England  enstandenen  —  Hornlai 
{Lai  du  cor)  nennt  sich  Thomas  Biket.  In  sechssilbigen 
reimpaaren  wird  hier  die  Wirkung  eines  trinkhorns  geschildert, 
das  ein  prächtig  gekleideter  Jüngling  an  den  hof  Arturs  bringt 
und  aus  welchem  nur  diejenigen  männer  trinken  können  ohne 
zu  verschütten,  denen  ihre  flauen  treu  geblieben  sind  —  von 
allen  rittern  Artus'  besteht  nur  Caradoc  die  probe.  Dieselbe 
erzäblung  wird  kürzer,  als  episode,  in  der  anonymen  fortsetzung 
von  Crestiens  Perceval  berichtet,  und  der  Lai  del  mantcl 
maltaillie,  aus  dem  ende  des  12.  Jahrhunderts,  behandelt 
dasselbe  thema  mit  ersatz  des  horns  durch  einen  mantel, 
welcher  an  den  untreuen  frauen  zusammenschrumpft. 


1.   Die  Lais:   Lais  anderer  Verfasser.  397 

Ernsteren  Charakters  sind  andere  lais,  welche  denen  der 
Marie  mehr  oder  weniger  nahe  verwant  siud:  so  Guingamor, 
ein  feenmärehen,  dessen  held  nur  drei  tage  bei  einer  fee  zu 
weilen  glaubt  und  statt  dessen  dreihundert  jähre  abwesend 
ist  (vgl.  noch  oben  s.  385);  so  Graelent,  der  das  gleiche 
motiv  wie  Lanval  behandelt,  das  vergröbert  noch  im  Lai  del 
De'sirc  erscheint;  so  Tyolct,  das  aus  dem  Perceval  bekannte 
dümmlingsmärchen.  verbunden  mit  dem  bestehen  eines  ge- 
fährlichen abenteuers,  durch  das  sich  der  held  die  braut 
verdient;  so  der  Lai  de  VEspine,  welcher  in  ähnlicherweise 
das  abeuteuer  der  fürt  zum  dornstrauch  mit  dem  eingangs- 
motiv  aus  Floire  und  Blancheflor  (trennung  des  liebenden 
paares  durch  die  eitern)  kombiniert;  so  endlich  die  erzählung 
vom  wasserelben  im  Tyäorcl.  Verloren  gegangen  ist  der  in 
romanen  und  epen  viel  genannte  lai  von  Gurun,  allem  anschein 
nach  die  älteste  bearbeitung  des  sog.  herzmaere  (der  eifer- 
süchtige gatte  setzt  seiner  frau  das  herz  des  ihr  in  liebe 
ergebenen  harfenspielers  als  speise  vor),  während  dasselbe 
motiv  in  Renauts  Lai  d'Ignanre  bereits  übertrieben,  beinahe 
parodiert  wird,  indem  der  schuldige  ritter  hier  zwölf  damen 
auf  einmal  liebt  und  zu  dem  gericht  für  diese  noch  anderes 
als  das  herz  liefern  muss. 

Schliesslich  begegnet  neben  den  bretonischen  Stoffen  auch 
schon  in  dieser  zeit  eine  fremde  sage  in  laiform,  das  ist  der 
Lai  de  Coarant  oder,  wie  er  gewöhnlich  heisst,  der  lai  von 
Haveloc  dem  Dänen,  eine  an  geschichtliche  demente  —  die 
Schicksale  des  921  gestorbenen  Wikingers  Reginwald,  herrschers 
von  Northumbrien,  und  den  namen  seines  neffen  Anlaf  Cuaran 
—  anknüpfende  dänisch -sächsische  stammsage,  welche  wol 
bei  den  englischen  Bretonen  ausgebildet  wurde  und  bereits  in 
Gaimars  chronik  erscheint  (oben  s.  260).  Haveloc  muss  vor 
seinen  feinden  aus  seinem  angestammten  dänischen  reich  nach 
England  fliehen,  tut  hier  bei  könig  Alsi  als  küchenjunge 
dienste  unter  dem  namen  Coarant  und  erhält  schliesslich  die 
hand  einer  königstochter  nebst  mehreren  königreichen. 

Alle  diese  lais  sind  noch  im  12.  Jahrhundert  oder  nicht 
viel  später  entstanden.  Zum  teil  stehen  sie  unter  einfluss  der 
Marie  de  France,  wie  in  noch  höherem  masse  die  jüngeren, 
dem     13.  Jahrhundert     angehörigen     lais     (Melion    mit    dem 


•  ',.l>  XI.  Kapitel.    Märchen  und  Schwanke  in  Reimpaaren. 

wtTwolfmotiv  nach  JBisclavret,  Doon  mit  dem  Zweikampf 
zwischen  vater  und  söhn  nach  Milun  usw.).  Manche  der 
späteren  lais  haben  mit  der  gattung  nur  noch  den  namen 
gemein. 

D.  Ovidiana.  Nahe  verwant  den  lais  sind  nach  um- 
fang und  darstellung  die  bearbeituugen  einzelner  themen  aus 
Ovids  Metamorphosen  und  ähnlichen  quellen,  die  gelegentlich 
auch  als  lais  bezeichnet  werden.  Eius  der  ältesten  stücke 
dieser  art  ist  die  dem  Crestien  vou  Troyes  zugeschriebene 
Philomena  (oben  s.  299).  Nicht  viel  jünger  (drittes  viertel  des 
12.  Jahrhunderts)  ist  eine  anglonormannische  bearbeitung  der 
geschichte  von  Pyramus  und  Thisbe  (Met.  IV,  55 ff.)  in  ge- 
wanter  darstellung  und  mit  metrischen  eigentümlichkeiten 
(zweisilbige  kurzverse  zwischen  den  achtsilbigen  reimpaaren, 
an  zwei  stellen  einreimige  tiraden).  Eine  bearbeitung  des 
Narcisse  (Met.  III,  339  ff.)  scheint  noch  dem  ende  des 
12.  Jahrhunderts  zu  gehören.  Nach  antiken,  aber  nichtovidischen 
quellen  ist  der  nur  in  englischer  Übersetzung  erhaltene  lai  von 
Orpheus  (englisch  Sir  Orfco)  gedichtet.  Auch  Crestien  muss 
für  seinen  uns  verlorenen  Pelops  (Le  mors  de  l'espaule,  oben 
s.  294)  eine  ausführlichere  quelle  als  Ovid  (Met.  VI,  401  ff.) 
benutzt  haben.  Für  die  weitgehende  bekanntschaft  der 
französischen  und  provenzalischen  dichter  des  12.  Jahrhunderts 
mit  diesen  Stoffen  zeugen  eine  reihe  von  anspielungen  und 
beeinflussungen. 

Ausgaben:  Die  Lais  der  Marie  de  France  hgg.  von  Karl 
Warnke  (Bibl.  Norm.  III),  Ha.  1885,  U900  (Ausg.  von  Roquefort 
s.  o.).  Lai  d'Ignaures,  de  Melion  et  du  Trot  p.  p.  Monmerque  et 
Fr.  Michel,  P.  1832.  Lais  inedits  des  XIIe  et  XIII0  siecles  p.  p. 
Fr.  Michel  (Desire,  L'Ombre,  Le  Conseil),  P.  1836.  Lais  inödita 
p.  p.  G.  Paris  (Tyolet,  Guingamor,  Doon,  Lecheor,  Tydorel)  Rom.  8 
(1879),  29  ff.  Lai  du  Cor  p.  p.  Fr.  Wulff,  Lund  1888;  Robert 
Biquet's  L.  d.  C,  hgg.  v.  Heinr.  Dörner,  Diss.  Str.  1907  (vgl.  Vising, 
JrP  11,  I  251  f.).  L.  du  Mautel,  Rom.  14  (1885)  343  ff.  Lai  de 
l'Espine  hgg.  von  R.  Zenker,  ZrP  17  (1893)  223  ff  Lai  d'Haveloc 
p.  p.  Fr.  Michel,  P.  1833;  hg.  von  Duffus  Hardy  u.  Martin,  Rerum 
Britt,  medii  aevi  Scriptores  91,  1  (London  1888)  290  ff;  vgl. 
Deutschbein,  Studien  z.  Sagengesch.  Englands,  I,  96 ff,  F.  Holt- 
hausen,  Ilavelok  (ausg.  des  engl,  gedichts),  Heid.  1910,  eiuleitung. 
Andere  spezialausgaben  s.  bei  Warnke  s.  Ulf.  Die  lais  von  Emare 
und  Sir  Goivther  sind  nur  in  englischer  bearbeitung  erhalten.    Eine 


2.  Roman  de  Renart:  Allgemeines.  390 

altnordische  übers,  von  19  lais  (darunter  11  der  Marie),  die  sog. 
strengleikar,  veranlasste  im  13.  Jahrhundert  könig  Baakon  Haakonarson 
(1217 — 1263).  Über  eine  mhd.  bearbeitung  des  Mantel  lais  vgl.  Otto 
Warnatsch,   Der  Mantel  (Weinholds  Germ.  Abb.   II),  Breslau   1883. 

Abhandlungen:  Ferd.  Wolf,  Ü.  d.  Lais,  Sequenzen  u.  Leiche, 
Heidelberg  1811.  Willi.  Hertz,  Spielruanusbuch,  Stuttgart  1886 
(musterhafte  Übertragungen  nebst  wichtigen  abh.  u.  anm.).  Birch- 
UirschtVld,  Lais,  i.  d.  Encyclop.  v.  Ersch  u.  Gruber.  G.  Paris,  llist. 
litt.  30,  7  ff.,  auch  Rom.  7  u.  8.  Josepli  Bedier,  Les  Lais  de  M.  d.  Fr., 
RddU  III  t.  107  (1891,  5)  s.  835  ff.  Axel  Ahlström,  Studier  i  den 
fornfranska  Laisliteraturen,  Upsala  1892.  K.  Warnke,  M.  d.  Fr.  u. 
d.  anonymen  Lais,  Progr.  Coburg  1892,  u.  Einleitung  z.  2.  aufl.  d. 
Laie  (s.  o.).  Lucien  Foulet,  M.  d.  Fr.  et  les  lais  bretons,  ZrP  29 
(1905)  19  ff,  293  ff;  weitere  beitrage  desselben  forschers  zur  lai- 
frage  ZrP  30,  698  ff,  32,  161  ff,  257  ff,  Mod.  Lang.  Notes  20  (1905) 
109  ff,  21,  46  ff,  23,  205  ff,  Rdlr  51  (1908)  97  ff.  J.  Levy,  Musik- 
instrumente beim  Gesang,  ZrP  33  (1911)  492  ff.  —  Im  einzelnen 
zum  Lauval:  A.  Kolls,  Zur  L.-sage,  Diss.  Kiel  1886;  W.  11.  Schofield, 
The  lays  of  Graelent  and  Lanval,  Baltimore  1900  (Publ.  MLA  XV,  2); 
0.  Will.  Prettyman,  Peter  v.  Staufenberg  and  M.  d.  Fr.,  Mod.  Lang. 
Notes  21,  205  ff  Zum  Eliduc  (der  mann  mit  2  trauen):  Matzke, 
Mod.  Phil.  5  (1907/8)  222 ff.  Zum  Bisclavret  (Werwolf):  Kittredge, 
Arthur  and  Gorlagon,  Studies  and  Notes  in  phil.  and  lit.  8  (1903) 
149  ff.  Zum  Yonec:  P.  Toldo,  RF  16  (1904)  609  ff;  Oliver  M.  John- 
ston, Publ.  MLA  20  (1905)  322  ff.  Zu  den  Dons  Amanz:  Ol. 
M.  Johnston,  Mod.  Lang.  Notes  21  (1906)  3 4  ff.  Zum  Tydorel  (und 
Sir  Gowther)  Flor.  Leftwich  Ravenel,  Publ.  MLA  20  (1905)  152  ff. 
Zum  verlorenen  Guirunlai:  Thomas'  Tristan  v.  835  ff.  (Bediers  ausg. 
s.  295),  dazu  G.  Paris,  Hist.  litt.  28,  375  ff,  11.  llauvette,  Rom.  42 
(1911)  191  ff. 

Ovidiana:  Pyrame  et  Thisbe,  texte  normand  du  XII"  siecle, 
ed.  critique  p.  C.  de  Boer,  Amsterdam  1911  (Verhandelingen  der 
Akad.  te  Amsterdam,  Letterkunde,  N.  R.,  XII,  3).  Vgl.  E.  Faral, 
Rom.  41  (1912)  32 ff,  294 ff.  —  Narcisus  bei  Barbazan-Mcon  4, 
143  ff.  —  Über  Sir  Orfeo  siehe  W.  Hertz,  Spielmannsbuch  s.  320  ff. 
Im  übrigen  vgl.  die  lit.  zu  Philomena,  oben  s.  299  f. 


2.    Roman  de  Renart. 


A.  Allgemeines:  Name  und  Charakter.  Die  aus  den 
handschriften  übernommene  bezeichnung  Iioman  de  Renart 
(modernisiert  Roman  du  renard)  erweckt  falsche  Vorstellungen, 


400  XI.  Kapitel.     Märchen  uud  Schwanke  in  Reimpaaren. 

da  es  sich  hier  nicht  um  eine  innerlich  zusammenhängende 
er  Zählung,  sondern  um  eine  reihe  von  einzelnen  contes  oder 
branches  handelt,  die  in  den  handschriften  nur  lose  aneinander 
gereiht  sind  und  von  verschiedenen  dichtem  aus  verschiedenen 
Zeiten  stammen.  Gemeinsam  ist  ihnen,  dass  sie  meist  den 
fuchs  zum  helden  nahen  oder  sonstige  tierschwänke  unter 
Individualisierung  der  tiere  durch  eigennamen  zur  darstellung 
bringen.  Auch  der  name  des  fuchses,  Renart  <  deutsch  Bagm- 
hart  (Reinhard),  ist  damals  noch  eigenname,  der  gattungsname 
war  goupilz  (*vidpcciüus).  Der  wolf  heisst  Isengrin  (ältester 
beleg  z.  j.  1112  aus  Laon,  i.  d.  chronik  Guiberts  von  Nogent), 
der  bär  Brun,  der  esel  Baldouin  oder  Bernart,  der  kater  Tiebert, 
der  dachs  Grimbert,  der  rabe  Tiecelin,  der  hahn  Chantecler, 
der  löwe  Noble  usw.  Durch  diese  namengebung  wird  das 
gattungstier  zum  individuum  erhoben,  häufig  treten  neben 
dieses  noch  weib  und  kinder,  wie  zum  fuchs  Renart  die  füchsin 
Hermeline,  zu  Isengrin  die  wölfin  Hersent.  Was  von  diesen 
tieren  erzählt  wird,  hat  weder  mit  der  lehrhaftigkeit  der 
fabel  noch  mit  dem  allegorisierenden  Physiologus  (vgl.  oben 
s.  145  ff.,  150  ff.)  etwas  zu  tun,  es  sind  'contes  ä  rire',  epische 
erzählungen,  welche  lediglich  unterhalten  und  erheitern  sollen. 
Auch  satire  auf  menschliche  Verhältnisse  liegt  nicht  von  vorn- 
herein in  der  tendenz  dieser  dichtung.  Die  tiere  sind,  wie 
im  märchen,  mit  der  fähigkeit  der  rede  begabt,  aber  sonst 
geht  ihre  vermenschlichung  nicht  wesentlich  über  das  nächst- 
liegende hinaus,  sie  bewegen  sich  als  tiere  unter  tieren  und 
bedienen  sich  zur  ausführung  ihrer  streiche  ihrer  natürlichen 
hilfsmittel  und  eigenschaften.  Erst  die  aus  Asop  stammende 
idee  vom  königtura  des  löwen  scheint  den  anstoss  zu  weiter- 
gehender anthropomorphisierung  gegeben  zu  haben,  die  im 
verlauf  der  zeit  zur  auffassung  der  tiere  als  Stellvertreter 
menschlicher  wesen,  zu  satire  und  allegorie  führt. 

B.  Ursprung  der  Tierepik.  Die  grundlegenden  Unter- 
suchungen über  die  Ursprungsfrage  hat  Jakob  Grimm  in 
seinem  Reinhart  Fuchs  (1834)  geführt.  Nach  ihm  ist  von 
einer  volkstümlichen  grundlage,  der  tiersage,  auszugehen, 
welche  stofflich  ihre  nächsten  verwanten  in  den  allerwärts 
verbreiteten  tiermärchen  findet  und  damit  in  graue  Vorzeit 
zurückreicht,  welche  aber  erst  von  den  Germanen  durch   die 


2.   Rouian  de  Kenart:   Ursprung  der  Tierepik.  401 

naniengebung  der  tiere  zur  sage  ausgebildet  und  durch  die 
Franken  über  den  Rhein  hinüber  mit  nach  Gallien  gebracht 
worden  ist.  Die  eigennamen  schienen  Grimm  eine  tiefere, 
etymologische  bedentnng  zu  haben,  so  dass  sie  den  tieren  Hin- 
durch die  Germanen  beigelegt  worden  sein  konnten.  Über- 
einstimmungen mit  griechischen  und  indischen  fabeln,  die  auch 
ihm  nicht  entgingen,  erklärte  er  lieber  durch  Urgemeinschaft 
als  durch  entlehnung.  An  dieser  schwachen  stelle  des  Systems 
setzten  nun  die  gegner  der  theoiie  ein,  die  man  kurzweg  als 
die  Asopiker  bezeichnen  kann;  an  stelle  der  volkstümlichen 
sahen  sie  eine  rein  literarische  grundlage  in  den  äsopischen 
und  indischen  fabeln,  welche  von  den  mittelalterlichen  dichtem 
des  didaktischen  elements  entkleidet,  in  den  einzelheiten  aus- 
geschmückt und  nach  dem  muster  des  heldenepos  oder  des 
romans  mit  eigennamen  versehen  worden  wären.  In  dieser 
richtung  haben  Paulin  Paris,  Wilhelm  Scherer,  Karl  Müllen- 
hoff  u.  a.  geforscht  und  gelehrt.  Es  zeigte  sich  aber  bald, 
dass  nur  wenige  stoffe  des  lioman  de  Benart  (vor  allem  heilung 
des  kranken  löwen,  fuchs  und  rabe  mit  dem  käse,  beuteteilung) 
aus  den  antiken  fabeln  herzuleiten  waren,  dass  der  grösste  teil 
der  übrigen  vielmehr  —  wie  schon  Grimm  gesehen  —  zu  den 
im  volke  verbreiteten  tiermärchen  stimmt  und  seine  wurzel 
demgemäss  in  volkstümlicher  Überlieferung  hat.  Das  verdienst, 
das  märchen  systematisch,  auf  grund  der  modernen  märchen- 
forschung,  als  stoffliche  grundlage  der  meisten  erzählungen 
des  R.  d.  R.  nachgewiesen  zu  haben,  gebührt  Kaarle  Krohn 
(1887/88)  und  Leopold  Sudre  (1893).  Den  Ursprung  der 
tiernamen  sucht  G.  Paris  (1894 — 95)  in  individueller  erfiudung, 
in  einem  verlorenen  lateinischen  tiergedicht  Lothringens. 

Der  epische  Charakter  des  mittelalterlichen  tierschwanks, 
die  neigung  zu  gruppenbildung,  ja  auch  die  namengebung  der 
tiere  war  im  tiermärchen  bereits  vorgebildet,  so  manche  dieser 
erzählungen  brauchten,  mit  Grimm  zu  reden,  von  den  dichtem 
nur  aufgefasst  und  in  reime  gebracht  zu  werden.  Die  namen- 
gebung muss  noch  auf  deutschem  boden  erfolgt  sein,  weil 
einzelne  namen,  wie  z.  b.  Isengrim,  den  Franzosen  durchaus 
ungeläufig  waren.  Aber  auch  fabel  und  klosterlegende  haben 
das  ihrige  zur  entwickluug  der  gattung  beigetragen.  Auf  die 
mit  epischen  elementeu  durchsetzten  lat.  gedichte  des  Alcuin 

Voretzsch,  Studium  d.  afiz.  Literatur.    2.  Auf  läge.  26 


402  XI.  Kapitel.     Märchen  nud  Schwanke  iu  Reimpaaren. 

uud  des  Paulus  Diacouus  (oben  8.80)  folgt  im  10.  Jahrhundert 
die  umfangreiche  lat,  Ecbasis  captivi,  welche  in  der  aussenfabel 
die  allegorisch  gemeinte  flucht  eines  kalbes  aus  dem  stalle 
(d.  i.  die  flucht  eines  mönches  aus  dem  kloster)  und  seine 
Wiederkehr  schildert,  als  eingeschaltete  innenfabel  aber  die 
aus  Asop  bekannte  und  durch  Paulus  Diaconus  schon  behandelte 
heilung  des  kranken  löwen  mit  allem  epischen  beiwerk  zur 
darstellung  bringt.  Schon  hier  erscheint  der  wolf  als  schein- 
heiliger geistlicher,  und  diese  Vorstellung  wird  auf  grund  von 
Matthäus  VII,  15  (Cavete  a  falsis  Prophetis  qui  veniunt  ad  vos 
in  vestimentis  ovium,  intrinsecus  autem  .sunt  lupi  rapaces)  in 
der  lat.  dichtung  der  folgezeit  noch  weiter  ausgebildet.  Der 
um  1150 — 51  von  einem  deutschen  Flamländer,  magister 
Nivardus  in  Gent,  verfasste  lat.  Yscngrimus  vereinigt  geistlich- 
gelehrte dichtung  mit  echt  volkstümlicher  tradition:  aus  dieser 
stammt  der  grösste  teil  der  Stoffe  wie  die  hier  zum  erstenmal 
begegnende  individualisierung  der  tiere  durch  namen.  Die 
dichtung  bildet  ein  überlegt  komponiertes,  innerlich  zusammen- 
hängendes, sorgfältig  ausgefeiltes  kunstwerk.  Nicht  viel  jünger 
als  dieses  werden  die  ältesten  französischen  fuchsdichtungeu 
gewesen  sein,  die  augenscheinlich  vom  Ysengrimus  unabhängig 
waren,  aber  nur  in  jüngeren  bearbeitungen  fortleben. 

C.  Die  ältesten  Renartbranchen.  Der  von  E.  Martin 
herausgegebene  Boman  de  Benart  umfasst,  unter  abrechnuug 
der  nur  franco- italienisch  überlieferten  letzten  branche, 
26  branchen,  von  denen  die  meisten  wieder  in  mehrere  aben- 
teuer  zerfallen,  einige  auch  andersgeartete  fortsetzungen  erhalten 
haben.  Von  diesen  waren  die  branchen  I— XII  sowie  XV 
schon  im  anfang  des  13.  Jahrhunderts  in  dem  archetypon 
vereinigt,  welches  den  erhaltenen  handschriften  des  R.  d.  R. 
zugrunde  liegt,  während  die  übrigen  brauchen  erst  später  dazu 
kamen  und  sich  nur  in  einzelnen  hss.  finden.  Der  um  1180 
nach  franz.  quellen  verfasste  mhd.  Beinhart  Fuchs  Heinrichs 
des  Glichezäre  aber  bietet  uns  die  Möglichkeit,  eine  anzahl 
von  branchen  festzustellen,  welche  vor  1180  bereits  vorhanden 
waren,  und  auch  die  einfachere  darstelluug  kennen  zu  lernen, 
welche  diese  verloren  gegangenen  origiualbranchen  gegenüber 
den  überlieferten  Überarbeitungen  zeigten.  Demnach  waren 
vor  1180  zum  mindesten  die  originale  der  folgenden  brauchen 


2.   Roman  de  Reuart:   Die  ältesten  Ren.irtbranchou.  •!<'•"> 

vorhanden:  I  und  X  (hoftag  und  heilung  des  kranken  löwen), 
II  (Kenarts  begegnisse  mit  hahn,  meise.  kater,  rabe  sowie  seine 
bnhlscbaft  mit  der  wültin  Hersent),  III  (tonsur  des  wolfes  und 
sein  fischfang  auf  dem  eise),  IV  (brunnenparadies),  V  (bachen- 
abenteuer  und  betrunkener  wolf  im  klosterkeller),  Va  (stihne- 
versuch  zwischen  Iseugrin  und  Renart  mit  schwur  auf  des 
rüden  zahne),  dazu  vielleicht  noch  einige  andere,  die,  wie  die 
gevatterschaft  von  fuchs  und  wolf  oder  das  abenteuer  mit  dem 
esel  Baldouin,  nur  unsichere  spuren  im  französischen  zurück- 
gelassen haben. 

Der  wolf  im  widerspiel  mit  anderen  tiereu  als  dem  fuchs 
begegnet  erst  in  jüngeren  brauchen,  während  der  fuchs  schon 
in  der  II.  brauche  von  verschiedenen  kleinen  tieren  überlistet 
wird.  Sonst  aber  bilden  das  grundthema  der  meisten  brauchen 
die  beziehungen  des  fuchses  zu  wolf  und  wölfin,  vor  allem  die 
streiche,  welche  der  listige  Renart  dem  starken,  aber  ein- 
fältigen Isengrin  spielt:  ein  antagonismus,  der  uns  auch  in  den 
äsopischen  fabeln  begegnet,  viel  ausgeprägter  und  mannigfaltiger 
aber  in  den  nordischen  tiermärchen  —  teils  von  fuchs  und 
wolf,  teils  von  fuchs  und  bär  —  entgegentritt.  Es  fehlt  nicht, 
dass  der  gefrässige  Isengrin  seinen  hilfreichen  gevatter  um  den 
genuss  der  schlau  erworbenen  beute  bringt  wie  z.  b.  im  bachen- 
abenteuer  (br.  V),  wo  Renart  sich  hinkend  stellt  und  dadurch 
einem  des  wegs  kommenden  bauern  einen  Schinken  ablistet, 
hernach  aber  als  anteil  vom  wolf  nur  das  weidenband  bekommt. 
In  der  regel  aber  ist  der  wolf  der  geprellte,  auch  wo  er  den 
fuchs  nicht  herausgefordert  hat.  Als  Isengrin  von  den  fischen, 
welche  sich  Renart  mit  lebensgefahr  erlistet  hat  (s.  u.)  und  zu 
hause  brät,  auch  einen  anteil  verlangt,  verbrüht  ihm  Renart 
unter  dem  vorwand,  ihn  zum  mönch  zu  machen  und  ihm  dann 
fische  zu  verschaffen,  den  schädel  und  heisst  ihn  zum  fische- 
fangen  den  schwänz  in  ein  loch  im  eis  stecken,  wo  Isengrin 
festfriert  und  nur  mit  Verlust  des  Schwanzes  davonkommt  (br.  III). 
Er  treibt  buhlschaft  mit  Isengrins  frau  Hersent  (br.  II),  lockt 
ihn,  mit  schlauer  benutzung  des  Spiegelbilds  im  wasser,  in  den 
klosterbrunnen  (br.  IV)  und  verhilft  ihm,  wo  er  kann,  zu  einer 
gehörigen  tracht  prügel.  Am  grausamsten  behandelt  er  den 
gevatter  bei  der  heilung  des  löwen  (br.  X),  zu  welcher  Isengrin 
sein  feil  und  viele  andere  tiere  stücke  ihres  körpers  hergeben 

26* 


404  XI.  Kapitel.     Märchen  und  Schwanke  in  Reimpaaren. 

müssen.  Dreimal  wegen  seiner  Schandtaten  zu  hofe  geladen 
verhöhnt  er  des  königs  hüten,  liält  eine  glänzende  verteidigungs- 
rede,  wird  aber  gleichwol  zum  galgen  verurteilt  und  entrinnt 
seinem  Schicksal  nur  dadurch,  dass  er  vorgibt  nach  dem  heiligen 
lande  pilgern  zu  wollen  (br.  I). 

Die  beiden  letzten  brauchen  haben  sich  aus  der  äsopischen 
fabel  vom  kranken  löwen  (Halms  ausg.  no.  225)  entwickelt,  zu 
den  übrigen  abenteuern  findet  man  die  parallelen  zumeist  in 
nordeuropäischen,  slavischen  und  verwanten  märchen;  einiges 
begegnet  ganz  ähnlich  in  den  fabeln  der  Marie  de  France, 
welche  teilweise  auch  aus  der  mündlichen  Überlieferung  geschöpft 
sind  (oben  s.  153).  Alt  ist  wol  auch  die  —  gleichfalls  auf  einem 
tiermärchen  beruhende  —  wallfahrt  der  tiere  (br.  VIII).  Die 
verschiedenen  brauchen  sind  uns  mit  wenigen  ausnahmen 
anonym  überliefert.  Die  IX.  brauche  hat  ein  priester  von  la 
Croix  in  der  Brie,  die  XII.  der  Normanne  Riebart  aus  Lison 
gedichtet;  der  auch  beim  Alexanderroman  (oben  s.  272)  erwähnte 
Pierre  von  St.  Cloud  wird  an  verschiedenen  stellen  als  Verfasser 
von  Renartbranchen  genannt,  ohne  dass  man  ihm  eine  der 
vorhandenen  mit  bestimmtheit  zuschreiben  könnte.  Jedenfalls 
waren  Pikardie  und  Isle  de  France  mit  Champagne  und  Nor- 
mandie  die  sitze  der  epischen  tierdichtung.  Die  einzelnen 
Verfasser  erzählen  unterschiedlich,  meist  aber  mit  verständnis- 
vollem eingehen  auf  eigenart  und  lebensgewohnheit  der  einzelneu 
tiere,  unter  massvoller  anpassung  an  menschliches  denken  und 
handeln,  mit  flottgeführtem  dialog  und  mit  schalkhaftem  humor 
und  viel  witz  im  einzelnen.  In  den  überlieferten  fassungen 
tritt  freilich  hie  und  da  schon  neigung  zur  satire  wie  hang 
zum  obseöuen  hervor,  was  die  von  haus  aus  objektive  und 
harmlose  märchendichtung  mehr  und  mehr  dem  Charakter  des 
fablels  nähert  und  mehr  für  den  geschmack  der  unteren  klassen 
als  der  höfischen  gesellschaft  geeignet  erscheinen  lässt. 

D.  Textprobe.  Als  probe  der  gattung  folgt  hier  die 
erzählung  vom  fischdiebstahl  (br.  III,  v.  1  ff.),  welche  zwar  dem 
Glichezäre  noch  nicht  bekannt  war  und  dem  zweiten  teil  der 
branche  (wolfstonsur  und  fischfang,  vgl.  Reinhart  Fuchs  v.  635 ff.) 
erst  nachträglich  vorgesetzt  wurde,  aber  doch  relativ  alt  ist, 
auf  einem  weit  verbreiteten  märchen  beruht  und  das  charakte- 
ristische  der   gattung  gegenüber  einem    ähnlichen   thema   des 


j.   Roman  de  Renart:   FischdiebstahL 


405 


Physiologus  (oben  s.  140)  wie  gegenüber  der   fabelbehandlung 
(oben  s.  154  f.)  gut  hervortreten  läset. 


Seigneurs,  ce  fu  en  cel  teriniue 
Que  li  douz  teinps  d'este  decline 
Et  yvers  revient  en  saison, 
E  Renars  fu  en  sa  inaison. 
S  Mais  sa  garison  a  perdue: 
Ce  fu  inortel  desconvenue. 
N'a  que  donner  ne  qu'achater. 
Ne  s'a  de  quoi  reconforter. 
Par  besoing  s'est  mis  a  la  voie. 

10   Tot  coieinent  que  Ten  nel  voie, 
S'fu  vet  parini  une  jouchere 
Entre  le  bois  et  la  rivere, 
Si  a  taut  fait  et  taut  erre 
Qu'il  vint  en  un  cemin  ferre. 

15  El  cemin  se  cropi  Renarz, 
Molt  coloie  de  totes  parz. 
Ne  set  sa  garison  ou  querre: 
Car   la  fain   li  fait  molt  grant 

guerre. 
Ne  set  que  fere,  si  s'esmaie. 

2n  Lors  s'est  couchiez  lez  uue  haie: 
Hoc  atendra  aventure. 
Atant  ez  vos  grant  aleure 
Marcheans  quipoissonsmenoient 
Et  qui  devers  la  mer  venoient. 

2~)  Ilerens  fres  orent  a  plente: 
Car  bise  avoit  auques  vente 
Trestote  la  semeine  entere. 
Et  bons  poissons  d'atitre  mauere 
Orent  ases  granz  et  petiz, 


30  Dont  lor  paniers  out  bien  enpliz. 
Que    de    lamproies    que    d'an- 

guilles, 
Qu'il  orent  acate  as  viles, 
Fu  bien  chargie  la  charete. 
Et  Renars  qui  tot  siecle  abcte, 

35  Fu  bien  loins  d'aus  une  arcie. 
Quant  vit  la  carete  cargie 
Des  anguiles  et  des  lamproies, 
Mugant  fuiant  parmi  ces  voies 
Court   au   devant  por  aus  de- 
§oivre, 

40  Qu'il  ne  s'en  puissent  aperc,oivre. 
Lors  s'est  coches  enmi  la  voie. 
Or  oiez  con  il  les  desvoie! 
En  un  gason  s'est  voutrilliez 
Et  come  mors  aparelliez. 

45  Renars,    qui   taut   d'onmes  en- 
gingne 
Les  iex  cligne,  les  dens  rechigne, 
Et  tenoit  s'alaine  en  prison: 
OTstes  mais  tel  tra'ison? 
Ilecques  est  remes  gisans. 

50  Atant  es  vous  les  marcheans: 
De  ce  ne  se  prenoient  garde. 
Li  premiers  le  vit,  si  l'esgarde, 
Si  apela  son  compaignon: 
'Vez  la  ou  goupil  on  gaignon!' 

55  Quant  cilz  le  voit,  si  li  cria: 
'C'est  li  gorpilz:  va,  sei  pren,  va! 


Bemerkungen.  Eine  einheitliche  Schreibung  ist  weder  in  der  hs. 
noch  in  der  ausgäbe  durchgeführt,  doch  ist  die  branche  ihren  charakte- 
ristischen zügen  nach  pikardisch.  —  V.  S  Ne  s'a  de  q.  r.:  zur  Stellung 
des  objektpronomens  vgl.  AS  s.  275.  Vgl.  auch  unten  v.  IT  die  voraus- 
nähme des  substantivischen  Objekts.  —  14  e emin  =  kemin,  pikard.  form 
=  franc.  chemvn.  —  31  Que  —  que:  adverbial  gebraucht  'teils  —  teils, 
sowohl  als  auch',  aber  wie  der  vergleich  mit  ital.  che  —  ehe,  chi  —  chi 
(der  eine  —  der  andere  etc.)  lehrt,  vom  relativ  abzuleiten  (hier  wie  dort 
durch  eine  ellipse  zu  erklären).  —  33  —  36  cargie:  lies  cargie  (kargie), 
pik.  form  f.  cargite  (francisch  chargiee  =  Uardziee) ,  desgl.  arcie  =  arkie, 
franc.  arch/Ue.  —  46  iex:  =  ieus<C.iels,  uols  (pculos),  mit  x  =  us,  wie 
unten  68  Diex  =  Dieus  etc. 


406 


KL  Kapitel.     Märchen  und  Schwanke  in  Reimpaaren. 


Filz  a  putain,  gart  ne  t'eschat; 
Or  saura  il  trop  de  barat, 
Renars,   s'il   ne   nous   let   l'es- 
corce'. 

60  Li  marcheans  d'aler  s'esforce 
Et  ses  compains  venoit  apres 
Taut  qu'il  furent  de  Renart  pres. 
Le  goupil  trovent  envers6, 
De  tontes  pars  l'ont  renverse, 

65  N'ont  ore  garde  qu'il  les  morde. 
Prisent  le  dos  et  puis  la  gorge. 
Li  uns  a  dit  qne  trois  sols  vaut, 
Li  autres  dist:  'Se  diex  ine  saut, 
Ainz  vant  bien  quatre  a  bon 
marchie. 

70  Ne  sommes  mie  trop  chargie: 
Getöns  le  sus  nostre  charrete. 
Vez  con  la  gorge  est  blanche 

et  nete ! ' 
A  icest  mot  sont  avancie, 
Si  l'ont  ou  charretil  lancie 

75  Et  puis  se  sont  mis  a  la  voie. 
Li  uns  a  l'autre  fait  grant  joie 
Et  dient:  'N'en  ferons  ore  el, 
Mais  anquenuit  en  nostre  hostel 
Li  reverserons  la  gonnele'. 

SO  Or  lenr  piaist  auques  la  favele. 
Mais  Renars   ne    s'en  fait  fors 

rire, 
Que  moult  a  entre  faire  et  dire. 
Snr  les  paniers  se  jut  adens, 
Si  en  a  un  onvcrt  aus  dens 

85  Et  si  en  a  (bien  le  sachiez) 
Plus  de  trente  harans  sachiez. 
Auques  fu  vuidiez  li  paniers. 
Moult  par  en  menja  volentiers, 
Onques  n'i  quist  ne  sei  ne  sauge. 

90  Encore  aingois  qne  il  s'en  äuge 
Getera  il  son  amegon, 
Je  n'en  sui  mie  en  souspe^on. 
L'autre  panier  a  assailli : 
Son  groing  i  mist,  n'a  pas  failli 

95  Qu'il  n'en  trafst  trois  res  d'an- 
guilles. 


Renars,    qui    sot    de    maintes 

guiles, 
Son  col  et  sa  teste  passe  onltre 
Les  hardillons,  puis  les  acoutre 
Dessus  son  dos  que  tout  s'en 
cueuvre. 

100  Des    or    pourra    bien    laissier 
oeuvre. 
Or  li  estuet  enging  pourqnerre, 
C'omment  il  s'en  vendra  a  terre: 
Ne  trueve  planche  ne  degre. 
Agenoille  s'est  tout  de  gre 

105  Por  veoir  et  por  esgarder, 

Con  son  saut  pourra  miex  garder. 
Puis  s'est  un  petit  avanciez: 
Des  piez  devant  s'est  tost  lanciez 
De  la  charrete  enmi  la  voie. 

1 10  Entonr  son  col  porte  sa  proie. 
Et  puis  quant  il  a  fait  son  saut, 
Aus  marcheans  dist:  'Diex  vons 

saut ! 
Cilz  tantes  d'anguiles  est  nostres 
Et  li  remanans  si  soit  vostres!" 

115  Li  marcheans  quant  il  1'oTrent, 
A  merveilles  s'en  esbahirent, 
Si  s'escn'ent:  'Voiz  le  gourpil!' 
Si  saillirent  ou  charretil, 
Ou  il  cnderent  Renart  prendre, 

1 20  Mais  il  nes  voult  pas  tant  atendre. 
Li  uns  des  marcheans  csgarde, 
A  l'autre  dist:  'Mauvaise  garde 
En  avons  prise,  ce  me  semble'. 
Tuit  fierent  lor  paumes  ensemble. 

125  'Las'    dist    li    uns    'con    grant 
damage 
Avons  en  par  nostre  outrage! 
Monlt  esffon  fol  et  musart 
Andni  qui  cre'i'on  Renart. 
Les  paniers  a  bien  alachez 

130  Et  si  les  a  bien  sonffachiez, 
Car  deus  rez  d'anguiles  enporte. 
La  male  pass'i'on  le  torde ! ' 
'IIa'  l'ont  li  marcheant  'Renart, 
Tant  par  estes  de  male  part. 


82  entre  —  et:  vgl.  AS  zu  vers  78,  s.  204. 


2.   Roman  de  Renart:    Fischdiebstahl.  407 

135  Mal    bien    vons    pnissent    elles  Si  vint  a  son  chastel  tont  droit, 

faire'.  150  Ou  sa  maisnie  L'atendoft, 
'  St-igneiir,  n'ai   suing  de   noise  Qui  assez  avoit  graut  uiesese. 

faire.  Renars  i  eutre  par  la  hese. 

Or  direz  ce  qne  vuus  plaira  —  Encontre  Uli  sailli  s'esponse, 

Je  sni  Renart  qui  se  taira'.  Hermeline  la  jonc  touse, 

Li  inarcheant  vont  apres  lui,  155  Qni   nionlt    estoit    courtoise   et 
140  M:iis  il  nel  bailleront  mais  hui,  franchc. 


Car  il  a  taut  isnel  cheval. 
One  ne  fina  parnii  un  val 
Dusqnes  il  vint  a  son  plessie. 
Lors  l'ont  li  niareheant  lessie, 


Et  Percehaie  et  Malebranche, 
Qni  estoient  ambedui  frere, 
Cil  saillirent  coutre  leur  pere, 
Qui  s*en  venoit  les  menus  saus 


!45  Qui     por     inauves     rnusart    si  160  Gros  et  saoulz,  joieus  et  baus, 
tiennent.  Les  angnilles  entonr  son  col. 

Recreant  sont,  arriere  viennent.  Mais  qui  que  le  tiegne  pour  fol, 

Et  cilz  s'en  vait  plus  que  le  pa3  Apres  lui  a  close  sa  porte 

Qui  ot  passe  maint  mauvais  pas,  Pour  les  anguilles  qu'il  aporte. 

Über  das  Tierepos  im  allgemeinen:  Jacob  Grimm,  Rein- 
hart Fuchs,  B.  1834  (mit  texten).  P.  Paris,  Les  Aventures  de 
Maitre  Renart  et  d'Isengrin  son  compere  mises  en  nouveau  langage, 
P.  1861,  s.  323  ff.  W.  A.  Jonckbloet,  Etüde  sur  le  R.  d.  R,  Groningen 
1863.  W.  Ch.  Wackernagel  (1867),  KL  Schriften  II,  239  ff.  Wilh. 
Scherer,  Jacob  Grimm  (1865),  2ß.  1885,  s.  289  ff.  Karl  Müllenhoff, 
ZdA  18  (1875)  1  ff.  Kaarle  Krohn,  Bär  (Wolf)  und  Fuchs  (deutsch 
von  0.  Hackmann),  Helsingfors  1888.  Leopold  Sudre,  Les  sources 
du  R.  d.  R.,  P.  1893;  derselbe  in  Petit  de  Jve.  II,  Uff.  G.  Paris, 
Le  R.  d.  R.,  JdSav  1894  u.  95,  sep.  P.  1905.  C.  Voretzsch,  Preuss. 
Jahrb.  80  (1895)  417  ff.  (hier  die  alt.  lit.  verzeichnet).  G.  Sucher, 
Tierfabel,  Tiermärchen  und  Tierepos,  Progr.  Reutlingen  1906. 
R.  Reissenberger,  Reinhart  Fuchs,  Ha.  2  1908,  einleitung.  E.Martin, 
Zur  Geschichte  der  Tiersage  im  MA,  Prager  deutsche  Studien  VII, 
1,  273 ff.  (1908,  bes.  zu  d.  tierbildern).  —  Zur  lat.  tierdichtung 
vgl.  die  ausgaben  von  Ernst  Voigt:  Ecbasis  captivi  (Quellen  und 
Forschungen  etc.  8),  Str.  1885;  Kleinere  lat.  Denkmäler  d.  Thier- 
sage  (Qu.  u.  Fo.  25),  Str.  1878;  Ysengrimus,  Ha.  1884.  Das  jetzt 
von  Voigt  als  Ysengrimus  hg.  gedieht  ist  identisch  mit  dem  von 
Mone,  Grimm  n.  a.  ehedem  so  genannten  Beinhardus  vulpes,  während 
das  von  Grimm  als  Ysengrimus  bezeichnete  gedieht  nach  Voigt  einen 
Ysengrimus  ahbreriatus  darstellt.  Vgl.  ferner  Leonard  Willems, 
Etüde  sur  l'Ysengrinus,  Gand  1895,  dazu  ZrP  22  (1896)  413 ff. 
Nachahmung  des  Ysengrimus  durch  franz.  Renartdichter  lässt  sich 
erst    in   jüngeren    brauchen   und   Überarbeitungen   älterer   branchen 

135  Mal  bien:  mal  Substantiv,  bien  adverb.  —  147  plus  que  le 
pas:  mehr,  rascher  als  im  schritt. 


408  XI.  Kapitel.    Märchen  und  Schwanke  in  Reimpaaren. 

feststellen.  Charakteristisch  für  den  K.  d.  R.  ist  namentlich  das 
gevatterschaftsverhältuis  zwischen  fuchs  und  wolf.  während  die  beiden 
im  Ysengrimus  (und  in  den  nachgeahmten  franz.  branclien)  als  onkel 
und  neffe  erscheinen. 

Ausgaben:  Le  Roman  du  Renard  p.  p.  Meon,  4  bde.,  P.  1826, 
dazu  Le  R.  d.  R.,  Supplement  p.  p.  Chabaille,  P.  1835.  Le  roman 
de  Renart  p.  p.  Ernest  Martin,  3  bde.,  Str.  1882 — 87,  nebst  Obser- 
vation sur  le  R.  d.  R.,  Str.  1887.  Herrn.  Büttner,  D.  Überlieferung 
des  R.  d.  R.  und  die  Handschrift  0,  Str.  1891.  M.  Roqucs,  Frag- 
ments d'un  ms.  du  R.  d.  R.,  Rom.  39  (1910)  33  ff.  Herrn.  Class, 
Auffassung  u.  Darstellung  der  Tierwelt  im  franz.  R.  d.  R.,  Diss. 
Tübingen  1910.  —  Die  übrigen  hier  nicht  behandelten  brauchen 
gehören  meist  erst  dem  13.  jh.  an.  Eine  fablel  Dou  lou  et  de 
Voue  (ohne  eigennamen)  von  Jean  de  Boves  bei  Meon,  Recueil 
III,  53  ff. 

Bearbeitungen:  Eine  ins  italienische  übergegangene,  im 
franz.  verloren  gegangene  branche  siehe  bei  Martin  II,  br.  XXVTI. 
Vgl.  A.  Todt,   Die  franco-ital.  Renartbranchen,   Diss.  Giessen  1903. 

—  Der  mhd.  Reinhart  Fuchs  (ausgäbe  von  Reissenberger,  s.o.) 
geht  auf  ältere  als  die  überlieferten  branchen  zurück:  siehe  C.  Voretzsch, 
ZrP  15  (1891)  124ff,  344 ff.,  16,  1  ff.  (anders  Martin,  Observation 
s.  104  ff,  und  H.  Büttner,  Der  R.  F.  u.  s.  franz.  Quelle,  Str.  1891). 

—  Ein  mittelenglisches  gedieht  behandelt  das  brunnenparadies 
(teils  in  Übereinstimmung  mit  br.  IV,  teils  mit  einer  Version  der 
hs.  II),  Chaucers  Nonne  prestes  tale  die  hahnfabel  der  II.  branche 
(vielleicht  nach  einer  älteren,  zwischen  RF  und  R.  d.  R.  stehenden 
version,  vgl.  Kate  Oelzner  Petersen  i.  Radcliff  College  Monographs 
no.  10,  Boston  1898,  E.  P.  Dargan,  Cock  and  fox,  Mod.  Phil.  4, 
38ff).  —  Die  erfolgreichste  bearbeitung  war  der  niederländische 
Reinaert  von  Willems  (zw.  1235  u.  1250),  welcher  die  um  eine 
fortsetzung  (bei  Martin  br.  Ia)  vermehrte  I.  branche  selbständig 
gestaltet  und  durch  die  erfindung  vom  gegenkönigtum  de3  baren  und 
von  Ermelincs  schätz  bereichert.  Um  1350  wird  sein  werk  durch 
einen  anderen  Niederländer  mit  benutzung  der  VI.  franz.  branche  zu 
Reinaerts  Historie  erweitert,  welche  direkt  oder  indirekt  den 
neueren  bearbeitungen  zugrunde  liegt:  der  ndl.  prosa  und  dem 
Volksbuch,  der  franz.  prosa,  Caxtons  englischem  Reynard  und  — 
durch  Vermittlung  der  nur  fragmentarisch  erhaltenen  moralisierenden 
bearbeitung  Hinreks  van  Alckmer  (um  1480)  —  dem  niederdeutschen 
Reinke  de  vos  (Lübeck  1498),  auf  welchen  Gottsched  und  Goethe 
zurückgehen.  Vgl.  Knorr,  Die  20.  (I.)  blanche  des  R.  d.  R.  und 
ihre  Nachbildungen,  Progr.  Eutin  1866.  In  ihren  Reinaertansgaben 
behandeln  Jonckbloet  (1856),  Martin  (1874),  van  Helten  (1887) 
das  Verhältnis  zur  franz.  quelle.  Vgl.  noch  J.  W.  Mueller  in  Taal 
en  Letteren  10  (1904);  De  twee  dichters  van  Reinaert  I,  1912 
(separatdruck    aus  Tijdschrift    voor    nederlandsche  Taal    en    Letter- 


3.  Die  Anfänge  des  Fablels:  Allgemeines.  409 

künde,  XXXI).  Über  die  Vorgeschichte  des  ndl.  Keinke  s.  Prien, 
PH!;  8,  1  Ö'.,  Einleitung  z.  ausgäbe  des  Heinke  1887;  C.  Voretzsch, 
Beilage  z.  Allg.  Zeitung  1898,  no.  293  n.  294. 


3.    Die  Anfänge  des  Fablels. 

A.  Allgemeines.  Während  die  bliitezeit  der  einen  teil 
der  höfischen  literatur  bildenden  laidichtung  im  wesentlichen 
in  das  12.  Jahrhundert  fällt,  während  der  tierschwank  im 
12.  Jahrhundert  bereits  reichlich  vertreten  ist  und  dieser  epoche, 
allenfalls  noch  dem  unmittelbar  folgenden  Jahrzehnt,  seine 
besten  stücke  verdankt,  zeigt  sich  das  fablel,  der  schwank  im 
eigentlichen  sinn,  im  12.  Jahrhundert  erst  in  wenigen  proben, 
die  allerdings  wol  nur  als  reste  einer  umfangreicheren  ent- 
faltuug  der  gattung  betrachtet  werden  dürfen  und  uns  jeden- 
falls berechtigen,  das  entstehen  derselben  ungefähr  gleichzeitig 
mit  dem  des  tierschwankes  anzusetzen.  Wie  die  anderen  hier 
genannten  gattungen  ist  auch  das  fablel  im  wesentlichen 
populären  Ursprungs,  betont  aber  gegenüber  dem  märchenhaften 
element  und  idealen  charakter  des  lais  in  erster  linie  die  reale 
seite  des  menschlichen  lebens  und  in  Zusammenhang  damit  das 
komische  element.  Es  sind  'contes  ä  rire',  und  zwar  in  höherem 
masse  als  die  tierschwänke,  welche  vielfach  reine  märchen- 
erzählung  wiedergeben.  So  spielt  die  list  und  untreue  der 
frauen,  das  leben  der  buhlerinnen  und  kupplerinnen,  die 
unsittlichkeit  der  geistlichen,  die  überlistung  unerfahrener 
junger  mädchen  eine  grosse  rolle  in  diesen  erzählungen,  die 
sich  nicht  mehr  an  das  höfische  publikum,  sondern  an  das  der 
Strasse  wenden  (daher  gelegentlich  fabellae  ignobilium  genannt). 
Häufig  knüpfen  sich  moralische  betrachtungcn  daran.  Eine 
kleine  gruppe  behandelt  ernstere  geschichten  im  stile  der  lai- 
dichtung.  Die  blute  der  fablels  fällt  ins  13.  Jahrhundert,  die 
letzten  fablels  dichtet  in  der  ersten  hälfte  des  14.  Jahrhunderts 
Jehan  de  Coude.  Im  ganzen  zählt  die  gattung  rund  150  stück, 
die  im  umfang  sich  von  wenigen  versen  bis  zu  1300  versen 
ausdehnen. 


410  XI.  Kapitel.     Märchen  und  .Schwanke  in  Reimpaaren. 

B.  Ursprungsfragen.  An  die  herknnft  der  fablels 
knüpfen  sieb  ähnliche  fragen  wie  an  die  tierschwänke,  wie  an 
die  märchen  und  schwanke  überhaupt.  Anlass  zur  Stellung 
solcher  fragen  gibt  die  tatsache,  dass  eine  reihe  von  fablels 
ihre  parallelen  in  den  schriftlichen  und  mündlichen  Über- 
lieferungen fremder  Völker  finden,  oft  mit  so  überraschenden, 
ins  einzelne  gehenden  Übereinstimmungen,  dass  ein  Zusammen- 
hang zwischen  den  verschiedenen  Versionen  unabweisbar  ist. 
Lässt  sich  so  für  einzelne  geschichten  ein  bestimmtes  Ursprungs- 
land oder  eine  bestimmte  zeit  der  entstehung  feststellen,  so 
liegt  der  gedanke  nahe,  auch  den  Ursprung  der  gattung  in 
einer  bestimmten  gegend  oder  zeit  zu  suchen.  Jacob  Grimm 
betrachtete  die  märcheu  als  reste  indogermanischer  mythen 
und  erklärte  die  Übereinstimmungen  im  wesentlichen  aus  der 
arischen  Urgemeinschaft.  Diese  theorie,  an  und  für  sich  nicht 
zu  verwerfen,  reebnet  zu  wenig  mit  der  viel  häufiger  zutreffenden 
und  nachweisbaren  möglichkeit  der  entlehnung  von  volk  zu 
volk  und  übersieht,  dass  diese  erzählungen  nicht  ausschliesslich 
arisches  besitztum  sind.  Eine  andere  theorie,  durch  Andrew 
Lang  u.  a.  vertreten,  führt  die  entstehung  der  märchen 
gleichfalls  auf  uralte  zeiten,  auf  anschauungen  und  brauche 
der  barbarenzeit,  zurück,  betont  aber  neben  Urgemeinschaft 
und  entlehnung  vor  allem  noch  die  möglichkeit,  dass  unter 
ähnlichen  Verhältnissen  ähnliche  produkte  entstehen,  dass  also 
die  Übereinstimmung  in  vielen  fällen  nicht  auf  historischem 
Zusammenhang,  sondern  auf  zufall  beruht.  Lassen  wir  alle  diese 
möglichkeiten  im  prinzip  gelten,  da  keine  davon  ausschliessliche 
geltung  beanspruchen  darf,  so  ist  doch  soviel  sicher,  dass  wir 
weitaus  in  den  häufigsten  fällen  die  enge  Übereinstimmung  von 
erzählungen  durch  Wanderung  und  entlehnung  erklären  müssen. 
In  dieser  hinsieht  lag  es  nahe,  die  ältesten  Überlieferungen 
solcher  art  auch  als  die  ursprünglichsten,  als  die  quellen  der 
übrigen  anzusehen;  das  sind  in  erster  reihe  die  orientalischen, 
speziell  die  indischen  schwanke  und  märchen,  nächst  ihnen 
solche  der  übrigen  antiken  weit.  So  betrachtete  man,  nach 
dem  sprach  ex  Oriente  lux,  Indien  und  seine  nachbarländer 
Persien,  Arabien  usw.  nicht  nur  als  ausgangspunkt  zahlreicher 
erzählungen,  sondern  der  gattung  überhaupt.  Diese  orien- 
talische  theorie   durfte   bis   vor  kurzem  und  darf  vielleicht 


3.  Die  Anfänge  des  Fablels:  Ursprtmgsfragen,  Richent.  411 

noch  jetzt  als  die  herrschende  bezeichnet  werden.  Theodor 
ßeufey,  Gaston  Paris,  Reinhold  Kühler  sind  ihre  hnuptvertreter. 
Gegen  sie  wendet  sich  Joseph  Bedier  in  seiner  doktorats- 
these  über  die  Fabliaux.  Er  lässt  nicht  den  Orient  als 
alleinige  quelle  dieser  erzählungen  gelten,  sondern  vertritt  die 
'polyg£n6sie  des  contes':  überall  können  solche  coutes  entstehen 
und  sind  welche  entstanden;  ihre  Verbreitung  erfolgt  in  der 
regel  auf  mündlichem  wege,  ist  aber  so  mannigfaltig  und  so 
schwer  kontrollierbar,  dass  es  nutzlos  ist,  die  verschiedenen 
Varianten  einer  erzähluiig  untereinander  zu  vergleichen  und 
ihren  Ursprung  ausfindig  machen  zu  wollen,  es  sei  denn,  dass 
der  kern  einer  erzählung  elemente  einschliesst,  welche  ihre 
Verbreitung  zeitlich  und  örtlich  begrenzen.  Besonders  Indien 
hat  dem  abendland  und  der  französischen  literatur  nur  einen 
verschwindenden  bruchteil  der  hier  begegnenden  schwankstofTe 
geliefert. 

Bediers  ansichten  sind  als  zu  extrem  von  verschiedenen 
Seiten  zurückgewiesen  oder  in  ihrer  anwendung  eingeschränkt 
worden:  der  anteil  des  Orients  ist  doch  etwas  grösser  als  er 
annimmt,  und  vollends  die  Untersuchungen  über  Ursprung  und 
ausbreitung  einzelner  erzählungen  sind  nicht  so  völlig  aus- 
sichtslos als  es  nach  Bedier  erscheinen  möchte.  Aber  sein 
verdienst  ist,  die  lange  zeit  überschätzte  bedeutung  des  Orients 
eingeschränkt,  den  geringen  einfluss  der  von  dort  stammenden 
literaturwerke  (Pantschatantra  mit  Calilah  und  Dimnah, 
Qukasaptati  u.  a.)  auf  die  abendländischen  erzählungen  nach- 
gewiesen und  Indien  als  alleinige  quelle  von  schwanken  und 
niärchen  beseitigt  zu  haben.  Weitere  förderung  kann  die  frage 
freilich  nur  durch  immer  neue  und  vermehrte  einzeluntersuch ung 
der  verschiedenen  erzählungsstoffe  erfahren. 

C.  Das  älteste  bekannte  fablel:  Richeut  (1159). 
Richeut  ist  der  name  einer  buhlerin  und  kupplerin,  welche 
sich  zuerst  an  einem  mit  ihr  verkehrenden  geizigen  priester 
rächt,  indem  sie  ihm  die  Vaterschaft  ihres  unehelichen  sohnes 
zuschiebt  und  als  schweigelohn  geld  und  gut  abpresst;  ebenso 
nutzt  sie  einen  ihr  bekannten  ritter  und  schliesslich  einen 
kinderlosen  guten  bürger  aus,  der  sogar  recht  stolz  auf  die 
Vaterschaft  ist.  Unterstützt  wird  sie  bei  ihren  betrügereien 
durch  ihre  meschine  Herselot.    Der  söhn,  auf  den  namen  eines 


412  XI.  Kapitel.    Märchen  uud  Schwanke  iu  Keiru paaren. 

paten  Samson  getauft,  wächst  heran,  lernt  aber  nicht  bloss 
grammatik  und  versemachen  gut,  sondern  auch  andere,  weniger 
rttbmliehe  klinste,  an  denen  ihn  Richeut  als  ihren  echten  söhn 
erkennt  und  mit  denen  er  bei  frauen  und  niädchen  in  der 
ganzen  weit  sein  glück  macht.  Er  wird  münch,  um  den 
kirchensehatz  zu  stehlen,  priester,  um  nonnen  zu  verführen, 
buhlt  bald  mit  einer  mutter,  bald  mit  ihrer  tochter  oder  ihren 
cousinen  usw.  —  Das  gedieht  ist  interessant  als  Vertreter 
selbwachsener  sittenschildcrung,  die  nicht  aus  der  fremde 
entlehnt,  vielmehr  aus  der  beobachtung  der  Verhältnisse 
hervorgegangen  ist.  Es  gibt  sich  als  neue  probe  einer  den 
hörern  schon  bekannten  gedichtgruppe,  welche  leben  und 
streiche  der  buhlerin  Richeut  zum  gegenständ  hatte:  Sovantes 
foiz  o'i  avez  —  Conter  sa  vie.  Damit  ist  gesagt,  dass  schon 
vor  1159  ähnliche  gedichte  bestanden.  Auch  formell  ist  die 
dichtung  eigenartig,  indem  alle  zwei  bis  vier  verse  ein  vier- 
silbner  zwischen  die  achtsilbner  eingemischt  wird  und  zwar 
so,  dass  der  viersilbner  entweder  mit  dem  folgenden  oder  mit 
den  zwei  folgenden  achtsilbnern  reimt. 

D.  Auberee.  Nächst  Richeut  ist  eines  der  ältesten 
fablels  Auberee,  dem  ende  des  12.  oder  dem  anfang  des 
13.  Jahrhunderts  angehörig.  Gegenüber  'Richeut'  kann  es  als 
typus  solcher  schwanke  gelten,  welche  ihre  parallelen  im 
Oriente  finden  und  vermutlich  von  dort  her  auf  dein  wege  der 
mündlichen  Überlieferung  nach  dem  abendlande  eingewandert 
sind.  Die  erzählung  findet  sich  nämlich  in  den  orientalischen 
Versionen  des  buches  von  den  'Sieben  Weisen'  (siehe  unten) 
wieder,  aber  —  abgesehen  von  einer  erst  1235  entstandenen 
spanischen  Übersetzung  —  nicht  in  den  abendländischen 
Versionen,  muss  also  auf  mündlicher,  vom  buch  der  Weisen 
vermutlich  ganz  unabhängiger  Überlieferung  beruhn.  Es  handelt 
sich  um  eine  der  in  dieser  gattung  so  beliebten  geschieh ten 
vom  betrogenen  ehemann.  Der  söhn  eines  reichen  bürgers  in 
Compiegne  hat  das  mädchen  seiner  wähl  nicht  heiraten  dürfen, 
weil  es  seinem  vater  zu  arm  war,  und  gelangt  nun,  nachdem 
das  mädchen  die  frau  eines  andern,  eines  kaufmanns,  geworden, 
mit  hilfe  der  listigen  kupplerin  Auberee  zum  ziele.  Diese 
schmuggelt  nämlich  seinen  Überrock  (sorcot)  in  das  bett  der 
kaufmannsfrau,   der   gatte   findet   ihn   und   wirft   die   frau   als 


.!.   Die  Anfliege  des  Fablels:  Auberee.  H3 

untreu  aus  dem  haus,  sie  wird  alsbald  von  Auberee  auf- 
genommen und  läuft  hier  dem  Verehrer,  freilich  ohne  es 
zu  ahnen  und  zu  wollen,  ins  garn.  Nachher  bringt  Anberee 
sogar  noch  eine  aussöhnung  zwischen  den  beiden  gatten 
zustande,  indem  sie  vorgibt,  sie  habe  den  Überrock,  den  sie 
aus  versehen  im  hause  des  kaufmanns  habe  liegen  lassen, 
zum  ausbessern  erhalten,  und  zum  beweise  der  Wahrheit  die 
noch  darin  befindliche  nadel  nebst  faden  zeigt.  So  wird 
der  betrogene  ehemann  auch  noch  der  frau  gegenüber  ins 
unrecht  gesetzt. 

Vgl.  über  die  allgemeinen  fragen:  Brüder  Grimm,  Kiuder- 
und  Hansmärchen  III  3 1856.  Andrew  Lang,  Cnstom  and  Mylh-, 
London  1885;  Myth,  Ritual  and  Religion,  2  bde.,  1887  u.  sonst. 
Theodor  Benfey,  Pantschatantra,  aus  dem  Sanskrit  übers.,  2  bde., 
L.  1859,  bes.  bd.  I.  Reinhold  Köhler,  Ü.  d.  enrop.  Volksmärchen 
(Aufsätze  ü.  Märchen,  B.  1894).  Fr.  v.  d.  Leyen,  Das  Märchen, 
L.  1911.  G.  Paris,  Les  contes  orientanx  dans  la  litt.  fr.  da  m.  ä., 
p.  1875  (=  Poesie  II  s.  75 ff.);  Lit.  §  72 ff.  Joseph  Bedier,  Les 
fablianx  (these),  P.  1893,  2 1895  (vgl.  W.  Cloetta,  Herriga  Archiv  93 
[1894]  206  ff.),  ferner  in  Petit  de  Jve.  II,  s.  57  ff.  Suchier,  Lit.  s.  191  ff. 
Gröber,  Lit.  s.  610  ff.  Über  die  bedeutung  des  wortes  fablel  Oskar 
Pilz,  Progr.  Stettin  1889,  über  die  form  (fableaux,  nicht  fabliaux) 
Cloetta  a.'a.  0.  206  f.  und  Ch.-M.  des  Granges  Rom.  24,  135  f.  — 
Ausgaben:  Anatole  de  Montaiglon  et  Gaston  Raynaud,  Recneil 
general  et  complet  des  fabliaux  des  XIII0  et  XIVe  siecles,  6  bde., 
P.  1872  —  90.  Ältere  Sammlungen  siehe  oben  s.  392.  Vgl.  Georg 
Ebeling,  Zur  Berliner  Fableauxhandschrift,  Toblerband  s.  321  ff. 
—  Richeut  in  Meons  Recneil  I,  38  ff.  Vgl.  Bedier  in  Etudes 
G.  Paris  s.  23  ff.  —  Auberee,  Afr.  Fablel  hg.  von  G.  Ebeling, 
IIa.  1895. 

Unter  den  fablels  des  13.  Jahrhunderts  begegnen  viele  Stoffe, 
die  auch  sonst  durch  bearbeitungen  in  der  franz.  oder  in  fremden 
literaturen  bekannt  geworden  sind:  so  die  schon  oben  (s.  321) 
erwähnte  witwe  von  Ephesus  (De  celle  qui  se  ftst  foutre  sur  la  fosse 
de  son  man,  Mont.  et  Rayn.  III  118),  der  schon  früher  in  dem  lat. 
'modus  Liebinc'  behandelte  schwank  vom  schneekind  (De  Venfant 
qui  fut  remis  au  soleil,  M.  et  R.  I  162),  so  der  in  Molieres  'Medecin 
malgre  lui'  wiederkehrende  Vilain  mire  (M.  et  R.  III  156,  krit.  ausg. 
von  Zipperling,  Ha.  1912)  u.  a.  m.  Auch  unter  den  fabeln  der 
Marie  de  France  (oben  s.  153)  finden  sich  mehrere  fablelstoffe 
(no.  25,  44,  45  u.  a.).  Nicht  wenige  der  späteren  fablels  bewegen 
sich  in  den  niedrigsten  Sphären  des  menschlichen  witzes  (D'une  seitle 
fame  qui  servoit  cent  Chevaliers  de  tous  poins  —  Le  jugcmenl  des 
cons  — :  De  Vanel  qui  fist  croistre  le  int  u.  a.  m.). 


414  XI.  Kapitel.    Märchen  und  .Schwanke  in  Reimpaaren. 

Ein  teil  der  franz.  fablels  ist  in  andere  literaturen  übergegangen 
und  kehrt  in  den  späteren  novellensammlungen  wieder.  Vgl.  D'Ancona, 
Le  Fonti  del  Novellino,  Rom.  2,  385  ff,  3,  164  ff.  (auch  Studj  di 
critica  e  storia  letteraria,  Bologna  1880,  s.  217  ff.)  und  Marcus 
Landau,  Die  Quellen  des  Dekameron2,  Stuttgart  1884. 


4.   Rahmenerzählungen. 

Die  literarische  form  der  rahmen erzählungen  stammt  aus 
dem  Orient,  besonders  aus  Indien,  wo  uns  als  bekanntestes 
beispiel  das  Pantschatantra  entgegentritt,  d.  i.  fünf  fabel- 
btieher,  die  Wischnusarman  niedergeschrieben  haben  soll, 
um  drei  königssöhne  in  der  lebensweisheit  zu  unterrichten, 
und  deren  hauptfabeln  ihrerseits  wieder  durch  eine  reihe 
anderer  fabeln,  z.  t.  in  mehrfacher  einschachtelung,  erläutert 
und  unterbrochen  werden.  Das  werk  ist  ins  persische, 
arabische  (als  Kaliiah  und  Dimnah),  syrische,  hebräische  und 
in  andere  sprachen  tibersetzt  worden,  aber  als  ganzes  dem 
abendland  erst  durch  die  lat.  Übersetzung  des  Johannes  von 
Capua  {Directorium  vitae  humanae),  1250 — 70,  bekannt  ge- 
worden. Gleichfalls  aus  Indien  stammt,  aber  in  seiner  indischen 
urform  verloren  ist  das  oben  erwähnte,  in  persischer,  arabischer, 
syrischer,  hebräischer,  griechischer  spräche  überlieferte  'Buch 
der  sieben  Meister',  als  dessen  Verfasser  früher  der  darin 
genannte  Syntipas  oder  Sindbad  galt.  Nach  dem  abendland 
ist  der  roman  allem  anschein  nach  zunächst  auf  dem  wege  der 
mündlichen  Überlieferung  gekommen.  Von  lateinischen  Über- 
setzungen, welche  sonst  die  Vermittlung  zwischen  Orient  und 
occident  bilden,  ist  erst  aus  dem  anfang  des  13.  Jahrhunderts 
der  Dolopathos  des  Johannes  de  Alta  Silva  (Jean  de 
Hauteseille)  zu  nennen.  Im  abendland,  in  Spanien,  entstanden 
ist  die  Disciplina  clericalis  des  1106  bekehrten,  1112  ver- 
storbenen spanischen  Juden  Petrus  Alphonsi,  welcher  nach 
orientalischen  mustern  arbeitet,  aus  orientalischen  quellen 
schöpft,  aber  auch  abendländische  Überlieferung  (wie  in 
einigen  tiermärchen)  nicht  verschmäht.  Die  in  diese  werke 
eingefügten    erzählungen  gehören  verschiedenen  gattungen  an, 


4.  Rahmenerzählungen:  Sept  Sages.  415 

teils  den  Bch wanken,  teils  den  do  vollen,  teils  den  tierniürehen 
oder  fabeln. 

A.  Roinan  des  Sept  Sages  (naeh  Suchier  um  1155, 
nach  Grüber  im  letzten  viertel  des  12.  Jahrhunderts  verfasst). 
Die  erzählnng  ist  hier  zuerst  in  Korn,  dann  in  Konstautinopel 
lokalisiert.  König  Vespasianus,  von  dem  zunächst  seine 
augenkrankheit  und  deren  heilung  durch  berüliruug  mit 
Christi  leichentueh  (sydoine)  berichtet  wird  (vgl.  oben  s.  136), 
bekommt  einen  söhn,  verliert  aber  die  gattin  bald  nach  dessen 
geburt  und  heiratet  zum  zweitenmal  eine  listige,  durchtriebene 
frau,  einen  wahren  dyable.  Der  söhn  wird  unterdes  von 
sieben  weisen,  qui  a  Romme  a  cel  tans  estoient  —  et  tout  le  sens 
del  mont  savoient,  in  Rom  erzogen  und  in  allen  Wissenschaften 
unterrichtet.  Ihre  namen  sind  Baucillas,  Lentulus,  Cathon, 
Malquidas,  Jesses,  Damnas,  Beros.  Nach  sieben  jähren  lässt 
Vespasianus  auf  wünsch  der  frau  den  söhn  nach  Konstantinopel 
kommen,  aber  dieser  sieht  ebenso  wie  die  sieben  weisen  in 
den  sternen,  dass  ihnen  allen  der  tod  bevorsteht,  wrenn  der 
jüngling  nicht  sieben  tage  am  hof  zu  schweigen  weiss.  So 
muss  er  die  falsche  anschuldigung  der  Stiefmutter,  dass  er 
sie  habe  verführen  wollen,  über  sich  ergehen  lassen,  ohne 
sich  verteidigen  zu  können.  Die  königin  erzählt  nunmehr  die 
parabel  von  dem  reichen  herzog  und  seinem  schönen,  grossen 
pinienbaum,  den  er  einem  an  der  wurzel  emporsprossenden 
schössling  zu  liebe  stück  für  stück  beschneiden,  verdorren 
und  schliesslich  umhauen  lässt,  und  erzielt  durch  diese  durch- 
sichtige anspielung  auf  das  Verhältnis  des  sohnes  zum  vater, 
dass  dieser  sogleich  befiehlt,  jenen  ins  meer  zu  werfen.  Da 
erscheint  zur  rechten  zeit  Baucillas  der  weise  und  warnt  den 
könig  vor  unüberlegtem  handeln  durch  die  erzählnng  von  dem 
ritter,  welcher  bei  der  heimkehr  seinen  blutbefleckten  kund 
für  den  mörder  seines  kindes  hält  und  tötet,  während  der 
huud  gerade  das  leben  des  kindes  gegen  eine  schlänge  ver- 
teidigt hat.  Daraufhin  schiebt  der  könig  das  urteil  auf,  und 
so  geht  es  noch  sechs  tage  weiter:  erst  eine  erzählung  der 
königin,  dann  eine  gegenerzählung  von  Seiten  eines  weisen, 
bis  am  siebenten  tag  der  königssohn  ohne  gefahr  den  mund 
öffnen  darf.  Die  verbrecherische  Stiefmutter  wird  zum  feuer- 
tod  verurteilt. 


416  XI.  Kapitel.    Märchen  und  Schwanke  in  Reimpaaren. 

B.  Dolopathos.  Auf  eiuer  abweichenden  Version  der 
'Weisen  Meister'  beruht  der  lateinische  Dolopatkos  (i.  e.  dolum 
vcl  doloro)i  patiens,  ex  greco  latinoque  sermone  compositum 
nomeri),  welcher  im  anfang  des  13.  Jahrhunderts  von  einem 
dichter  namens  Herbert  in  selbständiger  und  ausführlicher 
darstellung  auf  französisch  bearbeitet  wurde.  Dolopathos  ist 
der  name  eines  unter  Augustus  lebenden  künigs  von  Sizilien, 
dem  mit  seinem  söhn  Lucimien  (Lncinins)  dasselbe  begegnet 
wie  dort  dem  Vespasian.  Einziger  lehrer  des  knaben  ist  hier 
Virgil,  aber  die  sieben  weisen  (ohne  namen)  greifen  auch  hier 
an  derselben  stelle  ein,  schliesslich  auch  noch  Virgil  selbst. 
Die  eingeflochtenen  geschichten  sind  nur  teilweise  dieselben 
wie  dort,  zudem  erzählen  hier  nur  die  weisen,  nicht  aber  die 
königin.  Von  bekannten  erzählungen  begegnet  hier  u.  a,  die 
durch  Shakespeares  Merchant  of  Venice  berühmt  gewordene 
Verpfändung  eines  Stückes  körperfleisch,  eine  Version  der 
Polypheinsage,  das  schwanenrittermärchen  (vgl.  oben  s.  257  f.). 

C.  Castoiement  d'un  pere  k  son  fils.  Unter  diesem 
titel  ist  die  Disciplina  clericalis  des  Petrus  Alphonsi  zweimal 
ins  französische  übersetzt  worden,  einmal  ende  des  12.  Jahr- 
hunderts, das  andre  mal  mitte  des  13.  Jahrhunderts.  Hier  wird 
der  rahmen  lediglich  durch  die  Unterweisungen  und  Warnungen 
eines  vaters  an  seinen  in  die  weit  ziehenden  söhn  gebildet, 
die  eingefügten  erzählungen  dienen  zur  erläuterung.  Sie  sind 
sehr  verschiedenen  Charakters,  teils  novellen-  und  schwank- 
stoffe,  teils  anekdoten,  teils  märchen.  So  begegnen  verschiedene 
freundschaftsproben  (worunter  die  aus  Athis  und  Prophilias 
bekannte,  oben  s.  379),  überlistungen  des  ehemanns  durch  die 
ehefrau  oder  Schwiegermutter  (z.  b.  das  u.  a.  von  Hans  Sachs  in 
einem  Fastnachtsspiel  behandelte  weib  im  brunnen),  beispiele 
von  den  schlimmen  folgen  schlechter  gesellschaft,  witzworte  von 
Spielleuten,  tiermärchen  wie  das  aus  Asops  fabel  bekannte 
urteil  des  fuchses  über  mann  und  schlänge,  die  auch  im  Ronian 
de  Renart  behandelten  abenteuer  von  fuchs  und  wolf  im 
brunnen,   von   dem   seine   ochsen  verwünschenden  bauern  usw. 

Romans  des  sept  sages:  hg.  von  A.  Keller,  Tübingen  1836. 
Die  lat.  Historia  Septem  sapientum  (um  1330)  geht  auf  eine  prosa- 
anflösung  des  franz.  gedichts  zurück.  Eine  auf  die  hebräischen 
Mischle  Sendabar  zurückgehende  lat.  bearbeitung  gab  jüngst  Hilka 


4.   Rahmenerzählungen.  417 

heraus  (II.  S.  8.,  Heid.  1912).  Von  den  zwei  durch  G.  Paris  gedr. 
franz.  prosaversionen  (Deux  redactions  du  R.  d.  8.  S.  de  Kome, 
P.  1876,  Sdat)  steht  die  eine  der  versredaktion  nahe,  die  andere 
beruht  auf  der  Historia.  Die  fremden  (ital.,  sp;m..  fatal.,  engl.) 
bearbeitangen  gehen  meist  auf  franz.  prosaversionen  zurück.  Vgl. 
ausser  den  einleitungen  von  Keller  und  G.  Paris  noch:  Mussafia, 
Sitzber.  d.  Wien.  Akad.,  Phil. -Inst.  Kl.  48,  246  ff.  (1864),  "»7.  .'57  IT. 
(1867).  Comparetti,  Ricerche  intorno  al  libro  di  Sindibäd,  Milano 
1869.  P.  Ehret,  Der  Verfasser  des  versific.  R.  d.  S.  S.  und  Herberz,  der 
Verf.  des  afr.  Dolopathos,  Diss.  Heidelberg  1886.  H.  Fischer,  Beitr. 
z.  Lit.  d.  Sieben  weisen  Heister,  Diss.  Greifsw.  1903.  Killis  Campbell, 
A  study  of  the  romance  of  the  Seven  Sages,  Diss.  Baltimore  1898, 
und  The  Seven  Sages  of  Rome,  Boston  1907  (ausg.  des  engl, 
gedichts).  —  Dolopathos:  Johannes  de  Alta  Silva,  Dolopathos 
sive  de  rege  et  Septem  sapientibns,  hgg.  von  H.  Oesterley,  Str.  1873. 
Li  Romans  de  Dolopathos  p.  p.  Brunet  et  Montaiglon,  P.  1856. 
Vgl.  dazu  die  zum  R.  d.  S.  S.  zitierte  lit.  —  Disciplina  clericalis: 
Petri  Alphonsi  Disc.  cler.  hgg.  mit  Einl.  u.  Anm.  von  Fr.  Wilh. 
Val.  Schmidt,  B.  1827.  Die  Disc.  cler.  des  Petrus  Alfonsi  hgg. 
v.  A.  Hilka  u.  W.  Söderjhelm,  Acta  Societatis  Sc.  Fennicae,  Helsing- 
fors  1912,  kl.  ausgäbe  Heid.  1911.  Vgl.  Söderjhelm,  Neuphil.  Mitt. 
(Helsingfors)  1910,  48  ff.  Le  Castoiement  d'un  pere  k  son  fils,  ed. 
nouv.  p.  p.  Michael  Roesle,  München,  Progr.  1898  (ältere  bearbeituug). 
Le  Castoiement  d'un  p.  ä.  s.  f.  (jüngere  bearbeitung)  bei  Barbazan- 
Meon,  Recueil  2,  63  ff.  —  Vgl.  im  allgemeinen  noch  Benfeys  Einl. 
zu  Pantschantra  und  Landaus  Quellen  des  Dekameron. 


Voretzsch,   Studium  d.  afrz.  Literatur.     2   Auflage.  27 


Zwölftes  Kapitel. 

Die  Epigonenliteratur  des  13.  Jahrhunderts. 


Zwölftes  und  dreizehntes  Jahrhundert  gelten  im  allgemeinen 
als  die  blütezeit  der  altfranzösischen  literatur.  Aber  wenn 
auch  dieses  jenem  an  massenhaftigkeit  der  produktion  nicht 
nachsteht,  wenn  es  auch  eine  reihe  hervorragender  dichter 
und  dichtwerke  hervorgebracht  hat,  so  ist  doch  leicht  zu 
sehn,  dass  die  schöpferischen  ideen,  das  schaffen  der  gattungen, 
die  einführung  und  Umarbeitung  neuer  stoffe,  die  belebung 
der  französischen  poesie  mit  neuem  geiste,  dem  zwölften  Jahr- 
hundert gehören.  Kein  meister  des  dreizehnten  Jahrhunderts 
lässt  sich  an  literarhistorischer  bedeutung  mit  Crestien  von 
Troyes  vergleichen.  So  sind  es  denn  in  erster  linie  die  im 
zwölften  Jahrhundert  geschaffenen  oder  zur  blute  gebrachten 
dichtgattungen ,  welche  im  dreizehnten  Jahrhundert  weiter 
gepflegt  werden  und  hier  zur  entwicklung  einer  epigonen- 
literatur  im  eigentlichen  sinne  des  Wortes  führen.  Da  es  sich 
hier  nicht  um  entwicklung  neuer  ideen  und  formen  handelt, 
genügt  für  die  betrachtung  die  hervorhebung  der  wesentlichsten 
dichtwerke. 

Gleichwol  geht  auch  das  dreizehnte  Jahrhundert  nicht  in 
blosser  nachahmung  und  nachbildung  auf.  Schon  mit  beginn 
des  Jahrhunderts  entwickelt  sich,  zuerst  in  Artusroman  und 
geschichtschronik,  eine  reiche  prosaliteratur,  die  allmählich  auf 
immer  weitere  gebiete  übergreift.  Aus  den  in  der  höfischen 
wie  in  der  geistlichen  poesie  liegenden  keimen  geht  eine 
entschiedene  neigung  zu  poetischer  personification  und  allegorie 
hervor,   die  sich   zuerst  auf  dem   gebiete  des  romans  äussert,. 


Allgemeines.  419 

später  aber  auch  in  die  meisten  übrigen  gattungen  eindringt. 
Endlich  finden  wir  in  dieser  zeit  neben  dem  bisher  allein 
überlieferten  geistliehen  drama  auch  die  ersten  sichtbaren 
denkmäler  des  profandramas.  Alle  diese  nenbildungen  sind 
nicht  so  schöpferisch  und  nicht  so  einschneidend  wie  die  im 
zwölften  Jahrhundert  vor  sich  gehende  entwicklung,  aber  sie 
verändern  doch  den  gesamtcharakter  der  französischen  lite- 
ratur  nicht  unwesentlich  und  legen  dadurch  wieder  den  grund 
für  die  entwicklung  des  vierzehnten  und  fünfzehnten  Jahr- 
hunderts. Eine  gesonderte  betrachtung  dieser  im  dreizehnten 
Jahrhundert  zur  entwicklung  kommenden  neuen  kunstformen 
soll  dem  nächsten  kapitel  vorbehalten  bleiben. 

Eine  reihe  von  dichtem  des  13.  Jahrhunderts  haben  nicht 
nur  eine  sehr  fruchtbare,  sondern  auch  sehr  vielseitige  tätigkeit 
entfaltet.  Wie  Crestien,  wie  Renaud  de  Beaujeu  haben  Philipe 
von  Beaumanoir  und  Robert  von  Blois  den  romandichter 
mit  dem  lyriker  vereint,  dieser  fügt  didaktische  und  religiöse  ge- 
dichte,  jener  erbauliches  und  gelehrtes,  besonders  seine  juristisch 
bedeutsamen  Coutumes  du  Beauvaisis,  hinzu.  Auf  dem  gebiete 
der  geistlichen  dichtung  hat  Guillaume  le  Clerc  die  ver- 
schiedensten gattungen  gepflegt,  legenden  und  moralische  alle- 
gorien,  darunter  auch  ein  tierbuch  (bestiuire)  gedichtet.  Ruste- 
buef  ist  legenden-  und  mirakeldichter,  morallehrer  und  Satiriker 
und  verschmäht  schliesslich  auch  ein  kräftiges  fablel  nicht. 
Raoul  de  Houdenc  folgt  mit  seinem  Artusroman  den  spuren 
Crestiens  und  hilft  zugleich  mit  seinen  allegorischen  dichtungen 
die  blute  der  allegorie  vorbereiten.  Adam  de  le  Haie,  einer 
der  bekanntesten  lyriker  des  Jahrhunderts,  bildet  mit  seinen 
theaterstücken  einen  markstein  in  der  entwicklung  des  dramas. 
Gegen  ende  des  Jahrhunderts  begegnen  noch  zwei  hervorragende 
Vertreter  der  erzählenden  dichtung,  Adenet  le  Roi  und 
Girard  von  Amiens,  welche  beide  sowol  das  nationalepos 
als  den  höfischen  roman  pflegen  und  so  die  allmählich,  seit 
ende  des  12.  Jahrhunderts,  immer  enger  werdenden  beziehungen 
der  beiden  dichtgattungen  in  ihrer  person  verkörpern. 

Gesamtausgaben  einzelner  dichter:  (Euvres  poetiques  de 
Philipe  de  Remi,  Sire  de  Beaumanoir  p.  p.  H.  Suchier,  P.  1884  u. 
1885,  2  bde.  (Sdat).  Vgl.  Ed.  Schwan,  Ph.  d.  R.,  S.  d.  B.,  und 
seine  Werke,  i.  Böhmers  Rom.  Stud.  4  (1880)  351  ff.     Coutumes  de 

27* 


420        XII.  Kapitel.     Die  Epigoneuliteratiir  des  13.  Jahrhunderts. 

Beauvaisis  p.  p.  Salmon,  P.  1899  u.  1900.  Vgl.  Schauer,  Textkrit. 
Beitr.  z.  d.  Cout.,  Diss.  Halle  1890.  —  Robert  de  Blois,  Sämtliche 
Werke,  hgg.  von  J.  Ulrich,  3  bde.,  B.  1889  —  95.  Vgl.  0.  Berlit, 
Die  Sprache  des  afr.  Dichters  R.  d.  BL,  Diss.  Halle  1 900.  —  Über 
Guillaume  le  Clerc  vgl.  Adolf  Schmidt,  G.  1.  cl.  de  Normandie,  insb. 
s.  Magdalenenlegende,  i.  Rom.  Stud.  4  (1880)  493  ff.  (Diss.  Str.). 
H.  Seeger,  Die  Sprache  des  G.  1.  CL,  Diss.  Halle  1881.  G.  Paris, 
Litt.  Norm.  31  f.  —  Rustebuef,  (Euvres  completes  p.p.  A.  Jubinal, 
P.  1839,  2  1874.  Rustebuefs  Gedichte  hrsg.  von  Ad.  Kressner, 
Wolfenbüttel  1885.  Vgl.  Kressner,  R.,  ein  franz.  Dichter  des  13.  jhs., 
Progr.  Kassel  1894.  Cledat,  Rutebeuf,  P.  1891,  H898.  L.Jordan, 
Metrik  u.  Sprache  Rs.,  Diss.  Gott.  1888.  —  Raoul  von  Houdenc, 
Sämtl.  Werke,  hg.  von  M.  Friedwagner  (I,  Meraugis,  Ha.  1897, 
II,  Vengeance  Ragüidel,  1909).  Vgl.  ZrP  26,  452  ff.,  552  ff. 
W.  v.  Ziugerle,  Ü.  R.  d.  H.  und  seine  Werke,  Diss.  Erlangen  1880, 
sowie  desselben  referate  im  Rom.  Jahresber.  —  Adam  de  le  Halle, 
(Euvres  completes  p.  p.  Coussemaker,  P.  1872.  Vgl.  Henry  Guy, 
Essai  sur  la  vie  et  les  oeuvres  litt,  du  trouvere  A.  d.  1.  H.,  P.  1898 
(These).  Ferd.  Helfenbein,  Die  Sprache  des  Trouvere  A.  d.  1.  H, 
ZrP  35  (1911)  309  ff.,  397  ff.  —  Über  Adenet  le  Roi  vgl.  A.  Bovy, 
A.  1.  R.  et  son  oeuvre,  Annales  de  la  Societe'  d'archeologie  de 
Bruxelles,  in  bd.  10  (1896)  —  12  (1898). 


1.    Geistliche  und  lehrhafte  Literatur. 

A.    Legendarisches. 

Von  den  etwa  zweihundert  französischen  heiligen- 
leg enden,  die  uns  überliefert  sind,  gehört  ein  kleiner  teil 
der  vorigen  periode  an  (s.  kap.  I  und  IV),  der  rest  zumeist 
dem  13.  Jahrhundert.  Grosse  Originalität  tritt  in  diesen  nach 
lateinischen  vorlagen  gedichteten  legenden  nicht  zu  tage.  Sie 
interessieren  uns  wesentlich  vom  rein  stofflichen  Standpunkt 
aus.  Zu  den  älteren  legenden  kommt  neu  hinzu  das  leben 
des  hl.  Martin  von  Tours  von  P£an  Gatineau  (nach  des 
Sulpicius  Severus  Vita,  s.  ob.  s.  12),  der  hl.  Magdalena  von 
Guillaume  le  Clerc,  der  hl.  L^ocade  von  Gautier  de 
Coincy,  der  hl.  Elisabeth  von  Rustebuef,  der  auch  eine 
neudichtung  über  Marie  von  Egypten  liefert,  das  leben 
Eduards  des  Bekenners,  das  des  hl.  Quintin  von  Huon 
le  Roi  von  Cambrai,   das   der   hl.   Paula  u.a.m.     Zu   den 


1.   Geistliche  und  lehrhafte  Literatur:    Legcudarisehes.  421 

alten  bearbeitnngen  von  heiligenleben  gesellen  sieb  neue  beim 
bl.  Alexins  (vgl.  oben  s.  65),  hl.  Thomas  (s.  124),  Placidas- 
Eustachius  (oben  s.  129),  bei  der  hl.  Catharina  usw.  Das 
alte  Alexiusleben  wird  in  assonierende  laissen,  dann  in 
reimende  umgedichtet  (s.  69  f.),  das  alte  Brandangedieht 
(s.  122)  in  regelrechte  achtsilbner.  Zur  legendendichtuug  sind 
auch  die  sog.  Dialoge  Gregors  zu  zählen,  in  welchen 
Gregor  d.  Gr.  seinem  diaconus  von  leben  und  Wundertaten  der 
ältesten  lonibardischen  mönche  berichtet:  1212  von  dem  Anglo- 
normaunen  Angier  in  reimpaaren  bearbeitet  (ebenso  wie  2  jähre 
später  das  leben  Gregors  selbst),  gleichfalls  anfang  des 
13.  Jahrhunderts  auch  in  wallonischer  prosa. 

Bemerkenswerter  sind  einige  legendarische  Stoffe  orien- 
talischen Ursprungs,  welche  zuerst  in  dieser  zeit  auf  französisch 
behandelt  wurden:  so  vor  allem  die  legende  von  Barlaam 
und  Josaphat,  welche  kurz  und  einfach  der  im  anfang  des 
13. Jahrhunderts  dichtende  anglonormannische  dichter  Chardry, 
bald  darauf  ausführlicher  und  kunstvoller,  als  ausgesponnenen 
roman  in  11000  versen,  Gui  de  Cambrai  in  seinem  Balaham 
et  JosapJias  behandelt.  Der  indische  königssohn  Josaphas 
wird  von  seinem  vater  gefangen  gehalten,  damit  er  nicht,  einer 
Prophezeiung  zufolge,  christ  werde,  aber  durch  den  zufälligen 
anblick  eines  bettlers,  eines  aussätzigen  und  eines  greises  lernt 
Josaphat  das  menschliche  elend  kennen  und  dinge  der  weit 
verachten.  Durch  den  einsiedler  Balaham  wird  er  völlig  zum 
Christentum  bekehrt.  Felix  Liebrecht  hat  gezeigt,  dass  diese 
legende  von  haus  aus  nichts  anderes  ist  als  die  ins  christliche 
gewendete  indische  Buddhalegende,  welche  dem  abendlande 
durch  eine  griechische  bearbeitung  oder  ihre  lateinische  Über- 
tragung bekannt  wurde.  Ebenso  umfangreich,  aber  künstlerisch 
weniger  bedeutend  ist  eine  dritte  anonyme  bearbeitung  der 
legende. 

Eine  andere  orientalische  legende  behandelt  der  eben 
genannte  Chardry  in  der  Vit  des  Set  Dormanz,  in  der 
erzählung  von  den  sieben  christlichen  Jünglingen  von  Ephesus, 
welche  zur  zeit  der  Christenverfolgungen  unter  kaiser  Decius 
sich  in  eine  höhle  flüchten,  dort  einschlafen  und  eingemauert 
werden,  durch  Gottes  wunder  aber  am  leben  bleiben  und  nach 
362  jahren  unter  kaiser  Theodosius  wieder  erwachen. 


422        XII.  Kapitel.     Die  Epigonenliteratur  des  13.  Jahrhunderts. 

An  diese  orientalischen  legenden  fügt  sich  noch  der  — 
1258  zu  Laon  entstandene  —  li o man  de  Mahomet  von 
Alexander  du  Pont  an,  welcher  hier  den  Stifter  des  Islam 
im  anschluss  an  ein  in  lat.  distichen  um  die  mitte  des 
12.  Jahrhunderts  verfasstes  gedieht  eines  gewissen  Walterius 
als  religiösen  betrüger  darstellt,  aber  in  der  Schilderung  seiner 
hochzeit,  in  der  auffassung  seiner  anhänger  als  Chevaliers  u.  ä. 
zum  legendarischen  das  weltliche  element  fügt.  Entgegen 
anderen  Überlieferungen  des  mittelalters  stirbt  Mahomet  hier 
als  Gott  geehrt,  aber  seine  seele  fährt  zur  hölle  und  leidet 
grosse  quälen  daselbst. 

Spezialliteratur  zu  den  heiligenlegenden  siehe  Hist.  litt.  33, 
337  ff.  Ausgabe  des  hl.  Martin  von  Pean  G.  von  W.  Söderjhelm 
1896  (Lit.  Ver.  210)  u.  Helsingfors  1901:  Quintin  von  Längfors  u. 
Söderjhelm,  Helsingfors  1909,  hl.  Paula  von  K.  Grass,  1908  (Rom. 
Bibl.  19);  zu  Guillaume  le  Clerc  und  Rustebuef  vgl.  bibliographie 
oben,  zu  Eduard  d.  Bekenner  ZrP  33  (1909)  380.  Angier,  Dialoge 
Gregors:  probe  P.  Meyers  Recueil  s.  340 ff,  vgl.  Timothy  Cloran, 
The  dialogues  of  Gregory  the  Great,  Diss.  Str.  1901;  Leben  Gregors 
Rom.  12  (1883)  144  ff.  Walion.  Übersetzung  d.  Dialoge  hgg.  von 
W.  Foerster,  Li  dialoge  Gr.  lo  Pape,  Ha.  1876,  vgl.  Leo  Wiese,  Die 
Sprache  d.  D.  d.  P.  Gr.,  Ha.  1900,  M.  Wilmotte,  Suchierband  45 ff. 
Vgl.  zur  heiligenliteratur  noch:  A.  Tobler,  Zur  legende  vom  hl. 
Julian,  Archiv  100,  101,  102.  Carl  Kröner,  Die  Longiuslegende 
i.  d.  franz.  Lit,  Diss.  Münster  1899.  Karl  Manger,  Die  franz.  Bearb. 
der  Legende  der  hl.  Katharina  v.  Alexandrien,  Progr.  Zweibrücken 
1901.  —  Chardrys  Josaphaz,  Set  Dormanz  und  Petit  Plet  hg.  von 
John  Koch,  Heilbronn  1879  (Afranz.  Bibl.  I).  —  Barlaam  und 
Josaphat  von  G.  de  C.  hg.  von  H.  Zotenberg  u.  P.  Meyer,  Stuttgart 
1864  (Lit.  Ver.  75),  s.  368  ff.  text  eines  mirakels  des  14.  oder  15.  jhs. 
Neue  ausg.  von  K.  Appel,  Balaham  u.  Josaphas,  Ha.  1908.  Über 
die  quelle  F.  Liebrecht,  Jahrbuch  2,  314  ff.  E.  Braunholtz,  Die  erste 
nichtchristl.  Parabel  des  B.  u.  J.,  B.  1884.  A.  Krause,  Zum  B.  u.  J. 
des  G.  v.  C,  Progr.  B.  1899.  —  Zu  den  Siebenschläfern: 
A.  Reinbrecht,  Die  Leg.  v.  d.  sieben  Schläfern  u.  der  anglonorm. 
dichter  Chardry,  Diss.  Gott.  1880.  John  Koch,  Die  Siebenschläfer- 
legende, ihr  Ursprung  u.  ihre  Verbreitung,  L.  1883.  —  Alixandre 
dou  Pont's  Roman  de  Mahomet  neu  hgg.  v.  Boleslaw  Ziolecki, 
Oppeln  1887  (alt.  ausg.  v.  Reinaud  et  Fr.  Michel,  P.  1831).  Daselbst 
auch  über  die  geschiente  der  legende,  s.  xixf.  über  die  Überlieferung 
vom  tod  Mahomets  in  der  trunkenheit  durch  Schweine  (vgl.  Rol. 
2590  f.). 


1.   Geistliche  und  lehrhafte  Literatur:   Marienniirakel.  423 

B.    Marieumirakel,  Contes  de>ots  und  Dits. 

Die  im  12.  Jahrhundert  inaugurierte  Marienverehrung 
erführt  im  13.  Jahrhundert  eifrige  pflege  in  lyrischen,  be- 
schreibenden und  erzählenden  gedichten.  Unter  den  gedichten 
der  ersten  art  waren  besonders  beliebte  themen  das  'Marien- 
lob'  und  die  'Freuden  Maria',  deren  die  dichter  bald  fünf, 
bald  sieben,  bald  neun  oder  fünfzehn  aufzuzählen  wissen:  so 
dichtet  Gautier  de  Coincy  die  Cinq  joies  nostre  Dame, 
Rustebuef  die  Nuef  joies  nostre  Dame,  Guillaume  le 
Clerc  die  noch  allerlei  sonstige  legenden  und  exkurse  ent- 
haltenden Joies  nostre  Dame.  Ein  gegenstück  dazu  bilden 
die  liegres  Nostre  Dame,  die  Huon  le  Koi  von  Cambrai 
gegen  mitte  des  Jahrhunderts  gedichtet  hat.  Zahlreicher  und 
umfangreicher  als  diese  dichtungen  sind  die  Mirakel  der 
heiligen  Jungfrau,  die  erzählungen  von  ihren  Wundertaten, 
wie  uns  eine  Sammlung  solcher  schon  im  12.  Jahrhundert  in 
Adgars  Marienlegenden  begegnet  ist  (oben  s.  131).  Die  be- 
kannteste und  umfangreichste  Mirakelsammlung  des  13.  Jahr- 
hunderts stammt  von  Gautier  de  Coincy  (geb.  ca.  1177, 
gest.  1236  als  grossprior  von  St.-M£dard  bei  Soissons).  Seine 
Miracles  de  la  Sainte  Vierge  erzählen  in  rund  30000  versen 
54  verschiedene  Wundertaten  der  Jungfrau,  nach  lat.  mirakeln 
von  Hugo  Farsitus,  priester  Hermann  u.  a.,  aber  mit  einer  ge- 
wissen freiheit  gegenüber  den  vorlagen.  Eigentum  des  Ver- 
fassers sind  die  den  erzählungen  angehängten  betrachtungen 
(queaes),  die  nach  der  absieht  des  Verfassers  ebenso  wie  die 
erzählungen  selbst  je  ein  ganzes  für  sich  bilden.  Er  sucht  den 
reinen  reim  und  gekünstelte  ausdrucksweise  (wie  die  sog. 
replikationen,  die  häufige  Wiederholung  derselben  silbe  in  reim 
und  versinnerem).  Das  eingreifen  der  hl.  Jungfrau  vollzieht  sich 
in  ähnlicher  weise  wie  in  den  oben  (s.  131)  charakterisierten 
legenden  Adgars,  z.  t.  sind  es  dieselben  geschichten  (so  z.  b. 
heilung  durch  milch  der  Jungfrau,  Theophiluslegende).  Von 
bekannten  motiven  begegnet  hier  u.  a.  eine  version  der  er- 
zählung  von  der  unschuldig  angeklagten  und  verfolgten  fürstin 
(La  chaste  imperatrice),  die  auf  antike  Überlieferungen  zurück- 
gehende, in  neuerer  zeit  von  den  romantikern  (Eichendorff, 
Me>im6e,    Gaudy)   behandelte   Verlobung   eines  Jünglings   mit 


424        XII.  Kapitel.    Die  Epigouenliteratnr  des  13.  Jahrhunderts. 

einer  statue,  die  errettung  eines  Mariagläubigen  diebes  vom 
galgeu.  Nicht  nur  die,  welche  einfältig  und  reinen  herzens 
sind  —  wie  der  priester,  der  keine  andere  messe  als  salve, 
sancta  parens  weiss  — ,  sondern  auch  Verbrecher  und  ver- 
lorene —  wie  dort  der  dieb  oder  die  aus  dem  kloster  ent- 
laufene, einem  weltlichen  leben  folgende  nonne  —  werden  der 
gnade  der  Jungfrau  teilhaftig,  wenn  sie  nur  ihr  gebet  an  diese 
nicht  vergessen.  Etwas  später  als  Gautier  —  gegen  1240  — 
und  mit  benutzung  desselben  hat  Jean  le  Marchant  seine 
speziell  der  Mutter  Gottes  von  Chartres  gewidmeten  Miracles 
de  Nostre  Barne  gedichtet.  Einige  andere,  teils  grössere, 
teils  kleinere  mirakelsammlungen  sind  anonym.  Auch  ver- 
einzelt begegnen  nicht  wenige  mirakel  der  hl.  Jungfrau.  Hier 
ist  als  eines  der  bestgelungeneu  stücke  vor  allem  der  'Springer 
unserer  lieben  Frau',  der  iTo?nbeor  Nostre  Dame\  zu  nennen, 
der  die  Mutter  Gottes  im  kloster  nicht  anders  als  mit  der  aus- 
übung  seinen  profanen  kunst  zu  ehren  weiss  und  damit  auch 
ihr  sichtbares  wolgefallen  zum  staunen  der  gelehrten  brüder 
erringt.  Im  grundgedanken  hiermit  verwant  ist  das  die  mitte 
zwischen  mirakel  und  märtyrerlegende  haltende  (in  der  form 
der  chansons  de  geste  verfasste)  Saint  Von  de  Luques 
(gen.  nach  dem  Santo  volto  —  hl.  bild  —  von  Lucca):  hier 
wirft  ein  Kruzifix  seinen  schuh  einem  spielmann  zu,  der 
Jenois  (Genesius)  genannt  wird  und  schliesslich  den  märtyrer- 
tod  erleidet. 

Mit  dem  namen  contes pieux  oder  contes  devots  bezeichnet 
man  ganz  im  allgemeinen  erzählungen,  in  denen  das  walten 
göttlicher  gnade,  göttlicher  gerechtigkeit  oder  überhaupt  gött- 
lichen willens  offenbar  wird,  also  bussgeschichten,  erzählungen 
von  der  glücklichen  errettung  eines  unschuldig  verfolgten  u.a.m. 
Ein  meisterstück  dieser  art  ist  der  Chevalier  au  barisei, 
die  erzählung  von  dem  gottlosen  ritter,  dem  es  nicht  gelingt 
ein  fässlein  mit  wasser  zu  füllen,  bis  eine  träne  der  reue 
hineinfällt.  Hierher  gehört  die  durch  Schillers  'Gang  nach 
dem  Eisenhammer'  wieder  bekannt  gemachte  geschichte  von 
dem  Mechant  Senechal,  ebenso  die  das  göttliche  voraus- 
wissen und  die  menschliche  kurzsichtigkeit  kontrastierende 
erzählung  von  Ange  et  JErmite,  welche  Voltaire  (nach  eng- 
lischer   quelle)    in    seinem    Zadig    ou    la    dcstinec    wiedergibt. 


1.   Geistliche  uud  lehrhafte  Literatur:  Contes  und  Dits.  !'-•> 

Solche  erzählnngen  dienten  der  erbauung,  zugleich  aber  auch 
der  Unterhaltung  eines  gläubigen  publikums.  Zweiundvierzig 
solcher  contes  sind  in  der  Sammlung  Vies  des  }>>  res  (oder 
Vies  d.  unciens  p)  vereinigt,  welche  ihren  namen  nach  den 
lateinischen  (ursprünglich  aus  dem  Orient  stammenden)  Yitae 
patrum  führt,  aber  nur  einen  teil  der  erzählnngen  ?on  dort 
entlehnt  hat. 

Das  Dit  ist  von  haus  aus  ein  belehrendes  oder  be- 
schreibendes gedieht,  das  sich  als  moralgedicht  häufig  mit 
einer  parabel  oder  einer  erzählnng  verbindet,  wie  sie  uns  sonst 
in  legenden  oder  contes  devots  begegnen.  So  ward,  wie  schon 
oben  (s.  323)  bemerkt.  Crestiens  Guillaume  d'Angleterre 
am  ende  des  13.  Jahrhunderts  zu  einem  dit  umgearbeitet,  des- 
gleichen begegnet  als  dit  um  diese  zeit  die  sage  von  Robert 
dem  Teufel  (s.  oben  s.  388).  Das  Dit  de  l'empereor  Constant 
erzählt,  wie  Constant  einer  prophezeiung  gemäss,  trotz  aller 
durch  den  kaiser  Florian  in  den  weg  gelegten  hindernisse, 
kaiser  von  Byzanz  wird  (gemeint  ist  Constantin  d.  Gr.).  Das 
aus  dem  ende  des  13.  Jahrhunderts  (zw.  1270  u.  1294)  stammende 
Dit  dou  vrai  aniel  ist  die  älteste  poetische  bearbeitung 
der  aus  den  Cento  novelle  antiche,  Boccaccios  Decamerone 
und  Lessings  Nathan  bekannten  Ringparabel;  das  Dit  de 
l'unicorne  behandelt  die  durch  Rückerts  bearbeitung  wieder 
bekannt  gewordene  „Parabel".  Die  belehrende  absieht  liegt 
in  dits  der  letzten  art  offen  zu  tage,  in  den  erstgenannten  tritt 
sie  hinter  dem  erzählenden  dement  fast  ganz  zurück,  so  dass 
dit  und  conte  hier  leicht  ineinander  übergehen  und  die  be- 
zeichnungen  für  dichtungen  derselben  art  öfter  wechseln. 
Schliesslich  gehen  manche  dits  von  der  belehrenden  in  die 
satirische  und  scherzhafte  richtung  über:  so  ist  das  Dit  du 
hardi  eheval  nichts  als  eine  aufzählung  aller  fehler,  die  ein 
pferd  nur  haben  kann. 

Marienlob:  Ein  afr.  Marienlob,  hg.  von  H.  Andresen,  IIa. 
1891.  —  Joies  Nostre  Dame:  Gautiers  gedieht  bei  Poquet  (s.  u.) 
8.  761  f.,  Rustebuef  siehe  in  dessen  'ffiuvres'  (s.o.),  Guillaume  le 
Clerc  von  R.  Reinsch,  ZrP  3  (1879)  s.  200  ff.  —  Li  Regres  N.  D. 
p.  Huon  1.  R.  d  C.  p.  p.  Längfors,  P.  1907.  Vgl.  P.  Reiche,  Beiträge 
zu  A.  Ls\  Ausgabe  des  R.  N.  D.,  Diss.  B.  1909.  —  Mirakel: 
A.  Mussafia,  Studien  zu  den  inittelalterl.  Marialegenden  I — V,  Wiener 
Sitzungsber.  1887 — 98  (auch  Texte).    Les  miracles  de  la  St.  Vierge 


42r>        XII.  Kapitel.    Die  Epigoiienliteratur  des  13.  Jahrhunderts. 

trad.  et  mis  en  vers  par  Gantiev  de  Coincy  p.  p.  Abbe  Poquet, 
P.  1857  (2  mir.  bei  Bartsch -Horning  s.  363  ff.).  Jehan  le  Marcliant. 
Mir.  de  N.  D.  de  Chartres  p.  p.  Duplessis  1855.  Ein  kleinere 
Sammlung  hgg.  v.  P.  Meyer,  Rom.  29  (1900)  27  ff.  Eine  afr.  Marien- 
mirakel (von  der  entlaufenen  nonne)  hgg.  von  Gröber,  Foersterband 
s.  421ff.  —  Tombeor  Nostre  Dame:  hg.  von  Foerstcr,  Rom.  2 
(1873),  von  H.Wächter,  Rom.  Forsch.  11,  223ff.  —  Le  saint  Vou 
de  Luques:  hgg.  von  W.  Foerster,  Melanges  Chabaueau  s.  1  ff, 
dazu  Schultz-Gora,  ZrP  32  (1908)  458 f.,  E.  Lommatzsch,  ZrP  33, 
76 f.,  726 ff.  —  Chevalier  au  barisei:  hgg.  von  Schultz-Gora, 
Zwei  afr.  Dichtungen,  Ha.  1899,  21911.  Übersetzungen  von  Tombeor 
und  Chev.  au  bar.  durch  Hertz  in  dessen  Spielmannsbuch.  — 
Mechant  S6nechal:  vgl.  D'Ancona,  Studj  di  critica  e  storia 
letteraria,  Bologna  1880,  346 ff.  —  Ange  et  Ermite:  vgl.  G.Paris, 
Poesiel  s.  151  flf.  —  Vie  des  anciens  peres:  vgl.  Ed.  Schwan, 
Rom.  13  (1884)  233 ff,  wo  die  ältere  lit.  verzeichnet  ist;  15  er- 
zählungen  daraus  in  Meons  Nouveau  Recueil  (s.  oben  s.  392),  II.  bd. 
Siehe  ferner  E.  Wolter,  Der  Judenkuabe  (Bibl.  Norm.  II),  Ha.  1879 
(die  auch  aus  Adgar  [s.  oben  s.  131]  bekannte  legende  nach  allen 
bekannten  Versionen).  —  Über  das  Dit  und  seine  vielseitige  be- 
deutung:  P.Paris,  Hist.  litt.  23,  266 ff,  G.Paris,  Lit.  §  109,  154, 
Gröber  s.  819  ff.  Le  dit  de  Fempereur  Constant  p.  p.  Wesselofsky 
Rom.  6  (1877)  161  ff,  vgl.  E.  Kuhn,  Byzant.  Zeitsckr.  4,  241  ff.  Li 
dis  dou  vrai  aniel  hg.  von  A.  Tobler,  L.  2  1884.  Vgl.  G.Paris, 
Poesie  II  131  ff.  Dit  de  Funicorne  et  del  serpent  in  Jubinals 
Nouv.  Rec.  (oben  s.  392)  2,  113  ff.  Vgl.  E.  J.  A.  Wollenberg,  Le  dit 
de  Tun.  etc.,  Progr.  B.  1862.  Dit  du  hardi  cheval  p.  p.  P.  Meyer, 
Rom.  41  (1912)  90  ff.  —  Vgl.  bezügl.  der  herkunft  einiger  Stoffe 
Galtier,  Byzantina,  Rom.  29  (1900)  s.  501  ff.  —  Weitere  literatur- 
angaben zum  ganzen  bei  G.  Paris,  Litt.  bes.  §  141 — 143,  150,  und 
Gröber  s.  648  ff,  914  ff. 


C.    Bibelübersetzung  und  Kultusliteratur. 

Wie  im  12.  Jahrhundert  werden  auch  im  13.  einzelne  stücke 
der  Bibel,  teils  in  versen,  teils  in  prosa,  tibersetzt,  aus  dem 
Alten  Testament  mit  Vorliebe  die  beiden  bücher  der  Makkabäer, 
aus  dem  Neuen  die  Apokalypse,  aus  beiden  teilen  öfter  die 
historischen  Schriften.  Neben  einer  im  Südosten  des  franz. 
Sprachgebiets  entstandenen  prosaübersetzung  der  Makkabäer 
steht  das  ausführliche,  früher  dem  Pierre  du  Ries  zugeschriebene 
gedieht  des  Gautier  de  Belleperche,  Judas  Machabee,  in 
reimpaaren  (zweites  viertel  des  13.  Jahrhunderts).  Guillaume 
le    Clerc    (vgl.    oben)    bearbeitet    die    Vie    de    Tobie;    Jehan 


1.  Geistliehe  n.  lehrhafte  Literatur:  Bibeliibersetz.  u.  Kultnslit.      427 

Malkaraume  übersetzt  in  versen  die  historischen  bücher 
des  Alten  Testaments ;  nach  ihm,  ende  des  13.  oder  anfang  des 
14.  Jahrhunderts,  veranstaltet  Mace"  de  la  Charit6,  abt  zu 
Cencoina  a.  d.  Loire,  eine  umfangreiche  kompilation  (42000  verse) 
aus  den  historischen  bücheru  des  Alten  und  Neuen  Testa- 
ments nebst  der  apokalypse;  von  den  übrigen  bearbeitungen 
der  apokalypse  ist  besonders  die  durch  Delisle  und  P.  Meyer 
veröffentlichte  prosaübersetz ung  wegen  ihrer  prächtigen 
Illustrationen  hervorzuheben.  Eine  vollständige  Übersetzung 
der  ganzen  Bibel  entsteht  zuerst  gegen  1235  in  Paris,  wahr- 
scheinlich durch  mitglieder  der  Universität.  —  Literarisch  kaum 
von  höherem  wert,  aber  für  die  abendländische  legendenbildung 
von  bedeutung  sind  die  zahlreichen  Übersetzungen  der  Pseudo- 
evangelien  und  ähnlicher  apokrypher  Schriften,  wie  des 
Nicodemusevangeliums  (vgl.  oben  s.  328 f.),  des  sog.  Kindheits- 
evangeliums, der  Kreuzlegende  usw. 

Von  der  kultusdichtuug  (vgl.  oben  s.  136)  gehören 
noch  einige  stopfepisteln  in  das  13.  Jahrhundert.  Über  dem 
christlichen  drama  des  13.  Jahrhunderts  hat  kein  günstiger 
stern  gewaltet.  Ausser  Jehan  Bodels  Niklasspiel,  das  eher 
noch  in  das  ende  des  12.  als  in  das  13.  Jahrhundert  gehört, 
ist  uns  nur  ein  bruchstück  aus  dem  anfaug  des  Jahrhunderts, 
La  sainte  Resurrection,  und  Rustebuefs  Miracle  de 
Theophile,  aus  der  mitte  des  Jahrhunderts,  überliefert.  Das 
erste  drama  sollte  die  auferstehung  Christi  darstellen,  es  be- 
ginnt mit  der  bitte  Josephs  an  Pilatus  den  hl.  leichnam  ab- 
nehmen zu  dürfen,  reicht  aber  nur  bis  zur  bewachung  des 
grabes  durch  die  kriegsknechte.  Die  bühnenanweisungen,  die 
im  Adamsspiel  noch  lateinisch  waren,  sind  hier  in  der  vulgär- 
sprache,  in  reimen,  gegeben,  die  spräche  ist  wie  dort  anglo- 
normannisch.  Das  Theoph  ilus drama  behandelt  die  auch 
unter  Gautiers  de  Coincy  Miracles  begegnende  legende,  welche 
man  als  mittelalterliche  Faustsage  bezeichnen  kann.  Theophilus 
wird  vom  bisch of  seines  amtes  entsetzt  und  verschreibt  sich 
dem  teufel,  um  dasselbe  wieder  zu  erlangen.  Nach  sieben 
Jahren  jedoch  reut  ihn  der  pakt,  er  wendet  sich  hilfesuchend 
an  die  Jungfrau  Maria,  die  denn  auch  die  verschreibungs- 
urkunde  dem  teufel  glücklich  wieder  entreisst  und  dem  Theo- 
philus zurückgibt.    Es  ist  das  erste  dramatisierte  Marienmirakel, 


428        XII.  Kapitel.    Die  Epigonenliteratur  des  13.  Jahrhunderts. 

dem  wir  begegnen.    Im  folgenden  Jahrhundert  hat  die  gattung 
ausgedehnte  pflege  gefunden. 

In  der  predigt  wird  die  reimpredigt  des  12.  Jahrhunderts 
durch  die  prosapredigt  ersetzt,  jedoch  sind  die  französischen 
prosapredigten  des  13.  Jahrhunderts  mit  wenigen  ausnahmen 
Übersetzungen  aus  dem  lateinischen  grundtext  Dies  gilt  ins- 
besondere von  den  predigten  des  hl.  Bernhard  von  Clairvaux 
(gest.  1153),  die  sich  an  den  klerus  wenden  und  oratorisch 
hervorragen,  sowie  von  denen  des  Pariser  bischofs  Maurice 
de  Sully,  welche  sich,  in  erster  linie  für  laien  bestimmt,  durch 
einfachheit  und  klarheit  auszeichnen  und  seit  ende  des  15.  Jahr- 
hunderts mehrfach  gedruckt  wurden. 

Zu  den  Bibelübersetzungen  vgl.  im  allgemeinen  die  oben 
s.  121  zitierten  werke  und  abhandlungen  von  Berger,  Bonnard, 
Suchier,  Reinsch,  dazu  G.Paris,  Litt.  §136—140,  Gröber  s.  654 ff., 
759  ff,  Bonnards  referate  im  Kom.  Jahresbericht.  Im  besonderen: 
Makkabäer  (Prosa)  hrsg.  von  E.  Goerlich,  Ha.  1888  (Rom.  Bibl.  II). 
Everlien,  Ü.  J.  M.  von  Gautier  de  Belleperche,  Diss.  Halle  1897,  dazu 
Feucrriegel,  die  Sprache  des  G.  d.  B.,  Diss.  Halle  1897.  Guillaumes 
Vie  de  Tobie,  hrsg.  von  Reinsch,  Archiv  62  (1879)  375  ff.  E.  Herzog, 
Untersuchungen  zu  Mace  de  la  Cbarite's  afr.  Übers,  des  AT.,  Wien 
1900  (auch  Wien.  Sitzber.  bd.  142).  L'Apocalypse  en  fran^ais  au 
XIIP  siecle  p.  p.  L.  Delisle  et  P.  Meyer,  P."  1901  (Sdat),  dazu 
reproduction  phototypique,  ebenda  1900.  —  Drama:  Resurrection 
gedr.  bei  Monmerque  et  Michel,  Le  theätre  fr.  au  m.  ä.,  P.  1839, 
s.  10  ff;  Miracle  de  Theophile  in  Rustebuefs  CEuvres  (oben  s.  420). 
—  Predigt:  vgl.  die  s.  121  genannten  werke  von  Bourgain  und 
Lecoy  de  la  Marche,  dazu  Piaget  in  Petit  de  Jve.  II,  217  ff. 


D.    Moral-  und  Lehrgedicht. 

Je  weniger  das  13.  Jahrhundert  an  franz.  originalpredigten 
bietet,  desto  stärker  ist  das  gleichfalls  sittlichen  tadel  und 
moralische  besserung  verfolgende  lehrgedieht  vertreten,  das 
uns  in  verschiedenen  gattungen  und  formen  auch  schon  im 
12.  Jahrhundert  begegnet  ist.  Alle  dort  gepflegten  gattungen 
werden  jetzt  fortgesetzt  und  erweitert.  Noch  immer  liefert  die 
lateinisch -christliche  literatur  in  reicher  fülle  Vorbilder  und 
anregungen.  Damit  steht  auch  die  zunehmende  Verwendung 
von  allegorien  und  Personifikationen  in  Zusammenhang.  Wo 
die  dichter  nicht  lediglich   kopieren,  sondern  aus  eigener  be- 


1.  Geistliche  und  lehrhafte  Literatur:  Moral-  imd  Lehrgedicht.      429 

obachtung  und  erfindnng  heraus  dichten,  findet  sich  manches 
originelle  und  poetisch  wertvolle. 

Die  im  anschlnss  an  den  Pli  \  siologus  entstandene  alle- 
gorische naturdichtung  setzt  sich  in  den  Bestiaires  und  Lapi- 
daircs  des  13.  Jahrhunderts  fort.  Guillaume  le  Clerc  dichtet 
1211  seinen  umfangreichen  Bestiaire  (Urin  (rund  4200  verse), 
in  anlehnung  an  den  Liber  de  bestiis  et  aliis  rebus  Hugos  von 
St.-Victor,  einige  zeit  nach  ihm  verfasst  Gervaise,  gleichfalls 
Normanne,  seinen  kurzen  Bestiaire  nach  einer  anderen  lat. 
vorläge.  Verschiedene  Lapidaires,  meist  Übersetzungen  von 
Marbods  steinbueji  (s.  oben  s.  146),  sind  im  13.  Jahrhundert 
entstanden. 

Die  im  unterschied  von  den  bestiarien  mehr  auf  praktische 
inoral  als  auf  religiöse  belehrung  ausgehende  fabel  erfährt 
im  13.  Jahrhundert  keine  wesentliche  bereicherung,  der  höhe- 
punkt  ist  im  12.  Jahrhundert  mit  dem  Yzopet  der  Marie  de 
France  erreicht.  Der  anfangs  des  13.  Jahrhunderts  gedichtete 
Yzopet  von  Lyon  (in  einer  mundart  der  Franche-Comte) 
gibt  den  Anonymus  Neveleti  wieder  (vgl.  oben  s.  152). 

Hingegen  finden  sich  eine  anzahl  neuer  sprichwörter- 
sammlungen.  Den  Proverbe  au  vilain  (oben  s.  164)  folgen 
jetzt,  anfangs  des  13.  Jahrhunderts,  die  Proverbe  au  conte 
de  Bretaigne,  die  ähnlich  wie  jene  je  eine  Strophe  mit 
einem  volkstümlichen  Sprichwort  beschliessen  (mit  dem  stereo- 
typen zusatz:  ce  dist  li  vüains).  Blosse  Sammlungen  ohne 
dichterische  Verarbeitung  sind  die  von  Ulrich  veröffentlichten 
Pro  verbes  ruraux  et  vulgaux  sowie  zwei  von  Stengel 
gedruckte  anglonormannisehe  Sammlungen. 

Von  den  mahn-  und  bussgedichten  sind  die  beiden  umfang- 
reichen, in  der  Strophenform  der  Vers  de  la  mort  (oben  s.  148) 
gedichteten  werke  des  sog.  Renclus  de  Moiliens  (mit 
seinem  eigentlichen  namen  Bertremiel,  anfangs  des  13.  Jahr- 
hunderts) hervorzuheben:  Romans  de  Carite  und  Miserere 
(so  nach  dem  anfang  Miserere  mei,  Bens  genannt),  beide  halb 
satire,  halb  busspredigt.  Im  ersten  gedieht  schildert  der 
dichter  seine  vergeblichen  reisen  nach  dem  aufenthaltsort  der 
christlichen  Caritas,  die  weder  beim  papst  in  Rom  noch  bei 
den  mönchen,  weder  in  Italien  noch  in  Frankreich,  Deutsch- 
land  oder  England   zu   finden  ist.     Wie  die  Carite  erscheinen 


430        XII.  Kapitel.    Die  Epigonenliteratur  des  13.  Jahrhunderts. 

auch    andere    abstrakte    begriffe,    wie    Convoitise    und    JEnvie, 
beim  Renclus  personifiziert. 

Mit  ähnlieben  stilmitteln  arbeitet  auch  der  schon  öfter 
genannte  Guillaume  le  Clerc  de  Norraandie  in  seinen 
zwei  hierher  gehörigen  dichtungen  Le  besant  de  Dieu  (1226 
oder  1227)  und  Les  treis  moz  (nach  jenem  verfasst).  Die 
drei  dinge,  welche  dem  menschen  grosses  übel  zufügen,  sind 
rauch,  regen  und  böses  weib,  d.  i.  stolz,  habgier  und  fleisches- 
lust.  Eingefiochten  wird  die  oben  erwähnte  parabel  vom 
einhorn.  Der  Besant  (Byzantiner,  eine  münze)  ist  das  'pfund' 
das  uns  Gott  verliehen,  mit  dem  wir  wuchern  sollen.  Im 
anschluss  an  diesen  biblischen  gedanken  wird  torheit  und 
Sünde  der  menschen,  insbesondere  der  stolz  und  seine  drei 
töchter  —  neid,  wollust,  trunkenheit  —  getadelt  und  der  zu- 
stand der  kirche  geschildert.  Am  schluss  des  Jahrhunderts 
nimmt  ein  dem  ritterstand  angehöriger  dichter,  Jehan  de  Journi, 
denselben  gedanken  in  dem 'Reuezehnten'  {Disme  de  peni- 
tence)  wieder  auf. 

Ahnliche  dichtungen  sind  noch:  das  in  vierzeiligen  alexan- 
drinerstrophen  anfangs  des  13.  Jahrhunderts  in  wallonischem 
dialekt  abgefasste  Poeme  moral,  das  sich  durch  ausdrucks- 
volle spräche  und  getreue  wiedergäbe  damaliger  zustände  vor 
anderen  seiner  art  auszeichnet;  das  Petit  Plet  des  oben  ge- 
nannten anglonormannischen  dichters  Chardry,  der  hier  in 
form  eines  dialogs  zwischen  einem  alten  und  einem  jungen 
religiöse  und  weltliche  lebensauffassung  zur  darstelluug  bringt 
und  zuletzt  sogar  den  jungen  recht  behalten  lässt;  das  in 
England  entstandene,  auch  ins  englische  übersetzte  Manuel 
des  Peches  des  Wilhelm  de  Wadin gton;  verschiedene 
Übersetzungen  von  Boethius'  De  consolatione  plülosophiae 
u.  a.  m. 

Die  belehrende  literatur  im  weiteren  sinne  als  im  rein 
moralischen  geht  hauptsächlich  von  der  Übersetzung  lateinischer 
grundwerke  aus.  So  wurde  von  Honorius  von  Autun  (12.  Jahr- 
hundert) nicht  nur  sein  theologischer  traktat  Elucidarium 
mehrere  male  —  durch  Guilebert  de  Cambres  (bei  Rouen), 
unter  dem  titel  Lumiere  as  Lais  durch  Peter  von  Peckham  — 
übersetzt,  sondern  auch  seine  encyclopädie  Imayo  Mundi  1245 
durch  Gautier  von  Metz  unter  dem  titel  Image  du  Monde 


1.  Geistliche  und  lehrhafte  Literatur:  Moral-  und  Lehrgedicht.      431 

(enthaltend  kosrnogonie,  geographie,  astronomie)  in  aehtsilbigen 
reimpaaren  bearbeitet  (1247  von  Gautier  selbst  umgearbeitet). 
Gleichfalls  nach  lat.  vorläge  ist  die  Mappemonde  (Mappa 
mioidi)  von  Pierre  gedichtet.  Bemerkenswert  ist  auch,  als 
von  einem  in  Frankreich  sich  aufhaltenden  Italiener  verfasst, 
der  zw.  1262  und  1266  in  prosa  geschriebene  Li  eres  dou 
Tresor  des  Florentiners  Brunetto  Latin i,  welcher  diesem 
grösseren  werk  später  noch  einen  kürzeren  Tesoretto  in  italie- 
nischen versen  folgen  Hess. 

Vgl.  zu  Bestiaires  und  Lapidaires  die  lit.  s.  147.  Guillaumes 
Bestiaire  hrsg.  von  Kob.  Reinsch,  L.  1890;  vgl.  noch  F.  Mann,  Franz. 
Stud.  VI,  2.  lieft,  Heilbronn  1888.  Gervaise's  Livre  des  Bestes  hrsg. 
von  P.Meyer,  Rom.  1  (1872)  420 ff.  In  anderem  sinne  legt  der 
lyriker  Richard  de  Fournival  die  tiereigenschaften  in  seinem 
Bestiaire  d'amour  aus  (p.  p.  Hippeau,  P.  1860).  —  Bezüglich  der 
Yzopets  vgl.  oben  s.  152 f.  —  Bezüglich  der  Sprichwörter  s.o. 
s.  149  f.,  vgl.  noch  Friesland,  Franz.  Sprich  Wörterbibliographie, 
ZfSL  28  (1905)  s.  260  ff.,  bes.  s.  267.  Les  Proverbes  au  conte  de 
Bretaigne  hrsg.  von  Job.  Martin,  Diss.  Erlangen  1892.  —  Li  romans  de 
Carito  et  Miserere  du  Renclus  de  Moiliens  p.  p.  A.  G.  van  Hamel, 
2  bde.,  P.  1885  (Bibl.  Ec.  H -Et.  61  u.  62).  Über  nachahmungen  der 
Helinandstrophe  Ad.  Bernhardt,  Die  afr.  Helinandstrophe,  Diss. 
Münster  1912.  —  Guillaumes  Besant  hrsg.  von  E.  Martin,  Ha.  1869, 
Treis  moz  von  R.  Reinsch,  ZrP  3  (1879)  225  ff.  Über  die  unechtheit 
anderer  dem  Guillaume  zugeschriebener  werke  8.  A.  Schmidt,  Rom. 
Stud.  6,  493 ff.  —  Jehan  de  Journi,  Disme  de  penitence  hrsg.  von 
Breymann,  Tübingen  1875  (Lit.  Ver.  120).  —  Poeme  moral  hrsg. 
v.  Cloetta,  Rom.  Forsch.  3,  lff,  auch  sep.  Erlangen  1886.  Vgl. 
Herzog  ZrP  32  (1908)  50  ff.  (fragm.  einer  neuen  hs.).  —  Chardry 
Afr.  Bibl.  II  (s.  o.  s.  422).  —  Zu  Gautiers  Image  du  Monde  vgl. 
Le  Clerc,  Hist.  litt,  23,  294  ff.  Probe  bei  Bartsch-Horning  s.  241  ff. 
—  Brunetto's  Tresor  p.  p.  P.  Chabaille,  P.  1863.  Vgl.  über  den 
dichter  Gröbers  Grundriss  II,  3,  s.  25  f.,  37  f. 

Im  übrigen  vgl.  zu  diesem  abschnitt  Le  Clerc,  Hist.  litt. 
23,  235 ff,  287  ff;  A.  Piaget,  Petit  de  Jve.  II  165  ff;  G.  Paris,  Litt. 
§  100 ff,  153 ff,  Litt.  norm,  (oben  s.  121)  passim;  Gröber  s.  689  ff, 
708  ff,  757  ff;  Suchier  an  verschiedenen  stellen.  —  Einige  weitere 
hierher  gehörige  dichtungen  werden  in  Zusammenhang  mit  dem 
Rosenroman  besprochen  (kap.  XIII). 


432        XII.  Kapitel.     Die  Epigonenliteratur  des  13.  Jahrhunderts. 

2.    Heldenepos  und  geschichtliche  Dichtung. 

Das  heldenepos  des  13.  Jahrhunderts  steht  in  engem  Zu- 
sammenhang mit  dem  des  12.  Jahrhunderts.  Gerade  um  die 
wende  des  Jahrhunderts  finden  wir  eine  gesteigerte  tätigkeit 
auf  diesem  gebiet,  und  vielfach  gestatten  die  kritischen  hilfs- 
mittel nicht,  ein  epos  mit  bestimmtheit  diesem  oder  jenem  Jahr- 
zehnt und  damit  diesem  oder  jenem  Jahrhundert  zuzuweisen.  So 
finden  wir  denn  auch  in  den  ersten  Jahrzehnten  des  13.  Jahr- 
hunderts noch  verschiedene  dichtungen,  welche  auf  älterer 
tradition,  d.h.  auf  verloren  gegangenen  älteren  epen  beruhen 
und  ähnlichen  ependichtungen  des  12.  Jahrhunderts  an  traditio- 
neller bedcutung  durchaus  gleichwertig  sind.  An  poetischem  ge- 
halt  steht  das  epos  des  13.  Jahrhunderts  im  ganzen  freilich 
unter  dem  der  vorigen  epoche,  aber  im  einzelnen  fehlt  es  auch 
hier  nicht  an  ausgeprägten  dichterischen  Individualitäten  sowie 
an  ergreifenden  oder  wenigstens  unterhaltenden  werken:  Gaydon, 
Huon  von  Bordeaux,  Aiol  und  Mirabel,  Auberi  le  Bourgoing,  Boeve 
vonHaumtone,  Hörn  stellen  ungefähr  die  besten  dieser  epoche  dar. 

Einfluss  des  höfischen  romans  macht  sich  immer  mehr 
fühlbar,  teils  in  der  auswahl  des  stoffs  oder  in  der  auffassung 
der  Charaktere,  teils  in  der  komposition.  Dichtungen  wie 
Huon  oder  Aiol  gehen  in  grossen  partien  ganz  in  den  aben- 
teuerroman  über;  der  Huon  ist  ganz  nach  dem  muster  der 
Crestien'schen  romane  komponiert.  So  verwischen  sich  all- 
gemach die  grenzen  zwischen  heldenepos  und  ritterroman,  so 
dass  der  in  reimpaaren  verfasste  roman  von  kaiser  Octavian 
im  14.  Jahrhundert  in  eine  chanson  de  geste  in  alexandriner- 
laissen  umgedichtet  werden  kann. 

Während  der  zehnsilbige  vers  in  den  chansons  de  geste 
des  12.  Jahrhunderts  noch  weitaus  überwiegt,  halten  sich  zehn- 
silbner  und  alexandriner  in  denen  des  13.  Jahrhunderts  ungefähr 
die  wage.  Die  zur  ergänzung  eines  zyklus  verfassten  epen 
wurden  in  der  regel  in  der  versform  des  stammepos  gedichtet, 
daher  noch  verhältnismässig  viele  zehnsilbnerepen  entstehen. 
Aber  noch  im  laufe  des  Jahrhunderts  wird  ein  teil  der  alten 
epen  aus  zehnsilbnerlaissen  in  alexandrinerlaissen  ungedichtet, 
und  die  fortsetzungen  und  ergänzungen  zu  diesen  umdichtungen 


2.  Heldenepos  uud  geschichtliche  Dichtung:  Überarbeitungen.     433 

erhalten  dann  als  vers  von  vornherein  den  alexandriner,  der 
auf  diese  weise  gegen  ende  der  periode  das  entschiedene 
übergewicht  erlangt.  Das  bestreben,  die  assonanz  völlig  durch 
den  reim  zu  verdrängen,  setzt  sich  schon  früher,  wenn  auch 
sehr  allmählich,  durch.  Hingegen  finden  wir  die  Umsetzung 
der  heldenepen  in  prosa  nicht  vor  schluss  des  Jahrhunderts. 

Vgl.  zum  folgenden  die  oben  s.  88 f.  genannten  daistellungen 
von  G.Paris  (dazu  auch  Litt.  §18  ff".),  L.  Gantier,  Nyrop,  Gröber, 
Snchier,  ferner  Ilist.  litt.  18,  704 ff.,  22,  274 ff.,  26,' 1  ff.  Gustav 
Engel,  Der  Einfluss  der  Arthusromane  auf  die  Chansons  de  geste, 
Diss.  Halle  1910. 


A.    Epen  mit  traditioneller  Grundlage. 

Zu  den  epen,  welche  auf  älterer  grundlage  fussen  und 
als  Überarbeitungen  Ulterer,  ursprünglicherer  dichtungen  gelten 
können,  gehören  ausser  einigen,  die  man  der  geste  du  roi  zu- 
rechnen kann,  vor  allem  solche,  welche  alleinstehende  beiden 
behandeln,  die  man  später  allerdings  teilweise  auch  in  irgend 
eine  geste  eingereiht  hat. 

Serie  as  gratis  pies.  Das  epos  wurde  um  1275  von  dem 
brabantischen  dichter  Adenet  le  Roi  verfasst,  der  auch  noch 
die  Enfances  Ogier  und  das  Siege  de  Barbastre  überarbeitet 
hat.  Sein  name  Adenet  ist  deminutiv  von  Adam,  der  zuname 
Roi  wird  erklärt  als  roi  des  menestrels ,  d.  i.  Vorsteher  der 
musikergilde  (siehe  das  bild  aus  der  Arsenalhs.  bei  Suchier 
s.  205).  Er  hat  von  den  sechziger  bis  zu  den  achtziger  jähren 
des  13.  Jahrhunderts  gedichtet  und  nach  den  genannten  drei 
chansons  de  geste  auch  einen  roman,  Cleomades,  verfasst. 
Berte  as  grans  pies  gilt  als  seine  beste  leistung.  Das  alte 
epos,  das  er  tiberarbeitet  hat,  ist  uns  freilich  nicht  tiberliefert, 
doch  hat  er  allem  anschein  nach  manches  selbständig  hinzu- 
gefügt, wie  z.  b.  den  auch  aus  dem  Mönch  von  St.  Gallen  be- 
kannten kämpf  Pippins  mit  dem  löwen  (vgl.  oben  s.  85). 
Berta  ist  die  mutter  Karls  d.  Gr.  (die  auch  in  der  geschichte 
wirklich  Berta  hiess),  sie  erscheint  hier  als  ungarische  königs- 
tochter  mit  dem  bezeichnenden  beinamen  as  grans  pies  (oder 
ursprünglicher  und  richtiger  au  gran  pie).  Ihre  kammerfrau 
Margiste  macht  sie  glauben,  dass  Pippin  sie  töten  wolle,  und 
so   nimmt   mit  Bertas   erlaubnis   die  tochter   der   kammerfrau, 

Voretzsch,  Studium  tl.  afrz.  Literatur.     2.  Auf  läge.  28 


434        XII.  Kapitel.    Die  Epigonenliteratur  des  13.  Jahrhunderts. 

Aliste,  die  stelle  der  braut  ein,  Berta  selbst  wird  alsdann  vom 
hof  vertrieben.  Von  der  falschen  königin  stammen  die  Verräter 
Heudri  und  Kainfroi  (vgl.  Mainet,  oben  s.  208).  Zum  schluss 
wird  der  betrug  entdeckt  und  bestraft.  Berta,  in  ihre  rechte 
als  wahre  königin  eingesetzt,  wird  mutter  Karls  d.  Gr.  In 
der  form  ist  das  gedieht  eigentümlich  dadurch,  dass  darin 
männlich  und  weiblich  ausgehende  laissen  abwechseln.  Adenets 
versuch,  in  dieser  zeit  die  altgewordene  heldenepik  von  neuem 
zu  beleben,  ist  jedenfalls  sehr  bemerkenswert.  Er  versteht 
sich  auf  plastische  Schilderung  der  Vorgänge  und  personen- 
charakteristik. 

Macaire.  Das  kurze  (3600  zehnsilbner),  nur  in  franco- 
italienischer  Umarbeitung  erhaltene  epos  behandelt  ein  ähn- 
liches thema  wie  das  im  wesentlichen  nur  in  fremden  be- 
arbeitungen  tiberlieferte  epos  von  der  königin  Sibille  (oben 
s.  252):  die  Verdächtigung  der  königin  Blanchefleur  durch  den 
Verräter  Macaire  und  ihre  ehrenrettung  durch  Aubris  hund, 
welcher  den  Verräter  im  gottesgerichtlichen  Zweikampf  besiegt. 

Huon  de  Bordeaux.  Das  epos,  um  1220  von  einem  aus 
Saint -Omer  stammenden  Jongleur  gedichtet,  verschmilzt  zwei 
stofFe  miteinander,  die  vermutlich  schon  vorher  in  epischer 
form  behandelt  worden  waren:  die  erzählung  von  der  un- 
freiwilligen mordtat  Huons  von  Bordeaux,  seiner  Verbannung, 
seiner  rückkehr  und  Versöhnung  mit  dem  kaiser,  und  die  auf 
die  deutsche  Alberichsage  (vgl.  Ortnit)  zurückgehende  sage 
von  der  brautfahrt,  welche  ein  held  namens  Huon  (Hugo)  mit 
hilfe  eines  elbischen  wesens,  des  zwergenkönigs  Alberon  (vgl. 
oben  s.  142),  unternimmt  und  glücklich  zu  ende  führt.  Der 
dichter  versteht  es,  das  interesse  des  lesers  bis  zum  Schlüsse 
der  langen  dichtung  (10500  zehnsilbner)  durch  bunten  Wechsel 
der  abenteuer,  flotte  wenn  auch  flüchtige  Charakteristik  der 
personen  und  unterhaltende,  nicht  selten  humoristische  dar- 
stellung  wachzuhalten.  Nachahmung  von  motiven  aus  älteren 
dichtungen,  auch  aus  höfischen,  verschmäht  er  nicht,  die  ganze, 
fünfteilige  komposition  ist  den  romaneu  Crestiens  abgelernt, 
sodass  sein  werk  die  mitte  zwischen  chanson  de  geste  und 
abenteuerroman  hält.  Das  ganze  ist  durch  die  person  des 
kaisers  Karl  mit  den  alten  gesten  in  bezieh ung  gesetzt,  spätere 
dichter  genealogisierender  tendenz  reihen  Huon  in  die  rebellen- 


J.   Heldenepos  und  geschichtliche  Dichtung:  Überarbeitungen.     435 

geste  ein,  indem  sie  ihn  frischweg  zu  einem  eukel  Doons  von 
Mainz  machen.  Der  dichter  hat  grossen  erfolg  mit  seinem 
werk  gehabt,  wie  die  noch  im  13.  Jahrhundert  einsetzenden 
fortsetzuugeu  und  die  späteren  bearbeituugen  in  alexandriner- 
versen  und  in  prosa  beweisen.  Die  unmittelbar  an  das  alte 
epos  anschliessende  Esciarmonde  behandelt  die  Schicksale  von 
Huons  tochter  unter  Verwertung  dort  gegebener  motive,  zugleich 
aber  hat  der  Verfasser  auch  eine  (wahrscheinlich  niederrheinische) 
version  des  deutschen  'Herzog  Ernst'  gekannt  und  benutzt. 

Auberi  Je  Bourgoing.  Dem  umfangreichen,  noch  nicht 
vollständig  herausgegebenen  epos  scheint  ein  alter  kern  zu 
gründe  zu  liegen,  der  allerdings  durch  eine  anzahl  zum  teil 
weit  ausgesponnener  abenteuer,  auch  durch  nachahmung  anderer 
chansons  de  geste  überwuchert  ist,  so  dass  die  historische 
grundlage  noch  nicht  genügend  klar  gelegt  ist.  Von  Settegasts 
z.  t.  recht  problematischen  parallelen  bleibt  besonders  der  955 
gegen  die  Ungarn  gefallene  graf  Udalrich  (Ouri)  zu  beachten, 
Ausserlich  knüpft  das  gedieht  an  Girart  de  Roussillon  an,  so 
dass  die  beiden  epen  vielfach  zu  einer  geste  bourguignonne 
zusammengefasst  werden.  Auberi  ist  der  söhn  des  in  gefangen- 
schaft  geratenen  herzogs  von  Burgund,  Bazin,  wird  von  oheim 
und  vettern  um  sein  erbe  betrogen,  erwirbt  sich  rühm  im  dienste 
des  königs  Ouri  von  Baiern  wie  auch  anderwärts,  hat  viel 
unter  nachstellungen  durch  meuchelmörder  zu  leiden,  entledigt 
sich  dieser  aber  stets  mit  glücklicher  band,  heiratet  die  witwe 
des  herzogs  von  Baiern ,  ist  jedoch  damit  noch  keineswegs  an 
das  ende  seiner  erlebniese  und  taten  gelangt.  Das  gedieht 
ist  wohl  erst  gegen  mitte  des  13.  Jahrhunderts  (nach  Haon 
und  Aiol)  entstanden. 

Eine  weitere  gruppe  von  epen  entfernt  sich  ganz  von 
der  national -französischen  tradition,  indem  hier.  z.  t.  durch 
anglonormannische  Vermittlung,  in  England  heimische  und 
weiterhin  auf  skandinavischen  Ursprung  zurückweisende  Stoffe 
eingeführt  werden.  Da  es  sich  hier  nicht  mehr  um  nationale 
kämpfe,  sondern  um  das  Schicksal  einzelner  beiden  handelt, 
nähern  sich  diese  dichtungen,  trotz  des  äusseren  gewandes  des 
heldenepos,  sehr  der  gattung  des  abenteuerromans. 

Boeve  de  Raumtone  (oder  Hanstone  =  Southampton). 
Die    älteste    bekannte    redaktion    des    in    3850    versen    (meist 

28* 


430        XII.  Kapitel.    Die  Epigoueuliteratur  des  13.  Jahrhunderts. 

alexandrinern)  überlieferten  gedientes  ist  die  anglonormannische, 
aus  welcher  die  weit  umfangreicheren  festländischen  fassungen 
hervorgegangen  sind.  Aber  auch  die  anglonormannische  re- 
daktion,  aus  dem  aufang  des  13.  Jahrhunderts,  setzt  im  verein 
mit  den  fremden  bearbeitungen  (englisch,  altnordisch,  welsch) 
ein  älteres  originalgedicht  voraus,  das  schon  ende  des  12.  Jahr- 
hunderts von  dem  Verfasser  von  Daurd  et  Beton  (einer  nur 
in  prov.  bearbeitung  überlieferten  chanson  de  geste)  benutzt 
wurde.  Die  geschiente  Boeves  zerfällt  in  zwei  teile:  der  erste 
(bis  v.  2398)  erzählt  die  Jugendschicksale  des  beiden ,  wie  er 
durch  eine  lieblose,  den  eigenen  gatten  verratende  mutter  ver- 
trieben wird,  in  fremden  landen  rühm  und  weib  gewinnt  und 
nach  der  heimkehr  den  tod  des  vaters  an  seinem  Stiefvater 
Doon  rächt;  im  zweiten  teil  erlebt  der  held  neue,  romaneske 
abenteuer,  soll  (wie  Ille,  s.  oben  s.  373)  in  der  fremde  eine 
zweite  eingehen,  wird  aber  rechtzeitig,  ehe  die  vorläufige  ehe 
zu  einer  wirklichen  geworden,  von  seiner  treuen  gattin  Josiane 
aufgefunden.  Die  grundlage  der  dichtung  bildet  allem  anscheiu 
nach  eine  in  Nordfrankreich  entstandene  sage,  welche  in  einzelnen 
motiven  eine  gewisse  verwantschaft  mit  der  von  Saxo  Gramma- 
ticus  berichteten  Hamletsage  zeigt,  im  ganzen  aber  selbständig 
ist  und  sich  durch  zahlreiche  märchen-  und  novellenmotive 
bereichert. 

Hörn.  Das  von  einem  dichter  Thomas  in  alexandrinern 
gedichtete  (vielleicht  noch  in  das  12.  Jahrhundert  gehörende) 
epos  ist  von  ähnlichem  Charakter  wie  der  Boeve.  Hörn,  der 
söhn  Aalufs,  wird  aufs  meer  ausgesetzt,  kommt  an  den  hof 
des  königs  Hunlaf  in  der  Bretagne,  verlobt  sich  mit  dessen 
tochter  Rimel  (deutsch  Rimhilt),  wird  aber  erst  nach  vielen 
hindernissen  und  abenteuern,  welche  öfter  an  diejenigen  Boeves 
gemahnen,  ihr  gatte.  Zugrunde  liegt  eine  in  England  ent- 
standene, historische  ereiguisse  des  10.  Jahrhunderts  wieder- 
spiegelnde Wikingersage.  Das  franz.  epos  geht  mit  dem  eng- 
lischen Kiny  Hörn  (mitte  des  13.  jahrhs.)  zusammen  auf  eine 
verlorene  (anglonormannische  oder  angelsächsische)  bearbeitung 
der  sage  zurück.  —  Ein  verlorenes  gedieht  desselben  Verfassers 
hatte  die  Schicksale  des  vaters  des  beiden,  Aaluf,  behandelt, 
während  der  dichter  es  seinem  söhne  überlassen  wollte,  das 
epos  von  Hadermod,  Horns  söhn,  zu  dichten. 


2.   Heldenepos  und  geschichtliche  Dichtung:  l  berarbcitungen.     437 

Adenet  le  R<>i:  A.  Rovy,  A.  d.  1.  et  son  OBüvre,  Brüssel  1898. 
Berte  aus  grans  pies:  B.  a.  g.  p.  p.  p.  P.  Paris,  P.  1832,  - 1836 
(R.  d.  d.  P.  I);  p.  p.  Aug.  Scheler.  Biuxelles  1874.  Über  das  zu- 
grunde liegende  märchen  s.  P.  Arfert,  Das  .Motiv  von  der  unter- 
schobeneu Braut,  Diss.  Rostock  1897.  Liter  den  prosaroman  des 
15.  Jahrhunderts  Ph.  Aug.  Becker,  ZrP  16  (1892)  210  ff.  Die  auszüge 
und  bearbeitungeu  der  sage  in  Mouskets  Reimchronik,  Chronique 
saintongeaise,  Strickers  Karl  u.  a.  füliren  zusammen  mit  Adenets 
gedieht  auf  eine  verlorene  urversion  (ein  kurzes  epos  des  12  jhs.) 
zurück:  vgl.  J.  Reinhold,  ZrP  35  (1911)  1  ff,  129 ff.  Der  Bueve 
de  Commarchis  (p.  p.  Aug.  Scheler,  Bruxellco  1874)  stellt  eine 
Überarbeitung  des  in  die  Wilhelmsgeste  gehörigen  Siege  de 
Barbastre  (oben  s.  235f.)  dar.  Vgl.^Erich  Roll,  Das  Verhältnis 
des  S.  d.  B.  zum  B.  d.  C.  von  A.  1.  R.,  Diss.  Greifswald  1909.  Die 
Enfances  Ogier  (p.  p.  Aug.  Scheler,  Brüssel  1874)  beruhen  auf  der 
eisten  branehe  des  alten  Ogierepos.  —  Macaire:  p.  p.  F.  Guessard 
(Anc.  P.  d.  1.  Fr.  IX)  P.  1866.  Ein  ähnliches  thema  wird  behandelt 
in  dem  noch  ungedruckten  JDoon  de  la  Boche  oder  Doon 
l'Allemanä,  wo  die  unschuldig  verfolgte  Olive  heisst  und  die 
schwester  Pippins  ist  (altnordisch  Olif  og  Landri).  Vgl.  C.  Sachs, 
Beiträge  z.  Kenntnis  altfr.  etc.  Literatur,  B.  1857,  2  ff.  W.  Benary, 
RF  31  (1911)  303ff.  —  Huon  de  Bordeaux:  p.p.  F.  Guessard 
et  C.  Grandmaison  (A.  P.  d.  1.  Fr.  5),  P.  1860.  Vgl.  C.  Voretzsch, 
Epische  Studien  I,  IIa.  1900  (hier  die  alt.  lit.,  auch  über  die  fort- 
setzungen  und  bearbeitungen).  M.  Kawczynski,  Huon  de  Bordeaux, 
poemat  staro  franeuski  etc..  Krakau  1902  (leitet  das  Huonepos  aus 
dem  märchen  von  Amor  und  Psyche  her  und  setzt  Huon  =  Psyche, 
Auberon  =  Amor,  Karl  d.  Gr.  =  Venus).  Counson,  La  legende 
d'Oberon,  Extrait  d.  1.  Revue  Generale,  Bruxelles  1903.  Über 
Ph.  Aug.  Becker  (ZrP  26,  265  ff.)  und  F.  Lindner  (StvglL  2,  284  ff.) 
vgl.  DL  1902,  2659  ff  Mit  der  anfangs  des  12.  jahrhs.  in  Italien 
hinzugedichteten  einleitung  Auberon  und  mit  den  von  verschiedenen 
Verfassern  herrührenden  fortsetzungen  Chanson  d'Esclarmonde  (vgl. 
Otto  Engelhardt,  Huon  de  B.  u.  Herzog  Ernst,  Tübinger  Dies. 
Witten  1903),  Huon  roi  de  feerie,  Ciarisse  et  Florcnt,  J 'de  et  Olive, 
Oroissant  und  Godin  bildet  das  Huonepos  eine  vollständige  geste, 
die  ihrem  grössten  teil  nach  im  15.  Jahrhundert  als  alexandriner- 
dichtung  und  im  16.  Jahrhundert  als  prosaroman  begegnet.  Der 
inhd.  Ortnit  geht  nicht  auf  den  Huon,  sondern  mit  diesem  gemeinsam 
auf  eine  alte  fränkische  sage  zurück.  —  Auberi:  umfangreiche 
auszüge  bei  Tobler,  Mitteilungen  aus  afr.  handschriften  I,  L.  1870. 
Vgl.  Riezler,  Sitzber.  d.  Münchener  Akad.  1892,  s.  713ff  Franz 
Settegast,  ZrP  33  (1909)  20ff  —  Boeve  de  Haumtone:  Der 
anglonorm.  B.  d.  H.  hrsg.  von  Alb.  Stimming  (Bibl.  Norm.  7),  Ha. 
1899  (hier  alt.  lit.).  Der  festländische  Bueve  de  Hantone  Fassung  I 
(GrL  25),  Fassung  II,  1  Text  (GrL  30),  bgg.  von  A.  Stimming, 
Dresden  1911,    1912.      J.  Reinhold,    Die    franko -ital.   Version    des 


438        XII.  Kapitel.    Die  Epigonenliteratur  des  13.  Jabrhumb  rts. 

B.  d.  Ant.,  ZrP  33  (1911)  555  ff.,  683  ff;  34,  1  ff.  Vgl.  Stimming 
im  Toblerband  s.  1  ff.  über  die  franz.  Versionen.  Rudolf  Zenker, 
Boeve-Amlethus  (Lit.-hist.  Forsch.  32).  B.  u.  L.  1905.  Max  Dentsch- 
bein,  Studien  z.  Sagengeschichte  Englands,  I,  Cöthen  1906.  Leo 
Jordan,  Über  B.  d.  H.,  14.  Beiheft  zur  ZrP,  1908.  Chr.  Boje,  Über 
den  afr.  Roman  von  B.  d.  IL,  19.  Beiheft,  1909.  —  Hörn  p.p. 
Fr.  Michel,  P.  1885.  Genauer  Abdruck  der  Handschriften  von 
Brede  und  Stengel  (AA  8),  Marburg  1883.  Otto  Hartenstein, 
Studien  z.  Hornsage,  Diss.  Kiel  1902.  Morsbach  im  Foersterband 
(1902)  s.  297 ff.  Johan  Vising,  Studier  i  den  franska  romanen  om 
Hörn,  I,  Göteborg  1903,  II  1904,  Prolegomena  zu  einer  Edition  des 
Roman  von  H.,  1905.  Will.  Schoffield,  The  story  of  Hörn  and 
Rimenhild,  Publ.  MLA  18  (1903)  1  ff.  Deutschbein,  Studien  I  (s.  o.). 
Paul  Grass,  Hörn  u.  Hilde  in  ihrer  Stellung  z.  german.  Sagen- 
geschichte, Diss.  Münster  1911  (sucht  die  quelle  in  niederdeutschen 
Überlieferungen).  Im  15.  Jahrhundert  wird  das  epos  zu  einem 
prosaroman  Ponthus  et  Sidoine  verarbeitet.  —  Über  die  anglonorm. 
bearbeitung  von  Amis  et  Amiles  in  reimpaaren  s.  oben  s.  247. 


B.    Zyklische  und  genealogische  Epen. 

Die  entwicklungsgeschichte  des  französischen  heldenepos 
weist  darauf  hiu,  dass  von  anfaDg  an  eine  reihe  von  selbständigen 
dichtungen  auf  den  plan  getreten  sind,  deren  kern  jeder  für 
sich  in  einer  originalen  tradition  wurzelte.  Solche  „primäre 
epen",  wie  sie  Wechssler  nennt,  oder  „stammepen"  naeh  Becker, 
gaben  vielfach  den  anlass  zur  ausbildung  eines  zyklus:  zunächst 
konnten  leicht  mehrere  stammepen,  welche  denselben  beiden 
feierten  oder  auch  teils  dem  beiden  selbst,  teils  seinen  ver- 
wanten  galten,  zu  einem  festeren  oder  loseren  zyklus  (Ogier  — 
verschiedene  Wilhelmsepen)  zusammengeschlossen  werden,  oder 
das  stammepos  konnte  fortsetzungen  und  nachahmungen  hervor- 
rufen uud  bildete  dann  naturgemäss  mit  diesen  eine  zusammen- 
hängende geste,  die  meist  auch  in  den  handschriften  vereinigt 
erscheint  (Lothringer,  Huon,  auch  Wilhelm  usw.).  Je  ein- 
heitlicher der  ausgangspunkt  einer  derartigen  geste  ist,  um  so 
enger  ist  auch  der  Zusammenhang  innerhalb  der  ganzen  gruppe. 
Die  ältere  geste  de  Nanteuil  und  die  jüngere  geste  de  Huon 
de  Bordeaux  übertreffen  beide  an  geschlossenheit  die  Wilhelms- 
geste, welche  auch  noch  die  epen  auf  Wilhelms  brüder  und 
neffen  aufgenommen  hat,  und  diese  geste  selbst  wiederum  ist 
immer  noch  viel  geschlossener  als  die  geste  fe'odale,  in  welcher 


2.   Heldenepos  und  geschichtliche  Dichtung :  Zyklische  Epen.     439 

die  zyklischen  dichter  und  mit  ihnen  die  Veranstalter  von 
Bammelhandsehriften  epen  der  verschiedensten  herkunft  unter- 
bringen. 

Unter  den  zahlreichen  zyklen  oder  gesteu  sind  es  besonders 
drei,  welche  sich  durch  die  zahl  der  zugehörigen  dichtungen 
vor  den  anderen  auszeichneten  und  schon  Bertrand  de  Bar-sur- 
Aube  am  ende  des  12.  Jahrhunderts  bekannt  waren:  die  geste 
du  roi  (Karlsepen,  mit  eiuschluss  von  Karl  Martell)  —  die 
geste  de  I)oon  de  Mayencc  (vassallen-  oder  verräterepen,  welche 
die  kämpfe  Karls  d.  Gr.  mit  seinen  vasallen  behandeln)  — 
die  geste  de  Garin  de  Monglane  (Wilhelmsgeste).  Garin  gilt 
als  Stammvater  der  Wilhelmiden  wie  Doon  als  derjenige  der 
empörer.  Die  kleinereu  gesten  und  die  eiuzelepen  stehen 
ausserhalb. 

War  der  begriff  des  zyklus  einmal  vorhanden,  so  lag  es 
nahe,  diesen  weiter  auszubauen  und  die  lücken  in  der 
genealogie  wie  in  der  fortlaufenden  erzählung  mit  neuen 
dichtungen  auszufüllen.  Die  auf  diese  weise  entstandenen 
ependichtungen,  deren  uns  übrigens  auch  schon  am  ende  des 
12.  Jahrhunderts  mehrere  begegnet  sind,  begnügen  sich  meist 
mit  den  elementen,  welche  sie  in  den  älteren  epen  der  geste 
vorfinden,  und  schmücken  diese  mit  eigener  phantasie  oder 
mit  Zuhilfenahme  fremder  motive  weiter  aus.  Sie  haben  daher 
meist  weder  einen  traditionellen  noch  einen  poetischen  wert, 
doch  finden  sich  zuweilen  in  nebenmotiven  traditionelle  elemente 
verborgen. 

Von  den  königsepen  stehen  im  Vordergrund  diejenigen, 
welche  sich  um  das  Rolandslied  herum  gebildet  haben.  Da 
ist  einmal  der  schon  früher  erwähnte  Galiens  li  restores 
zu  nennen,  welcher  Karlsreise  und  Rolandslied  miteinander 
zu  einem  zusammenhängenden  gedieht  (in  alexandrinern)  ver- 
arbeitet. —  Gui  de  Bourgogne  geht  von  der  Vorstellung 
aus,  dass  Karl  mit  seinem  beere  nicht  7,  sondern  27  jähre  in 
Spanien  ist  und  es  nicht  erobern  kann,  daher  der  jugendliche 
Gui,  söhn  herzog  Samsons  von  Burgund,  die  unterdes  heran- 
gewachsenen söhne  der  spanischen  kämpfer  nach  Spanien 
führt  und  diesen  zum  endlichen  siege  verhilft.  —  Anst'is  de 
Cartage  führt  die  handlung  weiter  dadurch,  dass  Ansei's, 
söhn   des  Rispeu   von  der  Bretagne,   nach  der  eroberung  des 


440       XII.  Kapitel.    Die  Epigonenliteratar  des  i;s.  Jahrhunderts. 

landes  zum  könig  daselbst  ernannt  wird  und  durch  die  ent- 
«•hrung  der  Letisse  die  räche  ihres  vaters  Ysore"  und  damit 
einen  neuen  Sarraceneneiufall  in  Spanien  heraufbeschwört,  der 
erst  durch  Karls  eingreifen  ein  ende  findet.  Hier  ist  in  der 
exposition  (die  tochter  des  ratgebers  durch  den  könig  entehrt) 
eine  ältere  tradition  verwertet,  im  übrigen  haben  ausser 
Rolandslied  auch  andere  epen  —  wie  Gui  de  Bourgogne  und 
Saisnes  —  eingewirkt.  —  Von  einem  epos,  das  Karls  kämpfe 
vor  der  Schlacht  von  Roucesvalles  schildert,  sind  nur 
160  verse  überliefert.  Das  ganze  war  die  Überarbeitung  einer 
älteren,  schon  dem  Pseudoturpin  bekannten  (den  kap.  2 — 14 
Turpins  entsprechenden)  dichtung.  —  Als  ein  nachklang  des 
Rolandsliedes  und  verwanter  dichtungen  ist  auch  das  epos 
von  Otinel  zu  bezeichnen,  wo  der  heidnische  krieger  Otinel 
durch  ein  göttliches  wunder  zum  Christentum  bekehrt  und  der 
heidenkönig  Garsile  (vgl.  Marsile)  besiegt  und  getötet  wird.  — 
In  entfernterer  beziehung  zum  Rolaudslied  steht  Jehan  de 
Lanson,  dessen  held  der  söhn  von  Ganelons  bruder  ist  und 
die  zwölf  pers  in  Italien  schwer  bedrängt.  In  mancher  hin- 
sieht erinnert  an  dieses  epos  der  Simon  de  Pouille,  wo 
die  zwölf  pers  in  Konstantinopel  schwere  gefahren  zu  be- 
stehen haben. 

Von  den  Merowingerepen,  die  allerdings  in  alter  zeit 
nicht  in  die  geste  du  roi  eingereiht  werden,  gehört  hierher 
der  nur  fragmentarisch  überlieferte  Syracoti  (allem  an- 
schein  nach  eine  nachahmung  des  Floovent)  und  Ciperis  de 
Vignevaux,  unter  dessen  titelhelden  Childerich  IL  gemeint 
ist.  Der  traditionelle  Untergrund  dieses  epos  ist  noch  nicht 
genügend  untersucht. 

Auch  der  zweite  grosse  zyklus,  der  Wilhelmszyklus, 
wird  erweitert  und  vervollständigt,  vor  allem  durch  epen, 
welche  über  kämpfe  von  angehörigen  der  familie  gegen  die 
spanischen  Sarrazenen  berichten  —  Guibert  d' Andrenas, 
Brise  de  Cordres  et  de  Sebille  —  sowie  durch  epen 
über  einzelne  persönlichkeiten  wie  La  Mort  Aimeri, 
Benier  (söhn  Maillefers  und  enkel  Eainouarts)  und  den 
späten  Gar  in  de  31  o  n  gl  an  e,  dessen  inhalt  mehr  einem 
roman  als  einer  chanson  de  geste  gleicht  und  der  im  14.  Jahr- 
hundert noch  durch  die  Enfances  Garin  ergänzt  wird. 


2.   Heldenepos  und  geschichtliche  Dichtung:  Zyklische  Epen.     441 

Der  dritte  grosse  zyklus  fasst  die  rebellen  gegen 
kaiscr  Karl  zu  einer  grossen  familie  zusammen:  so  werden 
die  väter  Ogiers  und  lluons,  Gaufrey  und  Sewin,  nebst  anderen 
zu  brttdern  Girarts  von  Roussillou  und  seiner  sippe  gestempelt 
und  zu  söhnen  Doons  von  Mainz  gemacht.  Auf  Gaufrey 
und  seine  Schicksale  wird  ein  besonderes  epos  gedichtet  (oben 
8.  225  f.),  nicht  minder  auf  die  des  Stammvaters  Doon  de 
Mayence,  welche  nicht  nur  von  denen  Huons,  sondern  auch 
von  denen  Percevals  stark  beeinflusst  erscheinen. 

Bemerkenswerter  als  diese  machwerke  sind  einzelne  dich- 
tnngen  in  den  kleineren  gesten.  Die  Geste  de  Nanteuil 
wird  durch  Parise  la  duchesse  vervollständigt,  deren  inhalt 
einer  anderweitigen  alten  Überlieferung  entlehnt  scheint  (s.  oben 
8.  84).  Die  Lothringerepen  erhalten  eine  einleitung  in  dem 
epos  von  Her  vis  de  Mes,  das  in  der  rahmenerzählung  ver- 
wantschaft  mit  der  arabischen  geschiente  von  Nüraldin  und 
Mirjam  (Tausend  und  eine  Nacht)  zeigt  und  sich  so  dem 
liebes-  und  abenteuerroman  nähert,  aber  auch  reichlich  de- 
mente älterer  epik  verwertet.  Bemerkenswert  ist,  dass  hier 
auf  Karl  sein  söhn  Pippin  folgt,  unter  jenem  also  Karl  Martell 
gemeint  ist.  Auch  die  fortsetzung  zum  Giriert,  Anse'is  de 
Mes,  welche  die  räche  der  verwanten  Fromondius  an  Gilbert 
(vgl.  oben  s.  242)  und  ihre  folgen  behandelt,  sowie  die  schluss- 
dichtung  Yon  gehört  noch  in  das  13.  Jahrhundert. 

Endlich  ist  aus  dem  schluss  der  periode  (gegen  1300) 
noch  ein  umfangreiches  kompilationswerk  (über  23  000  verse) 
zu  nennen:  der  Charlemagne  des  Girard  von  Amiens, 
welcher  hier  teils  auf  grund  von  chansons  de  geste  {Mainet  u.  a.), 
teils  von  lateinischen  Chroniken  (Pseudoturpin,  Chroniken  von 
St.-Denis  u.  a.)  eine  zusammenhängende  geschichte  von  Karls 
leben  zu  geben  sucht,  in  regelmässigen  alexandrinerlaissen  (zu 
je  20  versen),  mit  Wechsel  männlich  und  weiblich  ausgehender 
laissen,  wie  es  in  zweien  seiner  epen  auch  Adenet  getan,  den 
Girard  kennt  und  sich  auch  sonst  öfter  zum  Vorbild  nimmt. 

Königsepen:  Galten  s.  oben  s.  202.  —  Gui  de  Bourgogne, 
Otinel  (u.  Floovant)  p.p.  Guessard  et  Michelant,  P.  1859  (Anc.  poetea 
d.  1.  Fr.  1).  Zum  Gui  d.  B.  vgl.  A.  Mauss,  Charakteristik  d.  Personen 
im  G.  d.  B.,  Diss.  Münster  1883;  A.  Thomas,  Sur  la  date  de  G.  d.  B., 
Korn.  17  (1888)  280.    Zum  Otinel:  E,  Langlois,  Rom.  12  (1883)  433  ff.; 


1  l'J       XII.  Kapitel.    I>i<'  Epigonenliteratnr  des  ;:'..  Jahrhunderts. 

II.  Treutier,  Die  O.-sage  im  Mittelalter,  Engl.  Stud.  5  (1882)  148  ff.; 
P.  Rajna,  Rom.  18  (1889)  35 ff;  Bedier,  Leg.  ep.  II  (1908)  255 ff.  — 
Anscts  de  Cartage  hgg.  v.  J.  Alton.  Tübingen  1892  (Lit.  Ver.  194). 
Vgl.  C.  Voretzsch,  Rom.  25  (1896)  562 ff,  27,  245 ff;  G.  Paris, 
Melanges  169ff.  (zuerst  1893  ersch);  L.  Jordan  Archiv  119  (1907) 
372  ff.  —  Fragments  d'une  Chanson  de  (feste  relative  ä  la  guerre 
d'Espagnc  p.p.  P.Meyer,  Rom.  35  (1906)  22 ff.  Verwant  ist  die 
anfangs  des  14.  jhs.  verfasste  Entree  d'Espayne  (ausg.  v.  Thomas  im 
druck),  vgl.  kap.  XIV.  —  Über  Jehan  de  Lanson  vgl.  Hist.  litt. 
22,568ff;  L.  Gautier,  Epopces  fr.  IIP  257ff;  G.Paris,  Rom.  24 
(1895)  317  ff.  Über  Simon  de  Pouille  Gantier,  Ep.  fr.  IIP2  346  ff.  — 
Merowingerepen:  Syracon  hgg.  v.  Stengel,  Rom.  Stud.  1,399  ff.  Vgl. 
Fr.  Settegast,  Antike  Elemente  im  afr.  M.-Zyklus,  L.  1907.  Vicomte 
de  la  Lande  de  Calan,  Personnages  (oben  s.  89)  s.  22  (Ciperis 
=  Childerich  IL).  — Wilhelmszyklus:  La  Mort  Aymeri  de  Kar- 
bonne p.  p.  J.  Couraye  du  Parc,  P.  1884  (Sdat);  vgl.  H.  Suchier, 
Rom.  32  (1903)  379  ff,  ZrP  31  (1907)  607  f.  La  Prise  de  Cordres 
et  de  Sebille  p.  p.  0.  Densusianu,  P.  1896  (Sdat).  C.  Siele,  Über 
die  Chanson  Guibert  d'A.,  Diss.  Marburg  1891.  Über  Benier  vgl. 
Runeberg,  La  Geste  Rainouart  (oben  s.  236)  64  ff.  Über  Garin  de 
Montglane  und  Enfances  Garin  L.  Gautier,  Ep.  fr.  IV,  106  ff,  126  ff; 
K.  Rudolph,  Das  Verhältnis  der  beiden  Fassungen  des  G.  d.  M.,  Diss. 
Marburg  1890.  —  Vassallenepen:  .Gaufrey  p.  p.  Guessard  et  Cha- 
baille,  P.  1859  (Anc.  P.  d.i.  Fr.  III);  vgl.  Seyfang  (oben  s.  226). 
Doone  de  Mayence  p.  p.  A.  Pey,  P.  1859  (Anc.  P.  d.  1.  Fr.  II).  — 
Geste  de  Nanteuil:  Parise  la  duchesse  p.  p.  G.-F.  de  Martonne, 
P.  1856  (Rom.  d.  d.  pairs  IV),  p.  p.  Guessard  et  Larchey,  P.  1860 
(Anc.  p.  d  1.  Fr.  IV);  vgl.  R.  Heinzel  (oben  s.  86),  W.  Benary,  RF 
31,  303ff.  —  Lothringer:  Hervis  de  Mes,  hgg.  von  E.  Stengel, 
1903  (GrL  1);  vgl.  L.Jordan  Archiv  114  (1905)  232ff.  Bruch- 
stücke des  Anse'is  de  Mes  hgg.  von  E.  Stengel,  Festschrift  Greifs- 
wald 1904,  1909.  —  Girard  von  Amiens:  vgl.  L.  Gautier,  Ep. 
fr.  II,  421  ff,  III,  30  ff,  dazu  die  mit  textproben  aus  dem  Charlemague 
ausgestatten  Greifswalder  Diss.  von  P.  Riebe  (Mainetsage,  1906), 
H.  Dammann  (Enfances  Roland,  1907),  W.  Granzow  (Ogierepisode, 
1908). 

C.    Neudichtungen. 

Neben  den  auf  alter,  traditioneller  grundlage  aufgebauten 
oder  an  mehr  oder  weniger  ausgebildete  zyklendichtung  an- 
knüpfenden epen  finden  sieh  auch  einige  chansons  de  geste 
welche  mehr  selbständigen  Charakters  sind,  und  wenn  auch 
nicht  in  ihren  einzelheiten,  so  doch  in  haupthandlung  und 
hauptpersonen  die  selbstschöpfung  eines  dichters  zu  sein 
scheinen.    Es  sind  im  wesentlichen  epen,  welche  die  Schicksale 


-1.   Heldenepos  und  geschichtliche  Dichtung:   Neudichtnngen.     443 

eines  einzelnen  beiden  schildern  und  daher  von  G.  Paris  den 
epopies  biographiques  zugerechnet  werden.  Vielfach  nähern 
sie  sich  der  gattuug  des  abenteuerromans. 

Orson  de  Beauvais.  Das  erst  vor  wenigen  jähren  von 
G.  Paris  veröffentlichte  gedieht  -  nach  dem  heransgeber  noch 
im  12.  Jahrhundert,  nach  Suchier  hingegen  erst  im  13.  Jahr- 
hundert verfasst  —  erzählt  in  einfacher,  aber  anschaulicher 
weise  den  verrat,  den  graf  Ugon  von  Berri  an  seinem  waffen- 
gefährten  Orson  übt,  die  standhaftigkeit  und  treue  von  Orsons 
frau  Aceline,  welche  darob  die  schwersten  Verfolgungen  zu 
erdulden  hat.  und  vor  allem  die  räche,  welche  beider  söhn 
Milon  an  dem  Verräter  nimmt.  Eine  reihe  von  einzelnen 
namen,  figuren  und  motiven  sind  älteren  chansons  de  geste 
entnommen. 

Gaydon  (zwischen  1218  und  1240).  Der  held  wird  mit 
Thierrv,  dem  gegner  Pinabels  in  dem  gottesgerichtlichen  Zwei- 
kampf am  sehluss  des  Rolandsliedes,  gleichgesetzt  und  dadurch 
in  beziehung  zur  Rolandsschlacht  gebracht,  aber  was  der  dichter 
von  dieser  erzählt,  beruht  auf  Turpin,  während  er  für  andere 
episodeu  eine  reihe  von  wirklichen  epen  (Gui  de  Bourgogne, 
Anse'is  de  Cartage,  Krönungsepos,  Huon  de  Bordeaux  u.  a.)  ver- 
wertet hat.  Die  kuust  des  dichters  ist  nicht  übermässig  gross, 
dieselben  motive  —  hinterhalt,  Verschwörung,  Vergiftung  — 
werden  beständig  wiederholt,  ebenso  wie  die  personen  der 
Verräter  gehäuft  werden  (Aulori,  Hardr6  usw.).  Vor  der 
tradition  hat  der  Verfasser  wenig  achtung,  häufig  bezeichnet 
er  mit  demselben  namen  vier  bis  fünf  verschiedene  personen, 
bald  anhänger  Gaydons,  bald  Verräter.  Aber  einzelne  allem 
anschein  nach  von  ihm  selbst  erfundene  episoden  und  figuren, 
wie  der  bäurisch  dargestellte  vavassor,  auch  die  frauen- 
charaktere  (bes.  Claresme),  sind  trefflich  gelungen;  in  der 
flotten  darstellung  des  ganzen  sind  namentlich  die  eingestreuten 
scherz-  und  hohnreden  im  stile  der  altgermanischen  epik  sehr 
wirkungsvoll;  die  komposition  hat  sich  am  Vorbild  des  höfischen 
romans  geformt.  Das  ganze  ist  umdichtung  und  erweiterung 
einer  ursprünglich  assonierenden  älteren  chanson. 

Aiol  et  Mirabel  und  JElie  de  St.  Gilles.  Aiol  ist,  wie 
Milon  de  Beauvais  oder  Boeve  de  Haumtone,  ein  junger  held, 
der   auszieht   seinen   vater   zu  rächen.     Bei  dieser  gelegenheit 


IM        XII.  Kapitel.    Die  Epigoneuliterutur  des  13.  Jahrhunderts. 

erlebt  er  eine  reihe  von  begegnungen,  kämpfen,  liebesaben- 
teuem,  hat  unter  den  intriguen  eines  Verräters  (Macaire)  viel 
zu  leiden,  wird  von  weib  und  söhnen  getrennt,  findet  zuerst 
diese  wieder  und  erobert  sich  schliesslich  sein  weib  Mirabel 
im  kämpf  gegen  den  Verräter  zurück.  Der  eigentliche  Ver- 
fasser des  in  archaischen  zehnsilbnern  (s.  oben  s.  31)  ge- 
dichteten epos  gehörte  noch  dem  12.  Jahrhundert  an  und  war 
bei  aller  neigung  für  das  abenteuerliche  ein  guter  beobachter 
und  in  gewissem  sinne  realistischer  darsteiler  der  wirklichen 
Verhältnisse.  Sein  werk  wurde  aber,  etwa  im  zweiten  viertel 
des  13.  Jahrhunderts,  von  einem  in  alexandrinern  dichtenden 
bearbeiter  überarbeitet,  mit  neuer  einleitung,  neuem  schluss 
und  verschiedenen  einschüben  versehen,  wodurch  zugleich  der 
anschluss  an  die  in  alexandrinern  verfasste  dichtung  Elie  de 
St.  Gille  gewonnen  wurde.  Der  held  dieses  zweiten,  ursprünglich 
selbständigen  gedichtes  wurde  vom  Überarbeiter  willkürlich 
mit  Aiols  vater  Elie  gleichgesetzt  und  noch  dazu  mit  dem  ge- 
schlecht Wilhelms  von  Orange  in  beziehung  gebracht.  Elie  hat 
ähnliche  abenteuer  wie  sein  söhn  Aiol  zu  bestehen.  Der 
schluss  ist  in  der  altnordischen  Elissage  ursprünglicher  er- 
halten als  im  franz.  gedieht,  das  mit  rücksicht  auf  die  Über- 
leitung zum  Aiol  abgeändert  worden  ist.  —  Beide  dichtungen 
werden  häufig  zusammen  als  Geste  de  Saint-Gille  be- 
zeichnet. 

Florence  de  Rome.  Die  dichtung  (4562  alexandriner) 
hat  zum  mittelpunkt  die  auch  in  der  Crescentiasage  (Kaiser- 
chronik) und  sonst  (Karl  d.  Gr.  und  Hildegard)  wiederkehrende 
erzählung  volkstümlichen  (vielleicht  orientalischen)  urspruugs 
von  der  edeln  frau,  welche  vom  eigenen  seh  wager  erfolglos 
begehrt  und  darum  von  ihm  verleumdet,  dann  eines  meuchel- 
mords  bezichtigt  wird  und  nach  dieser  und  anderen  fährlich- 
keiten  die  genugtuung  hat,  als  fromme  uonne  alle  ihre  peiniger 
ihre  schuld  bekennen  zu  hören  und  von  schwerer  krankheit 
zu  heilen  und  mit  dem  von  ihr  gleichfalls  geheilten  gatten 
wieder  vereinigt  zu  werden.  Dadurch  dass  ein  krieg  zwischen 
dem  kaiser  von  Rom  und  dem  könig  von  Griechenland  die 
handlung  einleitet  und  teilweise  begleitet,  entsteht  ein  ähn- 
licher mischcharakter  zwischen  chanson  de  geste  und  liebes- 
roman   wie  im  Aiol.     Die  heldin  heisst  hier  Florence.   tochter 


2.  Heldenepus  and  geschichtliche  Dichtung:   Geschichtliches.     445 

des  kaisers  Othon  von  Rome.  ihr  gatte  Esmere\  ihr  Bchwager 
und  Verfolger  Milon. 

Oraon  de  Beauvais  p.  p.  G.  Paris,  P.  1899  (8dat);  vgl.  Suchier 
Rom.  30  (1901)  132ff.  F.Lot,  Rom.  32  (1903)  577ff.  W.  Benary, 
RF  31  (1911)  303ff.  —  Gaydon  p.p.  Gnessard  et  Luce,  P.  1862 
(Anc.  p.  d.  1.  Fr.  VII).    Vgl.  W.  Reiniann,  0".  d.  chansoo  de  Gaydon, 

Diss.  Marburg  1880;  A.  Thomas,  Rom.  17  (1888)  2«0.  Bruno 
Karch,  Untersuchungen  ü.  d.  Haudschriftenverhültnis  u.  textkrit. 
Bearbeitung  des  aas.  Teiles  der  Ch.  d.  G.,  Dies.  Greifswald  1907. 
AI  fr.  Krehl,  Der  Dichter  des  Gay  donepos,  Diss.  Tübingen  1909.  — 
Aiol  et  Mirabel  und  Elie  de  St.-Gille  hrsg.  von  W.  Foerster,  Ileil- 
bronn  1878 — 1882  (hier  auch  über  die  fremden  bearbeitungen). 
Aiol  p.  p.  J.  Normand  et  G.  Raynaud,  P.  1878,  Elie  p.  p.  G.  Raynaud, 
P.  1881  (Sdat).  Vgl.  E.  F.  Schneegans,  Gröberband  s.  267*0".  — 
Florence  de  Rome  p.  p.  Axel  Wallensköld,  P.  1907—1909,  2  bde. 
(Sdat).  Vgl.  A.  Wallensköld,  Le  conte  de  la  femme  chaste  couvoitee 
par  son  bean  fröre,  Helsingfors  1907  (Acta  Sdc.  Sc.  Fennicae  34,  1); 
Svetislav  Stefanovic,  Die  Crescentia-Florence-Sage,  RF  29  (1911) 
461  ff.;  Wallensköld,  Neuphil.  Mitt.  1912,  67  ff. 

D.    Geschichtliche  Dichtung  und  Verwantes. 

Von  den  dichtungsgattungen,  welche  die  form  der  chansons 
de  geste  gewählt  haben  oder  wenigstens  teilweise  in  dieser 
begegnen,  ist  im  13.  Jahrhundert  nicht  viel  zu  sagen.  Die 
antiken  Stoffe  sind  in  form  und  geist  des  höfischen  romans 
übergegangen  (oben  s.  274 ff.),  mit  ausnähme  der  Alexander- 
geste, aus  welcher  aber  im  13.  Jahrhundert  iu  der  hauptsache 
nur  der  in  England  entstandene  Roman  de  toute  chevalerie 
(oben  s.  274)  aufzuführen  ist.  Einen  neuen  Stoff  behandelt 
Jehan  de  Tuim  in  seiner  Jlistoire  de  Cesar  in  aulehnung 
an  Lucans  Pharsalia  und  Cäsars  Bellum  civile  in  französischer 
prosa,  welche  darnach  von  Jacot  de  Forest  in  französische 
alexandrinerlaissen  umgedichtet  wird  (ein  bemerkenswerter  fall, 
da  sonst  in  dieser  zeit  die  versromane  in  prosa  umgesetzt  zu 
werden  pflegen). 

Von  den  kreuzzugsepen  ist  aus  dem  13.  Jahrhundert 
nichts  von  bedeutung  zu  berichten,  die  Schlussdichtungen 
jßaudouin  de  Sebourg  und  Bastart  de  Bouillon  gehören  erst 
dem  14.  Jahrhundert  an. 

Die  reim chronik  erscheint  jetzt  fast  ausschliesslich  in 
der  form  der  reimpaare.    Als  hervorragendes  stück  der  gattung 


440        XII.  Kapitel.     Die  Epigonenliteratur  des  13.  Jahrhunderts. 

aus  dem  anfaug  des  13.  Jahrhunderts  wurde  bereits  oben  (s.  264) 
die  Histoire  de  Guillaume  le  Marechal  erwähnt.  Die 
lokalgeschichte  wird  durch  eine  (noch  nicht  edierte)  ge- 
schiente der  abtei  von  F£camp  vertreten,  die  umfang- 
reiche chronik  grossen  stils  durch  die  Chroniqiie  rimee  des 
Philippe  Mo usket  aus  Tournai,  welcher  die  geschiente  Frank- 
reichs von  den  anfangen  bis  auf  seine  zeit  (1242)  in  reim- 
paaren  erzählt,  für  die  ältere  zeit  teils  nach  lateinischen  quellen, 
teils  nach  chansons  de  geste,  von  denen  Mousket  uns  manche 
wichtige  Variante  tiberliefert.  Im  wesentlichen  aber  wird  die 
reimchronik  in  dieser  zeit,  schon  seit  Villehardouins  chronik 
des  vierten  kreuzzugs,  durch  die  prosachronik  abgelöst. 

Jehan  de  Tuim,  Hystoire  de  Julius  Cesar,  hgg.  von  F.  Settegast, 
Ha.  1881.  Dazu  derselbe,  Jacos  de  Forest  e  la  sua  fönte,  Gior- 
nale  di  filolo^ia  romanza  2  (1879)  172  ff.  —  Philippe  Mousket, 
Chronique  rimee  p.  p.  le  baron  de  Reiffenberg,  2  vols.,  Brüssel  1836 
und  1838  (mit  vielen  beigaben);  einzelne  teile  hrsg.  von  A.  Tobler, 
Mon.  Germ.  bist.  SS.  26,  7 18  ff.  Vgl.  Th.  Link,  Ü.  d.  Sprache  d.  Chr. 
r.  von  Ph.  M.,  Erlangen  1882.  —  Schon  in  den  anfang  des  14.  Jahr- 
hunderts fallen  die  reimchroniken  von  Geoffroi  von  Paris  und 
Guillaume  Guiart. 


3.    Der  höfische  Roman. 

Rascher  als  das  seit  dem  9.  Jahrhundert  bezeugte  und  noch 
im  14.  Jahrhundert  nicht  erloschene  heldenepos  hat  sich  der 
höfische  versroman  ausgelebt:  um  die  mitte  des  12.  Jahrhunderts 
entstanden  tiberlebt  er  nur  mit  wenigen  denkmälern  das 
13.  Jahrhundert,  die  letzten  Artusromane  in  versen  sind  nicht 
jünger  als  die  zweite  hälfte  dieses  Jahrhunderts,  das  14.  Jahr- 
hundert bringt  nur  noch  einige  abenteuer-  und  liebesromane 
hervor.  Im  übrigen  wird  die  entwicklung  des  höfischen  romans 
vom  13.  Jahrhundert  an  beherrscht  durch  die  prosaform. 

Der  versroman  folgt  im  wesentlichen  den  Überlieferungen 
des  vorigen  Zeitraums.  Aber  mehr  als  dort  macht  sich  eigene 
erfindung  und  kombination  von  bekannten  motiven  aus  älteren 
romanen  bemerkbar.  Die  originale  tradition  ist  erschöpft  oder 
wird  nicht  mehr  zu  rate  gezogen,  während  im  heldenepos  um 


3.  Der  höfische  Roman:  Brt-touische  Romane.  11< 

diese  zeit  noch  eine  reihe  aller,  anverbrauchter  stoffe  auf- 
tauchen. Das  beruht  Dicht  zum  geringsten  teil  auf  der  domi- 
nierenden rolle  Crestiens,  welcher  mit  Stoffen,  auffassuug  und 
Stil  seiner  werke  die  naehfolger  in  seinen  bann  zieht.  Selbst 
die  besten  unter  ihnen,  wie  Raoul  de  Houdene,  sind  nicht  frei 
von  Crestiens  einrluss.  Daher  auch  im  ganzen  die  furblosig- 
keit  der  jüngeren  Artusromane,  während  in  den  liebesromanen 
eher  selbständige  Überlieferung  zu  wort  kommt.  Im  übrigen 
gehen  bretouische  und  byzantinisch  -  orientalische  demente 
immer  mehr  ineinander  über.  In  der  form  findet  die  vom 
Verfasser  des  Guillaume  de  Dole  eingeführte  neuerung,  die 
Zählung  durch  eingestreute  Strophen  und  lieder  zu  unter- 
brechen, vielfach  nachahmuug  (Gerberts  Veilchenroman,  Adenets 
Cleomades,  Girarts  Meliacin  u.  a.  m.). 

A.    Bretonische  Romane. 

"Während  die  Graldichtung  ausser  in  den  bereits  früher 
erwähnten  fortsetzungen  zu  Crestiens  Perceval  vor  allem  in 
prosaromanen  gepflegt  wird,  hat  der  Artusroman  noch  zahl- 
reiche versdichtungen  aufzuweisen,  von  denen  wiederum  ein 
grosser  teil  Gauvain  und  seinen  taten  gewidmet  ist.  Durch 
die  häufung  der  abenteuer  erhalten  sie  meist  den  Charakter 
von  abenteuerromanen.  Die  einzelnen  motive  sind  in  der  regel 
Variationen  von  solchen  aus  älteren  diehtungen.  Auch  die 
namen  von  beiden  und  heldinnen  sind  vielfach  älteren  romanen 
entlehnt  oder  nachgeahmt,  doch  begegnen  daneben  jetzt  sehr 
häufig  —  wie  vereinzelt  schon  früher  —  symbolische  oder 
allegorische  namen  wie  Orgueilleuse  d'Amour,  Franche  Pucelle, 
oder  für  Ortsnamen  Cite*  Gaste,  Roche  sans  Paour  usw. 

Raoul  von  Houdenc.  Raoul  gilt  bei  den  dichtem  des 
13.  Jahrhunderts  (so  bei  Huon  de  Mery)  als  bedeutendster  Ver- 
treter des  romans  neben  Crestien.  Dieser  rühm  gründet  sich 
in  erster  linie  auf  seinen  Meraugis  de  Portlesguez.  Die 
exposition  wird  gebildet  durch  den  aus  Erec  entlehnten  kämpf 
um  den  Schönheitspreis.  In  die  preisgekrönte  Lidoine  verliebt 
sich  Meraugis  um  ihres  anmutigen  höfischen  wesens  willen,  Gorvain 
wegen  ihrer  körperlichen  Vorzüge,  ein  gerichtshof  von  damen 
spricht  sie  dem  Meraugis  zu  (also  eine  durch  eine  cort  cVamors 


448        XII.  Kapitel.    Die  Epigonenliteratur  des  13.  Jahrhunderts. 

entschiedene  tenzonenfrage).  Abweichend  von  seinem  Vorbild 
Erec  zieht  Meraugis  noch  vor  der  hochzeit  mit  Lidoine  auf 
abenteuer  aus,  welche  den  hauptteil  des  romans  füllen  und 
viele  phantastische  elemente  enthalten.  Den  beschluss  der 
erzähluog  bildet  die  hochzeit  des  paares.  Ausser  der  stoff- 
lichen und  zum  teil  auch  stilistischen  abhängigkeit  von  Crestien 
sind  für  Raoul  besonders  charakteristisch  die  langen  monologe, 
die  neigung  zur  erörterung  spitzfindiger  fragen  und  zur  alle- 
gorischen namengebung  (wie  der  name  der  heldin  Lidoine  = 
Vidoine  =  idonea  die  schmucke,  la  Cite  saus  nom  usw.)  — 
Ein  zweites  werk  Raouls  ist  der  Gauvainroman  La  Vengeance 
Raguidel:  Ein  führerloses  schiff  mit  einem  wagen  und  einem 
toten  ritter  darauf  erscheint  an  Artus'  hof.  Nur  Gauvain 
gelingt  es,  den  abgebrochenen  lanzenschaft  aus  des  ritters 
brüst  zu  ziehen  und  dadurch  die  anwartscbaft  auf  die  räche 
zu  erwerben.  Nach  langem  suchen  und  vielen  abenteuern 
findet  er  den  mörder  des  erschlageneu  Raguidel,  tötet  ihn  mit 
hilfe  Yders  und  vereint  diesen  mit  der  ihm  zugetanen  tochter 
des  mörders.  An  zauberspuk  und  geheimnisvollen  begebeu- 
heiten  fehlt  es  nicht.  Obwohl  der  dichter  sich  nur  kurz  Raoul 
nennt,  braucht  man  an  seiner  identität  mit  Raoul  von  Houdenc 
nicht  zu  zweifeln. 

Auch  sonst  ist  das  13.  Jahrhundert  nicht  arm  an  Gauvain  - 
dichtungen,  die  z  t.  nur  den  umfang  eines  lais  haben,  z.  t. 
als  ausgeführte  epen  erscheinen.  Zu  der  ersten  gruppe  gehört 
der  schwankartige  Chevalier  a  Vespee  (1206  verse),  der 
nach  dem  ersten  teil  (das  gefährliche  bett  mit  dem  schönen 
mädchen  drin  und  einer  art  Damoklesschwert  darüber)  genannt 
ist  und  im  Schlussteil  berührungen  mit  der  Vengeance  Raguidel 
zeigt  (besonders  in  der  episode  von  dem  hund,  der  seinem 
herrn  treu  bleibt,  während  dessen  dame  ihn  einem  anderen 
ritter  zu  liebe  leichten  herzens  verlässt).  Ein  vollwichtiger 
roman  ist  der  Atre  perillos  (Le  cimetiere  perilleux),  der 
nachher  von  Girart  d'Amieus  im  zweiten  teil  seines  Escanor 
nachgeahmt  wird.  Gauvain  ist  auch  der  eigentliche  held  des 
grossen  abenteuerromans  Rigomer  vom  dichter  Jehan,  wo 
Laucelot  nur  im  ersten  teil  die  hauptrolle  spielt,  aber  nicht 
zum  ziele  gelangt  und  von  Gauvain  befreit  werden  muss.  Wie 
von  manchem  Karlsritter  hat  es  auch  von  Gauvain  Enfances 


.'!.   Der  höfische  Roman:   Bretonische  Romane.  449 

gegeben,  von  denen  neuerdings  einige  fragmente  bekannt  ge- 
worden sind  (Gauvain  entstammt  einer  heimlichen  Verbindung 
Loths  mit  könig  Artus'  Schwester  Morcades.  wird  ausgesetzt, 
zuerst  von  einem  tischer,  dann  vom  papst  erzogen  und  von 
diesem  zum  ritter  geschlagen).  Im  Beaudous  von  Robert 
von  Blois  erscheint  Gauvains  söhn  als  held  der  erzählung. 

In  anderen  romanen  bretonischen  Stiles  tauchen  neue  beiden 
auf.  welche  die  alten  abenteuer  oder  Variationen  derselben 
immer  wieder  von  neuem  bestehen:  so  Fergiis,  von  Guil- 
laume  le  Clerc  (nicht  identisch  mit  dem  Verfasser  geistlicher 
dichtungeu),  der  „seinen  Crestien  auswendig  kennt",  aber  „allen 
Artusstoffeu  und  allem  Rittertum  zum  Trotz  einen  Bauernjungen 
die  Blüte  der  Ritterschaft  besiegen  lässt"  (Foerster);  so  Galeran 
de  Bretagne,  von  Renaud,  welcher  hier  das  sujet  des  lais 
von  Fraisne  (oben  s.  395)  mit  dem  von  Ille  et  Galeron  (s.  373  f.) 
verbindet;  so  Durmart  le  Gallois,  der  sich  unter  schweren 
kämpfen  und  abenteuern  die  liebe  der  königin  von  Irland 
erringt;  so  Claris  et  Laris  („le  plus  rezent  des  romans  en 
vers  de  la  Table  ronde;  il  en  est  aussi  le  plus  long"  — 
G.  Paris);  so  der  Chevalier  as  deus  espees  (Meriadeitc), 
Bichart  le  biau,  Yder,  Blancandin,  Gliglois,  Gauvain 
et  Humbaut,  der  Escanor  Girards  von  Amiens  u.  a.  m. 

Zu  Raoul  von  Houdene  und  Robert  von  Blois  vgl.  die  lit.  oben 
6.  420,  zum  Meraugis  noch  C.  Habemann,  Die  lit.  Stellung  des  M.  v.  P. 
in  der  afr.  Artusepik,  Diss.  Göttingen  1908,  zur  Vengeance  Eaguidel 
R.  Rohde,  La  V.  d.  R.,  Dis9.  Göttingen  1904.  —  Über  die  Gauvain- 
romane:  G.  Paris,  Hist.  litt.  30,  19  ft'.  Le  Chevalier  k  l'Epee,  edited 
by  E.  C.  Armstrong,  Diss.  Baltimore  1900.  Li  atres  perillos, 
Archiv  42,  135ff.;  vgl.  W.  v.  Zingerle,  ZfSL  36  (1910)  274  ff.  Les 
Merveilles  de  Rigomer,  hgg.  von  W.  Foerster  (GrL  19},  1908;  zur 
Turiner  hs.  vgl.  Stengel,  Die  Schlussepisode  des  R.,  Greifswald  1905, 
und  Foerster,  ZfLS  32  (1908)  IL  81  ff,  219 ff.  Enfances  Gauvain 
p.  p.  Paul  Meyer,   Rom.  39  (1910)  1  ff.     Ausgaben   des  Fergus  von 

E.  Martin,  Ha.  1872  (vgl.  Wilh.  Marquardt,  Der  Einfluss  Kristians 
v.  Tr.  auf  d.  Roman  F.,  Di6s.  Bonn  1906);  des  Galeran  von  Boucherie, 
Montpellier  1888    (vgl.  Foerster,  Ille  et  Galeron  s.  XXXIII  ff,   und 

F.  M.  Warren,  Mod.  Lang.  Notes  23.  1908,  s.  69  ff,  97  ff);  des  Dur- 
mart von  Stengel  (Lit.  Ver.  116),  Tübingen  1873,  (vgl.  Kirchrath, 
Der  Roman  de  D.  in  seinem  Verhältnis  zu  Meraugis,  Diss.  Marburg 
1884);  Claris  et  Laris  von  Alton  (Lit.  Ver.  169),  Tübingen  1884; 
Chev.  as  deus  epees  Ha.  1877  (vgl.  Rob.  Thedens,  Li  Ch.  a.  d.  e. 
in  s.  Verhältnis   zu   s.  Quellen,   Diss.  Göttingen  1909)    und  Richars 

Voretzsch,   Studium  d.  afrz.  Literatur.    2.  Auflage.  29 


450       XII.  Kapitel.    Die  Epigonenliteratur  des  13.  Jahrhunderts. 

li  biaus  Ha.  1874  von  Foerster;  Rlancandin  von  Miclielant,  P.  1867; 
Escanor  von  Michelant,  Tübingen  1886  (Lit.  Ver.  178).  Zn  Yder 
vgl.  H.  Geizer,  Einleitung  zu  einer  krit.  Ausg.  des  afr.  Yderromans, 
Diss.  Str.  1908. 


B.    Abenteuerromane  verschiedenen  Charakters. 

Der  abenteuerroman ,  welcher  schon  unter  den  romanen 
bretonischen  Charakters  einen  breiten  räum  eiunimmt,  gehört 
auch  sonst  zu  den  beliebtesten  gattungen  der  erzählenden 
dichtung.  Elemente  aus  bretonischen  romanen  sind  auch  in 
solchen  abenteuerromanen  nichts  seltenes,  welche  sich  im 
wesentlichen  auf  dem  boden  der  Wirklichkeit  abspielen,  wie 
z.  b.  der  Sone  von  Nansay,  dessen  Verfasser  seinen  beiden 
eine  reihe  abenteuer  in  Frankreich,  Italien,  Deutschland  und 
anderwärts  erleben  lässt  und  Norwegen  sogar  aus  eigener 
anschauung  zu  kennen  scheint.  Originelle  Färbung  gewinnt 
die  gattung  da,  wo  an  historische  persönlichkeiten  und  sagen- 
hafte Überlieferungen  angeknüpft  wird  wie  in  Wistasse  le 
Moine,  dessen  held  seinem  gegner,  dem  grafen  von  Boulogne, 
tollere  streiche  spielt  als  die  zauberer  Basin  und  Maugis  (vgl. 
oben  s.  209),  oder  da,  wo  märchenhafte  demente  einfliessen 
wie  in  Adenets  Cleomades,  wo  das  durch  die  luft  fliegende 
hölzerne  zauberpferd  sozusagen  das  vehikel  der  handlung 
bildet  (die  aus  1001  Nacht  bekannte,  durch  eine  spanische 
bearbeitung  vermittelte  erzählung);  Girard  von  Amiens 
behandelt  dasselbe  motiv,  wie  man  annimmt  ohne  Adenets 
gedieht  zu  kennen,  in  seinem  Meliacin  oder  Cheväl  de  fast. 
Ein  hervorragendes  stück  der  gattung  ist  der  Joufrois,  worin 
die  taten  und  erlebnisse  eines  in  Mars  und  Venus  gleich 
mannhaften  ritters  der  zeit  in  geschickter  anordnung  und 
unterhaltender  darstellung  erzählt  werden.  Die  im  vorigen 
Zeitraum  so  beliebte  Verknüpfung  des  abenteuerromans  mit 
antiken  namen  zeigt  der  im  zweiten  viertel  des  Jahrhunderts 
entstandene  Octavian,  dessen  held  hier  auch  noch  mit  dem 
Merowingerkönig  Dagobert  in  beziehung  gesetzt  wird.  Von 
den  übrigen  romanen  wäre  noch  der  anglonormanuische,  bio- 
graphisch-legendarische Guy  de  Warwich  hervorzuheben,  der 
jedoch,  nach  Suchier,  „nach  Inhalt  und  Einkleidung,  der 
Sprache  ungeachtet,  mehr  zur  englischen  Literatur  gehört." 


3.  Der  höfische  Roman:   Härchen  und  Licbesroinane.  451 

Sone  von  Nausay  hrsg.  von  M.  Goldschmidt,  Tübingen  (Lit. 
Ver.  216),  dazu  G.  Paris  Rom.  31  (1902)  1 13  ff.  (für  Nansay  =  Nambs- 
heim);  vgl.  Fr.  Nyrop,  Rom.  35  (1906)  555ff.  Wistasse  le  Moine 
hrsg.  von  W.  Foerster  und  Job.  Trost,  Ha.  1891  (Rom.  Bibl.  4);  vgl. 
L.  Jordan,  Herrigs  Archiv  113  (1904)  62 ff.  Cleoinades  p.  p.  van 
Hasselt,  Bruxclles  1888,  2  bde.  Zu  Meliacin  vgl.  Stengel  ZrP  10 
(1886)  460 ff;  E.  Krüger,  Das  Verh.  der  Hss.  von  Girartfl  d'A.  Oheval 
de  fust,  Diss.  Greifswald  1910.  Joufrois  hrsg.  von  K.  Hofmann  und 
Fr.  Muncker,  Ha.  1880.  Octavian  hrsg.  von  K.  Vollmöller,  Heil- 
bronn 1883  (Afr.  Bibl.  3).  Zu  G.  d.  Warwick  vgl.  Deutschbein, 
Studien  z.  S.-G.  Englands  I,  s.  246 ff;  J.-A.  Herbert,  An  early  ms. 
of  G.  d.W.,  Rom.  35  (1906)  68 ff.  —  In  gewissem  sinne  gehört 
hierher  auch  das  die  formalitäten  des  ritterschlags  eingehend 
beschreibende  gedieht  L'ordene  de  cltevalcrie  oder  Hue  de  Tabarie 
(Tiberias),  dessen  held,  von  Saladin  gefangen  genommen,  diesem 
den  ritterschlag  erteilt  (s.  Barbazau-Meon,  Rec.  1,  59  ff). 


C.    Märchen-  und.  Liebesromane. 

Seine  schönsten  biUten  zeitigt  der  roman  des  13.  Jahr- 
hunderts auf  dem  gebiete  des  liebesromans,  zu  welchem  teils 
volkstümliche  märchenquellen  (z.  t.  durch  ältere  dichtungen 
vermittelt),  teils  reale  Vorkommnisse  der  zeit  die  Stoffe  liefern. 

Der  Percevalfortsetzer  Gerbert  de  Montreuil  hat 
mit  seinem  Roman  de  la  Violette  inhalt  und  form  des 
Guülaume  de  Dole  nachgeahmt  (das  muttermal  der  heldin  hat 
hier  das  aussehen  eines  Veilchens).  Zwei  verschiedenartige 
romane  hat  in  den  siebziger  jähren  des  Jahrhunderts  der  Ver- 
fasser der  Coutumes  du  Beauvaisis  (oben  s.  419),  Philippe 
de  Remy,  Sire  de  Beaumanoir,  gedichtet.  La  Mane- 
Je  ine  behandelt  das  ans  den  märchen  bekannte  (übrigens  auch 
im  Apolloniusroman  begegnende)  thema  von  dem  könig  (hier 
der  könig  von  Ungarn),  der  seine  eigene  tochter  heiraten  will, 
weil  nur  sie  seiner  verstorbenen  gattin  gleicht.  Dem  vater 
entflohen  und  die  gattin  eines  fremden  königs  (hier  von  Schott- 
land) geworden,  wird  sie  von  dessen  mutter  verdächtigt  und 
verfolgt,  bis  sie  nach  manchen  leiden  den  gatten  wiederfindet. 
Jehan  et  Blonde  gilt  als  das  beste  von  Beaumanoirs 
werken.  Snchier  vergleicht  diesen  roman  von  Jehans  liebe 
zu  Blonde  und  ihrer  nicht  ohne  kämpf,  aber  schliesslich 
glücklich  gelungenen  flucht  mit  der  dichtung  von  Waltharius 

29* 


452        XII.  Kapitel.    Die  Epigonenliteratur  des  13.  Jahrhunderts. 

uud  fügt  hinzu:  „II  est,  comme  celle-ci,  pleiu  d'une  charmante 
fraicheur,  et  il  a  comme  eile  ce  melange  de  gräce  et  de 
vigueur  qui  est  le  propre  de  la  jeunesse."  Gegen  ende  des 
Jahrhunderts  behandelt  ein  dichter,  als  dessen  namen  6.  Paris 
Jakemon  Sakesep  erschlossen  hat,  das  zuerst  in  Ver- 
bindung mit  Gurun  vorkommende  herzmatre  (oben  s.  397)  in 
einem  ausführlichen  roman,  als  dessen  unglücklicher  held  hier 
der  kastellau  Renaut  von  Coucy  erscheint,  daher  der  titel  des 
romans:  Li  chastelains  de  Coucy  (vgl.  oben  s.  360).  Zwei 
der  bestgelungenen  erzählnngen  dieser  gattung  nähern  sich  durch 
ihren  geringen,  nicht  tausend  verse  zählenden  umfang  schon 
mehr  der  gattung  der  versnovelle:  das  ist  die  Chastelaine 
de  Vergi,  die  rührende  geschichte  einer  heimlichen  liebe 
und  ihres  traurigen  endes,  und  die  mehr  auf  einen  heiteren 
ton  gestimmte,  dem  fablel  verwante  Chastelaine  de  Saint- 
Gille,  wo  uns  die  glückliche  entführung  einer  soeben  wider 
ihren  willen  einem  reichen  bauern  angetrauten  schlossherrn- 
tochter  durch  ihren  ami  geschildert  wird.  Die  erzählung  selbst 
ist  in  dem  letzten  gedieht  nebensache,  fast  alles  geht  in  der 
form  des  dialogs  vor  sich,  das  ganze  ist  in  Strophen  gedichtet, 
die  mit  verschiedenen,  teils  aus  volkstümlichen,  teils  aus 
höfischen  liedern  entlehnten  refrains  schliessen  und  unter- 
einander durch  Wiederholung  der  jeweiligen  Schlussworte  am 
anfang  der  nächsten  Strophe  verbunden  sind. 

Roman  de  la  Violette  p.  p.  Fr.  Michel,  P.  1834.  Zum  thema 
s.  oben  s.  386.  Vgl.  noch  Fr.  Kraus,  Über  G.  d.  M.  u.  seine  Werke, 
Diss.  Würzburg  1897;  M.  Wilmotte,  G.  d.  M.  et  les  ecrits  qui  lui  sont 
attribues,  Bruxelles  1900  (Extraits).  —  Philippe  de  Beaumanoir 
s.  oben  s.  419.  Zur  Manekine  vgl.  Suchier,  Rom.  30  (1901)  519  ff. 
Die  grundzüge  der  erzählung  von  Jchcm  et  Btonde  stimmen  zum 
Hörn  (oben  s.  436) ,  auch  der  Willehalm  von  Orlens  Rudolfs  von 
Ems  gehört  in  diese  gruppe:  vgl.  V.  Lüdicke,  Vorgeschichte  und 
nachleben  des  W.  v.  0.  von  R.  v.  Ems,  Ha.  1910  (Hermaea  VIII). 
Hingegen  hat  der  franz.  prosaroman  des  15.  jhs.  Jehan  de  Paris 
(um  1495,  neudruck  von  Mabille  185n,  von  Montaiglon  1874),  auf 
den  Boieldieus  oper  zurückgeht,  nur  einzelne  züge  aus  Beaumanoir 
entnommen:  vgl.  W.  Söderjhelm,  Neuphil.  Mitt.  1900,  41  ff.  —  Li 
roumans  dou  Chastelain  de  Coucy,  p.  p.  Crapelet,  P.  1829.  Dieselbe 
erzählung  begegnet  ohne  namennennung  mhd.  bei  Konrad  von  Würz- 
burg, provenzalisch  in  der  razon  von  Guilhelm  de  Cabestanh,  wozu 
Boccaccios  novelle  in  Decamerone  IV,  9  nebst  ihren  nachahmungen 


4.  Novellen-  und  Schwankdiohtung  in  Reimpaaren.  45<j 

gehört.  Vgl.  G.  Paris,  Rom.  8,  343 ff.,  Hist.  lit.  28,  352  ff;  II.  Putzig, 
Znr  Gesch.  d.  Herzmäre,  Prog.  Berlin  1891;  H.  Hanvette,  Kom.  42 
(1911)  184  ff  —  La  chasteleine  de  Vergi  p.  p.  G.  Kavnaud,  Rom.  21 
(1892)  145  ff,  edite  p.  G.  Raynaud  (Class.fr.)  P.  1910.  Vgl.  Emil 
Lorenz,  Die  afr.  Versnovelle  v.  d.  Kastellanin  v.  V.  in  späteren  Be- 
arbeitungen, Diss.  Ha.  1909;  A.  L.  Stiefel,  ZfSL  36  (1910)  103  ff  — 
La  chastelaine  de  St.  Gillc  siehe  0.  Schultz- Gora,  Zwei  altfr.  Dich- 
tuntren (oben  s.  426)  s.  lff,  37  ff.  —  Im  wesentlichen  liebesroman 
ist  auch  der  von  Hippeau  (P.  1863)  veröffentlichte  roman  von  Amadas 
et  Idoine,  wo  der  held,  ähnlich  wie  Ivain,  ans  liebeskummer  in 
Wahnsinn  verfällt  und  der  durch  zauber  bewirkte  Scheintod  der 
heldin  (vgl.  Cligrs)  dem  liebenden  schliesslich  gelegenheit  gibt,  sich 
jene  zu  erringen.  Nach  G.  Paris  war  das  Original  anglonormannisch 
und  noch  im  12.  Jh.,  unabhängig  von  Crestien  entstanden.  Vgl. 
II.  Andresen,  ZrP   i3  (1889)  85 f.     G.  Paris,  Melanges  s.  328ff 


4.  Novellen-  und  Schwankdichtung  in  Reimpaaren. 

Die  erzählenden  dichtungen  kleineren  umfangs,  teils  ernsten 
teils  heiteren  Charakters,  welche  sich  im  12.  Jahrhundert  neben 
dem  höfischen  roman  entwickelt  haben,  werden  im  13. Jahr- 
hundert in  verschiedener  ausdehnung  und  nicht  alle  ihrem 
ursprünglichen  wesen  gemäss  weitergepflegt.  Die  Ursache  dafür 
liegt  darin,  dass  die  einzelnen  gattungen  sich  von  ihrer  grund- 
lage,  der  tradition,  entfernen  und  der  rein  literarischen  Weiter- 
bildung zu  viel  Spielraum  gewähren.  Am  raschesten  hat  sich 
die  laidichtung  erschöpft,  welche  nur  noch  wenige  dichtungen 
im  alten  stil  aufzuweisen  hat  und  bald  einen  ganz  anderen 
inhalt  bekommt.  Die  tierdichtung  bringt  im  anfang  des 
13.  Jahrhunderts  wol  noch  manche  branche  ursprünglichen 
charakters  hervor,  verzichtet  dann  aber  auch  auf  die  ewig 
frische  quelle  der  mündlichen  Überlieferung  und  wird  in  die 
gattnug  des  satirisch -allegorischen  romans  übergeführt.  Am 
reichsten  und  zugleich  seinem  ursprünglichen  Charakter  am 
getreuesten  hat  sich  das  fablel  entfaltet,  die  hauptmasse  der 
zu  dieser  gattung  zählenden  gedichte  gehört  in  das  13.  Jahr- 
hundert. Die  rahmenerzählung  endlich  findet  nachahmungen 
im  stile  der  'Weisen  Meister'  und  auch  eine  neuschöpfung  im 
Schelmenroman. 


454        XII.  Kapitel.    Die  Epigoueuliteratur  des  13.  Jahrhunderts. 

Laidiehtung.  Die  noch  den  hergebrachten  Charakter 
eines  lai  breton  tragenden  lais  von  Melion  und  Doon  sind 
bereits  oben  (s.  397  f.)  als  nachahniungen  der  Marie  de  France 
charakterisiert  worden.  Hierzu  gesellen  sich  stoffe  fremder 
herkunft  oder  freier  erfindung.  Das  Lai  de  l'Ombre,  von 
Jehan  Renart,  erzählt  ohne  beigäbe  bretonischer  demente, 
wie  ein  ritter,  von  der  geliebten  dame  zurückgewiesen,  seinen 
ring  ihrem  Spiegelbild  im  wasser  zuwirft;  der  Vair  Pale  fr  oi 
von  Huon  le  Roi  schildert  anmutig,  wie  ein  bunter  zeiter 
zum  Stifter  eines  ehebundes  zwischen  zwei  treu  liebenden 
wird.  So  wird  der  name  lai  vielfach  eine  willkürlich  von 
den  dichtem  zur  empfehlung  ihrer  dichtung  gewählte  be- 
zeichnung.  Lai  de  Vespervier  und  Lai  d'oiselet  behandeln 
Schwankstoffe  orientalischer  herkunft,  das  Lai  d'Aristotc  von 
Henri  d'Andeli  wäre  seinem  inhalt  nach  eher  als  fablel  zu 
bezeichnen  (Aristoteles  macht  Alexander  dem  Grossen  vorwürfe 
wegen  seiner  geliebten  Phyllis,  lässt  sich  aber  selbst  von  ihr 
dazu  verführen,  ihr  als  reitpferd  zu  dienen).  Einige  lais  werden, 
trotz  erzählender  einkleidung,  direkt  lehrhaft  wie  Lai  del 
trot,  Lai  d'amour,  Lai  du  courtois,  Lai  du  conseil, 
oder  satirisch  wie  das  Lai  du  lecheor. 

Ovidiana.  Auch  weitere  bearbeitungen  aus  Ovids  Meta- 
morphosen (vgl.  oben  s.  398)  begegnen  in  diesem  Zeitraum. 
Mit  selbständiger  einleitung  und  moralisch-belehrender  tendenz 
behandelt  Robert  von  Blois  die  aventure  von  Narcissus 
in  seinem  roman  Floris  et  Liriope  (so  nach  den  uamen 
der  eitern),  wo  wenigstens  äusserlich  die  beziehung  zur  Artus- 
sage hergestellt  wird.  Die  geschichte  von  Pyramus  et 
Thisbe  (nach  Met.  IV,  55  ff.)  behandelt  in  engem  anschluss 
an  Ovid  Jehan  Malka räume  (vgl.  oben  s.  426  f.). 

Tierepos  (Roman  de  Renart).  Zunächst  wird  der 
alte  grundstock  der  in  den  handschriften  des  Roman  de 
Renart  vereinigten  brauchen  erweitert  durch  die  behandlung 
volkstümlicher  Überlieferungen  (dickgefressener  wolf,  gefärbter 
fuchs,  sack  mit  listen,  gemeinsame  feldbestelluug  der  tiere 
u.  a.  m.),  vereinzelt  auch  durch  antike  fabeln  (beuteteilung  des 
löwen,  fuchs  und  saure  trauben);  auch  sonst  wird  schriftliche 
(lateinische)  Überlieferung  nicht  verschmäht  (der  fuchs  stiehlt 
dem  wolf  Schinken  —  nach  Yscngrimus;  priester  und  wolf  in 


4.  Novellen-  und  Schwankdichtung  in  Keimpaaren.  455 

der  Wolfsgrube  —  nach  einem  lat.  gedieht  des  11.  Jahrhunderts; 
anderes  nach  den  fabeln  aus  Romulus).  Die  älteren  brauchen 
werden  vielfach  nachgeahmt,  besonders  die  I.  brauche  mit  dem 
hoftag  des  löwen  und  der  Vorladung  des  fuchses.  Der  dichter 
der  XIV.  brauche  hat,  dem  beispiel  der  chausons  de  geste 
folgend,  einen  neuen  beiden  Primaut,  bruder  Isengrins,  erfunden 
und  um  diesen  eine  anzahl  von  geschichten  volkstümlichen 
gepräges  gruppiert.  Ein  reiner  fablelstoff  liegt  der  erzählung 
der  XXI.  brauche  zu  gründe.  Am  derbsten  werden  die  dichter 
da,  wo  sie  sich  am  weitesten  von  der  tradition  entfernen  und 
der  freien  ertindung  die  zügel  schiessen  lassen  wie  in  der 
branche  XXII  (Zusammensetzung  eines  con  aus  stücken  ver- 
schiedener tiere)  und  XVII  {Procession  de  Benart,  die  be- 
erdigung  des  fuchses,  welche  Philipp  der  Schöne  um  1300  in 
Paris  öffentlich  zur  darstellung  bringen  Hess  und  die  ehedem 
auch  als  Skulptur  am  Strassburger  münster  vorhanden  war). 
Nach  ihrem  poetischen  wert,  nach  auffassung  des  tiercharakters, 
nach  Originalität  und  herkunft  sind  auch  diese  jüngeren  brauchen 
unter  sich  sehr  verschieden. 

Fortgesetzt  wird  die  tierdicht ang  weiterhin  durch  gedichte, 
welche  ausserhalb  des  Roman  de  Benart  stehen  und  mehr  und 
mehr  die  satire  auf  menschliche  zustände  betonen.  Hier  ist 
auch  Rustebuef  mit  seinem  kurzen,  metrisch  eigentümlichen 
(ähnlich  vrieBicheut,  oben  s.412,  gebauten)  Benart  bestourne 
zu  nennen.  Le  Couronnement  Benart,  in  der  zweiten  hälfte 
des  Jahrhunderts  in  Flandern  gedichtet,  erzählt  in  3000  versen, 
wie  der  fuchs  Renart  Ordensbruder  bei  den  Jakobinern  sowie 
bei  den  minoriten  wird  und  endlich  durch  seine  ranke  an  stelle 
Nobles  auf  den  thron  kommt.  Das  gedieht  ist  eine  heftige 
satire  gegen  die  orden  der  bettelmönche,  die  tiergeschichte 
die  äussere  einkleidung  dazu.  Noch  weiter  geht  die  mit  der 
satire  verbundene  anthropomorphisierung  der  tiere  in  dem 
gegen  ende  des  Jahrhunderts  (um  1288)  verfassten  Benart  le 
nouvel  von  Jacquemart  Gielee  aus  Lille.  Vor  allem  wirkt 
hier  bereits  der  Rosenroman  in  den  zahlreich  auftretenden 
allegorien  nach:  Convoitise,  Avance,  Envie  u.  a.  treten  auf, 
Renarts  söhn  heisst  Orgueil  usw. 

Fable ls.  Von  den  157  fablels,  welche  die  Sammlung 
von  Raynaud  und  Montaiglou  enthält,  sind  weitaus  die  meisten 


456        XII.  Kapitel.     Die  Epigonenliteratur  des  13.  Jahrhunderts. 

im  13.  Jahrhundert  entstanden.  Wir  finden  unter  den  Ver- 
fassern solcher  fablels  verschiedene  bekannte  dichter  der  zeit. 
So  hat  Philipe  de  Beaumanoir  das  von  ihm  selbst  als  conte 
bezeichnete  fablel  La  fole  largece  gedichtet,  in  welchem  ein 
fleissiger  salzhändler  seine  frau,  die  das  salz  hinter  seinem 
rücken  umsonst  hergibt,  durch  eine  passende  lection  von  ihrer 
torbeit  heilt.  Rustebuef  hat  uns  ein  halbes  dutzend  fablels 
hinterlassen,  darunter  das  in  populären  Überlieferungen  viel 
begegnende  Testament  de  Vasne  (ein  bischof  gestattet  die  bei- 
setzung  eines  toten  esels  in  geweihter  erde,  als  er  von  dem 
besitzer  desselben,  einem  pfaffen,  20  livres  geld  erhält,  die 
ihm  der  esel  vermacht  habe)  und  den  Frere  Denise  (ein 
junges  mädchen  wird  von  einem  franziskanermönch  überredet, 
als  mann  in  den  orden  einzutreten  und  so  seinen  begierden  zu 
dienen,  aber  schliesslich  den  bänden  des  unheiligen  Gottes- 
dieners entrissen);  das  fablel  Du  sacristain  et  de  la  fame  du, 
Chevalier  ist  eher  ein  mirakel  zu  nennen,  da  hier  die  heilige 
Jungfrau  zur  rettung  der  beiden  im  titel  genannten  Sünder  ein 
wunder  tut;  einige  andere  fablels  von  Rustebuef  sind  zwar 
sehr  witzig,  aber  auch  sehr  derb  (Le  pet  du  vilain  u.  a.). 
Guillaume  le  Normand,  Verfasser  von  Le  prestre  et  Alison, 
ist  nicht  mit  Guillaume  le  Clerc  de  Normaudie  identisch, 
ebensowenig  wie  Jehan  Bedel,  der  zahlreiche,  z.  t.  sehr 
gesalzene  fablels  gedichtet  hat,  mit  Jehan  Bodel  aus  Arras. 
Erstaunliche  phantasie  in  der  erfindung  immer  neuer  Ver- 
wicklungen bestätigt  der  anonyme  Verfasser  des  fablels  Dou 
prestre  comporte,  das  die  Schicksale  des  leichnams  eines 
bei  seiner  buhlin  umgekommenen  priesters  während  einer 
einzigen  nacht  erzählt.  Die  ein  verwantes  thema  behandelnde 
geschichte  der  leichname  von  drei  buckligen  erzählt  Durand 
in  seinem  Trois  Bossus  Menestrels.  Manche  fablels  beruhen 
auf  einem  Wortspiel,  wie  das  fablel  Du  hu  ff  et,  wo  huffet 
zugleich  sitz  und  ohrfeige  bedeutet  und  ein  bauer  einem  ver- 
hassten  seneschall  einen  ihm  gereichten  huffet  (d.  h.  eine  ohr- 
feige statt  eines  sitzes)  auf  dieselbe  weise  zurückgibt.  Zu 
den  letzten  Vertretern  des  fablels  gehören  Baudouin  de 
Conde*  und  Jehan  de  Conde\  vater  und  söhn,  der  eine 
ende  des  13.  Jahrhunderts  am  flandrischen,  der  andere  im 
14.  Jahrhundert  am  hennegauischen  hof  lebend  und  dichtend. 


4.  Novellen-  und  Srhwankdichtung  iu  Reimpaaren.  457 

Neben  Jehan  ist  als  zeitgenössischer  fableldiehter  noch  Watri- 
qnet  de  Convin  zu  nennen. 

Im  allgemeinen  ist  der  Charakter  der  fablels  der  schon 
oben  (s.  409;  gekennzeichnete:  teils  auf  eine  blosse  Unter- 
haltung und  erweckuug  von  heiterkeit  berechnete,  teils  eine 
von  direkt  satirischen  absiebten  erfüllte  dichtung,  in  beiden 
fällen  gar  oft  unter  preisgäbe  des  anstände.  Die  Stoffe  sind 
meist  traditionell,  von  den  dichtem  aus  den  conics  des  Volkes 
aufgelesen  und  im  einzelnen  aasgeschmückt  Der  poetische  wert 
ist  im  allgemeinen  gering,  aber  die  altfranzösischen  dichtungen 
haben  eine  grosse  literarhistorische  bedeutung,  sei  es  als  quellen 
der  späteren  prosanovellen  und  schwanke,  sei  es  als  älteste 
Vertreter  der  abendländischen  bearbeitungen  eines  weitver- 
breiteten Stoffes. 

Rahmenerzählungen.  Der  Roman  des  Sept  sayes  de 
11  o  nie  lebt  im  13.  Jahrhundert  in  verschiedenen  prosa- 
bearbeitungeu  fort  (s.  oben  s.  417),  welche  ihrerseits  fort- 
setzungen  nach  dem  muster  der  Originaldichtung  erhalten,  wie 
Marques  de  Borne  (name  des  sohns  des  weisen  Cathon)  u.a. 
Eine  originelle  Schöpfung  hingegen  ist  der  von  Douin  de 
Lavesne  verfasste  Trubert,  der  sich  als  erster  Schelmen- 
roman bezeichnen  lässt,  insofern  hier  verschiedene  streiche  und 
betrügereien  des  titelhelden  zu  einer  fortlaufenden  geschichte 
verbunden  werden:  Trubert  streicht  eine  ziege  bunt  an  und 
verkauft  sie  teuer,  verkleidet  sich  als  Zimmermann,  arzt,  zuletzt 
als  braut,  um  die  schlimmsten  streiche  zu  begehen,  und  kommt 
überall  glücklich  davon. 

Zu  den  Lais  vgl.  die  oben  s.  398f.  gegebene  lit.,  dazu  die 
ausgaben  von  Espcrvicr  und  Lai  d'amour  durch  G.  Paris,  Rom.  7 
(1888)  lff.,  406ff.,  von  Oiselet  in  Legendes  s.  225 ff".,  sowie  die 
neuausgaben  von  Melion  durch  llorak,  ZrP  6  (1882)  94 ff'.,  Ombre 
durch  Bödier,  Freiburg  i.  d.  Schweiz  1890  (im  Index  lectionum), 
Vair  palefroi  durch  A.  Längfors,  P.  1912  (Class.  fr.),  Conseil  durch 
A.  Barth,  Erlangen  1911  (Diss.  Zürich).  Lai  d'Aristote  Barbazan- 
Meon  3,  96 ff.,  Rayn.  et  Mont.  5,  243 ff.,  (Euvres  de  Henri  d'Andeli 
p.  p.  Heroh,  P.  1881,  s.  1  ff.  Vgl.  W.  Hertz,  Arist.  i.  d.  Alexander- 
dichtungen des  MA.,  München  1890  (neudruck  in  Ges.  Abb.,  oben 
s.  48).     A.  Borgeld,  Arist.  en  Phyllis,  Groningen   1902. 

Ovidiana:  vgl.  die  lit.  oben  s.  399,  dazu  A.  Duval,  Hist.  litt. 
19,  761  ff.      Floris    et   Liriope   hrsg.    von   W.  v.  Zingerle,    L.  1891 


458        XII.  Kapitel.     Die  Epigoneuliteratur  des  13.  Jahrhunderts. 

lAfr.  Bibl.  12),  von  J.  Ulrich  im  II.  bd.  d.  werke  Roberts,  B.  1891. 
Une  traduction  de  Pyr.  et  Th.  en  vers  fr.  du  XIII':  siecle  (Mal- 
karaume)  p.  p.  Jean  Bonnard,  Lausanne   1892. 

Tierepos:  vgl.  ausser  der  oben  8.407  f.  zit.  lit.  noch  Fauriel, 
Hist.  litt.  22,  889  ff.  Benart  le  bcstourne  in  Rustebuefs  werken, 
Couronnement  de  Renart  in  Meon,  R.  d.  R.  4,  1  ff,  Renart  le  nouvel 
ebenda  4,  125 ff.  Genaueres  bei  Sudre  in  Petit  de  Jve.  II,  38 ff. 
Über  den  Renart  le  contrefait  des  14.  jhs.  siehe  G.  Raynaud,  Rom.  37 
(1908)  245  ff. 

Fablei s:  vgl.  die  lit.  oben  s.  413.  Die  hier  genannten  fablels 
siehe  in  dem  Recueil  von  Montaiglon  et  Raynaud  (ältere  drucke 
bei  Barbazan-Meon),  einige  ausserdem  in  den  ausgaben  d.  einzelnen 
dichter:  Beaumanoir  u.  Rustebuef  s.  oben  e.  419 f.  Die  Gedichte 
Jehans  de  Conde,  hrsg.  von  Tobler,  Bibl.  Lit.  Ver.  54,  1860.  Dits 
et  contes  de  Baudouin  de  Conde  et  de  son  fils  Jean  de  Conde  p.  p. 
Aug.  Scheler,  2  bde.,  Brnxelles  1866.  Le  fabliau  du  bnffet  p.  p. 
Alb.  Barth,  Festschr.  z.  49.  Phil. -Vers.,  Basel  1907,  s.  147 ff.  Vgl. 
A.  Pillet,  Das  Fableau  von  den  Trois  Bossus  Menestrels,  Ha.  1901. 

Rahmenerzählungen:  vgl.  oben  s.  414f.  Le  roman  de 
Marques  de  Rome,  hrsg.  von  J.  Alton,  Bibl.  Lit.  Ver.  187,  1878.  — 
Trubert,  Afr.  Schelmenroman  des  Douin  de  Lavesne,  bgg.  von 
J.  Ulrich,  Dresden  1904  (GrL  4).  Vgl.  L.Jordan,  Archiv  113 
(1904)  86  ff. 


5.    Lyrik. 

Wie  die  meisten  übrigen  gattungen  bewegt  sich  auch  die 
lyrik  in  den  geleisen  des  12.  Jahrhunderts.  Einige  ältere  gattungen 
sterben  allmählich  ab,  während  bisher  nur  vereinzelt  gepflegte 
jüngere  sich  reicher  entwickeln.  Einen  vorübergehenden  ver- 
such zur  Wiederbelebung  der  chanson  d'histoire  macht  im 
anfang  des  Jahrhunderts  Audefroi  der  Bastard  aus  Anas  (vgl. 
oben  s.  161).  Von  anderen  gattungen  volkstümlichen  Ursprungs 
finden  pastourelle  und  chancon  de  la  mal  mariee  im 
13.  Jahrhundert  noch  eifrige  pflege.  Unter  den  tanzliedern 
tritt  jetzt  besonders  das  Roondet  oder  Roondel  (Iiondeau) 
hervor,  das  in  der  regel  den  zweiteiligen  refrain  sowol  am 
anfang  wie  am  schluss  der  Strophe  zeigt  und  die  erste  refrain- 
zeile  auch  im  inneren  der  strophe  wiederholt.  Die  oben 
(s.  355  f.)  genannten  musikalischen  gattungen,  die  motets, 


5.  Lyrik:  Allgemeines.    Einzelne  Dichter.  459 

lais  und  descorts,  gehören  in  der  hauptsache  in  das  13.  Jahr- 
hundert, namentlich  die  —  für  mehrstimmigen  gesang  be- 
rechneten —  motets  sind  in  grosser  zahl  (etwa  500)  vorhanden. 
Von  den  höfischen  gattungen  stehen  nach  wie  vor  chanson 
und  jeu-parti  im  Vordergrund,  daneben  wird  auch  der  salut 
d'amour  in  wechselnden  formen  (s.  oben  s.  355),  u.a.  auch 
von  Philipe  de  ßeaumanoir,  geübt. 

Der  adel  beteiligt  sich  auch  weiterhin  in  hervorragendem 
masse  an  der  lyrischen  dichtung,  aber  nicht  mehr  ausschliesslich 
wie  beim  aufkommen  der  höfischen  dichtung.  Mit  Colin  Muset 
erscheint  anfangs  des  13.  Jahrhunderts  ein  fahrender  spielmauu 
unter  deu  höfischen  dichtem,  und  weiterhin  bemächtigt  sich  in 
den  Städten  das  gebildete  bürgertum  der  dichtung,  um  in  den 
sogenannten  puys x)  dichterische  wettgesänge  mit  preiskrönungen 
zu  veranstalten.  Ein  hauptort  dieser  bürgerlichen  dichtung 
war  Arras,  dem  von  lyrischen  dichtem  nicht  nur  Jehan  Bodel, 
Audefroi  der  bastard  und  Adam  de  le  Haie,  sondern  noch 
zahlreiche  andere,  teils  adelige,  teils  bürgerliche  dichter  — 
wie  Pierre  de  Corbie,  Pierre  Moniot,  Gillebert  de  Berneville, 
Adam  de  Juvenchi,  Guillaume  le  Vinier,  Jehan  Bretel  —  ent- 
stammen. In  diesen  puys  wird  namentlich  auch  die  reli- 
giöse lyrik  gepflegt,  die  ihre  formen  meist  dem  muster  der 
profanlyrik  entlehnt  (Jacques  de  Cambrai,  Guillaume  le  Vinier, 
Moniot  u.  a.,  viele  lieder  anonym). 

Als  bedeutendster  Vertreter  der  lyrik  jener  zeit  wird  von 
Zeitgenossen  und  nach  weit  neidlos  graf  Thiebaut  IV.  von 
Champagne  (geb.  1201,  seit  1234  könig  von  Navarra,  gest. 
1253)  anerkannt,  welcher  etwa  80  lieder  hinterlassen  hat,  zum 
grösseren  teile  chansons,  ausserdem  jeus-partis,  politische  und 
religiöse  lieder.  Er  hat  die  dame,  welcher  seine  huldigungen 
gelten,  nicht  genannt  (Aucuns  i  a  qui  me  suelent  blamer  — 
Quant  je  ne  di  a  cui  je  suis  amis,  —  Mais  ja,  Dame,  ne  saura 
mon  penser  —  Nus,  qui  soit  nes,  fors  vous  cui  je  le  dis),  doch 
vermutet  man  darunter  königin  Bianca,  die  mutter  Ludwigs 
des  Heiligen.     Er  findet   manche   originelle   einkleidung,   ver- 


')  Puys:  literarische  gesellschaften ,  vermutlich  so  genannt  nach  der 
ältesten  gesellschaft  dieser  art,  die  schon  im  12.  jh.  in  Le  Puy  Notre-Dame 
bestand. 


460        XII.  Kapitel.    Die  Epigonenliteratnr  des  13.  Jahrhunderts. 

gleicht  sich  z.  b.,  mit  einem  den  bestiarien  entlehnten  motiv 
(vgl.  oben  s.  145),  dem  einhorn  (Ainsi  com  l'nnicorne  sui  — 
Qui  s'esbahit  cn  regardant  —  Quant  la  puceMe  va  mirant)  und 
bedient  sich  schon  in  ausgedehntem  masse  der  allegorie.  Er 
verfügt  über  wahre  empfindung  und  die  form  weiss  er  sehr 
mannigfaltig  zu  variieren.  Die  Grandes  Chroniques  de  France 
berichten  von  ihm,  er  habe  seine  lieder  im  palast  zu  Provins 
und  zu  Troyes  aufschreiben  lassen. 

Neben  ihm  ist  aus  der  ersten  hälfte  des  Jahrhunderts  noch 
erwähnenswert  Colin  Muset,  von  dem  wir  nur  ein  dutzend 
lieder  (nach  Bediers  neuer  ausgäbe  fünfzehn)  kennen,  der  aber 
auch  in  diesen  wenigen  liedern  sehr  vielseitig  erscheint  (minne- 
lied,  reverdie,  tenzone,  descort  und  gedichte  persönlichen  inhalts) 
und  auch  den  herkömmlichen  gemeinplätzen  eine  originelle 
färbung  zu  geben  weiss.  Chardon,  in  den  handschriften  teils 
Chardon  de  Croisilles,  teils  Chardon  de  Rains  genannt,  hat  mit 
verschiedenen  dichtem  drei  tenzonen  (darunter  eine  auf  pro- 
venzalisch)  gewechselt  und  vier  minnelieder  hinterlassen,  die 
an  die  roinete  Marguerite,  die  gattin  könig  Thibauts  IV.,  ge- 
richtet sind  und  einen  kleinen  roman  bilden,  der  mit  einem 
letzten  grusse,  auf  oder  nach  Thibauts  kreuzzug  (1239  —  40) 
gedichtet,  schliesst.  Ein  vom  Schema  des  traditionellen  kreuz- 
liedes  erheblich  abweichendes  stück  ist  das  sichtlich  unter 
dem  frischen  eindruck  des  ereignisses  entstandene  lied  von 
der  kreuznahme  Ludwigs  IX.  1244,  die  hier  mit  allerlei 
auch  bei  den  Chronisten  der  zeit  mitgeteilten  einzelheiten  in 
dramatisch  bewegter  form  erzählt  wird. 

In  der  mitte  des  Jahrhunderts  sind  etwa  Robert  von  Blois 
und  Rustebuef  hervorzuheben,  von  denen  der  letzte  zweifellos 
der  begabtere  ist  und  vor  allem  durch  das  konkrete,  persön- 
liche moment  in  seinen  dichtungen  wirkt  —  etwa  dem  Clement 
Marot  des  16.  Jahrhunderts  vergleichbar  —  und  seine  satirische 
kraft  auch  in  kreuzzugsliedern  betätigt.  In  der  zweiten  hälfte 
des  Jahrhunderts  ragt  vor  allem  Adam  de  le  Haie  hervor, 
vielleicht  nicht  so  sehr  als  dichter  wie  als  komponist  von 
chansons,  motetten,  rondeaux,  auch  etliche  tenzonen  hat  er 
gewechselt  (mit  Jehan  Bretel  u.  a.).  Er  war  mit  Robert  von 
Artois  bei  Karl  von  Anjou  in  Italien  und  ist  dort,  in  Neapel, 
1286  oder  1287  gestorben. 


5.    Lyrik:   Eiuzelne  Dichter.  -t L>  1 

Vgl.  bzgl.  der  allgemeinen  Sammlungen  und  abhaudlungen 
oben  s.  356  f.,  dazu:  J.  Bedier,  Un  feuillet  d'un  chansonnier  fr.  du 
X11I'  'siele,  Uelanges  Wilmottes  s.  895ff.  Edw.  Jaebnstroem,  Ilecueil 
de  chansons  pieuses  du  XIIIe  siecle,  Helsingfors  1910  (Annales 
Ac.  Sc.  Fennicae  B III,  1).  A.  Gaesnon,  La  Batire  litt,  ä  Anas  au 
XIII ü  siecle,  P.  1900  (auch  Moyen  Age  1899—1900);  Publications 
nouvelles  sur  les  trouveres  artesiens,  Moyen  Age  13  (März- Apr.  1909). 
Über  die  (erst  im  14.  Jahrhundert  auftretende)  ball  ade  siehe 
Frederic  Davidson  Ü.  d.  Ursprung  u.  d.  Gesch.  d.  franz.  Ballade, 
Diss.  Leipz.,  Ha.  1900.  —  Einzelausgaben:  Bzgl.  Audefroi  s.  oben 
s.  161,  bzgl.  Beaumanoir,  Robert  von  Blois  und  Rustebuef  s.  oben 
s.  419  f.  Thibaut  von  Champagne:  editio  princeps  von  La 
Ravaliere,  1742.  Chansons  de  Thibault  IV,  p.  p.  Tarbe,  Reims 
1851.  Mnset:  J.  Bedier,  De  Nicoiao  Mnseto,  P.  1893  (These); 
Les  chansons  de  CM.  (Class.fr.),  P.  1912.  Chardon:  H.  Suchier, 
Der  Minnesänger  Ch.,  ZrP  31  (1907)  129ff.  Kreuzlied  von  1244: 
hgg.  von  W.  Meyer  u.  A.  Stimming,  Nachr.  d.  K.  Ges.  d.  Wies,  zu 
Göttingen,  Pb.il.-b.ist,  Kl.  1907,  244 ff.;  von  H.  Suchier,  ZrP  32  (1908) 
73ff.  Adam  de  le  Haie  (pik.  für  de  la  H.)\  Canchons  et  partures, 
hrsg.  v.  K.  Berger,  Ha.  1900  (Rom.  Bibl.  17).  —  Ausserdem  sind 
noch  in  spezialausgaben  behandelt:  Roger  d'Andeli  p.  p.  Heron, 
Ronen  1883.  Gillebert  de  Berneville,  v.  H.  Waitz,  Gröberband 
s.  39 ff.,  dazu  ZrP  24  (1900)  310 ff.  Andrieu  Contredit  d'Arras, 
von  R.  Schmidt,  Diss.  Halle  1903.  Richard  de  Fournival,  von 
P.  Zarifopol,  Diss.  Ha.  1904.  Jehan  de  Neuville,  von  Max  Richter, 
Diss.  Ha.  1904.  Perrin  d'Angicourt,  v.  R.  Steffens  (Rom.  Bibl.  18), 
Ha.  1905.  Jehan  de  Renti  und  Oede  de  la  Couvoirie  (letztes 
drittel  des  13.  jhs.):  J.  Spanke,  Zwei  afr.  Minnesinger.  Die  Gedichte 
J.'s  d.  R.  u.  O.'s  d.  1.  C,  Diss.  Str.  1907.  Vgl.  auch  Wilh.  Mann,  Die 
Lieder  des  Dichters  Robert  de  Rains  gen.  La  chievre  (Diss.  Ha. 
1898),  der  mit  dem  Tristandichter  Li  Kievre  (s.  oben  s.  365)  als 
einer  und  derselbe  betrachtet  und  noch  ins  12.  Jahrhundert  gesetzt  wird. 


Dreizehntes  Kapitel. 

Neue  Kunstformen  im  13.  Jahrhundert. 


Während  die  grosse  masse  der  Literatur  des  13.  Jahrhunderts 
lediglich  als  fortsetzung  und  nachahmung  der  älteren  literatur 
erscheint,  finden  sich  daneben  doch  auch  neubildungen,  die 
wir  zwar  nicht  alle  als  literarische  fortschritte  anzusehen  ver- 
mögen, die  aber  ihrer  zeit  sämtlich  ihre  weittragende  bedeutung 
für  die  weitere  entwicklung  gehabt  haben  und  darum  gesonderte 
betrachtung  verlangen:  die  entwicklung  der  kunstprosa  und 
ihr  eindringen  in  die  alten  versgattungen ,  die  ausbildung  der 
allegorie  als  besondere  dichtgattung  (in  Zusammenhang  mit 
didaxis  und  satire)  und  das  plötzliche  hervortreten  des  profan- 
dramas.  Die  keime  der  neuen  kunstformen  lassen  sich  teil- 
weise —  wie  bei  der  allegorie  —  schon  in  der  älteren  literatur 
nachweisen,  zum  andern  teil  —  wie  gerade  beim  drama  —  ist 
der  eigentliche  entwicklungsprozess  unseren  äugen  verborgen. 


1.    Die  Prosaliteratur. 

Dass  sich  die  kunstprosa  erst  nach  der  versdichtung  zu 
entwickeln  pflegt,  ist  schon  in  der  einleitung  (s.  oben  s.  28 f.) 
bemerkt  worden.  In  älterer  zeit  findet  die  prosa  in  der 
literatur  ihre  Verwendung  im  wesentlichen  nur  zu  praktischen 
zwecken,   so   in   den  Strassburger  Eiden,   in   der  Jonashomilie 


1.  Die  Prosaliteratur.  463 

(wie  in  späteren  predigten)  und  in  den  für  den  gebrauch  von 
geistlichen  berechneten  psalterübersetzungen  und  ähnlichen  be- 
arheittrogea  biblischer  Stoffe.  Diese  tätigkeit  wird  auch  im 
13.  Jahrhundert  fortgesetzt,  wie  die  prosabearbeitungeu  der 
Apokalypse  und  anderer  biblischer  stücke  (s.  427)  lehren,  aber 
schon  mit  den  heiligenlegenden  (wie  mit  dem  oben  s.  123  er- 
wähnten Prosabrandan)  greift  die  prosa  jetzt  über  das  alte 
gebiet  hinaus  und  mit  prosaübersetzungen  des  lat.  Pseudoturpin 
sogar  in  das  gebiet  der  profanliteratur  hinüber.  Es  ist  viel- 
leicht kein  zufall,  dass  Pierre  von  Beauvais  im  anfang  des 
Jahrhunderts  uns  zugleich  als  prosabearbeiter  legendarischer 
wie  geschichtüchepischer  Stoffe  (Hl.  Jacob  —  Pseudoturpin,  lat. 
Kailsreise  etc.)  entgegentritt.  Aber  auch  die  lat.  Chroniken, 
heiligenleben  und  moraltraktate  selbst  boten  ihren  franz.  be- 
aibeitern  das  beispiel  der  literaturprosa,  und  schliesslich  machte 
sich,  namentlich  bei  geschichtlichen  Stoffen,  von  selbst  die  er- 
kenntnis  geltend,  dass  exakte  darstellnng  durch  vers  und  reim 
nur  behindert  würde.  So  sagt  der  Verfasser  einer  verloren  ge- 
gangenen prosachronik  über  Philipp  August  in  seinem  gereimten 
prolog,   der   zufällig  erhalten  geblieben  ist  (s.  Korn.  6,  494  ff.) : 

Issi  vos  an  fere  le  conte  Por  niielz  dire  la  verite 

Non  pas  riine,   qui  an   droit  Et  por  tretier  sans  fausete; 

conto,  Quar  anviz  puet  estre  riniee 

Si  con  li  livres  Lancelot  Estoire  ou  n'ait  ajostee 

Oa  il  n'a  de  riine  im  seul  niot,  Manconge  por  fere  la  rime. 

Aus  ähnlichen  gründen  wählt  auch  Pierre  von  Beauvais 
für  seinen  Turpin  die  prosa  (ZrP  1,262):  Nus  contes  rimes 
riest  verais,  tot  est  menssongie  qo  qiCil  en  dient,  quar  il  non 
sevient  fors  par  o'ir  dire.  Neben  der  geschichtsschreibung  in 
prosa  erscheint  aber  auch  schon  früh  der  prosaroman,  wie  u.  a. 
oben  der  hinweis  auf  Lancelot  lehrt.  Die  frühe  (schon  seit 
anfang  des  Jahrhunderts)  und  reichliche  Verwendung  der  prosa 
im  Artusroman  ist  um  so  auffälliger,  als  die  verwantschaft 
der  nationalen  heldenepen  mit  der  geschichte  viel  klarer  zu 
tage  lag  als  dort,  gerade  hier  aber  die  prosa  frühestens  am 
ende  des  13.  Jahrhunderts  einsetzt.  Dem  beispiel  des  Artus- 
romans folgt  auch  bald  die  episodische  liebeserzählung,  di& 
novelle. 


461  XIII.  Kapitel.     Neue  Kunatfonueu  im  13.  Jahrhundert 

A.  Geschichtliche  Darstellung. 
Wenn  man  gesagt  hat.  dasa  die  kreuzzüge  die  geschicht- 
schreibung  in  der  vulgärsprache  hervorgerufen  haben,  so  tritt 
uns  nach  den  zu  epen  und  romanen  gewordenen  kreuzzugs- 
dichtungen  des  vorigen  Zeitraums  gleich  zu  anfang  des  Jahr- 
hunderts ein  hervorragender  chronist  des  vierten  kreuzzugs 
entgegen,  dem  alsbald  eine  reihe  anderer  prosachronisten 
folgen. 

Geoffroi  de  Villehardouin  (geb.  zw.  1150  und  1164, 
seit  1191  'mar^chal  de  Champagne',  gest.  1212  oder  bald 
darnach)  hat  selbst  tätigen  und  hervorragenden  anteil  am 
vierten  kreuzzug  genommen ,  wenn  auch  mehr  als  beredter 
diplomat  und  berater,  denn  als  führer  auf  dem  Schlachtfeld, 
obwohl  er  auch  hier  gelegenheit  hatte  sich  bei  dem  unglück- 
lichen kämpf  des  kaisers  Baudouin  gegen  die  Bulgaren  (1204) 
durch  einen  wohlgeordneten  rückzug  auszuzeichnen.  Er  erhielt 
in  dem  lateinischen  kaisertum  die  würde  eines  'mardchal  de 
Komaine'  sowie  die  Stadt  Mosynopolis  als  herrschaft,  hat  dort 
im  fremden  land  seine  Conqueste  de  Constantinople  ver- 
fasst  und  ist  dort  gestorben,  ehe  er  sie  ganz  vollenden  konnte. 
Er  erzählt  die  Vorgänge,  denen  er  grösstenteils  selbst  angewohnt, 
anschaulich  und  klar,  unter  hervorhebung  des  wesentlichen, 
ohne  sich  bei  einzelschilderungen  aufzuhalten.  Als  historiker 
ist  er  nicht  ganz  unparteiisch,  aber  sein  verdienst  bleibt  un- 
bestritten: reimchrouik  und  Übersetzung  lateinischer  geschichts- 
werke  durch  originale,  in  der  form  unbehinderte  darstellung 
zeitgenössischer  ereignisse  ersetzt  zu  haben.  —  Vom  be- 
scheideneren Standpunkt  des  einfachen  ritters  aus  hat  der 
Pikarde  Robert  de  Clari  nach  seiner  rückkehr  (nach  1220) 
denselben  kreuzzug  beschrieben,  unter  beifügung  mancher  die 
grosse  darstellung  Villehardouins  ergänzenden  einzelbilder. 
Schliesslich  hat  Henri  de  Valenciennes  mit  der  geschichte 
kaiser  Heinrichs  von  Konstantinopel  eine  auch  in  prosa  ver- 
fasste,  aber  mehr  im  epischen  stile  einer  chanson  de  geste 
gehaltene  fortsetzung  zu  Villehardouins  werk  geliefert. 

Jehan  de  Joinville  (1224—1317),  'sönechal  de  Cham- 
pagne', hat  Ludwig  IX.  den  Heiligen  auf  dem  sechsten  kreuz- 
zug (1248 — 1254)  begleitet  und  seine  erinnerungeu  —  z.  t.  wohl 


1.  Die  Prosaliteratur:   Geschichtliche  Darstellung.  4G5 

mit  benutzung  schriftlicher  notizen  —  nach  Ludwigs  tod  nieder- 
schreiben lassen.  Auf  bitten  der  königin  Johanna  (gattin  Philipps 
des  Schönen)  verfasste  er  im  hohen  alter  (etwa  1304—1309) 
ein  buch  Des  saintes  paroles  et  des  bons  faits  de  saint 
Louis,  dessen  hauptstlick  eben  die  geschiente  des  sechsten 
kreuzzuges  bildet,  eingeleitet  durch  die  Samtes  Paroles  und 
die  kurze  erzählung  von  Ludwigs  früheren  erlebnissen  und  be- 
schlossen mit  Ludwigs  letzten  jähren.  Für  die  später  zu- 
gefügten teile  hat  er  auch  schriftliche  quellen  (chrouiken  von 
St.  Denis  u.  a.)  benutzt.  Als  erzähler  historischer  ereignisse  ist 
er  objektiver  als  Villehardouin ,  aber  als  Schriftsteller  steht 
er  hinter  ihm  zurück.  Er  lässt  Ordnung  und  Zusammenhang 
in  der  erzählung  vermissen,  bringt  unnütze  Wiederholungen, 
macht  zahlreiche  abschweifungen  mit  allerlei  episoden  und 
anekdoten,  kurz  sein  buch  ist  wie  Langlois  sagt,  'plutöt  une 
causerie  qu'un  livre',  ein  memoirenwerk,  das  als  solches  ge- 
lesen und  gewürdigt  sein  will. 

Von  den  kreuzzügen  gehen  auch  die  sog.  Recits  d'un 
menestrel  de  Reims  (um  1260)  aus,  die  freilich  mehr  Unter- 
haltung als  wissenschaftliche  belehrung  bezwecken,  aber  gerade 
durch  ihren  bunten  inhalt,  ihre  berücksichtigung  populärer 
Überlieferungen,  anekdoten,  sagen  usw.  wert  haben  (so  wird 
hier  z.  b.  die  sage  von  der  befreiung  Richards  Löwenherz  durch 
Blondel  berichtet). 

Neben  der  darstellung  zeitgenössischer  ereignisse  blüht 
auch  die  geschichtsschreibung  vergangener  perioden,  zunächst 
die  der  römischen,  sodann  die  der  französischen  geschichte, 
beide  im  anschluss  an  die  vorliegenden  lateinischen  quellen. 
Auf  Cäsar,  Sallust,  Lucan,  Sueton  beruht  das  Faits  des 
Romains,  auch  Livre  de  Cesar  betitelte  geschichtswerk.  Als 
geschichte  Frankreichs  gedacht,  aber  nur  von  der  Schöpfung 
bis  zur  eroberung  Galliens  durch  Cäsar  ausgeführt  ist  die 
zwischen  1223  und  1230  entstandene  Histoire  ancienne 
jusqu'ä  Cesar  (oder  Livres  des  histoires).  Auch  die  llystoire 
de  Jules  Cesar  von  Jehan  de  Tuim  (s.  oben  s.  441)  ist  hier 
zu  nennen.  Die  französische  geschichte  wird,  abgesehen  von 
den  Turpinübersetzungen,  zuerst  vertreten  durch  den  sogenannten 
Anonymus  von  B^thune,  welcher  die  Histoire  des  ducs 
de  Normandie  et  des  rois  d'Angleterre  und  vermutlich 

Voretzaoh,  Studium  d.  &(r/..  Literatur.     S.Auflage.  30 


46G  XIII.  Kapitel.     Neue  Kuusttbruien  im  13.  Jahrhundert. 

auch  eine  —  neuerdings  aufgefundene  —  bis  1217  reichende 
Histoire  des  rois  de  France  geschrieben  hat.  Die  diesem 
werk  zugrunde  liegende  lat.  Historia  regum  Francorum  wurde 
um  1260  durch  einen  menestrel  im  dienste  des  grafen  Alfons 
von  Poitiers  ein  zweites  mal  ins  französische  übersetzt.  Weiter- 
hin sind  vor  allem  die  auf  den  oft  genannten  lat.  Chroniken 
von  St.  Denis  beruhenden,  von  verschiedenen  bearbeiten]  her- 
rührenden Grandes  chroniques  de  Saint  Denis  hervor- 
zuheben. Weniger  geschichtliches  als  linguistisches  und  literar- 
historisches interesse  (z.  b.  für  Berte  au  gran  pi£)  bietet  die 
von  Bourdillon  1897  unter  dem  titel  Tote  Vistoire  de  France 
herausgegebene,  um  1225  verfasste  Chronique  saintongeaise. 

Vgl.  im  allgemeinen  Le  Clerc,  Hist.  litt.  21,  656  ff. :  Delisle 
ebenda  32,  282  ff.;  G.  Paris,  Litt.  §  85  —  98;  Ch.-V.  Langlois  in 
Petit  de  Jve.  II,  271  ff.  —  Zur  chronik  über  Philipp  August  siehe 
P.  Meyer,  Rom.  6,  494  ff.  Turpin  hgg.  von  Auracher,  ZrP  1,  259  ff. 
—  Extraits  des  chroniqueurs  fr.  Villehardouin,  Joinville,  Froissart, 
Commines  p.  p.  G.  Paris  et  A.  Jeanroy,  P.  51902  (ähnl.  ausg.  s.  bei 
Langlois  s.  334).  —  Villehardouin,  Conq.  de  Const.  p.  p.  Natalis  de 
Wailly,  P.  1874  (darin  auch  Henri  de  Valenciennes).  Vgl.  Kressner, 
Archiv  57,  1  ff.  —  Robert  de  Clari  p.  p.  Hopf,  Chroniques  greco- 
romanes,  B.  1873  (vgl.  ZrP  3,  96  ff.  u.  Rom.  8,  462).  —  Joinville, 
Vie  de  St.  Louis  p.  p.  N.  de  Wailly,  P.  1875,  nouv.  ed.  1906.  Vgl. 
Delaborde,  Rev.  d.  deux  Ms.  1892,  1er  deo.  —  Vgl.  zur  kreuzzugslit. 
auch  die  Übersetzung  Wilhelms  von  Tyrus  und  Ernouls  Chronik 
oben  s.  260.  —  Recits  d'un  menestrel  de  R.  p.  p.  N.  de  Wailly, 
P.  1877.  —  Über  die  Römergeschichten  s.  P.  Meyer,  Rom.  14,  1  ff. 
Constans,  Benoit,  Roman  de  Troie  VI.  264 ff.  Joh.  Loesche,  Die 
Abfassung  der  Faits  des  Romains,  Diss.  Halle  1907.  —  Auch  die 
Bmts  (s.  oben  8.  261  f.)  begegnen  jetzt  in  prosa,  vgl.  Stengel,  ZrP  10 
(1886)  278  ff.  —  Histoire  des  ducs  de  Norm.  p.  p.  F.  Michel,  P.  1840 
(Soc.  d'hist.  d.  France).  Der  Anonymus  von  Bethune  hgg.  von 
Delisle,  Recueil  des  historiens  des  Gaules,  bd.  XXIV,  P.  1905. 


B.    Sonstige  wissenschaftliche  Prosa. 

Wie  in  der  geschichte  dringt  die  vulgärprosa  im  laufe  des 
13.  Jahrhunderts  allmählich  auch  in  andere  Wissenschaftsgebiete 
ein,  die  bisher  nur  in  lateinischer  spräche,  allenfalls  in  fran- 
zösischer versdichtung,  behandelt  worden  waren.  So  fanden 
wir  von  enzyklopädischen  werken  bereits  oben  (s.  431)  neben 
der  versdichtung  Gautiers  von  Metz  den  Tresor  Brunetto  Latinis 


1.  Die  Proaaliteratur:  .Sonstige  wissenschaftliche  Prosa.  1<>7 

in  prosa,  dazu  kommen  zwei  in  form  von  frage  und  antwort  ab- 
gefasste  werke  über  theologische,  naturwissenschaftliche  und  ver- 
wante  gegenstände:  das  etwa  um  die  mitte  des  Jahrhunderts  ent- 
standene Li  vre  Sidrac  und  die  Philipp  dem  Schönen  (1285 — 
1314)   gewidmeten  Secrez  auac  philo sophes,   auch  DiaJoyue 
entre  Piaeides  etTimeo  genannt.   Im  wesentlichen  moralisierenden 
inhalts   sind   Schriften   wie   der  Miroir  du  monde,   auch  als 
Somme  de  vices  et  des  vertus  oder,  weil  auf  veranlassung  könig 
Philipps  III.  1279  entstanden,  kurz  als  Somme  du  roi  bezeichnet. 
Auch  die  Übersetzung  der  Historia  scholastica,  einer  von  Petrus 
Comestor  verfassten,  mit  kommentar  versehenen  Bibelbearbeitung, 
durch  Guiart   des  Moulius  (1291 — 1294)   in    franz.  prosa  ist 
hier  zu  nennen  (Bible  historial).    In  das  naturwissenschaftliche 
gebiet  lässt  sich  die  prosabearbeitung  eines  Bestiaire  durch 
Pierre   de  Beauvais   sowie  ein  aus  mehreren  verslapidarien 
zusammengearbeiteter  prosalapidar  rechnen.  Die  erste  grössere 
reisebeschreibung  —  wenn  wir  von  Schilderungen  der  'peleri- 
nages'  absehen  —  bietet  der  Venezianer  Marco  Polo,  welcher 
sich  25  jähre  (1271 — 1295)  auf  reisen  nach  dem  Orient  und  im 
inneren  Asien  befunden  und,  1298  von  den  Genuesen  gefangen 
genommen,   seinem   rnitgefangenen   Rusticiano   von   Pisa   seine 
erlebnisse    diktiert   hat.      Auch   die   rechtswissenschaft   macht 
jetzt   gebrauch   von   der  vulgärsprache  (bemerke  jedoch  schon 
im  12.  Jahrhundert  die  Gesetze  Wilhelms  des  Eroberers,   oben 
s.  28)  und  geht  von  Übersetzungen  des  Corpus  juris  u.  ä.  werken 
bald  zu  originalwerken  über,    wie  sie  in  den  oben  (s.  419)  er- 
wähnten  Coutumes  du  Beauvaisis  von   Beaumanoir,    in 
den  Assises  de  Jerusalem   vorliegen,   wTährend   andere  ge- 
biete —  wie  die  kriegskunst  —  sich  vorläufig  noch  mit  Über- 
setzungen  lateinischer  werke  wie  des  Vegetius  De  re  militari 
—  behelfen.    Im  übrigen  treten  die  meisten  der  hier  genannten 
literaturgattungen   durch   den  Übergang  zur  prosa  und  die  im 
Zusammenhang   damit   sich   mehr   und   mehr   vollziehende  Ver- 
stärkung  des   rein  wissenschaftlichen  elements  allmählich  aus 
dem   rahmen   der   schönen   literatur   heraus  und  in  das  gebiet 
der  Wissenschaft  über. 

Vgl.  G.  Paris  Litt.  §  99  ff.,  Suchier  s.  219  ff.,  228  ff,  Gröber 
s.  717  ff,  981  ff,  und  die  von  Paris  und  Gröber  angeführte  lit.,  dazu 
L.  Jordan,  Ein  afr.  Prosalapidar,  RF  16  (1904)  311  ff. 

30* 


■ttiS  XIII.  Kapitel.     Nene  Knnstfonnen  im  13.  Jahrhundert. 

C.    Prosaromane  und  Prosanovellen. 

Der   wunsch,    den   romanen  den  sehein  grösserer  echtheit, 
das    ansehen    von    geschichtswerken    zu    verleihen,    mag    die 
nächste  veranlassung   für   die   ersetzung   des  verses  durch  die 
prosa  gegeben  haben.     Soweit  es  sich  hier  um  die  bearbeitung 
einzelner   versromane   handelt,    schliessen   sich   die   prosatexte 
meist  ziemlich   genau  an  die  Originalerzählungen  an,   vielfach 
kürzend,    im    einzelnen    lücken    oder    fehlende    motivierungen 
ergänzend,   im   ganzen   ohne   selbständigen  dichterischen  wert. 
So  sind  fast  alle  romane  Crestiens  in  prosa  umgearbeitet  worden, 
Erec,  Lancelot,  Cliges,  Perceval,  auch  Ivain  (verloren),  ebenso 
andere   romane,   wie   der  Gralroman  Roberts  von  Borron,  wie 
die  antiken  romane  von  Theben,  Eneas,  Troja,  wie  der  Roman 
des  Sept  Sages  de  Rome   (siehe   die  bibliographischen  notizen 
zu    den    einzelnen    romanen).     Neben    die    einzelbearbeitungen 
treten    aber    schon   früh   die   kompilationen,    bei   welchen   der 
bearbeiter   zur   Verbindung   der   einzelnen   teile  manches  hinzu 
erfindet   oder  aus   fremden  quellen  entlehnt.     Es  gesellen  sich 
dazu  weiterhin  selbständige  fortsetzungen  zu  schon  vorhandenen 
prosaromanen,   oder  nachdichtungen  wie  bei  den  versromanen. 
So  entstehen  hier,  namentlich  auf  dem  gebiet  des  Artusromans, 
eine  reihe   zyklischer  prosadichtungen,   die  meist  einen  statt- 
lichen   umfang    erreichen    und    ein   charakteristisches   dement 
der  zeitlitteratur  darstellen.    Ein  grosser  teil  derselben  hat  die 
gralsage  zum  ausgangspunkt.    Als  älteste  unter  ihnen  erscheint 
die    prosaauflösung    von    Roberts  von    Borron   Gralroman 
nebst   einem   darangefügten   Prosa -Perceval   (der   sog.  „kleine 
Gral"),  als  umfangreichste  der  in  den  verschiedenen  redaktionen 
bald    dem    Robert    von    Borron,    bald    dem    Walter    Map    zu- 
geschriebene   Gral-Lancelotzyklus    (vgl.    oben    s.  373),    in 
welchem  Lancelots  geschichte  mit  der  gralsage  verbunden  und 
zum   schluss   der   tod  Arturs  (Mort  Ar  tu)   erzählt   wird   (der 
sog.  „grosse  Gral").    Einen  teil  dieses  zyklus  bildet  die  Queste 
Saint  Graal,  in   welcher  Lancelots   söhn  Galaad   zum   gral- 
sucher  und  gralfinder  gemacht  wird.     Ein  weiterer  gralroman 
in  prosa  ist  endlich  noch  der  Perlesvaus.    Eine  fortlaufende 
geschichte  Arturs   sucht   der  Verfasser  des  Livre  d'Artus  zu 
geben,  das  u.  a.  die  neuerdings  von  Freymond  untersuchte  sage 


1.   Die  Prosaliterator:  l'rosaroiuaue  und  Prosanovelleu.  4C9 

von  Arturs  kämpf  mit  dem  katzenungetüm  Chapalu  enthält. 
Die  weit  ausgesponnene  geschiente  Tristans  wird  in  dem  schon 
früher  (s.  oben  s.  370)  erwähnten  Prosaroman  von  Tristan 
behandelt,  an  den  sich  in  verschiedenen  handschriften  der 
"Roman  de  Palamedcs  schliesst.  Endlich  hat  der  schon 
oben  im  Zusammenhang  mit  Marco  Polo  genannte  Kusticiano 
von  Pisa,  der  längere  zeit  in  Frankreich  geweilt  hatte,  in 
dem  nach  Tristaus  angeblichem  vater  genannten  Livre  du  roy 
Meliadus  eine  kompilation  gegeben,  in  welcher  nicht  nur 
Meliadus  und  Tristan,  sondern  auch  Artus,  Perceval  und  andere 
beiden  begegnen.  Eine  ähnliche  kompilation  ist  auch  der 
roman  von  Guiron  le  courtois. 

Die  beziehungen  dieser  verschiedenen  romane  zu  einander 
sowie  ihre  quellen  sind  z.  t.  noch  nicht  genügend  aufgeklärt, 
und  eine  reihe  von  dementen  namentlich  der  älteren  prosa- 
romane  linden  in  den  entsprechenden  versromanen  überhaupt 
keine  grundlage,  so  dass  Foerster,  wenigstens  für  die  Prosa- 
Artusromane  im  eigentlichen  sinn,  au  herkunft  aus  der  münd- 
lichen Überlieferung  denkt:  „Die  Prosaromane  sind  der  Nieder- 
schlag der  mündlichen  durch  die  armorikanischen  Rhapsoden 
populär  gewordenen  Stoffe."  Das  ist  freilich  für  die  zeit  der 
prosaromane,  nachdem  die  Verfasser  der  versromane  längst 
aufgehört  hatten  die  mündliche  tradition  zu  befragen,  nicht 
mehr  recht  wahrscheinlich,  eher  wird  man  an  entlehnungen 
aus  Galfred  von  Moumouth  und  ähnlichen  quellen  denken 
dürfen,  das  übrige  boten  teils  die  alten  versromane,  teils  die 
kombinationslust  der  romanschreiber  selbst.  Für  diesen  oder 
jenen  prosaroman  darf  man  aber  auch  direkt  einen  verlorenen 
versroman  als  quelle  annehmen,  wie  für  den  Chevalier  au 
papeyau,  in  welchem  Artus  als  held  einer  ganz  und  gar 
nach  dem  muster  der  versromane  komponierten,  mit  elementen 
Crestienscher  romane  ausgeschmückten  erzählung  erscheint, 
die  zudem  ihren  nächsten  verwanten  in  dem  nach  französischer 
quelle  gedichteten  mhd.  Wigalois  findet  und  mancherlei  be- 
ziehungen zum  Beaus  Desconeüs  (s.  oben  s.  375)  zeigt. 

Prosa novellen.  Weniger  sicher  oder  weniger  wahr- 
scheinlich ist  die  annähme  eines  verlorenen  versromans  bei 
einigen  anderen  prosaerzählungen  des  13.  Jahrhunderts,  welche 
von   geringerem   umfang   sind,   die   liebe   eines  paares   in  den 


470  XIII.  Kapitel.    Neue  Kunstformen  im  1H.  Jahrhundert. 

mittelpunkt  stellen  und  daher  gewöhnlich  als  prosanovellen 
bezeichnet  werden.  Eine  art  Übergang  von  der  versdichtnng 
zur  prosa  bildet  hier  die  Chantc- fable  von  Ancassin  et 
Nicolete,  von  einem  unbekannten,  aber  sehr  begabten  Ver- 
fasser in  pikardischer  (hennegauischer)  mundart.  abwechselnd 
in  vers-  und  prosastücken  gedichtet.  Doch  zeigt  die  metrische 
form  der  versstücke  —  nicht  reimpaare,  sondern  assonierende, 
aus  siebensilbnern  bestehende  laissen  mit  schliessendem  (vier- 
silbigem) kurzvers  —  dass  hier  an  eine  unmittelbare  ableitung 
aus  dem  höfischen  versroman  nicht  zu  denken  ist,  vielmehr 
scheint  auf  die  wähl  der  tiradenform  das  Vorbild  des  inhalts- 
verwanten  Jouräain  de  JBlaivies  (s.  oben  s.  246  f.)  eingewirkt 
zu  haben,  und  die  mischung  von  vers  und  prosa  bleibt  vor- 
läufig die  originelle  erfindung  unseres  dichters.  Die  fabel  der 
erzählung,  die  in  mancher  beziehung  eher  an  den  Jouräain 
(und  den  Apollonius  von  Tyrus)  als  an  Floire  et  Blanche  flor 
(s.  oben  s.  381  f.)  erinnert,  kann  er  in  irgend  einer  mündlichen 
Überlieferung  gefunden  haben.  Aucassin  ist  söhn  des  grafen 
von  Beaucaire,  Nicolete  eine  arme  gefangene  (die  sich  zum 
schluss  als  tochter  des  königs  von  Karthago  enthüllt):  die 
treue  liebe  des  paares,  ihre  gemeinsame  flacht,  ihre  trennung 
durch  Seeräuber  und  ihre  abenteuerlichen  Schicksale  bis  zu 
ihrer  Wiedervereinigung,  welche  die  als  spielmann  verkleidete 
Nicolete  herbeiführt,  bilden  den  inhalt  des  ganzen.  Der 
dichter  erzielt  seine  Wirkung  durch  die  klare,  an  die  Vorgänge 
sich  haltende  durchführ uug  des  themas,  durch  die  ungekünstelte, 
allem  spintisieren  abholde,  objektive  art  der  darstellung,  durch 
einen  gesunden  realismus,  welcher  dem  idealen  thema  in  keiner 
weise  widerstreitet,  es  vielmehr  um  so  wirkungsvoller  zur 
geltung  bringt.  Die  dichtung  gehört  in  das  erste  oder  zweite 
Jahrzehnt  des  13.  Jahrhunderts,  ist  aber  wohl  jünger  als  der 
Jouräain  de  Blaivies. 

Jünger,  vermutlich  erst  dem  ende  des  Jahrhunderts  gehörig 
sind  die  reinen  prosanovellen.  Die  Comtesse  äe  Ponthicu 
(oder  Istoire  ä'outre  mer)  erzählt  einen  liebesroman  zwischen 
ehegatten  mit  Verwendung  einzelner  motive  aus  versromanen, 
aber  ohne  dass  man  mit  bestimmtheit  einen  verlorenen  vers- 
roman  als  vorläge  der  prosanovelle  bezeichnen  könnte.  Auf 
einer  pilgerfahrt  nach  San  Jago  di  Compostella  fällt  die  heldin 


1.   Die  Prosaliteratur:   Textprobe.  471 

in  die  bände  von  räubern  (vgl.  Floire  et  Blancheflor).  wird 
entehrt,  daher  von  vater  und  gatten  in  einer  tonne  auf  das 
meer  ausgesetzt,  kommt  in  die  bände  von  kaufleuten  und 
durch  sie  zum  sultan  von  Aumarie  (wodurch  sie  die  gross- 
mutter  Saladins  wird)  und  findet  später  gelegenheit,  vater 
und  gatten  aus  der  gefangenschaft  zu  befreien  und  mit  ihnen 
heimzukehren.  Die  vom  Verfasser  als  conte  bezeichnete  novelle 
Le  Boi  Floire  et  la  belle  Jehanne  behandelt  in  selb- 
ständiger darstellung  das  aus  Comte  de  Poitiers  und  verwanten 
erzählungen  (s.  oben  s.  386  f.)  bekannte  motiv  von  der  wette. 
Von  den  beiden  anderen  in  Molands  Sammlung  aufgenommenen 
novellen  behandelt  Li  Amities  de  Ami  et  Amilc  die  be- 
kannte freundsehaftssage  (s.  oben  s.  245)  in  stark  gekürzter 
form  (vielleicht  auf  gruud  der  lat.  Vita),  während  der  conte 
vom  Boi  Constant  VEmpereour  eine  direkte  prosaauflösung 
des  oben  erwähnten  dit  (s.  425)  ist. 

D.    Textprobe. 

Als  beispiel  altfranzösischer  literaturprosa  und  zugleich 
der  eigenart  des  Aucassindichters  folgt  hier  der  abschnitt, 
welcher  Nicoletens  flucht  und  ihren  abschied  von  Aucassin 
erzählt.1) 

12.    Or  dient  et  content  et  fabloient. 

Ancassins  fu  mis  en  prison,  si  com  vos  aves  oi  et  entendu, 
et  Nicolete  fu  d'autre  part  en  le  canbre.  Ce  fu  el  tans  d'este  el 
mois  de  mai,  que  li  jor  sont  caut,  lonc  et  cler  et  les  miis  coies 
et  series.  Nicolete  jnt  une  nuit  en  son  lit  si  vit  la  lune  luire 
cler  par  une  fenestre  et  si  oi  le  lorseilnol  canter  en  garding,  se 
li  sovint  d' Aucassin  sen  ami  qn'ele  tant  amoit.  Ele  se  commenca  a 
porpenser  del  conte  Gavin  de  Biaucaire  qui  de  mort  le  haoit,  si 
se  pensa  qu'ele  ne  remanroit  plus  ilec;  que,  s'ele  estoit  acusee,  et 
li  quens  Garins  le  savoit,  il  le  feroit  de  male  mort  morir.  Ele 
senti  que  li  vielle  dormoit,  qui  aveuc  li  estoit.  Ele  se  leva  si 
vesti  un   bli'aut  de  drap  de  soie,   que  ele  avoit  mout  bon,   si  prist 


x)  Die  Mundart  ist  pikardisch,  daher  ca  =  k,  c« «'  =  ts  (c),  remanroit 
=  remandroit,  arai  =  aurai,  art.  fem.  le  (noni.  auch  li)  =  la  nsw.  Vgl. 
oben  s.  351.  Auslautendes  -x  wie  öfter  =  us  zu  lesen;  longe  =  longue 
etc.;  vielle  =  xneille,  oeul  =  oeuil.     Gores  zu  go'ir  (franz.  jo'ir  <^  gaudere). 


472  XIII.  Kapitel.     Neue  Kunstformen  im  13.  Jahrhundert. 

dras  de  lit  et  touailes  si  noua  Tun  a  l'autre  si  fist  une  corde  si 
longe  come  ele  pot,  si  le  noua  au  piler  de  le  fenestre  si  s'avala 
contreval  el  gardin,  et  prist  se  vesture  a  l'une  main  devant  et  a 
l'autre  deriere  si  s'escorca  por  le  rousee  qu'ele  vit  grande  sor  l'erbe 
si  s'en  ala  aval  le  gardin. 

Ele  avoit  les  caviaus  blons  et  menus  recerceles  et  les  ei  vairs 
et  rians  et  la  face  traiti6e  et  le  nes  haut  et  bien  assis  et  les  le- 
vretes  vremelletes,  plus  que  n'est  cerise  ne  rose  el  tans  d'este,  et 
les  dens  blans  et  menus,  et  avoit  les  mameletes  dures,  qui  li  sous- 
levoient  sa  vesteüre,  anssi  con  ce  fuissent  deus  nois  gauges,  et 
estoit  graille  par  mi  les  flans  qu'en  vos  dex  mains  le  peüscies 
enclorre,  et  les  flors  des  margerite8  qu'ele  ronpoit  as  ortex  de  ses 
pie's,  qui  li  gissoient  sor  le  menuisse  du  pie  par  deseure,  estoient 
droites  noires  avers  ses  pies  et  ses  ganbes,  tant  par  estoit  blance 
la  mescinete. 

Ele  vint  au  postic  si  le  deffrema,  si  s'en  iscj  par  mi  les  rues 
de  Biaucaire  par  devers  l'onbre,  car  la  lune  luisoit  mout  clere, 
et  erra  tant  qu'ele  vint  a  le  tor  u  ses  amis  estoit.  Li  tors  estoit 
faelee  de  lius  en  lius,  et  ele  se  quatist  deles  Fun  des  pilers  si 
s'estraint  en  son  mantel,  si  mist  sen  cief  par  mi  une  creveüre  de 
la  tor  qui  vielle  estoit  et  anöiienne,  si  o'i  Aucassin  qui  la  dedens 
plouroit  et  faisoit  mot  grant  dol  et  regretoit  se  douce  amie  que 
tant  amoit.     Et  quant  ele  Tot  asses  escoute,  si  comenca  a  dire. 


13.    Or  se  cante. 


Nicolete  o  le  vis  cler 
S'apoia  a  un  piler 
S'o'i  Aucassin  plonrer 
Et  .s'amie  regreter. 
Or  parla,  dist  son  penser: 
„Aucassins,  gentix  et  ber, 
Frans  damoisiax  honore9, 
Que  vos  vaut  li  dementers, 


Et  trestos  vos  parentes. 
Por  vous  passerai  1c  mer 
S'irai  en  autre  regne." 
De  ses  caviax  a  caupes, 
La  dedens  les  a  rües. 
Aucassins  les  prist  li  ber 
Si  les  a  mout  honeres 
Et  baisids  et  acoles. 


Li  plaindres  ne  li  plourers,  En  sen  sain  les  a  boutes 

Quant  ja  de  moi  ne  goreV?  Si  recomence  a  plorer, 

Car  vostre  peres  me  het  Tout  por  s'amie. 


14.    Or  dient  et  content  et  fabloient. 

Quant  Aucassins  o'i  dire  Nicolete  qu'ele  s'en  voloit  aler  en 
autre  pai's,  en  lui  n'ot  que  courecier. 

„Bele  douce  amie"  fait  il  „vos  n'en  ires  mie,  car  dont  m'ariies 
vos  mort.  Et  li  premiers  qui  vos  verroit  ne  qui  vous  porroit,  il 
vos  prenderoit  lues  et  vos  meteroit  a  son  lit  si  vos  asoignenteroit. 
Et  puis  que  vos  ariies  jut  en  lit  a  Lome  s'el  mien  non,  or  ne  qui- 


I.   Die  Prosaliteratur:   Textprobe.  473 

dies  niie  que  j'atendisse  tant  que  je  trovasso  coutel  dont  je  me 
peüscc  ferir  el  euer  et  ocirre.  Naie  voir,  tant  n'atenderoie  je  mie, 
aius  m'esquelderoie  de  si  lonc,  que  je  verroie  une  maisiere  u 
une  bisse  pierre,  s'i  hurteroie  ei  durement  me  teste,  que  j'en  feroie 
les  ex  voler,  et  que  je  m'es6erveleroie  tos.  Encor  ameroie  je  mix 
a  inorir  de  si  faite  mort,  que  je  6eüsce  que  vos  eüsries  jut  en  lit 
a  home  s'el  mien  non." 

„Ai!"  fait  ele  „je  ne  quit  mie  que  vons  m'ame's  tant  con  vos 
dites,  mais  je  vos  aim  plus,  que  vos  ne  facies  mi." 

„Avoi!"  fait  Aucassins  „bele  dou6e  amie,  ce  ne  porroit  estre 
que  vos  m'amissies  tant  que  je  fa6  vos.  Fenme  ne  puet  tant  amer 
Tonme,  con  li  hom  fait  le  fenme.  Car  li  amors  de  la  fenme  est 
en  son  l'oeul  et  en  son  le  teteron  de  sa  mamele  et  en  son  l'orteil 
del  pie,  mais  li  amors  de  l'onme  est  ens  el  euer  plantee,  dont  ele 
ne  puet  isgir. 

La  u  Aucassins  et  Nicolete  parloient  ensanble,  et  les  escar- 
gaites  de  la  vile  venoient  tote  une  rue  s'avoient  les  espees  traites 
desos  les  capes.  Car  li  quens  Garins  lor  avoit  comande  que,  se 
il  le  pooient  prendre,  qu'il  l'ocesissent.  Et  li  gaite  qui  estoit  sor 
le  tor  les  vit  venir  et  o'i  qu'il  aloient  de  Nicolete  parlant,  et  qu'il 
le  maneeoient  a  ocirre. 

„Dix!"  fait  il  „con  grans  damages  de  si  bele  mescinete,  s'il 
l'ocient!  Et  mout  seroit  grans  aumosne,  se  je  li  pooie  dire,  par  quoi 
il  ne  s'aperceüscent,  et  qu'ele  s'en  gardast.  Car  s'il  l'ocient,  dont 
iert  Aucassins  mes  damoisiax  mors,  dont  grans  damages  ert. ') 

15.    Or  se  cante. 

Li  gaite  fu  mout  vaillans,  Parle  as  a  ton  amant, 

Preus  et  cortois  et  sacans.  Qui  por  toi  se  va  morant. 

II  a  comencie  un  cant  j   Jel  te  di,  et  tu  l'entens! 
Ki  biax  fu  et  avenans:  Garde  toi  des  souduians 

„Mescinete  o  le  euer  franc,  Ki  par  ci  te  vont  querant 


Cors  as  gent  et  avenant, 
Le  poil  blont  et  reluisant, 
Vairs  les  ex,  eiere  riant. 
Bien  le  voi  a  ton  sanblant: 


Sous  les  capes  les  nus  brans! 
Forment  te  vont  manecant, 
Tost  te  feront  messeaut, 

S'or  ne  t'abries." 


16.    Or  dient  et  content  et  fabloient. 

„He!"  fait  Nicolete  ,,1'ame  de  ten  pere  et  de  te  mere  soit  en 
benooit  repos,  quant  si  belement  et  si  cortoisement  le  m'as  ore 
dit.     Se  Diu  piaist,  je  m'en  garderai  bien,  et  Dix  m'en  gart!" 


J)  Das  eingreifen  des  Wächters  mit  dein  warnenden  wächterlied  zu 
gunsten  Nicoletens  erinnert  an  die  Situation  des  tageliedes  (s.  oben  s.  354). 


171  XIII.  Kapitel.    Neue  Kunstformen  Im  13.  Jahrhundert 

Ele  B'estraint  en  son  roantel  en  l'onbre  del  piler.  tant  que  «:1 
fnrent  passe  outre,  et  ele  prent  congie  a  Aucassin,  si  s'en  va,  tant 
qu'ele  vint  au  inur  del  castel 

Vgl.  im  allgemeinen  über  die  Artus-  und  Gralromane  die 
oben  s.  330,  373,  377  verzeichnete  lit.,  dazu  Paulin  Paris,  Les  romans 
de  la  Table  ronde  mis  en  nouveau  langage,  2  bde.,  P.  18t>8.  Drucke: 
The  vulgate  version  of  the  Arthurian  Romances  edited  from  mss. 
in  the  British  Museum  by  H.  0.  Sommer,  I — IV,  Washington  1908  — 11. 
Der  afr.  Prosaroman  von  Lancelot  del  Lac,  I.  Branche  hgrg.  von 
G.  Bräuning,  Diss.  Marburg  1911,  II.  u.  III.  Branche  von  H.  Becker, 
1911  und  H.  Bubinger,  1912  (=  Marburger  Beiträge  2,6,8).  Mort 
Artu,  edited  by  J.  Douglas  Bruce,  Ha.  1910.  Vgl.  E.  Freymond, 
Arturs  Kampf  mit  dem  Katzenungetüm,  Gröberband  s.  311  ff.  Ferd. 
Lot,  Etudes  sur  Merlin  I,  Rennes  1900:  E.  Brugger,  Studien  zur 
Merlinsage  (Untersuchungen  n.  texte)  ZfSL  29  (1905)  56  ff.,  30,  169  ff., 
31,  239  ff.,  33  (1908)  145  ff.,  34,  99  ff.,  35,  1  ff.  H.  0.  Sommer,  Zur 
Kritik  der  afr.  Artusromane  in  Prosa,  ZrP  32  (1908)  323  ff.  —  Le 
Chevalier  du  papegau  hg.  v.  F. Heuckenkamp,  Ha.  1897,  vgl.  dazu 
oben  s.  377.  Eine  episode  des  romans  (kämpf  gegen  den  Chevalier 
Javaut  und  seinen  bruder  Jayant  le  Doubte)  stimmt  mit  dem  inhalt 
des  mhd.  Eckenlieds  (kämpf  Dietrichs  von  Bern  gegen  den  riesen 
Ecke  und  seinen  bruder  Fasold)  überein:  nach  Otto  Freiberg,  PBB  29 
(1903)  1  ff.  entlehnung  des  d.  gedichts  aus  dem  franz.,  wahrschein- 
licher aber  nachahmung  des  deutschen  gedichts,  vermittelt  durch 
eine  md.  bearbeitung,  durch  den  veif.  des  franz.  prosaromans  (vgl. 
R.  C.  Boer,  PBB  32,  155  ff.;  H.  Lafsbiegl,  Beitr.  z.  geschichte  d.  Ecken- 
dichtungen,  Diss.  Bonn  1907).  —  Die  sämtlichen  prosanovellen  des 
13.  Jahrhunderts  sind  enthalten  in:  Nouvelles  frangoises  en  prose 
du  XIII0  siecle  p.  p.  L.  Moland  et  C.  d'Hericault,  P.  1856.  — 
Aucassin  und  Nicolete  neu  hrsg.  von  Suchier,  Paderborn  1878, 
"  1909  (hier  alt.  speciallit.).  Vgl.  noch  J.  Acher,  ZrP  34  (1910)  369  ff. 
(zum  text).  Meyer-Lübke,  ZrP  34,  513  ff.,  J.  Aschner,  35,  741  ff. 
(zur  erzählungsform).  Als  Ciarisse  et  Florent  wird  die  erzählung 
in  die  geste  Huons  von  Bordeaux  (s.  oben  s.  434)  eingeführt.  Auch 
in  neuerer  dichtung  ist  sie  öfter  verwertet  worden  (Platens  „Treue 
nm  Treue",  opern  von  Sedaine,  von  Koreff  u.  a.).  Mod.  Übers,  von 
W.Hertz,  E.  von  Sallwürk,  Oppeln-Bronikowski  u.a.  Vgl.  II. Brunner, 
Ü.  A.  li.  N.  (Diss.  Ha.),  Progr.  Kassel,  1881.  Wagner,  A.  et  N.,  Progr. 
Arnstadt  1883.  J.  Zettl,  A.  u.  N.  in  Deutschland,  Progr.  Eger  1911, 
dazu  Wolfram  Suchier,  ZfSL  34  (1912)  II,  7  ff .  —  Über  prosa- 
versionen  der  Sept  Sages  und  fortsetzungen  wie  Marques  de  Borne 
s.  oben  8.  417,  457.  —  Der  anglonorm.  abeuteuerroman  Falke  Fitz 
Waryn  feiert  eine  historische  persönlichkeit  aus  der  Zeit  könig 
Johanns  ohne  Land. 


2.  Allegorisch -satirische  Dichtung:  Allgemeines.  '<< 


2.    Allegorisch-satirische  Dichtung. 

Wahrend  die  neue  prosadichtnng  im  ganzen  dein  Inhalt 
und  Charakter  der  entsprechenden  versdichtungsnrten  treu  bleibt, 
sehen  wir  auf  dem  gebiete  des  versromans  selbst  eine  innere 
Wandlung  vor  sieh  gehen,  welche  von  der  widergabe  konkreter 
Vorgänge  zur  darstellung  des  geträumten  oder  zur  Umschreibung 
des  wirklichen  durch  andersartige  bilder,  von  der  erzählung 
zur  beschreibung,  vou  der  auf  blosse  Unterhaltung  gerichteten 
absieht  des  dichters  zur  belehrung  und  schliesslich  zur  satire 
führt.  Das  hanptwerk  dieser  richtung  ist  der  Roman  de  la 
Böse,  in  seinem  ersten  teil  von  Guillaume  de  Lorris,  in  seinem 
zweiten  von  Jelian  Clopinel  de  Meung  verfasst.  Jahrhunderte- 
lang ist  er  vorbild  und  quelle  für  andere  dichter  gewesen,  hat 
er  nicht  nur  dem  roman,  sondern  auch  lyrischer  und  dramatischer 
dichtung  poetische  kunstmittel  und  einkleidungsformen  geboten. 
Aber  wie  dieser  roman  von  sich  aus  die  nachweit  beeinflusst 
hat,  so  ist  er  seinerseits  entstanden  unter  einwirkung  einer 
reihe  anderer  werke,  welche  die  einzelnen  demente  dazu  boten. 
Weltliche  und  geistliche  erzählende,  belehrende  und  lyrische 
dichtung  haben  zum  entstehen  des  Rosenromans  beigetragen. 
Neben  französischen  werken  sind  hier  vor  allem  auch,  direkt 
oder  indirekt,  solche  der  lateinischen  literatur  wirksam:  liebes- 
f ragen  wie  die  ' qitcl  vaiit  miex  a  amer,  gentil  ehre  on  clii- 
väler'  werden  schon  in  einem  lateinischen  gedieht  des  11.  Jahr- 
hunderts (spätestens  anfangs  des  12.  Jahrhunderts),  dem  sog. 
Concilium  amoris  oder  Homarici  montis  concilium 
(Concile  de  Remiremont)  und  bald  darauf  in  der  Alter catio 
Phyllidis  et  Florae,  einer  art  'debat',  behandelt  und  von 
den  geistlichen  Verfassern  zu  gunsten  des  klerikers  entschieden. 
Dazu  kommen  nachahmungen  Ovids,  dessen  Ars  amandi  und 
Beinedia  amoris  beide  schon  durch  Crestien  übersetzt  worden 
waren  und  der  auch  als  vorbild  eines  lateinischen  gedichts 
des  12.  Jahrhunderts,  De  amore,  von  Pamphilus,  dient,  das 
in  den  ideen,  in  der  entwicklung  der  handlung  wie  in  manchen 
einzelheiten  das  werk  Guillaumes  de  Lorris  beeinflusst  hat; 
auch  das  buch  des  kaplans  Andreas  (s.  oben  s.  348)  ist  hier 
nicht   zu   vergessen.     Träume  und  Visionen   spielen   in   der 


476  XIII.  Kapitel.     Neue  Kuustforinen  im  13.  Jahrhundert. 

lateinischen  literatur  des  altertums  wie  des  mittelalters  eine 
grosse  rolle  und  rinden  in  der  französischen  literatur  des 
13.  Jahrhunderts  vielfältig  nachahmung,  besonders  Ciceros 
Somnium  Scipionis  mit  dem  kommentar  des  Maerobius  (ca. 
400  n.  Chr.).  Allegorien  und  Personifikationen  sind  — 
abgesehen  von  der  antiken  literatur  —  vor  allem  in  der 
geistlichen  literatur  zu  hause,  wofür  schon  Prudentius  (348 
bis  410)  mit  seiner  Psychomachia  (kämpf  der  guten  und  der 
bösen  gewalten  um  die  menschenseele)  ein  hervorragendes  und 
wirksames  beispiel  bietet. 

Vgl.  hierzu  wie  zum  folgenden  Ernest  Langlois,  Origines  et 
sources  du  Romau  de  la  Rose  (These  de  doct.),  P.  1890,  und  die 
dort  verzeichnete  lit.  Ch.  Oulmont,  Les  debats  du  clcrc  et  du  Chevalier 
dans  la  litt,  poetique  du  m.  ä.,  P.  1911.  Huet,  Sur  l'ovigine  des 
poeme  de  Ph.  et  FL,  Rom.  27  (1898)  536  ff. 


A.    Vorläufer  des  Rosenromans. 

Liebestheorie  und  Visionsdichtung.  Der  dichter  des 
Rosenromans  sagt  von  seinem  werke  selbst,  dass  die  Wissen- 
schaft der  liebe,  die  art  d'amors,  vollständig  darin  enthalten 
sei.  Seine  darstellung  soll  nicht  bloss  unterhalten,  sondern 
auch  belehren.  Aber  schon  vor  und  neben  ihm  fehlt  es  nicht 
an  ähnlichen  werken,  teils  mehr  theoretischen,  teils  mehr  er- 
zählenden Charakters;  eine  sichere  bestimmuug  der  abfassungs- 
zeit  ist  freilich  nicht  immer  möglich.  Zunächst  sind  hier 
die  nachahmungen  Ovids  zu  nennen:  auf  Crestien  folgen  im 
13.  Jahrhundert  (teils  älter,  teils  jünger  als  der  Roseuroman) 
bearbeituugen  der  Ars  amandi  durch  Elie  de  Winchester, 
Jacques  d'Amiens  und  den  unbekannten  Verfasser  der  Clef 
d'amors.  Daneben  stellt  das  Donnei  des  amanz  (s.  oben 
s.  370)  ein  originalfranzösisches  lehrgedicht  über  die  liebe  dar, 
in  der  form  eines  gesprächs  zwischen  zwei  liebenden.  Die 
vorhin  erwähnte  Alter catio  Phyllidis  et  Florae  erscheint  ebenso 
wie  das  Concilium  Amoris  mehrfach  in  franz.  bearbeitung:  so 
in  La  yeste  de  Blancheflor  et  de  Florence,  Melior  et  Idoine, 
Hueline  et  Eglantine,  Florance  et  Blancheflor.  Des  Andreas 
Capellanus  De  arte  honeste  amandi  wird  im  13.  Jahrhundert 
zweimal    übersetzt.      Aber    auch    durch    Visionen    eingeleitete 


2.  Allegorisch-satirische  Dichtung:  Vorläufer  d.  Roseiiromans.     477 

erzählung  von  liebesgeschichten  begegnet  neben  der  theo- 
retischen erörterung  von  liebesfragen:  das  Fablei  dou  Dien 
d'Amours  (in  vierzeiligen  Strophen  ans  zehnsilbnern)  erzählt, 
wie  der  dichter  im  tranm  auf  einer  wiese  wandelt  und  dem 
laufe  eines  flusses  folgend  in  den  garten  des  liebesgöttes  ge- 
langt, wo  die  vögel  von  liebe  singen  und  diskutieren,  dann  in 
den  palast  des  liebesgöttes,  wo  spiel,  gesang  und  freude  herrscht 
und  wo  er  auch  seine  durch  einen  drachen  geraubte  amie  aus 
den  bänden  des  liebesgöttes  wieder  erhält.  Die  beschreibung 
des  liebesgartens  stammt  aus  der  Altercatio,  im  einzelnen  ist 
schon  hier  manches  allegorische  enthalten.  Eine  Überarbeitung 
des  Fablei  ist  Venus  la  deesse  d'amors. 

Allegorie  und  Personifikation.  Die  allegorie,  welche 
neben  der  theoretischen  behandlung  der  liebe  als  wesentlichstes 
element  des  Rosenromans  in  betracht  kommt,  wird  zunächst 
am  reichlichsten  in  der  geistlichen  literatur  verwendet,  zuerst 
in  der  lateinischen,  im  anschluss  daran  auch  in  der  französischen 
literatur,  wie  schon  die  besprechung  des  Physiologus  (s.  oben 
s.145  f.)  sowie  der  moraldichtungen  vom  Renclus  de  Moiliens 
und  von  Guillaume  le  Clerc  (siehe  oben  s.  429  f.)  gezeigt  hat 
Während  aber  hier  die  allegorie  nur  ein  teilelement  bildet, 
erscheint  sie  in  verschiedenen  dichtungen  der  folgezeit  als 
grundlage  und  einkleidung  der  ganzen  handlung.  So  hat 
Raoul  de  Houdenc,  der  Verfasser  des  Meraugis  (s.  447  f.), 
zwei  allegorische  dichtungen  geschrieben:  den  Romanz  des 
elcs  de  la  proece,  nach  welchem  die  ritterliche  tiichtigkeit, 
um  vollkommen  zu  sein,  zwei  flügel,  largece  und  cortoisie,  und 
jeder  dieser  zwei  flügel  wieder  je  sieben  federn  (die  einzelnen 
arten  und  äusserungen  der  larg.  und  der  cort)  haben  muss, 
und  den  Songe  d'Enfer,  wo  der  dichter  einen  träum  erzählt, 
der  ihn  über  die  allegorischen  orte  begierde,  treubruch  u.a. 
nach  der  hölle  führt  und  dort  an  einem  (gleichfalls  allegorisch 
ausgedeuteten)  höllenmahl  teilnehmen  lässt.  Ein  in  anläge 
und  stil  gleichartiges  gedieht,  Songe  de  Paradis  scheint 
eine  nachahmung  Raouls  durch  einen  anderen  dichter  zu  sein. 
In  ähnlicher  weise  wie  Prudentius  den  kämpf  der  guten  und 
bösen  gewalten  schildert  gegen  1234  Huon  de  M£ry  in  seinem 
Tournoiement  Antecrist  ausführlich  (über  3000  verse)  den 
kämpf  des  teufeis  und  der  (personifiziert  erscheinenden)  laster 


I*v  XIII.  Kapitel.     Neue  Kunstformen  im  13.  Jahrhundert. 

gegen  Christus,  die  tilgenden  und  die  auf  seiner  seite  kämpfenden 
Artiisritter,  wobei  auch  Crestiensche  motive  (so  die  wunder- 
quelle  im  wald  von  Broceliande)  ausgiebige  Verwendung  finden. 
Tugenden  und  laster  erseheinen  wie  bei  Prudentius  personifiziert. 
In  allen  diesen  dichtungen  dienen  allegorie  und  Personi- 
fikation geistliehen  oder  wenigstens  moralischen  zwecken. 
Aber  auch  die  weltliche  dichtung  entwickelt  solche  stilformen, 
so  wenn  in  den  höfischen  romanen  und  chansons  'Amor'  per- 
sonifiziert wird,  wenn  der  dichter  Vernunft  und  liebe  in  seinem 
herzen  streiten  lässt  oder  wenn  Thibaut  von  Navarra  in  dem 
oben  (s.  460)  erwähnten  lied  sein  herz  bei  der  geliebten  dame 
in  einem  kerker  sieht,  dessen  pfeiler  aus  verlangen  (Talent), 
dessen  eingang  aus  schönem  anblick  (Bei  Voir),  dessen  ringe 
aus  Bon  Espoir  bestehen  und  vor  welchen  Amor  drei  Wächter, 
Biau  Semblant,  Bonte  und  Dangier  (Zurückhaltung)  gesetzt 
hat.  Hiermit  wird  die  allegorie  aus  der  religiösen  in  die  welt- 
liche Sphäre,  speziell  in  die  liebesdichtung  übergeführt,  was  für 
den  Rosenroman  bedeutungsvoll  wird.  Die  Identifikation  der 
heldin  mit  der  rose  legte  sieh  durch  den  in  Artusromau,  höfischer 
lyrik  und  heldenepos  häufigen  vergleich  junger  mädchen  mit 
rosen  nahe  und  war  schon  im  Dit  de  la  rose  (12.  bis  13.  Jahr- 
hundert) durchgeführt.  Der  die  allegorie  einleitende  träum 
fand  seine  Vorbilder  gleichfalls  in  der  voraufgegangenen  literatur. 
So  sind  die  einzelnen  demente,  welche  den  allegorischen 
liebesroman  kennzeichnen,  sämtlich  vorher  vorhanden,  aber  ihre 
Vereinigung  und  Verschmelzung  gehört  dem  dichter  des  ersten 
teils,  Guillaume  de  Lorris. 

Ausgaben:  Über  nachahinungen  Ovids  s.  oben  s.  306,  398, 
dazu  Jacques  d'Amiens  hrsg.  von  G.  Körting,  L.  1868;  Maltre  Elie 
hgg.  von  Kühne  und  Stengel  (AA  47)  Marb.  1886;  Clef  d'amors  p.p. 
A.  Doutrepont  (Bibl.  Norm.  5),  Ha.  1890.  Fablel  dou  Dieu  d'Amours 
p.  p.  Jnbinal,  P.  1834.  De  Venus  la  deesse  d'amor  bgg.  von 
W.  Foerster,  Bonn  1880.  —  Huon  de  Mery,  Le  Tournoiement  de 
l'Antecrist  p.  p.  Tarbe,  Reims  1851.  Darin  auch  Raouls  Bomanz  des 
Eies  und  Songe  d'Enfer;  dieselben  nebst  Songe  de  Paradis  auch 
bei  Scbeler,  Trouveres  beiges,  nouv.  serie,  Louvain  1879;  zum 
Born,  des  Eies  vgl.  H.  Suchier,  Wahlundband  s.  29  ff.  Über  die  un- 
eclitheit  des  Songe  de  Par.  zuletzt  Friedwagner,  ZrP  25  (1901)  753  ff. 
Dit  de  la  Kose  bei  Bartsch  et  Horning  s.  603  ff.  —  Zur  allegorischen 
liebesdichtung  gehört  auch  der  s.  431  erwähnte  Bcstiaire  d'cmour. 
—  Weiteres  bei  E.  Langlois,  Origines  du  R.  d.  1.  R. 


2.  Allegorisch-satirische  Dichtung:   Der  Rosarouian. 


17'.» 


B.    Der  Rosenroman. 

Der  Rosenromau  zerfallt  in  zwei  ihrem  umfang  wie  ihrer 
tendenz  und  ausfiihrung  nach  sehr  ungleiche  teile.  Die  ersten 
4068  verse,  von  Guillaume  de  Lorris  vor  1234,  etwa  zwischen 
1225  und  1230  verfasst,  bilden  einen  allegorisch -lehrhaften 
liebesroman,  dessen  fortsetzung  unter  den  bänden  Jehans  de 
Meung  zu  einer  18000  verse  langen  realistisch  gefärbten,  von 
satirischem  geiste  erfüllten  encyklopädie  wird.  Von  der  auf- 
fassung  des  ersten  teils,  von  seinem  Verhältnis  zu  älteren 
dichtungen  gibt  uns  der  anfang  des  ganzen  eine  deutliche 
Vorstellung: 


Maintes  gens  dient  que  eu  sunges 
N';i  se  fables  non  et  nieusoiiges. 
Mais  Ten  puet  tex  souges  songier 
Qui  ne  sunt  mie  niensongier, 
Ains  sunt  apres  bien  apparant. 
Si  en  puis  bien  trere  a  garant 
Un  acteur  qui  ot  non  Macrobes, 
Qni  ue  tint  pas  songes  a  lobes, 
Aiu^ois  escrist  la  vis'ion 
Qui  avint  au  roi  CipTon. 
Quiconques  cuide  ne  qui  die 
Que  soit  folor  ou  musardie 
De  croire  que  songes  aviengne 
Qui  ce  voldra,  pour  fol  in'en  tiengne. 
Car  endroit  moi  ai  je  fiauce 
Que  songes  soit  senefiance 
Des  biens  as  gens  et  des  anuiz, 
Car  li  plusor  songent  des  nuiz 
Maintes  choses  cuuvertement 
Que  Ten  voit  puis  apertenient. 

Ou  vintiesme  an  de  inon  aage, 
Ou  point  qu'Amors  prend  le  paage 
Des  Jones  gens,  couchiez  estoie 
Une  nuit,  si  com  je  souloie, 
Et  nie  dorinoie  muult  forment: 
Si  vi  un  songe  en  nion  durmant, 
Qui  ruoult  fu  biax  et  uioult  me  plot, 
Mes  onques  riens  ou  songe  n'ot 
Qui  avenu  trestout  ne  soit 
Si  com  li  songes  recontoit. 
Or  vueil  cel  songe  rimaier 
Por  vos  cuers  plus  fere  esgaier, 


Qu'Amors  le  me  prie  et  commande. 
Et  se  nus  ne  nule  demande 
Comment  ge  vueil  que  cilz  rommans 
Soit  apelez  que  je  commans, 
Ce  est  li  Kommanz  de  la  Rose, 
Ou  Fart  d'amors  est  tote  enclose. 
La  matire  en  est  boue  et  noeve: 
ür  doint  Diex  qu'en  gre  le  regoeve 
Cele  por  qui  ge  Tai  empris. 
C'est  cele  qui  taut  a  de  pris 
Et  tant  est  digne  d'estre  amee 
Qu'el  doit  estre  Rose  clamee. 

Avis  m'iere  qu'il  estoit  inains, 
II  a  ja  bien  eine  aus  au  mains, 
En  mai  estoie,  ce  sonjoie, 
El  tens  amoreus  piain  de  joie. 
El  tens  ou  tote  riens  s'esgaie 
Que  Ten  ne  voit  boisson  ne  haie 
Qui  en  mai  parer  ne  se  vueille 
Et  covrir  de  novele  fueille, 
Li  bois  recuevrent  lor  verdure, 
Qui  sunt  sec  tant  com  yvers  dure. 
La  terre  me'ismes  s'orgueille 
Por  la  rousee  qui  la  mueille, 
Et  oblie  la  poverte 
Ou  ele  a  tot  Tyver  este, 
Lors  devient  la  terre  si  gobe 
Qu'el  vuelt  avoir  novele  robe, 
Si  set  si  cointe  robe  faire 
Que  de  colors  i  a  cent  paire 
D'erbes,  de  flors  indes  et  perses 
Et  de  maintes  colors  diverses  .... 


480 


XIII.  Kapitel.    Neue  Kunstformeu  im  LS.  Jahrhundert. 


v.  84  ff. 
En  icelui  tens  deliteus 
Que  tote  riens  d'amer  s'esfroie, 
Soujai  une  nuit  que  j'estoie. 
Ce  m'iert  avis  en  mon  dorinaut, 
Qn'il  estoit  matin  dureuient, 
De  mon  11t  tantost  nie  levai, 
Chaucai  moi  et  mes  mains  lavai. 
Lors  trais  une  aguille  d'argent 
D'un  aguillier  mignot  et  gent, 
Si  pris  l'aguille  a  enfiler. 
Hors  de  vile  oi  talent  d'aler 
Por  cur  des  oisiaus  les  sons 
Qui  chantoient  par  ces  boissons 
En  icele  saison  novele. 
Cousant  mes  manches  a  videle 
M'en  alai  tot  seus  esbatant 
Et  les  oiseles  escoutant 
Qui  de  chanter  moult  a'engoissoient 
Par  ces  vergiers  qui  florissoient, 
Jolis,  gais  et  pleins  de  leesce. 
Vers  une  riviere  m'adresce 
Que  j'oi  pres  d'ilecques  bruire 
Car  ne  me  soi  aillors  deduire 
Plus  bei  que  sus  cele  riviere. 
D'un  tertre  qui  pres  d'iluec  iere 
Descendoit  l'iaue  grant  et  roide, 
Clere,  bruiant  et  aussi  froide 
Comme  puiz  ou  comme  fontaine, 
Et  estoit  poi  mendre  de  Saine, 
Mes  qn'ele  iere  plus  espandue. 
Onqnes  mes  n'avoie  veüe 
Tele  iaue  qui  si  bien  coroit, 
Monlt  m'abelissoit  et  seoit 
A  regarder  le  Heu  plaisant. 
De  l'iaue  clere  et  reluisant 


Mon  vis  rafreschis  et  la\v. 
Si  vi  tot  covert  et  pave 
Le  fons  de  l'iaue  de  gravele. 
La  praerie  graut  et  bele 
Tres  au  pit-  de  l'iaue  batoit. 
Clere  et  serie  et  bele  estoit 
La  matinee  et  atempree: 
Lors  m'en  alai  parmi  la  pree 
Contreval  l'iaue  esbanoiant, 
Tot  le  rivage  costoiaut. 

Quant  j'oi  an  poi  avant  ale. 
Si  vi  an  vergier  grant  et  16, 
Tot  clos  d'un  baut  mur  bataillic. 
Portrait  defors  et  entaillie 
A  maintes  riches  escritures. 
Les  ymages  et  les  paintures 
Ai  monlt  volentiers  remire, 
Si  vons  contere  et  dire 
De  ces  ymages  la  semblance, 
Si  com  moi  vient  a  remembrance. 

Ens  ou  milieu  je  vi  Daine, 
Qui  de  corrous  et  d'ata'i'ue 
Sembloit  bien  estre  movresse 
Et  correceuse  et  tenceresse 
Et  plaine  de  grant  cuvertage 
Estoit  par  serablant  ceste  ymage. 
Si  n'estoit  pas  bien  atornee, 
Ains  sembloit  estre  forsenee: 
Rechigni6  avoit  et  froncie 
Le  vis  et  le  nes  secorcie, 
Par  grant  hideur  fu  soutilliee, 
Et  si  estoit  entortiilee 
Hideusement  d'une  toaille. 

Une  autre  ymage  d'autel  taiile 
A  senestre  vi  delez  lni. 
Son  non  dessus  sa  teste  lui: 
Apelee  estoit  Felonnie. 


So  sind  noch  andere  darstellungen  —  wie  Vilonic,  Coveitise, 
Tristece,  Vicillece  —  zu  sehen.  Aber  nicht  bloss  bilder  dieser 
art  treten  dem  dichter  entgegen,  sondern  auch  lebende  wesen: 
Oiseuse  öffnet  ihm  die  tlir  und  belehrt  ihn,  dass  der  garten 
Deduit  le  mignot,  le  cointe  gehöre.  Dessen  freundin  Licsse 
führt  den  reigen  an,  in  welchem  der  Arnant  den  liebesgott  mit 
Beaute    und    andere    tänzer    und    tänzerinnen,    wie    Largesse, 


2.   Allegorisch -satirische  Dichtung:    Der  Rosenrouiau.  481 

Jeunesse  usw.  gewahrt.  Er  gelangt  weiter  zur  '  Fontaine 
d'Amour',  bei  welcher  Xarcissus  begraben  liegt,  er  erblickt  in 
dem  Spiegel,  welcher  durch  zwei  auf  dem  gründe  der  quelle 
liegende  krystalle  gebildet  wird  und  den  garten  mit  allen 
einzelheiten  wiederspiegelt,  eine  menge  rosensträucher  hinter 
einer  dornenhecke,  geht  darauf  zu  und  findet  sogleich  be- 
sonderes gefallen  an  einer  rosenknospe,  die  er  zu  brechen 
wünscht.  Der  im  verborgenen  lauernde  liebesgott  verwundet 
ihn  mit  seinen  pfeilen  Biaute,  Simplece,  Cortoisie  u.  a.  m., 
macht  ihn  zu  seinem  lehnsmann  und  gibt  ihm  eine  reihe  guter 
lehren  für  sein  vorhaben.  Bcl-Accueü,  Ami,  Franchise,  PitU 
stehen  auf  seiner  seite  und  helfen  ihm,  aber  Dangicr  (scham- 
haftigkeit,  sprödigkeit),  Malc-Bonche,  Beur,  Honte,  Chastete 
und  Baison  hüten  die  Rose  vor  des  dichters  liebeswerben. 
Endlich  gelingt  es  ihm  einen  kuss  von  der  Rose  zu  erhalten, 
aber  Male-Bouche  hat  es  gesehen  und  erzählt  es  weiter, 
Jalousie  lässt  eine  festung  um  die  rosensträucher  bauen  mit 
einem  türm,  in  welchem  Bel-Accueil  eingeschlossen  wird. 
Mit  den  klagen  des  betrübten  liebhabers  bricht  Guillaumes 
gedieht  ab. 

Was  als  das  charakteristische  an  diesem  werk  erscheint, 
die  mit  allen  stilmitteln  und  bis  in  alle  einzelheiten  durch- 
geführte allegorie  einer  herzensgeschichte,  hat  seinerzeit  den 
dichterischen  vorzug  des  ganzen  ausgemacht  und  auch  seinen 
weitreichenden  und  langandauernden  erfolg  begründet.  Zur 
mauier  ist  die  allegorie  erst  bei  den  nachfolgern  und  nachtretern 
Guillaumes  de  Lorris  geworden.  Er  selbst  hat  sie  zwar  nicht 
erfunden,  aber  zuerst  auf  eine  zusammenhängende,  fortlaufende 
handlung  aus  dem  menschenleben  übertragen,  und,  wie  schon 
die  kurze  probe  oben  zeigen  kann,  besass  er  genug  dichterische 
kraft,  um  seinen  plan  folgerichtig  und  in  gefälliger,  anmutiger 
form  durchzuführen.  Was  seine  Vorgänger  ihm  dazu  boten, 
hat  er  in  reichem  masse  benutzt,  aber  durchaus  selbständig- 
kombiniert.  Wie  so  oft  begegneten  sich  auch  hier-  Veranlagung 
des  dichters  und  geschmack  des  publikums,  und  der  letzte 
hat  dem  roman  seine  beliebtheit  bis  ins  16.  Jahrhundert 
gesichert. 

Diese  beliebtheit  in  späterer  zeit  beruhte  aber  nicht  allein 
auf    dem    allegorisch -idealen    gedieht    Guillaumes,     sondern 

Voretzsch,  Studium  d.  afrz.  Literatur.    2.  Auf  läge.  31 


4b2  XIII.  Kapitel.     Neue  Kuustforiueu  im  1 3.  Jahrhundert. 

mindestens  ebensosehr  auf  der  realistisch -satirischen  fort- 
setzung  Jehans  de  Meung,  welcher  nach  seiner  eigenen 
angäbe  40  jähre  nach  dem  tod  Guillaunies  das  werk  wieder 
aufgenommen  hat.  Als  quellen  hat  er  zum  teil  dieselben 
werke  wie  Guillaume,  darüber  hinaus  aber  noch  eine  grosse 
menge  anderer,  lateinischer  und  französischer  autoren  benutzt 
Die  neigung  zur  lehrhaften  richtung,  welche  schon  den  ersten 
teil  des  romans  charakterisiert,  wird  bei  ihm  zum  prunken 
mit  encyklopädischer  gelehrsamkeit,  mit  deren  Verwertung 
ihm  ja  schon  andere  schriftsteiler  des  Jahrhunderts  voran- 
gegangen waren  (s.  oben  s.  430  f.  und  467).  Die  lehrhalte 
tendenz  der  epoche  tritt  auch  in  den  zahlreichen  chastoiements, 
enseignements  und  doctrinals  zu  tage:  neben  den  aus  Petrus 
Alphonsi  übersetzten  Casloiements  d'un  pere  ä  son  fils  (s.  oben 
s.  416  f.)  ist  hier  vor  allem  der  dichter  Robert  von  Blois 
mit  seinem  Chastoiement  des  Dames  und  seinem  Enseiynemtnt 
des  Princes  zu  nennen  (beide  in  den  handschriften  teils  selb- 
ständig überliefert,  teils  in  dem  roman  Beaudous  eingeschaltet). 
Auch  das  Dit  ist  zunächst  ein  belehrendes  gedieht,  das  aber 
ebenso  wie  in  das  erzählende  (s.  oben  s.  425)  auch  in  das 
satirische  gebiet  übergreift  und  sowohl  gegen  die  verschiedenen 
stände  als  auch  gegen  das  schöne  geschlecht  Stellung  nimmt. 
Satire,  namentlich  gegen  priester  und  flauen,  ist  ein  wesent- 
liches Charakteristikum  der  fableldichtung  (s.  oben  s.  409  ff.  und 
s.  455  f.),  satirisch  wird  im  13.  Jahrhundert  auch  der  Roman  de 
Renart  (s.  oben  s.  399  ff.  und  s.  454  f.),  und  der  aufang  desselben 
Jahrhunderts  zeigt  sogar  schon  eine  politische  satire,  den  gegen 
die  Franzosen  gerichteteu  Roman  des  Francois  des  Normannen 
Andre  de  Coutances  (vor  1204). 

Wenn  also  Jehan  de  Meung  mehr  das  lehrhafte  und 
satirische  dement  zur  geltung  bringt,  so  folgt  er  nur  dem 
zuge  der  zeit,  ohne  dass  die  hier  genannten  werke  speziell 
als  seine  quellen  zu  bezeichnen  wären.  In  erster  linie  folgt 
er  vielmehr  lateinischen  autoren,  dem  Boethius  und  dessen  De 
consolatione  philosophiae,  des  Alain  von  Lille  De  planetu 
naturae,  auch  antiken  dichtem 'und  Schriftstellern  wie  Ovid, 
Vergil,  Horaz,  Sueton  u.  a.  m.  Unter  den  französischen  Vor- 
bildern begegnen  Guillaume  le  Clerc,  Raoul  de  Houdenc,  Huon 
de    Mery.      Es    leuchtet    ein,    dass    bei    der    von    Jehan    ein- 


2.   Allegorisch -satirische  Dichtung:   Der  Kosenrouian.  483 

geschlagenen  richtung  die  baudlung  selbst  zur  nebensacbe 
wird,  sie  kommt  während  der  mebrere  tausend  verse  langen 
reden  von  Raison  und  anderen  ganz  zum  stilisteben.  Immer- 
hin wird  die  von  Guillaume  begonnene  allegorie  durch  Jeban 
weiter  und  bis  zum  ende  geführt.  F<mx- Semblant  erwürgt 
Mcüebouche;  Courtoisie  und  Largesse  gewinnen  die  alte  hüterin 
von  Jßel-Accueil,  der  aber,  kaum  befreit,  von  Honte  und  Peur 
aufs  neue  in  den  türm  gesperrt  wird.  Vor  diesem  wird  ein 
allgemeiner  kämpf  geliefert,  der  durch  das  eingreifen  von 
Nature,  Genius  und  Venus  entschieden  wird.  Der  Amant,  d.  i. 
der  dichter,  pflückt  die  Rose  und  erwacht. 

Hat  Guillaume  de  Lorris  eine  'epop£e  psychologique '  ge- 
schrieben, so  ist  der  mit  encyklopädischem  wissen  ausgestattete, 
von  satirisch -polemischen  geiste  erfüllte  Jeban  Clopinel  'le 
Voltaire  du  moyen  äge,  avec  toutes  les  restrictions  que  com- 
porte  ce  complement'.  So  hat  G.  Paris  die  beiden  teile  des 
romans  und  die  verschiedenartigen  Ursachen  seines  grossen 
erfolges  treffend  charakterisiert. 

Le  Roman  de  la  Rose  p.  p.  Meon,  P.  1814;  p.  p.  Fr.  Michel, 
P.  1864,  2  bde.;  p.  p.  Pierre  Marteau  (aecomp.  d'une  traduetion  en 
vers),  Orleans  1878 — 80,  5  bde.;  neuausgabe  angek.  von  E.  Langlois. 
Stücke  bei  Bartsch  s.  321  ff.,  383  ff,  Bartsch  et  Horning  s.  407  ff, 
Constans  s.  133  ff.  Vgl.  Ernest  Langlois,  Origines  et  sources  du 
R.  d.  1.  R.,  P.  1890;  Le  R.  d.  1.  R.  in  Petit  de  Julleville  II,  104  ff; 
JrP  10  (1906)  II,  96  ff,  11  II,  100  ff.  (zu  Warren,  Date  and  com- 
position  of  the  R.  d.  1.  R.);  Les  manuscrits  du  R.  d.  1.  R.,  description 
et  classement,  P.  1910  (Travaux  et  mem.  de  l'Univ.  de  Lille,  Nouv. 
ser.  I,  7).  Paul  Kupka,  Zur  Chronologie  und  Genesis  des  R.  d.  1.  R., 
Progr.  Gardelegen  1901.  Vgl.  auch  Charles  Joret,  La  rose  dans 
l'antiquite  et  au  m.  ä.,  P.  1892,  bes.  s.  329  ff.  —  Der  roman  wurde 
ins  engl,  übersetzt,  die  Übersetzung  ward  von  Chaucer  begonnen, 
von  anderen  weitergeführt.  Vgl.  Kaluza,  Ch.  u.  d.  Rosenroman,  B. 
1893,  sowie  Rom.  Jahresbericht  6  (1899—1901)  II,  366.  Über 
italienische  Übersetzungen,  den  älteren  Detto  d'amore  in  sieben- 
silbigen  reimpaaren  und  den  jüngeren  Flore  in  Sonetten  (letzterer, 
ende  des  13.  oder  anfang  des  14.  Jahrhunderts,  vermutlich  von 
Durante)  siehe  die  lit.  bei  Casini  in  Gröbers  Grundriss  II,  3,  s.  53.  — 
Jehan  de  Meung  ist  auch  noch  als  Übersetzer  tätig  gewesen:  so  der 
Consolatio  philosophiae  von  Boethius,  der  briefe  Abälards  und  der 
Heloi'se,  des  buches  De  re  militari  von  Vegetius.  Die  letztgenannte 
prosaübers.  wurde  1290  durch  Jehan  Priorat  aus  Besan^on  in  verse 
gebracht:    Jean    de    Meung,    L'art   de   chevalerie   p.  p.   Ul.  Robert, 

31* 


484  XIII.  Kapitel.    Nene  Kunstformen  im  13.  Jahrhundert. 

P.  1897:  Jean  Priorat,  Li  abrejanec  de  Vordre  de  ehcvaJeric  p.  p. 
Robert,  P.  1897  (S.  d.  a.  t.).  Über  den  Songe  Jehans  de  Meung  s. 
M.  Kastner,  Kev.  de  phil.  fr.  17,  4.  —  Bzgl.  der  übrigen  bier  ge- 
nannten werke  s.  die  betr.  abschnitte.  Der  Roman  des  Francois 
gedr.  bei  Jubinal,  Nouv.  Kec.  2,  s.  1  ff.    Vgl.  G.  Paris,  Litt.  norm.  46  ft'. 


C.    Allegorische  Dichtung  nach  dem  Rosenroman. 

So  wenig  alle  älteren  allegorischen  dichtungen  als  quellen 
des  Rosenromans  zu  betrachten  sind,  so  wenig  kann  man  alle 
jüngeren  mit  allegorischen  dementen  ausgestatteten  werke  auf 
die  Wirkung  dieses  romans  zurückführen.  Aber  der  Rosen- 
roman ist  der  höhepunkt  der  ganzen  richtung,  und  im  einzelnen 
lässt  sich  sein  einfluss  oft  genug  erhärten.  Die  ausserordentlich 
grosse  zahl  von  handschriften  zeugt  nicht  minder  wie  die 
Wertschätzung  der  folgezeit  für  seine  beliebtheit  und  bedeutung. 
Von  dichtungen,  welche  in  ähnlicher  weise  die  allegorie  ver- 
werten, seien  kurz  die  wichtigsten  genannt. 

Als  nachahmung  des  ersten,  aber  nicht  des  zweiten  teils 
erweist  sich  der  Romans  de  la  poire  von  T  h  i  b  a  u  t ,  welcher 
etwa  um  die  mitte  des  13.  Jahrhunderts  gedichtet  hat  und 
hier  die  geschichte  seiner  liebe  darstellt,  indem  er  sich  von 
Amor  in  einem  türm  belagern  und  besiegen,  die  dame  durch 
einen  liebespfeil  Amors  verwunden  lässt  usw.  Zuletzt  sendet 
er  der  dame  als  liebesboten  die  nachtigall,  d.  i.  seinen  roman 
selbst.  Der  titel  erklärt  sich  durch  ein  persönliches  erlebnis 
des  dichters  mit  seiner  dame:  sie  hatte  einst  eine  birne  an- 
gebissen und  dann  ihm  gereicht,  wodurch  eine  unbezwingliche 
liebe  zu  ihr  in  sein  herz  kam.  Eine  andere  direkte  nach- 
ahmung des  Rosenromans  gehört  schon  in  die  zweite  hälfte 
des  folgenden  Jahrhunderts:  die  JEchecs  amoureux.  welche 
der  dichter  allen  freunden  der  schachkunst  widmet,  da  er  seine 
herzensgeschichte  hier  in  die  äussere  form  einer  —  von  ihm 
an  die  Jungfrau  verlorenen  —  Schachpartie  kleidet.  Im  übrigen 
erinnern  nicht  nur  die  Personifikationen  —  Oiseuse,  JDeduit, 
Amor  usw.  —  sondern  auch  die  langen  reden,  die  breiten  be- 
lehrungen  über  die  art  zu  lieben  und  viele  einzelheiten  an 
das  berühmte  vorbild.  Der  psychologische  inhalt  des  romans 
wird  durch  den  titel  der  englischen  Übersetzung  Biason 
and  Scnsuality  treffend  bezeichnet.     Nicole  de  Margival 


2.  Allegorisch-satirische  Dichtung:  Allcg.  Dicht,  u.  d.  Kuscnroiu.     485 

dichtet  ende  des  13.  oder  anfaug  des  14.  Jahrhunderts  den 
Panther e  d'amour  (nicht  ohne  beziekung  auf  den  Bestiaire 
d'amour,  s.  oben  s.  431)  und  stellt  hier  die  geliebte  unter  der 
tigur  des  schon  in  den  alten  bestiarien  viel  behandelten 
panthers  dar.  Mahius  li  Poiriiers  (anfaug  des  H.Jahr- 
hunderts) lässt  in  seiner  Court  d'Amours  gott  Amor  hof 
halten,  den  an  liebesweh  leidenden  guten  rat  erteilen  und  in 
schwierigen  liebesfragen  die  entscheidung  fällen. 

Andere  allegorische  (Lichtungen  sind  mehr  moralisierenden 
inhalts.  Hier  ist  vor  allem  der  umfangreiche,  etwa  72  000  verse 
zählende  Ovide  moralise  eines  minoritenmönehs  zu  nennen, 
welcher  ende  des  13.  oder  anfang  des  14.  Jahrhunderts  die 
Metamorphosen  in  achtsilbigen  reimpaaren  übersetzt  und  alle- 
gorisch ausgedeutet,  d.  h.  mit  historischen,  moralischen  und 
theologischen  erklärungen  versehen  hat.  In  dieses  werk  hat 
auch  die  Crestien  von  Troyes  zugeschriebene  Philomena  (oben 
s.  299)  aufnähme  gefunden,  daneben  übrigens  auch  eizählungen, 
welche  der  dichter  anderen  quellen  als  den  Metamorphosen 
entlehnte  wie  das  urteil  des  Paris  oder  der  raub  der  Helena. 
Der  name  des  Verfassers  ist  nicht  bekannt,  die  bezeichnung 
Crcstien  le  Gouays  de  Sainte  More  vers  Troyes  beruht  auf 
irrtümlieber  deutung  und  kombination  späterer  Schreiber. 

Die  bedeutung  der  allegorie  für  die  spätere  dichtung,  für 
die  lyrische  wie  für  die  lehrhafte  und  namentlich  auch  für  die 
dramatische  —  in  den  sog.  Moralites  —  ist  ausserordentlich, 
sie  erstreckt  sich  über  das  15.  Jahrhundert  bis  hinein  in  das 
16.  Jahrhundert,  wo  die  alten  dichtgattungen  überhaupt  von 
der  neuen  renaissanceliteratur  abgelöst  werden. 

Messire  Thibaut,  Li  Roinanz  de  la  poire,  hrsg.  von  Fr.  Stehlich, 
Ha.  1881.  —  H.  P.  Junker,  Ü.  d.  afr.  Epos  'Les  Echecs  amoureux', 
Frankfurt  a.  M.  1886  (Berichte  des  Freien  Deutschen  Ilochstifts 
1886—87).  Ernst  Sieper,  Les  Ech.  am..  Weimar  1898  (Lit.-hist. 
Forsch,  von  Schick  und  Waldberg  9).  J.  Mettlich,  Die  Schachpartie 
i.  d.  Prosabearbeitung  der  E.  a.,  Progr.  Münster  1907.  —  Nicole  de 
Margival,  Le  Dit  de  la  Panthere  d'amours  p.  p.  IL  A.  Todd,  P.  1883 
(Soc.  d.  a.  t.).  —  Über  Mahius  (Matthäus)  li  Poiriiers  s.  Raynaud, 
Rom.  10  (1882)  519  ff,  und  Gorra  im  Toblerband  s.  228  ff.  —  Über 
den  Ovide  moralise  s.  G.  Paris,  Hist.  lit.  29,  455,  A.  Thomas,  Rom.  22 
(1893)  271  ff.     C.  de  Boer,  Philomena  (oben  s.  300),  Einleitung. 

Andere  dichtungen  ähnlicher  art  gehören  schon  ins  14.  jh.: 
so    die    allegorische    trilogie    des    Cisterciensermönchs   Guillaume 


486  XIII.  Kapitel.    Neue  Kunstfornien  im  13.  Jahrhundert. 

de  Deguilleville,  zw.  1330  und  1358  verfafst  und  aus  drei  Pilr- 
rinages  bestehend:  Pelerinage  de  la  vie  humaine,  Pelerinage  de 
Väme,  Pelerinage  de  Jesus-Christ.  Das  ganze  wird  als  träum  des 
dichters  eingeleitet  und  in  christlich-moralischem  siune  mit  allegorien 
und  Personifikationen  in  36  000  versen  ausgeführt  (ungerechnet  die 
vom  dichter  selbst  herrührende  Umarbeitung  des  ersten  teils). 
Gnillaume  de  Deguilleville,  Le  pelerinage  etc.  edited  by  J.  J.  Stür- 
zinger,  London  1893,  95,  97,  Roxburgh-Club  (Exemplare  in  Berlin, 
München,  Würzburg).  Das  gedieht  wurde  in  prosa  umgearbeitet 
sowie  ins  spanische  und  englische  übersetzt.  — ■  Auch  in  kleineren 
dichtungen  findet  die  allegorie  vielfach  Verwertung:  in  der  1332 
verfassten,  von  balladen  und  rondels  durchsetzten  Prise  amoureuse 
stellt  Jehan  Acart  de  Hesdin  die  liebe  unter  dem  bilde  einer 
jagd  dar,  in  welcher  der  liebesgott  die  hundemeute  —  Biaute, 
Benom,  Souvenir,  Espoir  u.  a.  —  auf  den  liebenden  hetzt  und 
diesen  endlich  im  netze  Desir's  gefangen  nimmt.  Ausgabe  von 
E.  Hoepffner,  La  Pr.  am.,  GrL  22,  1910  (vgl.  Rom.  40,  129 ff). 
Philippe  de  Vitry  (seit  1350  bischof  von  Meaux)  deutet  in  seinem 
Chapel  des  fleurs  de  lis,  anlässlich  eines  für  das  jähr  1355 
von  Phippe  von  Valois  geplanten  kreuzzuges,  die  französischen  lilien 
auf  Science,  Foy  und  Chevalerie,  eigenschaften,  die  für  kreuzfahrer 
unentbehrlich  sind  (form  die  schweifreimstrophe).  Ausgabe  von 
Arthur  Piaget,  Rom.  27  (1898)  55  ff. 


3.    Das  weltliche  Theater. 

Was  uns  bisher  an  dramatischen  stücken  begegnet  ist, 
vom  Sponsus  (s.  139)  bis  zum  Theophilusspiel  Rustebuefs  (s.  427), 
gehört  dem  geistlichen  drama  an.  Erst  mit  dem  schon  als 
lyriker  genannten  Adam  de  le  Haie  (s.  460)  treten  uns  die 
ersten  profanen  stücke  entgegen.  Dieses  zeitliche  Verhältnis 
deutet  nicht  ohne  weiteres  auf  ein  abhäugigkeitsverhältnis, 
als  ob  das  weltliche  drama  sich  erst  aus  dem  geistlichen  ent- 
wickelt hätte,  mit  dem  es  innerlich  keine  Wesensgemeinschaft 
hat.  Vielmehr  weisen  mancherlei  Zeugnisse  und  andeutungen 
darauf  hin,  dass  das  volk  von  jeher  seine  dramatischen  Schau- 
stellungen gehabt  hat,  welche  von  wandernden  Jongleurs,  den 
nachkommen  der  römischen  mimi,  auf  öffentlichen  platzen  vor- 
geführt wurden  (vgl.  oben  s.  78).  Dazu  erscheint  das  profane 
Instspiel    des    13.  Jahrhunderts    auch    viel  zu   selbständig   und 


3.   Daa  weltliche  Theater:   Jonglenrdr.araen.  487 

eigenartig  gegenüber  dem  religiösen  drama,  als  dass  man  es 
ohne  weiteres  aus  diesem  herleiten  könnte.  Auch  ein  stück 
wie  das  mit  weltlichen  abenteuern  durchsetzte  Niklasspiel  Jehan 
Bodels  erscheint  mehr  als  eine  annäherung  an  schon  vor- 
handenes profandrama  denn  als  Zwischenglied  zwischen  älterem, 
rein  geistlichem,  und  jüngerem,  rein  weltlichem  theater.  Die 
geringe  zahl  der  weltlichen  stücke  wird  reichlich  ausgeglichen 
durch  ihren  inneren  wert,  G.  Paris  sagt:  'les  monuments 
malheureusement  trop  peu  nombreux,  qui  nous  restent  du 
th&itre  profane,  sont  plus  interessante  que  tous  ceux  du  theYttre 
religieux.' 

A.  Jongleurdramen.  Unter  Jongleurdramen,  mimodramen 
oder  kurz  'mimes'  verstehen  wir  monologische  oder  dialogische 
dichtungen.  die,  mit  wechselnder  stimme  und  gelegentlich  auch 
mit  Zuhilfenahme  von  puppen,  von  einem  einzelnen  Jongleur 
vorgetragen  werden  konnten,  in  der  art  wie  schon  die  ältesten 
dramatischen  darstellungen  (oben  s.  78)  zu  denken  sind  und 
wie  die  dramatischen  monologe  des  15.  Jahrhunderts  erscheinen. 
Sie  bilden  den  tibergang  zum  eigentlichen  drama  (mit  ver- 
teilten rollen).  Die  hierher  gehörigen  stücke  enthalten  z.  t. 
auch  noch  einige  erzählende  verse,  sie  zeigen  vielfach  statt 
der  reimpaare  strophische  form  (vierzeilige  Strophe  aus  alexan- 
drinern,  Richeutstrophe  —  oben  s.  412  —  u.  ä.).  Der  gegenständ 
ist  meist  sehr  einfach,  zumal  die  dichtungen  samt  und  sonders 
sehr  kurz  sind.  Das  Privileg  e  aux  Bretons  (zw.  1236 — 52) 
bringt  eine  königliche  bestätigung  für  das  privileg,  im  walde 
ginster  zu  besen  schneiden  zu  dürfen.  La  paix  aux  Anglais 
(um  1159  —  64)  ist  eine  satire  auf  ausschweifende  eroberungs- 
pläne  der  Engländer  auf  dem  französischen  festland.  L'her- 
berie,  von  Rustebuef,  bringt  eine  aufzählung  von  heilkräutern 
gegen  alle  möglichen  krankheiten  und  gebrechen.  In  den 
JDeux  bordeors  ribauz  zählen  zwei  schalke  von  Jongleuren 
ihre  künste  auf:  der  eine  weiss  von  Guillaume  au  tinel  und 
Benoart  au  cort  nes,  von  Ogier  de  Montaubant  und  Benaut 
le  Danois  zu  erzählen,  der  andere  reimt  de  Parceval  Vestoire 
mit  dem  schwank  de  la  Coille  noire  usw. 

B.  Dramatische  Spiele.  Wohl  schon  mehr  als  ein 
blosses  monologstück  ist  ein  kleines  drama  von  270  versen, 
das  nicht   nur  dialog,   sondern  wirksam  vorgeführte  handlang 


lss  XIII.  Kapitel.     Neue  Kunstforinen  iiu  V6.  Jahrhundert. 

verlangt:  Le  Garron  et  VAvuegle  (um  1277  in  Tournai  ver- 
fasst).  Ein  knabe  führt  einen  blinden  bettler,  aber  so,  dass 
dieser  beständig  zu  schaden  kommt,  ja  schliesslich  prügelt  der 
fuhrer  seinen  Schützling  und  tut,  als  ob  ein  anderer  die  hiebe 
austeile.  Die  grobe  komik  ist  auf  die  lachlust  eines  wenig 
feinfühligen  publikums  berechnet,  was  freilich  die  aufnähme 
des  Stücks  als  einschiebsels  in  verschiedene  mysterien  des  15. 
und  16.  Jahrhunderts  nicht  verhindert  hat.  —  Vielleicht  ist 
unter  die  mit  verteilten  rollen  gespielten  stücke  der  Courtois 
d'Arras  zu  rechnen,  dessen  held,  gleich  dem  verlorenen  söhne 
der  Bibel,  ähnlich  aber  auch  dem  deutschen  Meier  Helmbreht, 
das  Vaterhaus  verlässt,  von  buhlerinnen  ausgeplündert  wird, 
sieh  als  Schweinehirt  verdingen  muss  und  endlich  reuig  zurück- 
kehrt (664  verse). 

C.    Adam  de  le  Haie   und   sein  Laubenspiel.     Adam, 
etwa  1238  in  Anas  geboren,  1262  bis  1269  in  Paris,  seit  1272 
in   den   diensten  des  grafen  Robert  von  Artois,   seit  1283  mit 
diesem   bei  Karl  von  Anjou   in  Neapel,   hier    1286   oder   1287 
gestorben,  mit  einem  familienbeinamen  'le  Bochu  (bossu)'  ge- 
nannt, hat  zuerst,  1262,  das  Jeu  de  la  Feuillee  (Laubenspiel) 
gedichtet,   das   sich   etwa  als  lokalsatirische  posse  bezeichnen 
lässt.     Er   führt   sich   darin  selbst  vor  ebensowie  seinen  vater, 
welcher  ihm  wol  die  erlaubnis,  aber  nicht  das  nötige  geld  zu 
seinem    Studienaufenthalt    in    Paris    geben    will,    er    bekundet 
seinen   überdruss   an   seiner   frau   und   machte   eine  reihe  von 
mänuern    und    frauen    seiner    Vaterstadt,    sei    es    wegen    ihres 
geizes,  sei  es  wegen  ihrer  sittenlosigkeit  lächerlich.    Das  ganze 
besteht   aus   einer  reihe  von  lose  aneinander  gefügten  szenen: 
auftreten   des  arztes  und  konsultatiou  durch  die  Douce  Dame, 
erscheinen  des  mönchs,  des  narren  und  seines  vaters,  zug  der 
maisnie  Hellequin  (das  wilde  heer),  besuch  der  feen,  auftreten 
der  Fortuna  usw.     Es  fehlen  also  auch  nicht  allegorische  und 
märchenhafte  figuren  neben  den  realistisch -satirischen  Schilde- 
rungen  von   Adams   mitbürgern.     Im   einzelnen   ist   das   stück 
häufig  derb  und  roh,   kennzeichnet  aber  gerade  dadurch  seine 
unabhängige    Stellung   gegenüber   dem   geistlichen   drama   und 
seinen   Zusammenhang   mit   dramatischen   aufführungen    volks- 
tümlichen   Charakters.      Der    name    des    Stückes    erklärt    sich 
durch   die   annähme,  dass   es  zur   feier   des  mai   unter  einer 


3.  Das  veitliehe  Theater:  Adam  do  le  Säle.  -189 

mailaube  gespielt  wurde  (die  gleichfalls  überlieferte  bezeich- 
nung  jus  Adan  =  jeu  iVAdam  nach  dem  verfassernaruen  ist 
mit  rüeksicht  auf  das  liturgische  Adamsspiel  —  s.  oben  s.  140  — 
besser  zu  meiden).  Das  ganze  stück  ist  übrigens  nicht  ganz 
1100  verse  lang. 

D.  Adams  Singspiel  liobin  et  Marion.  Ahnelt  das 
Laubenspiel  in  seinem  Charakter  am  meisten  den  sotien  des 
15.  und  10.  Jahrhunderts,  so  lässt  sich  das  zweite,  in  Neapel 
verfasste  stück  als  Singspiel  oder  auch  als  schäferspiel  be- 
zeichnen: es  ist  das  Jeu  de  liobin  et  Marion,  welches  das 
ans  den  pastourellen  bekannte  schäferpaar  nebst  ihren  ge- 
nossen, ihren  Unterhaltungen  und  spielen  auf  die  bübne  bringt 
und  den  dialog  mit  einer  reihe  von  Strophen  und  refrains  aus 
pastourellen  untermischt.  Die  handlung  selbst  ist  aus  den 
pastourellen  entnommen,  im  ersten  teil  aus  einer  erzählenden 
pastourelle  im  stile  der  oben  s.  109  wiedergegebeuen,  im  zweiten 
teil  aus  mehr  beschreibenden  pastourellen:  Adam  hat  also 
durch  dramatisierung  der  pastourelle,  durch  Unterdrückung  der 
erzählenden  partien  und  erweiterung  des  dialogs,  das  erste 
beispiel  einer  neuen  dramatischen  gattung  geschaffen.  Von  der 
nahen  berührung  des  Stückes  mit  der  lyrischen  gattung  der 
pastourelle  sowie  von  dem  Charakter  der  dichtung  gibt  die 
begegnung  des  ritters  Aubert  mit  Marion  eine  passende  Vor- 
stellung. Marion  wird  singend  vom  ritter  augetroffon  und  gibt 
ihm  in  ländlicher  naivetät  auf  seine  fragen  nach  jagdbaren 
vögeln  verkehrte  antworten.  Schliesslich  wird  der  ritter  kühn 
und  bittet  um  ihre  liebe  (ausgäbe  von  Lauglois  vers  57 — 107; 
die  gesungenen  partien  sind  kursiv  gedruckt,  M.  bedeutet 
Marion,  Ch.  Chevalier): 

Ch.  Or  dites,  douche  bergerette, J)  Je  n'ameroie  que  Rubin. 

Ameries  vous  un  Chevalier?  II  vient  au  soir  et  au  matin 

M.    Biaus  sire,  traies  vous  arrier!  A  ini,  toudis  et  par  usage, 

Je  ne  sai  que  Chevalier  sont.  Et  m'aporte  de  sen  iroumage. 

Desour   tous   les  hoimnes   dou  Encore  en  ai  jou  en  ujou  sein 

mont  Et  une  grant  pieche  de  pain 


*)  Die  mundart  ist  pikardisch  oder  artesisch  (worüber  s.  351,  405,  471 
zu  vergleichen)  mit  einzelnen  francischen  formen  wie  chtvalier  u.  ä.  Speziell 
pik.  ist  auch  die  betonte  form  mi  =  nie,  moi. 


400 


XIII.  Kapitel.    Neue  Knnstformen  im  in.  Jahrhundert. 


Qne  il  m'aporta  a  prangiere. 
Ch.  Or  me  dites,  douche  bergiere, 

Yaurries  vons  venir  avec  moi 

Jouer  sonr  che  bei  palefroi, 

Selonc  che  bosket  en  che  val? 

Aiuii!  sire,  ostes  vo  cheval! 

A  poi  que  il  ne  nfat  blechie. 

Li  Robin1)  ne  regiete  mie 

Quant  je  vois  apres  se  carue. 

Bergiere,  devenes  ma  drue 

Et  faites  chon  que  je  vous  pri. 

Sire,  traies  ensus  de  mi! 

Chi  estre  point  ne  vous  afiert. 

A  poi  vos  chevaus  ne  me  fiert. 

Comment  vous  apele  on? 

Aubert. 

Vous  perdes  vo  paine,  sire  Aubert. 

Je  n'amerai  autre  que  Robert. 

Non  bergiere? 

Non,  par  me  foi. 
Ch.  Cuideries  empirier  de  moi, 

Qui  si  loinc  getes  me  proiere? 

Chevaliers  sui  et  vous  bergiere. 
M.    Ja  poar  chou  ne  vous  amerai: 


M 


Ch 


M 


Ch 
M. 

Ch 

M. 


ßergeronette  mi,  mais  fai 

Ami  bei  et  cointe  et  gai.*) 

Ch.  Bergiere,  Dieus  vous  en  doinst 

goie ! 

Puis  qn'ensi  est,  j'irai  me  voie. 

Ilui  mais  ne  vons  sonnerai  mot. 

M.     Trairi  deluriau  deluriau  ddu- 

relle, 
Trairi  deluriau  deluriau  delu- 
rot.3) 
Ch.  Hui    main    je    kevaucoie    les 
Voriere  d*un  bois, 
Trouvai    gentil    bergiere,    tant 

belle  ne  vit  rois. 
He!    trairi    deluriau    deluriau 

delurelle 
Trairi  deluriau  deluriau  delurot. 
M.    He,  Robechon, 

Leure,  leure  va.3) 
Car  vien  a  mi, 

Leure,  leure  va. 
S'irons  jouer 
Dou  leure  leure  va, 
Dou  leure  leure  va. 


Als  Robin  kommt,  entspinnt  sich  zwischen  ihm  und  seiner 
amie  ein  harmloskindliches  spiel  in  gemeinsamer  mahlzeit, 
Unterhaltung  und  tanz.  Aber  ritter  Aubert  kehrt  zurück,  miss- 
handelt Robin  und  entführt  Marion,  die  sich  jedoch,  vermöge 
eigener  kraft  wieder  freimacht  und  eilends  zurückkommt. 
Während  der  ländlichen  spiele,  die  nun  folgen  und  an  denen 
Robins  vettern  nebst  Huart  und  Peronnelle  teilnehmen,  findet 
Robert  gelegenheit,  seinen  mut  wenigstens  gegenüber  einem 
wolf  zu  zeigen,  dem  er  ein  aus  Marions  herde  geraubtes  lamm 
wieder  abjagt.  Zur  belohnung  dafür  wird  er  vom  Spielleiter, 
dem  rot,  mit  Marion  verlobt.  Hat  Adam  handlungen  und  per- 
sonen  auch  aus  poetischen  Vorbildern  entnommen,  so  ist  seine 
schilderug  im  einzelnen  doch  sichtlich  naturgetreu,  realistisch 
im    guten   sinne    des   Wortes.      Die   den  mittelpunkt   bildende 


l)  Li  in  ursprünglichem,  demonstrativen  sinn  (=  celui  de  Robin).  — 
2)  Vgl.  dazu  den  refrain  s.  169.  —  3)  Refrainworte  ohne  besondere 
bedeutnngr. 


3.  Das  weltliche  Theater:  Adam.  —  Folgerungen.  491 

liebe  zwischen  Robin  und  Marion  ist  ebenso  anmutig:  und  /.:iri 
als  frisch  und  natürlich  dargestellt.  —  Von  einem  anderen 
dichter  wurde  nach  Adams  tod  ein  Vorspiel,  Ju  (Jeu)  du 
Phlerin  hinzugefügt,  in  welchem  ein  pilger  von  Adams  grab 
in  Neapel  erzählt  und  das  man  der  gattung  der  dramatischen 
monologe  zurechnen  kann. 

E.  Folgerungen.  So  sind  durch  diese  ältesten  proben 
des  profandramas  sehr  verschiedene  gattungen  vertreten,  die  im 
wesentlichen  auch  in  der  späteren  entwicklung  wiederkehren: 
das  satirisch  gehaltene  'Laubenspiel'  rindet  seine  nachfolger 
in  den  soties  (eigentlich  'narrenspiele',  zu  sot  narr)  des  15. 
und  16.  Jahrhunderts;  'Knabe  und  Blinder'  ist  ein  beispiel  der 
echten  farce,  die  selbst  bei  Moliere  ihren  derbkomischen 
Ursprungscharakter  häufig  noch  bewahrt  hat  (Mariage  force, 
Fourberies  de  Scapin  u.  a.).  Die  Jongleurdramen  sind  nichts 
anderes  als  die  monologues  dramatiques  des  15.  und  16.  Jahr- 
hunderts. Nur  das  Singspiel  von  Robin  et  Marion  bleibt  auf 
lange  zeit  hinaus  vereinzelt,  es  ist  eine  echte,  über  der  farce 
stehende  comedie,  die  sich  nicht  nur  durch  einmischen  von 
gesangstücken,  sondern  auch  durch  die  wähl  des  hirtenlebens 
in  besonderer  hinsieht  charakterisiert.  Erst  im  16.  und  17.  Jahr- 
hundert begegnen  bergerie  und  comedie  pastoräle  als  besondere 
gattungen  wieder,  und  das  Singspiel  in  modernem  sinn  (Vaude- 
ville  —  Opera  comique)  erscheint  erst  im  18.  Jahrhundert.  Um 
so  höher  ist  das  verdienst  Adams  de  le  Haie  einzuschätzen, 
welcher  zwar  nicht  als  erfinder  des  profandramas  gelten  kann, 
aber  innerhalb  desselben  zwei  inhaltlich  und  teilweise  auch 
bühnentechnisch  originelle  stücke  gedichtet  hat. 

Vgl.  E.  Faral,  Les  mimes  francais,  P.  1910.  —  Le  gargon  et 
l'avuegle  hg.  v.  P.  Mever.  Jahrbuch  6,  163 ff.,  neue  ausg.  von 
M.  Roques,  P  1911  (Class*.  fr.).  Vgl.  Cohen,  Rom.  41  (1912)  346  ff. 
—  Le  Courtois  d'Arras,  p.  p.  E.  Faral,  P.  1911  (Class.fr).  — 
Adam  de  le  Haie:  vgl.  die  lit.  oben  s.  420,  dazu  die  ausg.  d. 
dramen:  Die  dem  Trouvere  A.  d.  1.  H.  zugeschriebenen  Dramen. 
Genauer  abdr.  von  A.  Rambeau,  Marburg  1886  (AA  58).  Vgl. 
L.  Bahlsen,  A.  d.  1.  H.'s  Dramen,  Marb.  1885  (AA  27).  —  Le  Jeu 
de  la  Feuillee  p.  p.  E.  Langlois  (Class.  fr.),  P.  1912.  —  Le  Jeu 
de  Robin  et  Marion  p.  p.  Ernest  Langlois,  P.  1896,  vgl.  dazu 
Langlois,  Rom.  24  (1895)  437  ff,  Tobler  LgrP  1896  s.  53  ff,  und 
Cloetta  ZfSL  20  (1896)  II  s.  28  ff.  Georg  Reichel,  Archiv  91  (1893) 
256  ff.     Rieh.  Meienreis,  Adams  R.  u.  M.,  Diss.  L.  1893.     Das  stück 


IV'J  XIII.  Kapitel.     Neue  Kunstfornien  im  13.  Jahrhundert. 

wurde  1896  in  Arras  wieder  aufgeführt;  vgl.  Beilage  zur  Allgem. 
Zeitung  (München)  no.  203,  2.  Sept.  1896;  Commemoration  d'Adam 
de  la  Halle,  P.  1896;  Julien  Tiersot,  Sur  le  jeu  Robin  et  Marion, 
P.  1898. 

Über  die  allgemeine  geschieh te  des  altfranz.  theaters  vgl.  die 
oben  s.  138  gegebene  literatur,  bes.  über  das  weltliche  drama:  Petit 
de  Juleville,  Les  Comediens  en  France  au  m.  ä.,  P.  1885;  La 
Comedie  et  les  moeurs  en  Fr.  au  m.  ä.,  P.  1886;  Repertoire  du  th. 
comique  en  Fr.  au  m.  ä.,  P.  1886.  Bedier,  RddM  1890,  bd.  99,  865  ff. 
Mortensen,  Profandramat  i  Frankrike,  Lund  1897.  Jacobsen,  Essai 
sur  les  origines  de  la  Comedie  en  France,  P.  1910  (extrait  de  la 
Rev.  de  Phil.  fr.).  Faral,  Les  Jongleurs  (oben  s.  76)  s.  231  ff. 
E.  Picot,  Le  monologue  dramatique.  Rom.  15  (1886)  358  ff,  16,  438  ff, 
17,  207  ff 

Textsammlungen:  Monmerque  et  Michel,  Le  th.  fr.  au  m.  ä., 
P.  1839.  Ancien  th.  fr.  p.  p.  A.  de  Montaiglon,  P.  1854,  3  vols. 
Ed.  Fournier,  Le  th.  fr.  avant  la  Renaissance,  P.  1872.  G.  Paris  et 
Ul.  Robert,  Miracles  de  Notre-Dame,  8  vols.,  P.  1876  —  93  (8.  d. 
a.  t.).  Ach.  Jubinal,  Mysteres  inedits  du  XVe  siecle,  2  vols.,  P.  1837 
(vgl.  Jul.  Poewe,  Spr.  u.  Verskunst  d.  Myst.  ined.,  Diss.  Ha.  1900). 
James  de  Rotschild  et  Em.  Picot,  Le  mistere  du  viel  testament, 
6  vols.,  P.  1888— 91  (S.  d.  a.  t.)  Le  Roux  de  Lincy  et  Fr.  Michel, 
Recueil  de  farces,  moralites  et  sermons  joyeux,  4  vols.,  P.  1837. 
P.-L.  Jacob,  Recueil  de  farces,  soties  et  moralites,  P.  1859.  Em.  Picot, 
Recueil  general  de  sotties  I— II,  P.  1902  u.  1905  (Sdat). 


Vierzehntes  Kapitel. 

Die  altfranzösische  Literatur 
vom   14.   zum  16.  Jahrhundert. 


Während  in  der  allgemeinen  politischen  entwicklung  die 
grenze  zwischen  mittelalter  und  neuzeit  auf  die  wende  vom 
15.  zum  16.  Jahrhundert  fällt,  bringt  für  die  französische 
literatur  erst  das  auftreten  der  Plejadendichter  in  der  mitte 
des  16.  Jahrhunderts  einen  tiefgehenden  und  folgenschweren 
bruch  mit  der  Vergangenheit.  Allerdings  hat  sich  dieser  brach 
langsam  vorbereitet  durch  das  Wiederaufleben  der  klassischen 
Studien,  durch  die  nachahmungen  antiker  dichtung  in  der 
neulateinischen  literatur,  durch  das  eindringen  antiker  mytho- 
logie  in  die  lyrik  der  burgundischen  schule  am  ende  des 
15.  Jahrhunderts,  sowie  durch  den  einfluss  der  italienischen 
literatur  auf  französische  lyrik  und  prosadichtung  in  der  ersten 
hälfte  des  16.  Jahrhunderts.  Aber  ebenso  sehr,  wenn  nicht 
noch  mehr,  hängt  die  dichtung  dieser  zeit  mit  den  formen  und 
ideen  des  mittelalters  zusammen.  Es  ist  die  zeit,  in  welcher 
die  alten  Überlieferungen  sich  allmählich  ausleben,  in  welcher 
einzelne  gattungen,  Stoffe  und  formen  verschwinden  oder  Um- 
wandlungen erfahren,  die  zeit,  in  welcher  einzelne  Symptome 
bereits  auf  die  kommende  Wendung  hindeuten.  Im  ganzen 
also  ist  es  eine  zeit  des  Übergangs,  von  manchen  als  'mittel- 
französischer Zeitraum'  aufgefasst  und  bezeichnet.  Die  dich- 
terische begabung  einzelner  persönlichkeiten  aus  dieser  epoche 
ist  ebenso  wenig  zu  bestreiten  wie  die  bedeutung  eben  dieser 
epoche  für  die  Vorbereitung  der  literatur  der  folgezeit.  Aber 
doch  ist  es  erst  diese,  welche  die  schöpferischen  ideen  hervor- 


494     XIV.  Kapitel.   Die  altfr.  Literatur  vom  14.  zum  16.  Jahrhundert. 

bringt  und  systematisch  zu  verwirklieben  sucht.  Daher  wird 
man  die  zwreihundertundfünfzig  jähre,  welche  zwischen  der 
blütezeit  der  altfranzösischen  literatur  und  der  renaissance- 
dichtung  liegen,  am  besten  als  eine  besondere  periode  inner- 
halb der  altfranzüsischen  literatur,  als  ihre  endperiode,  auf- 
fassen und  darstellen. 

Diejenigen  literarischen  eigentümlichkeiten,  welche  mehr 
oder  weniger  als  charakteristisch  für  den  ganzen  Zeitraum 
gelten  dürfen,  verknüpfen  denselben  mit  der  unmittelbar  vor- 
hergehenden entwickluug  des  13.  Jahrhunderts:  so  —  unter 
fortdauerndem  einfluss  des  Rosenromans  und  seines  kreises  — 
die  neignng  zur  allegorie,  die  Vorliebe  für  satire  und  didaxis, 
überhaupt  die  wachsende  bedeutung  der  belehrenden  wissen- 
schaftlichen literatur,  endlich  die  beliebtheit  der  mehr  und 
mehr  zur  anwendung  kommenden  prosaform  und  die  entwick- 
luug des  bisher  nur  in  einzelnen  proben  vorhandenen  dramas. 
Aber  es  ist  auch  selbstverständlich,  dass  trotz  solch  allgemeiner 
tendenzen  ein  Zeitraum  von  250  jähren  mancherlei  abstufungen 
und  entwicklungsstadien  zeigt,  sei  es  in  aufsteigender,  sei  es 
absteigender  richtung.  Die  am  wenigsten  fruchtbare  und 
schöpferische  periode  ist  das  vierzehnte  Jahrhundert:  es 
pflegt  im  wesentlichen  die  traditionen  des  13.  Jahrhunderts 
weiter,  lässt  einige  alte  gattungen  —  wie  versepos  und  fablel 
—  vollends  untergehen,  bildet  einige  lyrische  dichtformen 
(ballade,  chant  royal  etc.)  aus  und  zeigt  in  der  hauptsache 
nur  auf  dem  rein  wissenschaftlichen  gebiete  neue  ansätze:  eine 
anzahl  antiker  Schriftsteller  (Aristoteles  —  Livius,  Sallust, 
Cicero  u.  a.)  werden  durch  Übersetzungen  dem  allgemeinen 
Verständnis  zugänglich  gemacht.  So  erscheint  auch  als  be- 
deutendster Schriftsteller  des  Jahrhunderts  der  historiker 
Froissart.  Die  bedeutung  der  lyriker  neben  ihm  —  Guillaume 
de  Machaut,  Eustache  Deschamps  —  liegt  im  wesentlichen  auf 
formalem  gebiet. 

Weit  fruchtbarer  ist  dem  gegenüber  das  fünfzehntejahr- 
hundert.  Bildet  es  auch  die  rhetorisch-gekünstelte  lyrik  der 
burgundischen  schule  aus,  so  stehen  daneben  doch  echte  lyriker 
wie  vor  allem  Francois  Villon.  Einen  grossen  aufschwung 
nimmt  das  theater,  das  jetzt  in  grosser  zahl  nicht  nur  geist- 
liche  miracles  und  mysferes,   sondern   auch   weltliche   stücke 


Historische  Übersicht.  495 

hervorbringt  wie  historische  mysterien.  lnstspiele  und  possen 
(farces),  satirische  und  politische  stücke  (softes)  sowie  die  auf 
der  grenze  zwischen  geistlichem  und  weltlichem  theater 
stehenden  »loral/ti's.  Der  schon  jetzt  beginnende  italienische 
einrluss  ruft  die  prosanovelle  hervor,  welche  darnach  im 
16.  Jahrhundert  so  eifrige  pflege  findet.  Eine  reaktion  gegen 
den  Rosenroman.  gegen  die  einseitige  beurteilung  der  frau 
durch  Jehan  de  Meung.  bildet  das  auftreten  der  Christine  de 
Pisau,  der  „ersten  frauenrechtlerin  *',  wie  sie  Gröber  nennt. 
Das  nahen  der  renaissancebewegung,  der  befreiuung  von  mittel- 
alterlichen formen  und  Vorurteilen,  macht  sich  schon  bemerkbar. 

Die  erste  hälfte  des  sechzehnten  Jahrhunderts  bildet 
die  eigentliche  vorbereitungszeit  der  renaissance.  Die  zunächst 
noch  auf  die  gelehrten  sich  beschränkenden  humanistischen 
Studien  ermöglichen  das  Verständnis  nicht  nur  der  lateinischen, 
sondern  auch  der  griechischen  autoren  und  ihre  Übersetzung 
in  die  französische  spräche.  Ist  auch  zunächst  der  unmittel- 
bare einfluss  der  antike  noch  gering,  bleibt  auch  das  drama 
bis  zum  auftreten  Jodelles  völlig  in  den  mittelalterlichen  formen 
befangen,  so  zeigt  doch  die  lyrische  dichtung  ebenso  wie  die 
novelle  in  reichem  masse  italienische  einflüsse,  in  deren  gefolge 
auch  die  humanistischen  ideen  eingang  finden.  Rabelais  ist 
ein  durchaus  humanistisch  gebildeter  und  von  freien  refor- 
matorischen ideen  beseelter  geist,  er  bedient  sich  der  über- 
lieferten formen,  um  sie  mit  neuem  inhalt  zu  erfüllen.  Huma- 
nistische bilduug  ist  bei  den  dichtem  der  zeit  überhaupt  in 
reichem  masse  vorhanden,  reformatorische  ideen  sind  bei  vielen 
von  ihnen  verbreitet,  einzelne  extreme  geister  wie  Bonaveuture 
des  Periers  verlockt  die  begeisterung  für  die  antike  zur  er- 
klärten freigeisterei. 

So  steht  in  der  ersten  hälfte  des  Jahrhunderts  altes  und 
neues  unvermittelt  nebeneinander,  bis  die  Piejadendichter  auf- 
treten und  in  theorie  und  praxis  die  nachahmung  der  antiken 
literatur  als  mittel  zur  erreichung  der  höchsten  stufe  in  der 
poesie  zum  System  machen,  wobei  sie  freilich  ein  übergrosses 
gewicht  auf  die  form  legen  und  dem  geist  der  zeit  nicht 
immer  ganz  gerecht  werden.  Immerhin  war  der  bruch  mit 
der  Vergangenheit  ein  so  vollständiger,  dass  von  der  Plejade 
ab  die  Verachtung  und  Unkenntnis  der  altfranzösischen  literatur 


496     XIV.  Kapitel.    Die  altfr.  Literatur  vom  14.  zum  10.  Jahrhundert. 

datiert,  soweit  diese  nicht  in  drucken  des  15.  und  16.  Jahrhunderts 
fortlebte.  Erst  der  neuen  zeit,  dem  18.  und  in  reichstem  masse 
dem  19.  Jahrhundert,  blieb  es  vorbehalten,  die  bedeutung  der 
altfranzösischen  literatur  an  und  für  sich  wie  in  entwicklungs- 
geschichtlicher hinsieht  wieder  in  das  rechte  licht  zu  stellen. 

Eine  ausführliche  darstellung  des  hier  nur  kurz  behandelten 
Zeitraums  wird  Ferdinand  Heuckenkamp  in  einem  besonderen  bände 
dieser  Sammlung  geben.  Vgl.  von  bisherigen  darstellungen:  1 1 ist. 
litt,  de  la  France,  bd.  24ff.  G.  Paris,  Poesie  II  186 ff.  (XIVe  siecle), 
213ff.  (XVe  siecle).  Suchier  und  Birch- Hirschfeld,  Lit.  s.  234ff, 
309  ff.  Gröber  b.  729  ff,  1037  ff  Verschiedene  abschnitte  in  Petit 
de  Jve.,  Hist.,  bd.  II  und  III,  bes.  von  Petit  de  Julleville  (Lea  derniers 
poetes  —  Le  theätre),  Piaget  (Litt,  didactique  —  Sermonnaires  et 
tradueteurs),  Ch.  V.  Langlois  (L'historiographie).  —  Textproben  für 
14.  nnd  15.  Jahrhundert  in  den  chrestomatien  von  Bartsch,  Constans, 
Clödat,  Vgl.  ferner  für  lyrik  Eng.  Ritter,  Poesies  des  XIV e  et 
XVe  siecles,  Genf  1880,  G.  Paris,  Chansons  du  XVe  siecle,  P.  1875 
(Sdat),  Rud.  A.  Meyer,  Franz.  Lieder,  Ha.  1907  (Beiheft  8  zur  ZrP); 
für  geschichte  die  Extraits  des  chroniqueurs  fr.  (s.  oben  s.  466).  — 
Für  das  16.  Jahrhundert  vgl.  Sainte-Beuve,  Tableau  hist.  et  crit. 
de  la  poesie  fr.  au  XVIe  siecle,  P.  1828  u.  ö.  Aug.  Brächet, 
Morceaux  choisis  des  grands  ecrivains  fr.  du  XVI e  s.,  P.  1875  u.  ö. 
A.  Darmesteter  et  Ad.  Hatzfeld,  Le  seizieme  siecle  en  France, 
P.  1878  u.  ö.  Birch-Hirschfeld,  Gesch.  d.  franz.  Litt,  seit  Anfang 
des  XVI.  Jahrhunderts,  I,  Stuttgart  1889.  H.  Morf,  Geschichte  der 
neuern  franz.  Literatur,  I  (Renaissance),  Str.  1898.  Ferd.  Brunetiere, 
Hist.  de  la  litt.  fr.  classique,  t.  I,  1  (Renaissance),  P.  1904,  I,  2,  1911. 
Textausgaben:  Sammlung  franz.  Neudrucke  hrsg.  von  K.  Vollmöller, 
9  bde.,  Heilbronn,  1881 — 1888,  und  Societe  des  textes  fr.  modernes, 
P.  1906  ff.  Proben  bei  Brächet  und  Darmesteter  et  Hatzfeld.  — 
Über  das  theater  vgl.  die  oben  s.  492  gegebene  literatur.  —  Über 
die  novelle:  Pietro  Toldo,  Contriburo  allo  studio  della  novella 
francese  del  XV  e  XVI  secolo,  Roma  1895.  G.  Paris,  La  nouvelle 
francaise  aux  XVe  et  XVI  °  siecles,  JdSav  1895  s.  289 ff,  342 ff, 
auch  sep.  Karl  Vossler,  Zu  den  Anfängen  d.  franz.  Novelle,  StvglL  2 
(1902)  3ff  E.  Langlois,  Nouvelles  inedites  du  XVesiecle,  P.  1908. 
W.  Söderjhelm,  La  nouvelle  fr.  au  XV e  siecle,  P.  1910.  W.  Küchler, 
Die  Cent  nouvelles,  ZfSL  30  (1906)  264 ff,  31,  39 ff.  —  Lyrik: 
Über  das  fortleben  der  lieder  der  mal  maricc  und  der  pastourelle 
s.  Parducci,  Rom.  38  (1909)  286ff,  ZrP  34  (1910)  55ff,  über  die 
ballade  s.  Davidson  (s.  oben  s.  461),  zum  rondel  vgl.  Stengel  ZfSL  19 
(1897)  281  ff,  zur  bürg,  schule  G.  Doutrepont,  La  litt.  fr.  ä  la  cour 
des  ducs  de  Bourgogne,  P.  1908;  H.  Guy,  Histoire  de  la  poesie  fr.  au 
XVIe  siecle,  I  (Les  rhetoriqueurs),  P.  1910.  Im  übrigen  s.  spezial- 
bibliographie  bei  Petit  de  Juleville,  Gröber,   Birch-Hirschfeld,  Morf. 


Erzählende  und  unterhaltende  Dichtung.  497 


A.    Erzählende  und  unterhaltende  Dichtung. 

Wie  im  ganzen,  ausser  in  drama  und  predigt,  tritt  auch  in 
der  erzählenden  dichtung  das  geistliehe  element  mehr  und  mehr 
zurück,  nur  wenige  legendenbearbeitungen  gehören  noch  unserem 
Zeitraum  an.  Zahlreicher  sind  die  heldenepen  vertreten,  deren 
letzte  ausläufer.  zumeist  genealogische  dichtungen,  in  das 
14.  Jahrhundert  hereinragen:  aus  dem  Merovingerkreis  Charles 
le  Chauve  und  Florent  et  Oclavicn,  aus  dem  Rolandskreis  zwei 
einleitende  dichtungen,  die  Entree  en  Espagne  und  die  Prise 
de  Pampelune,  beide  in  Italien  gedichtet,  die  Prise  sowie  der 
zweite  teil  der  Entree  von  Nicola  da  Verona;  die  Wilhelms- 
geste wird  durch  die  Enfances  Garin  de  Monglane,  die  geste 
von  Nanteuil  durch  den  Tristan  de  Nanteuil,  die  dichtung 
von  den  Haimonskindern  durch  Maugis  d,Aigremo?it  und 
Vivien  Vamachour  de  Monbranc  ergänzt.  Ein  Spätling  ist  auch 
das  dem  Stammvater  der  Capetinger  gewidmete  epos  Hugon 
Capet,  welches  den  mütterlicherseits  aus  einer  schlächter- 
familie  stammenden  beiden  zum  retter  der  verwitweten  königin 
und  dadurch  zum  verlobten  ihrer  tochter  Marie  und  könig  von 
Frankreich  werden  lässt.  Einem  ähnlichen  bestreben  verdankt 
auch  das  dem  geschlecht  der  vizegrafen  von  Bourges  geltende 
epos  Lion  de  Bourges  seine  entstehung,  welches  die  taten 
dieses  helden  im  anschluss  an  die  in  derselben  handschrift 
sich  findende  Huondichtung  berichtet  und  in  die  deutsche  lite- 
ratur  als  prosaroman  von  Herpin  von  Bourges  übergegangen 
ist.  Nicht  mit  dem  alten  helden  Huon  verwant  ist  der  von 
Stengel  in  einer  reihe  von  teildrucken  behandelte  Huon 
d'Auvergne,  der  (wie  Entree,  Prise,  Auberon  und  Nicolö's  da 
Casola  Attila)  in  Italien,  und  zwar  in  Venedig,  entstanden  ist 
und  dessen  hüllenfahrt  möglicherweise  schon  unter  dem  ein- 
fluss  von  Dantes  Inferno  steht.  Durch  originelle  erfindung,  be- 
sonders komischer  und  satirischer  art,  zeichnet  sich  der  dem 
kreuzzugszyklus  angehörige  (in  der  gegend  von  Valenciennes 
verfasste)  Baudouin  de  Sebourg  aus,  neben  den  sich  als  letztes 
glied  des  zyklus  der  Bastart  de  Bouillon  stellt.  Auch  das 
antike  epos  findet  seine  letzten  ergänzungen:  in  den  Voeux  du 
paon  und   seinen   fortsetzungen   (Alexandergeste),   in   der  von 

Voretzach,   Stadium  d.  afrz.  Literatur.     2.  Auflage.  32 


XIV.  Kapitel.    Die  altfr.  Literatur  vom  14.  zum  16.  Jahrhundert. 

Nicola  von  VeroDa  Dach  Lucan  und  Faits  des  Romains  1343 
verfassten  Pharsale  und  in  den  gleichfalls  in  Italien  entstandenen 
Enfances  Hector. 

Eine  Umgestaltung,  wenngleich  keinen  fortschritt  zum 
bessern,  sondern  vielmehr  den  Übergang  zu  Weitschweifigkeit 
und  endloser  länge  bedeutet  das  umdichten  alter  zehnsilbner- 
epen  in  alexandrinerlaissen,  das  seit  dem  ende  des  13.  Jahr- 
hunderts (Girart  de  Viane),  besonders  im  14.  Jahrhundert 
geübt  wird  (Ogier  der  Däne,  Girart  von  Roussillon,  Garin  der 
Lothringer,  Huon  von  Bordeaux  u.  a.).  Die  letzte  und  häufigste 
entwicklungsstufe  aber  bildet  die  Umarbeitung  von  alten  helden- 
epen  in  prosa,  wozu  die  alexandrinerversion  häufig  die  mittel- 
stufe  bildet.  Mit  dem  Galien  le  restore  beginnt,  wie  es  scheint, 
am  ende  des  13.  Jahrhunderts  die  prosawut  auch  auf  diesem 
gebiet,  fast  alle  bekannten  epen  sind  diesem  Schicksal  ver- 
fallen und  in  dieser  gestalt  den  buchdruckereien  überliefert 
worden,  so  dass  der  inhalt  der  alten  epen,  wenn  auch  meist 
in  sehr  entstellter,  nüchterner  form,  den  folgenden  Jahr- 
hunderten erhalten  blieb.  Hie  und  da  bildet  die  prosa- 
bearbeitung  den  einzigen  rest  der  alten  dichtung  wie  bei 
Loher  und  Maller  (Maillart),  der  uns  nur  aus  deutscher  Über- 
lieferung bekannt  ist,  aber  nach  der  angäbe  am  schluss  im 
jähre  1405  (aus  dem  lateiu)  auf  französisch  niedergeschrieben 
wurde  und  mancherlei  berührungen  mit  alten  Überlieferungen 
(Floovent,  vgl.  oben  s.  84,  Gormont  und  Isembart,  Anse'is  de 
Cartage)  zeigt.  Einige  dieser  romane,  wie  z.  b.  der  von 
Meurvin  (Ogiers  söhn),  Gerard  d'Euphrate,  Thcseus  von  Köln, 
mögen  auch  ohne  versvorlage  entstanden  sein,  lassen  aber 
auch  dann  keine  Originalität  der  erfindung  erkennen.  Es  tritt 
uns  in  diesen  prosaromanen  meist  eine  pedantische,  aufs 
nüchtern -logische  gerichtete  auffassung  und  bearbeitung  der 
alten  dichtungen  und  ihrer  ideale  entgegen. 

Eine  ähnliche  entwicklung  zeigt  auch  der  höfische 
roman,  nur  dass  sie  hier  viel  früher  einsetzt  und  schon  seit 
anfang  des  13.  Jahrhunderts  zum  entstehen  grosser  prosaromane 
führt,  Kur  noch  vereinzelt  begegnen  daher  im  14.  Jahrhundert 
versdichtungen  wie  La  Dame  a  la  lycome  (der  liebes- 
roman  einer  edelfrau,  die  vom  liebesgott  zur  hüterin  eines 
einhorns  bestellt  wird;  der  anfang  in  zehnsilbnern,  der  haupt- 


Erzählende  uud  unterhaltende  Dichtung.  499 

teil  in  aehtsilbnern,  mit  eingestreuten  liedern),  wie  Richard  le 
,  Brun  de  la  Montaigne  und  Lion  de  Bourges,  der  uns 
bereits  als  ehanson  de  geste  bekannt  ist.  Am  beliebtesten 
blieb  von  allen  gattungen  des  höfischen  romans  der  liebes- 
roman:  so  wurde  der  ManekinestofT  im  14.  Jahrhundert  noeh 
zweimal  bearbeitet  in  der  Comtesse  d'Anjou  und  in  der  Belle 
Helene  (die  hier  als  mutter  des  hl.  Martin  erscheint).  Das 
ende  der  entwicklung  ist  auch  hier  die  prosaform:  Jean 
Wauquelin  aus  Mons  tiberträgt  gegen  mitte  des  15.  Jahr- 
hunderts die  Helene  ebenso  wie  vorher  den  Girart  de  Roussillon 
in-prosa.  Die  in  Poitou  heimische,  an  das  geschlecht  der  grafen 
von  Lusignan  geknüpfte  Melusinensage  wird  nahezu  gleichzeitig, 
ende  des  14.  und  anfang  des  15.  Jahrhunderts,  von  Jehan 
d 'Ar ras  als  prosaroman,  von  Coulo rette  als  versroman 
bearbeitet.  Den  von  R.  Kaltenbach  (Erlangen,  Rom.  Forsch., 
1904)  neu  veröffentlichten  roman  Paris  et  Vienne  kennen  wir 
nur  in  prosaform,  er  ist  von  einem  Provenzalen,  Pierre  de  la 
Cepede  aus  Marseille,  auf  französisch  verfasst  und  nach 
dessen  angäbe  aus  dem  provenzalischen  tibersetzt.  Nachklänge 
der  Artusdichtung  endlich  sind  prosaromane  wie  Perceforest 
und  der  mit  erinneruugen  an  den  Huon  von  Bordeaux,  be- 
sonders an  die  figur  Auberons,  reichlich  durchsetzte  Ysa'ie  le 
Triste. 

Einen  fortschritt  in  inbalt  und  tendenz.  eine  annäherung 
an  den  wirklichkeitsroman  bedeutet  es,  dass  einzelne  dichter 
anfangen,  persönlichkeiten  der  jüngsten  Vergangenheit  zum 
gegenständ  biographischer  romane  zu  machen.  So  besingt  in 
der  form  der  ehanson  de  geste  Cuvelier  um  1384  leben 
und  taten  des  aus  dem  kriege  gegen  die  Engländer  und  aus 
anderen  kriegen  bekannten,  1380  gefallenen  Conn^table  Bertrand 
Duguesclin,  und  im  folgenden  Jahrhundert  schreibt  Antoine 
de  la  Säle  seinen  biographischen  prosaroman  Le  Petit  Jehan 
de  Saintre,  in  welchem  historische  Verhältnisse  und  persönlich- 
keiten romanhaft  verarbeitet  werden. 

Von  einem  alten  prosaroman  tiber  den  riesen  Gargantua 
hingegen  geht  Rabelais  aus,  als  er  seinen  Gargantua  und 
Pantagrael  schreibt.  Er  ist  der  eigentliche  Schöpfer  des 
modernen  romans,  er  zuerst  hat  moderne  ideen  und  probleme 
in   seinem   roman   dargestellt  und  erörtert.     Demgegenüber  ist 

32* 


500     XIV.  Kapitel.    Die  altfr.  Literatur  vom  14.  zum  H>.  Jahrhundert. 

das  Wiederaufleben  des  ritterromans  in  der  Übersetzung  des 
spanischen  Amadis  de  Gaula  durch  Herberay  des  Essarts 
(1540 — 48)  als  ein  —  noch  auf  den  roman  des  17.  Jahrhunderts 
wirkender  —  rückschritt  in  der  entwicklung  des  romans  zu 
bezeichnen. 

Der  allegorische  roman  wahrt  auch  weiterhin  seine  be- 
liebtheit,  wie  die  schon  früher  (s.  485  f.)  genannten  allegorischen 
dichtungen  des  14.  Jahrhunderts,  die  Pelerinages  Guillaumes 
de  Deguilleville,  die  Prise  amoureuse  Jehans  Acart,  das 
Chapel  de  fleurs  de  lis  Philippes  von  Vitry  u.  a.  beweisen. 
Auch  der  Rosenroman  selbst  bleibt  in  gunst,  trotz  der 
proteste,  welche  gegen  seine  Verunglimpfung  der  frauen  er- 
hoben werden.  Am  ende  des  15.  Jahrhunderts  gibt  Jean  Molinet 
eine  prosabearbeitung  des  romans,  und  Clement  Marot  be- 
arbeitet den  alten  verstext  für  eine  neuausgabe  im  druck.  In 
lyrischer  wie  dramatischer  dichtung  ist  der  einfluss  des  Rosen- 
romans und  seiner  allegorien  zu  verspüren.  Auch  das  tier- 
epos  ist  mit  dem  50000  verse  umfassenden  llenurt  le  contrefait 
(1319—1322  in  Troyes  verfasst,  1328—1341  umgearbeitet)  ganz 
im  gefolge  der  allegorisch-lehrhaften  dichtung,  ebenso  wie  der 
allegorisch -satirische  roman  vom  pferd  Fauvel  (symbol  der 
falschheit). 

Wie  aus  dem  alten  versroman  allmählich  der  moderne 
prosaroman,  geht  aus  den  novellenartigen  dichtungen  des 
mittelalters  die  prosanovelle  hervor.  Die  anfange  dazu  bot 
schon  die  vorige  epoche  mit  Aucassin  et  Nicolete,  Comtesse  de 
Ponthieu,  Flore  et  Jthanne  u.  a.  Es  handelt  sich  also  zunächst 
um  eine  selbständig  in  Frankreich  entstandene  literaturgattung 
(gewöhnlich  als  istoire  bezeichnet),  und  eine  Weiterbildung 
derselben  in  der  richtung  ihrer  anfange  als  liebesnovelle  würde 
von  selbst  zu  dem  geführt  haben,  was  wir  unter  dem  begriff 
der  modernen  novelle  verstehen.  Die  entwicklung  ist  aber  in 
der  folgezeit  durch  einwirkung  der  italienischen  novella  gestört 
worden,  welche  nicht  nur  den  namen  für  die  neue  gattung 
bringt,  sondern  ihren  begriff  auch  wesentlich  beeinflusst,  d.  h. 
erweitert,  indem  sie  ausser  der  episodenhaften  liebesgeschichte 
auch  erzählungen  scherzhaften  und  selbst  obscönen  Charakters, 
wie  alte  fablelstoffe,  auch  anekdoten,  bonmots  und  dergleichen 
aufnimmt  (Cento  novelle  antiche  —   Boccaccios  Decamerone). 


Erzählende  und  unterhaltende  Dichtung.  501 

Eine  anzahl  französischer  und  provenzaliseher  ei/.iihluugsstoffe 
gelangen  so  auf  dem  umwege  Über  Italien  als  prosanovellen 
wieder  nach  Frankreich  zurück,  wo  die  fableldiehtung  seit 
anfang  des  14.  Jahrhunderts  erloschen  ist  (s.  oben  s.  456).  Was 
das  14.  Jahrhundert  an  prosanovellen  bietet,  ist  freilich  wenig: 
die  christliche  novelle  von  Assencth  (Potiphars  tochter)  und 
Joseph,  die  sich  im  Miroir  historial,  in  der  franz.  Übersetzung 
des  Speculum  historiale  des  Vincenz  von  Beauvais  durch  Jean 
de  Vignay,  findet,  und  eine  dem  umfaug  nach  eher  einem 
roman  ähnliche  bearbeitung  der  geschiente  von  Tro'ilus  et 
Brise'ida  durch  Pierre  von  Beauveau,  welcher  aus  Boccaccios 
Filostrato  schöpft  (s.  oben  s.  286). 

Im  15.  Jahrhundert  jedoch  erscheint  die  novelle  im 
italienischem  sinn,  mit  italienischem  namen  und  zugleich,  wie 
dort,  in  umfangreichen  Sammlungen:  auf  die  älteste  französische 
Übersetzung  des  Decamerone  durch  Laurent  de  Premierfait 
im  anfang  des  Jahrhunderts  folgen  zwei  französische  Samm- 
lungen, einmal  die  berühmten  Cent  nouvelles  nouvelles  des 
schon  vorhin  erwähnten  Antoine  de  la  Salle  (um  1460) 
und  dann  eine  etwas  jüngere,  aber  weit  kunstlosere  anonyme 
Sammlung  von  43  nummern.  Die  erste  hälfte  des  16.  Jahr- 
hunderts bringt  eine  reihe  novellensammlungen,  die  bald  mehr, 
bald  weniger  italienischen  einfluss  verraten:  den  (bisher 
ungedruckten)  Recueü  des  Philippe  von  Vigneulles  (1515), 
den  Grand  Parangon  des  nouvelles  nouvelles  des  sattlers 
Nicolas  von  Troyes  (1536  — 1537),  die  erzählungen  des 
Bona  venture  des  Periers  {Nouvelles  reercations  et  joyeux 
devis,  1558  aus  dem  nachlass  gedruckt).  Als  meisterwerk 
der  gattung  erscheint  (erst  1558  gedruckt,  aber  1545 — 1549 
entstanden)  das  Hepiameron  der  königin  Margarete  von 
Navarra,  welche  auch  die  rahmengeschichte  des  —  1545 
aufs  neue  von  Le  Macon  ins  französische  übersetzten  — 
Decamerone  nachahmt. 

So  ist  am  schluss  der  periode  in  der  erzählenden  dichtung 
überall  die  prosa  siegreich  durchgedrungen  (abgesehen  von 
vereinzelten  dichtungen  wie  von  Bourdigne^s  Schelmenroman 
Legende  de  Pierre  Faifeu).  Die  novelle  findet  Weiterentwicklung 
und  reiche  entfaltung  unter  italienischem  einfluss.  Der  roman 
entwickelt  sich  erst  als  modernbiographischer  roman  freier  und 


502     XIV.  Kapitel.    Die  altfr.  Literatur  vom  14.  zum  16.  Jahrhundert. 

findet  seinen  höhepunkt  in  Rabelais,  „der  hoch  aufgerichtet 
der  französischen  Renaissance  voranschreitet",  aber  „noch  die 
Last  seines  Montage  auf  seinen  kraftvollen  Schultern  trägt" 
(Morf). 

B.    Das  Theater. 

Sowohl  das  ehedem  in  den  schlossern  und  nachher  auf 
den  öffentlichen  Strassen  von  den  Jongleurs  vorgesungene 
heldenepos  als  auch  der  vor  dem  vornehmen  publikum  vor- 
gelesene versroman  ist  mit  dem  ausgehenden  mittelalter  zur 
reinen  buchdichtung,  zum  leseroman  geworden.  In  dieser  hin- 
sieht, als  hörbare,  der  allgemeinheit  zugängliche  unterhaltungs- 
dichtung,  ist  epos  und  roman  ersetzt  worden  durch  das 
quautitativ  mehr  und  mehr  sich  ausbreitende  theater,  dessen 
älteste  überlieferte  denktnäler  uns  seit  dem  12.  und  13.  Jahr- 
hundert begegnet  sind,  das  aber  in  seinen  anfangen  noch, 
weiter  in  das  frühe  mittelalter  zurückreicht  (vgl.  oben  s.  78, 137, 
427,  486  ff.).  Das  14.  Jahrhundert  zeigt  freilich  nur  geringe 
fortschritte  auf  diesem  gebiet.  Das  durch  Adam  de  le  Haie 
im  13.  Jahrhundert  so  hervorragend  vertretene  weltliche  drama 
fehlt  fast  ganz,  abgesehen  von  einem  dialogischen  schwank 
(farce)  Eustaehes  Deschamps  'Maistre  Trubert',  in  welchem 
der  held  des  alten  Schelmenromans  (s.  oben  s.  457)  als  durch- 
triebener, aber  schliesslich  doch  geprellter  advokat  erscheint. 
Das  dramatische  hauptwerk  des  Jahrhunderts  sind  die  —  von 
verschiedenen  Verfassern  herrührenden,  aber  in  einer  hand- 
schrift  überlieferten  —  vierzig  Mira  des  de  Nostre  Dame 
par  personnages ,  dramatische  bearbeitungen  von  erzählenden 
Marienmirakeln  (wie  schon  im  13.  jahrhuudert  Rustebuefs 
Miracle  de  Theophile)  nach  Gautier  de  Coincy  und  anderen 
quellen  (Robert  le  Diable,  Barlaam  et  Josaphat  etc.),  mit  ein- 
gestreuten rondeaux,  die  von  den  engein  gesungen  werden. 
Diese  miraeles  wurden  nicht  mehr  in  oder  vor  der  kirche, 
auch  nicht  mehr  von  geistlichen  gespielt,  sondern  von  einer 
privaten  Vereinigung,  einem  Tuy  (vgl.  oben  s.  459).  Dadurch, 
dass  auch  das  ernste  drama  von  der  kirche  unabhängig  wurde, 
gewann  es  grössere  freiheit  der  entwicklung.  So  finden  wir 
schon  am  ende  des  14.  Jahrhunderts  (1395)  ein  ernstes  drama 
weltlichen  Charakters  in  der  Griseldis,  welche  die  aus  Boccaccios 


Du  Theater.  503 

novelle  (Dee.  X,  10)  bekannte  dulderin  vorführt.  Schliesslich 
fallen  auch  die  ältesten  moralites  noch  in  die  zweite  hälfte 
des  14.  Jahrhunderts:  allegorische,  auf  moralische  belehrung 
oder  politische  satire  ausgehende  stücke,  welche  zwar  auch 
vom  geistliehen  drama  ausgehen,  aber  im  ganzen  dem  profan- 
drania  zuzurechnen  sind.  Das  älteste  bekannte  stück  der  art 
stammt  von  Eustache  Deschamps  (1360):  das  Bit  des  qui 
Offices  de  Vostel  du  roi,  der  streit  von  küche,  Weinkeller,  brot- 
bäckerei  und  saucenbereitung. 

Im  15.  Jahrhundert  rinden  wir  eine  ausgedehnte  Pro- 
duktivität auf  allen  gebieten  des  dramas,  die  vor  allem  untertützt 
und  gefördert  wird  durch  die  verschiedenen  genossenschaften, 
welche  die  aufführung  der  einzelnen  dramatischen  gattungen 
in  die  band  nehmen.  Das  ernste  —  religiöse  oder  historische  — 
drama  wird  besonders  gepflegt  von  den  handwerkergenossen- 
schaften,  speziell  in  Paris  von  der  sog.  Confrerie  de  la  Passion, 
welche  seit  1402  das  kgl.  privileg  zur  aufführung  geistlicher 
dramen  für  Paris  und  umgegend  besitzt.  Die  heiteren  gattungen 
werden  durch  andere  gesellschaften  vertreten,  wie  für  Paris 
durch  eine  juristische  gesellschaft,  die  Basoche,  welche  das 
privileg  für  dramatische  aufführungen  an  bestimmten  fest- 
tagen  besass  und  unter  einem  roi  als  Vorsitzendem  stand,  und 
durch  die  Enfants  sans  souci,  welche  narrenstücke  aufführten, 
auch  darsteiler  für  die  komischen  rollen  in  den  ernsten 
stücken  der  Confrerie  hergaben  und  sich  selbst  sots,  ihren 
ersten  Vorsitzenden  prince  des  sots,  den  zweiten  mere  sötte 
nannten.  In  den  provinzialstädten  bestanden  ähnliche  gesell- 
schaften. 

Die  geistlichen  dramen,  wie  sie  uns  im  12.  und  13.  Jahr- 
hundert in  dem  anglonormannischen  Adamsspiel  und  in  der 
Resurrection  begegnet  sind,  erscheinen  seit  der  mitte  des 
15.  Jahrhunderts  unter  dem  namen  mysferes  (von  mysterium, 
unter  einwirkung  von  Ministerium).  Der  begriff  umfasst  auch 
das  ernste  historische  drama  wie  den  Siege  ä" Orleans  (bald  nach 
1429)  oder  Jacques  Milet's  Bestmction  de  Troie  (1450 — 52), 
im  wesentlichen  aber  die  drei  religiösen  cyclen:  Stoffe  des 
Alten  Testaments,  des  Neuen  Testaments  und  der  heiligen- 
geschichte.  Diese  mysterien,  60  an  zahl,  sind  teilweise  sehr 
umfangreich,  reich  an  personen  und  Szenenwechsel,  daher  auf 


504     XIV.  Kapitel.    Die  altfr.  Literatur  vom  14.  zum  16.  Jahrhundert. 

der  mysterienblihne  die  verschiedenen  örtlichkeiten  neben- 
einander dargestellt  waren  (s.  die  tafel  bei  Suchier  s.  286). 
Die  bekanntesten  mysterien  sind:  das  Mistbre  du  Vieil  Testa- 
ment (ausgäbe  Sdat)  eine  kompilation  von  nahezu  50  000  versen, 
aus  verschiedenen  stücken  bestehend,  die  aber  zusammen  auf- 
geführt wurden;  die  rund  34000  verse  zählende,  auf  vier 
tagesaufführungen  verteilte  Passion  von  Arnoul  Greban  (1450), 
der  zusammen  mit  seinem  bruder  Simon  auch  die  apostel- 
geschichte  in  62  000  versen  dramatisiert  hat;  endlich  zwei 
mysterien  von  Ludwig  dem  Heiligen,  darunter  das  mystbre 
de  la  vie  monseigneur  sainct  Loys  von  Pierre  Gringore 
(erstes  drittel  des  16.  Jahrhunderts).  Eine  innere  entwicklung 
lässt  sich  trotz  der  massenhaftigkeit  der  produktion  in  der 
mysteriendichtung  nicht  verfolgen.  Es  bleibt  dramatisierte 
epik  mit  einer  überfülle  von  personen  und  szenen.  Dazu 
schadete  die  einmischung  des  komischen  elements  auch  der 
auffassung  des  ernsten  und  heiligen.  So  wurde  durch 
beschluss  des  gerichtshofes  von  Paris,  des  sog.  Parlaments, 
die  dramatische  Vorführung  religiöser  stoffe  1548  über- 
haupt verboten,  so  dass  das  ende  der  charakteristischsten 
gattung  des  mittelalterlichen  dramas  mit  dem  auftreten  der 
klassischen  tragedie  (Jodelle's  Cleopätre  1552)  ziemlich  genau 
zusammenfällt. 

Von  den  gattungen  des  profandramas  ist  dem  geistlichen 
drama  die  allegorisch -lehrhafte  moralite  am  nächsten  ver- 
want.  Meist  bezeichnet  schon  der  titel  inhalt  und  tendenz 
des  Stückes  zur  genüge.  Bien- Avise,  Mal- Avise  (8000  verse) 
stellt  die  verschiedenen  wege  der  zwei  titelhelden  dar,  deren 
erster  sich  von  Baison  leiten  lässt  und  zu  Foi,  weiterhin  zu 
Contrition,  Conf'ession,  Penitence  und  schliesslich  zu  Satisfaction 
gelangt,  während  der  zweite  der  Oisance  und  Bebellion  folgt 
und  mit  hilfe  von  Desesperance ,  Pauvrete  und  Male-Chance 
bei  Male-Fin  endigt.  Ähnlichen  Charakters  ist  auch  die  Con- 
damnation  des  Banquets  von  Nicolas  de  la  Chesnaye,  der 
nicht  nur  die  verschiedenen  krankheiteu,  sondern  auch  die 
heilmittel,  von  Biete  und  Sobriete  bis  zu  Pillides,  Saignee  und 
Clystbres,  personifiziert  auftreten  lässt,  während  andere  stücke 
durch  bearbeitung  biblischer  und  legendarischer  erzählungen  — 
vom    verlorenen    söhn    usw.    —    moralisch    zu    wirken    suchen 


Das  Theater.  505 

{moralite   historique)    und    wieder   andere    in    das   gebiet  der 
politischen  satire  Übergreifen  (moralite  polvmupie). 

In  dieser  hinsieht  berühren  sie  sich  mit  der  sotic,  welche 
gegen  mitte  des  15.  Jahrhunderts  zuerst  begegnet  und  stets 
satirisch,  bei  allgemeiner  satire  auch  mit  Verwendung  der 
allegorie,  meist  aber  politisch -satirisch  ist  wie  namentlich 
unter  Ludwig  XII.,  der  sich  die  sotie  zu  politischen  zwecken 
gern  gefallen  Hess.  Als  bekanntestes  stück  dieser  zeit  ist 
Gringore's  Jeu  du  prince  des  sots  zu  nennen,  in  welcher  der 
könig  als  Prince  des  Sots  und  die  falsche  kirche  als  Mere 
softe  einander  gegenübergestellt  werden. 

Moralite  und  sotie  haben  die  mitte  des  16.  Jahrhunderts, 
d.  h.  das  renaissancedrama,  nicht  tiberlebt,  zu  ihren  letzten 
Vertretern  zählt  Margarete  von  Navarra  (gest.  1548).  Um  so 
lebenskräftiger  erwies  sich  die  dritte  gattung  des  weltlichen 
dramas,  die  farce,  welche  uns  schon  im  13.  Jahrhundert  be- 
gegnet (s.  oben  s.  491)  und  auch  durch  die  renaissancekomödie 
nicht  verdrängt  wurde.  Der  name  erklärt  sich  aus  lat.  farsa 
(von  farcire,  vgl.  oben  s.  136  epitre  farcie)  und  bedeutet  'die 
fülle',  d.i.  ursprünglich  eine  in  ein  ernstes  drama  eingeschobene 
komische  szene.  Mehr  als  150  farcen  sind  uns  überliefert, 
stücke  in  der  art  unserer  possen  oder  derberen  lustspiele: 
intriguenstücke  mit  groben  missverständnissen,  dickaufgetragener 
komik.  pvtigelszenen  usw.  Die  farce  hält  sich  unter  ihrem 
hergebrachten  namen  bis  in  den  anfang  des  17.  Jahrhunderts 
und  wirkt  in  der  comedie  des  17.  Jahrhunderts  noch  lange 
nach  (vgl.  Molieres  Fourberies  de  Scapin,  Vilain  mire,  Mariage 
foret  u.  a.).  Als  eine  der  besten  farcen,  die  auch  heute  noch 
in  der  neueinstudierung  der  Pariser  Comedie  francaise  ihre 
Wirkung  nicht  verfehlt,  ist  das  advokatensttick  (vgl.  oben 
Trubert)  Maistre  Pierre  Pathelin  aus  der  zweiten  hälfte  des 
15.  Jahrhunderts  zu  erwähnen,  dessen  held  einen  kaufmann 
auf  listige  weise  um  sechs  eilen  tuen  betrügt,  vor  gericht  dem 
diebischen  schäfer  des  kaufmanns  wider  recht  und  gewissen 
zu  einem  obsiegenden  urteil  verhilft,  schliesslich  aber  selbst 
von  dem  schlauen  schäfer  um  den  lohn  geprellt  wird.  Wie 
die  moralite"  hat  auch  die  farce  ihre  abarten,  so  besonders 
die  farce  morale.  Kleinere  dramatische  gattungen  sind  der 
monologue  (vgl.  oben  s.  487)  und  der  sermon  joyeux. 


506     XIV.  Kapitel.    Die  altfr.  Literatur  vom  14.  zum  16.  Jahrhundert. 

Im  ganzen  zeichnet  sich  das  drama  des  mittelalters  mehr 
durch  seine  masse  als  durch  innere  bedeutung  und  fortschrittliche 
entwicklung  aus.  In  dieser  hinsieht  bedeutete  die  renaissance- 
bewegung  zweifellos  einen  fortschritt,  vor  allem  für  das  ernste 
drama,  während  die  auf  volkstümlichen,  nationalen  Ursprung 
zurückweisende  heitere  gattung  durch  die  renaissance  nur 
äusserlich  verändert  wird  und  mit  der  com^die  der  folgezeit  in 
enger  beziehung  steht. 


C.    Lyrik  und  verwante   Gattungen. 

Während  die  höfische  lyrik  der  blütezeit  in  den  puys  des 
13.  Jahrhunderts  zur  bürgerlichen  dichtung  wird,  erscheinen 
uns  die  hervorragenden  dichter  des  14.  und  15.  Jahrhunderts 
mehr  oder  weniger  als  hofpoeten,  wodurch  inhalt  und  form 
der  dichtung  vielfach  bestimmt  und,  wie  in  der  höfischen 
lyrik  der  blütezeit,  formelhaft  wird.  Der  didaktischen  richtung 
des  ausgehenden  mittelalters  gemäss  spielt  das  lehrgedicht 
eine  grosse  rolle,  auch  die  ältesten  französischen  poetiken 
fallen  in  diese  zeit. 

Als  Vertreter  der  neuen  dichtformen  wird  Guillaume  de 
Machaut  (ca.  1300 — 1377)  betrachtet,  welcher  ausser  einem 
auf  persönlichen  erlebnissen  beruhenden  liebesroman  mit  ein- 
gestreuten lyrischen  dichtungen  (Voir  dit)  und  einer  reim- 
chronikartigen  dichtung  über  die  einnähme  Alexandriens  durch 
Peter  I.  von  Lusignan,  könig  von  Cypern  {Prise  d'Älexandrie) 
vor  allem  lyrische  dichtungen  hinterlassen  hat:  bailaden,  chants 
royaux,  rondeaux,  virelais,  lais,  motets.  complaintes.  Die 
bailade  hat  sich  allmählich  aus  den  formen  der  alten 
pastourelle  und  der  chanson  heraus  entwickelt,  sie  besteht  stets 
aus  drei  Strophen  mit  gleichen  reimen  und  refrain,  wozu  seit 
Eustache  Deschamps  noch  das  envoi  (vgl.  s.  311)  kommt;  die 
strophe  zählt  8  achtsilbner  oder  10  zehnsilbner.  Chant  (oder 
chanson)  royal  besteht  aus  fünf  Strophen,  meist  mit  zehn- 
silbigen  versen,  ist  aber  im  übrigen  der  ballade  sehr  ähnlieh. 
Das  vireli  (zu  virer  drehen,  also  „drehe  sie")  oder  virelai 
ist  wie  das  rondeau  (s.  458)  von  haus  aus  ein  tanzlied,  das 
ganze  dreistrophige  gedieht  wird  mit  den  refrainzeilen  ein- 
geleitet.    Die    übrigen    gattungen    folgen   mehr   oder   weniger 


Lyrik  und  verwarne  Gattungen.  5ü7 

den  überlieferten  vorbilden)  (vgl.  8.  350  ff.,  458).  Als  Verfasser 
FOD  balladen  und  virelais  vor  Guillaunie  de  tfachaut  darf  viel- 
leicht Jehannot  de  l'Escureul  gelten,  falls  die  zeit  seines 
dichtens  noch  in  das  ende  des  13.  Jahrhunderts  fällt.  Nach 
Guillaunie  sind  im  14.  Jahrhundert  als  lyriker  noch  hervor- 
zuheben Jehan  de  Froissart  (1337  bis  ca.  1405),  welcher 
längere  zeit  an  den  höfen  von  England  und  Brabant  lebte  und 
dichtete,  auch  zu  anderen  fürstlichen  personeu  beziehungen 
hatte  und  vor  allem  das  liebeslied  in  den  genannten  üblichen 
formen  gepflegt,  daneben  aber  auch  pastourelleu  und  den 
roman  Meliador  gedichtet  bat,  und  Eustache  Deschamps 
(1340 — 1406  oder  1407),  der  vielseitigste  und  fruchtbarste 
dichter  dieser  zeit  (10  bände  in  der  Soci^te"  des  auciens  textes). 
Diplomat  im  dienste  Karls  V.  des  Weisen,  später  Steuerdirektor 
bat  er  mehr  als  80  000  verse  gedichtet,  über  1100  balladen, 
nahezu  200  rondeaux  und  ausser  einer  reihe  weiterer  kleinerer 
poesien  noch  zwei  grössere,  unvollendete  gedickte  allegorischer 
richtuog,  die  Fiction  du  Lyon  und  den  Miroir  du  Mariage, 
endlich  die  älteste  franz.  poetik,  den  Art  de  dictier  et  de  fere 
cliancuns,  verfasst.  In  der  balladenform  bat  er  die  mannig- 
faltigsten themen  aus  der  Zeitgeschichte,  aus  liebe  und  leben, 
schliesslich  auch  einige  fabeln  behandelt.  In  grösseren  Samm- 
lungen vereinigt  erscheinen  fabeln  und  schwanke  mit  be- 
stimmter moralischer  absieht  in  den  Yzopets  (s.  152  f.)  sowie  in 
den  Contes  moralises  des  anglonormaunischen  mönchs  Nicole 
Bozon  (anfang  des  14.  Jahrhunderts).  Sonst  wird  die  rein 
didaktische  literatur  in  dieser  zeit  vor  allem  durch  die  gattung 
der  moralisierenden  dits  vertreten. 

Auch  im  15.  Jahrhundert  bleiben  die  genannten  lyrischen 
gattungen  in  dauernder  gunst.  Das  Livre  des  cent  ballades, 
'  vrai  bouquet  de  fleurs  de  gräce  et  de  courtoisie'  (G.Paris), 
erzählt  in  balladenform  die  begegnung  eines  Jünglings  mit 
einem  alten  ritter  und  einer  jungen,  schönen  dame,  die  ihm 
entgegengesetzte  ratschlage  in  Sachen  der  liebe  geben.  Als 
hervorragende  Vertreterin  der  höfischen  dichtung  erscheint  in 
dieser  zeit  Christine  von  Pisan  (1364  bis  ca.  1430),  welche 
den  protest  gegen  den  Rosenroman  und  dessen  herabsetzung 
der  frauen  aufnimmt  (Epistre  au  dien  d'amours),  wobei  sie 
einen  nachfolger  und  helfer  in  Martin  Lefranc  [Champion  des 


508     XIV.  Kapitel.   Die  altfr.  Literatur  vom  14.  zum  16.  Jahrhundert. 

dames  1442)  findet;  aber  in  form  und  stil  vermag  sie  gerade 
in  ihren  grösseren  dichtungen  —  Chemin  de  lony  estude  1403, 
Mutation  de  Fortune  1404,  Vision  1405  —  mit  ihren  Visionen 
und  allegorien  den  einfluss  des  Rosenromans  nicht  zu  verleugnen. 
Alain  Chartier  (1390  oder  1392—1430)  hat  sich  nicht  nur 
als  lyrischer  und  didaktischer  dichter  (Livre  des  quatrc  dames 
1416,  La  belle  dorne  sans  mercy  1426),  sondern  auch  als  pro- 
saiker  (selbst  als  lateinschreibender)  einen  namen  gemacht, 
dessen  rühm  in  der  folgezeit  uns  heutzutage  wenig  begründet 
erscheint  während  man  seinen  Zeitgenossen,  den  prinzen  Karl 
von  Orleans  (1390 — 1465),  gern  als  wahren  dichter  gelten 
lässt,  der,  1415  in  der  seh  lacht  von  Azincourt  durch  die  Eng- 
länder gefangen  genommen  und  25  jähre  lang  gefangen  ge- 
halten, während  seiner  gefangenschaft  wie  nach  seiner  befreiung 
in  balladen,  rondeaux  und  chants  royaux  seine  empfindiiDgen 
zum  ausdruck  bringt. 

Eine  besondere  gruppe  neben  diesen  dichtem  bilden  die 
dichter  der  sog.  burgundischen  schule,  die  rhetoriquewrs, 
welche  sich  in  der  zweiten  hälfte  des  15.  Jahrhunderts  um 
den  hof  Philipps  des  Guten  und  Karls  des  Kühnen  sammeln 
und  den  hauptwert  auf  die  form,  auf  reimspiele  und  wort- 
geklingel  legen:  Georges  Chastellain,  'le  pere  de  toute 
eette  öcole  bourguignonne'  (G.  Paris),  Jean  Molinet, 
Olivier  de  la  Marche  und  zuletzt  Jean  Lemaire  de 
Beiges  (1473  bis  ca.  1514),  der  schon  italienische  einflüsse 
(terzine)  erkennen  lässt  und  berührungen  mit  dem  humanismus 
zeigt. 

Gegenüber  diesen  dichtem  erscheint  Francois  Villon 
(geb.  1431,  seit  1463  verschollen)  als  Vertreter  echter,  un- 
gekünstelter, wahrhaft  empfundener  dichtung  in  seinem  Grand 
Testament,  seinem  Petit  Testament  (oder  Les  Lais  d.  i.  nfrz. 
legs),  in  seinen  balladen,  die  zum  teil  in  der  gaunersprache 
(gobelin)  gedichtet  sind,  in  seinen  rondeaux  und  sonstigen 
kleineren  dichtungen.  Er  stellt  dar,  was  er  selbst  in  seinem 
wechselvollen  leben  eines  boheinien  erlebt  und  empfunden  hat. 
Er  ist  der  hervorragendste  lyriker  des  15.  Jahrhunderts.  Be- 
merkenswert ist  auch,  dass  jetzt  im  15.  Jahrhundert  das  Volks- 
lied in  sichtbaren  denkmälern,  mit  wort  und  weise,  hervortritt, 
nachdem   es   das   ganze   mittelalter   hindurch  von  den  schrift- 


Geschichtswissenschaft  and  Übersetzuugsliteratur.  509 

kundigen  zu  gunsten  der  kunstpoesie  unbeachtet  gelassen 
worden  war.  Eine  reiche  fülle  von  anonymen  historischen 
liedern  bringt  die  bewegte  zeit  des  16. Jahrhunderts  hervor. 
Volksmässig  sind  auch  die  trink-  und  liebeslieder  des  angeblich 
im  jähre  1450  im  kämpf  gegen  die  Engländer  gefallenen 
walkmüllers  Olivier  Basselin  aus  dem  tal  der  Vire.  welche 
dem  namen  val  de  Vire  —  vauderire  —  vaudeville  seinen 
Ursprung  gegeben  haben. 

Die  bedeutenden  dichter  aus  der  ersten  hälfte  des  16.  Jahr- 
hunderts sind  im  wesentlichen  wieder  hofdichter,  schon  teil- 
weise humanistischen,  deutlich  aber  italienischen  einfluss 
zeigend;  neben  dem  die  'poesies  fugitives'  liebenden,  in  der 
glaubensfrage  opportunistischen  Melin  de  Saint-Gelais 
(1491—1558)  steht  der  wegen  seines  glaubens  verfolgte 
Clement  Marot  (1495—1544),  ein  gelegenheitsdichter  im 
guten  sinne  des  Wortes,  dem  ernste  wie  heitere  ereignisse  des 
lebens  zum  gedieht  werden,  der  aber  auch  eine  vielgebrauchte 
psalmenparaphrase  geliefert  hat.  Als  fruchtbare  religiöse 
dichterin  erscheint  neben  ihm  seine  gönnerin  Margarete  von 
Navarra.  Mit  dem  Lyoner  dichterkreis,  welcher  dem 
neuplatonismus  und  der  spiritualistischen  liebe  huldigt,  und 
besonders  mit  der  Lyoner  dichterin  Louise  Labe,  der  'belle 
cordibre\  welche  zwar  den  streit  zwischen  sinnlicher  und 
geistiger  liebe  unentschieden  lässt,  aber  klassisch  gebildet  ist 
und  die  italienische  sonettenform  bevorzugt,  stehen  wir  schon 
hart  vor  der  pforte  der  wahren  renaissaneezeit. 


D.    Geschichtswissenschaft  und  Übersetzungs- 
literatur. 

Schon  die  entwicklung  des  13.  Jahrhunderts  hat  gezeigt, 
dass  die  wissenschaftliche  literatur  anfängt  von  der  lateinischen 
spräche  einerseits  oder  von  französischer  versdichtung  andrer- 
seits zur  darstellung  in  französischer  prosa  überzugehen.  Das 
gilt  nicht  nur  von  der  geschichtswissenschaft,  sondern  von 
rechtswesen,  kriegswesen  usw.  Die  meisten  dieser  Wissen- 
schaften treten  so  allmählich  als  fachwissenschaften  aus  dem 
rahmen    der    eigentlichen    literatur   heraus,    während    gebiete 


510     XIV.  Kapitel.    Die  altfr.  Literatur  vom  14.  zum  Iti.  Jahrhundert. 

wie  die  geschichtswissenschaft,  die  religionswissenschaft  und 
die  —  erst  spät  sieh  entwickelnde  —  literaturwissenschaft 
wegen  ihrer  allgemeinen  bedeutung  für  die  entwicklung 
auch  fernerhin  berücksichtigung  in  der  literaturgesehichte 
verlangen. 

Die  geschichtswissenschaft  weist  mit  dem  anfang  des 
14. Jahrhunderts  in  Guillaume  Guiart  (Branche  des  royanx 
lignages  —  zweig  der  königsgeschlechter,  d.  i.  geschichte  der 
sechs  nachkommen  Philippe -Auguste's),  Geoffroi  von  Paris 
(Chronik  der  jähre  1300 — 1316)  und  Pierre  Langtoft,  einem 
Spätling  der  anglouormannischen  literatur  (Geschichte  Englands) 
die  letzten  Vertreter  der  reimchronik  (in  paarweisen  achtsilbnern, 
vgl.  s.  445  f.)  auf.  Cuveliers  Duguesclin  (oben  s.  499)  ist  ebenso 
wie  der  um  1350  verfasste  Combat  des  Trente  (La  bataüle  de 
trente  Englois  et  de  trente  Bretons)  metrum  und  stil  nach  mehr 
der  epik  als  der  geschichte  zuzurechnen.  Im  übrigen  teilen 
sich  die  Chronisten  in  der  hauptsache  in  solche,  welche  die 
geschichte  der  antiken  oder  französischen  Vergangenheit  dar- 
stellen, und  in  solche,  welche  die  geschichte  ihrer  eigenen  zeit 
schildern  wollen.  Zu  jenen  gehört  Raoul  le  Fevre  mit 
seinem  auf  lat.  quellen  (Guido  de  Columna,  vgl.  oben  s.  285, 
Boccaccios  Genealogia  deorum)  beruhenden  Recacil  des  Jüstoires 
de  Troie  (1464)  und  auch  noch  Jean  Lemaire  de  Beiges, 
dessen  Illustrations  des  Gaules  et  singularitez  de  Troie  1510 
bis  1513  in  drei  bänden  erschienen,  die  darstelluug  bis  auf 
Pippin  den  Kurzen  führen  und  der  folgezeit  vor  allem  als 
muster  guter,  künstlerischer  prosa  dienen.  Die  geschichts- 
wissenschaft selbst  aber  wird  mehr  gefördert  durch  die  Ver- 
treter der  zweiten  gruppe:  Jean  le  Bei  (gest.  1370,  schrieb 
die  chronik  der  jähre  1326—1361:  Vrayes  chronigues),  Jean 
de  Froissart  (1337  bis  ca.  1410,  vgl.  s.  507)  und  Philippe 
de  Commines  (ca.  1443 — 1511).  Der  auch  als  dichter  wol- 
bekannte  Froissart  (s.  o.)  erzählt  in  seiner  Chronique  die  geschichte 
der  seit  1328  dauernden  kriege  mit  England,  zuerst  in  anlehnung 
an  Jean  le  Bei,  dann  auf  grund  eigener,  sorgfältiger  Studien 
und  reisen,  im  einzelnen  nicht  immer  mit  der  notwendigen 
kritik  gegenüber  seinen  gewährsmännern  und  daher  nicht 
überall  zuverlässig,  aber  mit  grosser  literarischer  begabung. 
Zwischen  Froissart  und  Commines   ist  als  geschichtschreiberin 


Geschichtswissenschaft  und  Übersetzungsliteratur.  511 

auch  Christine  von  Pisan  (vgL  oben)  mit  einer  biographie 
Karls  V.  zn  nennen.  Philippe  von  Commines  endlich  stellt  in 
Beinen  Memoires  die  zeit  von  1464 — 1498  dar,  ohne  gelehrte 
bildung  und  ohne  Froissarta  schriftstellerisches  geschick,  alter 
mit  eindringendem  politischen  und  psychologischem  Verständnis 
der  personell  und  tatsachen:  "le  premier  qui,  absolnment  d£- 
pourvn  d'imagination,  se  soit  interesse  k  la  recherche  des 
causes  en  psychologue  et  en  moraliste'  (Langlois). 

Von  der  sonstigen  wissenschaftlichen  Literatur  des  14.  und 
15.  Jahrhunderts  sind  besonders  charakteristisch  die  —  zumeist 
auf  anregung  fürstlicher  personen  zurückgehenden  —  Über- 
setzungen aus  der  klassischen  und  spätlateinischen  literatur. 
So  übersetzt  Pierre  BerC/Uire  für  könig  Johann  den  Guten 
(1350—1364)  den  Titus  Livius  (1352—1356).  Nicole  Oresme 
für  Karl  V.  (1364 — 1388)  den  Aristoteles,  eine  schar  von 
anderen  Übersetzern  muss  für  denselben  könig  Senecas  an- 
geblichen traktat  De  remediis  fortuitorum,  Augustins  Civitas 
Dei ,  den  Liber  de  informatione  principum  und  andere  werke 
weltlichen  und  geistlichen  inhalts  übersetzen.  Anfang  des 
15.  Jahrhunderts  beschäftigte  der  herzog  Johann  von  Berry  eine 
anzahl  Übersetzer,  darunter  auch  Laurent  de  Premierfait, 
welcher  1409  Boccaccios  De  casibas  illustrium  virorum  und 
gegen  1414  nach  lateinischer  vorläge  desselben  Decamerone 
übersetzt.  In  der  zweiten  hälfte  des  Jahrhunderts  ist  es  der 
burgundische  hof,  welcher  diese  tätigkeit  unterstützt,  besonders 
Karl  der  Kühne,  für  welchen  Vasco  de  Lucena  (ein  geb. 
Portugiese)  1464  die  geschichte  Alexanders  des  Grossen  von 
Quintus  Curtius  und  1470  die  Cyropädie  Xenophons  (nach  lat. 
Übersetzung)  bearbeitet. 

Zeigt  auch  die  auswahl  der  Schriftsteller  nnd  werke, 
dass  es  den  fürstlichen  gönnern  und  den  Übersetzern 
weniger  auf  eine  systematische  bekanntschaft  mit  dem 
klassischen  altertum  als  auf  weltliche  oder  geistliche  be- 
lehrung  ankam,  so  ist  doch  das  ganze  beginnen  vorbedeutend 
für  die  ausgedehnte  und  folgenreiche  tibersetzertätigkeit 
der  humanisten  des  16.  Jahrhunderts,  für  das  eindringende 
Studium  antiker  Wissenschaft  und  dichtung,  welches  die 
grundlage  für  die  reform  der  französischen  dichtung  bilden 
sollte. 


512     XIV.  Kapitel.    Die  altfr.  Literatur  vom  14.  zum  10.  Jahrhundert. 

Die  renaissancebewegung  bedeutet  das  ende  der  alt- 
französischen literatur  fast  auf  allen  gebieten,  auf  denen  diese 
sich  nicht  schon  von  selbst  erschöpft  hatte.  Aber  die  be- 
deutung  der  altfranzösischen  literatur  wird  durch  ihren  verfall 
und  ihr  ende  in  keiner  weise  beeinträchtigt:  sie  hat,  besonders 
in  ihrer  blütezeit,  eine  reihe  werke  von  dauerndem  wert  her- 
vorgebracht, sie  hat  den  gruud  ftir  die  weitere  entwicklung 
der  französischen  literatur  gelegt  und  auf  zahlreiche  fremde 
literaturen  tiefgehende  einflüsse  ausgeübt. 


Glossar. 


Das  glossar  gibt  die  Wörter  in  der  form,  in  welcher  sie  in  den  hier 
abgedruckten  texten  begegnen.  Bei  vorkommen  mehrerer,  zeitlich  oder 
dialektisch  verschiedener  formen  für  ein  uud  dasselbe  wort  ist  die  zeitlich 
älteste  oder  die  francische  form  der  alphabetischen  einordnung  zugrunde 
gelegt.  Verba  sind  in  der  form  des  infinitivs,  nomina  in  der  des  obliquus 
aufgeführt,  pl.  (  plural)  bezeichnet  daher  bei  diesen  den  obliquus  pl.  Starke 
verba  sind  mit  8t.,  schwache  mit  sie.  nnd  der  nummer  der  konjugations- 
klasse,  substantiva  mit  m.  (niask.)  und  der  nummer  der  deklinationsklasse 
oder  mit  f.  (fem.)  bezeichnet.  Seitenzahlen  sind  —  ausser  bei  eigennamen 
—  nur  da  beigefügt,  wo  einem  wort  oder  einer  form  an  der  betr.  stelle 
erläuterungen  gewidmet  sind. 

Betreffs  der  etymologien  von  Worten  unsicherer  oder  unbekannter 
herkunft  sind  die  etymologischen  Wörterbücher  von  Diez,  Körting  und 
Meyer- Lübke,  sowie  das  Dictionnaire  general  de  la  langue  fran^aise  von 
A.  Hatzfeld,  A.  Darmesteter  und  A.  Thomas  (Paris,  Delagrave)  zu  ver- 
gleichen. Unter  AS  ist  auf  erläuterungen  in  der  'Einführung  i.  d.  Stnd.  d. 
altfr.  Sprache'  verwiesen. 

Die  sonstigen  abkürzungen  sind  die  gewöhnlichen:  d  =  deutsch, 
g.  =  germanisch,  gr.  =  griechisch,  der.  =  derivat,  kowp.  =  kompositum  usw.; 
s.  vor  verben  bezeichnet  das  reflexivum  sei,  soi. 

Das  glossar  soll  alle  in  den  texten  vorkommenden  Wörter  enthalten. 
Einzelformen  der  verba  und  nomina  sind  nur  soweit  aufgeführt,  als  sie 
hier  begegnen. 


A 


aus.  —  9.  mittel   oder  Werkzeug: 
mit.  —  10.  bei  gefühlsüusserungen : 


a,  ad  (lat.  ad)  präp.,  mit  artikcl  alau,  mit,  unter.  —  11.  vorm  infinitiv 

pl.  as  aus:  1.  lokal  (ivohin?):  auf,  nach  gewissen  verben.  —  12.  in 

an,  zu.  —  2.  zweck:  zu,  auf,  für,  redensarten  z.  bez.  des  prädikats- 

gemäss.  —  3.  zur  bez.  des  dativ-  j       nomens  (tenir  a  u.  iL), 

objekts.    —    4.   abhängig   v.   sub-  aage  s.  eage. 

stantiven  z.   bez.  des  besitzers.  —  abaudonner   (zum  deutschen  stamn 

5.  lokal  (wo?):  an,  bei.  —  6.  tem-  '       bann  —  rom.  bando)  sw.  I  über- 

poral  (ivann?):  in,  zu.  —  7.  be-  \       lassen,    s.    a.    a    sich   übergeben, 

gleitung:  mit.  —  S.  materie:  mit,  !       widmen. 

Voretzach,    Studium  d.  afrz.  Literatur.  2.  Auflage.                                   33 


•u 


Glossar:   abatre —  a'i'rier. 


abatre   (ad  +  bättyere   f.   battücre) 

SW.  III— II    {perf.   8.   abati,  part. 

perf.    abatut)    niederschlagen,    zu 

boden  schlagen. 
abe  (abbatem)  m.  III  (r.  äbes)  abt. 
abelir  (*adbellire,  v.  bellum)  sw.  II 

gefallen. 
abeter  (d.  bito  —  bizzo  =  bissen)  sw. 

I  ködern,  betrügen. 
Abraain  n.  pr.  Abraham  68. 
abri'er  (*apricare  v.   apricum)  sw.  I 

s.  a.  sich  unterstellen,  schütz  suchen. 
achater    acater    (*accaptare)   sw.  I 

kaufen. 
acheson  =  ochaison  (occasionein)  /. 

gelegenheit. 
acier  (*aeiarium)  m.  II  stahl. 
aclin    (v.    acliner,    zu    clinare)    adj. 

geneigt,  zugetan. 
aeointier     {zu     cointe  <  cognituin) 

sw.  I  bekannt  machen. 
acoler  {der.  v.   col  <  Collum)  siv.  I 

umhalsen,  liebkosen. 
acomplir    aconplir    (v.   complere  — 

*complire)    sw.  II    erfüllen,    aus- 
führen. 
acor  {zu  cor  <  cornu)  m.  II  zipfel. 
acorder  (*accordare,  zu  cor  — cordis) 

sw.  I  in  Übereinstimmung  bringen, 

geneigt  machen. 
acort  {der.  v.  acorder)  m.  II  Überein- 
stimmung, willen,  meinung. 
acoster  (v.  coste  <  costam)  sw.  I  an 

die  seite  bringen,  sich  nähern. 
acoutrer  {v.  coltre  <  culcitram)  sw.  1 

bedecken,  zurechtlegen. 
acraventer  (ad  +  *crepantare,  zu  ers- 
pare) sw.  I  herunterschlagen. 
acteur  (auetorem  +  actorem)   m.  II 

autor. 
acuser    (aecusare)    sw.  I    anklagen, 

anzeigen. 
ad.  1.  =  a  präp.  —  2.  s.  aveir. 
adenz   adens    (ad  dentes)  adv.  auf 

dem  gesicht. 
ades  (ad  id  ipsum?)  adv.  stets,  immer. 
adeser  (addensare)  sw.  I  berühren. 


adouqnes  =  adonc   (a  tunc?)    adv. 

darauf,  dann. 
adrescier  =  adrecier  (*addirectiare) 

8W.  I    lenken,    richten,    s.  a.    seine 

schritte  lenken. 
aerdre  (*adergere  /'.  aderigere)  st.  II 

{part.  perf.  aers)  fassen,  a.  a  an- 

schliessen  an. 
afebloier  {der.  v.  flebilcm  —  foible) 

sw.  I  schwächen. 
aferir  (comp.  v.  ferire  —  ferir)  sw.  II 

{praes.  '6.  afiert)  ziemen,  sich  ge- 
hören. 
afermer    (ad   +  firmare)    sw.  I    be- 
festigen. 
afoletir  {der.  v.  fol  —  folet  )  zum  narren 

machen. 
agenoillier  {zu  genoil  <  *genuculum) 

sw.lsich  auf  die  kniet  niederlassen. 
aguille  (aeueulam)  f.  nadel. 
aguillier  {der.  v.  aguille)  r».  II  nadel- 

büchse. 
agut    (acutum)  part.  —  adj.  spitz, 

scharf,  fievre  agne  schweres  fieber. 
ahi  interj.  ach! 
ai  interj.  ach! 
aider  eidier  (adjutare)  siv.  I  {conj. 

praes.  3.  ait)  helfen. 
aie  (adjütam  —  aiiie,  gekreuzt  mit 

aidier)  f.  hilfe. 
aillors  (aliorsum)  adv.  anderswo. 
aimi  interj.  iveh  mir,  ach! 
ainc  aius  {zu  unquam?)  adv.  jemals, 

a.  ne  niemals. 
aingois  eingois  (*antjidius  zu  ante) 

adv.  früher,  vielmehr,  sondern. 
ainne  =  ainzne  (*antius  natum)  adj. 

früher  geboren,  ältest. 
ains  8.  ainc  u.  ainz. 
ainsi    einsi   ensi,    issi   (aeque   sie?) 

adv.  so. 
ainz  ains  (*autius)  adv.  vorher,  früher, 

a.   que  bevor,  a.  ne  —  que  nicht 

eher  ah;  sondern,  aber. 
a'i'rier  {der.  v.  iriez  irez  <  iratus)  in 

zorn  versetzen,  s.  a.  in  zorn  ge- 
raten. 


al  —  anel. 


»15 


al  au  =  a  4-  le. 

alacliier = alaoiei  (:  u  lacier  <<  *laceare 
/".  laqueare)  sw.  I  schnüren,  auf- 
schnüren. 

alaiue  =  aleüie  (v.  aleuer  <C  *aleuare 

/'.  auhelare)  /'.  atem. 
alcun  aucun  (aliquunum)  pron,  indf. 

irgendein,  jemand. 
aler   (kelt.   al-,   vgl.  AS)  sw.  I   mit 

formen  von  vadere  u.  ire  [praes. 

ind.  1.  vois,  3.  vet  va,  pl.  3.  vont, 

cow/.    1.   alge,    3.    alt   aille   äuge, 

voist,  imp.  va,  impf.  3.  alout,^Z.  3. 

aloient,  fut.    1.   irai,   3.  ira,  pl.  1. 

irous,  2.  irez  ires,  3.  iront,  cond.  3. 

iroit,  per/",  alai  etc.)  gehen,  s'en  a. 

fort  ge  Im. 
aleriou  (*aleriuuein,  v.  d.  adalaro  = 

adler)  m.  II  eine  raubvoyelurt. 
aleüre  (v.  aler)  f.  schritt  als  gangart, 

grant  a.  in  raschem  schritt. 
Alexis  (Alexiuni)  n.  pr.  der  hl.  Alexius 

68  f. 
algalife    (arab.    khalif  mit   art.   al) 

m.  II  kalif. 
Alixandre  (AXi^arönov)  n.  pr.  Ale- 
xander  v.    Constantinopel,    vater 

des  Cliges  305  ff. 
ahne  (animani)  f.  seele. 
almosne    auuiosne    (eleniosyuam  < 

(ik£7i(ioovvn,v)  f.  almosen,  woltun, 

gutes  werk. 
aloser  (v.  los  <  laus)  sie.  I  schätzen, 

s.   a.    de    sich    geschätzt    machen 

durch. 
alquanz  (aliquantos)  pron.  indf.  (r. 

alquant)  einige  {bes.  im  gegensalz 

zu,  pluisor). 
alques    auques    (aliquid  -f  s)    adv. 

etwas,  ein  wenig. 
Alsis  n.  pr.  stadt  Edessa. 
altel  (altare)  m.  II  aitar. 
altre    autre    aultre    (alterum)  pron. 

indf.  (bet.  obl.  alturi)  der  andere. 
aluete  (alaudam  -f-  ittain)  f.  lerche. 
alumer  (*adluniinare)su>.  I  entzünden, 

sich  entzünden. 


Alvrez    li    reis    (d.    Alfrid)    könig 

Alfred  153. 
amant    (amantem)    )».  II     liebender, 

verliebter. 
ainbdos  ainbesdous  ausdeus  (ainbos 

duos)  zic.  (r.  ainbedui  andui)  zwei. 
ambler  =  embler    (iu volare)    sw.  I 

wegnehmen,  stehlen. 
ame^on  (der.  v.  hainum)  m.  II  angel- 

haken. 
aiuender  (*adrneudare,  vgl.  emeudare) 

sie.  I  bessern,  verbessern,  sich  ver- 
bessern. 
ameuer   (ad  +  miuari)   sw.  I   herbei- 
führen, führen. 
ainer   (aniare)   sw.  I  (praes.  ind.  3. 

ainime,  impf.  conj.  pl.  2.  amissies) 

lieben,    ainer    trop    mels   —   que 

lieber  haben  als,  amer  inielz  estre 

lieber  sein. 
ainesurß  (part.  v.  amesurer,  der.  v. 

mensuram)  gemässigt,  discret. 
auii    (amicum)    m.  II    freund,    faire 

(uovel)    ami    sich    einen    (neuen) 

geliebten  anschaffen. 
amie  (aiuicani)  f.  freundin,  geliebte. 
amont(ad  inonteni)  adv.  hinauf,  oben. 
amor  amour  (amorem)  /.  liebe  (häufig 

personif.),  par  aruor  e  par  feid  in 

liebe  und  treue. 
amoreus  (*ainorosuin)  adj.  voll  liebe, 

tens  a.  liebeszeit. 
an    (annum)   m.  II  jähr,   anz  e  dis 

jähr  u.  tag. 
an  8.  en  (in  —  inde),  on  (houio). 
anbracier  (*inbracchiare  v.  bracchhiiü 
-  braz)  sw.  I  am  arm  befestigen, 

festhalten. 
ancessor   (antecessorem)   m.  III    (r. 

aucestre)  vor  fahr. 
ancien     (*anteianum  —  *auzianum/) 

adj.  (f.  aneiienne)  alt,  dazu  anc'i'e- 

nor  68. 
anclore  s.  enclore. 
androit  s.  endroit. 
andui  s.  ambdos. 
anel  (anellum)  m.  II  ring. 
33* 


516 


Glossar:   anemi  —  Areuibur. 


anemi  a.  eneim. 

anferinete  (iofirmitatem)  /'.  krankheit. 
angle  (angelnm)  m.  II  enget. 
aDgoissous    -eus    (*angnstiosum,    r. 

angustiae)  ctdj.  angstvoll. 
angoissier  engoissier  (*angustiare,  zu 

angustiae)   sw.  I   bedrängen,  s.   a. 

sich  anstrengen. 
anguille  (anguillam,  ^ftanguem)  f.  aal. 
anhardir  (der.  v.  d.  hart  —  hardjan) 

8W.  II  s.  a.  sich  erkühnen. 
anima  (ki£.)  =  an(e)uie,  ahne  /'.  seele. 
anploiier  (implicare)  sie.  I  anwenden. 
anpoisoner     (der.     v.    potionein  — 

poison)  sw.  I  vergiften. 
anprandre  s.  emprendre. 
anquenuit  (*antque?  +  noctem)  adv. 

noch  diese  nacht. 
anraciner  (der.  v.  radicinam  —  raclne) 

sw.  I  einwurzeln. 
ansdeus  s.  anibdos. 
anseler    {der.   v.  sella  —  sele)  sw.  I 

satteln. 
antandre  s.  entendre. 
ander  s.  entier. 
antor  s.  entor. 
antracorder  (komp.  v.  acorder)  siv.  I 

versöhnen,  s.  a.  zusammenstimmen. 
antre  s.  entre. 
antreconbatre    (komp.    v.    conbatre) 

sw.  III— II,    s.    a.    mit    einander 

kämpfen. 
antree  =  entree  (*intrata,  zu  Intrare) 

f.  eintritt. 
antremetre   (komp.   v.   metre)   st.  II 

s.  a.  de  sich  mit  etwas  abgeben. 
antrevenir  (komp.  v.  venir)  st.  I  (per f. 

pl.    1.    antreveniines)    zusammen- 
treffen. 
anuit  (hac  nocte)  adv.  diese  nacht. 
anuitier    (*adnoctare)    sw.  I    nacht 

werden. 
anvaie   (der.   v.   auva'i'r  «<  invadere) 

f.  angriff. 
anviron  s.  environ. 
anviz  =  enviz     (invite  4-  s)     adv. 

schwierig. 


aoi  s.  104. 

apargoivre   apere,   (ad  -f-  pereipere) 

st.  III  (praes.  conj.  3.  apar<,-oive, 

impf.    conj.   pl.    .'i.   aperceüsQent, 
perf.    1.  apar^ui)    bemerken,   s.   a. 

de  etwas  bemerken. 
aparellier   (*adparieulare)   sw.  I  zu- 

rüsten,  herrichten. 
aparler  (komj).  v.  parier)  sw.  I  an- 
reden. 
aparoir    (apparere)     sw.    ui-  perf. 

(praes.  ind.  3.  apert,  part.  aparant) 

erscheinen,  in  Wirklichkeit  treten. 
apeler  (appellare)  sie.  I  anreden,  an- 
rufen, nennen. 
apertement  (aperta  mente)  adv.  offen, 

öffentlich. 
aplaidier  (der.  v.  placitnni  —  plaid) 

sw.  I  anreden. 
apoiier  (*appodiare  v.  podiurn)  sw.  I 

stützen,  s.  a.  sich  stützen. 
aporter  (apporf are)  siv.  I  herbeitragen, 

bringen. 
apostoiie    (*apostoliuai   /'.   apostoli- 

culu)  m.  II  priest  er. 
apreismier  (*adproxhnare)  sw.  I  (ger. 

apreisrnant)  sich  nähern. 
aprendre    (apprendere)  st.  II  (perf. 

1.  apris,  part.  f.  aprise)  1.  lernen. 

—  2.  lehren,  unterrichten,  erzielten. 

auch  apr.  a  +  inf. 
apres    (appressnm)    adv.    hinterher, 

darauf. 
aprester  (*adpraestare)  sw.  I   bereit 

machen,  part.  perf.  aprest^t  bereit. 
aprochier  (*adpropiare)  sw.  I,  s.  a. 

vers  sich  nähern. 
arbre  (arborein)  m.  II  bäum. 
arbroisel      (*arboricellum)      m.    II 

bäumchen. 
arcevesque  (archiepiscopum  <  «Vz,f " 

niaxonov)  m.  II  erzbischof. 
Archamp    (Arsuin    cainpum?)    m.  II 

A.,  ort  der  Vivienschlacht. 
arcie  =  archiee   (*arcata   r.   arcum) 

f.  bogenschussweite. 
Areinbor  (d.  Irnburg)  n.  pr.  f.  160 


nresnier  —  aveir. 


517 


aresnier  =  intonier    Catlrationare) 

sie.  I  anreden,  ansprechen. 
arester  (*adrestare)  st.  III  (per f.  8. 

arestut)  stehen  bleiben. 
argent  largontniu)  m.  II  silber. 
armer  (armare)  sw.  I  bewaffnen. 
armes  (arma)  /'.  jd.  waßen,  rüstung, 

waffentaten. 
aronde  (hiruudinem)  /'.  schwalbe. 
aroser  (*adrosare  v.  ros)  sie.  I  benetzen. 
arriere    arrier    arrieres   (ad  +  retro) 

adr.  zwrück. 
art  (artem)  /'.,  m.  kunst. 
Artois    (Atrebatensem    sc.    pagum) 

n.  pr.  grafschaft  Artois. 
Artur  (Arthurum)   n.  pr.  (r.  Artus) 

kbnlg  Artus  von  Britannien  293. 
asaier  s.  essaier. 
ascendant   part.  —  adj.    v.   ascendre 

(ascendere)  sie.  III — II  aufsteigen. 
asembler  assanbler  (*adsimulare)  sw.  I 

sammeln,  s.  a.  sich  versammeln. 
askuter  8.  escolter. 
asoignenter    (zu   *sonium  —  soin?) 

sw.  I  zur  beischläferin  machen. 
assaillir  (assalire-assalio)  8W.II  (praes. 

conj.  3.  assaille,  part.  per  f.  assailli) 

angreifen,  in  angriff  nehmen. 
assalt  (der.  v.  assalire)  m.  II  angriff. 
assanbler  s.  asembler. 
asseeir  -oir  (assidere)  st.  II  (praes. 

ind.  3.  assiet,  perf.  1.  assis,  3.  assist, 

part.    assisj    belagern,    s.   a.    sich 

setzen,  estre  assis  sitzen. 
assez   (*adsätis)   adv.   genug,    in  ge- 
nügender menge. 
assoldre  (absolvere)  st.  II  (imp.  pl. 

assolez)  absolvieren. 
as  vos  =  es  vos  (ecce  vos)   interj. 

siehe  da! 
ataebier  (stamm  tacc-)  sw.  I  anbinden, 

befestigen. 
ataindre    (*attangere    f.    attingere) 

st.  II   (perf.    1.  atains)   erreichen, 

treffen. 
ata'i'ne  (v.  ata  in  er,  zu  d.  tagadiue?) 

/'.  beunruhig} mg. 


atargier   (*attardicare,    o.   tardnm) 

s>v.  I  zögern. 
ateiuprer     (ad  +  temperare)     sw.  I 

massigen,  part.  atempre  mild, 
atendre  atandre  (atteudere)  sw.  III, 

II  (perf.  3.  ateudi,   conj.  impf.  1. 

atendisse,    cond.     1.     atenderoie) 

warten,  erwarten. 
atendue  (der.  v.  atendre)  /".  erwart  an g. 
atoruer  (komp.  r.  torner,  zu  röyvoq) 

sw.  I   darauf  richten,    s.   a.   sich 

damit  (i)  befassen;  ordnen,  kleiden. 
atouchier     (komp.   v.   touchier    < 

*toccare,   v.   d.  tukkan  =  zucken) 

sw.  I  anrühren  (a). 
atour   (der.   v.   atorner)   m.  II    aus- 

stattung,  Meldung,  art. 
atraire  (*attragere  f.  attrahere)  st.  II 

(part.  perf.  atrait)  herbeiziehen,  an 

sich  locken. 
Aubert  (d.  Albreht)  n.  pr.  Aubert  490. 
Aucassin    (arab.   AI  Kassim?)   Au- 

cassln  471  ff. 
aus    l)  =  els    (illos    —   2)=  als,    as 

(ad  illos). 
aussi  (*alum  /'.  aliud  -f-  sie)  adv.  ebenso, 

aussicom,  con  gleichwie,  ebenso  wie. 
autel  (*alum  /'.  alium  +  talem)  adj. 

prou.  {r.  auteus)  ebenso  beschaffen 

wie  (come). 
autrement  (altera  mente)  adv.  anders. 
autrier  (alterum  heri)  adv.  l'autrier 

jüngst,  neulich. 
aval  (ad  vallem)  adv.  — praep.  hinab, 

unten  auf. 
avaler  (v.  aval)  sw.  I  hinabsteigen, 

s.  a.  sich  hinablassen. 
avancier  (*abanteare,  v.  ante)  sw.  I 

vorwärtsgehn. 
avant  (ab  ante)  adv.  vor,  vorwärts. 
avanture  =  aventure  (*  ad  Ventura)  /. 

ereignis,  abenteuer. 
aveir   avoir  (habere)  st.  III   (praes. 

Ind.    1.  ai,   2.  as,  3.  ad  a,  pl.  1. 

avons,  2.  avez,  3.  ont,  conj.  2.  aies, 

3.  ait  et,  pl.  1.  aions,  3.  aient,  impf. 

aveie  etc.,  fut.   i.  avrai,  3.  avrat 


:>is 


Glossar:  aveir  —  beneYre. 


avra,  pl.  2.  avreiz  avroiz  avrez,  ar6s, 
cond.  8.  avreit,  ^?J.  2.  ariies,  per  f. 
1.  oi,  8.  aut  out  ot,  pl.  3.  ourent 
orent,  conj.  impf.  1.  eiisse,  3.  eüst, 
jaZ.  2.  eüscies,  3.  eüssent  haben, 
besitzen,  impers.  a,  i  a  es  gi&f, 
rnolt  a  grant  tens  oder  piec'a  lang 
ist's  her,  vor  langer  zeit. 

aveir  (subst.  in  f.  habere)  m.  II  habe. 

avelenir  (der.  v.  vilain)  siv.  I  schlecht 
machen,  s.  a.  schlecht,  gemein 
werden. 

avenablement  (adv.  v.  avenant)  an- 
genehm, geziemend. 

avenant  (advenientem)  adj.  angenehm, 
lieblich. 

avenir  (advenire)  st.  I — III  (praes. 
conj.  3.  aviengne^er/".  3.avint)  sich 
ereignen,  begegnen,  widerfahren, 
Wirklichkeit  werden,  s'en  a.  sich 
daraus  ergeben. 

avers  (adversnm)  adj.  feindlich,  bos- 
haft. 

avers  (adversus)  praep.  gegen,  ver- 
glichen mit. 

avesprer  (*advesperare  v.  vesper) 
sw.  I  abend  werden. 

avis  (ad  visum)  m.  indecl.  meinung, 
ce  m'est  avis  ich  meine,  es  scheint 
mir. 

avoi  interj.  wohlauf!  oho! 

avuec  avenc  avec  (apud  oder  ab  hoc) 
adv.  —praep.  mit,  bei. 


B 

baaillier  (*batacularel  sie.  I  gähnen. 

bachelier  (*  baccalarem)  m.  II  Jüng- 
ling. 

bacin  (*baecinurn)  m.  II  becken. 

baer  (*batare)  sw.  I  aufsperren, 
öffnen. 

baillie  (der.  v.  baillir,  vgl.  bailiier) 
f.  macht,  besitz. 

bailiier  (bajulare)  sw.  I  erlangen,  in 
die  gewalt  bekommen. 

baisier  (basiare  v.  basiniu)  sw.  I  küssen. 


baissier  (*bassiare  r.  bassura")  wo.  I 

neigen. 
Balagner  n.  pr.  heidnische  stadt  in 

Spanien  189. 
bandon  (d.  stamm  bann-  rom.  bando) 

m.  II  geivalt,  eile,  a  bandon  mit 

ungestüm. 
barat  m.  II  list,  betrug. 
barbe  (barbam)  f.  bart. 
barb6t  (barbatnm)  pari.- adj.  bärtig. 
barnage    (:,:baronaticnm,    zu   baron) 

m.  II  ritterschaft  (auch  konkret), 

Heldentum. 
baron  (d.  bar,  vgl.  AS)  m.  III   (r. 

ber  bers)  held. 
baronic  (der.  v.  baron)  /'.  ritterschaft. 
baston  (*bastonem)  m.  II  stock. 
bataille    (*battualia   v.   battuere)   /. 

kämpf. 
bataillier  batillier  sw.  I  bauen. 
batre  (*  battuere  /'.  battuere)  sw.  III, 

II  (praes.  ind.   3.   bat)   schlage?i, 

b.  a  reichen  bis. 
baudor  baudour  (v.  d.  bald-)  f.  hühn- 

heit.  freude,  fröhlichkeit. 
baudre   (d.  balderich,  vgl.  lat.  bal- 

teum)  m.  II  gürtet. 
baut  (d.  bald-)  adj.  (r.  baus)  kühn, 

froh. 
bec  (keif,  beeco)  m.  II  schnabel. 
bechier  (der.  v.  bec>  sw.  I  mit  dem 

schnabel  hacken. 
beivre   boire  (bibere)  st.  III  (perf. 

1.  bui)  trinken. 
bei  (bellum)  adj.  (r.  bels  biaus  biax, 

f.  bele)  schön,  (in  der  anrede)  lieb, 

estre   bei  a  gefallen  —  adv.  plus 

bei  schöner,  angenehmer. 
belement  (bella  mente)  adv.  schön. 
ben  =  bien. 
Benedeit  Beneeit  (Benedictum)  n.  pr. 

(r.  Benedeiz)  1 .  B.  verf  des  Brandan 

122.  —  2.  Saint  B.  der  hl.  B.  127.  - 

3.  Mestre  B.  verf.  der  Normannen- 
chronik 263. 
bene'fre  (benedicere)  st.  II  (perf.  3. 

ben  eist,  pari,  benooit)  segnen. 


bergerette  —  ce. 


519 


bergerette  (deminutiv   eu  bergiere) 

f.  Schäferin. 
bergeronette   (dem.   zu  bergiere)  f. 

Schäferin. 
bergiere    (*berbicaria    r.    berbicein 

<  vervecem)  f.  Schäferin. 
besague  (bis  acutem)  f.  Streitaxt  mit 

eiserner  spitze  am  griffende. 
besoing  (*bis-soniuni  f.  Senium)  m. 

II  bedürfnis,  not. 
beste  (*bestaua  f.  bestiam)  f.  wildes, 

böses  Her. 
bevrage    (*biberaticum    r.    bibere) 

m.  II  trank. 
bialte  biaut6  (*bellitateru)  f.  Schön- 
heit. 
Biaucaire  {prov.  Beucaire  <  Bellum 

qnadrnm)  n.  pr.  Beaucaire  an  der 

Rhone. 
biaus  biax  =  bels  s.  bei. 
bien  ben  (bene)  adv.  wohl,  gut. 
bien   (subst.   aus   adv.   bien)    m.  II 

das  gute,  die  tvoltat. 
bis  adj.  (f.  bisse  =  bise)  schwärzlich, 

dunkel. 
bise  (d.  bisa)  f.  nordostwind. 
blanc    (d.    blank)   adj.   (f.   blanche, 

blance)  weiss,  glänzend. 
Blanchandrin  (der.  v.  d.  blank,  vgl. 

Blanchard)  n.  pr.  Sarracenenname. 
blechier  =  blecier  (*blettiare,  v.  d. 

biet  bleich  ?)  sw.  I  verletzen,  ver- 
wunden. 
bl'i'aut  m.  II  anschliessendes  gewand. 
blont  (germ.?)  adj.  (pl.  blons)  blond. 
boche  (buecam)  f.  mund. 
bocler-ier  (der.  v.  bocle  <<  bueculam) 

adj.  mit  buckel,  spitze  versehen. 
bocu  (zu  boce  —  bosse)  adj.  bucklig. 
bois   (*boseuiii)    m.    indecl.   gehölz, 

wald. 
bon   (bounm   nebentonig)   adj.   gut, 

estre  bon  a  gefallen. 
bonte  (bonitatem)  f.  gute,  teert. 
boscage    (der.    v.    *buscum)    m.  II 

waldung. 
bot  f.  (r.  boz)  schlauch. 


bonillir  (bullire)  sie.  II  (praes.  ind. 

8.  bout,  impf.  :i.  boloit)  kochen. 
bouter  ('/.  botan  —  mhd.  bözen)  sw.  I 

stossen. 
brauche  (^brancam)  /'.  zin  ig. 
brandir  (zu  brant)  sie.  II  schwingen 

(son  colp). 
brant   (d.    bland-)    m.  II   (r.   brans) 

schwert. 
Bretons  (Brittones)  n.  pr.  die  Bre- 

tonen  261. 
brochier  (kelt.  brocc-,  vgl.  AS)  sw.  I 

spornen. 
Broiefort  (aus  broiier  <  d.  brekkan 

u.  fort •< forte)  n.  pr.  name  von 

Ogitrs  pferd  223  f. 
bruire     (brugere — *brugire)    sw.  II 

(pari.     pr.      bruiaut)      rauschen, 

brausen. 
bruit  (*brugitnm?)  m.  II  lärm. 
brun  (d.  brftn)  adj.  braun,  brüniert. 
brunet  (dem.  v.  brun)  adj.  brünett. 
buef  (bovem)  m.  II  (r.  bues)  ochse. 
buisson  (der.  v.  bois)  m.  II  gebüsch. 
buisson6t    (dem.    v.    buisson)   m.  II 

gebüsch. 
buon   buen   (bonum   hochtonig)  adj. 

gut. 


c 

c'  =  qu',  que  s.  que. 

ca  (ecce  hac)  adv.  hierher. 

gaint  =  ceint,  pari.  pf.  v.  ceindre 
(cingere)  st.  II  umgürten. 

candre  =  cendre  (cinerem)  f.  asche. 

Cantorbire  n.  ])r.  Canterburg,  erz- 
bischofssitz  des  heil.  Thomas  12tf  ff. 

cape  (d.  kappa)  f.  mantel. 

car  (qnare)  conj.  denn,  beim  hup.  doch. 

carne  (carrücam  v.  carrum)  /'.  2>flu9- 

cauper  =  colper  (v.  colp)  sie.  I  ab- 
schneiden. 

caut  s.  chaut. 

cavel  =  chevel  (capillum)  m.  II  (pl. 
caviaus)  haar. 

ce  s.  co. 


520 


Glossar:   cel  —  einer. 


cel  chel  (ecce  illuin)  pron.  dem.  {voll- 
form celui,  pl.  cels  ceus  cians,  r. 

eil  ehil,  f.   cele   celle  ehele,  obl. 

rollform    celi)    dieser,    derjenige, 

solcher. 
celer   (celare)   sw.  I   (praes.   ind.  3. 

§oile)  verbergen,  geheimhalten. 
celestial    (der.    v.    caelestem)    adj. 

himmlisch. 
ceat  yant  (centuin)  zw.  hundert. 
ceo  =  co. 

cerf  (cervum)  m.  II  (r.  cers)  hirsch. 
cerise  (ceresea  f.  cerasea)  /'.  kirsche. 
certes  chertes  (certa  +  s)  adv.  gewiss, 

sicher,  a  ein  Wirklichkeit,  ernstlich. 
ees  s.  cest  und  ses. 
cest  ehest  (ecce  istum)  pron.  dem. 

(pl.  cez,  r.  eist,  f.  pl.  cez-cestes 

316)  dieser. 
ceus  s.  cel. 
cez  s.  cest. 

chaaine  (catenaiu)  f.  kette. 
chacier     (*captiare)     sw.  I    jagen, 

herausjagen. 
chainse  (*c;'unisi-,  verwant  mit  che- 

mise  —  heind)  m.  II  Überwurf. 
chair  ca'ir  (*cadire  /'.  cadere)  sw.  II 

(conj.  impf.  ri.  caist  —  vgl.  cheoir) 

fallen. 
chaitivier  (*captivarium,  v.  captivu- 

cachtivu-  chaitif)  m.  II  gefangen- 

schaft. 
chaloir  (ealere)  sie.  ui-  perf.  (praes. 

■ind.  3.  ehielt  ehalt  ehaut,  conj.  3. 

chaille)  imp.  m.  dat.  d.pers.  u.  gen.  d. 

sache:  es  liegt  daran,  es  kümmert. 
ehalor  (calorem)  f.  wärme,  hitze. 
ehambre  (d.  kamera)  f.  zitroner. 
chaiupion  (*caaipioneni  v.  campum) 

m.  II  kämpfet. 
chan^on  (cantionem)  /'.  lied,  heldenlied. 
chansonete    (dem.    v.    chansou)    f. 

liedchen. 
chant  (c  an  tu  in)  m.  II  gesang. 
ehanter  canter  (cantare)  sw.  I  singen, 

dichten. 
ehapel  (cappellum)  m.  II  kränz. 


chapele  (*cappellam)  f.  kapelle. 
char  s.  car  (quare). 
charbon  (earbonem)  m.  II  kohle. 
chargier   cargier   405   (*carricare   c. 

carruin)  sie.  I  beladen. 
Charleniagne  (Carolum  magnum)  n. 

pr.  Karl  d.  Gr.  169. 
Charlon  (d.  Karl)  n.  pr.  (r.  Charles) 

Kaiser  Karl  103. 
charn  char  (carnem)  f.  fleisch. 
charrete    charete    (dem.    v.    char  < 

carrum)  /'.  kleiner  wagen,  karre. 
charretil    (dem.    v.    charete)    m.  II 

wägeichen. 
ehasenns   caseuns  (quisque  unus  -J- 

xaxä)  pron.  indf.  jeder. 
chastel     castel     (castellum)     m.  II 

schloss. 
chastement  (casta  mente)  adv.  keusch. 
chat  (cattum)  m.  II  katze. 
chaucier  (calceare)  sw.  I  s.  eh.  die 

schuhe  anziehen. 
chaut  caut  (calidum)  adj.  (f.  chaude) 

warm,  heiss. 
che  =  ce  s.  co. 

cheance  (*cadentia  v.  cadere)  /'.  Zu- 
fall, glücksfall. 
cheinin  (kelt.  camniino)  m.  II  weg. 
cheoir    (*cadere    f.    cadere)    st.  III 

(praes.  ind.  pl.  3.  chieent,  impf. 

pl.     3.     cheoient    —    vgl.     chair) 

fallen. 
cheval  (caballum)  m.  II  pferd. 
chevalehier  (caballieare  v.  caballum) 

sw.  I  reiten. 
chevalerie    (der.   v.    caballarium)   /'. 

ritterschaft  (ritterliches  tun). 
Chevalier  (caballarium)  m.  II  ritter. 
chevol  =  chevel    (capillum)    m.  II 

(pl.  chevos  —  vgl.  caviaus)  haar. 
chevruel  (capreolum)  m.  II  (r.  che- 

vriaus)  reh. 
chi  1 )  ==  qui.  —  2)  =  ci. 
chief  cief  (caput-capu)  m.  II  haupt. 
chier  (carum)  adj.  teuer,  lieb,  avoir 

eh.   lieb  haben  —  adv.  vandre  eh. 

teuer  verkaufen. 


chievaluient  —  coinpaignete. 


521 


chievalment  (v.  ohief)  adv.  'häupt- 

lich\  zu  häupten  des  tisches. 
chil  =  eil. 
choe*te    {dem.    v.    choe  <  d.    kawa 

krähe)  f.  eule. 
rhoisir  (</.  kausjan)  sw.  II  wählen. 
chose  cose  (causam)  /'.  sache,   ding, 

wesen.  etwas. 
chou  =  50. 

chrestiieu  (christianum)  «<(y.  christ- 
lich. 
ci  chi  (ecce  hie)  fl<7r.  Äicr,   01  pres 

/.  k  >•  nahebei. 
ciaus  chiaus  =  cels,  zu  cel. 
ciel  (caelum)  »1.  II  Himmel. 
eiere  (cara<gr.  *dp«)  f.  gesteht. 
eil  chil  (ecce  illi  /'.  ille)  r.  sy.  pl.  zu 

cel,  r.  sg.  auch  eilz. 
eine  (*cinqne  /'.  quinque)   zu-,  fünf. 
cinces  /'.  pl.  lumpen. 
Cipioii  n.  pr.  Scipio  479. 
eist   »ecce  isti  /'.  ille)  r.  sg.  pl.  zu 

cest  dieser. 
citet  cite  (civitateui)  /'.  Stadt. 
citoler  (v.   citole,   inusikinstrument) 

su\  I  auf  der  citole  spielen. 
clainer  (claniare)  sie.  I  nennen. 
Clarin  de  Balaguer  n.pr.  Sarracenen- 

name  189. 
clartet  (daritatem)  f.  helligkeit. 
clau  —  clon  (clavum)  m.  nagel. 
clause  (clausam)  /'.  reihe,  zeih. 
cleie    (/ cletaiu  i    /'.    flechtwerk,    ge- 
flochtener feiler. 
der    (claruni)    adj.    hell,    hellfarbig, 

klar.  —  adv.  hell,  mit  heller  stimme, 

deutlich  (voir  c). 
clerc    (clericuni)    vi.  II     (r.     clers) 

geistlicher. 
clergie    (clericatuuj)    /;;.  II    kleriker, 

priesler. 
cligner    (*cliniare,    v.   clinare)   sw  I 

blinzeln,    cl.    les    ieux    die   äugen 

halb  schliessen. 
cliner  (clinare)  sw.  I  sich  neigen. 
clore   (claudere)   st.  II   (part.  perf. 

clos  f.  close)  schliessen. 


<;o  ohOD  ee  che  6e  (ecce  hoc")  pron. 

dem.  dieses,  das. 
Qoche    (vgl.    nfr.    souche)   /.   baum- 

stumpf. 
coieuient  (adv.  zu  coit  —  coi)  ruhig, 

still,  heimlich. 
coile  s.  celer. 
cointe     (cognitum)     adj.     anmutig, 

schmuck. 
coit  coi  (quietuin)  adj.  ruhig. 
coite  (der.  v.  *coctare)  f.  bedrängnis. 
coi  (collum)  m.  II  hals. 
colchier  couchier  cocher  (culcare  /. 

collocare)  sw.  I  niederlegen,   s.  c. 

sich  legen. 
colee    (v.    coi  <C  collum)    /'.   schlug, 

pein. 
coler  (colare)  sw.  I  her ab] 'Hessen. 
coloiier   (*collicare)  sw.  I   den   hals 

drehen,  sich  umsehn. 
color  -our  (colorem)  /'.  färbe,  de  c. 

farbig,  bunt. 
colorer  (colorare)  sw.  I  färben,  part. 

colorez     gefärbt,      von     schöner 

färbe. 
colp     cop     (colaphum  <.  xo).a<pov) 

m.  II  (pl.  cols)  schlag,  hieb. 
colpe  (eulpam)  /;  schuld. 
com  s.  come. 
comandement    (der.    r.     comander) 

m.  II  gebot. 
comander  (komp.  v.  mandare)  sw.  I 

anbefehlen,  befehlen,  empfehlen. 
come  com  cou  (quomodo)  adv.  wie, 

wie  sehr,  als  (klausal),  com  si  als 

ob,   wie  wenn.  —  conj.  wie,   als 

(zeitlich). 
comencier  -cier  (*cuminitiare  v.  ini- 

tium)  s«;.  I  beginnen  (mit  a). 
content  comant  (quomodo  —  come 

-f-  mtute)    adv.    in    direkter   oder 

indirekter  frage:  in  welcher  weise, 

wie  sehr? 
compagne   (zu   compaignon)   /'.    be- 

gleitung,  ge folge  (auch  gefährtin). 
compaignete  (dem.  v.  compaigne)  f. 

gefährtin,  freundin. 


522 


Glossar:   compaignie  —  cors. 


compaignie  (zu  compaignon)  f.  ge- 

nossenschaft. 
compaignon     (*companionem,     zu 

panis)   m.  III   (r.  compaign   com- 

painz)  genösse,  geselle. 
complaindre   conpl.   (*complangere) 

st.    II     (impf.     3.     conplaignoit) 

klagen,  s.  c.  sich  beklagen. 
complainte  (der.  v.  complaindre)  f. 

klage. 
comporter  (comportare)  sie.  I  tragen, 

herumtragen. 
con  (cunnum)  m.  II  nfr.  con. 
con  ad.  —  conj.  s.  come. 
conbatre  (/comp.  v.  battuere  —  batre) 

sio.    III,     II    (j>erf.     3.    conbati) 

kämpfen. 
conble     (cumulum)     m.  II     gipfel, 

buckel  (des  Schildes). 
confondre    (confnndere)    sie.  III,  II 

zerstören,  vernichten. 
confort    (der.    v.    conforter)    m.  II 

trost,  hoffnung. 
conforter    (*  confortare    zu    fortem) 

sw.  I  trösten. 
congie   (commeatum)    m.  II  Urlaub, 

abschied. 
conissiere,  r.  zu  conisseor  (der.  v. 

conoistre  <  cognoscere)     m.  III 

kenner. 
conkerre  s.  conqnerre. 
conplaindre  s.  compl. 
conoistre  (cognoscere)  st.  III  (praes. 

ind.   pl.    3.    conoissent,    conj.    3. 

conöisse,  perf.  1.  conui,  3.  conut) 

kennen. 
conqnerre  conkerre  (con  -f-  qnaerere) 

st.  II  (praes.  ind.  3.  conkiert)  er- 
obern, enverben,  gewinnen. 
conseill  consoil  (cousilium)  m.  II  (r. 

consauz)    rat,   ratschlag,   ratsver- 

sammlung. 
conseillier  consillier  consoillier  (con- 

siliari)  sw.  I  rat  geben,  raten,  sich 

beraten. 
consellier   (consiliarium)    m.  II   rat- 

geber. 


consentir  (consentire)  sw.  II  c.  qcb. 
billigen,  einwilligen  in. 

conserver  (conservare)  wo.  I  be- 
wahren, halten. 

conte  eunte  (coiniteiu)  m.  III  (/•. 
cuens)  graf. 

conte  (der.  v.  conter)  m.  II  erziihlung. 

contenance  (*continentia  v.  conti- 
nere)  /'.  haitun g,  benehmen. 

contenir  (*continire  f.  continere) 
st.  III  zusammenhalten,  s.  c.  sich 
halten,  sich  befinden. 

conter  (computare)  sw.  I  berichten, 
erzählen. 

contraire  (contrariumt  »(.II  gegenteil. 
Widerwärtigkeit,  schaden. 

contre  (contra)  jyraep.  gegen,  ent- 
gegen. 

contrede  (*contratain)  f.  gegend. 

contredire  (contradicere)  st.  II  wider- 
sprechen, leugnen. 

contrevaleir  (contra  -j-  valere)  sw. 
m-perf.  wert  sein,  aufwiegen. 

controver  (contropare)  sie.  I  erfinden. 

convenir  s.  covenir. 

converser  (conversari)  sw.  I  ver- 
kehren, verweilen. 

cop  s.  colp. 

copler  (copnlare)  sw.  I  zusammen- 
fassen, vereinigen. 

cor  (cornn)  m.  II  (r.  corz)  hörn. 

corage  (*coraticnm,  zu  cor)  »w.  II 
sinn,  gewinnung. 

corde  (ebordam)  /'.  stite. 

Cordres  (Cordubam)  n.  pr.  f.  stadt 
Cordora  in  Spanien  189. 

coroner  (coronare)  sw.  I  krönen. 

corp  (corvnm)  m.  II  (r.  cors)  rabe. 

corporal  (v.  corpus  —  corporis)  adj. 
kö)perlich,  irdisch. 

corre  courir  (currere)  sw.  xxi-perf. 
(impf.  3  coroit)  laufen. 

correceus  (adj.  v.  correcier  ■<  *  cor- 
rnptiare)  zornig.         • 

corrous  (v.  corrocier)  m.  indecl.  zorn. 

cors  (corpus)  m.  indecl.  körper,  leib 
(bes.   im  gegensatz  zu  euer),   zur 


cora  —  cuvertaire. 


523 


Umschreibung  der  person  ton  cors 

=  tei  toi  etc. 
cort  (cohortem)  /'.  hof,  konigshof. 
Cort&il)  (Int.  curtam»  n.  pr.  (r.  Corte) 

tue  von  Ogiers  schwert  -23t'. 
cortois    (*cortensem.    ~<c   cort)   aclj. 

höfisch. 
cortoisement  (ade.  zu  cortois)  höfisch. 
coster  (constare)  sw.  I  koste». 

(der.    v.   costain)   m.  II  Seite, 

liüfte. 
costoiier  (der.  v.  costa)  sie.  I  an  der 

seitc  gehn.  entlang  gehn. 
costame  (consnetudinem)  /'.  gewohn- 

heit. 
courecier      curecier    =    courrecier 

(•corruptiare,   vgl.  AS)  sw.  I  er- 
zürnen. 
cousant  ger.  v.  cosdre  (*c6nsuere  f. 

consuere)  nähen. 
coutel  (cultellura)  m.  II  messer. 
couvenir  s.  coveuir. 
converteuient  (cooperta  uaente)  adv. 

heimlich,  still. 
covant  (conventum)  m.  II  versprechen, 

zusage. 
covenir  couv.  conv.  (convenire)  st. 

I — III  geziemen,    anstehn,  passen 

(a);  laissier  qn.  (a)  cov.  354;  imp. 
es  ist  nötig. 
covrir  (cooperire)  sw.  II  (praes.  ind. 

3.  cuevre,   conj.  3.  cueuvre,  part. 

perf.  covert)  bedecken. 
creatour    criatur    (creatorein)   m.  II 

Schöpfer. 
creature     (creaturam)    f.    geschöpf, 

wesen. 
credance    creance    (*credentia,    zu 

credere)  /'.  glaube,  treue. 
creire  croire  (credere)  st.  III  (praes. 

ind.  1.  crei,  imp.pl.  creez,  impf.pl. 
I.  creion,  fut.  2.  crerras)  glauben, 

er.  qn.  de  jem.  in  etwas  gl.,  s.  er. 

a  sich  jem.  anvertrauen. 
creistre    croistre    (crescere)    st.  III 

(praes.  ind.  3.  croist,  fut.  3.  creistrat, 

impf.  conj.  3.  creiist)  tvachsen. 


creveflre  (der.   >■.  cri'ver<crepare) 

f.  Höhlung,  loch. 
cri  (der.  v.  crier)  m.  II  schrei,  geschrei. 

criembre  —  criendre  —  craindre  (*cre- 

mere  f.   tremere)  sie.  ui  —  SW.  II 

(praes.  ind.  1.  criem)  fürchten. 
criirr     (*qtliritare)     sw.    I     schreien, 

rufen,  er.  a  jem.  zurufen,  er.  merci 

a  jem.  um  gnade,  um  die  huld  bitten. 
crimin&l      (criminalem)      adj.      ver- 
brecherisch, peehiet  er.  todsünde. 
cristal      (crystallum  <  xqvaxaXkov) 

m.  II  krgstall. 
Christas  Jesus  n.  pr.  Jesus  Christus. 
croiz  crois  (crucem)  f.  indecl.  kreuz. 
crope   (g.   kruppa)  /'.  hinterteil  (bei 

tieren). 
cropir  (der.   r.   crope)  krümmen,   s. 

er.  sich  krümmen,  ducken. 
croser  (zu  *crosum —  crues  — creux) 

S/w.  I  aushöhlen. 
cruaute  (erudelitatem)  /*.  grausamkeit. 
euer  (cor)  m.  II  herz,  leben. 
cui     (cui)   pron.    rel.    obl.    sg.,    pl. 

dessen,   welchem,   welchen,   welche. 
cuidier  quidier  (cogitare,  oder  cügi- 

tare?)    sw.  I    denken,    au  mien  c. 

nach  meinem  dafürhalten. 
cuignee  =  cognee     (*cuneatam    v. 

euneus)  f.  axt,  holzaxt. 
cuir  (corium)  m.  II  leder,  haut. 
cuire    (*cocere    f.    coquere)    st.  II 

(praes.  ind.  3.  cuist,  perf.  3.  coist) 

kochen,  brennen,  s.  c.  sich  brennen, 

verbrennen. 
cum  s.  come. 
cumpaignon  s.  comp, 
cuple  =  cople  (copulam)  f.  paar. 
eure    (curaui)   /'.   sorge,    avoir   oder 

prendre   eure    de  sich  um  ettuas 

kümmern,  sorgen. 
curecier  ;>•.  courecier. 
curune  =  corone  (coronam)  f.  kröne. 
cuveitus  (adj.  v.  coveitier<<*cnpidie- 

tare)  gierig. 
cuvertage  (v.  colvert  schurke)  m.  II 

Schurkerei. 


i24 


Glossar:  dahet  —  dengnier. 


D 

dahet  —  dehait  (der.  v.  dehaitier  be- 
trüben —  haitier  erfreuen,  zu  alt- 
nord.  heit  versprechen)  m.  II  fluch, 
verderben. 

dain  (*daumm  f.  damam)  m.  II 
dammhirsch. 

dam  (dominum  als  kurzform)  m.  II 
(r.  danz)  herr. 

dainage  dumage  (*dairmaticuin)  m.  II 
schaden. 

dame  (donrinam)  f.  herrin,  dame. 

dainnaison  (damuatiouem)  f.  Ver- 
urteilung, Verdammnis. 

damne  (dominum)  m.  II  (r.  damnes) 
herr,  Damnedeu  Gott  der  Herr. 

damoisel  (*dominicellum)  m.  II  (r. 
damoisiaus  -fax)  junger  herr,junker. 

Danemarche  n.  pr.  f.  Dünemark. 
222  ff. 

Danois  (*Danensem  v.  g.  Dano)  m. 
il  indecl.  Däne  222  ff. 

danz  s.  dam. 

David  n.  pr.  könig  David  68. 

de  (de)  praep.  1.  lokal  (woherl): 
von  —  ab,  von  —  an  (d'ici  etc.).  — 
2.  partitiv:  von,  aus  einer  menge 
(nient  de  mel  etc.).  —  3.  herkunft: 
von,  aus  (mot  d'Artois).  —  4.  in- 
folge von,  an  (morir  de  mort).  — 
5.  beioeggrund:  aus,  um  willen  (de 
gred).  —  6.  in  bezug  auf,  an  (faire 
damage  de  qn.,  vengier  qn.  de 
qn.),  nach  comp,  verglichen  mit, 
als  (orguelleuse  de  tor  etc.)  — 
7.  zur  bezeichnung  des  genitivs. 
—  8.  beim  inf.  nach  gewissen 
verben. 
decachier=dechacier  (komp.  v.  *cap- 

tiare  —  chacier)  sw.  I  verjagen. 
deeliner    (declinare)    sw.  I    neigen, 

sich  neigen,  zu  ende  gehen. 
decoivre  (decipere)  st.  III  täuschen, 

betrügen. 
dedenz  dedens  (de  -j-  denz  —  de  intus) 
adv.  drinnen,  lad.  drinnen,  hinein. 


deduire  (deducere)  st.ll  unterhalten, 

s.  d.  sich  unterhalten. 
defandre  deffandre  desfendre  =  de- 
fendre  (defeodere)  sw.  III,  II  ver- 
teidigen. 
deffremer  (dis-f-fermare)  siv.l  auf- 

schliessen. 
defoler  (komp.  von  foler  <C  *  fnllare, 
zu    fullonem    walker)    sw.  1    mit 
fassen  treten,  beschimpfen. 
defora  (de  +  foris)  adv.  draussen. 
degeter  (komp.  von  geter  <jactare) 

sw.  I  bewegen,  sich  bewegen. 
degnier    dengnier    (dignari)    siv.  I 

würdigen,  geruhen. 
degre  (komp.  v.  gradnm)  m.  II  stufe, 

treppe. 

dejoste    (de  -\-  juxta)  praep.   neben. 

dekaiie  =  decheüe  pari.  perf.  f.  zu 

decheoir  (komp.  v.  cheoir)  st.  III 

herabfallen,  sinken. 

delai  (der.  v.  delaiier,  lump.  v.  lauer) 

m.  II  aufschob. 
deles  (de -{-latus)  praep.  neben. 
deliteus  (*delectosnm)  adj.   ergötz- 
lich, lieblicli. 
delitier    (delectare)    sw.  I    (praes. 

ind.  '6.  delite)  ergötzen. 
delivre  (adj.  zu  delivrer  <  de  -j-  li- 

berare)  frei. 
demander  (komp.  v.  mandare)  siv.  I 
verlangen,   suchen   (qch.),    fragen 
(a  qn.),  bitten  um  (qch.  a  qn.). 
demener  (komp.  v.  mener  <  minari) 
sw.  I  behandeln  (qn.  a  tort),  voll- 
führen,     empfinden,     ausdrücken 
(noise,  ledece  etc.). 
dementer  (der.  v.  de -|- inentem)  sw.  I 

von  sinnen  kommen,  klagen. 
demore  (der.  v.  demorer)  /'.  aufent- 

haltsort,  Verzögerung. 
demorer    (de  -f-  morari)    sw.  I    ver- 
weilen, bleiben,  s.  d.  bei  sich  ver- 
weilen, am  leben  sein. 
demostrer  (demonstrare)  sie.  I  dar- 
stellen, zeigen,  offenbaren. 
dengnier  s.  degnier. 


deuier  —  desus. 


M« 


denier    (denariuui)    m.    II    denar,. 

heller. 
dent  (dentem)  m.  II  (sjiäter  f.)  gähn. 
departie  (der.  v.  departir)  /'.  trmnung. 
departir  (*departire,  zu  partire)  sw.  II 

trennen,  s.  d.  sich  entfernen. 
depec'i'ier    {der.    v.    de  -(-  *pettia  — 
piece)   sie.  I   in  stücke  reissen,    in 
stücke  gehen. 
deramer  (*disrauiare,  zu  rauiuui)  sw.  I 

zerreisai',1. 
deriere     derrier    (de  +  retru)     adv. 

hinten,   ci>»  hinten. 
derompre    (deruinpere)    sw.  III.  II 
(part.  pf.  derot,  pl.  derous)  zer- 
reissen,  spalten. 
derrier  s.  deriere. 
des  (de  illos)  =  de  -f-  les. 
des    (de    ipso    oder   de    ex)   praep. 
von —  ab,  seit,  d.  or  von  nun  ab,  : 
d.  or  mes  fortan,  d.  que  seitdem,  \ 
sobald  als. 
descendre    (descendere)    sie.  III,  II 
(perf.     3.     descendi)     absteigen, 
herabsteigen. 
desclore  (dis-f-claudere)  st.  II  öffnen. 
descolorer  (dis  -\-  colorare,  vgl.  dis- 

color)  sie.  I  entfärben. 
desconfire   (*discon6cere)   st.  I   zer- 

stören. 
desconvenue  (der.  v.  desconvenir  < 
disconvenire)  /'.  miss geschieh,   Un- 
annehmlichkeit. 
descovrir  (*discooperire)  sw.  II  ent- 
decken, verraten. 
descrire  (describere)  st.  II  beschreiben. 
desdire  (*disdicere)  st.  II  (conj.  pr.  '6. 

desdie)  leugnen. 
desenor  (der.  v.  *dishonorare)  f.  Un- 
ehre, schimpf. 
deserter    (*desertare,    v.    desertum) 

SW.  I  zerstören. 
desevrer  (*deseparare)  sie.  I  trennen. 
desfaire  (*disfacere)  st.  1  zerstören, 

vernichten. 
desf'i'ance  (der.  v.  desfier)  f.  herans- 
forderung. 


desfier   ( Mistidare.    ZU   liduui;  6ff.  I 

herausfordern. 
desir  (der.  r.  desirer)  m  II  wünsch. 
desirrer  =  desirer  -ier  (desiderare) 
sw.  I  wünschen  — svbst.  in  f.  m.  II 
desirier  verlangen,  Sehnsucht. 
desirus  (der.  v.  desir)  adj.  begierig. 
desmembrer    (*dismembrare)    Sic.  I 

zerstückehi. 
desmesnre  (*dismensura)/".  übermass. 

a  d.  über  die  nitisseit. 
desor    desour    desure    (de  -j-  anpra) 
präp.  auf,  über,  mehr  als  —  adv. 
oben,  par.  d.  oben. 
desoz   dessoz   desos   desons  (de  -f- 
subtus)   adv.  darunter,    unten   — 
//>('(/>.  unter. 
despeudre  -andre  (de  -f-  expendere) 

sw.  III,  II  ausgeben,  bezahlen. 
despense    (*dispensani)    f.    Vorrats- 
kammer. 
desperer    (*disperare    f.    disparare) 

sw.  I  zerstören. 
despit  (despectum)  m.  II  Verachtung, 

an  despit  zum  trotz. 
desrei  (der.  v.  desreer,  zu  g.  redau) 

Unordnung,  ayisturm. 
desresnier  (*disrationare)  sw.  I  ver- 
teidigen. 
destorbier  (Verbalsubstantiv  von  dis- 

tnrbare)  m.  II  Verwirrung,  not. 
destour  (der.  v.  destourner<;*distor- 
nare)  m.  II  krümmung,   nebenweg. 
destre  (dextrnni)  adj.  recht  (s). 
destreindre  -aindre  (distringere)  st. 
II     (part.     pf.     destreit)     stark 
pressen,  fesseln. 
destrier    (dextrarium)    m.    II   streit' 

ross. 
destruetion   (destruetionem)   /'.   Zer- 
störung. 
destruire  (*destrugere  /.  destruere) 

st.  II  zerstören. 
desus    dessns    (de  -f-  sursum)    adv. 
darüber,   par   d.   darüber  hinweg 
—  präp.   oben  auf.  oben  darüber, 
auf,  über. 


526 


Glossar:  desvet  —  dote 


desvet  (desuatum   v.  suum?)  pari.- 

adj.  verrückt. 
desvoier   (*disviare)   sw.  I   auf  den 

falschen    weg    bringen,    täuschen; 

vom  rechten  weg  abkommen. 
detraire    (*detragere    /".    detrahere) 

8t.  II  hinabziehen. 
detrenchier    (de  -j-  *trnncare)    sw.  I 

abschneiden,  abschlagen. 
Deu  Dieu  (Deuni)  n.  pr.  Gott. 
deus  dex  s.  dous. 
devant   (de  +  ab  ante)  praep.  vor, 

par   d.   vor  —  adv.   vorn,    courir 

au  d.  voraus  laufen. 
deveir  -oir  (debere)  st.  III   (praes. 

ind.  1.  dei  doi,    8.   deit  doit,   pl. 

2.  devez,  3.  deivent  doivent,  conj. 

1.  doie,  3.  deiet,  impf.  ind.  deveie 

-oie  etc.,  conj.  plur.   2.  deiissiez, 

perf.  I.  dui,   3.  dut  müssen,  {mit 

ne)  dürfen. 
devenir   (devenire)   st.  I — III   (imp. 

pl.  devenös,  perf.  3.  devint)  werden, 

zu  etwas  werden,  s.  d.   zu  etwas 

werden,  quo  il  se  devint  was  ist 

aus  ihm  geworden  ? 
devers   (de  -f-  versus)  präp.   von  — 

her,   in   der  richtung  auf,   nach, 

par  d.  dasselbe. 
deviner  (divinare)  sw.  I  erraten. 
devurer  (devorare)  sw.I verschlingen. 
di  (diem)  m.  II  tag,  anz  e  dis  jähr 

und  tag. 
diable    (diaboluni  <  gr.    dtüßoXov) 

m.  II  teufel. 
Dieu  s.  Deu. 

digne  (dignum)  adj.  würdig. 
dime  disme  (dechnani)  f.  zehnten. 
dire   (dicere)   st  II    (praes.  ind.   1. 

dis  di,   3.  dit,  pl.  3.  dient,  conj. 

1.  die,   3.  die,   imp.  di,  pl.  dites, 

impf,  disoie  etc. ,  perf.  1.  dis,    3. 

dist,   fut.  1.  dirai  dirrai  dire,    3. 

dira,  pl.  2.  direz)  sagen,  sprechen, 

nennen. 
dis    (decem)    zw.    zehn,    dis   e   set 

siebzehn. 


dit  (dictum)  m.  II  wort. 

divers  (diversum)  adj.  verschieden, 
ander. 

diviu  (divinum)  adj.  göttlich. 

dublier  -er  (*duplarium  v.  duplum) 
adj.  doppelt. 

dol  s.  duel. 

doleement  (adv.  zu  dolz)  sanft, 
zärtlich,  süss. 

dol^or  douchour  (der.  v.  dolz<dul- 
eem)  /'.  süssigkeit. 

dolent  -ant  (dolentein)  adj.  be- 
kümmert, betrübt. 

doloir  (dolere)  sw.  ui-  perf.  (praes. 
ind.  1.  duel,  3.  diaut)  schmerzen, 
s.  d.  schmerz  empfinden,  sich  be- 
klagen. 

dolor  -our  (dolorem)  /".  schmerz, 
jammer. 

doloreus  (dolorosnm)  adj.  schmerz- 
lich, schmerzerregend. 

doloser  (*dolusare  f.  *dolorare) 
sw.  I  beklagen. 

dolz  douz  (dulcem)  adj.  f.  (dolee 
douce  dolche  douche  douöe)  süss, 
teuer,  lieb. 

domage  s.  damage. 

don  s.  dont. 

donc  dune,  auch  dont  (donique  — 
donee,  vgl.  AS)  adv.  damals,  dann. 

Dondeu  =  Damnedeu,  vgl.  dam. 

doner  duner  (donare)  sw.  I  (praes. 
conj.  3.  doint  doinst  donget  dünge, 
imp.  dune,  part.  1.  dorrai)  geben, 
schenken. 

donne  (dominam,  vgl.  dame)  f.herrin. 

dont  dun  (de  unde)  adv.  rel.  woher, 
aus  welchen,  in  bezug  worauf, 
worin  —  gen.   pron.    rel.   dessen. 

Doon  de  Maience  (d.  Dodo)  n.  pr. 
Doon  von  Mainz  248. 

durmir  (doruiire)  sw.  II  (impf,  dor- 
inoie  etc.,  ger.  dormant)  scldafen, 
s.  d.  dasselbe. 

dos  (dorsum)  m.  indecl.  rücken. 

dote  (der.  v.  doter)  f.  zweifei,  sanz 
d.  zweifellos. 


doter  —  enclin. 


.27 


doter  (dubitare)  sie.  I  fürchten. 
dou  =  del  <  de  +  le. 
dous  (daos)  zw.  zwei  (vgl  ambdos). 
drap   (*drappum)   m.  II    (pl.    dras) 

titch. 
drecier  drechier  (*<ürectiare)  sw.  I 

richten,    aufrichte)!,    emporrichten 

(a  mont). 
dreit  -oit  (directum)  adj.  gerade,  de  ' 

dr.  nient  gerade  wegen  eines  nichts 

—  adv.  tot  dr.  geradenwegs. 
dreit  -oit  (directum)  ;n.  II  (r.  droiz) 

recht,    Ordnung,    gerechtsame,    en,  | 

par    dr.    in    rechter   teeise,    n'est  ' 

droiz  qne  nicht  darf,  soll  er  usw.  \ 
dreituraluaeßt  (v.  dreiture)  adv.  in  ! 

rechter,  gebührender  weise. 
droiture  =  dreiture  (*directurain)  f. 

recht. 
dru   (d.   drüt  =  traut)  adj.-subst.  (f. 

drue)  traut,  geliebt. 
duc  (dücein)  m.  II  (r.  dnx  =  dus)  ! 

herzog. 
duel  dueil  {der.  v.  doleir  <  dolere)  j 

m.  II  schmerz. 
duire   (dücere)   st.  II   (perf.  pl.   3.  ! 

duistrent)  führen,  geleiten. 
dur  (durum)  adj.  hart,  fest,  schwer- 
fallend. 
durement   (dura   niente)   adv.    hart, 

sehr,  d.  matin  hoch  am  morgen. 
durer  (durare)  sw.  I  dauern,  bleiben, 

d.  jusqu'a  reichen  bis. 

dusques  (de  +  usque)  conj.  bis  dass.  j 

E 

E  ed  et  (et)  conj.  und,  vgl.  et. 

e,  eh!   int  er j.  ach! 

eage  aage  (*aetaticum)  m.  II  alter.  \ 

eidier  s.  aidier. 

einQois,   einsi,   einz  8.  aingois,   ainsi, 

ainz. 
eissir,    iscir    (exire)    sw.  II    (praes. 

ind.   3.   ist,   fut.  1.  istrai,  pl.  3. 

istront,  perf.  3.  iseä)  herausgehen, 

e.  fors  dasselbe. 


egal  Inga]  (aequalem)  a#.  gleich. 
eire  =  aire  (agrumt  »i.-/'.  herkunft, 
ort  306. 

el   (*alum   oc/o-  ale -*—  alid  /'.  aliud) 

pron.  anderes. 
el:     1.    =  en  +   le.     —     2.  =  ele 

pron.  f. 
ele  (alam)  /.  füget   (auch    con  ge- 

bänden). 
ele  eile  el  (illa-am)  bet.  pron.  3.  #. 

/'.  (pl.  eles)  *te. 
elme  s.  helme. 
eis    aus    (illos)    bet.  pro».    3.  y;.   "/. 

pl.  obl.  (r.  il)  sie. 
em  8.  en  (inde). 
embatre  (comp.  v.  batre)  sw.  III.  II 

(perf.    3.    embatiö)   hineinstossen. 
embronchier  (^it  *pronicare  v.  pro- 

nus?)  sw.  I  sic/(.  neigen. 
eintuende  =  ainende  (der.  v.  amender 

•<  emendare)  f.  busse. 
empeirier  empirier  anpirier  (*impe- 

jorare  zu  pejor)  sw.  I  (praes.  3. 

empire)  schlechter  werden. 
empereor   (imperatorem)   m.  III    (r. 

emperere)  kaiser. 
empleiier     (implicare)     sw.   I      an- 
wenden, austeilen. 
emprendre  anprandre  (in  +  prendre) 

st.  II  (part.  pf.  empris,  /'.  emprise) 

unternehmen  (qch.  oder  a  m.  inf.). 
en  an  (in)  präp.  (m.  art.  el,  ou,  pl. 

eis)   1.  lokal  (ivo?):  in,  an,  auf. 

—  2.  lokal  (wohin?):  in,  nach.  — 

3.  zweck  (ivozu?):  zu,  auf,  für.  — 

4.  übertragen,  bes.  vom  spracht. 
(entendre  en  franchois,  metre  en 
romanz). 

en   an,    alt.  form,   ent   (inde)   adv. 

—  pron.  1.  infolgedessen,  daher, 
darauf,  in  bezug  darauf,  an  est 
plus   biaus  er  ist  um  so  schöner. 

-  2.   davon,   von   ihm,   von  ihr, 

von  ihnen,  ihrer. 
eniimore   (part.  v.   enamorer  ■<  *in- 

amorare)  verliebt. 
enclin  (der.  v.  encliner)  adj.  geneigt. 


i28 


Glossar:    encliner  —  entreuietre. 


encliner  (inclinare)  8*0.  I  sicli  neigen 
(a  vor  jnn.). 

enclore  -orre  anciore  (*inclaudere  /'. 
inclndere)  st  II  (part.  pf.  f.  en- 
close)  einschliessen,  umschliessen, 
umspannen. 

encontre  (in  -f-  contra)  präp.  ent- 
gegen, hinab. 

encuntree   (*incontratam)   f.  gegend. 

eneontrer  (*incontrare)  sw.  I  treffen, 
begegnen. 

encore  encor  ancor  (*antque  +  ha 
hora  s.  AS)  adv.  noch. 

endormir  (indormire)  siv.  II  s.  e. 
einschlafen. 

endroit  androit  (in  directo)  adv.  auf 
der  stelle,  sogleich.  —  präp.  was 
betrifft,  für. 

endurer  (in  -j-  durare)  sw.  I  ertragen, 
aushalten. 

enemi  anemi  (in  +  amicum)  m.  II 
feind,  teufel. 

eneslure  =  eneslore  (in  ipso  +  illä 
horä)  adv.  auf  der  stelle,  so- 
gleich. 

enfance  enfanche  (infantia)  f.  kind- 
heit. 

enfant  (infantem)  m.  III  (r.  enfes) 
kind. 

enfern  (infernum)  m.  II  hblle. 

enfller  (*infilare  v.  filum)  siv.  I  ein- 
fädeln. 

engignier  -ingnier  (*ingeniare  v. 
ingenium)  sw.  I  überlisten,  be- 
trügen. 

engin  (ingenium)  in.  II  Schlauheit, 
list,  trug. 

engoissier  s.  angoissier. 

enjaner  (d.  stamm  gan-?)  siv.  I 
überlisten,  betrügen. 

enmi     (in     medium)    präp.    mittten 

auf,  in. 
enoios  -ous  -eus  (*inodiosum)  adj. 

unangenehm,  leid. 
enor  s.  honor. 

enpaindre  st.  II  (jiarf.  pf.  enpaint) 
schlagen,  stossen. 


enplir(*iinplire/'.iu)plere)su:.II/Y<//t;/<. 

enporter  (inde  portare)  sw.  I  fort- 
tragen. 

enpuldrer  =  empoldrer  (*impolve- 
rare,  zu  pnlver)  sw.  1  (fut.  3.  en- 
pulderat;  s.  e.  sich  mit  staub 
bedecken. 

enragier  enrajier  (der.  v.  rabiem  — 
rage)  sw.  I  in  wut  geraten. 

enseigne  (pl.  n.  insignia)  /'.  feld- 
zeichen,  fähnchen,  Schlachtruf. 

enseignier  (komj).  v.  signare)  siv.  I 
unterrichten,  lehren. 

ensemble  (insemel  /'.  insimul)  adv. 
zusammen. 

enserrer  enserer  (komp.  v.  serrer<< 
serrare)  sw.  I  einschliessen . 

ensi  s.  ainsi. 

ensivre  (komp.  v.  sivre)  siv.  II  (fut. 
1.  ensivrai)  folgen. 

ensus  (inde  sursmn)  adv.  weg,  fort. 

ent  s.  en  (inde). 

entendement  (der.  v.  entendre)  m.  II 
Verständnis,  bildung. 

entendre  antandre  (intendere)  sw. 
III,  II  (praes.  2.  entens,  perf.  3. 
entendi,  part.  entendu)  hören, 
anhören,  verstehen,  e.  qeh.  par 
verstehen  unter. 

entente  antante  (der.  v.  entendre) 
f.  aufmerksamkeit,  bemühung. 

entier  antier  (integrum)  adj.  (f.  en- 
tere) ganz,  vollständig. 

entor  -our  antour  (*intornum  zu 
torner,  vgl.  it.  intorno)  adv.  — 
präp.  im  umkreis,  rings  um. 

entortillier  (der.  v.  tortum-torqnere, 
vgl.  tortilis)  sw.  I  einwickeln. 

entramer  (inter  +  amare)  sw.  I  s.  e. 
sich  gegenseitig  lieben. 

entre  antre  (inter)  präp.  zwischen, 
unter,  inmitten  von;  reeiprok  entr 
eis  untereinander;  entre  ...  et 
sowohl  .  .  .  als  auch  (vgl.  AS). 
entremetre  (intermittere)  st  II  (perf. 
1.  entremis)  s.  e.  de  sich  auf  etwas 
einlassen,  mit  etwas  beschäftigen. 


entrer  —  esloignier. 


529 


entrer  (intrare)  sw.  I  eintreten. 
enui  anui  (der.  v.  emiiier)  m.  II  (pl. 

enuiz)  verdruss.  Unannehmlichkeit, 

des  biens  et  des  anuiz  der  guten 

und  schlechten  dinge. 
emiiier  (*inodiare,  zu  odiuui)  sw.  I 

(conj.pr.  3.  enuit)  ärgern,  leid  tun. 
enveer    -voiier    (*inviare   oder   ab- 

leitung  v.  en  voie!)  sw.l  (p>raes. 

ind   ;!.  enveiet)  senden. 
enverse  (der.  r.  envers  <  inversuua) 

part.  —  adj.  umgekehrt,   auf  dem 

rücken  liegend. 
environ    anviron    (en  +  viron ,    vgl. 

virer  <  *virare  =  girare)   adv.  — 

präp.  ringsum  —  rings  herum  um, 

um  —  herum. 
enz  ens   (intus)  adv.  hinein,   darin. 
er  =  air  (aerem)  m.  II  luft. 
erbe  (herbam)  f.  gras,  kraut. 
ermite  (eremitam  <  hQnuiznv)  m.  I 

einsiedler. 
errer  (*iterare,  zu  iter)  sw.  I  gehen,  \ 

handeln. 
esbahir  (onomatopoetisch,  vgl.  baer 

—  baaillier)    siv.  I    in    erstaunen 

geraten. 
esbanoiier  (stamm  bau?)  stv.  I  ver- 
gnügen, sich  vergnügen. 
esbatre  (/comp.   v.  battnere)  sw.  III, 

II  unterhalten,  ergötzen,  3.  e.  sich 

vergnügen. 
escargaite  (d.   skarwahta)  /'.  schar- 
wache, scharwächter. 
escerveler  =  escerveler  (der.  v.  cer- 

vel  <  *cerebelluua    /'.    cerebruui) 

sw.  I  des  hirns  berauben. 
eschaper  (der.  v.  ckape-cCg'.  kappa 

mantel)  sw.  I  (conj.  pr.  3.  eschat) 

entkommen 
esebar  (zu  d.  skerran  — scharren?) 

adj.  geizig. 
esebine  (g.  skina)  f.  rückgrat. 
esebiver     (g.     skiuhan   —  scheuen) 

sw.  I  vermeiden,  fliehen. 
esciant  (scienduin)  m.  II  das  wissen, 

a.  e.  ivissentlich. 

Voretzsch,   Studium  d.  afiz.  Literatur. 


esclace    (ex  -f-  g.   stamm    Ulak-?)    f. 

tropfen. 
escole  (scholam)  f.  schule. 
escolter  eskolter  escouter  askouter 

(ao8cnltare)   wo.  I   hören  auf  e., 

zuhören, 
escouiengier  (excouimnnicare)   sw,  I 

exkommunizieren . 
escondire  (komp.  v.  dicere)  s^.  II  (co?id. 

l.  escondireie)  sich  entschuldigen, 

rechtfertigen;    zurückweisen,    s.  e. 

sich  versagen- 
escorce  (corticeui,  gekreuzt  m.  escor- 

cliier)  f.  rinde,  feil. 
escorebier  (exeorticare  v.  corticem) 

sw.     I      abziehen,      s.     e.     sich 

schürzen. 
esener  (komp.  v.  crier)  sw.  I  rufen, 

anrufen. 
escrit   (scriptum)    m.  II    (r.    escriz) 

geschriebenes,  Schriftwerk. 
escrivre     escrire     (scribere)     st.  II 

(perf.  1.  escris,  3.  escrist)  schreiben, 

aufschreiben. 
escut  escu  (scutum)  m.  II  (pl.  eseuz) 

schild. 
esforcier    (*exfortiare,    zu    fortem) 

sw.  I  s.  e.  sich  anstrengen. 
esfreer  (der.  v.  g.  frida  —  friede)  sio.  I 

(2)fäs.   ind.    3.   esfroie)    s.   e.   er- 
schrecken, scheu  werden. 
esgaier  (der.  v.  gai)  sw.  I  sich  freuen, 

s.  e.  dasselbe. 
esgart  (der.  v.  esguarder)  m.  II  rück- 

sicht,  beschluss. 
esgriner=  esgruner  (der.  v.  d.  krüuia) 

sio.  I  zerbröckeln,  schartig  machen 

oder  werden. 
esguarder  esgarder  (ex  +  d.  warden) 

sw.  I   anblicken,   blicken,   spähen. 
esguare  (der.  v.  g.  wara,  zu  waron  — 

wahren)  part.—adj.  (r.  esgarez,  f. 

esguarede)  verwirrt. 
eslire  (*  exlegere  /'.  eligere)  st.  III 

auswählen. 
esloignier   (*exlongiare)   sw.  I  ent- 
fernen, verlassen. 

2.  Auflage.  34 


530 


Glossar :   esiuaiier  —  estreu. 


esiuaiier  (ex  +  d.  uiagau  —  uiügeu) 
BW.  I  erschrecken. 

esuier  (aestimare)  sw.  I  schätzen, 
vergleichen. 

esiueraude  (smaragdaiii)  f.  smaragd. 

esueiier  sw.  I  reinigen. 

Esope  (Aesopum  •<  Aiownvr)  n.  pr. 
fabeldichter  Aesop  153. 

espaart  wild  od.  verschnitten  315. 

espalle  espaule  (spathulaui)  /*. 
schütter. 

espau  (d.  spana,  spannan)  m.  II 
spanne. 

espandre  (expandere)  sw.  III,  II  aus- 
breiten, ausgiessen,  part.  espandu 
breit. 

espart  (der.  v.  espartir)  m.  II  blitz. 

espartir  (*expartire  sich  spalten) 
sie.  II  blitzen. 

espasmir  (der.  v.s\>a.swum<Co7iaop.öv 
kramp  f)   sw.  II  ohnmächtig  sein. 

esperance  (*sperautia  v.  sperare)  /. 
Hoffnung. 

Esperit  (Spirituui)  n.  pr.  hl.  geist. 

esperitable  (*spiritabileni)  aäj.  geist- 
lich, im  geiste. 

esperon  (d.  sporn)  m.  II  sporn. 

espiet  espiel  (d.  speot  —  spiess) 
m.  II  Speer. 

espoenter  =  espaventer  (*expaveu- 
tare)  sto.  I  erschrecken. 

espoir  (spero  ich  hoffe)  adv.  hoffent- 
lich, vielleicht,  ungefähr. 

espoir  (der.  r.  esperer)  in.  II  hoff- 
nung,  saus  nul  e.  ohne  hoffnung, 
Widerrede. 

espos  (sponsum)  m.  indecl.  gatte. 

espose  spose  69,  espeuse  (spousam) 
/".  braut,  gattin. 

espreudre  (ex  -f-  prendere)  st.  II 
(part.  pf.  espris)  einnehmen,  ent- 
flammen. 

esprover  (*exprobare)  siv.  I  er- 
proben. 

esquelderoie  =  escoldroie  cond.  zu 
escoillir  (ex  -f-  colligere)  sw.  II 
stürzen,  laufen. 


esquiex  —  eseuier  (scatariom)  m.  II 
Schildknappe. 

esragier  (der.  v.  rabieni —  rage)  sm;.  I 

in  icut  geraten. 
essaiier  asaier  (*exagiare  v.  exagiuui) 

siv.  I    versuchen,    auf   die   probe 

Stelle/1. 

essainple  (exeuiplum)  m.  II  beispiel. 

essart  (der.  v.  essarter,  komp.  v.  *sari- 
tare,  zu  sarire)  m.  II  (pl.  essarz) 
rodung. 

estaque  (d.  *staka)  /'.  pfähl. 

este  ested  (aestatem)  m.  II  sommer. 

estendre  (extendere)  sw.  III— II 
(part.  pf.  esteudu)  ausstrecken, 
Itinstrecken. 

ester  (stare)  st.  III  (praes.  1.  ui'estuis, 
perf.   3.  s'estut)  gew.  s.  e.  stehn. 

estoire  (historiaui)  f.  geschickte,  er- 
Zählung. 

estor  (d.  sturui)  m.  II  kämpf. 

estoveir  (stupere,  vgl.  AS)  imp.  st. 
III  (j>räs.  estuet,  perf.  estut,  fut. 
estovra)  nötig  sein. 

estraiudre  =  estreiudre  (stringere) 
st.  II  (praes.  3.  estraiut)  zusammen- 
schnüren, s.  e.  sich  umhüllen. 

Estraniariu    n.  pr.   Sarracenenname. 

estrange  (extraueuin)  adj.  fremd, 
fremdartig. 

estre  (*essere  /'.  esse)  irreg.  verbvm 
(präs.  ind.  1 .  sui,  2.  ies  es,  3.  est, 
pl.  1.  souies,  2.  estes,  3.  sont, 
conj.  3.  seit  soit,  impf.  ind.  1.  estoie, 
3.  ieret  iere,  eret  ert,  estoit,  pl. 

1.  est'i'un,   3.  erent,  esteient,  conj. 

2.  fusses,  3.  fust,  pl.  1.  i'ussiens, 
2.  fussiez  fuissez,  3.  fusseut,  perf. 

1.  fui,  2.  fus,  3.  fut  fn,  pl.  2.  fustes, 
part.  pf.   este,    fut.  1.   ier,   serai, 

2.  seras,  estras,  3.  iert,  sera,  pl. 
1.  eruies,  2.  sereiz  serrez,  3.  seruut) 
sein  (meist  als  copula),  sich  be- 
finden, mit  a  zur  Umschreibung 
des  fut.  (est  a  estre). 

estreu  (stamm  *streup-)  m.  II  {pl. 
estries)  Steigbügel. 


et  —  ferrer. 


531 


et    ed    e    (et)    conj.    und.    (zur    ein- 

führung  des  nachsatzes)  so. 
Eudropin  n.pr.Sarracenenname  189. 

eiiros-ens  (*auy;iiriosuuj)  adj.  glück- 
lich. 
eus  (oculosi  s.  ueil. 
Eva  n.  pr.  Eva  141  /'. 
eve  iaue  (aquam)  /'.  wasser. 
ex  =  eus  (oculos). 


F 

fable  (fabulam)  /'.  fabel,  erdichtetes. 

face  =  face  (facieni)  /.  yesicht. 

faele  pari. -adj.  gespalten,  rissig. 

faillance  (der.  v.  faillir)  f.  fehl,  fehler. 

faillir  (* fallire  f.  fallere)  sw.  II  (präs. 
Ind.  3.  falt  laut,  pl.  3.  faillent, 
covj.  1.  faule,  perf.  3.  faillit)  fehlen, 
ausgehn,  aufhören;  f.  a  qn.  jem. 
fehlen,  entfallen,  entschwinden, ihn 
im  stich  lassen  (f.  a.  qn.  de  310); 
f.  a  qch.  in  etwas  fehlgehn,  fehl- 
greifen, sich  irren,  es  nicht  finden; 
torner  a  f.  zum  fehl  werden,  im 
stich  lassen;  ne  faillir  que — ne 
nicht  unterlassen. 

fain  (faiueui)  f.  hunger. 

faindre  (fingere)  st.  II  (perf.  I .  fains) 
vorgeben,  s.  f.  sieh  verstellen, 
säumig  sein. 

faintise  (der.  v.  faindre)  /'.  Verstellung, 
hcuchelei. 

faire  feire  (facere)  st.  I  {präs.  Ind. 
1.  faz  fac  fais,  2.  fcs,  3.  fait 
fet,    pl.    2.   faites,   3.   fönt,   conj. 

1.  face,  3.  face  fache,  pl.  i.  fagons, 

2.  faciez  facies,  imp.  pl.  faites, 
impf.  ind.  3.  faiseit,  conj.  1.  fe'isse, 

3.  fesist  feist,  pl.  3.  feYssent,  perf. 
1.  fis,  2.  fesis,  3.  tist,  pl.  '.',.  firent, 
part.  fait  fet,  /*.  faite  feite,  fut. 
1.  ferai  fere,  pi.  1.  ferons.  3.  feront, 
cond.  1.  feruie,  3.  fereiet  feroit, 
pl.  2.  feriez)  machen,  tan,  zu- 
fügen (tort,  damage),  begehn 
(pechie;,  f.  enor  a  ehre  erweisen, 


f.  phie  a  mitleid  erregen,  f. 
ohevalerie,  loiautä  etc.  ritterlich- 

keit  usw.  üben,  überhaupt  mit 
suchobj.  häufig  zur  umsclireibu>ig 
(f.  perte  =  perdre,  f.  joie,  duel, 
deuiore,  resveillier);  f.  auii  sich 
einen  freund  anschaffen;  mit  a  c. 
in  f.  faire  a  louer,  blasuier  etc. 
zu  rühmen  sein;  bien  faire  wohl- 
tun; sagen  (in  cingescliuln neu 
Sätzen);  als  verbum  vicarium, 
vgl.  306;  itnpers.  fet  bien,  nie  fait 
bien,  es  ist  gut,  gefällt. 

fait  (factum)  m.  II  tat,  tun.  inhalt 
(gegensatz  escrit),  bien  f.  wohl- 
tun, Wohltätigkeit. 

fals  faus  (falsuui)  adj.  falsch. 

fandre  =  fendre  (findere)  8«?.  III,  II 
spalten. 

fauser  (*  falsare)  sw.  I  falsch,  untreu 
nein. 

fausete  (der.  v.  falsum)  f.  falschheit, 
fehl. 

favele  (*fabellain,  c.  fabulam)  f.ge- 
schichte. 

feeil  (fidelem)  adj.  treu,  getreu. 

feid  fei  foi  (fidem)  f.  treue,  par  f. 
fürwahr. 

feiz  foiz  (vicem)  /'.  mal,  cele  f. 
diesmal,  nule  f.  nie. 

felon  (*fellouein,  zu  fei)  m.  III  — 
adj.  schurhe  —  treulos. 

felonie  (der.  v.  felon)  /'.  treulosigkeit, 
Schurkerei  (auch  personif.). 

ferne  fenuie  fauie  (femmani)  /'.  frau, 
iceib. 

fenestre  (fenestram)  f.  fenster. 

fenir  (tinire)  sw.  II  beenden. 

fenme  s.  ferne. 

fer  (ferrutn)  m.  II  eisen. 

ferir  (ferire)  sw.  II  (präs.  ind.  3. 
fiert,  pl.  3.  fierent,  imp.  pl.  ferez, 
impf.  3.  feroit,  perf.  3.  feri,  part. 
fern  r.  feruz)  schlagen,  treffen,  f. 
un  colp  einen  hieb  sehlagen. 

ferrer  (*ferrare  v.  ferrum)  sw.  I  mit 
eisen  beschlagen,  part.  ferre  fest. 
34* 


:>:vi 


(ilossar:   fen — Frauceis. 


fVu  9.   fou. 

feutre  =  feltre  (v.  g.  feit  —  filz)  m. 
II  filz,  teppich. 

fi   (fidum)  adj.  (f.  fie)  gewiss,  ver- 
sichert. 

f'iance   (*fidantia,   vgl.  fier)  f.  ver- 
sprechen, gewähr. 

f 'lancier  (der.  v.  f'iance)  sw.  I  ver- 
loben, pari,  f'iancie  Verlobter. 

ficbier   (*ficcare,   zu   figere?)  sw.  I 
befestigen. 

fieblet    (dem.    v.    flebileni  —  feble) 
adj.  (f.  -ette)  schwach,  schwächlich. 

fief  (fcudnin,  zu  g.  fehu)  m.  II  (r. 
fiez)  lehen. 

fier  (*fidare,  zu  fidus)  stv.  I  anver- 
trauen,  s.  f.  a  sich  verlassen  auf. 

fier  (ferum)  adj.  stolz,  hochfahrend. 

fierte  (feritatem)  /'.  Wildheit. 

fievre  (l'ebrem)  f.  fieber. 

figure  (figuram)  f.  gestalt. 

fil  fill  (filium)  wi.ll  (r.fils  fizfius)  söhn. 

fille  (filiam)  /".  tochter. 

fin  (finem)  f.  ende,  an  la  fin  endlich, 
schliesslich,  c'est  la  fins  317. 

fin  (*finum)  adj.  fein,  lauter. 

finement  (adv.  zu  fin)  lauter,  rein. 

finer  (der.  v.  fin  <C  finem)  sw.l  be- 
endigen, aufhören. 

firniament      (firmamentuin)      m.   II 
himmelsgewölbe. 

fisic'i'en  (der.  v.  \)hys\cü\n<^(pvaix6v) 
m.  II  naturkundiger,  arzt. 

fius  8.  fil. 

flame  (flauimaui)  f.  flamme. 

flanboier     -i'er    (der.    v.    flanbe  •< 
flammulam)  sw.  I  funkeln,  strahlen. 

flanc  m.  II  (pl.  flans)  scite. 

flor  (florem)  f.  blume,   helmzierrat. 

florir    (*florire    f.    florere)    blühen, 
part.  fiori  blumig,  weiss. 

foire  (feriam)  f.  messe,  Jahrmarkt. 

fol  (*follem  —  *follnm)  adj.  —  subst. 
(r.  fos)  närrisch,  narr,  tor. 

folage  (der.  v.  fol)  m.  II  torheit. 

folement  (adv.  zu  fol)  in  törichter 
iveise. 


folie.  {der.  v.  fol)  /'.  torheit. 
folor  {der,  v.  fol)  /'.  torh 
fontaiue  -ainne  (fontanam)  f.  quelle. 
forain    (der.    v.    foris,    foras)    adj. 

drnussen  befindl'u!*. 
force  (fortia,  v.  forteni)  f.  gewalt. 
foers  (foris)  adv.  hinaus. 
forfait  (der.  v.   forfaire  —  forsfaire) 

m.  II  unrecht. 
formage  furmagc  froumage  (*forma- 

ticum)  m.  II  käse. 
forment  fortment  (forti  mente)  adv. 

sehr,  dormir  f.  fest  schlafen. 
fors  (foris)  präp.  —  adv.  1.  ausser. 

—  2.  heraus,  hinaus,  von  —  weg. 

Vgl.  foers. 
forsene  (foris  -|-  d.  s'n)  part.  —  adj. 

verrückt. 
forsfaire  (foris  facere)  st.  I  (perf.  1 . 

forsfis)   übeles   tun,  jem.  unrecht 

tun. 
forslignie  (foris  -(-liuea)  part.  —  adj. 

entartet. 
fort  (fortein)  adj.  stark,  fest  —  adv. 

(forte)  stark,  heftig. 
forteresce  (der.  v.  fort)  f.  festung. 
fosse  (fossam)  f.  graben,  grab. 
fon  feil  fn  (focnui)  m.  II  feuer. 
fondre  (falgur)  m.  II  blitz. 
foudroiier    (der.    v.    foudre)    sw.  I 

blitzen. 
foutre  (d.  fot-)  nfr.  fontre. 
fraile  (fragilem)  adj.  gebrechlich. 
fraindre  (frangere)  st.  II  brechen. 
fraint  (der.  v.  fraindre)  m.  II  getöse. 
frauc    (d.   frank)    adj-   (r.   frans,   f. 

francbe)  frei,  edelsinnig. 
Franc  (d.  Frank-)  m.  II  (pl.  Frans) 

Franke.  Frans  de  France  Franken 

aus  Franciin  160. 
France  (Francia  v.  d.  Frank-)  n.  pr. 

Francien,    Frankreich    (bes.   fest- 
ländisches    Fr.     gegenüber     dem 

anglo-norm.  reich). 
Franceis      francois     franchois      (d. 

frankisk)   adj.  u.  subst.  fränkisch, 

Franke  —  französisch,  Franzose. 


fnuiehise  —  goute. 


;,:::; 


franchise  (der.  v.  franc)  f.  edetrinn. 
fredre  frere  (fratrem)  m.  I  bruder. 
freuair   (*fremire  f.  freuiere)   wo.  II 

zittern,  schauern. 
fres  (d,  frisk)  adj,  (f.  fresche  freche) 

frisch. 
froit  (frigidurn)  adj.  (f.  froide)  halt. 
froncicr    sw.   I    in    falten    ziehen, 

runzeln. 
frout  (frontein)  w.11  st  im,  el  preuiier 

fr.  in  der  ernten  reihe. 
fruit  (fruetnm)  m.  II  (r.  fruiz)  frucht. 
fneille    fuelle    (folia    v.    foliiini)    /'. 

laub,  blatt. 
fuerre  (g.  fodr-fntter)  m.  II  scheide. 
fu'i'r     (*fugire     /'.    lagere)    sw.    II 

(praes.  ind.  ?>.  fuit,  conj.  3.  faiet, 

inij>.    fui,    pi.    i'iiiez,    </n\    l'uiant, 

part.  perf.  foY,  r.  foTz)  fliehen. 
f u in  (fuumm)  »m.  II  (r.  fuus)  rauch. 
fust  (lüstern)  »t.  II  bautnstamm,  holz. 


g'  =  ge  s.  joa. 

gage  (</.  wadjo  —  wette) »».  II  pfand. 

gai  (<1  gahi?)  adj.  froh,  fröhlich. 

gaignon  m.  II  Schäferhund. 

gaite  (J.  wahta)  /'.  wache,  Wächter. 

ganbe  =  jarabe  (caujbaui  <  gr.  xccfXTtrj) 

f.  bein. 
garant  =  guarant  (werento,  v.  weran 

gewähren)  m.  II  (r.  garanz)  bürge, 

zeuge. 
garde     (v.    garder  —  guarder  <  d. 

warden)  f.  hut,  acht  im  g. 
gardin    -  ing  =  jardin    (d.    garto  — 

garten)  m.  II  garten. 
Garin  de  Biaucaire  (d.  Warin)  n.  pr. 

graf  Garin,  Aucassins  vater  471. 
Garin   de   Monglaue   n.  pr.   Garin, 

Stammvater  der  Wilhelmsgeste  248. 
garison     (v.     garir  —  gnarir  <  d. 

warjan  —  währen)    f.    nahrung, 

unterhalt,  heilung. 
gason    (d.    waso  —  wasen)    m.  II 

rasenplatz. 


Gasse  =  Gace  Bride  (<i.  Wazzo) 
n.  pr.  G.  Br.   dichter  358  f.,   361. 

gauge  (gallicam)  adj.  irdisch  (oder 
gallapfelartig,  zu  galla). 

ge  s.  jou. 

geniet  (geniuiatnm)  part.  —  adj.  mit 
edelsteinen  besetzt. 

genoil  (*genuculuni)  m.  II  (pl.  ge- 
nolz)  knie. 

gent  (genteui)  /'.  (pl.  gens  janz) 
volk,  leide. 

gent  (genitnm)  adj.  (r.  gensz)  an- 
mutig, lieblich  —  adv.  vornehm, 
g.  plorer  kläglich  weinen. 

gentil  (gentileni)  adj.  (r.  gentix 
gentiz  -is)  edel,  artig,  hübsch. 

gesir  (jacere)  st.  III  (praes.  3.  gist, 
pl.  3.  gisent,  impf.  pl.  3  giseient 
gissoient,  perf.  3.  jut,  pl.  3.  jurent, 
fut.  3.  girat,  part.  pr.  pl.  gisans) 
liegen,  s.  g.  sich  legen. 

geste  (gesta)  /'.  familie,  cyclus. 

geter  jeter  giter  (jaetare)  siv.  I  wer- 
fen, niederwerfen,  hors  g.  heraus- 
hängen lassen,  loinc  g.  verwerfen. 

gie  (ego)  pron.  (betonte  form)  ich. 

giendre  (geniere)  sw.  II  klagen, 
jammern. 

glace  (glaciem)  f.  eis. 

glacier  (der.  v.  glace)  sw.  I  gleiten, 
dringen. 

glaive  (gladium)  m.  II  Schwert. 

glure  =  gloire  (gloriam)  /'.  rühm. 

glorios  -eus  (gloriosnui)  adj.  ruhm- 
reich, glorreich. 

gobe  (kelt.  gobb  mund  —  frz.  gober 
gierig  essen)  adj.  gierig. 

goie  =  joie  (gaudia)  f.  freude. 

gonnele  (dem.  v.  gunna <Ckelt.  *vöna) 
f.  mäntelchen. 

gorge  (verw.  mit  lat.  gurges?)  f. 
kehle. 

goupil  gupil  (*vulpiculum  f.  *vulpe- 
culam  zu  vnlpern)  m.  II  (r.  gor- 
pilz  gupiz)  m.  II  fuchs. 

goute  gote  (guttaiu)  /'.  tropfen,  ne 

—  g.  nicht  das  mindeste. 


534 


Glossar:   grace  —  hantece. 


grace  (gratiam)  /'.  gnade,  huld. 
graignor     (grandiorem,     comp,    zu 

grant)  grösser. 
graflle  grele  (gracilem)  adj.  schlavk. 
graim  (d.  gramo)  adj.  betrübt. 
grant  (grandern)  adj.  gross. 
gravele  (dem.  r.  kelt.  *grava  —  frz. 

greve)  f.  sand. 
Grece  (Graeciam)  n.  pr.  f.  Griechen- 
land 284,  294. 
gred    gre   (gratum)    m.  II   gefallen, 

v  misch,  de  g.  absichtlich,  de  son 

g.  freiwillig,   a.   g.  nach  wünsch. 
grele  s.  graille. 

grenon  (g.  grana)  m.  II  Schnurrbart. 
gresle  (der.  v.  gresler  -t—ahd.  grisilou) 

f.  hagel. 
grevain    (*grevanmii    zu    *grevem) 

adj.  lästig. 
grever    (*grevare)   sw.  I   bedrücken, 

bedrängen. 
grief  (*grevem  f.  gravem  nach  levein) 

°dj-  (♦".  gries)  schwierig. 
Griu  =  Grieu  Greu  (Graecum)   adj. 

—  subst.  griechisch,   Grieche  153. 
groing  (grumum)  m.  II  schnauze. 
gros  (grossnm)  adj.  dick,  breit. 
guaain     (der.     v.     guaaignier  <  g. 

weidanjan)  m.  II  gewinn. 
gnarder    garder   (d.   warden)   sw.  I 

(praes.  conj.  3.  guart,  imp.  gart) 

bewahren,     behüten,    g.    son    sant 

seinen  Sprung  sorgfältig  ausführen, 

s.   g.   de  sich  hüten  vor,  g.   que 

acht  geben  dass. 
gnarir    (d.    warjan)    sw.  II    heilen, 

schützen,  retten  (que  —  ne  davor 

dass). 
Guarlan  (d.  Warland?)  n.  pr.  Sarra- 

cenenname  189. 
guarnir   garnir   (g.   warnjan)   sw.  II 

ausrüsten,  ausstatten,  schmücken, 

s.  g.  sich  bereit  machen. 
guaste    (lat.    vastum  +  g.    wastan) 

adj.  öde,  verlassen  von. 
gueires  (d.  weigaro)  adv.  viel,  (zeitl.) 

lange,  ne  —  g.  kaum. 


guerpir  (d.  werpan)  sie.  II  verl- 
auf geben,  meiden,  verlieren. 

guerre  (g.  *werra)  /'.  krieg. 

guerredon   (g.  widarlön)  m.  II  lohn. 

gnii:r  (g.  witan  —  weisen)  sie  I 
führen,  leiten. 

guile  (ags.  vlle)  f.  list. 

guise  (g.  wisa)  f.  art,  weise,  en  g. 
de  nach  art  von,  en  nule  g.  — 
ne  in  keiner  weise. 

gnle  =  gole  (giilam)  f.  kehle. 

gupille  (*vulpiculam  v.  vulpem)  f. 
füchsin,  fuchs  (als  gattung),  vgl. 
gonpil. 

guster  =  goster  (güstare)  sw.  I  kosten. 

H 

haie  (g.  *hagjö  —  hecke)  f.  hecke. 
ha'ine  (der.  v.  hair)  f.  hass  (personif.) 
ha'i'r  (d.  hatjan)  sw.  II  (praes.  ind.  3. 

het,    conj.   3.    hace  223,    impf.  3. 

haoit)   hassen,  h.   de  la  mort  auf 

den  tod  hassen,  h.  de  la  teste  a 

trenchier  '.?'J4. 
halt  haut  (lat.  altum  +  &•  höh)  adj. 

(r.  halz)  hoch  (örtl.),  erhaben,  en 

h.  laut. 
Halteclere  (Altam  Ciaram)  n,  pr.  f. 

name  von  Oliviers  schivert  103. 
haltement  (adv.  v.  halt)  laut. 
hanste   (lat.  hastara  -f-  d.   hand?)   f. 

lanzenschaft. 
hardemant    (der.    v.    d.   hart)   m.  II 

kühnheit. 
hardi  (*hardltum  zu  d.  hart  —  hard- 

jan)  pari.  —  adj.  kühn. 
hardillon    (dem.    zu   hart   tragband) 

m.  II  zweig,  band,  seil. 
härene  herenc  (d.  haring)  m.  II  (pl. 

harens  -ans)  m.  II  hering. 
hastif    (der.    v.    haste,    zu    g.    haist 

eifer)   adj.  (f.  -ive)  eilig,   hastig. 
haterel  m.  II  nacken. 
hauberc,  osberc  (d.  halsberg  —  prov. 

ausberc)  >».II  (;^.haubers)^«?uer. 
hautece  (der.  v.  halt)  f.  hohe  it. 


hantemeut  —  ja. 


hantement  (mir.  v.  haut     -  halt)  laut. 
Fleleine  (Helenam)  v.  pr.  f.  Helena, 

sjattin  (b's  Menelaw  282. 
Leime  elme  (d.  heim — prov.  elme) 

m.  II  (r.  li  h-s,  l'h-s,  l'eliues)  heim. 
herbe  (herbaiu)  f.  gras,  kraut. 
herbergier    [der.    v.    d.     hariberga) 

sie.  1  beherbergen. 
herenc  s.  härene. 
Hermeline     n.     pr.     f.     name    der 

füchsin  407. 
Herode  m.  II  n.  pr.  König  Herodes. 
hese  =  herse  (hirpicem)  f.  guter. 
hideur   (t\    hide   hisde,    woher?)   f. 

hässlichkrit. 
hidens  adj.  hässlicli. 
hidensement  (adv.  zuhideus)  hässlich. 
hom  s.  on. 
home    ome    nme    onme    (hominem) 

m.  III   (r.   hnem  hom  om  hon  on 

316)    mensch,    mann,    h.    d'eage 

erwachsen. 
honir  (g.  haunjan  —  hühnen)  sw.  II 

schänden,  beschämen. 
honor   -our  onor  -onr  (honorem)  f. 

ehre;  pl.  ehren,  ehrenstellen. 
honorer    honerer    (honorare)    sw.  I 

ehren. 
hontage  (der.  v.  honte)  m.  II  schände. 
honte   (g.  *haunipa  zu  haunjan)  f. 

schände,  schimpf,  schäm. 
hontens  (der.  v.  honte)  adj.  beschämt, 

schimpflich,  schandenvoll. 
hontensement     (adv.     v.     honteus) 

schimpflich. 
hors    (veno,   mit  fors)  adv.   heraus, 

hurs  de  heraus  aics. 
hostel  s.  Ostel. 
hui  (hodie)  adv.  heute. 
huimais  (hodie  magis)  adv.  nunmehr. 
humilitet     (humilitatem)    f.     demut, 

Unterwerfung. 
hupe  (lat.   upupam,  gekreuzt  mit  d. 

widehopf?)  /'.  u-idehopf. 
hurter  (germ  ?)  sw.  I  stossen. 


i   (ibi  —  hie)  adv.  daselbst,    dabei, 

hier  —  dorthin,  darauf. 
iaue  s.  eve. 
iauz  8.  neil. 
ice  s.  \qo. 
icel  (ecce  illnm)  pron.  dem.  (r.  icil, 

pl.  obl.  icels)  dieser. 
icost  (ecce  istum)  pron.  dem.  dieser. 
ici  (ecce  hie)   adv.   hier,   d'ici  qn'a 

von  da  bis,  bis  auf. 
ico  ice  (ecce  hoc)  pron.  neutr.  dieses. 
iex  =  ieus  s.  ueil. 
iglise    (ecclesiam  <  ixxknolav)    f. 

kirche. 
il  (illi  f.  ille)  bet.  pron.  3.  p.  m.  r. 

sg.  (obl.  lui,  pl.  r.  il,  obl.  eis)  er, 

auch   refl.   103,   neutral  (auf  das 

subj.  hindeutend)  es. 
iluec   iloc   ilec   ilecques   (illo   loco) 

adv.  dort,  daselbst. 
inde  (indium  f.  indicum)  adj.  indisch. 
ingal  s.  egal, 
ingalment  (adv.  v.  ingal)  in  gleicher 

weise. 
irascu     (*iraseutum     zu     irasci  — 

iraistre)  part.  —  adj.  erzürnt. 
ire  (iram)  f.  zorn. 
iretage   (der.  v.  hereditatem)  m.  II 

das  erbe. 
iriet  iret  (iratum)  part.  —  adj.  er- 
zürnt, zornig. 
irour  (*irorem  zu  iram)  /.  zorn. 
iscir  s.  eissir. 
Iseut  (g.  Ishild)  n.  pr.  f.  Isolde  294, 

364. 
isnel  (d.  snel)  adj.  schnell. 
issi  (ecce  sie)  adv.  so,  vgl.  ainsi. 
issue  (*exutam  zu  exire)  f.  ausgang. 
iver    yver    (hibernum    sc.    tempus) 

m.  II  winter. 


3 

ja  (jam)  adv.  nun,  ehedem,  ja  —  ne 
niemals;  (affirmativ)  doch,  ja. 


i36 


Glossar:  jal  —  langue. 


jal  =  ja  4-  le. 

i:iiiKiis    (jaui   niagis)   adv.   nunmehr, 

mit  ne  niemals. 
jant  janz  s.  gent. 
je  (ego)  s.  jou. 
jel=je  +  le. 
Jesu   Christ  n.  pr.  (r.  Jesus  Criz) 

Jesus  Christus  12s. 
jetcr  (jactare)  s.  geter. 
jeu  (jocuiii)  m.  II  spiel. 
jeiiner  (jejunare)  siv.  I  fasten. 
jo  (ego)  s.  jou. 
joie    goie    (pl.    gaudia)    f.    freude, 

fröhliche  sache. 
Jo'imer  n.  pr.  Sarracenenname  189. 
joindre   (jüngere)   st.  II  verbinden, 

falten. 
joios   -eus   (adj.   v.  joie  <  gaudia) 

vergnügt,  freudig. 
jo'ir  go'ir  Cgaudire  /'.  gaudere)  sie.  II 

(fut.  pl.  2.  go'fres)  gemessen  (de). 
jol  =  jo  +  le. 

joli  (*jolivurn?)  adj.  hübsch. 
jolivet  {dem.  v.  joli)  adj.  vergnügt. 
jouchiere    (der.    v.   jonc  <  juneum) 

/.   mit    binsen   bewachsenes   land, 

röhricht. 
jone  s.  juevne. 
jorn  jor  (diurnuni  sc.  tempus)  m.  II 

(})l.  jors)  tag,  helles  licht  (au  jor), 

l'autre  j.  neulich,  a  tous  js.  für 

immer. 
joster  (*juxtare  v.  juxta)  sw.  I  naher 

bringen,  nähern;  sich  nähern. 
jou  jo  je  ge  g'  (ego)  pron.  1.  p.  sg. 

ich,  vgl.  jol,  jel. 
jougler  (jocularern)  m.  II  Jongleur, 

spielmann. 
juer  =  joer   (jocari)    sw.  I   spielen, 

sich  freuen. 
juevnejuenejone(juveneni)fl<7y'J«»/y. 
jugeinent  (der.  v.  juger)  m.  II  urteil. 
jugier    (judicare)    siv.  I    beurteilen, 

urteil  sprechen  über,  richten. 
jurer  (jurare)  sw.  I  schwören. 
jus  (devorsum  -f  sursum)  adv.  herab, 
hinab,  nieder. 


jusque  (devorsum  -\-  que)  adv.  bis. 
jusqua  bis. 

justisc  (justitiam)  /'.  gerechtigkeit. 

jastisier  (*jüstitiare)  sw.  I  be- 
herrschen. 

jut  jurent  s.  gesir. 

K 

Kalle    Kallön    (d.    Karl)  =  Charle 

Kaiser  Karl  223  ff. 
Karlcmaigne  Kallemaigne  (Carolum 

magnum)  =  Charlemaigne  Karl  d. 

Gr.  224,  262. 
ke  s.  que. 

kevaueoie  —  cbevauchoie. 
ki  s.  qui. 
kil  =  ki  +  le. 


T  =  la,  le,  zuw.  li,  vor  vokal. 

la  (illa  -am)  pl.  les:  1.  ort.  f.  die.  — 

2.  unbet  pron.  3.  p.  f.  sie. 
la  (illac)  adv.  dort,  dorthin. 
lacier  (*laceare  /".  laqueare  v.  laqueum) 

siv.  I  festknüpfen,  bedrängen. 
lai  (laicuia)  m.  II  laie. 
laidement    (adv.    v.    lait  —  let)    in 

hässlicher  weise,  übel. 
lauer  (d.  lagan)  sw.  I  (praes.  ind.  3. 

let,  fut.  1.  lairai,  cond.  3.  lairoit) 

lassen,    unterlassen,    (mit    ne    lt. 

conj.). 
laissier  lazsier  leissier  lessier  (laxare) 

sw.   I    lassen,    verlassen,    zurück- 
lassen. 
lait  let  (d.  leid)  adj.  (f.  leide)  häss- 

lich  —  subst.   m.  II  schmach,   be- 

schimpfung. 
lamproie  (lauipretaui)  f.  lamprete. 
l'an  8.  on. 

lance  (lanceam)  /.  lanze. 
lancier  (*lanceare)  siv.  I  lanze  werfen, 

übh.  werfen,   s.  1.  sich  schwingen. 
lange  (laneam)  /'.  wolle. 
langue  (linguam)  /'.  zunge,  spräche. 


las  —  lor. 


537 


las  (lassom  adj.  unglücklich,  las !  ach .' 
lasche  (der.  v.  Ia8chier<*lassicare 

ddj.  elend,  feig. 
latin  (latlnum)  adj. — svbst.  lateinisch, 
latein. 

laver  (lavare)  SW.  I   (per f.   I.   lavi'-) 

waschen. 
le  (latncn)  adj.  breit  —  m.  II  breite. 
le  (illum)  1.  art.  m.  sg.  den.  pl.  les. 

—  2.  unbet.  pron.  3.  7;.  m.  oW. 
<7t»,  pl.  les.  —  3.  pro«,  neutr.  (f. 
illud]  es. 

le  =  la  (illam)  ort  /.  «7.  !»<  /;i'A-.  die. 

leal  s.  loial. 

lealment  s.  loiaument. 

ledece  leece  (laetitiam)  f.  fröhlich- 

he  it. 
legier    (*leviariuin    zu   levein)    adj. 

leicht,  leichtsinnig. 
legierement  (adv.  zu  legier)  leicht, 

bequem. 
lei  (legem)  /'.  gesetz,  glauben. 
leisir    loisir   (Heere)    st.  III    erlaubt 

sein,  impers.  leist  es  ist  erlaubt. 
leisir  loisir  (subst.  inf.)  m.  II  müsse, 

ruhe. 
Ten  s.  ou. 
leou  s.  liun. 
lequel  (arf.  -j-  qiialem)  pron.  interr. 

welcher  (von  mehreren). 
les  1.  art.  »1.  pl.  obl.  (illos)  die.  — 

2.  art.  f.  pl.  r.  u.  obl.  (illas)  die. 

—  3.  pron.  3.  pjers.  m.  (Mos)  u. 
f.  (illas)  obl.  unbet.  sie.  —  i.präp. 
(latus)  s.  lez. 

letre  (litteram)  /'.  buchstaben,  Schrift, 
pl.  letres  teissenschaften. 

letre  (litteratuiii)  part.—  adj.  gebildet, 
gelehrt. 

leu  s.  lieu. 

lever  (levare)  sw.  I  aufheben,  er- 
heben; sich  erheben. 

levretes  (dem.  v.  labrum)  f.pl.  lippen. 

lez  les  (latus)  präp.  neben. 

li  1.  art.  m.  r.  sg.  u.  pl.  (illi)  der, 
die.  —  2.  art.  f.  r.  sg.  im  pik. 
die.  —  3.    unbet.   pron.   3.   p.   sg. 


dat.    m.    u.    f.    (illH    ihm,    ihr.  — 

4.  betont,  pron.  3.  p.  f.  dat..  ihr. 
liedement  (adv.  :u  liet)  froh,  fröhlich. 
l'ien  (ligainen)  m.  II  fessel,  bände. 
liet   lie  (laetum]   adj.  froh,  fröhlich. 
lieu  leu  liu  (locum)  »j.  II  ort,  stelle, 

en  1.  d'aini  ah  freund. 
lignage    (der.    r.    ligne  <  liueam)  f. 

familie,  geschlecht. 
lignee  (der.  v.  lineam)  /'.  familie. 
liier  (ligare)  8W.  I  anbinden. 
lin  (linum)  m.  II  leinen. 
lion  leon  (leonein)  m.  II  löwe,  Stern- 
bild des  löwen. 
lire  (legere)  st.  III,  II  (praes.  ind.  3. 

lir,  perf.  1.  lui,  3.  list)  lesen. 
lit  (lectum)  m.  II  bett. 
liu  s.  lieu. 

livrer  (liberare)  sw.  I  liefern. 
lo  (lupum)  »;.  II  (r.  los)  u'oi/". 
lo  (illum)  alt.  form  f.  le. 
lobe  (der.  v.  lober  <#.  lobön)  /".  spoM. 
locu   adj.   struppig,   vernachlässigt. 
loer  (laudare)  sw.  I  Zoie?t,  rühmen, 

f.  1.  sic7i  rülimen ;  raten. 
logier   (der.   v.  löge  <  d.  laubja  — 

laube)  sie.  I  wohnen,  lagern. 
loial   leal   (legalem)  adj.  gesetzlich, 

zuverlässig,  treu. 
loiaument     lealment     (legalimente) 

adv.    in   gehöriger,    rechter  iveise. 
loiier  (ligare)  s.  liier, 
loiier  (locare)  inf.  —  m.  II  lohn. 
loin    loinc    loinz    loins    (longe  +  s) 

adv.   fern   (auch   zeitl.),    entfernt 

von,  in  die  ferne. 
lonc    (loDgum)    adj.    (pl.    Ions,    /. 

longue   longe)   lang,   de  si  1.  so 

weit  —  m.  II  länge. 
lonc    Ions    (longum)    praep.    längs, 

neben,  gemäss,  nach. 
longuement    (adv.    v.    lonc)     lange 

lange  zeit. 
lor  lnr  leur  (illornm)  1.  unbet.  pron. 

3.   p.  pl.   dat.   ihnen.  —  2.  pron. 

poss.   3.  p.  pl.    indecl.   ihr  —  le 

lur  das  ihrige. 


:,::-' 


Glossar:  lore  —  marche. 


loro    lor   lores   lors   (illa  hora  -4-  s) 

adv.  damals,  alsdann. 
lorscilnol  =  rossignol     (hisciniolam) 

m.  II  vachtigall. 
Iqs  (laus)  m.  indecl.  lob,  rühm. 
los  (illos)  alt.  form  f.  les. 
losenge  (der.  v.  Iqs)  m.II  Schmeichelei. 
losengier    (der.    v.    losenge)    sw.  I 

schmeicheln. 
Ion  (illuni)  art.  =  le. 
lues    (illo   loco  +  s)    adv.    auf  der 

stelle,  alsbald,  1.   qne  sobald  als. 
lui  (*ilhu)  pron.  3.  p.  m.  obl.  ihm, 

ihn,  auch  refl.  sich. 
luire    (*lücere    f.    lucere)    st.   III 

(impf.  3.  lnisoit)  leuchten. 
luiriet  (vgl.  nfr.  luron)  part.  —  adj. 

schlau. 
lune  (lunam)  f.  mond. 
lunsdi  ^lunis  diem  /'.  lunae  d.)  m.  II 

montag. 

M 

m'  =  1.  ma.  —  2.  nie. 

ma    rn'    (uieam)   unbet.  pron.  2>oss. 

1.  p.  sg.  f.  mein. 
Machiner  n.pr.  Sarraccnenname  189. 
Macrobe  n.  pr.  Macrobius  480. 
mague   (der.  v.  mace  <C  *  mattea  — 

matteola)  f.  keule. 
Maheu  (Matthaeum)  n.pr.  Matthäus, 

Sarraccnenname  189. 
mai  (inajum)  m.  II  mai. 
maigne  (magnum)  adj.  gross. 
liiaillo  (maculam)  /'.  masche,  maschen- 

panzer. 
main  (manum)  /'.  hand. 
mains  =  rnain  (mane)   adv.   morgen. 
inains  =  meins   (minus)    adv.    comp. 

weniger,  au  m.  wenigstens. 
inaint  (vgl.  AS  21 2)  pron.  adj.  mancher, 

mainte  feiz  manchesmal. 
maintcnant  (manu  tenente)  adv.  auf 

der  stelle,  sogleich. 
maintenir  (manu  tenere)  st.  III  (perf. 

3.  maintint,  part.  pf.  f.  maintenne) 

aufrecht  erhalten. 


maifl  mes  dnagis)  adv.  mehr,  (zeitl.) 
weiter,  fortan  —  conj.  aber. 

maiserer  (der.  v.  maceria)s'ü.  I  mauern. 

maisiere    (maceriam    lehmmauer)    f. 
gemäuer,  fachte  and. 

maisniee  maisnie  (*mansionataui)  /. 
familie,  gesinde. 

maison  meison  (mansionem)  f.  htm*. 

maistre    (magistrum)   m.    I    me.ister, 
lehr  er  —  f.  lehr  tr  in. 

mal  (malum)  adj.  (f.  male)  schlecht, 
schlimm,  bös. 

mal  m.  II  s.  mel. 

malage  (*malaticnm)  m.  II  krankheit. 

Malbien  (male  bene)  n.  pr.  'Schlimm- 
gut'  Sarracenenname  189. 

Malebranche  (malam  brancam)  n.pr. 
'Schlimmzweig' ,  der junge  fuchs  407. 

malvais  mauvais  mauves  (*maleva- 
tium)  adj.  schlecht,  schlimm. 

mamele  (mammillam)  f.  brüst. 

mamelete  (der.  v.  mamele)  f.  brüst- 
chen. 

manant  (part.  v.  manere)  adj.  —  m.  II 
bewohner,  besitzer,  reich. 

manantie  (der.  v.  manant)  f.  reich- 
tum. 

manace  (minacia)  f.  drohung. 

manacier  manecier  (*minaciare)  sw.  I 
bedrohen. 

manche  (manica)  /.  ärmel. 

niandre  8.  mendre. 

maneir  -oir  (manere)  st.  II  wohnen, 
sein,  bleiben. 

maner  s.  mener. 

manere  =  maniere  (*nianuaria)  /. 
art,  gattung. 

mantel  (dem.  v.  mantum)  m.  II  mantel. 

mar  (malo  augurio  od.  mala  hora, 
kurzform)  adv.  zur  unzeit,  zum 
unglück,  mit  unrecht,  ohne  grund. 

marbre  (marmor)  m.  II  marmorstein, 

marc  (d.  mark)  m.  II  (pl.  mars) 
mark. 

Marc   (kelt.)  n.  pr.  künig  Marc  294. 

marche  (d.  marka)  f.  mark,  grenz- 
land. 


niarcheant  —  mesese. 


139 


maroheant   (*mereatantpm   :>t    mer- 

e.ituin)   w.  II  Händler,   Kaufmann. 
marchie  (niercatuiu)  m.  II    markt,  a 

bon  m.  billig. 
marchis  (marka  -f-  -enaem)  m.  indecl. 

markgraf. 
margerite  =  marguerite  (inargaritaui) 

/".  margarite,  gänseblümchen. 
mari  (maritum)  m.  II  gafte. 
ni.iriVr  (maritare)  sw.  I  verheiraten 

(on). 
uiarrement  (zu  d.  marrjan  <  niarrir) 

sw.  I  betrHbni8. 
Marsilie     n,    pr.    Sarracenenkönig 

Marsilie  30,  189. 
martir  (juxQzvq-Qa)  m.  II  märtyrer. 
martire (h<xqxvqiov)  »>  llmärtyrtum. 
mat    (pers.    mat,    vgl.    schachmatt) 

adj.  matt,  niedergeschlagen. 
matin  (matutinuni)  »i.  II  morgen,  au 

m.  am  morgen. 
matinee  (der.  v.  matin)  f.  morgen. 
mantalentif  (der.  v.  malum  talentum 

—  maltalent)    adj.    unwillig,    er- 
zürnt. 
me   m'  (me)   unbet.  pron.    1.  p.  sg. 

dat.  u.  acc.  mir,  mich. 
me  (meam)  =  ma  im  pik.  meine. 
mecine  (medicinam)  f.  arznei. 
meciner  (der.  v.  mecine)  siv.  I  mit 

arznei  behandeln,  kurieren. 
medre  mere  (matrem)  f.  mutter. 
mei   moi  (me)   bet.  pron.   1.  p.  sg. 

acc.  mich. 
meillonr  millor  -eur  (meliorem)  adj. 

comp.    (r.    mieldre)    besser,    (mit 

od.  ohne  ort.)  beste. 
rae'isme    (*metipsimum)    adj.   pron. 

selbst. 
mel  mal  (malum)   m.  II  schlimmes, 

unglück,  schaden,  leid,  mal  traire 

leid  erdulden,   m.  aies  vericünscht 

seist  du! 
melle  =  mesle  (*misculatum)  part. 

vermischt,  verwirrt. 
melz  mels  s.  mieus. 
memoire  (memoriam)  /'.  atulenken. 


men  (pilO  s.  mon. 

men^-onge   manc.   mens1*,   ^inentitio- 

nea,  vgl.  AS)  f.  lüge. 
mendre  s.  menuur. 
mener  (minari)  sie.  I  (fut.  1.  inenrai) 

führen,  leiten,  bringen. 
mengier  mangier  (manducare)  wo.  1 

(praes.  ind.  2.  mengues  141.  perf. 

■H.  meuja)  essen. 
menonr    (minorem)    adj.    comp.    (r. 

mendre)  kleiner. 
mensongier  (der.  v.  mensonge)  adj. 

lügnerisch. 
mentir  mautir  (mentiri)  sie.  II  lügen. 
menuisse  =  menuise    (minntia?)    f. 

spanne,  reihe)). 
menut  (minutum)  adj.  klein,   dicht. 
meon  s.  mien. 
mer  (mare)  f.  meer. 
merc'ier  (der.  v.  mercit)  sw.  I  jem. 

(qn.)  danken. 
mercit  merci  (mercedem)  f.  gnade, 

erbarmen,    dank,    les   lor   mereiz 

317. 
mere  s.  medre. 

merir  (merere  -ire)   sw.  II  belohnen. 
merveillos  (mirabiliosum)  adj.  wunder- 
bar, hervorragend. 
merveille  -oille  (mirabilia)  /'.  wunder, 

merkwürdigkeit,    a    merveilles    u. 

merveilles     wunderbar,     ausser- 
ordentlich. 
nies  (mansum)  m.  indecl.  haus. 
mes  (meos)  unbet.  pron.  poss.  1.  p. 

r.  sg.  u.  obl.  pl.  mein,  meine. 
mes  s.  mais. 
meschief  (minus  +  capnt)  m.  II  nach- 

teil. 
meschiet  (der.  v.  mesche,  <<  micca?) 

adj.  dochtartig,  büschelig. 
mescinete   (dem.  v.  mescine  <C  arab. 

maskin  arm)  f.  mädchen. 
mesdire  (minus  -{-dicere)  st.  II  (part. 

pf.   mesdit)   falsches   sagen,    aus- 
drücken. 
mesese  =  mesaise  (comp.  v.  aise  •< 

adjacens)  /.  unbehaglichkeit. 


r.-m 


Glossar:   inesfaire  —  mossu. 


mesfaire  (komp.  v.  facere)  st.  I  (perf. 
[d.  2.  inesfeistes)  unrecht  tun. 

mesfait  (der.  v.  mesfaire)  m.  II 
m  issetat. 

niesseant  (part.  pr.  v.  inesseoir, 
komp.  v.  seoir)  nchleclit  sitzend, 
faire  a  qu.  messeaut  jem.  unziem- 
liches tun. 

uiestier  (ministeriuui)  »».II  bedürfnis, 
avoir  in.  a  jem.  nützen. 

inesiire  (mensuram)  f.  massvolles 
benehmen,  mässiguny. 

inetre  (inittere)  st.  II  (jwaes.  conj. 
3.  mette,  perf.  1.  inis,  3.  mit,  pl. 
3.  mistrent,  part.  pf.  mis,  /'.  mise, 
cond.  meteroit)  setzen,  legen,  stellen, 
hersetzen,  hinzusetzen;  m.  avant 
erkennen  lassen;  m.  s'entente,  son 
corage,  son  euer,  sa  eure  en 
seine  aufynerksamkeit  etc.  richten, 
verwenden  auf;  m.  en  romanz 
ins  romaniseke  übersetzen;  zur 
Umschreibung  in  m.  en  gages 
verpfänden,  m.  fin  a  beendigen; 
s.  m.  a  la  voie  sich  auf  den  weg 
machen,  s.  m.  devers  qn.,  s.  m.  en 
la  creance  de  qn.  sich  anvertrauen. 

ini  (uiei)  pron.  ])oss.  1.  p.  sg.  im  pl. 
r.  (obl.  mes)  meine. 

mi  (mihi)  bet.  pron.  \.  p.  sg.  obl.  im 
pik.  mir,  mich. 

mie  (micam)  /'.  krümchen,  zur  Ver- 
stärkung der  negation  ne. 

mieldre  s.  meillour. 

mien  meon  (meum)  bet.  pron.  poss. 
1.  p.  sg.  im  obl.  sg.  mein,  der 
meinige. 
mieus  mix  niiauz  inelz  mels  =  mielz 
(melius)  adv.  comp,  besser,  lieber, 
mehr  (amer  trop.  m.). 
mignot    (kelt.    stamm    min-?)    adj. 

zierlich. 
mil   (inllle)   zw.  (pl.   milie  =  milia) 

tausend. 
milieu  (medium  locum)  m.  II  mitte. 
millier  (*milliarum)    m.  II    tausend, 
tausende. 


millor  s.  meillour. 

miuistre  (ministrum)  m.  II  diencr. 

mirabille  (mirabilia)  /'.  wunder  (erb- 

wörtlich  merveüle). 
mire  (medicum)  m.  II  arzt. 
mix  =  mins  s.  mieus. 
moi  s.  mei. 
moien  moiaiu  (*medianum)  adj.  in 

der  mitte  befindlich,  mittler. 
moillier    (mulierem)    /".   treib,    frau, 

bes.  ehe  fr  au. 
muillier  (*molliare,  zu  mullcm)  sie.  I 

(praes.  ind.  3.  mueille)  benetzen. 
moine  (monachum  —  /novayöv)  m.  II 

manch. 
moinne  =  moinsue  (minus  -f-  natum) 

part.     —    adj.    jüngst,     geboren, 

jüngst. 
mois  (mensem)  m.  indecl.  monat. 
mol  (möllern)  adj.  weich. 
niolt  mout  (multum)  adv.  sehr. 
Monjoie  (montem-(-gaudia)  Monjoie, 

Schlachtruf  Karls  u.  d.  Franken. 
mont  (mundum)  m.  II  weit. 
mont   (montem)   m.   II   berg,    a   in. 

empor. 
montant  (ger.  v.  monter)  m.  II  wert, 
monter  (*montare,  v.  montem)  sw.  I 

steigen  (desor),   hinaufsteigen  (le 

degre),  aufsitzen;  zunehmen. 
mor  (Maurum)  m.  II  mohr. 
morde  (*mordere  f.  inordere)  beissen. 
morir  (*morire  f.  mori)  sw.  ui-  perf. 

(praes.  ind.  1.  inuir,  pl.  3.  muerent, 

murent  =  morent,  perf.  pl.  3.  nio- 

rurent,    part.   perf.   inort,    fut.  3. 

morra,   ger.   morant,    lehnwörtlich 

mor'i'ant)  sterben,  m.  de  mort  des 

todes  sterben,  avoir  mort  qn.  jem. 

getötet  haben. 
mors  (morsuin)  m.  indecl.  biss. 
mort  (mortem)  f.  tod. 
mort  (mortuum)  part.  —  adj.  tot. 
mortel     (mortalem)     adj.    sterblich; 

tätlich,  anemi  m.  todfeind. 
mossu  (der.  v.  mosse  <<  d.  mos)  adj. 

moosig,  behaart. 


uiostrer  —  nostre. 


i41 


uiustrcr  (monstrarci         I!      igen. 

mot  (*muttum)  m.  II  wort. 

moveresse  (der.  v  moveir)  /'.  er- 
regerin. 

uiovoir  (movere)  st.  III  (perf,  3.  uiut, 
C07ij.  impf.  pl.  2.  uieiissiez)  be- 
wegen, s.  in.  sich  bewegen. 

miiable  (inntabilem)(7(//.  veränderlich. 

niuance  (der.  v.  uiutare)  /'.  Verän- 
derung. 

mucier  sw.  I  verbergen,  sich  verberge?!. 

müder  mui:r  (mütare)  sw.  I  ver- 
ändern, mausern. 

mue  (der.  v.  mner)  f.  mauserkäfig 
310. 

mm  (murum)  m.  II  matter. 

musardie  (der.  v.  musart)  /'.  torheit. 

musart  (der.  v.  muser  <  *niusare) 
m.  II  tor,  narr. 


N 

n'  =  iie. 

naie  (nun  egu)  partik.  nein,  n.  vuir 

nein  fürwahr. 
nafrer  (der.   v.   d.  narsve  —  narbe) 

sw.  I  verwunden. 
naistre    nestre    (*nascere    f.    nasci) 

(pracs.  ind.   3.  nest.   fut.  pilur.  3. 

naisteront,  part.  perf.  r.  nez)  ge- 
boren werden. 
nasal  (nasale,  r.  nasuin)  m.  II  nasen- 

schiene  (am  heim). 
nature  (naturam)  f.  natur. 
Nazaren    m.    II    Nazarener,    d.    i. 

Christus  127. 
ne   (nee)  conj.  und  nicht,  im  neg. 

satz  und,  oder;  ne  —  ne  mit  neg. 

weder  —  noch;   expletiv   im  ver- 

gleichungssatz. 
ne  nen  n'  (nun)  unbet.  neg. -partik. 

nicht. 
negun  (neeunum)  pron.  indef.  irgend 

ein,  mit  ne  kein. 
neif  noif  (nivem)  /.  schnee. 
ne'i's  nes  (nee  ipsum)  nicht  einmal 

—  sogar,  n.  que  so  wenig  als. 


nel  =  ne  4-  le. 

uem  =  ne  +  me. 

nen  s.  ne. 

nenil  (nun  illud)  partik.  nein,  nicht. 

nepurqnant   (nun   pru   quautu)   adv. 

nichtsdestoweniger. 
nes  (nasum)  m.  indecl.  n 
nes  1)  =  ne'i's.  —  2)  =  ne  4-  se.  — 

3)  =  ne  +  les. 
nest  s.  naistre. 
net  (nitidum)  adj.  (f.  nete)  glänzend, 

rein. 
neul    niul    (nee   ullum)  pron.    indf. 

irgendein,  mit  ne  kein. 
nevou  (nepotem)  m.  II  neffe. 
Niculete  n.  pr.  f.  Nicolete,  Aucassins 

geliebte  471  ff. 
n'ient  -ant  (nee  -f  *ente)  pron.  indf. 

etwas,  mit  ne  nichts. 
nisun  (nee  ipsum  ununi)  pron.  indf. 

irgendein. 
niul  s.  neul. 

no  1)  =  nostre  (pik.).  —  2)  =  nun. 
noalz    (*nugalius,    zu    nugae)    adj. 

gering,  wertlos,  nichtig. 
nuble  (nobilem)  adj.  vornehm. 
Noe  n.  pr.  Noah  08. 
noef  (novnm)    adj.  (f.  noeve)  neu. 
noir  (nigrum)  adj.  schwarz. 
nuis  (nucem)  f.  indecl.  nu88. 
nuise  (*nausea)  /'.  lärm. 
nuisier  (der.  v.  nuise)  lärm  machen. 
nom  non  nun  (nomen)  m.  II  namen. 
non  (non)  bet.  neg.-part.  nein. 
noncier  (nnntiare)  sw.  I   verkünden. 
nomine    (nunquam)    adv.    niemals. 

durchaus  nicht. 
norir  (nutrire)  sw.  II  nähren,  erziehen. 
nort  (ags  nord)  m.  II  norden. 
nos  nous  (nos)  1)  bet.  pron.  l.p.pl. 

wir,    uns,     auch  =  sg.    mich  — 

2)  dass.  unbet.  dat.  u.  acc.  uns. 
nos  =  noz  (nostros)  pron.  poss.  \.p. 

pl.  im  obl.  pl.  unser,  vgl.  no. 
nostre    (nostrum    -am)   pron.   poss. 

1.  p.  pl.  unser,  unserig,  mit  art. 

subst.  (vgl.  no  nos  noz). 


>42 


Glossar:  nouer  —  Orient. 


noucr  (nodare)  sie.  I  knüpfen. 
novel    (novelluin)    adj.   neu,    de   n. 

von  neuem,  eben  erst. 
novelier  (der.  v.  novel)  adj.  neugierig. 
noz  (nostros)  acc.  pl.  des  pron.  \.p. 

pl.  unserig,  der  unserige. 
nue  (uubem  +  a)  /'.  wölke. 
innre    (*nöcere    f.    nocere)    st.    III 

(praes.  ind.  3.  nuist)  schaden. 
uuit  (nocteni)  f.  nacht. 
nul   nuil    (nulluni)  pron.    indef.    (r. 

nuls  nus)  irgendein,  mit  ne  kein. 
uns  s.  nul. 
nut  nu  (nudum)  adj.  f.  nue)  naefö, 

entblösst. 


0 

u  (hoc)  ^?-t»/t.  dem.  neutr.  dieses. 

u  ou  (ubi)  adv.  interr.  wo? 

obeir   (oboedire)  sie.  II  gehorchen. 

oblider  -Ter  (der.  v.  oblituni,  zu  ob- 
livisci)  sw.  I  vergessen. 

ocire  ochire  ocire  -irre  (oeeidere) 
st.  II  (praes.  3.  ocit,  pl.  3.  ocient, 
/Vt£.  3.  ocirra,  perf.  'S.  ocist,  cory. 
impf.  pl.  3.  ocesissent,  ^>ar£.  perf. 
ocis)  töten. 

od  ot  (apud)  p»"«p-  wi£,  feei,  2«,  ~u- 
sammen  mit,  od  tut  damit. 

odir  oir  (audire)  sw.  II  (praes.  ind. 
1.  oi,  2.  oz,  3.  ot,  imp.  pl.  oiez, 
fut.  1.  orrai,  2.  orras,  pi.  2.  orrez, 
3.  orront,  perf.  1.  01,  pl.  2.  0'1'stes, 
^;ur£.  oT)  hören,  o'Tr  qn.  von  je- 
mand  hören,  par  uir  dire  von 
hurensagen. 

oeul  8.  ueil. 

oeuvre  ovre  (opera)  /".  arbeit,  werk. 

Ogier  (#.  Audegariuui  /'.  Autchariuui) 
de  Daneiuarcho  n.  pr.  Ogier  der 
Däne  222  ff. 

oie  (der.  v.  oT'r  odir)  f.  gehör,  das 
hören. 

oil  (hoc  illnd)  partik.  ja. 

0'1'r  s.  odir. 

oisel  (avicelluin)  m.  II  vogel. 


oiselet   (</<>».    ü.    avicelluui)    m.    II 

(/»£.  uiseles)  vöglein. 
oiseuse  (otiosani)  f.  müssiggang. 
Oisi   (Esiacuui)   n.  pr.   ort  Oisi,    in 

uiaistre  d'O.  359. 
oissie  (*ossiatuni,  v.  os)  adj.  knochig. 
ulifant    (elephantuui)    m.  II    elefant. 
ulive  (olivani)  /'.  olivenbauhi. 
Olivete,  mont,  n.  pr.  Ölberg  127. 
Olivier  (Olitguarium?)  n.  pr.  Olivier, 

Eolands  waffengenosse  103  ff. 
oltre  ultre  (ultra)  präp adv.  jen- 
seits, d'o.  von  jenseits. 
om  s.  hoine,  on. 
ombrage  (*uuibratieuui)  adj.  dunkel, 

finster. 
ouibroier    (*unibricare)    sw.    I    be- 
schatten; sich  im  schatten  ausruhn. 
Omer  (" 'OptijQOv)  n.  pr.  Homer  280. 
on   om   hon,   l'on   Ten   l'an  (honio, 

ille  houio)  pron.  indef.  man;   vgl. 

nomine, 
onbre  (unibrani)  /'.  schatten. 
onc.  s.  onque. 
oncle  uncle  (avunculuni)  m.  II  oheim, 

onkel. 
onor  -our  s.  honor. 
onme  =  umme  s.  honie. 
onque  onques  onkes  (unquam)  adv. 

jemals,  mit  ne  niemals. 
or  (auruin)  m.  II  gold. 
orage   (*auraticuin,   v.   aura)  m.   II 

stürm,  gewitter. 
ordenet    (ordinatuni)   adj.  —  m.   II 

ordiniert,  geweiht,  geistlicher. 
ore    (horain)    /'.    stunde,    d'ores    en 

altres  von  zeit  zu  zeit. 
ore  or  ores  (*ha  hora  /'.  hac  hora) 

adv.  nun,  jetzt. 
orer  (orare)  sw.  I  beten. 
orgueillier    (der.   v.   orgueil)   sw.   I 

stolz  werden,  s.  o.  dass. 
orguel  -oill  {g.  urgoli-)  m.  II  stolz, 

Hochmut,  Übermut,  ivildheit. 
orguellous  orguillos  (der.  v.  orgueil) 

(.'(//.  stolz,  eitel,  wild. 
or'ieut  -ant  (orientem)  m.  II  osten. 


oriere  —  Paris. 


543 


oriere     der.    v.   oraw   rand)  f.  r<uul, 

saunt. 
orueuieut(oruauieutuui)«(.  Usehmuck. 
oroilles  =  oreilles  (auriculas)  f  ohren. 
orteil  (lat.  artk-ulum  +  kclt.  ordiga) 

tu.  11  zehe. 
ortie  (urticam)  /'.  brennessel. 
ortus  (ortus)  m.  indecl.  entstehwng, 

aufgang  [eines  gestirns). 
osberc  s.  baubeic. 
oser  (*ausare.    v.  ausus  sum)   sie.  I 

wagen. 
ost  (hostein)  m.  II  (r.  oz)  Aeer. 
ostage   (*obsidaticum)  m.  II  geisel. 
oste  (hospitein)  m.  II  lotrf. 
ostel   hostel   (hospitale)   >».   II   /w- 

berge,  toohnung. 
osteler    (der.    v.    ostel)    sw.    I    6e- 

herbergen. 
oster  (obstare?)  sw.  I  herausziehn, 

wegnehmen,  streichen,  s'an  o.  sic/i 

zurückziehen . 
ot  s.  od. 

otreiier  (auctoricare)  sw.  I  beicilligen. 
ou  (aut)  «wy.  oder, 
ou  (ubi)  =  o. 
uu  (in  illum)  s.  en. 
outrage  (*ultraticum,  v.  ultra)  m.  II 

Übermut,  schimpf. 
Ovide  (Ovidiuui)  n.  pr.  Ovid  2**4. 
ovralgne  (*operanea)  /".  werk. 
ovre  s.  oeuvre. 
ovrir  ouvrir  (operire  /.  aperire)  sw.  II 

[pari.  perf.  ouvert)  öffnen. 


paage   =  peage    (*pedaticum,    v. 

pedeui)  m.  II  zoll,  tribut. 
paiien  paien  (paganuui)  m.  II  heicle. 
paile  palie  (palliuin)  m.  II  tuch,  stoff. 
pain  (panein)  m.  II  £>ro£. 
paindre  sf.  II  (praes.  '6.  paint)  s.  p. 

sieh  beeilen. 
painture  =  peintnre   (pincturam)  f. 

gemälde,  bild. 
f>a.iTe(ip-a.ria,)f.gesellschaft.yattung.art. 


pais   pea   (pacem,    oder   paxV)    /. 

frieden. 
pais  negation  s,  pas. 
paistre    pestre   (*pascere    /.    pasoi 

st.  III  i  j>raes.  ind.  jd.  :>.  peissent, 
t»»/».  pl.  paisaiez,  part.  perf.  pell) 

weiden,  erna!ir>  n. 
pale  (pallidnui)  «f/y.  bleieh.  fahl. 
palefroi  (paraverSdum)  m.  II  zeiter. 
palir  (*pallire  /'.  pallere)  sto.  II  Weic/i 

pance  (pauticeui,  /'.  bauch. 
paudre  s.  pendre. 
panier  (panarium)  m.  II  korb. 
panir  (zu  espanir<d.  spaunen.  vgl, 

epanouir)    sw.    II   (part.   perf.    f. 

paniej  sieh  entfalten. 
par  (per)  präp.  1.  ZoÄ-<iJ:   durch,    in 

—  herum,    über   —   hinweg,    an 

—  vorbei,  an,  p.  sei  für  sich,  p. 
dessus  darüber  hinweg,  p.  devaut 
vor.  —  2.  temporal:  an.  —  3.  in- 
strumental oder  konsekutiv:  durch, 
vermittels,  infolge  von,  per  que 
weil.  —  4.  begleitender  aeben- 
umstand:  unter,  bei,  mit,  in  (p. 
amor,  p.  veir  etc.). 

par  (per,  vgl.  penuagnus)  adv.  sehr, 

par  —  taut  so  sehr. 
paradis  s.  pareTs. 
parage  (der.  v.  par)  m.  II  adel. 
pardon  (der.  v.  pardoner)  m.  II  Ver- 
gebung. 
pardoner  (perdonare)  sw.  I  (praes. 

ind.  1.  pardoiiis)  vergeben. 
pareil    (*pariouluin,    zu    par)    adj. 

gleich,  ähnlich. 
pareTs     paradis     (naQÜöeioov)     m. 

indecl.  paradies. 
parenz  (parentes)  m.  pl.  II  eitern. 
parer  (parare)  stu.  I  schmücken. 
parfundeuient     (adv.    zu    parfunt) 

tief. 
parfunt  (*perfunduin  /.  prufunduin) 

adj.  tief,  mund  p.  it7iterwelt. 
Paris  (Uuqiz)  n.  pr.  Paris,  söhn  des 

Priamus  282. 


MI 


Glossar:  parier  —  peser. 


parier    (parabolare,    zu    7ta(taßoXij) 

sii-.  1  (pracfi.  ind.  3.  parole)  reden, 
sprechen. 

parlier  (der.  v.  parier)  adj.  ge- 
schwätzig. 

parini  (per  medium)  präp.  mitten 
durch,  über  —  weg,  p.  la  main 
an  der  hand. 

paroir  (parere)  sw.  ui- perf  (fut. 
3.  parra)  sichtbar  sein,  offenbar 
loerden. 

parole  (naQußo).rj)  f.  wort,  rede. 

part  (partem)  f.  seite,  rieht  mg, 
partei,  anteil- 

partie  (der.  v.  partir)  f.  teil. 

partir  (partire)  sie.  II  teilnehmen, 
aufbrechen,  scheiden  von  (de),  s. 
p.  de  sich  trennen  von. 

partot  (per  *tnttum)  adv.  durchaus, 
überall,  allezeit. 

pas  (passum)  tu.  indecl.  schritt, 
schritt  als  gangart. 

pas  ostfr.  pais  (passum)  partik.  zur 
Verstärkung  der  negation. 

pasmer  (*pasrnare  f.  *spasmare,  zu 
anaafiöq  krampf)  sw.  I  s.  p.  ohn- 
mächtig werden. 

passage  (*passaticum)  m.  II  weggeld. 

passer  (der.  v.  passum)  sw.  I  vor- 
beigehn,  s'en  p.,  p.  oultre  dass., 
(v.  d.  zeit)  verstreichen,  estre 
pass6s  vorbei  sein;  mit  acc.  über- 
schreiten, hinüberbringen,  durch- 
stecken. 

pass'i'ou  (passiouem)  f.  leiden,  krank- 
heit. 

pastor  (pastorem)  m.  III  (r.  pastre) 
hirt. 

pastoure  (f.  zu  pastour  -or)  hirtin. 

paume  (palmam)  /'.  flache  hand. 

pave  (zu  pavire  stampfen?)  part.  — 
adj.  gepflastert. 

pechiet  pechie  (peccatum)  w.  II 
Sünde. 

peQoiier  (*pettiicare,  vgl.  piece)  siv. 
I  zerstückeln,  zerschlagen. 

pedre  pere  (patrem)  m.  I  vater. 


peindre  poindre  (piugere)  st.  II 
(part.  perf.  point)  malen,  sticken. 

peiue  painne  Ipoenam)  /'.  mühe. 

pel  (pellem)  m.  II  haut. 

peler  (der.  v.  pel)  enthaaren,  part. 
prlr  kahl. 

peleriuage  (der.  v.  pelegrinum)  »«. 
II  pilgcrfalirt. 

pendre  pandre  (pendere)  sw.  III.  II 
(praes.  3.  pant,  perf.  3.  peudie) 
hängen. 

peaser  (pensare)  sw.  I  nachdenken, 
denken  an  (a),  ettv.  denken  (qch.) 
—  subst.  m.  II  das  denken. 

pensif  pansif  (der.  v.  penser)  adj. 
(r.  pansis)  nachdenklich. 

peor  poor  poiir  poour  (pavorem)  f. 
furcht. 

per  (parem)  adj.  gleich,  ebenbürtig. 
sum  p.  seinesgleichen  —  m.  II 
genösse,  pair,  gatte. 

percier  -chier  (*pertusiare)  sw.  I 
durchbohren. 

Percehaie  n.  2»-.,  'Spring  durch  die 
hecke',  name  eines  jungen  fuchses 
407. 

Perceval  le  Galois  n.  pr.  Perceval 
der  Walliser  32ß. 

perdre  (perdere)  siv.  III,  II  (part. 
perf.  perdu)  verlieren. 

Pere  (Petrum)  n.  pr.  Petrus  316. 

pere  (patrem)  s.  pedre. 

perriere  (*petraria,  v.  petra  —  ttIto«) 
f.  steinwurfmaschine. 

perron  perun  (*petrouem,  zu  petra) 
m.  II  grosser  stein. 

pers  (persicum)  adj.  2wsisch. 

pers  (persicum)  adj.  pfirsichfarben, 
bläulich. 

pert  s.  pareir. 

perte  (perditam  zu  perdere)  f.  ver- 
tust, faire  p.  verlieren. 

pesance  (der.  v.  peser)/".  leid,  kummer. 

peser  (pensare)  sw.  I  (praes.  ind.  3. 
peise,  conj.  3.  peist  poist)  be- 
drücken, missfallen,  zorn  verur- 
sachen. 


pesle  —  poi. 


pesle  niesle   (letzteres  zu  mesler  <. 

*inisculare)    adv.    dicht    gemischt, 

biuit  durcheinander. 
pesnie  (pessimnm)  adj.  schlecht 
petit    (keU.    *pettittuum     adj.    (/'. 

petite)  klein. 
peü  s.  paistre. 
piancheln    (zu    pel  <  pellem)    adj. 

haut  ig  224. 
piece  pieche  (kelt.  *pettia)  f.  stück; 

piec*a,  piech'a  (auch  pieca  geschr.  \ 

seit  langer  zeit,  beinahe  224. 
pied  piet  (pedem)  m.   II   (pl.  piez 

pies)  fuss,  rand. 
pierre    (petram  <C  nixQav)   f.   stein. 
pipnier     (pectinare,     v.    pectinein) 

kämmen. 
pilor  (pilare,  zu  pilain)  m.  II  pfeiler. 
pin  (pinum)  »).  II  flehte. 
pior  (pejurem)  adj.  comp.  (r.  pire) 

schlimmer,  le  p.  der  schlimmste. 
pis    (pejus)    adv.    comp,    weniger, 

schlechter,       schlimmer,      subst. 

schlimmeres. 
pis  (peetns)  s.  piz. 
pitiet  (pietatem)  f.  mitleid. 
pituereinent  =  piteuseinent  (pietosa 

mente)  adv.  mitleidig.,  kläglich. 
pius  (pius)  adj.  fromm,  gnädig. 
piz  pis  (pectus)  m.  indeel,  brüst. 
plaier  (*plagare,  v.  plaga)  siv.  I  ver- 
wanden. 
piain   (planum)    adj.   eben  —  subst. 

m.  II  ebene. 
plaindre  (plangere)  st.  II  (praes.  ind. 

1.   plaing,   conj.  pl.    1.  plaignons) 

beklagen,  s.  p.  sich  beklagen. 
plainte  (der.  v.  plaindre)  f.  klage. 
plaire    (^placere  f.  placere)    st.  III 

(praes.  ind.  3.  plest  plet,  perf.  3. 

plot,  fut.  3.  plaira  gefallen  (mit  a 

c.  in  f.). 
plaisant    (placentem)    part.  —  adj. 

gefällig,  angenehm. 
plaisier  (placere)  m.  II  vergnügen, 

Vergnügung. 
planche   (plancam)  /'.  planke.   brett. 


planchiei  (der.  v.  planche)  m.  II  mit 

planken  gebauter  saal,  haus. 

plantet  (plantare,  v.  planta)  sie.  I 
pflanzen. 

plat  (*plattum)  adj.  platt. 

plein  (plenmu)  adj.  voll. 

plener  —  pleuier  (*plenarinm)  adj. 
voll,  vollständig,  gross. 

pleutö  (plenitatein)  /'.  menge. 

plessie  =  plaissie  (*plaxatuiu,  v. 
plaxum  f.  plexnui?)  m.  II  gehege. 

pliadon  (v.  rcXeiüq  -aöog)  m.  II 
Siebengestirn. 

plor  (der.  v.  plorer)  m.  II  das  weinen. 

plorer  (plorare)  siv.  I  weinen,  be- 
weinen. 

plovoir  (*plovere  f.  plnere)  st.  Iil 
(conj.  impf.  3.  pleiist)  regnen 
(impers.). 

pluie  (*plovia)  f.  regen. 

plume  (plumaui)  f.  feder,  gefieder. 

plus  (plus)  adv.  comp,  mehr,  am 
meisten,  ne  —  plas  nicht  mehr, 
nicht,  länger;  zur  comp.-bez.  gebr. 
(plus  dolent  etc.). 

plusors  (pluriores,  vgl.  AS)  pron. 
in  de  f.  mehrere,  die  meisten. 

poeir  pooir  (*potere  f.  posse)  st.  III 
(praes.  ind.  1.  puis  pois,  2.  puez, 
3.  puet,  pl.  2  poez,  3.  puedent 
pueent,  conj.  1.  puisse,  3.  puist 
poist,  impf.  ind.  1.  pooie,  3.  poeit 
-oit,  pl.  3.  pooient,  conj.  1.  peüsce 
po'i'sse,    3.  poiist  peüst  po'ist,  pl. 

2.  peüssies  peüscies,  perf.  1.  poi, 

3.  pot,  pl.  3.  ponrent,  fut.  3.  porra 
pnrra,  pl.  2.  porreiz,  3.  porront, 
cond.  1.  porreie,  2.  porroies,  3. 
poroit)  können,  vermögen,  conj. 
puist  (in  Verwünschungen)  möge, 
möchte,  doch!  —  in  f.  subst  m.  II 
macht. 

poeste'  (potestatem)  f.  gewalt. 

poi  pon  (paueum)  adv.  wenig,  in 
geringer  menge,  un  p.  ein  wenig, 
par  un  p.  qae  ne,  a  p.  que  ne 
beinahe  (vgl.  AS  v.  132). 


Voretzsch,  Studium  <!.  afrz.  Literatur.     2.  Auflage. 


35 


540 


Glossar:   poil  —  prison. 


poil  (piluni)  m.  II  haar. 

poin    poing    (pugnum)    m.    II    (r. 

poiuz)  faust,  hand. 
poindre    (pungere)    st.    II    stechen, 

spornen. 
point   (punctum)   m.  II  punkt,  Zeit- 
punkt. 
point  (pinctuiu)  s.  peindre. 
poise  poist  s.  peser. 
poison  (potionem)  f.  heiltrank. 
poisson  (*piscioneiu)  yn.  II  fisch. 
ponier  —  pomier  (pomarium)   vi.  II 

apfelbaum. 
Pontoise  (Pontem  Isarae)  n.  pr.  ort 

Pontoise  348. 
poor  poour  s.  peor. 
por    pur    (pro)    präp.   für,    um   — 

willen,  mit  in  f.  um  —  zu,  por  50 

que  darum  dass,  deshalb  weil;  zuw. 

im  sinne  von  par  durch. 
porc  (porcuui)  m.  II  (p>l.  por3)  Wild- 
schwein. 
porchacier  (komp.  v.  *captiare)  sw.  I 

zu  erbeuten,  zu  erlangen  suchen. 
porpenser  purp.  (komp.  v.  pensare) 

st».    I    tiberlegen,    s.   p.    bei    sich 

überlegen. 
porpre  (purpuram)  m.  II  u.  f.  purpur. 
porpris  (der.  v.  porprendre)  m.  indecl. 

umfriedigung. 
porquerre  pourq.  (komp.  v.  quaerere) 

st.  II  zu  erwerben  suchen,  suchen. 
port  (portnui)  m.  II  hafen,  les  porz 

die  passe. 
porter  (portare)  sio.  I  tragen,  honor 

p.  ehre  erweisen. 
posterne  =  posterle  (posterularu)  /'. 

kleine  ausfalltüre  in  der  befestigten 

maucr. 
postiö  (*postieium,  v.  posteui)  hinter- 

tür,  pförtchen. 
pou  8.  poi. 
pourquerre  s.  porq. 
poverte   (pauperta  f.   paupertas)  /. 

armut,  ärmlichkeit. 
poverte  (paupertateni)  f.  armut. 
povre  (pauperem)  adj.  arm. 


prael  (dem.  v.  pratum  —  pröi  m.  11 
fiese. 

praerie  (der.  v.  pratuui)  f.  icicse, 
wiesenland. 

prangiere  (der.  v.  prandiuui)  f.  früh- 
stück. 

precTos  prech'ieus  (pretiusuru)  adj. 
wertvoll,  wert. 

preder  (praedare)  sw.  I  plündern. 

pree  (prata)  f.  wiese. 

preie  proie  (praedain)  /'.  beute. 

preiier  proiier  (precari)  sw.  I  (praes. 
1.  pri,  3.  priet,  per  f.  1.  priai)  bitten, 
pr.  a  qn.  de  qch.  je;»,  um  etwas 
bitten. 

preuiier  (prirnariuui)  zw.  (f.  preiniere) 
erst,  erster. 

prendre  prandre  (preheudere  — 
preudere)  st.  II  (praes.  ind.  3. 
prent  prend,  covj.  3.  prenge,  imp. 
pren,  pl.  prennez,  impf.  ind. 
prenoie  etc.,  conj.  pl.  3.  presissent, 
perf.  1.  pris,  3.  prist,  part.  pris  /'. 
prise,  cond.  3.  prenderoit)  nehmen, 
gefangen  nehmen;  annehmen,  auf- 
nehmen, beginnen;  in  redensarten 
wie:  prendre  plaid,  pr.  eure, 
garde  de;  s'en  pr.  a  qn.  sich  da- 
mit an  jem.  halten,  pr.  a  c.  inf. 
anfangen  —  zu. 

pres  (pressure)  adv.  in  der  nähe, 
nahebei,  nahe,  in  die  nähe,  pres 
de  in  der  nähe  von,  in  der  zeit 
von,  Uni. 

presse  (der.  v.  presser,  zu  preiuere 
—  pressum)  /'.  gedränge,  gewühl. 

prest  (*praestnm,  zu  adv.  praesto) 
adj.  (r.  prez)  bereit. 

Priarnon  (77(j/«/<ov)  n.  pr.  Sarra- 
cenenname  189. 

prinies  (priuiä  sc.  hora  +  s)  adv. 
zuerst. 

pris  (pretium)  m.  indecl.  preis. 

prisier  s.  proisier. 

prison  (*prensioueni,  zu  prendere) 
/'.  gefangenschaft,  gefängnis.  tenir 
l'alaine  eu  pr.  anhalten. 


prive  —  qnui. 


547 


priv6  (privatum)  adj.  vertraut. 
proesee  =  proece     (*pro<iitia,     v. 

prode  —  prou)  f.  tapferkeit. 
proiier  s.  preiier. 
proiiere  {der.  v.  proiier)  /'.  bitte. 
proisier  prisier  (*pretiare,  v.  pretium) 

wo.  I  schätzen,  wertschätzen. 
promesse  (promissa)  f.  versprechen. 
proprement  (adv.   v.  propre  <  pro- 
prium) in  gehöriger  weise. 
prot     pru     preu     (*  prode-,     vgl. 

prodesse)   m.   II    nutzen,    vorteil, 

menge,  viel. 
prou   preu    (*prodem)    adj.  wacker, 

tapfer. 
pruveire  =  proveire    (presbyterum 

<CnQsaßvT£Qov)  m.  II  (>•.  prestre) 

piiester. 
pucele     pulcele     f.     ( *  püllicellani) 

mädchen,  Jungfrau. 
puis  pues  pois  (*postius)  adv.  später, 

nachher,    dann,    p.    que    seitdem, 

nachdem  —  prüp.  seit. 
puissance  (der.  v.  puissaut)  f.  macht, 

kraft. 
puiz  (piiteum)  m.  indccl.  brwnnen. 
pnlcele  s.  pucele. 
pur  (purum)  adj.  rein. 
purpeuser  8.  porpenser. 
purtraire  (komp.  v.  traire<*tragere) 

st.  II  {pari.  pf.  Portrait)  zeichnen, 

bemalen. 
put  (pütidum)  adj.   stinkend,    ver- 
worfen   —    f.    pute,   oll.    putain 

meretrix. 


quaut  (quando)  conj.  1.  temporal: 
als.  —  2.  kausal:  nun  da,  da. 

quant  (quantum)  pron.  indf.  wie- 
viel, tant  rie  q.  (?irtc7i  neg.  satz) 
nur  ein  wenig. 

quar  s.  car. 

quart  (quartum)  zw.  viert. 

quartier  (quartarium)  m.  II  viertel. 


qu&tir  (der.  v.  eoaotam  zu  cogere) 
wo.  II  (praes.  ';'•.  quatist)  s.  q.  sich 
ducken,   s<'!t»ii<j,/ei). 

quatorze  (quattuordeciin)  zw.  vier- 
zehn. 

qoatre  (quattuor)  zw.  vü  i . 

qne  qu'  qe  ke  (quem)  pron.  rel.  ü. 
interr.  welcher,  welche,  welches, 
was;  im  abgekürzten  satz  =  id 
quod  (faire  ke  cortoise  etc.) :  im 
eoncessiven  satz  soviel  als  (que 
je  sacke  etc.);  que  —  que  teils  — 
teils  4u5. 

que  (quam)  conj.  {nach  comp.)  als, 
wie. 

qued  que  qu'  ke  c'  (quid  /'.  quod.) 
conj.  weil,  denn;  dass,  damit, 
de  co  quo  darüber  dass,  que  ne 
ohne  dass. 

quei  quoi  (quid)  bet.  pron.  interr. 
u.  rel.  bet.  was?  por  q.  iceshalb, 
wodurch  ? 

quel  (qualem)  pron.  interr.  (r.  quels 
queus)  wie  beschaffen?,  q.  que 
welcher  auch  immer. 

quens  =  cuens  s.  coute. 

quer  (quare  betont)  conj.  denn. 

querele  (querellam)  f.  klage,  streit. 

querre  querir  (quaerere)  st.  II 
(praes.  ind.  1.  qoier,  2.  quiers, 
3.  quiert  ger.  queraut,  perf.  1. 
quis,  pl.  3.  qnistrent,  pari,  quis) 
suchen. 

qui  ki  chi  (qui)  pron.  rel.  r.  sg.  u. 
pl.  m.  u.  f.  welcher,  welche;  qui 
=  bedingungssatz  mit  si. 

qui  (cui)  pron.  rel.  obl.  =  cui. 

quiconque  (quieunque)  pron.  indf. 
wer  immer,  jeder  der. 

quidier  s.  cnidier. 

quil  =  qui  4-  le. 

i[uir  8.  cuir. 

quite  (*quittnm,  zu  quietnm?)  adj. 
ledig,  frei. 

quoi  s.  quei. 


35* 


.IS 


Glossar:   rabiter  -   reinaneir. 


R 

rabiter    (komp.    v.    habitare)    s/w.    I 

wieder  beivohnen. 
racine  (radicinaui)  /'.  würzet. 
rafreschir   (der.   v.   d.  frisk)  sw.   II 

erfrischen. 
raiier    (radiäre,     v.    radium)    siv.    I 

strahlen,  rieseln. 
raison  raizon  raisun  reison  (rationem) 
f.  Vernunft,  verstand,   crörterung, 
rechenschaft,  erzählung,  rede,  avoir 
r.  recht  haben,   par  grant  r.  mit 
völligem  recht. 
ramener    (komp.    v.    minari)    siv.    I 
(praes.  conj.   3.  raraaint)  zurück- 
führen. 
randre  s.  rendre. 
rapaiier    (komp.    v.    pacare)    siv.    I 

wieder  beruhigen. 
raseoir    (komp.    v.    sedere)    st.    II 
(praes.  ind.  3.  rasiöt)    s.  r.  sich 
setzen. 
rasseürer    (der.    v.   securuin)    sw.   I 

beruhigen. 
raverdir  (der.  v.  viridis)  sw.  II  wieder 

grünen. 
ravir    (*rapire    f.    rapere)    siv.    II 

rauben. 

ravoir  (re  4-  habere)  st.  III  (praes. 

ind.  3.  ra)   wieder  haben  (häufig 

als  hilfsverb  bei  komp.  mit  re-). 

Raynaut  (d.  Reginald)  n.pr.  Rainald 

160. 
recercele  (der.  v.  circuin)  part.-adj. 

gekräuselt. 
rechignier   (zu   d.  kinan   den  mund 
verziehen)  siv.  I  zusammenbeissen. 
reclamer  (reclamare)  sw.  I  bekennen, 

anrufen. 
regoivre  (recipere)  st.  III  (praes. 
conj.  3.  re^ueve,  per  f.  3.  recjut, 
fut.  1.  recevrai)  empfangen,  auf- 
nehmen. 
recomencier  -ancier  (komp.  v.  *cumi- 
nitiare)  sw.  I  wieder  von  vorn 
anfangen. 


reconforter    (der.    v.    fortis)    sto.    I 

trösten,  laben. 
reconoistre    (recoguoscere)    st.    III 
wiedererkennen. 

reconter  (komp.  v.  couiputare)  sie.  I 

erzählen,  darstellen. 
recovrer  (recuperare)  sw.  I  (praes. 

ind.     pl.    3.     recuevrent)     wieder 

erlangen. 
recreant  part.  praes.  v.  recreire  < 

recredere,  st.  III,  nachlassen,  ver- 
zagt werden. 
redevoir  (re  +  debere)  st.  III  (cond. 

2.  redevroies)  wieder  müssen  316. 
refreidir    (der.    v.    frigidus)    sw.   II 

frieren. 
refnser  (*refnsare,  v.  refusum  —  re- 

fundere)  sw.  I  ablehnen,  zurück- 
weisen. 
regeter    (komp.    v.   jaetare)    sw.    I 

(praes.  ind.  3.  regiete)  ausschlagen 

(v.  jrferd). 
regne    (regnuin)    m.    II    königreich, 

reich. 
regne  (regnaturn)  m.  II  reich. 
regnier  (regnare)  sw.  I  regieren. 
regreter  (vgl.  got.  gretan)  su:  I  be- 
dauern, beklagen. 
reguarder  regarder  (komp.  v.  guar- 

der)   sw.  I   anschauen,  anblicken. 
rei  roi  (regem)   m.  II  (r.  reis  rois) 

könig. 
reialme  reaume   (*regalinien)  m.  II 

königreich,  reich. 
Reinalt   (d.  Reginald)   n.  pr.   einer 

der  mörder  Beckets  127. 
reine  roTne  (reginam)  f.  königin. 
relenquir  (*relinquire  /'.  relinquere) 

SW.  II  verlassen,  aufgeben. 
relever    (komp.    v.    levare)    sw.    I 

ivieder  aufrichten. 
reluire   (komp.   v.   lucere  /'.   lucere) 

st.  III  (praes.  ind.  3.  reluist,  part. 
reluisant)  leuchten,  glänzen. 
rernaneir     -oir     (remanere)     st.    II 
(praes.    ind.   3.  remaint,  per  f.   1. 
renies,  3.  reuiest,  part.  pf.  renies, 


.VI«) 


fut.   '2.    reinandras,    3.   remandrat, 
cond.  3.  remanroit)  zurückbl 
unterbleiben,  aufhören. 

remeuibrance  (der.  v.  remenibrer)  /*. 
erinnenmg. 

remembrei  -anbrer  (*reuiemorare,  zu 
meinor)  imp.  erinnern,  gemahnen 
(a  qn.  de  qch.);  pers.  in  er- 
innenmg bringen,  sich  etwas  in 
erinnenmg  rufen. 

rernetre  (remittere)  st.  II  (pari.  pf. 
remis)  wieder  hinbringen,  stellen. 

remirer  (komp.  v.  mirari)  sie.  I  ansehn. 

renraer  (remütare)  Bio.  I  verändern, 
bewegen,  wegziehen ;  sich  verändern. 

Keuart  (Regiuhard)  n.  pr.  Reinhart, 
name  des  fuchses  405  ff 

Reucesvals  (Runclas  valles)  n.  pr. 
Ronceval,  ort  der  Rolandschlacht 
262. 

rendre  randre  (reddere)  sie.  III  zu- 
rückgeben, wiedergeben,  s.  r.  sich 
ergeben;  r.  gratia,  reison,  son  droit 
a  qn.  beweisen,  ablegen,  wider- 
fahren lassen. 

reneier  Sic.  I  (renegare)  verleugnen, 
part.  per  f.  reneie  abtrünnig,  fühllos. 

renverser  (komp.  v.  enverser)  sw.  I 
umkehren. 

repaidrier  -airier  (repatriare)  sw.  I 
ZW  uckkehren. 

repentir  (*paenitire,  zu  paenitet) 
sw.  II  bereuen,  s'en  r.  etwas  be- 
reuen. 

reploiier  (replicare)  sw.  I  wiederholt 
krümmen,  Hegen. 

repos  (der.  v.  reposer)  m.  indecl.  ruhe. 

reposer  (repausare)  bmj.  I  ausruhen, 
ruhen,  s.  r.  dasselbe. 

reprendre  (reprendere)  st.  II  (perf. 
'6.  reprist,  part.  repris)  tadeln. 

representer  (repraesentare)  sw.  I 
vorstellen,  vor  äugen  führen. 

reqnerre  (komp.  v.  quaerere)  st.  II 
(praes.  ind.  1.  requier)  verlangen. 

res  (rasnm)  m.  u.  f.  indecl.  glatt 
gestrichenes  niass,  bündel. 


resjotr  (komp,  v.  ju'i'r  <C  gaudere) 
BW.   II  s.  r.  sich  er  freiten. 

resognier  (komp.  r.  soignier,  zu 
(sunium  —  going)  BW.  I  furchten. 

resort  (der.  v,  ressortir,  zu  sortiri) 
in.  II  hilfe,  mittel. 

respleudeir  (respleudere)  sw.  III,  II 
(praes.  ind.  3.  resplent)  leuchten, 
glänzen. 

respoudre  (*respöndere  f.  respon- 
dere)  siv.  III,  II  (perf.  3.  respon- 
diet  respondi)  antworten. 

ressembler  (komp.  v.  sirnulare)  sw.  I 
gleichen,   ähnlich  sein  (mit  acc). 

rester  (re  —  stare)  st.  III  (perf.  3. 
restat)  stehen  bleiben. 

restraindre  (restringere)  st.  II  an- 
ziehen, enger  schnallen. 

resveillier  (komp.  v.  vigilare)  sw.  I 
erwachen  (subst.  inf.). 

retenir  (retinere  -ire)  st.  III  (part. 
perf.  retenu)  zurückhalten,  ge- 
fangen halten. 

reter  (reputare)  sw.  I  anklagen. 

retor  (der.  v.  retorner)  m.  II  Um- 
kehr, heilung. 

retorner  (komp.  v.  torner)  abwendig 
machen,  sich  zurückivenden ,  zu- 
rückfallen, wiederkehren. 

retrait  (retractum)  m.  II  erzählung. 

retreire  —  retraire  (komp.  v.  *  trägere 
—  traire)  st.  II  zurückziehen,  s.  r. 
sich  zurückziehen. 

reüser  (*refusare-*revusare?  *re- 
tusare?)  siv.  I  zurückweichen. 

revenir  (revenire)  st.  I — III  (praes. 
ind.  3.  revient,  perf.  1.  reving, 
fut.  3.  revenra,  cond.  revandroie 
etc.)  zurückkehren,  s'en  r.  sich  zu- 
rückziehen, r.  en  saison  wieder 
Jahreszeit  werden. 

reverser  (komp.  v.  versari)  sw.  I  um- 
kehren, abziehen. 

riclio  (*ricciniu,  zu  d.  riehi  —  reich) 
adj.  reich,  mächtig,  prächtig. 

richece   (der.  v.  riche)  f.  reichtum. 

rien   (rem)  f.  etwas,  mit  ne  nichts. 


550 


Glossar:   rimaier  —  santier. 


rimaicr  =  riineier  (der.  v.  rime)  stv. 

I  reimen,  in  reime  bringen. 
riiner  (der.  v.  g.  *rima  —  rim)  sie.  I 

reimen. 
rire  (*ridere  f.  ridere)  st.  II  (pari. 

pr.  riant)  lachen. 
rivage    (der.   v.    ripa)    m.  II    ßuss- 

ufer. 
river  Sit'.  I  festmachen,  glattmachen. 
rivere  =  riviere  (riparia)  f.  fluss. 
robe     (g.    raubha  -  raub)     f.    kleid, 

kleidung. 
roge  (rubeuin)  adj.  rot. 
roi  (regem)  s.  rei. 
roi  (g.,  vgl.  got.  redan  ordnen)  in.  II 

Ordnung,   ne   savoir  son  r.   nicht 

wissen  was  zu  hm. 
roidement  (adv.  v.  roit)  stark,  heftig. 
roit  (rigidum)  adj.  (f.  roide)  stark, 

jäh,  fest. 
Rollant  (d.  Hrödlant)  n.  pr.  m.  II 

Roland,    der   held   der   Ronceval- 

schlacht  103  ff.,  260. 
romanz  rormnans  (rouiauice)  adv.  — 

adj.  romanisch  —  m.  indecl.  dicht- 

werk  in  roman.  spräche. 
Rome  (Roiriam)  n.  pr.  f.  Rom. 
roncin  (d.  ross?)  m.  II  lastpferd. 
ronpre    (rnmpere)    sw.   III,    II   zer- 
brechen, zertreten. 
roont  (rotundum)  adj.  rund. 
ros  (rnssum)  adj.  rot,  braungelb. 
rose  (rosaua)  f.  rose. 
rossignolet  (dem.  v.  lusciuiolaui)  m. 

II  nachtigall  (vgl.  lorseilnol). 
rousee  (der.  v.  ros)  f.  tau. 

rover  (rogare)  sw.  I  bitten,  anrufen, 

befehlen. 
rnbiz  (verw.  mit  ruber,  rubeus)  m. 

indecl.  rubin. 
nie  (rügaua)  f.  Strasse. 
ruer    (rüere-riltum-*nitare)    sw.    I 

werfen. 
rüge  =  roge  (rübeuiu)  adj.  rot. 
rute  =  rote  (rüptani)  f.  teeg. 


b'  =  1.   sa  j>ron-  poss.  f.  —  2.  se 

pron.  poss.  f.  (pik.)  —  3.  se  =  ce. 

—  4.  si. 
sa  (suam)  pron.  ])oss.  3.  pers.  f.  (pl. 

ses)  seine  ihre. 
sabloner   (der.  v.  sabulonem  —  sa- 

blon)  m.  II  sandplatz. 
sac  (odxxoq)  m.  II  (pl.  sas)  sack. 
sachier  (saccare,   zu  oüxzo;)  sw.  I 

ziehen,  reissen,  herausziehen. 
sacrer  (sacrare)  sw.  I  weihen. 
saderala  don  interj.  (als  refrain  im 

tanzlied). 
sage  (*sabium  f.  sapidum)  adj.  klug. 
saillir  (salire  —  salio)  sw.  II  springen, 

aufspringen. 
saiu  (sanum)  adj.  gesund. 
sain  (sinuuj)  s.  sein. 
Saine  =  Seine  (Sequanam)  n.  pr.  f. 

Seinefluss  4 SO. 
sainier    (*sanginare    f.    *sanguinare 

zu  sanguein)  sw.  I  bluten. 
saint  seiut  (sanetum)  adj.  heilig. 
saisir    (d.    satjan  —  setzen)    sw.   II 

ergreifen. 
saison  (sationein,  v.  satuni  —  serere) 

f.  Jahreszeit. 
saive  (:':sabium  f.  sapidum)  adj.  weise. 
Saleinon  n.  pr.  könig  Salomo  281. 
saluer  (salutare)  sw.  I  grüssen. 
salvaciou   (salvationem)  f.  rettung, 

heil. 
salver  (salvare)  sw.  I  (praes.  conj. 

3.  saut)  erlösen,  unterstützen,  helfen. 
samblant  s.  senblaut. 
san  =  sen  (d.  sinn,  vgl.  forsene)  m. 

II    sinn,    verstand,    s.    faire    ver- 
nünftig handeln. 
sanc  (sauguem)  m.  II  blut. 
saDgler  -ier  (singulare)  m.  II  eber, 

luildeber. 
sanlanche  (pik.)  8.  semblance. 
sans  sanz  s.  sens. 
sante  (sanitatem)  /'.  gesundheit. 
santier  (der.  v.  semita)  m.  II  pfad. 


saoul  —  serf. 


551 


saoul   (*satullum.    v.   satnr)   adj.  ge- 
sättigt. 
Barmao  s.  seruion. 
Sarragoce  (Caesar  Angusta)  n.  pr. 

f.  Sarragossa  30. 

Sarrazin  (Sarracenum)  m.  II  Sarra- 
eene. 

Satan  n.  ]»:  m.  Sathan  126. 

sauf  (salvum)  adj.  heil,  unversehrt. 

sauge  (salviam)  /'.  salbei. 

saut  (saltum)  m.  II  sprang. 

sauvage  (silvaticnui)  adj.  wild,  un- 
gezähmt. 

saveir  -oir,  (*sapüre  f.  sapere)  st. 
III  (jyracs.  ind.  1.  sai,  2.  sez, 
3.  set,  pl.  1.  savon,  3.  sevent 
sevient,  conj.  1.  sache,  3.  sache, 
pl.  3.  sachent,  irnp.  ]>l.  sachiez  -i6s, 
pari,  sachant,  impf,  ind.  1.  savoie, 
3.  savoit,  conj.  1.  seüsce,  3.  seüst, 
pl.  3.  seüssent,  per  f.  1.  soi,  3.  sot, 
part.  seü,  fut.  3.  savrat  savra  saura, 
pl.  2.  savrez)  rvissen,  mit  inf.  ver- 
steh», part.  sachant  wissend,  ge- 
lehrt —  inf.  sv.bst.  das  wisse»,  pl. 
kennt  nisse. 

savoros  -eus  (der.  v.  saporem)  adj. 
schmackhaft,  angenehm. 

savour  (saporem)  f.  geschmaek. 

se  s'  (se)  unbet.  pron.  refi.  sich. 

se  s'  (pik.)  =  sa  (suam)  pron.poss. 
3.  p.  f.  seine,  ihre. 

se  sed  si  (si)  conj.  wenn,  se  —  ne 
wenn  nicht,  ausser  wenn,  se  —  non 
wenn  nicht,  nur;  ob. 

sec  (siccuni)  adj.  (f.  seche)  trocken. 
secont  (secundum)  zw.  zweit. 

secorcier  (komp.  v.  *corticare,  vgl. 
escorchier)  sw.  I  aufstülpen. 

secorre  (suceurrere)  sie.  ui- perf. 
(imp.  pl.  secores,  fut.  pl.  3. 
secorront)  zu  hilfe  eilen,  helfen. 

secors  (*snccursum)  m.  indecl.  bei- 
stand. 

seculer  (saecularein)  adj.  weltlich. 

sed  s.  se  (si). 

sei  soi  (se)  bet.  pron.  refi.  sich. 


seignor   (seniorein)   m.   III   (r.  sire) 
herr. 

seignori  (der.  v.  seignor)   adj.  herr- 
lich, hervorragend. 
seignorie   (der.  v.  seignor)  /'.   herr- 

schaft. 
sein  sain  (siuuui)  m.  II  busen. 
seint  s.  saint. 
sei  (sal)  m.  II  salz. 
sele  (sellam)  f.  sattel. 
selonc  selon  (secundum  +  loiigum) 

priip.  entlang,  vorbei  an. 
sem  =  se  4-  nie. 
semblance   sanlanche   (der.  v.  simu- 

lare)  /'.  aussehen,  meinung. 
sembler   senbler    (simulare)    sw.    I 

scheinen,  mort  semblaut  scheintot, 

faire  s  — ant  que  den  anschein  er- 
wecken. 
semeinc  =  semaine  (*septiinanam) 

f.  woche. 
sempre  -es   senpres   (semper)   adv. 

sogleich. 
sen  (pik.)  =  son  (suum)  unbet.  pron. 

poss.  3.  p.  obl.  m.  sein,  ilir. 
senblant  samblant  (v.  ger.  simnlando) 

m.  II  aussehen,  schein. 
senef'fauce  (der.  v.  seneficare)  f.  be- 

deutung. 
senef Yer  signif'i'er  (significarc)  sw.  I 

bedeuten. 
senestrier  (*sinistrarinm)  adj.  link. 
senglotir   (der.   v.  senglot,   <  *sin- 

gluttum?)  sw.  II  schluchzoi. 
sens  sans  sanz  (sine  +  s)  präp.  ohne, 

ausgenommen. 
sentir  santir  (sentire)  sw.  II  (praes. 

ind.  3.  sant,  perf.  3.  senti)  fühlen, 

empfinden,  merken,  s.  s.  mit  adj. 

sich  .  .  .  fühlen,  s'cn  s.  es  spüren. 
seoir  (sedere)  st.  II  (praes.  ind.  3. 

siet,    impf.  ind.   3.    seoit,   pl.  3. 

seoient,  conj.  3.  seist,  perf.  3.  sist) 

sitzen,  anstehen,  passen,  s.  s.  sich 

setzen. 
serf  (servum)  m.  II  (r.  sers)  sklave, 

sklavisch. 


552 


(Jlossar:   seri  —  sostonir. 


s  ri    (zu  screnuni?   secretum?)    adj. 

ruhig,  heiter. 
serjaut  (servientem)  m.  II  diener. 
serinon   sarnnin   (serrnonein)    m.   II 

predigt,  rede. 
serpant  (serpentem)  m.  II  schlänge, 

drache. 
servir  (servire)  sie.  II  (praes.  ind.  3. 

sert,  pl.  2.  servez)  dienen,  bedienen, 

mit  dienst  ehren. 
servise     (servitiuni)    m.    II    dienst, 

minnedienst. 
ses  ces  (suus  -os)  unbet.  pron.  poss. 

3.  p.  sg.  im  r.  sg.  u.  obl.  pl.  sein, 

ihr. 
ses  =  se,  si  +  les. 
set  (septein)  zw.  sieben. 
seule  siecle  (saeculuui)  m.  II  weit. 
seür  (securuni)  adj.  sicher,  a.  s.  im 

sichern,  sicher. 
seur,    alt.  form   suer  (soror)   /'.   III 

(obl.  seror)  Schwester. 
seus  seul  s.  sol. 

sevals  (sie  vel  +  s?)  adv.  wenigstens. 
sez  (satis)  adv.  genug. 
si  (sui)  unbet.  pron.  poss.  B.p.  im  r. 

pl.  seine,  ihre. 
si   s'  (sie)  adv.  so,  in  dieser  weise, 

und,  und  doch  {auch  zur  einleitung 

eines  Hauptsatzes,   zuw.  nicht  zu 

übers.),  si  —  ke  so  —  als,  si  graut 

con  so  gross  wie. 
siecle  s.  seule. 

siege  (*sediuni?)  m.  II  belagerung. 
siguef'iance  (der.  v.  signefier)  f.  be- 

deutung. 
signefier  s.  senef Ter. 
simple  (simpluui)  adj.  einfach. 
simplement  (adv.  zu  simple)  in  ein- 
facher ari. 
sire   (senior,  kurz  form)  m.  III  (obl. 

sieur  vgl.  seigneur)   herr  (bes.  in 

der  anrede). 
sis  1.  =  ses  (suus  —  suos)  im  norm. 

u.  anglon.  —  2.  =  si  les. 
sit  =  si  te. 
sivre  siure  (*sequere)  /'.  sequi)  st.  III 


(ind.  pr.  3.  pl.  Biweot,  part.  pr. 

sevant,  fut.  1.  sivrai)  folgen. 

soe  (suam)  bet.  pron.  poss.  3.  p.  sg. 
f.  (m.  suen)  sein  ig,  ihrig. 

soef  (suave)  adv.  ruhig,  sanft. 

sofraindre  (sub  +  frangere)  st.  II 
(praes.  conj.  \i.  soiraigne)  ge- 
brechen, fehlen. 

sofrir  (sufferre  -errire)  8U>.  II  (praes. 
ind.  3.  sofre,  perf.  3.  sofri,  pari, 
perf.  sofert,  fut.  3.  soferra,  pl.  2. 
soferreiz)  erleiden,  dulden,  zu- 
lassen. 

soie  (setam)  f.  seide. 

soing  (*sonium  /'.  senium)  m.  II  sorge. 

soir  (serum)  m.  II  abend. 

sol  (solidum)  m.  II  sous  (münze). 

sol  seul  (solum)  adj.  (r.  seus,  f.  sole) 
allein,  einzig. 

soleil  (*soliciünm,  v.  sol)  m.  II  (r. 
solleiz  solauz)  sonne. 

soleir  souloir  (solere)  def.  verb.  (praes. 
ind.  3.  soelt,  impf.  1.  souloie, 
3.  solcit)  pflegen,  mit  in  f.  = 
immer,  stets. 

son  (sonum)  m.  II  klang,  gesang.  lied. 

son  (sumiuum)  m.  II  spitze,  en  s. 
oben  in. 

son,  pik.  sen  (suum)  unbet.  pron. poss. 
3.  p.  im  obl.  m.  (r.  ses,  sis,  f.  sa  — 
ses)  sein,  ihr. 

songe  (somnium)  m.  II  träum. 

sonner  (sonare)  sie.  I  ertönen  lassen, 
sprechen  (mot). 

sor  (d.  säur,  mhd.  sör  dürr)  adj. 
dunkelbraun. 

sorcil  (supra  +  ciliuui)  m.  II  (pl. 
soreiz)  augenbrauen. 

sore  sor  snr  (supra)  praep.  1.  (auf 
die  frage  ico?)  auf,  an,  bei.  — 
2.  (auf  die  frage  wohin  ?)  auf. 

sormener  (komp.  v.  minari)  sw.  I 
schlecht  behandeln. 

sospirer  (suspirare)  sw.  I  seufzen. 

sostenir  (sustinere  -ire)  st.  III  (jmrt. 
perf.  f.  sostenue)  aushalten,  er- 
tragen, tragen. 


soufiadhier  —  terdre. 


553 


souiYaehier  sä'.  1  lupfen,  aufheben. 
Bouloil  s.  soleir. 

Bonslevei  (subtus  +  levare)  sw.  l 
aufheben,  bauschen. 

souspe^on  (*suspeetionem)  /'.  ver- 
dacht, t'stre  cu  s.  im  zweifel  sein. 

soutillier  (*subtiliare)  Bio.  1  fein  aus- 
arbeiten. 

sovenir  (sub venire)  st.  I  — III  (per f. 
3.  sovint)  impers.  erinnern,  ge- 
mahnen. 

Bovent  (subinde)  adv.  oft. 

soz  sous  (subtus)  präp.  unter. 

spose  Hl  =  espose. 

suduiant  (snbducenteru)  nt.  II  Ver- 
räter. 

sueii  (suuin)  bet.  pron.  poss.  3.  p.  im 
obl.  sg.  m.  [f.  B06  —  soes)  sein, 
seinig. 

suer  (südare)  sie.  I  schwitzen. 

Surie  (Syriain)  n.  pr.  f.  Syrien  351. 

sus  tsursuni)  adv.  oben,  eu  s.  oben  — 
präp.  auf. 

snspeudre  (suspendere)  siv.  III,  II 
vom  amte  entheben. 

suverain  (superaneum)  adj.  oben  be- 
findlich, niund  s.  oberweit. 

T 

t'=  1.  te.  —  2.  ta. 

ta  (tnaiu)  an  bet.  pron.  poss.  2.  p.  sg. 

im  sg.  f.  (pl.  tes)  dein. 
table  (tabulam)  f.  tafel,  tisch. 
taille   (der.  v.  taillier  <  taleare,  zu 

talea   Stäbchen)   f.   Steuer   310  — 

gestalt. 
Taillefer  taillier  —  fer  <  ferrutu) 

n.  pr.  'Taillefer  266. 
taint  =  teint  s.  teindre. 
taire  (tacere  /'.  tacere)  st.  HI  (fut.  3. 

taira)  schweigen,  s'en  t.  dass. 
talent  -ant  (talentum  <  gr.  xa/.uvxov) 

m.  II  neigung,  wünsch,  avoir  t.  de 

seine  tust  an  etw.  haben. 
tancon  (*tentionem,  zu  tendere)  f. 

streit. 


tanpeste  (tempeata  f.  tempestas)  /. 

umectli  r. 
tant    (tantam)    adj.  pron.    (f.    tautet 

so  viel,  so  mancher,  oent  uns 
hundertfach,  t.  ne  qaant  nur  ein 
wenig  [nach  neg.  satz). 

tant  (tantinn)  adv.  so  sehr,  tant  com 
so  sehr  als,  so  viel  als,  tant  qne 
so  sehr  dass,  so  lange  bis,  tant 
que  m.  conj.  so  sehr,  wenn  auch. 

tante  —  tente  (v.  teuter  <  tentare 
versv.clter})  f.  bündel. 

taper  (d.  tappen,  zu  tappe  =  hand) 
sw.  I  betasten. 

tart  (tarde)  adv.  sj>ät. 

te  t',  encl.  t  OS  (te)  unbtt  pron.  pers. 

2.  p.  sg.  dich. 

tei  toi  (te)  bet.  pron.  2.  7/.  sg. 
dich. 

teindre  (tingere)  st.  II  (part.  perf. 
teint)  färben,  verfärben. 

tel  (taletn)  ad/.  j>ro??.  (r.  tels  tens) 
so  beschaffen,  solch,  tel  com,  con 
so  besch.  wie,  teus  qni  derjenige 
welcher. 

tenecresse  (der.  r.  tencier  <  *ten- 
tiare)  /'.  zänkerin,  streitsüchtig. 

tendre  (tendere)  sw.  III,  II  aus- 
strecken. 

tendror  (der.  v.  tener)  /'.  Zärtlichkeit, 
rührung. 

Teuedon  n.  pr.  inscl  Tenedos  285. 

tenir  (*tenire  f.  tenere)  st.  III  (praes. 
ind.  3.  tient,  pl.  3.  tiennent,  conj. 

3.  tiegne  tiengne,  impf.  ind.  3. 
tenoit,  perf.  1 .  tiug,  pl.  1 .  tenimes, 
part.  tenu,  cond.  1.  tandroie) 
halten,  festhalten,  behalten,  in  der 
hand  haben,  bestehen  s.  t.  od.  qn. 
bei  jem.  bleiben,  s.  t.  de  qch.  sich 
enthalten,  s.  t.  al  millur  sich  für 
den  besten  hallen,  s.  t.  por  fol,  pur 
sage  töricht,  klug  handeln,  sein. 

tens  temps  tans  (teiupus)  m.  indecl. 

zeit,  unwetter. 
tente  (tentain  v.  tendere)  f.  zeit. 
terdre  (tergere)  8t.  II  abivischen. 


554 


Glossar:   terruine  —  travaillier. 


termine  (terminum)  m.  II  zeitgrenze, 

zeit. 
terre  (terram)  f.  erde,  boden,  lei  de 

t.  weltliches  gesetz. 

tertre  (*termitein  =  terminum)  m.  II 
hü  gel. 

tes  (tuus  —  tuos)  unbet.  pron.  po88. 
2.  p.  sg.  im  r.  sg.  m.  u.  obl.  pl. 
(obl.  sg.  ton,  r.  pl.  ti)  dein. 

teste  (testam)  /.  köpf. 

teteron  {zu  d.  titta  —  zitze)  m.  II 
brustivarze. 

tierz  (tertium)  zw.  dritt,  dritter,  f. 
tierce  (sc.  hora)  dritte  stunde  = 
9  uhr  vormittags. 

toaille  touaille  (d.  twablia)  =  queble, 
zwehle)  f.  tuch. 

toebier  (d.  tilkkan  =  zucken  sw.  I) 
berühren,  schlagen. 

toldre  (tollere)  sto.  II  (perf.  3.  toli, 
pari,  tolut,  f.  tolue)  nehmen,  ver- 
bergen, entziehen. 

Tomas  n.  pr.  Thomas  Becltet  126  ff. 

tombe  (tnmbam)  /'.  grab. 

ton  tum  (tuum)  unbet.  pron.  poss.  I.p. 
sg.  im  obl.  sg.  m.  (vgl.  tes)  dein. 

toner  (tonare)  sw.  I  donnern. 

tor  (turrem)  f.  türm,  schloss. 

tQr  (taurum)  m.  II  stier. 

tordre  (*törquere  f.  torqnere)  st.  II 
(praes.  conj.  3.  torde)  winden, 
plagen,  part.  tort  gewunden,  rund. 

torel  (dem.  i>.  taurus)  m.  II  (r. 
torians)  junger  stier. 

torner  turner  (zu  gr.  töqvoc  —  toq- 
vevw)  wenden,  umkehren,  ver- 
kehren in  (a),  t.  de  Griu  en  Latin 
übersetzen,  en  estre  tornez  davon 
abgewendet  werden;  sich  drehen, 
wenden,  t.  a  sich  wenden  zu  69, 
werden  zu. 

tort  (tortuin,  zu  torquere)  m.  II  un- 
recht. 

tortiz  (*torticiuin,  zu  tortuin  —  tor- 
quere) adj.  gedreht. 

tortrele  (*turturellam  v.  turtur)  f. 
turteltaube. 


tost  (tostum,  v.  torrere)  adv.  alsbald. 

tot  tout  (*tuttum  f.  totum)  adj.  {pl. 
toz,  r.  tuit)  ganz,  pl.  alle;  bei 
adj.  in  adverbialem  sinn  (li  sanz 
toz  clers);  toz  tens  allezeit,  a  tons 
jours  für  immer;  del  tot,  dou  tout 
durchaus,  ganz,  od  tut  damit,  par 
tot  durchaus,  überall,  stets. 

tot  (*tuttum)  adv.  ganz  und  gar. 

toudis  =  toz  dis  (*tuttos  dies)  alle 
tage. 

tour  (der.  v.  tourner)  m.  II  Wendung, 
par  nul  t.  unter  keinen  umständen. 

touse  (tonsam)  f.  mädchen. 

trainer  (der.  v.  traTue  <  *tragina, 
zu  *tragere?)siu.  I  zielten,  schlepjn-n. 

tra'i'r  (*tradire  f.  tradere)  sw.  II  ver- 
raten. 

traire  treire  trere  (*tragere  /'.  trabere) 
st.  II  (praes.  ind.  3.  trait,  imp. 
pl.  traies,  impf.  conj.  3.  tratet, 
perf.  1.  trais  tres,  3.  traist,  p>art. 
trait,  f.  pl.  traites)  ziehen,  herbei- 
führen, tr.  a  sei  an  sich  locken, 
tr.  de  .  .  .  en  übersetzen,  mal  traire 
leid  erdulden,  tr.  qn.  a  garant  als 
bürgen  anführen;  tr.  sich  zu  jem. 
ziehen,  halten,  sich  zurückziehen; 
s.  tr.  sich  ivohin  begeben,  sich 
zurückziehen. 

traison  (* traditionein,  vgl.  tra'ir)  f. 
verrat,  bstrug. 

traitic  (der.  v.  trait  <  tractum)  adj, 
(f.  traitice)  gezogen,  länglich,  oval. 

traiti6  (traetatum)  m.  II  abhandlung, 
werk. 

traitier  treitier  tretier  (traetare)  sw.  I 
handeln,  reden  von  (de,  en  <  inde). 

traitor  (traditorem)  m.  III  (r.  tra'itre) 
Verräter. 

tranebaut  =  trenebant  (ger.  v.  tren- 
cbier)  m.  II  schneide. 

translater  (komp.  v.  *latare,  zu  latum 
—  ferre)  siv.  I  übersetzen. 

travaillier  (zu  travail  <  trepalium) 
sw.  I  bearbeiten,  s.  tr.  sich  be- 
mühen. 


tref  —  willier. 


bei    ags.  triff  oder  Int.  trabem)  zeit. 
treis  trois  (tres)  zw.  (r.  trei)  drei. 
trenbler  traubler   (tremnlare)    sw.  I 

sittern. 
tranchier  (*troncare,  vgl.  AS    sw.  1 

abschneiden,  zerschneiden. 
trente  (triginta)  zw.  dreissig. 
trespasser  (trans  +  *passare)  sw.  I 

hinübergehe  vergehn. 
tressaillir  (trans  -(-  salire)  sw.  II  zu- 

sammenzucken. 
trestot  (trans  +  *tuttum)  adj.  pron. 

{pl.    -tuz,   r.   -tuit)   ganz,    völlig, 

pl.  alle  —  ade.  ganz  und  pur. 
tret  =  trait  (tractum)   m.  II   zug,  a 

tr.  gemächlich. 
tristor    (*tristorcm,    zu    tristis)    f. 

trauer. 
triue  (g.  triuwa)  /'.  Waffenstillstand. 
trobler  (tnrbnlare)  sw.  I  trüben. 
Troie  (Trojani)  n.  pr.  f.  Troja  2b0. 
tronc  (truneum)  m.  II  baumstamm. 
trop  (d.  prop  —  porp  =  dorf)   adv. 

sehr,  zuviel,  zu  lange. 
trover    (*tropare,   vgl.   AS)   sw.    I 

{praes.   ind.    !.   trnis,    3.   trueve, 

pl.  3.  trovent)  finden,  erfinden. 
tu  (tu)  bet.  pron.  pers.  2.  p.  sg.  im 

r.  (obl.  tei  toi)  du. 
tuit  s.  tot. 
tul  =  tu  +  le. 
tum  s.  ton. 
Türe  {pl.  Turs)  Völkername,  Türken 

352. 


u 

ueil  oeil   (oculum)  m.  II  {pl.  iex  = 

ieus,  iauz,  uiz)  äuge. 
un  (uuuni)  zw.  {f.  nne)  ei»,  reeiprok 

in   Tuns   a   l'altre  —  unbest.  art. 

ein,  irgendein. 
Urs  n.  pr.  Z7rs,  rater  Reinalts  127. 
usage    (*usaticum,    v.   usus)    m.   II 

brauch,  gewohnheit. 
user  (*usare,   zu   uti  —  nsus  sum) 

sw.  I  benutzen,  sich  bedienen. 


V 

vaillant  i*valientem  -aim-ni  /'.  valen- 
1 1- in  >  adj.  werthabend,  tüchtig, 
topfet . 

vain  (vanwn)  adj.  schwach,  an  v. 
bens. 

v:iir  (variuni)  adj.  BchiUernd. 

val  (vallem)  m.  täl,  eu  val,  coutre 
val  /u'/jßö  (»(/kZ.  ze  tal). 

valeir  -oir  (valere)  sw.  ui-^er/". 
{praes.  ind.  3.  vaut,  co»/  3.  vaille, 
<7«\  vaillant,  impf.  ind.  3.  valeit, 
fut.  3.  valdrat  vaudra,  cond.  3. 
valdreit)  wert  sein,  stark  sein, 
gedeihen,  nützen. 

vandre  =  vendre  (vendere)  sw.  III,  II 
verkaufen,  v.  einer  teuer  verkaufen. 

vanite  (vanitatem)  f.  eitelkcit,  nich- 
tigkeit. 

vatit  =  vent  (ventum)  m.  II  wind. 

vanter  {der.  v.  ventum)  siv.  II  winden, 
stürmen. 

vanter  (*vanitare)  sw.  I  rühmen,  sich 
rühmen,  {mit  que). 

variable  {der.  v.  varius)  adj.  ver- 
änderlich. 

vassal  {mittellat.  vasallum,  kelt. 
urspr.)  m.  II  vassal,  lehnsmann, 
ritter,  kämpfer. 

vasselage  {der.  v.  vassal)  m.  II 
ritterturn,  tapferkeit. 

vaslet  m.  II  jüngling,  knappe. 

veeir  -oir  ve'i'r  (videre)  st.  I  {praes. 
ind.  1.  vei  voi,  2.  voiz,  3.  voit, 
pl.  2.  veez,  3.  voient,  conj.  3.  veiet 
voie,  impf.  3.  veeit,  pl.  3.  veeient, 
conj.  3.  ve'ist,  pl.  3.  veissent,  perf. 
1.  vi,  3.  vit,  pl.  3.  virent,  part. 
veüt  veü,  fut.  2.  verras,  3.  verrat, 
pl.  2.  verreiz,  cond.  1.  verroie, 
3.  verroit)  sehen,  v.  cler  deutlich 
sehen;  vez  {kurzform  von  vides 
oder  videtis)  siehe  da,  schau! 

Veillantif  n.  pr.  name  von  Rolands 
ross  126. 

veillier  (vigilare)  sw.  I  ivachen. 


;»;.«; 


Glossar:   veintre  —  voleir. 


veintrc  (vincere)  sw.  III,  II  be- 
siegen. 

veir  voir  (verum)  adj.  wahr,  währ- 
haftig,    par    v.    in   Wahrheit  — 

subst.  m.  II  le  voir  das  wahre. 
veirenient    voireinent   (vera   mente) 
adv.  wahr,  wahrhaftig. 

vengier  (vindicare)  sw.  I  rächen. 

venir  (venire)  st.  I— III  (praes.  ind. 
3.  vient,  pl.  3.  viennent,  conj.  pl.  2. 
vegniez  vengiez  275,  impl.pl.  venez, 
pari,  venant,  impf.  ind.  3.  venoit 
pl.  3.  veüo'iGut, perf.  1.  ving,  3.  vint, 
pl.  3  vindrent,  pari.  r.  venuz,  f. 
venue,  fut.  3.  vendra,  pl.  2.  vendrez) 
kommen,  impers.  vient  es  begegnet, 
v.  miauz  mehr  zukommen,  besser 
sein. 

verai  vrai  (*veragnin)  adj.  (r.  verais) 
wahr. 

verdure  {der.  v.  viridis)  f.  das 
grün. 

vergier  (*viridiariuin)  m.  II  garten, 
Obstgarten. 

verite  s.  verte. 

vermeil  (veriniculuni)  adj.  (r.  ver- 
niauz)  rot. 

vers  (versus)  präp.  gegen,  auf  —  zu. 

verser  {der.  v.  vertere  —  versum) 
sie.  I  giessen. 

vert  (viridem)  adj.  grün. 

vert6  verite  (veritatem)  /'.  Wahrheit, 
en  v.  mit  recht. 

vertu  (virtutern)  f.  kraft. 

vespre  (vesperum)   m.  u.  f.  abend. 

vesteüre  vcstüre  (*vestaturam  f. 
vestituram)  /'.  kleidung,  kleid. 

vestir  (vestire)  sw.  II  kleiden,  be- 
kleiden, anziehn. 

vciie  (*vidutaui)  /'.  das  sehen,  an- 
blick,  gesteht. 

vez  s.  veeir. 

veziet  (vitiatuni,  zu  vitiare)  adj. 
durchtrieben,  schlau. 

videle  {zu  vider,  vgl,  nfr.  videlle) 
f.  langer  faltcnärmel. 

v'i'e  (vitauij  /'.  leben. 


vieil  (*vetulum,  dem.  v.  vetus)  adj. 
{f.   vielle)   alt  —  subst.   li    vielle 
{pik.)  die  alte. 
viellece  -che  {der.  v.  vieil)  /'.  alter. 

vilaiu  (vTllanum)  adj.  —  m.  II  bauer. 

vilainement  {adv.  v.  vilaiu)  hässlich, 
in  niedriger  weise. 

vile  (vTllam)  f.  Stadt,  sainte  v. 
Jerusalem. 

vintiesnie  {der.  v.  vint  «<  viginti) 
zw.  zwanzigst. 

virge  (virginein)  f.  Jungfrau. 

vis  (visum)  m.  indecl.  gesicht,  antlitz. 

visage  (der.  v.  visum)  m.  II  antlitz. 

vis'i'ou  (visionem)  /'.  vision,  traum- 
gesicht. 

vit  (vectem)  m.  II  penis. 

vitaille  (victualia)  /'.  lebensunterhalt, 
lebensmittel. 

vivre  (vivere)  siv.  III,  II  [part.  pr. 
vivant,  fut.  pl.  3.  vivrout)  leben, 
am  leben  sein,  part.  vivant  leben- 
dig, leibhaftig  —  subst.  inf.  vivre 
nahrung. 

vo  {pik.)  =  vostre  pron.  poss.  2.  pl. 

voiage  (viaticum)  m.  II  reise. 

voie  (viarn)  f.  weg,  tote  v.,  totes 
voies  alle  wege,  uiderdessen , 
gleichwohl. 

voir  s.  veir. 

vol  (der.  v.  voleir)  m.  II  wille. 

voiage  (volaticum)   adj.   flatterhaft. 

volantiers  =  volentiers  (voluutarie 
+  s)  adv.  gem. 

voleir  -oir  vouloir  (*volere  /*.  velle) 
st.  III,  II  {praes.  ind.  1.  vnoil 
voil  vneil  vuel,  2.  viaus,  3.  vuelt 
volt  vuet  veut  viaut,  pl.  2.  volez, 
conj.  1.  voille,  3.  vueille  vuelle, 
impf.  2.  voloies,  3.  voloit,  conj. 
1.  vousisse,  per  f.  1.  voil,  vos, 
3.  voult,  pl.  3.  voldrent,  fut. 
1.  voldrai  vondrai,  3.  voldra, 
pl.  2.  voldrez  voudreiz,  cond.  2. 
voldroies,  pl.  2.  vaurries)  wollen 
—  inf.  subst.  wille,  wünsch,  be- 
lieben. 


vulenti't  —  yv   r. 


volentet    vulente    volonte      volun- 

tateru)  f.  wille,  wünsch. 
voler    (volare)    sie.    I    fliegen,    zer- 
splittern. 
volte  (voltain,  zu  volvcre)  f.  gewölbe. 
vos   (vos)  pron.   2.  p.  pl.   1)  unbet. 

dat.   acc.  euch.  —  2)  betont  r.   u. 

obl.  ihr,  euch. 
vostre,  pik.  vo  (vostrum  f.  vestrum) 

pron.  jwss.  2.  p.  pl.  euer  (acc.  pl. 

voz). 
voutrillier    [der.  v.  volvere  —  vol- 

tum)  sm;.  I  wälzen. 


voz  s.  vostre. 

vrai  B.  verai. 

vremellet  =  vermelät     dem.  v.  vcr- 

meir  adj.  :<ui  rot. 
vnide  (*vocitum  /'.  racuatnm)   adj. 

leer. 
vuidier  (*vocitare)  sie.  I  /< 


ymage  =  iinage  (ivuagineni)  f.  bild. 
yver  s.  iver. 


Berichtigungen  und  Nachträge. 

Zu  s.  19,  z.  10  v.  unten:  Ul.  Chevalier,  Repertoire,  2.  anfl.  1907.  — 
35,  z.  7  v.  u.  füge  hinzu:  Über  den  achtsilbuer:  Gerhard  Melchior,  Der 
Achtsilbner  i.  d.  franz.  Dichtung  mit  Ausschluss  d.  Lyrik,  Diss.  L.  1909.  — 
S.  47,  abschn.  III:  G.  Thurau,  Singen  und  Sagen,  B.  1912.  —  S.  48, 
abschD.  IV:  Chauvin,  Bibliographie  des  onvrages  arabcs  ou  relatifs  aux 
Arabes,  Lüttich  u.  Leipzig,  bisher  13  bde.  —  70,171:  Baist,  Spottlieder 
um  1100,  RF  22  (1908)  28 ff.  —  84,  z.  1 :  zur  Wolfdietrichsage  vgl.  jetzt 
Herrn.  Schneider,  Die  Gedichte  u.  d.  Sage  von  W.-D.,  München  1913.  — 
86,  z.  1  v.  u.  lies  kap.  VI  statt  IV.  —  97,  z.  3  füge  hinzu:  Bedier, 
Leg.  ep.  I  171  ff.  —  10S  füge  hinzu:  Bedier,  De  l'autorite  du  ms. 
d'Oxford,  Rom.  41  (1912)  321  ff.  —  121:  Bibliographie:  G.Paris,  Litt, 
norm,  jetzt  auch  in  Melanges  71  ff.  —  129,  130  (St.  Patrice)  füge 
hinzu:  Foulet,  RF  22  (190S)  583  ff.  —  131  (Adgar):  über  eine  neue  hs. 
J.-A.  Herbert,  Rom.  32  (1903)  394  ff.  —  146  f.  füge  hinzu:  P.Meyer,  Les 
plus  anciens  lapidaires  fr.,  Rom.  38  (1909)  44  ff.,  254ff.,  4SI  ff.  (darunter  ein 
von  P.  M.  dem  Philipp  v.  Thaon  zugeschriebenes  steinbuch).  —  150 f.: 
P.Meyer,  Fragment  d'un  ms.  du  Cumput,  Rom.  40  (1911)  70ff.  —  193  —  96 
zum  alter  des  Isembart  und  Gormont:  G.  Paris,  Rom.  33  (1902)  445 ff.  — 
217  zu  Aspremont:  Modigliani,  Intorno  alle  origini  dell'  epopea  d'A.,  im 
Monaciband  (vgl.  Rom.  33,  610).  —  223f.,  z.  18  ende  punkt,  z.  19  ende 
komma,  z.  03  und  64  zu  vertauschen,  z.  75  komma  nach  m'a.  —  225  Bibl. 
z.  7:  C.  Gutersohn,  Die  Balduinepisode,  Verhältnis  der  Hss.  u.  Charakteristik 
der  Hss.  u.  Bearbeitungen,  Diss.  Kiel,  Düsseldorf  1912.  —  2ü4,  z.  10  von 
unten  lies  Gandia  statt  Cadix.  —  235,  z.  1  v.u.  lies  Boulogner  hs.  statt 
Bol.  hs.  —  240  (zu  Raoul)  füge  hinzu:  G.  Paris,  Melanges  s.  151  ff.  — 
241  f.,  252:  neue  hss.-fragmente  zu  Garin,  Girbert,  Girart:  P.Meyer,  Rom. 
34  (1905)  428ff.,  435ff.,  444ff.  —  259,  z.  13  füge  hinzu:  Maria  Einstein, 
Beiträge  zur  Überlieferung  des  Chev.  au  cygne  u.  d.  Enf.  Godefroy,  Diss. 
Berlin,  Erlangen  1910.  —  274,  z.  8  füge  hinzu:  Th.  Hildenbrand,  Die  afr. 
Alex.-dichtung  Le  roni,  d.  t.  chev.  des  Thomas  v.  Kent  u.  d.  nie.  Romanze 
King  Alexander,  Diss.  Bonn  1911.  —  294,  300  zu  Crestien  li  Gois:  nach 
einer  einleuchtenden  Vermutung  von  Schultz- Gora  (worüber  näheres  in 
seiner  iu  der  ZrP  erscheinenden  anzeige  von  Boers  Philonienaausgabe)  als 
Ligois  „aus  Lüttich  stammend",  als  beiname  der  familie  nach  ihrer 
herkunft,  zu  deuten.  —  321  f.:  Foersters  kleine  Yvainausgabe  in  4.  auf  1. 
1912.  —  331  oben  füge  hinzu:  Victor  Junk,  Gralsage  u.  Graldichtung  des 
Mittelalters,  Sitzber.  d.  Wiener  Akad.,  Ph.-hist.  kl.  168,  4.  Abb.;  Rose 
Jeffries  Peebles,  The  legend  of  Longinus  and  its  connection  with  the  Grail, 
Pennsylvania  1911;  William  A.  Nitze,  The  sister's  son  and  the  conte  del 
graal,  Mod.  Phil.  9,  no.  3  (Jan.  1912).  Vgl.  zu  diesen  W.  Golther  LgrP  33 
(1912)  393  ff.  —  390,  z.  11  v.  u.  lies  Robert  Biket  statt  Thomas  B.  — 
408,  z.  9  füge  hinzu:  P.  Meyer,  Rom.  34  (1905)  455 ff.  (fragm.  einer  hs.  von 
branche  XI).  —  409,  z.  1  lies  ndd.  statt  ndl.  —  422  Bibliogr.  z.  7  v.  u.  lies 
Archiv  114,  432ff.  statt  232  ff. 


Verzeichnis  der  gebrauchten  Abkürzungen 

(nebst  Seitenzahlen  der  genaueren  Titel). 


Afr.  Bibl.  =  Altfranz.  Bibliothek  53. 

A.  P.  d.  1.  Fr.,  Anc.  poetes  d.  1.  Fr.  =  Auciens  poetes  de  la  France  53. 
Archiv  =  Herrigs  Archiv  f.  d.  Studium  der  neueren  Sprachen  50. 

AS  =  Einführung  i.  d.  Stud.  d.  afr.  Spr.  55. 

B.  =  Berlin. 

Barbazan-Meon,  Recueil  =  Fabliaux  et  Contes  p.  p.  B.,  nouv.  ed.  p.  M.  302. 

Bartsch  =  Bartsch,  Chrestomathie  de  l'ancien  francais  52. 

Bartsch  et  Horning  =  La  langue  et  la  litt,  frangaise  etc.  p.  p.  B.  et  II.  52. 

Becker  =  Phil.  Aug.  Becker,  Grundriss  47. 

Bibl.  Ec.  Ch.  =  Bibliotheque  de  l'Ecole  des  Chartes  52. 

Bibl.  Ec.  d.  H.  Et.  =  Bibliotheque  de  l'Ecole  des  Hautes  Etndes  51. 

Bibl.  franQ.  =  Bibliotheque  frangaise  du  moyen  äge  53. 

Bibl.  Lit.  Ver.  =  Bibliothek  des  (Stuttgarter)  Literarischen  Vereins  52. 

Bibl.  Norm.  =  Bibliotheca  Normannica  53. 

Boehmers  Rom.  Stud.  =  Romanische  Studien  hrsg.  von  Ed.  Boehmer  vi. 

Constans  =  L.  Constans,  Chrestomathie  de  Fanden  fraugais  52. 

Creizenach  =  W.  Creizenach,  Gesch.  d.  neueren  Dramas  47. 

D'Anconaband  =  Raccolta  di  studii  critici  49. 

Dnnlop- Liebrecht  =  Dunlop,  Prosadichtungen,  deutsch  von  Liebrecht  47. 

Eberings  Rom.  Stud.  =  Romanische  Studien  hrsg.  von  Em.  Ebering  51. 

Etndes  G.  Paris  =  Etudes  romanes  dediees  ä  G.  Paris  49. 

Foersterband  =  Beiträge  z.  rom.  u.  engl.  Phil.  49. 

fr.  =  francais,  -aise. 

Franz.  Stud.  =  Französische  Studien  51. 

Germania  =  Germania,  Vierteljahrsschr.  f.  deutsche  Altertumskunde,  begr. 

von  Franz  Pfeiffer,  Stuttgart  (dann  Wien)  1S5G  — 92. 
GrL  =  Gesellschaft  für  romanische  Literatur  52. 
GrM  =  Germ. -rom.  Monatsschrift  50. 
Grimm  Library  =  Grimm  Libr.  published  by  d.  Nutt  52. 
Grüber  =  G.  Gröber,  Franz.  Lit.  im  Grundriss  47. 
Gröberband  =  Beiträge  z.  rom.  Phil.  49. 
IIa.  =  Halle. 
Heid.  =  Heidelberg. 
Herrigs  Archiv  =  Archiv  f.  d.  Stud.  d.  neueren  Sprachen  50. 


5G0  Verzeichnis  der  gebrauchten  Abkürzungen. 

Hist,  litt.  =  Histoirc  litteraire  de  la  France  46. 

Jahrbach  =  Jahrbuch  f.  roui.  u.  engl.  Lit.  50. 

Jahresbericht  =  Kritischer  Jahresbericht  hrsg.  von  Vollinöller  54. 

JdSav  =  Journal  des  Savants  50. 

JrP  =  Jahresbericht  für  roman.  Philologie  54. 

Jubinal,  Noav.  Rec.  =  Nouveau  recueil  de  contes  392. 

L.  =  Leipzig. 

LgrP  =  Literaturblatt  f.  germ.  u.  rom.  Phil.  50. 

Lit.  Ver.  —  Bibliothek  des  (Stuttgarter)  Literarischen  Vereins  52. 

Marburger  Beiträge  =  Marb.  Beitr.  z.  rom.  Phil.  51. 

Mrlauges  Chabaneau  49. 

Melanges  Wilmotte  41). 

Meon,  Recueil  =  Nouveau  recueil  de  fablianx  p.  p.  Meon  392. 

Mod.  Phil.  =  Modern  Philology  50. 

Mont.  et  Rayn.  —  Montaiglon  et  Raynaud,  Recueil  general  des  fabliaux  413. 

Mussafiaband  =  Bausteine  zur  rom.  Phil.  49. 

Neue  Jahrbücher  =  Neue  Jahrbücher  für  das  klassische  Altertum,  Ge- 
schichte und  deutsche  Literatur. 

Neuphil.  Mitt.  =  Neuphil.  Mitteilungen,  Helsingfors  50. 

Nenphil.  Stud.  =  Neuphilologische  Studien  (Körting)  51. 

Nutts  Pop.  Stud.  =  Populär  Studies  in  Mythology  52. 

P.  =  Paris. 

G.  Paris,  Leg.  =  G.  P.,  Legendes  du  moyen  äge   17. 

G.  Paris,  Litt.  =  G.  P.,  La  litterature  francaise  au  moyen  äge  47. 

G.  Paris,  Litt.  norm.  =  G.  P.,  La  litterature  normande  121. 

G.  Paris,  Melanges  =  G.  P.,  Melanges  litteraires  48. 

G.  Paris,  Poenies  =  G.  P.,  Poeines  et  legendes  du  moyen  äge  41. 

G.  Paris,  Poesie  =  G.  P.,  La  poesie  du  moyen  äge  47. 

PBB  =  Beiträge  z.  Gesch.  d.  deutschen  Sprache  u.  Litteratur,  begr.  von 
H.  Paul  und  W.  Braune,  hrsg.  von  W.  Braune,  Ha.  1874  ff. 

Petit  de  Jve.  —  Histoirc  de  la  langne  et  de  la  litterature  francaise  p.  sous 
la  dir.  de  Petit  de  Julleville  46. 

Preuss.  Jahrb.  =  Preussische  Jahrbücher,  Monatsschrift,  hrsg.  v.  H.  Delbrück, 
Berlin,  Stilke. 

Publ.  MLA  =  Publications  of  the  Modern  Language  Association  50. 

Qu.  u.  Fo.  =  Quellen  und  Forschungen  zur  Sprach-  und  Kulturgesch.  d. 
germ.  Völker,  Strassburg,  Trübner. 

R.  d.  d.  p.  =  Romans  des  douze  pairs  de  France  53. 

Recueil  G.  Paris  =  Recueil  de  m6moires  philologiques  49. 

Rcr,  Rev.  crit.  =  Revue  critiqne  50. 

RddM,  Rev.  d.  d.  Ms.  =  Revue  des  deux  Mondes. 

Rdlr  =  Revue  des  langues  romanes  51. 

RF  =  Romanische  Forschungen  50. 

Rom.,  Romania  —  Romania,  Recueil  trimestriel  51. 

Rom.  Bibl.  =  Romanische  Bibliothek  53. 

Sdat,  S.  d.  a.  t.  =  Societe  des  anciens  textes  fraücais  53. 

sep.  =  separat. 


Verzeichnis  der  gebrauchten  Abkürzungen.  561 

Sieversband  =  Philologische  Studien  49. 

Stengels  AA  =  Ausgaben  und  Aldiandlungen  51. 

Str.  =  Strassbnrg. 

StvglL  =  Studien  /..  vergleichenden  Literaturgeschichte  49. 

Snohier  =  Sncbier  (und  Birch- Hirschfeld),  Gesch.  d.  frans.  Litteratur  in. 

Sachierband  =  Forschungen  z.  rom.  Philologie  49. 

Toblerband  =  Abhandlungen,  Herrn  Prüf.  Dr.  A.  Tubler  dargebracht 

Yolliuüllerband  =  Phil.  u.  volkskundL  Arbeiten  49. 

Wablnndband  =  Melanges  de  philologic  roniane  49. 

ZdA  =  Zeitschrift   für   deutsches   Altertum,   begr.  von  Mor.  Haupt,    hrsg. 

von  E.  Scbroeder  u.  (i.  Roethe,  Leipzig  1841  ff.  (jetzt  Berlin). 
ZdP  =  Zeitschrift  für  deutsche  Philologie,   begr.  von  Höpfner  u.  Zacher, 

hrsg.  von  H.  Gering  und  F.  Kauffmann,  IIa.  18(59  ff. 
ZfSL  =  Zeitschr.  f.  franz.  Sprache  u.  Lit.  51. 
ZrP  =  Zeitschr.  f.  roman.  Phil.  50. 
ZvglL  =  Zeitschr.  f.  vergleich.  Literaturgesch.  49. 
ZVk  =  Zeitschr.  des  Vereins  f.  Volkskunde  49. 
ZVps  =  Zeitschr.  f.  Völkerpsychologie  4'.). 


Vorotz3>;h,  Studium  d.  afr/.  Literatur.    2.  Auflage.  3(5 


Namenverzeichnis. 


Das  Verzeichnis  gibt  die  namea  der  Verfasser  und  der  werke,  auch  der 
wichtigeren  aus  fremden  literaturen.  Bei  zusammengesetzten  namen  sind 
zwischenstehende  de,  von  u.  ä.  für  die  alphabetische  anordnung  nicht 
berücksichtigt.  Zwischen  Jehan  und  Jean  ist  in  der  anordnung  kein 
unterschied  gemacht.  Die  zahlen  bezeichnen  die  Seitenzahlen,  fettgedruckte 
unter  mehreren  stellen  weisen  auf  ausführlichere  behandlung,  stern  (*)  auf 
die  berichtigungen  und  nachtrüge. 


Aalis  (künigin)  122,  145,  260. 

Aaliz  (tanzlied)  163,  168. 

Aaluf  436. 

Abenteuerroman    288,    347,    378  ff., 

450  f. 
Adam  de  le  Haie  419,  460,  488  ff. 
Adam  de  Juvenchi  459. 
Adam  v.  Perseigne  135. 
Adamsspiel  140—142,  503. 
Adenet  le  Roi  419,  433,  441,  450. 
Adgar  *131,  123. 
Aeneis  268,  276,  277. 
Aesop  80,  151,  401. 
Aimeri  de  Narbonne  90,  248,  249  ff. 
Aiol  et  Mirabel  31,  185,  432,  443  f. 
Aiquin  218  f. 
Alain  Chartier  508. 
Alain  de  Lille  482. 
Alba  42,  183,  349,  354  f. 
Alberich  v.  Bisenzün  269  f. 
Alberich  v.  Trois-Fontaines  99. 
Albericns  d.  Merowing  83. 
Albert  v.  Aachen  256. 
Albrecht  (j.  Titurel)  389. 
Alcuin  80,  91,  401. 
Alexander  Neckam  152. 
Alexanderdichtung  31,   32,  42,  194, 

267,  269  ff,  378,  415,  497. 


Alexandre  (Athis  u.  Proph.)  379. 
Alexandre  de  Bernai  270  ff. 
Alexandre  du  Pont  422. 
Alexandri  Magni  iter  ad  Par.  269  ff. 
Alexandrinervers  32,  271. 
Alexiuslied  28,   31,  65ff,   119,    123, 

128  f.,  267,  209,  287,  421. 
Aliscans  231,  232,  231. 
Alix  (imitier  Philippe  Auguste's)  348. 
Alix  von  Blois  43,  287,  291,  348. 
Altercatio  Phyllidis  et  Florae  475. 
Amadas  et  Ydoine  453. 
Amadis  de  Gaula  500. 
Ambroise  (Guerre  sainte)  265. 
Amis  et  Amiles  188,  245 f.,  333,  436, 

471. 
Amon  de  Vareunes  273,  378. 
Amor  u.  Psyche  385  f.,  437. 
Amuur,  Lai  d',  454. 
Andre  de  Coutances  482. 
Andrea  de'  Magnabotti  237,  253. 
Andreas   Capellanus   34S,   353,   374, 

475. 
Ange  et  Ermite  424. 
Anonymus  von  Bethune  405  f. 
Anonymus  Neveleti  429. 
Ause'i's   de  Cartage    1S6,    193,    231, 

253,  439. 


Namenverzeichnis. 


,.;;; 


Anseft  di    M  b  242,  441. 
Antioehe,  Chanson  d".  256 f.,  259,  265. 
Antoine  de  la  Säle  499,  501. 
Apocalypse  132,  137,  426,  427. 
ApoUinaris  Sidonins  13,  89. 
Apolluuiusroniau  41,  246,  3S1,  47u. 
ArbeitsgesÜDge  71,  76,  150,  161. 
Arehamplied  28,    192,    196  ff,   227, 

230  f. 
Aristoteles  145,   454,   457.   (Übers.) 

494,  511. 
Arnoul  Grebau  501. 
Arraser  Liederdichter  459. 
Artusroinane  36,   268,  291  tV,  332fl£, 

343f.,  3  17  f.,  393. 
Artussage  36,  41,  332  ff.,  342 ff. 
Aspremont 93,  lbb,  193,  *216f.,  220, 

229,  253. 
Asseneth  und  Joseph  501. 
Assises  de  Jerusalem  467. 
Astronom,  Der  liuiousinische,  107. 
Athis  u.  Prophilias  379f.,  410. 
Atre  periüos  44v 
Aube  177,  349,  354  f. 
Auberee  412  f. 

Auberi  le  Bourguignou  432,  435. 
Auberon  83,  437,  497. 
Aubouin  de  Sezanne  358,  362. 
Aucassin  et  Nicolete  33,  247,  470 ff. 
Audefroi  der  Bastard  159,  161. 
Audigier  31. 
Augustin  (Übers.)  511. 
Ausouius  10,  89. 
Avianns,  Avionnet  37,  151,  152. 
Avitus  12. 
Aye  d'Avignon  lb.">,  ib^,  243. 

Uabrios  80,  151. 

Balade  (Balete)  164,  494,  506f. 

Balduins  Tod  *225. 
Balaham  et  Josaphas  421. 
Barlaam  u.  Josaphat  421, 
Basoche  503. 

Bastart  de  Bouillon  259,  445,  497. 
Baudoain  de  Conde  456. 
Baudouin  de  Sebonrg  259,  445,  497. 
Baudri  de  Bourgueil  205. 


Beandons  449. 

Beaumauoir  s.  Philippe  de  Reiny. 

Beans  Descouei.s  327,  375t'.   169. 

Belisarsage  225. 

Belle  IMene    I 

Benedeit  (Brandan)  120,  122. 

Benedeil  von  St  Alban  [Thomas)  128. 

Beneeit  (Norm. -Chronik)  268,  284. 

Beueeit  de  Sainte-Hore  268,   278, 

279  ff. 
Beowulfepos  s !. 
Beruard,  Saint  428. 
Bernger  von  Horheim  358. 
Berol  36Mi'. 

Berte  as  grans  pies  253,  433t'.,  466. 
Bertolais  v.  Laun  238. 
Bertrand  v.  Bar-sur-Aube  185,  24Sri'., 

439. 
Bertrand  Dugnesclin  199,  510. 
Besant  de  Dieu  430. 
Bestiaires  144 ff.,  429,   170. 
Bestiaire  d'amour  431,  485. 
Bible  historial  467. 
Bien-Avise,  Mal-Avise  504. 
Bisclavret  383,  394  f. 
Blancandin  449. 
Bleheris  329  f. 
Blondel  de  Nesle  360. 
Boccaccio    45,    205,    280,    383,    3bb, 

452,  500,  501,  511. 
Boethius  31,  42,  14b,  430,  483. 
Boeve  de  Haumtone  253,  333,  435  ff. 
Bonaventure  des  Periers  495,  501. 
Bourdigne  501. 

Brandans  Seefahrt  120, 122,  129,  421. 
Brun  de  la  Montaigne  499. 
Brunetto  Latini  431. 
Bruts  2611'.,  400. 
Bücher  der  Könige  132. 
Bueve  de  Commarchis  230,  433. 

Caesarius  von  Arles  13,  74,  7  7. 
Caitif,  Li,  257. 
Cantilenen  1 1 0  ff. 
Carite  (vom  L'enclus)  429. 
Carmen  de  proditione  Guenonis  98, 
107,  109. 

30* 


56 1  Namenverzeichnis. 

I 

Carole  162,  163. 

Castellan  von  Concy  3(10,  387. 

Castoiement    d'un    pere  ä   son    fils 

392,  410. 
Catherina,  hl.,  130,  421. 
Caxton  408. 
Cento    novelle    antiche    (Novellino) 

265,  414. 
Cercainon  170. 
Chaitivel  3fl5. 
Chancon  de  Vivien  199. 
CliaBQuudeWillelme  s.  Arcbamplied. 
Chanson,  Höfische,  308  ff.,  350  ff.,  45Sff. 
Chansons  ä  personnagcs  (('h.  drama- 

tiqnes)  166  ff.,  458. 
Chansons  ä  toile  (Ch.  d'histoire)  76, 

133,  158  ff.,  176  ff. 
Chant  royal  494,  506. 

Chardon  4(50. 

Chardry  421,  430. 

Charlemagne    (v.   Girart    d'Amiens) 
208,  441. 

Charles  le  Chanve  207,  497. 

Charroi  de  Nimes  191  f,   229,   230f. 

Chastelain   de   Coucy   (v.  Jakenion 
Sakesep)  462. 

Chastelaine  de  St.- Gilles  452. 

Chastelaine  de  Vergi  452. 

Chastellain  508. 

Chaucer  2S6,  408. 

Chevalier  au  barisei  424. 

Chevalier  au  cygne  *257ff. 

Chevalier  a  l'espee  448. 

Chevalier  ans  deus  espees  449. 

Chevalier  au  papegau  377,  469,  474. 

Chievrefeuil  370,  393,  396. 

Childerichsage  83. 

Chlodio  17,  83. 

Chlodoveehsagen  16,  83,  Ulf. 

Chlothar  I.  83,  84. 

Chlothar  II.  84. 

Chlotharlied  92 ff,    110,    114  f.,    117, 
187,  217,  22D. 

Christine  de  Pisan  495,  511. 

Chronicon  Centulense  97. 

Chronique  saintongeaise  466. 
Cicero  11,  494. 


(i]irris  de  Vignevaux  207,  410. 

Claris  et  Laris  4  19. 

Ciarisse  et  Florcut  437. 

Claudianns  Mamertus  13. 

Clef  d'ainours  476. 

Cleinence  de  Berckiüge  121,   1 

Clement  Marot  460,  500,  509. 

Cleomades  433,  450. 

Cliges   293,    303 ff.,    363,    376,   384, 

385  f. 
Coarant  (Lai)  397. 
Colin  Muset  356,  459. 
Combat  des  Trente  51  it. 
Complainte  506. 
Compoz  32  f.,  145,  *150. 
Comte  de  Poitiers  386  f. 
Comtesse  d'Anjou  499. 
Comtessri  de  Ponthieu  470  f. 
Concilium  Amoris  475 f. 
Conflictusanimae  et  corporis  147,  172. 
Confrerie  de  la  Passion  503. 
Conon  de  Bethune   348,   351  f.,   359, 
360. 

Conqueste  de  Constantinople  464. 

Conqueste  d'Irlande  264. 

Conquete  de  Jerusalem  25b  f. 

Conseil,  Lai  du,  454. 

Constant  l'empereor  425,  471. 

Conte  del  graal  293  ff,  323  ff. 

Contes  devots  119,  131,  429  f. 

Cor,  Lai  du,  393,  396. 

Cornelius  Gallus  9. 

Coulorette  498. 

Couronnement  Louis  191  f.,  202 ff., 
207,  226f.,  2S0. 

Couronnement  de  Renart  455. 

Courtois,  Lai  du,  454. 

Courtois  d'Arras  488. 

Covenant  Vivien  191  f.,  199,  231  f. 

Credo  57,  114. 

Crestien  von  Troyes  26S,  288, 
289—345,  346  ff,  371  f.,  373  f., 
379 f.,  384 f.,  419,  432. 

Crestiens  li  Gois  294,  *300. 

Croissant  437. 

Cuchulinnsage  327,  333. 

Cuvelier  499,  510. 


Namenverzeichnis. 


:,(>:> 


Dagobert  82,  s4.  2  6. 
Dame  Fortune  118  f. 
Dame  a  la  Lycorne  498f. 

Damoiscle  a  la  Afule  37ÜÜ'..  392. 

Danieldraiua  139. 

Dante  332,  497. 

Darea  Phrygiua  279,  833. 

Daurel  et  Beton  436. 

David  (Leben  Heinrichs  I.)  2<10. 

D6bat  172f.,  178 

Debat  du  corps  et  de  I'äme  1 17. 

Decamerone  265,  388,  414,  152,  500, 

507,  511. 
Denis  Piramus  129. 
De  ortu  Walwanii  377. 
Deschawps  s.  Eustache. 
Descort  355  f. 
Desiro  (Lai)  397. 
Destruction  de  Korne  188,  214 f. 
Den  le  omnipotent  143. 
Dialoge  Gregors  421. 
Dialoguc  entrePlacides  etTimeo  467. 
Dictys  Cretensis  279  f. 
Dietmar  von  Aist  857. 
Dionysius,  hl.,  10. 
Disciplina  clericalis   148,    392,   414, 

416. 
Disme  de  penitence  430. 
Disticha  Catonis  149. 
Dit  425,  482. 
Dit  de  la  rose  478. 
Dolopathos  414,  416. 
Dounei  des  Aniants  370,  476. 
Duon  (Lai)  398,  454. 
Doon  de  Mayence  439,  441. 
Doou  de  Nanteuil  188,  244 
Doon  de  la  Koche  437. 
Douin  de  Lavesne  4T>7. 
Dous  Amauz,  Les, 
Durand    ! 
Durmart  le  Gallois  449. 

Ecbasis  captivi  102. 
Echecs  amonreux   184. 
Eckenlied  47-1. 
Edmnndlegeude  129. 
Egidinsleben  129. 


Eginhard  u.  Emma  2  i  ». 

Eide,  Strassbnrger,  "J7. 

Eilhard  von  Oberg  I 

Einhard  M>,  90,  L00. 

Elegasi  2 

Eleonore  von  Poiticrs  43,   287,  291. 

Eliduc  3   I.  393,  896. 

Elie  de  Saint  Gilles  443  f. 

Elie  de  Winchester  149,  476. 

Elinand  147  f. 

Elioxe  25s  t. 

Emare 

Eneasroman  41,  268,  277  ff.,  468. 

Enfanoea  Gariu  440,  497. 

Enfauces  Godefroi  *258. 

Eufances  Gnfflaume  192,  2341'.,  252. 

Eufances  Heetor  285,  498. 

Enfauces  Ogier  193,  220  t'.,  433. 

Enfauces  Koland  216,  442. 

Enfances  Vivien  199,  232,  235. 

Eulauts  sans  souci  503. 

Eutree  en  Espagne  442,  497. 

Epitome  J.  Valerii  269f. 

Epitres  farcies  120,  136,  427. 

Eqnitan  396. 

Eracle  286  ff.,  295,  378. 

Erec  293,  301  ff.,  327,  333  ff.,  375  ff. 

Ermoldus  Nigellus  90,  227. 

Ernoui  266. 

Escauor  1 19. 

Esclarmoude  435. 

Escoufle  383 f. 

Espine  397. 

Esprit  gaulois  36. 

Espnrgatoire  de  St.  Patrice  *129,  1 53. 

Estampie  164,  168. 

Estienne  v.  Fougcres  148  f. 

Estoire  d'Antioche  265. 

Estoire  d'Athenes  380. 

Estoire  d'Eracles  266. 

Estoire  de  la  gnerre  sainte  265. 

Estrabot  172,  181. 

Eufemiavisur  389. 

Eulaliasequenz  27,  58  —  61,  129. 

Euphrosyne,  hl.,  148. 

Eurianthe  388. 

Eustache  (Fnerre  de  Gadres)  271. 


»66 


Namen  Verzeichnis. 


Eustaclie  (Rom.  de  toute  chevalerie) 

*274. 
Eustache  Desohamps  49  1,  502f.,  507. 
Eustachiuslegende  129  f.,  322,  380. 
Evangile  aux  feinnies  149. 
Evrard  de  Kirkham  135. 
Evrart  (Evrat)  149. 

Fabel  150 f.,  400,  429,  507. 

Fablel  391  f.,  409  ff.,  455  ff.,  482,  494. 

Fablei  dou  Dieu  d'Amours  477. 

Faifeu,  Legende  de  Pierre,  501. 

Faits  des  Romains  465. 

Farce  44,  487  f.,  491,  502,  505. 

Farolied  s.  Clotharlied. 

Fauchet  245,  388. 

Faustsage  388. 

Fauvel  500. 

Fecamp,  Chronik  v.,  446. 

Fergus  449. 

Fierabras  188,  193,  207,  214  f.,  235. 

Fischdiebstahl  404  ff. 

Floire  und  Blancheflor  381  f.,  389, 

397,  47(i. 
Floire  et  Jehanne  3SS,  471,  500. 
Floovent  84,  188,  206  f.,  235. 
Florence  et  Blancheflor  476. 
Florence  de  Rome  444  f. 
Florent  et  Octaviau  267,  497. 
Florimont  273,  378. 
Floris  et  Liriope  4ö4. 
Flovent  207,  252. 
Folie  Tristan  366,  370. 
Folque  de  Candie  1S5,  188 f.,  *234. 
Fraisne  395. 

Fredegar  16,  79,  81,  83,  280,  286,  385. 
Friedrich  von  Hausen  351,  358. 
Froissart  494,  507,  510. 
Fuerre  de  Gadres  271. 
Fulke  Fitz  Waryn  474. 

Gace  Brule  353,  361,  387. 
Gaimar  260,  397. 
Gaite  de  la  tor  (aube)  355. 
Galeran  de  Bretagne  449. 
Galfred   v.  Monmouth   261  ff.,    333, 
334 ff,  342  f.,  372,  376. 


Galien  le  restore  193,  202,  252, 
Ganjon  et  Avueglo  4s7f. 
Garin  le  Lorrain  240,  * 241  f. 
Garin  de  Monglane  248,  252,  410. 
Garnier  v.  Punt-Ste-Maxence    121, 

124 ff,  214. 
Gauchier  de  Dourdan  329,  375. 
Gaufrey  225,  441. 
Gautier  v.  Arras  268,  286 ff.,  295,  346, 

348,  373f.,  37S,  381. 
Gautier  de  Belleperche  426. 
Gautier  de  Coincy  420,  423 f.,   427, 

502. 
Gautier  le  Cordier  3S9. 
Gautier  v.  Dargies  353,  356,  360. 
Gautier  v.  Epinal  362. 
Gautier  von  Metz  431. 
Gautier  v.  Soignies  360. 
Gauvaindichtung  376  f.,  448  f. 
Gauvaiu  et  Humbaut  449. 
Gaydon  191,  231,  432,  443. 
Gefrei  Gaimar  260,  397. 
Geuesis  (Übers.)  135. 
Genesiuslegende  124. 
Gennadius  v.  Marseille  13. 
Genovevaleben  129. 
Geoffroi  v.  Paris  447,  510. 
Geoffroi  de  Villehardouin  446,  464. 
Georg  von  Lyssa  124,  129. 
Georges  Chastellain  508. 
Geraiut  303,  334,  337  ff. 
Gerart  d'Euphrate  498. 
Gerbert  de  Montreuil  330,  388,  451. 
Gervaise  429. 
Gesetze  Wilhelms  28,  467. 
Gesta  Caroli  Magni  98  f. 
Gesta  Dagoberti  82. 
Gesta  regum  Francorum  81. 
Geste  de  Blancheflor  et  de  Florence 

176. 

Geste  de  Blaye  244  ff 
Geste  des  Bretons  261. 
Geste  de  St.- Gilles  443  f. 
Geste  de  Nauteuil  243  f. 
Geste  de3  Normanz  262  f. 
Gesten  186,  248,  438f.,  497. 
Gildas  342. 


Namenverzeichnis. 


..17 


Gülebert  de  Berneviüe  461. 
Gilles  de  Cum  S88f 
Girart  d'Amiena  208,  419,  441,  450. 
Girart    de    Rousillon    31,    B5,    188, 

2111V,  251,   198. 
Girart  de  Viane  *250f.,  498. 
Girbert  de  Mes  22s,  *242. 
Gilles,  Vie  de  St.,  129. 
Gliglois  449. 
Glossen  27. 

Godelroi  de  Leigni  312 
Godin  437. 

Gormunt  u.  Isembart  s.  lsembart. 
Gottesurteil,  Formel  zum,  28. 
Gottfried  v.  d.  Bretagne  353  f. 
Gottfried  v.  Strassburg  365,  371. 
Gowther,  Sir  398. 
Graelent  385,  397. 
Graindor  de  Douai  256. 
Gral -Lancelot -Zyklus  468. 
Gralromane  *323ff.,  371  ff.,  46S. 
Grandes    Chroniqnes    de    St. -Denis 

46G. 
Grandor  v.  Brie  234. 
Grant  mal  fist  Adam  143. 
Gregoire  Bechada  255. 
Gregor,  hl.,  421. 

Gregor  v.  Tours  13,  16,  74,  80,  81  ff. 
Gregorius  121,  123,  129. 
Gringoire  504  f. 
Griseldis  502  f. 

Gm  u.  Aigline  (romanze)  243. 
Gui  de  Bourgogne  439  f. 
Gui  v.  Carabrai  (Balaham)  421. 
Gui  v.  Cambrai  (Veng.  Alex.)  273. 
Gui  v.  Coucy  360  f.,  452. 
Gui  de  Nanteuil  188,  243,  246. 
Guiart  des  Moulins  467. 
Guibert  d'Andrenas  440. 
Guibert  v.  Nogent   1    I. 
Guicbard  v.  Beaulieu  144. 
Guido  de  Columma  285,  510. 
Guigemar  386,  395. 
Guilebert  de  Cambrai  430. 
Gtiillaume  d'Angleterre  295  f.,  322 f., 

425. 
Guillanme  de  Berneville  121,  129. 


Gufllaume  l.'  Clero  ii'.tf.,  426,  429, 

430,  482. 
Guillaume  le  Giere  (Fergua)  449. 

Guillauine  de  Deguilleville  4S0,  500. 
Guillaume   de  Dole    361,    376,    3S7, 

451. 
Guillaume  v.  Ferneres  362,  387. 
1    Guillaume  Guiart   166,  510. 
Guillaume  de  Lorris  475,  481  IT. 
Guillaume  de  Machaut  4'.i4,  506. 
Guillaume  le  Marechal  261,   146. 
Guillaume  le  Normand  456. 
Guillaume  de  St.-Pair  264. 
(Juillaume  de  Paleme  353. 
Guillaume  le  Vinier  459. 
(iuiugamor  3^5,  390,  397. 
Guiot  v.  Dijou 
Guiot  v.  Provins  831,  361. 
Guiron  le  courtois  469. 
Gay  de  Warwick  450. 

Haager  Fragment  *  95  ff.,  113  f.,  117, 

1^7,  226,  230. 
Haderniod  43G. 
Haimonskinder  85,  181,  209  ff.,  222, 

244. 
Hamletsage  436. 
Hardi  cheval  425. 
llartmann    von  Aue    123,    303,   314, 

322,  389. 
Haveloc  397. 

Heiligenleben  58  ff.,  122  ff.,  426  ff. 
Heinrich  I.  v.  Campagne  43. 
Heinrich  I.  v.  England  122,  2m. 
Eleinrich  v.  Freiberg  309. 
Heinrich  der  Glichezäre  402,  404. 
Heinrich  v.  Morungen  358. 
Heinrich  v.  d.  Türlin  378,  389. 
Heinrich  v.  Veldeke  279. 
Heldenlieder  87  ff„  11  Off. 
Helinaud  147  f.,  328. 
Henri  d'Andeli  454. 
Henri  de  Valenciennes  464. 
Heraclius  s.  Eracle. 
Herard  v.  Tours  75,  77. 
Herberay  des  Essarts  500. 
Herbert  (Dolopathos)  416. 


568 


Namenverzeichnis. 


Herbert  le  Duc  (Folque)  334. 

Herbort  v.  Fritzlar  285. 

Hermann,  Priester  423. 

Hermann  v.  Valeucieunes    131,   135. 

1  Irr  vis  de  Mes  242,  441. 

Ilerzmaere  361,  397,  452. 

llieronyinus,  hl.,  5,  132. 

llilarius  v.  Poitiers  11. 

Hilarias  (lat.  Dramen)  138  f. 

Hildegar  v.  Meaux  92. 

Hildesage  251. 

Hiurek  van  Alekmer  408. 

llistoire  ancienne  24>5,  465. 

Histoire  de  Cesar  445,  465. 

Histoire    des    ducs    de   Normandie 

(Beneeit)  263. 
Histoire  des  ducs  de  Norm,  et  des 

rois  d'Angletcrre  465  f. 
Histoire  des  rois  de  Franc  486. 
Historia  Meriadoci  377. 
Historia  de  praeliis  2('9  ff. 
Historia  regum  Francorum  466. 
Historia  septem  sapientum  44,  416  f. 
Hohelied  28,  111,  133  f. 
Holger  Danske  225. 
Homer  279  f. 
Honorius  v.  Autun  430. 
Hörn  (v.  Thomas)  43,  432,  436. 
Hornlai  393,  396. 
Hue  de  Rotelande  379. 
Hue  de  Tabarie  451. 
Hugdietrich  83. 
Hueline  et  Eglantine  476. 
Hugo  Farsitus  423. 
Hugo  v.  Saint-Victor  429. 
Hugon  Capet  497. 
Hugnes  de  Berze  362. 
Huon  d'Auvergne  85,  213,  497. 
Haon  de  Bordeaux   193,   231,   247, 

432,  434,  437  f. 
Huon  v.Mery  477  f.,  482. 
Huon  III.  von  Oisi  359. 
Huon  le  Roi  420,  423,  454. 
Huon  le  roi  de  feeric  437. 

Ignaure  397. 

Image  du  Monde  43o. 


Ippomedon  379. 

Irenaeus,  hl.,  8,  10. 

Irische  Ih'ldensageu  327,  'i3:<. 

Isafe  le  Triste  499. 

Isembart    und    Gormont    184,    188, 

191  f.,  *  193  ff. 
Istoire  (=  Novelle)  47<>,  500. 
Istoire  d'ontre  mer  470. 
lvaiu  s.  Yvain. 

Jacob  von  Maerlant  216,  285. 

Jacot  de  Forest  445. 

Jacques  d'Amiens  476. 

Jacques  Milet  285,  503. 

Jakemon  Sakesep  452. 

Jaquemart  Gielee  455. 

Jehan  (vcrf.  Rigomer)  44b. 

Jehan  Acart  de  Hesdin  486,  500. 

Jehan  d'Arras  499. 

Jehan  Bedel  456. 

Jean  le  Bei  510. 

Jehan   Bodel  31,    142,   217  f.,  361, 

427. 
Jehan  Bretel  459. 
Jehan  Clopinel  475,  479  ff.,  495. 
Jehan  de  Conde  409,  456. 
Jean  de  Flagy  240. 
Jean  de  Froissart  494,  507,  510. 
Jehan  de  Joinville  464  f. 
Jehan  de  Journi  430. 
Jehan  de  Lanson  440. 
Jean  Lemaire  de   Beiges  508,   510. 
Jehan  Malkaraume  427,  454. 
Jean  le  Marchant  424. 
Jehan  de  Meung  s.  J.  Clopinel. 
Jean  Moliuet  500,  508. 
Jehan  de  Neuville  461. 
Jean  d'Outremeuse  99. 
Jean  de  Paris  452. 
Jehan  Priorat  4b3  f. 
Jehan  Renart  3S4,  454. 
Jehan  de  Tuim  445,  465. 
Jean  le  Venelais  273. 
Jean  de  Vigu.ij-  501. 
Jean  Wanquelin  499. 
Jehan  et  Biondc  451  f. 
Jehannot  de  l'Escureul  507. 


Namenverzeichnis. 


:.r,n 


Jendeu  de  Brie  234. 

Jerusalem,  Chanson  de,  266 f., 

Jen  de  la  Fenillee  488  f. 

Jeu-parti  349,  S52ff., 

Jeu  du  Pelerin  401. 

Jen  de  Kobin  et  Marion  189  ff. 

Jodelle  -105,  504. 

Johannes  de  Alta  Silva  416. 

Johannes  v.  Capna  4 1  r,. 

Joies  Nostre  Dame  423. 

Joinville  464  f. 

Jouasfraginent  27,  57,  120. 

Jongleure   u.  Jongleurdicktuug    75, 

78,  ISO,  187,  487. 
Jordan  Fantosuie  2t>4. 
Joseph,  llistoire  de,  135. 
Joufrois  41 
Jourdain    de    Blaivies    ISO,    24(5  f, 

380,  470. 
Judenknabe  131. 
Julianlegende  420. 
Julius  Valerius  269  ff. 
Juvenal  9. 

Karel  ende  Elegast  252  f. 
Karl  Martell  84,  65,  207  ff. 
Karl  v.  Orleans  50S. 
Karlauiagnüssaga    100,   225,    233  f., 

237,  252,  253. 
Karliueiuet  109,  208,  253. 
Karlsreise  27,  184,  188,  191,  200  ff., 

226,  253. 
Karlssagen  85,  1 1  i . 
Karolingersagen  84  f. 
Karrenroman  311  ff.,  vgl.  Lancelot. 
Konrad  Fleck 
Konrad,  Pfaffe,  109. 
Konrad  v.  Würzburg  285,   386,  452. 
Kreuzlegende  288,  427. 
Kreuzzugschroniken  205,  404  ff. 
Kreuzzugsepen    25511.,     207,     445, 

-107. 
Kreuzzugslied  12»,  173  f.,  351  f.,  460. 
Krönungsepos  s.  Ludwigs  Krönung. 
Kürenberger  35S. 
Ky.it  331,  362. 


Lai    epischer)  333  ff.,  393  ff.,  4M. 

Lai  (lyrischer)  175,   355  f.,  459,  506. 

Laidon  252. 

Lambert  v.  Ardres  255. 

Lambert  le  Tort  270ff. 

Lamprecht,  Pfaffe,  270. 

Lancelol  291  ,  293,  811  ff.,  327,  347, 

352,  375  f.,  885,  389. 
Landri  v.  Waben   134. 
l.anval  385,  304. 
Lanzelet  313  f.,  327,  347. 
Lapidaires    144  ff,  429. 
Laurent  de  Premierfait  501,  511. 
Laurentiusleben  129. 
Laüstic  303,  395  f. 
Lazarusdrameu  (lat.)  138. 
Lecheor  454. 
Le  MaQon  501. 
Leo,  Archipresbyter,  269. 
Leocade,  hl.,  420. 
Leodegar  27,  34,  57,  63  ff. 
Liber  historiae  81,  93,  217. 
Liebeshöfe  340. 
Liederdichtimg  71,  76, 156  ff,  175 ff., 

349  ff.,  vgl.  Chanson. 
Li  Kievres  305,  461. 
Lion  de  Bourges  427. 
Livius  404,  511. 
Livre  d'Artus  468. 
Livre  des  cent  ballades  507. 
Livre  du  Conquest  de  Terre  Ste  266. 
Livre  des  histoires  465. 
Livre  Sidrac  467. 
Livre  dou  Tresor  431. 
Lodewijk  389. 
Lohengrin  250. 

Loher  und  Maller  84,  104,  195. 
Longinuslegende  426. 
Lothringerepen  1S5,  240  ff.,  441. 
Löwenritter  314  ff.  vgl.  Yvain. 
Louise  Labe  509. 
Luce  de  la  Barre  171,  181. 
Ludwigs  Krönung  102,  202  ff.,  207. 
Ludwigslied  50,  104. 
Lumiere  as  Lais  430. 
Lyoner  Dichter  509. 
Lyrik  s.  Liederdichtung. 


570 


Namenverzeichnis. 


Mabinogion  33)  ff,  337  ff. 

Macaire  253,  431 

Mace  de  la  Charite  427. 

Macrobius  476. 

Magalilied  173. 

Magdalena,  hl.,  420. 

Magnum  Chronicon  Belgicuin  99. 

Mahius  li  Poiriiers  485. 

Mahomet  422. 

Maillefer  237. 

Mainet  84,  188,  208  f.,  253. 

Maitanzlieder  104  f.,  178  ff. 

Makkabäer  135,  426. 

Male  Chancon  171. 

Mal  mariee  165  ff,  176 ff.,  189,  349. 

Manecier  330. 

Manekine  451. 

Manteau  mal  taille  396. 

Manuel  des  pechez  430. 

Mappemonde  431. 

Marbod  v.  Rennes  146,  429. 

Marcabrun  170. 

Märchen  77,  79  ff.,  390  ff.,  451  ff. 

Marco  Polo  467. 

Margarete  v.  Navarra  501,  505,  509. 

Margaretenleben  124,  130. 

Marie   v.  Champagne  43,   135,  287, 

291,  293,  348,  374. 
Marie  de  France  121,  129  (Patrick), 

153ff.  (Fabeln),   334,   391,  394ff. 

(Lais),  404,  413,  429. 
Mariendichtung     130 f.,    423 f.,    427, 

502. 
Marot  460,  5')0,  509. 
Marques  de  Home  308,  457. 
Martin,  der  hl.,  12  f.,  421,  499. 
Martin  Lefranc  507. 
Matiere  de  Bretagne  36,  41,  291  ff., 

332  ff,  373  ff.,  447  ff. 
Maugis  d'Aigremont  211,  497. 
Maurice  de  Süll}'  428. 
M6chant  S6n6chal  424. 
Meliacin  450. 
Meliadus  469. 
Melin  de  Saint-Gelais  509. 
Melion  383,  397  f.,  454. 
Melior  et  Idoine  76. 


Melusine  499. 

Meraugis  de  Portlesguez  447  f. 

Merlin  372,  474. 

Merowechsage  83. 

Merowiugerepen  206 f.,  440,  497. 

Merowingersagcn  S2ff. 

Metellus  von  Tegernsee  97  f. 

Meurvin  226,  498. 

Milan  31)3,  395. 

Minnefragen  352  f. 

Minnelied  s.  Chanson. 

Miracles  (epische)    111,    131,   423  f., 

(dramatische)  142,  494,  502. 
Miracles  de  Nostre  Dame  423  f. 
Miroir  du  Monde  467. 
Miserere  (vom  Renclns)   120. 
Mistere  du  Vieil  Testament  504. 
Modwennalegende  129. 
M  obere  413,  491,  505. 
Molinet  500,  508. 
Mönch  von  St.  Gallen    82,   85,    195, 

217,  220. 
Moniage   Gnillaume    186,    191,    227, 

230  f.,  233  f.,  237,  253. 
Moniage  Rainouart  186,  234,  237. 
Monologue  491,  505. 
Moralite  4S5,  495,  503,  584. 
Morant  und  Galienne  252  f. 
Morisse  von  Craon  362. 
Mort  d'Aimeri  440. 
Motet  163,  355,  45S. 
Monsket  194f.,  215,  437,  446. 
Mnle  sans  frein  376 f. 
Mysteres  494,  503  f. 

Namatianus  10. 

Narcissus  39S,  454. 
Nennius  261,  337,  342,  372. 
Nibelungen  84,  251  f. 
Nicola  da  Verona  497. 
Nicolas  de  la  Chesnaye  50  4. 
Nicolas  v.  Troyes  501. 
Nicolasleben  124,  129. 
Nicole  Bozon  507. 
Nicole  de  Margival  485  f. 
Nicole  Oresme  511. 
Nicolo  da  Casola  497. 


Namenverzeichnis. 


571 


Niklasspiel  31,  142,  189  (lat),  427. 

Nivardus  402. 

Normaunenchronikeii  40,  262ff. 
Novelle  36,    II.  :i94ff.,  414,    153ff., 
I68ff.,  501. 

Octavian  432,  450. 
Officinm  v<  99. 

Ogier  der  Däne    91.  185  f., 

191,   193,   207,  »219 ff.,   231, 

438. 
Oiselet  454. 

Olif  og  Landri  253,  437. 
Olivier  Basseliu  509. 
Olivier  de  la  Marche  508. 
Ombre  4">4. 

Ordene  de  Chevalerie  451. 
Ordericus  Vitalis  91,  171. 
Orfeo,  Sir  398. 
Orientius  13. 
Orosius  270. 
Orsou  de  Beauvais  443. 
Ortnit  4S7. 
Osmond  145. 
Ospinel  252  f. 
Osterspiel  137,  140. 
Otinel  253,  440. 
Otte  288. 

Ovid  37,  294,  300  f.,  454,  476,  485. 
Ovide  moralise  294,  300,  485. 
Owen  (=Yvain)  322,  334,  337  ff. 

Paien  de  Maisieres  3761'. 
Patuphilas  475. 
Panthere  d'amonr  485. 
Pantschatantra  152,  411,  414. 
Papageienritter  377,  4(i9,   174. 
Paris  et  Vienne  499. 
Parise  la  duchesse  85,  245,  441. 
Partonopeus  v.  Blois  384  ff 
Passion  Christi  27,  .-'4,  57,  Ol  ff,  504 

(drama). 
Pastourelle  157,   168  ff.,   175  ff.,  349, 

489. 
Paternoster  (Übers.)  57,  144. 
Pathelio,  Farce  du  Maitre  505. 
Paula,  hl.,  420. 


Paulinas  v.  Nola  12. 

Paalinus  v.  Pella  13. 

Paollnns  v.  Perigueax  13. 

Paolos  Diaconns  v<»,  402. 

Pean  Gatineau  4.o. 

Pelerinage  de  Charlemagne  206  ff. 

Fi'l  rinages     (G.    de   Degailleville) 

4S.)f.,  500. 
Pelopssage  294. 
Perceforest  499. 
Perceval  293ff.,  323 ff.,  875f. 
Pereeval  (proaa)  33!.  372. 
Peredur  327,  331,  333,  334  ff. 
Perlesvaus  373,  468. 
Peter  v.  Peckham  430. 
Peter  Tudebod  256. 
Petit  Plet  430. 

Petrus  Alphonsi  14*,  392,  414. 
Phaedrus  37,  80,  151. 
Philippe  de  Commines  510. 
Philippe   Mousket    19 lf,   215,    437, 

446. 
Philippe  de  Reroy  355,   419,  451  f., 

456,  466. 
Philippe    de   Thaon    32,    121,    145, 

150. 
Fbilippe  de  Vigueulles  501. 
Philippe  de  Vitry  480. 
Philomena,  Gesta  Caroli  98  f. 
Philomeua  (Crestien)  294,  *299f. 
Physiologos  145,  154,  400,  405. 
Pierre  (vert.  Mappeinonde)  431. 
Pierre  de  Beauvais  403. 
Pierre  de  Beauveau  286,  501. 
Pierre  Bercuire  51 1. 
Pierre  de  la  Cepede  499. 
Pierre  v.  St.  Cloud  272,  404 
Pierre  de  la  Corbie  450. 
Pierre  Langtoft  2t)">,  510. 
Pierre  Moniot  459. 
Pippin  der  Kurze  85. 
Fleier  389. 

Plejadendichter  493,  495. 
Poeme  moral  130,  430. 
Poeta  Saxo  90. 
Pouipeius  Trogus  9. 
Fonthus  et  Sidoiue  438. 


172 


Namenverzeichnis. 


Pothinus  n>. 

Predigt  27,  [20,  136,  143  f.,  428. 

Preislied  7(1. 

Prestre  comporte  450. 

Prise  ainonreuse  486,  500. 

Prise  de  Cordres  440. 

Prise    d'Orange     191  f.,    229,    230f., 

234  f. 
Prise  de  Paoipelune  497. 
Prosachroniken  265 f.,  464f. 
Prosper  v.  Aqaitauien  12. 
Prothesilaus  379. 

Proverbe  an  conte  de  Bretaigne  429. 
Proverbe  au  vilain  149  f.,  429. 
Proverbes  ruranx  et  vulganx  429. 
Prudentius  58 f.,  47>'>. 
Psalm  Eructavit  135. 
Psalrerübersetzungen  132,  135. 
Ps'iidoevangelien  328f.,  427. 
Pseudokalistkenes  209. 
Pseudoturpin  92,  98,   107,  109,  440. 
Pncci  :>77. 

Placidas-Eustachins  129. 
Puys  459,  502,  500. 
Pyramus  und  Thisbe  301,  398,  454. 

(Juatre  doels  395. 

Quatre  livres  des  rois  132. 

Quedliubnrger  Annalen  82. 

Queste  Saint  Graal  373,  468. 

Quintin,  hl.,  420. 

Quintus  Curtius  271  f. 

Rabelais  495,  199,  501. 
Eadulfus  Tortarins  97. 
Rahmenerzählung  392,  414  ff.,  457. 
Raiinbert  v.  Paris  225. 
Rainouartlied.  190,  199,  204  f. 
Rambaut  111.  v.  Orange  355. 
Raoulv.  Cambrai  *23Sff. 
Piaoi.l  le  Fevre  2^5,  510. 
Raoul  de  Houdenc   419,  447  f.,  477. 
Raverdie  =  Reverdie  164  f.,  17S. 
Reali  di  Francia  253. 
Recits  d'un  menestrel  de  Reims  465. 
Refrain    157,  162f.,    (epischer)    194, 
198. 


Regres  Nostre  Dame  423. 
ReimchroDikeu  254  f.,  259  0'.,  445  f., 

510. 
Reimpredigten  33,  120,  143. 
Reinmar  v.  Hagenau  858. 
Reinaert,  Reinaerts  historie  408. 
Reinhart  Fuchs  402,  404. 
Reinke  de  vos  408. 
Remigiusleben  129. 
Renart  bestourne  455. 
Renart  le  contrefait  500. 
Renart  le  nouvel   163,  455. 
Reuaud  (Galeran)  449. 
Renaud  (Genovcvalcben)  129. 
Renant  (Ignaure)  397. 
Renaud  de  Beanjen  327,  302,  375f., 

3S7. 
Renant  de  Montauban  85,  186,  188, 

191,  209ff,  222,  244. 
Renclus  de  Moiliens  429. 
Renier  440. 
Re  Sponsor  ien  137. 
Resurreclion  427,  503. 
Retroencha  s.  Rotronenge. 
Reverdie  164  f.,  178. 
Richart  (lyriker)  353. 
Richard  le  Boau  449. 
Richard  de  Fournival  431,  461. 
Richart  de  Lison  401. 
Richard  Löwenherz  300,  362. 
Richard  der  Pilger  256,  265. 
Richard  de  Semilli  360. 
Richard  le  Vienx  499. 
Richer  129. 
Richeut  411  f.,  455. 
Rigomer  314,  448. 
üi.t  rroman  42,  sT,  1274  ff.,  289ff. 
Robert  (norw.  Tristan)  H65. 
Robert  Biket  *396. 
Robert  v.  Blois  419,  449,  454,  460, 

4S2. 
Robert  v.  Borron  329,  371  f.,  468. 
Robert  de  Clari  46 1. 
Robert  de  Rains  461. 
Robert  der  Teufel  388,  425,  502. 
Roger  d'Andeli  461. 
Rolaudsbilder  109. 


Namenverzeichnis. 


.i, .: 


Rolandslie  '  3,  100  ff.,  I84f., 

186,   187 ff,  193,  253. 
i:  man   267 ff,  274ff,  289ff,  846ff, 

363  ff,  446  ff,  468  ff 
Roman  d'Arles  8;>.  213. 
Roman  des  Francois  182. 
Kmiiuii  de  Mahomet  422. 
Roman  dn  Mont  Saint-Michel  261. 
Roman  de  Palamedes  370,  469. 
Roman  de  philosophie  14v 
Roman  de  Renart  391,  '399  ff..  454  f., 

482,  500. 
Roman  de  Ron  262. 
Roman  des  Sept  Sages  415,  457,  468. 
Roman  de  tonte  chevalerie  274  f.,  445. 
Romanz  des  eles  de  la  pruece  477. 
Romanz  de  la  poire  484. 
Romanz  de  la  Rose  387  (Guillauine 

de  Dole)  —  475  fF.  (Rosenroman). 
Romanzen   157,  15Sff,  303. 
Romains  151  ff.. 

Rondeau,  Rondet  162,  163f.,  506. 
Rosenroman  388,  475ff.,479ff,  4SI  ff., 

494. 
Rote  Buch  v.  üergest  333  ff. 
Rotronenge  164,  168. 
Rudolf  v.  Ems  308,  452. 
Rudolf  von  Fenis  358. 
Rustebuef  419,  420,  427,  455,  460. 
Rusticiano  v.  Pisa  4i;4. 

Sagen  77,  80  ff.,  111  ff. 

Saisnes  03,  1S6,  188,  217  f.,  220,  234. 

Saladlnsagen  205,  45!. 

Saunst  404. 

Salomon  und  Marcoul  149,  308. 

Salut  d'amour  183,  355. 

Salvianus  13. 

Samson  de  Nanteuil  134,  135,  149. 

Satnrninns  11. 

Schneekind  413. 

Schwanenrittersage  257  ff.,  416. 

Schwank  44,  77,  391  f.,  409 ff,  455 ff. 

Sebille,  künigin  252. 

Secrez  aux  philosophes  467. 

Segher  Dengotgraf  285. 

Seneca  511. 


115  f    157 

Seqnenz  59f. 
Sermon  joyeni 

:     l 

]  lormans  421. 
Shakespeare  21  <  8,  388,  416. 

Sieben  weisen  Heister  14,  892,  412, 

414  ff. 
Siege  de  Barbastre  188,  285, 
8i(       de  Narbonne  252. 
Siege  d'Orauge  235. 

d'Orleans 
Simon  de  Fresne  121,  120,  14s. 
Simon  Greban  504. 
Simon  de  Pouille  440. 
Sindbad  414. 
Somme  du  roi  407. 
Somnium  Scipionis   170. 
Sone  v.  Nansay  450. 
Song  of  Dermot  265. 
Songe  d'Enfer  477. 
Songe  de  Paradis  477. 
Sons  d'amour  166,  176. 
Sotie  491,  495,  505. 
Sponsns  28,  139,  486. 
Spottlieder  *76,  150,  171  ff,  178 f. 
Sprichwörter  135,  149  f.,  429. 
Sprüche  Salomonis  152,   104. 
Statius  37,  276,  285. 
Steinbiicher  *144f.,  150,  429,  467. 
Stephausepistelu  28,  130  f. 
Stopfepistelu   121,  136,  427. 
Storie  Nerbonesi  237,  253. 
Strambotto  172. 
Streitgedicht    s.    Debat,   Jeu-parti, 

Tenzone. 
Stricker  109,  389,  437. 
Sulpicins  Severus  12,  420. 
Syuagonepisode  2.'W. 
Syntipas  414. 
Syracon  207,  440. 

Tagelied  42,  177,  183,  349,  354 f. 
Tanzlieder  71,  76,  156, 161  ff,  177  ff. 
Tavola  ritonda  366. 
Tenzone  173,  177,  183,  349,  352  ff. 
Tersin  85,  213. 


574 


Namenverzeichnis. 


Tesoretto  431. 
Thais,  LI.,  130. 
Thebenroman   41,  '268,  274 ff.,  278, 

321,  379,  381. 
Theophile  131,  423,  427,  502. 
Thesens  v.  Köln  498. 
Theseussage  364. 
Theudebertsage  84. 
Theuderichsagen  83,  84. 
Thibaut  (Koni,  de  1.  Poire)  484. 
ThibautV.  v.  Blois  43,  287. 
Thibaut  IV.  v.  Champagne  459  f. 
Thomas  (Hörn)  436. 
Thomas  (Tristan)  312,  346,  365  ff. 
Thomas  v.  Kent  *274. 
Thomasleben  124 ff.,  264,  421. 
Tierbücher  s.  Bestiaires. 
Tiergeschichten  79  f.,  391,  399  ff. 
Tobie,  Vie  de,  426. 
Tombeor  Nostre  Dame  424. 
Tote  l'istoire  de  France  466. 
Totenklagen  76. 

Tournoiement  de  l'Antechrist   41 7  f. 
Treis  moz  430. 
Tresor  431. 

Tristan  als  Mönch  370. 
Tristan  Eossignol  370. 
TristaDsage  294 f.,  308 f.,  332,  363 ff.; 

Crestiens     Tristan     294  f.,     363; 

Tristanlais  370;    Prosaroman  370, 

469. 
Tristan  de  Nanteuil  241,  497. 
TroTlus  u.  Briseide  285  f.,  501. 
Trois  Bossus  Menestrels  456. 
Trojaroman    41,    268,    279 ff.,    3S4, 

468. 
Trojasage,  Fränkische  286. 
Tropen  137. 
Trot,  Lai  del  454. 
Trubert  457,  502. 
Turoldus  102. 
Turpius  Chronik  92,    107,   109,   217, 

238. 
Tydorel  396,  397. 
Tyolet  327,  393,  396,  397. 


Flrich  Füetrer  314. 

Dlrich  von  Tiirheim  237,  308,  369. 

Ulrich  von  dem  Türlin  237. 

Ulrich  v.  Zatzikhoven  313  f.,  327,  347. 

Ungeschriebene  Literatur  71  ff,  390  ff. 

Unicorne  425. 

Vair  palefroi  454. 

Valerius  Cato  9. 

Varro  Atacinus  9. 

Vasco  de  Lucena  511. 

Vaterunser  57,  144. 

Vaudeville  491,  509. 

Vegetins  467,  483. 

Veilchenroman   163,  388,  451. 

Venantius  Fortunatus  13,  34,  89. 

Vengeance  Alexandre  273. 

VeDgeauce  Nostre  Seigneur  135. 

Vengeance  Paguidel  448. 

Venus  la  deesse  d'amor  477. 

Vergil  11,  37,  277  f.,  482. 

Vers  de  la  mort  147  f.,  429. 

Verse  vom  jüngsten  Gericht  147. 

Verskunst  28  —  35,  87. 

Vidame  de  Chartres  362. 

Vie  des  anciens  peres  425. 

Vilain  mire  413. 

Villehardouin  446,  464. 

Villon  50S. 

Vincentius  v.  Lerins  13. 

Vindicta  Salvatoris  329. 

Violette  s.  Veilchenroman. 

Vireli,  Virelai  164,  506. 

Visio  Macarii  147,  Pauli  147. 

Vita  Benedict!  abbatis  230. 

Vita  Faronis  22  ff. 

Vita  Willelmi  91,  97,  230. 

Viviengeste  1 99,  231  ff. 

Vivien  de  Monbranc  211,  497. 

Voeux  du  paon  273,  497. 

Volkslieder  74  ff.,  150 ff.,  160,  508. 

Volkspoesie    71  ff,    110  ff.,    156  ff, 

332  ff.,  390  ff.,  455  ff. 
Voltaire  368,  424. 
Volucraire  145. 
Vou  de  Luques  424. 
Vrai  aniel  (dit)  425. 


Namenverzeichnis. 


Wace  120,  124,  ISO,  261,  262f.,  321, 

335. 
Waldenser  132. 
Weither  Map  373. 
Wauchier  de  Denain  829 f.,  375. 
Weihnachtsdraina  138,  140. 
Widnkiud  S2. 
Wigalois  377. 
Wilhelm  von  England  295  f.,  328 f., 

f.,  388. 
Wilhelm  v.  Bialmeabury  262,  376. 
Wilhelm  IX.   von  Poitiers  43,    182, 

255,  '291. 
Wilhelm  v.  Tyrns  258,  265  f. 
Wilhelm  de  Wadington  430. 
Wilhelmsepen  95 f.,  97,  I96ff.,  202 ff., 

226  ff.  440,  497. 
Wilhelmslied,  alt,  2b,  191  f.,  19G  ff. 
Wilhelmssage  91,  95  f.,  226  ff. 
Willems    1   3. 


Wirnt  v.  Grafenberg  377,  3S9. 
Wis  u.  Kamin  36  I. 
Wiatasse  le  Heine  150. 
Witwe  v.  Ephestu  321,  413. 
Wolfdietrich  »84,  208. 
Wolfram  v.  Esohenbach 
331  f.,  351 

Xeiuiphon  II,  511. 

Yde  et  Olive   137. 

Yder  449. 

Von  242,  411. 

Yonec  3i»3,  394. 

Ysengrimns  402,  107  f.,  454. 

Yvaiu  293 ff.,   * 314  ff.,   333  ff.,    376, 

385,  389. 
Yrzopets  152  f.,  429. 

Zerstörung  Jerusalems  135. 


Druck  vou  Ehrhardt  Karras,  Halle  a.  S. 


, 


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