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Full text of "Ekstatische Konfessionen : gesammelt"

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BOOK    248.2.B85E    c.  1 

BUBER    #    EKSTATISCHE    KONFESSIONEN 


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DAZ  EINEZ  DAZ  ICH  DA  MEINE  DAZ  IST  WORTELOS. 
EIN  UND  EIN  VEREINET  DA  LIUHTET  BLOZ  IN  BLOZ. 

MEISTER  ECKHART 


Pi  rt>r^ — 


DIESE  Mitteilungen  von  Menschen  über  ein  Erlebnis,  das  sie 
als  ein  übermenschliches  empfanden,  sind  weder  um  einer 
Definition  noch  um  einer  Wertung  willen  zusammengestellt 
worden,  sondern  deshalb,  weil  in  ihnen  die  Gewalt  des  Erlebnisses, 
das  Sagenwollen  des  Unsagbaren  und  die  vox  humana  eine  denk- 
würdige Einheit  geschaffen  haben.  Was  von  diesen  Elementen 
zeugte,  was  das  Zeichen  des  Wortes  trug,  ist  mir  der  Aufnahme 
wert  erschienen. 

Es  ist  mir  nicht  darum  zu  tun,  die  Ekstase  „einzureihen''.  Was 
mich  angeht,  ist  das  an  ihr,  was  nicht  eingereiht  werden  kann.  Ge- 
wiss hat  auch  sie  eine  Seite,  durch  die  sie  in  den  kausalen  Zu- 
sammenhang der  Vorgänge  eingestellt  werden  kann;  aber  die  ist 
nicht  der  Gegenstand  dieses  Buches.  Der  Ekstatiker  mag  psycho- 
logisch, physiologisch,  pathologisch  erklärt  werden;  uns  ist  das 
wesentlich,  was  jenseits  der  Erklärung  bleibt:  sein  Erlebnis.  Hier 
hören  wir  nicht  den  Begriffen  zu,  die  Ordnung  schaffen  wollen 
auch  noch  in  den  dunkelsten  Verstecken ;  wir  lauschen  dem  Spre- 
chen eines  Menschen  von  seiner  Seele  und  von  seiner  Seele  unaus- 
sprechlichstem Geheimnis. 

Es  ist  wie  mit  der  Freiheit  des  Willens.  Gewiss,  die  grosse  Welt- 
orientierung darf  keine  Lücke  haben.  Gewiss,  alles  ist  determi- 
niert. Aber  dieser  Mensch  hat  sich  frei  gefühlt.  Widerlegt  sein 
Gefühl  mit  euren  Begriffen !  Beweist,  dass  sein  Gefühl  eine  Täusch- 
ung ist:  wie  der  Theologe  beweist,  dass  Gott  ist,  weil  alles  eine 
Ursache  hat  und  also  auch  die  Welt  eine  Ursache  haben  muss.  Ihr 
lacht  den  Theologen  aus:  die  Kausalität  gelte  nur  innerhalb  der 
Erfahrung;  aber  vielleicht  ist  das  Erlebnis  eben  das,  was  jenseits 
der  Erfahrung  steht:  weil  es  vor  der  Erfahrung  steht.  Ich  bin  die 
dunkle  Seite  des  Mondes;  ihr  wisset  um  mein  Dasein,  aber  was 
ihr  für  die  helle  festsetzet,  gilt  für  mich  nicht.  Ich  bin  der  Rest  der 
Gleichung,  der  nicht  aufgeht;  ihr  mögt  mich  mit  einem  Zeichen  be- 
legen, aber  auflösen  könnt  ihr  mich  nicht.  You  would  pluck  out 
the  heart  of  my  mystery?  Dieser  Mensch  hat  sich  frei  gefühlt; 
hat  Freiheit,  Gottesfreiheit  über  seinem  Handeln  gefühlt.  Eine 
Täuschung?  Gut  denn,  so  ist  die  Täuschung  das,  was  uns  an  ihm 
wesentlich  ist. 


So  ist  es  mit  der  Ekstase :  das  Wort  geht  uns  an,  das  Wort  des  Ich. 
Ich  bringe  in  diesem  Buche  auch  Äusserungen  einiger  Menschen, 
die  zu  denen  gehören,  welche  man  krankhaft  nennt.  WiedieTäusch- 
ung  an  der  ,, Wahrheit",  so  wird  die  Krankheit  an  der  „Gesund- 
heit'' gemessen.  Aber  mich  interessiert  nicht,  ob  ein  Arzt,  der 
die  Anna  Vetterin  (S.  i86ff,)  untersuchen  würde,  sie  als  hyste- 
risch befände;  mich  interessiert,  wie  dieses  Frauenzimmer  aus 
der  Not  seiner  Seligkeit  redet.  Ich  weiss  nicht,  was  der  Wahn- 
sinn ist;  aber  ich  weiss,  dass  ich  da  bin,  die  Stimme  des  Menschen 
zu  hören. 

Also  ästhetisch?  Nein,  auch  nicht  ästhetisch.  Ich  meine  nicht  die 
Worte  und  ob  sie  schön  gefügt  sind,  ich  meine  das  Wort.  Dies  ist 
eine  andere  Schönheit  als  die  des  Ästhetischen:  die  Stimme  des 
Menschen,  die  in  meinen  Ohren  schallt. 

Des  Menschen;  und  ich  weiss  nichts  mehr  von  Graden,  von  der 
Rangordnung  der  Geister.  Da  sind  Plotin  der  Hohe  und  Attär, 
der  kühnste  der  Dichter,  da  ist  Valentinos,  der  heimliche  Dämon 
einer  Zeitenwende,  und  da  Rämakrishna,  durch  den  sich  das  ganze 
Indertum  in  unseren  Tagen  noch  einmal  offenbart  hat,  da  ist  Sy- 
meon,  der  byzantinische  Freund  und  Sänger  Gottes,  und  da  Ger- 
lach Peters,  sein  niederländischer  Bruder,  jung  und  sterbensfroh 
und  meinem  Herzen  weit  näher  als  der  Admirabilis;  und  da,  neben 
ihnen,  ist  diese  Hirtin,  Alpais  (die  mir  fast  schon  zu  klug  redet), 
da  ist  diese  wilde  Bauernmagd,  Armelle,  da  sind  die  Camisarden, 
die  mir  richtig  beichten,  von  Sünde  und  Erlösung,  da  sind  diese 
einfältigen  verliebten  Nonnen,  da  sind  diese  ungelenken  Bürgers- 
leute, die  ihre  Wundermär  herstammeln,  Hans  Engelbrecht  und 
Hemme  Hayen.  Da  sind  sie  beieinander,  miteinander,  in  der  Ge- 
meinschaft deren,  die  von  jenem  Abgrund  zu  erzählen  wagten, 
ich  lebe  mit  ihnen,  ich  höre  ihre  Stimmen,  ihre  Stimme:  die 
Stimme  des  Menschen. 

Man  wird  verstehen,  warum  ich,  nur  das  Eine  suchend,  von  dem 
Vielen,  sehr  Vielen,  das  ich  in  den  Jahren  des  Suchens  zusammen- 
brachte, nur  dieses  Wenige  hier  aufgenommen  habe.  Warum  ich 
nicht  aufgenommen  habe: 

VI 


alle  nichtsubjektiv  gehaltene  Rede  über  die  Ekstase  (ich  habe  aber 
aus  einzelnem  scheinbar  Unpersönlichen  das  Persönlichste  heraus- 
zulösen versucht,  und  überdies  in  einem  Anhang  einige  bedeutende 
Dokumente  nichtsubjektiver  Äusserung  aus  Völkern  und  Kreisen, 
die  im  Hauptteile  nicht  berücksichtigt  werden  konnten,  zusammen 
mit  einem  Stück  aus  dem  „Traktat  von  Schwester  Katrei",  den  ich 
in  diesem  Buche  nicht  missen  wollte,  beigefügt);  so  fehlen  hier 
Philon  und  Proklos,  Kabasilas  und  die  Viktoriner,  Ruysbroek  und 
Johannes  vom  Kreuze ; 

alle  Beschreibungen  von  Visionen  nichtsubjektiven  Charakters, 
das  ist  in  denen  nicht  ein  wesenhaftes  Wirken  oder  Leiden  des 
Schauenden  selber  sich  darstellt  (mit  Ausnahme  einer  Vision  der 
Birgitta,  die  ganz  subjektiv  erscheint,  obwohl  sie  selbst  fast  unbe- 
teiligt ist);  darum  sind  auch  so  merkwürdige  Menschen  wie  Joa- 
chim von  Floris,  Marguerite  d'Oyngt,  Zuster  Hadewyck  unberück- 
sichtigt geblieben,  insbesondere  auch  jene  Topographen  derVision 
von  Swedenborgs  Art,  dessen  ungeheure  spirituale  Diarien  mir 
nur  eine  ungeheure  Verwunderung  geschenkt  haben; 
alles  in  scholastischer  oder  rhetorischer,  das  ist  in  mittelbarer 
Weise  Gesagte ; 

alle  autobiographischen  Mitteilungen  über  Ekstasen  als  Gegen- 
stand der  Kuriosität  und  der  Analyse  (Cardano  scheint  mir  hier 
der  Eigentümlichste  zu  sein); 

alles  Dichterische,  das  sich  als  eine  Unterwerfung  des  Erlebnisses 
unter  den  Rhythmus,  das  ist  als  ein  Ersetzen  des  Hervorbrechenden 
und  Hinstürmenden  durch  ein  gebundenes  Auf-  und  Niederwogen 
erweist  (auch  Jacopone,  mir  einer  der  Liebsten,  muss  ich  hierher 
zählen,  wogegen  ich  Attär,  Rumi,  Symeon,  Mechthild  von  Magde- 
burg, Seuse  glaubte  aufnehmen  zu  dürfen;  eine  Scheidung,  die 
ich  nicht  durch  die  Formulierung  eines  Kriteriums,  sondern  nur 
durch  die  Aufforderung  zur  Prüfung  vertreten  kann  und  die  mir 
für  Jacopone  nicht  leicht  geworden  ist); 

alle  Psychologisierung  des  Erlebnisses,  das  ist  jene  Art  des  Be- 
richtes, die  das  Erlebnis  wie  einen  Vorgang  des  Kausalzusammen- 
hanges beschreibt,  es  objektiviert,  nicht  aus  seiner  fortwirkenden 
Gewalt,  sondern  aus  einem  Rekapitulieren,  einem  Darüberdenken 

VII 


redet,  gleichsam  nicht  das  Nachbild,  sondern  das  Erinnerungsbild 
betrachtet;  verwandt  damit  ist  die  klassifizierende  Darstellung  der 
berühmten  Teresa,  von  der  ich  nur  das  Subjektivste  und  auch  das 
nicht  ohne  Widerstreben  aufgenommen  habe. 
Anderseits  ist  weggeblieben  alles  Fragmentarische,  das  nicht  zur 
Gestalt  der  Aussprache  einer  Persönlichkeit  gediehen  ist;  hievon 
habe  ich  namentlich  die  indischen  und  gnostischen  Stücke,  sowie 
ein  reiches  Material  aus  slavischen  Sekten  nur  ungern  unberück- 
sichtigt gelassen  (wie  ich  überhaupt  von  dem  Vielen,  das  ich  aus 
neueren  Sekten  gesammelt  habe,  nur  die  eine  Camisarden- Kon- 
fession als  repräsentativ  gebracht  habe;  aus  den  älteren  schien  mir 
nur  Einiges  aus  dem  urchristlichen  Ketzertum  zu  wesenhaft,  um 
fehlen  zu  dürfen). 

Wenn  ich  aber  überall  das  Unmittelbare  suchte,  so  habe  ich  doch 
die  Unmittelbarkeit  der  Überlieferung  nicht  zum  Grundsatz  für 
die  Aufnahme  gemacht.  Ich  habe  Konfessionen  einbezogen,  die 
nicht  von  dem  Mitteilenden  selbst,  sondern  von  Menschen  seiner 
Umgebung  niedergeschrieben  worden  sind  (die  Worte  Rämakrish- 
nas  und  Anderer,  insbesondere  viele  Dokumente  der  Klosterek- 
stase sind  von  dieser  Art),  zuweilen  von  solchen,  die  irgendwie  an 
seinem  Erlebnisse  teilnahmen,  so  jenes  seltsame  Zeugnis  einer 
Ekstase  zu  Zweien,  das  von  dem  Beichtvater  der  Katharina  von 
Siena  herrührt;  einzelnes  Anonyme,  das  der  Untersuchung  wider- 
stand (der  Sang  von  Blossheit  und  jene  Vision  des  unbekannten 
,, Edelknaben") ;  ja  auch  manches  offenbar  Legendäre,  in  dem  Worte 
des  Ekstatikers  weiterlebten,  durch  die  Treue,  die  Generationen 
von  Gläubigen  dem  Worte  halten,  unverkennbar  bewahrt  (so  die 
ersten  Sufis,  Aegidius  von  Assisi). 

Vollständigkeit  irgend  einer  Art  habe  ich  nicht  angestrebt.  Jeder 
Grundtypus  schien  mir  durch  wenige  bedeutende  Stücke  hinrei- 
chend vertreten.  Nur  ein  Gebiet  habe  ich  mehr  berücksichtigt, 
als  es  das  Gleichmass  des  Buches  verlangte:  die  Klosterekstase. 
Das  habe  ich  getan,  weil  mir  hier  in  der  äusseren  Gleichförmigkeit 
einer  Institution,  ja  in  der  einer  Regel  ein  wunderbar  mannig- 
faltiges Leben  entgegentrat,  weil  es  sich  mir  hier  am  Klarsten 
zeigte,  wie  das  innerlichste  Erlebnis  des  Menschen  zugleich  das 

VIII 


allgemeinste  und  das  persönlichste  ist,  das,  an  dem  er  sich  zugleich 
ganz  als  die  Kreatur  und  ganz  als  ein  unwiederholbar  Einziges  be- 
kundet. Wie  etwa  in  vier  Jahrhunderten  vier  italienische  Frauen 
einander  folgen:  in  der  Zeit  Duccios  und  der  letzten  Byzantiner 
die  kontemplative,  gestaltfremde  Angela,  in  der  Zeit  Giottos  die 
mit  ihrem  ganzen  Körper  inbrünstigeSienesin,  in  derZeitder  Hoch- 
renaissance die  ruhevolle,  klare,  selbstgewisse  Caterina  Fiesca 
von  Genua,  in  der  Zeit  des  Barocks  die  alle  Schranken  überstür- 
mende Maddalena.  Oder  im  ganz  engen  Raum  und  in  einer  kurzen 
Zeitspanne:  wie  in  dem  Kloster Töss  bei  Winterthur,  wahrschein- 
lich nebeneinander,  zwei  sind,  die  Sofia  von  Klingnau,  die  nur  sich, 
und  die  Jützi  Schultheiss,  die  nur  die  Welt  erleben  kann,  aber  die 
erste  nicht  etwa  Einzelnes  von  sich,  sondern  in  allem  ihr  ganzes 
Ich,  und  die  zweite  nicht  etwa  irgendwelche  Dinge,  sondern  in 
allen  die  ganze  Welt:  wie  beide  eigentlich  dasselbe  erleben  und  wie 
verschieden.  Noch  Manches  dieser  Art  wird  man  in  den  Doku- 
menten der  Klosterekstase  finden  können. 
Schlimmer  erscheint  mir  eine  andere  Ungleichmässigkeit :  dass  ich 
aus  dem  Orient  viel  weniger  bringe  als  aus  dem  abendländischen 
Christentum.  Das  liegt  ja  zunächst  daran,  dass  mir  die  meisten 
orientalischen  Sprachen  unzugänglich  und  dass  z.  B.  von  den  per- 
sischen Texten  nur  sehr  wenige  in  eine  europäische  Sprache  über- 
tragen sind.  Aber  da  ist  noch  etwas  Anderes :  es  scheint  mir,  dass 
das  asiatischeSchrifttum  verhältnismässig  wenige  eigentliche  Kon- 
fessionen enthält.  Die  Ekstase  ist  im  Orient  eine  weit  häufigere, 
gewöhnlichere,  sozusagen  normalere  Erscheinung  als  in  Europa; 
ihre  Äusserung  geht  daher,  anstatt  in  ein  besonderes  Bekenntnis, 
irgendwie  in  die  Werke  des  Tages  ein,  in  einen  Liebesvers  oder  in 
ein  Tongefäss;  man  kann  sie  von  persischen  Zweizeilern,  von 
chinesischen  Vasen  ablesen.  Nur  selten  schafft  sich  das  Erlebnis 
eine  eigene  Strasse.  Dazu  kommt,  dass  der  Orientale  nicht  wie 
der  Europäer  das  Erlebnis  als  das  seine  in  emporgehobenen  Hän- 
den vor  seinen  Blick  hält;  er  fühlt:  dieses  wird  erlebt. 

Dies  mag  zur  Erklärung  dessen,  was  in  diesem  Buche  steht,  und 
dessen,  was  darin  fehlt,  genügen.  Ich  muss  noch  einiges  über  die 

IX 


Art  bemerken,  wie  ich  die  Texte  behandelt  habe.  Dass  ich  Aus- 
züge bringen,  unwesenthche  Stellen  weglassen  musste  (sie  sind 
stets  durch  Punkte  bezeichnet),  ist  in  der  Intention  des  Buches 
begründet.  Die  lyrischen  Stücke  habe  ich  in  Prosa  übertragen, 
da  nur  in  dieser  jene  Art  von  Treue,  die  ich  brauchte,  möglich  war. 
Vorhandene  deutsche  Übertragungen  habe  ich  nur  in  zwei  Fällen 
benützt,  wo  ich  mir  das  Original  nicht  verschaffen  konnte,  sowie 
in  einem,  wo  ich  einen  persischen  Text  in  keiner  anderen  Übertrag- 
ung vorfand,  und  in  einem,  wo  für  einen  indischen  Text  eine  klassi- 
sche deutsche  Übertragung  (die  Paul  Deussens)  vorlag.  Die  Aus- 
gaben und  Übertragungen,  die  ich  benützt  habe,  sind  am  Schlüsse 
genannt. 

Biographien  der  Menschen,  von  denen  die  Konfessionen  stammen, 
habe  ich  nicht  beigefügt.  Ihre  Lebensumstände  haben  mit  dem, 
was  hier  von  ihnen  gegeben  wird,  nichts  zu  tun.  Nur  Zeit  und 
Sphäre  habe  ich  angegeben,  um  die  Einstellung  der  oft  wenig  be- 
kannten Personen  in  den  Weg  der  Menschheit  zu  erleichtern.  Wo 
Weiteres  immerhin  erwünscht  sein  könnte,  wird  man  einen  knap- 
pen Literaturhinweis  in  den  bibliographischen  Notizen  finden,  so- 
weit er  nicht  schon  durch  die  Nennung  von  Ausgaben  oder  Über- 
tragungen, die  auch  Nachricht  über  die  Lebensumstände  bringen, 
hinreichend  gegeben  war. 

MARTIN  BUBER 


EKSTASE  UND  BEKENNTNIS 

UNSER  menschliches  Lebensgetriebe,  das  alles  ein- 
lässt,  das  ganze  Licht  und  die  ganze  Musik,  alle  Toll- 
heiten des  Gedankens  und  alle  Varianten  desSchmerzes, 
die  Fülle  des  Gedächtnisses  und  die  Fülle  der  Erwartung, 
ist  nur  einem  verschlossen:  der  Einheit.  In  jedem  Blick 
blinzeln  heimlich  tausend  Blicke  mit,  die  sich  ihm  nicht 
verschwistern  wollen,  jedes  schöne  reine  Staunen  wird 
von  tausend  Erinnerungen  verwirrt,  und  noch  in  das 
stillste  Leid  zischeln  tausend  Fragen.  Das  Getriebe  ist 
üppig  und  karg,  es  häuft  und  versagt  das  Umfangen,  es 
baut  einen  Wirbel  von  Gegenständen  und  einen  Wirbel 
von  Gefühlen,  Wirbelwand  zu  Wirbelwand,  dass  es  ge- 
geneinander und  übereinander  fliegt,  und  lässt  uns  hin- 
durchgehen, diesenunsern  Weg  lang,  ohne  Einheit.  Das 
Getriebe  lässt  mich  die  Dinge  haben  und  die  Ideen  dazu, 
nur  nicht  die  Einheit:  Welt  oder  Ich,  gleichviel.  Ich,  die 
Welt,  wir  —  nein,ichWelt  bin  das  Entrückte,  das  nicht 
zu  Fassende,  nicht  zu  Erlebende.  Ich  gebe  dem  Bündel 
einen  Namen  und  sage  Welt  zu  ihm,  aber  der  Name  ist 
keine  Einheit,  die  erlebt  wird.  Ich  gebe  dem  Bündel  ein 
Subjekt  und  sage  Ich  zu  ihm,  aber  das  Subjekt  ist  keine 
Einheit,  die  erlebt  wird.  Name  und  Subjekt  sind  des  Ge- 
triebes, und  mein  ist  die  Hand,  die  sich  ausstreckt  —  ins 
Leere. 

Aber  das  istder Gottessinn  des  Menschenlebens,  dass  das 
Getriebe  eben  doch  nur  das  Aussen  ist  zu  einem  unbe- 
kannten und  allerlebendigsten  Innen  und  dass  dieses  In- 
nen sich  nur  der  Erkenntnis,  die  eineTochter  desGetrie- 
bes ist,nichtaberder  schwingenden  und  sich  befreienden 

XI 


Seele  zumErlebnis  versagen  kann.  DieSeele,die  sich  ganz 
gespannt  hat,  das  Getriebe  zu  sprengen  und  ihm  zu  ent- 
rinnen, diese  ist  es,  die  die  Gnade  derEinheit  empfängt. 
Sie  mag  einem  liebenMenschenbegegnenoderderLand- 
schafteineswildenSteinhaufens, — an  diesem  Menschen, 
an  diesem  Steinhaufen  entzündet  sich  die  Gnade,  und 
die  Seele  erlebt  nicht  mehr  ein  Einzelnes,  um  dastausend 
andere  Einzelne  schwirren,  nicht  den  Druck  einer  Hand 
oder  den  Blick  der  Felsen,  sondern  sie  erlebt  die  Einheit, 
die  Welt :  sich  selber.  Alle  ihre  Kräfte  spielen,  alle  Kräfte 
geeint  und  als  Eines  gefühlt,  und  mitten  unter  den  Kräf- 
ten lebt  und  strahlt  der  geliebte  Mensch,  der  geschaute 
Stein :  sie  erlebt  die  Einheit  des  Ich,  und  in  ihr  die  Einheit 
von  Ich  und  Welt;  nicht  mehr  einen  Inhalt,  sondern  das, 
was  unendlich  mehr  ist  als  aller  Inhalt. 
Und  doch  ist  auch  dies  der  Seele  noch  nicht  eine  ganze 
Freiheit.  Sie  hat  es  nicht  aus  sich,  sondern  von  dem  An- 
dern empfangen,  und  das  Andere  ist  in  der  Hand  des  Ge- 
triebes. So  kann  irgend  ein  Vorgang  des  Getriebes  —  ein 
Gedanke,  derdasGesicht  des  Geliebten,  eine  Wolke,  die 
das  Gesicht  des  Felsens  verwandelt  —  Macht  über  sie  ge- 
winnen und  ihre  Einheit  verderben,  dass  sie  wieder  ver- 
lassen und  geknechtet  steht  im  Wirbel  der  Gefühle  und 
der  Gegenstände.  Und  auch  in  dem  reinen  Augenblick 
selbst  kann  es  erscheinen  wie  einZerreissen,  wie  einHer- 
vorschauen,  und  statt  der  Einheitsind  zwei  Welten,  und 
der  Abgrund,  und  dieschwankste  allerBrücken  darüber; 
oder  das  Chaos,  das  Gewimmel  der  Finsternis,  das  keine 
Einheit  kennt. 

Allein  es  gibt  ein  Erlebnis,  das  aus  der  Seele  selber  in  ihr 
wächst,  ohne  Berührung  und  ohne  Hemmung,  innack- 

XII 


ter  Eigenheit.  Es  wird  und  vollendet  sich  jenseits  des  Ge- 
triebes, vom  Andern  frei,  dem  Andern  unzugänglich.  Es 
braucht  keine  Nahrung  und  kein  Gift  kann  es  erreichen. 
Die  Seele,  die  in  ihm  steht,  steht  in  sich  selber,  hat  sich 
selber,  erlebt  sich  selber  —  schrankenlos.  Nicht  mehr 
weil  sie  sich  ganz  an  ein  Ding  der  Welt  hingegeben,  sich 
ganz  in  einem  Ding  der  Welt  gesammelt  hat,  erlebt  sie 
sich  als  die  Einheit,  sondern  weil  sie  sich  ganz  in  sich  ein- 
gesenkt hat,  ganz  auf  ihren  Grund  getaucht  ist.  Kern  und 
Schale,  Sonne  und  Auge,  Zecher  und  Trank  zugleich. 
Dieses  allerinnerlichste  Erlebnis  ist  es,  das  die  Griechen 
Ekstasis,  das  ist  Hinaustreten,  nannten. 

Wenn  wirklich  die  Religion,  wie  man  sagt,  sich  »ent- 
wickelt« hat,  so  kann  man  als  ein  wesentliches  Stadium 
dieses  Vorganges  die  Wandlung  ansehen,  die  sich  in  der 
Auffassung  Gottes  vollzogen  hat.  Zuerst  scheint  der 
Mensch  mit  dem  Namen  Gottes  vornehmlich  das  er- 
klärt zu  haben,  was  er  an  der  Welt  nicht  verstand,  dann 
aber  immer  öfter  das,  was  der  Mensch  an  sich  nicht  ver- 
stand. So  wurde  die  Ekstase  —  das,  was  der  Mensch  an 
sich  am  wenigsten  verstehen  konnte  —  zu  Gottes  höch- 
ster Gabe. 

Jenes  Phänomen,  das  man  nach  einem  optischen  Begriff 
als  Projektion  bezeichnen  kann,  das  Hinausstellen  eines 
Innerlichen,  zeigt  sich  in  seiner  reinsten  Gestalt  an  der 
Ekstase,  die,  weil  sie  das  Innerlichste  ist,  am  weitesten 
hinausgestellt  wird.  Der  Gläubige  des  christlichen  Zeit- 
alters kann  sie  nur  an  den  Polen  seines  Kosmos  lokalisie- 
ren :  er  muss  sie  Gott  zuschreiben  oder  dem  Teufel.  Noch 
Jeanne  de  Cambray  schreibt  an  ihren  Beichtvater:  »Ich 

II  Buber,  Konfessionen 

XIII 


bin  genötigt,  Euch  die  innere  Not  bekannt  zu  machen, 
worin  ich  mich  seit  Euerm  letzten  Zuspruch  befunden 
habe,  da  Ihr  mich  noch  immer  im  Zweifel  lasset,  ob  es 
Gott  oder  der  Teufel  sei,  der  mich  regiert.  Ist  es  der  Teu- 
fel, so  ist  all  mein  Gebet,worin  ich  mich  nunmehr  sieben- 
unddreissig  Jahre  geübt  habe,  nichts  nutze. «  Aber  nicht 
bloss  jene  Zeiten,  die  das  Leben  zwischen  Göttliches  und 
Teuflisches  aufteilten,  weil  sie  die  Macht  und  Weite  des 
Menschlichen  nicht  kannten,  haben  die  Innerlichkeit  der 
Ekstase  nicht  erfasst:  es  gibt  fast  keinen  Ekstatiker,  der 
nicht  sein  Icherleben  alsGotterleben  gedeutet  hätte  (und 
wie  sehr  man  Gott  auch  zu  verinnerlichen  suchte,  ganz 
ins  Ich  als  dessen  Einheit  hatihn kaumeinergenommen). 
Das  scheint  mir  im  Wesen  des  Erlebnisses  begründet  zu 
sein. 

Im  Erleben  der  Ekstase  selbst  weist  noch  nichts  nach 
Innen  oder  Aussen.  Der  die  Einheit  von  Ich  und  Welt  er- 
lebt, weiss  nichts  von  Ich  und  Welt.  Denn  —  so  heisst  es 
in  denUpanischaden — so  wie  einer,von  einem  geliebten 
Weibe  umschlungen, kein  Bewusstseinhatvondem,was 
aussen  oder  innen  ist,  so  auch  hat  der  Geist,  von  dem  Ur- 
selbst  umschlungen,  kein  Bewusstsein  von  dem,  was 
aussen  oder  innen  ist.  Aber  der  Mensch  kann  nicht  um- 
hin, auch  noch  das  Subjektivste,  Freiste,  nachdem  es  ge- 
lebt worden  ist,  in  die  Kette  des  Getriebes  einzustellen 
und  dem,  was  zeit-  und  fessellos  wie  die  Ewigkeit  durch 
die  Seele  fuhr,  eine  kleine  Vergangenheit,  die  Ursache, 
undeinekleineZukunft,dieWirkung,anzuschmieden.Je 
eigener  und  gelöster  aber  das  Erlebnisist,  um  so  schwerer 
muss  es  sein,  es  in  den  Kreis  des  Andern,  Gebundenen 
einzustellen,  um  so  natürlicher  und  unwiderlegbarer,  es 

XIV 


einem  zuzuschreiben,  der  über  der  Welt  und  ausser  aller 
Bindung  ist.  Der  Mensch,  der  in  den  Funktionen  seiner 
Körperhaftigkeit  und  Unfreiheit  einherstapft  Tag  um 
Tag,empfängtin  derEkstase  eineOffenbarungseinerFrei- 
heit.  Er,  der  nur  differenziertes  Erleben  kennt  —  Erleben 
eines  Sinnes,  des  Denkens,  des  Willens,  miteinanderver- 
knüpft,  aber  doch  geschieden  und  in  dieserScheidung  be- 
wusst  — ,  erfährt  ein  undifferenziertesErleben :  das  Erle- 
ben des  Ich.  Überihn,  der  immer  nur  Einzelnes  von  sich 
empfindet  und  weiss.  Begrenztes,  Bedingtes,  gerät  das 
Wetter  einerGewalt,  eines  Überschwangs,  einer  Unend- 
lichkeit, in  der  auch  seine  ursprünglichste  Sicherheit,  die 
Schranke  zwischen  ihm  und  dem  Andern,  untergegangen 
ist.  Er  kann  dieses  Erlebnis  nicht  dem  allgemeinen  Ge- 
schehen aufladen ;  er  wagt  nicht,  es  aufsein  armes  Ich  zu 
legen,von  dem  er  nicht  ahnt,  dassesdasWeltich  trägt;  so 
hängt  er  es  an  Gott.  Undwaservon  Gott  meint,  fühltund 
träumt,  geht  wieder  in  seine  Ekstasen  ein,  schüttet  sich 
in  einem  Schauer  von  Bildern  und  Klängen  über  sie  aus 
und  schafft  um  das  Erlebnis  der  Einheit  ein  vielgestal- 
tiges Mysterium. 

Die  elementare  Vorstellung  darin  ist  die  einer  —  mehr 
oder  minder  körperhaft  gedachten  —  Vereinigung  mit 
Gott.  Ekstasis  ist  ursprünglich:  Eingehen  in  den  Gott*, 
Enthusiasmos :  Erfülltsein  vom  Gotte.  Essen  des  Gottes, 
Einatmen  des  göttlichen  Feuerhauchs, Liebeseinungmit 
dem  Gott(diese  Grundform  ist  allerspäteren  Mystik  eigen 

*Zu  den  bei  Dieterich,  Eine  Mithrasliturgie  (dieses  Buch,  das  ein  Vermächt- 
nis ist,  darf  hier  nicht  unerwähnt  bleiben),  angeführten  Belegen  für  die  Auf- 
fassung Gottes  als  des  pneumatischen  Elements,  in  dem  der  Gläubige  steht, 
sollte  vielleicht  noch  der  spätjüdische  Gottesname  Makom,  das  ist  Ort,  heran- 
gezogen werden,  der  wie  die  letzte  Spur  eines  urzeitlichen  Bildes  erscheint. 

XV 


geblieben),  Neugezeugtwerden,Wiedergeburt  durch  den 
Gott,  Auffahrt  der  Seele  zum  Gotte,  in  den  Gott,  sind  Ge- 
stalten dieser  Vorstellung.  Paulus  weiss  nicht,  ob  seine 
Seele  in  dem  Leibe  oder  ausser  dem  Leibe  war,  und  Haj 
Gaon  weist  eineMeinung  derMengezurück,wenn  er  von 
dem  Adepten,  der  die  zehn  Stufen  überwunden  hat,  sagt : 
»Dann  öffnet  sich  der  Himmel  vor  ihm, — nicht  dasserin 
ihn  aufstiege,  sondern  es  geschieht  etwas  in  seinem  Her- 
zen, wodurch  erin  das  Schauen  der  göttlichen  Dinge  ein- 
tritt. «  Und  wie  weit  auch  der  Weg  ist,  der  von  diesem  zu 
den  Piatonikern,  zu  den  Sufis,  zu  den  deutschen  Gottes- 
freunden führt,  auch  bei  ihnen  lebt  immer  nochder  Gott, 
mit  dem  die  Ekstase  vereinigt.  NurinindischenUrworten 
—  und  vielleicht  hernach  noch  von  Einzelnen  in  seltener 
Rede  — wird  das  Ich  verkündigt,  das  eines  mit  dem  All 
und  die  Einheit  ist. 

Von  allen  Erlebnissen,  von  denen  man,  um  ihre  Unver- 
gleichbarkeit zu  kennzeichnen,  sagt,  sie  könnten  nicht 
mitgeteilt  werden,  ist  die  Ekstase  allein  ihrem  Wesen 
nach  das  Unaussprechliche.  Sie  ist  es,  weil  der  Mensch, 
der  sie  erlebt,  eine  Einheit  geworden  ist,  in  die  keineZwei- 
heit  mehr  hineinreicht. 

Das,  was  in  der  Ekstase  erlebt  wird  (wenn  wirklich  von 
einem  Was  geredet  werden  darf),  ist  die  Einheit  des  Ich. 
Aber  um  als  Einheit  erlebt  zu  werden,  muss  das  Ich  eine 
Einheit  geworden  sein.  Nur  der  vollkommen  Geeinte 
kann  die  Einheitempfangen.  Nun  isterkein  Bündel  mehr, 
er  ist  ein  Eeuer.  Nun  sind  der  Inhalt  seinerErfahrung  und 
dasSubjektseinerErfahrung,  nun  sind  Welt  und  Ich  zu- 
sammengeflossen. Nun  sind  alle  Kräfte  zusammenge- 

XVI 


Schwüngen  zu  einer  Gewalt,  nun  sind  alle  Funken  zu- 
sammengelodert zu  einer  Flamme.  Nun  ist  er  dem  Ge- 
triebe entrückt,  entrückt  ins  stillste,  sprachloseste  Him- 
melreich,—  entrückt  auch  der  Sprache,  diedasGetriebe 
sich  einst  in  der  Mühsal  schuf  zu  seiner  Botenmagd  und 
die,seitdem  sie lebt,ewignach  dem  Einen, Unmöglichen 
verlangt:  ihren Fuss zu  setzenaufdenNacken  desGetrie- 
bes und  ganz  Gedicht  zu  werden  — Wahrheit,  Reinheit, 
Gedicht. 

» Nun  spricht «  —  so  heisst  es  bei  Meister  Eckhart  — » die 
Brautim  Hohenliede :  Ich  habe  überstiegen  alle  Berge  und 
all  meine  Vermögen,  bis  an  die  dunkle  Kraft  des  Vaters. 
Da  hörte  ich  ohne  Laut,  da  sah  ich  ohne  Licht,  da  roch 
ich  ohne  Bewegen,  da  schmeckte  ich  das  was  nicht  war, 
da  spürte  ich  das  was  nicht  bestand.  Dann  wurde  mein 
Herz  grundlos,  meine  Seele  lieblos,  mein  Geist  formlos 
und  meine  Natur  wesenlos.  Nun  vernehmet,  was  sie 
meint!  Dass  sie  spricht,  sie  habe  überstiegen  alle  Berge, 
damit  meint  sie  ein  Überschreiten  aller  Rede,  die  sie  ir- 
gend üben  kann  aus  ihrenVermögen, — bis  an  die  dunkle 
Kraft  des  Vaters,  wo  alle  Rede  endet. « 
So  ganz  über  die  Vielheitdes  Ich,  über  das  Spiel  der  Sinne 
und  des  Denkens  gehoben,  ist  der  Ekstatiker  auch  von 
derSprache  geschieden,  die  ihm  nicht  folgen  kann.  Sie  ist 
als  eine  Speicherungvon  Zeichen  für  die  Affektionen  und 
Nöte  des  Menschenleibes  entstanden ;  sie  ist  gewachsen, 
indem  sie  Zeichen  bildete  für  die  empfindbaren  Dinge  in 
Nähe  und  Ferne  des  Menschenleibes;  sie  ist  der  werden- 
den Menschenseelenachgegangen  auf  immer  heimliche- 
ren Wegen  und  hat  Namen  geformt,  gelötet,  ziseliert  für 
die  trotzigsten  Künste  und  für  die  wildesten  Mysterien 

XVII 


der  Tausendfältigen;  sie  hat  den  Olymp  des  Menschen- 
geistes erstürmt,  nein,  sie  hat  den  Olymp  des  Menschen- 
geistes gemacht,  indem  sie  Bildwort  auf  Bildworttürmte, 
bis  auch  noch  die  höchste  Aufgipfelung  des  Gedankens 
imWorte  stand ;  und  solches  tut  sie  und  wird  sie  tun ;  aber 
sie  kann  immer  nur  von  Einem  empfangen,  Einem  Genü- 
ge tun:  der  zeichenzeugenden  Vielheit  des  Ich.  Niemals 
wird  sie  in  das  Reich  der  Ekstase  eingehen,  welches  das 
Reich  der  Einheit  ist. 

Sprache  ist  Erkenntnis:  Erkenntnis  der  Nähe  oder  der 
Ferne,  der  Empfindung  oder  der  Idee,  und  Erkenntnis  ist 
das  Werk  des  Getriebes,  in  ihren  grössten  Wundern  ein 
gigantisches  Koordinatensystem  des  Geistes. 'Aber  das 
Erleben  der  Ekstase  ist  kein  Erkennen. 
Das  ist  der  Sinn  dessen,  was  wir  in  dem  Buche  des  Hiero- 
theos  (des  Syrers  Stefan  bar  Sudaili.^)  lesen  —  desselben 
Hierotheos,  soweit  wir  urteilen  dürfen,  von  dem  es  in 
den  areopagitischen  Schriften  heisst,  er  habe  das  Gött- 
liche nicht  bloss  erfahren,  sondern  auch  Qr\\tten,ovfiovop 

» Mir  scheint  es  recht,  ohne  Worte  zu  sagen  und  ohne  Er- 
kenntnis zu  verstehen  das,  was  über  Worten  und  Er- 
kenntnisist: dieses  meine  ich  nichts  anderes  zu  sein  als 
das  geheime  Schweigen  und  die  mystische  Ruhe,  die  das 
Bewusstsein  vernichtet  und  die  Formen  auflöst.  Suche 
denn,  im  Schweigen  und  im  Geheimnis,  jene  vollkom- 
mene und  ursprüngliche  Vereinigung  mit  dem  wesen- 
haften Urgut. « 

Aber  nicht  bloss  seiner  früheren  Vielheit  gegenüber  ist, 
der  die  Ekstase  erlebt,  eine  Einheit  geworden.  Seine  Ein- 
heit ist  nicht  relativ,  nicht  vom  Anderen  begrenzt,  sie  ist 

XVIII 


grenzenlos,  denn  sie  Ist  die  Einheit  von  Ich  und  Welt. 
Seine  Einheit  ist  Einsamkeit,  die  absolute  Einsamkeit: 
die  Einsamkeit  dessen,  der  ohne  Grenzen  ist.  Er  hat  das 
Andere,  die  Anderen  mit  in  sich,  in  seiner  Einheit:  als 
Welt;  aber  er  hat  ausser  sich  keine  Anderen  mehr,  er 
hat  keine  Gemeinschaft  mehr  mit  ihnen,  keine  Gemein- 
samkeit. Die  Sprache  aber  ist  eineFunktion  der  Gemein- 
schaft und  sie  kann  nichts  als  Gemeinsamkeit  sagen. 
Auch  das  Persönlichste  muss  sie  irgendwie  in  dasgemein- 
same  Erlebnis  der  Menschen  überführen,  irgendwie  aus 
diesem  zurechtmischen,  um  es  auszusprechen.  Die  Ek- 
stase steht  jenseits  des  gemeinsamen  Erlebnisses.  Sie  ist 
die  Einheit,  sie  ist  die  Einsamkeit,  sie  ist  die  Einzigkeit: 
die  nicht  überführtwerden  kann.  Sie  istder  Abgrund, den 
kein  Senkblei  misst:  das  Unsagbare. 

In  jener  Stelle  des  grossen  Pariser  Zauberbuches,  die  den 
Apathanatismos,  die  Weisung  an  den  Mysten  zur  höch- 
sten Weihe,  der  Neugeburt  zur  Unsterblichkeit,  enthält, 
wird  ihm  gesagt :  » . . .  Sehen  wirst  du  aber,  wie  die  Götter 
dich  anblicken  und  gegen  dich  heranstürmen.  Du  aber 
lege  sogleich  den  Zeigefinger  auf  den  Mund  und  sprich: 
Schweigen,  Schweigen,  Schweigen  —  Symbolon  des  le- 
bendigen, unvergänglichen  Gottes  —  beschütze  mich, 
Schweigen! . .  .WenndunundieobereWeltreinundein- 
sam  erschaust  und  keinen  der  Götter  oder  Engel  heran- 
stürmen, bereite  dich  zu  hören  Krachen  gewaltigen  Don- 
ners, dass  du  erschüttert  wirst.  Du  abersprich  wiederum: 
Schweigen.  Gebet:  Ich  bin  ein  Stern,  der  mit  euch  die 
Bahn  wandelt  und  aufleuchtet  aus  der  Tiefe.  <^ 
Das  Schweigen  ist  unser  schützendes  Symbolon  gegen 

XIX 


die  Götter  und  Engel  des  Getriebes:  unsere  Hut  wider 
seine  Irrgänge,  unsere  Reinigung  wider  seine  Unreinheit. 
Wir  schweigen  das  Erlebnis,  und  es  ist  ein  Stern,  der  die 
Bahn  wandelt.  Wir  reden  es,  und  es  ist  hingeworfen  un- 
ter die  Tritte  des  Marktes.  Wir  sind  dem  Herrn  stille,  da 
macht  er  Wohnung  bei  uns;  wir  sagen  Herr,  Herr,  da  ha- 
ben wir  ihn  verloren.  Aber  so  gerade  ist  es  mit  uns:  wir 
müssen  reden.  Und  unsere  Rede  wölbt  einen  Him- 
mel überuns,  überuns  und  die  Andern  einen  Himmel: 
Dichtung,  Liebe,  Zukunft.  Aber  eines  ist  nicht  unter  die- 
sem Himmel;  das  Eine,  das  not  tut. 
DasBewusstsein  stellte  die  Ekstase  hinaus  in  der  Projek- 
tion; der  Wille  stellt  sie  zum  andern  Mal  hinaus  in  dem 
Versuch,  das  Unsagbare  zu  sagen.  Auch  das  innerlichste 
Erlebnis  bleibtvordemTriebezurVeräusserung  nichtbe- 
wahrt.  Ich  glaube  an  die  Ekstasen,  die  nie  ein  Laut  be- 
rührte, wie  an  ein  unsichtbares  Heiligtum  der  Mensch- 
heit; die  Dokumente  derer,  die  in  Worten  mündeten,  lie- 
genvormir.  Hier  sind  Menschen, die  ihre  Einsamkeit,die 
höchste,  die  absolute,  nicht  ertrugen,  die  aus  dem  Unend- 
lichen, das  sie  erlebt  hatten,  mitten  ins  Endliche  stiegen, 
aus  der  Einheit  mitten  indiewimmelnde  Vielheit.  Sobald 
sie  sprachen,  sobald  sie  —  wie  es  der  Rede  Vorspiel  zu 
sein  pflegt  —  zu  sich  sprachen,  waren  sie  schon  an  der 
Kette,  in  den  Grenzen;  der  Unbegrenzte  spricht  auch 
nichtzusich,insich,weilauchinihmkeineGrenzensind: 
keine  Vielheit,  keine  Zweiheit,  kein  Du  im  Ich  mehr.  So- 
bald sie  reden,  sind  sie  schon  derSprache verfallen,  die  al- 
lem gewachsen  ist,  nurnichtdemGrunddesErlebens,der 
Einheit.  Sobald  sie  sagen,  sagen  sie  schon  d as  An d ere. 
Es  gibt  freilich  ein  allerstillstes  Sprechen,  das  nur  Dasein 

XX 


mitteilen,  nicht  beschreiben  will.  Es  ist  so  hoch  und  still, 
als  sei  es  garnicht  in  der  Sprache,  sondern  wie  ein  Heben 
der  Lider  im  Schweigen.  Es  übt  keine  Untreue,  denn  es 
sagt  nur  aus,  dass  etwas  ist. 

Dieser  kundige  Rednerund  Kirchenmann,  Bernhard  von 
Clairvaux,hälteinmal  plötzlich  mitten  in  der  Predigt  inne 
und  sagtdann  leise,  nicht  prahlend  undauchnichtdemü- 
tig,  es  ist  kein  Kunstgriff,  sondern  die  Erinnerung  hat  ihn 
überkommen  und  die  Rede  zerbrach  in  seinem  Munde: 
Fateor  et  mihi  adventasse  verbum:  Ich  bekenne,  dass 
auch  mir  das  Wort  genaht  ist.  Sodann  spricht  er  weiter, 
etwas  lauter  wohl,  aber  doch  die  wieder  Einlass  verlan- 
gende Kunst  mit  schlichter  Seele  bezwingend:  wie  er 
fühlte,  dass  es  da  war,  wie  er  sich  entsinnt,  dass  es  da  ge- 
wesen ist,  wie  er  geahnt  hatte,  dass  es  kommen  würde, 
und  wie  er  doch  Kommen  und  Gehen  nicht  empfand. 
Wie  es  durch  keinen  Sinn  eintreten  konnte,  das  Unsinn- 
liche, wie  es  nicht  aus  ihm  selbst  stammen  konnte,  das 
Vollkommene.  »Wenn  ich  hinausschaute,  fand  ich  es 
jenseits  alles  meines  Aussen;  wenn  ich  hineinsah,  war  es 
meinem  Innersten  innerlicher.  Und  ich  erkannte,  dass  es 
wahr  ist,  was  ich  gelesen  hatte :  dass  wir  in  ihm  leben,  uns 
bewegen  und  sind;  aber  der  ist  glückselig,  in  dem  es  ist, 
dervon  ihm  lebt,derdurch  es  bewegt  wird. « —  Ich  glaube 
ihm  sein  Bekennen.  Ich  fühle,  dass  er  einst,  als  er  noch 
nicht  wie  heute  reden  konnte.  Stunden  hatte,  da  auch  er 
das  Göttliche  erlitt.  Und  all  die  schamlose  Zierlichkeit 
seines  Redens  ist  mir  dadurch  erkauft,  dass  er  so  von  sei- 
nerStunde  berichtet, dass  er  dasWort  nicht  denWorten 
zum  Prasse  hinwirft,  sondern  für  das  Wort  mit  seinem 
Schweigen  zeugt  wie  ein  Märtyrer  mit  seinem  Blute. 


XXI 


Von  diesem  Sprechen  führen  viele  Stufen  zu  jenem  Er- 
zählen von  Gott  und  seinen  Gaben,  das  nicht  erschrickt 
und  nicht  umkehrt,  sondern  sagt  und  sagt.  Es  ist  nicht 
weniger  redlich,  seine  Sprache  klingt  nirgends  gesprun- 
gen, wir  wissen,  dass  es  nicht  lügt,  sondern  Gemeintes 
bekennt.  Aber  die  Stille  fehlt  ihm,  und  wo  keine  Stille  ist, 
da  ist  die  Stimme  der  Notwendigkeit  wie  eine  Stimme 
der  Willkür  zu  hören. 

Schon  dasPhänomenderProjektion  selbst — dass  einer, 
der  sein  Ich  erlebt  hat,  sich  und  Andern  verkündet,  er  ha- 
beGott  erlebt — muss  Manchem  als  Willkür  erscheinen: 
dem  Gottlosen  als  die  Willkür  eines  überflüssigen  Theis- 
mus (oder  unreinen  Pantheismus),  dem  Frommen  als  die 
Willkür  der  Überhebung  und  Blasphemie.  »Und  wenn 
sie « ,  sagt  Jeremy  Taylor,  der  ein  viel  zu  feiner  Geist  war, 
um  sich  zu  empören,  statt  zu  verstehen, » Entzückungen 
leiden  über  die  Lasten  und  dieStütze  der  Vernunft  hinaus, 
leiden  sie,  sie  wissen  nicht  was,  und  nennen  es,  wie  es  ihnen 
beliebt  (they  suffer  they  know  not  what,  and  call  it  what 
they  please). « Und  dochist  da  in  WahrheitkeineWillkür, 
sondern  Not  und  Notwendigkeit. 
Willkürlicher  noch  muss  der  Inhalt  der  Konfession  des 
Ekstatikerserscheinen,vorallendem,dernichtandereig- 
nen  Seele  die  Tragödie  erfahren  hat,  die  aus  dem  Zusam- 
mentreffen des  Triebes  nach  Veräusserung  des  Inner- 
lichsten und  Persönlichsten  mit  der  gegebenen  Men- 
schensprache entsteht:  den  Kampf  des  Irrationalen  mit 
dem  Rationalen,  der  ohne  Sieg  und  Niederlage  endet,  in 
einem  beschriebenen  Blatt  Papier,  das  dem  sehenden 
Auge  das  Siegel  eines  grossen  Leidens  zeigt. 
Bossuet,  ein  Geist  weit  geringerer  Ordnung  als  Taylor 

XXII 


und  ein  Liebhaber  der  Logik  (solange  das  Dogma  durch 
sie  nichtgekränkt  wird),  will  die  Ekstatiker  mit  dem  Witz 
der  Aufdeckung  eines  Widerspruchs  vernichten.  Sie  sa- 
gen, so  ruft  er  aus,  die  Betrachtung  schliesse  nicht  allein 
alle  Bilder  im  Gedächtnis  und  alle  Spuren  im  Gehirn  aus, 
sondern  auch  jede  Idee  und  jede  geistige  Erscheinung; 
und  während  sie  das  sagen,  sind  sie  gezwungen  es  nieder- 
zureissen,  nicht  allein  hinsichtlich  der  geistigen  Erschei- 
nungen und  Ideen,  sondern  auch  hinsichtlich  der  körper- 
haften Bilder  selber,  da  ja  die  Bücher,  in  denen  sie  sie  aus- 
schliessen,  davon  erfüllt  sind. 

In  der  Tat,  ein  Widerspruch  ist  aufgedeckt.  Aber  was 
kann  er  für  die  Beurteilung  von  Menschen  bedeuten,  die 
ihr  Leben  in  der  Pein  eines  Ungeheuern  Widerspruchs 
verbringen:  des  Widerspruchs  zwischen  dem  Erlebnis 
und  dem  Getriebe,  aus  dem  sie  emporstiegen  und  in  das 
sie  wieder  hinabstürzen  Mal  für  Mal.?^  Das  ist  der  Wider- 
spruch zwischen  derEkstase,die  nicht  in  das  Gedächtnis 
eingeht,  und  dem  Verlangen,  sie  für  das  Gedächtnis  zu 
retten,  im  Bild,  in  der  Rede,  in  der  Konfession. 
Ja,  es  ist  wahr :  der  Ekstatiker  kann  das  Unsagbare  nicht 
sagen.  Er  sagt  das  Andere,  Bilder,  Träume,  Gesichte;  die 
Einheit  nicht.  Er  redet,  er  muss  reden,  weil  das  Wort  in 
ihmbrennt.DernichtzudenMenschenredete,hatzusich 
geredet;  er  war  heiliger,  weil  er  nach  aussen  einsam  blieb, 
aber  vielleicht  blieb  er  einsam,  weil  es  ihn  nicht  so  schlug 
und stiess,  Botschaft  zu  den  Andernzu  tragen,  dieunmög- 
liche  Botschaft  .r* 

Er  lügt  nicht,  der  in  Bildern,  Träumen,  Gesichten  von 
der  Einheit  redet,  von  der  Einheit  stammelt.  Gestalten 
und  Klänge,  die,  aus  seinem  Gottgefühl  geboren,  um  das 


XXIII 


Urerlebniskreisten,sind  in  seinem  Gedächtnis  geblieben: 
rings  um  den  treibenden  Brand,  der  allein  als  Spur  des 
Erlebnisses  selber  in  ihm  lebt ;  vielleicht  mischen  sich,  aus 
dunklen  Sphären  seiner  Seele  tauchend,  andere  Gestal- 
ten und  Klänge  darein,  von  denen  er  nicht  weiss,  woher 
sie  kommen,  und  nach  denen  ergreift,  um  sich  selber  zu 
verstehen.  Denn  er  versteht  sich  nicht;  und  doch  ist  in 
ihm  das  Verlangen  erwacht,  das  in  der  Ekstase  erloschen 
war :  sich  zu  verstehen.  Er  sagt  dieGestalten  und  Klänge, 
und  merkt,  dass  er  nicht  das  Erlebnis  sagt,  nicht  den 
Grund,  nicht  die  Einheit,  und  möchte  innehalten  und 
kann  nicht,  und  fühlt  die  Unsagbarkeit  wie  ein  Tor  mit 
sieben  Schlössern,  an  dem  er  rüttelt,  und  weiss,  dass  es 
nie  aufgehen  wird,  und  darf  nicht  ablassen.  Denn  das 
Wort  brennt  in  ihm.  Die  Ekstase  ist  gestorben,  hinter- 
rücks ermordet  von  derZeit,  die  nicht  will,  dassman  ihrer 
spotte;  aber  sterbend  hat  sie  das  Wort  in  ihn  geworfen, 
und  das  Wort  brennt  in  ihm.  Und  er  redet,  redet,  er  kann 
nicht  schweigen,  es  treibt  ihn  die  Flamme  im  Worte,  er 
weiss,  dass  er  es  nicht  sagen  kann,  und  versucht  es  doch 
immer  und  immer,  bis  seineSeele  erschöpft  istzumTode 
und  das  Wort  ihn  verlässt.  Dies  ist  die  exaltatio  dessen, 
der  in  das  Getriebe  zurückgekehrt  ist  und  sich  mit  ihm 
nicht  abfinden  kann;  dies  ist  seine  Erhebung,  die  Erheb- 
ung eines  Redenden:  der  Erhebung  des  Dichters  ver- 
wandt, geringer  als  sie  im  Besitz,  gewaltiger  im  Dasein. 
Dies  ist  die  Spannung  zum  Sagen  des  Unsagbaren,  eine 
Arbeit  am  Unmöglichen,  eine  Schöpfung  im  Dunkel.  Ihr 
Werk,  die  Konfession,  trägt  ihr  Zeichen. 

Und  doch  ist  das  Sagenwollen  desEkstatikers  nicht  bloss 

XXIV 


Ohnmacht  und  Stammeln :  auch  Macht  und  Melodie. Er 
will  der  spurlosen  Ekstase  ein  Gedächtnis  schaffen,  das 
Zeitlose  in  die  Zeit  hinüberretten,  —  er  will  die  Einheit 
ohne  Vielheit  zur  Einheit  aller  Vielheit  machen.  Der  Ge- 
danke an  den  grossen  Mythos  erwacht,  der  durch  dieZei- 
ten  der  Menschheit  geht :  von  der  Einheit,  diezur Vielheit 
wird,  weil  sie  schauen  und  geschaut  werden,  erkennen 
und  erkanntwerden,  lieben  und  geliebtwerdenwill,und, 
selberEinheit  bleibend,  sichalsVielheitumfasst;  vondem 
Ich,  dasein  Du  zeugt;  von  dem  Urselbst,dassichzurWelt, 
von  der  Gottheit,  die  sich  zum  Gotte  wandelt.  Ist  der  My- 
thos, den  Veden  und  Upanischaden,  Midrasch  und  Kab- 
bala,  Piaton  und  Jesus  kündeten,  nicht  das  Sinnbild  des- 
sen, was  der  Ekstatiker  erlebt.?  Haben  die  Meister  aller 
Zeiten,  die  ihn  schufen  und  immer  wieder  neu  schufen, 
nicht  aus  ihrem  Erlebnis  geschöpft  ?  Denn  auch  sie  haben 
die  Einheit  erfahren ;  und  auch  sie  sind  aus  der  Einheit  in 
die  Vielheit  gegangen.  Aber  wie  ihre  Ekstase  nicht  das 
Hereinbrechen  einesUnerhörten  war,  das  dieSeele  über- 
wältigt, sondern  Einsammlung  und  tiefstes  Quellen  und 
eine  Vertrautheit  mit  dem  Grunde,  so  lag  auf  ihnen  das 
Wort  nichtwie  ein  treibender  Brand :  es  lag  auf  ihnen  wie 
die  Hand  eines  Vaters.  Und  so  lenkte  es  sie,  das  Erlebnis 
einzutun  —  nicht  als  Ereignis  in  das  Getriebe,  nicht  als 
Bericht  in  die  Kunde  der  Zeit,  sondern  es  einzutun  in  die 
TatihresLebens,  es  einzuwirken  in  ihrWerk,darausneu 
zu  dichten  den  uralten  Mythos,  und  es  so  hinzusetzen 
nicht  als  ein  Ding  zu  den  Dingen  der  Erde,  sondern  als 
einen  Stern  zu  den  Sternen  des  Himmels. 
Aber  ist  der  Mythos  ein  Phantasma.?  Ist  er  nicht  eine  Of- 
fenbarung der  letzten  Wirklichkeit  des  Seins.?  Ist  nicht 


XXV 


das  Erlebnis  des  Ekstatikers  ein  Sinnbild  des  Urerleb- 
nisses  des  Weltgeistes?  Ist  nicht  beides  ein  Erlebnis? 
Wir  horchen  in  uns  hinein  — und  wissen  nicht,  welches 
Meeres  Rauschen  wir  hören. 


XXVI 


INDIEN:  Bäba  Läl  •  Rämakrishna 

DIE  MYSTIK  DES  ISLAM;  DIE  SUFIS  UND  IHRE  NACH- 
FOLGE: Räbia  •  Bäjezid  Bestämi  •  Husain  al  Hallädsch  • 
Attär  •  Rumi  •  Ein  Schüler  des  Mollä-Shäh 

DIE  NEOPLATONIKER:  Plotinos 

GNOSIS  UND  URCHRISTLICHES  KETZERTUM:  Valentinos  • 
Die  Montanisten 

DAS  GRIECHISCHE  MÖNCHTUM:  Symeon 

DAS  ZWÖLFTE  JAHRHUNDERT:  Hildegard  •  Alpais  von 
Cudot 

DIE  FRANZISKANER:  Aegidius 

DAS  DREIZEHNTE  JAHRHUNDERT  IN  DEUTSCHLAND: 
Mechthild  von  Magdeburg  •  Mechthild  von  Hackeborn  •  Ger- 
trud von  Helfta 

DAS  VIERZEHNTE  JAHRHUNDERT  IN  DEUTSCHLAND: 
Seuse  •  Die  Ebnerinnen  •  Adelheid  Langmann  •  Der  Sang  von 
Blossheit 

AUS  DEUTSCHEN  SCHWESTERNBÜCHERN:  Adelhausen  • 
Töss 

DAS  VIERZEHNTE  JAHRHUNDERT  IM  NORDEN:  Birgitta- 
Juliana  von  Norwich 

DIE  NIEDERLÄNDISCHE  MYSTIK:  Gerlach  Peters 

DIE  ITALIENISCHEN  FRAUEN:  Angela  von  Foligno  •  Katha- 
rina von  Siena  •  Katharina  von  Genua  •  Maria  Maddalena 
de'Pazzi 

DIE  SPANISCHEN  FRAUEN:  Teresa  •  Anna  Garcias 

DAS  SIEBZEHNTE  JAHRHUNDERT  IN  FRANKREICH:  Ar- 
melle Nicolas  •  Antoinette  Bourignon  •  Jeanne-Marie  Guyon  • 
Die  Camisarden 

DAS  SIEBZEHNTE  JAHRHUNDERT  IN  DEUTSCHLAND 
UND  DEN  NIEDERLANDEN:  Böhme  •  Ein  Edelknabe  • 
Hans  Engelbrecht  •  Anna  Vetterin  •  Hemme  Hayen 

DAS  NEUNZEHNTE  JAHRHUNDERT:  Katharina  Emmerich 


XXVII 


ANHANG 

DAS  ALTE  INDIEN:  Aus  dem  Mahäbhäratam 

DIE  CHINESISCHE  MYSTIK:  Lao-tse  und  seine  Schüler 

DIE  JÜDISCHE  MYSTIK:  Die  Chassidim 

KIRCHLICHE  UND  UNKIRCHLICHE  MYSTIK  DES  FRÜH- 
CHRISTLICHEN ZEITALTERS:  Makarios  •  Die  areopagiti- 
schen  Schriften 

AUS  DEM  TRAKTAT  VON  SCHWESTER  KATREI 


XXVIII 


AUS  DEM  GESPRÄCH  DES  FÜRSTEN  DARA  SHE- 
KOH  MIT  DEM  ASKETEN  BÄBA  LÄL  IN  DEN  GÄR- 
TEN DES  DSCHAFFER  KHAN  SADUH,  IM  JAHRE 

(niedergeschrieben  von  einem  KschatriaundeinemBrah- 
manen  aus  dem  Gefolge  des  Fürsten) 

1    ^ER  Fürst:  Wodurch  unterscheiden  sich  die  oberste 

J y  Seele  und  die  lebende  Seele? 

Der  Asket:  Sie  unterscheiden  sich  nicht,  und  Lust  und 
Leid,  die derlebenden Seele  zugeschrieben  werden,  kom- 
men von  ihrer  Gefangenschaft  im  Körper.  Das  Wasser 
des  Ganges  ist  das  gleiche,  ob  es  im  Strombette  fliesst,  ob 
es  in  eine  Kanne  geschüttet  wird. 
Der  Fürst:  Welchen  Unterschied  mag  dies  erzeugen. f^ 
Der  Asket:  Einen  grossen.  Ein  Weintropfen,  zum  Wasser 
in  der  Kannegefügt,wirddemGanzen  seinen  Geschmack 
mitteilen ;  im  Strome  wäre  er  verloren.  Die  oberste  Seele 
ist  daher  ohne  Zufall,  aber  die  lebende  ist  von  Sinn  und 
Leidenschaft  heimgesucht.  Wasser  offen  über  ein  Feuer 
gegossen  wird  das  Feuer  löschen ;  setze  dieses  Wasser  in 
einem  Topfe  aufs  Feuer,  und  das  Feuer  wird  das  Wasser 
verdunsten.  So  ist  der  Körper  das  eingrenzende  Gefäss, 
Leidenschaft  das  Feuer,  und  die  Seele,  das  Wasser,  ist 
weit  umher  zerstreut.  Die  eine  grosse  oberste  Seele  ist 
dieser  Eigenschaften  unfähig.  Glückseligkeit  kann  dem- 
nach nur  in  derVereinigung  mit  ihr  erlangt  werden,  wenn 
die  zerstreuten  und  gesonderten  Teile  sich  wieder  mit 
ihr  verbinden  wiedie  Wassertropfen  mit  demväterlichen 
Strom.  Daher  soll,  wiewohl  Gott  des  Dienstes  seines 
Sklaven  nicht  bedarf,  dieser  gedenken,  dass  er  durch  den 

I     Buber,  Konfessionen 


Körper  allein  von  Gott  getrennt  Ist,  und  mag  beständig 
ausrufen:  Gesegnetseider  Augenblick,  daichdenSchleier 
von  diesem  Angesichthebenwerde.  DerSchleier  vordem 
Angesicht  meines  Geliebten  ist  der  Staub  meines  Leibes. 
Der  Fürst:  Welches  sind  die  Gefühle  des  vollkommenen 
Fakirs? 

Der  Asket:  Sie  sind  nicht  beschrieben  w^orden,  sie  sollen 
es  nicht,  wie  gesagt  ist.  Jemand  fragte  mich,  welches  die 
Empfindungen  eines  Liebenden  seien.  Ich  antwortete: 
» Wenn  du  ein  Liebender  bist,  wirst  du  es  wissen « . 


AUS  DEM  LEBEN  RÄMAKRISHNAS  ( 1 8  3  3  —  1 886) 
Nach  den  Aufzeichnungen  seines  Schülers  Vivekänanda 

ER  begann  das  Bild  der  Göttin  Kali  als  seine  Mutter 
und  die  Mutter  des  Alls  anzusehen.  Er  glaubte 
daran,  es  lebe  und  atme  und  nehme  Speise  aus  seiner 
Hand.  Nach  den  regelmässigen  Formen  des  Dienstes 
mochte  er  da  Stunden  und  Stunden  sitzen,  Hymnen 
singend  zu  ihr  und  zu  ihr  redend  und  betend  wie  ein  Kind 
zu  seiner  Mutter,  bis  er  alles  Bewusstsein  der  äusseren 
Welt  verlor.  Zuweilen  mochte  er  stundenlang  weinen 
und  wollte  sich  nicht  trösten  lassen,  weil  er  seine  Mutter 
nicht  so  vollkommen  sehen  konnte  wie  er  wünschte . . . 
Seine  ganze  Seele  zerfloss  in  eine  Tränenflut  und  er  rief 
die  Göttin  an,  sie  möge  sich  seiner  erbarmen  und  sich 
ihm  offenbaren  .  .  .  Eine  versammelte  Menge  umgab 
ihn  und  versuchte  ihn  zu  trösten,  wenn  das  Blasen  der 
Muschelschalen  den  Tod  eines  neuen  Tages  verkün- 
dete, er  aber  gab  seinem  Gram  freien  Laufund  sprach: 
,, Mutter,  o  meine  Mutter,  wieder  ist  ein  Tag  vergangen, 
und  ich  habe  dich  noch  nicht  gefunden  .  .  ." 
Als  er  an  einem  Tage  seine  Trennung  von  der  Göttin 
sehr  heftig  fühlte  und  daran  dachte,  sich  selbst  ein  Ende 
zu  machen,  da  er  seine  Einsamkeit  nicht  länger  zu  tragen 
vermochte, verloreralleäussereEmpfindungundschaute 
seine  Mutter  (Kali)  in  einer  Vision.  Diese  Visionen  kamen 
wieder  und  wieder  zu  ihm,  und  er  wurde  ruhiger . . . 
Diese  Visionen  wuchsen  immer  mehr  und  seine  Ver- 
zückungen wurden  immer  länger,  bis  jeder  sah,  dass  es 
ihm  nicht  mehr  möglich  war,  seine  täglichen  Obliegen- 
heiten zu  verrichten.  Es  ist  zum  Beispiel  in  den  Sästras 
I* 

3 


vorgeschrieben,  ein  Mann  solle  auf  sein  eigenes  Haupt 
eine  Blume  legen  und  an  sich  als  an  eben  den  Gott  oder 
die  Göttin  denken,  der  zu  dienen  er  sich  anschickt. 
Wenn  Rämakrishna  sich  die  Blume  auflegte  und  sich  als 
mit  seiner  Mutter  einsgeworden  dachte,  wurde  er  ver- 
zückt und  blieb  stundenlang  in  diesem  Zustand.  Dann 
wieder  pflegte  er  von  Zeit  zu  Zeit  seine  Identität  völlig  zu 
verlieren,  so  sehr,  dass  er  die  der  Göttin  dargebrachten 
Gaben  sich  selber  zueignete.  Zuweilen  vergass  er  das 
Bild  zu  schmücken  und  schmückte  sich  selbst  mit  den 
Blumen  .  .  . 

Rämakrishnas  brennende  Seele  konnte  bei  diesen  häufi- 
gen Visionen  nicht  untätig  bleiben,  sondern  sie  eiferte  be- 
gierig, die  Vollkommenheit  und  die  Vergegenwärtigung 
Gottes  in  all  seinen  verschiedenen  Erscheinungen  zu  er- 
reichen. Er  begann  daher  zwölf  Jahre  eines  unerhörten 
Tapasya,  dasistasketischerÜbungen.  Als  er  in  seinen  spä- 
teren Tagen  auf  diese  Jahre  der  Selbstpeinigung  zurück- 
blickte, sagte  er,  ein  grosser  religiöser  Wirbelwind  habe 
dieseJahre  hindurch  in  ihm  gewütetund  allesdurcheinan- 
der  geworfen.  Er  hatte  damalskeineAhnung  davon,  dass 
es  so  lange  dauern  sollte.  Er  hatte  während  dieser  Jahre 
nie  einen  Augenblick  gesunden  Schlafes,  konnte  nicht 
einmal  schlummern,  sondern  seine  Augen  blieben  stets 
offen  und  starr.  Er  dachte  zuweilen, er  sei  ernstlich  krank, 
und  einen  Spiegel  vor  sich  haltend,  legte  er  seinen  Finger 
in  seine  Augenhöhle,  um  die  Lider  zu  schliessen,  aber  sie 
liessenes  nicht  zu.  In seinerVerzweiflungschrieer:,, Mut- 
ter, o  meine  Mutter,  ist  dies  die  Frucht  meines  Rufens  zu 
dir  und  meines  Glaubens  an  dich.r^"  Und  sogleich  kam  eine 
süsse  Stimme,  und  ein  noch  süsseres  lächelndes  Ange- 


sieht,  und  sprach:  » Mein  Sohn!  wie  kannst  du  hoffen,  die 
höchsteWahrheitzuempfangen,wenndudieLiebezudei- 
nemKörperundzudeinemkleinenSelbstnichtaufgibst?« 
,Ein  Strom  geistigen  Lichtes*,  sagte  er  später,  ,kam  da, 
überflutete  meinen  Sinn  und  zwang  mich  vorwärts.  Ich 
pflegte  zu  meinerMutter  zu  reden:  »Mutter!  Ich  kann  nicht 
von  diesen  herumirrenden  Menschen  lernen,  aber  ich  will 
von  dir  lernen,  und  von  dir  allein« ,  und  dieselbe  Stimme 
sprach:  »Ja,  mein  Sohn!«'  ,Ich  sah  nicht  einmal  auf  die 
Erhaltung  meines  Körpers.  Mein  Haar  wuchs  bis  es  sich 
verwirrte,  und  ich  hatte  keine Ahnungdavon.  MeinNefTe 
Hridaya  pflegte  mir  täglich  ein  wenig  Speise  zu  bringen, 
undanmanchenTagengelangesihm,anmanchenTagen 
nicht,  einige  Bissen  in  meinen  Schlund  zu  zwingen,  wie- 
wohl ich  davon  keine  Ahnunghatte.  Zuweilen  pflegte  ich 
in  dieStube  der  Diener  und  Bodenfeger  zu  gehen  und  sie 
mit  meinen  eigenen  Händen  zu  säubern,  und  ich  betete: 
»Mutter!  zerstöre  in  mir  alle  Vorstellung,  dass  ich  gross 
seiund  dassich  ein  Brahmane  sei,  und  dass  sie  niedrig  und 
Parias  seien,  denn  wer  anders  sind  sie  als  du  in  vielen 
Gestalten?«' .  .  . 

Ein  Sannyäsin  (Asket)  konnte  Rämakrishnas  Liebe  zu 
seiner  Mutter  (der  Göttin)  nicht  verstehen.  Er  redete  da- 
von als  von  blossem  Aberglauben  und  spottete  darüber. 
DagabihmRämakrishnazuverstehen,dass  es  in  dem  Ab- 
soluten kein  Du,  kein  Ich,  keinen  Gott  gebe,  dass  es  über 
allem  Sprechen  und  Denken  sei.  Solange  jedoch  noch  das 
letzte  Korn  der  Relativität  da  sei,  sei  das  Absolute  inner- 
halbdesDenkensundSprechensundinnerhalbderGren- 
zen  desGeistes,  welcher  Geistdem  allgemeinen  Geist  und 
Bewusstsein  unterworfen  sei;  und  dieses  allwissende, 

5 


allgemeine  Bewusstseln  sei  für  ihn  seine  Mutter  und 
Gott ... 

Er  begann  das  Vaishnava-Ideal  der  Gottesliebe  zu  üben 
und  zu  verwirklichen.  Diese  Liebe  wird  nach  den  Vaish- 
navas  in  einer  der  folgenden  Bezieh ungen  offenbar — der 
Beziehung  eines  Dieners  zu  seinem  Herrn,  der  eines 
Freundes  zu  seinem  Freunde,  der  eines  Kindes  zu  seinen 
Eltern  und  umgekehrt,  und  der  eines  Weibes  zu  seinem 
Gatten.  Die  höchste  Stufe  der  Liebe  ist  erreicht,  wenn 
die  Menschenseele  Gott  lieben  kann  wie  ein  Weib  seinen 
Gatten  liebt.  Die  Schäferin  von  Braja  hatte  diese  Art  von 
LiebezumgöttlichenKrishnaunddarinwarkeinGedanke 
an  eine  leibliche  Verbindung.  Niemand,  so  sagen  sie,  kann 
diese  Liebe  von  Sri  Rädhä  und  Sri  Krishna  verstehen,  ehe 
er  ganz  frei  ist  von  allen  leiblichen  Begierden.  Sie  ver- 
bieten sogar  gewöhnlichen  Leuten  die  Bücher  zu  lesen, 
die  von  dieser  Liebe  von  Rädhä  und  Krishna  handeln, 
weil  sie  noch  unter  der  Gewalt  der  Leidenschaft  sind. 
Rämakrishna  kleidete  sich,  um  diese  Liebe  zu  erfüllen, 
mehrere  Tage  in  Frauengewänder,  dachte  sich  als  Weib 
und  es  gelang  ihm  zuletzt  sein  Ideal  zu  gewinnen.  Er 
schaute  die  schöne  Gestalt  Sri  Krishnas  in  einer  Ver- 
zückung und  war  befriedigt  .  .  . 

In  seinen  späten  Tagen  dachte  er  daran,  die  Lehren  des 
Christentums  zu  üben.  Er  hatte  Jesus  in  einer  Vision  ge- 
schaut, und  drei  Tage  lang  konnte  er  an  nichts  anderes 
denken  und  von  nichts  anderem  sprechen  als  von  Jesus 
und  seiner  Liebe.  InallenseinenVisionenwardiese  Eigen- 
tümlichkeit, dass  er  sie  stets  ausserhalb  seiner  sah,  aber 
wenn  sie  entschwanden,  schienen  sie  in  ihn  eingetreten 
zusein  .  .  . 


Erwar  eine  wunderbare  Mischung  von  Gott  und  Mensch . 
In  seinem  gewöhnlichen  Zustand  sprach  er  von  sich  als 
von  einem  Diener  aller  Männer  und  Frauen.  Er  sah  sie 
alle  als  den  Gott  an.  Er  selbst  wollte  nie  als  Guru,  das  ist 
Lehrer,  angesprochen  werden.  Niemals  beanspruchte  er 
für  sich einesohoheStellung.  Erberührte  ehrerbietig  den 
Boden,  den  seine  Schüler  getreten  hatten .  Aber  dann  und 
wann  kamen  seltsame  Anwandlungen  vonGottbewusst- 
sein  über  ihn.  Da  verwandelte  er  sich  in  ein  völlig  anderes 
Wesen.  Ersprach  von  sich  alsfähigalleszutunundzu  wis- 
sen. Ersprach, alshätteerdieMacht,  allen  alles  zu  geben. 
Er  sprach  von  sich  als  derselben  Seele,  die  vordem  alsRä- 
ma,alsKrishna,alsJesus,alsBuddhageborengewesenwar 
und  nun  als  Rämakrishna  wiedergeboren  wurde.  Er  sagte 
zu  Mathuränatha,  lange  bevor  ihn  irgend  jemand  kannte, 
er  habe  viele  Schüler,  die  bald  zu  ihm  kommen  würden, 
und  er  kenne  sie  alle.  Er  sagte,  er  sei  frei  von  aller  Ewig- 
keither, und  die  religiösen  Übungen  und  Anstrengungen, 
die  er  durchmachte,  hätten  bloss  die  Absicht,  dem  Volke 
denWegzur Erlösung  zu  zeigen.  Erhabefürsie  alles  allein 
getan.  Er  sagte,  er  sei  ein  Nitya-mukta,  das  ist  ewig  frei, 
und  eine  Verkörperung  Gottes  selbst.  »Die  Frucht  der 
Kürbispflanze«,  sagte  er,  »kommt  zuerst,  und  dann  die 
Blüten;  soistesmitdenNitya-muktas,denen  die  von  aller 
Ewigkeit  her  frei  sind,  aber  niedersteigen  um  des  Heiles 
der  andern  willen«. 

Worte  Rämakrishnas 

I .  Der  Namen  Gottes  sind  viele,  und  unendlich  die  Ge- 
stalten, die  uns  hinleiten  ihn  zu  erkennen.  Mit  welchem 
Namen,  in  welcher  Gestalt  du  ihn  zu  rufen  begehrst,  in 


eben  diesem  Namen,  in  eben  dieser  Gestalt  wirst  du  ihn 
schauen. 

2.  Wie  viele  vom  Schnee  gehört  aber  ihn  nicht  gesehen 
haben,  so  sind  da  viele  religiöse  Prediger,  die  nur  in 
Büchern  von  Gottes  Attributen  gelesen,  aber  sie  nicht  in 
ihrem  Leben  erfahren  haben.  Und  wie  viele  den  Schnee 
gesehenaberihnnichtgekostethaben,sosinddavielereli- 
giöse  Lehrer,  die  nur  einen  Blick  der  göttlichen  Glorie  er- 
hascht aber  ihr  wahres  Wesen  nicht  verstanden  haben. 
Wer  den  Schnee  gekostet  hat,  kann  sagen,  wie  er 
schmeckt.  Wer  die  Gemeinschaft  Gottes  in  verschie- 
denen Erscheinungen  genossen  hat,  jetzt  als  Diener, 
jetzt  als  Freund,  jetzt  als  Geliebter,  oder  als  in  ihm  Ver- 
sunkener, der  allein  kann  sagen,  welches  die  Attribute 
Gottes  sind. 

3 .  Auf  einer  bestimmten  Strecke  seiner  Andachtsbahn 
findet  der  Andächtige  Befriedigung  im  gestalteten  Gotte, 
auf  einer  andern  im  gestaltlosen. 

4.  So  lange  ein  Mensch  laut  »Allah  Ho!  Allah  Ho!«  (O 
Gott !  O  Gott !)  ruft,  seid  gewiss,  dass  er  Gott  noch  nicht 
gefunden  hat,  denn  wer  ihn  gefunden  hat,  wird  still. 

5 .  Ein  Logiker  fragte  einst  Sri  Rämakrishna :  » Was  sind 
Erkenntnis,  der  Erkennende  und  der  erkannte  Gegen- 
stand.f^«  Darauf  erwiderte  er:  »Guter  Mann,  ich  weiss  all 
diese  Unterscheidungen  der  Schulweisheit  nicht.  Ich 
weiss  nur  meine  göttliche  Mutter  und  dass  ich  ihr  Sohn 
bin « . 

6.  Die  Erkenntnis  Gottes  kann  einem  Manne,  die  Liebe 
Gottes  einem  Weibe  verglichen  werden.  Erkenntnis  hat 
Zugangnurin  die  äusserenRäumeGottes,  aber  niemand 
kann  in  Gottes  innere  Mysterien  eintreten  als  ein  Lieben- 

8 


der  allein,  dennwie  demWelbe  sind  ihm  die  heimlichsten 
Gemächer  erschlossen. 

7.  Gott  ist  in  allen  Menschen,  aber  alle  Menschen  sind 
nicht  in  Gott :  darum  leiden  sie. 

8.  Er  sprach  zu  den  Frauen,  die  die  Gesellschaft  nicht  an- 
rühren mag:  »Mutter,  in  der  einen  Gestalt  bist  du  in  der 
Gasse  und  in  einer  andern  Gestalt  bist  du  das  All.  Ich 
grüsse  dich,  Mutter,  ich  grüsse  dich « . 


VON  RABIA  (8.  Jahrhundert) 

MITTEN  in  der  Nacht  ging  sie  oftmals  auf  das  Dach 
.  und  rief: » O  mein  Gott !  Nun  schweigt  das  Getüm- 
mel des  Tages,  die  Stimmen  schweigen,  und  im  heimli- 
chen Gemach  erfreutsich  das  Mädchen  des  Geliebten,  ich 
Einsame  aber  erfreue  mich  deiner  Gegenwart,  denn  dich 
bekenne  ich  als  meinen  wahren  Geliebten! « 

Einst  wallfahrtete  Räbia  nach  Mekka.  Als  sie  die  Kaaba 
erblickte,  zu  deren  Verehrung  sie  gekommen  war,  sprach 
sie:  » Ich  bedarf  des  Herrn  der  Kaaba,  was  taugt  mir  die 
Kaaba?  Ich  bin  so  nahe  an  ihn  herangekommen,  dass  sein 
Wort  :,WermireineSpannenaht,demnaheich  eine  Elle^ 
von  mir  gilt,  —  was  soll  mir  noch  die  Kaaba? « 

Von  Hassan  Basri  ermahnt,  eine  Ehe  einzugehen,  sprach 
sie:  »MeinWesenistlängstschonehelichgebunden.  Des- 
wegen sage  ich,  dass  mein  Sein  in  mir  erloschen,  in  ihm 
(Gott)  aufgelebt  ist.  Und  seit  jener  Zeit  lebe  Ich  in  seiner 
Gewalt,  ja  ganz  bin  ich  er.  Wer  mich  nun  zur  Braut  ver- 
langt, verlange  mich  nicht  von  mir,  sondern  von  ihm«. 
Hassan  fragte  sie,  wie  sie  sich  zu  dieser  Stufe  erhoben 
hätte.  Sie  sprach:  »Dadurch,  dass  ich  alles,  was  Ich  ge- 
funden hatte,  in  ihm  verlor«.  Als  jener  weiterfragte:  »Auf 
welche  Weise  hast  du  ihn  erkannt?«  antwortete  sie:  >0 
Hassan !  du  erkennst  auf  eine  bestimmte  Art  und  Weise, 
ich  aber  ohne  Weise « . 

Sie  sprach:  »Eine  innere  Wunde  meines  Herzens  ver- 
zehrt mich,  die  nur  durch  die  Vereinigung  mit  meinem 

IG 


Freunde  geheilt  werden  kann.  Ich  werde  krank  bleiben, 
bis  ich  am  jüngsten  Tage  mein  Ziel  erreiche « . 

Räbia  sprach  zu  Gott:  »Ich  bewahre  mein  Herz  für  den 
Umgang  mit  dir,  und  lasse  meinen  Leib  mit  denen  ver- 
kehren, die  nach  meiner  Gesellschaft  verlangen.  So  ist 
mein  Leib  derGefährtemeines Besuchers,  abermeinViel- 
geliebter  ist  der  Gefährte  meines  Herzens « . 


1 1 


VON  BÄJEZiD  BESTÄMI  (9.  Jahrhundert) 

MAN  erzählt, dassBäjezid sprach:  'Zwölf Jahre  hln- 
^ter  einanderwar  ich  der  Schmied  meinesWesens. 
Ich  legte  es  auf  den  Herd  der  Askese,  Hess  es  aufglühen  im 
Feuer  der  Prüfung,  setzte  es  auf  den  Ambos  der  Furcht 
und  schlug  es  mit  dem  Hammer  der  Ermahnung.  Ich 
machtesoausihmeinenSpiegel,dermirdazudiente,mich 
selbst  fünf  Jahre  lang  zu  betrachten,  indem  ich  nicht  auf- 
hörte, mit  Taten  der  Frömmigkeit  und  der  Andacht  den 
Rost  von  diesem  Spiegel  zu  lösen« . 

Er  sprach  ferner:  »Dreissig  Jahre  lang  ging  ich  auf  der 
Suche  nach  Gott,  und  als  ich  am  Ende  dieser  Zeit  die  Au- 
gen geöffnethatte,  entdeckte  ich,  dass  er  es  war,  der  mich 
suchte«. 

Yahya,  der  Bäjezid  zu  sehen  begehrte,  machte  sich  auf 
den  Weg  zu  ihm,  aber  er  fand  ihn  nicht  zu  Hause,  weil  er 
damals  inmitten  der  Gräber  war,  mit  Taten  der  Andacht 
beschäftigt.  Es  war  die  Stunde  des  Abendgebets.  Yahya 
ging  Bäjezid  zu  suchen  und  fand  ihn  alsbald.  Er  sprach 
zu  sich:  »Jetzt  ist  es  Nacht,  aber  morgen  in  der  Frühe 
werde  ich  ihn  begrüssen « .  Bis  zu  den  ersten  Strahlen  der 
Morgenröte  sah  er  Bäjezid  aufrecht  auf  den  Füssen, 
Worte  murmelnd,  und  er  war  von  Staunen  darüber  be- 
troffen. Als  die  Sonne  aufgegangen  war,  ging  Yahya,  Bäje- 
zid zu  begrüssen.  »Was  machtest  du  in  dieser  Nacht«, 
fragte  er  ihn.  »In  dieser  Nacht«,  antwortete  Bäjezid, 
>hat  man  mir  zwanzig  Grade  gezeigt,  die  ich  nicht  ange- 
nommenhabe,weilsieallewieVorhänge  waren, die  mich 

12 


hinderten,  vorwärts  zu  gehen « .  Da  sagte Yahya :  » O  Bä- 
jezid!  gib  mir  einen  Rat«.  »Wohl«,  sprach  Bäjezid, 
»wenn  man  dir  auch  den  Grad  anbieten  sollte,  den  alle 
Propheten  erreicht  haben,  willige  nicht  ein,  ihn  anzu- 
nehmen. Verlange  noch  weiter  zu  gehen,  steigere  deine 
Ansprüche;  denn  wenn  du  einen  Grad  annimmst,  wird 
er  für  dich  ein  Vorhang  werden,  der  deinen  Gang  hem- 
men wird«. 

Bäjezid  sprach  zu  Ahmed  Khizreviyeh:  »Wie  lange 
noch  wirst  du  die  Welt  nach  allen  Richtungen  durch- 
schreiten .^<  »Wenn  ein  Wasser  irgendwo  stockend 
wird«,  antwortete  Ahmed,  »verdirbt  es«.  »So  sei  wie 
das  Meer«,  sprach  Bäjezid,  »und  du  wirst  nicht  ver- 
derben«. 

Bäjezid  sprach : » Als  ich  auf  der  Stufe  der  Nähe  angelangt 
war,  hörte  ich  mich  anrufen :  » O  Bäjezid !  Verlange  alles, 
was  du  zu  verlangen  hast « .  » Mein  Gott « ,  antwortete  ich, 
»du  bist  es,  den  ich  verlange« .  Es  sprach:  »O  Bäjezid! 
solange  in  dir  ein  Stäubchen  weltlicher  Begier  bleibt  und 
du  nichtaufderStufedesEntwerdens  zu  nichtsgeworden 
bist,  wirstdu  nicht  fähig  sein  unszufinden « . » MeinGott« , 
sagte  ich,  »ich  werde  von  deinem  Hofe  nicht  mit  leeren 
Händen  zurückkehren,  ich  will  etwas  von  dir  verlangen « . 
— » Wohl,  so  verlange  es « .  — » Gewähre  mir  die  Gnade 
für  alleMenschen  und  erbarme  dich  ihrer« .  EineStimme 
erscholl:  »O  Bäjezid!  erhebe  die  Augen«.  Ich  erhob  die 
Augen  und  sah,  dass  der  erhabene  Herr  noch  mehr  als  ich 
selbst  zur  Nachsicht  gegen  seine  Diener  bewegt  war. 
»Mein  Gott«,  rief  ich  da,  »schenke  deine  Gnade  dem 

13 


Satan!«  »O  Bäjezid!«  antwortete  mir  die  Stimme,  »der 
Satan  ist  aus  Feuer,  und  das  Feuer  bedarf  des  Feuers « . 

Als  man  ihn  über  sein  Alterfragte,  antwortete  er,  er  sei  vier 
Jahre  alt.  — » Wie  das,  o  Scheich  ? « — » Siebzig  Jahrelang 
warich  in dieSchleier  der  niederenWelt gehüllt, und  erst 
seit  vier  Jahren  bin  ich  ihrer  entledigt  und  schaue  Gott « . 

In  einerNacht  sah  ich  den  Herrn  im  Traume,  der  zu  mir 
sprach:  »Was  begehrst  du,  Bäjezid?«  —  »Was  du  selbst 
begehrst,  mein  Gott!«  —  »O  Bäjezid,  du  bist  es,  den  ich 
begehre,  wie  du  mich  begehrst « . — » Aber  welches  ist  der 
Weg,  der  zu  dir  führt?«  —  *0  Bäjezid,  wer  sich  selbst 
entsagt,  kommt  zu  mir« . 

Bäjezid  sprach :  » Ich  bin  wie  ein  Meer  ohne  Anfang,  ohne 
Ende,  ohne  Grund « . 

Man  fragte  Bäjezid,  was  der  neunte  Himmel  sei.  » Ich  bin 
es « ,  antwortete  er.  — » Und  der  Thron,  der  darauf  ruht?« 
—  » Auch  dies  bin  ich « .  Als  man  ihn  weiter  fragte,  sprach 
er:  »IchbindieTafel,ichbinderGriffel.  Ich  bin  Abraham, 
Moses,  Jesus.  Ich  bin  Gabriel,  Michael,  Israfil.  Wer  in 
das  wahre  Wesen  kommt,  geht  in  Gott  auf,  ist  Gott « . 

Bäjezid  sprach:  »Als  der  erhabene  Herr  mich  in  seiner 
grossmütigenGnadezuden  oberenStufen  erhobenhatte, 
erleuchtete  er  mit  seinen  Strahlen  mein  ganzes  äusseres 
und  inneres  Wesen,  entschleierte  mir  alle  seine  Geheim- 
nisse und  offenbarte  in  mir  seine  ganze  Grösse  .  .  . 
Als  der  erhabene  Herr  mein  vergängliches  Wesen  ver- 
nichtend mich  an  seiner  unvergänglichen  Dauer  teilneh- 


men  Hess,  ward  die  Klarheit  meines  Auges  ins  Unbeirr- 
bare gesteigert.  Gott  mit  Gottes  Auge  betrachtend,  sah 
ich  Gott  durch  Gott;  und  mich  in  der  Wahrheit  verschan- 
zend, blieb  ich  ruhig  und  friedsam .  Ich  schlossdie  Öffnung 
meines  Ohres,  ich  zog  meine  Zunge  in  meinen  ohnmäch- 
tigen Mund  zurück,  und  ich  warf  das  geliehene  Wissen 
hin,  das  ich  von  den  Kreaturen  gelernt  hatte.  Dank  dem 
Beistande  des  erhabenen  Herrn  entfernte  ich  von  mir 
mein  sinnlichesWesen,  und  in  erneuter  Huld  gab  mir  der 
Herr  das  anfanglose  Wissen.  Durch  seine  Grossmut  hat 
er  in  meinen  Mund  eine  Zunge  gesetzt,  die  zu  reden  ver- 
mag,undhat  mir  ein  Auge  gegeben, dasaus  seinem  Lichte 
stammt«. 

Bäjezid  sprach:  »Wie  lange  noch  wird  es  zwischen  mir 
und  dir  das  Ich  und  das  Du  geben.?  Hebe  zwischen  uns 
mein  Ich  auf,  mache,  dass  ich  ganz  in  dich  eingehe,  dass 
ich  nichts  werde.  Mein  Gott«,  fügte  er  hinzu,  »wenn  ich 
bei  dir  bin,  tauge  ich  mehr  als  alle,  und  wenn  ich  bei  mir 
selbstbin,  tauge  ich  wenigerals  alle.  Mein  Gott,  dieÜbung 
derheiligenArmutundderunablässigen  Strengehat  mich 
bis  zu  dir  kommen  lassen.  In  deiner  Grossmut  hast  du 
nicht  gewollt,  dass  meine  Mühen  verloren  seien.  Mein 
Gott,  nicht  die  Askese  ist  es,  deren  ich  bedarf,  nicht  das 
Auswendigkönnen  des  Koran,  und  nicht  die  Wissen- 
schaft; abergibmireinTeilindeinenGeheimnissen.  Mein 
Gott,  ich  suche  meine  Zuflucht  in  dir,  und  du  bist  es, 
durch  den  ich  zu  dir  komme.  Mein  Gott,  dass  ich  dich 
liebe,  ist  nicht  erstaunlich,  denn  ich  bin  dein  Diener, 
schwach, ohnmächtig,  bedürftig;  aber  seltsam  ist,  dassdu 
mich  liebst,  du,  der  König  der  Könige!  Mein  Gott,  jetzt 

^5 


fürchte  ich  dich,  und  doch  liebe  ich  dich  in  so  grosser  In- 
brunst! Wie  erst  werde  ich  dich  lieben,  wenn  ich  mein 
Teil  deiner  Gnade  empfangen  habe  und  mein  Herz  von 
aller  Furcht  frei  sein  wird  < . 


i6 


VON  HUSAIN  AL  HALLÄDSCH 
(starb  3 09  H  =  92 1  n.  Chr.) 

BEI  dem  Fest  am  Berge  Arfat  sprach  er:  » O  du  Weg- 
weiser derStumpfsinnigen! « Und  da  er  sah,  dass  alle 
Menschen  beteten,gingeraufeinen  Hügel  undschautezu, 
und  da  alle  zurückkamen,  schlug  er  sich  selbst  und  rief  da- 
bei: »Du  erhabner  Herr,  ich  weiss:  du  bist  rein,  und  ich 
sage :  du  bist  rein  von  allem  Lobe  der  Lobenden  und  allem 
Preise  der  Preisenden  und  allen  Gedanken  der  Denken- 
den. Mein  Gott!  Du  weisst,  dass  ich  die  Pflichten  deines 
Lobes  nicht  zu  erfüllen  vermag.  Lobe  du  selber  dich  an 
meiner  Statt,  das  ist  das  wahre  Lob « . 

Man  fragte  ihn,  ob  ein  Beschaulicher  Zeit  für  sich  übrig 
habe.  »Nein«,  sagte  er,  »Zeit  drückt  den  Zustand  dessen 
aus,  derErleuchtungszeiten  bedarf;  wer  nun  mit  diesem 
seinem  Zustande  sich  nicht  begnügen  kann, istein  Erken- 
nender. Dasheisst,man  mussmitMuhammed  sagenkön- 
nen: Ich  habe  Zeiten  bei  Gott,  wo  kein  Engel,  ja  kein 
Cherub  mich  fasst« . 

Man  fragte  ihn:  »Welches  istderWegzuGott.^^«  Er  ant- 
wortete :  » Ziehe  beide  Füsse  zurück,  und  du  bist  bei  ihm, 
deneinenausdiesem,denandernausdemandernLeben«. 

Desgleichen  sagte  er:  »Erkenntnis  bedeutet  die  Dinge 
sehen,  aber  auch  wie  sie  alle  untergehen  im  Unbeding- 
ten«. 

Er  sagte:  »Wenn  der  Knecht  zur  Staffel  der  Erkenntnis 
gelangtist,  schickt  Gottihm  eine  Eingebung,  seineFreude 

2    Buber,  Konfesäonen 

17 


wirdstumpfundnichtsistmehrnachseinem  Geschmack, 
als  allein  der  Genuss  Gottes « . 

Ferner  sprach  er:  »Das  sind  grosse  Leute,  auf  die  die 
Schmach  derWelt  nicht  mehr  wirkt,  nachdem  sie  Gott 
erkannt haben«. 

Ferner: » Die  Zunge  ist  das  Verderben  stiller  Herzen ;  das 
GeschwätzistmitUrsachenverbunden,  und  Handlungen 
mit  Unglauben,  das  Wahre  aber  ist  ein  Leben,  das  von 
alle  dem  frei  ist«. 

Er  sprach  ferner:  » Die  Blicke  der  Sehenden,  die  Kennt- 
nisse der  Erkennenden,  das  Licht  der  geistig  Wissenden, 
und  der  Weg  der  schnell  Vorschreitenden,  und  die  Ewig- 
keit des  Vordem  und  die  Ewigkeit  des  Darnach  und  alles 
was  in  der  Mitte  liegt,  sind:  Zeitlichkeit«.  Wodurch  er- 
kennt man  das.?*  Husain  antwortet : » Wer  da  ein  Herz  hat, 
der  werfe  das  Auge  weg,  dann  wird  er  schauen « . 

Desgleichen:  »Der  Gott  sucht,  sitzt  im  Schatten  seiner 
Busse,  den  Gott  sucht,  im  Schatten  seiner  Unschuld « . 

Desgleichen: » DerGottsucht,dessenLaufenrenntseinen 
Offenbarungen  voran,  den  Gott  sucht,  dessen  Offenba- 
rungen überholen  sein  Laufen « . 

Desgleichen:  »Göttliche  Erleuchtungsstunden  sind  Mu- 
scheln, die  im  Meere  unseres  Herzens  liegen,  der  Morgen 
der  Auferstehung  wirft  sie  ans  Ufer  und  sie  springen  auf« . 

Er  sprach :  » Ich  bin  erden  ich  liebe,  und  er  den  ich  liebe  ist 
ich;wirsindzweiSeelendieineinemLeibewohnen.Wenn 

i8 


dumichsiehst,siehstduihn,undwennduihnsiehst,siehst 
du  uns«. 

Da  nun  die  Leute  über  ihn  in  Staunen  gerieten ,  wurden 
Lügner  ohne  Urteil  und  auch  unzählige  Anhänger  offen- 
bar. Man  sah  wunderbare  Dinge  von  ihm.  Man  spitzte 
die  Zunge  zur  Afterrede  und  brachte  seine  Aussprüche 
vor  den  Kalifen.  Die  Imamevon  Bagdad  gaben  auch  ihr 
Urteil  für  seinen  Tod,  weil  er  gesagt  hatte:  Ich  bin  Gott! 
Man  verlangte,  er  solle  sagen:  Er  ist  Gott!  Er  erwiderte: 
»Ja,  Alles  ist  Er!  Ihr  sagt,  er  ist  untergegangen  [in  den 
Wesen],  aber  Husain  ist  untergegangen,  das  Weltmeer 
geht  nicht  unter  und  vernichtet  auch  nicht « . 

Als  er  zur  Richtstätte  zog,  tanzte  er  auf  dem  Wege,  die 
Hände  schleudernd,  gleich  einem  übermütigen  Hengste, 
obwohlmitsechzehn Kettenbeladen.  Mansprach:  »Was 
ist  das  für  ein  Gehen. f^«  Er  antwortete:  »Gehe  ich  nicht 
zu  meiner  Opferstätte.^«  Darauf  schrie  er  laut  und  sang 
diese  Verse: 
Nimmer  wollt  ich,  dass  mein  Ereund  der  Grausamkeit 

beschuldigt  werde. 
Er  reichte  mir,  was  er  selbst  trinkt,  wie  der  Gastwirt 

dem  Gaste  tut. 
Da  aber  die  Becher  kreisten,  rief  er  nach  dem  Richt- 
block und  dem  Schwerte. 
So  geht's  dem,  der  Wein  trinkt  mit  dem  Drachen  in  des 

Sommers  Glut. 


19 


FARID-ED-DIN  ATTÄR  (geboren  um  1 1 20) 
Die  sieben  Täler  (Aus  dem  » Gespräch  der  Vögel « ) 

DAS  erste  Tal,  das  sich  darbietet,  ist  das  Tal  desSu- 
chens,  nach  ihm  kommt  das  der  Liebe,  das  keine 
Grenze  hat,  dasdritteistdasderErkenntnis,dasviertedas 
der  Selbstgenügsamkeit,  dasfünftedasderreinen  Einheit, 
dassechstedasderBestürzung,dassiebenteendlichistdas 
Tal  der  Auflösung  und  der  Vernichtung,  über  das  hinaus 
du  nichtfortschreiten  kannst.  Dawirstdu  dich  angezogen 
fühlen  und  wirst  doch  nicht  weiter  ziehen  können;  ein 
einziger  Wassertropfen  wird  für  dich  wie  ein  Meer  sein. 

Das  Tal  des  Suchens 

Sobald  du  in  das  Tal  des  Suchens  eingetreten  bist,  wird 
hundertfache  Pein  dich  wieder  und  wieder  überfallen. 
In  jedem  Augenblick  wirst  du  da  hundert  Prüfungen  er- 
fahren; derPapageidesFirmaments^istdanureineFliege. 
Du  wirst  viele  Jahre  in  diesem  Tale  in  mühevoller  Span- 
nung und  steter  Wandlung  deines  Zustands  verbringen. 
Du  wirst  deine  Schätze  verlassen  und  alles  was  du  be- 
sitzest ins  Spiel  werfen  müssen.  Du  wirst  in  einem  Blut- 
strom schreiten  müssen,  dem  Allverzicht  ergeben.  Und 
hast  du  die  Gewissheit  gewonnen,  dass  du  nichts  mehr 
besitzest,  musstdu  noch  dein  Herz  ablösen  von  allem  was 
ist.  Ist  es  von  allem  Anblick  der  Sonderung  befreit,  dann 
leuchtetihmdiegöttlicheHerrlichkeitaufund  durch  die- 
ses Licht,  das  sich  dir  offenbart,  wächstdeinBegehrenins 
Unendliche.  Und  erschiene  ein  Feuer  am  Pfade  des  geist- 

*  Der  Perser  nennt  den  Himmel  grün,  nicht  blau 
20 


liehen  Wandrers  und  tausend  Schluchten  öffneten  sich 
immer  unwegsamer,  von  der  Sehnsucht  bewegt,  würde 
er  wie  ein  Toller  in  die  Schluchten  dringen,  wie  ein 
Schmetterling  in  die  Flamme  stürzen.  Vom  Liebeswahn 
getrieben,  wird  er  dem  Suchen  leben ;  von  seinem  Mund- 
schenk wird  er  einen  Trunk  verlangen.  Hat  er  dieses 
Weines  etliche  Tropfen  gekostet,  wird  er  beide  Welten 
vergessen.  Eingetaucht  im  Meer  des  Schrankenlosen, 
wird  er  seine  Lippen  trocken  verspüren,  und  auf  dem 
Grunde  seiner  selbst  wird  er  dem  Geheimnis  der  ewigen 
Schönheit  nachfragen.  In  seiner  Begier,  es  zu  erkennen, 
wird  er  vor  den  Drachen  nicht  weichen,  die  die  Seelen 
verzehren.  Würden  in  diesem  Augenblick  der  Glaube 
und  der  Unglaube  vorihn  treten,  er  würde  sie  beide  gleich 
willig  empfangen,  wenn  sie  ihm  nur  die  Pforte  öffnen.  Ist 
diese  Pforte  offen,  was  ist  dann  noch  Glaube  oder  Un- 
glaube, da  es  doch  jenseits  des  Eingangs  weder  den  einen 
noch  den  andern  gibt.? .. . 

Zusammengekauert  wie  das KindimSchossederMutter, 
sammle  dich  in  dir  selber  ein,  in  Blut  getaucht.  Verlasse 
nicht  dein  Inneres,  um  dich  ins  Äussere  zu  bringen.  Tut 
dir  Speise  not,  ernähre  dich  vom  Blute.  Das  Blut  allein 
nährt  das  Kind  im  Schosse  seiner  Mutter;  und  aus  der 
Wärme  des  Inneren  kommt  es  her . . . 

Das  Tal  der  Liebe 

Um  hier  einzutreten,  muss  man  ganz  in  Feuer  tauchen, 
ja  man  muss  selber  Feuer  sein,  denn  sonst  könnte  man 
da  nicht  leben.  Der  wahrhaft  Liebende  muss  dem  Feuer 
gleich  sein,  entflammten  Angesichts,  brennend  und  un- 
gestüm wie  das  Feuer.  Um  zu  lieben,  darf  man  keinen 

21 


Hintergedanken  haben;  man  muss  bereit  sein,  hundert 
Welten  ins  Feuer  zuwerfen;  man  muss  weder  Glauben 
noch  Unglauben  kennen,  weder  Zweifel  noch  Zuversicht 
hegen.  Auf  diesem  Wege  ist  kein  Unterschied  zwischen 
Gut  und  Böse;  wo  die  Liebe  ist,  sind  Gut  und  Böse  ent- 
schwunden . . . 

In  diesem  Tale  ist  die  Liebe  das  Feuer  und  sein  Rauch  ist 
die  Vernunft.  Wenn  die  Liebe  kommt,  entflieht  die  Ver- 
nunft in  Eile.  DieVernunftkannmitderRaserei  der  Liebe 
nicht  zusammen  wohnen;  die  Liebe  hat  nichts  zu  schaffen 
mit  der  Vernunft  des  Menschen.  Gewännest  du  einen 
rechten  Blickder  unsichtbaren  Welt,  dann  erst  vermöch- 
test du  zu  erkennen  die  Quelle  der  geheimnisreichen 
Liebe,  die  ich  dir  verkündige.  Das  Dasein  der  Liebe  wird 
Blatt  für  Blatt  völlig  zerstört  von  der  Trunkenheit  der 
Liebe  selbst. 

Das  Tal  der  Erkenntnis 

Wenn  die  Sonne  der  Erkenntnis  an  der  Wölbung  dieses 
Wegesstrahlt,  den  man  nicht  würdig  zu  beschreiben  ver- 
mag, . .  zeigt  sich  in  Klarheit  das  Geheimnis  des  Wesens 
der  Dinge,  und  der  feurige  Ofen  der  Welt  wird  zum  Blu- 
mengarten. Der  Wandrer  wird  die  Mandel  unter  ihrer 
Schale  schauen.*  Erwirdsichselbstnichtmehrerblicken, 
nichts  mehr  wird  er  erblicken  als  seinen  Freund  allein ;  in 
allem  was  er  sehen  wird,  wird  er  sein  Antlitz  schauen,  in 
jedem  Atom  die  Sphäre  des  Alls ;  unterm  Schleier  wird  er 
zahllose  Heimlichkeiten  betrachten,  die  leuchten  wie  die 
Sonne . . . 
Die  sichtbare  Welt  und  die  unsichtbare  Welt  sind  für  die 

*  Das  ist:  Gott  in  den  Kreaturen 
22 


Seele  nichts;  der  Körper  ist  der  Seele  nicht  verborgen, 
noch  die  Seele  dem  Körper.  Bist  du  aus  der  Welt  ausge- 
gangen, die  nichts  ist,  dann  findest  du  den  Ort,  der  dem 
Menschen  bestimmt  ist .. . 

Das  Tal  der  Selbstgenügsamkeit 

HieristkeineSucht  undkein  Forschen.  Ausdieser  Bereit- 
schaft der  Seele  zur  Genügsamkeit  erhebt  sich  ein  kalter 
Sturm,  dessen  Gewalt  in  einem  Augenblick  einen  unge- 
heuren Raum  verwüstet.  Die  sieben  Ozeane  sind  dann 
nur  noch  eineWasserlache;  die  sieben  Wandelsterne  ein 
Funken;  die  sieben  Himmel  ein  Leichnam;  die  sieben 
Höllen  zerschelltes  Eis . . . 

Sähest  du  eine  ganze  Welt,  deren  Herz  ein  Feuer  frässe, 
du  hättest  nur  einen  Traum.  Die  Tausende  von  Seelen, 
die  unablässig  an  diesem  Meere  niedersinken,  sind  da  nur 
ein  leichter  und  unwahrnehmbarer  Tau . . . 
Dieses  Tal  ist  nicht  so  leicht  zu  durchschreiten,  wie  du  es 
in  deiner  Einfalt  glauben  möchtest.  Wenn  auch  das  Blut 
deines  Herzens  sich  in  dieses  Meer  ergösse,  könntest  du 
nur  die  erste  Station  erreichen.  Und  durchliefest  du  alle 
StrassenderWelt,  du  fändest  dich  immer,wenn  du  drauf 
wohl  achtetest,  beim  ersten  Schritt.  In  der  Tat  hat  kein 
Wandrer  das  Ziel  seiner  Reise  geschaut  und  die  Heilung 
seiner  Liebe  gefunden.  Hältst  du  inne,  wirst  du  verstei- 
nert, oderdu  stirbst  und  wirst  eine  Leiche.  Setzest  du  den 
Schritt  weiter  und  schreitest  immer  vorwärts  in  dei- 
nem Laufe,  bis  zur  Ewigkeit  wirst  du  den  Schrei  hören : 
»Weiter  noch!«  Es  ist  dir  nicht  gestattet,  fortzuschrei- 
ten noch  stehenzubleiben;  es  ist  dir  nicht  erspriesslich  zu 
leben  noch  zu  sterben.  Welchen  Gewinn  hast  du  aus 

23 


all  der  Mühsal  genommen,  die  du  ertragen  hast?  Es 
gilt  gleich,  ob  du  dir  den  Kopf  schlägst  oder  ihn  nicht 
schlägst,  o  du  der  mich  hört!  Bleib  stille,  lass  all  dies  und 
handle. . . 

Trachte  danach,  unabhängig  und  dir  genug  zu  sein . .  In 
diesem  vierten  Tale  strahlt  der  Blitz  der  Tugend,  die  dar- 
in besteht,  sich  selber  zu  genügen ,  so  stark,  dass  seine 
Wärme  Hunderte  von  Welten  aufzehrt.  Da  Hunderte 
vonWeltenzuStaubw^erden,wäreesaussergevv^öhnlich, 
w^enn  auch  die  Welt,  die  w^irbev/ohnen,  verschwände.?.. 
In  diesem  Tale  darf  niemand  in  der  Untätigkeit  bleiben, 
und  nur  in  der  Reife  darf  man  es  betreten.  Es  ist  nun  an 
der  Zeit  zu  handeln,  anstatt  in  der  Ungewissheit  oder  in 
der  Sorglosigkeit  zu  leben:  erhebe  dich  also  und  durch- 
schreite dieses  mühsameTal,nachdemdu  deinemGeiste 
und  deinemHerzenentsagthast;  denn  w^enndunichtdem 
einen  und  dem  andern  entsagst,  treibst  du  Vielgötterei 
und  die  sorgloseste  der  Vielgöttereien.  Opfre  also  deinen 
Geist  und  dein  Herz  auf  dieser  Bahn,  sonst  musst  du  ver- 
zichten, dir  genügen  zu  können ... 

Das  Tal  der  Einheit 

Dies  istderOrtderEntblössung  von  allen  Dingen  und  der 
Einung.  Alle,  die  in  dieser  Wüste  das  Haupt  erheben, 
ziehen  es  aus  dem  gleichen  Kragen.  Magst  du  auch  viele 
Einzelwesen  sehen,  es  gibt  in  Wirklichkeit  nur  wenige, 
nein,  es  gibt  eines  nur.  Da  die  Mengevon  Personen  wahr- 
haft nur  eine  ausmacht,istdiesevollkommeninihrer  Ein- 
heit. Was  sich  dir  aber  als  eine  Einheit  darstellt,  das  ist 
nicht  verschieden  von  dem,  was  gezählt  wird.  Da  das 
Wesen,  das  ich  verkündige,  ausser  dieser  Einheit  und 

24 


der  Zahl  ist,  lasse  du  ab,  der  Ewigkeit  des  Vordem  und 
der  Ewigkeit  des  Darnach  nachzusinnen;  und  da  die 
beiden  Ewigkeiten  zerronnen  sind,  gedenke  ihrer  nicht 
mehr. .. 

Wenn  der  Wanderer  in  dieses  Tal  eingetreten  ist,  ver- 
schwindet er  wie  die  Erde  unter  seinen  Füssen.  Er  wird 
verlorensein,denndaseinzigeWesen  wird  offenbar  sein. 
Er  wird  stumm  sein,  denn  das  einzige  Wesen  wird  reden. 
Der  Teil  wird  das  Ganze  werden,  oder  vielmehr  er  wird 
weder  Teil  noch  Ganzes  sein.  Es  wird  eine  Gestalt  ohne 
Körper  und  Seele  sein  . .  Was  ist  der  Verstand.?*  er  ist  an 
derSchwelledesToresgeblieben,wie  ein  blindgeborenes 
Kind.  Wer  etwas  von  diesem  Geheimnis  gefunden  hat, 
wendet  das  Haupt  vom  Reiche  beider  Welten  ab . .  Das 
Wesen,  das  ich  verkündige,  ist  nicht  gesondert  da;  die 
ganze  Welt  ist  dieses  Wesen;  Sein  oder  Nichtsein,  es  ist 
immer  dieses  Wesen  . . . 

Das  Tal  der  Bestürzung 

Auf  das  Tal  der  Einheit  folgt  das  der  Bestürzung.  Da  ist 
mandieBeute  derTraurigkeit  und  desStöhnens.  Da  sind 
die  Seufzer  wie  Schwerter,  und  jederHauch  ist  eine  bittre 
Klage.  Da  ist  nichts  als  Weheruf,  als  Leid,  als  zehrende 
Glut;  da  ist  Tag  und  Nacht  zugleich,  und  da  ist  weder 
Tag  noch  Nacht.  Da  sieht  man  von  jedes  Haares  Ende, 
ohne  dass  es  abgeschnitten  würde,  das  Blut  tropfen  . . 
Wie  wird  der  Mensch  in  seiner  Bestürzung  weitergehen 
können.?*  Er  wird  betäubt  werden  und  sich  auf  dem  Wege 
verlieren.  Aber  der  die  Einheit  im  Herzen  eingegraben 
hat,vergisst  alles  und  vergisst  sich  selbst.  Wenn  manihm 
sagt:  »Bist  du  oder  bist  du  nicht;  hast  du  das  Gefühl  des 

25 


Seins  oder  hast  du  es  nicht;  bist  du  in  der  Mitte  oder  bist 
du  am  Rande;  bist  du  sichtbar  oder  verborgen;  bist  du 
vergänglich  oder  unsterblich;  bist  du  das  eine  und  das 
andere  oder  wieder  das  eine  noch  das  andere;  bist  du  du 
selbstoderbistdues  nicht? « wird  erantworten:  „Ich  weiss 
nichtsdavon,ichbin  dessen  unkundig  und  ich  bin  meiner 
unkundig.  Ich  bin  verliebt,  aber  ich  weiss  nicht  in  wen; 
ich  bin  weder  treu  noch  ungetreu.  Was  bin  ich  doch.?  Ich 
bin  selbst  meiner  Liebe  unkundig;  ich  habe  das  Herz  von 
Liebe  voll  und  von  Liebe  leer  zugleich"  . . . 
Wer  in  das  Tal  der  Bestürzung  eintritt,  der  tritt  in  jedem 
Augenblick  in  einen  so  grossen  Schmerz  ein,  dass  er  hin- 
reichen würde,  um  hundert  Welten  zu  betrüben.  Aber 
wie  lange  noch  werde  ich  dieTrübsal  und  die  Wirrnis  des 
Geistes  ertragen.?  Da  ich  verirrt  bin,  wohin  werde  ich 
gehen.?  Ich  weiss  es  nicht,  aber  möge  es  Gott  belieben, 
dass  ich  es  wisse ! . . . 

Das  Tal  der  A  uflösung  und  der  Vernichtung 

Esistunmöglich,  diesesTal  zu  schildern.  Als  sein  wesent- 
licher Zustand  ist  anzusehen  das  Vergessen,  die  Stumm- 
heit, die  Taubheit  und  die  Ohnmacht.  Da  siehst  du  in 
einem  einzigen  Strahl  der  Sonne  die  Tausende  ewiger 
Schatten  verschwinden,  die  dich  umgaben. 
Wenn  das  Meer  der  Unendlichkeit  seine  Wogen  zu  regen 
beginnt,  wie  sollten  die  Bilder  dauern,  die  auf  seiner 
Fläche  gezeichnet  waren.?  Diese  Bilder  sind  die  gegen- 
wärtige Welt  und  die  kommende  Welt.  Wer  erklärt,  sie 
seien  nicht,  erwirbt  ein  grosses  Verdienst.  Wessen  Herz 
sich  in  diesem  Meere  verloren  hat,  ist  darin  für  immer  ver- 
loren und  bleibt  in  der  Ruhe . . . 

26 


Ein  unreiner  Gegenstand  mag  in  ein  Meer  von  Rosen- 
wasser fallen,  er  wird  in  derNichtigkelt  bleiben  durch  sei- 
ne Eigenschaft.  Aber  wenn  ein  reines  Ding  in  dieses  Meer 
fällt,  wird  es  sein  besonderes  Dasein  verlieren,  es  wird  an 
der  Bewegung  der  Fluten  teilnehmen;  indem  es  geson- 
dertdazusein aufhört,  beginnt  es  schön  zu  sein.  Esistund 
ist  nicht.  Wie  kann  dies  geschehen  ?  Es  ist  dem  Geiste  un- 
möglich, es  zu  fassen . . . 

Wer  die  Welt  verlassen  hat,  um  dieser  Bahn  zu  folgen, 
findet  den  Tod,  und  nach  dem  Tode  die  Unsterblich- 
keit... 

Schlage  den  Mantel  des  Nichts  um  dich  und  trinke  vom 
Becher  der  Vernichtung,  bedecke  deine  Brust  mit  der 
Liebe  zum  Dahinschwinden  und  setze  den  Burnus  des 
Nichtseins  aufs  Haupt.  Stelle  den  Fuss  ins  Steigeisen  des 
unbedingten  Verzichtes  und  treibe  entschlossen  dein 
Ross  zum  Orte,  wo  nichts  ist.  In  der  Mitte  und  ausser  der 
Mitte, drunter,drüber,  in  der  Einheit,  umgürtedeineLen- 
den  mit  dem  Gürtel  des  Entwerdens.  Öffne  deine  Augen 
und  schaue,  tue  blaue  Augensalbe  an  deine  Augen.  Wenn 
du  verloren  sein  willst,  wirst  du  es  in  einem  Augenblick 
sein,dannwiederaufeineandereWeise;  aber  du  schreite 
ruhig,  bis  du  zum  Reiche  der  Aufhebung  kommst.  Besit- 
zest du  nur  das  Ende  eines  Haares  aus  dieser  Welt,  wirst 
du  nie  eine  Kunde  von  jener  Welt  empfangen.  Bleibt  dir 
die  kleinste  Ichsucht,  werden  die  sieben  Ozeane  dir  voll 
des  Unheils  sein... 

Wirfalles  was  du  hast  ins  Feuer,  bis  zu  den  Schuhen. 
Wenn  du  nichts  mehr  hast,  denk  nicht  einmal  ans  Lei- 
chentuch und  wirf  dich  nackt  ins  Feuer . . . 
Wenn  dein  Inneres  im  Verzicht  gesammelt  sein  wird, 

27 


dann  wirst  du  jenseits  von  Gut  und  Böse  sein.  Wenn  es 
für  dich  weder  Gut  noch  Böse  geben  wird,  dann  erst 
wirst  du  lieben,  und  du  wirst  endlich  würdig  sein  der  Er- 
lösung, die  das  Werk  der  Liebe  ist. 

Was  mich  betrifft,  der  ich  weder  ich  noch  ein  andrer  als 
ich  geblieben  bin, . .  ich  habe  mich  ganz  verirrt,  weithin 
von  mir;  ich  finde  in  meinem  Zustande  kein  andres  Heil 
als  die  Verzweiflung.  Als  die  Sonne  der  Auflösung  über 
mich  leuchtete,  verbrannte  sie  beide  Welten  so  leichtlich 
wie  ein  Hirsekorn.  Als  ich  die  Strahlen  dieser  Sonne  sah, 
bin  ich  nicht  gesondert  geblieben:  der  Wassertropfen  ist 
ins  Meer  zurückgekehrt.  Ob  ich  auch  in  meinem  Spiele 
zuweilen  gewonnen  und  zuweilen  verloren  habe,  zuletzt 
warfichallesindasschwarzeWasser.  Ich  bin  ausgewischt 
worden,  ich  bin  verschwunden ;  nichts  ist  von  mir  geblie- 
ben. Ich  war  nur  noch  ein  Schatten,  kein  kleinstes  Stäub- 
chenwarvon  mir  da.  Ich  war  ein  Tropfen,  im  Ozean  des 
Mysteriums  verloren,  und  jetzt  finde  ich  auch  diesen 
Tropfen  nicht  mehr. 


28 


DSCHALÄL-ED-DINRUMl  (1207— 1273) 

Aus  dem  Masnawi 

ZU  Zeiten  gleicht  mein  Zustand einemTraume,  mein 
^Träumen  erscheint  ihnen  alsUngläubigkeit.  Meine 
Augen  schlafen,  aber  mein  Herz  ist  wach;  mein  Körper, 
der  starre,  istTrieb  und  Kraft. . .  Eure  Augen  sind  wach, 
undeuerHerz  schläft  fest,  meine  Augen  sindgeschlossen, 
und  meinHerz  istam  offenen  Tor.  Mein  Herzhatseineeig- 
nen  fünf  Sinne ;  diese  Sinne  meines  Herzens  erfahren  die 
beidenWelten.EinSchwächlingwieihrsollmichnichtrü- 
gen;  waseuchNachtscheint,  ist  mirlichterTag,waseuch 
Kerker  scheint,  ist  mir  ein  Garten,  mühsamstes  Tun  ist 
mir  Rast.  EureFüsse  sind  im  Schlamm,  mir  wandelt  sich 
der  Schlamm  in  Rosen,  die  Leichenklage  eures  Ohrs  ist 
mir  die  Hochzeitstrommel.  Auf  Erden  scheineich  zu  sein, 
miteuchim  Hause  zu  weilen,  und  steige  indes  wie  Saturn 
zum  siebenten  Himmel  auf.  Nicht  ich  bin  euch  hier  zuge- 
sellt, es  ist  mein  Schatten .  MeineErhebung  übersteigt  eu- 
re Gedanken,  denn  ich  habe  dasDenken  überstiegen.  Ja, 
ich  bin  dem  Bereich  des  Denkens  enteilt.  Ich  bin  Herr  des 
Denkens,  nicht  von  ihm  beherrscht,  wie  der  Baumeister 
der  Herr  des  Baues  ist.  Alle  Kreaturen  sind  dem  Denken 
unterworfen;  darob  sind  sie  traurig  im  Herzen  und  kum- 
mervoll. Ich  sende  mich  als  Botschaft  zum  Denken  und 
entspringe  ihm  wieder  nach  meiner  Lust.  Ich  bin  wie  der 
Vogel  des  Himmels,  das  Denken  wie  die  Fliege,  —  wie 
kann  die  Fliege  mir  helfen  wollen.? 


29 


Aus  dem  Diwan 

Was  ist  zu  tun,  o  Moslems?  Denn  ich  erkenne  mich  selber 
nicht.  Ich  bin  nicht  Christ,  nicht  Jude,  nicht  Parse,  nicht 
Muselmann.  Ich  bin  nicht  vom  Osten,  nichtvom  Westen, 
nicht  vom  Land,  nicht  von  der  See.  Ich  bin  nicht  von  der 
WerkstattderNatur,nichtvondenkreisendenHimmeln. 
Ich  bin  nicht  von  Erde,  nicht  von  Wasser,  nicht  von  Luft, 
nicht  von  Feuer.  Ich  bin  nicht  von  der  Gottesstadt,  nicht 
von  dem  Staube,  nicht  von  Sein  und  nicht  von  Wesen . . . 
Ich  bin  nicht  von  dieser  Welt,  nicht  von  der  andern,  nicht 
vom  Paradies,  nichtvon  derHölle.  Ich  bin  nicht  von  Adam,- 
nicht  von  Eva,  nicht  von  Eden  und  Edens  Engel.  Mein 
Ort  ist  das  Ortlose,  meine  Spur  ist  dasSpurlose ;  es  ist  we- 
derLeib  nochSeele,  denn  ichgehöre  derSeeledesGelieb- 
ten.  Ich  habe  Zw^eiheit  abgetan,  ich  habe  geschaut,  dass 
die  zw^ei  Welten  eine  sind.  Einen  suche  ich,  Einen  kenne 
ich.  Einen  schaue  ich.  Einen  rufe  ich.  Er  ist  der  Erste,  Er 
ist  der  Letzte,  Er  ist  der  Äusserste,  Er  ist  der  Innerste.  Ich 
Weissnichts  andres  als  »O  Er«  und  »OEr  der  ist«.  Ich 
bin  vom  Becher  derLiebe  berauscht,  die  Welten  sind  aus 
meinem  Blick  geschwunden;  ich  habe  kein  Geschäft,  als 
Geistes  Gelage  und  wilde  Zecherei.  Habe  ich  einmal  in 
meinem  Leben  einen  Augenblick  ohne  dich  verbracht, 
von  dieser  Zeit  und  von  dieser  Stunde  will  ich  mein  Leben 
bereuen.  Werde  ich  einmal  in  dieser  Welt  einen  Augen- 
blickmit  dirgewinnen,  will  ich  beideWelten  niedertreten, 
will  imTriumphe  tanzen  in  Ewigkeit. 


30 


AUS  DER  ERZÄHLUNG  DES  TEWEKKUL-BEG, 
SCHÜLERS  DES  MOLLÄ-SHÄH(M.  starb  1071  H  = 
1660/61  n.Chr.) 

Über  sein  Mystisches  Noviziat 

W'ÄHREND  einer  ganzen  Nacht  sammelte  er  (der 
Meister)  seinen  Geist  auf  mich,  während  ich  meine 
Betrachtung  auf  mein  eigenes  Herz  richtete;  aber  der 
Knoten  meines  Herzens  löste  sich  nicht.  So  gingen  drei 
Nächte  hin,  während  deren  er  mich  zum  Gegenstande 
seiner  geistigen  Aufmerksamkeit  machte,  ohne  dass 
irgend  eineWirkung  sich  fühlen  Hess.  In  der  vierten  Nacht 
sagte  Mollä-Shäh:„IndieserNachtwerdenMollä-Senghin 
und  Salih-Beg,diebeidedenekstatischenErregungen  sehr 
zugänglich  sind, ihrenganzen  Geistauf  diesen  Neophyten 
richten « .  Sie  gehorchten  diesem  Befehle,  während  ich  die 
ganzeNacht,dasAngesichtgegenMekkagewendet,  sitzen 
blieb  und  zugleich  alle  Fähigkeiten  meinerSeele  auf  mein 
eigenes  Herz  hinsammelte.  Um  die  Morgendämmerung 
zeigtesicheinwenigLichtundKlarheitinmeinemHerzen, 
aberichkonnte  weder  Farbenoch  Gestaltunterscheiden. 
Nach  dem  Morgengebete  begab  ich  mich  mit  den  beiden 
Personen,  die  ich  eben  genannt  habe,  zum  Meister,  der 
mich begrüssteund sie  fragte,  wassieausmirgemachthät- 
ten.Sie  antworteten  ihm:  »Frage  ihn  selbst  «.Zu  mir  ge- 
wendet, forderte  ermich  auf,  ihm  meineEindrückezu  er- 
zählen. Ich  sagte  ihm,  dass  ich  eine  Helligkeit  in  meinem 
Herzen  wahrgenommen  habe,  worauf  der  Scheich  leb- 
hafter wurde  und  mir  sagte:  » Dein  Herzschliesst  eine  Un- 
endlichkeitvonFarbenein,  aber  esistso  finster  geworden, 
dass  die  Blicke  dieser  beiden  Krokodile  des  unendlichen 

31 


Ozeans  (des  mystischen  Wissens)  ihm  den  Glanz  und  die 
Durchsichtigkeit  nicht  haben  wiedergeben  können.  Der 
Augenblick  ist  gekommen,  da  ich  selbst  zeigenwerde,  wie 
man  es  erleuchtet."  Nach  diesen  Worten  hiess  er  mich, 
mich  ihm  gegenübersetzen,  während  meine  Sinne  wie 
berauscht  waren,  und  befahl  mir,  in  meinem  Innern  sein 
eigenes  Bild  zu  erzeugen ;  und  nachdem  er  mir  die  Augen 
verbunden  hatte,  forderte  er  mich  auf,  alle  meine  Seelen- 
kräfte auf  mein  Herz  hinzusammeln.  Ich  gehorchte,  und 
im  Augenblick,  auf  die  göttliche  Gunst  und  den  geistigen 
Beistand  des  Scheichs  hin,  öffnete  sich  meinHerz.  Ich  sah, 
dass  in  meinem  Innern  etwas  war,  das  einem  umgestürz- 
ten Becher  glich;  als  dieser  Gegenstand  aufgerichtet  wor- 
den war,  erfüllte  ein  Gefühl  uneingeschränkter  Glück- 
seligkeitmeinWesen.  Ich  sagte  zum  Meister:  »Vondieser 
Zelle,  in  der  ich  vor  Dir  sitze,  sehe  ich  ein  treues  Bild  in 
meinem  Innern,  und  das  erscheint  mir,  als  ob  ein  anderer 
Tewekkul-Beg  vor  einem  anderen  Mollä-Shäh  sässe « .  Er 
antwortete:  »Das  ist  gut;  die  erste  Erscheinung,  die  sich 
deinem  Blicke  bietet,  ist  das  Bild  deines  Meisters;  deine 
Gefährten  (die  anderen  Novizen)sind  daran  durch  andere 
mystische  Übungen  verhindert  worden;  aber  was  mich 
anlangt,  ist  es  nicht  das  erste  Mal,  dass  dieser  Fall  sich  mir 
darstellt«. 

Er  befahl  mir  sodann,  meine  Augen  aufzudecken,  was  ich 
tat,  und  da  sah  ich  mit  dem  leiblichen  Organe  des  Sehens 
ihn  vor  mir  sitzen ;  er  Hess  mich  sie  von  neuem  verbinden, 
und  ich  erblickte  ihn  in  meinem  geistigen  Gesichte  ebenso 
vor  mir  sitzen.  Des  Staunens  voll  rief  ich  aus : » O  Meister, 
ob  ich  durch  meine  leiblichen  Organe  oder  durch  mein 
geistiges  Gesicht  schaue,  immer  bist  du  es,  den  ich  sehe! « 

32 


Ich  fügte  mich  genau  den  Vorschriften  meines  Meisters 
und  von  Tag  zu  Tag  entschleierte  sich  mir  die  geistige 
Welt  immer  mehr;  am  nächstenTagesahichdieGestal- 
ten  des  Propheten  und  seiner  Hauptgefährten,  und  Legi- 
onen von  Engeln  und  Heiligen  zogen  vor  meinem  innern 
Blick  vorbei.  Drei  Monate  vergingen  in  dieserWeise,  da- 
nach öffnete  sich  mir  die  Sphäre,  v^o  jede  Farbe  verfliesst, 
und  da  verschwanden  alle  Bilder.  Während  dieser  Zeit 
hörtederMeister  nicht  auf,  mir  die  Lehre  derVereinigung 
mit  Gott  und  des  mystischen  Schauens  zu  erklären ;  aber 
die  absolute  Wirklichkeit  wollte  sich  mir  noch  nicht  zei- 
gen.Erstnach  einem  Jahre  kam  zu  mir  dasWissen  der  ab- 
soluten Wirklichkeit  in  Beziehung  auf  die  Erfassung  mei- 
neseigenen  Daseins.  DiefolgendenVerse  offenbarten  sich 
in  diesemAugenblickmeinemHerzen,vondem  siegleich- 
samohne  mein  Wissen  auf  meine  Lippen  übergingen : 
Ich  wusste  nicht,  dass  dieser  Leichnam  etwas  anderes  sei 
als  Wasser  und  Erde ; 

Ich  kannte  nicht  die  Kräfte  des  Herzens,  der  Seele,  des 
Leibes; 

Welch  Missgeschick,  dass  ohne  dich  diese  Zeit  meines 
Lebens  verging! 
Du  warst  ich  und  ich  wusste  es  nicht. 


3    Buber,  Konfessionen 

35 


PLOTINOS(204— 269) 

OFTMALS  wenn  ich  aus  dem  Leibe  zu  mir  selber  er- 
wache und  aus  der  Anderheit  in  mich  selber  trete, 
schaue  ich  eine  gar  wunderbare  Schönheit.  Ich  glaube 
dann  am  stärksten,  der  grösseren  Bestimmung  anzu- 
gehören, und  wirke  in  meiner  Kraft  das  vollkommene 
Leben,  und  bin  mit  dem  Göttlichen  Ein  Ding  geworden, 
und  da  ich  darein  gegründet  bin,  gelange  ich  zu  jener  Ge- 
walt und  hebe  mich  über  alles  Erkennbare.  Steige  ich, 
nachdem  ich  so  im  Göttlichen  gestanden  habe,  aus  dem 
Geiste  insDenken  nieder,  dann  weiss  ich  nicht :  wie  kann 
dies  sein,  dass  ich  jetzt  niedersteige,  und  wie  konnte  es 
sein,  dassdieSeele  einst  in  meinen  Leib  geriet,  da  sie  doch 
das  ist,  als  was  sie  sich  mir  nun,  wiewohl  im  Leibe  ver- 
harrend, in  sich  selber  offenbarte.? 

Wer  es  geschaut  hat,  weiss,  was  ich  sage :  dass  die  Seele 
dann  ein  anderes  Leben  empfängt,  wenn  sie  herantritt 
und  schon  herangetreten  ist  und  schon  Ihn  besitzt,  also 
dass  sie,  dieses  erfahrend,  erkennt:  der  Chorführer  des 
wahren  Lebens  ist  da  und  nun  tut  nichts  anderes  mehr 
not,  nein  das  Andere  ist  abzutun,  und  in  diesem  Einen 
soll  ich  stehen  und  dieses  Eine  werden,  wenn  ich  alles, 
was  mich  umhüllt,  weggestreift  habe.  So  müssen  wir 
denn  eilen  hinauszukommen  und  unwillig  werden  über 
unser  Gebundensein,  auf  dass  wir  mit  unserem  ganzen 
Wesen  ihnumfangenundkeinenTeilmehranunshaben, 
mit  dem  wir  nicht  Gott  berührten.  Dann  dürfen  wir  ihn 
hier  schauen  und  uns  selber, wie  zu  schauen  frommt:  uns 
selber  in  derGlorie,  des  geistigen  Lichtes  voll,  nein  reines 

34 


Licht  selber,  unbeschwert,  leicht,  Gott  geworden,  nein 
Gott  seiend.  Entbrannt  sind  wir  da,  sinken  wir  aber 
wieder,  wie  ausgelöscht. 

Warum  bleiben  wir  aber  nicht  dort.?^  Weil  wir  uns  noch 
nicht  ganz  losgemacht  haben.  Es  wird  aber  eineZeit  sein, 
da  wir  beständig  schauen  werden,  ohne  irgend  eine  Un- 
ruhe des  Leibes  zu  erfahren.  Nicht  aber  istdasSchauende 
das  Beunruhigte,  sondern  das  Andere  ist  es:  wenn  das 
Schauende  die  Betrachtung  entlässt ,  aber  das  Wissen 
nicht  endässt,  das  in  Beweisen  und  Meinungen  und  in 
dem  Denken  der  Seele  wohnt;  das  Schauen  jedoch  und 
das  Schauende  ist  nicht  mehr  Gedanke,  sondern  grösser 
als  der  Gedanke  und  vor  dem  Gedanken  und  über  dem 
Gedanken,  wie  das  Geschaute  ist.  Wer  aber  sich  selber 
geschaut  hat,  der  wird,  wenn  er  schaut,  einen  sehen, 
der  einfach  geworden  ist,  vielmehr  er  wird  mit  sich  als 
mit  einem  solchen  Zusammensein  und  wird  sich  als 
einen  solchen  wahrnehmen.  Vielleicht  darf  man  sogar 
nicht  sagen:  er  wird  schauen.  Das  Geschaute  aber  — 
wenn  man  von  diesen,  dem  Schauenden  und  dem  Ge- 
schauten, als  von  zweien  zu  reden  hat  und  nicht  viel- 
mehr von  beiden  als  von  Einem,  was  freilich  eine  kühne 
Rede  wäre  —  schaut  der  Schauende  dann  nicht  und 
scheidet  nicht  und  empfindet  nicht  Zweiheit,  sondern 
er  ist  gleichsam  ein  anderer  geworden  und  ist  nicht 
mehr  er  selber  und  gehört  sich  dort  selber  nicht  mehr: 
Jenes  Eigen  gev/orden  ist  er  mit  ihm  Eines,  wie  Mitte 
auf  Mitte  gefügt;  wie  ja  auch  hier  zusammenfallende 
Dinge  Eines  sind  und  nur  gesondert  zwei.  So  reden 
auch  wir  jetzt  von  einer  Verschiedenheit.  Darum  auch 
ist  das  Schauen  unsagbar.  Denn  wie  sollte  einer  das 

3* 

35 


als  ein  Verschiedenes  künden,  was  er,  als  er  es  sah,  nicht 
als  einVerschiedenes  schaute,  sondern  als  Eines  mit  ihm 
selber? 

Dies  meint  offenbar  das  Gebot  der  Mysterien,  den  Un- 
geweihten  nichts  mitzuteilen.  Denn  da  Jenes  nicht  sag- 
bar ist,  verbot  das  Göttliche,  es  denen  zu  künden,  denen 
nicht  gewährt  ist,  selbst  es  zu  schauen . 
Da  also  nicht  zwei  waren,  sondern  Eines  waren  der 
Schauende  und  das  Geschaute,  gleich  als  wäre  da  nicht 
Geschautes,nurGeeintes,so  magwohl,derda  mit  Jenem 
vermischt  zu  Einem  wurde,  in  sich,wenn  er  sich  entsinnt, 
ein  Bild  von  Jenem  haben.  Er  war  aber  damals  auch  sel- 
ber Eines  und  hatte  in  sich  keinerlei  Scheidung,nichtvon 
sich  und  nicht  von  anderen;  denn  nichts  bewegte  sich  in 
ihm,  nicht  Zorn,  nicht  Begier  nach  anderem  war  inihm, 
als  er  aufgestiegenwar,  aber  auch  nicht  ein  Gedanke  oder 
irgendein  Erkennen,  ja  ganz  er  selber  nicht,  wenn  man 
auch  dieses  sagen  darf;  sondern  wie  entrückt  und  be- 
geistert stand  er  in  einsamer  Ruhe  und  wandellosem  Be- 
harren, mit  seinem  Wesen  nirgendhin  abweichend  und 
sich  auch  nicht  um  sich  selber  mehr  drehend,  gänzlich 
feststehend  und  gleichsam  Stillstand  geworden.  Auch 
nicht  dem  Schönen  gehörte  er  mehran,  sondern  auch  das 
Schöne  hat  er  schon  unter  sich,  auch  über  den  Reigen  der 
Tugenden  ist  er  hinweggeschritten,  wie  einer,  der  in  das 
innere  Heiligtum  eingedrungen  ist  und  die  Götterbilder 
hinter  sich  im  Tempel  gelassen  hat,  sie,  die  ihm  zuerst 
wieder  begegnen,  wenn  er  aus  dem  Heiligtum  tritt,  wo 
er  geschaut  hat  und  sich  vereint  hat  mit  dem,  was  nicht 
Bild  und  Gestalt,  sondern  es  selber  ist ;  nunmehr  werden 
jene  ihm  ein  zweiter  Anblick.  Es  war  aber  wohl  gar  kein 

56 


Schauen,  sondern  eine  andere  Art  des  Gewahrens,  ein 
Hinaustreten  und  Einfachwerden  und  sich  Weggeben 
und  ein  Verlangen  nach  Berührung  und  eine  Ruhe  und 
ein  Sinnen  auf  Vereinigung :  wenn  wirklich  einer  das  Sei- 
ende im  inneren  Heiligtum  schauen  wird. 


37 


VALENTINOS  (2.  Jahrhundert) 

VALENTINOS  sagt,  er  habe  ein  kleines,  eben  ge- 
borenes Kind  gesehen,  von  dem  er  durch  Fragen  er- 
forscht habe,  wer  es  sei.  Das  aber  antwortete  und  sprach, 
es  sei  der  Logos.  Dann  setzt  er  einen  tragischen  Mythos 
hinzu... 

(Anfang  des  Mythos:) 

Wie  alles  hangt,  sehe  ich  im  Geiste. 

Wie  alles  getragen  wird,  erkenne  ich  im  Geiste. 

Das  Fleisch  sehe  ich  an  der  Seele  hangen. 

Die  Seele  von  der  Luft  getragen  werden. 

Die  Luft  am  Äther  hangen. 

Aus  dem  Abgrund  aber  sehe  ich  Früchte  entsprossen, 

Aus  dem  Mutterschosse  ein  Kind  entsprossen. 


?8 


WORTE  MONTANS  UND  DER  MONTANISTIN- 
NEN (2.  Jahrhundert) 

Montanas 

DER  Paraklet  spricht :  Siehe  der  Mensch  ist  wie  eine 
Lyra,  und  ich  fliege  hinzu  wie  ein  Plektron.  Der 
Mensch  schläft,  und  ich  wache.  Siehe  der  Herr  ist's,  der 
Menschenherzen  aus  der  Brust  nimmt  und  ein  Herz  den 
Menschen  gibt. 

Priska 

Reinheit  vereint,  und  sie  sehen  Gesichte,  und  das  Antlitz 
niederbeugend  hören  sie  auch  deutliche  Worte,  sowohl 
heilsame  als  verborgene. 

Maximilla 

(Der  Geist  redet  durch  sie:)  Ich  werde  verfolgt  wie  ein 
Wolf  unter  Schafen ;  ich  bin  kein  Wolf;  Wort  bin  ich  und 
Geist  und  Kraft. 


39 


SYMEON  DER  NEUETHEOLOGE(etwa97o- 1 040) 

Liebesgesänge  an  Gott  (ep2te2  t£n  eEmN'YMNSiJV) 

KOMM,  den  meine  arme  Seele  verlangt  hat  und  ver- 
Jangt.  Komm, Einsamer,  zumEinsamen;denn  ein- 
sam bin  ich,  wie  du  siehst.  Komm ,  der  du  mich  abgeson- 
dert und  einsam  auf  Erden  gemacht  hast.  Komm,  der  du 
meinVerlangen  geworden  bist,  und  der  du  gemacht  hast, 
dassichdichverlange,  dem  zuzustreben  niemand  vermag. 
Komm,  mein  Atem  und  mein  Leben.  Komm, Trost  mei- 
ner Seele.  Komm,  Jubel  und  Herrlichkeit,  und  mein  be- 
ständiges Ergötzen .  Ich  sage  dir  Dank,  da  du  mit  mir  ohne 
Vermischung,Umwandlungund  Eintauschung  einGeist 
geworden  bist,  und  der  du  Gott  über  allem  bist,  mir  alles  in 
allem  geworden  bist.  Unerklärliche  Speise,  die  unmöglich 
verzehrt  werden  kann,  und  die  den  Lippen  meiner  Seele 
sich  unablässig  eingiesst  und  in  der  Quelle  meines  Her- 
zens übervoll  strömt.  Blitzendes  Gewand,  das  die  Dämo- 
nen versengt.  Heimsuchung,  die  mich  reinigt  durch  die 
steten  und  heiligen  Tränen,  die  deine  Gegenwart  denen 
spendet,  zu  denen  du  kommst.  Ich  sage  dir  Dank,  weil  du 
mir  ein  Tag  ohne  Abend  geworden  bist  und  eine  Sonne 
ohne  Untergang :  der  du  nicht  hast  wohin  du  dich  verbär- 
gest, da  du  mit  deiner  Glorie  die  Welten  füllest.  Niemals 
hast  du  dich  je  vor  irgend  einem  verborgen,  sondern  wir 
selber  verbergen  uns  vor  dir,  da  wir  zu  dir  nicht  kommen 
wollen.  Denn  wo  solltest  du  dich  verbergen,  der  du  nir- 
gends einen  Ort  zu  ruhen  hast.?*  Oder  warum  solltest  du 
dich  verbergen ,  der  du  von  allen  keinen  verschmähst, 
keinen  scheust?  So  schlage  denn,  liebreicher  Herr,  ein 

40 


Zelt  in  mir  auf  und  wohne  in  mir,  und  bis  zu  meinem  Ab- 
scheiden trennedichnicht  und  sondredich  nichtvon  mir, 
deinem  Diener,  dass  auch  ich  in  meinem  Tode  und  nach 
meinem  Tode  mich  in  dir  erfinde  und  mit  dir  herrsche, 
Gott,  der  alles  beherrscht.  Bleibe,  Herr,  und  lasse  mich 
nicht  allein,  dass  wenn  meine  Feinde  kommen,  die  unab- 
lässig suchen  meine  Seele  zu  verschlingen,  sie  dich  in  mir 
weilend  erschauen  und  weit  und  weiter  entfliehen,  und 
mir  nicht  obsiegen,  da  sie  dich,  der  stärker  ist  als  alle, 
drinnen  inderWohnung  meinerdemütigen  Seele  ruhend 
erblicken.  Fürwahr,  wie  du  eingedenk  warst  dessen,  o 
Herr,  dass  ich  auf  der  Welt  war,  und  ohne  mein  Wissen 
mich  erwählt  und  von  der  Welt  weggehoben  und  vor  das 
Antlitz  deiner  Glorie  hingestellt  hast,  so  mache  mich 
innen  gefestigt, immerdar  unbewegt,  und  beschützemich 
durch  deinWohnen  in  mir,  dass  dich  täglich  anschauend 
ich  Toter  lebe,  dich  besitzend  ich  Armer  reich  sei.  So 
werde  ich  mächtiger  alsalle  Könige  sein :  und  dich  essend 
und  trinkend  und  in  besonderen  Stunden  mich  in  dich 
hüllend  unsagbarer  Wonnen  geniessen. 

Meine  Zunge  entbehrt  der  Worte,  und  was  in  mir  ge- 
schieht, sieht  mein  Geist  wohl,  aber  er  erklärt  es  nicht.  Er 
betrachtet  und  will  aussprechen,  aber  das  Wort  findet  er 
nicht.  Erschaut  dasUnsichtbare,  das  allerGestalt  Ledige, 
durchaus  Einfache,  nicht  Zusammengesetzte,  und  an 
Grösse  Unendliche.  Denn  er  erblickt  keinen  Anfang,  und 
keinEndeschauter,  und  istgänzlich  keinerMittebewusst, 
und  weiss  nicht,  wie  er  das  sagen  soll,  was  er  sieht.  Etwas 
Ganzes  erscheint,  wie  ich  meine,  und  nicht  mit  dem  We- 
sen selbst,  sonderndurcheineTeilnahme.DennanFeuer 

41 


entzündest  du  Feuer  und  das  ganze  Feuer  empfängst  du : 
jenes  aber  bleibt  ungemlndert  und  ungeteilt  wie  vordem. 
Gleichwohlsondert  sich,wasmitgeteiltwird,von dem  Er- 
sten; und  alseinKörperhaftesgehtesinmehrereLeuchten 
ein.  JenesaberisteinGeistiges,unermesslich, untrennbar 
und  unerschöpflich.  Denn  nicht  scheidet  es  sich,wenn  es 
sichhingibt,  in  viele,  sondern  verharrt  ungeteilt,und  ist  in 
mir,  und  geht  drinnen  in  meinem  armen  Herzen  aufw^ie 
eine  Sonne  oder  runde  Sonnenscheibe,  dem  Lichte  ähn- 
lich, denn  es  ist  ein  Licht.  Ich  weiss  nicht,  was  ich  davon 
sagen  soll.  Und  ich  wollte  schweigen,  —  dass  ich's  doch 
vermöchte:  aber  das  Wunder,  des  Schauers  voll,  erregt 
dieSeele,  und  erschliesst  meinen  unreinen  Mund :  und  der 
nun  in  meinem  dunkelnHerzendenAufgangerweckthat, 
zwingt  mich  Unwilligen  zum  Reden,  zum  Schreiben. 

Welches  ist,  omein  Erlöser,  dieses  dein  ungemessenes 
Erbarmen.^  Wie  wolltest  du  mich  Unreinen,  mich  Ver- 
lorenen, mich  Verbuhlten  zu  deinem  Gliede  werden  las- 
sen.?^ Wie  hast  du  mich  mit  dem  hellsten  Gewände  be- 
kleidet, das  vom  Glänze  der  Unsterblichkeit  blinkt  und 
alle  meine  Glieder  hell  macht.^^  Denn  dein  ganzer,  unbe- 
fleckter, göttlicher,  unvermischter,  undin  unaussprech- 
licher Weise  vermischter  Körper  blitzt  im  Feuer  deiner 
Göttlichkeit,unddieseshastdumirgeschenkt,  mein  Gott. 
Denn  dieser  meiner  schmutzigen,  vergänglichen  Hütte 
vereint  sich  dein  unbeflecktester  Körper,  und  mein  Blut 
mischt  sich  deinem  Blute,  ich  weiss,  vereint  bin  ich  auch 
deiner  Gottheit  und  bindein  allerreinsterLeib  geworden, 
ein  leuchtendes  Glied,  ein  Glied,  wahrhaft  heilig,  weithin 
schimmernd.  Ich  schaue  die  Schönheit,  ich  schaue  den 

42 


Glanz,  ich  betrachte  das  Licht  deiner  Gnade,  und  starr  e 
in  den  unerklärten  Blitz,  und  gerate  ausser  mir,  da  ich 
merke,  welcher  ich  gewesen,  welcher,  oWunder,  gewor- 
den bin :  und  ich  verehre  und  ich  scheue  mich  selber,  und 
wie  dich  ehre  und  fürchte  ich  mich,  und  bin  verwirrt, 
und  verzage,  wohin  ich  mich  setzen,  wem  mich  nähern, 
wo  deine  Glieder  lehnen,  zu  welchen  Werken,  zu  wel- 
chen Taten  ich  so  verehrungswürdigeundgöttlicheGlie- 
der  brauchen  soll. 

Mich  liebt  er,  der  nicht  in  dieser  Welt  ist.  Und  inmitten 
meiner  Zelle  sehe  ich  ihn,  der  ausser  der  Welt  ist.  Auf 
meinem  Bette  sitze  ich,  und  weile  ausser  der  Welt.  Ihn 
aber,  der  ewig  und  doch  geboren  ist,  sehe  ich,  und  rede 
mit  ihm  und  wage  zu  sagen :  Ich  liebe,  denn  er  liebt  mich. 
Ich  nähre  mich  vonderBetrachtung,  ich  kleide  mich  dar- 
ein; ihm  vereint  übersteige  ich  die  Himmel.  Und  dass 
dies  wahr  und  gewiss  ist,  weiss  ich.  Wo  aber  dann  dieser 
Leib  ist,  erkenne  ich  nicht.  Ich  weiss,  dass  hinabsteigt, 
der  unbewegt  ist.  Ichweiss,  dass  von  mir  geschaut  wird, 
der  von  Natur  unschaubar  ist.  Ich  weiss,  dass  er,  der  aller 
Kreatur  weit  entrückt  ist,  mich  in  sich  aufnimmt  und 
mich  in  seinen  Armen  verbirgt,  und  ich  finde  mich  ausser 
der  ganzen  Welt.  Hinwieder  schaue  ich  Sterblicher,  und 
in  der  Welt  ein  Geringer,  den  ganzen  Schöpfer  der  Welt 
in  mir:  und  dieweil  ich  im  Leben  bin,  umfange  ich  in  mir 
das  ganze  blühende  Leben  und  weiss,  dass  ich  nicht  ster- 
ben werde.  In  meinem  Herzen  ist  er,  und  wohnt  im  Him- 
mel :  hier  und  dort  sehe  ich  ihn  in  gleichem  Leuchten. 

Wir  sind  Glieder  Christi,  Christus  unsere  Glieder.  Und 

43 


meine,  des  Allerärmsten  Hand  ist  Christus  und  mein  Fuss 
ist  Christus.  Und  Christi  Hand  und  Christi  Fuss  ich,  der 
Ärmste.  Ich  bewege  die  Hand  —  auch  Christus,  denn  er 
ist  ganz  meine  Hand:  du  musst  verstehen,  dass  die  Gott- 
heit ungeteilt  ist.  Ich  bewege  den  Fuss  —  er  leuchtet  wie 
Jener.  Sage  nicht,  ich  lästerte,  sondern  bestätige  dieses, 
und  bete  Christum  an,  der  dich  so  gemacht  hat.  Denn  du 
auch,wenndu  willst,wirst  zu  seinem Gliede  werden.  Und 
so  werden  alleGlieder  einesJedenvon  unsGliederChristi 
werden  und  Christus  unserGlied,  und  er  wird  alles  Häss- 
liche  und  Unförmliche  schön  und  wohlgestaltet  machen, 
esschmückendmitderHerrlichkeitundEhreseinerGott- 
heit;  und  wir  werden  allesamt  Götter  werden,  mit  Gott 
vertraulich  geeinigt,  keines  Makels  an  unserem  Leibe  ge- 
wahr, sondern  ganz  der  Ähnlichkeit  des  ganzen  Leibes 
Christi  teilhaftig  geworden,werden  wir  Jeder  den  ganzen 
Christushaben.  Denn  derEine,  zu  Vielen  geworden, bleibt 
Einer  ungeteilt;  jeder  Teil  aber  ist  der  ganze  Christus. 

Er  selbst  ist  in  mir  gegenwärtig  und  strahlt  in  meinem  ar- 
men Herzen,  kleidet  mich  in  unsterblichen  Glanz  und 
durchleuchtet  alle  meineGlieder, umfängt  mich  ganz,ge- 
währt  mir  ganzdenKuss,undgibt  sich  ganz  mir  Unwürdi- 
gem, und  von  seiner  Liebe  und  Schönheit  sättige  ich  mich 
und  werde  erfüllt  von  derWonne  und  Süssigkeit  der  Gott- 
heit. Teilhaft  werde  ich  des  Lichtes,  teilhaftder  Herrlich- 
keit, und  mein  Angesicht  leuchtet  wie  dessen,  der  mein 
Begehren  ist,  und  alle  meine  Glieder  werden  hell,  präch- 
tiger als  die  Prächtigen  werde  ich  da,  reicher  als  die  Rei- 
chen, machtvoller  als  alle  Machthaber,  und  grösser  bin 
ich alsdie  Könige,  und  um  einVieles  geehrter  als  allesicht- 

44 


baren  Dinge,  nicht  als  die  Erde  bloss  und  was  auf  Erden 
ist,  sondern  als  der  Himmel  auch  und  alles  was  in  den 
Himmeln  ist,  da  ich  den  Bildner  aller  Dinge  bei  mir  habe, 
dem  gebührt  der  Ruhm  und  die  Ehre  jetzt  und  in  Ewig- 
keit. Amen. 

Als  er  mich  mit  himmlischer  Freude  erfüllt  hatte,  entflog 
er  und  nahm  meinen  Geist,  meinen  Sinn  und  aller  irdi- 
schen Dinge  Begier  mit  sich.  Und  ihm  folgend  verlangte 
mein  Geist  den  geschauten  Glanz  zu  umfassen,  aber  er 
fand  ihn  nicht  als  Kreatur  und  es  geriet  ihm  nicht,  aus  den 
Kreaturen  zu  gehen,  dass  er  jenen  unerschaffenen  und 
unerfassten  Glanz  umfange.  Dennoch  umzog  erallesund 
strebte  jenen  zu  schauen.  Er  durchforschte  die  Luft,  er 
umwandelte  den  Himmel,  er  überschritt  die  Abgründe, 
erdurchspähte,wie  ihm  schien, dieEndenderWelt.  Aber 
in  alle  dem  fand  er  nichts,  denn  geschaffen  war  alles.  Und 
ich  klagte  und  trauerte  und  brannte  in  Kerne,  und  wie  ein 
im  Geiste  Entrückter,  so  lebte  ich.  Er  aber  kam,  als  er 
wollte,  und  wie  eine  lichte  Nebelwolke  niedersteigend, 
schien  er  mein  ganzes  Haupt  zu  umlagern,  dass  ich  be- 
stürzt aufschrie.  Er  aber  wieder  entfliegend  Hess  mich  al- 
lein. Und  als  ich  ihn  mühevoll  suchte,  erfuhr  ich  jählings, 
dasserinmirselberwar,  undinderMittemeinesHerzens 
erschien  er  wie  das  Licht  einer  kreisrunden  Sonne.  Als  er 
so  sich  offenbarte  und  ich  ihn  erkannteund  empfing,  trieb 
er  den  Wirbel  der  Dämonen  in  die  Flucht,  stiess  die  feige 
Scheu  zurück,  gab  die  Stärke  ein,  entblösste  mein  Gemüt 
vom  irdischen  Sinn  und  umkleidete  mich  mit  dem  Sinne 
des  Geistes.  Von  den  Dingen,  die  gesehen  werden,  schied 
er  mich  ab,  und  mitdenen,  die  nichtgesehen  werden,ver- 

45 


band  er  mich.  Er  gewährte  mir,  das  Unerschaffene  zu 
schauen,  und  mich  dessen  zu  erfreuen,  dass  ich  vom  Er- 
schaffenen, vom  Sichtbaren,  vom  Schnellvergänglichen 
gesondert  war  und  vereinigt  dem  Unerschaffenen,  dem 
Unsterblichen,  das  des  Anfangs  bar  ist  und  von  Keinem 
erblickt  werden  kann.  SolcherArt  ist  das  Erbarmen. 

Lasset  mich  allein,  in  meine  Zelle  eingeschlossen.  Ent- 
lasset mich  mit  Gott,  der  allein  der  Gütige  ist.  Tretet  zu- 
rück, entfernet  euch.  Lasset  mich  allein  im  Angesichte 
Gottes  sterben,  der  mich  gebildet  hat.  Keiner  poche  an 
dieTür.  Keiner  erhebe  die  Stimme.  Keiner  von  den  Ver- 
wandten und  Freunden  suche  mich  heim.  Keiner  ziehe 
meinenGeistvonderBetrachtungdesguten  und  schönen 
Herrn.  Keiner  reichemirSpeise,  keiner  bringe  mirTrank. 
Denn  es  wird  mir  genügen  zu  ersterben  im  Anblick  mei- 
nes Gottes,  des  barmherzigen,  des  gütigen  Gottes,  der  zur 
Erde  herabstieg,  um  die  Sünder  zu  rufen  und  sie  mit  sich 
in  das  himmlische  Leben  zu  führen.  Ich  will  nicht  länger 
das  Licht  dieser  Welt  schauen,  noch  die  Sonne  selber, 
noch  alles  was  auf  der  Welt  ist.  Denn  ich  schaue  meinen 
Herrn,  ich  schaue  den  König.  Ich  schaue  das  wahrhaft 
seiende  Licht  und  alles  Lichtes  Schöpfer.  Ich  schaue  die 
Quelle  alles  Schönen.  Ich  schaue  dieUrsache  allerDinge. 
Ich  schaue  den  Anfang,  derdes  Anfangs  ermangelt,  durch 
den  alles  hervorgebracht  wurde  und  durch  den  alles  lebt 
und  Nahrung  empfängt ;  und  aus  dessen  Willen  alles  ver- 
scheidet und  aufhört ...  Da  ich  ihn  schaute,  kam  ich  von 
Sinnen.  Ihralso,denendieSinnebefehlen, entlasset  mich, 
und  gewähret  mir  nicht  bloss  mich  allein  in  der  Zelle  zu 
verschliessen  und  drin  zu  sitzen ;  sondern  wenn  ich  mich 

46 


drin  wie  in  einer  Grube  verbergen  und  ein  Leben  ausser 
der  ganzen  Welt  leben  werde,  anschauend  meinen  un- 
sterblichen Herrn  und  Schöpfer,  werde  ich  durch  seine 
Liebe  sterben  wollen,  und  werde  wissen,  dass  ich  durch- 
aus nicht  sterben  werde. 

Der  du  von  der  Allgemeinheit  nicht  ergriffen  werden 
kannst,  wahrlich  klein  wirst  du  irgendwie  in  meinen 
Händen,  und  meinen  Lippen  neigst  du  dich  leuchtend 
wie  ein  lichtes  Euter  und  eine  Süssigkeit,  o  des  Geheim- 
nisses. Und  nun  gib  dich  mir,  dass  ich  michdeinersättige, 
dassichküsseundumfangedeineunsägliche  Herrlichkeit, 
das  Licht  deines  Angesichtes,und  erfüllt  werde  und  allen 
anderen  mitteile  und  abgeschieden  ganz  verherrlicht  in 
dich  komme.  Aus  deinem  Lichte  selbst  zu  Licht  gewor- 
den, möge  ich  bei  dir  stehen,  und  der  Sorgen  der  vielen 
Übel  entledigt,  möge  ich  auch  von  derFurchtbefreitwer- 
den,  dass  ich  nicht  wieder  eingewandelt  werde.  Gib  mir 
auchdieses,  Herr,  teile  mir  auch  dieses  zu,  der  du  mir  Un- 
würdigem alles  andere  gegeben  hast.  Dieses  tut  mir  am 
meisten  not  und  in  diesem  ist  alles.  Denn  wenn  du  auch 
jetzt  von  mir  geschaut  wirst,wenn  du  dich  auch  jetztmei- 
ner  erbarmst,  wenn  du  mich  auch  jetzt  erleuchtest  und 
mystisch  lehrest  und  mich  bewachest  und  mit  deiner 
mächtigen  Hand  mich  beschützest  und  mir  beistehst, 
und  die  Dämonen  in  die  Flucht  treibst,  und  sie  vernich- 
test, und  alles  mir  unterwirfstund  allesmirdarreichst  und 
mich  mit  allem  Guten  erfüllest,  —  mein  Gott,  dennock 
gewinne  ich  aus  alle  diesem  nichts,  wenn  du  mir  nicht  ge- 
währst, ohne  Scham  die  Pforten  desTodes  zu  überschrei- 
ten; wenn  nicht  der  Fürst  der  Finsternis  herantretend 

47 


deine  Herrlichkeit  bei  mir  wohnen  sieht  und  zu  Schan- 
denwird,derDunkleversehrtvondeinem  unzugänglichen 
Lichte ,  und  mit  ihm  alle  feindseligen  MächtedasZeichen 
deines  Siegels  schauen  und  sich  davor  zur  Flucht  wen- 
den, ich  aber  deiner  Gnade  vertrauend  unverzagt  hin- 
überschreite ,  mich  dir  nähere  und  vor  dir  niederfalle. 
Welche  Frucht  werde  ich  davon  empfangen,  was  jetzt  in 
mir  geschieht?  Wahrhaft  keine,  sondern  dasFeuer  in  mir 
wird  es  noch  mehr  entzünden. 

Ich  sah  ihn  wieder  ganz  in  meinem  Hause,  und  inmitten 
dieses  Gerätes  erhob  er  sich  unvermutet,  und  vereinte 
sich  mir  unaussprechlicher  Weise,  verband  sich  unsäg- 
licherWeisemit  mirundschwangsich  mirohneMischung 
zu  wie  das  Feuer  dem  Eisen,  wie  das  Licht  dem  Glase. 
Und  ermachtemich  dem  Feuer,  machtemichdemLichte 
gleich.  Und  ich  wurde  das,  was  ich  ehedem  sah  und  aus 
der  Ferne  schaute.  Ich  weiss  nicht,  wie  ich  dirdiese  wun- 
derbare Weise  berichten  soll.  Denn  ich  konnte  nicht  er- 
kennen und  erkenne  auch  jetzt  ganz  und  gar  nicht, wie  er 
in  mich  eintrat,  wie  sich  mir  vereinte.  Vereint  aber  mit 
ihm,  wie  soll  ich  dir  sagen,wer  er  ist,  der  mir,  dem  ich  hin- 
wieder mich  vereint  habe.?  Ich  fürchte,  du  möchtest  et- 
wa,wennichessage,esnichtglauben,undausdemNicht- 
wissen  in  die  Lästerung  fallend,  mein  Bruder,  deineSeele 
verlieren.  Eines  sind  ich  und  er  geworden,  dem  ich  ver- 
eint bin.  Aber  wie  soll  ich  mich  nennen,  der  mit  ihm 
vereint  wurde.?  Gott,von  Natur  doppelt,vonWesen  eins, 
macht  auch  mich  zwiefach,  und  wie  du  siehst,  gab  er  mir 
auch  einen  doppeltenNamen  ein.  Dies  ist  die  Scheidung: 
Mensch  bin  ich  von  Natur,  von  Gnaden  Gott. 

48 


Wieder  strahltmirdasLicht.Wiederschaueichdas  Licht 
in  Klarheit.  Wieder  öffnet  es  den  Himmel,  wieder  ver- 
treibt esdieNacht.Wieder  offenbart  esalles.  Wieder  wird 
es  allein  geschaut.  Wiederführt  es  mich  von  allen  sicht- 
baren, allen  dem  Sinne  zugehörigen  Dingen  ab,  reisst  mich 
von  ihnen  los.  Und  der  über  allen  Himmeln  ist,  den  kei- 
nerderMenschenjeerblickte,derkehrtwiederin  meinem 
Geiste  ein, ohnedenHimmel  zuverlassen, ohnedieNacht 
zu  zerteilen,  ohne  die  Luft  zu  durchbrechen,  ohne  das 
Dach  des  Hauses  niederzuschlagen,  ohne  irgend  ein  Ding 
zu  durchdringen,  und  in  die  Mitte  meines  Herzens,  o  er- 
habenes Geheimnis,  da  alles  bleibt  wie  es  ist,  stürzt  mir 
das  Licht  und  hebt  mich  über  alles  empor.  Und  ich,  der 
ich  inmitten  allerDinge  war,  stehe  ausser  allem,  ich  weiss 
nicht,  ob  nicht  auch  ausser  dem  Leibe.  Nun  bin  ich  in 
Wahrheit  ganz  da,  wo  das  Licht  allein  und  einfach  ist, 
und  aus  seiner  Betrachtung  gehe  ich  einfach  in  Unschuld 
hervor. 


4   Buber,  Konfessionen 

49 


HILDEGARD  VON  BINGEN(i  loo— 1 178) 
Aus  einem  Brief e 

O  treuer  Diener,  ich  armselige  weibliche  Gestalt  rede 
zu  dir  im  wahren  Gesichte  diese  Worte.  Wenn  es 
Gott  gefiele,  dass  er  in  diesem  Gesichte  meinen  Leib 
erhöbe,  wie  er  die  Seele  erhebt,  würde  die  Furcht  aus 
meinem  Geiste  und  Herzen  dennoch  nicht  weichen, denn 
ich  weiss,  dass  ich  ein  Mensch  bin,  wiewohl  von  meiner 
Kindheit  an  eingeschlossen.  Viele  Weise  sind  durch 
Wunder  so  verwirrt  worden,  dass  sie  manches  Geheime 
enthüllt  haben,  doch  um  des  eitlen  Ruhmes  willen  haben 
sie  es  sich  selber  zugeschrieben  und  so  sind  sie  gefallen. 
Aber  die  im  Aufstiege  der  Seele  von  Gott  die  Weisheit 
schöpften  und  sich  für  nichts  erachteten,  die  sind  dieSäu- 
len  des  Himmels  geworden . . . 

Und  wie  sollte  dies  sein,  wenn  ich  Armselige  mich  nicht 
erkennte.?  Gott  wirkt,  wo  er  will,  zum  Ruhme  seinesNa- 
mens  und  nicht  des  irdischen  Menschen.  Ich  aber  habe 
immer  eine  zitternde  Angst,  denn  ich  weiss  keine  Zuver- 
sicht irgend  einer  Möglichkeit  in  mir;  sondern  meine 
Hände  strecke  ich  zu  Gott,  dass  ich  wie  eine  Feder,  die 
aller  Schwere  der  Kräfte  entbehrt  und  im  Winde  fliegt, 
von  ihm  getragen  werde.  Und  was  ich  schaue,vermag  ich 
nicht  vollkommen  zu  wissen,  solange  ich  im  körperlichen 
Amte  bin  und  in  der  unsichtbaren  Seele;  denn  in  diesen 
beiden  ermangelt  es  dem  Menschen. 
Von  meiner  Kindheit  an  aber,  da  ich  an  Gebeinen  und 
Nerven  und  Adern  noch  nicht  erstarkt  war,  schaue  ich 
dieses  Gesicht  immer  in  meiner  Seele  bis  zur  gegenwär- 
tigen Zeit,  da  ich  schon  mehr  als  siebzig  Jahre  bin.  Und 

50 


meine  Seele  steigt,  wie  Gott  es  will,  in  diesem  Gesichte 
zur  Höhe  des  Firmamentes  und  indenWechsel  verschie- 
dener Lüfte  und  breitet  sich  zu  mannigfachen  Völkern 
hin, die  in  weiten  Ländern undRäumenmirentferntsind. 
Und  da  ich  dies  in  solcherWeise  in  meiner  Seele  schaue, 
nehme  ich  esauchnachdemWechselderWolkenschicht 
und  anderer  geschaffenen  Dinge  wahr.  Nicht  aber  höre 
ich  es  mit  den  äusseren  Ohren,  noch  empfange  ich  es 
in  den  Gedanken  meines  Herzens,  noch  irgend  unter  ei- 
nem Beitrage  meiner  fünf  Sinne,  sondern  in  meiner  Seele 
allein  bei  offenen  äusseren  Augen ,  so  dass  ich  niemals 
in  ihnen  die  Ermüdung  der  Ekstase  erleide,  sondern 
wachend  am  Tage  und  in  der  Nacht  schaue  ich  es.  Und 
beständig  werde  ich  von  Krankheiten  bedrängt  und  oft- 
mals in  schwere  Schmerzen  so  sehr  verwickelt,  dass  sie 
mir  den  Tod  zu  bringen  drohen;  aber  Gott  hat  mich  bis 
zu  dieser  Zeit  aufrecht  gehalten. 

Das  Licht  aber,  das  ich  schaue,  ist  nicht  örtlich,  sondern 
weit  und  weit  heller  als  die  Wolke,  die  die  Sonne  trägt. 
Und  nicht  vermag  ich  Tiefe  noch  Länge  noch  Breite  darin 
zu  erblicken.  Und  genannt  wird  es  mir  der  Schatten  des 
lebendigen  Lichtes.  Undwie  Sonne,  Mondund  Sterne  im 
Wasser  Widerscheinen,  so  erglänzen  mirdarindieSchrif- 
ten  und  die  Reden  und  die  Kräfte  und  etliche  Werke  der 
Menschen  im  Gebilde. 

Was  ich  aber  in  diesem  Gesichte  schauen  oder  erfahren 
mag,  dessen  Gedächtnis  habe  ich  durch  eine  lange  Zeit, 
so  dass  ich  mich  entsinne,  wann  ich  es  geschaut  und  ver- 
nommen habe.  Und  zur  gleichen  Zeit  sehe  ich  und  höre 
ich  und  weiss  ich  es,  und  was  ich  weiss,  besitze  ich  im 
Augenblick.  Was  ich  aber  nicht  schaue,  das  weiss  ich 

4* 

51 


nicht,  denn  ich  bin  ohne  Gelehrsamkeit,  und  nur  die 
Buchstaben  in  Einfalt  zu  lesen  bin  ich  unterwiesen  wor- 
den. Und  was  ich  im  Gesichte  schreibe,  das  sehe  und 
höre  ich,  und  ich  setze  keine  anderenWorte,alsdie  ich 
höre,  und  in  ungefeilter  Sprache  bringe  ich  sie  vor,  so- 
wie ich  sie  im  Gesichte  höre.  Denn  nicht  wie  die  Philo- 
sophen schreiben,werde  ich  in  diesem  Gesichte  zuschrei- 
ben gelehrt.  Und  dieWorte  in  diesem  Gesichte  sind  nicht 
wie  die  Worte,  die  aus  dem  Munde  des  Menschen  tönen, 
sondern  wie  eine  schwingende  Flamme  und  wie  eine 
Wolke  in  reiner  Luft  bewegt. 

Dieses  Lichtes  Gestalt  vermag  ich  in  keiner  Weise  zu 
erkennen,  wie  ich  das  Kreisrund  der  Sonne  nicht  voll- 
kommen anblicken  kann.  In  diesem  Lichte  aber  sehe 
ich  zuweilen  und  nicht  häufig  ein  anderes  Licht,  das  mir 
das  lebendige  Licht  genannt  wird,  und  wann  und  in  wel- 
cher Weise  ich  dieses  sehe,  das  weiss  ich  nicht  zu  sagen. 
Und  da  ich  es  schaue,  wird  mir  alle  Traurigkeit  und  alle 
Not  entrafft,  also  dass  ich  alsdann  die  Sitten  eines  ein- 
fältigen Mägdleins  und  nicht  einer  alten  Frau  habe. 
Aber  wegen  der  beständigen  Schwäche,  die  ich  leide, 
widerstrebt  es  mir,  dieWorte  und  die  Gesichte,  die  mir 
da  gezeigt  werden,  auszusprechen.  Doch  bin  ich  in  der 
Zeit,  da  meine  Seele  sie  schaut  und  geniesst,in  eine  so 
andere  Verfassung  gebracht,  dass  ich,  wie  ich  sagte,  alles 
Weh  und  Leid  dem  Vergessen  übergebe.  Und  was  ich 
da  in  diesem  Gesichte  schaue  und  vernehme,  das  schöpft 
meine  Seele  wie  aus  einer  Quelle,  die  jedoch  bleibt  voll 
und  unerschöpft.  Meine  Seele  aber  entbehrt  zu  keiner 
Stunde  jenes  Lichtes,  das  der  Schatten  des  lebendigen 
Lichtes  geheissen  wird.  Und  ich  schaue  es,  wie  ich  in 

52 


einer  lichten  Wolke  das  Firmament  ohne  Sterne  be- 
trachte. Und  darin  schaue  ich,  was  ich  oftmals  rede  und 
was  ich  antworte,  wenn  man  mich  nach  dem  Blitze  jenes 
lebendigen  Lichtes  befragt. 


5^ 


ALPAIS  VON  CUDOT(i  1 50— 121 1) 

^  /  ON  einem  frommen  Manne  befragt,  ob  sie  ihre  Vi- 
V  sionen  in  dem  Leibe  oder  ausser  dem  Leibe  schaute, 
und  ob  sie  je  im  Geiste  verzückt  würde  oder  nicht,  ant- 
wortete sie:  »Ob  ich  verzückt  bin  oder  war,  wage  ich  nicht 
zu  sagen,  noch  meine  ich  es,  sowie  ich  nicht  wage,  von 
diesen  Visionen,  die  ich  auf  euer  Drängen  berichte,  zu  be- 
haupten, in  derWirklichkeitder  Dinge  sei  es  so  geschehen 
oder  geschehe  es  so,  wie  es  mir  in  meiner  Ruhe  als  ge- 
schehend gezeigt  wird,  sondern  sicherer  überlasse  ich  dies 
dem  göttlichen  Urteil,  dem  nichts  verborgen  ist.  Die  Ge- 
sichte aber,  die  ich  euch  berichte,  die  sehe  ich  in  meiner 
Ruhe  so  geschehen,  wie  ich  sie  berichte.  Aber  worauf 
sie  zielen  oder  was  sie  meinen  oder  was  die  meisten  von 
ihnen  wollen  und  ob  sie  in  dieser  Weise  und  Ordnung 
geschehen  und  eingerichtet  werden ,  in  welcher  Weise 
und  Ordnung  sie  mir  zu  geschehen  und  eingerichtet  zu 
sein  erscheinen,  das  erkenne  ich  nicht  gut.  Wie  immer 
sich  aber  auch  die  Wahrheit  dieses  Dinges  verhalten 
mag,  dieses  eine  weiss  ich,  dass  ich  nicht  getäuscht  werde 
noch  täusche,  denn  was  ich  euch  sage,  sehe  ich,  wie 
ich  es  sage,  und  ich  sage  es,  wie  ich  es  sehe.  Ob  ich  aber, 
was  der  Herr  mir  in  seinem  Wohlgefallen  zeigt,  wenn  er 
in  mir  oder  mein  Geist  in  ihm  ruht,  im  Leibe  oder  ausser 
dem  Leibe  sehe,  weiss  ich  nicht.  Er  allein  weiss  es,  der 
alles  weiss  und  der  auch  mich  bald  im  Wachen  bald  im 
Schlafen  oder  vielmehr  im  Ruhen  schauen  macht.  Ein- 
mal jedoch  ist  es  mir  erschienen —wenn  ich  es  sagen  darf, 
obgleich  ich  es  für  gewiss  nicht  zu  behaupten  wage— ich 
sei  ausser  meinem  Leibe  gewesen.  Aber  wie  und  wann 

54 


i 


meine  Seele  aus  ihrem  Leibe  ging  und  wie  sie  ihn  ab- 
streifte, das  weiss  ich  durchaus  nicht.  Denn  so  leicht  und 
so  plötzlich,  in  einem  Augenblick,  wie  es  mir  schien, 
streifte  meine  Seele  das  Gewand  des  Fleisches  ab,  wie 
wenn  ein  mit  einem  oben  offenen  Gewände  Bekleideter 
eilend  auf  dem  Wege  läuft  und  dem  Laufenden  das  Ge- 
wand jählings  von  den  Schultern  gleitet,  da  er  allein  dem 
Eifer  des  Weges  und  Laufes  ergeben  ist,  und  ganz  ohne 
sein  Wissen  zur  Erde  fällt;  er  aber  merkt  erst  dann,  dass 
es  gesunken  ist,  da  er  sich  nackt  und  sein  Gewand  unter 
sich  am  Boden  liegend  erblickt.  So  ist,  wie  mir  scheint, 
ganz  ohne  mein  Wissen  meine  Seele  jählings  aus  meinem 
Leibe  gegangen.  Ich  aber  erfand  es  erst,  als  die  Seele  des 
Fleisches  entblösst  ihren  Leib  zu  betrachten  begann,  der 
unbewegt  auf  dem  Bette  lag.  Sie  sah  den  Leib  an  und 
freute  sich  am  Schauen  und  ergötzte  sich  daran,  denn 
sehr  schön  war  er  ihrvon  Ansehen,  köstlich  ihrem  Blicke, 
und  sie  betastete  ihn  undhobihnempor. Undsehrschwer 
und  lastend warmeinerSeele  seinGewicht,dennochaber 
liebte  sie  ihn  und  umarmte  ihn  mit  wunderbarer  Leiden- 
schaft. Während  meine  Seele  so  ausser  dem  Leibe  war 
und  ihn  betrachtete,  sah  sie  um  sich  schauend  rings- 
um eine  unendliche  Menge  von  Menschen  hin  und  her 
rennen  nach  derArtderwildenTiere,wie  rasend  und  von 
Sinnen,  als  begehrten  sie  zu  fliehen  und  fänden  den  Pfad 
derFluchtnicht.  Bei  ihrem Getöseerzitterteunderschrak 
meine  Seele,  und  schneller  als  ein  Wort  trat  sie  wieder  in 
ihren  Leib,  ich  aber  wusste  ganz  und  gar  nicht,  wie  und 
wannsiedareinzurückkehrte.Dennwieichnichtwusste, 
noch  fühlte,  in  welcher  Weise  sie  aus  dem  Leibe  ging  und 
ihn  abstreifte,  so  fühlte  und  fand  ich  nicht,  in  welcher 

55 


Weise  sie  in  ihn  heimkehrte.  Wie  einer  in  einem  Schiffe 
schlief,  das  sanft  über  das  Wasser  des  Flusses  hinfliegend 
schon  den  Hafen  erreicht  hat,  er  aber  weiss  und  versteht 
nicht,  in  welcher  Weise  erzürn  Ufer  gekommen  ist« . 
Befragt,  was  für  ein  Ding  die  Seele  sei  und  ob  die  Seele 
sich  selbst  ebenso  wie  ihren  Leib  sehe,  den  sie  verlassen 
hat,  und  was  für  Augen  sie  habe,  sich  oder  den  Leib  zu 
schauen,  antwortete  sie,  sie  könne  dies  nicht  deutlich  er- 
klären, denn  es  lasse  sich  in  der  ganzen  Welt  kein  Gegen- 
stand finden,  nach  dessen  Bilde  die  Gestalt  oder  die  Natur 
der  Seele  darzulegen  wäre.  » Denn  die  Seele » ,  sprach  sie, 
»ist  einfach,  unsichtbar  und  unkörperhaft,  ist  nicht  in 
Teile  geschieden  wie  der  Körper  noch  in  Glieder,  denn 
sie  hat  keine  Hände  oder  Füsse,  mit  denen  sie  gehen 
oder  tasten,  keine  Augen  und  Ohren,  mit  denen  sie  sehen 
oder  hören  könnte.  Denn  in  allen  ihren  Handlungen 
und  Bewegungen  ist  sie  ganz  gegenwärtig.  Was  immer 
sie  daher  berührt,  sie  berührt  es  ganz  zugleich,  und 
ganz  zugleich  erfährt  und  erprobt  sie  Weiches  oder 
Hartes;  Warmes  und  Kaltes  unterscheidet  mit  der  Fin- 
gerspitze sie  ganz;  was  sie  riecht,  riecht  sie  ganz  und 
nimmt  ganz  die  Düfte  auf;  was  sie  schmeckt,  schmeckt 
sie  ganz  und  unterscheidet  ganz  jeden  Geschmack; 
was  sie  hört,  hört  sie  ganz  und  entsinnt  sich  ganz  der 
Töne;  was  sie  sieht,  sieht  sie  ganz  und  gedenkt  ganz  der 
Bilder.  Kurz:  ganz  tastet ,  ganz  riecht,  ganz  schmeckt, 
ganz  hört,  ganz  sieht,  ganz  gedenkt  die  Seele.  Und  so 
sieht  sie  sich  auch,  wenn  sie  vom  Fleische  gelöst  ist. 
Denn  solange  sie  im  Fleische  ist,  kann  sie  sich  nicht 
ganz  sehen,  weil  sie  sich  nicht  ganz  in  sich  einsam- 
meln kann,  dass  sie  sich  allein  erblicke:  Vorstellungen 

56 


und  Bilder  körperhafter  Dinge  laufen  ihr  unter,  die  sie 
durch  die  Aussensinne  des  Körpers  empfängt  und  durch 
die  sie  gehindert  wird,  ganz  sich  selber  zu  schauen.  An 
keinem  Orte  ist  die  Seele  gefasst,  denn  sie  ist  nicht  ört- 
lich, von  keinem  Räume  wird  sie  begrenzt,  denn  sie 
entbehrt  der  Ausdehnung,  von  keinen  Gliedern  wird  sie 
eingeschränkt,  denn  sie  ist  unkörperhaft.  Sie  wird  nicht 
durch  des  Ortes  Grösse  aufgehalten,  dass  sie  mit  einem 
grösseren  Teile  einen  grösseren  Raum  einnähme,  mit 
einem  kleineren  einen  kleinen,  oder  dass  in  einem  Teile 
ihrer  weniger  wäre  als  im  Ganzen.  Denn  in  allen  Teil- 
chen des  Körpers  zugleich  ist  sie  ganz  gegenwärtig.  An 
welchem  Orte  immer  daher  ein  noch  so  geringer  Teil 
des  Körpers  geschlagen  oder  gestochen  wird,  fühlt  sie 
ganz  den  Schmerz.  Und  nicht  geringer  ist  sie  in  den  klei- 
neren Gliedern  des  Körpers,  nicht  grösser  in  den  grösse- 
ren, sondern  in  den  einen  blüht  sie  stärker,  in  den  andern 
schwächer,  aber  in  dem  kleinsten  ganz,  in  den  grössten 
ganz,  in  allen  ganz  und  in  den  einzelnen  ganz.  Denn  wie 
Gott  überall  ist,  Gott  ganz  in  seiner  ganzen  Welt  und  in 
jeder  seiner  Kreatur  ganz,  alles  belebend,  bewegend  und 
regierend,  wie  der  Apostel  sagt,  dass  wir  in  ihm  leben, 
uns  regen  und  sind,  so  ist  die  Seele  in  dem  Leibe  über- 
all stark,  gleichsam  in  ihrer  Welt,  so  belebt,  bewegt  und 
regiert  sie  ihn,  kräftiger  wohl  im  Herzen  und  im  Gehirne, 
sowie  man  sagt,  Gott  sei  in  besonderer  Weise  im  Him- 
mel. Und  wie  er  in  seiner  Welt  innen  und  aussen,  oben 
und  unten  ist,  so  ist  die  Seele  in  ihrem  Leibe,  ihn  re- 
gierend oben,  ihn  tragend  unten,  ihn  erfüllend  innen, 
ihn  umgebend  aussen.  So  ist  sie  innen,  wie  sie  aussen 
ist,  so  umgibt  sie,  wie  sie  durchdringt,  sie  leitet,  wie  sie 

57 


trägt,sIeträgt,wiesIeleitet,undwIeGottwederimWach- 
sen  der  Kreaturen  wächst,  noch  in  ihrem  Schwinden 
schwindet,  so  wird  die  Seele  bei  Minderung  der  Glieder 
nicht  gemindert,  bei  ihrer  Mehrung  nicht  gemehrt « . 


58 


AEGIDIUS  VON  ASSISI 

(von  1 208  an  Jünger  des  heiligen  Franziskus,  starb  1 262) 

IM  sechsten  Jahre  nach  seiner  Bekehrung,  als  er  im 
Kloster  zu  Fabriano  wohnte,  kam  eines  Nachts  die 
Hand  des  Herrn  über  ihn.  Während  er  mit  Inbrunst  be- 
tete, wurde  er  von  so  grosser  göttlicherTröstung  erfüllt, 
dass  es  ihm  schien,  Gott  wolle  seine  Seele  aus  dem  Leibe 
führen,  damit  er  seine  Geheimnisse  in  Klarheit  schaue. 
Und  er  begann  zu  spüren,  wie  sein  Körper  erstarb,  zuerst 
in  den  Füssen  und  dann  weiter,  bis  die  Seele  ausging.  Und 
ausserdem  Leibe  stehend,  wie  ihm  schien,  nach  dem 
Willen  dessen,  der  sie  dem  Leibe  verbunden  hatte,  er- 
götzte sie  sich  ob  der  übergrossen  Schönheit,  mit  der  sie 
der  heilige  Geist  geschmückt  hatte,  daran,  sich  selbst  zu 
betrachten.  Denn  sie  war  sehr  zart  und  sehr  hell  über 
alles  Mass,  wie  er  selbst  vor  dem  Tode  erzählte.  Dann 
wurde  diese  sehr  heilige  Seele  zum  Schauen  der  himm- 
lischen Geheimnisse  hinweggeführt,  die  er  niemals  offen- 
baren wollte. 

Einmal  sprach  er:  »Ich  weiss  einen  Menschen,  der  Gott 
so  klar  geschaut  hat,  dass  er  allen  Glauben  verlor« . 
Ein  andermal  sprach  Bruder  Andreas  zu  ihm : » Du  sagst, 
dassGott  dir  in  einerVision  den  Glauben  genommenhat; 
sage  mir,  wenn  es  dir  gefällt,  ob  du  die  Hoffnunghast« .  Er 
antwortete : » Wer  den  Glauben  nicht  hat,  wie  sollte  der 
die  Hoffnung  haben .^<  Sprach  zu  ihm  Bruder  Andreas: 
» Hoffst  du  nicht,dass  du  das  ewige  Leben  besitzen  wirst  ? « 
Er  antwortete : » Glaubstdu  nicht,  dassGott, wenn  esihm 
gefällt,  ein  Unterpfand  des  ewigen  Lebens  geben  kann?« 

59 


Bruder  Aegidius  sagte  einmal,  er  sei  viermal  geboren. 
» Das  erste  Mal « ,  sprach  er, » bin  ich  von  meiner  leiblichen 
Muttergeboren, das  zweiteMalimSakramentederTaufe, 
das  dritteMal,als  ich  in  diesen  heiligenOrden  eintrat,  das 
vierte  Mal,  als  Gott  mir  die  Gnade  seiner  Erscheinung 
schenkte«.  Da  sprach  Bruder  Andreas  zu  ihm:  »Wenn 
ich  in  ferne  Länder  ginge  und  ich  würde  gefragt,  ob  ich 
dich  kennte  und  wie  es  dir  ginge,  könnte  ich  so  ant- 
worten: ,Zweiunddreissig  Jahre  sind  es,  seit  Bruder 
Aegidius  geboren  wurde''',  und  bevor  er  geboren  wurde, 
hatte  er  den  Glauben,  aber  nach  seiner  Geburt  hat  er  den 
Glauben  verloren' « .  Antwortete  Bruder  Aegidius:  »Wie 
du  gesagt  hast,  so  ist  es.  Wohl  hatte  ich  vordem  den 
Glauben  nicht  so  recht,  wie  ich  ihn  hätte  habensollen, 
dennoch  hat  ihn  Gott  mir  genommen.  Wer  immer  aber 
ihn  in  vollkommener  Weise  hat,  wie  man  ihn  haben  soll, 
dem  wird  Gott  ihn  auch  nehmen.  Danach  habe  ich  sol- 
ches getan,  dass  ich  verdiente,  es  würde  mir  ein  Strick  um 
den  Hals  gebunden  und  ich  würde  schimpflich  durch  alle 
Strassen  dieser  Stadt  geschleppt« .  Sprach  abermals  Bru- 
der Andreas:  »Wenn  du  den  Glauben  nicht  hast,  was 
würdest  du  tun ,  wenn  du  ein  Priester  wärest  und  das 
Hochamt  feiern  woUtest.r^  Wie  könntestdu  sprechen:, Ich 
glaube  an  einen  Gott.^'  Wie  es  scheint,  müsstest  du  spre- 
chen: ,Ich  erkenne  einen  Gott' '<.  Da  antwortete  Bruder 
Aegidius  mit  sehr  freudigem  Angesichte  und  sang  mit  lau- 
ter Stimme:  »Ich  erkenne  einen  Gott,  den  allmächtigen 
Vater«. 


*  D.h.  seit  der  Erscheinung 
60 


Als  der  heilige  Ludwig,  der  König  von  Frankreich,  be- 
schloss,  zu  den  Heiligtümern  zu  pilgern  und  den  Ruf  der 
Heiligkeit  des  Bruders  Aegidius  vernahm,  nahm  er  in  sein 
Herz  auf,  ihn  heimzusuchen.  Als  er  deswegen  auf  seiner 
Wanderschaft  nach  Perugia  kam,wo,wie  er  gehörthatte, 
jener  weilte,  ging  er  an  das  Tor  der  Brüder  wie  ein  armer 
Pilgrim  und  ungekannt,  im  Geleite  weniger  Gefährten, 
und  begehrte  inständig  nach  dem  heiligen  Bruder  Aegi- 
dius. Der  Pförtner  ging  und  sagte  esBruder  Aegidius,  dass 
ein  Pilgrim  am  Tore  seiner  begehrte.  Sogleich  erkannte 
er  durch  den  Geist,  wer  es  war.  Und  wie  trunken  aus  der 
Zelle  tretend,  kam  erineiligem Laufe  zumTore  undbeide 
fielen  miteinander  in  eine  wunderbare  Umarmung  und 
gaben  einander  knieend  Küsse  grosser  Andacht,  als  ob  sie 
einander  in  uralter  Freundschaftkennten.  Und  alssie  sich 
die  Zeichen  der  innigen  Liebe  gegeben  hatten,  sprach  kei- 
ner zum  andern  ein  Wort,  sondern  in  jeder  Weise  das 
Schweigen  bewahrend,  schieden  sie  voneinander. 
Als  aber  der  heilige  Ludwig  von  dannen  zog,  fragten  die 
Brüder  einenvon  seinen  Gefährten,werdieser  sei,  der  mit 
Bruder  Aegidius  so  innige  Umarmung  gepflogen  hatte. 
Er  antwortete,  es  sei  Ludwig,  der  König  von  Frankreich, 
der  auf  der  Pilgerfahrt  den  heiligen  Bruder  Aegidius  hätte 
schauen  wollen.  Da  klagten  es  die  Brüder  dem  Bruder 
Aegidius  und  sprachen :  » O  Bruder  Aegidius,warum  hast 
du  einem  so grossenKönig,derausFrankreich  gekommen 
ist,  um  dich  zu  sehen  und  ein  gutes  Wort  von  dir  zu  ver- 
nehmen, nichts  sagen  wollen.?«  Antwortete  Bruder  Aegi- 
dius: »TeuersteBrüder,wunderteuch  nicht,wennweder 
er  mir,  noch  ichihm etwas  sagenkonnte;  dennsobald  wir 
einander  umarmt  hatten,  offenbarte  mir  das  Licht  der 

6i 


göttlichen  Weisheit  sein  Herz  und  ihm  das  meine.  Und 
im  ewigen  Spiegel  stehend,  erfuhren  wir  mit  vollkom- 
mener Tröstung,  was  er  mir  zu  sagen  gedacht  hatte,  was 
ich  ihm,  ohne  Geräusch  der  Lippen  und  der  Zunge,  und 
besser,  als  wenn  wir  mit  den  Lippen  geredet  hätten.  Und 
hätten  wir  das,  was  wir  innen  fühlten,  mit  stimmlichen 
Klängen  erklären  wollen,  diese  Rede  hätte  uns  eher  zur 
Schwermut  als  zur  Tröstung  gereicht.  Wisset  also,  dass 
erwunderbargetröstetvondannenging«. 


62 


MECHTHILD  VON  MAGDEBURG (12 12— 1277) 

Von  der  Hof  reise  der  Seele  bei  der  sich  Gott  zeigt 

W'ENN  die  arme  Seele  zu  Hofe  kommt,  ist  sie  weise 
und  wohlgezogen;  da  sieht  sie  ihren  Gott  fröhlich 
an.  Oh  wie  freudenreich  wird  sie  da  empfangen.  Da 
schweigt  sie  und  begehrtunermesslich  sein  Lob.  Da  zeigt 
erihrmitgrosserBegierseingöttlichesHerz.  Das  istgleich 
dem  roten  Golde,  dasda  brennt  in  einem  grossen  Kohlen- 
feuer. Da  tut  er  sie  in  sein  glühendes  Herz,  dass  sich  der 
hohe  Fürst  und  das  kleine  Mädchen  also  umhalsen  und 
vereint  sind  wie  Wasser  undWein.  Da  wird  sie  zunichte 
und  kommt  ausser  sich,  soviel  sie  nur  vermag.  Da  ist  er 
krank  vor  Liebe  zu  ihr,  wie  er  von  je  war,  denn  ihm  geht 
weder  etwas  zu  noch  ab.  Da  spricht  sie:  Herr,  du  bist 
mein  Trost,  mein  Begehr,  mein  fliessender  Quell,  meine 
Sonne,  und  ich  bin  dein  Spiegel.  —  Dies  ist  die  Hofreise 
der  liebenden  Seele,  die  ohne  Gott  nicht  sein  kann. 

Wie  die  Seele  Gott  empfängt  und  preist 

Oh  fröhliche  Anschauung!  Oh  freundlicher  Gruss!  Oh 
liebreiche  Umhalsung!  Herr,  deinWunder  hat  mich  ver- 
wundet, deine  Gnade  hat  mich  überwältigt.  O  du  hoher 
Stein,  du  bist  so  wohl  verborgen,  in  dir  kann  niemand 
nisten  als  Tauben  und  Nachtigallen. 

Wie  Gott  die  Seele  empfängt 

Sei  willkommen  liebe  Taube,  du  bist  so  sehr  geflogen  im 
irdischen  Reich,  dass  deine  Schwingen  gewachsen  sind 
fürs  himmlische  Reich. 


6? 


Gott  vergleicht  die  Seele  vier  Dingen 

Du  schmeckst  wie  eine  Weintraube,  du  riechst  wie  ein 
Balsam,  du  leuchtest  wie  die  Sonne,  du  bist  ein  Zuwachs 
meiner  höchsten  Liebe. 

Die  Seele  preist  Gott  in  fünf  Dingen 

O  du  giessenderGott  in  deiner  Gabe!  O  du  fliessender 
Gott  in  deiner  Liebe!  O  du  brennender  Gott  in  deiner 
Begier!  O  du  schmelzender  Gott  in  der  Einung  mit  dei- 
ner Geliebten!  O  du  ruhender  Gott  an  meinen  Brüsten, 
ohne  den  ich  nicht  sein  kann ! 

Gott  sagt  der  Seele  Liebes  in  sechs  Dingen 

Du  bist  mein  Lagerkissen,  mein  liebliches  Bette,  meine 
heimlichste  Ruhe,  meine  tiefste  Begier,  meine  höchste 
Ehre.  Du  bist  eine  Lust  meinem  Gottsein,  ein  Trost  mei- 
nem Menschsein,  ein  Bach  meinem  Brande. 

Die  Seele  erwidert  Gottes  Lob  in  sechs  Dingen 

Du  bist  mein  Spiegelberg,  meine  Augenweide,  das  Ver- 
lieren meiner  selbst,  derSturm  meines  Herzens,  der  Zer- 
fall und  UntergangmeinesWesens,  meine  höchste  Sicher- 
heit. 

Von  der  Erkenntnis  und  dem  Genuß 

Liebe  ohne  Erkenntnis  dünkt  die  weise  Seele  eine  Fin- 
sternis. Erkenntnis  ohne  Genuss  dünkt  sie  eine  Höllen- 
pein. Genuss  ohne  Sterben  kann  sie  nicht  verschmerzen. 

Von  Sankt  Mariens  Botschaft 

Der  süsse  Tau  der  anfanglosen  Dreifaltigkeit  hat  sich 
gesprengt  aus  dem  Quell  der  ewigen  Gottheit  in  den 

64 


Schoss  der  auserwählten  Magd,  und  des  Schosses  Frucht 
istein  unsterblicher  Gott  und  ein  sterblicherMensch  und 
ein  lebender  Trost  der  ewigen  Freude,  und  unsre  Erlö- 
sung ist  Bräutigam  geworden .  Die  Braut  ist  trunken  wor- 
den vom  Anschauen  des  edlen  Antlitzes.  In  dergrössten 
Stärke  kommt  sie  aus  sich  selber,  und  in  der  grössten 
Blindheit  sieht  sie  am  allerklarsten.  In  der  grössten  Klar- 
heit ist  sie  zugleich  tot  und  lebendig.  Je  länger  sie  tot  ist, 
umso  fröhlicher  lebt  sie.  Jefröhlicher  sie  lebt,um  so  mehr 
erfährt  sie.  Je  kleiner  sie  wird,  um  so  mehr  fliesst  ihr  zu.  Je 
reicher  sie  wird ,  um  so  ärmer  ist  sie.  Je  tiefer  sie  wohnt, 
um  so  breiter  ist  sie.  Je  gebieterischer  sie  ist,  um  so  tiefer 
werden  ihre  Wunden.  Je  mehr  sie  stürmt,  um  so  liebrei- 
cher ist  Gott  gegen  sie.  Je  höher  sie  schwebt,  um  so  schö- 
nerleuchtetsievon  dem  GegenblickderGottheit,  je  näher 
sie  ihm  kommt.  Je  mehr  sie  arbeitet ,  um  so  sanfter  ruht 
sie.  Je  mehr  sie  erfasst,  um  so  stiller  schweigt  sie.  Jelauter 
sie  ruft,  um  so  grössere  Wunder  wirkt  sie  mit  seinerKraft 
nach  ihrem  Vermögen.  Je  mehr  seine  Lust  wächst,  je 
enger  ersieumschliesst,um  sogrösserwird  das  Glück  der 
Braut.  Je  inniger  die  Umhalsung  wird,  um  so  süsser 
schmeckt  das  Mundküssen.  Je  liebreicher  sie  sich  an- 
sehen, um  so  schwerer  scheiden  sie.  Je  mehr  er  ihr  gibt, 
um  so  mehr  verzehrt  sie,  wieviel  sie  auch  haben  mag.  Je 
demütiger  sie  Abschied  nimmt,  um  so  eher  kommt  sie 
wieder.Jeheisser  sie  bleibt,  um  so  eher  entglimmt  sie.  Je 
mehr  sie  brennt,  um  so  schöner  leuchtet  sie.  Je  mehr 
Gottes  Lob  verbreitet  wird,  um  so  weniger  schwindet 
ihre  Gier. 

Ei,  wohin  fährt  unser  Erlöser -Bräutigam  in  dem  Jubel 
der  heiligen  Dreifaltigkeit.?  Da  Gott  nicht  mehr  wollte  in 

C    Buber,  Konfessionen 

65 


sich  selber  sein,  da  machte  er  die  Seele  und  gab  sich  ihr  zu 
eigen  aus  grosser  Liebe.  Woraus  bist  du  gemacht,  Seele, 
dass  du  so  hoch  steigst  über  alle  Kreaturen,  und  mengst 
dich  in  die  heilige  Dreifaltigkeit  und  bleibst  doch  ganz  in 
dir  selber? — Du  hast  gesprochen  von  meinem  Ursprung, 
nun  sage  ich  dir  wahrlich :  Ich  bin  an  jener  Stätte  gemacht 
ausderLiebe,darumkannmirkeine  Kreaturnachmeiner 
edeln  Natur  genugtun  und  keine  mich  öffnen  als  allein  die 
Liebe. 

Du  sollst  bitten,  dass  dich  Gott  minne  gewaltig,  oft  und  lang, 
so  wirst  du  rein,  schön  und  heilig 

O  Herr,  minne  mich  gewaltig  und  minne  mich  oft  und 
lang ;  je  öfter  du  mich  minnest,  um  so  reiner  werde  ich ;  je 
gewaltiger  du  mich  minnest,  um  so  schöner  werde  ich ;  je 
länger  du  mich  minnest,  umso  heiliger  werde  ich  hier  auf 
Erden. 

Wie  Gott  der  Seele  antwortet 

Dass  ich  dich  oft  minne,  das  habe  ich  von  meiner  Natur, 
denn  ich  bin  selber  die  Liebe.  Dass  ich  dich  gewaltig  min- 
ne, das  habe  ich  von  meiner  Begier,  denn  auch  ich  be- 
gehre, dass  man  mich  gewaltig  minne.  Dass  ich  dich  lange 
minne,  das  ist  von  meiner  Ewigkeit,  denn  ich  bin  ohne 
Ende. 

Gott  fragt  die  Seele,  was  sie  bringe 

—  Du  jagest  sehr  in  der  Liebe.  Sage  mir,  was  bringst  du 
mir,  meine  Königin } 

—  Herr,  ich  bringe  dir  mein  Kleinod:  das  ist  grösser  als 
die  Berge,  es  ist  breiter  als  die  Welt,  tiefer  als  das  Meer, 

66 


höher  als  dIeWolken,  glänzender  als  die  Sonne,  mannig- 
faltiger als  die  Steine ;  es  wiegt  mehr  als  die  ganze  Erde. 

—  O  Bild  meiner  Gottheit,  erhöht  mit  meinem  Mensch- 
tum,  geziert  mit  meinem  heiligen  Geiste,  wie  heisstdein 
Kleinod? 

—  Herr,  es  heisst  meines  Herzens  Lust,  die  habe  ich  der 
Welt  entzogen,  mir  selber  erhalten  und  allen  Kreaturen 
versagt,  nun  kann  ich  sie  nicht  weiter  tragen.  Herr,  wo- 
hin soll  ich  sie  legen.^ 

—  Deines  Herzens  Lust  sollst  du  nirgendhin  legen  als  in 
meingöttlichesHerzund  an  meinemenschliche  Brust.  Da 
allein  wirst  du  getröstet  und  mit  meinem  Geiste  geküsst. 

Von  der  Liebe  Weg  in  sieben  Dingen,  von  drei  Kleidern  der 
Braut  und  vom  Tanze 

Gott  spricht:  O  liebende  Seele,  willst  du  wissen,  welches 
dein  Weg  sei  .f^ 

Die  Seele :  Ja,  lieber  heiliger  Geist,  lehre  mich . 
Gott  spricht:  Wenn  du  über  die  Not  der  Reue  kommst 
und  überdiePeinderBeichte,und  über  dieQualderBusse, 
und  über  die  Lust  derWelt,  und  über  die  Versuchungdes 
Teufels,  und  über  den  Überschwang  des  Fleisches,  und 
über  den  verderbten  Eigenwillen,  der  manche  Seele  so 
arg  zurückzieht,  dass  sie  nie  mehr  zu  rechter  Freude 
kommt,  und  wenn  du  alle  deine  schlimmsten  Feinde 
niedergeschlagen  hast,  dann  bist  du  so  müde,  dass  du 
sprichst:  »Schöner  Jüngling,  mich  gelüstet  nach  dir,  wo 
sollich  dich  finden. f^« 

Dann  spricht  dtx Jüngling: » Ich  höre  eine  Stimme,die  tönt 
mir  wie  von  Liebe.  Ich  habe  um  sie  geworben  manchen 
Tag,  aber  die  Stimme  war  mir  nicht  nah.  Nun  bin  ich  be- 

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wegt,  ich mussihr  entgegen.  Sie  ist  die,  die  Kummer  und 
Liebe  zugleich  trägt.  Des  Morgens  in  demTaue,  dasist  die 
umschlosseneAndacht,diezuerstindieSeelekommt«. 
Nun  sprechen  ihre  Kämmerer,  das  sind  die  iüni Sinne: 
» Herrin,  Ihr  sollet  Euch  ankleiden « . 
Die  Seele:  » Liebe,  wo  soll  ich  hin  ? « 
Sinne:  »Wir  haben  das  Raunen  wohl  vernommen,  der 
Fürst  will  Euch  entgegenkommen  in  dem  Tau  und  in  dem 
schönen  Vogelsange.  Wohlan,  Herrin,  so  säumet  nicht 
lange « . 

Nun  zieht  sie  ein  Hemd  der  sanften  Demut  an,  und  so  de- 
mütigist es,dasssienichtsuntersich  leidenkann.  Darüber 
ein  weisses  Kleid  der  lauteren  Keuschheit,  und  so  rein  ist 
es,dasssieanGedanken,anWorten  und  anBerührungen 
nichtsmehrzuertragenvermag,wassiebeflecken  könnte. 
Dann  nimmt  sie  den  Mantel  des  heiligen  Rufes  um ,  den 
sie  mit  allen  Tugenden  erworben  hat. 
So  geht  sie  in  denWaldjindieGesellschaftheiliger Leute. 
Da  singen  tag-  und  nachtlang  die  allersüssesten  Nachti- 
gallen derwohlgestimmten  Einung  mitGott  und  manche 
süsse  Stimme  hört  sie  da  von  den  Vögeln  der  heiligen  Er- 
kenntnis. Noch  kam  der  Jüngling  nicht.  Nun  sendet  sie 
Boten  aus,  denn  sie  will  tanzen,  und  sendet  um  den  Glau- 
benAbrahams,  und  um  dieSehnsuchtder Propheten, und 
um  die  keusche  Demut  unserer  Frau  Sankt  Maria,  und 
um  alle  die  heiligen  Tugenden  Jesu  Christi,  und  um  alle 
die  Frömmigkeit  seiner  Auserwählten.  Da  hebt  sich  ein 
schönes  Lobtanzen  an. 

Da  kommt  der  Jüngling  und  redet  sie  an :  »Jungfrau,  Ihr 
sollt  so  fromm  nachtanzen,  wie  Euch  meine  Auserwähl- 
ten vorgetanzt  haben « . 

68 


Da  spricht  ^/e; 

» Ich  kann  nicht  tanzen,  Herr,wenn  du  mich  nicht  führst. 
Willstdu,  dass  ich  hüpfe,  so  musst  du  selber  voran  singen. 
Dann  tanze  ich  in  die  Liebe,  aus  der  Liebe  in  die  Er- 
kenntnis, aus  der  Erkenntnis  in  den  Genuss,  aus  dem 
Genuss  über  alle  menschlichen  Sinne.  Dort  will  ich  blei- 
ben und  will  doch  weiter  schwingen « . 
Und  so  muss  denn  der  Jüngling  also  zum  Tanze  singen : 
»Eür  mich  zu  dir  und  für  dich  ausser  mir,  gerne  bei  dir, 
ungern  von  dir  weg « .  — 
Dann  spricht  der  Jüngling: 

»Jungfrau,  dieser  Ehrentanz  ist  Euch  wohlgelungen.  Ihr 
sollet  mit  dem  Sohn  der  Magd  Euern  Willen  haben, 
denn  Ihr  seid  nun  zu  innerst  müde.  Kommet  zu  Mittag 
zum  schattigen  Quell  in  das  Bett  der  Liebe.  Da  sollet 
Ihr  Euch  mit  ihm  kühlen « . 
Da  spricht  die  Jungfrau  : 

» O  Herr,  das  ist  übergross,  dass  die  ist  deiner  Liebe  Ge- 
npss,  die  nicht  Liebe  in  sich  selber  hegt,  sie  werde  denn 
von  dir  bewegt«. 

Dann  spricht  die  Seele  zu  den  Sinnen,  die  ihre  Kämmerer 
sind : » Nun  bin  ich  eineWeile  des  Tanzens  müde.  Lasset 
mich,  ich  muss  dahin  gehen,  wo  ich  mir  Kühlung  finde « . 
Darauf  sprechen  die  Sinne  zu  der  Seele:  »Herrin,  wollt 
Ihr  Euch  in  den  Liebestränen  Sankt  Maria  Magdalenens 
kühlen,  da  kann  Euch  wohl  werden « . 
Die  Seele:  »Schweigt,  ihr  Herren;  ihr  wisset  nicht  alles, 
was  ich  im  Sinne  habe.  Lasst  mich  ungehindert  ziehn. 
Ich  will  jetzt  vom  ungemischten  Weine  trinken « . 
Sinne:  »Herrin,  in  der  Jungfrauen  Keuschheit  ruht  die 
grosse  Liebe«. 

69 


Seele:  » Das  mag  wohl  sein,  mir  ist  es  nicht  das  Höchste « . 
Sinne:  »Im  Blute  der  Märtyrer  könnt  Ihr  Euch  herrlich 
kühlen«. 

Seele:  » Ich  bin  gemartert  so  manchen  Tag,  dass  ich  jetzt 
nicht  dahin  gehen  mag« . 

5mnß;»ImRatederBekennerwohnenreineLeutegern«. 
Seele: » ImRate  will  ich  immerstehn  mitTun  undLassen, 
doch  mag  ich  jetzt  nicht  dahin  gehn« . 
Sinne:  »In  der  Apostel  Weisheit  findet  Ihr  grosse  Sicher- 
heit«. 

Seele:  » Ich  habe  dieWeisheit  hier  bei  mir,  mit  der  will  ich 
das  Beste  wählen«. 

Sinne: » Herrin,  die  Engel  sind  rein,  und  lieblich  strahlend 
anzusehen ;  wollt  Ihr  Euch  kühlen,  hebet  Euch  dahin « . 
Seele:  » Der  Engel  Freude  tut  mir  in  meiner  Liebe  wehe, 
wenn  ich  ihren  Herrn  und  meinen  Bräutigam  nicht  bei 
ihnen  sehe«. 

Sinne:  »So  kühlet  Euch  in  dem  heiligen  Büsserleben, das 
Gott  Johannes  dem  Täufer  hat  gegeben « . 
Seele:  »Zu  der  Pein  bin  ich  bereit,  doch  geht  der  Liebe 
Kraft  über  alle  Mühseligkeit«. 

Sinne:  » Herrin,  wollt  IhrEuch  in  Liebe  kühlen,  so  neiget 
Euch  in  der  Jungfrau  Schoss  zu  dem  kleinen  Kind,  und 
schauet  und  kostet,  wie  die  Wonne  der  Engel  aus  der 
ewigen  Magd  die  übernatürliche  Milch  sog«. 
Seele:  » Das  ist  eine  Kinderlust,  eines  Kindes  Säugen  und 
Wiegen.  Ich  bin  eine  vollerwachsene  Braut,  ich  will  zu 
meinem  Geliebten  gehen«. 

Sinne:  » O  Herrin,  gehst  Du  dahin,  dann  müssen  wir  ganz 
erblinden.  Denn  die  Gottheit  ist  so  feurig  heiss,wieDu 
selbst  gut  weisst,  dass  alles  Feuer  und  alle  die  Glut,  die 

70 


den  Himmel  und  alle  Heiligen  durchleuchtet  und  durch- 
brennt, all  das  geflossen  ist  aus  seinem  göttlichen  Atem 
und  von  seinem  menschlichen  Munde,  durch  denWillen 
des  heiligen  Geistes.  Wie  könntest  Du  da  auch  nur  eine 
Stunde  bleiben?« 

Seele:  »Der  Fisch  kann  im  Wasser  nicht  ertrinken,  der 
Vogel  inderLuftnichtversinken.  DasGoldkannimFeuer 
nicht  verderben,  es  empfängt  da  seine  Reinheit  und  sei- 
ne leuchtende  Farbe.  Gott  hat  allen  Kreaturen  das  ge- 
geben, dass  sie  ihrerNatur  nach  leben.  Wie  könnte  ich  da 
meiner  Natur  widerstehen.?  Ich  musste  aus  allen  Dingen 
in  Gott  gehen,  der  mein  Vater  ist  von  Natur,  mein  Bruder 
von  seiner  Menschheit,  mein  Bräutigam  von  Liebe  und 
ich  sein  ohne  Anfang.  Wollt  ihr,  dass  ich  das  Meine  nicht 
ganz  finde }  Er  kann  beides,  kräftig  brennen  und  tröstlich 
kühlen .  Betrübt  euch  aber  nicht  zu  sehr.  Ihr  werdet  mich 
einst  noch  lehren.  Wenn  ich  wiederkehre,  bedarf  ich 
eurerLehresehr,denndieErdeistvielerGefahrenvolI«. 
SogehtdenndieAllerliebstezudemAllerschönstenindie 
heimliche  Kammer  der  unschuldigen  Gottheit;  da  findet 
sie  der  Liebe  Bett  und  der  Liebe  Gelass  und  Gott  und 
Mensch  bereit.  Da  spricht  nun  unser  f/^rr."  >  Bleibt  stehn, 
Frau  Seele«.  —  »Was  gebietest  du,  Herr.?^«  —  »Ihr  sollt 
Euch  ausziehen«.  —  »Herr,  wie  soll  das  sein  können .f^« 
—  »Frau  Seele,  Ihr  seid  so  sehr  in  mich  genaturt,  dass 
zwischen  Euch  und  mir  nichts  sein  darf.  Es  war  nie  ein 
Engel  so  hehr,  dem  das  für  eineStunde  verliehen  gewesen 
wäre,  was  Euch  auf  ewig  gegeben  ist.  Darum  sollt  Ihr 
Furcht  und  Scham  von  Euch  tun  und  alle  äusseren  Tu- 
genden. Die  Tugend  allein,  die  Ihr  in  Eurem  Innern  von 
Naturtraget,diesolltIhrinEwigkeitfinden  wollen. Essind 

71 


Euer  edles  Verlangen  und  Euregrundlose  Begier.  Diewill 
ich  ewig  füllen  mit  meinem  endlosen  Reichtum « . 
—  » Herr,  nun  bin  ich  eine  nackte  Seele ,  und  du  in  dir  ein 
herrlicher  Gott.  Unser  beider  Gemeinschaft  ist  ewige 
Wonne  ohne  Tod « . 

Nun  wird  da  ein  seliges  Stillen  nach  ihrer  beider  Willen. 
Er  gibt  sich  ihr  und  sie  gibt  sich  ihm.Wasihrdageschieht, 
das  weiss  sie,  unddamit  bescheide  ich  mich.  Aber  eskann 
nicht  lange  dauern.  Wo  zwei  Liebende  heimlich  zusam- 
men sind,  da  müssen  sie  oft  gar  schnell  voneinander 
gehen.  — 

Lieber  Gottesfreund,  diesen  Weg  der  Liebe  habe  ich  dir 
beschrieben.  Gott  möge  ihn  dir  ins  Herz  geben.  Amen. 

Ein  Sang  der  Seele  zu  Gott  in  fünf  Dingen,  und  wie  Gott  das 
Kleid  der  Seele  ist  und  die  Seele  Gottes 

DuleuchtestinmeineSeele,wiedieSonneinsGoldscheint. 
Wenn  ich  in  dir,  Herr,  ruhen  darf,  ist  meineWonneüber- 
gross.  Du  bekleidest  dich  mit  meiner  Seele  und  du  bist 
auch  ihr  nächstes  Kleid.  Dass  da  ein  Scheiden  sein  muss, 
nie  fand  ich  ein  gröss'res  Herzeleid.  Wolltest  du  mich 
stärker  minnen,  ich  käme  sicherlich  von  hinnen  und 
könnte  dich  dann  ohne  UnterlassnachmeinemWunsche 
minnen.  Nun  hab  ich  dir  gesungen,  noch  ist's  mir  nicht 
gelungen ;  wolltest  du  mir  singen,  es  müsste  mir  gelingen. 

Ein  Gegensang  Gottes  in  der  Seele  in  fünf  Dingen 

Wenn  ich  scheine,  musst  du  leuchten.  Wenn  ich  fliesse, 
musst  du  wogen.  Wenn  du  seufzest,  ziehst  du  mein  gött- 
lichesHerz  in  dich.  Wenn  du  nach  mirweinst, nehme  ich 
dich  in  meinen  Arm.  Wenn  du  aber  minnest,  werden  wir 

72 


zwei  Eines.  Und  wenn  wir  zwei  also  Eines  sind ,  da  kann 
nimmer  ein  Scheiden  geschehen,  nur  ein  wonniges  War- 
ten wohnt  zwischen  uns  beiden. 
(Die  5e^/e  spricht:) 

Herr,  so  warte  ich  denn  mit  Hunger  und  mit  Durst,  mit 
Jagen  und  mit  Sucht,  bis  an  die  spielende  Stunde,  da  von 
deinem  göttlichen  Munde  die  erwählten  Worte  fliessen, 
die  von  Keinem  gehört  sind,  nur  von  der  Seele  allein,  die 
sich  der  Erde  entkleidet  und  legt  ihrOhr  an  deinen  Mund 
—  ihr  wirdder  Schatz  der  Liebe  kund. 

Von  der  Klage  der  liebenden  Seele,  daß  Gott  ihrer  schone 
und  ihr  seine  Gabe  entziehe.  Von  Weisheit,  wie  die  Seele 
Gott  fragt,  wer  er  sei  und  wie  er  sei.  Von  dem  Garten,  von 
den  Blumen  und  vom  Gesang  der  Jungfrauen 

O  du  unermesslicher  Schatz  in  deiner  Fülle!  O  du  un- 
fassbares  Wunder  in  deiner  Vielfältigkeit!  O  du  unend- 
liche Gewalt  in  der  Herrschaft  deiner  Majestät!  Wie 
weh  mir  nach  dir  ist,  da  du  meiner  schonen  willst,  das 
könnten  dir  alle  Kreaturen  nichtvöllig  sagen,  müssten  sie 
für  mich  klagen.  Denn  ich  leide  unermesslicheNot,  mir 
täte  viel  sanfter  ein  menschlicherTod.  Ich  suche  dich  mit 
den  Gedanken,  wie  eine  Jungfrau  heimlich  ihr  Lieb.  Ich 
muss  heftig  kranken,  denn  ich  bin  an  dich  gebunden.  Das 
Band  ist  stärker  als  ich  bin,  so  kann  ich  die  Liebe  nicht  los 
werden.  Ich  rufe  dich  mit  grosser  Gier,  mit  jammervoller 
Stimme.  Ich  harre  dein  mit  schwerem  Herzen,  ich  kann 
nicht  ruhen,  ich  brenne  unauslöschbar  in  deiner  heissen 
Liebe.  Ich  jage  dich  mit  aller  Macht.  Hätte  ich  aber  auch 
eines  Riesen  Kraft,  sie  ginge  mir  doch  bald  auf  deiner 
Spur  verloren.  Ach,  Lieber,  laufe  mir  nicht  so  weit  voran 

73 


und  ruhe  ein  wenig  in  Liebe,  auf  dass  ich  dich  greifen 
kann.  — 

O  Herr,  da  du  mir  alles  entzogen  hast,  was  ich  von  dir 
habe,  so  lass  mir  doch  von  Gnaden  dieselbe  Gabe,  die  du 
von  Natur  einem  Hunde  gegeben  hast,  das  ist,  dass  ich  dir 
getreu  sei  in  meiner  Not  ohne  alles  Widerstreben.  Da- 
nach verlange  ich  wahrlich  mehr  als  nach  deinem  Him- 
melreich. 

—  Liebe  Taube,  nun  höre  mich.  Meine  göttliche  Weis- 
heit ist  so  gewaltig  über  dir,  dass  ich  alle  meine  Gaben  dir 
so  zuteile,  wie  du  sie  mit  deinem  armen  Leibe  tragen 
kannst.  Dein  heimliches  Suchen  muss  mich  finden,  dei- 
nesHerzensJammerdarfmich  zwingen,  deinsüsses  Jagen 
macht  mich  so  müde, dass  ich  begehre,  mich  zu  kühlen  in 
deiner  reinenSeele,dareinichgebundenbin.Deineswun- 
den  Herzens  seufzendes  Beben  hat  meine  Gerechtigkeit 
von  dir  vertrieben.  So  ist  es  recht  für  dich  und  mich.  Ich 
kannnichtohnedichsein.Wiesehrwir  auch  zerteilt  sind, 
wir  können  doch  nicht  geschieden  sein.  Wenn  ich  dich 
noch  so  leicht  berührte,  täte  ich  deinem  Körper  masslos 
weh.  Sollteich  mich  dir  zu  allenZeiten  geben  nach  deiner 
Begier,  ich  müsste  meiner  süssen  Erdenwohnung  in  dir 
entbehren;  denn  tausend Leiberkönnten einerliebenden 
Seele  ihre  Begier  nicht  erfüllen.  Darum,  je  höher  eines 
Menschen  Liebe ,  destomehr  ist  er  ein  heiliger  Märtyrer. 

—  O  Herr,  du  schonst  meines  unreinen  Kerkers  allzu- 
sehr, darin  ich  der  Welt  Wasser  trinke  und  mit  grossem 
Herzeleid  den  Aschenkuchen  meiner  Schwachheit  esse. 
Und  ich  bin  verwundet  auf  den  Tod  von  dem  Strahl  dei- 
ner feurigen  Liebe.  Nun  lassest  du,  Herr,  mich  ungesalbt 
in  grosser  Qual  liegen. 

74 


—  Liebes  Herz,  meine  Königin,  wie  lange  willstdu  so  un- 
gebärdig sein?  Wenn  ich  dich  am  allerschmerzlichsten 
verwunde,  salbe  ich  dich  am  allerinnigsten  in  derselben 
Stunde.  Die  Fülle  meines  Reichtums  ist  alle  dein,  und 
über  mich  selber  sollst  du  gewaltig  sein.  Ich  bin  dir  in 
Liebe  hold;  hast  du  dasWaglot,  ich  habe  das  Gold.  Alles 
was  du  um  meinetwillen  getan,  gelassen  und  gelitten, 
das  will  ich  dir  alles  aufwiegen  und  will  dir  mich  selber  für 
dieEwigkeitgeben,sovieldu  mich  immerwollen  kannst. 
— Herr,  ich  will  dich  um  zwei  Dinge  fragen,  deren  belehre 
mich  nach  deiner  Gnade.  Wenn  meine  Augen  unselig 
trauern  und  mein  Mund  einfältiglich  schweigt  und  meine 
Zunge  ist  im  Herzeleid  gebunden  und  meineSinne  fragen 
mich  von  Stunde  zu  Stunde,  was  mir  sei,  dann  steht  mir, 
Herr,  all  das  nach  dir.  Und  mein  Fleisch  fälltab,  mein  Blut 
verdorrt,  mein  Gebein  erfriert,  meine  Adern  krampfen 
sich,undmeinHerzschmilztnachdeinerLiebe,und  meine 
Seele  brüllt  mit  eines  hungrigen  Löwen  Stimme.  Wie  mir 
dann  ist,  wo  du  dann  bist,  Viellieber,  das  sage  mir. 

—  Dir  ist  wie  einer  jungen  Braut,  von  der  im  Schlaf  ihr 
einzig  Geliebter  gegangen  ist,  zu  dem  sie  sich  mit  aller 
Treue  geneigt  hatte,  und  sie  kann  es  nicht  ertragen,  dass 
er  für  eine  Stunde  von  ihr  scheide,  und  wenn  sie  nun  er- 
wacht, hat  sie  nicht  mehr  von  ihm  als  soviel  nur, wie  sie  in 
ihren  Sinnen  trägt.  Davon  hebt  ihre  grosse  Klage  an.  So- 
lange der  Jüngling  seiner  Braut  nicht  heimgegeben  ist, 
muss  sie  oft  ohne  ihn  sein.  Ich  komme  zu  dir  nach  meiner 
Lust,  wann  ich  will.  Sei  du  fromm  und  still,  und  birg  dei- 
nenKummer,wohindukannst;dann  mehrt  sich  indirder 
Liebe  Kraft.  Nun  sage  ich  dir,  wo  ich  dann  bin.  Ich  bin  in 
mir  selber  an  allen  Orten  und  in  allen  Dingen,  wie  ich  von 

75 


je  ohne  Anfang  war,  und  ich  harre  dein  in  demGarten  der 
Liebe  und  breche  dir  die  Blume  der  süssen  Einung  und 
mache  dir  da  ein  Bett  aus  dem  lieblichen  Grase  der  hei- 
ligen Erkenntnis,  und  die  lichte  Sonne  meiner  ewigen 
Gottheit  bescheint  dich  mit  dem  verborgenen  Wunder 
meinerWonne,davon  du  einweniges  heimlichhastkosten 
dürfen.  Und  da  neige  ich  dir  den  höchsten  Baum  meiner 
heiligen  Dreifaltigkeit,  und  du  brichst  dann  die  grünen, 
weissen,  roten  Äpfel  meines  milden  Menschtums,  und 
dannbeschirmtdichderSchattenmeinesheiligenGeistes 
vor  aller  irdischen  Traurigkeit,  —  dann  kannst  du  nicht 
mehr  denken  an  deinHerzeleid.WenndudenBaum  um- 
fängst, lehre  ich  dich  der  Jungfrauen  Gesang,  die  Weise, 
die  Worte,  den  süssen  Klang,  den,  die  von  der  Unkeusch- 
heit  durchzogen  sind,  allein  von  sich  aus  nicht  verstehen 
können,  aber  sie  alle  werden  einmal  den  süssen  Wandel 
gewinnen. 

Liebe,  nun  heb  an  und  lass  hören,  wie  du  es  kannst. 
—  O  weh,  mein  Viellieber,  ich  bin  heiser  in  der  Kehle 
meiner  Keuschheit,  aber  der  Zucker  deiner  süssen  Milde 
hatmeine  Kehle  zumTönengebracht,dassichnun  singen 
kann  also,  Herr:  Dein  Blut  und  meines  ist  eins  und  un- 
verderbt, deine  Liebe  und  meine  ist  eins  und  ungeteilt, 
dein  Kleid  und  meines  ist  eins  und  unbefleckt,  dein  Mund 
und  meiner  ist  eine  Seligkeit.  — 
Dies  sind  dieWorte,  die  der  Liebe  Stimme  sang,  aber  der 
süsse  Herzensklang  muss  wegbleiben,  denn  den  kann  ir- 
dische Hand  nicht  schreiben. 


76 


MECHTHILD  VON  HACKEBORN  (1242— 1299) 

Von  allerlei  Pein 

DA  sie  in  dieser  Verlassenheit  [krank  und  ohne  » Got- 
tes Besuch«]  mehr  als  sieben  Tage  geblieben  war, 
goss  der  sehr  gütige  Herr,  der  immer  nahe  ist  denen ,  die 
betrübten  Herzens  sind,  so  überfliessenden  Trost  und 
Süssigkeit  über  sie,  dass  sie  oftmals  von  der  Mette  bis  zur 
Prime  und  von  der  Prime  bis  zur  None  mit  zugetanen 
Augen  wie  tot  in  Gottes  Genüsse  lag.  In  dieser  Zeit  offen- 
barte ihr  der  sanfte  Herr  die  wundersamen  Dingeseiner 
Heimlichkeiten  und  erfreute  sie  so  sehrmitderSüssigkeit 
seiner  Gegenwart,  dass  sie  wie  trunken  nicht  länger  an 
sich  halten  konnte  und  jene  innerliche  Gnade,  die  sie  so 
vieleJahreverhehlt  hatte,  auch  Gästen  und  Fremden  mit- 
teilte. Daher  gaben  Viele  ihr  Botschaft  zu  Gott;  von 
denen  sieJeglichem,jenachdemGott  sie  der  Kundewür- 
digte, das  Begehren  seines  Herzens  eröffnete,  darob  sie 
sehr  erfreut  Gott  den  Dank  erwiesen . . . 
Da  sie  klagte,  dass  sie  durch  Schmerzen  des  Hauptes  den 
Schlafverloren  hätte,  sagten  die  Leute,  sie  irre  aus  Krank- 
heit, denn  sie  meinten, sie tätenichts  anderes  alsschlafen. 
Aber  da  ihre  Dienerin  sie  fragte,  was  sie  täte,  wenn  sie  so 
mit  geschlossenen  Augen  läge,  antwortete  sie:  »Meine 
Seele  vergnügt  sich  in  göttlichem  Genüsse,  schwimmend 
in  der  Gottheit  wie  ein  Fisch  im  Wasser  oder  einVogel  in 
der  Luft;  und  kein  Unterschied  ist  zwischen  dem  Gott- 
genusse  der  Heiligen  und  der  Einung  meiner  Seele,  als 
dieser,  dass  sie  in  derFreude,  ich  in  der  Pein  ihngeniesse«. 
In  diesen  Tagen  ihrer  Krankheit,  als  die  Fastenzeit  kam 
und  sie  sich  vorgesetzt  hatte,  mit  dem  Geiste  beim  Herrn 

77 


in  derWüste  zu  sein,  fragte  sie  in  einer  Nacht,  daes  ihr  er- 
schien, sie  sei  mit  dem  Herrn  in  der  Wüste,  ihn,  wo  er  die 
erste  Nacht  bleiben  wolle.  Da  zeigte  ihr  der  Herr  einen 
wundersam  schönen  aber  hohlen  Baum,  der  war  der 
Baum  der  Demut  genannt,  und  sprach :  » Hier  werde  ich 
über  Nacht  bleiben « .  Nachdem  er  dies  gesagt  hatte,  ging 
derHerr  in  den  hohlen  Baum.  Da  sprach  sie:  »Und  wo 
werde  ich  bleiben.?^«  Darauf  derHerr:  »Weisst  du  nichtin 
meinen  Schosszu  fliegen  und  da  zu  ruhen,wie  die  Vögel  zu 
tun  pflegen  ? «  Und  sogleich  sah  sie  sich  selber  in  der  Ge- 
stalt eines  Vögleins  in  den  Schoss  des  Herrn  fliegen,  und 
ruhte  darin  gar  friedsam .  Und  sprach  zum  Herrn :  » Aller- 
mildesterHerr,  lege  deinen  Finger  auf  mein  Haupt,  dass 
ich  so  einschlafe. «  Und  der  Herr :  » Weisst  du  nicht,  dass 
die  Vöglein,  wenn  sie  den  Schlaf  empfangen  wollen,  den 
Kopfunter  das  Gefieder  legen. ?^«  Und  sie:  »Herr,  welches 
ist  mein  Gefieder.?«  Er  antwortete:  »Dein  Verlangen  ist 
eineroteFeder,weilesimmerbrennt.  Deine  Liebe  ist  eine 
grüne  Feder,  weil  sie  immer  grünt  und  wächst.  Deine 
HoiTnung  aber  ist  eine  gelbe  Feder,  weil  du  unablässig  zu 
mir  eilst«. 

Von  der  Macht  der  Liebe 

Tax  einer  andern  Zeit,  da  sie  in  der  Wirkung  der  Gnaden 
dieMachtder  göttlichen  Liebe  bedachte,  sprach  derHerr 
zu  ihr :  » Siehe,  ich  gebe  mich  in  Gewalt  deinerSeele,  dass 
ich  dein  Gefangener  sei  und  du  mir  gebietest ,  was  immer 
duwillst:undichbinwieeinGefangner,dernichtsvermag, 
als  was  sein  Herr  ihm  befiehlt,  zu  all  deinem  Willen  be- 
reitet« .  Sie  aber,  in  wundersamem  Danke  solcher  Huld 
Worte  vernehmend,  bedachte  in  sich,  was  sie  am  besten 

78 


von  Gottes  Liebe  begehren  solle.  Sie  fand  in  ihrem  Her- 
zen, dass  sie  nichts  der  Gesundheit  vorzöge,  weil  schon 
dasOsterfest  bevorstand  und  sievom  Adventbis  zu  dieser 
Zeit,  mit  Ausnahme  der  Weihnacht,  um  ihrer  steten 
Krankheit  willen  den  Chor  nicht  betreten  hatte.  In  sich 
jedoch  eingekehrt,  da  die  Treue  gegen  den  Herrn  sie 
zwang,  sprach  sie  zu  ihm : » O  Süssester  und  Geliebtester 
meiner  Seele,  wiewohl  ich  nun  alle  Stärke  und  Gesund- 
heit, die  ich  je  hatte,  wiedererlangen  könnte,  möchte  ich 
es  keineswegs.  Sondern  dieses  eine  will  ich  von  dir,  dass 
ich  nie  uneins  sei  mitdeinemWillen, sondern alles,wasdu 
willst  und  in  mir  wirkst,  sei  es  Günstiges  oder  Widriges, 
das  möge  ich  immer  mit  dir  wollen« .  Sogleich  erschien 
es  ihr,  dass  der  Herr  sie  mit  der  Linken  umfing  und  ihr 
Haupt  auf  seine  Brust  neigte  und  zu  ihr  sprach :  » Dieweil 
dualleswillst,wasichwill,wirddeine  Seele  immer  in  mei- 
ner Umarmung  sein,  und  allen  Schmerz  deines  Hauptes 
werde  ich,  ihn  in  mich  selber  einziehend,  mit  meinen 
Leiden  opfern « . 

Von  der  Umarmung  und  dem  Herzen  des  Herrn 

Zu  einerandernZeit,dasieGottinihrer  Krankheitklagte, 
dass  sie  nicht  in  den  Chor  gehen  und  andre  gute  Werke 
nicht  tun  könne,  erschien  es  ihr,  dass  der  Herr  sich  in  das 
Bett  neben  sie  neigte,  sie  mit  dem  linken  Arm  umfangend, 
so  dassdieWunde  seines  holden  Herzens  sich  ihrem  Her- 
zen verband.  Da  sprach  er  zu  ihr:  »Wenn  du  krank  bist, 
umfange  ich  dich  mit  der  Linken ,  und  wenn  du  genesen 
bist,  mit  der  Rechten ;  aber  dies  wisse :  wenn  du  von  mei- 
ner Linken  umfangen  bist,  gesellt  sich  dirviel  näher  mein 
Herz«. 

79 


wie  Gott  der  Seele  seine  Sinne  schenkt,  dass  sie  sie  gebrauche 

Sie  bat  einmal  den  Herrn,  dass  er  ihr  etwas  schenke,  was 
beständig  in  ihr  sein  Gedächtnis  erregen  möchte.  Darauf 
empfingsievom Herrn  dieseAntwort:  »Siehe,ichgebedir 
meine  Augen,  dass  du  mit  ihnen  alle  Dinge  sehest,  und 
meine  Ohren,  dass  du  mit  ihnen  alle  Dinge  vernehmest; 
auch  meinen  Mund  gebe  ich  dir,  dass  du  alles,  was  du  an 
Reden,BetenoderSingen  auszusprechen  hast,  durch  ihn 
tuest.  Ich  gebe  dir  mein  Herz ,  dass  du  dadurch  alles  den- 
kest und  mich  und  um  meiner  willen  alle  Dinge  liebest « . 
In  diesemWorte  zogGottdieseSeele  ganz  in  sich  und  ver- 
einte sie  also  mit  sich,  dass  es  ihr  erschien,  sie  sehe  mit 
Gottes  Augen,  und  höre  mit  seinen  Ohren ,  und  rede  mit 
seinem  Munde ,  und  fühle  kein  andres  Herz  zu  haben  als 
das  Herz  Gottes.  Dies  ist  ihr  auch  hernach  oftmals  zu 
fühlen  gegeben  worden. 


80 


GERTRUD  VON  HELFTA (12 56— 1302) 

Von  der  Lieblichkeit  der  Einwohnung  des  Herrn 

DA  du  also  an  mir  tatest  und  also  meine  Seele  auf- 
riefest, trat  ich  eines  Tages,  zwischen  Ostern  und 
Himmelfahrt,vorderPrimeindenHof,setztemichanden 
Weiher  undbetrachtetedie  Lieblichkeit  diesesOrtes, der 
mir  wohlgefiel  durch  die  Klarheit  desvorüberfliessenden 
Wassers,  durch  das  Grünen  der  umstehenden  Bäume, 
durch  die  Freiheit  der  umherfliegenden  Vögel  und  son- 
derlich der  Tauben,  aber  über  allem  durch  die  heimliche 
Ruhe  des  verborgenen  Sitzes.  Ich  begann  in  der  Seele  zu 
bewegen,wasich  diesen  Dingen  beifügen  wollte,  dass  mir 
das  Ergötzen  dieses  Sitzes  vollkommen  erscheine :  dieses 
verlangte  ich,  dass  der  vertraute,  liebende,  schmiegsame 
und  gesellige  Freund  gegenwärtig  sei  und  meine  Einsam- 
keit lindre.  Da,  o  Urheber  unschätzbarer  Wonnen,  mein 
Gott,  der  du,wieich  hoffe,  den  AnfangdieserBetrachtung 
gelenkt  hast,  da  zogestdu  auch  ihrEnde  auf  dich  hin  und 
flösstestmirdiesesein :  Wenn  ich  inunversieglicherDank- 
barkeit  ausderEinströmung  deiner  Gnaden  mich  in  dich 
zurückgiesse  gleich  dem  Wasser;  wenn  ich  in  derÜbung 
der  Tugenden  wachse  und  im  Grün  der  guten  Werke 
blühegleichden Bäumen;  wenn  ich  vonobendasirdische 
überschauend  dem  HimmlischeninfreiemFlugezustrebe 
gleich  der  Taube,  und  mit  diesen  körperlichen  Sinnen 
dem  Getümmel  der  äusseren  Dinge  entfremdet,  mit  dem 
ganzen  Geiste  dir  obliege  —  dann  wird  meinHerzdireine 
Stätte  geben,  die  köstlicher  ist  als  alle  Lieblichkeit. 
Da  ich  an  jenem  Tage  mein  Gedenken  in  diese  Dinge  ver- 
senkt trug  und  am  Abend  vordem  Schlafe  mit  gebogenen 

6    Buber,  Konfessionen 

81 


Knieen  mich  zum  Gebete  neigte,  kam  mir  plötzlich  diese 
Stelle  in  den  Sinn:  »Wer  mich  liebt,  der  wird  mein  Wort 
halten ;  und  mein  Vater  wird  ihn  lieben,  und  wir  werden 
zu  ihm  kommen,  und  Wohnung  bei  ihm  machen« .  Da 
fühlte  in  mir  mein  erdhaftes  Herz,  dass  du  gegenwärtig- 
lich  angekommen  warst. 

Von  der  göttlichen  Einströmung 

Da  ich  so  Unzusammenhängendes  zu  schreiben  meinte, 
dass  ich  meinem Gewissendarinnichtbeizustimmen  ver- 
mochte und  daher  diese  Niederschrift  bis  zum  Tage  der 
Kreuzerhöhung  verschoben,  an  eben  diesem  Tage  aber 
unter  der  Messe  mich  anderen  Dingen  zuzuwenden  be- 
schlossen hatte,  führte  Gott  meinen  Geist  durch  diese 
Worte  zurück:  »Wisse  fürwahr,  du  wirst  niemals  aus 
dem  Kerker  des  Fleisches  ausgehen,  bis  du  auch  diesen 
Heller,  den  du  jetzt  zurückhältst,  bezahlt  hast« .  Und  als 
ich  in  der  Seele  bewegte,  dass  ich  alleZuteilungen  Gottes, 
wenn  auch  nicht  durch  die  Schrift,  so  doch  durch  die 
Rede  zum  Heile  der  Nächsten  bewahrt  hatte,  warf  mir 
der  Herr  dasWort  entgegen,  das  ich  in  der  gleichen  Nacht 
bei  der  Mette  hatte  vorlesen  hören:  »Hätte  der  Herr 
seine  Lehre  nur  den  Anwesenden  gekündet,  wäre  nur 
Rede,  nicht  Schrift.  Nun  aber  ist  auch  Schrift  zum  Heile 
der  Vielen«.  Und  der  Herr  gab  hinzu:  »Ohne  Wider- 
spruch will  ich  ein  gewisses  Zeugnis  meiner  göttlichen 
Liebe  haben  in  deiner  Schrift  für  diese  letzten  Zeiten,  in 
denen  ich  Vielen  wohlzutun  bestimme« . 
Hierdurch  belastet,  begann  ich  in  mir  zu  überdenken,wie 
schwer,  ja  unmöglich  es  für  mich  wäre,  solchen  Sinn  oder 
solche  Worte  zu  finden,  mit  denen  das  oft  Gesagte  ohne 

82 


Anstoss  dem  menschlichen  Geiste  übergeben  werden 
könnte.  Der  Herr,  der  wider  solchen  Kleinmut  Hilfe 
spendet,  schien  einen  überreichen  Regen  über  meine 
Seele  zu  ergiessen,  unterdessen  ungestümem  Sturze  ich 
geringes  Menschlein,  eine  so  junge  und  zarte  Pflanze,  ge- 
beugt niedersank  und  nichts  zu  einem  Nutzen  einsaugen 
konnte,  als  einige  gar  schwere  Worte,  zu  denen  ich  mit 
dem  Verständnis  der  Sinne  durchaus  nicht  hinanzurei- 
chen vermochte.  Dadurch  noch  mehr  beschwert,  über- 
legte ich,  was  aus  solchem  kommen  könne.  Diese  Last 
enthob  mir  deine  gütige  Liebe,  mein  Gott,  mit  der  ge- 
wohnten Liebkosung  und  belebte  meineSeelemitdiesen 
Worten:  »Weil  die  Überschwemmung  dieser  Fluten 
dir  nicht  frommt,  werde  ich  dich  nun  an  mein  gött- 
liches Herz  lehnen  und  sanft  und  mild,  allmählich,  nach 
dem  Masse  deines  Fassens  das  Wort  in  dich  ergiessen « . 
Dies  allerwahrste  Versprechen  hast  du  gewisslich  erfüllt, 
Herr  mein  Gott.  Du  hast  vier  Tage  lang  in  der  Frühe  zur 
geeignetsten  Stunde  stets  einen  Teil  der  Rede  mir  so  hell 
und  hold  eingeflösst,  dass  ich  ohne  alle  Mühe,  wie  etwas, 
das  ich  viele  Zeit  im  Gedächtnis  gehalten  hätte,  das  vor- 
dem nicht  Gedachte  schreiben  konnte.  Du  tatest  es  aber 
mitdieserMässigung,dassich,wenn  ich  einen  zusammen- 
hängenden Teil  niedergeschrieben  hatte ,  mit  der  An- 
strengung aller  meiner  Sinne  nicht  ein  Wort  von  dem  zu 
finden  vermochte,  was  mir  am  nächsten  Tage  so  zuströ- 
mend und  ohne  alle  Schwierigkeit  bei  der  Hand  war.  So 
belehrtest  und  zugehest  du  mein  Ungestüm,  wie  die 
Schrift  lehrt:  niemand  dürfe  der  Tätigkeit  so  sehr  an- 
hängen, dass  er  nicht  der  Betrachtung  ergeben  wäre.  Du 
eifertest  mein  Heil  an  und  gewährtest  den  Aufschub,  auf 

83 


dass  ich  mich  Raheis  süsser  Umarmungen  erfreue,  aber 
auch  Leas  ruhmreiche  Fruchtbarkeit  nicht  entbehre. 
Möge  deine  weise  Liebe  mir  verleihen,  beides  zu  deinem 
Wohlgefallen  zu  vollziehen. 


84 


HEINRICH  SEUSE (etwa  1 29 5  —  1 3 66) 

IN  seinem  Anfang  geschah  es  einstmals  am  St.  Agnesen- 
tag,  dass  er,  als  der  Konvent  das  Mittagsmahl  beendet 
hatte,  in  den  Chor  kam.  Er  war  da  allein  und  stand  in 
dem  niederen  Gestühle  des  rechten  Chores.  Zur  selben 
Zeit  hatte  er  eine  sonderliche  Bedrängung  von  schwerem 
Leiden,  das  auf  ihm  lag.  Und  da  er  also  trostlos  stand  und 
niemand  bei  ihm  noch  um  ihn  war,  wurde  seine  Seele 
verzückt,  in  dem  Leibe  oder  ausser  dem  Leibe.  Da  sah  er 
und  hörte,  was  allen  Zungen  unaussprechlich  ist.  Es  war 
formlos  und  weiselos  und  hatte  doch  aller  Formen  und 
Weisen  freudenreiche  Lust  in  sich.  Das  Herz  war  gierig 
und  doch  gesättigt,derSinn  fröhlich  und  wohlgeschaffen; 
ihm  war  Wünschen  gestillt  und  Begehren  verloren.  Er 
tat  nichts,  als  in  den  glanzreichen  Widerschein  starren,' 
in  dem  er  ein  Vergessen  seiner  selbst  und  aller  Dinge  ge- 
wann. War  esTag  oder  Nacht,  er  wusste  es  nicht.  Es  war 
eine  hevorbrechende  Süssigkeit  des  ewigen  Lebens  in 
gegenwärtiger  stillstehender  ruhiger  Empfindung.  Er 
sprach  danach:  »Ist  dieses  nicht  Himmelreich,  so  weiss 
ich  nicht,  was  Himmelreich  ist;  denn  all  das  Leiden ,  das 
man  in  Worte  zu  bringen  vermag,  kann  diese  Freude 
nicht  zuRecht  verdienen  dem,  der  sie  ewig  besitzen  soll » . 
Diese  überschwängliche  Entrücktheit  währte  wohl  eine 
Stunde  odereine  halbe;  ob  die  Seele  im  Leibe  blieb  oder 
vom  Leibe  geschieden  war,  das  wusste  er  nicht.  Da  er 
wieder  zu  sich  selber  kam,  war  es  ihm  in  jeder  Weise  wie 
einem  Menschen,  der  von  einer  anderen  Welt  gekom- 
men ist.  Dem  Leibe  geschah  so  weh  von  dem  kurzen 
Augenblick,  dass  er  nicht  glaubte ,  eskönne  irgend  einem 

85 


Menschen  ohne  den  Tod  in  so  kurzer  Frist  solches  Weh 
geschehen.  Er  kam  mit  einem  urtiefen  Seufzen  zu  sich, 
und  der  Leib  sank  zur  Erde  nieder  wider  seinen  Willen, 
wie  ein  Mensch,  der  vor  Ohnmacht  zusammenbrechen 
muss.  Er  schrie  innerlich  auf  und  seufzte  im  inneren 
Grunde  seiner  selbst  und  sprach : » O  wehe  Gott,  wo  war 
ich,  wo  bin  ich  nun?«  undsprach:  »Ach,  herzliches  Gut, 
diese  Stunde  kann  nimmermehr  aus  meinem  Herzen 
kommen« .  Er  ging  da  im  Leibe,  und  niemand  sah  oder 
merkte  auswendig  etwas  an  ihm,  aber  Seele  und  Sinn 
waren  in  ihm  inwendig  voll  himmlischen  Wunders;  die 
himmlischen  Blicke  gingen  hin  und  wiederinseiner  innig- 
sten Innerlichkeit,  und  es  war  ihm,  als  ob  er  in  der  Luft 
schwebte.  Die  Kräfte  seiner  Seele  waren  vom  süssen 
Himmelsduft  erfüllt,  wie  wenn  man  einen  guten  Balsam 
aus  einer  Büchse  giesst  und  die  Büchse  dennoch  danach 
den  guten  Geruch  behält.  Dieser  himmlische  Duft  blieb 
ihmdanach  vieleZeit  undgab  ihm  eine  himmlischeSehn- 
sucht  nach  Gott. 

EinesTages  las  man  bei  Tische  von  derWeisheit,  und  da- 
von wurde  sein  Herz  von  Grund  aus  bewegt.  Sie  sprach 
also:  »Wie  der  schöne  Rosenbaum  blüht  und  wie  der 
edle  Weihrauch  ungemengt  duftet  und  wie  der  unver- 
mischte  Balsam  riecht,  so  bin  ich  ein  blühendes,  wohl- 
riechendes, unvermischtes  Lieb  ohne  Reue  und  ohne 
Bitterkeit  in  abgründlicher  liebreicher  Süssigkeit.  Aber 
alle  anderen  Liebchen  haben  süsse  Worte  und  bitteren 
Lohn,  ihre  Herzen  sind  des  Todes  Zugnetze ,  ihre  Hände 
sind  Eisenfesseln,  ihre  Rede  versüsstes  Gift,  ihre  Kurz- 
weil Ehrenraub«.    Er  dachte:   »Ach,  wie  ist  dies  so 

86 


wahr!«  und  sprach  freimütig  in  sich  selber:  »Wahrlich, 
es  muss  so  sein ,  sie  muss  fürwahr  mein  Lieb  sein,  ich  will 
ihr  Diener  sein«.  Und  dachte:  »Ach  Gott,  wann  könnte 
ich  die  Liebste  nur  erst  sehen ,  wann  könnte  ich  nur  erst 
ihre  Rede  empfangen!  Ach  wie  ist  das  Lieb  gestaltet,  das 
so  viele  liebliche  Dinge  in  sich  verborgen  hat?  Ist  es  Gott 
oder  Mensch,  Frau  oder  Mann,  geheimes  Wissen  oder 
Zaubermacht,  oderwas  mag  es  sein?«  Und  soweit  er  sie 
in  den  dargelegten  Gleichnissen  der  Schrift  mit  den  inne- 
ren Augen  sehen  konnte,  zeigte  sie  sich  ihm  also:  sie 
schwebte  hoch  über  ihm  auf  einem  Wolkenthrone,  sie 
leuchtete  wie  der  Morgenstern  und  schien  wie  die  spie- 
lende Sonne;  ihre  Krone  war  Ewigkeit,  ihr  Kleid  war 
Seligkeit,  ihr  Wort  Süssigkeit,  ihr  Umfangen  aller  Lust 
Erfüllung.  Sie  war  fern  und  nah,  hoch  und  niedrig,siewar 
gegenwärtig  und  doch  verborgen;  sie  Hess  mit  sich  um- 
gehen und  doch  vermochte  sie  niemand  zu  ergreifen.  Sie 
reichte  über  das  Oberste  des  höchsten  Himmels  und 
rührte  an  das  Tiefste  des  Abgrunds.  Sie  breitete  sich  ge- 
waltig von  Ende  zu  Ende  und  schlichtete  alle  Dinge  in 
Süssigkeit.  Wenn  er  jetzt  wähnte,  eine  schöne  Jungfrau 
zu  haben,  geschwind  fand  er  einen  stolzen  Jüngling.  Bald 
gebärdete  sie  sich  wie  eine  weise  Meisterin ,  bald  hielt  sie 
sich  wie  ein  stattlichesLiebchen.  Sie  beugte  sich  ihm  lieb- 
reich zu  und  grüsste  ihn  mit  vielem  Lächeln  und  sprach 
gütig  zu  ihm:  »Praebe,  fili,  cor  tuum  mihi!  Gib  mir  dein 
Herz,  mein  Sohn!«  Er  neigte  sich  zu  ihren  Füssen  und 
dankte  ihr  herzlich  aus  dem  Grunde  seiner  Demut.  Dies 
wurde  ihm  damals,  und  mehr  konnte  ihm  zu  der  Zeit 
nicht  werden. 
Wenn  er  um  diese  Zeit  manchmal  in  Gedanken  an  die 

87 


Allerlleblichste  ging,  tat  er  eine  innerliche  Frage  und 
fragte  sein  liebesuchendes  Herz  also:  »Ach  mein  Herz, 
schau,  woher  fllesst  Liebe  und  alle  Lieblichkeit?  Woher 
kommt  alle  Zartheit,  Schönheit,  Herzenslust  und  An- 
mut? Kommt  es  nicht  allesaus  dem  ausquellenden  Ur- 
sprung der  reinen  Gottheit?  Wohlauf  denn,  Herz  und 
Sinn  und  Mut,  hin  in  den  grundlosen  Abgrund  aller  schö- 
nen Dinge!  Wer  will  mich  jetzt  aufhalten?  O  ich  um- 
fange dich  heute  nach  der  Begier  meines  brennenden 
Herzens!«  Und  dann  drückte  sich  in  seine  Seele  der  ur- 
sprüngliche Ausfluss  alles  Gutes,  in  dem  fand  er  geistig 
alles,  das  schön,  lieblich  und  begehrenswert  war;  das  war 
alles  da  in  unsäglicher  Weise. 

Damit  kam  er  in  eine  Gewohnheit,  wenn  er  Loblieder 
singen  hörte  oder  süsses  Saitenspiel  erklingen  oder  von 
zeitlicherLiebehörtesagenodersingen,sowurdeihmsein 
Herz  und  Sinn  plötzlich  mit  einer  abgelösten  Einschau 
in  sein  köstliches  Lieb  eingeführt,  aus  dem  alle  Liebe 
fliesst.WieoftdieHerzlIebstemitliebeweinendenAugen, 
mit  weitgeöffnetem  abgründigem  Herzen  umfangen  und 
an  das  liebereiche  Herz  inbrünstig  gedrückt  worden  ist, 
daswäre  unsagbar.  Ihm  geschah  davon,  gerade  wie  wenn 
eine  Mutter  ihr  saugendes  Kindlein  in  den  Armen  auf 
dem  Schosse  stehen  hat:  wie  das  mit  seinem  Kopfe  und 
der  Bewegung  seines  Leibleins  sich  der  liebkosenden 
Mutter  entgegenregt  und  seines  Herzens  Freude  mit  den 
lächelnden  Gebärden  erzeigt,  regte  sich  ihm  oft  das 
Herz  im  Leibe  der  lustreichen  Gegenwart  der  ewigen 
Weisheit  in  einem  Hinfliessen  seines  Innern  zu.  Er  dachte 
dann:  »O  mein  Gott,  wäre  mir  jetzt  eine  Königin  ver- 
mählt, des  genösse  meine  Seele,  oh,  jetzt  aber  bist  du 

88 


meines  Herzens  Kaiserin  und  aller  Gnaden  Geberin!  In 
dir  habe  ich  Reichtums  genug,  Macht  so  viel  ich  will.  Von 
allem  was  die  Erde  hat,  wollte  ich  nicht  mehr  haben!« 
Und  als  er  so  sann,  ward  sein  Antlitz  so  fröhlich,  seine 
Augen  so  glücklich,  sein  Herz  ward  jubelnd  und  alle  seine 
innern  Sinne  sangen  das:  Super  salutem  usw.,  über 
allem  Glück,  über  aller  Schönheit,  du  meines  Herzens 
Glück  und  Schönheit;  denn  mit  dir  ist  mir  das  Glück  ge- 
kommen und  alles  Gut  besitze  ichin  dir  und  mit  dir< . 

Wenner  nach  seinerGewohnheitnach  der  Mette  inseine 
Kapelle  gekommen  war  und  da  zu  einer  kleinen  Ruhe  in 
seinen  Stuhl  sich  setzte  —  dieses  Sitzen  war  kurz  und 
währte  nicht  länger  als  bis  derWächter  den  aufgehenden 
Tag  ankündigte — ,  dann  gingen  ihm  auch  seine  Augen 
auf  und  er  fiel  schnell  auf  die  Kniee  und  grüsste  den  auf- 
steigenden lichten  Morgenstern,  die  zarte  Königin  des 
Himmelreichs,  und  meinte:  wie  die  kleinen  Vöglein  im 
Sommerden  lichten  Tagbegrüssen  undihn  fröhlichemp- 
fangen, so  grüsse  er  in  der  fröhlichen  Begierde  die  Licht- 
bringerin  des  ewigenTages ;  und  er  sprach  dann  dieWor- 
te  nicht  einfach  hin,  er  sprach  sie  mit  einem  süssen  stillen 
Tönen  in  seiner  Seele. 

EinstmalssassersozurselbenZeitinseinerRuhe, da  hörte 
er  etwas  in  seinem  Innern  so  herzlich  erklingen,  dass  sein 
ganzes  Herz  bewegt  ward,  und  die  Stimme  sang  mit  ei- 
nem reinen  süssen  Hallen, indessen  derMorgenstern  auf- 
ging, und  sang  diese  Worte:  »Stella  Maria  maris  hodie 
processit  ad  ortum,  der  Stern  des  Meeres  Maria  ist  heute 
hervorgekommen« .  Dieser  Gesang  erscholl  so  überna- 
türlich schön  in  ihm,  dass  ihm  all  sein  Gemüt  dahinge- 

89 


nommen  wurde  und  er  froh  mitsang.  Da  sie  es  miteinan- 
der freudig  ausgesungen  hatten,  wurde  ihm  ein  unsäg- 
liches Umfangen,  und  darin  wurde  also  zu  ihm  gespro- 
chen :  >  Je  liebreicher  du  mich  umfängst  und  je  unkörper- 
licher du  mich  küssest,  um  so  liebreicher  und  um  so 
freundlicher  wirst  du  in  meiner  ewigen  Klarheit  umfan- 
gen. «  So  gingen  ihm  die  Augen  auf,  die  Tränen  stürzten 
ihm  das  Antlitz  hinab  und  er  grüsste  den  aufgehenden 
Morgenstern  nach  seiner  Gewohnheit. 

Es  war  in  der  Engelnacht*,  da  war  es  ihm  in  einem  Ge- 
sichte, als  hörte  er  Engelsgesang  und  süsses  himmlisches 
Tönen.  Davon  ward  ihm  sowohl,  dass  er  all  sein  Leiden 
vergass.  Da  sprach  ihrer  einer  zu  ihm:  »Sieh,  wie  du  gern 
von  uns  den  Gesang  der  Ewigkeit  hörst,  so  hören  wir 
gern  von  dir  den  Gesang  von  der  ewigen  Weisheit « .  Und 
danach  sprach  er  wieder:  »Dies  ist  aus  dem  Liede,  das 
die  auserwählten  Heiligen  fröhlich  singen  werden  am 
jüngsten  Tage,  wenn  sie  schauen,  dass  sie  in  immer- 
währender Freude  der  Ewigkeit  bestätigt  sind. « 
Er  hatte  ein  andermal  an  ihrem  Feste  viele  Stunden  in 
solcher  Anschauung  ihrer  Freuden  verbracht,  und  da  es 
dem  Tage  zuging,  kam  ein  Jüngling,  der  gebärdete  sich, 
als  wäre  er  als  himmlischer  Spielmann  von  Gott  zu  ihm 
gesendet.  Mit  dem  kamen  viele  stolze  Jünglinge,  in  glei- 
cher Weise  und  Gebärde  wie  der  erste,  nur  dass  jener 
mehrWürde  als  die  anderen  hatte, aiswäre  er  einEngels- 
fürst.  Dieser  Jüngling  kam  recht  wohlgemut  zu  ihm  und 
sagte,  sie  seien  darum  von  Gott  zu  ihm  herabgesendet, 
dass  sie  ihm  inseinenLeidenhimmlischeFreudemachen 

*  Vorabend  des  Festes  aller  Engel  (29.  September) 
90 


sollten,  und  sprach,  er  solle  seine  Leiden  aus  den  Sinnen 
werfen  und  Ihnen  Gesellschaft  leisten,  und  er  müsste 
auch  mit  Ihnen  himmlisch  tanzen.  Sie  nahmen  den  Die- 
ner zum  Tanze  bei  der  Hand,  und  der  Jüngling  begann 
ein  fröhliches  Lied  von  dem  JesuskIndleIn,dasalsolautet: 
in  dulci  jubllo  usw.  Da  der  Diener  den  gellebten  Namen 
Jesus  so  süss  erklingen  hörte ,  wurde  sein  Herz  und  seine 
Sinne  so  recht  wohlgemut,dassIhm  entschwand,  waser  je 
anLeldengehabthatte. Nunsah  ermItFreuden,wIesiedie 
allerhöchsten  und  die  allerfrelesten  Sprünge  taten.  Der 
Vorsänger  konnte  sie  gar  wohl  in  Bewegung  bringen, und 
er  sang  vor  und  sie  nach,  und  sie  sangen  und  tanzten  mit 
jubelndem  Herzen.  Der  Vorsänger  machte  den  Kehrvers 
wohl  dreimal:  Ergo  merlto  usw.  Dieses  Tanzen  war 
nicht  In  der  Weise  beschaffen,  wie  man  in  dieser  Welt 
tanzt;  es  war  ein  himmlisches  Auswallen  undWiederein- 
wallen  in  den  wilden  Abgrund  der  göttlichen  Heimlich- 
keit. Diesesund  ähnliches  Himmelstrostes  wurde  ihm  In 
diesen  Jahren  unsäglich  viel  zuteil, und  am  allermeisten  zu 
den  Zelten ,  da  er  mit  grossen  Leiden  umgeben  war,  und 
die  wurden  Ihm  dann  umso  leichter  zu  leiden. 


91 


CHRISTINE  EBNER  ( 1 277  - 1 3  5  5) 

ZU  einer  Zeit,  da  sie  24  Jahre  war,  träumte  ihr,  dass 
sie  unseres  Herrn  schwanger  worden  sei,  und  sie 
war  so  voll  Gnaden,  dass  kein  Glied  an  ihrem  Leib  war, 
das  nicht  besondere  Gnaden  davon  empfand.  Und  sie 
kam  in  eine  solche  Zärtlichkeit  für  das  Kindlein,  weil  es 
sich  selbst  so  behütete,  wie  es  ihr  schien,  dass  sie,  als  sie 
einmal  auf  ein  Hüglein  getreten  war,  fürchtete,  es  hätte 
dem  Kindlein  weh  getan.  Und  da  dies  in  der  Süssigkeit 
war  ohne  allenVerdruss,  so  dass  kein  Kummerund  keine 
Traurigkeit  sie  berührte,  und  eine  Zeit  vergangen  war, 
da  träumte  ihr,  wie  sie  ihn  ohne  alle  Schmerzen  gebären 
sollte,  und  sie  empfing  eine  gar  überschwängliche  Freude 
von  seinem  Anblick.  Und  da  sie  eine  Zeitlang  mit  dieser 
Freude  umging,  da  konnte  sie  es  nicht  mehr  verhehlen 
und  nahm  das  Kindlein  auf  ihre  Arme  und  trug  es  mitten 
unter  die  Versammlung  im  Refektorium  und  sprach: 
»Freuet  euch  mit  mir  allesamt,  ich  kann  euch  meine 
Freude  nicht  länger  verhehlen,  ich  habe  Jesum  empfan- 
gen und  habe  ihn  nun  geboren. «  Und  sie  zeigte  ihnen  das 
Kindlein.  Und  da  sie  also  in  grosser  Freude  war,  erwach- 
te sie. 

Er  sprach:  »Ich  will  dich  ansehen  mit  meinen  barmher- 
zigen Augen,  ich  will  dich  bereichern  mit  meinem  Reich - 
tum,ich  will  dich  erhöhen  mit  meiner  Höhe « .  Er  sprach : 
»Was  soll  ich  dir  noch  tun.?'  Ich  habe  so  grosse  Wunder 
an  dir  getan,  dass  es  dem  Herzen  unglaublich  ist.  Ich  habe 
den  Schatz  meiner  Süssigkeit  in  dich  gegossen.  Du  bist 
der  Menschen  einer,  denen  ich  vom  Anfang  der  Welt  das 

92 


Allerherrlichste  gegeben  habe.  Meine  Güte  spielt  mit 
allen,  denen  ich  gut  bin« .  Eines  andern  Tages  sprach  er 
zu  ihr :  » Die  hernach  deine  Schrift  lesen,  die  wunderba- 
ren Dinge, die  ich  dir  getan  habe,  die  sollen  sich  darüber 
nicht  wundern.  Du  hast  sie  um  mich  nichtverdient.  Mich 
hat  ihrer  gelüstet.  Ich  habe  es  von  meiner  spielenden 
Gottheit,  dass  ich  tue,was  mich  lüstet.  Hätte  ich  tausend 
Welten,  dann  hätte  ich  genug,  jedem  Menschen  mit  ei- 
nem Dinge  wohlzutun,  das  ich  dem  andern  nicht  täte « . 

An  einem  Freitag  sprach  er :  » Ich  bin  aus  Liebe  dein  Ge- 
fangener und  komme  willig  zu  dir.  Ich  will  dich  krönen 
mit  meiner  Barmherzigkeit.  Ich  bin  der  Überwinder  dei- 
ner Sinne  « . . . .  Am  Samstag  sprach  er  zu  ihr : » Du  kommst 
bald  an  einen  Ort,  wo  all  dein  Elend  ein  Ende  hat.  Der 
göttliche  Strom,  der  da  fliesst  von  mir  in  die  Heiligen  und 
in  die  Laien,  der  fliesstindichundfliesst  wieder  ausdir«.... 
Am  Sonntag  sprach  er:  »Ich  komme  zu  dir  wie  einer,  der 
ausLiebe  tot  ist.  Ich  komme  zu  dir  mit  Begierde  wie  ein 
Gemahl  zu  seinem  Brautbett.  Ich  komme  zu  dir  wie  einer, 

der  grosse  Gabe  gibt« Am  Montag  sprach  er  zu  ihr: 

» Ich  bin  der  Überwinder  deiner  Sinne  < .  Es  wurde  auch 
zuihrgesprochen:»Siehdenan,dendieEngelansehen«.... 
An  Sankt  Nikolaus  Tag  sprach  er :  » Ich  mache  dich  edel 
von  meineredelnArt.  Ichmachedichwürdigvonmeinem 
Adel.  Ich  habe  dich  betaut  mit  meinem  göttlichen  Tau « . 
Am  Freitag  sprach  er :  » Meine  Geliebte ,  lass  mich  bei  dir 
ruhen,  dass  ich  meine  Feinde  vergesse.  Ich  willdeine  Tu- 
gend reich  machen » An  Sankt  LuciensTagsprach  er: 

»IchhabediralleGattentreuegehalten«....  Ersprach:  »Es 
spielt  mir  in  meiner  Gottheit,  dass  ich  dir  Gutestue.  Es  ist 

95 


mireineWonne,dass  ich  dir  Gutes  tue« »Er  sprach: 

» Meine  Geliebte,  nimm  meineRede  liebreich  an,  ich  rede 
jetzt  mit  niemanden  so  viel  wie  mit  dir«.  An  Sankt  Jo- 
hannis  Tag  sprach  er :  » Ich  will  an  dir  all  das  tun ,  was  an 
einer  Kreatur  zu  tun  möglich  ist « .  Er  sprach : » Ich  erfülle 
dich  mit  meiner  göttlichen  Süssigkeit,  aber  die  dabei  sind, 
die  will  ich  ansehen  mit  meinen  barmherzigen  Augen.  Ist 
dasnichteinWundervonmir,  dassichdirmehrGnadeer- 
weise  als  denen,  die  in  den  Wäldern  und  in  hohlen  Bäu- 
men wohnen  und  ein  hartes  Leben  haben,  und  dass  ich 
dir  der  Gnaden  mehr  erweise?« 

Am  Pfingsttag  sprach  er:  »Dieses  Tags  muss  Himmel 
und  Erde  inne  werden.  Ich  will  dich  alles  Guten  teilhaf- 
tig machen « .  Und  er  meinte  die  besondere  Gnade ,  die  er 
seinen  Freunden  tut.  Da  fragte  sie  ihn ,  warum  er  ihr  ein 
so  grosses  Einströmen  der  Süssigkeit  gebe.  Da  sprach  er: 
» Die  Welt  ist  fortwährend  in  Unruhe.  Wo  ich  daher  ein 
ruhiges  Herz  finde,  da  ist  mir  wohl « . 

Sie  fragte  ihn :  » Lieber  Herr,  hast  du  es  [die  Wunder,  die 
er  mit  ihr  gewirkt]  je  einem  Menschen  mehr  kundge- 
tan als  mir.f^«  Da  sprach  er:  »So  gänzlich  habeich  es  nie 
einem  Menschen  kundgetan  wie  dir.  Ich  habe  dir  mehr 
Süssigkeit  gegeben  als  tausend  andern  Menschen.  Ich 
habe  dich  in  ein  göttliches  Leben  aus  dir  selber  gezogen. 
Ich  habe  dich  wie  ein  Bild  angesehen«.  Das  verstand 
sienicht,  wie  er  das  meinte.  Da  antwortete  er  ihr:  »Als 
ich  deine  Seele  formte  in  meiner  Gottheit,  da  schaute  sie 
mir  entgegen  und  sah  alle  die  Dinge  an,  die  ich  mit  dir  tun 
wollte.  Da  hat  dich  meine  liebreiche  Hand  zu  mirgezo- 

94 


gen.  Ich,  der  Herr  der  Barmherzigkeit,  habe  dasWunder 
der  Wunder  an  dir  getan « . 

EinesTages  hat  sie  unsern  Herrn  zu  sich  genommen.  Da 
sprach  er:  »MeinAdelhatdichhochgemacht.MeineHöhe 
hat  dich  gross  gemacht.  Meine  Gunst,  die  spielt  mit  dir. 
Du  bist  der  Menschen  einer,  dem  ich  jetzt  auf  Erden  das 
Allerbeste  tue.  Ich  bin  ein  armer  Pilgrim.  Die  Heiden,  die 
kennen  mich  nicht.  Die  Juden,  die  wollen  mich  nicht.  Es 
ist  so  grosse  Wirrung  in  den  christlichen  Landen,  dass 
sie  mich  nicht  wahrnehmen.  Wo  ich  denn  ein  williges 
Herz  finde,  da  spiele  ich  darin,  wie  die  Sonne  in  sich  sel- 
ber tut«. 

Am  heiligen  Osterabend  . . .  mehrte  sich  die  Gnade  Got- 
tes in  ihrem  Herzen  in  unaussprechlichem  Reichtum,  al- 
so dass  die  Gnade  aus  der  Seele  in  den  Leib  und  in  alle 
ihre  Glieder  überfloss,  dass  sie  von  der  Gnade  besessen 
und  beschwert  war  wie  eine  schwangere  Frau  von  einem 
Kinde,  und  in  dieser  Fülle  derGnade  war  sie  lange  Zeit. 

Er  sprach:  »Ich  wohne  in  dir  wie  der  Duft  der  Rose.  Ich 
wohne  in  dir  wie  der  Glanz  in  der  Lilie.  Ich  edle  Frucht, 
ich  habe  aus  dir  geblüht«. 


95 


MARGARETHA  EBNER  ( 1 29 1  —  1 3  5 1 ) 

DA  man  nun  zu  der  Zeit  Alleluja  geläutet  hatte,  fing 
Ich  mit  der  grössten  Freude  zu  schweigen  an  und 
insbesondere  in  derFastnachtwar  ich  in  grossen  Gnaden. 
Und  dageschahesamFastnachtsdienstag,dawarich  nach 
der  Mette  allein  im  Chorund  kniete  vordem  Altar,  und  es 
kam  mir  eine  grosse  Furcht,  und  da  in  der  Furcht  ward  ich 
umgeben  mit  einer  übermässigenGnade. Ichberufe  mich 
für  meineWorteaufdielautereWahrheit  Jesu  Christi. Mir 
geschah  ein  Griff  von  einer  inneren  göttlichen  Kraft  Got- 
tes, dass  mir  mein  menschlichesHerz  genommen  wurde, 
und  ich  spreche  in  der  Wahrheit  —  die  mein  Herr  Jesus 
Christus  ist  — ,  dass  ich  desgleichen  nie  wieder  empfand. 
Mir  wurde  da  übermässige  Süssigkeit  gegeben,  dass  mir 
war,  als  würde  mir  die  Seele  vom  Leibe  getrennt.  Und 
der  allersüsseste  Name  Jesus  Christus  wurde  mir  da  mit 
einer  so  grossen  Inbrunst  seiner  Liebe  gegeben ,  dass  ich 
nichts  beten  konnte  alsnurein  fortwährendes  Sagen,  das 
mir  von  der  göttlichen  Kraft  Gottes  eingegeben  wurde 
und  dem  ich  nicht  zu  widerstehen  vermochte  und  von 
dem  ich  nichts  schreiben  kann,  ausser  dass  der  Name 
Jesus  Christus  beständig  darin  war. 

Ich  habe  ein  Bild  der  Kindheit  unseres  Herrn  in  einer 
Wiege.  Wenn  ich  dann  von  meinem  Herrn  so  kräftig  ge- 
zwungen werde  mit  so  grosser  Süssigkeit  und  mit  Lust 
und  Begierde  und  auch  von  seiner  gütigen  Bitte,  und  mir 
auch  von  meinemHerrn  zugesprochen  wird : » Säugest  du 
mich  nicht,  so  willich  dir  mich  entziehen ,  wenn  du  mich 
am  allerliebsten  hast«  ,sonehmeich  das  Bildaus  derWie- 

96 


ge  und  lege  es  an  mein  nacktes  Herz  mit  grosser  Lust  und 
Süssigkeit  und  empfinde  dann  die  allerkräftigste  Gnade 
mit  der  Gegenwart  Gottes,  dass  ich  mich  danach  wun- 
dere, wie  unsere  liebe  Frau  die  stete  Gegenwart  Gottes 
je  ertragen  konnte:  dann  wird  mir  geantwortet  mit  den 
wirklichen  Worten  des  Engels  Gabriel  »Spiritus  sanctus 
supervenit  in  te« .  Aber  meine  Begierde  und  meine  Lust 
ist  in  dem  Säugen ,  dass  ich  aus  seinem  lauteren  Mensch- 
tum  gereinigt  werde  und  mit  seiner  inbrünstigen  Liebe 
aus  ihm  entzündet  werde  und  ich  mit  seiner  Gegenwart 
und  mit  seiner  süssen  Gnadedurchgossen  werde,  dassich 
damit  gezogen  werde  in  das  wahre  Geniessen  seines  gött- 
lichen Wesens  mit  allen  liebenden  Seelen,  die  in  der 
Wahrheit  gelebt  haben. 

Am  SanktStephanstag  gab  mir  mein  Herr  eine  liebreiche 
Gabe  für  meine  Begierde ,  da  mir  aus  Wien  ein  liebliches 
Bild  gesandt  wurde,  das  war  ein  Jesus  in  einerWiege  und 
dem  dienten  vier  goldene  Engel.  Und  von  dem  Kinde 
wurde  mir  eines  Nachts  gegeben,  dass  ich  es  mit  Freuden 
und  lebhaftem  Gebahren  mit  sich  selber  in  der  Wiege 
spielen  sah.  Da  sprach  ich  zu  ihm :  »Warum  bist  du  nicht 
artig  und  lässt  mich  nicht  schlafen.?  Ich  habe  dich  doch 
gut  gebettet«.  Da  sprach  das  Kind:  >Ich  will  dich  nicht 
schlafen  lassen.  Du  musst  mich  zu  dir  nehmen « .  So  nahm 
ich  es  mit  Begier  und  mit  Freude  aus  der  Wiege  und 
stellte  es  auf  meinen  Schoss.  Da  war  es  ein  lebendiges 
Kind.  Da  sprach  ich:  »Küsse  mich,  so  will  ich  es  fahren 
lassen,  dass  du  mich  geplagt  hast« .  Da  fiel  es  mit  seinen 
Armen  um  mich  und  halste  mich  und  küsste  mich. 


7   Buber,  Konfessionen 

97 


Wenn  ich  hernach  an  die  Gesichte  dachte,  empfand  ich 
neue  Süssigkeit,  und  es  begann  in  mir  eine  neue  Weise 
mit  geschlossenem  Munde  und  mit  inneren  Worten  zu 
reden,  die  niemand  verstand  noch  merkte  als  ich.  Und 
diese  Worte  machten  mir  eine  süsse  ungeformte  Stimme 
im  Munde.  Es  waren  diese :  » Ego  vox  clamantis  in  deser- 
to«  usw.,  sodann:  »Fac  me  audire  vocemtuam,voxtua 
dulcis«  usw. , und  dies  geschah  miroftmalsdanachindem 
Jahr.  Und  dann  wird  mir  der  Mund  mit  Gewalt  geschlos- 
sen,dass  ich  keinWort  auszusprechen  vermag,und  wenn 
ich  gleich  sterbenmüsste.  Und  diese  innere  Rede,  vonder 
ich  viel  geschrieben  habe,  kommt  mir  dann  mit  einer 
fröhlichen  Leichtigkeit  aus  dem  Herzen  heraus,  und  sie 
hebt  da  gerade  so  an,  wie  man  ein  liebliches  Stück  auf  ei- 
nem Saitenspiel  in  einer  meisterlichen  Weise  mit  einem 
lieblichen  Vorspiel  beginnt  und  mit  einem  lieblichen 
Nachspiel  endet.  Und  es  ist  mir  diese  Frist  übernatürlich 
süss:  gäbe  eskein  weiteresHimmelreich,  mich  dünkt,ich 
hätte  trotzdem  genug,  und  alle  Kreaturen  miteinander 
könnten  mich  von  Gott  nicht  um  ein  Haar  entfernen. 


98 


ADELHEID  LANGMANN  (st.  1375) 

"XVy^AS  schicklich,  wohlgefällig,  fromm  und  gottselig 
Wwar,  das  hielt  das  Kind  und  war  doch  fröhlich  mit 
den  Leuten  ohne  alle  Ausgelassenheit.  Wenn  es  mit  sei- 
ner Mutter  zur  Predigt  ging,  was  es  da  hörte,  das  schloss 
es  in  seines  Herzens  Schrein.  Wenn  es  dann  heimkam 
und  allein  war,  betrachtete  es,  was  es  in  der  Predigt  ge- 
hört hatte,  und  vornehmlich  unseres  Herrn  Marter,  die 
betrachtete  es  gar  gern,  so  sehres  nur  konnte.  Das  merk- 
ten die  Leute,  die  bei  dem  Kindewaren  und  sich  seiner 
annahmen.  Die  sprachen  oftmals  zu  seiner  Mutter:  »Das 
Kind  gehört  nirgends  hin  als  in  ein  Kloster« . 
Das  dauerte,  bis  das  Kind  zu  dreizehn  Jahren  aufwuchs. 
Daverlobten  sie  ihre  Freunde  einem  Jüngling.  Derwurde 
todkrank.  Und  als  man  die  Hochzeit  feiern  wollte  und 
sie  auf  dem  Brautstuhl  sass,  lag  er  den  ganzen  Tag  zu 
Bette.  So  siechte  er  immer  mehr  hin  bis  in  das  nächste 
Jahr,  da  er  starb. 

Danach  wollten  sie  ihre  Verwandten  wieder  hingeben. 
Da  sprach  unser  Herr  zu  einem  Menschen:  »Und  gebe 
man  sie  dreissigen,  sie  müssten  alle  sterben.  Sie  muss  mir 
werden«.  Da  bat  sie  gute  Leute,  dass  sie  Gott  für  sie 
bäten,  er  möge  ihnen  zu  erkennen  geben,  was  sein  lieb- 
ster Wille  wäre.  Ein  guter  Mensch  war  bei  seiner  An- 
dacht, der  bat  unsern  Herrn  für  sie,  ob  es  sein  Wille  wäre, 
dass  sie  in  ein  Kloster  sollte.  Da  sprach  unser  Herr:  »Ja 
es  ist  mein  Wille.  Ich  will  sie  haben,  wo  sie  eins  mit  mir 
ist«.  Da  sprach  der  Mensch:  »Herr,  wo  ist  sie  eins  mit 
Dir?«  Da  sprach  unser  Herr:  »Wo  sie  Niemandes  ist«. 
Danach  an  dem  Tage  der  Apostel  Philippus  und  Jacobus 

7* 

99 


bat  dieser  Mensch  die  heiligen  Apostel  für  sie  und  sprach: 
» Vielliebe  Heilige,  ich  verlange  das  von  euch,  dass  ihr  un- 
seren Herrn  befraget  wiegen  dieses  Mädchens,  ob  es  sein 
Wille  sei,  dass  sie  in  ein  Kloster  komme«.  Da  sprachen 
die  Heiligen:  >Ja  es  ist  sein  Wille,  dass  sie  uns  nachfolge, 
den  Heiligen,  und  dass  sie  ihren  eigenen  Willen  lasse  w^ie 
wir « .  Da  sprach  der  Mensch  zu  unserem  Herrn :  >  Herr, 
w^asw^illst  du  ihr  dafürgeben?«  DasprachunserHerr:  »Ich 
will  ihr  das  Himmelreich  geben « . 
Nun  hatte  diese  junge  Witwe  die  Gewohnheit,  dass  sie 
alle  Tage  sieben  scharfe  Disziplinen  nahm,  wenn  ihre 
rechtmässige  Notdurft  und  Beschäftigung  es  zuliess.  Nun 
geschah  es  zu  einerWeihnacht, dasssieam Christtage  un- 
sern  Herrn  empfing,  und  als  sie  unsern  Herrn  im  Munde 
hatte,  legte  er  sich  ihr  so  kräftig  an  den  Gaumen,  dass  sie 
ihn  nicht  verzehren  konnte.  Sie  trank,  das  half  ihr  nicht. 
Da  dachte  sie :  >  Viellieber  Herr,  was  habe  ich  wider  deine 
Huld  getan. f^«  Da  sprach  unser  Herr  in  ihrem  Munde  zu 
ihr:  »Du  hast  nichts  wider  mich  getan.  Du  sollst  mir  ge- 
loben, dass  du  in  das  Kloster  zu  Engeltal  kommst,  dann 
empfängst  du  mich« .  Da  sprach  sie :  »Herr,  das  tue  ich 
nicht.  Ich  bin  zu  krank,  ich  kann  nicht  übel  leben« .  Da 
sprach  unser  Herr: » Dann  empfängst  du  mich  nicht« .  Sie 
dachte,  sie  wolle  es  dem  Pfarrer  sagen,  dass  er  ihr  helfe. 
Da  antwortete  unser  Herr  ihren  Gedanken  und  sprach: 
>  Weder  Priester  noch  alle  die  in  der  Kirche  sind,  können 
dir  dazu  helfen,  dass  du  mich  empfangest,  du  gelobest  es 
mir  denn « .  Sie  dachte,  sie  wolle  es  ihm  geloben  und  wolle 
den  Pfarrer  bitten,  ihr  das  Gelübde  zu  lösen,  weil  sie 
es  nicht  mit  Willen  getan  hätte.  Da  antwortete  unser 
Herr  wieder  ihren  Gedanken  und  sprach :  » So  will  ich  es 


100 


nicht.  Ich  will,  das  du  es  mir  so  gelobst,  dass  du  es  tust,  ob 
du  auch  sterben  solltest«.  Sie  dachte:  »Herr,  so  gelobe 
ich  es  dir,  ob  ich  auch  sterben  sollte « .  Auf  der  Stelle  emp- 
fing sie  ihn.  Sie  sprach:  »Herr,  ich  habe  dir  heute  meinen 
Willen  undmeinen  jungen  Leibgegeben.  Sollichdennim 
Kloster  selig  werden.?«  Er  sprach:  »Ja,  denn  ich  will  dich 
nimmer  verlassen  und  willdirselberausallem  Leidenhel- 
fen, in  das  du  je  kommst,  und  will  dir  recht  gütlich  tun  als 
meiner  Liebsten  und  willmichnimmervondirscheiden«. 
An  derselben  Stelle  nahm  ihr  unser  Herr  alle  vergäng- 
lichen Dinge  und  es  wurde  ihr  einerechte  Freude,  dasssie 
in  das  Kloster  sollte. 


lOI 


AUS  DEM  KLOSTER  ADELHAUSEN  IN  EREI- 
BURG  (13.  und  1 4.  Jahrhundert) 

(Chronik  der  Anna  von  Munzingen) 

Else  von  Neustadt 

ES  war  eine  Schwester,  die  hiess  Schwester  Else  von 
Neustadt  und  war  wohl  siebzig  Jahre  im  Kloster 
gewesen,  und  einige  Zeit  vor  ihrem  Tode  wurde  sie  bett- 
lägerig und  wurde  so  lahm,  dass  sie  einen  Schritt  nicht 
gehen  konnte.  Da  musste  sie  in  einer  besonderen  Kam- 
mer sein  und  wurde  da  so  vereinsamt,  dass  sie  von  den 
Leuten  wenig  Zuspruch  hatte,  nur  so  viel  als  sie  zu  ihrer 
Notdurft  brauchte.  Und  dass  Gott  ein  Freund  ist  aller 
elenden  Leute  und  derer,  die  von  allem  leiblichen  Tröste 
abgeschieden  sind,  das  hat  er  an  dieser  Schwester  erzeigt, 
wie  sie  es  einer  Schwester,  die  oft  zu  ihr  ging,  bestätigte. 
Die  Schwester  fragte  sie,  ob  sie  noch  an  irgend  ein  Ding 
dächte,  das  in  der  Welt  wäre.  Da  sprach  sie:  »Ich  habe 
alle  Dinge  vergessen,  ich  kann  aber  wohl  Gottes  geden- 
ken. Ich  bin  auch  von  der  ganzen  Welt  verlassen,  allein 
Gott  hat  mich  nichtverlassen,  derhandelt  allerwegen  gut 
und  getreu  an  mir.  Und  sonderlich,  da  ich  so  siech  und 
ohnmächtig  am  Leibe  geworden  bin,  übt  er  an  mir  beson- 
dere Gnade«. 

Da  fragte  sie  die  Schwester,  ob  es  sie  verdriesse,  dass  ihr 
Leib  in  solcher  Pein  und  Gebundenheit  sei  und  so  ganz 
von  den  Leuten  vereinsamt.  Da  sprach  sie:  »Mir  ist  so 
wohl,  als  es  einem  Menschen  auf  Erden  nur  sein  kann, 
Gott  hat  mir  mein  armes  elendes  Leben  vergütet  und  will 
es  immer  mehrtun. Wie  könntedenverdriessen,derGott 

102 


sieht?  Ermachtmir  die  Zeit  kurz  und  wohlgefällig«.  Da 
fragte  sie  die  Schwester,  ob  sie  unseren  Herrn  mit  äusse- 
rem Gesicht  oder  mit  innerem  sehe.  Da  sprach  sie:  »Ich 
sehe  ihn  beides,  äusserlich  und  innerlich« .  Da  fragte  sie 
wieder  die  Schwester,  ob  das  äussere  Gesichtbesser  wäre 
oder  das  innere  und  wie  das  innere  wäre.  Da  sprach  sie : 
» Das  äussere  Gesicht  ist  nichts  gegen  das  innere,  denn  das 
innereGesichtisteinvollesundeingarstolzesDing«.  Und 
sie  sprach  wieder:  » Es  ist  ein  göttliches  Gesicht,  von  dem 
niemand  sagen  kann  als  der  es  sieht,  und  noch  die,  die 
es  sehen,  die  können  nicht  recht  davon  sagen « .  Da  fragte 
siedieSchwester,obsie  dann  jemandesgedenken  könnte. 
Da  sprach  sie:  >>Ich  kann  dann  meiner  selbst  nicht  gut 
gedenken.  Wohin  Sinn  oder  Herz  komme,  als  allein  in 
ihn,  das  weiss  ich  nicht.  MeineSeelelegt  sich  dann  in  Gott 
und  weiss  alle  Dinge  in  ihm,  und  dann  sehe  ich  die  Lauter- 
keit meiner  Seele  und  dass  sie  ohne  alle  Flecken  ist«  . . . 
Da  fragte  wieder  die  Schwester,  wie  derwäre,  den  sie  mit 
äusserem  Gesicht  sehe.  Da  sprach  sie:  »Er  erscheint  wie 
ein  schöner  liebreicher  Jüngling  und  die  Kammer  wird 
voll  von  Engeln  und  Heiligen.  Er  sitzt  bei  mir  und  sieht 
mich  gar  gütig  an.  Aber  die  Engel  stehen  alle  vor  ihm,  er 
kommtnieallein,die Engel  kommen  immermitihm.Und 
er  spricht  zu  mir:  ,Ich  will  wieder  und  wieder  kommen 
und  will  dich  bald  zu  mir  nehmen  und  will  mich  ewiglich 
nicht  von  dir  scheiden' .  Und  er  umfängt  mich  mit  inner- 
lichem Umfangen « .  Da  fragte  sie  die  Schwester,  was  für 
ein  Gewand  er  an  hätte,  undnannteihrmancherlei  Farbe 
vor.  Da  konnte  sie  es  keiner  Farbe  vergleichen,  sondern 
sprach :  » An  ihm  erscheint  alles  was  er  will «... 
Sie  hatte  ihren  Willen  so  ganz  in  seinen  Willen  gegeben, 

103 


dass  sie  weder  leben  noch  sterben  wollte,  sondern  wie  er 
wollte,undsprachauchzuweIlen:  »Wäre  es  Gott  Heb  und 
gefiele  ihm,  ich  wollte  In  dieser  Pein  sein  bis  an  den  jüng- 
sten Tag«.  Und  wenn  sie  in  sonderlichen  Gnaden  war, 
war  sie  sehr  fröhlich  und  redete  gar  liebliche  Worte  von 
Gott,  und  sonderlich  sprach  sie  diese  Worte  gar  oft : » Gott 
ist  in  mir  und  ich  in  Ihm,  er  ist  mein  und  ich  bin  sein,  er  Ist 
mir  und  ich  bin  ihm.  Meine  Seele  ist  schön  und  stolz  und 
hochgemut,  denn  Gott  hat  mir  seine  Gnade  aufgetan  und 
Ichbinvonihmgeminnt.Dashatermirkundgetaninseiner 
Herrlichkeit« .  Da  fragte  sie  sle,wie  seine  Rede  wäre,wenn 
er  mit  ihr  redete.  Da  sprach  sie:  »Seine  Rede  ist  solieb- 
reich,dassdavonnIemandsagenkann.Erkannreden,dass 
es  durch  die  Seele  geht  und  durch  des  Herzens  Grund « . 
Sie  sprach  auch  gar  oft : »  Gott  Ist  in  meinem  Herzen  und 
In  meiner  Seele  und  geht  selten  von  mir,  nur  manchmal 
flieht  er,  das  kann  er  auch  gar  wohl,  da  jage  Ich  ihm  nach 
mit  meinem  Gemüte  und  werde  dann  so  froh.  Und 
spreche:  Herzlieb,  mein  Trauter«.  Viel  solcher  Worte, 
diegarfreundlichundliebreIchwaren,sprachsIevonGott. 
Sie  fragte  sie  auch,  woran  sie  es  empfände,  wenn  Gott  In 
ihrer  Seele  wäre.  Da  sprach  sie : » Ich  empfinde  es  an  aller 
Freude  undSeligkelt,  die  er  mitsich bringt.  Ererfreutund 
weitet  mein  Herz  und  tut  mir  meine  Seele  auf  und  er- 
schllesst  sie  mit  seinen  göttlichen  Gnaden « .  Da  fragte  sie 
sie,  wie  man  zu  solcher  Vertrautheit  mit  Gott  kommen 
könne.  Da  sprach  sie : » Wenn  man  Ihn  mit  ganzer  Treue 
liebt  und  alle  Sünde  abtut  und  alles  wird  ein  Lob  Gottes, 
so  Ist  es  zugegangen «... 

Als  sie  vor  Alter  und  vor  Siechtum  wenig  mehr  leben 
mochte,  sprach  die  Schwester  zu  ihr:  >Ach,  was  lebt  In 

104 


Euch?«  Da  sprach  sie:  »Gott  lebt  in  mir  und  ich  in  ihm«. 
Und  da  sie  bald  sterben  wollte,  fragte  sie  die  Schwester, 
wie  ihr  wäre.  Da  zeigte  sie  ihr,  wie  sie  da  konnte,  dass  ihr 
am  Leibe  gar  weh  wäre  und  im  Herzen  gar  wohl  zu  Mute. 
Da  fragte  sie,  wessen  sie  sich  freute.  Da  sprach  sie:  »Ich 
freue  mich  Gottes,  dass  er  mein  ist  und  ich  sein.  Erhatmir 
gesagt,  er  wolle  mich  zu  sich  nehmen,  und  alle  die  Furcht 
und  der  Schrecken,  die  ich  vor  dem  Tode  hatte  und  vor 
der  Pein,  die  sind  gänzlich  aus  meinem  Herzen«.  Die 
Schwester  sprach  auch  zu  ihr:  »Wie  sollen  wir.  Eure  be- 
sonderen Freunde,  uns  verhalten,  wenn  Ihr  sterbet.?*«  Da 
sprach  sie:  »Ihr  sollt  lachen  und  fröhlich  sein,  denn  der 
Himmel  ist  mir  aufgetan«.  Danach  tat  sie  die  Augen  zu 
und  lag,  als  ob  sie  im  Schlafe  läge.  Und  die  Schwester  rief 
sie  an  und  fragte,  ob  sie  schliefe.  Da  sprach  sie:  »Ich  schlafe 
nicht,meineRuheistinGott«.  Dabegannsiesichgarübel 
zu  fühlen  und  sich  dem  Tode  schnell  zu  nähern.  Da  er- 
mahnte sie  sie,  dass  sie  sich  die  Mühsal  nicht  verdriessen 
lasse,  Gott  wolle  bald  ein  Ende  machen.  Da  sagte  sie  ihr 
wieder,  es  verdriesse  sie  nicht,  wie  lange  auch  Gott  ihre 
Mühsal  ausdehnen  wolle,  das  wolle  sie  gern  leiden.  So 
verschiedsieheiligundseliginderZuversicht,dasssiebald 
zu  Gott  kommen  sollte. 

Anna  von  Seiden 

Sie  hatte  die  Gewohnheit,  wessen  sie  von  Gott  begehrte, 
davon  Hess  sie  ihm  nimmer  ab,  biseres  ihrgewährte.  Und 
einmal  kam  sie  in  eine  solche  Vereinigung  mit  Gott  in 
ihrem  Gebete ,  dass  ihr  Gott  so  klar  erschien ,  dass  es 
danach  fünf  Wochen  währte,  was  immer  sie  da  sah,  da- 
von wähnte  sie,  es  wäre  Gott. 

105 


Berchtevon  Oberriet,  die  Ältere 

Als  sie  sterben  wollte,  lag  sie  in  ihrem  Gebete  und  übte 
nach  ihrer  Gewohnheit  mit  Lobpreisen  unseres  Herrn 
Marter.  Und  es  warihr,  als  würde  sie  auf  ein  Feld  geführt, 
da  wollte  man  Gott  martern,  und  ward  ein  grosser  Ruf, 
den  hörte  sie:  »Will  sich  jemand  für  Gott  hängen  und 
martern  lassen?«  Da  rief  sie:  »Ja,  ich  gern«.  Und  ebenda 
stiess  sie  der  Tod  an  und  die  Andacht  blieb  ihr,  bis  ihr  die 
Seele  ausging.  Da  tat  sie  das  Wort:  »Herr,  ich  hänge 
an  deinem  Rücken ,  du  musst  mich  von  dir  schütteln, 
ich  komme  nimmer  von  dir«.  Und  in  der  Andacht  ver- 
schied sie. 

ItavonNellenburg 

Sie  sprach : » Alles  was  in  mirist,  dasistGott,  und  zwischen 
mir  und  Gott  ist  nichts  als  der  Leib « . 

Metze  (MechthildJ  Tüschel 

Sie  stand  einmal  vor  dem  Altar  und  begehrte  von  Herzen, 
dass  sie  und  Gott  ein  Ding  würden.  Und  nach  vieler  Be- 
gierde, die  sie  hatte,  sprach  sie :  » Herr,  du  hast  mich  dazu 
geschaffen,  dass  du  billiger  in  meiner  Seele  wohnen  soll- 
test als  in  der  Büchse«.  Da  sprach  eine  Stimme  zu  ihr: 
» Wenn  du  so  leer  und  aller  vergänglichen  Dinge  so  ledig 
wirst  wie  diese  Büchse  aller  Dinge  ledig  ist  denn  meiner 
allein,  so  will  ich  in  dirwohnen,sowesenhaftwie  indieser 
Büchse«. 

Berchtevon  Oberriet,  die  Jüngere 

Sie  hatte  ein  gar  seliges  Leben.  Undeinmalwarsieineiner 
grossen  Begierde,  dass  ihr  Gott  eine  besondere  Gnade  tue, 

io6 


und  in  dIeserBegierde  wurde  sie  so  erfüllt  von  überfliessen- 
der  Gnade,  dasssiedavon  nicht  sprechen  konnte,  nur  dass 
es  sie  dünkte,  ihre  Seele  wäre  weiter  als  die  ganze  Welt. 
Und  als  die  Gnade  so  übermässig  in  ihr  war,  begehrte  sie 
von  unserem  Herrn,  er  möge  sie  mit  leiblichem  Auge  das 
Wunder  sehen  lassen,  das  in  ihrer  Seele  war.  Da  dünkte 
sie,  es  geschehe  ihr,  wie  wenn  man  einem  vollen  Fasse 
den  Boden  ausschlägt,  gleicherweise  war  ihr,  als  ob  die 
Gnade  ganz  zu  ihrem  Munde  ausginge.  Und  dIeseGnade 
war  das  wonnigste  Kind,  das  je  ein  Menschenauge  sah. 
Und  sie  hatte  eine  lange  Weile  gar  grosse  Freude  mit  dem 
Kinde.  Aber  die  Gnade  und  die  Freude,  die  sie  mit  ihm 
hatte,  die  war  den  tausendsten  Teil  so  gross,  wie  da  sie  in 
ihr  war.  Und  sie  begehrte  von  unserem  Herrn,  dass  er  ihr 
die  Gnade  wiedergebe,  die  sie  vordem  gehabt  hatte  und 
die  so  sehr  gross  war,  als  sie  in  ihr  war.  Da  entzog  ihr  un- 
serer Herr  die  Gnaden  beide,  dass  sie  das  Kind  nimmer 
sah  und  auch  die  frühere  Gnade  ward  ihr  nicht  v/ieder. 

Reinlind  von  Villingen 

Sie  hatte  eine  Begier,  dass  sie  gern  gewusst  hätte,  wie  ihre 
Seele  Gott  gefiele;  und  als  sie  einmal  in  ihrer  Andacht 
war,  da  sah  sie  ihre  Seele  lauter  wie  ein  Krystall.  Und  sie 
sah,  dass  Gott  ihrer  Seele  vereinigt  war,  wie  eine  lautere 
Leuchte. 


107 


AUS  DEM  KLOSTER  TÖSS  BEI  WINTERTHUR 

(13.  und  14.  Jahrhundert) 

(Elsbet  Stagels  Schwesternbuch) 

Sofia  von  Klingnau 

ALS  sie  das  Jahr  mit  grosser  Bitterkeit  überstanden 
chatte,  sagte  sie  niemandem  davon,  welchen  Trost 
sie  da  von  Gott  empfangen  hatte,  bis  sie  am  Tode  lag  und 
baldsterbenwollte.  DakameineSchwesterzuihr.dersie 
lange  besonders  vertraut  und  hold  gewesen  war  und  die 
auch  oftmals  an  ihr  befunden  hatte,  dass  sie  von  Gott  ge- 
tröstet wurde.  Die  bat  sie  eifrig,  sie  möchte  ihr  um  Gottes 
willen  sagen,  wie  der  Trost  wäre,  den  sie  von  Gott  emp- 
fangen hatte.  Daraufantwortete  sie  und  sprach :  >Wüsste 
ich,  dass  esGottesWille  wäre,  so  sagte  ich  dirwohl  etwas. 
Nun  weiss  ich  das  nicht:  darum  kann  ich  dir  jetzt  nichts 
sagen.  Komm  bald  wieder;  was  dann  Gottes  Wille  ist, 
das  sage  ich  dir « .  So  ging  die  Schwester  von  ihr  und  war- 
tete, bis  man  die  Complet  gesungen  hatte  und  es  Nacht 
wurde,  und  kam  dann  wieder  zu  ihr  und  fragte  sie,wessen 
sie  sich  mit  Gott  beraten  hätte.  Da  sprach  sie: » Richte 
mich  auf  und  gib  mirWasser  in  den  Mund,  dass  ich  reden 
kann ;  so  sage  ich  dir,  was  du  gern  hörst « .  Da  das  geschah, 
hub  sie  an  zu  sagen  und  sprach:  »In  dem  zweiten  Jahr, 
nachdem  ich  das  Gelübde  des  Gehorsams  getan  hatte,  am 
Feste  der  heiligen  Weihnacht,  blieb  ich  einesTages  nach 
der  Mette  allein  im  Chor  und  ging  hinter  den  Altar  und 
legte  mich  da  an  eineVenie  und  wollte  nach  meiner  Ge- 
wohnheit mein  Gebet  sprechen.  Und  in  dem  Gebet  kam 
mir  mein  altes  Leben  in  den  Sinn,  wie  viele  und  wie  lange 

108 


Zeit  ich  in  der  Welt  üppig  vertrieben  hatte.  Und  sonder- 
lich begannichdieUntreuezubetrachten  und  zuerwägen, 
die  ich  Gott  damit  erzeigt  hatte,  dass  ich  des  edlen  und 
würdigen  Schatzes  meiner  edlen  Seele,  für  die  er  sein  hei- 
liges Blut  am  Kreuze  vergoss  und  die  er  mir  in  so  grosser 
Treue  anbefohlen  hat,  dass  ich  die  so  nachlässig  gepflegt 
hatte  und  dass  ich  sie  mit  so  vieler  Sünde  und  Untugend 
entreinigt  und  befleckt  hatte,  also  dass  sie  seinen  gött- 
lichen Augen  missfällig  und  zuwider  sein  müsste,  die  ihm 
einst  so  wohlgeflel.  Und  von  diesem  Gedanken  kam  ich 
in  so  grosse  Reue,  dass  mein  Herz  bittrer  und  ungewöhn- 
licher Qual  voll  wurde,  unddie  Qual  wuchs  so  sehr  in  mir, 
dassmirschien,  ich  empfändeleiblichesLeid  und  Schmer- 
zen, als  ob  mein  Herz  eine  leibliche  Wunde  hätte.  In  die- 
sem Schmerz  rief  ich  mitklagendemSeufzenmeinenGott 
an  und  sprach :  »Weh  mir,  weh  mir,  dass  ich  dich  je  er- 
zürnte, mein  Gott !  Vermöchte  ich  das  zu  wenden,  dann 
wollte  ich  mir  erwählen,  dass  eine  Grube  hier  vor  meinen 
Augen  wäre,  die  bis  in  den  Abgrund  ginge,  und  dass  darin 
ein  Pfahl  geschlagen  wäre,  der  bis  an  den  Himmel  ginge, 
und  dass  ich  mich  an  dem  Pfahl  immerhinaufwinden  soll- 
te bis  an  den  jüngsten  Tag:  die  Mühsal  wollte  ich  gern  lei- 
den dafür,  dass  ich  dich,  meinen  Gott,  nie  erzürnt  hätte !  < 
DaichindiesemWillenundindieserBegierdezuGottwar, 
beganndieQualundderSchmerz,dermir  im  Herzen  war, 
so  gewaltig  zu  wachsen,  dass  es  mir  war,  ich  könnte  es 
nicht  ertragen,  mein  Herz  müsste  denn  entzweibrechen. 
Da  dachte  ich :  Steh  auf  und  sieh  wasGott  mitdirtun  will. 
Und  da  ich  aufstand,  war  der  Schmerz  so  gross  und  die 
ÜbermachtderQual,dassmiralleleiblicheKraftund  aller 
Sinn  entging,  und  ich  fiel  meiner  ungewaltig  nieder  und 

109 


fiel  in  eine  Ohnmacht,  dass  ich  weder  sah  noch  hörte 
noch  sprechen  konnte.  Und  als  ich  so  lange  gelegen  war, 
wie  Gott  wollte,  kam  ich  wieder  zu  mir  und  stand  auf; 
aber  sobald  ich  aufstand,  brach  ich  zusammen  und  fiel 
wieder  in  Ohnmacht,  und  so  geschah  mir  wieder  zum 
dritten  Mal.  Und  als  ich  dann  wieder  zu  mir  kam,  begann 
ich  zu  sorgen,  wenn  ich  an  der  Stelle  eineWeile  bliebe, 
möchten  die  Schwestern  mich  entdecken  und  innewer- 
den, was  mir  geschehen  war.  Und  darum  bat  ich  unseren 
Herrn,  er  möchte  mir  soviel  Kraftgeben,  dass  ich  an  einen 
heimlichen  Ort  kommen  könnte,wo  mich  niemand  sähe 
und  merkte,  wie  es  mir  erging.  Und  so  stand  ich  auf  und 
mit  grosser  Mühe  kamichvordenAltarundstanddaund 
sprach  zu  unserm  Herrn :  » O  Herr,  mein  Gott,  nun  bitte 
ich  dich  umGnade :  nun  erkenne  ich  michselbergänzlich 
unwürdig  aller  der  Gnaden,  die  du  irgend  einer  Kreatur 
auf  Erden  tust,  und  achte  mich  selber  unwürdiger  und 
schmählicher  vor  deinen  Augen  als  einen  Wurm,  der  auf 
der  Erde  kriecht,  denn  der  erzürnt  dich  nie,  ich  aber  habe 
dich  über  alle  Massen  erzürnt;  darum  wage  ich  nicht  zu 
bitten,sondern  ich  ergebe  michganzindeingöttliches Er- 
barmen«. Und  als  ich  das  gesprochen  hatte,  neigte  ich 
mich  und  ging  in  das  Dormitorium  an  mein  Bett;  da,  so 
dünkte  es  mich,  wäre  ich  am  allerverborgensten.  Und  als 
ich  an  dasBett  kam,war  ich  so  sehr  krank,dass  ich  dachte : 
Dir  ist  wieder  schlimm,  du  sollst  eine  Weile  ruhen.  Und 
also  machte  ich  ein  Kreuz  vor  mir  und  wollte  mich  zur 
Ruhe  legen  und  las  den  Vers:  Inmanustuas.  Und  als  ich 
den  gelesen  hatte,  sah  ich,  dass  ein  Licht  vom  Himmel 
kam,  das  war  unermesslich  schön  und  wonnig,  und  es 
umgab  mich  und  durchleuchtete  mich  und  durchglänzte 

I  10 


mich  ganz  und  gar,  und  mein  Herz  wurde  gar  plötzlich 
verwandelt  und  mit  einer  unsäglichen  und  seltsamen 
Freude  erfüllt,  also  dass  Ich  ganz  und  gar  all  die  Trübsal 
und  Qual  vergass,  die  ich  vorher  je  gekannt  hatte.  Und  in 
dem  Licht  und  in  der  Freude  sah  ich  und  verspürte,  dass 
mein  Geist  aus  dem  Herzen  emporgenommen  und  zum 
Munde  hinaus  hoch  in  die  Luft  geführt  wurde,  und  da 
wurde  mir  gegeben,  dass  ich  meine  Seele  klar  und  eigen- 
tümlich mit  geistigem  Gesichte  sah,wle  ich  mit  leiblichen 
Augen  kein  Ding  je  gesehen  habe,  und  alle  ihre  Gestalt 
und  ihre  Zier  und  Ihre  Schönheit  wurden  mir  völlig  ge- 
zeigt. Und  was  für  Wunder  ich  an  ihr  sah  und  erkannte, 
das  könnten  alle  Menschen  nicht  zu  Worten  bringen « . 
Da  ermahnte  sie  dIeSchwester  bei  allerTreue  und  bat  sie 
mit  allem  Ernste,  dass sleihrsage,wledle  Seele  beschaffen 
gewesen  sei.  Da  antwortete  sie  und  sprach : » DieSeele  ist 
ein  so  ganz  geistiges  Ding,  dass  man  sie  keinen  leiblichen 
Dingen  eigentlich  vergleichen  kann.  Weil  du  es  aber  so 
sehr  begehrst,  gebe  Ich  dir  ein  Gleichnis,  daran  du  ein 
wenig  verstehen  magst,  wie  ihre  Form  und  Ihre  Gestalt 
war.  Sie  warein  rundes,schönesunderleuchtendesLicht, 
gleich  der  Sonne,  und  war  von  einer  goldfarbenen  Röte, 
und  diesesLIcht  war  so  unermesslich  schön  und  wonnig, 
dass  ich  es  mit  nichts  vergleichen  kann.  Denn  wären  alle 
Sterne,  die  am  Himmel  stehen,  so  gross  und  so  schön  wie 
die  Sonne,  und  glänzten  sie  alle  in  eines  zusammen,  der 
Glanz  aller  könnte  der  Schönheit  nicht  gleichen,  die  an 
meiner  Seele  war.  Und  es  dünkte  mich,  dass  ein  Glanz 
von  mir  ausging,  der  die  ganze  Welt  erleuchtete,  und  ein 
wonniger  Tag  wurde  über  der  ganzen  Erde.  Und  in  die- 
sem Lichte,  das  meine  Seele  war,  sah  ich  Gott  wonnevoll 


1 1 1 


leuchten ,  wie  ein  schönes  Licht  aus  einer  schönen, 
strahlenden  Lampe  leuchtet,  und  ich  sah,  dass  er  sich  so 
liebreich  und  so  gütig  an  meine  Seele  schmiegte,  dass  er 
ganz  mit  ihr  und  sie  mit  ihm  vereint  wurde.  Und  in  dieser 
Liebeseinung  bekam  meine  Seele  von  Gott  die  Gewiss- 
heit, dass  mir  alle  meine  Sünden  vollkommen  vergeben 
worden  seien,  und  dass  sie  so  rein  und  so  lauter  wäre  und 
so  ganz  ohne  alle  Flecken,wiesiewar,daichausderTaufe 
kam.  Und  hievon  wurde  meineSeelesohohen  Mutesund 
so  freudenreich,  dass  es  ihr  schien,  sie  besässe  alleWonne 
und  alle  Freude,  und  hätte  sie  auch  Wunsches  Gewalt, 
sie  möchte  und  könnte  und  wollte  nichts  mehr  wün- 
schen . . . 

Und  als  ich  jetzt  in  der  besten  und  obersten  Freude  war, 
begann  sich  meineSeele  wieder  herabzusenken,  wieGott 
wollte,  und  kam  über  den  Leib,  der  vor  dem  Bette  lag  wie 
ein  Leichnam,  und  es  wurde  ihr  Frist  gegeben,  dass  sie 
nicht  sogleich  wieder  in  den  Leib  musste,  aber  sie  musste 
eine  ganze  Weile  über  dem  Leibe  schweben,  bis  sie  seine 
Ungestaltund  Hässlichkeitwohl  gesehen  hatte.  Und  als 
sie  ihn  recht  gut  beschaut  hatte,  wie  todähnlich  und  wie 
jämmerlich  er  war  und  wie  ihm  Haupt  und  Hände  und 
alle  Glieder  wie  einem  Toten  dalagen,  da  gefiel  er  ihr  gar 
übel  und  erschien  ihr  gar  widerlich  und  greulich.  Und  gar 
bald  kehrte  sie  ihren  Blick  von  ihm  ab  und  sich  selber  zu. 
Und  als  sie  hinwiederum  sich  selber  ansah  und  sich  so 
schön  und  so  edel  und  so  würdig  dem  Leibe  gegenüber 
fand,  da  schwebte  sie  spielend  mit  solcher  Freude  und 
Wollust  über  ihn  hin,  wie  alle  Herzen  sie  nicht  erdenken 
könnten.  Und  als  ihr  jetzt  am  allerbesten  war  und  sie  in 
der  obersten  Wonne  ihrer  selbst  und  Gottes  genoss,  den 

I  12 


sie  mit  sich  geeint  sah,  da  kam  sie  in  den  Leib  zurück,  sie 
wusste  nicht  wie.  Und  als  sie  wieder  in  den  Leib  gekom- 
men war,  wurde  sie  dieser  fröhlichen  Schauung  nicht  be- 
raubt, sondern  auch  noch  im  Leibe  wohnend  schaute  sie 
sich  selber  und  Gott  in  sich,  so  lauter  und  wesenhaft,  wie 
als  sie  aus  dem  Leibe  verzückt  gewesen  war.  Und  die 
Gnade  währte  in  mir  acht  Tage,  und  als  ich  zum  ersten 
Male  wieder  zu  mir  kam  und  inne  wurde,  dass  ein  leben- 
diger Geist  in  mir  war,  da  stand  ich  auf  und  war  der  freu- 
denreichste Mensch,  so  dünkte  es  mich,  der  je  auf  Erden 
war.  Denn  ich  achtete  alle  die  Freude,die  alle  Menschen 
je  gewannen  oder  je  bis  an  den  jüngsten  Tag  gewinnen 
können,  so  klein  gegen  meine  Freude  wie  eines  kleinen 
Mückchens  Kläulein  gegen  die  ganze  Welt  ist.  Und  von 
demÜberschwangeder  masslosen  Freude  war  mein  Leib 
so  leicht  und  so  behend  geworden  und  so  ganz  ohne  alles 
Gebreste,  dass  ich  die  achtTage  über  nie  empfand,  ob  ich 
einen  Leib  habe,  so  dass  ich  keiner  leiblichen  Krankheit, 
klein  oder  gross,  innewurde  und  dass  es  mich  nie  hungerte 
noch  dürstete  noch  nach  Schlaf  verlangte,  und  doch  ging 
ich  zu  Tisch  und  zu  Bett  und  zum  Chore  und  glich  mich 
da  den  Anderen  an,  dass  meine  Gnade  verborgen  sei  und 
niemand  sie  bemerke.  Und  da  ich  die  acht  Tage  so  won- 
nig verbracht  hatte,  wurde  mir  die  Gnade  entzogen,  so 
dass  ich  das  Schauen  meiner  Seele  und  Gottes  in  meiner 
Seele  nicht  mehr  hatte,  und  da  empfand  ich  erst,  dass  ich 
«inen  Leib  habe«. 

Jützi  CLiiciaJ  Schultheiss 

...  Da  verhängte  Gott  eine  grosse  Anfechtung  über  sie, 
dass  es  siedünkte  und  ihre  Meinungwurde,  sie  soUteGott 

.8    Buber,  Konfessionen 

IM 


niemals  schauen.  Und  davon  kam  sie  in  eine  so  grosse 
Verachtung  ihrer  selbst,  dass  sie  den  Himmel  nicht  anzu- 
sehen wagte  und  dass  sie  sich  unwürdig  dünkte,  dass  sie 
derErdboden  trug.  Und  dies  währteanihrTagundNacht, 
also  dass  ihr  niemals  eine  Unterbrechung  wurde,  als  nur 
so  lange,  dass  sie  zu  ihrer  Notdurft  ein  Weniges  ass  und 
schlief.  Und  in  dieser  grossen  Not  und  Mühsal  Hess  sie  nie 
vonihrerAndachtabundvondemErnste,densiezuGott 
hatte,  und  nahm  noch  mehr  an  göttlicher  Liebe  zu,  so 
dass  sie  völlig  den  Willen  gewann,  sollte  sie  bis  zum  jüng- 
sten Tage  leben ,  ihre  Übung  und  den  Ernst  gegen  Gott 
nimmerabzutun,wiewohlsiekeineZuversichthatte,dass 
es  Gott  von  ihr  genehm  wäre.  Aber  durch  die  Milde  Got- 
tes kam  ihr  alles  zu  Gute,  was  ihr  begegnete,  und  was  sie 
sah  oder  hörte,  davon  wuchs  ihre  Liebe  zu  Gott  und  sie 
lobte  ihn  in  ihremHerzen.  Wenn  sieeinenMenschensich 
fröhlich  gebärden  sah,  dachte  sie :  » Segne  dich  Gott,  es  ist 
recht,  dass  du  fröhlich  seist,  denn  Gott  hat  dich  dazu  ge- 
schaffen und  bestimmt,  dass  du  die  ewige  Freude  und 
Gottes  Angesicht  geniessen  sollst,  dessen  ich  armer 
Mensch  unwürdig  bin « .  Diese  Pein  litt  sie  von  dem  Tag 
an,  da  man  Alleluja  zu  sagen  aufhört,  bis  zum  grossen 
DonnerstagvorderMette.  Dawurde  ihr  garweh, dennsie 
hatte  ein  neues  Fieber  bekommen  zu  der  Krankheit,  die 
sie  ehedem  hatte,  und  war  so  krank,  dass  sie  andemTage 
das  Gebet  nicht  gesprochen  hatte,  wie  ihre  Gewohnheit 
war.  Denn  sie  hatte  den  Brauch,  dass  sie  es  gern  im  Chore 
sprach,oftauchwennsie  so  krankwar,  dass  man  siekaum 
in  denChor  bringen  konnte, denn  eswarihreGewohnheit, 
dass  sie  esnichtanderswo  vollbrachte.  Und  das  hat  sie  an 
diesem  Tage  unterlassen  vor  übermässiger  Krankheit. 

114 


Und  in  der  Nacht  vor  der  Mette  richtete  sie  sich  im  Bette 
auf  und  wollte  dasGebet  sprechen.  Da  wurde  ihr  so  übel, 
dass  sie  esnichtmehrkonnte.  Unddoch  wolltesie  esnicht 
unterlassen,  und  fing  wieder  damit  an.  Und  da  hörte  sie 
eine  Stimme,  die  sprach  gar  liebreich  zu  ihr:  »Du  sollst 
ruhen  und  sollst  mich  dir  weisen  lassen,  um  was  du  bitten 
sollst«.  Unddaerschraksieundfürchtete, dass  eseinTrug 
wäre.  DasprachaberdieStimmediegleichenWorte,und 
da  schwieg  sie  und  lauschte.  Und  da  sprach  wieder  die 
Stimme :  » Du  sollst  bitten  für  deine  vergessenen  Sünden 
und  fürdeine  ungesagten  Sünden  undfürdeineunerkann- 
ten  Sünden  und  für  die  Sünden,  die  du  nicht  zu  Worte 
bringen  kannst.Unddannsollstdubitten,dassdu  Ein  Ding 
mit  Ihm  werdest,  wie  er  mit  dem  Vater  ein  Ding  war,  ehe 
er  Mensch  wurde.  Und  sollst  bitten,  dass  nie  mehr  etwas 
Trennendes  zwischen  dir  und  dem  Vater  sei.  Und  sollst 
bitten,  wie  er  heute  ein  Kommen  geworden  ist  und  eine 
ewigeSpeise  allderChristenheit,dass  er  alsodir  ein  Kom- 
men werde  und  eine  ewige  Speise.  Und  sollst  bitten,  dass 
er  selber  zudeinem  Ende  komme  und  diesallesvollbringe 
und  ewiglich  bestätige« .  Hievon  empfing  sie  grosse  und 
masslose  Freude  und  gewann  Kraft  am  Herzen  und  am 
Leibe.  Doch  erschien  sie  sich  selber  unwürdigderGnade 
und  des  Trostes,  so  dass  sie  nicht  gänzlich  sicher  zu  sein 
vermochte,  ob  es  von  Gott  wäre.  Und  als  die  Mette  her- 
ankam, sie  aber  allein  in  ihrer  Ruhe  blieb  und  in  dieser 
Sorge  war,  da  hörte  sie  eine  Stimme  über  ihrem  Haupte, 
die  sang  so  übermässig  süsse  deutscheWorte,dass  weder 
Weise  noch  Worte  irgend  welchen  leiblichen  Dingen 
gleichen  mochten.  Und  da  richtete  sie  sich  auf  und  wollte 
hören,  ob  sie  etwas  von  den  Worten  verstehen  könnte. 

8* 


Und  da  begann  sich  dieStimmevon  ihr  zu  entfernen, dass 
sie  keinWort  zu  begreifen  vermochte.  Und  wohinsie  sich 
nach  der  Stimme  kehrte,  dünkteessie,eswäreanderswo, 
und  sie  dachte:  Herr  Gott,  ich  kann  mir  nichts  denken, 
was  dies  andres  sein  mag  als  deine  ewige  Güte,  dass  du 
mich  sichern  willst,  dass  ich  keinen  Zweifel  haben  soll. 
Und  da  hörte  sie  die  Stimme  nicht  mehr.  Und  da  wurde 
ihr  die  Anfechtung  gänzlich  genommen. 
Und  danach  gingen  alle  Tage  neueWunder  und  neue  Er- 
kenntnisse Gottes  in  ihr  auf,  dass  sie  im  Klaren  und  jedes 
für  sich  alle  die  Wunder  erkannte,  die  Gott  je  im  Himmel 
und  auf  Erden  gewirkt  hat.  Sie  war  auch  so  weise  in  die- 
sen Stunden,dasssiealleWeisheiterkannteund  verstand, 
in  der  Schrift  und  in  äusseren  Werken;  das  verstand  sie 
besser  als  alle  die  Meister,  die  je  davon,  von  Jeglichem  ins- 
besondere, gelernt  hatte.  Sie  erkannte  auch  klar,  wie  das 
ewige  Wort  war  Fleisch  worden  in  der  Jungfrau  Leib . . . 
Und  sie  schauteunmittelbar, wie wirseine Gliedergewor- 
den sind  und  zu  ihm  gefügt  und  geheftet,  wie  die  Äste  an 
den  Baum. . .  Sie  erkannte  auch  . .  .,wie  wir  alle  einander 
gleich  sind  und  ganz  Ein  Ding  sind,  und  wie  der  Mensch 
dem  andern  allesGuteschuldigistwie  sich  selber.  Unddie 
Erkenntnis,diesie  von allenDingenhatte,dieGott je  getan 
hatoder  noch  tun  will,war  ihr  an  Jeglichem  insbesondere 
so  offen,wie den  Engeln  im  Himmelreich,  und  sie  schaute 
es  so  klar,  wie  sie  es  nach  diesem  Leben  in  der  Ewigkeit 
schauensollte.  Und  wenndieseErkenntnisvon  Jeglichem 
herankam,  so  ging  sie  so  vorbei,  dass  ihr  Herz  nie  darin 
stehen  blieb  und  dass  sie  keinen  Trost  daran  gewann, 
wie  wenn  es  nie  geschehen  wäre.  Sie  erkannte  auch  son- 
derlich, wie  Gott  in  allen  Dingen  und  in  allen  Kreaturen 

ii6 


ist . .  Sie  erkannte  auch,  wie  Gott  in  einem  jeglichen  Gräs- 
lein und  in  einem  jeglichen  Blümlein  und  Blatt  ist,  und 
wie  er  allenthalben  um  uns  und  in  uns  ist . . . 
Einmal  sass  sie  in  ihrem  Bette  in  grosser  Krankheit  und 
kam  in  so  grosse  Liebe  und  Gnade  und  kam  Gott  so  nahe 
und  begehrte  sogrosse  Dinge  von  Gott,  die  überschwäng- 
lich  gross  waren,  und  da  sie  in  der  Begierde  war,  hörte  sie 
eine  Stimme,  die  sprach:  »Was  weisst  du,  ob  dich  Gott 
dazu  erwählt  hat?«  Da  sie  die  Stimme  hörte,  erschrak  sie 
so  sehr,  dass  sie  in  so  grosseVerachtung  ihrer  selberkam, 
dasssie  ganz  zu  nichte  ward.  Und  sie  erkannte,  dass  sie 
schmählicher  war  denn  je  ein  Wurm  und  dass  sie  aus  sich 
selber  nichts  hatte  als  Sünde.  Und  in  dieser  grossen  Ver- 
achtung ihrer  selbst  erkannte  sie  doch,wasGottwar,und 
fand  keine  Stätte  in  sich  selber  noch  in  der  Hölle  noch  im 
Himmel,  deren  sie  sich  würdig  dünkte,  denn  allein  im 
Grunde  der  Hölle ...  In  diesem  Dinge  blieb  sie  bis  zum 
Morgen  in  der  Messe.  Da  hörte  sie  wieder  eine  Stimme 
inwendig,  die  sprach  und  gab  ihr  das  vorgesprochene 
Wort,  das  ihr  in  dem  Gebete  geworden  war,  lauter  zu 
erkennen,  dass  er  und  der  Vater  Ein  Ding  war,  ehe  er 
den  Menschen  schuf  oder  selbst  Menschwurde;  dassdies 
nicht  anders  ist,  denn  dass  er  Ein  Wille  und  Eine  Liebe  ist, 
und  dass  auch  sie  also  mit  ihm  Ein  Wille  und  Eine  Liebe 
werden  solle.  Und  da  kam  sie  in  ein  stetes  Bleiben  und 
vereinte  ihren  Willen  mit  ihm . . . 
Sie  schaute  auch  klar  was  das  ist :  Gott  sehen  von  Augen 
zu  Augen.  Hievon  konnte  sie  nicht  sprechen.  Sie  schaute 
auch  klar  und  erkannte,  wie  der  Sohn  ewiglich  von  dem 
Vater  geboren  wird ,  und  dass  all  die  Freude  und  die 
Wonne,die  da  ist,  inderewigen  Geburt  ruht.  Wiesie  tiefer 


kam  in  das  ewige  Wesen  Gottes,  davon  konnte  sie  nicht 
sagen  und  wusste  es  auch  nicht,  denn  sie  verlor  sich  da 
selber  so  sehr,  dass  sie  nicht  wusste,  ob  sie  ein  Mensch 
wäre.  Danach  kam  sie  aber  wieder  zu  sich  selber  und 
war  ein  Mensch  wie  ein  anderer  Mensch  und  musste 
glauben  und  alle  Dinge  tun  wie  ein  anderer  Mensch  . . . 
Inden  sieben  Jahren, da  GottdieseWundermitihrwirkte, 
kam  sie  fünf  Jahre  in  keineStube  und  blieb  nie  eineWeile 
bei  den  Leuten,  wenn  sie  es  vermeiden  konnte.  Und  ein- 
mal war  es  sehr  kalt,  so  dassdieSchwester,die  sie  pflegte, 
sie  ernstlich  bat,  sie  möchte  sich  indieStubehelfen  lassen, 
dieweil  die  Schwestern  zu  Vesper  wären.  Und  da  sie  so 
sehr  krank  war,  folgte  sie  ihr  und  Hess  sich  in  die  Stube 
zum  Ofen  führen.  Und  da  sprach  sie  zu  ihrer  Pflegerin: 
»Nun  geh  du  zu  Vesper  und  lass  mich  hier,  dass  Gott 
etwas  Lobes  davon  geschehe«;  denn  es  war  ein  heiliger 
Tag.  Und  da  sie  so  allein  blieb,  sah  sie,  dass  unser  Herr 
hereinkam,  und  er  war  in  den  Jahren,  als  er  auf  Erden 
ging  und  predigte.  Und  mit  ihm  gingen  Sankt  Johannes 
und  Sankt  Jacobus  der  Ältere,  und  sie  erkannte  sie  zu- 
sammen undaucheinjeglichesAntlitzinsbesondere.Und 
sie  führten  ihn  wie  einen  Herrn,  um  den  sie  sorgten,  wer 
ihnen  etwa  entgegentreten  könnte,  und  hatten  ihn  um- 
schlungen mit  den  Armen,  einen  Arm  hinten,  den  andern 
vorn.  Und  als  sie  so  hereinkamen,  Hessen  sie  ihn  aus  den 
Armen,und  erstellte  sich  vor  ihnen  hinundsprach:  »Nun 
schau,  wie  mein  Leben  auf  Erden  war!«  Da  schaute  sie 
klar,  dass  er  so  leidvoll  war:  seine  Augen  waren  einge- 
fallen, und  seineWangen  waren  so  jämmerlich  von  über- 
schwänglichergrosserTrübsaldie  erlitt.  Unddannsetzte 
er  sich  undkehrteihrdenRückenzu.  Und  daersich  setzen 

ii8 


wollte,  erkannte  sie,  dass  er  gar  müde  war  von  grosser 
Mühsal,  dass  sein  Rücken  und  alle  seine  Glieder  erkrach- 
ten und  dass  er  in  sich  selber  erknirschte.  Und  als  er  nie- 
dersass,  da  setzten  sich  Sankt  Johannes  und  Sankt  Jaco- 
bus  zu  ihm.  Und  danach  sah  sie,  dass  die  Schwestern  aus 
und  eingingen,  und  doch  sprach  keine : » Gottgrüss  euch « 
oder » Was  wollt  ihr.?^ «  Und  das  sah  so  verschmäht  und  so 
elend  aus,  dass  es  kein  Herz  betrachten  könnte.  Und  als 
dieSchwestern  so  aus-  und  eingingen, standen  die  Jünger 
auf;  aber  unser  Herr  sass  still.  Sie  sah  auch,  dass  unseres 
Herrn  Kleid  und  Sankt  Jacobi  Kleid  gleich  waren,  und 
waren  innen  rot;  aber  Sankt  Johannis  Kleid  war  innen 
nicht  rot,  aussen  aber  war  es  wie  ihre  Kleider.  Die  Jün- 
ger waren  gar  wohlauf  am  Leibe.  Und  als  sie  in  diesem 
Schauen  war,  kam  eine  Schwester  und  redete  mit  ihr 
und  brachte  sie  wieder  zu  sich ,  und  da  sah  sie  nichts 
mehr. 

Ita  von  Sulz 

Man  hatte  sie  einmal  zur  Kellermeisterin  eingesetzt,  und 
davon  wurde  sie  sehr  betrübt,denn  siebefürchtete,durch 
die  Unruhe  würde  ihre  Andacht  gestört  werden.  Und  da 
ging  sie  in  den  Chor  und  klagte  es  unserm  Herrn.  Da  trö- 
stete er  sie  gar  lieblich  und  sprach  zu  ihr:  »Man  findet 
mich  an  allen  Orten  und  in  allen  Dingen«.  Und  hievon 
wurde  sie  gar  wohl  getröstet  und  empfing  das  Amt  fröh- 
lich, und  unser  Herr  war  ihr  so  vertraut  und  tat  ihr  so 
gütlich  wie  nur  je. 


1 19 


Mezzi  Sidmbrin  (Mechthild  SeidempeberJ 

Wie  süss  ihr  Leben  war,  das  kann  man  nicht  zu  Worte 
bringen.  Nur  so  viel,  dass  ihr  Mund  von  süssen  Worten 
überfloss,  ihre  Augen  ergossen  beständig  die  süssen  Lie- 
bestränen, und  mit  Worten  und  mit  Wandel  tat  sie  ganz 
als  wäre  niemand  denn  sie  und  Gott.  Zuweilen  sprach  sie 
vor  grosser  Liebe :  » Herr,  wärest  du  Mezzi  Sidwibrin  und 
wäre  ich  Gott,  so  wollte  ich  dich  doch  Gott  sein  lassen 
und  wollte  Mezzi  Sidwibrin  sein « . 

Anna  von  Klingnau 

Sie  hatte  so  grossen  Eifer  zu  den  gewöhnlichen  Arbeiten, 
dass  sie  oft  am  Bettespann,  und  vorsieh  auf  der  Kunkel 
hatte  sie  diese  Worte : 

Je  siecher  du  bist,  desto  lieber  bist  du  mir. 

Je  verschmähter  du  bist,  desto  näher  bist  du  mir. 

Je  ärmer  du  bist,  desto  gleicher  bist  du  mir. 
Diese  Worte  sprach  sie  oft  mit  Begierde,  und  sie  sagte, 
Gott  spreche  dies  zu  einem  Menschen.  Aber  wir  glauben, 
dass  sie  der  Mensch  war. 

Adelheid  von  Lindau 

Wir  hatten  auch  eine  gar  selige  Laienschwester,  die  hiess 
Schwester  Adelheid  von  Lindau  und  war  wohl  hundert 
Jahre  alt,  da  sie  starb,  und  war  gänzlich  erblindet,und  lag 
wohl  drei  Jahre  lang  vor  ihremTod  zu  Bett  in  solcher  Ge- 
duld, dass  ihre  Pflegerin  von  ihr  sagte,  sie  habe  sie  nicht 
ein  einziges  Mal  ungeduldig  gesehen.  Und  sie  betete  gar 
eifrig,  so  dass  die  Pflegerin  sie  immer  betend  fand  bei  Tag 
und  beiNacht, und warsofröhlich,dasssieoftmals schöne 
Liedlein  von  unserm  Herrn  wohlgemut  sang.  Zuweilen 

120 


redete  sie  auch  so  liebreich  mItGott,als  sässeerinGegen- 
wartvorihr.  Zuweilen  sprach  sie: 

»Ach  lieber  Herr,  du  bist  mein  Vater  und  meine  Mutter 

Und  meine  Schwester  und  mein  Bruder. 

Ach  Herr,  du  bist  mir  alles  was  ich  will. 

Und  deine  Mutter  ist  mein  Gespiel « . 


121 


DER  SANG  VON  BLOSSHEIT 

(Eine  früher  Tauler  zugeschriebene  Kantilene) 

ICH  will  von  Blossheit  singen  neuen  Sang, 
Denn  rechte  Lauterkeit  ist  ohn  Gedank. 
Gedanken  mögen  da  nicht  sein, 
So  ich  verloren  hab  das  Mein : 
Ich  bin  entworden. 
Der  zumal  entgeistet  ist,  der  mag  nicht  sorgen. 

Mich  irret  nimmermehr  mein  Ungleich, 

Ich  bin  so  gern  arm  als  reich. 

Mit  Bildern  mag  ich  nicht  umgehn. 

Mein  selbst  muss  ich  ledig  stehn : 

Ich  bin  entworden. 

Der  zumal  entgeistet  ist,  der  mag  nicht  sorgen. 

Wollt  ihr  wissen,  wie  ich  von  den  Bildern  kam  ? 

Da  ich  rechte  Einigkeit  in  mir  vernahm. 

Das  ist  rechte  Einigkeit, 

So  mich  entsetzt  nicht  Lieb  noch  Leid : 

Ich  bin  entworden. 

Der  zumal  entgeistet  ist,  der  mag  nicht  sorgen. 

Wolltihrwissen,wie  ich  von  dem  Geiste  kam.? 

Da  ich  weder  dies  noch  das  in  mir  vernahm. 

Denn  blosse  Gottheit  ungegründet. 

Da  mocht  ich  längerschweigen  nicht,ichmusste  künden: 

Ich  bin  entworden. 

Der  zumal  entgeistet  ist,  der  mag  nicht  sorgen. 

122 


Seit  ich  also  verloren  bin  in  dem  Abgrunde, 

Da  mocht  ich  länger  reden  nicht,  ich  war  ein  Stummer. 

Also  hat  mich  die  Gottheit  klar  in  sich  verschlungen. 

Ich  bin  entsetzet. 

Des  hat  mich  die  Finsternis  wohl  ergötzet. 

Seit  ich  also  durchkommen  bin  vor  den  Ursprung, 
Da  mag  ich  länger  altern  nicht,  ich  musste  jungen. 
Also  sind  alle  die  Kräfte  mein  zumal  verschwunden 
Und  sindgestorben. 
Der  zumal  entgeistet  ist,  der  mag  nicht  sorgen. 

So  wer  nun  also  verschwunden  ist 

Und  hat  befunden  eine  Finsternis, 

Ist  so  reich  ohn  allen  Kummer. 

Also  hat  mich  das  liebe  Feuer 

Zumal  verbrennet. 

Und  bin  erstorben. 

Wer  also  entgeistet  wird,  der  mag  nicht  sorgen. 


123 


BIRGITTA  VON  SCHWEDEN  (um  1 302— 1 373) 

ES  wurden  von  der  Braut  gesehen  zwei  Teufel,  im 
göttlichen  Gerichte  stehend,  einander  gleich  an 
allen  Gliedern.  Ihre  Münder  waren  offen  wie  der  Wölfe, 
dieAugen  flammendwie  ein  von  innen  erleuchtetesGlas, 
die  Ohren  hängend  wie  der  Hunde,  derBauch  geschwol- 
len und  allzuweit  vorgestreckt,  die  Hände  wie  einesGrei- 
fen,  die  Beine  ohne  Gelenke,  die  Eüsse  waren  wie  ver- 
stümmelt und  wie  bis  zur  Mitte  abgehauen.  Da  sprach 
der  eine  von  ihnen  zum  Richter : » Richter,  richte  die  mir 
ähnliche  Seele  dieses  Ritters  mir  zum  Gemahl  zu  meiner 
Vereinigung«.  Der  Richter  antwortete:  »Sage,  welche 
Gerechtigkeit  und  welchen  Beweisgrund  hast  du  gegen 
sie.r^«  Der  Teufel  antwortete:  »Fürs  erste  frage  ich  dich, 
weil  du  gerecht  bist,  ob  man  nicht,  wo  ein  Tier  einem  an- 
dern ähnlich  befunden  wird,  zu  sagen  pflegt,  dieses  Tier 
sei  vom  Löwen-  oder  vom  Wolfsgeschlecht  oder  derglei- 
chen. Nun  frage  ich  dich,  von  welchem  Geschlecht  ist 
diese  Seele,  oder  wem  gleicht  sie,  den  Engeln  oder  den 
Teufeln.?«  Der  Richter  sprach:  »Sie  gleicht  nicht  den  En- 
geln,sondern  dirunddeinesgleichen,wiegenugsam  offen- 
bar ist«.  Da  sprach  der  Teufel  wie  spottend:  »Als  diese 
Seele  von  der  Glut  der  Salbung,  das  ist  deiner  Liebe,  ge- 
schaffen wurde,  glich  siedir.Jetztaberhatsie  deine  Süssig- 
keitverschmähtund  istnachdreifachem Rechte  mein  ge- 
worden. Zum  ersten,weil  sie  mir  gleich  ist  in  der  Bestim- 
mung. Zum  zweiten,  weil  wir  einen  gleichen  Geschmack 
haben.  Zum  dritten,  weil  wir  einen  gleichen  Willen  ha- 
ben«. Der  Richter  antwortete:  »Wiewohl  ich  alles  weiss, 
so  sage  doch  wegen  dieser  meiner  Braut,  die  gegenwärtig 

124 


ist,  inwelcherWeiselstdirdieseSeele  in  der  Bestimmung 
gleich?«  Und  der  Teufel  sprach:  »Wie  wir  gleichgestal- 
tete Glieder  haben,  so  haben  wir  auch  gleichgestaltete 
Taten.  Denn  wir  haben  offene  Augen ,  aber  wir  sehen 
nichts.  Denn  ich  will  nichts  sehen,  was  dir  und  deiner 
Liebe  eignet,  und  so  hat  auch  sie,  als  sie  es  konnte,  nicht 
sehen  wollen,  was  dir  und  dem  Heil  der  Seele  eignet,  son- 
dern sie  achtete  nur  ergötzlicher  und  weltlicher  Dinge. 
Auch  haben  wir  Ohren,  aber  wir  hören  nicht  zu  unserem 
Nutzen,  so  hat  auch  sie  nichts  hören  wollen,  was  deiner 
Ehre  eignet,und  gleicherweise  ist  mir  alldasDeinebitter; 
darum  wird  die  Stimme  deiner  Süssigkeit  und  Vortreff- 
lichkeit niemals  in  unsre  Ohren  zu  unsrem  Trost  und 
Frommen  eingehen.  Wir  haben  offene  Münder;  denn 
wie  sie  ihren  Mund  offen  hatte  für  alle  Köstlichkeiten  der 
Welt,  für  dich  und  deine  Ehrung  geschlossen,  so  habe 
auch  ich  meinen  Mund  offen  zu  deiner  Beleidigung  und 
Betrübung,  und  niemals  würdeich  ihn  hemmen,  dirÜbles 
zu  tun,  wenn  es  möglich  wäre,  dich  zu  zerstören  oder  aus 
der  Herrlichkeit  zu  wandeln.  Ihre  Hände  sind  wie  eines 
Greifen ,  denn  was  sie  von  den  zeitlichen  Dingen  er- 
langen konnte,das  hat  sie  bis  zumTode  festgehalten, und 
länger  hätte  sie  es  gehalten,  wenn  du  ihr  erlaubt  hättest 
weiter  zu  leben.  So  halte  auch  ich  alle,  die  in  die  Hände 
meiner  Gewalt  kommen,  so  mächtig,  dass  ich  sie  nie  ent- 
liesse,wenn  sie  nicht  durch  deine  Gerechtigkeit  mir  Un- 
willigem entführt  würden.  Ihr  Bauch  ist  geschwollen, 
weil  ihre  Gier  sich  ohne  Mass  erstreckte,  denn  sie  füllte 
sich  und  wurde  nicht  satt,und  sogrosswar  ihreGier,dass, 
hätte  sie  allein  die  ganze  Welt  erlangen  können,  sie  gern 
sich  angestrengt  hätte  und  hätte  noch  überdies  in  den 

125 


Himmeln  regleren  mögen.  Eine  gleiche  Gier  habe  auch 
ich.  Denn  wenn  ich  alleSeelen  im  Himmel  und  aufErden 
und  im  Fegefeuer  gewinnen  könnte,  ich  würde  sie  gerne 
erraffen.  Und  wäre  eineeinzigeSeelegeblieben,obmeiner 
Gier  entliesse  ich  sie  nicht  frei  von  der  Pein.  Ihre  Brust 
istganzkaltwie  auch  die  meine;  denn  sie  hatte  keinerlei 
Liebe  zu  dir  und  deine  Ermahnungen  haben  ihr  nicht  ge- 
schmeckt; so  bin  auch  ich  von  keiner  Liebe  gegen  dich 
berührt,  vielmehr  vom  Hasse,  den  ich  wider  dich  hege, 
und  gern  Hesse  ich  mich  immerdar  mit  dem  bittersten 
Tode  verderben  und  immerdar  in  der  gleichen  Marter  er- 
neuern,damitdu  getötet  würdest,wenn  es  möglich  wäre, 
dich  zu  töten.  Unser  beider  Beine  sind  ohne  Gelenke, 
weil  unser  Wille  einer  ist.  Denn  vom  Anbeginn  meiner 
Schöpfung  bewegte  sich  mein  Wille  wider  dich,  und  nie- 
mals wollte  ich  wie  du.  So  war  auch  ihr  Wille  immer 
deinen  Geboten  entgegen.  Unsere  Füsse  sind  wie  ver- 
stümmelt,dennwiemanmitdenFüssenzumNutzendes 
Körpers  schreitet,  so  schreitet  man  mit  der  Inbrunst  und 
gutem  Werke  zu  Gott.  Und  wie  diese  Seele  niemals  mit 
der  Inbrunst  oder  mit  gutem  Werke  zu  dir  schreiten 
wollte,  so  auch  ich  nicht.  Also  sind  wir  einander  in  der 
BestimmungderGlieder  in  allem  gleich.  Wir  haben  auch 
den  gleichen  Geschmack,  denn  wiewohl  wir  wissen, 
dass  du  das  höchste  Gut  bist,  schmecken  wir  nicht,  wie 
süss  und  gut  du  bist.  Da  wir  demnach  in  allen  Dingen 
gleich  sind,  so  richte  uns  zur  Vereinigung  ...  Ist  es  nicht 
geschrieben  in  deinem  Gesetze:  wo  ein  Wille  und  eine 
eheliche  Übereinstimmung  ist,  da  kann  eine  rechtliche 
Vereinigung  geschehen  .^  So  ist  es  zwischen  uns,  denn  ihr 
Wille  ist  der  meine,  und  mein  Wille  ist  der  ihre.  Warum 

126 


also  werden  wir  der  Vereinigung  beraubt?«  Der  Richter 
sprach :  » Die  Seele  eröffne  ihren  Willen  und  was  sie  von 
derVereinigungmitdirmeint«.DieSeeleantwortetedem 
Richter :  » Lieber  will  ich  in  der  Höllenpein  sein,  als  in  die 
Freude  des  Himmels  kommen,  auf  dass  du  Gott  keine 
Tröstung  von  mir  habest,  denn  so  sehr  bist  dumirver- 
hasst,  dass  ich  mich  um  meine  Qual  wenig  bekümmere, 
wenn  du  nur  nicht  getröstet  wirst« .  Da  sprach  der  Teufel 
zum  Richter:»  Einen  solchenWillenhabeauch  ich.  Denn 
lieber  wollte  ich  in  Ewigkeit  gemartert  sein,  denn  in  die 
Herrlichkeit  kommen,dass  du  davonTröstung  hättest«. 
Dasprach  derRichterzurSeele :» DeinWilleistdein  Rich- 
ter, und  nach  ihm  wirst  du  das  Urteil  empfangen « . 

In  der  Nacht  der  Geburt  desHerrn  kam  der  BrautChristi 
ein  so  wunderbarerund  grossen  AufschwungdesHerzens, 
dass  sie  sich  vor  Freude  nicht  fassen  konnte.  Und  in  dem 
gleichen  Augenblick  verspürtesie  im  Herzen  eine  fühlbare 
und  erstaunliche  Bewegung,  wie  wenn  in  ihrem  Herzen 
ein  lebendiges  Kind  sich  hin  und  her  rollte.  Als  diese  Be- 
wegung andauerte,wies  sie  es  ihrem  geistlichen  Vater  und 
einigen  geisdichen  Freunden,  ob  es  nicht  etwa  ein  Trug 
wäre.  Die  prüften  es  durch  Anblick  und  Berührung  und 
bewundertendie Wahrheit.  Danach  erschien  ihramglei- 
chenTageimHochamtdieMutterGottesund  sprach  zur 
Braut:  »Tochter,  du  verwunderst  dich  über  die  Bewe- 
gung, die  du  in  deinem  Herzen  spürst.  Wisse,  dass  es  kein 
Trug  ist,  sondern  eine  Darzeigung  des  Gleichnisses  mei- 
ner Süssigkeit  und  der  Barmherzigkeit,  die  mir  geschah. 
Denn  wie  du  nicht  weisst,  in  welcher  Weise  dir  unver- 
sehens der  Aufschwung  des  Herzens  und  die  Bewegung 

127 


kam,  so  war  das  Kommen  meines  Sohnes  in  mich  wun- 
derbar und  eilend.  Denn  als  ich  dem  Engel  zugestimmt 
hatte,  der  mir  die  Empfängnis  desSohnesGottes  verkün- 
digte, spürte  ich  sogleich  in  mir  ein  Erstaunliches  und  Le- 
bendiges. Und  als  es  aus  mir  geboren  wurde,  ist  es  mit 
unsäglichem  Jubel  und  ungemeiner  Eile  aus  meinem  ge- 
schlossenen jungfräulichen  Schosse  gegangen.  Darum, 
Tochter,  fürchte  keinen  Trug,  sondern  freue  dich,  denn 
diese  Bewegung,  die  du  spürst,  ist  dasZeichen,  dass  mein 
Sohn  in  dein  Herz  gekommen  ist.  Und  wie  mein  Sohndir 
den  Namen  seiner  neuen  Braut  gegeben  hat,  so  heisse  ich 
dich  nunmehr  Sohnsfrau.  Denn  wie  Vater  und  Mutter 
alternd  der  Sohnsfrau  die  Last  aufladen  und  sie  unter- 
weisen, was  im  Hause  zu  tun  sei,  so  wollen  Gott  und  ich, 
indenHerzenderMenschen  altgeworden  undvon  ihrem 
Liebesmangel  erkaltet,  unseren  Freunden  und  der  Welt 
durch  dich  unsernWillen  anzeigen.  Diese  Bewegung  dei- 
nes Herzens  aber  wird  bei  dir  bleiben  und  wird  sich  meh- 
ren nach  deines  Herzens  Fähigkeit« . 


128 


JULIANA  VON  NORWICH 
(Datum  der  Revelationen :  1 3  7 3) 

UNSER  guter  Herr  sprach  zu  mir  segensvoll : » O,  wie 
ich  dich  liebe  «.Als  ob  ergesagthätte:»MeinLiebling, 
verharre  und  schaue  deinen  Gott,der  dein  Bildner  ist  und 
deine  endlose  Freude.  Schaue  deinen  eigenen  Bruder, 
deinen  Erlöser,  verharre  und  schaue,  welches  Ergötzen 
und  welche  Seligkeit  ich  in  deinerErlösung  habe.  Und  für 
meine  Liebe  freue  dich  mit  mir« .  Und  um  es  noch  besser 
zu  verstehen:  Dieses  gesegnete  Wort:  »O  wie  ich  dich 
liebe«  war  gesagt,  als  ob  er  sagte:  ^Verharre  und  schaue, 
dass  ich  dich  so  sehr  geliebt  habe,  bevor  ich  fürdich  starb, 
dass  ich  für  dich  sterben  wollte.  Und  nun  bin  ich  für  dich 
gestorben  und  habe  willig  erlitten,  was  ich  mochte.  Und 
nun  ist  alle  meine  bittere  Pein  und  meine  harte  Wander- 
schaft zu  ewig  währender  Freude  und  Seligkeit  gewor- 
den, für  mich  und  für  dich.  Wie  sollte  es  nun  Wohlsein, 
dass  du  mich  um  irgend  ein  Ding  bätest,  das  mir  wohl  ge- 
fällt, dass  ich  es  dir  nichtgerngewährte.MennmeinWohl- 
gefallen  ist  deine  Heiligkeit  und  deine  endlose  Freude  und 
Seligkeit  mit  mir«. 

Ob  der  grossen,  unendlichen  Liebe,  die  Gott  zur  ganzen 
Menschheit  hat,  macht  er  keine  Scheidung  in  der  Liebe 
zwischen  der  gesegneten  Seele  Christi  und  der  geringsten 
Seele,dieerlöst werden  soll . .  .Wir  sollen  unshochfreuen, 
dass  Gott  in  unserer  Seele  weilt,  und  noch  höher  sollen 
wir  uns  freuen,  dass  unsere  Seele  in  Gott  weilt.  Unsere 
Seele  ist  gemacht,  Gottes  Wohnstätte  zu  sein,  und  die 
Wohnstätte  unsererSeeleistderungemachte  Gott.  Eine 

9    Buber,  Konfessionen 


hohe  Erkenntnis  ist  es,  innerlich  zu  sehen  und  zu  wissen, 
dass  Gott,  der  unser  Schöpferist,  in  unserer  Seele  wohnt. 
Und  eine  höhere  Erkenntnis  und  eine  innerlichere  ist  es, 
zu  sehen  und  zu  wissen,  dass  unsere  Seele,  die  geschaffen 
ist,  in  Gott  imWesen  wohnt.  Aus  diesemWesen  bei  Gott 
sind  wir  was  wir  sind.  Und  ich  sah  keinen  Unterschied 
zwischen  Gott  und  unserem  Wesen,  sondern  es  war  ganz 
Gott. 

Und  dieses  sah  ich  in  voller  Gewissheit,  dass  es  für  uns 
leichter  ist  zur  Erkenntnis  Gottes  zu  kommen,  als  unsere 
eigene  Seele  zu  erkennen.  Denn  unsere  Seele  ist  so  tief  in 
Gott  gegründet  und  so  unendlich  eingesammelt,  dass  wir 
zu  ihrer  Erkenntnis  nicht  kommen  können,  ehe  wir  Er- 
kenntnis Gottes  haben,  der  der  Schöpfer  ist,  dem  sie  eig- 
net. Doch  sah  ich,  dass  es  uns  not  tut  zu  begehren,  weise 
und  wahrhaft  unsere  eigene  Seele  zu  kennen;  und  daher 
sind  wir  gewiesen,  sie  zu  suchen,  wo  sie  ist,  und  das  ist  in 
Gott.  Und  so  werden  wir  durch  die  gnädige  Leitung  des 
Heiligen  Geistes  sie  beide  in  Einem  erkennen.  Ob  wir  be- 
wegt sind,  Gott  oder  unsere  Seele  zu  erkennen,  es  ist  bei- 
des gut  und  wahr.  Gott  ist  uns  viel  näheralsunsere  eigene 
Seele,  denn  er  ist  der  Grund,  in  dem  unsere  Seele  steht . . . 
DennunsereSeelesitztinGottin  wahrer  Ruheundunsere 
Seele  steht  in  Gott  in  sicherer  Kraft  und  unsere  Seele  ist 
in  Gott  gewurzelt  in  endloser  Liebe.  Wenn  wir  daher  Er- 
kenntnis unserer  Seele  haben  wollen  und  Gemeinschaft 
und  Bund  mit  ihr,  ziemt  es  uns,  sie  zu  suchen  in  Gott  un- 
serem Herrn,  in  dem  sie  eingeschlossen  ist. 


130 


Unser  Herr  öffnete  mein  geistiges  Auge  und  zeigte  mir  in- 
mitten meines  Herzens  meine  Seele,  und  ich  schaute  die 
Seele  so  weit,  als  wäre  sie  eine  unendliche  Welt  und  als 
wäre  sie  ein  gesegnetes  Königreich. 


9* 

151 


GERLACH  PETERS  ( 1 3  78—  1 4 1 1 ) 

DANK  dir,  du  mein  Licht,  du  ewiges  Licht,  du  niege- 
mindertes Licht,  du  höchstes  und  unwandelbares 
Gut,  vor  dessen  Angesicht  ich  stehe,  dein  armer  und  ge- 
ringer Knecht. 

Dank  dir!  Nun  sehe  ich ;  ich  sehe  das  Licht,  das  da  leuch- 
tet in  der  Finsternis. 
Und  was  siehst  du  in  diesem  Lichte? 
Ich  sehe,  wie  gewaltig  du  mich  liebst;  und  dass,  wenn  ich 
indirbleibe,  es  so  unmöglich  ist,  dassdunicht  zuallerZeit, 
an  allen  Orten  und  in  allen  Fällen  mir  zugetan  wärest,  wie 
es  unmöglich  ist,  dass  ich  dir  je  nicht  zugetan  wäre. 
Und  du  gibst  dich  selber  mir  ganz,  also  dass  du  ganz  und 
ungeteiltmein  bist,  solangeichganzundungeteiltdeinbin. 
Und  bin  ich  so  ganz  dein,  dann  hast  du,  wie  du  dich  von 
Ewigkeit  her  geliebt  hast,  auch  mich  von  Ewigkeit  her  ge- 
liebt; denn  dies  ist  nichts  anderes,  als  dass  du  dich  selber 
in  mir  geniessest,  und  dass  ich  aus  deiner  Gnade  dich  in 
mirgeniesse  und  mich  in  dir. 

Und  liebe  ich  mich  so,  dann  liebe  ich  nichts  anderes  als 
dich, denndu  bist  in  mirundichindirwieeineinigesDing, 
das  aus  Einung  geworden  ist  und  in  Ewigkeit  nicht  mehr 
geteilt  werden  kann.  Und  da  jeder  dasGute  und  die  Kraft 
im  Andern  liebt,  so  istdies  nichts  anderes,  als  dass  dudich 
selber  liebst. 

Bleibe  ich  aber  ganz  und  vollkommen  in  dir:  wie  du  nicht 
zu  Grunde  gehen  kannst,  so  kann  ich  nicht  zu  Grunde 
gehen. 

Ein  Armer  im  Geiste,  vom  Herrn  gestärkt,  sprach,  von 
dem  obern  Teile  seines  Geistes  redend,  also : 

132 


siehe,  Ich  bin  reich  und  habe  Überfluss;  denn  Ich  habe 
schon  das  Ganze,  was  Ich  von  dieser  Welt  begehre;  und 
eben  dies,  das  Ich  habe,  habeich,  als  hätte  Ich  es  nicht; 
denn  nicht  mit  Liebe  besitze  Ich  und  könnte  es  auch  ent- 
behren, ohne  dass  Ich  etwas  von  mir  selber  verlöre. 
DIehöchste,blosse,unbIldlIcheundunwandelbareWahr- 
helt  selbst  wohnt  In  dem  obersten  Teile  meines  Geistes 
und  zeigt  mir  Ihre  unaussprechlichen  Schätze,dlekelnem 
Dinge  sich  vergleichen  lassen;  das  eine  einfache  Wort,  In 
dem  alles  beschlossen  Ist  und  über  das  Ich  nichts  anderes 
suche. 

Da  wird  mir  mein  Nichts  und  meiner  selbst,  als  meiner 
selbst,  Nichtsein  gezeigt;  und  alle  Gebrechen,  die  dasGe- 
müt  nach  Irgend  einer  Seite  beugen  könnten;  und  gezeigt 
wird  mir  auch  das  wahre  Wesen  aller  Dinge. 
Auch  schaue  Ich  nicht  von  unten  die  unteren  Begeben- 
heiten und  Zufälle  nach  der  wandelbaren  Sinnlichkeit; 
sondern  von  oben  schaue  Ich  alles,  und  die  Wahrheit  ruft 
für  mich  mItfurchtbarerStImmeauf  alles Fremde,dasmlt 
ihr  nicht  eins  Ist,  hinab :  Nahet  euch  nicht,  denn  der  Ort, 
wo  er  steht,  ist  heilig. 

Und  so  zeigt  sie  mir  oftmals  Ihr  Angesicht,  Im  Chore,  auf 
dem  Bette,  am  Tisch,  in  der  Zelle,  im  äusseren  Lärme,  in 
der  Arbelt  und  bei  mancherlei  Geschäften;  und  sie  lehrt 
mich  alle  Dinge,  die  aussen  sind,  innen  zu  vereinfachen 
und  In  ein  Innerliches  und  gefestigtes  Schauen  zu  ver- 
wandeln. 

Dies  Angesicht  aber  ist  so  stark,  dass  es  Herz  und  Leib 
machtvoll  überwältigt,  also  dass  nicht  bloss  die  Grund- 
festen, sondern  auch  die  Herzensschwellen  des  Gottes- 
tempels bewegt  werden  zu  antworten,  sich  hinzugeben. 


getreu  zu  folgen,  wohin  es  auch  gehe,  mit  allen  Kräften 
dem  gezeigten  Lichte  nachzufolgen  und  ohneUnterlass 
alleszu  opfern,  was  ist  und  sein  kann,  samt  allem  Geschaf- 
fenen in  der  Zeit  und  in  der  Ewigkeit. 
Und  alsdann  wäre  es  mir  eine  grosseTröstung  und  Leich- 
terung des  Herzens,  wenn  ich  mich  auch  mit  dem  Leibe 
unter  alles  Geschaffene  beugen,  niederdrücken,  demüti- 
gen und  hinwerfen  könnte. 

Und  das  Angesicht  macht  mich  —  als  mich  selber,  den 
Gebrechlichen  —  fast  zu  nichts:  es  zeigt  mir,  dass  alles, 
was  sich  in  ihm  nicht  eint,  nichts  ist. 
Und  nachdem  ich  also  entworden  bin,  nimmt  es  mein 
wollendes  Schauen,drücktesseinem  Schauen  ein,  vereint 
es  ihm  unmittelbar ,  dass  meines  und  seines  Ein  helles 
Schauen  werden,  von  keiner  Seite  zurückgewendet;  und 
alles,  was  ist  und  werden  kann,  schaue  ich  nach  meiner 
Art,  in  ihm  und  mit  ihm,  wie  das  Angesicht  selber  tut. 
Daher  bin  ich  meinetwegen  unbesorgt ,  und  getrost  in 
allem,  was  über  mich  kommen  mag.  Und  was  über  mich 
zu  kommen  Erlaubnis  hatvonder  unwandelbarenWahr- 
heit  und  ewigen  Bestimmung  meines  Herrn  —  dem  ich 
mein  Leben  und  meinen  Tod  und  alles,  was  ich  bin  und 
sein  kann,  in  Zeit  und  Ewigkeit  übergeben  habe,  nichts 
vermessentlich  vorempfindend,  nichts  nach  dem  Beha- 
generwählend— ,demgebeauchichErlaubnis,übermich 
zukommen. 


IM 


ANGELA  VON  FOLIGNO 

(zweite  Hälfte  des  1 3  .Jahrhunderts) 

EINMAL  in  der  Fastenzeiterschien  es  mir,  ich  seisehr 
trocken  und  ohne  Andacht.  Und  ich  bat  Gott,  er 
möge  mir  von  sich  geben ,  dieweil  ich  alles  Guten  ledig  sei. 
Und  da  wurden  die  Augen  der  Seele  aufgetan  und  ich  sah 
die  Liebe,  die  auf  mich  zukam.  Und  ich  sah  den  Anfang, 
aber  ihr  Ende  sah  ich  nicht,  nur  ihren  Fortgang.  Und  von 
ihren  Farben  weissichkeinGleichniszusagen.Undalsdie 
Liebe  zu  mir  kam,  sah  ich  alles  dieses  mit  den  Augen  der 
Seeleenthüllter,  alsmanmitden  Augendes  Körpersetwas 
sehen  kann.  Und  die  Liebe  näherte  sich  mir  in  der  Gestalt 
einer  Sichel.  Man  muss  das  aber  nichtso  verstehen,  als  sei 
die  Gestalt  in  der  Grösse  messbar  gewesen,  sondern  sie 
war  wie  eine  Sichel,  weil  sie  erst  vor  mich  hintrat,  dann 
sich  zurückzog,  und  nicht  im  gleichen  Masse  sich  mit- 
teilte, indemsie  sich  zu  erkennen  gab.  Undalsbaldwurde 
ich  mit  Liebe  erfüllt  und  einer  unaussprechlichen  Sätti- 
gung, die,  wiewohl  sie  mich  sättigte,  doch  den  grössten 
Hungerinmirerzeugte,sounsäglichgross,dass alle  meine 
Glieder  sich  lösten  unddieSeeleschmachteteundzudem 
Übrigen  zukommenbegehrte.  Undichwolltekeine Krea- 
tur weder  sehen  noch  hören  noch  verspüren.  Und  ich 
sprach  nicht.  Aber  meine  Seele  redete  innen  und  schrie, 
dass  die  Liebe  sie  nicht  in  so  grosser  Liebe  schmachten 
lasse,  denn  ich  achtete  das  Leben  für  einen  Tod. 
Und  als  ich  durch  die  Annäherung  selbst  ganz  die  Liebe 
zu  sein  glaubte,  die  ich  fühlte,  sprach  ich :  Viele  sind,  die 
glauben  in  der  Liebe  zu  stehen,  und  stehen  im  Hasse ;  und 
viele  hinwieder,  die  glauben  im  Hasse  zu  stehen,  und  sind 

M5 


in  der  Liebe.  Meine  Seele  aber  suchte  dieses  in  grosser 
Gewissheit  zu  schauen,  und  Gott  gab  es  mir  offenbar  zu 
fühlen,  also  dass  ich  da  ganz  befriedigt  blieb.  Von  jener 
Liebe  aber  bin  ich  so  erfüllt,  dass  ich  glaube,  sie  fürder  nie 
entbehren  zu  können.  Und  einer  Kreatur,  die  Anderes 
sagte,  könnte  ich  nicht  glauben ;  und  wenn  ein  Engel  mir 
Anderes  sagte,  ich  würde  ihm  nicht  glauben,  sondern  ant- 
worten :  Du  bist  der  vom  Himmel  Gestürzte. 
Und  ich  schaute  in  mir  zwei  Seiten,  als  wäre  in  mir  eine 
Strasse  gemacht.  Und  aufder  einen  Seitesah  ich  die  Liebe 
und  alles  Gute,  was  von  Gott  war  und  nicht  von  mir ;  und 
aufder  andern  Seite  sah  ich  mich  dürre  und  dass  von  mir 
nichtsGutesherstamme.  Und  dadurch  erkannte  ich, dass 
nicht  ich  es  sei,  die  da  liebe,  obgleich  ich  mich  in  der  Liebe 
sah,  sondern  jenes  Liebende  kam  allein  vonGott,  und  um 
das  Liebende  sammelte  sich  die  Liebe  und  teilte  eine 
grössere  und  feurigere  Liebe  mit  als  vordem,und  ich  hatte 
ein  Verlangen,  zu  jener  Liebe  hinzueilen.  Und  zwischen 
dieser  Liebe,  die  so  gross  ist,  dass  ich  damals  nicht  wissen 
konnte,  es  könne  eine  grössere  Liebe  geben,  bis  jene  an- 
dere todgleiche  Liebe  mich  überkam, — zwischen  der  rei- 
nenLiebe  also  undder  andern  todgleichenundallergröss- 
ten  Liebe  ist  ein  Mittleres,  davon  ich  nichts  zu  erzählen 
vermag :  denn  esist  von  so  grosser  Tiefe,und  von  so  grosser 
Wonne,  und  von  so  grosser  Freudigkeit,  dass  es  nicht  in 
Worte  gefasstwerdenkann.Undichwolltedamalsnichts 
weiter  von  dem  Leide  hören,  noch  auch  dass  Gottvormir 
genannt  werde ;  denn  wenn  ervor  mirgenannt  wird,  fühle 
ich  ihn  mit  so  grossem  Ergötzen,  dass  ich  vom  Ver- 
schmachten gepeinigtbinvor  Liebe;  undallesandere,was 
weniger  ist  als  er ,  wird  mir  zum  Hindernis.  Und  nichtig 

.j6 


erscheint  mir,  was  vom  Evangelium  gesagt  wird  oder  vom 
Leben  Christi  oder  von  irgend  einer  Rede  Gottes;  denn 
Grösseres  und  Unvergleichliches  schaue  ich  in  Gott.  Und 
bleibe  ich  von  jener  Liebe  zurück,  ich  bleibe  ganz  befrie- 
digt, ganz  engelhaft;  also  dass  ich  Kröten  und  Gewürm, 
und  auch  die  Teufel  liebe.  Und  wenn  ich  in  jenem  Zu- 
stande bin,  wenn  mich  da  ein  wildes  Tier  verzehrte,  ich 
kümmerte  mich  nicht,  und  es  erschiene  mir,  als  litte  ich 
keinen  Schmerz.  Und  dann  ist  auch  das  Erinnern  und 
das  Gedenken  des  Leidens  Christi  nicht  schmerzlich. 
Auch  gibt  es  in  jenem  Zustande  keine  Tränen. 

Einmal  wurde  meineSeeleerhoben,und  ich  schauteGott 
in  so  grosserKlarheit,wie  ichihnniezuvorgeschauthatte, 
und  in  einer  so  vollen  Weise  wie  nie.  Und  ich  sah  in  ihm 
die  Liebe  nicht,  und  ich  verlordie  Liebe,  dieich  vordem  ge- 
tragenhatte,und  ich  wurdeNichtliebe. Und  danachschau- 
te  ich  ihn  in  einer  Finsternis,  und  deswegen  in  Finsternis, 
weil  er  ein  grösseres  Gut  ist,  als  gedacht  oder  verstanden 
werden  kann,  und  keines,  das  gedacht  oder  verstanden 
werden  kann,  reicht  an  diesesheran.  Und  dazumal  wurde 
der  Seele  ein  urgewisser  Glaube,  eine  zuversichtliche,  fest- 
gegründete Hoffnung,  eine  stete  Sicherheit  von  Gott  ge- 
geben,alsodass  sie  alleFurchtverlor.  Und  in  jenem  Gute, 
das  in  der  Finsternis  geschaut  wird,  sammelte  ich  mich 
ganz,  und  wurde  Gottes  so  sicher,  dass  ich  niemals  daran 
zweifeln  kann ,  Gott  in  grosser  Gewissheit  zu  besitzen. 
Undin  jenem  überaus  wirksamen  Gute,  das  in  der  Finster- 
nis geschaut  wird,  ist  meine  ganze  Hoffnung  gesammelt 
und  sicher.  Oftmals  schaue  ich  Gott  in  dieser  Weise  und 
in  diesem  Gute,  das  äusserlich  nicht  erzählt,  noch  auch 

137 


mit  dem  Herzen  gefasst  werden  kann.  In  jenem  ganz  ge- 
wissen und  verschlossenen  Gute, dasichmitderso  grossen 
Finsternis  meine,  habeich  meine  ganze  Hoffnung,  undim 
Schauen  habe  ich,  was  immer  ich  haben  will,  ganz,  und 
was  immer  ich  wissen  will,  weiss  ich  ganz,  und  ich  sehe 
darin  alles  Gute.  Und  im  Schauen  vermag  die  Seele  nicht 
zu  denken,  dass  jenes  Gut  von  ihr,  noch  dass  sie  von  ihm 
gehen  könnte,  noch  auch  dass  sie  von  ihm  würde  schei- 
den müssen,  sondern  sie  ergötzt  sich  unaussprechlich  in 
jenem  ganzen  Gute.  Und  durchaus  nichts  sieht  die  Seele, 
wassiemitdemMundeerzählenodermitdemHerzenbe- 
greifen  könnte;  und  sie  sieht  nichts,  und  sieht  durchaus 
alles.  Und  weil  jenes  Gut  in  der  Finsternis  ist,  ist  es  um  so 
gewisser  und  allen  Dingen  um  so  überlegener,  je  mehr  es 
in  der  Finsternis  geschaut  wird,  und  es  ist  sehrverborgen. 
Und  später  sehe  ich  in  der  Finsternis,  dass  es  jeglichem 
Gute  überlegen  ist,unddassallesund  jegliches  Anderevor 
ihm  finster  ist  und  alles,  was  gedacht  werden  kann,weni- 
ger  ist  als  dieses  Gut. 

Und  sogar  dies,wenn  die  Seele  die  göttliche  Macht  schaut, 
und  wenn  sie  diegöttlicheWeisheitschaut,undauchdies, 
wenn  sie  den  göttlichen  Willen  schaut,  was  alles  ich  auf 
eine  wunderbare  und  unsägliche  Weise  geschaut  habe, 
all  dies  ist  weniger  als  jenes  ganz  gewisse  Gut.  Denn  jenes 
Gut,  das  ich  schaue,  istdasGanze,diese  anderen  alle  aber 
sind  ein  Teil.  Und  wenn  diese  anderen  geschaut  werden, 
bringen  sie,  wiewohl  sie  unaussprechlich  sind,  doch  eine 
grosse  Freudigkeit,  die  sich  in  den  Körper  ergiesst.  Wenn 
aber  Gott  in  jener  Weise  in  der  Finsternis  geschaut  wird, 
bringt  es  kein  Lachen  in  den  Mund,  kein  Feuer  und  keine 
Andacht  ins  Herz,  und  keine  brennende  Liebe.  Denn  der 

138 


Leib  zittert  nicht  und  wird  nicht  bewegt,  noch  auch  ver- 
ändert, wie  es  beim  Schauen  der  andern  zu  geschehen 
pflegte.  Denn  der  Leib  schaut  nichts,  sondern  die  Seele 
schaut,  der  Leib  aber  ruht  und  schläft,  und  die  Zunge  ist 
abgeschnitten,  da  sie  alsdann  nichts  zu  sagen  vermag. 
Und  alle  die  vielen  und  unsagbaren  Freundschaften,  die 
Gott  mir  erzeigt  hat,  und  alle  die  süssenWorte,  die  er  mir 
gegeben  hat,  und  alle  andern  Gaben  und  Taten  sind  um 
ein  so  Vieles  geringer  als  jenes  Gut,  das  ich  in  der  grossen 
Finsternisschaue,  dassich  auf  jene  Dinge  meine  Hoffnung 
nicht  setze.  Sondern  wenn  es  möglich  wäre,  dass  sie  alle 
nicht  wahr  wären,würde  dies  in  keinerWeise  meine  Hoff- 
nungmindern. . . 

Und  alles,  was  ich  darüber  sage,  erscheint  mir,  als  ob  ich 
nichts  sagte.  Ja  es  ist  mir,  als  redete  ich  Übles, was  immer 
ich  sage,  und  mein  Reden  erscheint  mir  als  ein  Lästern. 
So  sehr  übersteigt  jenes  Gut  alle  meine  Worte. 
Und  wenn  ich  jenesGutschaue, entsinneich  mich,solange 
ich  darin  bin,  nicht  der  Menschheit  Christi  und  nicht  des 
Gottmenschen,  und  keines  andern  Dinges,  das  Gestalt 
hätte.  Und  doch  schaue  ich  dazumal  alles,  und  ich  schaue 
nichts. 

Bin  ich  aber  von  jenem  Gute  geschieden,  dann  schaue  ich 
den  Gottmenschen,  und  er  zieht  die  Seele  mit  so  grosser 
Milde  an  sich,  dass  er  zuweilen  spricht :  » Du  bist  ich,  und 
ich  bin  du. «  Und  ich  schaue  jene  Augenund  jenessohuld- 
reiche  Angesicht,  dass  meine  Seele  umfangen  und  ange- 
zogen wird  mit  unendlicher  Innigkeit.  Und  was  aus  jenen 
Augen  und  aus  jenem  Angesicht  hervorbricht,  das  eben 
ist  jenes  Gut,  von  dem  ich  gesprochen  habe,  dass  ich  es  in 
der  Finsternis  schaue.  Und  es  strömt  hervor  und  kommt 

M9 


aus  dem  Innern,  und  es  Ist  eben  dieses,  das  mich  so  sehr 
erfreut,  dass  es  nicht  erzählt  werden  kann.  Und  in  dem 
Gottmenschen  stehend  ist  meine  Seele  lebendig;  weit 
mehr  aber  stehe  ich  in  ihm  als  in  jener  Finsternis.  Jenes 
Gutder Finsternis  jedoch  ziehtdieSeele  weit  mehr  als  das 
des  Gottmenschen,  unvergleichlich  mehr.  Aber  im  Gott- 
menschen stehe  ich  fast  beständig,  und  dermassen  be- 
ständig, dass  mir  einmal  von  Gott  Gewissheit  gegeben 
wurde,  dass  nichts  Mittleres  zwischen  mir  und  ihm  ist, 
und  seither  war  nicht  ein  Tag,  noch  eine  Nacht,  da  ich 
nicht  beständig  diese  Freude  von  der  Menschheit  gehabt 
hätte.  Und  ich  habe  dann  das  Verlangen  zu  singen  und 
Gott  zu  loben,  und  ich  spreche:  Ich  lobe  dich,  geliebter 
Gott.  Aufdeinem  Kreuze  habe  ich  mich  gebettet.  Und  als 
Kopfkissen  und  Flaumbett  habe  ich  die  Armut  gefunden, 
und  alsRuhelagerdenSchmerzunddieVerachtung.  Denn 
auf  diesem  Bette  wurde  ergeboren, daraufruhteundstarb 
er.  Und  diese  liebende  Gemeinschaft,  mit  der  Armut,  dem 
Schmerze  und  der  Verachtung,  hatGott  Vater  so  sehr  ge- 
liebt, dass  er  sie  seinem  Sohne  gab,  und  der  Sohn  wollte 
immerdar  auf  diesem  Bette  liegen,  und  liebte  es  immer, 
und  war  einig  mit  demVater.  Und  auf  diesem  Bette  habe 
ich  geruht  und  ruhe,  mein  Bett  ist  es,  und  darauf  hoffe  ich 
zu  sterben,  und  dadurch  glaubeich  erlöst  zu  werden.  Und 
dieFreude,dieich  erwarte  von  jenen  Händen  und  Füssen, 
kann  nicht  genannt  werden.  Denn  wenn  ich  ihn  schaue, 
möchte  ich  niemals  von  dannen  gehen,  sondern  näher 
und  näher  kommen,  und  so  ist  mein  Leben  ein  Sterben. 
Und  gedenke  ich  sein,  kann  ich  nicht  sprechen,  denn  die 
Zunge  ist  abgeschnitten.  Und  gehe  ich  von  ihm,  dann 
treibt  mich  die  Welt,  und  alles  was  ich  finde  treibt  mich, 

140 


jenes  Bett  noch  mehr  zu  verlangen.  Und  so  ist  mir  mein 
Verlangen  wegen derSchwermutder Erwartung  einetöt- 
lichePein. 

Darnach  wurdeich  im  Geiste  erhoben  undfand  mich  ganz 
innen  in  Gott  in  einer  anderenWeise,  die  ich  nie  erfahren 
hatte.  Und  es  erschien  mir,  ich  sei  mitten  in  der  Dreieinig- 
keit, in  einerhöheren  undgrösserenWeise,alsdieichsonst 
kannte ;  denn  ich  empfing  grössere  Güter  aisgewöhnlich, 
und  war  beständig  in  diesen  Gütern ,  und  war  voll  der 
grössten  und  unsagbaren  Freuden  und  Wonnen ,  die 
durchaus  über  allem  sind,was  ich  je  erfuhr.  Es  geschahen 
in  der  Seele  so  namenlose  götdiche  Wirkungen,  dass  sie 
kein  Heiliger,  kein  Engel  erzählen  oder  erklären  kann. 
Und  ich  verstehe,  dass  jene  götdichen  Wirkungen  und 
jenen  urtiefen  Abgrund  kein  Engel  noch  irgend  eine 
Kreatur  zu  fassen  fähig  ist.  Und  es  erscheint  mir  dieses, 
was  ich  sage,  als  eine  üble  Rede  und  Lästerung.  Und  ich 
bin  aus  allem  gezogen,  das  ich  vordem  hatte  und  darin 
ich  mich  zu  ergötzen  pflegte,  das  ist  vom  Leben  und  der 
Menschheit  Christi,  und  von  derBetrachtung  jener  sehr 
tiefen  Gemeinschaft,  die  Gott  von  Ewigkeit  so  sehr  ge- 
liebt hat,  die  er  auch  seinem  Sohne  gab,  und  in  der  auch 
ich  meine  Freude  zu  finden  pflegte,  nämlich  in  der  Ar- 
mut, in  dem  Schmerze,  in  der  Verachtung  des  Sohnes 
des  lebendigen  Gottes  war  gemeiniglich  meine  Rast  und 
meine  Lagerstatt.  Und  auch  aus  jener  ganzen  Weise 
Gott  in  der  Finsternis  zu  schauen,  die  mich  so  sehr  er- 
freut hat,  bin  ich  hinausgestellt.  Und  ich  bin  aus  jenem 
ganzen  früheren  Zustand  mit  so  grosser  Weihung  und 
Befriedigung  gezogen,  dass  ich  ihn  mir  in  keiner  Weise 

141 


vorstellen  kann ;  ich  entsinne  mich  nur,  dass  ich  ihn  nicht 
mehr  habe. 

Und  in  jenen  unaussprechlichen  Gütern  und  göttlichen 
Wirkungen, die  in meinerSeelegeschehen,zeigtGott sich 
zuerst  in  der  Seele  und  wirkt  das  Unsagbare.  Danach  of- 
fenbart er  sich  und  eröffnet  sich  der  Seele  und  gewährt  ihr 
noch  grössere  Gaben  mit  noch  grösserer  Gewissheit  und 
in  namenloser  Helle. 

Zuerst  aber  zeigt  er  sich  der  Seele  in  zwiefacherWeise.  In 
der  einenWeise  stellt  ersieh  innerlichin meiner Seeledar, 
und  dann  gewahre  ich  ihn  gegenwärtig  und  erkenne,  wie 
er  in  aller  Natur  gegenwärtig  ist,  und  in  jedem  Dinge,  das 
Dasein  hat,  in  dem  Dämon,  in  dem  guten  Engel,  in  der 
Hölle,  im  Paradiese,  im  Ehebruch,  im  Morde,  in  jedem 
guten  Werke,  und  in  jedem  Dinge,  das  in  irgend  einer 
Weise  Dasein  hat,  so  in  dem  schönen  wie  in  dem  häss- 
lichen.  Daher  freue  ich  mich  in  der  Zeit,  da  ich  in  dieser 
Wahrheitbin,  ingleicherWeise,  wenn  ich  Gott  sehe  oder 
einen  Engel  oder  ein  gutesWerk  oder  aber  ein  böses ;  und 
in  dieserWeise  stellt  sich  Gott  gar  oft  in  meiner  Seele  dar. 
Und  dieses  Sichdarstellen  oder  diese  Gegenwart  ist  eine 
Erleuchtung  mit  grosser  Wahrheit  und  mit  göttlicher 
Gnade;  also  dass  die  Seele,  wenn  sie  dieses  schaut,  an  kei- 
nem Dinge  Anstoss  nehmen  kann . . . 
In  einer  anderen  Weise  stellt  sich  Gott  auf  eine  mehr  be- 
sondere und  von  jener  sehr  verschiedene  Art  dar  und  gibt 
eine  andere  Freude  und  sammelt  die  ganze  Seele  in  sich 
ein  und  wirkt  ein  Grosses  in  der  Seele  mit  weit  mächtige- 
rer Gnade  und  mit  dem  unnennbaren  Abgrund  der  Freu- 
den und  Bestrahlungen ,  so  dass  dieses  Sichdarstellen 
Gottes  ohne  andere  Gaben  jenes  Gut  ist,  das  die  Heiligen 

142 


im  ewigen  Leben  besitzen.  Und  wiewohl  ich  nicht  tauge 
davon  zureden,  ja  mein  Reden  mehr  ein  Verwüsten  und 
Lästern  als  irgend  ein  Mitteilen  ist,  so  sage  ich  doch,  dass 
darin  Erweiterungen  der  Seele  sind,  wodurch  die  Seele 
fähiger  wird,  Gott  zu  fassen  und  zu  haben. 
Und  sogleich,  nachdem  Gott  sich  derSeelegezeigthat,  of- 
fenbart er  sich  und  eröffnet  sich  ihr,und  erweitertdie  Seele 
und  gibt  ihr  die  Gaben  und  die  Süssigkeiten,  die  sie  nie  vor- 
dem erfuhr,  und  mit  weit  grösserer  Tiefe,  als  ich  gesagt 
habe.  Und  alsdann  ist  die  Seele  aus  aller  Finsternis  gezo- 
gen, und  ihr  wird  ein  grösseres  Erkennen  Gottes  zuteil, 
als  dessen  Möglichkeit  ich  verstehen  kann,  und  das  mit 
einer  so  grossen  Helle  und  mit  einer  so  grossen  Süssigkeit 
und  Gewissheit  und  in  einem  so  tiefen  Abgrund,  dass  es 
kein  Herz  gibt,  das  dieses  erreichen  könnte.  Daher  kann 
auch  mein  Herz  nachher  nicht  dazu  kommen,  etwas  da- 
von zu  verstehen,  noch  etwas  davon  zu  denken;  dies  eine 
nur,  dass  es  der  Seele  von  Gott  geschenkt  wird,  dass  sie 
darin  erhoben  wird ,  dass  sonst  aber  nie  ein  Herz  sich  da- 
hin zu  spannen  vermag.  Und  daher  kann  sie  auch  gar 
nichts  davon  sagen,  und  nicht  kann  irgend  ein  Wort  ge- 
funden werden,  das  Jenes  sagte  oder  austönte,  noch  auch 
kann  ein  Gedankeoder  irgend  ein  Verstand  sich  zudiesen 
Dingen  hinbreiten :  um  ein  so  Grosses  sind  sie  über  allem, 
in  diesem  und  in  jedem  andern  Sinne,  dass  Gott  durch 
nichts,  was  gesagt  oder  gedacht  werden  kann,  zu  über- 
geben ist.  . . 

Und  wiewohl  ich  von  aussen  einGeringesanTraurigkeiten 
undFreuden  empfangenkann, so  istdochinnen  inmeiner 
Seele  eine  Kammer,  in  die  keine  Freude  oderTraurigkeit 
oder  das  Ergötzen  irgend  einer  Tugend  oder  irgend  eines 

M3 


nennbaren  Dinges  eingeht;  sondern  dahin  kommt  jenes 
alleinige  Gut.  Und  in  diesem  Offenbaren  Gottes  (wiewohl 
ich  lästere,  wenn  ich  Christum  so  nenne,  denn  ich  kann 
ihn  mit  keinem  Worte  vollkommen  bezeichnen)  ist  die 
ganze  Wahrheit.  Und  in  ihm  erkenne  und  besitze  ich  die 
ganze  Wahrheit,  die  im  Himmel  und  auf  Erden  und  in  der 
Hölle  und  in  aller  Kreatur  ist,  mit  so  grosser  Wirklichkeit 
und  mit  so  grosser  Gewissheit,  dass  ich  in  keiner  Weise, 
und  wenn  die  ganze  Welt  das  Gegenteil  bezeugte,  ein  An- 
deres glauben  könnte,  ja  ihrer  spotten  würde.  Denn  ich 
schaue  den,  der  das  Sein  ist;  und  so  wie  er  das  Sein  aller 
erschaffenen  Wesen  ist.  Und  ich  sehe,  wie  er  mich  fähig 
gemacht  hat,  alle  diese  Dinge  besser  zu  verstehen,  als  ich 
bisher  getan  habe,  da  ich  ihn  in  jener  Finsternis  schaute, 
die  mich  sosehr  zu  erfreuen  pflegte.  Und  ich  sehe  mich 
allein  mit  Gott,  ganz  rein,  ganz  geheiligt,  ganz  wahrhaft, 
ganz  redlich,  ganz  vergewissert,  ganz  himmlisch  in  ihm, 
und  wenn  ich  indiesemZustande  bin,  gedenke  ich  keines 
anderen  Dinges  mehr.  Und  einmal,  als  ich  in  diesem  Zu- 
stand war,  sprach  Gott  zu  mir:  »Tochter  der  göttlichen 
Weisheit,  Tempel  des  Geliebten,  Wonne  des  Geliebten, 
und  Tochter  des  Friedens,in  dir  ruht  die  ganze  Dreieinig- 
keit, die  ganze  Wahrheit,  also  dass  du  mich  besitzest  und 
ich  dich  besitze«  . .. 

Zu  diesem  Zustande  aber  bin  ich  nicht  vorgeschritten, 
sondern  geführt  und  erhoben  wurde  ich  von  Gott,  so  dass 
ich  nicht  wusste,  diesen  Zustand  zu  wollen  noch  zu  be- 
gehren noch  anzustreben,  und  nun  bin  ich  beständig  dar- 
in. Und  gar  oft  wird  meine  Seele  von  Gott  erhoben,  und 
meineZustImmung  wird  nicht  gefordert.  Denn  während 
ich  es  nicht  erhoffe  und  nicht  daran  denke,  wird  plötzlich 

144 


die  Seele  von  Gott  dem  Herrn  erhoben,  und  ich  umfasse 
die  ganze  Welt,  und  es  erscheint  mir,  ich  sei  nicht  auf  der 
Erde,  sondern  stünde  im  Himmel,  in  Gott.  Und  dieser  er- 
habeneZustand,in  dem  ich  nun  bin,  ist  überden  anderen 
Zuständen,  dieich  bisher  besass;  denn  eristvon  so  grosser 
Fülle  und  von  so  grosser  Klarheit  und  Gew^issheit  und 
Veredlung  und  Erweiterung,  dass  ich  fühle :  kein  anderer 
Zustand  kommt  ihm  nahe.  Und  dieses  Offenbaren  Got- 
tes hatte  ich  mehr  als  tausendmal;  immer  neu  und  im- 
mer in  verschiedener  Weise. 


10  Buber,  Konfesdonen 

145 


KATHARINA  VON  SIENA(i  347— 1 380) 

Aus  den  Aufzeichnungen  des  Raimund  von  Capua, 
ihres  Beichtvaters 

ALS  sie  einmal,  von  vielen  Schmerzen  belastet,  auf 
JhremBettleinlag und  mit  mir  etliche  ihrvomHerrn 
offenbarte  Dinge  zu  besprechen  begehrte,  Hess  sie  mich 
im  Geheimen  rufen.  Und  als  ich  zu  ihr  gekommen  war 
und  an  ihrem  Lager  stand,  begann  sie,  wiewohl  fiebernd, 
nach  der  gewohnten  Weise  von  Gott  zu  reden  und  die 
Dinge  zu  erzählen,  die  ihr  an  diesem  Tage  offenbart  wor- 
den waren.  Da  ich  aber  so  Grosses  und  Unerhörtes  hörte, 
sprach  ich  in  mir  selber,  der  ersten  vordem  empfangenen 
Gnade uneingedenkundundankbar:  »Vermeinst du, alle 
die  Dinge,  die  sie  sagt,  seien  wahr.?*«  Und  während  ich  so 
dachte  und  mich  ihr,  die  redete,  zukehrte,  verwandelte 
sich  in  einem  Augenblick  ihr  Angesicht  in  das  Angesicht 
eines  bärtigen  Mannes,  der,  mich  mit  starren  Augen  be- 
trachtend, mir  einengrossen  Schrecken  gab.  Unddas  Ant- 
litz war  länglich,  von  mittlerem  Alter,  und  hatte  einen 
nicht  langen  Bart  von  der  Farbe  des  Kornes,  und  wies  im 
Anblick  eine  solche  Majestät,  dass  es  dadurch  sich  als  der 
Erlöser  offenbarte.  Auch  konnte  ich  dazumal  kein  an- 
deres Angesicht  unterscheiden  als  dieses.  Und  da  ich,  be- 
stürzt und  entsetzt,  dieHändezudenSchulterngehoben, 
ausrief:  »Wer  ist  es,  der  mich  anschaut.f^«  antwortete  die 
Jungfrau:  »Er  der  ist« .  Als  dies  gesagt  war,  verschwand 
dieses  Angesicht  plötzlich,  und  ich  sah  deutlich  die  Züge 
der  Jungfrau,  die  ich  vorher  nicht  zu  unterscheiden  ver- 
mochthatte. 
Als  sie  einmal  mit  grosser  Inbrunst  betete,  sprechend  mit 

146 


dem  Propheten : » Ein  reinesHerz  schaffe  mir,  o  Gott,  und 
einen  getreuen  Geist  erneuere  in  meinem  Innern«,  und 
sonderlich  bat,  dass  der  Herr  ihr  eignes  Herz  und  ihren 
eignenWillen  ihr  nehme,  tröstete  er  selber  sie  mit  diesem 
Gesichte.  Es  erschien  ihr,  der  ewige  Bräutigam  kämein 
gewohnter  Art  zu  ihr,  öffnete  ihre  linke  Seite,  nähme  ihr 
Herz  heraus  und  schiede  von  ihr,  sie  aber  bliebe  gänzlich 
ohne  Herz  zurück.  Dieses  Gesicht  war  so  nachhaltig  und 
dem  Gefühle  des  Fleisches  so  einträchtig,  dass  sie  in  der 
Beichte  dem  Beichtvater  sagte,  sie  habe  kein  Herz  mehr 
in  der  Brust;  und  da  er  ob  dieses  Wortes  scherzte,  und 
scherzend  sie  in  gewisser  Weise  tadelte,  wiederholte  sie, 
was  sie  gesagt  hatte,  und  bestätigte  es,  sprechend:  »In 
Wahrheit,  Vater,  soweit  ich  nach  dem  körperlichen  Ge- 
fühleerkennenkann,  dünke  ich  mich,  desHerzensdurch- 
aus  zu  entbehren,  da  mir  der  Herr  erschien,  mir  die  linke 
Seite  öffnete, dasHerz  herausnahm  und  schied « .  Und  als 
er  erwiderte,  essei  unmöglich, dasssieohne  ein  Herz  leben 
könnte,  erklärte  die  Jungfrau  des  Herrn,  bei  Gott  sei  kein 
Ding  unmöglich,  und  sie  glaube  gewisslich,  des  Herzens 
beraubt  zu  sein.  Und  so  wiederholte  sie  viele  Tage  das 
Gleiche  und  sagte,  sie  lebe  ohne  Herz.  Da  sie  aber  eines 
Tages  in  derKapelle  derBrüderPredigerordens  zuSiena, 
wo  sich dieSchwesternzuversammelnpflegen, nachdem 
Fortgehen  der  andern  im  Gebete  verblieben  war  und  so- 
dann, aus  dem  Schlafe  der  gewohnten  Ablösung  er- 
wachend, sich  erhob,  um  nach  Hause  zurückzukehren, 
erglänzte  plötzlich  rings  um  sie  ein  Licht  des  Himmels, 
und  in  dem  Licht  erschien  ihr  der  Herr,  der  in  seinen  ge- 
weihten Händen  ein  rötliches  und  leuchtendes  Men- 
schenherz  trug.  Und  da  sie  bei  der  Ankunft  des  Urhebers 

to* 

147 


des  Lichtes  zitternd  zur  Erde  fiel,  nahte  ihr  der  Herr,  öff- 
nete von  neuem  ihre  linke  Seite,  legte  jenes  Herz  hinein, 
das  er  in  seinen  Händen  trug,  und  sprach:  »Siehe,  viel- 
liebesTöchterlein,  wie  ich  am  andern  Tage  dir  dein  Herz 
genommen  habe,  so  gebe  ich  dir  jetzt  mein  Herz,  mit  dem 
du  fortan  leben  wirst « . 


148 


KATHARINA  VON  GENUA  (i  447— 1 510) 

DIE  reine  und  klare  Liebe  kann  von  Gott  kein  Ding 
wollen,  so  gut  es  auch  sein  mag,  das  Teilnahme 
hiesse,denn  sie  will  Gott  selber,den  ganzen  reinen,  klaren 
und  grossen  wie  er  ist;  und  wenn  ihr  das  kleinste  Pünkt- 
chen fehlte,  sie  könnte  sich  nicht  zufrieden  geben ,  ja  es 
würde  ihr  scheinen,  sie  sei  in  der  Hölle.  Darum  sage  ich, 
dass  ich  keine  erschaffene  Liebe  will,keine  Liebe,die  man 
kosten,  fassen  und  geniessen  kann.  Ich  willnicht,  sageich, 
eine  Liebe,  die  durch  den  Verstand,  durch  das  Gedächt- 
nis, durch  den  Willen  ginge;  denn  die  reine  Liebe  über- 
schreitet alle  die  Dinge  und  geht  über  sie  hinweg  und 
spricht :  Ich  werde  mich  nicht  beruhigen,  bis  ich  verschlos- 
sen und  eingetan  bin  in  jenen  göttlichen  Busen,  wo  sich 
alle  geschaffenen  Formen  verlieren  und  so  verloren  gött- 
lich bleiben.  Und  anders  kann  sich  nicht  beruhigen  die 
reine,  wahrhafte  und  klare  Liebe. 
Ich  habe  daher  beschlossen,  solange  ich  lebe,  zuder  Welt 
zu  sprechen;  Aussen  tue  mit  mir,  was  du  willst,  aber  im 
Innern  lasse  mich ;  denn  ich  kann  nichtund  willnicht, und 
möchte  nicht  wollen  können,  mich  beschäftigen,  es  sei 
denn  in  Gott  allein,  der  sich  mein  Inneres  genommen  und 
es  in  sich  so  eingeschlossen  hat,  dasser  keinem  öffnen  will. 
Wisse,  dass  er  nichts  anderes  tut,  als  diese  Menschheit, 
sein  Geschöpf,  innen  und  aussen  auszehren ;  und  wenn  sie 
ganz  in  ihm  aufgezehrt  sein  wird,  werden  sie  beide  aus  die- 
sem Körper  gehen  und  vereinigt  zur  Heimat  aufsteigen. 
Ich  kann  daher  im  Innern  nichts  anderes  sehen  als  ihn,  da 
er  keinen  anderen  einlässt,  und  mich  selber  weniger  als 
die  andern,  weil  ich  ihm  feindseliger  bin. 

149 


Und  wenn  es  dennoch  geschieht  und  mir  not  tut,  dass  ich 
dieses  Ich  nenne,  um  des  Lebens  derWeltwillen,die  nicht 
anders  zuredenweiss,nämlich  wenn  ichmichnenneoder 
von  anderen  genannt  werde,  spreche  ich  in  mir :  Mein  Ich 
istGott,  und  keinandereslchkenneich,alsdiesenmeinen 
Gott.  Das  Gleiche  sage  ich,  wenn  ich  vom  Sein  spreche. 
Jedes  Ding,  das  das  Sein  hat,  hat  es  von  der  höchsten 
Wesenheit  Gottes  durch  die  Teilnahme;  aber  die  reine 
und  klare  Liebe  kann  sich  nicht  damit  begnügen,  sich 
durch  Teilnahme  Gottes  teilhaftig  geworden  zu  sehen, 
und  nichtdamit,  dass  er  in  ihr  als  Kreatur  sei,  wie  er  in  an- 
deren Kreaturen  ist,  von  denen  die  einen  mehr,  die  an- 
deren weniger  an  Gott  teilhaben.  Diese  Liebe  kann  sol- 
ches Gleichnis  nicht  ertragen,  sondern  mit  grosser  ver- 
liebter Gewaltspricht  sie :  Mein  Sein  ist  Gott,  nicht  durch 
Teilnahme,  sondern  durch  wahre  Verwandlung  und 
durch  Vernichtung  des  eigenen  Wesens . . . 
So  ist  in  Gott  mein  Sein,  mein  Ich,  meine  Stärke,  meine 
Seligkeit,  mein  Trieb.  Aber  dieses  Ich,  das  ich  jetzt  so  oft 
nenne,  —  ich  tue  es,  weil  ich  anders  nicht  reden  kann,  in 
Wahrheit  jedoch  weiss  ich  nicht  mehr,  was  das  Ich  sei 
oder  dasMein  oder  derTrieb  oderdasGute  oder  auch  die 
Seligkeit.  Ich  kann  das  Auge  auf  kein  Ding  mehr  richten, 
wo  es  auch  sei,  im  Himmel  oder  auf  der  Erde.  Und  sage 
ich  doch  einige  Worte,  die  in  sich  die  Gestalt  der  Demut 
oder  der  Geistigkeit  haben,  drinnen  im  Innern  weiss  ich 
nichts,fühle  ich  nichtsdavon ;  ja  ich  binbestürzt,  da  ich  so 
vieleWorte  sage,  die  von  der  Wahrheit  und  von  dem,was 
ich  fühle,  so  sehr  verschieden  sind. 

Ich  will  keine  Liebe,  die  für  Gott  oder  in  Gott  wäre.  Ich 
150 


kann  dieses  Wort /wr,  dieses  Wort  in  nicht  sehen,  denn 
sie  deuten  mir  auf  einDinghin,  daszwischen  mirund  Gott 
sein  könnte.  Dieses  aber  kann  die  reine  und  klare  Liebe 
nichtertragen,unddieseReinheitundKlarheitistso  gross, 
wie  Gott  selber  ist,  um  sein  eigen  sein  zu  können. 

Ich  finde  in  mir  durch  die  Gnade  Gottes  eine  Befriedigung 
ohne  Nahrung,  eine  Liebe  ohne  Furcht,  nämlich  dass  sie 
mir  je  fehlen  könnte.  Der  Glaube  scheint  mir  im  ganzen 
verloren,  die  Hoffnung  gestorben;  denn  ich  scheine  mir 
zu  haben  und  in  Gewissheit  zu  hallen  das,  was  ich  zu  an- 
deren Malen  glaubte  und  hoffte.  Ich  sehe  keine  Einung 
mehr,  denn  ich  weiss  nichts  mehr  und  kann  nichts  mehr 
sehen,  als  ihn  allein  ohne  mich.  Ich  weiss  nicht,  wo  das 
Ich  ist,  noch  suche  ich  es,  noch  willich  davon  wissen,  noch 
Kunde  haben.  Ich  bin  so  eingesetzt  und  untergetaucht  in 
der  Quelle  seiner  unmessbaren  Liebe ,  als  wäre  ich  im 
Meere  ganz  unter  Wasser  und  könnte  von  keiner  Seite  ir- 
gend ein  Ding  tasten,  sehen,  fühlen  alsWasser.  So  bin  ich 
eingetaucht  in  dem  süssen  Feuer  der  Liebe,dass  ich  nichts 
anderesfassen kann, alsdieganze Liebe, die  mir allesMark 
derSeeleund  des  Körpers  schmelzt.  Und  zuweilen  fühle 
ich  mich  so,  als  ob  der  Leib  ganzaus  weichem  Stoffe  wäre ; 
und  durch  dieEntfremdung,  in  der  ich  zu  den  körperlichen 
Dingen  stehe,  vermag  ich  ihn  nicht  zu  tragen. 
Daher  scheint  es  mir,  ich  sei  nicht  mehr  von  dieser  Welt, 
da  ich  nicht  mehr  wie  die  anderen  die  Werke  derWelt  tun 
kann;  ja  jede  Handlung,  die  ich  von  anderen  sehe,  stört 
mich,  denn  ich  wirke  nicht,wie  sie,  noch  wie  ich  selbst  zu 
tun  pflegte.  Ich  fühle  mich  ganzden  irdischen  Dingen  ent- 
fremdet, und  den  meinen  am  meisten;  so  dass  ich,  bei 

151 


ihrem  blossem  AnblickjSienichtmehrertragenkann.  Und 
ich  sage  zu  jedem  Dinge :  Lasse  mich  gehen,denn  ich  kann 
deinnichtmehrSorgenochGedächtnishaben, sondern  es 
ist  so,  als  ob  du  für  mich  nichtda  wärest.  Ich  kann  nicht  ar- 
beiten, nicht  gehen,  nicht  stehen,  nicht  reden,  sondern  all 
dies  scheint  mir  ein  unnützes  und  der  Welt  überflüssiges 
Ding.  Viele  wundern  sich  darüber,und  da  sie  die  Ursache 
nichtverstehen,nehmensieAnstoss.Undwahrlich,wenn 
nicht  dies  wäre,  dass  Gott  mir  beisteht,  würde  ich  man- 
ches Mal  von  der  Welt  für  toll  gehalten  werden ;  und  dies 
ist,  weil  ich  fast  immer  ausser  mir  selber  lebe. 

Gott  ist  Mensch  geworden,  um  mich  zu  Gott  zu  machen, 
daher  will  ich  ganz  reiner  Gott  werden. 


152 


MARIA  MAGDALENA  DE'  PAZZI(i  566—1607) 

7\  USSER  der  beständigen  Inbrunst,  die  Ihr  das  Herz 
.jT^schmelzen,  sie  unablässig  an  Gott  denken,  von  Gott 
reden,  für  Gott  wirken  machte  und  sie  oftmals  von  Sinnen 
brachte  und  ganz  In  Gott  setzte,  kam  sie  zuweilen  In  eine 
so  grosse  Glut,  dass  sie  sich  nicht  mehr  In  Ihrer  Brust  ver- 
schlIessenlIess,sondernsIchüberIhrAngesIcht,InIhrTun 
ergoss  und  InIhrenWorten ausbrach.  Sie,  die  gewöhnlich 
infolge  der  Busseübung  schwach,  hinfällig,  bleich  und  ab- 
gezehrt war,  erstarkte  ganz,  wenn  sie  von  diesen  Flam- 
men derLIebeüberraschtwurde,undIhr  Angesichtwurde 
voll  und  glühend,  Ihre  Augen  wie  zwei  glänzende  Sterne, 
und  der  Blick  heiter  und  froh  wie  eines  seligen  Engels.  Sie 
fand  keine  Ruhe,  kein  Bleiben.  Um  diese  Glut  auszu- 
schütten, die  sie  In  sich  nicht  halten  konnte,  war  sie  ge- 
zwungen, sich  zu  regen  und  In  wunderbarerWelse  zu  be- 
wegen. Daher  sah  man  sie  In  diesen  Ausbrüchen  schnell 
von  Ort  zu  Ort  laufen ;  wie  rasend  vor  Liebe  ging  sie  durch 
das  Kloster  und  rief  mit  lauter  Stimme:  »Liebe,  Liebe, 
Liebe.«  UnddasIeelnensogrossenBrandderLIebenlcht 
ertragen  konnte,  sprach  sie:  »O  mein  Herr,  nicht  mehr 
Liebe,  nicht  mehr  Liebe«  ...  Zu  den  Schwestern,  die  ihr 
folgten,  sagte  sie:  »Ihr  wisset  nicht,  teure  Schwestern, 
dass  mein  Jesus  nichts  anderes  ist  als  Liebe,  ja  toll  von 
Liebe.  Toll  von  Liebe,  sage  ich,  bist  du,  mein  Jesus,  und 
stets  werde  ich  es  sagen.  Du  bist  ganz  lieblich  und  fröh- 
lich, du  erquickst  und  tröstest,  du  nährst  und  vereinigst, 
du  bist  Pein  und  Kühlung,  Mühe  und  Rast,  Tod  und  Le- 
ben in  einem.  Was  ist  nicht  in  dir.r'  Du  bist  weise  und  mut- 
willig, erhaben  und  masslos,  wunderbar  und  unsäglich« . 


Andere  Male  brannte  sie  vor  Begier,  dass  dieser  liebende 
Gott  von  den  Menschen  erkannt  und  verehrt  werde,  und 
zum  Himmel  gewendet  sprach  sie :  » O  Liebe,  o  Liebe !  gib 
mireinesostarkeStimme,omeinHerr,dasswennsiedich 
Liebe  nennt,  sie  gehört  werde  vom  Osten  bis  zumWesten 
und  von  allen  Teilen  der  Welt  bis  in  die  Hölle,  damit  du 
erkanntundverehrtwerdestalsdiewahre  Liebe.  O  Liebe, 
du  durchdringst  und  durchbohrst,  du  zerreissest  und  bin- 
dest, du  regierst  alle  Dinge,  du  bist  Himmel  und  Erde, 
Feuer  und  Luft,  Blut  und  Wasser:  du  bist  Gott  und 
Mensch«. 

Einem  Bilde  des  Jesuskindes  die  Zierate  abstreifend, 
sprach  sie:  »Ich  will  dich  nackt,  o  mein  Jesus,  denn  ich 
könnte  dich  in  der  Unendlichkeit  deiner  Tugenden  und 
Vollkommenheiten  nicht  ertragen ;  ich  will  deine  nackte, 
nackte  Menschheit« . 

Aus  ihren  Mitteilungen 

Ich  sah,  dass  Jesus  sich  seiner  Braut  mit  engster  Einung 
vereinigte,  sein  Haupt  auf  das  Haupt  seiner  Braut  legte, 
seine  Augen  auf  die  ihren,  seinen  Mund ,  seine  Hände, 
seine  Füsse,  alle  seine  Glieder  auf  die  ihren,  so  dass  die 
Braut  Ein  Ding  mit  ihm  wurde  und  alles  wollte,  was  der 
Bräutigam  wollte,  alles  sah,  was  der  Bräutigam  sah,  alles 
kostete,  was  der  Bräutigam  kostete.  Und  nichts  anderes 
will  Gott,  als  dass  die  Seele  sich  ihm  in  dieser  Weise  ver- 
einige und  dass  er  ganz  mit  ihrvereinigt  sei.  Und  wenn  die 
Seele  ihr  Haupt  an  Jesu  Haupte  hat,  kann  sie  nichts  wol- 
len, als  sich  mit  Gott  zu  vereinigen,  und  dassGott  sich  ihr 
vereinige.  Gott  sjeht  sich  ganz  in  sich  und  aus  sich  allein 


ist  er  seiner  fähig  und  sieht  sich  selber  in  allen  Kreaturen, 
auch  in  denen,  die  kein  Empfinden  haben,  und  in  ihnen 
durch  die  Kraft,  da  er  ihnen  das  Sein  gibt  und  sie  wirken 
und  fruchttragen  macht.  So  sieht  die  Seele,  da  sie  ihre 
Augen  an  denen  Jesu  hat,  sich  selbst  in  Gott  und  Gott  in 
allen  Dingen. 

Nach  der  allerheiligsten  Kommunion  betrachtete  ich  die 
grosse  Einung  der  Seele  mit  Gott  durch  das  Sakrament, 
und  in  einem  Augenblick  fand  ich  mich  ganz  mit  Gott  ge- 
eint, in  Gott  verwandelt,  und  ausserhalb  aller  leiblichen 
Empfindung,  so  dass  ich,  hätte  man  mich  in  einen  Feuer- 
ofen geworfen  und  verbrannt,  nichts  verspürt  hätte.  Ich 
wusste  nicht,  ob  ich  tot,  ob  lebendig,  ob  im  Leibe,  ob  in 
der  Seele,  ob  auf  der  Erde,  ob  im  Himmel  sei;  ich  sah  al- 
lein den  ganzen  glorreichen  Gott  in  sich  selber,  sich  selber 
lauterlieben, sichselberunendlich  erkennen,  allegeschaf- 
fenen Dingeinlauterer  unendlicher  Liebe  umfangen,  eine 
Einheit  in  Dreien,  eine  ungeteilte  Dreifaltigkeit,  ein  Gott 
an  Liebe  schrankenlos,  an  Güte  allerhaben,  unfassbar 
und  unforschbar:  so  dass  ich,  da  ich  mit  ihm  war,  nichts 
mehr  von  mir  fand ;  sondern  nurdieses  sah  ich,  dass  ich  in 
Gott  bin,  aber  mich  sah  ich  nicht,  nur  Gott  allein. 


155 


THERESA  VON  JESU  (i  5 1 5—1 582) 
Brief  an  ihren  Beichtvater,  Pater  Rodrigo  Alvarez 

ES  ist  so  schwer,von  den  inneren  Dingen  zu  sprechen, 
und  noch  schwerer,  dies  auf  eine  Art  zu  tun,  dass 
sie  verstanden  werden  könnten,  namentlich  aber  in  kur- 
zer Weise,  dass,  wenn  es  der  Gehorsam  nicht  wirkt,  es 
ein  Schwieriges  ist,  das  Rechte  zu  treffen,  zumal  bei  so 
schwierigen  Gegenständen.  Es  schadet  wenig,  wenn  ich 
Ungereimtes  vorbringe,  da  dieses  in  Hände  kommt,  wel- 
che noch  grössere Torheitenvon  mir  erhalten  haben  wer- 
den. In  allem,was  ich  sagen  werde,  bitte  ich  Euer  Gnaden 
zu  bedenken,  dass  ich  keineswegs  die  Absicht  habe  zu 
meinen,  ich  hätte  das  Rechte  getroffen;  denn  es  könnte 
möglich  sein, dassichesselbernichtverstünde.Versichern 
aber  kann  ich,  dass  ich  nichts  sagen  werde,  was  ich  nicht 
einige  Male  oder  viele  Male  selbst  erfahren  habe.  Ob  es 
gut  sei  oder  nicht,  mögen  Euer  Gnaden  beurteilen  und 
mich  davon  in  Kenntnis  setzen . . . 
Das  erste,  wie  mir  scheint,  übernatürliche  Gebet,  das  ich 
in  mir  wahrgenommen  habe, . . .  isteine  innerlicheSamm- 
lung,  die  in  der  Seele  so  empfunden  wird,  dass  es  ihr  vor- 
kommt, als  habe  sie  andere  Sinne  als  die  äusseren  und  als 
wolle  sie  sich  aus  dem  Getöse  dieser  äusseren  zurück- 
ziehen. Es  zieht  sie  zuweilen  so  nach  sich,  dasssiedie  Lust 
anwandelt,  die  Augen  zu  schliessen  und  nichts  zu  sehen, 
nichts  zu  hören,  nichts  zu  verstehen,  als  das,  womit  die 
Seele  sich  eben  beschäftigt,  nämlich  mit  Gott  ganz  allein 
zu  verhandeln.  Es  verliert  sich  hier  kein  Sinn,  keine  Kraft, 
alles  bleibt  unversehrt,  jedoch  nur  um  mit  Gott  umzu- 
gehen. Dem  so  etwas  gegeben  wurde,  wird  es  leicht  ver- 

.56 


stehen,  nicht  aber,  wem  es  nicht  geschah ;  wenigstens  be- 
darf es  bei  einem  solchen  vieler  Worte  und  Gleichnisse. 
Aus  dieser  Einsammlung  entsteht  oftmals  eine  Ruhe  und 
ein  innerer  Frieden,  wobei  die  Seele  sich  also  befindet, 
dass  ihr  nichts  zu  tun  übrig  scheint;  sogar  das  Reden  ist 
ihr  lästig,  ich  meine  das  Hersagen  des  Gebetes  und  das 
Sinnen  der  Betrachtung;  sie  will  nichts  als  Liebe.  Dies 
währt  eine  Weile,  und  manche  Weile. 
Aus  diesem  Gebete  geht  gewöhnlich  ein  Schlaf  hervor, 
den  man  den  Schlaf  der  Kräfte  nennt,  die  jedoch  weder 
so  betäubt  noch  so  schwebend  sind,  dass  man  ihn  eine 
Verzückung  nennen  könnte;  es  ist  auch  keine  Einung. 
Zuweilen,  ja  oftmals  nimmt  die  Seele  wahr,dass  ihrWille 
allein  geeint  ist,  und  erkennt  sehr  klar  (so  scheint  es  mir 
wenigstens),  dass  er  ganz  in  Gott  beschäftigt  ist.  Zugleich 
fühlt  die  Seele  die  Unmöglichkeit,  etwas  Anderes  zu  sein 
und  etwas  Anderes  zu  wirken.  Die  beiden  andern  Seelen- 
kräfte sind  frei  für  alle  Geschäfte  und  Übungen  im  Dienste 
Gottes . . . 

Wenn  eine  Einung  aller  Seelenkräfte  geschieht,  ist  es 
ganz  anders;  denn  alsdann  können  sie  in  keinem  Dinge 
wirken,  denn  derVerstand  ist  wie  entsetzt.  DerWille  liebt 
mehr,  als  er  versteht;  aber  er  versteht  auch  nicht,  ob  er 
liebt,  noch  was  er  tut,  dass  er  es  sagen  könnte.  Das  Ge- 
dächtnis ist,  wie  mir  scheint,  hier  gar  nicht  da,  noch  das 
Denken,  und  die  Sinne  nicht  wach,  sondern  es  ist,  als  ob 
man  sie  verloren  hätte,  damit  die  Seele  dem,  was  sie  ge- 
niesst,  mehr  obliegen  könne,  wie  mir  scheint.  Dieser  Zu- 
stand verliert  sich  in  kurzer  Zeit  und  geht  schnell  vor- 
über . . . 
Die  Verzückung  und  die  Erhebung  sind,wie  mich  dünkt, 

157 


eines . . .  Der  einzige  Unterschied  zwischen  ihr  und  der 
Verzückung  ist  dieser :  die  Verzückung  dauert  länger  und 
ist  im  Äusseren  wahrnehmbarer.  Der  Atem  wird  so  ver- 
kürzt, dass  man  nicht  reden,  auch  die  Augen  nicht  auftun 
kann... Wenn  dieVerzückunggrossist,werdendieHände 
eiskalt  und  strecken  sich  zuweilen  aus  wie  Stangen,  und 
der  Körper  verharrt  in  dem  Zustand,worin  sie  ihn  ergriff, 
auf  den  Füssen  oder  kniend.  Die  Seele  steht  dabei  so  sehr 
im  Genüsse  dessen,  was  der  Herr  ihr  darstellt,  dass  es 
ist,  als  vergesse  sie  den  Leib  zu  beleben  und  lasse  ihn  hilf- 
los zurück.  Dauert  dieser  Zustand  länger  an,  so  bleibt  in 
den  Gliedern  eine  Empfindung  davon  zurück . . . 
Der  Unterschied,  der  zwischen  der  Verzückung  und  der 
Hinwegführungbesteht,  istdieser,  dassin  derVerzückung 
die  Seele  allmählich  den  äusseren  Dingen  abstirbt,  die 
Sinne  verliert  und  Gott  lebt ;  die  Hinwegführung  aber  fin- 
det sich  mit  einer  einzigen  Erkenntnis  ein,  die  Gott  mit 
einer  solchen  Schnelligkeit  dem  Innersten  der  Seele  ein- 
gibt, dass  es  scheint,  ihr  höherer  Teil  werde  entführt;  es 
dünkt  sie,  er  enthebe  sich  dem  Leibe.  Und  sie  bedarf 
im  Anfang  des  Mutes,  um  sich  in  die  Arme  des  Herrn  zu 
werfen,  dass  er  sie  hebe,  wohin  er  will.  Denn  solange 
Gott  die  Seele  nicht  in  den  Frieden  setzt,  wohin  er  sie  er- 
heben will — erheben,  sage  ich,  damit  sie  hohe  Dinge  ver- 
nehme —  muss  sie  wahrlich  im  Anfange  wohl  entschlos- 
sen sein,  für  ihn  zu  sterben;  denn  die  arme  Seele  weiss 
nicht,  was  daraus  werden  solle . . . 
Der  geistige  Flug  ist  ein  Etwas,  das  ich  nicht  zu  nennen 
weiss  und  das  aus  dem  inneren  Seelengrunde  aufsteigt . . . 
Eskommtmirvor,alsmüsstenSeeleundGeistEinWesen 
sein.  Etwa  wie  ein  Feuer,  das  gross  werden  soll  und  alles 

158 


zum  Brennen  bereit  hat,  so  Ist  die  Seele  mit  der  Bereit- 
schaft, die  sie  für  Gott  hat,  wie  ein  Feuer;  es  entbrennt 
schnell,wirft  eine  Flamme  und  lodert  empor,  obwohl  das 
Feuer  in  seinemWesen  unten  ist,  auch  dadurch  nicht  auf- 
hört, Feuer  zu  sein,  dass  die  Flamme  nach  oben  steigt.  So 
begegnet  es  der  Seele,  die  aus  sich  so  schnell  etwas  und 
zwar  etwas  so  Köstliches  hervorbringt,  das  in  die  oberen 
Sphären  steigt  und  dahin  kommt,  wo  Gott  es  haben  will. 
Es  erscheint  in  Wahrheit  als  ein  Flug;  ich  weiss  kein  an- 
deres mehr  geeignetes  Gleichnis.  Ich  weiss  nur,  dass  man 
den  geistigen  Flug  sehr  deutlich  wahrnimmt  und  dass 
man  ihn  nicht  verhindern  kann. 

Es  scheint,  als  ob  jenes  Vöglein,  der  Geist,  diesem  Elend 
desFleisches,diesemKerkerdes  Leibessich  entschwinge, 
damites,ausihmbefreit,sichmehrdem  hingeben  könne, 
was  der  Herr  ihm  gewährt.  Es  ist  ein  so  zartes  und  feines, 
köstliches  Ding  darum ,  soweit  die  Seele  es  verstehen 
kann,  dass  es  ihr  vorkommt,  es  könne  darin  keine  Täu- 
schung obwalten,  noch  in  irgendeinem  dieser  Dinge.  Ist 
der  Zustand  vorüber,  so  bleibt  ein  Bangen  zurück,  weil, 
der  da  empfing,  so  gering  ist,  dass  er  alle  Ursache  zur 
Furcht  zu  haben  meint;  wiewohl  im  Innern  derSeeleGe- 
wissheit  und  Zuversicht  bleiben  . . . 
Den  Ansturm  nenne  ich  eine  Begierde,  die  die  Seele  zu- 
weilen befällt, ohne  dass  ein Gebetvoraufgegangen wäre; 
meistens  ist  auch  eine  jähe  Kunde  da,  dass  Gott  nicht  hier 
sei,  und  kein  Wort,  das  die  Seele  vernähme,  das  zu  ihm 
ginge.  Diese  Kunde  ist  zuweilen  so  mächtig  und  von  sol- 
cher Stärke,  dass  sie  in  einem  Augenblick  von  Sinnen 
bringt.  Wie  wenn  einem  Menschen  plötzlich  eine 
schmerzliche  Nachricht  oder  eine  grosse  Überraschung 

159 


mitgeteilt  wird  oder  anderes  dieser  Art,  das  dem  Gedan- 
ken die  Überlegung  raubt,  sich  trösten  zu  können,  sodass 
er  wie  betäubt  ist.  So  ist  es  auch  hier,  nur  dassdie  Pein  von 
einer  solchen  Sache  kommt,  von  der  die  Seele  die  Er- 
kenntnis hat,  dass  ein  Tod  für  sie  wohl  angewandt  ist. 
Daher  kommt  es,  dass  alles,  was  die  Seele  nun  empfängt, 
ihr  nur  zu  grösserer  Pein  gereicht,  als  wolle  der  Herr  nur 
dies,  dass  ihr  ganzes  Sein  zu  nichts  anderem  nütze  sei 
und  dass  sie  keinen  Trost  erhalten  noch  sich  erinnern 
solle,  es  sei  Gottes  Wille,  dass  sie  lebe.  Sie  vermeint  viel- 
mehr, in  einer  grossen  Einsamkeit  und  Verlassenheit  von 
allem  zu  sein,  die  sich  nicht  beschreiben  lässt;  denn  die 
ganze  Welt  mit  allen  ihren  Dingen  macht  ihr  Pein  und  es 
kommt  ihr  vor,  als  ob  keine  Kreatur  ihr  Gesellschaft  leis- 
ten wolle. 

Die  Seele  begehrt  nichts  als  ihren  Schöpfer;  sie  erkennt 
nun,  wie  dieses  ohne  ihren  Tod  unmöglich  ist;  da  sie  sich 
aber  nicht  selbst  töten  darf,  stirbt  sie  aus  Verlangen  zu 
sterben  dergestalt,  dass  in  Wahrheit  Gefahr  des  Todes 
darinist.Sieerblicktsich  gleichsam  zwischenHimmelund 
Erde  hängend  und  weiss  nicht,  was  sie  aus  sich  machen 
soll.  Von  einer  Zeit  zur  andern  gibt  Gott  ihr  eine  Kennt- 
nis seiner,  auf  das  sie  innewerde,wassieentbehrt;diesge- 
schieht  auf  eine  so  seltsame  Art,  dass  man  es  nicht  sagen 
kann,  noch  die  Pein  beschreiben;  denn  es  gibt  auf  Erden 
keine,  wenigstens  unter  allen,  die  ich  erllttenhabe,  dieihr 
gliche.  Wenn  sie  nur  eine  halbe  Stunde  währt,  wird  der 
Körper  so  aus  seiner  Verbindung  gebracht  und  die  Ge- 
beine so  zerrissen,  dass  den  Händen  nicht  mehr  so  viel 
Kraft  bleibt,  dass  sie  zu  schreiben  vermöchten . . . 
Von  alledem  spürt  die  Seele  nichts ,  bis  jener  Ansturm 

i6o 


vorüberist.  Dennsiehatgenug  damit  zutun, ihn  Innerlich 
zu  fühlen,  und  ich  glaube ,  sie  würde  schwere  Martern 
nichtverspüren.SieistjedochbeivollenSinnenundkann 
reden  und  blicken,  gehen  aber  nicht,weil  der  grosseStoss 
der  Liebe  sie  niedergeworfen  hat .  .  .  Die  Seele  erkennt 
wohl,  dass  es  eine  grosse  Gnade  des  Herrn  ist;  dauerte  es 
aberan,dasLeben  würdenichtlangemehrstandhalten . . . 
Eine  andere  Art  des  Gebetes  gleicht  einer  Verwundung, 
die  der  Seele  in  Wahrheit  erscheint,  als  ob  sie  ein  Pfeil 
durch  das  Herz,  In  Ihr  Eigenstes  träfe.  Das  erweckt  einen 
grossen  Schmerz,  der  in  Klagen  ausbricht,  aber  so  süss 
ist,  dass  die  Seele  seiner  nie  entbehren  möchte.  Dieser 
Schmerz  ist  nicht  ein  Empfinden  der  Sinne,  noch  ist  zu 
verstehen,  dIeWunde  sei  eine  leiblicheWunde,  denn  nur 
im  Innern  der  Seele  ist  der  Eindruck,  ohne  dass  ein  Leid 
des  Körpers  erschiene.  Aber  da  es  nicht  anders  kundzu- 
geben ist  als  durch  Gleichnisse,  geraten  sie  wohl  plump, 
allein  ich  weiss  es  aufkelneandereWeisezusagen.  Solche 
Dinge  lassen  sich  weder  sagen  noch  schreiben ;  denn  es  ist 
keinem  möglich  sie  zu  begreifen,  alsdem,  der  es  selber  er- 
fahren hat,  ich  meine  wie  tief  der  Schmerz  eindringt 

Zuandern  Malen  erscheintes,  alsob  dleseWundederLIe- 
be  aus  dem  Innern  Grunde  der  Seele  die  grossen  Bewe- 
gungen hervorlockte,dieheraufzubringen,wenn  der  Herr 
sie  nicht  gibt,  sie  durchaus  nicht  vermag,  deren  sie  sich 
nicht  erwehren  kann,  wenn  es  sein  Wille  ist,  sie  ihr  zu 
geben.  Diese  Bewegungen  sind  so  lebendige  und  zarte 
Wünsche  nach  Gott,  dass  man  sie  nicht  aussprechen 
kann ;  da  aber  die  Seele  sich  gefesselt  sieht,  dass  sie  Gott 
nicht ,  wie  sie  möchte ,  genlessen  kann ,  fasst  sie  einen 
grossen  Abscheu  gegen  den  Leib.  Er  erscheint  der  Seele 

II    Buber,  Konfessionen 

i6i 


wie  eine  hohe  Mauer,  die  sie  verhindert,  daszugeniessen, 
was  sie  vor  dieser  Zeit,  wie  ihr  scheint,  ohne  dasHemm- 
nisdes  Leibes  in  sich  geniessen  würde. 

Brief  an  Petrus  von  Alcantara 

Die  Weise,  die  ich  jetzt  im  Gebete  inne  halte,  ist  diese: 
Selten  vermag  ich,  wenn  ich  im  Gebete  bin,  mit  dem 
Verstände  nachzudenken,  denn  alsbald  beginnt  dieSeele 
sich  einzusammeln  und  in  die  Ruhsamkeit  oder  Verzük- 
kung  zu  gelangen,  so  dass  siedieSinne  durchaus  nicht  ge- 
brauchen kann,  dasGehör  etwaausgenommen,  undauch 
dieses  taugt  dann  nicht,  etwas  anderes  zu  vernehmen. 
Es  geschieht  mir  oftmals,  dass  ich,  ohne  irgendwie  an 
Gott  denken  zu  wollen,  vielmehr  ganz  anderen  Dingen 
nachsinnend,  und  in  derMeinung,  ich  könnte  es  bei  noch 
so  starkem  Bemühen  nicht  zum  Gebetebringen,  weil  ich 
in  grosser  Dürre  bin,  wozu  die  körperlichen  Schmerzen 
beitragen,  so  jählings  von  der  Einsammlung  und  der 
geistigen  Erhebung  ergriffen  werde,  dass  ich  mich  nicht 
bewahren  kann.  Aber  ein  Augenblick  reicht  hin,  um  die 
Wirkungen  und  den  Gewinn  zu  hinterlassen,  die  daraus 
folgen.  Das  vollzieht  sich,  ohne  dass  ich  eine  Vision  hätte 
oderetwas  vornähme, oder  wüsste,woich  bin, nurscheint 
mir  meine  Seele  sich  zu  verlieren.  Zugleich  aber  schaue 
ich  sie  in  so  grossem  Gewinne,  dass,  wenn  ich  auch  ein 
ganzes  Jahr  daraufwenden  wollte,  ihn  zu  erlangen,  es 
mirunmöglich  gelingen  würde. 

AndereMaleüberfälltmicheinsomächtigerAnsturmmit 
einem  solchen  Zergehen  vor  Gott,  dass  ich  mich  nicht 
wahren  kann.  Es  dünkt  mich,  mein  Leben  wolle  zer- 
rinnen, und  so  treibt  esmich,  laut  aufzuschreien  und  Gott 

162 


anzurufen.  Dies  überfällt  mich  mit  grosser  Gewalt.  Zu- 
weilen vermag  ich  nicht,  sitzenzubleiben,  so  grosseÄngste 
werden  mir  eingetan.  Diese  Pein  kommt  mir,  ohne  dass 
ich  danach  trachte,  sie  ist  jedoch  so  beschaffen,  dass  die 
Seele  nimmer,  so  lange  sie  lebt,  aus  ihr  herauskommen 
möchte.  Diese  Ängste  meinen  den  Willen,  nicht  mehr  zu 
leben,und  eserscheintun^,  aiskönne  manimLebenkeine 
Hilfe  empfangen,  der  Tod  aber  sei  das  Mittel,  Gott  zu 
sehen,  ihn  aber  darf  man  sich  nicht  erwählen.  Damit 
scheint  es  dann  meinerSeele,  aisseien  alle  wohlgetröstet, 
nur  sie  nicht,  und  als  fänden  alle  Hilfe  in  ihrer  Trübsal, 
nur  sie  nicht.  Dies  schafft  eine  solche  Bedrängnis,  dass, 
gewährte  der  Herr  nicht  Hilfe  mit  einer  Verzückung,  in 
der  sich  alles  beruhigt  und  die  Seele  in  grossen  Frieden 
und  grosses  Genügen  kommt,  es  unmöglich  wäre,  aus 
dieser  Pein  sich  su  befreien. 

Noch  andere  Male  ergreift  mich  eine  Begierde,  Gott  zu 
dienen,  unter  einem  so  heftigen  Ansturm,  dass  ich  ihn 
nicht  gross  genug  darstellen  kann;  ihn  begleitet  ein 
Schmerz  über  dieWahrnehmung,  wie  wenig  nutzichbin. 
Alsdann  dünkt  es  mich,  mir  könne  nichts,  keine  Be- 
schwerde, keinTod,  keine  Martergeschehen, dieich  nicht 
mit  Leichtigkeit  ertragen  müsste.  Dies  geschieht  eben- 
falls ohne  Nachdenken  in  einem  Augenblicke,  darin  ich 
mich  gänzlich  verwandle,  ohne  dass  ich  wüsste,  woher 
solche  Kraft  mir  kommt.  Ich  vermeine,  ich  müsste  laut 
rufen  und  allen  zu  erkennen  geben,  wie  notwendig  es 
für  sie  ist,  sich  nicht  mitWenigem  zu  begnügen,  und  wie 
gross  das  Gut  ist,  das  Gott  uns  geben  wird,  wenn  wir  uns 
dafür  bereiten.  Ich  sage,  dass  jenes  Verlangen  so  heftig 
ist,  dass  ich  mich  in  mir  selber  zerstöre.  Es  scheint  mir 

163 


dann,  ich  begehrte  das,  was  mir  nicht  möglich  ist.  Es 
scheint  mir,  ich  sei  an  diesen  Leib  gebunden  worden,  um 
ausserstand  zu  kommen,  Gott  und  meinem  Orden  auch 
nur  in  etwas  zu  dienen.  Denn  stünde  ich  nicht  darin,  ich 
würdeungemeineDinge  vollbringen,  soweitmeineKräfte 
es  ermöglichen.  Weil  ich  nun  sehe,  wie  ganz  ohne  alle 
Macht  ich  bin,  Gott  zu  dienen,  empfinde  ich  diesen 
Schmerz  dermassen,  dassich  ihn  nicht  darstellen  kann. 
Zuletzt  aber  erlange  ich  die  Gabe:  die  Tröstung  Gottes. 


164 


ANNA  GARCIAS  (ANNA  A  SAN  BARTOLOMEO, 
1549 — 1626) 

ICH  sah  einmal  meine  Seele  beschaffen  wie  ein  kleines 
Seiden  würmlein,  dasvon  denen,  die  es  aufzogen,  fleissig 
gespeist  und  sorgfältig  bewahrt  wird.  Wenn  es  aber  er- 
wachsen ist,  fängt  es  an  mit  seinem  Schnäblein  ein  zartes 
Seidenfädchen  zu  spinnen  und  sich  ein  kleines  Hüttchen 
zu  machen,  wobei  es  eine  solche  Süssigkelt  geniesst,  dass 
es  sein  Sterben  nicht  merkt,  bis  es,  aller  seiner  Kräfte 
beraubt.  In  seiner  Schale  eingeschlossen  und  tot  bleibt. 
Nun  sah  meine  Seele  etwas  Ähnliches  In  sich,  denn  eben 
mit  einer  solchen  Süssigkelt  und  Stille  gab  sie  Gott  dem 
Allmächtigen  alles,  was  sie  an  sich  hatte,  und  schloss  sich 
wie  das  Seidenwürmlein  in  Ihrem  NIchtwesen  und  der 
Erkenntnis  ihrer  Nichtigkeit  ein  mit  einer  süssen  Liebe, 
die  spinnt  alle  Zeit  in  meinem  Herzen,  das  nicht  mehr 
sein  und  leben  will,  denn  Sterben  Ist  das  wahre  Leben 
def  Seele. 


165 


ARMELLE  NICOLAS  (1606— 1671) 

ICH  sah  mich  wie  eine  arme  Missetäterin  an,  die  in  ihres 
Fürsten  Gunst  und  Freundschaft  zu  kommen  begehrt 
...  je  elender  ich  mich  sah,  desto  mehr  wünschte  ich  mit 
dem,  den  ich  als  mein  einziges  Gut  und  mein  Alles  er- 
kannte, mich  zu  vereinigen. 

So  brachte  ich  die  ganze  Passionszeit  zu.  Am  Charfreitag 
aber  ging  ich  in  die  Predigt.  Da  ich  da  noch  keine  Viertel- 
stundelangvon  den  Leiden  meinesHeilandsredengehört 
hatte,  war  mein  Herz  schon  von  Schmerzen  so  gewaltig 
gerührt  und  durchbohrt,  dass  ich,  weil  ich  nicht  mehr 
bleiben  konnte, gezwungenwar,  wegzugehen, ausFurcht, 
esmöchtemirinStückezerspringenoderdochseineheftige 
Bewegung  auf  die  eine  oderdie  andereWeiseoffenbaren. 
Ich  ging  dann  nach  Hause,  wo  zur  Zeit  kein  Mensch 
war.  Da  schloss  ich  mich  ein  und  lief  von  einem  Ort  zum 
andern  und  rief,  dass  mir  der  Atem  ausging,  wie  eine 
Rasende  oder  wie  eine,  die  ganz  ausser  sich  selbst  ist. 
Hernach  warf  ich  mich  auf  die  Erde  und  schrie :  » Gnade, 
Herr,  Gnade ! « Ich  bat  die  ganze  Himmelsschar  um  Bei- 
stand und  beschwor  alle  Heiligen,  mir  zu  helfen  .Und  mich 
zu  Gott  kehrend ,  sagte  ich  zu  ihm  mit  flammender 
Inbrunst :  » O  mein  Herr  und  mein  Gott,  siehe  der  Tag  ist 
gekommen,  da  ich  ganz  dein  sein  muss.  Reinige  und 
wasche  mich  in  deinem  teuren  Blut.  Salbe  mein  Herz  mit 
demÖldeinerBarmherzigkeit.Durchbohremichmitden 
Pfeilen  deiner  heiligen  Liebe.  Nimm  mich  in  die  Zahl 
deiner  Jüngerinnen  auf.  Zeige  dich  mir  und  vereinige  mich 
mit  dir«. 
Mitten  in  diesem  Gebet,  da  ich  eben  diese  Worte  sagte, 

166 


die  mir  innerlich  eingegeben  und  gleichsam  vorgespro- 
chen wurden  —  denn  ich  selber  wusste  nicht,  was  lehr 
sagte,  verstand  auch  den  Sinn  dieser  Worte  nicht,  noch 
auch  die  darin  enthaltenen  Geheimnisse,  allein  ich  war  ge- 
nötigt und  gezwungen,  sie  zu  sprechen  und  dieses  tat  ich 
mit  einer  gewaltigen  Heftigkeit ,  dass  mich  dünkte ,  jedes 
Wort  wäre  ein  scharfer,  spitziger  Pfeil,  um  bis  in  Gottes 
Herz  hineinzudringen  —  wie  ich  nun  mitten  in  diesem 
Gebet  lag  und  mich  abgemüht  und  abgequält  hatte,  da 
wurde  ich  in  einem  Augenblick  auf  den  höchsten  Bo- 
den des  Hauses  geführt  und  wusste  doch  nicht  wie ,  son- 
dern ich  fand  mich  da,  ob  ich  gleich  vorhin  nicht  daran 
gedacht  hatte. 

Da  warf  ich  mich  auf  die  Erde,  weil  ich  mich  nicht  mehr 
halten  und  tragenkonnte,  sosehrwarichinalleräusserste 
AngstundNotgebracht.  Und  siehe,  indemselben  Augen- 
blick Hess  Gott  im  Grunde  meines  Herzens  einen  Strahl 
seines  göttlichen  Lichtes  leuchten,  durch  den  er  sich  mir 
oflfenbarteundmir  klar  zu  erkennen  gab,  dass  der,  nach 
dem  ich  so  sehr  verlangt  hatte,  in  mich  einging  und  mich 
in  völligen  Besitznahm.  Wiemirdiesegrosse  Gunstwider- 
fuhr, fand  ich  mich  wie  mit  einem  Licht  ganz  umkleidet 
und  umgeben.  Anfangs  überfiel  mich  ein  Entsetzen,  aber 
es  währte  nur  einen  Augenblick,  denn  sogleich  wurde 
mein  Herz  wieder  in  Sicherheit  gesetzt  und  dergestalt 
verändert,  dass  ich  mich  selber  nicht  mehr  kannte,  und 
ich  fühlte  eine  solche  Sättigung  aller  Begierde,  dass  ich 
nicht  wusste,  ob  ich  im  Himmel  oder  auf  Erden  war.  Ich 
blieb  einige  Zeit  unbeweglich  wie  ein  gehauenes  Bild,  so- 
dass ich  mich  nicht  regen  konnte.  Und  von  dieser  Zeit  an 
waren  alle KräftemeinerSeelesoerfülltundvergnügtund 

167 


in  allen  meinen  Sinnen  war  ein  so  grosser  Friede,  dassich 
keineswegs  zweifeln  konnte,  dass  Gott  sich  nunmehr  mit 
mir  aufs  Innigste  vereinigt  und  verknüpft  hatte,  wieesbis- 
her  mein  inbrünstigerWunsch  gewesen  war.  Und  diese 
Wahrheit  war  in  mir  so  unfehlbar  gewiss,  als  hätte  ich  sie 
mit  meinen  eigenen  Augen  gesehen,  denn  das  Licht,  das 
mir  damals  mitgeteilt  wurde,  übertraf  bei  weitem  alles, 
das  man  mit  Augen  sehen  mag. 

All  mein  Gut  ist  Gott  allein,  und  weil  er  nunmehr  durch 
seine  grosse  Barmherzigkeit  und  Güte  ganz  mein  eigen 
ist,  gleich  wie  ich  ganz  sein  eigen  bin,  so  ist  es  mir  nicht 
mehr  vonnöten,  mich  zu  mühen,  etwas  von  neuem  zu 
erwerben.  Ich  habe  weiter  nichts  zu  tun,  als  in  seinen 
Gütern  zu  ruhen;  wie  er  in  mirruht,  ruhe  ich  auch  in  ihm, 
weil  ich  ganz  in  ihn  eingeschlossenund  vernichtetbin.  Da 
finde  ich  mich  selber  nicht  mehr,und  wenn  ich  sage: » Ich 
geniesse,  ich  liebe,  ich  besitze  «,sobinichs  nicht  mehr,  die 
dieses  empfängt,  sondern  seine  Liebe  ist  meine  Liebe,  sein 
Reichtum  ist  mein  Reichtum,  sein  Friedeistmeine  Ruhe, 
seineWege  sind  meine  Lust  und  mein  Ergötzen  und  so  ist 
es  mit  all  seinen  göttlichen  Vollkommenheiten.  Es  gibt 
nunmehr  nichts  mehr,  was  ich  verlangen  könnte,  denn 
ich  bin  mitGütern  ganz  überhäuft,  muss  auchnichtmehr 
fürchten,  sie  zu  verlieren,  denn  sie  gehören  ihm  allein, 
meiner  Liebe  und  meinem  Alles.  Ich  aberbesitze  sienicht 
mehr  mit  Eigenheit,  sodass  ich  nicht  zu  fürchten  habe, 
dasssiemirgenommen  werden  könnten. 

Jetzt  ist  Gott  alles,  ich  aber  bin  nicht  mehr,  ich  bin  durch 
sein  Erbarmen  wieder  dahin  gekommen,  woraus  ich  ge- 

i68 


gangen  war.  Er  allein,  und  nichtmehrich  selbst,  lebt  und 
regiert  in  mir,  denn  ich  bin  nicht  mehr  in  mir  selber,  son- 
dern in  ihm,  wo  ich  mich  nicht  mehr  finde,  sondern  mich 
verloren  habe.  Er  istsallein,dersich  selber  das  Leben  gibt, 
denn  ich  sehe  nun  nichtsmehr,  dasnichterselberwäre. . . 

OLiebe!  OunendlicheGüte!  Ich  kanndirnichtmehrent- 
fliehen,  du  läufst  mir  allenthalben  voran  und  ich  findedich 
allenthalben.  Ich  sehe  dich  jetzt  nicht  mehr  durch  eine 
Wolke,  ich  sehe  dich  ganz  klar  und  offenbar,  ohne  Decke 
oder  Vorhang.  Nun  ist  nichts  mehr  zwischen  dir  und  mir. 
Waswillst  du,  dassich  tunsoll,  undwiewerdeichkünftig- 
hin  auf  Erden  leben  können  bei  dieser  grossen  Helligkeit 
und  diesem  grossen  göttlichen  Feuer,  das  mich  verzehrt.? 
Niemalshabeichmichin  solch  einemZustandebefunden. 
Die  übermässige  Gewalt,  die  ich  fühle,  übertrifft  alles 
Übermass  und  ich  weiss  nicht  mehr,  wohin  ich  mich 
wenden,  noch  was  ich  sagen  soll,  nur  dies,  dass  die  Liebe 
mich  überall  aus  mir  selber  hinwegführtund  überall  mich 
überwindet. 

SeitdemFestmeinerheiligen  Mutterhabeich  meineSeele 
von  allen  Dingen  los  und  frei  gesehen,  so  rein,  so  einsam, 
soabgeschieden,  dass  es  scheint,  aiswohne  sienichtmehr 
inmeinemLeibe,derwiemichdünktnichtsanderessucht 
als  der  Seele  wie  unempfindlich  zu  folgen.  Ich  habe  keine 
Gedanken  noch  irgend  etwas  mehr,  das  mich  aufhielte 
oder  beschäftigte,  wie  es  sonst  gemeiniglich  geschieht. 
DasWesenunddieUnermesslichkeitGottesistdereinzige 
Gegenstand,  der  meine  Seele  auf  eine  unbegreifliche 
Weise  durchdringt  und  verzehrt  und  durch  dieses  Ver- 

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zehrensiedergestaltausbreitet,dassichkeinZielundEnde 
davon  sehen  kann.  Zuvor  wollte  ich  alles  tun  und  allesan- 
greifen,  aber  jetzt  ist  es  ganz  anders  mit  mir,  denn  nichts 
nähert  sich  mir  mehr.  Ich  begreife  alles  und  werde  von 
nichts  begriffen.  MeineSeeleisteinsam,  einfältig  und  rein, 
und  wenn  ich  sie  so  sehe,  sehe  ich  ein  grosses  Wunder. 
Wenn  dieses  noch  einige Zeitinmirwährt,ichglaube, ich 
werde  darüber  sterben  müssen.  Ich  gehe  und  wirke  im 
Äusseren  nachmeinerGewohnheit,  ohnediesesSchauen 
zu  verlieren,  aber  mein  Gott  nimmt  es  mir  zuweilen  und 
lässtzu,  dass  mir  einige  Gedanken  ins  Gemüt  kommen, 
diemichdavonabwenden,sonstwäreich  schongestorben. 
Die  Liebe,  die  mich  verzehrt,  kann  niemand  aussprechen, 
niemandverstehen.Sieistunendlichundwächstdennoch 
alle  Tage  mehr  und  mehr. 


170 


ANTOINETTE  BOURIGNON  (r6i 6—1680) 
Aus  einem  Briefe 

UM  die  Anfrage  zu  beantworten,  die  Sie  mir  so  oft 
wiederholt  haben,  nämlich,  wie  ich  Gottvernehme 
und  mit  ihm  rede,  werde  ich  einfach  sagen,  was  ich  sagen 
kann. 

Gott  ist  Geist,  die  Seele  ist  Geist :  sie  teilen  sich  einander 
im  Geiste  mit.  EssindkeinesprachlichenWorte, sondern 
geistige  Mitteilungen,  die  jedoch  verständlicher  sind  als 
die  kundigsten  Beredsamkeiten  der  Welt. 
Gott  gibt  sich  der  Seele  durch  innere  Bewegungen  kund, 
die  die  Seele  in  dem  Masse  vernimmt  und  begreift,  als  sie 
von  irdischen  Vorstellungen  ledig  ist;  und  je  mehr  die 
Kräfte  der  Seele  aufhören,  desto  verständlicher  sind  ihr 
die  Bewegungen  Gottes. 

Die  Mitteilungen  Gottes  sind  unfehlbar,  wenn  die  Seele 
alles  Bildes  leer  ist  und  im  Vergessen  aller  geschaffenen 
Dingesteht;  aber  sie  sindzweifelhaft,  wenn  siedurch  Ein- 
bildungen wirkt  und  die  Empfindsamkeiten  sucht  oder 
etwas  anderes,  was  nicht  in  blosser  Weise  Gott  ist.  Die 
Heiligen  selbst  haben  in  diesem  Punkte  geistige  Eitelkei- 
ten begangen,  durch  Visionen,  Stimmen,  Ekstasen  und 
andere  Empfindsamkeiten ,  zu  denen  die  Einbildungs- 
kraft beiträgt. 

Gott  ist  reiner  Geist,  die  gereinigte  Seele  verwandelt  sich 
in  ihn  und  bedarf  keiner  Worte  und  keines  Blickes,  um 
ihn  zu  vernehmen,  ebensowenig  wie  wir  des  Auges  oder 
der  Zunge  bedürfen,  um  unsere  eigene  Vorstellung  zu 
vernehmen. . . 
Ich  bin  ein  reinesNichts;  aberGott  istallesinmir.  Erlehrt 

171 


mich,  erwirkt,  er  redet  in  mir,  ohne  dass  die  Natur  dazu 
mehr  beitrüge  als  das  einfache  Werkzeug,  wie  ein  Pinsel 
zur  Kunst  eines  schönen  Gemäldes  beiträgt. 


172 


JEANNE  MARIE  BOUVIERES  DE  LA  MOTHE 

GUYON(i648— 1717) 

EINE  solche  Seele  empfängt  alles  aus  dem  Grunde 
unmittelbar,  und  von  da  ergiesst  es  sich  sodann  auf 
die  KräfteundaufdieSinne,wieesGottwohlgefällt.  Nicht 
also  ist  esmitden  andern  Seelen,  diemittelbarempfangen: 
da  fällt  dasEmpfangene  indie Kräfte  und  von  davereinigt 
es  sich  mit  dem  Mittelpunkt.  In  jenen  Seelenaber  entlädt 
es  sich  aus  dem  Mittelpunkt  auf  die  Kräfte  und  auf  die 
Sinne.  Sie  lassen  alles  vorübergehen,  ohne  dass  etwas  auf 
ihren  Geist  oder  auf  ihr  Herz  einen  Eindruck  machte. 
Überdies  erscheinen  ihnen  die  Dinge,  die  sie  kennen  oder 
erfahren,  nicht  als  aussergewöhnliche  Dinge,  als  Weis- 
sagung und  dergleichen,  wie  sie  den  anderen  erscheinen ; 
man  sagt  sie  ganz  natürlich,  ohne  zu  wissen,  was  man 
sagt,  und  warum  man  es  sagt;  ohne  irgend  etwas  Ausser- 
ordentliches. Mansagtundschreibt,wasman  nichtweiss; 
und  es  sagend  und  schreibend,  sieht  man,  dass  es  Dinge 
sind,  an  die  man  nie  gedacht  hat.  Es  ist  wie  eine  Person, 
die  in  ihrem  Grunde  einen  unerschöpflichen  Schatz  be- 
sitzt, ohne  je  an  ihren  Besitz  zu  denken ;  sie  weiss  ihre 
Reichtümer  nicht,  sie  schaut  sie  nicht;  aber  sie  findet, 
wenn  es  ihr  nottut,  in  diesem  Grunde  alles,  wessen  sie  be- 
darf. DieVergangenheit,  die  Gegenwart  und  die  Zukunft 
sind  da  in  derArteines  gegenwärtigen  und  ewigen  Augen- 
blicks, nicht  alsWeissagung,  die  die  Zukunft  als  ein  Ding 
betrachtet,  das  kommen  soll,  sondern  alles  in  der  Gegen- 
wartin ewigem  Augenblick,  in  Gott  selbergeschaut;  ohne 
zu  wissen,  wie  sie  es  sieht  und  kennt;  mit  einer  sicheren 
Treue  im  Sagen  der  Dinge,  wie  sie  gegeben  sind,  ohne  Ab- 

173 


sieht  und  Rückschau,  ohne  zu  sinnen,  ob  man  von  der 
Zukunft  oder  der  Gegenwart  rede ;  ohne  sich  darüber  zu 
mühen,  ob  die  Dinge  sich  erfüllen  oder  nicht,  in  dereinen 
Weise  oder  einer  andern,  ob  sie  die  eine  Deutung  haben 
oder  eine  andre.  Aus  diesem  also  verlorenen  Grunde 
gehen  die  Wunder  hervor. 

Aismein  Geisterleuchtetworden  war,  wurdemeineSeele 
in  eine  unendlicheWeitegesetzt.  Ich erkannteden Unter- 
schied derGnaden,  die  diesem  Zustande  vorausgegangen 
waren,undderen,dieihmgefolgtsind.  Vordemsammelte 
und  verband  sich  alles  innen,  und  ich  besass  Gott  in 
meinem  Grunde  und  in  der  Heimlichkeit  meiner  Seele; 
dann  aber  war  ich  von  ihm  besessen,  in  einer  so  weiten, 
so  reinen  und  so  unendlichen  Weise,  dasses  nichts  Ähn- 
liches gibt.  Einst  warGott  wie  in  mireingeschlossen,und 
ich  war  mit  ihm  in  meinem  Grunde  vereinigt;  dann  aber 
war  ich  wie  untergegangen  in  dem  Meere.  Ehemals  ver- 
loren sich  wohl  die  Gedanken  und  die  Absichten,  aber  in 
einer,  wiewohl  wenig,  bemerkbaren  Weise,  die  Seele 
Hess  sie  fallen,  und  das  ist  noch  ein  Tun ;  dann  aber  waren 
sie  mir  verschwunden,  und  in  einersonackten,  so  reinen, 
so  verlorenen  Art,  dass  dieSeele  keinerlei  eignes  Tun  hat, 
so  einfach  und  zart  es  auch  sei ;  zumindest  keines,  das  zu 
ihrer  Kenntnis  geraten  könnte. . . 
Diese  Weite,  die  von  keinem  noch  so  einfachen  Ding  be- 
grenzt ist,  wächstmit  jedem  Tage;  sodass  es  scheint,  die 
Seele,  die  an  den  Eigenschaften  ihres  Bräutigams  teilhat, 
habe  vorallem  teil  anselnerllnendllchkelt.  Einst  warman 
wie  nach  innen  gezogen  und  eingeschlossen;  dann  ver- 
spürte Ich,  dass  eineHand,  weit  stärker  als  die  erste,  mich 

174 


aus  mir  selberzog  und  mich  ohne  Blick,  ohne  Licht,  ohne 
Erkennen  in  Gott  versenkte. 

Im  Anfang  des  neuen  Lebens  sah  ich  klar,  dass  die  Seele 
mit  ihrem  Gott  ohne  Mittel  und  Mittleres  vereinigt  war; 
aber  sie  war  noch  nicht  vollkommen  verloren.  Sie  verlor 
sich  mit  jedemTage  in  ihm,  wie  man  einen  Fluss,  dersich 
im  Ozean  verliert,  zuerst  sich  in  ihn  ergiessen,  dann  in  ihm 
aufgehen  sieht,  so  aber,  dassder  Fluss  sich  noch  eineZeit- 
lang  von  dem  Meere  unterscheidet,  bis  er  sich  endlich  all- 
gemach in  das  Meer  selber  wandelt,  das,  ihm  allgemach 
seine  Eigenschaften  mitteilend ,  ihn  so  sehr  in  es  um- 
tauscht, dass  er  mit  ihm  nur  noch  ein  einziges  Meer  ist. 
Ich  habe  dieselben  Dinge  an  meiner  Seele  erfahren,  wie 
Gott  sie  allgemach  in  ihm  selber  verliert,  sie  aus  ihrer 
Eigenheit  zieht  und  ihr  das  Seine  mitteilt. 

DieSinne  sind  zuweilen  wie  schweifende  Kinder,  die  um- 
herlaufen; aber  sie  verwirren  nicht  diesen  Grund  ohne 
Grund,  der  ganz  verloren,  ganz  bloss  ist  und  der  durch 
nichts  mehr  gehindert  wird,  wie  er  durch  nichts  mehr  ge- 
stützt wird. 

Mein  Gebet  war  immer  das  gleiche;  nicht  ein  Gebet,  das 
in  mir  wäre,  sondern  in  Gott,  sehr  einfach,  sehr  rein  und 
sehr  klar.  Es  ist  kein  Gebet  mehr,  sondern  ein  Zustand, 
von  dem  ich  wegen  seiner  grossen  Reinheit  nichts  sagen 
kann.  Ich  glaube  nicht,  dass  es  auf  der  Welt  etwas  Ein- 
facheres und  Einigeresgeben  kann.  Esistein  Zustand,von 
dem  man  nichts  sagen  kann,  weil  er  allen  Ausdruck  über- 
trifft; ein  Zustand,  in  dem  die  Kreatur  so  ganz  verloren 


und  versunken  Ist,  dass  sie,  mag  sie  auch  aussen  frei  sein, 
innen  nichts  mehr  besitzt.  So  ist  denn  auch  ihrGlück  un- 
wandelbar. Alles  ist  Gott  und  die  Seele  wird  nur  noch 
Gottes  gewahr.  Sie  hat  keine  Vollkommenheit  mehr  zu 
verlangen,  hatkeinStreben  mehr,  keinenZwischenraum, 
keine  Vereinigung :  alles  ist  in  der  Einheit  vollzogen,  aber 
in  einer  so  freien,  so  leichten,  so  natürlichen  Weise,  dass 
die  Seele  in  Gott  und  von  Gott  lebt ,  so  unbefangen ,  wie 
der  Körper  von  der  Luft  lebt,  die  er  einatmet. 


176 


AUS  EINER  AUSSAGE  DES  CAMISARDEN-FÜH- 
RERS  ELIE  MARION  IM  JANUAR  1707 

AM  ersten  Tage  des  Jahres  1703,  als  wir,  die  Familie 
und  einige  Verwandte,  uns  zurückgezogen  hatten, 
um  einen  Teil  des  Tages  mit  Gebeten  und  anderen 
frommen  Übungen  zuzubringen,  empfing  einer  meiner 
BrüdereineBegeisterung;undeinigeAugenblickedanach 
fühlte  ich  plötzlich  eine  grosse  Wärme,  die  mir  das  Herz 
erfassteund  sich  in  meinem  ganzen  Körper  ausbreitete. 
Ich  fand  mich  auch  ein  wenig  bedrückt  und  das  zwang 
mich,  grosse  Seufzer  auszustossen ;  ich  hielt  sie  jedoch 
zurück,  soweit  es  mir  möglich  war,  um  der  Gesellschaft 
willen.  Einige  Augenblicke  danach  bemächtigte  sich 
meiner  völligeineGewalt,  der  ich  nichtmehrwiderstehen 
konnte,  und  Hess  mich  in  grosse  Schreie  ausbrechen,  die 
von  tiefem  Schluchzen  unterbrochen  waren,  und  meine 
Augen  vergossen  Bäche  von  Tränen.  Ich  wurde  durch 
eine  furchtbare  Vorstellung  meiner  Sünden  heftig  ge- 
schlagen, die  mir  schwarz,  grauenhaftund  in  unendlicher 
Zahl  erschienen.  Ich  fühlte  sie  wie  eine  Last,  die  meinen 
Kopf  niederbeugte,  und  je  mehr  sie  sich  mir  aufluden, 
desto  stärker  wurde  mein  Schreien  und  Weinen.  Sie 
füllten  meinen  Geist  mit  Entsetzen ;  und  in  meiner  Angst 
konnte  ich  weder  reden  noch  zu  Gott  beten.  Dennoch 
fühlte  ich  etwas  Gutes  und  Glückseliges,  das  meinem 
Schrecken  nicht  erlaubte,  sich  in  Murren  oder  Verzweif- 
lung zu  kehren.  Mein  Gott  schlug  mich  und  ermutigte 
mich  zugleich .  Da  fiel  mein  Bruder  in  eine  z  weiteVerzük- 
kung  und  sprach  mit  lauter  Stimme,  es  seien  meine  Sün- 
den, die  mich  leiden  machten.  Und  zur  gleichen  Zeit  be- 

12     Buber,  Konfesäonen 

177 


gann  er  eine  lange  Aufzählung  dieser  Sünden  herzusagen 
und  sie  vor  all  den  Leuten,  die  da  waren,  darzustellen, 
wie  wenn  er  sie  gesehen  oder  in  meinem  Herzen  gelesen 
hätte:  ich  selbst  hätte  kein  getreueres  Bild  meines  eige- 
nen Zustandes  machen  können. 

Als  er  diese  fürchterliche  Schilderung  beendigt  hatte, 
ohne  irgend  etwas  zu  vergessen,  und  mit  Betonung  der 
Sünden,  die  am  meisten  meinen  Geist  betrübten,  fühlte 
ich  mich  sehr  erleichtert.  Da  so  einige  Ruhe  gekommen 
war,  wurde  auch  meine  Last  leichter  und  ich  genoss  mit 
einer  grossen  Freude  die  Freiheit,  die  mirwieder  gegeben 
war,  mein  Herz  und  meine  Stimme  zu  Gott  zu  erheben. 
Ich  nützte  diese  glückliche  Zeit  und  hörte  nicht  auf,  die 
Gnade  meines  himmlischen  Vaters  anzuflehen,  der  nach 
seinem  unendlichen  Erbarmen  zu  meinem  Herzen  vom 
Frieden  sprach  und  dieTränen  meiner  Augen  trocknete. 
Sanft  verbrachte  ich  die  Nacht;  aber  beim  Erwachen  fiel 
ich  in  ähnliche  Bewegungen  wie  die,  die  mich  von  dieser 
ZeitbisjetztimmerinderVerzückung  ergriffen  haben  und 
die  von  sehr  häufigem  Schluchzen  begleitet  waren.  Dies 
geschah  mirdreioderviermal  täglich, während  dreierWo- 
chen  oder  eines  Monats;  und  Gott  gab  mir  insHerz,  diese 
Zeit  auf  Fasten  und  Beten  zu  wenden.  Je  weiter  ich  vor- 
wärtsging,destomehr  nahm  meineTröstung  zu,  und  end- 
lich, gelobt  sei  dessen  mein  Gott,  trat  ich  in  den  Besitz 
dieser  glückseligen  Zufriedenheit  des  Geistes,  die  ein 
grosser  Gewinn  ist.  Ich  fand  mich  ganz  verwandelt.  Die 
Dinge,  die  mir  die  angenehmsten  gewesen  waren,  bevor 
mein  Schöpfermir  ein  neuesHerzgemachthatte,  wurden 
mir  widerwärtig,  ja  unerträglich.  Und  zuletzt  war  es  eine 
neue  Freude  für  meine  Seele,  als  nach  einem  Monat 

178 


stummer  Verzückungen,  wenn  Ich  sie  so  nennen  darf,  es 
Gott  gefiel,  meine  Zunge  zu  lösen  und  sein  Wort  in  mei- 
nen Mund  zu  legen.  Wie  sein  heiliger  Geist  meinen  Körper 
bewegt  hatte,  um  ihn  aus  seinem  Starrkrampf  zu  er- 
wecken und  seinen  Hochmut  niederzuwerfen,  so  war  es 
auch  sein  Wille,  meine  Zunge  und  meine  Lippen  zu  regen 
und  sich  dieser  schwachen  Organe  nach  seinem  Wohlge- 
fallen zu  bedienen.  Ich  werde  nicht  versuchen  auszu- 
sprechen, welche  meine  Bewunderung  und  meine  Freu- 
de war,  als  ich  einen  Bach  heiliger  Worte  durch  meinen 
Mundströmenvernahm,derenUrhebernicht  mein  Geist 
war  und  die  meine  Ohren  erfreuten.  In  der  ersten  Begei- 
sterung, die  Gott  mir  sandte,  als  er  meine  Zunge  löste, 
sprach  sein  heiliger  Geist  zu  mir  in  diesen  Worten :  » Ich 
versichere  dich,  mein  Kind,  dass  ich  dich  vom  Mutter- 
schosse an  zu  meiner  Ehre  bestimmt  habe. «  Glückselige 
Worte,  die  bis  zum  letzten  Seufzer  meines  Lebens  in  mei- 
nem Herzen  eingegraben  sein  werden.  Dieser  selbeGeist 
der  Weisheitund  der  Gnadeerklärte  mir  auch,  es  tuenot, 
dass  ich  die  Waffen  nehme,  dass  ich  mich  meinen  Brü- 
dern anschliesse,  die  seit  ungefähr  sechs  Monaten  tapfer 
für  die  Sache  Gottes  kämpften.  Ich  verliess  daher  das 
Haus  meines  Vaters  im  Anfang  des  Monats  Februar  und 
ging,  mich  einer  Truppe  christlicher  Soldaten  einzu- 
reihen, die  ich  einige  Zeit  darauf  zu  befehligen  die  Ehre 
hatte. 


179 


JAKOB  BÖHME  (i  575—1624) 

ALS  ich  aberin  solcherTrübsal  meinen  Geist,  von  dem 
»^ich  wenig  und  nichts  verstand,  was  er  war,  ernstlich 
in  Gott  erhob  wie  in  einem  grossen  Sturme,  und  mein 
ganzes  HerzundGemütsamtallen  andern  Gedanken  und 
Willen  sich  darein  schloss,  ohne  nachzulassen,  mit  der 
Liebe  und  Barmherzigkeit  Gottes  zu  ringen,  und  ohne 
nachzulassen,  er  segnetemich  denn,  dasist,er  erleuchtete 
mich  denn  mit  seinem  heiligen  Geiste,  damit  ich  seinen 
Willen  möchte  verstehen  und  meiner  Traurigkeit  los 
werden,  —  so  brach  der  Geist  durch. 
Als  ich  aber  in  meinem  angesetzten  Eifer  also  hart  wider 
Gott  und  aller  Höllen  Pforten  stürmte,  als  wären  meiner 
Kräfte  noch  mehr  vorhanden,  willens,  das  Leben  daran 
zu  setzen,  welches  freilich  nicht  mein  Vermögen  wäre 
gewesen  ohne  des  Geistes  Gottes  Beistand,  —  alsbald 
nach  etlichen  harten  Stürmen  ist  mein  Geist  durch  der 
Höllen  Pforten  durchgebrochen  bisin  dieinnerste  Geburt 
der  Gottheit  und  allda  mit  Liebe  umfangen  worden,  wie 
ein  Bräutigam  seine  liebe  Braut  umfängt. 
Was  aber  für  ein  Triumphieren  in  dem  Geiste  gewesen 
sei,  kann  ich  nicht  schreiben  oder  reden,  es  lässt  sich 
auch  mit  nichts  vergleichen  als  nur  mit  dem,  wo  mitten 
im  Tode  das  Leben  geboren  wird,  und  vergleicht  sich 
der  Auferstehung  von  den  Toten. 
In  diesem  Lichte  hat  mein  Geist  alsbald  durch  alles  ge- 
sehen und  an  allen  Kreaturen,  auch  an  Kraut  und  Gras, 
Gott  erkannt,  wer  er  sei,  und  wie  er  sei,  und  was  sein 
Wille  sei. 


180 


EIN  EDELKNABE  (um  1 596) 

^^  [ACH  vier  Wochen  erschien  mir  abermals  der  süsse 
X  N  EngelmeinesTrostes und  redetemit  mirvielvon  der 
Schönheit  der  Kinder  Gottes  und  machte  mir  ein  herz- 
liches Verlangen,  sie  in  ihrer  herrlichen  Majestät  zu  be- 
schauen. Zu  dem  sprach  ich :  Ach  du  mein  liebes  Engelein, 
du  mein  zartes  Brüderlein,  führe  rriich  doch  noch  einmal 
in  den  Saal  des  hohen  Himmels,  zu  den  schönen  Kindern 
Gottes,  dass  ich  ihr  Antlitz  sehen  möge  in  Gerechtigkeit. 
Und  er  nahm  mich  auf  und  führete  mich  in  den  Himmel, 
da  ich  vor  vier  Wochen  gewesen  w^ar,  und  stellte  mich 
mitten  unter  die  Kinder  Gottes,  die  alle  darin  versammelt 
waren.  Ich  sah  aberGott  den  Herrn  nicht  auf  seinem  gol- 
denenThronesitzen.  Dasprachich:WoistGottderHerr, 
mein  allerliebster  Vater.r*  Er  sagte:  »Er  ist  in  seinen  Kin- 
dern. Siehe,  die  Wahrheit  Gottes  ist  in  seinen  Kindern. 
DennseineSöhneundseineTöchtersindseineTempel,in 
denen  er  wohnetunddieermitseiner  Herrlichkeit  erfüllet 
hat. «  Und  ich  sah  mich  um  nach  den  tausendmal  tausend 
Gotteskindern,  und  ward  gewahr,  dass  sie  glänzten  von 
der  innerlichen  Wahrheit  Gottes  wie  helle  klare  Sonnen. 
Da  sah  ich  lebendige  Saphire  und  Rubine.  Das  Licht  des 
Herrn  funkelte  inihremKörperundtriebsie,dasssienicht 
stille  stehen  konnten,  denndieKlarheit  desHerrn  ist  eine 
lebendige  Klarheit.  Sie  wurden  aber  gehalten  von  dem 
Engel  Gottes,  dass  sie  nicht  fliehen  mussten,  wohin  sie 
wollten,  denn  ihre  Zeit  war  noch  nicht  gekommen.  Da 
sprach  einervon  den  obersten  derEngel : » Ihrseid  alledes 
lebendigen  Geistes  voll.  Das  ist  eure  Ehre  wider  derWelt 
Unehre.  Leidet  auch  deswegen  und  tröstet  euch  dieser 

181 


grossen  Herrlichkeit. «  In  mir  aber  ging  solch  ein  Lichtauf 
von  der  Klarheit  des  Herrn,  dass  ich  Gott  mitten  ins  Herz 
sehen  undseinegrosseLiebeund  seinen  himmlischen  Rat 
gegen  michwohl  erkennen  konnte.  Ich  sah  ihnwohl  nicht 
äusserlich,  und  erkannte  ihn  doch  innerlich,  denn  sein 
Licht  war  in  mir,  ward  auch  voll  derFreudenGottes,  dass 
ich  davon  bald  gestorben  wäre.  Denn  wo  Gott  der  Herr 
ist,  da  ist  seine  Weisheit  und  Freude. 
Mir  ward  aber  bald  nach  diesem  Augenblick  ein  Pfahl  ins 
Fleisch,  das  ist  grosse  Traurigkeit  ins  Herz  gegeben,  auf 
dass  ich  mich  solchergrossen  Herrlichkeit  nicht  erheben, 
noch  sie  zur  Sicherheit  missbrauchen  sollte.  Es  kam  auch 
ein  jeglicher  Erleuchteter  mit  mir  wiederum  an  seinen 
Ort  und  in  sein  Elend  bis  an  den  Tag  der  Wieder- 
bringung. 


182 


HANS  ENGELBRECHT  (i  599—1642) 

NUN  wie  ich  also  in  solchem  Streit  im  Kampf  lag, 
so  traf  mich  mit  derWeile  der  Tod  an  von  unten  auf; 
und  ich  lagund  starb  von  unten  auf:  zwölf  Stunden  währte 
es,  dass  ich  so  starb,  da  ich  ungefähr  in  acht  Tagen  nichts 
gegessen  und  getrunken  hatte.  Wie  ich  mich  am  Freitag 
niederlegte  und  krank  ward,  also  am  Donnerstag  über 
acht  Tageungefähr,  da  starb  ich.  Den  Donnerstag  Nach- 
mittagumzwölfUhr,dafühlte  ich  deutlich,dass  mich  der 
Tod  von  unten  auf  antrat;  und  starb  also  von  unten  auf, 
dass  mein  ganzer  Leib  so  steif  war,  dass  ich  nichts  mehr 
fühlte  von  Händen  und  Füssen,  ja  nichts  vom  ganzen  Lei- 
be; und  ich  konnte  auch  endlich  nichts  mehr  sprechen, 
oder  sehen;  denn  der  Mund  war  mir  so  steif,  ich  konnte 
denselben  nicht  mehr  auftun,  und  fühlte  ihn  nicht  mehr, 
desgleichen  auch  die  Augen,  die  brachen  mir  im  Kopfe, 
dass  ich  es  deutlich  fühlte.  Aber  ich  verstand  gleichwohl, 
wassiemirvorbeteten,undhörtewohl,  dass  sie  einer  zum 
andern  sagten  :  » Fühlet  ihm  doch  an  die  Beine,  wie  steif 
und  kalt  sie  ihm  sind;  es  wird  nun  nicht  lange  mit  ihm 
währen. «  Das  hörte  ich  wohl,  aber  ich  fühlte  es  nicht.  Da 
der  Wächter  aber  elf  rief  zu  Mitternacht,  das  hörte  ich 
noch  wohl,  und  um  zwölf  um  Mitternacht,  da  verging  mir 
auch  das  leibliche  Gehör. 

Da  däuchte  mich,  ich  ward  mit  dem  ganzen  Leibe  aufge- 
nommen und  ward  schnell  weggeführt,  wie  ein  Pfeil  von 
der  Armbrust  nicht  tun  kann :  wie  ich  nachdem  auch 
sonderlich  danach  fragte,  ob  mein  Leib  weggewesen 
wäre.  Aber  sie  haben  mir  hernachgesagt,  mein  Leib  wäre 
nicht  weg  gewesen:  wie  lange  aber  meine  Seele  sei  weg 

185 


gewesen,dashabensiesoeigentlichnIchtmerkenkönnen. 
Doch  so  weit  war  ich  gleichwohl  vor  ihren  Augen  tot  ge- 
wesen, dass  meine  Mutter  hatte  das  Hemd  allbereits 
hergekriegt,  und  sie  vermeinten  mich  anzukleiden:  aber 
Gott  hat  es  nicht  haben  wollen  und  hat  ihnen  ihre  Augen 
verblendet,  dass  sie  das  nicht  haben  merken  können,  da 
meine  Seele  ist  verzückt  gewesen  aus  dem  Leibe  vor  die 
Hölle  und  in  den  Himmel.  Das  ist  gerade  im  Augenblick 
vor  sich  gegangen:  denn  Gottkann  jemandim  Augenblick 
mehr  offenbaren  und  lehren,  als  man  die  Zeit  seines  Le- 
bens aussprechen  kann.  Wie  dieses  Lernen  zugeht,  das 
kann  kein  Mensch  mit  seiner  Vernunft  begreifen;  das  ist 
übernatürlich  im  Geiste  geschehen. 

Wie  lange  aber  meine  Seele  ist  weg  gewesen,  das  weiss 
Gott  und  kein  Mensch.  Wäre  meine  Seele  in  der  Freude 
und  Herrlichkeit  geblieben,  mein  Leib  würde  längst  auf 
demKirchhof  liegen.  AberzuMitternacht,daderWächter 
elf  rief,  da  war  die  Entzückung  noch  nicht  geschehen ;  da 
war  ich  steif  und  kalt,  und  fühlte  nichts  von  meinem  Lei- 
be, konnte  auch  nicht  mehr  sehen  und  sprechen,  nur  das 
leibliche  Gehör  hatte  ich  noch  allein.  Die  umstehenden 
Leute,  die  bei  mir  waren,  die  haben  die  Zeit  eben  nicht 
merken  können,  da  meine  Seele  vor  der  Hölle  und  im 
Himmel  war.  Da  aber  der  Wächter  zwölf  rief,  da  war  die 
Entzückung  geschehen.  Gleichwie  ich  denn  von  unten 
aufwar  gestorben,  also  lebte  ich  von  oben  an  wieder  auf, 
bis  unten  hinaus. 

Da  ich  nun  wieder  aus  der  Klarheit  geführt  ward,  da 
däuchtemich, ich  wurde  wiedermitmeinemganzenLeibe 
auf  die  Stättegelegt,  und  da  hörte  ich  erst  leiblich  wieder, 

184 


dass  sie  mir  etwas  vorbeteten.  Das  Gehör  war  also  das 
erste,  das  ich  wieder  bekam.  Danach  begann  ich  meine 
Augen  zu  fühlen,  dass  so  allgemach  allmählich  und  all- 
mählich mein  ganzer  Leib  wieder  stark  wurde.  Und  da 
ich  denn  meine  Beine  und  Füsse  wieder  fühlte,  da  stand 
ich  wieder  auf;  und  war  so  stark,  als  ich  vormals  mein 
Leben  lang  nicht  gewesen  war:  so  stark  war  ich  von  der 
himmlischen  Freude,  dass  die  Leute  sehr  darüber  er- 
schraken, dass  ich  in  so  geschwinder  Eile  wieder  stark 
wurde. 

Ich  bin  nur  ein  totes  Instrument,  wie  eine  steifeOrgelpfeife; 
wennnichtdaraufgeschlagenwird,kannsienichtklingen. 
Also,  wisset,  binauchichgarsteif  und  kalt  gewesen  und 
konnte  nicht  klingen:  dass  ich  aber  jetzt  in  dem  Reden 
klinge,  das  regiert  der  heilige  Geist,  und  ich  nicht.  Ich  bin 
hier  gelegen,  wie  ein  toter  Handschuh  :  wenn  da  keine 
Hand  drin  steckt,  kann  sich  der  Handschuh  nicht  regen 
und  bewegen;  aber  wenn  sich  einelebendige  Handdarein 
steckt,  kann  sich  der  Handschuh  regen.  Aber  der  Hand- 
schuh regiert  sich  nicht,  sondern  die  Hand,  die  in  dem 
Handschuh  steckt,  die  regt  sich  in  dem  Handschuh  und 
regiert  den  Handschuh :  der  Handschuh  kann  sich  selber 
nichtregieren. . .  So  ist  es  auch  mit  mir.  Ihrhabt  voreuren 
Augen  mich  hierliegen  sehen,wieeinentotenHandschuh, 
dersich  nichtregenund  bewegenkann :  aberdielebendige 
Hand  Gottes  hat  sich  in  mich  gesteckt,  in  mein  totes 
Fleisch  und  Blut,  das  gar  steif  und  kalt  war,  und  hat  es 
wieder  lebendig  gemacht  durch  seine  himmlische  Kraft; 
und  die  allmächtige  Hand  Gottes  regiert  jetzt  in  mir,  und 
ich  nicht. 

185 


ANNA  VETTER  (Datum  derVIsionen :  1 662) 

Aus  ihrem  Lebenslauf,  den  sie  auf  Begehren  eigenhändig 
aufgeschrieben 

ES  möchte  jemand  fragen,  wie  ich  so  hoch  von  Gott 
geliebt  bin  worden  und  was  mein  junger  Lebenslauf 

gewesen Ich  war  ein  fröhliches  und  freies  Mägdlein 

und  den  Leuten  lieb,  suchte  Ruhm  in  der  Nähekunst  bei 
denMenschen,  war  frisch  wie  ein  jungerHirsch,gerneum 
Spielleute,  liebte  ehrliche  Tänze  und  behielt  darin  vor 
anderen  Mägden  den  Preis ;  ein  jeder  wollte  mit  derWeis- 
senburgerin  tanzen.  Es  ist  mir  aus  dem  Himmel  kund 
worden,  dass  es  Gottes  Willen  gewesen,  dass  ich  habe 
hierher  kommen  müssen  und  habe  mich  mit  einem  Mau- 
rer verheiratet ;  und  wie  ich  hernach  gehört,  haben  wohl 
zehn  andere  auf  meinen  Mann  gewartet,  da  er  ist  mein 
Liebster  worden.  Er  sollte  mich  wieder  fahren  lassen, 
allein  ichhabe  ihm  verbleiben  müssen,  undhabeeineehr- 
licheHochzeitgehaltenmitLustigkeit,undhabemitdem 
stürmischen  und  fluchenden  Manne  zehn  Jahre  lang  ge- 
haust und  immer  mit  ihm  ums  Ewige  gestritten.  Habe 
keine  Furcht  Gottes  bei  ihm  spüren  können,  dass  er  nach 
dem  Himmel  getrachtet  hätte;  war  ein  irdischer  Welt- 
mann und  ich  wollte  immer  nach  dem  Himmel  trachten 
und  dachte,  er  solle  sein  wie  ich ;  aber  er  wollte  mir  nicht 
folgen,  und  wurde  mir  mein  Leben  recht  sauer  mit  ihm. 
Je  länger  ich  mit  ihm  hauste,  desto  saurerermirsmachte, 
bis  die  zehn  Jahre  herumkamen,  in  welcher  Zeit  ich  mit 
ihm  sieben  Kinder  erzeugt  habe,  drei  Knaben  und  vier 
Töchter;  und  sind  noch  bei  dem  Leben  zwei  Söhne  und 
zwei  Töchter,  so  lang  Gott  will.  Im  dreissigsten  Jahre 

186 


meines  Lebens  wurde  ich  krank,  fünf  Wochen  lang,  und 
musste  ganz  an  meinem  Fleisch  absterben ;  wobei  ich  an- 
fänglich Verdacht  hatte  auf  eine  Nachbarin,  welche  der 
Zauberei  verdächtig  war,  und  öfters  sagte,  dass  sie  die 
Leute  krumm  und  lahm  machen  könnte,  mich  auch  oft 
wegen  meines  fleissigen  Kirchengehens  verspottet  und 
gefragt  hat,  ob  denn  noch  etliche  Bilder  in  der  Kirche 
wären,  denen  ich  die  Köpfe  noch  nicht  abgebissen ;  allein 
es  äusserte  sich  bald,  was  die  Ursach  meines  Abschwin- 
densam  Leibe  war;  ich  sollte  nämlich  ein  ganz  anderer 
Mensch  werden,  leiblich  und  geistig  erneuert.  In  dieser 
meinerKrankheitkam  mein  Mann  einstsehrfrühausdem 
Schloss  und  legte  sich  zumirundzwang  mich, seines  Wil- 
lenszusein,und  ich  wurdezueinerTochterschwangerwi- 
der  meinen  Willen  und  Begierde,  denn  ich  war  schwach 
und  krank.  Diese  Tochter  hatte  keine  Seligkeit  bei  Gott, 
so  ganz  war  des  Vaters  Samen  in  den  Sünden  verderbt, 
dass  daher  offenbar  ist  der  Mensch  der  Sünden  und  das 
Kind  des  Verderbens.  Sie  wurde  zwar  getauft,  aber  nicht 
geschrieben  in  das  Buch  des  Lebens.  Da  ichzehnTag mit 
diesem  Kind  schwangerging,  wurde  ich  in  den  Himmel 
verzückt  und  sah  unbeschreibliche  Freude.  O  Freude! 
O  Herrlichkeit!  O  Ewigkeit!  O  Schönheit! . . .  Endlich 
sah  ich  auch  den  Predigtstuhl  in  der  oberen  Kirche  zu 
Onoldsbach  [Ansbach]  und  ein  grosses  Volk,  dass  ich 
ihnen  predigen  sollte;  alsbald  kamein  brennendes  Feuer 
aus  dem  Himmel  über  mich  unddurchflammtemichund 
ich  wurde  des  heiligen  Geistes  voll,  mein  Mund  wurde 
voll  Feuerund  Himmelspreis,  lobeteJesumChristum  und 
seinen  heiligen  Namen ;  und  da  ich  zu  mir  selber  kam,  da 
musste  ich  diese  Geschichte  schreiben,  da  ich  vorher  kei- 

.87 


nen  Buchstaben  schreiben  konnte,  denn  in  der  Jugend 
musste  ich  in  der  Fremde  herumziehen,  kam  in  keine 
Schule.  Ein  weniges  vor  meinem  Ehestand  lernte  ich  fast 
verstohlenerWeise  von  meinesMannes  Bruder  ein  wenig 
lesen  und  las  weiter  nichts  als  die  Evangelien  und  den  Psal- 
ter, über  welchem  Lesen  ich  oftmals  weinen  musste.  Das 
wardasersteGesichtund  Offenbarung,  soichgehabt;  dies 
verschwieg  ich  dreiviertel  Jahr  lang,  bis  ich  zu  dem  Kind 
ins  Kindbett  kam;  da  ich  ausdem  Kindbettging  und  zwei- 
mal in  die  Kirche  ging,  wann  ich  nach  Haus  kam,  hatte 
das  Kind  allezweimaldasFrais  oder  schwere  Krankheit, 
so  dass  ich  wegen  des  Kindes  nicht  mehr  in  die  Kirche 
gehen  durfte.  Endlich  musste  ich  aus  Antrieb  des  heiligen 
Geistes  zu  den  drei  Pfarrern  gehn  und  ihnen  anzeigen,was 
ich  vor  dreiviertelJahren  im  Himmelgesehen.  Sobald  ich 
wieder  untermeinen  Fenstern  insHausging,  da  weissagte' 
der  heilige  Geist  mir  und  offenbarte  sich  bei  mir  und  den 
andern  Tag  auch  wieder,  da  kam  des  Herrn  Wort  zu  mir 
aus  dem  Himmel :  So  spricht  der  Herr,  Gott  wolle  ein 
Grosses  tun,  aber  jetzt  hätte  ich  ein  Schweres  vor  mir; 
und  zeigtemiran,dassich  musste  eineeiserne  Kette  tragen 
an  meinem  linkenArm;  einer  grossenSau  halber  aufdem 
Rathause  würde  man  sie  mir  anlegen,  aber  ich  würde  die 
junge  Sau  von  der  hohen  Stiege  stürzen,  dass  sie  musste 
herabfallen  samt  ihren  Jungen.  Da  wurde  mir  angst  und 
bang  und  ging  zu  den  Pfarrern  und  zeigte  es  wieder  an; 
und  da  ich  heim  kam,  da  sollte  ich  des  andern  Tages  auf 
den  Predigtstuhl  gehen  und  ich  wollte  lange  nichtundge- 
dachte,  was  die  Leute  sagen  würden,  predigtedoch  sonst 
kein  Weib  nicht ;  da  war  der  Herr  zornigund  schlugmich 
mit  einem  grossen  Stein  auf  meinen  Kopf,  ich  sollte  auf 

i88 


den  Predigtstuhl  gehen;  dawollte  ich  doch  nichtundwar 
dem  Herrn  ungehorsam ;  da  kam  Jesus  Christus  auf  dem 
grossen  Wasser  zu  mir  in  einem  Schiff  und  stellte  mir  die 
zwei  Städte  vor  das  Gesicht,  Onoldsbach  und  Weissen- 
burg.  Diese  zwei  Städte  liegen  in  dem  tiefenWasser  und  ist 
stockfinster  bei  ihnen,  und  der  Herr  Jesus  sprach  zu  mir, 
gehe  hin  und  nimm  diese  zwei  Städte  ein,  so  wirds  besser 
mit  dir  werden,  spricht  der  Sohn  Gottes;  fürchte  dich 
nicht,  esgeschiehtdirnichts.Ichmusstealsodochaufden 
Predigtstuhl  gehn  in  der  Stadtkirche,  aber  der  Kirchen- 
diener führte  mich  wieder  herunter,  da  weinte  ich  sehr 
und  sprach,  er  solle  mich  mit  Frieden  lassen,  es  sei  mir 
von  Gottbefohlen,  dassich  predigen  müsse;  erabersprach 
zu  mir,  wenns  gleich  von  Gott  befohlen  wäre,  ich  sollte 
in  meinen  Kirchenstuhl  gehen.  Ich  war  kaum  nach  Hause 
gekommen, da  kamen  dieHerrnvomRathausegegangen, 
der  Stadtvogt  und  der  Stadtschreiber,  derBürgermeister 
und  derStadtknecht,  bringen  eine  eiserne  Kette  mit  sich, 
machen  ein  Loch  durch  die  Wand  und  legen  sie  mir  um 
mein  linkes  Bein,  und  fragen  mich  alles  aus ,  wie  mir  ge- 
schehen sei ;  da  sagte  ich  ihnen  alles  und  sie  sprachen  zu 
mir :  Gott  helfe,  dass  es  möge  ausschlagen  zu  Gottes  Lob, 
Ruhm  und  ewigem  Preis!  Und  gingen  von  mir.  Dalag  ich 
an  der  Kette  und  konnte  meinem  kleinen  Kind  nichts  tun, 
dass  ich  seinerwartete,  und  bat,  man  sollte  mich  in  meine 
andere  Stube  hinablegen,  dass  ich  meines  Kindes  dabei 
warten  könnte.  Da  gab  mein  Mann  einen  grossen,  vier- 
eckigen, eichenen  Klotz  her,  dassmandenKlobendarein 
schlagen  könnte,  und  legten  ihn  mir  an  die  Beine,  da 
musste  ich  den  Stock  überall  mitmir  herumtragen  in  dem 
Hause,  was  ichzutun  hatteüberall.EtlicheWochen  trug 

189 


ich  den  grossen,  schweren  Stockso  mit  mir  herum,  bisich 
nicht  mehr  daheim  bleiben  konnte,  da  trug  ich  denStock 
an  der  Kette  mit  der  Hand  und  angeschlossenem  Bein 
unter  dasTor ;  da  schlössen  sie  mich  ab,  trugen  den  Stock 
heim  und  schlössen  mich  an  den  Bettstollen  an,  dass  ich 
nicht  mehr  gehen  konnte,  taten  mir  eine  Kachel  aus  dem 
Ofen  heraus,  dass  ich  meinem  Kinde  seinen  Brei  in  der 
Stube  kochen  könnte.  Da  fing  mein  Leiden  gross  an,  wie 
Gott  zu  mir  geredet,  er  wolle  ein  Grosses  tun,  aber  ich 
hätte  ein  Schweres  vor  mir.  Wie  mich  nun  der  Herr  zu 
leiden  bereitet  und  zur  schweren  Last  bestellt,  wie  ich 
gezwungen  bin  worden  zum  Gehorsam,  des  Höchsten 
Willen  zu  tun,  istwundersam  zu  hörenundzuglauben. .. 
Über  eben  dieses  hatte  ich  auch  dieses  Gesicht :  Ich  hörte 
in  derStadt  die  armeSünderglockeläuten,  derMarktwar 
voller  Menschen,  und  man  führte  den  armen  Sünder  die 
Stadt  herab  mit  blossem  Haupt  und  will  den  Stab  über 
ihmbrechen,  dass  ergerichtet  werde;  da  kam  ich,  und  der 
arme  Sünder  erbarmte  mich  und  ich  fiel  auf  meine  Knie 
und  sprach :  Ach  Herr,  erbarme  dich  des  armen  Sünders, 
vergib  ihm  seineSünden  und  nimm  ihn  wieder  inGnaden 

an 

Ach  Herr  Jesus,  erbarme  dich  doch  wieder  über  uns;  es 
glaubtsdoch  niemand,  dass  du  so  sehr  zürnest,  und  wer 
fürchtet  sich  vor  deiner  Ungnade  überuns.^^  Herr,  deine 
Magd  weinet,  deine  Magd  flehet,  deine  Magd  seufzet, 
deine  Magd  betet ;  Tag  und  Nacht  trage  ich  Sorge  für  die, 
so  du  mir  gegeben  hast,  denn  sie  sind  alle  in  den  grossen 
Schuldturm  geworfen;  du  gerechter  Richter  Christus 
Jesus,  das  Kerbholz  hast  du  ganz  vollgeschnitten  von 
unserenSünden,daistkeineBezahlung,keineRechnung 

190 


nach  Ersetzung  der  grossen  Schuld ;  denn  dasVolk  ist  toll 
und  voll  geworden  in  ihrer  Hurerei.  So  und  auf  derglei- 
chen Art  betete  ich  für  das  Volk;  denn  ich  sah  im  Gesichte 
einenWirtinseineStubehineintreten,derhatteein  Kerb- 
holz, das  war  ganz  voll  angeschnitten,  und  um  Tisch  und 
Banksassen  und  lagen  lauter  vollgesoffene  Männer,  ein 
Teil  schliefen,  ein  Teil  wachten  und  derWirt  forderte  die 
Zeche;  und  ob  sie  sich  gleich  entschuldigten,  sie  hätten 
nichts,  drang  er  doch  auf  die  Bezahlung,  oder  sie  sollten 
ins  Gefängnis  geworfen  werden;  und  die  Männer  hatten 
weder  Hut  noch  Röcke,  noch  Schuhe  an  ihren  Füssen; 
da  erbarmten  mich diearmenLeuteundich bat  denWirt, 
ich  wolle  für  sie  bezahlen,  er  solle  nur  Geduld  mit  ihnen 
haben ;  da  gab  er  sich  zufrieden.  DerWirt  ist  Jesus  Chris- 
tus, die  Gäste  das  lutherisch  Volk,  meine  Fürbitte  jetzt 
beschriebenes  Gebet. 

Endlich  sah  ich  die  Stadt  als  ein  grosses,  schwangeres 
Weib,  deren  Zeit  herbeigekommen,  dass  sie  gebären 
sollte,  und  ihre  Ammenweiber  sassen  alle  um  sie  herum, 
undsiekonntendasKindnichtmit  ihr  gebären, und  muss- 
ten  Mutter  und  Kind  sterben  und  ewig  verderben  lassen. 
Da  gedachte  ich,  ich  darf  dies  Weib  nicht  so  verderben 
lassen  samt  dem  Kind,  und  machte  mich  zu  dem  Weib 
und  gebar  mit  ihr  ein  Knäblein,  das  brachte  ich  zu  Gott. 
Ich  musste  so  grosse  Schmerzen  leiden,  wie  das  Weib  in 
der  Geburt  mit  grossem  Geschrei ;  Gott  sei  gebenedeit 
und  hochgepriesen,  der  mir  hat  überwinden  helfen,  es 
hat  mein  Blut  mit  gekostet;  es  ist  diese  Geburt  nichts 
anderes  als  desSohnesGottes  Leiden  undSterben,  da  ich 
seinem  Bild  muss  gleich  werden.  Sein  Spottund  Gericht, 
Marter  und  Pein  ist  an  mir  wieder  völlig  vollbracht  wor- 

191 


den;  Ansbach  ist  wütend  über  mich  worden,  sie  wissen 
nicht,  wassie  tun,  siesind  trunken,ichfandsiesoimWirts- 
haus  der  Welt.  DiesKnäblein  aber  sind  alle  Seelen  der 
Menschen  in  der  ganzen  Stadt  zusammen  verbunden,  in 
einesKindesGestaltmirvorgestellt,das  hatoben  aus  dem 
Herzen  müssen  geboren  werden  und  nicht  wie  ein  leib- 
liches Kind  unten  aus  der  Mutter  brechen ;  dies  hat  eben 
aus  dem  Herzen  kommen  müssen  und  hatdiesaureArbeit 
mir  das  Blut  aus  der  rechten  Seite  gepresst,und  ein  Engel, 
so  im  Gesicht  bei  mir  war,  der  sprach ,  als  ich  darüber  er- 
schrak, es  müsste  also  sein,  eswürde  bald  besserwerden. 
MeineTochter,  so  ich  aisein  verlorenes  Kind  mitmeinem 
Mann  gezeugt  von  seinem  Samen,  und  dasKnäblein  von 
dem  schwangern  Weib  sind  eins;  da  bin  ich  siebenund- 
zwanzigWochenfürsieinKettenundBandengelegen,bis 
ich  siebeidezu  Gottgebracht,  und  damit  ich  für  dieandern 
Seelen  der  Menschen,  so  dasKnäblein  abgebildet,  desto 
eifriger  betete,  musste  mein  eigenes  Kind  in  dasBuch  des 
Lebens  so  lange  nicht  geschrieben  sein,  bis  ich  überwun- 
den und  versöhnt;  da  kamen  zwei  Engel  vom  Himmel 
herab,  schrieben  an  meines  Kindes  Wiege,  und  da  ich  sie 
fragte,  was  sie  da  machten,  antworteten  sie,  sie  täten  was 
sie  wollten,  da  wurde  meine  Tochter  und  das  Knäblein 
wieder  in  dasBuchdes  Lebensgeschrieben.  DieseBeiden 
sind  nun  desTestamentsund  Abbundes  Anfang  und  En- 
de; da  ichdas  Knäblein  geborenhatte,  ist  derDrache,  der 
Teufel  zornig  über  mich  worden  und  schoss  ein  grosses 
Wasser  aus  den  Wolken  nach  mir  und  wollte  mich  ersäu- 
fen, aber  die  Erde  tat  sich  auf  und  verschlangden  Wasser- 
strom; da  stieg  ich  in  den  Graben,  welcher  dies  Wasser 
verschlang,  und  schaute,  wie  tief  er  war,  und  er  reichte 

192 


mir  bis  an  die  Mitte  des  Leibes;  da  musste  ich  fliehen  vor 
dem  Drachen,  und  wurden  mir,  da  ich  zum  Fenster 
hinaus  sah,  viel  Federn  und  ganze  Flügel  darunter 
gezeigt,  und  stunden  etliche  Männer  von  Wedelsheim 
dabei,  die  sprachen,  komme  zu  uns;  da  nahm  ich  ein 
Messer  und  schnitt  die  eisernen  Ketten  entzwei  und  floh 
wahrhaftig  dahin  gegen  Wedelsheim,  fünf  Meilen  von 
Ansbach.  Wenn  ich  nicht  aus  dem  Weib  das  Kind  gebo- 
ren hätte,  so  würde  jetzt  kein  Mensch  mehr  selig;  die 
vorige  Erlösung  hat  ein  Ende,  denn  das  Kind  ist  alle 
Menschen  zugleich,  soviel  tausend  in  einem  einzigen  zu- 
sammen verbunden,  ein  Knäblein.  Freue  dich,  du  Toch- 
ter Zion,  Ansbach,  die  du  dein  Kind  geboren  und  keine 
Schmerzen  empfunden;  ich  trete  hier  die  Kelter  alleine 
und  ist  niemand  mit  mir  gewesen  — 
Noch  eines  sehet  an,  das  ich  mit  Jammer  habe  müssen 
innewerden, da  ich  noch  an  meinemKreuzindenKetten 
lag.  Es  war  im  Schloss  eine  Hochzeit  und  mein  Mann 
musste  daselbst  aufwarten  den  Gästen,  da  brachte  er  mir 
gutes  Essen  heim,  ich  sollte  es  essen ;  und  da  ich  gegessen 
hatte,  mussteich  des  Mannes  Willen  sein,  erüberwältigte 
mich,  ich  konnte  nicht  entlaufen  an  den  Ketten.  Auf  das- 
selbige  Mal  wurde  ich  aus  dem  Himmel  Verstössen,  dass 
ich  des  Mannes  Willen  gehorsamt;  ich  wusste  nicht,  dass 
ich  keinen  Mann  mehr  erkennen  durfte.  O  Herzeleid,  das 
ich  zwei  Tage  und  zwei  Nächte  erlitten,  da  ich  von  Gott 
Verstössen  war!  Es  kamen  im  Gesicht  die  Herren  vom 
Rathaus  zu  mir,  und  legten  mir  einen  Schraubstock  an 
meine  Finger  und  schraubten  an  und  sagten :  Warum  ich 
mich  zu  dem  Mann  gelegt.?^  Ich  sollte  es  nicht  mehr  tun. 
Und  ich  schrie  überlaut,  dass  ich  es  nicht  gewusst,  dass 

13   Buber,  Konfessionen 


ich  keinen  Mann  mehr  erkennen  dürfte,  und  sie  zwangen 
mir  meine  Hände  und  Finger  wie  einer  Übeltäterin.  Da 
Hess  ich  nicht  ab,  zwei  Tage  und  zwei  Nächte  zu  beten 
und  schreien,  weinen  und  heulen,  bis  ich  bin  wieder  auf- 
genommen worden  bei  dem  Vater  und  Sohn Bald 

nach  diesem  Jammer  erweckteGott  dieNatur  in  mir  und 
ich  wurde  zur  ehelichen  Liebe  mit  dem  Mann  begierig; 
und  mirerschienderMann,alswenn  ich  mit  ihm  scherzte; 
und  ich  sah  in  meinen  Garten  hinaus,  und  sah  einen 
schönen,  jungen  Baum  aufwachsen,  der  hat  mich  hoch 
erfreut.  Das  ist  die  Deutung,  dass  ich  in  derselben  Nacht 
bin  von  meines  Leibes  Samen  schwanger  worden,  und 
sollte  das  Kind  aufwachsen  in  der  Furcht  des  Herrn,  wie 
ein  junger,  schöner  Baum  in  einem  Garten  aufwächst, 
der  allen  Menschen  gefällt;  und  das  ist  geschehen.  Wie 
ich  von  des  Mannes  Samen  eine  Tochter  gebar,  die  hatte 
keine  Seligkeit  im  Himmel  gehabt  samt  dem  Knäblein 
ausdem  schwangern  Weib,  die  wardesTestaments  Ende 
und  Abbund ;  als  ich  aber  eine  Tochter  geboren  von  dem 
Samen  meines  Leibes,  die  sollte  in  der  FurchtGottes  auf- 
wachsen wie  ein  junger  Baum,  die  ist  in  der  Mutter  heilig 
und  selig,  und  bedeutet  einen  Muttersamen.  Mein  Same 
ist  heilig  und  selig,  aber  des  Mannes  Samen  wäre  ver- 
loren, wenn  ich  nicht  ihm  geholfen  und  ihn  versöhnt 
hätte. 

Bald  nach  derGeburtdesKnäbleinskam  der  Sohn  Gottes 
zu  mir  vor  mein  Fenster  und  sprach,  ich  sollt  ihm  ein 
Wasser  geben ;  da  ich  ihm  nun  Wasser  zum  Fenster  hin- 
ausgab, verwandelte  er  es  in  Wein  und  ich  trank  davon; 
da  merkte  ich,  dassdas  Wasser  Wein  worden,  und  ich 
gabs  ihm  wieder  zum  Fenster  hinaus,  da  machte  er  das 

194 


Geschirr  wieder  ganz  voll,  und  ich  trank  wieder  davon; 
da  war  der  Wein  noch  besser,  und  was  ich  heraustrank, 
das  war  gleich  wieder  ganz  voll.  Da  erkannte  ich,  dasses 
der  Sohn  Gottes  war;  und  wurden  mir  meine  Augen  ge- 
öffnet, und  ich  sprach  zu  ihm :  O  Herr  Jesus,  dies  Zeichen 
hast  du  mir  gegeben.  Da  sprach  der  Sohn  Gottes:  Ich  will 
dir  noch  mehr  Zeichen  geben,  verschweig  es  nicht.  Da 
sprach  ich :  O  Herr,  weil  du  mir  das  Zeichen  gegeben,  so 
will  ichs  dem  Stadtpfarrer  hintragen,  vielleicht  glaubt  er 
mirdestoeher.Undichredeteweitermitihmundsprach: 
Herr,  was  soll  ich  anheben  mit  dem  Volk.?  Sie  wollen  mir 
nicht  glauben,  dass  du  mich  zu  ihnen  gesandt.  Da  sprach 
der  Herr:  Sie  verfolgen  mich  wohl,  sie  verfolgen  mich  ge- 
nug. Ich  sprach:  Herr,  wo  gehest  du  hin,  wobei  soll  ich 
dich  erkennen,  dass  ich  nicht  verführet  werde,  der  Satan 
kann  sich  in  allerlei  Gestalt  verstellen.  Alsbald  war  er  bei 
mirin  der  Stube  und  stand  vor  mir;  und  ich  sah  ihn  an, 
und  er  stand  in  eines  Bauern  Gestalt  mit  einem  hohen 
Hut,  groben  Rock,  niedrigen  Schuhen  an  seinen  Füssen, 
freundlicher  Rede,  holdseligen  Gesichts.  Mein  Geist  hat 
sich  hoch  über  ihn  erfreut;  da  verschwand  er  wieder  vor 
mir,  und  ich  sah  ihn  nicht  mehr .... 
Ich  sah  ferner  ein  Gesicht,  als  ob  ich  an  meiner  Hochzeit 
mitmeinenGästen  auf  dasTanzhaus  ginge, und  ein  frem- 
derMannkamzumeinerHochzeitaufdasTanzhaus,und 
Sprach  auf  dem  Tanzhaus  überlaut:  Wo  ist  die,  die  so 
wohl  tanzen  kann.?*  Und  ich  gedachte,  ich  weiss  wohl, 
dass  ich's  bin,  wenn  er  mich  nur  sähe  vor  den  Leuten  und 
nähmekeineandere;daersichaberunterdenHochzeits- 
gästen  umgeschaut,  da  griff  er  nach  mir  und  tanzte  mit 
mir   einen  Reigen  und  verschwand  vor  unser  aller 

13* 

'95 


Augen;  da  weiss  ich  gewiss,  dass  Jesus  Christus  schon 
an  meinem  Hochzeitstag  zu  mir  gekommen  und  auf 
mich  gesehen  hat,  sich  aus  Liebe  und  Verbündnis  zu 
mir  gemacht  vor  allen  Hochzeitsgästen,  nach  derjenigen 
gefragt,  die  so  wohl  tanzen  kann ;  denn  in  meinen  jungen 
Jahren  habe  ich  unter  den  andern  Mägden  diesen  Ruhm 
gehabt,  und  da  ich  zehn  Jahr  in  der  Ehe  gelebt  habe,  da 
kam  mein  rechter  Himmelsschatz  und  Bräutigam  und 
verband  sich  mit  mir. 


196 


HEMME  HAYEN  (2.  Hälfte  des  17.  Jahrhunderts) 

Aus  seinem  Lebenslauf,  von  ihm  selbst  erzählt  und  von 
seinen  Freunden  treulich  aufgeschrieben  am  10.  Mai  i68<^ 

ALS  die  Zeit  meiner  Erleuchtung  herannahte,  war 
^  unser  ganzes  Hausgesind  mit  äusseren  Heimsu- 
chungen überschüttet.  Da  sagte  ichoftmalszumirselber: 
Wenn  Gott  uns  heimsucht,  denkt  er  an  uns . . .  Besonders 
aber  wurde  unser  Haus  mit  grossen  Krankheiten  ange- 
tastet in  eben  der  Woche,  da  mir  Gott  sein  Gnadenlicht 
offenbarte...  Da  begab  es  sich,  dass  mein  Sohn  sich  den 
Fuss  verrenkte.  Deswegen  entbot  ich  am  Sonnabend 
einen  Mann  von  den  Mennoniten  aus  Oldenborg,  einem 
Dorf  nahe  bei  Opgant  gelegen,  dass  er  den  Fuss  meines 
Sohnes  besehen  möchte  und  dass  ich  sogleich  mit  ihm 
von  seiner  Religion  sprechen  könnte.  Doch  als  er  am 
Sonntag  Vormittag  nach  Opgant  kam,  hatte  mich  Gott 
bereits  gnädiglich  mit  seinem  heilsamen  Licht  besucht. 
Denn  an  dem  Morgen  des  4.  Februar  1 666  kurz  vor  Tag 
wurde  ich  durch  die  Kraft  dieses  Lichtes  aufgeweckt  und 
meine  Gedanken  fielen  auf  bestimmte  Sprüche  aus  der 
Schrift,  dieich  sogleich  in  ihrem  geistigen  Sinne  verstand, 
und  ich  hatte  darin  ein  sehr  tiefes  Schauen,  wie  es  mir  zu- 
vor niemals  geschehen  war.  Ich  dachte  an  andere  Worte 
der  Heiligen  Schrift  und  verstand  auch  diese  alsbald  sehr 
klar.  Ja  worauf  nur  meine  Sinne  fielen,  das  begriff  ich  so- 
gleich auf  eine  geistliche  Weise  und  hatte  da  eine  über- 
natürliche,ganz  unaussprechliche  und  wohl  aufs  höchste 
übermenschliche  himmlische  Süssigkeit  und  eine  Ge- 
meinschaft mitdemallgemeinenWesen,sodassich  durch 
den  Überfluss  dieser  Freude  laut  aufschrie  und  mich 

197 


dessen  nicht  enthalten  konnte.  Da  stiess  ich  meine  Frau 
an  und  sagte  sofreudigwie  ich  war: » Kind  bist  du  wach?« 
Sie  aber  wunderte  sich,  dass  ich  so  fröhlich  sprach,  und 
sagte:  »Ja,  ich  wache  und  höre  dich  wohl.  Was  soll  ich 
tun.?«  Ich  antwortete:  »Nun  gibt  unser  lieber  Herr  mir, 
um  was  ich  ihn  so  lange  gebeten  habe. «  Hierüber  war  sie 
wie  ich  nicht  wenig  erfreut  und  selig  vergnügt  und  sag- 
te: »Ach  hast  du  das  nun  bekommen.f^  Das  ist  gut.  Aber 
warum  schreist  du  denn  so.?«  Ich  antwortete:  »Ich 
schreievor  grosser  Freude.«  Ich  bliebauch  die  ganze  Zeit 
unablässig  im  Schreien  und  die  Freudigkeit  war  sounaus- 
sprechlich  gross,  dass  ich  mich  des  Schreiens  nicht 
enthalten  konnte. 

Als  dies  nun  einige  Zeit  gewährt  hatte,  begann  es  allmäh- 
lich ein  wenignachzulassen, so  dassich  dann  aufstandund 
meine  Kleider  anzog,  was  ich  zuvor  wegen  der  grossen 
Herrlichkeit  dieser  Gnade  nicht  hätte  tun  können.  Indes 
kam  der  Mennonit  aus  Oldenborg,  sah  nach  dem  Bein 
meines  Sohnes,  verband  es,  und  weil  er  um  Mittag  ange- 
kommen war,  ass  er  mit  uns.  Nach  dem  Essen  ging  ich 
ein  StückWeges  mit  ihm  nach  seinem  Hause  zu  und  wir 
gerietenin  einGespräch  überJakob Böhme,damirdieser 
erleuchtete  Mannsehrim  Sinne  lag.  Alsbald  fragte  er  mit 
einerRedensart,dieunterdiesenLeutengebräuchlichist: 
»IstJakob  Böhme  auch  von  unseren  Leuten  gewesen.?« 
Seine  Meinung  war:  von  seiner  Religion.  Dies  verdross 
und  bekümmerte  mich  sehr,  dass  er  die  Gottseligkeit  an 
seine  Gemeinde  allein  binden  wollte.  Auch  verbarg  sich 
das  Licht  in  mir  während  der  Zeit,  da  wir  mit  einan- 
der redeten ;  aber  einige  Glut  blieb  noch  zurück.  Als  wir 
nun  Abschied  voneinander  genommen  hatten,  kam  ich 

198 


wieder  nach  Hause  und  wusste  nicht,  ob  hierauf  noch 
mehr  folgen  sollte;  aber  die  innere  Arbeit  wurde  so  stark, 
dass  ich  desWeges  dreiTagelangnichtausgehen konnte. 
Während  dieser  Tage,  vornehmlich  am  Montag  und 
Dienstag,warichüberausunruhig.Baldsassich  ein  wenig, 
bald  wandelte  ich  hin  und  wieder  durchs  Haus  und  war 
gleich  einerschwangeren  Frau,  die  gebären  sollte.  Es  war 
wie  eine  Pein  und  dennoch  mehr  eine  Süssigkeit  als  eine 
Pein  zu  nennen,  denn  es  war  keinVerdruss  dabei,  son- 
dern eine  seltsame  ganz  übernatürliche  Annehmlichkeit. 
Mein  Leibwardamals  innerlich  so  sehrdavonerfülltjdass 
ich  das  Bewegen  deutlich  fühlen  konnte. 
Am  Sonntag  Abend  ging  ich  zu  Bett  und  schlief  diese 
Nacht  über.  Am  Montag  stand  ich  bei  Zeiten  wieder  auf 
und  hielt  mich  von  allen  Geschäften  frei.  Und  als  ich  ein 
wenig  ermuntert  war,  las  ich  in  Jesaia  vom  5  5.  bis  zum 
6 1 .  Kapitel.  Da  verstand  ich  alles  nach  dem  innern  Grun- 
de und  sah  sehr  deutlich,  wie  der  Geist  Gottes  da  nicht 
allein  spricht  von  der  Ankunft  Christi  im  Fleische,  son- 
dern vornehmlich  von  seiner  Ankunft  nach  dem  Geiste. 
Denn  es  ging  mir  zur  Zeit,  wie  Paulus  sagt:  ich  kannte 
niemand  mehr  nach  dem  Fleische.  Ja  was  ich  las,  wurde 
mir  alsbald  hellscheinend  in  meinem  Gemüt  und  ich 
dachte  bei  mir  selber:  wie  bin  ich  doch  zuvor  so  blind  ge- 
wesen, dass  ich  dieses  nicht  habe  sehen  können.  Danach 
konnte  ich  eine  Zeitlang  nicht  mehr  lesen,  weil  meine 
innereArbeit  so  grosswar;  ichhabe  es  wohl versuchtaber 
vergebens. 

Diese  Gnade  wurde  je  länger  desto  grösser.  In  Sonderheit 
offenbarte  sie  sich  recht  stark  und  mit  grosser  Kraft  am 
Dienstag  in  einem  sehr  angenehmen  Geschmack  oder 

199 


besser  In  einer  unaussprechlichen  Süssigkeit,  so  wie  kein 
Ding  auf  der  Erde  sein  kann.  In  der  Nacht  von  Montag 
auf  Dienstag  und  in  der  von  Dienstag  auf  Mittwoch  hatte 
ich  gar  keinen  Schlaf,  ebenso  in  den  drei  folgenden  Näch- 
ten ;  ja  auch  in  der  Nacht  zwischen  Samstag  undSonntag 
schlief  ich  fast  garnicht.  Ich  hatte  bisweilen  wohl  einige 
sanfteSüssigkeiten  und  Erleichterungen,  allein  es  konnte 
kein  Schlaf  genannt  werden.  Die  hohe  Wirkung,  die  in 
meinem  Gemüte  war,  verursachte,  dass  ich  nicht  schla- 
fen konnte. 

Allein  ich  muss  nun  wieder  fortfahren  zu  erzählen,  was 
ich  übergangen  habe.  Als  am  Mittwoch  Morgen  die 
schwerste  Arbeit  für  diesmal  vorbei  war,  ging  ich  um  acht 
oderneun  Uhr  wiederum  einmal  nach  Marienhofen  um 
den  Prediger  Benjamin  Potinius  zu  besuchen.  Allein  sein 
Bruder,  der  Prediger  von  Dornum,  war  bei  ihm,  der  hin- 
derte mich  daran,  sogleich  mit  ihm  zu  sprechen,  so  dass 
ich  einige  Zeit  am  Feuer  bei  ihnen  sass,  wie  wohl  mit  Ver- 
druss,  denn  es  verlangte  mich,  den  Prediger  allein  zu 
sprechen  und  ihm  zu  erzählen,  was  sich  mit  mir  zugetra- 
gen hatte.  Da  begab  es  sich,  dass  des  Predigers  Söhnlein, 
ein  Kind  von  ungefähr  drei  Jahren,  mich  um  einen  Apfel 
ersuchte,  denn  es  war  gewohnt,  dass  ich  ihm  etwas  mit- 
brachte, wenn  ich  kam ;  doch  diesmal  hatte  ich  nicht  da- 
ran gedacht,  das  Gemüt  war  zu  voll.  Da  stand  der  Vater 
aufund  gingin  seineStudierstube  um  einen  Apfel  zu  holen, 
damit  ich  ihn  dem  Kinde  gebe.  Ich  folgte  ihm  sogleich 
in  seine  Studierstube  auf  dem  Fusse  nach  und  sagte 
sehr  fröhlich  und  eifrig,  denn  ich  konnte  mich  nicht 
zurückhalten:  »Herr  Prediger!  Nun  tut  unser  lieber 
Herr  mir  die  Gnade,  um  die  ich  ihn  so  lange  gebeten 

200 


habe.«  Er  sprach:  » Wie  denn,  Hemme  Hayen?«  Ich  sag- 
te :  » Weil  ich  nun  weiss  und  verstehe,  wie  ein  Mensch  zu 
Gott  kommen  kann  und  dass  es  nicht  an  den  Sekten  liegt, 
sondern  allein  daran,  dass  man  Gott  von  Herzen  suche. 
Und  was  das  tausendjährige  Reich  angeht,  wovon  wir 
letzthin  miteinander  sprachen,  als  ich  mich  darüber  ver- 
wunderte, dass  solche  Meinungen  in  der  Christenheit 
wären,  weil  ich  nichts  wusste,  davon  ist  mir  aufgegangen, 
dass  es  eine  Zeit  ist,  die  mit  und  unter  der  andern  Zeit 
durchgeht,  die  aber  von  denen  allein  empfunden  und  er- 
kannt wird,  an  denen  Gott  die  Gnade  tut.  Und  ich  habe 
nun  wohl  gesehen,  dass  viele  Menschen  sind",  die  wahr- 
haft und  wesentlich  diese  allerglückseligste  Zeit  leben.« 
Als  der  Prediger  dies  hörte,  wurde  er  dergestalt  bewegt, 
dass  ihm  die  Tränen  über  die  Backen  herunterliefen.  Ich 
schrie  auch  mit  ihm,  ja  ich  war  beinahe  niemals  ohne 
Schreien,  nur  wenn  ich  mich  gewaltsam  vor  den  Men- 
schen zurückhielt.  Wir  wischten  unsere  Tränen  ab  und 
gingen  wieder  in  die  Küche  zu  dem  andern  Prediger  ans 
Feuer.  Da  es  Mittag  war,  nötigte  mich  der  Prediger,  bei 
ihm  zu  essen,  was  ich  auch  tat.  Doch  von  dem  Tage  an 
habeich  inden  neun  folgendenTagen  und  Nächten  nichts 
gegessen,  nur  bisweilen  ein  wenig  Trank  gebraucht  zur 
Erquickung,  denn  Durst  hatte  ich  wohl  dann  und  wann. 
Dies  schien  mir  den  Durst  zu  bedeuten,  der  in  mir  nach 
der  Gerechtigkeit  war.  Deswegen  sagte  ich  zu  meinem 
Hausgesind :  » Ihr  Leute  solltet  auch  so  dürsten  nach  der 
Gerechtigkeit. «  Was  aber  die  Speise  angeht,  die  war  zu 
dieser  Zeit  für  mich  zu  grob. 

Während  wir  bei  dem  Prediger  am  Tische  sassen,  spra- 
chen die  beiden  Lehrer  über  verschiedene  Stellen  der 

201 


Schrift.  DIeskammirfremd  vor  undich  sagte  zumirselbst: 
Wie  ist  das?  Mit  diesen  Sachen  ist  es  ja  ganz  anders 
und  siesind  so  klar.  Wie  ist  es,dasssiedasnichtverstehen 
können  .f^ 

Nach  vollendeter  Mahlzeit  ging  ich  nach  Hause  und  ge- 
noss  beständig  eine  süsse  Gemeinschaft  mit  Gott.  Am 
nächsten  Tage,  es  war  der  Donnerstag,  kam  mir  in  den 
Sinn,  diese  fröhliche  Botschaft  auch  meinerSchwesterzu 
verkündigen,  die  zu  Engerhofen  eine  Stunde  südlich  von 
Opgant  wohnte. . .  Als  ich  hineinkam,  sah  ich  sie  beim 
Herdeund  siehatte  eine  Arbeit  inden  Händen.  Daserste, 
dass  ich  zu  ihr  sagte,  war :  » Schwester,  ich  bin  im  Him- 
mel I«  Denn  die  Freude  war  so  gross,  dass  ich  ausbrach 
und  mich  nicht  halten  konnte.. .  Wir  führten  liebliche 
Reden  miteinander  und  gegen  Abend  ging  ich  wieder 
nach  Hause  und  meine  Schwester  begleitete  mich  ein 
Stück  des  Weges.  Da  sagte  ich  zu  ihr:  »Es  ist  noch  eine 
Zeit  vormir,indermiretwas  Sonderbares  begegnensoll.« 
Ich  wusste  aber  selbst  nicht,  wie,  was,  oder  wann  es  sein 
oder  geschehen  sollte.  Ich  fühltees  nur  so  im  Gemüt  spie- 
len und  sprach  bisweilen  die  Worte  aus,  ehe  ich  es 
dachte. . . 

Ich  ging  nach  Hause,  ganz  empor  gehoben  von  Freuden, 
und  innerlich  über  die  Maßen  erfüllt  und  durchglüht, 
dass  ich  meinte,  ich  müsste  vergehen  von  der  Herrlich- 
keit. Denn  der  Leib  war  zu  schwach,  diesen  Glanz  zu  er- 
tragen. Dabat  ich  und  sagte :  » Herr,  nicht  mehr,  oderich 
muss  zerbersten!«  Und  so  ging  ich  in  Süssigkeit  weiter 
nach  Hause.  Es  war  damalsauf  das  Höchste  gekommen, 
und  hätte  auch  meiner  leiblichen  Schwäche  nach  nicht 
höher  sein  dürfen. 

202 


Aisich  nach  Hause  kam, fand  ichunsereLeutezuBettund 
setzte  mich  auch,  mich  auszukleiden.  Da  wurde  mir  als- 
bald seitwärts  vom  Feuerherd  auf  einem  platten  Back- 
stein ein  kreisrundes  Ding  wie  ein  Reichstaler  gross  ge- 
zeigt, das  ganzhell  und  klar  von  Licht  warwieein  Kristall. 
Darüber  erfreute  sich  mein  Gemüt  aufs  neue.  Doch  zwei- 
felte ich,  ob  dies  etwas  Besonderes  oder  Gewöhnliches 
sei,  und  ging  ans  Fenster  zusehen,  ob  es  durch  den  Mond 
Verursachtsein  könnte.  Allein  als  ich  mich  recht  bedach- 
te, wusste  ich,  dass  der  Mond  nicht  schien.  Da  ging  ich 
wiederdarauf  zu  und  besah  esmit  grosser  Verwunderung 
und  es  wurde  mir  innerlich  sehr  deutlich  gesagt : » Dasist 
einTeilchenvon  der  neuen  Erde.«  Nachdem  ich  oftmals 
rund  herum  gegangen  war  und  es  genug  besehen  hatte, 
kam  es  vor  meinen  Augen  wieder  weg. 
Seht,  diese  und  die  vorigen  Dinge  erweckten  immerneue 
Verwunderung  in  mir.  Ich  überlegte  die  grossen  Dinge 
und  stellte  wieder  meine  Kleinheit  dagegen.  Dann  ging 
ich  zu  Bett.  In  einer  dieser  Nächte,  ich  weiss  nicht  mehr 
in  welcher,  bekam  ich  eine  ganz  süsse  Empfindlichkeit 
an  den  äusseren  Sinnen.  Das  Gesicht  wurde  sehr  hell  und 
dasGehör  so  lieblich,  dass  der  Klang,  den  ich  da  hörte,  alle 
weltlichen  Melodien  unvergleichlich  übertraf  und  hin- 
reichend bewies,  dass  er  himmlisch  war. . .  Alles  war 
himmlisch  und  ganz  vollkommen,  sodass  man  dies  nie- 
mandem so  erzählen  kann,  wie  es  geschehen  ist.  Nur  die 
esselbereinmal  erfahren  oder  erfahren  haben,  können  es 
verstehen. 

Am  nächsten  Tage,  Freitag  morgens,  sobald  der  Tag  an- 
brach, sagte  ich  zu  meiner  Frau:  »Stehe  auf  und  mach 
ein  grosses  Feuer  an.  Denn  mir  ist  gezeigt,  dass  heute  et- 

203 


was  Wunderbares  geschehen  soll.«  Ichwusste  nicht  ei- 
gentlich,was;  allein  dass  etwas  kommen  sollte,  das  hatte 
mir  derGeistschon  kund  getan.  Darauf  standmeineFrau 
auf  und  tat  es.  Ich  stand  auch  alsbald  danach  auf,  kleidete 
mich  an  und  setzte  mich  ans  Feuer.  Und  zurStundewur- 
de  in  mir  ein  Zwiegespräch,  wie  zwischen  einem  Vater 
und  einem  Sohn,daswohldrei  Stunden  währte,  sehrklar 
und  stimmlich,  und  alles  musste  ich  mit  meiner  natür- 
lichenZungeaussprechen  und  beantworten.  MeineHaus- 
genossen,  die  dabei  waren,  hörten  die  göttliche  Sprache 
nicht,  wiewohl  sie  sehr  stark  und  unterschiedlich  in  mir 
geschah,  und  darum  musste  ich  sie  nachsprechen.  Dies 
Gespräch  ging  ohne  das  geringste  Nachdenken  so  leben- 
dig und  munter  weiter,  dass  es  nicht  auszusprechen,  zu 
begreifen,  noch  zu  glauben  ist.  Es  war  auch  im  Klange 
unterschieden,  anders  die  Stimme  des  Vaters,  anders  die 
des  Sohnes.  Der  allererste  Anfang  ging  sanft  inwendigvor 
sich,  nicht  stimmlich,  und  hernach  wurde  es  stimmlich. 
. . .  Der  Sohn,  das  ist  der  neue  Mensch,  der  in  mir  wieder- 
geboren war,  sagte :  » Vater,  spielst  du  so  mit  deinen  Kin- 
dern.? Bistduunssonahe.f^  wie  bist  duuns  dann  zuvor  so 
weit  entfernt  gewesen.?«  Der  Vater  antwortete:  »Ich  bin 
allezeit  bei  dir  gewesen.  Allein  was  dünkt  dich  wohl  von 
diesen  Dingen.?«  Dasagteich:  »Herr,  du  weisstes.  Und 
ich  vertraue,  dass  du  allein  dies  bist  und  dies  tust,  und 
kein  anderer.« 


204 


ANNA  KATHARINA  EMMERICH  (1774— 1824) 

DER  Engel  ruft  mich  und  führt  mich  dahin  und  dort- 
hin. Gar  oft  bin  ich  mit  ihm  auf  der  Reise.  Er  bringt 
mich  zu  Menschen,  die  ich  kenne  oder  einmal  gesehen 
habe ;  aber  auch  zu  solchen,  welche  mir  sonst  ganz  unbe- 
kannt sind.  Er  bringt  mich  selbst  übers  Meer;  aber  das  ist 
schnell  wie  ein  Gedanke,  und  ich  sehe  dann  so  weit,  so 
weit!  Er  war  es,  der  mich  zur  Königin  von  Frank- 
reich in  ihr  Gefängnis  geführt  hat.  Wenn  er  zu  mir 
kommt,  mich  auf  irgend  eine  Reise  zu  leiten,  sehe 
ich  meist  zuerst  einen  Glanz  und  dann  tritt  eine  Ge- 
staltplötzlich leuchtend  aus  der  Nacht,  wie  etwa  wenn 
eine  Blendleuchte  auf  einmal  in  der  Nacht  geöffnet  wird. 
Wenn  wir  reisen,  ist  esNacht  über  uns;  an  der  Erde  aber 
fliegt  Schimmer.  Wir  reisen  von  hier  durch  bekannte 
Gegenden  nach  immer  ferneren  aus,  und  ich  habe  die 
Empfindung  ungemeiner  Entfernung.  Bald  geht  es  auf 
geraden  Strassen,  bald  quer  über  Felder,  Berge,  Flüsse 
und  Meere.  Ich  muss  allen  Weg  mit  den  Füssen  messen, 
oft  mit  Anstrengung  selbst  Berge  hinanklimmen.  Meine 
Kniesind  dann  schmerzlich  ermüdet,  meine  Füsse  bren- 
nen, ichbin  immerbarfüssig.  Bald  mir  voraus,  baldneben 
mirschwebtmeinFührer.  Nieseheich,  als  bewegteerdie 
Füsse.  Er  ist  sehr  schweigsam,  ohne  viele  Bewegung, 
ausser  dass  er  seine  kurzen  Antworten  mit  derHandoder 
mit  dem  Neigen  des  Kopfes  begleitet.  Er  ist  so  durchsich- 
tig und  glänzend,  oft  ganz  ernst,  oft  mit  Liebe  gemischt. 
Seine  Haare  sind  schlicht,  fliessend  und  schimmernd.  Er 
ist  ohne  Kopfbedeckung  und  trägt  einen  langen,  blond 
schimmernden  Priestertalar.Ichredemitihmganzdreist, 

205 


allein  ich  kann  ihm  nie  recht  in  das  Gesicht  sehen,  so  ge- 
beugtbinichvorihm.  ErgibtmiralleWeisung.  Ichscheue 
mich,  ihn  viel  zu  fragen ;  es  hindert  mich  das  selige  Genü- 
gen, wenn  ich  bei  ihm  bin.  Er  ist  seinen  Worten  nach 
immerso  kurz.  Ich  sehe  ihn  auch  in  wachendem  Zustan- 
de. Wenn  ich  für  andere  bete  und  er  ist  nicht  bei  mir,  so 
rufeich  nach  ihm,  dass  er  zum  Engel  der  anderen  gehe. 
Oft  auch  sage  ich,  wenn  er  bei  mirist,  nun  will  ich  bleiben, 
gehe  du  da  und  da  hin  und  tröste!  und  ich  sehe  ihn  hin- 
wandeln. Komme  ich  an  grosse  Wasser  und  weiss  nicht, 
wie  hinüber,  bin  ich  auf  einmal  drüben  und  sehe  verwun- 
dert rückwärts. 

Ich  wusste  nichts  von  mir,  ich  dachte  nur  an  Jesum  und 
meine  heiligen  Gelübde.  Meine  Mitschwestern  verstan- 
den mich  nicht.  Ich  konnte  ihnen  meinen  Zustand  nicht 
erklären.  Ich  war  mitten  darin.  Jedoch  hatte  Gott  noch 
viele  Gnaden,  die  er  mir  erwies,  vor  ihnen  verborgen, 
sonst  würden  sie  ganz  irran  mir  geworden  sein.  Bei  allen 
Schmerzen  und  Leiden  war  ich  nie  in  meinem  Innern  so 
reich.  Ich  war  überglückselig.  Ich  hatte  einen  Stuhl  ohne 
Sitz  und  einen  Stuhl  ohne  Lehne  in  meiner  Zelle,  und  sie 
war  doch  so  voll  und  prächtig,  dass  mir  oft  der  ganzeHim- 
mel  darin  zu  sein  schien.  Wenn  ich  aber  manchmal 
nachts  in  meiner  Zelle  von  der  Liebe  und  Barmherzigkeit 
des  Herrn  hingerissen  in  trunkener  vertraulicher  Rede 
gegen  ihn  ausbrach,  wie  ich  es  von  Kind  auf  getanhabe, 
und  ich  wohl  belauert  ward,  ward  ich  grosser  Keckheit 
und  Vermessenheit  gegen  Gott  beschuldigt,  und  da  ich 
einmal  unwillkürlich  erwiderte,  es  scheine  mir  eine  grös- 
sere Vermessenheit,  den  Leib  des  Herrn  zu  empfangen, 

206 


ohne  so  vertraut  mit  ihm  gesprochen  zu  haben,  ach  da 
wurde  ich  sehr  ausgeschmäht.  Bei  alledem  lebte  ich  mit 
Gott  und  all  seinen  Geschöpfen  in  seligem  Frieden.  Wenn 
ich  im  Garten  arbeitete,  kamen  die  Vögel  zu  mir,  setzten 
sich  mir  auf  den  Kopf  und  die  Schultern  und  wir  lobsan- 
gen Gott  zusammen.  Ich  sah  meinen  Schutzengel  immer 
an  meiner  Seite,  und  so  viel  auch  der  böse  Feind  gegen 
mich  hetzte,  ja  mich  selbst  mit  Foltern,  Schlagen  und 
Werfen  misshandelte,  konnteer  mirdochkeinengrossen 
Schaden  tun,  ich  hatte  immer  Schutz  und  Hilfe,  und  Vor- 
warnungen. Meine  Sehnsucht  nach  dem  heiligen  Sakra- 
mente war  so  unwiderstehlich,  dass  ich  oft  nachts  im 
Schlafe  zu  ihm  hingezogen  meine  Zelle  verliess,  und  in 
der  Kirche,  so  sie  offen  war,  oder  an  der  verschlossenen 
Kirchentüre,  oder  an  der  Kirchenmauer  selbst  im  stren- 
gen Winter  mit  ausgebreiteten  Armen  in  Erstarrung 
kniete  oder  lag,  und  so  von  dem  Priester  des  Klosters, 
der  barmherzig  früher  kam,  mir  die  heilige  Kommunion 
zu, reichen,  gefunden  wurde.  Wie  er  aber  nahte  und  die 
Kirche  öffnete,  erwachte  ich  und  eilte  an  die  Kommu- 
nionbank, und  fand  meinen  Herrn  und  Gott.  In  meinen 
Verrichtungen  als  Küsterin  wurde  meine  Seele  oft  plötz- 
lich wie  weggerisssn,  und  ich  kletterte,  stieg  und  stand  in 
der  Kirche  auf  hohen  Stellen,  an  Fensterblenden,  Vor- 
sprüngen und  Bildwerk,  wo  es  menschlicher  Weise  hin- 
zugelangen unmöglich  schien.  Da  reinigte  ich  und  zierte 
dann  alles.  Immer  war  mir,  als  seien  gütige  Geister  und 
Wesen  um  mich,  die  mich  oben  hielten  und  mir  halfen. 
Ich  hatte  keinen  Arg  darüber,  ich  war  es  von  Kind  auf  ge- 
wohnt, ich  war  nie  lang  allein.  Wir  taten  alles  so  lieblich 
mitsammen.  Nur  unter  manchen  Menschen  war  ich  so 

207 


allein,  dass  ich  weinen  musste,  wie  ein  Kind  das  heim 
will. 

Ich  sah  unendlich  Vieles,  was  sich  gar  nicht  aussprechen 
lässt.  Wer  kann  mit  der  Zunge  sagen,  was  eranderssieht, 
als  mit  den  Augen? . . . 

Ich  sehe  das  nicht  mit  den  Augen,  sondern  es  ist  mir,  als 
seheich  es  mit  dem  Herzen,  so  mitten  in  der  Brust.  Es 
bricht  mirauch  da  der  Schweiss  aus.  Ich  sehe  durch  die 
Augen  zugleich  die  Gegenstände  und  Personen  um  mich 
her;  aber  sie  kennen  mich  nicht,  ich  weiss  nicht,  wer  und 
was  sie  sind.  Ichbinjetztnochschauend,daichspreche... 
Seit  einigen  Tagen  bin  ich  stets  zwischen  sinnlichem  und 
übersinnlichem  Sehen.  Ich  muss  mir  sehr  Gewalt  antun ; 
denn  mitten  im  Gespräch  mit  Anderen  sehe  ich  auf  ein- 
mal ganz  andere  Dinge  und  Bilder  vormir  und  vernehme 
dann  meine  Rede,  wie  die  eines  anderen,  der  aus  einem 
hohlen  Fasse  grob  und  dumpfig  spricht.  Es  ist  mir  auch, 
als  wäre  ich  berauscht  und  könnte  fallen.  Meine  Rede 
gegen  die  Sprechenden  geht  ruhig  und  oft  lebhafter  als  ge- 
wöhnlich fort,  ohne  dass  ich  nachher  weiss,  was  ich  ge- 
sprochen, und  doch  rede  ich  ganz  in  der  Folge.  Ich  muss 
mich  mit  Mühe  in  diesem  Doppel-Zustand  halten.  Ich 
sehe  mit  den  Augen  das  Gegenwärtige  trüb  wie  ein  Ein- 
schlummernder, dem  der  Traum  aufsteigt.  Das  zweite 
Sehen  will  mich  mit  Gewalt  hinreissen  und  ist  heller  als 
das  natürliche;  aber  es  ist  nicht  durch  die  Augen. 

Als  sie  einmal  ein  Gesicht  erzählt  hatte,  legte  sie  ihre  Ar- 
beit weg  und  sagte:  Ich  bin  den  ganzen  Tag  so  fliegend 
und  sehend,  dass  ich  immer  bald  den  Pilger  [Brentano] 

208 


sehe,  bald  nichtsehe.  Höret  er  dann  nicht  singen?  Es  ist 
mir,  als  sei  ich  auf  einer  schönen  Wiese  und  als  wölbten 
sich  Bäume  über  mir.  Ich  höre  es  so  wunderbar  schön 
singen,  als  seien  es  süsse  Kinderstimmen.  Es  ist  mir,  als 
sei  die  nahe,  wirkliche  Umgebung  ein  Traum ;  es  scheint 
in  ihr  alles  so  trüb,  undurchsichtig  und  unzusammen- 
hängend, dass  sie  ein  roher  Traum  scheint,  zwischen 
dem  ich  eine  lichte,  durch  und  durch  verständliche  und 
immer  bis  in  den  innersten  Ursprung  und  Zusammen- 
hang aller  Erscheinungen  verständliche  Welt  schaue, 
in  welcher  das  Gute  und  Heilige  tiefer  ergötzet,  weil  man 
seinen  Weg  aus  Gott  und  in  Gott  erkennt,  und  in  welcher 
alles  Böse  und  Unheilige  tiefer  betrübt,  weil  man  seinen 
Weg  aus  dem  Teufel  und  in  den  Teufel  und  gegen  Gott 
und  die  Kreatur  erkennt.  Dieses  Leben,  in  welchem  ei- 
nen nichts  hindert,  nicht  Zeit,  nicht  Raum,  kein  Körper, 
keine  Verschwiegenheit,  wo  alles  spricht  und  allesleuch- 
tet,  scheint  so  vollkommen  und  frei,  dass  dieblinde,  lah- 
rne,  stammelnde  Wirklichkeit  ein  leererTraum  darin  er- 
scheint. 

In  diesem  Gebete  wurde  ich  ruhig  und  ich  sah  ein  Antlitz 
mir  nahen,  in  meine  Brust  eingehen,  als  verschmelze  es 
mit  mir.  Und  es  war  mir,  als  gehe  meine  Seele  in  diesem 
Einswerden  mit  dem  Antlitz  in  sich  zurück  und  werde 
immerkleiner,und  mein  Leib  erschien  miralseingrosses, 
plumpes  Wesen,  gross  wie  ein  Haus.  Das  Antlitz,  die  Er- 
scheinung in  mir  schien  wie  dreifaltig,  ward  unendlich 
reich  und  mannigfaltig  und  war  doch  immer  eins.  Esging 
(d.  h.  seineStrahlen,  seine  Blicke)  in  alle  Chöre  der  Engel 
und  Heiligen  auseinander.  Ich  empfand  Trost  und  Freu- 

14    Buber,  KoDfesstonen 


de  darüber  und  dachte :  sollte  dies  Alles  wohl  vom  bösen 
Feinde  sein?  Und  indem  ich  dies  dachte,  zogen  alle  Bil- 
der klar  und  deutlich,  wie  ein  Zug  lichter  Wolken,  noch- 
mals durch  meineSeele  durch, undichfühlte,dasssienun 
ausser  mir,  zu  meiner  Seite  in  einem  lichten  Kreise  stan- 
den. Ich  fühlte  auch,  dass  ich  wieder  grösser  war  und 
mein  Körper  mir  nicht  mehr  so  plump  erschien.  Es  war 
nur  wie  eine  Welt  ausser  mir,  in  welche  ich  durch  eine 
LichtöfFnung  hineinschauen  konnte. . . 

Die  Art,  wie  man  im  Gesicht  Mitteilung  von  seligen  Gei- 
stern empfängt,  ist  schwer  zu  sagen.  Alles,  was  gesagt 
wird,  ist  ungemein  kurz.  Mit  einem  Worte  erfahre  ich 
mehr,  als  sonst  mit  dreissig.  Man  schaut  den  Begriff  der 
Redenden,  sieht  aber  nicht  mit  den  Augen,  und  doch  ist 
Allesklarer,  deutlicher  als  jetzt.  Man  empfängt  es  mit  ei- 
ner Lust,  wie  kühles  Windwehen  im  heissen  Sommer. 
Man  kann  es  mit  Worten  nie  ganz  wiedersagen. . . . 
Alles,  was  diese  arme  Seele  mir  sagte,  war  zwar  auch  kurz, 
wie  in  allen  solchen  Mitteilungen,  doch  hatdas  Verstehen 
bei  der  Rede  der  Seele  im  Reinigungsort  eine  grössere 
Schwierigkeit;  ihre  Stimme  hat  etwas  Dumpfes,  als 
schalle  sie  durch  eine  den  Ton  trübende  Hülle,  oder  als 
wenn  einer  aus  einem  Brunnen,  einem  Fasse  spricht.  Zu- 
gleich ist  der  Sinn  schwerer  zu  fassen  und  ich  muss  viel 
genauer  achtgeben,  als  wenn  mein  Führer,  oderderHerr, 
oder  ein  Heiliger  spricht;  dann  ist  es,  als  wenn  die  Worte 
Einen  wie  ein  klarer  Luftstrom  durchströmen,  und  man 
sieht  und  weiss  alles,  was  sie  sagen.  Ein  Wort  stellt  mehr 
in  unsere  Seele,  als  eineganze  Rede. . . . 


210 


Am  25.  Juli  1821  rief  Anna  Katharina  dem  Pilger  zu: 
T>  DerPilger  ist  ohne  Feierlichkeit  und  betet  in  Angst  alles 
durcheinanderganzkurz.Oftseheich  durch  seinen  Kopf 
allerlei  böse  Gedanken  laufen;  sie  sehen  aus,  wie  ganz 
wunderliche  garstige  Tiere!  Er  fängt  sie  nicht,  treibt  sie 
auch  nicht  schnell  fort;  es  ist,  als  wäre  er  sie  gewohnt.  Sie 
laufen,  quer  durch,  wie  durch  einen  gebahnten  Weg.« 
DerPilger  bemerkte  hierzu : » Das  ist  sehr  wahr  leider! « . 

Ich  sehe  aus  dem  Munde  der  Betenden  eine  Linie  von 
Worten  wie  einen  feurigen  Strahl  hervorgehen  und  zu 
Gott  empordringen .  Ich  sehe  und  erkenne  in  den  Worten 
die  Art  der  Schriftzüge  des  Betenden  und  lese  Einzelnes. 
Die  Schrift  ist  bei  jedem  Menschen  verschieden.  In  dem 
Strome  selbst  wird  einzelnes  flammender,  anderes  blas- 
ser, bald  weitläufiger,  bald  reissender  und  enger.  Kurz, 
es  ist  so,  wie  man  schreibt. 


21 1 


ANHANG 


AUS  DEM  MAHABHARATAM 

NUN  aber  will  ich  euch  verkündigen  jene  ein  verbor- 
genes Dasein  bewirkende,  selige  Einkehr,  welche 
in  der  Mitte  aller  Wesen  erfolgt  durch  milde  oder  rauhe 
Mittel. 

Das  Verhalten,  welchem  Tugend  nicht  mehr  für  Tugend 
gilt,  welches  ohne  Anhänglichkeit,  einsam  und  frei  von 
denUnterschieden  ist, diesesganzinBrahman  aufgehende 
Verhalten  nennt  man  das  auf  die  einzige  Stätte  gerichtete 
Glück. 

Der  alsWeiser  dieBegierde  von  überallher  in  sich  zurück- 
zieht wie  die  Schildkröte  ihre  Glieder,  ein  solcher  leiden- 
schaftsloser und  nach  allen  Seiten  freier  Mann  ist  immer- 
fortglücklich;dieBegierdeninseinInnereszurücktragend, 
den  Durst  vernichtend,  absorbirt  und  gegen  alle  Wesen 
wohlwollend  und  freundlich,  wird  er  tauglich  zum  Brah- 
mansein. 

Durch  Niederhaltung  aller  nach  den  Dingen  trachtenden 
Sinnesorgane  wird  in  dem  Muni  [Schweiger,  Einsiedler], 
indem  er  die  Wohnstätten  der  Menschen  meidet,  das 
Feuer  des  eigenen  Selbstes  entzündet. 
So  wie  das  durch  Brennholz  entflammte  Feuer  mit 
grossem  Scheine  aufleuchtet,  so  wird  durch  Niederhal- 
tung der  Sinnesorgane  der  grosse  Atman  [das  Selbst]  auf- 
leuchten. 

Wenn  einer  alle  Wesen  mit  ruhigem  Selbst  in  seinem 
eigenen  Herzen  schaut,  dann  dient  er  sich  selbst  als  Licht 
und  gelangt  aus  dem  Verborgenen  zu  dem  allerhöchsten 
Verborgenen. 
Seine  Sichtbarkeit  ist  Feuer,  sein  Fliessendes  ist  Wasser, 

21  3 


seine  Fühlbarkeit  ist  Wind,  sein  scheussliches  Schmutz- 
tragendes ist  Erde  und  sein  Hörbares  ist  Äther; 
von  Krankheit  und  Leid  ist  er  erfüllt,  von  den  fünf  Strom- 
pforten [den  fünf  Sinnen]  umgeben,  aus  den  fünf  Elemen- 
ten zusammengeflochten, mit  neunToren,vonzwei  Göt- 
tern [der  höchsten  und  der  individuellen  Seele]  bewohnt, 
unsauber,  unansehnlich,  dreigunahaft[guna:  Qualität], 
dreigrundstoffhaft  [Schleim,  Galle,  Wind],  berührungs- 
süchtig und  voUTorheit,  —  das  ist  der  Leib,  das  ist  ge- 
wiss. 

Überall  in  dieser  Welt  schwer  zu  behandeln  und  die  In- 
telligenz als  Stütze  habend,  rollt  der  Leib  in  dieser  Welt 
aufdem  Wagen  der  Zeit  dahin. 

Diesen  furchtbaren,  unergründlichen,  grossen  Ozean, 
der  da  heisst  Verblendung,  soll  man  abtun,  soll  man  ver- 
nichten und  die  unsterbliche  Welt  in  sich  zum  Erwachen 
bringen. 

Begierde,  Zorn,  Furcht,  Habsucht,  Tücke  und  Unwahr- 
heit, diese  alle  wirft  er  durch  Unterwerfung  der  Sinnes- 
organe ab,  obgleich  sie  schwer  abzuwerfen  sind. 
Wer  diese,  die  Dreigunahaften,  Fünfelementhaften  in 
der  Welt  überwunden  hat,  dessen  Stätte  ist  im  Himmel, 
dem  wird  Unendlichkeit  zuteil. 

Ihm,  der  die  fünf  Sinne  als  grosse  Ufer,  der  den  Drang  des 
Manas  als  mächtige  Strömung  hat,  den  Fluss,  der  sich 
zum  See  der  Verblendung  ausbreitet,  soll  man  durch- 
schwimmen und  beides  überwinden,  die  Begierde  und 
den  Zorn. 

Dann  schaut  man,  befreit  von  allen  Gebrechen,  jenes 
Höchste,  dessen  Manas  [hier:  Wille]  in  seinem  Manas 
einschliessend  und  das  Selbst  in  seinem  Selbst  schauend. 

214 


In  allen  Wesen  allwissend,  findet  er  in  seinem  Selbst  das 
Selbst,  indem  er  sich  in  eines  oder  in  viele  wandelt,  bald 
hier,  bald  dort. 

Dann  durchschaut  er  völlig  dieGestalten,  sowie  man  mit 
einer  Fackel  hundert  Fackeln  entzündet,  dann  ist  er 
Vishnu  und  Mitra,  Varuna,  Agni  und  Prajäpati  [die  Göt- 
ter]; 

dann  ist  er  Schöpfer  und  Ordner,  der  Herr,  der  Allgegen- 
wärtige, dann  wird  er  als  das  Herz  aller  Kreaturen,  als 
der  grosseÄtman  erstrahlen ;  dann  werden  ihm  Brahma- 
nenscharen,  Götter,  Dämonen,  Halbgötter,  Unholde, 
Manen  und  Vögel,  Koboldscharen,  Gespensterscharen 
und  alle  grossen  Weisen  für  und  für  lobsingen. 


215 


WORTE  LAO-TSES  UND  SEINER  SCHÜLER 
(6.  und  5 .  Jahrhundert  v.  Chr.) 

Aus  dem  Buche  des  Wen-tse 

WER  die  grosse  allgemeineHarmonledurchdringt, 
hält  sich  zurückgezogen  wie  einer,  der  von  einem 
edlenWeine  trunken  ist  und  sich  infreundlichenCefühlen 
niederlegt.  Er  bewegt  sich  in  dieser  unermesslichen  Har- 
monie als  wäre  er  nie  aus  dem  Schöpfungsgrunde  der 
Wesen  gegangen.  Dieses  nennt  man  die  grosse  Durch- 
dringung. 

Dieses  ist  das  Tun  des  Heiligen.  Es  regt  sich  der  vollkom- 
menen Leere  zu.  Er  ergeht  sein  Herz  in  dem  unbedingten 
Nein.  Er  schreitet  aus  allem  Räume  hinaus.  Er  nimmt 
seinen  Weg  wo  keine  Pforteist.  Erhört  was  keinen  Klang 
hat.  Er  sieht  was  keine  Gestalt  hat.  Er  haftet  nicht  an  der 
Zeit.  Er  hat  keine  Gemeinschaft  mit  den  Ungeweihten. 
So  bewegt  er  die  Welt. 

Aus  den  Büchern  des  Tschuang-tse 

Die  Menschen  der  höchsten  Geistigkeit  steigen  zum 
Lichte  auf,  und  das  Körperhafte  entschwindet.  Dieses 
nennen  wir  hell  und  himmelhaft  sein.  Sie  bringen  die 
Kräfte,  mit  denen  sie  begabt  sind,  zum  Äussersten  empor 
und  lassen  nicht  eine  einzige  Eigenschaft  unerschöpft. 
Ihre  Freude  ist  die  von  Himmel  und  Erde,  und  die  Bin- 
dungen der  Sachen  schmelzen,  vergehen;  alle  Dingekeh- 
ren zum  eigenen  Wesen  zurück.  Dasistwasgenanntwird: 
das  Dunkel  des  Chaos. 

216 


Nach  drei  Tagen  schied  er  sich  vom  Irdischen  ab. 
Nach  sieben  Tagen  löste  er  sich  von  allen  Dingen. 
Nach  neun  Tagen  schritt  er  aus  seinem  Sein  hinaus. 
Danach  ward  sein  Geist  strahlend  wie  der  Morgen,  und 
er  schaute  das  Wesen ,  sein  Ich ,  von  Angesicht  zu  Ange- 
sicht. 

Als  er  geschaut  hatte,  wurde  er  ohne  Vergangenheit  und 
Gegenwart. 

Er  betrat  das  Reich,  wo  kein  Tod  und  kein  Leben  ist,  wo 
man  das  Leben  töten  kann  ohne  sterben  zu  machen  und 
es  erzeugen  ohneleben  zu  machen,  wo  nichts  ohne  seine 
Vollendung  ist. 

Tse-tschi  von  Nan-kuo  sass  über  einen  Tisch  gelehnt.  Er 
sah  zum  Himmel,  atmete  leicht  und  schien  entrückt 
zu  sein,  als  wären  Leib  und  Seele  geschieden.  Yen 
TschengTse-yü,  der  vor  ihm  stand,  rief:  »Was  ist  dies, 
dass  dein  Körper  wie  ein  dürrer  Baum  wird  und  dein 
Geist  wie  tote  Asche.^*  Wahrlich,  der  Mann,  der  jetzt 
über  den  Tisch  lehnt,  ist  nicht  der,  der  vordem  hier  war. « 
Tse-tschi  sprach:  »Du  fragst  zu  Recht,  Yen.  Ich  hatte 
mich  selber  begraben.  Aber  wie  kannst  du  das  ver- 
stehen.? Du  magst  die  Musik  des  Menschen  gehört  ha- 
ben, aber  nicht  die  Musik  der  Erde.  Du  magst  die 
Musik  der  Erde  gehört  haben,  aber  nicht  die  Musik  des 
Himmels.« 

Aus  dem  Buche  der  steten  Reinheit  und  Ruhe 

Wer  sich  loszumachen  vermag,  der  schaut  innen  in  sich 
sein  nacktes  Herz,  und  dieses  Herz  ist  nicht  sein  Herz.  Er 
schaut  aussen  seine  Körpergestalt,  und  diese  Gestalt  ist 

217 


nicht  seine  Gestalt.  Weiter  weg  schaut  er  seine  Gegen- 
stände, und  diese  Dinge  sind  nicht  seine  Dinge. 

Aus  dem  Buche  T>Die  rot  gestreifte  Höhle« 

Ich  trage  es  unablässig  im  Geiste:  ununterbrochen  ein- 
dringend, schafft  esalleScheidungenzwischenLeben  und 
Tod  hinwegund  macht  mich  eins  mit  Himmel  und  Erde. 
Wenn  das  Sehen  vergessen  ist,  wird  das  Licht  unendlich 
reich.  Wenn  das  Hören  vernichtet  ist,  sammelt  sich  das 
Herz  auf  die  ewigen  Tiefen.  Wenn  die  Sinne  des  Wahr- 
nehmens aufgehoben  sind,  wird  der  Mensch  fähig,  sich 
von  allen  Reizen  der  Weltloszuschliessen, rein, offenund 
vollständig,  in  vollkommener  Einung  mit  dem  All,  weit, 
schrankenlos,  wie  ein  belebender  Lufthauch,  keinen 
Scheidungen  des  Menschentums  Untertan. 


218 


VON  DEN  CHASSIDIM 

{ostjüdische  Sekte,  entstanden  um  die  Mitte  des  i8.  Jahr- 
hiindertsj 

UEBER  einen  Zaddik*  geriet  die  Inbrunst  jedesmal, 
wenn  im  Vortrage  der  Schrift  die  Worte  kamen: 
Und  Gott  sprach.  Ein  chassidischer  Weiser,  der  diessei- 
nenSchülernerzählte,fügtehinzu:  »Aberauch  ichmeine: 
wenn  einer  in  Wahrheit  redet  und  einer  in  Wahrheit 
empfängt,  dann  ist  es  genug  an  einem  Worte,  die  ganze 
Welt  zu  erheben  und  die  ganze  Welt  zu  durchläutern « . 

Ein  Zaddik  stand  im  ersten  Morgendämmer  am  Fenster 
und  rief  zitternd:  »Vor  einer  kleinen  Stunde  war  noch 
Nacht  und  jetzt  ist  Tag  —  Gott  bringt  den  Tag  herauf! « 
Und  er  war  voll  der  Angst  und  desZitterns.  Auch  sprach 
er:  »Jeder  Geschaffene  soll  sich  vor  dem  Schöpfer  schä- 
men. Denn  wäre  ervollkommen,  wie  ihm  bestimmt  war, 
er  müsste  erstaunen  und  erwachen  und  entbrennen  über 
die  Erneuerung  der  Kreatur  zu  jeder  Zeit  und  in  jedem 
Augenblick«. 

Von  einem  Meister  wird  erzählt,  er  habe  in  Stunden  der 
Entrückung  auf  die  Uhr  sehen  müssen,  um  sich  in  dieser 
Welt  zu  erhalten,  und  von  einem  anderen,  er  habe,  wenn 
er  dieEinzeldingebetrachtenwollte,  eine  Brille  aufsetzen 
müssen, um  seingeistigesSehen  zubezwingen, dennsonst 
sah  er  alle  Einzeldinge  der  Welt  als  Eines. 

Als  ein  Schüler  einmal  eines  Zaddiks  »Erkalten«  be- 

♦Zaddik:  Gerechter,  Heiliger,  Name  der  chassidischen  Rabbis,  die  als  Mittler 
zwischen  Gott  und  Mensch  angesehen  werden. 

219 


merkte  und  tadelte,  wurde  er  von  einem  andern  belehrt: 
»Es  gibt  ein  sehr  hohes  Heiligtum.  Wenn  man  dahin 
kommt,  wird  man  alles  Wesens  los  und  kann  nicht  mehr 
entbrennen«. 

Von  dem  Tanz  einesZaddiks  wird  erzählt :  Sein  Fuss  war 
leicht  wie  eines  vierjährigen  Kindes.  Und  alle,  die  sein  hei- 
liges Tanzen  sahen — da  warnichteiner,  der  nicht  zu  sich 
heimgekehrt  wäre;  denn  er  wirkte  im  Herzen  aller,  die  es 
sahen,  beides,  Weinen  und  Wonne  in  einem. 

Ein  Zaddik  stand  in  den  »furchtbaren Tagen«  [Neujahr 
undVersöhnungstagJimGebeteundsangneueMelodien, 
Wunder  der  Wunder,  dieernie  gehört  hatte  und  die  kein 
Menschenohr  je  gehört  hatte,  und  er  wusste  gar  nicht, 
was  er  singt  und  welche  Weise  er  singt,  denn  er  war  an  die 
obere  Welt  gebunden. 

Es  wird  von  einem  Meister  gesagt,  er  habe  sich  wie  ein 
Fremdling  geführt,  nach  den  Worten  Davids  des  Königs : 
» Ein  Fremder  bin  ich  im  Lande « .  Wie  ein  Mann,  der  aus 
derFernekam,  ausderStadtseinerGeburt.  Ersinnt  nicht 
auf  Ehre  und  nicht  auf  irgend  ein  Ding  zu  seinem  Wohle. 
Nur  darauf  sinnt  er,  heimzukehren  zur  Stadt  seiner  Ge- 
burt. Nichts  kann  ihn  besitzen,  denn  er  weiss:  das  ist 
Fremdes  und  ich  muss  heim. 

Worte  der  Chassidim 

Wenn  ein  Mensch  die  ganze  Lehre  und  alle  Gebote  erfüllt 
hat,aberdieWonne  und  dasBrennenhaternicht  gehabt, 
wenn  der  stirbt  und  hinübergeht,  öffnet  man  ihm  das 

220 


Paradies,  aber  weil  er  in  der  Welt  die  Wonne  nicht  ge- 
fühlt hat,  fühlt  er  auch  die  Wonne  des  Paradieses  nicht. 

Der  Mensch  soll  den  Stolz  lernen  und  nicht  stolz  sein,  den 
Zorn  kennen  und  nicht  zürnen.  Der  Mensch  vermag  sich 
mitallenWonnen  zu  kasteien.  Er  vermag  zu  blicken  nach 
welchem  Orte  er  will  und  sich  nicht  über  seine  vier  Ellen 
hinaus  zu  verlieren,  Worten  des  Scherzes  zu  lauschen 
und  sichzu  betrüben.  Undsogeschiehtes,dasserhiersitzt 
und  sein  Herz  ist  oben,  er  isst  und  vergnügt  sich  in  dieser 
Welt  und  geniesst  aus  der  Welt  der  geistigen  Seligkeit. 

Der  Mensch  vermag  eitle  Worte  mit  seinem  Munde  zu 
reden  und  die  Lehre  des  Herrn  ist  in  seinem  Innern  zu 
dieser  Stunde;  flüsternd  zu  beten  und  sein  Herz  schreit 
in  seiner  Brust;  in  einer  Gemeinschaft  von  Menschen  zu 
sitzen  und  er  wandelt  mit  Gott,  vermischt  mit  den  Krea- 
turen und  abgeschieden  von  der  Welt. 

Wer  eine  Frau  sehr  begehrt  und  ihre  buntfarbnen  Ge- 
wänder betrachtet,  dessenSinn  geht  nicht  auf  dasPrunk- 
zeug  und  die  Farben,  sondern  auf  die  Herrlichkeit  der  be- 
gehrten Frau,  die  in  sie  gehüllt  ist.  Aber  die  Andern  sehen 
nur  die  Gewänder  und  nichts  mehr.  So  schaut,  wer  Gott 
in  Wahrheit  begehrt  und  empfängt,  in  allen  Dingen  der 
Welt  nur  die  Kraft  und  den  Stolz  des  Bildners  des  Urbe- 
ginns,  der  in  den  Dingen  lebt.  Wer  abernicht  auf  dieser 
Stufe  ist,  sieht  die  Dinge  von  Gott  getrennt. 

Wenn  der  Mensch  gewürdigt  wird,  die  Gesänge  der 
Kräuter  zu  vernehmen,  wie  jedes  Kraut  sein  Lied  zu  Gott 

221 


sprichtohneallesfremdeWollen  und  Denken,  wie  schön 
und  süss  ist  es,  ihr  Singen  zu  hören.  Und  daher  ist  es  gar 
gut,  in  ihrerMitte  Gott  zu  dienen  in  einsamem  Wandeln 
über  das  Feld  hin  zwischen  den  Gewächsen  derErdeund 
seine  Rede  auszuschütten  vor  Gott  in  Wahrhaftigkeit. 
Alle  Rede  des  Feldes  geht  dann  in  deine  ein  und  steigert 
ihre  Kraft.  Du  trinkst  mit  jedem  Atemzuge  die  Lüfte  des 
Paradieses,  und  kehrst  du  heim,  ist  die  Welt  erneuert  in 
deinen  Augen. 

Wie  die  Hand  vors  Auge  gehalten  den  grössten  Berg  ver- 
deckt, so  deckt  das  kleine  irdische  Leben  dem  Blick  die 
ungeheuren  Lichter  und  Geheimnisse,  deren  die  Welt 
voll  ist.  Undweresvor  seinen  Augen  wegziehenkann,  wie 
man  eine  Handwegzieht,  derschautdas  grosse  Leuchten 
desWelteninnern. 

Die  Schöpfung  des  Himmels  und  der  Erde  ist  die  Entfal- 
tung des  Etwas  aus  dem  Nichts,  das  Hinabsteigen  des 
Oberen  indasUntere.  AberdieHeiligen,diesichvomSein 
ablösen  und  Gott  immerdar  anhängen,  die  sehen  und  er- 
fassen ihn  in  Wahrheit,  als  wäre  das  Nichts  wie  vor  der 
Schöpfung.  Sie  wandeln  das  Etwas  in  das  Nichts  zurück. 
Und  dies  ist  das  Wunderbarere :  das  Untere  emporbrin- 
gen. Wie  es  geschrieben  steht  in  der  Gemara :  » Grösser 
ist  das  letzte  Wunder  als  das  erste  « . 


222 


AUS  DEN  SCHRIFTEN  MAKARIOS  DES  AEGYP- 

TIERS(3oi— 391) 

WENN  die  Seele  dem  Herrn  anhangt,  und  der 
Herr  von  Erbarmen  und  Liebe  bewegt  zu  ihr 
kommt  und  ihr  anhangt,  und  der  Sinn  beständig  in 
der  Gnade  des  Herrn  verharrt,  dann  werden  die  Seele 
und  der  Herr  Ein  Geist,  Eine  Beschaffenheit  und  Ein 
Sinn.  Und  da  der  Leib  dieser  Seele  am  Boden  liegt, 
lebt  ihr  Geist  ganz  im  himmlischen  Jerusalem,  steigt 
bis  zum  dritten  Himmel  empor,  hängt  sich  da  an  den 
Herrn  und  dient  ihm.  Und  er,  der  da  sitzt  auf  dem 
Throne  der  Herrlichkeit  und  der  Höhe  in  der  himm- 
lischen Stadt,  er  ist  ganz  und  gar  bei  ihr  in  ihrem  Lei- 
be. Denn  ihr  Bild  hat  er  aufgerichtet  in  der  himm- 
lischen Stadt  der  Heiligen,  im  oberen  Jerusalem,  sein 
Bild  aber,  seines  heimlichen  Lichtes  und  seiner  Gott- 
heit, hat  er  aufgerichtet  in  ihrem  Leibe.  Erdient  ihr  in  der 
Stadt  des  Leibes,  sie  aber  dient  ihm  in  der  himmlischen 
Stadt.  Sie  besitzt  ihn  als  ihr  Erbteil  in  den  Himmeln,  und 
er  hinwieder  besitzt  sie  als  sein  Erbteil  auf  Erden.  Denn 
der  Herr  wird  das  Erbe  der  Seele  und  die  Seele  wird  das 
Erbe  des  Herrn. 


22  j 


AUS  DEN  DIONYSIOS  DEM  AREOPAGITEN  ZU- 
GESCHRIEBENEN SCHRIFTEN 

Aus  der  Schrift  von  der  mystischen  Theologie 

DARUM  sagt  der  heilige  Bartholomäus,  die  Gottes- 
weisheit sei  zugleich  vielfältig  und  klein,  das  Evan- 
gelium weitund  gross  und  zugleich  gedrängt.  Mir  scheint 
er  das  übernatürlich  gemeint  zu  haben:  dassdie  Ursache 
aller  Dingezugleich  wortreich  ist  und  wortkarg  und  wort- 
los, dass  sie  weder  Rede  noch  Denken  besitzt,  da  sie  über 
alles  Seiende  überwesentlich  hinausliegt  und  allein  de- 
nen unverhüllt  und  wahrhaft  erscheint,  die  über  alle 
Schuld  und  Unschuld  hinausschreiten,  und  über  alles 
Aufsteigen  zu  heiligen  Höhen  hinausschreiten,  und  alle 
göttlichen  Lichter  und  Töne  und  himmlische  Rede  ver- 
lassenund  indasDunkeltauchen,wo,wie  dieSchriftsagt, 
der  wahrhaft  ist,  der  jenseits  von  allem  ist.  Und  nicht  von 
Ungefähr  wird  daher  dem  göttlichen  Moses  geboten,  zu- 
erst sich  selber  zu  reinigen,  sodann  sich  von  den  nichtGe- 
reinigten  zu  sondern,  und  nach  aller  Reinigung  hört  er 
die  vieltönigen  Posaunen,  sieht  viele  Lichter,  die  reine 
und  vielfältige  Strahlen  werfen ;  dann  sondert  er  sich  von 
der  Menge,  und  mit  den  auserwählten  Priestern  kommt 
er  zu  der  Höhe  der  göttlichen  Aufstiege.  Nach  all  diesem 
aber  ist  er  noch  nicht  zum  Gotte  gesellt,  er  sieht  den  Un- 
sichtbaren nicht,  nur  den  Raum  darauf  er  steht. . . .  Dann 
aberwirderauch  von  dem  Gesehenen  und  von  demSe- 
hendengelöstundtauchtindasDunkel  desNichtwissens, 
das  wahrhaft  mystische,  in  dem  eralleWidersprüche  des 
Erkennens  abstreift  und  in  das  durchaus  Unfassbare  und 
Unschaubare  aufgenommen  wird,  ganz  dessen  gewor- 

224 


den,  der  über  alle  hinaus  ist,  und  niemandes  eigen,  nicht 
seiner  selbst  noch  eines  Andern,  mit  dem  vollkommen 
Unerkennbaren  durch  die  Authebung  alles  Erkennens 
dem  Kerne  des  eignen  Wesens  nach  vereint,  und  indem 
er  nichts  erkennt,  über  den  Geist  hinaus  erkennend. 


tS   Buber,  Konfessionen 


AUS  DEM  (MEISTER  ECKHART  ZUGESCHRIE-        j 
BENEN)  TRAKTAT  »SCHWESTER  KATREI«  ^ 


NUN  kommt  die  vorher  genannte  Tochter  zu  ihrem 
ehrwürdigen  Beichtvater  und  spricht:  Herr,  höret 
mich  um  Gott.  Er  sprach :  Von  wannen  kommst  du  ?  Sie 
sprach:  Von  fernen  Landen.  Er  sprach :  Wer  bist  du  .?*  Sie 
sprach :  Erkennet  Ihr  mich  nicht.?  Er  sprach :  WeissGott, 
nein!  Sie  sprach:  Das  ist  mir  ein  Zeichen,  dass  Ihr  Euch 
selber  nie  erkanntet.  Er  sprach:  Das  ist  wahr.  Ich  weiss 
wohl,  erkennte  ich  mich  selber,  wie  ich  sollte,  auf  das  Al- 
lernächste, so  kennte  ich  alle  Kreaturen  auf  das  Aller- 
höchste. Sie  sprach:  Das  ist  wahr.  Nun  lassen  wir  diese 
Rede  bleiben.  Höret  mich  um  Gott.  Er  sprach:  Gern, 
sage  an.  Die  Tochter  tat  ihre  Beichte  ihrem  ehrwürdigen 
Beichtvater  so  wie  es  in  ihr  war,  dass  seine  Seele  in  ihm 
erfreut  wurde.  Er  sprach:  Liebe  Tochter,  komm  bald 
wieder  zu  mir.  Sie  sprach:  Fügt  es  Gott,  es  ist  mir  lieb. 
Er  ging  hin  zu  seinen  Brüdern  und  sprach :  Ich  habe 
einen  Menschen  gehört,  ich  weiss  nicht  und  zweifle,  ob 
es  ein  Mensch  oder  ein  Engel  sei.  Ist  er  ein  Mensch,  so 
wisset,  dass  alle  Kräfte  seiner  Seele  mit  den  Engeln  im 
Himmelreich  wohnen,  denn  seineSeele  hat  ein  Engelwe- 
sen empfangen.  Sie  erkennt  und  liebt  über  allen  Men- 
schen, von  denen  ich  je  Kunde  gewann.  Die  Brüder  spra- 
chen alle:  Gelobt  sei  Gott.  Der  Beichtvater  sucht  die 
Tochterin  derKirche,  wo  er  sie  weiss,  und  bittet  sie  ge- 
treulich um  Gott,  dass  sie  mit  ihm  rede.  Sie  sprach :  Er- 
kennt Ihr  mich  noch  nicht.?  Er  sprach:  Nein,  das  weiss 
Gott.  Sie  sprach :  So  will  ich  es  Euch  aus  Liebe  sagen.  Ich 

226 


bin  der  arme  Mensch,  den  Ihr  zu  Gott  gezogen  habt.  Da 
offenbart  sie  ihm,  wer  sie  sei.  Da  sprach  er :  Ach  ich  armer 
Mann,  wie  mag  ich  mich  schämen  vor  den  Augen  Gottes, 
dass  ich  so  lange  geistigen  Schein  getragen  habe  und  noch 
so  wenig  gefunden  habe  göttlicher  Heimlichkeit.  Er 
sprach :  Ich  bitte  dich,  liebeTochter,  um  der  Liebe  willen, 
die  du  zu  Gott  hast,  dass  du  mir  offenbarest  dein  Leben 
und  deine  Übung,  die  du  seither  gehabt  hast,  seit  ich  dich 
zuletzt  sah.  Sie  sprach:  Davon  wäre  viel  zu  sagen.  Er 
sprach:  Es  kann  nicht  zu  viel  sein,  ich  höre  alles  gern. 
Wisse,  mir  ist  viel  Wunders  von  dir  gesagt.  Die  Tochter 
hub  an  und  sagte  dem  Beichtvater  und  sprach :  Ihr  sollt 
mich  nimmer  verraten  solange  ich  lebe.  Er  sprach:  Ich 
gebe  dir  mein  Versprechen,  dass  ich  dich  nimmer  an  dei- 
ner Beichte  verrate,  solange  du  lebst.  Siefinganund  sagte 
ihm  so  viel  Wunderbares,  dass  es  ihn  Wunder  nahm,  wie 
ein  Mensch  so  viel  leiden  möge.  Sie  sprach :  Herr,  mir  ge- 
bricht es  noch.  Ichhabealldas  gelittenundüberkommen, 
was  meine  Seele  begehrt  hatte,  nur  dass  ich  nicht  wegen 
meinesGlaubensangeklagt  worden  bin. Ersprach:Gelobt 
sei  Gott,  dass  er  dich  je  erschuf;  und  nun  lass  es  dir  genü- 
gen. Sie  sprach:  Nimmer  solange  meine  Seele  kein  Blei- 
ben hat  an  der  Stätte  derEwigkeit.  Er  sprach :  Mir  genüg- 
te wohl,  hätte  meine  Seele  den  Aufgang,  den  deine  hat. 
Sie  sprach:  Meine  Seele  hat  einen  steten  Aufgang  ohne 
alles  Hindernis;  sie  hat  aber  nichtein  stetes  Bleiben.  Wis- 
set, derWille genügt  mir  nicht;  wüsste  ich  doch,  was  ich 
mehr  tun  soll,  dassich  bestätigtwerde  in  der  steten  Ewig- 
keit. Er  sprach :  Hast  du  danach  so  grosse  Begierde. ^^  Sie 
sprach:  Ja.  Er  sprach:  Dessen  musst  du  bloss  werden, 
wenn  du  je  bewährt  werden  sollst.  Sie  sprach:  Ich  tue  es 

227 


gern,  und  setzt  sich  in  eine  Blossheit.  Da  zieht  Gott  sie  in 
ein  göttliches  Licht,  dass  sie  wähnt  eins  mit  Gott  zusein 
und  es  ist  solange  dies  währt.  Dann  wird  sie  mit  einer 
überschwänglichen  göttlichen  Empfindung  wieder  in 
sich  selber  geschlagen, dass  sie  spricht:  Ich  weiss  nicht,  ob 
mir  je  Rat  wird.  Der  Beichtvater  geht  hin  zu  derTochter 
und  spricht :  Sage  mir,  wie  geht  es  dir  nun .?  Sie  sprach :  Es 
geht  mir  übel,  mir  ist  Himmel  und  Erde  zu  eng.  Er  bat 
sie,  ihm  etwas  zu  sagen.  Sie  sprach :  Ich  weiss  so  Geringes 
nicht,  dass  ich  esEuchsagen  könnte.  Er  sprach:  Tu  es  um 
Gott  und  sage  mir  etwas.  Sage  mir  doch  ein  Wort !  Er  ge- 
wann ihr  eines  ab.  Da  redete  sie  mit  ihm  so  wunderbar 
und  so  tief  von  der  nackten  EmpfindunggöttlicherWahr- 
heit,  dass  er  sprach :  Wisse,  dasist  allen  Menschen  fremd, 
und  wäre  ich  nicht  ein  Gelehrter,  dass  ich  es  selber  erfah- 
ren habe  in  der  Gottesweisheit,  es  wäre  mir  auch  fremd. 
Sie  spricht :  Das  gönne  ich  Euch  übel :  ich  wollte,  dass  Ihr 
es  mit  dem  Leben  gefunden  hättet.  Er  spricht:  Dusollst 
wissen,  dass  ich  davon  so  viel  gefunden  habe,  dass  ich  es 
so  gut  weiss,  wie  dass  ich  heute  Messe  las.  Doch  wisse: 
dass  ich  es  nicht  mit  dem  Leben  in  Besitz  genommen  ha- 
be, das  ist  mir  leid.  Die  Tochter  sprach :  Bittet  Gott  für 
mich,  und  gehtinihreEinsamkeitundgeniesst  Gottes. Die 
Weile  aberwährt  nicht  lang,  dakommt  sie  wieder  vor  die 
Pforte  und  verlangt  ihren  Beichtvater  undspricht:  Herr, 
freuet  euch  mit  mir,  ich  bin  Gott  geworden.  Er  sprach: 
Gelobt  sei  Gott !  Nun  geh  von  allen  Leuten  wieder  fort  in 
deine  Einsamkeit:  bleibst  du  Gott,  ich  gönne  dirs  wohl. 
Sie  ist  dem  ehrwürdigen  Beichtvater  gehorsam  und  geht 
in  einen  Winkel  in  der  Kirche.  Da  kam  sie  dazu,  dass  sie 
all  das  vergass,  was  je  Namen  gewann,  und  ward  so  fern 

228 


aus  sich  selber  und  aus  allen  geschaffenen  Dingen  gezo- 
gen, dass  man  sie  aus  der  Kirche  tragen  musste,  und  lag 
bis  an  den  dritten  Tag,  und  man  hielt  sie  für  sicherlich  tot. 
Der  Beichtvater  sprach :  Ich  glaube  nicht,  dass  sie  tot  sei. 
Wisset,  wäre  der  Beichtvater  nicht  gewesen,  man  hätte 
sie  begraben.  Man  versuchte  alles,  was  man  erdenken 
konnte,ob  dieSeele  im  Leibe  wäre;  daskonnte  man  nicht 
erfahren.  Man  sprach :  Gewiss,  sie  ist  tot.  DerBeichtvater 
sprach :  Gewiss,  sie  ist  es  nicht.  Am  dritten  Tage  kam  die 
Tochter  wieder  zu  sich  und  sprach:  Ach,  ich  Arme,  ich 
bin  wieder  hier.?^  Der  Beichtvaterwar  bereit  und  redetezu 
ihrundsprach :  Lass  mich  göttlicherTreuegeniessen  und 
offenbaremir,wasduerfahrenhast.  Siesprach:  Gottweiss 
wohl,  ich  kann  nicht.  Was  ich  erfahren  habe,  das  kann 
ich  nicht  zu  Worte  bringen.  Er  sprach :  Hast  du  nun  alles, 
was  du  willst.?  Sie  sprach:  Ja,  ich  bin  bewährt. 

Sie  sprach:  Ich  hatte  alle  Kräfte  meiner  Seele  gezäumt 
und  gezähmt,  so  dass,  wenn  ich  mich  sah,  ich  Gott  in  mir 
sah  und  alles  wasGott  je  schuf  im  Himmel  und  auf  Er- 
den. Dies  will  ich  euch  noch  besser  erzählen.  Ihr  wisset 
wohl, wer  inGott  gekehrtistundindenSpiegelderWahr- 
heit,  der  sieht  alles  was  nach  dem  Spiegel  gerichtet  ist,  das 
sind  alle  Dinge.  Dies  war  meine  innere  Übung,  ehe  ich  be- 
währt wurde.  Habt  Ihr  den  Sinn  wohl  verstanden.?*  Er 
sprach :  Es  muss  notwendig  so  sein.  Ist  aber  deine  Übung 
nun  nicht  so.f*  Sie  sprach:  Nein.  Ich  habe  mit  den  Engeln 
und  mit  denHeiligen  nichts  zu  schaffen  noch  mit  alle  dem 
was  je  geschaffen  ward.  Mehr:  was  je  zu  Worte  ward, 
damit  habe  ich  nichts  zu  schaffen.  Er  sprach:  Davon 
berichte  mir  mehr.  Sie  sprach:  Das  tue  ich.  Ich  bin  be- 

229 


währt  in  der  nackten  Gottheit,  darin  nie  Bild  noch 
Form  bestand.  Er  sprach:  Bist  du  da  beständig?  Sie 
sprach:  Ja.  Er  sprach:  Wisse,  diese  Rede  höre  ich  gern, 
liebe  Tochter,  rede  weiter.  Sie  sprach:  Ich  bin  da 
wo  ich  war,  ehe  ich  geschaffen  wurde,  da  ist  bloss 
Gott  in  Gott.  Daist  weder  Himmel  noch  Heilige  noch 
Chöre  noch  Engel  noch  dies  noch  das.  Manche  Leute 
sagen  von  acht  Himmeln  und  von  neun  Chören; 
dasistdanicht,woichbin.Ihrsolltwissen,  alleswasman 
so  zu  Worte  bringt  und  den  Leuten  mit  Bildern  vorlegt, 
das  ist  nichts  als  ein  Anreiz  zu  Gott.  Wisset,  dass  in  Gott 
nichts  ist  als  Gott.  Wisset,  dass  keine  Seele  in  Gott  kom- 
men kann,  sie  werde  denn  zuvor  so  Gott  wie  sie  Gott  war 
ehe  sie  geschaffen  wurde. 

Sie  sprach:  Ihr  sollet  wissen,  wer  sich  damit  lässt  begnü- 
gen, was  man  zu  Worte  bringen  kann  —  Gott  ist  ein 
Wort,  Himmelreich  ist  auch  ein  Wort  — ,  wer  nicht  wei- 
ter kommen  will  mit  den  Kräften  der  Seele,  mit  Erkennt- 
nis und  mitLiebe,alsjezu  Worteward,dersollgerechter- 
weise  ein  ungläubiger  Mensch  heissen.Was  man  zu  Wor- 
te bringt,  das  begreifen  die  niederen  Kräfte  der  Seele.  Da- 
mit begnügen  sich  die  oberen  Kräfte  nicht:  sie  dringen 
immer  weiter,  bis  sie  vor  den  Ursprung  kommen,  daraus 
die  Seele  geflossen  ist.  Ihr  sollt  wissen,  dass  die  Kräfte  der 
Seele  nicht  in  den  Ursprung  kommen  können.  Die  neun 
Kräfte  der  Seele  sind  alle  Knechte  der  Seelengewalt  und 
helfen  der  Gewalt  vor  den  Ursprung  und  ziehen  sie  aus 
den  niederen  Dingen.  Wenn  die  Seele  in  ihrer  eigenen 
Majestät  über  allen  geschaffenen  Dingen  vor  dem  Ur- 
sprung steht,  dringt  die  Gewalt  der  Seele  in  den  Ur- 

230 


Sprung  und  alle  Kräfte  der  Seele  bleiben  draussen.  Das 
sollt  Ihr  so  verstehen.  Es  ist  die  Seele  aller  namenhaben- 
den Dinge  nackt  und  bloss.  So  steht  sie  die  Einein  dem 
Einen, also dass  sie  ein  Vorwärtsgehen  hat  in  der  nack- 
ten Gottheit,  wie  das  Öl  auf  dem  Tuch,  das  fliesst  weiter 
und  fliesst  immer  vor  und  vor,  so  lange,  dass  das  Tuch 
davon  ganz  übergeht.  So  sollt  Ihrwissen:  solangeder  gute 
Mensch  in  der  Zeit  lebt,  hat  seineSeele  einen  steten  Fort- 
gang in  der  Ewigkeit. 


231 


Ich  habe  die  folgenden  Editionen  und  Übertragungen  benützt: 

BÄBA  LÄL  H.  Wilson :  Sketch  of  the  religious  sects of  the Hindus. 
^Calcutta  1846  (auch  schon  in  Asiatic  Researches  XVII). 

RÄMAKRISHNA  Max  Müller:  Rämakrishna.  Hislifeandsayings. 
London  and  Bombay  1898.  Swami  Vivekananda :  Speechesand 
writings.  Madras  1905. 

RÄBlATholuckiSsufismussivetheosophiaPersarumpantheistica. 
Berlin  1 82  i .  Ibn  Challikan:  Biographical  dictionary,  translated 
by  de  Slane.  I.  Paris  1842.  Tezkereh-i-Evliä.  Le  memorial  des 
saints,  traduit  par  A.  Pavet  de  Courteille.  Paris  1889. 

HUSAIN  AL  HALLÄDSCH  Tholuck :  Blütenlese  aus  der  morgen- 
ländischen Mystik.  Berlin  1825. 

BÄJEZID  BESTÄMI  Tezkereh-i-Evliä.  Le  memorial  des  saints, 
trad.  par  A.  Pavet  de  Courteille.  Paris  1889.  Tholuck:  Ssufis- 
mus  sive  theologia  Persarum  pantheistica.  Berlin  1821.  Für 
den  Anfang  der  letzten  Stelle,  dessen  Wortlaut  in  den  Über- 
setzungen mir  zweifelhaft  erschien,  habe  ich  durch  die  Freund- 
lichkeit des  Herrn  Dr.  Gotthold  Weil  den  persischen  Text  ver- 
gleichen können. 

FARID-ED-DIN-ÄTTAR  Mantic  Uttair  ou  le  langage  des  oiseaux, 
traduit  par  Garcin  de  Tassy.  Paris  1863.  Pend-Nameh  ou  le 
livre  des  conseils,  traduit  par  Silvestre  de  Sacy.  Paris  18 19. 
(In  den  Anmerkungen  hat  de  Sacy  Stücke  aus  dem  ,, Gespräch 
der  Vögel"  nach  einem  andern  Text  als  der  von  Garcin  de  Tassy 
benützte  übertragen.) 

DSCHALÄL-ED-DIN  RUMI  Masnavi  i  ma'navi,  translated  by 
E.H.Whinfield.  Londoni887.  Selected  poems from the Diväni 
Shamsi  Tabriz,  transl.  by  R.  A.  Nicholson.  Cambridge  1898. 

DER  SCHÜLER  DES  MOLLA-SHAH  A.  de  Kremer :  Mollä-Shah 
et  le  spiritualisme  oriental.  Paris  1869. 

PLOTINOS  IV.  Enn.  8,  i;  VI.  Enn.  9,  9,  1 1.  (Plotini  Enneades 
rec.  H.  F.  Mueller.  Berlin  1878.) 

VALENTINOS  Hippolytus  Phil.  VI.  42,  V.  37.  Weinel:  Die  Wirk- 
ungen des  Geistes  und  der  Geister  im  nachapostolischen  Zeit- 
alter. Freiburg  i.B.  1899. 

232 


MONTANISTEN  Die  erhaltenen  Worte  sind  bei  Bonwetsch,  Die 
Geschichte  des  Montanismus,  Erlangen  1881,  zusammenge- 
stellt. 

SYMEON  Tou  ociou  /cai  8-eo<popou  Traxpo;  i^jy.tov  Sujy.swv  tou  veou  -S-soXoyou 
Ta  £6pi<T;cop-£va.  Venedig  1790.  2u[X£tov  TOU  vsou  ^eo^-oyou  Ta  suptGxo- 

f7.£va  TravTa  in  Mignes  Patrologiae  GraecaeT.  CXX.  Paris  1 864. 
Für  einzelneStellen  habe  ich  die  Münchner  Handschriftzur  Text- 
vergleichung herangezogen. 

HILDEGARD  AnalectaSanctaeHildegardisoperaSpicilegioSoles- 
mensi  parata  ed  J.  B.  Card.  Pitra.  Paris  1882.  (Der  Brief  ist 
an  Gilbert  von  Gembloux  gerichtet.) 

ALPAIS  Vie  de  la  bienheureuse  Alpais,  publice  pour  la  premiere 
fois  en  latin  d'apres  un  manuscrit  chartrain  du  XIII.  siecle  par 
l'abbe  P.  Blanchon.  Marly-le-Roy  1893. 

AEGIDIUS  Chronica  XXIVGeneralium  Ordinis  Minorum  (Ana- 
lecta  Franciscana  III.)  Quaracchi  1897.  C)ie  Ludwig- Legende 
nach  dem  Text  der  Actus  beati  Francisci  et  sociorum  ejus  (ed. 
Sabatier,  Paris  1 902),  der  älter  ist  als  der  der  Fioretti. 

MECHTHILD  VON  MAGDEBURG  Offenbarungen  der  Schwe- 
ster Mechthild  von  Magdeburg,  herausgegeben  von  P.  Call 
Morel.  Regensburg  1869. 

MECHTHILD  VON  HACKEBORN  Revelationes  Gertrudianae 
ac  Mechtildianae  II.  Paris  1877. 

GERTRUD  Revelationes  Gertrudianae  ac  Mechtildianae  I.  Paris 

1877. 

SEUSE  Heinrich  Seuse:  Deutsche  Schriften,  herausgegeben  von 
Dr.  Karl  Bihlmeyer.  Stuttgart  1907. 

CHRISTINA  Lochner:  Leben  und  Gesichte  der  Christina  Ebnerin, 
Klosterfrau  zu  Engelthal.  Nürnberg  1872.  Strauch:  Marga- 
retha  Ebner  und  Heinrich  von  Nördlingen.  Freiburg  i.  B.  und 
Tübingen  1882.  Zwei  Stellen  habe  ich  der  Stuttgarter  Hand- 
schrift entnommen.  S.  auch  Strauchs  Mitteilungen  im  Anzeiger 
für  deutsches  Altertum  IX. 

MARGARETHA  Strauch:  Margaretha  Ebner  und  Heinrich  von 
Nördlingen.  Freiburg  i.  B.  und  Tübingen  1882. 

ADELHEID  Die  Offenbarungen  der  AdelheidLangmann,  Kloster- 

25? 


frau  zu  Engelthal,  herausgegeben  von  Philipp  Strauch.  Strass- 
burg  1878. 

DAS  KLOSTER  ADELHAUSEN  J.  König:  Die  Chronik  der 
Anna  von  Munzingen.  (Freiburger  Diöcesan-Archiv XIII.  Band. 
Freiburg  i.  B.  1880.) 

DAS  KLOSTER  TÖSS  Das  Leben  der  Schwestern  zu  Töss,  be- 
schrieben von  Elsbet  Stagel,  herausgegeben  von  Ferdinand 
Vetter.  Berlin  1906.  Die  Nürnberger  Handschrift  ist  herange- 
zogen w^orden. 

Andere  Dokumente  der  deutschen  Klosterekstase  in :  Der  Nonne 
von  Engelthal  Büchlein  von  der  genaden  überlast.  Tübingen 
1871.  Pez:  Biblioteca  ascetica  (Regensburg  1723/6)  VIII.  (s. 
auch  Catharina  von  Gebsweiler:  Lebensbeschreibungen  der 
ersten  Schwestern  der  Dominikanerinnen  zu  Unterlinden, 
deutsch  von  Clarus  1863.)  Chronik  des  Bickenklosters  zu  Vil- 
lingen (von  Juliana  Ernst),  hsg.  v.  K.  J.  Glatz.  Tübingen  1 88 1 . 
Leben  der  Schwestern  zu  Diessenhofen,  hsg.  v.  Birlingen,  Ale- 
mannia XV.  (1870).  Anderes  Alemannia  XI.  u.  XXI.  (Kirch- 
berg) und  Zürcher  Taschenbuch  auf  1889  (Oetenbach). 

DER  SANG  VON  BLOSSHEIT  Tauler:  Von  eym  waren  Evan- 
gelischen Leben.  Köln  1 543.  Die  letzte  Strophe,  die  ins  Dog- 
matische einlenkt  und  wie  künstlich  angeheftet  erscheint,  ist 
weggeblieben. 

BIRGITTA  Revelationes  caelestes  sanctae  matris  Birgittae.  Mün- 
chen 1680. 

JULIANA  Revelations  of  divine  love  shewed  to  Mother  Juliana 
of  Norwich.  London  1902.  (Titel  der  Urausgabe:  XVI  Revela- 
tions of  Divine  Love,  Shewed  to  a  Devout  Servant  of  our  Lord, 
called  Mother  Juliana,  an  Anchorete  of  Norwich.  1 670.) 

GERLACH  PETERS Gerlaci  PetriSoliloquia Divina.  Paris  1659. 

ANGELA  BeataeAngelaeFulginatisvitaetopuscula.Foligno  1724. 

KATHARINA  VON  SIENA  Raimondo  da  Capua:  Lavita  di  Santa 
Caterina  da  Siena.  Mailand  1842. 

KATHARINA  VON  GENUA  Marabotto  e  Vernazza:  Vita  mira- 
bile  e  dottrina  Celeste  di  Santa  Caterina  Fiesca  Adorna  da  Ge- 
nova.  Padua  1743. 

234 


MARIA  MADDALENA  Vita  e  ratti  di  santa  Maria  Maddalena 
de'Pazzi.  Lucca  171 6.  Puccini:  La  vita  di  santa  Maria  Madda- 
lena de'Pazzi  vergine  nobile  Fiorentina.  Venedig  1675. 

TERESA  Cartas  de  Santa  Teresa  de  Jesus.  I.  II.  Madrid  1771 
und  1778. 

ANNA  GARCIAS  Aus  ihrer  Autobiographie  (deutsch  Köln  1669) 
wiederabgedruckt  bei  Tersteegen :  AuserleseneLebensbeschreib- 
ungen  heiliger  Seelen.  II.  Frankfurt  und  Leipzig  173  5. 

ARMELLE  NICOLAS  Die  Schule  der  reinen  Liebe  Gottes,  den 
Gelehrten  und  Ungelehrten  eröffnet  in  dem  Wunderleben  einer 
armen  unwissenden  Weibsperson,  die  von  Geburt  eine  Bäurin 
und  dem  Stande  nach  eine  Dienstmagd  gewesen.  Augsburg  1 73  6. 

ANTOINETTE  BOURIGNON  La  vie  de  Dlle.  Antoinette  Bouri- 
gnon.  (Oeuvres  I.)  Amsterdam  1683. 

JEANNE  MARIE  GUYON  La  vie  de  Madame  J.M.B.dela  Mothe- 
Guyon,  ecrite  par  elle-meme.  Nouvelle  edition.  Paris  1791. 

CAMISARDEN  Theatre  sacre  des  Cevennes.  London  1707  (vgl. 
auch  Ehe  Marion:  Avertissemens  prophetiques  1707.) 

BÖHME  Morgenröte  im  Aufgang.  Amsterdam  1682. 

DER  EDELKNABE  Stephanus  Praetorius:  58  schöne,  auser- 
lesene geist-  und  trostreiche  Traktätlein  von  der  güldenen  Zeit. 
.Goslar  1622. 

ENGELBRECHT  Der  vom  Tode  erweckte  Protestant,  oder  des 
Einfältigen  Busspredigers  Hans  Engelbrechts  Schriften.  1 76 1 . 

ANNA  VETTER  Beschreibung  eines  schon  vor  dreissig  Jahren 
erweckten,  bisher  aber  anderer  Orten  verdeckten  und  unbe- 
kannten prophetischen  Weibes,  namens  Anna  Vetterin,  des 
Schlosswächters  zu  Onoldsbach  Eheweib.  Aus  ihrer  eigenen 
Handschrift  und  mündlichen  Erzählung  getreulich  zusammen- 
getragen. Abgedruckt  bei  Arnold:  Kirchen-  und  Ketzer-Historie. 
Frankfurt  a.  M.  1700.  III. 

HEMME  HAYEN  Levensloop  van  Hemme Hayen.  Haarlem  1 7 1 4. 
Deutsch  bei  J.  H.  Reitz:  Historie  der  Wiedergebornen.  4.  Aufl. 
V.  Bd.  Itzstein  1 7 1 7.  Eine  andere  Übertragung  erschien  unter 
demTitel:  Lebensgeschichte  des  Hemme  Hayen,  eines  niederlän- 
dischen Bauern  und  wahrhaften  Clairvoyanten.  Nürnberg  1 8 1  o. 


KATHARINA  EMMERICH  Die  Tagebücher  Clemens  Brentanos, 
denen  der  Text  entnommen  ist,  sind  bisher  nicht  vollständig 
veröffentlicht  worden.  Die  von  mir  gebrachten  Stellen  finden 
sich  zum  Teil  bei  Schmöger:  Das  Leben  der  gottseligen  Anna 
Katharina  Emmerich  (2 .  Aufl.  Freiburg  i.  B.  1873),  zum  andern 
in  dem  vielfach  aufgelegten  ,,Das  bittere  Leiden  unsers  Herrn 
Jesu  Christi.  Nach  den  Betrachtungen  der  Anna  Katharina 
Emmerich".  Vgl.  auch  Emmerich:  Das  Leben  Jesu  Christi, 
Regensburg  1 8  5  8 — 60,  und  Leben  der  heiligen  Jungfrau  Maria 
(mehrfach  aufgelegt). 

AUS  DEM  MAHÄBHÄRATAM  Die  Übertragung  ist  dem  Buche 
Paul  Deussens  „Vier  philosophische  Texte  des  Mahäbhäratam, 
Leipzig  1 906"  mit  Erlaubnis  des  Übersetzers  entnommen,  dem 
ich  meinen  Dank  für  sein  gütiges  Entgegenkommen  ausspreche. 
Dieses  Buch  hat  jetzt  in  der  dritten  Abteilung  von  Deussens 
Allgemeiner  Geschichte  der  Philosophie  (Leipzig  1 908)  eine 
wichtige  Ergänzung  erhalten. 

LAO-TSE  F.  H.  Balfour:  Taoist  texts,  ethical,  political  and  spe- 
culative.  Shanghai  1884.  J.  Legge:  The  texts  of  Täoism  (The 
sacred  books  of  the  East.  XXXIX.  XL)  Oxford  1891.  C.  de 
Harlez:  Textes  täoistes  (Annales  du  musee  Guimet.  XX.)  Paris 
1891.  H.  A.  Giles:  Chuang  Tzu,  moralist,  mystic  and  social 
reformer.  London  1899.  Das  Hauptwerk  der  Schule,  Lao-tse's 
Tao-te-king,  liegt  in  mehreren  Übertragungen  vor,  von  denen 
neben  der  von  Alexander  Ular  (Leipzig  1903)  auch  die  vonViktor 
v.  Strauss  (Leipzig  1 870)  —  die  manche  Stelle  einem  treuen  Ver- 
ständnis näher  bringt  als  die  sprachmutige  Ularsche  —  Beacht- 
ung verdient. 

DIE  CHASSIDIM  Buber:  Die  Geschichten  des  Rabbi  Nachman. 
Frankfurt  a.  M.  1906.  Buber:  Die  Legende  des  Baalschem. 
Frankfurt  a.  M.  1908. 

MAKARIOS  SS.  PP.  Gregorii  Thaumaturgi,  Macarii  Aegyptii  et 
Basilii  Seleuciae  opera  omnia.  Paris  1622. 

DIONYSIOS  Migne:  Patrologiae  Graecae  T.  III.  IV. 

KATREI  Ich  habe  den  Birlingerschen  Text  (Tractate  Meister  Eck- 
harts,  Alemannia  III,  1875)  unter  Vergleichung  und  für  einzelne 

236 


Stellen  auch  Heranziehung  des  Pfeifferschen  (Deutsche  Mystiker 
des  14.  Jahrhunderts  II,  Leipzig  1845)  benützt.  Über  den  Stand 
der  Textkritik  informiert  Otto  Simon :  Überlieferung  und  Hand- 
schriftenverhältnis  des  Traktates  „Schwester  Katrei''.  Halle 
a.  S.  1906. 

An  sonstiger  Literatur  seien  hier  nur  genannt: 

Über  die  Sufis:  Browne,  A  literary  history  of  Persia  I,  London 
1902  (wo  aber  über  al  Hallädsch  nur  die  feindlichen  Quellen 
benützt  sind) ;  Nicholson  im  Journal  of  the  Royal  Asiatic  Society 
1 906 ;  Kremer,  Geschichte  der  herrschenden  Ideen  des  Islam, 
Leipzig  1868;  Merx,  Grundlinien  einer  allgemeinen  Geschichte 
der  Mystik,  Heidelberg  1893. 

ÜberSymeon:  Holl,  Enthusiasmus  und  Bussgewalt  im  griechi- 
schen Mönchtum,  Leipzig  1 898,  und  dessen  Artikel  in  Herzogs 
Realenzyklopädie,  3.  Aufl.,  Bd.  XIX. 

Über  Gerlach  Peters:  Auger,  Etüde  sur  les  mystiques  des  Pays- 
Bas,  in  Memoires  de  l'academie  royale  en  Belgique  1892.  Moll 
in  Kerhistorisch  archief  II.  (1859). 

BERICHTIGUNG 

S.    3 1  soll  die  Überschrift  lauten:  Aus  der  Erzählung  des  Tewek- 

kul-Beg  . . .  über  sein  Mystisches  Noviziat. 
S.    39  soll  es  heissen :  Prisca. 
S.    40  soll  es  im  Untertitel  heissen:  Aus  den  Liebesgesängen  an 

Gott. 
S.    59  soll  die  Überschrift  lauten :  Von  Aegidius  von  Assisi. 
S.    92  soll  es  in  der  Überschrift  heissen:  Christina. 
S.  1 3  2  sollte  nach  der  drittletzten  Zeile  eine  Zeile  frei  bleiben,  da 

mit  den  Worten  ,,Ein  Armer  im  Geiste"  ein  neues  Stück 

anfängt. 
S.  146  soll  die  Überschrift  lauten:  Von  Katharina  von  Siena. 
S.  1 5 3  soll  es  in  der  Überschrift  heissen:  Maddalena. 
S.  1 56  soll  es  in  der  Überschrift  heissen:  Teresa. 
Zwischen  S.  2  1 6  und  2  1 7  sollte  eine  Zeile  frei  bleiben,  da  auf  S.2 1 7 
ein  neues  Stück  anfängt. 


INHALT 

VORWORT  V 

EINLEITUNG:  EKSTASE  UND  BEKENNTNIS  XI 

INHALTSBLATT  XXVII 

INDIEN:  Aus  dem  Gespräch  des  Fürsten  Dara  Shekoh  mit  dem  Asketen 
Bäba  Läl  i-    Aus  dem  Leben  Rämakrishnas  3. 

DIE  SUFIS  UND  IHRE  NACHFOLGE:  Von  Räbia  lo-  Von  Bäjezid 
Bestämi  12-  Von  Husain  al  Hallädsch  17-  Farid-ed-din  Attär  20- 
Dschaläl-ed-din  Rumi  29-  Aus  der  Erzählung  des  Tewekkul-Beg,  Schülers 
des  Mollä-Shäh,  über  sein  Mystisches  Noviziat  31 

DIE  NEOPLATONIKER:  Plotinos  34 

GNOSIS  UND  URCHRISTLICHES  KETZERTUM:  Valentinos  38.  Worte 
Montans  und  der  Montanistinnen  39 

DAS  GRIECHISCHE  MÖNCHTUM:  Symeon  der  neue  Theologe  40 

DAS  ZWÖLFTE  JAHRHUNDERT:  Hildegard  von  Bingen  50-  Alpais  von 
Cudot  54 

DIE  FRANZISKANER:  Von  Aegidius  von  Assisi  59 

DAS  DREIZEHNTE  JAHRHUNDERT  IN  DEUTSCHLAND:  Mechthild 
von  Magdeburg  63-  Mechthild  von  Hackebom  ']']•  Gertrud  von  Helfta  8i- 
Heinrich  Seuse  85 

DAS  VIERZEHNTE  JAHRHUNDERT  IN  DEUTSCHLAND:  Christina 
Ebner  92-  Margaretha  Ebner  96-  Adelheid  Langmann  99-  Der  Sang  von 
Blossheit  122 

AUS  DEUTSCHEN  SCHWESTERNBÜCHERN:  Aus  dem  Kloster  Adel- 
hausen in  Freiburg  102-    Aus  dem  Kloster  Töss  bei  Winterthur  108 

DAS  VIERZEHNTE  JAHRHUNDERT  IM  NORDEN :  Birgitta  von  Schwe- 
den 124-    Juliana  von  Norwich  129 

DIE  NIEDERLÄNDISCHE  MYSTIK:  Gerlach  Peters  132 

DIE  ITALIENISCHEN  FRAUEN:  Angela  von  Foligno  135-  Von  Katharina 
vonSiena  146«  Von  Katharina  von  Genua  149-  Maria  Maddalenade'Pazzi  153 

DIE  SPANISCHEN  FRAUEN:  Teresa  von  Jesu  156-  Anna  Garcias  (Anna 
a  San  Bartolomeo)  165 

DAS  SIEBZEHNTE  JAHRHUNDERT  IN  FRANKREICH:  Armelle  Ni- 
colas i66-  Antoinette  Bourignon  171- Jeanne-Marie  Bouvieres  de  laMothe 
Guyon  173-   Aus  einer  Aussage  des  Camisardenführers  Elie  Marion  177 

DAS  SIEBZEHNTE  JAHRHUNDERT  IN  DEUTSCHLAND  UND  DEN 
NIEDERLANDEN:  Jakob  Böhme  iSo-  Ein  Edelknabe  18 1-  Hans 
Engelbrecht  183-   Arma  Vetter  i86-   Hemme  Hayen  197 


238 


DAS  NEUNZEHNTE  JAHRHUNDERT:  Anna  Katharina  Emmerich  205 

ANHANG 

DAS  ALTE  INDIEN:  Aus  dem  Mahäbhäratam  213 

DIE  CHINESISCHE  MYSTIK:  Worte  Lao-Tses  und  seiner  Schüler  216 

DIE  JÜDISCHE  MYSTIK:  Von  den  Chassidim  219 

KIRCHLICHE  UND  UNKIRCHLICHE  MYSTIK  DES  FRÜHCHRIST- 
LICHEN ZEITALTERS:  Aus  den  Schriften  Makarios  des  Aegyptiers  223- 
Aus  den  Dionysios  dem  Areopagiten  zugeschriebenen  Schriften  224 

AUS  DEM  TRAKTAT  »SCHWESTER  KATREI«  226 

BIBLIOGRAPHISCHE  NOTIZEN  232 


TITEL  UND  EINBAND  VON  EMIL  RUDOLF  WEISS 
VON  DIESEM  BUCHE  WURDEN  20  ABZÜGE  ZUM  PREISE  VON 
FÜNFUNDZWANZIG  MARK  FÜRJEDES  EXEMPLARAUF  ECHT 
JAPAN -BÜTTENPAPIER   HERGESTELLT/   IN  GANZPERGA- 
MENT GEBUNDEN    UND  HANDSCHRIFTLICH  NUMERIERT 


DRUCK  VON 

POESCHEL  &  TREPTE 

IN  LEIPZIG 


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