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imnes.
'»•7
AKTES SCIENTIA VERIT4S
Emanuel d'Astorga
von
HANS VOLKMANN
Erster Band:
Das Leben des Tondichters
LEIPZIG
Druck und Verlag von Breitkopf ® Härtel
1911 ♦
"• ^
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Muals
HL
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CX>PyiUOHT 1910 By BRBrnCOPP 'X> hartel -lbipzio
hmammmimßmimA
Inhaltsverzeichnis.
Erster Teil.
Astorsas Leben.
• Seite
Einleitung 1
I. Kapitel: Grundlagen der Biographie 6
II. Kapitel: Die Vorfahren 25
III. Kapitel: Heimat und Jugendjahre (1680—1708) 41
IV. Kapitel: War Astorga 1709 in Barcelona? 62
V. Kapitel: Wien, Znaim, London (1712—1717) 78
VI. Kapitel: Astorga als Senator von Palermo. — Der Ausgang (1717 —
ca. 1750) 102
Zweiter Teil.
Revue und Kritik der Astorga-Llteratur.
Einleitung 126
I. Kapitel: Die Älteste Astorga-Literatur 129
II. Kapitel: Rochlitz' Astorga-Roman 142
III. Kapitel: Rochlitz' Schule. — Weitere Mythenbildung 163
IV. Kapitel: Qirolamo und Giuseppe Capece (Historischer Exkurs) . . 182
V. Kapitel: Die Astorga-Literatur der jüngsten Zeit 197
Alphabetisches Register 210
sse
G ^ ^ o )
Erster Teil.
Astorgas Leben.
Einleitung.
Franz Grillparzer schrieb, als er einer Aufführung von
Astorgas Stabat Mater beigewohnt hatte, unterm
12. März 1834 in sein Tagebuch: »Seit lange nicht so im Innersten
ergriffen gewesen. Was haben für Männer gelebt, wenn ein solcher
kaum dem Namen nach mehr bekannt sein kann.«^
Auch heute noch vermag Astorgas Hauptwerk, das Stabat Mater,
die tiefgehendste Wirkung auf den Hörer auszuüben. Es bildet
unter den Kirchenkompositionen der italienischen Schule des be-
ginnenden 18. Jahrhunderts eine Einzelerscheinung, welche die
verwandten Schöpfungen dieser Epoche an religiöser Innigkeit, an
Ernst der Auffassung des Gegenstandes und herber Kraft des
Stimmungsausdruckes bei weitem überbietet, ohne deshalb der sinn-
lichen Schönheit, die den meisten italienischen Werken jener Zeit
eigen ist, zu ermangeln. Diese Vorzüge weisen der Vertonung des
Stabat Mater durch Astorga unter den zahlreichen Kompositionen
dieses kirchlichen Textes einen Ehrenplatz an.
Das Stabat Mater gründete Astorgas Ruhm bei der Nachwelt.
Zu des Meisters Lebzeiten dürften es nur wenige gekannt haben.
Und dennoch war auch schon damals Astorga ein Komponisteo-
name von gutem Klang. Jedermann kannte ihn als den des großen
Meisters der Kammerkantate. Auf diesem Gebiete hatte sich
Astorga fleißig und mit Glück betätigt, so daß er als Kantaten-
^Qrillparzers Briefe und Tagebücher. Herausgeg. von
C. 1 s s y und A. S a u e r , Stuttgart und Berlin o. J. Bd. II, S. 122.
Volkmann, Astorga. I. 1
1. Teil: Astorgas Leben.
Komponist nicht nur in Italien, sondern in ganz Europa in hohem
Ansehen stand. Dieser Ruhm mußte mit dem Verschwinden d^r
Kunstgattung der Kammerkantate wieder erlöschen.
Astorga hat nicht nur als weltlicher Komponist den Besten
seiner Zeit genug getan, sondern auch als kirchlicher Tondichter
Unvergängliches geschaffen. Er verdient daher, daß auch von
seiner Person und seinen Lebensschicksalen Notiz genommen werde,
er verdient, daß der Wust von Lügen und Märchen, der sich mit
der Zeit um seine Erscheinung aufgetürmt hat, entfernt, daß das
romantisch-phantastische Bild seiner Persönlichkeit durch ein histo-
risch treues ersetzt werde.
Das sind die Aufgaben, die in den folgenden Blättern gelöst
werden sollen. Mit der Darstellung seines Lebens eine auf Analysen
der einzelnen Werke gestützte Charakteristik seiner Kunst zu ver-
knüpfen, empfiehlt sich zur Zeit aus verschiedenen Gründen nicht.
Erstens müssen wir, um ein klares Bild vom Leben des Meisters
zu gewinnen, alle Dinge fernhalten, welche den Überblick über
den biographischen Stoff beeinträchtigen könnten. Sodann
würde jetzt die Aufstöberung der über ganz Europa verstreuten
Kompositionen des Meisters noch mit großen Schwierigkeiten ver-
bunden sein, während sie in späterer Zeit durch den thematischen
Katalog der Werke Astorgas, den Alfred Wotquenne in Brüssel
vorbereitet, wesentlich erleichtert werden wird. Wir beschränken uns
also im vorliegenden Bande auf das Leben des Tondichters. Die
Würdigung seiner Kunst, verbunden mit charakteristischen Bei-
spielen aus seinen Werken, wird später als zweiter Band unsrer
Astorga-Studien nachfolgen.
An keinen andern Namen in der Musikgeschichte knüpfen
sich so viele Sagen und Märchen wie an den Astorgas. Die
Chronisten des 18. Jahrhunderts liebten in ihre Berichte über be-
rühmte Künstler Anekdoten einzuflechten, die sich oft bei näherer
Prüfung als unwahr erweisen. Harmlos und geringfügig erscheinen
solche poetische Ausschmückungen neben dem Lügengebäude, das
die Gestalt des Meisters Astorga umfängt. Und dieses Lügenge-
bäude, das in seiner Kühnheit an ähnliche in der Geschichte der
Päpste im Mittelalter erinnert, ist nicht etwa von Astorgas Zeit-
Einleitung.
genossen oder der unmittelbar auf ihn folgenden Generation errichtet
worden; — das sonst so lichtvolle, wahrheitsfreudige 19. Jahrhundert
hat das dunkle Werk der Unwahrheit begonnen und im wesentlichen
vollendet.
Der Schriftsteller Friedrich Rochlitz hat im Jahre 1825 den
Grund dazu gelegt. Er erzählte einen frei erfundenen Schauerroman
über Astorgas Herkunft und Jugend. Andere Schriftsteller er-
gänzten Rochlitz' Geschichten, lustig weiter fabulierend, während
wieder andere, was schlimmer war, ernste Forschungen auf jene
Phantastereien gründeten. Durch sie wurden ganz fremde Ele-
mente mit Astorga verquickt und aus diesen wieder Schlüsse ge-
zogen, welche die guten alten Quellen aus dem 18. Jah'rhundert Lügen
straften. Die Widersprüche wurden totgeschwiegen oder gewalt-
sam aus der Welt geschafft. Den wenigen authentischen Astorga-
Nachrichten, die in der Flut der falschen während des 19. Jahr-
hunderts auftauchten, wird ihr Wert niemals abgesprochen werden.
Unter den neueren Nachschlagewerken enthält die 1 904 erschienene
zweite Auflage von G. Groves Dictionary of Music and Mu-
sicians die ausführlichste Darstellung vom Leben Astorgas. Der
von dem ausgezeichneten Haydnforscher C. F. Pohl für die erste
Auflage des Lexikons (1879) verfaßte Artikel hat bei Bearbeitung
der zweiten Auflage nur geringe Abänderungen erfahren. Gewissen-
haft werden darin sämtliche alten und neuen Nachrichten über
Astorga berücksichtigt. Nehmen wir Pohl-Grove als Führer, um
das Leben des Meisters, wie es bis heute gemeinhin erzählt wurde,
2u verfolgen. Wir stellen in unserm Auszug den Wortlaut der
deutschen Quellen wieder her:
Emanuel Baron d'Astorga wurde aml I.Dezember 1681
zu Neapel geboren. Sein Vater war einMarcheseCapece
da Rofrano, ein Häuptling wüster Söldnertruppen, der an
der unglücklichen Empörung gegen die spanische Herrschaft
teilnahm und mit verschiedenen vornehmen^ Sizilianem im
Jahre 1701 auf dem Schafott endete. Mutter und Sohn mußten
seine Hinrichtung mit ansehen: jene starb unter Zuckungen
des Entsetzens, dieser verfiel in einen Zustand dumpfer Be-
1*
1. Teil: Astorgas Leben.
wußtlosigkeit. Nach einiger Zeit kam das Gerücht davon
zu den Ohren der Prinzessin Ursini, der Oberhofmeisterin am
Hofe Philipps V. zu Madrid. Sie nahm sich des Verwaisten
an und ließ ihn in das Kloster zu Astorga in Spanien bringen.
Dort vollendete er seine musikalische Ausbildung, die er wohl
unter Francesco Scarlatti in Palermo begonnen hatte.
Als er nach einiger Zeit aus dem Kloster in die Welt zurück*
kehrte, erwirkte ihm seine Gönnerin den vom Namen seines
Asyls abgeleiteten Titel »Baron d' Astorga«. Im Jahre 1704
ging er mit einer diplomatischen Mission an den Hof von
Parma. Dort kam er bald in Gunst, wozu ihm sowohl seine
Persönlichkeit, wie auch seine Künstlerschaft verhalf. Denn
er war ein schöner Mann, komponierte mit Leichtigkeit und
Geschick und sang seine Kompositionen selbst mit Gefühl und
technischer Vollendung. Die Rückkehr nach Spanien ver-
säumte er über einem geheimen Liebeshandel, in den er sich
mit der Nichte des Herzogs, Elisabeth Famese, verwickelt
hatte. Aber das Verhältnis, das dem ähnelt, das Goethe im
Tasso zeichnet, wurde vom Herzog, der es alsbald durchblickte,
zerstört. Er entsandte Astorga Anfang 1705 mit einer Emp-
fehlung an den Hof Leopolds I. nach Wien. Der alte Kaiser
wandte ihm seine volle Sympathie zu, sein Tod verhinderte
jedoch eine tatkräftige Unterstützung Astorgas von seiner
Seite. Während der Regierung Josephs I. und Karls VI.
hielt er sich auch zeitweise in Wien auf. Er führte dann viele
Jahre lang ein romantisches Abenteurer- und Reiseleben, in
dessen Verlauf er Spanien, Portugal, England und Italien be-
suchte. Nur sein Vaterland, für ihn den Schauplatz des Ent-
setzens, vermied er. Im Jahre lyog wurde am Hofe Karls III.
zu Barcelona seine dort von ihm komponierte Oper nDafniut
zur Aufführung gebracht. Bei einem Besuche von Madrid
erwarb er sich die Freundschaft der lange von ihm vernach-
lässigte!) Gönnerin seiner Jugendjahre von neuem. Am
9. Mai iyi2 stand Astorga bei der Tochter seines Freundes
Caldara in Wien Pate. 1713 wurde in Oxford das von ihm
vermutlich für die Academy of Ancient Music in London
Einleitung.
komponierte Stabat Mater aufgeführt. Vorübergehend erschien
er wieder 1720 in Wien. Schließlich zog er sich nach Böhmen
zurück, wo er am 12. August 1736 im Schlosse Raudnitz starb,
das ihm von dessen Eigentümer eingeräumt worden war.
In dieser Vita sind nur die kursiv gedruckten Stellen
erwiesene Tatsachen. Alles übrige ist Erfindung, Irrtum oder vage
Vermutung.
Um ein der Wahrheit entsprechendes Lebensbild Astorgas zu
gewinnen, müssen alle Nachrichten von der frühesten bis auf die
jüngste Zeit hinsichtlich ihrer Zuverlässigkeit geprüft werden, und
nur die, welche sich in dieser Prüfung bewähren, dürfen als Material
zu der Lebensgeschichte verwendet werden. Dieses Vorgehen hat aber,
wenn man nur die bisher bekannten Quellen benutzt, von Rochlitz'
Periode ab einen so gewaltigen Ausfall an Stoff zur Folge, daß man
eine gar magere Biographie des Meisters erhalten würde, nur wenig
umfangreicher, als der Astorga- Artikel in Gerbers„Neuem Lexikon
der Tonkünstler« (181*2) ist. Diese wenig verlockende Aussicht mag
unter anderen ein Grund dafür gewesen sein, daß die Lebens-
geschichte Astorgas bisher keinen kritischen Bearbeiter gefunden hat.
Die wenigen Autoren, die Ansätze zu einer kritischen Behandlung
des Stoffes machten, suchten aus Stoff mangel schließlich doch wieder
ihr Heil in Rochlitz* Märchen. Da aber meine mehrjährigen For-
schungen eine Menge bisher völlig unbekannte authentische Nach-
richten über den Meister ergeben haben, so verspricht die Bearbei-
tung des vorhandenen Materials selbst unter Aufgabe aller Phanta-
stereien eine wenn auch nicht lückenlose, so doch detailreiche
Lebensgeschichte.
Ich werde also unter Ausschaltung aller romantischen Fiktionen
die Biographie Astorgas auf neuen Grundlagen selbständig aufbauen.
Diesem ersten Teile möge im zweiten eine Revue und Kritik der
gesamten Astorga-Literatur folgen. Unsre wichtigste Aufg^e in
diesem zweiten Teile wird die sein, die Entstehung der einzelnen
Astorga-Mythen zu erklären. Dadurch werden die Widersprüche
zwischen den älteren Nachrichten und meinen Mitteilungen ihre
Lösung finden.
1. Teil: Astorgas Leben.
L Kapitel.
Grundlagen der Biographie.
Unsre Forschungen gehen von einem Schriftstück aus, in dem
Astorga einige selbstbiographische Andeutungen gibt. Es ist Titel
und Vorrede einer Kantatensammlung von ihm. Diese erschien
im Jahre 1726 in Lissabon im Druck. Aller Text in dieser Ausgabe
steht in zwei Sprachen : in spanischer (kastilischer) und italienischer.
Das Kantatenheft umfaßt 104 Seiten in Quer-Folio und weist durch-
weg sauberen, klaren Druck auf. Dieses Heft gehört heute zu den
größten bibliographischen Seltenheiten. Mir ist nur ein einziges
Exemplar davon bekannt: das in der Bibliothek des Liceo Musical e
zu Bologna. Die erste Erwähnung dieses Heftes findet sich im
dritten Bande des »Catalogo della Biblioteca del Liceo Musi-
cale di Bologna, compilato da Gaetano Gaspari, compiuto...
da Luigi Torchi«, wo S. 195 die italienische Fassung des Titels,
der Vorrede und der Anfänge der einzelnen Kantaten abgedruckt
ist. Seit 1893 — denn damals erschien jener Katalog — , ist also
bereits ein gedruckter Hinweis auf jene biographische Quelle vor-
handen. Er blieb aber unbeachtet, und selbst R. Eitner druckte
im Quellenlexikon nur den aufs äußerste gekürzten Titel und die
Anfänge der Kantatentexte ab, ohne für seine Vita des Künstlers
historische Folgerungen aus Titel und Vorrede zu ziehen.
Der Titel des Heftes sei in beiden Sprachen wiedergegeben.
Linke Seite:
CANTADAS
HUMANAS A SOLO
De
DON MANUEL
BARON DE ASTORGA
DEL ALLASTRO, MILLAINA, V
Mortilletto: de la Orden Senatoria de Palermo, y Feudatario del Reyno de Sicllia.
LISBOA OCCIDENTAL,
EN LA IMPRENTA DE MUSICA. MDCCXXVI
Con licencia de los Superiores, y Privileglo.
-- — I
I. Kap.: Grundlagen der Biographie.
Rechte Seite:
CANTATE
DA CAMERA A VOCE SOLA
Di
DON EMANUELLO
BARON D^ASTORGA
DELL' AGLIASTRO, MILLAINA, E
Mortilletto: deir Ordine Senatorio di Palermo, e Feudatario del Regno de Sicilia.
IN LISBONA OCCIDENTALE,
NELLA STAMPERIA MUSICALE. MDCCXXVL
Con licenza de' Superiori e Privilegio.
Es folge gleich die Vorrede, und zwar in italienischer Fassung.
Da die spanische eine genaue Übersetzung davon ist, möge sie weg-
bleiben. Nur an ein paar Stellen, wo es die Wichtigkeit des Inhalts,
bzw. die Klarstellung des Sinnes erheischt, seien die entsprechenden
Partien des spanischen Textes in Fußnoten hinzugefügt.
Prefazione.
Ancorche la Musica, non men che tutte Taltre scienze,
sia, per quel che riguarda il suo principale oggetto, sempre
la medesima in qualsivoglia paese; non dimeno si osserva
che, per la diversitä del metodo con cui vien trattata, o
per la varietä de'genij di coloro, che la professano, ella da
un clima air altro differisce notabilmente. E senza parlare
di que' popoli barbari, e a noi remoti, i quali con certe strane
modulazioni di suono formano i loro musicali concerti, che
al nostro gusto sembrano un puro frastuono, anche tra le
nazioni piü culte della nostra Europa, quel che a gli uni pare
un artificioso composto di perfetta armonia, riesce a gli altri
una strepitosa e spiacevole dissonanza. Chi di loro s'abbia
ragione, io nol soi, ma so bene che i migliori Autori che
di questa scienza hanno scritto, riducendo alla pratica d'una
^ Spanisch: yo no lo s6.
8 .1. Teil: Astorgas Leben.
ben ordinata melodia le regole puramente teoriche degli an«
tichi scrittori, sono, o Spagnuoli, o Italiani. E puö ben dirsi,
che i componimenti Musical! che in Italia & in Ispagna da
un secolo in qua sono stati pubblicati, sembrano per cosl dire
formati su Tistesso modello. Ma come che nello stile che gli
Autori di queste due nazioni hanno usato in composizioni
gravi, e da Chiesa, si trovi una perfetta somiglianza; ella
certamente tale non si ravvisa (che che ne sia la cagione)
in quelle altre, che per la Camera o per lo teatro son
destinate. II perch^ mi h caduto in pensiero di conciliare,
se fia possibile, una tal discordanza: movendomi a ciö
fare, & il genio che fin da' miei primi anni mi indusse
ad imparare per mio diletto questa scienza, e V Interesse
che per impulso della natura io prendo per ambe le
nazioni: riconoscendo per Patria non sol T Italia ove io
ebbi il mio nascimento, ma anco la Spagna, ove Tebbero i
miei maggiorii.
Per mettere in opera questo disegno, e darne un saggio
che regga alla prova deir esperienza, ho composto queste
Cantate, adattando la Musica alle parole di esse Spagnuole,
6t Italiane con quella maggior proprietä che parmi che si
convenga per la naturale espressione de' concetti; di modo
che, se ben le une siano traduzione delle altre, si uniscano
nondimeno si fattamente con la Musica, che Tune e Taltre
abbino per se stesse un' aria d'originale.
Per giudicare adunque se nel fine propostomi io mi sia
apposto, bisogna intendere perfettamente le due lingue, Ca-
stigliana & Italiana: conoscere bene la differenza delle frasi
proprie a ciascheduna di esse, & avere il gusto assuefatto
alla Musica di ambe le nazioni. A chi mancasse qualche-
duna di queste condizioni, assai disagevoie sarebbe il com-
prendere la difficoltä di questa impresa; e non meno difficile
il giudicarne con adequato discernimento.
^ Spanisch: reconociendo por Patria no solo la Italia, donde tuve mi
nacimiento, sino la Espaüa, donde le tuvieron mis predecessores.
I. Kap.: Grundlagen der Biographie.
Zu deutsch:
Vorrede.
Obschon die Musik, nicht weniger als alle anderen Wissen-
schaften, hinsichtlich ihres Hauptzweckes stets und überall
dieselbe ist, so bemerkt man doch, daß sie entweder durch
die Verschiedenheit der Methode, mit der sie getrieben wird,
oder durch die Mannigfaltigkeit der Charaktere jener, die sie
ausüben, in den verschiedenen Himmelsstrichen merklich
verschieden ist. Und ohne von jenen fernen Barbarenvölkern
zu reden, deren musikalische Aufführungen aus gewissen
fremdartigen Tonverbindungen bestehen, die für unsem
Geschmack als ein wahrer Höllenlärm erscheinen, — auch
unter den gebildeteren Nationen Europas erscheint den einen
als ein vollkommen harmonisches Kunstwerk, was für die
anderen eine geräuschvolle, häßliche Dissonanz bedeutet.
Wer von ihnen recht hat, weiß ich nicht, aber soviel weiß ich,
daß die besten Autoren, welche sich in dieser Wissenschaft
betätigt haben, indem sie die theoretischen Regeln der alten
Schriftsteller auf die Ausgestaltung einer gut angelegten
Melodie anwandten, entweder Spanier oder Italiener sind.
Und man kann wohl sagen, daß die Kompositionen, die
in Italien und Spanien in den letzten hundert Jahren in die
Öffentlichkeit gelangt sind, alle gleichsam nach ein- und
demselben Modell gearbeitet zu sein scheinen. Aber wenn
in dem Stil, den die Autoren dieser zwei Nationen in
ernsten und kirchlichen Kompositionen angewandt haben,
vollkommene Gleichheit herrscht, so macht sie sich ( — was
auch der Grund davon sei — ) in jenen anderen sicher nicht
bemerkbar, welche für die Kammer oder das Theater bestimmt
sind. Deshalb kam es mir in den Sinn, wenn es möglich ist,
eine solche Ungleichheit auszugleichen: Zu diesem Versuch
bewog mich sowohl der Hang, der mich seit meinen ersten
Lebensjahren antrieb, zu meinem Vergnügen diese Wissen-
schaft zu erlernen, als auch die Teilnahme, die ich aus dem
Triebe der Natur für beide Nationen hege: Denn ich erkenne
10 1. Teil: Astorgas Leben.
als Vaterland nicht nur Italien an, wo ich geboren wurde,
sondern auch Spanien, woher meine Vorfahren stammten.
Um diesen Vorsatz auszuführen und gleich ein praktisches
Beispiel zu geben, habe ich diese Kantaten komponiert. Ich
habe die Musik ihren spanischen und italienischen Texten
angepaßt, und zwar mit jener höheren Eigentümlichkeit,
welche sich meinem Empfinden nach für den natürlichen
Ausdruck der Gedanken eignet. Ich gestaltete sie so, daß,
obschon die einen die Übersetzungen der anderen sind, sie
doch auch derart mit der Musik übereinstimmen, daß jede
für sich als eine Originalkomposition erscheint.
Um zu entscheiden, ob ich das mir gesteckte Ziel erreicht
habe, bedarf es freilich der genauen Kenntnis beider Spra-
chen: des Kastilischen und des Italienischen. Man muß den
Unterschied in der Ausdrucksweise bei beiden kennen, und
seinen Geschmack an die Musik beider Nationen gewöhnt
haben. Der, bei dem irgend eine dieser Bedingungen nicht
erfüllt ist, würde wohl kaum die Schwierigkeit dieses Be-
ginnens verstehen; aber auch mit angemessener Urteilsfähig-
keit ist es noch schwer, darüber ein Urteil zu fällen.
Ohne auf die musikalisch-stilistischen Erörterungen einzugehen,
welche dieses interessante Schriftstück enthält, suchen wir uns so-
fort der darin befindlichen biographischen Elemente zu bemächtigen.
Mit besonderer Wichtigkeit verkündet Astorga in der Vor-
rede, daß seine Vorfahren Spanier waren, er selbst aber
»in Italien« geboren sei. Daß er mit beiden Nationen inner-
lich verwachsen ist, das bekundet auch seine vollkommene Be-
herrschung ihrer Sprachen bis in die kleinsten Feinheiten hinein.
Man bezeichnet Astorga gemeinhin als einen Sohn Siziliens oder
Neapels. Keine von beiden Angaben widerspricht dem, was der
Meister über sein Vaterland sagt. In beiden Königreichen lebten
schon lange vor Astorgas Zeit zahlreiche unter dem dort herrschenden
spanischen Regiment eingewanderte Spanier. Wir werden bald ein
Argument gewinnen, das entscheidet, ob Sizilien oder Neapel des
Meisters Heimat war. Zunächst aber sei aus Astorgas Publikation
I. Kap.: Grundlagen der Biographie. 11
noch ein Schluß über seine Ahnen gezogen. Er bedient sich in ihr
der italienischen und kastilischen Sprache und bezeichnet die
letztere ausdrücklich neben der italienischen als sein Idiom. Seine
Vorfahren, von denen er diese Sprache ererbt hatte, waren also
Kastilier oder doch Westspanier; sie stammten nicht aus den
östlichen Provinzen Spaniens, wo die von der kastilischen wesent-
lich verschiedene katalonische Sprache gesprochen wird.
Der Meister erzählt des weiteren in der Vorrede, wie früh er sich
bereits der Musik zugewandt habe. Von seinen ersten Lebensjahren
an erlernte er sie zu »seinem Vergnügen «. Kräftige Begabung und
ein leidenschaftlicher Hang zur Musik veranlaßten ihn, sich bereits,
als Kind dem Studium der Musik zu weihen, ohne daß er dabei den
Zweck ins Auge gefaßt hätte, mit dieser Kunst einen Lebensberuf
zu ergreifen. Das letztere hätte sich, wie wir bald sehen werden,
nicht mit seinem Stand und Namen vertragen. Er übte die
Musik als idealen Zeitvertreib, aber gleichwohl mit dem Ernste
und der Ausdauer des Berufskünstlers. Er war ein Dilettant in
jenem guten Sinne, wie ihn das Wort heute bei uns nicht mehr
hat. Das 17. und 18. Jahrhundert weist Männer genug auf,
welche die Musik nur aus Liebhaberei trieben und trotzdem Bedeu-
tendes leisteten. Es sei nur an die zahlreichen Mitglieder des deut*
sehen Kaiserhauses erinnert, die es in der Musik mit Meistern von
Fach aufnehmen konnten. Sie alle rechneten es sich zur Ehre an,
»Dilettanti « zu sein. Ein solcher Dilettant war auch Astorga.
Astorga verband mit einer ansehnlichen Summe tonsetzerischen
Könnens auch eine Fülle theoretischer und musikliterarischer Kennt-
nisse. Die gesamte einschlägige Literatur seiner wie der früheren
Zeit war ihm wohl vertraut Diese Kenntnisse und das ihm eigene
scharfe Urteil befähigten ihn dazu, über seine Kunst zu reflektieren.
Seine Gedanken über Stile und Gattungen der Musik in der Kan-
tatenvorrede sind eine Probe davon. Daß er die Musik durchweg
als »Wissenschaft« und nicht als Kunst bezeichnet, entspricht der
allgemeinen Anschauung seiner Zeit^.
^ Die Auffassung der Musik als Wissenschaft wurde von den Theoretikern
jener Zeit eifrig erörtert. Eine reiche Literatur entstand darüber. Es sei z. B.
erinnert anAngelo Berardis »Aggiunta alli . . . ragionamenti musicali,
12 1. Teil: Astorgas Lebeth
Aus unsrer Quelle ergibt sich ferner die Bestätigung der alten
Nachricht, daß Astorga ausgedehnte Reisen unternommen hat.
Denn wenn er die Mjusik der »gebildeteren « Völker Europas und die
seiner Landsleute in Vergleich zieht, so geschieht das gewiß auf
Grund eigener Erfahrung, die er bei seinem Aufenthalt in den ver-
schiedenen Ländern Europas gesammelt hat. Daß die weiten Reisen
auch seine allgemeinen Kenntnisse bedeutend bereicherten, liegt
auf der Hand. Astorga war ein Mann von Welt, er verfügte über
vielseitige Bildung und besaß Scharfsinn und Geschmack.
Das lehrt uns die Vorrede seiner Kantaten. Weitere Auf-
schlüsse gibt deren Titel.
Auf diesem fällt sogleich ins Auge, daß der Komponist nicht nur
Baron von Astorga war, sondern auch von Agliastro, Millaina
und Mortilletto. Nicht minder neu als diese Einzelheiten ist die
Tatsache, daß Astorga auch Lehensherr des Königreichs Sizi-
lien war, — »Feudatario del Regno di Siciiia«. In Sizilien lagen
nella quäle si prova, che la musica ^ vera, e reale scienza«, Bologna 1681. —
Mattheson im »Forschenden Orchestre« (Hamburg 1721,
S. 215ff., u. 385ff.) behandelt das Thema sehr ausführlich. Nach Hinweisen
auf Aristoteles, Zarlino, Kircher und Steffani meint er, kein »vernünftiger,
fünfsinniger Mensch werde bestreiten, daß die Musik eine Wissenschaft sei
und heißen müsse. Nur wendet er sich gegen die Unterordnung der Musik
unter die Arithmetik. Mattheson war wohl der erste, der trotz der
allgemeinen Auffassung der Musik als Wissenschaft, die er vertrat, doch auch
gelegentlich ihr Wesen als Kunst betonte (a. a. O. S. 273). — Mizler
veröffentlichte in Leipzig 1734 eine »Dissertatio, quod Musica scientia sit, et
pars eruditionis phüosophicae«, und noch 1783 pflichtet der anonyme Ver-
fasser des in Nürnberg erschienenen Büchleins über die »Literatur der
Musik« vollkommen Mizlers Ausspruch bei, daß »die Musik billig als ein Teil
der Philosophie anzusehen sei«. — Auch Joh.A. Scheibe im »Kritischen
Musikus« (Neue Aufl. 1745, S. 722) bringt folgende Definition der Musik: »Die
Musik ist eine Wissenschaft der Töne, d. i. ihrer Verhältnisse und der Art
und Weise, wie man dieselben zu einem gewissen Endzwecke bringen kann«. —
Sehr feinsinnig bemerkt Fr, Chrysander (Händel I, 340), an Steffanis
Ausspruch, die Musik sei eine Wissenschaft, anknüpfend. Über jene Zeit:
»Die Kunst als Kunst zu fassen, lag zu hoch; jedermann war zufriedengestellt,
wenn er sie nur als Wissenschaft ansehen durfte. Die Anschauung einer schönen
und freien Kunst fehlte ihnen nicht, wohl aber der Begriff davon, und sollten
die alten Meister ihr Werk rechtfertigen, so mußten sie es von der wissenschaft-
lichen und von der nützlichen Seite zeigen««
I. Kap.: Grundlagen der Biographie. 13
also seine Lehensgüter, seine Baronien, nach welchen er die oben
genannten Baronstitel, — oder doch einzelne davon -^ führte.
Damit gewinnen wir Antwort auf die vorhin unentschieden ge*
lassene Frage, wo Astorga herstammen mochte, ob aus Neapel oder
aus Sizilien. Da seine — höchst wahrscheinlich vom Vater ererbten
— Baronien in Sizilien lagen, war seine Familie dort eingesessen und
Astorga wohl auch in Sizilien geboren. Wir werden unten die
Richtigkeit dieser Schlüsse durch Urkunden vollauf bestätigen
können. Des Meisters Angabe in der Prefazione, er sei »in Italia«
geboren, widerspricht dem keineswegs; er benutzt das Wort im
weiteren Sinne; es ist etwa als »italienisches Sprachgebiet « auf zu-
fassen.
Wir kehren zum Kantatentitel zurück. Noch eine bisher völlig
unbekannte Würde des Meisters steht darin verzeichnet. Astorga
sagt von sich, er sei »deir ordine Senatorio di Palermo«, »vom
Range eines Senators zu Palermo«. Der Meister hat also
zeitweise in Palermo das Ehrenamt eines Senators bekleidet. Damit
ist eine wichtige Neuigkeit gewonnen, die den Keim zu weiteren
Enthüllungen in sich trägt. Denn in der reichhaltigen und ausführ-
lichen Chronik-Literatur von Palermo ist kaum ein Mann uner-
wähnt geblieben, der nur irgendwie zum öffentlichen Leben der
^Stadt in Beziehung stand. Wir können also hoffen, daß in diesen
ortsgeschichtlichen Werken auch der Senator Emanuele d'Astorga
vorkommt, und dort weitere Einzelheiten über ihn verzeichnet sind.
Besonders steht bei der exakten Darstellungsweise der Chronisten
zu erwarten, daß, wenn Astorga überhaupt genannt wird, auch sein
Familienname — wir kennen bisher nur Vornamen und Adels-
titel von ihm — nicht verschwiegen wird. Er müßte, nach Ema-
nuels Angaben über seine Vorfahren zu schließen, ein spanischer
sein.
In der Epoche der Geschichte von Palermo, die für uns in Be-
tracht kommt, hat der Priester Antonino Mongitore sorgfältig
alle wichtigen Ereignisse gebucht. Seine Diarien, die den weiten
Zeitraum von 1680 bis 1737 umfassen, liegen heute in einer vorzüg-
lichen Publikation vor. Sie bilden den 7. bis 10. Band der bereits
auf 28 Bände angewachsenen, von Gioacchino diMarzo heraus-
14 1. Teil: Astorgas Leben.
gegebenen »Biblioteca storicae letteraria diSicilia«^. Diese
Diarien von Mongitore wollen wir auf unsem Senator hin durch-
blättern. Wir nehmen das Jahr 1726 zum Ausgangspunkt, weil in
diesem Jahre das Kantatenheft erschien, auf dem sich Astorga als
Senator bezeichnet. In oder vor diesem Jahre muß seine Amtszeit
als Senator liegen. Da er unter den Senatoren des Jahres 1726 nicht
erscheint, blättern wir rückwärts. Lange umsonst. Endlich, unterm
27. April 1718^ taucht der Name unsers Künstlers und Senators auf,
und zwar in folgendem Zusammenhang:
Fu in questi tempi ristorato il ponte alla foce del fiume
Oreto presso S. Erasmo, che minacciava rovina. E vi f u affissa
in marmo la seguente iscrizione per questa ristorazione.
D. 0. M.
Victorio Amedeo
Siciliae, Jerusalem et Cypri rege;
D. Annibale comite Maffeo prorege;
Ponte nuper ab imis f undamentis poene collapso, celeritate,
quamvis hyeme saeviente, munificentius restaurato, fönte
noviter erecto, adauctis etiam aquis, publico decori, commodl-
tati ac voluptati consulere curaverunt anno MDCCXVIIL
D. Aloysius dux Caietani dominus Rachalmuti,
praetor;
D. Jacobus de Ebano et Cardona, tertio,
D. Marius Boccadifuoco, iterum,
D. Emmanuel Rincon de Astorga, baro Oleastri,
D. Antonius Valguamera,
DrCoriolanus Fardella et Afflitto, operis praefectus,
D. Joseph Mallianus, comes de Castiliolis,
senatores.
^Biblioteca storica e letteraria di Sicilia ossia
Raccolta di opere inedite o rare di scrittori siciliani dal secolo XVI al XIX
per cura di Qioacchino di Marzo. Palermo, L. Pedone Lauriel,
1B6&— 1886. — Wir zitieren das Werk als »D i M a r z o , B i b 1. S i c.«
* Dl Marzo, Bibl. Sic VIII, 286 f.
I. Kap.: Grundlagen der Biographie. 15
Trotz der Latinisierung des Namens erkennen wir unter den Sena-
toren, welche im Frühjahr 1718 die Brücke über den Oretofluß bei
Palermo restaurieren ließen, auf den ersten Blick unsem Astorga.
Und siehe da: Auch sein Familienname, der bisher völlig unbe-
kannte, vielgesuchte, steht dabei^ Er lautet Rincon; wie zu er-
warten war, ein spanisches Wort.
Die Brückeninschrift, diese für uns so wichtige Urkunde, wird
außer von Mongitore noch von einem anderen Chronisten mitgeteilt:
Von Gaetano Giardina in den »Memorie Storiche del Regno di
Sicilia dell' anno 1718 al 1720 «i« Einige unwesentliche Kleinig-
keiten ausgenommen, decken sich die Wiedergaben genau. Der
Herausgeber beider Quellen, Gioacchino di Marzo, erzählt, daß
jene 1718 restaurierte Oretobrückenoch ein halbes Jahrhundert hielt.
Bei der Überschwemmung vom 7. Oktober 1772 stürzte sie aber voll-
ständig zusammen. Der Neubau wurde nicht an der gleichen Stelle,
sondern in einiger Entfernung davon ausgeführt: Es ist der noch
heute stehende Ponte del Mare zu Palermo. Beim Einsturz der
Brücke anno 1772 fiel auch jene Inschrift mit Astorgas Namen der
Vernichtung anheim; wir müssen also den Chronisten für deren
Wiedergabe um so dankbarer sein. Papier hat manchmal längeren
Bestand als Erz und Marmor.
Da in Palermo die Amtszeit eines jeden Senators ein Jahr
dauerte, scheint es nicht ausgeschlossen, daß unser Astorga während
seiner Amtsperiode noch öfter vom Chronisten erwähnt wird. Wir
blättern also in den Diarien Mongitores mit Spannung rückwärts.
Und wahrhaftig! Noch einmal, unterm 3. Juli 1717 2, taucht Astor-
gas Name auf, und diesmal nicht in lateinischer Form, sondern in
italienischer Fassung:
D. Emmanuele Rincon d'Astorga, barone delP Oglia-
stro, senatore.
Der Meister erscheint hier in Ausübung einer amtlichen Pflicht,
über die wir später, in der zusammenhängenden Darstellung seiner
Amtszeit als Senator von Palermo, ausführlich berichten werden.
» Di Marzo, Bibl. Sic. XV, 113.
• Ebenda, VIII, 276 f.
16 1. Teil: Astorgas Leben»
Hier sei nur noch ausdrücklich auf die Wiederkehr seines Familien-
namens Rincon hingewiesen.
Ehe wir unsre Forschungen fortsetzen, ist es notwendig, alle
etwa auftauchenden Zweifel an der Identität des Komponisten
d'Astorga und des gefundenen Senators d'Astorga durch stichhaltige
Gründe zurückzuweisen. Bei einem Meister, in dessen Biographie
früher soviel Falsches eingeschmuggelt worden ist, bedarf es einer
doppelt sorgfältigen Prüfung aller neu gefundenen Einzelheiten.
Setzen wir also den Fall, der von uns ermittelte Senator und der
auf dem Kantatentitel verzeichnete Astorga seien zwei verschiedene
Personen. Dann müßten zwei gleichzeitig lebende Barone
(Majoratsherren 1) den gleichen Vornamen (Emanuel) und zwei
gleiche Titel (Astorga, Ogliastro) geführt haben. Das liefe aber
dem Brauch und Gesetz der italienisch-spanischen Feudalherrschaft
jener Zeit zuwider. Wäre zwischen den Jahren 1718 und 1726 ein
Wechsel im Besitz der Baronien eingetreten, so würde der neu ein-
rückende Besitzer, wenn er die gleichen Namen gehabt hätte wie
sein Vorgänger, durch einen besonderen Vor- oder Beinamen oder
durch eine Ziffer kenntlich gemacht worden sein. Da jedoch in den
Urkunden, von denen die jüngste nur acht bez. neun Jahre später
datiert ist als die älteren, der Vorname und die beiden Haupt-
titel die gleichen sind, können sie nur ein und denselben Baron
betreffen.
Da sich die ausschlaggebenden Einzelheiten der Personalien
in beiden Quellen decken, so vermögen die darin enthaltenen Ver-
schiedenheiten unsere Lösung der Identitätsfrage nicht zu einem
Trugschluß zu stempeln. Wohl bedürfen sie aber der Erklärung.
So drängt sich uns die Frage auf: Wie kommt es, daß Astorgas
Familienname nur in der Ortsgeschichte von Palermo, nicht aber
auf den Titeln seiner Werke zu finden ist? Der Grund davon liegt
in der Verschiedenheit der Quellen. Die Behörde, die jene Inschrift
für die Oretobrücke abfaßte, und Mongitore, der als Chronist
Astorgas gedachte, kannten ihn und seine Familie als Einwohner von
Palermo genau. Daß sie des Senators unwichtigere Titel (Millaino
und Mortilletto) in ihrer Niederschrift wegließen, wohl aber den für
die Akten vor allem wichtigen Familiennamen buchten, ist bei
I. Kap.: Grundlagen der Biographie. 17
ihrem mehr oder weniger amtlichen Standpunkt natürlich. Im
täglichen Leben war eine so genaue Bezeichnungsweise nicht üblich.
Man benutzte nur die charakteristischsten und kürzesten Namen
und Titel. Auch unser Held hieß in Palermo einfach ,,Barone
d'Astorga'', wie eine gleichzeitige Urkunde, auf die wir zurück-
kommen werden 1, beweist. Er selbst bediente sich bei der Signie-
rung seiner handschriftlichen Kompositionen ebenfalls dieses ein-
fachen Namens oder des ebenso einfachen »Emanuele d'Astorgaa.
Nur als es galt, seine Sammlung italienisch-spanischer Kantaten
durch den Druck einem größeren Kreise zugänglich zu machen, faßte
er deren Titel etwas klangvoller, um der Welt zu zeigen, daß dieses
Werk aus der Feder eines begüterten Edelmannes, eines »Dilettante «
stammte. So fügte er der gewöhnlich gebrauchten Form seines
Namens die Titel all seiner Lehen auf Sizilien und sogar seinen
Amtstitel als früherer Senator von Palermo hinzu. Daß er trotz
dieser Ausführlichkeit seinen Familiennamen wegließ, liegt wohl
darin begründet, daß seinem Empfinden nach das Wort » Rincon « den
Klang des Titels nicht gerade erhöht hätte. Dieses spanische Wort
bedeutet »Winkel«, »Ecke«; und obendrein war es damals ein in
Kastilien ziemlich verbreiteter Familienname. Jedenfalls klang der
Gesamttitel ohne »Rincon« aparter. So kommt es, daß auf den
Titeln seiner gedruckten wie ungedruckten Werke sein Familien-
name fehlt, während ihn die stadtgeschichtlichen Schriften enthalten.
Noch eine Ungleichheit in der Namensfassung fällt uns in den
Quellen auf. Es ist die verschiedene Stellung des Wortes »Baron «,
aus der sich scheinbar eine Verschiedenheit seiner Würden ergibt.
Auf dem Notenheft nennt sich der Meister Emanuello Baron
d'Astorga, delT Agliastro usw.; auf der Brückeninschrift heißt
er dagegen Emmanuel Rincon de Astorga, baro Oleastri, und
dem genau entsprechend lautet die italienische Fassung bei Mongitore :
Emmanuele Rincon d'Astorga, barone delT Ogliastro. . . .
In der zuerst herangezogenen Form hat es den Anschein, als ob der
Künstler außer den später genannten auch eine Baronie Astorga
besessen habe. Da er sich speziell als Lehensherr des Königreichs
» Vgl. S. 60.
Volkmann, Astorga. I.
18 1. Teil: Astorgas Leben.
Sizilien bezeichnet, wird man dieses Lehen, wie die anderen, in
Sizilien suchen. Aber man wird es nicht finden. Denn auf der
Insel existiert kein Ort dieses Namens ^. Das Wort kommt dort
lediglich als Adelstitel vor. Dagegen gibt es bekanntlich in
Spanien eine Stadt Astorga. Da unser Meister selbst erklärte,
daß seine Ahnen aus Spanien stammten, liegt die Vermutung nahe,
daß seine Vorfahren ihren Adelstitel nach jener Stadt erhalten
hatten. Sie konnten in ihrer Heimat aber nur einfache Hidalgos
»Rincon d' Astorga« geworden sein, nicht Baroni d' Astorga, denn
in Spanien gibt es den Baronstitel nicht. Erst als sie nach Sizilien
eingewandert waren und dort die oben von Emanuel genannten
Baronien, oder doch einzelne davon, zu Lehen erhalten hatten,
kam der Baronstitel zu ihrem ursprünglichen Hidalgonamen hinzu.
Sie waren nun d'Astorga und Baroni deirOgliastro, usw. Die
Palermitaner Geschichtsquellen bezeichnen den Meister also auch
in dieser Hinsicht korrekt. Der Einfachheit halber wurde im täg-
lichen Verkehr der italienische Baronstitel vor den spanischen
Hidalgonamen gerückt, und diese Form benutzte auch unser Held
mit Vorliebe. Daß man es übrigens mit der Anordnung der Titel
selbst an offiziellen Stellen nicht immer genau nahm, werden uns Ur-
kunden 2 beweisen, in denen der Baronstitel sogar vor dem Vor-
namen erscheint.
Überhaupt war zu Anfang des 18. Jahrhunderts die Willkür
in der Namenschreibung noch ziemlich groß. Darum braucht uns
auch die verschiedene Notierung von Astorgas sizilianischer Baronie
— bald als Ogliastro, bald als AgUastro — nicht zu beirren. Das
Schwanken zwischen A und zu Anfang des Wortes macht sich auch
^ Das bestätigte auch Herr Cavaliere Dott. Giambruno, Direktor
des Staatsarchivs zu Palermo, den ich in dieser Angelegenheit
um Rat anging. Er äußerte sich darüber: »Non esiste in Sicilia feudo o masseria
di nome Astorga perchö non trovasi affatto tale nome negli elenchi feudali
esistenti in questo Archivio. II nome Astorga ö solamente un cognome familiäre, a
— Herrn Direktor G i a m b r u n a , der im Staatsarchiv zu Palermo eingehende
Nachforschungen nach dem Baron d'Astorga anstellen ließ und mir die ge-
wonnenen Resultate freundlichst mitgeteilt hat, sei dafür auch hier der wärmste
Dank ausgesprochen.
« Vgl. S. 33 und 43.
I. Kap.: Grundlagen der Biographie. 19
bei anderen Orten dieses Namens bemerkbar, so bei dem an der
Ostküste Sardiniens gelegenen Ogliastro, das auch zuweilen Aqui-
lastro genannt wird.
Schließlich könnte noch die Frage aufgeworfen werden: Wie
kommt es, daß Astorga vom Chronisten nicht als Musiker, Maestro,
celebre compositore oder dergl. bezeichnet wird? Astorga war doch
1718 bereits ein hervorragender Tonsetzer. Die Antwort lautet:
Weil ihn der Chronist als solchen überhaupt nicht kannte. Denn
Astorga trieb, wie er selbst erzählt, die Musik lediglich »per suo
diletto«. Er war kein Berufsmusiker und würde es als Beleidigung
empfunden haben, hätte man ihn zu deren Zunft gerechnet. Denn
der Musikerstand genoß damals nirgends hohes gesellschaftliches
Ansehen. In Palermo, wo seine Familie in der Aristokratie eine
Rolle spielte, mochte es Astorga doppelt sorgfältig vermeiden, sich
den Anschein des Fachmusikers zu geben. Hier war er nur Nobile;
und nur als solchen konnte ihn der Chronist erwähnen.
Alles in allem sind die in unsern Quellen auftauchenden Ver-
schiedenheiten nicht dazu angetan, Zweifel daran zu erwecken, daß
die in ihnen genannten Emanuels d'Astorga ein und dieselbe
Person sind. Einesteils entpuppen sich diese Differenzen als einfache
Varianten, anderenteils als gegenseitige Ergänzungen, durch die
keinerlei Widersprüche entstehen.
Unsre nächste Aufgabe ist, Einzelheiten über jene Lehens-
gQter, die Astorga als die seinen bezeichnet, zu ermitteln. Ogli-
astro, Millaina und Mortilletto sind ihre Namen. Da in den
Palermitaner Geschichtsquellen nur das erste genannt wird, dürfte
es das wichtigste darunter sein. Nach Astorgas eigener Erklärung
müssen wir es in Sizilien suchen. Auf Karten der Insel aus dem
18. Jahrhundert steht nicht weit von Palermo, an der Straße nach
Villa Frati, nordöstlich von Marineo die Ortschaft S. Maria deir
Ogliastro verzeichnet. War das die Besitzung unsers Meisters?
Schlagen wir in Ami cos großem topographischen Lexikon von
Sizilien 1 nach, — wo der Name in der gleichen lateinischen Form
^ Lexicon Topographicum Siculum, in quo Siciliae Urbes,
Opida etc. . . . describuntur . . . Studio et labore S. T. D.D. V i t i M. A m i c o
Ordinis S. Benedicti etc. Bd. II, Ca tania 1759, Teil II, S. 12.
2*
20 1. Teil: Astorgas Leben.
erscheint, wie auf jener Erinnerungstafel an der Oretobrücke — , so
erfahren wir, daß der Fleclcen den Marchesi Mancini-Parisi ge-
hörte. Mithin war dort Icein Raum übrig für den Feudalbesitz eines.
Barone. Dieses Ogliastro^ ist also nicht das gesuchte. Aber
weder die Karten des 18. Jahrhunderts noch Amicos Lexikon nennen
ein zweites auf Sizilien. Und doch gibt es noch eines. Die moderne
italienische Generalstabskarte zeigt ein Ogliastro in der Nähe der
Stadt Augusta, die an der Ostküste der Insel, zwischen Syrakus
und Catania liegt. Das war Astorgas Besitzung. Die Akten des
Staatsarchivs zu Palermo liefern den Beweis dafür, denn darin ist
1 Bei diesem Orte läßt sich das Schwanken in der Namenschreibung auf
den alten Karten besonders gut beobachten. Hier einige Beispiele, gesammelt
aus den Kartenbeständen der kgl. Bibliothek zu Dresden (Tab. geogr. B):
Ital. E. U390 rAngliastro M., ca. 1710.
John Senex, a map of the Island and Kingdom
of Sicily.
Ital. E. 11 400 TA g 1 i a s t r M., 1717.
0. de risle, Carte de Flsle et Royaume de Sicire,
Paris 1717.
Ital. B. 11435 Ogliastro, 1747.
Regni et insulae Siciliae tabula geogr. (Schmettau).
Ital. E. 11 442 FA g 1 i a s t r , M., nach 1757.
T. Conr. Lotter, Mappa geogr. tot. Ins. et reg.
Siciliae.
Ital. E. 10040 Ogliastro, 1762.
G. A. B. R i z z i Z a n n n i , Li Regni di Sicilia e
Sardegna etc. Ed. Homann, 1762.
Ital. D. 8435,« Ogliastro, 1779.
Robert, Partie m^ridionale du Royaume de Napics,
oü se trouvent la Calabrie et Tlsle de Sicile.
A Venise 1779.
Ital. E. 11445. Ogliastro, 1784.
Carte de la Sicile et des Isles adjacentes d'apr^ la
Grande Carte qui a 6t6 faite en 1720 par le Baron
Sam. Schmettau, et corrig6e sur les Observations
recentes de plusieurs Voy^eurs. 1784.
Ital. E. 11450 Ogliastro, 1801.
F. G e t z e , Charte von Sicilien und Malta, Weimar,
Industrie-Comptoir.
Wie bei diesem Ogliastro bei Palermo, so herrschte natürlich auch die gleiche
Willkür in der Schreibung des Namens von Astorgas Besitzung Ogliastro.
1. Kap.: Grundlagen der Bic^raphie. 21
ausdrücklich bemerkt, daß Astorgas Baronie »in Augusta « lag, d. h.
im Umkreise der Stadt Augusta^. Die Generalstabskarte zeigt
nicht nur die Gebäude des Exfeudo Ogliastro, sondern auch die
dazu gehörige »Regione Ogliastro«. Diese nimmt einen beträcht-
lichen Teil zwischen Augusta und dem westwärts gelegenen Flecken
Villasmundo ein und bildet eine von Abhängen umschlossene
von etwa 70 bis zu 100 Metern über den Meeresspiegel ansteigende
Hochfläche. Die nächste Stadt von Ogliastro nach Süden hin ist
Melilli^. In jenem Landstrich wurde im Altertume der berühmte
» hybläische « Honig gewonnen, so genannt nach der griechischen
Kolonie Megara Hyblaea, die unten, an der Küste lag. Auch
noch im 18. Jahrhundert war die Gegend zwischen Augusta und
Melilli wegen ihres Honigs und Zuckerrohres besonders geschätzt.
Astorgas Gut wird also ebenfalls diese Produkte gezeitigt haben.
Überhaupt lag das Majorat in der fruchtbarsten Gegend der so
fruchtbaren, Insel. Der Wein aus der Umgebung von Augusta galt
damals als der vorzüglichste unter den sizilianischen, die Feldfrüchte
gediehen dort aufs üppigste und auch an Weideplätzen fehlte es nicht.
Das Land um Ogliastro dürfte von alters her reich an Ölbäumen
gewesen sein; gewiß hängt die Entstehung des Ortsnamens damit
zusammen (Oleaster = wilder Ölbaum). Die Gründe um Augusta
boten Gelegenheit zur Jagd; und »die Lieblichkeit der Landschaft
lud den Menschen zur Erholung in der schönen Jahreszeit ein «, — so
erzählt Astorgas Landsmann und Zeitgenosse Amico von der
Gegend um Augusta 3.
^ »Questa Baronia era Sita in Augusta, come si rilevadal processodMn-
vestitura No. 6827 deU' anno 1 694 a. Mitteilung des Herrn Direktors Qiambruno
vom Staatsarchiv in Palermo.
> M a s s a in seinem topographischen Werke über Sizilien rechnet Ogliastro
noch ins »Littorale di Melilli«. »La Sicilia in prospettivac,
Cioö le Cittä, Castella, Terre etc. esposti in veduta da un Religioso della Com»
pagnia di Giesü [Massa]. Palermo 1708/9, Teil II, S.391.
s Amico, a. a. O. Bd. I, Teil I, S. 66. Hier folge seine Schilderung
von Qrund und Boden um Augusta im Wortlaut:
»Ager denique Augustanus amplissimus, uti et littus ab emporio
scilicet Leontinensi, et agro S. CalogeriadTargiae oram post veterem
Trogilorum portum ab Oriente extenditur, conf inisque Syracusano,
22 1. Teil: Astorgas Leben.
Als im Jahre 1802 der fröhliche deutsche Wandersmann Johann
Gottfried Seume Sizilien durchstreifte, erhielt er von der Um-
gebung Augustas ebenfalls den Eindruck eines besonders geseg-
neten Landstriches. Er erzählt in seinem »Spaziergang nach
Syrakus«!, wie er nach Lentini geriet, und fährt dann fort:
»Von hier wollte ich nach Syrakus; aber ich ging in den Maul-
eseltriften der Bergschluchten und Höhen und Täler abermals irre
und kam, anstatt nach Syrakus nach Augusta. Das erste Stünd-
chen Weg war schön und ziemlich gut bebaut; aber sodann waren
einige Stunden nichts als Wildnis, wo rund umher Oleaster, fette
Asphodelen und Kleebäume wuchsen. Eine starke Stunde vor
Augusta fing die Kultur wieder an und hier ist sie vielleicht am besten
auf der ganzen Insel. Der Wein, den ich hier sah, wird ganz dicht
am Boden alle Jahre weggeschnitten, und die einzige Rebe des Jahres
gibt die Ernte. Das kann nun wohl nur hier in diesem Boden und
unter diesem Himmel geschehen . . . Die Landzunge, auf welcher
Augusta liegt, mit der Gegend einige Stunden umher, gehört zu
dem üppigsten Boden der Insel . . . Nirgends habe ich so schwelge-
rische Vegetation gesehen, als in dieser Gegend.''
Es ist uns nicht überliefert, wieviel Grund und Boden Astorgas
Majorat Ogliastro umfaßte. Daß es aber ein großes Gut war, geht
Sortinensi, et Leontino olim erat; Melilli mox opido aliisque feudis ad varios
Dynastas devolutis, angustior quidem evasit, sed foecunditate nihilominus
praecipuus habetur. Oletis enim, et vineis undique consitus uberes suppeditat
opulentasque indigenis coUectiones, adeout cum vina, quae prae caeteris
insulae exquisitissima, tum olea mercimoniae Augustanensibus sint capita.
Mellitis cannis abMidolum, etS. Cusmanum abundat, et saccarum
probatissimum gignit; nee frugum est indigus, nee paseuis vaeuus, venationi
demum aptissimus, atque ad laxandos animos idoneus«.
Eine Erklärung bedürfen einige Ortsbezeiehnungen. R e g i o n e S.
C a 1 g e r heißt noch heute der Landstrich zwischen Lentini und Augusta
gegen das Meer hin. T a r g i a war der Name eines Turmes und des darum
liegenden Gebietes an der Meeresbucht im Norden von Syrakus; diese Bucht
trug nach Livius XXV, 23 den Namen TrogilorumPortus. Midolus
war ein Feudum im Gebiet von Melilli. S. Cusmanum findet man heute
auf der italienischen Generalstabskarte zwischen Melilli und der Meeresküste
als die Ansiedlüng »S. Cusimano« angegeben.
^ Originalausgabe: Braunsehweig und Leipzig, 1803, 8.238 f. — Aus-
gabe Reclam, S. 183 f.
I. Kap.: Grundlagen der Biographie. 23
schon daraus hervor, daß ein Vorwerk dazu gehörte. Dieses hieß
Mi Ilaina. Die dritte Besitzung Astorgas, Mortilletto, war ein
selbständiges Lehensgebiet ^. Näheres darüber ließ sich nicht er-
mitteln. In jener gesegneten Gegend und in jener Zeit, in der die
Bewirtschaftungsverhältnisse für den Lehensträger auf Sizilien so
unerhört günstig waren, nährte schon eine kleine Scholle ihren Mann.
Astorga aber, als Herr der beträchtlichen Besitzung Ogliastro, war
wohlhabend, selbst Wenn sein anderes Feudo, Mortilletto, nur wenig
einbrachte. Jedenfalls gestatteten ihm die Einkünfte aus seinen
Gütern, nicht nur in Palermo standesgemäß zu leben, sondern auch
lange Reisen durch Europa auszuführen.
Noch ein Punkt bleibt zu kommentieren: der Druckort des
Kantatenheftes. Als solcher ist Lisboa occidental (Lisbona
occidentale) angegeben. Die Bezeichnung »occidental«, die wir
nicht gewöhnt sind, mit Lissabon verbunden zu sehen, wird noch
heute in Portugal für den neueren Stadtteil von Lissabon gebraucht,
im Gegensatz zur östlich davon gelegenen Altstadt »Lisboa
oriental«. Die Verlagsanstalt, durch die Astorga seine Kantaten
veröffentlichen ließ, lag also in der Neustadt von Lissabon.
Weshalb aber, so fragen wir, hat der Tondichter seine spanisch-
italienischen Kantaten gerade in der Hauptstadt von Portugal
drucken lassen? Vielleicht, so kann man antworten, weil Lissabon
seit langem besonderen Ruf als Druckort praktischer und theore-
tischer Musikliteratur genoß. In der Mitte des 17. Jahrhunderts
tat sich dort auf diesem Gebiete namentlich die Offizin der Familie
Craesbeck hervor, im 18. die von Miguel und Antonio Ma-
nescal. Neben der letzteren stand auch die »Imprenta de
musica«^, der Astorga sein Werk anvertraute, in Blüte. Aber
^ »II nome di Mortilletto indica una baronia ossia territorio feudale,
come si vede dal processo No. 5065, e Taltro di M i 1 1 a i n a denota una tenuta
feudale annessa alla baronia e feudo dl Ogliastro (proc. d'inv. No. 5472)«.
Aus den Akten des Staatsarchivs zu Palermo mitgeteilt von Herrn Direktor
Giambruno.
s Sie ist wohl identisch mit der »T y p o g r a p h i a M u s i c a e«, aus
der 1728 der Liber Processionum von Duarte Lobo hervor-
ging, sowie mit der »O f f i c i n a da M u s i c a«, durch die 1735 J. B a r -
radas Pam e Morato seine »F 1 o r e s M u s i c a e s« bekannt gab.
24 1. Teil: Astorgas Leben.
auch in Spanien und in Italien gab es bedeutende Offizinen für
Notendruck, — und der Stich der Kantaten wäre gewiß auch in
diesen Ländern, für die ja der Inhalt der Publikation bestimmt
war, vorzüglich ausgeführt worden. Die Bevorzugung Lissabons
dürfte wohl durch persönliche Beziehungen des Meisters zu dieser
Stadt veranlaßt worden sein. Schon eine der frühesten gedruckten
Quellen (Hawkins) berichtet, Astorga habe sich »einige Zeit« in
Lissabon aufgehalten. Daß ein solcher Aufenthalt des Meisters
aber annähernd mit der Veröffentlichung seiner Kantaten zusammen-
fiel, ist höchst wahrscheinlich. Im 17. und 18. Jahrhundert pflegten
die Autoren ihre Werke in der Regel dort drucken zu lassen, wo sie
wohnten. Astorga mochten aber noch besondere Gründe veran-
lassen, bei der Drucklegung seiner Kantaten selbst zugegen zu sein.
Wir wissen aus seiner Vorrede, welche Bedeutung er selbst seinem
Werke beimaß. Eine tadellos korrekte Ausgabe wird er dringend
gewünscht haben. Deren Herstellung wurde aber dadurch er-
schwert, daß der Text der Kantaten in zwei den portugiesischen
Stechern nicht geläufigen Sprachen stand. Astorga wird die Kor-
rektur gewiß keinem anderen überlassen, sondern an Ort und Stelle
selbst besorgt haben. Schließlich spricht auch die besonders
innige Teilnahme, die er für das Erscheinen seines ersten
gedruckten Werkes hegte, für seine persönliche Anwesenheit bei
dieser Gelegenheit. Faßt man alle Momente zusammen, so ergibt
sich mit höchster Wahrscheinlichkeit, daß sich Emanuel d'Astorga
im Jahre 1726 und wohl auch schon vorher, in Lissabon aufge-
halten hat.
Eine Menge wichtige Neuigkeiten haben wir aus den beiden
eingangs beschriebenen Quellen gewonnen. Heben wir ihre Haupt-
punkte noch einmal in Kürze hervor:
Emanuel d'Astorga entstammte der kastilischen, in Sizilien an-
sässig gewordenen Familie Rincon d'Astorga. Den Baronstitel
führte er nach seinen Lehensgütern auf der Insel Sizilien. Diese,
Ogliastro, Millaina und Mortilletto, lagen an der Ostküste der Insel,
in der Nähe der Stadt Augusta. Sie gewährten ihm so reichliche
Einkünfte, daß er standesgemäß leben und große Reisen unter-
nehmen konnte. In den Jahren 1717 und 1718 bekleidete er das
\
II. Kap.: Die Vorfahren. 25
Ehrenamt eines Senators zu Palermo. Im Jahre 1726, und wohl
schon einige Zeit vorher, hielt er sich höchst wahrscheinlich in Lissa-
bon auf, wo damals die Publikation seiner spanisch-italienischen
Kantaten erfolgte.
Das sind Ergebnisse, an die sich nach verschiedenen Richtungen
hin weitere Forschungen anknüpfen lassen.
IL Kapitel.
Die Vorfahren.
Es hat viel Verlockendes, die Ahnen großer Männer in die ferne
Vergangenheit hinauf zu verfolgen. Oft begegnet man dabei geisti-
gen Vorläufern des großen Enkels, welche, sei es auf demselben Ge-
biete wie dieser, sei es auf anderen, sich hervorragend betätigten.
Aber es gibt auch Ahnenketten, bei denen man keinem Gliede den
Ruhm zusprechen kann, das Genie auf den Enkel vererbt zu haben.
Dann scheint es, als ob die Natur viele Generationen hindurch un-
bemerkt die Kraft aufgespeichert hätte, die in dem einen Gliede
plötzlich zur Auslösung kommt.
Ob es uns wohl gelingen wird aufzuspüren, zu welcher Art
^Astorgas Vorfahren gehörten? Ob es uns überhaupt glücken wird,
Vorfahren von ihm zu ermitteln?
Wir kennen seinen Familiennamen und Adelstitel, wir wissen,
daß seine Ahnen aus Spanien stammten. Gewisse Richtpunkte
für Nachforschungen nach seinen Altvordern sind mithin ge-
geben.
Am nächsten liegt es, den Ursprung der Familie in der spani-
schen Stadt zu suchen, deren Namen sie trägt, in Astorga.
Diese, am Tuerto in der Provinz Leon gelegen, ist aus der antiken
Asturica Augusta hervorgegangen. In der Römerzeit mächtig und
groß, war sie auch noch im Mittelalter volkreich. Heute ist sie
ein unbedeutender Ort mit etwa 6000 Einwohnern, die Spinnerei
und Weberei treiben. Wir konnten nicht erfahren, ob in den
Kirchenmatrikeln der Stadt eine Familie namens Rincon vor-
26 1. Teil: Astorgas Leben.
kommt^. Daß aber die Wahl des Adelswortes d'Astorga nicht
ganz grundlos war, daß irgend ein Zusammenhang zwischen der
Stadt und der Familie gleichen Namens bestand, ist ziemlich
selbstverständlich. Mochte nun jener Rincon, der den Adel
d'Astorga erhielt, aus Astorga stammen, mochte er sich vor den
Mauern der Stadt im Dienste des Königs besonders ausgezeichnet
haben, — sein Hidalgotitel wurde nach dieser Stadt bestimmt. Ihr
Name wurde des Geschlechtes bleibendes Ehrenmal.
In Astorga herrschte seit 1465 in ihrem festen Schlosse* die
Dynastie der Markgrafen von Astorga. König Heinrich IV.
hatte Stadt und Umgebung zur Markgrafschaft erhoben und als
Lehen dem Hause Ossorio zugewiesen. Dieses erhielt sich dauernd
bei Hofe in hoher Gunst. Als im Jahre 1659 der Mannesstamm er-
losch, ging die Markgrafenwürde an den Neffen des letzten Ossorio
über, an Antonio Sancho Pedro Davila, der sich nun Davila
y Ossorio, Marques de Astorga nannte. Er war wohl die
glänzendste Erscheinung unter allen Markgrafen von Astorga. 1672
zum spanischen Vizekönig von Neapel ernannt, verwaltete er dieses
Amt bis zum Jahre 1675. Seine wichtigste Tat war die Unter-
drückung des Aufstandes der Messinesen gegen die spanische Herr-
schaft (1674)'. In Neapel stand er nicht im besten Leumund; man
sagte ihm nach, er habe während seiner Regierungszeit widerrecht-
lich seine Kassen gefüllt. Er liebte die Kunst und besuchte nament-
lich gern die Oper. Verschiedene Libretti von Opern, die unter
^ Meine in spanischer Sprache geschriebene Anfrage über diesen Gegen-
stand beim Bischof von Astorga (7. V. 1909) blieb unbeantwortet. —
Wie D. Quiller in Iglesias in seiner »Historia de la Ciudad
de Astorga (Valladolid 1840, S. 64) mitteilt, ist das Archiv der Kathedrale
zu Astorga, das viele Dokumente zur Geschichte der Könige von Leon und
Asturien enthielt, im Jahre 1809 von den Franzosen und Engländern ver-
brannt worden. — Der Name Rincon kommt in Iglesias' Werk nicht vor.
* Im »Boletin de la Real Academia de la historiac
Bd. XLIV (Madrid 1904), S. 94, wird über einen Inschriftenfund berichtet,
der auf der Stelle gemacht wurde, »donde estuvo el castillo del Marques de
Astorga«.
• Peter Qiannone, Bflrgerliche Geschichte des
KOnigreichsNcapel. Deutsche Übersetzung von Lohenschiold.
Ulm, Frankfurt, Uipzig, 1758. Bd. IV. S. 577 ff.
II. Kap.: Die Vorfahren. 27
seiner Regierung in Neapel zur Aufführung kamen, z. B. das von
Cestis »Genserico« tragen schmeichelhafte Widmungen an ihn^..
Nach Madrid zurückgekehrt, wurde er zum Staatsrat und General
der Artillerie ernannt 2. Als er 1689 kinderlos starb, ging die Mark-
grafenwürde von Astorga an seinen Neffen Melchior Guzman
über, der 1707 als Gouverneur von Galicien genannt wird. Dessen
erste Ehe war kinderlos, der zweiten , 1684 geschlossenen, entsprofite
nur eine Tochter: Anna de Guzman ^ Auf welchem Wege sich
dann die Markgrafenwürde von Astorga bis heute forterbte, — noch
jetzt gibt es unter den Granden von Spanien einen Marqu^ de
Astorga — das zu verfolgen ist nicht unsre Aufgabe.
Hängt nun unseres Tondichters Familie mit diesem Mark-
grafengeschlecht zusammen? Gewiß nicht. Die Markgrafen bis zu
des Meisters Zeiten gehörten dem Hause Ossorio, bezw. Davila y
Ossorio an, unsre Astorgas aber dem Hause Rincon: Zwei selb-
ständige Geschlechter, die nur zufällig in ihren Titeln ein Wort ge-
meinsam haben. Nicht der geringste Beweis für einen verwandt-
schaftlichen Zusammenhang beider ist vorhanden.
Bei der Aufspürung von Astorgas Ahnen versprach eine Durch-
forschung der älteren historischen, genealogischen und statistischen
Literatur Spaniens Erfolg.^ In allen uns erreichbaren derartigen
Werken fanden wir nicht ein einziges Mal den Doppelnamen Rincon
iBenedetto Croce, I teatri di Napoli. Secolo XV— XVIII.
Napoli, 1891. S. 171, 177.
* M^moires de la Cour d'Espagne depuls rannte 1679 jusqu'en
1681. Paris 1733. S.253 und 327.
<J. 0. Imhof, Recherches historiques et g6n£a-
logiques des Grands d'Espagne. Amsterdam 1707. S. 125.
*• Für die mannigfachen Anregungen und Unterstützungen, die mir im
Verlauf meiner Studien durch die Herren von der kgl. Bibliothek zu
Dresden, besonders Herrn Hofrat Professor Richter, sowie die
Herren Bibliothekare Arno Reichert, Dr. Viktor Hant^^ch
und Dr. Hubert Richter zuteil wurden, sei auch an dieser Stelle der
herzlichste Dank gesagt. Auch einigen anderen Herren, die teils durch ihr
Interesse, teils durch Rat und Tat meine Arbeit zu fördern suchten, sei hier
gedankt, so den Herren Marchese Antonio Bottini, Professor an der
Universität zu Pisa, Professor Otto Schmid in Dresden, Professor
Anton Mayr in Wien und Dr. Alfred Ebert in Berlin.
28 1. Teil: Astorgas Leben.
de Astorga, wohl aber jeden der Namen für sich verzeichnet:
Rincon häufig, de Astorga selten. Beide erscheinen bereits in
der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts. Die Träger des Namens
de Astorga kommen naturgemäß als die nächsten Verwandten
Emanuels in Betracht. Einzelne von ihnen mit Sicherheit als
seine Ahnen zu bezeichnen, geht jedoch nicht an. Denn so gut wie
die Rincones de Astorga den Namen Rincon, so konnten auch
Glieder des Markgrafenhauses de Astorga den Namen Osso-
ri im täglichen Verkehr weggelassen und sich kurz als Mie Astorga«
bezeichnet haben. Der Stand der meisten de Astorga, von denen
wir Kunde erlangten, spricht allerdings mehr für deren Zugehörig-
keit zum Hause Rincon de Astorga als zu dem Markgraf enhause^.
Doch fehlt eben der entscheidende Beweis dafür, den nur die Bei-
fügung des Stammesnamens hätte liefern können. Aber auch aus
der großen Menge der Vertreter des Namens Rincon kann keiner
mit Bestimmtheit als Verwandter des Meisters bezeichnet werden.
In den Dokumenten des Generalarchivs des Königreichs Spanien
zuSimancas^ findet sich der Name de Astorga zum ersten Male
im Jahre 1489 erwähnt. Dort ist die Rede von einem Gonzalo
de Astorga, der »Armbrustschütze zu Pferd in Diensten Heinrichs
IV. und der katholischen Könige« war. Er stammte aus Medina
del Campo in Altkastilien und war mit Catalina Rodriguez
verheiratet*. Während der Regierung Karls V. erscheinen Ber-
nardo und Gregorio de Astorga in militärischen Stellungen;
»etwas später«, — aber wohl auch noch im 16. Jahrhundert —
^ Nur einem einzigen de Astorga sind wir b^egnet, dessen Stand
mehr für seine Abstammung vom Markgrafenhause sprach: Es war der Erz-
bischof von Toledo und Primas von Spanien D. Didacus (Diego) de
Astorga, der 1727, kurz nach seiner Ernennung zum Kardinal, starb.
Vgl. [MichaelRanfft s] Genealogisch-historischen Archi-
var! US Bd. II, Teil 10 (Leipzig 1734) S. 153.
' Die Mitteilungen aus dieser Quelle verdanke ich dem Herrn Direktor
des Archivo General zu Simancas, Julian P a z , der die Güte hatte, die
»indices personales« des Archivs auf unser Thema hin durchzusehen.
* »Gonzalo de Astorga, ballestero de ä caballo de Enrique IV
y de los Reyes catölicos, casado con CatalinaRodriguez y que vivia
en 1489. De este consta que era natural de Medina del Campo«.
1 1. Kap. : Die Vorfahren. 2§
wird ein Sergeant Diego de Astorga erwähnt. Ein königlicher
Schloßkaplan Juan deAstorga, derum 1560 lebte, ist der letzte,
über den ich aus den Akten des spanischen Archives Nachricht
erhielt K
In der gedruckten Literatur begegnet uns zuerst ein Bildhauer
de Astorga, Juan mit Vornamen. Er war um 1553 in Medina
del Campo tätigt; von seinen Werken ist nichts auf uns gekommen,
und wir wissen nicht, ob er ein Künstler oder ein Handwerker war.
Ein anderer Juan de Astorga erscheint zu Anfang des 17. Jahr-
hunderts. . Er war in Almad6n in der Sierra Morena (Neukasti-
lien) zu Hause, wo er die Stellung eines Vogtes über die Minenarbeiter
in den seit dem Altertume berühmten Quecksilber- und Zinnober-
gruben innehatte. Er bewarb sich in den Jahren 1615—1618 um
die Würde als »Familiär« im Inquisitionstribunal zu Toledo. »Fa-
miliär « des Santo Oficio, d. h. Späher des Ketzergerichts zu werden,
galt damals für jeden Spanier als höchst erstrebenswertes Ziel. Als
Bewerber dieser Art lernen wir ferner einen Eusebio de Astorga
aus Toledo kennen, dessen Gesuch im Jahre 1656 eingereicht
wurde*.
^ »Figuran entre los militares Bernardo y Gregorio de
Astorga, hombres de annas que sirvieron k las ördenes de Carlos V. durante
el siglo XVI. El primero de ellos estaba casado con Magdalena Perez.
Tambien f igura el sargento Diego de Astorga de 6poca algo posterior . . .
[y] un Juan de Astorga, Capellän de los Reyes en 1560.«
• Ulrich Thieme und FelixBecker: AllgemeinesLexl-
kon der bildenden Künstler. II. Bd. Leipzig 1908 S. 207:
»Astorga, Juan de, Bildhauer in Medina del Campo. 1553 urkundlich
erwähnt. Quelle: Marti y Monsö, Estud. histor. artist. 8.178«. ^-
Den Hinweis hierauf verdanke ich Herrn Chemiker Friedrich Schmid
in Dresden.
*Archivo Histörico Nacional: Catälogo de las causas
contra la fe seguidas ante el Tribunal del Santo Oficio dela Inquisition
de Toledo y de las informaciones genealögicas de los Pretendientes ä
oficios del mismo. Madrid 1903. S. 351 :
. »Juan de Astorga, vecino y natural de Almad^n y Alcaide, que
es de los forzados y sciavos que el Rey tiene en la mina de acogue de dicha
Villa, y de su mujer M ä r q u e z (Catalina), de la misma naturaleza.
Cargo que pretenden: Familiär.
Aflos: 1615—1618.
so 1. Teil: Astorgas Leben.
Damit geht die nicht eben lange Reihe der de Astorgas, die
wir ausfindig machen konnten, zu Ende.
Von den zahlreichen seit dem 15. Jahrhundert bis heute nach-
weisbaren Spaniern namens Rincon oder del Rincon^ seien nur
einige, die uns durch ihren Beruf oder ihre Schicksale zu inter-
essieren vermögen, erwähnt.
Um die Wende des 15. Jahrhunderts wirkten in Spanien zwei
Maler namens del Rincon. Antonio, der Vater, stand in Diensten
Ferdinands I. und Doäa Isabellas und starb ca. 1500 in Sevilla.
Sein Sohn Fernando war 1503--4 in Toledo tätig und ist 1518 in
Alcala de Henar es nachweisbar. Beide scheinen in Italien studiert
zu haben; der jüngere stand bereits unter dem Einflüsse der Haupt-
meister der Renaissance 2. Diesem wird von Kennern eine gewisse
Bedeutung für die Entwicklung der spanischen Kunst zugesprochen >•
In der Mitte dßs 16. Jahrhunderts lebte ein bemerkenswertes
Brüderpaar namens Rincon. Seine Heimat war Medina del
Campo in Altkastilien. Beide Brüder waren zu ehrenvollen Lauf-
bahnen berufen, wurden aber sehr ungleich vom Schicksal bedacht.
Während Diego Lopez ein glückliches Alter als Schatzmeister
eines militärischen Ordens in Portugal genießen durfte, kam sein
Eusebio de Astorga y Dofia Francisca Melgar, consortes,
naturales y vecinos de la ciudad de Toledo.
Cargo que pretenden: Familiär.
Aflo: 1656.« —
— Völlig im Dunkel liegt die Herkunft jenes Louis Astorga, der
zwischen 1690 und 1700 »musicien du Duc de Mantoue« war. Wenn sein
Käme richtig verzeichnet worden ist, dann gehörte er nicht zu den Hidalgos
de Astorga. Vgl. [Labordes] »Essai sur la Musique ancienne
e t m d e r n e«. Bd. III (Paris 1780), S. 307.
^ Das Wort Rincon kommt infolge seiner Bedeutung »Winkel« auch
häufig als spanischer Ortsname vor. P a s c u a 1 M a d o z im 13. Bd. des
»Diccionario geografico-estadistico-historico de Espafia« (Madrid 1849) nennt
neunzehn Ortschaften, Bezirke, Seebuchten usw., die den Namen Rincon allein
oder in Zusammenstellung mit anderen Bezeichnungen tragen.
>N agier, Künstler-Lexikon, Bd. 13, München 1843, S. 196. Dort
findet sich auch ein Verzeichnis der Werke beider Meister.
*Ortiz de la Vega, Las Glorias nacionales. Bd. 6. Madrid
1854, S. 363.
i I. Kap. : Die Vorfahren. 31
Bruder Antonio auf einer Reise, die er als Gesandter des Königs
von Frankreich an die Türken unternommen hatte, ums Leben,
Mit einem zweiten Gesandten fuhr Antonio im Sommer 1541 auf
einer Barke den Tessin hinab, um auf dem Po und durch die Lagunen
nach Venedig zu gelangen. Da wurde die Gesandtschaft von
Maskierten in zwei Barken überfallen und niedergemacht. Man
schob die Schuld an dem Verbrechen dem Kaiser zu, der ein Überein-
kommen Frankreichs mit den Türken, das ihm verderblich werden
konnte, habe vereiteln wollen. Der König bat den Kaiser um
Genugtuung für diesen angeblichen Bruch des Völkerrechts;
Karl V. aber erklärte, der Überfall sei ohne sein Wissen ausgeführt
worden, und er sei bereit, die Mörder zur Bestrafung auszuliefern,
wenn man ihre Namen angeben könne. Damit verlief die Angelegen-
heit im Sande, — Antonio Rincons Tod blieb ungesühnt^.
Um das Amt eines Verteidigers der Angeklagten (Abogado de
presos) beim Inquisitionstribunal zu Toledo bewarb sich anno
1606 der in eben dieser Stadt ansässige Lizentiat und Presbyter
Juan del Rincon. Er hatte in und um Toledo zahlreiche Ver-
wandte seines Namens, die schlichte Bürger, Handwerker und Kauf-
leute gewesen zu sein scheinen 2.
Auch Schriftsteller namens Rincon kommen vor. Ein Gabriel
Rincon wird vor 1724 als Verfasser eines heraldischen Werkes ge-
nannt, dessen Titel lautet: »Divisas de los Girones y su declaracion «3.
Ein Kartäuser, P. D. Josef Rincon, war der Verfasser der Annalen
des Klosters »de Nuestra Sefiora Santa Maria de las Cuevas« zu
Sevilla, die um 1744 niedergeschrieben worden sind*.
1 Notas del Marques de Montebelo al Nobiliario
del Conde Debarcelos Don Pedro (Madrid 1646), 8.552. — Die
Ermordung Antonios ist ausführlich geschildert in Johann von
Ferreras' Allgemeiner Historie von Spanien. (Deutsch von Semler,
Halle 1758) Bd. IX, S. 249 f.
' Ersichtlich aus dem Catälogo...de la Inquisiciön de
Toledo in dem oben genannten Archivo Histörico Nacional S. 130 u. 602.
*Q. E. de Franckenau; Bibliotheca Hispanica histprico-genea-
logico-heraldica. Lipsiae 1724. S. 152.
« D.TomasMufloz y Romero, Diccionario bibliogräf ico-histörico
de los Antiguos Reinos, Provincias ... de Espafla. Madrid 1858. S. 247.
i
32 1. Teil: Astorgas Leben.
Gegen Ende des verflossenen Jahrhunderts trat auch ein Musiker
jenes Namens in die Öffentlichkeit: D. ManueldelRincon. Er
war ein Tenorsänger, der um 1876 auf verschiedenen italienischen
und spanischen Opernbühnen Erfolge errangt.
Wer bei der Revue der de Astorgas und den Stichproben aus
der Familie Rincon auf die Heimat der einzelnen Glieder achtete,
dem wird aufgefallen sein, daß hier wie da zwei Orte wiederholt vor-
kommen: Medina del Campo und Toledo. Diese Städte scheinen
die Hauptsitze der Familien gewesen zu sein^.
Wir versagen es uns, detaillierte Vermutungen an die vorstehen-^
den Notizen zu knüpfen und wollen nur noch ausdrücklich hervor-
heben, daß Hidalgos de Astorga seit etwa 1500 in Spanien, und
zwar speziell in Kastilien vorkommen. Das harmoniert aber vor-
trefflich mit unsrem früher gezogenen Schlüsse, daß Emanuels
Ahnen Kastilier waren.
Über seine nächsten Vorfahren, seine Eltern, Verwandten, über
die Zeit, da seine Familie in Sizilien seßhaft wurde, enthalten die
1 Vgl. Baltasar Saldoni, Diccionario biogräfico-bibliogräfico de
Efem^rides de Müsicos Espafloles. Bd. IV, .Madrid 1881,
S. 277 f. Nach dem »Boletin Musical« (Sept. 1878) berichtet Saldoni
über den Sänger: »El Sr. Rincon, que hace ailos marchö ä Italia ä perfeccionarse
en el dificil arte del canto, pertenece ä una famiüa muy distinguida de la pro-
vincia de T o 1 e d o , que cuenta entre sus individuos algunos titulos de Castilla
y capitalistas muy conocidos en la buena sociedad de Madrid«. — Herr C a -
valiereBiagio di Pietra, spanischer Konsul in Palermo und
Herr Joseph Rafel Carreras y Bulbena in Barcelona
hatten die Freundlichkeit, mir eine ganze Anzahl jetzt lebender Spanier
namens Rincon zu nennen.
* Ich richtete (15. III. 1909) an den Pärrocco zu Medina del
Campo eine ausführliche, in spanischer Sprache verfaßte Anfrage, ob sich
aus den Kirchenmatrikeln der Stadt Näheres über den ältesten bisher nach-
weisbaren de Astorga, den Bogenschützen Gonzalo, ermitteln
lasse. Mein Schreiben blieb jedoch unbeantwortet. — Auch inD. Ildefonso
Hodriguez' Historia de Medina del Campo (Madrid 1903
bis 1904) ist nichts darüber zu finden. Auf eine etwa erscheinende Familie
deAstorgazu achten, lag für den Verfasser noch kein Anlaß vor. Ober
Antonio del Rincon, den französischen Gesandten, berichtet er
S. 266 f. — Bürger namens Rincon und del Rincon kommen in dem
Werke wiederholt vor.
MM
II. Kap.: Die Vorfahren. 33
spanischen Quellen nichts, Wohl aber glückte es uns, aus anderer
Quelle Bescheid über diese wichtigen Einzelheiten zu erhalten. Wie
gelangten wir zu diesem heiß ersehnten Ziele?
Aus dem ersten Kapitel wissen wir, daß Astorgas Landgüter
bei Augusta auf Sizilien lagen. Da aber der Herr eines Gutes in
mancher Hinsicht auf den Verkehr mit der Stadt, die seiner Be-
sitzung am nächsten liegt, angewiesen ist, steht zu vermuten, daß
auch Emanuel und seine Vorfahren, soweit sie seine Vorgänger im
Majorat waren, zur Stadt Augusta Beziehungen hatten. Von diesem
Gedanken ausgehend, richtete ich eine Anfrage an das Municipio
zu Augusta, ob in den Archiven der Stadt irgendwelche Nachrichten
über die Familie Rincon d'Astorga vorhanden seien. Herr Ca-
valiere Sebastiano Torresi, Sindaco von Augusta, durch-
forschte daraufhin die Matrikeln der Stadtkirche zu Augusta, und
es gelang ihm nicht allein, eine ganze Menge Träger des Namens
Rincon d'Astorga zu ermitteln, nein, auch das Taufzeugnis
unsres Emanuel aufzufinden. Diese wichtige Urkunde, durch
die mit einem Schlage in bisher ganz dunkle Gebiete der Vor-
geschichte unsres Helden Licht kommt, sei wörtlich nach der Kopie
mitgeteilt, die Herr Oberpfarrer Garay zu Augusta für uns her-
stellen ließ:
Nos Dominicus Garay
Archipraesybter prima Dignitas insignis Collegiatae, et
Rector Matricis Ecclesiae hujus Urbis Augustae sub titulo
Virginis Mariae in Coelum assumptae, fidem facimus, atque
testamur, qualiter, in uno librorum Baptizatorum dictae Ma-
tricis Collegiatae Ecclesiae extat nota tenoris sequentis,
videlicet:
Die Vigesima prima Martii Millsmo Sexagsmo [sie] Oc-
tuagsmo 1680.
Ego Sacerdos D. Petrus Luis, de lic^ Revssmi Parochi,
baptizavi infantem natum heri cir. horam 2. noctis ex Bre
D. Francisco Rincon d'Astorga et Da. Joanna, cui impositum
est nomen Emanuel, Joachim Caesar. Patrini fuere D. Caesar
filius ex qnd. • Brne D. Emanuele et Da. Thomasia Rincon
Volkmann, Astorga. I. . • 3
34 1. Teil: Astorgas Leben.
d'Astorga et Da. Francisca vidua Baronis D. Dominici
Martelli.
In cujus rei veritatem praesentem fieri mandavimus, ac
quo utimur Paraeciae sigillo in pede munitam dedimus.
Augustae, die 28 Novembris 1906.
Archipraesbyter, et Parochus
Dominicus Garay.
Ego infrascriptus Cappellanus Curatus Cand. Carmeius
Pani extraxi originaliter de mandato . . . ut supra. Valitura
pro administrationis uso.
O
(Stempel der
»Arcipretura di Augustaa.)
Unter der Fülle von Neuigkeiten, welche dieses Zeugnis enthält,
sind die wichtigsten:
1. Astorgas voller Name:
Emannel Joachim Caesar, bezw. italienisch: Emanuele
Qioacchino Cesare Rincon d'Astorga.
2. Das Datum seiner Geburt:
20. März 1680.
3. Sein Geburtsort:
Augusta auf Sizilien.
4. Die Namen seiner Eltern:
Barone Don Francesco e Donna Qiovanna Rincon
d'Astorga.
Das sind bisher völlig unbekannte Einzelheiten, die, weil sie
aus absolut zuverlässiger Quelle stammen, alle älteren Angaben
über Astorgas Heimat und Herkunft Lügen strafen.
Bei der Taufe des kleinen Astorga, die wie üblich, am Tage
nach der Geburt, also am 21. März 1680 in der Hauptkirche von
Augusta durch den Geistlichen D. Pietro Luis vollzogen wurde.
II. Kap.: Die Vorfahren. 35
erscheint als Patin eine Donna Francesca, Witwe des Barons D.
Dömenico Martelli. Sie war wohl eine Freundin, vielleicht auch
eine entfernte Verwandte des Hauses. Mit ihr stand D. Cesare
Rincon d'Astorga Gevatter. Dieser Cesare war, wie beigefügt
steht, der Sohn des damals bereits verstorbenen ( »quondam «) Barons
D. Emanuele Rincon d'Astorga, den wir Emanuel den älteren
nennen wollen. Nach den Satzungen des Feudalrechts erbte sich der
Titel Barone nur auf den erstgeborenen Sohn fort. D. Cesare er-
scheint ohne den Titel Baron. Er war also nicht der erstgeborene
Sohn Emanuels des älteren. Wohl war dies aber der Vater des
Täuflings, Francesco, der in der Urkunde als Barone bezeichnet
ist. D. Cesare war also dessen jüngerer Bruder und der Oheim
Emanuels des jüngeren, d. h. unsres Emanuel. Nach jenem
Onkel erhielt letzterer unter anderen den Vornamen »Cesare «. Da
Emanuel der ältere Francescos Vater ist, lernen wir in ihm den
Großvater unseres Komponisten kennen. Die Großmutter hieß
Donna Thomasia Rincon d'Astorga
Soviel läßt sich aus dem Taufzeugnis Emanuels des jüngeren
herauslesen.
Aber durch die Nachforschungen des Herrn Sindaco Cav.
Torresi sind auch noch Spuren anderer Glieder des Hauses Rincon
d'Astorga in Augusta ermittelt worden. Hören wir ihn selbst:
»In quanto poi ad altre notizie relative alla famiglia
d'Astorga, dai documenti esistenti in questa Chiesa Madre,
ho potuto rilevare che essa famiglia figura in Augusta neir
anno 1631, probabilmente proveniente dalla Spagna, con
un certo Diego Rincon d'Astorga, il quäle adottö per figlio
uno schiavo negro, a nome Giuseppe, che fu battezzato
adulto, e prese il nome di Rincon d'Astorga. «
»Nel 1650 troviamo un Don Emanuele Giuseppe, nato
dal Capitano Don Cesare Rincon d'Astorga, e da Donna Ro-
salia Caraffa y Salazar, e fu battezzato nella Madrice di Au-
gusta, facendo da padrino un altro Emanuele Rincon d'Astor-
ga, figlio di Diego e Cecilia Rincon d'Astorga (9 ottobre
1650).«
3*
36 1. Tdl: Astorgas Leben.
Der erste des Geschlechtes, der in Sizilien auftaucht, ist ein
Diego Rincon d'Astorga. Er war wohl in spanischen Militär* oder
Verwaltungsdiensten nach Augusta entsandt worden und hatte
hier eine bleibende Heimstätte gefunden. Aus der Matrikel von
1631 geht hervor, daß er im genannten Jahre einen Negersklaven
Giuseppe, den er adoptiert hatte, und der bereits erwachsen war,
taufen ließ. Nach seinem Adoptivvater erhielt dieser den Namen
Rincon d'Astorga.
Ein Diego d'Astorga wird aber auch in der Matrikel von 1650
erwähnt. Der Mangel jedes weiteren Vornamens bei gleichem Auf-
enthaltsort und annähernd gleicher Lebenszeit läßt darauf schließen,
daß dieser Diego und der vorhin genannte ein und dieselbe Person
sind^. Mithin belehrt uns die jüngere Matrikel, daß Diego außer
dem Adoptivsohn auch einen leiblichen Sohn hatte. Er hieß E ma-
nu ele, seine Mutter Cecilia Rincon d'Astorga. Dieser Emanuel
ist aber kein anderer als Emanuel der ältere, des Komponisten
Großvater. Für .die Identität dieser beiden Emanuels sprechen
dieselben Gründe, wie vorhin für die der beiden Diegos. Nur ein
Bedenken steigt auf: Des Komponisten Großvater war doch Baron,
— und der Emanuel in der zuletzt herangezogenen Taufmatrikel
führt diesen Titel nicht Dieser Widerspruch löst sich jedoch
durch die Erklärung, daß Emanuel d. ä., als er 1650 Pate stand,
noch nicht Baron war, es vielmehr erst danach wurde. Bei
keinem Gliede des Hauses d'Astorga erscheint der Baronstitel vor
jenem Zeitpunkte. Die Familie ist also nach 1650 und vor 1680
(in welchem Jahre Emanuel d. ä. als verstorben bezeichnet wird)
in die Baronie Ogliastro eingerückt. Damit ist ein neues Moment
gewonnen. Das oben gegen die Annahme der Identität Emanuels
d. ä. mit dem Sohne Diegos ausgesprochene Bedenken kann als ge-
hoben gelten, und wir dürfen in Diego, mit dem die Familie im
Anfang des 17. Jahrhunderts in Sizilien Fuß faßte, den Urgroß-
vater unseres Tondichters erblicken.
1 In den Akten des spanischen Qeneralarchivs erscheint auch ein D i e g o
de Astorga (vgl. S. 29). Doch wissen wir zu wenig über ihn, als daß wir Qrund
hätten, zwischen ihm und dem Diego, von dem wir oben sprechen, einen be-
stimmten Zusammenhang anzunehmen.
IL Kap.: Die Vorfahren* 37
Aus der jüngeren Matrikel ersehen wir aber auch, daß im Jahre
1650 in Augusta ein Capitano Don Cesare Rincon d'Astorga
lebte. Er hatte von seiner Gattin Donna Rosalia Caraffa y
Salaz areinen Sohn EmanueleGiuseppe, der im genannten Jahre
in der Hauptkirche von Augusta getauft wurde. Bei der Taufe
stand Emanuel d. ä. Pate. Wie dieser mit dem Capitano ver-
wandt war, ist aus der Matrikel nicht klar zu ersehen. Im allge-
meinen liebte man, den Oheim des Neugeborenen zu Gevatter
zu bitten. Ist hier dieser Brauch befolgt, so haben wir in
D. Cesare Emanuels 4. ä. Bruder zu erblicken. Da sich dieses
Verhältnis ohne Zwang mit den Zeitangaben vereinen läßt, akzep-
tieren wir es. Immerhin weisen wir nur vermutungsweise dem
Capitano seinen Platz im Stammbaum der Familie an, den wir
auf Grund unsrer Darlegungen konstruieren können. Dieser Stamm-
baum, durch ein paar vorweggenommene Resultate unsrer späteren
Untersuchungen vervollständigt, sei auf der folgenden Seite ein-
geschaltet.
Unter allen Verwandten Astorgas interessieren uns natürlich
am meisten seine Eltern. Aus dem Taufschein erfahren wir von
ihnen nicht mehr als die Namen. Und selbst diese sind nicht allzu
genau angegeben; bleibt uns doch nach wie vor verborgen, welcher
Familie Emanuels Mutter Giovanna entstammte. Alle Bemühun-
gen, Einzelheiten über sie zu ermitteln, blieben vergeblich. Da-
gegen zeitigten die Nachforschungen über seinen Vater beachtens-
werte Resultate. Francesco Rincon d'Astorga wurde, wie aus
den Akten des Staatsarchivs zu Palerpio hervorgeht, am 28. April
1679 mit der Baronie Ogliastro samt Vorwerk Mi Hai na belehnt.
Dadurch erhalten wir eine genauere Bestimmung des Todesjahres
von Francescos Vater, Emanuel d. ä. Denn während wir bisher
nur wußten, daß dieser 1680 nicht mehr am Leben war, ergibt sich
aus dem Einrücken seines Sohnes in seine Güter im April 1679,
daß er bereits einige Zeit vor diesem Datum, also wahrscheinlich im
Jahre 1678, gestorben ist. — Als beim Regierungsantritt
Philipps V. eine neue Investitur der spanisch-sizilianischen Lehens-
träger vorgenommen wurde, erhielt auch Francesco Rincon
d'Astorga seine Lehensrechte neu bestätigt. Die darauf bezügliche
38,
]. Teil: Astorgas Leben.
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IL Kap.: Die Vorfahren. 39
Urkunde ist am 19. Januar 1702 ausgefertigt^. — Im Jahre 1705
erscheint Francesco in Palermo, und zwar das gleiche Ehrenamt
bekleidend, das sieben Jahre später sein Sohn Emanuel innehatte,
als Senator der Stadt. Mongitore' schreibt unterm 10. Mai 1705
in sein Diario von Palermo:
»Pigliarono possesso li nuovi senatori, che furono:
D. Giuseppe Garofalo,
D. Caspare Platamone,
D. Matteo Pensabene,
D. Francesco Rincon de Astorga, barone deir Ogliastro,
D. Martino de Leoz, del consiglio di S. C. M.,
D. Francesco Fernandez de Medrano. «
Eine weitere Erwähnung Francescos in den Diarien von Palermo
findet sich nicht.
Aus anderer Quelle erfahren wir aber, wann Francesco gestorben
ist Sein noch jetzt in den Akten des Staatsarchivs von Palermo'
vorhandener Totenschein enthält die Angabe, daß er am 16. Januar
1712, etwa 60 Jahre alt, starb und in der Kirche von S. Domenico
in Palermo beigesetzt wurde. Er muß also um 1652 geboren sein.
Jener Totenschein ist von dem Pfarrer der Kirche von S. Giacomo
laMarinadiPalermo ausgestellt. Diese Kirche besteht heute nicht
mehr. Ihren Sprengel, wie auch ihr Archiv hat bei ihrer Abtra-
gung die Kirche von Sta Cita mit übernommen. In diesem Archiv
findet sich die mit der oben wiedergegebenen gleichlautende Nach-
richt von Francescos Tode, weitere Notizen sind darin weder über
^ »La data d'investitura presa da Francesco Rincon prima del 1705,
i quella deir anno 1679, 28 Aprile per la baronia e feudo di Ogliastro e tenuta
di Millaina (Protonotaro del Regne, vol. 665, fol. 104^). Nel 1702, 19 Qennaro
fu presa altra investitura per la successione del re Filippo V (Processo d'investi-
ture ne. 7 1 29) «. Mitteilung des Herrn Archivdirektors Oiambrunoin Palermo.
» Di Marzo, BibL Sic VIII, 28.
* »Nel processo dMnvestitura no. 7724 dell' anno 1715 si legge un certi-
ficato di morte, rilasciato dal Parroco di S. Qiacomo la Marina di Palermo,
ed in esso si dice che . . . Francesco Rincon d'Astorga mori a 16 Qennaio 1712,
di drca anni 60, e fu sepolto nella chlesa di S. Domenico in Palermo«. Mit-
teilung des Herrn Archivdirektors Qiambruna in Palermo.
40 1. Teil: Astorgas Leben.
Francesco, noch über seine Familie vorhanden i. Die Kirche Von
S. Domenico Jn der des Tondichters Vater seine letzte Ruhestätte
fand, und die von Sta Cita liegen, nicht weit voneinander entfernt,
im nördlichen Stadtteil Palermos in der Nähe des Hafens« In dieser
Gegend der Stadt dürfte also Francesco Rincon d'Astorga in seinen
letzten Lebensjahren gewohnt haben.
Rekapitulieren wir.
Fast ein Jahrhundert lassen sich unsres Künstlers Ahnen in
direkter Linie zurückverfolgen.
Stammvater des auf Sizilien blühenden Zweiges der Rincones
d'Astorga war Diego, der im ersten Viertel des 17. Jahrhunderts,
vermutlich in spanischen Militär- oder Verwaltungsdiensten, nach
Augusta kam. Bald nach Diego erscheinen in August a Cesare
und Emanuele [d. ä.], letzterer sein Sohn, ersterer vielleicht sein
Sohn, vielleicht aber auch ein anderer Verwandter. Dieser Cesare
war im Jahre 1650 Capitano in Augusta. Er hatte einen Sohn E m a -
nueleGiuseppe. Ob dieser seinen Zweig fortgesetzt hat, ist nicht
überliefert. Dagegen steht fest, daß die mit Diegos Sohn Ema-
nuele beginnende Linie weiterblühte. Emanuele selbst wurde nach
1650 durch Belehnung mit der Herrschaft Ogliastro zum Baron und
dadurch zu einem der wohlhabendsten Nobili der Stadt. Etwa 1652
wurde sein erster Sohn, Francesco, der Erbe des Majorats und
Baronstitels geboren. Von seinem später geborenen Sohn Cesare
wissen wir, daß er 1680 noch am Leben war. Ob er Kinder hatte, ist
unbekannt. Francesco verlegte seinen Wohnsitz nach Palermo,
wo er 1712 starb. Er war im Jahre 1680 Vater jenes Emanuele
geworden, der den Namen seines Hauses unsterblich machen sollte.
Wir kommen nun schließlich auf die zu Anfang dieses Kapitels
gestellte Frage zurück, ob unser Komponist wohl unter seinen Ahnen
^ Herr Parroco Simone Bonfiglio von Sta c i t a in Palermo
schrieb mir auf meine Anfrage: ». . . depo le piü accurate ricerche ho trovato
solamente la fede di morte di Francesco Rincon d'Astorga a 16 Oen. 1712
e nuir altro, quantunque per circa mezzo secolo si siano esaminati i registri.« —
Meine Anfrage beim Pfarramt von S. Domenico zu Palermo (16. 1. 1910),
b in den Matrikeln dieser Kirche Glieder der Familie Astorga erwähnt werden,
blieb unbeantwortet.
III. Kap.: Heimat und Jugendjahre. 41
Vorläufer in geistiger Beziehung hatte. Soweit wir seine Vorfahren
2u tiberblicken vermögen, waren sie vortreffliche Staatsbürger, Sol-
daten und Beamte, die es zu Ansehen und Besitz brachten, —
Spuren irgendwelcher hervorragenden Begabung hat jedoch keiner
von ihnen hinterlassen. Berufsmusiker trafen wir weder unter
seinen urkundlich nachgewiesenen Vorfahren auf Sizilien, noch
unter den Rincones und de Astorgas, die vor seiner Zeit in
Spanien lebten. Ob einer oder der andere seiner Ahnen Sinn für
Musik hatte, oder wohl auch aus Liebhaberei Musik trieb, ist aus
den spärlichen Notizen über sie nicht ersichtlich, fällt auch bei der
Entscheidung unsrer Frage kaum ins Gewicht. Sein außerge-
wöhnliches Musiktalent hat Emanuel jedenfalls nicht von seinen
Vorfahren ererbt, sondern frei vom Himmel empfangen.
III. Kapitel.
Heimat und Jugendjahre. 1680—1708.
Augusta, die Vaterstadt Emanuels, liegt malerisch auf einer
Halbinsel im blauen Mittelmeer. Friedrich II. gründete die Stadt
im Jahre 1232 und besiedelte sie vorwiegend mit den Einwohnern
des zerstörten Centorbi. Im Mittelalter war sie von verschiedenen
Nationen umstritten und wurde wiederholt besetzt und zerstört.
Später gewann Augusta Bedeutung als einer der zahlreichen militä-
rischen Stützpunkte der Spanier auf Sizilien. Es wurde Kriegs-
hafen. Philipp II. befestigte ihn durch zwei Forts, durch Castro
Garzia und Castro Vittoria. Im 17. Jahrhundert nahm Augusta
einen lebhaften Aufschwung. Trotz vielfachen Unheils, das nament-
lich zwischen 1650 und 1670 in Form von Pest, Aufständen und
Erdbeben die Stadt betraf, wuchs diese doch zusehends. Im Jahre
1690 zählte sie 12 000 Einwohner. Da brachte der erste Monat des
Jahres 1693 Augusta das furchtbarste Schicksal, das es je betreffen
sollte. Nachdem am 9. Januar ein Erdstoß die Einwohnerschaft er-
schreckt hatte, legte am 11. ein gewaltiges Erdbeben fast die ganze
Stadt in Trümmer. 3200 Menschen kamen dabei um. In der Folge-
42 1. Teil: Astorgas Leben.
zeit erholte sich Augusta langsam wieder. Noch einmal, im Jahre
1848, fügte ein Erdbeben der Stadt bedeutenden Schaden zu. Heute
ist Augusta ein blühender Hafenort. Seine Einwohner, etwa 16 OOO
an der Zahl, treiben lebhaften Handel mit Sardellen, Wein und
Olivenöl. An der Meeresküste, in der Nähe von Augusta, liegen
große Salinen, für den Fremden, der auf der Eisenbahn Sizilien
durchreist, ein Merkmal dieser Landschaft.
Die Stadt Augusta hat außer Astorga noch einige andere be-
deutende Männer hervorgebracht. ^ So gelangte der in Augusta
geborene D. Giuseppe Amodei im 17. Jahrhundert zu hohen
geistlichen Ehrenstellen. Für uns ist er bemerkenswert, weil er
auch ein tüchtiger Musiker war. Als Orgelspieler wie als Komponist
leistete er Beträchtliches. Er schrieb einen Band Messen, deren erste
er seiner Vaterstadt zu Ehren »Messa Augustanese« nannte*. Aus
Augusta stammte das Brüderpaar Francesco und OnofrioVita,
die zu den bedeutendsten sizilianischen Geschichtschreibern im
17. Jahrhundert gehörten. Francesco war auch als Dichter an-
gesehen«. Ferner verdient Mario Moreno Erwähnung. Er wurde
als Sohn eines armen Ziegelbrenners in Augusta geboren. Zum
Geistlichen erzogen, gewann er mit den Jahren höchstes Ansehen
^ Vgl. Francesco Zoppellis Artikel über Augusta in C e s a r e
Orlandis Werk: »Delle Cittä d'Italia, e sue Isole adjacenti.
Compendiose Notizie sacre e profane«. Bd. II, Perugia 1772, S. 352 ff. Dieses
groß angelegte Werk, dessen Stoff in alphabetischer Anordnung dargeboten
wird, gedieh nur bis zum 4. Bande, mit dem erst der Buchstabe B komplett
vorliegt. Die verschiedensten Mitarbeiter waren für das Unternehmen vor-
gesehen. Daß der Artikel über Augusta von Fr. Z o p p e 1 1 i herrührt, geht
aus einer Stelle im Index des 2. Bandes, S. 398, hervor.
•Zoppelli-OrlandiS. 386: »II Reverendissimo Padre D. G i u -
Seppe Amodei Cassinense, Abate Visitatore di Sicilia, e del Monastero
di San Martino di Palermo, dotato di gran condotta nel govemare, Uomo
manierosissimo nel tratto, affabile, ed umile. Essendo intendente di Musica,
compose un Volume di Messe, la prnna delle quali chiamolla Messa Augusta-
nese. Fu anche celebre Suonatore d'Organo«. — E i t n e r (Q.-L.) kennt
diesen Amodei nicht, sondern nur einen Cataldo Amodei, geb. in
Sciacca auf Sicilien, gest. um 1695 in Neapel, wo er als Kapellmeister gewirkt
hatte.
* Zoppelli-.Orlandi, S. 385.
III. Kap.: Heimat und Jugendjahre. 43
ob seiner bedeutenden Gelehrsamkeit^. Er schrieb auch verschie-
dene Operntexte, die von einem, dem Namen nach nicht bekannten
Augustaner in Musik gesetzt und im Theater zu Augusta aufgeführt
wurden. Da Augusta erst ums Jahr 1730 im Palazzo del Comune
ein Theater erhielt 2, so dürften diese Aufführungen im zweiten
Drittel des 18. Jahrhunderts stattgefunden haben. Schließlich ist
als hervorragender Augustaner auch jener Historiker zu nennen,
dem wir die meisten der vorstehenden Notizen über Augusta und
dessen bedeutende Söhne verdanken: Der Abate D. Francesco
Tommaso Zoppelli. Dieser gelehrte Geistliche entstammte der
vornehmen Familie der Savelli, deren Name in Sizilien mundart-
lich in Zopelli, Zoppelli oder Zuppelli abgewandelt wurde. Francesco
war ein ausgezeichneter Kenner der vaterländischen Geschichte. Er
schrieb den Augusta betreffenden Artikel für das große historisch-
topographische Lexikon der Städte und Inseln Italiens, das Cesare
Orlandi seit dem Jahre 1770 herausgab s. In diesem Artikel ge-
denkt Zoppelli unter den Söhnen Augustas auch unsres E ma-
nne le d'Astorga als eines in vielen Wissenschaften, besonders
aber in der Musik bewanderten Mannes, der auch ein großer Klavier-
spieler und Kontrapunktiker gewesen sei: »II Barone Don E ma-
nuelle Astorga versato in molte scienze, ed in particolare nella
Musica. Fu gran Suonatore di Gravecembalo, e Contrappunto «c So
beginnt Zoppellis Astorga-Artikel, dessen weitere Einzelheiten wir
später benutzen werden. Da der Autor nicht lange nach Astorgas
Zeit lebte, schöpfte er aus noch frischer Tradition^. Von beson-
derer Wichtigkeit sind seine Notizen für uns, weil sie die früheste
gedruckte Erwähnung Emanuels als Augustaner enthalten, und
durch sie jeder etwa auftauchende Zweifel, ob der von uns ermittelte
^Sebastiano Salomone: Augusta illustrata ovvero S 1 r i a
diAugusta. Catanla 1876, S. 1 17.
> Ebenda, S. 148.
• Den vollständigen Titel s. Note 1 auf Seite 42.
* Z p p e 1 1 i , dessen Nachricht in Orlandis Werk 1772 gedruckt erschien,
konnte diese bereits einige Jahre vorher geschrieben haben. Vielleicht lebten
zu seiner Zeit noch Verwandte des Meisters in Augusta, vielleicht hat er ihn
selbst noch gesehen.
44 1. Teil: Astorgas Leben.
August aner Emanuel d'Astorga auch wirklich der berühmte Ton-
dichter d'Astorga sei, gebannt wird. — Das geistige Leben seiner
Vaterstadt suchte Zoppelli durch Gründung einer gelehrten Gesell-
schaft zu heben. Er folgte mit dieser Gründung der damals in allen
Städten verbreiteten Mode, alle Bürger, die Interesse für die Wissen-
schaften hatten, zu einer »Akademie« zu vereinen« Die in Augusta
erhielt den Namen »Accademia Megarense«^.
Soviel über Augusta und seine hervorragenden Söhne. Nun
zu seinem größten, zu Emanuel.
Am 20. März 1680, um zwei Uhr nachts, war er zur Welt ge-
kommen. Nichts widerspricht der Annahme, daß seine ersten Jugend-
jahre heiter und ungetrübt verliefen. Seit der frühesten Kindheit
war ihm Musik zu hören der größte Genuß, sie zu üben, der liebste
Zeitvertreib. Bekennt er doch selbst in der Kantatenvorrede, er
habe seit seinen »ersten Lebensjahren« die Musik zu seinem Ver-
gnügen betrieben. Die Erziehung des Knaben war die beim Adel
übliche. Der Hausgeistliche, — gewöhnlich war es ein Jesuit — ,
wird ihn in den Elementarfächem unterwiesen und, soweit es das
kindliche Gemüt fassen konnte, ihm vom allgemeinen Wissen mit-
geteilt haben. In seinem Hausgeistlichen haben wir wohl auch den
ersten Musiklehrer Emanuels zu erblicken, der ihn im Klavierspiel,
im Gesang und in den Anfängen der Theorie unterrichtete. Wenig-
stens spricht nichts dafür, daß der Knabe die ersten musikalischen
Studien bei bedeutenden Fachleuten gemacht habe.
In die stille Bildungszeit Emanuels schlug das furchtbare Natur-
ereignis des Jahres 1693 wie ein Blitz aus heiterm Himmel. Das
grauenvolle Erdbeben, das fast ganz Augusta in Trümmer legte,
brachte zweifellos auch der Familie Rincon d'Astorga Verluste und
Trauer. Obwohl nicht gesagt ist, daß Emanuel in Augusta weilte,
als die Katastrophe eintrat, und er und sein Vater dabei vielleicht
nur knapp das Leben retten konnten, so ist doch sicher, daß das
Unglück auch ihm Wunden schlug. Selbst die Nachricht Von dem
Vernichtungslos, das seine Vaterstadt, seine Verwandten und Freunde
getroffen hatte, mußte die Seele des dreizehnjährigen Knaben aufs
^ Sebastiane Salomone. a. a. O. S. 118.
III. Kap«: Heimat und Jugendjahre. 45
tiefste und schmerzlichste bewegen. Es ist keineswegs unmög-
lich, daß sich Emanuels Mutter unter den Opfern des schreck-
lichen Naturereignisses befand. Wenn Francesco d'Astorga mit
den Seinen zur Zeit des Erdbebens noch in Augusta ansässig war, so
wurde gewiss eben dieses Ereignis der unmittelbare Anlaß zu seiner
Übersiedlung nach Palermo. In der völlig zerstörten Stadt war
seines Bleibens nicht. Zwar liegt erst aus dem Jahre 1705 ein sicherer
Beweis für Francescos Anwesenheit in Palermo vor: Die Nachricht
über seine Wahl zum Senator. Aber er konnte schon längere Zeit
in der Stadt ansässig sein, als er in deren Senat gewählt wurde.
Es ist also wohl möglich, daß Francesco im Jahre 1693 die Gegend,
in der seine Baronie lag, verlassen hat und nach Palermo über-
gesiedelt ist.
Mit der Wahl dieses Wohnortes folgte er der Sitte der meisten
sizilianischen Barone. Diese bewirtschafteten ihre Güter ja keines-
wegs selbst, sondern überließen diese Arbeit einer Schar von Beam-
ten. Für jedes solche Lehensgut gab es einen Capitano, Geschwo-
rene, einen Lokalrichter, einen Obern chter,i — die alle dafür sorgten,
daß die armen hörigen Bauern, über welche das alte barbarische
»mero e misto imperio « den Baronen unumschränkte Macht verlieh,
ihre Pflichten erfüllten. Die Herren aber lebten in der Hauptstadt
der Insel, ihre Zeit in süßem Nichtstun hinbringend. »Sie kauten
auf beiden Backen die Produkte ihrer Lehensgüter, die sie oft genug
nicht ein einziges Mal zu Gesicht bekommen hatten a^. Denn die
Güter wenigstens als Sommeraufenthalt zu benutzen, wie unsere
Großgrundbesitzer tun, daran hinderte sie der Mangel an Straßen
im Inneren der Insel und nicht minder das Banditenunwesen»
Es ist kein Anlaß zu der Annahme vorhanden, daß die Barone
d'Astorga auf Ogliastro die Einrichtungen des Lehenswesens zu
Gunsten ihrer bedrückten Untertanen geändert hätten. Sie waren
Kinder ihrer Zeit, der solche philanthropische Ideen noch fern lagen.
Erst im Jahre 1812 wurde jenes Feudalsystem, das die völlige Aus-
^ Arcangiolo Leanti: Lo stato presente de la Sicilia. Palermo
1761. Bd. II, S.329.
• Nach R. de St. Non, Voyage, zit. bei Giuseppe PI tri: La
Vita in Palermo cento e piü anni fa. Palermo 1904. Bd. I, S. 223.
46 1. Teil: Astorgas Leben.
saugung und Knebelung der Bauern zur Folge hatte, beseitigt.
Von diesem Zeitpunkte an zählt die Epoche des wirtschaftlichen
Aufschwunges Siziliens^.
Auch daß Francesco jemals seine Besitzung Ogliastro wieder-
sah, nachdem er sich in Palermo niedergelassen hatte, ist nicht
recht glaublich. Die Verwaltung seiner Otiter wurde von zuver-
lässigen Beamten besorgt. Diese kassierten die fälligen Gelder
ein und deponierten sie bei einer der Banken in Palermo 2, von wo
der Eigentümer die Summen abhob, die er zum Leben benötigte.
Das entsprach dem allgemeinen Brauch der sizilianischen Barone.
Gehörte es bei den Majoratsherren zum guten Ton, die Hände
in den Schoß zu legen, so pflegten ihre heranwachsenden Söhne die
Zeit in ritterlichen Übungen hinzubringen. Für den Waffendienst
bildeten sich selbst die aus, deren Absicht es nicht war, die Offiziers-
karriere einzuschlagen. Mit Büchse und Degen mußte ein jeder
Nobile umzugehen wissen. Auch Emanuel hat sich diese ritterlichen
Kenntnisse angeeignet. Als er in Palermo seine zweite Heimat
fand, war er ein reiferer Knabe, der natürlich solchen Übungen
reges Interesse entgegenbringt. Der Verkehr mit den zahlreichen
adligen Söhnen führte in der Folge den Jüngling dazu, es ihnen im
Reiten und Fechten und verwandten Künsten gleichzutun. Wir
brauchen daher nicht zu erstaunen, wenn er uns späterhin als
Offizier der Kommunalgarde von Palermo begegnet».
Einen beträchtlichen Teil seiner Jugend hat Emanuel in Palermo
•verlebt. In dieser Epoche konnte seine Entwicklung um so harmo-
nischer, seine Ausbildung um so gründlicher erfolgen, als sie eine
Zeit des Friedens für Sizilien und insbesondere für seine Hauptstadt
war. Was früher* über blutige Aufstände in Sizilien erzählt wurde,
in denen Astorgas Vater als Opfer gefallen sein sollte, bewahrheitet
^J. F. Neigebaur, Sicilien, dessen politische Entwicklung und
jetzige Zustände. 2. Aufl. Leipzig 1848. Bd. II, S. 144.
> Im Jahre 1718 waren in Palermo die bedeutendsten Banken die Colonna
f rumentaria und die sog. »öffentliche Bank«. Vgl. Karl Querner:
Die piemontesische Herrschaft auf Sicilien. Bern 1879. S. 186.
s Das Nähere darüber s. unten, S. 60 f.
* Von Fr. Rochlitz erfunden. Vgl. unten, S. 146f. und 159f.
III. Kap.: Heimat und Jugendjahre. 47
sieh nicht. Allerdings warf die Bewegung, die sich im Jahre 1701
in Neapel gegen das spanische Regiment erhobt, schwache Wellen
bis nach Sizilien. Im genannten Jahre wurden in einigen Städten
der Insel mehrere einer Verschwörung verdächtige Personen ver-
haftet 3; zu einer offenen Empörung oder gar zu Blutvergießen kam
es aber nicht. Die breite Masse der Sizilianer dachte gar nicht
daran, sich gegen die spanische Herrschaft, die seit 1282 auf der Insel
bestand, aufzulehnen. Obwohl die Spanier im Laufe der Jahr-
hunderte für den Wohlstand des Inselvolkes nicht nur nichts getan
hatten, sondern beständig nur auf dessen Ausbeutung bedacht ge-
wesen waren, hatten sich die Sizilianer doch mit der Zeit in die
Verhältnisse gefunden, so daß ihnen das Gefühl ihrer Zugehörigkeit
zu Italien trotz ihrer Sprache und ihres Volkstums entschwunden
war. Sizilien fühlte sich als Teil der spanischen Monarchie. Der
spanische König war auch der von Sizilien, und das Volk ver-
ehrte ihn in dem Vizekönig, der aus Madrid gesandt wurde und in
Palermo glänzend Hof hielt. Man war zufrieden unter der spani-
schen Flagge. Und so wenig im Innern Siziliens Fehde herrschte,
so wenig hatte die Insel auch von äußeren Feinden zu leiden. Sie
erfreute sich des Friedens selbst noch zu der Zeit, wo der spanische
Erbfolgekrieg, in dem doch die Insel selbst eines der Streitobjekte
war, die Länder Westeuropas durchtobte. Auch Überfälle der
Türken, vor denen damals alle westlichen Mittelmeervölker zitterten,
betrafen Sizilien nicht.
Mehr als zum Waffenhandwerk fühlte sich Emanuel ins Reich
der geistigen Kultur hingezogen. Auf dem Grunde, den er in Au-
gusta empfangen hatte, baute er in Palermo seine allgemeine Bildung
weit und vielseitig aus. Die Großstadt bot ja Bildungsmaterial in
Fülle und regte den empfänglichen Sinn des Jünglings durch ihr
^ Wir kommen im 2. Teile unserer Schrift (S. 184 ff.) ausführlich auf diese
Empörung zurück.
• Marchese Angelo Granito, Principe di Belmonte: Storia
della congiura del Principe di Macchia e della occupazione
fatta dalle armi austriache del Regno di Napoli nel 1707. — Napoli 1861.
Bd. I, S. 165. Die Einsicht in dieses seltene Werk ermöglichte mir Herr
Direktor Professor Dr. A. Kopf ermann von der kgl. Bibliothek zu
Berlin; wofür ich ihm zu innigstem Danke verpflichtet bin.
48 1. Teil: Astorgas Leben.
kräftig pulsierendes Leben nach den verschiedensten Richtungen
hin an. Durch fleißiges Studium gelangte Emanuel in den Besitz
von Kenntnissen, welche die Durchschnittsbildung eines Edel-
mannes der Zeit um 1700 beträchtlich überragten. Im Kreise
seiner Freunde stand er mit Recht im Ansehen eines sin vielen
Wissenschaften bewanderten« Mannes, wie ihn sein Landsmann
Zoppelli nennt. Auch Emanuels Kantatenvorrede kennzeichnet
sich als die Äußerung eines vielseitig gebildeten Geistes. Ange-
sichts dieser Prefazione ist es höchst bedauerlich, daß sich keine
weiteren schriftstellerischen Dokumente, namentlich Briefe, von
Astorga erhalten haben. Nicht einen einzigen Brief des Meisters
aufzufinden gelang mir.
Bei Emanuels ausgeprägter Vorliebe für die Musik verlegte
er das Hauptgewicht seiner Studien auf dieses Gebiet. In
Palermo wurden die in seiner Vaterstadt begonnenen musikalischen
Übungen mit Eifer fortgesetzt; hier erfolgte seine Ausbildung zum
Komponisten. Ein regelmäßiges und gründliches Studium des
Kontrapunktes begann, das zweifellos ein Fachmusiker geleitet
hat. Denn Emanuel zeigt in seinem »Stabat Mater« eine so gute
Schulung im strengen polyphonen Satze, daß sie kaum durch Selbst-
studium erworben sein kann. Wer Emanuels Lehrmeister in der
edlen Kunst gewesen sei, hat man zu erraten versucht. In Fran-
cesco Scarlatti, einem Bruder .des berühmten Alessandro,
glaubte man ihn gefunden zu habend. Und was war der Grund für
diese Annahme? Lediglich der Umstand, daß Francesco Scarlatti,
als er sich 1715 um die Vizekapellmeisterstelle in Wien bewarb, in
dem Befürwortungsschreiben des Hofkapellmeisters J. J. Fux als
»26 Jahre gewester Kapellmeister zu Palermo in Sizilien « bezeichnet
wird«. Nun haben aber die neuesten Forschungen» ergeben, daß
Francesco Scarlatti 1684 Violinist in der königlichen Kapelle zu
^ Simon Molitor sprach zuerst eine solche Vermutung aus in
seinem Astorga-Artikel in der Allg. M. Z. 1839; vgl. S. 166 unsrer Schrift
> Vgl. M 1 i 1 r , a. a. O. — Das Befürwortungsschreiben ist ganz
abgedruckt in L. v. K ö c h e 1 s »J o h. J. F u x«, Wien 1872, S. 378.
* Edward J. Dent: Alessandro Scarlatti, hi& Life and
Works. London 1905. S.34.
del-
ileo
inii
net
III. Kap.: Heimat uiid Jugendjahre. 49
Neapel war, daß er sich femer im Jahre 1699 vermutlich in Rom
aufhielt. Durch diese Daten wird die Zeitangabe in jener älteren
Nachricht problematisch und ihre Glaubwürdigkeit überhaupt er-
schüttert. Selbst wenn aber Francesco wirklich periodenweise, —
^^ und, zusammengerechnet, lange Zeit — in Palermo als Kapellmeister
gewirkt hat, — wofür aber jedes unmittelbare Zeugnis fehlt — , so
ist doch durch nichts bewiesen, daß er gerade Emanuel d'Astorgas
Lehrer war. Wie wir gleich sehen werden, gab es in Palermo zahl-
st' reiche Musiker, die ebensogut als solche in Betracht kommen konnten .
'"^ Nur der klangvolle Name »Scarlatti« mag zu jener Annahme ver-
^^ leitet haben, die wir als grundlos fallen lassen.
*" Wir wissen viel zu wenig über Francesco Scarlatti, um be-
urteilen zu können, ob es eine Ehre bedeutete und Nutzen versprach,
^^ dessen Schüler zu werden. Doch ist sicher, daß er sich mit seinem
^^ Bruder Alessandro an künstlerischer Bedeutung keineswegs
'^ messen konnte. Letzterer stand bereits um die Jahrhundertwende
^ auf dem Gipfel seines Ruhmes und übte durch seine handschriftlich
^ verbreiteten Werke auf die ganze musikalische Welt den größten
'^ Einfluß aus. Scherzte man doch bereits 1680 von ihm, er habe »einen
^ Sack voll Arien bis an das Ende der Christenheit getragen «i. Daß
^' sich auch Emanuel dem Einflüsse der Scarlattischen Kunst nicht
entzogen hat, ersieht man schon beim flüchtigsten Vergleich seiner
Kammerkantaten mit jenen Alessandro Scarlattis.
Aber nicht nur die theoretischen und praktischen Studien an
Schreibtisch und Klavier förderten den jungen Emanuel; von höch-
ster Bedeutung für seine Ausreifung war auch das Musikleben der
Stadt Palermo. Das Hören und kritische Erfassen der aufgeführten
Musik läuterte und befruchtete seinen musikalischen Sinn.
Ein Überblick über das Musikleben Palermos um die
Wende des 17. Jahrhunderts, wie er sich aus gleichzeitigen
und neueren Quellen ergibt, möge zeigen, wie vielseitige Eindrücke
die Stadt in jener Zeit dem Musikfreund gewähren konnte.
Palermo stand von alters her an Musikfreudigkeit keiner
anderen italienischen Großstadt nach. Die Chroniken gedenken bei
:r
^ Ebenda, 8. 26.
Volkmann, Astorga. I.
50 1. Teil: Astorgas Leben.
allen möglichen Gelegenheiten der }»sceltissima musica«, die in der
Stadt erklang. Dieser Musikfreudigkeit entsprechend war auch
die Zahl der Musiker von Beruf eine große. Im Jahre 1679
schlössen sich diese zu einem festen Verbände zusammen. Die
»Unione de' Musici« vereinte Instrumentisten und Sänger. Selbst
Geistliche, besonders Organisten und Kapellsänger, traten der
Zunft bei, die nun alle musikalischen Aufführungen in der Stadt,
geistliche und weltliche, von den bescheidensten bis zu den groß-
artigsten besorgte 1. Die Vorliebe der Zeit für konzertierende Musik,
die damals dem Orchester im katholischen Gottesdienste einen weit
größeren Raum vergönnte, als er ihm heute darin beschieden ist,
gab neben den Gängern auch den Instrumentisten der Unione bei
allerlei kirchlichen Anlässen Gelegenheit, sich zu betätigen. Da
waren bald Messen aufzuführen, bald galt's, bei einem Tedeum, bald
bei einem Requiem mitzuwirken. Ein Hochamt mit besonders fest-
lichem Tedeum wurde im Dom zu Palermo am 10. August 1686
aus Anlaß der Siege des Kaisers über die Türken in Ungarn gehalten 2.
Ein ähnlich pompöses Tedeum erklang bei der Kanonisierungsfeier
einiger Heiligen im Jahre 16913. Auch der Tod des spanischen
Königs Karl II. im November 1700 gab Anlaß zu außergewöhn-
lichen musikalischen Veranstaltungen^. Das Fest der heiligen
Rosalia, der Ortsheiligen von Palermo (13. — 15. Juli), das noch
heute das bedeutendste Kirchen- und Volksfest der Stadt ist, wurde
auch damals alljährlich mit Pracht und vielem Sang und Klang ge-
feiert. Im Jahre 1686 versuchte man der Prozession mit dem
Silbersarg der Heiligen besonderen Glanz zu verleihen, indem man
das Musikchor, das ihn auf einem Wagen begleitete, in die Volks-
trachten der verschiedenen Reiche des spanischen Königs steckte,
und selbst die Pferde, die ihren Wagen zogen, als Elephanten,
Tiger und andere wilde Tiere maskierte«.
1 Fit r^, a.a.O. II, 102 ff.
> Mongitore, Diari. Di Marzo, Bibl. Sic. VII, 51.
» Ebenda, VII, 96.
* Ebenda, VII, 205.
» Ebenda, VII, 50.
III. Kap.: Heimat und Jugendjahre. 51
Die Vorliebe des Volkes für öffentliche Unterhaltungsmusik
führte im Jahre 1681 zum Bau einer Musikhalle in der Nähe des
Hafens, »Teatro di Musicaa oder »Teatrino« genannt. In diesem
Pavillon musizierten während der schönen Jahreszeit zu allen Sonn-
und Festtagen die ausgezeichnetsten Künstler von Palermo auf
Kosten des Senats. Die promenierende Menge, die sich hier an
heißen Tagen auch noch der kühlen Luft des Meeres erfreute, lauschte
mit Vergnügen dem Vortrag beliebter Gesangsstücke und gefälliger
Orchestersätze. An Werktagen stellten sich im Teatrino öfter die
von alters her beliebten Pifferari ein, die mit ihrer primitiven Volks-
musik ein anspruchsloses Publikum ergötzten.^
Bei politischen Festlichkeiten wurde in Palermo ebenfalls mit
Musik nicht gespart. 2og ein neuer Vizekönig ein, so wurden an
den Quattro Cantoni am Kreuzupgspunkte der beiden Hauptstraßen
der Stadt vier prächtige Tribünen errichtet, auf denen zur fest-
lichen Stunde vier Musikchöre teils wechselweise, teils gemeinsam,
spielten. Mit solch einem Festkonzert wurde z. B. der Vizekönig
D. Pietro Colon im Mai 1699 begrüßt». Auch die Genesung des
spanischen Königspaares von schwerer Krankheit im Oktober 1696
war ein Anlaß, nicht nur Dankgottesdienste, Illuminationen und
^ »Fabricossi pure in quest' anno [1681] fuori porta Feiice, innanti la
cappelletta di S. Ninfa, a disegno deir ingegnoso architetto D. Paulo Amato,
un teatro per musica ,dove i piü vantaggiati musici, salariati dal senato, ogni
festa, cominciando da . . . sino a . . ., donano con bellissime cantate di ariette
€ dialoghi musicali, e con nobilissime sonate, dilettevole trattenimento ai
cittadini. E i giorni di lavoro, i sonatori di pifere, qua!! da gran tempo ha
usato Palermo, come ne fa fede il Baronio, DeMajest. Fan. IIb. I,
f. 142, vengono a formar anch'essi grato trattenimento a' Palermitani, che
qui nel tempo estivo si portano, come che ben atto a rattemprare ogni calore
per il grato spirare, ch'ivi fa Taura del mar vicino«.
So erzählt Mongitore (Di Marzo, Bibl. Sic. VII, 14) und knüpft
daran eine detaillierte Beschreibung des Bauwerkes. Nach P i t r ö (a. a. O. II,
112) erfreuten sich die Aufführungen im »Teatrino senatorio«, wie man die Halle
später nannte, besonders am Johannistage und zu Kreuzerhöhung (14. Sep-
tember) größter Beliebtheit bei den Palermitanern. Noch heute versammelt
sich die vornehme Welt Palermos an Sommerabenden an der Marina bei den
Klängen der Musik, die von dem modernisierten Teatrino herabwallen.
«Mongitore, Di Marzo, Bibl. Sic. VII, 187 f.
4*
52 1. Teil: Astorgas Leben.
Feuerwerke zu veranstalten, sondern auch an den Quattro Cantoni
»Jubelmotetten« (»mottetti giulivi«) aufführen zu lassen^.
Bei Nationalfesten waren überhaupt Musikaufführungen mit
großen Materialmassen — man könnte sagen »Monstrekonzerte « —
beliebt. Bei dem soeben erwähnten Qenesungsf este spielten während
der Illumination zwei Musikchöre. Die Rückkehr der spanischen
Regierung im Jahre 1735 wurde durch »Dialoghi« gefeiert, die von
acht Musikchören ausgeführt wurden 2. Für eine Serenade zu
Ehren der Malteserritter in der Galerie des königlichen Palastes im
Mai 1701 bot der Vizekönig sämtliche Sänger und Instrumen-
tisten auf, die es in Palermo gab^. Die Ode melodrammatica,
die damals zur Aufführung kam, hieß: »La gara Concorde deir
universo« und war von dem königlichen Sindicatore D. Giuseppe
Prescimone gedichtet; von wem die Musik stammte, ist nicht
überliefert.
Dieses melodramatische Gebilde legt uns die Frage nahe, wie es
in Palermo um die Oper bestellt war. Diese Kunstgattung, die
in Florenz entstanden und dann in Venedig in der Mitte des
17. Jahrhunderts zur ersten großen Blüte gelangt war, hatte sich
allmählich über alle italienischen Kunststädte verbreitet. In
Neapel war bereits 1651 Monteverdis Incoronazione di Poppea*
zur Darstellung gekommen ; die Werke anderer großer Norditaliener
waren gefolgt, als Neapel die Führung in der Weiterentwicklung der
Oper übernahm. Francesco Provenzale hatte seit 1671 in
seinen Opern die neue Richtung eingeschlagen; er ist der Begründer
des neapolitanischen Opernstils ^, der dann unter Alessandro
Scarlatti zur höchsten Entfaltung kam. Von Neapel aus, also
ziemlich spät in der Gesamtentwicklung, empfing Palermo die
Kunst der Oper. Die Nachricht von der Eröffnung eines Opern-
1 Ebenda, VII, 149.
s Ebenda. IX, 291.
> Ebenda, VII, 285.
*Vgl. BenedettoCroce:I Teatri di Napoli, Secolo XV— XVIII.
NapoU 1891. S. 132.
* Vgl. HugoGoldschmidt: Francesco Provenzale als Dramatiker.
Sammelbände der I. M. 0. VII, 608 ff.
III. Kap.: Heimat nnd Jugendjahre. 53
hauses im Jahre 1693 enthält die früheste bestimmte Zeitangabe
über das Auftauchen der Oper in dieser Stadt. Wohl hatten dort
schon vor der Eröffnung des Opernhauses musikalisch-dramatische
Aufführungen stattgefunden. Wir wissen über sie nur, daß sie von
der Unione de' musici veranstaltet wurden, und zwar in einem
Speicher an der »Calata delli 6iudici «, den die Genossenschaft von
der Familie Valguarnera dazu gemietet hatte. Diese Räumlichkeit
entsprach jedoch in keiner Weise den künstlerischen Zwecken. So
nahm denn die Unione die Gründung eines eigenen Opernhauses
in die Hand. Reiche Bürger und selbst der Vizekönig Duca d'Uzeda
steuerten zu den beträchtlichen Baukosten bei^. Die Herren von
der Zunft wählten für ihr Theater die Stelle, an der das alte
Kirchlein ihrer Schutzheiligen, der Sta Cecilia lag*, nicht weit von
der Fiera vecchia, der heutigen Piazza della Rivoluzione. Die ver-
schwindende Kirche gab dem erstehenden Kunsttempel den Namen.
Das Teatro Sta Cecilia besteht, geschmackvoll renoviert, noch heute;
in seinen Größen Verhältnissen ist es aber mit den modernen Theatern
nicht mehr konkurrenzfähig, zumal mit denen Palermos, unter
welchen sich das größte Theater von ganz Italien befindet: das
Teatro Massimo, das 3200 Zuschauer faßt. Jenes erste Opernhaus
wurde im Jahre 1692 begonnen und im Herbst 1693 vollendet.
Am 28. Oktober dieses Jahres wurde es mit der Oper »L'innocenza
penitente« eröffnet. Das Werk verherrlichte das Leben und die
Frömmigkeit der heiligen Rosalia und war von D. Vincenzo
Giattini aus Palermo gedichtet s; wer es komponiert hatte,
verraten die Quellen nicht. Wü* dürfen annehmen, daß dieser reli-
giösen Lokaloper andere Werke historischen, mythologischen und
Pastoralen Genres gefolgt sind. Auch die Erstlinge der Opera
buffa stellten sich ein. Dieser Gattung, deren Entwicklung zur
Selbständigkeit eben erst begann, gehörten zweifellos die »Comedie in
musica« an, die laut Mongitore^ im Oktober 1696 und im Juni 1704
1 Mongitore, Di Marzo, Bibl. Sic. VII, 117 f.
« Pitrfe, a.a.O. II, 102.
* Mongi tore,a. a. O.VII, llSund Vincenzo Auria : Histo-
riacronol. d. S. VicerödiSicllia (Palermo 1697), S. 202.
« Mongitore VII, 149 und VIII, 23.
54 1. Teil: As torgas Leben.
zum allgemeinen Vergnügen gegeben wurden. Im ganzen haben
wir uns das Opemleben von Palermo als einen Abglanz desjenigen
von Neapel zu denken, woher nicht nur die meisten Bühnenwerke,
sondern auch die meisten Bühnensänger kommen mochten.
Notizen über Aufführungen von Oratorien stammen erst aus
einer späteren Zeit. Solche über di6 Pflege der Kammermusik
sind bei dem privaten Charakter dieses Kunstzweiges nicht häufig
in historischen Schriften zu finden. Nur wenn irgend eine hoch-
gestellte Person ihren Gästen mit einem »Trattimento di Musica«
aufwarten ließ ^, hielt dies der Chronist für bemerkenswert. Häus-
liche Musikpflege herrschte in Palermo ebenso wie in anderen
italienischen Städten. In den Palästen der Barone so gut wie in
den Bürgerhäusern erklang das Spiel der Laute, des Clavichord und
der Geigen, und sangesfreudige Jugend bezauberte die Herzen mit
zärtlichen Kammerkantaten und -duetten. Bei größeren Gesell-
schaften wurden auch Künstler von der Unione de' Musici zur Mit-
wirkung herangezogen. Doch blieb die gesellschaftliche Grenze
streng gewahrt* Jeder Dilettant hätte sich den Vergleich mit einem
Berufsmusiker, auf dessen Stand man geringschätzig herabblickte,
verbeten. Die Berufsmusiker galten als Proletariat; mithin war
auch ihre Besoldung gering. Noch gegen Ende des 18. Jahrhunderts
erhielt die Unione für die Aufführung von zwei Messen nicht mehr als
3 Unzen und 2 Tari,^ das ist nach dem heutigen Münzfuße etwa
39 Lire, also kaum 32 Mark nach unserer Währung. Man ließ die
Unione nur als Arbeitergemeinschaft gelten; der einzelne Künstler
bedeutete nichts. Dadurch wird erklärlich, daß uns fast gar keine
Namen einzelner Musiker jener Zeit überliefert sind. Ein einziger
Palermitaner Meister wird zu Anfang des 18. Jahrhunderts seiner
offiziellen Stellung halber genannt: Der Kapellmeister des Senats
und der kgl. Kapelle D. Giuseppe Dia. Dia war auch Komponist
und brachte am 19. Dezember 1703 zum Geburtstage Philipps V.
von Spanien einen Dialogo a cinque voci von seiner Arbeit zur Auf-
führung*. Dieser Dialog war von einem Priester, D. Giachino
1 A. a. O. IX, 240.
« PitrÄ, a.a.O. 11, 108.
s Mongitore, a.a.O. VIII, 14.
III. Kap.: Heimat und Jugendjahre. 55
Luciano, gedichtet und trug den Titel »Qli arbitri de! Tempo
e della Fortuna«, — eine jener allegorischen Festoperetten, die
im 18. Jahrhundert wie Pilze aus der Erde schössen.
Dieser Überblick genügt, um darzutun, daß das Musikleben in
Palermo ein reges und vielseitiges war. Emanuel d'Astorga konnte
in Palermo alle Stile und Gattungen der italienischen Musik kennen
lernen. Von der einfachen Kammerkantate bis zur solennen Fest-
messe und von der schlichten Volksmusik der Pifferari bis zum
gewaltigen Dramma per musica boten sich ihm Werke aller Musik-
gattungen in stilgemäßen Aufführungen dar.
Wenn die Erstgeborenen des Adels volljährig geworden waren,
pflegten sie sich jenen Höfen vorzustellen, mit denen in Konnex
zu stehen ihrem Hause wünschenswert erschien. Auch Emanuel
wird aus diesem Grunde, zugleich aber auch um seinen Gesichts-
kreis als Mensch und Künstler zu erweitern, mit etwa zwanzig
Jahren auf Reisen gegangen sein.
Vermutlich zog er zuerst in das Land seiner Väter, nach Spanien.
Denn den Hof des »katholischen Königs«, seines Monarchen und
künftigen Lehensherrn kennen zu lernen, wird ihm gewiß zumeist am
Herzen gelegen haben. Beweise für seinen Aufenthalt in Madrid
waren nicht zu erlangen i, doch ist an einem solchen nicht zu zwei-
feln. Gänzlich zurückzuweisen sind die Märchen über den Schutz,
den ihm die am spanischen Hofe mit größtem Einfluß waltende
Fürstin Ursini habe angedeihen lassen. Nicht der geringste Beleg
für eine derartige Annahme war aufzufinden 2. Natürlich wird
Emanuel die Fürstin kennen gelernt haben, wie er all die Granden
und adligen Damen, die am Hofe zu Madrid verkehrten, kennen
lernte, vorausgesetzt, daß er überhaupt noch in der spanischen
Hauptstadt weilte, als die Prinzessin dort auftauchte. ^
^ Vgl. dazu Anmerkung 4 auf S. 120 unsrer Schrift.
> Selbst in der großen Biographie der Fürstin von Fran^oisCombes
(»La princesse des Ursins«, Paris 1858), in der kein erreichbarer Zug aus dem
Leben der berühmten »Camerera mayor« ungebucht blieb, ist nichts
davon erwähnt. — Erläuterung der von Rochlitz stammenden Annahme
s. S. 160 unsrer Schrift.
* Dies geschah Ende des Jahres 1701.
56 1. Teil: Astorgas Leben.
Wie lange sich Astorga in Madrid aufhielt und wohin er sich
von dort wandte, liegt im Dunkel. Möglich ist, daß er bereits in
jener Zeit Lissabon besuchte, daß sich bereits damals die Bezie-
hungen zur Hauptstadt Portugals anspannen, die ihn später wieder
dahin führten.
Ein Besuch der germanischen Länder, namentlich Österreichs,
erfolgte in jener Epoche wohl noch nicht. Die alte Nachricht von
Emanuels Erscheinen am Hofe Leopolds L zu Wien beruht wohl,
wie wir unten sehen werden^, auf Verwechslung dieses Kaisers mit
Karl VL
Der spanische Erbfolgekrieg, der 1701 entbrannte und zunächst
Oberitalien und in den folgenden Jahren Westdeutschland, die
Niederlande und von 1704 ab auch Spanien durchtobte, hat gewiß \
auf Emanuels Reisedispositionen Einfluß geübt. Die Gegenden, in |
denen sich die Völker schlugen, versprachen nichts für ihn; er wird ij
sie vermieden haben. Unbehelligt von diesen Kriegswirren blieben i
Unter- und Mittelitalien; auch für Oberitalien kamen bald wieder [
ruhigere Zeiten. Diese Lande, so bequem von seiner heimatlichen '
Insel aus erreichbar, hat Emanuel im ersten Jahrzehnt des 18. Jahr- i
hunderts wiederholt besucht. In den Städten Italiens zog ja nicht
nur die Gesellschaft den Edelmann, sondern auch das Musikleben
den Künstler in ihm an. Besonders fesselten ihn Neapel und Venedig,
diese Hauptzentren aller musikalischen Kultur in jener Zeit.
Neapel, diese von Palermo aus am bequemsten erreichbare
Großstadt des italienischen Festlandes, hat Emanuel d' Astorga oft
beherbergt. Der Verkehr mit den anerkannten und werdenden
Musikgrößen Neapels wirkte anregend und fördernd auf ihn ein.
Weilte auch das Haupt der neapolitanischen Schule, Alessandro
Scar]atti,in den Jahren 1702— -8., in welche sicher längere Besuche
Astorgas in Neapel fielen, zumeist nicht dort, so waren doch andere
bedeutende Künstler genug am Platze. Der Kirchenkomponist
Greco und der Opemkomponist Fago waren hochgeschätzte
Meister; die mit Astorga ziemlich gleichaltrigen Komponisten Du-
rante und Porpora standen freilich noch in den ersten Anfängen
1 S. 85.
III. Kap.: Heimat und Jugendjahre. 57
ihrer Ruhmeslaufbahn. Immerhin kann Durante mit seinen fein
gearbeiteten Kammerduetten bereits damals Astorga zu ähnlichen
Arbeiten angeregt haben, deren wir eine ganze Anzahl von ihm
besitzen. Auch den etwa ein Jahrzehnt älteren Porsile kann er
hier kennen gelernt haben. Am meisten dürfte Emanuel in Neapel
durch das Opernleben gefesselt worden sein, das ihn hier in
weit reicherer Fülle umflutete, als dies in seiner Heimat und selbst
am Hofe zu Madrid der Fall war. Die Werke Sarris,Scarlattis,
Mancinis und Oreficis entfesselten im Teatro S. Bartolomeo,
und außerdem seit 1706 im Teatro de' Fiorentini Beifalls-
stürme. Auf der erstgenannten Bühne glänzte in den Jahren 1707
und 1708 die junge SängerinMariaGiusti^, die bald darauf in ganz
Europa gefeierte »Romanina«. Zu Maria Giusti, die wir später
ihre Kunst für Astorgas Musik wiederholt einsetzen sehen werden, hat
der Komponist vermutlich schon in Neapel Beziehungen gewonnen.
Auch in Venedig fand der Kunstfreund noch vielfältige Genüsse.
Lag auch die Führung in der Weiterentwicklung der musikalischen
Formen nicht mehr in den Händen der Venetianer, so erhielten doch
bedeutende Meister den alten Ruhm der Lagunenstadt als Heim
der Musen lebendig. Komponisten wie Fr. Pollarolo und A.
Lotti spendeten den Kirchen, Opembühnen und Salons von Vene-
dig rastlos neue Schöpfungen ihres Geistes. An der Markuskirche
wirkte um die Jahrhundertwende zuerst als Sänger, später an-
scheinend als Violoncellist 2, der nachmals berühmte Antonio
Caldara. Mit ihm schloß Astorga wohl schon in Venedig jene
innige Freundschaft, für deren Bestehen in späteren Jahren unten
der Beweis erbracht werden wird K
^ Vgl. Fr. Florimo, La scuola musicale di Napoli ed i suoi Conser«
vatorii. Napoli 1881, Bd.. IV, S. 13.
s Vgl. E i t n e r , Q.-L. Artikel Caldara.
* Vgl. unten, S. 79 f. — Keinesfalls darf man als Beweis für einen Auf-
enthalt Astorgas in Venedig das Wort »V e n e z i a« auf dem Titel der Kantate
»Antri amici, a voi ritornoa ansehen, die sich in der D r e s d n e r kgl. Bibliothek
(Mus. B. 38a Nr. 1) befindet. Dieses Exemplar der Kantate ist eine moderne
Abschrift. Das Wort »Venezia« ist versehentlich vom Kopisten statt
»V i e n n aa gesetzt worden. Denn so lautet die Ortsangabe auf derselben
Kantate in einer alten Abschrift. Das ergibt sich aus dem Verzeichnis der
58 1. Teil: Astorgas Leben.
Florenz, wo der Medizäerhof den Mittelpunkt des gesellschaft-
lichen wie künstlerischen Lebens bildete, hat Astorga gewiß nicht
umgangen. Die größte Anziehungskraft mußte aber Rom auf ihn
ausüben. Der nie erlöschende Zauber der ewigen Stadt, der Glanz
des päpstlichen Hofes, die Häuser der Kirchenfürsten, die z.T.
ihre eigenen musikalischen Kapellen hatten, wie das des Kardinals
Ottoboni, fesselten ihn, wie sie jeden kunstliebenden Nobile fessel-
ten, der damals nach Rom kam. Hier studierte Emanuel die alten
Traditionen in der Kirchenmusik, die sich trotz des Ansturmes des
neuen Stils in Rom erhalten hatten. Hier lernte er bedeutende
Künstler, wie Corelli und Pitoni, vielleicht auch Alessandro
Scarlatti, kennen. Auch ist es möglich, daß er in Rom oder
einer der anderen genannten italienischen Städte mit dem fünf
Jahre jüngeren O. Fr. Händel zusammentraf, der sich von 1707
bis Anfang 1710 abwechselnd an diesen Orten aufhielt. Zwischen
der reckenhaften Künstlernatur des Deutschen und der zarter be-
saiteten unsres Sizilianers lag eine Welt. Sie dürften auch als
Menschen nicht in nähere Beziehung zueinander getreten sein.
Über einen Aufenthalt Emanuels in Parma ums Jahr 1704
sind die romantischsten Einzelheiten verbreitet, die jedoch gänzlich
aus der Luft gegriffen sind. Ein wesentlich späterer Aufenthalt
Astorgas in Parma ist, wie wir sehen werden, wahrscheinlich.
Die reichen Erfahrungen, die Astorga auf seinen Reisen sammelte^
begünstigten das Ausreifen seines Charakters. Aber er nahm nicht
nur in sich auf, er betätigte sich auch schöpferisch. Manches zart-
sinnige Gedicht, das ihm vor Augen kam, löste musikalische Gedan-
ken in ihm aus, die er kunstgerecht fixierte. Mancher bedeutende
Gesangsvirtuos regte ihn zum Komponieren an^; der Beifall fremder
Textanfänge Astorgascher Kantaten, das Professor AlfredWotquenne
in Brüssel angefertigt hat. Herr Professor Wotquenne gestattete
mir gütigst, sein Manuskript einzusehen, wofür ihm auch hier herzlichster
Dank ausgesprochen sei.
1 Das könnte vielleicht bei der Kantate »Ruscelletto, che vai scherzando«
der Fall gewesen sein. Die auf der kgl. Bibliothek zu Dresden (Mus. B. 37,
S. 6b) befindliche, vor 1716 angefertigte Kopie dieser Kantate trägt an ihrem
Anfang den Vermerk »Per Inidrarehg«. Sollte der Name wirklich so
lauten? Ist er überhaupt ein italienisches Wort? Herr Bibliothekar Dr. H u b e r t
IIL Kap.: Heimat und Jugendjahre. 59
Musikkenner wirkte das Seine; kurz, er fand überall Gelegenheit
zum Schaffen und Ermunterung dazu; und seine Arbeitskraft
und -freudigkeit wuchs.
Die frühesten datierten Kompositionen Emanuels stammen aus
dem Jahre 1707. Es sind drei Kantaten für Sopran und Generalbaß,
die sich jetzt in Abschriften in der Sammlung N ose da des Konser-
vatoriums zu Mailand befinden^. Daß sie nicht zu seinen frühesten
Arbeiten überhaupt gehören, ist selbstverständlich. Er war ja
bereits 27 Jahre alt, als er sie schrieb. Eine beträchtliche Zeit
des Studiums, der praktischen Übung lag hinter ihm. Im Be-
wußtsein der nun errungenen Meisterschaft mochte Emanuel die
Datierung hinzufügen, durch die er selbst diesen Wendepunkt in
seiner Entwicklung für immer kennzeichnete. Auch wir haben
also das Jahr 1707 als den Abschluß von Emanuels Studienzeit
und den Beginn seiner Meisterschaftsepoche zu betrachten.
Im Sommer des Jahres 1708 weilte Emanuel d'Astorga wieder
in Palermo. Er sollte damals eine militärische Rolle übernehmen.
Das hing so zusammen:
Im Frühjahr 1708 schien der spanische Erbfolgekrieg auch
Sizilien heimsuchen zu wollen. Angriffe der Kaiserlichen und Eng-
länder drohten der Insel. D^ warf der König von Spanien zur
Sicherung seiner Herrschaft auf dem Inselreich etwa 4000 Mann
Truppen hinüber». Sie wurden in Palermo einquartiert. Dadurch,
Richter schlug vor, das Wort rückwärts zu lesen. Und siehe da, wir er-
hatten den gut italienischen Namen Qherardini. Es wäre denkbar, daß
Astorga jene Kantate für den bedeutenden Sänger RinaldoQherardini
komponiert hat, der um die Wende des 17. Jahrhunderts in Italien glänzte
(vgl. E i t n e r , Q.-L. 4, 223 und 0. Sacerdote:Il teatro Regio di Torino,
Torino 1892, S. 41). Da aber der Name Gherardini ziemlich oft vorkommt,
und wir nicht wissen, ob jene »rätselhafte Inschrift« auf den Komponisten
zurückgeht oder erst vom Kopisten hinzugefügt worden ist, läßt sich nichts
mit Sicherheit daraus folgern.
^ »Ah, Filii, troppo il pianto«, »Pensier che con l'imago«, »Piango, sospiro
e penod . Sie zählen als Nr. 363 — 365 des » Indice generale deir Archivio Musicale
Noseda« von Eugenio de' Ouarinoni (Milano 1897).
> Benedetto Emanuele e Vanni, March ese di Vil-
la b i a n c a : Diario e narrazione istorica de' tumulti successi in Palermo
nel 1706. D i M a r z o , Bibl. Sic. X, 153 ff.
60 1. Teil: Astorgas Leben.
— besonders aber weil die Soldaten aller Mittel bar waren, — er-
wuchs der Stadt eine furchtbare Last. Nun kam noch hinzu, daß die
Truppen nur zum geringeren Teil aus Spaniern bestanden, die wohl
gelitten waren, zum größeren aber aus Irländern und Franzosen,
die den Sizilianern in der Seele verhaßt waren. Als nun gar diese
fremde Soldateska Miene machte, die Stadt zu plündern, da brach
ein Aufstand aus, der die Position der Regierung gefährdete. Kluger-
weise zog diese denn auch die Truppen bald zurück, so daß die
Kommunalgarde, welche zur Dämpfung des Aufstandes aufgeboten
worden war, nur wenig zum Eingreifen kam. Die zuletzt genannte
Stadtwache stand unter einem der vier Capitani, die, den vier
Stadtvierteln von Palermo entsprechend, vom Senat gewählt wur-
den. Die Offiziere dieser Wache waren durchgängig Edelleute, auf
die sich die Regierung verlassen konnte. Die Wache, deren Personal-
bestand nach bestimmten Zeitabschnitten wechselte, zählte vom
4. Juli ab unsem Astorga zu ihren Offizieren. Der Marchese Villa-
bianca berichtet darüber in seiner Schilderung der Tumulte zu
Palermo im Jahre 1708 folgendes^: .
. »11 giomo 4 luglio entrö di guardia al posto della Garita
il capitano di quartiere D. Antonino Galletti. Gli offidali
della sua compagnia furono tutti nobili; Taiutante fu il prin-
cipe di Fiumesalato; il paggio di ginetta fu D. Giuseppe Cor-
vino; sargenti D. Domenico Pap& e D. Giuseppe Ansalone;
li capi di squadra il cavalier fra D. Giuseppe Aragona, il
conte della Pastiglia, D. Giovanni Graffeo ed il barone di
Astorga; l'alfiere fu D. Mariano Galifi. Le file de' soldati
furono d'ambi i lati spalleggiate da diversi titolati e cavalieri
particolari in numero considerabile .... Montö la compa-
gnia al numero di 100 in circa. «
«Der Baron von Astorga« war also einer der Gruppenführer in
jener Kompagnie. Aus dem Wortlaut der wiedergegebenen Stelle
ist zunächst nicht ersichtlich, ob hier der alte oder der junge Baron
von Astorga gemeint ist. Aber der Inhalt der Notiz entscheidet
i A. a. 0. S. 189, 190.
III. Kap.: Heimat und Jugendjahre. 61
zwischen beiden. Der Dienstgrad, in dem der Baron erscheint,
entspricht nur einer jugendlichen Person. Vater Francesco war
damals 56 Jahre alt und hätte, wenn er noch dienstfähig gewesen
wäre, eine höhere Charge bekleidet. Für den 28jährigen Emanuel
war der Rang als Capo di squadra ehrenvoll genug. Wir dürfen
also nicht daran zweifeln, daß unser Künstler in jener unruhe-
vollen Zeit die Feder mit dem Degen vertauscht hat.
Auch als sich das Volk von Palermo völlig beruhigt hatte, mußte
der Adel noch unter Waffen bleiben. Denn eine andere Gefahr stieg
herauf. Die englisch-holläncUfiche Flotte hatte im August 1708
Cagliari auf Sardinien besetzt, und ein Angriff auf die sizilianischen
Küsten schien bevorzustehen. Unverweilt ließ der Vizekönig alle
festen Plätze der Insel in Verteidigungszustand setzen ^. Dte Baroni
und Feudatarii des Königreiches erhielten Kommando zum Militär-
dienst »della cavalleria «, und in Palermo wurde ein Bando erlassen,
der allen Nobili — unter Androhung der Ungnade seiner Majestät
— verbot, die Stadt zu verlassen, und alle auswärts befindlichen
bis zum 20. September in die Hauptstadt zitierte, um »dem Vize-
könig bei der Verteidigung des Vaterlandes beizustehen «. Emanuel
konnte also damals keine Exkursion nach dem Kontinent unter-
nehmen; die nationale Pflicht fesselte ihn an sein heimatliches
Inselland. Wir müssen uns ihn vorstellen, wie er sich als Reiter-
offizier mit seiner Schwadron zur Abwehr der Invasion der feind-
lichen Truppen bereithält.
Aber der Kriegslärm verhallte in der Ferne, und Sizilien blieb
verschont. So traten denn um die Jahreswende die alten, geord-
neten Verhältnisse in Palermo wieder ein, und Emanuel konnte
sich wieder ganz seiner Kunst widmen und von neuem ans —
Reisen denken.
1 A. a. O. S. 197, 198.
62 1. Teil: Astorgas Leben.
IV. Kapitel.
War Astorga 1709 in Barcelona?
Zu Anfang des Jahres 1709 verließ Astorga wieder die heimat-
lichen Gestade. Anlaß zu dieser Reise bot die bevorstehende Auf-
führung seiner Pastoraloper Dafni.
Alles, was über den Stoff, die Dichtung und Musik zu diesem
»Dafni« zu sagen ist, versparen wir auf den zweiten Band der
Astorga-Studien. Das aber, was aus der Geschichte des Werkes
geeignet ist, zur Klärung eines Abschnittes in der Biographie des
Meisters beizutragen, muß bereits an dieser Stelle vorgebracht
werden. Eine Menge bisher unbekannte Einzelheiten werden dabei
mitzuteilen sein.
Die älteste in weiteren Kreisen bekannt gewordene Notiz über
Astorgas Dafni betrifft eine Aufführung des Werkes in — Breslau
im Jahre 1726. Mattheson im »Musikalischen Patriot« gibt
sie auf Grund authentischer Mitteilungen aus Breslau^. Die Meldung
findet ihre kräftigste Bestätigung durch das noch heute vorhandene
Textbuch jener Aufführung. Ich hatte das Glück, dieses Libretto
auf der Universitätsbibliothek zu Breslau^ ausfindig zu machen.
In diesem Heft, das den Text des Dafni in italienischer und deut-
scher Sprache enthält, ist ausdrücklich vermerkt: »La Musica
h del Signore Baron d'Astorgha« — »Die Music ist von
Herrn Baron von Astorgha«.
Die nächste Notiz, die über Astorgas Dafni in die Öffentlichkeit
drang, vermeldete, daß diese Oper bereits lange vor ihrer Aufführung
in Breslau, nämlich im Sommer 1709 in Barcelona am Hofe des
spanischen Gegenkönigs Karl III., des nachmaligen Kaisers Karl VI.
in Szene gegangen ist. Simon Molitor publizierte diese Neuig-
keit in einem Artikel über Astorga^ und stützte sich dabei auf den
Titel der damals in der Kiesewetterschen Sammlung, heute in der
1 Vgl. S. 117 und 131 unsrer Schrift.
s Es trägt die Signatur: Litt. Ital. I. Qu. in 14.
* Das Nähere über diesen Artikel vgl. S. 164 ff. unsrer Schrift.
IV. Kap. : War Astorgä 1709 in Barcelona? 63
k. k. Hofbibliothek zu Wien befindlichen handschriftlichen Partitur
des ersten Aktes der Oper. Dieser lautet:
Dafni.
Dramma pastorale per musica tenuto ä
Barcellona avanti le loro Maestä Cattoliche.
L'anno 1709 alli di Giugno.
Musica del Barone d'Astorga^.
Über die Partitur bemerkt Molitor, sie stamme »aus dem Be-
sitze eines vornehmen österreichischen Herrn a, und habe sich früher
mit anderen Noten aus dem 18. Jahrhundert »auf einem der Schlösser
dieses Herrn in Mähren « befunden. Wir werden im nächsten Ka-
pitel ein mährisches Schloß kennen lernen, auf dem Astorga höchst
wahrscheinlich einmal Wohnsitz genommen hat; es ist nicht un-
möglich, daß die Partitur aus diesem Schlosse stammt 2. Aus dem
Titel der Wiener Partitur geht also hervor, daß Astorgas Dafni
im Juni 1709 am Hofe Karls in Barcelona aufgeführt worden ist;
mehr besagt der Titel jedoch nicht. Und trotzdem zog
^ Ich gebe den Titel nach der Wiener Handschrift. Diese befindet sich
im »Fond Kiesewetter« und trägt die Signatur: S. A. 68 B.2. —
Für manches erklärende Wort beim Studium dieser Partitur bin ich Herrn
Professor Dr. J. M a n t u a n i , jetzt Direktor des Museums zu Laibach, zu
herzlichstem Dank verpflichtet.
> Die Partitur ist nicht Autograph des Meisters. Sie zeigt vielmehr, wie
meine genaue Untersuchung des Manuskriptes ergab, durchweg Kopisten-
handschrift aus dem ersten Drittel des 18. Jahrhunderts. Im ersten Teile
ist sie von einer deutschen, im zweiten von einer venetianischen Hand an-
gefertigt. Auch Liniierung und Papier der beiden Teile sowie die Streichung
doppelt vorhandener Takte beim Zusammentreffen beider Teile verraten,
daß die Partitur aus zwei ganz verschiedenen Abschriften zusammengesetzt
ist. Da es tadellos sauber gehalten ist, dürfte das Exemplar nie bei einer
Aufführung benutzt worden sein. Allem Anschein nach ist es also das Exemplar
eines deutschen Musikfreundes, der das von venetianischer Hand geschriebene
Fragment erhielt und es nach einer anderen, — vielleicht nach Astorgas eigener
— Partitur ergänzen Heß. Er dürfte auch, mit den Schicksalen der Oper
bekannt, jene historische Bemerkung auf dem Titel haben hinzufügen lassen,
da wohl das Werk für ihn durch die Aufführung am Hofe des nachmaligen
Kaisers besondere Bedeutung eriangt hatte.
64 I. Teil: Astorgas Leben.
Molitor daraus den Schluß, Astorga habe sich zu der genannten
Zeit in Barcelona aufgehalten und dort die Oper komponiert. Diese
Annahme trifft nicht das Richtige. Denn Astorgas Daf ni war, wie
wir dartun werden, bereits an andererstelle gegebenworden,
als er in Barcelona zur Aufführung gelangte.
Bei der Komposition seines Dafni benutzte Astorga ein schon
früher von anderen Meistern komponiertes Textbuch. Laut Al-
lacci^ verfaßte der Bologneser Lyriker und Mathematiker Eusta-
chio Manfred! in Gemeinschaft mit einem Ignoto eine »Favola
boschereccia <c Dafni, die 1696 mit Musik von Giuseppe Aldro-
vandini zu Bologna in Szene ging. Wie mich die Einsicht in das
zu Bologna 2 erhaltene Textbuch dieser Oper belehrte, ist es in den
Hauptszenen das gleiche, das auch Astorga komponiert hat. Ehe
es in seine Hände gelangte, erfuhr es aber eine wesentliche Umge-
staltung. Das Pastorale sollte in Neapel zur Aufführung kommen
und wurde zu diesem Zwecke für den neapolitanischen Geschmack
hergerichtet. Im ganzen gekürzt, erhielt die Dichtung mehrere
»Scene buff e« eingelegt, ohne welche die Neapolitaner keine Oper
hören mochten. Carlo de Petris, der damals die meisten der-
artigen komischen Einlagen dichtete >, hat vielleicht auch die für
Dafni geliefert. Die Musik dazu schrieb der berühmte Alessandro
Scarlatti; und so wurde der Dafni in Neapel als »Commedia in
musica« im Jahre 1700 mehrfach aufgeführt*. Nur noch eine ein-
^ Leone Allacci, Drammaturgia, accresciuta e continuata
fino air anno MDCCLV. — In Venezia 1755. — S. 235.
* Bibliothek des L i c e o M u s i c a 1 e Nr. 6163. Das Libretto enthalt
weder Dichter- noch Komponistenangabe. — Corrado Ricci(»I tcatri
di Bologna nei secoli XVII e XVIII«, Bologna 1888, S. 377) erzählt,
die Oper sei vom 18. August 1696 ab im ganzen zwölf Male am Teatro Malvezzi
aufgeführt worden. Er nennt auch die Namen der beteiligten Sänger.
* Benedetto Croce, a. a. O. 224.
* Fragmente der Musik sind in den Bibliotheken zu Dresden und Paris
(Conservatoire) erhalten. Ich werde sie im zweiten Bande der Astorga-Studien
eingehend behandeln. — E dwardj. Dent weist in den Sammelbänden
der J. M. Q. B. IV, S. 145 auf das Werk hin. — B. C r o c e , a. a. 0. 214 be-
richtet, daß Scarlattis Dafni im August 1700 zum Geburtstage der Vize-
kOnigin im Palazzo dei Cantalupo zu Neapel aufgeführt und danach mehrfach
wiederholt wurde.
IV. Kap.: War Astorga 1709 in Barcelona? 65
zige Aufführung der Scarlattischen Musik an anderer Stelle ist nach-
zuweisen: Sie fand im Carneval 1715 im Palazzo Priorale zu Jesi
statt. Hier trug das Werk den Titel: »L'amore non viene dal
caso«.^ Das Libretto der Aufführung zu Neapel griff Astorga
auf. Nach Einfügung einiger kleiner Änderungen komponierte er das
ganze Textbuch der Scarlattischen Oper von neuem. Das lehrt der
Vergleich des Textes bei Scarlatti mit dem Breslauer Libretto.
Nun gelang es mir aber, noch ein anderes Dafnislibretto aus-
findig zu machen, das zu einer Aufführung, die in keiner Opem-
chronik, keinem Opernlexikon genannt wird. Diese Dafnisvorstel-
lung fand im April 1709 imTeatro Sant' Agostino zu Genua
statt. Das im Liceo Musicale zu Bologna befindliche Textbuch ^
deckt sich ebenfalls, verschwindende Kleinigkeiten ausgenommen,
mit dem Astorgas. Der Komponist ist darin nicht angegeben.
Von wem war die Musik bei dieser Dafnisaufführung in Genua?
Drei Möglichkeiten sind vorhanden.
Erstens konnte es Scarlattis Werk sein. Die Beliebtheit
seiner Musik bewog die Opernunternehmer, auch auf ältere Werke
von ihm zurückzugreifen. Die oben erwähnte Aufführung von
Scarlattis Dafni zu Jesi 1715 ist ein Beispiel dafür. In unserm
Falle war die Musik aber wohl nicht von Scarlatti. Denn wäre
sie von ihm gewesen, so hätte der Impresario schon aus geschäft-
lichen Gründen den »ziehenden« Komponistennamen nicht ver-
schwiegen.
Zweitens konnte die Musik von Astorga stammen. Diese
Annahme gewinnt hohe Wahrscheinlichkeit durch Zeit und Ort der
Aufführung. Wenn ein Werk gleichen Namens in Genua im April
und in Barcelona im Juni desselben Jahres aufgeführt wird, so drängt
^ Den Hinweis darauf verdanke ich Herrn Francesco Piovano
in R m. — Ein Libretto der Aufführung zu Neapel ist nicht auf uns ge-
kommen, wohl aber eines von der Aufführung zu J e s i. Es befindet sich in
der Biblioteca Nazionale Centrale Vittorio Emanuefe zu Rom (Mise. Teatr.
a b r i e 1 1 i , 35, 6. B. 7, 2.).
* Nr. 6165. — Für die freundliche Unterstützung, die meinen Arbeiten
auf der Bibliothek des Liceo Musicale zu Bologna von selten des
Herrn Bibliothekar Professor Vatielli zuteü wurde, bin ich ihm zu leb-
haftem Danke verpflichtet.
Volk mann, Astorga. I. 5
66 1. Teil: Astorgas Leben.
sich wohl jedem die Vermutung auf, daß in den beiden Hafenstädten
ein und dieselbe Künstlergesellschaft ein und dasselbe Werk, das
einmal auf ihrem Spielplan war, dargestellt hat.
Drittens wäre es auch denkbar, daß irgend ein anderer un-
bekannt gebliebener Komponist so gut wie Astorga sich des
Scarlattischen Librettos bemächtigt, es neu in Musik gesetzt und in
Genua zur Aufführung gebracht habe. In unserm gesamten Mate-
rial ist jedoch kein Moment vorhanden, das für diese Annahme
spräche.
Am wahrscheinlichsten ist also, daß die Musik zu dem Genueser
Dafni von Astorga stammte. Gewißheit darüber bringt eine
Notiz in dem Neapolitanischen Wochenblatt, den »Avvisi di Na-
poli «, vom 13. August 1709 (Nr. 33), die der ausgezeichnete römische
Gelehrte Herr Francesco Piovano auffand und uns zur Ver-
fügung stellte. Sie lautet:
Barcellona, 23. Luglio. Per divertimento di queste
M. M. [Carlo III ed Elisabetta] s'h replicatamente rappre-
santa [sie, per rappresentata] la Pastorale, che fü ultima-
mente fatta in Genova intitolata La Dafne [sie], le cui
apparenze, e musica sono riuscite assai grate.
Der im Juni in Barcelona gegebene Dafni war mithin derselbe,
wie der »letzthin « in Genua gegebene. Unsre oben ausgesprochene
Vermutung erweist sich also als richtig, und wir brauchen nichtdaran
zu zweifeln, daß bei der Dafnisaufführung zu Genua die Musik
von Astorga stammte. Die erste nachweisbare Aufführung von
Astorgas Oper fand demnach nicht im Juni 1709 in Barcelona,
sondern bereits im April jenes Jahres in Genua statt.
In der Notiz der »Avvisi« bleibt nur eins zu erläutern. Dort
wird die Oper »la Dafne« genannt, während sie doch in allen anderen
Quellen »(11) Dafni« heißt. Dieser Unterschied beruht lediglich
auf Verwechslung, zu der die Ähnlichkeit der beiden Namen Ver-
anlassung gab. Daß dabei dieNympheDaphne bevorzugt wurde,
ist begreiflich, weil sie seit den Anfängen des Dramma per musica
eine der bekanntesten und beliebtesten Operngestalten war, mit
der sich der Hirt Daphnis (Dafni) an Volkstümlichkeit nicht
IV. Kap.: War Astorga 1709 in Barcelona? 67
messen konnte. In allen Nachschlagewerken haben sich diese
Verwechslungen des Dafni mit der Dafne bis auf den heutigen
Tag fortgeerbt. Daß auch der Korrespondent des Neapolitanischen
Wochenblattes anno 1709 die Namen verwechselte, braucht uns also
nicht zu beirren. Läuft doch an einer gleich zu zitierenden Stelle
der »Avvisi« sogar die Verwechslung des Namens Dafni mit
Delfino unter. ^
Astorgas Dafni ist nicht für den Hof Karls III. in Barcelona
komponiert worden. Von der gegenteiligen Annahme war aber
Molitor zu seiner Hypothese von einem Aufenthalte des Meisters
in Barcelona gelangt. Letztere könnte mithin als unbegründet
über Bord geworfen werden. Da aber die Aufführung seiner
Oper in Barcelona den Komponisten immerhin zu einem Aufent-
halt in dieser Stadt veranlaßt haben könnte, werden wir diese
Idee noch weiter verfolgen und darlegen, was für und wider sie
spricht.
Zunächst seien jedoch weitere Einzelheiten über die Aufführung
der Oper Dafni in Genua mitgeteilt und die Konsequenzen für die
Lebensgeschichte Astorgas daraus gezogen. Der Titel des Genueser
Librettos lautet:
Dafni
Drama Pastorale
per Musica
da rappresentarsi nel Teatro da Sant' Agostino.
Consacrato
Alle Dame, e Cavaglieri
Di Genova
In Genova, MDCCIX.
Nella Stampa di Antonio Casamara.
In Piazza delle Cinque Lampade.
Con licenza de' Superiori.
5*
68 '1. Teil: Astorgas Leben.
Die salbungsvolle Widmung des Büchleins an die »bellissime
Donne e gentilissimi Cavaglieri« lohnt nicht der Wiedergabe. Sie
ist unterzeichnet vom Impresario der Gesellschaft, welche die Oper
gab, Pietro Ramponi aus Bologna, und trägt Ort und Datum:
»Genova, li 14 Aprile 1709«. Ist hieraus nur ersichtlich, daß die
Oper um den genannten Zeitpunkt in Genua in Vorbereitung war,
so ergibt sich aus anderer Quelle das Datum ihrer ersten Aufführung.
Diese Quelle sind wiederum die »Avvisi di Napoli«, in deren
Nummer vom 14. Mai 1709 (Nr. 20) zu lesen steht, daß »am Sonn-
tag, den 21. April im Teatro Sant' Agostino zu Genua zum ersten
Male nicht ohne Beifall die Pastoraloper »II Delfino« gegeben
worden sei^. Daß dieser Delfino nichts anderes ist, als unser
Dafni, versteht sich bei der Zeitangabe und der Angabe des
Theaters Sant' Agostino von selbst.
Die Aufführungen der Oper Dafni in Genua fanden in folgender
Besetzung statt, die im Libretto verzeichnet steht:
Galatea. La Signora Maria Giusti Romana, detta la
Romanina 2.
Nerina. La Signora Elisabetta Bergonzini, detta la Te-
deschina.
Dafni. II Sig. Alessandro Porta Luppi, Bolognese.
Tirsi. II Sig. Petrucio Baldini da Pesaro.
Fileno. II Sig. Pietro Ramponi, Bolognese.
Selvaggia. II Sig. Innocenzo Baldini, Fiorentino.
Dametta. II Sig. Feiice, Guastalese.
Maria Giusti, die Vertreterin der weiblichen Hauptrolle, stand
nicht von Anfang an in dem Verzeichnis; ihr Name wurde erst nach-
^ »La prima recita a Genova si f ece al teatro da Sant' Agostino il giomo
di domenica 21 aprile, come risulta da una notizia contenuta negli »Awisi di
Napolia, N. 20, del 14 Maggio 1709, sotto la data di Genova, 27 Aprile. II
titolo del lavoro vi ö perö storpiato in »II Delfino« (f); si aggiunge che la pastorale
»non riusci dispregievole«. Mitteilung des Herrn Francesco Piovanoin
Rom.
> Der Beiname ist handschriftlich, mit Tinte, doch sicher bereits im
18. Jahrhundert, hinzugefügt.
IV. Kap. : War Astorga 1709 in Barcelona? 69
träglich auf einem Zettelchen, doch ziemlich unauffällig, eingeklebt.
Unter diesem ist ein anderer Name erkennbar : »CamillaZobboli,
Modenese«. Diese Sängerin war also vordem für die Rolle der
Galatea bestimmt. Möglich, daß sie die Partie auch bei den ersten
Aufführungen gesungen hat, und erst bei einer späteren die andere
Künstlerin für sie eintrat. Da aber der Ersatz für die damals noch
unbekannte Camilla Zobboli^ gerade MariaGiusti war, eine zu jener
Zeit bereits hoch gefeierte Künstlerin, zu der Astorga wahrscheinlich
1707/8 in Neapel Beziehungen gewonnen hatte, so darf man mut-
maßen, daß diese Besetzung der Rolle nicht nur durch den Augen-
blick herbeigeführt, sondern schon früher vorgesehen war.
Aus den Einzelheiten des Librettos geht hervor, daß die Wieder-
gabe der Oper Dafni in Genua durch eine jener italienischen Opern-
gesellschaften erfolgte, die im 18. Jahrhundert nicht nur ihr Vater-
land, sondern alle kunstfreundlichen Länder Europas zu durch-
ziehen und in den größeren Städten ihr Repertoire abzuspielen
pflegten. Ein Impresario, der meist, wie auch in unserm Falle,
selbst Sänger war, stellte die Truppe zusammen und übernahm die
Führung in künstlerischer und geschäftlicher Hinsicht. Der Haupt-
markt für die Opernimpresarii war um 1700 Bologna, nächstdem
auch Venedig und Neapel. In diesen Städten strömten nach
Schluß der Saison die Künstler zusammen, hier wurden die Engage-
ments abgeschlossen, von hier nahmen die meisten Opemtoumees
ihren Ausgang. Da aber die für die Provinz und das Ausland zu-
sammengestellten Operngesellschaften am Orte ihrer Gründung
keine Vorstellungen gaben, so sind auch in den Opernannalen der
genannten Städte keine Spuren solcher Truppen zu finden. Wir
durchblättern daher umsonst die einschlägigen Werke nach Notizen
^ Wir können Engagements der Camilla Z o b b o 1 i — außer in
dem Genueser Libretto wird sie überall Z o b o 1 i geschrieben — nur nach
dem Jahre 1709 an anderen Bühxien nachweisen. Sie sang 1710 im Teatro
Ducale zu Modena, 1718 im Teatro S. Angelo zu Venedig und 1719 wieder in
Modena, aber im Teatro Molza. — Vgl. Alessandro Gandini: Cro-
nistoria dei Teatri di Modena dal 1539 al 1871, Modena 1873, Bd. I, S.32
und 55; ferner Taddeo Wiel: Catalogo delle Opere in Musica
rappresentate nel secolo XVI 11 in Venezia. I.Teil (1701—1750), Venezia
1892. Nr. 164 und 165.
70 1. Teil: Astorgas Leben.
über die Ramponische Gesellschaft. Am nächsten liegt die
Vermutung, daß ihre Zusammenstellung in Bologna erfolgt ist,
woher auch zwei ihrer Mitglieder, der Impresario Ramponi selbst
und der Sänger Porta Luppi, stammten. Von ihren Mitgliedern
läßt sich außer der bereits wiederholt erwähnten Maria Giusti
nur noch Elisabetta Bergonzini vor 1709 in einem anderen En-
semble nachweisen. Sie sang im Jahre 1707 im Teatro S. Fantino
in Venedig!.
Die persönliche Anwesenheit des Komponisten bei der Ein-
studierung einer zum ersten Male zur Aufführung gelangenden Oper
war in jenen Zeiten selbstverständlich. Meist wurde ja sogar das Werk
erst an Ort und Stelle komponiert. Ob Emanuel routiniert genug
war, in dieser Weise zu arbeiten, erscheint sehr fraglich, zumal da die
Frist der Vorbereitung der Operistentruppe für die Sommertoumee
eine viel kürzere war, als bei stehenden Opernunternehmungen in
den großen Städten zur Hauptsaison. Wahrscheinlich hat Astorga
an seinem Dafni schon längere Zeit vor der Aufführung gearbeitet.
Das Libretto konnte er seit 1700 in der Hand haben. Mithin konnte
er auch die Arien der Oper entworfen und viele davon bereits aus-
geführt haben, als er mit Ramponi zwecks der Inszenierung des
Pastorale in Verbindung trat. Di.e letzte Hand hat er wohl erst an
das Werk gelegt, nachdem er das Künstlerensemble kennen gelernt
hatte. Auch an der Einstudierung wird er wohl selbst beteiligt
gewesen sein. Daß er später bei den öffentlichen Aufführungen den
Dirigentenposten am Cembalo eingenommen habe, ist unwahr-
scheinlich. Als Baron war er zu einer gewissen Zurückhaltung ver-
pflichtet. Ein öffentliches Mitwirken als ausübender Künstler in
einem Opicmhause, das jedem Bürger für ein Dutzend Soldi offen
stand, vertrug sich nicht mit seinem Rang und Ansehen. Aus
gleichem Grunde unterließ man wohl auch bekannt zu geben, daß
e r der Komponist der Oper sei. Denn so wenig wie im Text-
buch wird auch in den »Awisi di Napoli « der Komponist des Dafni
genannt. Hätten die Korrespondenten des neapolitanischen Wochen-
blattes um den vornehmen Stand des Komponisten gewußt, so
^ T. W i e I , a. a. O. Nr. 65. Hier lautet der Name : Elisabetta Bergonzoni.
IV. Kap. : War Astorga 1709 in Barcelona? 71
würden sie diese Kuriosität ihren Lesern in Neapel gewiß nicht vor-
enthalten haben.
Wie es bei den Sommertoumees der Opemgesellschaften üblich
war, verließ die Truppe um Ostern ( — 1709 fiel Ostern auf den
31. März — ) die Stadt, in der sie zusammengestellt worden war und
ihre Proben gehalten hatte. Das Ziel ihrer Fahrt war Genua. Viel-
leicht spielten die Künstler unterwegs in kleineren Städten, doch war
Genua der erste Platz, an dem sie, einige Tage vor dem 14. April, zu
längerem Aufenthalt eintrafen. Sie hätten dort nicht das Libretto der
neuen Oper Dafni drucken lassen, wenn sie Genua nur flüchtig berührt
hätten. In der stolzen, vergnügungsfreudigen Hafenstadt bewies
die Einwohnerschaft lebhaftes und nachhaltiges Interesse für ihre
Darbietungen. In Genua fand also am 21. April 1709 — es war am
Sonntag Jubilate — die erste bemerkenswerte Aufführung von
Astorgas Dafni vor einem urteilsfähigen Großstadtpublikum statt.
Sollte sie der Komponist versäumt haben? Gewiß nicht, zumal da
es sein erstes Bühnenwerk war, das hier in Szene ging. Ganz
sicher war Astorga der Truppe gefolgt und erfreute sich im Zu-
schauerraum an dem Beifall, den sein Werk bei den Genuesen fand.
In den letzten Tagen des Mai war die Gesellschaft mit ihrem
Spielplan zu Ende und rüstete sich zur Weiterfahrt. Man beschloß,
nach Spanien zu reisen und am Hofe des ob seiner. Musikliebe und
Freigebigkeit bekannten Gegenkönigs Karl III. in Biarcelona sein
Glück zu versuchen. Das Künstlervölkchen benutzte den Seeweg
von Genua nach Barcelona, der damals die beliebteste Eintrittsroute
von Osten her nach Spanien bildete.
Nach dem Partiturtitel fanden im Juni, nach den »Avvisi«
im Juli Aufführungen der Oper in Barcelona statt. Vermutlich
blieb also die Gesellschaft beide Monate in der katalonischen Haupt-
stadt. Durchschlagenden Erfolg scheint sie allein mit Astorgas
Dafni erzielt zu haben; denn auch in einer weiteren Notiz der
»Avvisi« wird keiner anderen in Barcelona aufgeführten Oper als
des Dafni Erwähnung getan i:
^ In der oben erwähnten Nummer 33. — Nach Mitteilung des Herrn
Francesco Piovanoin Rom.
72 1. Teil: Astorgas Leben.
»Napoli, 13 Agosto.
Neil' accennato Sabbato [10 Agosto] capitö qua dalla
Corte di Barcellona il Colonnello Don Cesare Gaeta, Marchese
dl Monte-Pagano, consolandocl coUe notizie delP ottinta
salute, che godono le Maestä Regnanti, Dio guardi, collo spes-
so divertirsl nella Comedia in musica, ch' ivi rappresentasi,
intitolata Dafne« [sic]^
Meine Hoffnung, aus Barcelona selbst Nachrichten über die Auf-
führung des Astorgaschen Dafni zu erlangen, erwies sich als eitel.
Der verdienstvolle katalonische Geschichtschreiber Herr Carreras
y Bulben a hat auf meine Bitte hin eingehende Nachforschungen in
den Archiven von Barcelona angestellt, ohne ein Dokument, das jene
italienische Sängergesellschaft und die von ihr aufgeführten Stücke
betrifft, aufzufinden. Während der Bestand der fest engagierten
Hofmusiker genau gebucht worden ist^, fehlt über die fremden,
selbständigen Künstlergesellschaften, die gelegentlich vor den Maje-
stäten auftreten durften, in den Akten jeder Vermerk. Wir wissen
nicht, was die Truppe außer Dafni noch gespielt, wohin sie sich
von Barcelona aus gewandt hat. Im Spätsommer löste. sie sich
auf, und ihre Mitglieder traten wieder bei stehenden Opernbühnen
in Engagement. Einige von ihnen lassen sich in späteren Jahren
nachweisen. So tauchen Pietro Ramponi in den Jahren 1713
und 1714' und Innocenzo Baldini im Jahre 1726^ am Teatro
S. Angelo in Venedig auf. Reichere Nachrichten liegen über die
fernere Tätigkeit der »Romanina« Maria Giusti vor. Sie sang
noch im Jahre 1709 im Teatro S. Angelo zu Venedig; dann an
gleicher Stelle in den Jahren 1713 und 1714; im Herbst 1716 ging
^ Zur Erläuterung der Notiz sei darauf ^hingewiesen, daß][NeapeI seit
1707 unter österreichischer Herrschaft stand, daß der in Barcelona residierende
König Karl auch König von Neapel war.
* Publiziert inJosephRafelCarreras y Bulbenas Schrift:
Carlos d'Austria y Elisabeth de Brunswich-Wolfen-
büttel a Barcelona yGirona (Barcelona 1902), Kap. X.
* T. Wiel, a.a.O. Nr. 122, 127, 130.
* Ebenda, Nr.251, 253.
IV. Kap.: War Astorga 1709 in Barcelona? 73
sie an das Teatro S. Mois^ zu Venedig, um im folgenden Jahre
wieder an die vorher genannte Bühne zurückzukehren. Nun er-
scheint sie mit dem Titel »Virtuosa della casa reale di Polonia«^.
Von den ausgedehnten Kunstreisen, die sie durch Europa unter-
nahm, sind nur noch die letzten mit Sicherheit nachweisbar. Sie
sang 1724 und 1725 während des Karnevals in Prag an der gräflich
Sporkschen Oper als »genannte Kammer-Virtuosa der gewesenen
Königin in Polen «^ und war dann vom September 1725 bis zum
Oktober 1726 an der Oper zu Breslau tätig, wo sie noch einmal
in Astorgas Dafni als Galatea glänzte. Danach verliert sich jede
Spur von ihr. Daß sie identisch war mit der Sängerin Marianna
Benti-Bulgarelli, die ebenfalls den Beinamen »La Roma-
nina« führte, ist eine Ansicht, die nicht mehr aufrecht erhalten
werden kann.^
Doch zurück zu Emanuel d'Astorga!
Es unterliegt keinem Zweifel, daß er bei der Aufführung seiner
Oper in Genua zugegen war. Folgte er aber auch der Truppe,
als sie sich nach Barcelona wandte? Da kein Dokument Antwort
auf diese Frage gibt, wollen wir versuchen, sie aus der Stellung
1 T. W i e 1 , a. a. O. Nr. 89, 122, 127, 148, 154, 155. — Nur unter Nr. 154
ist die Künstlerin bloß als »Romana« bezeichnet; an allen anderen zitierten
Stellen ist ihrem Namen ausdrücklich beigefügt: »detta la Romanina a.
»OscarTeuber: Geschichte des Prager Theaters. Bd. I (Prag 1883),
S. 116 ff.
* Sie wurde zuerst von Gerber im »Neuen Lexikon« (1812) ausge-
sprochen und dann von G. Schilling und F 6 1 i s ohne Prüfung wieder-
holt. Der beiden eigene Künstlername »laRomaninaa und die ähnlichen
Vornamen beider: M a r i a n n a und Maria (zweimal begegnet auch Anna
Maria) mögen Gerber zu der Verschmelzung veranlaßt haben. Eine Zusammen-
stellung und Vergleichung aller erreichbaren Notizen über beide Sängerinnen
hat mich davon überzeugt, daß Gerber geirrt hat. Den Ausschlag gibt
die Tatsache, daß in den Karnevals der Jahre 1725 und 1726, in denen, wie
oben angedeutet, Maria Giusti in Prag und Breslau sang, Ma-
rianna Benti-Bulgarelli an venetiänischen Theatern
beschäftigt war (T. W i e 1 , Nr. 232, 244, 245). Es hat also damals zwei
verschiedene Romaninas gegeben. Auch vor und nach deren Zeit er-
hielten wiederholt aus Rom stammende, bezw. in Rom ausgebildete Sänge-
rinnen den Beinamen »La Romanina«. Vgl. A. A d e m o 1 1 o , I
teatri di Roma nel secolo XVIL (Roma 1888.) S. 214.
74 1. Teil: Astorgas Leben.
abzuleiten, die Astorga zu den politischen Verhältnissen der Zeit
einnehmen mußte.
Als mit Karl II. am 1. November 1700 die spanisch-habsburgische
Dynastie erloschen war, hatten gleichzeitig König Ludwigs XIV. von
Frankreich zweiter Enkel, Philipp von Anjou, als Philipp V. und
Kaiser Leopolds I. zweiter Sohn, der Erzherzog Karl, als Karl III.
Ansprüche auf den spanischen Thron erhoben. Die des Bourbonen
waren gestützt durch das Testament des Königs Karl, in dem er zu
dessen Nachfolger bestimmt wurde; die des Habsburgers gründeten
sich auf die um ein Glied nähere Verwandtschaft mit dem verstor-
benen König und wurden befürwortet von den Seemächten, in deren
Interesse sie lagen. Der spanische Erbfolgekrieg entbrannte. Die
Verbündeten traten in Oberitalien, in Deutschland und in den
Niederlanden gegen die Truppen Ludwigs XIV. ins Feld, der für
das Erbe seines Enkels gegen die Opposition im Osten eintrat. Die
Feldherrengenies des Prinzen Eugen und Marlboroughs errangen
den Verbündeten einen Sieg nach dem andern über die Franzosen,
so in den Schlachten bei Höchstädt-Blenheim (1704), bei Ramillies
(1706), bei Turin (1706) und bei Oudenarde (1708). Anfang des
Jahres 1709 verstand sich Ludwig XlV. bereits zu Friedensverhand-
lungen auf Grund von Preisgabe aller Ansprüche seines Hauses auf
Spanien. In Mitteleuropa galt damals im ganzen der Bestand der
Herrschaft Karls III. von Osterreich für gesichert.
Anders in Spanien. Während Philipp von Bourbon bald nach
dem Ableben Karls II. in Madrid erschienen war und die Regierung
übernommen hatte (1701), kam der Habsburger Karl erst im Jahre
1704 nach Spanien, um sein Reich mit dem Schwert in der Faust
zu erringen. Die Zwietracht unter den spanischen Stämmen
kam ihm zugute. Denn da die Kastilier den Bourbonen willig auf-
genommen hatten, huldigten die Katalonier schon aus Oppositions-
lust dem österreichischen Prätendenten. Außer Kastilien, das
Philipp treu blieb, trat auch Valencia und Aragon zeitweise auf
Karls Seite. Mit Hilfe dieser spanischen Stämme, unterstützt durch
Portugiesen und Engländer, gelang es Karl bald nach seiner An-
kunft in Spanien, namhafte Erfolge zu erringen. Aber nach einiger
Zeit begann sein Glücksstern zu erbleichen. Mißerfolg auf Miß-
IV. Kap. : War Astorga 1709 in Barcelona? 75
erfolg stellte sich ein, und nach der unglücklichen Schlacht bei
Almanza (25. April 1707) mußte er fast alle in seinen Besitz ge-
langten Territorien wieder verloren geben. Seine Truppen, die be-
ständig unter Geldmangel litten, mußten sich vor den Gallospantern
mehr und mehr in den Nordosten der Halbinsel zurückziehen.
Waren in den ersten Jahren zahlreiche adlige Unzufriedene der
Gegenpartei, durch sein Glück angelockt, zu Karl übergegangen,
so wurde er jetzt von allen, die nicht auf Tod und Leben mit ihm
verbunden waren, verlassen. Am 18. April 1709 hatte er auch
Alicante verloren und sah sich nun in einen »kleinen, ganz ruinier-
ten Winkel des Landes zurückgedrängt«^. Aber der König hatte
sich derart an die Mißstände gewöhnt, daß er sich trotz seiner
schlimmen Lage ruhig in Barcelona an der Seite seiner jungen,
schönen Gemahlin Elisabeth Christine an Sang und Spiel er-
götzte '. So lagen die Dinge, als sich die Sängertruppe Ramponis
von Genua nach Barcelona einschiffte. Für die Kunst hatte ja
Karl immer Geld, das war bekannt. Die Künstlerschar hatte
nichts zu riskieren bei der Fahrt.
Aber Astorga? Als sizilianischer Nobile hatte er, wie sein
ganzes heimatliches Inselvolk, als allein berechtigten Nachfolger
Karls IL den in Madrid proklamierten Philipp V. anerkannt. Die
Regierungsgeschäfte in Sizilien waren sofort nach dem Thronwechsel
in dessen Namen geführt worden. Wie die anderen Baroni und
Feudatarii, so hatte auch Astorgas Vater am 6. Januar 1702 zu
Palermo dem Könige von Spanien und Sizilien Philipp V. den Treu-
, eid^ geleistet, das gleiche tat ebendort oder in einer anderen Stadt
zweifellos auch Emanuel. Seine Ahnen waren Kastilier und im
Dienste der Madrider Regierung nach Sizilien versetzt worden,
waren von Madrid aus mit dem Majorat Ogliastro belehnt worden,
und sein Vater Francesco hatte von Philipp V. im Jahre 1702 durch
eine neue Belehnung seinen Besitz bestätigt erhalten*. Zum Schutze
1 Marcus Landau: Geschichte* Kaiser Karls VI. als
KönigvonSpanien (Stuttgart, 1889), S. 510ff.
> Vgl. Landau, a.a.O. S.614f.
«Mongitore,DiMarzo,BibI. Sic. VII, 298.
« Vgl. S. 37 und 39 unsrer Schrift.
76 1. Teil: Astorgas Leben.
des bourbonischen Regiments war Emanuel im Sommer 1708 unter
Waffen getreten, als es galt, die Streitkräfte der mit Karl alliierten
Seemächte von der Insel fem zu halten. Astorgas ganze politische
Stellung wurzelte in seinen Beziehungen zum Madrider Kabinett.
Daß der Gegenkönig Karl vorübergehend die Zukunft König
Philipps als Herr von Spanien in Frage gestellt hatte, kam für die
sizilianischen Kreise, denen Astorga angehörte, so wenig in Betracht,
wie die Erfolge der Verbündeten in Oberitalien und in der Rhein-
gegend.
Die Sizilianer hatten keinerlei Interesse für das ihnen völlig
fremde österreichische Regiment und schenkten ihm später, als es
für einige Zeit bei ihnen einzog, keine Sympathien. Der Ge-
danke an eine Empörung gegen die bourbonische Regierung wurde
aber bei den Sizilianern schon dadurch unterdrückt, daß die Behörden
ängstlich über die Treue ihrer Untertanen wachten und jede Untreue
aufs strengste ahndeten. Das furchtbare Strafgericht, das die von
Philipp aus Karls Besitz zurückeroberten Provinzen Valencia und
Aragon getroffen hatte, stand als warnendes Beispiel da. Bis Ende
des Jahres 1707 waren dort etwa 400 Anhänger Karls durch Strang
oder Schwert hingerichtet worden i. Selbst in Palermo war im
Jahre 1708 ein Bürger stranguliert worden, weil man ihn geheimer
Verbindungen mit den Österreichern zieh 2.
Astorga wußte also, welchen Gefahren er sich aussetzte, selbst
wenn nur der Anschein eines Einverständnisses zwischen ihm und
der Partei des Gegenkönigs durch sein Verhalten geweckt wurde.
Zum mindesten • drohte ihm Verbannung und . Einziehung seiner
Lehensgüter. Und wenn er offen auf Karls Seite getreten wäre in
der Zuversicht, dauernde Verbindung mit ihm zu gewinnen, so hätte
er damit den sicheren Besitz gegen sehr unsichere Aussichten ein-
getauscht. Schließlich war Astorga auch seinem nun fast sechzig-
jährigen Vater Rücksichten schuldig. Er konnte ihn durch seine
Parteinahme mit ins Verderben reißen. Seine Familie, sein Ver-
mögen, seine Zukunft stand auf dem Spiele.
1 L a n d a u , a. a. O. S. 440.
»Mongitore, Di Marzo, a.a.O. VIII, 81.
IV. Kap. : War Astorga 1709 in Barcelona? 77
Die Möglichkeit, daß Astorga zur politischen Partei Karls von
Osterreich überging, darf nach alledem als ausgeschlossen gelten.
Dann bleibt aber noch immer die Möglichkeit, daß er als Künstler
unter der Operistengeseilschaft In Barcelona erschien, um sich des
Zufalls zu erfreuen, der seiner Oper an einem Hofe zur Aufführung
verhalf. Wie im Secento, so räumte man auch damals noch an den
Höfen der südlichen Länder den Musikern eine Sonderstellung ein^.
Die Künstler waren Kosmopoliten; man nahm sie freundlich auf,
auch wenn sie aus Feindesland kamen. Nicht nur von der Etikette
waren sie befreit, nein auch von dem Zwange, politisch Farbe
zu bekennen. So konnte auch Astorga — etwa als Cembalist —
unter den Künstlern in Barcelona weilen, ohne daß man nach
seinem Herkommen und seiner politischen Zugehörigkeit gefragt
hätte.
Nach allem, was wir über Astorga wissen, lag es ihm jedoch
fem, sich als Edelmann so eng mit denOperisten zu verbinden. Not-
wendig war seine Mitwirkung keinesfalls; hatte er sich doch bereits
bei der Aufführung in Genua unter das Publikum zurückgezogen.
Die wiederholten Vorstellungen in dieser Stadt, sowie die Proben
vorher konnten sein Verlangen, sein Werk lebendig zu sehen, vollauf
gestillt haben, so daß ihn die weiteren Wiederholungen kaum mehr
interessiert und an die Truppe gefesselt haben dürften. Aber selbst
wenn Astorga, was wenig glaublich ist, die Verkappung als fahrender
Künstler gewählt und sich also »inkognito « in Barcelona aufgehalten
hätte, so wäre dieses Unterfangen doch höchst gefährlich für ihn
gewesen. Bei seiner Bekanntschaft mit dem spanischen und italie-
nischen Adel hätte er auch hier gewärtig sein müssen, erkannt
und von mißgünstigen Zwischenträgern in Madrid denunziert zu
werden. Und die bourbonische Regierung, in ihrer nervösen Furcht
vor Verrat, konnte hinter der künstlerischen Verbindung Astorgas
mit dem Hofe des Gegenkönigs leicht eine politische wittern.
Solch ein Verdacht hätte aber die Ungnade König Philipps zur un-
mittelbaren Folge gehabt.
^ Vgl. die Darlegungen von Heinz Hess in dessen Schrift über »D i e
Opern Alessandro Stradellas«, Publ. der I.M. Q. Beihefte,
2. Folge III (Leipzig, 1906) S.7.
78 I. Teil: Astorgas Leben.
Sein weiteres Leben werden wir Astorga jedoch in dauernd
bestem Einvernehmen mit der bourbonisch-spanischen Regierung
hinbringen sehen. Im Madrider Kabinett Icann sich also keine
Stimme erhoben haben, die irgend welche Zweifel an seiner Treue aus-
sprach.
Nach alledem dürfen wir die in der Überschrift dieses Kapitels
gestellte Frage dahin beantworten, daß es zwar nicht völlig unmög-
lich, aber im höchsten Grade unwahrscheinlich ist, daß Emanuel
d' Astorga der Aufführung seiner Oper Dafni im Juni 1709 in Barce-
lona beigewohnt hat.
V. Kapitel.
Wien, Znaim, London. 1712-1717.
Nach der Aufführung von Astorgas Dafni in Genua im Früh-
ling 1709 verliert sich zwei Jahre lang des Meisters Lebensgang in
völligem Dunkel. Ob er sich in jener Zeit auf Reisen befand, ob
in der Heimat, darüber läßt sich nicht einmal eine Vermutung auf-
stellen, da jeder Stützpunkt für eine solche fehlt. Erst aus dem
Anfang des Jahres 1712 liegt wieder eine Nachricht vor, die Folge-
rungen auf Emanuel zuläßt. Am 16. Januar des genannten Jahres
starb zu Palermo Francesco Rincon d'Astorga, der Vater des
Tondichters, im Alter von etwa 60 Jahren i. Wir wissen nicht, ob
dem Vater Francesco längere Leidenszeit beschieden war. Wenn
es so war, dann können wir uns Emanuel als Helfer und Tröster am
Lager des Kranken denken. Weilte er aber nicht in Palermo, als
der Vater starb, so rief iim die Trauerkunde' sicher in die Heimat
zurück. Mancherlei Veränderungen, die der Todesfall im Gefolge
hatte, nicht zuletzt die Übernahme des väterlichen Lehensgutes
Ogliastro, erforderten seine Anwesenheit in Sizilien. Nachdem
alles geordnet war, zog er, die trüben Bilder der letzten Zeit zu ver-
wischen, wieder in die Welt hinaus. Das Ziel seiner Reise war
diesmal Wien.
» Vgl, S. 39 unsrer Schrift.
V. Kap. : Wien, Znaim, London. • 79
Die Kunde von dem Aufenthalte Astorgas in Wien im Jahre
1712 hat zuerst C. F. Pohl im Jahre 1879 in Groves Lexikon ver-
öffentlicht. Er teilt dort mit, daß der Künstler »am 9. Mai 1712
bei Caldaras Tochter in Wien Pate stand a, wie er aus der Tauf-
matrikel von St. Stephan in Wien ermittelt habe. Pohl zitiert den
Eintrag nicht wörtlich. Da dieser Gelehrte aber an die Identität
des Künstlers mit einem Marchese Capece-Rofrano glaubte^, so
entsteht der Verdacht, seine Mitteilung könne sich auf einen Mar-
chese dieses Namens beziehen und mithin für unseres Tondichters
Geschichte wertlos sein. Ich suchte der Sache auf den Grund zu
gehen. Durch gütige Vermittlung des Herrn Professor Dr. Man-
tuani gewann ich Einsicht in die Matrikel von St. Stephan zu Wien.
Der Eintrag über die am 9. Mai 1712 vollzogene Taufe der Sophia
Jacobina Caldara, auf Seite 274 des Matrikelbandes von 1712, lautet
folgendermaßen:
[1712/ Mai] D. Antonius Caldara Magister Capellae Augu-
stissimi Imperatoris.
9. D. Catharina Virginea uxor nata Petroni.
Sophia Perillustris D. Sophia Jacobina V.« Prinings,
Jacobina cuius vices egit D. Maria Susanna Gessingerin.
Maria Perillustris D. Jacobus V.^ Prinings», cuius vices
egit lUustrissimus D. Emanuel L. B. Astorga.
Maria Salome Voglin obst[etrix].
Aus dieser Urkunde ersieht man, daß es sich hier um keinen Mar-
chese Capece-Rofrano, sondern wirklich um den Liber Baro Emanuel
de Astorga handelt. Und noch eine andere wichtige, von Pohl uner-
wähnt gelassene Tatsache geht aus dem Text hervor: Astorga war
nicht selbst der Pate, sondern der Stellvertreter eines solchen.
1 Vgl. dazu 8.3 und 200f. unsrer Schrift.
• V = videlket (?).
* Das Wort ist kaum lesbar; es könnte auch Ghinazzi oder Phinaggi
heißen. — Für die gütige Hilfe bei der Entzifferung des sehr flüchtig ge-
schriebenen Eintrags bin ich den hochwürdigen Herren im Kur- und Chor-
haus von St. Stephan zu Wien zu besonderem Dank verpflichtet.
80 1. Teil: Astorgas Leben.
Daraus ergibt sich aber seine persönliche Anwesenheit bei der Taufe
am 9. Mai 1712 in Wien mit voller Sicherheit.
Caldara mochte Astorga, den er vermutlich schon vor Jahren
in Italien kennen gelernt hatte, und der sich nun zufällig in Wien
aufhielt, um so lieber als Patenstellvertreter zu dem Familienfeste
herbeiziehen, als er sein Landsmann und Kunstgenosse, aber keines-
wegs sein Konkurrent war. Denn auf eine Anstellung im musika-
lischen Hofdienst des deutschen Kaisers reflektierte der spanisch-
sizilianische Nobile gewiß nicht, während Caldara gerade damals
eifrig ein Unterkommen in der Hofkapelle suchte. Die Bezeichnung
als »Magister Capellae Augustissimi Imperatoris « in der Taufmatrikel
entsprach zu jener Zeit noch nicht den Tatsachen, sondern war erst
noch Caldaras heißer Wunsch. Wohl war Caldara, derlTlO seinen
»Scipione nelle Spagne« in Barcelona zur Aufführung gebracht
hattet, »Kammerkompositeur« des spanischen Königs Karl IIL
geworden, in Wien aber ließ man ihn lange auf eine Anstellung war-
ten^. 1715 ging er, an der Erfüllung seiner Hoffnungen verzweifelnd,
ins Ausland. Nun erst hatte sein Gesuch um Anstellung Erfolg'.
Er erhielt am 1. Januar 1716 die Stelle als k. Vizekapellmeister zu
Wien, die er bis zu seinem Tode (1736) inne hatte.
Beweist jene Taufmatrikel die Anwesenheit Astorgas in Wien
im Mai 1712, so ergibt sich aus einem anderen, bisher unbeachtet
gebliebenen Dokument, daß er im August desselben Jahres noch
oder wieder in Wien war. Diese Urkunde ist eine Abschrift der
Kantate »Quanto penso agr affanni« von Astorga^, welche den
^ In T m V delle Poesie di Apostolo Zeno (Torino, presso
Francesco Prato 1795) findet sich auf dem Titel des »Scipione nelle Spagne«
der Vermerk: »Pubblicato per la prima volta in Barcellona Tanno MI>CCXa.
Nach gütiger Mitteilung des Herrn Albert Schatz in Rostock.
* Gleichwohl brachte man einzelne Werke von ihm bei Hofe zur Auf-
führung, so am 18. Feb. 1712 das Oratorium »La castitä al Cimento«
und 1713 das Oratorium »S a n t a F e r m aa (A. von Weilen: »Zur Wiener
Theatergeschichte«, Wien 1891, Nr. 626 und 635). Da man ihn als Komponist
zu Worte kommen ließ, mochte man ihn in Wien bereits als k. Kapellmeister
betrachten.
* Vgl. Eitner, Q.-L. 2, 272f.
* Kgl. Bibliothek zu Dresden, Mus. B. 38a Nr. 2.
V. Kap.: Wien, Znaim, London. 81
Vermerk trägt, daß sie in »Vienna, agosto 1712« komponiert ist. Da
außer dieser Kantate noch andere Kompositionen des Meisters in
Wien entstanden sind^, und wir ihm im Mai 1713 in einer mährischen
Stadt, nicht weit von Wien, begegnen werden, so ergibt sich,
daß der Aufenthalt Astorgas in der deutschen Kaiserstadt
nicht nur flüchtig, sondern von längerer Dauer war. Wir vermuten,
daß er den Winter 1712/13 in Wien verlebte, und ihn erst der Aus-
bruch der Pest« im Frühjahr 1713 von dort vertrieb.
Astorga suchte in Wien gewiß das Gleiche, was er in anderen
Residenzstädten gesucht hatte: Den Kreis seiner Erfahrungen zu
erweitem, seine Bildung zu vertiefen und Anregungen zu gewinnen
im Verkehr mit hervorragenden Gliedern der Gesellschaft und be-
deutenden Künstlern.
An letzteren war in Wien kein Mangel, obschon das Musik-
leben am Wiener Hofe während Astorgas Aufenthalt nicht in reich-
ster Entfaltung stand. Denn sofort nach dem Tode Josephs I.
(17. April 1711) hatte die Regentin, die Kaiserin-Witwe Eleonore,
allerhand Reduktionen des Hofstaates veranlaßt, um die durch die
unaufhörlichen Kriege zerrütteten Finanzen in Ordnung zu bringen 3.
So war auch die gesamte k. musikalische Kapelle entlassen worden ;
^ So trägt auch die Kantate »A n t r i a m i c i die Ortsangabe : »V i e n n a«.
Laut Angabe des Herrn Professor A. Wotquenne in Brüssel. Wie mir
dieser mitteilte, ist bei der ihm bekannten Originalhandschrift der Rest der
Angabe (Jahreszahl?) durch das Messer des Buchbinders abgetrennt worden.
Die moderne Abschrift dieser Kantate in der Dresdner kgl. Bibliothek
trägt infolge eines Versehens die Oberschrift »V e n e z i aa statt »V i e n n a«.
(Vgl. S. 57, Anm. 3.) — Auch die im Besitze der »Gesellschaft der Musik-
freunde« zu Wien befindliche Originalhandschrift der Kantate »N o n p i ü
guerra« ist möglicherweise während des in Rede stehenden Wiener Auf-
enthaltes Astorgas entstanden. Im Fachkatalog der Musikhistorischen
Abteilung der Intern. Ausstellung für Musik- und Theaterwesen Wien
1892, S. 468 ist ihre Entstehung »um 1730« angesetzt. Diese Angabe be-
ruht, wie mir Herr Professor Dr. Mandyczewski mitteilte, auf ganz
allgemeiner Schätzung. Die Kantate könne ebensogut um 1712 geschrieben
sein.
•Tschischka, Geschichte der Stadt Wien, Stuttgart 1847, S. 363.
» Vgl. LudwigRittervonKöchel:JohannJosefFux;
(Wien, 1872) S.74ff.
Volkmann, Astorga. I. 6
82 1. Teil: Astorgas Leben.
nur die besten Kräfte davon wurden unter dem neu ernannten Hof-
kapellmeister Marc' Antonio Ziani aus Venedig wieder engagiert.
Auf diese Weise wurde 1712 die Hofkapelle auf 83 Mitglieder re-
duziert; sie überschritt jedoch schon in den nächsten Jahren wieder
die Zahl 100. Unter dieser Kt^nstlerschar traf Astorga außer den
genannten Meistern Ziani und Caldara noch manchen bedeu-
tenden Landsmann. Da wirkte Carlo Agostino Badia, gleich
jenen beiden ein Venezianer, als »k. k. Hof kompositeur «. Da
glänzte der größte Lautenspieler seiner Zeit, der Florentiner Fran-
cesco Conti, seit 1701 als Theorbist in der Kapelle tätig, später
besonders geschätzt als Opernkomponist. Auch der Neapolitaner
Giuseppe Porsile, der bis 1711 Kapellmeister Karls IIL in Bar-
celona gewesen war und später Hofkompositeur und Gesanglehrer
der kaiserlichen Prinzessinnen wurde, mit Astorga wohl schon von
Neapel her bekannt, ist vielleicht noch in Wien mit ihm zusammen-
getroffen.
In Wien wird Astorga auch mit dem großen deutschen Meister
Johann Josef Fux Berührung gefunden haben. Fux befand sich
damals bereits in der angesehenen Stellung eines Vizekapellmeisters,
aus der er nach Zianis Tode 1715 in die des ersten Hofkapellmeisters
vorrücken sollte. Der scharfe Geist des Theoretikers dürfte bei
Astorga, der ja gern über Wesen und Gesetze der Musik reflektierte,
Sympathien erweckt haben.
Gesellschaftlich stand von der gesamten kaiserlichen Kapelle
dem sizilianischen Baron deren Intendant, der »Hofmusik-Ober-
direktor «, Graf FerdinandErnstMollartam nächsten. Dessen
Amt wäre wohl eines gewesen, das zu bekleiden dem Stande und den
Fähigkeiten Astorgas entsprochen hätte. Es war aber eben erst
mit dem genannten Grafen (1712) besetzt worden; auch hätte, wie
schon oben angedeutet wurde, Astorga sicher nicht daran gedacht,
sich darum oder um eine ähnliche Stelle am österreichischen Hofe
zu bewerben.
Wie das künstlerische, so hatte auch das gesellschaftliche Leben
am Wiener Hofe durch die Trauer um Joseph L und die Finanz-
reformen der Kaiserin Witwe äußerste Einschränkung erlitten.
Erst als Josephs Nachfolger auf dem Kaiserthron, sein Bruder Karl,
V. Kap.: Wien, Znaim, London. 83
aus Spanien zurückkehrte, erwachte neues Leben. Karl, der sich
nun als Kaiser der Sechste nannte, war nach Einsetzung seiner Ge-
mahlin Elisabeth Christine als Statthalterin von Spanien am 27. Sep-
tember 1711 von Barcelona abgereist^, hatte sich dann einige Zeit
in Tirol aufgehalten, war am 22. Dezember in Frankfurt zum deut-
schen Kaiser gekrönt worden und am 18. Januar 1712 in Wien ein-
gezogen 2. Mit dem diplomatischen Verkehr erwachte in der Kaiser-
stadt an der Donau auch der gesellschaftliche aufs neue. Mochte
auch die Abwesenheit der Kaiserin, die erst im Sommer 1713
nach Deutschland zurückkehrte, im ersten Regierungs jähre Kaiser
Karls VL noch nicht den ganzen Glanz der Hofhaltung zur Ent-
faltung kommen lassen, wie später, mochte auch Karl der vergan-
genen und drohenden Kriege halber in der Hofhaltung Einfachheit
und Sparsamkeit anordnen', ein reich bewegtes, buntes Leben
herrschte trotzdem bei Hofe. Gesandte und Würdenträger fremder
Nationen gingen in der Burg ein und aus. Fremde Adlige, besonders
Italiener und Spanier, befanden sich auch in Ehrenstellen des
Reiches. Seit der Besetzung von Mailand und Neapel (1707) durch
die Österreicher waren eine Menge italienische Nobili an den
Kaiserhof gekommen und hatten, wie z. B. der Neapolitaner Rochus
Stella, dort ihr Glück gemacht. Noch zahlreicher aber waren die
spanischen Edelleute, die Karl beim Abschied von Barcelona ge-
folgt waren und nun den Lohn für ihre Treue zu finden hofften und
früher oder später auch fanden.
Von dem internationalen Leben am Hofe Karls VI. gibt der
Baron Ludwig Pöllnitz* eine anschauliche Schilderung: »Man
findet an diesem Hofe «, schreibt Pöllnitz, »mehr Annehmlichkeiten
als in Paris und London, was die Leichtigkeit betrifft, Bekannt-
schaften zu machen. Hat man sich bei Hofe vorgestellt, und ist
1 Landau, a.a.O. 8.674 f.
• Köchel, Fux, S.80.
« P. A. Lalande, Histoire de Tempereur Charles VI. A la Haye
1743. Bd. III, S. 142f.
« M 6 m i r e s. Nouvelle Edition 1734, Bd. III, S. 287 f. Die von
uns zitierte Obersetzung gibt L. von Köchel in seinem J. J. Fux
S. 82.
6*
84 1. Teil: Astorgas Leben.
nur in einem einzigen Hause eingeführt, so ist man es auch bald in
allen andern, und hat den Vorteil, daß man dort überall deutsch^
französisch, italienisch und spanisch spricht; deutsch kann man
leicht entbehren. Die Minister und großen Herren am Hofe sind
höflich und anständig, auch leicht zugänglich. Der Kaiser ist in
der öffentlichen Erscheinung ernst und scheint denen streng, die
ihn nicht näher kennen. Dessenungeachtet ist er leicht umgänglich
und herablassend. Spricht man mit ihm, so hört er aufmerksam
zu und antwortet mit vieler Güte. «
Diese Beobachtungen machte Baron Pöllnitz bei seinen Be-
suchen in Wien in den Jahren 1719 und 1729. Es ist kein Grund zu
der Annahme vorhanden, daß im Jahre 1712, als Astorga in Wien
war, die Verhältnisse anders gelegen hätten. Er wird spanische und
italienische Landsleute genug gefunden haben, um sich bald in
Wien heimisch zu fühlen.
Aber verkehrte Astorga auch wirklich bei Hofe? Wir wissen,
daß er ein treuer Untertan Philipps V. von Spanien war. Mit
diesem seinem Könige hatte aber Karl jahrelang in Fehde gelegen.
Wegen dieses Parteigegensatzes hatten wir im vorigen Kapitel
Astorgas Besuch am Hofe Karls in Barcelona anno 1709 für un-
wahrscheinlich erklärt. Sollte nun Astorga den Hof eben dieses
Fürsten in Wien aufsuchen? Darauf ist zu antworten, daß ein
solcher Besuch in den Jahren 1712/13 wohl denkbar ist, weil damals
die Weltlage eine ganz andere war, als im Jahre 1709. Stand Karl
1709 dem Bourbonen als Gegenkönig in Spanien unter Waffen
gegenüber, so weilte er 1712 als deutscher Kaiser im fernen
Osterreich; und mochte er auch Philipp als König von Spanien noch
nicht anerkennen, — in der Tat war dieser Alleinherrscher in Spa-
nien, seit Karl Katalonien verlassen hatte. Karls Interessensphäre
war eine andere geworden und seine Stellung zu den Mächten hatte
sich verschoben. Als Feind kam er für Philipp nicht mehr in Be-
tracht. So konnte nun auch ein Anhänger Philipps am Hofe Karls
erscheinen, ohne üble Folgen davon für sich befürchten zu müssen.
Emanuel brauchte sich also nicht zu scheuen, die Wiener Hofburg
zu betreten. Daß er mit irgend einer diplomatischen Mission dahin
kam, ist zwar nicht ausgeschlossen, aber auch durch nichts zu be-
V. Kap. : Wien, Znaim, London. 85
weisen 1. Am wahrscheinlichsten ist, daß Astorga still unter den
Gästen des Hofes dahinging. Wie hundert anderen, so wird es auch
ihm lediglich darum zu tun gewesen sein, sich einmal im Glänze
des Kaiserhofes zu sonnen.
Auf den Besuch Astorgas am deutschen Kaiserhofe im Jahre
1712 bezieht sich wohl auch, was Hawkins über einen solchen
berichtet. Er sagt, Astorga habe sich zu Anfang des 18. Jahr-
hunderts in Wien befunden, wo er vom Kaiser Leopold sehr be-
günstigt worden sei. Wenn Hawkins als den Kaiser, an dessen
Hof Astorga erschien, Leopolcl L nennt, so mag er dabei einer
Tradition gefolgt sein, in der Karl VL mit jenem Fürsten
verwechselt worden war. Daß Emanuel bereits zu Leopolds
Lebzeiten, — also vor dem 5. Mai 1705 — nach Wien ge-
kommen sei, wird durch keine Urkunde bewiesen und ist wenig
wahrscheinlich. Denn die in Hawkins' Tradition erwähnte Be-
günstigung des Meisters durch einen deutschen Kaiser deutet weit
mehr auf den jugendlichen Karl VL als auf den alten Leopold. L
Dieser, ein verschlossener, pedantischer Charakter, war in seinen
letzten Lebensjahren viel von Krankheit geplagt und hatte wohl
kaum irgend welches Interesse für einen jungen musikalischen
Fremdling. Dagegen hegte der kaum auf den Thron gelangte Karl
rege Teilnahme für seine bedeutenden Zeitgenossen. Besonders
mußte ihn auch der Komponist der vor einigen Jahren in Bar-
celona vor ihm und »seiner lieben Königin« aufgeführten Oper
»Dafni« interessieren. Daß er, als König, erfahren hatte, von
wem die Musik zu diesem Dafni stammte, versteht sich von selbst,
trotz der Geheimhaltung des Komponisten vor der Öffentlichkeit.
Da aber die Oper sehr gefallen hatte und mehrfach gegeben
worden war, hatte der mit einem bewundernswerten Gedächtnis be-
gabte Monarch 2 den Komponisten gewiß nicht vergessen und zeich-
nete ihn nun durch seine Gunst in besonderer Weise aus, gleich-
* Außer in dem von St. Stephan findet sich in keinem Wiener Archiv
irgend ein Beleg für die Anwesenheit Astorgas in Wien. Auch aus den ge-
druckten zeitgenössischen Quellen, z. B. den Wiener Diarien läßt
sich der Aufenthalt Astorgas in Wien nicht nachweisen.
» Ein Beispiel dafür bietet Köchel, Fux, S. 81.
86 1. Teil: Astorgas Leben.
viel, ob er ihn bereits früher gesehen hatte oder erst jetzt kennen
lernte.
Daß Astorga in der Tat Gunstbeweise vom Kaiser, und zwar
speziell von Karl VI., empfangen hat, geht auch aus der ältesten
gedruckten Quelle über den Meister, aus Zoppellis Notizen, hervor.
In diesen heißt es, er sei »vom Kaiser Karl VI. zum Ehrenkapell-
meister der königlichen Kapelle erwählt« worden: »Venne
eletto da Carlo VI. Imperadore per Maestro di Cappella d'onore
della Real Cappella«. Die Tradition hat Zoppelli hier einen Titel
in die Feder diktiert, von dem wir nicht wissen, ob er in dieser
Fassung wirklich jemals von Habsburgischen Herrschern verliehen
worden ist^. Aber selbst wenn die Tradition die Dinge etwas auf-
gebauscht hätte, — einen wahren Kern enthält die Nachricht gewiß.
Dieser Kern ist aber die persönliche Ehrung Astorgas durch den
deutschen Kaiser, über die ja auch Hawkins berichtet. Astorga
empfing ganz sicher vom Kaiser Auszeichnungen, die den Künstler
und Kavalier in ihm mit Stolz und Freude erfüllten.
Aus der Wiener Hofgesellschaft ließen sich manche Edelleute
nennen, mit denen Astorga in Verkehr getreten sein dürfte. Wir
beschränken uns aber darauf, nur eine Familie namhaft zu machen,
bei der alle Anzeichen auf eine innigere Verbindung mit dem Ton-
setzer hinweisen: Es ist die Familie der Grafen von Althan n.
Zu einem Grafen von Althann dürfte sich Astorga beim Ausbruch
1 Herr Direktor Kärolyi vom k. u. k. Haus-, Hof -und Staats-
archiv zu Wien, der auf meine Bitte über diese Angelegenheit eingehende
Nachforschungen im Archiv anstellen ließ, teilte mir gütigst das Folgende
mit: »Es wurden die Register der Obersthof meisteramtsakten aus den Jahren
1700—1722 durchforscht. Sie sind sehr genau geführt und weisen die Namen
aller Personen auf, welche in dieser Zeit als Kapellmeister und Vizekapell-
meist'er oder in ähnlichen Stellungen in kaiserlichen Diensten standen,
oder solche, denen Ehrentitel verliehen worden sind. Nirgends findet sich
der Name d'Astorga. Es ist dies jedoch nicht so verwunderlich. Denn . . .
[im vorliegenden Falle] handelt es sich ja nur um die Verleihung des Titels
eines Kapellmeisters der »Reale Cappella«, also eines Titels, welchen Kaiser
Karl VI. als König beider Sizilien oder der Lombardei verliehen hätte. Akten-
partien aber jener Behörde, welcher die reinen Gratialsachen der italienischen
Länder der Habsburger zugewiesen waren, finden sich in Wien überhaupt
nicht vor«.
V. Kap.: Wien, Znaim, London, 87
der Pest in Wien im Frühjahr 1713 nach Znaim in Mähren, bezw.
auf ein bei Znaim gelegenes Schloß geflüchtet haben.
Die Anwesenheit Astorgas in Znaim im Mai 1713 steht fest.
Diese bisher völlig unbekannte Tatsache ergibt sich aus der Datie-
rung seiner Kantate: »Nuovo dardo il sen m'impiaga«, welche
lautet: »Znaimb^, maggio 1713 «2.
Was konnte den italienischen Edelmann bewegen, in einer kleinen
mährischen Stadt wie Znaim so lange Aufenthalt zu nehmen, daß
er Muße zum Komponieren fand? Nur die Beziehungen zu irgend
eintr Aristokratenfamilie konnten ihn dort festhalten.
Eine sorgfältige Durchsicht der historischen Bestände des Stadt-
archivs zu Znaim^ sowie die Auskunft des mit der Ortsgeschichte
von Znaim besonders vertrauten Herrn Oberlehrers AntonVrbka
in Klosterbruck bei Znaim brachte mich zu der Überzeugung, daß
hier einzig und allein die Familie der Grafen Althann in Betracht
kommen kann. Sie spielte in jener Zeit die erste Rolle unter den
Grundherren der Umgebung von Znaim. Sie war weit und breit die
einzige, deren Glieder Interesse für die Künste besaßen und auf
mannigfache Weise bekundet haben. Die einstens althannischen
Schlösser zeugen noch heute, nachdem sie längst in anderen Besitz
übergegangen sind, von dem Kunstsinn, der Prachtliebe und dem
Reichtum jener Grafen. In diesen Schlössern entfaltet« sich im
18. Jahrhundert ein glänzendes Leben: Nicht nur Fürsten und
Adlige, nein, auch Gelehrte, Dichter und Künstler waren oft hier
zu Gaste. Wenn sich nun auch trotz eifriger Bemühungen gerade
^ Die Schreibung des Ortsnamens mit b am Ende kommt in früheren
Jahrhunderten oft vor. So in den Diarien des Brucker Abtes Wallner,
Jahrgang 1716 — 1721 (Nr. 14 der »Brucker Sammlung« im Mährischen
Landes-Archiv zu Brunn) und in Hübners Sammlung im
Stadtarchiv zu Znaim (33, 152), hier heißt es sogar »Z n a y m b«.
s Auf der modernen Abschrift dieser Kantate in der kgl. Bibliothek zu
Dresden (Mus. B. 38a Nr. 3), ist die Angabe in »Z u a m b M a j 0«
verstümmelt. Herr Professor A. W 1 q u e n n e in Brüssel, dem das Origi-
nal der Kantate vorlag, teilte mir mit, daß dort die Aufschrift lautet, wie wir
sie oben wiedergeben.
'• Ich bin dem löbl. Magistrat von Znaim für die Erlaubnis zu dieser
Durchsicht zu besonderem Dank verpflichtet.
88 1. Teil: Astorgas Leben.
für Astorgas Besuch bei den Grafen kein dokumentarischer
Beweis auffinden ließ, so ergibt sich doch aus den angedeuteten
Verhältnissen mit größter Wahrscheinlichkeit, daß auch Astorga,
da er sicher in Znaim war, bei den Grafen Althänn eingekehrt ist.
Die Althanns waren ein aus Schwaben stammendes Geschlecht,
das im 16. Jahrhundert nach Osterreich zog und 1574 in den Reichs-
freiherrenstand erhoben wurde. Mit Michael Adolph I. erhielt
die Familie 1610 den Grafentitel; zugleich begann die sog. »Micha-
elische Linie « des Hauses, in der alle Männer den Vornamen Michael
tragen 1. Mehrere dieser Grafen von Althann kamen zu ehrenvollen
Stellungen am Kaiserhofe. So auch die zwei Brüder, mit denen
Astorga Berührung fand.
Michael Hermann Joseph von Althann, Majoratserbe von
Joslowitz, Frain und Neuhäusel bei Znaim, wurde kaiserlicher
Kämmerer, wirklicher geheimer Rat und Landrechts-Beisitzer in
Mähren 2. Sein jüngerer Bruder Michael Johann (III.) begleitete
als Kammerherr den Erzherzog Karl, als dieser als König Karl III.
im Jahre 1704 von Spanien Besitz ergriff». Es gelang ihm, durch
seine Treue und Tapferkeit Karls ganze Gunst zu erringen, die ihnv
sein Leben lang erhalten blieb. Karl, der einmal mit Bezug auf den
Grafen in sein Tagebuch notierte: »Ewig Freund, bis in Tod«*,
überhäufte ihn später, als er den Kaiserthron bestiegen hatte, mit
Ehren. Er erhob ihn zum Ritter des goldenen Vlieses, verlieh ihm
1714 das Reichs-Erbschenkenamt und 1715 die Würde eines Gran-
den von Spanien 6. Ferner wurden dem Grafen die Herrschaften
Musakös und Csakaturn in Ungarn und die Fideikommißherrschaft
^ Vgl. E. H. Kneschke: Neues allgemeines Deutsches Adels-Lexicon-
l Bd. (Leipzig 1859), S. 59.
• Nach J. Fr. Gauhe , Adelslexikon (Leipzig 1740). I. Bd. S. 11 f. und Fr.
K. Wissgrill, Schauplatz des landsässigen Niederösterr. Adels (Wien
1794) Bd. I, S. 86 f. — W i s s g r i 1 1 gibt die Lebensdauer der Brüder an wie
folgt: Graf Hermann 1671—1736, Graf Johann III. 1679—1722. —
Vgl. auch den Artikel »Frain« von Fr. Fuchs in der »Heimatskunde
despolit. BezirkesZnaim« Heft 2, (Znaim 1898) S. 14.
' Landau, a. a. O. 157.
'Ebenda, 508.
* Kneschice, a. a. O.
V. Kap.: Wien, Znaim, London. 89
Swoyschitz in Böhmen verliehen i. Während seines Aufenthaltes
in Spanien kam der Graf nicht ohne romantische Nebenumstände
zu einer Gattin. Als im April 1706 Barcelona von der französischen
Flotte beschossen wurde, suchte der König Karl und sein Gefolge
im Frauenkloster von S. Pedro Schutz vor den Bomben. Dort
lernte Graf Althann die schöne und geistreiche Marianne Pigna-
telli kennen, die sich als Schülerin in dem Kloster befand. Sie
war die Tochter des vormaligen Gouverneurs von Navarra und
Galicien Don Domingo Pignatelli^. Der König begünstigte
diese Liebe und freute sich, als am 11. Februar 1709 in Barcelona
die Ehe geschlossen wurde. Noch bevor Karl Spanien verließ
(27. September 1711), waren Graf und Gräfin Althann bereits nach
Italien vorausgegangen'. Von 1712 an war ihr Hauptwohnsitz
die kaiserliche Residenzstadt Wien.
Die Gräfin Althann entstammte einer von Süditalien nach Spanien
verpflanzten Familie. Zu Astorgas Zeiten gab es auch in Italien noch
Zweige des Hauses Pignatelli*. Während des Tonsetzers Jugend
hatte ein Sproß dieser Familie den päpstlichen Stuhl innegehabt:
der edle und gütige Innocenz XIL (1691—1700). Dem Meister
1 W i s s g r i 1 1 , a. a. O.
* Nach Landau, 508. — Durch Landaus, auf authentischen Nachrichten
beruhende Darstellung wird der Bericht, den Wurzbach (A. biogr. L.)
von der Eheschließung gibt, wesentlich modifiziert. Wurzbach benutzte als
Quelle lediglich Hermanns Lexikon, das ganz unzuverlässig ist (vgl. S. 170 f).
Bei W i s s g r i 1 1 (a. a. O. S.87) wird die Gräfin auch Marchesa Pignatelii,
Herzogin von Belriguardo genannt. Diese Titel werden in der
späteren genealogischen Literatur bisweilen wiederholt. Manchmal ist auch
von der Gräfin als von der »Fürstin« Pignatelii die Rede.
* Landau, a. a. O. S. 508 und 675.
* Auf Sizilien spielten die Pignatelii seit dem 16. Jahrhundert
eine Rolle. Ettore Pignatelii, Conte di Monteleone, war
1517 — 1535 Vizekönig von Sizilien gewesen und hatte sich durch Stiftung
zweier Klöster und einer Compagnia della Caritä in Palermo
verdient gemacht. 1522 — 1526 war einCamillo Pignatelii Presidente
der Insel gewesen. (Nach Di B 1 a s i , Storia cronol. de' vicerö di SiciUa,
Neue Ausg. Palermo, 1842, S. 172 und C r o 1 1 a n z a , Dizlonario Storico-
Blasonico, Pisa 1888, II, 337 ff.) — Der später von Karl VI. eingesetzte
Vizekönig von Sizilien Niccolö Pignatelii (1719—1722) gehörte
anscheinend einem neapolitanischen Zweige der Familie an.
90 1. Teil: Astorgas Leben.
war also der Name Pignatelli sicher wohl vertraut, als er die
Gräfin kennen lernte. Diese war ganz danach angetan, Männer
wie Astorga zu fesseln. Sie war schön, liebenswürdig und fein ge-
bildet. Eine begeisterte Verehrerin italienischer Poesie und Musik,
beschützte sie namentlich nach ihres Gatten frühem Tode (1722)
Dichter und Musiker aufs eifrigste. ApostoloZeno und besonders
PietroMetastasio genossen ihre Protektion; der letztere verlebte
ein Jahrzehnt hindurch regelmäßig die Herbstmonate in ihrer Gesell-
schaft auf ihren Schlössern in Ungarn oder in Mähren i. Die Kunst
Pari nein s hatte sie so bezaubert, daß sie noch lange, nachdem ihn
der spanische Königshof der Öffentlichkeit entzogen hatte, mit Be-
geisterung seiner gedachte und ihm durch Metastasio »una barca
di saluti« ausrichten ließ 2. Auch die Wissenschaften förderte sie
nach Kräften. Selbst in der Genealogie wohl bewandert, sah sie
Geschichtsforscher wie die Brüder Petz und den Abt Gottfried
Bessel in ihren Zirkeln. In ihren späteren Jahren war die »spa-
nische Althann«, so nannte man sie, in Wien ob ihrer Wohltätig-
keit besonders beliebt^. Daß sie einem Künstler und Aristokraten
wie Emanuel d'Astorga ihre Freundschaft nicht vorenthielt, ist
um so natürlicher, als beide durch das Doppelband der spanischen
und italienischen Sprache verbunden wurden, — und sie sich noch
dazu in einem Lande begegneten, dessen Sprache sie nicht oder nur
wenig verstanden.
In dem Schwager der Gräfin, dem bereits genannten Grafen
Michael Hermann von Althann, haben wir den Herrn zu er-
^ Auch die Herrschaften F r a i n und J s 1 w i t z fielen nach Michael
Hermanns Tode (1736) an sie. — In der Gesamtausgabe der »O p e r e
di Metastasio« (Volume unico, Trieste 1857) tragen Briefe des Dichters
aus den Jahren 1741 — 1754 wiederholt die Ortsangabe »Csakaturn«
(S. 908, 910), »J Oslo Witz« (S. 912, 942, 956) und »Frain« (S. 954,
1079). — Zwei andere Briefe Metastasios aus Frain sind abgedruckt in der
Sammlung »Lettere di PietroMetastasio e di CarloBotta,
pubblicate in occasione del dupüce maritaggio Treves — di Bonfil — Todros«
Venezia 1844), 8.9, 11.
'Opere di Metastasio S. 923, 924. >— In einem anderen Briefe
an Farinelll (a. a. 0. S. 928) vom Jahre 1749 heißt es: »La contessa d'Althann
e tutta la sua compagnia ah quanto ha parlato di vol!«
» Nach Wurzbach, Lexikon, Artikel Althann.
V. Kap.: Wien, Znaim, London. 91
blicken, bei dem Astorga im Mai 1713 in oder bei Znaim als Gast
weilte. Sei es nun, daß Emanuel in dem gräflich althannischen
Schoßhause zu Znaim, das noch heute eines der stattlichsten Gebäude
am oberen Marktplatze von Znaim bildet, sei es, daß er auf einem
der benachbarten Güter des Grafen jene Kantate schrieb, die uns
von seinem Znaimer Aufenthalt Zeugnis gibt, — keinesfalls wird
er den Besuch des Schlosses Frain, des nur wenige Meilen nord-
westlich von Znaim gelegenen glänzendsten Herrensitzes des Grafen,
unterlassen haben. Die herrliche Lage des Schlosses auf steilem
Felsen über der Thaja, die waldreiche Umgebung, die später Meta-
stasio wiederholt als »montagne amenissime della Moravia « rühmte,
verfehlten auch auf ihn ihren Eindruck nicht. Die Gesellschaft des
Grafen und seiner Freunde, die behagliche Einrichtung des Schlosses
und, nicht zuletzt, der erst vor kurzem mit äußerster Pracht erbaute
Musik- und Theatersaal konnten ihn länger fesseln. Es ist wohl
glaublich, daß Astorga, der ja immer eine Menge Kompositionen
bei sich führte i, selbst die eine oder die andere davon im Kreise
der adligen Gäste zum Vortrag brachte oder als Sänger oder am
Cembalo bei der Aufführung irgend eines Pastorale in jenem
Prunksaale mitwirkte.
Ob hier auch Astorgas Dafni zur Aufführung kam? Es kann
wohl sein. Möglich auch, daß der Graf Althann eine Kopie der
Oper anfertigen ließ, und daß diese Dafnipartitur die heute in
Wien befindliche ist, von der wir oben« sprachen. Beweise waren
nicht zu erlangen^.
1 Nach H a w k i n s. Vgl. S. 135 unsrer Schrift.
« S.63.
* Meine Bemühungen, bestimmte Nachrichten über den Verkehr Astorgas
mit den Grafen Althann zu erlangen, blieben vergeblich. Ich fragte bei der
Schloßverwaltung zu F r a i n in Mähren an, ob sich im Frainer Schloßarchiv
auf Astorga bezügliche Schriften vorfänden. Die Antwort lautete verneinend.
Vermutlich seien beim Verkauf der Herrschaft Frain alle die gräfliche Familie
betreffenden Schriften und Akten nach Joslowitz i. M. übergeführt
worden. Meine Anfrage an dieser Stelle ergab, daß auch dort nichts zu finden
sei, — möglicherweise seien die betreffenden Dokumente mit vielen anderen
im Jahre 1809 von den Franzosen verbrannt worden. Diese Vermutung
sprach auf meine Anfrage hin auch Herr Graf Michael Robert von
Althann in Wien aus. Er besitzt ebenfalls keine auf Astorga bezüglichen
92 1. Teil: Astorgas Leben.
Bei seinem Aufenthalte in Znaim dürfte Astorga auch das
Prämonstratenserstift Brück, das in unmittelbarer Nähe der Stadt
gelegen ist, aufgesucht haben. Der Ruhm, den es seit Jahrhunderten
als musikalische Pflanzstätte Mährens genoßt, veranlaßte
den Komponisten gewiß, dort Einkehr zu halten. Er wird in dem
Stifte, das damals in hoher Blüte stand, — es zählte 80 Ordens-
geistliche — , wohl aufgenommen worden sein. Besondere Sym-
pathien dürfte ihm der Abt des Klosters, Vincenz Wallner, ge-
schenkt haben, der ein vorzüglicher Geschichtskenner und tat-
kräftiger Beschützer aller Wissenschaften und Künste war«.
Dokumente, wies mich aber an das gräflich Festeticssche Schloßarchiv
in Csakatum in Ungarn, wo eine Anfrage vielleicht noch von Erfolg sein
könne. Auch hier kam ich zu keinem positiven Resultat: Herr Graf Feste-
tics ließ mir mitteilen, daß sich »seinesWissensim Archiv von Csaka-
tum keine auf die Person des Komponisten Astorga Bezug nehmenden Noten
oder anderweitige Schriftstücke befinden«. Sorgfältige Nachforschungen im
Schloßarchiv zu Csakatum können also doch vielleicht noch brauchbare
Resultate erbringen.
^ Mit dem Kloster war seit dem 16. Jahrhundert ein Erziehungsinstitut
für adlige Jünglinge des Landes verbunden, in dem die Pflege der Musik einen
bevorzugten Platz einnahm. Zwar hatte der dreißigjährige Krieg diese Kultur-
stätte arg geschädigt, gegen Ende des 17. Jahrhunderts erhob sie sich aber
zu neuer Blüte. Tüchtige Künstler (unter ihnen der bedeutendste: Jakob
Kosaf, gest. 1669) waren als Musiklehrer und Leiter der Kirchenmusik in
Bmck tätig und erhielten den Ruf des Stiftes als musikalisches Zentrum von
Mähren lebendig. — Nach Chr. Ritter d'Elvert, Geschichte der Musik
in Mähren und österr. Schlesien (Brunn, 1873), S. 143 f. und AntonVrbka,
Artikel »Klosterbrucka in der »Heimatskunde des polit. Bezirks
Znaim«, Heft 8, S. 39 f.
* Vincenz Wallner, aus Kaidling gebürtig, war erst vor kurzem
(1712) zum Abt des Klosters gewählt worden. Er machte sich verdient um
das Zustandekommen der Annalen seines Ordens. Nach V r b k a , a. a. O.,
S. 44 f. — Ich habe die im Mährischen Landesarchiv zu B r ü n n befindlichen
»Diarii Revi. Dni. Abbatis Lucensis« [Wallner] der in Betracht kommenden
Jahre auf eine Erwähnung Astorgas hin, jedoch erfolglos, durchgesehen. In
den ersten Jahren seiner Amtsfühmng, in die Astorgas Besuch fiel, sind die
Aufzeichnungen noch spärlich und lückenhaft. Später wird jeder Besuch
verzeichnet. Auch der »Comes ab Althann Joslovicensis« erscheint dann.
Dieser konnte auch Astorga im Kloster eingeführt haben. Die das Kloster
Bmck betreffenden Bände der Hübner sehen Sammlung im Stadt-
archiv zu Znaim enthalten keine Notizen über Astorga.
V. Kap.: Wien, Znaim, London. 93
Wir wissen nicht, ob Astorga nach dem Jahre 1713 die Bezie-
hungen zu seinen Wiener und Znaimer Freunden lebendig erhalten
hat. Zwar reden einzelne Schriftsteller davon, Astorga sei in
späteren Jahren noch einmal nach Wien gekommen. Doch beruht
diese Mitteilung auf sehr unsicherem Grunde^; urkundlich nach-
weisbar ist nach 1713 weder ein Besuch ia Wien noch in Znaim.
In die Jahre nach seinem Besuch in Mähren fiel unsres Er-
achtens Astorgas Aufenthalt in England. Hawkins, der von einem
solchen berichtet, gibt die Zeit nicht an, in der er stattfand. Ver-
suchen wir sie zu ermitteln. Mit Sicherheit läßt sich nur ihre
Grenze nach abwärts bestimmen: Es ist das Jahr 1717. Denn im
Frühjahr 1717 wurde Astorga Senator in Palermo; nach Ablauf
seiner Amtsperiode gravitierte aber, wie wir hören werden, sein
ganzes Wesen nach Portugal und Spanien. Es ist ganz unwahr-
scheinlich, daß er in seiner letzten Lebensperiode noch große Reisen
unternommen hat. Am wenigsten hätte er sich aber in jener Zeit
als Sänger und Klavierspieler hören lassen. Und gerade als
solchen rühmt ihn die bei Hawkins verzeichnete Tradition. Das
führt uns in seine jüngeren Jahre. Es ist also denkbar, daß Emanuel
bereits im ersten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts nach England
ging; wahrscheinlicher ist jedoch, daß er während der Dauer des
spanischen Erbfolgekrieges (1701 — 1713) einen Besuch bei den Eng-
ländern vermied. Dann bleiben also nur die Jahre zwischen 1713
und 1717, in denen man Astorga in England vermuten kann.
Hören wir, was Hawkins von diesem Aufenthalte und seinem
Anlaß dazu berichtet: »Astorga hielt sich einmal in Livorno auf.
Dort wurde er von englischen Kaufleuten so außerordentlich ge-
feiert, daß er bewogen wurde, England zu besuchen; und er brachte
einen oder zwei Winter in London zu«.«
Ziemlich plausibel erscheint es, daß der erwähnte Aufenthalt
Astorgas in der Hafenstadt Livorno vor Antritt oder nach Been-
digung einer Seefahrt stattfand, d. h. also im Verlauf einer größeren
Reise, deren Ziel zunächst erreicht werden mußte.
> Diese Nachricht stammt vonFriedrich'Rochlitz. Vgl. S. 151.
* Den Urtext s. S. 135.
94 1. Teil: Astorgas Leben.
Mithin ist es nicht unmöglich, daß das Zusammentreffen mit den
enthusiastischen Engländern bei seiner Fahrt nachWienim Früh-
jahr 1712 stattfand, und daß er den auf ihr Zureden hin gefaßten
Plan, nach England zu kommen, nach Beendigung seines Aufent-
haltes in Wien und Znaim zur Ausführung brachte. Reiste er von
Mähren direkt nach London, so nahm er wohl seinen Weg durch
Böhmen. Er wird dann Pragi, vielleicht auch Karlsbad^ berührt
haben, das damals bereits von der vornehmen Welt aufgesucht wurde.
Ob er in D res de n^ Station machte, wo das Musikleben kräftig auf-
blühte, ob in B e r 1 i n , ob er die Route über eine der stolzen deutschen
Hansastädte wählte, ob durch Westdeutschland und Hol-
land, — wir wissen es nicht. Keinerlei Spur von ihm ist in jenen
Städten und Gegenden gefunden worden.
Mehr als die Annahme einer direkten Reise von Znaim nach
London hat die für sich, daß Astorga von Mähren im Herbst
1713 nach Italien zurückkehrte und sich in Livorno nach Neapel
oder Palermo, vielleicht auch nach Spanien einschiffen wollte. In
den Tagen des Wartens auf die Abfahrt mag er sich mit den Eng-
ländern befreundet und sie durch seine Kunst entzückt haben.
Jeder von ihnen verfolgte darauf seine Straße. Im nächsten oder
übernächsten Jahre dürfte Emanuel dann die Reise nach England
angetreten haben, zu der er sich damals in Livorno auf Anregung
der musikalischen Briten entschlossen hatte. Beide Konjekturen
lassen sich recht wohl mit der oben ermittelten Zeit des Londoner
Aufenthaltes (1713 — 1717) vereinen.
; i^ Vgl. dazu auch S. 178, Anm. 1.
> Meine darauf bezügliche Anfrage beantwortete Herr Professor Dr. L u d -
wig in Karlsbad dahin, daß im Karlsbader Stadtarchiv keine Anmeldung
Astorgas vorhanden ist. Die Kurlisten beginnen erst mit Ende der fünfziger
Jahre des 18. Jahrhunderts, und in den Badegäste- Verzeichnissen der früheren
Zeit sind nur die regierenden Häuser, Kardinäle, Bischöfe verzeichnet.
* Die wiederholten Nachforschungen, die ich im k. s. Haupt-Staats-Archiv
zu Dresden nach Spuren Astorgas angestellt habe, erbrachten kein Resultat.
Auch M. F ü r s t e n a u hat wohl nichts über ihn gefunden, denn er erwähnt
ihn in seinem Werke »ZurGeschichtederMusik und desThea-
ters amHofezuDresden« (Dresden, 1861, 1862) nicht
V. Kap.: Wien, Znaim, London. 90
Die verschiedenen Schriften, die das Musikieben Londons in
den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts schildern, und die
der vielen kleinen Sterne gedenken, die sich um die Sonne Händel
gruppierten, nennen Astorga nicht. Dieses Verstummen der
Quellen ist leicht erklärlich durch den Umstand, daß unser Meister,
wie überall, so auch in London jedes persönliche Eingreifen in das
öffentliche Musikleben unterließ und mithin den Chronisten nicht
bemerkenswert erschien. Während er alles, was einer Konkurrenz
mit den Berufsmusikern ähnlich sehen konnte, vermied, entzückte
er durch seine Kunst den Kreis seiner vertrauten Freunde, die einen
so tiefen Eindruck davon empfingen, daß die Erinnerung daran in
London bis auf Hawkins Zeit lebendig blieb.
London bot dem sizilianischen Baron künstlerische Anregungen
in Fülle. Nicht nur das öffentliche Musikleben mit Kirchenmusik
und Oper, nein auch die private Musikpflege in adligen und bürger-
lichen Kreisen gewährte ihm neue, vielseitige Eindrücke. Wie
andere Mitglieder des Adels, so kann auch er den musikalischen
Klub des Kohlenhändlers Britton, der bis 1714 bestand^, besucht
haben, so kann auch er einer der Gäste des Kunstmäcens Graf
Burlington gewesen sein, dessen Palast ein glänzendes Stück Italien
unter dem grauen Himmel des Nordens bildete^. In London schlug
ihm überall der Name Händel entgegen, der dort seit 1710 zu den
gefeiertsten gehörte. Astorga war, wie oben angedeutet wurde,
vielleicht schon in Italien mit Händel zusammen getroffen, — daß
beide nun in London in persönliche Beziehungen zueinander traten,
bezweifeln wir. Sicher aber lernte Astorga, der ja für die musikalische
Literatur seiner Zeit so viel Interesse hatte, in London zahlreiche
Werke Händeis kennen, darunter gewiß auch seinen »Rinaldo«, der
1711 mit größtem Beifall begrüßt worden war und in den folgenden
Jahren sehr oft aufgeführt wurde. Wir können uns vorstellen, wie tief
Arien wie »Carasposa« oder »Lascia ch'io piangac.auf Astorgas emp-
fängliches Gemüt gewirkt haben mögen. Er wird sich nicht darüber
getäuscht haben, daß diese Gesänge an Tiefe des Gefühls, an Energie des
iChrysander, Händel I, 308.
> Ebenda, 413 f.
96 1. Teil: Astorgas Leben.
Ausdrucks und klanglichem Reiz alles überboten, was die italienische
Oper «bis dahin geschaffen hatte, seinen eigenen Dafni nicht aus-
genommen, der sich mit Händeis Rinaldo verglichen, wie eine graziöse
Porzellanfigur neben einem gewaltigen Bronzestandbild ausnimmt.
Es ist wohl möglich, daß gerade durch Händel in Astorga das Be-
wußtsein rege gemacht wurde, daß es ihm nicht gegeben sei, auf dem
Felde der Oper Epochemachendes zu schaffen. Deshalb verzichtete
er darauf, nach seinem Dafni noch weitere Opern zu schreiben. In
kluger Erkenntnis der Grenzen seines Talentes beschäftigte er sich
nun fast ausschließlich mit der kleineren Form der Solo Ran täte;
ein Gebiet, auf dem er in der Tat Bedeutendes leisten sollte. Daß
er sich hier schließlich selbst Genüge tat, dafür spricht die Ver-
öffentlichung jener Kantaten -Sammlung, von der am Eingang
unsrer Forschungen die Rede war.
Nur zu einer einzigen Schöpfung in größerer Form raffte sich der
Meister in seiner späteren Zeit noch auf, und zwar zu einem kirchlichen
Werke : dem StabatMater. Und gerade damit trat er in dieReihe der
größten Meister ein, damit errang er seinemNamen dieUnsterblichkeit.
Daß Astorga sein Stabat Mater in London geschrieben habe,
wie einzelne Schriftsteller behaupten, ist durch nichts zu beweisen.
Die erste Erwähnung des Werkes findet sich in den 1753 veröffent-
lichten »Remarks on Mr. Avison's Essay on musical expres-
sion« des Oxforder Professors W. Hayes. Dort heißt es nur, das
Stabat Mater sei »letzthin in Oxford aufgeführt worden«. Haw-
kins (1776) fügt dieser Notiz des weiteren bei, die »Academy of
Ancient Music « zu London bringe es ebenfalls öfter zur Aufführung.
Rochlitz (1825) zieht bereits daraus den Schluß: »Sein Stabat
Mater scheint er in London geschrieben zu haben «. In dem Astorga-
Artikel der Wiener »Rezensionen« (1863) heißt es dann mit
voller Bestimmtheit: »In London hat er sein berühmtes Stabat
Mater komponiert, von dem die Academy of Ancient Music
die Abschrift besitzt«. Ahnlich äußert sich auch Schletterer
(1878) in der Vorbemerkung seiner Ausgabe des Stabat Mater.
Vorsichtiger behandelt Pohl in Groves Dictionary den Punkt,
indem er sagt, das Stabat Mater sei »wahrscheinlich für die
Academy of Ancient Music in London komponiert worden.c
V. Kap. : Wien, Znaim, London. 97
Pohls Vermutung hat manches für sich. Denn gewiß fand
Astorga persönliche Beziehungen zu der Academy of Ancient Music
in London, deren Tendenzen ganz seinen Ansichten entsprechen
mochten. Sie war im Jahre 1710 gegründet worden zu dem Zwecke,
durch die Pflege alter Musik »einen Damm zu setzen gegen die
hereinbrechende Flut moderner Musik, zu der in erster Reihe Hän-
deis Kompositionen gerechnet wurden. Um das Studium und die
Ausübung alter Musik zu fördern, wurde dann auch eine Bibliothek
angelegt, die sich rasch vergrößerte «i. Dieser Sammlung kann
Astorga gewiß eine Abschrift seines Stabat Mater dediziert haben ;
in seiner Art entsprach das Werk mehr als alle anderen des Meisters
den Zielen der Akademie, ist es doch sein einziges, in dem größere,
im alten, polyphonen Stil gehaltene Sätze vorkommen. Irgend
ein Beweis für eine solche Schenkung an die Sammlung der Aka-
demie ist jedoch nicht vorhanden. Nur daß das Werk 1776 in Lon-
don aufgeführt wurde, steht fest; wie lange vorher es dort schon
bekannt war, wissen wir nicht. Dagegen sahen wir oben, daß man
es bereits 1753 in Oxford kannte und schätzte. Mithin kann auch
die Oxforder Partitur die ältere sein und als Vorlage für die Lon-
doner gedient habend. Daraus ergibt sich aber für die Lebens-
geschichte Astorgas, daß er, wie zu London, so auch zu Oxford in per-
sönlicher Beziehung stehen konnte, ja es ist gar nicht unwahrschein-
lich, daß er selbst die berühmte Universitätsstadt besucht hat. Es
mochte ihn interessieren, die Stätte kennen zu lernen, wo sich tüch-
tige Leute seines Faches den Titel »Doktor der Musik« holten;
selbst zu promovieren, mag ihn ebensowenig gelüstet haben^, wie
Händel*.
1 Wörtlich nach C. F. P o h 1: Mozart in London (Wien 1867), S. 16.
s Eine vergleichende Betrachtung der heute im British Museum
zu London befindlichen Partitur (derselben, die C h y s a n d e r im H ä n-
d e 1 (1, 350f.) beschreibt) und derinderBodlein Library zu Oxford
versparen wir auf den zweiten Band unsrer Studien.
3 A. Williams in seiner Schrift » A Short historical account of the
Degrees in Music at Oxford and Cambridge« (London öcNew
York, 0. J.) gibt eine Liste aller, die in Oxford den Titel Doktor der Musik
erworben haben. Astorgas Name kommt nicht darin vor.
* Vgl. Chrysander, Händel, II. 310 f.
Volkmann, Astorga. I. 7
98 1. Teil: Astorgas Leben.
Wir wissen nicht, wo Astorga sein Stabat Mater schrieb, wir
kennen das Jahr nicht, in dem er es schrieb. Nur daß er es als ge-
reifter Künstler komponiert hat, ergibt sich aus dem Werke selbst.
Es wohnt darin ein so starker männlicher Geist, es zeigt sich darin
eine so vollendete Beherrschung der Kompositionstechnik, nament-
lich eine so geschickte Behandlung der Singstimmen, daß es un-
möglich die Schöpfung eines werdenden, sondern nur eines fertigen
Meisters sein kann. Vorn konstatierten wir aber, daß Astorga mit
dem Jahre 1707 in die Periode der Meisterschaft eintrat. Wir
können daher annehmen, daß er das Stabat Mater nicht vor dem
genannten Jahre geschrieben hat.
»Einen oder zwei Winter verlebte Astorga in London«, so er-
zählt Hawkins. Dieser Nachricht fügt der Autor des Astorga-
Artikels in den Wiener »Rezensionen« folgende Bemerkung bei :
»Im ganzen scheint sich Astorga in England nicht wohl gefühlt zu
haben; die glühende Seele des phantasiereichen Künstlers mochte
der kalte Hauch des englischen Realismus eisig anwehen «.
Diese Annahme ist historisch nicht zu rechtfertigen. Im ersten
Viertel des 18. Jahrhunderts gab es in London genug idealgesinnte,
kunstfreundliche Kreise, — wir nannten oben einige — ; jeder, der
nur wollte, konnte also dem »kalten Hauche des englischen Realis-
mus« ausweichen. Und weshalb sollte Astorgas Freundschaft mit
jenen englischen Musikliebhabern, die ihn erst zu der Reise nach dem
Inselreich bewogen hatten, erloschen sein? Nein, Londons edle
Geselligkeit kann Astorga voll befriedigt haben. Auch das längere
Verweilen in England — einen oder zwei Winter — spricht dafür,
daß er sich dort wohlgefühlt hat.
Wir stehen am Schlüsse der Epoche von Astorgas großen Reisen.
Nur wenige Stationen auf diesen Fahrten konnten wir mit Sicherheit
nachweisen. Manch andere ließen sich wohl noch vermutungsweise
nennen, — darunter z. B. Parisi, das ein feingebildeter Weltmann,
wie Astorga, zu besuchen gewiß nicht unterlassen hat. Wir wollen
von diesen Möglichkeiten jedoch nur noch eine erörtern, weil ge-
^ Fr. R c h 1 i t z sprach zuerst von einem Besuche Astorgas in Paris,
doch, gleich uns, nur vermutungsweise.
V. Kap. : Wien, Znaim, London. 99
wisse Wahrscheinlichkeitsgründe für sie sprechen: Die eines Aufent-
haltes zu Parma im Jahre 1716.
Zu Parma wurde im Karneval des genannten Jahres am herzog-
lichen Hofe eine Pastoral -Oper »II Dafni« aufgeführt, deren
Musik vielleicht die Astorgas war. Die Überlieferung nennt den
Komponisten nicht. Doch läßt das noch erhaltene Textbuch^ dieser
Aufführung Schlüsse zu. Einige Striche und Einlagen abgerechnet,
deckt es sich vollkommen mit dem Dafnitext von Genua und Barce-
lona vom Jahre 1709. Liegt also deshalb schon die V^i'niutung
nahe, daß in Parma ebenfalls die Musik Astorgas benutzt wurde,
so hilft die im Libretto enthaltene Angabe der mitwirkenden Künst-
ler jene Vermutung stützen. Titel und Personenverzeichnis lauten :
11 Dafni
Drama pastorale
Per Musica
Da rappresentarsi nel nuovo Teatro Ducale di S. A.S. di Parma
Consacrato
AI merito sovragrande del Serenissimo
Signor Prencipe
Antonio Farnese.
In Parma, MDCCXVI. Per Giuseppe Rosati.
Con Licenza de' Superiori.
1 Bisher lagen über die Aufführung eines Dafni 1716 in Parma nur
Notizen vor bei A 1 1 a c c i (Drammaturgla S. 236) und bei P a o 1 o E m 1 1 1 o
Ferrari (Spettacoli Dramatico-musicali ... in Parma. Parma 1884); das
Textbuch war verschollen. Durch Vermittlung des Herrn ManoeldeCar-
valhaesinMezaoFrio (Portugal) gelang es mir, ein Exemplar des Text-
buches im Besitze des Herrn Conte Stefano Sanvitale in Parma
ausfhidig zu machen. Der Herr Qraf überließ mir das wertvolle Stück für
•einige Zeit zur wissenschaftlichen Benutzung, wofür ihm besonderer Dank
ausgesprochen sei.
7*
100 1. Teil: Astorgas Leben.
Interlocutori
Dafni. La Signora Angiola Algier!.
Galatea. La Signora Francesca Cuzzoni detta la Par-
meggiana.
Nerina. La Signora Francesca Dancy.
Fileno. La Signora Vittoria Tesi, detta la Firentina.
Tirsi. II Sig. Lucio Genocchi.
Selvaggia. La Signora Rosa Venturini, Virtuosa del
Sereniss. Sig. Prencipe Antonio di Parma.
Dameta. II Sig. Giuseppe Tricö.
Bei einigen der im Personenverzeichnis genannten Mitwirkenden
sind wir über ihren Stimmumfang und -Charakter unterrichtet.
Merken wir uns nun, welche Partien sie in Parma innehatten, und
schauen wir in der Wiener Dafnipartitur nach, für welche Stimm-
gattung Astorga jene Partien komponiert hat, so finden wir, daß die
Besetzung in Parma in den Hauptrollen den Dispositionen Astorgas
genau entsprach. Die Vertreterin der Galatea, die nachmals so
berühmte Cuzzoni, besaß eine ungewöhnliche Höhe. Auch in
Astorgas Partitur ist die Rolle der Galatea für einen hohen Sopran
bestimmt. Den Fileno sang in Parma Vittoria Tesi. Diese
junge, später allgemein gefeierte Künstlerin hatte eine herrliche,
ausgiebige Altstimme und glänzte besonders in Männerrollen. In
Astorgas Partitur ist der Hirt Filen für eine tiefe Altstimme notiert i.
Auch die Partie des Dafni ist von Astorga für einen Alt geschrieben.
In Genua hatte diese Rolle ein Sänger (Porta Luppi) inne; in
Parma sang sie eine Altistin, Angiola Algieri^.
^ AlessandroScarlatt! hat in seiner Komposition des Dafni
diese Rolle einem Tenor zugeteilt. Deshalb, und wegen relativ größerer
Differenzen in den Texten, glaube ich nicht, daß die Oper in Parma mit A.
Scarlattis Musik in Szene ging, wenn schon die Aufführung dieser Kom-
position in J e 8 i 1715 — also ein Jahr vorher — für diese Möglichkeit zu
sprechen scheint. (Vgl. S. 65.)' '
> Angiola oder AngelaAlgieri sang auch zu Venedig im Teatro
S. Angelo im Jahre 1709 eine MännerroUe, die des Cleomenes im Tradimento
tradito von C a n d i und P o 1 a n i. (W i e 1 , a. a. 0. Nr. 87.)
V. Kap.: Wien, Znaim London. 101
Volle Beweiskraft haben diese Übereinstimmungen natürlicli
nicht; aber sie erhöhen doch bedeutend die Wahrscheinlichkeit,
daß bei der Dafni-Aufführung 1716 zu Parma unsres Meisters
Musik gespielt und gesungen wurde.
Verhielt es sich aber tatsächlich so, wie wir vermuten, so ist es
keineswegs unwahrscheinlich, daß der Komponist der Aufführung
persönlich beiwohnte^. Wir hätten uns dann diesen Aufenthalt
Astorgas im Karneval 1716 zu Parma als eine der letzten Rasten
auf seiner langen Wanderzeit durch die Länder Europas zu denken.
Bereits wieder im Gebiete seiner Muttersprache, nicht allzufern von
seiner Heimat, dürfte er sich noch einmal dem vollen Glücksrausch
des Bühnenkomponisten, der sein Werk mit Erfolg gekrönt sieht,
hingegeben haben. Wohl noch im Jahre 1716, spätestens aber zu
Anfang des Jahres 1717, traf Astorga wieder in Palermo ein, um
dort Aufenthalt zu nehmen.
Ehe wir uns diesem Abschnitt seines Lebens zuwenden, sei kurz
dargetan, auf welche Weise sich Astorga auf seinen Reisen künstle-
risch betätigt hat. Gewiß nicht öffentlich, das betonten wir wieder-
holt. Im Kreise vornehmer Freunde scheint er aber nicht mit
seiner Kunst gekargt zu haben. Hier glänzte er nicht nur als
Klavierspieler 2, sondern auch als Sänger. Besonderen Eindruck
pflegte er mit seinen eigenen Kantaten zu erzielen, die er, sich
selbst am Flügel begleitend, vortrug. Wenn Hawkins, dem wir
diese Nachricht verdanken, hinzufügt, Astorga habe sich in der
Ausübung seiner Kunst nicht einmal durch seine starke Kurz-
sichtigkeit hindern lassen, so geht daraus hervor, daß diese Kurz-
sichtigkeit eben nicht allzustark gewesen sein kann. Wahrschein-
lich litt er bei seinem Aufenthalt in England nur an einem vorüber-
gehenden Augenübel. Denn außer der genannten Quelle enthält
^ Für diesen Besuch Astorgas in Parma finden sich ebensowenig doku-
mentarische Beweise, wie für den angeblichen im Jahre 1704 (s. S. 58). Alle
Nachforschungen nach Astorga im Staatsarchiv zu Parma blieben erfolg-
los, wie mir Herr Archivdirektor Dott. A. C a p p e 1 1 i mitteilte. Ebenso'zeitigten
auch die in früherer Zeit darüber angestellten Ermittlungen des Herrn Grafen
Stefano Sanvitalezu Parma keine Resultate. Nach brieflicher Mit-
teilung des Herrn Grafen.
* Zoppelli-Orlandi, a.a.O.
102 1 . Teil : Astorgas Leben.
keine eine Erwähnung seiner Kurzsichtigkeit. Alle anderen Nach-
richten über ihn, namentlich die über seinen Dienst als Offizier,
lassen Astorga als einen gesunden, normalen Menschen erscheinen,
dem auch eine hinreichende Sehkraft nicht versagt war.
Auch produktiv war Astorga auf seinen Reisen tätig. Überall,
wo er Muße und Stimmung fand, griff er zur Feder. Freigebig teilte
er von den Werken seines Geistes mit, wenn ihn Freunde, von seinen
Arien entzückt, um solche baten. Aber immer von neuem
füllte er seine Mappe mit eigenen Kompositionen. Eine größere
Sammlung eigener Werke, so erzählt Hawkins, pflegte er auf all
seinen Reisen mit sich zu führen. Er legte also Wert darauf, für die
wechselnden Bedürfnisse der Zirkel, in die er kam, verschiedene
Werke eigener Komposition zur Auswahl bei sich zu haben. In den
Salons den Lorbeer des Komponisten zu ernten, als geschmackvoller
Sänger die Herzen zu bezwingen, als generalbaßgewandter Begleiter
und als phantasievoller Pianist zu glänzen, das war seine Lust und
sein Stolz während seiner Wanderjahre.
Über eine Betätigung Astorgas als reproduzierender Künstler
in seiner letzten Periode schweigen die Quellen. Als Autor be-
gegnet er uns in dieser Zeit jedoch noch einmal. Auch erfahren
wir noch interessante Einzelheiten über den Staatsbürger Astorga.
Davon im nächsten Kapitel.
VI. Kapitel.
Astorga als Senator von Palermo.
Der Ausgang. 1717 — ca. 1750.
Während der Abwesenheit Astorgas von seiner Heimat war auf
Sizilien eine von niemand geahnte Veränderung eingetreten. Die
Insel war aus den Händen der Spanier in die einer anderen Macht
gelangt. Der Friede von Utrecht (April 1713), der dem spanischen
Erbfolgekriege ein Ziel gesetzt, hatte auch jenen Umschwung herbei-
geführt. In diesem Frieden hatten die Mächte Philipp V. als König^
von Spanien anerkannt. Zugleich war aber die Insel Sizilien Philipp
VI. Kap. : Astorga als Senator von Palermo. — Der Ausgang. 103
abgesprochen und dem Herzog von Savoyen als Königreich zu-
erkannt worden. Die Bevölkerung von Sizilien war über diese
Wendung erfreut, hoffte sie doch, die Veränderung werde auch eine
Verbesserung der sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse auf der
Insel herbeiführen.
Am 10. Oktober 1713 landete der neue König von Sizilien,
Victor Amadeus von Savoyen und Piemont, in Palermo^.
Das Volk, das seit Menschengedenken seinen König nicht mehr in
persona gesehen hatte, jubelte ihm zu. Auch die Einzugs- und
Krönungsfeierlichkeiten entfesselten bei den Palermitanern, die
solch glänzende Schauspiele über die JVlaßen liebten, Stürme der
Begeisterung.
Mit kräftiger Hand ergriff Victor Amadeus die Zügel der
Regierung. Reformen zur Hebung des Wohlstandes der Bevöl-
kerung wurden allerwegen angebahnt. Der König ordnete Straßen-
bauten an, traf Anstalten zur Ausrodung des Brigantenunwesens,
verbesserte und verstärkte das Militär. Dazu mußten neue Steuern
erhoben werden. Solche pflegen aber der Regierung nirgends Freunde
zu erwerben. Die Sympathien, mit denen man Victor Amadeus
empfangen hatte, verflüchtigten sich daher rasch. Man hatte, als
man den König mit den größten Hoffnungen begrüßte, nicht er-
wogen, daß er eine Hebung des Volkswohlstandes nicht ohne tief-
greifende Umgestaltung aller Verhältnisse anbahnen konnte. Diese
Reformen waren jedoch allen jenen unbequem, die vorher, unter den
Spaniern, ein erträgliches Leben geführt hatten. So kam es, daß der
neue König bald mehr Feinde als Freunde hatte, und daß der Aus-
führung seiner Reformpläne überall Widerstand entgegengesetzt
wurde.
Auch andere Dinge nährten die Abneigung der Siziiianer gegen
Victor Amadeus. Für die an rauschende Festlichkeiten gewöhnten
Palermitaner ließ der König an Festtagen bei weitem nicht genug
Glanz und Pracht entfalten. Man hielt ihn deshalb für geizig. Ferner
1 Vgl. Dr. Karl Querner: Die piemon tesische Herrschaft
auf Sizilien. Bern, 1879. S. 45. Auch des weiteren stützen sich unsre
Schilderungen der politischen Verhältnisse Siziliens auf Quemers ausgezeich-
netes Werk.
A
104 1. Teil: Astorgas Leben.
nahm man ihm übel, daß er zahlreiche seiner Landsleute, Savoyarden
und Piemontesen, in die Staatsämter einrücken ließ. Hier murrte
man. über die Bevorzugung der Fremden, während man gegen die
Besetzung der Stellen mit Spaniern nichts einzuwenden gehabt hatte.
Die größten Schwierigkeiten bereitete dem Könige aber ein Kirchen-
streit, auf den wir alsbald näher eingehen werden.
Alles in allem war die Regierung Victor Amadeus' eine Periode
der Unruhe für die Insel. In dieser Zeit kehrte Astorga nach Sizilien
zurück. Seine Rechte, wie die aller Adligen, wurden jedoch von der
neuen Regierung in keiner Weise angetastet. Seine Lehen ver-
blieben ihm unter savoyischer Herrschaft wie unter der spanischen.
Daß er sich auch persönlich zum neuen Regiment gut zu stellen
wußte, dafür spricht seine Wahl zum Senator von Palermo.
Die Wahl der Senatoren traf dem Herkommen gemäß der
Vizekönig. Als Astorga gewählt wurde, waltete der Graf Maffei
jenes Amtes. Ihm hatte der König Victor Amadeus, als er im Sep-
tember 1714 in sein Stammland zurückgekehrt war, die Regierungs-
geschäfte übertragen. Da Graf Maffei keinen Baron in den Senat
von Palermo gewählt haben kann, von dessen Treue und Zuver-
lässigkeit er nicht überzeugt war, so muß er Astorgas Charakter bei
dessen Wahl im Frühjahr 1717 genau gekannt haben.
Der damals herrschenden Sitte gemäß waltete Astorga etwa ein
Jahr lang seines Amtes als Senator von Palermo. Mongitore, der
in anderen Jahren pünktlich den Tag der Neuwahlen des Senats ver-
zeichnet, hat gerade 1717 versäumt, diesen zu nennen. Wir können
jedoch den Beginn von Astorgas Amtsperiode annähernd berechnen.
Mongitore^ erwähnt nämlich eine Amtshandlung des alten Senates
vom 8. Mai und eine solche des neuen vom 2. Juni 1717. Zwischen
diesen Tagen muß also die Neuwahl des Senates, dem Astorga an-
gehörte, erfolgt sein. In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts
fanden weitaus die meisten Senatswahlen im Mai statt, nur wenige
Anfang Juni*. Wir dürfen also annehmen, daß Astorga Mitte Mai
^Diari. DiMarzo,Bibl. Sic. VIII, 276; vgl. S. 108 unsrer
Schrift.
* Nur ganz außergewöhnliche Ereignisse, wie die Regierungswechsel 1720
und 1735 schoben sie in spätere Monate hinaus.
VI. Kap.: Astorga als Senator von Palermo. — Der Ausgang. 105
1717 Senator wurde. Seine Amtszeit lief am 3. Juni 1718 ab, denn
am 4. Juni trat der folgende Senat sein Amt an^.
Nichts bewegte die Gemüter von Palermo während des Jahres,
in dem Astorga Senator war, so sehr, als der bereits erwähnte
Kirchenstreit, der damals gerade seinen Höhepunkt erreichte. Da
Astorga selbst eine, wenn auch nicht große Rolle darin spielen
sollte, müssen wir die Gründe und den Verlauf dieses Streites mit
einigen Worten schildern.
Seit dem Mittelalter besaß das Königreich Sizilien gewisse Vor-
rechte, die ihm der Papst gewährt hatte, die aber nach und nach der
Kurie ein Dorn im Auge geworden waren 2. Die wichtigsten dieser
Vorrechte bestanden darin, daß die Krone unabhängig von Rom
die Bistümer besetzen und die Geistlichen vor Gericht ziehen
konnte. Schon mehrere Päpste hatten diese Rechte zu verkürzen
gesucht, aber vergeblich. Da gelang es dem Papste Clemens XI.
einen Anlaß zu einem systematischen Vemichtungskampf gegen das
verhaßte Prärogativ der sizilianischen Regierung zu finden.
Der Bischof von Lipari hatte einem Höker Landesprodukte, die
er als Zehnten empfangen hatte, zum Verkauf übergeben. Die
Marktmeister forderten nun von dem Höker die Abgaben, die sie
von jeder Ware verlangen mußten ; und da der Höker nicht zahlte,
nahmen sie ihm einen Teil der Ware weg. Sofort exkommunizierte
der Bischof die Marktmeister und forderte obendrein vom Munidpio
Genugtuung. Er erhielt sie nicht und wandte sich, darob empört,
an den Vizekönig. Auch bei diesem erreichte er nichts. Er schäumte
vor Zorn, als er erfuhr, daß sich die Marktmeister an den Richter
der Monarchie gewandt und von diesem Absolution unter Vorbehalt
erhalten hatten. Wutentbrannt reiste er nach Rom, um beim Papste
Klage zu führen. Dieser nahm ihn freundlich auf; kam ihm des
Bischofs Botschaft doch willkommen genug. Der Grund zum
Vorgehen gegen die sizilianischen Sonderrechte war gefunden.
Von Rom erging ein Zirkular an die sizilianischen Bischöfe, in
dem der strikte Befehl erteilt wurde, zu erklären, kein königliches
^ Mongitore, a.a.O. VIII, 288.
* Quelle dieser und der folgenden Einzelheiten: Querner, a.a.O.
S.39f.
106 1. Teil: Astorgas Leben.
Tribunal könne von der durch die Bischöfe verhängten Exkommu-
nikation befreien. Der Inhalt dieser Verordnung, die einen offenen
Eingriff in die königlichen Rechte bedeutete, wurde nur von ein-
zelnen Bischöfen befolgt, die übrigen ignorierten den Erlaß.
Während das Volk für und wider diesen Vorstoß der Kurie stritt,
schleuderte der Papst den Bann auf all jene königlichen Beamten,
die in der Streitsache des Bischofs von Lipari gegen diesen aufge-
treten waren, und ermahnte den Bischof von Palermo zu unbeding-
tem Gehorsam. Nun war auch für die Regierung die Zeit gekommen,
energische Maßregeln zur Wahrung ihrer Rechte zu treffen. Die
Bischöfe, die zu Gunsten Roms der Regierung am kecksten den
Gehorsam gekündigt, wurden vom Vizekönig aus Sizilien ausge-
wiesen. Sie gingen nach Rom und schürten den Zorn des Papstes.
Die Bevölkerung Siziliens, Geistliche wie Laien, nahmen Partei
teils für die Krone, teils für Rom, und stritten lebhaft über die
Vorgänge.
So lagen die Din^e, als Victor Amadeus von Savoyen den sizi-
lianischen Königsthron bestieg. Der Papst triumphierte schon,
denn er glaubte, den Fürsten, der eine weit geringere Macht reprä-
sentierte als die vor ihm in Sizilien herrschende spanische Monarchie,
sich leicht gefügig machen zu können. Aber Victor Amadeus, dieser
tatkräftige Regent, war nicht der Mann, der ihm zukommende
Rechte ohne weiteres preisgab. Je kühner Rom seine Forde-
rungen aussprach, desto bestimmter wurden sie vom Könige zu-
rückgewiesen, und der Streit gewann an Heftigkeit und Ausdeh-
nung.
Der König ließ einige Kirchen, die infolge des päpstlichen
Interdikts geschlossen waren, öffnen und darin die gottesdienst-
lichen Funktionen wieder aufnehmen. Den Geistlichen, die den Ge-
horsam weigerten, wurden die staatlichen Einkünfte entzogen ; blieben
sie renitent, so wurde ihnen die Landesverweisung angedroht. Diese
Maßregeln erbitterten den Papst aufs äußerste. Er wies alle Vor-
schläge, die der König durch seine Gesandten zur Beilegung des
Streites machte, barsch zurück, ja er erklärte durch ein Breve vom
20. Februar 1715 das Tribunal der sizilianischen Monarchie für ab-
geschafft. Dieser Schritt, — den man in Rom als die größte Tat
VI. Kap.: Astorga als Senator von Palermo. — Der Ausgang. 107
Clemens XL rühmte i, — übte auf Sizilien tiefgehende Wirkung
aus. Alle, die bisher eine Mittelstellung eingenommen hatten,
wurden nun in die Reihen einer bestimmten Partei gedrängt. Die
Rücksichtslosigkeit und Härte, mit der man in Rom verfuhr, zwang
die Mehrheit der Ordensgeistlichen, die noch auf Seiten der Re-
gierung standen, diese zu verlassen. Trotzdem traf Geistliche wie
Laien Bannstrahl um Bannstrahl. Sobald sich die Geistlichen
dieser Strafe unterwarfen und nicht, wie es ein Erlaß der Regierung
forderte, einfach ignorierten, wurden sie Landes verwiesen. Bis
zum Jahre 1717 waren etwa 400 Geistliche aus Palermo in die Ver-
bannung gewandert 2. Einzelne Geistliche zogen es vor, um jenes
Dilemma zu vermeiden, die Stadt freiwillig zu verlassen und in ihrer
Umgebung den Verlauf der Dinge abzuwarten. Zu diesen gehörte
auch der Priester Antonino Mongitore, der verdienstvolle Ver-
fasser jener Diarien von Palermo, die eine unsrer wichtigsten
Quellen bilden. Er war ein gemäßigter Anhänger Roms und hatte
an einer vom Staate veranstalteten Prozessiofa »wegen Unpäßlich-
keit« nicht teilgenommen, eine Weigerung, die bereits zu Unan-
nehmlichkeiten geführt hatte. Er verließ deshalb Palermo und
nahm auf dem Caputo, dem Bergzug nordwestlich von Monreale,
Wohnung. Mongitore war eine allgemein hochgeschätzte Persön-
lichkeit. Nun bedurfte der Senat im Juni 1717 eines neuen Sekretärs.
Man wußte keinen passenderen Palermitaner für dieses Amt, als
Mongitore. Drum beschloß man, ihn zu wählen. Als man ihn davon
benachrichtigte, erklärte er aufs bestimmteste, er wolle diese Ehre
nicht annehmen, um sich nicht neuen Ungelegenheiten auszusetzen,
die zweifellos eintreten würden, wenn man ihn zwänge, an den von
der Regierung veranstalteten Prozessionen und Gottesdiensten (den
sogenannten »Kapellen«) teilzunehmen. Denn der Senat samt
seinem Sekretär pflegte regelmäßig bei diesen Feierlichkeiten zu
erscheinen. Da er aber trotzdem vom Senat gewählt wurde, ging
Mongitore in die Stadt und legte persönlich dem Senat die Gründe
dar, warum er jene Ehre ausschlagen müsse. Da war es der Senator
^ Vgl. Querner, a. a. O. S. 116.
* Ebenda, S. 134.
108 1. Teil: Astorgas Leben.
D. Emanuele d'Astorga, der ihm im Namen des Senates die Zu-
sicherung gab, er werde in seinem Amte nicht belästigt, noch auch
gezwungen werden, mit zu den Kapellen und Prozessionen zu gehen.
Dieses Zugeständnis bewog Mongitore endlich, das Amt anzunehmen,
das er, wenn auch nur kurze Zeit, ehrenvoll bekleidete.
Hier möge die Erzählung dieser Episode mit JVlongitores eigenen
Worten 1 folgen.
A 3 luglio 1717. Avea il senato di Palermo nella passata
sede, a 8 maggio 1717, fatto atto di elezione di suo secretario
in persona di D. Mario Antonuzzo, alcamese, un tempo ge-
suita, con dargli tempo di dover provare la sua cittadinanza.
Succeduta la nuova sede del senato, il sindaco della cittä
D. Sipione di Blasi fece Tistanze, che se gli cancellasse Tatto
d*elezione, poichfe non potea provare TAntonuzzo la cittadi-
nanza n^ per nascita, nh per privilegio. Onde a 2 di giugno
gli cancellö Tatto, e nello stesso giomo elesse secretario D. An-
tonino Mongitore, palermitano per nascita, scrittore di questo
Diario. Alcuni giorni prima deir elezione era stato avvisato
deir intenzione del senato, trovandosi fuor la cittä, ove s'era
ritirato, nella contrada del Caputo, dopo avere rinunciato
d'esser confessore ordinario del monastero di S. Elisabetta:
ed egli risolutamente rispose non volere accettare un tal
onore, per non volersi mettere in nuove occasioni, obbligato
ad associar le processioni ed assistere in cappelle col senato.
Indi, senza nuovo avviso, fece il senato Telezione; di che
gliene mandö sino ai Caputo la notizia. Tornö egli in Pa-
lermo, e non volendo in alcun conto accettare per Taccennati
motivi, da D. Emmanuele Rincon d'Astorga, barone deir
Ogliastro, senatore, a nome del senato venne assicurato, che
non sarebbe molestato, nh costretto ad andar a cappelle e
processioni; poich^ prima di farsi Telezione s'eran considerate
le sue ripugnanze per Taccennati motivi: al che aggiunse le
preghiere, come pur fece il pretore. Con questa condizione dun-
que accettö Tonore offertogli, e pigliö il possesso deir ufficio.
1 A.a.O. VIII, 276f.
VI. Kap.: Astorga als Senator von Palermo. — Der Ausgang. 109
Das ist die einzige Nachricht, die von einem selbständigen
Heraustreten Emanuel d'Astorgas aus der Körperschaft des Senats
auf uns gekommen ist. Wir sehen ihn die Rolle eines Vermittlers
spielen, zu der ihn ohne Zweifel die im Verkehr mit den vornehmsten
Kreisen erworbene weltmännische Gewandtheit besonders be-
fähigte. Weshalb hätten ihn sonst die Senatoren zum Sprecher in
der Angelegenheit gewählt? Und wie hier, so dürfen wir uns auch
bei anderen Anlässen, wo es zu sprechen galt, die Mongitore in
seinem Diario jedoch nicht verzeichnet, weil dessen Person nichts
damit zu tun hatte, Astorga in gewandter, aber maßvoller Rede
die Ansichten des Senats bekämpfend oder verteidigend, oder wohl
auch dessen Beschlüsse verkündend vorstellen. Jedenfalls war er
nicht nur ein still zuschauendes, sondern ein kräftig mittätiges Glied
des Senats von Palermo.
Emanuels persönliche Stellung zu dem Kirchenstreit läßt
sich im allgemeinen erraten. Er schenkte einerseits den tapferen
Verfechtern der alten Vorrechte gewiß innige Sympathien. Anderer-
seits mochte er sich aber durch mancherlei mit der Gegenpartei ver-
bunden fühlen, so durch den gewaltigen Respekt vor Rom und durch
das Mitleid mit der Geistlichkeit, die sich in der Tat auf Sizilien in
übler Lage befand. In Astorga entstand also ein Konflikt zwischen
verschiedenen Neigungen, mit dem er sich abfinden mußte, so gut
es ging. Wie ganz Sizilien, so sehnte ganz sicher auch Astorga
innigst das Ende der Zwietracht herbei.
Der Senat nahm im Gemeinwesen von Palermo eine wichtige
Stellung ein. In seinen Händen lag die Leitung der gesamten
städtischen Verwaltung, des Proviant-, Sanitäts-, Münz- und Muni-
tionswesens. Er besaß seine eigene Miliz, die zur Wache im
Senatorenpalast sowie im Leuchtturm, ferner auch zur Beobachtung
der Meeresküsten von den festen Warttürmen aus und zur Signali-
sierung in Sicht kommender verdächtiger Barken diente i. 1695
hatte Karl II. dem Senat die Erlaubnis erteilt, die ursprünglich
kleine Truppe um so viel zu verstärken, als es die Sicherheit des
^ Nach den prächtigen Schilderungen in Giuseppe Pitrös >La
vita in Palermo cento e piü anni fa.« Palermo 1904. 1, 79f.
110 1. Teil: Astorgas Leben.
Senatorenpalastes und des Leuchtturmes erforderte. Auch als
Feuerwehr fand die Senatsmiliz Verwendung.
Bei Bränden in der Stadt ging der Senat selbst mit rettend zur
Hand. So dürfen wir uns vorstellen, daß auch Astorga bei einem
Schadenfeuer, das am 31. Oktober 1717 in Palermo ausbrach^, zu
Hilfe eilte. Die Not, die Erdbeben und Überschwemmungen der
Bevölkerung brachten, suchte der Senat nach Kräften zu lindern.
So veranlaßten die Folgen des furchtbaren Unwetters, das sich am
5. Januar 1718, Stadt und Land verwüstend, über dem Talkessel
von Palermo entladen hattet, den Senat und mit ihm auch Astorga
zu menschenfreundlicher Betätigung. Vermutlich war es eben dieses
Unwetter, das durch seine enormen Wassermassen die Brücke an der
Oretomündung arg beschädigte, eben jene Brücke, deren Wieder-
herstellung noch während des Winters von dem Senat, dem Astorga
angehörte, veranlaßt wurde. Wir haben zu Anfang unsrer Unter-
suchungen (S. 14) die Inschrift kennen gelernt, die von jenem Bau
Kunde gab, und in der auch Astorga genannt wurde.
Der hohen Bedeutung des Senats im Gemeinwesen der Stadt ent-
sprach auch die stolze Art seiner Repräsentation s. Je nach der
Wichtigkeit der Anlässe erschienen die Senatoren in Toga und Ehren-
kette oder in reich verzierten Obergewändern und Edelsteinschmuck.
Es war ein prächtiges Schauspiel, zu dem sich jung und alt drängte,
wenn der Senat seinen feierlichen Aufzug hielt. Den Zug, den
Trommel- und Trompetenklang begleitete, eröffnete und schloß eine
Abteilung der Senatsgarde, die sich in ihrer roten und gelben Uni-
form lebendig genug ausnahm. Die erste Abteilung war zu Pferde;
sie ritt mit gezogenem Säbel. Dahinter schritten niedere Senats-
beamte. Dann folgten die drei reich vergoldeten und bemalten
Karossen des Senats, in deren Fenstern die respektgebietenden,
von Allongeperücken umwallten Häupter der Senatoren sichtbar
wurden.
Leicht könnte man vermuten, die Senatoren seien in der Mehr-
zahl Greise gewesen. Dem war aber nicht so. Sie standen vielmehr
^ Mongitore, a.a.O. VIII, 281.
» Mongitore, a.a.O. VIII, 284.
s P i t r i , a. a. O. I. 79 und 81 f.
VI. Kap.: Astorga als Senator von Palermo. — Der Ausgang. 111
zumeist im kräftigsten Mannesalter, wofür die Tatsache spricht,
daß ihnen bei besonders feierlichen Prozessionen die Ehrenpflicht
zukam, die nicht eben leichten Stützen des Baldachins über dem
Allerheiligsten zu tragen i. Daß auch ihre Frauen keine Greisinnen
waren, das beweisen die häufigen Erwähnungen glänzender, vom
Senat mit großem Aufwand gefeierter Kindtaufsfeste. Die Gattin,
die ihren Mann während seiner Amtsperiode als Senator zum Vater
machte, erhielt vom Senat ein Ehrengeschenk von 50 Unzen^.
Von dem Senat, dem Astorga angehörte, weiß Mongitore eine
eigentümliche literarische Tat zu berichten: Er veranstaltete den
Neudruck eines auf ein altes Vorrecht der Palermitaner bezüglichen
Werkes, der »Dilucidationes ad Privilegium regis Alphonsi, quod
fiscus non possit contra cives Panormi principaliter agere« von
Nicola Morso». Diese Schrift war 1660 veröffentlicht worden.
1717 befand sich nur noch ein einziges Exemplar davon in der
Libreria del Collegio dl Palermo; deshalb hielt es der Senat für gut,
das Werk durch einen Neudruck weiteren Kreisen zugänglich zu
machen. Zweifellos verband er mit diesem Unternehmen die Ab-
sicht, die reformfreudige piemontesische Regierung fühlen zu
lassen, wieviel Wert man in Palermo auf die der Bürgerschaft ver-
liehenen Privilegien lege.
Auch die äußere Politik gab dem Senat Anlaß, sich zu rühren.
Die Türken, deren kühnste Unternehmung 1683 an den Mauern
Wiens gescheitert war, störten immer von neuem den Frieden der
christlichen Welt. Prinz Eugen hatte schwer zu ringen, ehe ihm die
großen Erfolge von Peterwardein und Belgrad beschieden wurden.
Auch zur See wagten die Türken neue Vorstöße, und die Sizilianer
mußten mit einem Erscheinen dieser ungebetenen Gäste an ihren
Küsten rechnen. Drum galt es, die Hafenbefestigungen zu ver-
stärken und die Truppen schlagfertig zu halten. Auch in Palermo
machte man im März 1718 eifrige Anstalten, sich zu sichern. Das
^ M n g i 1 r e , a. a. O. VII, 319 und IX, 111. Beim Empfange Victor
Amadeas' 1713 trugen den Baldachin, unter dem der König schritt, ebenfalls
die Senatoren. M o n g i t o r e , a. a. O., VIII, 155 u. 166.
* Pitr6, a.a.O. I, 90f.
»Mongitore, a.a.O. VI 11, 287.
112 1. Teil: Astorgas Leben.
Casteilo a mare wurde verstärkt und mit Munition versehen^, und
auch der Senat rüstete seine Miliz. Aber die Befürchtungen der
Sizilianer trafen nicht ein. Vor Korfu brach sich die Welle der
türkischen Macht am Widerstände der Venezianer unter Schulen-
burg; und Sizilien blieb von den Osmanen verschont 2.
Die Zeit unmittelbar nach Ablauf von Astorgas Amtsperiode als
Senator brachte für Sizilien wieder eine unerwartete politische Um-
wälzung. In den ersten Julitagen des Jahres 1718 wurde die Insel
durch einen Handstreich der Spanier für Philipp V. zurückgewonnen.
Alberoni, der mächtige Günstling und Minister Philipps, der schon
lange auf die Rückgewinnung der schönen Insel bedacht gewesen
war, hatte unter dem Vorwande, sie gegen die Türken zu senden,
eine starke Flotte ins Mittelmeer geschickt. Diese besetzte Sardi-
nien und segelte dann nach Osten. Plötzlich änderte sie ihren Kurs.
Sie erschien vor Palermo. Der piemontesische Vizekönig betrach-
tete die Spanier als Freunde, — aber wie erstaunte er, als sich diese
unfern von Palermo auszuschiffen begannen! Im Handumdrehen
lag eine Heeresmacht von 28 000 Mann vor den Toren der Stadt».
Der Vizekönig konnte unter diesen Umständen nicht daran denken,
sich in Palermo zu halten, und zog sich mit den Seinen in den Osten
der Insel zurück. Die Spanier aber, die sich als »Befreier der Sizi-
lianer vom piemontesischen Joch« aufspielten, wurden von den
Einwohnern Palermos mit Jubel empfangen.
Die spanische Herrschaft sollte sich diesmal nur anderthalb
Jahr auf Sizilien behaupten. Denn der Übergriff Spaniens hatte
den Kaiser, Holland, England und Frankreich zur Schließung der
Quadrupelallianz bewogen, welche die Wahrung des Utrechter
Friedens bezweckte. Der aus Sizilien vertriebene Victor Amadeus
wurde mit dem Königreiche Sardinien entschädigt, während Sizi-
lien an Osterreich kam. Die englische Flotte vernichtete im
August 1718 die spanische; aber die Österreicher konnten sich nur
langsam auf der Insel einen festen Stand erkämpfen. Erst nach dem
Sturze Alberonis, nachdem Philipp V. der Allianz beigetreten war,
1 Mongitore, a. a. 0. VIII, 284.
« Querner, a. a. O. S. 147.
* Querner, a. a. O. S. 202.
VI. Kap.: Astorga als Senator von Palermo. — Der Ausgang, 113
■
1720, wurden die spanischen Truppen, die den deutschen so hart-
näckigen Widerstand entgegengesetzt , zurückberufen und die
Kaiserlichen wurden Herren von Sizilien.
Die österreichische Regierung auf Sizilien war gut und zielbewußt.
Alle bestehenden Einrichtungen blieben unangetastet, und der Kir-
chenstreit wurde nach und nach völlig beigelegt. Dem Kaiser ge-
lang es, sich mit der Kurie dahin zu einen, daß im wesentlichen
derselbe Zustand wiederhergestellt wurde, der vor Ausbruch des
Zwistes geherrscht hattet. Obwohl die österreichische Regierung
während ihrer achtzehnjährigen Dauer manchen wirtschaftlichen
Fortschritt erzielte, konnte sich das sizilianische Volk doch nicht
mit ihr befreunden. Es war beglückt, als die Insel im Jahre 1738
mit Neapel zum »Königreich beider Sizilien« verbunden, wieder
unter das Szepter der spanischen Bourbonen kam. Unter diesem
verblieb sie den Rest des Jahrhunderts. Erst im 19. Jahrhundert
sollte der nationale Sinn der Sizilianer, der so lange geschlummert
hatte, wieder erwachen. In blutigen Aufständen .brach das alte
Regierungssystem zusammen, die Fremdherrschaft wurde abge-
schüttelt, und die Insel wurde zu einem Teile des jungen Königreichs
Italien«
Es entsteht nun die Frage, ob Astorga auch unter dem öster-
reichischen Regiment in Palermo wohnen blieb. Unsre Nach-
forschungen ergaben mit großer Wahrscheinlichkeit, daß dies nicht,
oder wenigstens nicht lange der Fall war.
Denn erstlich verschwindet Astorga mit dem Jahre 1718 für
immer aus der Chronik von Palermo. Zweitens findet sich in den
Kirchenbüchern und Archivakten, soweit wir davon Kenntnis haben,
keinerlei Notiz, die darauf hindeutete, daß er sein Leben in Palermo
beschlossen hätte. Drittens spricht auch der Umstand gegen ein
langjähriges Verweilen Astorgas in der Stadt, daß sich in Palermo
keinerlei handschriftliche Kompositionen von ihm befinden, ja nicht
einmal Kopien sonst unbekannter Werke von ihm. Hätte sich
Emanuel mehrere Jahrzehnte in der Stadt aufgehalten, so wäre
trotz aller Zurückhaltung, die er als Künstler in seiner Heimat
^ Q u e rn e r ; a. a. O. S. 239.
Volkmann, Astorga. I. 8
114 1. Teil: Astorgas Leben.
beobachtete, zweifellos clie eine oder die andere Kantate von ihm
in die Paläste der Aristokratie von Palermo gelangt, aus denen die
Kantatensammlungen zusammengeflossen sind, welche jetzt die
Bibliothek des Conservatorio di Musica zu Palermo besitzt. In
dieser Bibliothek ist jedoch Astorga nur mit einer alten und einer
modernen Abschrift der 1726 in Lissabon im Druck veröffentlichten
Kantaten vertreten i.
Zu diesen negativen gesellt sich viertens ein positives Argument
für Astorgas Abwesenheit von Palermo, ja überhaupt von Sizilien
in späterer Zeit. Wie aus den Akten des Staatsarchivs zu Palermo
erhellt^ verkaufte Emanuel d'Astorga im Jahre 1744 sein
Landgut Ogliastro bei Augusta. Wäre er im genannten Jahre
noch auf Sizilien seßhaft gewesen, so lag kein Grund vor, die Lände-
reien, die ihn gut nährten, zu verkaufen. Nur sein Aufenthalt in
fernem Lande erscheint als ein plausibler Grund für den Verkauf
des Gutes. Der geschäftliche Verkehr mit den Verwaltern seiner
Liegenschaften aus der Entfernung mochte mit der Zeit unbequem
geworden sein und ihn schließlich bewogen haben, den Grundbesitz
in Kapital umzuwandeln. Im Jahre 1744 weilte also Astorga schon
beträchtliche Zeit fern von Sizilien.
All diese Momente zusammengenommen berechtigen uns zu der
Annahme, daß Astorga bald nach dem Einzug der Kaiserlichen,
also wohl sicher noch in den zwanziger Jahren, die heimatliche
Insel verlassen hat.
Wohin aber wandte er sich von Sizilien aus?
Verschiedene Nachrichten liegen über den Aufenthalt Astorgas
in seiner letzten Lebenszeit vor. Wir werden sehen, welche am
meisten Wahrscheinlichkeit besitzt.
Zunächst von einer anderen Ortes noch nicht erwogenen Mög-
lichkeit. Im Sommer des Jahres 1722 wurde erst im Schlosse zu
Dachau, dann im Hofgarten zu Nymphenburg bei München
^ Nach Mitteilung des Herrn Dott. Emanuele Paolo MoreUo,
Bibliothekar am kgl. Konservatorium zu Palermo.
s »La baronia di Ogliastro fu venduta nel 1744 a Giacomo Nicolaci e
Bellia da Emanuele Rincon de Astorga (Processo d'investitüre Nr. 8701).«
Mitteilung des Herrn Direktor Giambruno vom Staatsarchiv in Palermo.
VI. Kap.: Astorga als Senator von Palermo. — Der Ausgang. 115
eine Schäferoper »Dafni« aufgeführt^. Wie Dichter und Kom-
ponist des Werkes hießen, ist nicht überliefert. Aus dem noch vor-
handenen Textbuch 2 ergibt sich jedoch, daß auch hier, wie in dem
Dafni Astorgas, das Libretto des Scarlattischen Dafni Verwendung
fand. Doch zeigt es gegen die Fassung des Textes von Genua und
Parma bedeutende Abweichungen. Das Fehlen einiger Partien, die
in Astorgas Komposition zu den gelungensten und klangschönsten
gehören^, macht es höchst unwahrscheinlich, daß hier Astorgas
Musik benutzt wurdet. Mithin erledigt sich auch die Frage nach
einer persönlichen Anwesenheit Astorgas in München anno 1722.
^ Das Stück wird von Fr. M. R u d h a r t in seiner »Geschichte
derOper am Hofe zuMünchen« (Freising 1865) I, S. 104 als »Dafne«
bezeichnet. Ich vermutete jedoch auf Grund von Rudharts Personenangaben,
daß es sich um einen Dafni handle. Die Einsicht in das Libretto bewies die
Richtigkeit meiner Vermutung.
» Staatsbibliothek zu München. Signatur: Bav. 8° 4015. XXXV. 5. —
Den Hinweis darauf verdanke ich Herrn Dr.AlfredEinsteinin München.
s Die ganze prächtige Soloszene des Tirsi im ersten Akt fehlt; drei Buffo-
Szenen sind gestrichen, zwei stark gekürzt und völlig umgearbeitet.
« Aus der im Textbuche angegebenen Rollenbesetzung lassen sich in dieser
Hinsicht keine sicheren Schlüsse ziehen. — Die Interlocutori waren:
Dafni II Signor LucaAnt. Mengoni, Virtuoso del Sereniss.
Principe Francesco di Modena.
G a 1 a t e a La Signora Lucia Grimani.
N e r i n a La Signora Elisabetta Casolani, f iglia di Ca-
mera di questa Sereniss. Corte Elettorale.
Tirsi II Signor Agostino Galli, Virtuoso di Camera di
S. M. Ces. & Cat.
F i 1 e n II Signor Eckart, Virtuoso di S. A. S. E.
Selvaggia La Signora RosaUnghareliidi Bologna, Virtuosa
del Sereniss. Principe d' Armstatt [sie].
Dametta II Signor Antonio Maria Ristorini di Firenze,
Virtuoso del Sereniss. Principe d' Armstatt [sie].
Außer der Signora Casolani, von der ich weiter keine Spuren künst-
lerischer Tätigkeit fand, und dem Signor E c k a r t , der Baßsänger und später
Vizekapellmeister in München war (vgl. R u d h a r t , S. 101), begegnen uns
die genannten Künstler wiederholt in den Personenverzeichnissen der Opern-
vorstellungen, die um 1720 in V e n e d i g und in N e a p e 1 stattfanden. Vgl.
W i e 1 und F 1 o r i m o passim.
8*
116 1. Teil: Astorgas Leben.
Aus Münchner Archiven ist kein Besuch Astorgas in München
nachweisbar^.
Ebensowenig glaublich ist auch, daß Astorga 1726 in Breslau
bei jener Dafnisauff ührung zugegen war, bei der allerdings nachweis«>
lieh seine Komposition benutzt wurde*. Bereits Fr. Rochlitz und
A. Kahlert haben sich gegen eine solche Annahme ausgesprochen*
Bei der Ausführlichkeit der Breslauer Lokalgeschichtschreibung, so
meint Kahlert, wäre die Anwesenheit eines so interessanten Fremden
nicht unerwähnt geblieben. Seither hat sich kein Moment gefunden,
das für eine Reise Emanuels von Lissabon, wo er sich ja 1726 höchst
wahrscheinlich aufhielt, nach dem Osten Europas zeugte.
^ Zu besonderem Dank bin ich Herrn Dr. Alfred Einstein in
München verpflichtet, der alle Münchener Archive und Bibliotheken nach der
Musik und dem Komponisten Jenes Dafni sowie nach Spuren eines Aufent-
haltes Astorgas in München durchforscht hat. Leider erbrachten all seine Be-
mühungen kein Resultat.
* Vgl. S. 62 und 168 f. — Alles in allem lassen sich von dem Manfre-
dischen »Dafni« folgende Aufführungen nachweisen:
Zeit. Ort Komponist.
1696 Bologna Aldrovandini.
1700 Neapel AI. Scariatti.
1709 Genua E. d'Astorga.
1709 Barcelona . E. d'Astorga«
1715 Jesl AI. Scariatti.
1716 Parma E. d'Astorga (?).
1722 Dachau und Nymphenburg ?
1726 Breslau E. d'Astorga.
Zwei Opern »Dafni« gibt es, deren Text mit dem von Manfred!
nichts zu tun hat: 1) D a f n i , Tragedia Satirica in 5 atti, Text von F r i g.
Robert i, Musik von Fr. Pollaroli. Aufgeführt zu Venedig 1705.
A 1 1 a c c i , a. a. O. S. 235. — 2) D a f n i , Pastorale in 2 atti, Text von
Retilo Castoreo Pastore Arcade (=PadreAbate D. Romano
M e r i g h i); Komponist unbekannt. Aufgeführt 1716 bei den P. P. Camaldolesi
zu Classe bei Ravenna. Nach Mitteilung des Herrn FrancescoPiovano
in Rom. — Bei der häufigen Verwechslung zwischen Dafni und Dafne ver-
mutete ich, daß auch die bei E i t n e r (Q.-L. 11, 277) genannte Dafne von
A. Caldara ein Dafni sei. Die Einsicht in das in der Bibliothek der
»Gesellschaft der Musikfreunde« zu Wien befindliche Werk erbrachte jedoch,
wie mir Herr Professor Dr. Mandyczewski mitteilte, den Beweis, daS
es wirklich eine Dafne ist.
VI. Kap.: Astorga als Senator von Palermo. — Der Ausgang. 117
Wer mag aber die Aufführung seiner Oper in Breslau veranlaßt
haben? A. Kahlert nahm an, der Kapellmeister der Operistengesell-
schaft, die damals in Breslau spielte, Bioni, habe das Werk dahin
mitgebracht. Diese Vermutung möchten wir durch eine andere
ersetzen. Wir glauben eher, daß es die Primadonna der Truppe
war, welche die Inszenierung des Werkes anregte. Denn jene war
niemand anders als Signora Maria Giusti aus Rom, eben jene
Künstlerin, die auch bei der Dafnisaufführung in Genua und wohl
auch in Barcelona die Galatea gesungen hatte. Es mochte ihr
am Herzen liegen, einmal wieder in dieser Glanzrolle, an die
sich vielleicht liebe Jugenderinnerungen iür sie knüpften, auf-
zutreten. Dafni von Astorga war die vorletzte Oper, in der sie
während ihres im Oktober 1726 ablaufenden Breslauer Engage-
ments mitwirkte 1.
1 Daß die Aufführung des Dafni im September 1726 stattfand, geht
aus einer Breslauer Korrespondenz in Matthesons »Musikalischem
P a t r i o t« (S. 347) hervor, in der es unterm 23. September 1726 heißt, die
zuletzt in Breslau aufgeführte Oper sei Astorgas Dafni gewesen. Nun studiere
man Treus »Telemach« ein, und sobald die »itzund unter Händen
seiende Opera vorbei«, gehe die Q i u s t i von Breslau weg. Die Aufführung
jenes Telemacco fand im Oktober statt. Um die Jahreswende ist bereits die
Stelle der Sra. Q i u s t i mit einer anderen Kraft, mit DiamantinaOua-
1 a n d i, besetzt. Die Qiusti dürfte also Ende Oktober oder Anfang November
Breslau verlassen haben. Bei der Dafnisaufführung im September wirkte sie
ganz sicher noch mit. Die Richtigkeit dieser Einzelheiten ist nicht zu bezweifeln.
Sie müssen von dem Breslauer Korrespondenten aus frischer Erinnerung auf-
gezeichnet worden sein, da sie bereits 1728 in Matthesons »Patriot« gedruckt
erschienen. Den Glauben an ihre Wahrheit vermag auch eine widersprechende
Meldung in Matthesons »Ehrenpforte« (S. 375) nicht zu erschüttern.
Es heißt dort in einer Aufzählung der in Breslau gegebenen Opern, die G i u s t i
habe nach der 6. Oper Breslau verlassen, während D a f n i als 10. Oper ver-
zeichnet steht. Demnach sieht es aus, als habe die G i u s t i in Astqrgas Oper
nicht mehr gesungen. Überlegt man sich aber, daß Matthesons Ehren-
pforte erst 1740 erschienen ist, so wird man zugeben, daß ihre viel später
niedergeschriebenen Nachrichten über die Breslauer Oper der zwanziger Jahre
nicht entfernt die Beweiskraft haben, wie die gleichzeitigen, bereits 1728
im Druck erschienenen im »Patriot«.. — Das Interlocutori- Verzeichnis der
Aufführung von Astorgas Dafni läßt sich auf Grund der Angaben Matthesons
über die Stimmen und Charaktere der damals in Breslau engagierten Sänger
und Sängerinnen rekonstruieren:
1 18 1 . Teil : Astorgas Leben.
Wie die Meldung vom Aufenthalte Astorgas in Breslau, so ist
auch die, er habe sich zuletzt nach Böhmen zurückgezogen und
sei dort gestorben, als unzutreffend abzuweisen. Wir brauchen auf
diese Annahme hier nicht einzugehen, da wir im zweiten Teile von
ihr und ihren Absenkern zu reden haben.
Sodann ist unsre Annahme, daß sich Astorga um 1726 in Lissa-
bon aufhielt, einzureihen. Näheres darüber gaben wir im ersten
Kapitel; hier sei nur daran erinnert, daß damals in Lissabon Astor-
gas spanisch-italienische Kantaten im Druck erschienen. Zweifellos
bedeutete die Veröffentlichung dieser eigenartigen Schöpfungen
einen wichtigen Moment im Leben des Meisters. Ob der Erfolg
der Publikation die Hoffnungen, die er darauf gesetzt, erfüllte,
— wer kann es wissen?
Wir kommen nun zu dem letzten, bisher völlig unbekannt ge-
bliebenen Bericht über Astorgas Spätzeit, nach welchem der Meister
seinen Alterswohnsitz in — Spanien aufschlug. Hinsichtlich der
Zeit des Erscheinens gehört dieser Bericht zu den ersten. Er stammt
von Zoppelli, jenem Landsmanne Astorgas, dem wir auch andere
wertvolle Mitteilungen über den Meister verdanken. An die Aus-
zeichnung Astorgas durch den Kaiser anknüpfend, erzählt dieser
Schriftsteller:
»Indi passö in Ispagna dal Regnante allora Ferdinando
HI. [VI.]i destinato al Governo di una ragguardevole Piazza,
dove mori con sommo onore e gloria «.
Q a 1 a t e a: Maria G i u s t i aus Rom.
N e r i n a: Rosa V i v o 1 i.
Dafni: Chiara O r 1 a n d i aus Mantua.
T i r s i: Giuseppe A 1 b e r t i aus Padua.
Fileno: Dreier aus Florenz.
S e 1 V a g g i a: Giacinta S p i n o 1 a.
D a m e 1 1 a: Gaetano P i n e 1 1 i aus Brescia.
^ Im Original liegt hier ein Druckfehler vor. Es muß Ferdinando VI.
heißen statt Ferdinando III. Nur ersterer (1746—1759) kann in Betracht
kommen. König Ferdinand III. von Spanien regierte 1217—1252. (Als König
von Kastilien zählte er als Ferdinand II.) König Ferdinand III. von Kastilien
(als König von Spanien Ferdinand IV.) regierte 1295—1312.
I t^nnxf^ .^^nm -
VI. Kap.: Astorga als Senator von Palermo. — Der Ausgang. 119
Zu deutsch:» Darauf ging er nach Spanien und bekam
vom König Ferdinand VI. eine bedeutende Stellung ange-
wiesen. Dort starb er als hochangesehener und berühmter
Mann. «
Selbst wenn nicht ein so zuverlässiger Schriftsteller wie Zoppelli
unser Gewährsmann wäre, läge kein Grund vor, die Richtigkeit der
Nachricht von der Niederlassung Astorgas in Spanien in seiner
letzten Lebensperiode anzuzweifeln. Ja, wenn ein solches Zeugnis
überhaupt fehlte, würde uns eine Anzahl gewichtiger Gründe zu
der Vermutung führen, daß Astorga den in Rede stehenden Schritt
getan hat. Rühmte sich nicht der Künstler in jener Kantaten-
vorrede, außer Italiener auch Spanier zu sein? Bewies er nicht
seine Vorliebe für die spanische Sprache, indem er jenen Kantaten
außer den italienischen gerade spanische Texte beigab? Da sich
nun aber in den Ländern italienischer Zunge alle Spuren von ihm
verlieren, — w^ liegt näher, als sie bei jenem Volke zu suchen,
das seine Sympathien besaß, zu dem ihn sein von den Ahnen über-
kommenes und inmitten anderer Völker wach gebliebenes National
gefühl als zu seinen Brüdern hinleiten mochte? Wahrlich, nur Spa-
nien können wir nennen, wenn wir aus Emanuels nationalem Emp-
finden einen Schluß ziehen auf das Land, in dem er seinen Wohnsitz
für seinen Lebensabend gewählt haben mag. Und dieser Schluß
erhält durch Zoppellis Bericht seine volle Bestätigung.
Astorga nahm nach vorübergehendem Aufenthalt in Lissabon
seinen Wohnsitz im Lande seiner Ahnen. Zoppelli weiß des
weiteren zu berichten, in Spanien sei ihm von König Ferdinand VI.
eine »bedeutende Stellung a angewiesen worden. Was war das für
eine Stellung? Zoppelli bezeichnet sie nicht näher, da ihm die Tra-
dition keine Einzelheiten darüber an die Hand geben mochte. Wir
müssen also versuchen, die Art seiner Stellung zu ermitteln.
Am nächsten liegt der Gedanke, daß Astorga einen musi-
kalischen Posten erhielt. Wäre dies der Fall gewesen, so hätte
er ganz sicher in irgend einer Weise in das Musikleben Spaniens,
besonders aber von Madrid, eingegriffen. Dann würde sein Name
in der spanischen Musikgeschichte verzeichnet worden sein. Aber
120 1. Teil: Astorgas Leben.
umsonst durchforschen wir sie nach ihm. Weder der italie-
nischen Oper, die seit 1738 in Madrid erblühte, noch der spanischen
Kammermusik trat Astorga so nahe, daß sein Name mit deren
Geschichte verknüpft worden wär6. Sowohl in Fuertes' detail-
reicher, Vierbändiger Geschichte der spanischen Musik i, als auch in
Carmena y Millans Chronik der italienischen Oper in Madrid*
und auch in Saldonis spanischem Musiker-Lexikon' fehlt jede Er-
wähnung Emanuel d'Astorgas. Mithin ist es wenig glaublich, daß
sein Posten ein musikalischer war.
Dann hat Astorga also gewiß ein Amt in der spanischen Staats-
verwaltung oder Diplomatie, oder wohl auch im spanischen
Hofdienst erhalten; aber welches speziell, das können wir nicht
entscheiden. Denn unsre Bemühungen, aus spanischen Quellen
darüber Aufschluß zu erhalten, blieben vergeblich^.
Wenn Zoppelli ausdrücklich Ferdinand VL als den König
nennt, der Astorga zu jener Stelle verholfen habe, so ist damit nichts
Unglaubliches gesagt. Ferdinand VL (1746 — 1759) war zu An-
fang seiner Regierung der Welt nicht so entfremdet, wie sein Vater
Philipp V. gegen Ende seines Lebens. Dem König Ferdinand
kann man immerhin zutrauen, daß er sich für einen seiner Edel-
leute interessierte und ihm zu einer einträglichen Stellung ver-
half. Die »Bedeutung« der Stelle wird kaum in ihrem Reich-
tum an Verantwortung und Einfluß gelegen haben: Astorga war ja
bereits 66 Jahre alt, als Ferdinand VL den Thron bestieg, und wird
^Mariano Soriano Fuertes: Historia de la Müsica espaüola*
Madrid y Barcelona, 1855—1859.
* D. Luis Carmena y Millan: Crönica de la öpera italiana en
Madrid desde el aflo 1738 hasta nuestros dias. Madrid 1878.
* Baltasar Salden!: Diccionario blogr.-bibüogr. de efem^rides de
müsicos espafioles. 4 Bde., Madrid 1868—1881.
* Das spanische Staatsarchiv zu Simancas enthält, wie mir Herr
Direktor Julian Paz mitteilte, keineriei darauf bezügliche Dokumente.
Meine in spanischer Sprache geschriebenen Anfragen bei der B i b 1 i o t e c a
N a c i n a 1 (18. III. 1909) und dem Archivo histörico Nacional
zu M a d r i d (5. V. 1909), ob sich vielleicht aus den spanischen Staatskalendera
oder -Schematismen oder aus anderen spanischen Quellen die Stellung
Astorgas um 1744 oder überhaupt ein Aufenthalt des Meisters in Spanien nach-
weisen ließe, blieben unbeantwortet.
VI. Kap.: Astorga als Senator von Palermo. — Der Ausgang. 121
damals allzu schwierige Aufgaben nicht mehr übernommen haben.
Rückte er wirklich erst unter Ferdinand in jene Stellung ein, so war
sie gewiß nur eine bequeme Sinekure.
Nimmt man aber an, daß die Notiz von der persönlichen Verwen-
dung des Königs Ferdinand für den Meister nur auf freier Ergänzung
durch die Tradition beruht, so ergibt sich die Möglichkeit «ines
wesentlich früheren Einrückens Astorgas in ein entsprechend wich-
tigeres Amt. Für diese Annahme spricht der bereits 1744, also zwei
Jahre vor dem Regierungsantritt Ferdinands VI. vollzogene Verkauf
des Landgutes Ogliastro auf Sizilien, der ein völliges Eingewurzelt-
sein des Verkäufers im anderen Lande voraussetzt. Die Übernahme
der gut dotierten Stellung verband Astorga gewiß am festesten mit
seiner neuen Heimat und bewog ihn wohl, alle Beziehungen zu der
alten abzubrechen. Demnach rückte also Astorga noch unter
Philipp V. in jenes Amt ein. Nicht königliche Gunst, sondern wohl
seine Konnexionen mit den höchsten Regierungsbeamten dürften
ihm dann dazu verholfen haben. Er kann jene Stellung ja noch
bis in die Zeiten Ferdinands VI. innegehabt haben. Vielleicht, daß
in dieser Epoche seine sizilianischen Landsleute noch einmal von
ihm und seiner Stellung im Dienste Ferdinands hörten, und daß
dann in der Tradition, der Zoppelli folgte, dieser König zum beson-
deren Beschützer des Meisters geworden ist.
Zoppelli spricht mit Bestimmtheit aus, daß Astorga in Spanien,
wo er sich eingelebt hatte, auch gestorben ist. Daß er die Staats-
stellung bis an seinen Tod bekleidet habe, ist nicht gesagt^; er kann,
sobald seine Dienstzeit erfüllt war, sich zurückgezogen und seinen
Lebensabend in stiller Beschaulichkeit zugebracht haben. Möglich
auch, daß er seine letzten Jahre in einem Kloster verlebt hat.
Wie lange er das Jahr 1744, aus dem wir die letzte archivalische
Nachricht über ihn besitzen, tiberlebt hat, läßt sich nicht genau be-
stimmen. Nur wird aus Zoppellis Notizen wahrscheinlich, daß
er einen Teil der Regierung Ferdinands VI. noch miterlebt hat.
^ Zoppellis Worte »mori con sommo onore e gloria« besagen noch nicht,
daß die Ehre und das Ansehendem Beamten galt. Er kann darin überhaupt
die Achtung zum Ausdruck gebracht haben, die er und seine Landsleute vor
dem bedeutenden Künstler und Menschen empfanden.
122 1. Teil: Astorgas Leben.
Astorga erreichte demnach ein Alter von mindestens sechsund-.
sechzig Jahren.
Wir wissen, daß sich Emanuel wiederholt in Lissabon aufge-
halten hat. Der Meister kann auch noch, als er in Spanien einge-
wurzelt war, die Beziehungen zu seinen Freunden im benachbarten
Portugal fortgesetzt und dessen herrlich gelegene Hauptstadt mehr-
fach besucht haben. Hielt er sich aber im Spätherbst 1755 dort auf»
so ist es leicht möglich, daß er ein Opfer des furchtbaren Erd-
bebens wurde, das am 1. November jenes Jahres Lissabon in Trüm-
mer legte und 30 000 Menschen dahinraffte.
Doch diese Konjektur läßt sich kaum verteidigen angesichts der
bestimmten Äußerung Zoppellis, Astorga sei in Spanien gestorben.
Ganz sicher hat jenes Erdbeben aber manches künstlerische Denk-
mal Astorgas vernichtet und manche literarische Spur seiner Be-
suche in Lissabon verwischt i.
Wir wissen nicht, ob sich Astorga in seiner letzten Lebensepoche
noch schöpferisch in seiner Kunst betätigt hat. Das Jahr 1726, in
dem die mehrfach erwähnte Kantatensammlung im Druck erschien,
ist die Zeitgrenze, bis zu der sich seine Tätigkeit als Tonsetzer ver-
folgen läßt. Da seine früheste datierte Kantate die Jahreszahl
1707 trägt, so ergibt sich ein Zeitraum von nur 19 Jahren, in dem
Astorgas schöpferisches Wirken mit Sicherheit nachweisbar ist.
Innerhalb jener Grenzpunkte sind nur wenfge Stationen in seinem
Schaffen bezeichnet. Wir kennen das Jahr 1709 als das der Voll-
endung der Oper »Dafni«, ferner die Jahre 1712 und 1713 als die
der Komposition einiger Kantaten. Wie sich die übrigen Werke
auf seine Lebenszeit verteilen, darüber schweigen die Handschriften.
Sicher ist, daß nach Astorgas Niederlassung in Spanien wenig
mehr von ihm in die östlichen Länder drang. Kaum, daß sich die
gedruckten Kantaten hinüber verirrten, Abschriften anderer neuer
Werke von ihm gelangten wohl nicht mehr dahin. In den musika-
lischen Kreisen Italiens, Deutschlands und Englands, wo seine
Kantaten seit langem so beliebt waren, glaubte man daher,
^ InVasconcellos' portugiesischem Tonkünstlerlexikon (Joaquim de
Vasconcellos: Os Musicos Portuguezes. Porto 1870. 2 Bde.) findet
sich kein Artikel über Astorga.
VL Kap.: Astorga als Senator von Palermo. — Der Ausgang. 123
Astorga sei gestorben, während er noch in Spanien ein ruhiges
Alter genoß.
Es ist nicht überliefert, ob Astorga verheiratet war und Nach-
kommenschaft hinterließ. Der Verkauf seines sizilianischen Majo-
rates im Jahre 1744 berechtigt uns zu der Annahme, daß in diesem
Jahre kein erbberechtigter Sohn von ihm lebte. Vielleicht hatte
Astorga eine Tochter. Villabianca erwähnt in seinen Diarien
von Palermol im Jahre 1746 den Tod einer etwa 28jährigen
Frau Giovanna Astorga e Guzzardi, der Gemahlin von Nicolö
Morso*. Nach spanisch-sizilianischer Sitte gibt der Doppelname
die Familiennamen von Vater und Mutter der betreffenden Person
an. Giovannas Vater war also einAstorga, ihre Mutter eine Guz-
zardi. Da sie 1746 als Achtundzwanzigjährige starb, fiel ihre
Geburt ins Jahr 1718, also gerade in die Zeit, wo Emanuel nach-
weislich in Palermo war: Am 3. Juni 1718 war ja seine Amtszeit
als Senator der Stadt abgelaufen. Möglich ist es also recht wohl,
daß Emanuel Giovannas Vater war. Aber ebensogut konnte jene
Giovanna einer anderen Linie des Geschlechtes entsprossen s6in.
Der Stammbaum der Familie weist neben Emanuels direkten Vor-
fahren noch einige Glieder auf, so Emanuele Giuseppe (geb. 1650)
und Cesare (geb. ca. 1654), die Nachkommen haben konnten.
Die Matrikel von S. Nicolö la Kalsa (la Catena), der Kirche, in der
laut Villabianca Giovanna Morso beigesetzt wurde, bestätigt nur
deren Tod im Jahre 1746, gibt aber keine Auskunft über ihren Vater ».
1 Diario Palermitano di Francesco Maria Emanuele
eGaetani Marchesedi Villabianca (1746—1758), di M a r z o,
Bibl. Sic. XVII, 60: »A 18 dicembre 1746. Mori D. GiovannaAstorga
e G u z z a r d i in etä di 28 anni in circa, mogüe di NicolöMorso; efu
sotterrata nella chiesa di S. Maria della Catena de' padri Teatini.«
> Glieder der Familien Guzzardi und Morso lebten im 17. Jahr-
hundert in Astorgas Vaterstadt A u g u s t a und sind auch in Palermo mehr-
fach nachweisbar. Vgl. Orlandi-Zoppelli, a. a. O. 368 und 388,
femer S. 111 unsrer Schrift und di M a r z o, a. a. O. passim; besonders VIII,
131 und IX, 119,237,271.
* In der Matrikel heißt es: »A 19 dicembre 1746 mori Giovanna Morso
di circa anni 27«. — Ein Grabdenkmal der Giovanna ist in der genannten
Kirche nicht mehr vorhanden. Nach Mitteilungen des Herrn Direktor G i a m -
b r u n vom Staatsarchiv in Palermo.
124 1. Teil: Astorgas Leben.
Der Sohn dieser Frau Giovanna, Emanuele Morso e Astorga,
Baron von Favarella, ist der letzte des Geschlechtes, der in der
Geschichte von Palermo erwähnt wird^. Er wurde 1772 zum Kom-
tur des Georgenordens ernannt. Später wurde er zum Oberst-
leutnant des Kavallerieregiments »Real Napoli« befördert. 1786
hatte er diesen Rang noch inne.
Ob die Familie in Spanien weiterblühte, konnte ich nicht er-
mitteln. Auch was es für eine Bewandtnis mit jenem »Giovanni
Oliviero Astorga« hat, von dem in der zweiten Hälfte des 18.
Jahrhunderts (laut Gerber, Lexikon, und Eitner, Q.-L.) einige
Kammerkompositionen in London erschienen, entzieht sich unsrer
Kenntnis. Daß er mit Emanuel d'Astorga verwandt war, ist wenig
wahrscheinlich.
Liegt auch das Ende Astorgas und seines Hauses in Dunkel
gehüllt, — über seine Herkunft, seine Person und bedeutende Strecken
seines Lebensweges haben wir Licht gewonnen. Aus den Einzel-
bildern, die wir aus seinem Leben entwerfen konnten, hebt sich
seine Gestalt in den Hauptzügen greifbar heraus. Kein nervöser,
unglückgebeugter, fahrender Musikant, sondern ein kräftiger Kava-
lier des 18. Jahrhunderts steht vor uns, ein mit irdischen Glücks-
gütem gesegneter Edelmann, doppelt edel, weil er die Geistesgaben,
die ihm verliehen waren, trotz seiner sorgenfreien sozialen Stellung
in ernster Arbeit ausbildete. Schöpferisch wie reproduktiv als
Musiker tätig, dachte er als Baron nicht daran, als »Meister vom
Fach « gelten zu wollen, obschon er es in seinen Leistungen so man-
chem von ihnen gleichtat. Stets eine standesgemäße Zurückhaltung
beobachtend, verschmähte er doch den Verkehr mit Künstlern und
kunstbegeisterten Bürgern nicht. Durch seine Liebhabereien keines-
wegs verweichlicht, wußte er im gegebenen Moment auch die Waffen
zu führen. Als Mann von Welt war er in der Aristokratie aller Län-
^Villabianca, diMarzo; Bibl. Sic. XX, 11. »In quest' anno
1772 Emanuele Morso ed Astorga, figlio delli furono Nicold Morso, de' baroni
di Favarella, e Qiovanna Astorga e Quzzardi, jugali, fu fatto cavaliere di grazia
dei real ordine costantiniano di S. Giorgio. E fu ^li di poi promosso a tenente
colonello del reggimento di cavalleria del titolo di Real Napoli, e con tal posto
lo era nel 1786«.
VI, Kap.: Astorga als Senator von Palermo. — Der Ausgang. 125
der Europas wohl aufgenommen; trotzdem folgte er dem Zuge seines
nationalen Empfindens und zog sich ins Land seiner Ahnen zurück,
um still im Dienste seines Königs tu wirken. Ein fleißiger Künstler
und zugleich ein reicher Edelmann, ein Idealist und zugleich eine
praktische Natur, stellt Astorga keineswegs einen Typus seiner Zeit,
sondern eine höchst eigenartige Erscheinung dar, die nicht häufig
ihresgleichen hat in der Geschichte der Künste.
38e
G ^ ^ ^
Zweiter Teil.
Revue und Kritik der Astorga-
Literatur«
Einleitung.
Jeder Geschichtsforscher ist ein Wahrheitsucher. Auch wir haben
uns nach Kräften bemüht, die Wahrheit über Astorgas Leben zu
finden. Soweit wir uns auf unanfechtbare dolcumentarische Nach-
richten stützen konnten, war die Arbeit leicht. Ihnen ließ sich gut
die Wahrheit nacherzählen. Viele und bedeutende Schwierigkeiten
bereiteten uns aber die übrigen, besonders die aus der Tradition ge-
nährten Quellen. Hypothesen wurden unvermeidlich. Wo lag hier
die Wahrheit? Manches Mal mußten wir die Frage offen lassen,
da dem gewissenhaft prüfenden Blick die Gründe zu ihrer Ent-
scheidung nicht hinreichten. Viele von ihnen konnten wir aber
auch mit Sicherheit beantworten. Durch historisch-kritische Unter-
suchung wurde manches brauchbare Detail für die Biographie Astor-
gas gewonnen. Die Ereignisse, Verhältnisse, Sitten und Gesetze
seiner Zeit, die Umgebung, in der er sich befand, die Menschen, mit
denen er in Berührung kam, gestatteten Rückschlüsse auf ihn
selbst, auf seine Denkweise, auf sein Tun und Lassen. Oft bedurfte
es hier, wo die lachende Traumwelt romantischer Möglichkeiten zu
sich hinüberlockte, aller Kraft, sich in den enggezogenen Schranken
der historischen Wahrheit zu halten. Aber wir hatten die Ver-
pflichtung, diese Grenzen um so genauer zu beachten, uns vor dem
Fabulieren um so mehr zu hüten, als wir ja den älteren Autoren,
N
Einleitung. 127
welche die Geschichte des Meisters mit Märchen umspannen, von
Anfang an kritisch gegenübergetreten sind. Wie wollten wir diese
Stellung behaupten, wenn wir nicht selbst getreulich bei der Wahr-
heit blieben?
Wenn jene älteren Autoren im wesentlichen Märchen, wir aber
die Wahrheit erzählten, so muß die Lebensgeschichte des Meisters
bei uns einen ganz anderen Inhalt haben als bei jenen. Und in
der Tat ist der Unterschied ein gewaltiger. Wie groß er ist, das
dürfte sich am besten zeigen, wenn wir dem zu Anfang unsrer
Studien mitgeteilten kurzen Lebensabriß, wie er bisher hingenommen
wurde, einen solchen gegenüberstellen, der aus unsren Forschungs-
ergebnissen gewonnen ist. Wir greifen zu diesem Zwecke die wich-
tigsten Momente aus dem ersten Teile heraus und reihen sie in aller
Schlichtheit zusammen. So erhalten wir folgende Lebensskizze:
Emanuel Baron d' Astorga (Emanuele Gioacchino
Cesare Riiicon d'Astorga) wurde am 20. März 1680 in Au-
gusta auf Sizilien geboren. Er entstammte der spanischen
Familie Rincon d*Astorga, die zu Anfang des ly. Jahrhun-
derts in spanischen Diensten nach Augusta gekommen war.
Den Titel Baron führte Emanuel nach seiner bei Augusta ge-
legenen Baronie. Dieses Majorat, namens Ogliastro, war
unter seinem Großvater, der ebenfalls Emanuel hieß, der Fa-
milie zugefallen. Sein Vater war der Baron Francesco
Rincon d*Astorga; seine Mutter hieß Giovanna. Die Fa-
milie siedelte nach Palermo über, wo Emanuels Vater im
Jahre iyi2 starb. Astorga erhielt eine dem reichen Edelmanne
angemessene Erziehung. Seine zuerst in Augusta, dann in
Palermo erworbenen Kenntnisse vermehrte er später in den
Hauptstädten Italiens und auf ausgedehnten Reisen. Beson-
ders vervollkommnete er sich in der Musik, die er ))seit seinen
ersten Kinderfahren zu seinem Vergnügen studiert hatte (i. Im
Jahre iyo8 weilte er in Palermo. Als dort im Sommer des ge-
nannten Jahres ein Aufstand ausbrach, bot die spanisch-sizilia-
nische Regierung zu dessen Dämpfung eine Kommunalgarde
auf, unter deren Offizieren sich auch Astorga befand: Das
128 2. Teil: Astorga-Literatur.
Jahr lyog brachte die Auffährung seiner Pastoraloper Wafni^i
in Genua (21, April), der Emanuel vermutlich beiwohnte;
bei den Wiederholungen der Aufführung am Hofe des
spanischen Gegenkönigs Karl III. in Barcelona (Juni,
Juli) war er wohl nicht zugegen. Den größten Teil des Jahres
jyi2 verlebte er in Wien, wo er am 9. Mai bei der Taufe von
Caldaras Tochter einen nicht anwesenden Paten vertrat. Am
Kaiserhofe verkehrte er, ohne dort ein dauerndes Unterkommen
zu suchen. Kaiser Karl VI. behandelte ihn mit Auszeichnung.
Im Mai iyi3 finden wir ihn in Znaim in Mähren.
Neue Reisen schlössen sich an. Längeren Aufenthalt (1714,
^71^5^) nahm Astorga in London. Nach Palermo zurück-
gekehrt, wurde er in den Senat der Stadt gewählt. Er bekleidete
dieses Ehrenamt von Mitte Mai lyiy bis zum 3. Juni ijx8.
Danach ließ er sich in Spanien nieder, wo er, vorüber-
gehende Besuche von Portugal abgerechnet, den Rest seines
Lebens zubrachte. In Lissabon gab er im Jahre 1726 ein
Heft Kantaten in spanischer und italienischer Sprache heraus,
das einzige von ihm, was bei seinen Lebzeiten im Druck erschien.
In Spanien erhielt Astorga eine einträgliche Stellung in könig-
lichem Dienst. Im Lande seiner Ahnen völlig eingewurzelt,
verkaufte er im Jahre 1744 seine Baronie auf Sizilien. Er
überlebte jenen Verkauf noch um einige Zeit und starb bdagl
in Spanien. Seine Zeitgenossen rühmen ihn als bewandert
in vielen Wissenschaften und in der Kunst; sie loben ihn als
Sänger, Klavierspieler und Komponisten. Als adliger Dilettant
unterließ er fegliche persönliche Betätigung seiner Kunst in
der Öffentlichkeit. Der Nachwelt hat er eine Menge Kom-
positionen, durchweg für Gesang mit Begleitung, hinterlassen.
Die erste Stelle darunter nimmt sein Stabat Mater ein; es ist
nicht vor 1707 komponiert. Seine erste nachweisbare Auf-
führung fand 1752 oder 1753 in Oxford statt. Außer der ge-
nannten OperDafni, die noch 1726 in Breslau eine Aufführung
erlebte, hat er nichts für die Bühne geschrieben. Die Mehrzahl
seiner Werke sind Kammerkantaten, die seinem Namen im
' 18. Jahrhundert in ganz Europa Ruhm und Ehren eintrugen.
I. Kap.: Die älteste Astorga-Literatur. 129
Nicht ohne Grund wählten wir die kursive Schrift für diesen
Lebensabriß. Haben wir doch durch sie in der alten Vita, am*
Anfang unsrer Studien, die Stellen hervorgehoben, die auf authen-
tischen Nachrichten beruhen. Dem entsprechend glaubten wir für
unsre ganze neugewonnene Lebensskizze jene Schriftart benutzen
zu dürfen.
Vergleicht man die neue Vita mit der alten, dann ergeben sich
so große Unterschiede in ihrem Inhalt, daß man glauben könnte,
in beiden sei von zwei ganz verschiedenen Männern die Rede. Die
gewaltigen Widersprüche bedürfen einer Lösung. Diese kann man
nur gewinnen, wenn man den Ursprung und das Wesen jeher alten
Meldungen ergründet, wenn man nachweist, wie die einzelnen
Autoren zu ihren Nachrichten gelangt sind. Dazu müssen die
Astorga-Geschichten in ihren Anfängen beleuchtet, muß ihr An-
wachsen von Station zu Station verfolgt werden. In Form einer
Revue und Kritik der gesamten Astorga-Literatur möge diese Auf-
gabe gelöst werden.
I. Kapitel.
Die älteste Astorga-Literatur.
Die früheste Erwähnung Astorgas findet sich in den Schriften
zur Ortsgeschichte von Palermo in den ersten beiden Dezennien des
18. Jahrhunderts!. Der Chronist
Antonino Mongitore nennt Astorgas Vater und ihn in den
Jahren 1708 und 1717/18 als Senatoren von Palermo und berichtet
einige Einzelheiten aus Emanuels Amtsperiode.
Benedetto Emanuele e Vanni, Marchese di Villabianca,
bringt in seiner Schrift »Diario e narrazione istorica de' tumulti suc-
1 Unsre Obersicht beschränkt sich auf das, was bis jetzt über Astorga
veröffentlicht worden ist. Die bisher ungedruckten, vom von uns
zum ersten Male publizierten Notizen sind in diesem Zusammenhang nicht zu
berücksichtigen. Die Anordnung des Stoffes möge in chronologischer Weise
erfolgen. Doch sollen einzelne zu verschiedenen Zeiten erschienene, inhaltlich
aber zusammengehörige Artikel zu Gruppen vereint werden..
Volk mann, Astorga. I. 9
130 2. Teil: Astorga-Literatur.
cessi in Palermo nel 1708« eine Notiz über Astorga als Offizier der
' Kommunalgarde von Palermo. Beide Schriftsteller sind durchaus
zuverlässig. Mongitore bekennt einmal selbst^, daß er in seinem
Diario lediglich das registriere, was er selbst »con gli occhi proprii a
in der Stadt Palermo Bemerkenswertes sähe. Als Berichte eines
Augenzeugen und gewissenhaften Schriftstellers sind seine Auf-
zeichnungen doppelt wertvoll. Auch Villabiancas »Narrazionea
ist ein einfacher Bericht über Tatsachen und Ereignisse, die der
Autor selbst mit angesehen hat. In seine Nachrichten ist nicht der
leiseste Zweifel zu setzen. Beider Autoren Schriften sind von
Gioacchino di Marzo in der »Biblioteca storica e letteraria di
Sicilia« (Bd. VII— X.) in den Jahren 1871/72 herausgegeben und
von uns zuerst für die Kenntnis Astorgas nutzbar gemacht worden.
Sodann bietet Astorga selbst einige autobiographische An-
deutungen, seinen Stand, seine Vorfahren und seine Jugend be-
treffend, in Titel und Vorrede seiner 1726 veröffentlichten Kantaten.
Sie bilden den Hauptgegenstand des ersten Kapitels im ersten Teile
unsrer Schrift.
Diesen italienischen Quellen schließen sich der Zeit nach eine
Anzahl deutsche an. Eigentliche biographische Momente ergeben
sich nicht aus ihnen. Durch wiederholte ehrenvolle Erwähnung des
Komponisten Astorga helfen sie nur die Epoche bestimmen, in der
des Meisters Ruf ein internationaler war,
Johann David Heinichen kommt in der 2. Auflage seiner
Generalbaßlehre (Dresden 1728) S. 797 auf die freie, »extravagante
und irregulaire« Satzweise zusprechen, die sich Alessandro Scar-
1 a 1 1 i in seinen Kantaten gestatte. »Meines Wissens «, fügt der Autor
anmerkungsweise hinzu, »hat ihn bis dato unter unzehligen Practicis
noch kein eintziger imitiren wollen, es müste denn der berühmte
Astorga nunmehro auch anfangen auf dergleichen Spuhren zu
gerathen «.
Aus dieser Stelle geht hervor, daß Astorga 1728 im Herzen
Deutschlands als ein berühmter Meister galt. Als Heinichen im
Jahre 1711 seine Kompositionslehre in der ersten Auflage heraus-
1 Di M a r z , Bibl. Sic. VH, 207e
I. Kap.: Die älteste Astorga-Literatur. 131
gab, fehlte noch die Erwähnung unsres Meisters. Möglich, daß
Heinichen während seines Aufenthaltes in Italien (1713—1718) mit
Astorgas Werken vertraut wurde; — keinesfalls konnte er 1728 in
seinem für ein deutsches Publikum berechneten Buche Astorga als
eine Berühmtheit erwähnen, wenn dieser nicht damals auch den
deutschen Musikern und Musikfreunden bekannt gewesen wäre.
Gleichzeitig mit der neuen Auflage von Heinichens Generalbaß-
lehre erschien
Johann Matthesons »Musikalischer Patriot« (Hamburg
1828), in dem, S. 347, Astorga ebenfalls erwähnt wird. Mattheson
bringt dort einen Brief des Breslauer Kapellmeisters Treu vom
23. September 1726 zum Abdruck, der eine Schilderung des Bres-
lauer Musiklebens enthält. Darin wird auch des in Breslau auf-
geführten »Pastorale II Daphni von Herrn Baron Astorga « gedacht.
Auch in Matthesons »Ehrenpforte« (Hamburg 1740, S. 375)
wird diese Aufführung erwähnt. »II Dafni. Pastorale, im Sep-
tember. Die Musik war von dem Herrn Baron d'Astorga, ungemein
artig«, so heißt es dort in der Liste der 1726 in Breslau aufgeführten
Opern. (Vgl. auch S. 117, Anmerkung.)
Die Notiz aus Matthesons »Patriot «über die Dafnisaufführung
wurde durch das 1732 erschienene »Musikalische Lexikon« von
Johann Gottfried Walther in die weitesten Kreise getragen.
Eigenes weiß Walther über Astorga nicht zu berichten. — Eine
Wiederholung jener Nachricht findet sich auch im 2. Supplement-
Bande von Zedlers »Universal-Lexikon« (Leipzig 1751).
Mehrfach wird Astorga als bedeutender Komponist in der 2. Auf-
lage von
Johann Adolf Scheibes »Critischem Musicus« (Leipzig
1745) erwähnt!. Bei Besprechung der Komposition von Kammer-
kantaten (S. 401) sagt Scheibe: »Die größten Meister in diesen
Cantaten sind wohl insbesondere der berühmte Astorgas, Mar-
cello, Mancini und Conti, wie auch Händel, Heinichen und
Bigaglia. Die beiden ersten beweisen darinnen einen besondern
^ In der ersten Auflage (1737 — 1740) findet sich noch keine Erwähnung
Astorgas.
9*
132 2. Teil : Astorga-Literatur.
durchdringenden Fleiß und einen großen Verstand, die drei letztern
aber ein . . . natürliches und angenehmes Wesen . . . « Femer heißt
es in dem Kapitel über den Mtzigen Geschmack in der Musik« nach
einer Musterung der bedeutendsten Meister der Zeit (S. 762): »Was
soll ich von einem Marceil o, dem berühmten venetianischen Ritter,
von dem Grafen von Astorgas, von dem altem Conti und andern
sagen? Gewiß, die Feinigkeit des Geschmacks dieser Männer ist
fast ohne die geringsten Fehler gewesen, a Und weiterhin (S. 766),
nach einer begeisterten Würdigung der deutschen Meister Kuhnau,
Keiser, Telemann und Händel, sagt Scheibe: »Doch nicht allein
Deutschland hat die Ausarbeitung des guten Geschmacks in der
Tonkunst empfunden, auch Italien hat diese Vortheile erhalten. Ein
schon angeführter Astorgas, Marcello, Conti . . . und andere
' haben auch ihrer Nation gewiesen, wie schön es ist, die Natur und die
Vernunft zu Richterinnen der Tonkunst zu erwählen, und ihren
Vorschriften auch in den Ergetzlichkeiten zu folgen. « Die wieder-
. holte Erwähnung Astorgas unter den bedeutendsten italienischen
Meistern zeigt, wie hoch der Komponist um 1745 in Deutschland
geschätzt wurde. Während sein Ruhm wuchs, begann das Bild
seiner Persönlichkeit zu erbleichen. Scheibe war sich bereits nicht
mehr über seinen Stand klar. Er wußte, daß er ein Aristokrat war,
aber nicht, von welchem Rang und Titel. So nennt er ihn denn den
»Grafen von Astorgas «. Trotz dieser Beförderung, die ihm Scheibe
zuteil werden läßt, und trotz des »s «, das er seinem Namen an-
hängt, besteht doch kein Zweifel, daß er mit dem großen Kantaten-
komponisten nur unsern Baron d'Astorga meint.
Die nächsten Erwähnungen Astorgas, — und zwar wieder ledig-
lich des Komponisten, — finden sich in englischen Schriften.
Als erstes Werk kommt
Charles Avisons »Essay on musical expression« in Betracht,
der 1752 in erster, 1753 in zweiter und 1775 in dritter Auflage zu
London erschien. Der Verfasser nennt darin Astorga nebst Vinci,
Bononcini und Pergolese als die Meister, denen man ob der melo-
dischen Schönheit ihrer Werke ihre bisweilen anfechtbare harmo-
nische Ausgestaltung zugute halte: »Of the ... highest class of
composers, who have run into [the] extreme of modulation, are
I. Kap. : Die älteste Astorga-Literatur. 133
Vinci, Bononcini, Astorgo [sie] and Pergolese. The frequent
Delicacy of whose airs, is so strilcing, that we almost f orget the def ect
of harmony, under which they often labour, Tlieir faults are lost
amidst their excellencies . . . . «i. Von der zweiten Auflage an
rühmt Avison Astorga auch als Schöpfer des bedeutenden Stabat
Maten Es heißt da: »There is a composition for the church, which
the connoisseurs, acquainted with its beauties, esteem as inimitable
initsway; namely, theStabatMateretc. of the Baron D'Astorga.
This nobleman had many excellencies, as a composer, and chiefly
a simplicity of harmony, and an affecting style in many of his airs
and duetts^.«
Avison, der als Organist in Newcastle am Tyne wirkte, hat,
nach dem Wortlaut seiner Notiz zu schließen, das Stabat Mater
nicht selbst gekannt. Er folgte mit dessen Erwähnung einer solchen
in einer anderen Schrift, nämlich in der seines schärfsten Kritikers,
des Oxforder Professors W. Hayes. Dieser hatte nach Erscheinen
der ersten Auflage von Avisons Studie ein Büchlein herausge-
geben, betitelt:
»Remarkson Mr. Avison's Essay on Musical Expression«'.
Hayes beurteilt darin Astorgas Kantaten ziemlich absprechend,
während er dessen Stabat Mater als ein Werk ohnegleichen preist.
Es sei, so sagt er, »letzthin«, also Anfang des Jahres 1753 oder Ende
1752, in Oxford mit großem Erfolg zur Aufführung gelangt. Das
ist die früheste Notiz über eine Aufführung jenes Werkes*.
Ober das Leben Astorgas gibt sodann wieder ein Sizilianer, der
Abate Francesco Tommaso'Zoppelli Auskunft, und zwar in
dem 1 772 erschienenen Werke »D e 1 1 e C i t tä d' 1 1 a 1 i a «, herausgegeben
^ Erste Aufl. S. 43. — Der ersten Auflage folgt auch die deutsche
Obersetzung (Leipzig 1775). Hier steht die Stelle S.37« — Zweite
Aufl. S. 40, dritte S. 36.
> S. 94. Dritte Aufl. S. 83.
* Die Schrift war anonym erschienen. Daß H a y e s der Verfasser war,
teilt Grove im Lexikon mit (1. Aufl., London 1879, Bd. I, S. 106).
« Die »Remarks« selbst zu Qesicht zu bekommen, gelang mir nicht.
Ich schöpfte die obigen Einzelheiten aus Hawkins' General History, in der
die in Betracht kommende Stelle aus H a y e s' Schrift zitiert wird. Vgl. S. 135
unsrer Schrift.
134 2. Teil : Astorga-Literatur.
vonCesareOrlandi (Bd. II, S. 385). Zoppellis Notizen beruhen
auf guter Tradition, sie gehören zu den wichtigsten Quellen, die vor-
liegen. Im ersten Teile unsrer Schrift fanden sie ihre Interpreta-
tion in einzelnen. Hier mögen sie im Zusammenhange stehen:
»II Barone Don EmanuelleAstorga versato in molte scienze,
ed in particolare nella Musica. Fu gran Suonatore di Gravecembalo,
e Contrappunto. Venne eletto da Carlo VI. Imperadore per Maestro
di Cappella d'onore della Real Cappella, ed indi passö in Ispagna
dal Regnante allora Ferdinando III. [VI.] destinato al Govemo di
una ragguardevole Piazza, dove mori con sommo onore e gloria«.
Dieser Bericht blieb in der musikgeschichtlichen Literatur bis
auf unsre Tage unbenutzt. Nur in einem topographisch-historischen
Werke gelangte er zur Wiedergabe. Dessen Titel lautet:
Augusta illustrata ovvero Storia di Augusta per Seba-
stiano Salomone (Catania 1876)^. Ist die Wiedergabe der
Astorga-Stelle aus dem mehr denn hundert Jahre älteren Werke auch
genau? Zum Vergleich mit ihrer Vorlage sei sie hier abgedruckt.
Es heißt bei Salomone S. 116:
»Barone D'Emanuele Astorga.
»Chiarissimo in molte scienze ma piü si distinse nella musica, per-
loch^ venne eletto maestro della real cappella deli' imperatore Carlo
VI; indi passö nella corte di Ferdinando III da cui fu chiamato al
governo di ragguardevoli piazze in Ispagna. a
Man sieht: Salomone hat nicht eben peinliche Genauigkeit bei
der Wiedergabe der Nachricht walten lassen. Aber trotzdem hätte
seine Notiz für einen Musikhistoriker eine wichtige Quelle werden
können. Nennt doch Salomone gewissenhaft Zoppelli und Or-
landi als seine Gewährsleute. Er gab also selbst den Forschern die
Möglichkeit an die Hand, den Dingen auf den Grund zu gehen. Aber
wie einst Zoppelli, so blieb neuerdings auch Salomone unbeachtet
und die Astorga-Literatur wuchs unbeeinflußt von ihnen weiter.
Einige Jahre nach Zoppelli gab der englische Musikhistoriker
^ Den Hinweis darauf verdanke ich Herrn Cav. Torresi, Sindaco
zu Augusta.
I. Kap.: Die älteste Astorga-Literatur. 13§
John Hawkins in seiner »General History of the science
and Practice of Music« (Bd. V., London 1776, S. 212) weitere Nach-
richten über Astorga. Sie lauten:
»Baron de Astorga was eminently skilled in music, and a
celebrated composer. Of his history little is known, save that he
was a Siciiian by birth, and was at the court of Vienna at the be-
ginning of this Century, where he was greatly favoured by the em-
peror Leopold, from whence it is presumed he went to Spain^, and
had that title conf erred upon him, which, f or want of his f amily name,
is the only known designation of him. He was at Lisbon some time,
and after that at Leghorn, where being exceedingly caressed by the
English merchants there, he was induced to visit England, and
passed a winter or two in London, from whence he went to Bohemia;
and at Breslaw, in the year 1726, composed a pastoral intitled
Daphne, which was performed there with great applause. He ex-
celled altogether in vocal composition; his cantatas in particular
are by the Italians esteemed aboye all others. He never travelled
without a great number of them, and, though very short-sighted,
was used to sing them, accompanying himself on the harpsichord.
The anonymous author of Remarks on Mr. Avison's Essay on Musical
Expression, says that the Cantatas of the Baron d'Astorga have in
general too much of that extravagant gusto, which he condemns, at
the same time that he celebrates a Stabat Mater of his as a compo-
sition to which he says he scarcely ever met with an equal. This
hymn, he adds, had lately been performed at Oxford with universal
approbation. The Academy of Ancient Music are in possession of
it, and it now frequently makes a part of their entertainment on
Thursday evenings.«
Mit Bewunderung muß man den Fleiß anerkennen, den Haw-
kins beim Zusammentragen der gewaltigen Materialfülle für seine
Musikgeschichte aufwandte, welche dank diesem Fleiße zu einem
Quellenwerk ersten Ranges geworden ist. In der Verarbeitung
dieses reichen Stoffes ist Hawkins zwar im ganzen gewissenhaft; er
1 Hier fügt H a w k i n s die Note bei: »Astorga is a city in the province
of Leon in Spain, and a bishop's see.«
136 2. Teil: Ast orga- Literatur.
verschmäht es aber auch gelegentlich nicht, Lücken nach seinem
Gutdünken auszufüllen und von ihm frei gezogene Schlüsse als
geschichtliche Tatsachen hinzuschreiben. Völlig willkürlich ist seine
Chronologie. Mit »from whence« und »after thata werden bei ihm
ganz femliegende Dinge miteinander verknüpft.
Hawkins' Vorzüge und Schwächen zeigen sich auch in seinem
Artikel über Astorga. Einerseits ist dieser von höchstem Werte
für uns, weil er eine ganze Menge sonst nirgends gebuchte Notizen
über den Meister und sein Leben enthält, ja sicher alle, die Haw-
kins überhaupt über ihn erreichen konnte. Andererseits macht er
uns aber Schwierigkeiten, weil nicht alle darin enthaltenen Angaben
völlig zuverlässig sind.
Außer aus eigener Erfahrung, — aus der er die Notiz über die
Aufführung des Stabat Mater zu seiner Zeit in London hinzufügte,
— schöpfte Hawkins seinen Stoff aus Quellen von zweierlei Art:
aus gedruckten Werken und aus mündlicher Tradition. An ge-
druckten Nachrichten verwertet er erstens die über die Dafnis-
aufführung zu Breslau 1726 nach Mattheson oder Walther, zweitens
die von Hayes über die Aufführung des Stabat Mater in Oxford.
Während er die letztere wörtlich wiederholt, bietet er die erstere
selbständig erweitert mit dem irrtümlichen Schlüsse, Astorga habe
die Oper Dafni, die er überdies aus Versehen Dafne nennt, in Breslau
komponiert.
Reichlich flössen Hawkins noch die Meldungen aus mündlicher
Tradition zu. Als er seine Geschichte veröffentlichte, waren etwa
60 Jahre vergangen, seit sich Astorga in England aufgehalten hatte.
Für sein Werk gesammelt hatte Hawkins aber schon Jahrzehnte
vor dessen Erscheinen. Er konnte seine Nachrichten also von Ge-
währsleuten haben, die noch mit Astorga verkehrt, oder wenigstens
dessen Freundeskreise nahegestanden hatten. Die ganze Be-
schaffenheit seiner Mitteilungen, die Anschaulichkeit, mit der die
Details geschildert werden, flößt Vertrauen ein. Wie Astorga von
den englischen Kaufleuten in Livomo gefeiert wird, wie er auf
seinen Reisen mit einer ganzen Menge eigener Werke erscheint,
wie er sich beim Singen, trotz eines Augenübels, am Klavier selbst
begleitet, all diese Einzelzüge machen den Eindruck, aus persön-
L Kap.: Die älteste Astorga-Literatur. 137
lieber Erfahrung geschildert zu sein. Hawkins' Angaben, daß
Astorga von Geburt ein Sizilianer war, daß er sich »zu Anfang des
Jahrhunderts« in Wien aufhielt und einige Zeit in Lissabon weilte,
werden durch Urkunden bestätigt. Die Erwähnung des Besuches
in Lissabon geht sicher auch ausschließlich auf mündliche Tradition
zurück: hätte Hawkins die in Lissabon herausgegebenen Kantaten
gekannt, so würde er sie zweifellos erwähnt haben.
Viel Wahres und Zutreffendes hat Hawkins aus der Tradition
geschöpft; daneben lief aber auch Falsches und Zweifelhaftes unter.
Da ist zunächst die Erwähnung des Kaisers Leopold L als eines be-
sonderen Gönners Astorgas. Sie wurde bereits vorn (S. 85) näher
beleuchtet. Wir kamen dort zu dem Schlüsse, daß in ihr ganz sicher
eine Verwechslung des Kaisers Karl VL mit Leopold L vorliegt.
Unrichtig ist femer Hawkins' Meldung, der Tonsetzer habe
seinen Namen Astorga nach der spanischen Stadt Astorga erhalten.
Wir wissen heute, daß ihm dieser Name nicht erst verliehen zu
werden brauchte, weil ihn seine Familie seit mindestens hundert
Jahren führte. Hawkins bekennt selbst, daß ihm kein anderer Name
des Barons als der genannte bekannt sei. Dessen auffällige Überein-
stimmung mit dem der spanischen Stadt führte ihn oder seinen Ge-
währsmann zur Annahme eines Kausalnexus zwischen beiden. Der
Künstler muß den Namen nach der Stadt erhalten haben, so folgerte
er ziemlich kurzsichtig, statt weiter blickend eine schon in der Vor-
zeit erfolgte Verleihung des Namens an das Geschlecht, dem der
Meister entstammte, anzunehmen.
Wenn Hawkins einen Aufenthalt Astorgas in Spanien erwähnt,
so sagt er damit nichts Unrichtiges. Von den Beziehungen des
Meisters zu Spanien, die wir nachgewiesen haben, ist ihm allerdings
nichts bekannt. Man kann also nicht entscheiden, ob Hawkins hier
eine Meldung der Tradition wiedergab, oder ob er auf den Besuch von
Spanien nur im Zusammenhang mit jener Namenserklärung kam.
Im letzteren, Falle würde also die Annahme trotz ihres richtigen In-
haltes auf einer falschen Voraussetzung beruhen. — Daß Hawkins
den ganzen Passus über den Aufenthalt Astorgas in Spanien und die
Verleihung des Titels an ihn ausdrücklich als Vermutung kennzeichnet
— »it is presumed« — , beachteten dessen spätere Benutzer nicht.
138 2. Teil: Astorga-Literatur.
Wie steht es aber um Hawkins' Nachricht, Astorga sei von London
nach Böhmen gegangen? Vorn konstatierten wir, daß Astorga
wohl einmal durch Böhmen gereist sein kann, daß aber auch nicht
für den kürzesten Aufenthalt des Meisters in diesem Lande ein Be-
weis vorhanden ist. Da drängt sich uns der Gedanke auf, daß in
Hawkins' Meldung eine Verwechslung von Mähren mit Böhmen
vorliegen könne. Sollte nicht Astorga, als er in London weilte,
seinen Aufenthalt in Znaim in Mähren gegen seine englischen Freunde
erwähnt haben? Könnte nicht in der letzteren Erinnerung mit der
Zeit an Stelle Mährens Böhmen getreten sein? Wenn Hawkins
den in Rede stehenden Aufenthalt dem Londoner folgen statt vor-
ausgehen läßt, so hat das nicht viel auf sich: Hawkins' Chronologie
ist ja ganz willkürlich. Jene Verwechslung kann tatsächlich ein-
getreten sein; nur fehlen entscheidende Beweise dafür.
Neben den vielen wertvollen, zweifellos wahren Nachrichten,
die Hawkins über Astorga bietet, finden sich drei Details, welche
den Tatsachen nicht entsprechen:
1. komponierte Astorga seinen Dafni nicht in Breslau,
2. erhielt nicht der Künstler den Namen Astorga nach der spa-
nischen Stadt,
3. war nicht Kaiser Leopold des Künstlers Gönner.
Das sind Irrtümer, die, ziemlich belanglos, das Lebensbild nicht
wesentlich zu verändern vermögen. Aber als Grundlagen für wei-
tere Irrtümer späterer Autoren sind sie immerhin nicht bedeutungs-
los. In der nächsten Zeit wurden jedoch Hawkins' Notizen von den
Musikhistorikern ziemlich getreu wiederholt. Bis zum Jahre 1825
dienten sie als Hauptquelle für alle, die über Astorga schrieben.
Eine Ausnahme davon macht Hawkins' Landsmann
Charles Burney, der in seinem Astorga- Artikel in der »Gene-
ral history of Music« (Bd. IV, London 1789, S. 178) Notizen
über das Leben des Meisters überhaupt nicht gibt, sondern sich ledig-
lich auf die Würdigung einiger ihm bekannter Werke von Astorga
beschränkt. Sie möge der Vollständigkeit halber hier stehen:
»The cantatas of Baron D'Astorga are much celebrated; yet
several that I have lately examined did not fulfill the expectations
I. Kap. : Die älteste Astorga-Literatur. 139
excited by his high character and the composition of his elegant
and refined Stabat Mater. The three best that I have seen begin:
Quando penso; Torne Aprile; and In questo core. In these
there is expression, grace and science devoid of pedantry. But late
refinements in melody have rendered our ears fastidious and unjust
to the simplicity of the last age, however elegant its garb. At some
of the closes, the Baron's good taste in singing is very manifest. «
Im Gegensatz zu Burney folgen Hawkins' Angaben getreu A.
Choron et F. Fayolle in den wenigen Zeilen, die sie Astorga in
ihrem »Dictionnaire historique des Musiciens« (ParislSlO)
widmen. Auch Bertini gibt in seinem »Dizionario storico-
critico degli scrittori di musica« (Palermo 1814) nur einen
ziemlich dürftigen Auszug aus Hawkins. Giuseppe Bertini, der
aus Palermo stammte und sein Lexikon als »Maestro della Regia
Imperial Cappella Palatina « zu Palermo schrieb, weiß nichts davon,
daß Astorga eine Zeitlang in seiner Vaterstadt gelebt und vor damals
noch nicht ganz hundert Jahren ein städtisches Ehrenamt bekleidet
hat. Man muß also annehmen, daß 2ur Zeit von Bertinis Jugend
(er ward 1756 geboren) in Palermo bereits jede Tradition über
Astorga erloschen war.
Einen größeren Astorga-Artikel bot Ernst Ludwig Gerber
im »Neuen historisch-biographischen Lexikon der Tonkünstler«
(Leipzig 1812), nachdem er im »Lexikoti derTonkünstler«(Leip-
zig 1790) den Meister ganz übergangen hattet. Er bringt den von
Hawkins gebuchten Stoff in deutscher Übersetzung und ergänzt
ihn durch einige Neuigkeiten. Er ist der erste musikhistorische
Schriftsteller, der Astorgas Vornamen Emanuele nennt und sein
Geburtsjahr vermutungsweise angibt. »Ums Jahr 1680« sei Ema-
nuel geboren, sagt er. Da er sogar im Jahre 1680 geboren ist, hat
Gerber also richtig geraten. Bei der Erwähnung der Breslauer Dafnis-
aufführung weist er zwar auf Walthers Lexikon als auf eine der
Quellen hin, aber er bietet die Notiz selbst in der willkürlich erweiter-
ten Fassung Hawkins', nach der Emanuel selbst 1726 »sein Pastoral
^ In dieser Ausgabe erwähnte er nur die Werke jenes G. O. Astorga,
dessen wir auf S. 124 gedachten.
140 2. Teil: Astorga- Literatur.
Daphne « in Breslau aufgeführt haben soll. Er erwähnt auch, den »Re-
marks on Avison's Essay o folgend, die Aufführung des »Stabat Mater c
im Jahre 1753 zu Oxford. Das Verzeichnis der Werke As torgas ergänzt
er durch die von Burney genannten und durch zwei in der Astorga-
Literatur noch nicht zitierte Titel: 1. Cantate: Clorinda, s'io t'amai
con pura fede, nach Breitkopfs Sammlung von Handschriften, II,
32. — 2. Palpitar gia sento il core für Sopran und Generalbaß, zu
Gerbers Zeit auf dem fürstlichen Musik-Archiv zu Sondershausen
befindlich. Mit Interesse hören wir Gerber auch berichten, daß der
preußische Hof kapellmeister Johann Friedrich Reichardt »viele
Arien a aus der Oper Daf ni sowie eine Anzahl Kantaten von Astorga
besaß. Wo mögen diese Schätze hingekommen sein?
Nicht mehr als dürftige Auszüge aus Gerbers Artikel sind die
Abschnitte, die dem Meister in Friedrich Rassmanns Pan-
theon der Tonkünstler (Quedlinburg und Leipzig 1831)^ und
August Gathys Musikalischem Konversationslexikon
(Leipzig, Hamburg 1835) gewidmet werden.
Etwas ausführlicher wird der von Gerber gebotene Stoff wieder-
holt in der ersten Auflage von Fr. J. F6tis* Biographie univer-
selle des musiciens (Brüssel 1837). Allerdings könnte man aus
der Weglassung von Astorgas Vornamen folgern, F^tis habe nur
Hawkins, nicht aber Gerber benutzt, doch beweist die Zitierung der
nur bei Gerber genannten Kantatentitel, daß ihm auch dessen Werk
vorlag. Bei F^tis erscheint die höchst überraschende Notiz: »En
1726 [Astorga] fit repr^senter ä Vienne la pastorale de Dafne,
dont il avait compos^ la musique . . . . Enfin il alla ä Breslau, oü Ton
ex^cuta sa pastorale de Dafne avec autant de succ^s qu'elle en
avait eu ä Vienne.« Eine Aufführung des Dafni in Wien? Weder
eine solche, noch die einer Dafne ist in den Schriften zur Wiener
Theatergeschichte unter dem Jahre 1726 verzeichnet. F6tis hat
sich also geirrt. Wie kam er aber zu seinen Angaben? Infolge eines
Versehens nannte er als Ort der Dafnisaufführung im Jahre 1726
Wien statt Breslau. Als er dann auf die Aufführung der Oper
^ Raßmann weist bereits in einer Note (S. 11) auf den Astorga-Artikel
von R c h 1 i t z hin, doch benutzt er ihn im Text nicht.
i. Kap. : Die älteste Astorga-Literatiir. 141
In Breslau zu sprechen kam, stempelte er sie flugs zu einer erfolg-
reichen Wiederholung und ließ deren genaue Zeitangabe weg. So
wußte er sich zu helfen. In der zweiten Auflage seines Werkes
änderte er die Notiz über die angebliche Wiener Aufführung der
Oper ab. Carlo Dassori wiederholte sie in dem 1903 in Genua
veröffentlichten Dizionario lirico »Opere e operisti« nach der
ersten.
F6tis' Angaben wurden rekapituliert in der Nouvelle Biogra-
phie g^n6rale der Firmin Didot Fr^res (sous la direction de
M. Hoefer, Paris 1855); doch benutzte der Verfasser auch Gerbers
Lexikon. Denn nur durch ein Versehen bei der Wiedergabe des
Geburtsjahres bei Gerber (1680) ist die Notiz in der Biographie
gdn^rale zu erklären, Astorga sei 1686 geboren. Hier wird auch
zum erstenmal das Todesjahr des Meisters angegeben: das Jahr
1755. Woher stammt diese Weisheit? Der Verfasser schweigt
darüber. Doch läßt es sich erraten. Er erwähnt die Aufführung
des Stabat Mater 1753 in Oxford. Stillschweigend nahm er an,
Astorga sei selbst bei dieser Gelegenheit zugegen gewesen. Er
überlegte, wie betagt der Meister damals gewesen sein müsse, und
gab ihm nach jenem Termin nur noch ein paar Jahre Lebensfrist.
So wird er 1755 als Todesjahr Astorgas gefunden haben.
Die Zeitangaben in der Biographie g^n^rale wurden nur von
wenigen Autoren benutzt. Wir kennen nur zwei Werke, deren
Astorga-Artikel auf dem der genannten Biographie fußen.
Erstens ist es das »Grand Dictionnaire universel von
Pierre Larousse (Paris 1865), in dem es überdies von Astorga
heißt: »II composa divers opdras ou pastorales«, obwohl nur eine
einzige Oper von ihm nachweisbar ist, —
zweitens das Diccionario Universal Portuguez (sob a di-
rec^äo de Fern. Costa, Lisboa 1883)^, in dem der Stoff aufs äußerste
zusammengedrängt dargeboten wird. Obwohl in neuerer Zeit er-
schienen, müssen diese Artikel ihres Inhalts wegen zur ältesten
Astorga-Literatur gezählt werden.
^ Die Mitteilung der Astorga betreffenden Stelle aus diesem Werke ver-
danke ich Herrn Manoel de Carvalhaes in Mezao Fr io (Portugal).
142 2. Teil: Astorga-Literatur.
Unter den bisher genannten Quellen, die weiterzuwirken be-
stimmt waren, nehmen die Werke von Mattheson, Hawkins und
Gerber die wichtigste Stelle ein. Diese Autoren bieten über-
wiegend geschichtlich zuverlässiges Material in sachlicher Dar-
stellung. Doch laufen ihnen auch Irrtümer unter. Diese Irrtümer
mehren sich in den von diesen Quellen abgeleiteten Aufsätzen.
Aber sie sind nicht so bedeutend, daß sie das Bild des Meisters in
seinen Hauptkonturen veränderten. Sie sind doch immer nur wilde
Schößlinge aus guter Wurzel. Fremdes, Erdichtetes ist noch nicht
in das biographische Material eingemischt worden. Das geschah
erst durch den Schriftsteller, von dem wir im nächsten Kapitel zu
reden haben.
IL Kapitel.
Rochlitz' Astorga-Roman.
Die zweite Periode der Astorga-Literatur brach 1825 an mit
dem Erscheinen des zweiten Bandes von Friedrich Rochlitz'
Auf Satzsammlung »Für Freunde der Tonkunst«, in der plötz-
lich eine Menge neuen biographischen Stoffes hingeworfen wurde.
Die Neuigkeiten, die Rochlitz hier mitteilt, wurden später aus der
Einkleidung, die er ihnen gegeben hatte, herausgeschält weiter ver-
breitet. Um aber diesen Notizen gegenüber den rechten Stand-
punkt zu gewinnen, muß man sie in dem Zusammenhang kennen
lernen, in dem Rochlitz sie darbot.
Die Astorga-Neuigkeiten stehen in dem genannten Buche in
dem Abschnitt »Häusliche Musik «.i Rochlitz läßt hier eine
Frau Therese zwei lange Briefe an ihren Mann schreiben. In senti-
mentalem Überschwang schildert Therese darin ihre ganz harm-
losen Reiseabenteuer und ihre Erlebnisse während eines Besuches
bei ihren Verwandten. Diese Erlebnisse gipfeln in musikalischen
Soireen im Familienkreise. Zur Einrichtung solcher häuslicher
^ In der ersten Auflage (1825) wie in der zweiten (1830) stehen sie S. 67ff.;
In der dritten (1868) S. 43ff.
II. Kap.: Rochlitz' Astorga-Roman. 143
Musikabende möchte Rochlitz durch die Briefe Anregung geben.
Er läßt deshalb Frau Therese die ganze Disposition und Inszenierung
dieser Soireen ausführlich darlegen. Einen großen Teil der letzteren
nimmt der einleitende Vortrag eines der Mitwirkenden über Leben,
Werke und Bedeutung des Meisters ein, von dem eine Tondichtung
zu Gehör kommen soll, — eine Idee, die ja heute in den populären
»Komponisten-Abenden« Verwirklichung gefunden hat. Rochlitz
läßt Frau Therese zwei solchen Musikabenden beiwohnen: Der erste
ist Emanuele d'Astorga gewidmet, dessen Stabat Mater auf-
geführt wird, der zweite Johann Heinrich Rolle, dessen Orato-
rium »Der Tod Abels« zur Aufführung gelangt. Ein jeder dieser
Abende wird von Therese in einem Briefe geschildert. Der Astorga
betreffende nimmt 23 engbedruckte Oktavseiten ein. Ihn vollständig
abzudrucken, würde nicht der Mühe lohnen ; er sei daher in seinem
belletristischen Teile nach Möglichkeit gekürzt, bzw. im Auszug
dargereicht. Die Astorga-Nachrichten müssen wir jedoch, um volle
Klarheit zu gewinnen, ungekürzt, samt ihren Verzahnungen mit dem
Ganzen, wiedergeben.
Bei ihrer Betrachtung sei uns eine Vereinfachung gestattet: Die
sicher falschen Details, deren Unrichtigkeit sich durch den
Widerspruch mit authentischen, vom gebotenen Nachrichten erweist,
seien als solche gleich beim Abdruck des Rochlitzschen Textes in
Fußnoten gekennzeichnet. Wir brauchen uns dann bei der
Interpretation des Artikels nicht erst mit einer ausführlichen
Widerlegung dieser Stellen aufzuhalten. Frau Thereses Brief be-
ginnt also:
»Da bin ich denn! wohlbehalten und seelenfroh bin ich da! Die
ersten freien Morgenstunden gehören Dir, mein liebster Mann! Ich
habe mich ganz förmlich eingerichtet. Dir alles — und würden's
Bogen über Bogen — alles, alles zu erzählen. Du liesest es ja doch
gern von Deiner Therese; und sie tut sich dabei auch eine Güte.
Nimm nur erst nochmals den herzlichsten Dank, daß Du die Haus-
frau von Dir gelassen, und sie so lange entbehren willst. Ich weiß,
es wird Dir schwer. Soll ich hierüber mich freuen oder trauern?
Beides, lieber Mann: bald das, bald jenes, bald auch beides unter
einander. Sei nur und bleibe gewiß, daß mein törichtes Schwester-
144 2. Teil: Astorga-Literatur.
herz seine Sorgen und seine Sehnsucht anders nicht losgeworden
wäre. Bin ich wieder bei Dir, so will ich alles einbringen, mit Liebe
und Sorgfalt, mit angefrischter Heiterkeit, und auch sonst mit
allerlei, was — o ich weiß — was Du gern hast, wenn Du auch nicht
darnach aussehen willst. Dazu werde ich hier nicht weniges lernen,
worauf ich in unsem vier Wänden lebenslang nicht gekommen wäre;
ja, ich habe schon manches gelernt, ohngeachtet ich erst seit gestern
Vormittag nach zehn Uhr hier bin. »Seit gestern Vormittags? nicht
seit vorgestern Abends? wir hatten's doch so genau ausgerechnet !f
Ja, man rechnet manchmal, und wenn's zum Treffen kommt 1
»Doch das wird nimmermehr eine ordentliche Erzählung, und*
Du höchst ordentlicher Mann hast Dein Skandal. Still nur; ich will
mich zusammennehmen und alles nach und nach entstehen lassen,
wie es vor mir und in mir entstanden ist. a
Und nun wird mit aller Breite und Behaglichkeit die Reise, die
Rast infolge eines Radbruches am Postwagen, das Wiedersehen mit
der Schwester Ottilie und der Aufenthalt in deren Familie geschildert.
Dem festlichen Mahle an blumengeschmückter Tafel »mit dem
schönsten Damast und schönsten Geschirr« werden rühmende Worte
geweiht. Dann erzählt Therese, wie sie über die Einrichtung der
musikalischen Abende, die hin und wieder bei ihren Verwandten
stattfanden, unterrichtet wurde. Gleich am ersten Abend sollte sie
einem solchen Haus-Konzert beiwohnen. Umständlich schildert sie
alle Mitwirkenden, die erscheinen; endlich aber kommt sie zur
Hauptsache :
»Wir hatten etwa eine halbe Stunde beisammen gesessen und
geplaudert, was jedem eben einfiel, als der Hausvater das Wort
nahm: Nun hab' ich Ihnen aber, ehe wir zum Instrumente gehen,
Rechenschaft von dem zu geben, was ich für diesen Abend gewählt
habe. — Da wars mit eins stille; und auch die Mädchen setzten sich
zurecht, um mit Ohren und Augen zu hören. In der ersten Abteilung
wollen wir diesmal, fuhr der Schwager fort, ein ebenso seltenes, als
vortreffliches Werk zu Gehör bringen : das Stabat Mater von A s t o r g a.
Astorga? fiel ich vorlaut ein; hab' ich doch selbst den Namen noch
nie gehört. Lassen Sie sich das nicht wundern, antwortete er.
Es gehört zum Schicksal jeder Kunst, die noch in der Periode größerer
II. Kap.: Rochlitz' Astorga- Roman. 146
Erweiterung und Fortbildung steht, daß fast alle zunächst nach dem
Neuen fragen ; es ist immer so gewesen, und im allgemeinen auch nicht
zu tadeln. Nun ist es aber lange her, daß dieser treffliche und edle
Mann gelebt hat; seine großem Werke, die überdies nicht eben zahl-
reich gewesen zu sein scheinen, sind, bis auf wenige, verloren ge-
gangen, oder liegen in Bibliotheken Spaniens und Italiens, vielleicht
auch im kaiserlichen Musikarchiv zu Wien und in Klosterbiblio-
theken zu Prag verborgen. Überdies ist von ihm selbst und seinem
Leben bisher so wenig bekannt gemacht, daß auch der fleißige
Gerber in seinem »Tonkünstlerlexikon«, ohngeachtet er alle
frühem Qeschichtschreiber dieser Kunst benutzt, doch nur einige
und nicht einmal ganz richtige Zeilen von ihm beizubringen gewußt
hat. Um so mehr, und da das Leben Astorgas an sich anziehend ist,
gereicht es mir zum Vergnügen, Ihnen mehr davon mitteilen zu
können. Ich habe den Stoff dazu unvermuteter Weise in Werken
gefunden, wo sonst ganz anderes zu suchen ist, und wo, obgleich
nur nebenbei, des Mannes gedacht wird. (Er nannte den Herrn
einige ältere Werke über die Geschichte einzelner italienischer
Staaten und einige Sammlungen Flugschriften oder Briefe aus jener
Zeit.) Wenn ich diese vereinzelten Notizen, so gut ich kann, ver-
binde und die Lücken nach Wahrscheinlichkeit ausfülle: so kommt
etwa Folgendes heraus «
»Du magst Dir denken, lieber Mann, wie wir aufhorchten, und
wie, nach Art der einen oder der andern, vor Begier, alles auf-
zufassen, hier die Hände mit dem Strickstrumpf in den Schoß sanken,
dort die Nadeln nur desto schneller f ipperten. (Unter welche gehörte
Deine Therese? Sag: unter welche?) Von dem aber, was wir erfuhren,
erhältst Du auf beiliegendem, ach, dem vierten Blatte, nur einen
Umriß, dem ich am Rande zuweilen ein Einschiebselchen anhänge. «
»Emanuele d'Astorga war der Sohn eines der angesehensten
sizilianischen Reichsbarone, der abwechselnd in Palermo und auf
seinen Besitzungen gelebt zu haben scheint. Hier wurde Emanuel
um das Jahr 1680 (wahrscheinlich ein Jahr später) geboren i. Der
^ Weder in Palermo, noch auf seines Vaters Besitzungen, sondern in
A u g u s t a wurde Emanuel geboren. Vgl. S. 33 f.
Volkmann, Astorga. I. 10
146 2. Teil: Astorga-Literatur.
Vater, ein kühner, rauher Mann, stand auf bedeutendem Posten in
Kriegsdiensten. In den Verwirrungen, Streitigkeiten und Kriegen
um die Unabhängigkeit Siziliens und des Adels in ihm, oder um des
Landes Vereinigung mit Neapel, und Neapels mit Spanien, unter
Ein königliches Szepter^, trat er auf als Kämpfer gegen die ver-
bindende Monarchie, und als Häuptling eines jener, in der altem
italienischen Geschichte nur allzubekannten, wüsten Soldatenhaufen,
die den Krieg bloß als Handwerk trieben und mit wilder Tapferkeit
jedem Führer — gleichviel welchem, wofür und wogegen — sich
hingaben, bis ein anderer mehr zahlte. — (An den Rand: Unser
Erzähler schilderte, indem er sich mehr an uns Frauen wandte,
dies Wesen oder Unwesen, so wie die Lage der Dinge überhaupt,
auf eine graunliche, aber darum nur desto anziehendere Weise.
Deiner unwissenden Frau kam das Ganze dem ähnlich vor, was uns
Walter Scott vom Zustande Schottlands in früher Zeit und von
seinen Häuptlingen erzählt; nur freilich alles mit italienischer
Eigentümlichkeit, wie dort mit schottischer.)«
»Der Knabe mag vornehmlich der Erziehung der Mutter über-
lassen gewesen und daher zunächst es gekommen sein, daß sich, bei
feurigem Geist, ein ungemein zarter, inniger und frommer Sinn in
ihm ausbildete, der ihm denn auch lebenslang eigen geblieben ist.
Wir verlieren Emanuel aus dem Gesicht, ohne von seiner Erziehung
etwas zu erfahren, außer, nach den Folgen, daß seine großen Natur-
gaben für die Tonkunst frühzeitig müssen bemerkt und sorgsam
ausgebildet worden sein; wir verlieren ihn aus dem Gesicht, bis zu
den furchtbaren Szenen in Neapel und Sizilien im Jahre 1701 >.
Sein Vater war in die Verschwörung verwickelt. Verwegen und
trotzig alle Versöhnungsmittel verschmähend, wollte er mit dem
Degen in der Faust fallen; ward aber von seinen eigenen Söldnern,
deren Forderungen er nicht mehr befriedigen konnte, verraten,
ausgeliefert, und, um die andern durch Schrecken niederzuhalten,
mit noch einem seinesgleichen zum Tode auf öffentlichem Blut-
^ Diese »Verwirrungen « bestanden nur in Rochlitz' Phantasie. Ober den
Zustand Siziliens in Jener Zeit vgl. S.46f.
> »Furchtbare Szenen« spielten sich 1701 in Sizilien nicht ab. Vgl. S. 47.
II. Kap.: Rochlitz' Astorga- Roman. 147
gerüst bestimmt. Mutter und Sohn mußten seine Hinrichtung^
mit ansehn: jene starb unter Zuckungen des Entsetzens, dieser
verfiel in einen Zustand dumpfer Bewußtlosigkeit. Die Güter der
Familie wurden eingezogen, alle Teile derselben verwiesen«. Der
Jüngling floh nicht; alles Zuredens ungeachtet war er von der Stelle
nicht wegzubringen, wo er Vater und Mutter unter so gräßlichen
Verhältnissen hatte verscheiden sehen. Das Volk, dessen Rache,
nun gesättigt, dem Erbarmen gewichen war, beschützte und ver-
sorgte ihn; und so scheint er einige Zeit an diesem Orte gelebt zu
haben. Das Gerücht davon kam zu den Ohren der Prinzessin Ursini,
der Oberhof meisterin der Königin, die auf diese von so entschiedenem
Einfluß war, als die Königin auf ihren Gemahl, Philipp den fünften.
Die Prinzessin nahm sich des unglücklichen Jünglings an und ließ
ihn zur Versorgung und Beruhigung seines irren Geistes in ein
Kloster bringen; und zwar, damit er von den Gegenständen seines
Schmerzes weit entfernt würde, vielleicht auch, damit er nicht
wider Wissen und Wollen auf das Volk wirkte, in ein entlegenes
Kloster — nach Astorga, einer Mittelstadt im spanischen König-
reiche Leon. Hier hat er einige Jahre verlebt und von diesem
Aufenthalte fortan, statt des geächteten, den Namen d'Astorga
angenommen s. — (An den Rand: Eine gewisse, hier schwer-
atmende Frau wagte, die Frage einzuschalten, wie er denn eigent-
lich geheißen habe. Wunderbar genug, war die Antwort: man
weiß es nicht. Bis auf den Namen ist sein Haus vertilgt worden*,
und wo des Vaters gedacht wird, geschieht es nur, als des Barons
oder des Jeronimo*. — «
»In dem Kloster war dem guten Jüngling beschieden, alles zu
finden, was er wahrhaftig bedurfte: einen geistvollen, frommen
^ Astorgas Vater lebte als angesehener Baron zu Palermo bis 1712. Vgl.
S. 37 und 39.
> Der Vater blieb bis an seinen Tod, Emanuel bis 1744 im Besitz des
Feudo Ogliastro. Vgl. S. 39 und 114.
* Emanuel brauchte den Namen Astorga nicht anzunehmen, weil ihn
seine Familie seit mindestens hundert Jahren führte. Vgl. S. 28 f. und 36.
* Glieder der Familie lebten noch gegen Ende des 18. Jahrhunderts.
Vgl. S. 123f.
* Emanuels Vater hieß Francesco. Vgl. S. 33 f.
10*
148 2. Teil: Astorga- Literatur^
Vertrauten, einen sorgsamen Arzt, und, in jenem Zeitalter der
Kulmination italienischer Tonkunst^, einen gründlichen Meister
derselben, der sich des neuen Schülers ebenso sehr erfreute, als dieser
des liebevollen Lehrers. So trat denn Emanuel, nach etwa zwei
Jahren, wieder in die Welt hinaus, geläutert, beruhigt, höher gestellt
in seinem Charakter; von neuem erblühend in seltener Schönheit;
als Künstler aber, in der Komposition der JMleisterschaft sich nähernd,
im Gesänge sie ergreifend. (Seine Stimme war ein überaus schöner,
sanfter und herzrührender Tenor.) Genie, Talent, Neigung und
gesamte Individualität, welche letztere durch die Verhältnisse
seines Knabenlebens, durch die darauf folgenden Erfahrungen,
nun durch die Einsamkeit des Klosterlebens nur noch mehr be-
festigt worden sein mag, bewogen ihn, sich fortan vor allem der
Tonkunst zu widmen; und da sein ganzes Leben von jeher weit
mehr nach innen, als nach außen gerichtet war: so scheint diese,
einzelne Zwischenfälle abgerechnet, ihm auch lebenslang genügt
zu haben. Also finden wir ihn wieder im Palaste des Herzogs Franz
von Parma. Wie er dahin, und in so große Gnade bei diesem
Fürsten gekommen: das wissen wir nicht. Das Einzige lehrt die
Folge, daß er im zwei oder drei und zwanzigsten Lebensjahre in
dessen Dienste getreten, mit liebreicher Auszeichnung, und auch
seiner Geburt gemäß behandelt worden, und die Seele der ausge-
suchtesten Kammermusik seines Gebieters gewesen ist. Seiner
entschiedenen Vorliebe für den Solo-Gesang (doch auch in mehreren
Stimmen), und jener seiner Lage ist es wohl zunächst zuzuschreiben,
daß fast alle seine Kompositionen, auch aus späterer Zeit, zu
dieser, dem Stoff und der äußeren Form, nicht aber dem Geiste
und der Kunst nach, einfachen Gattung gehören, auch bloß vom
Klavier oder dem Quartett begleitet sind: ein besonderes Ver-
hältnis aber, das für ihn wieder zur schweren Prüfung ward, ist
ohne Zweifel Ursache, daß er in dieser Gattung schon jetzt einen
Grad der Meisterschaft erreichte, wie ihn nur sehr wenige der
^ Hier zählt Rochlitz in einer Anmerkung, die wegbleiben möge, die be-
deutendsten italienischen Komponisten der Zeit auf.
II. Kap.: Rochlitz' Astorga- Roman. 149
größten Künstler irgend einer Zeit und irgend einer Nation er-
reicht haben.«
»Dies besondere Verhältnis geben uns, die seiner gedenken, aus
leicht begreiflichen Ursachen mehr zu erraten, als daß sie es dar-
legten. Es ähnelt dem des Torquato Tasso am Hofe Alphonsens
von Ferrara: aber — so verrät wenigstens der Ausgang — mehr,
wie dies Goethe darstellt, als wie es, leider, war. Astorgas zahlreiche,
kleine, rührende Kantaten für den Sopran und Tenor, seine köst-
lichen Duette für dieselben Stimmen aus dieser Zeit, waren alle
für seine erlauchte Schülerin und ihn selbst geschrieben. (An den
Rand: Du magst Dir denken, lieber Albert, wie wir Frauenzimmer
vollends hier aufatmeten; wie wir dies zarte und doch ängstende
Verhältnis bis aufs Pünktchen ausgemalt zu sehn brannten: aber
der grausame Mann gab uns nichts, als was hier steht, und ohn-
gefähr mit denselben Worten.) Später, dieser Gattung und der
ihr eigentümlichen Schreibart einmal vorzüglich gewohnt, und,
vielleicht nicht ohne Hineinspielen der Erinnerung an seine Jugend-
zeit, blieb er ihr fort und fort vorzüglich zugetan; selbst sein vor-
treffliches Stabat Mater und Requiem (von welchem letztern
sich jedoch nur einzelne Sätze wollen vorfinden lassen, weshalb
man zweifeln möchte, ob er es vollendet) beide aus später Zeit,
gehören größtenteils dieser Gattung und Schreibart zu: nur daß alles
hier, in den Hauptsätzen, so hoch gesteigert und so vollendet ausge-
führt wird, als dies ohne Ausgreifen inFremdartiges, möglich scheint^.«
^Der Herzog durchblickte endlich das, wenn noch so unschuldige,
doch nichtsdestoweniger gefährliche Verhältnis. Huldreich und
fürsorgend sandte er seinen Liebling mit den besten Empfehlungen
dem Kaiser, Leopold dem ersten, zu; von welchem eifrig frommen
und Musik liebenden Monarchen dieser denn auch gnädig aufge-
nommen, seines Umgangs gewürdigt und in jeder Hinsicht aus-
gezeichnet wurde. Aber wenige Jahre darauf (1705) starb Leopold;
und wie unter seinem Sohne und Thronfolger, Joseph dem ersten,
sich gar manches änderte, mag sich auch Astorgas Lage geändert
^ Hier fügt Rochlitz in einer Note eine Charakteristik der Kunst Astorgas
bei, die wir auf den 2. Band unsrer Studien versparen.
150 2. Teil: Astorga- Literatur.
haben. Wir sehen ihn bald nach jenem Regierungswechsel, doch
unter ehrenvoller Belobung, scheiden; und alles, was über den Rest
seines Lebens — die größere Hälfte desselben — sich noch hat aus-
finden lassen, kommt auf folgendes wenige hinaus.«
»Seit die Dinge in Spanien, Neapel und Sizilien einige festere
Haltung gewonnen hatten, erhielt Astorga durch Betrieb der Her-
zogin von Ursini und die Gunst der Königin eine jährliche Unter-
stützung, die ihn in den Stand setzte, frei, und einigermaßen seiner
Abkunft und Erziehung gemäß, zu leben i. Er benutzte diese Frei-
heit, nach .und nach fast alle gebildete Länder Europas und ihre
Fürstenhäuser kennen zu lernen. Überall war er geachtet und
willkommen. Mit seiner Kunst trat er nie und nirgends öffentlich
auf^: sondern, wie er seine Kompositionen nur handschriftlich mit-
teilte', so sang er sie auch, sich selbst auf dem Klaviere begleitend,
nur ausgewählten Zirkeln vor. Überhaupt wußte er und war geübt,
in all seinem Tun und Bezeigen eine gewisse sanfte Würde und
Zurückhaltung, die aber nur um so mehr für ihn einnahm, zu be-
haupten; und wie auf ihn anwendbar war, was dort vom Tasso
gesagt wird:
Er kann
Unedlen Stoff, der nur den Knecht bezeichnet,
An seinem Leib nicht dulden; Alles soll
Ihm fein und gut und schön und edel stehn —
so will man auch nie ein unedles, unfeines Wort von seinen Lippen
vernommen haben. So zeigte er sich im Laufe von zehn bis zwölf
Jahren in Madrid, Lissabon, in mehrern Hauptstädten Italiens
(nur sein Vaterland, für ihn den Schauplatz des Entsetzens, ver-
^ Dazu brauchte er keine Unterstützung. Die Einkünfte aus seinen
Qfltem ermöglichten ihm ein standesgemäßes Leben. Vgl. S. 23.
• Hier bemerkt Rochütz: »Woher Hawkins, und aus ihm Gerber, die
Nachricht von dem einzigen Falle des Gegenteils genommen, daß er nämlich
1726 sein dramatisches Idyll, Daphne, zu Breslau aufgeführt habe, und wie
viel Glaube dieser Nachricht beizumessen, wäre erst zu untersuchen«. Wir
kommen im Text darauf zurück.
> Den Druck der Kantaten von 1726, der eine wichtige Ausnahme bildet,
kennt Rochlitz nicht.
IL Kap.: Rochlitz' Astorga-Roman. 151
mied er)i, in London, Paris, dann wieder auf kurze Zeit in Wien,
nun in Prag; und jetzt verschwindet er unsem Augen gänzlich.
Wahrscheinlich, daß er in Böhmen, außer der romantisch schönen
Natur, damals das fand, was er zunächst bedurfte: friedliche, in
seiner Weise religiöse, in seiner Kunst ausgezeichnete Menschen;
und daß er darum hier, entweder in klösterlicher oder doch in einer,
dieser ähnlichen Stille und Zurückgezogenheit, seine Tage beschloß
— wann? das wissen wir nicht, sondern nur, daß es in mittlem
Mannesjahren geschähe. Sein Stabat Mater scheint er in London
geschrieben zu haben; wenigstens besaß dort von lange her die
Academy of an cientMusic die Abschrift desselben, von welcher
die andern ausgegangen sind v
»Nun, mein lieber Mann, wunderst Du Dich nicht, daß ich das
alles so genau habe merken und so präzis hinschreiben können?
Ja, ich würde mich auch wundern, wenn ich es mir von mir zuge-
schickt bekäme! Hernach würde ich den Kopf schütteln. Sie
hat mit dem Nachbar gepflügt, würde ich sagen; und sieh, da hätt'
ich eine — Unwahrheit gesagt. Nicht nur gepflügt nämlich, son-
dern auch gedüngt, eingesäet, geschnitten, und was weiß ich! Die
Mord-, die Liebesgeschichte, eine herzliche Zuneigung zu dem
Künstler, und eine sanfte Begier, jenes sein Werk zu hören — das
war mir von der Mitteilung des Schwagers geblieben: sonst nichts
Rechts, das ich wüßte. Da ich Dir doch aber etwas Rechts senden
wollte, ging ich den Schwager an, der mir denn einen Band seiner
»Studien« gab: das heißt, einen Quartanten, worein er, eigentlich
nur für sich selbst, aufzeichnet, was er gedacht, gefunden usw.,
und was er nicht vergessen will. Aus diesem ist alles abgeschrieben ;
und will ich wenigstens den Ruhm behaupten, ehrlich zu sein. —
Aber nun denke Dir, guter Albert, wie durch diese Vorbereitung
alle, gleich mir, brannten — die einen, das Werk so genau und
trefflich auszuführen, die andern, es so vollständig, so liebevoll
und so recht in seiner Art aufzunehmen, als irgend möglich. Und
wie gelang nun beides! . . . «
^ Emanuel hielt sich in späterer Zeit wiederholt in Sizilien auf, so 1708
und 1717/18. Vgl. S. 59f. u. 104ff.
152 2. Teil: Astorga-Literatur.
»Von dem Werke selbst, und auch von seinem tiefen, teilweise
frommentzQckenden Eindrucke zu sprechen, bin ich nicht im
Stande. Lebenslang werde ich beides nicht vergessen, tausendmal
mit gerührter Freude daran denken; namentlich an das köstliche
Terzett:
O quam tristis et afflicta
Fuit mater benedicta —
Lieber Albert: Dies ist mir so in die Seele gedrungen, hat mit dieser
sich so vereinigt, daß ich es, wie es ist, in mir trage, von innen
heraus höre, und (laß es mich gestehen) vor Schlafengehen gebetet
habe: Gib, daß ich es noch höre, wenn ich einst auf dem Sterbe-
lager ruhe! «
Als sich danach Therese in stofflich ziemlich femliegende Re-
flexionen verliert, wird sie durch ihre Schwester Ottilie im Schreiben
unterbrochen.
»Ach, da kommt Ottilie. Wie? was? ruft sie. Weißt Du denn,
daß es bald Mittag ist? Und Du sitzest noch auf derselben Stelle,
und glühest über und über? »Ich muß nur erst noch . . . « »Nichts
mußt Du noch! gar nichts! Es kommen der Tage mehrere! Ich
weiche nicht vom Fleck, bis Du geschlossen hast!« — Ich bitte:
es hilft nichts. Sie klingelt nach Licht. Nein, das ist zu arg: sie
nimmt mir das Schreibzeug weg. »Ottilie, höre doch: nur noch
einen vernünftigen Abschied!« — »Wer einen vernünftigen Brief
fünf Bogen lang erhält, der denkt sich den schon selbst dazu!« —
»Ottilie: nur noch eine Feder voll! im Ernste!« — »Nun da! aber
nicht mehr!« Was will ich machen? Für heute also nur das herz-
lichste Lebewohl, Du lieber, guter Albert! Tausend Grüße...
O weh: aus ist's! Also nur mit Bleifeder: Deine getreue Therese. «^
Das ist der Brief, der in der Astorga-Literatur eine Umwäl-
zung hervorrufen sollte. Wir können diese Wirkung heute kaum
mehr begreifen. Dem unbefangenen Betrachter stellt sich das
ganze Schriftstück als eine freie Phantasie dar, in der, nach
Art der historischen Romane, einige geschichtliche Momente
benutzt und durch hinzuerfundene ergänzt wurden. Keinem
II. Kap.: Rochlitz' Astorga-Roman. 153
Historiker würde es heute einfallen, das hier Vorgetragene als
Geschichte anzusehen und als solche weiterzuerzählen. Man
erkennt sofort, daß die geschichtlichen Partien in dem Briefe
infolge ihrer Verquickung mit der rein erfundenen Handlung der
Realität entbehren. Diese Partien sind einer fingierten Person
in den Mund gelegt, bzw. werden sie aus dem »Studienbande« einer
fingierten Person von einer anderen fingierten Person abgeschrieben,
— damit rücken sie aber aus der Sphäre des Tatsächlichen in die
der Phantasie.
Solch eine sachliche Beurteilung fanden diese Astorga-Notizen
bei Rochlitz' Zeitgenossen und unmittelbaren Nachfolgern, die sich
mit Musikgeschichte beschäftigten, jedoch nicht. Diese sahen sie
überhaupt nicht kritisch an, sondern ließen sich durch die Fülle
des interessanten Materials blenden, die hier vor ihnen ausge-
schüttet lag. Voller Freude, nun die bisher so spärlichen Nach-
richten über Astorgas Leben in ihren Schriften wesentlich bereichem
zu können, rissen sie Rochlitz' Astorga-Notizen aus dem Brief-
zusammenhang heraus und erzählten sie als Geschichte weiter.
Einem einzigen von ihnen, dem ersten, der die Notizen in weitere
Kreise trug, fiel wenigstens die ganz ungenügende Quellenangabe
der Neuigkeiten auf. Es war der Autor des Astorga-Aufsatzes in
Schillings »Universal-Lexikon der Tonkunst«, das 1835
in Stuttgart erschien i. Er macht am Ende seines Artikels Rochlitz
den Vorwurf, »uns bis jetzt noch die Quellen seiner Erzählung
schuldig geblieben « zu sein, »auf deren Bekanntmachung alles an-
kommt, um genauerer, oder wenigstens selbst eigener Prüfung
willen. Da diese Quellenangabe«, so fährt er fort, »vielleicht auch
manchem nähere Spuren für ein weiteres Forschen ausfindig machen
könnte, so wird der geehrte Erzähler sie uns gewiß nicht länger
vorenthalten, da er durch Anzeige derselben der guten Sache nützt,
sich selbst aber nicht schadet, sobald nur die noch unbekannten
^»Encyclopädie der gesamten musikalischen Wis-
senschaften oder Universal-Lexikon der Tonkunst«. Re-
dakteur: Dr. GustavSchilling. — Der Astorga- Artikel ist mit » + b.«
unterzeichnet. Möglicherweise könnte L. Hellst ab der Verfasser sein;
sein Name wird unter den Mitarbeitern des Lexikons genannt.
154 2. Teil: Astorga-Literatur.
Quellen nicht gar zu nichtig sind, was wir hier nicht im geringsten
zu befürchten haben. Da es aber überall Ungläubige gibt, so bitten
wir hier den Erzähler wiederholt um vollständige Anzeige dieser
Quellen, um der Sache und um des Erzählers willen, damit auch
die Gegner schweigen. «
Darauf hätte Rochlitz antworten müssen. Er hätte den Sach-
verhalt klarlegen und eingestehen müssen, daß zum mindesten ein
Teil seiner Neuigkeiten der authentischen Quellen entbehrte. Aber
er tat es nicht. Obwohl er das Erscheinen des Schillingschen Lexi-
kons um sieben Jahre überlebte, äußerte er sich nicht zu der
Angelegenheit. Weder in einer Zeitschrift noch im Texte seiner
»Sammlung vorzüglicher Gesangstücke «(1838 — 1840),indem
am besten dazu Gelegenheit gewesen wäre, weil er hier auch auf Astorgas
Werke zu sprechen kommt, hat Rochlitz ein Wort darüber verloren.
Was mag der Grund von Rochlitz' beharrlichem Schweigen ge-
wesen sein? Mit der Veröffentlichung seines Aistorga-Briefes hatte
er die Absicht verfolgt, für die fast ganz vergessenen Werke des
Meisters, namentlich für dessen Stabat Mater, Teilnahme zu er-
wecken. Und das gelang ihm wirklich bis zu einem gewissen Grade.
In seinen »Grundlinien zu einer Geschichte der Gesangs-
musik«!, in denen er auch der Kunst Astorgas einen Abschnitt
widmet, wirft er sich darob stolz in die Brust. Er mochte diesen
Erfolg wohl der Romantik der von ihm erzählten (.ebensgeschichte
zuschreiben. Erklärte er nun auch nur einzelne dieser Nach-
richten für unwahr, so entzog er damit der Person Astorgas die
Teilnahme der Menge; dann mußte auch ihr Interesse für den
Tondichter Astorga schwinden, und die kaum wiedererweckte
Pflege der Astorgaschen Musik drohte von neuem einzuschlafen.
Um das zu vermeiden, mochte Rochlitz strengstes Stillschweigen
über die ganze Angelegenheit bewahren.
Ehe wir auf die Einzelheiten seines Artikels eingehen, müssen
wir uns darüber unterrichten, wie es überhaupt mit der Zuverlässig-
keit Rochlitz' in historischen Dingen steht.
^ 1832 als vierter Band der Sammlung »Für Freunde der Ton-
kunst« erschienen. Die betreffende Stelle steht S. 134f. 3. Aufl. S. 87 f.
II. Kap.: Rochlitz' Astorga-Roman. 155
Johann Friedrich Rochlitz, der sein Leben (1769—1842)
fast ausschließlich in Leipzig verbrachte, war einer der angesehen-
sten Schriftsteller seiner Zeit. In weitesten Kreisen bereits als Ver-
fasser gefühlvoller Romane, Novellen und Gedichte bekannt, eroberte
er sich auch die Achtung der Musikkenner und -freunde als Musik-
schriftsteller. Wirkliche Verdienste hat sich Rochlitz als Mitbe-
gründer und (bis 1818!) Chefredakteur der bei Breitkopf und Härtel
herausgegebenen »Allgemeinen Musikalischen Zeitung« er-
worben. In dieser Zeitschrift wirkte er unermüdlich und tatkräftig
für die Einbürgerung der Werke Mozarts, Haydns und Beethovens.
Als einer der ersten Herausgeber von Musterbeispielen aus der
älteren Musikliteratur, — der schon genannten »Sammlung vor-
züglicher Gesangstücke« — , hat er Bahnbrechendes geleistet.
Das hohe Ansehen, das er als Herausgeber, Musikästhetiker und
Kritiker weit und breit genoß, veranlaßte seine Zeitgenossen, auch
die historischen Notizen, die Rochlitz gelegentlich publizierte, auf
Treu und Gla^iben hinzunehmen. Aber nicht lange nach seinem
Tode erschütterten die historischen Forschungen bedeutender Ge-
lehrten das Vertrauen der Nachwelt zum Historiker Rochlitz voll-
ständig.
Otto Jahn bewies in seinem »Mozart«, daß Rochlitz nicht nur
mehrere Tatsachen aus Mozarts Leben zu entstellen gewagt, nein
auch verschiedene von ihm erzählte Einzelheiten über Mozart frei
erfunden hatte ^. Von einem angeblich ganz von Mozart stammen-
den Briefe konnte Jahn nachweisen, daß ihn Rochlitz zum großen
Teile erdichtet hatte*. Auch Friedrich Chrysander ertappte
Rochlitz bei einer unrichtigen Darstellung historischer Tatsachen'
und fällte das treffende Urteil über ihn: »Rochlitz gehört zu den
Geistreichen, die geschichtliche Einsicht verachten und doch aller
Orten mit ihrem historischen Wissen großtun. « Nicht einmal auf
einem Gebiete, das er aufs bequemste hätte studieren können, be-
' »W. A. Mozart«, Erste Auflage Bd. II, 8.447, Bd. III, S.162f.
224 und 225; V i e r t e Auflage Bd. I, S. 660, 833 und 835.
» Erste Aufl. III, 496f., vierte Aufl. II, 123.
» »0. Fr. Händel« I, 12.
156 2. Teil: Astorga-Literatur,
müht sich Rochlitz, historisch Richtiges zu geben: Er entwirft
vom Leipziger Kirchenkultus vor und zu Bachs Zeit ein zum großen
Teile falsches Bild, wie Philipp Spitta in seinem »Johann Seba-
stian Bach« festgestellt hat^. Auch Moritz Fürstenau> erklärt
eine höchst zweifelhafte Angabe Rochlitz' durch dessen Neigung,
»einfache, durch die Verhältnisse herbeigeführte Tatsachen ins Ge-
wand romantischer Erzählung zu kleiden«. Auch er hatte ihn
erkannt.
Diese Beispiele genügen, um darzutun, daß Rochlitz kein gewissen-
hafter Historiker war. Wenn er aber selbst in rein geschichtlichen
Arbeiten nicht bei der Wahrheit blieb, — ist es dann ein Wunder,
daß er in einer phantastischen Plauderei, wie der Astorga-Brief ist,
seiner Einbildungskraft die Zügel schießen ließ?
Indirekt gesteht Rochlitz in seinem Aufsatz selbst, darin
fabuliert zu haben. Er läßt seinen Erzähler ausdrücklich be-
kennen, die Notizen der älteren Autoren, »so gut er kann, verbunden
und die Lücken nach Wahrscheinlichkeit ausgefüllt zu haben.«
Daraufhin und nach unsren obigen Darlegungen darf man aber
getrost allen Stoff, der sich allein bei Rochlitz, nicht aber bei den
älteren, von ihm mit Namen genannten Autoren (Hawkins und
Gerber) findet, als »Lückenausfüllung nach Wahrscheinlichkeit«
betrachten. Diesen »Füllstoff« entlehnte er zum Teil allgemein-
geschichtlichen Werken. Er läßt seinen Erzähler ja erklären, er
habe »einige Werke über Geschichte einzelner italienischer Staaten
und einige Sammlungen Flugschriften oder [!] Briefe aus jener Zeit«
benutzt. Wenn er aber hinzufügt, in diesen Werken werde »Astor-
gas, obgleich nur nebenbei, gedacht «, so erscheint das im Zusammen-
hang mit dem Ganzen wenig glaublich. Astorga wurde in jenen
Schriften höchst wahrscheinlich überhaupt nicht genannt; Rochlitz
stellte seine Person wohl nur mit poetischer Lizenz in die dort ge-
schilderten Verhältnisse hinein. Außer aus allgemeingeschichtlichen
Werken gewann Rochlitz das Material zu der »Lückenausfüllung «
^ Bd. II, S.55, Anm.
>»Zur Geschichte der Musik und des Theaters am
HofezuDresden«. Dresden, 1862. Bd. 11, S. 80f.
IL Kap.: Rochlitz' Astorga-Roman. 157
zum Teil durch Folgerungen, zum Teil schöpfte er es aus seiner
Phantasie 1.
Klar erkennbar hebt sich aus dem gesamten Material der Grund-
stock der authentischen Notizen aus Hawkins und Gerber heraus,
der Komplex jener Einzelheiten, die uns bereits bekannt waren.
Überall, wo er jenen bedeutenden Geschichtschreibern getreulich
Gefolgschaft leistete, blieb Rochlitz auf sicherm Boden. Doch
benutzte er die alten Nachrichten nicht vollständig. Einige Details,
die ihm offenbar nicht romantisch genug waren, ließ er weg. So
konnte er den augenleidenden, mit englischen Kaufleuten ver-
kehrenden Baron nicht gebrauchen. Auch daß der Schöpfer des
»Stabat Mater « eine Schäferoper komponiert hatte, paßte ihm nicht.
Er erwähnte dieses Werk lediglich in einer Anmerkung, in der er,
allerdings mit Recht, die Meldung von der Inszenierung der Oper
in Breslau durch den Meister selbst in Zweifel zog. In den »Grund-
linien« (l.Aufl. S. 136, 3. Aufl. S. 88) bezweifelt er aber über-
haupt, daß Astorga eine Pastoraloper geschrieben hat. Er sagt
dort: »Eine einzige kleine Schäferoper soll er geschrieben haben.
Die Quelle dieser Nachricht ist bedenklich. « Er hat sich also nicht
einmal die Mühe genommen, Walthers Lexikon einzusehen, auf das
Gerber bei der Dafnisnotiz ausdrücklich hinweist. Dort hätte er die
ganz »unbedenkliche« Quelle, Matthesons »Patriot« , zitiert gefunden.
In dem Briefe bot Rochlitz das Material von Hawkins und
Gerber, Kleinigkeiten abgerechnet, getreu. Gegen die einfachen
1 Vielleicht ließe sich über die Entstehung der Rochlitzschen Geschichten
aus dem literarischen Nachlaß Rochlitz' volles Licht gewinnen. Ich versuchte
deshalb, den Nachlaß ausfindig zu machen. Doch konnte ich seinen Verbleib
nur zum Teil ermitteln. Das einzige, was ich fand, ist ein Konvolut > R o c h -
litziana« auf der Leipziger Universitätsbibliothek. Es
enthält Zeitungen, Konzepte zu Vorträgen, sowie des Verfassers durchschossen
gebundenes Handexemplar der » r u n d 1 i n i e n «. In letzteres sind hand-
schriftliche Nachträge für eine neue Auflage des Buches — offenbar kurz vor
Rochlitz' Tode — eingezeichnet. In den Astorga betreffenden Partien findet
sich kein Wort der Ergänzung oder Erklärung. — Wegen Aufspürung des
übrigen Nachlasses wandte ich mich an Herrn Professor Dr. Wustmann,
Direktor der Stadtbibliothek zu Leipzig. Er wies mich an Herrn Justizrat
G e n 8 e 1 in Leipzig, einen besonderen Rochlitzkenner, der mir jedoch auch
nk:ht zu dem Gesuchten verhelfen konnte.
158 2. Teil: Astorga- Literatur.
logischen Folgerungen, die er aus diesen Nachrichten zog, ist nichts
einzuwenden. Daß Astorgas Vater ein sizilianischer Baron war, daß
Emanuei, als Edelmann, nicht öffentlich als Künstler auftrat, daß
er die Hauptstädte Europas besuchte, — all diese Einzelheiten
ergeben sich von selbst, sind richtige Schlüsse.
Dagegen aber nun die Menge willkürlicher Folgerungen und
Annahmen!
Verschiedene offenbare Unwahrheiten wurden als solche bereits
vom in den Anmerkungen gekennzeichnet. Unwahr ist, daß Astorga
in Palermo oder auf einem Gute seines Vaters geboren sei, unwahr
ist, daß sein Vater Jeronimo geheißen habe und als Empörer hin-
gerichtet worden sei. Unwahr sind alle aus diesen Annahmen ge-
folgerten Einzelheiten, die Todesart der Mutter, die Einziehung der
Güter, das Fernbleiben Emanuels von seinem Heimatland. Wie
kam aber der Verfasser zu jenen falschen Voraussetzungen?
Rochlitz sah in Astorga in erster Linie den Schöpfer des Stabat
Mater. Daß er gerade zur Komposition dieses Werkes besonders
berufen gewesen sei, wollte Rochlitz durch sein Märchen begründen.
Emanuei hatte in dem Werke die ergreifendsten Töne für die
Schmerzen der Maria auf Golgatha gefunden; dann mußte er, nach
Rochlitz' Vorstellung, selbst eine ähnlich grausige Szene wie Maria
erlebt haben. So erfand Rochlitz das Gräßliche: Den Sohn, der
den Vater auf dem Schafott und die Mutter »unter Zuckungen des
Entsetzens« enden sieht. In einem so schwer Geprüften mußten
wohl bei der Beschäftigung mit dem Stabat Mater-Text eigene Er-
innerungen wach werden, die ihn zur tiefsten und ergreifendsten
Vertonung des Gedichtes inspirierten. So hatte Rochlitz mühelos
ein erschütterndes Jugenderlebnis, eine Begründung für die Ver-
schollenheit des Familiennamens und eine gute Motivierung für
das Zustandekommen der besonders inhaltschweren Komposition
des Stabat Mater gefunden.
Rochlitz zog ferner den Schluß: Ein Mensch mit den geschilder-
ten Erfahrungen mußte ein ernster Charakter geworden sein, die
Saiten seiner Leier mußten für den Ausdruck der Trauer, nicht der
Lust gestimmt sein. Wie hätte also Emanuei eine leichte Schäfer-
oper komponieren sollen, — o nein ! Aber ein R e q u i e m , das mußte
II. Kap.: Rochlitz' Astorga-Roman. 159
etwas für ihn sein. Nun hatte zwar Rochlitz nirgends etwas über
ein Requiem von Astorga gelesen, geschweige eine Note von einem
solchen gesehen. Aber gleichwohl konnte Astorga doch eins ge-
schrieben haben, — und diese Möglichkeit genügte dem Dichter.
Die geheimnisvolle Bemerkung dazu, es wollen sich nur einzelne
Sätze davon vorfinden lassen, nahm sich im Ganzen vortrefflich
aus. Wer etwa nach jenen Fragmenten in Bibliotheken suchen
wollte, dessen Bemühen wäre vergeblich: Astorgas Requiem hat
nirgends als in Rochlitz' Phantasie existiert.
Wie steht es nun aber um die geschichtliche Untermalung,
die Rochlitz den von ihm erfundenen erschütternden Jugend-
erlebnissen Emanuels gab? Entspricht sie wenigstens den Tat-
sachen? Wir werden sehen. Liest man sie für sich durch, so fallen
einzelne Unklarheiten darin auf. So bleibt dunkel, welcher Art die
» Streitigkeiten « waren, in denen Astorgas Vater eine Rolle gespielt
haben soll. Nur verschwommen ist auch der Schauplatz der
Ereignisse angedeutet. Rochlitz spricht von Verwirrungen und
Kriegen um die Vereinigung Siziliens mit Neapel und läßt die
Streitigkeiten im Jahre 1701 mit einer Katastrophe »in Neapel und
Sizilien« enden. Mit der Jahreszahl ist ein fester Punkt gegeben.
Durchforscht man die Geschichte der Mittelmeerstaaten dieses
Jahres, so läßt sich lediglich in Neapel ein Konflikt mit blutigem
Ausgang nachweisen. Daß Rochlitz zunächst diesen allein im
Sinne hatte, dafür spricht seine plötzliche Erwähnung einer Ver-
schwörung, von der vorher ganz und gar nicht die Rede war.
Er hatte zweifellos in einem Werke über neapolitanische Geschichte
nachgelesen 1 und darin die Macchia- Verschwörung, die im Jahre
1701 in Neapel angestiftet und gesprengt wurde (wir kommen im
IV. Kapitel darauf zurück), für seine Zwecke brauchbar gefunden.
Nun hatte er aber als Wohnsitz Emanuels bisher nur Sizilien genannt ;
er mußte also eine Verbindung herstellen. Er half sich sehr einfach,
indem er die »furchtbaren Szenen« der Verschwörung in Neapel
und in Sizilien sich abspielen ließ. Während des Schreibens be-
^ Verschiedene Werke können in Betracht kommen. Eins mit Wahr-
scheinlichkeit als seine Quelle zu nennen, ist jedoch nicht mögUch, da Rochlitz
alle entlehnten Züge bis zur Unkenntlichkeit verwischt hat.
160 2. Teil: Astorga-Literatur.
festigte sich in ihm der Glaube, daß Sizilien der Ort jener Szenen
gewesen sei, und gegen Ende seiner Notizen sagt er, Emanuel habe
auf seinen Reisen allein sein Vaterland, »für ihn den Schauplatz
des Entsetzens«, vermieden. Damit bezeichnet er, die frühere Un-
bestimmtheit aufgebend, Sizilien als den Ort, wo die Opfer jener
Verschwörung fielen. In Sizilien kam es aber, wie vom nachge-
wiesen wurde, im Jahre 1701 zu keinerlei blutigen Auftritten.
Wieder müssen wir Rochlitz durch die Hintertüre der poetischen
Lizenz hinausschlüpfen lassen.
Schwerlich dürfte zu entscheiden sein, wie Rochlitz dazu kam,
Emanuels Vater den Namen Jeronimo beizulegen. Der Name
Girolamo oder Jeronimo, — beides italienische Formen für den
lateinischen Hieronymus — , kommt bei den Italienern häufig
vor. Rochlitz konnte ihn also ganz willkürlich gewählt haben.
Vielleicht hatte er aber auch den Vornamen einer der Männer, die
er in der Geschichte der Macchia- Verschwörung erwähnt gefunden,
herausgegriffen. In der Tat kommt ein Girolamo Capece, Mar-
chese di Rofrano,in allen ausführlicheren Beschreibungen jener
Verschwörung vor. Natürlich wäre die Entlehnung des Vornamens
von dorther nicht minder willkürlich. Gleichwohl sollte diese Mög-
lichkeit spätere Astorgabiographen auf eine falsche Bahn lenken,
die in ein völlig fremdes Gebiet hinüberleitete.
Wir wenden uns nun jenen Notizen zu, die sich zwar nicht
durch Widerspruch mit authentischen Meldungen als bestimmt un-
wahr kennzeichnen, die aber, weil sie bei dem Fabulisten Rochlitz
zuerst erscheinen, zum mindesten verdächtig sind.
Da ist die Nachricht von dem Eingreifen der Fürstin Ursini
in die Jugendentwicklung Emanuels. Schon im ersten Teile wiesen
wir sie als unglaubwürdig ab. Auf welchem Wege gelangte aber
Rochlitz zu dieser Annahme? Wohl auf dem folgenden: Er wollte
den Ursprung des Namens »Astorga« erklären. Die von Hawkins
und dann von Gerber gegebene Erklärung nach der spanischen Stadt
genügte ihm nicht. Er brauchte irgend eine interessante Persön-
lichkeit am spanischen Hofe, die jene Namensverleihung veranlassen
mußte. In der Fürstin Ursini war sie leicht gefunden, in jener
weltberühmten geist- und energievollen Diplomatin, die länger als
IL Kap.: Rochlitz' Astorga- Roman. 161
ein Jahrzehnt den spanischen Hof zu beherrschen wußte. Durch
sie stellte Rochlitz mit einem geschickten Zuge die Verbindung
zwischen dem jungen sizilianischen Baron und der Stadt Astorga
in Spanien her. Er erklärte die Fürstin zu seiner Beschützerin und
ließ ihm durch sie ein Asyl im Kloster zu Astorga anweisen. Die
Titelverleihung ergab sich so aufs natürlichste, und der angeblich
bettelarme Edelmann konnte durch die einflußreiche Dame oben-
drein »eine jährliche Unterstützung« ausgewirkt erhalten, die ihm
ein standesgemäßes Leben ermöglichte. So war dem armen Bur-
schen doch geholfen.
Sodann die romantische Episode am Hofe zu Parma.
Selbst wenn Emanuel zu der von Rochlitz angegebenen Zeit in
Parma gewesen wäre,, wofür keinerlei Beleg vorhanden ist, selbst
wenn er sich mit einer Prinzessin bei Hofe in einen Liebeshandel
eingelassen hätte, — in keinem Falle war letzterer von der Art,
wie ihn Rochlitz charakterisiert. Denn die einzige Person, die
danach aus der herzoglichen Familie in Betracht kommen könnte,
war die Nichte und Stieftochter des Herzogs Franz, Elisabeth
F a r n e s e. Diese war aber damals erst elf Jahre alt i. Ein Verhältnis,
wi^ es Goethe im Tasso schildert, konnte also nicht bestehen. Aber
Rochlitz hat auch sicherlich nicht speziell diese Prinzessin gemeint.
Er dachte sich die typische Prinzessin, in die sich der Held der Ge-
schichte, wie üblich, zu verlieben hat. Er nennt ja keinen Namen
der Geliebten und deutet die Beziehungen nur allgemein und ver-
schwommen an. »Dies besondere Verhältnis«, sagt Rochlitz,
»geben uns, die seiner gedenken, . . . mehr zu erraten als daß sie es
darlegten. « Das kommt aber bei Rochlitz dem Bekenntnis gleich,
die ganze Episode »erraten«, d. h. erfunden, erdichtet zu haben.
Ein rührendes Liebesgeschichtchen durfte doch nicht fehlen,
wenn das Ganze fesseln sollte. Und Interesse für den Komponisten
zu erwecken, betrachtete ja Rochlitz als seine Hauptaufgabe. Des-
halb wählte er auch gerade Parma als Ort der Episode. Der Hof
der Farnese zu Parma war ob seines Glanzes Jahrhunderte hindurch
berühmt. Kein Kavalier versäumte ihn zu besuchen. Selbst der
^ Nach den Darlegungen von S t e c h o w. Vgl. S. 204 f.
Volkmann, Astorga. I. 11
162 2. Teil : Astorga-Literatur.
Doktor Faust im deutschen Puppenspiele mußte ein Abenteuer am
Hofe zu Parma erleben. Rochlitz wußte recht gut, daß Parma,
obwohl sein Glanz längst erloschen war, in der Vorstellung des Volkes
noch immer als Stadt der rauschenden Feste mit den interessantesten
Gästen galt. Deshalb ließ er Astorga in Parma seinen Liebestraum
träumen. Nähere Einzelheiten konnte Rochlitz über das Liebes-
verhältnis nicht angeben, ohne Gefahr zu laufen, in offenen Wider-
spruch zur Geschichte zu geraten. So empfahl er denn dem Leser,
sich die Einzelheiten nach dem Schema von Goethes Tasso selbst
auszumalen. Er half nur mit der Kolorierung nach, daß Emanuel,
den er ja zum »herzrührenden Tenor« gestempelt hatte, Kantaten
und Duette für seine »erlauchte Schülerin und sich selbst, — für
Sopran und Tenor a^ — komponiert habe. So erhielt die nach
Parma verpflanzte Tasso -Episode auch noch eine musikalische
Würze.
Schließlich noch ein Wort über Rochlitz' Äußerung, Astorga
habe »wahrscheinlich seine Tage in Böhmen beschlossen«. Hier
liegt lediglich eine freie Ergänzung der Notiz bei Hawkins und
Gerber vor, nach der Emanuel unter anderen Ländern auch Böh-
men besuchte. Wir wissen, daß Rochlitz' Ergänzung falsch ist.
Mit seiner Vermutung, daß Emanuel in einem Kloster starb, kann
er vielleicht das Richtige getroffen haben; nur lag dies Kloster
dann nicht in Böhmen, sondern im fernen Spanien.
Es ist eine unerfreuliche Aufgabe, das duftige Gebilde eines
Dichters zu zerpflücken und im einzelnen darzulegen, was daran
geschichtliche Tatsache und was freie poetische Zutat ist. Aber
als Historiker mußten wir im Vorliegenden diese Aufgabe lösen.
Anders ließ sich nicht beweisen, daß das, was Rochlitz außer dem
von Hawkins und Gerber Übernommenen mitteilt, unhistorisch
ist. Ein paar einfache Folgerungen Rochlitz' sind richtig und an-
nehmbar; — alle anderen, in so reicher Anzahl von ihm dai^ebotenen
^ Bis heute habe ich nicht ein einziges Duett für Sopran und Tenor von
Astorga nachweisen können.- Höchst wahrscheinlich kannte Rochlitz ebenso-
wenig solche. — Die Angabe in E i t n e r s Q.-L. (Artikel Astorga), das Duett
»Caro tu parti«inderDresdnerBibliothekseifür Sopran und
Tenor, beruht auf Irrtum. Es ist für Sopran und A 1 1.
1 1 L Kap. : Rochlitz' Schule. — Weitere Mythenbildung. 163
Neuigkeiten halten aber einer ernsten Kritik nicht stand. Die
Kenntnis von Astorgas Leben ist also durchRochlitz um
keinen nennenswerten Punkt bereichert worden. Wohl
hat Rochlitz aber eine Menge fremder, unwahrer Züge in das Bild
des Meisters eingefügt, — so viele, daß sie das ursprüngliche, echte,
fast unkenntlich machen.
Mit dem Dichter, welcher für seine Zwecke der Geschichte ent-
lehnte Gestalten umformt, ist über diese Behandlungsweise nicht
zu rechten. Er folgt anderen Gesetzen als der Geschichtschreiber.
Wenn sich aber, wie in unserm Falle, beider Gebiete aufs engste
berühren, ja teilweise ineinander übergehen, wenn die Gefahr von
Mißverständnissen nahe liegt, dann hat der Schriftsteller die Pflicht,
ausdrücklich zu bekennen, ob er als Dichter oder als Historiker
geschrieben hat. Das hat aber Rochlitz unterlassen, er hat es noch
unterlassen, als er sich bereits mißverstanden sah. Er trägt die
Hauptschuld daran, daß in der Astorga-Literatur der Folgezeit
Irrtum und Täuschung Platz griff.
m. Kapitel.
Rochlitz' Schule. — Weitere Mythenbildung«
Rochlitz' Astorga-Roman ist gewiß kein Werk von hervor-
ragenden poetischen Qualitäten. Aber in seinen Einzelheiten enthält
er mannigfache Keime zu dichterischer Weiterentwicklung. Es ist
deshalb kein Wunder, daß sich alsbald andere Dichter des Stoffes
bemächtigten und die von Rochlitz hingeworfenen Motive weiter
ausführten. Novellen, Epen und Dramen kamen auf diese Weise
zustande 1. Diese Werke näher zu betrachten, ist hier nicht der Ort.
^ Bisher sind mir folgende Titel von Astorga-Dichtungen bekannt ge-
MTorden:
S p i n d 1 e r , Emanuel d'Astorga. Novelle. (Vor 1840?).
Qünzburg, Joh. Franz: Der Baron d'Astorga. Novelle. »Der Wan-
derer«. 1841.
Polko, Elise: Ein unbekanntes Grab. Musikal. Märchen usw.
2. Reihe (1859).
11*
164 2. Teil: Astorga- Li teratur.
Hier soll nur das Weiterwirken von Kochlitz' Astorga- Roman in der
musikgeschichtlichen Literatur verfolgt werden.
Bereits im vorigen Kapitel erwähnten wir die früheste Wieder-
gabe der Notizen als historische Tatsachen in Schillings Lexikon.
Die vom Autor dieses Artikels an Rochlitz gerichtete Bitte um
Quellenangabe sollte überraschenderweise von anderer Seite schroffe
Zurückweisung erfahren. Der wackere Kämpe, der sich für Roch-
litz in die Schanze schlug, war SimonMolitor. Er veröffentlichte
einen Aufsatz:
»Bemerkungen zur Lebensgeschichte Emanuels, ge-
nannt der Baron von Astorga« in der Allgemeinen Musi-
kalischen Zeitung vom 13. und 20. März 1839 (41. Jhrgg., Nr. 11
und 12). Voller Entrüstung wendet er sich gegen den »Pyrrhonis-
mus (( des Anonymus im Schillingschen Lexikon, der am allerletzten
einer Autorität wie Rochlitz gegenüber am Platze sei. Was ein
Mann wie Rochlitz veröffentliche, das werde auch aus unanfecht-
P a s q u 6 , Ernst: Astorga. Romantische Oper in 3 Akten. Musik von
J. J. A b e r t. Aufgeführt 1866 in Stuttgart und 1870 in Wien.
Lingg, Hermann: Astorga. Epos. »Der Salon« Bd. III. (1868).
Wickenburg-Almäsy, Wilhelmine, Gräfin: Emanuel d' Astorga.
Erzählendes Gedicht. Heidelberg 1872.
Roquette, Otto: Astorga. Novelle. Westermanns Monatshefte 1874.
Leythäuser-Melano, Max: Astorga. Drama. 1875.
Eine Würdigung dieser Werke soll später an anderer Stelle gegeben werden.
Nur zu der historischen Vorbemerkung, die P a s q u 6 seinem Libretto bei-
gibt, muß schon hier ein Wort gesagt werden. P a s q u 6 nennt darin Rochlitz
als seine Hauptquelle und erklärt, er habe in der »Histoire de Sicile«
von Burigny (La Haye 1745, Bd. II, S. 424) verzeichnet gefunden, daß
»in den ersten Jahren des vorigen Jahrhunderts, unter dem Vizekönig
Marquis (Herzog) Carlos PhilippSpinola von Los B a 1 b a z e s ein
Aufstand in Sizilien stattgefunden habe, nach dessen Bewältigung Balbazes
einen der Haupträdelsführer, den Prinzen »de Paligonie« habe hin-
richten lassen«. Diese Notiz verschmolz Pasqu6 mit Rochlitz' Angaben über
den Tod von Emanuels Vater. — Burignys Nachricht, die natürlich mit
Astorga gar nichts zu tun hat, ist unwahr. DiBlasi (Storia cron. de'
Vicerö di Sicilia, Neue Ausg. 1842, S. 463) nennt denPrincipediPala-
g p n i a als treuen Begleiter des in Rede stehenden Vizekönigs, der 1707 — 1714
regierte. Die Herausgeber von d i B 1 a s i s Werk weisen die schändlichen Be-
schuldigungen, die Burigny gegen den Principe erhoben hat, energisch
zurück.
1 1 L Kap. : Rochlitz' Schule. -- Weitere Mythenbildung. 165
barer Quelle stammen. Man habe ihm einfach zu glauben. Es
gereicht der Redaktion der Allg. Mus. 2^itung zur hohen Ehre,
daß sie trotz ihrer freundschaftlichen Beziehungen zu dem früheren
Redakteur Rochlitz dem Artikel Molitors einen »Zusatz« anhängte, in
dem sie den Anonymus in Schillings Lexikon in Schutz nahm und
erklärte, dessen Bitte sei »gut und wohlgemeint«, und ihre baldige
Beantwortung sei im Interesse der Sache und des Erzählers er-
wünscht. Wir wissen, daß sie trotzdem nicht erfolgte.
Molitor rekapituliert alles von Rochlitz Gebotene und fügt etwas
ausführlichere, jedoch zum Teil irrtümliche ^ Notizen zur allge-
meinen Zeitgeschichte hinzu. Durch diese will er zeigen, daß sich
die Rochlitzschen Geschichten recht wohl so haben abspielen
können, wie sie aufgezeichnet stehen. Bei der Konstruktions-
weise der Rochlitzschen Notizen ist diese Absicht leicht durchführ-
bar. Ein Beweis für ihre Wahrheit wird dadurch natürlich nicht
erbracht.
Aber Molitor hat auch ein wirkliches Verdienst. Er ist der
erste, der auf die in Wien befindliche Partitur der Oper Dafni
von Astorga hinwies und ihren Titel genau angab. Allerdings
schmälerte er dieses Verdienst selbst wieder, indem er über die Her-
kunft der Partitur nur halben Aufschluß erteilte. Nur daß sie aus
der Sammlung »eines vornehmen österreichischen Herrn auf einem
seiner Schlösser in Mähren« stamme, verriet er. Warum sagte er
nicht den Namen dieses Herrn, den er doch zweifellos kannte?
Er hätte vielleicht volles Licht — das jetzt wohl kaum mehr zu er-
langen ist ^— in die Angelegenheit gebracht und uns viele vergebliche
Bemühungen erspart'. Während hier Molitor das Richtige ver-
schwieg, brachte er auf der anderen Seite Falsches zur Sache vor.
Er zog aus dem Partiturtitel den verfehlten Schluß, »Emanuel
habe die Oper Dafni für den Hof von Barcelona verfertigt, auch
^ Wenn Molitor Sizilien »1714 im Badener Frieden unter den Szepter
Österreichs « kommen läßt, verrät er, daß er sich über den Anfang der Herr-
schaft der Österreicher auf Sizilien arg täuschte und von der des Hauses Savoyen
(1713—1718) nichts wußte.
« Vgl. S. 63 und 91. — Der von Molitor genau genannte Titel der Oper
Dafni wird von seinen Nachschreibem alsbald wieder in Dafne umgewandelt.
166 2. Teil: Astorga-Literatur.
daselbst persönlich in die Szene gebracht«. Wir haben im IV. Ka-
pitel des ersten Teiles diese Annahme eingehend widerlegt.
Molitor hatte auch sonst bei eigenen Zutaten keine glückliche
Hand. Er stellte die Hypothese auf, Francesco Scarlatti könne
Emanuels »Lehrer in der Setzkunst « gewesen sein. Daß dieser An-
nahme jeder stichhaltige Grund fehlt, wurde vorn erwiesen (S. 48f).
Wenn Molitor aus Rochlitz' Chronologie herausrechnet, Astorga
müsse im Jahre 1720 zum zweiten Male nach Wien gekommen sein,
so gelangte er von willkürlichen Voraussetzungen zu einem höchst
zweifelhaften Resultat. Daß sich Astorga im Jahre 1712 in Wien auf-
gehalten hat, davon weiß Molitor nichts.
Hatte Rochlitz seine Astorga-Geschichten schlicht und naiv
erzählt, hatte sie der Anonymus in Schillings Lexikon mit einem
großen Fragezeichen versehen weitergegeben, so behandelte sie
Molitor mit vollem Ernst und Eifer als Ergebnisse wissenschaftlicher
Forschung und baute vertrauensvoll darauf weiter. So kam es,
daß er mit seinem Artikel gerade das Gegenteil von dem erreichte,
was er beabsichtigt hatte. Er wollte der Wahrheit dienen, aber er
bahnte den alten Irrtümern neue Wege und fügte neue Irrtümer
hinzu.
Nicht minder fest als Molitor war Wilhelm Heinrich Riehl
von der Wahrheit der Rochlitzschen Mitteilungen überzeugt. In
seinen
Musikalischen Charakterköpfen (L Band, Stuttgart 1853,
S. 16f.) widmete er Astorga einen Abschnitt. Darin erweist er sich
als getreuer Jünger Rochlitz', den er übrigens an Geschmack und
dichterischer Begabung weit übertrifft. Riehl hat Rochlitz' Er-
zählung modernisiert und künstlerisch auf eine höhere Stufe ge-
hoben. Man würde seinen Artikel für eine geistvolle Plauderei ohne
alle historischen Prätentionen halten, betonte nicht Riehl selbst
mit Nachdruck seinen Glauben an das, was er vorträgt. »Die
Kritik«, sagt er, »hat die Echtheit mancher der berührten Einzel-
züge aus Astorgas Lebensroman angezweifelt. Sie hat zu wenig
Prosa, zu wenig Philister darin gefunden, um den Stempel der
Glaubwürdigkeit wahrzunehmen. Die kargen Reste von Astorgas
Werken geben wenigstens insoweit Zeugnis für die Echtheit jener
1 1 1. Kap. : Rochlitz' Schule. — Weitere Mythenbildung. 167
Einzelzüge, als Sangesweisen und Harmonien überhaupt Zeugnis
geben können für Tatsachen des äußern Lebens«. Der sonst so
scharfsinnige Riehl merkte nicht, daß er hier, von Rochlitz ge-
täuscht, Ursache und Wirkung verwechselte, daß nicht Astorga
»aus seinem großen Schmerze seine kleinen Lieder« gemacht
hatte, sondern Rochlitz aus dessen Liedern die Mär von seinen
großen Schmerzen. Ohne es zu wollen, lieferte Riehl die Gegen-
probe für Rochlitz' biographische Konstruktion. Sogar mit Einzel-
heiten wartet er auf. Er sieht in Astorgas »Stabat Mater« bei der
Stelle »Pertransivit gladius « das Schwert, das »auf dem Richtplatze
durch die Seele des Jünglings gegangen war, als es seines Vaters
Leben mitten entzwei schnitt «, und meint, vielleicht habe Emanuel
»unbewußt die Geschichte seiner eigenen Qual hier in Noten gesetzt «.
Bei der dichterisch selbständigen Behandlungsweise, die Riehl dem
Stoffe angedeihen läßt, ist es um so mehr anzuerkennen, daß er
keinerlei neue, rein erfundene Motive in die Lebensgeschichte des
Meisters eingefügt hat. Diese strenge Bewahrung des Rochlitzschen
Materials zeigt, wie weit Riehl davon entfernt war, die Wahrheit
verletzen zu wollen, die er in Rochlitz' Mitteilungen zu besitzen
wähnte.
Riehl hat den Rochlitzschen Roman in geläuterter Form in
breite Schichten getragen. Noch weit größere Verbreitung ver-
schaffte ihm aber Franz Brendel in seiner
Geschichte der Musik (Leipzig 1852, S. 108f.). Obwohl er
als Historiker schreibt, nimmt er es mit der Wiedergabe des
Überkommenen doch nicht so genau, wie der poetische Plauderer
Riehl. Er nennt überraschenderweise als Ort der Hinrichtung
von Emanuels Vater Neapel. Damit gerät er aber in Wider-
spruch mit seinem Gewährsmann, der, wenn auch verschwommen
genug, Sizilien als Schauplatz andeutete. Brendel wollte gewiß
die Stelle berichtigen, weil sich in der italienischen Geschichte
anno 1701 nur in Neapel eine Verschwörung nachweisen ließ.
Auch wenn er Emanuels Vater in den »spanischen Erbfolgekrieg «
eingreifen ließ, spezialisierte er Rochlitz' Angaben in anfechtbarer
Weise. * Konsequenz bewies er insofern, als er Emanuel nicht sein
Vaterland Sizilien, wie Rochlitz gesagt hatte, sondern Neapel
168 2. Teil: Astorga-Literatur.
»lebenslang vermeiden« ließ. Diese Punkte ausgenommen, hielt
sich Brendel in der ersten Ausgabe seiner Musikgeschichte ge-
treu an Rochlitz. Von der zweiten Auflage an (1855, S. 102f.)
nahm er die Trugschlüsse Molitors in seinen Artikel auf und er-
gänzte ihn noch durch einige unwesentliche Bemerkungen. In
dieser Fassung erschien der Astorga-Roman in allen Auflagen der
Brendelschen Musikgeschichte; auch in dem Neudruck von Robert
Hövker (1903) ist sie unverändert geblieben.
In diese Gruppe muß auch Emil Naumann gerechnet werden,
der in seiner 1885 erschienenen Musikgeschichte bei Besprechung
Astorgas ziemlich getreu den Spuren Riehls folgte.
Zu Rochlitz' Trabanten zählen ferner verschiedene Lexiko-
graphen, welche seine Nachrichten in mehr oder weniger gekürzter
Form boten: So F. S. Gaßner (1849), Schladebach und Berns-
dorf (1855)2 und O. Paul (1870) in ihren »Lexika der Ton-
kunst«. Auch im Brockhausschen Konversationslexikon
wird Rochlitz' Roman von. der 8. bis zur 10. Auflage (1833—1851)
einfach wiederholt; desgleichen in der 1. Auflage von Meyers
Konversationslexikon (1857), sowie in der »Encyclopaedia
Britannica« (Ninth Edition, 1875)8.
In Rochlitz' Kreis gehören auch ein paar Notizen über Astorga,
die allerdings in erster Linie Werke des Meisters betreffen und
seine Lebensschicksale nur streifen. So berücksichtigt
August Kahlert in seiner Studie über »Die italienische
Oper in Breslau im Anfange des 18. Jahrhunderts^ auch
die Aufführung von Astorgas Daf ni in Breslau. Er weist auf deren
Erwähnung in Matthesons »Ehrenpforte« hin und erwähnt
^ S. 399 und 509. — In der Neubearbeitung des Werkes von Eugen
Schmitz (1908) ist der Roman fast vollständig gestrichen.
' Im ersten Nachtrag des Werkes (1865) ist Geburts- und Todesdatum
nach B e r m a n n (vgl. S. 170 f.) angegeben.
* Außer der oben genannten Auflage des Werkes konnte ich nur die
dritte (1797) einsehen, die noch keinen Artikel über Astorga enthält.
*SchIesischeProvinzialblätterBd. 105, S. 513—520 und
Bd. 106, S. 1—13. Erschienen 1837. Kahlerts Artikel wurde auch als Separat-
abdruck herausgegeben.
IIL Kap.: Rochlitz' Schule. — Weitere Mythenbildung. 169
das »noch existierende«^ Textbuch der Oper. Einige Notizen über
die Persönlichkeit Astorgas, die Kahlert nach Rochlitz gibt, sind
nicht ganz korrekt; doch wirkten sie in der Literatur nicht weiter.
Auch
Friedrich Chrysander gedenkt Astorgas. Im ersten Bande
seines »G. F. Händel« (1858, S. 350f.) kommt er bei der Würdigung
der Werke Agostino Steffanis auch auf ihn zu sprechen, weil
er, gleich jenem, ein bedeutendes Stabat Mater geschrieben hat.
Chrysander charakterisiert beide Werke treffend und fügt dann hin-
zu: »Für die schmerzvollen Akzente, mit denen uns Astorgas Stabat
Mater überrascht, suchen wir Erklärungen nicht im Texte oder
in kirchlichen Vorgängen, sondern in unglücklichen Schicksalen
seines eigenen Lebens«. Damit zieht auch Chrysander die Flagge
Rochlitz' auf. Desgleichen bekennt
C. H. Bitter in seiner »Studie zum Stabat Mater«
(Leipzig 1883, S. 67f.) seinen Glauben an die von Rochlitz er-
zählte Jugendgeschichte Astorgas.
An dieser Stelle sei auch der katalogische Hinweis auf die un-
gewöhnlich reiche Sammlung Astorgascher Werke erwähnt, die der
Abate Fortunato Santini in Rom besaß. Santini selbst hatte
1820 einen Katalog seiner musikalischen Schätze herausgegeben.
Diesen ließ Wladimir Stassoff, mit einer Ehileitung versehen,
1854 neu drucken. In dem Heftchen, das den Titel trägt: »L'abb6
Santini et sa collection musicale ä Rome« sind S. 41
folgende Werke Astorgas verzeichnet:
»Stabat Mater ä 4 avec quatuor. — Per pietä bei idol mio,
air avec instr. — 54 cantates pour sopr. avec piano. — 44 cantates
pour contralto avec piano. — 10 duos pour 2 sopranos. «
Die wertvolle Bibliothek Santinis, — und mit ihr wohl auch
jener reiche Bestand Astorgascher Werke — befindet sich heute
in der Bischöflichen Bibliothek zu Münster i. W.
Neben der Schule Rochlitz', die, wie wir sahen, bis auf unsre
Tage fortbestand, setzte im Jahre 1852 eine neue Richtung ein.
^ Wo? sagt Kahlert nicht. Gleichwohl gelang es uns, das Libretto zu
finden. Vgl. S. 62.
170 2. Teil: Astorga-Literatur.
Deren Vertreter wiederholten zwar auch die Rochlitzschen Mit-
teilungen, wie alle Astorga-Biographen seither, aber ihr Gründer
brachte so bedeutungsvolle neue Meldungen vor, daß das Material
in wichtigen Punkten modifiziert wurde. Dieser Schriftsteller war
Moriz B er mann, ein zu seiner Zeit hochgeschätzter Novellist,
der sich aber auch als Historiker versucht hat. Er begann im ge-
nannten Jahre die Herausgabe eines groß angelegten
Osterreichischen biographischen Lexikons, das jedoch
nicht über den Buchstaben A hinaus gedieh.^ Die Stellung seines
Namens im Alphabet verhalf also Astorga zu der Ehre, von Ber-
mann noch mit behandelt zu werden. Mit Staunen lesen wir, was
Bermann von ihm kündet: Emanuel sei am 11. Dezember 1681 zu
Palermo geboren und am 21. August 1736 in einem Kloster Böhmens
gestorben. Bis aufs Datum genau weiß Bermann die Dauer von
Astorgas Leben anzugeben. Woher stammt seine Weisheit? Er
verrät es nicht. Nun sind aber so detaillierte neu auftauchende
Zeitbestimmungen ohne Quellenangabe von vorn herein verdächtig.
Sie verlieren jede Glaubwürdigkeit, sobald sich ein Widerspruch
zwischen ihnen und solchen Nachrichten ergibt, die aus dokumen-
tarischer Quelle geflossen sind. Fassen wir zunächst das Geburts-
datum ins Auge. Aus Emanuels Taufzeugnis geht mit Sicherheit
hervor, daß er am 20. März 1680 geboren ist: Bermanns Angabe
von Astorgas Geburtstag ist also falsch. Wie kam er aber darauf?
Die Jahreszahl 1681 schrieb er den Adepten Rochlitz' nach. Ver-
gebens suchen wir jedoch nach Motiven, die ihn zur Wahl des von
ihm genannten Monats und Tages bewogen haben könnten. Nicht
einmal nach dem Namenstage Emanuels im Kalender ist das Datum
bestimmt. Wir können also nur annehmen, daß Bermann Monat
und Tag der Geburt hinschrieb, wie es ihm gerade in die Feder
kam. Dasselbe gilt auch von seiner Angabe des Todesdatums;
denn auch hier ist das Jahr falsch verzeichnet. Astorga verkaufte.
1 Nur drei Lieferungen (24 Bogen) sind von dem Werke erschienen. —
Da Exemplare des Bermannschen Lexikons zu den größten Seltenheiten ge-
hören — die Bibliotheken zu Wien, Berlin, Dresden besitzen es nicht — so
sei mitgeteilt, daß das einzige Exemplar, das ich entdecken konnte, sich in der
Bibliothek des böhmischen Landes-Museums zu Prag befindet.
IIL Kap. : Rochlitz^ Schule. — Weitere Mythenbildung. 171
wie die Akten beweisen, 1744 sein Landgut auf Sizilien, — er konnte
also nicht 1736 gestorben sein. Bermann gelangte wohl auf folgen-
dem Wege zu dieser Jahreszahl: Rochlitz sagt, Astorga sei »in
mittleren Mannesjahren a gestorben. Das heißt also, mit etwa
55 Jahren. Bermann zählte diese Summe flugs zu dem vermeint-
lichen Geburtsjahre 1681 hinzu, — und schon war das Todesjahr
1736 gewonnen. Daß das Todes datum aber einfach aus der Luft
gegriffen ist, dafür sprechen folgende Momente: Von jeher ist es
üblich gewesen, daß eine bis auf den Tag genaue Nachricht über das
Ableben eines Menschen nur in Verbindung mit einer genauen Orts-
angabe in den Akten gebucht wird. Nun weiß aber Bermann trotz
der genauen Zeitangabe den Ort nicht bestimmt anzugeben, son-
dern sagt nur (mit Rochlitz), Emanuel habe »in einem Kloster
Böhmens seine Tage beschlossen «. Hätten Bermann Urkunden vor-
gelegen, so hätte er ihnen auch entnommen, in welchem Kloster
Astorga gestorben sei. Mithin ist auch seine Angabe des Todes-
tages nicht aus dokumentarischer Quelle geschöpft; sie ist zweifellos
frei erfunden.
Aus Bermanns Ergänzungen ersieht man, daß es seine Absicht
war, allgemeine und unbestimmte Angaben zu vermeiden und mög-
lichst Detailliertes, Genaues zu bieten. Doch wird er diesem Pro-
gramm auch gelegentlich untreu. 'So läßt er bei der Erwähnung
des von Molitor »entdeckten« Lehrers Francesco Scarlatti den
Vornamen weg, auf den es doch gerade ankommt. Bermann sagt
sodann, es habe »nur des tüchtigen Meisters Caldara bedurft, um
Emanuel als Sänger und Komponist vollkommen zu machen.«
Einer solchen Nachricht Bermanns könnten wir — nach den obigen
Darlegungen — aber nur Glauben schenken, wenn wir Beweise
dafür dargereicht erhielten. Doch Bermann gibt keinen. Von der
Freundschaft zwischen Astorga und Caldara in späteren Jahren, die
sich aus Wiener Akten beweisen läßt, hat Bermann keine Ahnung.
— Bermanns Lust zu spezialisieren veranlaßte ihn auch, den
Namen jener »erlauchten Schülerin« zu ermitteln, mit der sich
Astorga in Parma in ein Liebesverhältnis eingelassen haben soll.
In der Geschichte der Farnese fand er als einzige Dame, die in Be-
tracht kommen konnte, die »reizende Nichte« des Herzogs Franz,
172 2. Teil: Astorga- Literatur.
ElisabethFarnese. Ohne weiter zu forschen, ob diese Prinzessin
auch wirklich in das von Rochlitz angedeutete Verhältnis passe,
erklärt er mit Bestimmtheit, für sie sei Emanuel in Leidenschaft
entbrannt. So gab er die schützende Allgemeinheit auf, die alle
Autoren vor ihm in diesem Punkte wohlweislich bewahrt hattea
— Wie er dazu kam, bei der Aufzählung der Werke Astorgas dem
Stabat Mater die sonst nirgends damit in Verbindung gebrachte
Jahreszahl »1719 « beizufügen, ist nicht zu enträtseln. Gewiß ist auch
dies eine seiner eigenmächtigen Spezialisierungen.
Ein Schriftsteller, der in einem geschichtlichen Artikel das über-
kommene Material aus seiner Phantasie ergänzen und spezialisieren
zu müssen glaubt, ist in der Geschichtschreibung fehl am Ort.
Bermann konnte drum nichts Besseres tun, als die Feder des Histo-
rikers wieder mit der des Novellisten zu vertauschen. Das von
ihm begonnene, aber wieder aufgegebene Unternehmen, ein um-
fassendes biographisches Lexikon des Kaisertums Oster-
reich zu schreiben, wurde später von
Constant von Wurzbach von neuem gewagt und glorreich
zu Ende geführt. Im ersten Teile seinfes vielbändigen Werkes (1866)
steht auch ein Artikel »Astorga«. Wurzbach hat darin aufs ge-
wissenhafteste alle Notizen über Astorga zusammengestellt, die er
erreichen konnte. Er selbst tritfdem Stoff nicht kritisch gegenüber.
Gerber, F6tis, Riehl, Bermann und die Biographie g^n^rale nennt
er als Quellen. Daß er auch Rochlitz' Artikel benutzte, geht aus
dem Wortlaut seiner Charakteristik der Kunst Astorgas hervor.
Als im Jahre 1860 die zweite Auflage der Biographie uni-
verselle des musiciens von F6tis erschien, war darin auch der
Artikel über Astorga bedeutend erweitert worden. Fast alle Un-
wahrheiten von Rochlitz bis auf Bermann präsentieren sich hier ver-
eint in französischer Übersetzung. Außerdem fügt F^tis noch ver-
schiedene eigene Irrtümer hinzu. So wiederholt er die in der ersten
Auflage seines Werkes geäußerte Ansicht, Astorgas Oper »Dafne«
sei in Wien zur Aufführung gelangt; er ändert jedoch die dort
genannte Jahreszahl 1726 in 1705 um. Ob ihn zur Wahl dieses
Jahres die alte Notiz veranlaßte, nach der sich Emanuel während
der letzten Tage Leopolds I. (1705) in Wien aufgehalten haben soll,
1 1 L Kap. : Rochlitz' Schule. — Weitere Mythenbildung. 173
ob andere Gründe^, läßt sich nicht entscheiden. Die in der ersten
Auflage nach Gerber ins Jahr 1753 gesetzte Aufführung des Stabat
Mater in Oxford wird in der zweiten — wohl nur infolge eines Ver-
sehens — ins Jahr 1713 gerückt. Auch eine kleine Kolorierung ge-
stattet sich F^tis. Er fügt bei der Erwähnung der großen Reisen
Emanuels nach dem Wiener Aufenthalt die Bemerkung ein, der
Künstler sei auch wieder nach Spanien gekommen, »oü il retrouva
la faveur de sa bienf aitrice «.
F^tis' irrtümliche Nachricht von einer Aufführung von Astorgas
Dafni (»Dafne«) in Wien 1705 ging später in das »Dictionnaire
des Optras« von F. Clement et P. Larousse (1881) sowie in das
»Opern-Handbuch« von Hugo Riemann (1886) über.
Ein kurzer Abriß von Astorgas Leben mit Berücksichtigung der
wichtigsten bisher genannten Details ist auch in Arrey von Dom-
mers Handbuch der Musikgeschichte (1868, S. 369) zu finden.
Während Dommer zur Beurteilung von Astorgas Kunst beachtens-
werte eigene Gedanken vorbringt, äußert er sich zu dessen Lebens-
geschichte nicht selbständig.
Wiederholungen des Stoffes von Brendel und Bermann bringen
auch Hermann Mendel im »Musikalischen Conversations-
Lexikon« (1870), August Reißmann im »Handlexikon der
Tonkunsta (1882) und Hugo Riemann in den ersten fünf Auf-
lagen seines »Musik-Lexikons« (1882 — 1900). In kurzem Auszug
erscheint der Stoff in Friedrich Bremers »Handlexikon der
Musik« (1882), wie auch in der Neuausgabe dieses Lexikons von
Bruno Schrader (1905). Die Bermannschen Nachrichten werden
auch berücksichtigt in Brockhaus' Kon versations- Lexikon von
der 11. Auflage an (1864) und in dem von Meyer von der 2. Auf-
lage an (1862). Zur Gruppe Bermann-F^tis gehören die Artikel
im »Nordisk Musik-Lexikon« von H. V. Schytte (1888), im
Tonkünstlerlexikon von Georg Eggeling (1899) und im
»Diccionario de la Müsica« von Luisa Lacäl (1899). Aus
^ Der Irrtum könnte auch auf einer Verwechslung von Venise mit Vienne
beruhen. Denn in Venedig vmrde 1705 ein Dafni, aber von Fr. Pollarolo
komponiert, gegeben (A 1 1 a c c i, Drammaturgia, 2. Aufl. S. 235).
174 2. Teil: Astorga- Literatur.
dieser Liste, die keineswegs Anspruch auf Vollständigkeit er-
heben will, ist bereits ersichtlich, welch große, nachhaltige Ver-
breitung die Nachrichten von Brendel, Bermann und F^tis fanden.
Tatsächlich ist die Fassung, die Astorgas Biographie durch jene
Autoren erhielt, noch heute die in den breitesten Schichten akzep-
tierte.
Die dritte Gruppe von Schriftstellern, die neben den Schulen
Rochlitz' und Bermanns, aber auf beiden fußend, die Kenntnis
Astorgas zu fördern suchte, beschäftigte sich vornehmlich mit der
Herkunft des Meisters. Das Problem, welcher Familie Emanuel
angehört, welchen Namen er vor der angeblichen Namensverleihung
nach der Stadt Astorga geführt habe, — dieses Problem harrte ja
noch immer der Lösung. Letztere herbeizuführen und möglichst
genaue Aufklärung über die ganze geheimnisvolle Affäre zu ge-
winnen, war das eifrige Bestreben der nun auftretenden Astorga-
Forscher.
An ihrer Spitze stand der in seinen Kreisen hochangesehene
böhmische Archäolog und Schriftsteller Ferdinand B. Mikowec.
Dieser Gelehrte gab seit 1851 zu Prag ein tschechisches »Belletri-
stisches Wochenblatt und Archiv für Zeitgeschichte« mit dem Titel
»Lumir« heraus. In dieser Zeitschrift veröffentlichte er am
3. Juli 1862 (S. 645) im »Vermischten « eine Notiz, die für die spätere
Astorga-Literatur große Bedeutung gewinnen sollte. Da sie bis
heute nur in mehr oder weniger gekürzter deutscher Übersetzung
wiedergegeben worden ist, sei sie hier im Urtext dargereicht i:
»3 cervence 1862.«
»K 2Eivotopisu slavn^ho Emanuele d' Astorga nalezl redaktor
Lumira v zdejSich neznäm^ch posud listinäch nova data a doufä
je pomoci pi'ätel sv^^ch doplniti. Prozatfm udäväme toliko, ze z
novi nalezen^ch listin vysvitä, ze Emanuel d' Astorga pochäzel z
Vlask^ho rodu kni2at a hrabat Capece, kterci mSli prädikät mar-
krabat z Rofrano. Rodina ta stäla v rozeprich a bojech v oboji
^ Unsre Voriage bildete das Exemplar des »L um fr«, das sich auf der
kgl. Universitätsbibliothek zu Prag befindet.
III. Kap. : Rochlitz' Schule. — Weitere Mythenbildung. 175
Sicilii pri domu Rakousk^m na ni posud upomfnä jmeno ulice ve
Vidni, V kter^ mSla paläc, tak zvan^ to »Rofranogäßchen a a Cape-
cov6 z Rofrano byli t^z pHbuzni s rodinami Öeskymi, ku pr. s
Kinslq^mi; zdä se, 2e jedna ze sester Emanuele d'Astorga byla
manielkou jednoho Kinsk^ho. ^ädäme pfätele na§e a laskav^
dalSi bädänf v matrikäch stävajicich i zrusen^ch klä§teru franti§-
känü a minoritu v &chäch, aby se konei^nS potvrdila nebo zamftla
povSst, ze slavny skladatel Vlask^ zemrel a pochovän v takov^m
klästefe V Öechäch.«
Das heißt in möglichst wörtlicher deutscher Übersetzung:
»a Juli 1862.«
» Zur Lebensbeschreit>ung des berühmten Emanuele d' Astorga fand
der Redakteur des Lumir in hiesigeh bisher unbekannten Urkunden
neue Daten und hofft sie mit Hilfe seiner Freunde zu ergänzen.
Einstweilen zeigen wir so viel an, daß aus den neu aufgefundenen
Urkunden hervorleuchtet, daß Emanuel d' Astorga von dem italie-
nischen Fürsten- und Grafengeschlecht Capece abstammte, welches
das Prädikat der Markgrafen von Rofrano führte. Diese Familie
stand in den Zwisten und Kämpfen beider Sizilien treu zum Hause
Osterreich, an sie erinnert bisher der Name einer Straße in Wien,
wo sie ihren Palast hatten, das sogenannte »Rofranogäßchen«;
und dieCapeces von Rofrano waren auch mit böhmischen Geschlech-
tern verwandt, z. B. mit den Kinskys; es scheint, daß eine der
Schwestern Emanuele d'Astorgas die Frau eines Kinsky war. Wir
ersuchen unsre Gönner und Freunde, in den Matrikeln der noch be-
stehenden und aufgehobenen böhmischen Franziskaner- und Mino-
ritenklöster weiter nachzuforschen, damit endlich die Sage be-
stätigt oder als unwahr verworfen wird, daß der berühmte italie-
nische Komponist in einem solchen böhmischen Kloster gestorben
sei und bestattet wurde. «
Wir haben es also hier mit einer Vornotiz zu tun, der ein
ausführlicherer, stofflich von anderer Seite noch vermehrter Auf-
satz folgen sollte. Natürlich sollten in diesem Artikel auch die
176 2. Teil : Astorga-Literatur.
D Urkunden« genau genannt werden, aus denen Mikowec seine
Neuigkeit geschöpft hatte. Aber das Mißgeschick ließ es nicht
dazu kommen. Noch war jene Notiz kein Vierteljahr in die
Öffentlichkeit gelangt, als ihr Verfasser, Mikowec, seinem Wirkungs-
kreise plötzlich durch den Tod entrissen wurde (22. September
1862). So blieb jener große Artikel ungeschrieben, und Mikowec
nahm das Geheimnis der neu aufgefundenen Urkunden mit ins
Grabi.
Wir müssen uns also Ursprung und Wesen seiner Notiz selbst
zu erklären suchen.
Fragen wir zunächst: läßt sich das, was Mikowec über die
Abstammung Emanuels mitteilt, mit den verbürgten Nachrichten
über diesen Punkt in Einklang bringen? Wir müssen mit »Neinc
antworten. Seine Neuigkeit steht in größtem Widerspruch dazu.
Die Quellen der von uns im ersten Teile gebotenen Details über
Emanuels Familie liegen offen zutage und sind unanfechtbar.
Mikowec' »Urkunden o sind bis heute verborgen geblieben. Sie
müssen trügerisch gewesen sein, bzw. muß Mikowec, mit falschen
Voraussetzungen an sie herantretend, falsche Schlüsse aus ihnen
gezogen haben.
Mikowec ging bei seinen Ermittlungen von den Details aus, die
Rochlitz über Astorgas Vater erzählt hatte; desselben Autors
Nachricht, Astorga habe sich auch in Böhmen aufgehalten und
sei dort wohl gestorben, benutzte er als weiterführendes Moment.
Gelang es ihm, in Böhmen in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts
ein Glied einer süditalienischen Adels-Familie nachzuweisen, die
in den Aufstand von 1701 verwickelt war, so konnte damit die
Lösung der Frage gefunden werden. Er unterrichtete sich also
über den Verlauf jener neapolitanischen Verschwörung und merkte
sich die Namen der daran beteiligten Nobili. Darauf sah er die
^ Es ist denkbar, daß sich Aufklärung über die ganze Angelegenheit aus
Aufzeichnungen im Nachlaß Mikowec' gewinnen läßt. Doch blieben meine
Bemühungen, diesen zu ermitteln, umsonst. Trotz der Unterstützung meh-
rerer Prager Gelehrten, der Herren Dr. Prusik, Ingenieur Fr. Khol,
Dr. Branberger, Schriftsteller A. Breska, sowie Professor Dr. J. VlS^ek,
konnte ich keine Spur des Nachlasses entdecken.
1 1 L Kap. : Rochlitz' Schule. — Weitere Mythenbüdung. 177
Literatur über den böhmischen Adel^ — solcher Art waren wohl
seine »Urkunden« — auf jene Namen hin durch. Und siehe da!
Wie dort unterm Jahre 1701, so fand er hier unterm Jahre 1721
einen Hieronymus (ital. Girolamo oder Jeronimo) Capece,
Marchese von Rofrano erwähnt. — Jeronimo? — Das war
doch der Name, den, laut Rochlitz, Astorgas Vater geführt
hatte! Mikowec hielt die Frage für gelöst. Da der 1701 erwähnte
Marchese — nach Mikowec' Ansicht — damals umgekommen war,
konnte der zwanzig Jahre später erscheinende Marchese des-
selben Namens nur dessen Sohn sein. In dem in Böhmen nach-
weisbaren Marchese Capece von Rofrano glaubte Mikowec
also jenen Nobile gefunden zu haben, der alsTondichter
das »Pseudonym« Emanuele d'Astorga führte. Aber Mi-
kowec' Rechnung war falsch. Denn der neapolitanische Mar-
chese kam in der Verschwörung von 1701 nicht um, und der böh-
mische ist identisch mit ihm.
Seine Annahme bis ins Detail bestimmt auszusprechen, zauderte
Mikowec noch. Die Forschungen seiner Freunde und auch seine eigenen
Studien sollten erst noch zwingende Beweise erbringen und das Mate-
rial bereichem, ehe er sich ausführlich über die Angelegenheit äußerte.
Vielleicht, daß Mikowec bei tieferem Eindringen in den Stoff
selbst erkannt hätte, wie sehr er in die Irre geraten war, vielleicht
auch, daß er noch ärgeren Täuschungen verfallen wäre; — sein
Jäher Tod verhinderte eins wie das andere. So kam es, daß die Notiz
des Lumir selbständige Bedeutung gewann, daß sie für sich
weiterwirkte. Letzteres wäre wohl nicht möglich gewesen, hätte
sich nicht ein Dolmetsch eingestellt, der die Notiz aus dem
Tschechischen ins Deutsche übertrug. Die Prager »Bohemia«
war dieser Dolmetsch. Sie brachte in ihrer »Lokal- und Provinzial-
chronik« vom Samstag, d. 5. Juli 1862, Mikowec' Meldung und
Bitte, ein wenig gekürzt, in ziemlich getreuer Übersetzung. Selb-
ständige Bemerkungen waren nicht hinzugefügt.
Ob Mikowec' Freunde seiner Aufforderung, in Klosterarchiven
nach dem Ausgang Astorgas zu forschen, gefolgt sind? Von Re-
1 Vgl. dazu S. 193, Anm. 3.
Volkmann, Astorga. I. 12
178 2. Teil : Astorga-Literatur.
sultaten ihrer Forschungen verlautet nirgends ein Wort. Dagegen
läßt sich eine andere Wirkung jener Notiz feststellen. Sie nährte
und förderte die in Prag entstehende Tradition, Astorga sei in Böh-
men gestorben. Diese Überlieferung ist nicht alt und authentisch.
Der gewissenhafte G. J. DlabacS erwähnt in seinem 1815 er-
schienenen »Allgemeinen historischen Künstlerlexikon für
Böhmen« diese Tradition, und überhaupt Astorga, noch mit keiner
Silbe. Zu Anfang des 19. Jahrhunderts bestand also in Prag noch
keine Tradition über Astorga. Sie stellte sich erst ein, als Rochlitz'
Nachfolger dessen Vermutung über Astorgas Ende in weiteste
Kreise getragen hatten. Durch die Erwähnung der Franziskaner^
und Minoritenklöster bei Mikowec gewann sie bereits bestimmteren
Inhalt. Heute weiß sie, wie ich selbst in Prag hörte, bereits zu
berichten, Astorga sei im Minoritenklöster von St. Jakob zu Prag
gestorben. Im Archiv von St. Jakob findet sich jedoch keinerlei
Notiz über den Meister i.
Mikowec' Notiz regte einen Wiener Schriftsteller, von dem wir
nur die Marke »E. K — n.« kennen, an, sich mit dem Stoffe zu be-
schäftigen. Er veröffentlichte am 19. Juli 1863 in den
Wiener »Recensionen und Mitteilungen über Theater
undMusik«(9. Jahrgang, Nr. 29 und 30) einen Artikel über »E m a -
nuel Baron d'Astorga«. Darin gab er einen Überblick über den
damaligen Stand der Kenntnis von Astorgas Leben und behandelte
besonders eingehend die »Entdeckung« Mikowec'. Um Beweise
für den Zusammenhang des Künstlers mit dem Markgrafenhause
bemühte er sich keineswegs. Mikowec' Meldung, daß er vorhanden
sei, genügte ihm vollkommen. Dagegen suchte er über die ver-
meintlichen Vorfahren Astorgas möglichst reichlich Auskunft zu
erteilen. Was er in Hoefers Biographie g^n^raleund Ersch
und Grubers Encyklopädie an interessanten Notizen über Glieder
des Hauses Capece fand, das zitierte er und zeigte damit, daß es
unter den Capeces manchen bedeutenden Menschen gegeben hat.
^ Ich bin dem Herrn Pfarrer von St. Jakob in Prag, D. Skuda,
sowie dem Herrn Bibliothekar auf dem Stifte Strahov zu Prag, C. Straka,
für ihre eingehenden — wenn auch erfolglos gebliebenen — Nachforschungen
nach Spuren Astorgas in den betr. Archiven zu lebhaftem Dank verpflichtet.
1 1 1. Kap, : Rochlitz^ Schule. — Weitere My thenbildung. 179
Was sodann speziell den vermeintlichen Vater Emanuels angeht,
so kam E. K — ^n. bei dessen Ermittlung zu denselben Resultaten
wie wir, als wir oben den bestimmten Kern von Mikowec' allgemein
gehaltener Mitteilung zu ergründen suchten. Auch er fand, daß
Mikowec nur jenen in die Verschwörung von 1701 verwickelten
neapolitanischen Marchese »Girolamo oder Jeronimo Capece« als
Vater Emanuels angesehen haben kann. Hatte aber Mikowec,
da ihm die Beweise nicht genügten, vermieden, seine Ansicht be-
stimmt auszusprechen, so trug sie Herr E. K — ^n. als erwiesene Tat-
sache vor. Er nannte jenen Marchese frischweg »den Vater
Astorgas «. Sodann verbindet er Rochlitz' Mordsgeschichte mit den
Einzelheiten, die er in Collettas »Geschichte des Königreichs
Neapel«^ über jenen Aufstand gefunden hatte. Ohne sich die
geringsten Skrupel zu machen, behauptet er, den älteren Quellen
über Astorga Rechnung tragend, der Aufstand habe in Sizilien
stattgefunden; — und doch schildert er lediglich den zu Neapel,
wie ihn Colletta schildert. Wenn Colletta jenen Marchese lediglich
unter den an der Verschwörung Beteiligten, nicht aber unter deren
Opfern erwähnt, so läßt E. K — n. ihn darin umkommen. Von
seinem Tode überzeugt, merkt er gar nicht, daß er ihn selbst
später als 1721 noch lebend erwähnt. Mikowec' Bemerkung über
die Rofrano-Gasse in Wien kommentierend, sagt er^, »Hieronymus
Capece, Graf von Rofrano« habe im Jahre 1721 den »roten Hof«
in Wien besessen. Daß jener neapolitanische Marchese und der
Besitzer des roten Hofes in Wien ein und dieselbe Person sein
könnten, auf diese Idee kam E. K — n. nicht.
Durch seine kritiklose Annahme und leichtfertige Ergänzung
der Mikowecschen Neuigkeiten hat E. K — ^n. wesentlich zur Trübung
der Geschichte von Emanuels Herkunft beigetragen. Die Irrtümer,
die ihm bei der Erweiterung und Rundung des älteren biographi-
schen Materials unterliefen, kommen dagegen kaum in Betracht.
E. K — ^n. fühlte selbst, daß einzelne Partien seiner Arbeit anfecht-
^ Dieses Werk gibt E. K— n als seine Quelle an. Vgl. dazu S. 184 Anm. 2
unsrer Schrift.
' Laut seiner Angabe folgte er » Hormayrs und Tschischkas Geschichten
von Wien*.
12*
180 2. Teil: Astorga- Literatur.
bar seien, und legte deshalb ein entschuldigendes Wort für seine
»flüchtigen, mangelhaften Berichte« ein. Er schloß mit der Er-
klärung, er wolle durch seinen Artikel zur Pflege der Musik Astorgas
und zu weiteren Forschungen über den »nur halb aus seinem ge-
heimnisvollen Dunkel erweckten Emanuel Capece« — so nennt
er Astorga — Anregung geben.
Erst fünfzehn Jahre nach dem Erscheinen des Artikels in den
»Wiener Rezensionen« fand sich ein Autor, der dessen Inhalt in
weitere Kreise trug.
H. M. Schiet t er er tat dies in der »November 1878« datierten
»Vorbemerkung« zu der von ihm besorgten Ausgabe des Klavieraus-
zuges von Astorgas »Stabat Mater« in der »Volksausgabe Breitkopf &
Härtel « (Nr. 59). Er bot das Material aus den »Rezensionen « etwas
gekürzt, fügte aber auch ein paar eigene Notizen hinzu. Während
Herr E. K — ^n. seine Geschichten mit gewinnender Bescheidenheit
erzählt hatte, trug sie Herr Schletterer, stolz auf sein Wissen, mit
hochtrabenden Worten vor. Er hält die »Entdeckungen « Mikowec'
und des Herrn »E. K — ^n. « für ziemlich selbstverständliche Ergeb-
nisse historischer Forschung und gibt seinem Befremden darüber
Ausdruck, daß Astorgas Abstammung »für lange Zeit unbekannt
blieb, obwohl die an ihn anknüpfenden Mitteilungen, auf historische
Tatsachen gründend, bei einiger Nachforschung aufzuhellen gewesen
wären. « Schletterer erkannte also nicht, daß jene »Mitteilungen «
erst spät entstandene Märchen waren. Er irrte, wenn er meinte,
sie gründeten auf historische Tatsachen.
Und was bot Schletterer Eigenes? Von seinen volltönigen
Paraphrasen bekannter Einzelheiten, z. B. der herzbewegenden
Schilderung der Vorgänge auf der Richtstätte des Vaters abgesehen,
sind es nur ein paar Notizen über Glieder der Familie Capece. So
erzählt er von einem General Capece -Galeota, der im 15. Jahr-
hundert den Anjous diente, und gibt einige Details über den schon
von E. K — ^n. genannten Capece, der den »roten Hof « in Wien besaß,
sowie über dessen Kinder^. Auch er merkt nichts von der Identität
^ Schletterer nennt keine Quellen. Wir können sie aber nachweisen. Die
Notiz über den General entnahm er der Encyklopaedie von E r s c h
und Gruber (15. Teil, Leipzig 1826, S. 115), die über die Wiener Capeces
1 1 1. Kap. : Rochlitz' Schule. — Weitere Mythenbildung. 18 1
des Wiener Capece mit dem neapolitanischen. Nur hinsichtlich des
Ortes, an dem Astorgas Vater sein blutiges Ende gefunden haben
soll, fielen ihm gewisse Widersprüche in seinen Quellen auf. Er
fügte kurzerhand zu der Ortsangabe »Neapel« ein »Palermo?« in
Klammern hinzu und ließ die Sache auf sich beruhen.
Schletterer hat durch seinen Artikel all die alten Astorgamärchen
wieder in Erinnerung gebracht und gleichzeitig auch den neuen
große Verbreitung verschafft. Gläubige Leser fand er ja allerwärts.
Was so mit dem Brusttone der Überzeugung als historische Tat-
sache vorgetragen wurde, wie seine Mitteilungen, daran wagte man
doch nicht zu zweifeln. Man akzeptierte also auch die Nachricht
von der Abstammung Emanuels vom Hause der Marchesi von
Rofrano und erzählte sie weiter. So blieben die beiden ganz frem-
den Elemente bis auf den heutigen Tag in der Astorga-Literatur
miteinander verschweißt: Der sizilianische Baron und Tondichter
mit der neapolitanischen Familie der Markgrafen Capece-Rofrano.
Schon diese Verbindung im allgemeinen weckt unser Interesse
für die Familie Capece-Rofrano und gibt Anlaß, uns eingehender
mit ihr zu beschäftigen. Aber wir sind genauere Mitteilungen über
den Marchese Hieronymus auch schuldig. Denn das, was wir oben
aus seiner Geschichte gegen seine Identifizierung mit Astorga, bzw.
mit Astorgas Vater vorgebracht haben, bedarf der Begründung und
Erklärung. Wir wollen also im nächsten Kapitel unter Benutzung
der besten Quellen ein Bild vom Leben jenes Marchese entwerfen
und zugleich mitteilen, was sich über seine nächsten Verwandten
aufspüren ließ. Diese rein historische Darlegung bildet zwar eine
Abschweifung von unserm Thema, ist aber zur Klärung der ganzen
Angelegenheit unerläßlich.
[Michael Ranffts] Genealogisch-historischem Archi-
var i u s (I. Bd., 3. Teil, 2. Aufl., Leipzig 1735, S. 173 und VII. Bd. 47. Teil,
1738, S. 577), bzw. dem ZedlerschenUniversal-Lexikon (Suppl.-
Bd. IV, Leipzig 1754, Artikel Capece), wo die Stellen aus dem »Archivarius«
abgedruckt sind.
182 2. Teil: Astorga- Literatur.
IV. Kapitel.
Girolamo und Giuseppe Capece.
Die Capeces waren eine alt eingesessene kampanisdie Familie.
Um 1040 soll sie von Sorrent nach Neapel verpflanzt worden sein^.
Verschiedene Seitenlinien, durch einen beigefügten Sondemamen
gekennzeichnet, lösten sich im Laufe der Jahrhunderte von dem
Hauptstamm ab, wie die der Capece -Latro, -Galeota, -Toma-
celli, -Minutoli. Mancher bedeutende Feldherr, Staatsmann,
Gelehrte und Dichter ging aus diesem weitverzweigten Geschlechte
hervor. Eine Aufzählung dieser Größen wäre hier nicht am
Platze 2, hier gilt es vielmehr die Capeces ins Auge zu fassen,
denen die Markgrafenwürde von Rof rano eignete.
Ziemlich spät taucht diese Würde in der Familie auf. D. Pietro
Capece, also ein Glied des Hauptstammes, in der zweiten Hälfte
des 17. Jahrhunderts nachweisbar, war der erste, der den Titel
Marchese di Rofrano führte«. Über diesen D. Pietro wissen wir
nur noch, daß er Da. Teresa Ceva Grimaldi zur Gattin hatte und
der Vater jener beiden Capeces war, mit denen wir uns im folgenden
beschäftigen werden.
Girolamo oder Jeronimo (Hieronymus) Capece war Pietros
ältester Sohn und mithin Erbe des Marchesetitels. Giuseppe, sein
jüngerer Bruder, mußte sich mit dem bloßen Namen Capece be-
gnügen. Die Familie war nicht reich; ihre Liegenschaften waren
unbedeutend. Daraus erklärt sich die Leichtigkeit, mit der sich der
Marchese Girolamo, dem Feudalrecht nach der alleinige Erbe
des väterlichen Besitzes, von der heimatlichen Scholle losriß, um
IQ. B. diCrollanza: Dizionario Storlco-Blasonico
delle Famiglie nobili e notabili italiane. Pisa 1886, 1, 221.
s Wer sich für sie interessiert, der findet Einzelheiten über sie in E r s c h
und G r u b e r 8 Encyklopaedie und in Hoefers Nouvelle Biographie uni-
verselle.
* Giuseppe Recchio: Notizie di Famiglie nobili ed illustri . . f di
Napoli. Napoil 1717. S. 64.
IV. Kap.: Girolamo und Giuseppe Capece. 183
sein Glück in politischen Umwälzungen zu erhaschen. Fürs erste
suchte er seine Finanzen durchs Spiel zu verbessern. Und mit
Erfolg. Dieses sein Handwerk, das ihn weit in der Welt umher-
führte, warf weit besseren Gewinn für ihn ab, als seine Güter^. In
Rom war er um die Jahrhundertwende als Spieler berüchtigt; er
soll dort lange Zeit ausschließlich vom Spiel gelebt haben'. Giro-
lamo hatte das seltene Geschick, im Spiel Gewonnenes festzuhalten.
Die bedeutenden Summen, die er in Neapel und Rom, in Frankreich
und England durch Karten und Würfel errafft hatte, legte er sofort
an sicheren Stellen zinsbar an>. So gründete er sich ein Vermögen.
Eine ganz andere Natur war sein Bruder Giuseppe. Als
Zweitgeborener war er — wie bei vornehmen italienischen Familien
üblich — dem geistlichen Stande geweiht worden^. Bis zu welchem
Range er es als Kleriker gebracht hat, ist nicht überliefert. Sein
für diesen Beruf ganz ungeeigneter Charakter trieb ihn bald aus
dieser Laufbahn heraus. Er war ehrgeizig, heftig, verwegen, toll-
kühn. Sein heißes, ungebändigtes Blut riß ihn eines Tages zum
Verbrechen hin.
Am 21. Februar 1694 entbrannte während der Aufführung von
Alessandro Scarlattis »Pirro e Demetrio«^ im Teatro S. Barto-
lomeo zu Neapel aus Eifersucht um eine Sängerin^ zwischen den
Nobili und Kaufleuten ein heftiger Streit. Giuseppe durchbohrte
im Jähzorn, »schnell wie der Blitz«, den jungen Kaufmann Pompeo
d'Anna mit einem Degenstich, dem der Jüngling alsbald erlag.
^ Marchese AngeloGranito, Principe di Belmonte: 3toriadella
congiura del Principe di Macchia e della occupazione fatta dalle
arml austriache del Regne di Napoli nel 1707. — Napoli 1861. Bd. I, S. 49.
• [Jer. du Perrier:] Histoire de la demiöre conjuration de Naples
en 1701. — A Paris 1706. — S. 15. — Der auf dem Titel nicht genannte Ver-
fasser nimmt in seiner Schilderung des Kampfes um Neapel entschieden fUr
die spanisch-bourbonische Macht und gegen die Anhänger Österreichs Partei.
Wir haben seine Angaben mit Vorsicht benutzt.
• Q r a n i 1 , a. a. O. II, 28.
^ PlacidoTroyll: Istoria generale del Reame di Napoli. Napoli
1752i Bd. V.Teil II, S.357.
» BenedettoCroce: I teatri di Napoli, Secolo XV— XVIII. Na-
poli 1891. S. ig8f.
• T r y 1 i , a. a. 0.
184 2. Teil: Astorga- Literatur.
Giuseppe flüchtete und irrte einige Monate in Italien umher; als er
in der Verkleidung als Bauer nach Neapel zurückkehren wollte,
wurde er verhaftet und in Longone gefangengesetzt. Er benutzte
die unfreiwillige Muße um — Deutsch zu lernen. Wieder freige-
lassen, fiel er als Kleriker der Geistlichkeit in die Hände, die ihn
noch längere Zeit in den erzbischöflichen Kerkern festhielt^.
Die so verschiedenen Charaktere der Brüder Capece stimmten
doch in einem Punkte überein: in der Lust, in ungewöhnlichen
Unternehmungen ihr Glück zu machen. Kein Wunder daher, daß,
als im Jahre 1701 zu Neapel eine Umsturzbewegung begann,
beide, jedoch in verschiedener, ihrem Naturell entsprechender Weise,
an dieser Bewegung teilnahmen : daß sich Giuseppe mit wildem Mute
in sie hineinwarf, Girolamo aber vorsichtig und schlau dazu Stellung
nahm, berechnend, wie er mit möglichst geringem Einsatz möglichst
hohen Gewinn dabei einheimsen könne.
Neapel stand seit Jahrhunderten unter spanischem Szepter. Als
nun mit Karl IL (1. November 1700) das letzte Glied der spanisch-
österreichischen Dynastie ins Grab gesunken war, ließ der Vize-
könig Medinaceli, der Bestimmung des verstorbenen Königs gemäß,
den Bourbonen Philipp als neuen Herrscher von Neapel ausrufen^.
Aber das entsprach keineswegs den Wünschen aller Neapolitaner.
Während sich das Volk gleichgültig verhielt, mißbilligte der größte
Teil des Adels diese Wendung aufs lebhafteste, weil er von früher
her gegen die Bourbonen eingenommen war. Vom Hause Oster-
reich, das ja ebenfalls Ansprüche auf Spanien und mithin auch auf
Neapel erhob, erhofften die neapolitanischen Nobili eine freiere
Regierungsform und mancherlei Vorteile für sich. Deshalb traten
sie auf die Seite Österreichs. Sie wurden in ihrer Haltung bestärkt,
als sie sahen, daß der Papst auf Betreiben der kaiserlichen Ge-
sandten die Bestätigung Philipps als König von Spanien ausstehen
ließ^. Als dann vollends die Kunde von dem siegreichen Vordringen
^ Granito, I, 41 und T r o y 1 i , a. a. O.
> Pietro Colletta: Storia del Reame di NapoH dal 1734 sino al
1825. Bd. I, Capolago 1834, S. 38f. — Deutsche Übersetzung des Werkes von
* A. L e b e r. 2. Aufl. Qrimma 1848, Bd. I, S. 36f.
» T r y 1 i , a. a. O. S. 356.
IV. Kap.: Girolamo und Giuseppe Capece. 185
der Österreicher unter Prinz Eugen in der Lombardei nach Süd-
italien gelangte, beschlossen die neapolitanischen Adligen^ entschei-
dende Schritte zur Vertreibung des bourbonischen und zur Ein-
führung des österreichischen Regiments in ihrer Stadt zu tun. D.
Giuseppe Capece, der ebensogut deutsch und französisch wie
italienisch sprach, wurde als geheimer Bevollmächtigter zum Kaiser
entsandt. Er teilte ihm mit, der neapolitanische Adel sei bereit,
einen Volksaufstand zu Gunsten des Kaisers zu erregen, wenn dieser
eilig Unterstützung an Truppen sende und die Selbständigkeit
Neapels sowie die Aufrechterhaltung der alten Privilegien gewähr-
leiste. Als König solle dann der österreichische Bewerber um den
spanischen Thron, Erzherzog Karl, ausgerufen werden. Nach Neapel
zurückgekehrt, konnte Giuseppe Capece seinen Freunden einen
glücklichen Abschluß der Verhandlungen melden. Wenn auch die
Unterstützung mit kaiserlichen Truppen auf sich warten ließ, so
erhielten die Verschworenen doch starken Rückhalt durch die kaiser-
lichen Würdenträger in Rom, die sich zum Teil persönlich nach
Neapel begaben, um die Sache zu fördern. So erschienen dort der
Sekretär der kaiserlichen Gesandtschaft in Rom, Baron Chassignet
<S a s s i n e t) und der kaiserliche Oberst Graf CarlodiSangro. Auch
D. Girolamo Capece, derMarchesedi Rofrano,' zeigte sich vor-
übergehend in Neapel. Er hatte in den kaiserlichen Truppen Dienste
genommen und war in der kürzesten Zeit bis zum Oberst vorgerückt.
Mitglieder des höchsten Adels von Neapel, wie Francesco Spi-
nelli, Herzog von Castelluccio, TiberioCaraffa, Fürst von Chiu-
sano, Bartolomeo Grimaldi, Herzog von Telese, schlössen sich
der Bewegung an, deren Führer der kühne und entschlossene D.
Gaetano Gambacorta, Fürst von Macchia wurde. Nach ihm
wird diese Verschwörung in der Geschichte als Macchia -Ver-
schwörung bezeichnet.
Der Plan der Verschworenen ging dahin, den Vizekönig zu er-
morden, die Kastelle der Stadt zu überrumpeln, die schwache spa-
nische Besatzung zu vertreiben und in der Stadt den Erzherzog
Karl als König von Neapel auszurufen. Am 6. Oktober 1701 sollte
losgeschlagen werden. Aber die Ausführung des Unternehmens
wurde plötzlich beschleunigt.. Briefe vom kaiserlichen Botschafter
186 2. Teil : Astorga-Literatur.
in Rom an einen der Verschworenen waren aufgefangen worden
und hatten dem Vizekönig das Dasein einer Verschwörung enthüllt.
Da ihm aber keine Angaben über deren Einzelheiten vorlagen,
suchte er unmittelbar drohenden Gefahren durch Änderung seiner
Lebensweise zu entgehen. Er befahl seinen Beamten und Truppen
wachsam zu sein und alle Verdächtigen auf der Stelle zu ver-
haften. Sollte also der Plan der Verschworenen nicht gänzlich
vereitelt werden, so mußte er sobald als irgend möglich zur Aus-
führung kommen. Schon am 23. September gab man das Zeichen
zum Aufstand. Aber gleich dessen Anfang mißglückte: denn der
Mordanschlag auf den Vizekönig wurde durch Verrat vereitelt. Das
Castel Nuovo, das die Verschworenen mühelos in ihre Gewalt zu
bekommen hofften, zeigte sich gut bewehrt, so daß ihr Angriff er-
folglos blieb. Doch jetzt gab es für die Verschworenen kein »Zurück a
mehr. Sie riefen Karl als König aus und pflanzten das österreichische
Banner auf. Während die Bilder Philipps zu Boden geworfen und
geschmäht wurden, richtete man solche von Karl auf und feierte
ihn mit begeisterten Worten. Dem aufgeregten Volke verhieß man
Straflosigkeit, Gnadenerweisungen und Vorrechte von selten des
neuen Herrschers. Die Verwirrung war bald allgemein und erreichte
ihr höchstes Maß, als der Pöbel zu morden und zu plündern anfing.
Ein Erlaß des Fürsten von Macchia tat diesem Unfug wohl Ein-
halt, verschlimmerte aber zugleich die Lage der Verschworenen,
weil darin allen Nobili, die noch einen Tag zögerten, sich der Partei
Karls anzuschließen, die Todesstrafe angedroht wurde. Durch diese
Härte wurde das Gegenteil von dem erreicht, was beabsichtigt
war: Manche stillen Förderer der Bewegung zogen die Hand von
ihr ab und bekannten sich offen als Anhänger der Bourbonen. Die
Verwegenen, die ihre ganze Existenz für das Unternehmen in die
Schanze geschlagen hatten, waren nicht allzu zahlreich. Sie be-
fanden sich in verzweifelter Lage. Der Vizekönig benutzte den ihm
günstigen Augenblick. Er ließ die Bemannung der gerade von Sizi-
lien her eingelaufenen spanischen Galeeren ausschiffen, vereinigte
sie mit seinen Truppen und schickte sie aus dem Castel Nuovo gegen
die Aufständischen vor. Diese wurden zurückgetrieben; in der
Gegend der Kirchen von Sta. Chiara und S. Lorenzo aber faßten sie
IV. Kap.: Girolamo und Giuseppe Capece. 187
Posto. Hier entspann sich ein hitziger Kampf. Der Turm von
Sta. Chiara, ein Hauptstützpunkt der Verschworenen, von dem die
kaiserliche Fahne wehte, fiel zuerst in die Hände der Spanier. Nun
blieb noch das Kloster von S. Lorenzo, in dem sich die Aufständi-
schen verbarrikadiert hatten. Die Spanier stürmten es^. Während
die Mehrzahl der Verschworenen das Kloster verteidigte, suchte
Giuseppe Capece seine besonders exponierte Stellung auf der
Freitreppe von S. Paolo, gegenüber von S. Lorenzo, zu behaupten'.
Aber die persönliche Tapferkeit vermochte auf die Dauer der Über-
macht der geschulten Truppen nicht standzuhalten. Die spanischen
Soldaten nahmen auch die letzten Hindemisse, und die Verschwo-
renen suchten ihr Heil in der Flucht. Die meisten wurden gefangen
genommen und in den. Kerker geworfen.
Giuseppe Capece entkam zunächst und verbarg sich in den
Felsenschluchten von Montevergine bei Avellino. Doch die Ver-
folger spürten ihn auf und schlössen ihn in einer Höhle ein. Er
pflanzte sein Schwert mit dem Griff vor sich in die Erde, faßte mit
der Rechten eine seiner Pistolen und rief den Häschern zu, lebendig
würden sie ihn nicht bekommen. Eine Gewehrsalve krachte, und
er stürzte in sein eigenes Schwert. Halbtot, erhielt er noch von
einem Pater des benachbarten Camaldolenserklosters dell' Incoro-
nata die Absolution. Die Schergen nahmen ihm sein Geld, 246 Doh-
len, eine goldene Uhr und einen Diamantring ab und schlugen ihm
den Kopf ab. Dieser wurde dann in einem eisernen Korb an einem
der Türme des Castel Nuovo zu Neapel aufgehängt'.
Am 3. Oktober wurde Strafgericht gehalten über die Empörer,
die man gefangen genommen hatte. Zuerst wurde der kaiserliche
Oberst Graf Carlo di Sangro auf dem Platze vor dem Castel
Nuovo enthauptet. Sein Kopf kam neben den Giuseppe! Capeces.
Dann wurden vier andere Verurteilte herbeigeschleift, die für den
Galgen bestimmt waren. Man las ihnen das Urteil vor, in dem ihre
Namen ausdrücklich genannt wurden. Sie hießen:
1 P e r r i e r , a. a. 0. S. 54f .
* Qranito, a.a.O. I, $.119.
* Ebenda, S. 153.
188 2. Teil : Astorga- Literatur.
Gioacchino del Rio,
Nicola Anastasio,
Nicola Rispolo, alias alimento schemidore (Fecht-
meister),
Giovflßit Bosco, alias abate Cazzillo.
»Sie sollen geschleift, gehangen, gevierteilt, und ihre Köpfe in
den eisernen Gitterkorb gehangen werden; alles, wie es Majestäts-
verbrechern ihres Schlages zukommt «i.
So schloß das Urteil. Die Vollstreckung folgte. Alle anderen
Neapolitaner, die bei der Empörung gefangen genommen worden
waren, — es waren mehr denn hundert — , wurden nach kürzerer
oder längerer Haft wieder freigelassen. Ihre Namen sind vollzählig
überliefert 2. Es ist keiner darunter, der uns interessieren könnte.
Was war aber aus Giuseppe Capeces älterem Bruder, dem Mar-
chese di Rofrano, geworden? Er befand sich keineswegs unter
den Hingerichteten. Heil und frei war er aus der Affäre hervorge-
gangen, — oder richtiger: er hatte sich von Anfang an in schützen-
der Entfernung von ihr gehalten. Beim Ausbruch der Empörung
stand er mit den kaiserlichen, für Neapel bestimmten Hilfstruppen
bei Cistema im Kirchenstaat. Dort wartete er die Nachrichten über
den Verlauf der Dinge ab. Alsbald erfuhr er, ,daß der Aufstand
mißglückt und niedergeworfen war; er hütete sich deshalb, die
Grenze des Königreichs zu überschreiten. Da aber in Neapel sein
Übergang in österreichische Dienste bekannt geworden war, ächtete
ihn die spanische Regierung und zog seine Güter ein^ Nachdem
somit alle Bande, die ihn an seine Vaterstadt geknüpft hatten,
zerrissen waren, suchte der Marchese seine Beziehungen zur öster-
reichischen Regierung um so inniger zu gestalten. Mit einigen
anderen Nobili von der kaiserlichen Partei begab er sich nach Wi en^.
Als Oberst der für Neapel bestimmt gewesenen — wenn auch
nicht ins Treffen gekommenen — Truppen hoffte er dort Beachtung
1 Ebenda, S. 156.
* Ebenda, Dokumenten-Anhang S. 129f.
s Ebenda, Dokumenten-Anhang, S. 49f .
* T r y 1 i , a. a. 0. 364.
IV. Kap.: Girolamo und Giuseppe Capece. 189
zu finden. Auch mußte ihm dort angerechnet werden, daß er der
Bruder jenes Capece war, der sein Leben so heldenhaft für die Sache
des Kaisers geopfert hatte. Und wirklich avancierte er in Wien in
kürzester Zeit. Zum Granden von Spanien ernannt, wurde er unter
anderen zum Begleiter des Erzherzogs Karl erwählt, als dieser im
Jahre 1704 nach Spanien gingi. Der Erzherzog, bzw. König Karl
konnte jedoch wenig Zuneigung zu dem Marchese fassen, da er ihm
zu unbescheiden und dünkelhaft war. Er sandte ihn deshalb bald
nach Wien zurück. Im Januar 1705 traf der Marchese bereits wieder
in der Kaiserstadt ein^. Trotz der Antipathien Karls gegen ihn
wußte sich der schlaue Neapolitaner am österreichischen Hofe zu
behaupten.
Die glänzenden Siege, welche die Österreicher in den ersten
Jahren des spanischen Erbfolgekrieges über ihre Gegner davon-
getragen hatten^, legten dem Wiener Kabinett den Gedanken nahe,
nun auch eine Expedition zur Eroberung von Neapel für Karl zu
veranlassen. Seit dem unglücklichen Aufstand von 1701 wußten
ja die Österreicher, daß sie dort auf einen gewissen Anhang rechnen
konnten. Als nach dem Siege des Prinzen Eugen bei Turin (1706)
die Franzosen aus Italien gänzlich hinausgedrängt worden waren,
war der rechte Zeitpunkt zur Ausführung jenes Planes gekommen.
Prinz Eugen sandte im Frühjahr 1707 ein Korps von 8000 Mann
unter Daun gegen Neapel. Rasch wurden Capua und Aversa ein-
genommen. Über diese Siege erschreckt, verzichtete die Stadt
Neapel auf jeden Widerstand und nahm die Kaiserlichen mit —
Jubel auf; auch die Kastelle ergaben sich in den nächsten Tagend.
Von Wien aus hatte man den Marchese di Rofrano nebst
einigen anderen neapolitanischen Nobili, die Interesse an der Ex^
pedition haben mußten, nach dem süditalienischen Kriegsschauplatze
^ Granito, a.a.O. II, 39.
» Wienerisches Diarium 1705, 3. Februar. Unter der Rubrik
»Ankunft deren hohen und niedrigen Stands- Personen < heißt es an letzter
Stelle: »Hr. Marches Roverano kombt auß Portugal!, log. im Gerstenbrandi-
schen Haus«. — Vgl. auch G r a n i t o a. a. O. II, 117.
* Näheres siehe S. 74.
« C 1 1 e 1 1 a , a. a. O. S. 44f., Lebers Übersetzung S. 45 f.
190 2. Teil: Astorga-Literatur.
entsandt. Der Marchese wird sich im Felde vorsichtig hinter der
Linie gehalten haben, denn er war kein Freund von Pulverdampf i.
Dagegen war er flugs bei der Hand, dem König Karl die frohe
Botschaft von dem glücklichen Ausgang der österreichischen Unter-
nehmung zu überbringen. Mit einem Huldigungsschreiben der Bürger-
schaft von Neapel reiste er am 9. Juli von dort ab und ging über
Genua nach Barcelona, wo er am 14. ankamt. Als solcher Bote
war dem König Karl selbst der Marchese willkommen, dem er sonst
wenig gewogen war. Freudig bewegt über seine guten Nachrichten,
belohnte er ihn mit dem Titel eines »Corriere maggiore « und verlieh
ihm das Amt des »Governatore generale delle poste in Italia«, des
Generalpostmeisters der österreichischen Posten in Italien, eine
Stellung, die ihm viele hundert Dukaten im Jahre einbrachte '.
So zog der Marchese den glänzendsten Gewinn aus den Unterneh-
mungen, bei denen er nichts geleistet hatte.
Am 15. August kehrte er mit einem huldvollen Antwortschreiben
des Königs an die Einwohnerschaft von Neapel dorthin zurück.
Im September ging der Marchese wieder ins Feld zu den Truppen,
die Gaeta, die letzte von den Spaniern gehaltene Festung der kam«-
panischen Küste, belagerten. Der Kommandant der österreichischen
Truppen hatte ihn von dem nahe bevorstehenden Fall des Platzes
unterrichtet und aufgefordert, dem Schauspiel der Übergabe beizu-
1 G r a n i 1 (a. a. O. I, 254) erzählt launig Über des Marchese Teilnahme
an der Schlacht bei Luzzara (15. August 1702): »An ein Spiel dieser
Art war der Marchese von Rofrano nicht gewöhnt. Er zog sich bei den ersten
Gewehrsalven in die Quartiere zurück mit der Entschuldigung, er habe das Fieber.
Deshalb antwortete der Kammerdiener eines andren Nobile, als er tags darauf
gefragt wurde, wo er während des Kampfes gewesen sei, er habe dem Marchese
beigestanden, der an derselben Krankheit gelitten habe, wie er.«
s Vgl. S. 163 und 232f. von D. Qio va mbatis t a Pujadies'
M e m r i a 1 e i s t o r i c o , in cui per modo di Qiomale si narrono li prin-
cipali avvenimenti succeduti per Tentrata deir Armi Austriache in questo
Regno di Napoli neU' anno 1707 fino a' quartier! d'Invemo presi dalle mede-
sime. ~ In Napoli . . , 1708. — Das Werk trägt die Widmung: Air Hlustris-
simo ed Eccellentissimo Big. 11 Signor D. Girolamo Capece, Marchese
di Rofrano, Signor del Busso etc., Qentilhuomo della Camera di S. M., Grande
di Spagna, Govemador Generale delle Poste d' Italia etc.
* G r a n i 1 , a. a. O. II, S. 183.
IV. Kap.: Girolamo und Giuseppe Capece. 191
wohnen. Der Marchese erschien im Lager in Gesellschaft eines D.
Gaetano Capece i. Wie dieser mit Girolamo verwandt war, ist
nicht überliefert'. Bis Gaeta gefallen war, blieb der iVlarchese bei
den Truppen. Dann kehrte er unter dem lustigen Hörnerschall
seiner Postillone^ mit der frohen Nachricht nach Neapel zurück,
und das Volk jubelte ihm zu, als ob er der Sieger wäre.
Während sich Girolamo seines unverdienten Glückes freute,
gedachte König Karl pietätvoll Giuseppe Capeces, der sich
vor sechs Jahren so heldenhaft für die Sache der Österreicher ge-
opfert hatte. Er befahl, in Neapel für ihn sowie für Carlo di Sangro,
der gleich ihm für Österreich gestorben war, eine Trauerfeier mit
größtem Pomp zu veranstalten*. In der mit Trauerschmuck ver-
sehenen Kapelle des Castel Nuovo wurde an den Särgen der Toten
ein feierliches Totenamt gesungen; am Abend des 20. Februar 1708
erfolgte die Überführung der Särge nach S. Domenico Maggiore.
Voraus marschierte ein Regiment Fußsoldaten, die zum Zeichen
der Trauer die Waffen umgekehrt trugen, unter Trauermusik. Dann
kamen zwanzig Dominikaner, dann allerhand Würdenträger. In
der Kirche von S. Domenico, die auch im Trauerschmuck prangte,
nahm die Feier ihr Ende. Hier wurden die Leichen der Edelleute in
den Kapellen ihrer Familien beigesetzt^.
Dem Marchese di Rofrano, der von Jugend auf gern unterwegs
war, mochte nichts willkommener sein, als sein Amt als Generai-
postmeister, das ihm zu häufigen Reisen Veranlassung gab. Natür-
lich reiste der hohe Staatsbeamte nicht ohne Komfort. Er besaß
einen prächtigen, mit blauem Samt ausgeschlagenen Wagen, der
vornehm genug war, um der Königin Elisabeth Christine, König
1 P u J a d i e s , a. a. O. S. 321.
* Wäre er ein Bruder Girolamos gewesen, so hätte das Pujadies wohl kaum
verschwiegen. — Auch ob der General der päpstlichen Galeeren Marc eile
Capece, den R e c c h i o (a. a. O., S. 64) 1717 als verstorben erwähnt, mit
dem Marchese näher verwandt war, erfahren wir nicht.
3 P u j a d i e s , a. a. O. S. 333.
* Ebenda S. 236ff.
» Granito, a. a. 0. II, 211f.
192 2. Teil: Astorga-Literatur.
Karls schöner Gemahlin, bei ihrem Einzug in Barcelona (1. Aug.
1708) als Staatskarosse zu dienend.
Solange sich Karl in Spanien aufhielt, erforderten die Verbin-
dungen zwischen dem Kaiserhofe zu Wien und dem Königshofe zu
Barcelona die besondere Aufmerksamkeit des Generalpostmeisters.
Deshalb war er viel zwischen diesen Städten unterwegs. Wichtige
Staatsmissionen übernahm er als »Corriere maggiore« selbst. In
letzterer Eigenschaft verließ er am 16. April 1711 Wien, um über
Mailand nach Barcelona zu eilen'. Es galt, den König Karl von
dem unmittelbar bevorstehenden Ableben seines Bruders, des
Kaisers Joseph I. zu unterrichten, das übrigens bereits am Tage
nach der Abreise des Marchese erfolgte.
Aus dem spanischen König Karl wurde nun der deutsche Kaiser
Karl, der Sechste seines Namens. Die neue Würde führte ihn in sein
Vaterland zurück. Noch ehe er aus Spanien schied, eilte ihm der
Marchese di Rofrano, zum »ersten Kammerherm seiner katholischen
Majestät« ernannt«, nach Wien voraus. Er traf dort am 19. Sep-
tember ein* ^
Am 22. Dezember wohnte der Marchese der Kaiserkrönung in
Frankfurt bei, von wo er am 18. Januar 1712 wieder nach Wien
^Johann Joachim Müller: Königlich Spanischer
Vermählungssaal, Frankfurt und Leipzig 1710. 2. Teil, S. 399. Es
heißt in der ausführlichen Schilderung des Einzuges: » Ihre Majestät die Kö-
nigin in einem kostbaren, mit blauem Sammet ausgezierten Wagen, dem Mar-
chese Rovrano gehörig, und mit einem Semmel-farbenen Zuge bespannt, da-
rinne die Gräfin von öttingen, als Obrlst-Hof meisterin, unten an saß «.
s Wienerisches Diarium, 1711, 16. April.
* Die Ernennung erfolgte bereits in Barcelona. Wienerisches
Diarium vom 19. September 171 1. — Auch J. Ehr. Zschackwitz
(» Leben und Taten Caroli VI. <, Frankfurt 1723, S. 699) nennt in der » Kammer-
herren-Ordnung 1712« den Marchese di Rofrano an erster Stelle.
«Wienerisches Diarium vom 19. September 171 1. — Dem-
nach erleidet die Angabe beiMarcusLandau (Geschichte Kaiser Karls VL
als König von Spanien, Stuttgart 1889, S. 674), Karl habe sich am 27. Septem-
ber 1711, »gefolgt vom Fürsten Liechtenstein, dem Grafen Ulefeld und dem
Marchese Rofrano« von Barcelona nach Italien eingeschifft, eine Ein-
schränkung.
IV. Kap.: Girolamo und Giuseppe Capece. 193
zurückkehrtet Da sich nach der Rijickkehr der Majestäten von
Barcelona alles höfische und politische Leben in Wien konzentrierte,
nahm auch der Marchese di Rofrano nun vorwiegend seinen Aufent-
halt in der Kaiserstadt. Von dort aus leitete er seine Amtsgeschäf te,
wofür die zahlreichen Meldungen an ihn einlaufender Kuriere in den
Wiener Diarien Zeugnis ablegen. Mehr und mehr lebte sich der
Marchese in Wien ein; um 1719 war er soweit zum Wiener geworden,
daß er sich mit Eifer an dem echt wienerischen Sommervergnügen
des »Kränzelschießens« beteiligte 2.
Nach einer leider ganz abrupten Nachricht ^ hat der Marchese
di Rofrano am 27. Februar 1721 das Incolatsrecht in Böhmen, —
bzw. in Mähren oder Schlesien erworben. Zweifellos hatte er in
einem dieser Länder eine Herrschaft gekauft. All unsre Bemühun-
gen, Näheres darüber zu ermitteln, blieben erfolglos.
Wenig später, am 10. Mai 1721, kaufte der Marchese den »freien
Rothenhof « in Wien, sowie daran grenzende ausgedehnte Garten-
gründe. 30 500 Gulden zahlte er für dieses Areal, das in der Gegend
der heutigen Josephstadt, am Glacis, lag. Hier ließ er einen
Palast mit Reitschule, Stall und Wagenremise erbauen. Johann
Bernhard Fischer von Erlach, der größte Baumeister seiner
Zeit, fertigte die Pläne dazu an, Johann Christian Neupauer
1 Wienerisches Diarium 1712, 18. Jänner.
'Wilhelm Kisch in seinem Werke »DiealtenStraßenund
Plätze Wiens« (Wien 1883) S. 281 gibt die Beschreibung eines solchen
» Kränzelschiefiens«, das am 11. August 1719 in der » F a v r i t a< stattfand.
Das Fest war vom Kaiser arrangiert. Der Hof, darunter auch der Marchese
di Rofrano, beteiligte sich lebhaft am Schießen. Kaiser Karl gewann die
zwei ersten Kränze. — Vgl. femer: Wienerisches Diarium 1720,
6. Juli.
* AntonSchimon: DerAdelvon Böhmen, Mähren und
Schlesien (Böhm. Leipa 1859). Auf S. 137 dieses Buches heißt es: » R f-
f r a n , Hieronym, Marchese, 27. Febr. 1721 Incolat.« — Diese Notiz wird
wörtlich wiederholt in dem Werke von A. Kräl von Dobrä Voda, das
den gleichen Titel trägt, wie Schimons Buch (Prag 1904). S. 216. — SoUte
M i k w e c' Astorga-Hypothese ihren Hauptstützpunkt etwa nur in Schimons
Nachricht besitzen (was zeitlich wohl möglich ist), so wäre es um so übler um
sie bestellt.
Volkmann, Astorga. I. 13
194 2. Teil: Astorga- Literatur.
führte den Bau aus. Bereits im Jahre 1722 wurde das edel-einfach
gehaltene Werk vollendet i.
Aber der Marchese sollte sich seines Palastes nicht lange er-
freuen. Im Frühjahr 1724 begab er sich nach Neapel, wohin ihm
seine Gemahlin im Juni nachfolgte. Konnte man unterm 13. Juni
noch von ihm berichten, daß er sich »immerzu bei vollkommener
Gesundheit befinde, indem ihm seines Vaterlandes Luft sehr wohl
anschlage «2, so mußte man kurz darauf seinen am 26. Juni 1724
erfolgten Tod melden ». Ein Schlaganfall hatte seinem Leben ein
Ziel gesetzt, einem Leben, dem das Glück gelacht hat, wie selten
einem. Ein gewiegter Diplomat war der Marchese gewesen, der
geschickt die Zeitverhältnisse auszunutzen und aus allen Situationen
für sich Vorteil zu ziehen verstand. Aus dem gering begüterten
Spieler war er ein steinreicher Mann, aus dem geächteten Über-
läufer ein einflußreicher Würdenträger geworden. Wirklich zu be-
wundern an ihm ist nur die Klugheit, mit der er sich trotz der
Neider, die gewiß auch ihm nicht fehlten, in seiner Staatsstellung bis
zu seinem Tode — also siebzehn Jahre lang — zu behaupten wußte.
Zwei Kinder des Marchese sind nachweisbar.
1 Die Einzelheiten über Rofranos Palast gebe ich nach Albert Ilgs
Werk über »Die Fischer von Erlach« L (Wien 1895) S.73Qf. —
Die an des Marchese Grundstück vorüberführende Straße — die heutige
Lerchenfelder Straße — wurde nach ihm » Rofrano-Gasse < genannt. Diese
Bezeichnung erhielt sich bis 1862. Laut Friedrich Umlaufts
» Namenbuch der Stadt Wien < (Wien 1895) S. 123.
« Wienerisches Diarium 1724. 8. Juli.
s Wienerisches Diarium 1724. 15. Juli. Hier heißt es: »Mit
denen jüngsten Italiänischen Briefen hat man vemohmen, was gestalten in
der Kaiserlich- und Königlichen Haupt-Stadt Neapel, Ihre Excellentz Herr
Hieronymus Prencipe Capicio, und Marches Rofrano, Ihrer Römisch-Kaiser-
lich- und Catholischen Majestät würcklich geheimer Raht, Mitglied des höchst
Spanischen Rahts, und Erb- Postmeister in Italien, den 26. abgewichenen Monats
Junii durch einen Schlag-Fluß dieses Zeitliche gesegnet habe «. — In [Mi-
chael Ranffts] Genealogisch-historischem Archi-
var i u s (I. Bd., 3. Teil, 2. Aufl. Uipzig 1735, S. 173) wird der 29. J u n i als
Todestag genannt, in Zedlers Universal-Lexikon (Suppl.-Bd. IV,
Leipzig 1754, Artikel Capece) der 29. J u 1 i. — 1 1 g (a. a. O. S. 731) nennt als
Todesjahr 1721.
IV. Kap.: Girolamo und Giuseppe Capece. 195
Sein einziger Sohn, Petrus Capece, Marchese von Rof rano,
wurde am 1. August 1713 in Modern bei Preßburg geboren i. Sein
Vorname dürfte nach dem seines Großvaters, Pietro, gewählt worden
sein. Kaum neunzehnjährig, im Oktober 1732, sank dieser hoffnungs-
volle Sproß des Markgrafenhauses ins Grab 2. Damit erloschen die
Marchf<ii di Rofrano im Mannesstamme.
Durch die Tochter des Marchese hat sich aber sein Blut bis auf
die Gegenwart vererbt.
Maria Theresia, Marquise von Rofrano wurde am 3. Juni
1712 geboren. Am 6. September 1734 fand ihre Vermählung mit
Leopold Ferdinand, Graf Kinsky statt». Der Graf, der 1713
bis 1760 lebte, war kaiserlicher geheimer Rat, Kämmerer und
Oberstlandjägermeister in Böhmen*. Seine Gattin Maria Theresia
beschenkte ihn mit vier Kindern. Ihres erstgeborenen Sohnes
Franz Ferdinand (1738—1806) Nachkommenschaft blüht noch
heute*.
Einige Zeit nachdem Maria Theresia ihren Gatten verloren
hatte, heiratete sie den Grafen Ludwig von Brechainville.
Dieser Graf war wegen seiner Tapferkeit von Daun zu dessen Flügel-
adjutanten ernannt worden, 1766 wurde er Generaladjutant des
Kaisers und Oberst, 1773 Generalmajor«. Seine letzte Beförderung
zum k. k. Feldmarschall-Leutnant erlebte seine Gemahlin nicht
mehr. Sie starb am 12. November 1778'.
Die Gräfin war nach ihres Bruders Tode die alleinige Erbin des
enormen Vermögens ihres Vaters geworden, und auch dessen
Palast war in ihren Besitz übergegangen. Sie bewohnte ihn nur
1 Wienerisches Diarium 1713. 11. August,
s [MichaelRanffts] Genealogisch-historischer Archivarius, a. a. O.,
— Desgl. Zedier, Universal-Lexikon a.a.O.
* Josef Envin Fol k mann: Die gefürstete Linie des Geschlechtes
Kinsky. Prag 1861. Stammtafel.
« Wurzbach, Lexikon, Bd. 11 8.282.
» 1. Stammtafel der Grafen Kinsky bei W u r z b a c h , a. a. 0., nach
S.304, und Taschenbuch der gräflichen Häuser 1909. S.447f.
• Wurzbach, Lexikon, Bd. 2, S. 126.
» Laut F 1 k m a n n , a. a. O. — A. 1 1 g (a. a. O. S. 731) nennt als
Geburtsjahr der Marquise 1715, als Todesjahr 1773.
13*
196 2. Teil: Astorga- Literatur.
während ihrer Ehe mit dem Grafen Kinsky; später vermietete sie
ihn. Im Jahre 1778 kaufte der Fürst Johann Adam Auers-
perg den Palast; im Besitz der fürstlich Auerspergschen Familie ist
er bis auf den heutigen Tag geblieben^. Jetzt gibt der Auersperg-
sche Palast allerdings keine rechte Vorstellung mehr davon, wie das
Gebäude zu den Zeiten der Rofranos aussah. Denn der einfach-
schöne Bau ist in neuerer Zeit durch eine Umgestaltung der Fassade
aller seiner Eigenart beraubt worden'.
Soviel über die Familie Capece-Rofrano. Selten findet sich
ein so gewaltiger Kontrast zwischen Menschennaturen, wie er zwi-
schen den markantesten Gliedern dieses Hauses, den Brüdern Giro-
lamo und Giuseppe zutage tritt. Hier der kleinmütige Streber, der
außer seinen Doblen im Spiel niemals im Leben etwas gewagt hat,
der nur erntet, was andere gesät haben, der ohne jede Mühe von
einem Erfolge zum andern schreitet; — und dort der kühne Heiß-
sporn, der fehlt und büßt und schließlich kämpfend untergeht.
Als ein Held, der seine Schuld voll gesühnt hat, steht Giuseppe
Capeceda, Girolamo aber als ein glatter Höfling, in dessen Lauf-
bahn nicht Tatkraft und Verdienst, sondern nur das Glück die
Entscheidung brachte.
Fragen wir schließlich, ob in der Geschichte des Hauses Capece-
Rofrano, in deren Darstellung wir kein für uns erreichbares De-
tail unberücksichtigt gelassen haben, irgend welche Anzeichen auf
einen, wenn auch noch so losen Zusammenhang dieses Hauses mit
dem des Tondichters d'Astorga hindeuten, — so müssen wir mit
»nein« antworten. Nicht die geringste Spur davon ist zu ent-
decken. Wenn die Annahme eines solchen Zusammenhanges nicht
bereits durch ihren Widerspruch mit den authentischen, von uns
dargebotenen Astorga- Nachrichten als falsch erwiesen wäre, so
verlöre sie schon angesichts der Geschichte des Hauses Capece-
Rofrano jeden Halt. Denn die Vorstellungen von den Personen,
» A. I lg, a.a.O. S.731.
« Ebenda, S. 735.
V. Kap. : Die Astorga-Literatur der jüngsten Zeit 197
den zeitlichen und örtlichen Verhältnissen, auf die Mikowec und
seine Schüler ihre Hypothesen gründeten, waren zum großen Teile
unrichtig; das lehrt ihr Vergleich mit den wirklichen Personen
und Zeit- und Ortsverhältnissen, welche die Geschichte zeigt. Bei
jenen »Entdeckern« wirkte die Hast, Aufschluß zu bringen, Un-
gründlichkeit der Forschung, Phantasie und Leichtgläubigkeit
zusammen, gänzlich fremde Dinge miteinander zu verbinden.
V. Kapitel
Die Astorga-Literatur der jüngsten Zeit.
Wir nehmen den mit Schluß des dritten Kapitels fallen gelassenen
Faden wieder auf und schauen zu, was außer dem bereits Bespro-
chenen noch über Astorga geschrieben worden ist. Damit treten
wir in die Periode des letzten Ausreifens der Astorgamärchen und der
ersten Ansätze zu einer kritischen Behandlungsweise des Stoffes ein.
Das Rätsel der Herkunft Astorgas glaubte man gelöst zu
haben. Noch schwebte aber geheimnisvolles Dunkel über seinem
Ende. Man hatte zwar Hermanns Angabe akzeptiert, Emanuel sei
1736 gestorben; aber den Ort seines Todes kannte man noch immer
nicht. Nur daß er in Böhmen, vielleicht in einem Franziskaner-
kloster, seine Tage beschlossen habe, besagten die letzten Ver-
öffentlichungen über den Meister. Da wurde eines Tages diese all-
gemeine Angabe durch die bestimmte ersetzt, Emanuel d' Astorga
sei auf dem fürstlich Lobkowitzschen Schlosse zu Raudnitz
in Böhmen gestorben.
Um volle Klarheit über Ursprung und Wesen dieser Nachricht
zu gewinnen, müssen wir weit ausholen.
Wo das anmutige nordböhmische Mittelgebirge seine letzten
Wellen gen Süden sendet, da liegt am Eibstrom das Städtchen
Raudnitz, überragt von dem malerisch auf hohem Felsen thronen-
den Schlosse der Fürsten Lobkowitz. Dieses Schloß, das heute
eine bedeutende Gemälde- und Waffensammlung sowie eine an
Handschriften und Inkunabeln reiche Bibliothek birgt, hat eine
198 2. Teil: Astorga-Literatur.
in mancher Hinsicht interessante Vergangenheit. Hier wurde der
berühmte »letzte römische Tribun« Cola di Rienzi von Kaiser
Karl IV. gefangen gehalten. Hier entfaltete sich im 16. Jahr-
hundert unter Wilhelm von Rosenberg aller Glanz, den die
Hofhaltung eines der reichsten und mächtigsten österreichischen
Feudalherren aufzuweisen vermochte. Der ritterliche Fürst Wenzel
Eusebius von Lobkowitz und sein Sohn Ferdinand August
ließen in den Jahren 1652 — 1684 das Schloß von Grund aus neu
bauen. Verschiedene italienische Baumeister, unter ihnen die her-
vorragenden Künstler Francesco Caratti und Antonio Porta,
schufen hier eines der edelsten Werke italienischen Barockstils in
Böhmen. Die einzelnen Entstehungsphasen dieses gewaltigen
Architekturdenkmals schildert Max Dvorak, der langjährige Ar-
chivar und Bibliothekar des Schlosses, eingehend in seiner 1873
in Prag erschienenen »Geschichte des Raudnitzer Schloss-
Baues«^. Auch die allgemeine Geschichte des Schlosses sowie der
Stadt Raudnitz wird in Dvoräks Schrift ziemlich ausführlich
mitgeteilt. Irgend ein Wort über einen Aufenthalt oder gar den
Tod Astorgas in Raudnitz kommt in dem gründlichen Werke nicht
vor.
Eine Besprechung dieser Dvoräkschen Schrift erschien in der
Wiener Abendpost vom 2. September 1873 (Nr. 202). Der
Referent wußte darin auch etwas Eigenes zur Geschichte des
Schlosses Raudnitz zum besten zu geben; er läßt sich folgender-
maßen vernehmen:
»Nach bestimmten Andeutungen, welche der der historischen
Forschung zu früh entrissene Ferdinand Mikowec im Archive
fand, endete Emanuel d'Astorga, eigentlich ein Marchese Capece da
Roffrano, sein Leben in der stillen Abgeschiedenheit des Asyls, das
ihm die ihm verwandte fürstliche Familie Lobkowitz im Raudnitzer
Schlosse eingeräumt, und nicht, wie es in den Biographien heißt,
in einem böhmischen Kloster.«
^ Das Werk ist gedacht als ein »Beitrag zur Geschichte der Preise«.
— Dieser Schrift sind unsre obigen historischen Notizen über das Schloß Raud-
nitz entnommen.
V. Kap.: Die Ast orga- Literatur der jüngsten Zeit. 199
Mit Überraschung hören wir den Referenten als Gewährsmann
für seine Mitteilung Mikowec nennen, jenen Prager Gelehrten^
mit dem wir uns schon eingehend beschäftigt haben. Nach dem
Passus in der »Abendpost« scheint es, als ob Mikowec' Forschungen
über den Ort, wo Astorga starb, doch noch ein Resultat gezeitigt
hätten. Aber es scheint nur so. Prüfen wir zunächst die Meldung
der »Abendpost«. Ihr Autor bekennt sich zu dem Glauben,
Emanuel sei ein Capece-Rofrano gewesen. Falsch ist sodann
die Angabe, die Marchesi Capece-Rofrano seien mit den Fürsten
Lobkowitz verwandt gewesen. Sie waren in Wirklichkeit mit
den Grafen Kinsky verschwägert, was auch Mikowec s. Zt. im
Lumir erwähnt hatte. Es liegt also hier eine Verwechslung der
beiden berühmten böhmischen Magnatengeschlechter vor. Nun
erklärt sich aber die Entstehung der ganzen Notiz: Mikowec hatte
kurz vor seinem Tode seinen Freunden und darunter auch dem
nachmaligen Referenten der »Wiener Abendpost« ein Schloß der
Grafen Kinsky genannt, auf dem Astorga, bzw. der Marchese
Capece Rofrano gestorben sein könne. Ein Jahrzehnt ging dar-
über hin. Der Referent hatte Schloß und Familie vergessen. Da
kam ihm Dvoräks Buch über das Raudnitzer Schloß in die Hände.
Bei der Beschäftigung mit diesem Stoffe mochte in ihm die Erinne-
rung an Mikowec' Mitteilung wiedererwachen, zugleich sich aber
der Irrtum einstellen, Mikowec habe damals Raudnitz und das
Haus Lobkowitz in Verbindung mit jenem Marchese genannt.
Derartige falsche Kombinationen laufen einem jeden, selbst dem
besten Gedächtnis gelegentlich einmal unter. In dieser Weise
modifiziert, wurde Mikowec' Konjektur in die Besprechung jenes
Buches eingefügt.
Wir hätten Grund genug, die Meldung der »Abendpost « als eitel
Verwechslung und Irrtum abzuweisen. Nur eins läßt uns noch
damit zaudern.
In der »Wiener Abendpost« ist doch ausdrücklich die Quelle
genannt, aus der Mikowec seine Nachricht geschöpft habe: er hat
jene »Andeutungen« im »Archiv« gefunden. In welchem Archiv?
Natürlich wird man zunächst annehmen, es sei das auf Schloß Raud-
nitz gemeint. Ich fragte deshalb bei Herrn Archivar Dvorak in
200 2. Teil: Astorga-Literatur.
Raudnitz an, ob sich im dortigen Schloßarchiv auf dieses Thema
bezügliche Urkunden vorfinden. Darauf erhielt ich (21. 2. 1906)
folgenden Bescheid: »Im Lobkowitzschen Archive zu Raudnitz ist
nicht die leiseste Andeutung vorhanden, nach welcher Astorga
(Marchese Capece da Rofrano) im Schlosse zu Raudnitz gewesen
und gestorben wäre.« Auch an das Stadtpfarramt zu Raudnitz
richtete ich eine derartige Anfrage. Herr Propst Vac. Kotreh
teilte mir daraufhin mit (15. 9. 1909), daß auch seine Nachfor-
schungen resultatlos geblieben sind^. v
In Raudnitzer Archiven ist also nichts zu unserm Thema zu
finden. Wir blicken noch einmal auf die Notiz in der »Abendpost «
und erkennen, wie mangelhaft darin die Quellenangabe eigentlich
ist. Ist hier überhaupt ein Schloß- oder Staatsarchiv oder eine
Zeitschrift »Archiv « gemeint? Beides kann sein. Während mir
Nachforschungen in böhmischen Urkundensammlungen zur
Zeit unmöglich waren, konnte ich eine große Anzahl literarische,
historische und geographische Zeitschriften mit dem Titel »Archiv«
durchsehen: Aber nirgends habe ich eine Erwähnung Astorgas, bzw.
eines Marchese Capece-Rofrano gefunden. Können wir auch nicht
beweisen, daß jene Quellenangabe eines bestimmten Hintergrundes
entbehrt, so macht es doch der Zusammenhang, in dem sie steht,
wahrscheinlich, daß sie lediglich eine passende Phrase des Refe-
renten ist.
Die »Quellenangabe« kann uns also nicht hindern, die Nach-
richt als unhaltbar abzuweisen. Wir müßten dies ja schon tun,
weil sie in Widerspruch mit der alten authentischen Nachricht
steht, daß Astorga in Spanien gestorben ist.
Die Neuigkeit der »Wiener Abendpost « über Astorgas Ende ging
einige Jahre später in die musikhistorische Fachliteratur über. Carl
Ferdinand Pohl, der verdienstvolle Haydnbiograph, führte sie
^ Der Herr Propst schrieb mir u. a.: »Ich habe genau alle Akte (Ein-
schreibungen) des hiesigen Sterbebuches vom Jahre 1735 — ^52 durchgelesen;
auch die Namenregister des Tauf- und Trauungsbuches aus jener Zeit durch-
gesehen (unter den Schlagworten: Astorga, Capece, Rofrano), allein keine ein-
zige Andeutung solchen Namens gefunden. Also wird der Gesuchte hier nicht
gestorben sein.«
V. Kap.: Die Astorga-Literatur der jüngsten Zeit. 201
dort ein. Er hatte für das große Musiklexikon von Grove den
Artikel »Astorga« übernommen und suchte alles, was er an neuen
Notizen über den Meister erreichen konnte, dafür zu verwerten.
Die Nachricht aus der »Abendpost « nahm er jedoch nicht ohne
weiteres auf. Er suchte der Sache zuvor auf den Grund zu gehen.
Wie ich in neuester Zeit, so bat auch er, und zwar am 15. März
1875 Herrn Archivar Dvofäk in Raudnitz um eine Bestätigung
der Nachricht aus dem Raudnitzer Schloßarchiv ^. Die Antwort
an ihn lautete, wie die an mich: In Raudnitz findet sich nichts über
Astorga.
Trotzdem nahm Pohl die Meldung aus der Abendpost in seinen
Artikel hinüber. Wenn sich noch eine Bestätigung in Raudnitz
finden sollte, so könne sie ja im Nachtrag des Lexikons angebracht
werden, so schrieb er (25. 5. 1875) an Archivar Dvorak. Pohl war
also trotz mangelnder Beweise von der Richtigkeit der Meldung
überzeugt. Gleichwohl wäre es unbedingt notwendig gewesen, bei
der Weitergabe der Nachricht deren Quelle genau zu nennen. Aber
als 1879 der Astorga-Artikel im ersten Bande von
George Groves Dictionary of Music and Musicians er-
schien, war dort die »Abendpost « mit keinem Worte erwähnt.
Der Passus über Astorgas Ausgang aber lautete:
»[Astorga] retired to Bohemia, where he died August 21, 1736,
not however, as usually stated, in a monastery, but in the Schloß
Raudnitz, wich had been given up to him by its owner, the prince
of Lobkowitz, and the archives of which contain evidence
of the fact.ff
Die letzte Behauptung widerspricht geradezu dem Sachverhalt.
Das lehrt ein Blick auf unsre obigen Darlegungen. Pohls Autorität
verschaffte der irrtümlichen Angabe über Astorgas Ausgang Kredit
1 Herr Archivar Dvorak ließ mich Einsicht in Pohls Briefe nehmen.
Auf diese Weise gewann ich erst ein klares Bild von der Entstehung der betr.
Notiz bei Grove. — Leider erreicht der innige Dank, den ich an dieser Stelle
Herrn Archivar D v o r i^ k für seine Unterstützung meiner Forschungen zum
Ausdruck bringe, den ausgezeichneten Gelehrten nicht mehr. Er ist am
9. Januar 1909 in Raudnitz gestorben.
r •
202 2. Teil: Astorga-Literatur.
bei späteren Autoren; die Verschweigung seiner Quelle versenkte
diese jedoch bis auf den heutigen Tag in Vergessenheit i.
Neben den anfechtbaren Passus tritt in Pohls Artikel aber
auch eine dankenswerte Bereicherung des biographischen Materials.
Es ist der Hinweis auf Astorgas Anwesenheit zu Wien 1712 bei
der Taufe von Caldaras Tochter. War auch die Notiz nicht unzwei-
deutig, so bot Pohl doch in der Quellenangabe die Handhabe, den
Sachverhalt genau zu ermitteln; — wir haben im ersten Teile (S. 79f.)
das Resultat unsrer darauf bezüglichen Nachforschungen gebucht.
Im übrigen enthält Pohls Artikel eine vorzügliche Zusammen-
fassung aller wichtigeren bis dahin bekannt gewordenen Wahrheiten
und Unwahrheiten über Astorga. F6tis (Biogr. univ., 2. Aufl.)
war sefne Hauptquelle.
In der zweiten Auflage von Groves Dictionary, die Füller
Maitland besorgt hat (1904), sind nur einige kleine Änderungen
angebracht worden, die jedoch keine Verbesserungen bedeuten '.
Hier repräsentiert der Artikel die Phase der reichsten Entwicklung
der Astorga-Märchen. Wir haben ihn deshalb dem Lebensabri&
in der Einleitung unsrer Schrift zu Grunde gelegt. Blättert man
zurück und liest ihn jetzt, so wird man leicht Herkunft und Wert
seiner Einzelheiten erkennen.
Die Astorga-Neuigkeiten, die mit dem ersten Erscheinen von
Groves Lexikon der Öffentlichkeit übergeben wurden, gingen keines-
wegs so schnell in andere musikhistorische Werke über, als man bei
ihrer Wichtigkeit hätte erwarten können. Erst im Jahre 1900
wurden sie gleichzeitig in einem englischen und einem deutschen
Werke wiedergegeben: in Theodore Bakers »Biographical Dic-
tionary of Musicians« und in Adolf Prosniz' »Compendium
der Musikgeschichte«. Sodann brachte sie Füller Maitland
^ Auch ich habe erst durch Pohls Briefe an Dvorak von der Notiz in der
^Wiener Abendpost« Kenntnis erhalten.
• Erwähnenswert ist nur die folgende: Nach Stechow, bez. Eitner
(vgl. S. 204 ff.) wird statt Palermo nun Neapel als Geburtsort Astoigas
genannt. Die Angabe, der junge Emanuel habe in Palermo bei Francesco
S c a r 1 a 1 1 i Unterricht genossen, wird jedoch unverändert wiederholt.
Füller Maitland bezweifelt aber auch einzelne Astorga-Nachrichten.
V. Kap.: Die Astorga- Literatur der jüngsten Zeit. 203
in der »Oxford History of Musik« (IV, 61; 1902). Hugo Rie-
mann berücksichtigte sie in seinem »Musik -Lexikon« von der
6. Auflage an (1905).
In diese Gruppe gehört auch das Astorga-Kapitel in dem Buche
»Carlos d'Austria y Elisabeth de Brunswich-Wolfenbüttel a
Barcelona y Girona — Karl von Österreich und Elisabeth von
Braunschweig-Wolfenbüttel in Barcelona und Girona« von Joseph
Rafel Carreras y Bulbena (Barcelona 1902). Dieses Werk
bildet eine bibliographische Merkwürdigkeit. Es ist in katalonischer
Sprache geschrieben, enthält aber, Seite für Seite gegenübergedruckt,
die deutsche Übersetzung. Der Wert des Buches liegt in der Fülle
des Neuen, das Carreras aus spanischen Archiven über das glänzende
Hof leben mitteilt, das sich während der kurzen Regierungszeit Karls
des Sechsten als König von Spanien in Barcelona entfaltete. Das
ziemlich umfangreiche Kapitel über Astorga stützt sich in seinem
biographischen Teil auf Pohl-Groves Artikel. Der Verfasser
bietet jedoch auch zwei neue Einzelheiten: erstlich, der junge Ema-
nuel sei in Astorga im Dominikanerkloster S. Dictinio unter-
gebracht worden (S. 160), und zweitens, er sei von Portugal mit
einer Empfehlung an den portugiesischen Gesandten versehen, an
den Hof Karls nach Barcelona gekommen (S. 162). Diese Angaben
stammen jedoch nicht aus dokumentarischen Quellen, sondern sind
lediglich Schlußfolgerungen des Verfassers aus der Skizze bei Grove.
Das bestätigte mir auf meine Anfrage hin Herr Carreras selbst.
In die Schilderung von Astorgas Leben fügte der Verfasser auch
einige Mitteilungen über Text und Musik der Oper Dafni ein. Er
stützte sich dabei nur auf die Fragmente, die Molitor aus der
Wiener Partitur für seine »Belegstücke zur Musikgeschichte« hatte
kopieren lassen i. Diese Sätze sind im Anhang seines Buches —
1 Kaiserl. Hofbibliothek zu Wien Nr. 19 239. (»Molitors Materialien zur
Musikgeschichte«). Wie eine Notiz auf der Wiener Abschrift verrät, geschah
die Auswahl der Sätze auf Anregung Kiesewetters, der sie als die schönsten
des Werkes bezeichnet hatte. Es sind: 1. Introduzione. — 2. Scena I. Arie:
»Jo t'invoco«. — 3. Scena V. Arie: »Vo cercando«, Recitatlv: »Dov* 6 U mio
ben< und Arie: »Ma la mia bella«. — 4. Scena VI. Recitativ: »Si vide mai« und
Arie: »Son amante«.
204 2. Teil : Astorga-Literatur.
leider mit zahlreichen Druckfehlern — publiziert. Natürlich ver-
mitteln diese Bruchstücke auch nur fragmentarische Begriffe von
der poetischen und musikalischen Beschaffenheit der Oper.
Es lag nicht in Carreras* Absicht, zur Geschichte Astorgas kritisch
Stellung zu nehmen. Er wollte nur den für ihn erreichbaren Stoff
Geschichts- und Kunstfreunden zugänglich machen.
Wir kommen zu der letzten Gruppe der Astorga-Literatur.
Auch hier herrschen die überkommenen Märchen vor; aber mitten
unter ihnen erscheinen die ersten Ansätze zu einer kritischen
Behandlungsweise des Stoffes. Das gibt diesen Arbeiten ihr be-
sonderes Gepräge. Nur zwei Artikel gehören zu dieser Gruppe: ein
umfangreicher, bedeutender, und ein kleiner, skizzenhafter, der
wenig mehr als ein kurzer Auszug aus dem ersten ist Jener
große Aufsatz ist betitelt »Emanuele d'Astorga« und stammt
aus der Feder von
W. Stechow. Er eröffnet den 16. Jahrgang von Chrysanders
»Allgemeiner Musikalischer Zeitung« (Nr. 1 und 2; 5. und
12. Januar 1881). Dieser Artikel ist die Arbeit eines ebenso fleißigen
wie geschickten Schriftstellers. Er ist wertvoll durch die reichlichen
Hinweise auf einschlägige Literatur, die auch uns in mancher Be-
ziehung genützt haben. Flott und geistreich geschrieben, bietet
er eine fesselnde Lektüre. Das Wesentlichste des Artikels sind
die eigentlich kritischen Partien. In diesen beschäftigt sich der
Verfasser speziell mit den Rochlitzschen Nachrichten. Stechow ist
der erste, der in diesem Zusammenhang mit Nachdruck erklärt,
daß alles, was Rochlitz über Geschichte geschrieben hat, durchaus
unzuverlässig ist. Damit stellt er also auch die Astorga-Nach-
richten Rochlitz' im ganzen als problematisch hin. Aber obschon
er bei der Prüfung und Glossierung der Rochlitzschen Details
keinerlei Rücksicht nimmt, — er überschüttet den alten Plauderer
wiederholt mit Spott und Hohn — , gelingt es ihm doch nur in
einem einzigen Punkte, Rochlitz eine wirkliche Fälschung nach-
zuweisen: in seiner Darstellung von Astorgas Liebesverhältnis
mit der Prinzessin von Parma. Er zeigt, daß die Einzelheiten,
die Rochlitz über dieses Verhältnis erzählt, mit den historischen
Tatsachen unvereinbar sind (vgl. S. 161). Hier offenbare sich
V. Kap.: Die Astorga- Literatur der jüngsten Zeit. 205
Rochlitz' »frevelhafte Ignoranz« in historischen Dingen und trete
die. Unwahrheit seiner Meldung offen zutage. Der Beweis gelingt
Stechow vollkommen. Eine Bresche ist in den Märchenbau ge-
schlagen. Aber Stechow ist kein guter Taktiker: er nützt seinen
Erfolg nicht aus. Statt nun nach Analogieschluß die ^- ohnehin
schon diskreditierten — übrigen Rochlitzschen Neuigkeiten fallen
zu lassen, nimmt er sich eifrig ihrer an. Er gibt ihnen breite
historische Untermalungen und gründet weitere Vermutungen auf
sie. Somit verstrickt er sich auf der einen Seite in dem Märchen-
netze, dessen Maschen er auf der anderen Seite zu lösen begann.
Auch den nachrochlitzschen Neuigkeiten gegenüber versagt
Stechpws Urteilskraft. Er erkennt ihren kausalen Zusammenhang
mit denen Rochlitz' nicht und nimmt sie als selbständige, zu-
verlässige Meldungen hin. Namentlich die angebliche Verwandt-
schaft des Künstlers mit den Capece-Rofranos interessiert ihn,
und er bemüht sich, möglichst genaue Auskunft über diese
Familie zu erteilen. Zu diesem Zwecke griff er sogar zu Le Brets
Geschichte von Italien (Halle 1787) und gab danach, sowie nach
Colletta, eine ziemlich ausführliche Schilderung des Macchia- Auf-
standes. Er erkannte, daß die Capece-Rofranos nur eine neapolita-
nische Familie waren und der in Betracht kommende Aufstand
nur in Neapel stattgefunden hatte. Deshalb tadelt er das Schwan-
ken hinsichtlich der Ortlichkeit bei den früheren Autoren, die Emar
nuel bald für einen Sizilianer, bald für einen Neapolitaner erklärten
und seinen Vater bald in Palermo, bald in Neapel enden ließen.
Neapel allein komme in Betracht. Auch hinsichtlich der Persön-
lichkeit von Emanuels Vater weiß er Eigenes vorzubringen. Stechow
hatte außer jenem gemeinhin als Vater Emanuels betrachteten Giro-
lamo ja noch Giuseppe Capece (allerdings nicht Rof rano) unter
den Macchia-Verschwörem erwähnt gefunden. Er scheint nicht
abgeneigt, ihn als Vater des Künstlers bezeichnen zu wollen, da
Giuseppes Untergang in dem Aufstande ausdrücklich in der Ge-
schichte erwähnt wird, wenn auch unter anderen Begleitumständen,
als sie Rochlitz angibt. Aber Stechow ist vorsichtig. Er läßt die
Frage offen, indem er sagt: »Falls man nun nicht etwa diesen
Capece für Astorgas Vater . . . halten will, so würde es sich dabei
206 2. Teil: Astorga-Literatur.
lediglich um Girolamo Capece . . . handeln können, t Daß aber
Girolamo nicht in der Verschwörung unterging, sondern sein Glück
durch sie machte, das entdeckte auch Stechow nicht. — Da er
Emanuel als Neapolitaner sicher zu haben glaubt, erklärt er den
Neapolitaner Alessandro Scarlatti für seinen Lehrer, jegliches Ein«
gehen auf den »mythischen« Francesco Scarlatti, den Molitor als
seinen Lehrer genannt hatte, erledige sich. — Der feste Glaube,
Emanuel sei zur Zeit des Macchia-Aufstandes in Neapel gewesen,
verführt Stechow zu einer weiteren Konjektur. Er hat von dem
Besuche des spanischen Königs Philipp V. in Neapel im Frühjahr
1702 gelesen und meint nun, dieser König könne vielleicht selbst die
»Entfernung des jungen Capece aus Neapel veranlaßt«, er könne
ihn nach Spanien vorausgeschickt oder mitgenommen haben. Nun
erst habe ihn die Fürstin Ursini in »ihren besonderen Schutz« ge-
nommen. Schließlich erwägt er auch noch die Möglichkeit, daß
Emanuel direkt von dem Kloster zu Astorga an den Hof des Gegen-
königs Karl nach Barcelona gekommen sei, wo er ja 1709 seinen
Dafni komponiert und in Szene gesetzt habe . . .
Man sieht: Stechow hatte mit eigenen Hypothesen kein Glück.
Seine an sich scharfsinnigen Schlüsse konnten das Richtige nicht
treffen, weil er sie aus den überkommenen falschen Anschauungen
zog. So steigerte auch er, trotz seiner Absicht, Klärung zu schaffen,
die Verwirrung in Sachen Astorgas.
Noch bleiben einige Worte über den kurzen Auszug von Stechows
Artikel zu sagen, auf den wir bereits oben hingedeutet haben. Es
ist der Lebensabriß, den
Robert Eitner dem Abschnitt »Astorga« in seinem Quellen-
Lexikon (1. Bd., 1900) beigab. In diesem Paragraphen war es
Eitner hauptsächlich um die Zusammenstellung eines möglichst
vollständigen Verzeichnisses der Werke Astorgas zu tun. In den
kurzen biographischen Notizen, die er hinzufügte, wollte er nur
Sichres, Wohlverbürgtes, darreichen. Eine solche Auswahl aus den
Schriften früherer Autoren schien ihm Stechow richtig getroffen zu
haben, — und so wiederholte er das von diesem Akzeptierte. Von
Stechows Mißtrauen gegen Rochlitz angesteckt, erklärt er sodann
alle in seinem Auszug ungenannt gelassenen »Aufenthaltsorte Astor-
V. Kap.: Die Astorga-Literatur der jüngsten Zeit. 207
gas und die damit verbundenen Anekdoten für eitel Wind« und
schiebt Rochlitz die Schuld an ihrer Verbreitung zu. Damit schießt
er aber über das rechte Ziel hinaus. Denn die durch jene Erklärung
getroffenen Nachrichten von Emanuels Aufenthalt in Livorno und
Lissabon sind gewiß kein Wind, und nicht erst von Rochlitz, son-
dern schon von Hawkins und Gerber verbreitet worden. Eitners
Skizze, in der Wahres und Falsches dichter denn irgendwo anders
beisammen steht, in der gleichwohl ihr Verfasser ein Stück kritische
Arbeit geleistet zu haben glaubte, — diese Skizze ist der beste Be-
weis dafür, daß auf der bisher benutzten Basis und mit den meisten
der bisher benutzten Mittel überhaupt kein klares und wahres
Bild vom Leben Astorgas zu gewinnen ist. Nur von neuen, von der
allgemein bekannten Astorga-Literatur unabhängigen Nachrichten
stand Klärung zu hoffen. Aber die Schriften zur Topographie
Siziliens (vgl. S. 133f.), die schon lange einen Umschwung hätten
herbeiführen können, blieben unbekannt. Auch das Werk, bei
dessen Studium ich endlich den zum erwünschten Ziele führenden
Weg entdeckte, liegt bereits seit 1893 im Druck vor. Es ist der
Catalogo della Biblioteca del Liceo Musicale di*Bologna,
compilato da Gaetano Gaspari, compiuto ... da Luigi Torchi
(vgl. S. 6). Die in diesem Katalog abgedruckte Vorrede zu Astorgas
Kantatenpublikation vom Jahre 1726, sowie deren Titel, die beide
die wertvollsten autobiographischen Andeutungen enthalten, wurden
der Ausgangspunkt für unsre neue, von den alten Märchen unab-
hängige Lebensgeschichte des Meisters.
Überschauen wir den Weg, den wir stationenweise zurückgelegt,
im ganzen. Wir sehen, wie unser Pfad anfänglich gerade vorwärts
leitet, weiterhin sich aber in die Gänge eines Irrgartens verliert.
Während im achtzehnten Jahrhundert im wesentlichen historische
Tatsachen referiert wurden, faßten im neunzehnten eine ganze
Menge erdichtete Nachrichten Wurzel, die, anstatt ausgerodet zu
werden, unaufhörlich Zuwachs erhielten. Fast unglaublich erscheint
es, daß im Zeitalter der exakten Forschung, da Chrysander und
208 2. Teil: Astorga- Literatur.
Otto Jahn ihre musikhistorischen Meisterwerke schrieben, unter dem
Scheine geschichtlicher Wahrheit ein so gewaltiges Truggebiide
heranwachsen und in der Musikgeschichte Aufnahme finden konnte.
Nur das Zusammentreffen verschiedener der Wahrheit ungünstiger
Umstände ermöglichte dies. Zunächst war es die Dürftigkeit der
authentischen Notizen aus der Zeit des Meisters selbst, die der Er-
findung größten Spielraum ließ und keine Handhabe zur Kontrolle
des später Mitgeteilten bot. Sodann fällt ins Gewicht, daß die
Märchen in ihrem Grund- und Hauptbestand von einem Schrift-
steller erfunden und verbreitet wurden, der seiner Zeit als höchste
Autorität galt. Drittens kommt in Betracht, daß diese Märchen
infolge ihrer Ableitung aus der Musik Astorgas den Anschein innerer
Wahrheit trugen. Leichtgläubigkeit und Oberflächlichkeit späterer
Autoren taten das Weitere. Nimmermehr hätte der Roman bis zu
seinem heutigen Umfang anwachsen können, wenn ihm ein Gelehrter
gewissenhaft auf den Grund gegangen wäre. Aber dazu entschloß
sich keiner. Sofern sich überhaupt Gelehrte von Bedeutung mit
ihm beschäftigten, geschah es nur nebenbei, da ihr Hauptinteresse
auf andere Meister gerichtet war: ich erinnere nur an Chrysander
und Pohl. Sie hatten weder Zeit noch Interesse für eine Unter-
suchung des Ganzen, die ohne mühsame Detailarbeit undenkbar
war. Auch Stechow, dessen Forschungen allein tiefer gingen,
lieferte nur Stückwerk und rührte nicht an die Wurzeln des Ganzen.
Daß sich niemand zu einer durchgreifenden kritischen Behandlung
des Stoffes hingezogen fühlte, ist begreiflich, weil sie, wie wir schon
in der Einleitung erwähnten, fast nur unerfreuliche Ergebnisse ver-
sprach. Wir haben uns nicht gescheut, diese Arbeit zu leisten.
Aber wir geben zu, daß auch wir uns von den kritischen Resultaten
unsres zweiten Teiles hätten entmutigen lassen, hätten wir nicht
im ersten Teile einen reicheren, beglaubigten Stoff für den hier ab-
gewiesenen, erfabelten dargeboten.
Rufen wir uns schließlich noch einmal den Zweck, den wir mit
unsrer Musterung der Astorga-Literatur verbanden, ins Gedächtnis
zurück. Wir wollten durch die Ergründung des Ursprungs und
Wesens der bisher allgemein akzeptierten Astorga-Geschichten deren
Widersprüche mit unsrer neuen Astorga-Biographie zu lösen suchen.
V. Kap.: Die Astorga-Literatur der jüngsten Zeit. 209
Diese Lösung ist gewonnen durch die Erkenntnis, daß es all den
widersprechenden Angaben auf selten der älteren Autoren an
stichhaltigen Gründen fehlt, daß sie nichts sind als — zumeist un-
absichtliche — Geschichtsfälschungen. Damit fallen jene Wider-
sprüche in sich zusammen.
Ob die Astorga-Märchen aus der populären Literatur, aus der
sich alt überlieferte romantische Geschichten so schwer tilgen lassen,
jemals ganz verschwinden werden, — wer kann es wissen? Daß
diese Märchen dort noch lange weiterwuchem werden, ist gewiß,
denn sie sind zu tief eingewurzelt. Aber in der Wissenschaft können
sie fernerhin nicht mehr bestehen. Mögen glückliche Funde unsre
Lebensgeschichte Astorgas mehr und mehr ergänzen und auch in
weiteren Kreisen der Wahrheit zum Siege über die Unwahrheit
verhelfen.
Volkmann, Astorga. I. 14
Alphabetisches Register.
Amico, V. M., Lexicon Siculum 19, 21.
Alberti, Giuseppe, Sänger 118.
Aldrovandini, Giuseppe 64.
Algier], Angela, Sängerin 100.
Allacci, L., Drammaturgia64,99, 173.
Althann, Grafen von 87 ff.
— Graf Michael Robert von, in Wien
91.
Pignatelii, Gräfin von 89ff.
Amodei, Cataldo 42.
— ' Giuseppe 42.
Astorga, Bemardo de 28f.
— Didacus de, Kardinal 28.
— Diego de 29, 36.
•— Eusebio de 29 f.
— Giovanni Oliviero 124.
— Gonzalo de 28.
— Gregorio de 28f.
— Juan de 29.
— Louis 30.
— Markgrafen von 26 f.
Astorga, Rincon de, Cesare 33, 35,
38, 40, 123.
Cesare, Capitano in Augusta
35, 37 f., 40.
Diego, Urgroßvater des Ton-
dicliters 35 f., 38, 40.
Emanuel [d. ä.], Großvater des
Tondichters 33, 35 ff., 40.
Emanuel [d.j.], der Tondichter.
Da sein Leben den Hauptgegen-
stand unsres Buches bildet, ist die
Angabe aller Seiten, auf denen er
genannt wird, nicht nötig.
• Emanuele Giuseppe 35, 37 f.,
40, 123.
Astorga, Francesco, Vater des Ton-
dichters 33, 35, 37 ff., 44-46,
60f., 75, 78, 127, 147.
Giovanna, Mutter des Ton-
dichters 33f., 37f., 127.
Rosalia 35, 37 f.
Thomasia, Großmutter desTon-
dichters 33, 35, 38.
Astorga e Guzzardi, Giovanna 123 f.
Astorga, Stadt in Spanien 4, 18, 25 f.,
135, 147.
Astorga-Dichtungen 163f.
Auersperg, J. Adam, Fürst 196.
Augusta, Stadt auf Sizilien 20, 22,
33, 40—45, 127.
Auria, Vincenzo, Historia de' Vicerö
di Sicilia 53.
Avison, Charles, Essay on mus. ex-
pression 132 f.
Baldini, Innocenzo, Sänger 68, 72.
— Petrucio, Sänger 68.
Barcelona 4, 62—67, 71 ff., 77 f., 80,
83, 128, 190, 192f.
Barone,Lebensweise der sizilianischen,
um 1700 45 f.
Benti-BulgarcUi, La Romanina 73.
Berardi, Angelo 11.
Bergonzini, Elisabetta,Sängerin68,7D.
Bermann, Moriz, österr. biogr. Lexi-
kon 89, 170ff., 197.
Bertini, Giuseppe, Dizionario di Mu-
sica 139.
Biographie, Nouvelle g6n^rale (Hoef er)
141, 178, 182.
Bioni, Kapellmeister 117.
Alphabetisches Register.
211
Bitter, C. H., Studie zum Stabat Mater
169
Blasi, dUtoriade' VicerödiSicilia 164.
Bohemia 177.
Bologna,LiceoMusicale zu — 6, 65, 207.
Bonf iglio, Simone, Pfarrer in Palermo
40.
Bottini, Marchese Antonio, Professor
in Pisa 27.
Branberger, Dr., in Prag 176.
Brechainville, Ludwig, Qraf von 195.
Breitkopf & Härtel 155, 180.
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Brendel, Franz, Geschichte der Musik
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Breslau 73, 116f., 128, 136, 138, 168.
— , UniversitfltsbibUothek zu — 62.
Brockhaus,Konvers.-Lexikonl68, 173.
Burigny, Histoire de Sicile 164.
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138f.
Caldara, Antonio 4, 57, 79f., 82, 116,
171, 202.
Capece, Familie, (s. auch Rofrano)
179f., 182ff.
— Gaetano 191.
— Giuseppe 182ff., 191, 205.
— Marcello 191.
Cappelli,A.,Dott., Direktor des Staats-
archivs zu Parma 101.
Caratti, Francesco, Baumeister 198.
Carmena y Millan, Opera italiana en
Madrid 120
Carreras y Bulbena, Joseph Rafel 32,
72, 203 f.
Carvalhaes, Manoel de, in Mezäo Frio,
Portugal 99, 141.
Casolani, Elisabetta, Sängerin 115.
Cestis »Genserico« 27.
Choron et Fayolle, Dictionnaire 139.
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155, 169.
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CoUetta, Pietro, Storia di Napoli 179,
184, 189.
Combes, Fran^ois; La princesse des
Ursines 55.
Croce, Benedetto, I teatri di Napoli
27, 52, 64, 183.
CroUanza, G. B. di, Dizionario Storico-
Blasonico 89, 182.
Cuzzoni, Francesca 100.
Dafni, Oper von Astorga 4, 62ff., 85,
91, 99ff., 127f., 131, 135, 138,
150, 157, 165, 168.
— Partitur 63, 165.
— Oper von Fr. PoUarolo 173.
-«- Obersicht über die Kompositionen
des Manfredischen Textes 1 16.
Dancy, Francesca, Sängerin 100.
Dassori, Carlo, Opere e Operisti 141 «
Dent, Edward E., Schriften aber
Alessandro Scarlatti 48, 64.
Dia, Giuseppe 54.
Dilettanten, Musik-, im 17. u. 18. Jahr-
hundert 11.
Dlabacz, G. J., Künstlerlexikon für
Böhmen 178.
Dommer, Arrey von, Musikgeschichte
173.
Dreier, Sänger 118.
Dresden, Kgl. Bibliothek zu — 27,
57f., 80f., 87, 162.
— Hauptstaatsarchiv zu — 94.
DvoHk, Max, Archivar zu Raudnitz
198ff., 201 f.
Ebert, Dr., Alfred, in Berlin 27.
Eckart, Sänger 115.
Einstein, Dr. Alfred, in München 115f .
Eitncr, Robert, Quellenlexikon 6, 42,
57, 59, 80, 116, 124, 162, 206f.
Elisabeth Christine, Gemahlin Kaiser
Karls VI. 75, 83, 191 f.
14*
212
Volkmann, Astorga I.
Elvert, d', Geschichte der Musik in
Mähren 92.
Erlach, Joh. Bernhard Fischer von 193.
Ersch und Gruber, Encyciopaedie 178,
180, 182.
Farinelli 90<
Famese, Elisabeth, Prinzessin von
Parma 4, 161, 171 f.
Feiice, Sänger 68.
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des Staatsarchivs zu Palermo 18,
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Grimani, Lucia, Sängerin 115.
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96, 133, 201 f.
Gualandi, Diamantina, Sängerin 1 17.
Guarinoni, Eugenio de' 59.
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Joseph I., deutscher Kaiser 4, 81 f.,
149, 192.
Kahlert, August 116f., 168f.
Kantaten Astorgas, früheste datierte
59.
Alphabetisches Register.
213
Kantaten Astorgas, 1726 in Lissabon
gedruckt 6ff., 96, 130; 150.
— Andere Kantaten Astorgas 57 f.,
80f., 87.
Karl II.,KönigvonSpanien50,74f.,184.
— V., Deutscher Kaiser 28, 31.
— VI., Deutscher Kaiser, als König
von Spanien Karl III. 4, 56, 62f.,
66f., 71 f., 74 ff., 80, 82ff., 128,
185, 189f., 192.
Kärolyi, Direktor des k. Staatsarchivs
in Wien 86.
Khol, Fr., Ingenieur in Prag 176.
Kiesewetter, R. G. 62 f., 203.
Kinsky, Leopold Ferdinand Graf von
195.
— Franz Ferdinand Graf von 195.
Kisch, Wilhelm, Straßen und Plätze
Wiens 193.
Klosterbruck bei Znaim in Mähren
87, 92.
Kneschke, E. H., Neues allgem. deut-
sches Adels-Lexikon 88.
Köchel, L. V., »J. J. Fux« 48, 83, 85.
Kopf ermann, Prof. Dr.A., Direktorder
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Lalande, P. A., Histoire de Tempereur
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Larousse, Pierre, Grand dictionnaire
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Leanti, Arcangiolo, Lo stato presente
delaSicilia 45.
Leipzig, Universitätsbibliothek zu 157.
Leopold I., Deutscher Kaiser 4, 74,
85, 135, 137 f., 149.
Lissabon 6f., 23, 56, 116, 118, 122,
128, 135, 207.
Livorno 93 f.
Lobkowitz, Fürsten von 197 f.
London 4, 93ff., 128, 135, 151.
Luciano, Qiachino 54 f.
LudwigXIV., König vonFrankreich74.
Ludwig, Professor Dr., in Karlsbad 94.
Lumir, tschechische Zeitschrift 174 f.,
199.
Madoz, Pascual, Diccionario geogr.
de Espafia 30.
Macchia-Verschwörung 47, 159, 184 ff.
Madrid 4, 55, 74, 120.
— Biblioteca Nacional und Archivo
historico Nacional 120.
Maffei, Graf, Vizekönig von Sizilien
14, 104.
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Mailand, Bibliothek des Conservato-
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Mandyczewski, E., Prof. Dr.; Biblio-
thekar der» Musikfreunde < in Wien
81, 116.
Manfredi, Eustachio, Dichter und
Mathematiker 64.
Mantuani, J., Prof. Dr., Direktor des
Museums zu Laibach 63, 79.
Marzo, Gioacchino di, »Biblioteca di
Sicilia« 13ff., 39, 50ff., 75f., 130.
Massa, »La Sicilia in prospettiva« 21.
Mattheson, Johann, »Forschendes
Orchestre« 12.
»Patriot« 62, 117, 131,142,157.
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Mayr, Anton, Professor in Wien 27.
Medina del Campo 28ff., 32.
Megara Hyblaea 21.
Melilli, Stadt auf Sizilien 21.
M^moires de la Cour d'Espagne
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Mendel, Herm., Musik-Lexikon 173.
Mengoni, L. Ant., Sänger 115.
Metastasio 90f.
Meyer, Konversationslexikon 168, 173.
Mikowec, Ferdinand B., Schriftsteller
174ff., 179, 197 ff.
214
Volkmann, Astorga. I.
Millaina, Vorwerk von Ogliastro 6f.,
19, 23f., 37.
Mizler, Christoph 12.
Modena 69.
Molltor, Simon 48, 62f., 164ff., 203.
Mollart, Graf Ferdinand Ernst 82.
Mongitore, Antonino, Priester, Senats-
sekretär (107), seine »Diarien«
13ff.,39,50ff.,75f., 104 ff., 1291.
Monteverdis Incoronazione di Poppea
52.
Morello, Dott. Em., Bibliothekar d.
Konservatoriums z. Palermo 114.
Moreno, Mario 42.
Morso, Nicolö, »Diluddationes« 111.
^~ e Astorga, Emanuele, Baron von
Favarella 124.
MortiUetto,LehenAstorgas6f., 19,23.
Müller, Joh. Joachim, Spanischer Ver-
mählungssaal 192.
München 114ff.
Münster i. W. 169.
Musilc eine Wissenschaft 11 f.
Musikfreunde, Bibliothek der Gesell-
schaft der, in Wien 81.
Nagler, Künstlerlexikon 30.
Naumann, Emil, Musikgeschichte 168.
Neapel 3, 26f., 52, 56f., 64—72,
94, 159, 167, 182ff., 205.
Neigebauer, J. F., Sizilien 46.
Neupauer, J. Chr. 193.
Ogliastro, Dorf bei Palermo 19f.
— Lehensgut Astorgas beiAugusta 6f .,
12, 14ff., 20f., 36f., 114, 121, 127.
Oreto, Fluß bei Palermo 14f., 110.
Orlandi, Cesare, Delle Cittä d'Italia
42f., 133f.
Orlandi, Chiara, Sängerin 118.
Ossorio, Familie 26ff.
Oxford 4, 96f., 128, 133, 135f.
Palagonia, Principe di 164.
Palermo 4, 6f., 13ff., 39f., 45f., 59f.,
76, 101, 129, 145.
— , Musikleben zu — um 1700 49ff.
Palermo, Senat von — 109 ff.
Pani, Carmelus, Kaplan zu Augusta34.
Paris 98, 151.
— , Bibliothek des Conservatoire 64.
Parma 4, 58, 99ff., 148f., 161f.
— , Staatsarchiv zu 101.
Pasqu6, E., Libretto »Astorga« 164.
Paz, Julian, Direktor des Archivs zu
Simancas 28, 120.
Perrier, Jer. de, Histoire de la Con-
jurationdeNaplesennOl 183,187.
Petris, Carlo de. Dichter 64.
Philipp V., König von Spanien 4, 37,
74ff., 84, 102, 120, 184, 206.
Pietra, Biagio di, Cavaliere, spanischer
Konsul in Palermo 32.
Pignatelli, Familie 89f.
Pinetti, Gaetano, Sänger 118.
Piovano, Francesco, Musikgelehrter
in Rom 65f., 68, 71, 116.
Pitr^ Giuseppe, »Lavita in Palermo«
45, 50f., 53 f., llOf.
Pohl, Carl Ferdinand 3, 79, 96, 200ff.
Pollarolo, Francesco 173.
PöUnitz, Baron Ludwig 83f.
Porta, Antonio, Baumeister 198.
PortaLuppi, Alessandro, Sänger 68, 70.
Prag 73, 94, 151, 17a
— , Bibliothek des böhm. Landes-
Museums 170.
— , Universitätsbibliothek 174.
— , St. Jakob zu 178.
Prescimone, Giuseppe 52.
Prosniz, Adolf, »Compendium« 202.
Provenzale, Francesco 52.
Prusfk, Dr., in Prag 176.
Pujadies, Giovambattista, Memoriale
istorico 190f.
Quemer, Karl, Die »piemontesische
Herrschaft auf Sizilien« 46, 103ff.
Ramponi, Pietro; Impresario u.
Sänger 68, 70, 72, 75.
Ranfft, Michael, »Geneal.-hist. Archi-
varms« 28, 181, 194f.
Alphabetisches Register.
215
Rassmann, Fr., Pantheon der Ton-
künstler 140.
Raudnitz in Böhmen 5, 197 ff.
Recchio, Giuseppe, Notizie di Famiglie
di Napoli 182, 191.
Reichardt, Friedrich,preuß.Hofkapell-
meister 140.
Reichert, Arno, Bibliothekar in Dres-
den 27.
Requiem von Astorga, eine Fiktion
Rochlitz' 149, 158f.
Rezensionen für Theater und Musik
96, 98, 178f.
Ricci, Corrado, I teatri di Bologna
64.
Richter, Hofrat Prof., Oberbibliothe-
kar in Dresden 27.
— Dr. Hubert, Bibliothekar in Dres-
« den 27, 58f.
Riehl, W. H., Musikalische Charakter-
köpfe 166.
Riemann, Hugo, Opemhandbuch 173.
— , Hugo, Musik-Lexikon 173, 203.
Rienzi, Cola dl 198.
Rincon, Antonio, französischer Ge-
sandter 31.
und Fernando del, Maler 30.
— Diego Lopez 30.
. — d'Astorga s. unter Astorga.
— Manuel del, Opernsänger 32.
Ristorini, Antonio, M., Sänger 115.
Rodriguez, Ildefonso, Historia de Me-
dina del Campo 32.
Rochlitz, Friedrich, Schriftsteller 3,
5, 96, 116, 142ff., 163ff.
— , »Für Freunde derTonkunsta 142,
Astorga-Brief 143ff., »Gesang-
stacke« 154, »Grundlinien« 154,
157.
Rofrano, Marchese di, Hieronymus
Capece 3, 160, 177, 179, 182ff.
Petrus Capece 195.
Pietro Capece 182, 195.
Rom, Musikleben in, um 1700 58.
— Biblioteca Nazionale 65.
Romanina, la, s. Giusti und Benti-
Bulgarelll.
Rudhart, Fr.M., Geschichte der Oper
in München 115.
Sacerdote, G., II teatro R. di Torino
Saldoni, Baltasar, Diccionario 32, 120.
Salomone, Sebastiano, Augusta illu-
strata 43f., 134.
Sangro, Graf Carlo di 185, 187.
Santini, Fortunato, seine Musiksamm-
lung 169.
Sanvitale, Graf Stefano, in Parma 99,
101.
Scarlatti, Alessandro 48f., 56, 58,
64f., 100, 130, 183, 206.
*- Francesco 4, 48, 166, 206.
Schatz, Albert, in Rostock 80.
Scheibe, J. A., »Kritischer Musikus«
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Schladebach und Bemsdorf, Lexikon
derTonkunst 168.
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Schrader, Bruno 173.
Seume, Joh. Gottfr., »Spaziergang
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Simancas, Spanisches Generalarchiv
zu 28, 120.
Sizilien, Politische Zustände auf, um
1700. — 46f.
— Kirchenstreit auf 105f.
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112f.
Skuda, D., Pfarrer an St. Jakob in
Prag 178.
Spanischer Erbfolgekrieg 47, 56. 93,
102, 167, 189.
Spinola, Giacinta, Sängerin 118.
Spitta, Philipp, J. S. Bach 156.
216
Volkmann, Astorga. I.
Stabat Mater von Astoiga 1, 5, 48,
96ff., 128, 133, 135f., 149, 151, 158.
Stassoff, Wl., ed. Catalog Santini 169.
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Torresi, Cavaliere Sebastiano, Sindaco
von Augusta 33, 35, 134.
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I
Tradusione
del
Cenno biografico di Emanuele d'Astorga
Pag. i2y
del libro di Hans Volkmann.
II barone Emanuele d'Asiorga {Emanuele Gioacchino Cesare
Rincon d'Astorga) nacque in Augusta nella Sicilia li 20 marzo 1680,
Discese dalla famiglia spagnuola dei Rincon d'Asiorga, trasportati
in Augusta a servizio della Spagna al principio del secolo XV IL
Emanuele ebbe il titolo di barone dalla sua baronia Ogliastro, situata
presso Augusta. II nonno del maestrOy che portava anclie il nome di
Emanuele^ era il primo nella famiglia investito di quel feudo. II
padre del maestro si chiamava Barone Francesco Rincon d'Astorga,
la madre Giovanna. La famiglia traslocd a Palermo, dove morl
il padre Francesco nel iyi2. Emanuele ebbe una educazione convene-
vole al facoltoso gentiluomo. Fornito giä di buona coltura, aumentd
le sue cognizioni nelle grandi cittä d*Italia ed in lunghi viaggi.
Principalmente si perfezionö nella musica, che aveva studiato »fin
da' suoi primi anni per suo dilettO((. Allorch^ nacquero tumulti a
Palermo nel lyoS, il reggimento spagnuolo-siciliano chiamö sotto le
armi una guardia municipale; uno degli uffiziali era il barone Ema-
nuele d' Astorga. Nel lyog ebbe luogo la rappresentazione della sua
opera pastorale ))Dafnii( a Genova(2i aprile), alla quäle il maestro
probabilmente fu presente; non intervenne perciö, cosl pare, alle riprese
nella Corte del re Carlo III in Barcelona (giugno, luglio). Nel 1712
si fermö a Vienna, dove fece le veci di padrino al battesimo della
figlia di Antonio Caldara, li 9 maggio. Andö e venne nella carte
imperiale, senza cercarvi servizio. Fu ben viso all' imperatore
Carlo VI. Nel maggio lyij Emanuele si trovd in Zenaime in Mora-
via. Soggiornö qualche tempo (1714, 1715?) a Londra. Ritornato