Skip to main content

Full text of "Encyclopädische Jahrbücher Der Gesammten Heilkunde 17.1910 NF 8. Real Enc 3. A. Bd. 34"

See other formats


This is a reproduction of a library book that was digitized 
by Google as part of an ongoing effort to preserve the 
Information in books and make it universally accessible. 

Google books 

https://books.google.com 




Google 


Über dieses Buch 

Dies ist ein digitales Exemplar eines Buches, das seit Generationen in den Regalen der Bibliotheken aufbewahrt wurde, bevor es von Google im 
Rahmen eines Projekts, mit dem die Bücher dieser Welt online verfügbar gemacht werden sollen, sorgfältig gescannt wurde. 

Das Buch hat das Urheberrecht überdauert und kann nun öffentlich zugänglich gemacht werden. Ein öffentlich zugängliches Buch ist ein Buch, 
das niemals Urheberrechten unterlag oder bei dem die Schutzfrist des Urheberrechts abgelaufen ist. Ob ein Buch öffentlich zugänglich ist, kann 
von Land zu Land unterschiedlich sein. Öffentlich zugängliche Bücher sind unser Tor zur Vergangenheit und stellen ein geschichtliches, kulturelles 
und wissenschaftliches Vermögen dar, das häufig nur schwierig zu entdecken ist. 

Gebrauchsspuren, Anmerkungen und andere Randbemerkungen, die im Originalband enthalten sind, finden sich auch in dieser Datei - eine Erin¬ 
nerung an die lange Reise, die das Buch vom Verleger zu einer Bibliothek und weiter zu Ihnen hinter sich gebracht hat. 


Nutzungsrichtlinien 

Google ist stolz, mit Bibliotheken in partnerschaftlicher Zusammenarbeit öffentlich zugängliches Material zu digitalisieren und einer breiten Masse 
zugänglich zu machen. Öffentlich zugängliche Bücher gehören der Öffentlichkeit, und wir sind nur ihre Hüter. Nichtsdestotrotz ist diese 
Arbeit kostspielig. Um diese Ressource weiterhin zur Verfügung stellen zu können, haben wir Schritte unternommen, um den Missbrauch durch 
kommerzielle Parteien zu verhindern. Dazu gehören technische Einschränkungen für automatisierte Abfragen. 

Wir bitten Sie um Einhaltung folgender Richtlinien: 


+ Nutzung der Dateien zu nichtkommerziellen Zwecken Wir haben Google Buchsuche für Endanwender konzipiert und möchten, dass Sie diese 
Dateien nur für persönliche, nichtkommerzielle Zwecke verwenden. 

+ Keine automatisierten Abfragen Senden Sie keine automatisierten Abfragen irgendwelcher Art an das Google-System. Wenn Sie Recherchen 
über maschinelle Übersetzung, optische Zeichenerkennung oder andere Bereiche durchführen, in denen der Zugang zu Text in großen Mengen 
nützlich ist, wenden Sie sich bitte an uns. Wir fördern die Nutzung des öffentlich zugänglichen Materials für diese Zwecke und können Ihnen 
unter Umständen helfen. 

+ Beibehaltung von Google-Markenelementen Das "Wasserzeichen" von Google, das Sie in jeder Datei finden, ist wichtig zur Information über 
dieses Projekt und hilft den Anwendern weiteres Material über Google Buchsuche zu finden. Bitte entfernen Sie das Wasserzeichen nicht. 

+ Bewegen Sie sich innerhalb der Legalität Unabhängig von Ihrem Verwendungszweck müssen Sie sich Ihrer Verantwortung bewusst sein, 
sicherzustellen, dass Ihre Nutzung legal ist. Gehen Sie nicht davon aus, dass ein Buch, das nach unserem Dafürhalten für Nutzer in den USA 
öffentlich zugänglich ist, auch für Nutzer in anderen Ländern öffentlich zugänglich ist. Ob ein Buch noch dem Urheberrecht unterliegt, ist 
von Land zu Land verschieden. Wir können keine Beratung leisten, ob eine bestimmte Nutzung eines bestimmten Buches gesetzlich zulässig 
ist. Gehen Sie nicht davon aus, dass das Erscheinen eines Buchs in Google Buchsuche bedeutet, dass es in jeder Form und überall auf der 
Welt verwendet werden kann. Eine Urheberrechtsverletzung kann schwerwiegende Folgen haben. 


Über Google Buchsuche 


Das Ziel von Google besteht darin, die weltweiten Informationen zu organisieren und allgemein nutzbar und zugänglich zu machen. Google 
Buchsuche hilft Lesern dabei, die Bücher dieser We lt zu entdecken, und unterstützt Au toren und Verleger dabei, neue Zielgruppen zu erreichen. 
Den gesamten Buchtext können Sie im Internet unter http : //books . google . com durchsuchen. 































REAL-ENCYCLOPÄDIE 

DER 

GESAMMTEN HEILKUNDE. 


VIERUNDDREISSIGSTER BAND. 


Digitized by t^ooQle 











REAL-ENCYCLOPÄDIE 

DER 

GESAMMTEN HEILKUNDE. 


VIERUNDDREISSIGSTER BAND. 


Digitized by t^ooQle 



REAL-ENCYCLOPÄDIE 

DER 

GESAMMTEN HEILKUNDE 


MEDICINISCH-CBIRURGISCHES 

HANDWÖRTERBUCH 

FÜR PRAKTISCHE ÄRZTE. 


HERAUSGEGEBEN 

VON 

Geh. Med.-Rat Prof. Dr. ALBERT EULENBURG 

in BERLIN. 


Hit zahlreichen Abbildungen. 


Dritte, umgearbeitete und vermehrte Auflage . 


VIERUNDDREISSIGSTER BAND. 


URBAN & SCHWARZENBERG 

BERLIN WIEN 

N., FBTEDBICHSTBASSE 106 b I., MAXIMILIANSTBASSE 4 

1910. 


Digitized by L^ooQle 



ENCYCLOPÄDISCHE JAHRBÜCHER 


DER 


GESAMTEN HEILKUNDE 


UNTER MITWIRKUNG DER HERREN 

Prof. Dr. A. ALBU, Berlin — Dr. G. AVELLI8, Frankfurt a. M. — Hofrat Prof. Dr. K. ▼. BARDELEBEN, 
Jena — Prof. Dr. F. BLUMENTHAL, Berlin — Prof. Dr. H. BORUTTAU, Grnnewald bei Berlin — 
Prof. Dr. Th. BEUG SCH, Berlin — Ober-Stabsarzt F. COSTE, Breslan — Direktor Dr. F. ESOHLE, Sinsheim — 
Geh. Med. Bat Prof. Dr. A. EULENBURG, Berlin — PrW.-Doz. Dr.L. FEILCHBNFELD, Berlin — RrW.-Do*. 
Dr. E. FREY, Jena — Prof. Dr. FÜLLEBORN, Hamburg — Geh. Med.-Rat Prof. Dr. P. FÜRBRINGER, Berlin 

— Geheimrat Prof. Dr. t. HANSEMANN, Berlin — Prosektor Dr. K. HART, Berlin — PrW.-Doz. Dr. Th. 
HAUSMANN, Tula (ehern, i. Orel) — Dr. H. HIRSCHFELD, Berlin — Prof. Dr. JOACHIMSTHAL, Berlin 

— Prof. Dr. JUNG, Erlangen — Prof. Dr. G. J. JÜRGENS, Berlin — PrW.-Doz. Dr. W. KARO, Berlin — Med.- 
Rat Prof. Dr. KISCH, Prag — Prof. Dr. KBZYSZTALOWICZ, Warschau — Prof. Dr. George MEYER, Berlin 

— Sanitätsrat Dr. A. MOLL, Berlin — Prof. Dr. ▼. REUSS, Wien — Stabsarzt Dr. E. RODENWALDT, 
Hamburg — Reg.-Rat Prof. Dr. E. ROST, Berlin — Geheimrat Dr. B. SCHBUBE, Greiz — Geh. Med.-Rat 
Prof. Dr. SENATOR, Berlin — Sanitätsrat Dr. Justus H. THIEBSCH, Leipzig — Geh. Rat Prof. Dr. B. H. 
TILLMANNS, Leipzig — Prof. Dr. H. VOGT, Frankfurt a. M. — Prof. D. E. ZIEMKE, Kiel — Dr. G. 

ZUELZER, Berlin 


HERAUSGEGEBEN 

TON 

Geh. Med.-Rat Prof. Dr. ALBERT EULENBURG 

IW BERLIK W., LICHTEW8TBIN-ALLEE 8. 


Band XVII. 

Neue Folge: Achter Jahrgang. 


Mit 131 Textabbildungen und 9 Tafeln. 




Nachdruck der in diesem Werke enthaltenen Artikel sowie Übersetzung 
derselben in fremde Sprachen ist nur mit Bewilligung der Verleger 

gestattet. 


Copyright, 1910, by Urban & Schwarzenberg, Berlin. 


Digitized by 


Google 



A 


Abdominaltyplius. Die seit unserer letzten Darstellung im 
VII. Jahrgänge dieser Jahrbücher (1909, pag. 1—12) zu verzeichnenden Ar¬ 
beitsresultate tragen nur in beschränktem Maße eine veränderte Physio¬ 
gnomie, insofern die Serum Forschung ihre Vorherrschaft vor der klinischen 
Beobachtung weiter behauptet hat; die Beiträge zur klinischen Symptomato¬ 
logie sind sogar, wenn wir von dem Digestionsapparat absehen, fast ganz 
abgeklungen. Ein frischerer Zug macht sich wieder auf therapeutischem Felde 
geltend, der freilich an Gleichwertigkeit viel vermissen läßt; so namentlich 
in bezug auf physikalische und diätetische Behandlung. Einen besonderen 
Umfang hat der Paratyphus gewonnen, den wir, früherer Gepflogenheit ent¬ 
sprechend, bei der Diagnose berücksichtigen werden. 

Warum wir von einer Aufnahme des größten und in wissenschaftlicher 
Hinsicht vielleicht besten Teiles der der Mikrobiologie angehörigen Beiträge 
Abstand genommen, haben wir bereits mehrfach begründet. Es gilt nach wie 
vor, in erster Linie dem Praktiker eine orientierende Übersicht zu bieten. 

Wir haben keinen Anlaß, in der Anordnung des Stoffes von dem ge¬ 
wohnten Schema abzuweichen und beginnen mit dem 

Übertragungsmodus. Von der Infektions Vermittlung durch das Wasser 
gibt Konrich wieder in der Beschreibung zweier kleinerer Epidemien be¬ 
zeichnende Beispiele; offenbar mußten für ihren Ausbruch undichte Kessel¬ 
brunnen verantwortlich gemacht werden, deren Wasser Typhusbazillen ent¬ 
hielt Belehrend und wichtig sind die Aufschlüsse Duttons über die Typhus¬ 
verhältnisse im Ohiotal, wo allein in Pittsburg im Jahre 1906 die Krankheit 
bedenklich hauste (5729 Fälle, von denen 608 starben). Wohl nicht mit 
Unrecht wird auf den bei kostspieligen Filtrierwerken für einen großen Teil 
der Bevölkerung bestehenden Zwang verwiesen, statt Brunnen- und Gebirgs- 
quellwassers filtriertes Flußwasser zu trinken. Der Autor hält mit Vorwürfen 
gegen die Stadtverwaltung nicht zurück. Rücksichtlich der Übertragung 
unserer Krankheit durch die Milch liegen wesentliche neue Erfahrungen 
nicht vor. Nicht weniger als 317 durch dieses Nahrungsmittel eingeleitete 
Epidemien vermochte Trask zusammenzustellen. Es fehlt auch nicht an ex¬ 
perimentellen Nachweisen der Vermehrung der Typhusbazillen in der Milch 
in Gegenwart von Saprophyten zur Sommerszeit (Stokvis). Der Möglichkeit 
der Übertragung des Typhus durch Bier gedenkt Sachs unter Hinweis auf 
die LENTZschen und eigenen Versuche, nach denen die Keime in verdünntem 
Braunbier und gewöhnlichem Versandbier sich (gleich Paratyphusbazillen) bis 
zu 5 Tagen lebensfähig erhielten. Unsaubere Verschlußgummiringe dürften im 
Verein mit der Neigung der Insassen gewisser Arbeiterherbergen, Bierflaschen 

Encyclop. Jahrbücher. N. F. VIII. (XVII.) 1 



2 


Abdominaltyphus. 


als Nachtgeschirre zu benutzen, in typhusdurchseuchten Bezirken bedenklich 
wirken können. Auf den Genuß infizierter Seerausch ein zu beziehende 
Epidemien teilen Marsh (13 Fälle, von denen 4 tödlich endeten) und Pottin 
mit, nicht ohne den Abgang von Verfügungen zur Sperrung der Wasser- 
läufe und zum Einschreiten gegen die Händler zu beklagen. Auch die 
Fliegen sind wieder Gegenstand experimenteller Untersuchungen gewesen, 
insofern an ihnen die Typhuserreger durch Züchtung und Agglutination 
nachgewiesen wurden (Klein). Die Gelegenheit zur typhösen Infektion durch 
diese Insekten, Garten- und Feldfrüchte, Luftstaub und den Schuhen an¬ 
haftenden Schmutz im Gefolge der Düngung erfährt eine bemerkenswerte 
Beleuchtung durch die Beobachtungen von Galvagno und Calderini über die 
Lebensdauer der Typhusbazillen in Abortgruben und -tonnen; sie blieben 
hier im Durchschnitt 4 Wochen lang lebensfähig, um, nach 10 Tagen an die 
Erdoberfläche gebracht, bis zu 6 Wochen auszuhalten. Fast ausnahmslos er¬ 
litt die Virulenz eine Einbuße. Durch Yersin und Vassal erfahren wir von 
erfolgreichen Experimenten an Menschen, die immer zu den Seltenheiten 
zählen werden: 2 tonkinesische Kulis erkrankten nach der Uberimpfung je 
eines halben Grammes Blutes von Typhuskranken nach 2 bzw. 3 Wochen. 

Einen breiten Raum nehmen auch diesmal die Beobachtungen und Er¬ 
örterungen über die früher unterschätzte, unheilvolle Rolle der Bazillen¬ 
träger ein. Sie mahnen, wenn auch für diese oder jene »Entdeckung« noch 
strikte Beweise ausstehen, aufs neue zur sorgfältigsten Fahndung bei Epi¬ 
demien dunklen Ursprungs. Nach Parks Ermittlungen schieden etwa 6% 
der mindestens ein halbes Jahr nach einem Typhus untersuchten Individuen 
die Krankheitserreger mit dem Stuhl aus. Nicht ohne Grund wird eine 
Köchin beschuldigt, während 8 Jahren 26 Typhusübertragungen in 7 Fami¬ 
lien vermittelt zu haben. Für 13 innerhalb Jahrzehnten in einer Familie zu 
verzeichnende Typhusfälle macht Huggenrkrg eine chronische Bazillenträgerin 
verantwortlich, die vor 31 Jahren (!) einen Typhus überstanden, für Typhus¬ 
erkrankungen im Laufe von 14 Jahren solcher Personen, welche aus einer 
Meierei Milch bezogen, eine Frau, die vor 17 Jahren die Krankheit durch¬ 
gemacht, Scheller; in ihrem Stuhl wurde geradezu eine Reinkultur von 
Typhusbazillen vorgefunden. Der Autor verweist gleich Laünois mit ge¬ 
bührendem Nachdruck auf die Existenz bazillenfreier Intervalle und zeitweiser 
Änderungen der Agglutinationsverhältnisse sowie auf die Tatsache, daß die 
Träger größtenteils zu keiner Zeit Typhuserscheinungen dargeboten. Etwas 
skeptisch stehen wir den Erklärungen von Davies und Walker Hall gegen¬ 
über, daß bei schwankender Ausscheidung das Minimum der Gefahr den 
ersten Monaten des Jahres und demnach den in die Zeit von April bis No¬ 
vember fallenden Untersuchungen besondere Geltung zukomme. Über die 
Rolle der Gallenblase als langjährigen Vegetationsorts der Krankheits¬ 
erreger haben wir uns bereits wiederholt ausgesprochen. Zweifellos befinden 
sich unter den Bazillenträgern Gallensteinkranke in höherer Zahl und man 
wird es nicht von der Hand weisen dürfen, daß an der ungleichmäßigen 
Ausscheidung auch Behinderungen des Gallenabflusses Anteil haben (Le- 
dingham, Davies und Hall). Endlich vertritt Mayer für endemische Gegenden, 
so namentlich die Epidemien in der Pfalz in den Jahren 1903—1906, die 
hauptsächliche Lieferung des Infektionsstoffes seitens der chronischen Ba¬ 
zillenträger. 

Uber das Auftreten des Typhus im Heere äußert sich Dubrulle; den 
Rang der wichtigsten Truppenkrankheit im Kriege wie im Frieden behaup¬ 
tend, hat er sich in den letzten Dezennien mit der wachsenden Rekrutierung 
aus allen Volksklassen immer furchtbarer entwickelt. Der Grund liegt vor¬ 
nehmlich in dem jüngeren Alter der Soldaten, denen aus Anlaß der kürzeren 
Dienstzeit eine mindere Abhärtung zuteil wird. 


Digitized by 


Google 



A bdominaltyphus, 


3 


Pathologische Anatomie und experimentelle Pathologie . Eine Erwei¬ 
terung: unserer Kenntnisse der Beziehungen des Typhus zum Gallen- und 
Lymphapparat im Sinne unserer früheren Berichte verdanken wir zunächst 
einschlägigen Untersuchungen am Menschen seitens J. Koch sowie Levy und 
Gäthgens. Die beiden letztgenannten Autoren haben die Verbreitung der 
Typhuserreger in den Lymphdrüsen ermittelt; konstant und am reichlichsten 
waren sie aus den lymphatischen Apparaten des Darms und den Mesen¬ 
terialdrüsen zu züchten, demnächst — größtenteils — ans den Leisten- und 
Halsdrüsen. Also findet die primäre Lokalisation des Typhusbazillus der 
Regel nach im intestinalen Lymphapparat statt, aus welchem er in das Blut 
und die sonstigen Organe einwandert, während ursprüngliche Allgemein¬ 
infektionen zu den Ausnahmen zählen. In der Gallenblase eines in der dritten 
Krankheitswoche gestorbenen Typhuskranken fand Koch starke, zottige 
Schleimhautwucherungen mit Bazillennestern im Bereiche der Enden der 
Blutkapillaren. Aus diesem Befunde wird ein Einwandern der Krankheits¬ 
erreger in die Gallenblase auf hämatogenem Wege gefolgert. Ein gleich¬ 
sinniges Verhalten lieferte die intravenöse Infektion von Kaninchen mit 
Typhusbazillen durch den Forscher sowie Chiarolanza, der zu gleicher Deu¬ 
tung gelangte. Hervorzuheben ist, daß zum Teil in der Galle freie Bazillen 
fehlten und sich andrerseits auch bei Unterbindung des Ductus cysticus 
fanden. Das läßt auf große Mißlichkeiten der internen und chirurgischen 
Behandlung der Bazillenträger schließen. Hier ist auch der Ergebnisse zu 
gedenken, zu denen Lemierre und Abrami bei der künstlichen Allgemein¬ 
infektion der Tiere durch Injektionen in die Ohrvene gelangten, dahin lau¬ 
fend, daß die Bazillen regelmäßig durch die Galle in den Darm passierten, 
aus ihr wesentlich später als aus dem Blute schwindend. Ein neuer Beleg 
für die Hartnäckigkeit der Ausscheidung der Erreger seitens der Bazillen¬ 
träger. 

Von den Schädigungen, welche Arloing, Rieux und Lagoanere durch 
zeitlich variierte Injektionen von Typhus*, Streptokokken- und Staphylo¬ 
kokkentoxin bei Hunden zuwege brachten, sei die Bevorzugung des Herzens 
herausgehoben, das bei einem Gemisch der beiden erstgenannten Toxine in 
erster Linie litt; das Typhusgift rief das Bild der interstitiellen Myokarditis 
hervor. 

Klinik. Bezüglich der intestinalen Symptome steht diesmal die 
Perforation mit ihren Folgezuständen im Vordergründe. Es ist besonders 
Chaxtemesse, der neben Bekanntem so manches weniger Geläufige und Neue 
bringt Er sah das — nach Murphy gegenüber der epityphlitischen Perfo¬ 
ration achtmal seltenere — Ereignis unter 2000 Typhusfällen 35mal, im all¬ 
gemeinen der Schwere der Epidemien parallel gehend. Als Ursache beschul¬ 
digt er weder Trauma noch Diätfehler, sondern eine Gefäßthrombosierung 
mit der Folge tiefer Nekrose. Wichtig ist, daß, wie peritonitische Erschei¬ 
nungen auch ohne Perforation auftreten, diese keineswegs sich alsbald 
klinisch zu äußern braucht, nicht einmal, wenn, wie in einem Fall, der Darm 
siebenmal durchlöchert ist. Unter Umständen beschränkt sich die Sympto¬ 
matologie auf ein Schlaffwerden der Züge und Einsinken der Bulbi — auch 
Milhit weist auf das nur verfallene Gesicht, ohne daß der Kranke davon 
etwas merkt, als gelegentlich einzig auffällige Erscheinung hin, die auch wir 
bestätigen können — oder ein plötzliches Anziehen der Beine (infolge spi¬ 
naler Reizung?). Manche Fälle heilen spontan unter Bildung eines wider¬ 
natürlichen Afters. In einem Falle Laftaxs bildete sich ein 2 l Eiter fassender 
Abszeß (operative Heilung). Im übrigen führen wir aus der ziemlich reichen, 
den Darm betreffenden Kasuistik an: eine frühe Blutung (1 /) nach hämor¬ 
rhagischen Durchfällen, der erst später die klassischen Typhuszeichen folgten, 
mit günstigem Verlauf bei einem Soldaten (Lafforgue). eine wahrscheinlich 




4 


Abdominaltyphus. 


typhöse Perityphlitis mit reichlicher Bazillenausscheidung durch den Harn 
bei einer Typhuspflegerin (Hoke), einen schweren Meteorismns intestinalis 
mit freier Gasansammlung, obwohl die Sektion keine eigentliche Perforation 
vielmehr eine Verwachsung des Blinddarms mit der linken Flexor ergab 
(Toniatti) , Aszites mit massenhaftem Gehalt an Typhusbazillen, der eine 
Epityphlitis vorgetäuscht und zur Laparotomie Anlaß gegeben hatte (Poyn- 
ton). Die seltene Hämatemese sah Schlesinger zweimal, einmal im Beginn 
des Typhus bei einem früheren Magengeschwür, das andere Mal kurz vor 
dem Tode. In einem Falle von typhöser Cholezystitis wurde als Folgezustand 
biliäre hypertrophische Leberzirrhose beobachtet (Cestan und Az£ma). 
Endlich merken wir, zugleich auf die erörterte Hartnäckigkeit der Ausschei¬ 
dung der Typhuserreger seitens der chronischen Bazillenträger verweisend, 
an, daß Steinberg die Typhusbakterien nicht nur in Reinkultur in der ope¬ 
rativ entfernten Gallenblase eines Hochfiebernden, sondern auch als lebende 
in einigen per anum abgegangenen Gallensteinen antraf, nachdem sie lange 
Zeit in Sublimat gelegen. 

Im Bereich der übrigen Organsysteme liegen fast ausschließlich ka¬ 
suistische Beiträge vor, die auffallend spärlich geflossen. Wir erwähnen zwei 
von Fox beschriebene Fälle von herdweiser Nekrose der Hoden mit inten¬ 
siver Beeinträchtigung der Spermatogenese, einen Fall von doppelseitiger 
kombinierter Serratuslähmung als Nachkrankheit (Schabad) und 2 Fälle 
von Erkrankungen des Skeletts. Im ersten handelte es sich um eine Ostitis 
des Femurs ungebührlich langen Verlaufes; das Leiden war einige Monate 
nach einem überstandenen Typhus aufgetreten, dem ein Jahr zuvor eine 
Oberschenkelkontusion an gleicher Stelle vorausgegangen; fieberhafte Exazer¬ 
bationen durch mehr als 20 Jahre, schließlich eitrige Osteomyelitis, die eine 
Operation notwendig machte; aus dem Eiter konnten Typhusbazillen in Rein¬ 
kultur gezüchtet werden (Fogh). Der zweite Fall betrifft ein Kind, das in 
den ersten Krankheitstagen eine Bulbusprotrusion offenbar als Folge einer 
Frühperiostitis der Orbitalknochen dargeboten (Fuhrmann). Eine Studie über 
Urobilinurie an 26 Typhusfällen seitens Abelman führte zu den Leitsätzen, 
daß das Symptom in den ersten 2 Wochen der Krankheit zu fehlen pflegt, 
im Gegensatz zur Pneumonie, wo es gleich im Beginn auftritt, daß es nicht 
vom Fieber, sondern von den Darmläsionen abhängt und nicht die ihm von 
Hayem zugewiesene schlechte prognostische Bedeutung hat. Eingehende 
Stoffwechseluntersuchungen an 11 Typhösen unter besonderer Berück¬ 
sichtigung des Verhaltens des respiratorischen Quotienten verdanken wir 
Rolly und Hornig; den genannten Quotienten fanden sie während der Fieber¬ 
periode unter der Norm erniedrigt und sind der Ansicht, daß die Infektion 
zu einer Aufstapelung eines sauerstoffreichen Stoffes im Körper führt. Über 
den schwankenden Gang des Chlorumsatzes belehren uns Beobachtungen 
von Schwenkenbecher und Inagaki ; die Chlorretention wiegt vor. 

Im Anschluß an unseren letzten Bericht über Verlaufseigentümlich¬ 
keiten des Typhus (pag. 6) gedenken wir noch beherzigenswerter Aufschlüsse 
über drei im Westen Großberlins beobachtete Typhusfälle mit »absoluter 
Atypie« des Verlaufes (keine Durchfälle, kein Milztumor, keine Roseola etc.) 
durch Rosin, der zur Ansicht neigt, daß unsere Krankheit in der Großstadt 
eine Verwischung ihrer Symptome erfahren habe. Mit Recht wird auf die 
Notwendigkeit der Sicherung der Diagnose in solchen Fällen durch die Züch¬ 
tung der Typhusbazillen und die WiDALsche Reaktion sowie die auch von uns 
aus Anlaß gleichsinniger neuerer Erfahrungen zum Ausdruck gebrachte Ge¬ 
fahr der Verwechslung mit Influenza (»in dubio pro typho*) verwiesen. 

Wir beschließen die klinische Symptomatologie mit der Erwähnung 
bemerkenswerter Kombinationen des Typhus mit anderen Infektionskrank¬ 
heiten, so mit dem akuten Gelenkrheumatismus; dieses seltene, mit 


Digitized by CjOOQle 



Abdominaltyphus« 


5 


Endokarditis einhergehende Zusammentreffen sahen Devic und Trouilleur 
zweimal als durch eine Spitalinfektion während eines Nachschubes der Poiy- 
arthritis vermittelt. Gleichfalls Anstaltsbeobachtungen betreffen die Berichte 
Gioseffis über 20 bakteriologisch gesicherte, geheilte Fälle von mit Typhus 
kombinierter chronischer Malaria; ausnahmsweise überdauerte die Milz¬ 
schwellung die Periode der Konvaleszenz. 

Bezüglich der Prognose tragen wir den im vorstehenden enthaltenen 
Angaben einige speziellere Erörterungen von Chantemesse über die Vorher¬ 
sage der Darmperforation nach. Der Autor verweist auf die nicht allzu 
seltenen Spontanheilungen durch Obturation des Risses seitens des Omentum. 
Begleitender Darmkatarrh verschlechtert die Prognose, ebenso eine gleich¬ 
mäßige Zunahme der durch besondere Komplikationen nicht beeinflußten 
Pulsfrequenz. In den tödlichen Fällen währt die Krankheit einige Tage, aus¬ 
nahmsweise einige Wochen. 

Der Betrag der der Diagnose dienenden Arbeiten ist wieder ein hoher 
und bewegt sich der Hauptsache nach in der früheren Richtung. Sind auch 
für den Praktiker neue Grundlagen mit wesentlich anderen Gesichtspunkten 
kaum zu verzeichnen, so lohnt es sich doch, von so mancher auch in seinen 
Dienst gestellten Belehrung Kenntnis zu nehmen. Wir folgen der bisherigen 
Ordnung, indem wir von einer Erörterung der Komplementbindungsmethoden 
ganz absehen, zumal die zu den besten zählenden Autoren selbst großenteils 
die klinische Brauchbarkeit aus Anlaß der Versager in Frage stellen. 

Rücksichtlich der WiDALschen Agglutinationsprobe stehen sich 
wieder Mahnungen zur Vorsicht und zuversichtlichste Beurteilungen gegenüber. 
Können wir auch nicht glauben, daß die ersteren dem nunmehr durch jahre¬ 
lange einwandfreie Forschung festgelegten unschätzbaren Wert der Reaktion 
Abbruch zu tun vermögen, so bleiben die Beobachtungen doch immer be¬ 
merkenswert. Wir finden unter anderem einen Fall von Pyämie verzeichnet, 
dessen Sektion die Abwesenheit von Typhus ergab, während im Leben die 
WiDALsche Reaktion positiv ausgefallen (Krokiewicz). Einen stark positiven 
Widal erhielt auch P. Marcuse bei einem Knaben mit typhusähnlichen Er¬ 
scheinungen; der spätere Verdacht auf Basalmeningitis ließ eine Lumbal¬ 
punktion vornehmen, die zum Nachweis zahlreicher Tuberkelbazillen führte. 
Vielleicht hat es sich hier (keine Sektion!) um einen komplizierenden oder 
früheren Typhus gehandelt, vielleicht — aber nicht. Andrerseits ergab in 
einem Falle von Thies die Sektion einen echten Typhus, trotzdem die Re¬ 
aktion nur gegen Paratyphus vorhanden gewesen. Bates will an Stelle der 
gangbaren 95°/ 0 positiven Ausfalls nur 63% gölten lassen und deshalb der 
klinischen Methode keineswegs entbehren. Demgegenüber hat J. Schultz in 
der weitaus überwiegenden Mehrzahl der Fälle eindeutige Resultate erhalten 
und hält die Besorgnis von einer zu häufig störenden Mitagglutination von 
Typhus und Paratyphus für unbegründet. Hier ist auch der Ort, die Auf¬ 
merksamkeit auf den Ende vorigen Jahres von Klieneberger in Königsberg 
über Agglutination und Mitagglutination insbesondere von Typhusbazillen 
gehaltenen Vortrag nebst Diskussion (Scheller) zu lenken, sowie den Aus¬ 
bau der Methode durch Hilgermann ; letzterer erklärt die negativen Ausfälle 
mit dem Umstande, daß der benutzte Typhusstatpm gerade wie das betreffende 
Serum schwer agglutinierbar war und gibt einschlägige Vorschriften. Eine 
eigentümliche Abweichung erschloß Charlotte Müller, die bei einem fieber¬ 
haften Verlauf von 82 Tagen erst am 42. Krankheitstag die Reaktion fand, 
während die Bakteriämie bis zum 64. Tage anhielt. 

Rücksichtlich des wichtigen bakteriologischen Nachweises der Typhus¬ 
erreger aus dem Blut kann sich die Ausbeute nicht mit dem Inhalt unseres 
letzten Berichtes messen; immerhin ist eine bemerkenswerte Nachlese zu 
verzeichnen. Vergleichende Prüfungen seitens Silberbergs an 30 Fällen der 


Digitized by 


Google 



6 


Abdominaltyphus. 


medizinischen Klinik za Odessa haben die Gleichwertigkeit der Methoden 
von Castellaxi, Coxradi und Kaiser mit der Maßgabe ergeben, daß die 
letztgenannte am bequemsten und brauchbarsten. Der Bazillennachweis mit 
dem PöPPELMANXschen Verfahren (vgl. diese Jahrbücher, XV, pag. 8 ), das 
wir bereits der Vergessenheit anheimgefallen wähnten, gelang in seltenen 
Fällen. Weiter wird die MsYERSTEixsche Methode (Anreicherung mittelst 
konzentrierter Gallensalze) auf Grund vergleichender Beobachtungen als die 
sicherste angesprochen (Bohne) und dem FoRXKTschen Verfahren (Coxradi- 
Kayser mit einfachem Zusatz sterilisierter Galle) ein konstanter Befund 
nachgerühmt (Büchholz) auch bei Verwendung kleiner Blutmengen — einer 
sonst bemerkenswerten Quelle ungünstiger Resultate (Baumaxx und Rimpau; 
— und selbst sonst nutzlos beiseite geworfener Blutgerinnsel. Endlich ge¬ 
lang es Busse, in 4 Fällen von Pneumonie und Tuberkulose mittelst der 
CoxRADischen Gallenanreicherungsmethode Typhusbazillen aus dem Blute zu 
züchten, ohne daß die Sektion (in drei Fällen) einen Anhalt für das Be¬ 
stehen von Typhus ergab. Die Befunde sind gewiß bemerkenswert, aber man 
wird sich hüten müssen, an sie allgemeinere Folgerungen zu schließen, es sei 
denn in der Richtung, daß die Erreger im Blute kreisen können, ohne daß 
sich die Krankheit äußert. 

Statt des Blutes ist wiederholt die durch Lumbalpunktion gewonnene 
Zerebrospinalflüssigkeit für den direkten Bazillennachweis verwertet 
worden, so von Nieter, der in einem Meningitiserscheinungen dar¬ 
bietenden Falle einer Reinkultur begegnete, und von Silberberg, der, frei¬ 
lich nur ausnahmsweise, die Typhusbazillen in mäßiger Zahl aus dem Punktat 
züchten konnte. Wir möchten bei der nicht eben schwierigen Technik des Ein¬ 
griffs nicht ausschließen, daß das Verfahren unter Umständen wertvolle Hilfen 
zu leisten vermag, die sich auf Laboratorium und Klinik nicht streng beschränken. 

Die Züchtung der Typhusbazillen aus dem Stuhl tritt offenbar weiter 
zurück; doch werden Beiträge nicht ganz vermißt, deren Kenntnis freilich 
dem praktischen Arzte kaum frommen dürfte. Wir merken deshalb nur 
kurz an, daß besonders mit Malachit- und Chinagrün gearbeitet worden ist 
(Erich und Kindsborg, Padlewski, Werbitzki u. a.). Nach Coxradi gelingt 
eine selektive Züchtung der Typhus- und Paratyphusbazillen bei Anwendung 
von Pikrinsäure-Brillantgrünagar. An dieser Stelle müssen wir auch der 
Empfehlung Webers gedenken, durch Öltrinken die Bazillen aus ihrem Vege¬ 
tationsort zu locken bzw. die gallenhaltige Schicht des durch Gallenrückfluß 
zustande gekommenen Mageninhaltes zur Untersuchung zu benutzen. 

Die Ophthalmo- und kutane Reaktion anlangend, scheint es fast, 
als ob das von uns im letzten Bericht prognostizierte kurze Leben nicht 
zutreffen sollte. Wenigstens werden die Versuchsorgebnisse von Chaxtf.messe 
bezüglich der »Ophthalmodiagnostik« des Typhus bestätigt (Hamburger), 
und auf Grund eines umfassenden Materials sprechen sich Malisch (2l(i Fälle) 
und Prkvel (500 Fälle) auffallend günstig aus: Die fiebernden Typhus¬ 
kranken reagierten sämtlich, die fieberfreien zu zwei Dritteln, andere Pa¬ 
tienten nur ausnahmsweise deutlich; das Verfahren wird sogar für zuver¬ 
lässiger als der Tuberkulose gegenüber erklärt, das Ausbleiben nachteiliger 
Nebenwirkungen gerühmt und nur nach wie vor die Schwierigkeit beklagt, 
ein haltbares Typhustoxin zu beschaffen. Nach Mkroni spricht der positive 
Ausfall, der nach (3 Stunden auch bei anderen Erkrankungen erhalten wird, 
nach 24 Stunden für Typhus (»spezifisch«). Bei Anwendung des kutanen 
Verfahrens beobachtete Aaser in 13 Typhusfällen ein roseolaartiges Exan¬ 
them um die Impfstelle, während von 13 anderen Kranken nur 2 ein 
positives Ergebnis darboten. 

Um hier wieder den Paratyphus anzuschließen, ist aufs neue zu 
nachhaltigem Ausdruck gebracht worden, daß es sich um eine ätiologische, 


Digitized by UjOOQle 



A bdoini ualty pli us. 


7 


keine klinische Einheit handelt und der spezifische Erreger teils das Bild 
der Gastroenteritis bzw. dt r Cholera nostras, teils jenes des Abdominaltyphus 
erzeugt, demnach die Differenzierung nur durch die bakteriologische Dia¬ 
gnostik möglich ist (Meinicke, Bingel). Fisch und Wurst spielen bei den 
neuesten Berichterstattungen über Epidemien beziehungsweise die Nähr¬ 
mittelprüfung die Hauptrolle. So wurde eine Massenvergiftang durch Fisch¬ 
mayonnaise festgestelltermaßen ermittelt (Eckersdorff). Bemerkenswert ist 
der Nachweis der Paratyphusbazillen im Transporteis der Seefische durch 
Rommelrr; gleich Coxradi, der denselben Befund als ziemlich häufigen im 
Natureis vertritt, verweist er mit Recht auf die Gefahr dieser Konservie¬ 
rung, wofern das Eis nicht aus einwandfreier Quelle stammt. Einschlägige 
Wurstuntersuchungen verdanken wir Rimpaü und Hübener ; ersterer fand 
die Paratyphuserreger in einer ganz unverdächtigen Leberwurst, deren Ge¬ 
nuß keinerlei Schädigungen veranlaßte, während der zweitgenannte Forscher 
in 6 von 100 geprüften genußtauglichen Wurstproben, die ebenfalls keine 
Gesundheitsstörungen veranlaßten, von Paratyphusbazillen nicht zu unter¬ 
scheidende, in die Gruppe der Schweinepestbazillen verwiesene Stäbchen 
antraf. Eine von Marx beschriebene Soldatenepidemie war offenbar durch 
infolge Hitze zersetzte Wurst veranlaßt; hier wurde der Nachweis durch 
Mäusefütterung erbracht. In zwei von Evers und Mühlens mitgeteilten 
Fällen war ein zum Darmeinlauf benutztes Klysmarohr als Vermittler der 
Übertragung zu beschuldigen. Von der Zähigkeit der Erreger gibt uns 
O. Mayer einen Begriff, der sie noch nach zwei Jahren in Stuhlpulvern lebend 
vorfand. Es fehlt auch nicht an Epidemien, für die die Quelle der Vergif¬ 
tung nicht zu ergründen ist; das war unter anderem bei den 11 Erkran¬ 
kungen am* Bord S. M. S. »Blitz« mit mehrfacher Ermittlung der Bazillen 
der Fall (Rüge und Rogge). Eine in die Kinderstation einer chirurgischen 
Klinik eingeschleppte Epidemie hat Kovrich bakteriologisch erschlossen. 
Für eine Reihe paratyphusähnlicher Erkrankungen unter dem Bilde einer 
akuten Enteritis kam nach den Nachweisen Fleischanderls der Paratyphus¬ 
bazillus nicht in Betracht; vielmehr konnten als Quelle Mäusetyphusbazillen 
ausfindig gemacht werden, mit welchen der Vertilgung von Feldmäusen 
dienende Nahrungsmittel bestreut worden waren. Daß Paratyphusbazilien¬ 
träger die beim Typhus geschilderten Verhältnisse widerspiegeln können, lehren 
die Beobachtungen von Rimpau, der 26 gelegentliche kranke und gesunde 
Ausscheider ausfindig gemacht, uni von Lorey, dessen Patient zwei Jahre 
lang in der Gallenblase die Erreger beherbergte, bis Cholezystitis und Chole- 
lithiasis zur Operation geführt. In anatomischer Hinsicht ist der — viel¬ 
leicht spezifische — Befund einer eitrigen Gastritis durch Bracht in 
zwei Fällen sowie der Sektionsbefund bemerkenswert, den Nauvverck und 
Flinzer bei einem an Sepsis verstorbenen Neugeborenen, dessen Mutter 
wahrscheinlich einen Paratyphus durchgemacht, erhoben: Multiple Nekrosen 
und Geschwüre im Magen, Otitis und Cholezystitis neben hämorrhagischer 
Diathese; im Venenblut Paratyphusbazillen. 

Bezüglich der Frage der Existenzberechtigung eines »Metatyphus« 
(Maxde^baum) — pag. 10 des letzten Berichtes — ist unsere Prognose rasch 
in Erfüllung gegangen. Nach den Prüfungen von Nieter, G. Gross und 
Russovici sind die angegebenen Unterschiede der Bazillen höchstwahrschein¬ 
lich durch zersetztes Glyzerin bedingt beziehungsweise die letzteren als Degene¬ 
rationsformen zu deuten. Die Serodiagnose ergab keine Abweichungen. 

Nach Landoüzy kommt endlich noch die »Typhobazillose« diagno¬ 
stisch in Betracht; spezielle differentielle Momente dieser akuten Tuber¬ 
kulose typhusähnlichen Verlaufs sind eine große Unregelmäßigkeit der Tem¬ 
peraturkurve und der Abgang von Roseola und Darmerscheinungen; in 
letzter Instanz entscheidet der Tierversuch. 


Digitized by VjOOQle 



8 


Abdominaltyphus. 


Therapie. Bezüglich der Prophylaxe sind, da manche Vorschläge 
Früheres wiederholen, andere fromme Wünsche bleiben dürften, nicht eben 
viele Neuerungen bleibenden Wertes zu verzeichnen. Als einzig durchführ¬ 
baren Schutz vor der Übertragung des Typhus durch Molkereien fordert 
Woodward die obligatorische Pasteurisierung der Milch vor dem Ver¬ 
kauf. Bazillenträger sollen nach Launois erst nach dem Verschwinden 
der Erreger aus der Pflege entlassen — das wird nach den einschlägigen 
Erörterungen häufig nicht angehen — und Soldaten, welche einen Typhus durch¬ 
gemacht haben, in Kantinen und Küchen nicht beschäftigt werden. Eine 
monatelange, selbst wöchentlich mehrmalige Fahndung auf Bazillenausschei¬ 
dung heischt Scheller für den Konvaleszenten. Paratyphuskranken gegen¬ 
über ist, falls nicht Epidemien in Betracht kommen, eine Beschränkung 
der prophylaktischen Maßnahmen auf die Einzelperson statthaft (Waldmann). 

Für die WRiGHTsche Schutzimpfung tritt aufs neue R. Fox ein, da 
sie partielle oder volle Immunität für mindestens zwei Jahre verleihe. Ins¬ 
besondere wird sie den die tropischen Typhusländer aufsuchenden Europäern 
empfohlen. Inwieweit das »Fermotoxin«, ein bei der Pepsin Verdauung abge¬ 
töteter Typhusbazillen gewonnenes Serum, das nach Gottstein vorbehandelte 
Tiere gegen tödliche Dosen des Giftes und lebender Typhusbazillen schützt, 
für die praktische Bekämpfung unserer Krankheit nutzbar gemacht werden 
kann, bleibt abzuwarten; einen niedrigen Schutzwert vertritt einstweilen 
Matthes. Eine Kontroverse über den Wert des bereits im letzten Bericht 
genannten, von Bassenge mittelst Lezithinbehandlung der Typhusbazillen zu 
schneller immunisatorischer Wirkung dargestellten Toxins hat sich zwischen 
diesem Forscher einerseits, Wassermann und Seitz sowie Sleeswyk andrer¬ 
seits entsponnen. Die letztgenannten Autoren folgern aus ihren Prüfungen 
nur eine kurz dauernde örtliche Erhöhung der Resistenz, keine eigentliche 
Immunität, wobei die saure Reaktion der Lezithinemulsion eine Rolle spielen 
soll. Wir verweisen auf die letzte Entgegnung Bassenges. 

Die eigentliche Behandlung anlangend, sind wahre Fortschritte 
nicht eben reichlich gesät. Insbesondere zeigt die spezifische Serum¬ 
therapie nach wie vor keine verheißungsvolle Physiognomie, von be¬ 
klagenswert kritiklosen Vorschlägen ganz abgesehen. So hat Ägide Magi 
Typhuskranke mit einem »künstlichen« sauerstoffhaltigen Serum behandelt, 
einem Gemisch von Aqua oxygenata und physiologischer Kochsalzlösung. 
Aus einer Steigerung der Toxizität des Harns der Versuchstiere wird eine 
erhöhte Toxinausscheidung gefolgert. Stärkere Diurese, Schweiß, Fieber, 
Schüttelfröste, Übelkeit wollen als Folgen der Injektionen beachtet sein. 
Auf anderem Boden stehen die subkutanen Einspritzungen lebender 
Typhusbazillen, mit welchen in der Turiner medizinischen Klinik Pescarolo 
und Quadrone annehmbare Resultate in 20 Typhusfällen gewonnen zu haben 
glauben. Auch hier fehlte es nicht an Temperaturanstiegen und Schüttel¬ 
frösten als unmittelbaren Folgen der Indikationen sowie lokalen Entzün¬ 
dungsprozessen. Die Autoren versprechen eine weitere Prüfung an größerem 
Material. Die Nachprüfung in Dingen des MEYER-BERGELLschen Typhusserums 
durch W. Hoffmann läßt diesen mit dem Urteil abschließen, daß vorläufig 
die Grundlagen nicht gegeben, die seine Anwendung beim Menschen recht- 
fertigen könnten. Eine Bazillenträgerin, die nach einem vor 7 Jahren über¬ 
standenen Typhus die Erreger mit dem Harn ausschied, entleerte nach drei¬ 
monatlicher Behandlung mit einer Typhusvakzine durch Irwin und Houston 
einen bazillenfreien Urin. 

In der Wasserbehandlung hat es sich wieder mehr geregt, freilich 
nicht ohne daß bemerkenswerte, um nicht zu sagen bedauerliche Widersprüche 
zutage getreten. Während Laudis, der überhaupt jeder aktiven Typhus¬ 
therapie abhold ist, zu hydrotherapeutischer Zurückhaltung rät, bekennt sich 


Digitized by ^.ooQle 



Abdominaltyphus. 


9 


Sadger (Wien-Gräfenberg) in einer ausführlichen »Hydriatik« des Typhus 
zur BRANDschen Lehre, nicht ohne partielle Waschungen, Abreibungen und 
Luftwasserbäder in größerem Umfang heranzuziehen. In den Fällen der 
»Not«, in denen trotz aller BRANDschen Bäder und kalter Umschläge die 
hohen Fieberwerte nicht sinken wollen, hat ihm ein Zurückgehen auf Vinzenz 
Priessnitz »noch stets« geholfen. Als bequeme hydrotherapeutische Ma߬ 
regel. welche die Wirkung der Bäder hinter sich lasse, empfiehlt Mc Keorch 
häufige, 3—ßstündliche Klysmen mit den in Leibschmerz, Darmblutung und 
Perforationserscheinungen gegebenen Kontraindikationen. Wenig individuell 
geht Roark vor, der ohne Rücksicht auf die Temperatur den ganzen Tag 
hindurch alle zwei Stunden die Vorder- und Hinterfläche des Körpers mit 
einem Umschlag von einigen Minuten bedeckt, nachdem er Calomel und ein 
salinisches Abführmittel verabreicht. Aus Anlaß einer solchen Behandlung 
glaubt er von 97 Typhen keinen verloren zu haben. Wir zögern nicht, diese 
Folgerung mit einem Fragezeichen zu versehen. Häufige laue bis kalte 
Waschungen im Verein mit Trinken großer Mengen (bis zu 7 l) und Alko¬ 
holumschlägen kennzeichnen das System von Aronsohn, freilich unter Vor¬ 
aussetzung genügender Herzkraft. Endlich ist die bereits früher besprochene 
»Frigothörapie pröcordiale« (dieses Jahrbuch, 1906, pag. 13) wieder von 
Deleardk und Dubois aufgenommen worden mit keinem geringeren An¬ 
spruch, als daß die auf die Herzgegend gelegten, die Temperatur ernie¬ 
drigenden Eisblasen die ganze Wasserbehandlung des Typhus überflüssig 
machen. 

Zur medikamentösen Therapie hat fast nur das Ausland beigetragen. 
Es scheint fast, als beanspruche man, mit den kolloidalen Metallen den 
Heilseren Konkurrenz zu machen, nachdem Bossan und Marcelet auf ex¬ 
perimentellem Wege eine Steigerung der Phagozytose beim Typhus durch 
Kolloidalsilber gefunden haben wollen. Kollargolklysmen (5 0—10 0:500 Aq.) 
schreibt Mironescu auffallend günstige antityphöse Wirkungen zu, die bis 
zum selteneren Eintritt von Komplikationen gedeihen sollen. Weiter hat man 
wieder von subkutanen Sublimatinjektionen eine deutliche Einwirkung 
auf Fieber und Puls, sogar eine Abkürzung der Verlaufsdauer behauptet 
(Crispolti). Wer viel Typhen gesehen und miteinander unbefangen verglichen, 
kennt die kaum überwindlichen Schwierigkeiten der Beurteilung in letzter 
Hinsicht. Menthol in größeren Dosen zur Sterilisierung der Gallenwege 
empfiehlt Stern. 

Zu der wichtigen diätetischen Behandlung unserer Krankheit ist 
diesmal, besonders vom Auslande, ziemlich viel beigetragen worden; allein 
das Gebotene steht in einem Widerspruch, der die Lage des Praktikers recht 
schwierig gestaltet. Immerhin wird er, wie wir auf Grund einer vieljährigen 
Eigenerfahrung glauben möchten, aus mancher vom alten Schema abweichen¬ 
den Forderung entschiedenen Nutzen ziehen können. Dies gilt zumal von der 
Warnung vor einer Überfütterung mit Milch durch Harbin und A. Seibert, 
welche Autoren über recht günstige Statistiken verfügen (148 bzw. 338 Fälle 
mit einer Sterblichkeit von 5 bzw. 3°/ 0 ). Unter Hinweis auf den in der Milch 
gegebenen ausgezeichneten Nährboden für die Erreger der Krankheit und 
ihre durchfallerregende Wirkung wird die vorsichtige Darreichung des Nähr¬ 
mittels in bescheidenem Umfange und verdünntem Zustande nachhaltig be¬ 
fürwortet, desgleichen ihr Ersatz durch dünne Mehl-Fleischsuppen und Gela¬ 
tine als Eiweißsparer. Vertritt der erstgenannte Autor überhaupt eine sehr 
eingeschränkte Diät und selbst ein Fasten für 1— 2 Tage, so verweist Falta 
auf die Gefahr einer Schwächung durch strenge Diät und fordert von Anfang 
an Fleischsaft, Eier und Kohlehydrate unter der Form von Zwieback und 
Kartoffelpüree. Ein besonderer Freund der Kohlehydrate ist Shaffer, der mit 
ihnen und namentlich mit Milchzucker die Gefahr des enormen Verlustes 


Digitized by ^.ooQle 



10 


Abdoininaltyplius. 


an Körpereiweiß bekämpft, ohne Darmbeschwerden zu riskieren. Endlich 
finden wir die moderne Yoghurtrailch in den Dienst der Typhustherapie ge¬ 
stellt und sogar mit der Wirkung ausgestattet, bei zwei Bazillenträgern die 
Ausscheidung der Erreger aufgehoben zu haben (Liefmann). 

Nach alter Gepflogenheit beschließen wir unseren Bericht mit einem 
kurzen Überblick über die neuesten Vorschläge zur Bekämpfung der wich¬ 
tigsten Komplikation des Typhus, der Darmperforation — bezüglich der 
Darmblutung sei auf die von Witthauer vertretene Kombination von sub¬ 
kutaner Gelatineinjektion und Kochsalzinfusion verwiesen —, seitens einer 
Reihe von Autoren, Internen und Chirurgen des Auslandes. Nach wie vor 
stehen konservative Haltung und dringende Mahnung zum ungesäumten 
Eingriff sich gegenüber unter Hinweis auf die nicht eben glänzenden, nicht zum 
wenigsten durch die große Mißlichkeit einer Frühdiagnose bedingten Ope¬ 
rationsresultate (in Frankreich 18—29% Heilungen). Indem wir auf unsere 
Erörterungen der Klinik der Komplikation verweisen, machen wir auf die 
neueste von Chantemesse vertretene Therapie aufmerksam; er hebt die 
schwierige Indikationsstellung und die Gofährdung des Kranken durch die 
Operation als solche hervor, rät zwar bei eindeutigen Symptomen zum 
schleunigen Herbeirufen des Chirurgen, empfiehlt aber im übrigen, unsicheren 
Fällen gegenüber während der Wartezeit dringend, eine intermittierende Über¬ 
wärmung des Unterleibes vermittelst täglich mehrmals für eine Stunde und 
länger aufgelegter, mit 60° heißem Wasser gefüllter Wärmflaschen. Beson¬ 
ders wird die bessere Blutdurchströmung und die durch die starke, schmerz¬ 
lose Wärmestauung bedingte Beförderung des Schlafes gerühmt; neben dieser 
intermittierenden Überhitzung ist nukleinsaures Natron subkutan zu verab¬ 
folgen, dessen intramuskuläre Injektion auch Milhit befürwortet. Letzterer, 
im allgemeinen kein Freund sofortigen operativen Einschreitens, ist gleich¬ 
wohl der Meinung, daß man lieber einmal bei Pseudoperforation einschneide, 
als den Eingriff bei richtigem Durchbruch unterlasse. Michaux fordert sogar 
beim bloßen Verdacht auf Perforation die Probelaparotomie. Zur Nachbe¬ 
handlung der wegen Perforationsperitonitis operierten Fälle wird häufigen 
Enteroklysmen (zweistündlichem langsamen Einfließenlassen von je 1 /) das 
Wort geredet (Murphy). Es wird noch so manchen Jahres vertiefter Beob¬ 
achtung auf breiter Basis bedürfen, ehe dem Praktiker sichere Handhaben 
für eine bestimmte Stellungnahme in dem gewünschten Umfange auf diesem 
schwierigen Gebiete zu Gebote stehen werden. Nicht eindringlich genug 
können wir davor warnen, den einmal sicher erkannten Fall dem Chirurgen 
zu entziehen, falls nicht die Nichtoperabilität außer allem Zweifel steht. 

Literatur (Auswahl aus den Abhandlungen praktisch-klinischer Tendenz): Aaser, 
Tidskr. f. d. Norske Laegef., 1908, Nr. 8. — Ahklman, Praktisch. Wratsch., 1907, Nr. 42. — 
Bassenge, Deutsche med. Wochensehr., 1908, Nr. 29 und 1909, Nr. 3. — Bates, Journ. of 
Amer. Assoc., 1909, Nr. 14. — Baumann und Rimpau, Zentralbl. f. ßakt., XCVII, 1 (1908). — 
Bjnokl, Münchener med. Wochenschr., 1908, Nr. 33. — Buch bolz, Med. Klinik, 1908, Nr. 36. 

— Busse, Münchener med. Wochenschr., 1908, Nr. 21. — Chantemesse, Presse med., 1908; 
Progres med., XXXVII, Nr. 20. — Conradi, Münchener med. Wochenschr., 1908, Nr. 29 und 
1909, Nr. 18. — Crispolti, Riform. med., 1908, Nr. 50. — Devic et Trouillkur, Rev. de med., 
1908, Nr. 10. — Dubrulle, Province med., XX, Nr. 28, 29. — Ddtton, Journ. of American 
Assoc, 1908, Nr. 18. — Evers und Müulens, Deutsche militärärztl. Zeitschr., 1909, Nr. 9. — 
Falta, Wiener med Wochenschr., 1909, Nr. 18. — Fleis« handerl, Münchener med. Wochen¬ 
schrift, 1909, Nr. 8. — Fogh, Deutsche med. Wochenschr., 1908, Nr. 30. — R. Fox, Jonrn. 
of trop. med., 1908, Nr. 13. — W. Fox, Bull, of the Ayer Clin. Labor, of the Pennsylv. Hosp., 

1907, Nr. 4. — Fuhrmann , Petersburger med. Wochenschr.. 1909, Nr. 16. — Galvagxo e 
Caldkuini, Zeitsclir. f. Hyg., LXI, 2 (1908). — Gioskffi, Gazz. degli ospcd. , 1907, Nr. 131. 

— Gottsiein, Arch. f. klin. Med, XCIV, 3 und 4 (1908). — G. Gross, Zentralbl. f. Bakt., 

1908, Nr. 4. — Hamburger, Journ. of Aiuer. Assoc, 1908, Nr. 17. — Harbin, Ibid., Nr. 3. — 
Hjlgermann, Klin. Jahr;)., XVIII, 3 (1908). — W. Hopfmann, Deutsche med. Wochen»' lir., 

1909, Nr. 13. — Hoke, Münchener med. Wochenschr., 1908, Nr. 25. — Hi ben*.r, Deutsche 
med. Wochenschr., 1908, Nr 24. — Huggknbeko. K^rresp.-Bl. f. Schweizer Ä«*zte, 19.>8, Nr. 14. 

— Irwin and Houston, Lancet, Nr. 4457. — Mc Ke mm, Montreal med. Journ., Okt. 19 )1. 


Digitized by 


Google 



Abdominaltyphus. — Aderlaß. 


11 


— Klein, Brit. med. Journ., 1908, Nr. 2494. — Klienebehobb, Offiz. Referat in der Deutschen 
med. Wochensehr., 1909, Nr. 8. — J. Koch, Zeitscbr. f. Hyg., LXII, 1. — Konbich, Ibidem, 
LX, 2 (1908) und KJin. Jabrb., XIX, 3. — Krokiewicz, Przegl. lekarski, 1908, Nr. 40. — 
Laffan, Lancet, Nr. 4454. — Lafforgue, Province med , XXI, Nr. 39. — Landouzy, Lancet, 
1908, Nr. 4446. — Laudis, Journ. of Amer. Assoc., 1908, Nr. 19. — Launois, Gaz. de9 hop., 
1908, Nr. 39. — Lkdingham, Davis and Hall, Brit. med. Journ., 1908, Nr. 2494. — Lemierrk 
et Abrami, Arch. des mal. de l’app. dig., 1908, Nr. 1. — Levy und Gäthgens, Arb. aus dem 
kais. Gesundheitsamt, XXVIII, 1 (1908). — Liebmann, Münchener med. Wochenschr., 1909, 
Nr. 10- — Ägide Magi, Riv. crit. di clin. med., 1908, Nr. 8. — Malisch, Wiener med. Wochen¬ 
schrift, 1908, Nr. 39, 40. — P. Marcuse, Berliner klin. Wochenschr., 1900, Nr. 51. — Marx, 
Zentralbl. f. Bakt., XLVIII, 1 (1908). — Matthes, Deutsches Arch. f. klin. Med., XCV, 3,4. 

— Mayer, Münchener med. Wochenschr., 1908, Nr. 34 und 43. — Mkroni, Münchener med. 
Wochenschr., 1908, Nr. 26. — Michaux, Presse möd , 1908, Nr. 42. — Milhit, Progr. med., 

1908, Nr. 10. — Mironescu, Berliner klin. Wochenschr., 1909, Nr. 1. — Cn. Müller, Med. 
Klinik, 1908, Nr. 26. — Naüwerck und Flinzer, Münchener med. Wochenschr., 1908 Nr. 23. 

— Nieter, Ibid., Nr. 17 ond 19. — Park, Journ. of Amer. Assoc., 1908, Nr. 12. — Pksca- 
rolo nnd Quadronk, Zentralbl. f. innere Med., 1908, Nr. 40. — Prüvel, Bull, de la soc. de 
1'internat. des höpit. de Paris, 1908, Nr. 8. — Rimpau, Deutsche med. Wochenschr., 1908, 
Nr. 24. — Rolly und Hornig, Deutsches Arch. f. klin. Med., XCV, 1 und 2 (1908). — Rom- 
liELF.R, Deutsche med. Wochenschr., 1909, Nr. 20. — Rosin, Berliner klin. Wochenschr., 1909, 
Nr. 1& — Roge und Kogge, Zentralbl. f. Bakt., 1908, Nr. 5. — Sachs, Klin. Jalirb., XVIII, 
3. — 8 a dg er, Berliner Klinik, 1908, H. 242. — Sch ab ad, Petersburger med. Wochenschr., 

1909, Nr. 15. — Scheller, Zentralbl. f. Bakt., XLVI, 5 (1908); cf. Klienbberger. — Schle¬ 

singer, Arch. f. Verdaunngskrankh., XIV, 2. — J. Schultz, Deutsche med. Wochenschr., 1909, 
Nr. 13. — Setbert, Med Record, LXXIII, Nr. 25. — Shaffbr, Journ. of Amer. Assoc., 1908, 
Nr. 12. — Silbrrberg, Zentralbl. f. innere Med., 1908, Nr. 37. — 8lebswyk, Deutsche med. 
Wochenschr., 1908, Nr. 25. — Thies, Berliner klin. VVochenäcbr., 1908, Nr. 52. — Toniatti 
Wiener klin. Wochenschr., 1909, Nr. 1. — Trask, Journ. of Amer. Assoc., 1908, Nr. 18. — 
Waldmann, Med. Klinik 1909, Nr. 5. — Wassermann und Skitz, Deutsche med. Wochenschr., 
1908, Nr. 50. — Weber, Münchener med. Wochenschr., 1908, Nr. 47. — Witthauer, Ibid., 
Nr. 18. — Ybrsin and Vassal, Philippine Journ. of sience, 1908, Nr. 2. Fürbringer . 

Aderlaß. Der Aderlaß, der bekanntlich in der Therapie der alten 
Medizin eine große Rolle gespielt hatte und vorwiegend unter dem Einfluß 
der nihilistischen Wiener Schule unter Skoda fast ganz verlassen wurde, 
ist in den letzten Jahren wieder mehr und mehr angewendet worden. Eine 
Reihe experimenteller Untersuchungen haben uns über die physiologisch- 
pathologische Bedeutung des Aderlasses aufgeklärt und zunehmende prak¬ 
tische Erfahrungen konnten eine Reihe gesicherter Indikationen für die An¬ 
wendung des Aderlasses aufstellen lassen. Kottmann aus Bern hat in dankens¬ 
werter Weise die hauptsächlichsten klinischen Erklärungen und die wesent¬ 
lichsten Resultate der experimentellen Forschung zusammengesteilt. Seinen 
Ausführungen soll hier im wesentlichen gefolgt werden. 

Im Jahre 1885 hatte Sahli bei seinen Untersuchungen über die The¬ 
rapie des Lungenödems experimentell die Aderlaßwirkung bei Stauungen im 
kleinen Kreislauf, die zu Lungenödem geführt hatten, geprüft. Es ergab sich 
die interessante Tatsache, daß durch die alleinige Blutentziehung das Auf¬ 
treten von Lungenödem verhindert werden konnte, wenn unter sonst gleichen 
Versuchsberlingungen dasselbe mit Sicherheit zu erwarten war; bereits auf¬ 
getretene Lungenödeme konnten durch Aderlaß zum prompten Zurückgehen 
gebracht werden. Es zeigte sich, daß der linke Vorhof. der infolge • der 
künstlich hervorgerufenen Störung im kleinen Kreislauf prall angeschwollen 
war, nach der Blutentziehung auf sein normales Volumen sank, als Zeichen 
dafür, daß das Blut jetzt im Lungenkreislauf unter normalem Diuck zirku¬ 
lierte. Ähnliches zeigte sich bei den Versuchen von Strtbkll, welcher nach 
der BASCHschen Methode Stauungen im Lungenkreislauf hervorrief; als 
Zeichen der durch die Blutentziehung gebesserten Zirkulationsverhältnisse 
ergaben sich neben der Abnahme des Druckes im kleinen Kreislauf eine 
Druckzunahme im arteriellen Gefäßsystem. Es geben demnach die patho 
logisch-physiologischen Versuche eine unzweideutige experimentelle Grund¬ 
lage für die bekannten, oft lebensrettenden Erfolge des Aderlasses bei 
Kranken mit Stauungen im kleinen Kreislauf und selbst mit schon einge 


Digitized by 


Google 




12 


Aderlaß. 


tretenem Lungenödem. Indiziert erscheint also der Aderlaß bei allen Lungen¬ 
stauungen, wie sie infolge von Herzklappenfehlern, besonders Mitralfehlern, 
Herzmuskelerkrankungen, Emphysem, Kyphoskoliose, Pleurasynechien usw. 
auftreten. Es soll der Aderlaß hier dasselbe Ziel, aber auf umgekehrten 
Wegen, erreichen wie die Digitalis. Letztere bildet einen Ansporn, der Ader¬ 
laß eine Entlastung des überbürdeten rechten Ventrikels. Es wird daher 
oft zweckmäßig erscheinen, die Aderlaßwirkung durch gleichzeitige Digitalis¬ 
applikation (intravenöse Digalen- oder noch besser Strophantininjektion) zu 
unterstützen. 

Die Wirkung des Aderlasses hei Pneumonie, bei welcher Erkrankung 
ganz besonders dieses Verfahren von alten Ärzten angewendet wurde, ist 
auf die Entlastung des kleinen Kreislaufes zu beziehen. 

Die Zirkulation im kleinen Kreislauf kann bei der Pneumonie durch 
den Druck der maximal ausgedehnten Alveolen, welche auf die Gefäße 
drücken, aufs äußerste erschwert sein. Wahrscheinlich ist es auch noch die 
Viskosität des Blutes, welche durch die Stauung, durch den Verlast an Plasma 
und durch die Vermehrung der Leukozyten zur Zeit der grauen Hepatisa¬ 
tion lokal beträchtlich vermehrt ist, wodurch eine erhebliche Überlastung 
des rechten Ventrikels rein mechanisch herbeigeführt sein kann. Nehmen 
wir hierzu die zweifellose Schädigung, die der gesamte Herzmuskel durch 
die bei der Pneumonie produzierten Toxine erleidet, so ist es verständlich, 
daß der rechte Ventrikel leicht erlahmen und daß die mechanische Hilfe 
durch die Entlastung des Aderlasses von lebensrettender Wirkung sein kann. 

Die Aderlaßwirkung beim Lungenödem ist unmittelbar aus den ange¬ 
führten experimentellen Versuchen erklärlich. Die klinische Beobachtung 
lehrt, daß, welches auch immer die Ursache des Lungenödems sein mag, 
der unmittelbare Effekt stets gleich günstig zutage tritt. Selbstverständlich 
hängt es von der Natur des Grundleidens ab, ob die augenblickliche Wir¬ 
kung zur lebensrettenden wird oder ob der erzielte Erfolg sofort wieder 
verloren geht. Daß auch hier unter Umständen eine energische Digitalis¬ 
behandlung die Aderlaßwirkung unterstützen muß, ist selbstverständlich. 

Des weiteren bespricht Kottmann den Aderlaß bei Hirndruck nach 
Verletzungen. Bei allen Hirndruckzuständen gilt der Aderlaß als kontraindi¬ 
ziert, wenn diese bereits ausgesprochenen Symptome von schwerem, mani¬ 
festem Hirndruck (Beteiligung resp. Anämisierung der Medulla) aufweisen. 
Es besteht in diesem Stadium ein sehr hoher Blutdruck, der eventuell noch 
imstande ist, selbst einen sehr hohen, subarachnoidealen Druck zu über¬ 
winden. Ein Aderlaß würde in diesem Augenblick dazu führen, daß die schon 
an und für sich drohende Anämisierung des Gehirns beschleunigt würde und 
damit der Tod herbeigeführt wird. Bei beginnendem oder wenig fortge¬ 
schrittenem Stadium des Hirndrucks kann jedoch der Aderlaß durch Herab¬ 
setzung des Hirngefäßvolumens und damit des Hirndrucks vorübergehend 
günstig wirken. 

Bei der Apoplexia sanguinea wird zwar der Aderlaß sehr häufig an¬ 
gewandt, doch stimmt die klinische Beobachtung der meisten Autoren darin 
überein, daß ein Erfolg sehr selten erzielt wird. 

Häufig angewandt wurde auch der Aderlaß bei Störungen im Pfort¬ 
adergebiet. Wohl haben die Versuche am Hunde gezeigt, daß durch große 
Blutentziehungen der Druck in der Pfortader verringert werden kann, so 
daß bei pathologischen Stauungen im Gefäßgebiet der Pfortader der Ader¬ 
laß theoretisch begründet erscheint. Es kann denn auch bei Stauungen in 
dem betreffenden Gebiet, die durch Herzinsuffizienz bewirkt werden, durch 
den Aderlaß eine gewisse Unterstützung der Digitalistherapie erzielt werden. 
Eine wesentliche Indikation dürfte bei den hier in Rede stehenden Zuständen 
für den Aderlaß nicht bestehen. Speziell bei der sogenannten Plethora ab- 


Digitized by 


Google 



Aderlaß. 


13 


dominalis der alten Ärzte ist vor starkem Aderlaß zu warnen, da der Blut¬ 
verlust oft schlecht vertragen wird. 

Hierher gehört auch die Besprechung des Aderlasses bei vermehrter 
Blutmenge, die durch Kenntnis der Polycythämie eine gewisse objektive 
Grundlage erhalten hat. Doch ist diese Krankheit bisher noch zu selten be¬ 
obachtet worden, um bezüglich der theoretisch einleuchtenden Indikation des 
Aderlasses klinische Erfahrungen zu besitzen. 

Beim Hitzschlag, bei der Viskositätszunahme des Blutes infolge Wasser¬ 
verarmung, die nach Senftleben auch infolge von freiwerdenden und in vivo 
zu Gerinnungen führenden Fibrinfermenten hervorgerufen wird, erscheint ein 
Aderlaß in Gemeinschaft mit ergiebiger Wasserzufuhr zur Entlastung der 
schwer gehemmten Zirkulation indiziert. Es konnte gezeigt werden, daß 
durch einen Aderlaß die Viskosität des Gesamtblutes zum Sinken gebracht 
werden kann, und Kottmann konnte auch in einem menschlichen Fall zeigen, 
daß nach einem Aderlaß von 300 cm 3 Blut die Viskosität des Blutes sofort 
sank und noch 21 Tage nachher etwas unter dem ursprünglichen Wert war. 
Die Abnahme hängt nach ihm mit der Verminderung der Blutkörperchen¬ 
zahl und dem nach dem Aderlaß vermehrten Lymphzufluß zusammen. Es 
kann aber aus den Veränderungen der Blutviskosität infolge auftretender 
Kompensationsvorgänge nicht eine direkte Beeinflussung der Herztätigkeit 
abgeleitet werden, so daß bei vermehrter Viskosität jedenfalls ein therapeu¬ 
tischer Aderlaß noch nicht begründet erscheint. 

Neben dem Moment der mechanischen Entlastung der Blutzirkulation 
kommt dem Aderlaß auch die Bedeutung zu, toxische Stoffe aus dem Blut 
zu entfernen. Wenn auch naturgemäß die in einem bestimmten Quantum 
Blut enthaltene Menge des Giftes nur relativ unbedeutend sein kann, so 
bedingt ein Aderlaß dennoch eine toxische Entlastung dadurch, daß im Or¬ 
ganismus das Bestreben besteht, die dem Aderlaß verloren gegangene 
Flüssigkeitsmenge sehr rasch durch zuströmende Lymphe auszugleichen. 
Dieser blutwärts gerichtete Lymphstrom bewirkt unter pathologischen Ver¬ 
hältnissen, daß die schädlichen oder toxischen Substanzen aus der Lymphe 
und den Organen, in denen sie aufgestapelt waren, ins Blut und damit 
weiter aus dem Organismus eliminiert werden. Exakt nachgewiesen ist die 
Kochsalzausscheidung aus der Lymphe ins Blut naeh Aderlaß, so daß bei 
Fällen von Nephritis und Urämie, in denen es bekanntlich zur Retention 
von Kochsalz kommt, der Aderlaß eine Entlastung der Lymphe und Gewebe 
bedeutet. 

Für die Aderlaßwirkung bei der Urämie kommt auch noch in Be¬ 
tracht, daß hier die Hirnsymptome im Vordergrund des klinischen Bildes 
stehen; welches auch immer die richtigen Theorien bezüglich der Urämie 
sein mögen, zweifellos bestehen Beziehungen zwischen Hirndruck und ur¬ 
ämischen Erscheinungen. Man wird annehmen können, daß bei der Urämie 
auch im Gehirn selbst Retention von Stoffwechselprodukten und Kochsalz 
besteht und daß die Kochsalzretention im Gehirn ebenso wie in den übrigen 
Körperteilen zu Ödemen führt; die günstige Wirkung des Aderlasses bei 
Urämie, die man nicht selten beobachtet, kann also auf verschiedene Weise 
erklärt werden. Jedenfalls soll man, wie Kottmann mit Recht bemerkt, den 
Aderlaß bei der Urämie nicht mit einer nachfolgenden Infusion von physio¬ 
logischer Kochsalzlösung kombinieren, um nicht wieder einen kocbsalzhal- 
tigen Lymphstrom nach dem Gehirn zu leiten. 

Bei Eklampsie ist der Aderlaß seit den Empfehlungen Zweifels häufig 
aogewendet worden. Bekanntlich steht die moderne Gynäkologie auf dem 
Standpunkt, bei eintretender Eklampsie sofort die Entbindung einzuleiten. 
Erfolgt dieselbe unter Blutverlust, so erübrigt sich naturgemäß ein Aderlaß; 
bei unblutiger Entbindung würde die Indikation zum Aderlaß fortbesteben. 


Digitized by 


Google 



14 


Aderlaß. — Adrenalin. 


Aach bei gewöhnlichen Vergiftungen mit Kohlenoxyd. Blausäure und 
anderen ist der Aderlaß oft von guter Wirkung; da es sich hier um die 
alleinige Entfernung von Gift aus dem Blute handelt, muß der Aderlaß sehr 
ausgiebig sein und mit Kochsalzinfusionen kombiniert werden. 

Endlich ist der Einfluß des Aderlasses auf das Knochenmark eine 
physiologisch festgestellte Tatsache. Franz Müller erblickt den Grund der 
Anregung der Hämatopoese bei Aderlaß in einer herabgesetzten Sauerstoif- 
versorgung des Knochenmarks. Mit Erfolg ist diese exzitierende Aderla߬ 
wirkung vor allem bei Chlorose angewendet worden. Natürlich wird man es 
nur in den Fällen versuchen, wo die übrigen Methoden nicht zum Ziele ge* 
führt haben. 

Bei schweren Anämien wird der Aderlaß im allgemeinen nicht geübt 
und gilt als kontraindiziert; dennoch rät Kottmann, in den hoffnungslosen 
Fällen auch hier den Aderlaß zu versuchen. 

Im voraus läßt es sich nicht entscheiden, ob das Knochenmark über¬ 
haupt noch auf den formativen Reiz reagieren wird. Die Schädigungen, 
welche die nachströmende Lymphe bei einem Aderlaß durch Veränderung 
der chemischen Beschaffenheit des Blutes und bei der geringen Widerstands¬ 
fähigkeit der roten Blutkörperchen erzeugen kann und welcher Grund im 
allgemeinen den Aderlaß bei schwerer Anämie kontraindiziert erscheinen 
läßt, kommt natürlich bei den hoffnungslosen Fällen nicht mehr in Be¬ 
tracht. 

Was die Technik des Aderlasses betrifft, so pflegt man denselben auch 
heute noch an einer oberflächlich liegenden Vene in der Ellenbeuge vorzu¬ 
nehmen. Hier sammeln sich die Venen in einem Netz an und treten bei 
leichter Stauung in der Regel am deutlichsten hervor. Man kann jedoch 
zum Aderlaß naturgemäß auch andere hervortretende Venen benutzen, so 
am Hand- oder Fußrücken. Baciklli zum Beispiel empfiehlt bei Nephritis, 
an den Venen des Fußrückens anzustechen, in der Absicht, in direkter Weise 
den Blutdruck in der Vena cava ascendens herabzusetzen und der venösen 
Stauung im Nierengebiet entgegen zu wirken. Zum Anstechen der Vene 
pflegte man früher meist eine Lanzette oder Bistourie zu verwenden ; zweck¬ 
mäßiger ist es, eine ca. 6 cm lange und nicht zu dünne, scharfe Kanüle in 
die Vene einzustechen, so daß das Blut nicht umherspritzen, sondern direkt 
oder mit Hilfe eines Schlauches in einen Maßzylinder geleitet werden kann. 
Man vermeidet auf diese Weise bei aseptischem Verfahren eine unnötige 
Beschmutzung des Bettes und ist sicher, die genau gewünschte Menge von 
Blut abzulassen. Beim einfachen Einschneiden der Vene kommt es unver¬ 
hältnismäßig häufiger zu Gerinnungen. Um genügende Stauung hervorzu¬ 
bringen, genügt das Anlegen einer EsMARCHschen Binde, doch ist damit die 
Unbequemlichkeit verknüpft, die Binde nach Einstechen der Nadel zu lösen, 
wobei es Vorkommen kann, daß die Nadel die Vene lädiert oder wieder aus 
der Öffnung herausgleitet. Zweckmäßiger ist es, durch einen Assistenten die 
Venen einfach mit beiden Händen komprimieren zu lassen, oder aber man 
benutzt eine der heute allgemein gebräuchlichen Armmanschetten zum Blut¬ 
druckmessen, die mit T-Röhren verbunden sind. Der eine Schenkel ist mit 
einem Gebläse verbunden, der zweite mit einem Auslaßhahn für die Luft, 
der dritte mit der Manschette. Man staut durch Aufblasen der Manschette 
und läßt in dem Augenblick, wo die Kanüle eingeführt ist, die Luft ent¬ 
weichen. Zuelzer. 

Adrenalin« Während man seit Addison einen Zusammenhang zwi¬ 
schen Nebennierenfunklion und Pigmentbildung vermutete, hat man erst seit 
1894 genauere Vorstellungen von der Wirkung des Nebennierenextraktes, 
als Oliver und Schäfer 1 ) die Entdeckung machten, daß schon kleine 


Digitized by VjOOQle 



Adrenalin. 


15 


Mengen der Substanz, intravenös beigebracht, eine außerordentlich starke 
Steigerung des Blutdruckes hervorrufen. Seitdem bat die Substanz ein leb¬ 
haftes Interesse gefunden und bald ist festgestellt worden, daß außer der 
Blutdrucksteigerung der Nebennierenextrakt noch zu Pupillenerweiterung, 
Aufrichtung der Haare bei gewissen Tieren und Veränderungen im Kontrak¬ 
tionszustande der Darm- und Blasenmuskulatur führt, alles Erscheinungen, 
welche bei Reizung der sympathischen Nerven der betreffenden Organe ein- 
treten. Außerdem führt die subkutane Injektion zu Glykosurie. Alle die erst 
erwähnten Eigenschaften beruhen auf einer peripheren Einwirkung der 
Nebennierensubstanz auf die Organe; so ist die Blutdrucksteigerung z. B. 
nicht durch eine verstärkte Aktion des vasomotorischen Zentrums in der 
Medulla oblongata bedingt, sondern durch einen peripheren Gefäßkrampf 
hervorgerufen, der auch lokal bei Applikation des Extraktes zu erzielen ist. 

Chemie. Aus den Nebennieren hat man die wirksame Substanz iso¬ 
lieren können, und diese gelangt unter verschiedenen Namen in den Handel, 
so Adrenalin, Suprarenin, Paranepbrin, Epirenan etc. Die chemische Konsti¬ 
tution des Adrenalins ist durch die Arbeiten verschiedener Autoren (siehe 
bei Friedmann 2 ) aufgeklärt worden. Es ist Dioxyphenyläthanolmethyiamin 
von der Formel: 


OH 

OH 


— CH (OH). CH ä . NH CH 3 

\J 


Auch der synthetische Aufbau des Suprarenins ist gelungen, er führte zu 
einem Präparat, das die gleichen Eigenschaften besitzt wie das aus dem 
Organ dargestellte (Biberfeld s ). Auch chemisch dem Suprarenin sehr nahe 
stehende Substanzen, das Dioxyphenyläthanolamin (»Arterenin«) und das 
Äthylaminoazetobrenzkatechin (»Homorenon«) weisen bei der pharmakologi¬ 
schen Prüfung die Wirkungen des Suprarenins auf. Während das erste Prä¬ 
parat bei einer zweimal geringeren Giftigkeit quantitativ in seiner Wirkung 
dem Suprarenin nur wenig nachsteht, besitzt das letztere eine wesentlich 
schwächere Wirkung, so daß erst 4—5°/ 0 ige Lösungen der l°/ 00 igen Supra- 
reninlösung gleichwertig sind (Löwi und Meyer 4 ). Während Braun 5 ) für die 
Lokalanästhesie (nicht die Lumbalanästhesie) das Homorenon bevorzugt, 
scheint sich im allgemeinen das synthetische Suprarenin größerer Beliebt¬ 
heit zu erfreuen. Wenigstens sprechen sich alle Autoren, die über seine An¬ 
wendung berichten, günstig über das Präparat aus (Hoffmann 6 ), Kraupa 7 ), 
Stoll 8 ). In der Tat ist ja auch die Anwendung einer synthetisch hergestellten 
Substanz im allgemeinen sympathischer als die Verwendung von Stoffen, die 
aus Organen stammen. Nach Biberfeld scheint das synthetische Suprarenin 
etwas stärker und gleichmäßiger zu wirken als das aus Nebennieren, was 
jedenfalls auf die absolute chemische Reinheit des ersteren zurückzuführen 
ist. Seine Lösungen sind besser haltbar als die des Präparates aus den Or¬ 
ganen, sie können vor Gebrauch durch Auskochen sterilisiert werden, ohne 
daß die Wirksamkeit leidet. 

Suprarenin ist linksdrehend. Abderhalden und Fr. Müller °) haben die 
Wirkung des linksdrehenden Suprarenins mit der der rechtsdrehenden Form 
verglichen und gefunden, daß die blutdruckerhöhende Wirkung dem d-Supra- 
renin fehlt oder doch nur angedeutet vorhanden ist, jedenfalls, weil Spuren 
von 1-Suprarenin darin enthalten sind. Dabei sprach die Untersuchung des 
Drehungsvermögens für die Reinheit des verwendeten Präparates. »Das 
physiologische Experiment gibt hier offenbar schärfere Resultate als die op¬ 
tische Untersuchung.« Dieser Befund ist auch mit Rücksicht auf den geringen 
Unterschied in der Wirksamkeit des synthetischen Suprarenins im Vergleich 


Digitized by 


Google 



16 


Adrenalin. 


mit dem Präparat ans Nebennieren wichtig, weil auch hier bei chemischer 
Identität beider Substanzen die pharmakologische Prüfung eine, wenn auch 
geringfügige Verschiedenheit ergeben hatte. Das dl-Suprarenin wirkt analog 
seinem Gehalt an lSuprarenin. Weitere Studien über das physiologische 
Verhalten von 1-, d- und dl-Suprarenin haben Abderhalden und Thies 10 ) 
angestellt. In Mengen, in denen l Suprarenin eine ausgesprochene Pupillen¬ 
erweiterung am Froschauge (siehe unten) herbeiführt, bewirkt d-Suprarenin 
keine oder doch nur eine geringfügige Erweiterung der Pupille. dl-Supra¬ 
renin wirkt seinem Gehalte an 1-Suprarenin entsprechend. Auch ruft d-Supra- 
renin in Dosen, die bei Anwendung von 1-Suprarenin Glykosurie bewirken, 
keine Zuckerausscheidung hervor. dl-Suprarenin wirkt auch hier wieder seinem 
Gehalt an l Suprarenin entsprechend. 

Pupillenerweiterung. Die oben schon erwähnte pupillenerweiterndo 
Wirkung des Suprarenins hat Ehrmann 11 ) zur quantitativen Bestimmung 
benutzt, nachdem Meltzer 12 ) auf die Erweiterung der Froschpupille auf¬ 
merksam gemacht hatte. Ehrmann n ) benutzte dazu den enukleierten Bulbus 
des Frosches und verglich die Pupille des einen Auges, das sich in der zu 
prüfenden Lösung befand, mit der des anderen Auges, das in physiologischer 
Kochsalzlösung lag. Benutzt man mehrere Augenp&are und beleuchtet die 
Bulbi hell, so erhält man recht genaue Ausschläge und kann die Grenz¬ 
lösung, in welcher gerade noch eine Pupillenerweiterung eintritt, auf 1 : 10 
Millionen bis 1 : 100 Millionen festlegen. Mit Hilfe dieser Methode, die nur 
einiger Tropfen Flüssigkeit zu einer quantitativen Feststellung bedarf, konnte 
Ehrmann zeigen, daß ins Blut injiziertes Adrenalin nicht nur nicht schnell, 
sondern sogar sehr langsam verschwindet und daß auch nach Wiederabsinken 
des Blutdruckes zur normalen Höhe (nach einer intravenösen Adrenalin- 
injektion) Adrenalin in der mehrfach blutdrucksteigernden Minimaldosis noch 
in der Blutbahn vorhanden sein kann, ohne daß seine Wirkung fortdauert. 
Ferner fand Ehrmann, daß beim normalen Tier Adrenalin sich stets aus den 
Nebennieren in den Blutkreislauf ergießt. Blut, das (nach Unterbindung der 
anderen Gefäße bis auf die Nebennierenvene) aus der Vena cava entnommen 
war, zeigte die charakteristische, pupillenerweiternde Wirkung des Adrenalins, 
während dem Blut aus anderen Venen oder Arterien diese Eigenschaft 
fehlte. 

Gefäßstreifenmethode. Daß aber trotzdem geringe Mengen von 
Adrenalin im normalen Blute auch des ganzen Körpers vorhanden sind, kann 
man aus den Versuchen von 0. B. Meyer 13 ) schließen. Der Autor arbeitete 
mit einer neuen Methode, nämlich mit der Messung der Länge eines Gefä߬ 
streifens, der in verschiedene Lösungen getaucht wurde. An einer solchen 
überlebenden Gefäßwand wirkt Adrenalin, einer warmen Ringerlösung zuge¬ 
setzt, stark verkürzend auf das Gefißstück ein. Aber auch normales Serum 
oder defibriniertes Blut führt zu einer Kontraktion. Es scheint demnach 
auch im normalen Blute Adrenalin enthalten zu sein Dabei erlischt bei 
einem solchen überlebenden Gefäßstreifen die Erregbarkeit für Adrenalin nach 
einiger Zeit, während der Streifen sich noch auf den elektrischen Reiz und 
auf Chlorbaryumzusatz hin kontrahiert, die Muskelerregbarkeit also erhalten 
ist. Diese Tatsache macht es sehr wahrscheinlich, daß Adrenalin an den 
Nervenendigungen angreift. 

Adrenalinämie bei Nephritis. Mit Hilfe dieser beiden Methoden, 
der Pupillenreaktion des ausgeschnittenen Froschauges und der Kontraktion 
des überlebenden Gefäßstreifens, ist man imstande, auch quantitative Unter¬ 
suchungen auf Adrenalin zu unternehmen. Schur und Wiesel u ) haben mit 
Hilfe der Pupillarreaktion den Beweis erbracht, daß im Serum von Nephri- 
tikern der Gehalt an Adrenalin erhöht ist resp. erst durch die Froschbulbus- 
reaktion nachweisbar wird. Diese Feststellung haben Goldziehkr und Moi.xar 


Digitized by 


Google 



Adrenalin. 


17 


bestätigt und gleichzeitig gefunden, daß sich bei chronischer Nephritis immer 
Hypertrophie der Nebennieren mit Einwuchern des Markes in die Rinden¬ 
substanz findet. Die Einverleibung von Nierenparenchym ruft bei Versuchs¬ 
tieren Adrenalinämie, Blutdrucksteigerung und später Hypertrophie der Neben¬ 
nieren hervor. Sesamöl wirkt dem Adrenalin entgegen (siehe unten). Die 
Gefäßstreifenmethode, die mit Rinderarterien vorgenommen wird — mensch¬ 
liche Arterien sind nach dem Tode nicht mehr durch Adrenalin erregbar 
(Schlayer 16 ) —, ist zu vergleichenden Bestimmungen des Adrenalingehaltes 
im Blute, wie Schlayer 17 ) feststellte, nur im artgleichen Blute verwendbar. 
Im artfremden hat vermehrter Adrenalingehalt eine Verminderung der Kon¬ 
traktionswirkung zur Folge. Diese Versuche, Adrenalin im Blute von Ne- 
phritikern nachzuweisen, berühren eng die Frage, ob diese Substanz dauernd 
in den Kreislauf von der Nebenniere aus gelangt, was nach Ehrmann (siehe 
oben) zu bejahen ist, und ob diese dauernde Sekretion ein Mittel des Or¬ 
ganismus ist, den Blutdruck auf einer bestimmten Höhe zu halten. Bei Ne¬ 
phritis wäre dann, dem stärkeren Adrenalingehalt entsprechend, der Tonus 
der Arterien erhöht. 

Dauerwirkung. Was aber diesen Betrachtungen widersprach, war die 
äußerst flüchtige Wirkung des Adrenalins im Tierversuch, die allen Beob¬ 
achtern aufgefallen war. Dies könnte einmal daran liegen, daß Adrenalin sehr 
rasch im Körper zerstört wird; denn man weiß, daß in alkalischen Lösungen 
sehr rasch eine Umwandlung in Oxyadrenalin eintritt, die sich durch Rot¬ 
färbung der Lösungen dokumentiert. Auch beim Stehen an der Luft und im 
Licht nehmen Adrenalinlösungen sehr rasch diese Rosa Verfärbung an. Aber 
nach den Feststellungen von Ehrmann (siehe oben) verklingt die Blutdruck¬ 
steigerung auch dann sehr schnell, wenn noch im Blute genügende Mengen 
von Adrenalin vorhanden sind, genügend, um an einem zweiten Versuchstier 
den Blutdruck in die Höhe zu treiben. Es müssen also die giftempfindlichen 
Apparate gegen den Reiz abgestumpft sein. Diese Fragen nahm Kretschmer 18 ) 
im STRAUBschen Institut experimentell in Angriff. Zunächst konnte er beob¬ 
achten, daß bei intravenöser Injektion einer bestimmten Adrenalin menge 
immer wieder (bis 30mal untersucht) derselbe Effekt eintritt. Läßt man da¬ 
gegen eine Adrenalinlösung mit derselben Geschwindigkeit (Druckflasche, 
Kapillare, Venenkanüle) in die Vene einfließen, wie es also der dauernden 
Sekretion der Nebennieren entspricht, so erhält man auch eine konstante 
Adrenalinwirkung: Der Blutdruck stellt sich auf ein höheres Niveau ein, das 
er innehält, solange die Einflußgeschwindigkeit ungeändert bleibt, um abzu¬ 
sinken, wenn die Zufuhr von Adrenalin aufhört. Es könnte also demnach 
das Adrenalin im Sinne eines »Reizgiftes« von Straub wirken, d. h. nur 
so lange, als es in die giftempfindliche Zelle eindringt, seine Wirkung ent¬ 
falten. durch die Differenz der Konzentration außen im Blut und innen im 
Zellprotoplasma als Reiz fungieren. Daß schließlich ein Gleichgewicht nicht 
erreicht wird wie beim Muskarin, liegt daran, daß Adrenalin im Organismus 
zerstört wird, weil es empfindlich gegen Alkali ist. Hört die Zufuhr von 
Adrenalin auf, so erfolgt in kurzer Zeit Absinken des Blutdruckes zur Norm. 
Diese »Rückkehrzeit« konnte nun Kretschmer 19 ) bis auf das 5 —6fache 
verlängern, wenn er gleichzeitig oder kurz vorher eine dünne Salzsäure¬ 
lösung intravenös gab und so die Alkaleszenz des Blutes herabsetzte. In 
gleicher Weise wie hier die Blutdruckwirkung hat Straub 20 ) auch die Adre- 
nalinglykosurie untersucht. Auch sie tritt erst bei einer bestimmten Größe 
des Adrenalinzuflusses ein, läßt sich lange Zeit bei gleicher Giftzufuhr kon¬ 
stant erhalten und ist in gewissen Grenzen proportional der einfließenden 
Adrenalinmenge. Die absolute Reizschwelle liegt hier bei derselben Adre¬ 
nalinmenge wie bei der gefäßerregenden Wirkung. Man kann aus diesen 
Versuchen schließen, daß die Nebennierensubstanz an denselben Sympathikus- 


Encyclop. Jahrbücher. N. F. VUI. (XVII.) 


Digitized by 


2 

Google 



18 


Adrenalin. 


fasern angreift, deren zentrale Reizung beim Zuckerstich den Diabetes her¬ 
vorruft. Adrenalin scheint somit in der Norm den Tonus der Gefäßmusku¬ 
latur zu heben und in gleicher Weise auch »den ,Zuckertonus‘ im Blute, 
d. h. eben die Zuckerkonzentration. Im pathologischen Falle kann es diesen 
Tonus auf unerträgliche Werte erhöhen, so daß Glykosurie eintritt«. Schließ- 
lieh weist Straub darauf hin, daß die Methode des kontinuierlichen Adre¬ 
nalinzuflusses eine quantitative Ermittlung der Dosen zuläßt, während bei 
der subkutanen Injektion die überwiegende Menge Adrenalin zerstört wird. 

Wanderung im Nerven. Für eine Wanderung des Adrenalins im 
Nerven sprechen die Versuche von Lichtwitz 81 ). Wenn man alle Weichteile, 
mit Ausnahme des Nervus ischiadicus, an einem Bein eines Frosches durch¬ 
trennt und in den Lymphsack dieses Unterschenkels Adrenalin injiziert, so 
treten an dem Frosch allmählich die Zeichen einer Adrenalinvergiftung auf, 
also Pupillenerweiterung und Hautsekretion. Ein ähnlicher Transport von 
Strychnin, Atropin, Curare durch den Nerven findet nicht statt. 

Wechselbeziehungen mit anderen Organen. Die pupillenerwei¬ 
ternde Wirkung des Adrenalins tritt bei den meisten Tieren nach intra¬ 
venöser Injektion dieser Substanz ein, nicht jedoch, wenn man Adrenalin¬ 
lösung in den Bindehautsack träufelt. Exstirpiert man dagegen das Ganglion 
cervicale sup., so tritt Mydriasis nach Adrenalininstillation auf. Es müssen 
also von diesem Ganglion Hemmungen ausgehen, die von den geringen re¬ 
sorbierten Mengen Adrenalin nicht überwunden werden. Eine interessante 
Beobachtung konnte 0. Löwi 22 ) machen, indem er annahm, daß vom Pankreas 
normalerweise Hemmungen ausgeben, die z. B. für gewöhnlich die Zucker¬ 
mobilisierung regulieren und deren Wegfall zum Pankreasdiabetes führe. 
Letzterer käme dann durch Wegfall sympathischer Hemmungen zustande, 
es überwiegen die sympathischen Reizungen durch Adrenalin, geradeso wie 
nach Injektion von Adrenalin. Wenn sich diese Hemmungen, vom Pankreas 
ausgehend, auch auf andere sympathische Apparate erstrecken wie die Pu- 
pillarnerven, so müßten diese Sympathikusfasern durch Pankreasexstirpation 
in einen Zustand abnormer Empfindlichkeit geraten, also auf Adrenalin 
leichter reagieren als in der Norm. Das Experiment hat diese Erwägungen 
bestätigt. Nach Pankreasexstirpation wird die Instillation von Adrenalin¬ 
lösung in den Bindehautsack wirksam, die Pupille wird weit, geradeso wie 
nach Exstirpation des Ganglion cerv. sup., durch Wegfall von Hemmungen. 
Nimmt man nun am Menschen Einträufelungen einer l°/ 00 igen Adrenalin¬ 
lösung vor, so ist nach Löwi der positive Ausfall der Adrenalininstillation, 
wofern er nicht vielleicht Ausdruck für eine auch sonst diagnostizierbare 
Erregbarkeitssteigerung des Sympathikus (Hyperthyreoidosis, Basedow) ist, 
charakteristisch für das Bestehen einer Pankreasaffektion. Tritt er bei Dia¬ 
betikern ein, so haben wir sonach mit aller Wahrscheinlichkeit den Diabetes 
als Pankreasdiabetes aufzufassen. Andrerseits beweist sein Fehlen beim Dia¬ 
betes nichts gegen dessen pankreatogenen Ursprung. Weitere interessante 
Beiträge zu diesen Wechselbeziehungen der Drüsen mit innerer Sekretion 
brachten Eppinger, Falta und Rüdinger 2S ), indem sie schilddrüsenlosen oder 
pankreaslosen Hunden Adrenalin injizierten oder die Tiere mit Organpräpa¬ 
raten fütterten. Sie konnten feststellen, daß Schilddrüse und chromaffines 
System im Verhältnis gegenseitiger Förderung zueinander stehen und im 
Verhältnis wechselseitiger Hemmung beim Pankreas. Bei Überfunktion einer 
Drüse kommt es zu relativer Insuffizienz der (auch sonst) gehemmten an¬ 
deren Drüse. Bei Ausfall einer Drüsenfunktion überwiegen die Antagonisten. 
Nach Pankreasexstirpation kommt es wegen Wegfall des inneren Sekretes 
zu einer Störung der Zuckerverbrennung, weiterhin kommt es aber durch 
Wegfall der Hemmungen zu gesteigerter Mobilisierung der Kohlehydrate 
durch das Adrenalin und zu gesteigertem Eiweißumsatz und vermehrter 


Digitized by ^.ooQle 



Adrenalin. 


19 


Fett Verbrennung durch das Sekret der ungehemmten Schilddrüse. Nach 
Schilddrüsenexstirpation tritt Einschränkung der Eiweißzersetzung auf, träge 
Kohlehydratmobilisierung (= Wegfall der Förderung nach dem chromaffinen 
System) und Überfunktion des Pankreas (= Wegfall der Hemmung), erkenn¬ 
bar an dem Ausbleiben der Olykosurie nach Adrenalininjektion; letztere 
mobilisiert zwar auch in diesem Falle die Kohlehydrate, sie werden aber 
▼erbrannt, wodurch die Eiweißzersetzung noch weiter herabgeht. 

Die Stoffwechselstörungen des Adrenalins, das man einem Tier injiziert, 
würden sich also als Überfunktion des chromaffinen Systems folgendermaßen 
erklären lassen: Direkte Wirkung: überstürzte Kohlehydratmobilisierung; 
indirekte Wirkungen: gesteigerte Eiweißzersetzung (= Förderung der Thy¬ 
reoidea) und gestörte Zuckerverbrennung (= Hemmung des Pankreas). 

ln Zusammenhang mit diesen Wechselbeziehungen steht die Unwirk¬ 
samkeit einer Adrenalininjektion auf die Zuckerausscheidung, wenn man 
gleichzeitig Pankreasextrakt oder ein Pankreaspräparat gibt, wie Zuelzer 24 ) 
gefunden hat. 

Osteomalazie und Rachitis. Einen Einfluß der Nebennieren auf die 
Verknöcherung des Skeletts hat Bossi 26 ) vermutet und bei Osteomalazie 
durch Darreichung von Nebennierenpräparaten in einigen Fällen völlige Hei¬ 
lung gesehen. Weiterhin konnte Bossi auch experimentell den Einfluß des 
Adrenalins auf die Kalkablagerung erweisen, und zwar an Kühen, die durch 
Exstirpation der Nebennieren künstlich an Osteomalazie erkrankten. Auch 
bei Rachitis hat Bossi 2Ö ) von der Adrenalinbehandlung Gutes gesehen. An¬ 
dere Autoren berichten teils über glänzende Erfolge der Adrenalinkur bei 
Osteomalazie, teils sahen sie ein völliges Versagen des Mittels. Tanturri 27 ) 
hat einen schweren Fall von Osteomalazie durch 9 subkutane Injektionen 
von je % cm z der Lösung 1:1000 geheilt. Reinhardt 28 ) hat eine erheb¬ 
liche Besserung durch 45 Injektionen, jedesmal 1—3 Spritzen einer Lösung 
1 : 2000, erzielt, ohne Nebenerscheinungen zu sehen. Puppel 29 ) konnte einen 
Fall schwerster Osteomalazie durch 4 Injektionen von 1 cm 8 der Lösung 
1 :5000 heilen. Es trat Erbrechen, Herzklopfen, Zittern, Präkordialangst ein. 
Schon 24 Stunden nach der ersten Injektion konnte die Patientin allein aus 
dem Bette aufstehen. Bei einer zweiten Patientin hatte der Autor mit der¬ 
selben Behandlung gar keinen Erfolg. Ebenso ließ das Mittel Kaessmann 80 ) 
im Stich, v. Velits 31 ) sah so heftige Vergiftungserscheinungen nach % cm 8 
der Lösung 1 : 1000 auftreten, in bedrohlichen Herzsymptomen bestehend, 
daß er die Kur nicht weiter fortsetzte. Vielleicht liegt die Ursache dieser 
Verschiedenheit des Erfolges und der Nebenwirkungen in der Art der Appli¬ 
kation. Wenn man mit Straub 20 ) annehmen muß, daß von der subkutan 
beigebrachten Adrenalinmenge nur 6°/ 0 zur Wirkung kommen und der Rest 
von 94% zerstört wird, so kann leicht eine gewisse Verschiedenheit der 
Resorption durch Zufälligkeiten eintreten und einmal die doppelte Dosis 
(dieser 6%), das andere Mal die Hälfte schließlich zur Wirkung gelangen. 
Man denke an Verschiedenheiten der Zirkulation, des Fettpolsters und end¬ 
lich an die gefäßverengende Wirkung der Substanz selbst, die die Resorp¬ 
tion behindert und einer Zerstörung in loco günstig ist. Es muß also, da 
die Verzögerung der Aufnahme hierbei mit Zerstörung der Substanz gleich¬ 
bedeutend ist, eine Ungewißheit, wieviel eigentlich von der injizierten Menge 
wirken wird, resultieren. An umfassendem Material hat Stoeltzner 82 ) die 
Beziehungen zwischen Nebennieren und Rachitis festgestellt. Er konnte zeigen, 
daß die Nebennieren Rachitischer abnorm wenig Adrenalin enthalten, und 
zwar ist diese funktionelle Insuffizienz der Nebennieren die Ursache der Ra¬ 
chitis, weil sie auch bei Kindern sich findet, welche — noch — nicht an 
Rachitis litten. Wie die Befunde Bossis an Kühen, welchen die Nebennieren 
entfernt waren, so zeigten auch die Bilder der Rippen von Meerschweinchen, 




20 


Adrenalin. 


denen Stoeltzker die Nebennieren exstirpiert hatte, osteoides Gewebe in 
abnorm großer Ausdehnung. Die klinischen Erfolge mit der Adrenalinlosung 
waren gute. Stoeltzker gab auf eine Flasche Fencheltee zu 100 cm 5 einen 
Tropfen einer l°/ 00 igen Adrenalinlosung. Dies stellte die Tagesdosis dar. 

Exzitierende Wirkung. In Fallen von peritonitischer Blutdruck¬ 
senkung hat Heidekhaik zur Bekämpfung des Kollapszustandes intravenöse 
Adrenalin-Kochsalzinjektionen angewandt. Weitere günstige Berichte aus seiner 
Abteilung liegen von Hoddick **) vor. Er hat sich an zahlreichen Fällen von 
schwerer Peritonitis nach Appendizitis etc. von der vorzüglichen Wirksam¬ 
keit der Adrenalin-Kochsalzinfusionen überzeugen können; das Mittel leistet 
mehr als Kampfer, Koffein etc. Zur Anwendung kam 8 /t—1 J physiologische 
Kochsalzlösung mit 6—8 Tropfen einer Adrenalinlöscng 1 : 1000, auf 41° er¬ 
wärmt. Die Kochsalzinfusionen allein ergaben keine nennenswerten Resultate. 
Ferner berichtet Rothschild * 4 ) über die lebensrettende Wirkung der Adre¬ 
nalin- Kochsalzinfusionen in einem Falle von peritonealer Sepsis. Die erste 
Infusion wurde intravenös, die zweite intramuskulär gemacht mit »nahezu 
ebenso eklatantem Erfolg«. Bei Blutungen sowie bei Peritonitis hat auch 
Kothe 8& ) die Adrenalin-Kochsalzinfusionen gemacht und gutes davon gesehen. 
Bei Kollaps in der Lumbalanästhesie hält Kothe die Injektion der Adre¬ 
nalinlösung 1: 1000 (Vs—I cm * der käuflichen 0’l°/ 00 igen Epirenanlösung) 
für das wirksamste Mittel. 

Bei atonischer Nachblutung. In der geburtshilflichen Praxis hat 
Neu 80 ) von dem Suprarenin Gebrauch gemacht. Er gab subkutan bzw. intra¬ 
muskulär 0*1—0*3 mg pro dosi und sah sofort oder nach Sekunden bis 
wenigen Minuten intensive Uteruskontraktionen am puerperalen Uterus auf- 
treten. Es resultierte dann für Stunden eine gesteigerte Uterusmuskelerreg¬ 
barkeit, welche sich durch häufigere und kräftigere Kontraktionen doku¬ 
mentierte. Läßt z. B. bei einer atonischen Nachblutung die subkutan-intra¬ 
muskuläre Injektion von 0*0001—0*0003 (d. h. 1—3 Spritzen der aufs lOfache 
verdünnten Stammlösung 1 : 1000) im Stich, so wendet Neu die »perkutane 
uteromuskuläre Injektion« an. Die Methode ist folgende: »Nachdem man 
sich überzeugt hat, daß die Blase leer ist, umfaßt man mit der linken Hand 
kegelkugelartig den Fundus uteri, drängt ihn gegen die vordere Bauchwand 
an, die physiologische Anteflexio so verstärkend, und sticht die Kanüle, die 
der gefüllten und völlig luftentleerten Pravaz(Rekord-)spritze aufsitzt, zwei 
Finger breit unter dem Nabel in der Medianlinie durch die mit Äther kräftig 
desinfizierten Bauchdecken in die Uterussubstanz ein. Zu den Injektionen 
benutzt er eine besonders feine Kanüle von 8*5 cm Länge und einer 1 mm 
betragenden Lichtung, wie sie beispielsweise auch zu Hirnpunktionen benutzt 
wird; indessen genügt eine weniger lange Kanüle von 6—7 cm Länge. Auf 
eine größere Tiefe wie in maximo 1*5 cm durch Bauchdecken + Uterussub¬ 
stanz für gewöhnliche Verhältnisse einzustechen, ist zu widerraten. So¬ 
bald die Kanüle sich in der Muskelsubstanz befindet, was man deutlich aus 
dem Konsistenzunterschied erkennt, soll man im allgemeinen nicht tiefer 
Vordringen, es sei denn, daß sich dem Injektionsdruck ein Widerstand be¬ 
merkbar macht. Dieser selbst sei nicht brüsk. Die Einzeldosis schwankt 
zwischen 0*00002 und 0*00001.« Nach einer solchen Injektion wird der Uterus 
augenblicklich steinhart. »Diese Steinhärte klingt nach spätestens 2 Minuten 
ab, um eine ausgesprochene Tonussteigerung folgen zu lassen, so daß es 
nur des minimalsten mechanischen Reizes bedarf, um den Muskel in extreme 
Kontraktion zu versetzen. Diese gesteigerte Erregbarkeit hält über Stunden 
an.« Zu hüten hat man sich dabei nur, daß man nicht in ein größeres Ge¬ 
fäß gerät, dann treten die Erscheinungen der intravenösen Adrenalininjek¬ 
tion auf: Blässe der Lippen, leichte Irregularität oder Beschleunigung des 
Pulses. In solchen Fällen muß die Injektion sofort unterbrochen werden, 


Digitized by 


Google 



Adrenalin. 


21 


sonst kommt es zu stürmischen Herzpalpitationen. Man kann diese Zufälle 
meist vermeiden, man sucht durch Massage dem Uterus eine festere Kon¬ 
sistenz zu geben, man injiziere möglichst nicht in die Plazentargegend; nur 
in Fällen größter Not spritze man auch in die schlaffe Gebärmutter ein. 
Meist wird man mit der oben angegebenen subkutan-intramuskulären Injek¬ 
tion Auskommen, »nur in den extremsten Fällen, wo mit jeder Minute die 
Lebensgefahr steigt, wo die üblichen Mittel versagt haben, wo insbesondere 
die subkutan-intramuskuläre Suprarenininjektion nicht besonders wirksam 
war, was sich allerdings nur sehr selten ereignen dürfte«, greife man zur 
perkutanen uteromuskulären Injektion. 

Arterionekrose. Seit Josue die Mitteilung machte, daß es durch 
intravenöse Adrenalininjektionen gelinge, beim Kaninchen in ein paar Wochen 
Kalkablagerungen und Dilatationen an der Aorta zu erzeugen, sind diese 
Befunde von verschiedenen Autoren bestätigt worden (Erb 87 ), Fischer' 80 ), 
v. Rzbntkowski 8ö ), Külls 40 ), Bennecke 41 ). Alle Autoren stimmen darin über¬ 
ein, daß die durch Adrenalin bzw. ähnlich wirkende Stoffe erzeugten Gefä߬ 
erkrankungen in einer primären Schädigung der Muskelzellen der Media 
bestehen, daß dann die elastischen Elemente angegriffen werden und erst 
sekundär ein Übergreifen des Krankeitsprozesses auf die Intima stattfindet. 
Es ist also die Adrenalinnekrose des Gefäßes durchaus von der mensch¬ 
lichen Arteriosklerose verschieden. Des weiteren wurde von Bennecke 41 ) 
festgestellt, daß auch Chlorbarium, eine Substanz, die den Blutdruck wie 
Adrenalin stark in die Höhe treibt, die gleichen Aorten Veränderungen her¬ 
vorruft, und zwar in 100% der Fälle, desgleichen Hydrastin in 70%, 
Hydrastinin in 91%. Verhindert man die blutdrucksteigernde Wirkung des 
Adrenalins durch gleichzeitige Gaben von Spermin, so trat trotzdem in 
einer freilich geringeren Zahl von Fällen die typische Gefäßerkrankung auf. 
Auch andere Stoffe, welche die Blutdrucksteigerung durch Adrenalin nicht 
verhindern, können die Erkrankung hemmen resp. verhindern; so z. B. wie 
Falk/*) zeigte: junge Bouillonkulturen von Staphylococcus aureus, abge¬ 
tötete Staphylokokkenleiber, Pyocyaneusprotein, Terpentinöl, Aleuronat, 
Jodipin und Sesamöl. Dagegen hindert Amylnitrit nach Braun 48 ) und Water¬ 
mann 44 ) trotz seiner blutdruckerniedrigenden Wirkung das Auftreten der 
Verkalkung nicht. Ebenso hat Schrank 46 ) konstatiert, daß die Arterio¬ 
nekrose, die durch Adrenalin hervorgerufen wird, durch Jodkaliinjektionen 
nicht beeinflußt wird, wohl aber durch Jodipininjektionen; der wirksame 
Bestandteil des letzteren ist aber nicht das Jod, sondern das Sesamöl. Der¬ 
selbe Autor fand gleichfalls, daß Spermin in vielen Fällen die Entstehung 
der Arterionekrose durch Adrenalin verhindert. Es muß demnach Adrenalin 
eine für die Gefäßmuskulatur giftige Substanz sein; seine blutdrucksteigernde 
Wirkung kommt nur unterstützend für die Entstehung der Verkalkung in 
Frage und stellt nicht die alleinige Ursache derselben dar. Veränderungen 
in der Leber nach Adrenalininjektionen sind gleichfalls mehrfach beschrieben 
worden (Citron 46 ), Grober 47 ), Miller 48 ); ob es sich dabei um eine spezi¬ 
fische Giftwirkung oder nur um Folgezustände der Gefäßerkrankungen mit 
ihren Zirkulationsstörungen handelt, läßt sich zurzeit nicht mit Sicherheit 
entscheiden. Auch am Gehirn hat Shima 49 ) Veränderungen der Nervenzellen 
und der Gefäße beschrieben. 


Literatur: *) Siehe Eulenhurgs Encyclopäd. Jahrb., XIV, N. F., 5. Jahrg., 1907, 
pag. 414. — *) Fhiedmann, Zur Kenntnis des Adrenalins (Suprareuins). Beitr. z. chem. Phys. 
o. Patb„ 1904, VI, pag. 92 und Die Konstitution des Adrenalins. Ebenda, 1906, VIII, pag. 95. 
— Bibkrfkld, Pharmakologische Eigenschaften eines synthetisch dargestellten Suprareuins 
und einiger seiner Derivate. Med. Klinik, 1906, Nr. 45. — 4 ) Löwi und Meyer, Arch. f. exp. 
Path. u. Pharm., L11I, pag. 213. — 6 ) Braun, Lokalanästhesie. 1907, 2. Aufl. — 6 ) Hoffmann, 
Über Erfahrnngen bei der Verwendung synthetischen Suprarenins in der Lokalanästhesie. 
Münchener med. Wochenschr., 1907, Nr. 40, pag. 1981. — 7 ) Kraupa, Untersuchungen Uber 


Digitized by 


Google 



22 


Adrenalin. — Athylchlorid als Inhaiationsanfistbetikum. 


4a» fntb^tisebe Soprarenin. Med. Klinik, 1908, Nr. 36, pag. 1374. — *> Stojll, Über den 
Wert der Kombination der Lokalanästhetika mit Nebennierenpräparaten. Med. Klinik, 1909, 
Nr. 4, pag. 136. — *) ABDOBiLDn und Fa. Müll*» , Über das Verhalten des Blotdrnckes 
naeh intravenöser Einführung von 1-, d- und dl-Sup raren in. Zeitsehr. f. php. Chemie, 1908, 
LVHI, pag. 185. — lf ) ABonBiLDo and Thibs, Weitete Stadien über das physiologische 
Verhalten ron I-, d- and dl-Saprarenin. Zeitschr. 1. phys. Chemie, 1909, L1X, pag. 22. — 
n > Ehkxiiv, Über eine physiologische Wertbestimmung des Adrenalins and seinen Nachweis 
im Blote. Archiv f. exp. Patb. u. Pharm., 1905, LM, pag. 97. — l2 ) Kultier t Zentral bl. 1. 
Physiol., 1904, XVIII, pag. 317. — **) O. B. Meto, Über einige Eigenschaften der Gefäß* 
moskolatnr mit besonderer Berücksichtigung der Adrenaliowirknng. Zeitschr. f. Bio!.. 1906, 
XLVI11, N. F., 30, pag. 352. — 14 > Wiesel und Schur, Wiener kÜn. Wochen sehr., 1907, 
Nr. 23 u. 27. — iS j Goldzikhkr and Molkar, Beiträge xar Frage der Adrenalinämic. Wiener 
klin. Wochen sehr., 1908, Nr. 7. — 19 ) Sch lat er, Zar Frage drncksteigernder Substanzen im 
Blote bei chronischer Nephritis. Deutsche med. Wochen sehr., 1907, Nr. 46, pag. 1897. — 
17 ) Schlater, Zor Frage der drncksteigernden Substanzen im Blote bei Nephritis. Münchener 
med. Wochen sehr., 1908, Nr. 50, pag. 2604. — '*) Kretschmer, Danerode Blotdrocksteigerung 
durch Adrenalin und Aber den Wirkungsmechanismos des Adrenalins. Archiv f. exp. Path. a. 
Pharm., 1907, LV1I, pag. 423. — *•) Kretschmer, Über die Beeinflassong der Adrenalin Wir¬ 
kung durch Säure. Ebenda, 1907, LVII, pag. 438. — Straub, über den Mechanismus der 
Adrenalinglykosurie. Münchener med. Wochenscbr., 1909, Nr. 10, pag. 493. — 21 ) Lichtwitz, 
Über Wanderung des Adrenalins im Nerven. Archiv f. exp. Patb. o. Pharm., LVHI, pag. 221. 

— **) O. Löwi, Über eine neue Fonktion des Pankreas. Arch. f. exp. Patb. u. Pharm., 1908, 
LIX, pag. 83. — **) Eppingeb, Falta und Rüdingeb, Über die Wechselbeziebnngen der 
Drüsen mit innerer ßekretion. Zeitschr. f. klin. Med.. 1908, LXVI, H. 1 u. 2. — u ) Zuklzkr, 
Untersuchungen Uber den experimentellen Diabetes. Verband! d. 24 Kongr. f. innere Med., 

1907, pag. 258. — * s ) Bossi, La ginecologia moderna, 1908, Nr. 1, zitiert nach Therapeot. 
Monatsb., September 1908, pag. 481. — * e ) Bossi, Zentralbl. f. Gyn., 1907, Nr. 3 u. 6, zitiert 
nach Therapeut. Monatsb., April 1908, pag. 209. — ,T ) Tantcrbi, Zentralbl. f. Gyn., 1907, 
Nr. 34, zitiert nach Therapeut. Monatsb., März 1908, pag. 164- — **) Rkixhakdt , Adrenalin 
ond Osteomalazie. Zentralbl. f. Gyn., 1907, Nr. 52, zitiert nach Münchener med. Wochenscbr., 

1908, Nr. 2, pag. 88. — *•) Puppel, Über die Behandlung der Osteomalazie mit Neben¬ 
nierenpräparaten. Zentralbl. f. Gyn., 1907, Nr. 49, zit n. Münchener med. Wochenscbr., 1907, 
Nr. 52, pag. 2612.— *°) Kaessmahn, Ein Beitrag der Adrenalinbehandlung der Osteomalazie 
nach Bossi. Zentralbl.!Gyn., 1907,Nr.43,44, zit.n.Münchener med.Wochenschr., 1907, Nr. 46, 
pag. 2294. — **) v. Velits, Über Adrenalin Wirkung bei Osteomalazie. Zentralbl. f. Gyn., 1907, 
Nr. 29, zitiert nach Münchener med. Wochenschr., 1907, Nr. 31, pag. 1547. — **) Stoeltzxbr, 
Nebennieren und Rachitis. Med. Klinik, 1908, Nr. 18, 19, 20, 21, 22. — **) Hoddice, Über 
die Behandlung der peritonitischen Blntdrucksenkung mit intravenösen Adrenalin-Kochsalz- 
»njektionen. Zentralbl. f. Chirurgie, 1907, Nr. 41. — * 4 ) Rothschild, Über die lebensrettende 
Wirkung der Adrenaliu-Kochsalzinfusionen in einem Falle peritonealer Sepsis. Münchener 
med. Wochenscbr., 1908, Nr. 12, pag. 624. — * 5 ) Kothb, Die Behandlung von Kollapsznständeu 
mit intravenösen Adrenalininjektionen. Die Therapie der Gegenwart, Februar 1909, pag. 95. 

— ") Neu, Über die Verwendbarkeit des Suprarenins in der geburtshilflichen Therapie. Die 
Therapie der Gegenwart, September 1907, pag. 400. — 37 ) Erb, Archiv!, exp. Path. u. Pharm., 
1905, LIII, pag. 173. — **) Fischer, Münchener med. Wochenschr., 1905, pag. 46. — 
") v. Rzehtkowski, Berliner klin. Wochenschr., 1904. — 40 ) Külbs, Archiv f. exp. Path. u. 
Pharm., 1905, LIII, pag. 140. — 41 ) Bbnneckb, Hab.-Scbr., Rostock 1908. — 4 *) Falk, Zeit¬ 
schrift f. exp. Path. n. Therap., 1907, IV, H. 2. — 43 ) Braun, Münchener med. Wochenschr., 
1905. pag. 533. — 44 ) Watermahn, Vibchows Archiv, CXCI, H. 2. — 4S ) Schrank, Zeitschr. 
f. klin. Med., LXIV, H. 5 n. 6. — 4 *) Citrom, Zeitschr. f. exp. Path. u. Ther., 1905. pag. 649. 

— 41 ) Grober, Zentralbl. f. innere Med., 1908, Nr. 32. — 48 ) Miller, Med. Klinik, 1908, 

Nr. 25. pag. 953. — 49 ) Shima, Neurolog. Zentralbl., 1908, Nr. 4, zitiert nach Deutsche med. 
Wochenschr., 1908, Nr. 10, pag. 433. E. Frey. 

Äthylchlorld als InlialationsaiiAsllietlkam. Fast so 
lange, als die Verwendung von Äther oder Chloroform zu Inhalationsnar¬ 
kosen her ist, hat man die Eigenschaften des Äthylchlorids, eingeatmet eine 
Allgemeinnarkose hervorzurufen, gekannt. Bei der vielfachen Anwendung der 
leicht siedenden (bei 12'5°) Flüssigkeit zur lokalen Kälteanästhesie ist es 
zufällig zum Eintritt einer Allgemeinnarkose gekommen, wenn die Zerstäu¬ 
bung und Verdunstung auf dem Zahnfleisch zur schmerzlosen Zahnextrak- 
tion vorgenommen wurde. Es gelangen dann bei der leichten Flüchtigkeit 
der Substanz ziemlich schnell größere Mengen von dem betäubenden Gas in 
die Lungen. Immerhin ist der schnelle Eintritt der Narkose bei dieser Appli¬ 
kation erstaunlich, und diese Schnelligkeit des Eintrittes der Betäubung hat 
immer wieder zur Anwendung des Äthylchlorids geführt. Während bei uns 


Digitized by ^.ooQle 



Athylchlorid als Inhalationsanästhetikum. 


23 


in Deutschland nur selten Narkosen mit diesem Mittel aasgeführt werden, 
so hat es in Amerika und besonders in England eine weite Verbreitung 
gefunden. Daher hat Th. Maass l ) eine zusammenfassende Übersicht über die 
Erfahrungen veröffentlicht und die Gefahren und Eigenheiten der Äthyl¬ 
chloridnarkose beleuchtet. Denn abgesehen von der Plötzlichkeit, mit der die 
Narkose ein tritt, weicht ihr Verlauf wesentlich von dem der anderen Nar¬ 
kosen durch Äther oder Chloroform ab, so daß nur eine genaue Kenntnis 
der Eigentümlichkeiten der* Äthylchloridnarkose ihre Anwendung erlaubt. 
Zunächst ist zu bemerken, daß es für die langdauernden Operationen der 
großen Chirurgie ungeeignet erscheint und daß nur kurzdauernde Opera¬ 
tionen, wie Zahnextraktionen, in Äthylchloridnarkose vorgenommen werden 
können. Sodann muß erwähnt werden, daß die Narkose nicht in allen Fällen 
einen typischen Verlauf nimmt und daß die Beobachtung der Pupille und 
der Reflexe eine Beurteilung der Narkosentiefe nicht zuläßt. Man ist also 
anf andere Zeichen angewiesen, um den Augenblick zur Vornahme der Ope¬ 
ration zu bestimmen. Bald am Beginne — schon nach wenigen Sekunden — 
tritt Verlust des Bewußtseins auf. Nach einem kurzen Stadium der Beschleu- 
nigung und Vertiefung der Atmung wird die Atmung wieder langsamer. 
Gleichzeitig beginnt ein Vibrieren des Kehlkopfes und bald darauf ein La- 
ryngealstertor, ein Zeichen, daß die Zufuhr von Äthylchlorid aufhören muß. 
Dabei sind die Augen nach oben-innen gerichtet, während am Beginne der 
Narkose häufig ein Rotieren der Bulbi bemerkbar ist Eine jetzt auftretende 
Rötung des Gesichtes beruht auf Vasomotorenlähmung. Die Pupillen zeigen 
kein charakteristisches Verhalten, meist sind sie erweitert. Der Korneal- 
reflex ist nur in Ausnahmsfällen erloschen und man darf die Narkose ohne 
Gefahr nicht bis zu seinem vollständigen Erlöschen treiben. Ebenso tritt nicht 
eine vollständige Muskelerschlaffung ein, sondern es findet sich häufig eine 
allgemeine Rigidität welche sogar als Zeichen der richtigen Tiefe der Nar¬ 
kose angesehen wird. Besonders Spasmen der Kaumuskulatur sind eine 
regelmäßige Erscheinung am Anfang der Äthylchloridnarkose. Abgesehen von 
diesen Masseterspasmen erreicht die allgemeine Rigidität dann einen hohen 
Grad, wenn das Narkotikum in großer Verdünnung mit Luft zur Einatmung 
gelangt. Dann kann es zu Respirationsstillstand kommen, welcher künstliche 
Atmung erheischt. Es ist also notwendig, gleich am Anfang große Mengen 
Äthylchloriddampf unverdünnt einatmen zu lassen, und ein Einschleichen der 
Narkose wie bei Chloroform oder Äther erscheint nicht angängig. Und das 
ist wohl der Grund für den so häufig atypischen Verlauf der Chloräthyl¬ 
narkose, es werden die zum Hervorbringen der Narkose nötigen Mengen auf 
einmal dem Patienten zugeführt und nicht allmählich die nötige Narkosen¬ 
tiefe erreicht, sondern man hat es mit einer Applikationsart zu tun, die eine 
gewisse Ähnlichkeit mit der subkutanen Beibringung von narkotisch wir¬ 
kenden Stoffen hat; ist die Substanz einmal appliziert, so hat man die Mög¬ 
lichkeit einer Dosierung aus der Hand gegeben. Und gerade in dem häufigen 
atypischen Verlauf liegen die Gefahren der Narkose. Mit Recht sagt Maass 
von den Zwischenfällen in der Narkose, »daß ein jeder von ihnen, sei er 
auch an sich noch so geringfügiger Natur, für den Arzt etwas alarmierendes 
und für den Patienten eine Gefahrenquelle darstellt, kurzum, daß es richtiger 
wäre, die Beurteilung der Gefährlichkeit eines Inhalationsanästhetikums 
nicht an der Hand von doch niemals vollständigen Mortalitätsstatistiken, 
sondern nach der Häufigkeit, mit der bei seiner Anwendung lege artis — 
dies muß selbstverständlich Voraussetzung sein — Zwischenfälle irgend 
welcher Art eintreten, vorzunehmen. Ist einmal ein solcher eingetreten, so 
spielen eine so große Menge von Faktoren, wie persönliche Erfahrung und 
Geistesgegenwart des Arztes, Gesundheitszustand des Patienten und schlie߬ 
lich so viel Zufälligkeiten mit, daß der schließliche Ausgang des Zwischen- 


Digitized by 


Google 



24 


Athylchlorid als Inhalationsanästhetikum. — Albulaktin. 


falles viel mehr durch diese als durch die Natur des ihn ursprünglich ver¬ 
anlassenden Mittels bestimmt wird.« Maass schließt seine Betrachtungen 
über die Zulässigkeit der Narkose überhaupt wie über die Gefahren der 
Äthylchloridnarkose, die er durch Mitteilung von Todesfällen, teils auf At¬ 
mungslähmung, teils auf plötzlichem Herzstillstand beruhend, belegt: »Das 
Chloräthyl ist ein Inhalationsanästhetikum, welches in bezug auf absolute 
Gefährlichkeit zum mindesten dem Chloroform gleichzustellen ist, da es 
ebenso wie dieses Herztod veranlassen kann. Relativ ist es dadurch ge¬ 
fährlicher als diese Substanz, daß sowohl für seine erwünschten wie uner¬ 
wünschten Wirkungen das Charakteristische in der Schnelligkeit ihres Ein¬ 
setzens und ihrer fast momentanen Entwicklung bis zum Höhepunkt liegt 
und hei der Kleinheit der erlaubten Dosis wie der Unmöglichkeit, in großer 
Verdünnung mit Luft zu arbeiten, die Gefahr einer verderblichen Uber¬ 
dosierung sehr nahe gerückt ist. Seine Vorzüge allen anderen flüssigen, also 
gut transportablen Anästheticis gegenüber, bestehen in der Schnelligkeit, 
mit der es Narkose erzeugt und dem bei sachgemäßer Anwendung gewöhn¬ 
lich völligen Fehlen von Nachwirkungen. Demgegenüber kann es aber weder 
das Chloroform noch den Äther irgendwie dort ersetzen, wo eine längere 
Empfindungslosigkeit notwendig ist, da seine große Giftigkeit die Über¬ 
schreitung einer Dosis von höchstens 5 cm z strikt verbietet.« 

Auf eine Erfahrung von 3000 Äthylchloridnarkosen gestützt, äußert 
Herrenknecht 8 ) seine Ansicht dahin, daß Äthylchlorid das ungefährlichste 
Narkotikum für kurzdauernde Operationen ist. Er verwandte es bei Zahn¬ 
extraktionen, Eröffnung von Abszessen, Inzisionen von Panaritien, Tonsill¬ 
ektomien, Nasenoperationen, Parazentesen des Trommelfells und Behandlung 
von Frakturen und Luxationen. Sonst benutzt er das Narkotikum zur Ein¬ 
leitung von anderen Narkosen. Herrenknecht verwendet die EsMARCHsche 
Chloroformmaske mit einer Modifikation, die darin besteht, daß die Maske 
mit einem undurchlässigen Gummistoff so überzogen wird, daß durch einen 
Metallbügel ein Hohlraum zwischen Flanellüberzug und Gummiüberzug ent¬ 
steht. Der Gummiüberzug hat ein Loch, durch welches das Narkotikum auf¬ 
gespritzt wird. Während der Exspiration verschließt der Autor die Öffnung, 
um sie bei der Inspiration wieder frei zu geben. Auf diese Weise kommt er 
mit 2—3 g Äthylchlorid aus. Eine Beobachtung der Pupillen unterbleibt. Die 
Tiefe der Narkose wird dadurch bestimmt, daß der Narkotiseur den Pa¬ 
tienten in den Arm kneift und fragt, ob er etwas empfindet; antwortet 
letzterer nicht, so kann die Operation beginnen. Herrenknecht berichtet, 
daß man die Eingriffe schon in einem Stadium vornehmen kann, wo der Pa¬ 
tient noch merkt, daß etwas mit ihm geschieht, wo er schreit etc.; die 
Schmerzempfindung ist trotzdem erloschen. Vielleicht beruhen gerade die 
günstigen Erfahrungen, die der Autor mit dem Narkotikum gemacht hat, 
darauf, daß er nur leichte Stadien der Betäubung anwendete, die für die 
Vornahme einer ganzen Reihe von Operationen genügten. 

Literatur: *) Th. Maass, Chloräthyl als iDhalationsanästhetikum. Therap. Monatsh., 
Juni 1907, pag. 303. — *) Herhenknecht, 3000 Ätbylehloridnarkosen. Münchener med. Wochen¬ 
schrift, 1907, Nr. 49, pag. 2421. E. Frey. 

Albulaktin« Wie Bergell *) in einer Arbeit »Zur Geschichte und 
Kenntnis des Milchalbumins« klarlegt, hat man sich in der älteren Eiwei߬ 
chemie begnügt, die verschiedenen Eiweißkörper nach qualitativen Reak¬ 
tionen zu gruppieren. Erst als die Methoden von Emil Fischer uns einen 
Einblick in die Bausteine der Eiweißsubstanzen, die Aminosäuren, gegeben 
hatten, konnten die verschiedenen Körper nach der Menge und Verschieden¬ 
heit ihrer hydrolytischen Bausteine charakterisiert werden. Von den Eiwei߬ 
körpern der Milch kommen nun praktisch nur das Kasein und Laktalbumin 
in Frage, während Globulin und andere Stoffe nur in Spuren vertreten sind. 


Digitized by 


Google 



Albulaktin. — Al los an. 


25 


Df© Frauenmilch enthält an Kasein 0*8%, an Laktalbumin 0*6%, die Kuh¬ 
milch dagegen 2*7—3*0% Kasein bei nur 0*2—0*3% Laktalbumin. Daß ein 
wichtiger Unterschied zwischen diesen beiden Eiweißkörpern besteht, wußte 
man schon wegen der Verschiedenheit ihres Verhaltens der Labgerinnung 
gegenüber. Über diesen Unterschied gibt aber jetzt die Bestimmung der 
Menge der aus ihnen abspaltbaren Aminosäuren Aufschluß. So sind die 
Unterschiede der Zahlen für Leuzin und Tyrosin im Laktalbumin und Kasein 
sehr verschieden: Laktalbumin: 19*4 Leuzin, 0*85 Tyrosin, Kasein dagegen: 
10*5 Leuzin und 4*5 Tyrosin. 

Bergell hat nun ein lösliches Laktalbumin, das im Laboratorium der 
Firma Johann A. Wülfing als neutrales Eiweißsalz hergestellt worden ist und 
den Namen Albulaktin erhalten hat, näher analysiert. Die trockene Substanz, 
die nach vorherigen Quellen in Wasser klar löslich ist, enthält: C = 49*35%, 
H = 6*89%, N = 13*58%, J = 0*87%, Asche = 3*58%. »Vergleicht man die 
Salzsäurefällungen von Magermilch und Albulaktin, so zeigt sich, daß sie 
voneinander sehr verschieden sind. Setzt man zu 20 cm 3 aufs 4fache ver¬ 
dünnte Magermilch 5—6 m s einer 0*2%igen Salzsäure, so erhält man einen 
grobfiockigen Niederschlag, der sich nach kurzer Zeit zusammen ballt. Gibt 
man andrerseits 2—3 cm 8 derselben Salzsäure zu 20 cm* einer l%igen Albu- 
laktinlösung, so erhält man ebenso wie bei Frauenmilch einen feinflockigen 
Niederschlag, der fast die ganze Lösung auch nach längerem Stehen erfüllt.« 

Eine klinische Prüfung des Albulaktins nahmen Cassel und Kamnitzer 2 ) 
vor. Die Substanz wurde unmittelbar vor der Darreichung der fertiggestellten 
Nahrung zugesetzt und durch kräftiges Schütteln gelöst. Die Nahrung be¬ 
stand aus Milchmischungen mit Haferschleim. In dieser Form wurde Albu¬ 
laktin anstandslos genommen, es verursachte niemals Erbrechen, Durchfall 
oder andere Störungen. Die motorische Leistung des Magens blieb bei einigen 
Kindern gut, bei anderen besserte sie sich, nachdem sie vorher nicht zu¬ 
friedenstellend war. Die chemische Leistung schien unbeeinflußt zu bleiben. 
Übereinstimmend zeigten die ausgeheberten Mageninhalte eine günstige Be¬ 
einflussung der Gerinnselgröße der Kuhmilch. Während vor dem Versuch 
die Gerinnsel grobflockig und von verschiedener Größe waren, wurde wäh¬ 
rend der Albul&ktindarreichung der Mageninhalt gleichmäßig und feinflockig. 
Außerdem fiel verschiedenen Beobachtern das bessere, frische Aussehen der 
Albulaktinkinder auf sowie ihre größere Munterkeit und Teilnahme an der 
Umgebung. Die Gewichtszunahmen waren gleichmäßig gute. 

Literatur: *) Bxbgkll, Zur Qeacbichte und Kenotnis des Milchalbumios. — *) Cassel 
und Kambitzkb, Versuche mit Albulaktin bei künstlich genährten Säuglingen. Archiv für 
Kinderheilkunde, 1909, XL1X, S.-A. E. Frey. 

Allopliansfture. Overlach macht darauf aufmerksam, daß die 
Alloph&nsäure NH 2 . CO. NH . COOH einen Körper darstellt, welcher an sich 
unwirksam ist und die Eigenschaft besitzt, mit einigen schlecht schmecken¬ 
den Substanzen, die als wirksame Arzneimittel bekannt sind, feste, geschmack- 
freie Verbindungen einzugeben. So läßt sich z. B. der Santalolester (siehe 
Allosan), Rizinusölallophansäureester, Kreosotalallophansäureester darstellen. 
Im Darm findet dann eine Spaltung dieser Verbindungen statt, die Allo- 
phansäure wird zu Kohlensäure und Harnstoff zerlegt und die andere Kom¬ 
ponente in den Körper in unlöslicher, reizloser und geschmackloser Form 
eingeführt, kann zur Wirkung kommen. 

Literatur: Oveblach, Berliner klin. Wochenachr., 1908, Nr. 30. E. Frey. 


Allosan. Unter diesem Namen wird ein Sandelölpräparat in fester 
Form von den Vereinigten Chininfabriken Zimmer & Ko. in Frankfurt a. M. 
in den Handel gebracht und von Schwbrsenski in die Therapie eingeführt. 
Es stellt den Allophansäureester des Santalols (aus Sandelholzöl) dar, er 


Digitized by 


Google 



26 


Allosan. — Amylenhydrat bei Eklampsie« 


ist reiz- und geschmacklos, riecht milde. Erst im Darm findet seine Spal¬ 
tung statt, so daß seine Ausscheidung nach l 1 /*—2 Stunden beginnt. Als 
Dosis wird dreimal täglich 1 g, eventuell auch 2 g empfohlen. 

Siehe auch Allophansäure. 

Literatur: Schwersinski, Berliner klin. Wocbenschr., 1908, Nr. 43. E. Frey. 


Almatein« Als Ersatzmittel des Jodoforms bei der Behandlung 
chirurgischer Tuberkulosen hat nach dem Vorgänge von Venus Wbrndorff 
in der LoRENZschen Klinik in Wien das Almatein versucht. Es wurde von 
Lepetit in Mailand als Kondensationsprodukt aus Formaldehyd und Hämato- 
xylin erhalten und besitzt nach Scholl die Formel C 36 H 82 0 14 . Es ist ein 
feines, ziegelrotes Pulver ohne Geschmack und Geruch. In kaltem Wasser 
ist es unlöslich, in siedendem Wasser löst es sich etwas; besser wird es 
von Alkohol und Eisessig aufgenommen, in Chloroform ist es unlöslich. Gut 
löslich ist es dagegen in Glyzerin und alkalischen Flüssigkeiten. 

Werndorff hat das Präparat wegen seiner antiseptischen und adstrin¬ 
gierenden Eigenschaften als Ersatzmittel des Jodoforms angewandt; denn 
nach letzterem beobachtete er manchmal Intoxikationserscheinungen, beson¬ 
ders örtliche Reizwirkungen und Ekzem. Und gerade in den Fällen, wo sich 
im Anschluß an tuberkulöse Fisteln ein nässendes Ekzem gebildet hatte, 
sah er von der Anwendung des Almateins vorzügliche Erfolge. Auch als 
Streupulver bei Dekubitus rief es eine reichliche Granulationsbildung hervor. 
Zur Anwendung gelangte das Mittel als Pulver oder als 10%ige Alma¬ 
teingaze. 

Hauptsächlich aber benutze Werndorff das Almatein zur Injektion in 
tuberkulöse Abszesse, und zwar in Form einer l°/ 0 igen Lösung in Glyzerin. 
Im allgemeinen wurden solche Injektionen nach vorhergehender Punktion 
erst möglichst spät vorgenommen, wenn eine spontane Rückbildung nicht 
mehr zu erwarten war. Die injizierten Mengen betrugen 1—10 < 7 , je nach 
Alter des Patienten und nach Größe des Abszesses. Auf diese Weise kam 
es bei nahezu 100 Senkungsabszessen nach tuberkulöser Koxitis und Spon¬ 
dylitis nach 1—2 Injektionen zur Resorption, ohne die geringsten lokalen 
oder Allgemeinerscheinungen. Bei einer späteren Kniegelenkresektion, wo 
vorher in einem benachbarten Abszeß eine Almateininjektion vorgenommen 
worden war, konstatierte Werndorff eine beginnende Verödung der Ab¬ 
szeßmembran und eine austrocknende Wirkung des Mittels. 

Da in der LoRENZschen Klinik schon früher zur Trocknung der Knochen¬ 
höhle bei Anlegung einer MosETiGschen Plombe eine l 0 /<J£ e Formaldehyd¬ 
lösung benutzt wurde, fand jetzt das Almatein, dessen eine Komponente 
Formaldehyd ist, in der Weise Verwendung, daß an Stelle des Jodoforms 
der Plombe Almatein gesetzt wurde. Eine solche Plombe erstarrt etwas 
rascher als die MosETiGsche; Reizerscheinungen wurden nicht beobachtet. 

Literatur: Wbrndorff, Über Almatein. Münchener med. Wochenacbr., 1909, Nr. 3, 
pag. 137. E. Frey. 


Amylenhydrat bei Eklampsie« Naab hatte von der An¬ 
wendung von Amylenhydrat bei Fällen von Status epilepticus, in welchem 
es stundenlang zur Entladung von Krampfanfällen kommt, ausgezeichnete 
Erfolge gesehen. Er gab das Präparat intramuskulär oder per os oder 
per Klysma, und zwar in Dosen von 2 5—6 0 g , je nach der Verordnungs¬ 
weise. 

Auf die Empfehlung von Naab hin hat Härle die Anwendung des 
Amylenhydrats auch bei Eklampsie versucht; er gab 3—4 g in Form einer 
intramuskulären Injektion in die Glutäalgegend. Bei allen 5 Kranken, bei 
denen Härle diese Therapie anwendete, trat Schlaf ein und die Anfälle 


Digitized by 


Google 



Amylenhydrat bei Eklampsie. — Aoeurysmenoperation. 27 

h6rten in allen Fällen auf. Sodann wurde zur Entbindung geschritten. Außer¬ 
dem gab Härle 1 cg Pilokarpin, um die Diaphorese anzuregen. Der Autor 
glaubt auch eine diuretische Wirkung beobachtet zu haben. Eine schädigende 
Wirkung auf die Zirkulation sei von Amylenhydrat nicht zu befürchten, wie 
sie nach den gechlorten Schlafmitteln auftreten kann. Trotzdem wird man 
die Dosis, die Härle an wendete, als Grenzdosis nach oben betrachten müssen, 
da die intramuskulär gegebenen Stoffe schneller resorbiert werden als die 
subkutan beigebrachten und der Einbruch des Mittels in die Blutbahn ziem¬ 
lich plötzlich erfolgt, denn es steht in dieser Hinsicht die intramuskuläre 
Injektion in der Mitto zwischen subkutaner und intravenöser (welch beide 
letzteren natürlich beim Amylenhydrat nicht anwendbar sind). Es könnte 
auch die gleichzeitige Anwendung von Pilokarpin und einem betäubenden 
Stoffe bedenklich erscheinen, da es bei schlechter Expektoration und gleich¬ 
zeitiger profuser Sekretion von Speichel und Schleim leicht zu Erkrankungen 
der Bronchien oder der Lungen kommen kann. Sonst erscheint die Anwen¬ 
dung des Pilokarpins zweckmäßig, und die Praxis scheint ja diese Bedenken 
zu widerlegen und dem Autor sowohl hinsichtlich der Dosierung als auch 
mit Rücksicht auf die Kombination der beiden Arzneistoffe Recht zu 
geben. 

Literatur: Härlb, Amylenhydrat bei Eklampsie. Münchener med. Wochenachr., 1908, 
Nr. 21, pag. 1134. E. Frey. 

Aneurysmenoperation. Durch die Wirkung der kleinkalibrigen 
Geschosse haben sich unsere Anschauungen über Zweckmäßigkeit und Not¬ 
wendigkeit von Operationen wie auf so vielen Gebieten der Chirurgie auch 
bei den Verletzungen der Gefäße wesentlich geändert. Denn während wir 
in mancher Hinsicht besonders anfangs direkt nach der Verletzung fraglos 
zurückhaltender geworden sind, drängen uns später die häufigeren sekun¬ 
dären Erkrankungen der Gefäße, insonderheit das Auftreten der Aneurysmen, 
im Gegensatz zu früher zu aktiverem Vorgehen. So erscheint es verständ¬ 
lich, daß gerade in neuester Zeit die mannigfaltigsten Vorschläge gemacht 
wurden, Mängel, welche der Technik der Aneurysmenoperation anhaften, zu 
verbessern. Wir sehen, wie die Erfahrungen, welche die Kriegschirurgen auf 
dem Schlachtfelde gesammelt, anregend und befruchtend auf die Tätigkeit 
der Friedenschirurgen wirkten und wie diese von dem kleinen Gebiete der 
Schußverletzungen auf weitere Gebiete übertragen der Allgemeinheit zugute 
kamen. Wir müssen heute zwei Arten von Gefäßverletzungen unterscheiden, 
die ihrem ganzen Charakter nach sehr verschieden sind. Die Gefäßzerreißungen 
durch Artilleriegeschosse, die sekundären Gefäßverletzungen nach Knochen¬ 
splitterungen, wo diese die Gefäße erst nach der stattgehabten Verletzung 
zerreißen, ähneln in ihrem Charakter den schweren Schußverletzungen 
früherer Jahre. Eine klaffende Wunde, eine große Weichteilszertrümmerungs- 
höhle, gibt hier die Möglichkeit zu einer abundanten Blutung nach außen, 
die nur allzu oft, wenn ärztliche Hilfe nicht sofort zur Stelle, letal endet. 
Umgekehrt die reinen Gefäßverletzungen durch kleinkalibrige Geschosse. Zwar 
sind dieselben heute insofern eher gefährlicher als früher, weil ein Ausweichen 
der Gefäße vor dem Geschoß zu den größten Seltenheiten gehört. Vielmehr 
wird das Gefäß fast ausnahmslos verletzt. Ein indirektes oder mattes Ge¬ 
schoß kann das Gefäß streifen, es bleibt alsdann die Adventitia gelegentlich 
unverletzt, während Media und Intima Risse und Sprünge zeigen. Die Folgen 
sind verschieden, je nachdem zu der Verletzung eine Infektion hinzutritt 
oder nicht. Im ersteren Falle kommt es zu einer Eiterung und Zerstörung 
der Gefäßwand und bei größeren Gefäßen konsekutiv leicht zu schweren 
Ernährungsstörungen durch Thrombenbildung. Eine ausgedehnte Gangrän, 
breite Phlegmonen mit allgemeinen septischen Erscheinungen zwingen dann 
nur allzu häufig zur Amputation. Asepsis vorausgesetzt, heilen die Gefäß- 


Digitized by 


Google 



28 


Aneurysmenoperation. 


wanden mit einer glatten Narbe, die ihrerseits durch zn starkes Wachstum 
in das Gefäßlumen hinein zu einer Verengerung desselben führen kann. Oder 
aber die Narbenbildung ist eine nicht genügend starke, es sind viele ela¬ 
stische Fasern zugrunde gegangen. Dann können diese Teile der andrängenden 
Kraft des Gefäßstromes nicht mehr standleisten, es wird zu einer allmäh¬ 
lichen Dehnung kommen und so haben wir die erste Entstehungsart eines 
traumatischen Aneurysmas vor uns. Trifft ein Vollschuß mit ganzer Kraft 
eine Arterie, so wird ihr Lumen eröffnet. Ein Projektil, welches das Gefäß 
in der Mitte trifft, macht einen kreisrunden Lochschuß an der Eintritts- und 
Austrittsstelle des Geschosses. Die Seitenränder sind erhalten. Ein Streif¬ 
schuß muß zu einer seitlichen Eröffnung des Gefäßes führen mit Erhaltung 
der Kontinuität der anderen Seitenwand. Sehr häufig wurde in den letzten 
Feldzügen beobachtet, daß ein Geschoß zwischen Vene und Arterie hindurch 
geht und bei beiden die gegenüberliegende Wand eröffnet. Die Gefäße heilen 
alsdann an ihren Wundrändern zusammen, während in der Mitte ein Loch 
bleibt. Das arterielle Blut strömt naturgemäß in die Vene und wird hier bei 
der Dünne der Wand zu einer Erweiterung derselben führen — Varix aneu- 
rysmaticus. Bei den kleinkalibrigen Geschossen ist der Ein- und Ausschuß 
ganz klein, er hat die Neigung, schnell zu verkleben, der Schußkanal ist eben¬ 
falls eng und schmal, die Weichteile werden durchschlagen, nicht zu größeren 
Zertrümmerungshöhlen zerfetzt. Hierdurch kommt es nicht zu einer profusen 
Blutung nach außen, sondern das herausfließende Blut tamponiert den Schu߬ 
kanal, es bildet sich ein Hämatom und so steht die Blutung zunächst. Durch 
Organisation des umgebenden Bindegewebes bildet sich eine mehr minder 
dicke Schale um das Hämatom und wir haben so das Aneurysma spu¬ 
rium vor uns. Nur gelegentlich erfolgen kleine Nachblutungen in den Sack, 
die ihrerseits wieder die Vernarbung der Gefäßwunde verhindern. Im Gegen¬ 
satz zu dieser Art der Aneurysmenbildung kann sich durch die Tamponade 
des Hämatoms die Wunde im Gefäßrohr primär durch Thrombenbildung 
schließen. Die Narbe bleibt indes ein locus minoris resistentiae, sie wird 
durch den ständigen Blutdruck nach und nach erweitert und gedehnt. Es 
kommt so zu einem Aneurysma verum. Gerade diese Aneurysmen können 
schließlich von allen am leichtesten platzen, wenn die Wand immer dünner 
wird. Aus der Entstehung ist ersichtlich, daß die Beschwerden zeitlich ver¬ 
schieden einsetzen, da die Aneurysmen verschieden, bald schneller, bald 
langsamer sich im Anschluß an die Verletzung entwickeln werden. Am ehesten 
wird sich das Aneurysma spurium zeigen, es wird, gewissermaßen in konti¬ 
nuierlicher Kette an die Verletzung anschließend, aus dem Hämatom sich 
entwickeln. Dieses durch die Blutung verursachte Hämatom wird zunächst 
ein zirkumskripter Tumor werden, der nach und nach Pulsation zeigt. Um¬ 
gekehrt bei den beiden anderen Formen. Nach einer Pause von gewöhnlich 
mindestens 30 Tagen, in welchen die Verletzten beschwerdefrei waren, wer¬ 
den die Beschwerden einsetzen. 

Die Diagnose »Aneurysma«, sollte man annehmen, läßt sich leicht 
stellen. Denn die Geschwulst gehört den Gefäßen zu, sie muß also in ganz 
bestimmter, genau bekannter Gegend liegen, dem Verlaufe eines Gefäßes 
entsprechend. Da sie mit einer Arterie in Verbindung steht, so muß sie die 
physikalischen Eigenschaften dieser besitzen. Zunächst fühlt man Pulsation 
und einen Wechselzustand ihrer Füllung, je nachdem die Flüssigkeitszufuhr 
zentral oder peripher gehemmt wird. Da ferner eine plötzliche Erweiterung 
in einem Rohrsystem stattfindet, so entstehen in dieser erweiterten Stelle 
Geräusche, die je nach der Größe der Aneurysmen deutlicher sein werden 
und verschiedenen Charakter haben. Naturgemäß müssen auch peripher von 
dem Aneurysma Pulsschwankungen auftreten im Vergleich zu der anderen 
Seite. Gewiß finden wir häufig diese Symptome, keineswegs sind dieselben 


Digitized by 


Google 



Aneurysmenoperation 


29 


indes absolut zuverlässig. Vergegenwärtigt man sich z. B. die Entstehung 
eines Aneurysma spurium, so kann hier die Dicke der Wand die Organi¬ 
sation des Inhaltes, die Geräusche, wesentlich abschwächen. Auch braucht 
der Blutstrom kaum gehemmt zu sein. Differentialdiagnostisch kommen Ver¬ 
wechslungen in Betracht mit Abszessen, welche auf ein Gefäß drücken und 
denen so die Pulsation mitgeteilt wird. Eine Verwechslung ist hier nicht so 
folgenschwer wie umgekehrt, wenn wir einen Abszeß annehmen und ein 
Aneurysma antreffen, das wir inzidieren. Dieser Irrtum ist wohl am häufig¬ 
sten bei Aneurysmen der Hohlhand vorgekommen. Das gleiche kann bei 
Tumoren Vorkommen, welche auf Gefäße drücken oder mit diesen kommu¬ 
nizieren. Ist man im Zweifel, so kann man im Notfall eine Probepunktion 
vornehmen, die, mit einer kleinen, feinen Kanüle ausgeführt, relativ unge¬ 
fährlich ist und auch meist zum Ziele führen wird. In neuester Zeit spielt 
naturgemäß die Durchleuchtung eine große Rolle, welche uns besonders über 
die Ausdehnung bestimmte Aufschlüsse geben kann. Von Komplikationen 
sind in erster Linie Stauungserscheinungen zu erwähnen und fernerhin neur¬ 
algische Beschwerden, hervorgerufen durch Druck der Narbe an den Gefäßen 
auf die Nachbarstämme der Nerven. 

Therapie. Auf dem Chirurgenkongreß 1905 empfahl Zoegl v. Man- 
teufel, Gefäßverletzungen möglichst primär auf den Hauptverbandplätzen 
zu nähen bzw. nötigenfalls sogar die blutenden Gefäße zu unterbinden wegen 
der Gefahr der Nachblutung. Sein Standpunkt wurde indes prinzipiell von 
den meisten Kriegschirurgen abgelehnt. Denn nach einer größeren Schlacht 
werden auf den Hauptverbandplätzen so zahlreiche Verletzungen zusammen¬ 
strömen, daß Ärzte und Personal alle Hände voll zu tun haben werden, um 
die nötigsten Verbände anzulegen und die Verletzten für den Rücktransport 
fertig zu machen. Es wird daher an Zeit fehlen, auch an der notwendigen 
Gelegenheit, eine derartige Operation unter den notwendigen aseptischen 
Kautelen durchzuführen. Asepsis ist aber, wie wir oben gesehen, die unbe¬ 
dingte Voraussetzung zur Heilung, mehr wie bei jeder anderen Operation. 
Ihr Mißlingen schädigt desgleichen mehr wie sonst den Verletzten. Es kommt 
zu einer Zerstörung der Gefäßwand, Phlegmonen und schweren Ernährungs¬ 
störungen der betreffenden Extremität. Man darf auch nicht vergessen, daß 
Aneurysmen ganz fraglos spontan heilen können. Es dürfte daher ratsam 
sein, bei allen Gefäßverletzungen mit kleinem Einschuß ohne profuse Blu¬ 
tung sich darauf zu beschränken, einen aseptischen Verband anzulegen, die 
Extremität sicher in Schienenverbänden zu lagern und so in die hinter¬ 
liegenden Lazarette zu schaffen. Eine Ausnahme bilden vielleicht nur die 
Verletzungen der Karotis, falls solche überhaupt noch lebend auf den Haupt¬ 
verbandplatz kommen, sowie die profusen Blutungen bei schweren Zer¬ 
reißungen nach Artuleriegeschossen. Besonders bei ersteren ist die Gefahr 
der Nachblutung augensichtlich. Denn wir sind ja nicht in der Lage, unter¬ 
wegs eine Unterbindung zu machen und können am Halse andrerseits nicht 
wie an den Extremitäten durch Digitalkompression oder Schlauch eine pro¬ 
visorische Blutstillung vornehmen. Hier werden wir primär die Gefäßnaht 
vornehmen, dürfen auch nicht vor einer Unterbindung zurückschrecken, als 
dem kleineren Übel, wenn wir uns auch über ihre Gefährlichkeit keinen 
Illusionen hingeben können. Die bisherigen Operationsmethoden sind kurz 
die folgenden: 

1. Antyllus. Der Aneurysmensack wird freigelegt, eröffnet und das zu- 
und abführende finde der Arterie proximal und distal unterbunden. Der Sack soll 
veröden, durch Granulationsbildung sich die Wunde schließen und so vernarben. 

2. Hüter ging einen Schritt weiter und exstirpierte den Aneurysmen¬ 
sack, nachdem er vorher zentral und peripher die Arterie unterbunden, des¬ 
gleichen die zu- und abführenden Kollateralen. 


Digitized by ^.ooQle 



30 


Aneurysmenoperation. 


3. Hunter empfiehlt die Unterbindung der Arterie zentral am Orte 
der Wahl. 

4. Brasdor unterbindet die Arterie peripher, nachdem dieselbe den 
Aneurysmensack verlassen hat. 

Prüft man die einzelnen Methoden, so ist naturgemäß technisch 
die einfachste die Unterbindung nach Hunter. Denn wir können uns 
diejenige Stelle aufsuchen, wo die Arterie am leichtesten zugänglich 
ist. Dieselbe ist aber sicher auch die gefährlichste. Denn je mehr zentral 
zum Rumpfe hin wir eine Arterie unterbinden, desto weniger hat 
dieselbe Gelegenheit, Äste abzugeben, von denen sich seinerseits ein Kol- 
lateralkreislauf herstellen kann. Dies ist aber die unbedingte Voraussetzung 
einer günstigen Ernährung der Extremität. Müssen wir somit aus diesem 
Grunde eine möglichst ausgiebige Bildung von Kollateralen anstreben, so 
stören diese wieder auf der anderen Seite das zu erstrebende Resultat, die 
Zurückbildung des Aneurysmas. Denn da sie sich unterhalb der Unterbin¬ 
dungsstelle bilden, so werden sie dem Aneurysma erneut Blut zuführen, und 
so sehen wir gerade nach diesem Verfahren die meisten Rezidive. Die Ope¬ 
ration nach Brasdor ist technisch ebenfalls leicht; dieselbe wird aber 
schwerlich dauernd günstige Resultate liefern. Im Gegenteil besteht die Ge¬ 
fahr, daß sich der Sack durch den gehemmten Abfluß des Blutes ständig 
dehnt, seine Wand so immer dünner wird und schließlich platzt. Sie kommt 
daher auch nur für diejenigen Fälle in Betracht, wo sich das zentrale Ende 
des Gefäßes nicht erreichen läßt. Spaltet man den Aneurysmasack einfach 
nach Antyllus, ohne die Kollateralen aufzusuchen und zu unterbinden, so 
ist naturgemäß die Gefahr der Nachblutung aus einer dieser Kollateralen 
enorm groß. Sie sind häufig vorgekommen und gefährlich, da schwer zu 
stillen. Es bleibt somit als Idealverfahren bis zur Neuzeit das Radikalver¬ 
fahren von Hüter, wenn man auch zugeben muß, daß es technisch das 
schwierigste ist. Aber auch ihm haftet der Nachteil an, daß wir Ernährungs¬ 
störungen bekommen. Diese Gefahr ist keineswegs zu unterschätzen, sie 
ist am größten, wenn uns ein in relativ kurzer Zeit entstandenes Aneu¬ 
rysma zur Operation zwingt, wo die Möglichkeit einer ausgiebigen Kollateral- 
bildung noch nicht gegeben war. Dieselbe hängt ferner ab vom Sitze des 
Aneurysmas. Denn, um zwei Beispiele anzuführen, sah man bei Unterbindung 
der Carotis communis in 10—32% zerebrale Störungen durch Erweichungs¬ 
herde auftreten. Ferner ist die Gelegenheit zu Kreislaufstörungen bei der 
Arteria femoralis sehr bedeutend, wenn wir dieselbe vor Abgang der Art. 
profunda unterbinden, denn die lange Blutbahn des Beines ist alsdann ledig¬ 
lich angewiesen auf die schwachen Endäste aus der Art. glutaea, obtura- 
toria etc. Es ist daher ersichtlich, daß ein wirkliches Ideal verfahren nur 
darin bestehen kann, die alte Blutbahn direkt durch Vereinigung der Gefäße 
wieder herzustellen. In neuester Zeit sind in dieser Richtung zunächst am 
Tiere die mannigfaltigsten Experimente gemacht worden, die auch zu posi¬ 
tiven Ergebnissen führten. Drei Methoden kommen im wesentlichen heute 
zur Anwendung: 

1 . Zirkuläre Naht mit und ohne Knopf, 2. die seitliche Anastomose, 
3. Gefäßtransplantation. Während die ersten beiden Verfahren nach Ana¬ 
logie der Darmnähte angelegt werden und auch in diesem Sinne modifiziert 
sind, vor allem um die Haltbarkeit der Nähte zu erhöhen, setzt das dritte 
Verfahren dort ein, wo die Gefäßstümpfe so weit voneinander entfernt sind, 
daß dieselben ohne starke Zerrung und Dehnung nicht aneinander zu bringen 
sind. Man scheute anfangs besonders sich davor, durch alle drei Gefä߬ 
schichten Nähte zu legen, da man fürchtete, daß sich an die Seidenfäden 
Blutgerinnsel ansetzten und so Thrombosen entständen. Murphy wies zuerst 
nach, daß diese Besorgnis unberechtigt sei. Er invaginierte die Intima. Es 


Digitized by UjOOQle 



Aneurysmenoperation. — Antiformin. 


31 


werden nach seiner Angabe 2 oder 3 doppelt armierte Fäden, die nur Ad- 
ventitia und Media fassen, am Ende des proximalen Stumpfes in der Längs¬ 
richtung angelegt. Dieselben werden in das distale Ende in gleichen Ab¬ 
ständen voneinander nnd etwa 2 cm vom Rande des Stumpfes entfernt von 
innen nach außen eingestochen. Durch Knoten wird das proximale in das 
distale Ende invaginiert. Zur Erleichterung der Einstülpung kann man am 
Rande des distalen Endes eine kleine Längsinzision anlegen. Man befestigt 
alsdann die Ränder durch einige Knopfnähte. Die Gefahr der Nachblutung 
ist auch bei exaktester Naht keine geringe, desgleichen sind Thrombosen 
auch bei dieser Methode nicht ausgebiieben. Es lag nahe, nach Analogie des 
Murphyknopfes beim Darm bzw. der resorbierbaren Knöpfe ebenfalls nach 
einer chemischen Substanz zu suchen, die zunächst so lange hielt, bis die 
Gefäßnarbe widerstandsfähig, um dann resorbiert zu werden, nachdem vor¬ 
her von Gluck u. a. nicht resorbierbares Material in die Gefäße einge¬ 
bracht war. 

Gayr fand im Magnesium diese Eigenschaft. Er ließ Knöpfe anfertigen 
aus Magnalin, einer Verbindung dieses Metalles mit Aluminium. Es wurden 
Knöpfe hergestellt, genau nach dem Prinzip des Murphyknopfes, nur ohne 
den komplizierten Schraubenverschluß dieses Knopfes. Dieselben werden indes 
nicht in das Lumen des Gefäßrohres eingelegt, sondern das Gefäßrohr wird 
hindurch gezogen, so daß das Metall außerhalb des Rohres liegt. Demgemäß 
wird der Knopf auch nicht vom Blute resorbiert, vielmehr von dem um¬ 
gebenden Gewebe, ein Vorgang, dessen Chemismus noch nicht aufgeklärt 
ist. Dieses Verfahren ist am Lebenden zum erstenmal mit Erfolg von Lexer 
angewendet worden bei einem Aneurysma der Arterie und Vena poplitea. 
Er mußte die Gefäße auf eine Entfernung von 5 cm resezieren und brachte 
die Gefäßenden dadurch aneinander, daß er das Bein rechtwinkelig beugte 
und in dieser Stellung nach der Operation eingipste. Das Resultat war zu¬ 
nächst 3 Vierteljahre ein ausgezeichnetes, es traten keine Ernährungsstö¬ 
rungen auf. Später wurde der Puls in den Gefäßen unterhalb der Opera¬ 
tionsnarbe kleiner und weniger deutlich als auf der gesunden Seite, wahr¬ 
scheinlich als Folge von Narbendruck. Irgend welche trophischen Störungen 
wurden indes nicht beobachtet. 

2 . Die seitliche Naht wurde zunächst meist ausgeführt bei Verletzung 
von Gefäßen bei Entfernung großer Tumoren, die in die Wand der Gefäße 
hineingewuchert waren. Garbe hat zum erstenmal bei einem Varix aneu- 
rismaticus nach Exstirpation des Aneurysmasackes die Kommunikationsstelle 
der Gefäße durch seitliche Naht verschlossen. 

3. Es ist klar, daß allen Nahtmethoden Grenzen gesetzt sind in den 

Fällen, wo soviel von den Gefäßen entfernt ist, daß wir die Lumina nicht 
aneinander bringen können. Hier ist die Zirkulation nur dadurch herzustellen, 
daß wir ein neues Stück Gefäß in seinem ganzen Umfang zwischen die 
Lumina in das klaffende Gefäßrohr einsetzen. Daß dies an und für sich 
möglich, bewiesen Stich, Makkers und Towmann durch gemeinsam ausge¬ 
führte Experimente an Tieren. In der Praxis am Lebenden hat wiederum 
Lexer das Verfahren zum erstenmal ausgeführt. Er mußte wegen eines 
Aneurysmas der Arteria axillaris ein großes Stück des arteriosklerotisch ver¬ 
änderten Gefäßes resezieren. Er entnahm ein 8 cm langes Stück der Vena 
saphena und pflanzte dasselbe in die Arterie ein. Der Mann starb 5 Tage 
nach der Operation an Delirium tremens. Bis dahin hatte die Naht gehalten, 
ohne Nachblutung, ohne Zirkulationsstörungen. v. Coste . 

Antiformin« Während Eau de Javelle selbst keine nennenswerten 
desinfizierenden Eigenschaften besitzt, erhält es nach den Feststellungen von 
Uhlenhut und Xylander durch Zusatz von freiem Alkali eine stark Des- 


Digitized by CjOOQle 



32 


Antiformio. — Aperitol. 


infektionswirkung. Diese Mischung von Alkalihypochlorit und Alkalihydrat, 
Antiformin genannt, ist haltbar und tötet in 2—5°/ 0 iger Lösung die meisten 
Bakterien, wie die Erreger der Cholera, des Typhus, des Paratyphus, der 
Pest, der Schweinesepsis, das Bacterium coli, den Staphylokokkus, Strepto¬ 
kokkus, Meningokokkus, Pneumokokkus; und zwar schon nach 2 1 /*—5 Mi¬ 
nuten langer Einwirkung. In wässerigen Lösungen werden die Bakterien 
restlos aufgelöst, verflfissigt; diese lösende Wirkung besitzt das Mittel 
auch gegenüber Schleim, Eiter, Blut, so daß es zur Desinfektion von Sputum, 
Eiter geeignet erscheint. Auch Fäkalmassen, selbst harte Kotballen werden 
allmählich gelöst, daher entfaltet Antiformin auch im Abwässern eine keim¬ 
tötende Wirkung. Nur wenn der Alkaligehalt in Urinkotgemischen sehr groß 
ist, wird das Chlor durch das Alkali gebunden und eine Desinfektionswir¬ 
kung hört auf. Zur Desinfektion von Trinkwasser ist Antiformin des schlechten 
Geschmackes wegen nicht benutzbar. Doch kann es zur Desinfektion von 
Händen, Wunden, Geschwürsflächen etc. in der Chirurgie angewandt werden, 
bei parasitären Hautkrankheiten (Pityriasis, Ekzem, Psoriasis) und zur Des¬ 
infektion der Wundhöhle, z. B. bei lokaler Behandlung der Diphtherie, vor 
allem aber zur Behandlung der Bazillenträger bei Diphtherie und Meningitis. 
Ebenso werden von Antiformin echte Toxine (Diphtherie, Schlangengift) und 
Endotoxine rasch zerstört. Für die praktische Anwendung zu wissen wichtig 
ist, daß das Mittel Ölfarben, Lack, Linoleum etc. angreift, also aus diesem 
Grunde nicht überall anwendbar ist. 

Im Gegensatz zu der Vulnerabilität der meisten Bakterien verhalten 
sich die säurefesten Bazillen, wie Tuberkelbazillen, Timothee-, Butter-, 
Smegmabazillen vollkommen refraktär gegen Antiformin. Auch konzentrierte 
Lösungen lassen diese Bakterien unbeeinflußt, so halten sich z. B. in 15- bis 
20 °/oigen Antiforminlösungen, die dicke Sputumballen auflösen, Tuberkel¬ 
bazillen 24 Stunden lang unverändert Man kann also auf diese Weise Spu¬ 
tum von den begleitenden Bakterien reinigen und so zur Züchtung auf Tu¬ 
berkelbazillen, zur Impfung etc. zurecht machen. Milzbrandsporen werden 
gleichfalls von Antiform in nicht angegriffen. 

Literatur: Uhlenhut und Xylandbr, Antiformin, ein bakterienaaflüsendea Desinfek¬ 
tionsmittel. Berliner klin. Wochenschr., 1908, Nr. 29. E. Frey . 

Aperitol. Um die Schmerzen, welche manchmal nach Anwendung 
von Phenolphtalein als Abführmittel auftreten, zu beseitigen, haben Hammer 
und Vieth das Phenolphtalein durch Veresterung in eine feste Form ge¬ 
bracht. Als zweite Komponente wählten sie die Baldriansäure wegen ihrer 
sedativen Wirkung. Da aber der Divaleriansäureester des Phenolphtaleins 
ein weißes, kristallinisches, geruch- und geschmackloses Pulver, nachdem es 
den Magen unzersetzt passiert hat, nur ganz allmählich im Darm gespalten 
wird, erwies sich praktisch die Abführwirkung als zu schwach. Daher stellten 
sie den Valerylazetylester des Phenolphtaleins dar, oder richtiger gesagt, 
ein Gemisch von Divaleverylester und Diazetylester zu gleichen Teilen. Die 
Wirkung dieser Substanz war zufriedenstellend. Nach Eingabe von 0*4 Aperi¬ 
tol, wie das eine Mittel genannt wird, trat meist nur eine breiige, nicht 
flüssige Entleerung auf. Auch bei empfindlichen Patienten machten sich da¬ 
bei Schmerzen nicht geltend und »es muß als ganz seltene Ausnahme be¬ 
zeichnet werden, daß im Anschluß an eine für den Fall zu hoch gewählte 
Dosis leichte Schmerzen mit wiederholten durchfälligen Stühlen auftraten«. 
Eine schädigende Wirkung auf die Nieren, an die man wohl denken konnte, 
hat sich weder im Tierversuch noch in Fällen von schon bestehender chro¬ 
nischer Nephritis gezeigt. 

Hammer und Vieth erörtern auch die Frage, ob dieses neue Abführ¬ 
mittel für den chronischen Gebrauch geeignet sei. Sie haben konstatieren 
können, daß es in Verbindung mit schlackenreicher Kost bei habitueller 


Digitized by ^.ooQle 



Aperitol. — Arhovin. 


33 


Stuhlverstopfung zufriedenstellendes leistet. Dabei ist zu bemerken, daß eine 
Gewöhnung an das Mittel nicht beobachtet wurde, die zur Steigerung der 
Dosis zwang, sondern daß im Gegenteil nach Aussetzen des Aperitols noch 
eine Zeitlang normale Darmentleerungen eintreten. Auch von Rindern wird 
das Mittel gern genommen, da es in der Form von leicht zergehenden 
Fruchtbonbons zu 0‘2 Aperitol in den Handel kommt. Die gemilderte Wir¬ 
kung des neuen Mittels hängt wohl nicht so sehr von der sedativen Bal¬ 
drianwirkung ab als von der allmählichen Abspaltung der wirksamen Kom¬ 
ponente im Darm. 

Literatur: Hammk& und Vibth, Apritol, ein schmerzlos wirkendes Abführmittel. 
Med. Klinik, 1908, Nr. 37, 8.1410. E. Frey. 

Apomorphin« Über 6 Fälle von unangenehmen Nebenwirkungen 
bei der Apomorphinanwendung berichtet Harnack. Von diesen 6 Fällen, von 
denen einer den Autor selbst betraf, waren einzelne leichte Kollapszustände, 
andere führten zu schwerer Beeinträchtigung der Atmung und des Herz¬ 
schlages, einer verlief tödlich. Letztere Intoxikation — es handelte sich nur 
um eine Gabe von 4t/a M9 bei einem kyphoskoliotischen 54jährigen Manne 
— erscheint nicht recht aufgeklärt. Gemeinsam allen Fällen war die Muskel¬ 
erschlaffung, und Harnack weist auf den engen Zusammenhang zwischen 
Brechakt und Muskelerschlaffung hin, wenn auch bei auf andere Weise her- 
vorgerufenera Brechakt die Muskelerschlaffung nicht bis zur kompletten 
Lähmung geht. Die gefährlichen Zustände, wie sie nach Anwendung von 
Apomorphin auftreten können, sind hauptsächlich durch Bedrohung des Atem¬ 
zentrums bedingt, was bei den Beziehungen des Brechzentrums zum Atem¬ 
zentrum begreiflich erscheint. Bei den eingehenden Untersuchungen, die 
Harnack früher über die Wirkung des Apomorphins angestellt hat, sind 
die hervorragendsten Eigenschaften des Mittels die Erregung der Atmung 
beim Warmblüter und die Erzeugung von Krämpfen gewesen. Auffällig war 
schon damals der Unterschied zwischen den englischen Präparaten und den 
deutschen; während erstere prompt Erbrechen ohne schlimme Nachwirkungen 
hervorriefen, wurde von den deutschen Präparaten Schlafsucht und Kollaps 
von langer Dauer berichtet. Diesen Unterschied in der Wirkung hat Guinard 
auf die Verschiedenheiten der Substanz zurückgeführt: er konnte experi¬ 
mentell zeigen, daß die kristallinische Modifikation nahezu antagonistisch 
der amorphen gegenüber wirkte. Die amorphe Form führt nicht zu Erregung 
der Atmung, sondern zu Atmungslähmung, Erniedrigung des Blutdruckes 
und Muskel erschlaff ung. Harnack zieht aus alledem den praktisch wichtigen 
Schluß, daß man nur das kristallisierte Präparat verwenden soll und daß 
man ausdrücklich darauf achten soll, daß das von der Pharmakopoe vorge¬ 
schriebene Apomorphin, hydrochlor. in Kriställchen nicht mit der amorphen 
Modifikation verunreinigt vorrätig gehalten wird. 

Literatur: Harnack, Über schlimme Zufälle bei der Apomorphinanwendimg und über 
die Beziehungen zwischen Würgakt und Muskellähmuug. Münchener med. Wochenschr., 1908, 
Nr. 36, pag. 1869. E. Frey. 


Arhovin« 11 akute, 11 chronische resp. subakute Fälle von Harn¬ 
röhrengonorrhöe und 7 Nebenhodenentzündungen sah Knauth *) bei der Ver¬ 
abreichung von 4—6 Kapseln Arhovin zu 0 25 g in kurzer Zeit ausheilen. 
Im akutesten Stadium wurden die heftigen Beschwerden, wie Harndrang, 
Brennen, schmerzhafte Erektionen sehr günstig beeinflußt. Die Behandlungs¬ 
dauer des akuten Trippers war 14 Tage bis 3 Wochen bis 30 Tage; alle 
blieben auf den vorderen Teil der Harnröhre beschränkt. Die chronischen 
Gonorrhöen hielten durchschnittlich 40 Tage an, nur ein Fall wurde rück¬ 
fällig. Auf Grund dieser allerdings sehr günstigen Resultate behandelt der 
Autor die Gonorrhöen lediglich mit innerer Darreichung von Arhovin und 


Bnoyclop. Jahrbücher. N. K. VIII. (XVII.) 


Digitized by 


Google 



34 


Arhovin. — Arsazetin. 


verzichtet au! jede Injektion; nur läßt er die Leute bei reizloser Diät das 
Bett im Lazarett hüten. 

Gegen diese Veröffentlichung von Knauth nimmt Bottstein*) Stellung 
und betont, daß alle internen Mittel nur Unterstützungsmittel der Injek¬ 
tionstherapie sein sollen, ein Standpunkt, auf dem wohl die meisten Autoren 
stehen. Ich möchte hier nur auf die Veröffentlichung von Kaiser aus der 
NsissERschen Klinik hinweisen, über welche ich vor 2 Jahren berichtete 
(Encyclopädische Jahrbücher, Bd. XV, N. F. 6 . Jahrg., 1908, pag. 34). Kaiser 
hat bei innerer, äußerer und kombinierter Behandlung mit Arhovin keine 
günstigen Beobachtungen machen können und hält — abgesehen von der 
Notwendigkeit einer kausalen Therapie lokal (mit Silbersalzen) — das Ar¬ 
hovin auch zur symptomatischen Behandlung »nicht besonders geeignet«. 

Literatur: *) Knauth, Ein Beitrag zur internen Arhovinbehandlung bei der aknten 
und chronischen Gonorrhöe des Mannes. Mönchener med. Wochenschr., 1908, Nr. 16, pag. 853. 
— *) Bottstein, Derselbe Titel. Münchener med. Wochenschr., 1908, Nr. 20, pag. 1080. 

E. Frey. 

Aristol« Eine warme Empfehlung des Aristols als Streupulver liegt 
von Th. Meyer vor. Er hat durch Aufpudern von Aristol mit Borsäure Kopf¬ 
ekzem in ein paar Tagen heilen sehen, die vorher auf Zinkpaste nicht rea¬ 
gierten. Verwendet wurde: Rp. Aristol. 3 3; Acid. boric. ad 10 0 . Auch bei 
Verbrennungen und Unterschenkelgeschwüren hat sich ihm eine 10 %ige 
Aristolsalbe bewährt. 

Literatur: Th. Mbyeb, Neue Erfahrungen mit Aristol. Therapeut. Monatsh., Juli 1908, 
pag. 380. E. Frey. 

Arsazetin« Nachdem Ehrlich und Bertheim l ) die Konstitution des 
Atoxyls aufgeklärt haben, war es möglich, andere Stoffe synthetisch darzu¬ 
stellen, welche dem Atoxyl ähnlich sind und von denen zu erwarten war, 
daß sie eine stärkere Wirkung oder eine geringere Giftigkeit aufweisen 
würden. Chemisch stellt Atoxyl p-Aminophenylarsinsaures Natrium dar; die 
neue von Ehrlich untersuchte Substanz ist der Essigsäureester desselben 

von der Formel CH 3 . CO . NH . C 6 H 4 . (As 0)/®, verhält sich also zum 

MJNa 

Atoxyl, auch Arsanilat genannt, wie Azetanilid zu Anilin. Dieses Azetylarsanilat 
kommt unter dem Namen Arsazetin in den Handel. Es ist ein weißes Pulver, 
das 3—4 Moleküle Kristallwasser enthält, sich in kaltem Wasser bis zu 
10%, in heißem Wasser bis zu 30% löst. Es läßt sich ohne Zersetzung 
durch Kochen sterilisieren, während Atoxyl sich sehr schnell zersetzt. Es 
besitzt eine stärkere heilende Wirkung trypanosomeninfizierter Tiere als das 
Atoxyl und seine Giftigkeit ist geringer. 

Nach ausgedehnten Versuchen an Affen, welche mit Syphilis infiziert 
waren, hat Neisser 2 ) auch am Menschen das Arsazetin angewandt. Die Tier¬ 
versuche Neissers haben ergeben: 

» 1 . Das Präparat ist sicherlich ungleich ungiftiger als das alte Atoxyl, 
wobei natürlich immer in Rechnung gezogen wurde, daß 0*6 der neuen Prä¬ 
parate 0*5 des alten gleichzustellen seien. Gesunde wie kranke Tiere ver¬ 
trugen sehr viel größere Dosen des Arsazetins als die des Atoxyls. 

2 . Die Heilwirkung gegenüber der Syphilis war mindestens die gleiche 
wie beim alten Präparat. Ich glaube sogar, daß, soweit man überhaupt 
derartiges feststellen kann, die Heilwirkung größer ist als beim alten 
Atoxyl. 

3. Irgend eine Zersetzung in den Lösungen selbst, wenn sie lange auf¬ 
gehoben worden waren, haben wir nicht konstatieren können, speziell keine 
Gelbfärbung. Auch bei Tieren zeigt sich kein Unterschied in der Giftwirkung 
zwischen ganz alten und frisch bereiteten Lösungen; selbst tägliches Auf¬ 
kochen änderte die Lösung nach keiner Richtung hin.« 


Digitized by 


Google 



Arsazetin. — Arsen« 


35 


Trotzdem im Tierversuch eine sichere kurative Wirkung festgestellt 
ist, beseitigt es die Symptome der Syphilis nicht so prompt wie Queck¬ 
silber. In manchen Fällen schwinden die Erscheinungen sehr schnell, in an¬ 
deren läßt es in dieser Richtung im Stich, ja es können schon während der 
Behandlung Rezidive auftreten. Neisser hat wöchentlich an zwei aufeinander 
folgenden Tagen je 0*6 Arsazetin in 10%iger oder in 15°/oiger Lösung in¬ 
jiziert. Letztere Flüssigkeit muß erwärmt werden, damit Lösung eintritt. Die 
Kur wurde 10 Wochen lang fortgesetzt, also 12*0 im ganzen ausgespritzt. 
Manchmal ist Neisser bis auf Dosen von 0*75 gestiegen, so daß im ganzen 
14*0 g verbraucht wurden. Störungen von seiten der nervösen Apparate, wie 
Optikusatrophie und ähnliches, sind nicht aufgetreten. Bei Frauen macht 
sich öfters eine Schmerzhaftigkeit des Magens und Darmes geltend, bei 
Männern waren diese Erscheinungen selten, sie scheinen durch gleichzeitige 
Darreichung von Magnesia usta günstig beeinflußt zu werden. Schnell vor¬ 
übergehende Temperatursteigerungen sind ein paarmal beobachtet worden. 
Neisser empfiehlt, bei jedem Patienten erst mit einer kleinen Dosis anzu¬ 
fangen, etwa mit 5—10 cg. Trotzdem ernste Störungen nicht aufgetreten 
sind, wird man Patienten mit irgendwelchen parenchymatösen Organerkran¬ 
kungen von der Arsazetinbehandlung ausschließen, da geschwächte Organe 
leichter den toxischen Wirkungen ausgesetzt sind. So sind Menschen, die an 
einer Myokarditis oder einer Nephritis leiden, von der Kur auszuschließen. 
Ebenso scheinen Tabiker, Paralytiker und schwere Neurastheniker für die 
Arsazetinkur nicht geeignet, da sich ihre Beschwerden vermehren. Am meisten 
ist eine kombinierte Quecksilber-Arsazetinbehandlung zu empfehlen, die 
Neisser in den meisten Fällen gleichzeitig vornahm. Nach Ehrlichs Unter¬ 
suchungen spielen die durch Reduktion aus den Arsenpräparaten entstehen¬ 
den Produkte — die Arsenoxyd- und die Arsenostoffe — die Hauptrolle bei 
der Heilwirkung. Einer Kombination des Arsazetins mit arseniger Säure 
möchte Neisser nicht das Wort reden, da es scheint, daß gerade das 
alte, mit Arsensäure verunreinigte Atoxyl die schweren Schädigungen ge¬ 
macht hat. 

In 31 Fällen von Syphilis hat Heymann 8 ) das Arsazetin angewandt, 
und zwar in derselben Dosierung wie Neisser. Er sah in 7 Fällen ernstere 
Nebenerscheinungen auftreten. die in Übelkeit, Kopfschmerzen und Erbrechen 
bestanden. Dazu gesellten sich die Zeichen einer Nephritis: Oligurie bis 
herab zu 500 m 8 in 24 Stunden, spez. Gew. von 1030, Eiweiß im vorher 
eiweißfreien Harn, Epithelien, weiße Blutkörperchen, hyaline Zylinder. Ein¬ 
mal gesellten sich starke, stechende Schmerzen in den Extremitäten dazu. 
Häufig trat hinsichtlich der Symptome ein momentaner Erfolg ein, häufig 
kam es bald zu Rezidiven. 

Wie Neisser betont, soll das Mittel nicht etwa das Quecksilber aus 
der Luestherapie verdrängen, sondern gleichzeitig mit ihm angewendet wer¬ 
den. Ein weiterer Ausbau der Therapie mit Arsenpräparaten wird uns in 
den Stand setzen, diese Mittel im Kampf gegen die Krankheit in ähnlicher 
Weise auszunutzen, wie es beim Quecksilber durch die Erfahrung ge¬ 
lungen ist. 

Literatur: *) Ehrlich und Berthkim, Ber. d. deutschen chem. Gesellsch , 1907, 40. 
— f ) Neisser, Deutsche med. Wochenschr., 1908, Nr. 35, pag. 1500. — 3 ) Hkymamn, Deutsche 
naed. Wochenschr., 1908, Nr. 50, pag. 2174. E . Frey. 

Arsen« Auf einen interessanten Unterschied in der Wirkung des 
Arsens bei Muskelruhe und Muskelarbeit weist Riehl hin. An einem und dem¬ 
selben Menschen, einem gesunden, unterernährten, 45jährigen Mann, wurden 
2 Versuche mit Arsenfütterung angestellt, einer bei Muskelarbeit und ein 
halbes Jahr später der Muskelruheversuch. Beide Male befand sich die Ver¬ 
suchsperson im Stickstoffgleichgewicht und hatte am Beginn des Versuches 


Digitized by 


Google 



36 


Arsen. — Arteriosklerose. 


das gleiche Gewicht, 61*7 resp. 61*1 kg. Beide Male wurden die gleichen 
Arsenmengen und die gleiche konstante Nahrung gegeben. Die Muskelarbeit 
bestand in 3—4stündigem Marsche, während des Ruheversuches betrug die 
tägliche Bewegung höchstens 20 Minuten, sonst wurde Bett- oder Sofaruhe 
eingehalten. »Während im Muskelarbeitsversuch innerhalb der ersten 15 Tage 
die Gewichtszunahme 6 Pfund überstieg (einige Male Gewichtszunahme pro 
Tag Aber 1 Pfund), wurde beim Muskelruheversuch innerhalb derselben Zeit 
keine Körpergewichtszunahme, eher eine minimale Abnahme konstatiert.« In 
Übereinstimmung damit stand der Blutbefund: bei der Arbeit nahm bis zum 
15.Tag der Hb Gehalt zu, ebenso die Zahl der roten und weißen Blutkör¬ 
perchen, in der Ruhe blieb der Hb-Gehalt der gleiche, die Zahl der Blut¬ 
körper nahm ab, besonders die der weißen. Ein Versuch an einem unter¬ 
ernährten Hund fiel in demselben Sinne aus. »Während der Hund bei Mast¬ 
futter und Muskelruhe in den ersten 20 Tagen des Versuches täglich 100 y, 
in den folgenden 12 Tagen nur mehr täglich 63gr an Körpergewicht zunahm, 
erreichte er bei derselben Nahrung und täglich zweistündiger Bewegung vom 
32. bis 50. Tag des Versuches eine tägliche Gewichtszunahme von 85 y, 
also etwas mehr wie die durchschnittliche Gewichtszunahme in den ersten 
32 Tagen. 

Riehl macht darauf aufmerksam, daß gerade die Teile der Gebirgs- 
bevölkerung, die sich körperlichen Strapazen unterziehen müssen, den gün¬ 
stigen Einfluß des Arsenessens loben und ihre Anstrengungen unter der 
Arsenwirkung leichter ertragen. 

Literatur: Ribhl, Verschiedene Arsenwirknng bei Muskelarbeit und Muskelrnhe. 
Münchener med. Wochenschr., 1908, Nr. 51, pag. 2661. E. Frey. 


Arsenogen« Unter diesem Namen hat Salkowski eine Phosphor- 
Arsen-Eisenverbindung in die Therapie eingeführt. Das Arsen ist darin locker 
gebunden. Gibt man Kaninchen die Substanz in alkalischer Lösung, so ist 
schon am ersten Tage der Harn arsenhaltig, in den folgenden 24 Stunden 
finden sich größere Mengen Arsen im Harn, die Ausscheidung dauert etwa 
12 Tage. Das Präparat wird von Knoli & Ko. in den Handel gebracht. 

Literatur: Salkowski, Berliner klin.Wochenschr., 1908, pag. 143. E. Frey. 


Arteriosklerose, die. Der krankhafte Prozeß an den Arterien, 
welcher klinisch sich unter dem Bild der Arteriosklerose abspielt, hat 
in verschiedenen Zeiten eine verschiedene pathologisch-anatomische Be- 
Zeichnung erfahren. Lobstein nannte ihn Arteriosklerose, Förster Athero- 
matose, Virchow Endarteriitis chronica nodosa s. deformans, Thoma An- 
giomalacie, Marchand endlich hat den Namen Atherosklerose für die skle¬ 
rotischen Gefäßveränderungen vorgeschlagen. Er definiert die Atheroskle¬ 
rose als eine progressive Ernährungsstörung der Gefäßwand, die mit 
Quellung, Verdickung und Sklerose der Intima, Vermehrung und Degene¬ 
ration ihrer zeitigen Elemente einhergeht und zu partieller Nekrose, zum 
Zerfall und Verkalkung führt, an der sich besonders an den Arterien der 
Extremitäten die Media in hohem Grade beteiligt. (Real-Encyclopädie, 
4 . Aufl., Band I, pag. 880.) 

Die pathologisch-anatomische Beschreibung des arteriellen Prozesses 
ist in dem Artikel von Marchand 1 . c. nachzulesen. Hier soll nur ganz kurz 
auf die neueren Forschungen in der Lehre von der Arteriosklerose einge¬ 
gangen werden, die in den letzten Jahren gemacht worden sind. Die Haupt¬ 
fortschritte in der pathologischen Anatomie der Gefäßerkrankungen ver¬ 
danken wir Thoma und Jores. Jores schildert in seinem bekannten Buch 
»Über das Wesen und die Entwicklung der Arteriosklerose« die THOMAsche 
Lehre in folgender Weise: »Thomas erste Mitteilung behandelt die Frage, 


Digitized by 


Google 



Arteriosklerose. 


37 


wie sich die Intima Verdickung, welche in der Aorta des Menschen mit dem 
Alter in zunehmender Stärke auftritt, erklären lasse. Er konstatierte, daß 
die Aorta des Embryo und Neugeborenen keine bindegewebige Intima besitzt, 
sondern nach innen von der Ringmuskulatur eine zunächst schmale Lage 
elastisch-muskulöser Natur. Schon bald nach der Geburt tritt aber, wie 
Thoma fand, eine Bindegewebslage in der Aorta auf, dieselbe lokalisiert sich 
zunächst unterhalb der Insertionsstelle des Ductus Botalli und breitet sich 
von da auf die Aorta thoracica aus. Auch von den Nabelarterien an auf¬ 
wärts in die Iliaca entwickelt sich nach der Geburt eine bindegewebige 
Schicht der Intima. Schließlich hat sich in dieser Weise eine Bindegewebs¬ 
lage gebildet, welche, von der Insertionsstelle des Ductus Botalli beginnend, 
bis zum Abgang der Nabelarterie reicht; Thoma führt für diesen Theil des 
Gefäßsystems die Bezeichnung »Nabelblutbahn« ein. In die Seitenzweige 
der Aorta erstreckt sich die bindegewebige Intima nicht. Bei der Teilungs¬ 
stelle der Iliaca communis findet sich die Bindegewebslage nur an dem 
Teil der Gefäßwand, welcher zur Interna wird, beschränkt sich also auch 
hier streng auf die »Nabelblutbahn», ein Modus, der sich bei jeder weiteren 
Teilung wiederholt. 

Aus diesem Verhalten in der Entwicklung und Lokalisation der phy¬ 
siologischen Bindegewebslage der Aorta zieht Thoma den Schluß, daß der 
Ausfall des Plazentarkreislaufes das ursächliche Moment für die physiolo¬ 
gische Bindegewebswucherung der Aortenwand abgebe. Durch den Ausfall 
des Plazentarkreislaufes soll ein Mißverhältnis entstehen zwischen der 
Weite des als »Nabelblutbahn« bezeichneten Abschnittes des Gefäßsystems 
und dem Blutstrom. Die Aorta wird für den Blutstrom relativ zu weit, und 
da sie den Ausgleich nicht durch Kontraktion allein bewirken kann, so ist 
eine Abnahme der Stromgeschwindigkeit die Folge. Das Gefäß sucht dann 
durch eine bindegewebige Wucherung der Intima den Ausgleich zu erzielen. 
Die Bindegewebswucherung wird daher von Thoma als eine kompensato¬ 
rische bezeichnet und die Stromverlangsamung gibt in letzter Linie den 
Reiz hierfür ab. 

Ein zweites Beispiel für die Entwicklung einer solchen kompensato¬ 
rischen Intimawucherung findet Thoma in dem Verhalten der Arterien in 
Araputationsstümpfen. Denn auch hier ist für das im Stumpf verbleibende 
Gefäß ein großer Teil des früher von ihm versorgten Gefäßabschnittes aus¬ 
gefallen, und das oben bezeichnete Mißverhältnis zwischen Gefäßweite und 
Blutstrom mit seinem Folgezustand der Stromverlangsamung tritt ein. 
Durch vergleichende Messungen konnte Thoma zeigen, daß eine erhebliche 
Kontraktion der Media die nächste Folge sein muß, der sich dann die 
kompensatorische Bindegewebswucherung anschließt. Dieselbe geht bis zum 
Abgänge des ersten größeren Seitenastes, wo das neue Gefäßlumen eine 
exzentrische Verschiebung in der Richtung nach der Verzweigungsstelle des 
nächsten Astes regelmäßig zeigt.« 

Dieses ist die nur in der Hauptsache wiedergegebeneTHOMAsc’ie Theorie, 
welche also eine mechanische Ursache der Arteriosklerose annimmt; sie 
hat zwar seinerzeit großes Aufsehen erregt und ist vor allem von klinischer 
Seite anerkannt worden, hat sich jedoch nicht halten können, und ist be¬ 
sonders durch die Arbeiten von Fuchs und anderen widerlegt worden. 
Immerhin hat sie, wie Aschoff horvorhebt, doch zu neuen Nachunter¬ 
suchungen Veranlassung gegeben, von denen neben den schon erwähnten 
von Fuchs besonders die von Jores und seinen Schülern zu nennen sind. 
Es wurde von diesen Autoren gezeigt, daß die physiologische Intimaver¬ 
dickung nicht nur, wie Thoma angenommen, auf die Aorta beschränkt ist, 
sondern in den verschiedensten Gefäßgebieten stattfindet, so daß sie un¬ 
möglich mit der Theorie der Nabelblutbahn zu erklären ist. Jorrs hat 


Digitized by 


Google 



38 


Arteriosklerose. 


nun die physiologischen Wachstomsverhältnisse der Arterien systematisch 
verfolgt ond gefunden, daß die physiologische Intimaverdickong während der 
IVachstumsperiode im wesentlichen in einer Verdickung des elastischen 
Gewebes zum Teil mit Einbau muskulärer Elemente beruht, während die 
Bindegewebsneubildungen auf ein Minimum beschränkt sind. Das elastische 
Gewebe besitzt einen sehr geringen elastischen Widerstand und eine große 
Vollkommenheitsgrenze, d. h. es ist leicht und stark und ohne Gefahr der 
Cberdehnung dehnbar. 

Die physiologisch erhöhte Spannung während des Kindesalters wirkt 
als formativer Reiz und bedingt eine Verdickung des elastischen Rohres 
durch Anlagerung gleichwertigen Materials. Dadurch wird unter Erhaltung 
der elastischen Vollkommenheit der elastische Widerstand erhöht Jede 
dauernde Erhöhung der Spannung des elastischen Gewebes bedingt wie 
Aschoff, dessen Ausföhrungen wir uns hier anschließen, ausführt, Zuwachs 
von elastischem Gewebe. Es wird von der Stärke der Entwicklung, welche 
die einzelnen Organe, Extremitäten usw. erreichen, kurz von den indivi¬ 
duellen Verhältnissen abhängen, ob der Zuwachs an elastischer Spannung 
und damit auch an elastischer Substanz ein großer oder geringer sein 
wird. Jedenfalls wird dieser Prozeß im wesentlichen mit der Wachstoms¬ 
periode abgeschlossen sein. Mit dieser vollen Entwicklung des elastischen 
Gewebes in der Intima ist die erste Periode der Gefäß Veränderungen, die 
Aschoff als die Wachstomsperiode oder aufsteigende Periode der Gefä߬ 
veränderung bezeichnet hat und die mit dem Ende des Körperwachstums 
auch ihr Ende findet, abgeschlossen. Das elastische Innenrohr des jugend¬ 
lichen Erwachsenen besitzt trotz der eingetretenen Erweiterung und Ver¬ 
längerung im Verhältnis zum Neugeborenen noch die gleiche elastische Voll¬ 
kommenheit und zugleich einen höheren elastischen Widerstand. 

An diese Periode schließt sich eine bei den verschiedenen Menschen 
sehr verschieden lange dauernde, durchschnittlich aber relativ kurze, meist 
nur bis in die Mitte oder Ende des 4. Jahrzehnts währende zweite Periode 
in weicher die histologische Struktur so gut wie unverändert bleibt. Daran 
schließt sich als dritte Periode die absteigende Periode der Gefäßverän¬ 
derung oder des Lebens der Gefäße. Sie ist charakterisiert durch die Ent¬ 
wicklung der senilen Sklerose. So bunt non auch alle diese Bilder sein 
mögen, so haben sie alle ein gemeinsames charakteristisches Merkmal, eine 
weitere Verdickung der Intima, die aber nicht nur durch Neubildungen von 
elastischer Substanz, sondern vor allem durch eine Ein- ond Auflagerung 
von Bindegewebe bedingt ist. 

Die Frage warum in der dritten Periode des Gefäßlebens eine zu¬ 
nehmende bindegewebige Verstärkung der Intima an Stelle des bis dahin 
vorwiegend aus elastischen und muskulösen Fasern bestehenden Innen¬ 
rohres der Gefäße tritt, ist von Triefel dahin beantwortet, daß entweder 
an die Funktion der Gefäße ganz andere Anforderungen gestellt werden als 
bisher, oder daß das elastische Gewebe in irgend einer Weise versagte. 
Für die erstere Annahme liegt kein Beweis vor, um so näher liegt die 
zweite, d. h. die Annahme der Einbuße des elastischen Gewebes an seiner 
elastischen Vollkommenheit. Aschoff vergleicht das elastische Gewebe der 
Intima in diesem Stadium mit einem dauernd gespannten Kautschukfaden. 
Es macht sich eine, wenn auch noch so geringe Dehnung des Rohres 
geltend. Es würde nichts nötzen, durch Anbildung einer den verloren ge¬ 
gangenen elastischen Widerstand entsprechenden Menge elastischen Gewebes 
den Schaden beseitigen zu wollen, denn das bereits öberdehnte Gefäßrohr 
würde trotzdem bei jedem Pulsschlag, entsprechend der Überdehnung, über 
die bisherige Maximalgrenze verlängert werden. Daher muß zur Wandver¬ 
stärkung ein Material angebaut werden, welches einen größeren elastischen 


Digitized by 


Google 



Arteriosklerose« 


39 


Widerstand besitzt, das ist das Bindegewebe. Jede dauernde Verminderung 
der Spannung des elastischen Gewebes bedingt die Entwicklung von Binde¬ 
gewebe. Je langsamer die elastische Vollkommenheit abnimmt, je voll¬ 
kommener also das Bindegewebe sich aufbaut, um so mehr werden schäd¬ 
liche Dehnungen und das damit verbundene Eindringen von Plasma und 
allen sonstigen gröberen degenerierenden Folgen vermieden werden. Es re¬ 
sultiert dann ein sich ganz langsam dehnendes, mit verdickter, aber sonst 
nicht weiter veränderter Intima ausgestattetes, gewöhnlich etwas verlän¬ 
gertes, und daher leicht geschlängelt verlaufendes Gefäßrohr, dessen charak¬ 
teristische physikalische Eigenschaft einerseits der hohe elastische Wider¬ 
stand, d. h. die stetige Abnahme seiner Dehnbarkeit, andrerseits die ge¬ 
ringe elastische Vollkommenheit, d. h. die Unmöglichkeit, nach starker 
Dehnung wieder zur ursprünglichen Grenze zurückzukehren, ist. 

Erfolgt die Dehnung zu rasch oder zu intensiv, so gesellt sich zu 
dem einfachen Bilde der senilen Sklerose noch das der sekundären Degene¬ 
ration. Aschoff charakterisiert diese dritte Periode des Gefäßlebens als 
solche der Abnutzung des elastischen Innenrohres. Dieses hat zwar im Ver¬ 
hältnis zum jugendlich Erwachsenen an elastischem Widerstand noch 
weiter zugenommen, aber seine elastische Vollkommenheit eingebüßt. Das 
Rohr ist weniger dehnbar, aber leichter überdehnbar und dabei weiter ge¬ 
worden. Histologisch ist diese Periode zunehmender Schwächung durch die 
kompensatorische Bindegewebswucherung (regenerative Bindegewebswuche¬ 
rung, Jores) charakterisiert, an die sich als makroskopische Merkmale die 
vielfach und besonders gern fleckförmig an disponierten Stellen eintretenden 
sekundären degenerativen Prozesse (Verfettungen, Verkalkungen, hyaline 
Quellungen usw.) anschließen. Aschoff faßt in sehr übersichtlicher Weise 
die obigen Auseinandersetzungen folgendermaßen zusammen: »Wir kommen 
also zu dem Resultat, daß jede dauernde Steigerung der Gefäßfunktionen 
zu einer Verdickung des elastischen Innenrohres aus gleichem Material 
führt, solange das erstere aus vollwertiger Substanz besteht. Jedes Nach¬ 
lassen in der Vollkommenheit der elastischen Substanz muß an sich schon, 
noch mehr aber bei stärkerer Inanspruchnahme zur bindegewebigen Ver¬ 
dichtung führen. Der erste Vorgang ist eine echte Hypertrophie, der zweite 
ein kompensatorischer Prozeß mit Bildung minderwertigen Ersatzmaterials. 
Beide Vorgänge begleiten die Entwicklung eines jeden Gefäßes, die Hyper¬ 
trophie die aufsteigende Periode, die kompensatorische Bindegewebswuche¬ 
rung die absteigende Periode. Beide Vorgänge können nun in pathologischer 
Richtung gesteigert sein. Treten während der aufsteigenden Periode be¬ 
sondere Anforderungen an das Gefäßsystem, z. B. bei einer chronischen 
Nephritis, heran, so kann die zunächst einsetzende stärkere Entwicklung 
des elastischen Gewebes eine sklerotische Verdickung vortäuschen, während 
eine besonders funktionstüchtige Arterie im Sinne Ottfried Müllers vor¬ 
liegt. So wird es auch verständlich, daß man experimentell bei Tieren, die 
ja meist in jugendlichem Alter stehen, durch Blutdruckerhöhung die degene¬ 
rativen Formen der Sklerose nur schwer erhält. 

Wir kommen nunmehr auf die experimentelle Arteriosklerose zu sprechen. 
Das Hauptinteresse hat die sogenannte Adrenalinarteriosklerose erregt, von 
der man zuerst annahm, daß sie durch die häufige, mit der Einspritzung 
des Adrenalins hervorgerufene Blutdrucksteigerung bedingt sei. Dies muß 
aber vor allem nach den Untersuchungen von Braun als irrtümlich zurück¬ 
gewiesen werden, denn Braun konnte zeigen, daß bei gleichzeitiger intra¬ 
venöser Zufuhr von Adrenalin und Amylnitrit, wobei also jede blutdruck¬ 
steigernde Aktion des Adrenalins ausgeschlossen ist, trotzdem kalkige 
Sklerose der Media zustande kommt. Es muß also die Wirkung des 
Adrenalins auf die Gefäßwand als eine toxische angesprochen werden. 


Digitized by 


Google 



40 


Arteriosklerose« 


Auch der Versuch, die gewöhnlichen Arterien des Menschen mit der 
Adrenalinsklerose in ursächlichen Zusammenhang zu bringen, d. h. in einer 
Überfunktion der Nebenniere eine gemeinsame Ursache zu erblicken, kann 
nicht aufrecht erhalten werden, da die Adrenalinarteriosklerose einen ganz 
anderen Charakter als die menschliche zeigt. 

Wir haben eben gesehen, daß die letztere regelmäßig einen in der In¬ 
tima einsetzenden Degenerationsprozeß darstellt. Für die Adrenalinsklerose 
der Kaninchen zeigte sich, daß der Prozeß regelmäßig mit degenerativen 
Veränderungen der Muskulatur der Media beginnt. Freilich ist auch hier 
keine volle Übereinstimmung erzielt, denn nach Braun repräsentiert die 
Adrenalingefäßveränderung an den kleinsten Gefäßen in ihrer Anfangsstelle 
eine von Wucherungen der muskulären und elastischen Elemente der innersten 
Schicht gefolgte Mediaschädigung.« Je intensiver bis zu einem gewissen 
Grade die Schädigung der Mediaelemente ist, einen desto höheren Grad 
scheint auch die Proliferation ihrer intimawärts wachsenden Gewebselemente 
zu erreichen. Das resultierende Bild stellt eine hyperplastische Intima¬ 
wucherung dar. Braun steht also auf dem Standpunkt, daß die Adrenalin¬ 
arteriosklerose und die menschliche Arteriosklerose eine weite Analogie auf¬ 
weisen. Wie man sieht, sind diese Beziehungen zwischen diesen beiden Arten 
von Arteriosklerose noch nicht über jeden Zweifel sichergestellt. Wie auch 
immer die Verhältnisse liegen mögen, soviel geht aus den experimentellen 
Untersuchungen wohl mit Sicherheit hervor, daß die alte Ansicht , daß die 
erhöhte Spannung des Arteriensystems die Ursache der Arteriosklerose sei 
— welche mechanische Theorie besonders durch Traube verteidigt und er¬ 
weitert wurde — nicht mehr haltbar ist. Man hat nicht nur, wie wir oben 
sahen, durch Adrenalin bei gleichzeitiger Ausschaltung des blutdruckerhöhen¬ 
den Momentes die für Adrenalin charakteristischen arteriellen Veränderungen 
hervorgerufen, sondern auch umgekehrt durch alleinige häufige Blutdruck¬ 
erhöhung (z. B. Kompression der Aorta bei Kaninchen) zwar Herzhyper¬ 
trophien hervorgerufen, gleichzeitig aber das Fehlen der arteriosklerotischen 
Veränderungen in der Aorta konstatiert. 

Neben der bisher besprochenen großen Gruppe reiner, durch das Alter 
bedingter seniler oder durch physikalische und chemische Schädigungen des 
elastischen bzw. muskulösen Gefäßrohres beschleunigter präseniler, juveniler 
und infantiler Atherosklerose, welche durch einfache degenerative Vorgänge 
mit kompensatorischer Bindegewebswucherung charakterisiert sind, stehen 
nun nach Aschoffs Schilderung als eine zweite Gruppe sklerosierender Ge¬ 
fäßerkrankungen die schwieligen Veränderungen, Neubildungen auf Grund 
infektiöser lokaler Erkrankungen. Am bekanntesten sind die zuerst von 
Heubner studierten syphilitischen Veränderungen der Gefäße. Neben den 
syphilitischen kommen septisch embolische Mediaerkrankungen in Betracht. 
Saltykoff hat jüngst gezeigt, daß durch wiederholte subkutane und intra¬ 
venöse Injektion von verschiedenen virulenten, zum Teil abgetöteten Staphylo¬ 
kokkenstämmen Veränderungen der Gefäßwand hervorgerufen werden können, 
welche nicht nur in der Intima (Wucherungen, fettige und schleimige De¬ 
generationen), sondern auch in der Media gelegen sind, und welche mit der 
menschlichen Arteriosklerose jedenfalls eine große Ähnlichkeit besitzen. Es 
scheint demnach, daß die akuten Infektionskrankheiten, wie das Wiesel 
schon hervorgehoben hat, einen der wichtigsten ätiologischen Faktoren der 
chronischen Gefäßerkrankungen darstellen; Typhus, Scharlach. Diphtherie, 
auch schwere Influenza kommen in Betracht. Wiesel hat an 500 Infektions¬ 
leichen genaue anatomische Untersuchungen vorgenommen und konnte an 
seinem Material eine ganze Reihe von der serösen Durchtränkung an bis zu 
den schwersten skleroatheromatösen Veränderungen in allen Stadien ver¬ 
folgen. Warum die degenerativen bzw. narbigen Prozesse sich das eine Mal 


Digitized by 


Google 



Arteriosklerose. 


41 


rasch weiter entwickeln und warum so häufig nicht, liegt für viele Fälle 
dunkel. Es ist interessant, daß auch die Beteiligung der Koronararterien an 
den degenerativen Vorgängen von Wiesel, Aschoff, Tawara u. a. beobachtet 
wurde. Wahrscheinlich sind es direkte toxische Einflüsse auf die Bauelemente 
der Gefäßwand, die in erster Linie hier die Ursache der Gefäßschädigungen 
abgeben. Für die später angreifenden Noxen ist wohl die Schwächung des 
elastischen Gewebes im Sinne Aschoffs von Bedeutung. Endlich unter¬ 
scheidet Aschoff neben den genannten zwei Sklerosenarten noch eine dritte 
Gruppe spezifischer funktioneller Sklerosen, bei denen die physiologische 
Tätigkeit des betreffenden Organes so schwere Wand Veränderungen in relativ 
kurzer Zeit bedingt, daß daraus bleibende, als Sklerose imponierende Aus¬ 
heilungszustände hervorgehen. Er versteht darunter die Menstruations* und 
Schwangerschaftssklerose der Uterusgefäße und die Menstruations- und 
Orulationssklerose der Ovarialgefäße. 

Die pathologische Anatomie gibt die Grundlage für die Anschauung 
der Kliniker ab, welche heute allgemein in der Arteriosklerose eine Ab¬ 
nutzungskrankheit der Arterien sehen, und es ist wohl das unbestrittene 
Verdienst von Jores, gegenüber der mechanischen Theorie die Annahme der 
funktionellen Überanstrengung der Gefäßwand aus den vielen von ihm ge¬ 
lehrten anatomischen Erscheinungen mit Notwendigkeit abgeleitet zu haben. 

Ganz anders ist die Auffassung der Arteriosklerose von seiten der 
Franzosen. Am charakteristischsten äußert sich ihr Standpunkt in der von 
Hccuard vertretenen Lehre. Nach ihr stellt die Sklerose nicht einen am 
Gefäßsystem allein sich abspielenden Krankheitsprozeß dar, sondern ist mit 
Organveränderungen innerlich verknüpft. Anatomisch ist sie charakterisiert 
durch Organsklerosen, die Folgen der Arterienveränderungen sind; letztere 
können sowohl die Aorta als den Herzklappenapparat treffen, befallen aber 
meist die kleineren und kleinsten Gefäße. 

Neben den geschilderten histologischen Veränderungen interessiert bei 
der Arteriosklerose sehr wesentlich die Verbreitung des krankhaften Pro¬ 
zesses. Die Sklerose ist gewöhnlich sehr ungleich verteilt. Albrecht hat 
folgende Häufigkeitsskala für das Befallensein der Arterien aufgestellt. Kon¬ 
kavität des Aortenbogens und die Klappenansatzlinie (Rückprall Brandungs¬ 
linie), dann folgt die Teilungsstelle der Aorten, die Abgänge der Inter¬ 
kostalarterien, dann die der Mesenterialgefäße, der Arm* und Beinarterien, 
der Kopfarterien, schließlich die wenig fixierten Arterien und solche, welche 
wegen harter Unterlage einen Druck erfahren. Die Verteilung der Erkran¬ 
kung ist für die im Leben vorhandene Drucksteigerung im Gefäßsystem 
von maßgebender Bedeutung. Den wichtigsten Regulator für den Blutkreis¬ 
lauf bilden die Splanchnikusarterien. Auch beim Fehlen einer Komplikation 
führt deren Erkrankung, wie leicht verständlich, am ehesten zu einer Er¬ 
höhung des Druckes. Ferner findet man einen erhöhten Druck bei kompli¬ 
zierender Nephritis und dem in letzter Zeit mehrfach beschriebenen Krank¬ 
heitsbilde der Polycythaemia hypertonica. Daß in vielen anderen Fällen von 
Arteriosklerose die Blutdruckerhöhung fehlen kann, steht außer Zweifel. 
Über die Prozentzahl der Fälle, in denen die Blutdruckerhöhung fehlt, gehen 
die Ansichten recht weit auseinander. Romberg und Sawada fanden an ihrem 
Material der Marburger Poliklinik, daß die Minderzahl der Arteriosklerotiker 
12'5°/ 0 übernormale Druckwerte darboten. In seiner Sprechstunde sah Rom- 
berg einen höheren Prozentsatz, doch auch viel häufiger komplizierende 
Nierenerkrankungen. Grödel fand in 37% von 446 Fällen von Arterio¬ 
sklerose einen übernormalen Druck. In der Straßburger medizinischen Klinik 
zeigten mehr als die Hälfte der mit der Diagnose Arteriosklerose aufge¬ 
nommenen Kranken erhöhten Druck. Huchard, welcher früher die Blutdruck¬ 
steigerung als Ursache der Arteriosklerose ansah — eine Auffassung, die, 


Digitized by 


Google 



42 


Arteriosklerose« 


wie aus dem Vorgehenden ersichtlich, sicher nicht richtig war —, der aber dem¬ 
zufolge doch den erhöhten Blutdruck als ein wesentliches Symptom der 
Arteriosklerose ansah, erkennt heute sogar eine Form der Arteriosklerose 
mit Herabsetzung des Blutdruckes an, die seiner Meinung nach wahrschein¬ 
lich intestinalen Ursprunges ist und mit Stauung und Druckerhöhung im 
Pfortadersystem einhergeht. Es kann ja nicht geleugnet werden, daß weit¬ 
gehende Atheroskleroseveränderungen bei der Obduktion gefunden werden, 
die keine Blutdrucksteigerung intra vitam zeigten; die praktische Frage 
liegt aber so, ob man solche Arteriosklerose im Leben überhaupt diagno¬ 
stizieren kann. Sicher unter besonders günstigen Umständen, wenn palpable, 
lokal veränderte Arterien sich dem Untersucher darbieten. Aber aus dem 
alleinigen Vorhandensein allgemeiner Symptome, wie Kopfschmerzen, Schwindel, 
Parästhesien in den Extremitäten etc., läßt sich jedenfalls eine sichere 
Diagnose auf Arteriosklerose nicht stellen und die von Romberg angegebene 
Prozentzahl dürfte sicher mindestens ebenso unzutreffend sein, wie die Zahl 
der auf Arteriosklerose lautenden Diagnosen derjenigen Ärzte, welche nur 
bei vorhandener Druckerhöhung diese Diagnose stellen. 

Bezüglich der Symptomatologie der Arteriosklerose ist in den letzten 
Jahren wenig hinzugekommen. Erwähnung verdient die von Hüchard vor¬ 
genommene klinische Einteilung der Arteriosklerose. Er scheidet zunächst von 
der allgemeinen Arteriosklerose diejenige Form ab, welche zu Veränderungen 
am Herzen führte, die er als Kardiosklerose bezeichnet. Er unterscheidet 
davon vier Typen, erstens die kardiorenale, mit Tachykardie und Tachy- 
arrhythmie als die häufigste, zweitens eine myovalvuläre, drittens eine 
Aortenform, viertens eine kardiobulbäre (Adam-Stokes’ Komplex). Im klini¬ 
schen Verlauf der Kardiosklerose sind nach ihm vier Stadien zu unter¬ 
scheiden: 1. das der arteriellen Blutdrucksteigerung, die wohl renalen Ur¬ 
sprungs ist, 2. das kardioarterielle Stadium, wo die als Folgen der Gefä߬ 
veränderung vorhandenen Krankheitssymptome eine große Rolle spielen, 
während objektiv nur wenig nachzuweisen ist (Angina pectoris, Claudicatio 
intermittens), 3. das mitro-arterielle Stadium, in dem sich Herzinsuffizienz- 
erscheinungen wie bei Mitralfehlern einstellen, und endlich das kardiektatische 
Stadium der letzten Periode. Die geschilderte Auffassung ist immerhin inter¬ 
essant genug, um auch den deutschen Lesern mitgeteilt zu werden; wenn 
sie wohl auch das Verständnis für das Geschehen im arteriosklerotischen 
Organismus nicht wesentlich fördert, so hat doch diese den Franzosen eigen¬ 
tümliche Klassifizierung den Vorteil, daß der danach urteilende Arzt gezwungen 
ist, eine genauere Analyse der nachweisbaren Veränderungen vorzunehmen, 
die im Einzelfalle auch für die Therapie der Arteriosklerose nicht ohne 
Nutzen sein kann. 

Was die Therapie der Arteriosklerose anbelangt, so kann die prophy¬ 
laktische Tätigkeit des Arztes hier die besten Erfolge erzielen, wenn er die 
Momente, welche, wie wir oben gesehen haben, zur Atherosklerose führen, 
in gebührender Weise berücksichtigt; wenn er also von der Auffassung der 
Atherosklerose als Abnutzungskrankheit ausgehend, in entscheidenden Mo¬ 
menten rechtzeitig mit der Schonung einsetzt. Es ist überflüssig, hier Ein¬ 
zelheiten aufzuzählen, es sei nur die körperliche und geistige Schonung nach 
schweren Infektionskrankheiten hervorgehoben, die Maßregeln gegen Alko¬ 
holismus, Nikotinismus, die Beachtung der Stoffwechselstörungen, wie Gicht 
und Diabetes, die ausgesprochenerweise zur Arteriosklerose disponieren, usw. 

Was die Therapie anbelangt, so ist in den letzten Jahren wenig Neues 
empfohlen worden. Bezüglich der medikamentösen Therapie ist man ziem¬ 
lich allgemein davon abgekommen, gleich bei den ersten Zeichen von Ar¬ 
terienveränderung mit Medikamenten vorzugehen, sondern beschränkt sich 
vielmehr auf eine Änderung in der Lebensweise, eben im Sinne der eben 


Digitized by 


Google 



Arteriosklerose. — Asklerosol. 


43 


genannten Prophylaxe. Die Jodsalze, die Huchard eingeführt hat, nehmen 
in den Anfangsstadien der Arteriosklerose auch heute die erste Rolle ein.« 
För bestimmte Indikationen hat Senator die Jodsalze mit Nitriten kom¬ 
biniert, v. Noorden hat Jodnatrium mit Theobrominnatrium zusammen her- 
stellen lassen, das unter dem Namen Eustenin verkauft wird. Die von As- 
kanazy zuerst hervorgebobene Bedeutung der Theobrominsalze zur Bekämpfung 
der verschiedenartigen anginösen Beschwerden hat sich allgemeine Geltung 
verschafft, soweit, daß man aus der Wirksamkeit des Theobromins auf die 
Diagnose anginöser Zustände schließen kann. Das Nitroglyzerin wird eben¬ 
falls zur Bekämpfung der Krampfformen angewandt, und zwar leistet es 
nach Wiesel Vorzügliches bei chronischer Zufuhr. Er verordnet es in 
VsVoigor Alkohollösung, die, nebenbei bemerkt, nicht explosibel ist; von einem 
Tropfen ausgehend, täglich einen Tropfen mehr bis 20 Tropfen der Lösung 
pro Tag. Diese Darreichung muß wochen- und monatelang unter allmählicher 
Verringerung der höchsten Tagesdosis gegeben werden. 

Nitroglyzerintabletten enthalten häufig überhaupt nichts von der wirk¬ 
samen Substanz. 

Die Behandlung mit dem Antiskierosin ist wohl als nutzlos ziemlich 
allgemein verlassen. 

In den Fällen, wo Digitalis gegeben werden muß, ist, wie Braun ex¬ 
perimentell nachwies, eine Kombination der Digitalis mit Diuretin oder 
Koffein notwendig, weil Digitalis allein überhaupt und speziell auch auf die 
Koronargefäße des Herzens vasokonstriktorisch wirkt. Die Koffeinpräparate 
verhindern die Kontraktion der Gefäße, während die Digitaliswirkung des 
Herzens unbeeinflußt bleibt. Auch dem Chinin kommt eine ähnliche Wirkung 
wie dem Koffein zu: Herabsetzung der vasomotorischen Eigenschaften der 
Digitalis. 

Literatur: Aschoff, Beiträge z. med. Klinik, 1908, H. 1. — Bbaun, Med. Klinik, 
1908, Nr. 26. — Hitchaed, Münchener med. Wochenschr., 1908, pag. 2116. — Jobes, Wesen 
nnd Entwicklung der Arteriosklerose. Wiesbaden 1903. — Ibbabl, Sammlung klin. Vorträge, 
N. F. pag. 449—450. — Mabchand, Enzyklopädie, 4. Anfl. — Saltikoff, Zieglers Beiträge, 
XLIII. — Wiesel, Wiener klin. Wochenschr., 1909, Nr. 12 und 13. O. Zaelzer. 

Asferryl ist ein neues Arsen-Eisenpräparat, über welches Bachem 
berichtet. Es ist ein Pulver von grünlichgelber Farbe, das in Wasser und 
Säuren schwer löslich ist, sich dagegen in verdünnten Alkalien mit rot¬ 
brauner Farbe löst. Es ist das Eisensalz der Arsenweinsäure mit 23% Arsen 
und 18% Eisen. 

Die tödliche Dosis für Kaninchen beträgt 0*06—0*07 g pro Kilo, dem 
Arsengehalt entsprechend ist es also lOmal weniger giftig als arsenige Säure. 
Tiere, weiche in allmählich steigender Dosis 0 005—0 05 durch 3 Monate er¬ 
hielten, nahmen besser zu als Kontrolliere. Im Selbstversuch wurden 0 04 
resp. 0’08 während 7 resp. 6 Tagen gut vertragen, ebenso Tagesdosen von 
0*2 g Asferryl. 

Literatur: Bachem, Über Asferryl, ein nenes Arsen-Eisenpräparat. Therapeutische 
Rundschau, 1908, Nr. 26, pag. 413. E. Frey. 

Asklerosol. Bei Arteriosklerose hat Münz von der Anwendung eines 
Salzgemisches gute Resultate gesehen. Er hat aus den Brunnensalzen des 
Kissinger Rakoczy unter Zusatz einiger weiterer Salze Tabletten hersteilen 
lassen, welche den Namen Asklerosol erhalten haben. Eine Tablette ent¬ 
hält die Salze von 90 evw 8 Rakoczy; es werden auch solche mit Jodzusatz 
angefertigt. Münz gibt 2—7 Tabletten pro Tag. Sie wirken leicht ab¬ 
führend. 

Literatur: Münz, Die Arteriosklerose und ihre Behandlung mit Asklerosol. Thera¬ 
peutische Rundschau, 1908, Nr. 5. E. Frey. 


Digitized by 


Goc ^le 



44 


Aspirin. — Asymmetrie. 


Aspirin« Einen interessanten Fall von Idiosynkrasie gegen Aspirin 
teilt Melchior aus der KLEMPERERschen Abteilung mit, interessant haupt¬ 
sächlich deswegen, weil nur gegen dieses Salizylpräparat Idiosynkrasie be¬ 
stand, nicht gegen andere ähnliche Verbindungen der Salizylsäure. Anläßlich 
einer schweren Erkrankung an Gelenkrheumatismus hatte ein 42jähriger 
Mann 1 g Aspirin erhalten und einen Ausschlag bekommen. Nach 14 Tagen 
erhielt der Patient in der Klinik wieder 1 g Aspirin, es traten mächtige 
Quaddeln im Gesicht, Hals, Brust und Nacken, sodann an den Streckseiten 
der Extremitäten auf; außerdem Lidödem, Chemosis, Rötung der Mund¬ 
schleimhaut und ödem der aryepiglottischen Falten mit Stridor und starker 
Cyanose im Gesicht und an den Fingern. Die Beteiligung der oberen Luft¬ 
wege erstreckte sich bis in die Bronchien hinein. Die Intoxikationssymptome 
traten J / 2 Stunde nach der Einnahme auf, erreichten nach 1 Stunde ihren 
Gipfel und klangen bald darauf ab, nur die Bronchitis dauerte 48 Stunden. 
Eine später gegebene Dosis von salizylsaurem Na wurde gut vertragen, auch 
nach Steigerung der Gabe bis zu 5 g pro Tag traten keine ähnlichen Er¬ 
scheinungen auf. Von anderen Estern der Salizylsäure wurden Salol (Phenyl¬ 
ester), Novaspirin (Dimethylzitronensäureester) mit negativem Erfolge ge¬ 
prüft, doch traten Symptome nach Zufuhr von Aspirin-Na und Spiran (Di- 
Aspirinanhydrid) auf, die jedoch nicht so arg waren als die nach Aspirin. 

Bemerkenswert, ist, daß die Erscheinungen von seiten der Haut und 
der Schleimhäute, die die Essigsäureverbindung der Salizylsäure veranlaßte, 
sich auch hervorrufen ließen, wenn eine Fluxion nach der Haut durch gleich¬ 
zeitige Applikation einer Heißluftschalterkapsel und Darreichung von Na 
salicylicum hervorgerufen wurde, während bei jedem der beiden letzteren 
Eingriffe, wenn sie einzeln gemacht wurden, die Symptome ausblieben. In¬ 
teressant ist endlich noch die Tatsache, daß die Haut über den erkrankten 
Gelenken am meisten affiziert war, eine Erscheinung, die nach der Abheilung 
des Gelenkrheumatismus ausblieb und an die Befunde von Jacoby erinnert, 
der eine Anhäufung der Salizylsäure gerade in erkrankten Gelenken nachwies. 

Literatur: Melchior, Idiosynkrasie gegen Aspirin. Therapie der Gegenwart. August 
1908, pag. 381. E. Frey. 

Asymmetrie. Auf der Anatomenversammlung in Gießen im April 
d. J. hat Verfasser ein Referat ȟber bilaterale Asymmetrie beim Menschen 
und bei höheren Tieren« erstattet, aus dem er hier einen kurzen Auszug 
gibt. Die dort mit abgehandelte besondere Frage: Rechts- und Linkshändig¬ 
keit soll hier abgetrennt werden (s. u.). Den Anlaß zu diesen literarischen 
und anatomischen Forschungen Ober Asymmetrie gab das Erscheinen der 
Arbeit von Richard Liebreich (Paris): »Die Asymmetrie des Gesichtes und 
ihre Entstehung« (deutsch: Wiesbaden 1908) sowie Erfahrungen Über die 
mangelhafte Kenntnis, die in den Kreisen der Mediziner und Archäologen, 
ja auch der Anatomen über die Ausdehnung, Entstehung und Bedeutung der 
Asymmetrie, insbesondere der der Gliedmaßen — zumal der oberen —, des 
Gesichtes und des Gehirns zu herrschen scheint. Die Untersuchungen von 
C. Hasse aus den achtziger Jahren v. Jahrh. sind zum Teil unbekannt ge¬ 
blieben oder in Vergessenheit geraten. Auch in den jetzt gebräuchlichen 
anatomischen Lehrbüchern findet man über Asymmetrie beim Menschen wenig 
oder nichts angegeben. (Vgl. dagegen Fr. Arnold, Handbuch der Anatomie 
des Menschen, Freiburg i. S., 1844, 1. Bd, pag. 26 —31.) Im Gegenrapr sucht 
man vergeblich nach Angaben über Asymmetrie; Rauber-Kopsch widmet ihr 
einige Zeilen; auch K. v. Bardeleben macht nur einige gelegentliche An¬ 
gaben über Asymmetrie, z. B. beim Septum nasi, Rippen, Brustbein, Humerus 
(verschiedene Länge rechts und links). 

Es soll hier nun — mit Rücksicht auf den verfügbaren Raum — nicht 
das ganze kolossale Gebiet der Asymmetrie — zumal wenn man es nicht 


Digitized by 


Google 



Asymmetrie. 


45 


auf den Menschen beschränkt — behandelt, sondern es soll nur das beson¬ 
ders Interessante für den Arzt berücksichtigt werden. 

Eine absolute oder mathematische bilaterale Symmetrie des mensch¬ 
lichen und des Wirbeltierkörpers — ganz abgesehen werden soll hier von 
den handgreiflich asymmetrisch gebauten oder gelagerten Organen und Or¬ 
ganteilen — wird, schon wegen der großen Variabilität in Größe und Lage, 
niemand verlangen. Die Natur baut bekanntlich nicht so genau wie ein Prä¬ 
zisionsmechaniker. Es soll sich hier nur um merkbare, d. h. meßbare Asym¬ 
metrien, die also außerhalb des Bereiches der Fehlerquellen bei der Messung 
liegen, handeln. 

Diese Fehlerquellen bei Messungen sind allerdings ziemlich große. Es 
dürfte nach den Erfahrungen des Verfassers leichter und sicherer sein, 
Mikromillimeter oder deren Teile unter dem Mikroskop zu messen, als die 
Länge, Breite, Dicke einer Gliedmaße oder ihrer Teile am lebenden Menschen 
festzustellen. Selbst die vorsichtigsten Messungen mit dem Zentimeter- oder 
Fadenmaß, mit einfachen oder Tasterzirkeln, Baudelocque, Schustermaß, Milli¬ 
meterpapier, Dickenmessungen mit lOmal umschlungenen dünnen Fäden usw., 
differieren bei öfterer Wiederholung, zumal wenn »blind« gemessen wird — 
bei einem und demselben Untersucher — noch mehr natürlich bei verschiedenen 
Untersuchern (persönliche Gleichung). Auch sind die exaktesten Maßstäbe 
und -bänder bekanntlich mechanischen, thermischen und anderen Längenver¬ 
änderungen unterworfen, noch mehr aber die Teile des menschlichen Körpers 
im lebenden Zustande. 

Andere Methoden der Untersuchung sind z. B. bei der Asymmetrie der 
Gliedmaßen die Beobachtungen über den »Kreislauf« bei Tieren (Guldberg) 
oder Menschen (van Biervliet), die Kraft- und Sensibilitätsmessungen (van 
Bikrvliet) sowie Erkundigungen bei den Individuen (rechts- oder linkshän¬ 
dig?), bei Handwerkern. Verf. muß sich hier darauf beschränken, mitzuteilen, 
was jetzt sicher festgestellt ist, besonders aber, was wir jetzt als unhalt¬ 
bar auf geben müssen. 

Die Knochen der rechten Körperseite sind (Harting) stärker, das heißt 
fester gebaut als die der linken. 

Am Schädel pflegt weder die Pfeilnaht noch die persistierende Stirn¬ 
naht genau in der Mittellinie zu verlaufen (Bardeleben, 1877). Diese ist 
allerdings am Schädel überhaupt oft nicht exakt festzustellen (s. u.), da 
die rechte und linke »Hälfte« des Schädels überhaupt fast niemals gleich 
groß sind. 

Verschieden groß sind ferner die rechte und die linke Nasenhöhle: die 
Scheidewand steht vom 7. Lebensjahre an extramedian (s. u.). Ebenso ver¬ 
hält es sich mit den anderen Höhlen des Schädels und des Gesichtes. Wich¬ 
tig ist besonders die Asymmetrie der Augenhöhlen (Merkel und Kallius). 
Ungleich groß sind (Rüdinger u. a.) die Sulci (Sinus) transversi: in 70°/o 
rechts erheblich weiter als links, nur in 10% links stärker, in 20% gleich. 

Die linke Hälfte des Schädels, Gehirn- und Gesichtsteil, tritt nach den 
Angaben von M. J. Weber (1822), die neuerdings (1888) von Török bestätigt 
wurden, mehr hervor, sie ist gleichsam von hinten nach vorn geschoben, 
die rechte Hälfte des Schädels ist zurückgedrängt von vorn nach hinten ge¬ 
schoben. Eine durch die Vereinigung der Nasenbeine und der Oberkiefer ge¬ 
zogene Linie teilt das Gesicht in zwei ungleiche »Hälften«, in die größere 
linke und die kleinere rechte. Ebenso teilt eine durch die Mitte des Schädel¬ 
gewölbes gezogene Linie, besser Ebene, auch dieses in die linke größere und 
in die rechte kleinere »Hälfte«. Dasselbe zeigt die Grundfläche (Basis) des 
Schädels. 

Das linke Stirnbein ist stärker gewölbt und ragt mehr hervor als 
das rechte; das rechte ist flacher, liegt weiter zurück. Der Stirnbeinhöcker 


Digitized by 


Google 



46 


Asymmetrie« 


ist links stärker hervorgewölbt und steht etwas höher als der rechte. Der 
linke, knöcherne »Augenbrauenbogen« steht ebenso wie der Einschnitt (oder 
das Loch) am oberen Augenhöblenrande för den Austritt des Stirnastes links 
höher als rechts. 

Das rechte Scheitelbein ist stärker gewölbt als das linke und reicht 
über die Mittellinie nach links hinüber. Das linke Scheitelbein liegt etwas 
weiter nach vorn und höher als das rechte. Am Hinterhauptsbein ist die 
linke Seite größer als die rechte. 

An der Schuppe des Schläfenbeines kann man, wie G. Schwalbe 
nachwies, die Hirnwindungen am Knochen gewissermaßen ablesen, nicht nur 
innen an der Hirnfläche, sondern auch außen, durch die Weichteile hindurch. 
Wenn man die Konturen von Köpfen bei den Hutmachern aufmerksam be¬ 
trachtet, sieht man, besonders bei denen der intelligenteren Klassen, eine 
deutliche Ausbuchtung an der linken Schläfe, da wo das Sprachzen¬ 
trum liegt. 

Das linke Wangenbein ragt stärker hervor und steht meist höher 
als das rechte. Die linke Augenhöhle steht höher, ihr Eingang ist mehr 
viereckig; die rechte Augenhöhle steht tiefer, weiter nach hinten, der Ein¬ 
gang ist mehr kreisförmig. Das linke Nasenbein ist etwas größer als das 
linke. Der linke Oberkiefer ist breiter, mehr abgerundet, kürzer, der rechte 
mehr in die Länge gezogen. Die Nasenscheidewand steht (in der Horizontal¬ 
ebene) schief von hinten-links nach vorn-rechts. 

Auch der Unterkiefer ist asymmetrisch, die linke Hälfte ist stärker ge¬ 
wölbt und tritt weiter nach vorn und nach außen vor. 

Daß die Wirbelsäule im Brustteil nach rechts hin ausgebogen (konvex) 
zu sein pflegt, ist längst bekannt. Weniger bekannt ist die stärkere Entwick¬ 
lung der rechten Hälfte der Wirbelsäule selbst, sowohl der Körper wie der 
paarigen Fortsätze. 

Auch die Rippen sind auf der rechten Seite länger als auf der linken. 
Ihre Knorpel verhalten sich in der Nähe des Brustbeines, besonders in der 
Herzgegend, rechts und links verschieden (Verf., 1885). Es können, ohne 
oder mit Zweiteilung der Knorpel, auf einer Seite 8, auf der anderen 
7 Rippenknorpel an das Brustbein gehen. Ferner steht das Brustbein schon 
beim Kinde, noch mehr beim Erwachsenen sehr selten genau in der Mittel¬ 
linie, meist steht es schief nach links, außerdem ist es in sich unsymme¬ 
trisch. Die rechte Hälfte des Brustkorbes ist überhaupt in 70% größer als 
die linke. Oft zeigt sich auch Asymmetrie an dem oberen Eingang des Brust¬ 
korbes. 

Was nun das Skelett der Gliedmaßen, zunächst das der oberen, 
also des Armes betrifft, so sind bei den weitaus meisten Menschen die 
einzelnen Knochen und der ganze Arm auf der rechten Seite bis zu 1 cm 
oder etwas mehr (bis 2 cm\) länger und um einige Millimeter stärker (dicker) 
als links. Diese Unterschiede im Skelett sind in noch höherem Maße an den 
Muskeln bemerkbar. Wägungen der Muskulatur der ganzen Gliedmaße er¬ 
gaben Differenzen von 6—13% zugunsten der rechten. Diese Untersuchungen 
wurden von verschiedenen Forschern unabhängig voneinander angestellt. Sehr 
genaue Wägungen der einzelnen Armmuskeln rechts und links haben in 
neuester Zeit Fr. Frohse und M. Frankel (Bardeleben , Hanbuch d. Anat., 
1908) ausgeführt. An einem muskelschwachen Arm ergab sich rechts ein 
Gewicht von 1076^, links 934^, an einem sehr starken, muskulösen Arm 
rechts 2804, links 2540. Das sind also Unterschiede von 10 und 13% zu¬ 
gunsten der rechten Seite! Vergleichende Längenmessungen der ersten Finger¬ 
glieder ergaben (Duncker, 1904) rechts durchschnittlich ein Uberwiegen um 
etwa % mm. was für die ganze Hand etwa das 5-fache und für den Hand¬ 
umfang etwa das 10-fache ausmachen würde. Das Gberwiegen des rechten 


Digitized by 


Google 



Asymmetrie. 


47 


Armes über den linken soll ausführlich in dem Artikel »Rechts- und Links¬ 
händigkeit« dargestellt werden. 

Wenden wir uns zum Skelett der unteren Gliedmaße, zunächst zum 
Becken; die zu Tausenden ausgeführten Messungen am knöchernen Becken 
haben ergeben, daß es in den seltensten Fällen genau symmetrisch ist. 
Schon der untere Teil der Wirbelsäule und das Kreuzbein weichen von der 
Mittellinie deutlich ab. Noch stärkere Unterschiede zwischen rechts und links 
finden wir an den Hüftbeinen, besonders am Darmbeinkamm oder dem 
oberen Rande der Hüfte, wo die Unterschiede in der Höhe oft bis zu 2 cm 
betragen! Aus diesem Grunde ist z. B. dieser beim lebenden Menschen leicht 
durchzufühlende Knochenrand für Messungen an der unteren Gliedmaße, be¬ 
sonders für vergleichende Längenmessungen des rechten und linken Beines 
unbrauchbar. Gerade das normale oder »schöne« Becken pflegt etwas schief 
zu sein, wenn auch diese Abweichung, also die Differenz der beiden schrägen 
Durchmesser, nur einen oder einige Millimeter beträgt. 

Von genauen neueren Untersuchungen sind besonders die von Hasse 
(1891) zu nennen. Auf Hasses Tafel 15 steht die linke Crista 1 2 cm höher, 
die rechte Darmbeinschaufel ist 2 cm breiter. Die Symphyse steht 6 mm 
nach links. Auf Tafel 21 steht die Crista 1—1*2 cm höher, die rechte Schaufel 
ist 1 cm breiter, die Symphyse steht 1 cm nach rechts. 

Was nun die eigentliche untere Gliedmaße betrifft, so lassen sich 
Messungen am Lebenden nur mit den größten Schwierigkeiten genau aus- 
führen. Dies beruht vor allem auf der Asymmetrie des Beckens, besonders 
aber auf der Schwierigkeit, durch die Weichteile hindurch einen Ausgangs¬ 
punkt .für die Messungen zu finden. Wir sind deshalb hier fast ausschlie߬ 
lich auf Messungen an Leichen oder an getrockneten Knochen angewiesen. 
So eigentümlich es klingt, so muß doch offen eingestanden werden, daß die 
Frage, ob bei der Mehrzahl der Menschen oder im Durchschnitt das rechte 
oder das linke Bein länger und stärker ist, bis heute noch nicht entschieden 
ist. Alle bisher vorliegenden Wägungen und Messungen sind viel zu wenig 
zahlreich oder lassen so viele Beobachtungsfehler vermuten, daß wir noch 
keine endgültigen Ergebnisse besitzen. Nach den anscheinend genauen Mes¬ 
sungen von Gauson, die sich auf Europäer, Neger und Australier sowie auf 
beide Geschlechter beziehen, war das linke Oberschenkelbein in der doppelten 
Anzahl der Fälle länger als das rechte, dagegen überwog die Länge des 
rechten Schienbeines in der Mehrzahl. Das ganze Bein war nach den Mes¬ 
sungen des genannten englischen Forschers 38mal links, 25raal rechts länger. 
Nach Matiegka war das linke Bein in 70%, das rechte nur in 10% länger, 
in 20% fand sich kein Unterschied zwischen rechts und links. Nach Hasse 
und Dehner, die über 5000 Soldaten maßen, überwog die Länge des linken 
Beines in 52%, die des rechten in 16%, während bei dem Rest (32%) keine 
Differenz bemerkbar war. 

Ob der rechte oder der linke Fuß durchgehend, d. h. bei allen Menschen 
oder doch der Mehrzahl länger ist, ist unbekannt; wahrscheinlich gibt es 
Menschen, bei denen der rechte, und andere, bei denen der linke Fuß länger, 
breiter und dicker ist. Genaue Messungen sind an sich ja nicht schwierig, 
aber sie leiten deswegen oft irre, weil die Maße des Fußes mit der Dauer 
der Belastung, besonders beim Stehen, zunehmen. Bekanntlich pflegt der 
eine mehr den rechten, der andere mehr den linken Fuß als Stütze des 
Körpers zu gebrauchen; die Länge eines mehrere Stunden belasteten Fußes 
ist aber erheblich größer als die eines nur kurze Zeit belasteten, und diese 
wieder größer als die des gänzlich und lange Zeit unbelastet gewesenen. 
Es handelt sich hier um Lageveränderungen der Fußknochen gegeneinander, 
um Dehnungen der nachgiebigen Bänder, um ein Abflachen oder »Durch¬ 
drücken« des Fußgewölbes. Ganz abgesehen von den Schwellungen derWeich- 


Digitized by 


Google 



48 


Asymmetrie. 


teile infolge verlangsamten Abflusses des Blotes und der Gewebesäfte, pflegt 
deshalb durchschnittlich abends der Fuß länger und stärker (dicker) zu sein 
als morgens. 

Wenn es also schon schwer ist, die Länge oder Grdße eines Fußes 
genau festzustellen, so ist es selbstverständlich noch schwieriger, die ge¬ 
nauen Maße für rechts und links zu bestimmen. Aus den eben angedeuteten 
Gründen sind meines Erachtens fast alle bisher ausgeführten Messungen an 
der unteren Gliedmaße und ihren einzelnen Abschnitten unbrauchbar, und 
erst wenn wir eine genaue und zuverlässige Methode gefunden haben und 
einige tausend Messungen der unteren Gliedmaße rechts und links ausge- 
ffihrt sein werden, werden wir imstande sein, die Frage endgültig zu lösen, 
wie sich die beiden Gliedmaßen zueinander verhalten. Solche Messungen 
sollen demnächst an einem größeren Material (Soldaten) ausgeführt werden. 
Einstweilen scheint es, als wenn der Asymmetrie der Arme eine Asymmetrie 
der Beine in der Weise entspräche, daß durchschnittlich der rechte Arm 
und das linke Bein etwas überwiegen, daß es sich also bei den Gliedmaßen 
des Menschen um eine gekreuzte Asymmetrie handle. Es scheint so 
(nach eigenen Erfahrungen), als wenn beim Springen, besonders beim Weit¬ 
sprung, die Mehrzahl das linke Bein bevorzuge. Daß in unserem Beere mit 
dem linken Fuße angetreten und auf dem linken Beine Kehrt gemacht wird, 
beruht vermutlich auch auf alten praktischen Erfahrungen. 

Auf die bekannten Asymmetrien im Gefäßsystem und an den Einge- 
weiden sei nur kurz hingewiesen, besonders auf die Differenzen zwischen 
der rechten und linken Niere und Nebenniere, auf die asymmetrische Lage 
des Uterus und der Eierstöcke sowie der Hoden. 

Im Nervensystem sind gröbere Asymmetrien selten. Die Wägungen 
der rechten und linken Gehirnhälfte haben nur sehr geringfügige Differenzen 
zwischen rechts und links ergeben (vgl. unten). 

Erheblicheren Ungleichheiten zwischen rechts und links begegnen wir 
bei den Sinnesorganen. Wir sahen bereits beim Skelett, daß die Augen¬ 
höhlen ungleiche Lage und Form haben. Aber auch die Augen selbst sind 
durchaus nicht immer gleich. Die Farbe der Iris ist allerdings rechts und 
links gewöhnlich dieselbe — öfters aber auch nicht. Sehr häufig, wohl in 
der Mehrzahl der Fälle, sind die Augen rechts und links nicht ganz über¬ 
einstimmend gebaut, Sehschärfe, Refraktion (Astigmatismus) und Akkommo¬ 
dation sind verschieden. Auch das Schielen ist meist einseitig. 

Auch das Gehörorgan ist meist rechts und links etwas verschieden 
ausgebildet; abgesehen von den Folgen früherer Erkrankungen des Ohres, 
wie Scharlach und anderer Infektionskrankheiten, oder von Altersverände¬ 
rungen, hören sehr viele Menschen von Jugend auf mit dem einen Ohr er¬ 
heblich besser als mit dem anderen. Das linke Ohr erkrankt häufiger als 
das rechte. 

Daß die Ohrmuscheln rechts und links verschieden groß und ver¬ 
schieden modelliert sind, verschieden hoch und verschieden weit ab¬ 
stehen, ist bekannt, ebenso die Schiefheit der äußeren Nase. 

Wenden wir uns nun zu der äußeren Form des ganzen, und zwar 
des lebenden Körpers. Eine schiefe Haltung des Kopfes ist etwas sehr 
Gewöhnliches. Ferner ist auch am Lebenden wie am Schädelskelett zu sehen, 
daß die linke Schädelhälfte die rechte in der Stirngegend um einen halben 
bis ganzen Zentimeter an Breite übertrifft, auch die Höhe ist links im Mittel 
etwa um 3 mm größer. 

Das Gesicht ist in der Höhe des Unterkiefers links um 1 / 2 cm breiter, 
aber durchaus nicht immer. Das Modell zu der Venus von Milo hat auf der 
rechten Seite 5 mm mehr gehabt. Das Kinn und der Mund sind fast stets 
symmetrisch gestaltet, und pflegt der Mund in der Ruhelage, als z. B. beim 


Digitized by ^.ooQle 



Asymmetrie« 


49 


ruhigen Schlafen, symmetrisch zu stehen. Die Nase steht fast niemals ge¬ 
nau nach vorn, ferner steht das rechte Ohr mehrere Millimeter, ja Zenti¬ 
meter höher (oder tiefer), ebenso das rechte Auge gegenüber dem linken. 
Auch diö Entfernungen der Augenwinkel und der Mittelpunkte der Pupille 
(beim ruhigen Sehen nach vorn) von der Mittellinie sind stets rechts und 
links verschieden. Die Länge der beiden Ohrmuscheln zeigt Differenzen von 
*/,—1 cm und mehr. Die rechte Ohrmuschel steht ferner gewöhnlich erheb¬ 
lich, bis zu 1 l / t cm, weiter nach hinten als die linke. Dies hängt mit der 
Verschiebung der ganzen rechten Schädelhälfte nach hinten — oder der 
linken Schädelhälfte nach vorn — zusammen, denn der knöcherne Gehör¬ 
gang bedingt die Stellung der Ohrmuschel. 

Am Halse geht der seitliche Kontur auf der einen Seite früher als auf 
der anderen in die schräg nach außen verlaufende Schulterlinie über. Man 
kann diese Stelle mit C. Hasse als die seitliche Halsknickung bezeichnen. 
Der Umfang der linken und der rechten Halshälfte zeigt hier Unterschiede 
von 1—2 cm. Noch viel beträchtlicher sind die Unterschiede von rechts und 
links, wenn wir etwas tiefer, an der Kehlgrube, über dem oberen Rande des 
Brustbeines messen. Hier kommen Differenzen von etwa 4 cm vor, und zwar 
zugunsten der Seite, an der die Schulter höher steht. 

Unterschiede in dem Hochstande der Schulter sind fast immer vor¬ 
handen, selbst bei der schönsten gleichmäßigen Ausbildung des Körpers, 
weil die Muskeln der beiden Seiten, wie wir sahen, ungleich stark sind. 
Weder muskelschwachen noch muskelstarken Leuten gelingt es ohne be¬ 
sondere Vorrichtung, Spiegel oder Gestelle, die Schultern genau in dieselbe 
Höhe zu bringen. Übrigens pflegen wir Differenzen in der Schulterhöhe bis 
zu 2 cm gar nicht zu bemerken. 

An der Brust fällt bei jeder Betrachtung eines menschlichen Körpers 
in Natur und bei den nach der Natur geformten Kunstwerken die asym¬ 
metrische Stellung der beiden Brustwarzen auf. Sie stehen rechts und 
links weder gleich hoch, noch in demselben Abstand von der Mittellinie, ln 
der Regel steht die rechte Brustwarze etwas höher, wenn die Wirbelsäule 
nach rechts hin ausgebogen ist. Ebensowenig wie die Warzen stehen die 
Brustdrüsen selbst genau gleich. Außerdem ist meist die linke Brustdrüse 
stärker entwickelt. Dies hängt vermutlich mit dem stärkeren Gebrauch des 
rechten Armes zusammen, da wir allgemein beobachten können, daß eine stär¬ 
kere Beanspruchung der Brustmuskeln die Entwicklung der Brustdrüsen hemmt. 

Daß die Schulter rechts und links verschieden hoch steht, sahen wir 
soeben; damit hängt natürlich auch eine verschiedene Stellung des Schlüssel¬ 
beines zusammen. Die Stellung der gesamten Schulter wird durch die Aus¬ 
biegung der Wirbelsäule bedingt. Die rechte Schulter steht bei Krümmung der 
Wirbelsäule nach rechts höher, bei einer solchen nach links tiefer als die linke. 

Daß die beiden Hälften des knöchernen Brustkorbes verschieden 
groß sind, wurde bereits beim Skelett erwähnt. Die Unterschiede sind 
zum Teil wegen der stärkeren Entwicklung der Muskeln, zum Teil wegen 
der unsymmetrischen Lagerung der innerhalb des Brustkorbes gelegenen Bauch¬ 
eingeweide sehr erhebliche. Es kommen hier Differenzen bis über 3 cm vor. 

Am Rücken verläuft die »mediane« Furche nur in seltenen Fällen 
genau in der Mittellinie. Gewöhnlich findet sich in der Brustgegend eine 
schwache Abweichung nach rechts, die durch ganz sanfte Abweichungen nach 
links am Halse und an der Lende gewissermaßen ausgeglichen wird. So ent¬ 
steht eine, wenn auch schwache, so doch deutliche S-förmige Linie. 

Über die Ungleichheit der Gliedmaßen ist schon beim Skelett und 
den Muskeln berichtet worden. Die Länge des Beines scheint mit der Nei¬ 
gung und Ausbiegung der Wirbelsäule in Zusammenhang zu stehen, derart, 
daß bei Recbtsneigung der Wirbelsäule der rechte Oberschenkel kürzer, bei 


Eneydop. Jahrbücher. N. F. VIII. (XVII.) 


; •- Djgilized by .Google 



50 


Asymmetrie. 


Abweichung der Wirbelsäule nach links länger ist als der Unke. Der Gesamt- 
unterschied zwischen dem rechten und linken Bein beträgt nach Messungen 
an Lebenden bis zu l 1 2 oder 2 cm, und wenn man von seiten der Künstler 
und Archäologen auf Grund von Messungen von antiken Bildwerken die un¬ 
gleiche Länge der Beine als fehlerhaft getadelt hat, so verdient dies im 
Gegenteil das höchste Lob, denn sie zeigt, daß die damaligen Bildhauer, 
wenigstens die der klassischen Periode, nicht nach einem Schema, sondern 
nach dem lebenden Modell gearbeitet haben. 

Zwei Erscheinungen der Asymmetrie sind es, die besonderes Interesse 
erregen: 1. die überwiegende Rechtshändigkeit des Menschen (s. o.!); 
2. die ungleiche Größe und Form der beiden Kopf- und Gesichtshälften. 
Beide Erscheinungen haben auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun 
und doch hängen sie vermutlich miteinander zusammen. 

Asymmetrie der beiden Kopfhälften (Schädel und Gesicht). Schon 
1831 hat Dkmme, gestützt auf 10 Fälle, angegeben, daß, wo Ungleichheit im 
Gehirn (im kleinen, großen, ganzen) auftrete, immer die linke Hälfte die 
größere sei. In den Fällen Dehmes zeigte auch der Schädel meist im Äußeren 
wie im Inneren Ungleichheit rechts und links. Eine Verschiedenheit der 
Carotiden konnte Demme jedoch nicht finden. Auffallend ist eine Bemerkung 
Demmes, die vielleicht mit den Erscheinungen der Apraxie (s. o.) in Be¬ 
ziehung gesetzt werden darf. »Bei Tieren zeigt das Gehirn immer eine 
kreuzende, beim Menschen oft auch eine gleichseitige Wirkung. Daraus 
scheint hervorzugehen, daß die rechte Hirnhälfte zuweilen die rechte, die 
linke zuweilen die linke Körperseite bestimmen.« 

J. Chr. G. Lucae spricht 1839 von der unvollständigen Symmetrie des 
menschlichen Skeletts, besonders des Schädels. Er findet Asymmetrie öfter 
im Stirnteil als im Hinterhauptteil, am häufigsten im Gesicht. Bei den 
meisten Tieren bestimmt das Gehirn im ganzen die Schädelform. Oft ver¬ 
ändern aber die Knocbenlamellen und die Diploe, oft auch die Muskeln die 
Form. Die Asymmetrie des Schädels ist beim Menschen stärker als bei Tieren. 

Ref. nimmt die Abweichungen der Nasenscheidewand der Median¬ 
ebene, mit denen solche und andere Kopf höhlen (Stirn', Keilbein) einherzu- 
gehen pflegen, vorweg. 

Schon 1818 spricht Mehlis von der größeren Ausdehnung der Nasen- 
und Stirnhöhle auf der linken Seite. Thbile (1855) fand unter 117 Schädeln 
nur 29mal Symmetrie, Deviationen des Septum beobachtete Sbmelrder (1862) 
in 79*5%, Allen in 68*9%, Löwenberg (Arch. of Otol., Vol. 12) unter 
7 Schädeln 6mal, Heymann unter 250 Schädeln 241mal. Nach R&thi (1890) 
sind die Abweichungen, besonders des knorpeligen Teiles des Septum, bei 
Lebenden noch viel häufiger als am mazerierten Schädel. 

Neuerdings sind die seitlichen Abweichungen des Septum wiederholt 
zum Gegenstände eingehender Untersuchungen gemacht worden, Verf. verweist 
auf die Arbeiten von E. Zuckbrkandl, Mackenzie, Graf, Levy, Önodi usw. 

Zuckerkandl untersuchte 370 mazerierte Schädel von Europäern; bei 
123 war das Septum symmetrisch, bei 140 nicht, und zwar nach rechts ver¬ 
bogen 57mal, nach links 51mal, S-förmig 32mal. 60 Septen hatten einen 
Hakenfortsatz, davon 24 nach links, 36 nach rechts. Von 103 nichteuropäi¬ 
schen Schädeln war das Septum symmetrisch 78mal, asymmetrisch 25raal. 
Bei weiteren Untersuchungen von 329 Schädeln von Nichteuropäern hatten 
27*9% ©in verbogenes Septum. 

Mackenzie untersuchte 2152 Schädel; 1657 (76*9%) hatten Verbie¬ 
gungen, 838 (38*9%) nach links, 609 (28*2%) nach rechts, 205 (9 5%) waren 
S-förmig, 5 (0*23%) unregelmäßig verbogen. 

Die Erklärungen für die Abweichungen des Septum sind zum Teil 
recht eigentümliche; so leitete Hyrtl sie vom Nasenschneuzen (mit einer, 


Digitized by CjOOQle 



Asymmetrie. 


51 


gewöhnlich der rechten Hand) ab — Welcker (1882) vom Schlafen auf 
einer Seite; Cloquet (1821) spricht von einem primitiven Organisations¬ 
gesetz —, ebenso Zuckerkandl. Mackenzie (1884) spricht von Wachstums- 
verschiebnngen oder -Deviationen, Bresgen (1884) von Wachstumsanomalien. 
Das sind aber alles nur Umschreibungen, keine Erklärungen! 

Schech (1888) bringt die Asymmetrie des Septum mit den Gehirn¬ 
hemisphären in Beziehung. Natürlich können auch Verletzungen oder 
äußere Einwirkungen (»Traumen«) die Ursache sein — oft kombiniert sich 
wohl beides. 

Auf andere Asymmetrien am Schädel wurde oben (pag. 45) bereits 
hingewiesen. 

Auffallend ist die verschiedene Stellung der Augäpfel zur Orbita, die 
mit einem besonderen Instrument (Hertel) von deren vorderem Rande aus 
am Lebenden gemessen werden kann. Meist steht das linke Auge (Hertel; 
auch eigene Messung) 1 mm weiter nach vorn als das rechte. 

Asymmetrie des Gesichtes. R. Liebreich sagt: Die Asymmetrie des 
Gesichtes ist ein konstantes, charakteristisches Merkmal der Spezies Homo, 
sie ist bei allen Rassen und zu allen Zeiten dagewesen. (Liebreich wendet 
sich unter anderem gegen Lombroso und Nordau, die die Asymmetrie als 
Zeichen der Degeneration auffassen, in eine Linie nicht nur mit Mehr¬ 
fachbildungen und Bildungshemmungen, sondern mit Mißbildungen setzen — 
ja von der Asymmetrie des Gesichtes und des Schädels dieser »Entarteten« 
auf die geistige Ungleichmäßigkeit schließen.) Liebreich untersuchte das Ma¬ 
terial des anthropologischen Museums im Jardin des Plantes in Paris, dann 
in Kairo 400 Schädel von Mumien sowie »prädynastische« Schädel, schlie߬ 
lich in Rom (Collegium Romanum) 3000 Schädel, und zwar 1. neolithische 
aus Sizilien, 2. aus der Bronzezeit Mittelitaliens, 3. etruskische, 4. alte 
römische, aus dem letzten Jahrhundert der Republik und dem ersten des 
Kaiserreiches, 5. moderne aus verschiedenen Teilen Italiens, 6. prähistorische 
Ägypter, 7. Siamesen, 8. Sumatra, 9. Chinesen, 10. Neuguinea, 11. vom Süd- 
seearchipel. Auch auf Lebende verschiedenster asiatischer und afrikanischer 
Rassen erstreckten sich Liebreichs Forschungen, wozu in Ägypten reichliche 
Gelegenheit ist. Liebreich unterscheidet drei Formen von Gesichtsasym¬ 
metrien, deren erste ganz erheblich über wiegt (97%), so daß für die beiden 
anderen nur 3% bleiben. 

I. Form. Das Jochbein ist nach rechts verschoben, der rechte Joch¬ 
bogen mehr rechtwinklig, der linke mehr im abgeflachten Bogen. Dadurch 
fällt rechts der vordere Rand der Orbita mehr in die Gesichtsebene, während 
er links mehr in einer nach außen zurückreichenden Ebene liegt. So springt 
der äußere, untere Winkel der Orbita rechts mehr hervor, während er links 
mehr zurückweicht und meist mehr weniger nach oben gedrückt erscheint. 
Ferner ist der Oberkiefer deutlich nach rechts verschoben, und zwar starker 
in seiner unteren als in seiner oberen Ebene. Diese »Drehung« des Ober¬ 
kiefers um einen in seiner oberen Fläche gelegenen Punkt wirkt auf den 
in der Medianebene liegenden Knochen, indem sie den unteren Teil desselben 
bogenförmig nach rechts biegt. Die Fossa canina wird rechts tiefer und 
schmaler als links, die Zähne des Oberkiefers sind nach rechts verschoben, 
die Kaufläche rechts etwas höher als links, die Naht zwischen den »großen 
Schneidezähnen« (Praemaxillaria, Verf.) nach rechts verschoben. Die Nasen¬ 
scheidewand ist in ihrem unteren Teile nach rechts gedrückt, während der 
Nasenfortsatz des Stirnbeins Beine »zentrale« Haltung behaupten und die 
nasale Seite der Orbita eine »ziemlich« symmetrische Form behalten kann. 

Die II. Form (»sehr selten«) zeigt eine Umkehrung der ersten, d. h. 
Überall ist rechts statt links und umgekehrt zu setzen. Die III. Form — 
unregelmäßige Asymmetrie — ist »äußerst selten«. 


Digitized by Google 



52 


Asymmetrie. 


Die asymmetrischen Schädel gehen kaum merkbar in die pathologischen 
Gber; als Grenze bezeichnet Liebreich den Augenblick, wo die Asymmetrie 
störend auf die Funktion der Angen wirkt, d. h. wo der Winkel »x« — 
zwischen zwei Linien, die durch das Zentrum des For. opticnm und darch 
den Drehpunkt des Auges gezogen werden — durch die Medianebene in 
zwei ungleiche Teile geteilt wird, wo also nicht nur die temporalen, sondern 
auch die nasalen Teile der Orbita asymmetrisch, links weiter von der Median¬ 
ebene entfernt sind, zweitens diejenigen, bei denen die unteren Wände der 
beiden Orbitae nicht in derselben Ebene liegen, drittens eine Verbindung 
dieser beiden Anomalien. 

Zwischen den Beobachtungen am mazerierten Schädel und am Leben¬ 
den stehen die Erscheinungen an den Mumien. 

Die Beobachtungen an Lebenden ergaben interessante Rassenver¬ 
schiedenheiten. Die Neger zeigen nur geringen Grad von Asymmetrie, 
ebenso die Berber; etwas mehr die Fellahs, und zwar bedeutend stärker 
die in der Stadt wohnenden als die landbanenden. Ein naheliegender Schluß 
aus diesen Beobachtungen war der, daß die Asymmetrie des Gesichtes sich 
mit der Kultur steigere und daß sie also ein Zeichen größerer geistiger Ent¬ 
wicklung sei. Embryologische Studien haben Liebreich aber zu einer anderen 
Auffassung geführt. 

Liebreich leitet die Asymmetrie des Gesichtes von der asymmetrischen 
Lage des Kindes kurz vor der Geburt, von dem Druck ab, den das Gesicht 
seitens des Beckens erfährt: die erste Kopflage verursache die erste Form, 
die zweite Kopflage die zweite Form, die unregelmäßigen Lagen die dritte 
Form der Asymmetrie. Für die verschiedenen Grade der Asymmetrie bei 
den oben genannten Rassen und Bevölkerungsteilen macht Liebreich die 
Bekleidung der Mütter, von der nackten Negerin zur korsetttragenden, taille- 
einschnürenden Europäerin und die hohen Absätze an den Schuhen gegen¬ 
über dem Gehen auf nackten Füßen verantwortlich. Der geringere oder 
stärkere Druck auf den Uterus, dessen Druck auf die Knochen durch seine 
Vorwärtsneigung, das Verhalten der Lendenwirbelsäule, in letzter Instanz 
die aufrechte Haltung des Menschen, sind nach Liebreich Schuld an 
der Gesichtsasymmetrie. Die Erblichkeit schließt Liebreich jedoch nicht ganz 
aus; er sieht sie z. B. bei Zwillingen, von deren der erste in Kopflage im 
Becken steht, während der zweite den Kopf, nur von Weichteilen umgeben, 
oben hat, mit den mechanischen Momenten vereinigt beim ersten, allein 
wirkend beim zweiten Zwilling. Bei einer großen Anzahl von Zwillingen 
(Säuglinge bis zum Erwachsenen) konnte Liebreich feststellen, daß das 
erste, in normaler erster Schädellage geborene Kind die erste Form der 
Asymmetrie, das zweitgeborene »in verschiedenen Fällen« bedeutende Un¬ 
regelmäßigkeiten zeigte. 

Verf. kann sich den geistvollen Schlußfolgerungen Liebreichs nicht an¬ 
schließen, und zwar aus folgenden Gründen: 

1. Wir finden Asymmetrie des Kopfes schon bei Tieren, wo die Ver¬ 
hältnisse zwischen Kopf und Becken ganz anders liegen als beim Menschen 
— und die nicht aufrecht gehen. 

2. Ist der Kopf um die Zeit der Geburt noch so wenig verknöchert, 
die weichen, bindegewebigen Teile zwischen den dünnen, biegsamen Schädel¬ 
knochen sind so groß, daß von einer genau bestimmbaren Form des Kopfes 
nicht die Rede sein kann. Wenn wirklich die mechanischen Einflüsse bei der 
Geburt für die endgültige Form des erwachsenen Kopfes und des Gesichtes 
bestimmend wären, so würden unsere Köpfe noch ganz anders aussehen, als 
es der F'all ist. 

3. Die definitive Kopfform und damit die schwache, aber regelmäßige 
Asymmetrie derselben entwickelt sich sehr viel später, hauptsächlich um die 


Digitized by 


Google 



Asymmetrie. — Atropin. 53 

Zeit, wo die Fontanellen verschwinden, d. b. um das 2. Lebensjahr und in 
den folgenden Jahren bis etwa zum 10. 

4. Die Form des Schädels und des Gesichtes ist vor allen Dingen ein 
Erbstück von unseren Vorfahren her; weil diese asymmetrisch waren, sind 
wir es auch. 

5. Die Form und Größe des Schädels richtet sich im allgemeinen nach 
der Form und Größe des Gehirns. Das Zentralnervensystem legt sich bekannt¬ 
lich sehr viel früher an als das Skelett. Höhere Rassen und in der Intelligenz 
hochstehende Menschen ererben einen größeren Kopf, weil sie ein größeres Ge¬ 
hirn ererbten. Sie erben die Asymmetrie des Gehirns und die des Kopfes. 

Man kann die Asymmetrie des Kopfes, wie G. Runge (1890) nachge¬ 
wiesen hat, nicht von den vorübergehenden Verhältnissen in der Zeit vor 
und bei der Geburt ableiten. Wir werden wohl nicht fehl gehen, wenn wir 
die Asymmetrie des Kopfes mit der des übrigen Körpers, und besonders mit 
der Rechtshändigkeit (s. u.) in Beziehung bringen. Ob wir überhaupt 
schon imstande sind, eine ausreichende oder zwingende Erklärung zu geben, 
einen Kausalnexus zwischen den verschiedenen Äußerungen der Asymmetrie 
festzustellen, soll dahingestellt bleiben. 

Asymmetrie in der Kunst. Die Köpfe und Gesichter der Antike sind, 
abgesehen von den ältesten Bildwerken, deutlich unsymmetrisch und be¬ 
weisen, daß die alten Bildhauer, vom 5. Jahrhundert an, nach der Natur, 
also nach dem lebenden Menschen (Modell) gearbeitet haben; gleichzeitig be* 
weisen diese Bildwerke, daß die alten Griechen und Römer ebenso schiefe 
Köpfe und Gesichter gehabt haben wie wir. Es ist nicht bekannt, wann man 
zuerst auf diese natürliche (normale) Asymmetrie aufmerksam geworden ist 
und erkannt hat, daß auch in diesem Punkte wahre Kunst und Natur über¬ 
einstimmen. Karl v. Bardeleben. 


Atropin« Ein Bericht über günstige Erfahrungen der Atropinkur bei 
Asthma bronchiale liegt von Paul v. Terray 1 ) vor. Es hat sich ihm so¬ 
wohl zur Kupierung des Anfalles selbst als nützlich erwiesen, als auch in 
Form einer längeren Atropinkur zur Verhinderung von Anfällen bewährt. 
Zu letzterem Zwecke verordnete er das Atropin in Pillen zu '/»mg, an¬ 
fänglich eine täglich zu nehmen, nach 2—3 Tagen wurde mit der Dosis um 
1 Pille gestiegen. Trat bei dieser Gabengröße noch keine Wirkung ein, so 
wurde bis zu 2—3 mg täglich gestiegen. Am Schlüsse der Kur wurde mit 
der Dosis wieder langsam herabgegangen. Eine solche Kur wirkt lange nach, 
auch bei veralteten Fällen. Allerdings ist die Wirkung nicht in jedem Falle 
eklatant. Die Nebenwirkungen des dauernden Atropingebrauches waren ge¬ 
ring genug: Akkommodationsstörungen, Trockenheit im Halse, meistens waren 
sie erträglich, nur ausnahmsweise mußte die Kur aufgegeben werden. Die 
Wirkung des Atropins erklärt sich durch Aufhebung des Krampfes der 
kleinen Bronchien und Herabsetzung der Sekretion. Übrigens scheint, soweit 
Referent diese Dinge beurteilen kann, das Atropin doch nicht so vergessen 
zu sein, wie der Verf. glaubt, und in der Praxis häufig gegen Asthma an¬ 
gewandt werden. 

Auf Grund der experimentellen Untersuchungen Riegels über die säure¬ 
hemmende Wirkung des Atropins hat v. Tabora 2 ) dieses Alkaloid syste¬ 
matisch bei der Behandlung des Ulcus ventriculi angewandt. Von der 
Atropinmedikation hat er die leichten Fälle, die auch ohne Therapie heilen 
können, ausgeschlossen und nur solche Fälle der Atropinkur unterworfen, 
die unter den üblichen therapeutischen Maßnahmen nicht zur Heilung kamen und 
für welche die Indikation zu einem chirurgischen Eingriff bestand. Gleich¬ 
zeitig wurde diätetisch vorgegangen, nach einer mehrtägigen Abstinenz¬ 
periode, in der man die Flüssigkeitszufuhr subkutan bewerkstelligte, 


Digitized by 


Google 



54 


Atropin. — Atropinbehandluog der Hypersekretion. 


wurde mit kleinen Mengen Milcbrahm begonnen and diese Nahrung min¬ 
destens 4 Woeben lang gegeben, erst dann allmählich Zulagen von Brei, 
Eiern etc. gemacht, Fleisch in fein verteilter Form erst nach 2 Monaten ge- 
reicht Gleichzeitig wurde früh and abends 1 mg Atropin subkutan gegeben, 
manchmal auch bis auf 3 mg pro Tag gestiegen. Ohne Änderung der Dosis 
wurde diese Behandlung 4—8—10 Wochen lang fortgesetzt Außer dem un¬ 
angenehmen Gefühl von Trockenheit im Munde und Rachen und der häufigen 
Akkommodationsstörung — die Patienten können ohne Brille nicht lesen — 
traten keinerlei unerwünschte Erscheinungen auf. Durchwegs wurde die 
Hypersekretion stark eingeschränkt, manchmal vollständig beseitigt Die 
motorische Funktion besserte sich in allen Fällen; es batte sich ausnahms¬ 
los um motorische Insuffizienzen zweiten Grades gehandelt, welche später 
im nüchternen Magen nie mehr Rückstände aufwiesen. Die spastischen Py- 
loruskontraktionen waren bald nach Einleitung der Kur nicht mehr nach¬ 
zuweisen. Den Hauptwert der Atropinbehandlung erblickt v. Tabora in der 
Ruhigstellung des Magens durch das Atropin. Die Erfolge waren »durch¬ 
wegs gute, in einem erheblichen Teil der Fälle geradezu glänzende«. Sind 
narbige Veränderungen am Pylorus entstanden, so ist eine Restitutio ad 
integrum der motorischen Funktion natürlich ausgeschlossen. 

Literatur: *) v. Tkrray, Über Asthma bronchiale und dessen Behandlung mit Atro¬ 
pin. Med. Klinik, 1909, Nr. 3, pag. 79. — s ) v. Tabora, Die Atropinbehandluog des Ulcus 
ventricnli. Münchener med. Wochensehr., 1908, Nr. 33, pag. 1992. E. Frey. 

Atropinbebandlung der Hypersekretfon. Die Hyper¬ 
sekretion bedeutet eine Mehrabscheidung von Magensaft von seiten der 
Magenschleimhaut. Sie kann in zweierlei Formen auftreten, entweder als 
kontinuierliche, Hypersecretio chronica continua, oder als alimentäre oder 
digestive Hypersekretion; in ersterem Falle scheidet die Magenschleimhaut 
auch ohne besonderen alimentären Reiz, also dauernd Magensaft ab, so daß 
auch in nüchternen Zuständen beim Aushebern Magensaft gefunden wird, 
während die digestive Hypersekretion dadurch gekennzeichnet ist, daß die 
Mehrabscheidung des Magensaftes nur auf einen digestiven Reiz hin erfolgt. 
Das Krankheitsbild der Hypersekretion ist zum erstenmal 1882 von Reich¬ 
mann beschrieben worden und wird deshalb auch häufig als ReicHMANNsche 
Krankheit bezeichnet, 

Bei der Behandlung der Hypersekretion spielt naturgemäß die diäte¬ 
tische Verordnung eine große Rolle. Eine bevorzugte Stelle nimmt das Fett 
ein, welches sowohl als krampfstillendes Mittel gegen die Beschwerden der 
Hypersekretion wirkt, als auch gegen die Sekretion gerichtet ist, da es die 
Sekretion beschränkt. Nach den neuesten Untersuchungen ist es wahrschein¬ 
lich, daß es diese sekretionsbeschränkende Wirkung nicht direkt auf die 
Magendrüeen ausübt sondern daß vielmehr durch große Fettgaben ein Rück¬ 
fluß von alkalischem Pankreassaft und Galle in den Magen hervorgerufen wird. 

Neben der diätetischen Therapie kommt bei dieser Erkrankung auch 
der medikamentösen eine große Rolle zu. Es entspricht die Anwendung 
großer Dosen von Alkalien sowohl einer symptomatischen wie kausalen In¬ 
dikation, jedoch kommt man bei dieser eminent schmerzhaften Erkrankung 
häufig genug mit diesen Mitteln nicht aus. Riegel war wohl der erste, 
welcher das Atropin als ein direkt gegen die Magensaftabsonderung gerich¬ 
tetes Mittel empfohlen hat. Er hatte nachgewiesen, daß das Atropin einen 
hemmenden Einfluß auf den eigentlichen Sekretionsnerven des Magens, den 
Nervus vagus, ausübt, und konnte zeigen, daß dieser hemmende Einfluß auf 
die Sekretion nicht nur in bezug auf die Menge des sezernierten Saftes, 
sondern auch in bezug auf den Säuregrad sich geltend mache. Daneben 
kommen, worauf v. Tabora aufmerksam gemacht hat, dem Atropin noch zwei 
andere pharmakologische Wirkungen zu, welche für die in Rede stehenden 


Digitized by 


Google 



Atropinbehandl. d. Hypersekretion. — Atropinum methyL bromat. 55 


Erkrankungen nicht ohne Bedeutung sind. Das Atropin wirkt nämlich anti- 
spasmodfsch, es beseitigt die krampfhafte Kontraktion der glatten Muskulatur 
des Magens, eine Wirkung, die schon aus der krampfstillenden Wirkung der 
Belladonna bei Darmspasmen allgemein geläufig ist, und drittens hat das 
Atropin auch eine leicht narkotische Wirkung. Auch dieser Umstand ist bei 
den oft mit kolikartiger Heftigkeit einsetzenden Schmerzen der Reichmann- 
sehen Krankheit sicherlich nicht ohne Bedeutung. 

Riegel hat das Atropin in der Regel per os angewandt, v. Tabora hat 
gezeigt, daß es auch bei kontinuierlichem Gebrauch subkutan ausgezeichnet 
vertragen wird und erst dann eigentlich seine volle Wirksamkeit gegenüber 
der Hypersekretion entfaltet. Er hat wochen- und monatelang täglich 1 bis 
3 mg Atropin seinen Kranken subkutan gegeben und damit ausgezeichnete 
Resultate erzielt. Er hat vorzugsweise derartige Kranke genommen, welche 
gegenüber der üblichen diätetisch physikalischen Behandlung und gegenüber 
großen Alkaligaben und anderen medikamentösen Maßnahmen sich voll¬ 
kommen refraktär verhalten hatten, und hat es schließlich erreicht, daß in 
einzelnen Fällen eine vollkommene Achylie eintrat v. Tabora hat insbeson¬ 
dere das mit Hypersekretion kombinierte Ulcus ventriculi auf diese Weise 
behandelt und bat in diesen komplizierten, schweren Ulkusfällen durch die 
systematische Anwendung des Atropins ausgezeichnete Resultate erzielt. Es 
ist selbstverständlich, daß er daneben auch eine entsprechende Schonungs¬ 
diät anwandte. Er ging in der Regel so vor, daß er die Kur mit einer 
mehrtägigen Abstinenzperiode eröffnete und während dieser Zeit die Flüssig¬ 
keitszufuhr auf rektalem, noch lieber auf subkutanem Wege durchführte. Er 
hebt besonders hervor, daß die subkutane Flüssigkeitszufuhr den Kranken 
oft weniger Unbequemlichkeiten bereitete, als die rektale. Nach Ablauf dieser 
Abstinenzperiode wurden zunächst stündlich je 1 Eßlöffel, dann je 50, je 100 
und je 200 cm 8 Milch mit einem Drittel Sahnezusatz gereicht, so daß nach 
Ablauf von etwa 2 Wochen, vom Beginn der Kur an gerechnet, die Patienten 
sich ungefähr im Kaloriengleichgewicht befanden. Die ausschließliche Milch - 
rahmdiät wurde mindestens 4 Wochen lang beibehalten; dann erst wurden 
mit großer Vorsicht 3 Eier usw. zugelegt. Fleisch wurde tunlichst nicht vor 
Ablauf von 2 Monaten gereicht, in fein verteilter Form. Im wesentlichen 
wurde also eine modifizierte LEUBEsche Diät gegeben. 

Was die Indikation für die Einleitung der Atropinkur in der geschil¬ 
derten Weise, also in subkutaner Form 1— 3 mg pro die betrifft, so hat sie 
v. Tabora bei den gewöhnlichen und unkomplizierten Ulkusfällen nicht an¬ 
gewendet. Er beschränkt sich vielmehr auf diejenigen Fälle, die sich gegen 
die üblichen Methoden refraktär verhalten und bei denen selbst der chir¬ 
urgische Eingriff nur eine unsichere Prognose gibt. Es ist selbstverständlich, 
daß das Mittel, allein für sich angewendet, keinen Erfolg haben kann. 
Äußerste Ruhe und die Diätbehandlung, wie sie oben geschildert sind, sind 
unbedingt notwendig. Elsner hebt denn auch besonders hervor, daß er von einer 
ambulanten Atropinbehandlung bei Ulkuskranken keinen Erfolg gesehen habe. 

Als Ersatzmittel des Atropins wird von Haas das Eumydrin empfohlen. 
Ref. sah nur von dem Methylatropin bromatum (Merck) die gleiche Wirkung 
auf den Vagus wie vom Atropin selbst. 

Literatur : Elsner, Lehrb. d. Magenkrankh., Berlin 1909. — Riegel, Zeitscbr. f. klin. 
Med., XXXVII. — v. Tabora, Münchener med. Wochenschr., 1908, Nr. 38. G. ZueJzer. 

Atropinum metbyl. bromatum. Gegen die Kindereklampsie 
hat nach dem Vorgänge von Boesl, der nach einer Injektion von 0 0002^ 
Atropinbrommethylat bei einem 2jährigen Kinde die eklamptischen Anfälle 
schwinden sah, auch Heimann das Mittel versucht. Als sich aus einer Bron¬ 
chitis eine ausgedehnte bronchopneumonische Infiltration entwickelte, traten 
bei dem 5 Monate alten Kinde schwere Krampfanfälle auf, die sich in großer 


Digitized by 


Google 



56 


Atropinum methyl. bromatum. — Augenheilmittel. 


Zahl wiederholten. Eine Injektion von O'OOOl g Atropin methyl. bromatum 
schwächte die Zahl der Krampfanfälle ah, aber erst eine noch 2mal wieder¬ 
holte Gabe von derselben Größe im Laufe des folgenden Tages brachte die 
Anfälle zum Schwinden; Zuckungen der Gesichtsmuskeln blieben noch be¬ 
stehen. Das Kind genas. 

Literatur: Hkimann, Über die Behandlung der Kindereklampsie mit Atropinom rae- 
thyl. bromatum. Münchener med. Wochenschr., 1908, Nr. 21, pag. 1134. E. Frey. 

Augenlieilmittel. Hermophenyl, dessen chemische Zusammen * 
Setzung Quecksilber, Phenyl und Natrium subsulfurosam ist, besteht ans 
einem weißlichen Pulver, das wenig toxisch ist, die Konjunktiva leicht rötet, 
auf ihr ein geringes Brennen verursacht und im Wasser (22 : 100) leicht 
löslich ist. ln l%ig e r Lösung werden in wenigen Minuten die meisten pa¬ 
thogenen Mikroben abgetötet. Die Lösungen, die Bupill zu Injektionen in 
die Tränenwege verwendete, waren Herrn. 4, Aq. dest. 10; bei Konjunktivitis 
zu Ausspülungen Herrn. 2, Aq. coct. 200. Man kann in allen Fällen Kokain 
zusetzen. Bei Dakryozystitis und Blepharoconjunctivitis consecutiva wurden 
schöne Erfolge erzielt. 

Literatur: Bcfill, Barcelona el Hermophenil en Terapeutica Ocular. Archivos de 
Oftalmologia hiapano-americanos, März 1909. li *l. in Wochenschr. f. Tber. u. Hyg. d. Auges, 
1909, Nr. 31. 

Mergal ist eine Verbindung von cholsaurem Quecksilberoxyd mit Al- 
buminum tannicum; es kommt in Kapseln in den Handel. Jede Kapsel ent¬ 
hält 0 05 g cholsaures Quecksilberoxyd und 01 g Albuminuni tannicum. was 
0*028 g Sublimat entspricht. 

Messmer (Augenheilanstalt von Schultz-Zehden, Berlin) empfiehlt es 
bei Iridozyklitis nach Operationen oder aus unbekannter Ursache sowie bei 
ausgesprochenen syphilitischen Augenerkrankungen, 2—4 Kapseln pro die. 
Die*Erfolge waren gute, auch wurde es stets sehr gut vertragen, machte 
nie gastrische Beschwerden und keine Quecksilberintoxikation. Ob es Injek¬ 
tionen und Inunktionen ersetzen kann, muß noch erprobt werden. Bei tabi- 
scher Sehnervenatrophie hat es (1—2 Kapseln pro die) nie geschadet. 

Rosenhauch und Hand berichten aus der Klinik Wichbrkiewicz, daß 
das Mergal nach mehrjähriger Erprobung die lnjektions- und Inunktionskur 
vollständig ersetzen könne. Es wurde bei vollem Magen gegeben, mit drei 
Kapseln täglich beginnend, bis zu 10—15 Kapseln steigend, und konnte bis 
12 Wochen lang ohne Unterbrechung und ohne schädliche Folgen gebraucht 
werden. Rosenhauch berichtet speziell über Heilung eines als Gumma re¬ 
tinae aufgefaßten Falles. 

Literatur: Mesj-meb, Therap. MonatshOktober 1908. — Hand, Postep Oknlistyczny, 
August—September 1908 und Rosbnhaucü in Wochenschr. !. Ther. u. Hyg. d. Auges, 1909, 
Nr. 19 u. 20. 

Resorzin, ein bisher in der Augenheilkunde noch nicht verwendetes 
Medikament, empfiehlt Elze bei Cataracta senilis in ihren ersten Anfängen, 
besonders wenn die Trübungen hauptsächlich in der Peripherie liegen. Er 
läßt eine Salbe, Rp. Resorcini subtilissime pulv. 0 05, Vaselini american. 
flav. 10*0, einmal täglich durch 3—4 Wochen anwenden (laut brieflicher 
Mitteilung in den Bindehautsack), was genügt, um hinreichende Erfolge her¬ 
beizuführen. Es wurden »keine Reizerscheinungen von irgend einer Bedeu¬ 
tung« verursacht, auch l°/ 0 ige Salbe macht »keine unangenehmen Neben¬ 
erscheinungen«. Er beobachtete eine Besserung des Sehens von J. Nr. 16 auf 
J. Nr. 9 oder von J. Nr. 7 auf J. Nr. 9 und es waren die Erfolge dauernd. 
Es handelt sich nur um die Aufhellung der zwischen den trüben Streifen 
liegenden Linsensubstanz, die Streifen bilden sich nicht zurück. Ist das Sehen 
unter Jäger Nr. 12 —14 gesunken, ist nichts mehr zu erwarten. Die Angaben 


Digitized by 


Google 



Augenheilmittel. 


57 

sind mit Benutzung passender Konvexgläser gemeint. Sehschärfebestimmungen 
für die Ferne werden nicht angeführt. 

Literatur: Elze, Über die Notwendigkeit, den grauen ßtar möglichst frühzeitig zu 
erkennen, nnd die Möglichkeit der Behandlung solcher Stare mit Resorzin. Wochenschr. für 
Ther. u. Hyg. d. Auges, 1909, Nr. 25. 

Dionin (Äthylmorphinchlorid) ist ein vielgebrauchtes, wirksames 
Augenheilmittel, welches nur zwei unangenehme Eigenschaften besitzt, ln 
Pulverform in den Bindehautsack gebracht, erregt es ziemlich heftige, wenn 
auch kurzdauernde Schmerzen und das Auge gewöhnt sich rasch an das 
Mittel, so daß bald seine lymphtreibende Wirkung ausbleibt. Auf Anregung 
von Dr. Bruno Sylla (Bremen) hat E. Merck ein Äthylmorphinjodid her¬ 
gestellt, welches betreffs der Wirkung dem Dionin nicht nachsteht, aber nur 
geringe oder keine Schmerzen verursacht und welches bei längerem Ge¬ 
brauche seine Wirkung nicht so schnell einbüßt. Ich verwende es jetzt aus¬ 
schließlich statt des alten Dionin als Pulver oder in Salbenform. 

Literatur: Sylla, Das Äthylmorphiujodid, ein neues Dioninpräparat. Wochenschr. f. 
Ther. u. Hyg. d. Auges, 1909, XII, Nr. 14. 

Wolfrum und Cords berichten über die Anwendung des Scharlach - 
rots bei Augenkrankbeiten. Sie empfehlen eine 5%ige Salbe; das Scharlach¬ 
rot wird in Chloroform gelöst und nach dem Abdampfen mit Vaselin ver¬ 
rieben. Es schien ihnen, als ob eine raschere Regeneration der Gewebe er¬ 
folge, besonders bei geschwungen Kornealprozessen (Ulcus serpens) und Horn¬ 
hautfisteln. Doch betrachten sie ihre Arbeit nur als eine vorläufige Mitteilung. 

Literatur: Wolfrum und Cords, Über die Anwendung des Scharlachrots bei Augen¬ 
affektionen. Münchener med. Wochenschr., 1909, Nr. 5. 

Durch Einträufeln von Pyocyanase in das Auge, was nur wenig 
Brennen verursacht, hat Heilborn (Breslau) bei einem Falle von Ulcus 
corneae serpens in wenigen Tagen Heilung erzielt. 

Literatur: Hkilbobn, Über die Behandlung des Ulcus corneae Berpens mit Pyocyanase. 
Wochenschr. f. Ther. u. Hyg. d. Auges, 1909, Nr. 29. 

Fibrolysin. Karl Grossmann hat durch subkutane Injektionen in den 
Oberarm sehr gute Resultate erzielt bei Narben nach Verbrennungen der 
Lider, bei Hornhautnarben, bei Stenosen des Tränennasenkanals. Ein Erfolg 
bei Neuritis retrobulbaris nach Influenza ist nicht einwandfrei, da noch an¬ 
dere Maßnahmen nebenher gegangen waren. 

Literatur: Grossmann in Laucet, 16. Januar 1909, Ref. in Wochenschr. f. Ther. u. 
Hyg. d. Auges, 1909, Nr. 21. 

Salbengr und lagen. 

Sinoval, eine neue Salbengrundlage mit bakterizider Eigenschaft, emp¬ 
fiehlt Salomon (Koblenz). Das wirksame Prinzip dieser Vaselinsalbenbasis 
ist eine bei der Raffinerie des Leinöls gewonnene flüchtige Fettsäure. Der 
Umstand, daß sie die Bindehaut etwas reizt, spricht nicht zu ihren Gunsten. 

Best bezeichnet als beste Salbengrundlagen das Mitin, eine über¬ 
fettete Emulsion mit Zusatz einer aus Milchserum hergestellten Flüssigkeit; 
ferner das Eucerin (Lifschitz), Ungt. Paraffini mit 5°/ 0 Lanolinalkohol. Die 
Hirschapotheke in Frankfurt hat unter dem Namen Cetosan. alb. eine 
Mischung von Wacbsalkoholen mit Vaselin, alb. american. in den Handel ge¬ 
bracht. Im Cetosan sind die Alkohole des Walrats, des chinesischen Wachses 
und des Bienenwachses vertreten. Es wird von der Bindehaut tadellos ver¬ 
tragen und ist absolut unzersetzlich. 

Literatur: Salomon, Mediz. Klinik, 1908, Nr. 29. — Best, Münchener med. Wochen¬ 
schrift, 1909, Nr. 17. v. Reuss. 


Digitized by OjOOQle 



B. 


Benzinverglftnng. Sowohl nach innerer Einnahme als auch Ein¬ 
atmung von Benzindämpfen sind wiederholt Vergiftungen aufgetreten. Über 
einige Fälle berichtet Wichern. Nach Trinken von Benzin kommt es zu Er¬ 
brechen, Magenschmerz, Schluckbeschwerden und Schwindel. Nur selten tritt 
völlige Bewußtlosigkeit ein. Bei Kindern dagegen sind außer Bewußtlosig¬ 
keit auch Krämpfe und schwere, zum Tode föhrende Herzschwäche vorge¬ 
kommen. Die Sektion ergab parenchymatöse Nierendegeneration neben den 
Zeichen der lokalen Reizung des Magens und Darms 

Durch Einatmung kommt schwere Bewußtlosigkeit, aussetzender kleiner 
Puls, hochgradige Cyanose und heftige Schüttelfröste zustande. Durch Kampfer 
künstliche Atmung, eventuell Sauerstoffinhalation sind diese gewerblichen 
Vergiftungen in Heilung ausgegangen. 

Durch chronische Einatmung hat man bei einem Kinde Zeichen einer 
retrobulbären Neuritis, zentrales Skotom für Rot und Grün und Herabsetzung 
der Sehschärfe gesehen. Auch gewerblich sind chronische Vergiftungen mit 
Benzindämpfen beschrieben worden, die an die Symptome der Schwefel¬ 
kohlenstoffvergiftung erinnern: Parästhesien, Paresen, Gliederschmerzen, De¬ 
pression, Magen- und Darmstörungen, und zwar beim Vulkanisieren des 
Kautschuks durch Chlorschwefelbenzin. 

Literatur: Wichkrn, Über Benzinvergiftung. Münchener med. Wochenschr., 1909, 
Nr. 1, pag. 11. E. Frey. 

Blausäure. Die wichtige Frage, ob die Blausäure bei Vergiftungen 
eine Verbindung mit dem Blutfarbstoff eingeht, kann nach den Unter¬ 
suchungen von Lewin, die er zusammen mit Miethe und Stengel ausführte, 
definitiv verneint werden. Die Autoren haben eine spektrophotometrische 
Methode ausgearbeitet, mit der es ermöglicht wird, die Absorptionsstreifen 
des Blutfarbstoffes zu photographieren und die Stelle der maximalsten Ab¬ 
sorption genau nach Wellenlängen festzulegen. Diese Feststellungen lassen 
sich im sichtbaren Teil wie auch im unsichtbaren Teil des Spektrums machen. 
Mit dieser Methode konnten die Autoren zeigen, daß das Auftreten von 
Cyanhämoglobin im Organismus auszuschließen ist und daß diese Verbin¬ 
dung nur bei langdauernder Einwirkung großer Blausäuremengen auf den 
Blutfarbstoff im Reagenzglase auftritt. 

Literatur: Lewin, Spektrophotographische Untersuchungen über die Einwirkung von 
Blausäure auf Blut. Arch. f. experim. Path. u. Pharm ScHMiEDEBEKQ-Festschrift. E. Frey. 


Blutdruckmessung, Methoden der. Mit der zunehmenden Er¬ 
kenntnis der Bedeutung der Blutdruckmessung für die funktionelle Herz¬ 
diagnostik, welche im 15. Band der Jahrbücher v. Brugsch eingehend ge- 


Digitized by 


Google 



Blutdruckmessung. 


59 


würdigt ist, haben sich die Methoden für die Bestimmung des Blutdrucks 
beim Menschen in erheblichem Maße vermehrt. Seit von Basch seinen ersten 
Apparat, den Sphygmomanometer, vor zirka 20 Jahren angegeben hat, sind 
eine Unzahl neuer Apparate konstruiert worden. Das GÄRTNERsche Tono¬ 
meter, welches eine Zeit lang in den Kliniken zu Hause war, besitzt heutzu¬ 
tage kaum mehr als historisches Interesse, während der RiVA-Roccische 
Apparat zwar in seiner ursprünglichen Form ebenfalls ziemlich allgemein 
verlassen, aber dadurch weniger vergessen ist, weil er in der Modifikation 
der v. RECKLiNGHAusENschen Manschette noch heute als Grundlage für die 
meisten Blutdruckmeßapparate fortbesteht. Die genannten drei Apparate 
können als bekannt vorausgesetzt werden. An dieser Stelle sollen nur die 
neueren Methoden der Blutdruckmessung beschrieben werden. Im Prinzip 
werden die Blutdruckmessungen heute auf drei verschiedene Arten ausgeübt. 
Entweder durch die auskultatorische Methode (Fellner, Korotkow, Kry- 
tow), durch die oszillatorische Methode (Mosso, Hill, v. Recklinghausen, 
Erlanger, Pahl, Oliver) oder drittens durch die graphische Methode 


Fig.1. 



(Janbway, Massy, Sahli, Heusen, Bingel, v. Recklinghauhen, Mönzer, 
Uskoff), welch letzterer die palpatorische Methode, die wohl praktisch 
kaum mehr verwendet wird, nahe verwandt ist. 

Um mit der auskultatorischen Methode zu beginnen, so besteht die¬ 
selbe darin, daß man den Oberarm mit einer RECKLiNGHAusENschen Man¬ 
schette komprimiert und die Arteria cubitalis auskultiert. Die Apparatur 
ist von Zuelzer in einfacher Weise so zusammengestellt, daß zu der Man¬ 
schette, dem Quecksilbermanometer und dem Gebläse ein Auslaßhahn gefügt 
ist, welche gestattet, die Blutdruckmessung mehrmals hintereinander ohne 
weitere Störung vorzunehmen. Die beifolgende Abbildung (s. Fig. 1) ver¬ 
anschaulicht den Apparat. Bei der gewöhnlichen RECKLiNGHAusENschen Man¬ 
schette macht sich hie und da störend geltend, daß dieselbe nur gerade für 
eine bestimmte Armdicke paßt bei starken Armen reicht sie oft nicht herum, 
während bei ganz dünnen Armen die aufblasbare Fläche mehrfach über¬ 
einander liegt. Diesem Übelstand ist dadurch abgeholfen, daß auf Zuelzers 
Vorschlag von dem medizinischen Warenhaus Berlin eine längere Manschette 


Digitized by 


Google 













60 


Blutdruckmessung« 


von der üblichen Breite konstruiert wurde, in der einer verschiebbaren Ab¬ 
sperrvorrichtung in Form einer metallenen Klammer es au! bequeme Weise 
ermöglicht ist, die aufblasbare Fläche der Manschette jedesmal nach dem Arm 
einzustellen. Die Ausführung der Blutdruckmessung mit dieser Methode ist 
die denkbar einfachste. Man beginnt mit einem Überdruck über die vermut¬ 
lich systolische Druckhöhe und notiert den im Moment des Auftretens des 
ersten arteriellen Geräusches bestehenden Druck als den systolischen oder 
maximalen. Man läßt dann durch Nachlassen des Druckes auf den Wind¬ 
fängerballon den Druck in der Manschette sinken, bis der Ton in der 
Arterie verschwindet. Dieser Moment gibt den diastolischen oder minimalen 
Druck an. 

Vereinzelt wird der Methode, so von 0. Müller, Ungenauigkeit vor¬ 
geworfen. Im allgemeinen wird sie jedoch als durchaus brauchbar, als die 
bequemste und einfachste anerkannt. 



Die oszillatorische Methode wird vor allem mit dem von Reckling¬ 
hausen angegebenen Apparat ausgeübt. Der Apparat besteht aus der be¬ 
kannten Manschette, einer kräftigen Luftpumpe, ähnlich der für Fahrräder 
gebrauchten, vermittelst deren man den Druck mit einem Pumpenschlage aus¬ 
reichend erhöhen und dann sehr langsam wieder sinken lassen kann, und 
— in Verbindung mit beiden — einem BouRDONschen Röhrenmanometer 
(s. Fig. 2). Die Luftpumpe besitzt zwei Hähne, einen zur Kommunikation des 
Pumpenraumes mit der Außenluft, und einen zur Kommunikation mit der 
Manschette. Der letztere Hahn kann auch in der Stellung halb offen ge¬ 
braucht werden. In dieser Stellung kann die Luft nur mit größerem Wider¬ 
stand durchtreten. Der Gebrauch der Pumpe geschieht so, daß die Pumpe 
auf die Erde gestellt, durch ein Pedal mit der Fußspitze auf dem Boden 
fixiert wird, und nunmehr möglichst feinfühlig der Pumpenkolben an seinem 
Griff gehandhabt wird. Als Manometer gebraucht v. Recklinghausen statt 
der Quecksilbermanometer, die zwar den Vorzug der Einfachheit und Billig¬ 
keit haben, ein von ihm konstruiertes Manometer, dessen druckaufnehmendes 


Digitized by 


Google 



Blutdruckmessung« 


61 


Organ Ober einer Bourdonröhre, d. h. einer leicht gekrümmten knrzen Röhre 
von flachwandigem Querschnitt aus dünnem Blech gefertigt, besteht. Wird 
der Druck in der Röhre erhöht, so vermindert sich die Krümmung in der 
Röhre, d. h. der Krümmungsradius wächst, und da die Röhre nur mit dem 
einen Ende befestigt ist, so vollführt das freie Ende eine kleine Bewegung. 
Diese Bewegung wird durch einen Faden in ein feines Kettchen direkt auf 
die Achse übertragen, auf welche der Zeiger aufgesteckt ist. Die Zeiger¬ 
spitze bewegt sich über einen Teilkreis, auf welchem der Druck in Zenti¬ 
meter Wasser oder in Gramm pro Quadratzentimeter abgelesen wird. Eine 
kleine Spiralfeder sucht die Achse in entgegengesetzter Richtung wie den 
Faden zu drehen und sorgt so dafür, daß der Faden stets gespannt ist. 

Die Ausführung der oszillatorischen Messung gestaltet sich folgender¬ 
maßen: Nachdem man sich durch die palpatorische Methode ungefähr über 
die Größe des mittleren Drucks orientiert hat, stellt man annähernd diesen 
Druck durch die Luftpumpe in der Armmanschette her. Am Manometer be¬ 
obachtet man dann pulsatorische Schwankungen der Nadel, die im Puls¬ 
mitteldruck sehr große sind, da das vorher einseitig durch den arteriellen 
Innendruck gespannte Arterienrohr jetzt durch einen die Spannung auf¬ 
hebenden Außendruck entspannt wird und bei jedem Arterienpulse nunmehr 
am freiesten flottieren kann. Das Flottieren der Arterienwand infolge des 
arteriellen Pulses wird aber durch die Luft der Armmanschette auf das 
Manometer übertragen und stellt sich hier als pulsatorische Schwankung 
dar. Läßt man nun den Druck sinken, so werden die Oszillationen kleiner, 
ebenso gehen bei steigendem Druck die großen Oszillationen in kleine über. 
Die Ursache liegt darin, daß nunmehr die Spannung des Gefäßrohres, sei 
es durch stärkere Belastung von innen oder von außen wieder zunimmt 
und so ein maximales Flottieren des Gefäßrohres verhindert. Nach von 
Recklinghausen bezeichnet man den Druck, bis zu welchem die großen 
Ansschläge hinabreichen, als Pulsdruckminimum, die innere Druckgrenze für 
die großen Oszillationen als Pulsdruckraaximum. 

Man kann statt des Manometers auch einen Tonographen nach von 
Recklinghausen benutzen, bei dem die pulsatorische Oszillation als Arm- 
manscbette graphisch auf eine routierende Trommel registriert wird. 

Den mit dem RECKLiNGHAUSENschen Apparat gewonnenen Kurven macht 
Uskoff den Vorwurf, daß die Pulsnadel einen zu kleinen Bogen beschreibe, 
als daß sie feinere Abweichungen in der Herz- und Gefäßtätigkeit klar zum 
Ausdruck bringen könne. Auch seien die Zeichen, welche den Zeitpunkt des 
systolischen und diastolischen Druckes bestimmen sollen, nicht deutlich 
genug. Uskoff bat nun einen Apparat konstruiert, welchen er Sphygmotono- 
graph genannt hat, und welcher zur Aufzeichnung nicht nur des Blutdrucks, 
sondern auch seiner, den Puls entsprechenden Schwankungen bestimmt ist. 
Die RscKLiNGHAUSENsche Manschette wird nicht mit dem Tonographen, 
sondern mit einem dünnen Gummiballon verbunden, welcher von einem 
Seidennetz umgeben und in einer Glaskapsel eingeschlossen ist. Jede Luft¬ 
bewegung in der Manschette wird von einer entsprechenden Volumenver- 
änderung des Gummiballons begleitet, und auf diese Weise der in der Glas¬ 
kapsel enthaltenen, den Ballon umgebenden Luft mitgeteilt, von wo aus sie 
vermittelst eines Verbindungsschlauches auf ein MAREYsches Schreibtrommel¬ 
chen übertragen wird. 

Wenn man den Luftdruck in der Manschette bis zum völligen Ver¬ 
schwinden des Pulses in der Art. brachialis steigert und dann allmählich 
nachläßt, so wird die MAREYsche Trommel eine ganze Anzahl von Puls¬ 
wellen unter verschiedenem Drucke aufschreiben, und nebenbei wird der 
Druck selbst automatisch aufgezeichnet. Auf diese Weise wird der systo¬ 
lische (Beginn der Oszillationen) sowie der diastolische (maximale Oszilla- 


Digitized by 


Google 



62 


Blutdruckmessung. 


Fig. 3. 


tionen) Druck notiert. An der Stelle, wo die maximalen Oszillationen 
kleiner werden, hat die Kurve genau dasselbe Aussehen wie das entspre¬ 
chende Sphygmogramm beim Menschen, beziehungsweise wie das Tonogramm 
bei Tieren. Der Vorzug des UsKOFFschen Apparates, dessen Prinzipien mit 
denen von Recklinghausen übereinstimmen, besteht darin, daß er bedeutend 
größere Kurven liefert', daß die Oszillationen auf- und absteigend schwanken, 
so daß die Maximaloszillationen deutlich ausgeprägt sind, und daß schon 
die allerersten Pulswellen zum Ausdruck kommen. Wesentlich beruhen alle 
diese Vorzüge darauf, daß der Gummiballon leicht dehnbare Wände besitzt und 
deshalb die Operation in größerem Maße, folglich auch deutlicher übermittelt, 

während die BouRDONsche Röhre für 
schwächere Schwankungen überhaupt nicht 
empfindlich ist. 

Uskoff gibt folgende Beschreibung 
seines von Zimmermann- Leipzig konstru¬ 
ierten Apparates an, der aus folgenden 
Teilen besteht (Fig. 3): 

1. 1 Druckgebläse. 

2. 1 Quecksilbermanometer mit einer 
Druckhöhe von 300 mmHg. 

3. 1 Armmanschette. 

4. 2 bzw. 3 Schreibkapseln. 

5. 1 für die Fortbewegung des Pa¬ 
pierstreifens notwendiges Uhrwerk. 

Das Druckgebläse G wird an der 
Zuleitungsspitze 0 befestigt und die Man¬ 
schette mit der weiteren 
Schlauchspitze des 
Röhrensystems S ver¬ 
bunden. Ein berußter 
Papierstreifen von 7 0 cm 
Breite und 50*0 cm 
Länge wird auf die 
Walzen ( W ) gewalzt. 
Wenn nun die Man¬ 
schette in der bekannten 
Weise um den Arm 
gelegt (nicht sehr eng) 
und mittelst des Ge¬ 
bläses Druck erzeugt 
wird, so verteilt sich der¬ 
selbe infolge des auf stei¬ 
genden Rohrsystems 
zunächst auf das Queck¬ 
silbermanometer Q 1 in¬ 
dem es den Schwimmer 

hebt. Selbstverständlich ist es nötig, daß hierbei der für den Transport an dem 
Futteral angebrachte Stöpsel entfernt wird. Des weiteren geht der Druck 
nach der Manschette, diese aufblasend und den Druck auf die Weichteile 
des Armes verteilend. Zugleich wird bei der Vertikalstellung des Hahnes #, 
der in dem Glasballon B befindliche Gummiballon aufgebläht und die Luft in 
dem Glasballon durch den zweiten Hahn H % nach außen getrieben. Beide 
Hähne sind unsichtbar durch ein Zahnradpaar verbunden und werden durch 
Bewegung des einen gedreht. Ist nun genügend Druck erreicht, so daß die 
Pulsation der Radialis verschwunden ist, so wird der Hahn H l in der Rieh- 



Digitized by 


Google 



Blutdruckmessung. 


63 


tung des Pfeiles gedreht und wird dadurch gleichzeitig die Außenluft von 
dem Glashallon bis auf einen minimalen Kanal (M) ferngehalten. Die wieder 
eintretende Pulsation, die dadurch entsteht, daß durch ein Ventil V aus 
dem Röhrensystem Luft hinaustritt, teilt sich nun dem Luftdruck in dem 
Ballon B mit, und da der Ausweg im Ballon verschlossen ist, so hat der 
zweite Weg, der nach dem MAR&Yschen Tambour R führt, die Schwingungen 
des Gummiballons übertragen. Gleichzeitig hat aber auch die Druckluft des 
Gebläses einen zweiten Weg nach dem Oberteil des Quecksilbermano¬ 
meters Q, an welchem sich zwei sich gegenüberstehende Kapillarröhrchen 
befinden. Zwischen diesen Kapillarröhrchen passiert der mit feinen Bohrungen 
versehene Schwimmer; diese Bohrungen sind in Abständen von je 1 mm, 
entsprechend einer Quecksilberhöhe von 2 mm, angebracht, und unterbricht 
somit der Schwimmer den Luftstrom, der vom Gebläse kommt und nach 
dem Tambour D führt. Kommt nun vor dem feinen Luftstrom ein Löchel¬ 
chen des Schwimmers zu stehen, so markiert dieser Tambour durch seine 
Schwingungen den jeweiligen Stand des herabsinkenden Schwimmers. Diese 
letzten Ausschläge entstehen natürlich auch bei der aufsteigenden Bewegung 
des Schwimmers bzw. beim Auf blasen des ganzen Systems; da aber hierbei 
der berußte Papierstreifen P noch nicht in Bewegung ist, so haben die Aus¬ 
schläge des Tambour D noch nichts zu sagen. 

In dem Augenblick, wo der nötige Druck erreicht wird, hat man 
den Hahn H 1 in der Richtung des Pfeiles zu drehen und das Uhrwerk 
U durch die Arretierung A auszulösen. Der Papierstreifen setzt sich 
dann in Bewegung, der Druck läßt durch das Ventil V nach, die Pul¬ 
sation tritt wieder ein, und markiert sich demzufolge die Druckhöhe, 
während sich die Pulszuckungen auf den berußten Papierstreifen nieder¬ 
schreiben. Mit diesem zugleich wird die Zeit durch Vs Sekundenzeit¬ 
marke Z markiert. 

Bei Behandlung des Apparates ist zu beachten, daß der Zufluß der 
Luft in der Kapillaröffnung des Hahnes H 2 in richtigem Verhältnis zum 
Ventil V steht. Der Schwimmer des Manometers darf nicht zu schnell 
sinken, und der Schreibhebel des Tambour R nicht soweit zurückgehen. 
Ist letzteres der Fall, so ist das Ventil des Hahnes H 3 zu wenig geöffnet; 
fallen die Kurven zu gering aus, so ist es zu viel geöffnet. Damit nun 
beim Wiedereintritt der Pulsation die Pulsbewegungen dem Quecksilber¬ 
manometer nicht mitgeteilt werden, befindet sich am oberen Ende des Röhren¬ 
systems S eine kapillare Verengerung bei E. Der Apparat, der auf den 
ersten Blick vielleicht etwas kompliziert erscheint, ist äußerst einfach zu 
handhaben, wenn man sich erst ein wenig auf ihn eingeübt hat. Als wesent¬ 
licher Vorzug ist zu betrachten, daß der Maximal- wie der Minimaldruck 
automatisch aufgezeichnet wird und fast ebenso genau wie das tierische 
Tonogramm, daß zugleich die Pulsdruckkurve aufgetrieben wird, daß auf 
derselben Ordinate der Venenpuls, Herzstoß oder Karotispuls aufgetragen 
werden kann, und daß die Kurve vergleichbar wird, da sich vollkommen 
gleiche Untersuchungsbedingungen erreichen lassen. 

Bingel hatte im Jahre 1906 ebenfalls einen Apparat angegeben, welcher 
die automatische Registrierung der jeweiligen Druckhöhe gestatten sollte. 
Das Prinzip des Apparates bestand in einem zweischenkligen Quecksilber¬ 
manometer, dessen einzelne Höhenabschnitte mit einer elektrischen Unter¬ 
brechung verbunden waren, so daß alle 10 mm ein elektrischer Kontakt und 
damit auf der Trommel ein Zeichen ausgelöst wurde. Die Brauchbarkeit 
dieses Apparates scheiterte jedoch vorwiegend an der Schwierigkeit, in 
gleichmäßiger Weise ohne Auf- und Abschwankung Druckerhöhung oder 
Drucknachlassung zu bewirken. In Verbindung mit der RECKLiNGHAUSENschen 
Luftpumpe würde er wahrscheinlich recht brauchbare Resultate geben. Die 


Digitized by 


Google 



64 


Blutdruckmessung« 


Konstruktion des UsKOFFschen Apparates läßt es jedoch übrig erscheinen, 
auf diesen älteren Apparat zurückzukommen. 

Auf den Apparat von Pal zur Blutdruckbestimmung, den er Sphygmo- 
skop genannt hat, soll hier nur kurz eingegangen werden. Er ging bei der 
Konstruktion desselben von ähnlichen Erwägungen aus wie Recklixghausbn. 
Bei seiner oszillatorischen Methode komprimiert man den Oberarm mit der 
Manschette bis zum Aufhören des Pulses in der Radialis, es hören die Os¬ 
zillationen in der Manschette nicht ganz auf infolge des Gegenschlagens des 
Pulses gegen die Kompressionsstelle. Bei Erniedrigung des Druckes werden 
die Schwankungen von einem bestimmten Druck an größer. Der in diesem 
Augenblick bestehende Manometerdruck ist nach Pal dann gleich dem sy¬ 
stolischen Druck an der Kompressionsstelle. Bei weiterem Herabsetzen des 
Druckes in der Manschette werden die Schwankungen noch größer, um von 
da an wieder kleiner zu werden, wenn die Pulswelle ungehindert unter dem 
Schlauch hindurchkann. Dieses Kleinerwerden der Oszillationen gibt den 
diastolischen Druck an. 


Fig. 4 . 



Von den übrigen Apparaten zur Blutdruckmessung verdient besondere 
Beachtung der von Strauss konstruierte turgotonographische Pulsdruck¬ 
messer, weil er die Vorzüge der exakten graphischen Registrierung 
mit den Vorzügen äußerster Einfachheit in der Handhabung verbindet. 
Außerdem orientiert er ebenso wie der UsKOFFsche Apparat zugleich über 
die anderen Eigenschaften des Pulses wie über die Form des auf- und ab¬ 
steigenden Schenkels des Pulsbildes, die Frequenz und den Rhythmus. Der 
Apparat besteht aus folgenden Teilen: aus dem Turgosphygmograph, aus 
der rotierenden Trommel, drittens aus der Vorrichtung zur Übertragung des 
im Manometer des RiVA-Roccischen Apparates angegebenen Druckes auf die 
rotierende Trommel. Auf die Prinzipien des Turgosphygmographen ist hier 
nicht näher einzugehen. Die Blutdruckbestimmung nach Strauss geschieht 
in folgender Weise, konform Fig. 4: »Es wird die um den Oberarm gelegte 
Manschette in der üblichen Weise unter Zwischenschaltung eines T-Rohres, 
dessen einer Schenkel mit einem starken öummigebläse in Verbindung steht, 
mit dem einen Schenkel eines U förmigen Hg-Manometers verbunden. Der 


Digitized by ^.ooQle 




Blutdruckmessung. — Blutmengenbestimmung beim Lebenden. 65 


andere offene Schenkel des Manometers wird durch einen Gnmmischlanch 
an einen Schwimmer angeschlossen, der die Schwankungen des Quecksilbers 
im Manometer auf die berußte Trommel überträgt. Als Manometer benutzt 
Strauss ein von ihm angegebenes, durch eine Schraubenvorrichtung stets 
mit Leichtigkeit auf den Nullpunkt einstellbares Hg- Manometer.« Die dem 
STRAUSSschen Verfahren zugrunde liegende Idee ist nun die, daß man nach 
Anlegung des Turgosphygmographen in der um den Arm gelegten Manschette 
einen zur Unterdrückung des Radialispulses ausreichenden Druck erzeugt 
und denselben durch Öffnung der Auslaß Vorrichtung langsam fallen läßt, 
während man auf der berußten Trommel einerseits die Höhe des Druckes, 
andrerseits das Verhalten des Pulses zur graphischen Darstellung bringt, 
und zwar so, daß man in der Lage ist, für eine beliebige Druckhöhe ein 
dieser entsprechendes Pulsbild vorzufinden.« 

Es sind noch eine Reihe von anderen mehr oder minder einfachen 
Apparaten angegeben worden; da an dieser Stelle nur die praktisch wich¬ 
tigsten vorzuführen waren, muß auf die Nennung aller einzelnen Modifikationen 
verzichtet werden. 

Literatur: Bingel, Münchner med. Wochenschr., 1906, Nr. 26. — Fellner, Verhand¬ 
lungen dce 24. Kongresses für innere Medizin. — Fleischer, Berliner klin. Wochenschr., 
1907, Nr. 35. — Recklinghausen, Archiv f. experim. Path. n. Pharm., LV. — Zuelzeb, Zeit¬ 
schrift f. ärztb Fortbildung, 1908, pag. 571. Zuelzer. 


N 


Fig.6, 

sä 


Blutmengenbestimmuug beim Lebenden« 

Die Feststellung der Gesamtblutmenge beim Lebenden .| 

Dazu müssen wir uns natürlich indirekter Methoden bedienen, unter 
denen wir zunächst die kalorimetrische Bestimmungsmethode nach Plesch 
am meisten empfehlen. 

A. Kolorimetrische Bestimmung nach Plesch. 

Das Prinzip der Methode besteht darin, das Blut zu 
diluieren und die relative Abnahme der Färbekraft im Ver¬ 
gleich zu dem unverdünnten Blute festzustellen. 

Das ganze Verfahren gestaltet sich folgendermaßen. Es 
wird zur Infusion am besten die Vena mediana des linken 
Armes gewählt. Nach Reinigung und Desinfektion der ganzen 
Rubitalgegend wird mit einer am Oberarm angebrachten Gum¬ 
mibinde die Vene gestaut. Die Vene frei zu präparieren 
und in ihr eine Kanüle einzubinden, wie es von einigen 
Autoren für die Infusion anempfohlen wird, ist nicht notwendig 
bei Verwendung einer Nadel mit einer lanzettenförmigen Spitze 
(Fig. 5, iV). 

Durch die scharfen Kanten wird die Haut leicht durch¬ 
bohrt und die Vene getroffen. In die äußere Mündung der 
Kanülennadel (N) paßt ein konisches Ansatzstück (A) mit 
einem Olivenfortsatz für den Gummischlauch (G), mit dem das 
graduierte Infusionsgefäß (Fig. 5, B) verbunden wird. Zur In¬ 
fusion wird eine zirka 0 85%ige 37° C warme Kochsalzlösung 
gebraucht, welche stets vor dem Ge¬ 
brauch zu sterilisieren ist, und deren 
osmotische Konzentration durch Ge- 
frierpunktsbestimmung bekannt ist. 

Die Nadel ist am zweckmäßigsten, um sie 

vor dem Rosten zu schützen, in Sodalösung zu sterilisieren. Das Gefäß und 
der Schlauch wird mit Sublimatalkohol gereinigt, dann mit ausgekochtem 
Wasser und Infusionsflüssigkeit ausgespült, damit die Konzentration der 
Infusionslösung nicht geändert wird. Vor dem Versuch werden numerierte 

5 



«00 

E 

550 

= 

500 

E 

*50 

= 

*00 

E 

350 

E 

30 0 

E 

250 

E 

?00 

= 

150 

E 

<00 

E 

50 


V 




Encyclop. Jahrbücher. N. F. YITI. (XVII.); 


Digitized by 


Google 




66 


Blutmengenbestimmung beim Lebenden. 


Reagensgläser mit einigen Zentigrammen Ammoniumoxalatpulver beschickt 
und so zum Blutauffangen bereit gehalten. 

Die Nadel wird zentralwärts in die Vene eingestoßen und die Gummi¬ 
binde dann schnell gelöst. Das Blut wird erst dann aufgefangen, wenn die 
Stauung aufgehoben ist, da das gestaute Blut seine Konzentration in ganz 
unberechenbarer Weise ändert. 

Vor der Infusion werden zwei Blutproben genommen, die eine Probe (2 m s ) 
in Oxalat und die andere (5—10 cm 9 ) ohne Oxalat. Sind die Proben entnommen, 
wird der Konus in die Kanüle gesteckt und die Infusion beginnt, wobei die 
Menge der infundierten Flüssigkeit und die Dauer der Infusion notiert wird. 

Als Menge der so zu infundierenden Flüssigkeit genügt es, 
ca. 1 1 2 % des Körpergewichts zu verwenden. 

Ist die gewünschte Menge in die Vene eingeflossen, so wird der Konus 
aus der Nadel entfernt und das durch die Nadel abfließende Blut in den 
Reagensgläsern über dem Oxalat aufgefangen. Die erste Portion ist besser 
nicht aufzufangen, weil sie noch Infusionsflüssigkeit enthält, was eine nicht 
den tatsächlichen Verhältnissen entsprechende Dilution Vortäuschen kann. 
Um sicher zu sein, daß man mit der isotonischen Lösung gut durchge¬ 
mischtes Blut erhalten hat, ist es angezeigt, mehrere Proben zu nehmen, 
und zwar alle 2 Minuten eine. Das Blut tropft bei zentral eingestochener 
Kanüle ganz langsam, so daß in zwei Minuten nicht mehr als 2 — 3 cm 9 ab¬ 
fließen. Die Mischung ist nach 3—4 Minuten vollständig gleichmäßig erfolgt, 
so daß nach dieser Zeit der Versuch abgebrochen werden kann. Nach Ent¬ 
fernung der Nadel steht die Blutung ohne besonderen Eingriff von selbst, 
es genügt, die Stichwunde mit einem Pflasterverbande zu versehen. 

Die Untersuchung der verschiedenen Blutproben geschieht 
im Chromophotometer. 1 ) Dazu werden die Proben gleichmäßig mit 
I%ote er Sodalösung verdünnt. Es ist zweckmäßig, große Verdünnungen 
zu nehmen, weil die Empfindlichkeit gegen Farbennuancen in hellen Lösungen 
viel größer ist als in dunkeln. Bei normalem, etwa 14% Hämoglobin ent¬ 
haltendem Blut ist die Verdünnung von 1 : 250 (= 0*2 :50) bei 20 mm Schicht¬ 
dicke am geeignetsten, bei hämoglobinärmerem Blute entsprechend weniger. 

Als Vergleichsblut dient dasjenige, welches vor der Infusion 
entnommen, mit Oxalat versetzt wurde. Diese Lösung kommt in den 
Testtrog. Die nach der Infusion genommenen Proben werden in den Tauch¬ 
trog gegossen und dann die Schichtdicke durch Verschieben des Tauch¬ 
zylinders so lange geändert, bis Farbengleichheit des Gesichtsfeldes erzielt 
ist. Da es sich hierbei nur um Feststellung von relativen Werten 
handelt, setzen wir das Testblatt gleich 100 an und berechnen aus der 
Schichtdicke mit Hilfe der kolorimetrischen Formel 


c * 8 


die prozentische Dilution des nach der Infusion gewonnenen Blutes. Nehmenwir 
z. B. an, die der Testlösung bei 20 mm Schichtdicke entsprechende Schichtdicke 
des diluierten Blutes sei 23*2 mm gewesen, so ist die prozentische Dilution 

Ci ~^?~ 85 ' 47 %-*) 

Die Formel der Blutmengenbestimmung lautet: 

cb 


Bl = 


100—b 


+ d 


x ) Die Beschreibung des PLESCHSchen Chromophotometers erfolgt hinterher. 

*) Es ist dem Chromophotometer eine Tabelle beigegeben, in welcher für jede Schicht¬ 
dicke der entsprechende relative prozentische Wert angegeben ist. 


Digitized by 


Google 



Blutmengenbestimmung beim Lebenden* 


67 


In dieser Formel bedeutet Bl die Blutmenge, c die infundierte Menge 
der isotonischen Lösung, b die relative Abnahme der Färbekraft des Blutes 
nach der Infusion und d die Menge des Blutes, welche vor der Infusion 
ffir die Proben oder för sonstige Zwecke abgeflossen ist. Um die Berech¬ 
nung an der Hand eines Exempels zu zeigen, wollen wir das oben angegebene 
Beispiel fortsetzen. Nach diesem ist b = 85*47, es soll c=400cm 8 und 
d = 20 cm 3 sein, dann ist die Blutmenge 


400 • 85*47 
100—85*47 


20 = 2373 cm*. 


Die ganze Untersuchung ist damit beendet und dauert auch für wenig 
Geübte samt der Berechnung kaum mehr wie eine halbe Stunde. 

Was die Brauchbarkeit der Methodik anbelangt, so ist die Infusion 
für den Patienten vollständig unschädlich, wenn auch gewöhnlich einige 
Stunden nach der Infusion (auch bei völlig sterilem Arbeiten) eine Tem¬ 
peratursteigerung um 1—2° C eintritt. Die Ursache dieser Temperatur¬ 
steigerung ist noch nicht aufgeklärt. Wichtig ist für die Beurteilung der 
Brauchbarkeit der Methode die Frage, ob sich die isotonische Blutlösung 
vollständig mit dem Blute mischt und ob auch die infundierte Methode 
während des Versuches in der Blutbahn bleibt? Aus dem Umstande, daß die 
Verdünnungswerte in den verschiedenen Proben sehr nahe beieinander liegen, 
daß das Abklingen während des Versuches ausnahmslos eine Gesetzmäßig¬ 
keit zeigt, ist es zu entnehmen, daß die Kochsalzlösung sich mit dem Blute 
gleichmäßig mischt und daß von dieser Seite keine Fehler zu erwarten sind. 

Der größte Fehler, der bei der Infasionsmethode entstehen kann, ist dadurch möglich, 
daß die infundierte Flüssigkeit nicht blutisotonisch ist; wählt man indessen eine Kochsalz¬ 
lösung zur Infusion von einem Gefrierpunkte & = — 0 56° (entsprechend einer Kochsalzlösung 
von 0*8ö°/o)» so ist der Fehler unter normalen Verhältnissen gleich Null bzw. außer¬ 
ordentlich gering. 

Wir können praktisch bei Gesunden und bei Kranken, bei denen nach den vorhan¬ 
denen Erfahrungen keine Änderung des Blutgefrierpunktes zu erwarten ist, die Gefrierpunkt¬ 
bestimmung vernachlässigen, wenn zur Infusion eine — 0 56 A Salzlösung verwendet wurde. 

Nicht so aber bei Fällen wie z. B. bei Urämie, wo die osmotische Konzentration eine 
von der Norm wesentlich abweichende ist. Wollen wir hier die Blutmenge mit der Infusions¬ 
methode bestimmen, so ist es unbedingt nötig, den Gefrierpunkt des Blutes zu kennen. Es 
müßte somit vorerst zur kryoskopischen Bestimmung Blut entnommen werden und dann eine 
Lösung hergestellt werden, welche mit dem Blute isotonisch ist. 

Praktisch wäre dies eine Schwierigkeit, weil es einen Aderlaß bedingt, welchem dann 
ein zweiter Aderstich behufs der Infusion und Probeentnahme folgen müßte. Diesem Übel- 
stand hilft man ab, indem man, wie ich es schon bei der Beschreibung des Experimentes 
erwähnt habe, vor der Infusion eine Probe Blutes ohne Oxalatzusatz entnimmt und dann 
die Infusion mit der Lösung von bekannter osmotischer Konzentration anschließt, ohne die 
Nadel zu entfernen. 

Man bestimme dann nachträglich in der entnommenen Probe den Gefrierpunkt des 
Blutes und wende die Korrektur so an, daß man berechne, wie viel zu der in¬ 
fundierten Menge hinzugetreten ist oder von dieser abgegeben worden ist, 
um dieselbe osmotische Konzentration zu erlangen wie das Blut im betreffen¬ 
den Falle gehabt hat. Wir wissen seit den Versuchen von Zuntz, Hamburger, Stbaüss n.a., 
daß der Ausgleich der osmotischen Druckdifferenzen in den Kapillaren fast momentan er¬ 
folgt, so daß wir sicher annehmen können, daß sich das Blut gegenüber der infundierten 
Flüssigkeit in einem Umlauf ausgleicht. Die Korrektur muß daher genau zu berechnen sein 
und der Fehler ist ebensogut verbessert, als wenn wir isotonische Lösung eingespritzt hätten. 

Was die Frage betrifft, ob die injizierte Flüssigkeit in dem Blute 
während der kurzen Zeit bleibt, so ist es bei den verhältnismäßig geringen 
Mengen, die wir infundieren, auf Grund der ZuNTZ-CoHNSTEiNschen Unter¬ 
suchungen anzunehmen, daß in der Zeit von 2—3 Minuten nicht wesent¬ 
liche Mengen die Blutbahn verlassen. Das zeigen auch die Zahlen bei ein¬ 
zelnen Versuchen, wo die Rückkehr der Konzentration zur Norm nur lang¬ 
sam vor sich geht. Dies aber ist nur bei vollkommen isotonischen Lösungen 
za erwarten. 


Digitized by GoÖole 



68 Blutmengenbestimmung beim Lebenden. 

Beschreibung des PLBScHSchen Chromophotometers. 

Von einer Lichtquelle gehen durch zwei Prismen zwei Lichtbüschel von gleicher 
Intensität hervor, von denen das eine nach nochmaliger Reflexion durch eine Normallösung 
in der sogenannten Teströhre hindurch, schließlich in einen LüMMER-BRODHUNschen Würfel 
gelangt und deshalb dem Auge in Form eines beleuchteten Kreises erscheint, dessen Färbung 


Fig.e. 



1 . Stativ. 2 . Kammer. 3 . Milchglasscheibe. 4 . und 5. Reflektierende Spiegel. 6 . nnd 7. AuBtritt-söffnung 
der reflektierten Lichtbüschel. 8 . Glasschutzplatte. 9 . Reflektierendes Prisma. 10 . Testtrog. 11 . Lumukr- 
BRODHUNScher Würfel. 12 . Matte, kreisrunde Vertiefung in einem Prisma des Würfels. 13 . Optische 
Korrektion. 14 . und 15 . Vergrößerungslinson. 16 . Okular. 17 . Tauchtrog. 18 . Fixierter Bügel für den 
Tanchtrog. 19 . und 20 . Teile des Stativs. 21 . Innerer Tauchzylinder. 22 . Bügel für den inneren Tauch- 
aylinder. 23 . Zahnradschraube mit Nonius für den inneren Tauchzylinder. 24 . Millimeterteilung. 
26 . Mittlerer Tauchzylinder. 26 . Zahnradschraube mit Nonius für den mittleren Tauchzylinder. 27 . Bügel 

für den mittleren Tanchzylinder. 


von der Farblösung in der Teströhre abhängt. Das andere Lichtbüschel geht durch die zu 
untersuchende Farblösung und wird in dem LuMMER-BRODHüNSchen Würfel ebenfalls nach dem 
Auge reflektiert, und zwar gleichfalls in Form eines beleuchteten Kreises, der konzentrisch 
zu dem erstgenannten Kreise des ersten Lichtbüschels liegt. Durch Veränderung der Schicht¬ 
höhe der zu untersuchenden Flüssigkeit können nach Maßgabe einer Skala die FarbstofS 
lösungen derart abgestimmt werden, daß die dem Ange sichtbaren beiden Kreise absolut 
gleichmäßige Färbung zeigen. Durch Ablesen der Skala kann dann auf Grund jenes physi- 


Digitized by 


Google 






Blut menge nbesti mm ung beim Lebenden, 


69 


kalischen Gesetzes, nach welchem die Schichtdicke zur Konzentration in umgekehrtem Ver¬ 
hältnisse steht, die Konzentration der zu untersuchenden Lösung leicht berechnet werden. 



Es bedeutet s die bekannte Schichtdicke des Testtroges, c die bekannte Konzentration der 
Testlösung, e t die entsprechende, am Nonius abgelesene Schichtdicke, c, die unbekannte 
Konzentration der zu untersuchenden Lösung. 

Der Apparat ist in der Fig. 6 in einem senkrechten Längsschnitt zur Veranschaulichung 
gebracht. Er besteht zunächst aus einer auf der Grundplatte 7 angeordneten Kammer 2 , die 
an der Vorderseite eine diffuse Milchglasplatte 3 trägt, so daß das Licht durch diese Platte 
diffus in den Kaum 2 gelangt und hier zwei hintereinanderliegende, Jedoch in verschiedener 
Höhe angeordnete Spiegel 4 und 5 beleuchtet. Die reflektierende Fläche dieser Spiegel oder 
Prismen liegt in einem Winkel von ungefähr 45°, so daß zwei Lichtbilscbel reflektiert werden, 
die aus der Kammer 2 durch die Öffnungen 6 , 7, die durch eine gemeinsame Glasplatte 8 
bedeckt Bind, herausstrahlen. Das von dem ersten Spiegel 4 erzeugte Lichtbttschel gelangt 
auf eine unter einem Winkel von 45° angeordnete reflektierende Fläche 9 in Form eines 
8piegels oder Prismas, um hier rechtwinklig gebrochen zu werden. Die reflektierten Licht¬ 
strahlen gehen zunächst durch den sogenannten „Testtrog“ 10, der beispielsweise eine Normal¬ 
lösung von bestimmter Farbe für die Zwecke der betreffenden Untersuchung enthält, so daß 
der Lichtstrahl die Färbung dieser Teströhre erhält. Der gefärbte Lichtstrahl fällt nun in 
den LuMMKa-BBODHuifBchen Würfel 11. 

Der LuiiMBK-BBODHUHSche Würfel besteht aus zwei Prismen, die an der Hypotenusen¬ 
fläche aneinander gekittet sind. Das eine Prisma besitzt in der Mitte bei 12 eine kreisrunde 
Vertiefung. Diejenigen Lichtstrahlen, die auf den mittleren Kreis 12 fallen, werden senkrecht 
nach oben reflektiert, dagegen gehen diejenigen, die auf den freien Raum seitlich zum mitt¬ 
leren Teil 12 auffallen, frei durch den Würfel hindurch und werden über den Linsen 74, 15 
dem Okular 16 zugeführt, so daß das Auge des Beschauers eine beleuchtete gefärbte Fläche 
in Form eines Kreises erblickt, dessen Mitte frei bleibt. 

Das zweite, von dem Spiegel 5 der Kammer 2 reflektierte Lichtbttschel gelangt, nach¬ 
dem es die Öffnung 7 der Kammer 2 verlassen hat, in die zu untersuchende Flüssigkeit, die 
sich in einem Glasrohr 17 befindet, durchläuft diese und gelangt ebenfalls in den Lummbb- 
Bbodh raschen Würfel 77, und zwar werden von diesem Lichtbüschel diejenigen Strahlen, 
welehe auf den Teil des Prismas seitlich zur Vertiefung 12 auf treffen, durch das Prisma 
hindnrcbgehen, also im Augendeckel 16 nicht sichtbar sein, während diejenigen Strahlen, die 
auf die Vertiefung 12 fallen, rechtwinklig reflektiert werden und ebenfalls in das Okular 16 
gelangen. Diese letztere beleuchtete, ebenfalls die Form eines Kreises besitzende Fläche 
liegt konzentrisch innerhalb des erstgenannten beleuchteten Kreises. Ist nun die Färbung 
der zu untersuchenden Lösung eine andere als diejenige in dem Testtroge 10, so kann der 
Unterschied der Färbung durch Veränderung der Schichthöhe der zu untersuchenden Flüssig¬ 
keit ausgeglichen werden. 

Das iohrförmige Glas 77, das die zu untersuchende Flüssigkeit enthält, ist mit einem 
Bügel 18 an dem Ständer 19 starr befestigt, der seinerseits an der Hinterseite der Kammer 2 
angeordnet ist und am oberen Ende eine Platte 20 trägt, die in der aus der Figur ersicht¬ 
lichen Weise das Prisma 9, die Teströhre oder den planparallelen offenen Trog 10, den 
LuHMEB-BRODHUNSchen Würfel 77, den Tubus 16 und die optische Korrektion 13 aufnimmt. 

Innerhalb des erstgenannten röhrenförmigen Glases 77 ist ein zweites Rohr 21 ange¬ 
ordnet; welches in einem Bügel 22 sitzt, der auf dem Ständer mittelst eines Zahngetriebes 23 
nach Maßgabe einer Skala 24 in der Höhe verstellt werden kann. Je mehr dieses Rohr 21 
in die in dem Rohr 77 befindliche, zu untersuchende Flüssigkeit eintaucht, um so mehr wird 
die Schichthöhe jener Flüssigkeit verringert, die von dem von Spiegel 5 reflektierten Licht¬ 
büschel durchlaufen werden muß. Man kann also durch Verstellung dieses Rohres 21 
mittelst des Schneckengetriebes 23 die Schichthöhe so lange ändern, bis die 
beiden im Okular sichtbaren Kreise gleiche Färbung besitzen. Die Jeweilige Ver¬ 
stellung kann nach der Skala 24 bestimmt werden, so daß hieraus ohne weiteres der Färbungs- 
unterscbied der zu untersuchenden Flüssigkeit gegenüber derjenigen der Teströhre festge¬ 
stellt werden kann. 

Klare und reine Flüssigkeiten geben keinen Fehler, dagegen machen trübe und ver¬ 
unreinigte eine genaue Bestimmung unmöglich. Die Untersuchungen sind bei natürlichem oder 
künstlichem Licht gleich gut auszuführen. Für diejenigen, die besondere Empfindlichkeit für 
eine gewisse Farbe haben, empfiehlt es sich, vor die Milchglasscheibe ein Farbenfilter zu 
stellen, am besten eine parallele Glaswanne mit einer Flüssigkeit von gewünschter Farbe. 
Bei den Untersuchungen soll man beachten, daß das Auge für helle Farben empfindlicher 
ist als für dunkle. Für etwaige Fehler sind ausschließlich Verunreinigungen, die 
den Strahlengang stören, verantwortlich zu machen. 

Die Ablesung an diesem Apparat ist in praxi bis auf O'l mm genau. 


Digitized by ^.ooQle 



70 


Blutmengenbestimmung beim Lebenden. 


B . Bestimmungsmethode durch Kohlenoxydinhalation und direkte 
CO-Bestimmung in ganz geringen Blutquantitäten 
nach Züntz-Plesch. 

Man kann die Blutmengenbestimmung auch in der Weise ausfuhren, 
daß man eine bestimmte Menge Kohlenoxyd einatmen läßt und nunmehr die 
CO-Konzentration im Blute bestimmt. 

Die außerordentliche Feinheit in der Bestimmung sehr geringer Gas¬ 
volumina mit Hilfe der Wasserdruckmessung, die besonders von Barcroft 
und Haldane ausgearbeitet wurde, in Verbindung mit der Möglichkeit, das 
Kohlenoxyd durch Ferrycyanid aus dem Blute zu entbinden, gestattet eine 
direkte Bestimmung des Kohlenoxyds im Blute. 

Die im folgenden beschriebene Methodik ermöglicht, in einem Kubik¬ 
zentimeter Blut den Kohlenoxydgehalt mit einer Genauigkeit, welche der 
einen guten Blutgasanalyse mit Hilfe der Quecksilberpumpe gleichkommt, 
zu ermitteln. Unter ihrer Benutzung besteht die Bestimmung der Blutmenge 
eines Menschen oder Tieres aus folgenden Etappen: 

1. Einatmung einer gemessenen Menge von Kohlenoxyd. 

2. Blutentnahme. 

3. Austreibung des Kohlenoxyds aus dem Blute. 

4. Verbrennungsanalyse des ausgetriebenen Kohlenoxyds. 

Ad. 1. Das Versuchsobjekt wird mit Hilfe einer Maske, Trachealkanüle oder eines 
gewöhnlichen Mnndstücks bei verschlossener Nase mit dem nebenstehend skizzierten Atem¬ 
apparat verbunden. Derselbe stellt einen geschlossenen Luftkreislauf dar. Die Inspiration 
erfolgt aus dem ca. 3 l fassenden Gummisack s durch das Inspirationsventil J. Die Exspira¬ 
tionsluft geht durch das Ventil E in die Absorptionsvorrichtung A für die exspirierte Kohlen¬ 
säure. Diesem Zwecke entsprechen die von dem Drägerwerk in Lübeck seinen Rettungs¬ 
apparaten beigegebenen Kalipatronen, welche sehr bequem und ausgezeichnet wirksam sind 
Von hier geht die Luft nach S zurück. Zwi¬ 
schen S und J befindet Bich eine Zuleitung 


für Sauerstoff, zwischen J und M ein enges Fig. 8. 



dem Sack, welchen eine möglichst vollkommene Exspiration vorangehen soll, läßt man langsam 
die in der Bürette bereits genau abgemessene Menge Kohlenoxyd in den Stromkreis eintreten. 

Der Eintritt des Kohlenoxyds ist auf etwa 3 Minuten zu verteilen. Nach Beendigung 
des Einströmens wird noch 3—4 Minuten lang weiter geatmet. Hierbei ist darauf zu achten, 
daß der Sack nicht ganz kollabiert und es ist eventuell neuer Sauerstoff nachzufüllen. 


Digitized by 


Google 



Blutniengenbestiininung beim Lebenden. 


71 


Ad. 2. Bei fortdauernder Atmung werden nun mit Hilfe einer Spritze zirka 5 cm 6 Blut 
entnommen and damit der Atmungsversuch beendet. Es empfiehlt sich, in die Spritze ein 
wenig gepulvertes Ammonoxalat zur Verhütung der Qerinnung zu bringen. Die Gegenwart 
einer kleinen Luftblase in der Spritze schadet nicht. 

Man könnte bei Verwendung einer sehr feingeteilten Spritze diese direkt zum Ein- 
xnessen der Blutproben in die Entwicklungspipette benutzen. Doch ist die Verwendung von 
hierzu genau ausgewogenen Pipetten von 1 cm 8 vorzuziehen. Der Spritzenkolben wird, indem 
man Luft durch den Kauülenansatz nachtreten läßt, bis zur höchsten Stellung emporgezogen, 
dann unter Verschloß der Öffnung mit einem Finger vollends entfernt. Man kann auch, was 
vorzuzieben ist, mit Hilfe einer mit Schlauch versehenen Stichkanüle das Blut direkt in eine 
mit einigen Kristallen von Ammonoxalat oder Hirudin beschickte Eprouvette einfließen lassen. 
Mau muß hierbei nur möglichst die Berührung des Blutes mit der Luft beschränken, indem 
man den Schlauch am Boden münden läßt. 

Ad. 3. Zur Entwicklung des Kohlenoxyds im Verein mit dem im Blute enthaltenen 
Sauerstoff dienen zylindrische Glasgefäße von etwa 15 cw J Inhalt (Fig. 8 P). Diese Ent¬ 
wicklungspipetten sind unten in eine mittelst Kautschukschlauchs und Quetschhahns ver¬ 
schlossene Kapillare ausgezogen. Durch die obere, etwa 3 mm weite Öffnung wird 1 cm* einer 
1 Ammoniaklösung eingefüllt. In die so vorbereitete Entwicklungspipette mißt man 

nun 1 cm* des eben aufgefangenen Blutes ein und mischt durch vorsichtiges Schütteln. Sobald 
das Blut lackfarben geworden, wird 1 cm* gesättigter frischbereiteter Lösung von Ferri- 
cyankalium zugefügt und die Pipette sofort mittelst Kautschukschlauches und Quetschhahns (2) 
oben verschlossen. Nach zirka 1 Minute beginnt die Entwicklung der Blutgase, was man 
durch nicht zu heftiges Schütteln fördert. Es empfiehlt sich, etwa drei solcher Analysen neben 
einander anzusetzen. Es bleibt dann noch genug Blut zur kolorimetrischen Bestimmung des 
Hämoglobingehaltes sowie des spezifischen Gewichtes und eventuell zur Bestimmung der 
Koblenoxydkapazität in einer total gesättigten Probe. Diese letztere Bestimmung sollte 
namentlich in pathologischen Fällen nie unterlassen werden, weil sie im Verein mit der 
kolorimetrischen Bestimmung erkennen läßt, ob das Hämoglobin des Individuums von nor¬ 
maler Beschaffenheit ist. 

Die Gasentwicklung ist nach zirka 1 Stunde sicher beendet. Man erkennt es an dem 
Verschwinden des feinblasigen Schaumes. Man kann nun die Überfüllung der Gase sofort 
vornehmen, aber anch die Probe 24 Stunden und länger verschlossen stehen lassen. 

Ad 4. Zur Bestimmung des Kohlenoxyds dient eine Flasche V von etwa 30 cm 8 In¬ 
halt (Fig. 8). Die Flasche besteht ans zwei durch einen guten Schliff miteinander verbun¬ 
denen Teilen. In den unteren ist eine Platinspirale zur Verbrennung des Kohlenoxyds ein- 
gesehmolzen. Die Spirale besteht aus 01—0 2 mm starkem Draht, während der Zuleitungs- 
draht 0*8—1*0 mm stark ist. Der Widerstand, d. h. die Länge der dünnen Glühspirale ist so 
zu bemessen, daß an dem von der Kalilauge benetzten unteren Ende des dicken Drahtes 
beine Elektrolyse (Gasbläschen) auftritt. Das obere Ende von V geht in eine Kapillare über, 
deren Ende seitlich abgebogen etwa 1 cm tief in V hineinragt. Die Kapillare trägt einen 
Dreiweghabn Z>, durch welchen sie abwechselnd mit den ebenfalls kapillaren Röhren a und b 
in Verbindung gesetzt werden kann. Zum Versuch bringt man in das untere Stück von V 
1—2 cm * 2°/ 0 \ge Kalilauge, fügt dann die schwach nur im oberen Teil der Schliffflächen ge¬ 
fetteten Teile aneinander, sichert die Verbindung mit Hilfe von Gummiringen, die an die 
Glashaken der beiden Stücke befestigt werden, und evakuiert das Gefäß, indem man es mit 
der Kapillare a an eine Wasserstrahlpumpe ansetzt. Hierauf wird a mit der Entwicklungs- 
pipette verbunden. Als Verbindungsstück dient eine Glaskapillare, welche in der Mitte eine 
mit Glasperlen gefüllte kugelige Erweiterung von 1—2 cm 3 Inhalt besitzt. Die Perlen benetzt 
man durch Aufsaugen mit einer Oö%H? en Schwefelsäure, deren Überschuß durch Ausblasen 
entfernt wird. Die Schwefelsäure dient zur Absorption des Ammoniakdampfes, welcher durch 
seine Verbrennung das Resultat fälschen würde. Man läßt nun durch Öffnen von 1 aus dem 
Dreiwegbahn die Verbrennungsflasche mit H a S0 4 kommunizieren. Dann schließt man 1 und 
läßt durch öffnen von 2 einen Teil des Gases durch die Schwefelsäure in die kleine Kugel 
treten. Nach Verschluß von 2 wird dieses Gas in V gesaugt. So fährt man fort, bis an¬ 
nähernder 8pannungsausgleich zwischen P und V erzielt ist. Jetzt erst stellt man freie Kom¬ 
munikation her, damit die Spannung sich vollkommen ausgleiche. Nun wird 2 wieder ge¬ 
schlossen und P behufs Entbindung des in der Flüssigkeit absorbierten Gases geschüttelt, 
abermals Kommunikation bergestellt und nun endlich, durch vorsichtiges öffnen von 3 , aus 
der inzwischen angesetzten Glaskugel VV Wasser in P eingelassen, um den Rest des Gases 
nach V zu bringen. Zweckmäßig läßt man auch bei dieser Manipulation niemals alle Quetsch¬ 
hähne zugleich offen. Nach der Entfernung der Entwicklungspipette wird V mit Hilfe der 
BchliffitÜcke 5, c mit dem Manometerschenkei M verbunden. Das Manometer wird an die 
Wand einer Wasserwanne außen so angehängt, daß sich V im Innern der Wanne unter 
Wasser befindet. Nach einigen Minuten wird dann in V durch Einlasseu von reiner Luft 
Atmosphärendruck hergestellt. Da die Zimmerluft häufig Spuren von Leuchtgas enthält, 
welche das Resultat fälschen würden, und anch ihr hoher C0 2 -Gehalt einige Zeit bis zur 
volleo Absorption brauchen würde, verwendet man zweckmäßig CO a -freie Luft aus dem Freien. 
Dieselbe wird in einer Gaspipette über stark verdünnter Kalilauge bereit gehalten. Statt Luft 
haben Züutz und Plbsch häufig Sauerstoff aus einer Bombe zum Nacbfüllen von V benutzt in 


Digitized by 


Google 



72 


Blutmengenbestimmung beim Lebenden. 


der Hoffnung, dadurch den Verbrennungsprozeß zu beschleunigen. Der so erzielte Vorteil ist 
aber nicht nennenswert, da die Verbrennung ohnedies rasch genug erfolgt. Nunmehr wird I) 
so gedreht, daß a mit b kommuniziert und die Flüssigkeit im Manometerschenkel M auf den 
Nullpunkt eingestellt. Um diese Einstellung zu ermöglichen, ist das Manometergefäß G unten 
durch das Kautschuksäckchen B verschlossen, dessen Volum mit Hilfe der Messingfeder und 
Stellschraube S fein geändert werden kann. Nach Einstellung des Manometers auf den Null« 
punkt setzt man es durch Drehung von D mit V in Verbindung und wartet nun unter öfterem 
Mischen des Wassers in der Wanne, bis das Manometer einen unveränderlichen Stand zeigt 
oder sich in genau gleichem Maße wie das danebenhängende Thermobarometer ändert. 

Als Thermobarometer dient ein dem eben beschriebenen ganz gleiches System. Nach 
Ablesung des immer wieder im Schenkel M auf 0 eingestellten Manometers am Apparat und 
am Thermobarometer und der Temperatur des Wassermantels schreitet man zur Verbrennung 
des Kohlenoxyds, indem man die Platinspirale bis fast zur Weißglut durch einen entsprechend 
abgestuften elektrischen Strom erhitzt. Wir bedienen uns hierzu in der Regel des Straßen¬ 
stroms von 110 Volt Spannung unter Einschaltung eines Lampenwiderstands aus fünf Glüh¬ 
lampen, welche man je nach der Dünne des Platindrahtes 10—2ökerzig wählt. Wir haben 
auch wiederholt statt des Straßenstromes einen zweizeiligen Akkumulator resp. zwei große 
BunBen-Elemente benutzt. Wahrscheinlich würde auch eine kräftige Thermosäule gute Dienste 
tun. Mit dem Erglühen des Platindrahtes dehnt sich die erwärmte Luft in V aus und drückt 
die Flüssigkeit im Manometerschenkel M herunter. Die kugelige Erweiterung I des Mano¬ 
meterschenkels M nimmt die aus V verdrängte Luft auf, während das Wasser in die kugelige 
Erweiterung 11 des Manometerschenkels N emporsteigt. Die Erweiterungen müssen etwa ein 
Drittel des Inhaltes von V fassen. Der Druck des Gases in V steigt vermöge dieser Ein¬ 
richtung beim Glühen nur um etwa 15 cm Wasser. Wir hatten anfänglich das Entweichen 
von Gas aus V durch Absperren von D verhindert, hierbei aber gelingt es nicht, die Schliffe 
derart zu sichern, daß sie den Überdruck zuverlässig aushielten, so daß häufig Gasverluste 
eintraten. Nach etwa 20 Sekunden Glühens unterbricht man den Strom so lange, bis das Gas 
der Hauptmasse nach wieder in V zurückgekehrt ist, was in 10—15 Sekunden geschieht. 
Dann glüht man abermals 20 Sekunden lang und wiederholt dieses Spiel etwa 20ma1. Nun 
wird genau wie anfangs der Temperaturansgleich abgewartet und abgelesen, nachdem man 
durch Benetzung der Wand mit der Kalilauge für vollkommene Absorption der Kohlensäure 
gesorgt hat. Hierauf wird durch Wiederholung des Glühens kontrolliert, ob die Verbrennung 
vollendet war, was meist der Fall ist. Man kann sehr wohl 2—3 Verbrennungen gleichzeitig 
ausführen, indem man die Platinspiralen hintereinander in denselben Stromkreis schaltet. 
Notwendig ist es auch, das Thermobarometer geoau wie die eigentlichen Verbrennungsge¬ 
fäße einzurichten und mit diesen zu erhitzen, um alle Bedingungen möglichst gleichmäßig 
zu haben. 

Es verbrennt nämlich regelmäßig beim Glühen ein wenig Stickstoff der Luft, wie 
wir durch das Auftreten von Salpetersäure in der Kalilauge nach längerem Gebrauch nach.- 
weisen konnten. Die Größe dieses Fehlers ist in den verschiedenen Apparaten gleich, wenn 
die Glühspiralen gleich lang und aus gleichem Draht sind und die Verbrennungsgefäße an¬ 
nähernd gleichen Inhalt haben. Man muß sich, ehe man die Gefäße in Benutzung nimmt, 
überzeugen, daß ihre Manometer nach längerem Glühen parallel gehen. 

Erhebliche Fehler können entstehen, wenn die Luft des Zimmers brennbare Gase 
(Leuchtgas) enthält. Es empfiehlt sich deshalb, sowohl die Füllung der Entwicklungspipette P 
wie auch den Druckausgleich in V am offenen Fenster vorzunehmen oder besser (in der 
pag. 71 beschriebenen Weise) C0 2 -freie Außenluft zu benutzen. Nach dem Druckausgleich 
ist die etwa in V und im Thermobarometer noch vorhandene Luftkohlensäure durch leises 
Schütteln des Gefäßes zur Absorption zu bringen 

Der größte Fehler kann entstehen, wenn das Gefäß V verunreinigt ist und so beim 
Glühen eine Verbrennung organischer Stoffe vor sich geht. Natürlich wird hierbei der im 
Gefäß enthaltene Sauerstoff dazu verbraucht, wodurch ebenfalls das Gasvolum im System 
abnimmt und auf diese Weise Kohlenoxydverbrennung Vortäuschen kann. Es ist deshalb naeh- 
drücklichst zu betonen, daß vor jedem Versuch die Gefäße auf das peinlichste gesäubert 
werden müssen. Es ist am besten, mit einem Gemisch von Alkohol, Kalilauge und Äther zu 
waschen und dann gründlich das Gefäß mit Wasser nachzuspülen, dann im Trockenschrank 
zu trocknen. Zur Sicherheit, daß nunmehr keine brennbaren Stoffe im Gefäße vorhanden 
sind, soll vor jedem Versuch eite Zeitlang die Spirale unter Beobachtung des Manometers 
geglüht werden. 

Zur Berechnung der Resultate ist es notwendig, den Rauminhalt des 
Verbrennungsgefäßes einschließlich der Glasröhren bis zum Nullpunkt des 
Manometerschenkels M zu kennen. Durch Wasserwägung läßt sich die Kali¬ 
brierung mit mehr als nötiger Genauigkeit ausführen. 

Bei der Verbrennung verbinden sich zwei Volumina CO mit einem 
Volum Sauerstoff zu C0 2 , welche absorbiert wird. Die Abnahme des Gases 
ist also mit 2 / s zu multiplizieren, um das CO zu finden. Da durch die 


Digitized by 


Google 



Bl u t mengen best imnmng beim Lebenden. 


73 


Einstellung des Manometers dafür gesorgt ist, daß der dem Gase 
zur Verfügung stehende Raum konstant bleibt, prägt sich die 
Änderung der Gasmenge ausschließlich im Druck aus. Die unver¬ 
meidlichen Änderungen der Temperatur und des äußeren Luftdruckes wirken 
auf die Manometer des Verbrennungsapparates und des Thermobarometers 
in gleichem Maße. Man braucht daher nur die Druckänderung des Thermo- 
barometers von der des Manometers abzuziehen, um die durch die Ver¬ 
brennung bewirkte Druckänderung zu finden. Betrage nun diese Druck¬ 
änderung a mm , das Kaliber des Verbrennungsgefäßes mit Einschluß des an¬ 
grenzenden lufthaltigen Manometerschenkels bis zum Nullpunkt v cm 3 , die 
Anfangstemperatur, gemessen im Wasser der Wanne, t°, so ist das auf 0° 
760 mm Hg Druck und Trockenheit reduzierte Volum des Kohlenoxyds gleich: 

2 va 

3 X 760 X 13*65 X (1 + 0*0367 tj 

oder vereinfacht: 

va 

15.561 (1 + 00367 t 

Zur Erleichterung der Rechnung sei in der folgenden Tabelle der Wert von 

——-— x für die praktisch wichtigen Temperaturen zwischen 12 
15.561 (1 + 0 0367 t) F F 

und 22° angegeben. 

Die Zahlen lauten: 

Tabelle I. 


Temperatur °C 

Numerus 

Logarithmus j 

Differenz für 1° 

12 

j 0*0000616 

5-78927-10 


13 

0 0000613 

5-78775 

152 

14 

0*0000611 

578623 

152 

15 

0 0000609 

5-78472 

151 

16 

0-0000607 

578321 

151 

17 

0-0000605 

5-78171 

150 

18 

0 0000603 

5‘78021 

150 

19 

0-0000601 

5-77872 

149 

20 

00000599 

577723 

149 

21 

| 0 0000597 

5-77575 

148 

22 

| 0-0000595 

5-77427 

148 


Die Brauchbarkeit dieser Kohlenoxydinhalationsmethode hängt nun im 
wesentlichen von folgenden Fragen ab: 

1. Hat die Inhalation nachteilige Folgen für den Patienten und wieviel 
Kohlenoxyd kann man ohne Gefahr von einem Patienten einatmen lassen? 

2. Ist das absorbierte Kohlenoxyd nur auf das Blut zu beziehen? 

Was die erste Frage betrifft, so weiß man nach den Untersuchungen 

von Zuntz, Donders, daß außer der Bindung des Hämoglobins unter Aus¬ 
treibung des Sauerstoffs und der daraus resultierenden vorübergehenden 
Unbrauchbarkeit der roten Blutköperchen, das Kohlenoxyd nicht spärlich auf 
den Organismus einwirkt, daß ferner die toxische Dosis (nach Plesch u. a.) 
erst eintritt bei J / 3 -Sättigung des Gesamtblutes und daß 150—170 r/n 3 CO 
beieinemca. 70% schweren gesunden Menschen sich durch keinerlei 
Symptom weder subjektiv noch objektiv bemerkbar machen. 

Um die zu inhalierende Kohlenoxydinenge approximativ zu bestimmen, nimmt man 
an, daß die Blutmenge beim Menschen 5°/ 0 des Körpergewichts beträgt, das wäre bei einem 
70 kg schweren Individuum 3500 cm 3 . Es wird datn die Hiimoglobinkonzentration des Blutes 
bestimmt, welche nach irgend einem gebräuchlichen klinischen Hämoglobinometer 100 zeigen 


Digitized by 


Google 



74 Blutmengenbestimmung beim Lebenden. — Blutuntersuchung. 

soll. Das entspricht einem Gehalt von etwa 14 g Hämoglobin in 100 Blut. Das gesamte Blut 
3oOO * 14 

wird daher -— = 490 g Hämoglobin enthalten. Da im Mittel 1 g Hämoglobin 1*34 an* 

Kohlenoxyd zu binden fähig ist, so wird das Gesamtblut 490 X 1'34 = 656*6 cm* Kohlenoxyd 
zur totalen Sättigung brauchen. Von dieser Menge kann man im Minimum */ 4 inhalieren 
lassen, ohne irgend welchen Schaden anzurichten. Wir werden somit 164 cm 8 auf 0° 760 mm 
Druck und Trockenheit reduziertes Kohlenoxyd geben können. In Fällen, bei denen ein ver¬ 
minderter und eventuell veränderter Farbstoffgehalt des Blutes vorhanden ist, ist es zweck¬ 
mäßiger, statt der Hämoglobinbestimmung die Sauerstoffkapazitätsbestimmung (s. d.) auszu¬ 
führen, die uns direkt zeigt, wieviel Volumprozent Gas das Blut zu binden fähig ist. Nehmen 
wir in unserem Falle die Sauerstoffkapazität des Blutes mit 18'5 Volumprozent an, so werden 

18’5 X 3500 

wir, um ca. */ 4 der Gesamtblutmenge zu sättigen, - — ^qq ~ =161 cm* inhalieren lassen können. 

Diese Art des Überschlagens ist besonders bei Anämien anzuwenden, weil wir doch wissen, 
daß das Blut bei verschiedenen Krankheiten eine verschiedene Bindungsfähigkeit besitzt. 

Das Kohlenoxyd wird, sobald die Versuchsperson frische Luft zu atmen anfängt, so¬ 
fort abgegeben. Die Abgabe ist viel langsamer als die Aufnahme. 

Was die zweite Frage anbetrifft, so ist es sicher, daß die größte Menge des Kohlen¬ 
oxyds an das Hämoglobin gebunden ist und mit ihm in der Blutbahn kreist. Nur ein kleiner 
Teil wird von der Blutflüssigkeit physikalisch absorbiert. Eine Oxydation des CO zu CO, 
im Körper kommt nicht in Frage. 

Was die Genauigkeit dieser Methodik anbetrifft, so erhält man mit 
ihr nach Plesch außerordentlich exakte Werte. 

Plesch fand nun mit diesen beiden Methoden, daß die bisherige An¬ 
nahme, die Blutmenge des Menschen betrage Vis des Körpergewichts, irrig 
ist und daß sie beim normalen Menschen 5-3% = 7,9 des Körpergewichts 
beträgt, wobei ein wesentlicher Unterschied zwischen Männern und Frauen 
nicht besteht. 

Nur bei Fettleibigen fand Plesch die Blutmenge im Verhältnis zum Körpergewicht 
verringert. 

Nach chronisch wiederkehrenden und ausgiebigen Blutungen zeigte sich die Gesamt¬ 
blutmenge verringert, bei Chlorosen dagegen bis auf den doppelten Wert des normalen 
vermehrt. Bei Nephritis ohne ödem fand Plesch eine Erhöhung bis zu 10’8°/ 0 der normalen 
Blutmenge. 

Literatur: Plesch, Hämodyn. Stadien. Hirschwald 1909. Bragach . 

Blutuntersucliuiig. Es ist ein großer Übelstand aller bisher zur 
Hämoglobinbestimmung und Blutkörperchenzählung benutzten Pipetten, daß 
die Abmessung des aufgesaugten Blutquantums mehr oder weniger von der 

Fig. 9. 


A B C 



Geschicklichkeit des Untersuchenden abhängt. Die bisher angegebenen Appa¬ 
rate, um eine exakte und mechanische Abmessung des Blutes zu ermög¬ 
lichen, der WiECKsche Sauger und die MAYsche Pipette scheinen keinen 
Eingang in die Praxis gefunden zu haben. Ref. hat zur Hämoglobinbestim¬ 
mung wie zur Zählung Pipetten konstruieren lassen, welche von der Firma 
Leitz in den Handel gebracht werden und deren Konstruktion aus neben¬ 
stehender Abbildung ersichtlich ist. Die zum Gebrauche bei dem Gowers- 
schen Hämoglobinometer bestimmte Pipette (Fig. 9) besteht aus 3 Abschnitten: 
Der Teil A dient zur Aufnahme des Blutes und enthält genau V20 cm 3 . Der 
Teil B ist ein Hohlzylinder, in welchem ein doppelt durchbohrter Hahn dreh¬ 
bar ist. Der Teil C besteht aus einer U-Röhre, die mit einem kleinen Glas¬ 
ansatz kommuniziert, welcher den zum Saugen bestimmten Gummischlanch 


Digitized by 


Google 



Blutuntersuchung. — Bolus. 


75 


trägt. Je nach der Stellung des Hahnes kommuniziert nun die eine oder die 
andere der letztgenannten beiden Glasröhren mit dem Abschnitt A. Wenn 
ich nun Blut aufsauge, so muß dasselbe durch A aufsteigen und mindestens 
bis in die Hahnbohrung hineingehen. Dreht man jetzt den Hahn um 90°, so 
ist, wie man gleich sieht, in A genau ^20 mit absolutester Genauigkeit 
abgeschlossen und kann nicht abfließen. Man hat jetzt Zeit, die Pipetten¬ 
spitze von derselben etwa außen anhaftendem Blut zu säubern. Dreht man 
nun den Hahn um weitere 90°, so kommuniziert jetzt die andere U-Röhre 
mit A und man pustet nun das Blut in das Miscbgefäß des Hämoglobino¬ 
meters. Die ganze Prozedur dauert wenige Sekunden und ist mit keinerlei 
Schwierigkeiten verbunden. Der Teil A ist so lang gemacht, daß man da¬ 
mit bis fast auf den Boden des Mischgefäßes des Hämoglobinometers in 
die daselbst vorher vorschriftsmäßig hineingegossene l / 10 ’Normalsalzsäure 
taucht. 

Nach demselben Prinzip ist die Zählpipette konstruiert (Fig. 10). Der 
Abschnitte, der oben durch den Hahn abgeschlossen wird, dient zur Auf¬ 
nahme des Blutes. Der doppelt durchbohrte Hahn B gleicht in jeder Weise 
demselben Abschnitt der erstbeschriebenen Pipette, der Teil C l des U-för- 
migen Rohres trägt die zur Verdünnung des Blutes dienende Ampulle, die 
eine die Mischung befördernde Glasperle enthält. Bei der Pipette für weiße 
Blutkörperchen ist die Ampulle + der Hahnbohrung lOmal, bei der für rote 


B 


Fig. 10. 



lOOmal so groß wie der Teil A. Zuerst erfolgt die Aufsaugung der Misch- 
flfissigkeit bis x; dann dreht man den Hahn um 180°, so daß C und A 
kommunizieren, und bläst den Rest Mischflüssigkeit aus A heraus. Dann er¬ 
folgt erst die Aufsaugung des Blutes. Nachdem das Blut bis in die Hahn- 
bohrung oder in C hinein gelangt i9t, dreht man den Hahn um 90° und 
pustet Mischflüssigkeit und Blut in ein kleines, der Pipette beigegebenes 
Miscbgefäß. Nach gehöriger, durch wiederholtes Ansaugen und Auspusten 
bewirkter Mischung erfolgt die Beschickung der Zählkammer. Während so 
die Abmessung des Blutquantums rein mechanisch erfolgt, muß man durch 
Regulierung seiner Saugkraft dafür sorgen, daß die Verdünnungsflüssigkeit 
nur bis zur Marke 11 bzw. 101 (am Teilstrich x) ansteigt. Das bereitet 
aber keine Schwierigkeiten mehr, da man ganz langsam und exakt saugen 
kann. Demgegenüber ist es ja viel wichtiger, daß die Abmessung des 
Blutes sehr schnell geschieht, weil sonst eine Gerinnung desselben zu be¬ 
fürchten ist. Sollte man wirklich mal eine Spur Verdünnungsflüssigkeit mehr 
oder weniger einsaugen, so ist der dadurch bedingte Fehler natürlich ein 
weit geringerer als der, welcher durch eine ungenaue Abmessung des 
Blutquantums, die durch diese Pipette absolut ausgeschlossen wird, bedingt ist. 

Literatur: Berliner klin. Wochenschr., 1908, Nr. 2 und 1909, Nr. 10. 

Hans Hirschfeld (Berlin), 


Bolus« Im weiteren Ausbau seiner Bolustherapie, über welche in 
Eülencurgs Encyclopädischen Jahrbüchern, XVI, 7. Jahrg., 1909, pag. 99, 
berichtet wurde, bat Stumpf die Diphtherie dieser Behandlung unterworfen. 


Digitized by 


Google 



76 


Bolus, — Brom. 


Er berichtet Ober 15 Fälle, die ausschließlich eine Aufschwemmung von 125^ 
Bolus auf */ 4 l frisches Wasser alle 5 Minuten in der Menge von 1 Tee« 
löffei bis 2 / 2 Kinderlöffel erhielten, folgendes: »Schon nach ganz kurzer Zeit 
verschwindet der üble Geruch im Munde, nach 2—3 Stunden beginnen Fieber 
und Pulszahl langsam zu sinken, gleichzeitig geht allmählich die Drüsen¬ 
schwellung, und zwar oft ganz Überraschend schnell zurück. Diesem Rück¬ 
gang der Krankheitserscheinungen entsprechend sistiert fast mit Beginn der 
Behandlung die Zunahme der Beläge; schon nach ungefähr 10 Stunden bricht 
der diphtheritische Rasen au einzelnen Stellen ein, er zerklüftet sich, zwischen 
den nunmehr inselförmigen Belagpartien wird die eigenartig glänzende und 
intensiv gerötete Rachenschleimhaut sichtbar. Schon nach 36 bis längstens 
48 Stunden wird, wenn man die Behandlung nicht vorzeitig unterbricht, 
völlige Heilung beobachtet.« Alle Fälle waren ziemlich schwere Rachen¬ 
affektionen. Einmal traten später diphtheritische Lähmungen auf. Ein fer¬ 
nerer Patient starb 8 Stunden nach Beginn der Bolusbehandlung an Herz¬ 
paralyse, nachdem er vorher eine Serumeinspritzung erhalten hatte. Das 
Hauptgewicht ist auf möglichst häufiges Eingeben der Aufschwemmung zu 
legen. Die Mundschleimhaut wird dadurch nicht im geringsten irritiert. 

Literatur: Stumpf, Über Bolasbehandlung bei Diphtherie. Münchener med. Wochen¬ 
schrift, 1908, Nr. 22, pag. 1181. E. Frey. 

Brom. Ein dankenswerter Bericht über eine Reihe von Arbeiten 
über die Wirkung der Bromsalze, die in dem CLOETTAschen Institut ausge¬ 
führt wurden, liegt von H. v. Wyss vor. Bekannt ist, daß es bei dauernder 
Bromdarreichung zu einer Retention des Broms kommt. Dies könnte nun 
einmal daran liegen, daß der körperfremde Stoff irgendwo fixiert wird, eine 
Bindung mit Teilen des Zellprotoplasmas eingeht, oder der Grund für das 
Zurückhalten des Broms könnte auf einer Unfähigkeit der Niere beruhen, 
das frei im Blute zirkulierende Brom zu eliminieren. Die Experimente haben 
die zweite Frage bejaht. Der Bromgehalt von Organen, welche mit isotoni¬ 
scher Traubenzuckerlösung durchspült wurden, war auch dann gleich Null, 
wenn dem Organismus vorher große Mengen von Brom zugeführt waren. 
Dagegen erwies sich das Blut sehr bromreich, und zwar ist das Brom im 
Serum in freiem, ionalem Zustande enthalten, also nicht in Bindung an Ei¬ 
weiß und nicht in den Blutkörperchen gespeichert. Die Ausscheidungsgröße 
des Broms mit dem Harn nimmt bei dauernder Zuführung anfangs im all¬ 
gemeinen zu, stellt sich aber dann nicht auf die Größe der täglichen Zufuhr 
ein, sondern weist große Schwankungen auf. Während aber die Totalbrom¬ 
ausscheidungszahlen eine Regelmäßigkeit vermissen lassen, geht die prozen¬ 
tuale Ausscheidung der Zufuhr dem Aussetzen etc. parallel. Es erweist sich 
somit die Bromausfuhr der Wasserausfuhr parallel, das Brom scheint passiv 
mit dem Wasser durch die Niere eliminiert zu werden. In bezug auf die 
Ausscheidung durch die Niere fällt also das Brom aus der Halogenreihe 
heraus, verhält sich nicht so wie Chlor oder Jod, die z. B. nach intravenöser 
Injektion rasch in den Harn übertreten, sondern wird im Körper zurück- 
gehalten. Auch große Theobromingaben vermehren die Ausfuhr von Brom 
nicht, während sie die Chlorausfuhr steigern. Der Verfasser schließt also 
daraus, daß sich das Zellprotoplasma vollkommen indifferent den Bromionen 
gegenüber verhält. Auch Kochsalzzufuhr beschleunigt die Abgabe von Brom 
nicht, letztere wird lediglich durch die Eigenkonzentration des Broms be¬ 
stimmt. Man kann also durch dauernde Zufuhr sehr großer Bromdosen eine 
Anhäufung von Brom im Blut und eine Verdrängung des Chlors herbei¬ 
führen. Kaninchen, welche 2 g Bromnatrium täglich erhalten, zeigen während 
der ersten 6 Tage nichts abnormes, später treten Gleichgewichtsstörungen 
auf, dann zeigt sich eine starke Reflexübererregbarkeit und unter zu¬ 
nehmender Lähmung erfolgt der tödliche Ausgang. Dieser Ausgang ist auch 


Digitized by 


Google 



Brom. — Bromural. 


77 


in extremis noch durch intravenöse oder subkutane Zufuhr von Chlorsalzen 
zu verhindern, schon nach 24 Stunden sind die Tiere wieder munter und 
durchaus normal. Das Blut solcher vergifteter Tiere zeigt eine Verminderung 
der Chlormenge um zwei Drittel gegenüber der Norm und einen Ersatz des 
fehlenden Chlors durch Brom; das Gehirn hat kein Brom gespeichert. Ver¬ 
giftet man ein Tier akut mit großen Bromdosen intravenös, so beobachtet 
man immer eine Latenzzeit bis zum Auftreten von Vergiftungserscheinungen. 
»Wir konstatieren also, daß der Chlormangel im Blute als die einzig auf¬ 
zufindende Veränderung das wesentliche Moment der Bromvergiftung ist 
und nicht die direkte Beeinflussung der Zellen durch die Bromionen; sonst 
könnten wir uns die Latenzzeiten nicht erklären und zumal die rasche Ge¬ 
nesung durch Cl-Zufuhr.« Daß die Vergiftungserscheinungen, welche nach 
Chlorentziehung bei Tieren auftreten, besonders die Ernährungsstörungen, 
bei der Chlorentziehung durch Bromdarreichung nicht zur Beobachtung ge¬ 
langen, liegt nach dem Verfasser daran, daß Brom »trotz seines teilweise 
abweichenden Verhaltens ein Halogen bleibt und, zum Teil jedenfalls, nament¬ 
lich bei langsamer Einführung, die Pflichten des Chlors zu übernehmen 
vermag«. 

Durch zahlreiche Untersuchungen bei Epileptikern stellte v. Wyss fest, 
daß letztere nicht etwa ein größeres Aufspeicherungsvermögen für Brom 
besitzen; auch die Analyse des Gehirns einer jahrelang mit Bromkalium ge¬ 
fütterten Epileptika zeigte keinerlei Bindungskraft für Brom. Daß es auch 
hier die Chlorverminderung im Blute ist, welche den Erfolg der Brombehand- 
lung ausmacht, geht aus der Möglichkeit hervor, den Epileptiker durch 
kochsalzarme Diät anfallsfrei zu machen. 

Der Verfasser kommt zu folgenden Schlüssen: »Die Herabsetzung des 
Chlorgehaltes im Blute ist das heilsame Prinzip zur Unterdrückung der 
Krampfanfälle bei der Epilepsie. Sie wird erreicht durch systematische Brom¬ 
darreichung einerseits, kochsalzlose Nahrung andrerseits. Abgesehen von 
gewissen Spezialfällen, verdient die Brombehandlung den Vorzug, speziell in 
Kombination mit einer Kost, deren Salzgehalt vermindert ist. Der Bromis¬ 
mus ist die Summe der Störungen im Zellstoffwechsel infolge von dauernder 
Unterchlorierung des Organismus, keine spezifische Folge der Bromdarreichung. 
Die Kombination von Bromdarreicbung und kochsalzloser Diät kann in Fällen, 
wo es darauf ankommt, die Unterchlorierung rasch zustande zu bringen und 
auf intravenöse Applikation des Broms verzichtet wird, gute Dienste leisten, 
ist aber nur im Anfang der Behandlung empfehlenswert.« 

Wenn somit der Verfasser die Verdrängung des Chlors durch das Brom 
für das Wesentliche bei der Heilwirkung sowohl wie bei der Giftwirkung 
des Broms hält, so muß es wundernehmen, daß man Brom als Sedativum 
gibt Um diesen Widerspruch aufzuklären, hat v. Wyss an sich selbst und 
anderen Personen die Wirkung großer Bromgaben (15 g Broranatrium inner¬ 
lich, 25 g innerlich, bg intravenös) beobachtet und keinerlei schlafmachende 
Wirkung gesehen. »Die oft gerühmten Erfolge (der schlafmachenden Wirkung 
der einzelnen Bromdose) sind gewiß teilweise der mächtigen, durch Jahre 
großgezogenen Suggestion, die das Wort Brom allein in sich schließt für eine 
Unzahl von Individuen zuzuschreiben.« 

Von den Brompräparaten hält v. Wyss das Bromnatrium für das beste 
der Salze; die neuen organischen Brompräparate enthalten zu wenig Brom, 
so daß ihnen eine ernstliche Bedeutung nicht zukommt. 

Literatur: H. y. Wyss, Über die therapeutische Anwendung' der Bromsalze auf ex¬ 
perimenteller Grundlage. Med. Klinik, 1908. Nr. 47, p ig. 1794. E. Frey. 

Bromural« x-Monobromisovalerianylharnstoff, Bromural genannt, 
stellt ein sehr milde wirkendes Schlafmittel dar, wie schon in Eulexburgs 


Digitized by 


Google 



78 


Bromural. 


Encyclopädischen Jahrbüchern (XV, N. F., 6. Jahrg., 1908, pag. 99) berichtet 
wurde. Übereinstimmend haben alle Autoren beobachtet, daß das Mittel bei 
Schlaflosigkeit infolge von Schmerzen, Husten etc. im Stiche läßt, daß es 
aber als Beruhigungsmittel bei leichteren Fällen von Agrypnie zu schnellem 
Einschlafen verhilft. Einen langdauernden Schlaf fuhrt Bromural, auch wenn 
man die Dosis steigert, nicht herbei. Nebenwirkungen und insbesondere 
Nachwirkungen scheinen nicht aufzutreten. Mampell ] ) war mit dem Erfolg 
bei Schlaflosigkeit leicht neurasthenischer Personen, bei der durch Über¬ 
arbeitung entstandenen Agrypnie oder bei sonstigen nervösen Zuständen sehr 
zufrieden. Auch in Faßen von Keuchhusten hat er von der Verabfolgung 
von Bromural in Kombination mit Chininum tannicum Gutes gesehen. Des¬ 
gleichen sah Bernstein 2 ) bei Geisteskranken und Epileptikern keinen Er¬ 
folg, wohl aber »bei Schlaflosigkeit infolge von Herzklopfen, innerer Unruhe, 
Angst, aufdringlicher Gedanken, Sorgen oder intellektueller Erregbarkeit, 
z. B. infolge Spätarbeitens.« Auch eine beruhigende Wirkung soll in diesen 
Fällen dem Mittel zukommen. Gegen Seekrankheit hat Hoffmanx s ) Bromural 
angewandt und in leichteren Fällen bei kurzer Überfahrt Erfolge davon ver¬ 
zeichnen können. Zum Teil handelte es sich dabei um Leute, die schon 
wochenlang vorher sich das drohende Schreckensgespenst der Seekrankheit 
recht grausig ausmalten. In solchen Fällen war die Wirkung des Mittels oft 
verblfiffend, vielleicht kommt hier ein psychischer Einfluß hinzu. 

Literatur: l ) Mampell, Über Bromural. Med. Klinik, 1908, Nr. 25, pag. 952. — 
*) Berkstkin, Bromural als Hilfsmittel in der Psychotherapie. Moderne Psychiatrie, Mai 1909, 
pag. 225—229, zitiert nach Referat der Firma KnoU & Ko. — *) Hofpmann, Bromural gegen 
Seekrankheit. Münchener med. Wochenschr., 1908, Nr. 48, pag. 2492. E. Frtj. 


Digitized by ^.ooQle 



c 


Cardio ton in. Unter diesem Namen kommt ein Konvallariapräparat. 
in den Handel, welches von Boruttau fortlaufend auf seine Wirksamkeit 
resp. die Konstanz derselben geprüft wird. Diese Prüfung erstreckt sich in 
drei Richtungen: Erstens wird der Versuch am Froschherzen angestellt zur 
Kontrolle des Eintrittes des systolischen Stillstandes. Zweitens werden im 
Versuche am Warmblüter die Form und Größe der pulsatorischen Druck¬ 
schwankungen mit einem elastischen Manometer aufgezeichnet und drittens 
wird ein Versuch am isolierten Warmblüterherzen angestellt. Das Präparat 
der Firma Degen & Kutte ist so eingestellt, daß 0 2 cm 3 die wirksame und 
0*5—0*6 cm 1 die tödliche Dosis pro Kilo Kaninchen darstellt. Außerdem ist 
jedem Kubikzentimeter 0 025 g Koffein zugesetzt, in Lösung erhalten durch 
0*03 g Na benzoicum. Für den Menschen wäre nach Boruttau 1 cm 3 die 
Anfangsdosis innerlich. Über die klinische Prüfung will der Autor später be¬ 
richten. 

Literatur: Boruttau, Über die Einstellung und Kontrollierung der Herzwirkung von 
Konvallariapräparaten. Die Therapie der Gegenwart, Dezember 1908, pag. 547. E. Frey. 

Chrom. Auf eine eigenartige Braunfärbung der Hornhaut durch 
Chrom macht Bayer x ) aufmerksam. Die Affektion ist in der Literatur sehr 
selten erwähnt worden. Bayer konnte 3 Fälle beobachten. Es handelte sich 
um Arbeiter aus einer Stückfärberei, in der sich Dämpfe entwickelten, 
welche Chrom enthielten. Es hatte sich im Lidspaltenbezirk ein reizloses, 
flaches, rundliches Geschwür entwickelt, welches eine Braunfärbung zeigte. 
Diese Geschwüre zeigten eine sehr geringe Heilungstendenz, die Braunfär¬ 
bung scheint dauernd zu sein. In den Fabriken, in denen mit Chrompräpa¬ 
raten gearbeitet wird, leiden die Arbeiter sonst an schlecht heilenden Ge¬ 
schwüren der Haut, der Nasenschleimhaut, an entzündlichen Erscheinungen 
des Kehlkopfes, der oberen Luftwege. Verwendung finden die Chrompräpa¬ 
rate in vielen Betrieben. »Das Kaliumbichromat dient zur Darstellung der 
meisten übrigen Chrompräparate, als Beize für die Türkischrotfärberei, zur 
Bildung vieler Chromfarben auf der Faser, in der Zeugdruckerei zur lokalen 
Zerstörung mancher Farbstoffe, dem sog. Emballagedruck, zum Schwarz¬ 
färben von Wolle in Verbindung mit Fernambukholz, in der Photographie 
beim Kohle- oder Pigmentprozeß, zur Herstellung der Hektographenmasse, 
zur Unlöslichmachung des Leims bei der Fabrikation wasserdichter Zeuge, 
zur Bereitung von chromgarem Leder. Ferner findet es zum Bleichen der 
Fette (namentlich des Palmöls), zur Reinigung der Essigsäure aus Holz¬ 
essig, zum Beizen von Metallen, zum Ätzen von Kupfer auf nicht angreif¬ 
barem Untergründe, von Eisen und Stahl, zum Färben des Holzes in der 
Tischlerei, als Oxydationsmittel in der Teerfarbenindustrie, bei schwedischen 
Zündhölzern, bei Tauchbatterien usw. Verwendung.« 

Literatur: *) Bayer, Die Braunfärbung der Hornhaut durch Chrom. Med. Klinik, 1908, 
Nr. 51, pag. 1948. E. Frey. 


Digitized by 


Google 



80 


Chrysarobin. — Contractur (Kontrakturen). 


Chrysarobin« Die innerliche Einnahme von Chrysarobin hat. wie 
Friedrich berichtet, in 4 Fällen zu Vergiftungen geführt. Durch Verwechs¬ 
lung erhielten 3 Knaben von 3, 5 und. 7 Jahren eine Messerspitze Chry¬ 
sarobin. Aach die Matter nahm etwas weniger davon. Bei den 3 Kindern 
trat sofort starkes Erbrechen auf. die Mutter klagte nur über geringe 
Magenschmerzen. Eine ausgiebige Magenspülung förderte noch große Mengen 
Speisebrei zutage. Im Harn der Kinder konnte am folgenden Tage Cbry- 
sophansaure nachgewiesen werden; sonst waren pathologische Bestandteile 
darin nicht vorhanden. Schon am anderen Tage war das Befinden zufrieden¬ 
stellend, die Kinder hatten gut geschlafen. 

Literatur: Fkicdeich, Über CbrysarobrnvergiftoDg bei interner Amreadao?. Med. 
Klinik. 190^, Sr. 49, pag. 1870. E Fr*y. 

Contractur (Kontrakturen). Unter Kontrakturen be¬ 
zeichnet man Gelenkstell an gen mit verminderter oder aufgehobener Be¬ 
wegungsfähigkeit, wobei die Behinderung der Bewegung durch Schrumpfung 
von Weichteilen hervorgerufen wird, die meist einer bestimmten Muskel- 
grnppe entsprechen. Je nach der Stellung, die das betreffende Gelenk oder 
ein ganzer Gelenkkomplex angenommen hat, spricht man von Beuge-, 
Streck-, Ab- und Ad duktionsko Direktoren. von Rotations-, Pro- und Sapina- 
tionskontrakturen. Die Gelenkflächen können dabei in normaler Weise einander 
gegenüber liegen oder sich in dem Zustande der Luxation oder Subloxation 
befinden. 

Man spricht auch von Kontrakturen des Kopfes, des Rumpfes, der 
Schulter usw. 

Im Gegensatz zu den Kontrakturen stehen die Ankylosen, bei denen 
die Bewegungsfähigkeit durch fibröse oder knöcherne Verwachsungen der 
Gelenkflächen aufgehoben ist. Volkmann unterscheidet 4 Hauptarten der 
Ankylosen and Kontrakturen, je nach dem Sitze der die Bewegung auf¬ 
hebenden pathologischen Gewebsveränderungen: 1. die durch Synechie der 
Gelenkflächen bedingte eigentliche Ankylose; 2. die durch krankhafte Ver¬ 
änderungen der umgebenden Weicbteile hervorgerufene Rigiditas articuli; 
3. die Knochenbrückenankylose, und 4. die Ankylose infolge veränderter 
Form der Gelenkflächen. Den Zustand, bei dem die Beweglichkeit eines Ge¬ 
lenks durch Muskelaktion reflektorisch aufgehoben ist, wie z. B. bei der 
Koxitis und Spondylitis, bezeichnet Albert als Gelenksperre. 

Die Kontrakturen können angeboren und erworben sein. 

Angeborene Kontrakturen beruhen zum Teil auf Bildnngsfehlern, 
zum Teil sind sie die Folgen intrauteriner mechanischer Einwirkungen. Sie 
finden sich mit und ohne gleichzeitigen Defekt von Knochenteilen. So ist 
stets die Defektbildung am Radius und an der Ulna mit Abweichungen nach 
der Radial- resp. Ulnarseite, der Defekt des Schienbeins mit Klnmpfuß, der¬ 
jenige des Wadenbeins mit Plattfußbildung vergesellschaftet. In einem von 
Schwartz mitgeteilten Falle war die Supinationsstellung des Fußes durch 
einen Defekt des Os naviculare veranlaßt. Seltener ist die angeborene Kon¬ 
traktur des Handgelenks, die sog. Klumphand, ohne Knochendefekt. Boüvier 
unterscheidet eine palmare, dorsale, radiale und ulnare Abart dieser Kon¬ 
traktur, welche verschiedene Grade aufweisen kann, von mäßiger Bewegungs¬ 
beschränkung bis zu fast völliger Fixation der fehlerhaften Stellung. Die 
Widerstände, welche die normale Exkursion verhindern, sind dabei zum 
größten Teil muskulöser Natur. Meist ist die Deformierung beiderseitig; ge¬ 
legentlich finden sich daneben entsprechende Fußdeformitäten (Fig. 11). Kon¬ 
trakturen der Schulter- und Ellbogengelenke sind fast nur gleichzeitig mit 
Handgelenksdeformitäten und auch hier nicht häufig beobachtet worden; da¬ 
gegen sieht man angeborene Kontrakturen der Finger auch als für sich 


Digitized by ^.ooQle 



Contractur (Kontrakturen). 


81 



bestehende Anomalien nicht allzu selten. So finden sich Adduktions- und 
Oppositionskontrakturen am Daumen und Flexionsstellungen in den Zwischen¬ 
gelenken, namentlich des kleinen Fin¬ 
gers, hier oft durch ganze Generationen Fig. n. 

vererbt. Chaussier und andere sahen 
dorsale Abweichungen der Phalangen. 

Von seitlichen angeborenen Devia¬ 
tionen an den Fingern erwähne ich 
einen von mir beobachteten Fall, in 
dem bei Mutter und Sohn ulnare De¬ 
viationen der Daumenendphalangen 
bestanden. 

Unter den angeborenen Kon¬ 
trakturen der oberen Extremität ist 
noch die als SpRENGELsche Deformität 
bekannte Verschiebung des Schulter¬ 
blatts (Fig. 12) nach oben zu nennen, 
für die Kausch die schlechte Entwick¬ 
lung der unteren Trapeziusmusku- 
latur als das ursächliche ätiologische 
Moment anzusehen geneigt ist, wäh¬ 
rend in neuerer Zeit vielfach ange¬ 
borene Anomalien an Wirbeln und 
Rippen und mehrfach knöcherne, zur 
Wirbelsäule ziehende Spangen, wie 
eine solche von Bardenheuer operativ 
entfernt werden konnte (Jünger), für 
die teilweise ossäre Natur der Bil¬ 
dung sprechen. 

An der unteren Extremität finden 
sich im Hüftgelenk angeborene Kon¬ 
trakturen zuweilen im Vor Stadium 
oder als Begleiterscheinungen von 
angeborenen Verrenkungen, ferner 
in Verbindung mit angeborenen 
Beugekontrakturen der Kniegelenke 
(B. Schmidt, Redard), welch letztere 
auch isoliert Vorkommen (Nissen). Ein¬ 
zelne Fälle von angeborenen Knie¬ 
gelenkskontrakturen waren mit Flug¬ 
hautbildungen kombiniert (J. Wolff, 

Basch). 

Auch der angeborene Scbiefhals 
(Caput obstipum), der sich viel¬ 
fach mit anderweitigen angeborenen 
Deformitäten, gelegentlich auch, wie 
in einem aus meiner Anstalt von Lamm 
beschriebenen Falle (Fig. 13 u. 14), 
gleichzeitig mit einem angeborenen 
Hochstand des Schulterblatts findet, 
ist an dieser Stelle zu nennen. Spricht 
doch auch die nicht zu seltene Ver¬ 
erbung dieser Kontraktur (Dieffenbach, Pfeiffer, Fischer, Petersen, 
Zehender, Joachimsthal) dafür, daß sich in einem Teil der Fälle die De¬ 
formität als die Folge einer fehlerhaften Keimanlage dokumentiert, während 


Fig. 12. 


Eacyelop. Jahrbücher. N. F. VIII. (XVII.) j^j 


Digitized by 


Google 











82 Contractur (Kontrakturen). 

wir auf eine andere Gruppe dieser Kontrakturen weiterhin zurQckkommen 
werden. 

Die erworbenen Kontrakturen können durch narbige Zustande der 
Haut, durch Schrumpfungen der tiefer gelegenen Weichteile, durch Erkran¬ 
kungen der Muskeln, Nerven und Gelenke bedingt sein, weshalb wir sie 
nach Hoffa in dermatogene, desmogene, myogene, neurogene und arthro- 
gene einteilen. 

Dermatogene Kontrakturen entstehen an den verschiedensten Körper¬ 
regionen durch narbige Schrumpfung großer Defekte, nach schweren Traumen, 
namentlich durch ausgedehnte Verbrennungen, nach Zerstörung der Haut 
durch Lupus, tuberkulöse und syphilitische Prozesse. Derartige Narben, 
welche die einzelnen Gelenke oder auch den Kopf in den verschiedensten 
Stellungen fixieren, können auch zu flughautähnlicben Verwachsungen führen. 

Desmogene Kontrakturen finden wir bei Schrumpfungsprozessen im 
subkutanen Zellgewebe, in den Faszien und Sehnen, wie wir sie namentlich 


Fig. 13. 


Fig. 14. 



bei phlegmonösen Prozessen entstehen sehen. Je ausgedehntere Substanz¬ 
verluste dabei entstehen und je beträchtlichere Verwachsungen sich zwischen 
der Haut, den Sehnen und ihren Scheiden sowie den knöchernen Teilen da¬ 
bei ausbilden, desto unnachgiebiger werden die Kontrakturen. Ist die Streck¬ 
sehne zugrunde gegangen, so stellt sich der Finger, indem er dem Zuge 
der Beugesehne folgt, in zunehmende Flexionskontraktur. 

Zu den desmogenen Kontrakturen haben wir auch die sog. Düpuytren- 
sche Fingerkontraktur zu rechnen, eine meist bei älteren Leuten, nur selten 
im jüngeren Alter (Reeves) auftretende, vorzugsweise Ring- und kleinen 
Finger befallende und allmählich zunehmende Flexionsstellung, die schließlich 
zu einer vollkommenen Einbiegung des befallenen Fingers in die Hohlhand 
führt. Immer ist es zunächst das Metakarpophalangealgelenk, in welchem 
die Kontraktur beginnt; allmählich stellt sich auch die Mittelphalanx in 


Digitized by 


Google 







Contractur (Kontrakturen). 


83 


Beugung, niemals aber die Endphalanx. Anatomisch findet sich im wesent¬ 
lichen eine Retraktion der Palmaraponeurose mit ßindegewebswucherungen. 
Die Beugesehne hat mit dieser Störung nichts zu tun, wenn auch der durch 
die Faszienbündel gebildete Vorsprung in der Vola leicht als durch die Sehne 
hervorgerufen angesehen werden könnte. 

Zu den desmogenen Kontrakturen haben wir endlich noch diejenigen 
zu rechnen, die nach langdauernder Ruhigstellung durch Verbände entstehen. 
Kommt es doch hierbei nicht allein zu Veränderungen in den Gelenken, wie 
sie von Reyher experimentell hervorgerufen werden konnten, sondern auch 
zu einer nutritiven Verkürzung der Weichteile, zu partiellen Synechien der 
Sehnen mit ihren Scheiden und somit zu Kontrakturen, deren Beseitigung 
durch Bewegungskuren ganz besondere Anforderungen an die Geduld und 
Energie sowohl des Arztes als des Kranken stellt. 

Die myogenen Kontrakturen beobachten wir einmal als Gewohnheits¬ 
kontrakturen und weiterhin infolge 
von Muskelerkrankungen, die mit 
Schrumpfungsprozessen einhergeben. 

Das typische Beipiel einer Ge¬ 
wohnheitskontraktur stellt der Spitz¬ 
fuß dar, der sich bei Verkürzung der 
einen unteren Extremität an dem 
affizierten Beine entwickelt und bei 
langem Bestände fixiert, indem sich 
die Weicbgebilde und ebenso auch 
die Knochen den veränderten Ver¬ 
hältnissen anpassen (Fig. 15). 

Unter den zu Kontrakturen 
führenden Erkrankungen der Mus¬ 
keln erwähne ich zunächst den Rheu¬ 
matismus, dessen akute Form häufig 
zu schnell vorübergehenden Kontrak¬ 
turen führt; besonders häufig ist 
die Torticollis rheumatica. Die Kon¬ 
traktur entsteht meist sehr rasch, 
während der Muskel in Form eines 
harten Stranges vorspringt. In der¬ 
selben Weise führt eine Lumbago 
zu plötzlich einsetzenden und ebenso 
schnell wieder verschwindenden, an 
die Ischias scoliotica erinnernden 
Verschiebungen des Rumpfes. Beim 
chronischen Muskelrheumatismus 
scheinen die sog. rheumatischen Schwielen, die als harte, unnachgiebige 
Stränge den Muskel durchziehen, Deformitäten herbeizuführen, doch ist es 
wahrscheinlich, daß die bei diesen schmerzhaften Prozessen entstehenden 
Kontrakturen zum Teil reflektorischer Natur sind. 

Sie bilden den Übergang zu den entzündlichen Prozessen im Muskel, 
welche sowohl in den leichteren Formen der akuten oder chronischen Myo¬ 
sitis als auch besonders bei den schweren, eitrigen und jauchigen Entzün¬ 
dungen in einer großen Anzahl von Fällen durch narbige Schrumpfung zu 
Kontrakturen Veranlassung geben. In diese Kategorie von Kontrakturen ist 
auch der erworbene muskuläre Schiefhals zu rechnen. Dieffenbach war der 
erste, der im Anschluß an schwierige Geburten im Verlaufe des Kopfnickers 
eine Anschwellung, das sog. Hämatom, beobachtete, das er als Folge einer 
partiellen oder totalen Zerreißung des Muskels während des Geburtsaktes 


Fig. 16. 



Digitized by 


GdÖgle 







84 


Contraciur (Kontrakturen)* 


auffaßte und das Strombyer ffir die Entstehung des Schiefhalses verant¬ 
wortlich machte. Die Frage, ob das Caput obstipum die Folge einer Ge¬ 
burtsverletzung ist, wie sie sich auch bei leichten Entbindungen, und zwar 
lediglich durch starke Drehung des Kopfes einstellen kann, ist noch Gegen¬ 
stand der Kontroverse. Mikulicz und Kader finden die Ursache der Verkür« 
zung des Muskels in einem als Folge von Verletzungen des Kopfnickers 
auftretenden Prozeß, welcher als Myositis interstitialis fibrosa traumatica 
sich in exzessiver Wucherung des Perimysiums und Degeneration des Muskel¬ 
parenchyms mit Substitution der erkrankten Partie durch amgebildetes 
Bindegewebe äußert und durch Infektion des verletzten Muskels mit patho¬ 
genen Mikroorganismen auf hämatogenem Wege hervorgerufen werden soll. 

Muskelvereiterungen fahren infolge des mangelhaften Regenerations¬ 
vermögens der kontraktilen Muskelfasern, die durch narbiges Bindegewebe 
ersetzt wird, zu besonders hochgradigen Kontrakturen. Auch die bei tuber¬ 
kulösen Wirbelentzündungen auftretende Psoaskontraktur sowie gummöse 
Prozesse im Muskel sind an dieser Stelle zu erwähnen. 

Eine besondere Rolle spielen die infolge von Zirkulationsstörungen 
auftretenden ischämischen Kontrakturen, deren Kenntnis wir Volk¬ 
mann, Kraske und Leser verdanken. Während in den befallenen Muskeln das 
Nervenzuleitungsvermögen erhalten ist, ist die Muskelerregbarkeit sehr 
herabgesetzt. Mikroskopische Untersuchungen der Muskeln ergeben einen 
rapiden Zerfall der kontraktilen Muskelsubstanz und eine Infiltration des 
Muskelgewebes mit Rundzellen. Die häufig zu den schwersten Hand- und 
Fingerkontrakturen führende Störung kann durch einen zu fest angelegten 
Verband, aber auch ohne Jeden Verband durch die Verletzung allein zu¬ 
stande kommen. 

Hildebrand führt neuerdings die Krankengeschichte eines Patienten 
mit einer typischen suprakondylären Fraktur und sehr stark vorspringendem 
proximalen Bruchstück an, bei dem kein Gipsverband, sondern ein Schienen¬ 
verband gelegen hat und trotzdem eine ischämische Muskelkontraktur ent¬ 
stand. Die Operation ergab außer Veränderungen an dem Nervus medianus 
eine Kontinuitätsunterbrechung der Arteria cubitalis. 

In einem weiteren Falle vertrug der Kranke nach einem Bruch des 
distalen Humerusendes überhaupt keinen Verband, weder Extensions- noch 
Schienenverbände und namentlich keine rechtwinkelige Stellung des Armes. 
Jedesmal verschwand der Puls. Es waren, wie die Operation 4 Wochen nach 
der Verletzung zeigte, die Arterie und der Nervus medianus durch das nach 
vorn gerückte Bruchstück getrennt worden und es hatte zugleich eine Kom¬ 
pression stattgefunden, die noch durch Narbengewebe vermehrt wurde. Wäre 
man in diesem Falle der Regel gefolgt, den Verband bei Frakturen in der 
Ellenbogengelenkgegend in rechtwinkeliger Stellung des Armes anzulegen, 
so wäre das Resultat eine ischämische Muskelkontraktur gewesen. 

Beiden neurogenen Kontrakturen, die schließlich allerdings wiederum 
durch Schrumpfungen der Muskeln zustande kommen, unterscheiden wir 
reflektorische, spastische und paralytische Kontrakturen. 

Bei den Reflexkontrakturen trifft der pathologische Reiz zunächst 
einen sensiblen Nerven und überträgt sich erst durch das Zentralorgan auf 
den motorischen. Reflexkontrakturen begleiten alle möglichen schmerzhaften 
Leiden, deren erste Merkmale sie häufig darstellen. Typische Beispiele bilden 
die durch eine Fissura ani hervorgerufene Kontraktur des Sphincter ani, 
Muskelkontrakturen durch den Reiz der Fragmente eines gebrochenen 
Knochens, Schiefstellung des Kopfes bei Entzündungen der Halsdrüsen und 
Vereiterungen des Mittelohrs. Die Gelenkstellungen, die sich bei fast allen 
akuten Gelenkentzündungen, aber auch vielen chronischen Gelenkerkran¬ 
kungen, namentlich den tuberkulösen, ausbilden, werden wohl vielfach re- 


Digitized by 


Google 



Contractur (Kontrakturen). 


85 


flektorisch eingeleitet durch den Reiz von der entzündeten Synovialis aus, 
während für die späteren Kontrakturstellungen, besonders für diejenigen der 
Hüfte, allerdings wohl den wesentlichen Einfluß mechanische Einwirkungen 
ausflben. Mikulicz vertritt die Anschauung, daß es bei den Gelenkerkran¬ 
kungen keines reflektorischen Kontraktionszustandes bedarf, wenigstens beim 
Knie nicht, um das Gelenk in Beugestellung zu bringen. Durch eine Er¬ 
schlaffung sämtlicher das Knie bewegender Muskeln allein ist die Ent¬ 
stehung der Kontrakturstellung in den Initialstadien der Erkrankung ge¬ 
nügend erklflrt. Es ist das die Mittelstellung, bei der nicht nur sämtliche 
Muskeln, sondern auch alle zum Kniegelenk gehörigen Weichteile, insbeson¬ 
dere Kapsel und Bänder, am gleichmäßigsten erschlafft und bei der auf 
diese Weise die Schmerzen im Gelenk am meisten herabgesetzt sind. Die 
Stellung des Gelenks ist dabei ungefähr dieselbe, welche es auch in ge¬ 
sundem Zustand bei vollständiger Erschlaffung und ohne jede Belastung 
einzunehmen pflegt, z. B. in einem warmen Vollbad. Alles, was eine Ände- 
rang dieser Stellung herbeiführt, ruft allerdings, solange der Prozeß noch 
floride ist, eine reflektorische Muskelkontraktion in antagonistischem Sinne 
hervor. So ist es nur verständlich, daß bei einem belasteten Hüft- oder 
Kniegelenk die Muskeln schmerzhaft angespannt sind, um die Ruhelage 
nach Möglichkeit zu erhalten. Wird aber das Gelenk funktionell in keiner 
Richtung in Anspruch genommen, so tritt sofort vollständige Entlastung 
aller Muskeln ein. Nach Lorenz sind wir auch gewohnt, die beim schmerz¬ 
haften Plattfuß auftretenden Kontrakturen als reflektorische aufzufassen. Die 
übermäßige und fortwährend wiederholte Überdehnung des Lig. tibio-calcaneo- 
naviculare durch die Belastungspronation des Fußes zieht schließlich eine 
traumatische entzündliche Reizung des genannten Bandes und der die Ge¬ 
lenkfläche desselben überkleidenden Synovialmembran nach sich. Von dieser 
entzündlichen Reizung werden auch die terminalen Endausbreitungen der 
Gelenknerven, also namentlich die Gelenkzweige des Tibialis anticus be¬ 
troffen, und in der Bahn dieses Nerven wird der Reiz auf die von ihm be¬ 
herrschten Pronatoren reflektiert. 

Nach längerer Ruhe können die Erscheinungen wieder schwinden, es 
kann aber auch durch nutritive Schrumpfung zu einer dauernden Verkür¬ 
zung der Muskeln kommen. 

Die spastischen Kontrakturen, bei denen nach Seeligmüller eine 
abnorme Innervation oder eine pathologische Reizung motorischer Nerven¬ 
fasern vorliegt, zeichnen sich dadurch aus, daß die verkürzten Muskeln bei 
Dehnung zwar nachgeben, sich aber bei Nachlaß des Zuges sofort wieder 
verkürzen. Der pathologische Spannungszustand der Muskeln verrät sich 
außer in einer Erschwerung der passiven Bewegungen, einer Erhöhung der 
Muskelsteifigkeit durch eine Steigerung der Sehnenphänomene. Wir finden 
spastische Kontrakturen bei den verschiedensten Erkrankungen des Hirns 
und Rückenmarks, im kindlichen Alter besonders ausgesprochen bei der 
angeborenen spastischen Gliederstarre. An der unteren Extremität zeigen 
sich hier sehr typische Kontrakturen im Bereiche der Adduktoren der Ober¬ 
schenkel, der Knieflexoren und der Wadenmuskeln beiderseits, so daß, falls 
ein Gehen oder Stehen überhaupt möglich ist, die Fersen dabei in der Luft 
schweben, die Oberschenkel einwärts rotiert und so stark adduziert sind, 
daß die flektierten Knie sich berühren oder daß die Oberschenkel sich 
kreuzen. Nehmen die oberen Extremitäten an der Störung teil, so sind die 
Oberarme meist stark adduziert, die Unterarme gebeugt oder gestreckt, zu¬ 
weilen auch proniert, die Finger in allen Gelenken oder nur in den Inter- 
phalangealgelenken gebeugt. Die Kontraktur der Hemiplegischen betrifft in 
der Regel vorzugsweise die obere Extremität und stellt die Gelenke der¬ 
selben (Ellenbogen, Hand- und Fingergelenke) in Beugestellung, die der 


Digitized by 


Google 



86 


Contractur (Kontrakturen). 


unteren am Knie in Streck-, am Fuß in Beugestellung. Ganz besonders 
starre Kontrakturen finden wir bei der Kompressionsmyelitis. Auch im Ver¬ 
laufe der Hysterie beobachten wir vielfach hartnäckige Kontrakturen. So 
berichtet Vulpius beispielsweise über einen hysterischen Spitzfuß bei einem 
19jährigen Mädchen, der äußerst hartnäckig und dessen Therapie durch 
einen mit Blasenbildung einhergehenden Ausschlag sehr erschwert war. 
Schließlich trat nach mehrfachen Tenotomien nach dem Redressement und 
nach Apparatbehandlung Heilung ein. Hysterische Skoliosen stellen Kontrak¬ 
turen im Bereiche des Rumpfes dar, die sich namentlich bei jungen Mädchen 
im Anschluß an vorausgegangene Traumen oder Gemütsbewegungen plötz¬ 
lich entwickeln. Fig. 16 zeigt ein 13 */ s jähriges Mädchen mit einer ausge¬ 
prägten Scoliosis hysterica, Fig. 17 einen spastischen Schiefhals. 


Fig. 16. Fig. 17. 



Die paralytischen Kontrakturen entstehen infolge von Lähmungen, 
wie sie durch Läsionen der peripheren Nerven und namentlich Erkrankungen 
des Rückenmarks hervorgerufen werden. An den peripheren Nerven kommen 
Durchtrennungen oder Zerrungen und Neuritiden auf alkoholischer, diabe¬ 
tischer und anderen Grundlagen in Betracht. So berichtet Rottler unter 
anderem aus der Greifswalder chirurgischen Klinik über einen 20jährigen 
Patienten, bei dem sich im 5. Lebensjahre im Anschluß an eine Sensenver¬ 
letzung an der hinteren Seite des Oberschenkels, bei der der Nervus pero¬ 
neus durchtrennt worden war, ein paralytischer Klumpfuß entwickelt hatte. 
Fig. 18 zeigt das Bild einer ßVajährigen Patientin, bei der 2 Jahre vor Ein¬ 
tritt in meine Behandlung der Nervus peroneus anläßlich der Inzision eines 
oberhalb des Fibulaköpfchens gelegenen Furunkels durchtrennt worden war 
und im Anschluß daran sich ein Pes varus gebildet hatte. Das forcierte Re¬ 
dressement eines Genu valgum sowie die Einrenkung einer angeborenen 


Digitized by t^ooQle 
















Contractur (Kontrakturen). 


87 


Hüftverrenkung: können gleichfalls zu einer Peroneuslähmung und damit zu 
einem paralytischen Pes varus führen. Kontrakturen der Hand und der 
Finger finden sich nach einer durch Messerstich, durch dislozierte Frag¬ 
mente, langdauernde Abschnürung oder Bleiintoxikation herbeigeführten Lä¬ 
sion des Nervus radialis, Krallenstellungen, namentlich am 5. und 4. Finger 
nach Störungen im Gebiete des Nervus ulnaris. 

Von zentralen Störungen führt namentlich die Poliomyelitis anterior 
acuta zur Entstehung von Kontrakturen. 

Diese Krankheit hat bekanntlich die Eigentümlichkeit, daß die sofort 
nach ihrem Einsetzen meist sehr ausgedehnten Lähmungen schon in den 
ersten Tagen und Wochen teilweise wieder rückgängig werden und sich 
dann auf einzelne Muskelgruppen beschränken. Auf die erhaltene Tätigkeit 
der Antagonisten wurde dann die später zu beobachtende Deformität zurück- 


Fig.18. 



geführt. Der paralytische Klumpfuß sollte vorzugsweise dann entstehen, 
wenn die Musculi peronei und die Extensores digitorum longus et brevis 
gelähmt, also diejenigen Muskelgruppen ausgeschaltet sind, welche die Dor¬ 
salflexion und Pronation des Fußes besorgen. 

Die antagonistische Theorie (Delpech), nach welcher die nicht ge¬ 
lähmten Antagonisten vermöge ihres Tonus die Gliedabschnitte auf ihre 
Seite ziehen sollten, wurde von Hüter und Volkmann erfolgreich bekämpft. 
Hüter konnte zeigen, daß die Körpermaße am Fuß zu den Bewegungsachsen 
der Gelenke so ungleichmäßig verteilt ist, daß der Fuß, seiner Schwere 
überlassen, nicht nur mit der Spitze herabsinkt (Plantarflexion), sondern 
daß er gleichzeitig eine zweite Bewegung macht, durch welche die innere 
Fnßkante höher zu stehen kommt als die äußere (Supination) und die große 
Zehe sich nach einwärts wendet (Adduktion). 


Digitized by L^ooQle 







88 


Contractur (Kontrakturen)« 


Bei einer vollkommenen Lähmung der Unterschenketmuskulatur wird 
sich diese Stellung, die der sich selbst überlassene, von Muskelwirkung ganz 
befreite Fuß dauernd einnimmt, allmählich durch Anpassung der Knochen 
und Weichteile an die veränderten Verhältnisse fixieren. 

Bei einer Lähmung lediglich im Gebiet des Nervus peroneus wird der¬ 
selbe Effekt zustande kommen. Die Bewegung, welche in einem solchen 
Falle den Fuß nach der Richtung der erhaltenen Muskulatur führt, ist zu¬ 
nächst eine völlig willkürliche. Ist sie aber eingetreten, hat die Fußspitze 
sich gesenkt und einwärts gedreht, so ist damit auch die Leistungsfähigkeit 
der Plantarflexoren und Supinatoren erschöpft; denn die Muskeln haben 
zwar die physiologische Fähigkeit, sich willkürlich zu verkürzen, die Aus¬ 
dehnung kann aber nur mit Hilfe der Antagonisten erfolgen. Da diese gelähmt 
sind, muß es wiederum zur Entwicklung eines Equinovarus kommen, der 
allerdings durch den aktiven Einfluß der erhaltenen Muskelkraft ohne 
Zweifel gefestigt wird. Bei bettlägerigen Patienten kann noch der Druck 
der Bettdecke im Sinne einer Vermehrung der Deformität wirken. Ein Pes 
valgus paralyticus kommt an einer gelähmten Extremität meist dann zu¬ 
stande, wenn die Patienten dieselbe zur Fortbewegung benutzen und die 
Last des Körpers den durch Muskeln nicht gestützten Fuß in die Prona¬ 
tionsstellung hineindrängen. 

Seeligmülleb hat gezeigt, daß die mechanische Theorie allein nicht 
imstande ist, die Pathogenese jedes einzelnen Falles von paralytischer Kon¬ 
traktur zu erklären. Dagegen gelingt dies Sehr gut nach der von ihm auf¬ 
gestellten Theorie, welche sowohl den Antagonisten Wie den mechanischen 
Kräften ihr Recht läßt. Diese antagonistische Theorie lautet folgendermaßen: 
In allen Fällen von Lähmung, wo von den ein Gelenk bewegenden Muskeln 
einzelne ausschließlich oder vorwiegend gelähmt sind, kann bei dem ersten 
willkürlichen Bewegungsversuch der vom Gehirn ausgehende Willensimpuls 
nur zu denjenigen Muskeln gelangen, zu welchen die Nervenleitung frei ge¬ 
blieben ist. Demnach werden sich einzig und allein die nicht gelämten Anta¬ 
gonisten kontrahieren und dem Gliede eine Stellung nach ihrem Sinne 
geben. In dieser Stellung aber muß das Glied verharren, weil die gelähmten 
Muskeln nicht imstande sind, jene willkürlich verkürzten Muskeln wieder 
zu verlängern. Jeder neue Willensimpuls wird nun stets wieder denselben 
Weg nehmen und damit die Kontraktion der nicht gelähmten Antagonisten 
immer mehr verstärken, bis dieselben endlich in dieser Verkürzung erstarren, 
bis die Kontraktur fertig ist. 

Natürlich werden auch die mechanischen Momente der Schwere und 
Körperbelastung ihren Einfluß auf die gelähmten Glieder geltend machen. 
Fällt ihre Resultanto zusammen mit der der nicht gelähmten Antagonisten, 
so werden sie die schon durch die Antagonisten gegebene Gliedstellung 
noch mehr fixieren; ist sie aber jener entgegengesetzt, so wird ein Kampf 
zwischen beiden Kräften entstehen, aus welchem nach Seeligmüllers und 
R. Brenners Erfahrurg die nicht gelähmten Antagonisten schließlich doch 
als Sieger hervorgehen können. Sind sämtliche ein Gelenk bewegende Muskeln 
gelähmt, so kann von einem Antagonismus überhaupt nicht die Rede sein, 
vielmehr müssen Kontrakturen, welche sich dann bilden, ausschließlich auf 
Rechnung der mechanischen Kräfte gesetzt werden. Indessen entstehen ln 
diesen Fällen Schlottergelenke. 

Gute Belege für die Richtigkeit der antagonistischen mechanischen 
Theorie Seeligmüllers bieten die paralytischen Luxationen des Hüftge¬ 
lenks, welche nur dann eintreten, wenn bestimmte Muskelgruppen gelähmt, 
ihre Antagonisten dagegen erhalten sind, sowie die Flexionskontrak¬ 
turen des Kniegelenks bei gelähmtem Quadrizeps und funktionsfähigen 
Beugemuskeln. 


Digitized by 


Google 



Contractur (Kontrakturen). 


89 


Arthrogene Kontrakturen Bind die Felge von Schrumpfungen der 
Weichgebilde des Gelenks nach Entzündungen und Verletzungen. Bonnet 
hat auf Grund von Leichenversuchen die Entstehung der Gelenkkontrak¬ 
turen darauf zurückführen wollen, daß infolge der prallen Anfüllung der Ge¬ 
lenkkapsel mit Exsudat dem Gelenk die Mittelstellung aufgezwungen werde. 
Diese Erklärung wird dadurch hinfällig, daß man oftmals bedeutende akute 
und chronische Ergüsse ohne Kontrakturstellung findet und daß vielfach, 
namentlich bei tuberkulösen Kontrakturen, eine Anfüllung des Gelenks mit 
Flüssigkeit fehlt. Bei dem Zustandekommen der Kontrakturen spielt die 
Kapsel insofern eine Rolle, als sie es ist, die infolge der entzündlichen In¬ 
filtration heftige Schmerzen bervorruft und dadurch den Patienten veran¬ 
laßt, eine Mittelstellung einzunehmen, bei der alle Teile möglichst gleich¬ 
mäßig entspannt sind. Später verliert sie infolge narbiger Schrumpfung ihre 
Elastizität und beschränkt dadurch die Beweglichkeit des Gelenks derart, 
daß sie selbst nach der Tenotomie der Beugemuskeln noch ein Hindernis 
für die Streckung abgibt. Die Gelenkbänder bestimmen namentlich nach 
Zerstörung der knöchernen Teile die späteren Einstellungen des kontraktilen 
Gelenkes. König hat darauf hingewiesen, daß auf die eigentlichen Kontrak¬ 
turstellungen der Gelenke überhaupt wie auch insbesondere diejenigen der 
Hüfte den größten, wenn nicht den alleinigen Einfluß die mechanischen Ein¬ 
wirkungen ausüben, welche durch den Gebrauch oder die Lage des Gliedes 
bei Nichtgebrauch bedingt sind. 

Ein Hindernis für die Rückbildung der Kontrakturen bilden vielfach 
auch die Gestaltsveränderungen der Gelenkenden, so beispielsweise die 
Volumzunahme der Kondylen infolge ossaler tuberkulöser Herde. 

Nach dem Gesagten spielt bei der Behandlung der Kontrakturen, 
soweit man dieselben bei ihrer verschiedenen Entstehungsart überhaupt all¬ 
gemein besprechen kann, die Prophylaxe eine große Rolle. Wir müssen 
versuchen, im ersten Beginn die Entstehung der Kontrakturen zu verhüten, 
da wir vielfach hei den ausgebildeten Deformitäten nur mit langwierigen, 
umständlichen Apparaten oder gar mit schwierigen operativen Eingriffen 
zum Ziele kommen können. Bei Verletzungen und Verbrennungen werden 
wir die sich bildende Narbe durch entsprechende Verbände oder Lagerung 
zu dehnen versuchen, um Kontrakturen zu vermeiden. Die Dehnung der 
Narben wird neuerdings vielfach durch Thiosinamin- oder Fibrolysinein- 
spritzungen unterstützt. Bei Lähmungszuständen kann man durch Beseiti¬ 
gung mechanischer, zur Kontraktur führender Vorbedingungen vielfach mit 
ganz einfachen Verbänden oder Apparaten prophylaktisch wirken. Durch 
Schienenhülsenapparate werden die Glieder in richtiger Stellung gehalten 
und durch elastische Züge die fehlenden Muskeln ersetzt. Auf demselben 
Wege vermag man bei bereits in der Bildung begriffenen Kontrakturen die 
verkürzten Weichteile zu dehnen. Im übrigen behandelt man die verschie¬ 
denen Formen je nach der Entstehung und dem Grade auf verschiedene 
Weise durch methodische passive Bewegungen teils manuell, teil unter Zu¬ 
hilfenahme von Apparaten. Sehr beliebt sind die Pendelapparate. Machol 
verwendet zum Antrieb seiner Apparate die strömende Wasserkraft und 
Bier hat das Prinzip des Luftdrucks für die Behandlung der Kontrakturen 
eingeführt. 

Im Gegensatz zu dieser allmählichen Einwirkung steht der einmalige 
eventuell unter Benutzung von Narkoticis vorzunehmende Versuch der ge¬ 
waltsamen Streckung der verkürzten Gebilde und die Fixation des Er¬ 
reichten durch Verbände. Galvanisation, Massage, Bäder etc. unterstützen 
in wirksamer Weise die erwähnten Maßnahmen. 

Von Operationen, welche bei Kontrakturen am Muskelapparat häufig 
in Anwendung kommen, erwähne ich Tenotomien, Sehnenverlängerungen, 


Digitized by 


Google 



90 


Contractur (Kontrakturen). 


Verkürzungen und Verlagerungen. Bei den arthrogenen Kontrakturen werden 
sich vielfach eingreifende Operationen nicht vermeiden lassen. 

Literatur: H. Basch, über sog. Flughautbildung beim Menschen. Zeitsehr. f. Heilk., 
XVIII, H. 12. — Bieh, Hyperämie als Heilmittel. Leipzig 1909. — Delpkch, L’orthomorphie. 
Paris 1829. — Dieffenbach, Caput obstipnm. Rusts Handb. d. Chir., 1830—1836, III. — 
O. Hildebrand, Ischämische Muskelkontraktur und Gipsverband. — Zeitschr. f. Chir., XCV, 
pag. 299. — Hoffa, Lehrbuch der orthopädischen Chirurgie, 5. Aufl., Stuttgart. — G. Joachims- 
thal, Über angeborene seitliche Deviationen der Fingerpbalangen. Zeitschr. f. Chir., III, 
pag. 265. — W. Jünger, Über angeborenen Schulterblatthocbstand. Zeitschr. f. Chir., XCIX, 
pag. 157. — Kader, Das Caput obstipnm musculare. Beitr. zur kliu. Chir., XVII n. XVIII. 

— Kausch, Cucularisdefekt als Ursache des kongenitalen Hochstandes des Schulterblatts. Zen¬ 
tralblatt f. Chir., 1901, Nr. 22. — Fr. König, Lehrbuch der speziellen Chirurgie, III, 1905. — 
Krukenberg, Die Behandlung von Gelenksteifigkeiten mit Pendelappar&ten. Deutsche med. 
Wochenschr., 189;), Nr. 52. — Lamm, Über die Kombination von angeborenem Hochstand des 
Schulterblatts mit muskulärem Schiefhals. Zeitschr. f. Chir., X, pag. 40. — Leser, Unter¬ 
suchungen über ischämische Muskelläbmungen und Muskelkontrakturen. Samml. klin. Vortr., 
1884, Nr. 249. — Machol, Die Anwendung der strömenden Wasserkraft in der Chirurgie 
und Orthopädie. (Ein neues System orthopädischer und mediko-mechanischer Apparate.) Zeu- 
tralblatt f. Chir., 1906, Nr. 6. — Malgaignb, Legons d’ortbopedie publices par Mm. Guyon 
et Panas. Paris 1862. — v. Mikulicz, Über die Exstirpation des Kopfnickers beim musku¬ 
lären Schiefhals nebst Bemerkungen zur Pathologie dieses Leidens. Zentralbl. f. Chir., 1895, 
Nr. 21. — Derselbe, Zur Pathologie der Gelenkkontrakturen. Zeitschr. f. ortbop. Chir., XIII, 
pag. 234. — Nimm, Zwei Fälle von angeborener Dilformität des Kniegelenks. Inang.-Dissert., 
Erlangen 1891. — L. A. Rottler, Über Pes varo-equinus nach Verletzung des N. ischiadicua 
am Oberschenkel. Inang.-Dissert. Greifswald 1897. — Schwartz, Des diffdrents espöces de 
pied bot et leur traitemeut. Paris 1883. — Seeljgmülleb, Zentralbl. d. Chir., 1878, Nr. 18; 
Gerhardts Handbuch der Kinderkrankheiten, V, 1, Spinale Kinderlähmung. — Volkmann, 
Krankheiten der Bewegungsorgane. Pitha-Billroths Handb. d. Chir., 1882, IV, Abteil. 2. — 
Derselbe, Über Kinderlähmung und paralytische Kontrakturen. Samml. klin. Vortr., Nr. 1. 

— Vulpius, Zur Kasuistik des hysterischeu Spitzfußes. Zeitschr. f. Chir., XI, pag. 1579. — 

J. Wolff, Über einen Fall von angeborener Flughautbildung. Arch. f. klin. Chir., XXXVIII, 
Heft 1. Joachimsthal. 


Digitized by t^oooLe 



D. 


Desalgin» Um die innerliche Medikation von Chloroform zu ermög- * 
liehen, ohne dessen Reizwirkung mit in Rauf nehmen zu müssen, hat Schleich 
ein Präparat hergestellt, welches das Chloroform in Kombination mit einem 
Eiweißkörper enthält. Es ist ihm gelungen, einen Eiweißkörper zu finden, 
der dauernd 25% Chloroform fixiert. Es resultiert ein graues, amorphes, 
fein verteilbares Pulver, das messerspitzenweise gegeben werden kann. Bei 
34 Patienten mit Gallensteinbeschwerden hat Schleich bei 22 Patienten aus¬ 
gezeichnete Erfolge von einer 3wöchigen Kur (3—4mal täglich messerspitzen- 
weise gegeben) gesehen, in 12 Fällen ließ es dagegen völlig im Stich. Auch 
bei Appendizitiden, die öfters rezidivierten, hat Schleich Erfolge erzielt. 
Ebenso haben Phthisiker, denen Schleich das Desalgin gegeben hat, sich 
lobend über das Mittel ausgesprochen; außerdem inhalierten sie eine Lösung 
von Perubalsam im ScHLEicHschen Siedegemisch. Schleich hat diese The¬ 
rapie deswegen eingeleitet, weil ihm aufgefallen war, daß Chloroformnar¬ 
kosen gerade von Phthisikern sehr gut vertragen werden. 

»Fasse ich kurz«, sagt Schleich, »meine Erfahrungen mit dem Des¬ 
algin, die sich über 1% Jahre ausdehnen, zusammen, so kann ich dasselbe 
als ein Analgetikum bei allen Schmerzzuständen empfehlen, welche vom 
Peritoneum umkleidete Organe betreffen, vorzüglich gegen kolikartige Be¬ 
schwerden, sei es vom Magen-, Darm- oder Gallensystem her. Auch bei 
dysmenorrhoischen Beschwerden hat es sich bewährt. 

Es hat Zukunft als Antibakterikum des Intestinal- und Pulmonal- 
traktus, entfaltet seine kalmierende Valenz auch bei bronchitischen und 
asthmatischen Zuständen und erwies sich bei tabischen Schmerzen, auch in 
einigen Fällen von Migräne von Nutzen. Wegen seiner erwiesenen Fähig¬ 
keit, den Bakteriengehalt des Darmes herabzusetzen, halte ich dafür, daß 
es als Prophylaktikum namentlich bei Gallenstein- und Blinddarmleiden eine 
gewisse Bedeutung beansprucht.« 

Literatur: Schleich, Desalgin. Die Therapie der Gegenwart, 1909, Nr. III, pag. 138. 

E. Frey. 

Diabetes. A. Zuckerbildang aus Eiweiß. Man hat bei der Beur¬ 
teilung des Diabetes sich früher im wesentlichen mit der Frage beschäftigt, 
ob der Zucker außer aus den Kohlehydraten auch aus den Eiweißkörpern 
gebildet werde. Dabei war es sehr lange ein Problem für die Chemie, 
Zucker aus Eiweiß darzustellen. Nachdem das gelungen war und in fast 
allen Eiweißkörpern mit Ausnahme des Kaseins, des Vitellins und der 
Gelatine Kohlehydratgruppen gefunden wurden, schien es, daß diese Kohle¬ 
hydratgruppen für die Zuckerbildung beim schweren Diabetes von unter¬ 
geordneter Bedeutung waren. Man fand entweder mit Albumin locker ge- 


Digitized by t^ooQle 



92 


Diabetes. 


bundene Glukose im Serumeiweiß oder Pentosen und andere Kohlehydrate in 
den Nukleinen oder Glukosamin in den meisten Eiweißkörpern. Das letztere 
wurde aber jahrelang nicht zu den Zuckerbildnern im Tierkörper gerechnet, 
nachdem Versuche mit reinem Glukosamin resp. mit salzsaurem Glukosamin 
gezeigt hatten, daß diese Substanzen weder zur Glykogenvermehrung führten 
noch verbrannten, sondern zum größten Teil wieder ausgeschieden wurden. 
Neuerdings angestellte Versuche von Forschbach und K. Meyer 1 ) haben 
nun aber ergeben, daß mit Glukosaminkohlens&ureester and acetyliertem 
Glukosamin beim pankreasdiabetischen Hunde in zwei Fällen sich ein An¬ 
steigen der ausgeschiedenen Zuckermenge beobachten ließ, da bei diesen 
Versuchen 18 resp. 20 g der Substanz resorbiert wurden. Es zeigt sich hier 
wieder, wie wichtig es ist, ob ein Körper in einer der natürlichen Bindungs¬ 
form vermutlich adäquaten Verbindung dem Organismus gereicht wird 
oder nicht. 

Damit war zwar gezeigt, daß theoretisch eine Zuckerbildung aus dem 
Kohlehydratkomplex der Eiweißkörper stattfinden könne, ob aber damit die 
Frage der Zuckerbildung beim schweren Diabetiker gelöst sei, konnte hier¬ 
durch nicht entschieden werden. 

Denn selbst wenn wir annehmen, daß die präformierten Kohlehydrat¬ 
gruppen des Eiweißmoleküls eine Rolle für die Zuckerbildung spielen, so 
ist ihre Menge doch in keiner Weise ausreichend, um die gesamte Zucker¬ 
bildung aus Eiweiß zu erklären. Daß aber eine Zuckerbildung aus anderen 
Substanzen als aus präformierten Kohlehydraten im tierischen Organismus 
statthaben muß, zeigten die schönen Versuche Lüthjes am pankreaslosen 
Hunde, der bis 554*40 ^ Zucker ungedeckt durch den Kohlehydratvorrat 
des Organismus und der Nahrung fand. 

Die ersten und umfassendsten Versuche über den Einfluß eiwei߬ 
haltiger Nahrung resp. bestimmter Eiweißkörper mit und ohne Kohle¬ 
hydratgruppen auf die Zuckerbildung sind von Lüthje angestellt worden, 
und zwar mit Rindfleisch, Eieralbumin, Kasein, Pankreas, Kalbs¬ 
thymus. 1 ) Lüthje kam zu dem Ergebnis, daß die verschiedenen Eiwei߬ 
körper bzw. tierischen Gewebe beim Diabetes hinsichtlich der Zuckeraus¬ 
scheidung nicht gleichwertig sind, u. zw. ist nach Casein- und Pankreas¬ 
nahrung die Zuckerausscheidung höher als nach Rindfleisch, Eiereiweiß und 
Kalbsthymusnahrung. Ferner wurde nach Rindfleischnahrung mehr Zucker 
ausgeschieden als nach Eiereiweißnahrang. Betreffs des Einflusses der 
Kohlehydrate in den Eiweißsubstanzen auf die Zuckerausscheidung betont 
Lüthje vor allem, wie unberechtigt es sei, über die Möglichkeit einer Un¬ 
gleichheit in qualitativer Hinsicht Vermutungen anzustellen. Man könnte im 
Gegenteil eher annebmen, daß die einzelnen Substanzen ungleiche Mengen 
Kohlehydrate enthielten. So ist das Pankreas reich an Nukleinen, die 
wiederum sehr reich an Kohlehydraten sind; aber der Schluß, daß dieser 
Kohlehydratreichtum auch die große Zuckervermehrung in den Versuchen 
Lüthjes verursacht hat, ist falsch, da Kontrollversuche mit Thymus, einem 
ebenso nuklein- und daher kohlehydratreichen Organe, ergaben, daß die 
Zuckerausscheidung nach Fütterung mit diesem Organ relativ gering war. 
Doch scheint diese Feststellung nicht für alle Diabetiker zuzutreffen, da 
Reale und Renzi angegeben haben, daß nach Zufuhr von Nuklein und 
Nukleinsäure bei einem Diabetiker, der durch besondere Diät zuckerfrei 
geworden war, wieder Zucker im Harn erschien. Immerhin zeigen die Ver¬ 
suche von Lüthje mit Pankreas und Thymus bei demselben Kranken, daß 
der Kohlehydratgehalt des Nukleins nicht der wesentliche Faktor für die 
Zuckerbildung aus Eiweiß ist. Ganz und gar nicht kann aber beim Kasein 
das Vorhandensein einer Kohlebydratgruppe für die Zuckersteigerung ver¬ 
antwortlich gemacht werden, da Kasein keine Kohlehydratgruppe enthält. 


Digitized by 


Google 



Diabttes. 


93 


Und gerade die Kaseinpräparate rufen sehr häufig eine vermehrte 
Zackeraa 88 cheidting hervor. Schon Külz*) ernährte einen Diabetiker längere 
Zelt fast ausschließlich mit Kasein nnd fand eine erhebliche Zuckeraas¬ 
scheidung. Besonders aber konstatierte Lüthjb, daß Nutrose vermehrte 
Zuckeraus 8 eheidung hervorrief, ebenso wie Falta und Therman 8 ), während 
bei Stradoiisky 4 ) in einem Falle gerade nach Plasmon die Zuckerausscheidung 
am geringsten war, in einem anderen Falle sich in der Mitte hielt. 

Stradoiisky untersuchte zwei Fälle, einen schweren und einen mittel- 
sehweren Diabetiker. In beiden Fällen wurde die größte Menge Zucker 
nach der Ernährung mit Leber ausgeschieden, die geringste Menge Zucker 
im ersten Falle bei der Plasmonnahrung, im zweiten Falle bei der Er¬ 
nährung mit Tropon und Rindfleisch, während im zweiten Falle nach Plasmon 
über die doppelte Menge Zucker, 31^, als nach Tropon und Rindfleisch im 
Harn erschien. Kalbsthymus verursachte im ersten Falle — schwerer Dia¬ 
betiker — eine verhältnismäßig geringe Zuckerausscheidung, im zweiten 
Falle — mittelschwerer Diabetiker — war die Zuckerausscheidung ziemlich 
hoch. Allerdings wurde die Kalbsthymus in weit kleineren Portionen — 
650 g — gegeben, als dies LOthje getan hatte. Die Stickstoffausschei- 
dung im Harn war im schweren Falle erhöht, im mittelschweren normal, 
lief aber in beiden Fällen der Zuckerausscheidung nicht parallel, sondern 
stand in fast umgekehrtem Verhältnis zu ihr. Das bedeutende Herabsinken 
der N-Ausscheidung während der ganzen Dauer der Kalbsthymusperiode von 
30 <7 bis auf 19*3^ kann im ersten Falle dadurch erklärt werden, daß Leber 
und Thymus des Organismus nur in solchen Mengen zugefflhrt wurden, welche 
den anderen Stoffen in bezug auf Eiweißgehalt nicht äquivalent waren. Es 
liegt dann auch die Möglichkeit vor, daß die bedeutenden Schwankungen 
bei der N-Ausscheidung einigen Fällen von Diabetes eigen sind. Darauf 
haben schon Naunyn und LOthje aufmerksam gemacht. 

Falta *) prüfte bei vier schweren Diabetikern außer Kasein noch Serum¬ 
albumin, Blut, Fibrin, Hämoglobin und Ovalbumin. Kasein, Serumalbumin in 
geringem Maße, auch Fibrin machten regelmäßig eine bedeutende Ver¬ 
mehrung der Qlykosurie. Blutglobulin, Hämoglobin und Ovalbumin beeinflußten 
kaum die Qlykosurie. Für die Erklärung der so ungleichen Beeinflussung 
der Qlykosurie durch verschiedene Eiweißkörper läßt sich die unverkenn¬ 
bare Beziehung heranziehen, die zwischen dem rascheren oder langsameren 
Anstieg der Stickstoffkurve der einzelnen Eiweißkörper und der Beeinflussung 
der Qlykosurie durch dieselben im Harn besteht. Koaguliertes Ovalbumin 
zeigte eine rasch ansteigende Stickstoffkurve, ganz entgegengesetzt dem 
Verhalten des genuinen Eiereiweiß und hat eine nicht unbeträchtliche Ver¬ 
mehrung der Qlykosurie bewirkt. Es kann also ein und derselbe Eiwei߬ 
körper die Qlykosurie in verschiedener Weise beeinflussen, je nachdem er 
in genuinem oder denaturiertem Zustande eingeführt wird. 

Ganz besonders groß fand Thebman die Harnzuckermenge bei Käsekost und im all¬ 
gemeinen war die Zackeraasscheidong größer bei Fleischkost als bei Eiernahrnug. Auch das 
kohlehydratfreie Glutin (Gelatine) hat größere Mengen Zucker in Urin verursacht als Ei, 
welches |a außer freien Kohlehydraten eine bedeutende Menge gebundener enthält. 

Nach Leim hat außer Thebman auch Mohb eine reichlichere Zuckerausscheidung beob¬ 
achtet als bei Eierznfuhr, während wiederum Bkndix das Ovalbumin für günstiger hält als 
den Leim und namentlich als das Kasein. 

Wenn also auch noch die theoretischen Qrundlagen für die Qründe 
der verschiedenen Zuckerausscheidung nach den einzelnen Eiweißkörpern 
nicht völlig aufgeklärt sind, so ergibt sich doch folgendes. Beim phlorizin- 
vergifteten Hunde ist Fleisch gleichwertig dem Leim in bezug auf die Zucker- 
bildung (Lusk), Eiereiweiß bildet mehr Zucker als Kasein, Kasein mehr als 
Leim (Halsey). Kasein bildet mehr Zucker als Eiereiweiß, Eiereiweiß mehr 
als Leim (Bendix). Beim Frosch bildet Eiereiweiß mehr Zucker als Kasein 


Digitized by 


Google 



94 


Diabetes. 


und Leim (Schöndorf, Blumenthal und Wohlgemuth). Beim Menschen 
dürfte im allgemeinen nach Kasein am meisten Zucker entstehen, 
dann folgt Leber, Pankreas, Fleisch, Eigelb, Eierweiß, Thymus, 
Tropon, Pflanzeneiweiß. 

Zur Erklärung dieser Tatsache kommen nach Falta 6 ) mehrere Mo¬ 
mente in Betracht (Prozentgehalt an bestimmten Bausteinen, Konstitution, 
mehr oder weniger leichte Abspaltbarkeit bestimmter Gruppen etc.). Es 
scheint, als ob eine Beziehung vorhanden ist zwischen der Beeinflussung der 
Glykosurie durch einzelne Eiweißkörper und ihrer Zersetzlichkeit im Orga¬ 
nismus, wie sie in der rascheren oder langsameren Elimination des.ans 
ihnen stammenden Harnstickstoffs zum Ausdruck kommt, denn gerade nach 
Einfuhr jener Eiweißkörper, die sich im Organismus langsam zersetzen, 
bleibt ein Ansteigen der Zuckerkurve aus, während das leichtverbrennliche 
Kasein die Zuckerausscheidung in entschiedener Weise beeinflußt Es 
scheint, als ob reichliche Kaseineinfuhr beim Diabetiker deshalb leichter zu 
einer Steigerung der Glykosurie führt, weil der Kaseinzucker rascher ent¬ 
steht und der Organismus bei der herabgesetzten Fähigkeit, den Zucker 
als Glykogen aufzuspeichem, auf die entstehende Hyperglykämie mit ver¬ 
mehrter Zuckerausscheidung antwortet. Hingegen scheint die Bildung von 
Zucker aus dem Ovalbumin langsam genug stattzufinden, 60 daß der Orga¬ 
nismus trotz der bestehenden Schwäche noch imstande ist, den entstehenden 
Zucker als Glykogen aufzuspeichern. Diese Annahme findet nach Falta eine 
Analogie durch die Erzeugung einer Glykosurie nach Einfuhr großer Mengen 
Traubenzucker beim Gesunden, während große Mengen Amylum, die doch 
auch in Traubenzucker verwandelt werden, nur beim Diabetiker eine Gly¬ 
kosurie verursachen, denn der als Traubenzucker gegebene Zucker erscheint 
viel rascher im Blut als der aus Amylum sich erst allmählich bildende 
Traubenzucker. Möglicherweise ist der Unterschied zwischen der leichten 
und schweren Form des Diabetes analog aufzufassen. Hier ist es wiederum 
der aus dem Amylum entstehende Zucker, der rascher resorbiert wird als 
der Eiweißzucker. Danach würde es sich nur um graduelle Unterschiede 
einer und derselben Stoffwechselstörung handeln, es wäre gleichgültig, woher 
der Zucker stammt, und es käme nur auf die Schnelligkeit an, mit welcher 
der Zucker nach der Nahrungsaufnahme im Blut erscheint. Die Stufenleiter 
würde schon bei einer Empfindlichkeit gegenüber der Einfuhr großer Mengen 
von Traubenzucker beginnen und bei der schwersten Form von Diabetes 
bis zu einer Reaktion auf den auch aus sehr schwer zersetzlichen Eiwei߬ 
körpern stammenden Zucker ansteigen, und daraus würde folgen, daß das 
abundante und längere Zeit hindurch fortgesetzte Ernähren mit Ovalbumin 
in schweren Fällen von Diabetes ebenfalls zu einer reichlichen Zuckeraus¬ 
scheidung führen kann, womit sich der Gegensatz in den Angaben der ver¬ 
schiedenen Autoren erklärt, von denen der eine nach Ovalbumin keine oder 
nur eine sehr geringe, der andere eine sehr bedeutende Zuckerausscheidung 
beobachtete. Für die Intensität der Zersetzung eines schwer zersetzlichen 
Eiweißkörpers muß bedeutungsvoll sein, ob derselbe allein oder mit anderen 
leichter zersetzlichen Nahrungsmitteln, ob er nach einer längeren Hunger- 
vorperiode gereicht oder auf eine an und für sich schon ausreichende Kost 
superponiert wird (Falta). 

Man hat nun die Frage aufgeworfen, welcher Komplex des Eiwei߬ 
moleküls für die Zuckerbildung von Bedeutung ist, und es hat sich dabei 
gezeigt, daß mit der Verfütterung von Eiweißspaltungsprodukten sehr ver¬ 
schiedene Resultate erzielt werden können. Stiles und Lusk 8 ) verfütterten 
bei hungernden Hunden, die diabetisch gemacht worden waren, mit Pankreas¬ 
saft verdautes Fleisch und fanden eine Steigerung der ausgeschiedenen 
Zuckermenge. 


Digitized by 


Google 



Diabetes. 


95 


Friedr. Müller and Kossel waren die ersten, welche an die Amino¬ 
säuren dachten, u. zw. an das Leuzin, das durch seine sechs Kohlenstoffe 
am meisten prädestiniert zur Zuckerbildung: schien und das in den meisten 
Eiweißkörpern in beträchtlicher Menge, etwa 30%, vorkommt. Wenn auch 
die Versuche gerade mit Leuzin kein positives Resultat ergeben haben, so 
Ist doch durch Arbeiten von Kraus, Neuberg und Langstein u. a. wahr¬ 
scheinlich gemacht worden, daß andere Aminosäuren, nämlich das Alanin 
und Giykokoll, im Tierkörper Zuckerbildner sind. Nach Asparagin konnte 
Knopp 9 ) am phlorizindiabetischen Hunde eine Vermehrung der Glykosurie 
konstatieren. 50 g Asparagin trieben die Harnglukose um 15 g in die Höhe. 
Dagegen hatte Verabreichung von Harnstoff keinen Erfolg. För die Rolle, 
welche das Giykokoll bei der Zuckerbildung spielt, teilt Mohr sehr bemerkens¬ 
werte Versuche mit, der ein Absinken der Zuckerausscheidung fand, wenn 
dem hungernden Hunde nach Pankreasexstirpation Benzoesäure gegeben 
wurde. Mohr glaubt, daß die Ursache dieser Erscheinung auf die Fixierung 
von Giykokoll durch Benzoesäure zurückzuführen ist, das sonst zur Zucker- 
biidung Verwendung gefunden hätte. Von fundamentaler Bedeutung 
für die Frage der Zuckerbildung aus Aminosäuren ist es, daß es 
Carl* Neuberg vor kurzem gelungen ist, durch Reduktion von 
Aminosäuren zu den Aminoaldehyden zu gelangen, namentlich zu 
Aminoglykolaldehyd und Aminoglyzerinaldehyd, deren nahe Beziehungen zur 
Zuckersynthese in vivo und in vitro bekannt sind. Durch diese Umwandlung 
sehen wir die Aminosäuren über die Aminoaldehyde zu den Zuckern in 
Verbindung treten. Es braucht ja nur eine Desamidierung der Aminogruppe 
einzutreten, was beim Alanin von Neuberg und Langstein durch die Ent¬ 
stehung der Milchsäure nachgewiesen ist und in der Puringruppe zu den 
alltäglichsten Erscheinungen gehört. 

B. Zuckerbildang aus Fett. Die Zuckerbildung aus Fett ist, nachdem 
die Physiologen wiederholt festgestellt haben, daß Fettfütterung keinen 
Glykogenansatz macht, bisher abgelehnt worden, und die Versuche von 
Seegen, welcher in der Leber aus Fettsäuren Zucker entstehen sah, sind 
trotz der Versuche von Weiss nicht anerkannt worden. Auch neuerdings 
angestellte Versuche von Mohr 12 ) bei pankreaslosen Hunden zeigten, daß 
reichliche Fettzufuhr keine Vermehrung, sondern ein Absinken der Stickstoff¬ 
und Zuckerausscheidung zur Folge hatten. Trotzdem mehren sich in 
neuerer Zeit die Stimmen, welche für eine Zuckerbildung aus 
Fett sprechen, und insbesondere sind Kliniker wie v. Noorden 
und Rumpf für eine solche eingetreten. Da das Fett aus Fettsäure 
und Glyzerin besteht, so müssen beide Bestandteile für die Frage der 
Zuckerbildang besonders untersucht werden. Aus dem Glyzerin bildet sich, 
wie Emil Fischer gezeigt hat, eine Triose, die Glyzerose, die nach den 
Untersuchungen von Neuberg und mir 18 ) im Organismus zum größten 
Teil verbrannt, zu einem kleinen Teil als Glukose ausgeschieden wird. 
Nicht ganz im Einklang mit der großen Verbrennbarkeit der Glyzerose 
auch beim schweren Diabetiker steht die Tatsache, daß das verfütterte 
Glyzerin meist als Zucker beim Diabetiker ausgeschieden wird. Cremer 
konstatierte bei phlorizinvergifteten Tieren nach Zufuhr von Glyzerin eine 
prompte Vermehrung der Zuckerausscheidung. Diese Tatsache ist, wie 
Lüthje 14 ) betont, um so interessanter als die Fütterung von neutralem 
Fett, das doch im Darm ebenfalls eine Spaltung in Glyzerin und fette Säuren 
erfährt, nicht Zuckervermehrung hervorruft. Für die Frage der Zucker- 
bildung aus Glyzerin beim Diabetiker sind entscheidend die Versuche 
von Lüthje bei pankreaslosen Hunden, die alle zu einem deutlich positiven 
Resultate führten. Die Berechnungen Lüthjes ergaben, daß selbst wenn man 
alle nur verfügbaren sonstigen Quellen für eine Zuckerbildung heranzieht, 


Digitized by 


Google 



96 


Diabetes. 


immer noch ein großer Rest übrig bleibt, der nur durch eine Znokerbildnng 
ans Glyzerin erklärt werden kann. Ganz ähnliche Resultate ergeben solche 
Körper, welche die Glyzerinkomponente enthalten wie Lezithin. Die Zucker- 
bildnng ans Lezithin hat aber insofern eine große praktische Bedeotnng, 
als Eigelb und Hirnsnbstanz reich an Lezithin sind. So sah Lüthje 16 ) bei 
einem 13 jährigen Knaben mit ziemlich schwerem Diabetes regelmäßig 
an den Eigelbtagen eine deutliche Steigerung des Zuckers. Alle Versuche, 
mit Fett, auch subkutan eingeführtem Fett (Lüthje) oder mit Fettsäuren 
selbst za einem positiven Resultat zu kommen, sind dagegen gescheitert. 
Es kann also bisher eine geringe Zuckerbildung aus Fett, insoweit sie der 
Glyzerinkomponente des Fettes entspricht, zugestanden werden. Sie beträgt 
aber nur 10% and ist also für die Zuckerbildung in praxi unwesentlich. 
Es bleibt daher die Frage der Zuckerbildung aus Fett immer noch be¬ 
stehen, und sie bleibt identisch mit der Frage der Zuckerbildung aus Fett¬ 
säuren. 

Nun haben v. Noorden, Rumpf und Rosenquist hauptsächlich deshalb 
eine Zuckerbildung aus Fett prätendiert, weil sie Fälle von schwerem Dia¬ 
betes beobachteten, in denen selbst dann, wenn der gesamte Kohlenstoff 
des anscheinend zersetzten Eiweiß in Zucker übergeführt worden .wäre, 
immerhin noch ein nicht unbeträchtliches Defizit von Zucker übrig blieb, 
für dessen Entstehung keine andere Quelle ihnen möglich schien als das 
Fett. Als Beweis hierfür wurde das kolossale Ansteigen des Quotienten D: N 
angesehen. Bekanntlich hat Minkowski 16 ) den Quotienten D:N als 2*8 im 
Durchschnitt festgestellt, d. h. 2*8 g Zucker erscheinen im Mittel gleichzeitig 
mit dem Stickstoff von 6*25 g zerfallendem Eiweiß im Harn. Nun fand schon 
Minkowski erheblich höhere Werte, 7*7, und später wurden von zahlreichen 
Autoren, insbesondere von Harthog und Schümm 17 ) noch höhere Werte fest¬ 
gestellt. Mit Recht betont Lüthje, daß alle Herleitungen einer Zuckerbildung 
aus Fett aus einem die MiNKOwsKische Zahl weit übersteigenden Koeffizienten 
solange müßig sind, solange wir die Bedeutung dieser Zahl im Zweifel 
lassen müssen. Aber auch wenn man sonst diesem Quotienten nicht alle 
Berechtigung absprechen will, so zeigen die Resultate von A. Hesse 18 ), daß 
es unhaltbar ist, ihn für die Frage der Zuckerbildung aus Fett heran¬ 
zuziehen. Versuche an zwei Diabetikern ergaben zunächst mitunter sehr hohe 
Zahlen für den Quotienten D: N, nämlich 7*76, 9*24 und 11*64. Als nun Fett 
gereicht wurde, zeigte sich, daß die Größe der Zuckerausscheidung keineswegs 
entsprechend hoch war; sie wurde sogar niedriger als in der Periode, in 
der die Eiweißzufubr reichlich, die Fettzufuhr gering bemessen war. Wäre 
Fett als Zuckerquelle zu betrachten, so müßte man ein Ansteigen der 
Zuckerausfuhr in der Fettperiode erwarten. Weiter zeigte sich, daß der 
Quotient D : N umgekehrt proportional der Eiweißzufuhr sich bewegt hat, 
u. zw. kommt dies durch eine Verminderung von N, nicht durch eine Ver¬ 
größerung von D zustande. Die Eiweißzersetzung bleibt aber auf großer 
Höhe. Am letzten Versuchstage wurden nur 8*54 g Stickstoff gereicht und 
16*58 g ausgeschieden. Hier wurden bei einer Fettzufuhr von nur 86*5 g 
151*4 g Zucker ausgeschieden. Es war also hier nur Eiweiß als Zucker- 
quelle denkbar. Der Quotient erreichte aber an diesem Tage eine Höhe von 
7*34. Wenn der ausgeschiedene Stickstoff alle in den Stoffwechsel ein¬ 
getretenen Eiweißmoleküle anzeigt, so maßten hier aus 6*25 g Eiweiß 
7*34 g Zucker entstanden sein. Man wird so zu der Vorstellung hingeleitet, 
daß viel mehr Eiweißmoleküle in den Stoffumsatz eingetreten sind, als aus 
dem Harnstickstoff zu ersehen ist, daß sie aber nur die zur Zuckerbildung 
notwendigen Bestandteile verloren haben, und nur ein an solchen armer 
stickstofffreier Rest retiniert worden ist. Die Harnstickstoffzahlen lassen gar 
keinen Schluß zu auf die in Zersetzung eingetretenen Eiweißmengen. Damit 


Digitized by t^ooQle 



Diabetes. 


97 


wird aber auch die Beurteilung der Eiweißmengen, aus denen der Eiweiß- 
zucker beim schweren Diabetiker stammt, auf Grund des Quotienten D : N 
hinfällig. 

Auch Hübner 20 ) prüfte den Einfluß des Fettes auf die Zuckerausschei- 
düng, indem er in einer Reihe von Fällen zu sehr fettarmer Kost große 
Mengen Fett zulegte. Die Kost enthielt in den ersten drei Reihen reichlich, 
in den drei späteren wenig Kohlehydrate. Jede Reihe dauerte 3—5 Tage. 
Während sich in allen Versuchen ein deutlicher Einfluß des Eiweißes auf 
die Zuckerausscheidung erkennen ließ, zeigte sich die völlige Wirkungs¬ 
losigkeit der Fettzulagen. 

In denjenigen Fällen, in denen Fettzulagen Zuckervermehrung machte, 
waren Verdauungsstörungen infolge der fettreichen Nahrung Schuld daran. 

Rumpf 19 ), der wohl in Deutschland am energischesten die Zuckerbildung 
aus Fett prätendiert, denkt sich übrigens die Zuckerbildung aus Fett nur 
im Notfälle und als Reserve eintretend. 

Es ist nun ferner gegen die Beweiskraft der Fälle, in denen eine so exorbi¬ 
tante Zuckerbildung eintrat, daß sie aus Eiweiß allein nicht zu erklären 
war und daher v. Noorden als beweisend für die Zuckerbildung aus Fett 
herangezogen wurde, von Umber, mir und Lüthje, denen sich zahlreiche 
Forscher angeschlossen haben, folgender Einwand gemacht worden. Es wurde 
bemerkt, daß das Eiweißmolekül, welches angegriffen wird, keinesfalls sofort 
bis zu den Stoffwechselendprodukten zerfallen muß, es könne auch ein teil- 
weiser, allmählicher Abbau stattfinden. Die kohlenstoffreichen, zuckerbildenden 
Ketten könnten zunächst abgestoßen und in Zucker umgewandelt und aus¬ 
geschieden werden, während die stickstoffreichen Atomgruppen retiniert 
würden. Dann wäre natürlich der Stickstoffgehalt des Harns und Kots kein 
sicherer Maßstab mehr für diejenige Menge Eiweiß, die für die Zucker¬ 
bildung in einem gegebenen Moment in Betracht kommt. Dann verliert der 
Quotient D : N jegliche Bedeutung. 

Neuerdings ist diese Behauptung von Mohr gestützt worden, der fest¬ 
stellte, daß die Abspaltung der Kohlehydrate aus Eiweiß nach Aufnahme 
derselben in die Zirkulation sehr schnell vor sich geht, während die Aus¬ 
scheidung des kohlehydratfreien Eiweißrestes viel langsamer nachfolgt. Ist 
diese Ansicht richtig, dann kann beim schweren Diabetiker ein Eiweiß ent¬ 
stehen, das an Kohlehydratgruppen resp. an kohlehydratbildenden Gruppen 
verarmt. Dies scheint nach Versuchen von Kraus und seinen Schülern der 
Fall zu sein. Kraus zeigte, daß Mäuse, die an Phlorizindiabetes zugrunde 
gegangen waren, weniger Monoaminosäure-Stickstoff im Verhältnis zum 
Gesamtstickstoff des Körpers enthielten als normale. 

Dieser Weg der partiellen Abartung des chemischen Typus für schwere 
Stoffwechselstörungen hat sich als sehr fruchtbar erwiesen. Bei der Phosphor¬ 
vergiftung stellten Kossel und Wakemann fest, daß die Eiweißkörper an 
DiaminoBäure verarmten. Ich selbst fand beim hungernden phloridzindiabeti¬ 
schen Tier eine Verarmung des Bluteiweißes an Kohlehydratgruppen, und 
Bergell und ich haben beim schweren Diabetiker Ausscheidung von Tyrosin 
konstatieren können. 

Der schwere Diabetes ist also sicher nicht bloß eine auf den Zucker¬ 
stoffwechsel beschränkte Erkrankung, sondern es treten, direkt oder indirekt, 
Funktionsstörungen auf, die zeigen, daß auch der Stoffwechsel der Eiwei߬ 
körper beim schweren Diabetiker gestört ist. Während beim Abbau der 
Eiweißkörper die Monoarainosäuren beim gesunden Menschen in großen 
Mengen verbrannt werden und auch beim leichten Diabetiker keinen Unter¬ 
schied gegenüber der Norm erkennen lassen, fanden Bergell und ich beim 
schwersten Diabetiker, der bereits im Koma war und wenige Tage nach 
unserer Untersuchung starb, daß 15 g inaktives Analin nicht mehr verbrannt 


Baejrclop. Jahrbücher. N. F. Vm. (XVII.) 


Digitized by 


i 

Google 



98 


Diabetes. 


wurden, u. zw. dürfte es von Interesse sein, daß die Linkskomponente dieser 
Substanz besser verbrannte als die Rechtskomponente, von der ein erheb¬ 
liches Quantum ausgeschieden wurde. 

C. Phlorizindiabetes. Die bekannte Eigenschaft des P h 1 o r i z i n s, 
Glykosurie zu erzeugen (v. Mering), beruht wie Mering und Zuntz gezeigt 
haben, auf einer Wirkung auf die Nieren. Der Zucker tritt bereits nach 
wenigen Stunden aaf; es handelt sich um Traubenzucker. Es kommen bei 
der Darreichung von 1 g Phlorizin auf 1 kg Körpergewicht bis 10 °/«> i a 
19% Zucker vor (v. Mering). Die Glykosurie dauert solange, wie Phlorizin 
gegeben wird, doch ist die Größe der Zuckerausscheidung nur bis zu einer 
bestimmten Höhe von der Phlorizinmenge abhängig (Löwi). Da die Gly¬ 
kosurie beim Phlorizindiabetes dadurch zustande kommt, daß die Niere dem 
Blute den Traubenzucker entnimmt, so haben wir im Gegensatz zu nicht 
renalen Formen der Glykosurie eine Hypoglykämie. Doch soll es Vorkommen, 
daß in gewissen Stadien, z. B. kurze Zeit nach dem ersten Auftreten der 
Glykosurie, eine Hyperglykämie eintritt (Biedl und Kolisch). In erster Linie ist 
das Glykogen resp. die im Organismus präformierte Kohlehydratmenge die 
Hauptquelle der Zuckerbildung, doch hat schon Prausnitz darauf hinge- 
wiesen, daß mehr Zucker ausgeschieden wurde, als sich aus Glykogen ge¬ 
bildet haben konnte. Das zeigt sich insbesondere bei Hungerversuchen 
(Mering) und darin, daß, je besser die Tiere mit Fleisch und Kohlehydraten 
ernährt werden, d. h. je größer ihr Kohlehydratvorrat bei Beginn des Ver¬ 
suches war, um so größer die Glykosurie ist (Moritz und Prausnitz). Solche 
Hungerversuche sind außer von Mering von Geelmuyden und Prausnitz an¬ 
gestellt worden. Prausnitz bestimmte bei einem von zwei gleich schweren 
Hunden das Glykogen (88 g ). Der zweite wurde im Hungerzustand gehalten 
und dauernd mit Phlorizin vergiftet (92 g Phlorizin in 12 Tagen). Dies Tier 
schied in dieser Zeit 286 g Zucker aus. Im toten Tier konnten noch 25 g 
Glykogen gefunden werden. Daraus schließt Prausnitz, daß der Zucker 
nicht ausschließlich dem Glykogen entstammen könne. Auch Kraus 21 ) hat 
bei mit Phloretin vergifteten Hungerkatzen eine Zuckerausscheidung be¬ 
kommen, welche den möglichen Glykogengehalt übertraf. 

v. Mering 22 ) konstatierte bei einem Hunde von 14 kg, der 7 Tage ge¬ 
hungerthatte, nach 10 ^ Phlorizin innerhalb 24 Stunden eine Zuckerausscheidung 
von 13^ Zucker und 3 Tage später nach 15 ^ Phlorizin von 26^. Hädon 
ließ einem stark abgemagerten Hunde von 12 kg 22 Tage nach der Ent¬ 
fernung des Pankreas 5 g Phlorizin einspritzen. Dieser Hund, der bis dahin 
1 kg Fleisch verzehrt hatte und keinen Zucker mehr ausschied, sobald man 
ihn hungern ließ, schied nach der Phlorizineinspritzung 18 g Zucker ans. 
Ein anderer Hund, 11 Tage nach der Entfernung des Pankreas, der so 
schwach war, daß er nicht mehr essen konnte und keinen Zucker mehr 
ausschied, verlor nach der Phlorizineinspritzung etwas über 10^ Zucker. 
So sehen wir also, daß bei hungernden, stark heruntergekommenen Hunden 
mit und ohne Pankreasexstirpation Zuckerausscheidung nach Phlorizininjektion 
sich zeigt. 

Auch die Versuche von Lusk sprechen für Zuckerbildung aus Eiweiß. 
Lusk 28 ) hat in achtstündigen Pausen regelmäßig Phlorizin eingespritzt und 
so einen dauernden Phlorizindiabetes erhalten. Die ausgeschiedene Trauben¬ 
zuckermenge war so groß, daß von einer alleinigen Bildung aus Glykogen 
nicht gut die Rede sein konnte. 

Was nun den Einfluß der Kohlehydrate auf den Phlorizindiabetes an¬ 
belangt, so hat Huot Glukose bei phlorizindiabetischen Hunden verfüttert 
und subkutan eingespritzt. Der Zuckergehalt des Urins stieg, u. zw. stärker 
nach subkutaner Einspritzung als bei Verfütterung des Zuckers. Bei gleich¬ 
zeitiger Darreichung von Bierhefe sank der Zuckergehalt relativ. Mering 


Digitized by 


Google 



Diabetes. 


99 


gibt an, daß bei reichlicher Kohlehydratkost nicht mehr Zucker aus¬ 
geschieden werde als bei ausschließlicher Fleischkost. Ähnliche Resultate 
wie Huot hatten auch Spiro und Vogt. 24 ) Unter der Injektion von konzen¬ 
trierter Traubenzuckerlosung in die Venen bei gleichzeitiger Darreichung 
von Phlorizin stieg die Zuckerkonzentration im Harn. Auch intravenös ein¬ 
geführter Rohrzucker wird bei Phlorizindarreichung wieder ausgeschieden. 
Lävulose vermehrt nach Lusk die Zuckerausscheidung, u. zw. wird Trauben¬ 
zucker ausgeschieden. Auch Milchzucker verursacht eine Vermehrung des 
Zuckers im Harn. 

Wir sehen also, daß bei Kohlehydratzufuhr der Zucker beim 
Phlorizindiabetes steigt, aber Fleischkost läßt die Zuckeraus¬ 
scheidung noch mehr anschwellen als Kohlehydrate (Moritz und 
Prausnitz. 28 ) Im allgemeinen wird die Eiweißzersetzung durch das Phlorizin 
bei normaler Kost nicht geschädigt, doch steigt sie bei hungernden Tieren 
bis zu 100%. Nach CrBxMEr 29 ) läuft die Zuckerausscheidung und Eiwei߬ 
zersetzung mit Ausnahme des Beginnes, wo durch Glykogenzerfall mehr 
Zucker erscheint, nahezu parallel. Daß aber auch der Zucker bei schwerem 
Phlorizindiabetes verwertet werden kann, zeigt die Beobachtung von Lusk, 
daß nach Zufuhr von Dextrose der Eiweißzerfall abnimmt. 

Die ausschließliche Ernährung mit Eiweiß in Form be¬ 
stimmter Eiweißkörper ergab eine verschiedene Zuckeraus¬ 
scheidung. So fand Bendix beim Hunde, daß im Verhältnis zu 1; Stick¬ 
stoff nach Ovalbumin 1*8 —4 g Zucker, nach Kasein 3 —4 g Zucker, nach 
Gelatine 1*6—2 9 g Zucker ausgeschieden wurden. 

Über die Bildung von Zucker aus Amidosäuren beim Phlorizindiabetes 
stellten GlAssnkr und Pick Untersuchungen an. 10 ) Es zeigte sich, daß 2 g 
Leuzin die Zuckerausscheidung von 2*86 ^ beim Hunde auf 4*84^ steigerten, 
5 g Alanin von 4*8^ auf 8*1 also die Zuckermenge verdoppelten; Aspa- 
ragin von 2*4 g auf 4*4 g: hg Glykokoli von 2*9 g auf 4*4 g ; hg Glutamin¬ 
säure von 3*3 ^ auf h7g. Demnach sind eine Reihe von Amidosäuren be¬ 
fähigt, die Zuckerausfuhr beim Phlorizindiabetes zu steigern. Es wirken 
Alanin, Glykokoli, Asparagin fast gleich stark, etwas schwächer Glutamin¬ 
säure und Leuzin. Diese Wirkung ist zum Teil auf die stickstofffreie Gruppe 
zurückzuführen, denn ein Versuch mit Milchsäure zeigte ebenfalls eine 
Steigerung der Zuckerausscheidung. Jedenfalls ist aber die Stellung der 
Amidogruppe von Wichtigkeit, wie aus dem negativen Ausfall eines Azet- 
amid versuch es hervorgeht. Daß es nicht bloß die harntreibenden Wirkungen 
der Amidosäure sind, welche die vermehrte Zuckerausscheidung verursachen, 
geht hervor aus Versuchen mit Coffein, welche keine Vermehrung der Zucker¬ 
ausscheidung zeigen. Bei Hungertieren ist die Wirkung der Aminosäuren 
viel schwächer. Die bei gefütterten Tieren wenig wirksame Glutaminsäure 
versagt hier vollständig, während das bei normalen Tieren am stärksten 
wirkende Alanin nur einen geringen Effekt hat. Möglicherweise ist der 
Mangel an Glykogen von Einfluß. Vielleicht retiniert der hungernde Orga¬ 
nismus die nicht stickstoffhaltigen Anteile der Aminosäure stärker als der 
gefütterte. Auch Rahel Hirsch konnte beim mit Phlorizin vergifteten hun¬ 
gernden Tiere nach Alaninfütterung keine Zuckervermehrung finden. 

Der Quotient D : N verhält sich beim Phlorizindiabetes anders 
als beim Pankreasdiabetes. Er wird beim totalen Phlorizindiabetes meist 
höher gefunden. Bei Pankreasdiabetes wird er zu 2*8—3 angenommen, beim 
Phlorizindiabetes schwankt er zwischen 3*8 und 5*5. Lusk meint, daß beim 
Phlorizindiabetes über 60% des Eiweißmoleküls, beim Pankreasdiabetes nur 
45% in Zucker übergehen. Es soll beim Phlorizindiabetes eine Verbindung 
entstehen, welche den aus Eiweiß entwickelten Zucker enthält und ca. 15°/o 
des Eiweißmoleküls ausmacht. Diese Verbindung soll beim Pankreasdiabetes 


7* 


Digitized by 


Google 



100 


Diabetes« 


verbrannt, beim Phlorizindiabetes aber ausgeschieden werden und dadurch 
die Höhe des Quotienten D: N bedingen. Die Bedeutungslosigkeit dieses 
Quotienten geht aber aus Versuchen von Percy, Stiles und Lusk hervor. 
Wenn sie hungernden Hunden alle 8 Stunden je 2 g Phlorizin gaben, so 
trat nach einiger Zeit im Harn das Verhältnis D: N = 3 75 ein. Benutzte 
man aber die Tiere öfters zum Versuch, so sank das Verhältnis auf 2*8. 
Fleisch-, Kasein- und Oelatinenahrung änderten daran nichts. 

Auch die Frage der Zuckerbildung aus Fett ist beim Phlorizindiabetes 
behandelt worden. Untersuchungen von Löwi 30 ) an Hunden mit konstanter 
Fleischnahrung ergaben, daß bei Fettzufuhr die N-Ausfuhr bei dem in 
starker Eiweißzersetzung begriffenen Tier fast auf die Hälfte absinkt. Man 
könnte also denken, daß Eiweiß gespart wird. Dem widerspricht aber das 
Verhalten der Zuckerausscheidung. Sie sinkt, unter dem Einfluß der Fett¬ 
anlage zwar auch, aber in viel geringerem Maße als der N, so daß z. B. am 
letzten Tag bei 12*17 ^ N 37*29 Dextrose erschienen, während am 17. Tage 
bei 21*99 g N 39*8 Dextrose ausgeschieden wurden, also bei Absinken des N 
bis fast auf die Hälfte ist an diesem Tage die Zuckerausscheidung fast auf 
ihrer früheren Höhe geblieben, so daß D : N von 1*8 auf 3*0 stieg. Wäre Eiweiß 
gespart worden, dann hätte die Zuckerausscheidung in demselben Verhältnis 
wie die des N abnehmen müssen. Da dies aber nicht der Fall ist, so muß 
ein N- reicher Bestandteil des Eiweiß gespart worden sein. Da niemals nach 
Fettzulagen Zuckervermehrung im Harn konstatiert wurde, so sprechen 
Löwis Versuche nicht für eine Zuckerbildung aus Fett. 

Daß Glyzerin und Lezithin Fettbiidner sind, haben wir bereits aus¬ 
einandergesetzt. Da die Frage der Zuckerbildung aus Fett aber eine Frage 
der Zuckerbildung aus Fettsäure ist, so kann diese Tatsache nicht für die 
Zuckerbildung aus Fett beim Phlorizindiabetes verwandt werden. 

Die Zuckerausscheidung ist nach subkutaner Injektion des Phlorizin 
geringer als nach intravenöser. Bei längerer Anwendung des Phlorizins be¬ 
kommt man schwerere Störungen. Die Ausscheidung des Stickstoffes ist 
stark erhöht, auch die der Phosphorsäure. Bei großen Dosen Phlorizin 
scheint nach Bendix die Phosphorsäureausscheidung besonders stark vermehrt 
zu sein, nach kleinen Dosen ist sie im Gegenteil, wie Lepine zeigte, ver¬ 
mindert. Ebenso soll die Oxalsäureausscheidung sich vermindern, wenn die 
Glykosurie sich vermehrt. Bei Kaninchen zeigt sich fast immer bei längerer 
Anwendung Albuminurie (v. Kossa 31 ). Es fanden sich granulierte Zylinder. 
Im allgemeinen aber werden, wie auch schon Selig 82 ) festgestellt hatte, 
die Glomeruli intakt gefunden. Einige behaupten, daß dieLANGERHANSschen 
Inseln verändert seien (Ghedini). 3S ) 

Die intravenöse Phlorizininjektion (Spiro und Vogt) verursacht regel¬ 
mäßig ein Ansteigen der Zuckerkonzentration im Harn. In einem Falle von 
3*2 auf 4*1, in einem andern Falle von 3*6 auf 7%. Diese Steigerung kann 
nicht auf einem plötzlichen Eintritt großer Zuckermengen in das Blut be¬ 
ruhen. Es handelt sich wahrscheinlich um eine Änderung im Ablauf der 
Sekretion. Unmittelbar nach der Phlorizininjektion nimmt die Harnmenge 
ab, ohne daß der Blutdruck geändert wird. Dabei ist neben der Sekretion 
der Harnmenge auch die der Salze, Chloride und Phosphate vermindert. 
Die gegenseitige Unabhängigkeit von Kochsalz und Traubenzucker, die auch 
bei gleichzeitiger Injektion einer gemeinsamen Lösung beider Substanzen 
sich zeigt, ist der Beweis dafür, daß die Zunahme des prozentischen Zucker¬ 
gehaltes nicht lediglich auf der verminderten Wasserausscheidung beruht. 
Ebenso wie bei Zuckerinfusion bewirkt das Phlorizin auch bei Kochsalzinfusion 
eine plötzliche, aber vorübergehende Abnahme der Diurese. Dagegen wird 
die Harnmenge bei nicht vorbehandelten Tieren durch Phlorizin nicht ver¬ 
mindert, sondern vermehrt. Das Phlorizin ist manchmal ein Diuretikum, 


Digitized by 


Google 



Diabetes. 101 

manchmal vermag es aber auch eine bereits bestehende Diärese zu unter¬ 
drücken. 

Schon Mering beobachtete Azeton- und Oxybuttersäureausscheidung 
beim Phlorizindiabetes. Hartog und Schümm, Külz und Wright haben Azet- 
essigsäure gefunden, dagegen Azeton und Oxybuttersäure nicht. Gewöhnlich 
wurde sie beim gut genährten Tier vermißt, dagegen rief Phlorizinvergiftung 
regelmäßig beim hungernden Hunde eine bedeutende Azetonurie hervor 
(Gerlmuyden u ). Dieser Autor fand zwar Verschiedenheiten in der Azeton¬ 
ausscheidung im allgemeinen, aber bei Hunden von 10—13 kg neben 36 g 
Zucker 440 mg Azeton im Tagesharn. Dabei zeigte sich, daß bei Tieren, 
welche mit eiweiß- oder koblehydrathaltigem Futter ernährt waren, die 
Azetonurie bei mittelgroßen Dosen unerheblich ist. Sehr große Dosen, bis 
10 g bei einem 19 kg schweren Hunde, machten eine bedeutende Azetonurie, 
selbst wenn die Tiere ernährt werden. Es zeigte sich nun, daß Kohlehydrate 
ebenso wie beim diabetischen Menschen die Azetonausscheidung bedeutend 
herabsetzen. Dagegen scheint Fett nicht immer eine Azeton vermehrende 
Wirkung zu haben, sondern in einem Falle hat Rindertalg die Azetonurie 
ganz verhindert, in einem anderen Falle dieselbe gegenüber der Hunger- 
azetonurie etwas herabgesetzt. Geelmuyden meint nun, daß der Unterschied 
nur darin liege, daß beim Menschen als Fett meist Butter benutzt werde, 
während er beim Hunde Rindertalg angewandt habe. Dies ist nun insofern 
nicht ganz richtig, als auch beim Menschen Schweine- und Rinderfett be¬ 
nutzt wurden. Allerdings zeigte sich nach diesen Substanzen keine Azeton- 
vermebrong. Es dürfte also der Unterschied zwischen Mensch und phlorizin- 
vergiftetem Hunde nicht so groß sein, wie Geelmuyden annimmt, sondern 
beruhen auf der Art des angewandten Fettes, denn Buttersäure, die in Butter 
enthalten ist, vermehrte auch beim phlorizinvergifteten Hunde ebenso wie 
beim Menschen die Azetonurie. 

Baer 26 ) zeigte, daß trotz Phlorizinglykosurie keine Azidosis auftrat, 
solange Stickstoffgleichgewicht vorhanden war. Erst bei Stickstoffzerfall tritt 
die Azidosis auf und dauert solange, als der Stickstoffzerfall nicht behoben 
ist. In mäßigen Mengen zugeführte Kohlehydrate sind auch hier imstande, 
die Azidosis zu beseitigen. Genau dasselbe ist der Fall bei der Indikanurie 
der Kaninchen, welche durch Phlorizininjektion verursacht ist. Nur solche 
Kaninchen, bei denen ein Eiweißzerfall stattfindet, scheiden Indican aus, 
während dagegen, solange dies nicht der Fall ist, keine Indikanurie auftritt 
(Blumenthal und Rosenfeld 27 ). 

Beim Menschen bringt die Einführung einer geringen DosisPhlorizin noch 
leichter Glykosurie hervor als beim Hunde. Mering hat während eines Monats 
1 g morgens und abends einem Kranken mit Sarkom 34 ) eingespritzt. Der 
Kranke hat jeden Tag 2 1 / 2 —3 l Urin entleert mit 2*7—3*7% Zucker, so daß 
er also innerhalb 30 Tagen 2 kg 728 g Zucker produziert hat. Sobald das 
Phlorizin nicht mehr gegeben wurde, hat die Zuckerausscheidung aufgehört. 
Diese lange Anwendung des Phlorizins konnte geschehen, ohne daß der 
Allgemeinzustand dabei gelitten hat. Achard und Delamare spritzten einem 
Hemiplegiker von 52 Jahren 15 mg Phlorizin unter die Haut. Innerhalb 
einer halben Stunde erschien der Zucker im Harn. Die Glykosurie dauerte 
3 1 / 2 Stunden. Bei demselben Kranken haben 50 mg während 6 Stunden die 
Glykosurie unterhalten und es wurden 14 ^ Zucker ausgeschieden. Diese 
Versuche sind übrigens ein Beweis dafür, daß der Zucker nicht etwa aus 
dem Phlorizin entstehen kann, da aus einigen Milligramm Phlorizin nicht 
14 g Zucker entstehen können. 

Das Phlorizin wirkt nicht diuretisch. So hat Lüpine festgestellt, daß 
die Ausscheidung von Farbstoffen nicht durch das Phlorizin beeinflußt wird. 
Auch die Ausfuhr der Chloride wird nach seinen Untersuchungen nicht 


Digitized by UjOOQle 



102 


Diabetes, 


verändert. L£pine hielt Hunde mehrere Monate lang bei gleicher Ernährung 
mit absolut gleicher Chlormenge, so daß die Chlorausscheidung in der ganzen 
Zeit gleichmäßig war. Bei Phlorizineinspritzung, welche genügte, um Gly- 
kosurie hervorzurufen, wurde die Menge der Chloride nicht vermehrt. Nur 
wenn große Dosen Phlorizin gegeben wurden, zeigte sich eine, wenn auch nur 
leichte Vermehrung der Chlorausscheidung. Löwi hat keine Vermehrung der 
Chloride nach Phlorizineinspritzung gefunden und Bieberfeld 86 ) hat sogar 
eine Verminderung beobachtet und schließt daraus, daß das Phlorizin die 
Fähigkeit der Nieren schädigt, Chloride auszuscheiden. Ruschaupt 86 ) hat bei 
Kaninchen, welche eine sehr chlorarme Ernährung bekamen, eine Vermehrung 
der Chloride nach Phlorizineinspritzung gesehen. Auch Schilling fand im 
allgemeinen keine Beziehung zwischen der Glykosurie, der Polyurie und den 
im Urin ausgeschiedenen Salzen. 

Bei nur mit Pferdefleisch und Wasser ernährten Hündinnen war das 
Verhältnis von Kochsalz zu Stickstoff im Urin wie 2*2: 3*2 (Lepine und 
Maltet). Dosen von 0 2 pro Kilogramm Phlorizin veränderten das Verhältnis 
nicht und bewirkten keine Glykosurie. Dagegen trat nach 0*4 g Phlorizin 
Glykose im Harn auf und stieg das Verhältnis bis über 4 g. Danach scheint 
die Ausscheidung des größeren Moleküls Glykose die des kleineren Koch¬ 
salz erleichtert zu haben. 

Bei einer Hündin von 13 kg, welche Fleisch, Fett und Wasser erhielt, 
war das Verhältnis der Chloride zu der Gesamtsumme der gelösten Moleküle 
im Mittel 1*4, das der Phosphorsäure 0*62. In 24 Stunden nach Einspritzung 
von 6 g Phlorizin wurde Harn entleert, welcher 53 ^ Zucker enthielt. Das 
Verhältnis der Chloride war 1*6, das der Phosphorsäure über 1. Das Ver¬ 
hältnis der Phosphorsäure zu 100 g Stickstoff war von 12*5 g unter 12 g 
gesunken. Es bestand also gleichzeitig Verminderung der Phosphorsäure 
und Vermehrung der Chloride. 

Bei der Nierendiagnostik ist die Phlorizinglykosurie als Probe für 
die Nierenfunktion von Casper und Richter 87 ) sowie Achard und Delaware 
vorgeschlagen worden. Gesunde Nieren scheiden nach Casper und Richter 
nach subkutaner Phlorizininiektion — es waren von ihnen 0 005 g Phlorizin 
subkutan beim Menschen verwendet —, wenn man gleichzeitig aus beiden 
in dem Zeitraum von einer halben bis einer Stunde den Urin auffängt, die 
gleiche Zuckermenge aus. Die kranke Niere verrät sich durch Herabsetzung 
der Zuckermenge, die bei hochgradiger Erkrankung der Niere vollständig 
verschwinden kann. Bei doppelseitiger Erkrankung der Niere verwischen 
sich die Unterschiede in der Zuckerausscheidung. Später berichteten die 
Autoren nach Anwendung der Probe an einem großen Material, daß die 
Phlorizinmethode ein Reagens auf die Größe des funktionsfähigen Nieren¬ 
parenchyms sei. Die Probe mißt die Größe des vorhandenen Nierenparenchyms, 
damit zugleich die Größe der Nierenarbeit. Wenn auch diese Nierenarbeit 
nur auf einer einzigen und unter normalen Verhältnissen in der Niere fehlen¬ 
den Funktion der Zuckerabspaltung aus dem Blute beruht, so scheint durch 
sie doch ein allgemeiner, in Zahlen leicht ausdrückbarer Maßstab der Nieren¬ 
tätigkeit gewonnen zu sein. Die Akten über diese Methode sind noch nicht 
ganz geschlossen. Einer großen Anzahl eifriger Anhänger stehen gewichtige 
Gegner gegenüber. 

D . Azidosis beim Diabetes. Die Menge der im Diabetes ausgeschiedenen 
Azetonkörper wechselt sehr stark. Wir haben gesagt, daß gewöhnlich bei 
geringen Mengen nur Azeton im Harn erscheint, bei etwas größeren auch 
Azetessigsäure, während, wenn sehr große Mengen Azetonkörper ausge¬ 
schieden werden, auch ß Oxybuttersäure vorhanden ist. Es läßt sich aber 
keine Norm dafür aufstellen, bei welcher Menge Azeton die ß-Oxybutter- 
säure im Harn erscheint. Im allgemeinen kann man sagen, daß, wenn mehr 


Digitized by 


Google 



Diabetes. 


103 


als 7s y Azeton im Tagesharn ist, man selten die Azetessigsäure vermißt, 
und wenn mehr als 15—2 g Azeton am Tage aasgeschieden werden, man 
immer ß- Oxybuttersäure nachweisen kann. Aber es gibt auch Fälle, in denen 
Azeton fehlt und ß Oxybuttersäure vorhanden ist. In diesen Fällen ist die 
Oxydationskraft des Organismus so geschädigt, daß er die gebildete Oxy- 
buttersäure nicht einmal zu Azeton oxydieren kann. So sind in der Tat 
Fälle von Coma diabeticum bekannt, wo kein Azeton ausgeschieden wurde, 
sondern alle Azetonkörper nur in der Form von ß Oxybuttersäure vorhanden 
waren (Mohr 88 ). Die Menge der ß Oxybuttersäure wechselt nicht nur von Fall 
zn Fall, sondern auch innerhalb der einzelnen Fälle. Bald finden wir täglich 
nur einige Gramm, bald wochenlang 30, 40 g und mehr. Die höchsten Aus¬ 
scheidungen sind von Magnus -Leyy bei komatösen Diabetikern gefunden 
worden, nämlich 150—180 g. Die Mengen, welche also beim schweren Dia¬ 
betiker im Blute zirkulieren, sind in der Tat geeignet, das Bild des Komas 
zu erklären. Wir müssen bedenken, daß große Mengen Säure fortwährend 
dem Organismus Alkali entziehen. Wenn daher Benedict und Török diese 
Ansicht ablehnen, weil der Organismus genug Ammoniak zur Verfügung 
habe, so haben sie diese Verhältnisse sicher nicht berücksichtigt, da hier ganz 
enorme Mengen Ammoniak verbraucht werden. Die Frage entsteht nun, warum 
beim Diabetiker besonders große Mengen Azetonkörper gebildet werden, 
welche in keinem Verhältnis stehen zu der Menge dieser Substanzen, die 
wir bei anderen Krankheiten, z. B. im Fieber, finden. Diese Frage steht in 
engster Beziehung mit der von der Bildung des Azetons. 

Bezüglich des Ortes der Azetonkörperbildung geht die allgemeine 
Ansicht dahin, die Entstehung der Azetonkörper in die Gewebe zu ver¬ 
legen. Eine Zeit lang war man geneigt, eine Azetonbildung im Darm an- 
znnehmen, wohl deshalb, weil dieselbe häufig mit Verdauungsstörungen 
beginnt. Diese Ansicht galt aber als widerlegt, als man gerade beim Hunger 
bedeutende Mengen Azeton beobachtete. Dieser Einwand hat jedoch keine 
Berechtigung, denn die Zersetzungsvorgänge hören im Hunger nicht auf. 
Später ist Johannes Müller") wieder auf den Darmkanal als Quelle der 
Azetonbildung zurückgekommen, weil Zucker, per ob gereicht, die Azetonurie 
vermindert, während Zucker, als Klysma oder subkutan gegeben, dies nicht 
tut. Es wirken demnach Kohlehydrate nur dann hemmend auf die Azeton¬ 
bildung, wenn sie den Magendarmkanal passieren. Nun hat aber Lüthje 
gezeigt, daß eine Desinfektion des Darmkanals mit Kalomel in keiner Weise 
die Azetonurie beeinflußt, so daß wir für die enterogene Entstehung der 
Azetonurie bisher keinen Beweis haben. 

Für die Verhältnisse beim Diabetiker kommen die von Noorden kon¬ 
statierten Tatsachen in erster Linie in Betracht. Es zeigte sich, daß zahl¬ 
reiche Diabetiker bei einer Kost, die mindestens 60—80 g Kohlehydrate ent¬ 
hält, und die sie auch ohne Zuckerausscheidung vertragen, keine Azeton¬ 
ausscheidung hatten; beim Übergang zur strengen Diät steigt die Azeton¬ 
ausscheidung und es tritt auch Azetessigsäure im Urin auf. Unter Fort¬ 
setzung einer strengen Diät sinken die Azetonwerte wieder und auch die 
Eisenchloridreaktion verschwindet. Es ist daher nicht immer richtig, sofort 
beim Erscheinen von geringen Mengen Azeton wieder Kohlehydrate zuzu¬ 
führen. In leichten Fällen von Diabetes kann man unbedenklich mit dem 
von Noorden angegebenen Erfolge die strenge Diät fortführen. Wir sehen 
auch manchmal, daß die Einführung eines Hungertages nicht nur die Kohle¬ 
hydratmenge herabsetzt, sondern auch die Azetonmenge (Schwarz). Ganz 
anders ist es bei der mittelschweren Form oder der Anfangsform der 
schweren Fälle. Diese scheiden, sobald die Menge der Nahrungskohlehydrate 
ein wenig ihre Toleranz überschreitet, bis 1 g Azeton am Tage aus und da¬ 
neben nur geringe Mengen Azetessigsäure und Oxybuttersäure. Mit der 


Digitized by 


Google 



104 


Diabetes. 


strengen Diät steigt hier die Azetonmenge an and es kommt aach zur ver¬ 
mehrten Ausscheidung von Azetessigsäure und Oxybuttersäure, die gewöhn¬ 
lich mit fortdauernder strenger Diät bestehen bleibt, stärker wird oder auch 
in einzelnen Fällen im Laufe einiger Tage wieder abnimmt. Bei sehr schwerem 
Diabetes, aber auch bei einigen Fällen, die wir als leichte ansehen, werden 
fortwährend große Mengen von Azeton und Oxybuttersäure gebildet, deren 
Anhäufung schließlich zum Koma führen kann. Doch zeigt sich im Laufe 
der Zeit ein starkes Schwanken in der Azetonausscheidung. Alle diese Fälle 
sind in hohem Grade beeinflußbar durch die Art der Ernährung, und hier 
haben wir im allgemeinen zu sagen, daß, wie Hirschfeld und Rosenfeld 
zuerst festgestellt haben, die Zufuhr von Kohlehydraten die Azetonurie ver¬ 
ringert. Er ergeben sich, wie Mohr hervorhebt, folgende wichtige Punkte. 
Bei wachsender Toleranz für Kohlehydrate nimmt die Ausscheidung der 
Azetonkörper ab, so daß bei gleicher Kost nicht nur weniger Zucker, sondern 
auch weniger Azeton ausgeschieden wird. Es wird jetzt mehr Kohlehydrat 
im Körper verbrannt und dementsprechend die Oxydation der Azetonkörper 
begünstigt. Bei sinkender Toleranz ist genau das Umgekehrte der Fall. Bei 
starker und steigender Kohlehydratzufuhr kann man wenigstens für einige 
Zeit die Azetonurie und die anderen Erscheinungen der Azidosis herab- 
mindern, da bei fast allen Diabetikern von dem in steigendem Maße dar- 
gereichten Kohlehydrat ein gewisser Teil verbrannt wird. In den seltenen 
Fällen, wo bei Steigerung der Kohlehydratzufuhr auch der ganze Überschuß 
unbenutzt durch den Harn ausgeschieden wird, bleibt auch die Azetonurie 
unbeeinflußt. Damit stimmt auch die Tatsache, daß bei keiner anderen Krank¬ 
heit annähernd so hohe Werte für Azetonkörper gefunden werden, wie beim 
Diabetes, überein. Beim Diabetes ist gerade diejenige Zellentätigkeit ge¬ 
schädigt, welche der weiteren Verarbeitung zur Oxydation der Azetonkörper 
Vorschub leistet. Die Verbrennung der Kohlehydrate fällt mehr oder weniger 
aus, teils durch das Versagen der entsprechenden Zellenfunktion, teils weil 
wir im Interesse der Gesundheit und mit Rücksicht auf die fernere Ent¬ 
wicklung der Krankheit möglichst wenig Kohlehydrat verzehren lassen. In 
den Fällen, wo wirklich sehr große Mengen von Azetonkörpern gebildet und 
angehäuft werden, wird übrigens nicht nur das Kohlehydrat der Nahrung 
nicht zersetzt, sondern auch ein großer Teil der Kohlehydrate, die aus 
anderen Substanzen sich herleiten, bleibt unzersetzt. Da dies bei keiner 
anderen Krankheit der Fall ist, so kann es dementsprechend auch nirgends 
zu so hohen Azetonwerten kommen wie gerade beim Diabetes. Doch kommen 
auch Ausnahmen vor, in denen die Azetonurie nur wenig heruntergeht, ob¬ 
wohl die Verwertung von Kohlehydrat im Stoffwechsel sich steigert. So 
berichtet Mohr, daß einzelne Diabetiker, trotzdem sie täglich 120—150 g 
Kohlehydrate assimilierten, noch reichlich Azetonkörper ausschieden. 

Der Einfluß der Kohlehydratzufuhr auf die Azidosis ist eben beim 
leichten Diabetiker und beim schweren verschieden. Wie Hirschfeld 40 ) fest¬ 
gestellt hat, werden bei einer Kohlehydratzufuhr, die mindestens 60—100 g 
beträgt, täglich 10—40^ Azeton ausgeschieden; nach Fortlassung der 
Kohlehydrate aus der Kost steigt die Azetonausfuhr in 4—5 Tagen rasch 
auf das Zehnfache, um bei kohlehydratreicher Ernährung wieder abzusinken. 
Komplikationen wie Herzfehler, Albuminurie, Tuberkulose, Fieber und Magen¬ 
krankheiten ändern nichts bei diesen Diabetikern an dieser Tatsache, wor¬ 
aus Hirschfeld schließt, daß die Annahme einer Acetonuria gastrica oder 
febrilis bei Diabetikern ebenso wenig berechtigt ist wie bei sonst gesunden 
Personen. Bei Diabetikern mit erheblicher Glykosurie, bei denen etwa 50% 
der mit der Nahrung aufgenommenen Kohlehydrate wieder aasgeschieden 
werden, ist bei reichlicher Kohlehydratkost häufig eine größere Menge 
Azeton vorhanden. Es werden 50—100 mg Azeton innerhalb 24 Stunden 


Digitized by 


Google 



Diabetes. 


105 


ausgeschieden. Läßt man die Kohlehydrate fort, so steigt die Azetonarie 
in ähnlicher Weise wie oben erwähnt. Führt man die Kohlehydrate wieder 
mit der Nahrang ein, so erfolgt das Absinken der Azetonarie nicht so 
rasch, es werden noch längere Zeit etwa 50—100 mg Azeton innerhalb 
24 Standen aasgeschieden. Noch deutlicher ist dieser Unterschied bei der 
schweren Form des Diabetes, bei der fast alle Kohlehydrate anverbrannt 
aasgeschieden werden and sogar noch aas Eiweiß Zacker gebildet wird. 
Das Absinken der Azetonaasscheidang nach Hinzafügen von Kohlehydraten 
erfolgt nur ganz langsam, oft erst nach mehreren Monaten. Auch hier ist 
das Auftreten von Komplikationen ohne Einfluß auf die Azetonaasscheidang. 
Die hohen Werte der Azetonarie 0 3—0 7 g trotz Kohlehydratzafahr findet 
man meist bei solchen Kranken, welche in bezog auf die Assimilierbarkeit 
des Zuckers sehr ungünstig gestellt sind, and bei denen der Verlauf der 
Krankheit ein sehr schwerer ist. Bessert sich die Glykosurie, so sinkt die 
Azetonarie stark, so daß man bäafig einen direkten Parallelismus zwischen 
Azetonurie and Glykosurie beobachten kann. Es gibt also Fälle von schwerem 
Diabetes, bei denen die Azetonurie nicht abhängig ist von der Zafahr der 
Kohlehydrate, sich also anders verhält als beim Gesunden. Diese Azetonurie 
ist demnach eine für den Diabetes charakteristische Stoffwechselstörung 
(Hirschfeld). 

Die azetonvermindernde Wirkung der Kohlehydrate wird von Geel- 
mcyden 41 ) so erklärt, daß aus dem zugeführten Traubenzucker Glykuron- 
säure wird, und diese sich dann mit dem Azeton paart. Die Azeton-Glykuron- 
säure soll aber leichter verbrennbar sein als das Azeton. 

Wir haben oben gesehen, daß Kohlehydrate (sechs Zucker und deren 
Multipla) das Azeton herabsetzen. Bei anderen Kohlehydraten ist dies nur unter 
Umständen der Fall. Schwarz 42 ) konstatierte nach Glykonsäure und Zucker¬ 
säure starke Herabsetzung. Er konnte feststelien, daß nach 20—100# neu¬ 
traler Glykonsäure die Azetonausscheidung stärker herabgedrückt wurde 
als durch erheblich größere Gewichtsmengen Traubenzucker. Bei einem 
Diabetiker wurden sogar zwei Komaanfälle durch 10 g glykonsaures Natron 
geheilt. Daneben waren allerdings noch große Mengen Na. bicarb. 140 g ge¬ 
geben worden. Mohr und Löb konnten diese schönen Resultate leider nur 
teilweise bestätigen. Später hat dann Schwarz 43 ) vier weitere Fälle mit¬ 
geteilt, in denen glukonsaures Natron die Azetonkörperausfuhr stark ver¬ 
minderte, bei einem leichten Diabetiker von 0*68 auf 0*49; bei einem 
schweren von 7*12 auf 6*4 g und die Oxybuttersäure von 24*3 auf 17*5#; 
bei einem weiteren schweren von 5*7 auf 3*1 g und Oxybuttersäure von 48*3 
auf 32*0 g. Gegeben wurden 20—45 g glykonsaures Natron. Mohr und Löb 
sahen nach glykonsaurem Kalk unter fünf Fällen von schwerem Diabetes nur 
zweimal die Ausscheidung der Azetonkörper, insbesondere der ß-Oxybutter- 
säure, deutlich vermindert werden. Daraus geht hervor, daß eine spezifische 
Wirkung der Glykonsäure auf das Diabeteskoma nicht als erwiesen ange¬ 
sehen werden kann. Dagegen bewirkte Lävulose und auch Xylose in einem 
Versuche deutliches Absinken der Ausscheidung von Azeton und Oxybutter¬ 
säure. 

Mohr und Löb haben 50 g Lävulose pro die und 98# Xylose in zwei 
Tagen verabreicht. Glykonsäure und ihr Kalksalz wurden in Dosen von 
30—40 # gegeben, ä 5 #, da größere Mengen manchmal Durchfall hervorriefen. 

Auch das Glyzerin setzt die Azetonaasscheidang herab (Hirschfeld, 
Weintraüd 44 ); es macht aber wie im Gegensatz zu Harnack, von Külz 45 ) 
und Weintraüd konstatiert wurde, oft starke Glykosurie. Caramel setzt 
nach Schwarz die Azidosis nicht herab. 

Was die Darreichung des Alkalis (Natr. bicarb.) auf die Azidosis an¬ 
belangt, so scheint dasselbe einen ausschwemmenden Einfluß auszuüben und 


Digitized by 


Google 



106 


Diabetes. 


darauf scheint ein wesentlicher Teil seiner Wirkung zu beruhen. Doch 
kommen auch Fälle vor, in denen nach Alkalidarreichung die Ausscheidung 
der Azetonkörper vermindert ist (Weintraüd, Magnus-Levy, D. Gerhardt und 
Schlesinger 46 ). Salzsäuregaben verminderten die Azetonurie (Weintraüd). 

Was die Quelle der Azetonbildung anbelangt, so stehe ich auf dem 
Standpunkt, daß sowohl Eiweiß wie auch Fett die Quelle abgeben kann. 
Sichtbar wird die vermehrte Bildung und Ausfuhr der Azetonkörper nur 
nach Fettausfuhr. 

Die höheren Glieder der normalen Fettsäurereihe, Palmatin und Stearin¬ 
säure, erhöhen die Ausscheidung der Azetonkörper weniger als die Butter-, 
Valerian- und Capronsäure (Schwarz). Nach Borchardt handelt es sich 
nicht um Valeriansäure, sondern um Isovaleriansäure. Wir sehen daher, 
daß nur solche Fette, die vorwiegend niedrige Fettsäuren enthalten, wie 
Butter, Sesamöl, die Azidosis vermehren, während dagegen Schweinefett 
und Rinderfett dies nicht tun (K. Grube 47 ). Hagenberg 48 ) sah sogar nach 
Schweinefett eine Verminderung. Er bezieht dies auf das Fehlen von Fett¬ 
säuren. Am geringsten ist der Einfluß der Glieder der ölsäurereihe: öl- und 
Erucasäure. Die öle scheinen hauptsächlich durch ihren Gehalt an flüchtigen 
Fettsäuren zu wirken. Es wird sich bei der diätetischen Behandlung des • 
Diabetes daher empfehlen, nicht mehr unbeschränkte Mengen von Fett zu 
gestatten, sondern von Fall zu Fall nach der Intensität der Azetonausscheidung 
zu ermitteln, welche Fettmenge und Art dem Patienten zuträglich ist. Die Ein¬ 
schaltung eines Hungertages beim Übergang von der gemischten zur kohlehydrat¬ 
freien Kost 6etzt für den Hungertag die Azetonkörpermenge herab. So ver¬ 
ringerte sich nach klaren Suppen und Kaffee als einzige Kost die Azetonmenge 
von 103 auf 0*65^; von 3*26 auf 2*33 g , von 6*7 auf 3*4 g (Schwarz). Folgt nun 
aber dem Hungertag eine reine Eiweißdiät, so steigt infolge des Kohlehydrat¬ 
mangels die Azetonmenge enorm, z. B. von 3 4 auf 9 6 und 14*6 g. Links- 
jä-Oxybuttersäure wird vom Gesunden bei Kohlehydratkarenz, namentlich 
aber vom schweren Diabetiker, unvollkommener umgesetzt als vom voll 
ernährten Menschen, während einverleibtes Azeton sowohl vom Diabetiker 
als auch vom normalen Menschen schwer angreifbar erscheint Azeton kann 
demnach beim physiologischen Stoffwechsel nicht als intermediäres Produkt 
Vorkommen, während für die Links ß-Oxybuttersäure diese Möglichkeit nicht 
auszuschließen ist. Der Fettgehalt des Blutes scheint beim schweren Diabetiker 
etwas höher zu sein als bei Nichtdiabetikern. Lipämie kommt beim schweren 
Diabetes auch bei fettfreier Kost und außerhalb des Komas vor und kann 
laDge Zeit symptomlos bestehen; ihr Vorkommen scheint mit der Aus¬ 
scheidung großer Azetonmengen in Zusammenhang zu stehen. Das Blut 
kann lipämisch beschaffen sein, ohne daß sein Fettgehalt abnorm erhöht ist. 
Daraus kann man mit Wahrscheinlichkeit auf eine Herabsetzung der lipo- 
lytischen Fähigkeit des Diabetikerblutes schließen. Auch Fischer 49 ) fand im 
Coma diabet. kolossale Mengen von Fett im Blute. Es waren nur Spuren 
freier Fettsäure vorhanden, dagegen 2 6% Cholesterine. Die Säure der Tri¬ 
glyzeride bestand zu 60*6% aus Ölsäure. Quelle des Blutfettes ist jedenfalls 
das Nahrungsfett, häufig aber auch das Fett des Körpergewebes, so im 
Hunger. Während normalerweise das Nahrungsfett aus dem Blute nach der 
Lipolyse durch die Kapillarwände hindurch tritt, ist in den Fällen mit Lipämie 
die Lipolyse geschwächt oder ganz verschwunden; es kann das Blut nicht 
mehr sein Fett in die Gewebe abgeben, so komme es zur Anhäufung. Das 
Leichenblut des Diabetikers, das allerdings nicht frisch untersucht wurde, 
zeigt keinerlei lipolytische Eigenschaften. 

In gleicher Weise wie auf die Azetonkörper wirkt Fett auf die Oxy- 
buttersäure ein (Mohr und Löb), und Rumpf hat durch große Gaben butter¬ 
sauren Natrons beim schweren Diabetiker Vermehrung der ji Oxybuttersäure 


Digitized by 


Google 



Diabetes. 


107 


erzielt. Doch beweisen diese Versuche wie die anderer Autoren nicht viel, 
da zugleich Natr. bicarb., das au! die Azidosis different, d. h. meist ver¬ 
mehrend wirkt, gegeben wurde. Einwandfreie Versuche liegen vor von Mohr 
und Löb, die nach 56 ^ Buttersaure 19*5 <7 Oxybuttersäure und 1*4 g Azeton 
Vermehrung konstatierten. 

EDuodenaldiabetes. Die Frage, welche Bedeutung das Pankreas als 
ätiologisches Organ ffir den Diabetes hat, ist immer noch nicht aufgeklärt. 
Während auf der einen Seite zahlreiche Forscher unter dem Eindruck der 
berühmten Experimente von Mering und Minkowski das Pankreas als das 
alleinige Diabeteszentrum ansehen, wollen andere ihm nur eine sekundäre 
Bedeutung für die Frage der Zuckerverbrennung gestatten. Pflüger be¬ 
kämpft die Lehre von der inneren Sekretion des Pankreas bei der Regu¬ 
lation des Kohlehydratstoffwechsels. Er meint, von der Medulla oblongata 
verlaufen Nerven zur Leber, deren Funktion es ist, durch Anregung der 
Bildung von Diastasen die Zuckerbildung zu steigern. Vom Dünndarm 
strahlen antidiabetische Fasern aus, welche die Bildung antidiabetischer 
Fermente anregen. Diese Fasern bewirken eine Hemmung der Zuckerbildung. 
Pflüger wandte gegen die Pankreastheorie des Diabetes ein, daß es nicht 
gegluckt sei, durch Einspritzen von Auszügen von Pankreasdrüsen den nach 
Pankreasexstirpation auftretenden Diabetes zu beschränken. Wichtig erscheint 
ihm ein Befund von H6don, daß Zuckerausscheidung eintritt, wenn bei dem 
in der Bauchhöhle belassenen Pankreasrest die Verbindung mit dem Mesen¬ 
terium durchschnitten wird. Dieser Befund beweist ihm, daß nicht die Ent¬ 
fernung des Pankreasrestes die Ursache des auftretenden Diabetes sei. 
Ferner tritt Diabetes nicht auf, wenn der gelassene Pankreasrest in Ver¬ 
bindung mit dem Duodenum bleibt, d. h., wenn der Teil der Pankreasdrüse 
verschont bleibt, der mit dem Duodenum in Zusammenhang steht. Weiter 
führte bei Fröschen totale Exstirpation des Pankreas zwar immer zur Gly- 
kosurie, aber noch stärkere Glykosurie als die Exstirpation der Pankreas¬ 
drüsen bewirkte die Entfernung des Duodenum. Denselben Effekt hatte eine 
Durchschneidung des Mesenteriums zwischen Duodenum und Pankreasdrüse. 
Ferner zeigte Pflüger, daß auch ohne Exstirpation des Duodenum Diabetes 
bei Fröschen auftritt, wenn man die Blutgefäße und Nerven durchschneidet, 
welche Duodenum und Pankreas miteinander verbinden. Danach würde also 
doch das Pankreas eine ausschlaggebende Rolle spielen, und zwar in der 
Weise, daß die innere Sekretion dieser Drüse durch Nerven reguliert wird, 
welche vom Duodenum nach der Bauchspeicheldrüse ausstrahlen. Nicht aus¬ 
geschlossen wäre es, daß die funktionelle Wechselbeziehung zwischen Duo¬ 
denum und Pankreas durch die Blutgefäße vermittelt wird. Um dies zu be¬ 
weisen, war es nötig, die Nervenverbindung allein zu unterbrechen. Schonte 
nun Pflüger die Blutgefäße und unterband allein die Nerven, so trat eben¬ 
falls Glykosurie auf. Nach Pflüger nehmen also die antidiabetischen Nerven, 
die vom Pankreas ausgehen, ihren Ursprung vom Duodenum. Das Duodenum 
ist also nach ihm ein Zentralorgan für die Regulation des Zuckerstoff¬ 
wechsels. Viele Jahre, bevor Pflüger seine Versuche veröffentlichte, hatten 
Renzi und Reale mitgeteilt, daß sie Diabetes bekamen, wenn sie das Duo¬ 
denum bei Hunden exstirpierten. Diese Exstirpation hatten sie aber vor¬ 
genommen weit unterhalb der Stelle, an der es mit dem Pankreas in Ver¬ 
bindung steht. Diese Versuche wurden von Pflüger wiederholt, jedoch mit 
negativem Resultat. Wie aus folgendem ersichtlich wird, handelt es sich 
aber bei der Beurteilung der Ergebnisse nach der Verletzung des Duodenums 
und der Exstirpation desselben nicht um einen echten Diabetes, sondern um 
Glykosurie. So erzielte Ehrmann bei Exstirpation des Duodenum bei Warm¬ 
blütern nur eine vorübergehende Glykosurie. Rosenberg bekam niemals eine 
Glykosurie nach Exstirpation des Duodenum außer der einen Tag währenden 


Digitized by 


Google 



108 


Diabetes. 


GlykoBurie, die er an! die gleichzeitige Epirenaneinspritzung bezog. Er hatte 
diese Einspritzung gemacht, um das Tier am Leben zu erhalten. Visentini 
fand nach Resektion des Duodenum auch bei gleichzeitiger Wegnahme von 
Kopf und Körper des Pankreas nebst dem umgebenden Gewebe keinen Diabetes 
und gewöhnlich keine Glykosurie. Dagegen kam es nach Verschorfung der 
Schleimhaut, des Duodenum und auch des lleum zu einer gleich nach 
dem Eingriff auftretenden und meist rasch vorübergehenden Zuckeraus¬ 
scheidung. Rosenberg machte nun die Versuche von Pflüger bei Fröschen 
nach, und da zeigte es sich, daß Pflüger die Frösche auf Eis gelegt hatte, 
so daß sie starr geworden waren. Nun ist früher festgestellt worden, daß 
es einen Kältediabetes der Frösche gibt, was auch Pflüger mußte, wes¬ 
halb er einen Kontrollversuch anstettte, der aber zufälligerweise negativ 
ausfiel. Der Kältediabetes der Frösche ist, wie Rosenberg zeigte, nicht 
konstant. Rosenberg arbeitete nun so, daß er einen Teil der Frösche in der 
Kälte, einen Teil in der Wärme ließ. Dabei zeigte es sich, daß die Frösche bei 
Zimmertemperatur niemals Glykosurie bekamen, aber auch die in der Kälte 
meist nicht. Wahrscheinlich hat Rosenberg nicht so niedrige Temperaturen 
wie Pflüger erzeugen können. 

Zu genau demselben Resultat kam unabhängig von Rosenberg Löwit.* 1 ) 
Auch er leugnet nicht, daß gelegentlich die Exstirpation des Duodenum bei 
Fröschen Glykosurie erzeugt, daß sie aber einigermaßen konstant sei und 
gar als Diabetes angesehen werden kann, darf nicht behauptet werden. 

Nun haben einige Autoren die Ansicht von Pflüger dadurch zu be¬ 
stätigen geglaubt, daß sie nach Verätzung des Duodenum Glykosurie be¬ 
kommen haben. So hat Zack zwei solche Fälle beschrieben. In dem ersten 
Falle war durch Trinken eines 1 / 2 l Kalilauge Selbstmord begangen worden. 
Am Tage der Vergiftung enthielt der Urin 3*6% Zucker, zwei Tage später 
waren nur noch Spuren von Zucker nachweisbar, am 10. Tage starb der Patient. 
Die Sektion ergab eine Verätzung des Magens und des Duodenum, während 
das Pankreas unverändert war. Ein anderer hatte in selbstmörderischer Ab¬ 
sicht Scheidewasser getrunken. Die Zuckerausscheidung betrug 0 5%* Der 
Sektionsbefund entsprach dem obigen; Verätzung des Duodenum, Pankreas 
intakt. Da bei der Verätzung des Magens und der Speiseröhre die Zucker¬ 
ausscheidung fehlt, so glaubt Zack, daß die Verätzung des Duodenum für 
die Glykosurie verantwortlich zu machen sei. Er stützt diese Ansicht durch 
einen Versuch am Hunde, wo er nach Verätzung des Duodenum Zucker ira 
Urin auftreten sah. Man nimmt an, daß eine totale, bis in dieMuscularis gehende 
Verätzung der Schleimhaut des Duodenum die Nervenleitung ebenso zer¬ 
störe wie Durchschneidung derselben oder Exstirpation dieses Darmabschnittes. 
Eichler und Silbergleit haben diese Ergebnisse Zacks an Hunden nach¬ 
geprüft. Sie verätzten mittelst Natronlauge nach voraufgegangener Lapa¬ 
rotomie das Duodenum, ferner verätzten sie andere Dünndarmpartien. Sie 
fanden bei ihren Versuchen, daß nach tiefgehender Zerstörung der duodenalen 
Schleimhaut stets Zucker im Urin auftritt, was aber auch nach analoger 
Zerstörung der Schleimhaut anderer Dünndarmschlingen in den meisten 
Fällen ebenso der Fall war (von 4 Fällen 3 positiv). Das Duodenum ver¬ 
hält sich demnach nicht anders als andere Dünndarmpartien. Eine dauernde 
Glykosurie zu erzeugen, ist ihnen nicht gelungen, obgleich der Eingriff ein 
so schwerer war, daß die Tiere meist zugrunde gingen. Die Zuckeraus¬ 
scheidung trug nach Dauer und Intensität stets den Charakter einer vor¬ 
übergehenden. Die stärkste Zuckerausscheidung beim hungernden Tiere fand 
am ersten Tage nach der Operation statt, nahm meist schon am zweiten 
Tage stark ab, war am dritten Tage nur noch in Spuren vorhanden und 
fehlte immer vom vierten Tage ab ganz. Die Menge war am ersten Tage 
über am zweiten Tage schon darunter. In einem Versuch, in dem das 


Digitized by 


Google 



Diabetes. 


109 


Iietim mittelst Paquelin auf 10 m Ausdehnung verschorft wurde, wurden 
am ersten Tage bei einem Hunde 21, bei dem andern 2 5, bei dem dritten 
l'2°/o Zocker ausgeschieden. Am folgenden Tage war die Zuckerausschei- 
düng 0*8, 0*8 und 0’3%. Es war also hier die Zuckerausscheidung größer 
als nach Verätzung des Duodenum. Bleibtreu 50 ) fand bei einem Diabetiker, 
der 3—5% Zucker ausschied, während das Pankreas unversehrt schien, 
zahlreiche Gewebsfettnekrosen mit serösem Überzug des Duodenum, ferner 
multiple Gewebsnekrosen im peripankreatischen und duodenalen Gewebe, 
welche er als Ursache des Diabetes ansah, so daß er sich im Sinne von Pflüger 
aussprach. Dieser Fall beweist gar nichts, denn weder ist das Pankreas 
gründlich untersucht worden, noch auch dürfte die Fettgewebsnekrose am 
Duodenum etc. ohneweiters als Ursache des Diabetes anzusehen sein. In 
einem zweiten Falle fand sich bei einer 64 jährigen Frau, die jahrelang an 
Diabetes gelitten hatte, eine ausgedehnte Arteriosklerose. Dieselbe hatte 
die abdominale Arterie, die Arteria renalis und coeliaca ergriffen. Von den 
Ästen der Arteria coeliaca war besonders die Arteria lienalis stark befallen, 
ferner die gastroduodenale und die Pancreatica duodenalis superior. Der 
zum Duodenum gehende Ast derselben, der zum Teil wenigstens die Er¬ 
nährung des Duodenum besorgt, war nicht nur arteriosklerotisch verändert, 
sondern auch bis in seine Verzweigungen thrombosiert. Also auch in diesem 
Falle konnten die pathologischen Veränderungen gerade in dem zuletzt ge¬ 
nannten Gebiete sehr wohl tiefgreifende Läsionen in den im Duodenum ver¬ 
muteten Nervenzentren und in den zum Pankreas gehenden Nervenfasern 
hervorgerufen und in diesem Sinne eine Lähmung der hypothetischen anti¬ 
diabetischen Fasern bewirkt haben. Diese Angabe Bleibtreus schwebt völlig 
in der Luft und kann in keiner Weise verwandt werden zu einer Bestäti* 
gung der PFLüGEuschen Lehre. 

Gautier machte bei zwei Hunden eine ausgedehnte Zerstörung der 
Schleimhaut des Duodenums. Das eine Tier überlebte vier Tage, die Todes¬ 
ursache blieb unbekannt. Während der ganzen Zeit bestand Glykosurie, es waren 
ungefähr 10 Zucker im Liter vorhanden. Das zweite Tier überlebte den Ein¬ 
griff länger, es wurde nach 11 Tagen getötet. Bei diesem Tier bestand ebenfalls 
Glykosurie, u. zw. 3—4 g im Liter. Es wurde also bei zwei Hunden durch 
Zerstörung der duodenalen Schleimhaut mit Höllenstein Glykosurie erzeugt. 

Herlitzka hat gezeigt, daß die Einführung von Nikotin in das Duo¬ 
denum beim Frosch eine leichte Glykosurie zur Folge hat. Es behauptet, 
indem er sich auf die Versuche von Langley stützt, daß diese Substanz 
die sympathischen Zellen lähmt und so gewissermaßen in die innere Sekre¬ 
tion des Duodenum eingreift. All diese Versuche beweisen natürlich nur, 
daß schwere Verletzungen des Duodenum, ebenso wie schwere Verletzungen 
anderer Teile des Körpers, wie Silbergleit und Eichler gezeigt haben, 
z. B. anderer Stellen des Dünndarms, eine Glykosurie hervorrufen, d. h. daß 
der duodenale Diabetes, der durch Verätzung erzeugt ist, nur eine toxische 
Glykosurie darstellt, daß die Verätzung hier wie ein Toxin wirkt. Daß die 
Frage der Existenz des duodenalen Diabetes aber beim Warmblüter in absolut 
negativem Sinne entschieden werden muß, beweisen die Versuche von 
Minkowski. Er exstirpierte einem Hunde einen Teil des Pankreas und ließ 
soviel zurück, daß danach kein Diabetes auftrat. Dann wurde das Duodenum 
entfernt. Es hätte nunmehr Diabetes auftreten müssen, was aber nicht der 
Fall war. Jetzt wurde der Rest des Pankreas exstirpiert, und es trat prompt, 
wie bei den früheren Versuchen Minkowskis, Diabetes ein. Daraus geht her¬ 
vor, daß nicht die Exstirpation des Duodenums, sondern die totale Ent¬ 
fernung des Pankreas den Diabetes erzeugt hatte. Diese Versuche beweisen, 
daß die Zuckerausscheidung, welche nach Exstirpation des Duodenum ohne 
Verätzung desselben auftritt, nicht als Diabetes bezeichnet werden kann. 


Digitize 


Google 



110 


Diabetes. — Digipuratum. 


Literatur: 1 ) Zeitschr. f. klio. Med., XXXIX, pag. 357. — *) Arch. f. exp. Path. u. 
Pharm., VI. — *) Skaud. Arch. f. Physiol., XVII, 1905. — 4 ) Zeitschr. f. phya. u. diät Ther., 
IV. — § ) Kongreß f. innere Med. 1904, pag. 496. — *) Zeitschr. f. klin. Med., LII, pag. 337. — 
7 ) Korrespondenzbl. f. Schweizer Ärzte, 1903, Nr. 22. — 8 ) Amer. Jonra. of Phya., 1903, VI, 
pag. 380. — *) Arch. f. exp. Path. u. Ther., XXXXIX, pag. 123. — t0 ) Hofmkistkäs Beitr., X, 
pag. 473. — u ) Ebenda, 1906, VIII, pag. 313 u. 1907, II, pag. 104. — **) Zeitschr. f. exp. Path. 
n. Ther., II, pag. 461. — 18 ) Verhandl. d. physiol. Gesellsch. za Berlin, 1906. — 14 ) Deutsches 
Arch. f. klin. Med , LXXX, pag. 98. — 18 ) Münchener med. Wochenschr., 1902, Nr. 39. — 
*•) Arch. f. exp. Path. u. Pharm., XXXI, pag. 81. — 17 ) Ebenda, XXXXV. — t8 > Zeitschr. 
f. klin. Med, XXXXV, pag. 237. — 1# ) Ebenda, XXXXV, pag. 260. — ,0 ) Zeitschr. f. phys. 
u. diät. Ther., VII, pag. 662. — **) Deutsche med. Wochenschr., 1903, pag. 237 u. Berliner 
klin. Wochenschr., 1904. — M ) Zeitschr.!. klin. Med., XIV, pag. 408. — fs ) Zeitschr. f. Biol., 
XXXVI, pag. 82. — u ) Zeitschr. f. physiol. Chem., XXVI, pag. 381. — M ) Kongreß f. innere 
Med., 1902, pag. 524. — **) Arch. f. exp. Path. u. Pharm., XXXXV, pag. 11. — * 7 ) Charite- 
Annalen, 1905. — 28 ) Zeitschr. f. Biol., XXVU, pag. 21. — «) Ebenda, XXXVU, pag. 59. 

— so ) Arch. f. exp. Path. u. Pharm., L, pag. 68. — 81 ) Zeitschr. f. Biol., XXXX, pag. 324. 

— M ) Deutsche med. Wochenschr., 1900, pag. 707. — **) Münchener med. Wochenschr., 1907. 

— * 4 ) Zeitschr. f. klin. Med., XVI, pag. 445. — Pflüobbs Archiv, 1906. — Ebenda, 

LXXXXI, pag. 557. — * 7 ) Funktionelle Nierendiagnostik. Urban & Schwarzenberg, 1901. 

— a8 ) Über diabetische und nicht diabetische Autointoxikation mit Säuren (Azidosia), Berlin, 
August Hirschwald, 1904. — s# ) Fortschr. d Med., 1902, Nr. 6. — 40 ) Zeitschr. I. klin. Med., 
XXXI, Heft 3 u. 4. — 41 ) Zeitschr. f. physiol. Chemie, XXXXI, pag. 138. — 4 *> Zeitschr. f. 
Stoffw, III, pag. 193. — 48 ) Deutsches Arch. f. klin. Med., LXXVI, pag. 233. — 44 ) Arch. f. 
exp. Path. n. Pharm. XXXIV. — 45 ) Deutsches Arch. I. klin. Med., XVI, pag. 101. — 48 ) Ebenda, 
XXXXII. — 4: ) Zeitschr. f. phys. u. diät. Ther., VI, pag. 75. — 48 ) Zeitschr. f. klin. Med., 
XXXXII, pag. 443. — 49 ) Vibchows Archiv, CLXXII, pag. 30 u. 216. — *°) Berliner klin. 
Wochenschr., 1908, pag. 1727. — M ) Arch. f. exp. Path. u. Pharm., Bd. LXII, pag. 47. 

Ferdinand Blumenthal. 

Dlasplrin. Unter diesem Namen kommt der Bernsteinsäareester 
der Salizylsäure in den Handel. Es stellt chemisch 

CH 2 —COO. C 6 H 4 COOH 

i 

CH S —COO. C,H 4 COOH 

dar. Diaspirin ist ein weißes, geruchloses Pulver von schwach säuerlichem, 
zusammenziehendem Geschmack. Es löst sich sehr schwer in Wasser, ist im 
Magensaft noch schlechter löslich als Aspirin; in Alkohol ist es leicht löslich. 
Schmelzpunkt 178—180<>. Es soll auch von empfindlichen Patienten gut ver¬ 
tragen werden. Besonders die diaphoretische Wirkung soll stärker diesem 
Präparat zukommen als den anderen Salizylpräparaten. 0*5—1*0 g. auch als 
Tabletten zu 0*5 g, wird als Dosis angegeben. Diaspirin wird von Bayer & Ko. 
in Elberfeld dargestellt. 

Literatur: Med. Klinik, 1908, Nr. 29, pag. 1129. E.Frey . 

Digipuratum« Seitdem die physiologische Prüfung für Digitalis¬ 
präparate am Froschherzen in exakter Weise die Wirksamkeit der einzelnen 
Digitalispräparate abzuschätzen gelehrt hat, fällt die Aufgabe rationeller 
Digitalistherapie, wie Albert Frankel in seiner Abhandlung über die Digi¬ 
talistherapie in den Ergebnissen der inneren Medizin hervorhebt, nicht mehr 
mit der Frage richtiger Anwendung reiner Körper zusammen. Wir wissen 
heute, daß die GALENschen Präparate genau den gleichen Wirkungswert be¬ 
sitzen wie die einzelnen Präparate der Digitalisgruppe, das Strophantin, das 
Digitoxin, das Digitalin usw. Die klinische Beobachtung hat sogar gezeigt, 
daß die GALENschen Präparate wirksamer sein können als die einzelnen 
Glykoside. Es scheint, daß das Zusammenwirken der verschiedenen, in den 
Folia digitalis enthaltenen Komponenten auf den Herzmuskel noch besser 
wirkt, als es die einzelnen Glykoside vermögen. Es beruht diese Überlegen¬ 
heit der Blätter nach Gottliebs Annahme wahrscheinlich darauf, daß die 
einzelnen wirksamen Bestandteile (das Digitalein, Digitoxin, Digitalin) nach 
ihren Resorptionsbedingungen, nach der Zeit des Zurücktretens und nach 
der Nachhaltigkeit ihrer Wirkung sich keinesfalls gleich verhalten. Ein Nach¬ 
teil bei der Darreichung der Digitalisblätter bestand jedoch darin, daß man 


Digitized by L^ooQle 



Digipuratum. — Diplosal. 


111 


neben den verschiedenen wirksamen Komponenten anch eine Reihe unwirk¬ 
samer den Kranken geben mußte, und daß unter diesen sich nicht nur 
gleichgültige, sondern anch störende Beimengungen, die wie das saponin¬ 
artige Digitonin reizend auf die Magen-Darmschleimhäute wirkt, befinden. 
Man hat diese störenden Eigenschaften der Pulvis foliorum digitalis dadurch 
zu umgehen versucht, daß man die Droge in Geloduratkapseln, welche sich 
bekanntlich erst im Darm auflösen, verordnete. Dadurch konnte man mit 
ziemlicher Sicherheit die häufig so unangenehmen Magenverstimmungen bei 
der Digitalistherapie vermeiden. 

Es ist Gottmeb gelungen, ein Digitalisextrakt herzustellen, welches 
von allen therapeutisch wertlosen Beimischungen befreit ist, aber alle thera¬ 
peutisch wirksamen Bestandteile in dem in den Blättern selbst gegebenen 
Mischungsverhältnis enthält. Es wird dieses Präparat als Extractum digitalis 
depuratum, oder mit kürzerem Namen Digipuratum von der Firma Knoll & Ko. 
hergestellt. Das Präparat ist frei von Digitonin, enthält unter anderem Digi¬ 
toxin und Digitalin. Die wirksamen Substanzen des Digipuratum sind in 
kaltem Wasser und Säuren unlöslich, aber sehr leicht löslich in verdünnten 
Alkalien. Es läßt sich demnach eine gleichmäßige Resorption der wirksamen 
Substanzen im Darm erwarten. 

Das gereinigte Digitalisextrakt stellt nach Höpffner, welcher die ersten 
klinischen Versuche mit dem Digipuratum angestellt hat, eine Flüssigkeit 
von gelber Farbe dar; dasselbe wird mit Milchzucker zu einem gelblichen 
Pulver eingedickt und dieses durch den Milchzuckerzusatz auf einen be¬ 
stimmten physiologisch wirksamen Wert eingestellt. Diese Einstellung erfolgt 
derart, daß die anzuwendende einzelne Dosis von 01 y des Pulvers der 
Wirkungsweise von 01 g stark wirksamer Digitalisblätter entspricht. 

Höpffner hat das Mittel, welches seinem allgemeinen Charakter nach 
den Dialysaten einzureihen ist, an ca. 40 Patienten versucht und gefunden, 
daß, natürlich unter individueller Berücksichtigung des einzelnen Falles, im 
allgemeinen, wie wir dies auch mit titrierten Präparaten zu tun pflegen, an 
den beiden ersten Tagen der Medikation je 0 4 < 7 , am 3. und 4. Tage 0*3 <7 
und von da ab 0*2 g pro Tag zu geben ist. Im allgemeinen läßt sich dann 
bereits nach 24 Stunden eine Digitaliswirkung konstatieren. 

Müller hat auf der KREHLschen Klinik die Wirkung des Digipuratum, 
das zunächst in Form von Pulvern, später in Tablettenform von 0*1 <7 an¬ 
gewendet wurde, nachgeprüft. Es wurde in beiden Formen anstandslos und 
gern genommen. Ein hie und da sich bemerkbar machender Seifengeschmack 
läßt sich durch Tabletten- oder in Oblatenform vermeiden. Die Tabletten 
zerfallen so leicht, daß ein Kauen derselben nicht notwendig ist. Die Haupt¬ 
wirkung tritt nach Müller erst am 2.— 3 . Tage ein, wie wir dies von den 
übrigen Digitalispräparaten gewohnt sind, so daß in der Beziehung kein 
Unterschied zu bestehen scheint. Müller hebt hervor, daß die bei den ge¬ 
wöhnlichen Digitalisblättern im Anfänge oder auf der Höhe der Wirkung zu¬ 
weilen eintretenden und andauernden Vergiftungserscheinungen zwar bei dem 
Digipuratum, wie dies ja im Charakter des Mittels als Digitalispräparat 
liegen muß, nicht ganz zu vermeiden waren, aber jedenfalls bedeutend milder 
und kürzer auftraten. Es verbindet demnach nach Müller das Digipuratum 
die Eigenschaften eines qualitativ gut fundierten, d. h. gut bekömmlichen mit 
den Vorteilen eines quantitativ gut wirksamen Digitalispulvers. 

Literatur: A. Fbankel, Ergebnisse der inneren Medizin, 1908, pag. 103. — Höpffnee, 
Münchener med. Wochenschr., 1908, Nr. 34. — Müller, Münchener med. Wochenschr., Nr. 51. 

G. Zuelzer. 

Diplosal« Minkowski l ) hat darauf aufmerksam gemacht, daß die 
alte SraiCKERsche Vorschrift bei Anwendung der Salizylsäure in frischen 
Fällen von Gelenkrheumatismus sicherer und schneller zum Ziele führt als 


Digitized by ^.ooQle 



112 


Diplosa]. — Dipropäsin. 


die üblichen Gaben von Na. salicylicam. Wenn man die freie Salizylsäure in 
Dosen von 0*5—1*0 1—2stündlich wiederholt, so sieht man oft eine ver¬ 
blüffend schnelle Wirkung eintreten. Um aber die Magenbelästigung zu um¬ 
gehen, ist es zweckmäßig, eine esterartige Verbindung zu wählen, welche 
sich nur in Alkalien löst. Ein solches neues Salizylpräparat stellt das Diplosal 
dar, welches Minkowski einer Prüfung unterzog. 

Diplosal ist die Salizylo-Salizylsäure, d. h. »man kann diese Verbindung 
auffassen: entweder als ein Salol (Phenylsalizylsäure), bei dem die giftige 
Karbolsäure durch Salizylsäure ersetzt ist, oder als ein Aspirin (Azetyl¬ 
salizylsäure), in der an Stelle der unwirksamen Essigsäure noch einmal die 
wirksame Salizylsäure getreten ist.« Dem Diplosal kommt die Formel zu: 

y coo x 

C 6 H 4 < x c 6 h 4 
M)H / 

COOH 

Es ist ein farbloses, geschmack- und geruchloses Pulver, es schmilzt bei 
147°. In Wasser ist es nur sehr schwer löslich, d. h. in kaltem Wasser im 
Verhältnis von 1:6000, in kochendem 1:800 unter beginnender Zersetzung. Bei 
20° löst es sich im Alkohol im Verhältnis 1 : 6, in kochendem Alkohol 1:2. 
Es gibt mit Eisenchlorid keine Salizylsäurereaktion. In Alkalien ist Diplosal 
leicht löslich, doch tritt die Verseifung sehr langsam ein, in verdünnter 
Sodalösung verläuft die Spaltung erst nach mehr als 24 Stunden vollständig, 
wenigstens bei gewöhnlicher Temperatur. Es liefert dabei, also auch im 
Körper, 107% Salizylsäure, weil die Kuppelung unter Wasseraustritt erfolgte. 

Minkowski hat das Präparat in Dosen von 8—6mal täglich 1*0 ^ ge¬ 
geben. Beschwerden von seiten des Magens sind nicht aufgetreten, ebenso 
wurde nicht einmal über Ohrensausen oder starke Schweißsekretion geklagt. 
Der Erfolg der Therapie war in allen frischen Fällen ein guter, es trat 
prompte Entfieberung und ein rascher Rückgang der Gelenkerscheinungen 
auf, wenn 1—2 Tage täglich 4—6mal 1*0 g Diplosal gegeben wurde. »Bei 
chronischem Gelenkrheumatismus und Arthritis deformans schien die geringe 
Wirkung auf die Schweißsekretion den Erfolg etwas zu beeinträchtigen. In 
solchen Fällen wirken ja, wie bekannt, gerade die leicht löslichen und schnell 
resorbierbaren, stärker schweißtreibenden Präparate, wie die großen, ein¬ 
maligen Gaben von 4—5 g Natrium salicylicum, meist sehr viel besser als 
die freie Salizylsäure.« Albuminurie wurde nach Diplosal nicht beobachtet 

Ebenso günstig lauten die Berichte anderer Autoren, welche das neue 
Präparat versucht haben, sowohl hinsichtlich des Erfolges wie mit Rücksicht 
auf die Nebenerscheinungen. Levy 2 ) hat auf der STADELMANNschen Abteilung 
das Diplosal in 80 Fällen angewandt und bei gutem Erfolg Störungen von 
seiten des Magens nicht beobachtet. Bei Gaben unter 4 g täglich trat nie 
Ohrensausen auf, bei höheren Gaben wurde es manchmal, besonders bei 
Frauen, beobachtet. Eine gleichlautende Veröffentlichung über Diplosal liegt 
von Strauch 3 ) vor; auch er lobt das Präparat als gutes Antirheumatikum 
und hebt ebenfalls die Verträglichkeit des Diplosals hervor. 

Literatur: *) Minkowski, Zur medikamentösen Therapie des akuten Gelenkrheuma¬ 
tismus. Die Therapie der Gegenwart, September 1908, pag. 385. — *) Lbvy, Über Diplosal, 
ein neues 8alizylpräparat. Med. Klinik, 1908, Nr. 46, pag. 1753. — s ) Strauch, Diplosal, ein 
neues Antirheumatikum. Therap. Monatsh., Februar 1909, pag. 75. E. Frey. 

Dipropäsiu siehe Propäsin. 


Digitized by t^oooLe 



E 


Elektrische Ophthalmie siehe Ultraviolette Strahlen. 

Elektrokardiogramm« Über das Elektrokardiogramm, d. h. 
über die durch die Aktion des Herzens entstehenden Aktionsströme und die 
Form der Kurve, die man unter Anwendung eines Seitengalvanometers nach 
Einthoven erhält, war schon früher von uns (Jahrb., N. F. VI. Jahrg., 1908) 
berichtet worden. Hier sei zunächst noch darauf hingewiesen, daß die Form 
dieses Elektrokardiogramms außerordentlich verschieden ist, je nachdem man 
die Ströme ableitet von Arm zu Arm, rechten Arm und linken Bein, rechten 
Arm und rechten Bein, linken Bein und rechten Arm, linken Arm und linken 
Bein oder Bein zu Bein. Beifolgende Fig. 19 demonstriert diese Verhältnisse 
am besten. 

Für klinische diagnostische Zwecke muß man sich an eine ganz be¬ 
stimmte Ableitung des Aktionsstromes, und zwar von Arm zq Arm halten. 
Man erhält dann eine aus drei nach derselben Richtung verlaufenden Haupt¬ 
zacken bestehende Kurve (cfr. Fig. 20). Die erste Zacke bezeichnen wir als 
die Atriumzacke (A), weil sie dem Atrium entspricht; die beiden anderen 
entsprechen dem Ventrikel und wir bezeichnen die zweite, mit welcher die 
Ventrikelschwankung beginnt, als Initialzacke (J) und die dritte, mit welcher 
sie endet, als Finalzacke (F). Von diesen drei Zacken ist die Atriumzacke 
gewöhnlich am kleinsten (eventuell bei gesundem Herzen kaum bemerkbar), 
während die beiden anderen Zacken für das Elektrokardiogramm charakte¬ 
ristisch, d. h. deutlich ausgesprochen sind; die Hauptzacke der Initialgruppe 
ist kurzdauernd, hoch und steil, die der Finalgruppe dauert länger, ist niedriger 
und flacher. 

Die drei Zackengruppen sind jedesmal durch ein horizontal verlaufendes 
Korvenstück miteinander verbunden. 

Außer den drei Hanptzacken kommen in jeder Gruppe noch mehrere Zacken vor, über 
die am besten die schematische Fig. 21 orientiert. ! ) 

In bezug auf das normale Elektrokardiogramm sind nach Nicolai am 
wichtigsten die drei Zacken A , J und F. In vielen Elektrokardiogrammen 
(und zwar gerade bei erwachsenen gesunden Personen) kommen überhaupt 
keine anderen deutlich ausgesprochenen Zacken vor, während diese drei 
Zacken bei einem gesunden Menschen niemals fehlen. Häufig ist auch die 
Zacke Jp vorhanden, die nach Nicolai bei Erwachsenen in etwa 2 / z aller 
Fälle wenigstens angedeutet und bei Kindern fast immer ausgesprochen 
ist, während A bei normalen Herzen nicht sehr ausgesprochen zu sein braucht. 
Wenn A größer als 2 mm ist, soll das einen abnormen Zustand bedeuten. 


*) Wir folgen hier der Darstellung von Kbaus-Nicolai (siehe Literaturverzeichnis). 

EaeycJop. Jahrbücher. N. P. Vm. (XVT1.) 8 

Digitized by VjOOQIC 



114 


Elektrokardiogramm. 


J ist bei Kindern relativ klein und nimmt mit dem Alter zu, umgekehrt 
ist sowohl F als auch Jp bei Kindern groß und nimmt mit dem Alter ab. 

Fig. 10. 





Die nechß Extremitäten-Elektrokardiogramme. (Nach Kkaus-Nicolai.1 


Natürlich beziehen sich diese Angaben nur auf Kurven, die mit einer ganz 
bestimmten Methodik gewonnen sind, bei anderer Empfindlichkeit des 
Instruments ändern sich die Verhältnisse entsprechend, and zwar bei den 


Digitized by 


Google 









Elektrokardiogramm, 


115 


einzelnen Zacken nicht gleichmäßig. Die mit einem anderen Instrumentarium 
gewonnenen Resultate sind also nicht ohne weiteres mit obigen Angaben, 


die sich auf die in der II. med. Klinik 
(Berlin) gebräuchliche Anordnung be¬ 
ziehen, vergleichbar. 

Wichtig ist im übrigen für die 
Form des normalen Elektrokardio¬ 
gramms die Lage des Herzens im 
Thorax (Hoffmann) , weshalb man 
die Aufnahme desselben am besten 
in symmetrischer Rückenlage vor- 


Fig.20. 

J 



Schema dea Elektrokardiogramms. 
(Nach Kraus-Nicolai.) 


Fig.21. 



Schema der vorkoramenden Zacken im Elektrokardiogramm. 

A = (P Eisthotess) Atriumzacke; 

F = (T ; ! F I ini] 8 1 ch C wackung ) Ventrikel.chwaokung; 

Ap = die der Atriamzacke folgende (negative) Zacke; 

Jp r= (S Kixtiiovknk) die der Initialzacke folgende (negative) Zacke; 

Fp = die der Finalschwankung folgende (negative) Zacke; 

Ja = (Q Einthovens) die der Initialzacke vorangehende (negative) Zacke; 
Fa — die der Finalschwankung vorangehende (negative) Zacke; 
h ~ Zeit, in der die Erregung im Hinsehen Bündel verläuft; 
/=„„„„ „ „ Treibwerk verläuft; 

p = Herzpause. 



nimmt (Hering^ Auch die Atmung ist von Einfluß auf die Form des Elektro¬ 
kardiogramms , indem dieses bei der Inspiration kleiner und flacher wird. 

Schließlich sei noch zur Bezeichnung der Zacken des Elektrokardio¬ 
gramms folgendes Schema nach Nicolai angeführt (Fig. 22). 


Digitized by 















































116 Elektrokardiogramm. 

Systolen und Extrasystolen im Elektrokardiogramm, die Deutung der 

Kurven . 

Wird ein planparalleler Muskel gereizt, so entsteht ein diphasischer 
Aktionsstrom, d. h. indem die Erregung an einem Ende beginnt und nach 
dem anderen Ende kontinuierlich und sukzessive fortschreitet, wird die jeweils 
erregte Partie elektronegativ gegenüber der Umgebung. Leitet man von den 

beiden Enden des Muskels ab, so hat man 
gewissermaßen folgende drei Phasen des Ak¬ 
tionsstromes 


Fig. 23. 



1. Phase: 


elektronegativ. 


2. Phase: 


I 


elektronegativ. 


3. Phase: 


und folgende elek- 
trographische 

Kurve A 


elektrographisch, 
da an beiden Mus¬ 
kelenden keine 
Potenzialdifferen¬ 
zen bestehen, In¬ 
differenz — 

elektrogra¬ 
phisch y 


Schema der Erregnngsleitung im Herzen. 
(Nach Nicolai.) 


elektronegativ. 


Im ganzen wäre also das Bild eines so abgeleiteten Aktionsstromes ein 
derartiges "-V Bei der Schnelligkeit des Ablaufs kommt meist die 

mittlere Phase nicht zum Ausdruck und man spricht daher von einem 
diphasischen Strom. 

Am Herzen haben wir es nun nach Kraus Nicolai bei einer nor¬ 
malen Systole nicht mit einem einfachen diphasischen Aktionsstrom zu tun, 


Fig. 24. 



vielmehr ist der Erregungsablauf ein derartig komplizierter im Herzen, daß 
jene eigentümliche Form des Elektrokardiogramms resultiert, wie wir sie beim 
Menschen beobachten. Es wird uns aber die elektrokardiographische Kurve 


Digitized by 


Google 



Elektrokardiogramm, 


117 


verständlich an der Ruheknrve Karre nach Arbeit 

Hand folgender zweier 
schematischer, von Ni¬ 
colai entworfener Zeich¬ 
nungen (cfr. hierzu 
Fig. 22 u. 23). 

Die erste Zak- 
kengruppe im Elektro¬ 
kardiogramm (A) er¬ 
scheint als diphasische 
Schwankung (beim Men¬ 
schen meist mit ver¬ 
kümmerter zweiter Pha¬ 
se) und entspricht dem 
Aktionsstrome des Vor¬ 
hofes. Während der 
Strecke h läuft die 
Kurve horizontal wei¬ 
ter, was ein Ausdruck 
dafür ist, daß die Er¬ 
regung keine ausge¬ 
dehnten Muskelmassen 
durchläuft (und zwar 
ist das das Hissche 
Bündel). Dann wird 
der basale Teil des 
Papillarsystems nega- ^ 
tiv und als Ausdruck £ 
hiervon steigt die Kur¬ 
ve im Elektrokardio¬ 
gramm steil an (J). Die 
Erregung pflanzt sich 
zur Spitze fort, wenn 
sie dort angelangt, ist 
die Kurve wieder ab¬ 
gesunken. Es folgt nun 
eine Periode, in welcher 
das Herz sich im gro¬ 
ßen und ganzen nur 
wie ein einfacher Hohl¬ 
muskel ohne bevor¬ 
zugte FaserrichtungAll- 
seitig kontrahiert, und 
zwar geraten sowohl die 
quer verlaufenden Fa¬ 
sern des Triebwerkes 
wie auch die längs ver¬ 
laufenden Fasern gleich¬ 
zeitig in Tätigkeit, wo¬ 
durch sich die partiellen 
olektrischenSpannungs- 
differenzen der verschie¬ 
denen Muskelfasern ge¬ 
genseitig aufheben. Als Ausdruck dessen ist der geradlinige Verlauf der 
Kurve nach der «/-Schwankung anzusehen. Zum Schlüsse wird dann die 



Digitized by 


Google 





118 


Elektrokardiogramm. 


Basis wieder negativ als Ausdruck dafür, daß die Erregung wieder zum 
Herzen aufgestiegen ist. Der nunmehr folgende geradlinige Schenkel der 
Kurve entspricht der Herzpause. 

Einen derartigen normalen Ablauf des Erregungsvorganges im Herzen, 
der der Aktion vorangeht und mit ihr untrennbar verbunden ist, nennt 
Nicolai Nomodromie. Jede Störung im Ablaufe dieses Erregungsvorganges 
heißt Allodromie. Der prägnanteste Ausdruck einer derartigen AUodromie 
sind ventrikuläre Extrasystolen. Derartige Extrasystolen können physio¬ 
logisch nichts mit einem normalen Herzschlag zu tun haben, indem hier der 
Ablauf des Erregungsvorganges ein ganz anderer ist, und zwar breitet sich bei 
der Extrasystole die Erregung von dem primär gereizten Punkte geradlinig 
nach allen Richtungen aus. Die Erregung kann dabei von der Spitze des 
Ventrikels (apex), von der Basis und von der zentralen Partie ausgehen ; 
demgemäß ist natürlich auch das Elektrokardiogramm der Extrasystolen 
ein ganz verschiedenes, je nachdem wir Extrasystolen vom Typus A oder 
Typus B oder Typus C haben. Es sei hier ein Beispiel zweier Extrasystolen 
vom Typus A und B wiedergegeben (Fig. 24). 

Die Extrasystole vom Typus C ist gekennzeichnet durch mehrere Zacken 
hintereinander. Eine solche (seltene) Kurve ist zuerst von Strubell publiziert. 

Fig. 20. Fig. 27. 




Mitralstenose. 


Was die Diagnostik des patho¬ 
logischen Elektrokardiogramms an¬ 
betrifft, so sind zwei Tatsachen zum Ver¬ 
ständnis prinzipiell wichtig: 

1. daß jede Abweichung in dem Ablauf der Herzsystole vom normalen 
Typ sich im Elektrokardiogramm ausspricht; 

2. daß jede Abweichung in der Form des Elektrokardiogramms auf 
eine zugrunde liegende Abweichung von der normalen Systole hinweist. 

Diese Abweichungen bestehen: 1. in der Vergrößerung und Verkleinerung 
(bzw. auch in der Formveränderung) normaler Zacken; 2. im Auftreten neuer 
Zacken. 

1. Wichtig wird vor allem das Fehlen der Vorhofzacke (yi-Zacke), und 
zwar bedeutet dieses im allgemeinen Paralyse des Vorhofes. Dauerndes Fehlen 
der ^4-Zacke begegnet man beim Pulsus irregularis perpetuus, ferner bei 
vielen Herzvitien. 

Besonders deutlich ausgeprägte yl-Zacke findet man bei besonder» 
aktiver Vorhofstätigkeit, daher Mitralstenose. Hier wird das Verschwinden 
der A -Zacke prognostisch wichtig (Erlahmen des Vorhofes). Auch bei Arterio¬ 
sklerose trifft man namentlich im präsklerotischen Stadium eine hohe A- 
Zacke an, gleichzeitig meist mit großer J-Zacke. Eine große J Zacke scheint 
ferner auch stets mit Hypertrophie der linken Kammer Hand in Hand zu 
gehen, während eine kleine J-, eventuell ausgeprägte Jp -Zacke mit Hyper¬ 
trophie der rechten Kammer einhergeht; überhaupt ist die Jp stark aus- 


Digitized by 


Google 









Elektrokardiogramm, 


119 


gesprochen, wenn das Herz medial steht, sei es infolge Hypertrophie der 
Kammer, sei es bei einem Tropfenherzen. Ganz besonders wichtig ist auch 
das Verhalten der Finalschwankung. Niedrige oder fehlende Finalschwankung 
beweist schon eine Allodromie, d. h. eine Schädigung im Ablaufe der Er¬ 
regungsvorgänge des Ventrikels; besonders prognostisch ungünstig ist die 
negative Finalschwankung (d. h. die -F-Zacke liegt unter der Kurvenabszisse), 


Fig. 28. 



Fig. 29. 




Mitralinsuffizienz. 


erst recht, wenn gleichzeitig (was so gut wie immer der Fall ist) der Blut¬ 
druck 200 mm Hg übersteigt (Prognosis pessima). 

2. Was das Auftreten neuer Zacken anbetrifft, so ist über das Auf¬ 
treten der Jp'Zacken sub 1 schon das Notwendige gesagt. Wichtig ist dia- 


Fig. 30. 



Fig. 81. 



Aorten Insuffizienz. 


gnostisch die Sicherheit, mit welcher man aus dem Elektrokardiogramm die 
Extrasystole diagnostizieren kann, und zwar je nach deren Entstehungsort, 
dabei sind Extrasystolen des Vorhofes nomodrom, bei den vom TAWARAschen 
Knoten ausgehenden Extrasystolen fehlt die ^4-Zacke, und bei den ventri¬ 
kulären Extrasystolen vom Typus A-B C ist das Bild absolut allodrom und 
völlig charakteristisch. 

Daß man Überleitungsstörungen im Elektrokardiogramm leicht dia¬ 
gnostizieren kann (die zeitliche Ausmessung gelingt leicht), mag vorstehende 
Kurve (Fig. 25) beweisen, auf der die ^Zacken nicht mit den Ventrikel- 


Digitized by 


Google 










120 


Elektrokardiogramm. — Erfrierung. 


zacken in Einklang zu bringen sind. Außerdem läßt sich gleichzeitig hier 
das Auftreten der Extrasystolen studieren. 

Das Elektrokardiogramm bei Herzfehlern. 

Bei reinen Herzfehlern ist das Elektrokardiogramm (infolge der 
muskulären Konfiguration des Herzens) nach Beobachtungen von Stbriopulo 
unter Nicolai (Zeitschr. f. exp. Path. u. Ther., VII) typisch, und zwar: 

Für Mitralstenose die hohe A - und F- Zacke neben der im Ver¬ 
hältnis zu den anderen Herzfehlern kleinen J Zacke (Fig. 26, 27). 

Für Mitralinsuffizienz die tiefgehende Jp-Z acke und die kleine A Zacke 
neben der mittelgroßen J-Zacke (Fig. 28, 29). 

Für Aorteninsuffizienz ist charakteristisch die sehr hohe «/-Zacke neben 
der kleinen A - und F- Zacke (Fig. 30, 31). 

Außerdem dauert bei Aorteninsuffizienz die Systole länger als bei den 
anderen Herzfehlern; sie ist nämlich gleich s /c der Herzrevolution. Die Prä- 


Fig. 32. 



Offener Ductus Bot&lii. 


systole ist merklich kürzer bei Aorteninsuffizienz als bei den anderen Herz¬ 
fehlern. 

Schließlich sei noch ein Elektrokardiogramm von einem Fall von offenem 
Ductus Botalli wiedergegeben (Fig. 32). 

Man sieht aus diesen Kurven, welche hohe diagnostische Bedeutung 
dem Elektrokardiogramm auch in der Diagnostik der Herzfehler zukommt. 

Literatur: Kraub-Nicolai, Elektrokardiogramm. Leipzig 1910; daselbst findet sich 
ein vollständiges bis in die neueste Zeit reichendes Literaturverzeichnis; ferner Nicolai, Phy¬ 
siologie des Kreislaufes in Nagels Handbuch der gesamten Physiologie. Dragsch. 

Erfrierung. Wie bei der Verbrennung, so unterscheidet man be¬ 
kanntlich auch bei der lokalen Einwirkung der Kälte drei verschiedene 
Grade. Der erste Grad ist charakterisiert durch eine oberflächliche erythema- 
tose Rötung resp. Entzündung der Haut, der zweite Grad durch Blasen¬ 
bildung und der dritte durch mehr oder weniger tiefgreifende Gangrän. Die 
peripheren Körperteile, die Zehen und Finger, die Füße und Hände, die 
Nase und die Ohrmuscheln sind besonders der Gefahr des Erfrierens aus¬ 
gesetzt. 

Symptomatologie . Bei den ersten Graden der Erfrierung schwindet die 
entzündliche Rötung und Schwellung der Haut gewöhnlich in wenigen Tagen 
und meist dauernd, zuweilen aber bleibt an den erfrorenen Hautstellen, 
z. B. an der Nasenspitze und an den Ohren, infolge einer Art von Gefä߬ 
paralyse eine Neigung zu häufiger wiederkehrender Rötung für längere Zeit, 
ja dauernd bestehen. Kokkoed hat auf das Vorkommen von Nekrose des 


Digitized by ^.ooQle 















Erfrierung, 


121 


subkutanen Fettgewebes nach der Anwendung von Eisbeuteln aufmerksam 
gemacht. 

Die sog. Frostbeulen (Perniones) sind leichte Hauterfrierungen an 
den Zehen und Fingern, oft mit Neigung zu Geschwürsbildungen, besonders 
bei anämischen Personen, welche sich bald in kalten, bald in warmen R&umen 
aufhalten müssen. 

Bei dem zweiten Grad der Erfrierung mit Blasenbildung ist die resti¬ 
tutio ad integrum unsicher, oft entsteht sekundär eine mehr oder weniger 
tiefgreifende Gangrän. 

Beim dritten Grad der Erfrierung ist sofort eine ausgesprochene Ge- 
websnekrose in verschiedener Ausdehnung vorhanden, jede Empfindung, jede 
Zirkulation ist erloschen, wie ein Stich mit der Nadel an der betreffenden 
Körperstelle lehrt. Die Gangrän ist bald eine mehr trockene (Gangraena 
sicca), bald eine mehr feuchte (Gangraena humida), je nach dem Grad der 
Verdunstung der abgestorbenen Gewebe. An solchen erfrorenen Extremitäten 
kann man oft Teile der Zehen in den Gelenken wie Glas abbrechen. 

Die histologischen Veränderungen der erfrorenen Gewebe bestehen 
nach v. Recklinghausen , Kriege, Hodara, Rudnitzki, R6my, Therese und 
Zoege v. Manteuffbl in Aufquellung und Entartung der Blut- und Lymph¬ 
gefäße mit Gerinnungen resp. Thrombosen und entsprechenden Gewebs- 
nekrosen. Rudnitzki und Zoege v. Manteuffel haben durch Kälte experi¬ 
mentell Arteriosklerose erzeugt. An den Nerven schwindet das Myelin und 
die Achsenzylinder, die Muskeln verfallen einer bindegewebigen Degeneration, 
an den Knochen kommt es infolge der Thromben in den Blutgefäßen zu 
Nekrosen und Einknickungen, an den Gelenken zu Kontrakturen und Steifig¬ 
keiten, teils infolge der krankhaften Veränderungen der Weichteile, teils 
durch die Knochendeformierungen, zuweilen unter dem Bilde einer Arthritis 
deformans. 

Die allgemeine Einwirkung der Kälte auf den menschlichen Organis¬ 
mus und die Prognose bei der Erfrierung ist folgende. Die Abkühlung der 
Körpertemperatur in der Kälte erfolgt um so rascher, je ruhiger sich das betref¬ 
fende Individuum verhält. Nach Sonnenburg sind etwa 36% der Erfrorenen be¬ 
trunken. Solange der Mensch noch imstande ist, energische Körperbewegungen 
auszuführen, vermag er hohen Kältegraden, z. B. von —42—45° C, erfolg¬ 
reich zu widerstehen; andernfalls sinkt die Körpertemperatur ziemlich rasch. 
Bei im Winter aufgefundenen betrunkenen Personen hat man mehrfach im 
Rektum Temperaturen von 24—26° C gemessen, sie haben sich dann doch 
wieder vollständig erholt, gewöhnlich allerdings erst nach mehreren Stunden 
oder Tagen. Sinkt die Körpertemperatur beim Menschen bis 20—18° C, dann 
Ist nach Cohnheim eine vollständige und rasche Restitution mindestens un¬ 
sicher. Die sonstigen Erscheinungen bei abgeküblten Menschen bestehen be¬ 
sonders in ausgesprochener Apathie und Schlafsucht, in Verlangsamung von 
Puls und Respiration sowie in Erweiterung und träger Reaktion der Pupillen. 
Ad. Schmidt fand im Blute eines Erfrorenen zahlreiche Kristalle des von 
Nencki dargestellten Parahämoglobins, einer unlöslichen Modifikation des 
Hämoglobins. 

An Tieren haben besonders Walther, Horvath, Cohnheim und Ph. Knoll 
die Folgen zunehmender Abkühlung studiert. Läßt man auf 18° C abgekühlte 
Kaninchen oder Hunde noch länger in dem kalten Medium, dann sterben sie 
meist in kurzer Zeit an Herzparalyse. Bringt man dagegen die auf 18° C 
abgekühlten Tiere in einen Behälter von 40° C, dann gelingt es, besonders 
auch bei Anwendung künstlicher Respiration, in etwa 2—3 Stunden, die 
Körpertemperatur wieder auf 39° C zu erhöhen und den paralytischen Zu¬ 
stand zu beseitigen; manche Tiere sterben aber trotzdem, oder man 


Digitized by 


Google 



122 Erfrierung. — Erysipelas. 

beobachtet später hochgradige Abmagerung mit fieberhafter Temperatur¬ 
erhöhung. 

Der Erfrierungstod bei Mensch und Tier erfolgt wohl im wesent¬ 
lichen durch Herzlähmung, nach Catiano in erster Linie durch Hirnanämie 
mit sekundärer Lähmung der Respiration und der Herztätigkeit 

Die Behandlung der Erfrierung besteht in den leichtesten Graden t 
z. B. an den Extremitäten, in hydropathischen Einwicklungen, in Anwendung 
der Stauungshyperämie und aktiven Hyperämie mittelst heißer Luft resp. 
Heißluftkästen nach Bier. Die heiße Luft soll etwa a / s —1 Stunde lang 
angewandt werden, dann soll eine kräftige Abreibung oder kalte Dusche 
folgen (Hanusa, v. Statzer). Ritter empfiehlt die Stauungshyperämie für die 
akuten Formen, die aktive Hyperämie mittelst heißer Luft für die chroni¬ 
schen (torpiden) Erfrierungen, z. B. auch für die Frostbeulen. Gegen letztere 
hat man außerdem zahlreiche Mittel empfohlen, besonders Tinct.jodi, Ich¬ 
thyol, Jodvasogen, Resorzin und Tannin aa. 1,0: 5,0 Aqua, feuchtwarme Ein¬ 
wicklungen, Alkoholverbände, zeitweilige Umschläge mit Eis-Bleiwasser, Auf¬ 
pinselungen von Kollodium, Celloidin-Azetonlösung, Tischlerleim, Massage und 
die Röntgenstrahlen. Geschwürige Frostbeulen werden entweder feucht 
mit l%iger essigsaurer Tonerde oder trocken mit antiseptischen Pulvern 
(Zinkoxyd, Xeroform, Europhen, Bismut. subnitr. usw.) und mit Röntgen¬ 
strahlen behandelt. Prophylaktisch ist wichtig das Tragen von warmer Fuß- 
und Handbekleidung beim Eintritt der kalten Jahreszeit und die Behand¬ 
lung etwaiger konstitutioneller Anomalien, besonders der Anämie. Rote Ohren 
und Nasenspitzen kann man durch oberflächliche Stichelungen mit einem 
feinen Galvanokauter bessern. 

Bei ausgedehnteren und tiefgreifenden Erfrierungen zweiten und dritten 
Grades empfiehlt sich an den Extremitäten vor allem behufs Erleichterung 
der Blutzirkulation die vertikale Suspension mit hydropathischen Einwick¬ 
lungen oder mit desodorisierenden antiseptischen Pulververbänden. Bei aus¬ 
gedehnter Gangrän kommt die Lagerung des Kranken in einem permanenten 
Wasserbade von etwa 38—40° C in Frage. 

Progressive Entzündungen und Eiterungen sind durch multiple In¬ 
zisionen zu bekämpfen. Mit der Vornahme einer Amputation oder Exarti¬ 
kulation wird man solange warten, bis sich die Gangrän deutlich demar¬ 
kiert hat. 

Bei totaler Erstarrung oder Erfrierung des ganzen Körpers 
muß man allzu rasche Erwärmung vermeiden. Der Erfrorene wird in ein 
nicht zu warmes Zimmer gebracht und hier mit kalten, nassen Tüchern ab¬ 
gerieben, eventuell unter gleichzeitiger Anwendung der künstlichen Respira¬ 
tion, subkutan gibt man Kampfer oder Äther, innerlich warme, exzitierende 
Getränke, eventuell durch Schlundsonde. Dann wird der Kranke in ein Voll¬ 
bad von etwa 18—20° C gelegt, welches man in 2—3 Stunden auf 30° C 
erwärmt. Gegen die Gliederschmerzen, welche mit der zunehmenden Be¬ 
lebung des Kranken auftreten, sind kühle PaiESSNiTZsche Einwicklungen zweck¬ 
mäßig. Um der Gangrän an den Extremitäten vorzubeugen, soll man baldigst 
die Suspension eventuell aller vier Extremitäten vornehmen. 

Literatur: Cohnheim, Allgemeine Pathologie. — üakusa, Inaug.-Dissert. Greifswald 
1903. — Koefoed, Hospitalstidende, 49. Jahrg., pag. 685. — Ritteb, Deutsche Zeitschr. f. 
Chirurgie, LV1II, und Münchener med. YVochenschr., 1907. Nr. 19. — Sonnknbürg, Deutsche 
Chirurgie, Lief. 14, Stuttgart, Ferd. Euke. — v. Statzek. Wiener klin. Rundschau, 1903, Nr. 49. 
— Tillmanns, Lehrbuch der allgemeinen Chirurgie, 1907, 10. Aufl. — Zoege v. Maxteuffbl, 
Zentralbl. f. Chirurgie, 1902, pag. 64. H. Tillmanna. 

Ery sipelas (Rose, Rotlauf). Die Pathogenese des Erysipelas (von 
cpuö-pö; rot, und tzzWo. Haut) ist gegenwärtig sehr gut bekannt. Während 
man früher glaubte, daß die fortschreitende kapilläre Lymphangoitis der Haut 


Digitized by 


Google 



Erysipelas. 


123 


und des Unterhautzellgewebes, welche wir Erysipel nennen, durch eine spezi¬ 
fische Bakterienform, durch den Erysipelstreptokokkus, bedingt sei, hat sich 
durch die weitere Forschung gezeigt, daß dieser Erysipelstreptokokkus iden¬ 
tisch ist mit dem Streptokokkus der gewöhnlichen Entzündung und Eiterung 
und mit sonstigen Streptokokkusarten. Ferner wurde besonders experimen¬ 
tell nachgewiesen, daß auch durch andere Bakterien Erysipel entstehen kann, 
wenn sie in die feineren Lymphwege gelangen, z. B. durch Staphylokokken 
(Jordan, Tillmanns), Diplokokken (Pfahler), durch Pneumokokken (Neu¬ 
feld), Typhusbazillen und Bacterium coli (Petruschky). Zuweilen handelt es 
sich bei Erysipel um Mischinfektionen. Das Erysipel ist also in bakterio¬ 
logischer Beziehung keine spezifische Erkrankung in dem früheren Sinne. 
Man kann vielleicht zwei Hauptarten von Erysipel unterscheiden: 1. das 
primäre, echte, vorzugsweise durch Streptokokken bedingte Erysipel, und 
2. das seltenere, sekundäre Erysipel im Verlauf von Infektionskrankheiten, 
welches durch den jeweiligen Erreger der betreffenden Infektionskrankheit 
verursacht werden kann. Nur in Ausnahmefällen sind beim primären Erysipel 
die Erysipelkokken im Blute nachweisbar, und nur in Ausnahmefällen hat 
man, z. B. bei Schwangeren, intrauterine Übertragung eines Erysipels resp. der 
Erysipelerreger von der Mutter auf das Kind beobachtet, vor allem dann, 
wenn der Filter zwischen dem mütterlichen und fötalen Blut durch patho¬ 
logische Prozesse undicht geworden ist (Kaltenbach, Stratz, Runge, Lebe- 
dbff u. a.). 

Das Erysipel ist nach unserer gegenwärtigen Anschauung eine echte 
Wundinfektionskrankheit, d. h. es entsteht primär stets im Anschluß an Kon¬ 
tinuitätstrennungen der Haut oder Schleimhaut oft der unbedeutendsten Art. 
Die spontane Entstehung des Erysipels in dem früher angenommenen Sinne 
ist vollständig aufgegeben worden. Wohl aber gibt es sekundäre Erysipele 
an einer intakten Hautstelle, z. B. durch Metastase bei einer bakteriellen 
Allgemeinerkrankung, z. B. bei Pyämie, ferner dann, wenn z. B. aus einem 
phlegmonösen Abszeß ein Erysipel entsteht, oder wenn ein Schleimhautery¬ 
sipel, z. B. aus dem Nasenrachenraum, auf die äußere Haut übergeht. 

In der neueren Zeit hat man immer mehr betont, daß das Erysipel 
nicht nur an der äußeren Haut vorkommt, sondern auch an den Schleim¬ 
häuten und an den serösen Häuten, besonders am Peritoneum. Die sog. habi¬ 
tuellen (rezidivierenden) Gesichtserysipele entstehen ganz besonders als pri¬ 
märe Schleimhauterysipele im Anschluß an Erkrankungen, Geschwüre des 
Nasenrachenraumes. Beim weiblichen Geschlecht sind die Menstruation und 
das Puerperium eine wichtige Ursache für die erysipelatöse Entzündung des 
Genitaltraktus, des Peritoneums und des subserösen Zellgewebes sowie 
der Haut. 

Das klinische Bild des Erysipels ist so bekannt, daß wir uns hier 
kurz fassen können und nur einige Besonderheiten hervorheben wollen. Wir 
wissen, daß das legitime, nicht komplizierte Hauterysipel gewöhnlich mit 
Schüttelfrost und rasch ansteigendem Fieber beginnt und unter ebenso 
schnellem Fieberabfall endigt. Das Erysipel breitet sich gewöhnlich konti¬ 
nuierlich von der vorhandenen Wunde resp. von der primären Infektionsstelle 
aus, es wandert (E. migrans s. ambulans), zuweilen aber auch diskontinuier¬ 
lich durch Entzündung größerer Lymphgefäße, z. B. bei Erysipel des Fußes 
entsteht plötzlich ein roter Erysipelfleck in der Gegend des Kniegelenks oder 
Oberschenkels, beide Erysipelherde sind dann gewöhnlich durch rote Streifen 
in der Haut, durch Lymphangoitis verbunden und sie verschmelzen dann 
allmählich. Sogenannte erratische oder multiple Erysipele an verschiedenen 
Körperstellen beobachtet man gelegentlich durch metastatische, kapilläre 
Lymphangoitis bei Septikopyämie. Die Schnelligkeit der Ausbreitung eines Ery¬ 
sipels und seine Dauer sind bekanntlich sehr verschieden, die mittlere Dauer 


Digitized by 


Google 



124 


Erysipelas. 


der Hauterysipele beträgt etwa 6—8—10 Tage, oft genug schwindet ein 
Erysipel bei zweckmäßiger Behandlung schon nach 1—2 Tagen. In der 
Regel geht die erysipelatöse Entzündung in eine vollkommene Restitutio ad 
integrum über. 

Die Komplikationen des Hauterysipels sind bedingt teils durch die 
fieberhafte Allgemeinintoxikation, teils durch die lokale Entzündung. Zu¬ 
weilen beobachtet man schwere nervöse Erscheinungen von seiten des 
Zentralnervensystems infolge des hohen Fiebers resp. infolge der Allgemein¬ 
intoxikation , oder bei Übergang eines Erysipels, z. B. des Kopfes, auf die 
Gehirnhäute. Ausnahmsweise sieht man auch im Beginn der Rekonvaleszenz 
bei rapidem Abfall des Fiebers — vorzugsweise bei neurasthenischen 
Kranken — sog. Kollapsdelirien mit Wahnideen und Halluzinationen des 
Gesichts und Gehörs, eine Geistesstörung, welche gewöhnlich nur wenige Tage 
dauert. In sehr seltenen Fällen beobachtet man periphere Lähmungen durch 
periphere Neuritis im Bereich der erysipelatösen Entzündung oder durch 
zentrale Störungen, v. Leyden und v. Renvers sahen eine längere Zeit an¬ 
dauernde Ataxie der unteren Extremitäten im Anschluß an eine auf den Rücken 
übergegangene Kopfrose. 

Unter den gastrischen Komplikationen ist von besonderem Interesse 
das Vorkommen von Dünndarmgeschwüren und von transitorischer 
Hyperämie der Darmschleimhaut mit blutigen Diarrhöen wie bei 
Verbrennungen. Die Leber und Milz geben nur ausnahmsweise zu Kompli¬ 
kationen Veranlassung, zuweilen besteht Ikterus infolge gastrischer Be¬ 
schwerden oder er ist hämatogener Natur infolge der bakteriellen Blutaltera¬ 
tion und ist dann gewöhnlich ein Zeichen baldigen Todes. Nephritis mit 
entsprechender Albuminurie beobachtet man in etwa 38% der Fälle, in 
Ausnahmefällen endigt die akute, erysipelatöse Nephritis durch Urämie 
letal, besonders wenn Nierenkranke von Erysipel befallen werden. Pleuritis 
und Herzaffektionen (Perikarditis, Endokarditis, Myokarditis) sind selten. 
Zuweilen beobachtet man Lungenkatarrhe oder erysipelatöse Pneu¬ 
monien (Wanderpneumonien), besonders dann, wenn eine erysipelatöse 
Entzündung der Luftwege auf die Lunge übergreift. In ähnlicher Weise be¬ 
obachtet man erysipelatöse Entzündungen des Peritoneum und des sub¬ 
serösen Zellgewebes nach Erkrankungen des Processus vermiformis, nach 
Darmgeschwüren, vor allem aber nach Infektionen resp. erysipelatösen Ent¬ 
zündungen des weiblichen Genitaltraktus im Puerperium. 

Unter den lokalen Komplikationen sind wichtig die nicht häufig vor¬ 
kommenden Eiterungen in der Form von zuweilen zahlreichen Abszessen, 
der Ausgang in Gangrän (Erysipelas gangraenosum) und die Kompli¬ 
kation mit phlegmonösen Erscheinungen. Von den sonstigen verschiedenen 
lokalen Komplikationen erwähne ich die akute, eitrige Meningitis nach 
Haut- oder Schleimhauterysipelen des Kopfes, die Erkrankungen des Auges 
(Verminderung der Sehschärfe, in Ausnahmefällen temporäre Blindheit, Pan- 
ophthalmie mit Atrophie und Vereiterung des Bulbus, wenn z. B. ein Ery¬ 
sipel auf das orbitale Zellgewebe übergreift, Trübungen der optischen Medien, 
Iritis, geschwürige Prozesse an der Kornea, Retinitis, Neuritis optica), ferner 
Katarrhe und eitrige Prozesse des Gehörorgans, eventuell auch hier mit 
Übergang auf die Schädelhöhle, Entzündungen und Vereiterungen der Pa¬ 
rotis oder der übrigen Speicheldrüsen, Tonsillarabszesse, diphtherie¬ 
artige Erkrankungen des Rachens usw. In seltenen Fällen hat man 
Schleimhauterysipele des Rachens auf den Ösophagus und den Magen über¬ 
geben sehen. 

Die Prognose des Erysipels ist im allgemeinen nicht ungünstig, aber 
in keinem Falle können wir für den günstigen Ausgang einstehen. Die durch¬ 
schnittliche Mortalität beträgt etwa 11%. Zahlreiche Umstände sind es. 


Digitized by 


Google 



Erysipel as. 


125 


durch welche die Prognose des Erysipels beeinflußt wird, z. B. durch den 
Sitz, die Konstitution und das Alter des Kranken, durch die etwa auftreten¬ 
den lokalen oder allgemeinen Komplikationen. Je länger die Dauer, je 
höher das Fieber, je ausgedehnter das Erysipel, um so ungünstiger ist die 
Prognose. 

Aber das Erysipel kann auch einen heilsamen Einfluß ausüben. Von 
besonderem Interesse ist in dieser Beziehung das sog. kurative Erysipel, 
das Erysipele salutaire der Franzosen. Man hat bekanntlich beobachtet, 
daß Sarkome dauernd verschwinden, daß lupöse oder syphilitische Erkran¬ 
kungen mit und ohne Geschwürsbildung, daß jeder Behandlung trotzende 
chronische Hautkrankheiten sich bessern, ja heilen, wenn ein Erysipel über 
sie hinwandert. W. Busch hat zuerst gezeigt, daß Sarkome infolge der ery- 
sipelatosen Entzündung einer so hochgradigen und rapiden Fettmetamorphose 
anheim fallen, daß sie dauernd durch Resorption verschwinden. P. v. Bruns 
hat bezüglich der Heilwirkung des Erysipelas bei Geschwülsten 22 Fälle zu¬ 
sammengestellt, vollkommen und dauernd geheilt wurden 3 Sarkome 
(W. Busch, Biedert und P. v. Bruns). Diese Tatsache bezüglich des heilenden 
Einflusses des Erysipels auf Geschwülste hat man mehrfach benutzt, um in¬ 
operable Tumoren (Sarkome und Karzinome) durch ein künstlich erzeugtes 
Erysipel zu beseitigen. Daß auf diese Weise in der Tat inoperable Karzinome 
geheilt werden können, haben Janicke und Neisser gezeigt, indem sie in 
einem letal verlaufenen Falle von Impferysipel bei inoperablem Mammakar¬ 
zinom feststellen konnten, daß in der Tat die Krebsnester und Krebszellen 
infolge der Einwirkung der Erysipelkokken durch fettige Degeneration zu¬ 
grunde gehen. Will man eine solche Überimpfung des Erysipels durch Strepto¬ 
kokken bei Kranken mit inoperablen Sarkomen oder Karzinomen vornehmen, 
dann soll man wohl bedenken, daß ein solches Impferysipel auch tödlich endigen 
kann. Günstiger ist die Methode von Coley (New* York), welcher besonders bei 
inoperablen Sarkomen durch Injektion einer Mischung der Toxine des Erysipel¬ 
streptokokkus und des Bacillus prodigiosus — teils in die Geschwulst, teils 
subkutan an entfernteren Körperstellen gute Erfolge erzielte. Die Kulturen wer¬ 
den auf derselben Art von Näbrbouillon isoliert angelegt, der Bacillus prodi¬ 
giosus wird dann 10 Tage später der Kultur des Erysipelstreptococcus hinzu¬ 
gefügt, die gemeinsame Kultur wird dann noch weitere 10 Tage gezüchtet 
und schließlich durch Erhitzung auf 58 6° C sterilisiert. Nur bei Kindern und 
schwachen Personen benutzt Coley filtrierte Kulturen, sonst unfiltrierte, 
welche 10—lömal giftiger sind als erstere. Man beginnt die Kur mit der 
Injektion von 0*32 cm 3 . Nur bei zu großen Dosen und bei mangelhafter 
Asepsis kann die Methode gefährlich werden. Coley verlor von 200 Patienten 
nur zwei infolge der Behandlung. Die Spindelzellensarkome eignen sich am 
besten für die Behandlung. Coley sah hier 50% Heilungen; weniger ge¬ 
eignet sind die Rundzellensarkome (3—4% Heilungen), fast ohne jeden Ein¬ 
fluß ist die Behandlung bei Melanosarkomen, Lymphosarkomen und Kar¬ 
zinomen. Die Wirkung der CoLEYschen Toxine auf die malignen Geschwülste, 
vor allem auf die Sarkome, besteht in einer rasch zunehmenden Koagula- 
tionsnekrose mit fettigem Zerfall. Coley berichtete 1901 und 1906 über eine 
größere Zahl von Dauerheilungen bei inoperablen Sarkomen mit mikrosko¬ 
pisch gesicherter Diagnose, welche er und andere amerikanische Ärzte durch 
seine Methode erzielt haben. In Deutschland ist die CoLEYsche Behandlung 
nur selten angewandt worden, sie war vorwiegend erfolglos, ich habe in 
einem Falle von Spindelzellensarkom einen günstigen Erfolg erzielt. 

Die Behandlung des Erysipelas ist eine doppelte, eine lokale und 
allgemeine. Sollen Erysipelkranke isoliert werden? Da das Erysipel keine 
kontagiöse Erkrankung im gewöhnlichen Sinne ist, so halte ich eine strenge 
Isolierung der Erysipelkranken nicht für nötig, man wird sie aber mit Rück- 


Digitized by 


Google 



126 


Erysipelas. 


sicht auf die aseptisch Operierten auf die Infektionsabteilang des Kranken¬ 
hauses legen, ganz besonders auch Kranke mit offenen, streptokokkenhal¬ 
tigen Eiterungen und beim Verbandwechsel größte Vorsicht mit Rücksicht 
auf die aseptischen Wanden. 

Die Behandlung des Fiebers geschieht nach allgemein gültigen Regeln. 
Für die Lokalbehandlung des Erysipelas hat man zahlreiche Mittel emp¬ 
fohlen. Die kutanen und subkutanen Injektionen von antiseptischen Lö¬ 
sungen (Karbolsäure, Sublimat, Salizylsäure, Ergotin usw.) besonders an 
den Randstellen des Erysipels und im Beginn desselben werden gegen¬ 
wärtig wohl nur noch selten angewandt. Erfolgreicher scheinen die sub¬ 
kutanen Injektionen von Antistreptokokkenserum zu sein (Dorr, Jordan). 
Man hat auch das Serum von Erysipelkranken subkutan injiziert, und zwar 
entweder pro dosi 2—5 cm z Blutserum, durch Venaesektion entnommen und 
mit 0*5°/ 0 iger Karbolsäure versetzt, oder 5 — 20 m 8 Serum aus Erysipelblasen 
(Jez, Hoffer von Sulmthal). Ich empfehle vor allem das Ichthyol, welches 
in dicker Lage im Bereich des Erysipels bis in die gesunde Haut hin auf- 
gepinselt wird, darüber lege ich Mull und meinen Papierverbandstoff (Spon- 
gidin) und befestige das Ganze, eventuell an den Extremitäten unter Im¬ 
mobilisierung durch Schienen, mittelst Mullbinden; Luftzutritt zum Erysipel 
halte ich für wünschenswert, daher benutze ich keine wasserdichten Stoffe 
und keine gestärkten Gazebinden. An den Extremitäten kann man mit der 
Ichthyolbehandlung, besonders im Beginn, eine zeitweilig angewandte leichte 
venöse Stauung nach Bier verbinden. Mit der Ichthyolbehandlung bin ich 
außerordentlich zufrieden. Von sonstigen lokalen Behandlungsmethoden er¬ 
wähn e ich noch folgende: Leinölfirnis (Gersuny), Bleiweißfarbe (Frebr, Bar¬ 
well), Teer mit darüber gelegtem Verband mit l%iger essigsaurer Tonerde 
(v.Wini warter), Zerstäubung von Sublimatäther (Thalamon),50— 80%te e R e &°r- 
zinsalbe (Andeer), Metakresol. anytol. purum (Neumann), 10%ige alkoholische 
Karbolsäure, 5—10%4? e Trichlorphenollösung, Terpentin (2—5mal täglich), 
Tinct. jodi fortior (7—8mal täglich), Arg. nitric. (1 :4—10), energisches Ab¬ 
reiben der Erysipelstelle mit Alcohol absolutus mit nachfolgenden feuchten 
Alkohol-Watteverbänden, eiskalte, essigsaure Tonerde, Aufpinseln von reiner 
Karbolsäure in Form eines weißen Streifens 6—7 mm vom Erysipelrande und 
Abwaschen mit 95%igem Alkohol nach Weißwerden der Haut (Allen) usw. 
Ferner hat man empfohlen Skarifikationen und Inzisionen, besonders im ge¬ 
sunden Grenzgebiet des Erysipels mit nachfolgender Berieselung mit 3—5°/ 0 iger 
Karbolsäure oder 1% 0 Sublimat und Auflegen von täglich 1—2mal zu 
wechselnden feuchten Kompressen mit 2 l / 2 0 /ote er Karbolsäurelösung oder 
Vl o Vb 0% iger Sublimatlösung (Kraske, Kühnast, Riedel). Jerusalem lobt 
konstante Wärme durch Auflegen von Kautschuk-Thermophoren, Kruken¬ 
berg die Anwendung roten Lichtes im roten Zimmer. Endlich kann man das 
Erysipel mechanisch aufhalten, z. B. durch Kompression mittelst Heft¬ 
pflasterstreifen, Kollodium, Kautschukstreifen, durch einen locker um die 
Extremität umgelegten Gummischlauch in der Nähe des Erysipelrandes (WAlfler, 
Niehans, Franke u.a.). Larrey, der berühmte Feldarzt von Napoleon I., zog 
mittelst des Glüheisens in der Nähe des Erysipelrandes eine Brandbarriere. 

Die Behandlung der Komplikationen, besonders der Abszesse, der 
Gangrän, der Gelenkentzündungen geschieht nach den hierfür gültigen Regeln. 

Zum Schlüsse sei noch kurz das zoonotische Erysipeloid (Ery¬ 
thema migrans) erwähnt, welches fast ausschließlich an den Händen von 
solchen Pet-sonen vorkommt, welche mit toten Tierstoffen oder mit lebenden 
Seetieren (Krebsen, Austern, Fischen) zu tun haben, also bei Wildhändlern, 
Fischhändlern, Köchinnen, Restaurateuren, Fleischern, Gerbern usw. 

Gilchrist hat über 329 Fälle von Erysipeloid berichtet, 323 waren 
durch Biß von Krebsen oder durch eine beim Hantieren mit Krebsen ent- 


Digitized by 


Google 



Erysipelas. — Eulatin. 


127 


etandene Verletzung bedingt. Das Erysipeloid ist eine Wundinfektionskrank- 
heit, welche durch eine juckende, fieberlos verlaufende, sich langsam aus¬ 
breitende entzündliche Rötung der Haut charakterisiert ist. Die Entzündung 
beschränkt sich meist auf die Finger oder Mittelhand, geht nie in Eiterung 
über und nur in Ausnahmefällen werden die subkutanen Gewebe, z. B. die 
Sehnenscheiden oder die Gelenke, in Mitleidenschaft gezogen. Der Erreger 
des Erysipeloids ist nach Rosenbach und Cordua eine größere Kokkenform, 
welche ähnliche verschlungene Fäden bildet wie Cladothrix dichotoma (Cohn). 
Zuweilen dürfte es sich um eine Ptomainvergiftung handeln (Reich). 

Die Behandlung des Erysipeloids besteht in Ruhe und Applikation 
von Ichthyol, grauer Quecksilbersalbe, in Alkoholverbänden oder in kutaner 
Injektion von 2 l / t °/ 0 \ger Karbolsäurelösung oder Vio 0 / 0 iger Sublimatlösung 
vom gesunden Grenzgebiet aus gegen den Rand des Erysipeloids. Reich lobt 
die Anwendung heißer Luft und Verbände mit essigsaurer Tonerde. 

Literatur: Allen, New York raed. Journ., 1908, 11. Joli. — Dobr, Buffalo raed. 
Journ., 1902, August. — Franke, Therapeut. Monatsschr., 1904, Nr. 11 , und Deutsche Zeit¬ 
schrift f. Chir., LXXVm. — ’Gilchrist, Journ. of cutan. dis. including Syphilis, November 
1904. — Hoffen v. Sülmthal, Fortschritte der Medizin, 1904, Nr. 27. — Jerusalem, Yerhandl. 
d. 73. Versamml. deutscher Naturforscher u. Ärzte in Hamburg, Sektion für Chirurgie. — J4z, 
Wiener med. Wochenschr., 1901, Nr. 35. — Jordan (Heidelberg), Münchener med. Wochen¬ 
schrift, 1901, Nr. 36. — Jordan, St. Petersburger med. Wochenschr., 1906, Nr. 7. — 
Klemm, Grenzgebiete d. Med. u. Chir., VIII. — P. Krause, Zentralbl. f. Bakteriol., XXXV, 
Nr. 6 . — Krukenbkbg, Münchener med. Wochenschr., 1902, Nr. 13. — Maonus, Über Schleim- 
haoterysipele der Luftwege. Inaug.-Dissert. Leipzig 1901. — Neufeld, Zeitschr. f. Hygiene u. 
Infektionskrankheiten, XXXVI. — Nkcmann, Berliner klin. Wochenschr., 1907, Nr. 29. — 
Noouera, Rev. de med. y cir.pract.de Madrid, 1905, pag. 909. — Pfahler, Philadelphia 
med. journ., April 1902. — Pollatschek, Zentralbl. f. innere Med., 1903, Nr. 20. — Reich, 
Wiener klin. Wochenschr., 1908, Nr. 11 . — Respinger, Beiträge zur klin. Chir, XXVI. — 
Tillmannb, Deutsche Chirurgie, Lief. 5. Erysipelas (mit ausführlicher Lit.), Stuttgart, Ferd. 
Enke. — Derselbe, Experimentelle und anatomische Untersuchungen über Erysipelas. Ver¬ 
handlungen d. deutschen Gesellsch. f. Chir., VII. Kongreß 1878, und Archiv f. klin. Chir., 
XXIII. — Derselbe. Lehrbuch d. allgemeinen Chirurgie, 1907, 10. Anfl. H. TiUmanna. 


EscaHn , eine Paste aus feingepulvertem Aluminium und Glyzerin 
im Verhältnis von 2 : 1 , über deren Einführung in die Therapie der Magen- 
darmblntnngen durch Klemperer schon in Eulenburgs Encyclop&dischen Jahr¬ 
büchern, XVI, N. F. VII, 16. Jahrg., 1909, pag. 208 berichtet wurde, hat 
neuerdings Süssmann gegen Analfissnren und Hämorrhoidalblutungen ange¬ 
wandt. Während er bisher nur von der Applikation von Ichthyol Gutes ge¬ 
sehen hat, war er neuerdings mit der Einführung von Escalinsuppositorien 
sehr zufrieden. Die Applikation des Ichthyols muß nämlich durch den Arzt 
selbst erfolgen, zunächst täglich, dann alle 2 Tage, nnd die Behandlung er¬ 
fordert 10—12 Tage. Die Zäpfchen aus Escalin und Kakaobutter, wie sie im 
Handel za haben sind, kann sich dagegen der Patient selbst einführen. Sie 
werden vorher etwas angewärmt nnd 2 mal täglich appliziert, einmal nach 
der Defäkation and das andere Mal vor dem Schlafengehen. Aach als Hämo- 
etatikum bei Hämorrhoidalblutungen scheint das Escalin in dieser Form 
brauchbar zu sein, man führt es 2 —3mal ein, das erste Mal direkt nach 
der Blutung. Nach 2 —3 Suppositorien pflegte die Blutung zu stehen; an den 
folgenden Tagen setzt man diese Therapie noch fort. 

Literatur: Sussmanm, Escalin-Suppoeitorien zur Behandlung von Analfissuren und 
IlämorrhoidalblutungeD. Die Therapie der Gegenwart, Mai 1908, pag. 240. E. Frey. 

Eulatin. In der NEUMANNschen Kinderpoliklinik in Berlin hat Fried¬ 
mann mit »Eulatin«, einem neuen Keuchhustenmittel, Versuche angestellt. 
Er hat es in Einzeldosen von 01 — 0 5 <7 3—4stündiich gegeben als Pulver 
oder nnter Znsatz von wenig Himbeersaft in Schüttelmixtur. »Es befördert 
die Expektoration und bewirkt eine beträchtliche Herabsetzung der Krampf- 
Anfälle sowohl in ihrer Anzahl als auch in ihrer Intensität.« Es soll eine 


Digitized by 


Google 



128 


Eulatin. — Euphyllin. 


losende und beruhigende Wirkung nach Angabe der Mütter ausgeübt haben. 
Bei 46 Kranken trat Besserung und Heilung ein, bei 7 war der Erfolg frag¬ 
lich, bei 4 Fällen versagte es. 

Chemisch ist Eulatin nach Angabe des Fabrikanten (Chemisches In¬ 
stitut Dr. L. Oestreieher, Berlin) amidobrombenzoesaures Dimethylphenyl- 
pyrazolon. Die Benzoesäure soll dabei als Expektorans, das Antipyrin als 
Sedativum wirken. Es ist ein weißes, säuerlich schmeckendes Pulver. 

Literatur: Fbiedmann, Das Enlatin, ein neues Kenchhastenmittel. Med. Klinik, 1908» 
Nr. 43, pag. 1649. E. Frey. 

Euphorglas siehe Ultraviolette Strahlen. 

Euphyllin« Das wirksamste Diuretikum, das Theophyllin, besitzt 
wie ähnliche Substanzen eine Reihe von Unbequemlichkeiten und Nachteilen 
bei der Anwendung. Es schmeckt schlecht und ist für die subkutane An¬ 
wendung auch in Form der Doppelsalze zu schlecht löslich. Außerdem rea¬ 
gieren diese Doppelverbindungen, z. B. von dem Natronsalz mit essigsaurem 
Natron alkalisch, was zu einer Ätzwirkung bei subkutaner Beibringung führt. 
Ein neues, reizloseres Präparat, das eine gute Wasserlöslichkeit besitzt, ist 
das von den Chemischen Werken vorm. Dr. Heinrich Byk, Charlottenburg, 
dargestellte Eupyllin. Es ist eine Verbindung von Theophyllin mit Äthylen¬ 
diamin NH 2 . CH 2 . CH 2 NH 2 und als Gemisch von primärem und sekundärem 
Salz aufzufassen, indem einmal 1 Mol. Theophyllin sich mit 1 Mol. Äthylen¬ 
diamin vereinigt, das andere Mal 2 Mol. Theophyllin mit 1 Mol. Äthylendia¬ 
min zusammentraten. Die Giftigkeit entspricht nach Dess.auer seinem Theo¬ 
phyllingehalt: Kaninchen vertragen 036 g Euphyllin, die tödliche Dosis für 
sehr große Kaninchen von 3 kg liegt bei 1 g. 

Dessauer hat das neue Präparat klinisch untersucht und gefunden, daß 
»das Euphyllin unseren besten harntreibenden Mitteln an die Seite gestellt wer¬ 
den kann«. Aus den mitgeteilten Krankengeschichten geht eine starke harn¬ 
treibende Wirkung hervor. Sie ist am ausgeprägtesten bei Stauungserschei¬ 
nungen infolge von Herzschwäche, wenn man die Herzkraft durch Digitalis¬ 
darreichung während einiger Tage gehoben hat und dann bei einsetzender 
Besserung der Zirkulation Euphyllin gibt. Man sieht also, daß die Wirkung 
ganz ähnlich ist, wie wir sie von den anderen, ihm chemisch nahestehenden 
Substanzen (Theophyllin selbst und Theobrominpräparate) kennen. Es teilt 
mit ihnen auch die Eigenschaft, nur kurze Zeit wirksam zu sein; man kann 
es nicht längere Zeit hintereinander geben, das Maximum seiner Wirkung 
wird am ersten Tage erreicht. Nach 2 —3tägiger Anwendung setzt man es 
aus, um es nach ein paar Tagen nochmals zu geben, wenn seine Anwendung 
erforderlich ist. Die Nebenerscheinungen, welche manchmal, besonders bei 
hoher Dosierung, unabhängig von der Applikationsart (s. u.) auftraten, be¬ 
standen in Kopfschmerzen und Erbrechen. 

Die Hoffnung, im Euphyllin ein subkutan anwendbares Diuretikum zu 
besitzen, hat sich nicht erfüllt. Es kommt zu starker Reizwirkung, die 
sich bis zur Abszeßbildung steigern kann. Dagegen ist es möglich, die In* 
jektionen intramuskulär vorzunehmen, die dabei auftretenden geringen 
Schmerzen muß man in Anbetracht der guten Wirksamkeit des Mittels in 
Kauf nehmen. Als zweckmäßigste Applikationsart erscheint aber nach 
Dessauer die Verabreichung per Klysma oder als Suppositorium. Wegen der 
guten Löslichkeit wird es schnell resorbiert und ist auch in dieser Form 
wirksam. Es kommen Suppositorien in den Handel, welche 0*36 Euphyllin 
(= 0 3 Theophyllin) und 2*5 Kakaobutter enthalten; Dessauer gab davon 
2 —4 täglich. Per Klysma verschreibt er: »Rp. Euphyllini pur. 1*0; solv. in 
aqu. q. s.; Decoct. Salep ad 120 0 . DS. Zu (2—)4 Klysmen oder Rp. SoL 
Euphyllini 10: 100 0 . DS. Früh und abends die Hälfte auf 40 m 8 Hafer¬ 
schleim als Klysma. Für die intramuskuläre Injektionen kommen sterilisiert» 


Digitized by 


Google 



Euphyllin. — Eustenin. 


129 


Lösungen in den Handel, sie sind 24%ig; sonst verordnet man sich Rp. Sol. 
Euphyllini 2*4 : 10 0. DS. 3—4 Inj. (ä 1*5 cm 1 ). Innerlich angewendet muß man 
den schlechten Geschmack durch Tct. Cort. Aurantii verdecken, was »ganz 
leidlich« gelingt. Rp. Sol. Euphyllini pur. 1 0 : 160 0; Sir. simpl., Tct. Cort. 
Aurantii aa. 20 0. DS. 2stündlich 1 Eßlöffel. 

Literatur: Dbssauer, Enpbyllin, ein nenes Diuretikum. Therapeut. Monatsh., August 
1908, pag. 401. E. Frey. 

Eustenin. Bei Arteriosklerose hat v. Noorden die Theobromin- und 
Jodbehandlung in der Weise kombiniert, daß er ein Doppelsalz von Theo¬ 
brominnatrium mit Jodnatrium bersteilen ließ. Näheres darüber berichtet 
Jagiö. 1 ) Diesem Doppelsalz kommt die Formel C 7 H 7 N 4 0 2 Na — JNa zu, es 
enthält also 51*1% Theobromin und 42*6% Jodnatrium, ist ein sehr leicht 
lösliches Pulver von alkalischer Reaktion und bitterem Geschmack. Es ist 
etwas hygroskopisch. Seine Lösungen sind nur kurze Zeit haltbar, da die 
Kohlensäure der Luft schon zum Ausfallen des Theobromins führt. Zucker 
darf zum Versüßen nicht verwendet werden, man benutzt dazu Saccharin. 
Die Chininfabriken Zimmer & Ko. bringen dieses Präparat, Eustenin ge¬ 
nannt , als Pulver oder als Lösung (mit Saccharin und Orangenblütenwasser) 
in den Handel. Man gibt von ersterem 1*0 oder 0*5 pro dosi in Oblaten; 
wird es schlecht vertragen, so verabreicht man einen Kaffeelöffel Natrium 
bicarbonicum, um das Ausfällen des Theobromins durch die Salzsäure des 
Magens zu verhindern. Die Tagesdosis beträgt 2*5 g\ die Lösung gibt man 
täglich in einer Menge von 5 Kaffeelöffeln. Auch per Klysma kann eine 
Lösung, frisch bereitet, gegeben werden. Bei Dosen von 50 g täglich trat 
eine starke Diurese und in einigen Fällen schon nach kurzer Zeit Jodis¬ 
mus ein. 

»Nach Dosen von 2*5 g pro die sahen wir recht gute Wirkungen bei 
Arteriosklerose mit und ohne Blutdrucksteigerung und bei Angina pectoris 
sowie auch bei Aortenaneurysmen. Es trat zumeist Blutdruckerniedrigung 
und Nachlassen der Schmerzen und der übrigen subjektiven Beschwerden ein.« 

Literatur: *) Jaqj< 5, Über kombinierte Theobromin- nud Jodbehandlung. Med. Klinik, 
1908, Nr. 14 pag. 498. E. Frey. 


Encjclop. Jahrbücher. N. F. VIII. (XVII.) 


Digitized by t^öooLe 



Fibrolysiti. Schon öfters ist über dieses Mittel, dessen wirksamer 
Bestandteil Thiosinamin ist, in Eulenburgs Encyclop&dischen Jahrbüchern 
berichtet worden. Seine Eigenschaft, Narben zu erweichen, ist bekannt; 
außerdem macht es eine Leukozytose. Neuerdings wird die Indikations¬ 
stellung für die Anwendung dieses Stoffes nach zwei Seiten hin erweitert. 
Krusinger *) hat in 2 Fällen von verspäteter Lösung bei kruppöser Pneu¬ 
monie das Mittel versucht. Bei einem Dienstmädchen hatte die Resolution 
der Pneumonie innerhalb 5 Wochen nach Beginn der Erkrankung und 
4 Wochen nach dem ersten kritischen Temperaturabfall keinerlei Fortschritte 
gemacht. Nun wurden jeden zweiten Tag Fibrolysininjektionen gemacht und 
jedesmal 2*3 g = 1 Ampulle der Lösung, wie sie Merck liefert, eingespritzt 
Es setzte sofort eine Besserung ein und nach 16 Tagen, also nach Verab¬ 
reichung von 8 Ampullen, war die Dämpfung verschwunden. Im zweiten Fall, 
der ein 8jähriges Mädchen betraf, trat gleichfalls nach der Injektion von 

3 Ampullen Fibrolysin Lösung ein. Es wurde immer an zwei aufeinander¬ 
folgenden Tagen zu l / t Ampulle eingespritzt, dann einen Tag ausgesetzt und 
nun von neuem injiziert. (Vielleicht spielt hierbei die Leukozytose durch 
Thiosinamin eine Rolle. Ref.) 

Bei Hepatitis interstitialis hat Moerlin 2 ) Fibrolysininjektionen versucht 
und einen guten Erfolg durch 6 Injektionen, jede Woche 2—3 Einspritzungen 
von je 1 Ampulle erzielt. Die stark geschrumpfte Leber wurde wieder deut¬ 
lich unter dem Rippenbogen fühlbar, eine Flüssigkeitsansammlung in der 
Bauchhöhle, welche vorher bestanden hatte, ging zurück, Allgemeinbefinden 
und Appetit wurden besser. Der Patient konnte wieder seiner Arbeit nach¬ 
gehen, d. h. Anweisungen auf dem Felde für die Ackerbestellung geben. 

Einen Fall von schweren Intoxikationserscheinungen nach 6 Injektionen 
bei einem 54jährigen Manne hat Grosse 3 ) beschrieben. Die ersten Injek¬ 
tionen wurden gut vertragen. Erst nach der sechsten Einspritzung traten 
Vergiftungssymptome auf; die Injektion fand früh 11 Uhr statt. Der Patient 
aß, ohne Beschwerden zu haben, zu Mittag, und zwar Rindfleisch und Reis 
mit Morcheln. Nachmittags um 4 Uhr setzte heftiges Erbrechen ein, Fieber 
und große Mattigkeit. Die Krankheit dauerte 4 Wochen; in den ersten Tagen 
wurde alles erbrochen, zeitweise bestand Herzschwäche; es kam zu einem 
hochgradigen Verfall der körperlichen und geistigen Kräfte. Erst nach 

4 Wochen trat Genesung ein, nur bestand noch schlechter Schlaf. (Ob nicht 
doch bei dieser Erkrankung die Morcheln eine Rolle gespielt haben, trotz¬ 
dem die anderen Familienmitglieder gesund blieben?) 

Literatur: J ) Krusinger, Fibrolysiu bei kruppöser Pneumonie mit verzögerter Lösung. 
Münchener med. Wochenschr., 1908, Nr. 14, pag. 740. — 2 ) Moeri.in, Fibrolysin bei Hepa¬ 
titis interstitialis. Münchener med. Wochenschr., 1908, Nr. 27, pag. 1434. — •) Gbosbe, Ein 
Fall von Vergiftung nach Gebrauch von Thiosinamin. Münchener med. Wochenschr. , 1908, 
>T " 17, pag. 910. E. Frey. 


Digitized by 


Google 



Filarien, 


131 


Filarien« Die Filarien sind zur Klasse der Nematoden gehörige, 
lange, fadenartige Würmer. Die im Menschen schmarotzenden Arten können 
wir vom medizinischen Standpunkte aus in zwei Gruppen teilen, in solche, 
bei denen die jungen Stadien als mikroskopisch kleine Würmchen — Mikro¬ 
filarien — in der Blutbahn angetroffen werden, und in solche, bei denen 
dies nicht der Fall ist. 

Wir beschäftigen uns zunächst mit der ersten Gruppe. Die Mikro - 
filarien, welche die kleinsten Kapillaren passieren müssen, haben ungefähr 
die Dicke eines Blutkörperchens. Sie können im Körper des Menschen nicht 
ohne weiteres heranwachsen, sondern müssen vordem einen Entwicklungs¬ 
gang außerhalb des Menschen — soweit bekannt, in einem blutsaugenden 
Insekt — durchmachen ; erst wenn sie nach diesem Umwege wieder in den 
Menschen zurückgelangen, wachsen sie dort zu reifen Männchen und Weibchen 
baran, die dann wieder mit der von ihnen produzierten Mikrofilarienbrut 
die Blutbahn überschwemmen. 

Die reifen Geschlechtstiere sind Tierchen bis Spannlänge, meist nur 
haardünne Würmer, die in dem Bindegewebe und Lymphgefäßsystem ein 
recht verborgenes Dasein führen. Die Filaria loa bemerken wir zwar zu¬ 
weilen, wenn sie sich bei ihren Wanderungen nahe der Hautoberfläche zeigt 
oder unter die Konjunktivs verirrt, die übrigen Filarien finden wir aber 
nur, wenn wir bei Sektionen sorgsam auf die unscheinbaren Würmchen 
achten oder gelegentlich bei Operationen. 

Der Sitz der erwachsenen Filarien ist, wie bereits angedeutet, das 
Bindegewebe oder das Lymphgefäßsystem; die verschiedenen Filarienarten 
verhalten sich in dieser Beziehung verschieden, und zwar sind Filaria loa 
(s. hiezu aber auch p. 151), perstans und Dömarquayi Bindegewebsbewohner, 
während nur Filaria Bancrofti im Lymphgefäßsystem lebt. Dies ist klinisch 
von großer Bedeutung; denn die im Bindegewebe schmarotzenden Würmer 
richten — wenn wir von der Konjunktivalreizung und den lokalen Haut¬ 
schwellungen, welche durch Loa hervorgerufen werden können, absehen — 
keinen Schaden an, während Filaria Bancrofti zur Blockierung der Lymph¬ 
gefäße und so durch Lymphstauung und deren Folgeerscheinungen zu den 
schwersten Krankheitsprozessen Anlaß geben kann; glücklicherweise ist aber, 
wie bereits an dieser Stelle betont sei*, auch bei Filaria Bancrofti das Auf¬ 
treten schwerer klinischer Erscheinungen keineswegs die Regel und Filarien¬ 
träger sind noch keine Filarienkranken. 

Die von den erwachsenen Filiarien produzierte Mikrofilarienbrut macht 
anscheinend keine klinischen Erscheinungen, was eigentlich auffällig ist, da 
oft viele Millionen der freilich winzigen Würmchen in der Blutbahn kreisen. 
Um so wichtiger sind die Mikrofilarien für die klinische Diagnose, da wir 
sie viel leichter nachweisen können, als die verborgenen Elterntiere; ja wir 
können sogar die Spezieszugehörigkeit der letzteren (ob Filaria Bancrofti, 
Dömarquayi etc.) durch eine einfache Blutuntersuchung feststellen. Die wun¬ 
derliche Tatsache, daß im menschlichen Blut solche Würmchen leben können 
— bei Chylocele waren sie von Demarquay (1863) und bei Chylurie von 
Wucherer (1866) entdeckt worden —, wurde 1872 von Lewis in Kalkutta 
gemacht, der die Blutwürmchen Filaria sanguinis hominis nannte. In der 
Folgezeit konnte dann Sir Patrick Manson, dem wir den Ausbau der Lehre 
von den menschlichen Filarien in allererster Linie verdanken, nachweisen, 
daß nicht nur eine, sondern verschiedene Arten von Mikrofilarien beim 
Menschen Vorkommen, von denen die einen nur in der Nacht, die anderen 
nur am Tage im peripheren Blute angetroffen werden, während andere 
solchen Wechsel nicht erkennen lassen, sondern dauernd im Blut vorhanden 


♦ Siehe iedoch pag. 145, 146. 


Digitized by jöGQle 



132 


Filarien. 


sind. Manson unterschied die Mikrofilarien danach in nocturna, diurna und 
perstans, zu denen — von zweifelhaften Arten abgesehen — noch die 
Microfilaria Dömarquayi kommt. Die oben erwähnten Arbeiten unterscheiden 
sich, abgesehen von ihrem Turnus, auch morphologisch voneinander und 
stammen von verschiedenen Elterntieren ab. Microfilaria nocturna gehört 
zu Filaria Bancroft, Microfilaria diurna wird als Brut von Filaria loa ange¬ 
sprochen, Microfilaria perstans ist die Brut von Filaria perstans, Micro* 
filaria Dömarquayi die Brut von Filaria Dömarquayi. Der Grund, daß manche 
Mikrofilarien, entgegen den Regeln der zoologischen Nomenklatur, ihre be¬ 
sonderen Namen erhalten haben, liegt darin, daß die Zugehörigkeit der be* 
treffenden Elterntiere zu den Larvenformen nicht ohneweiters ersichtlich 
war, ja selbst heute noch nicht unbestreitbar feststeht. 

Unsere Kenntnisse über die menschlichen Filarien sind überhaupt zur 
Zeit noch keineswegs abgeschlossen und so kann die folgende Tabelle auch 
nur den Wert eines vorläufigen Schemas beanspruchen. 

Die Spezialbesprechungen der einzelnen Filarienarten ergänzen diese 
Tabelle, dem Zwecke dieses Werkes entsprechend, hauptsächlich nach der 
praktisch*medizinischen Seite und auch das nur in gedrängtester Kürze; zu 
eingehendem Studium sei auf die zusammenfassenden Werke von Manson, 
Looss, Penel, Braun und die Sonderarbeiten von Fülleborn verwiesen (siehe 
Literaturverzeichnis). 

Technisches. A. Elterntiere (Filarien). Man suche die erwachsenen 
Ö und 9 , die man nicht mit Nervenfasern verwechseln darf, mit großer 
Aufmerksamkeit bei Fällen von Filaria perstans und Dömarquayi im retro- 
peritonealen Bindegewebe, Filaria loa in der Subkutis der abpräparierten 
Haut, besonders der Extremitäten, Filaria Bancrofti im Gewebe der Um¬ 
gebung der Cysterna chyli oder des Samenstranges. Letztere können in 
vollständigen Exemplaren nur bei sorgfältiger Präparation des Gewebes 
unter Kontrolle des Mikroskops unter O 9 0 / o iger NaClLösung (nicht Wasser) 
gewonnen werden. 

Konservierung in 70%igem heißen Alkohol, der nach 24 Stunden durch 
ebensolchen kalten ersetzt wird; für Dauerpräparate Überführung in 100 Al¬ 
kohol 70%) Glyzerin 5, Verdunstenlassen des Alkohols in offener Schale, 
schließlich Einschluß in Glyzeringelatine. 

Färbung: Überfärbung mit Hämatoxylin oder anderen Farbstoffen, 
starke Differenzierung, keine Aufhellung wegen Schrumpfung. 

Morphologische Studien sind nur an gut konservierten Exemplaren möglich. 

B. Embryonen (Mikrofilarien). Für klinisch*diagnostische Zwecke ist 
die Beobachtung folgender Angaben unerläßlich. Man streiche einen dicken 
Blutstropfen (um Mitternacht oder um 12 Uhr mittags entnommen zur 
Feststellung des Turnus) mittelst einer Nadel flächenhaft auf dem Objekt¬ 
träger aus und lasse unter leichtem Erwärmen rasch trocknen. Dünne 
Ausstriche wie bei Malaria enthalten bei spärlichem Befund oft keine Filarien 
oder diese bleiben an der Kante des ausstreichenden Objektträgers haften. 
Außerdem aber tritt bei dünnen Ausstrichen und ebenso bei langsam 
trocknenden, dicken Ausstrichen (feuchte Tropenluft) gewöhnlich starke 
Schrumpfung der Mikrofilarien bis % oder % ihrer Größe ein, wodurch 
Fehldiagnosen bewirkt werden. Aus dem getrockneten dicken Ausstrich wird 
das Hämoglobin der Erythrozyten entfernt entweder darch Einlegen in 
Aqu. dest. auf einige Minuten und darauf folgende Fixierung in Ale. abs. 
30 Minuten oder länger, um das Ablösen der Schicht zu verhüten, oder in 
Rüge- Rossscher Lösung, Formalin 2%, Eisessig 1%, Aqa. dest. Hiernach 
Abspülung vor der Färbung. 

Zur klinischen Diagnose ist am besten die Färbung in Hämatoxylin- 
lösung (Böhmer) geeignet, weil nur in ihr die für die Unterscheidung so 


Digitized by 


Google 



Sohema der medisinisoh wichtigsten Filarien. 


Filarien, 


133 










134 


Filarien« 


überaus wichtige Scheide mitgeführt wird; bei Romanowskyfärbung wird sie 
nicht sichtbar. Betrachtung in schwachem Trockensystem zur Orientierung, 
dann homogene Immersion. Die Präparate können ohne weiteren Einschluß 
aufbewahrt oder in Eanadabalsam eingedeckt werden. Im frischen Blut findet 
man die Mikrofilarien leicht, wenn auch meist in geringerer Zahl als im 
gefärbten Präparat, wenn man einen Blutstropfen unter das Deckglas bringt 
und mit Wachs oder Vaseline umrandet. Die lebhaft sich schlängelnden 
Würmchen sind schon mit schwachem Trockensystem leicht aufzufinden und 
halten sich im umrandeten Präparat bis 3mal 24 Stunden lebend. Für ge¬ 
nauere morphologische Untersuchung empfiehlt sich Vitalfärbung durch Zu¬ 
satz von dünnen Lösungen von Neutralrot, Methylenblau, Brillantkresylblau 
oder Azur II zu dem Blutstropfen; die Tiere sterben dann aber rascher ab. 
Für zoologische Untersuchungen ist außer der Vitalfärbung die feuchte 
Fixierung und feuchte Weiterbehandlung nach Looss unerläßlich. Deckglas¬ 
präparate mit dicker Schicht läßt man flach, mit der Schicht nach unten 
auf 30° C warmen, 70%igen Alkohol fallen. Bei der Weiterbehandlung dürfen 
die Präparate zur Vermeidung der Schrumpfung niemals trocken werden. 
Färbung in Säurekarmin, Einschluß in Glyzeringelatine nach einer Vorbehand¬ 
lung wie oben bei den Erwachsenen beschrieben. Schrumpfungen werden bei 
dieser Behandlung mit Sicherheit vermieden, für die Zwecke des Klinikers 
genügt aber auch die obige Methode. 

Bei sehr spärlichem Gehalt des Blutes an Mikrofilarien gelingt es, 
dieselben durch Zentrifugieren des Blutes aufzufinden, welches man mit 
einem mehrfachen Volumen einer Lösung von Formalin 5% 95, Eisessig 5, 
Gentianaviolett (konz. Alkol.) 2 versetzt hat. Der Bodensatz, bestehend aus 
violett gefärbten Leukozyten und Mikrofilarien (die Erythrozyten sind zer¬ 
stört), wird unter Wasserzusatz noch einmal nachzentrifugiert und ausge¬ 
waschen. 

Zu biologischen Versuchen gewinnt man auf ähnliche Weise große 
Mengen von Mikrofilarien. Man zentrifugiert aus dem Blut, da9 zur Ver¬ 
hütung der Gerinnung mit einem mehrfachen Volumen 0*9%fe er NaCl- 
Lösung versetzt wird, Blutzellen und Mikrofilarien nieder, versetzt den 
Bodensatz mit Aqu. dest., löst dadurch die Erythrozyten auf und zentri¬ 
fugiert nun die Mikrofilarien und Leukozyten allein als Bodensatz nieder. 
Um das rasche Absterben der Mikrofilarien im Aqu. dest. zu verhüten, 
setzt man nun rasch das zuerst abzentrifugierte Serum + 0 9%iger NaCl- 
Lösung zu und zentrifugiert die Mikrofilarien zum letzten Mal herab. Die 
Tiere leiden nicht wesentlich unter den Manipulationen. Statt des Zentri¬ 
fugierens kann man auch filtrieren, erhält aber weniger gute Resultate, da 
die Tiere zum Teil die Filter passieren. 

Filaria Bancrofti. Nach Manson ist das Verbreitungsgebiet von 
Filaria Bancrofti sehr groß und umfaßt fast alle tropischen und subtropischen 
Länder, reicht im Norden bis nach Spanien und Charlestown in den Ver¬ 
einigten Staaten, im Süden bis nach Brisbane in Australien. * Dies gilt 
aber nur dann, wenn wir als Fälle von Filaria Bancrofti alle diejenigen 
verstehen, bei denen eine mit Scheide versehene Mikrofilarie im Menschen¬ 
blut gefunden wurde, abgesehen von den Fällen, wo ein ausgesprochener 
»diurna-Typus« bestand. Erwachsene auf Filaria Bancrofti bezogene Würmer 
sind zwar bereits in einer ganzen Anzahl von Fällen aufgefunden worden, 
es ist aber nach Looss, dem sich in neuerer Zeit die Filarienkenner ange¬ 
schlossen haben, sicher, daß nicht alle diese Würmer mit der 1866 in 
Australien von Bancroft entdeckten und 1877 von Cobbold ihm zu Ehren 


* über die lokale Verbreitung der Filarien s. pag. 143. 


Digitized by 


Google 



Filarien. 135 

benannten Filarie identisch sind, da die leider sehr lückenhaften zoologischen 
Beschreibungen allzu sehr voneinander ab weichen. 

Die Filaria Bancrofti ist ein im frischen Zustande weißer, im konser¬ 
vierten Material bräunlicher Wurm, der wie ein Haar aussieht. Das 9 ist 
9 cm lang und 0*7 mm dick, das Ö wie bei allen diesen Filarien erheblich 
kleiner als das 9) nar etwa halb so lang (etwa 4 5 cm) und nur den dritten 
Teil so dick (etwa 0*1 mm). Durch das spiralig eingerollte Hinterende ist 
das Männchen schon mit bloßem Auge als solches erkennbar. Bei mikro¬ 
skopischen Untersuchungen sieht man, daß das Kopfende wie der Knopf 
einer Sonde mit einem dünneren Halsteil vom übrigen Körper abgesetzt 
ist, was für Filaria Bancrofti charakteristisch ist (Beim Ö ist dies weniger 
ausgesprochen.) Das Hinterende ist bei beiden Geschlechtern breit abge¬ 
rundet. Beim Männchen mündet hier die gemeinsame Öffnung des Anus und 
des Genitalapparates, während beim Weibchen nur die Analöffnung am 
hinteren Körperende liegt, die Geschlechtsöffnung aber nahe dem Kopfe in 
1*2—1*3 mm von dem Kopfende auf der Bauchseite mündet. An die weib¬ 
liche Geschlechtsöffnung schließt sich die nach hinten ziehende Vagina an, 
welche in die beiden Uterinschläuche übergeht; diese erfüllen die Haupt¬ 
masse des Wurmkörpers und sind mit tausenden von Eiern, in den vorderen 
Abschnitten mit großen Mengen geburtsreifer Mikrofilarien gefüllt. 

Charakteristisch für die Männchen der Filarien und von systematischer 
Wichtigkeit sind die sogenannten Spikula, kleine, aus der Genitalöffnung 
hervorstreckbare Chitinstäbchen, die als Haltorgane bei der Begattung 
dienen. Bei Filaria Bancrofti sind es zwei ungleich große Spikula von 0 2 
und 0*6 mm Länge. Über die für die Systematik gleichfalls wichtigen Anal¬ 
papillen des Männchens sind noch keine sicheren Befunde vorhanden. Beide 
Geschlechter leben zusammen. Oft bilden mehrere Würmer miteinander 
dichte Knäuel, die wir in Erweiterungen von Lymphgefäßen finden, und wir 
treffen sie auch im Ductus thoracicus und in den Lymphdrüsen an. 

Die Anzahl der erwachsenen Filarien, die in einem Wirt leben, dürfte 
bei stärkerer Infektion sehr erheblich sein und sicher nach vielen Dutzenden 
zählen, obschon man bei der Sektion meist nur wenige findet. So konnte 
FOlleborn bei einem Chinesen, der im Blute nur verhältnismäßig wenig 
Mikrofilarien hatte (im Ausstrich) bei der Sektion trotz stundenlangen 
Suchens zwar nur Fragmente von 2 oder 3 Filarien entdecken, auf ge¬ 
färbten Schnitten des Samenstranges aber fanden sich eine Menge Filarien 
in den Lymphgefäßen, obschon weder klinische Symptome noch die makro¬ 
skopische Betrachtung auf eine Erkrankung des Samenstranges hingewiesen 
hatten. Die Lebensdauer der erwachsenen Filarien scheint sehr lang zu sein 
und viele Jahre zu betragen. 

Die zu Filaria Bancrofti gehörige, im Blut kreisende Microfilaria 
(nocturna) ist ein schlangenähnliches Würmchen von ungefähr l / z mm Länge, 
während die Dicke etwa dem Durchmesser eines roten Blutkörperchens 
entspricht. Doch schwanken betreffs der Dicke die Angaben der Autoren 
zwischen 0*006 mm (Leuckart) bis 0*0066 mm (Looss für eine ägyptische 
Filarie) und 0 011 mm (Blanchard). Die geburtsreifen Mikrofilarien sind nach 
Cobbold (konserviertes Material) erheblich kleiner (0*127—0 2 mm), sie würden 
demnach im Blute an Größe zunehmen. Wir finden, daß die Länge und 
Dicke der Filaria nocturna selbst im frischen Blute (mittelst Photogramm 
gemessen) nicht unerheblich schwankt, was durch verschiedene Kontraktions¬ 
zustände oder vielleicht auch durch verschiedenes Alter der Larven zu er¬ 
klären wäre, während alle an konserviertem Material gemachten Messungen 
wenig brauchbar sind. Wie stark die Mikrofilarien durch die Präparation 
beeinflußt werden, wurde bereits oben bei der Besprechung der Technik 
erwähnt. Daß es nicht unwahrscheinlich ist, daß die als »Microfilaria nocturna« 


Digitized by ^.ooQle 



136 


Filarien. 


angesprochenen Larven nicht alle zu Filaria Bancrofti, sondern zu mehreren 
Arten gehören, wurde bereits oben erwähnt; zur Beantwortung dieser Frage 
wird aber vor allem ein genaues Studium der Elterntiere erforderlich sein, 
da die Larven von ganz verschiedenen Filarienarten morphologisch ununter¬ 
scheidbar sein können. 

Die Microfilaria nocturna entwickelt sich, wie bereits oben erwähnt, 
aus Eiern; diese sind kürzer, aber erheblich dicker als die Larven, da die 
Larven in einem gewissen Stadium in ihnen aufgerollt liegen. Die Larven 
strecken sich jedoch bereits im Uterus und dehnen dabei ihre Eihülle, in 
der sie stecken, zu einem langen schmalen Sack aus, dem Gebilde, welches 
uns an den zirkulierenden Mikrofilarien als die »Scheide« entgegentritt. * 
Die Scheide der zirkulierenden Filarien ist ein dünner transparenter Sack, 
der länger als die Filarie ist, so daß sie darin vor- und rückwärtsrutschen 
kann; man sieht sie daher bald mehr am Kopf-, bald mehr am Schwanz¬ 
ende über den Körper des Wurmes hinwegragen, während sie im übrigen 
dem Wurm so dicht anliegt, daß man sie an seinen Seitenkanten für ge¬ 
wöhnlich nicht bemerkt. Im frischen Präparate ist die Erkennung der Scheide 
nicht immer leicht; häufig sieht man nur ihre obere Kante wie einen feinen 
Faden am Kopfende (resp. Schwanzende) und wenn die Filaria schnell in 
der Scheide nach hinten rutscht, so kann man den Eindruck gewinnen, als 
werde ein langer dünner Faden plötzlich aus dem Kopfe ausgestoßen. Im 
Hämatoxylinpräparate ist die Scheide leicht zu erkennen und auch mit 
RoMANOWSKY-Färbung färbt sie sich zuweilen schön rot, doch ist das keines¬ 
wegs immer der Fall. 

Im frisch entleerten Blute kann man dann feinere anatomische Einzel¬ 
heiten der schlangenähnlichen, äußerst beweglichen Würmchen erkennen. 
Gleich nach der Anfertigung des Präparats sieht man sie sich nicht nur 
lebhaft krümmen und winden, sich aufrollen und strecken, sondern sie ver¬ 
ändern auch ihren Ort und entfernen sich aus dem Gesichtsfelde. Nach einiger 
Zeit klebt aber die Scheide am Glase fest oder die Mikrofilarie fängt sich 
an einem koagulierenden Fibrinfaden und dann kann sich der Wurm nur 
noch auf der Stelle bewegen, so daß er nicht mehr aus dem Gesichtsfelde 
verschwindet. Wenn er mit der Spitze der Scheide festhaftet, so kann man 
häufig beobachten, wie er die elastische Scheide, bei den Versuchen los¬ 
zukommen, dehnt, wie er aber dann wieder wie von einem Gummibande 
darin zurückgezogen wird. Die lebhaften Bewegungen halten im mikro¬ 
skopischen Präparat auch bei gewöhnlicher Temperatur an, werden beim 
gelinden Erwärmen lebhafter und bei Kälte geringer. 

Ein genaues Studium des Wurmes wird erst möglich, wenn er sich 
beruhigt (man kann dies zweckmäßig durch Erwärmen über einer Flamme, 
wobei er in Streckstellung wärmestarr wird, oder durch Eisschranktemperatur 
erreichen). W r ir erkennen alsdann mit Immersion, daß der Körper eine sehr 
zarte Querstreifung besitzt, und etwa in V 3 der Gesamtlänge vom Kopf 
entfernt sehen wir eine bläschenförmige helle Stelle im Körper, die dem 
Exkretionsporus entspricht. Der After, der vor dem scharf abgesetzten 
Schwänze liegt, ist schwer erkennbar. Ebenso ist es nicht leicht, den Bau 
der Mundorgane zu studieren. Manson beschreibt, daß das Kopfende der 
Mikrofilarie mit einem zurückziehbaren, sechslappigen, präputiumartigen 
Organ versehen sei und daß man hier zuweilen beobachten könne, wie aus 
dem Kopfende bei zurückgezogenem Präputium ein äußerst feines Züngelchen 

* Wir folgen hier der Darstellung der meisten Autoren, die unsere Untersuchungen 
an Filaria loa bestätigen zu können glaubt. Looss meint, indem er sich auch auf die Unter¬ 
suchungen von Ludwig beruft, daß die Mikrofilarieu ohne Scheide geboren werden und daß 
die Scheide der zirkulierenden Larven eine abgestoßene Larvenhaut sei nach Analogie der 
Ankylostomumlarven. 


Digitized by 


Google 



Filarien. 


137 


schnell hervorgestoßen und ebenso schnell zurückgezogen werde; Looss da* 
gegen hat bei seiner ägyptischen Filaria nur ein dem Bohrzahn der Aska¬ 
riden ähnliches Organ gesehen und hält das Vorhandensein eines so kom¬ 
plizierten Apparates, wie Manson ihn beschreibt, für unwahrscheinlich. Wir 
selbst haben mitunter bei der Beobachtung vital gefärbter Würmchen den 
Eindruck gewonnen, daß sowohl bei Filaria diurna wie bei der ostasiatischen 
nocturna ein dem von Manson beschriebenen ähnlicher Präputialapparat vor¬ 
handen zu sein scheint. Nach Befunden an anderen Filarien (perstans und 
verschiedenen Hundefilarien) scheinen aber die verschiedenen Arten durch¬ 
aus verschieden gestaltete Mundöffnungen zu haben, speziell haben wir bei 
einer Hundefilarie mit Sicherheit ein seitliches Maul, ähnlich wie bei An- 
kylostomum gesehen. Es sei bemerkt, daß bei der Beobachtung dieser De¬ 
tails, die nur bei stärkster Vergrößerung und intensivstem Licht möglich 
ist, eine Täuschung durch optische Effekte 
häufig nur schwer auszuschließen ist. Fi * 33 

Endlich kann man bei Filaria nocturna 
bereits im frischen Präparat im hinteren Teile ' 1 

des mittleren Wurmdrittels eine »unregel¬ 
mäßige Anhäufung von körnigem Material 
sehen, die sich bei geeigneter Färbung als 
eine Art Eingeweide darstellt«. Dieser »Man- 
soNsche Innenkörper«, wie wir ihn nennen 
wollen, kommt stets schon bei vitaler Fär* 
bung mit Neutralrot zur Anschauung und läßt 
sich zuweilen auch als roter Strang oder 
eine Reihe roter Körner am fixierten Präpa¬ 
rate mit einer modifizierten GiEMSA-Färbung, 
nicht jedoch mit Hämatoxylin darstellen; die 
Natur dieses Körpers ist noch unklar, aus 
Glykogen scheint er nicht zu bestehen. Bei 
Filaria diurna sah Fülleborn ihn bisher nie. 

Auch die übrigen Details des anato¬ 
mischen Baues der Mikrofilarien kommen 
bei gefärbten Präparaten deutlicher zur An¬ 
schauung als an frischen; an fixierten Häma¬ 
toxylin präparaten erscheint der Wurm bis auf 
den Kopf und die Schwanzspitze von einer 
Reihe relativ kleiner Körner ausgefüllt, zwi- SchemR t l|rLM 1 ?)' iT' 4 noc ’ 
sehen denen sich helle Stellen (die »Spots« Kx. Kx krotingfffpor u«, --ln. Anus, 
der Engländer) befinden, deren relative Lage 

für die Systematik der Filarien eine Rolle spielt. Diese hellen Stellen 
entsprechen inneren Organen, wie dies aus der nach Looss kopierten bei¬ 
folgenden Zeichnung (Fig. 33) ersichtlich ist. Von diesen inneren Organen 
bat Rodenwaldt bei allen Filarien durch Vitalfärbung mit Azur II folgendes 
festgestellt: 1. ein zu dem sackartigen Exkretionsporus an der Grenze des 
vorderen und mittleren Drittels gehöriger, nach hinten ziehender Strang, 
der etwa zwei Wurmbreiten hinter dem Exkretionsporus zu einer deutlichen 
großen hellen Zelle mit dunklem, exzentrisch liegendem Nukleus führt. 2. An 
der Grenze des hinteren und mittleren Drittels liegt eine große, die ganze 
Breite des Tieres einnehmende längsovale Zelle mit breitem, dunklem Plasma, 
hellem Kern und dunklem Nukleolus, in einigem Abstande hinter ihr folgen 
wieder zwei helle Zellen wie die obige mit exzentrischem Kern, die nahe 
beieinander liegen, dann etwas weiter noch eine gleichartige Zelle. Alle 
4 Zellen, die große und die 3 kleinen, scheinen zu einem Organ zu gehören 
und mit Kanälen in einen unmittelbar hinter der letzten Zelle gelegenen 



Digitized by 


Google 



138 


Filarien. 


Poras sich za öffnen, der wie der Exkretionsporus sackförmig gestaltet ist, 
aber nicht wie jener mit einer runden, ziemlich weiten Öffnung in der 
Leibeswand sich öffnet, sondern mit einer feinen Öffnung auf einer kleinen 
Papille ausmündet. Mit dem kurz vor dem Schwanzansatz sich ansetzenden 
Anus hat dieser Porus nichts zu tun. Über die Deutung dieser Organe läßt 
sich Bestimmtes zur Zeit nicht angeben, vielleicht handelt es sich um die 
bei den Embryonen gleichzeitig angelegten Stammzellen der männlichen und 
weiblichen Genitalien. 

Durch die gleiche Vitalfärbung mit Azur, bei der die Körnchenreihe, 
die den Kernen der Darmzellen entspricht, nicht hervortrilt, gelingt es, eine 

Anzahl längsgestellter, spindel- 
Fi « 84 förmiger Zellen zur Darstellung 

zu bringen, die in unregel¬ 
mäßiger Zahl bei der gleichen 
Art vorhanden und unregel- 
^ mäßig angeordnet sind. Wir 

\ \ sprechen sie als Matrixzellen 

ft \ v i der Subkutikula an, um Mus- 

n (jW <4 I kelzellen handelte es sich sicher 

U I) nicht, 

1 Alle diese Details, die auf 

v IffJ der Zeichnung Fig. 34 wieder- 

. \ f , f geben sind, werden uns wahr- 

\ jAl scheinlich in Zukunft bestimm- 

V \ IQ/] tere Unterscheidungsmerkmale 

t der Mikrofilarien kennen lehren. 

fyij Es sei an dieser Stelle 

\ \ jnj bereits auf die morphologischen 

i Unterschiede zwischen Mikro- 

; ! J filaria nocturna und diurna hin- 

i I gewiesen; während Ditton, 

j I 1 y Annet und Elliot einen mor- 

\ ) phologischen Unterschied über- 

y * haupt nicht anerkennen und 

Filaria diurna als von nocturna 
^ verschiedene Art nicht gelten 

lassen, geben Manson, Brlmpt, 
P£nel und andere morpholo- 
Scbema do» Bau#*« der MikroHlarien. (Nach Rohknwai.ut.) gische Differenzen zwischen bei- 

M Matrixzellen der Subcuticula, E Exkretionsporus mit Ex- , v . „ 

kretionszelle, Ci Eenitalanlage. den äD. WSCh MANSON Waren 

die nur im gefärbten Präparat 
wahrnehmbaren Unterschiede folgende: die Larve von Filaria Bancrofti ist 
gewöhnlich in schöner Kurve angeordnet, wie sie ein geschickter Zeichner 
entwirft, während diurna eckige, unregelmäßige Kurven hat, als ob ein 
Schuljunge zeichnet. 2. Das Schwanzende von diurna ist häufig mehrfach 
korkenzieherartig abgeknickt und die äußerste Schwanzspitze ist oft ein¬ 
geschlagen. 3. Die Körner der zentralen Kernsäule sind größer und heben 
sich weniger stark ab als die von nocturna und meistens ist das Kopfende 
der Kernsäule schärfer bei Microfilaria diurna abgebrochen als bei nocturna. 

Wenn schon diese Unterschiede nicht für jede einzelne Mikrofilarie 
zutreffen, so waren sie doch bei Durchmusterung einer größeren Anzahl 
ersichtlich. Die Größe der diurna gibt Manson als nahezu mit nocturna 
übereinstimmend an (298;/. zu 251;/). Wir selbst haben bei der Unter¬ 
suchung von Bancroftilarven auch den Eindruck gewonnen, daß in der Tat 
morphologische Unterschiede bestehen. In dicken, gewöhnlichen Trocken- 


Digitized by 


Google 



Filarien. 


139 


ausstrichen ist die schöne geschwungene Gestalt der nocturna gegenüber 
der zerknitterten und geschrumpften von diurna recht auffällig, und ferner 
sehen wir bei weitem nicht die starken Verkürzungen, wie sie diurna in 
langsam getrockneten dünnen Ausstrichen häufig zeigt; es macht den Ein¬ 
druck, als ob nocturna ein widerstandsfähigeres Außenskelett bat als diurna. 

Ferner konnte FOlleborn bisher bei Filaria diurna nicht wie bei 
Filaria nocturna mit vitaler Neutralrotfärbung, auch nicht an unfixierten 
Präparaten einen Innenkörper färben, obschon man bei diurna zuweilen im 
frischen Präparate einen dem Innenkörper von nocturna ähnlichen Strang 
sieht (vielleich Koagulationen?); bei diurna nehmen besonders einige in der 
hinteren Körperhälfte gelegene stark lichtbrechende, schon ohne Färbung 
sichtbare Granula das Neutralrot begierig auf. 

Periodizität: Eines der merkwördigsten, noch keineswegs aufge¬ 
klärten Phänomene ist das periodische Auftreten von Microfilaria nocturna 
im peripheren Blute. Am Tage findet man in typischen Fällen nur ganz 
vereinzelte Mikrofilarien, während sie von 5—6 Uhr abends an allmählich 
zunebmen, um gegen Mitternacht ihre Maximalfrequenz, zuweilen 300—600 
in einem Bluttropfen, aufzuweisen, um dann gegen Morgen abzunehmen und 
gegen 8—9 Uhr morgens zu verschwinden. Diese Periodizität, die unter 
normalen Bedingungen regelmäßig beobachtet werden konnte, hängt mit 
den Lebensgewohnbeitfn der Filarienträger zusammen; läßt man, wie zuerst 
Mackenzie gezeigt bat, den Betreffenden am Tage schlafen und nachts 
wachen, so kehrt sich der Turnus nach 3—4 Tagen um, um ebenso nach 
einigen Tagen wieder normal zu werden, wenn die Person zu ihren gewöhn¬ 
lichen Lebensgewohnheiten zurückkehrt. Krankheitszustände, Fieber, Koma etc. 
bringen die Periodizität ebenfalls in Unordnung. Licht und Dunkelheit, Außen¬ 
temperatur und Luftdruck, Stunde der Mahlzeiten spielen dagegen keine 
Rolle. Es sind offenbar noch unbekannte, in dem Chemismus des Stoffwechsels 
des Wirtes liegende Ursachen, welche die Filarien bei normaler Lebensweise 
des Wirts höchst zweckmäßig zu denjenigen Stunden im Blutwechsel der 
Haut auftreten lassen, in denen sie die meisten Chancen haben, von den 
besonders abends und nachts saugenden Mücken, ihren Zwischenwirten, auf¬ 
genommen zu werden. Da die Mikrofilarien wohl nicht gegen den Blutstrom 
anschwimmen können — einen positiven oder negativen Rhetropismus konnte 
FOlleborn nicht nachweisen —, müssen sie irgendwie an ihren Prädilektions¬ 
stellen festgehalten werden und Looss meint, daß vielleicht die Klebrigkeit 
der Scheide eine Rolle spielt. 

Es würde hier zu weit führen, die mannigfachen, bereits aufgestellten 
Theorien zu erörtern, es sei nur bemerkt, daß das Schlafen des Wirtes nicht 
die Ursache des Auftretens der Mikrofilarien unter der Haut sein kann, denn 
die Mikrofiiarien erscheinen ja bereits um 5 Uhr nachmittags; damit fällt 
die Hypothese Linstows, daß die Erweiterung der Hautgefäße während des 
Schlafes es sei, welche den Mikrofilarien die Passage erleichtere und die 
Ursache für die Periodizität sei, ganz abgesehen davon, daß, wie Pbnel 
schon richtig bemerkt, die ebenso große Filiaria diurna ja gerade am Tage 
in der Haut sich aufhält. 

Der Turnus der Mikrofilarien ist jedoch nicht überall und von allen 
Autoren in der Reinheit beobachtet worden, wie dies Manson, der seine Er¬ 
fahrungen in Ostasien gemacht hatte, angibt. Er soll vielmehr in West¬ 
afrika, der Südsee und den Philippinen fehlen. Die meisten Autoren wollen 
dies damit erklären, daß die Eingeborenen sehr unregelmäßig lebten, wie 
denn auch tatsächlich der Turnus verloren geht, wenn man ein Individuum 
immer nur kurze Zeit schlafen läßt (Maxson), andrerseits wird aber von 
Green darauf hingewiesen, daß die Polizeibeamten von Kalkutta trotz sehr 
unregelmäßigen Dienstes ihre Larven periodizität bei behalten. In Westafrika 


Digitized by 


Google 



140 


Filarien. 


könnte es sich bei den Fällen ohne ausgesprochenen Turnus aber auch sehr 
wohl um Doppelinfektion mit nocturna und diurna handeln, und dann Ist es 
hier auch ziemlich wahrscheinlich, daß es außer den Larven von Filaria 
Bancrofti und loa noch andere morphologisch ähnliche Larven gibt, und diese 
haben vielleicht keinen bestimmten Turnus. Aschburn und Craig nehmen 
denn auch an, daß sie es bei der nocturnaartigen Filarie der Philippinen, 
die keinen Turnus erkennen läßt, mit einer besonderen Art (Micro!, philipp.) 
zu tun haben. 

Während der Tagesstunden finden sich die Filarien in den inneren Or¬ 
ganen und ganz besonders reichlich in der Lunge. Daß sie gerade hier in 
Lunge und Haut, den beiden atmenden Organen, sich aufhalten, wie Majvsox 
an einem Manne nachweisen konnte, der Filaria nocturna beherbergte und 
sich am Tage durch Blausäure tötete, ist bemerkenswert; in der Leber. 
Milz, Niere, Knochenmark und Gehirn fehlten sie so gut wie ganz, was 
allerdings nicht mit den Untersuchungen von Rodenwaldt übereinstimmt. 

Dieser fand, daß die Mikrofilarien zwar in der Lunge in der über¬ 
wiegenden Zahl vorhanden sind, daß sie aber auch in anderen Organen, 
Niere, Leber, Gehirn, sehr erheblich zahlreicher sind als im peripheren Blute, 
so daß es den Anschein hat, als ob die Kapillargebiete der inneren Organe 
ihr Prädilektionssitz seien und daß sie nur bei ausreichender Anzahl ins 
periphere Blut fortgespült würden. 

Was die Lebensdauer der Mikrofilarien anbelangt, so ist sie, wie die 
der Elterntiere, noch nicht sichergestellt, da Bluteinspritzungen auf Tiere 
bisher mißglückt sind; nur nach Analogie mit den Hundefilarien, welche, in 
einen anderen Wirt eingespritzt, monatelang am Leben blieben, kann man 
schließen, daß dasselbe auch für die menschlichen Filarien gilt. Im entleerten 
Blut kann man sie bei warmer Temperatur 10 Tage lang am Leben er¬ 
halten. Abgestorbene Mikrofilarien findet man in den Glomeruli der Niere, 
in der Leber und Milz (Rodenwaldt). Ob auch mit Speichel und Urin noc¬ 
turna ebenso wie diurna ausgeschieden wird, ist noch nicht erwiesen, wenn 
schon wahrscheinlich; auch im Sputum muß man sie vermuten, angesichts 
der Unzahl von Mikrofilarien, die sich gerade in der Lunge aufhalten. 

Die Übertragung von Filaria Bancrofti geschieht durch Mücken und 
der erste, welcher eine Entwicklung von Microfilaria Bancrofti in Culex 
fatigans beschrieb, war Sir Patrick Manson. Spätere Untersucher haben im 
Gegensatz zu den Malariaparasiten ein Heranwachsen von Mikrofilarien in 
einer ganzen Anzahl verschiedener Mückenarten (Culex, Anopheles) beob¬ 
achtet, während auffälligerweise die Versuche mit anderen, diesen nahe ver¬ 
wandten Arten bisher negativ waren. Bemerkenswert ist es auch, daß, wenn 
man eine größere Anzahl Mücken derselben Art an. einem Filarienträger 
gleichzeitig saugen läßt, bei manchen Mückenarten in allen Individuen, bei 
anderen nur einem Bruchteil die Filiarien zur Reife gelangen, während die 
übrigen in einem jungen Entwicklungsstadium absterben (z. B. Hundefilarien 
in Anopheles und Stegomyia), so daß man von einer individuellen Disposi¬ 
tion der Mücke reden kann. 

Hyperparasitismus kann die Entwicklung in einer sonst geeigneten 
Mückenart hemmen; so soll Noe nachgewiesen haben (zitiert nach Sambox, 
Lancet, 1902, pag. 422), daß eine Infektion mit Nosema, einem zu den Pro¬ 
tozoen gehörigen Parasiten, die Filarien in der Mücke vernichten kann, eine 
Angabe, die, wie Sambon betont, auf manche dunkle Punkte in der eigen¬ 
artigen Verbreitung der Filarien ein Schlaglicht werden würde. 

Wenn Mücken mikrofilarienhaltiges Blut gesogen haben und man den 
Mageninhalt nach einigen Stunden untersucht, so gewinnt man den Ein¬ 
druck, daß die Filarien im Mückenmagen um das Mehrfache reichlicher vor¬ 
handen sind als im gewöhnlichen Blutpräparat. Zu einem Teil läßt sich dies 


Digitized by 


Google 



Filarien, 


141 


darauf zurQckfflhren, daß das Blutquantum, welches wir nach einigen Stun¬ 
den im Mückenmagen finden, durch Flüssigkeitsabgaben sehr stark einge¬ 
dickt ist, zuweilen ist die Anzahl aber derartig vermehrt, daß diese Tat¬ 
sache zur Erklärung nicht ausreicht. Man hat daher angenommen, daß der 
Mückenrüssel die Filarien gewissermaßen aus dem Blute herausfischt, und 
in der Tat kann der ein enges Gefäß blockierende Mückenrüssel so wirken; 
dies könnte vielleicht auch die erheblichen Differenzen erklären, die man 
bei systematischen Filarienzählungen vollgesogener Mückenmägen erhält, wie 
sie FOlleborx bei Hundefilarien vorgenommen hat. 

Da in der eingedickten lackfarben gewordenen Blutmasse des Mücken¬ 
magens die Scheide allseits festgehalten wird, finden die Filarien den nötigen 
Widerhalt, um sie zu durchbrechen, und man sieht sie dann scheidenlos sich 
wie Älchen durch die Blutmasse schlängeln. Untersuchen wir Mücken etwas 


Fig. 35. 



Durch den Kopf in die RtLsselecheide einwandernde Filarien. 
(Nach Flllebokn ; halbechematisch.) 


später, so haben die Filarien den Magen, in dem nur die Larvenhüllen ver¬ 
blieben sind (s. Taf. VIII, Fig. 3), verlassen, und man findet sie alsdann in 
der Thoraxmuskulatur der Mücke (s. Taf. VII, Fig. 6 u. 7), wo sie innerhalb 
2—3 Wochen (die Höhe der Temperatur beschleunigt die Entwicklung) sehr 
beträchtlich an Größe zunehmen und zu zirka 1*5 mm langen, dünnen Wür¬ 
mern heranwachsen, die bereits eine hohe anatomische Differenzierung er¬ 
kennen lassen. Sie verlassen nun die Brustmuskulatur, wandern nach dem 
Kopf und dringen endlich in die hohle Mückenrüsselscbeide ein (s. Taf. VII, 
Fig. 8 u. 11); dies erwiesen zu haben, ist das Verdienst Lows, James', Grassis 
und Noes. Einige verirren sich auch in das Abdomen, ja, man findet sie 
auch in den Palpen und — bei Hundefilarien wenigstens, bei denen die Ver¬ 
hältnisse im übrigen ganz analog wie bei Filaria Bancrofti liegen — sogar 
in den Beinen der Mücke (s. Taf. VII, Fig. 4 u. 5). 

Den folgenden Ausführungen dienen zum Verständnis zuvor einige 
Worte über den Bau des Mückenstechrüssels (s. Taf. VII). Der Mückenrüssel 


Digitized by 


Google 


142 


Filarien. 


besteht aus zwei Hauptteilen, dem Stilettbündel und der Rüsselscheide. Das 
Stilettbündel, welches beim Stechen allein in die Haut gesenkt wird, ent¬ 
hält eine Röhre, in der das Blut beim Saugakte aufsteigt, und eine andere 
dünnere, durch die das Sekret der Speicheldrüsen in die Wunde entleert 
wird (s. Taf. VII, Fig. 9). Das Stilettbündel liegt in der Ruhelage in einer 
Rinne der gleich langen Rüsselscheide, einer mit dem Körperinnern der 
Mücke in offener Verbindung stehenden Chitinröhre, die an ihrem Ende zwei 
lippenartige Organe, die Labellen, trägt, zwischen denen sich das sogenannte 
Züngelchen befindet (s. Taf. VII, Fig. 10); zwischen Labellen und Züngelchen 
spannt sich, die Spitze der Rüsselscheide verschließend, eine sehr zarte Haut, 
die DuTTONsche Membran, aus; auch sonst ist die Wanddicke der Rüssel¬ 
scheibe nicht überall dieselbe, da auch die Rinne, in welcher das Stilettr 
bündel ruht, eine dünnere Chitin wand besitzt als die übrigen Abschnitte. 
Beim Einstich gleiten die Stilette zwischen den der Hautoberfläche anliegen¬ 
den Rüsselscheidenlabellen wie ein Billardqueue zwischen den Fingern in die 

Haut, während die Rüsselscheide, 
die nicht folgen kann, nach hinten 
scharfwinklig umgeknickt wird (s. 
Taf. VII, Fig. 1, 2, 3). 

Enthält die Rüsselscheide 
reichlich reife Filarien, die ja vom 
Körperinnern aus ungehindert in 
das Hohlrohr eindringen können, 
so erkennt man dies schon bei 
schwacher Vergrößerung daran, 
daß die Stilette aus der Rüssel 
scheide herausgedrängt werden (s. 
Taf. VII, Fig. 11); man kann auch 
die sich lebhaft schlängelnden 
Würmchen bei starker Durch 
leuchtung im Innern der Rüssel¬ 
scheide erkennen. Sticht eine 
solche Mücke, so durchbrechen 
die Filarien die dünne DuTTONsche 
Membran (Bancroft, Noä, Lebrbdo, 
Fülleborn) und gelangen auf die 
Haut, in die sie sich nach kurzer 
Zeit einbohren (s. Taf. VIII, Fig. 4); Fülleborn konnte sie bei Hundefilarien auf 
Schnitten in der Tiefe der Kutis nachweisen. Daß sie den nach erfolgtem 
Stechen verbleibenden Stichkanal zum Eindringen besonders bevorzugen, 
scheint uns nicht wahrscheinlich; während des Stechens selbst dringen sie 
edenfalls nicht an dieser Stelle ein, an der der Kanal durch die Stilette 
fest tamponiert ist. Experimentelle Untersuchungen an Menschen- und Hunde¬ 
filarien beweisen, daß das Austreten der Filarien durch Feuchtigkeit und 
höhere Temperatur begünstigt wird (Lebredo, Fülleborn), Bedingungen, die 
die Filarien ja finden, wenn die Mücke auf der Haut saugt; ein spezieller 
Instinkt oder Reiz, der die Filarien zwischen der Haut des Wirtes und anderen 
Substanzen, an denen die Mücke saugt (Bananen etc.), wie dies Manson 
annimmt, unterscheiden läßt und sie eventuell abhält auszutreten, dürfte 
nicht vorhanden sein. 

Über erfolgreiche Infektionen von Hunden mit Hundefilarien durch 
Mückenstiche berichten Nok und Bancroft; letzterer sah in einwandfreien 
Experimenten die Mikrofilarien nach der Infektion durch Mücken auftreten. 
Untersuchungen an Menschen sind aus begreiflichen Gründen bisher unter¬ 
blieben. 


Fig. 30. 



a d 


Austritt der Filarien aus der RUssclscheide. 
(Nach Fi iii.KuoHS : balbscheinatiseh.) 


Digitized by CjOOQle 




Filarien. 


143 


Die Hypothese, daß die Filarienlarven mit den bei der Eiablage ab¬ 
sterbenden Mücken ins Wasser gelangten und mit diesem dann in den 
Menschen, wie dies ursprünglich Manson bei der damals ungenügenden 
Kenntnis der Mückenbiologie annehmen mußte, ist durch die späteren Unter¬ 
suchungen (an denen übrigens Manson, wenn auch indirekt, selbst sehr 
wesentlich beteiligt ist) wohl widerlegt, zumal die austrittsreifen Filarien¬ 
larven im Wasser und im Magensaft bald absterben, während sie erheb¬ 
lich länger im Serum leben. Von Maitland wird sie allerdings noch ver¬ 
teidigt. 

Das weitere Schicksal der Jungen Filarien nach dem Eindringen in die 
Haut ist unbekannt; wahrscheinlich gebrauchen sie eine geraume Zeit, bis 
sie geschlechtsreif werden, da man bei Kindern unter 2 l / a Jahren nur selten 
Mikrofilarien im Blute antrifft, obschon sie, wie die Häufigkeit der Kinder¬ 
malaria beweist, von Mücken gestochen werden. Die Lebensdauer des Wurmes 
muß auch eine beträchtliche sein — wofür auch die Beobachtungen bei 
Fil. loa sprechen —, da man Fälle kennt, in denen die ersten Anfälle von 
Hämatochylurie erst 4—6 Jahre nach Verlassen infizierter Gegenden auf¬ 
traten. 


Epidemiologie der Filaria Bancrofti. 

Da die Mücken ein notwendiges Mittelglied zur Übertragung von Fil. 
Bancrofti von Mensch zu Mensch sind, gilt der Satz »ohne Mücken keine 
Filaria Bancrofti« mit demselben Recht, wie er für Malaria und Gelbfieber 
zutreffend ist* Zu einem Zustandekommen von Infektionen gehört aber außer 
geeigneten Mückenarten auch noch eine für die Entwicklung der Mikro- 
filaria in letzterer genügend hohe Temperatur und selbstverständlich das 
Vorhandensein von Filarienträgern, aus denen die Mücken die Mikrofilarien 
entnehmen können; die Temperaturen, bei denen die Entwicklung der Fil. 
Bancrofti überhaupt noch zustande kommt, sind meines Wissens nach noch 
nicht genau festgestellt. Die Tatsache aber, daß Bancroft in Australien bei 
einem relativ heißen Klima die Entwicklung in der Mücke erst in 44 Tagen 
sah, während in Westindien bei Temperaturen von 24*5—29*5 die volle Reife 
von Vincent schon in 16 Tagen erreicht wurde, zeigt in Übereinstimmung 
mit den analogen Erfahrungen bei Hundefilarien, daß die Temperatur offen¬ 
bar eine ähnliche Rolle spielt wie bei der Malaria und daß die Verbreitung 
der Filarienkrankheiten über die Zonen damit in innigstem Zusammenhänge 
steht. Die Filaria Bancrofti ist denn auch ein Parasit der mückenreichen und 
warmen Gegenden der tropischen und subtropischen Länder. Besonders heim- 
gesucht sind Südchina, Teile von Indien, Westindien, das tropische Afrika 
(einschließlich der Kolonien) und vor allem die Südseeinseln, wo auf Samoa 
z. B. die Hälfte der Bevölkerung, auf Tahiti anscheinend sogar alle Einwohner 
Filarienträger sind; auch in Ägypten sind die auf Fil. Bancrofti bezogenen 
Mikrofilarien stellenweise anscheinend recht häufig und bei Untersuchungen 
mit genauen Methoden wird sich sicher herausstellen, daß sie allenthalben 
noch weit verbreiteter sind, als man bisher weiß. Eine ausführlichr Zusammen¬ 
stellung über die Verbreitung der Filarien findet sich in dem Buche von 
Penel, auf das somit verwiesen wird. 

Wie die sorgfältigen und ausgedehnten Untersuchungen von Low in 
Westindien zeigen, sind die Städte weniger heimgesucht als kleine Orte und 
das flache Land, was ähnlich wie bei der Malaria mit der Häufigkeit der 
Mücken im Zusammenhänge zu stehen scheint. Freilich geht aus Lows Sta 
tistiken aber auch hervor, daß außer dem Vorhandensein von Mücken wie 
bei der Malaria noch mit bisher unbekannten Faktoren zu rechnen ist, da 
die relative Häufigkeit der Filarienträger in einer Gegend nicht allein durch 
die Frequenz der übertragungsfähigen Mücken allein bedingt zu sein scheint, 


Digitized by 


Google 



144 


Filarien. 


selbst nicht unter ganz gleichen klimatischen Bedingungen. Daß hierbei, wie 
Sambon vermutet, »Hyperparasitismus« eine Rolle spielen mag, wurde bereits 
oben angedeutet. 

Pathologische Anatomie . Wie bereits erwähnt, sind es die in den 
Lymphgefäßen lebenden erwachsenen Würmer, welche Schädigungen ihrer 
Wirte hervorrufen können, während die Mikrofilarien anscheinend harmlos 
sind; nach Manson könnten aber auch abnormerweise vorzeitig entleerte 
Würmer — für gewöhnlich werden ja die fertigen Würmchen von den 
Muttertieren geboren — zu Gefäßverstopfungen und so zu pathologischen 
Erscheinungen Veranlassung geben. Ob Schädigungen eintreten, hängt davon 
ab, ob die Würmer oder Wurmkonvolute durch ihre Anwesenheit mechanisch 
resp. durch Entzündung und nachfolgende Stenosierung der Lymphgefäße zu 
Zirkulationsstörungen des Lymphgefäßsystems Veranlassung geben, deren 
Folgen wiederum ganz verschieden sein werden je nach der Kapazität des 
befallenen Lymphgefäßsystems und der Möglichkeit eines Lymphabflusses 
durch Kollateralbahnen. In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle treten 
irgendwelche klinische Erscheinungen überhaupt nicht auf; Low fand z. B. 
in Westindien unter 76 Filarienträgern nur 35 5% Filarienkranke. Sind 
größere Lymphgefäße oder der Ductus thoracicus verschlossen, so sind die 
Folgeerscheinungen recht erheblich.* Bei Obstruktionen des Ductus thoraci¬ 
cus stellt sich zunächst durch rückläufige Anastomosen eine Zirkulation wie¬ 
der her, unter dem Druck von Lymphe und Chylus wird aber der periphere 
Abschnitt des Ductus thoracicus bis zu Fingerdicke erweitert und die Lymph¬ 
gefäße des Abdomens und des Beckens schwellen zu mächtigen Lymphvarizen 
an, weiche Niere, Blase und Samenstränge einhüllen (s. Taf. VIII, Fig 1); die 
Stauung kann sich auf das Skrotum fortsetzen und dort die als Lympho- 
skrotum bekannten Erscheinungen hervorrufen; die Lymphdrüsen der Leisten¬ 
beuge werden zu »varikösen Leistendrüsen«, platzende Lymphgefäße ergießen 
ihren mit Chylus gemischten Inhalt in die Blase und erzeugen dadurch das 
Krankheitsbild der Chylurie; in derTunica vaginalis finden sich chylöse Er¬ 
güsse, ebenso kommen cbylöser Aszites und chylöse Pleuraergüsse zustande. 

Wie durch Verschluß der ableitenden Lymphgefäße oder auch in den 
Drüsen selbst liegende Filarienknäuel die Leistendrüsen varikös erweitert 
werden, so kann dies auch in den Axillardrüsen eintreten und ebenso beob¬ 
achtet man streckenweis variköse Erweiterungen von Lymphgefäßsträngen 
an den Beinen; auch aus den Lymphgefäßen der Extremitäten sind Filarien 
entfernt worden. 

In der Regel findet man bei derartigen Krankheitsbildern Mikrofilarien 
gleichzeitig im Blute wie in dem Inhalt der erweiterten Lymphgefäße resp. 
den lymphatischen und chylösen Ergüssen und der ursächliche Zusammen¬ 
hang zwischen diesen Lymphstauungserscheinungen und den Filarien ist 
also als erwiesen zu betrachten. In den seltenen Fällen, wo keine Mikro¬ 
filarien gefunden werden, können die Elterntiere, die das Unheil verschuldet 
haben, abgestorben, die irreparablen Veränderungen aber geblieben sein; 
freilich ist nicht einzusehen, daß nicht auch ein durch irgendwelche anderen 
Gründe als gerade Filarien erfolgter Verschluß von Lymphgefäßen einmal 
ähnliche Folgeerscheinungen haben sollte. 

Der Zusammenhang zwischen Elephantiasis arabum und der Filaria 
Bancrofti ist dagegen keineswegs in gleicher Weise gesichert, wie dies für 
die oben zitierten pathologischen Veränderungen der Fall ist Manson führt 
vor allem folgende Gründe an, die für einen Zusammenhang zwischen Filaria 
Bancrofti und Elephantiasis sprechen: die geographische Verbreitung und 


* Wir folgen hier wie bei der späteren Besprechung des Klinischen in erster Linie 
den klassischen Beschreibungen Mansons, Trop. Dis., London 1907, pag. 61211. 


Digitized by 


Google 



Filarien. 


145 


die Häufigkeit der Filaria Bancrofti und zweifelsohne durch sie hervorge¬ 
rufener Krankheiten einerseits und Elephantiasis andrerseits entsprechen 
einander; Lymphskrotum, eine zweifellose Filarienkrankheit, endet oft als 
Elephantiasis des Skrotums und die Entfernung des Lymphskrotums führt 
oft zu Elephantiasis der Beine; Elephantiasis ist gleich den sicher durch 
Filarien bedingten Lymphvarizen eine Lymphgefäßerkrankung, deren Ver¬ 
wandtschaft sich auch klinisch durch die bei beiden Affektionen ahftretende 
rezidivierende Lymphangitis dokumentiert. 

Die rezidivierenden Lymphangitiden bei Elephantiasis, die ebenso wie 
rezidivierendes Erysipel schließlich zu Hautverdickungen führen, kommen 
nach Manson durch sekundäre Bakterieninfektion auf der Basis von ge¬ 
störter Lymphzirkulation zustande. 

Bei den zahlreichen Anastomosen zwischen den Lymphbahnen der 
Extremitäten müßten schon sehr viele Lymphgefäße durch Filarien blockiert 
sein, um zu Lymphstauungen an den Beinen zu führen; Manson nimmt 
jedoch an, daß die Filarienmuttertiere häufig unter dem Einfluß äußerer 
Schädigungen ihre relativ dicken Eier anstatt der schlanken fertigen Larven 
entleeren und daß diese Eier zu Verstopfungen der Lymphdrüsen Veran¬ 
lassung geben, indem er sich darauf stützt, daß er einmal in der Lymphe 
eines Lymphskrotums, das andere Mal in einer varikösen Leistendrüse 
Filarieneier gefunden hat. Demgegenüber macht jedoch Cristophers geltend, 
daß bisher niemand einen tatsächlichen Verschluß der Lymphdrüsen mit 
Filarieneier bei Elephantiasis konstatiert habe — entsprechende Untersuchungen 
von Rodenwaldt waren negativ — und daß sich ein solcher Verschluß 
auch klinisch bei Elephantiasis immer dokumentieren müßte, zumal an den 
oberflächlich gelegenen Leistendrüsen bei Insulten der Beine. 

Low neigt der Ansicht za, daß der Tod der Filarienelterntiere bei der 
Entstehung der zu Elephantiasis führenden Lymphangitiden (als deren un¬ 
mittelbare Ursache auch er eine Streptokokkeninvasion annimmt) eine Rolle 
spiele, wennschon es schwer sei, auf diese Weise jedes einzelne Rezidiv 
erklären zu wollen. Sehr interessant und im Sinne der Filariennatur der 
Elephantiasis verwertbar ist das von Manson und anderen festgestellte und 
neuerdings von Low durch große Statistiken gestützte Faktum, daß in 
Indien, wo Filaria nocturna heimisch ist, gerade die mit Elephantiasis Be¬ 
hafteten in einem erheblich geringeren Prozentsatz Mikrofilarien im Blute 
haben als die normale Bevölkerung; Manson erklärt dies damit, daß die 
Filarienelterntiere in den entzündeten Lymphgefäßen abgestorben seien, 
bzw. daß sie durch die Blockierung der Lymphgefäße ihrer eigenen Brut 
den Weg in die Blutbahn versperrt hätten. Freilich ist andrerseits schwer 
einzusehen, daß so erheblich weniger Mikrofilarien in dem Blute erscheinen 
sollten, wenn ein beschränkter Bezirk, wie das Skrotum oder ein Bein, aus¬ 
geschaltet sind, da wir ja doch annehmen müssen, daß die Anzahl der 
Elterntiere meist sehr beträchtlich ist und daß sie im ganzen Körper ver¬ 
teilt sind. 

Noch größere Schwierigkeiten bereitet auf Grund der bisherigen Er¬ 
klärungsversuche die Elephantiasis beschränkter Hautbezirke, und daß 
Elephantiasis jedenfalls auch ohne Filarien entstehen kann, sehen wir an 
den gar nicht so seltenen Fällen von Pachydermia lymphangiektatica unserer 
gemäßigten Zonen und an den Fällen von angeborener Elephantiasis, die 
als vitia primae formationis angesprochen werden. 

Fast alle Autoren stimmen denn auch darin überein, daß zwar vieles 
für den Zusammenhang zwischen Filarien und Elephantiasis spräche, daß 
aber völlige Klarheit über alle Punkte keineswegs erreicht sei. 

Klinik: Nach Manson können die Elterntiere der Filaria Bancrofti 
Veranlassung geben zur Bildung von Abszessen, von Lymphangitis, varikösen 


Enojelop. Jahrbücher. N. F. VIü. (XVIT.) 


Digitized by 


Google 



146 


Filarien. 


Schwellungen der Leisten- and Achseldrüsen, zu chylösen Ergüssen in die 
Harnwege (Chylurie), in die Bauchhöhle (chylöser Aszites), in den Darm 
(chylöse Diarrhöe), zu LymphanStauungen an der äußeren Haut (Lympb- 
skrotum, Lymphvarizen) und in inneren Organen (Orchitis, Chylozele) und 
zu Elephantiasis der Glieder, der Genitalien, des Kopfes, der Mammae und 
zirkumskripter Hautstellen. 

Nor wenige dieser Erkrankungen sind mit unmittelbarer Lebensgefahr 
verbunden, nur bei einigen ist eine symptomatische Therapie erfolgreich; 
eine ätiologische Therapie aber ist bei der unberechenbaren Zahl und dem 
unbestimmten Sitz der Würmer unmöglich, diese sind nur ein gelegentlicher 
Nebenbefund bei operativen Eingriffen. Die Entfernung einiger Würmer be¬ 
rechtigt dann nicht zur Prognose einer sicheren Heilung. 

Die Filarienkrankheiten — wenn wir Elephantiasis hier dazu rechnen — 
scheinen nach der Häufigkeit ihrer Erscheinungsform eine gewisse geogra¬ 
phische Scheidung zu besitzen, so überwiegen in Ozeanien die elephantia- 
stischen Leiden der Arme und Brüste, in Ägypten die Chylurie, in Südchina 
Elephantiasis der Beine; im tropischen Afrika und Amerika werden die 
verschiedenen Formen der Krankheit nebeneinander beobachtet. 

Abszeß. Abszeßbildung kann bei Filarienkrankheiten auftreten im 
Verlauf einer Lymphangitis oder eines durch Lymphstauung begünstigten 
Erysipels oder, und vielleicht häufiger, durch den Tod eines erwachsenen 
Wurmes infolge einer Lymphangitis oder anderer schädigender Einflüsse. 
Solche Abszesse, die meist am Skrotum oder den Beinen auftreten, brechen 
von selbst auf oder bedürfen chirurgischer Eröffnung; eine direkte Gefahr 
für den Träger stellen sie meistens nicht dar. In dem Eiter sind bisweilen 
Bruchstücke von Würmern gefunden worden. Ernster ist die Prognose, wenn 
durch das Absterben eines Wurmes in tieferen Geweben, in der Nähe der 
großen Körperhöhlen ein Abszeß sich bildet und dorthin zum Durchbruch 
kommt. Tief sitzender Schmerz, Eiter, Fieber und Verminderung oder 
Schwinden der Blutmikrofilarien sollen nach Manson bei Filarienträgern die 
Diagnose auf ein derartiges Vorkommnis lenken und zu rechtzeitigem chirur¬ 
gischen Eingreifen auf fordern. 

Lymphangitis. Eine Stauung im oberflächlichen Lymphgefäßsystem 
kann zum Ausgangspunkt der verschiedenartigsten Filarienkrankheiten wer¬ 
den. Wie Jede ödematös gelockerte Haut neigen die Gebiete erweiterter 
Lymphbahnen, auch ohne daß eine Läsion der Haut mit Erguß von Chylus 
stattgefunden hat, zu sekundärer Infektion mit Entzündungserregern. Erysipel 
und Lymphangitis mit allen lokalen und Allgemeinerscheinungen dieser Krank¬ 
heiten rezidivieren dann in kurzen Abständen und die nicht vollständige 
Rückbildung der Kutis und Subkutis zur Norm wird bei der Summierung 
der Anfälle zur Ursache elephantiastischer Schwellungen. Der Verlauf der 
Krankheit mit Schüttelfrost, hohem Fieber, Delirien, großer Prostration 
macht häufig zunächst die irrige Diagnose Malaria wahrscheinlich. Mikro¬ 
filarien können im Blut, wie schon oben erwähnt, mitunter fehlen oder 
gerade zur Zeit der Anfälle verschwinden. 

Ergüsse von Lymphe nach außen durch kleine Spalten der Haut 
werden besonders zum Schluß der Anfälle häufig beobachtet und können 
als Lymphorrhoe längere Zeit bestehen, das ist sogar der gewöhnliche Vor¬ 
gang beim sogenannten Lymphskrotum. Vereiterung lymphatischer Stränge 
und der zu ihrem Gebiet gehörigen Drüsen ist mehrfach beobaohtet worden. 

Obwohl die Anfälle anscheinend häufig ohne Ursache auftreten, scheinen 
doch Reizungen und Läsionen der Haut die Häufigkeit der Rezidive zu ver¬ 
mehren, so daß eine energische Prophylaxe in dieser Hinsicht geboten erscheint. 

Die Behandlung ist im übrigen symptomatisch, besteht in Ruhe, ent¬ 
sprechender Hochlage des Gliedes, leicht antiseptisohen Verbänden. Über 


Digitized by 


Google 



Filarien. 147 

die von Manson empfohlene Skarifikation der befallenen Stellen und nach¬ 
folgende feste Bandagierung haben wir keine eigenen Erfahrungen. 

Ly mph skrotum. Wie schon erwähnt, pflegt eine Lymphangitis oder 
ein Erysipel des Skrotums, wahrscheinlich infolge der eigenartigen Verhält¬ 
nisse der Haut, von längeren lymphatischen Ergüssen aus kleinen Haut- 
lymphvarizen gefolgt zu sein. Die aus den kleinen Bläschen der lederartig 
verdickten Haut hervortretende lymphatische, schnell koagulierende Flüssig¬ 
keit enthält häufig Mikrofilarien, nach Manson mitunter Eier. Selbstver¬ 
ständlich ist das Organ beim Offenstehen zahlreicher Lymphspalten sekun¬ 
därer Infektion im höchsten Orade ausgesetzt uud die häufig wiederholten 
Entzündungen führen dann zu enormen elephantiastischen Schwellungen des 
Hodensacks. Abgesehen davon wirkt der häufige oder dauernde Abfluß von 
Lymphe erschöpfend auf den Organismus. Sorgfältige Reinhaltung und Sus¬ 
pension des Skrotums kann in vielen Fällen die ungünstige Entwicklung 
hinausschieben. 

Elephantiasis. Wahrscheinlich ist die sogenannte Elephantiasis 
arabum eine direkte Folge häufig rezidivierender Lymphangitiden und 
Erysipele, eine mittelbare Folge der durch Filaria Bancrofti hervorgerufenen 
Stauungen in den Hautlymphgefäßen. 

Die Krankheit verschont fast keine Körperstelle, sie befällt in erster 
Linie die Extremitäten (untere Extremität in 95%)) Skrotum, Vulva, Mammae, 
ist aber auch als Elephantiasis der Kopfbaut und an umschriebenen Haut¬ 
partien des Rumpfes beobachtet worden. Die Schwellungen gehen ohne scharfe 
Orenze ins Gesunde über, sind mit verdickter, rauher, harter Haut bedeckt, 
deren Drüsen atrophiert oder hypertrophisch sein können; die bedeckenden 
Hauthaare sind dick und spärlich, die Nägel deformiert. Eindrückbarkeit 
wie bei Ödemen besteht nicht Die Haut ist zwar gegen die unter ihr 
liegenden Teile nicht verschiebbar, läßt sie aber unbeeinflußt, so daß die 
Beweglichkeit in gewissem Grade erhalten bleiben kann, besonders da die 
Hypertrophie die Gelenkstellen frei zu lassen pflegt; an diesen Stellen ent¬ 
stehen tiefe Einschnitte. Zu welch kolossalen Tumoren die elephantiastischen 
Schwellungen führen können, zeigen die von Clot Bby für die Skrota an¬ 
gegebenen Gewichte von 20—60 kg. 

Beim Skrotum pflegt der Tumor den Penis zu umwachsen, so daß 
das vorgeschobene und umgestülpte Präputium späterhin zu einem Kanal 
für die Exkrete wird, mitunter kann sich jedoch auch eine isolierte Elephan¬ 
tiasis des Penis allein ansbilden. Hoden und Penis werden bisweilen ent¬ 
artet gefunden, im übrigen findet man in mikroskopischen Schnitten unter 
der Haut eine fibröse, von zahlreichen erweiterten Lymphbahnen durch¬ 
zogene Schicht und weiter zur Tiefe hin ein schwammiges, serös durch- 
tränktes, gelbliches, häufig fettdurohwachsenes oder kolloid entartetes Ge¬ 
webe. Oberflächliche Bezirke sind besonders zur Zeit eines Rezidivs der 
Entzündung häufig von multiplen, mikroskopisch kleinen Abszessen durchsetzt. 

Die grotesken Schwellungen der Glieder und Genitalien sind nicht direkt 
lebengefährdend, führen aber durch ihre Größe meist zu dauerndem Siechtum. 

Als Behandlung wird im Anfangsstadium Bandagierung mit elastischen 
Binden empfohlen; für vorgeschrittenere Fälle empfiehlt Manson Exzision 
breiter, longitudinaler Hautstreifen und Skarifikationen. Eine besondere Technik 
hat sich für die Abtragung elepbantiastischer Skrota herausgebildet, bei der 
es im wesentlichen auf eine exakte Blutstillung, sorgfältige Herauspräparie- 
rung der Genitalorgane und dieselbe deckende Plastik ankommt. Wir ver¬ 
weisen bezüglich der Technik auf die Arbeiten von Charles und Werner. 

Der Erfolg der Operation wird häufig dadorch illusorisch, daß die 
Tumoren rezidivieren oder z. B. nach Abtragung des elephantiastischen 
Hodensaokes sich Elephantiasis der Beine ausbildet. 




148 


Filarien, 


Varicöse Leistendrüsen: Schon mehr zu den Filarienkrankheiten 
innerer Organe gehörig, aber auch mitunter mit den bereits besprochenen 
Krankheiten vergesellschaftet vorkommend, finden sich varicöse Schwellungen 
der Drüsen in den Leisten- oder Achselhöhlen durch enorme Erweiterung 
ihres mit den Lymphbahnen der Bauch- und Brusthöhle zusammenhängen¬ 
den Lymphgefäßnetzes. Auch diese Drüsen können zu ungeheuren, weit vor¬ 
stehenden oder herabhängenden Tumoren anschwellen, über denen sich mit¬ 
unter die Haut elephantiastisch verändert findet, während sie sonst meist 
über ihnen leicht verschieblich ist. Die Drüsen selbst dagegen sind stets 
fest mit ihrer Unterlage verwachsen, sie fühlen sich elastisch, weich, mit¬ 
unter gelappt an und enthalten bisweilen härtere Stellen. Mikrofilarien 
werden oft, aber nicht immer mit der Lymphe durch Punktion aus ihnen 
gewonnen. Vor operativer Entfernung warnt Manson, weil bei nicht völlig 
aseptischem Arbeiten nach der Operation schwere Lyraphangitiden auf treten 
und die Geschwülste rasch rezidivieren. Andere Autoren berichten über 
günstige Erfolge, speziell hat Godlee auf Vorschlag von Manson mit Erfolg 
Verbindungen der Lymphräume mit benachbarten Venen hergestellt. 

Chylurie: Die gleichen Stauungen, die zur Veranlassung von Lymph- 
angitis und Lymphorrhöe auf der äußeren Haut werden, führen zu varizöser 
Schwellung und Sprengung der Lymphgefäße auf Schleimhäuten der Bauch¬ 
organe. So wird das Platzen von Lymphvarizen im Bereich des Urogenital¬ 
apparates zur Ursache von mehr oder minder lange dauernder Chylurie. Ein 
derartiger Zusammenhang ist wenigstens wahrscheinlich, da das Auftreten 
oder Rezidivieren von Chylurie in der Schwangerschaft und unter der Ge¬ 
burt* bei Männern nach körperlichen Anstrengungen beobachtet wird. 

Die Krankheit besteht in einer Wochen, Monate, Ja auch Jahre an¬ 
haltenden Ausscheidung eines milchig getrübten, mitunter infolge von Blut¬ 
beimischung etwas geröteten Harns (Hämatochylurie) in den Tagesstunden, 
während in der Regel des Nachts normaler Harn entleert wird, jedoch kann 
auch dauernd chylöser Urin ausgeschieden werden. 

Der Harn gerinnt ganz oder teilweise beim Erkalten zu einem Koagu- 
lum, mitunter schon in der Blase, so daß Harnverhaltung eintritt und schlie߬ 
lich unter heftigen Schmerzen die Koagula als wurmartige Ausgüsse der 
Harnröhre entleert werden. Die Beschwerden in solchem Falle, im übrigen 
geringe Schmerzen im Rücken und im Becken pflegen die einzigen subjek¬ 
tiven Erscheinungen der Krankheit zu sein. 

Nach Manson sondiert sich der chylöse Harn nach Abscheidung des 
rötlichen Koagulums in drei Schichten: eine obere Fettschicht mit größeren 
Fetttropfen, eine mittlere Schicht, die aus milchigem, durch kleine Fetttropfen 
getrübten Harn besteht, und einen spärlichen rötlichen Bodensatz, ln der 
mittleren Schicht schwimmen die Koagula. Das Sediment enthält Erythro¬ 
zyten, Lymphozyten, granulierte fettige Massen, Epithelien, Harnsalze und 
mitunter, aber nicht immer, Mikrofilarien. Durch Schütteln des Harns mit 
Äther wird das Fett gelöst und der Harn geklärt. Meist findet sich ein er¬ 
heblicher Eiweißniederschlag. 

Die Chylurie ist eine Krankheit, die in Anfällen zu verlaufen pflegt, 
welche ohne Ursache oder nach den oben erwähnten relativen Traumen 
aufreten. Die freien Intervalle können Wochen und Monate betragen, auch 
vollkommene Heilungen werden berichtet. Frauen sollen der Krankheit mehr 
ausgesetzt sein als Männer. 

Soweit nicht als Folge der Chylurie sich allgemeine Anämie und 
Schwächezustände ausbilden, können die Behafteten jahrelang ohne wesent¬ 
liche Beschwerden leben. 

Die Behandlung richtet sich gegen die Ursache, geplatzte Lymph- 
varizen; sie muß daher hauptsächlich in Ruhe bei erhöhter Lagerung des 


Digitized by 


Google 



Filarien. 


149 


Beckens and Vermeidung jeder Stauung bestehen, deshalb wird Beschränkung 
der Nahrung, vor allem des Fettgenusses, und Gebrauch von Abführmitteln 
empfohlen. Symptomatisch wird die innerliche und äußerliche Anwendung 
von Desinfizientien empfohlen, also innerlich Ol. Santali, Methylenblau, Ich¬ 
thyolpillen, Terpentin, Salol, (Häretische Tees, Acid. benzoicum, äußerlich 
Spülung der Blase mit Sol. arg. nitr. 1: 2000—1 : 500. 

Chylozele: Außer den selteneren Ergüssen von Chylus in die Bauch¬ 
höhle, in den Darm und in Gelenke (Maitland), Ergüsse, deren filarieller 
Ursprung noch nicht gesichert ist, ist von klinischer Bedeutung der Erguß 
von Chylus in die Tunica vaginalis. 

Die unter dem Bilde einer Hydrozele auftretende Erkrankung findet 
sich meistens vergesellschaftet mit auf Lymphstauung beruhender Orchitis, 
Lymphskrotum und varicösen Leistendrüsen, sie unterscheidet sich von einer 
gewöhnlichen Hydrozele nach Magalhaes dadurch, daß sie in Ruhelage ge¬ 
ringer wird, erschlafft und auch in aufrechter Haltung nie so straff gespannt 
ist wie jene. Der Inhalt ist selbstverständlich chylös milchig und rötlich, 
koaguliert gewöhnlich rasch und enthält meistens große Mengen von Mikro¬ 
filarien. 

Behandlung wie bei Hydrozele. Von Maitland wird Tamponade der 
Höhlung mit Jodoformgaze empfohlen. 

Varizen der Lymphgefäße finden sich sowohl an oberflächlich wie 
tief gelegenen Lymphbahnen, sie können an Armen, Beinen und Körper ober¬ 
flächlich längere Zeit bestehen, ohne Erscheinungen zu machen. Ihr Bersten 
führt regelmäßig zu mehr oder minder lange dauernder Lymphorrhagie, 
während deren Bestehen ein sorgfältiger Schutz gegen das Eindringen von 
Entzündungserregern notwendig ist. 

Orchitis: Erkrankungen des Parenchyms eines Organs durch Einfluß 
der Filarien, wahrscheinlich der Elterntiere, ist nur vom Hoden bekannt. 
Die Krankheit verläuft in Anfällen überaus schmerzhafter, beträchtlicher 
Schwellung eines oder beider Hoden mit Nebenhoden und Samenstrang unter 
lebhaften Allgemeinerscheinungen, Fieber, Kopfschmerzen, Erbrechen. Die 
Anfälle gehen rasch vorüber, rezidivieren aber häufig und in ihrer Folge 
pflegt sich eine Chylozele auszubilden. 

Behandlung wie bei traumatischer Orchitis. 

Über das Verhalten der Blutelemente, abgesehen von dem Befund an 
Mikrofilarien bei den verschiedenen beschriebenen Leiden, ist Genaueres noch 
nicht bekannt. Ob eine mitunter beobachtete Eosinophilie allein auf die 
Filarien zu beziehen sei, läßt sich in tropischen Ländern bei Patienten, die 
meist Träger noch mehrerer anderer Nematoden (Askaris, Trichozephalus, 
Anchylostomum) zu sein pflegen, nicht sicher entscheiden. 

In den von uns beobachteten Fällen haben wir regelmäßig Eosino¬ 
philie mäßigen Grades gefunden, sie war es mehrfach, die zunächst unsere 
Vermutung auf Filarien lenkte, die wir, wenn auch bisweilen nur in spär¬ 
licher Anzahl, schließlich fanden. 

Erwähnt sei schließlich noch, daß unsere Untersuchungen an inneren 
Organen auf Mikrofilarien, bei denen wir die Lunge von ihnen überschwemmt, 
in der Niere häufig jeden dritten oder vierten Glomerulus infiziert fanden, 
doch die Vermutung berechtigt erscheinen lassen, daß Bronchitiden und 
Störungen seitens der Niere leichte Fieber in den Tropen, bei denen eine 
andere Ätiologie nicht klar ist, auf Mikrofilarien zu beziehen seien. Sichere 
Beobachtungen darüber liegen allerdings noch nicht vor. 


Filaria loa (Güyot, 1778). 

Filaria loa ist seit Jahrhunderten bekannt, da der Wurm bei seinen 
Wanderungen durch das Unterhautbindegewebe zuweilen unter der Augen- 

Digitized by Google 



150 


Filarien. 


bindehaut erscheint und dadurch von jeher das Interesse anf sich gelenkt 
hat; bereits ein alter, von 1598 herrührender, durch Blanchard publizierter 
Holzschnitt zeigt eine Extraktion aus dem Auge und zugleich das Heraus¬ 
wickeln von Dracunculus medinensis, mit dem unser Parasit auch anfäng¬ 
lich verwechselt wurde. Später wurde der merkwürdige Augenwurm als einer 
besonderen Art zugehörig erkannt; den ihm von Guyot (1778) gegebenen 
Namen Loa trägt er nach der dafür üblichen Bezeichnung der Angolaneger. 

Als die zu Filaria loa gehörige Mikrofilarie gilt die Microfilariadiurna; 
Manson stellte 1891 diese Hypothese auf, die trotz des Widerspruches von 
Dutton, Annett und Elliot (1901) von den meisten späteren Untersuchern 
akzeptiert ist und die durch die Befunde der letzten Jahre erheblich ge¬ 
stützt wird. 

Geographische Verbreitung: Die Filaria loa und ebenso die Micro- 
filaria diurna sind bisher mit Sicherheit nur aus dem tropischen Westafrika 
beschrieben worden; Microfilaria diurna will Cook zweimal in Uganda ge¬ 
funden haben, doch glaubte Manson, daß es wohl verschleppte Fälle gewesen 
seien. Ebenso ist Filaria loa durch Sklaven nach Westindien und Amerika 
verschleppt worden, doch ist sie dort nicht heimisch geworden. 

Beschreibung des Wurmes (s. Taf. I, Fig. 1—8): Das Ö von Filaria 
loa ist ein 25—35mm langer und 0*273—0*430 mm dicker Wurm, das 9 ist 
wie bei den übrigen Filarien größer und mißt im Mittel 55 (45—63) mm bei 
einer Dioke von 0*425 (0*380—0*490) mm, wie P£nel auf Grund von Messungen 
an 12 Ö und 22 9 angibt; die Farbe des Wurmes ist weiß und etwas 
durchscheinend. 

Charakteristisch für Filaria loa sind kleine, durchscheinende Wärzchen, 
die in unregelmäßiger Anordnung die Haut bedecken und nur an den Körper¬ 
enden des Ö fehlen. Der Kopf ist nicht wie bei Filaria Bancrofti durch eine 
tiefe Einschnürung kugelig abgesetzt, sondern endet mit einem stumpfen 
Kegel. Seine größte Dicke besitzt der Wurm bei beiden Geschlechtern kurz 
hinter dem Kopfende und beim 9 bildet der vorderste Abschnitt sogar oft 
eine leichte, ballcnartige Anschwellung, deren dickste Stelle, die zugleich die 
dickste Stelle des ganzen Wurmes ist) in etwa 0*7 mm vom Kopfende ent¬ 
fernt liegt. Das Schwanzende ist dünner als das Kopfende. Das Hinterende 
des (5 trägt drei präanale und zwei postanale Pupillen, die nach vorn und 
hinten an Größe abnehmen; die Spicula sind von ungleicher Länge (0*113 und 
0*270 mm). Das Hinterende des 9 ist abgerundet, der After mündet 0*17 mm 
davor. Die Genitalöffnung der 9 liegt vorn, nur ca. 2 5mm vom Kopfende 
entfernt. Die dem Uterus von Filaria loa entnommenen geburtsreifen Mikro¬ 
filarien sind etwa 250p. lang und ca. 6p. dick, sie stecken in einer Hülle, 
welche von der Scheide im Blute zirkulierender Mikrofilarien nicht zu unter¬ 
scheiden ist und könnten nach ihrem Habitus sehr wohl mit Filaria diurna 
identisch sein. 


Micro Glaria diurna. 


Microfilaria diurna ist eine morphologische Microfilaria nocturna ähn¬ 
liche) aber davon unterscheidbare Mikrofilarie (s. pag. 138), die dadurch ge¬ 
kennzeichnet ist, daß sie am Tage und nicht in der Nacht im peripheren 
Blute gefunden wird; eigentümlicherweise gelang es Manson nicht, in ana¬ 
loger Weise wie bei Filaria nocturna den Turnus dadurch umzukehren, daß 
er einen Diurnaträger am Tage schlafen und nachts wachen ließ. 

Der Hauptgrund Mansons und seiner Anhänger, diese Mikrofilarien für 
die Larven von Filaria loa zu halten, ist, daß man Microfilaria diurna wegen 
gewisser morphologischer Eigentümlichkeiten nicht ohne weiteres als eine 
Nocturna mit abgeändertem Turnus betrachten und damit zu Filaria Ban¬ 
crofti stellen kann, sondern gezwungen ist, für sie einen anderen Wurm als 


Digitized by 


Google 



Filarien 


151 


das Elterntier zu suchen, als den man wegen der gleichen geographischen 
Verbreitung am zwanglosesten Filaria loa ansehen kann, zumal die morpho¬ 
logische Ähnlichkeit zwischen der Loalarve und der Microfilaria diurna für 
eine solche Annahme spricht. 

Wenn auch bisher nur in einer Anzahl von Fällen von Filaria loa auch 
Microfilaria diurna im Blute nachgewiesen wurde, und wenn andrerseits bei 
den Trägern von Microfilaria diurna nicht immer Filaria loa konstatiert 
werden konnte, so ist damit noch keineswegs das Gegenteil bewiesen. Eine 
Junge Filaria loa braucht nämlich, wie Sambon ausführt, offenbar Jahre dazu, 
bis sie die Geschlechtsreife erlangt und die Wanderungen unter der Kon¬ 
junktive, wodurch sich die Anwesenheit des Wurmes manifestiert, werden 
besonders zu einer Zeit ausgeführt, wo er noch nicht geschlechtsreif gewor¬ 
den ist; in der Mehrzahl der Fälle wurden unreife Würmer aus den Augen 
entfernt. Aber auch in Fällen, wo reife Weibchen nahe der Körperoberfläche 
konstatiert wurden, werden wir nur dann auf Mikrofilarienbefunde im Blute 
rechnen können, wenn zahlreiche reife Weibchen vorhanden sind, da uns bei 
den gewöhnlichen Blutuntersuchungsmethoden spärliche Mikrofilarien entgehen 
werden. Es ist auch denkbar, daß neben zahlreichen Weibchen das be¬ 
fruchtende Männchen fehlen kann. Nach der Analogie der Hundefilarien 
können wir annehmen, daß die Weibchen der Filarien stets an Zahl über¬ 
wiegen. Andrerseits ist es anscheinend nur ein Zufall, wenn Filaria loa so 
nahe unter der Oberfläche oder gar unter der Konjunktivs erscheint, so daß 
man sie bemerkt, und wenn wir daher bei einem mit Microfilaria diurna 
Behafteten den Nachweis von Loa im Auge vermissen, so will das nichts 
besagen; man kann, wie P£nel richtig bemerkt, noch nicht schließen, daß 
in einem Hause keine Menschen seien, wenn sich keiner am Fenster zeigt. 
Die soeben ausgeführte Argumentation wird durch die Erfahrungen bestärkt, 
daß Filaria diurna bei Leuten getroffen wird, bei denen sich in früheren 
Jahren Loa gezeigt hat, und besonders instruktiv ist ein von Manson be¬ 
schriebener Fall, wo bei einem Europäer Microfilaria diurna fehlte, als eine 
Filaria loa extrahiert wurde, während 7 Jahre später Microfilaria diurna im 
Blute nachgewiesen werden konnte. Auch der Umstand, daß Dütton, Annbt 
Microfilaria diurna in sonst stark infizierten Gegenden bei Kindern bis zu 
18 Jahren nur einmal (bei einem 11jährigen Jungen) an trafen, während 
Filaria loa bei Kindern häufig ist, spricht sehr zugunsten der Auffassung, 
die in denjenigen Leuten, bei denen sich der Augenwurm zeigt, Kandidaten 
für eine spätere Infektion mit Microfilaria diurna erblickt. Recht beweisend 
scheint auch ein Fall von Kerr zu sein, der bei einem Diurnaträger eine 
Loa extrahierte und aus ihr Embryonen gewann, die er von Diurna nicht 
unterscheiden konnte. Ein strikter Nachweis könnte eigentlich nur auf dem 
Wege geführt werden, den wir bei der Untersuchung von Hundefilarien mit 
Erfolg eiogeschlagen haben, indem wir erwachsene Würmer einem gesunden 
Hunde implantierten und das Blut nach einiger Zeit auf die Mikrofilarien 
untersuchten. 

Der Aufenthaltsort von Filaria loa ist das Bindegewebe, der Wurm 
kommt aber auch in den Lymphgefäßen vor.* Das Bindegewebe unter der 
Haut scheint nach den Befunden von Wurtz und Penel sein Lieblingssitz; 
bei der Sektion eines westafrikanischen, mit Microfilaria diurna behafteten 
Negers fanden die genannten Autoren im Unterhautzellgewebe und noch 
häufiger unter den oberflächlichen Muskelaponeurosen der Extremitäten, be¬ 
sonders an deren Streckseiten über 30 Würmer, während die sehr sorgsam 
ausgeführte Sektion sonst nichts davon ergab, weder unter der übrigen 


* Külz fand die von ihm als Loa bestimmten Würmer bei einer Operation in den 
Lymphgefäßen des Samenstranges (Hodens?). 


Digitized by ^.ooQle 



152 


Filarien. 


Körperhaut noch in den inneren Organen. Die Würmer sind andrerseits aber 
auch schon an allen möglichen Körperstellen unter der Haut angetroffen 
worden, man hat sie schon in der Penishaut und am Frenulum linguae kon¬ 
statiert. Auch in inneren Organen sind sie gefunden, von Brümpt unter dem 
Perikard, von Külz bei einer Retroflexionsoperation in den Ligamenten und 
in den Lymphgefäßen des Hodens; da einige der von Brümpt unter dem 
Perikard gefundenen Exemplare verkalkt waren (was übrigens auch bei einer 
der von Külz gefundenen der Fall war), die Augenwürmer aber meist noch 
unreif sind, hat man angenommen, daß die Filaria loa in ihrer Jugend mehr 
unter der Haut herum wandert, um sich später in die tieferen Gewebe zu- 
rückzuziehen; ein Analogon würde dies bei der Filaria equina der Equiden 
und Filaria labiatopapillosa der Rinder finden, wo die unreifen Würmer wie 
bei Loa zuweilen unter die Konjunktivs wandern, die geschlechtsreifen 
unter dem Peritoneum leben. Die Anzahl der Filaria loa, die in einem Wirte 
gleichzeitig vorhanden Ist, scheint in der Regel recht beträchtlich zu sein 
(schon über 30 konstatiert) und praktisch hat man stets mit einer mehr¬ 
fachen Irifektion zu rechnen. 

Die Lebensdauer der Würmer ist, wie bereits mehrfach angedeutet, 
wie bei den meisten Filarien, sehr beträchtlich; es gibt Fälle, wo die 
Filarien erst 5 —6 Jahre nach dem Verlassen der verseuchten Gegend kon¬ 
statiert wurden. 

Pathologie. Die durch Filaria loa hervorgerufenen Symptome sind, so¬ 
weit wir bisher wissen, harmloser Natur und bestehen in lokalen, durch die 
Anwesenheit des Wurmes unter Haut oder Bindehaut bedingten Reizungen; 
da der Wurm aber nach Külz auch in den Lymphgefäßen sitzen kann, wäre 
es nicht undenkbar, daß er auch imstande wäre, unter Umständen ähnliche 
Lymphstauungssymptome wie Filaria Bancrofti zu verursachen. 

Bemerkenswert und für die Diagnose verwertbar ist die auf Kosten 
der polynukleären Leukozyten stattfindende Vermehrung der eosinophilen 
Zellen des Blutes, die zur Zeit, wo die weiter unten zu besprechenden Kala- 
barschwellungen bei den Patienten auftreten, noch erheblich zunimmt: so 
fand Nattan-Larrieh bei Loaträgern, die normal ca. 42—43% Eosinophilie 
im Blute hatten, deren 42—62%, wenn sie an den Schwellungen litten. 
Nattan-Larrier ist geneigt, zu glauben, daß diese starke Eosinophilie eine 
Herabsetzung der Phagozytose und dadurch eine Neigung zur Bildung 
von Abszessen, die tatsächlich in Filariagegenden recht häufig sind, ver¬ 
ursacht. 

Die Microfilaria diurna ist von P£nel auch im Urin und Speichel nach¬ 
gewiesen worden. 

Symptome. Wandernde Würmer. Der Wurm kann sich, wie bereits 
oben erwähnt, bei seinen Wanderungen an allen möglichen Stellen unter 
der Haut bemerkbar machen; man fühlt die schlängelnden Bewegungen des 
Wurmes unter der Haut und zuweilen kann man sie direkt sehen; ein Patient 
Mansons gab an, daß der Wurm etwa einen Zoll in 2 Minuten wandera 
Die Symptome sind gering und bestehen nur in einem knebelnden Gefühl, 
doch können anscheinend die Wanderungen des Wurmes unter Umständen 
auch zu eigenartigen Ödemen, den sogenannten Kalabar- oder Kamerun¬ 
schwellungen Veranlassung geben, wovon weiter unten die Rede sein wird. 
Häufig trifft man die wandernden Filarien an den Augen, am allerhäufigsten 
aber unter der Konjunktivs des Auges. Daß die Filarien so viel öfter am 
Auge als an anderen Stellen gespürt werden, liegt sicher zum größten Teile 
an der Empfindlichkeit dieses Organs, sie haben aber auch, abgesehen davon, 
anscheinend eine Vorliebe gerade für die Nachbarschaft der Augen, da sie 
sich immer wieder dort einstellen. Der Wurm erscheint plötzlich unter der 
Konjunktiva, um mit mehr oder weniger lebhaften, schlängelnden Be- 


Digitized by 


Google 


Filarien. 


153 


wegungen in einigen Minuten von einem Augenwinkel zum anderen zu 
wandern und wieder zu verschwinden oder er bleibt auch tagelang unter 
der Konjunktiva liegen, bevor er sich von dort zurückzieht, um nach 
längeren oder kürzeren Intervallen, oft nach Monaten, wieder zu erscheinen. 
Es kann auch über den Nasenrücken hinweg von einem Auge zum anderen 
wandern, auch in der vorderen Augenkammer wurde er schon angetroffen. 
Wärme, wie das Sitzen an einem Feuer, lockt den Wurm hervor, Kälte 
übt den gegenteiligen Effekt aus. 

Das Erscheinen des Warmes im Auge ist mit geringen oder stärkeren 
Reizerscheinungen verbunden; die Patienten haben das Gefühl, als ob irgend 
ein Fremdkörper ins Auge gedrungen sei, oder sie fühlen direkt das Schlängeln 
der Würmer; es tritt Jucken, Tränen und Augenrötung ein. Gewöhnlich 
gehen die geringen Erscheinungen bald vorüber, es kommt zuweilen aber 
auch zu stärkeren Schmerzen, zu Schwellungen der Augenlider und zur 
Unmöglichkeit, das Auge zu öffnen. 

Die Extraktion geschieht unter Kokainisierung mittelst eines kleinen 
Einschnittes in die Konjunktivs und Extraktion des, wenn möglich, in seiner 
Mitte, mit der Pinzette gefaßten Wprmes; die Prozedur muß schnell ge¬ 
schehen und mißglückt öfters, da der Wurm sich zurückzuziehen bestrebt 
ist und die Blutung das Gesichtsfeld verschleiert Man soll die Operation 
nicht auf schieben, da man nicht weiß, wie lange der Wurm sichtbar bleibt. 

Da in der Regel wohl nicht eine, sondern viele Filaria loa sich im 
Körper aufhalten, darf man sich nicht der Hoffnung hingeben, durch eine 
gelungene Extraktion den Patienten von dem Parasiten befreit zu haben; 
vielleicht ist es aber gerade ein Wurm, der sich nur die Augennachbarschaft 
zu seinem Sitze ausgewäblt hat, dann würden nach einer gelungenen Ex¬ 
traktion die lästigen Konjunktivalwanderungen wenigstens verschwinden. 
Genaueres hierüber wissen wir noch nicht. Wird der Wurm nicht entfernt, 
so hört nach einiger Zeit das Erscheinen am Auge von selbst auf, was 
wohl damit zusammenhängt, daß der Wurm, wie erwähnt, meist nur 
in relativ jugendlichem Alter die Vorliebe für dieses Organ zu haben 
scheint. 

Kalabar- oder Kamerunschwellungen. Die Kalabar- oder Kamerun¬ 
schwellungen sind ganz eigenartige, flüchtige, lokale Ödeme, die besonders 
an der Westküste des tropischen Afrika (Nigeria, Kamerun), aber auch 
am oberen Kongo und in Ostafrika (F. Plehn) bei Weißen und Farbigen 
beobachtet werden; in Europa scheint nichts ihnen Analoges vorzukommen, 
doch wird über ähnliche oder vielleicht identische Ödeme auch aus Siam 
und Brasilien berichtet. 

Die meisten Autoren, die sich damit beschäftigt haben, halten die 
Ödeme für durch wandernde Filaria loa bedingt, da die Ödeme vor allem 
in Filaria loa-Gebieten heimisch sind und die sehr häufig bei solchen auf- 
treten, bei denen die Filarien ihre Anwesenheit durch Haut- und Augen¬ 
wanderungen verraten; erst jüngst berichtete Nattan-Larrier über 9 Fälle 
solchen Zusammentreffens von Loa und Kalabarschwellungen und Külz eben¬ 
falls über 9 in Kamerum beobachtete Fälle. Microfilaria diurna wird öfter 
bei mit diesen Ödemen Behafteten gefunden (Kerb), und wenn man andrer¬ 
seits auch keineswegs in allen Fällen den Wurm oder die Mikrofilarie nach- 
weisen konnte, so kann dies nach dem oben Ausgeführten nicht wunder¬ 
nehmen. Die Angaben von F. Plehn (s. auch pag. 154), nach dem die Schwel¬ 
lungen langsam vorrückend wandern, machen es wahrscheinlich, daß ein 
wandernder Parasit dabei im Spiele ist. In den Fällen, wo die Schwellungen 
in nicht mit Filaria loa infizierten Gegenden gefunden werden (Ostafrika, 
Siam, Brasilien), könnte eine andere wandernde Filarienart sehr wohl als 
Ursache angesprochen werden. 


Digitized by ^.ooQle 



154 


Filarien. 


A. Plehn meint im Gegensatz za F. Plehn allerdings, daß ea sich bei 
den fraglichen Ödemen nm eine auf malarischer Basis entstandene Aogino- 
neurose handle, zumal er nach Chinin Heilung eintreten sah, doch ist dann 
nicht einzusehen, warum man die Sehwellungen nicht in allen Malaria- 
ländern antrifft und Külz berichtet überdies von einigen Patienten, die 
nicht an Malaria und doch an Kamerunschwellungen litten, er selbst gehört 
zu den letzteren. 

Wandernde Fliegenlarven, an die Blanchard dachte, haben wohl sicher 
nichts mit den Kalabarschwellungen zu tun, da sie ganz andere Symptomen- 
komplexe hervorrufen. 

Warum freilich der unter der Haut wandernde Wurm für gewöhnlich 
nicht zu starken Symptomen Veranlassung gibt und andere Male die Ödeme 
verursacht, bleibt einstweilen unaufgeklärt; Manson meint, daß anscheinend 
zuweilen das Reiben auf den durch die Wurmwanderung verursachten Juck¬ 
reiz die Ursache sei, für die meisten Fälle dürfte dies aber nicht zutreffen. 
Auch die Vermutung Mansons, daß vielleicht die durch das Muttertier er¬ 
folgende Ablage von Mikrofilarien ins Bindegowebe die Schwellungen hervor¬ 
riefe, konnte durch Probepunktionen nicht bestätigt werden. Vielleicht ist 
es möglich, daß von abgestorbenen Würmern ausgehende Reizungen oder 
die Verstopfung von Hautlymphgefäßen durch den Wurm in Frage kommt. 

Der von Nattan-Larrier geführte Nachweis, daß die Ödeme sehr reich 
an eosinophilen Zellen sind und daß in ihnen sogar anscheinend eino Neu¬ 
bildung dieser Zellen erfolgt, spricht entschieden für die Filariennatur der 
Schwellungen. 

Die Ödeme entstehen ganz plötzlich an einer beliebigen Körpersielle, 
an Hand, Arm, Bein, Brust, Gesicht etc., indem sich unter Rötung, 
Spannung und Hitzegefühl eine pralle, nur ausnahmsweise schmerzhafte, 
unscharf begrenzte Schwellung bildet, die meist nur wenig druckempfindlich, 
nach A. Plehn aber auch spontan schmerzhaft sein kann. Man könnte an 
einen beginnenden Abszeß oder an ein Gesichtserysipel denken, wenn das 
mangelnde Fieber und die meist fehlende Schmerzhaftigkeit nicht dagegen 
sprächen. Die Größe der Schwellung schwankt zwischen 1 und 10 cm, wobei 
ihre Größe meist unabhängig ist von der Größe der Fläche, auf der sie sich 
ausbreiten kann. Anstrengungen begünstigen das Erscheinen der Schwel¬ 
lungen. und Külz, der sie an sich selbst beobachtet und eingehend be¬ 
schrieben hat, konnte sie willkürlich durch solche hervorrufen. 

Wenn die Schwellungen an der Hand ihren Sitz haben, ist die Be¬ 
weglichkeit der Finger und Kraftentfaltung stark beeinträchtigt. A. Plehn 
berichtet, daß es zu vorübergehenden schmerzhaften Ergüssen an Hand und 
Kniegelenk kommen kann. Külz verspürte stärkere Schmerzen, die zu 
schlaflosen Nächten führten, nur wenn die Schwellungen in der Schulter¬ 
blattgegend saßen. Das Gesicht kann durch die Schwellungen stark entstellt 
werden. 

Zu den von F. Plehn in Kamerun und Ostafrika gemachten Beob¬ 
achtungen, nach denen die Schwellungen ihre Stellungen langsam verändern 
und, täglich 2—3 cm vorrückend, als ein dreimarkstückgroßer Tumor von 
der Schulter bis gegen das Handgelenk und dann zurück zur Schulter 
wandern, kommt noch eine Selbstbeobachtung von Zibiiakn, der eine 
hühnereigroße Schwellung an seinem Oberschenkel in 9 Tagen um 15 cm 
wandern sah 

Nach 12 Stunden bis 4 Tagen, im Mittel nach 3 Tagen, gehen die 
Schwellungen von selbst zurück, jedoch wird zuweilen eine Schwellung von 
der anderen, bald an diesem, bald an jenem Körperteile auftretenden ab¬ 
gelöst, so daß die Patienten Monate hindurch kaum einen Tag frei von 
Ödemen sind. Das Leiden kann auch viele Jahre nach Verlassen der Tropea- 


Digitized by 


Google 



Filarien. 155 

gebenden io unregelmäßigen Intervallen wieder Auftreten, wenn schon die 
Häufigkeit der Intensität mit der Zeit abzuoehmen scheint. 

Ziemann bezieht auch multiple Abszesse, wie sie bei Buropäern und 
Eingeborenen in Kamerun häufig beobachtet werden, auf die gleiche Ätiologie 
wie die Kalabarschwellungen, er fand auch bei einem Europäer, der an 
multiplen Abszessen litt, Filaria perstans (?)* im Blnt, hat aber im Absze߬ 
eiter weder Mikrofilarien noch erwachsene Würmer nachweisen können. 

Eine ätiologische Therapie ist zurzeit noch nicht möglich, sympto¬ 
matische Therapie wird bei der Schmerzlosigkeit und kurzen Dauer des 
Leidens meist nicht notwendig sein, den Verlauf jedenfalls nicht beeinflussen. 


Filaria perstans (Manson, 1891). 

Filaria perstans hat einmal ihre große Zeit gehabt. Das war damals, 
als Manson die Hypothese aufstellte: sie sei die Erregerin der Schlafkrank¬ 
heit, eine Hypothese, zu der er durch den Umstand bewogen wurde, daß 
die Filaria perstans bei der*Mehrzahl aller Individuen gefunden wurde, in 
Gegenden, wo Schlafkrankheit herrschte. Heute wissen wir mit Bestimmt¬ 
heit, daß Perstans ein rein zufälliger Nebenbefund im Blute Schlafkranker 
ist, wir verdanken aber jener Hypothese unsere heutigen genauen morpho¬ 
logischen und epidemiologischen Beobachtungen über Filaria perstans. 

Was die Anzahl der befallenen Individuen anlangt, scheint Filaria 
perstans, deren Embryonen bei Tag und Nacht gleichmäßig mit dem Blute 
kreisen, allen anderen Filarien überlegen zu sein; bei den gelegentlich der 
Schlafkrankheitsforschungen gemachten systematischen DurchunterBuchungen 
ist sie als fast regelmäßiger Bewohner (bis 85%) der Eingeborenen ange¬ 
troffen worden (Koch, Hodges, Cook, Feldiiann, Low, Ziemann u. a.). Ihre 
ungemein große Verbreitung ist anscheinend umgekehrt proportional ihrer 
Geltung in pathologischer Hinsicht. Es ist eine unbewiesene Vermutung, 
wenn gewisse, anderer ätiologischer Grundlage entbehrende Fieberanfälle bei 
Negern auf Filaria perstans bezogen werden; wir sehen dabei ab von den 
Beobachtungen Ziemanns, der die Microfilaria perstans zu Filaria loa stellte, 
anscheinend aber Microfilaria diurna, deren Scheide ihm in seinen Präparaten 
vielleicht nicht zu Gesicht kam, für Perstans ansprach, während seine sog. 
Microfilaria (parva) vivax unserer Perstans entspricht. Außer im tropischen 
Afrika ist das Vorkommen von Filaria perstans noch in Britisch-Guyana 
sichergestellt (Daniels, Manson).** Viele Beobachtungen sprechen dafür, daß 
ihr Vorkommen auf waldreiche Landschaften mit hoher Temperatur und 
Feuchtigkeitsgehalt beschränkt ist, daß sie dagegen in Steppenländern fohlt. 
Überaus häufig wird Filaria perstans bei demselben Individuum gleichzeitig 
mit Filaria nocturna oder diurna gefunden. 

Ziemann hat eine perstansähnliche Mikrofilaria, die auch Manson für 
Perstans ansprach, bei einem Schimpansen vom Kongo gesehen; wir selbst 
konnten ebenfalls diesen Befund bei einem Schimpansen des Hagenbeckschen 
Tierparkes erbeben. 

Beschreibung der erwachsenen Filarien. Nach Manson, Daniels, 
Low und Feldmann werden die Elterntiere im intraperitonealen Binde- und 
Fettgewebe in der Umgebung der Aorta descendens, des Pankreas, der 
Nebenniere, an der Basis des Mesenteriums und im perikardialen Fett an¬ 
getroffen, Regionen, in denen sie frei wandert. 


* S. auch unter Filaria perstans. 

** Nach einer Beobachtung von Lynch und Cantal soll Perstans auch bei Eingeborenen 
der FidfcchUneeln Vorkommen, falls es sich nicht hier, wie bei der de nmquayiähn lieben 
Mikrofilaria von Neu-Guinea, etwa um bisher unbekannte SUdseearten bandelt. 


Digitized by 


Google 



156 


Filarieu. 


Das Q mißt zwischen 50—80 mm Länge bei 0*11—014 mm Dicke, das 
kleinere ö ist 34—45 mm lang nnd 0 06—0 08 mm breit, die Würmchen 
sind also kürzer und schmäler als Filaria Bancrofti, mit der sie hinsichtlich 
der Kopfbildung gewisse Ähnlichkeit zeigen, da auch ihr Kopf über einer 
hal9artigen Einschnürung sitzt und wie ein Kegelkopf abgerundet ist (Fbld- 
mann). Ihre Haut ist homogen glatt, ohne Ringelung. 

Charakteristisch für Filaria perstans bei beiden Geschlechtern sind zwei 
eigenartige dreieckige Fortsätze der Cuticula an der Spitze des eingebogenen 
Schwanzes, welche dieser wie eine Mitra aufsitzen. 

Mund und innere Organe unterscheiden sich nicht nennenswert von 
denen anderer Filarien; über die für die Systematik wichtige Gestaltung 
der Exkretions- und Genitalöffnungen sind die Angaben der Autoren ver¬ 
schieden. Low hat, wie bei anderen Filarien, beim Männchen 2 verschieden 
lange Spicula und 4 Paar präanale und 1 Paar postanale Papillen gesehen. 
Daniels hat nur ein Spiculum gesehen und auch Feldmann konnte die An¬ 
gaben Lows nicht unbedingt bestätigen. 

Die Vulva liegt 0 90 mm vom Kopf entfernt, der Anus des Weibchens 
mündet 0145 mm vom Schwanzende auf einer kleinen Papille. 

Embryonen (Taf. V, Fig. 1, 2, 4, 6, 8). Mit der Microfilaria perstans 
kommen wir zu den ungescheideten Filarien. Die ohne Turnus dauernd im 
peripheren Blut anzutreffenden Würmchen sind hiedurch, wie durch ihre Größe 
und die Art ihrer Bewegungen, leicht von den großen, gescheidelen Mikro- 
filarien, Nocturna und Diurna, unterscheidbar. Sie messen in frischen, ein- 
wandsfrei getrockneten Exemplaren im Mittel 02 mm und sind 0 005 mm 
dick. Bezüglich ihres feinen morphologischen Baues verweisen wir auf die 
oben bei Microfilaria Bancrofti gemachten Angaben; alle Organanlagen sind, 
wie bei jenen, auch bei Microfilaria perstans deutlich, die einzelnen Zellen aber 
schlanker und kleiner. Manson und andere Autoren haben bei dieser Mikro- 
filaria noch viel deutlicher als bei Nocturna einen kleinen Stachel aus dem 
Kopfe vor- und zurückschnellen sehen; wir haben diesen Befund bei den 
von uns beobachteten Exemplaren nicht erheben können. Auch ist Micro¬ 
filaria perstans so klein und dabei so agil, daß die Beobachtung ihrer 
Körperorgane selbst bei stärkstem Licht und schärfsten Systemen außer¬ 
ordentlich schwierig ist, dagegen ist die für Microfilaria perstans besonders 
charakteristische Abstumpfung des Schwanzes in allen Exemplaren deutlich. 

Bewegungen: Die Larven der Filaria perstans haben, wie die ihr in 
vielen Punkten ähnlichen der Filaria Dömarquayi (und Ozzardi), die Eigen¬ 
schaft, sich zu strecken und zu verkürzen. Die Berichte mehrerer Autoren über 
eine große und eine kleine Form von Microfilaria perstans scheinen sich 
auf Befunde an in diesen extremen Stellungen fixierten und durch die 
Schrumpfung noch weiter mehr oder minder veränderten Exemplaren zu 
beziehen. 

Die Embryonen zeigen ferner lebhafteste Eigen- und Ortsbewegung, 
derart, daß sie bei der Beobachtung unter dem Mikroskop rasch aus dem 
Gesichtsfeld verschwinden, wobei sie häufig ganze Netze von Fibrinfäden 
mit sich schleppen, in denen sie sich mitunter fangen. Die Bewegungen des 
Kopfendes erfolgen ruckweise, die Schlängelung ist sehr lebhaft. 

Übertragung. Trotz ihrer ungeheueren geographischen Verbreitung, 
die auf einen häufigen Überträger schließen ließ, ist es bisher nicht ge¬ 
lungen, ausfindig zu machen, ob und in welchem Insekt sich die Entwick¬ 
lung der Filaria perstans vollzieht oder ob der Gedanke Mansons, daß die 
Filaria perstans eine selbständige, ohne Zwischenwirt erfolgende Entwicklung 
in der Außenwelt durchmachen könne, noch Berechtigung habe. Die Hypo¬ 
these Mansons, für die ja an sich auch angesichts der Entwicklung der 
ebenfalls ungescheideten Hundefilarien in Mücken wenig spricht, hat noch 


Digitized by 


Google 



Filarien. 


157 


dadurch an Wahrscheinlichkeit verloren, daß es Hodges and noch sicherer 
später Low gelangen ist, die Entwicklung der Embryonen in einigen Mücken 
wenigstens bis za dem in der Thoraxmuskulatur ruhenden Stadium zu ver¬ 
folgen. Es ist damit noch nicht gesagt, daß die Mücke, Taeniorhynchus 
fuscopennatus, in der Low die Entwicklung beobachtete, tatsächlich der 
Oberträger ist, denn, wie Fülleborn bei Hundefilarien fand, können Filaria- 
etnbryonen auch in Wirten, denen sie nicht angepaßt sind, sich bis zu einem 
gewissen Stadium entwickeln. Soweit wir die Kenntnis des Überträgers per 
exclusionem gewinnen können, sind wir wenigstens so weit, daß eine große 
Anzahl von Culicinen und Anophelinen bekannt ist, durch welche die Filaria 
perstans sicher nicht übertragen wird. Auch die Untersuchung von Fliegen 
hat bisher zu keinem Resultat geführt, und Feldmann, der in der Ornitho 
dorus moubata, der Saumzecke, den Überträger der Filaria perstans gefunden 
zu haben glaubte, hat seine Angaben bald wieder zurückgezogen. Dafür will 
Wellmann neuerdings wieder Entwicklungsstadien von Filaria perstans im 
Ornithodorus moubata gefunden haben und hat die Zustimmung Lows ge¬ 
funden. Nach Analogie mit den Hundefilarien können wir aber doch mit 
ziemlicher Sicherheit annehmen, daß eine Mücke Überträgerin der Filaria 
sein wird. 


Filaria, Dömarquayi (Manson, 1897). 

Gleich Filaria perstans ist in pathologischer Hinsicht, soweit wir wissen, 
bedeutungslos die vierte und jüngstbenannte der Blutfilarien, die Manson 
auf Anregung Blanchards zu Ehren des ersten Entdeckers einer Blutfilarie 
beim Menschen Filaria Dömarquayi nannte. 

Auf einen geringen Raum in ihrem Vorkommen beschränkt — sie ist 
alB sicher nur von einigen Antillen (zuerst St. Vincent) bekannt* — ist sie 
auch in zoologischer Hinsicht weit weniger erforscht, als die ihr vielfach so 
ähnliche Perstans, doch ist sicher, daß es sich um eine gute Art handelt. 

Wir kennen die Embryonen und das erwachsene 9 , dos Ö ist bisher 
nicht gefunden worden. 

Beschreibung des erwachsenen Q. Nach den Untersuchungen von 
Daniels, der 2 von den 5 der von Gatgey im Mesenterialgewebe eines Ein¬ 
geborenen von St Lucia gefundenen Weibchens untersuchte, sind diese bei¬ 
den geschlechtsreifen Tiere 65 — 80 mm lang, 0*21—0 25 mm dick. Der Kopf 
zeigt keine Halseinschnürung, ist unarmiert und trägt ein endständiges, sehr 
enges Maul. Die weibliche Genitalöffnung liegt 0 76 mm vom Kopf entfernt. 
Die beiden Ovarien münden in zwei beutelförmige Uteri. Der Uterus liegt 
subterminal und öffnet sich wie bei allen weiblichen Filarien auf einer 
kleinen PApille. Wie bei Perstans überragt die Kutikula das eingebogene 
Schwanzende etwas, zeigt aber nicht die bei jener vorhandene Spaltung in 
2 Lappen. 

Strittig und bei der geringen Anzahl der untersuchten Exemplare 
schwer zu lösen ist die Frage, ob Filaria Dömarquayi identisch ist mit der 
in Britisch-Guyana gefundenen Filaria Ozzardi, oder letztere ihrerseits eine 
gute Art ist. Letztere Ansicht wird von Daniels, erstere von PßNEL ver¬ 
treten. Es ist ganz zweifellos, daß die beiden Würmer — nur die Q 9 sind 
vergleichbar, da das Ö von Dömarquayi unbekannt ist — bei außerordent- 


* Eine in Neu-Goinea gefundene Mikrofilarie beschreibt Manson als von identischem 
Habitus mit D&narquayi. Man kann aber, wie schon erwähnt, nach Analogie der Tierfilarien 
(Hunde, Affen) von ähnlichen Mikrofilarien durchaus nicht mit Sicherheit auf identische 
Mutteiiiere schließen. 

Den gleichen Standpunkt möchten wir einnehmen bezüglich einer von Ross im Blute 
eines Affen in Uganda gefundenen Mikrofilarie (Filaria rossi loco), die in ihrem Bau der 
Microfilaria Demarquayi glich. 


Digitized by Ljooole 



158 


Filarien. 


lieh ähnlichen Maßen sich in den von Daniels beschriebenen Exemplaren 
durch die Bildung des Kopfes und des Schwanzes unterscheiden. Ozzardi 
hat einen schmalen, deutlich abgesetzten Kopf, Ddmarquayi einen breiten, 
runden, nicht abgesetzten Kopf. P£nbl führt gegen diese Verschiedenheit mit 
gutem Grunde an, daß die Beweglichkeit des vorderen Körperendes so groß 
sei, daß sehr wohl bei Ozzardi ein Streckzustand, bei Dömarquayi ein Re- 
traktionszustand beschrieben sein könne. Und bezüglich der Dicke des 
Schwanzes und dessen bei Ozzardi angeblich fehlenden Kutikularbedeeknng 
meint Pänel aus seinen Erfahrungen mit Filaria loa heraus, von der er eine 
große Anzahl von Exemplaren untersuchen konnte, daß hier der Unterschied 
nur derart sei, wie er zwischen Individuen der gleichen Art vorkomme. 

Embryonen. Von den Embryonen der Filaria perstans unterscheidet 
sich die Filaria Demarquayi scharf durch ihren zugespitzten Schwanz (sharp* 
taiied); in ihren Maßen, der Bildung des Kopfes, den Andeutungen der Or¬ 
gane und in ihren Bewegungen ist sie von jener im wesentlichen nicht 
unterscheidbar. Sie ist, wie jene, ungeecheidet und hat keine Periodizität. 
Die unterscheidende Gestaltung des Schwanzes ist indessen so charakte 
ristisch, daß es leicht gelingt, die beiden Filarien, auch wo sie gleichzeitig 
im Blute Vorkommen, ohne weiteres zu unterscheiden. Dies gleichzeitige Vor¬ 
kommen einer kleinen, stumpfschwänzigen und einer spitzschwänzigen Mikro¬ 
filarie, beide ungescheidet, ist für Britisch-Guyana festgestellt und nachdem 
zuerst bis zur Auffindung sicherer erwachsener Filaria perstans die obigen 
beiden Mikrofilarien als Embryonen der sogenannten Filaria Ozzardi ange¬ 
sprochen worden, soll nun die spitzschwänzige Mikrofilaria in Britisch-Guyana 
allein der Embryo der Filaria Ozzardi sein. Dann wäre diese Mikrofilarie 
aber noch viel weniger von Microfilaria Dömarquayi unterscheidbar, als die 
beiden erwachsenen Weibchen von Ozzardi und Dämarquai untereinander, 
und wir möchten schließen, daß vorerst Filaria Ozzardi als besondere Art 
ad acta zu legen und anstatt dessen die geographische Verbreitung der 
Filaria Demarquayi auf Britisch Guyana auszudehnen sei. Diese Ansicht ver¬ 
tritt neuerdings auch Manson. 

Über die Überträger der Filarie ist nichts bekannt, Low vermutet sie 
in selteneren Moskitoarten. 

Filaria Ozzardi. 

Wir besprechen diese Filarie, deren wesentliche morphologische Eigen¬ 
schaften wir hinsichtlich des Weibchens und der Embryonen schon bei Fi¬ 
laria Demarquayi abgehandelt haben, nur deshalb, weil von ihr das Männchen 
zum Teil bekannt ist, in welchem wir, wenn wir Filaria Ozzardi als beson¬ 
dere Art fallen lassen, demnach das bisher noch unbekannte Männchen von 
Filaria Demarquayi zu sehen hätten. 

Die erwachsenen Würmer sind von Daniels gleichzeitig mit erwach¬ 
senen Exemplaren von Filaria perstans bei der Sektion eines Eingeborenen 
von Britisch Guyana im Mesenterium angetroffen worden. Letztere identi¬ 
fizierte Manson mit den von ihm gefundenen Elterntieren von Filaria per¬ 
stans, erstere sind Gegenstand der schon besprochenen Diskussion. 

Das Weibchen zeigt im wesentlichen die gleichen Maße wie Filaria 
Demarquayi, 81 mm Länge, 0 21 mm Breite, die Öffnung der Vagina 0*72 mm 
vom Kopf entfernt; die Unterschiede bezüglich des Kopfes und Schweifes 
sind oben besprochen. Vom Männchen ist nur ein Bruchstück der Schwanz¬ 
hälfte erhalten, von etwa 0*2 mm Dicke. Der Schwanz ist stark eingerollt, 
nimmt langsam an Dicke ab bis 0*27 mm vor dem Ende; von dieser Stelle 
an, an der zwei Spikula hervortreten, verdünnt er sich schnell. 

Die Embryonen sind, wie bereits erwähnt, von den Embryonen der 
Filaria Demarquayi nicht zu unterscheiden. 


Digitized by ^.ooQle 



Filarien. 


159 


Literatur über Blutfllarien: Bezüglich der älteren Literatur wird auf die Zusammen¬ 
stellung in der Arbeit reo Prof. Dr. A.Loobs, Von Würmern und Arthropoden henrorgerufene 
Erkrankungen; in Minsk, Handbuch der Tropenkrankheiten, Leipzig 1905, pag. 171 ff., und 
in Penel, Les filaires du sang de l’homme, Paris 1905, verwiesen, in beiden Artikeln ist die 
Literatur bis mm Jahre 1905 berücksichtigt. — E. Andradb, A case of filaria sanguinis 
hominis. Amer. Jottrn. of med. soc. Philadelphia und Newyork 1905, 126. — P. M. Abbburn 
nnd Ca. F. Cbaig, Obserratiens upon Filaria PhUippinensis and its Development in the Mos- 
quito. The Philipp. Jonrn., 1907, 1—14; A new blood filaria of man: Filaria Philippinensis. 
Amer. Jonrn. of med. soc. Philadelphia und Newyork, 1906, 435—443. — A. Billet, Un nou¬ 
veau cas de Filaria loa mäle. Compt. reud. de la soc. de Biol., Paris 1906, 507; Le filaire 
de Porti. (Filaria loa.) Arch. de m£d. et pharm, mil., Paris 1907 , 34— 53. — F. T. Bbown, 
A eaae of Filaria Bancrofti. M. u. 8. Rep. Bellevue Hoep., Newyork 1905 , 381—384. — 
L. Cazalbon, 8ur un embryon de filaire hematique observe en Afrique occidentale Bull. hoc. 
cetitr. de mdd. v6t, Paris 1906, 596. — Cook, Filariasis amongst the Baganda. Journ. of 
trop., 1902. — J. H. Cunningham, Filariasis. Annal. of surg., Philadelphia 1906,481—518. — 
Daniels, Adult form of Filaria D6marquayi. Jonrn. trop., 1902. — Feldmann, Über Filaria 
perstans im Bezirk Bnkoba. Arch. f. Trop., Leipzig 1905, 62—65. — J. A. O. Fboms, Fila¬ 
riose. Brasil, med., Rio de Janeiro 1906 , 63, 75. — Füllbborn, Über Versuche an Hunde¬ 
filarien und deren Übertragung durch Mücken. Beiheft z. Arch. f. Trop., 1908; Untersuchungen 
an menschlichen Filarien und deren Übertragung auf Stechmücken. Beiheft z. Arch. f. Trop., 
1908. — A. Hodgzs. Sleeping-Sickness and Filaria perstans etc., Jonrn. of trop., 1902. — 
S Koqawa, The filaria of the islands of Southern Japan. Tokyo Iji Shiushi, 1905, 565—583. 

— Lcbbsdq, Metamorphose de la filaria sanguinis hominis nocturna etc. Rev. de mdd. trop., 
Habana 1905, 117,141; Metamorphose of filaria in the body of the mosquito (Culex pipiens). 
Jonrn. of inf. (Suppl. Nr. 1), Chicago 1905, 332—352; Filariasis. Somana med., Buenos Aires 
1905 , 236; Fttariasis. Rev. de med. trop., Habana 1904, 171—173. — C. F. Lxlous, The 
ämultaneoes occurrenee of filaria aad malarial parasites in the blood. Pr. Patb. Soc., London 
1905, 113. — A. B. Lifpibt nnd D. T. Vail, Filaria Loa. Africao correspondence. Lancet- 
Clinic., Cincinnati 1905, 733. — J. Livon fils et Pknadd, Un cas de Filaria Loa etc. Cpt. 
r. de Biol., Paris 1906, 510-512. — G. C. Low, As filarias. Med. mod., Porto 1905, 297-300; 
A note on filaria gigas. Brit. med. Jonrn., London 1905, 1329; The nneqnal dietribntion of 
filariasis in the tropics. Lancet 1908, Nr. 4405. — G. W. A. Lynch, Note on the occnrrsnoe of 
filariae in Fijians. Jonrn. trop., London 1905, 99; A note on the occurrenee of filaria in 
Fijans. Lancet, London 1905, 21. — P. S. Magalhaes, De l’rtephantiasis et des manifesta- 
tions chirnrgicales de la filariose. Tribüne ra6d., Paris 1906, 501—504. — Mabtbns, Demon¬ 
stration von lebender Filaria sanguinis. Berliner klin. Wochenscbr., 1907, 10555. — Miyakb, 
The filaria of Baacrolt. Chingai Iji-Shiupo, Tokio 1907, 1369, — E. Minbt, La cirnrgia de 
las manifestaciones filarosieas, Habana 1905. — L. Nattan-Labribb, Chylnrie filarienne. Bull, 
et mrtn. Soc. aoat. de Paris, 1906, 601—603. — Ozzard, Filaria Loa. Jonrn. of Trop., März 
1903. — Prnald, Filariose. Caducäe, Paris 1906, 279. — Penafd et J. Livon fils, Sur un 
cas de Filaria Loa. Marseille m6d., 1906, 753 — 762. — L. Pich, Demonstration einer durch 
Operation gewonnenen Filaria Loa. Deutsche med. Wochenscbr., Leipzig und Berlin 1905, 
1172. — RoDfcBWALDT, Die Verteilung der Mikrofilarien im Körper und Zar Morphologie der 
Mikrofilarien. Beiheft z. Arch. f. Trop., 1908. — C. L. Wannbill, Report on the investiga- 
tions earried ont to deteimine the presence or absence of filaria among the trops in Jamaica. 
Journ. Royal Army Med. Corps, London 1906, 561—563. — H. B. Ward, 8tndies on human 
paraaites in North America, i. Filaria Loa. Ball. Univ. Nebrashalöll, M. Lincoln 1906, 1—75. 

— Watabotori, Filiform filaria in the blood. Chingai Iji-Shiupo, Tokio 1906, 145—155. — 
F. C. Wkllmabn, Prel. notes on some bodies fonnd in tichs — Ornitb. monbata fed on blood 
containing embryos of Filaria perBtans. Brit. med. Journ., 1907, VII, 20. — W. B. Whebry 
und J. R. Mc Dill, Notes on a case of hematocbyluria etc. Journ. of inf., Chicago 1905, 
412—420. — R. Würtz und A. Cberi, Nouvelle Observation de Filaria Loa etc. Arch. de 
»4d. exp., Paria 1905, 260—266. — R. Würtz et L. Nattan-Labribb, Nouvelle Observation 
de Filaria Loa. Areh. de möd. exp., Paris 1907, 558—564. — Yamamoto, Filaria sanguinis 
hominis. Tokio Iji-Shinshi 1905, 298—302. — H. Zikmann, Beitrag zur Filarienkrankheit der 
Menschen nnd Tiere in den Tropen. Deutsche med. Wochenschr., Leipzig nnd Berlin 1905, 
420-424. 


Filaria volvalus (Leuckart, 1893). 


Einer den Filarien nahestehenden Groppe der Nematoden, den Spiropteren, 
verwandt, erscheint eine menschliche Filaria volvulus, deren Embryonen 
bisher im Blot nicht beobachtet sind, wahrscheinlich aber doch in die Zir¬ 
kulation zu gelangen vermögen. Wir schließen das eben aus jener Ver¬ 
wandtschaft mit den Spiropteren, speziell mit Spiroptera reticulata des 
Pferdes, da auch die pathologisch-anatomischen Veränderungen, die durch 


Digitized by 


Google 



160 


Filaried. 


Filaria volvulas hervorgerufen werden, in vielen Hinsichten den sogenannten 
Spiropterentumoren bei Hunden, Pferden, Rindern, entsprechen. 

Filaria volvulus führt durch Anwesenheit einer großen Anzahl mit¬ 
einander zusammengeknäuelt liegender Elterntiere im Unterhautzellgewebe 
zur Bildung eigenartiger Tumoren, die zwischen Haut und Muskulatur, weder 
mit dieser noch mit jener verwachsen, frei verschieblich liegen, subkutane 
Geschwülste, die keine Beschwerden, es sei denn durch ihren Sitz, verur¬ 
sachen und nie vereitern. 

Diese Tumoren und damit die in ihnen sitzenden Elterntiere der Filaria 
volvulus sind anscheinend im tropischen Westafrika weitverbreitet. Die ersten 
Tumoren beschrieb Leuckart, sein Material stammte von der Goldküste; 
Labadie-Lagrave und Deguy haben sie aus Dahomey, Prout in Sierra Leone, 
Brumpt und Vedy vom Kongostaat beschrieben, unser eigenes Material 
stammt aus Kamerun, wo nach Mitteilungen von Külz im Stromgebiet des 
Wuri (Küstengebiet) etwa 10% der Männer damit behaftet sein sollen. 

Allerdings sprechen noch näher zu erwähnende Gründe dafür, daß es 
sich vielleicht bei den aus Sierra Leone und aus Kamerun beschriebenen 
Würmern um verschiedene Arten handeln könnte. 

Beschreibung der erwachsenen Würmer: Infolge ihrer eigenartigen, 
festverknäuelten Einlagerung im Gewebe sind die Beschreibungen der er¬ 
wachsenen Würmer lange Zeit sehr lückenhaft gewesen und bezüglich des V* 
von dem ein vollständiges Exemplar bisher in toto noch nicht gemessen 
wurde, noch nicht völlig abgeschlossen. Die ersten Beschreibungen von 
Manson und Leuckart berechtigen überhaupt nur wegen der Schilderung 
des charakteristischen Tumors und der Beschreibung der Uteruslarven, die 
späteren Befunde auf Filaria volvulus zu beziehen. 

Prout gelang es, aus einem Tumor ein ganzes Ö zu entwickeln, dessen 
Länge er auf 3 025 und für ein anderes Exemplar auf 3035 cm angibt*; 
als größte Dicke fand er 0144mm (Fülleborn 0*20 mm).** Der Kopf ist ab¬ 
gerundet, das Maul endständig. Die Anogenitalöffnung liegt nach Fülleborn 
etwa 0*07 mm vom Schwanzende, nach Prout 0 049 mm, wobei wahrschein¬ 
lich aber ein Irrtum vorliegt. Aus der Anogenitalöffnung treten zwei Spikula, 
ein größeres und ein kleineres, hervor, beide mit einer trompetenartigen 
Erweiterung am proximalen Ende, das kleinere mit einer Verdickung am 
distalen Ende; die Länge des großen Spikulums beträgt nach Prout und 
Fülleborn OT77 mm, des kleineren ebenfalls nach beiden Autoren 0 082 mm 
(s. Taf. II, Fig. 6, 7, 8). 

Die Angaben der Autoren gehen bezüglich der für die Systematik 
wichtigen Papillen am Hinterende auseinander. Prout beschreibt in der Um¬ 
gebung des Anus 4 Paar Papillen, 1 präanale, 1 postanale und 2 lateral 
vom Anus. Brumpt und Fülleborn haben in der Umgebung des Anus nur 
3 Papillenpaare gesehen, 1 präanale, 1 postanale, 1 im Niveau des Anus; 
außerdem beschreibt Brumpt noch »en arriöre de l’anus trois paires de 
papilles postanales«, womit wahrscheinlich die Schwanzpapillen gemeint sind, 
deren Fülleborn aber nur 2 Paar nachweisen konnte. Das hintere Schwanz¬ 
ende ist rinnenartig vertieft. 

Der Wurm ist mit einer nach beiden Enden hin schwächer werdenden 
Querstreifung versehen, derart, daß 19 mm von der Mundöffnung entfernt 
etwa 10 Querstreifen auf 0*1 mm zu zählen sind (s. Taf. III, Fig. 4). 


* Eiu von Bodkkwaldt aus einem Kameruntumor entwickeltes Männchen maß 3‘05 cm. 
A. f. Sch. n. Tr. 1908. 

** Es sei bemerkt, wie Füllebobn fand, daß bezüglich der Zahlenangaben bei Filaria 
volvolns eine ganze Reihe von sinnentstellenden Druckfehlern sich in der Literatur fortgeerbt 
hat. Die hier gegebenen Zahlen sind das Ergebnis genauer Korrektur. 


Digitized by 


Google 



Filarien. 


161 


Die Länge der LEUcKARTschen Exemplare der 9 wird auf 60—70 cm 
angegeben; Prout nimmt 40 cm an; das größte bisher gemessene Biuch- 
stfick (Vedy) war 18 cm lang. Die größte Dicke des O beträgt 0*35—0*36'mm. 
Die Öffnung der Vagina liegt nach Brumpt 0*760 mm, nach Fülleborn 0*55 mm 
vom Kopfende entfernt. 

Während Fülleborn und Prout bezüglich ihrer Zahlenangabe im 
wesentlichen Obereinstimmen, hat Fülleborn eigenartige tonnenreifenartige 
Verdickungen der Kutikula beschrieben, die in Abständen von 0*065 mm 
voneinander stehen (s. Taf. 111, Fig. 5), während Prout angibt, daß der Körper 
wie beim Männchen, aber weniger stark quergestreift sei. Sollte sich diese 
Differenz bei weiteren Untersuchungen von Volvulustumoren aus Sierra 
Leone und Kamerun aufrecht erhalten lassen, so wären zwei verschiedene 
Arten anzunehmen. 

Die in den Uteri befindlichen, embryonenhaltigen Eier zeigen eine 
eigenartige Form ihrer Hölle, die an eine in Seidenpapier verpackte Orange 
erinnert; sie läuft in 2 Zipfel aus (s. Taf. III, Fig. 6). Die in dem Inhalt der 
Tumoren, und zwar nur der älteren, gefundenen Larven maßen in feucht 
konserviertem Material zirka 0*280 mm, in Ausstrichen angetrocknet zirka 
0*170mm, ein Unterschied, der auf den oben unter Filaria Bancrofti er¬ 
wähnten Vorgängen bei der Behandlung der Präparate beruht. 

Den Larven fehlt eine Scheide, und zwar sowohl den aus dem Tumor¬ 
gewebe als auch den aus dem Uterus entnommenen; von Microfilaria noc¬ 
turna und diurna sind sie hiernach durch das Fehlen der Scheide, von Micro¬ 
filaria perstans und Dömarquayi durch ihre Größe leicht zu unterscheiden 
(s. Taf. III, Fig. 6). 

In der Kutikula sind sie noch niemals nachgewiesen worden, doch 
meint Brumpt, daß sie, da er sie auch in den peripheren Teilen der Tumoren 
fand, von da aus ins Lymphgefäßsystem und von da ins Blut gelangen 
können, eine Annahme, die nach der Analogie mit Spiroptera reticulata viel 
Wahrscheinlichkeit hat. 

Dann wäre auch eine Übertragung durch Stechinsekten und, da die Tumoren 
in der Umgebung von Flüssen häufig sind, vielleicht durch Glossinen oder 
Tabaniden oder Simulien wahrscheinlich, darüber ist aber noch nichts bekannt. 

Pathologie. Die Tumoren, welche als kleine, subkutane Lipome oder 
Fibrome imponieren und unter der Haut frei verschieblich sind, haben nach 
Angabe von Külz ihren Lieblingssitz unter der Haut der Rippe. Zupitza 
hat sie an allen möglichen Körperstellen gesehen und erwähnt, daß ein 
Soldat den Tumor an der Spina ilei ant. sup. für eine eingeheilte Kugel 
hielt, die er entfernt haben wollte. 

Besonders reichlich sollen nach Brumpt die Tumoren an Körperstellen 
sein, wo viel Lymphgefäße konvergieren. Sie werden jahrzehntelang be¬ 
schwerdelos getragen. Greise tragen sie seit ihrer Kindheit, sie vereitern 
nie. Mitunter sollen sie jahrelang nach dem Verlassen der infizierten Gegend 
aufgetreten sein, was bei der von anderen Filarien bekannten langen Lebens¬ 
dauer nicht zu verwundern ist. 

Die Tumoren bestehen aus einer bindegewebigen Außenschicht und 
einer strukturlosen (in frischem Zustande schleimigen), reichlich mit Leuko¬ 
zyten durchsetzten Masse, die vom Rande her allmählich unter Einwanderung 
von Gefäßen zu festem Bindegewebe organisiert wird (s. Taf. III, Fig. 5). 
Die Filarien, die ursprünglich anscheinend nur in der schleimigen Inhalts¬ 
masse zu liegen scheinen, werden durch hervordringende Bindegewebe 
und Kanäle eingeschlossen; doch finden sich auch in älteren Tumoren 
größere Hoblräume (s. Taf. III, Fig. 3), indem hier wieder eine Einschmelzung 
des Bindegewebes um die Würmer herum stattfindet, so daß ein formativer 
und destruktiver Prozeß sich die Wage zu halten scheinen. 


Digitized by 


Göbgle 


Eneyclop. Jahrbücher. N. F. VUl. (XVII.) 



162 


Filarien. 


Labadie-Lagrave und Dbguy wollen in ihrem freilich nicht sicheren 
Fall einen noch unreifen weiblichen Wurm frei in einem entzündlich ver¬ 
änderten Lymphgefäß gesehen haben. Wenn schon in älteren Tumoren ein 
Lymphgefäß als Ausgangspunkt der Geschwulstbildung nicht mehr erkenn¬ 
bar ist, spricht doch das mikroskopische Bild derselben nicht gegen eine 
derartige Genese. 

Brumpt gibt an, daß in den obengenannten Hohlräumen das Hinter¬ 
ende des Männchens und Vorderende des Weibchens so zueinander gelagert 
lägen, daß Kopulationen möglich seien. Sicher ist, daß sich in einem Tumor 
Männchen und Weibchen anscheinend sogar in mehreren Exemplaren gleich¬ 
zeitig finden. 

Die relativ jungen Tumoren enthalten noch kaum freie Larven, weder 
in der schleimigen Inhaltmasse noch im Bindegewebe. In etwas älteren Ge¬ 
schwülsten sind sie reichlich vorhanden und werden auch in den peripheren 
Abschnitten der bindegewebigen Kapsel angetroffen (s. Taf. III, Fig. 2). . 

Therapie. Eine Therapie findet nur statt, wenn der Sitz des einen 
oder anderen Tumors mechanische Belästigungen für den Träger bedingt, 
sie besteht in dem leichten chirurgischen Eingriff der Enukleation des Tumors. 

Literatur: Über Filaria volvulus : Braun, Die klinischen Parasiten des Menschen. 
Würzborg 1908, pag. 307. — Brumpt, A propos de la Filaria volvolas (Lruckart). R. de 
m£d. trop., 1904. — Füllkbobn, Über Filaria volvolas (Lruckart). Beih. z. A. I. Trop., 
Leipzig 1908. — Labadie-Lagrave et Deguy, Un cas de Filaria volvnlos. A. de Paras., 
1899, II, pag. 451—460. — R. Lruckart, A. Davidsons Hygiene and diseases of warm 
elimates. London 1893. — Looss, Menses Handb. d. Tropenkrankh. Leipzig 1905, pag. 179. 
— P. Manbon, Skin diseases, pag. 963, 1893. — Pänel, Les filaires da Bang de Vhomme. 
Paris 1905, pag. 120 n. 121. — W. F. Pbout, A. Filaria foond in Sierra Leone, ? Filaria 
volvolas (Lruckart). Brit. med. Joorn., 26. Janaar 1901 , Nr. 2091, pag. 209—211; Obser- 
vations on Filaria volvolus. A. de Paras. Paris 1901, pag. 311 ff. — Rajixbt, TraitA de 
Zoologie medicale et agricole. Paris 1895, pag. 538 ff. — Vädy, Filariose dans le district 
de l’Ucte. Bnll. de l’Aead. roy. de m6d. de Belgiqoe, 29. Dezember 1906. — Zirmann, Medi¬ 
zinalberichte über die deutschen Schutzgebiete für das Jahr 1905/06, heraasgegeben vom 
ReichBkolonialamt. Berlin 1907, pag. 148 n. 179. 

Filaria medinensis (Velsch, 1674). 

Nächst der Filaria Bancrofti beansprucht die größte Beachtung in 
pathologischer Hinsicht die Filaria medinensis, ja, vielleicht noch größere, 
weil sie die einzige Filarie ist, welche beim Zusammentreffen ungünstiger 
Umstände unmittelbares schweres Siechtum, ja sogar den Tod des von ihr 
befallenen Individuums verursachen kann. 

Wir betreten mit ihr das Gebiet der Filarien, deren Embryonen sicher 
nicht im Blute des Wirtes leben. 

Hier, wie bei Filaria Bancrofti, sind es die erwachsenen Würmer, und 
zwar allein die Weibchen, die zur Ursache des eigentlichen Leidens werden, 
welche aber in bezug auf ihren Sitz und ihre Lebensgewohnheit nicht der 
Filaria Bancrofti, sondern der Filaria loa nahestehen, sie leben im Unter¬ 
hautzellgewebe und wandern in ihm. 

Die durch Filaria medinensis hervorgerufene Erkrankung ist eine der 
ältest bekannten Krankheiten; es hat schon in vorchristlichen Zeiten Staunen 
und Schauder der Menschen erregt, wenn unter der Haut eines bis dahin 
Gesunden plötzlich eine Schlange fühlbar und sichtbar wurde und durch 
eine Öffnung der Haut ans Licht kam; hiernach ist der Name Dracontiasis 
der älteste, der von Galenits der Krankheit gegeben wurde. 

Die übrigen Bezeichnungen der Krankheit sind meist geographischer 
Herkunft, so Filaria medinensis, Vena medinensis, Guineawurm; andere Be¬ 
zeichnungen mischen beide Angaben, so Dracunculus medinensis, Dracuncnlus 
persarum; daneben finden sich noch die Bezeichnungen Gordius medinensis, 
Filaria dracunculus. 


Digitized by ^.ooQle 



Filarien. 


163 


Ans der Verschiedenheit der Namen erhellt gleichzeitig die große Ver¬ 
breitung der Parasiten über den tropischen und subtropischen Teil des 
Globns. Sein Vorkommen ist aus den tropischen Teilen Asiens, Afrikas, 
dem tropischen Süd- und Mittelamerika bekannt. Nicht endemisch ist die 
Krankheit in Europa, Australien, in Ozeanien, woher nur einige wenige 
eingeschleppte Fälle berichtet werden. Auch in den vorgenannten Gebieten 
scheint sich der Parasit auf bestimmte Bezirke zu beschränken, kann aber 
in ihnen mitunter so häufig zu sein, daß bis 
zur Hälfte der Bevölkerung von ihm befallen Fi » 87 

gefunden wird (Deccan). 

Ob ähnliche Parasiten von gleichen Ei¬ 
genschaften bei Haus- und Raubtieren mit 
unserer Filaria medinensis identisch oder Ab¬ 
arten sind, steht noch nicht fest. 

Beschreibung des Wurmes: Dem Alter 
der Bekanntschaft des Menschen mit den kli¬ 
nischen Erscheinungen der Filaria medinensis 
entspricht keineswegs eine gleiche Kenntnis 
von der Morphologie des Tieres. So wissen 
wir über das Männchen zurzeit noch so gut 
wie nichts. Nach Pollack und Daniels sollen 
die Männchen sehr kleine Würmer sein; auch 
Charles beschreibt einen 4 cm langen Wurm, 
den er an einem Weibchen anhängend fand, 
als Männchen, wahrscheinlich handelte es 
sich aber um ein prolabiertes Eingeweide des 
Weibchens; derartige Prolapse bilden sich 
bei allen Elterntieren der Filarien sehr leicht 
bei einer Verletzung der Außenhaut. Es wird 
angenommen, daß die Männchen nach voll¬ 
zogener Befruchtung alsbald zugrunde gehen 
und verkalken. 

Auch von dem Weibchen besitzen wir, 
trotzdem wir es lebend in seiner Tätigkeit 
beobachten können, noch nicht eine wünschens¬ 
wert sichere Kenntnis; die Angaben der Auto¬ 
ren variieren stark und scheinen vielfach durch 
Analogien mit anderen Nematoden beeinflußt. 

Schon über die Länge, durch die das Weib¬ 
chen der Filaria medinensis alle anderen Fi- Larveu der Filaria medinensis. (Nach 
larien weit übertrifft, herrscht keine Überein- „ s.iteMMi“h., u i L Frent.n.ich». 
Stimmung, doch sind wohl sicher solche An¬ 
gaben, daß die Würmer über 2 cm gemessen hätten, auf ungenaue Messung oder 
Addierung von Bruchstücken mehrerer Würmer zurückzuführen. Nach 
Messungen von Evart variiert die Länge zwischen 32 5 und 120 cm, ist die 
mittlere Länge 90 cm, beträgt der Durchmesser 1*5—1*7 mm. Der Körper 
ist zylindrisch, milchweiß, glatt, nicht geringelt und trägt an den Seiten 
je ein dunkleres Band, die Seitenfelder, wie andere Nematoden. Das Hinter¬ 
ende endigt nach Looss ziemlich abrupt in eine stachelartige Verjüngung, 
die umgebogen ist und als Haltorgan zu dienen scheint. So weit die sicheren 
Angaben ; gerade über die wichtigsten Teile, die Organe des Kopfes und 
die Mündung der Vagina, herrscht keine Übereinstimmung. Das Kopfende 
verjüngt sich, rundet sich ab und trägt ein Kopfschild, in dem sich die 
dreieckige, sehr enge Mundöffnung befindet und deren Rand zwei größere 
und vier kleinere Papillen trägt. Der Ernährungskanal ist sehr eng und 



Digitized by 


Google 




164 


Filarien. 


endigt blind, ein Anos ist nicht vorhanden. Das ganze Körperinnere wird 
von dem Uterus oder den Uteri eingenommen; Looss nämlich nimmt nach 
Analogie mit anderen Filarien 2 Uterinschläuche an, alle anderen Autoren 
nur einen. Im Gegensatz zu Lbiper, der gesehen haben will, daß der Uterus 
sich durch eine Öffnung außerhalb der Mundpapillen, also eine wirkliche 
Vagina entleert, haben andere Autoren, Manson, Looss, eine Vagina nicht 
gesehen und nehmen an, daß sich der Uterus durch die Mundöffnung ent¬ 
leert, und zwar hält Manson das bei der Embryonenentleerung aus der 
Mundöffnung heraustretende zarte schlaucbartige, 1: 10—20 cm messende 
Gebilde für eine Ausstülpung des Uterus, während Looss annimmt, daß ein 
Teil des Ösophagus vorgestoßen werde, in dessen hinteres Ende gabelig die 
Ausföhrungsgänge der Uteri mündeten. Während Manson ferner annimmt 
daß der prolabierte Teil des Uterus platzt, kollabiert, eintrocknet, schlie߬ 
lich verloren geht und so also der ganze Uterus sukzessive mit den Em¬ 
bryonen ausgestoßen werde, nimmt Looss mit Forbbs an, daß das prola¬ 
bierte Stück (des Ösophagus) wieder retrahiert werde. 

Die Larven der Filaria medinensis sind größer und komplizierter ge¬ 
baute Gebilde als die übrigen Mikrofilarien. Sie unterscheiden sich in erster 
Linie dadurch von jenen, daß sie abgeplattet* sind und, ins Wasser gelangt 
beim Schwimmen mit ihrem längeren Durchmesser senkrecht stehen, in der 
Ruhe sich auf ihre flache Seite legen. Im Wasser bewegen sie sich durch 
peitschende, durch Pausen unterbrochene Bewegungen ihres deutlich ab¬ 
gesetzten Schwanzes, ähnlich wie Kaulquappen. 

Die Larven sind 0*5—0 75 mm lang, 015—0*25 a breit, verjüngern 
sich zu dem abgerundeten Kopfende und enden in einem langen, dünnen, 
pfriemartigen Schwanz, an dessen Wurzel der Anus mündet, neben dem 
sich zwei eigenartige drüsige Organe, nach Looss Einstülpungen der Haut 
befinden. Die Haut ist fein quergestreift. Das Maul ist mittelständig. 

Das Lebenselement der jungen Larven, in das sie, den Gewohnheiten 
des Muttertieres gemäß, auf die wir weiter unten eingehen, auch in der 
Regel zu gelangen pflegen, ist das Wasser. Sie vermögen sich indessen auch 
bei ziemlich weitgehender Eintrocknung im Schlamm lebend zu erhalten, 
wenn nur rechtzeitig wieder eine Anfeuchtung stattfindet; sie scheinenaber 
nach Versuchen von Leiper, dem wir die eingehenden Studien über den 
Entwicklungsgang dieser Larven verdanken, nicht länger als 5 Tage frei 
leben zu können und völlige Austrocknung nicht zu vertragen, so daß 
Übertragung der Larven durch Staubwind ausgeschlossen ist. 

F. Plehn hat einen Versuch von Fütterung eines Affen mit Filarien¬ 
larven in Bananen berichtet, der geglückt sein soll, da sich in einer Ge¬ 
schwulst am Oberschenkel nach 8 Monaten ein 40 cm langer Wurm fand. 
Da wir über die eigenen Filarienarten des Affen durchaus noch nicht genau 
orientiert sind, kann dieser Versuch einer direkten Übertragung ohne 
Zwischenwirt nicht als beweisend gelten, man muß vielmehr heute als abge¬ 
schlossene Tatsache ansehen, daß die Mikrofilarien ihre Entwicklung in einem 
Zwischenwirt, und zwar in gewissen Zyklopsarten (C. quadricornis, strenuis, 
virides, biquuspidatis) durchmachen müssen, um dann in ihrem Zwischen¬ 
wirt mit dem Trinkwasser in den definitiven Wirt zu gelangen. 

Schon 1870 stellte Fedschenkow in Turkestan fest, daß die Larven 
in den Körper von Cyclopiden eindringen und nach einiger Zeit eine Ent¬ 
wicklung durchmachen; Manson hat diese lange vergessene Entdeckung in 
England mit Erfolg nachgeprüft und gleichzeitig die für die Epidemiologie 


* Ei sei hier aber bemerkt, daß nach unseren neueren Beobachtungen, besonders an 
gescheideten Mikrofilarien des Blutes, vieles dafür spricht, daß auch sie nicht völlig dreh rund 
sind, sondern ovalen Querschnitt besitzen. 


Digitized by 


Google 



Filarien. 


165 


aller durch Zwischenwirte übertragenen Parasiten wichtige Tatsache fest¬ 
stellen können, daß die Entwicklung in Cyclops, die in Turkestan in 5 Wochen 
vollendet war, in dem kälteren England 8—9 Wochen dauerte. 

Die eingehenden Untersuchungen Lbipbrs haben folgende sichere Er¬ 
gebnisse über die Lebensbedingungen der Larven gezeitigt: 

1. Die Larven müssen direkt in frisches Wasser entleert werden, nach¬ 
dem der Wurm die Haut durchbrochen hat und bevor die Wunde infiziert ist. 

2. Die Embryonen müssen innerhalb 5 Tagen Cyclopiden finden, in die 
sie eindringen können. 

3. Sie müssen in die Leibeshöhle der Cyclopiden gelangen. 

4. 5 Wochen später (s. aber oben Manson) sind sie reif, dann müssen 
sie in den menschlichen Magen gelangen, werden dort frei und können in 
die Gewebe gelangen. 

Die Lebensentwicklung wird unterbrochen: 

1. Wenn die Embryonen sterben, entweder durch Sepsis der Wunde 
oder durch Entleerung in Salzwasser oder durch Austrocknen. 

2. Wenn kein Cyclops im Wasser ist oder infizierte Cyclops nicht in 
den Menschenmagen gelangen. 

3. Wenn die Larven noch unreif in den definitiven Wirt gelangen oder 
den Chitinpanzer nicht durchdringen können. 

4. Wenn unter den hineingelangten Würmern keine Männchen sind, 
die Weibchen also nicht befruchtet werden können. 

Dem ist noch hinzuzufügen, daß wahrscheinlich nur ganz bestimmte 
Cyciopsarten als Zwischenwirte dienen können; wäre dem nicht so, so müßte, 
da |a die Entwicklung auch in kalten Klimaten, wenn auch langsamer, zu¬ 
stande kommt, eine weit größere Verbreitung der Krankheit anzunehmen 
sein. Auch sprechen dafür Beobachtungen von Brown, daß Fil. med. auf der 
malaiischen Halbinsel nicht heimisch wird, trotzdem dort zahlreiche Cyclops 
Vorkommen und Filarienträger einwandern. Direkte Übertragung durch 
Larven ohne Vermittlung eines Zwischenwirtes, entweder durch Verschlucken 
der Larven oder Infektion durch die Haut, wie bei Ankylostomum, hat 
Leiper durch Experimente am eigenen Körper ausgeschlossen. Eine Infek¬ 
tion durch die Haut nach Vollendung der Entwicklung im Cyclops ist aus¬ 
geschlossen, da die Larven im Freien den Cyclops nicht verlassen und, wenn 
er stirbt, mit ihm zugrunde gehen. Bringt man dagegen den Cyclops in eine 
Lösung von 02°/ 0 iger Salzsäure (Magensaftkonzentration), so stirbt der 
Cyclops ab und die Larven, die vorher in Ruhestadien eingetreten waren, 
verlassen unter hoher Steigerung ihrer Beweglichkeit seine Leibeshöhle. 
Diese Beweglichkeit findet sich aber nur, wenn der Cyclops gerade zur Zeit 
der Reife der Larven (den sogenannten Ruhestadien) in die Lösung gebracht 
wird, schon eine Woche später sind sie im Cyclops abgestorben. 

Insektenlarven und andere Wassertiere vermögen den Larven nicht 
als Zwischenwirte zu dienen, und auch von den Cyclopiden sind es nur die 
Jungen, die für die Übertragung geeignet sind, woraus sich eine gewisse 
Gebundenheit der Infektion an gewisse Jahreszeiten erklärt. 

Fütterungsversuche mit infizierten Cyclopiden an Affen fielen posi¬ 
tiv aus. 

Aus diesen Ergebnissen geht mit Evidenz hervor, daß die Infektion 
mit FH. med. durch Trinkwasser erfolgt, zugleich aber auch, daß die Be¬ 
dingungen, unter denen die Entwicklung der Larven in der Außenwelt und 
im Zwischenwirt erfolgt, ziemlich eng begrenzt sind und daß sich hieraus 
eine Reihe von Angriffspunkten für die Bekämpfung der Krankheit ergibt, 
auf die wir später eingehen. 

Es ist wahrscheinlich, daß die Larven aus dem Magen in die Körper¬ 
gewebe einwandern, sich befruchten, daß die Männchen bald absterben und 


Digitized by 


Google 



166 


Filarien. 


die Weibchen in etwa einem Jahre zn völliger Reife heranwachsen. Maxsox 
nimmt an, daß sie in der Däner ihres Wachstums, ein Jahr, wiederum den 
Lebensgewohnheiten bestimmter Cyclopidenarten angepaßt sind, welche nach 
gleichen Zeiträumen aufnahmefähige Brut produzieren. 

Hierher gehört auch eine Beobachtung von Qraham, der in Gambaya 
(Hinterland der Goldküste) die meisten Neuerkrankungen im Juni beob¬ 
achtete; er nahm hiernach an, daß, da die Entwicklung im Cyclops etwa 
5 Wochen dauert, die meisten Neuinfektionen im Juli oder August statt¬ 
fänden, und daß der Wurm zu seiner Entwicklung im Menschen etwa 
10 Monate brauche. 

Eine noch weiter gehende, fast Instinkt zu nennende Anpassung zeigen 
die Weibchen bei ihrem weiteren Lebenslauf im menschlichen Körper. Sie 
wenden sich nämlich, von ganz wenigen Ausnahmefällen abgesehen, regel¬ 
mäßig zu denjenigen Körperstellen, an denen sie die meisten Chancen haben, 
beim Durchbrechen der Haut ihre Embryonen ins Wasser zu entleeren, also 
hauptsächlich nach den Beinen, sodann zu den Armen. Ihr Zug zum Wasser 
zeigt sich aber besonders anschaulich, wie bei einem Experiment, bei indi¬ 
schen Wasserträgern, welche Wassersäcke schräg über dem Rücken tragen; 
bei ihnen brachen die Würmer mit Vorliebe im Rücken durch. 

Das klinische Bild der Dracontiasis ist hiernach das folgende: An einer 
der genannten Prädilektionsstellen des Wurmes, von dem vordem nichts 
bemerkt wurde (Ausnahme s. u.), bildet sich eine kleine, erhabene, gerötete 
Pustel, die nach einigen Tagen platzt, so daß ein Geschwür von 2—3 cm 
Durchmesser sich bildet, in dessen Mitte sich ein kleines Loch befindet, in 
dem mitunter, aber nicht immer, der Kopf des Wurmes erscheint. Aus dem 
Loch entleert sich bei Befeuchtung mit kaltem Wasser ein milchig-heller 
Tropfen, der massenhaft Embryonen enthält, und mitunter wird auch die 
von Manson näher beschriebene Ausstülpung (des Uterus oder des Ösophagus) 
sichtbar, aus der direkt die Embryonen hervortreten. In dieser Weise ent¬ 
leert der Wurm unter dem Reiz des kalten Wassers sukzessive die Em¬ 
bryonen, die er enthält, und kann dann, wenn keine Behandlung eintritt 
und die Wunde nicht sekundär infiziert wird, nach Entleerung aller Em¬ 
bryonen ausgestoßen oder resorbiert werden. 

Wegen der großen Gefahr sekundärer Infektion hat man aber schon 
von altersher Versuche gemacht, die lästigen Parasiten zu entfernen. In der 
oben bereits erwähnten Zeichnung (Blanchard) ist die Methode dargestellt 
Man klemmte den hervortretenden Wurmkopf in ein Hölzchen und wickelte 
den Wurm sehr allmählich, indem man höchstens 1—2 Umdrehungen am 
Tage machte, heraus, sehr allmählich, weil sonst der Wurm zerriß, seinen 
Leibesinhalt in das Gewebe ergoß und so zur Ursache sehr gefährlicher 
Abszesse wurde, die mehrfach tödlich endeten. 

Die Methode ist lang dauernd, gefährlich und vermindert die Gefahr 
der Sekundärinfektion nicht wesentlich. Mehrere Autoren haben daher ab¬ 
kürzende Verfahren vorgeschlagen. Cantafora empfiehlt, das Kopfende ab¬ 
zuschneiden, % Pravazspritze einer 3°/ 0 igen Karbolsäurelösung in den Wurm 
selbst und mehrere solcher Spritzen in die Umgebung zu injizieren und dann 
den Wurm wieder mit Seide zuzubinden. Mit mehrfacher Wiederholung dieses 
Eingriffes will er den Parasiten in 4 Tagen entfernt haben. 

Noch kürzer, in 24 Stunden, kommt Emily zum Ziel, indem er eine 
l%o*g e Sublimatlösung direkt in den Wurm injiziert, wenn er sichtbar ist, 
sonst in die Umgebung, möglichst nahe den Windungen. Der Wurm soll 
dann leicht zu extrahieren sein oder wie aseptisches Catgut resorbiert 
werden. 

Die Eosinophilie des Blutes ist nach Renaud und Bormand sehr aus¬ 
genommen und beträgt II—13%. 


Digitized by ^.ooQle 



Filarien. 


167 


Über eine eigenartige Komplikation in der Filarienkrankheit bei Filaria 
medinenais berichten Bartet und neuerdings wieder Comm£l£ran. Sie sahen 
eigenartige, urtikariaartige Ausschläge bei Eingeborenen in Dahomey und in 
Mauretanien auftreten, für die sich zunächst keine Erklärung fand, während 
die Eingeborenen selbst in Mauretanien die Krankheit als Meurreu bezeichnen 
und sie auf Filarien beziehen. In den beobachteten Fällen hat sich denn 
auch kurze Zeit nach dem Verschwinden der Exantheme der Wurm bemerk¬ 
bar gemacht. 

Die Erkrankung geht mit hohem Fieber, Schwindel und Frostgefühl, 
Injektion der Konjunktiva und schwerer Prostration einher, gleichzeitig er¬ 
scheint ein urtikariaartiger, mitunter papulöser Hautausschlag. Der ganze 
Anfall ist in 1—2 Tagen wieder vorüber und soll lebhaft an das Krank¬ 
heitsbild einer Vergiftung mit Mytilitoxin (giftige Muscheln) erinnern. Irgend¬ 
welche Komplikationen treten nicht auf, in einem Falle vereiterte aber 
der einige Tage darauf erscheinende Wurm vor seinem Durchbruch durch 
die Haut. 

Comm£leran ist geneigt, als Ursache des Leidens eine Störung in der 
Evolution des Wurmes anzunehmen, und zwar entweder einen vorzeitigen 
Tod oder vorzeitige Entleerung von Mikrofilarien in die Gewebe selbst. 

Für die Bekämpfung der Krankheit kommen hauptsächlich prophylak¬ 
tische Maßnahmen gegen Neuinfektionen in Betracht. 

Von einer ganzen Anzahl von Autoren wird für die kritischen Zeiten 
der Infektionsmöglichkeit empfohlen, nur den Genuß filtrierten Trinkwassers 
zu gestatten oder die Brunnen zuzudecken, beziehungsweise bis zu einer 
gewissen Höhe zu ummauern, um die Infektion der Cyclopiden durch Träger 
der Infektion, die mit nackten Beinen in das Wasser hineintreten, zu ver¬ 
hindern. 

Eine derartige Form der Prophylaxe hat nach Äußerung von Schilling 
in Togo bereits zu guten Ergebnissen geführt, wo gute Brunnen angelegt 
und die Eingeborenen gehindert wurden, aus ihren Badeplätzen Trinkwasser 
zu schöpfen. 

Gleichzeitig spricht dafür die Beobachtung von Harford, daß an den 
Ufern des Niger, wo die Eingeborenen ihr Trinkwasser stets aus dem 
strömenden Fluß entnehmen, Erkrankungen an Filaria medinensis seiten 
seien. 

Literatur Uber Filaria medinensis. Auch hier wird bezüglich der älteren Lite¬ 
ratur auf Loosr, Menses Handbuch der TropenkrankheiteD, verwiesen. — Bartet, Au sujet 
de TUrticaire d’origine filarienne. Arch. de m6d. Navale, 1907, Nr. 12. — A. Billet, Eosino¬ 
philie dans un caa de Filariose sous cutanöe de Mödine. Compt. rend. de la Soc. de Biol., 
Paris 1906* 891. — Comm£l£ban, Le Meurreu de Tidjikdja. Urticaire d’origine filarienne. Ann. 
d’hyg. et de med. colon. Paris 1907. — N. Coppola , Deila Filaria medinenBis nella colonia 
Eritrea etc. Gioro. med. d. r. escrito. Roma 1906, 92—96. — Gauchkb, Filaire de Mgdine. 
Jonrn. de mal. cut. et syph., Paris 1905, 356. — Graham, Guinea-worm and its hört. Brit. 
med. jonrn., 1905. — Robert T. Lbipeb , The influence of acid on Guinea-worm larvae en- 
eysted in Cystops. Brit. med. jonrn , 1906, I, 6; The etiology and prophylazis of Dracontiasis. 
Brit. med. journ., 1907, I, 19. — Q. Reyniüd et J. Bonnahd, Un cas grave de Filaire de 
M6dine & Marseille. Caduc6e. Paris 1906, 279. — Renä Roübaud, Contribution ä l’ätude de 
la Filaire de Mädine. Paris 1906, 72. — Talairach, Epidemie de filariose observ^e ä Tom- 
boncton. Annal. d’hyg. et de m6d. colon. Paris 1907, 377. — Vortisch, Erfahrungen über 
einige spezif. Krankheiten an der GoldkUste. Arch. f. Trop., 1906, pag. 537. 


Filaria magalhaesi (R. Blancharu, 1895). 

In der linken Herzkammer wurde von J. P. Figuf.ira de Saboia in Rio 
de Janeiro bei der Sektion eines Kindes eine erwachsene Filaria entdeckt, 
die P. F. de Magalhaes beschrieb. 

Bei dieser Filarie, deren Embryonen unbekannt sind, über deren patho¬ 
logische Bedeutung wir nichts wissen und die wahrscheinlich nur gelegent- 

Digitized by V^iOO^lC 



168 


Filarien. 


licher Parasit des Menschen ist, kann nur das als sicher gelten, daß es sich 
am eine sichere gute Art handelt. Das geht aas der Gestalt des Hinter¬ 
endes des Männchens hervor, welches 4 Paar praanaler and 4 Paar post¬ 
analer Papillen trägt, die eigentümlich zottig gestaltet sind. 

Im übrigen wird hinsichtlich dieser and der folgenden Filarien auf die 
Lehrbücher der Zoologie verwiesen. 

Außer den beschriebenen Filarien spielen in der älteren Literatur be¬ 
sonders im Auge oder dessen Schutzorganen vorkommende Filarien eine 
Rolle. Von diesen ist die Filaria conjunctivae (Addario, 1885) eine nur ge¬ 
legentlich beim Menschen beobachtete Filarie der Pferde und Esel, während 
die früher hochberühmte Filaria lentis (Diesing, 1851) in einzelnen der be¬ 
schriebenen Fälle wahrscheinlich zu Filaria loa oder zu Filaria medinensis, 
nach Manson auch zu Filaria Dömarquayi zu stellen ist, und eine Mehrzahl 
der aus dem Glaskörper beschriebenen Würmer vielleicht auf diagnostischen 
Irrtümern, Verwechslung mit einer Arteria hyaloidea persistans beruht. Was 
dann noch übrig bleibt, gehört vermutlich ebenfalls zu den Tierfilarien und 
ist vor allen Dingen so mangelhaft beschrieben, daß eine Kritik unmög¬ 
lich ist. 

Von Tierfilarien ist beim Menschen in einigen Fällen der erwachsene 
Wurm von Filaria equina in Bronchialdrüsen gefunden worden. 

Erwachsene Filarien sind dann noch unter dem Namen Filaria kilimarae 
von Kolb 1898 beschrieben worden. Hier handelt es sich zweifellos am eine 
ganze Anzahl verschiedener menschlicher und tierischer Arten. Eine Filaria 
restiformis (Leidy, 1880) benannte Filarie wurde in der Urethra eines Mannes 
in Westvirginien gefunden, eine Filaria hominis oris (Leidy, 1850) im Monde 
eines Kindes, eine Filaria labialis (Pane, 1864) in einer Pustel an der Innen¬ 
fläche der Oberlippe, schließlich hat Chlodkowsky noch eine anbenannte Art 
in panaritienartigen Fingergeschwülsten gesehen. Von Sarcani (1888) ist im 
Blute einer Rumänin eine 1 mm lange Filarie, ein Muttertier mit Eiern, 
gefunden worden, die er Filaria romanorum orientalis nannte. Für den 
Embryo einer unbekannten Filarienart wurde die von Prout 1902 be¬ 
schriebene Filaria (Microfilaria) gigas von dem Autor gehalten; es handelte 
sich um 0*34 mm lange, 8—12 (jl breite Würmchen, die sich mit Anilinfarben 
so stark färbten, daß eine Differenzierung unmöglich war. Nach einer An¬ 
gabe von Low (Brit. med. journ., 1905, pag. 1329) ist durch Untersuchungen 
von Gray festgestellt, daß es sich um zufällig auf die Präparate geratene 
Insektenhaare gehandelt hat. 

Über eine von Powell im Blute eines Mohammedaners in Bombay ge¬ 
fundene gescheidete Mikrofilarie mit stumpfem Schwanz, Filaria Powelli 
(Penel, 1905), ist Genaueres nicht weiter bekannt geworden. 


Erklärungen zu den Tafeln I—VIII. 


Tafel I. 


Fig. 1. 

Kopfende einer Filaria 
großerung 84 : 1. 

Loa 

9 - 

Yer- 

•7 

r — • 

Kopfende einer Filaria 
großerung 25:1. 

Loa 

9 - 

Ver- 

- 3. 

Kopfende einer Filaria 
größerung 25 : 1. 

Loa 

d. 

Ver- 

. *■ 

Kopfende einer Filaria 
großerung 84 : 1. 

Loa 

( 3 . 

Ver- 


Fig. 5. Hinterende einer Filaria Loa (5. Ver¬ 
größerung 25 : 1. 

„ 6. Hinterende einer Filaria Loa cJ. Ver¬ 
größerung 84:1. 

(Beide 8picula aus der Genitalöflhung 
hervortretend.) 

! „ 7. Hinterende einer Filaria Loa (5. 

! (Darstellung der Analpapillen.) 

| „ 8. Hinterende einer Filaria Loa Q. Yer* 

| großerung 25 :1. 

- 9. Filaria Loa in situ. Natürliche GröBe. 


Digitized by 


Google 













Digitized by 



Knrt/rJöpäd i schr Jahrbücher. X. F 



Digitized by 







Digitized by 





Digitized by 


Googl 




Tafel JJ. % Zum Artikel „Filarien 


Enci/clopädische Jahrbücher. N. F. VIII. 



Digitized by 

Verlag von Urban Jt Schwarzenberg, Berlin und Wit*u 



■ 

















Digitized by 



Digitized by 








Digitized by ^.ooQle 



Filarien 


Encyclopädische Jahrbücher. N. F. VJJI. 


i«/« m. s.um Artikel 







Digitized by 








Digitized by 


Googl 



lajel V . Zum Artikel „Filarien“. 


Kncyclopädische Jahrbücher. N. f. VIII . 










Digitized by ^.ooQle 






Digitized by 




Zum Artikel „Filarien“ 


rbücher. N. F. VIII. 


•rlag vm Frban A'Sili\var;:eubt*r{?, TU? Hin Und Wien 


Digitized by 






Digitized by 


Google 





Tafel V . Zum Artikel „Filarien 


Encyclopüdische Jahrbücher. N. F. VIII. 


1 . 





Wrlag tod Urban & Schwarzenberg, Kerl in und \\ ien. 


Digitized by 


Google 




Digitized by ^.ooQle 




Verlag von Urban & Schwarzenberg, Berlin und Wien 





Digitized by 










Digitized by 



Tafel 17 //. Zum Artikel „Filarien“. 


Enci/clopädische Jahrbücher. N. F. VIII. 



Verla# von Urban A Schwarzenberg. Merlin uml Wirn. 


Digitized by ^.ooQle 



Digitized by ^.ooQle 







Digitized by ^.ooQle 









Digitized by 





Digitized by 


Googl 


Filarien, 


169 


Tafel II. 

Fig. 1. Kopfende einer Filaria Bancrofti Q. Vergrößerung 25:1. 

• 2. Kopfende einer Filaria Bancrofti Q. Vergrößerung 84 : 1. 

„ 3. Kopfende einer Filaria Bancrofti Q . Vergrößerung 84 : 1. 

„ 4. Körpermitte von Filaria Bancrofti Q. Vergrößerung 84:1. 

(Die von Eiern erfüllten Uteri; in den Eiern die fertigen Embryonen.) 

5. Hinterende einer Filaria Bancrofti Q. Vergrößerung 84 : 1. 

„ 6. Kopfende einer Filaria volvulus Q. Vergrößerung 102:1. 

„ 7. Kopfende einer Filaria volvulus. Vergrößerung 102 :1. 

„ 8. Hinterende einer Filaria volvulus (J. Vergrößerung 102:1. 

Tafel III. 

Fig. 1. Schnitt durch einen Filaria volvulus-Tumor. 

*2. „ „ „ „ „ Vergrößerung 100:1. 

(Rechts unten ein Durchschnitt eines erwachsenen Wurmes; im Gewebe zahlreiche Embryonen.) 
„ 3. Schnitt durch einen Filaria volvulus-Tumor. 

(Erweichungsherde und Höhlenbildung.) 
r 4. Mittelstück einer Filaria volvulus cJ. Vergrößerung 102:1. 

(Ringelung.) 

„ 5. Mittelstück einer Filaria volvulus Q. Vergrößerung 102:1. 

(Tonnenreifenstruktur.) 

» 6. Ei von Filaria volvulus mit den charakteristischen Anhängen. Vergrößerung 500:1. 

„ 7. Embryo von Filaria volvulus. Vergrößerung 255*5:1. 

. 8. . , B „ 500:1. 

Tafel IV. 

Fig. 1- Microfilaria nocturna. Vergrößerung 250:1. 

(Dicker gewöhnlicher Ausstrich; Färbung Hämatoxylin; elegante, geschwungene Formen.) 
„ 2. Microfilaria diurna. Vergrößerung 255 : 1. 

(Wie oben; knittrige Körperlinie.) 

„ 3. Microfilaria nocturna. Vergrößerung 250 : 1. 

(Bei der Sektion angefertigter Ausstrich aus dem Lungenblut; sonst wie oben unter Fig. 1.) 

* 4. Microfilaria diurna. Vergrößerung 255 : 1. 

(Wie oben unter Fig. 2.) 

„ 5. Microfilaria nocturna. Vergrößerung 255 :1. 

(Wie oben unter Fig. 1 und 3.) 

„ 6. Microfilaria diurna. Vergrößerung 250: 1. 

(Dünner, langsam getrockneter Ausstrich; starke Retraktion des Wurmes in der Scheide.) 
„ 7. Microfilaria nocturna. Vergrößerung 246 : 1. 

(Vitalfarbung des Innenkörpers.) 

„ 8. Microfilaria diurna. Vergrößerung 250 : 1. 

(Innenkörper schwach sichtbar.) 

„ 9. Microfilaria nocturna. Vergrößerung 660:1. 

(Vitalfärbung des Innenkörpers.) 

„ 10. Microfilaria diurna. Vergrößerung 490 : 1. 

(Hämatoxvlinfärbnng des Innenkörpers.) 

Tafel V. 

Fig. 1. Microfilaria perstans (links) und Microfilaria diurna (rechts) gleich¬ 
zeitig im Blut nebeneinander. Vergrößerung 250:1. 

(Dicker, gewöhnlich getrockneter Ausstrich; Färbung mit Hämatoxylin. 

„ 2. Microfilaria perstans. Vergrößerung 255 : 1. 

(Hämatoxylinfarbung.) 

„ 3. Microfilaria Demarquayi. Vergrößerung 240:1. 

(Im Serum abgestorben, ungefärbt.) 

„ 4. Microfilaria perstans. Vergrößerung 250 :1. 

(Wie oben; Bewegungsform.) 

„ 5. Microfilaria Demarquayi. Vergrößerung 250:1. 

(Hämatoxylinfarbung.) 

„ 6. Microfilaria perstans. Vergrößerung 250:1. 
n 7. Microfilaria Demarquayi. Vergrößerung 280:1. 

(Dünner, langsam getrockneter [geschrumpfter] Ausstrich.) 

„ 8. Microfilaria perstans. Vergrößerung 240:1. 

(Im Serum abgestorben.) 

„ 9. Microfilaria Demarquayi. Vergrößerung 250:1. 

(Hämatoxylinfarbung.) 


Digitized by t^oooLe 



170 


Filarien. — Formamint 


Tafel VI. 

Fig. 1. Erwachsene Filaria Bancrofti in den Lymphgefäßen des Samenstranges eines Chinesen. 
„ 2. Desgleichen bei stärkerer Vergrößerung. 

„ 3. Microfilaria nocturna in einer Lungencapillare. 

n 4. Zahlreiche Mikrofilarien (F. immitis des Hundes) in einem größeren Longengefäß. 

„ 5. Microfilaria nocturna in einer Schlinge eines Nierenglomerulus. 

„ 6. Desgleichen. 


Tafel VII. 

Fig. 1. Mücke, im Moment des Saugens getötet und aus der Haut herausgezogen. Man sieht die 
Rüsselscheide am Stilettbündel in die Höhe geschoben und winkelig abgeknickt. 

„ 2. Mikromomentphotographie einer saugenden Mücke. Man sieht die abgeknickte Rüssel- 
scheide, davor (nach links) das feine Stilettbündel. 

„ 3. Schnitt durch eine saugende Mücke. Das Stilettbündel sitzt in der Haut, die Rüssel¬ 
scheide ist abgeknickt. 

„ 4 und 6. Filarien in Beinen der Mücke. 

„ 6 und 7. Filarien in der Tboraxmuskulatur der Mücke. Vergrößerung 200:1. 

„ 8. In der Mitte die mit Filarien vollgestopfte Rüsselscheide, rechts davon das herausgelegte 
Stilettbünde], an den Seiten die Palpen der Mücke, in der linken eine Filaria. 

„ 9. Die Spitze des Gteiligen Stilettbündels der Mücke. Vergrößerung 250: 1. 

„ 10. Spitze des Mückenrüssels mit Stilettbündel, a die Labellen (Lippchen); b das Züngelchen; 
c die Spitze des Stilettbündels. Vergrößerung 100:1. 

„11. Querschnitt durch einen Mückenrüssel. Das Stilettbündel ist nach oben hinausgedrängt, 
in der Rüsselscheide liegen Querschnitte der Filarien (a). 

„ 12. Eine Mikrofilaria wird in das Stilettbündel eingesogen. (Experiment unter dem Mikroskop.) 
Vergrößerung 250 :1. 

Tafel VIII. 

Fig. 1. Schema der Lymphgefäßtumoren und -erweiterungen im Bereich des Ductus tboracicus ; in die 
Tumoren sind Filarien eingezeichnet. Fvaricöse Leistendrüsen; S elephantiatisches Skrotum. 

„ 2. Schema des Aufsaugens von Mikrofilarien aus einer Capillare. 

„ 3. Schema des Verlustes der Scheide im Mückenmagen und Austritt der Mikrofilaria in 
die freie Leibeshöhle der Mücke. 

„ 4. Schema des Austrittes der Filarien aus der Rüsselscheide auf die Haut während des 
Stechaktes und Eindringen in dieselbe. 

„ 5. Microfilaria diurna (nach Manson); eine gescheidete Mikrofilaria mit knittrig gebogener 
Körperachse. 

„ 6. Microfilaria nocturna (nach Manson); eine gescheidete Mikrofilaria, deren Körperachse 
einen schön geschwungenen Bogen bildet. 

„ 7. Microfilaria perstans (nach Manson); relativ klein, ungescheidet, mit stumpfem Schwanz. 

„ 8. Microfilaria Dömarquayi (nach Manson); klein, ungescheidet, mit spitzem Schwanz. 

Fülleborn und Rodenwmldt . 


Formamint. Schon voriges Jahr ist von dem Auftreten einer Ur¬ 
tikaria nach dem Gebrauch von 6—8 Stück Formaminttabletten berichtet 
worden (siehe Eulenburgs Encyclopädische Jahrbücher, N. F. VII, 16-Jahrg., 
1909, pag. 245). Ich hatte der Besprechung dieses Falles hinzugeffigt, daß 
es sich dabei wohl um Idiosynkrasie gehandelt haben müsse. Eine ähnliche 
Erkrankung hat Glaser 1 ) an einem Patienten beobachtet, der nach Ein¬ 
nahme einer Formamintablette mehrere juckende Quaddeln auf der Brust bekam. 
Nach 3 Wochen entwickelte sich bei diesem Kranken nach der erneuten Auf¬ 
nahme von 2 Tabletten eine schwere Urtikaria, welche 8 Tage lang anhielt. 
Rosenberg 2 ), welcher das Mittel in die Praxis eingeführt hat, bemerkt da¬ 
zu, daß eben auch hier Idiosynkrasie Vorgelegen hat, da sonst ganz unver¬ 
gleichlich viel höhere Dosen vertragen werden und für gewöhnlich Form¬ 
amint auch bei größeren Gaben als die im GLASERschen Falle gebrauchten 
anstandslos bekommt. Mit Recht macht Rosexberg auf den Unterschied von 
Idiosynkrasie und Vergiftung aufmerksam. Es gibt eben Menschen, welche 
auf minimale Mengen von sonst allgemein als unschädlich bekannten Sub¬ 
stanzen abnorm reagieren, aber es kann dann nicht von Vergiftungen ge¬ 
sprochen werden. 


Digitized by 


Google 




For mainint. — Freudsche Theorie. 


171 


Im Anschluß hieran sei aaf eine Veröffentlichung von Flgissig s ) hin¬ 
gewiesen, welche sich mit der Verschreibungsweise des Formalins beschäf¬ 
tigt und auf die ungenauen Bezeichnungen, wie 2%ige Formalinlösung etc., 
aufmerksam macht. Unter Formaldehydum solutum versteht das Arzneibuch 
eine Lösung von 30°/ 0 Formaldehydgas in Wasser, während »Formalin« eine 
40%ige Formaldehydlösung darstellt. Dieses Formalin wird aber häufig als 
»40%ige Formalinlösung« bezeichnet, was irreföhrend wirkt. Flgissig hat 
außerdem eine Zusammenstellung von den veröffentlichten Formaldehydver¬ 
giftungen und eine solche von den Verschreibungsformen, Anwendungen etc. 
mit Angabe der Autoren und der Literatur gemacht. 

Literatur: *) Glaseb, Über einen Fall von Vergiftnng nach Formamintabletten. Med. 
Klinik, 1908, Nr. 25, pag. 953. - 1 - *) Rosrnberq, Vergiftung oder Idiosynkrasie mit beson¬ 
derer Berücksichtigung des Formamints. Med. Klinik, 1908, Nr. 28, pag. 1075. — *) Flbissio, 
Dosierung des Formaldehyd. Therap. Monatsh., Febrnar nud März 1909. E. Frey. 


Freudsche Theorie. Im Jahre 1893 veröffentlichten Brgugr 
und Freud im Neurologischen Zentralblatt eine Arbeit über den psychischen 
Mechanismus hysterischer Phänomene. Ebenso wie die traumatische Neurose, 
zwar nicht durch das Trauma selbst, wohl aber durch den Schreckaffekt, 
das psychische Trauma verursacht werde, so läge es für viele hysterische 
Symptome, denen ein psychisches Trauma zugrunde liege. Jedes Erlebnis, 
das die peinlichen Gefühle des Schreckens, der Angst, der Scham, des psy¬ 
chischen Schmerzes hervorruft, könne in dieser Weise wirken. Man dürfe 
aber das psychische Trauma nicht als Agent provocateur dieses Symptoms 
betrachten, vielmehr wirke es nach Art eines Fremdkörpers, der noch lange 
Zeit nach seinem Eintreten als gegenwärtig wirkendes Agens gelten müsse. 
Das psychische Trauma wirke aber nicht in allen Fällen so, sondern es sei 
Vorbedingung, daß auf das affizierende Ereignis, als es stattfand, nicht ener¬ 
gisch reagiert wurde. Hat eine solche Reaktion stattgefunden, so sei das 
Erlebnis nicht pathogen. Im anderen Falle aber würde der Affekt »einge¬ 
klemmt« und wirke nun wie ein Fremdkörper. Die Folgen, die daraus her¬ 
vorgehen, seien verschieden; bald sei der Zusammenhang zwischen dem ver¬ 
anlassenden Vorfall und dem Symptom ganz klar, z. B. wenn ein schmerz¬ 
licher Affekt, der während des Essens entsteht, aber unterdrückt wird, 
Übelkeit und Erbrechen erzeugt und dieses als hysterisches Erbrechen monate¬ 
lang andauert. In anderen Fällen bestehe nur eine symbolische Beziehung 
zwischen der Veranlassung und dem pathologischen Phänomen, z. B. wenn sich 
zum seelischen Schmerz eine Neuralgie gesellt. In anderen Fällen sei eine 
derartige Determination zunächst nicht dem Verständnis offen, z. B. bei typisch 
hysterischen Symptomen, bei Gesichtsfeldeinengung usw. 

Die beiden Autoren hatten ferner ihre Hypothese auch therapeutisch 
ausgenutzt oder vielmehr versucht, auf therapeutischen Erfolgen ihre Theorie 
aufzubauen. Sie behaupteten nämlich, daß, wenn es gelinge, den Vorgang, 
der die hysterischen Symptome veranlaßt habe, wieder zu voller Helligkeit 
zu erwecken, dadurch der eingeklemmte Affekt wachgerufen werde, der, als 
der Vorgang statlfand, nicht zum Ausbruch kam. Der Kranke müsse dann 
den Vorgang möglichst ausführlich schildern und dem Affekt Worte geben; 
damit würden sogleich und ohne Wiederkehr einzelne hysterische Symptome 
zum Verschwinden gebracht Um die Erinnerung an den Vorgang zu wecken, 
benutzten sie anfangs hauptsächlich die tiefe Hypnose, kamen aber später 
auch ohne solche zum Ziel. Die Methode, die auf solche Weise zur Heilung 
führte, bezeichneten sie als kathartische. 

Später behauptete Freud, daß er auch andere Neurosen, insbesondere 
Zwangsvorstellungen, auf diese Weise beeinflussen könne, und er übertrug 


immer mehr diese Anschauungen auf weitere Neurosen. Er änderte aber 


Digitized by 


Google 


172 


Freudsche Theorie. 


seine ursprüngliche Auffassung noch weiter. Hatten die beiden genannten 
Autoren ursprünglich die verschiedensten mit Affekten einhergehenden Vor¬ 
gänge ätiologisch in Betracht gezogen, so kam Freud zu der Meinung, daß 
es sich stets um sexuelle Vorgänge handelte. Freud hat dann 4 Neurosen, 
außer der Hysterie die Neurasthenie, die Angstneurose und die Zwangs¬ 
neurose auf irgend welche Btörung des gegenwärtigen oder früheren sexu¬ 
ellen Lebens zurückgeführt. Gr machte hierbei einen Unterschied, Je nachdem 
es sich um Erlebnisse in der Kinderzeit oder um solche nach deren Beendi¬ 
gung handelte. Die Reaktion auf sexuelle Erlebnisse der Kindheit soll Hysterie 
oder Zwangsneurose herbeiführen, während Neurasthenie oder Angstneurose 
späteren sexuellen Erlebnissen entstammten. Dabei hatte Freud zuerst an¬ 
genommen, daß in der Kindheitsgeschichte der Hysterischen sexuelle Ver¬ 
führungen durch Erwachsene oder durch ältere Kinder die Hauptrolle spielen. 
Später hat er seine Meinung dahin geändert, daß die Phantasien der Puber¬ 
tätszeit, die sich zwischen die infantilen Erlebnisse und das Erscheinen der 
hysterischen Symptome einschieben, schuld seien. Das gleiche sexuelle Er 
lebnis kann — dahin hat Freud wenigstens später seine Anschauungen 
modifiziert — bei dem einen Kinde zur Hysterie führen, bei dem anderen 
braucht das nicht der Fall zu sein. Eine bestimmte Disposition ist also, wie 
Freud Jetzt zugibt, notwendig; nur meint er, daß es eine bestimmte sexuelle 
Konstitution sei, die zur Hysterie führt. Zu den vier von Freud angenom¬ 
menen Neurosen bzw. Neuro-Psychosen sind in neuerer Zeit durch an¬ 
dere Autoren weitere hinzugekommen. So glaubt Abraham (Über die Bedeu¬ 
tung sexueller Jugendtraumen für die Symptomatologie der Dementia prae¬ 
cox , Zentralbl. f. Nervenheilk. u. Psych., 1. Juni 1907) in Symptomen der 
Dementia praecox den Ausdruck der infantilen Sexualität zu finden. Sadgbr 
glaubt ähnliches für die Homosexualität gefunden zu haben oder vielmehr, 
er bringt homosexuelle Erscheinungen in engen Zusammenhang mit der 
Hysterie. Er stellt als Tatsache hin, daß hinter Jedem hysterischen wie 
zwangsneurotischen Symptome nicht bloß die gewöhnlichen heterosexuellen, 
sondern ebenso regelmäßig auch die homosexuellen Wünsche, Phantasien etc. 
stecken (Fragment der Psychoanalyse eines Homosexuellen, Jahrbuch für 
sexuelle Zwischenstufen, Leipzig 1908, pag. 342). Ja Stekel scheint bereits 
die BASEDOwsche Krankheit auf eine ähnliche Entstehungsursache zurück¬ 
führen zu wollen (Nervöse Angstzustände, Berlin und Wien, 1908, pag. 18.) 

Wenn man nun fragt, wie die sexuellen Erlebnisse die Krankheit er¬ 
zeugen sollen, so lautet die Antwort: durch Verdrängung und Konversion. 
Um den Begriff der Verdrängung zu verstehen, wollen wir von unterbewußten 
Vorgängen ausgehen. Wenn man Jemand in der Hypnose suggeriert, er werde 
nach dem Erwachen einem Anwesenden die Zunge herausstrecken, so beob¬ 
achtet man sehr häufig, daß sich die erwachte Versuchsperson außerordent¬ 
lich unbehaglich fühlt. Man erkennt einen inneren Kampf. Bald will sie die 
Handlung ausfübren, bald kämpft sie dagegen an. Schließlich wird die Zunge 
herausgestreckt, und in diesem Augenblick tritt ein Gefühl der Erleichterung 
ein, wenn der Betreffende auch das Lächerliche der Handlung peinlich emp¬ 
findet. Man sieht hier, daß die im Unterbewußtsein schlummernde suggerierte 
Vorstellung für den Betreffenden unangenehme Folgen, eine nervöse Unruhe 
entstehen ließ. Es wurden diese Folgen durch die aus dem Oberbewußtsein 
ins Unterbewußtsein untergetauchte oder verdrängte Suggestion hervorge¬ 
rufen. Diese Verdrängung ist nicht mit Unterdrückung zu verwechseln; an¬ 
schaulich hat Stekel diesen Unterschied auseinandergesetzt. Die Vorstellung, 
die in das Unterbewußtsein verdrängt ist, ist Ja nicht ausgeschaltet. Die 
FREUDsche Schule behauptet weiter, daß derartige untergetauchte, verdrängte 
Vorstellungen auch zu Krankheitserscheinungen führen können. Dies gelte 
aber nur für die Vorstellungen, die von einem Affekt begleitet sind. Ein 


Digitized by 


Google 



Freudsche Theorie. 


173 


gleichgültiger Vorgang, z. B. das Heranterfallen und Aufheben eines Buches, 
ist unbedenklich. Er könnte nach einiger Zeit vielleicht auch wieder ins 
Oberbewußtsein zurücktreten; er hat aber als nicht affektiver Vorgang keine 
pathogene Bedeutung. Anders liege es bei affektiven. Wir wissen, daß ein 
Affekt körperliche Symptome hervorruft. Diese können qualitativ und quan¬ 
titativ individuell verschieden sein; es hängt dies sowohl davon ab, wie groß 
der Affekt ist, bzw. welcher Art er ist; ferner aber auch davon, wie groß 
die Widerstände gegen die Einwirkung auf den Körper sind. Bei dem einen 
kann der Zornaffekt mit einem leichten Ballen der Faust oder geringen Be¬ 
wegungen der Lippen abschließen. Bei einem anderen kann es zu schweren 
Wirkungen auf das Herz, auf die gesamte Muskulatur, zu krampfartigen 
Anfällen kommen. Ist nun ein Erlebnis von einem solchen Affekt begleitet 
und kommt der Affekt entsprechend der individuellen Konstitution vollstän¬ 
dig zum Ablauf, so soll er ebenfalls keine pathogene Bedeutung haben, 
wenigstens keine fortdauernde. Anders aber, wenn der Affekt künstlich be¬ 
kämpft wird und der ganze Vorgang ins Unterbewußtsein untertaucht. Der 
Affekt ist dann nicht unterdrückt, sondern verdrängt, und er führt, wie 
Freud behauptet, später zu schweren anderweitigen Schädigungen, insbeson¬ 
dere durch Konversion auch zu somatischen Symptomen. »Die von der 
affektiven Vorstellung ausgehende Erregung wird in ein körperliches Phä¬ 
nomen konvertiert« Auf diese Weise sollen die verschiedenen Symptome 
der genannten Krankheiten entstehen. 

Ich habe schon erwähnt, daß Breuer und Freud annahmen, sie könnten 
durch die kathartische Heilmethode hysterische Krankheitssymptome be¬ 
seitigen. Freud hat dann die kathartische Methode weiter zu der heute als 
Psychoanalyse bezeichneten entwickelt. Die Psychoanalyse soll einmal die 
ätiologischen Faktoren aufdecken, dann aber auch die Heilung bewirken. 
Unter Anwendung von allerlei Hilfsmitteln wird dem Patienten aufgegeben, 
sich zu erinnern, welches die Veranlassung zu seinen gegenwärtigen Be¬ 
schwerden sei. Er wird aufgefordert, nachzudenken, er muß sich konzen¬ 
trieren, er muß die Augen schließen; dann wird seine Stirn berührt, kurz 
und gut, es finden allerlei Kunstgriffe statt, das Erinnerungsvermögen zu 
steigern. In neuerer Zeit hat Freud auch hierbei wieder Modifikationen 
vorgenommen. Ursprünglich ging die Psychoanalyse von den Symptomen aus 
und setzte sich die Auflösung derselben der Reihe nach zum Ziel. Jetzt hat 
Freud diese Methode aufgegeben, und er läßt nun »den Kranken selbst das 
Thema der täglichen Arbeit bestimmen und geht also von der jeweiligen 
Oberfläche aus, welche das Unbewußte in ihm seiner Aufmerksamkeit ent¬ 
gegenbringt«. Eine Reihe anderer Autoren, z. B. Jung und Stekel, haben die 
Methode weiter ausgebildet, insbesondere glauben sie, durch reine Asso¬ 
ziationsexperimente die verdrängten Komplexe, d. h. den pathogenen Vor¬ 
gang, feststellen zu können. Eine ganz erhebliche Rolle spielen bei der 
Psychoanalyse die Träume, indem sie in vielen Fällen auf den richtigen Weg 
rückwärts gleitend führen sollen. Im Zusammenhang damit hat Freud auch 
eine besondere Traumtheorie aufgestellt, und zwar dahingehend, daß der 
Traum stets einen erfüllten Wunsch darstellt. Bald sei der Wunsch unver¬ 
hüllt, in manchen Fällen aber sei der Trauminhalt latent und werde erst 
durch die Deutungsarbeit hinter dem Traum erkannt. Die Analogie mit den 
durch Konversion erzeugten Krankheitssymptomen ist klar, da ja auch bei 
der Verdrängung und dem nicht abgelaufenen Affekt es sich oft genug um 
unerfüllte Wünsche handelt. 

Mit Recht haben Freuds Ausführungen Kritik und Bekämpfung er¬ 
fahren. Ganz besonders ist hierbei ein Punkt, auf den Freud das Haupt¬ 
gewicht legt, angegriffen worden: die Zurückführung der genannten Krank¬ 
heiten auf sexuelle Erlebnisse. Man muß den Kritikern schon darin bei- 


Digitized by 


Google 



174 


Freudsche Theorie. 


stimmen, daß es durchaus nicht gleichgültig ist, wenn bei jedem Patienten 
und besonders auch bei jedem jungen Mädchen von Anfang an auf sexuelle 
Vorgänge gefahndet wird. So harmlos, wie es Freud und ein Teil seiner 
Anhänger hinstellen, ist jedenfalls dieser Modus procedendi nicht. Auch wenn 
man die frühere Prüderie bekämpft, die womöglich schon die Erwähnung 
des Sexuellen im Sprechzimmer des Arztes, speziell des Nervenarztes, unter¬ 
ließ, und auch zugibt, daß Takt und Erfahrung hierbei eine große Rolle 
spielen, muß auf das Bedenkliche hingewiesen werden. Aber unabhängig 
davon wird man, wenn man die veröffentlichten Krankheitsgescbichten liest 
und unbefangen Freuds Deutungen prüft, nur zu dem Resultat kommen, 
daß Freud den sexuellen Vorgängen eine Bedeutung und eine Ausdehnung 
beimißt, die sie nicht haben. Das Symbolisieren spielt bei ihm eine Haupt¬ 
rolle. Er betrachtet die verschiedensten Vorgänge symbolisch und ist, offen¬ 
bar von einer vorher gefaßten Meinung ausgehend, daher sehr leicht geneigt, 
das Symbol sexuell zu deuten. Als Belag hierfür will ich nur einige Aus¬ 
führungen Freuds aus der zweiten Auflage seines Buches »Die Traumdeu¬ 
tung« (Wien 1908) erwähnen. Die Mehrzahl der Träume Erwachsener be- 
handelt nach seiner Ansicht sexuelles Material und bringt erotische Wünsche 
zum Ausdruck. Anstatt sich aber auf die wirklich erotischen Träume zu 
beschränken, die nur einen kleinen Teil des Traummateriales bilden, geht 
Freud so weit, in. ganz harmlosen Träumen erotische Wünsche zu sehen. 
Ein Beispiel. »Der Träumer erzählt: Zwischen zwei stattlichen Palästen steht 
etwas zurücktretend ein kleines Häuschen, dessen Tore geschlossen sind. 
Meine Frau führt mich das Stück der Straße bis zu dem Häuschen hin, 
drückt die Tür ein, und dann schlüpfe ich rasch und leicht in das 
Innere eines schräg aufsteigenden Hofes.« Diesen Traum deutend fährt 
Freud fort: 

»Wer einige Übung im Übersetzen von Träumen hat, wird allerdings 
sofort daran gemahnt werden, daß das Eindringen in enge Räume, das 
öffnen verschlossener Türen zur gebräuchlichsten sexuellen Symbolik gehört 
und wird mit Leichtigkeit in diesem Traum eine Darstellung eines Koitus¬ 
versuches von rückwärts (zwischen den beiden stattlichen Hinterbacken des 
weiblichen Körpers) finden. Der enge, schräg aufsteigende Gang ist natür¬ 
lich die Scheide; die der Frau des Träumers zugeschobene Hilfeleistung 
nötigt zur Deutung, daß in Wirklichkeit nur die Rücksicht auf die Ehefrau 
die Abhaltung von einem solchen Versuche besorgt, und eine Erkundigung 
ergibt, daß am Traumtag ein junges Mädchen in den Haushalt des Träumers 
eingetreten ist, welches sein Wohlgefallen erregt und ihm den Eindruck ge¬ 
macht hat, als würde es sich gegen eine derartige Annäherung nicht zu 
sehr sträuben. Das kleine Haus zwischen den zwei Palästen ist von einer 
Reminiszenz an den Hradschin in Prag hergenommen und weist somit auf 
das nämliche aus dieser Stadt stammende Mädchen hin.« Ähnlich deutet 
Freud folgenden Traum: »In ihrem Sommeraufenthalt am See stürzt sie sich 
ins dunkle Wasser, dort, wo sich der blasse Mond im Wasser spiegelt.« 
Freud sagt über diesen Traum: 

»Träume dieser Art sind Geburtsträume; zu ihrer Deutung gelangt 
man, wenn man die im manifesten Traum mitgeteilte Tatsache umkehrt, 
also anstatt: sich ins Wasser stürzen, aus dem Wasser herauskommen, d. b.: 
geboren werden. Die Lokalität, aus der man geboren wird, erkennt man, 
wenn man an den mutwilligen Sinn von »la lune« im Französischen denkt. 
Der blasse Mond ist dann der weiße Popo, aus dem das Kind hergekommen 
zu sein bald errät. Was soll es nun heißen, daß die Patientin sich wünscht, 
in ihrem Sommeraufenthalt »geboren zu werden?« Ich befrage die Träumerin, 
die ohne Zögern antwortet: »Bin ich nicht durch die Kur wie neugeboren? 
So wird dieser Traum zur Einladung, die Behandlung an jenem Sommer- 


Digitized by 


Google 



Freudsche Theorie. 


175 


orte festzusetzen, d. h. sie dort za besuchen; er enthält vielleicht aach eine 
ganz schüchterne Andeutung des Wunsches, selbst Mutter zu werden.« 

Man fragt sich verwundert: Wie ist es möglich, in solcher Weise zu 
symbolisieren! Jeder dieser Träume und fast alle Träume, deren Analyse 
Freud veröffentlicht hat, und hei deren Analyse er sie sexuell deutet, können 
mit genau demselben Recht in anderer Weise gedeutet werden. Die beiden 
eben genannten Träume können mit derselben Deutungsart 
auf eine Sondierung der Speiseröhre und des Magens zurück¬ 
geführt werden und vielleicht noch mit größerem Recht, als 
auf einen sexuellen Wunsch, auf die Verabreichung eines Kli¬ 
stiers. Dieselbe willkürliche Deutung wie für die Träume zeigt sioh bei 
Freud auch anderwärts. Er hat in seiner Arbeit (Drei Abhandlungen 
zur Sexualtheorie, Leipzig und Wien 1905) die sexuellen Vorgänge 
beim Kinde besprochen. Ebenso wie bei der Traumdeutung behauptet 
er hier von allerlei Vorgängen, daß sie sexuell sind, ohne irgend einen Be¬ 
weis dafür zu bringen. Das Ludeln der Kinder, d. h. Saugbewegungen, sollen 
sexuelle Erscheinungen sein, die Lippen, die Finger seien erogene Zonen. Mit 
gleichem Recht kann man jede Bewegung sexuell deuten. Wenn man das 
tut, ist es natürlich sehr leicht, bei späteren Krankheiten zu behaupten, daß 
sexuelle Vorgänge in der Kindheit stattgefunden haben und vielleicht mit 
der Krankheit in irgendwelchem ursächlichen Zusammenhang stehen. 

Nun sagen Freud und einige seiner Anhänger weiter, daß ja bei der 
Psychoanalyse die Patienten selbst sexuelle Vorgänge angeben. Man ver¬ 
gesse doch aber nicht die große Bedeutung der Fremdsuggestion und der 
Autosuggestion. Sowohl aus den theoretischen Ausführungen der Autoren 
wie aus ihren Krankheitsgeschichten geht vielfach hervor, daß sie die 
Psychoanalyse auf das sexuelle Gebiet beziehen und dadurch dem Kranken 
psychoanalytisch sexuelle Äußerungen in den Mund legen: es wird der Kranke 
durch die Psychoanalyse auf sexuelle Vorgänge hingeleitet, während er 
spontan kaum je dazu gekommen wäre. So erklärt es sich, daß ichz.B. bei einer 
Patientin mit Zwangsvorstellungen, bei der ich solche psychoanalytische 
Versuche machte, durch einige wenige Fragen Störungen der Magen- und 
Darmfunktion als angebliche Ursache ihrer Zwangsneurose fand, während 
Freud wahrscheinlich sexuelle Vorgänge gefunden hätte. 

Zur Stütze seiner Theorie behauptet nun Freud, ähnlich wie er es 
schon früher mit Breuer zusammen getan hat, daß die therapeutischen Er¬ 
gebnisse der beste Beweis für die Richtigkeit seiner Theorien seien. Wenn 
durch die Psychoanalyse das ins Unterbewußtsein verdrängte sexuelle Er¬ 
lebnis der Kindheit oder auch der späteren Zeit wieder oberbewußt wird, 
soll daraus eine dauernde Heilung bei den verschiedensten Krankheiten er¬ 
folgen. Aber er unterschätzt auch hierbei die Bedeutung der Suggestion 
und anderer psychischer Momente. Ein großer Teil der Fälle von Beseitigung 
der Krankheitssymptome ist jedenfalls viel ungezwungener durch die Sug¬ 
gestion erklärbar. Das Vertrauen der Kranken zum Arzt, der Umstand, daß 
die Behandlung viel Zeit und Geduld in Anspruch nimmt, wirken so mächtig 
auf den Kranken ein, daß man noch lange nicht das Recht hat, in dem 
Heilerfolg eine Stütze für die Richtigkeit der Theorie, besonders auch der 
sexuellen Grundlage der verschiedensten Krankheiten zu sehen. Übrigens 
hat ein Anhänger Freuds, Bleuler, die Meinung ausgesprochen, daß die 
therapeutische Seite gerade die schwächere Seite von Freuds Theorie bilde. 

Aus alledem geht nun nicht etwa hervor, daß die FREUDschen Arbeiten 
für die Wissenschaft und auch für die Therapie bedeutungslos sind und nicht 
einen dauernden Wert haben könnten. Nur wird der Wert im günstigsten 
Falle nach ganz anderer Richtung gehen, als Freud annimmt. Daß die 
Verallgemeinerung der sexuellen Grundlage von verschiedenen Neurosen 


Digitized by 


Google 



176 


Freudsche Theorie. — Fürsorgeerziehung. 


dauernd akzeptiert werden wird, halte ich für ausgeschlossen, auch wenn 
man die in neuerer Zeit gegebene Einschränkung berücksichtigt, daß bei¬ 
spielsweise für die Hysterie nicht das sexuelle Erlebnis an sich das Patho¬ 
gene sei, sondern die Reaktion auf dieses Erlebnis. Man darf überhaupt 
nicht vergessen, daß eine Krankheit oft ein Dutzend und mehr Ursachen 
hat, und wenn auch die eine oder die andere davon in vielen Fällen bei 
weitem die wichtigste ist, so darf man doch nicht, wie es Freud tut, einen 
Faktor beliebig herausgreifen. Es soll nicht geleugnet werden, daß mit¬ 
unter für eine spätere Neurose sexuelle Erlebnisse der Kindheit oder des 
späteren Lebens eine Rolle spielen. Aber in der Allgemeinheit, wie es Freud 
annimmt, ist das sicherlich nicht richtig. Andrerseits aber ist es durchaus 
möglich, daß durch diese Forschungen die Bedeutung des Unbewußten oder 
vielmehr des Unterbewußten — eine deutliche Scheidung zwischen diesen 
beiden Begriffen habe ich bei Freud nirgends gefunden, vielmehr bei ihm 
wie bei seinen Schülern eine auffällige Verwechslung dieser Begriffe fest¬ 
gestellt — weit mehr erkannt und erforscht werden wird, als es bisher ge¬ 
schehen ist. Daß Kindheitsvorgänge, die später nicht mehr oberbewußt sind, 
eine große Bedeutung für das ganze Leben gewinnen können, ist wohl 
sicher. Die Interessen und Neigungen können durch Kindheitserlebnisse er¬ 
heblich stärker beeinflußt werden, als man gewöhnlich annimmt. Möglich ist 
es auch, daß KindheitsVorgänge mitunter eine pathogene Bedeutung für die 
spätere Zukunft gewinnen. Noch wahrscheinlicher ist es allerdings, daß auch 
Erlebnisse des späteren Lebens, wenn sie wieder in das Unterbewußte unter¬ 
getaucht sind, noch eine erhebliche Nachwirkung ausüben können. Zweifel¬ 
haft erscheint es schon, ob es sich dabei in der Allgemeinheit, wie es 
Freud annimmt, nur um solche affektiv betonte Vorgänge handelt, bei denen 
der Affekt im Moment des Erlebnisses nicht genügend zum Ausbruch ge¬ 
kommen ist. Jedenfalls könnte in dieser Beziehung durch die Psychoanalyse 
vielleicht manches erforscht werden. Freuds Arbeiten würden dann aller¬ 
dings befruchtend gewirkt haben wenn auch nach anderer Richtung. Ob 
das aber überhaupt der Fall sein wird, wird erst die Zukunft lehren, 
zumal da dann die gegenwärtige Strömung, daß die Psychoanalyse möglichst 
auf sexuelle Vorgänge bezogen werden muß, in den Hintergrund gedrängt 
sein wird. 

Für die Literatur vgl. außer den bereits erwähnten Arbeiten besonders: Fskud, 
Sammlung kleiner Schriften zur Neurosenlehre aus den Jahren 1908 bis 1906. Wien 1906, 
2. Folge, Wien 1909. Ferner Jahrbuch für psychoanalytische und psychopathologuche For- 
schnugen, redigiert von Jung, I, 1. Hälfte, Wien 1909. Albert Moll. 

Fürsorgeerziehung. Das preußische Fürsorge-Erziehungsgesets 
ist datiert vom 3. Juli 1900, es ist seit dem 1. April 1901 in Kraft. Durch 
dasselbe wurden die Bestimmungen über die Zwangserziehung und die Unter¬ 
bringung verwahrloster Kinder vom 13. März 1878 abgelöst (cfr. näheres bei 
Cramer *). 

Der große Unterschied des FEG. gegen ältere Bestimmungen war 
der Gedanke, daß nicht nur gegen die straffällige Jugend als solche etwas 
geschehen muß, sondern daß Vorkehrmaßregeln getroffen werden mußten. 
Die Notwendigkeit dieses Eingreifens wurde nahegelegt durch die starke Zu¬ 
nahme der kindlichen Kriminalität: es wurden im Jahre 1892 30.697 und 
im Jahre 1897 45.327 Jugendliche wegen Vergehen gegen die Reichsgesetze 
abgeurteilt. Daß die Steigerung um 50% in 15 Jahren weit über die rela¬ 
tive Zunahme entsprechend dem Wachstum der Bevölkerung des Reiches 
hinausgeht, bedarf keiner weiteren Erläuterung: die Einwohnerzahl des 

* Cramer, Gerichtliche Psychiatrie. 3. Aufl., Jena 1908, und Bericht über Fürsorge¬ 
zöglinge etc. Klin. Jahrbuch, 1907. 


Digitized by ^.ooQle 



F ürsorgeerziehung. 


177 


Deutschen Reiches war in der gleichen Zeit von 50 Millionen anf 55 Millionen 
gestiegen. Die alten Zwangserziehnngsgesetze trafen Vorkehr nur für die 
Jugend, welche sich strafbarer Handlungen schon direkt schuldig gemacht 
hatte: es war daher vor allem der Gedanke des neuen Gesetzes, ein pro¬ 
phylaktisches Gesetz zu sein. Der ursprüngliche Entwurf trägt diesem Ge¬ 
sichtspunkte noch viel besser Rechnung als die schließiiche Gestaltung des 
Gesetzes; hier ist die Durchführung des prophylaktischen Gedankens schon 
eingeschränkt. Und noch weiter hat gerade diese Notwendigkeit und die vor 
allem wichtige Seite des Gesetzes durch eine Kammergerichtsentscheidung 
eine Umänderung erfahren (s. u.). Immerhin ist das Gesetz als ein prophylak¬ 
tisches Gesetz gedacht in der durchaus richtigen Erkenntnis, daß nur eine 
frühzeitige Fürsorge für die verwahrloste Jugend und eine rechtzeitige Ent¬ 
ziehung der Kinder und eine Herausnahme aus den oft elenden und verrohen¬ 
den Milieuverbältnissen Nutzen schafft, daß aber eine Fürsorge für die be¬ 
reits straffällig gewordene und dann oft auch schon weitgehend verkommene 
Jugend nur wenig Aussicht auf dauernden Erfolg hat: in der Tat kommt 
die Fürsorge für den letzteren Teil der Zöglinge auch im wesentlichen auf 
eine mehrjährige Internierung ohne weiteren Erfolg hinaus. 

Praktisch und theoretisch müssen wir daher einen Gedanken in erster 
Linie festhalten, den der prophylaktischen Aufgaben und Ziele des Ge¬ 
setzes. 

Die Fürsorgeerziehung ist eine richterliche Maßnahme; das Inkrafttreten 
der Fürsorgeerziehung setzt also ein gerichtliches Verfahren voraus. 

In einem gewissen Konnex mit den Bestimmungen des FEG. steht 
der auf vormundschaftsrichterliche Anordnung in Kraft tretende § 1666 BGB. 
Derselbe heißt: 

»Wird das geistige oder leibliche Wohl des Kindes dadurch gefährdet, 
daß der Vater das Recht der Sorge für die Person des Kindes mißbraucht, 
das Kind vernachlässigt oder sich eines ehrlosen oder unsittlichen Verhaltens 
schuldig macht, so hat das Vormundschaftsgericht die zur Abwendung der 
Gefahr erforderlichen Maßnahmen zu treffen. Das Vormundschaftsgericht kann 
insbesondere anordnen, daß das Kind zum Zwecke der Erziehung in einer 
geeigneten Familie oder in einer Erziehungsanstalt oder in einer Besserungs¬ 
anstalt untergebracht wird. 

Hat der Vater das Recht des Kindes auf Gewährung des Unterhalts 
verletzt und ist für die Zukunft eine erhebliche Gefährdung des Unterhaltes 
zu besorgen, so kann dem Vater auch die Vermögensverwaltung sowie Nutz¬ 
nießung entzogen werden.« 

Der wesentliche technisch-rechtliche Unterschied zwischen diesen Be¬ 
stimmungen und denen der Fürsorge-Erziehungsgesetzgebung liegt darin, daß 
der § 1666 BGB. ausschließlich sich auf Wahrnehmung der Rechte des Kindes 
bezieht, daß es sich hier um die Sorge für das Kind handelt. Der § 1666 
BGB. schützt ausschließlich das Recht des Kindes auf Erziehung. So heißt 
ea im Vorentwurf zum BGB.: »Im BGB. sollen besonders gesetzliche Be¬ 
stimmungen vorgesehen werden, wonach das Vormundschaftsgericht unter 
gesetzlich näher zu bestimmenden Voraussetzungen, wenn und insoweit das 
Interesse des Kindes es erfordert, berechtigt und verpflichtet sein soll, von 
Amts wegen die elterliche Gewalt zu beschränken und äußerstenfalls, jedoch 
unter Vorbehalt der elterlichen Nutznießung gänzlich zu beseitigen.« Der 
Eingriff in die Elternrechte hat also nur den Schutz des Rechtes des Kindes 
auf Erziehung zur Bedingung. Außerordentlich klar sind diese Gesichtspunkte 
in einer Arbeit von Polligkeit *, auf welche ich hiermit ausdrücklich ver¬ 
weise, auseinandergesetzt. 


* Dr. Polligkeit, Das Recht des Kindes auf Erziehung. Jahrb. der Fürsorge, II. Bd., 
Dresden 1907. 


Encyclop. Jahrbücher. N. P. VIII. (XVII.) 


Digitized by 


Göt)gle 



178 


Fürsorgeerziehung. 


Der Zweck des FEG. ist dagegen die Bekämpfung der jugendlichen 
Kriminalität und die hieraus fließende Fürsorge für die verwahrloste und 
verwahrlosende Jugend: hier steht also der Schutz der Allgemeinheit im 
Vordergrund der Erwägung. Praktisch ist dies natürlich nicht zu trennen 
von der Verpflichtung, diesen Schutz so durchzuführen, daß er den davon 
unmittelbar betroffenen Jugendlichen selbst zum Nutzen und Segen ge¬ 
reicht. 

Der § 1 des FEG. bestimmt, daß unter Fürsorgeerziehung gestellt 
werden können einmal (Abs. 1) solche Kinder, welche durch die häuslichen 
Verhältnisse Gefahr laufen, zu verwahrlosen, 2. solche (Abs. 2), welche eine 
Straftat begangen haben, und schließlich solche (Abs. 3), bei welchen die 
häuslichen Erziehungsmittel und diejenigen der Schule sich als unzulänglich 
erweisen. Es ist schon hieraus klar, ein wie sozial außerordentlich ver¬ 
schiedenartig geartetes Menschenmaterial unter den Försorgezöglingen zu¬ 
sammenkommt. 

Das, was hier im folgenden besprochen werden soll, ist vor allem die 
Frage, in welcher Weise der Arzt — und es kommt hierfür namentlich der 
Psychiater in Betracht — bei der Fürsorge-Erziehungsgesetzgebung mit- 
wirken kann, weiche Fragestellungen sich hierfür ergeben. Leider hat der 
Gesetzentwurf selbst der Mitarbeit des Arztes gar keine Rechnung getragen, 
weder bei der Einleitung noch bei der Ausübung des Gesetzes. Die amtliche 
Zahl spricht allerdings von etwa 91% minder wertigen Elementen unter den 
Zöglingen. Nun ist von vornherein klar, daß der soziale Konflikt und hier 
ganz besonders wieder der bei jugendlichen Individuen zutage tretende, ein¬ 
fach Ausdruck einer geistig abnormen Veranlagung sein kann. Auch der 
normale Mensch erwirbt sich die sozialen Eigenschaften seiner Person erst 
im Laufe der Zeit, das kindliche Denken ist bekanntlich von höheren ethi¬ 
schen Motiven ziemlich frei und absolut egozentrisch (vgl. hierzu vor allem 
Chamer), also mit einem Wort unsozial. Es ist die Aufgabe der Erziehung 
und der Ausdruck einer sich harmonisch konsolidierenden Geistesentfaltung, 
daß allmählich die höheren Regungen des Altruismus und des sozialen Ge¬ 
fühls ihren Einzug in das psychische Vermögen halten und dessen unver¬ 
äußerlicher Bestand werden. Geburt und Erziehung müssen hier das Rich¬ 
tige beisteuern. Nun sind gar viele Kinder, besonders aus den dunklen 
Vierteln der großen Städte, die Innzuchtprodukte des Landes, nach der einen 
oder anderen oder nach beiden Seiten schwer von vornherein geschädigt 
Der soziale Konflikt ist dann nur ein Ausdruck dieses unzureichenden oder 
in eine falsche Bahn geleiteten geistigen Vermögens: es kann ein passagerer 
Zustand der Entwicklung oder der Ausdruck einer endogenen, dauernd 
minderwertigen Veranlagung oder auch das Symptom einer schweren be¬ 
ginnenden Erkrankung sein. Jedenfalls haben die sachkundigen Erhebungen 
von seiten von Anstaltsärzten, von Psychiatern und gutachtlich tätigen 
Ärzten recht deutlich gezeigt, daß unter den Fürsorgezöglingen mit ganz 
anderen Zahlen von geistiger Abnormität gerechnet werden muß als nach 
der amtlichen Zahl dieses zutreffend erscheint. 

Es wäre ohne weiteres anzunehmen, daß unter den Minderjährigen, 
auf welche der Abs. 2 oder 3 § 1 FEG. Anwendung findet, eine größere Zahl 
von psychopathischen Individuen sich befindet, die Erfahrungen, welche 
(Laquer, Kluge, Tippel, Neisser) hierüber bislang gesammelt sind, übertreffen 
weit die vor dem Inkrafttreten des Gesetzes gehegten Erwartungen. 

Es gehört jedenfalls zu den hervortretendsten Ergebnissen des Für¬ 
sorge-Erziehungsgesetzes die Tatsache, daß eine relativ große Zahl jugend¬ 
lich Minderwertiger und Psychopathen ans Licht gezogen, daß sie Gegen¬ 
stand besonderer Aufmerksamkeit wird und Gelegenheit bietet, sich ihrer 
mit besonderen Maßnahmen anzunehmen. 


Digitized by ^.ooQle 



F ürsorgeerziehung. 


179 


Nach den Ermittlungen von Tippel ergaben sich unter 163 im Laufe 
von 4 Jahren zugeführten Fürsorgezöglingen 6 = 3*68% als ausgesprochen 
geisteskrank, dagegen 109 = 66*87% als geistig minderwertig. Es handelt 
sich um weibliche Zöglinge. Ähnliche Erfahrungen liegen von anderer Seite 
vor: Skelig, Neisser: Anstaltszöglinge; Laquer, Klumker: Fürsorge und Ein¬ 
leitung des Verfahrens. Es ergibt sich überall die Tatsache, daß der Prozent¬ 
satz von geistig Minderwertigen ein relativ recht hoher, jedenfalls viel größer 
ist, als der amtlichen Zahl entspricht. Ein Einblick kann ja natürlich nur 
gewonnen werden durch eine sachkundige Beurteilung, sie allein kann auch 
dazu führen, durch eine der Natur der Zöglinge gerecht werdende Versor¬ 
gung und Behandlung den sozialen Nutzen des Gesetzes zu realisieren. Es 
handelt sich ja nicht allein um eine pädagogische Maßnahme, nicht um eine 
Detention und Unschädlichmachung für die Zeit der Wirkung des Gesetzes 
im einzelnen Fall, sondern um eine Fürsorge im weiteren Sinne, um die Er¬ 
ziehung von Individuen, die später wieder ins Leben zurückkehren sollen, 
und zwar gerade in den Jahren ihres Werdens und ihrer Kraft, es handelt 
sich um Prophylaxe der Kriminalität, um eine Aufgabe von kulturellem Wert. 
Bei dem Gros psychopathischer Individuen kann von einer wirklich kausalen 
Therapie der Psychiater unmöglich ausgeschlossen werden. 

Erwägt man die Zahlen, mit denen bei der Ausübung der Fürsorge 
erziehung überhaupt zu rechnen ist, so begreift sich der gewaltige Umfang 
der Aufgabe, der aus der Sorge für die geistig Defekten unter ihnen er¬ 
wächst. 

Über eine genauere Kenntnis dieser Tatsachen verfügen wir jetzt, 
nachdem Cramer 286 Fürsorgezöglinge auf ihre Geistesbeschaffenheit ein¬ 
gehend geprüft hat; Cramer hat die wichtigen Ergebnisse seiner Unter¬ 
suchungen in dem »Bericht an das Landesdirektorium Hannover über die 
Ergebnisse der psychiatrisch* neurologischen Untersuchung der Fürsorgezög- 
linge in dem Stephansstift bei Hannover, im Magdalenenheim bei Hannover 
im Frauenheim bei Himmelsthür und im Calandshof bei Rosenburg« nieder¬ 
gelegt. Er kommt zu dem Resultat, daß 63% minderwertig und leicht 
minderwertig, 37% normal waren. Ähnliche Zahlen fand Rizor, der über 
700 westfälische Zöglinge untersuchte. 

Betrachtet man diese Zahlen, welche als einwandfreie Ergebnisse der 
Beobachtung gelten können, so erscheint der vielfach geäußerte Wunsch 
nach einer direkten und gesetzlichen Beteiligung des psychiatrisch ge¬ 
bildeten Arztes bei der Wirkungsweise des Fürsorge-Erziehungsgesetzes be¬ 
rechtigt. 

Dies gilt besonders, wenn wir neben der Zahl die Art der Erkrankungen, 
die in Frage kommen können, ins Auge fassen. Es sind ja gerade haupt¬ 
sächlich nicht solche Formen, die auch der Laie ohne weiteres zu erkennen 
vermag, sondern häufig Fälle, die an der Grenze geistiger Gesundheit und 
Krankheit stehen, die ohne nähere sachkundige Nachforschung nicht zu er¬ 
kennen sind. Die Offensichtigkeit der Affektion ist aber kein Gradmesser für 
die Schwere der Erkrankung. 

Daß die jugendliche Kriminalität (und deren Bekämpfung ist eine der 
Hauptaufgaben des Gesetzes) sich zum großen Teil aus psychopathischen 
Elementen rekrutiert, ist eine Erfahrung, die älter als das Fürsorge-Er 
ziehungsgesetz ist. 

über diesen Gegenstand ist gerade von psychiatrischer Seite schon 
viel gehandelt, neben den Untersuchungen von Ganser, Sioli und anderen 
ist hier vor allem der Arbeit von Cramer zu gedenken, die die Aufgaben 
und Schwierigkeiten der Judikatur auch hinsichtlich der in unser Gebiet 
fallenden Formen unter psychiatrischen Gesichtspunkten übersichtlich er¬ 
örtert. 


Digitized by 


Gddgle 



180 


Fürsorgeerziehung« 


Einen genauen Einblick in die Art des psychiatrischen Krankenmate¬ 
rials eröffnen neuerdings die interessanten Mitteilungen von Seblig, einem 
der wenigen Ärzte, der seit längerer Zeit schon über dauernde Fühlung mit 
der praktischen Handhabung der Fürsorgeerziehung verfügt und eingehende 
Untersuchungen an zahlreichen Zöglingen unternommen hat. Danach gibt es 
unter den Zöglingen zahlreiche Imbecille, Epileptiker, Psychopathen und De¬ 
generierte in den verschiedensten Abstufungen. Eine besondere Beachtung 
verlangen die daraus resultierenden affektiven Schwankungen und impul¬ 
siven Handlungen. Besonders macht Seglig, dies scheint uns hervorragend 
der Beachtung wert, auf die in das Gebiet der Hysterie fallenden Zustände 
aufmerksam. Zahlreiche andere vorkommende nervöse Erkrankungen weisen 
nachdrücklich auf die neuropathische Konstitution hin. 

Die meisten jugendlichen Psychopathen dieser Art hatten Anfälle teils 
ausgesprochen epileptischer, teils hysterischer Natur. 23 zeigten keine Anfälle 
mehr, hatten aber in der Kindheit solche durchgemacht. Sie zeigten Äqui¬ 
valente optischer und akustischer Art. Zweierlei ist interessant: erstens daß 
es sich auch bei diesen Krankheitsbildern größtenteils um larvierte, unklare 
Fälle handelt, deren Erkenntnis und Würdigung nur dem Psychiater mög¬ 
lich ist, ferner daß eine große Zahl dieser Kranken in der Anstalt ein Si- 
stieren oder Nachlassen der Anfälle zeigte. Bratz bemerkt richtig: »Als Grund 
dafür ist anzunehmen, daß die Art der Verwahrung in der Anstalt mehr dem 
Wesen dieser Kranken gerecht wird und daß das Gehirn draußen mehr an¬ 
gegriffen wird.« 

Für die Beurteilung der psychischen Qualität der Zöglinge ist beson¬ 
ders auch auf eine Würdigung der familiären und persönlichen Anamnese zu 
verweisen. Diese hat eine nahe Übereinstimmung mit den anamnestischen 
Verhältnissen, denen man zu begegnen gewohnt ist bei Geisteskranken und 
Psychopathen. Die prädisponierenden Momente sind also reichlich vorhanden. 

Aus der gleichen Anstalt Lichtenberg stammen auch Mönkemöllers 
grundlegende Untersuchungen, sie umfassen allerdings ein in seiner Zusam¬ 
mensetzung mit den Fürsorgezöglingen nicht gleichwertiges Material. Das 
Material der früheren Zwangszöglinge bildet einen Teil der Fürsorgezöglinge 
von heute, und zwar vornehmlich den kriminellen und psychopathischen Teil 
letzterer, mit dem er seiner Herkunft nach ziemlich identisch ist. Mönkb- 
möller fand unter 200 8—2ljährigen Zöglingen in bezug auf ihren Geistes¬ 
zustand folgende Zusammensetzung: 68 angeboren Schwachsinnige, 24 Epi¬ 
leptiker, 4 an traumatischen Psychosen, 7 an Hysterie, 5 an Paranoia 
Leidende. Besonders beachtenswert ist die Tatsache, daß die Epileptiker fast 
ausnahmslos Fälle der larvierten Epilepsie ohne ausgesprochene Krämpfe 
waren, daß 10 dieser Fälle intellektuell und ethisch zur Zeit der Unter¬ 
suchung nicht auffallend unter der Norm standen. Unter den Hysterischen 
ragten die virtuosen Lügner besonders hervor. In zahlreichen Fällen be¬ 
standen schwere Belastungsmomente, namentlich durch Alkoholismus der 
Eltern, durch uneheliche Geburt, Prostitution von Mutter oder Schwester, 
frühzeitigen Kampf ums Dasein. Mönkemöllbr betont unter den psychiatri¬ 
schen Bildern das Überwiegen der Misch- und Grenzzustände. Eine große 
Zahl der 200 Fälle bot körperliche Anomalien, teils in Form angeborener 
Defekte (Degenerationszeichen und andere Mißbildungen), teils in Form 
zahlreicher Krankheiten (letztere betrugen 25 Fälle). Es blieben 83 vom 
psychiatrischen Standpunkt als »normal« bezeichnete, unter denen aber eine 
Menge zweifelhafter Fälle inbegriffen sind. 

Von anderem Standpunkte aus haben Kluge und Bratz ihre Beob¬ 
achtungen sammeln können; es handelt sich hier um ausgesprochen als 
geisteskrank oder psychopathisch bereits erkannte Zöglinge, welche Anstalten 
für Epileptische etc. zugeführt waren. Bratz hat 55 Fälle beobachtet. 


Digitized by 


Google 



Fürsorgeerziehung. 


181 


Unter den zahlreichen Arbeiten in der Literatur, die eine mittelbare 
Beziehung zur Materie der Fürsorgeerziehung haben, sei hier noch au! eine 
von besonderer Bedeutung eingegangen. Der hauptsächlichste Wert der Für¬ 
sorgeerziehung Hegt in ihrem präventiven Charakter, darin, daß sie Menschen, 
die frühzeitig in irgend einer Form zu verkommen drohen, durch rein er¬ 
ziehliche Maßnahmen au! Grund früher Erkenntnis ihrer psychischen Qualität 
und dementsprechender Versorgung vor dem Verkommen bewahrt. Durch 
diese prophylaktische Arbeit wird mancher sicherlich dem Staat, der Gesell¬ 
schaft und sich selbst erhalten, der ohne diese rasch von den Wogen des 
Lebens verschlungen wird. Gerade die Minderwertigen fallen in großer Zahl 
dem Kampf ums Dasein zur Beute, bei ihnen entwickelt sich aus dem früh¬ 
zeitigen Hang zur unsozialen Tat später der virtuose Gesetzesbrecher oder 
der Landstreicher und Vagabund oft recht schlimmer Sorte. Deutlich 
zeigen die interessanten Erhebungen Bonhoeffers, in welchen Situationen 
wir später dem Gros der Minderwertigen begegnen. In diesen Untersuchungen 
ist eine der besten und einwandfreiesten Begründungen für die Notwendig¬ 
keit einer sachgemäßen Handhabung der Fürsorgeerziehung gegeben, die 
nach verschiedener Richtung den einzuschlagenden Weg festlegt, hauptsäch¬ 
lich in doppelter Beziehung: einmal durch den exakten Nachweis der psy¬ 
chischen Minderwertigkeit der Untersuchten; zweitens ergibt die Unter¬ 
suchung Bonhoeffers die Notwendigkeit, will man zu einem klaren Urteil 
über den Erfolg der Fürsorgeerziehung gelangen, daß e9 notwendig ist, das 
weitere Schicksal der entlassenen Zöglinge, besonders auch der Minder¬ 
wertigen, tunlichst zu verfolgen. Dies hier nur zur Würdigung der grund¬ 
legenden Arbeit, auf beide Punkte komme ich weiter unten näher zu sprechen. 
Bonhof.ffer hat an 404 Inhaftierten (Bettlern und Obdachlosen) seine Er¬ 
hebungen angestellt. Etwa die Hälfte war vor dem 25. Lebensjahr kriminell 
geworden. Diese (182) Individuen zeigten nach ihrer psychischen Qualität 
folgende Zusammensetzung: nur 20% ergaben psychisch keine Anomalien, 
38% zeigten erworbene psychische Krankheitszustände (vor allem Alko¬ 
holismus), die übrigen 47% betrafen Individuen mit angeboren geistigen 
Defekten (31% Schwachsinnige, 16% Epileptiker). Im ganzen hatten aber 
55% das Pensum der Volksschule nicht absolviert. Unter den nach dem 
25. Jahr kriminell Gewordenen fanden sich 16% Schwachsinn, 9% Epilepsie. 
Aus dieser interessanten Behandlung des Stoffes (durch die erwähnte 
Gruppenteilung) zeigt sich zugleich, daß die angeborenen geistigen Minder¬ 
wertigkeiten parallel gehen einer frühzeitigen Kriminalität, letztere ist am 
größten zwischen dem 17. und 20. Jahr oder mit anderen Worten, die In¬ 
dividuen versagen sozial in der Zeit, in welcher sie in das Erwerbsleben 
eintreten sollen. Eine erziehliche Einwirkung auf diese Individuen ist aber 
nur von Nutzen in jugendlichen Jahren. Dies, wie die Ergebnisse des Schick¬ 
sals der sich selbst überlassenen Menschen solcher Art, lehrt wohl besser 
als alle Worte die Bedeutung und zeigt zugleich das psychiatrisch päda¬ 
gogische Ziel der Fürsorgeerziehung. 

Die Mitwirkung bei der Anwendung der Fürsorgeerziehung würde dem 
Arzt ein großes Gebiet, an den sozialen Aufgaben des Staates mitzuwirken, 
eröffnen und seine Mitwirkung würde auch zu einer vollkommeneren und dem 
Grundgedanken des Gesetzes mehr entsprechenden Entfaltung der Wirk¬ 
samkeit desselben dienen können. 

Die Fürsorgeerziehung hat aber nicht allein ein soziales und psy¬ 
chiatrisches, sondern auch ein verwaltungstecbnisches Interesse. Auch hierin 
scheinen sich seit dem Inkrafttreten des Gesetzes eine Reihe von Momenten 
ergeben zu haben, welche — soll gerade die Wohltat des Gesetzes und sein 
großartiger Gedanke den Beteiligten und dem staatlichen Gemeinwesen zu¬ 
gute kommen, einer weiteren Klärung bedürfen. 


Digitized by ^.ooQle 



182 


Fürsorgeerziehung, 


Nach einer Entscheidung des Kammergerichtes ist die Fürsorgeerzie¬ 
hung als eine subsidiäre Maßregel zu betrachten, welche wegen ihrer in das 
Elternrecht tief einschneidenden Bedeutung erst dann zu verhängen sei, 
wenn auf dem Wege der Armenverwaltung keine anderweitige Hilfe be¬ 
schafft werden kann. Der Festsetzung der Fürsorgeerziehung wird also im 
einzelnen Fall dadurch ein wesentlicher Riegel vorgeschoben, die Handhabung 
derselben im ganzen erheblich eingeschränkt. Das Resultat ist aber nicht 
selten das, daß der auf Grund der erwähnten Kammergerichtsentscheidung 
der Fürsorgeentziehung Entgangene eine weitere Pflege etc. überhaupt 
nicht findet, sondern der Gefahr weiterer Verwahrlosung anheimfällt. Denn 
praktisch fallen keineswegs alle Fälle, welche auf Grund jener Entscheidung 
nicht zur Fürsorgeerziehung gelangen, ohne weiteres der Versorgung durch 
die Armenverbände anheim. Denn nach dem Wortlaut des Gesetzes vom 4. Juli 
1891 sind die Armenverbände zur »Bewahrung, Unterbringung und Pflege« der 
ihnen zur Last fallenden Kranken verpflichtet, nicht aber auch dazu, aufzu¬ 
kommen, wenn es sich um besondere Maßnahmen des Unterrichtes und der 
Erziehung handelt. So kann ein Fall auf Grund der einen Entscheidung der 
Fürsorgeerziehung, auf Grund des Wortlautes des anderen Gesetzes der 
Versorgung durch die Armenverbände entzogen werden und das praktische 
Resultat ist wohl der weitere Verbleib in der Freiheit, der nicht selten 
später dazu führt, wenn der Minderjährige einen viel höheren Grad von Ver¬ 
wahrlosung erreicht hat, daß er doch noch zur Fürsorgeerziehung kommt. 
Dann aber kommt der Fall zu spät in die rechten Hände und gerade der 
Zweck des Gesetzes, prophylaktisch zu wirken, ist verfehlt. 

Die erwähnte Einschränkung der Fürsorgeerziehung ist um so schwerer, 
als das Gesetz vom 11. Juli 1891, wie sehr maßgebende Beurteiler ver¬ 
sichern (cfr. Moeli in der Diskussion zu Laquers Vortrag in Jena 1903), 
nicht oft genug zur Anwendung gelangt. Auch wegen der Kostenfrage haben 
die Armen verbände kein Interesse daran, sich zur Versorgung der Fälle, 
welche für Fürsorge in Frage kommen, zu drängen (nach dem Gesetz vom 11. Juli 
1891 muß bekanntlich der Armenverband allein, nach dem Fürsorgeerzie¬ 
hungsgesetz der Staat mit einem Drittel, die Provinz mit zwei Dritteln für 
die Kosten der Unterhaltung etc. aufkommen). Es entstehen also gelegent¬ 
lich Streitfragen der Kompetenz und ähnliche Differenzen, deren Folge eine 
Verminderung der Wirksamkeit des Gesetzes ist. 

Die Verminderung dieser Wirksamkeit entsteht besonders auch daraus, 
daß das Kammergericht, wie es scheint, sich auf den Standpunkt stellt, daß 
die Tatsache der Verwahrlosung, und zwar der bereits bestehenden Ver¬ 
wahrlosung Voraussetzung ist für die Einleitung der Fürsorgeerziehung. Die 
juristische Seite dieser Angelegenheit steht hier nicht zur Erörterang, in 
praktischer Hinsicht ist sie jedenfalls nicht zu begrüßen. Zu welch eigen¬ 
artigen Konsequenzen das Festhalten an diesem Standpunkt führen kann, 
zeigt eine Mitteilung im Jahresbericht 1905 des Pestalozzi-Vereines in Frank¬ 
furt a. M. Der Verein klagte hier, daß er durch eine Entscheidung des Kammer¬ 
gerichtes vom 22. März 1902 in seiner Tätigkeit sehr beeinträchtigt werde. 
Der Verein nimmt sich der Fürsorge der Kinder schon seit langem an und 
hat früher, solange das Gesetz über die Zwangserziehung vom 13. März 1878, 
welches durch das Fürsorgeerziehungsgesetz bekanntlich aufgehoben ist, noch 
galt, sich der zur Zwangserziehung vorgeschlagenen Kinder angenommen, 
solange das Verfahren noch schwebte. Dies ist sehr dankenswert, da natur¬ 
gemäß das Verfahren oft lange Zeit beansprucht, bis es zum Abschlüsse 
kommt, auch bei der Fürsorgeerziehung. Der Verein konnte vorübergehend 
dasselbe bei den Kindern, über welchen die Entscheidung betreffend Fürsorge¬ 
erziehung schwebt, nicht tun. Denn die erwähnte Entscheidung besagt, daß 
der Zustand der Verwahrlosung zur Zeit der Entscheidung über die 


Digitized by 


Google 



F ürsorgeerziehung. 


183 


Unterbringung der Minderjährigen bestehen müsse, die Fürsorgeerziehung 
kann also demnach nicht verhängt werden, wenn der Pestalozziverein sich 
(temporär!) der Kinder bereits angenommen habe, da in diesem Fall zur 
Zeit der Entscheidung der Zustand der Verwahrlosung dann ja nicht 
mehr besteht. Die Unterbringung durch den Pestalozziverein ist aber nur 
als eine vorübergehende gedacht, da der Verein weder Mittel noch Rechte 
hat, die Kinder dauernd zu verwahren. 

Diese Einengung der prophylaktischen Wirksamkeit des Gesetzes ist auch 
zu beklagen, da das Fürsorgeerziehungsgesetz einen viel mehr präventiven 
Charakter trägt, als das durch dasselbe aufgehobene Gesetz der Zwangs¬ 
erziehung, es stellt insofern gerade hierin einen Fortschritt dar, der nicht 
in anderer Weise wieder vermindert werden darf. Ähnliche Differenzen er¬ 
geben sich auch anderwärts (cfr. Fuld für Hessen, wo aber das »Gesetz, be¬ 
treffend die Zwangserziehung Minderjähriger« doch mehr präventiven Cha¬ 
rakter zu tragen scheint, als nach der Auslegung des Kammergerichtes das 
preußische Fürsorgeerziehungsgesetz). 

Der zurückhaltende Standpunkt des Kammergerichtes, abgesehen von 
rechtswissenschaftlichen Gründen, die sich hier der Erörterung entziehen, 
erklärt sich wohl zum Teil aus der Erwägung, daß die Ausübung der Fürsorge¬ 
erziehung sozial für den Betroffenen Folgen haben kann, insofern, als die Tat¬ 
sache dem Betroffenen später wie eine Art von Makel anklebt. Es ist zu hoffen, 
daß die weitere Fassung des Gesetzes und eine sachgemäßere Handhabung der 
Praxis bzw. eine bessere Struktur vieler Anstalten hier mithilft, das unge¬ 
rechte Urteil der Öffentlichkeit dauernd zu beeinflussen. Freilich müssen 
Vorkommnisse, wie die in der BLOHMSchen Wildnis in Mielcyn u. a., unmöglich 
werden. Klumker hat vor kurzem im »Kultur-Parlament« beachtenswerte 
Vorschläge für eine Reorganisation der Fürsorgeerziehung gemacht. Auch 
darf hier erwähnt werden, daß in Frankfurt a. M. Bestrebungen zur Unter¬ 
bringung und Beobachtung der Zöglinge von seiten der Zentrale für pri¬ 
vate Fürsorge (siehe unten) sowie die Vorbereitungen zur Gründung einer 
Reform-Fürsorgeerziehungsanstalt im Gange sind. 

Die Bezeichnung des preußischen Gesetzes vom 3. Juli 1900 als Für¬ 
sorgeerziehungsgesetz ist zu begrüßen, sie ist vor allem für den, der 
unter das Gesetz fällt, weniger hart als die alte Bezeichnung »Zwangs¬ 
erziehung«. Leider haben einzelne Bundesstaaten (z. B. Hessen, s. o., ferner 
Lübeck) den alten Ausdruck beibehalten. Solche Dinge sind im öffentlichen 
Leben und für das öffentliche Urteil aber von der größten Bedeutung. 

Betrachten wir nun die praktischen Beziehungen des Psychiaters zur 
Fürsorgeerziehungsgesetzgebung näher, so ergibt sich die Frage, wo, wie 
und wann erscheint es notwendig, die Mithilfe des Psychiaters bei der Wir¬ 
kungsweise des Gesetzes in Anspruch zu nehmen. Diese Mithilfe muß eine 
mehrfache sein, sie kommt bei der Einleitung, der Ausübung und der Auf¬ 
hebung der Fürsorgeerziehung in Betracht. 

Bei der Einleitung des Verfahrens ist die Mitwirkung des psychiatrisch 
gebildeten Arztes ebenso wie die des Pädagogen erforderlich, um auf Grund 
einer rechtzeitigen Erkenntnis der psychischen, physischen und sozialen Per¬ 
sönlichkeit des Minderjährigen eine planmäßige Unterbringung desselben 
zu gewährleisten. Die Mitwirkung der Ärzte bei ähnlichen Institutionen, wie 
sie das Fürsorge-Erziehungsgesetz bezweckt, nämlich bei Einrichtungen der 
privaten Fürsorge für Kinder und Schwachsinnige, gestattet hier schon ein 
gewisses Urteil abzugeben, so daß eine gleiche Einrichtung zum Zwecke 
der Einleitung der Fürsorgeerziehung sich schon auf gewisse Erfahrungen 
stützen kann. 

In Frankfurt a. M. hat die Kinderschutzabteilung der bekannten Zen¬ 
trale für private Fürsorge schon seit Jahren ärztliche Hilfe bei der Lösung 


Digitized by 


Google 



184 


Fürsorgeerziehung. 


der Frage nach der Versorgung der Rinder in Anspruch genommen. Zur¬ 
zeit geht dem Verfasser dort eine große Zahl der zu versorgenden Rinder 
durch die Hand und es ist auf diesem Wege möglich, bestimmte Direktiven 
für die Frage der Versorgung zu geben: es handelt sich hier freilich nicht 
nur um Fürsorgeerziehungsfälle ; wohl aber zeigt die Einrichtung, daß der 
Arzt bei der Frage sehr wohl mitberaten kann. 

Wie schon erwähnt, handelt es sich bei den abnormen Geisteszuständen 
der für die Fürsorgeerziehung in Betracht kommenden Minderjährigen viel¬ 
fach um Fälle, deren Erkennung und Beurteilung dem Laien oft schwierig, 
ja unmöglich ist. Der ärztliche Beirat würde also imstande sein, schon für 
die Begründung der Fürsorgeerziehung Material zu beschaffen, indem er, 
abgesehen von der Untersuchung des Falles, auch der Anamnese und anderen 
Punkten nachgeht, als es die Behörde tut und tun kann. Allerdings ist es 
manchmal schwierig, in einer einmaligen Untersuchung der Beantwortung der 
sich ergebenden Fragen gerecht zu werden, da die Hauptbedeutung der ärzt¬ 
lichen Mitwirkung bei der Einleitung der Fürsorgeerziehung weniger in dem 
Beitrag des Arztes allein zu deren Begründung (diese Frage liegt im Schwer¬ 
punkt auch auf sozialem und juristischem Gebiete), als vielmehr in der 
Frage nach einer planmäßigen Versorgung des Zöglings zu suchen ist 
Es ist deshalb (wiederum in Frankfurt a. M.) der Versuch schon praktisch 
erprobt worden, die zur Fürsorge in Aussicht genommenen Minderjährigen 
für einige Zeit einer Beobachtung vom ärztlichen und pädagogischen Stand¬ 
punkte zu unterziehen. 

Bekanntlich besitzt Frankfurt a.M. eine derartige Anstalt in der »Be¬ 
obachtungsstation für Jugendliche«, welche von dem Direktor der städtischen 
Irrenanstalt Prof. Sioli eingerichtet und geleitet ist. Die Beobachtungsstation 
ist an die genannte Anstalt angegliedert. Die Anstalt trägt ärztlicher und 
pädagogischer Betätigung Rechnung. Eine ähnliche Einrichtung ist, soviel ich 
weiß, in Gießen geplant. 

Eine derartige Einrichtung müßte, wenn erst ihre Verbindung mit den 
Faktoren, welche die Entscheidung über die gesetzliche Fürsorgeerziehung 
haben, auch praktisch hergestellt sein wird, als eine ideale bezeichnet wer¬ 
den. Der Verwirklichung derartiger Ideen in bezug zur Handhabung der ge¬ 
setzlichen Fürsorgeerziehung stehen aber einstweilen die größten Hindernisse 
in gesetzgeberischer, administrativer und pekuniärer Hinsicht im Wege. 

Außerdem richtete die genannte Frankfurter Fürsorgezentrale vom 
Mai 1909 an eine ihr gehörige (und zugleich als Arbeitslohnkolonie dienende) 
Anstalt zur Beobachtung und Unterbringung von Rindern ein, gegen welche 
der Beschluß zur vorläufigen Unterbringung auf Fürsorgeerziehung ergangen 
ist; die schweren psychopathischen Elemente können hiervon durch das Vor¬ 
handensein der genannten Jugendlichenabteilung bei der Irrenanstalt von 
vornherein abgesondert werden. Diese Anstalt ist die sog. Steinmühle bei 
Homburg v. d. H. Möglicherweise kommt in Frankfurt in absehbarer Zeit 
auch noch ein sogenanntes Detentin home nach amerikanischem Muster zu¬ 
stande. 

Die Grundzüge der Bestrebungen, die in psychiatrischer Hinsicht zu 
verfolgen sind, hat Laquer als erster verdienstlicherweise erörtert 

Solange indessen die ersten Schritte zur Einleitung des Verfahrens 
nicht unter einem ärztlichen Beirat stehen und das Gerichtsverfahren sich 
ärztlich beratenden Erwägungen bis zu seiner Vollendung, also bis zum 
Augenblick der Entscheidung der Fürsorgeerziehung völlig entzieht, kann 
der Arzt nur in der Weise der Sache dienen, daß von dem Augenblick der 
gerichtlich festgesetzten Fürsorge an, also hinsichtlich der Unterbringung 
der Rat des psychiatrischen Arztes in Anspruch genommen wird. Hier ist 
wohl unter den gegenwärtigen Verhältnissen der Moment, wo der Arzt zum 


Digitized by t^ooQle 



Fürsorgeerziehung. 


185 


erstenmal einen Einfluß auf die weitere Entscheidung über das Schicksal 
des Zdglings erstreben kann. 

Seelig, Bratz und Neisser haben neuerdings die Art dieser ärztlichen 
Funktion näher erörtert. Diese müßte zunächst darin bestehen, daß jeder 
Minderjährige, über den die Fürsorgeerziehung verhängt ist, einer ärztlichen 
Untersuchung unterzogen wird. Es wäre auch darauf Bedacht zu nehmen, 
daß das Ergebnis in einem amtlichen Personalbogen fixiert und so eine 
Grundlage für die späteren Möglichkeiten geschaffen wird. Dies setzt natür¬ 
lich voraus, daß an den zur Versorgung der Zöglinge bestimmten Anstalten 
psychiatrisch gebildete Ärzte mitwirken. Vielleicht ließe sich zunächst, um 
die Sache zu vereinfachen und rascher zu realisieren, ein Modus etwa der¬ 
art finden, daß alle Zöglinge zunächst durch solche Anstalten der Provinz 
hindurchgingen, an welchen ein psychiatrisch-ärztlicher Beirat schon besteht, 
oder mit Rücksicht auf die örtlichen Verhältnisse leicht zu beschaffen ist. 
Die Ergebnisse der hier stattgehabten ärztlichen Untersuchung und Beob¬ 
achtung müßten als mitbestimmend für die nun erfolgende planmäßige 
Unterbringung gelten. Der Aufenthalt in dieser Anstalt könnte nach ärzt¬ 
lichem Ermessen ja zeitlich für den einzelnen Fall festgesetzt werden, je 
nachdem ein Urteil über den psychischen Befund sich rasch gewinnen läßt 
oder nicht. 

Im Zusammenhang mit diesen Dingen betreffend die ärztliche Mitwir¬ 
kung bei Einleitung der Fürsorgeerziehung tauchen natürlich noch zahl¬ 
reiche andere Dinge auf, welche ihrer Verwirklichung harren. Es gehört da¬ 
hin das Bestreben, nach einer frühzeitigen Einleitung der Fürsorgeerziehung 
unter ärztlichem Beirat, nach Jugendgerichten auch für die Strafkammern 
überhaupt, nach einer Durcharbeitung der Gesichtspunkte, welche für De- 
tention und Erziehung Jugendlicher in Anstalten leitend sein müssen usw. 
Fraglos befindet sich hiervon noch vieles im Fluß und wird mit der Zeit 
auch Gestalt gewinnen. Es handelt sich um hohe kulturelle Aufgaben, dies 
allein fordert ein Vorgehen auf dem Boden reichlicher und tiefer Er¬ 
fahrung. 

Einstweilen würde mit der Erreichung obiger Momente, die sich im 
Rahmen der gegebenen Verhältnisse bewegen, schon dankenswertes rea¬ 
lisiert. 

Ähnliche Gesichtspunkte wie für die Einleitung machen auch für die 
Ausübung des Fürsorgeerziehungsgesetzes die Mitwirkung des Arztes zu 
einer durchaus zu erstrebenden. In erster Linie steht hier der wichtige 
Grundsatz einer planmäßigen Unterbringung der Minderjährigen, von der 
in erzieherischer Beziehung und für den sozialen Erfolg der ganzen Ma߬ 
nahme so gut wie alles abhängt. Die beste Überlegung, die der behördlichen 
Entscheidung vorausgeht und zugrunde liegt, kann hier nicht allein das Er¬ 
forderliche leisten. Von der genauen Kenntnis des Milieus, aus dem der Zög¬ 
ling stammt, der sozialen Verhältnisse und einer Würdigung der geistigen 
und körperlichen Eigenschaften desselben hängt ungemein viel ab. Diese 
Beisteuer zu leisten liegt im naturgemäßen Beruf des Arztes, im Zusammen¬ 
wirken mit anderen helfenden Faktoren und ist um so erforderlicher, als 
letztere auch zuweilen nicht wirkungskräftig genug sind (zu denken ist hier 
z. B. an die wünschenswerte Einführung der Berufsvormundschaft). 

Erwägen wir zunächst nur die körperliche Seite der Fürsorge, so ist 
die oft betonte Tatsache, daß viele der Zöglinge gerade auch hierin schon 
Defekte zeigen, ein Hinweis auf den Wert ärztlicher Mithilfe. Die häufig 
anzutreffende körperliche Minderwertigkeit der Kinder steht in Zusammen¬ 
hang mit den ungünstigen familiären und hereditären Verhältnissen, mit 
dem tiefen sozialen Milieu, der Armut, der Verkommenheit, dem Hunger, 
dem sie preisgegeben waren. Nicht wenige sind unehelich geboren und es 


Digitized by 


Google 



186 


Fürsorgeerziehung. 


ist bekannt (C. Spann u. a.), daß die sozialen Verhältnisse gerade für 
diese Kinder oft die denkbar schlechtesten sind, daß also die Grundlagen 
für eine gedeihliche Entwicklung und Ernährung fehlen. Körperliche Krank¬ 
heiten , namentlich chronische, spielen hier ja auch eine wichtige Rolle. 
Sie setzen die Widerstandskraft gegen schädigende Einflüsse des Milieus 
herab und werden so mit zur Ursache des geistigen und sittlichen Vor¬ 
kommens. Die körperliche Insuffizienz verbindet sich also oft mit geistiger. 
Die Tatsache wiederum, daß die Zahl geistig minderwertiger Zöglinge 
eine große ist, weist zugleich auf die Notwendigkeit einer eingehenden 
Würdigung der körperlichen Sphäre der Zöglinge hin. Denn wir wissen, 
daß die geistig defekten Kinder ein nachweisbares Zurückbleiben in der 
körperlichen Entwicklung zeigen: aus den Untersuchungen von Sklarbk und 
Kind geht hervor, daß die Körperlänge und das Körpergewicht der Kinder 
ein subnormales ist, Doll hat an den Kindern der Karlsruher Hilfsschule 
ein gleiches nachweisen können. Die körperliche Insuffizienz heben auch 
Laquer und Klumker hervor. Besonders Cassel hat in sehr dankenswerten 
Untersuchungen (II. BerRner Schulbezirk) festgelegt, inwiefern die geistige 
Minderwertigkeit zugleich eine körperliche mit sich bringt oder sich mit ihr 
verbinden kann. Sollen die erziehlichen Maßnahmen der Fürsorge das ge¬ 
wünschte und für die sozialen Folgen nötige Resultat haben, so muß bei 
der Unterbringung und Versorgung der Zöglinge, besonders der geistig ab¬ 
normen, auch die körperliche Beschaffenheit eine ausreichende Rücksicht 
finden. 

Der Schwerpunkt der ärztlichen Mitwirkung ist aber natürlich auf dem 
psychischen und psychopathischen Gebiete zu suchen. Wie schon mehrfach 
betont, handelt es sich dabei um das Streben nach planmäßiger Unter¬ 
bringung der in ihrem Wesen und in ihren Anforderungen so äußerst ver¬ 
schiedenen Zöglinge. In dieser wichtigen Angelegenheit begegnet sich die 
Tätigkeit des Arztes mit der der entscheidenden Behörde, des Verwaltungs- 
beamten und des Pädagogen, und hier zeigt sich mehr als sonstwo der 
Grundsatz, daß auf dem Arbeitsfeld, das so vielfache Interessensphären be¬ 
rührt, in dem Zusammenwirken der von verschiedenen Gesichtspunkten 
beteiligten Faktoren die beste Garantie für eine glückliche Durchfahrung 
des großzügigen Grundgedankens der Gesetzgebung liegt. Es muß hier etwas 
weiter ausgeholt werden. 

Bekanntlich erwachsen den verpflichteten Kommunen, ganz abgesehen 
von der Versorgung der psychopathischen Elemente, schon durch die Unter¬ 
bringung der Fürsorgezöglinge wegen ihrer großen sozialen Verschiedenheit oft 
nicht geringe Aufgaben und Kosten. Ein Teil der Zöglinge, der nur zu Hause 
zu verwahrlosen droht oder beginnt selbst aber harmlos ist, kommt mehr aus 
passiven Gründen unter das Gesetz. Ihm stehen die aktiven, verkommenen 
Elemente gegenüber, die schon Straftaten, oft in großer Zahl, begangen 
haben, namentlich die jugendlichen Elemente des großstädtischen Zuhälter- 
tums und der jugendlichen Prostitution schlimmster Sorte. Da diese beiden 
Kategorien eine Trennung gebieterisch verlangen, so erwachsen schon hieraus 
Aufgaben und Lasten von nicht geringem Umfange, zumal da das numeri¬ 
sche Anwachsen der Fürsorgezöglinge ein über die Maßen hohes ist und da 
auch, solange nicht die Bewegung der Zöglinge statistisch eine gewisse 
mittlere Gleichmäßigkeit von Jahr zu Jahr erlangt hat, nicht abzusehen ist, 
welchen Umfang die Sache noch annehmen wird. Bekanntlich sind in den 
ersten Jahren nach dem Inkrafttreten des Gesetzes eine Reihe, namentlich 
von älteren Elementen, unter das Gesetz gefallen, deren man vorher in ähn¬ 
licher Weise nicht habhaft werden konnte; diese Elemente, die angehäoft, 
weil bisher ein derartiges Gesetz nicht bestand, nun plötzlich unter die Wir¬ 
kung des Gesetzes fallen, treiben, wie auch anderwärts schon hervorgehoben, 


Digitized by 


Google 



Fürsorgeerziehung. 


187 


die Zahlen momentan in die Höhe. Es ist daher, wenn diese erst durch das 
Inkrafttreten des Gesetzes beseitigt sind and wenn zugleich die präventive 
Wirkung desselben ein Anhäufen dieser Individuen weiterhin verhindert haben 
wird, zunächst eine Abnahme und dann eine mittlere Frequenz von einiger¬ 
maßen konstanter Beschaffenheit zu erwarten. (Vgl. hierzu die interessante 
Korrespondenz in der Kölnischen Zeitung, 1907, Nr. 210 f.) 

Aber nicht allein auf die Zahl, sondern vor allem auch auf die quali¬ 
tative Zusammensetzung der Masse der Fürsorgezöglinge wird dies seinen 
Einfluß üben. Ein genaues Urteil über die Art dieser Zusammensetzung, 
über die Stärke der einzelnen Kategorien wird erst zu gewinnen sein, wenn 
die Konstanz dieser Bewegung einigermaßen erreicht ist, was vermutlich in 
etlichen Jahren der Fall ist. Dann auch wird sich erst die prophylaktische 
Wirkung des Gesetzes in Wahrheit entfalten. 

Dies in Kürze, um zu zeigen, daß schon Jetzt, wo den psychopathischen 
Elementen unter den Fürsorgezöglingen und namentlich ihrer großen Zahl 
kaum Rechnung getragen wird, die verwaltungstechnischen Schwierigkeiten 
nicht geringe sind. Mit der nicht zu bezweifelnden großen Zahl der geistig 
minderwertigen Elemente unter den Fürsorgezöglingen hätten wir also eine 
dritte Kategorie zu versorgen, die großenteils abermals eine getrennte Be¬ 
handlung erforderte. 

Ohne weiteres wird Jedermann zugeben, daß keiner von den drei 
Kategorien Erziehung. Pflege und Unterbringung gemeinsam mit den 
anderen nützlich ist. Die harmlosen Elemente laufen Gefahr, von den mora¬ 
lisch verkommenen in ungünstigem Sinne beeinflußt und verdorben zu wer¬ 
den, die psychopathischen Kinder hemmen den Unterricht, sind schwer zu 
behandeln, erfordern hohe Berücksichtigung ihrer Individualität, sind für 
Strafen unzugänglich und schaden bei einer Vereinigung mit den normalen 
Zöglingen nur dem allgemeinen Fortschritt der Erziehung. Die kriminellen 
und die ihnen nahe stehenden Fälle beanspruchen natürlich eine Behandlung 
und Versorgung, die auf sie zugeschnitten ist, die aber ohne Schablone auf 
die anderen kaum allgemeine Anwendung finden kann. 

Die Fürsorge für die geistig Anormalen ist eine Sache für sich, die 
besonderer Berücksichtigung, im Interesse dieser nicht sowohl, sondern auch 
in dem der übrigen Zöglinge bedarf. Aus diesem Grunde ist es durchaus zu 
erstreben, daß eine Vereinigung dieser Minderjährigen mit den anderen von 
vornherein womöglich vermieden wird, und daß auch eine ausreichende Kon¬ 
trolle in dem Sinne stattfindet, daß von Zeit zu Zeit aus den übrigen, d. h. 
den gesunden Elementen eine sorgfältige Auslese der geistig nicht einwands¬ 
freien stattfindet. In welcher Weise dies im einzelnen stattfinden soll, kann 
erst die tiefer gehende Erfahrung lehren. 

Derartige Dinge sind noch unendlich weit davon entfernt, in Wirklich¬ 
keit umgesetzt zu werden. Seelig bemerkt auch nicht mit Unrecht, daß alle 
derartigen Vorschläge, an denen es seit Bestehen der Fürsorgeerziehung 
nicht gefehlt hat, daran kranken, daß ihre Realisierbarkeit in absehbarer 
Zeit nicht sehr wahrscheinlich sei. Dies trifft Ja auch zu, da die Verhält¬ 
nisse gesetzgeberisch festgelegt sind. Ein Teil der von psychiatrischer 
Seite erstrebten Dinge liegt aber bis zu einem gewissen Grade im 
Bereich der Wirksamkeit der Verwaltungsbehörden und von diesen kann 
innerhalb des durch die Judikatur gegebenen Rahmens manches diesen 
Wünschen entsprechend gestaltet werden, namentlich soweit es sich um die 
Ausübung der Fürsorgeerziehung handelt. Dies zeigt sich Ja schon an der 
Verschiedenheit der Versorgung der Zöglinge, und daß es, wie in der Lichten- 
berger Anstalt, in Potsdam etc. Stellen gibt, an denen der Psychiater ein 
entscheidendes Wort mitzureden hat. 


Digitized by 


Google 



188 


Fürsorgeerziehung. 


Bezüglich der Ausübung der Fürsorgeerziehung weisen die von Sbblig 
aufgestellten Forderungen wohl am besten auf die Wege hin. auf denen man 
einstweilen praktisch etwas Nützliches erreichen könnte. Der betreffende 
Passus bei Seelig lautet: 

»Schaffung einer Möglichkeit, eventuell durch Ausbau der Lazarett¬ 
abteilung minderwertige Individuen zu beobachten, zeitweise zu behandeln 
und über kritische Zeiten durch Anwendung lediglich medizinischer Ge¬ 
sichtspunkte hinwegzubringen (besondere Abteilung)« 

Man sieht, daß es auch hier auf den wesentlichsten der von mir oben 
hervorgehobenen Gesichtspunkt, die Trennung der minderwertigen Elemente 
von den übrigen, hinauskommt. Die Durchführung dieses Vorschlags würde auch 
insofern als ein ideales zu bezeichnen sein, daß die gesamte Masse der Fürsorge¬ 
zöglinge in dauernder Fühlung mit psychiatrisch gebildeten Ärzten stehen 
könnte. Aber dies ist nur an einzelnen Versorgungsstellen, wie an der 
Lichtenberger Anstalt, einstweilen der Fall und auch nicht ohne weiteres 
allgemein möglich. Denn manche Provinzen haben ihre Zöglinge an einer 
großen Zahl getrennter Orte (von der Unterbringung in Familien ganz ab¬ 
gesehen) untergebracht. Es ist also eine Beaufsichtigung der Versorgung 
durch einen Psychiater nicht ohne weiteres möglich. 

Was also zunächst anzustreben ist. ist eine psychiatrische Durcharbei¬ 
tung des gesamten Materiales der Zöglinge, etwa in der Weise, daß psy¬ 
chiatrisch gebildete Ärzte, unterstützt von den Lehrern und Erziehern der 
Zöglinge, einen möglichst genauen Überblick über die Zusammensetzung des 
Gros derselben vom psychiatrisch-pädagogischen Standpunkte aus zu ge¬ 
winnen suchten auf dem Wege des Besuches der Anstalten und der Unter¬ 
suchung der Zöglinge. Dies würde dann mit der Zeit vielleicht von selbst 
— was später, wenn hoffentlich der Arzt einmal mehr Einfluß auf die 
Einleitung der Fürsorgeerziehung besitzt, von vornherein geschehen 
könnte —, zu einer getrennten Unterbringung der Zöglinge mehr nach 
psychologischen Kategorien führen. In weiten Grenzen und ohne strenge 
Schablone würde dies durchaus zu erstreben sein. Es würde sich von selbst 
die Notwendigkeit ergeben, daß an Stellen, welche, wie die Lichtenberger 
Anstalt, größere Mengen von Zöglingen vereinigt und zugleich unter dau¬ 
ernder psychiatrischer Obhut steht, solche Zöglinge zu versorgen wären, 
welche den Verdacht auf geistige Minderwertigkeit erwecken. 

Auf diese Art von Zöglingen, soweit es sich um ausgesprochene Psy¬ 
chopathen handelt, ist aber mit derZeit ein weitergehender psychiatrischer 
Einfluß als nur in Form eines Beirates zu erstreben, da sie doch womög¬ 
lich dauernd unter fachmännischer Beurteilung stehen müssen. Vielmehr hat 
die Gesamtheit der Fürsorgezöglicge dauernd einen psychiatrisch geschulten 
ärztlichen Beirat vonnöten, so daß es von Zeit zu Zeit wieder mög¬ 
lich wird, die geistig Defekten aus den Gesunden, die den Erziehern und 
Pädagogen zu überlassen sind, auszuscheiden, um für eine geeignete, vom 
Psychiater dauernd überwachte oder besser geleitete Unterbringung zu 
sorgen. Eine solche beratende Stimme des Psychiaters, welche sich womög¬ 
lich auf alle Zöglinge erstreckt, ist um so notwendiger, als eine strenge 
Trennung von vornherein nicht ausführbar ist deshalb, da ein großer Teil 
der Zöglinge, worauf besonders Mönkemöller und Seelig binweisen, ins 
Gebiet der Grenzzustande gehört. In welcher Weise für die dauernd der psy¬ 
chiatrischen Versorgung bedürftigen Zöglinge zu sorgen sein wird, wenn 
einmal ihre Zahl näher feststeht, ist nicht leicht zu entscheiden. Viel¬ 
leicht läßt sich neben der von Seelig besprochenen Versorgung die An¬ 
gliederung an staatliche Idiotenanstalten erstreben. Auf Zwischenstufen 
zwischen Idioten- und Zwangserziehungsanstalten ist wiederholt hingewiesen 
worden (Moeli). 


Digitized by L^ooQle 



Fürsorgeerziehung. 


189 


Eine vorübergehende Unterbringung der Zöglinge in Irrenanstalten 
während der Zeit lebhafteren Hervortretens ihrer psychopathischen Eigen¬ 
schaften empfiehlt sich schon nach den Erfahrungen von Mönkemöller 
keineswegs. Ausgenommen davon sind die an ausgesprochenen Psychosen 
Leidenden, für welche eine entsprecheude Verwahrung in Irrenanstalten ja 
allgemein geübt wird und im Gesetz auch vorgesehen ist. Dies sind aber 
nicht die Elemente, welche Schwierigkeiten machen. Ihre Zahl ist auch re¬ 
lativ gering. Es handelt sich vielmehr um das Gros der reizbaren Imbezillen, 
larvierten Epileptiker, Hysterischen, Degenerierten und leichteren Psycho¬ 
pathen. Für diese wird die Schaffung eigener, einmal den Erfordernissen 
der Fürsorgeerziehung, dann der geistigen Minderwertigkeit Rechnung 
tragender Verhältnisse unerläßlich sein. Es handelt sich Ja auch bei den an 
der Grenze geistiger Gesundheit stehenden vielfach auch um eine Art von 
Ersatz der Freiheitsstrafe. Die Einrichtung und Handhabung muß also den An¬ 
sprüchen der Judikatur und der psychiatrischen ^Überlegung gerecht werden 
können. Sbelig sagt mit Recht, daß hierbei allgemeine Berücksichtigung psy¬ 
chischer Mängel und Schwächen gefordert werden muß, daß die Anstalten auch 
für gradweise Abstufung des Verschlusses und der Freiheitsbeschränkung 
eingerichtet sein sollen und daß ihm deshalb der Vergleich Moelis mit den 
für die strafrechtliche Behandlung zurechnungsfähiger Minderwertiger ge¬ 
machten Vorschlägen so zutreffend erscheine. 

Auch von den Kriminalpsychologen wird mehr und mehr die Einrich¬ 
tung besonderer Anstalten für die Unterbringung der »in ihrer Degeneration 
weiter fortgeschrittenen Jugendlichen, die rückfälligen jugendlichen ver¬ 
brecherischen Minderwertigen, die an der Grenze geistiger Gesundheit und 
Krankheit stehenden Individuenc (Kluge) gefordert. Diese besondere Forde¬ 
rung erklärt sich daraus, daß, wie allgemein bekannt, die praktischen Er¬ 
fahrungen einstimmig dahin lauten, die genannten Individuen passen nir¬ 
gends hin, ihnen und also auch ihrer sozialen Bedeutung, die sie für die 
Allgemeinheit haben, ist nirgends gerecht zu werden, nicht in der Freiheit, 
nicht in Gefängnis, Rettungshaus, Irrenanstalt oder wo sonst. 

Schon dieser Umstand zeigt, daß diese Anstalten den Charakter von 
Bewahrungs- und Heilanstalten haben müßten. Eine ärztlich-psychiatrische 
Leitung wird auch von kriminalistischer Seite befürwortet. Es würde viel¬ 
leicht als der größte Segen des Fürsorgeerziehungsgesetzes erscheinen 
können, wenn diese Jugendlichen durch die Wirksamkeit des Gesetzes einer¬ 
seits frühzeitiger erkannt und ans Tageslicht gefördert, andrerseits in der 
besprochenen Weise rechtzeitig und planmäßig versorgt werden könnten, 
zq ihrem eigenen Besten und zum Nutzen des Staates und der mensch¬ 
lichen Gesellschaft. 

Es erwachsen jedenfalls dem Staate und den Kommunen, den Ärzten 
und den Pädagogen aus der Lösung der bezeichneten Fragen Aufgaben von 
Umfang und Bedeutung. 

Für den Arzt liegt, wie schon gesagt und wie es natürlich ist, der 
Schwerpunkt seiner Mitwirkung in der Versorgung, Erziehung, Behandlung, 
Beschäftigung und Unterweisung der Minderwertigen und Psychopathen. Da 
deren Zahl eine so erhebliche ist, so begreift sich, ein wie großes Feld der 
Tätigkeit des Psychiaters hier erwächst und wie intensiv sein Anteil an der 
Ausübung der Fürsorgeerziehung wird. Sofern die Tatsache der großen Fre¬ 
quenz geistig abnormer Zöglinge feststeht — und daran ist nicht zu zweifeln 
— und sofern es zu erstreben und zu erhoffen ist, daß die Behörden dieser 
Tatsache Rechnung tragen durch eine der Natur dieser Zöglinge ange¬ 
messene Versorgung, insofern kann auch wohl nur die psychiatrisch ärztliche 
Versorgung in Frage kommen. Es wird weiter zu zeigen sein, daß der Arzt 
der Mitarbeit des Pädagogen bedarf und dieselbe suchen und schätzen wird, 


Digitized by 


Google 


190 


F ürsorgeerziehung. 


daß aber die Erziehung, Beschäftigung und Unterweisung der geistig ab- 
normen Zöglinge in erster Linie ein psychiatrisches Problem darstellt. 

In dieser Beziehung ist auf die aus der Praxis herausgewachsene 
Schrift von Kluge zu verweisen. Die Erfüllung der för den Erfolg an diesen 
Kranken so wichtigen ärztlichen Voraussetzungen wird hier eingehend er¬ 
örtert. Unter den interessanten Ausführungen ist besonders hervorzuheben 
die Betonung der Wichtigkeit einer gründlichen ärztlichen Untersuchung und 
Würdigung der Sinnesfunktionen. Ähnliches betont Cassel, dem gleichen 
Gesichtspunkt ist von Laquer in Frankfurt a. M. weitgehend Rechnung ge- 
tragen, der bei der Begutachtung schwachsinniger Kinder in zweifelhaften 
Fällen eine spezialärztliche Untersuchung vom Augen- bzw. Ohrenarzt ver- 
anlaßte. Hier wird man, als wenn man viel mit jugendlichen Imbezillen und 
Idioten zu tun hat, auf den Satz hingewiesen, daß nichts in unserem Be¬ 
wußtsein wohnt, was dorthin nicht eingezogen ist durch das Tor der Sinne. 

Fast für jeden einzelnen Fall stellt sich dem beobachtenden Arzt eine 
neue Aufgabe und Kluge berichtet, daß nach Erkennung der Individualität 
der einzelnen Zöglinge die einzuleitende weitere Behandlungsweise fast in 
jedem Falle eine besondere zu sein pflegt. »Die häufigen Stimmungsanomalien 
erfordern das rechtzeitige Versetzen in eine andere Umgebung. Die be¬ 
stehende Reizbarkeit verlangt das Fernhalten irritierender Momente: das 
zeitweilige An- und Abschwellen der Gefühlsvorgänge, die periodisch ein¬ 
tretenden Erregungszustände erheischen eine besondere Aufmerksamkeit.« 
Kluge schildert die mannigfachen Anforderungen an die psychologische Kunst 
des Arztes in eingehender Weise. Es finden sich auch wertvolle Hinweise 
auf die Handhabung der pädagogischen Erziehung, Berücksichtigung der 
großen Ermüdbarkeit, Erfordernis plastischer Darstellungen. Auch für den 
Religionsunterricht wird mit Recht Anschaulichkeit und das Vermeiden 
mystischer und schwer verständlicher Dinge gefordert, da jeder Arzt weiß, 
daß gerade epileptische und hysterische Naturen, übrigens auch viele De¬ 
generierte hierdurch leicht in eine Disharmonie ihrer Vorstellung geraten, 
so daß der beabsichtigte Zweck der kirchlichen Beeinflussung deren erzie¬ 
herischen Wert bei richtiger Handhabung niemand in Frage stellt, dadurch 
illusorisch gemacht wird. Neben Schule und Arbeit wird, dies ist besonders 
zu betonen, ausgedehnter körperlicher Beschäftigung, den Turn- und Jugend¬ 
spielen, das Wort geredet. 

Bei der Beschäftigung spielt mehr und mehr in der Behandlung jugend¬ 
licher Minderwertiger der Handfertigkeitsunterricht eine wichtige Rolle. Er 
hat sich durchaus bewährt, wie er auch auf dem Gebiete der Erziehung 
Schwachsinniger Treffliches leistet: Alle besseren Anstalten dieser Art (Pots¬ 
dam, Uchtspringe etc.) haben ihn systematisch eingeführt. Ich verweise 
auf die gute Schrift von Hansen. Im Unterricht Minderwertiger muß ein 
Zurückdrängen des Wortwissens und die Betonung praktischer Unterweisung 
durchgeführt sein: Dies gilt ja wiederum in erster Linie für Schwachsinnige, 
aber auch allgemein verdient bei der Unterweisung und Erziehung psycho¬ 
pathischer Minderjähriger überhaupt, wie es aus Kluges Erörterungen hin¬ 
reichend hervorgeht, der theoretische Unterricht eine weise Beschränkung 
zugunsten der physischen Erziehung und des Anschauungs- und Hand¬ 
fertigkeitsunterrichtes. Ganz dieselben Forderungen sind in Belgien sogar 
allgemein für die Hilfsschulen aufgestellt worden (Demoor, Lentz). Insofern 
verdient der nicht neue, aber mit Recht erneute Hinweis Hansens auf die 
Brauchbarkeit der Handfertigkeitsmethoden und deren Erfolge in den skan¬ 
dinavischen Anstalten durchaus allgemeine Beachtung. 

Ein Punkt verdient besondere Erwähnung: Die Handhabung der Züch¬ 
tigung in den Fürsorgeerziehungsanstalten, besonders wenn sie ohne jede 
psychologische Überlegung bei jeder Art von Widerstand, ob »normaler«, ob 


v 


Digitized by 


Google 



F ürsorgeerziehung. 


191 


krankhafter Bedingnis appliziert wird, verursacht ärztlicherseits einiges Kopf¬ 
schütteln, Jedenfalls muß konstatiert werden, daß die eingehende Würdigung 
der Individualität des Zöglings, ein psychologisches Erfassen seiner Eigen¬ 
schaften, Schwächen und Fehler, die Fähigkeit, diesen zu begegnen, sie ab¬ 
zulenken oder zu paralysieren, die körperliche Züchtigung mehr und mehr 
überflüssig hat erscheinen lassen. Was an ärztlichen Erfahrungen in günstigem 
Sinne berichtet worden ist, verdankt nicht der Züchtigung seinen Erfolg. 
Soweit also Strafen, mögen sie nun Züchtigung heißen oder wie sonst immer, 
in Anwendung kommen bei Menschen von so schwankender und mangel¬ 
hafter psychischer Konstitution, muß vor der Exekution der ärztliche Rat 
gehört werden (vgl. Mönkemöller). Jedenfalls lassen die Erfahrungen, die 
auch die Öffentlichkeit mehrfach unliebsam beschäftigt haben (Itzehoer Pro¬ 
zeß u. a. m.) es als dringende Forderung erscheinen, daß das Züchtigungs¬ 
recht allen psychologisch nicht geschulten »Erziehern« durchaus entzogen 
wird: die anderen werden es nicht brauchen. 

Einige Provinzen haben bereits damit den Anfang gemacht, den Ergeb¬ 
nissen hinsichtlich der psychopathischen Natur der Zöglinge Rechnung zu tragen. 
Die Untersuchungen in Hannover (die von Cramer ausgingen), dann die in West¬ 
falen sind oben erwähnt. In Brandenburg ist ein größeres Heim für minder¬ 
wertige Zöglinge bei der Anstalt (Schwacbsinnigenanstalt) in Potsdam ein¬ 
gerichtet. Es ist für die Feststellung der betreffenden Verhältnisse ein be¬ 
sonderer Fragebogen eingerichtet, der recht zweckmäßig erscheint — soweit 
Fragebögen dies sein können; unter den gegenwärtigen Verhältnissen ist er 
aber unentbehrlich. Der Fragebogen ist der nachfolgende. Ganz besonders 
ausdrücklich sei hier noch auf das CRAMERsche Untersuchungsschema ver¬ 
wiesen. 

F ragebogen 

zur Feststellung geistiger Minderwertigkeit bei dem Fürsorgezögling 
, geb. am 190 zu , Kreis 

, Konfession, seit * untergebracht in 

zu . Durch Beschluß des Königlichen Amts¬ 
gerichtes Aktenz. XVII vom 190 

zur Fürsorgeerziehung überwiesen, weil 


1. Ehelich geboren? 

Leben die Eltern noch? 

Wie war Erziehung und Behand¬ 
lung seitens der Eltern? 

Wie die häuslichen Verhältnisse? 

Ist Ungünstiges über Eltern, Ge¬ 
schwister, Familie bekannt? 

Sind bei Blutsverwandten Fälle 
von Trunksucht, Geistes- oder 
Nervenkrankheit, Fallsucht, 
Selbstmord, Prostitution, Ver¬ 
brechen bekannt? 

2. Wie verlief die früheste Jugend 

des Zöglings ? 

Lernte er rechtzeitig laufen, 
sprechen ? 

Welche Kinderkrankheiten machte 
er durch? 


Kamen schwerere Verletzungen, 
besonders des Kopfes vor? 
Litt er unter Schlafmangel, Über¬ 
anstrengung, Not? 

Wurde er zeitig an geistige Ge¬ 
tränke gewöhnt oder an son¬ 
stige Reizmittel (Tabak)? 

Ist er ihnen noch jetzt ergeben ? 

3. Seit wann und wo besuchte er 

die Schule? 

Mit welchem Erfolge? 

Lernte er leicht? 

4. Wurde er konfirmiert? 

Wann? 

Was getan nach der Einsegnung? 
Beruflich ausgebildet? 

Worin? 

Zeigt er Geschick dafür? 


Digitized by 


Google 



192 


Fürsorgeerziehung. 


Kam er mit dem Gericht in Kon¬ 
flikt? 

Weshalb ? 

Wie oft? 

Bestraft? 

Mit? 

(Knaben.) 

5 a. Wie sind die geschlechtlichen Ver¬ 
hältnisse ? 

War die Geschlechtsentwicklung 
eine vorzeitige? 

Hat die Stimme gewechselt? 

Treibt er Onanie? 

Zeigt er besondere Neigung zum 
eigenen Geschlecht (auffällige 
Liebkosungen anderer Knaben, 
gemeinschaftliches Onanieren) ? 

Zum anderen Geschlecht? 

(Mädchen.) 

5 b. Ist die monatliche Regel einge¬ 
treten ? 

Seit wann? 

Regelmäßig ? 

Bestand oder besteht Schwanger¬ 
schaft ? 

Treibt es Onanie? 

Zeigt es Neigung zum eigenen 
Geschlecht? (s. unter 5 a.) 

Zum anderen (Prostitution)? 

Gaben äußere ungünstige Verhält¬ 
nisse (Verführung, Mißbrauch) 
den Anlaß zu geschlechtlichen 
Ausschweifungen ? 

6. Wie ist jetzt der körperliche Zu¬ 
stand des Zöglings? 

Größe ? 

Gewicht ? 

Bestehen offenbare Mißbildungen, 
z. B. Hasenscharte, überzählige 
Finger und Zehen? 

Ist der Schädel abnorm gebildet 
(sehr groß, sehr klein, schief)? 

Liegen körperliche Fehler vor 
(Lähmungen von Gliedmaßen, 
Gesichtszucken, Unruhe der 
Glieder, Nägelkauen, auffällige 
Ungeschicklichkeit, Linkshän¬ 
digkeit, Schielen, Bettnässen, 
Eingeweidebrüche) ? 

Bestehen Blutarmut, Drüsen¬ 
schwellungen , Husten, Aus¬ 
schläge, Verdauungsstörungen? 

Sieht, hört er gut? 

Liegt Ohreiterung, Stinknase vor ? 


Ist der Schlaf gestört (Nacht¬ 
wandeln, lautes Reden, Auf¬ 
schrecken) ? 

Fehler der Sprache (Stammeln, 
Stottern) ? 

7. Sind Krämpfe beim Zögling be¬ 

obachtet? 

Solche mit Bewußtseinsverlust, 
rücksichtslosem Hinstürzen, 
Zungenbiß ? 

Oder wie sonst (Schrei- oder 
Wutkrämpfe)? 

Treten schwindelartige Zustande 
von vorübergehender Bewußt¬ 
losigkeit auf ohne stärkere 
Zuckungen in den Gliedern? 

Hat er zeitweilig die Sprache ver¬ 
loren ? 

Kamen plötzliche Schl&fzustände 
am Tage vor? 

8. Ist er auffallend reizbar, nervös ? 

Zeigt er Lust zur Schwärmerei, 

abenteuerlichen Plänen und 
Lektüre ? 

Ist die Stimmung gleichmäßig? 

Neigt er zum Grübeln, zum 
Klagen? 

Ist er ohne äußeren Anlaß län¬ 
gere Zeit heiter, dann wieder 
trübe, mißmutig? 

Trägt er lange nach? 

Ist er launisch, eigensinnig? 

Neigt er zum heftigen Zorn ? 

9. Wie ist die geistige Veran¬ 

lagung ? 

Kann er lesen und schreiben, 
rechnen (in welchem Zahlen¬ 
kreis) ? 

Ist er aufmerksam oder flüchtig, 
stumpf oder rege bei der Ar¬ 
beit? 

Ermüdet er besonders leicht? 

Einseitig begabt? 

Begreift er leicht, schwer? 

Denkt er langsam? 

Hat er genügendes Gedächtnis 
oder ist dies untreu? 

Sind die Verstandeskräfte neuer¬ 
dings stark zurückgegangen? 

Seit wann? 

10. Zeigt er sonstige Zeichen offen¬ 
barer geistiger Erkrankung? 

Hat er Wahnideen, zwangsweise 
sich aufdrängende ängstliche 
Vorstellungen (z. B. Furcht vor 


Digitized by 


Google 



Fürsorgeerziehung. 193 


Berührungen, Messern), Sinnes¬ 
täuschungen ? 

11. Wie ist die Gemütsart? 

Ist er religiös, übertrieben fromm? 

Ist er wahrheitsliebend, gutartig, 
kameradschaftlich oder selbst¬ 
süchtig , lenksam, leicht ver¬ 
führbar, für Lob und Tadel 
empfindlich, durch Strafen er¬ 
ziehlich oder unverbesserlich, 
haltlos, eitel, mitfühlend, liebe¬ 
voll zu den Angehörigen, vor¬ 
laut oder respektlos den Er¬ 
wachsenen gegenüber? 

Neigt er zum Ungesetzlichen? 

12. Ist er willensschwach? 

Neigt er zu sonderbaren Hand¬ 
lungen ? 

Zur Unsauberkeit? 

Zu Zwangsantrieben (triebartiges, 
ohne Vorbedacht geschehenes 
Stehlen, Feueranzünden)? 


Mißhandelt er Kameraden oder 
Tiere ? 

Zerstört er gern und absicht¬ 
lich? 

Lügt und schwindelt er zweck¬ 
los? 

Hat er Lust zu bösen Streichen? 

Neigt er zum Fortlaufen ? 

Zur Vagabondage? 

Zur Selbstbeschädigung? 

Zum Selbstmord? 

13. Ist sonst noch etwas beobachtet 
worden, was den Zögling von 
anderen erheblich abweichend 
erscheinen läßt? 

Sind diese Abweichungen von 
normalen Kindern so auffällig, 
daß es wünschenswert ist, die 
Versetzung in eine für geistig 
zurückgebliebene, nervöse oder 
epileptische Kinder bestimmte 
Anstalt ins Auge zu fassen ? 


Schließlich ist auch noch der Aufhebung der Fürsorgeerziehung 
zu gedenken. Es handelt sich hier wohl um den verantwortungsvollsten und 
folgenschwersten Akt, nicht nur um eine zeitliche Frage. Die Beurteilung, 
ob ein Nutzen der Erziehung nachzuweisen ist, ob der Zögling sich für das 
Leben eignet, die Frage nach der ganzen sozialen Tragweite dieser Ent¬ 
scheidung enthält so zahllose psychologische Momente, daß für den größten 
Teil der Zöglinge ein ärztlicher Beirat gewiß willkommen sein muß. Für die 
Psychopathen ist er unbedingt zu fordern, schon damit der Arzt auch zunächst 
bei der eventuellen weiteren Unterbringung mittätig sein kann. Aus den gleichen 
Gründen beansprucht auch die Erhebung anamnestischer Angaben und ein 
möglichster Verfolg des weiteren Schicksals der Zöglinge vom sozialen, vom 
kriminal-anthropologischen wie vom psychiatrischen Standpunkt das aller¬ 
größte Interesse. Mönkemöller und Seelig haben mit Recht die große Be¬ 
deutung dieser Angelegenheit betont. Eingehendere Erfahrungen sind hier 
natürlich einstweilen noch nicht zu verzeichnen; die Untersuchungen von 
Mönkemöller und Bonhoeffer (s. o.) geben deutliche Hinweise auf die Be¬ 
deutung der Angelegenheit. Auch Cramer hat vor allem darauf hinge¬ 
wiesen. 

Im vorstehenden war von einer direkten Beteiligung des Psychiaters 
an der Ausübung der Fürsorgeerziehung in unmittelbarer Fühlung mit den 
Zöglingen die Rede. Es gibt aber auch noch einen weiteren und fraglos sehr 
beachtenswerten Weg, auf den Seelig und Neisser hinwiesen, der auch ge¬ 
eignet ist, der Anwendung psychiatrischer Überlegung im Umgang mit den 
Fürsorgezöglingen Eingang zu verschaffen, das ist der Weg der Belehrung 
derjenigen Lehrer und Erzieher, denen die direkte Obhut der Zöglinge an¬ 
vertraut ist. Seelig erwähnt, daß er an der Lichtenberger Anstalt Vorträge 
vor dem Erziehungspersonal hält. Derartigen Einrichtungen und einer davon 
ausgehenden weiteren, vorzüglich aber praktischen Belehrung ist die aller¬ 
weiteste Verbreitung zu wünschen. Es ist zu erstreben, daß die beteiligten 
Faktoren von kompetenter fachmännischer Seite in die Ergebnisse der psy¬ 
chiatrischen Forschung eingeführt, daß ihnen Grundlage, Weg und Ziel der 
psychiatrisch-ärztlichen Betätigung an den Zöglingen möglichst vertraut ge- 

Eocy dop. Jahrbücher. N. F. VIII. (XVII.) 

Digitized by VjC/OQ IC 



194 


F ü rsorgeerzi eh un g. 


macht wird. Nur im Zusammenwirken der Faktoren blüht der Erfolg, auch 
der Arzt wird den Pädagogen nicht entbehren können und wollen. Hier gilt, 
daß der Erfolg des richtig angewandten Unterrichts und der Erziehung das 
schärfste und sicherste Reagens auf die geistige Qualität des Zöglings ist. 

So sieht man leicht, wie nur in der gegenseitigen Berücksichtigung 
der Erfahrungen Gewinn erblühen kann. Um dies aber zu erreichen, ist in 
der Tat eine größere Vertrautheit der Erzieher mit psychiatrisch-pädagogi¬ 
schen Gesichtspunkten zu erstreben. Neisser formuliert in durchaus treffen* 
der Weise diese Punkte, er fordert insbesondere die Möglichkeit zu einer 
Belehrung der Erzieher, Pädagogen und Anstaltsleiter durch Unterrichtskurse 
und Bibliotheken. Mit der Möglichkeit derartiger Belehrung wird eine Ver- 
pflichtung dieser Faktoren, die gebotene Gelegenheit zu benutzen, sich vor- 
teilhafterweise verbinden. 

Wie notwendig diese Maßnahme ist, geht, abgesehen von anderweitigen 
praktischen Erfahrungen, zahlenmäßig aus Tippels Erhebungen hervor. Eine 
Enquete über die Häufigkeit psychischer Krankheiten unter den Fürsorge* 
Zöglingen in den rheinischen Anstalten ergab folgendes Resultat: nur in 
4 Anstalten erfolgte die Antwort durch Ärzte, in 2 weiteren hatten Ärzte 
mitgewirkt. Ausgesprochene Geisteskrankheiten fanden sich in 9 Anstalten 
mit 13 Fällen, psychopathisch Minderwertige in 19 Anstalten mit 100 Fällen, 
in 14 Anstalten sollen geistige Anomalien überhaupt nicht vorgekommen 
sein. Tippel fährt fort: »Wenn die Gesamtzahl der rheinischen Fürsorge¬ 
zöglinge mit rund 4500 angenommen wird, so stehen demnach in 39 An¬ 
stalten mit rund 4300 Insassen 0*33% Geisteskranke und 2*33% Minder¬ 
wertigen gegenüber den entsprechenden Zahlen in Kaiserswerth mit 3*68% 
und 66 87%. Die beiden Anstalten mit hauptamtlich tätigen Psychiatern ent¬ 
sandten 5 + 6=11 Geisteskranke in Irrenanstalten, während 38 Anstalten 
nur 8 derartige beherbergten.« Mit Recht fordert auch Tippel auf Grnnd 
dieser Erfahrungen Belehrung der Fürsorger in psychiatrischen Dingen durch 
Kurse, Lehrstoff und facbärztliche Beratung. 

Im Nachstehenden seien noch die von Neisser seinerzeit auf dem 
Breslauer Ffirsorge-Erziehungstag formulierten Thesen wiedergegeben: 

»1. Unter den Fürsorgezöglingen finden sich eine erhebliche Zahl von 
psychisch minderwertigen, krankhaft veranlagten, in der Entwicklung zurück¬ 
gebliebenen oder abnorm gerichteten Individuen. Die Mitwirkung von psy¬ 
chiatrisch geschulten Ärzten an den Aufgaben der Fürsorgeerziehung ist 
deshalb unentbehrlich. 

2. Die Personal Fragebogen bei der Einweisung von Fürsorgezöglingen 
in die Anstalten sollen (nach dem Muster derjenigen, welche als Grundlage 
für die Aufnahme von Geisteskranken, Idioten etc. in die Heil- und Pflege¬ 
anstalten in Gebrauch sind) alle für die ärztliche Beurteilung erforderlichen 
Angaben enthalten. Es wäre zweckmäßig, wenn die Kreisärzte bei der Ab¬ 
fassung derselben berangezogen werden könnten. 

3. Bei der Aufnahme in Anstalten sollen alle Zöglinge alsbald einer 
sorgfältigen, auch den psychiatrischen Gesichtspunkten Rechnung tragenden 
ärztlichen Untersuchung unterzogen werden; der Befund Ist ausführlich 
schriftlich niederzulegen und von dem Anstaltsleiter zur Kenntnis zu 
nehmen. 

4. An den größeren Erziehungsanstalten ist darauf Bedacht zu nehmen, 
daß eine fachgemäße Beobachtung und Behandlung vorübergehender psycho¬ 
pathischer Zustände stattfinden kann. 

5. Dem Staate erwächst die Aufgabe, Vorkehrung zu treffen, daß die 
mit der Fürsorgeerziehung berufsmäßig befaßten Pädagogen etc., namentlich 
aber die Leiter der größeren Anstalten, sich mit den Ergebnissen der ein¬ 
schlägigen Sonderforschungen und Erfahrungen auf pädagogischem, krimina- 


Digitized by 


Google 



F ürsorgeer Ziehung, 


195 


listiscbem, psychologischem und psychiatrischem Gebiete vertraut machen. 
Neben der Förderung von Bibliothekszwecken und dgl. wird die Ein¬ 
richtung besonderer Unterrichtskurse ins Auge zu fassen sein. 

6. Das spätere Schicksal und Ergehen der Fürsorgezöglinge soll 
zwecks Sammlung von Erfahrungen nach Möglichkeit im Auge behalten 
werden. 

7. Es darf gehofft werden, daß es auf diese Weise, durch Ermittlung 
und Berücksichtigung etwaiger individueller Defekte gelingen werde, auch 
eine Anzahl derjenigen Fürsorgezöglinge, welche sich bei dem bisherigen 
Verfahren als schwer oder gar nicht erziehlich beeinflußbar erweisen, in ihrer 
Entwicklung zu fördern, zugleich aber auch von dem Gros der übrigen Zög¬ 
linge schädigende Einwirkungen fernzuhalten. Die Erreichung dieses Zieles 
würde einen erheblichen Gewinn für die öffentliche Wohlfahrt bedeuten und 
eine nicht unbeträchtliche Ersparnis an Nationalvermögen.« 

Die im Vorstehenden ausgeführten Erörterungen betreffen die Mitwirkung 
psychiatrischer Ärzte bei der Einleitung, Ausübung und Aufhebung der Für¬ 
sorgeerziehung. Die angeführten Tatsachen sprechen wohl deutlich genug dafür, 
daß die psychologischen und psychopathologischen Eigenschaften der Zög¬ 
linge im Interesse dieser selbst wie der Allgemeinheit eingehende Berück¬ 
sichtigung erheischen. Die Zahl der psychisch abnormen Zöglinge ist eine 
abnorm große und die besonders von Cramer formulierte Forderung einer 
Begutachtung der Zöglinge vor der Überweisung in Fürsorgeerziehung sowie 
eine dauernde Kontrolle derselben später in der Fürsorgeerziehung ist voll¬ 
auf berechtigt. Über die Tragweite dieser Maßnahmen äußert sich Cramer 
speziell: er verweist darauf, daß die zeitige Feststellung der geistigen Min¬ 
derwertigkeit die Armee vor dem Ballast dieser späterhin bewahrt: aus¬ 
reichende Feststellung der geistigen Beschaffenheit der Zöglinge und recht¬ 
zeitige Benachrichtigung der Militärbehörde würde hier erforderlich sein. 
Vielleicht analog dem Modus wie er für die entlassenen Hilfsschüler ge¬ 
übt wird. 

Aber mit einer derartigen sachgemäßen Ausgestaltung der Fürsorge¬ 
erziehung selbst hängen noch eine ganze Reihe anderer Momente eng 
zusammen; die Erfüllung dieser Bedingungen ist teils als Vorbedingung 
der Fürsorgeerziehung, teils als ein Teil der Ausgestaltung unserer 
Jugendfürsorge, wozu ja auch die Fürsorgeerziehung gehört, unerläßlich. 
Hierhin gehört vor allem eine bessere Organisation der Armenpflege, nicht 
nach ihrer administrativen, sondern nach ihrer fürsorgerischen Seite, beson¬ 
ders als Fürsorge für verwahrloste Kinder. (Vgl. hierzu den Vortrag von 
Polljgkeit auf dem II. Fürsorgeerziehungstag in Straßburg 1908.) Ferner 
ist die ganze Ausgestaltung der Jugendfürsorge: eine einheitliche staatliche 
Jugendpolitik und Jugendgesetzgebung, die Ausbildung der Berufsvormund- 
scbaft usw. hierfür unerläßliche Vorbedingung. 

In der ganzen Frage handelt es sich doch um ein spontanes Bestreben 
der durch ihr Fach ausreichend beteiligten (theoretisch beteiligten) psychia¬ 
trischen Ärzte, an den sozialen Aufgaben des Staates mitzuwirken. Zweck 
der Bestrebungen ist nicht, anderen eine von diesen vielleicht lebhaft be¬ 
anspruchte Domäne zu entreißen, sondern aus dem Fonds der psychiatrischen 
Erfahrungen und Errungenschaften der spezialen Wissenschaften heraus auf 
praktische Bedürfnisse und erreichbare Ziele hinzuweisen, in Gemäßheit 
eines von Stolper zitierten Satzes von Virchow (den auch Laqiteur er¬ 
wähnt), dahin lautend, daß die soziale Frage zu einem erheblichen Teil in 
die Jurisdiktion des Arztes falle. u. Vogt. 


Digitized by Üoogle 



G. 


Gehirnsticli. Balken stich. Mit letzterem Aasdruck bezeichnet 
Anton ein von ihm in Gemeinschaft mit v. Bramann ersonnenes und bisher in 
22 Fällen geübtes Verfahren, dessen Zweck darin besteht, die Folgen der ge¬ 
störten Kommunikation der Flüssigkeit in den Gehirnhöhlen mit dem Subdural¬ 
raum des Gehirns und Rückenmarks in Krankheitsfällen auszugleichen, 
bzw. die davon abhängigen Beschwerden zu lindern, aber auch den zu¬ 
grunde liegenden pathologischen Prozeß mit seiner Folgenreihe selbst zu be¬ 
kämpfen. Am Schädel wird hinter der Kranznaht, meist rechts, nahe der 
Pfeilnaht eine kleine Trepanöffnung angelegt oder mittelst DoYENscher 
Fräse ein ovales Loch gebohrt. Nach geringer Spaltung der Dura wird 
eine Kanüle bis zur Falx cerebri eingeführt und an dieser entlang bis zum 
Balken hinabgeführt, der darauf durchstoßen wird, wodurch man in das 
Vorderhorn der Ventrikel gelangt; nach Abfließen der unter mehr oder 
minder starkem Druck gespannten Flüssigkeit wird die Balkenöffnung 
mittelst der Kanüle vor- und rückwärts erweitert und so eine Verbindung 
der Ventrikel mit dem ganzen Subduralraum hdrgestellt. Es wird somit 
einerseits ein Ausgleich der örtlichen Druckverhältnisse angebahnt, andrer¬ 
seits werden für die gestörte Flüssigkeitsresorption neue weitere Räume 
mit intakteren Wandungen zur Verfügung gestellt. — Die bisherigen Er¬ 
gebnisse faßt Anton in folgenden Sätzen zusammen : 

1. Die Operation der Balkeneröffnung erscheint angezeigt bei stär¬ 
kerem Hydrocephalus der Kinder, wobei eine Schädel Vorbildung und eine 
Atrophie und Verdünnung des Großhirns, eventuell eine Druckatrophie des 
Kleinhirns verhindert Werden soll. 

2. In jenen Fällen von Gehirngeschwülsten, wo es zu Hydrocephalus 
int. des Gehirnes kam. ist die Operation imstande, die Stauung und Hyper¬ 
ämie des Sehnerven auf längere Zeit zum Rückgang zu bringen. Die 
quälenden Kopfschmerzen, Schwindel und Erbrechen wurden in einer großen 
Zahl von Fällen rasch und günstig beeinflußt. Die Symptome des Tomors 
werden durch die Beseitigung des allgemeinen Druckes diagnostisch deut¬ 
licher. Es wird durch diese Operation eventuell Zeit gewonnen, durch 
Hinausschieben der Erblindungsgefahr die operativ-radikale Behandlung des 
Tumors zu erwägen und durchzuführen. 

3. Während des Balkenstiches selbst ist es auch möglich und anzu¬ 
raten, die Ventrikel zu sondieren und etwaige Form Veränderungen oder 
abnorme Resistenz daselbst zu eruieren. 

4. Die geschilderte Verbindung von Ventrikel und Subdurairaura 
empfiehlt sich mitunter als Hilfsoperation bei Schädeleröffnungen, wenn 
bei Gehirnschwellung und Gehirndruck eine Gehirnhernie oder ein Durch¬ 
reißen der Gehirnoberfläche zu befürchten steht. 


Digitized by ^.ooQle 



Gehirnstich« — Geloduratkapseln« 


197 


5. Diese Form der Operation darf weiterhin versucht werden bei 
jenen nicht seltenen Erkrankungen des Sehnerven, welche bei Turmschädeln 
und ähnlichen Deformitäten entstehen. 

Literatur I v. Hbamann und Anton, Münchener med. Wochenschr. 1908. Nr. 32. — 
Anton, Med. Klinik. 1909, Nr. 48. A . Eulenburg . 


Geloduratkapseln« Das Bestreben, die Arzneimittel so einzu¬ 
führen, daß sie nicht im Magen, sondern erst im Darm zur Resorption 
kommen, bat seit längerer Zeit die Kliniker zu Versuchen angeregt. Neben 
den Geschroacksgründen ist für dieses Bestreben auch das Moment aus¬ 
schlaggebend, daß die mit verschiedenen Medikamenten verbundene örtliche 
Reizung der Magenschleimhaut vermieden werden kann, wenn es gelingt, 
die Medikamente mit einer Hülle zu umgeben, die von Magensäften nicht 
angegriffen wird und erst im Darm zur Lösung gelangt. Aus anderen Ge¬ 
sichtspunkten hat Sahli Versuche angestellt, durch die sog. Glutoidkapseln, 
das sind in wässeriger Formalinlösung gehärtete Gelatinekapseln, eine Auf¬ 
lösung erst im Darm zu erzielen Für ihn war der Wunsch maßgebend, ein 
Prüfungsobjekt auf die Resorptionsfähigkeit des Darmes zu erhalten. Es ist 
sicher, daß die SAHLischen Glutoidkapseln den Magen uneröffnet passieren, 
doch haftet der wässerigen Formalinlösung der Nachteil an, daß die Gela¬ 
tinekapseln stark zum Quellen gebracht werden, wodurch die Formalinein¬ 
wirkung eine zu Intensive wird. Rumpel hat deshalb unter Verwendung des 
SAHLischen Grundprinzips an der Gelatinekapsel, nämlich der in Formalin 
gehefteten Gelatine, insofern eine Abweichung vorgenommen, als er Formalin 
nur in Alkohol. Äther oder in solchen Flüssigkeiten gelöst anwendet, welche 
ln genannter Konzentration die Gelatine selbst gar nicht oder nur in ge¬ 
ringem Grade zum Quellen bringt. Rumpel sah auch in dem Umstande 
einen Vorteil, daß man derartige gehärtete Gelatinekapseln, die er als Gelo¬ 
duratkapseln bezeichnete, nicht nur als mit den Medikamenten fertiggestellte 
Kapseln in Handel bringen konnte, sondern daß die Kapseln als Operkula 
aus zwei ineinander schiebbaren Hüllen bestehend, verwendet werden können. 
Die Verschließstellen der also nachträglich mit den Arzneimitteln füllbaren 
Kapseln werden mit Kollodium verschlossen. Dadurch lassen sich auch im 
Wasser leicht lösliche Substanzen in die Kapseln einfüllen. Diese offenen und 
erst nachträglich verschließbaren Kapseln haben sich jedoch in der Praxis 
nicht bewährt, da die wasserlöslichen oder die Wasser leicht anziehenden 
Substanzen, wie das Jodkali, schon nach kurzer Zeit trotz des Kollodium¬ 
verschlusses Wasser hindurchlassen, so daß die anfänglich trockene Pulver¬ 
füllung unansehnlich resp. feucht wird. 

In letzter Zeit werden die Geloduratkapseln in fertiger Form mit allen 
möglichen Medikamenten gefüllt von der Firma G. Pohl, Schönbaum, her- 
gestellt. 

Die Herstellung und Zusammenstellung des Härtegrades der Gelodurat¬ 
kapseln geschah zunächst unter Kontrolle des Verhaltens der Kapseln im 
Magen und Darm von Hunden mit entsprechenden Fisteln sowie bei einem 
Patienten mit einer Darmfistel, daneben unter der gleichzeitigen Kontrolle 
im Reagenzglas mit künstlichem Magen- und Pankreassaft. Die Kapseln 
wurden in dem Härtungsgrade hergestellt, daß sie bis zu 8 Stunden im 
künstlichen Magensaft ungelöst blieben und sich nach zweistündiger Vor¬ 
behandlung im Magensaft in alkalischer Trypsinlösung in 10—20 Minuten 
lösten. 

Von den Arzneimitteln, welche in diesen Geloduratkapseln in Original- 
schachteln erhältlich sind, seien hier nur die wesentlichsten aufgeführt: 
Chinin, Koffein, Extr. Cascar. Sagr., Extr. Filic., Pulvis Fol. Digital, titr., das¬ 
selbe in Verbindung mit Koffein resp. Theobromin in der für arterio- 


Digitized by 


Google 



198 


Geloduratkapseln. — Glühlichtbäder be! Asthma. 


sklerotische Herzen üblichen Dosierung, ferner Jodkali in verschiedener Dosis 
und Jod in Verbindung mit Quecksilber nach dem bekannten RicoRDschen 
Rezept sowie eine Menge anderer Arzneimittel, deren Aufzählung hier sich 
erübrigt. 

Schlecht, welcher aus der STRüMPELLschen Klinik zuerst die Anwen¬ 
dung der Geloduratkapseln beschrieben hat, ist mit dem Erfolge derselben 
sehr zufrieden. So betont er zum Beispiel, daß das nach Anwendung der 
Balsamikakapseln meist so lästige Aufstoßen hier vollkommen fortfällt. So 
wurde in einem Falle von Bronchorrhoe das Terpentin in ungehärteten Gela¬ 
tinekapseln sehr schlecht vertragen; nach Verabreichung in Geloduratkapseln 
verschwand Jede Geschmacksbelästigung. Das gleiche ist bei Jodkaliverab- 
reichnng, bei Verabreichung von Digitalis und in anderen Fällen beobachtet 
worden. Schlecht macht noch darauf aufmerksam, daß die Digitalisverab¬ 
reichung in Gelatinekapseln besonders deshalb unzweckmäßig ist, weil die 
Digitalis nach Loewy durch Salzsäure des Magens entschieden geschwächt 
wird; bei der Verabreichung von Geloduratkapseln tritt das Medikament 
nur mit dem alkalischen Darmsaft in Verbindung. 

Referent hatte selbst Gelegenheit, die praktische Bedeutung der Gelo¬ 
duratkapseln in einem Falle kennen zu lernen, in dem ein Patient im Ver¬ 
laufe von 18 Jahren 30 Bandwurmkuren ohne Erfolg absolviert hatte, da er 
in der Regel, wie auch immer das Bandwurmmittel gegeben wurde, dasselbe 
ausgebrochen hatte und jetzt schon rein psychisch nicht mehr in der Lage war, 
weder die üblichen Gelatinekapseln noch eine Emulsion zu nahmen. Auch die 
Verabreichung des F'arnkrautextraktes mittelst der Schlundsonde erschien 
aussichtslos, weil das geringste Aufstoßen Erbrechen zur Folge hatte. Der 
erste Versuch mit Geloduratkapseln führte zu vollständigem Erfolg. Der 
Bandwurm wurde dauernd abgetrieben. 

Jüngst hat 0. Schultze auf der KuTTNERschen Abteilung des Virchow- 
Krankenhauses experimentelle und praktische Prüfungen mit den Gelodurat¬ 
kapseln angestellt. Er ist mit den letzten Fabrikaten durchaus zufrieden, 
während sich früher einzelne Mängel zeigten. 

Literatur: Schlecht, Münchener med. Wochenschr., 1907, Nr. 34. — Zuklzer, Zeit¬ 
schrift f. ärztl. Fortbildung, 1908, Nr. 2. — Schultze. Therapie der Gegenwart, August 1909. 

Zue her 

Givasanzahnpaste enthält als wirksamen Bestandteil Hexa¬ 
methylentetramin. Sie soll nach Boss durch Abspaltung von Formaldehyd 
antiseptisch wirken und sich zur Mundpflege bei Quecksilberkuren eignen. 
Die nähere Zusammensetzung ist nicht angegeben. 

Literatur: Boss, Über die Mundpflege bei Quecksilberkuren mit besonderer Berück¬ 
sichtigung der Givasanzahnpaste. Med. Klinik, 1909, Nr. 10, pag. 361. E. Frey, 


Glüblicbtbäder bei Asthma. Strümpell hat bei der Behand¬ 
lung des Bronchialasthmas die elektrischen Glühlichtbäder empfohlen. Er 
hatte schon früher bei allen Formen chronischer Bronchitis mit Vorliebe 
methodische Schwitzkuren angewandt und versuchte daher auch die Fälle 
von asthmatischer Bronchitis mit Schwitzkuren zu behandeln. Schon die 
gewöhnlichen älteren Methoden (Schwitzbett mit Zufuhr erhitzter Luft) ließen 
ihn recht günstige Erfolge erzielen; nachdem er jedoch in systematischer 
Weise die Glühlichtbäder in 12 Fällen von typischem, zum Teil sehr schwerem 
Bronchialasthma angewandt hatte, empfahl er diese Methode weiteren 
Kreisen. Er hebt hervor, daß die Anwendung der Glühlichtbäder beim Bron¬ 
chialasthma strenger Individualisierung und sorgfältiger ärztlicher Über¬ 
wachung bedarf. Dieselben sollten daher im allgemeinen nicht ambulatorisch, 
sondern in einer entsprechenden Heilanstalt durchgeführt werden. Ira eigent¬ 
lichen akuten asthmatischen Anfall selbst ist das Glühlichtbad, was weiter 


Digitized by 


Google 



Glühlichtbäder bei Asthma. — Guajakose. 


199 


nicht wandernehznen kann, nicht anwendbar. Sobald aber die quälendste 
Dyspnoe beseitigt ist, geht Strümpell gleich zur Anwendung der Glühlicht- 
bäder Qber. In schweren Fällen, bei schwächlichen oder ängstlichen Kranken 
beginnt er mit örtlicher Bestrahlung der Brust, wobei die Kranken bequem 
im Bett liegen bleiben können. Die dazu nötigen Apparate mit ca. 8—10 Glüh¬ 
lichtlampen sind bequem an jede Leitung anzuschließen. In den meisten 
Fällen lassen sich die Kranken gleich in den Glühlichtscliwitzkasten bringen 
(mit 40 Glühlampen). Der draußen befindliche Kopf wird mit der Kühlkappe 
gekühlt. Auf die Herzgegend wird stets ein Kühlschlauch gelegt. Man fängt 
vorsichtig mit kurzdauernden Bädern von anfänglich nur 5— 6 Minuten an, 
steigt, wenn die Kranken die Bäder gut vertragen, auf 10—12, später auf 
15—20 Minuten. Nach ca. 2—3 Minuten tritt meist eine intensive Schwei߬ 
produktion unter subjektivem Wohlgefühl der Kranken ein. Nach dem Licht¬ 
bade kommen die Kranken sofort in ein warmes Wasserbad und dann auf 
2 Stunden ins Bett. Die Prozedur kann gewöhnlich täglich wiederholt werden. 
Nach 4—5 Bädern zeigt sich meist bereits die günstige Wirkung. Objektiv 
ist die Besserung durch das Verschwinden der bronchitischen Geräusche 
nachweisbar. Manchmal läßt natürlich der Erfolg längere Zeit auf sich 
warten, nur in einem Falle trat überhaupt kein Erfolg ein. Die Gesamt¬ 
behandlung betrug im Durchschnitt 4 — 6 Wochen. Strümpell hebt hervor, 
daß die bisher von ihm behandelten Patienten, soweit ihm bekannt, rezidiv¬ 
frei geblieben sind, obschon, wie natürlich, mit der Möglichkeit eines Rezi¬ 
divs gerechnet werden muß. Neben der Glühlichtbehandlung hat Strümpell 
in seinen Fällen weiter keine Medikamente angewendet. Über die Art der 
Wirkung äußert sich Strümpell nicht näher. Er ist geneigt, eine ähnliche 
sekretionssteigernde Wirkung wie auf die Schweißdrüsen so auch auf die 
Bronchialepithelien anzunehmen, doch wird die Wirkung wohl nicht nur eine 
rein schweißtreibende sein. 

Davidsohn macht besonders darauf aufmerksam, indem er zum Teil 
auf die in der STRüMPELLschen Mitteilung geäußerten Anschauungen hin weist, 
daß die Glühlichtbäder kein harmloses Verfahren darstellen; vielmehr dürfen 
sie nur unter Aufsicht eines Arztes angewandt werden, der besonders das 
Verhalten des Herzens zu kontrollieren hat. Er weist an der Hand einiger 
Fälle darauf hin, daß durch irrationell angewandte Lichtbäder schwere 
Schädigungen hervorgerufen werden können, und tritt dafür ein, daß es ver¬ 
boten werden müßte, elektrische Glühlichtbäder in den offenen Badeanstalten 
und Kurpfuscheranstalten aufzustellen und an das Publikum abzugeben. Für 
die in Rede stehende Behandlung der Asthmatiker geht aus den mitge¬ 
teilten Erfahrungen und Mahnungen Davidsohns hervor, daß man bei der 
Verordnung der Glühlichtbäder die Kranken nicht in eine beliebige Anstalt 
schicken darf, sondern nur in solche, die unter Leitung eines erfahrenen 
Arztes stehen; daß man aber am besten tut, dem Rate Strümpells zu 
folgen und die Kranken zur Behandlung vollkommen in eine Privatanstalt 
za legen. 

Literatur: Davidsohn, Therapie der Gegenwart, 1908, Nr. 3. — Sthümpell, Med. 
Klinik, 1908, Nr. 1. G . Zuelzer . 

Guajakose ist eine Mischung von flüssiger, aromatisierter Soma¬ 
tose und 5%igem guajakolsaurem Kalzium. Götte hat bei Phthise von ihrer 
Anwendung Gutes gesehen. 

Literatur: Götte, Ein Beitrag zur Wirkung der Guajakose. Die Therapie d. Gegen¬ 
wart, März 1909, pag. 163. E . Frey . 


Digitized by t^oooLe 



Hallauer Gläser siehe Ultraviolette Strahlen. 


Hormone. Der Begriff des Hormons ist von dem englischen Phy¬ 
siologen Stauung geschaffen worden. Starling versteht unter Hormonen die 
Produkte der inneren Sekretion verschiedener Organe, genauer ausgedrückt, 
chemische Körper, welche in spezifischer Weise von bestimmten Zellen¬ 
gruppen produziert werden, in den Kreislauf gelangen und bestimmte andere 
Zellenkomplexe zu ihrer spezifischen Tätigkeit anregen. Der Name der Hor¬ 
mone ist von dem griechischen op^aco, ich rege an, abgeleitet. Zum besseren 
Verständnis des Wesens der Hormone, wie ihn sich Starling vorstellt, sei 
kurz auf seinen Gedankengang eingegangen. »Wir haben uns«, so führt er 
aus, daran gewöhnt, jeden Lebensvorgang im tierischen Körper als ein Glied 
in der endlosen Kette seiner Anpassung an die Umgebung zu betrachten, 
von denen jeder Anpassungsvorgang sich wieder aus einer ganzen Anzahl 
einzelner wechselseitiger Adaptionstätigkeiten zwischen oft sehr verschiedenen 
Teilen des Körpers zusammensetzt. Diese gemeinsame Tätigkeit verschiedener 
Organe setzt die Existenz eines vermittelnden oder kontrollierenden Mechanis¬ 
mus voraus, welch letzterer vielfach durch das Nervensystem repräsentiert 
wird. Der Consensus partium ist jedoch keine den höheren Tierarten ausschlie߬ 
lich zukommende Eigenschaft. Er ist charakteristisch für alle und jede orga¬ 
nische Existenz und findet sich ausnahmslos in der ganzen Pflanzen- und 
Tierwelt vor; in vielen Fällen, bei völligem Fehlen eines Nervensystems. In 
diesen letzteren Fällen müssen die gegenseitigen Beziehungen zwischen ver¬ 
schiedenen Teilen des Organismus durch chemische Mittel herbeigeführt 
werden. Die auffälligste Reaktion bei den niedrigsten Organismen, wie z. B. 
bei Bakterien, sind jene, welche durch chemische Substanz bedingt und all¬ 
gemein als chemotaktische bezeichnet werden. Die chemotaktische Empfind¬ 
lichkeit, so führt Starling weiter aus, ist der bestimmende Faktor bei der 
Anhäufung von Bakteiien und anderen einzelligen Organismen um Nahrungs¬ 
stoffe, bei der Ar Sammlung von Phagozythen um fremde Körper und bei 
der Vereinigung der Geschlechtszellen bei Pflanzen und Tieren. Bei Pflanzen 
und niedrigen Tierarten muß die Übertragung einer Beeinflussung, die durch 
ein chemisches Mittel dargestellt wird, von einem Teil des Organismus zu 
einem andern ein verhältnismäßig langsamer Prozeß sein. Mit dem Auftreten 
eines Gefäßsystems und einer kreisenden, alle Körperzellen in gleicher Weise 
durchtränkenden Flüssigkeit ändert sich dies. Es kann keine chemische Sub¬ 
stanz gebildet und von irgend einer Zelle ausgeschieden werden, ohne in 
kurzer Zeit zu allen übrigen Körperzellen zu gelangen. Dadurch wird ver¬ 
schiedenen Teilen des Körpers ein gemeinsames Wirken ermöglicht, indem 
gewisse chemische Substanzen im Stoffwechsel eines der zu gemeinsamer 


Digitized by 


Google 



Hormone. 


201 


Arbeit verbundenen Teile gebildet und von da aus vermittelst der zirku¬ 
lierenden Flüssigkeit über den ganzen Körper verbreitet werden. Die Vor¬ 
stellung, daß unter den Bestandteilen der inneren Ernährungsflüssigkeit des 
Organismus sich gewisse Substanzen befinden, deren Aufgabe es ist, nicht 
als Nahrungsstoffe im gewöhnlichen Sinne des Wortes, sondern als sog. Reiz¬ 
stoffe zu dienen, ist den Botanikern längst geläufig geworden. Trotzdem ist 
es uns bisher nicht möglich gewesen, eine genaue Grenze zu ziehen zwischen 
den Substanzen, die, wenn auch in kleinsten Mengen zum Aufbau des Zellen- 
Systems selbst notwendig sind, und solchen, deren Aufgabe es ist, die Funk¬ 
tion des bereits gebildeten Plasmas zu modifizieren. »Während der Wert der 
ersteren in ihrer Fähigkeit liegt, dem Körperaufbau Material und Energie 
zuzuführen, sind die letztgenannten Reizstoffe nicht assimilierbar und liefern 
keine nachweisbaren Energiemengen. Ihre Aufgabe liegt vielmehr in ihrem 
dynamischen Einfluß auf die lebenden Zellen. Sie sind Reizstoffe, die eine 
gewisse Analogie mit den Substanzen haben, aus welchen die gewöhnlichen 
Heilmittel unserer Pharmakopoe bestehen. Diese Reizstoffe, also Hormone 
genannt, sind mit großer Wahrscheinlichkeit chemische Körper von bestimmter 
Konstitution, welche gewisse wohlcharakterisierte Beziehungen zwischen den 
verschiedenen Funktionen verschiedener tierischer Organe miteinander ver¬ 
mitteln. 

Sehr einfache Beispiele für diese hormonische Reaktion bietet die Bo¬ 
tanik. Es zeigt sich, daß bestimmte Narben mit fremden Pollen nur dann 
befruchtet werden oder wenigstens ein partielles Wachstum zeigen können, 
wenn ein bestimmter vorbereitender chemischer Reiz die Narbenfläche dazu 
geeignet gemacht hat. 

Das einfachste Beispiel für den tierischen Organismus auf dem Gebiete 
der chemischen Korrelation bietet der Mechanismus, vermittelst dessen ein 
sich kontrahierender Skelettmuskel mit der notwendigen Sauerstoffmenge 
versorgt wird. 

Die Tätigkeit des Atemzentrums wird durch die Kohlensäurespannung 
im Blutplasma und letztere wiederum durch die Spannung der Kohlensäure 
in den Lungenalveolen bestimmt. Erhöhte Muskeltätigkeit vermehrt die 
Kohlensäureausscheidung durch die Muskeln und erhöht so die Spannung 
der Kohlensäure im Blute. Diese erhöhte Kohlensäurespannung gibt wiederum 
einen Reiz für die erhöhte Tätigkeit des Atemzentrums ab. Dadurch wird 
die Atmung so vertieft und beschleunigt, bis wieder die normale Kohlen- 
säorespannung im Blut herrscht. In diesem Falle wird also das Hormon 
durch die Kohlensäure, eines der gewöhnlichsten Produkte des Stoffwechsels, 
dargestellt. 

Ein weiteres Hormon haben Bayliss und Stahling uns in dem Sekretin 
kennen gelehrt. Wrrtheimer und Popiklski hatten gezeigt, daß die Einfüh¬ 
rung von Säuren in das Duodenum oder den Anfangsteil des Dünndarms 
auch nach Durchtrennung der beiden Nervi vagi und splanchnici und nach 
Zerstörung des Rückenmarks eine Sekretion von Pankreassaft hervorruft. 
Daraus schlossen sie auf einen auf dem Wege des peripheren Nervensystems 
allein zustande kommenden reflektorischen Vorgang. Bayliss und Stahling 
gingen weiter und schalteten jegliche nervöse Verbindung an einem Stück 
des Dünndarms im oberen Teil des Jejunums aus, während sie nur die Ge¬ 
fäßverbindungen bestehen ließen, und erhielten alsdann durch Einführung einer 
0*4 0 / (f igen Salzsäure in eine derartig isolierte Darmschlinge die gleiche Menge 
von Pankreassaft, wie sie sie erhalten hatten, als sie die Säure in den in¬ 
takten Darm eiugeführt hatten. Da durch die Untersuchungen Wkrtheimers 
bekannt war, daß die Einführung der Säure in den Blutkreislauf an sich 
ohne Einfluß auf die Pankreassekretion ist, so schlossen sie aus ihren Ex¬ 
perimenten, daß die Säure auf die Darmepithelzellen wirkt und die Anregung 


Digitized by 


Google 



202 


Hormone. 


zur Bildung einer Substanz innerhalb dieser Zellen gibt. Diese Substanz 
wird, so schlossen sie weiter, vom Blute absorbiert und der Drüse zöge- 
führt, auf deren Sekretionszellen sie als spezifischer Reiz wirkt. Den Beweis 
für diese Auffassung erbrachten sie dadurch, daß sie ein kleines Stück Darm¬ 
schleimhaut abschabten, mit Säure verrieben und den rasch filtrierten Ex¬ 
trakt in die Vena jugularis injizierten. Der Erfolg war eine mächtigere Se¬ 
kretion von Pankreassaft innerhalb zweier Minuten, als sie durch Einführung 
der Säure in Darmschleimhaut zu erzielen war. Dieses Hormon wurde Se¬ 
kretin genannt, und durch die Entdeckung dieses Hormons wurde bewiesen, 
daß das Pankreas die entscheidende Anregung zur Sekretion nicht auf 
nervösem, sondern auf dem Blutwege erhält. 

Das Prosekretin, d. h. der chemische Körper, der durch die Säurezu¬ 
fuhr zum Sekretin umgewandelt wird, ist im Duodenum und im ganzen 
Jejunum enthalten. Das Sekretin ist hitzebeständig; es löst sich in 90%»£ em 
Alkohol und ist, wenn auch langsam, dialysierbar. Durch Tannin wird es 
nicht gefällt, während es durch oxydierende Agentien zerstört wird. Das 
Sekretin bleibt wirksam, auch wenn es nach seiner Umwandlung aus dem 
Prosekretin mit Salzsäure nachher neutralisiert wird; es wirkt in spezifischer 
Weise auf das Pankreas, daneben wirkt das gereinigte, sicher von allen 
Gallensalzen befreite Sekretin auch auf die Gallensekretion. Die Sekretin¬ 
wirkung ist bei einer großen Menge von Wirbeltieren aller Klassen in genau 
der gleichen Weise wie beim Hunde, bei denen sie entdeckt wurde, wieder¬ 
gefunden worden. Sehr wichtig ist. daß alle versuchten Tiere das gleiche 
Sekretin produzierten, das also auch auf ganz andere Tierarten wirkt. 

Schon kurz erwähnt wurde die Wirkung des Sekretins auf die 
Leber. Starling sieht darin ebenfalls eine spezifische Hormonwirkung, und 
zwar ein Zeichen eines besonders ökonomischen Organismus, in dem die 
Tätigkeit der drei Organe, deren Säfte zusammenzuwirken berufen sind, 
Pankreassaft, Galle und Succus entericus, durch ein und dasselbe Hormon 
angeregt werden. Mit Bezug auf die Sekretion des Succus entericus nach 
Einverleibung von Sekretin ist der Nachweis freilich nicht ganz so unzwei¬ 
deutig gelungen wie für die beiden erstgenannten Drüsen und wird auch 
nicht allgemein anerkannt. 

Die weiteren Untersuchungen von Starling zeigten, daß der tierische 
Organismus nicht nur Hormone produziert, welche das reagierende Organ zu 
erhöhter Tätigkeit anregen, sondern daß auch Hormone existieren, welche 
ihre Reizwirkung durch das erhöhte Wachstum der betreffenden Organe 
äußern. Er konnte zeigen, daß das Wachstum der Milchdrüse während der 
Schwangerschaft unter normalen Verhältnissen durch ein chemisches Hormon 
bedingt wird, welches hauptsächlich im heranwachsenden Embryo erzeugt 
und durch die Placenta hindurch auf dem Wege des Blutstroms der Drüse 
zugeführt wird. Daß Beziehungen zwischen den Sexualorganen und der Milch¬ 
drüse bestehen, war schon lange als sicher angenommen worden. Die Unter¬ 
suchungen von Eckhard, Ribbert, Goltz, Ewald u. a., welche an des Rücken¬ 
marks beraubten Tieren vorgenommen waren, hatten schon darauf hinge¬ 
wiesen, daß das Wachstum der Brustdrüse, besonders in der Gravidität, 
nicht durch nervöse Impulse vermittelt werden könne, sondern daß chemische 
Körper, die im Uterus, in der Plazenta oder im Fötus gebildet werden, das kor¬ 
relative Wachstum der Drüsen verursachen müßten. Eine sichere Quelle des 
Reizes war jedoch nicht gefunden worden. Starling ging bei seinen Unter¬ 
suchungen so vor, daß er virginalen Kaninchen Extrakte von Embryonen, 
von Ovarien, Plazenten und Uterusschleimhaut injizierte, in der Hoffnung, 
dadurch eine ähnliche Mammahypertropbie, wie sie während der Gravidität 
vorkommt, zu erzielen. Es gelang diesem Forscher, durch Injektion von 
Embryonenextrakt in 6 Fällen bei virginalen Kaninchen ein Wachstum der 


Digitized by 


Google 



Hormone« 


203 


Brustdrüsen hervorzurufen, welches dem während der ersten Phasen der 
Trächtigkeit stattfindenden gleicht. Es bestand in Proliferation der die 
Drüsengänge auskleidenden Epithelien und Neubildung von Drüsengängen 
durch Verzweigung der alten Gänge. In einem der Versuche wurde die In¬ 
jektion 5 Wochen lang fortgesetzt und dem Kaninchen im ganzen der Extrakt 
von 160 Embryonen injiziert. In diesem Falle kam es sogar zur Bildung 
wirklich sezernierender Acini im peripheren Teil der Drüse. 

Die Einspritzung von Extrakt aus Uterus, Plazenta oder Ovarien hin¬ 
gegen hatte keinerlei Wachstum zur Folge. Der Beweis, daß das Embryonen¬ 
extrakt das spezifische Wachstumshormon für die Brustdrüsen (Mammahormon) 
enthält, erscheint damit erbracht. Auch dies Mammahormon verträgt wie das 
Sekretin das Erhitzen. Es teilt diese Eigenschaften mit dem wohl am längsten 
bekannten Hormon, dem Adrenalin. Das Adrenalin, das Produkt der Neben¬ 
niere, hat eine mehrfache Funktion. Es dient einmal zur Regulierung des 
Blutdruckes und hat zweitens, wie Zuelzer, auf den Versuchen Blums 
basierend, zuerst gezeigt hat, die Aufgabe der Zuckermobilisierung im tie¬ 
rischen Organismus. Die Hormonwirkung, d. h. die anregende Wirkung besteht 
also beim Adrenalin darin, daß ein in der Nebenniere produziertes inneres Sekret, 
das sich als chemisch faßbarer und synthetisch darstellbarer Körper, das 
Adrenalin, darstellt, auf den Blutdruck und auf die Zuckerausschüttung ein¬ 
wirkt. Was zunächst die Blutdruckwirkung anbelangt, so ist es zweifellos, 
daß das Adrenalin die Aufgabe hat, den Blutdruck des tierischen Organis¬ 
mus auf der für das Leben notwendigen Höhe zu erhalten. Exstirpiert man 
nämlich einem Tiere die Nebennieren, so geht das Tier mit Sicherheit, je 
nach der Tierart, schnell oder langsamer zugrunde. Die Katze, welche die 
Exstirpation der Nebennieren am relativ längsten überlebt, lebt ca. 3—5 Tage. 
Hunde sterben meist innerhalb 24—36 Stunden. Unterbindet man die ab¬ 
führenden Venen der Nebennieren, verhindert man also den Zufluß des ständig 
produzierten Adrenalins zum Organismus, so tritt fast innerhalb derselben 
Zeit wie nach der Exstirpation der Tod des Versuchstieres ein. Zufuhr von 
Adrenalin auf intravenösem Weg vermag nur vorübergehend den Tod auf¬ 
zuhalten. Dies ist verständlich, da das frisch eingebrachte Adrenalin nur 
eine vorübergehende Wirkung hat, zur dauernden Aufrechterhaltung des 
Lebens aber eine dauernde Adrenalinzufuhr notwendig wäre. 

Neben dieser nur in den gröbsten Umrissen geschilderten Blutdruck¬ 
wirkung des Adrenalins, die durch die positiven Experimente der Adrenalin¬ 
zufuhr ebenso gestützt erscheinen wie durch die negativen der Adrenalin¬ 
entziehung, steht die Hormonwirkung des Adrenalins auf den Zuckerstolf- 
wechsel. Es dient das Adrenalin, wie zuerst durch die Untersuchungen von 
Zu elzer gezeigt wurde, dazu, den in den Geweben als Glykogen deponierten 
Zucker zu mobilisieren, d. h. in den Kreislauf zu bringen. Wiesel und Schur 
haben dies, was von Zuelzer für die Leber nachgewiesen wurde, für den 
Muskelzuckerstoffwechsel bewiesen. Die Einzelheiten dieser Experimente sind 
in der Adrenalinliteratur niedergelegt. (Siehe Artikel: Chromaffines Gewebe, 
Jahrg. 1908, pag. 115ff. sowie den Artikel: Pankreasdiabetes, pag. 480 ibid.) 

Die Frage, ob dasselbe Hormon auf den Zuckerstoffwechsel und auf 
die Blutdruckerhöhung wirkt, mit anderen Worten, ob der chemische Körper, 
das Adrenalin mit denselben Molekulargruppen die Blutdrucksteigerung und 
die Zuckerausschüttung bewirkt, ist bis jetzt noch nicht beantwortet worden. 
In noch nicht veröffentlichten Versuchen ist Dohrn und Zuelzer der Nachweis 
gelungen, daß in der Tat die beiden genannten Funktionen in gleicher Weise 
mit dem Hormon verknüpft sind. Diejenigen Reaktionen nämlich, welche die 
zuckerausschüttende Wirkung des Adrenalins unterdrücken — Einwirkung von 
wirksamem Pankreashormon (s. u.) auf das Adrenalin — heben auch die 
typische Blutdrucksteigerung auf. Zuckermobilisierung und vasokonstrikto- 


Digitized by 


Google 


204 


Hormone« 


rische Blutdrucksteigerung scheint demnach eng miteinander verknüpft und 
es verspricht diese Erkenntnis, uns den Weg zu weisen, wie wir in das 
Geschehen der Zuckermobilisierung unter normalen und pathologischen Ver¬ 
hältnissen Einblick gewinnen werden. 

Nach der Definition Starlings werden wir vermutlich in den inneren 
Sekreten aller Gefäßdrüsen, wie es für das Adrenalin schon dargetan wurde, 
wirksame Hormone zu erblicken haben. Für das Pankreashormon ist dieser 
Nachweis durch die Arbeiten von Zuelzer sichergestellt. Es ist das Sekret 
der Pankreasdrüse der Antagonist des Adrenalins. Injiziert man z. B. gleich¬ 
zeitig subkutan oder intravenös (kontinuierlich nach Straub) einem Versuchs¬ 
tiere Adrenalin und wirksames Pankreasextrakt, so tritt nicht die nach 
alleiniger Adrenalininjektion regelmäßig auftretende Glykosurie und Glykämie 
ein. Um in diesem Sinne wirksames Pankreashormon zu gewinnen, benutzt man 
am sichersten Drüsen lebender Tiere auf der Höhe der Verdauung, die am 
besten längere Zeit vorher durch Abbinden der Venen gestaut wurden. Um den 
Antagonismus nacbzuweisen, kann man auch so vorgehen, daß man das 
Pankreasextrakt längere Zeit auf das Adrenalin einwirken läßt und dann 
die Mischung injiziert. Bei wirksamen Pankreaspräparaten tritt dann keine 
Glykosurie und, wie schon oben ausgeführt, keine typische Blutdrucksteige¬ 
rung ein. Auf die weiteren von Zuelzer erbrachten Beweise für den Anta¬ 
gonismus der beiden Hormone ist hier ebenfalls nicht näher einzugehen, da 
dieser Gegenstand schon in dem oben erwähnten Artikel »Pankreasdiabetes« 
näher auseinandergesetzt wurde. Es sei nur erwähnt, daß das Pankreas¬ 
hormon seine Wirksamkeit auf den Zuckerstoffwechsel nicht nur im Tier¬ 
versuch, sondern auch bereits in einigen Fällen von menschlichem Diabetes 
erwiesen hat. 

Die angeführten Beispiele zeigten, daß die so ganz verschiedenartigen 
biologischen Funktionen, wie das Wachstum der Brustdrüse, die äußere 
Pankreassekretion, die Regulierung des Zuckerstoffwechsels, die Regulierung 
des Blutdrucks auf chemischem Wege angeregt werden, und zwar von be¬ 
stimmten Organen aus, die von den mit der eigentlichen Funktion betrauten 
Organen räumlich mehr oder minder weit entfernt liegen. Zuelzer konnte 
gemeinsam mit Dohrn und Marxer zeigen, daß auch für die Funktion der 
Darmperistaltik ein solches spezifisches Hormon existiert, daß also die 
normale Darmperistaltik durch ein besonderes Hormon ausgelöst wird. 

In Analogie zu dem Sekretinhormon für die Pankreassekretion, in 
Analogie ferner zu den von Pawlow aufgedeckten Tatsachen der Verdauungs¬ 
physiologie, wonach bekanntlich der Kauakt bereits die Sekretionsverhält¬ 
nisse des Magens beeinflußt, wonach die BRUNNERschen Drüsen des Duo¬ 
denums zu ihrer Betätigung der vorhergehenden Salzsäuresekretion des 
Magens bedürfen, in Analogie zu allen diesen noch leicht zu vermehrenden 
Beispielen war es in hohem Grade wahrscheinlich, daß der Ort, welcher das 
Peristaltikhormon, um diese bequeme Bezeichnung zu wählen, enthielt, der 
Magen sein mußte. Es ist Zuelzer in der Tat gelungen, ein solches Hormon 
aus der Magenschleimhaut darzustellen. Vorbedingung für die Gewinnung 
dieses Hormons ist, ebenso wie er es für die Gewinnung des Pankreashor¬ 
mons schon gezeigt hatte, daß das Tier auf der Höhe der Verdauung steht 
Aus dem nüchternen Magen läßt sich das die Peristaltik anregende Hormon 
nicht darstellen. Es wirkt dieses Hormon wie auch die übrigen Hormone 
vom Wege der Blutbahn aus. Wenn man also das Peristaltikhormon einem 
Kaninchen intravenös injiziert, so tritt wenige Sekunden bis Minuten danach 
eine energische, von dem Duodenum beginnende und bis zum Rektum ver¬ 
laufende Peristaltik auf. Läßt man die Darmschlingen des chloralisierten Ver¬ 
suchskaninchens in Kochsalzwasser schwimmen, so sieht man, wie die Kot¬ 
massen von oben nach unten zu vorgeschoben werden; zuerst tritt eine starke 


Digitized by 


Google 



Hormone. 


205 


Bewegung in den Dünndarmschlingen auf, die sich allmählich nach dem Rek¬ 
tum zu fortpflanzt und schließlich auf das Rektum Übertritt. Man sieht end¬ 
lich, wie Kotbalien und Luftblasen aus dem Rektum austreten. 

Was die Darstellungsweise des Hormons anbelangt, so ist dasselbe mit 
Kochsalzwasser oder verdünnter Salzsäure aus der Magenschleimhaut zu 
extrahieren und das Eiweiß durch Alkohol zu entfernen. Die Mägen der 
verschiedenen Tiere, welche geprüft wurden, Kaninchen, Schwein, Pferd, Rind, 
enthalten sämtlich das Hormon. Es ist interessant, daß von den vier Mägen 
des Rindes nur der sog. Lab- oder Drüsenmagen, welchem also die eigent¬ 
liche Verdauung obliegt, das Peristaltikhormon enthält. Man kann es eben¬ 
falls, wenn auch nicht in gleicher Stärke und mit gleicher Regelmäßigkeit 
wie aus der Magenschleimhaut aus den obersten Partien der Duodenal¬ 
schleimhaut gewinnen. 

Starling hat bereits 1. c. darauf hingewiesen, daß die Wirkung der 
Hormone derjenigen der Alkaloide zu vergleichen sei. Bei dem Poristaltik- 
hormon liegt die Vergleichsmöglichkeit insofern besonders günstig, als man 
in dem Physostigmin ein Mittel besitzt, das auf die Darmkontraktionen in 
ähnlicher Weise einwirkt wie das Peristaltikhormon. Auf einen Unterschied 
der beiden macht Zuelzer jedoch aufmerksam, der darin besteht, daß 
das Peristaltikhormon einen gewissermaßen physiologischen Ablauf der 
Darmperistaltik bewirkt, während bei der Physostigminwirkung zwar auch 
die Darmkontraktion am Duodenum beginnt und bis zum Rektum fort- 
scbreitet, sich aber als eine tetanische Kontraktion darstellt, welche als 
Tetanus bestehen bleibt, nachdem die eigentliche peristaltische Welle be¬ 
reits fortgeschritten ist. 

Die Fortführung der Untersuchungen über das Peristaltikhormon durch 
Dohrn, Marxer und Zuelzer, die bisher noch nicht veröffentlicht wurden, 
ergaben, daß das Peristaltikhormon, ähnlich wie wir es von den Pepsin-, 
Trypsin- und anderen Fermenten bereits wissen, ubiquitär ist. Es ist ja 
natürlich, daß ein durch die Blutbabn transportierter chemischer Körper 
in geringster Menge überall existieren und nachweisbar sein muß, voraus¬ 
gesetzt, daß nur die Methoden des Nachweises fein genug sind. Wenn also 
minimalste Mengen des Peristaltikhormon in den meisten Organen, vor allem 
in der Leber, den Nieren nachweisbar sind, so bat als Depot für Peristaltik- 
bormon doch nur die Milz ein allgemeineres biologisches Interesse. In der 
Milz ist nämlich das Peristaltikhormon in so großen Mengen aufgestapelt, 
daß es in höchstem Grade wahrscheinlich ist, daß die Milz die physiologi¬ 
sche Funktion dieser Peristaltikhormonaufstapelung besitzt. 

Das Peristaltikhormon hat nicht nur ein physiologisches Interesse, 
sondern ein ebenso praktisch-therapeutisches, wie wir es auch für das Pan¬ 
kreashormon bereits angedeutet haben. Starling hat in in seinen grund¬ 
legenden Mitteilungen bereits darauf hingewiesen, daß die Hormone, die in 
bezug auf ihre physiko-chemische Konfiguration Arzneimitteln vergleichbar 
sind, uns sicher ein Rüstzeug wirksamer Faktoren in die Hände liefern 
werden, durch die uns möglich werden könnte, die meisten Funktionen des 
Körpers zu beeinflussen. Die mögliche Beeinflussung des menschlichen Dia¬ 
betes durch Einführung eines Pankreashormons in den Kreislauf, die durch 
Zuelzer in ihren Anfängen verwirklicht ist, hat Starling expressis verbis 
vorausgesagt. Die therapeutische Beeinflussung der Obstipation durch das 
Peristaltikhormon dürfte in zweiter Reihe die Voraussage Starlixgs ver¬ 
wirklichen helfen. Es liegen nämlich bereits eine Reihe von Erfahrungen 
vor, welche in dem Peristaltikhormon das spezifische Mittel zur Anregung 
der Darmperistaltik bei Verstopfung erblicken lassen. In über einem Dutzend 
Fällen hatte die einmalige intramuskuläre Einspritzung von je 10—20c*w 3 
sterilen Peristaltikhormons die Folge, daß jahre- bis jahrzehntelang be- 


Digitized by 


Google 



206 


Hormone. 


stehende Verstopfungen gehoben wurden. Die Patienten hatten infolge der 
Einspritzung spontan regelmäßigen Stuhlgang, und zwar erstreckte sich die 
Dauer der Wirkung in dem bis jetzt am längsten beobachteten Falle auf 
v 2 Jahr. Den positiven Erfolgen stehen bisher nur wenige negative gegenüber, 
wovon einer eine Tabes betrifft. 

Als Schluß unserer Betrachtungen Aber dieses neue biologische Gebiet 
glaube ich die Schlußworte des mehrfach hervorgehobenen STARLiNOschen 
Vortrages setzen zu dürfen: »Das Streben der modernen Wissenschaft löst 
sich mehr und mehr in ein Ringen um eine immer weiter reichende Ein¬ 
flußnahme auf. Chemiker und Physiker sind bestrebt, immer mehr Macht 
sich anzueignen, die in der Materie schlummernden Kräfte frei zu machen 
und die das Weltall durchströmenden Energiemengen in den Dienst der 
Menschheit zu stellen. Uns ist die noch schwierigere Aufgabe zuteil ge¬ 
worden, die Bedingungen der in uns selbst waltenden Tätigkeiten zu er¬ 
forschen und Einfluß zu gewinnen auf Funktionen und Wachstum jedweden 
Organes in unserem eigenen Körper. Obwohl wir noch weit von der Er¬ 
reichung eines solchen Zieles entfernt sind, werden Sie mir doch darin zu¬ 
stimmen, daß die während der letzten Jahre auf biologischem Gebiete ge¬ 
machten Fortschritte, von denen der Gegenstand meines heutigen Vortrages 
ein Bruchstück bildet, uns die Erreichung eines Zeitpunktes verheißen, in 
dem wir Ärzte — im Besitz vollständiger Kontrolle über die Funktionen 
unseres Organismus — die Herrschaft über den menschlichen Körper wirk¬ 
lich antreten werden. 

Dies ist der zuversichtliche Glaube, der unsere Arbeit leitet!« 

Literatur: Stauung, Zentral bl. f. Stoffwech?elkrankh. etc., 1907.— Zublzbb, Kongreß 
!. innere Med., 1907. — Dohrn, Mabxeb, Zublzer, Deutsche med. Wocbenscbr., 1908, Nr. 48. 
— Dieselben, Berliner klin. Wochenscbr., 1909. G.Zaelzer. 


Digitized by 


Google 



Insufficientia vertebrae« H. Schanz (Dresden) bezeichnet als 
»Insufficientia vertebrae« eine typische Erkrankung der Wirbelsäule, bei 
welcher die Kranken hauptsächlich über unbestimmte Schmerzen in den 
Bauch- oder Brustorganen zu klagen pflegen, ohne daß Veränderungen an 
diesen Organen nachzuweisen wären, und bei denen sich eine schmerzhafte 
Stelle an der Wirbelsäule nacbweisen läßt, die aber in keines der in der 
Orthopädie bisher bekannten Bilder von schmerzerregenden Wirbelsäulen¬ 
erkrankungen einzureihen ist. Die Klagen der Kranken betreffen entweder 
Storungen des Magens oder Darms, Appetitlosigkeit oder Erbrechen. Bei 
höher gelegenen Schmerzen wird die Leber, das Herz oder die Lungen als 
Krankheitsherd bezeichnet; bei Frauen hört man häufig Klagen über Becken¬ 
schmerzen u. dgl. Es ist selten, daß die Kranken spontan über Rücken¬ 
schmerzen klagen, zura mindesten treten diese Klagen hinter den anderen 
zurück. Wie schon erwähnt, ergibt die Untersuchung der angeschuldigten 
Organe meist ein negatives Resultat, nur wurde nicht selten bei den Pa¬ 
tienten, welche über Magenschmerzen klagten, Hyperazidität gefunden, doch 
hebt Schanz hervor, daß die übermäßige Säurebildung jedenfalls nicht zur 
Erklärung der Schmerzen herangezogen werden kann, da in seinen Fällen 
auch nach Beseitigung der Hyperazidität die Schmerzen fortbestanden. Schanz 
fährt bei der Beschreibung dieses Krankheitszustandes folgendermaßen fort: 
»Der Arzt, welcher sich in dieser Situation nicht mit den vielfach beliebten 
Aushilfsdiagnosen der Nervosität oder der Hysterie begnügt und welcher 
den Körper des Patienten weiter durchsucht, stößt nun an der Wirbelsäule 
auf eine oder mehrere schmerzhafte Stellen. Klopft man die Dornfortsätze 
hier ab, so bekommt man Schmerzwahrnehmungen, welche in ihrer Stärke, 
in der Lage und in der Ausdehnung des schmerzhaften Bezirkes sehr weit 
variieren, die aber doch, wenn man solche Fälle zusammenstellt, eine große 
Einheitlichkeit bewahren. Die Stärke des Klopfschmerzes variiert zwischen 
der Angabe, daß das Klopfen an der oder jener Stelle unangenehmer emp¬ 
funden wird, und zwischen Zusammenzucken und lautem Aufschreien. Man 
stellt den Klopfschmerz besonders häufig an zwei Stellen fest. Die erste Stelle 
entspricht der Mitte des Brustteils der Wirbelsäule, die zweite Prädilektions¬ 
stelle liegt im unteren Teile der Lendenwirbelsäule. Seltener finden wir den 
oberen Teil der Lendenwirbelsäule und die Grenzen zwischen Brust- und 
Halsteil befallen; immerhin sind dies noch zwei Plätze, welche in der Häufig¬ 
keitsskala direkt nach den beiden erstgenannten zu setzen sind. Neben 
diesen am häufigsten befallenen Punkten sind andere Lokalisationen aber 
auch nicht ausgeschlossen.« 

In anderen Fällen, in denen eine Druckempfindlichkeit der Dornfort 
Sätze der Lendenwirbelsäule bestand, konnte Schanz auch eine besondere 


Digitized by 


Google 



208 


Insufficientia vertebrae. 


Druckempfindlichkeit der Lendenwirbelkörper nachweisen, wenn er vom Ab¬ 
domen einen Druck ausQbte. Aber aach in den Fällen, in denen eine Klopf¬ 
empfindlichkeit nur im Brustteil bestand, konnte er fast ausnahmslos die 
Empfindlichkeit der Lendenwirbelkörper nachweisen; weiter gibt es Fälle, in 
denen die Wirbelkörper allein empfindlich sind. Was die Ausdehnung der 
schmerzhaften Stellen anbelangt, so ist der Schmerz entweder auf einen 
einzelnen oder auf mehrere Dornfortsätze beschränkt, oder aber die Schmerz¬ 
grenzen sind unscharf, und der Empfindungsbezirk geht allmählich in un¬ 
empfindliche Teile über. In den höchst entwickelten Fällen findet man die 
ganze Wirbelsäule, soweit sie der Untersuchung zugänglich ist, schmerzhaft. 
Dann wird nicht nur das Klopfen am Rücken auf die Dornfortsatzlinie, son¬ 
dern es werden auch Stöße, welche man in der Nähe der Dornfortsatzlinie 
in der Richtung auf die Wirbelsäule zu gibt, als schmerzhaft empfanden. 
Außerhalb der Wirbelsäule findet man häufig Druck- und Klopfempfindlich¬ 
keit am Rippenkorb und am Becken, und zwar entsprechen diese Schmerz¬ 
stellen dann immer den an der Wirbelsäule als schmerzhaft nachgewiesenen 
Partien , d. h. sie fallen ungefähr mit dem Verbreitungsgebiete derjenigen 
sensiblen Nerven zusammen, welche in den empfindlichen Gegenden der 
Wirbelsäule aus dieser heraustreten. 

Die Methode, die Schmerzhaftigkeit der Wirbelsäule festzustellen, welche 
Schanz angewendet hat, durfte etwas irrationell erscheinen, da wir eine 
andere, ich möchte sagen logischere Methode besitzen, um auf die Wirbel¬ 
säule als den Erkrankungsherd zu stoßen. Richtet man sich nämlich nach 
den Angaben der Kranken bezüglich ihrer Schmerzen und versucht, die¬ 
selben durch die auch in der Neurologie übliche Methode mittelst Kmpfindlich- 
keitsprüfung durch die Nadel abzugrenzen, so findet man in derartigen Fällen 
eine ganz scharf abgegrenzte überempfindliche Zone, welche dem doppel¬ 
seitigen Gebiet bestimmter Zervikal-, Interkostal- oder Lumbalnerven ent¬ 
spricht. Eigentümlich ist nur, daß diese Intervertebralneuralgien dadurch aus¬ 
gezeichnet sind, daß das Gebiet des vorderen Astes der genannten Nerven 
(Ramus anterior nerv, intervertebr.) in allen Fällen freibleibt. Referent hat 
diese Erkrankungsform schon seit Jahren beobachtet, ohne früher eine be¬ 
stimmte Erklärung für die Wirbelsäulenerkrankung, auf welche die Doppel- 
seitigkeit der Intervertebralneuralgien mit Sicherheit hinwies, geben zu 
können, und hat deshalb auch die eben geschilderte Tatsache des Freibleibens 
des vorderen Astes von der Neuralgie bereits in über 100 Fällen sicher¬ 
stellen können. Eine Erklärung für dieses eigentümliche Verhalten des 
Nerven ist mit Sicherheit nicht zu geben. Es ist sehr wohl möglich, daß 
anatomische Verhältnisse, welche bisher noch nicht aufgeklärt sind, die Ur¬ 
sache dafür abgeben, wie wir ja beim Herpes zoster ähnliche Verhältnisse 
finden. Durchmustert man nämlich die Beobachtungen über die Verteilung 
der Herpeseffloreszenzen, die vor allem von Blaschko zusammengestellt 
sind, so zeigt sich, daß in einem großen Prozentsatz der Fälle das Gebiet 
des Ramus anterior von der Eruption verschont geblieben ist. Blaschko 
und die von ihm zitierten Autoren haben freilich auf diese Punkte nicht 
besonders geachtet, da für ihre Untersuchungen vor allem die Verlaufsrich¬ 
tung, nicht aber die Ausdehnung der Eruptionen von Bedeutung war. 

Auf die Erklärung für die Ursache der doppelseitigen Neuralgie komme 
ich nachher noch zu sprechen. Findet man also, den unbestimmten Schmerz¬ 
angaben der Patienten nachgehend, eine ausgesprochene symmetrische doppel¬ 
seitige Interkostal- oder Lumbalneuralgie, so ist damit naturgemäß die Auf¬ 
merksamkeit des Untersuchers auf die Wirbelsäule als den Ort, aus dem 
die beiden Nerven hervortreten, gelenkt. Die jetzt vorgenommene Unter¬ 
suchung der Wirbelsäule ergibt dann die von Schanz eingehend beschriebene 
Druckschmerzhaftigkeit von bestimmten, den betreffenden überempfindlichen 


Digitized by 


Google 



Insufficientia vertebrae. 


209 


Nerven zugehörigen Wirbeln. Der positive Befund an der Wirbelsäule wjpd 
natürlich erst durch den dazugehörigen negativen bedeutungsvoll. Es fehlen 
an der Wirbelsäule dieser Patienten sowie in den schmerzhaften Bezirk am 
Thorax und Becken alle Veränderungen, welche uns eine Erklärung der Be¬ 
schwerden geben könnten. Es fehlt jede Spur eines spondylitischen Qibbus, 
auch in den Fällen, die jahrelang beobachtet wurden, kommt ein solcher 
Gibbus nicht zum Vorschein. Diesen Satz hat Schanz in einer späteren Mit¬ 
teilung nicht aufrecht erhalten. Er bat vielmehr, nachdem er konsequent 
alle seine Skoliosen auf die genannten Schmerzpunkte untersuchte, gefun¬ 
den, daß eigentlich so gut wie jeder Patient, der wegen einer Skoliose den 
Arzt aufsucbt, früher die Reichen einer Insufficientia vertebrae zeigte. Es 
kommt also die Skoliose in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle mit den 
Schmerzen der Insufficientia vertebrae zur Entwicklung, und es läßt sich 
danach nicht von vornherein sagen, ob ein Kranker, der im gegebenen 
Augenblicke nur die Zeichen von Insufficientia vertebrae mit leichtester 
Wirbelsäulenvorbiegnng zeigt, ob dieser Kranke — ohne Behandlung — 
nicht später eine ausgesprochene Skoliose akquirieren würde. Leichtere 
Grade von Skoliose, sog. schlechte Haltung, findet man ziemlich häufig. Oft 
sind nach Schanz aber bei der Insufficientia vertebrae gar keine Wirbel¬ 
säulendeformitäten nachweisbar- Diesen letzteren Satz möchte ich auf Grund 
meiner eigenen Erfahrung bestreiten. Bestehen die ausgesprochenen Zeichen 
der Wirbelsäulenschmerzen, die wohl zweckmäßig als Spinalgie bezeichnet 
werden können, also in Verbindung mit der doppelseitigen Neuralgie, ohne 
nachweisbare Deformität der Wirbelsäule, so kommt zunächst eine Reihe 
von anderen Erkrankungen in Betracht, die genau den gleichen Symptomen- 
komplex auslösen, auf die aber Schanz eigentümlicherweise nicht genügend 
geachtet bat. Zunächst ist hier die Bronchialdrüsentuberkulose zu erwähnen, 
bei welcher Erkrankung die Bedeutung der Spinalgie als diagnostisches Sym¬ 
ptom zuerst von Petkuscbky und Neisser aufgedeckt worden ist. Heute, 
wo wir über die Röntgendurchleuchtung, also eine objektivere Untersuchungs¬ 
methode, verfügen, kann auf Grund der mit dieser Methode gewonnenen 
Erfahrung kein Zweifel bestehen, daß bei der Bronchialdrüsentnberknlose 
die Spinalgie ein hervorragendes Symptom bildet. Es ist hier nicht der Ort, 
genauer anf die Diagnose der Bronchialdrüsentnberknlose einzugeben. Nur 
kurz sei erwähnt, daß differentialdiagnostisch mit Bezug auf die Insufficientia 
vertebrae neben der Durchleuchtung die Tuherknlinreaktion, die Temperatur- 
messuog und die direkte Palpation der Bronchialdrüsen nach Neisser aus¬ 
schlaggebend sind. Auch bei der hier zu beobachtenden Spinalgie ist die 
oben geschilderte doppelseitige Neuralgie der sicherste diagnostische Führer. 
Die Beschwerden, über die die Kranken klagen, sind häufig genau die oben 
geschilderten: große Schmerzen, Herzklopfen, Erbrechen usw. Es sei bei 
dieser Gelegenheit bemerkt, daß die Zweifellosigkeit des Symptomes der 
Spinalgie bei der so häufig zu beobachtenden Bronchialdrüsentuberkulose 
hauptsächlich den von mir anderen Ortes aufgestellten Satz rechtfertigt, 
daß die Spinalgie als Symptom für Neurasthenie und Hysterie die Bedeu¬ 
tung, die sie bisher besitzt, vollkommen verlieren muß, da für die Spinalgie 
in der Regel organische Veränderungen verantwortlich zu machen sind 
ond für rein funktionelle Erkrankungen das Symptom — wenn überhaupt — 
nur in einem ganz minimalen Prozentsatz der Fälle existiert. Denn neben 
den beiden genannten Ursachen, bei denen prozentual der Bronchialtuber- 
koiose wohl der erste Platz zukommt, gibt es noch andere Erkrankungen, 
die das gleiche Symptom der mit doppelseitiger Neuralgie verbundenen 
Spinalgie aufweisen, welche Schanz übrigens ebenfalls nicht genügend in 
den Kreis seiner Betrachtungen gezogen hat. Zuerst zu nennen ist der 
chronische Rheumatismus der Wirbelgelenke, der jedenfalls häufiger, als all- 

Eocyclop. Jahrbücher. N. F. VHI. (XVII.) 14 j 

Digitized by VrrOOQIC 



210 


Insufficientia vertebrae. 


gemein angenommen wird, eine Ursache für die in Rede stehenden Be¬ 
schwerden abgibt und der ebenfalls, wenn keine Wirbelsäulendeformität be¬ 
steht, zunächst mit Sicherheit ausgeschlossen werden muß, ehe man meines 
Erachtens berechtigt ist, bei gerader oder bei anscheinend gerader Wirbel¬ 
säule von einer Insufficientia vertebrae zu sprechen. 

Endlich kommen noch die nicht ganz seltenen kartilaginären Exostosen 
der Wirbelsäule, die den Beginn der von Pierre Marie und Bechterew be¬ 
schriebenen Krankheit Spondylose rhyzomölique darstellen, in Betracht. Von 
diesen Erkrankungen habe ich selbst in kurzer Zeit drei Fälle traumatischen 
Ursprungs gesehen, welche alle drei genau die gleiche Form der Spinalgie 
und doppelseitiger Lumbalneuralgie aufwiesen. Der Sitz der Erkrankung in 
den drei Fällen war die Lendenwirbelsäule. Die Röntgenphotographie ist 
allein imstande, diese Erkrankung von den übrigen zu differenzieren. 

Was die beiden letztgenannten Erkrankungsformen anbelangt, so hebt 
sie Schanz in der differentialdiagnostischen Besprechung zwar eigens her¬ 
vor, unterschätzt aber meines Erachtens bei der chronisch-rheumatischen 
Erkrankung der Wirbelsäule die Häufigkeit ihres Vorkommens. Er nennt 
ferner tuberkulöse Spondylitis, deren Krankheitsbild in erster Linie zur 
Verwechslung mit der Insufficientia vertebrae Anlaß gibt. Es ist zweifellos, 
daß die klinische Beobachtung diese Erkrankung in erster Linie berücksich¬ 
tigen resp. ausschließen muß, bevor die Diagnose der einfachen Insufficientia 
vertebrae gestellt wird. Es wird nicht immer, selbst im Verlauf einer 
längeren Beobachtung, möglich sein, eine exakte Differentialdiagnose zu 
stellen, besonders wenn leichte Skoliosen mit tuberkulösen Veränderungen 
in der Lunge oder in den Bronchialdrüsen sich verbunden vorfinden. Der 
klinische Verlauf und das Maß der therapeutischen Beeinflussung werden in 
letzter Reihe den diagnostischen Ausschlag geben. Praktisch scheint es je¬ 
doch wichtig, zunächst als Insufficientia vertebrae nur diejenigen Fälle an¬ 
zusprechen, in denen, sei es durch äußere Untersuchung, sei es mittelst 
Röntgenphotographie eine Wirbelsäulendeformität nachzuweisen ist, und für 
die anderen Fälle die Differentialdiagnose so lange offen zu lassen, bis der 
therapeutische Effekt der bei anderweitigen Erkrankungen (Rheumatis¬ 
mus, Bronchialtuberkulose pp.) angewandten Maßnahmen eine Entscheidung 
ermöglicht. 

,Was die Behandlung der Insufficientia vertebrae anbelangt, so ergibt 
sich dieselbe aus der Betrachtung der Natur dieser Erkrankung. Schanz 
hebt hervor, daß sich bei Patienten mit Insufficientia vertebrae stets Mo¬ 
mente finden, welche geeignet sind, die Tragkraft der Wirbelsäule zu 
schwächen, oder solche, welche geeignet sind, eine höhere Traginanspruch¬ 
nahme der Wirbelsäule zu bedingen. Wenn man eine kurze Krankheits- 
schilderung der Insufficientia vertebrae gibt und dabei verschweigt, daß man 
ein an der Wirbelsäule zu beobachtendes Bild schildern will, so wird, wie 
Schanz hervorhebt, ein Orthopäde auf die Frage, von was man spricht, ohne 
jedes Zaudern Plattfußbeschwerden nennen. Das, was am Fuß die Plattfu߬ 
beschwerden sind, sind an der Wirbelsäule die Krankheitszustände, die als 
Insufficientia vertebrae beschrieben wurden. *Es bietet der Fuß in seinem 
Bau und in seiner Funktion gewisse Ähnlichkeit mit der Wirbelsäule. Das 
Skelett des Fußes besteht aus einer Anzahl einzelner Knochen, die, gelenkig 
miteinander verbunden, durch Weichteile zusammengehalten werden. Das¬ 
selbe an der Wirbelsäule; auch hier eine Reihe einzelner Knochen, gelenkig 
miteinander verbunden und durch Weichteile zu einem Ganzen vereinigte 
Funktionell ist Fuß und Wirbelsäule gleichzusetzen in ihrer Eigentümlich¬ 
keit, Teile des Traggerüstes unseres Körpers zu sein: der Fuß hat Körper¬ 
last zu tragen, die Wirbelsäule desgleichen. Die Plattfußbeschwerden sind 
am Fuß ein mit diesem Bau verbundener und aus dieser Aufgabe hervor- 


Digitized by 


Google 



Insufficlentia vertebrae, 


211 


gehender Krankheitszustand. Die Plattfußbeschwerden entstehen, wenn ein 
Fuß über seine funktionelle Leistungsfähigkeit hinaus auf Belastung bean¬ 
sprucht wird und wenn sein Gefüge unter dieser Überbelastung nachzu¬ 
geben beginnt. Die Plattfußbeschwerden sind ein so häufiges und unter der 
gleichen Schädlichkeit so konstant wiederkehrendes Krankheitsbild, daß man 
a priori annehmen kann, daß an anderen Teilen des Traggerüstes des 
menschlichen Körpers im analogen Fall entsprechende Krankheitsbilder zu¬ 
stande kommen müssen. Ganz besonders darf man diese Annahme machen 
für die Wirbelsäule, die in Bau und Funktion die hervorgehobenen Ähnlich¬ 
keiten mit dem Fuße zeigt. 

Wie die Voraussetzungen, so stimmen auch die Krankheitsursachen 
auf beiden Seiten überein; es finden sich nur die Unterschiede, welche durch 
Differenzen im Bau und Funktion bedingt werden. Plattfußbeschwerden sehen 
wir entstehen durch Entkräftungen, welche den Körper in seinem Gesamt¬ 
zustand treffen. Unter denselben Bedingungen entstehen unsere Wirbelsäule¬ 
schmerzen. Als Beispiel seien hier die Entbindungen genannt; nach solchen 
finden wir recht häufig die Plattfußbeschwerden, recht häufig aber auch unsere 
Rückenschmerzen. Wir finden beide sehr häufig an derselben Patientin zu 
gleicher Zeit. Denselben Einfluß sehen wir hüben und drüben von Bleich¬ 
sucht und Blutarmut und anderen ähnlichen Zuständen. 

Wir sehen die Plattfußschmerzen sich anschließen an Schädigungen, 
welche speziell den Fuß treffen und Schädigungen seiner Tragkraft erzeugen. 
Besonders wichtig sind da Traumen, wie Distorsionen und ähnliches. Genau 
so sehen wir an der Wirbelsäule die fraglichen Schmerzzustände nach 
Traumen, die hier meistens Stöße oder Erschütterungen sind. 

In der Ätiologie der Piattfußbeschwerden sehen wir dann die Über¬ 
lastungen des Fußes: überlanges Stehen, Übermüdung durch Märsche, Tragen 
schwerer Lasten. In der Anamnese unserer Wirbelsäulenschmerzen finden wir 
als Pendant langes Sitzen, schwere körperliche Arbeiten. 

Plattfußbeschwerden sehep wir entstehen, wenn einem Fuß die ge¬ 
wohnte Arbeitshilfe des Stiefels entzogen wird, wenn man z. B. Menschen, 
die Stiefeltragen gewöhnt sind, Sandalen tragen läßt. Das Gegenstück dazu 
ist das Auftreten unserer Schmerzen an der Wirbelsäule bei Damen nach 
Ablegen des gewohnten Korsetts. 

Bei den Symptomen der beiden Krankheitsbilder sehen wir Paralleli¬ 
täten sowohl in der Bevorzugung der Lokalisation der Beschwerden an 
einigen Stellen, wie auch wieder in der Variabilität der Lokalisationen und 
der Schwere der Erscheinungen. Wir sehen Parallelität in dem entzündungs¬ 
artigen Charakter der Krankheitserscheinungen: an Entzündung erinnern 
uns die subjektiven Beschwerden, über welche der an Plattfuß Leidende 
klagt, an Entzündung erinnern Druckempfindlichkeiten, Schwellungen und 
Bewegungsstörungen, wie wir solche als objektive Störungen bei Plattfu߬ 
beschwerden nachweisen können. An die Symptomenbilder der Wirbelent¬ 
zündungen erinnern unsere Wirbelsäulenfälle, sowohl in subjektiven wie in 
objektiven Erscheinungen in jedem Falle, ja vielfach so stark, daß das Vor¬ 
handensein einer echten Entzündung nur schwierig auszuschließen ist. 

Endlich haben wir Parallelität im Verlauf. Anstrengung und Ruhe, 
körperlicher Niedergang und Besserung des Allgemeinbefindens machen 
einerseits Verschlimmerungen, andrerseits Besserungen sowohl bei den Platt¬ 
fußbeschwerden als bei unseren Wirbelsäulenschmerzen.« 

Dieser Erklärungsversuch von Schanz läßt zugleich die wirksamen 
therapeutischen Maßregeln erkennen: Entlastung, Stützapparate, unter Um¬ 
ständen kräftigende Einwirkungen, wie Massage u. dgl. Die Entlastung kann 
in einfachster Weise durch längere Bettruhe bewirkt werden. Wenn die 
Überlastung der Wirbelsäule resp. die dadurch hervorgerufenen Reizzustände 

Digitized by Gtfoole 


212 


Insufficientia vertebrae.— Intestinalpalpation. 


noch nicht zu hochgradig sind, so kann man unter gleichzeitiger roborieren- 
der Diät und zweckmäßigen therapeutischen Maßnahmen, eventuell gestützt 
durch roborierende Medikamente, oft einen genügenden Erfolg erzielen, ln 
schwereren Fällen ist die Anwendung eines Stützapparates notwendig, beson¬ 
ders dann, wenn die Momente, welche zur Überlastung geführt haben, noch 
fortbestehen, also bei schwer arbeitenden Individuen. Die auch von Schanz 
empfohlene Massage und Gymnastik ist ebenfalls nur für die leichten Fälle 
anzuwenden, nicht aber in denjenigen, wo hochgradige Reizerscheinungen in 
der Wirbelsäule bestehen. Hier wird im Gegenteil durch die Massage häufig 
eine Steigerung der Reizerscheinung bewirkt. Die Erklärung dafür ist, daß 
in der Massage zu dem bestehenden Reiz ein neuer zugefügt wird, ohne daß 
die Massage imstande ist, schnell genug eine Kräftigung der Wirbelsäule 
herbeizufübren. Daß in solchen Fällen die aktive Gymnastik ebenfalls das 
Leiden verschlechtert, ist selbstverständlich. 

Bezüglich der Art der anzuwendenden Apparate hebt Schanz hervor, 
daß es nicht immer notig ist, die recht teuren Wirbelsäulenstützapparate 
anzuwenden, sondern daß man mit einfacheren Apparaten, welche im Prinzip 
aus zwei längeren, parallel zur Wirbelsäule laufenden, federnden Bandstahl¬ 
schienen bestehen, die, in zweckmäßiger Weise miteinander verbunden, an 
dem Körper befestigt werden, auskommt. 

Literatur: A. Sciuiiz, Berliner klin. Wochenschr, 1907. Nr. 31; 1908, Nr. 43. 

G. ZaeJzer. 

Intestinalpalpation mittelst der topographischen Gleit- und 
Tiefenpalpation und ihre Ergebnisse. 

Während die Klinik von heute einerseits nach wie vor auf den alt- 
ehrwürdigen Ergebnissen der Auskultation nnd Perkussion fußt, andrerseits 
aber eine moderne Richtung zeigt durch fruchtbringendes Forschen auf dem 
Gebiete der Bakteriologie, Serologie, Röntgenologie etc., ist ein zwar nicht 
sehr großes, aber dennoch äußerst wichtiges Gebiet in bedauerlicher Weise 
vernachlässigt worden. Ich meine die Abdominalpalpation. 

Nur sehr wenige Autoren haben sich dem selbständigen Studium dieser 
Disziplin gewidmet, ihre Schriften und Worte sind zudem wenig beachtet 
worden, indem die Flut der Arbeiten, welche die moderne Richtung ver¬ 
treten und der Stimmung der klinischen Lehrer mehr Rechnung tragen, 
andere, weniger zeitgemäße in den Schatten stellt. 

Sehon in den achtziger Jahren begannen Glenahd und Obrostzow 
für die Vervollkommnung der Tastmethodik zu wirken. Auf diesen Autoren 
fußend, begann ich dann mich dem Studium dieser Disziplin zu widmen. 
Das Resultat dieser Studien ist eine Methode, welche sich aus Glkva&ds, 
Obrostzows und meinen Beiträgen zusammensetzt, und die ich topo¬ 
graphische Gleit- und Tiefenpalpation nenne. 

Die Methode hat den Zweck, die Lage, den Verlauf und die Eigen¬ 
schaften des Magendarmkanals palpatorisch festzustellen. Sie gestattet es, 
das Coecum, die Flexura sigmoidea und das Ueum ascendens (Pars coecalis 
ilei) in etwa 75% der untersuchten Fälle, das Colon transversum in etwa 
60%, den Wurmfortsatz in etwa 15% zu tasten, während der Pylorus in 
22°/ 0 und die große Kurvatur in 30% der untersuchten Fälle mit Hilfe 
der topographischen Gleit- und Tiefenpalpation zu tasten sind. 

Bei der Gleitpalpation bewegen sich die tastenden Finger, 
d. h. das Tastwerkzeug über den zu tastenden Magen- oder Darm* 
sträng geradlinig in einer zur Achse des Magen- oder Darm¬ 
stranges queren Richtung hinüber, und zwar mit der Haut und nicht 
auf der Haut. Diese geradlinigen Gleitbewegungen setzen sieb in einen 
Gegensatz zu den sonst vielfach für die Palpation im Magendarmgebiete 
üblichen und beliebten rotierenden, kreisenden, leicht bohrenden Bewegungen 


Digitized by 


Google 



Intestinalpalpatiod. 


213 


mit den Endphalangen. Während durch letztere Art Bewegung das za 
tastende Organ nicht nur nicht fixiert wird, sondern im Gegenteil leicht 
zum Abweichen gebracht werden kann, wird durch die Gleitbewegungen ver¬ 
mieden, daß der zu tastende Magen- oder Darmteil den Fingern entschlüpft 
Durch die Gleitbewegungen werden diese Teile zur Fixation gebracht, und 
zwar aus folgenden Gründen: 

Da die Magen- und Darmteile infolge ihres Anhaftungsmodus nnr in 
einer zu ihrer Längsachse queren Richtung sich verschieben lassen, längs 
aber nicht, da ferner die Ligamente und Mesenterien eine solche Verschie¬ 
bung nur bis zu einer gewissen Grenze gestatten, so findet die durch die 
gleitenden Finger bewirkte Verschiebung des Magen- und Darmteiles mehr 
oder weniger bald ein Ende, und wenn dann die Finger die Gleitbewegung 
fortsetzen, dann müssen sie über den Magen oder Darmteil hinüber. Mit 
einem Wort, Magen und Dickdarmteile können bei der quergerichteten 
Gleitbewegung in der Frontalebene nicht ausweichen und müssen unter die 
Finger kommen. Es ist aber immerhin ein Ausweichen in die Tiefe möglich, 
zur hinteren Bauchwand zu, in der Sagittalebene; also, wenn wir nur ober¬ 
flächlich palpieren, kann uns ein Magen- oder Dickdarmteil entgehen, trotz¬ 
dem wir ihn bei der quergerichteten Gleitbewegung eigentlich unter die 
Finger bekommen und fixieren mußten. Um auch den nach hinten aus¬ 
weichenden zu tastenden Teil unter die Finger zu bekommen, führen wir 
die gleich zu besprechende Tiefenpalpation aus, welche es bezweckt, mit 
den in die Tiefe versenkten Fingern das Organ auf der hinteren Bauchwand 
zu fixieren. Doch wenn wir zunächst noch bei der Gleitpalpation bleiben, 
so muß erwähnt werden, daß die Dönndarmschlingen durch die Gleitpalpation 
ebensowenig tastbar gemacht werden können wie durch irgend eine andere 
Palpationsweise. Die Dönndarmschlingen können dank der Art ihrer Befesti¬ 
gung nach allen Seiten ausweichen und werden daher durch die Finger 
nicht fixiert. Eine Ausnahme macht nur das Endstück des Ileum, die Pars 
caecalis ilei, welche den gleitenden Fingern nicht entweichen kann. 

Bei den Gleitbewegungen erhalten die Finger eine ganz präzise, plastische 
Tastwabrnehmung von der Form, Weite und Konsistenz des Magen- oder 
Darmteiles und von den in ihm zu erzeugenden akustischen Phänomenen. 

Nach Obrostzow und Glenard wird dabei die Achse der Hand in 
einer zur Achse des Organs queren Richtung gehalten, so daß das 
Tastwerkzeug durch die Reihe der vier Finger gebildet wird. Ich wende 
außerdem noch Handstellungen an, bei welchen die Achse der Hand 
schräg zur Achse des Magendarmteiles gehalten wird, wobei dann ent¬ 
weder die Reihe des zweiten und dritten Fingers oder die Reihe des dritten, 
vierten und fünften Fingers das Tastwerkzeug bilden. Ich nenne dies Ver¬ 
fahren die schräge Zweifingerpalpation und die schräge Dreifinger¬ 
palpation. In anderen Fällen erweist es sich als vorteilhaft, mit dem 
parallel zum Intestinalteil gehaltenen Ulnar- oder Radialrand der 
Hand die Gleitbewegung auszuführen, welches Verfahren ich Randpalpa¬ 
tion nenne. Es gibt keine Methode der Wahl, in dein einen Falle erweist 
sich das eine Verfahren als vorteilhaft, in dem anderen Falle aber ein 
anderes Verfahren. Es kommt nur darauf an, daß das Tastwerkzeug, ob es 
non die Vierfingerreihe, die Dreifingerreihe, die Zweifingerreihe oder der 
Fingerrand ist, es kommt darauf an, daß eines dieser Tastwerkzeuge in 
querer Richtung über den Darm oder den Magen hinübergleitet. Liegt nun 
das Organ oberflächlich genug unter den Bauchdecken und hebt es sich 
dabei durch derbere Konsistenz von den Nachbarorganen ab, so reicht bei 
der Gleitpalpation die allgemein übliche flache Handstellung vollkommen 
aus. Liegt aber das Organ tiefer oder hebt es sich infolge weicherer Kon¬ 
sistenz nicht von der Umgebung ab, so genügt bei der Gleitbewegung die 


Digitized by 


Google 



214 


Intestinalpalpation. 


allgemein übliche flache Handstellang nicht. Es muß dann die bereits oben 
erwähnte Tiefenpalpation angewandt werden. 

Die Tiefenpalpation bezweckt, die hintere Bauchwand zu er¬ 
reichen oder das auf ihr liegende Organ. Macht man dann die Gleitbewegung 
in dieser Tiefe, so kann das Organ nach hinten nicht mehr ausweichend es 
wird durch die Finger fixiert, und bei der queren Gleitbewegung müssen 
die Finger dann über die Oberfläche des Organs hinüber. Außerdem hat das 
Ausführen von Gleitbewegungen auf der hinteren Bauchwand den Vorteil, 
daß auf der harten Unterlage nicht nur konsistente und voluminöse Organe 
zur Wahrnehmung kommen, sondern auch ganz weiche und zarte Gebilde, 
wie die große Kurvatur und der Wurmfortsatz. 

Um die gehörige Tiefe zu erreichen, muß erstens mehr, als es sonst 
geschieht, peinlich Sorge dafür getragen werden, daß durch geeignete Lage¬ 
rung und Haltung des Untersuchten und durch ein peinlich durchzuführendes 
richtiges Atmen die Bauchdecken zur Erschlaffung kommen. Zweitens muß 
die untersuchende Hand eine Stellung einnehmen, die es den Fingern ge¬ 
stattet, bis zu einer erforderlichen Tiefe zu dringen. Nur selten gelingt die 
Tiefenpalpation mit der flach aufliegenden gestreckten Hand. Meist ist es 

dazu erforderlich, daß wir die Finger 
ft? 88 krümmen, gelegentlich sogar ihnen eine 

Krallenhandstellung geben. In manchen 
Fällen, wie z. B. bei fetten, schlaffen 
ßauchdecken, dürfen wir nicht davor zu¬ 
rückschrecken, die Fingerspitzen der ge¬ 
streckten Hand steil in die Tiefe zu ver¬ 
senken. Mit einem Wort, bei der Tiefen¬ 
palpation palpieren wir nicht mit den 
Endphalangen der ausgestreckten, den 
Bauchdecken flach aufliegenden Hand, 
sondern wir palpieren direkt mit den 
Fingerspitzen, ungeachtet der in manchen 
Lehrbüchern ausgesprochenen Warnung 
vor der Fingerspitzenpalpation. Die Auto¬ 
ren meinen, durch die Fingerspitzen könn¬ 
ten unangenehme Sensationen hervor¬ 
gerufen werden und die Bauchdecken zur Kontraktion gereizt werden. Syste¬ 
matische Untersuchungen aus einigen tausend Fällen haben mich eines 
anderen belehrt. Wenn man die Fingerspitzen zart, behutsam aufsetzt und 
sie vorsichtig, jede brüske Bewegung vermeidend, in die Tiefe drückt, so 
wird weder Schmerz noch Muskelkontraktion erzeugt. Eine Muskelkontraktion 
wird auch dadurch vermieden, daß der Druck in die Tiefe nur während des 
Exspiriums erfolgt und nie während des Inspiriums. Wird der Druck in die 
Tiefe während des Inspiriums ausgefübrt, also entgegen der Bewegungs¬ 
richtung der sich anspannenden Bauchwandfläche, so werden die Bauchwand¬ 
muskeln freilich zur Kontraktion gereizt. Die wichtige Maßregel, für die 
palpatorischen Manipulationen nur das Exspiriam zu benützen, finde ich 
auffallenderweise in keinem der Lehrbücher angegeben. Durch das Nichtbeob- 
achten dieser Maßregel ist wohl die Fingerspitzenpalpation bei den Autoren 
in Mißkredit gekommen. In richtiger Weise ausgeführt, ist die Fingerspitzen¬ 
palpation eine sehr zu empfehlende Methode, die es erlaubt, so tief zu 
dringen, wie es bei flacher Handstellung nicht möglich ist. 

Da die zur Tiefenpalpation benützte rechte Hand bei längeren Mani¬ 
pulationen leicht müde wird, so ist es vorteilhaft, auf die palpierende rechte 
Hand die linke zu legen und mit der linken die gröbere mechanische Arbeit 
des Drückens, der Bewegung auszuführen, wobei sich die rechte rein passiv 



Digitized by 


Google 



Intestinal pal pat ion. 


215 


verhalten and sich ausschließlich der feineren Tastarbeit widmen kann. 
Dieses Verfahren, welches ich Palpation mit der Doppelhand nenne, ist be¬ 
sonders dort von .Vorteil, wo wir zarte, kleine Gebilde in der Tiefe za 
tasten haben, and wird von mir besonders gern bei der Appendixpalpation 
and bei der Magenpalpation geübt. 

Doch Tiefenpalpation bedeutet keineswegs eine Palpation mit starkem 
Druck. Man kann sehr tief dringen, bis zar hinteren Bauchwand oder bis 
za einem tiefliegenden Organ, Tumor oder Exsudat, ohne daß der Druck 
stark zu sein braucht. Vielmehr kann trotz eines tiefen Eindringens der 
Finger ein tiefliegendes Gebilde ganz zart berührt werden ohne jeden Druck. 
Wir müssen nur unsere Fingermuskeln in der Gewalt haben und die Muskel¬ 
arbeit fein zu dosieren verstehen, dann brauchen wir nicht zu fürchten, daß 
wir bei der Tiefenpalpation durch starken Druck einen Schaden tun können. 

Erlaubt es uns die Gleitpalpation und Tiefenpalpation, Dinge tastbar 
za machen, welche anders der Tastung vollständig entgehen, indem wir ein 
an gegebenem Ort gelegenes Gebilde zwingen, sich vor die Finger zu legen, 
so hat die topographische Palpation die Aufgabe, die Gesamtheit der 
tastbaren Magendarm teile in ihrer Lage und in ihrem Verlauf ebenso pal- 
patorisch zu bestimmen, wie wir es mit den parenchymatösen Organen, 
Leber, Milz, Niere, tun. Ebenso wie es eine topographische Perkussion gibt, 
so soll auch die Palpation eine topographische sein. Palpatorisch stellen wir 
die Lage und den Verlauf der Flexura sigmoidea, des Colon transversum, 
des Coecums, der Pars coecalis ilei, des Pylorus und der großen Kurvatur 
fest, soweit sie durch die Gleit- und Tiefenpalpation getastet werden können. 

Nur in einem Teil der Fälle können wir schon an den Eigenschaften 
eines Teilstückes des Verdauungsschlauches feststellen, welchem Magen¬ 
oder Darmteil dieses Teilstück gehört. Meist können wir das erst nach 
Feststellung der topographischen Beziehungen zu den anderen palpierten 
Teilen des Magens und des Darmes. Wir dürfen beispielsweise nur dann ein 
in der Blinddarmgegend getastetes Darmstück als Coecum ansprechen, wenn 
nach außen von diesem Darmstück kein anderer Darmteil mehr getastet 
werden kann, und nur dann dürfen wir ausschließen, daß dieses Darmstück 
dem ptotischen Colon transversum angehört, wenn nabelwärts resp. thorax- 
wärts von demselben ein das Colon transv. darstellender Darmzylinder zu 
tasten ist, welcher bogenförmig transversal den Bauchraum durchzieht. 

Wird aber nach außen von diesem in der Ileocöcalgegend liegenden 
DarrastÜck noch ein Darmzylinder getastet, so kann dieses Darmstück nicht 
dem Coecum angehören, denn das Coecum ist das am meisten nach außen 
liegende von den tastbaren Darmteilen. Wird dazu festgestellt, daß nabel- 
resp. thoraxwärts von dem Darmstück kein anderer, das Colon transversum 
darstellender Darmteil zu tasten ist, so bleibt noch übrig, den weiteren 
Verlauf des Darmstückes zu verfolgen. Wir finden dann, daß das Darmstück 
den Teil eines Darmrohres bildet, welches bogenförmig transversal durch 
den Bauchraum zieht und rechts und links unter den Rippenbögen in der 
Flexurgegend verschwindet, also folglich nur dem Colon transversum an¬ 
gehören kann. In ähnlicher Weise wird verfahren, wenn wir in der Ober- 
baucbgegend ein quer verlaufendes zylindrisches oder strangförmiges Gebilde 
tasten können, welches durch akustische Phänomene, durch Kontraktions¬ 
and Volumwechsel sich als zum Verdauungsschlauch gehörig charakterisiert. 
Wenn unterhalb dieses Gebildes ein transversal verlaufendes Darmrohr zu 
tasten ist mit dem Charakter des Colon transversum, so wird es klar, daß 
das fragliche Gebilde nicht dem Colon transversum, sondern dem Magen 
angehört. Und umgekehrt, wenn über einem fraglichen, an der Oberbauch¬ 
gegend liegenden querverlaufenden Gebilde noch ein anderer zum Verdauungs- 
schlauch gehörender Teil zu tasten ist, so ist es klar, daß ersteres nicht 


Digitized by 


Google 



216 


I ütestin al pal pation. 


dem Magen angehören kann. Von zwei in der Oberbauchgegend zu tastenden, 
zum Verdauungskaual gehörenden queren Schläuchen ist natürlich der obere 
immer der Magen und der untere immer das Kolon. Es ist nun aber die 
Lage des Magens und des Querkolons durchaus keine konstante, sondern 
sie ist bei dem einen Individuum eine höhere, bei dem anderen eine tiefere. 
Finden wir daher diese Teile nicht an dem einen Ort, so müssen wir sie 
an einem anderen suchen und eventuell den ganzen Bauchraum von oben 
bis unten absuchen, immer nach rechts und links hin den weiteren Verlauf 
eines getasteten Teilstückes verfolgend. So beruht denn die topographische 
Palpation auf einem System von Gleitbewegungen, die sich än- 
einanderreihen, erstens in der Richtung von oben nach unten und zweitens 
in der Richtung von links nach rechts (Fig. 38). So konstruieren wir uns aus 
den einzelnen getasteten Teilstücken, durch Feststellung der topographischen 
Beziehungen der einzelnen Teile zu einander und durch das Verfolgen ihres 
Verlaufes ein wahres Bild der Lagerung der Baucheingeweide. Erst wenn wir 
so den Situs festgestellt haben, schreiten wir an spezielle diagnostische Auf¬ 
gaben, wie z. B. an die Lokalisierung von Tumoren, Exsudaten, Kotan¬ 
häufungen, Perkussionsbefunden, Plätschergeränschen, Druckschmerzen etc. 

Ganz besonders nützlich erweist sich die palpatorische Lagebestimmung 
von Magen- und Dickdarmteilen zur Lokalisation von Tumoren. Es sei beispiels¬ 
weise über dem Nabel ein Tumor zu tasten. Können wir oberhalb dieses 
Tumors große Kurvatur und Pylorus tasten, so wird es klar, daß der Tumor 
nicht dem Magen angehören kann. Ebenso wird ein Dickdarmtumor aus¬ 
geschlossen werden, wenn unterhalb des Tumors das Colon transversum 
getastet werden kann. Wenn sowohl große Kurvatur über dem Tumor, als 
auch Kolon unterhalb des Tumors getastet werden kann, dann können wir 
sicher sein, daß der Tumor weder dem Magen noch dem Dickdarm an¬ 
gehört, sondern zwischen beiden Organen liegt. Es ist mir in einer Reihe 
von Fällen gelungen, einen Tumor mit Hilfe der topographischen Gleit- und 
Tiefenpalpation richtig zu lokalisieren, wo alle anderen diagnostischen 
Methoden zu Fehldiagnosen geführt hatten. 

Was die Palpation der einzelnen Organe anlangt, so brauche ich hier 
nur auf den Magen und den Wurmfortsatz einzugehen. 

Der Pylorus repräsentiert sich als zylindrisches Gebilde von sehr ver¬ 
schiedener Konsistenz, von Knorpelhärte bis zu der Konsistenz eines schlaffen 
Stranges, in Abhängigkeit von dem Kontraktionsgrad. In der Regel läßt 
sich ein Kontraktions Wechsel beobachten, der im Gegensatz zu dem Kon¬ 
traktionswechsel des Kolons plötzlich geschieht, öfters gehen die Kontrak¬ 
tionen in rhythmischer Folge vor sich, derart, daß nach einer Erschlaffungs¬ 
pause von etwa 10 Sekunden der Pylorus für einige Sekunden sich kon¬ 
trahiert und dann wieder erschlafft, wobei, d. h. beim Wiedererschlaffen, ein 
feines Geräusch hör- und fühlbar wird (Spritzgeräusch). In anderen Fällen 
sind die Erschlaffungspausen viel länger, zuweilen geht der Kontraktions¬ 
wechsel in regelloser Folge vor sich. Nicht selten ist der Pylorus während 
der ganzen Zeit der Untersuchung erschlafft, gelegentlich verharrt er in 
einem beständigen Kontraktionszustand. 

Letzteres Verhalten ist insofern wichtig, weil die Knorpelhärte eines 
stark kontrahierten Pylorus einen Tumor Vortäuschen und das Fehlen 
der Erschlaffung diese Täuschung noch unterstützen kann. Handelt es sich 
um einen Kontraktionstumor, dann wird bei wiederholter Untersuchung doch 
einmal der Pylorus in schlaffem Zustand palpiert werden können. 

Die Palpierbarkeit des Pylorus besagt einen relativen Tiefstand des 
Pylorus, eine Relaxation. Im Sinne von Stillerb Asthenielehre habe ich ge¬ 
funden, daß ein Pylorus palpabilis ein Zeichen der asthenischen Konstitutions¬ 
krankheit (Asthenia universalis congenita) sei. 


Digitized by ^.ooQle 



Intestinalpalpation. 


217 


Die große Kurvatur präsentiert sich als eine fußwärts gerichtete Stufe, 
die auf der Wirbelsäule palpiert wird, wenn die Finger im Exspirium auf 
der Wirbelsäule nach unten gleiten. Hierbei streicht die große Kurvatur 
nach oben, Kurvatur und Finger bewegen sich ziemlich schnell aneinander 
vorbei. Nur durch dieses Moment des Vorbeibewegens kommt die zarte 
Stufe zu tasterischer Wahrnehmung, während durch bloßes Daraufdrücken 
auf die ruhende große Kurvatur nichts zu fühlen ist. Es muß freilich das 
Atmen recht tief sein, damit die Bewegung der großen Kurvatur eine aus¬ 
giebige ist. Auch muß das Atmen ganz gleichmäßig, regelmäßig sein. 

Recht häufig hört und fühlt man in dem Moment, wo der die große 
Kurvatur begrenzende Magenstreifen an den Fingern nach oben vorbei¬ 
streicht, ein akustisches Phänomen, welches ich »exspiratorisches 
Gurren« nenne. Dieses exspiratorische Gurren läßt sich auch dort noch 
leicht erzeugen, wo keinerlei Plätschergeräusche hervorgebracht werden 
können, und ist daher zusammen mit der Palpation der großen Kurvatur 
ein vorzügliches Mittel zur Lagebestimmung des Magens. Vor der Auf¬ 
blähung, Röntgenuntersuchung etc., hat diese Lagebestimmungsmethode den 
großen Vorzug, daß dabei der Magen in seiner Weite und Lage nicht künst¬ 
lich verändert wird wie durch das Gas und durch die Wismutmahlzeit, 
welche, im Stehen eingenommen, den Magen nach unten rückt. 

Was die Palpation des Appendix anbelangt, so nehme ich einen 
Standpunkt ein, der, weil er den Mittelweg einhält, zwischen zwei entgegen¬ 
gesetzten Lehren, sich gegen diese beiden Lehren, also nach zwei Fronten 
wenden muß. Die einen sagen, der Wurmfortsatz lasse sich auch im Er¬ 
krankungsfalle nicht sicher tasten, und wenn er auch getastet würde, könne 
er doch nicht sicher von allen möglichen anderen Dingen, wie Dünndarm- 
8chlingen, Cöcum, peritonitischen Strängen, konturierten Bauchmuskel¬ 
strängen etc., unterschieden werden und daher wäre von ihr in diagnosti¬ 
scher Hinsicht wenig zu erwarten. 

Die anderen meinen, der Appendix wäre äußerst leicht zu tasten, fast 
Jeder Appendix (Edebohls) oder die Hälfte aller Wurmfortsätze (Jaworsky 
und Lapinsky), diese leichte Palpierbarkeit des Wurmfortsatzes aber nehme 
der Appendixpalpation einen großen Teil seines diagnostischen Wertes. 

Also die einen sagen, die Appendixpalpation hätte wenig Bedeutung 
wegen der Schwierigkeit seiner Tastung, die anderen meinen, sie hätte 
wenig Wert wegen der Leichtigkeit seiner Tastung! 

Den Kampf gegen diese beiden extremen Lager habe ich literarisch 
ln meinem soeben erschienenen Buch »Die methodische Intestinalpalpation« 
ausgefochten, und zwar, wie ich überzeugt bin, mit Glück und Erfolg. 

Hier will ich nur das Fazit meiner Studien mitteilen. 

Das Wesentliche bei einer einwandfreien Appendixpalpation ist, daß 
man den Appendix von der Pars coecalis ilei zu unterscheiden 
versteht. Es ist vor Jeder Appendixpalpation zunächst die Pars coecalis 
ilei aufzusuchen, und erst wenn man diesen Darmteil palpiert hat, kann 
man sicher sein, daß ein außerdem noch in der Ileocoecalgegend zu tasten¬ 
des wurmähnliches Gebilde nicht die Pars coecalis ilei darstellt. Jaworsky 
und Lapinsky, Edebohls, Orlowsky, welche die Palpation der Pars coecalis 
Ilei nicht üben, scheinen dieser Verwechslung zum Opfer gefallen zu sein. 

Die Pars coecalis ilei ist in Form, Weite, Konsistenz und in den aku¬ 
stischen Phänomenen sehr verschieden. Fühlt man in entsprechender Gegend 
©in Gebilde, welches Gurrgeräusche hören läßt, so können wir sicher sein, 
daß es nicht der Wurmfortsatz ist. Ebenso schließt ein zu konstatierender 
Konsistenz- und Form Wechsel den Wurmfortsatz aus. Trägt die Pars coecalis 
ilei also die oben genannten Eigenschaften zur Schau, so dürfen wir mit 
Sicherheit ausschließen, daß wir den Wurmfortsatz unter den Fingern haben. 


Digitized by 


Google 



218 


Intestinalpalpation. 


Doch die Pars coecalis ilei ist nicht selten wurmartig kontrahiert und läßt 
dabei jegliche akustische Phänomene vermissen. In solchen Fällen kann 
man leicht dahin verfGhrt werden, einen Wurmfortsatzbefund fälschlich an¬ 
zunehmen. Um solchen Täuschungen zu entgehen, habe ich wegen der er¬ 
fahrungsmäßig leichteren Tastbarkeit (75% : 16%) der P ars coecalis ilei die 
Forderung gestellt, daß, wo nur ein wurmartiges Gebilde in der Ileocoecalgegend 
zu tasten ist, daneben aber kein anderes wurm- oder strangartiges Qebilde, 
daß dann dieses wurmartige Gebilde für die Pars coecalis ilei zu halten ist 
oder zumindestens die Frage offen zu halten ist. Sehr oft sieht man dann 
bei länger dauernder Untersuchung oder bei wiederholter Untersuchung, daß 
das einen Wurmfortsatz vortäuschende Gebilde schließlich zu einem weichen 
Schlauch erschlafft und daß Gurrgeräusche in ihm auftreten, wodurch es 
evident wird, daß wir Recht hatten, an der Wurmfortsatznatur des wurm¬ 
artigen Gebildes zu zweifeln. 

Zur Verwechslung kann ferner auch ein spastisch kontrahiertes, bis in 
die Ileocoecalgegend gesunkenes Colon transversum Anlaß geben, auch ein 
spastisch kontrahiertes Coecum kann einem Wurmfortsatz ähnlich sehen. 
Daher muß, ehe wir zur Palpation des Wurmfortsatzes schreiten, der Dick¬ 
darm in seinem Verlauf palpatorisch bestimmt sein, wie es die topogra¬ 
phische Gleit- und Tiefenpalpation erfordert. Haben wir Pars coecalis 
ilei, Coecum und Colon transversum palpatorisch festgestellt, so 
können wir sicher sein, daß ein noch außerdem in der Ileocoecal¬ 
gegend liegendes wurmähnliches Gebilde den Wurmfortsatz dar¬ 
stellt, mit der Einschränkung allerdings, daß, wie ich gezeigt habe, gelegent¬ 
lich ein über dem Psoas zum Coecum ziehender geschwollener druckschmerz¬ 
hafter Lymphstrang palpabel sein kann und sich ganz wie ein Wurmfortsatz 
anföhlen lassen kann. Wenn es auch oft nicht möglich sein wird zu ent¬ 
scheiden, ob wir den Lymphstrang oder den Wurmfortsatz vor uns haben, 
so ist doch im gegebenen Falle eine Verwechslung diagnostisch bedeutungs* 
los, da ja ein schmerzhafter geschwollener Lymphstrang der Appendizitis 
eigen ist. Es kann sich übrigens um einen Lymphstrang nur dann handeln, 
wenn das betreffende Gebilde unverschieblich ist. 

Die Frage, ob der normale Wurmfortsatz getastet werden kann, muß 
dahin beantwortet werden, daß freilich die Konsistenz und Weite des nor¬ 
malen Wurmfortsatzes eine Tastung zuläßt, daß aber de facto dennoch der 
normale Wurmfortsatz der Tastung entgehen muß wegen seiner großen 
Beweglichkeit und Flexibilität. Nur wenn der normale Wurmfortsatz mesen- 
teriell fixiert ist und nur wenn pathologische Prozesse zu einer Verklebung oder 
zu einer Verdickung, Konsistenzzunahme und Rigidität geführt haben, wird 
der Wurmfortsatz der Tastung zugänglich. Daraus ergibt sich der Schluß, 
daß wir bei einer Palpierbarkeit des Wurmfortsatzes meist das Recht haben, 
eine Appendizitis anzunehmen. Doch ich betone, daß alles über die Palpation 
des Wurmfortsatzes Gesagte sich nicht auf einen akuten Anfall bezieht, 
wo selbstverständlich eine die Tastung ermöglichende Tiefenpalpation nicht 
gut denkbar ist. Ich spreche von der Palpation des Appendix im Intervall 
und bei chronisch schleichender Appendizitis. 

Was die Technik der Wurmfortsatztastung anbelangt, so gelten hier 
die Regeln der topographischen Gleit- und Tiefenpalpation. Sehr wird die 
Tastung erleichtert durch die Psoaspalpation, bei welcher durch Heben des 
gestreckten Beines der Psoas zur Kontraktion gebracht wird und dadurch 
sich der vorderen Bauchwand nähert, so daß alle über ihn verlaufenden 
Gebilde, so auch der Wurmfortsatz, leichter der Tastung zugänglich werden. 

Indem ich die topographische Gleit- und Tiefenpalpation den Kliniken 
und Ärzten angelegentlichst empfehle, betone ich, daß sie keineswegs irgend¬ 
wie hervorragend tastbegabte Finger erfordert. Sie kann von jedermann mit 


Digitized by 


Google 



Intestinal palpation. — Jodomenin. 


219 


einigem Aufwand von Geduld und Mühe erlernt werden. Wer sie zu be¬ 
herrschen lernt, wird manche Freude und so manchen diagnostischen Erfolg 
erleben. Selbstverständlich hat die Methode ihre Grenzen wie jede andere 
Methode, und wenn in manchen Fällen mit ihr nichts zu machen ist, so 
ist es mehr wie natürlich. In einem Teil der sonst unlösbaren diagnostischen 
Aufgaben oder der nur durch weitläufige, komplizierte Untersuchungs¬ 
methoden diagnostizierbaren Fälle gibt die neue Palpationsmethodik Auf¬ 
klärung, und das genügt. Daß sie ausnahmslos zur Diagnose verhilft, das 
können wir von ihr ebensowenig verlangen, wie von anderen diagnostischen 
Methoden. 

Ebenso wie die Herzperkussion ein vorhandenes Herzleiden nicht selten 
unentdeckt läßt, so wird in manchen Fällen auch die virtuoseste Palpation 
nicht zum Ziele führen. Nicht alles zu leisten, sondern mehr zu leisten als 
frühere Methoden, ist die Aufgabe der topographischen Gleit- und Tiefen¬ 
palpation. 

Eino ausführliche Darstellung des Gegenstandes und seiner klinischen 
Bedeutung für Diagnose und Therapie, eine eingehende Beschreibung der 
Methodik mit bildlicher Darstellung derselben und mit ausführlichen Kran¬ 
kengeschichten findet der Leser in meinem soeben erschienenen Buche: 
»Die methodische Intestinalpalpation mittelst der topographischen Gleit- 
und Tiefenpalpation und ihre Ergebnisse etc.«. 

Literatur: Glenard, Les ptoses viscerales. Paris 1899. — Obbas rzow, Zur physi¬ 
kalischen Untersuchung des Magens ond des Darmes. Arch. f. klin. Med., 1888. — Der¬ 
selbe, Znr physikalischen Unterauchnng des Darmes. Arch. f. Verdauungskrankh., 1894. — 
Derselbe, Über die Palpation des Pylorns. Deutsche med. Wochenschr., 1902. — Cohn- 
hsim , Über die Palpation und Auskultation des normal großen Pylorus. Zeitschr. f. klin. 
Med., 1908. — Hadshann, Das Co ecu m mobile. Berliner klin. Wochenschr., 1904, Nr. 44. — 
Derselbe, Über die Palpation des Appendix und der Appendicitis larvata. Ebenda, 1905, 
Nr.7. — Derselbe, Über das Tasten normaler Mageuteile. Arch. f. Verdauungskrankh., 
1907. 8eparatansgabe bei S. Karger, Berlin. — Derselbe, Zur Palpation des Wurmfort¬ 
satzes. Wiener klin. Wochenschr., 1908, Nr. 22. — Derselbe, Die palpatorisch bestimm¬ 
baren abdominalen Zeichen der asthenischen Konstitutionskrankheiten. Wiener klin. Wochen¬ 
schrift, 1909, Nr. 31. — Derselbe, Die methodische Intestinalpalpation. S. Karger, Ber¬ 
lin 1910. Th. Hausmann (Orel). 

Jodomenin. Ein neues Jodpräparat, das den Magen unzersetzt 
verläßt und erst im Darm Jodalkali abspaltet, ist das Jodomenin. Es ent¬ 
steht durch Einwirkung von Wismuttrijodid auf Eiweiß unter bestimmten 
Bedingungen, ist in verdünnten Säuren unlöslich und zerfällt in verdünnten 
Alkalien leicht in Jodalkali und Wismuteiweiß. Die Jodausscheidung im 
Harn beginnt erst eine Stunde nach der Einnahme. Es kommt in Tabletten 
ä 0*5 g Jodomenin (= 0*06 g Jodkalium) in den Handel. Nach Büsch und 
Gumpbrt *), welche das Mittel in die Praxis einführen, kommt man mit einer 
Dosis von 3mal 1— 2 Tabletten aus. Cassel 2 ) bat in 6 Fällen aus der 
Kinderpraxis gute Erfolge von diesem Präparat gesehen. Nebenerscheinungen 
bat er nicht gesehen. 

Literatur: *) Bosch und Gumpebt, Jodomenin, ein neues internes Jodpräparat. Die 
Therapie der Gegenwart, April 1908, pag. 186. — a ) Cassel, Jodomenin, ein Jodeiwei߬ 
präparat in der Kinderpraxis. Die Therapie der Gegenwart, Juli 1908, pag. 335. 

E. Frey. 


Digitized by üjOOQle 



Karellkur ist zunächst eine reine Milchkur, die vor 40 Jahren von 
dem russischen Leibarzt Th. Karell in einem Artikel des Archives göndrales, 
1866 mit großem Enthusiasmus zur Bekämpfung schwerer Kreislaufstörungen 
empfohlen worden war. 

Neben dieser Empfehlung war es Wintbrnitz, der sich ebenfalls für 
eine reine Milchdiät aussprach, während in der späteren Zeit die Kafellkor 
mehr und mehr in Vergessenheit geriet, und selbst in den neueren größeren 
Lehrbüchern der Herzkrankheiten, sowohl in den deutschen wie in denen 
der Franzosen oder Engländer kaum oder gar nicht mehr erwähnt ist. ln 
neuerer Zeit war es Felix Hirschfeld, der in mehreren Vorträgen auf die 
Bedeutung der KARELLschen Milchkur zur Beseitigung von Kompensations¬ 
störungen und zur Entfettung hinwies, vor allem aber eine Mitteilung von 
Jacob aus der LENHARTZschen Abteilung, welche diese Entziehungskur wieder 
dem allgemeinen Interesse näher gebracht hat. Hirschfeld betont nun mit 
Recht, daß es die mit der reinen Milchdiät verbundene Unterernährung 
war, welche die meisten Kliniker davon abhielt, die Karellkur bei Herz¬ 
krankheiten anzuwenden, da ganz allgemein die Vorstellung bestand, daß 
eine Unterernährung dem an sich schon geschwächten Herzen nur weiter 
schädlich sein könne. Zu erwähnen ist noch, daß auch F. A. Hofpiiann in 
dem LEYDENschen Handbuch der Ernährungstherapie, in dem Kapitel der 
diätetischen Kuren, auch die Karellkur eingehend beschreibt und besonders 
hervorhebt, daß er in vereinzelten Fällen von Ödemen mit der Karellkur 
gute Erfolge gesehen hat. 

Die Karellkur gestattet nur 600—800 m s entsahnte Milch pro Tag; 
sie ist also mit der reinen Milchdiät, bei der 2—3 7 Milch pro Tag gegeben 
werden, nicht ohne weiteres identisch. Die von Karell erlaubte Milchmenge 
enthält nach Hirschfeld ca. 25 g Eiweiß, 35 g Kohlehydrat und 10 g Fett, 
d. b. zusammen etwa 350 Kalorien, das ist ein Siebentel bis ein Achtel der 
Erhaltungsdiät. 2 —3 l Vollmilch hingegen enthalten ca. 1400—2100 Kalorien, 
also den 4—Gfachen Nährwert, und stellen somit eine Schonungsdiät für 
die verschiedenen Organe, Magen-Darmkanal, Leber, Nieren, dar, brauchen 
aber bei vollkommener Bettruhe noch keine oder eine nicht nennenswerte 
Unterernährung zu bedeuten. 

Aus dieser Betrachtung geht schon hervor, daß jedenfalls ein sehr 
wesentlicher Teil der Wirkung der Karellkur auf der Unterernährung basiert, 
welche für das Herz die denkbar größte Schonung ermöglicht. Nicht nur, 
daß durch die Reduktion der Flüssigkeitsmengen die mechanische Belastung 
des Kreislaufs auf das äußerste reduziert wird, die Unterernährung bedingt 
an sich durch die verminderte resorptive, sekretorische und sonstige Darm- 


Digitized by 


Google 



Karellkur. 


221 


foaktion auch ein Mindestmaß an Energieverbrauch, also ein Mindestmaß 
von wesentlicher Arbeit für das Herz. 

Andere sehen in dem unmittelbaren Einnuß der Milchkur auf die 
Nieren, in der diuretischen Wirkung das wesentliche Moment der Karellkur 
oder aber, wie Homberg darin, daß durch die sehr kochsalzarme Nahrung 
die Ödeme zum Schwinden gebracht werden. Es erscheint jedoch höchst 
wahrscheinlich, daß die extreme Schonung des Herzens in dem oben ange* 
deuteten Sinne die Hauptursache für die Wirkung der Karellkur in dem 
schweren Stadium der Herzkrankheiten abgibt. 

Hoffmaxn gibt (1. c.) die KARELLsche Vorschrift folgenderweise wieder: 
»Karell verordnet zunächst dem Kranken 3- oder 4mal am Tage in ganz 
fest bestimmten Zwischenräumen 60—200 cm* abgerahmte Milch; Tempe¬ 
ratur nach Geschmack des Kranken. Er darf nie alles in einem Zuge trinken, 
sondern langsam in kleinen Schlucken, damit der Speichel sich genügend 
damit mischen kann. Daneben sind von vornherein andere Speisen nicht ge- 
stattet Wenn der Stuhl regelmäßig und fest bleibt, so wird die Menge ge¬ 
steigert und man erreicht in der 2. Woche 1500 cm 3 . Im regelmäßigen Ver¬ 
lauf der Kur wird dann alle 4 Stunden, d. h. morgens 8 Uhr, nachmittags 
4 Uhr, abends 8 Uhr eine Portion Milch gereicht. Es können sich verschiedene 
Cbelstände einstellen, welche im Anfänge den Kranken von der Kur zurück¬ 
schrecken, entweder hat man dann eine schlechte Milch gegeben oder eine 
zu fette, oder, was am häufigsten vorkoramt, man hat nicht mit genügend 
kleinen Dosen begonnen. Wenn im Anfang ein Patient mit einem Viertel¬ 
liter am Tage auskommen soll, ängstigen sich viele und fürchten Gefahr 
von einer so unzureichenden Nahrung. Aber die Gefahr liegt, wie die Er¬ 
fahrung immer wieder und wieder bewiesen hat, ganz auf der entgegen¬ 
gesetzten Seite. 

Wenn Durchfall eintritt, so wird er durch eine andere Milch, durch 
Rückgehen in der Dosis, durch Einschieben einer Schleimsuppe oft leicht 
beseitigt. Im allgemeinen muß der Arzt sich auf viele Einwürfe und selt¬ 
same Widersprüche gefaßt machen. Manche Patienten geraten bei dem bloßen 
Gedanken außer sieb, andere behaupten, sie hätten nie Milch vertragen und 
es könnte nicht gelingen. Besonders werden auch frühere, schlecht ausge¬ 
führte Versuche als Beweise angeführt, daß es damit nicht gehen werde. 
Wenn es gelingt) die erste Woche 4er Kur glücklich durchzuführen, so hat 
man meist den Widerstand überwunden.« 

Jacob gibt die Verordnungen, wie sie Lenhartz seit 15 Jahren aus- 
probiert hat, in folgender, etwas modifizierter Form an: Der Kranke erhält 
viermal im Tag, um 8, 12, 4 und 8 Uhr, je 200 cm 8 abgekochter oder roher 
Milch von beliebiger, seinem Geschmack entsprechender Temperatur. Außer¬ 
dem wird keinerlei Flüssigkeit oder feste Nahrung während der ersten 5 bis 
7 Tage erlaubt. In den darauf folgenden 2—6 Tagen gibt man außer der 
zur gleichen Zeit und in der gleichen Menge verabreichten Milch leichte Zu¬ 
sätze: zunächst nur ein Ei (um 10 Uhr) und etwas Zwieback (um 6 Uhr), 
dann zwei Eier und etwas Schwarz- oder Weißbrot, am folgenden Tag dazu 
gehacktes Fleisch, Gemüse oder Milchreis, so daß allmählich, in 2—6 Tagen, 
etwa 12 Tage nach Beginn der Kur, der Übergang zu voller, gemischter 
Kost erfolgt, bei der dann in den meisten Fällen die Milch möglichst bei- 
bebalten oder teilweise durch Tee ersetzt wird, ohne daß in den folgenden 
14 Tagen bis 4 Wochen die Gesamtmenge der Flüssigkeit 800 cm s über¬ 
steigt. 

Er betont, daß selbst bei schweren Herzkranken das häufig schon vor 
der Kur gegebene Morphium in der Regel nach 1—3 Tagen, wenn die 
qiiälende Dyspnoe und das Oppreasionsgefühl beseitigt sind, ausgesetzt 
werden kann. Nur in sehr wenigen Fällen begegnet die anscheinend sehr 


Digitized by 


Google 



22 2 


Karellkur. — Kehlkopftuberkulose. 


rigorose Kur ernstlichem Widerstand. Dies ist erklärlich, wenn man be¬ 
denkt, daß bei den Kranken mit schweren Kompensationsstörungen meist 
auch der Verdauungstraktus in Mitleidenschaft gezogen ist und infolgedessen 
Appetitlosigkeit oder sogar Widerwillen gegen jede feste Nahrung besteht. 
Nur die Flüssigkeitseinschränkung wird, und zwar auch nur in den ersten 
Tagen, als sehr unangenehm empfunden, bald aber gewöhnen sich die Kranken 
daran, mit den kleinen Flüssigkeitsmengen auszukommen und es ist oft 
gar nicht mehr nötig, das Durstgefühl durch Ausspülen des Mondes zu be- 
kämpfen. 

Bezüglich der Indikation der Karellkur, die unter dem Gesichtspunkt 
einer Entlastungs- und Schonungskur für das Herz angewendet wird, ist 
dieselbe sowohl bei chronischer wie bei akuter Herzschwäche angezeigt. Sie 
bietet dann die besten Aussichten auf Erfolg, wenn neben der Cyanose und 
Dyspnoe mehr oder weniger hochgradiger Haut- oder Höhlenhydrops vor¬ 
handen ist. Am günstigsten ist es, wenn die Störungen nur auf einer Herz¬ 
muskelerkrankung beruhen; gleichzeitige Ventilstörungen durch Herzklappen¬ 
veränderung sind hier ungünstiger, obgleich auch bei diesen auf der Lenhartz- 
schen Abteilung zeitweise vortreffliche Wirkungen erzielt wurden, wenn die 
sonstigen Arzneikörper im Stiche gelassen hatten. Besteht nur Cyanose, 
Dyspnoe ohne hydropische Erscheinungen, so erwies sich der Einfluß der 
Karellkur als wenig günstig. Vorbedingung für den Erfolg ist, daß eine ge¬ 
nügende Höhe der Pulswelle vorhanden ist, so daß noch eine gewisse An¬ 
passungsfähigkeit des Herzmuskels besteht. Auch muß die Niere soweit 
leistungsfähig sein, daß sie das retinierte Wasser und die Salze ausführen 
kann. Die Wirkung der Kur tritt in der Regel am 3., 4. oder 5. Tage ein; 
erst dann, wenn eine reichliche Diurese erzielt ist, darf man dem Kranken 
gestatten, das Milchquantum zu erhöhen. 

Die Frage, ob während der Karellkur auch Medikamente zu geben 
sind, ist nicht prinzipiell zu beantworten, ln vielen Fällen genügte Jedenfalls 
die Durchführung der reinen Kur, besonders da, wo die Kranken schon 
vielerlei Digitalispräparate genommen hatten. Im Verlaufe der Karellkur 
wird es Jedenfalls meist wünschenswert sein, die Herzkraft durch Digitalis¬ 
präparate zu steigern. Zueittr. 


Kehlkopftuberkulose, Chirurgische Behandlung 
der« Die Patienten mit Kehlkopftuberkulose, die in früheren Jahren die 
Sprechstunde der Laryngologen füllten und oft eine Crux medici bildeten, 
sind Jetzt vorwiegend in den Anstalten und Sanatorien für Lungenleidende 
und in Kurorten zu finden, die den Ruf genießen, wegen ihres Klimas oder 
wegen ihrer Ärzte das Vertrauen der Tuberkulösen zu rechtfertigen. Nach¬ 
dem auch für die Arbeiterbevölkerung durch Volkssanatorien besser wie 
früher gesorgt ist, kommen die leichtesten Fälle von Infiltration und kleinen 
einzelnen Geschwüren auch dort zur Behandlung, obwohl bei der Aufnahme 
(der guten Statistik wegen?) alle irgendwie halskranke Tuberkulöse prin¬ 
zipiell von vielen Anstalten zurückgewiesen werden, damit diese denjenigen 
Arbeiterkranken offen bleiben, die die größte Chance haben, bald und mög¬ 
lichst lange erwerbsfähig zu werden. Der letzte Teil, namentlich die schwer 
Kehlkopftuberkulösen, sind in den städtischen Krankenhäusern zu suchen. 
Dieser Entwicklungsgang ist im Interesse der Kranken nicht zu bedauern, 
nachdem im Gegensatz zu früher auch an den besseren Sanatorien für ge 
nügend geschulte laryngologische Diagnose und lokale Therapie ge¬ 
sorgt ist. 

Der Erkenntnis, daß gerade der kehlkopfkranke Tuberkulöse einer ab¬ 
soluten Ruhestellung des Halses, die früher für die Lunge verlangt wurde, 
bedarf, ist von M. Schmidt in Frankfurt ausgegangen, nachdem er mit dem 


Digitized by 


Google 



Kehlkop ftuber kulose. 


223 


Referenten 2 Fälle kontrolliert hatte, die dnrch vierteljähriges absolutes 
Schweigen zur Spontanheilung ohne lokale Therapie gekommen waren. 

Später haben Semon und andere diesen naheliegenden Qedanken auf¬ 
genommen und als »Heilmethode« empfohlen. Da diese »Schweigekur« schwer 
ohne Kontrolle bei lebhaften Leuten durcbzufQhren ist und die Anstößigkeit 
derselben bei der gesunden Umgebung in der Anstalt besser verwunden 
wird, und da zugleich eine bessere Hygiene der Luft, der Diät, die absolut 
reizlos sejji soll, im Sanatorium durchzaführen ist, so wird auch in der 
nächsten Zukunft den Kehlkopftuberkulösen anzuraten sein, sobald nicht die 
Gewähr geleistet ist, daß die Anordnungen des Arztes strikte befolgt werden, 
eine Heilanstalt aufzusuchen. Die offenen Kurorte scheinen mir keine be¬ 
sonderen Vorzüge zu haben, da ich gerade in hiesiger Gegend jährlich Ge¬ 
legenheit habe, zu sehen, wie im Vertrauen auf die »Heilquelle« die viel 
wichtigeren Maßnahmen der örtlichen Behandlung und der Schonkur versäumt 
werden und der Leichtsinn der Patienten durch den Gemeinglauben an eine 
vierwöchentliche »Kur« leider verstärkt wird. 

Unter der örtlichen Behandlung h$t sich die wiederholte, mit richtigen 
Pausen angewandte Milchsäureätzung, nicht Pinselung, der Geschwüre 
mit 50—100%igen Lösungen dauernd bewährt und die vielen angepriesenen 
neuesten Mittel alle überlebt und überflüssig gemacht. Dagegen scheint auch 
an anderen Orten das grobe Curettement immer seltener zu werden. Die 
Nachschmerzen, das ungenaue und für ein so zartes Organ wie der Kehl¬ 
kopf doch rohe Verfahren und die Unmöglichkeit, nur die kranke Stelle zu 
treffen oder alles Erkrankte auszurotten, sind große Nachteile des an und 
für sich nicht zu verurteilenden Verfahrens, das ich selbst viele Jahre lang 
geübt habe. Man wundert sich, wieviel der Larynx verträgt und mit welcher 
Kühnheit man die ganze Epiglottis wegnehmen kann, ohne gefährliche Blu¬ 
tung hervorzurufen oder das Schlucken unmöglich zu machen. Gerade die 
Abtragung der Epiglottis mit großen Doppelkuretten, die auf einen Schlag 
alles Erkrankte entfernen können, verdient immer noch mehr Anwendung 
und Anerkennung. 

1904 haben nun zwei hervorragende Spezialisten (Krieg und Mermod) 
die Galvanokaustik des tuberkulösen Kehlkopfs warm empfohlen. Es 
mehrten sich seitdem die Anhänger dieser zarteren und genaueren Methode, 
besonders die Erfolge Mbrmods stimulierten auch andere Laryngologen, die 
eigentlich nicht neue Methode wieder zu üben. 

Siebenmann berichtet in diesem Jahre in Heidelberg auf dem Kongreß 
der Deutschen Laryngologen (Verhandlungen, Würzburg, Stübers Verlag, 
1909) über 66 galvanokaustisch behandelte Larynxtuberkulosen, die fast 
alle nicht in günstigen äußeren Verhältnissen lebten, ein Umstand, der bei 
Heilresultaten bewertet werden muß. Alle Behandelten waren zugleich lungen¬ 
krank, 20% davon in geringem Grade, drei Viertel in mittlerem Grade. 
Zur Kontrolle für eine Nachuntersuchung, um Dauerresultat festzustellen, 
stellten sich 25 Patienten, d. i. B8°/ 0 . 14 davon erwiesen sich als larynx- 
gesund. Rezidive hatten 11. 11 blieben über ein Jahr geheilt. Es kamen 
nach Siebenmanns Berechnung 11 Geheilte auf 39 Operierte. 

Es konnte also ein Viertel bis ein Drittel der Fälle als geheilt ange¬ 
sehen werden. 

Krieg berichtet, daß von über 200 Operierten nach Jahren noch 
40 lebten. 

Mermod fand nach 2 Jahren noch ein Fünftel noch gesund und am Leben. 

Nun noch einige Worte über die heute übliche Methode der Galvano¬ 
kaustik bei Larynxtuberkulose. 

Wie bei anderen aufregenden Operationen schickt man (freilich nicht 
immer) l / % — 8 / 4 Stunde vorher eine Morphiuminjektion voraus. Dann wird der 


Digitized by 


Google 


224 


Kehlkopftuberkulose. — Keloid. 


Larynx während 20 Minuten mehrmals mit 10%U? er Kokainlösung eingepinselt, 
dem ein Nebennierenpräparat zugesetzt ist. Der Adrenalinzusatz läßt die nor- 
male Schleimhaut sehr abblassen, die tuberkulösen Stellen bleiben oft charak¬ 
teristisch rot. Die erkrankte Stelle wird ganz und tief verätzt, nicht bloß 
punktiert. Man drückt den Brenner bis auf den Knorpel. Die Handhabung 
ist bei Patienten, die nicht sehr ruhig halten, picht leicht. Nebenverletzungen 
kommen öfters vor. Nachblutungen ebenfalls. Der Rauch bei dem Brennen 
ist sehr störend, doch wird darauf gesehen, möglichst viel in einer Sitzung 
zu brennen resp. die ganze Kur in einer Sitzung zu beenden. Sibbknmask 
sah auch einmal bedrohliches Emphysem des Mediastinums darnach! Ebenso 
Ödeme. Es eignet sich also diese Behandlung besser für die Spitalpraxis. 
Ausgedehnte Fälle werden wohl am besten von der Galvanokaustik aus¬ 
geschlossen. 

Es gibt unter diesen ausgedehnten Fällen seltene, die zu chronischen, 
tumorartigen Schwellungen und skleromartigen Verdickungen führen, den 
Knorpel nicht frei lassen, auch die Drüsen affizieren und dem Karzinom in 
späteren Stadien so ähnlich sehen, daß diese Patienten von Arzt zu Arzt 
wandern und die Diagnose andauernd zwischen Tumor und Tuberkulose hin- 
und her schwankt. Solche Fälle lohnt es sich, radikal von außen zu ope¬ 
rieren. Sie haben einen langsamen, mehr gutartigen Verlauf und überleben 
die teilweise oder radikale Entfernung des Kehlkopfs oft noch lange Zeit. 
Ich kenne Fälle, die 15 Jahre nach teilweiser Larektomie sehr heiser, 
aber gesund gelebt haben. Manchmal wird aber die richtige Diagnose erst 
nach der mikroskopischen Untersuchung am heran sgenommenen Kehlkopf¬ 
teil gestellt, ein Irrtum, der in solchen Fällen für die Patienten nicht ver¬ 
hängnisvoll ist und bei guter Überlegung die Operation, die sich ohne Nar¬ 
kose in Skopolamindämmerschlaf mit Kokain gut ausführen läßt, rechtfertigt 
Versorgung der Wunde, Nachbehandlung, ist aber so schwierig, daß diese 
Operationen von außen nur wenigen erfahrenen Ärzten überlassen werden 
Sollten. AvelUs. 


Keloid (von KyX^, Narbe, oder K&y, Krebsschere, mit Rücksicht auf 
die äußere Form mancher Keloide). Bezüglich der Pathogenese des von Au- 
bert zuerst genauer beschriebenen Keloids sind die Ansichten der einzelnen 
Autoren immer noch sehr geteilt. Das Keloid gehört wohl jedenfalls zu den 
harten Fibromen und bildet die bekannten geschwulstartigen, fibrösen Degenera¬ 
tionen der Haut und des Unterhautzellgewebes, derbe, durch Bind ege webshyper- 
plasie bedingte Wulste der Haut, oft mit strangartigen Fortsätzen in die gesunde 
Umgebung (Fig. 39 u. 40). Histologisch besteht das Keloid aus homogenen 
Gewebsbalken mit dazwischen liegender fibrillärer Substanz, das Hautepithel 
und der Papillarkörper sind gewöhnlich intakt. In der größten Mehrzahl der 
Fälle bilden sich die Keloide im Anschluß an Narben (Narbenkeloide, 
8. Fig. 39), ganz besonders auch nach Verbrennungen. Zu diesen Narben* 
keloiden gehören auch jene, welche sich nach akuten oder chronischen, um¬ 
schriebenen Entzündungen (Akne, Furunkel, Lues, Lepra nsw.) oder nach 
chemischen Reizungen entwickeln. Zuweilen aber entsteht das Keloid spon¬ 
tan ohne nachweisbare Ursache, und zwar manchmal in größerer Zahl, wie 
z. B. in dem in Fig. 40 abgebildeten Falle. Reiss sah bei einem 12jährigen 
Mädchen 210 typische, spontan entstandene Keloide. Manche Autoren, z. B. 
Joseph und andere, wollen das Narbenkeloid resp. die hypertrophische Narbe 
vom spontan entstandenen Keloid streng geschieden wissen. 

Die eigentliche Ursache der Keloide ist noch wenig aufgeklärt. Nach 
Goldmann soll das Keloid besonders durch traumatische oder entzündliche 
Schädigung der elastischen Fasern der Kutis und durch ungenügende oder 
vollständig fehlende Regeneration derselben entstehen. Nach Wilms, Taddbi 


Digitized by 


Google 



Keloid. — Kinderlähmung, Die spinale. 


225 


und anderen ist das Keloid im wesentlichen durch eine Überproduktion von 
Kollagen seitens der Bindegewebszellen bedingt. Zuweilen verschwinden die 
Keloide spontan, in der größten Mehrzahl der Fälle aber rezidivieren sie 
nach der Exstirpation und trotzen den verschiedensten Behandlungsmethoden. 
Ich sah ein pflaumengroßes Keloid bei einem jungen Mädchen nach Durch¬ 
lochung der Ohrläppchen behufs Tragen von Ohrringen, welches nach den 
verschiedensten Behandlungsmethoden immer wieder rezidivierte. 

Für die Behandlung der Keloide bat man, abgesehen von der Ex¬ 
stirpation, die verschiedensten Methoden empfohlen, um Rezidive zu ver¬ 
hüten , besonders multiple Skarifikationen in mehreren Sitzungen mit 
nachfolgendem feuchten Verband mit Borlösung und am folgenden Tage mit 
Applikation von Quecksilberpflaster (Lkloir, Vidal) oder multiple Skarifika¬ 
tionen mit Auflegen von heißen, feuchten Kompressen und Kompressions* 
verbänden (Lawrence), die Exzision mit nachfolgender Hauttransplantation 
(Oolduann) , die Lichtbehandlung nach Finsen und die Röntgenstrahlen 


Fi?.39. 


Fig. 40. 



(Morris), Injektionen von 20°/ 0 igem Kreosotöl (Marie), einer 5—10%igen 
alkoholischen oder wässerigen Olyzerin-Tbiosinaminlösung (v. Hebra, Duclaux) 
oder von Fibrolysin. Ich bevorzuge das letztere Mittel im Verein mit Rönt¬ 
genstrahlen, es wird teils in das Keloid, teils intramuskulär oder subkutan 
in der Nähe des Keloids oder an einer entfernten Körperstelle injiziert (etwa 
1 ccm 1—2mal wöchentlich). 

Literatur: Goldmann, Verhandl. d. Deutschen Gesellsch. f. Chir., 1901. — Joseph, 
Archiv !. Dermatol, und 8yphilis, XL1X. — Lawrence, British med. journ., 1898, Jnly 16. — 
Mobhis, The Practitioner, Dezember 1905. — Reis?, Archiv I. Dermatol, u. Syphilis, LVI. — 
Taddki, Sperimentale arch. di biolog. normale e patol., 1905. — Tillmanns, Lehrbuch der 
allgemeinen Chirurgie, 1907, 10. Aull., pag. 767. — Wilms, Beiträge zur klin. Chir., XXIII. 

H. Tillmanns. 


Kinderlähmung, Die spinale. Während die zerebrale Kin¬ 
derlähmung im wesentlichen den Ausgangszustand einer Reihe ganz ver¬ 
schiedenartiger Prozesse darstellt, bei denen zwischen dem Anfangsstadium 
und dem Endprozeß kaum irgend eine bestimmte Beziehung besteht, haben 
wir in der spinalen Kinderlähmung ein vollkommen in sich abgeschlossenes 


Encyclop. Jahrbücher. N. F. VDI. (XVII.) 


Digitized by 


jöo; 







226 


Kinderlähmung, Die spinale. 


Krankheitsbild vor uns, das sowohl hinsichtlich seines Beginns wie seines 
Verlaufes vollkommen einheitlich charakterisiert ist. Das gilt schon hinsicht- 
lieh der Ursache, denn wir haben es mit einer infektiösen Affektion (nach 
ihren ersten Beschreibern auch HEiNE-MEDiNsche Krankheit genannt) zu tun. 
Ist auch die Individualität des Erregers noch zweifelhaft, so läßt doch das 
gelegentlich und besonders in den nordischen Ländern beobachtete epide¬ 
mische Auftreten der Affektion keinen Zweifel öber den infektiösen Cha¬ 
rakter. Eine ganz besonders große Epidemie ist erst vor wenigen Jahren 
in New-York beobachtet worden. Die übrigen ursächlichen Zusammenhänge, 
die man bei der Krankheit mehr konstruiert als festgestellt hat, Trauma, 
Erkältung usw., können keine wesentliche Bedeutung beanspruchen, nur eine 
Erscheinung wird von allen Beobachtern angegeben, das ist die Tatsache, 
daß die Krankheit häufig im Gefolge anderer Infektionskrankheiten aus¬ 
bricht. 

Wir müssen bei der Krankheit das akute Stadium und das chronische 
Stadium, das sind die bleibenden Folgen dieses ersteren, unterscheiden. Das 
akute Stadium spielt sich unter dem Bilde einer schweren, sehr plötzlich 
einsetzenden fieberhaften Erkrankung ab; neben hohem Fieber und den son¬ 
stigen Allgemeinerscheinungen einer derartigen Affektion, Erbrechen, Appe¬ 
titlosigkeit, Gehirnsymptomen, steht von vornherein, nicht selten mit den 
ersten Erscheinungen auftretend, zuweilen sogar über Nacht gemeinsam mit 
den anderen Erscheinungen das tagsvorher noch gesunde Kind befallend, 
eine ausgebreitete Lähmung. Es gibt vereinzelte Fälle, in denen die Allge¬ 
meinerscheinungen so gering sind, daß sie übersehen werden können, oder 
in denen, wie ich dies vor kurzem bei einem Fall sah, sich dieselben hinter 
den Symptomen einer zufällig bestehenden enteritischen (oder sonstigen) 
Krankheit verbergen, so daß man plötzlich vor der scheinbar unvermittelt 
ausgebrochenen Lähmung steht. Für den Beginn dieser Lähmung ist ein 
Moment charakteristisch, sie hat fast in allen Fällen im Beginn ihre größte 
Ausdehnung und bildet sich fast immer, was das Ausbreitungsgebiet anbe¬ 
langt, in der ersten Zeit zurück, während es allerdings nur selten zu einem 
so weit gehenden Rückgang kommt, daß man von einer Heilung der Krank¬ 
heit sprechen kann. Nach den Zusammenstellungen von Duchenne und 
Seeligmüller betrifft die Ausdehnung im Beginn der Krankheit am häufigsten 
ein Bein oder einen Arm, ebenfalls ziemlich häufig beide Beine, wesentlich 
seltener beide Arme oder alle vier Extremitäten. Es ist interessant, daß 
Neurath feststellen konnte, daß nicht selten in dem erkrankenden Gebiete 
Reizerscheinungen sensibler oder motorischer Art, Zuckungen, Parästhesien, 
Schmerzen usw. um Tage oder Stunden dem Ausbruch der Krankheit vor¬ 
hergehen. Sonst sind Schmerzen auch im akuten Krankheitsstadium selten. 
Bei Lokalisation der Erkrankung in den unteren Rückenmarksteilen kommen 
Blasen- und Mastdarmstörungen gelegentlich vor. 

Die akute Lähmung hat, wie das sich ja aus der Lokalisation der 
Krankheit versteht (betroffen sind ja die grauen Vorderhörner des Rücken¬ 
marks , also die Zentralstelle des peripheren motorischen Neurons), einen 
schlaffen und einen degenerativen Charakter. Entsprechend dem oben Ge¬ 
sagten über den Verlauf und teilweise erfolgenden Rückgang der Lähmung 
ist das Verhalten dieser Erscheinungen an den verschiedenen befallenen Muskeln 
und Muskelgruppen je nach dem Rückgang oder dem Fortschritt des Krankheits¬ 
prozesses in den Zentren dieser Muskeln ein verschiedenes. Schon im Verlauf 
der ersten Woche und besonders im Verlauf der .folgenden Wochen erlangt 
ein Teil der erkrankten Muskeln die willkürliche Beweglichkeit wieder, nach 
dieser Zeit kann man ziemlich genau sagen, wie weit die Lähmung bestehen 
bleibt; doch stellen sich (wenn auch meistens nur geringe) Besserungen noch im 
Verlaufe der folgenden Monate ein. Der krankbleibende Teil der Muskulatur 


Digitized by 


Google 



Kinderlähmung, Die spinale. 


227 


zeigt zunächst (wie im ersten Anfang ja auch der wiedergenesende) eine 
Erhöhung der mechanischen nnd elektrischen Erregbarkeit, dieser folgt eine 
Verminderung der faradischen und eine Erhöhung der galvanischen Erreg* 
barkeit und es kommt zu einer zunächst partiellen Entartungsreaktion 
(AS>KaS); so weit reichen im ganzen die Veränderungen der gesamten zu* 
erst erkrankenden Muskulatur; während aber in den genesenden Muskeln 
die Erscheinungen sich wieder zurfickbilden, kommt es in dem sich nicht 
wieder regenerierenden Teil zu einer kompletten Entartungsreaktion; Muskeln, 
in denen dies einmal eingetreten ist, pflegen sich nicht wieder zu erholen; 
doch kann man, solange überhaupt noch eine Spur von faradischer Erreg¬ 
barkeit erhalten bleibt, immer noch auf eine Regeneration hoffen. Die sich 
nicht erholenden Muskeln bestimmen durch den bleibenden, damit verbun¬ 
denen Ansfall das chronische dauernde Nachstadium der akuten Affektion. 

Damit sind wir beim chronischen Stadium der Erkrankung angekommen. 
Das bleibende Bild wird natürlich in erster Linie bestimmt von der Ans¬ 
wahl der sich nicht regenerierenden und der sich regenerierenden Muskeln. 
Wie schon oben hervorgehoben, stimmen diese Bilder in keiner Weise über¬ 
ein mit dem Bilde, das die Krankheit im Beginne zeigt. Je nach den haupt¬ 
sächlich betroffen bleibenden Muskeln unterscheidet man verschiedene Krank- 
beitstypen, den Oberarmtypus, den Unterarmtypus usw., es ist nämlich eine 
gesetzmäßige Tatsache, daß stets die Muskeln in einer ganz bestimmten 
Kombination ergriffen bleiben. Die Lähmung bleibt nun als solche natürlich 
nicht dauernd bestehen, sondern es treten über kurz oder lang die bei allen 
Lähmungen sich einstellenden Folgen zutage: Kontrakturen, Atrophien, Vor* 
biidungen der Gelenke, und hierzu kommt als besondere Erscheinung, die 
sich aus den patho-physiologiscben Verhältnissen erklärt, eine mehr oder 
weniger ausgesprochene, zuweilen aber recht hochgradige Störung des Wachs¬ 
tums. Die Kontrakturen werden von zwei Momenten bestimmt, einmal voii 
dem Verhältnis der Agonisten und Antagonisten, wie sie in der erhaltenen 
und der atrophierenden Muskulatur vertreten sind: die im Übermaß vor¬ 
handene Muskelgruppe macht allmählich ihr Übergewicht geltend; außerdem 
ist aber noch ein zweites Moment bestimmend für die Form der resultieren¬ 
den Störung, nämlich die Art der Körperlage, ob das Kind zu Bett liegt 
oder sich aufrecht bewegt etc. Das ausschlaggebendste Moment dieser ganzen 
Störung liegt aber in dem Umstande begründet, daß die Erkrankung mit 
der Vernichtung eines großen Teiles der funktionierenden Substanz der 
grauen Vorderhörner nicht nur das Zentrum für die Bewegung der peri¬ 
pheren Muskulatur, sondern auch das trophische Zentrum für diese Musku¬ 
latur zugrunde richtet. Daraus resultiert ja einmal die degenerative Atrophie 
der betreffenden Muskulatur, dann aber eine sehr wesentliche Beeinträchti¬ 
gung des Wachstums und der Ernährungsvorgänge überhaupt, die nament¬ 
lich dann zutage tritt, wenn größere Gebiete der Muskulatur befallen wer¬ 
den. Die kranke Extremität erhält auf diesem Wege ihr charakteristisches 
Aussehen, dieselbe ist oft um ein ganz erhebliches Teil verkleinert, sie 
bleibt unter Umständen dauernd infantil. Es ist ganz klar, daß ebenso wie 
die Form und die Größenverhältnisse auch namentlich der Bewegungstypus 
der kranken Teile einfach abhängig ist von der Zahl und vor allem von 
der Kombination der erhaltenen und der untergegangenen Muskeln. Hierin 
kommen die mannigfachsten Kombinationen vor, welche nicht im einzelnen 
aufgezählt werden können. Diese Art der Kombination, die wir nun in ver¬ 
schiedener Weise haben zutage treten sehen, vor allem in der Form und 
in der Bewegungsart der gelähmten Glieder, ist nun natürlich von der 
allergrößten Bedeutung för die Therapie. 

Die Therapie ist vor ganz verschiedene Aufgaben gestellt, je nach¬ 
dem man das akute oder das chronisch gewordene Stadium der Krank- 

Digitized by 



228 


Kinderlähmung, Die spinale. 


heit ins Auge faßt. Im akuten Stadium handelt es sich darum, die Ma߬ 
nahmen zu treffen, die eine akute Infektion immer an die Hand gibt: Bett¬ 
ruhe, Bekämpfung des Fiebers, Diaphorese etc., lauter allgemein gehaltene 
und symptomatische Maßnahmen, da wir ja ein spezifisches Mittel gegen 
die Krankheit nicht besitzen. Es scheint nicht einmal, daß es im Bereiche 
der Möglichkeit liegt, etwas entscheidendes für den Rückgang der Krank¬ 
heit und für ihre Beschränkung auf geringere Gebiete, als es der ursprüng¬ 
lichen Ausdehnung der Krankheit entspricht, zu tun. Am ehesten ist man 
noch berechtigt, anzunehmen, daß man nach Ablauf des allerfrischesten 
Krankheitsstadiums durch physikalische Maßnahmen verschiedener Art die 
Wiederbelebung einiger Muskeln unterstützen kann, also durch die Ausübung 
eines peripheren Reizes, der geeignet ist, den tropbischen Einfluß der 
Rückenmarkszentren auf die Muskeln anzuregen. Es kommen hierfür eigent¬ 
lich alle Verfahren in Betracht, die wir kennen, sowohl die rein physikali¬ 
schen Verfahren (Massage), wie auch die elektrotherapeutischen und hydro¬ 
therapeutischen Maßnahmen; für alle diese Anwendungen kommt es weniger 
darauf an, was für ein Verfahren man bevorzugt, als darauf, daß man mit 
größter Vorsicht und Schonung, unter strenger Vermeidung jeder Forcierung 
arbeitet und daß man sich keine Mühe verdrießen läßt, denn die Sache ist 
langsam und zeitraubend und es vergeht oft sehr viel Zeit, ehe man einen 
Erfolg zu sehen bekommt. Aber wie es schon oben bei der Besprechung 
des Krankheitsverlaufes hervorgehoben wurde, tritt oft noch nach Monaten, 
ja wie einige Beobachtungen es wahrscheinlich machen, noch sogar nach 
einer noch längeren Krankheitsdauer eine Wiederkehr der Bewegung in bis 
dahin kranken Muskeln ein, so daß man allerdings trotz der größten Mühe 
niemals in allen, aber doch in einigen davon noch eine wesentliche Bosse¬ 
rung erzielt. Hier hat man in der Tat nicht selten den Eindruck, daß ge¬ 
rade diese Art von Therapie es war, die den Muskel wiederbelebt hat Wenn 
die Krankheit völlig in das chronische Stadium eingerückt und der Zustand 
stationär geworden ist, stehen wir vor völlig anderen Aufgaben. Hier tritt 
in allererster Linie die Chirurgie in ihre Rechte: in Betracht kommen, wie 
das in der Natur der Sache liegt, vor allem Sehnenüberpflanzungen und 
Arthrodesen; auf diesem Wege lassen sich oft noch die allerglänzendsten 
Erfolge erzielen. Auch hierbei kommt es natürlich sehr darauf an, daß die 
geistige Beschaffenheit des Patienten es nicht unmöglich macht, daß die 
Erfolge der Chirurgie in die Tat umgesetzt werden. Während aber dieser 
Gesichtspunkt bei der diesbezüglichen Therapie der zerebralen Kinderlähmung 
eine sehr große Rolle spielt, weil nach der Art der im Gehirn lokalisierten 
Erkrankung sehr oft auch die Psyche Schaden erlitten hat, kommt die 
gleiche Frage bei der Therapie der spinalen Kinderlähmung höchstens zu¬ 
fällig einmal in Betracht, weil natürlich auch ein Idiot eine spinale Lähmung 
akquirieren kann — sonst besteht kein Zusammenhang, die Krankheit ge¬ 
fährdet ja den geistigen Bestand der Kinder nicht und die Krankheit ist 
auch bei Idioten nicht häufiger als bei geistig normalen Kindern anzu¬ 
treffen. 

Noch sind einige Worte über die pathologische Anatomie der Krank¬ 
heit zu sagen. Es handelt sich, wie es schon mehrfach kurz erwähnt worden 
ist, um eine Erkrankung hauptsächlich der grauen Substanz und hier wieder 
hauptsächlich der Vorderhörner, doch sicherlich nicht dieser allein, indem 
vielmehr auch die benachbarten Teile, Hinterhorn sowohl wie angrenzende 
Fasergebiete, von der Krankheit direkt betroffen werden. Die Gegend des 
Vorderhorns stellt nur mehr den eigentlichen zentralen Herd der Erkran¬ 
kung dar. Das Ausbreitungsgebiet der Krankheit entspricht dem Gebiete 
der vorderen Äste der Arteria spin. bzw. Tracjus arteriosus anterior, 
während das Gebiet der Vaso corona frei bleibt. Die pathologisch-anato- 


Digitized by 


Google 



Kinderlähmung, Die spinale. — Kinderlähmung, Zerebrale. 229 

mischen Veränderungen, die man ans frischen Fällen bisher kennt, charak¬ 
terisieren sich als schwere, akute, entzündliche, exsudative Veränderungen 
(Infiltrate um die Gefäße, Blutaustritte, periganglionäre Zellanhäufungen); 
die Veränderungen erstrecken sich auf analoge Weise nicht selten auch 
auf die Pia und es ist überhaupt auch ein pathologisch anatomisches Cha¬ 
rakteristikum, daß die Krankheit im Nervensystem viel weiter ausgebreitet 
ist, als es den klinischen Erscheinungen entspricht. Die Ganglienzellen 
zeigen akute, degenerative Veränderungen, auch in den Markfasern findet 
man frische Degenerationen. Ist der akute Prozeß abgelaufen, so gehen 
die Veränderungen überall mit Ausnahme eines kleinen Gebietes zurück, hier 
aber bleiben sie, und dieses entspricht nun auch in seiner Ausdehnung den 
bleibenden klinischen Ausfallssymptomen. Die pathologisch-anatomischen 
bleibenden Veränderungen bestehen in Schrumpfung und Untergang der funk¬ 
tionierenden Elemente, wodurch auf dem Querschnitt die erkrankte Rücken- 
markshäifte speziell in ihrer grauen Substanz wesentlich verkleinert er¬ 
scheint. H. Vogt. 

Kinderläluiraiijg, Zerebrale. Unter der Bezeichnung zere¬ 
brale Kinderlähmung faßt man eine Menge im Grunde ganz verschieden¬ 
artiger Krankheitsprozesse zusammen, die nur das Gemeinsame haben, daß 
der Ort der Erkrankung der Hirnrinde übereinstimmt. Es handelt sich um 
einen rein klinischen Begriff, welcher gegeben ist durch das Symptom der 
zerebralen Lähmung, welches also der Ausdruck für die Tatsache einer Er¬ 
krankung des motorischen kortikalen Neurons ist. Man kann ebensowenig 
ätiologisch wie pathologisch-anatomisch eine Einteilung der Krankheit auf- 
stelien, und wenn man sich bewußt bleibt, daß es von der reinen kortikalen 
Lähmung und den formes frustes dieser Erkrankung bis zur Epilepsie und 
Idiotie mit und ohne Lähmung und bis zu den kindlichen Herderkrankungen 
des Gehirns ohne Beteiligung der motorischen Rinde eine zusammen¬ 
hängende Flucht von Erscheinungskomplexen gibt, so kann man eigentlich 
auch klinisch die zerebrale Kinderlähmung nicht als ein abgeschlossenes 
Krankheitsbild anerkennen. Richtiger wäre es entschieden, von den kind¬ 
lichen und fötalen Herderkrankungen (mit Ausschluß des Tumors u. dgl.) 
und von den Folgen dieser Herderkrankungen zu sprechen und eine Be¬ 
trachtung entweder vom ätiologischen, anatomischen oder vom lokalisa- 
toriscben Standpunkt zu versuchen. Das erstere ist, wie seinerzeit schon 
Freud und Rie in ihrer großen kasuistischen Studie nachgewiesen haben* 
nicht möglich und auch heute bat die Sicherheit unserer klinischen Fest¬ 
stellungen nach dieser Richtung nur für einen Teil der Fälle (Lues) zu¬ 
genommen. Die Verbesserung der lokalisatorischen Fragestellung dagegen 
ist unverkennbar und muß schon wegen ihrer chirurgischen Konsequenzen, 
namentlich in gewissen Epilepsiefällen, festgehalten werden. Vor allem aber 
ist dieser Zusammenhang von Bedeutung, wenn wir pathologisch und physio¬ 
logisch zu einer richtigen Auffassung des Krankheitsbildes kommen wollen; 
von diesem Standpunkt aus und in der Erwägung, daß die zerebrale Kinder¬ 
lähmung nur deshalb ein selbständiges Krankheitsbild sozusagen werden 
konnte, weil die kortikale Lähmung das vornehmste lokalisatorische Symptom 
einer Erkrankung des Großhirns (oder der Großhirnanteile der tieferen 
Hirnabschnitte) ist, soll hier das Krankheitsbild der zerebralen Kinderlähmung 
dargestellt werden. 

So wie sich der Typus der Krankheit uns gewöhnlich präsentiert, 
handelt es sich im großen und ganzen um eine Folge oder einen Ausgangs¬ 
zustand mehr oder weniger abgelaufener Prozesse. Allerdings muß man dies 
cum grano salis verstehen. Wie uns die pathologische Anatomie (cf. später) 
zeigt, handelt es sich nur in einem kleinen Teil der Fälle um wirklich ab- 


Digitized by 


Google 


230 


Kindeiifthmung 9 Zerebrale. 


gelaufene Zustände, in einem anderen Teil dagegen um solche Prozesse, die 
durchaus noch neben den residuären Vorgängen ein Fortschreiten der Er¬ 
krankung erkennen lassen, wie dies ja auch klinisch in dem noch nach 
Jahren möglichen Fortschreiten der zerebralen Erscheinungen, in dem Hinzu¬ 
treten einer Epilepsie, in dem Charakter und Verlauf dieser letzteren Kom¬ 
plikation sich zu erkennen gibt. 

Es ist durchaus künstlich und vom Standpunkt der pathologischen 
Physiologie des Gehirns unlogisch, wenn man die doppelseitigen von den 
halbseitigen Lähmungsformen, wie dies vielfach geschieht, streng abtrennt 
Höchstens ätiologisch läßt es sich für einen Teil der Fälle rechtfertigen. 
Wir wollen der Gesamtheit der klinischen Erscheinungen entsprechend die 
Formen gemeinsam erörtern. 

Betrachten wir zunächst die klinische Erscheinungsform der zerebralen 
Lähmung, so ist die Art der Ausbreitung bei den einmal stationär gewor¬ 
denen Fällen ungemein verschieden. Sie kann eine ganze Seite (Extremi¬ 
täten, Fazialis, Zungen- und Augenmuskelnerven) betreffen, oder bei der 
diplegischen Form beide Seiten, wobei die diplegische Form meist durch 
gewisse gleich zu erörternde Eigenheiten ausgezeichnet ist, oder es kann, 
und das muß besonders hervorgehoben werden, von einer Seite, während 
die andere frei ist, nur ein Teil der Muskulatur, nur Arm-, Bein- oder 
Gesichtsnerven oder selbst nur Muskeln und Muskelgruppen kleinen und 
allerkleinsten Umfangs irgend einer Körperregion befallen sein. Die Lähmung 
in ihrer rein kortikalen Form ist durch die synergetische Kombination in 
der Auswahl der Muskulatur, entsprechend der in der Rinde vorgebildeten 
Gruppierung, ausgezeichnet. Auch bei den hochgradigsten Lähmungen dieser 
Art bleiben, wie Lkwandowsky hervorgehoben hat, fast stets einige Muskeln 
und Muskelgruppen dauernd funktionstüchtig, eine Tatsache, die bei genauer 
Beachtung und unter der Voraussetzung eines unbeschädigten Intellekts des 
Patienten für einen chirurgischen Eingriff nicht selten günstige Momente 
bietet. Es scheint, daß der Arm in der Restitution schlechter gestellt ist 
als das Bein, jedenfalls hat man den Eindruck, daß es mehr Patienten mit 
schwereren und ausgedehnteren Lähmungen der oberen als der unteren 
Extremität gibt, man darf dabei aber nicht außer acht lassen, daß es 
namentlich bei der in den Kinderjahren entstandenen Krankheitsform (nach 
Encephalitis etc.) gar nicht selten zu einer Wiederkehr oder zu einem 
Erhaltenbleiben, ganz oder teilweise, hinsichtlich der Funktion in den großen 
Gelenken, also zu einer vollkommenen oder relativen Intaktheit der groben 
oder Gemeinschaftsbewegungen (nach von Monakow) kommt. Das Vorhanden¬ 
sein dieser Bewegungsqualitäten genügt aber, um ein leidlich funktions¬ 
tüchtiges Bein, auch bei Vernichtung der Zehenbewegungen, die ja für die 
Gehfunktion nicht unbedingt erforderlich ist, noch zustande zu bringen. Der 
quantitativ gleichgeartete Prozeß an der oberen Extremität läßt aber eine 
schwere Schädigung der Funktion dieser letzteren resultieren, da es hier 
in allererster Linie auf das Erhaltenbleiben der Klaviatur der Finger an¬ 
kommt. Fazialislähmungen sind nicht selten, namentlich, was den Augenast 
desselben anlangt. Mit dem letzteren Nerven gemeinsam stehen die Beein¬ 
trächtigungen der Bewegungen der Kau- und Zungenmuskulatur. Was dem 
Krankheitsbild der zerebralen, infantilen Lähmung ihr besonderes Gepräge 
verleiht, ist die Kombination von Parese und Spasmus, die in fortgeschrit¬ 
teneren Fällen ein typisches Bild von Lähmung und Starre darbietet. Die 
Art der Kombinationen von Lähmung und Starre ist außerordentlich ver¬ 
schieden, doch ist sie, je nachdem der Patient dauernd aufrecht sich hält 
oder dauernd zu Bett liegt, jeweils durch eine ganz charakteristische Stellung 
der Extremitäten gekennzeichnet. Der Oberarm ist meist an den Brustkorb 
gepreßt und etwas nach vorn geschoben, der Ellbogen gebeugt, die Hand 


Digitized by t^ooQle 



Kinderlähmung, Zerebrale. 


231 


meist gebeugt, selten gestreckt. Die Finger bei Streckstellung der Phalangen 
volar flektiert, der Daumen eingeschlagen oder die Hand zur Faust ge¬ 
schlossen; das Bein ist fast stets leicht gebeugt, der Fuß sitzt mit dem 
Ballen der großen Zehe auf dem Boden und ist mit der Fußspitze einwärts 
gedreht. Was außer dieser charakteristischen Stellung, zu der noch Schielen 
und eine meist nicht hochgradige Gesichtslähmung kommen kann, dem 
Krankheitsbild sein besonderes Gepräge verleiht, ist die große Überein¬ 
stimmung dieser Lähmungsform, die sich zwar nicht vom Willen des Kranken, 
aber von seiner habituellen Stellung, wie schon angedeutet, abhängig erweist. 
Bei bettlägerigen Kranken nämlich kommt es fast stets zu einer starken 
Beugung der meist beiderseitig gelähmten unteren Extremitäten und zu 
einer starken Adduktion derselben. 

Ein großer Teil dieser Fälle, namentlich der leichter gelähmten, zeigt 
auffallende Veränderungen bei der willkürlichen Bewegung, namentlich die 
Fälle mit gering ausgedehnten Spasmen lassen hier nicht selten eine Zu¬ 
nahme der Starre erkennen. Natürlich sind auch die passiven Bewegungen 
dem Maße der Starre entsprechend gehemmt und in den mit hochgradiger 
Spannung und Kontraktur einhergehenden Fällen ist es ganz unmöglich, 
die Starre passiv zu überwinden. Natürlich verleiht diese Bewegungsstörung 
den willkürlichen Bewegungen, soweit solche möglich sind, ein ganz charak¬ 
teristisches Gepräge; so ist besonders die Art des Zugreifens mit der teil¬ 
weise gelähmten Hand, das Einklemmen von festzuhaltenden Gegenständen 
zwischen Unterarm und Daumenballen, die Manipulation mit dem Hand¬ 
rücken und namentlich der Gang außerordentlich charakteristisch. Bei 
letzterem wird das Bein außen herumgeworfen, die große Zehe schleift 
meist mit ihrem äußeren Rand nach vorn auf dem Boden. 

Noch fehlt für die Charakterisierung der kortikalen Lähmung ein 
wichtiges Symptom: die Steigerung der Sehnenreflexe; diese Steigerung ist 
im Gebiet der spastisch gelähmten Muskulatur meist eine recht erhebliche. 
Am typischesten ist dies für das Kniephänomen, wozu in den meisten Fällen 
das Vorhandensein des BABiNSKYschen Phänomens kommt. Dieser Reflex und 
die Erhöhung der Sehnenreflexe ist Ja spastischen Erscheinungen, das heißt 
einer Verminderung des zerebralen Einflusses auf die Muskulatur in ge¬ 
wissem Sinne gleichwertig. Die einseitige Reflexerhöhung kann daher im 
Sinne von Redlich und Sternberg als Nachweis einer hemiparetischen 
Störung gelten. Auch die Hautreflexe pflegen bei organisch bedingten Läh¬ 
mungen auf der kranken Seite gestört, und zwar herabgesetzt zu sein, doch 
können sie, wie Gowbrs gezeigt hat, auf der kranken Seite auch erhöht 
sein, ohne daß deshalb eine Erhöhung der Empfindlichkeit auf dieser Seite 
vorhanden ist. 

Diese Betrachtung der Reflexstörungen der einen Seite führen uns zu 
den außerordentlich wichtigen Krankheitsformen dieser Art hinüber, bei 
denen die Lähmung vielfach nur einen sehr geringen und in der alltäglichen 
Funktion kaum zutage tretenden Grad erreicht. Namentlich für die Bezie¬ 
hung zwischen der Epilepsie und der zerebralen Kinderlähmung sind, wie 
wir später sehen werden, diese Symptome von großer Bedeutung, es zeigen 
uns diese sogenannten abortiven Formen auch, in welcher Beziehung die 
vollentwickelte zerebrale Kinderlähmung zu den Herderkrankungen des kind¬ 
lichen Gehirns überhaupt steht. 

So kann z. B. eine geringe Ungeschicklichkeit der einen Hand sich 
als eine durch Hirnerkrankung bedingte ganz minimale spastische Lähmung 
erweisen und Freud und Rie haben die Vermutung geäußert, daß manche 
Fälle von Linkshändigkeit zurückzuführen sind auf eine derartig zustande 
gekommene Beeinträchtigung der Bewegung der rechten Hand. Natürlich 
ist die Hand mehr geeignet als das Bein, den Ausfall eng umschriebener 


Digitized by 


Google 



232 


Kinderlähmung» Zerebrale, 


Muskelgruppen zu zeigen, während uns am Bein in dem Prüfen der Reflexe 
ein guter Index für die analoge Störung zu Gebote steht. 

Diesen Formes frustes, charakterisiert durch eine sehr geringe Aus¬ 
dehnung der Bewegungsstörung, ja unter Umständen nur durch geringe 
Reflexstörung einer Seite, stehen am anderen Ende der Reihe gegenüber 
diejenigen Formen, bei denen fast eine totale Zerstörung oder Perversion 
der Bewegungsmöglichkeit der ganzen Körpermuskulatur vorliegt. Es sind 
dies namentlich die hochgradigen diplegischen Formen, die also durch eine 
doppelseitige Erkrankung des Gehirns bedingt sind. Eigentümlicherweise 
zeigt die Bewegungsstörung dieser Fälle oft nicht den rein kortikalen Typus, 
sondern es sind hier vielfach choreatische und athetotische Bewegungstypen 
mit der Starre vermischt Besonders häufig ist hier bekanntlich diejenige 
Form der diplegischen Lähmung, welche nur die Beine betrifft, den oberen 
Teil des Körpers aber frei l&ßt. 

Die Kombination choreatischer und athetotischer Bewegungen mit der 
Starre und Lähmung ist eine Erscheinung, die fast bei allen Formen der 
zerebralen Kinderlähmung vorkommt und die ebenso wie die Mitbewegungen 
eine posthemipiegische Bewegungsstörung darsteilen. Nach König sind sie in 
etwa einem Drittel der Fälle vorhanden. Sie stellen uns vor die Aufgabe, 
ob wir aus dieser besonderen Bewegungsstörung nicht auf veränderte inner- 
vatorische Störungen schließen und daraus den Sitz der Affektion näher 
bestimmen können. Die Verbindung dieser Lähmungsformen mit Epilepsie 
ist eine wechselnde; sichere Anhaltspunkte ergibt die Tatsache, daß viele 
dieser Fälle trotz der Schwere der Bewegungsstörung keine oder nur ganz 
geringe Grade von Idiotie darbieten. Freud erklärt die Chorea für ein 
späteres Stadium der Lähmung und er hat auch das zeitliche Verhalten 
der einzelnen L&hmungsformen zur Grundlage einer Einteilung gemacht. Im 
wesentlichen muß es sich aber doch auch hier um ein iokalisatorisches 
Moment handeln. Wir fassen doch die Chorea heute im wesentlichen als 
eine sekundäre Bewegungsstörung auf, die (von Monakow) eine kompensa¬ 
torische Reizerscheinung darstellt, indem die von der Peripherie hergeleiteten 
zentripetalen Erregungen eine unrichtige zentrale Verwertung finden. Wir 
müssen annehmen, daß das Zwischenhirn die Stelle ist, an der die von der 
Peripherie hergeleiteten Eindrücke in bestimmter Weise zusammengefaßt 
werden, um dann der motorischen Rinde zuzufließen, wo sie eine notwendige 
Komponente fGr das Zustandekommen geordneter Bewegungen sind. Daraus 
ist es selbstverständlich, daß die abnormen Bewegungen choreatisch-atbeto- 
tischer Art durch Vermittlung der motorischen Rinde und unter Mitwirkung 
der Pyramidenbahn zustande kommen müssen. Schon Bonhöffek hat auf 
die unrichtige Verteilung physiologischer Reize bei dem Zustandekommen 
dieser atypischen Bewegungsformen hingewiesen. Aus diesen Dingen ist aber 
auch so viel klar, daß die Läsion der motorischen Rinde und der Pyramiden¬ 
bahn allein nicht genügt, um derartige Bewegungsatypien zustande zu bringen. 
Verhältnismäßig rein entsprechen diesen Voraussetzungen die Fälle von 
Anton und Putnam, es handelte sich beidemal um choreatisch-spastische 
Paresen: Herde im Linsenkern. Reine Fälle dieser Art sind selten, die 
wenigsten sind genau, namentlich anatomisch und da wieder hinsichtlich der 
tieferen Hirnteile studiert. Es handelt sich hier demnach also um ein rein 
lokalisatorisches Moment. 

So haben wir in dem Vorhandensein der choreatischen und atheto- 
tischen Bewegungsformen schon ein Moment kennen gelernt, welches uns 
in deutlicher Weise die Tatsache einer Verschiedenheit des klinischen Bildes, 
bedingt durch die Verschiedenheit der Lokalisation vor Augen führt, inner¬ 
halb der motorischen Bewegungskomponeuten. In ähnlicher Beziehung steht 
die kortikale Fazialislähmung zu derselben Lähmung von bulbärem Typus, 


Digitized by ^.ooQle 



Kinderlähmung, Zerebrale. 233 

die uns zeigt, daß die herdartige Erkrankung auch einmal noch tiefer 
liegende Teile des motorischen Apparates befallen kann. 

Mit dieser Betrachtung der Lähmungstypen ist nun aber keineswegs 
das hier zu erörternde Krankheitsbild erschöpft. 

Wir haben oben gesehen, daß die Lähmung aus gewissen Gründen ein 
besonders häufiges, jedenfalls aber das am leichtesten erkennbare und, wenn 
es vorhanden ist, geradezu ein dominierendes Symptom dieser Krankheits¬ 
prozesse darstellt, und es ist aus diesem Grunde verständlich, warum die 
äußere Erscheinungsform einer Affektion der motorischen Rinde, die zere¬ 
brale Kinderlähmung zu einem besonderen Krankheitsbild, wenn man so sagen 
darf, erhoben worden ist; man hat dabei auf die anatomische Denkweise 
wenig Rücksicht genommen, einmal insofern man alle Bewegungsstörungen 
beim Kind nicht spinalen und nicht zerebellaren Charakters als zerebrale 
Kinderlähmung zusammengefaßt hat, ohne spezielle Rücksicht darauf, ob es 
sich mehr um kortikale oder um infrakortikale Störungen handelt. So konnte 
es auch kommen, daß die anderen Herdsymptome, die aphasischen, hemiano- 
pischen usw. viel zu sehr in ihrer Bedeutung zurückgetreten sind. 

Die aphasischen Störungen können zunächst (namentlich die haupt¬ 
sächlich in Betracht kommende reine motorische Aphasie) durch denselben 
Herd wie die Lähmung (meist die linkseitige Lähmung, doch kommt das 
Symptom auch bei der rechtseitigen Lähmung vor) bedingt sein. Diese 
Aphasien der Kinder sind recht interessant, sie sind, wie schon Bernhard 
hervorgehoben hat, meist vorübergehender Art, wahrscheinlich deshalb, weil 
die Sprachfunktion von der anderen Seite übernommen wird. Manche Fälle 
von Spracherschwerung sind, ähnlich wie es oben für die Linkshändigkeit 
ausgeföhrt wurde, sicherlich auf derartige Herderkrankungen des Gehirns 
zurückzuführen. Es sei hier auf die bereits erwähnten Fälle von Bernhard 
sowie auf eine einschlägige Beobachtung des Verfassers verwiesen. 

Bis jetzt haben wir Herderkrankungen kennen gelernt, bei denen durch 
das BefaHensein der motorischen Rinde die Lähmung das bestimmende 
Symptom war. Bereits die Aphasie zeigt uns, daß sich, je nach der Lokali¬ 
sation der Erkrankung, andere Zustände der Lähmung beimischen können. 
Haben wir einen Herd, der nur die BROCAsche Windung betrifft, so resultiert 
natürlich ein reiner Zustand motorischer Aphasie von kortikalem Typus, 
wie man gerade bei Kindern vorübergehend sie auffallend rein zur Beob¬ 
achtung bekommt. Physiologisch und pathologisch betrachtet, stehen nun 
derartige Krankheitszustände, wie oben schon hervorgehoben wurde, ganz 
in einer Linie mit jenen Herdzuständen, die der zerebralen Kinderlähmung 
zugrunde liegen, nur charakterisiert durch die Tatsache einer anderen Loka¬ 
lisation. In nicht wenigen Fällen handelt es sich darum, daß durch einen 
sehr ausgedehnten Herd oder, wie es gleichfalls oft vorkommt, durch mehrere 
Herde neben der motorischen Rinde auch andere Hirnteile erkrankt sind. 
So erklären sich hemianopische Zustände und andere Symptome; die Hemi¬ 
anopsie speziell ist von Sachs und Freud, Köppen, König und Lammers mit¬ 
geteilt worden. In demselben Maße können aber auch tiefere Hirnteile er¬ 
krankt sein und die durch diese Erkrankung bedingten Ausfallserscheinungen 
oder Reizerscheinungen können dann neben der Lähmung bestehen oder 
allein vorhanden sein. So kommen bulbäre Erscheinungen und Kleinhirn¬ 
symptome zustande, oder wie in den Fällen von Wallenberg und vom 
Verfasser durch eine Erkrankung der Vierhügelgegend Störungen der Augen¬ 
muskelinnervation, ein Symptom, auf das besonders auch Axenpeld aufmerk¬ 
sam gemacht hat. Vielleicht sind schließlich auch die Störungen der Funktion 
von Blase und Mastdarm, welche Geoffroy bei zwei derartigen nicht idio¬ 
tischen, mit einer zerebralen Lähmung behafteten Kindern beschrieben hat, 
als Ausdruck einer Erkrankung der höheren Innervationszentren dieser Ge- 


Digitized by ^.ooQle 



234 


Kinderlähmung, Zerebrale. 


biete hierher zu zählen. Schließlich muß hervorgehoben werden, daß die Herd- 
erkrankangen der sogenannten stummen Hirnregionen natürlich auch äußer¬ 
lich nicht in Symptomen zutage treten. 

Wir halten also daran fest, daß es sich in diesen Fällen von infantiler 
Herderkrankung um verschiedenartige anatomische Prozesse handelt. Die 
epileptische Erkrankung, sofern es zu einer vollausgebildeten Epilepsie kommt, 
muß wohl so verstanden werden, daß von jenem ursprünglichen Herd aus 
eine diffuse Gliose sich über das Gehirn ausbreitet. Ähnlich drückt ja auch 
die Idiotie ein Fortschreiten der Erkrankung und eine Mitbeteiligung aus¬ 
gedehnter Rindengebiete aus. Was die Epilepsie kennzeichnet, das ist eben 
ihr Verbundensein mit Herdsymptomen, doch ist zu bemerken, daß diese 
organische Form der kindlichen Epilepsie nur in den allerseltensten Fällen 
dauernd den JACKSONschen Typus beibehält, jedenfalls bleibt sie niemals 
halbseitig. Je älter die Fälle sind, desto mehr schwindet eine gewisse Varia¬ 
bilität im klinischen Bilde der Epilepsie. Es ist für die Annahme, daß es 
sich bei diesen herdförmigen Prozessen wirklich um eine epileptische Ver¬ 
änderung handelt, die sich langsam wachsend an den Herdprozeß ansohließt, 
illustrierend, daß zwischen den ersten Konvulsionen, die die Krankheit be¬ 
gleiten, und dem Ausbruch einer wirklichen Epilepsie meistens eine längere 
krampffreie Zeit verläuft, die in der Regel 1—2 Jahre dauern kann, in 
seltenen Fällen aber, z. B. in denen von Fischer 13 Jahre beträgt; auch 
Wachsmuih erwähnt mehrere Fälle, in denen zuweilen erst nach sehr langem 
Bestand der Krankheit die Epilepsie sich einstellte. Auf Grund dieser Er¬ 
fahrungen konnte Bourneville dazu gelangen, drei Stadien im Verlauf der 
klinischen Bilder aufzustellen: das Stadium der initialen Konvulsionen, das 
der Lähmung und das der Epilepsie. Über das wechselnde zeitliche Ver¬ 
hältnis, in welchem die Epilepsie zu dem Lokalsymptom der Lähmung steht, 
ist weiter unten die Rede. Über die Form der epileptischen Krankheit, die 
im Zusammenhang mit den initialen Herdprozessen auftritt, ist viel ge¬ 
schrieben worden, manche sind zu der Auffassung gelangt, daß diese Epilepsie¬ 
form von der genuinen wesentlich verschieden sein soll, eine Aura selten 
vorkomme, das Erwachen sei plötzlich, es werde kein Stertor beobachtet, 
auch Entleerungen seien selten; wieder andere betonen die ausgesprochenen 
Auraerscheinungen, so daß ein plötzliches Hinfallen seltener sei, weil die 
Kranken Zeit fänden, sich zu legen. Es ist aber dem zu erwidern, daß als 
wesentlich nur zweilerlei feststeht: einmal geht fast stets die mehr herd¬ 
förmig charakterisierte Epilepsie nach und nach über in eine typische 
Epilepsie, dann werden im Anfall Halbseitenerscheinungen seltener; auch 
darf man nicht vergessen, daß Hbnoch auf die Unsicherheit halbseitiger 
Momente bei Kindern aufmerksam gemacht hat, halbseitige Erscheinungen 
kämen bei Kindern auch ohne eigentliches Zerebralleiden vor, andrerseits 
sind von vornherein doppelseitige Krämpfe bei einseitiger Erkrankung nicht 
selten. Besonders eingehend hat sich Wuillaumier mit der Form der Epi¬ 
lepsie bei zerebraler Kinderlähmung beschäftigt, indessen ist aus seinen Auf¬ 
zeichnungen auch kein charakteristischer Unterschied, der unbedingt den An¬ 
fall der organisch bedingten Epilepsie von dem der genuinen abgrenzen 
ließe, zu entnehmen. Sofern nicht Herderscheinungen, Halbseitensymptome 
auch den Aufall kennzeichnen, gibt nur der Verlauf der Krankheit gewisse 
Anhaltspunkte; das Wichtigste bleibt natürlich auch hier, daß sich der 
generalisierte epileptische Anfall aus einem Halbseitenanfall entwickelt bat 
Im allgemeinen geht die Umwandlung in den generalisierten epileptischen 
Anfall nur langsam vor sich, wie überhaupt die typische Epilepsie bei diesen 
Zuständen sich ja nur langsam entwickelt. Was die psychischen Erschei¬ 
nungen dieser Epileptiker anbelangt, so scheint von allen Angaben nur ein 
Symptom sehr häufig zu sein; Absenzen sind selten, ebenso kommen 


Digitized by ^.ooQle 



Kinderlähmung, Zerebrale, 


235 


psychische Äquivalente nur selten vor, doch erwähnt Fere auch wieder ge¬ 
rade bei dieser Form Fälle mit typischen epileptischen Erregungszuständen. 
Aus meiner eigenen Erfahrung kann ich nur sagen, daß, von den Herd¬ 
erscheinungen abgesehen, diese Epilepsieform nichts Charakteristisches bietet. 
Allerdings findet man Herdsymptome, wenn man genauer darauf untersucht, 
in einer sehr großen Zahl der Fälle, namentlich nach den Anfällen und auch 
bei solchen Fällen, deren Epilepsie einer genuinen vollkommen Ähnlich ge¬ 
worden ist. Aufgefallen ist mir, worauf auch F£r& hinweist, daß die Epilepsie 
nach infantilen Herderkrankungen eine ausgesprochene Neigung besitzt zu 
einer statusartigen Häufung der Anfälle. Ich habe eine ungewöhnlich große 
Zahl der Patienten im Status epilepticus zugrunde gehen sehen. Bourneville 
macht die Bemerkung, und auch andere stimmen ihm darin bei, daß diese 
Epilepsieform die Neigung habe, zwischen dem 40. und 50. Lebensjahre zu 
verschwinden; das mag in einzelnen Fällen zutreffen, ist aber sicherlich 
nicht die Regel, und man ist in diesen Fällen nicht davor sicher, daß selbst 
nach langem Aussetzen der Anfälle plötzlich wieder solche eintreten. 

In ähnlichem Verhältnisse wie die Epilepsie steht die Idiotie zu der 
Lähmung. Die Erkrankung der motorischen Rinde hat ja mit der Epilepsie 
unmittelbar nichts zu tun, denn eine Epilepsie kann bei jeder derartigen 
Herderkrankung des kindlichen Gehirns resultieren und tut es ja auch in 
der Tat sehr häufig; darauf haben vor allen Redlich und Heilbronner hin¬ 
gewiesen und sie haben gezeigt, daß für die Epilepsie die motorische Rinde 
gewissermaßen nur die Ausfallspforte darstellt, durch welche der Reiz in 
Form des Anfalls das Gehirn verläßt. Der Ort, an dem der Reiz entsteht, 
braucht aber keineswegs die Gegend der Zentralwindungen, sondern kann 
jede andere Hirngegend sein. Die Zahl der kindlichen Epilepsien, welche 
auf einer derartigen Herderkrankung beruht, ist jedenfalls sehr groß, wenn 
auch nicht so groß, wie Marie gemeint hat; genauere Zahlen haben wir 
speziell fßr das Verhältnis der zerebralen Kinderlähmung zur Epilepsie: nach 
Sachs sind etwa die Hälfte dieser Lähmungsfäll.e epileptisch; Osler hatte 
unter 120 Fällen 35, Lovett unter 26 Fällen 25 Epileptiker. Die Zahlen 
werden natürlich, je nachdem es sich um klinisches oder ambulatorisches 
Krankenmaterial handelt, sehr verschieden ausfallen, kleine Zahlen, wie die 
LovETTschen, sind überhaupt nicht imstande, etwas zu beweisen. 

Eine besondere Beachtung verdient das zeitliche Verhältnis zwischen 
Epilepsie und Lähmung, da dieses keineswegs in allen Fällen übereinstimmt. 
So war in einem interessanten Falle von Sachs und Peterson nach einer 
infantilen Hirnerkrankung die Lähmung völlig geschwunden, die Epilepsie 
aber, die sich während dessen entwickelt hatte, blieb, und die Autoren 
weisen nicht mit Unrecht darauf hin, daß, wer die Kranke nun sah, sie für 
einen Fall von genuiner Epilepsie halten mußte. So haben auch Sachs und 
Peterson die Ansicht ausgesprochen, daß vielleicht eine nicht geringe Zahl 
von jugendlichen Epilepsien eine derartige Entstehung besitzen. Ein anderes 
Verhältnis dieser beiden Krankheitszustände kann darin gegeben sein, daß 
die Lähmung nie eine deutliche Ausdehnung erreicht, es bestehen nur 
Reflexdifferenzen und ähnliche abortive Zeichen, wie sie oben geschildert 
sind, die Epilepsie ist aber deutlich vorhanden. Oder die Epilepsie geht 
selbst um Jahre der Lähmung voraus, wie die Fälle von Osler u. a. zeigen: 
hier ist die Epilepsie nicht Ursache der Lähmung, sondern der anatomische 
Befond zeigt, daß es sich um einen progredienten Krankheitsprozeß handelt, 
der anfänglich in einer stummen Hirnregion saß, der im Laufe der Zeit 
aber auch auf die motorische Region Übergriff und so auch eine Lähmung 
erzeugte. 

Die Epilepsie stellt sich demnach dar als der Ausdruck einer dif¬ 
fuseren Erkrankung, die sich an den Herdprozeß anschließt, und ebenso wird 


Digitized by CjOOQle 



236 


Kinderlähmung, Zerebrale. 


natürlich die Idiotie nur daroh ein ausgedehntes Einbezogensein der zere¬ 
bralen Komponenten hervorgerufen werden können. Der Grad der geistigen 
Schädigungen bei diesen Lähmungszuständen ist ein ungemein verschiedener, 
nur in einer Beziehung läßt sich ein bestimmteres Verhältnis feststellen. 
Wir haben oben gesehen, daß in den Zuständen der choreatisch-athetotiscben 
Parese und Lähmung die Lähmung infrakortikal entstanden zu denken ist, 
wir haben auch gesehen, daß diese Form der Lähmung sich nur dann er¬ 
geben kann, wenn die Rinde und speziell die motorische Rinde nicht mit¬ 
erkrankt ist Dem entspricht die Tatsache, daß diese Lähmungsformen in 
viel geringerem Grade und viel weniger oft von geistigen Defektzuständen 
begleitet sind. Ein bestimmtes Verhältnis zwischen der Schwere der Lähmung 
und dem Grade der Idiotie, wie es Bourneville einmal vermutet hat, ist 
sicherlich nicht vorhanden. Auch für die Entstehung der Idiotie hat das 
Vorhandensein des Herdes sowohl wie seine Lage nur eine mittelbare Be¬ 
deutung. 

Wenn wir noch die pathologische Anatomie dieser Zustände kurz be¬ 
trachten wollen, so ist vor allem daran festzuhalten, daß es sich, wie oben 
schon erwähnt, meist um Endstadien vorausgegangener entzündlicher, vas¬ 
kulärer, traumatischer Prozesse handelt, deren Entstehung in die Fötalseit 
oder in die früheren Kinderjahre fällt. Bei dieser großen Mannigfaltigkeit 
der Genese, der eine ebenso große Mannigfaltigkeit des anatomischen Bildes 
entspricht, ist für die klinische Überlegung festzuhalten, daß zwischen Initial¬ 
läsion und Endstadium keinerlei feste Beziehungen bestehen. Als Ausgangs¬ 
punkt einer Reihe dieser Krankheitsbilder stellen sich degenerative und 
agenetische Prozesse dar, die in der Entwicklungszeit das Gehirn des Kindes 
befallen. Es gibt hier histologisch sicherlich eine ganze Reihe verschieden¬ 
artiger Zustände, die aber bei unserer Unkenntnis der pathologischen Ana¬ 
tomie des fötalen Gehirns noch dunkel sind. Hämorrhagien, Embolien und 
thrombotische Vorgänge spielen sicherlich auch bei den in den Kinderjahren 
entstandenen Fällen noch eine Rolle. Genauer bekannt sind vor allem die 
Initialläsionen der LiTTLEschen Krankheit, die in den traumatischen Vor¬ 
gängen bei der Geburt gegeben sind. Daß derartige Blutungen in der Tat 
der Ausgangspunkt für solche Prozesse werden können, ist nach dem Falle 
von Sarah Mac Nutt wohl mit Sicherheit anzunehmen. Besonders aber ist 
unsere Kenntnis dieser Dinge vertieft worden, seitdem neuerdings Ranckb 
nachgewiesen hat, daß das Trauma eine so deletäre Bedeutung nur für die¬ 
jenigen Fälle besitzt, die durch eine krankhafte Anlage oder durch eine 
noch im Gange befindlichen Krankheitsprozeß in ihrem Bestände erheblich 
geschädigt sind. Übrigens ist nach den Zusammenstellungen, die der Ver¬ 
fasser einmal an einem größeren Material gemacht hat, es nicht ohne- 
weiters sicher, daß die schwere Geburt und besonders die asphyktische 
Geburt ohne Kunsthilfe für die Entstehung dieser Krankheitszustände die 
Bedeutung hat, die man ihnen immer zugemessen hat. Unter 78 Fällen von 
schweren angeborenen und früh erworbenen geistigen Defektzuständen, die 
zum großen Teil mit Lähmungen und Epilepsie kombiniert waren, zeigten 
47 in der Anamnese die Angabe schwere Geburt, 11 asphyktische Geburt, 
20 Zangengeburt. Nun ergab aber bei einer Nachforschung nach den sonstigen 
anamnestischen und sonstigen ätiologischen Faktoren die Untersuchung, daß 
in jenen 47 Fällen die schwere Geburt nur 7mal, in jenen 11 Fällen die 
asphyktische Geburt nur 4mal, dagegen in den 20 Fällen die Zangengeburt 
immerhin 6mal das einzige ursächliche Moment darstellte. Die letztere hat 
also immerhin eine stärkere Bedeutung. 

Die Therapie dieser Zustände erlaubt zunächst gegen die Initialläsionen 
nur gelegentlich, besonders bei Trauma im Kindesalter, eine unmittelbarere 
Therapie. Gegen die Meningealblutungen der Neugeborenen hat Ssrrz kfirs- 


Digitized by ^.ooQle 



Kinderlähmung, Zerebrale. — Klimatische Bubonen. 237 

lieh ein Verfahren vorgeschlagen, das in einer operativen Entfernung des 
Blutergusses besteht, and recht aassichtsvoll erscheint. 

Bei den aasgebildeten Zast&nden erlauben eine kausale Therapie nur 
die allerdings nicht seltenen Fälle syphilitischen Ursprungs. Sonst muß man 
versuchen, das Symptom der Lähmung durch konsequente Übung und 
Therapie in günstigem Sinne zu beeinflussen. Der größte Teil dieser Ma߬ 
nahmen erfordert eine erhebliche Unterstützung und Mitarbeit von seiten 
des Patienten und es muß deshalb von vornherein betont werden, daß nur 
die geistig nicht oder nicht zu hochgradig beschädigten Patienten bei diesen 
therapeutischen Maßnahmen Aussicht auf Erfolg gewähren. Dies gilt vor 
allem für die Übungsbewegungen und gilt vor allem für den Erfolg der 
operativen Sebnenüberpflanzungen. In solchen Fällen leistet die Operation aber 
Vorzügliches. Neuerdings hat Förster die Durchscheidung der hinteren 
Wurzeln der betreffenden Rückenmarkssegmente bei spastischer Lähmung 
empfohlen. Sonst kommen Massage, warme Bäder, namentlich protrahierte 
warme Bäder in der von Heubner empfohlenen Anwendung, die in vielen 
Fällen ganz gewiß sehr gutes leisten und mit denen man vor allem die 
Hypertonien erfolgreich bekämpfen kann, in Betracht. Es läßt sich doch in 
sehr vielen Fällen das hauptsächliche und nächste Ziel, besonders bei Para¬ 
plegien, nämlich die Erzielung der Gehfähigkeit erreichen. Ebenso erlaubt 
auch die Sprache durch eine konsequente Übung meist eine recht erfreuliche 
Korrektur, ja die Erfolge auf dem Gebiete der Sprache sind ganz besonders 
gute, wahrscheinlich deshalb, weil hier die Übernahme der Funktion durch 
die gesunde Seite in Kraft tritt. Leider ist die Aussicht, die Idiotie zu 
kurieren, schlecht, während die epileptischen Zustände mehr und mehr 
für die Himchirurgie ein aussichtsreiches Arbeitsfeld zu werden ver¬ 
sprechen. ff. Vogt. 


Klimatische Bubonen. Als klimatische Bubonen bezeichnet 
man eine in verschiedenen, meist warmen Ländern beobachtete Form von 
Lymphdrüsenentzündung, bei der keine der gewöhnlichen Ursachen (Ver¬ 
letzungen, Geschlechtskrankheiten) nachweisbar ist, und die man daher in 
irgend welche, bisher noch unbekannte Beziehungen zu den klimatischen 
Faktoren gebracht hat. 

Das Krankheitsbild derselben ist kein typisches. Die Entzündung be¬ 
trifft in den meisten Fällen die Leistendrüsen, welche gewöhnlich ein¬ 
seitig, mitunter aber auch doppelseitig befallen werden, und verläuft bald mit, 
bald ohne Fieber. Letzteres kann mit der Entzündung einsetzen, dieser aber 
auch schon vorausgehen oder erst in ihrem Verlauf ein treten und zeigt 
keine typische Kurve. Meist erfolgt eine Resolution der Drüsenschwellung, 
seltener kommt es zu Vereiterung der Bubonen. Auch die Dauer der Krank¬ 
heit ist eine sehr verschiedene und kann zwischen mehreren Tagen und 
einigen Monaten schwanken; manchmal wird dieselbe durch Rückfälle in die 
Länge gezogen. 

Das geographische Verbreitungsgebiet der klimatischen Bubonen ist 
ein großes. Meist sind es tropische und subtropische Länder, in denen die¬ 
selben beobachtet worden sind, wie Ostindien, Siam, China, Japan, Nieder- 
ländisch-Indien, Philippinen, Kamerun, Kongostaat, Angola, Ostafrika, Uganda, 
Madagascar, Ostkarolinen, Trukinseln, Marshallsinseln, Westindien, Surinam, 
es liegen aber auch Beobachtungen über ihr Vorkommen in Europa und 
den Vereinigten Staaten von Nordamerika vor. 

Künftige Untersuchungen haben zu zeigen, ob es sich bei den klima¬ 
tischen Bubonen wirklich um eine einheitliche und spezifische Erkrankung 
handelt oder ob sie nur durch die gewöhnlichen Eitererreger, die durch un¬ 
bedeutende, unbemerkte oder unbeachtete Hautverletzungen, wie sie in den 


Digitized by 


Google 


238 


Klimatische Bubonen. — Kochsalz bei Blutungen. 


Tropen infolge der starken Schweißsekretion sehr häufig sind, eindringen, 
hervorgerafen werden (zur Verth, Manson, A. Plehn). Mit Malaria and Pest, 
mit denen sie in Zusammenhang gebracht worden sind, haben sie meiner 
Ansicht nach nichts zn tun. 

Literatur: Leon Bertband, Adenites palustres. Ann. de la ßoc. med. ehir. dÄnven, 
Mai-Juni 1900 — James Cantlib, A lecture on tbe spread of plague. Lancet, 2. Januar 1897, 
pag. 4; 9. Januar, pag. 85. — Charles C. Goddiho, On non-venereal bubo. Brit. med. journ., 
26. 8eptember 1896, pag. 842. — Derselbe, Non-venereal bubo. Ebenda, 12. Juni 1897, 
pag. 1475. — Lesueur-Floreht, Contribution ä l’ötude de la lymphatezie. Lea adgnitea 
d’apparence palustre. Arcb. de mdd. nav., Juli 1896, pag. 64. — Ludwig Marti«, Ärztliche 
Erfahrungen über die Malaria der Tropenl&nder. Berlin 1889, pag. 36. — O. Nagel, Klima¬ 
tische Bubonen. Münchener med. Wochenschr, 1898, Nr. 9, pag. 260. — A. Plehh, Die tro¬ 
pischen Hautkrankheiten. Maksons Handb. d. Tropenkrankh., 1905, I, pag. 25. — Reuthold 
Rüge, Die der Zanzibarkttste eigentümlichen Leistendrüsenentzündnngen. Arch. f. Denn. n. 
Syph., 1896, XXXVI, Nr. 3. — B. Schettbe, Über klimatische Bubonen. Arcb. f. klin. Med., 
1899, LX1V, pag. 182. — Derselbe, Die Krankheiten der warmen Lttnder. 8. Aufl., Jena 
1903, pag. 313. — Ebnst Schön, Ergebnisse einer Fragebogenforschung auf tropenhygieni* 
schem Gebiete. Arbeiten aus dem Kais. Gesnndheitsamte, 1897, XIII, H. 2, pag. 170. — 
SiLgard, Contribution k la göographie mädicale. Arch. de möd. nav., 1886, XLVI, pag. 24. — 
Skinneb, Brit. med. journ., 9. Januar 1897, pag. 78. — A. C. Smith, Inguinal bubo aa a com- 
plication of malarial fever. New York med. journ., 22. Jnni 1901. — zue Verth, Beobach¬ 
tungen über klimatische Bnbonen. Mebses Archiv, 1903, VII, H. 2, pag. 63. B . ScAeata. 


Kochsalz bei Blutungen. In der Volksmedizin ist das Ein¬ 
nehmen von Kochsalz bei Lungenblutungen ein altes Mittel. Viele Ärzte 
haben sich von der Wirksamkeit dieser Therapie überzeugt, aber im allge¬ 
meinen steht man der Kochsalzbehandlung skeptisch gegenüber. Die Mei¬ 
nungen über das Zustandekommen einer eventuellen Wirksamkeit gehen 
weit auseinander. Einige denken an eine Blntverdünnung, andere an eine 
Bluteindickung, welche die Kochsalzgabe bewirken soll. Endlich hat man 
sich die Wirkung so vorgestellt, als reize die innerliche Kochsalzgabe den 
Magen und Darm, führe zu Hyperämie des Splanchnikusgebietes und so zu 
einer Ablenkung der Blutmenge von der Lunge, zu einer anderen Blutver- 
teilung. 

In einer interessanten Arbeit hat von den Velden diese Frage ex¬ 
perimentell in Angriff genommen. Er untersuchte die Gerinnungsfähigkeit 
des Blutes mit Hilfe der BüRKERSchen Methode. Die Gerinnungszeit des 
Blutes bleibt beim normalen Tier oder Menschen innerhalb l 1 /*—2 Standen 
konstant, die Werte dafür ändern sich kaum. Auch Zusatz von Kochsalz¬ 
lösung zum Blut im Apparat ändert die Gerinnungsfähigkeit des Blutes 
nicht, nur bei Zusatz von 10%iger Kochsalzlösung war eine Hemmung der 
Gerinnung zu sehen. Gibt man dagegen Kochsatz innerlich, so zeigt sich 
nach 5—10 Minuten eine Zunahme der Gerinnungsfähigkeit, welche nach 
ungefähr 1 Stunde wieder abklingt. Als Dosis genügt 5 g Kochsalz; mit 
Bromiden gelingt es gleichfalls, die Gerinnungsfähigkeit des Blutes zu er¬ 
höhen, nicht aber mit Jodiden. Die Kochsalztherapie eignet sich natürlich 
nicht nur bei Blutungen des kleinen Kreislaufes, sondern auch bei solchen 
im großen Kreisläufe. Auch bei Nasenblutungen, Blasenblutungen etc. hat 
von den Velden gute Erfolge gesehen. Um bei Magendarmblutungen die 
lokale Reizwirkung auf die blutende Stelle zu umgehen, hat der Autor die 
intravenöse Zufuhr von Kochsalz versucht, und zwar mit »eklatantem« Er¬ 
folge. Er gab in 7 Fällen von Hämoptoe, einem von Typhus mit schwerer 
Darmblutung und je einem Fall von abundanter Ösophagusvarizenblutung 
und Blasenvarizenblutung intravenös 3—5 cm 3 einer sterilen 10%ig©n Koch¬ 
salzlösung. Die Wirkung setzt sehr schnell ein, ist aber spätestens nach 
1 Stunde vorbei. Unangenehme Nebenwirkungen wurden niemals beobachtet. 
Auch bei innerer Zuführung von Kochsalz treten Reizerscheinungen erst 
nach größeren Gaben als 5 g auf, bestehend in Übelkeit, Erbrechen und 
Durchfall. Der Effekt war auch nach diesen höheren Gaben kein größerer 


Digitized by 


Google 



Kochsalz bei Blutuogen. — Kongestion. 


239 


oder langdauernder. Es genügen also 5 g Kochsalz innerlich, die man even¬ 
tuell nach einiger Zeit wiederholt, van den Velden gibt bei Hämoptoe ab¬ 
wechselnd Kochsalz mit Bromnatrinm oder Bromkalium, letztere Salze in 
Dosen von 3 g pro dosi; am Tage 20—30 <7 Kochsalz und 12—15 ^ 
Bromsalz. 

Literatur: von den Velden, Die stomachale und intravenöse Behandlung innerer Bin- 
tnogen mit Kochsalz. Deutsche med. Wochenschr., 1903, Nr. 5, pag. 197. E. Frey. 


Kongestion (Fluktuation, Turgor, Orgasmus, Wallung) be¬ 
deutet die nicht entzündliche arterielle Hyperämie. Sie ist also eine Unter¬ 
abteilung der Hyperämien, die sich von den Stauungen durch ihren rein 
arteriellen Charakter und von den entzündlichen Hyperämien durch das 
Fehlen jeder Reizerscheinung unterscheidet. 

Das Blut, das beim mittelgroßen Menschen. von gewöhnlichem Ernäh¬ 
rungszustände etwa 5 kg ausmacht, reicht bei weitem nicht aus, um den 
gesamten Kreislauf gleichmäßig zu füllen. Wenn auch wohl niemals ganze 
Abschnitte vollständig frei vom Blut sind, so sind doch besonders die kleinen 
Qefäße und die Kapillaren von Zeit zu Zeit sehr mangelhaft gefüllt, was 
sich schon daraus ergibt, daß der Querschnitt der Aorta etwa 5cm* be¬ 
trägt, während der Querschnitt der Kapillaren auf ungefähr 4000 cm* ge¬ 
schätzt werden darf. Das Blut ist also unregelmäßig im Körper verteilt, 
und zwar wechseln anämische und hyperämische Zustände nach verschie¬ 
denen Umständen. Niemals, auch während absoluter Ruhe und im nüchternen 
Zustande findet eine gleichmäßige Verteilung des Blutes statt. 

Die arterielle Hyperämie, die den Namen der Kongestion bekommen 
hat, steht ganz wesentlich unter nervösem Einfluß und ist hauptsächlich 
abhängig von der Weite der Gefäße. Wenn die Gefäße durch Erschlaffung 
ihrer Muskulatur, sei es infolge Reizung wirklicher Vasodilatatoren oder sei 
es durch Lähmung der Konstriktoren, erweitert werden, so saugen sie das 
Blut an und füllen den ganzen Bezirk mit arteriellem Blut. Vorbedingung 
hierfür ist, daß der Abfluß des Blutes nach den Venen zu frei ist, denn 
wenn dieser gehindert ist, so spricht man nicht von einer Kongestion, son¬ 
dern von einer Stauungshyperämie, indem bei dieser das venöse Blut bis 
in die Kapillaren und sogar bis in die kleinen Arterien zurückgestaut wird. 
Die Kongestion ist also an und für sich noch nichts Pathologisches. Sie 
ist vielmehr in erster Linie ein physiologischer Zustand, der im wesent¬ 
lichen von der Funktion der Organe abhängig ist. 

Man spricht deshalb in erster Linie von einer funktionellen Konge¬ 
stion. Dieselbe ist am deutlichsten an den Unterleibsorganen sichtbar und 
tritt regelmäßig während der Verdauung auf. Die Arterien und Kapillaren 
sind dann mit Blut stark gefüllt und die Darmschlingen erscheinen schon 
von der Serosa aus diffus rot gefärbt, wobei sich die Arterienstämme noch 
einmal besonders als rote Äste abheben. Kein Organ funktioniert konti¬ 
nuierlich, so auch ganz besonders nicht die drüsigen Organe, und nur 
während der Funktion treten sie in einen hyperämischen Zustand, so z. B. 
die Speicheldrüsen beim Kauen, die Leber, das Pankreas eine gewisse Zeit 
lang nach der Nahrungsaufnahme usw. Es ist nicht richtig, wie man früher 
annahm, daß die vermehrte Funktion durch die Hyperämie entsteht, und 
vielfache Versuche, die besonders von Heidenhain angestellt wurden, haben 
ergeben, daß die Sekretion nicht eine Folge der Blutzufuhr, sondern im 
Gegenteil eine Ursache derselben ist. Auch die Lymphbildung ist nicht eine 
Folge der Kongestion, speziell nicht die pathologische, die sich unter der 
Erscheinung des Ödems darstellt und immer nur auftritt, falls sie über¬ 
haupt in Zusammenhang mit Hyperämie erscheint, bei der Stauungshyper¬ 
ämie, also nicht bei der Kongestion. Der Begriff der Kongestion bringt es 


Digitized by 


Google 



240 


Kongestion. 


auch mit sich, daß die Blutfülle immer eine vorübergehende ist und bei 
nachlassender Funktion verschwindet. Die funktionelle Hyperämie größerer 
Körperabschnitte hat natörlich immer die Anämie anderer Teile zur Folge. 
Daher kommt es, daß nach der Nahrungsaufnahme, bei der sich ein großer 
Teil der Blutmasse an den Unterleibsorganen konzentriert, die peripherischen 
Teile des Körpers und ganz besonders das Gehirn blutärmer werden. Eine 
Folge davon ist z. B. die Neigung zum Schlafen nach dem Essen und das 
Aufhören mancher Formen von Kopfschmerzen durch Nahrungsaufnahme. 
Die funktionelle Hyperämie hat man sich nicht vorzustellen als eine direkte 
Einwirkung der Funktion auf die Gefäße, sondern immer als eine reflek¬ 
torische Erscheinung durch Vermittlung der Vasodilatatoren. 

Da die Kongestion so ganz vorzugsweise durch den Nerveneinfluß zu¬ 
stande kommt, so versteht es sich, daß es eine rein nervöse Kongestion 
gibt. Auch diese ist bereits als eine physiologische Erscheinung vorgebildet 
und bei manchen Menschen stärker entwickelt als bei anderen. Vor allen 
Dingen betrifft das die Kongestion nach dem Kopf, die unter dem Einfluß 
der leichtesten Erregungen zustande kommen kann. Das Erröten, das bei 
manchen Menschen schon durch einfaches Anreden oder Ansehen zustande 
kommt, bei anderen erst sich unter bestimmten Bedingungen als Röte der 
Erregung, des Zornes oder der Scham darstellt, ist die äußere Erscheinung 
dieser Kongestion. Bei vielen Menschen tritt diese Kongestion auch bei 
geistiger Arbeit auf. Alle möglichen allmählichen Übergänge fÖhren zu patho¬ 
logischen Kongestionen, die bei manchen Menschen zu subjektiven quälen¬ 
den Erscheinungen führen können, so z. B. während der Menstruation, dann 
besonders bei Frauen im beginnenden Klimakterium, und endlich auch bei 
nervös veranlagten und neurasthenischen Menschen. 

Man kann endlich auch von einer passiven Kongestion sprechen, die 
vor allen Dingen durch die Einwirkung von Wärme zustande kommt, so 
z. B. durch die Sonnenhitze am Kopf oder durch Eintauchen der Hände und 
Füße in warmes Wasser, aber auch durch Bewegung, beim Lachen und 
Pressen. Die Hyperämie durch mechanische Reize indessen, wie sie z. B. 
durch Reiben oder durch Kontusionen entsteht, schließt sich mehr den ent¬ 
zündlichen Hyperämien an und bildet gewissermaßen einen Übergang zu 
diesen von den Kongestionen aus, da es sich bei diesen mechanischen 
Hyperämien schon um die ersten Anfänge anatomischer Läsionen handelt 

Wie die Kongestion in Abhängigkeit steht von der individuellen Reiz¬ 
barkeit des Nervensystems und deswegen bei nervösen Menschen, Hysteri¬ 
schen und Neurasthenikern stärker ausgebildet ist als bei den übrigen 
Menschen, so ist sie auch besonders abhängig von gewissen Organerkran¬ 
kungen, in erster Linie von Erkrankung des Herzens und der Gefäße. Alle 
Erkrankungen, die zu Stauungshyperämie führen, steigern die Neigung zur 
Kongestion. Auch entzündliche Veränderungen können eine Neigung zur Kon¬ 
gestion in der Umgebung hervorrufen. Besonders bei fieberhaften Erkran¬ 
kungen besteht die Neigung zu Kongestionen, die in ihrer Lokalisation nicht 
immer übereinzustimmen brauchen mit der Lokalisation der Erkrankung, 
die das Fieber hervorruft. So z. B. bei Lungenentzündung Kongestion nach 
dem Kopf. 

Die Folgen der Kongestion sind außer den subjektiven Empfindungen 
außerordentlich gering. Es wurde vorher schon gesagt, daß weder die Sekre¬ 
tion noch die Lymphbildung durch reine Kongestion gesteigert wird, auch 
daß Ödeme dadurch nicht auftreten. In gleicher Weise ist die früher ver¬ 
breitete Anschauung unrichtig, daß durch Kongestion das Wachstum be¬ 
fördert wird. Wohl sind wachsende Organe byperämischer als solche, die 
nicht im Wachstum begriffen sind, und man könnte deshalb auch von einer 
Wachstumskongestion sprechen. Aber auch hier ist die Kongestion die Folge 


Digitized by 


Google 



Kongestion. — Konstitutionsanomalien. 


241 


des Wachstums und nicht die Ursache desselben. Auch hierin besteht ein 
wesentlicher Unterschied zwischen der Stauungshyperämie und der Kon- 
gestionsbyperämie, denn die erstere hat einen unzweifelhaften Einfluß nicht 
nur auf Wachstumsvorgänge, sondern auch auf HeilungsVorgänge, wie die 
Untersuchungen von Bier gezeigt haben, während die Kongestion auf alle 
diese Fälle ohne Einfluß bleibt. 

Literatur: Hbidenhain, Pflügers Archiv, V, pag. 309. — Derselbe, Versuche und 
Fragen zur Lehre von der Lymphbildung. Ebenda, 1891, XL1X. v. Hansemann. 


Konstitutionsanomalien. Unter Konstitution verstehen wir 
heute die Summe aller der Faktoren, von denen im wesentlichen die größere 
oder geringere Widerstandsfähigkeit des Organismus gegen von außen 
kommende Schädlichkeiten bedingt ist, neben der anatomisch sicht-, meß- 
und wägbaren Beschaffenheit des Körpers und der ihn zusammensetzenden 
Gewebe und Organe, die diesen innewohnende funktionelle äußere und innere 
Leistungskraft. Die in der Konstitution zum Ausdruck kommende Reaktions- 
kraft des Organismus beruht also auf rein somatischen Zuständen und Vor¬ 
gängen, die mit den alten humeralpathologischen Begriffen und Vorstellungen 
der Konstitution nichts gemein haben. Konstitutionsanomalien können daher 
auch nichts anderes sein, als fehlerhafte Anlage und Beschaffenheit, als 
mangelhafte oder falsche Leistung des Gesamtorganismus oder einzelner 
Teile. Je lokalisierter eine Konstitutionsanomalie ist, um so mehr identifiziert 
sie sich mit der Disposition zu bestimmten Erkrankungen, während um¬ 
gekehrt nur allgemeine schwache Konstitutionen zwar die Energie des 
Organismus, auf alle nur möglichen äußeren Einflüsse mit gesunder, zur 
Abwehr und zum Ausgleich der Körperschädigung führender Reaktion zu 
antworten, herabmindert, jedoch nicht ohneweiters die Lebensfähigkeit und 
Lebensdauer des Individuums bestimmt. Trotz zartester Konstitution erreichen 
viele Menschen, wenn schon zuweilen bei fortwährender Kränklichkeit, in der 
die beständige Labilität des körperlichen Wohlbefindens unter der Einwirkung 
mehr oder weniger geringfügiger Schädlichkeiten zum Ausdruck kommt, eia 
hohes Lebensalter. Die Beschaffenheit der allgemeinen Konstitution, sei 
sie zart oder robust, hat eben, wie v. Baumgarten sagt, »abgesehen von den 
Extremen, mehr ihre Bedeutung in dem häufigeren oder selteneren Eintreten 
eines Leidens geringeren Grades, eines Unwohlseins und daher mehr für das 
Sichwohlfühlen und für den Lebensgenuß als für die Krankheitsbewegung 
in ihren größeren Zügen.« Doch steigt natürlich unter gleichen Einflüssen 
mit dem Grade der Kräftigung der allgemeinen Konstitution, der allgemeinen 
Widerstandsfähigkeit der Durchschnitt der Lebensdauer. 

Da sich nun aber die Gesamtkonstitution aus einer großen Summe von 
Einzeleigenschaften der Gewebe und Organe des Organismus, von chemischen 
Zusammensetzungen und Sondertätigkeiten der Körpergewebe ergibt, so 
kann, abgesehen von dem ganzen Körperzustande, durch jede Abweichung 
eines besonderen Körperteiles oder Organs eine Eigenart der Konstitution 
von geradezu spezifischem Charakter bedingt werden. Das Unvermögen, 
namentlich in früheren Zeiten, konstitutionelle Eigentümlichkeiten aus jeder¬ 
zeit der empirischen Feststellung zugänglichen positiven Tatsachen zu de¬ 
finieren, gab mit die Veranlassung, daß mit dem Aufblühen der Bakterio¬ 
logie und unter dem zum Teil extrem einseitigen Einfluß ihrer orthodoxen 
Richtung der Konstitutionsbegriff fast ganz verloren ging. Eine gesunde 
Reaktion hat ihn zu neuen Ehren gebracht und auf Grundlagen gestellt, 
die ihm dauernde Bedeutung sichern. Die Allgemeingültigkeit des Kausalitäts¬ 
gesetzes, wie sie von Hueppe insbesondere für die Infektionskrankheiten, 
von Martius dann überhaupt für die Genese innerer Krankheiten ver¬ 
fochten worden ist, bildet den Grundstein unserer jetzigen Konstitutions- 


Encydop. Jahrbücher. N. F. VIII. (XVII.) 


Digitized by 


Gdbgle 



242 


Konstitut ionsanomalie n. 


lehre. Dieses Gesetz besagt, daß die Ursache einer Erscheinung, im speziellen 
also einer Krankheit des menschlichen Organismus, sich ergibt aus dem 
Zusammenwirken zweier Kräfte, auslösender und auszulösender, deren jede 
von Null bis Unendlich variieren kann und je nachdem den Endeffekt be 
stimmt. Der Vergleich mit Funke und Zündstoff ist oft gezogen worden, 
aber bei aller prinzipiellen Anerkennung der Äquivalenz beider Kräfte hat 
schon Hueppe darauf hingewiesen, daß bei Einwirkung einer äußeren Schäd¬ 
lichkeit die spezifische Reaktion des Organismus mehr von der Eigenart 
der Körperzellen als von der Qualität des auslösenden Reizes abhängig ist. 
Der Organismus begnügt sich nicht mit einer passiven Rolle, sondern ant-^ 
wortet auf jeden Reiz mit einem Gegenreiz, und die Erscheinung spezifischer 
Krankheiten ist bedingt durch zahllose einzelne Konstitutionseigentümlich- 
keiten insofern, als bestimmte Zellen mit bestimmter Differenzierung auf 
differente äußere Reize mit einem Gegenreiz reagieren. Mit diesen Vor¬ 
gängen lassen sich natürlich nur zum kleinen Teil grob mechanische Vor¬ 
stellungen verbinden, minutiöse Lebensäußerungen der Zellen in Form chemi- 
cher Umsetzungen sind das Wesentlichste. 

Wie die Nutzbarmachung des Kausalitätsgesetzes für den Konstitutions 
begriff ausgegangen ist von dem Studium der Infektionskrankheiten, wie 
sich die natürliche angeborene Immunität als eine echte Konstitutionseigen¬ 
tümlichkeit erweist, so hat man neuerdings auch die geniale Seitenketten¬ 
theorie Ehrlichs zur Klärung des Konstitutionsbegriffes berangezogen. Die 
Eigenart der Zelle, ihre Reizbarkeit gegenüber einem sie treffenden Reiz, 
der gewissermaßen den Schlüssel darstellt, mit dem das Schloß, d. h. die 
Zelle aufgeschlossen wird, bestimmt die Art des Gegenreizes, gleichgültig, 
ob e3 sich um physiologische Reize bei der Assimilation von Nahrungsstoffen 
oder um »physiologische Reize handelt. So wird es uns verständlich, daß 
bei manchen Konstitutionskrankheiten (Fettsucht, Gicht, genuiner Diabetes), 
infolge abnormer Beschaffenheit und Lebenstätigkeit gewisser Zellgruppen 
physiologische Reize gewissermaßen zu aphysiologischen werden können und 
schwere Störungen der Assimilation bedingen. 

Die Festigung des früher so mystischen Konstitutionsbegriffes durfte 
sich aber mit diesen allgemeinen Feststellungen nicht begnügen, positive 
Tatsachen waren beizubringen, und zwar nicht nur auf rein anatomischen 
Maßen und Gewichten beruhende, sondern in erster Linie die Ergebnisse 
einer exakten Funktionsprüfung jedes einzelnen Organes. Ein Versuch, wie 
ihn Beneke in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts unternahm, 
allein aus den anatomischen Verschiedenheiten der Organe die Konstitution 
zu erklären, mußte notwendigerweise unfruchtbar bleiben, solange mit solchen 
anatomischen Feststellungen nicht auch Betrachtungen über die Funktion 
und Leistungskraft der Organe verknüpft wurden. Andrerseit wird man nicht 
ausschließen dürfen, daß sich bei all den minutiösen chemischen Umsetzungen 
im Zelleib, aus denen sich die Lebensäußerungen der Zelle ergeben, auch 
rein anatomische Strukturveränderungen finden, die wir nur mit unseren 
heutigen Hilfsmitteln nicht nachzuweisen vermögen. 

Die Beurteilung der Konstitution erfolgt heutzutage, und von dem 
Laien natürlich fast ausschließlich, nach quantitativ bestimmbaren äußeren 
Eindrücken. Das kommt in den Bezeichnungen der zarten, resp. kräftigen 
Konstitution deutlich zum Ausdruck. Nun kann zwar die rein äußerlich 
schätzbare Beschaffenheit des Körpers, die Stärke des Skeletts, die Ent¬ 
wicklung der Muskulatur gewiß, soweit letztere nicht durch Arbeitsleistung 
gesteigert die eigentliche Veranlagung verdeckt, die Art der Konstitution 
anzeigen, in Wahrheit aber brauchen diese Faktoren den Charakter der 
Gesamtkonstitution nicht zu bestimmen. Rohe Körperkraft spielt heute im 
Kampf ums Dasein nicht mehr die Rolle wie vor Zeiten, namentlich in den 


Digitized by 


Google 



Konstitutionsanomalien. 


243 


Frühjahren der Menschwerdung, und in unserem verfeinerten Kulturleben 
kommt ihr eigentlich nur insoweit Bedeutung zu, als sie der sichere Aus¬ 
druck des harmonischen, gesunden mechanisch funktionellen Zusammen- 
arbeitens aller Körperteile und Organe sein kann. Umgekehrt kann ein 
schwächlicher Habitus das sichtbare Bild einer sogenannten asthenischen 
Konstitution geben, der manche Autoren hohen Wert beimessen, also dem 
Blick eine allgemeine, namentlich auch funktionelle Minderwertigkeit mehr 
weniger aller Organe anzeigen. Aber das muß nicht unbedingt so sein. Da 
die Konstitution bedingt ist durch die Summe vieler Einzelfaktoren, so 
müssen diejenigen Krankheiten, die wir als Konstitutionskrankheiten zu be¬ 
zeichnen pflegen, sich gerade in recht markanter Spezifität zeigen, auf 
welche keine Erscheinung des äußeren Habitus hinzu wirken braucht. 

Soweit also bei der Beurteilung der Konstitution der äußere Habitus 
überhaupt als Maßstab gelten kann, ist daran festzuhalten, daß dieser uns 
im großen und ganzen ein sehr unvollkommenes Bild von der allgemeinen 
Widerstandskraft des Organismus im Kampfe um das Dasein bietet. Die 
Körperlänge, die Stärke (Dicke) der Knochen, der Dickendurchmesser der 
Muskulatur, endlich das Fettpolster besagen für sich allein nichts. Zu allem 
gehört eine gesunde Proportion. Zu der Körperlänge hat nicht nur das 
Gewicht in einem gewissen Verhältnis zu stehen, sondern auch der Brust¬ 
umfang. Namentlich ist der Bau und die respiratorische Expansionskraft des 
Thorax als Ausdruck der funktionellen Leistungsfähigkeit des Brustkorbes 
ein überaus wichtiger Indikator für die Konstitution. Bei einem gesunden 
ausgewachsenen Manne von zirka lt>5 cm Körperlänge soll im Durchschnitt 
der Brustumfang bei Exspirationsstellung zirka 82, bei Inspirationsstellung 
zirka 91 cm betragen. Diese Atemverschiebung am Bandmaß, die uns ein 
Bild von der respiratorischen Funktion der Lungen gibt, ist im wesentlichen 
durch einen harmonischen Bau des Thoraxskeletts beherrscht. Gewisse Ano¬ 
malien im Bereich der oberen Thoraxapertur, auf die Freund zuerst auf¬ 
merksam gemacht hat, vermögen schon rein äußerlich dem Thorax ein 
charakteristisches Gepräge zu geben und durch eingehende Studien habe ich 
feststellen können, daß vererbbare, angeborene Bildungsfehler des obersten 
Rippenringes denjenigen konstitutionellen Faktor darsteilen, der die Er¬ 
krankung an progredienter tuberkulöser Lungenphthise begünstigt und in 
ihrem Verlaufe großenteils bestimmt. Soweit sich diese Konstitutions¬ 
anomalien äußerlich manifestieren, kann man von einer phthisischen — andere 
sprechen von asthenischer — Konstitution sprechen, die sich dann auch in 
noch anderen Merkmalen einer allgemeinen Minderwertigkeit dokumentiert. 
Die Beschaffenheit des Muskel- und Bandapparates hat nicht die hohe Be¬ 
deutung, die man ihr früher zuschrieb und wohl hie und da auch jetzt noch 
beimißt. 

Der Fettansatz ist teilweise durch individuelle Veranlagung bestimmt, 
schwankt außerdem je nach Lebfnshaltung und Lebensalter, extremer Fett¬ 
ansatz aber beruht zum großen Teil auf einer echten Konstitutionsanomalie 
infolge abnormer Assimilationsvorgänge und zeigt daher auch ausgesprochen 
hereditär-familiären Charakter. Im Inkarnat kann eine Konstitutionsanomalie 
sehr deutlich werden, die man früher als chlorotische Konstitution bezeichnete, 
die aber nicht auf vorübergehenden Erscheinungen namentlich zur Zeit der 
Pubertät beruht, sondern eine dauernde anatomische Anomalie zur Grund¬ 
lage hat. Es ist dies die Hypoplasie des Herzens und des arteriellen Gefä߬ 
systems. Das Schlagvolumen des Herzens und das Fassungsvermögen der 
Schlagadern ist herabgesetzt, damit die in der Zeiteinheit im Umlauf befind¬ 
liche Blutmenge vermindert, die Versorgung des Organismus mit sauerstoff- 
und nährstoffreichem Blute geschädigt. Das Herz ist besonders hohen körper¬ 
lichen Anstrengungen gegenüber sehr wenig widerstandsfähig. Für die all- 

Digitized by ~i©o< 



244 


Konstitutionsanomalien. 


gemeine Widerstandskraft des Organismus ist dieser hypoplastische Zustand 
der Herzarterienapparat von hoher Bedeutung. 

Das sind einige Beispiele dafür, wie man zuweilen schon aus rein 
äußerlichen Merkmalen Schlüsse auf Konstitutionsanomalien ziehen kann, die 
ihren Grund teilweise in anatomischen und infolgedessen auch funktionellen 
Mißverhältnissen, teilweise in uns in letzter Hinsicht noch unbekannten ab¬ 
normen chemischen Umsetzungen haben. Vielfach aber äußert sich uns der 
Charakter der Konstitution erst, wenn wir meist unter dem Einfluß äußerer 
aphysiologischer, seltener physiologischer Einwirkungen die abnorme Vita 
propria bestimmter und voll differenzierter Zellkomplexe in Erscheinung 
treten sehen. Wenn bei allgemeiner Empfänglichkeit der Art für ein infek¬ 
tiöses Virus einzelne Individuen sich unempfänglich, mit natürlicher Immunität 
ausgerüstet zeigen, so besagt das nichts anderes, als daß reizempfängliche 
Zellen bei diesen Individuen nicht vorhanden sind, die Zellen also sich in 
ihrer chemischen Konstitution von jenen anderer Individuen unterscheiden. 
Wenn bei manchen Menschen unter sonst normalen Lebensverhältnissen und 
namentlich bei zweckmäßiger Nahrungszufuhr plötzlich Eiweißausscheidnng im 
Urin sich zeigt (orthostatische Albuminurie), oder aber dauernd eine mangel¬ 
hafte Verarbeitung der Kohlehydrate besteht, so deutet das darauf hin, daß zeit¬ 
weise oder dauernd gewisse Zellkomplexe sich in einem unnatürlichen Zustande 
befinden, in dem die rein physiologischen Reize der Nährstoffe zu aphysio- 
logischen werden, abnorme Funktionen und chronische Umsetzungen hervor- 
rufen. Und doch erscheinen uns diese Zellen anatomisch als normal, gleich- 
beschaffen wie bei anderen Menschen mit gesunden, d. h. physiologischen 
Lebensäußerungen, ebenso wie die Ganglienzellen bei den verschiedensten 
Zuständen (Neurasthenie, Psychosen) des Zentralnervensystems, wie die Zellen 
der Magendrüsen bei gewissen Störungen der Magensaftsekretion, wie end¬ 
lich, um mit solchen Beispielen zu schließen, in Frage kommende Zellen in 
den merkwürdigen Fällen von Idiosynkrasie gegen bestimmte Nahrungs¬ 
mittel (z. B. Hühnereiweiß). Allen diesen Erscheinungen muß man im ein¬ 
zelnen nachgehen. Der heutige Wert des allgemeinen Konstitutionsbegriffes 
beruht darin, daß in jedem Einzelfalle das konstitutionelle Grundmoment, 
die anatomisch-funktionelle Anomalie bestimmter Zellkomplexe und Gewebe 
in den Vordergrund gehoben wird. Wieland hat gewiß nicht unrecht, wenn 
er meint, daß die medizinische Forschung in dieser Hinsicht heuto wieder 
beinahe auf dem alten Standpunkte Virchows steht, der ja schon die Not¬ 
wendigkeit zur Annahme einer spezifischen Reizbarkeit der Zellen in seiner 
Zellularpathologie begründete. Nur daß wir das Wesen einer Krankheit nicht 
in selbständigen Störungen des Zellebens, sondern in Abwehrreaktionen der 
Zellen gegen andrängende Reize erblicken. 

Unter Konstitution kann man nur einen Dauerzustand verstehen, das 
Produkt der im befruchteten Ei enthaltenen Entwicklungskräfte, denen die 
Erbeigenschaften beider Eltern und ihrer Ahnenreihe den Stempel geben. 
Art, Rasse, Familie bestimmen im wesentlichen den Charakter der Konsti¬ 
tution, die somit in ihrer Mannigfaltigkeit eine den Gesetzen der Vererbung 
unterworfene angeborene Anlage darstellt und daher von Generation zu 
Generation direkt oder in Seitenlinien in ihrer Eigenart immer wieder zum 
Ausdruck kommt. Unsere Erfahrungen über Gicht, Fettleibigkeit, manche 
Nerven- und Geisteskrankheiten zeigen deutlich die familiäre Spezifität der 
Konstitutionsanomalien, die Vererbung des Locus minoris resistentlae. Die 
Erblichkeit der Konstitution spielt daher in der Nosologie auch eine be¬ 
deutende Rolle, der gegenüber alle anderen Faktoren (Übung, Gewöhnung usw.) 
ganz zurücktreten, schon deshalb, weil sie vorübergehender Natur sind. 
Eine angeborene Anlage braucht nun aber nicht, ja pflegt sogar meistenteils 
nicht schon zur Zeit der Geburt scharf ausgeprägt zu sein, sondern ent- 


Digitized by 


Google 



Konstitutionsanomalien. 


245 


wickelt sich erst im Laufe der Jahre, wenn alle Körperteile ihrer Vollendung 
entgegengehen; erst dann tritt sie vielfach entweder rein äußerlich oder 
in gewissen funktionellen Erscheinungen sichtbar hervor. Nichts braucht 
beim Kinde darauf hinzuweisen, daß beim Abschluß des Wachstums die 
Thoraxentwicklung eine unvollkommene, fehlerhafte ist mit falschen Kor¬ 
relationen zu den umschlossenen Organen, nichts braucht uns ahnen zu 
lassen, daß schwere Störungen der Nerven- und Geistestätigkeit oder des 
Stoffwechsels im späteren Leben eintreten. Auch der Laie kennt die Er¬ 
fahrungstatsache, daß sich oft schwächliche Kinder zu kräftigen, blähenden 
Menschen entwickeln und andere kräftige später sieche Menschen werden 
ohne einen ersichtlichen Grund. Das Kind hat eben bereits seine Konstitution 
als Erbteil seiner Ahnen, nur daß sie noch nicht manifest ist. 

Daß Konstitutionsanomalien vorwiegend erst nach der Pubertätszeit 
deutlich in Erscheinung treten, erklärt sich, abgesehen von den Fällen, in 
denen gewisse rein mechanische Mißverhältnisse überhaupt erst mit der 
Wachstumsbeendigung eintreten, im wesentlichen daraus, daß von dieser 
Zeit ab das Individuum in erhöhtem Maße den mannigfachen schädigenden 
Einwirkungen des täglichen Lebens ausgesetzt ist. Die Besonderheit der 
Konstitution bedingt keineswegs für sich allein den Ausbruch einer ent¬ 
sprechenden Krankheit, sondern dazu bedarf es des Hinzutrittes des schä¬ 
digenden Reizes von außen, welcher mit der Gegenreaktion des Organismus 
das Bild der Krankheit gibt. Kein Mensch mit einem phthisischen Brustkorb 
bekommt je eine tuberkulöse Lungenphthise, wenn nicht virulente Tuberkel- 
bazillen Eintritt in das Lungengewebe finden. Die äußere Schädigung kann 
eine kurze einmalige sein, wie sich z. B. an ein Trauma eine dauernde 
schwere Psychose anschließen kann, oder aber repräsentiert werden durch 
die stetige unmerkliche Einwirkung alltäglicher Ereignisse und Eindrücke, 
die nicht einmal unter den Begriff einer Schädlichkeit zu gehören brauchen 
(Nervenkrankheiten usw). Für beide Beispiele zeigt sich die Bedeutung der 
Eigenart des Individuums deutlich daran, daß das gleiche Trauma an einem 
anderen fast spurlos vorübergeht, daß die gleichen Reize des täglichen 
Lebens von der Mehrheit der Menschen überhaupt nicht als schädlich emp¬ 
funden werden. Das Auftreten der auf erblicher Veranlagung beruhenden 
Stoffwechselkrankheiten erst in späteren Jahren weist gleichfalls darauf hin, 
daß die abnorm veranlagten Zellkomplexe bis zu einer gewissen Zeit einer 
physiologischen Arbeitsleistung fähig sind und erst durch Schädigungen, die 
wir zum Teil vielleicht im Sinne der Abnutzung deuten dürfen, zu aphysio- 
logischer Funktion geführt werden. Auch die Veranlagung zu diesen Stoff¬ 
wechselanomalien braucht nicht notwendig zur Stoffwechselkrankheit selbst 
zu führen; ein erblich schwer belasteter Sprosse einer Gichtikerfamilie kann 
gesund bleiben und dennoch dadurch, daß bei seinen Nachkommen die Krank¬ 
heit auftritt, bewiesen werden, daß er die Anlage zur Krankheit in sich 
trug. Daher ist es auch falsch, in einer Konstitution allein schon eine Krank¬ 
heit zu sehen, weil sich trotz abnormer Anlage die Tätigkeit aller Organe 
in physiologischer, d. h. gesunder Weise abspielen kann und die Lebens¬ 
dauer des Individuums keine Beschränkung zu erfahren braucht. Man darf 
dann nur nicht das noch als Konstitutionsanomalie betrachten, was selbst 
schon Krankheit ist, wie beispielsweise die Skrofulöse. 

Die richtige Würdigung der konstitutionellen Eigenart des Individuums 
ist von hohem praktischen Wert. Allein schon die hereditären Verhältnisse 
in einer Familie, die für das Verständnis des vielfach umstrittenen Hereditäts- 
problems an sich wertvoll sind, werden das Verhalten des Arztes, besonders 
des Hausarztes, dessen Institution in unserer Zeit leider immer seltener 
wird, beeinflussen. Aus der Bedeutung der individuellen Konstitution ergibt 
sich die Bedeutung der Prophylaxe, die um so mehr in dem heutigen medi- 


Digitized by 


Google 



246 Konstitutionsanomalien. — Krankenbeförderung. 

zinischen Denken in den Vordergrund tritt, als man erkennt, daß vielfach 
die Verhütung einer Krankheit leichter als Heilung ist. Wir sind ja freilich 
noch weit davon entfernt, die Ausbildung einer vielleicht in langer Ahnen« 
reihe festgelegten spezifischen Eigenart der Konstitution verhüten zu können, 
aber einmal hat die Erfahrung gelehrt, daß eine zielbewußte Kräftigung des 
Gesamtorganismus und im geeigneten Falle auch abnorm sich entwickelnder 
Organe von günstigem Einfluß auch auf die verschiedenen Krankheitsanlagen 
ist, und zweitens haben wir die Möglichkeit, alle äußeren schädigenden 
Einflüsse von dem Organismus, speziell von den gefährdeten Organen fern¬ 
zuhalten und damit die die Krankheit auslösenden Reize auszuschalten. 
Unsere größte Sorgfalt hat in dieser Hinsicht dem heranwachsenden Kinde 
zu gehören, dessen Entwicklung zu fördern und zu kräftigen oft gleich¬ 
bedeutend ist mit der Erstickung vieler drohender Krankheiten noch im 
Keime. Nötig aber ist zielbewußte Arbeit und die kann allein geleistet 
werden bei sicherer Kenntnis und klarem Verständnis des Wesens der 
Konstitution, das immer weiter zu erforschen noch eine schöne Aufgabe 
der medizinischen Wissenschaft ist. 

Literatur: v. Baumgarten, Die Lehre von den Krankheitsanlagen. Handbuch der all¬ 
gemeinen Pathologie von Kreul und Marchand, 1908. — Beneke, Die anatomischen Grund¬ 
lagen der Konstitntionsanomalien der Menschen, 1878. — Hart, Die mechanische Disposition 
der Lungenspitzen zur tuberkulösen Phthise. Stuttgart 1906. — Hukppk, Über die Ursache 
der Gärungen und Infektionskrankheiten und deren Beziehungen zum Kausalproblem und zur 
Energetik. 65. Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte. Nürnberg 1893. — Martics, 
Pathogenese innerer Krankheiten. Leipzig und Wien 1899. — Orth, Angeborene und ererbte 
Krankheiten. Senator Kaminer: Krankheiten und Ehe. München und Berlin 1904. — Stiller, 
Die asthenische Konstitntionskrankheit. Stuttgart 1907. — Wikland, Über Krankheitedisposition. 
Beiheft zur medizinischen Klinik 1908, Nr. 4. Hart. 


Krankenbeförderung. ln bemerkenswerter Weise ist auf dem 
I. internationalen Kongreß für Rettungswesen in Frankfurt a. M. 1908 die 
Beförderung Kranker behandelt worden. Den Zwecken des Kongresses ent¬ 
sprechend ist sowohl der wissenschaftliche als auch der praktische Teil des 
Gebietes erörtert worden, obgleich ja beide vollkommen Hand in Hand 
gehen, denn nur wissenschaftliche Behandlung dieses wichtigen Faches kann 
seine praktische Seite fördern. 

Die Bedeutung des Krankentransports wurde für alle in Rede stehen¬ 
den Gebiete des Rettungswesens anerkannt, und somit gelangte der seit 
Jahren vom Verfasser mit Nachdruck vertretene Standpunkt immer mehr 
zur Anerkennung, daß mit der Leistung einer ersten Hilfe untrennbar die 
Sorge, wie der Kranke ohne Schädigung seiner selbst und seiner Umgebung 
am zweckmäßigsten fortzuschaffen ist, verbunden sein muß. 

Auf wissenschaftlichem Gebiete ist eine Reihe wichtiger Gesichtspunkte 
dargelegt worden. In praktischer Hinsicht sind besonders die an verschie¬ 
denen Stellen gemachten Bemerkungen über den Krankentransport mit Kraft¬ 
fahrzeugen wichtig. 

Wenn es möglich ist, das Automobil immer weiter zu vervollkommnen, 
wird es vielleicht auch möglich sein, es für die Krankenbeförderung immer 
geeigneter zu gestalten. Weitere Versuche sind jedenfalls wertvoll, um 
einzelne Hauptfragen zu klären. Ob z. B. das Elektromobil oder Benzinauto¬ 
mobil den Vorzug für die Krankenbeförderung verdient, steht noch dahin 
und noch viele andere Fragen harren hier, wie bei der Gestaltung des Auto¬ 
mobils überhaupt, noch der Erledigung. 

Die Fortschaffung des Kranken bedingt zunächst eine entsprechende 
Lagerung, so daß es möglich ist, ihn ohne Schädigung seiner selbst zu er¬ 
greifen und fortzutragen. Unzweifelhaft geschieht letzteres am besten mit 
eigens für diesen Zweck angefertigten oder für diesen Zweck hergerichteten 


Digitized by 


Google 



Krankenbeförderung. 


247 


Vorrichtungen, d. h. mittelst Tragbahren oder deren Behelfsmitteln, die gleich¬ 
falls (im Kriege) bereits för diesen Zweck schon vorher (durch Latten, mit 
Strohgeflecht nsw.) hergesteilt oder erst im Notfälle ans gerade zur Hand 
liegenden Gegenständen gefertigt werden. 

Für die einzelnen Stellen, von welchen Verunglückte oder Erkrankte 
fortzuschaffen sind, müssen auch verschiedene Arten von Gerätschaften zur 
Verwendung gelangen. 

Für nicht militärische Zwecke erfordert die Beförderung auf dem 
Wasser, auf Eisenbahnen oder in Bergwerken eigene Vorkehrungen. Beson¬ 
ders auf den Eisenbahnen sind in den einzelnen Bundesstaaten in Deutsch 
land sehr vorzügliche Einrichtungen vorhanden. Es war früher ein häufig 
beklagter Übelstand, daß die Beförderung von Kranken auf Eisenbahnen zu 
teuer und daher nur für wohlbemittelte Menschen möglich war. Überlegt 
man, wie dies Verfasser bereits vor 12 Jahren auseinandersetzte, daß für 
die Beförderung eines während einer Sommerreise einer Familie Erkrankten 
in seine Heimat eine größere Summe zu zahlen war, als vielleicht die ganze 
Sommerreise kosten darf, so ist klar, daß eine solche Ausgabe für zahl¬ 
reiche Familien unerschwinglich war. Es kostete früher in Deutschland die 
Benutzung der Wagen I. Klasse (Salonkrankenwagen) 12 Fahrkarten I. Klasse. 
Für die Beförderung des Wagens IV. Klasse waren in Deutschland 4 Fahr¬ 
karten 1. Klasse zu lösen. 

ln neuerer Zeit ist ein bequemes und einfaches System herge¬ 
stellt worden, das zur Beförderung von Kranken dient und dessen Benutzung 
so billig ist, daß es ohne weiteres auch weniger Bemittelten zur Ver¬ 
fügung steht. 


Krankenraum in vierachsigen Abteilwagen. 

III. Klasse. 

Der Krankenraum umfaßt zwei gewöhnliche Abteile III. Klasse, aus denen die Zwischen¬ 
wand sowie die Bänke bis auf eine entfernt sind. 

Die Einrichtung besteht aus: 

1 Bett, das auch als Tragbahre verwendbar ist, um darauf nötigenfalls den Kranken 
in den Krankenraum und wieder hinaus zu bringen; 

b) 1 Lehnstuhl; 

c) 1 Schrank mit Wasserflasche, Waschtoilette, Stechbecken; 

d) 1 aufklappbaren Wandtisch; 

e) 1 Wasserkanne; 

fl 1 Gaskocher, der im vom Krankenraum unmittelbar zugänglichen Abort ange¬ 
bracht ist. 

Bettwäsche, Decken, Kissen nnd Unterbetten werden nicht geliefert und sind daher 
nötigenfalls von dem Besteller des Krankenraumes mitzubringen. 

Der Krankeuraum hat neben der gewöhnlichen Abteiltüre noch einen besonderen 
TUrflügel, der vom Zugpersonal geöffnet werden kann zur Herstellung einer breiten Tür¬ 
öffnung, um den Kranken im tragbaren Bett oder mittelst Stuhls bequem hindurch zu 
schaffen. 

Der Wagen mit dem Krankenraum wird, soweit es die Zugbelastung und die sonstigen 
Betriebsverhältnisse gestatten, in allen die dritte Wagenklasse führenden Zügen mit Ausschluß 
der D- und 8chrellzüge befördert. Die Bestellung des Krankenranmes muß möglichst früh¬ 
zeitig, mindestens jedoch 3 Tage vor der Fahrt stattfindeu, weil der Wagen erst aus den 
Zügen, in denen er gewöhnlich läuft, zurückznziehen und zur Krankenbeförderung herzu- 
richten ist. 

Für die Benutzung des Krankenranmes sind innerhalb Deutschlands 4 Fahrkarten 
III. Klasse (auch Rückfahrkarten und Rundreisekarten sowie sonstige Fahrtausweise sind zu¬ 
lässig) zu lösen. Hierfür werden der Kranke und zwei Begleiter befördert. Die außerdem 
etwa noch in dem Krankenraum mitfahrenden Begleiter haben je eine Fahrkarte III. Klasse 
zu lösen. 

Beschreibung der Krankenraumeinrichtung III. Klasse. 

Zur Umwandlung der Abteile C und D eines vierachsigen Abteilwagens III. Klasse 
in einen Krankenraum sind nachstehende Arbeiten auszuführen: 

Zunächst werden die 2 Doppeltüren des Abteils C geöffnet, von denen die linken, 
kleinen Flügel oben und unten durch Yierkantdornversehluß verriegelt sind. 


Digitized by 


Google 



248 


Krankenbeförderung. 


Dann werden mittelst Vierkantschlüssels die Schrauben an den Füßen und an den 
Rückenlehnen der an der Seite der Aborttürwand befindlichen Bank, der Mittelbänke und 
des kurzen Einsatzstückes der vierten Bank gelöst and die Bänke nacheinander heraus- 
genommen. 

Bei der Mittelbank ist zu beachten, daß sie vor dem Heranstragen zunächst etwa 
300 mm senkrecht znr Mittelachse des Wagens hervorgezogen werden muß, damit die Heizung 
an der Lang wand frei wird. 

Nach Fortschaffen der Bänke wird die halbhohe Scheidewand entfernt, die mit den 
Netzranfen in die Kreuzstücke der oberen Qnerstange hinein ragt; zu diesem Zwecke sind 
2 Klammern, welche die Gepäcknetzstangen und die obere Qaerstange umfassen, mit Vier¬ 
kantschlüssel zu lösen und an der Langwand ist ein Riegel bochzuschieben. 

Alsdann erfolgt die Einräumung der Ausrüstungsstücke für die Krankenbeförderung. 
Der Waschschrank ist an der Aborttürwand mit 2 Vierkantdornschrauben zu befestigen, die 
Stange mit Friesvorband ist in die Kolben zu legen und das kleine Tischchen an der Seiten¬ 
wand aufzuklappen. 

Nach Hineinstellen des Rohrstuhles, der Wasserkanne, des Zubehörs zum Waschschrank 
(1 Wasserflasche, 2 Gläser, 1 Nachtgeschirr, 1 Stecbbecken, 1 Spacknapf) und des fahrbaren 
Untergestells der Krankentrage wird letztere in den Wagen gebracht. 

Die Herrichtung der Abteile aus einem Krankenraum in gewöhnliche Abteile 111. Klasse 
erfolgt in umgekehrter Reihenfolge. 


Anweisung 

über Aufstellung, Einrichtung und Handhabung sowie Anforderung und Be¬ 
nutzung der Tragbetten zur Beförderung von Kranken. 

Vorbemerkung. 

Für die Beförderung von Kranken mit ansteckenden Krankheiten in Tragbetten sind 
die Bestimmungen der §§ 1—6 der Anweisung zur Bekämpfung ansteckender Krankheiten 
im Eisenbahnverkehre im allgemeinen maßgebend. Demgemäß ist bei Bestellung eines Trag¬ 
bettes der Betteller nach der Art der Krankheit zu befragen; nötigenfalls ist die dort vor- 
geschriebene Bescheinigung einzufordern. 

Die Beförderung von Pestkranken ist ausgeschlossen. 

An Aussatz, Cholera, Fleckfieber, Gelbfieber, Pocken, Genickstarre, Milzbrand und 
Rotz Erkrankte sind nur in besonderen Wagen gegen die tarifmäßigen Gebühren zu be¬ 
fördern. 

Kranke, die an Unterleibstyphus, Diphtherie, Scharlach, Ruhr, Masern, Keuchhusten, 
Kindbettfieber, Körnerkrankbeit, Rückfallfieber, Lungen- und Kehlkopf tuberkulöse leiden, 
dürfen nur in abgeschlossenen Wagenabteilen befördert werden, die mit getrenntem oder 
gegen das Nebenabteil verschließbarem Abort versehen sind. 

I. Aufstellungsorte. 

1. Tragbetten sind auf den in der Anlage bezeichneten * Eisenbahnstationen (Heimat - 
Stationen) aufgestellt. 


II. Einrichtung und Handhabung. 

2. Die Tragbetten dienen znr Beförderung von Kranken and sind so eingerichtet, daß 
der Kranke darin von der Wohnung oder der Unfallstelle abgebolt, ohne Umbettung in einen 
eigenen Eisenbabnwagenabteil, in welches das Bett hineingestellt wird, weiter befördert und 
auf der Bestimmungsstation vom Bahnhof wieder bis an die neue Lagerstätte (Krankenhaus, 
Klinik, Wohnung nsw.) getragen werden kann. 

Das Tragbett hat eine feste Stirnwand, bewegliche Seitenwände nnd Fußwand, eine 
abnehmbare Giebelstange (Deckenstange) und zwei herausnehmbare Tragstangen. Zu jedem 
Tragbett gehört eine Matratze nebst einer Gummidecke, die am die Matratze zu legen ist, 
sowie eine große Scbntzdecke. 

Bettstücke nebst Bettbezügen und Decken hat der Kranke selbst berzugeben. 

3. Zum Heben nnd Tragen des Tragbettes sind eiserne Handhaben am Kopf- und 
Fußende und ferner zwei herausnehmbare hölzerne Tragstangen vorhanden, mittelst deren 
das Tragbett bei hochgeklappten Seitenwänden in das Eisenbahnwagenabteil gehoben und 
auf der End- oder Wagenwechselstation wieder heransgeboben werden kann. Die Ver- und 
Entladung des Tragbettes in die Eisenbahnwagenabteile ist stets mit untergestreckten Trag¬ 
stangen zu bewirken, nicht mittelst der eisernen Handhaben. Damit das Tragbett, dessen 
Schwerpunkt ziemlich hoch liegt, nicht umschlägt, wird es zweckmäßig — namentlich beim 


* Es sind 60 Städte mit 62 Stationen (in Berlin 3) in dem betreffenden Verzeichnis 
aufgeführt. 


Digitized by 


Google 



Krankenbeförderung. 249 

Einsetzen in die Eisenbahnwagen und Herausnehmen ans denselben — seitlich durch Je eine 
Person gestützt. 

Der Kranke vermag sich hierbei an der Deckenstange, die übrigens auch zur Siche* 
mag der Lage kranker Gliedmafien verwendbar ist, mit beiden Händen festzuhalten. Ira 
Eisenbahnwagen können die Seiten wände wie auch die Kopf- und Fafiwand des Trag- 
bettes zur Bequemlichkeit des Kranken hernntergeklappt oder auch ganz abgenommen 
werden. 

Die Tragbetten sind bei der Benutzung stets, namentlich auch beim Einsetzen in den 
Eisenbahnwagen bis zur erforderlichen Höbe wagerecht anzuheben. 

Damit sie bei etwas geneigter Stellung auf den Tragstangen nicht rutschen können, 
sind diese nach dem einen Ende zu mit einem Knopf bzw. Winkelanschlag versehen. Die 
Tragstangen müssen stets so eingesteckt werden, dafi das Tragbrett beim Einsetzen in den 
Eisenbahnwagen oder beim Herausnehmen sich gegen die Knöpfe bzw. Winkelanschläge stützt 
lind nicht von den 8tangen abrutschen kann. 

III. Anforderung. 

4. Die Tragbetten sind nicht nur für die Stationen, auf denen sie aufgestellt sind — 
Heimatstationen — bestimmt, sondern können von allen Stationen und Haltestellen der 
Prenfiisch-Hessischen Staatseisenbahnen im Bedarfsfälle — nötigenfalls telegraphisch — an¬ 
gefordert und zur Beförderung nach sämtlichen Stationen und Haltestellen der Preußisch- 
Hessischen Staatseisenbahnen verwendet werden, sofern für die Entladung dort Hilfskräfte 
zur Verfügung gestellt werden können. 

5. Die Anforderung ist stets an die Heimatstation des eigenen Direktionsbezirkes zu 
richten. Von den Heimatstationen benachbarter Direktionsbezirke sind Tragbetteu nur anzu¬ 
fordern, wenn die des eigenen Bezirkes nicht überwiesen werden können. 

6. Die Ab- und Rücksendung von und nach der Heimatstation soll als Eil-Betriebs- 
dienstgut erfolgen. 


IV. Benutzung. 

») Zur Verwendung geeignete Eisenbahnwagen. 

7. Die Tragbetten werden nur in Abteilwagen III. Klasse mit getrennten oder ab- 
Mhließbaren Aborten eingestellt und in allen Fernzügen, die III. Klasse führen, befördert. 
Die Beförderung der Tragbetten in Wagen mit innerem Durchgang oder in D-Zugwagen ist 
ausgeschlossen. Der Raum zwischen den Sitzbänken mufi mindestens 50 cm breit sein. Die 
Tragstangen werden im Eisenbahnabteil herausgenommen. Neben dem Tragbett bleiben noch 
2 Plätze für Begleiter. 

Bti Beförderung erkrankter Personen in Tragbetten von Stationen der Nebenbahnen 
aus sind geeignete Wagen rechtzeitig beim Betriebsbureau anzufordern. 

Bei Übergang auf andere Züge hat die Abgangsstation sich mit den Übergangsstationen 
vorher über die ohne Verzögerung za bewirkende Umladung zu verständigen. 

b) Gebühren. 

8. Für die Beförderung eines Kranken mit Tragbett auf den Strecken der Preußisch- 
Hessischen Staatsbahnen* sind 2 Fahrkarten III. Klasse für den Kranken und je eine Fahr¬ 
karte III. Klasse für Jeden Begleiter zu lösen. 

9. Weitere Gebühren — für die Benutzung, Rücksendung und Desinfektion usw. des 
Tragbettes — werden nicht erhoben. Auch für die Benutzung der Tragbetten zur Beförde¬ 
rung der Kranken nach und von dem Bahnhofe wird eine Gebühr nicht erhoben. 

10. Soweit Jedoch zur Beförderung des Tragbettes zwischen Wohnung oder Kranken¬ 
haus und Station etwa verfügbare Eisenbahnbedienstete (Gepäckträger usw.) in Anspruch 
genommen werden, ist deren Tätigkeit nach dem Gepäckträgertarif zu vergüten. 

11. Wenn auch die Gestellung der zur Bedienung der Tragbetten erforderlichen Per¬ 
sonen Sache der Kranken ist, so haben doch die Eisenbahnbediensteten hierbei, namentlich 
beim Hineinheben in die Wagen und beim Herausnehmen aus ihnen, Hilfe zu leisten. 

c) Reinigung und Aufbewahrung. 

12. Für sorgfältigste Reinhaltung und trockene Aufbewahrung des Tragbettes, dessen 
Matratze zur Vermeidung des Stockens häufig gelüftet werden mufi, wie überhaupt für den 
Jederzeit guten und gebrauchsfertigen Zustand der Einrichtung ist die Heimatstation verant¬ 
wortlich. 

18. Das Bettgestell nebst Gummidecke ist nach Jeder Benutzung feucht abzu¬ 
wischen , die Matratze und Schutzdecke mit einer Klopfpeitsche auszuklopfen und dann ab¬ 
zubürsten. 


* Über die Beförderung der Tragbetten nach Stationen der übrigen deutschen Eisen¬ 
bahnen folgen weitere Bestimmungen. 


Digitized by ^.ooQle 



250 


Krankenbefördertmg. 


14. Die Station, auf welcher die Fahrt beendet ist, hat darauf zu halten, daß die 
Geräte nach der Benutzung von den Begleitern rein zurfickgegeben werden. Etwaige Flecke 
sind durch Abseifen oder durch Bürsten und Abreiben mit einem iu Fieckwasser ge¬ 
tränkten Lappen vorsichtig zu entfernen. Die benutzten Wagenabteile sind sorgfältig zo 
reinigen. 

d) Desinfektion. 

1. Des Tragbettes usw. 

15. Die Tragbetten nebst Zubehörstücken sind einmal jährlich und überdies jedesmal 
dann zu desinfizieren, wenn sie von Personen mit ansteckenden Krankheiten — siehe Vor¬ 
bemerkung — benutzt worden sind. 

Bei der Desinfizierung ist das Bettgestell mittelst Lappen, die mit verdünntem Kresol- 
wasser oder Karbolsäurelösung (§ 30a der Anweisung zur Bekämpfung ansteckender Krank¬ 
heiten im Eisenbahnverkehre) getränkt werden, gründlich abzuwaschen. Die Matratze, die 
Gummidecke und die Schutzdecke sind in Tücher, die vorher mit Karbolsäurelösung (§30a 
der genannten Anweisung) stark angefeuebtet sind, einznscblagen und der Dampfdesinfektion 
zu unterwerfen. Die bei der Reinigung verwendeten Lappen sind zu verbrennen. 

2. Der Wagen. 

16. Inwieweit auch die Desinfektion des zur Beförderung des Kranken benutzten 
Wagenabteils oder Wagens stattzufinden hat, richtet sich nach den hierfür gegebenen be¬ 
sonderen Vorschriften (§§ 6—8 der Vorschriften für die Reinigung und Desinfektion der zur 
Beförderung von Personen dienenden Fahrzeuge bzw. §§ 14, 25, 30 ff. der Anweisung zur 
Bekämpfung ansteckender Krankheiten im Eisenbahnverkehre). 

Eine große Anzahl von Gerätschaften zur Beförderung Verunglückter 
und Kranker in den Bergwerken war in der mit dem 1. Internationalen 
Kongreß für Rettungswesen in Frankfurt a. M. 1908 verbundenen Ausstel¬ 
lung aufgestellt. Besonders waren hier die in der Zeche Shamrock der 
Bergwerksgesellschaft Hibernia benutzten Gerätschaften, Schleifbretter usw. 
sowie die vom Bergwerksdirektor G. A. Meyer angegebenen Beförderungs- 
Vorrichtungen ausgestellt. Auch in den Vorträgen war vielfach von den Be 
förderungsgerätschaften die Rede. 

PHiLipp-Oberleutensdorf zeigte eine von ihm angegebene Tragbahre, 
die besonders dadurch bemerkenswert war, daß der Kranke in der Förder¬ 
schale in ausgestreckter Haltung liegen kann. Die Tragbahre ist für eine 
Körperlänge von 1*8U m berechnet und befindet sich schräg in der Förder¬ 
schale in einem Winkel von 45—60°. Zur Sicherung dieser Lagerung sind 
auf der Tragbahre mehrere Stützen angebracht. Die Tragbahre besteht aus 
2 Längsstangen (Gasrohr), die miteinander verbunden sind. Die Breite ist 
etwa 50 cm. In dem Tuch der Tragbahre befinden sich mehrere Öffnungen, 
zwei in den Achselhöhlen und eine dem Becken entsprechend. Aus diesen 
Öffnungen ragen gepolsterte Stützen heraus, so daß der Verletzte auf den 
Achselstützen wie in Stützen hängt, auf der Beckenstütze reitet. Die Fu߬ 
stütze der Bahre ist in der Mitte geteilt und zum Umlegen und Stellen ein¬ 
gerichtet. Die Achselhöhlen- und Beckenstützen sind auf drehbaren Spindeln 
unterhalb des Bahrtuches angebracht, so daß sie für jede Körpergröße ver¬ 
stellbar sind. Sämtliche 5 Stützen können durch Herausnehmen und Um¬ 
legen außer Gebrauch gesetzt werden, falls irgendwo schmerzhafter Druck 
durch die Stützen an den betreffenden verletzten Körperteilen entstehen 
würde. An den Längsstangen sind noch zwei verschiebbare Garte, deren 
oberer für den Fall der Ausschaltung beider Acbselhöhlenstützen das Vorn¬ 
überfallen des Körpers verhindert. Wichtig ist auch, daß die Tragbahre den 
vorhandenen Rettungswagen angepaßt werden kann, so daß nicht eine Um¬ 
lagerung von der Grubentrage auf die Trage des Rettungswagens erforder¬ 
lich ist. George Meyer. 


Digitized by ^.ooQle 



L 


Lftvtllosiirie« Im Diabetikerharn kommt zuweilen neben der ge¬ 
wöhnlichen rechtsdrehenden Glykose der ihr chemisch und physikalisch sehr 
nahestehende linksdrehende Fruchtzucker (Lävulose) zur Ausscheidung. Die 
ersten Mitteilungen stammen von Ventzke. Zimmer und Czapek, Seegen. May, 
aber gesichert ist das Vorkommen der Lävulosurie erst durch die späteren 
Beobachtungen von Rosin und Lab and, Späth und Weil, Umber u. a. Man 
hat die Lävulose im Zuckerharn dadurch entdeckt, daß sich eine Differenz 
zwischen den Ergebnissen der Polarisation und der quantitativen Analyse 
mittelst der Reduktionsproben (FEHLiNGscher Lösung u. dgl.) ergab. Die Links¬ 
drehung kann zwar auch durch andere Substanzen, z. B. gleichzeitigen Ei¬ 
weißgehalt im Zuckerharn hervorgerufen werden, aber im so verdächtigen 
Urin läßt sich die Lävulose unschwer nachweisen durch die SELiWANOFFsche 
Reaktion, für die in neuerer Zeit mehrere Modifikationen angegeben worden 
sind. Am einfachsten macht man sie in folgender Weise: 10 ccm Harn werden 
mit der gleichen Menge etwa 25%igG r Salzsäure und einigen Körnchen 
Resorzin gekocht. Sobald die charakteristische Rotfärbung entstanden ist, 
setzt man Soda in Substanz solange zu, bis kein Aufbrausen mehr auftritt. 
Der rote Farbstoff läßt sich durch Amylalkohol extrahieren und zeigt nament¬ 
lich nach Reinigung mit einigen Tropfen absoluten Alkohol im Spektroskop 
einen Streifen in Grün, zuweilen auch noch einen zweiten in Blau. Die 
Lävulosemenge im Harn kann bis zu 1% betragen, selten mehr. Die Lävulose 
gibt dieselben Reduktionsproben (Trommer. Nylander u. a) wie der Trauben¬ 
zucker, und bildet mit Phenylhydrazin auch ein kristallinisches Osazon vom 
Schmelzpunkt 205°, auch die Gärung mit Hefe fällt positiv aus. Die Unter¬ 
scheidung ist also lediglich durch Feststellung der Linksdrehung der Ebene 
des polarisierten Lichtes und durch die Resorzinprobe möglich. Die Lävulo¬ 
surie beruht anscheinend meist auf einer Lävulosämie (entsprechend der 
Hyperglykämie beim Diabetes). Denn es finden sich im Blutserum solcher 
Kranken nicht unerhebliche Mengen von Fruchtzucker. Rosin und Laband 
haben auch mehrere Fälle von Lävulosurie ohne Diabetes beobachtet, doch 
scheint dies ein seltenes Vorkommnis zu sein. Es handelt sich da wohl um 
eine der Pentosurie ähnliche harmlose Stoffwechselanomalie, auch insofern 
als vermehrte Zuckerzufuhr die Lävulosurie nicht steigert. Auch Kohlehydrat¬ 
zufuhr hat keinen Einfluß auf die Lävuloseausscheidung, und der Trauben¬ 
zucker wird von solchen Individuen gut assimiliert. Schließlich ist noch das 
Vorkommen einer alimentären Lävulosurie zu erwähnen. Nach Strauss ist 
sie ein Zeichen gestörter Leberfunktion, doch ist sie einerseits auch bei 
anderen Erkrankungen beobachtet worden, andrerseits fehlt sie oft bei sehr 
ausgedehnten Leberkrankheiten, so daß Naunyn die Schlußfolgerung auf eine 


Digitized by 


Google 



252 


Lfivulosurie. — Lipacidurie. 


funktionelle Leberinsuffizienz mit Recht beanstandet hat. Man gibt för diese 
Probe 100^ reiner Lävulose früh, am besten nüchtern. Schon nach wenigen 
Standen erscheint die Lävulose im Harn. In diesen Fällen fällt die Probe 
auf alimentäre Olykosarie (cf. V, pag. 878) stets negativ aas, ein Beweis, 
daß diese beiden Stoffwechselanomalien durchaus unabhängig voneinander 
sind. Dafür spricht auch die Tatsache, daß Diabetiker die Lävulose weit 
besser assimilieren als die Dextrose und auch bei Zufuhr großer Mengen 
des Fruchtzuckers denselben größtenteils als Traubenzucker ausscheiden, 
nur einen kleinen Rest als Lävulose. 

Literatur: F. Bluvknthal, Nichtdiabetische Glykosnrien in Albus Sammlung zwang¬ 
loser Abhandlangen aas dem Gebiete der Verdauungs- and Stoffwechselkunde. Halle 1909. — 
Naunyn, Der Diabetes mellitus. Wien 1906. — Neubauer, Münchener med. Wochen sehr. 
1905. — Rosin und Laband, Zeitschr. f. klin. Med., XLVII. — 8tbauss, Deutsche med. 
Wochenschr., 1901. 

Laxinkonfekt ist ein Abführmittel, in welchem Phenolphtalein 
die wirksame Substanz ist. Es kommt in Schachteln mit 20 Tabletten 
k 0*12 g Phenolphtalein in den Handel. Es ist aus Äpfeln unter Zusatz von 
Phenolphtalein hergestellt und hat sich nach Staehelin besonders in der 
Kinderpraxis bewährt. 

Literatur: Staehelin, Therapeat. Monatsh., September 1908, pag. 491. E, Erej. 

Linoval ist eine weiße Salbe, welche 15% Wasser aufnimmt, dauernd 
haltbar ist und bei 31° C schmilzt. 

Nach Salomon »ist das wirksame Prinzip des Linovals eine flüchtige 
Fettsäure, die bei der Raffinerie des Leinöls gewonnen wird. Aus dem 
dunkelbraunen, dicken Leinöl gelang es dem Fabrikanten, ein wasserklares, 
helles, leicht flüssiges öl zu gewinnen, und als Nebenprodukt erhielt er da¬ 
bei ein dickes, braunes Muzillagium, aus dem er eine Leinölfettsäure iso¬ 
lieren konnte, deren chemische Qualität noch nicht näher bestimmt ist 
Diese Fettsäure wurde in Vaselin aufgefangen und mit Ammoniak fixiert, 
so zwar, daß in 100 Teilen 93 Teile Vaselin, 5 Teile Fettsäure, 1 Teil Am¬ 
moniak zum Fixieren ist; als Oeruchskorrigens wurde diesen 99 Teilen noch 
1 Teil Lavendelöl zugesetzt«. 

Es soll nach Salomon bakterizid wirken und sich mit Zusätzen gut 
mischen lassen. Auch die Epithelialisierung soll es befördern. Wegen der 
größeren Aufnahmefähigkeit des Lanolins rät Salomon, statt des Linovals 
ein Linolan herzustellen. Die bakterizide Eigenkraft des Präparates wird aus 
seiner guten Wirkung bei Furunkulosis etc. erschlossen. 

Literatur: Salomon, Linoval, eine neue Salbengrandlage mit bakterizider Eigenkraft. 
Med. Klinik, 1908, Nr. 19, pag. 1112. E. Ertj. 

Lipacidurie bedeutet die Ausscheidung flüchtiger Fettsäuren durch 
den Urin. Schon im normalen Harn finden sich ganz geringe Mengen dieser 
Säuren, mehr aber noch treten sie bei der freiwilligen Zersetzung und 
Gärung des Harns auf und in größeren Mengen kann man sie auch aus 
frischem normalen Harn durch Behandlung mit oxydierenden Substanzen 
(z. B. einem Gemisch von Kaliumbichromat mit Schwefelsäure) gewinnen 
(v. Jaksch). — In Krankheiten der verschiedensten Art hat man schon seit 
lange flüchtige Fettsäuren aus frischem Harn zum Teile in erheblichen 
Mengen dargestellt, und zwar namentlich Ameisensäure, Essigsäure und 
Buttersäure, in neuerer Zeit auch ß-Oxybuttersäure und nach älteren Angaben 
auch Valeriansäure (Frerichs), während die in der chemischen Reihe zwischen 
Essigsäure und Buttersäure stehende Propionsäure bisher nur in vergorenem 
diabetischen Harn gefunden worden ist (Klinger). 


Digitized by t^oooLe 



Lipacidurie. 


253 


Zum Nachweis dieser Säuren säuert man möglichst große Mengen 
frischen Urins stark mit Pbosphorsäure an, destilliert, solange das Destillat 
noch saure Reaktion zeigt. Das Destillat wird mit Barytwasser alkalisch ge¬ 
macht und nach Entfernung des überschüssigen Baryts durch Kohlensäure 
eingedampft, der Rückstand mit wenig Wasser aufgenommen, die Lösung 
in eine gewogene Platinschale filtriert, nachgewaschen, eingedampft, ge¬ 
trocknet und gewogen als Barytsalze der Fettsäuren (Thierfelder). Er kann 
dann nach Zusatz von Pbosphorsäure nochmals der Destillation unterworfen 
werden, solange eine sauer reagierende Flüssigkeit übergeht und diese dann mit 
den für die einzelnen Säuren geltenden Reaktionen geprüft worden. 

Die Menge der auf diese Weise aus normalem Harn zu erhaltenden 
Fettsäuren ist, wie gesagt, äußerst gering und wird verschieden angegeben. 
Sie beträgt nach v. Jaksch höchstens 8 mg in 24 Stunden, während sich 
nach vorgängiger Behandlung des Harns mit oxydierenden Substanzen 0 9 
bis 1*5 g aus der Tagesmenge gewinnen lassen, v. Rokitansky fand dagegen 
im normalen Harn schon über 5 cg. F. Blumenthal findet einen Wert, der 
0 24—0*48 Essigsäure entspricht. 

Im Hungerzustande fand F. Blumenthal nur minimale Spuren von 
Fettsäuren, dagegen neuerdings B. Molnär mit einer etwas veränderten Me¬ 
thodik verhältnismäßig hohe prozentuale Werte, die allerdings, da die 
24stündige Harnmenge beim Hunger herabgesetzt ist, die Gesamtmenge der 
ausgeschiedenen Fettsäuren wenig erhöhen. 

Die Krankheiten, bei denen flüchtige Fettsäuren im Harn auftreten, 
sind sehr verschiedener Natur. Nach v. Jaksch sollen sie sich in mehr als 
normaler Menge schon in jedem Fieberharn finden (febrile Lipacidurie), 
während F. Rosenfeld und F. Blumenthal angeben, daß ihre Ausscheidung 
im Fieber vermindert ist, teils weil ihre Verbrennung durch die erhöhte 
Temperatur gesteigert sei, teils wegen der geringen Nahrungsaufnahme im 
Fieber. Man fand ferner eine Vermehrung bei schweren, mit Zerstörungen 
des Parenchyms einhergehenden Erkrankungen der Leber, wie Cirrbosis, 
Karzinom, Cholelithiasis etc. (hepatogene Lipacidurie), insbesondere aber 
bei eitrigen und jauchigen Prozessen, auch bei Diabetes mellitus, bei letzterer 
Krankheit insbesondere Oxybuttersäure, welche außerdem, wenn auch seltener 
bei akuten Exanthemen (Scharlach, Masern) gefunden worden ist. Nach älteren 
Angaben soll im besonderen Ameisensäure bei Leukämie, Baldriansäure bei 
Typhus, Variola und akuter Leberatrophie im Harn zu finden sein. Butter¬ 
säure, welche schon Berzelius im Harn nachgewiesen hatte, will C. G. Leh¬ 
mann im gesunden wie kranken Harn, namentlich aber im Harn schwangerer 
Frauen gefunden haben, indessen ist hier wohl der Verdacht, daß es sich 
wenigstens zum Teil um Beimengungen von außen, namentlich von der Haut, 
dem Vaginalsekrete gehandelt haben könne, nicht zurückzuweisen. 

Die Entstehung der Lipacidurie bringt v. Jaksch in Zusammenhang 
mit der Zersetzung der Eiweißkörper im Organismus. Es ist wahrscheinlich, 
daß hierbei, ähnlich wie hei der Behandlung der Eiweißkörper mit Oxy¬ 
dationsmitteln außerhalb des Körpers, Azeton und Azetessigsäure nebst 
den oben genannten flüchtigen Fettsäuren sich bilden und daß sie normaler¬ 
weise bis auf Spuren, welche in den Harn übergehen, zu Kohlensäure oxy¬ 
diert und als solche ausgeschieden werden. Bei stärkerem Eiweißzerfall (wie 
z. B. im Fieber, bei Diabetes etc.) treten jene Spaltungsprodukte in größerer 
Menge im Blut und weiterhin auch im Harn auf. Aber auch Kohlehydrate 
und Fette könnten die Quelle für jene Säuren bilden hauptsächlich durch 
Zersetzungen, welche im Darmkanal bei der sogenannten »Darmfäulnis« 
unter dem Einfluß von Bakterien stattfinden, in geringem Maße schon in 
der Norm, in höheren Graden bei abnormen Verdauungsstörungen, durch 
welche es zu intestinalen Selbstvergiftungen (enterogene Autointoxikation, 


Digitized by 


Google 



254 


Lipacidurie. — Lipurie. 


H. Senator) mit Ausscheidung jener fluchtigen Zersetzungsprodukte kommt 
Als weitere Quelle kommen dann Zersetzungen von Blut, Eiter in anderen 
Höhlen oder Organen (auch wohl durch Autolyse in Betracht) und so könnte 
die Lipacidurie eine gewisse diagnostische Bedeutung haben, indem sie den 
Verdacht auf verborgene Zersetzangsherde lenkte. 

Literatur: F. Blumenthal, Pathologie des Harns. Berlin 1903, pag. 73 nnd Encyclop. 
Jahrbücher von Eulknburg, Neue Folge, 1909, VII, pag. 229. — F. Rosknfkld, Deutsche med. 
Wochenschr., 1903. — B. Molnär, Zeitschr. f. exp. Path. u. Ther., 1909, VII. H . Senator . 


Lipurie heißt die Ausscheidung von Fett oder fettähnlichen Körpern 
(Lipoiden) im Harn. Eine solche kommt vor zunächst bei der eigentümlichen, 
als Ohylurie bezeicbneten Krankheit, sodann unter verschiedenen anderen 
Bedingungen. Nur von diesen letzteren wird im folgenden gehandelt werden, 
da die erstere ihre anderweitige Besprechung gefunden hat. Übrigens lassen 
sich die in der Literatur unter dem einen oder anderen Namen beschrie¬ 
benen Fälle nicht alle streng auseinanderhalten. 

Von fetthaltigem Urin ist schon bei Hippokrates an verschiedenen 
Stellen der unter seinem Namen gehenden Werke und bei vielen späteren 
Schriftstellern die Rede, doch ist es durchaus nicht sicher, daß es sich bei 
dem so bezeichneten Urin immer um wirkliches Fett gehandelt habe und 
nicht vielmehr nur um fettig aussehenden Urin, welcher dieses Aussehen 
aber nicht wirklichem Fett, sondern anderen Bestandteilen und Ausschei¬ 
dungen verdankt. Namentlich können Ausscheidungen von Phosphaten dem 
Urin ein fettglänzendes Aussehen verleihen, wenn sie, wie nicht selten, zu¬ 
gleich mit Fäulnisbakterien und Vibrionen ein schillerndes, glitzerndes Häut¬ 
chen auf dem Urin bilden. Immerhin ist nicht zu bezweifeln, daß manche 
der schon von den ältesten Autoren als fetthaltig bezeichneten Urine in der 
Tat auch Fett enthalten haben, nur ist das Vorkommen derselben nicht so 
häufig, als nach jenen älteren Angaben scheinen könnte, und namentlich ein 
schon makroskopisch erkennbarerer Fettgehalt des Urins entschieden 
äußerst selten. Ein solcher Urin, der also etwa mit bloßem Auge erkenn¬ 
bares Fett in Tropfen oder festen Partikelchen enthält, muß deshalb zu¬ 
nächst immer den Verdacht erwecken, daß das Fett als Verunreinigung 
(durch beölte Katheter, durch Suppositorien, aus der Scheide oder dem 
Darm, aus unreinen Gefäßen) erst nachträglich hineingelangt sei. 

Der Nachweis des Fettes geschieht am einfachsten durch das Mikro 
skop, welches dasselbe in Form von mehr oder weniger feinen Tropfen und 
Tröpfchen teils frei in der Flüssigkeit schwimmend, teils in Formelementen 
(Zellen, Harnzylindern) eingeschlossen erkennen läßt. Nur in den aller¬ 
seltensten Fällen erscheint das Fett in so äußerst feinen punktförmigen 
Tröpfchen, daß die mikroskopische Besichtigung Zweifel läßt. In diesem 
Falle gelingt es noch durch Zusatz von Osmiumsäure (in l%iger Lösung), 
welche das Fett schwarz oder Alcannatinktur, Sudan, welche sie rot färben, 
die Zweifel zu lösen, oder man versucht das Fett durch Schütteln des Urins 
mit Äther oder Chloroform, Benzol etc. auszuziehen, bringt von diesem 
Auszug einen Tropfen auf Papier, welcher, falls Fett vorhanden ist. einen 
Fettfleck hinterläßt. Den Rest des ätherischen oder Chloroform- oder Benzol¬ 
auszuges läßt man auf einem Ubrschälchen verdunsten und untersucht den 
Rückstand mikroskopisch auf Fetttröpfchen oder Fettkristalle sowie durch 
den stechenden Akroleingeruch beim Verbrennen. Endlich könnte man behufs 
der genaueren Untersuchung, des etwaigen Nachweises bestimmter Fettarten 
und einer quantitativen Bestimmung eine größere Menge des fraglichen Urins 
entweder ohne weiteres oder nach vorgängigem Eindampfen das Fett mit 
Äther oder noch besser mit Benzin oder Schwefelkohlenstoff, Petroleuraäther, 


Digitized by 


Google 



Lipurie. 


255 


Chloroform ausziehen und die Auszüge weiter untersuchen, worüber auf die 
Lehrbücher der Chemie verwiesen wird. 

Die Fettmengen sind aber meistens so gering, daß eine genaue quan¬ 
titative Bestimmung fast niemals ausführbar ist und noch viel weniger eine 
Bestimmung der einzelnen Fettarten. Man muß annehmen, daß es sich im 
allgemeinen um dieselben Fettkörper handelt, welche im tierischen Organismus 
überhaupt Vorkommen, also um die Glyzeride der Margarin , Palmitin- und 
Oleinsäure. Wirklich nachgewiesen sind dieselben in einem Falle Ebsteins. 
wo das Fett aus einer verfetteten Geschwulst stammte. 

Außer eigentlichem Fett sollen sich bei Lipurie häufig noch andere' 
abnorme Bestandteile im Urin, verschieden Je nach den zugrunde liegenden 
Ursachen, finden, und zwar außer morphotischen Bestandteilen insbesondere 
Eiweiß, Blut oder Blutfarbstoff, Cholestearin, Lezithin und Zucker. 
Doch ist es zweifelhaft, ob es sich in den betreffenden Fällen nicht um 
Chylurie gehandelt hat. 

Was nun die Zustände anlangt, bei denen Fett im Urin gefunden wird, 
so soll schon im normalen Urin Fett vorhanden sein, und zwar nach Robin 
in einer Menge von 0*1—0*2 pro Mille, doch bedarf diese Angabe sehr der 
Bestätigung. (Über Fettsäuron s. Lipazidurie.) Im allgemeinen gilt es für 
ausgemacht, daß für gewöhnlich der normale Urin des Menschen entweder 
ganz frei von Fett ist oder nicht bestimmbare Spuren davon enthält. Bei 
Tieren (Hund, Katze) ist der anscheinend normale Urin öfters deutlich fett¬ 
haltig gefunden worden. 

Etwas sicherer sind die Angaben über Auftreten von Fett im Harn 
nach reichlicher Zufuhr von Fett mit der Nahrung oder als Arznei 
(Lebertran). Hierhergehörige Beobachtungen sind von Tiedemann und Gmelin, 
C. Lidwig, Cl. Bernakd, Lang, Roberts mitgeteilt worden. 

Ähnlich wie die Fettzufuhr zum Magen wirkt nach Lassar die Ein¬ 
verleibung des Fetts durch Einreiben der Haut und ferner, wie zahl¬ 
reiche Versuche (von Gluge und Thiernesse, Bergmann, Halm, Scriba, 
M. Wiener, Robert und Rassmann) beweisen, die Einspritzung von Öl 
in das Blut. 

Die pathologischen Zustände, bei welchen ein Übergang von Fett 
in den Urin stattfinden kann und tatsächlich auch beobachtet ist, lassen 
sich nach der Herkunft des Fettes in drei Gruppen scheiden, nämlich 1. in 
solche, bei denen ein abnormer Fettgehalt des Blutes (Lipämie, s. d.) die 
Ursache des Übertrittes ist (hämatogene Lipurie); 2. diejenigen, bei denen 
die Quelle des Fettes in örtlichen Veränderungen des uropoetischen Systems 
gelegen ist (lokal bedingte, renale oder vesikale Lipurie) und 3. die¬ 
jenigen, bei denen die beiden vorgenannten Ursachen Zusammenwirken (ge¬ 
mischte Lipurie). 

I. Zur ersten Gruppe (hämatogene Lipurie) gehören vor allem 
Knochenbrüche mit ausgedehnter Zerreißung des Marks, seltener die 
anderweitigen durch Entzündung etc. bedingten Erkrankungen desselben. 
Aus diesem gelangt das Fett in die Zirkulation, gibt zu Fettembolien und, 
wie durch zahlreiche Beobachter sichergestellt ist, auch zum Auftreten von 
Fett im Harn Anlaß, ganz entsprechend den vorher erwähnten experimen¬ 
tellen Erfahrungen über die Folgen von Öleinspritzungen ins Blut. Ferner 
kann vielleicht Fett in den Ham übergehen, bei Eklampsie der Wöch¬ 
nerinnen, wo, wie man annimrat (Virchow), Quetschung und Zerreißung des 
Fettgewebes im Becken stattfindet. Endlich würden sich hieran die weniger 
zahlreichen Fälle schließen, in denen durch Zerfall fettig entarteter 
oder fetthaltiger Geschwülste oder auch Organe Fett ins Blut und 
von hier in den Harn gelangt sein soll. Diese Fälle gehören meist der älteren 


Digitized by 


Google 



256 


Lipurie. 


Literatur an, lassen eine sorgfältige Untersuchung Ober die wirkliche Natur 
der für Fett gehaltenen Stoffe vermissen und sind deshalb nicht Qber Jeden 
Zweifel erhaben. 

Nicht viel besser steht es mit dem angeblichen Fettharn bei den ver¬ 
schiedensten konstitutionellen Krankheiten, namentlich Phthise, Fettsucht 
und Alkoholdyskrasie. Es scheint, daß die Autoren aus der bei diesen 
Krankheiten unzweifelhaft nicht selten vorhandenen Lip&mie, d. h. aus dem 
abnorm hohen Fettgehalt des Blutes auf das Vorkommen von Fett Im Urin 
geschlossen haben, oder aber es handelt sich um komplizierende Erkrankungen 
des uropoetischen Systems (Fettentartung der Nieren etc.), also um Fälle 
der Gruppe II. 

Erwähnt sei ferner eine ältere Angabe von Heinrich, welcher bei 
Geisteskranken unter 100 Fällen dreizehnmal Fett im Urin beobachtet 
haben will. Davon hatten aber 7 tuberkulöse Affektionen der Urogenital* 
apparate. In neuerer Zeit sind ähnliche Beobachtungen nicht mitgeteilt worden, 
wiewohl nach Jolly bei aufgeregten Geisteskranken Lipämie und Fett 
embolien Vorkommen. Und endlich mag noch auf einige ebenfalls ältere An¬ 
gaben von Fettniere bei Pankreaskrankheiten hingewiesen werden 
(vgl. Friedreich in v. Ziemssens Handbuch der speziellen Pathologie, VIII, 2). 
Wie es scheint, bestanden in allen diesen Fällen, deren Zahl sich mit den 
in bezug auf die Diagnose zweifelhaften auf nicht mehr als 4 beläuft Fett¬ 
stühle und es drängt sich der Verdacht auf, daß bei dem einen oder dem 
anderen Fall das Fett vielleicht von daher in den Urin gelangt sei. Nur in 
einem Falle von Bowditch scheint diese Möglichkeit ausgeschlossen. Jeden¬ 
falls bedarf das Vorkommen von Lipurie bei Pankreaskrankheiten noch 
weiterer Beobachtung. — Mit Sicherheit aber ist allerdings in sehr seltenen 
Fällen Lipurie bei Diabetes mellitus nachgewiesen worden (Neisser und 
Derlin, Frugoni und Marchetti) mit hochgradiger Lipämie, welche ia bei 
dieser Krankheit nicht allzu selten ist. 

II. Von den lokalen im uropoetischen System gelegenen Ur¬ 
sachen für Übergang von Fett oder Lipoiden in den Harn sind die häufigsten 
die verschiedenen, mit fettigem Zerfall der Epithelien und der anderweitigen 
Gewebselemente einhergehenden Krankheiten der Nieren, wie sie durch 
örtliche und allgemeine Ursachen (Dyskrasien, Infektionen, Intoxikationen, 
schwere Anämien) akut und chronisch Vorkommen; ferner Krankheiten 
der Harnwege (Blase etc.), namentlich wenn sie zu fettigem Zerfall von 
Eiterzellen, Geschwulstelementen u. dgl. führen; endlich ähnliche Affektionen 
der Nachbarorgane, wenn dadurch fettig entartete Elemente in die Harn¬ 
wege gelangen (alte Abszesse etc.). In der größten Mehrzahl dieser Fälle 
ist die Beimengung von Fett (Lipoiden) zum Harn nur gering, auch sind 
diese meistens in den morphotischen Bestandteilen, aus deren Zerfall sie 
hervorgegangen sind (Zellen, Zylinder), eingeschlossen und setzen sich mit 
diesen als Sediment ab, so daß der Urin gewöhnlich kein fettiges Aussehen 
darbietet. Man begreift daher in der Regel diese Fälle nicht mit in die 
Lipurie ein. Ausnahmsweise können jedoch auf diesem Wege, d. h. aus einer 
in Verfettung begriffenen Geschwulst, auch größere Fettmengen, die sich als 
solche schon für das unbewaffnete Auge kenntlich machen, in den Urin ge¬ 
langen, wie es z. B. in dem erwähnten interessanten Fall von Ebstein ge¬ 
schah, bei welchem der Urin längere Zeit neben Blut Fett in großen, an 
der Luft zu Drüsen erstarrenden Tropfen enthielt. Dasselbe entstammte 
höchstwahrscheinlich einer vom Nierenbecken ausgehenden oder mit dem¬ 
selben in freier Verbindung stehenden Geschwulst. 

III. Zur dritten Gruppe der gemischten Lipurie wären diejenigen 
Fälle zu rechnen, in denen abnormer Fettgehalt des Blutes, Lipämie und 
Verfettung innerhalb des uropoetischen Systems, insbesondere der Nieren, 


Digitized by 


Google 



Lipurie. 


257 


nebeneinander bestehen, sei es, weil sie durch dieselbe Ursache bedingt sind, 
sei es, weil die eine die andere nach sich zieht. Hierher gehören namentlich 
gewisse Vergiftungen, welche eine allgemeine Verfettung und dabei auch 
eine solche der Nieren herbeiföbren (Phosphor, Kohlenoxyd, Terpentinöl etc.), 
sowie vielleicht auch manche akute und chronische Krankheiten (Phthisis, 
Alkoholdyskrasie), welche zu Lipämie und zu Nephritis mit fettiger Ent¬ 
artung des Epithels führen. Meistens ist auch hierbei der Fettgehalt ein 
ganz geringer, höchstens mikroskopisch erkennbarer, also keine eigentliche 
Lipurie im engeren Sinne. Zuweilen kommt es jedoch zu einer solchen, wie 
z. B. in einem von Ermann beschriebenen Fall von Phosphorvergiftung. 

Es liegt übrigens auf der Hand, daß die Fälle dieser Gruppe sich 
nicht immer ganz streng von denjenigen der beiden anderen Gruppen trennen 
lassen. 

Die Unterscheidung der Lipurie von der Chylurie bietet im 
allgemeinen keine Schwierigkeiten und kann meistens schon nach der makro¬ 
skopischen Beschaffenheit des Urins gemacht werden, da bei der letzteren 
der Urin ein milchiges, einer Emulsion ähnliches Aussehen hat, während bei 
jener das Fett in Tropfen oder nach dem Erkalten an der Luft in mehr 
oder weniger festen talgartigen Massen erscheint. Bei der Chylurie pflegt 
der Urin nach einiger Zeit eine Art Gerinnung zu zeigen, was bei der 
Lipurie nicht gewöhnlich ist. 

Als weitere Unterscheidungsmittel dienen das mikroskopische und 
chemische Verhalten, vor allem bei der parasitären Chylurie das Vor¬ 
handensein von Filarien. Wichtig ist ferner, daß bei der Chylurie (auch 
der nicht parasitären) keine Harnzylinder im Urin Vorkommen und keine 
Nierenepithelien trotz des nie fehlenden Eiweißgehaltes. Der Befund dieser 
morphotischen Bestandteile spricht deshalb gegen Chylurie oder es müßte 
sich um eine bisher noch nicht beobachtete Komplikation von Chylurie mit 
Nierenaffektionen handeln. Gegen Chylurie spricht ferner die Abwesenheit 
von Eiweiß, während die Anwesenheit desselben nichts für die eine oder 
andere Affektion beweist. Zucker im Urin würde ebenfalls gegen Chylurie 
sprechen, bei welcher er nicht vorkommt, während, wie oben erwähnt, bei 
Diabetikern zuweilen fetthaltiger Urin Vorkommen soll. 

Eine besondere Behandlung erfordert die Lipurie nicht, da sie immer 
nur ein Symptom anderweitiger Affektionen bildet und der Fettverlust für 
sich allein wohl niemals so groß wird, daß durch ihn eine Gefahr entsteht. 

Literatur: Die gesamte Literatur bis zum Jahre 1884 findet sich in seltener Voll¬ 
ständigkeit bei F. Monvenoux, Les matiörea grasses dans l’nrine. Paris 1884, 2 Bde. — S. 
ferner: Sehrwau> im klinischen Handbuch der Harn- und Sexualorgane von Zülzer-Obbb* 
lIndkb, 1894, I, pag. 431. — Nkisser und Derlin, Zeitschr. f. klin. Med., 1904, LI. — Frü- 
goni und Makchetti, Berliuer klin. Wochensclir., 1908, Nr. 41. H. Senator. 


Eucydop. Jahrbücher. N. F. VIII. (XVII.) 


Digitized by Go< 



M. 


Makrobiose heißt ein neues Nährmittel von hellbrauner Farbe, 
in welchem makroskopisch gröbere, gelblichweiße Klümpchen zu sehen sind. 
Es riecht nach Kakao und hat einen faden, etwas salzigen Geschmack. 
Nach Nerking enthält es: »Wasser 13*16%, Mineralbestandteile (Asche) 
6*37%, Fett 9*51°/o, darin Lezithin 1*42%, Eiweiß 43*43%, Gesamtkohle¬ 
hydrate 27*52%, davon löslich 12*25%. In der Asche fanden sich: in heißem 
Wasser lösliche Bestandteile 21*00%, unlösliche 79*00%- Di© Asche erwies 
sich zusammengesetzt aus: Phosphorsäure (P a O ö ) 2*26%, Kalziumoxyd 2*52° 0 , 
Magnesiumoxyd 0*58%, Eisenoxyd 0*24%. Chlornatrium 0*54%, Natriumoxyd 
als Phosphat 0*12%, Kohlendioxyd 0*06%.« 

Die bakteriologische Prüfung ergab, daß das Präparat frei von patho 
genen Keimen war und nur ein großes, plumpes, sporenbildendes, unbeweg¬ 
liches Stäbchen aus der Gruppe der Buttersäurebazillen und ein schlankes, 
bewegliches Stäbchen, wohl Bacillus proteus vulgaris, enthielt. 

Die klinische Prüfung an schlecht genährten Kindern (19—22 Monate) 
ergab eine gute Gewichtszunahme und Entwicklung der Kinder. Sie erhielten 
3mal täglich einen Eßlöffel in Milch oder Wasser angerübrt oder aufgekocht 
und mit etwas Zucker versetzt. 

Bei einem jungen Manne von 12 Jahren wurde die Ausnutzung des 
Präparates durch N-Bestimmung in Kot und Harn festgestellt. Sie war bei 
80 g täglich eine gute. 

Literatur: Nerking, Über »Makrobiose«, ein neues Nährmittel. Med. Klinik, 1909 t 
Nr. 4, pag. 135. E. Erej. 




Maltosurie» Der Malzzucker (C ia , H aa , O n + H a 0) bildet ein sehr 
seltenes Vorkommnis im Harn. Es liegen darüber Beobachtungen von 
Le Nobel, van Ackeren, Wedenski, Löpine und Boulud, Rosenheim und Flatow 
vor, doch sind nicht alle diese Fälle einwandfrei. Die Maltose ist ein Abbau¬ 
produkt der Stärke, das im intermediären Stoffwechsel sofort weiter ge¬ 
spalten zu werden pflegt. Sie ist in kleinen Mengen im Blut, in der Leber und 
anderen Organen zuweilen gefunden worden. Die wichtigste Bildung ist die¬ 
jenige durch enzymatische Spaltung der Stärke. Malzdiastase, Speichel oder 
Pankreassaft erzeugen aus ihr durch Hydrolyse die Maltose, auch aus Gly¬ 
kogen kann sie so entstehen. Im Harn ist sie beobachtet worden meist nur 
als Begleiterscheinung des Traubenzuckers, zuweilen auch allein. Man hat 
ihr Auftreten im Harn mit Pankreaserkrankung in Beziehung gebracht, doch 
ist das keineswegs sicher. Die Maltose ist von der Glykose im Harn schwer 
zu unterscheiden, da sie nicht nur die bekannten Zuckerreduktionsproben 
positiv ausfallen läßt, sondern mit Phenylhydrazin ein Osazon von fast 


Digitized by 


Google 



Maltosurie. — Minderwertigkeit. 


259 


gleichem Schmelzpunkt (nämlich 207°) liefert; ferner mit Hefe auch ver¬ 
gärt und die Ebene des polarisierten Lichtes nach rechts dreht. Die einzig 
sichere Unterscheidung gibt die Bestimmung des Stickstoffgehalts im Osazon, 
das für Maltose etwa 10%, für CHykose 15% beträgt. Ferner hat C. Neuberg 
gefunden, daß das Maltosazon in Pyridin — Alkohol rechts, das Glykosazon 
dagegen links dreht. A/bu. 


Medinal* Unter dem Namen Medinal wurde von Steinitz ein wasser¬ 
lösliches Mononatriumsalz der Diäthyl-Barbitursäure, d. b. des Veronals in 
den Handel gebracht. Das Salz hat nach Fischer folgende Formeln: 


c s 

c. 


/CO— N<^ 
R/Kco—NH / lu 


H, 


Es ist ein weißes, kristallinisches Pulver von geringem bitteren und 
schwach alkalischem Geschmack. Es löst sich in kaltem Wasser (20°) im 
Verhältnis von 1 : 5, gegenüber der Löslichkeit des Veronals 1 : 145. Es ist 
zweifellos, daß gute Wasserlöslichkeit für jedes Medikament einen Vorzug 
bedeutet, und ganz besonders für Schlafmittel, bei denen eine rasche Auf¬ 
nahme doppelt wünschenswert ist. Das Medinal wird in Tabletten von 0'5 
oder Pulverform in den Handel gebracht und in einem Viertelglas Wasser 
gelöst genommen. Läßt man es in Pulverform nehmen, so ist dafür zu 
sorgen, daß der Magen säurefrei ist, da dann die Lösung auch im Magen 
prompt erfolgt. Es ist deshalb als Vorschrift empfohlen worden, das Pulver 
3—4 Stunden nach einer nicht zu reichlich bemessenen Mahlzeit zu nehmen. 

Schneller noch wirkt es bei rektaler Applikation in zirka 5 cm 3 Wasser 
gelöst. Die Löslichkeit des Medinals erlaubt auch die subkutane Anwendung 
desselben. Steinitz injizierte in der Regel 5 cm z einer 10%igoö Lösung unter 
die Brusthaut und verteilte nachher die Flüssigkeit durch Massage. Eigentüm¬ 
licherweise trat die Wirkung danach nicht schneller auf, wie erwartet, sondern 
nur um vieles intensiver. Ebstein bestätigt diese Erfahrung bezüglich der 
verschiedenen Anwendungsweisen. Peretti, welcher das Medinal bei 42 Geistes 
kranken anwandte, fand, daß die schlafmachende Wirkung etwas schneller 
als bei Veronal eintrat; rasche Angewöhnung an das Mittel, kumulative 
Wirkung und unangehme Nebenerscheinungen wurden nicht beobachtet. 

Literatur: Ebstein, Münchener med. Wochensehr., 1909, Nr. 3. — Pkretti, Med. 
Klinik, 1909, Nr. 27. — Steinitz, Therapie der Gegenwart, Juli 1908. ZueJzer. 


Minderwertigkeit, geistige Minderwertigkeit, verminderte 
Zurechnungsfähigkeit. Unter dem Begriff der Minderwertigkeitodergeistigen 
Minderwerdigkeit werden alle die Zustände geistiger Abnormität zusammen¬ 
gefaßt, welche auf der Grenze zwischen geistiger Gesundheit und Geistes¬ 
krankheit stehen, also weder als geistige Gesundheit, noch als Geisteskrank¬ 
heit bezeichnet werden können. Man spricht daher auch von Grenz- oder 
Zwischenzuständen. 

Die Abgrenzung des Begriffs der Minderwertigkeit oder geistigen 
Minderwertigkeit bietet insofern Schwierigkeiten, als die Übergänge von 
der geistigen Gesundheit zur geistigen Minderwertigkeit und von ihr zur 
Geisteskrankheit fließende sind und es bis zu einem gewissen Grade der 
Willkür, dem subjektiven Ermessen des Einzelnen, überlassen bleiben muß, 
wo er die unterscheidende Linie zwischen geistiger Gesundheit oder zwischen 
Geisteskrankheit einerseits und zwischen geistiger Minderwertigkeit andrer¬ 
seits ziehen will. Gewöhnt man sich aber daran, von geistiger Minderwertig¬ 
keit nur dann zu sprechen, wenn man in dem Seelenleben eines Menschen 
eine Summe von Elementen nachweisen kann, die nach den herrschenden 

Digitized by j0O< 



260 


Minderwertigkeit. 


Anschauungen in der Psychiatrie unbetritten ais pathologisch anzusehen 
sind und welche die Annahme rechtfertigen, daß eine Form der ihrem 
klinischen Bilde nach bekannten und diagnostizierbaren Grenzzustände vor- 
liegt, so wird es gelingen, sich einen ziemlich fest umgrenzten Begriff von 
der geistigen Minderwertigkeit zu bilden, der für die Praxis brauchbar und 
für den ärztlichen Sachverständigen auch vor Gericht verwertbar ist. 

Der Begriff »Minderwertigkeit« oder »geistige Minderwertig¬ 
keit« ist dann zunächst ein rein medizinischer und bringt das Bestehen einer 
Geistesbeschaffenheit zum Ausdruck, welche gegenüber der Geistesbeschaffen¬ 
heit des gesunden Durchschnittsmenschen infolge von Einflüssen pathologischer 
Art qualitativ oder quantitativ minder wert, d. h. in ungünstigem Sinne 
verändert ist, ohne doch die Grenze der echten, ausgesprochenen Geistes 
krankheit bereits zu erreichen. In dieser Definition ist der Hinweis, daß es 
pathologische Einflüsse sind, welche bei der Entstehung der geistigen 
Minderwertigkeit bestimmend mitwirken, von grundsätzlicher Bedeutung, 
weil hierdurch die Abgrenzung der geistig Minderwertigen von einer anderen 
Kategorie von Menschen, von den gewöhnlichen Rechtsbrechern möglich 
wird, die mit den geistig Minderwertigen die Neigung zur Begebung anti- 
sozialer Handlungen gemeinsam haben, sich von ihnen aber dadurch unter¬ 
scheiden, daß ihrer geistigen Beschaffenheit die pathologische Grundlage 
fehlt. Sowohl dem geistig Minderwertigen, wie dem gewöhnlichen Verbrecher 
ist das nicht genügend oder gar nicht vorhandene soziale Empfinden und 
das Unvermögen, sich in der Gefühlsbetonung seines Vorstellungslebens der 
sozialen Allgemeinheit anzupassen, eigentümlich. Die Ursachen dieser in ihrer 
Wirkung gleichen Eigentümlichkeit aber sind verschieden. Bei dem geistig 
Minderwertigen sind sie in seiner von der Norm abweichenden und klinisch 
als pathologisch nachweisbaren Geistesbeschaffenheit zu suchen, bei dem 
gewöhnlichen Rechtsbrecher liegen sie in sogenannten Charakterfehlern, die 
zurückzuführen sind auf den Mangel einer geordneten Erziehung, auf 
schlechtes Beispiel, auf den Verlust der Fähigkeit, sich durch genügend 
starke Gefühlsbetonung der gegensätzlich auftreteuden Motive von der Be¬ 
gehung antisozialer Handlungen abhalten zu lassen, u. a. m. 

Freilich darf dabei nicht übersehen werden, daß die hier gegebene Um¬ 
grenzung des Begriffs der geistigen Minderwertigkeit in erster Linie den 
Bedürfnissen der Praxis Rechnung trägt, dagegen vom Standpunkt des 
naturwissenschaftlichen Denkens nicht völlig befriedigt. Wenn man mit Hochb 
die aus Anlagen und Erlebnissen resultierende individuelle geistige Be 
schaffenheit, im besonderen die Art der Reaktion auf die Eindrücke der 
Außenwelt als den »Charakter« eines Menschen bezeichnet, so sind die so¬ 
genannten Charakterfehler, welche neben äußeren Einflüssen den Menschen 
gewöhnlich zum Rechtsbrecher machen, ebenso wie die als pathologisch be- 
zeichneten Abweichungen von der Norm in dem Geisteszustand des geistig 
Minderwertigen bedingt durch die individuell spezifische Konstruktion des 
Gehirns und seine funktionellen Eigentümlichkeiten. Ein prinzipieller Unter¬ 
schied besteht dann zwischen beiden Kategorien nicht und man kann mit 
einem gewissen Recht auch den infolge von Charakterfehlern zum Rechts¬ 
brecher gewordenen Menschen im weiteren Sinne als geistig minderwertig 
bezeichnen, weil die eigentümliche Funktion seines Gehirns, die ihn zum 
Verbrechen geführt hat, von der Norm abweicht, also wenn man will, eben¬ 
falls pathologisch bedingt ist. 

Die Neigung der geistig Minderwertigen zu antisozialen, vom 
Strafgesetz mit Strafe belegten Handlungen hat zur Folge, daß auch 
von ihnen viele zu Rechtsbrechern werden. Wie groß die Zahl der geistig 
Minderwertigen überhaupt ist, läßt sich in absoluten Zahlen nicht angeben, da 
eine Statistik hierüber fehlt und auch schwer aufzustellen ist. Indessen be- 


Digitized by 


Google 



Minderwertigkeit 


261 


rechtigen die Erfahrungen vieler Psychiater, so z. B. von Bonnhöffer, Rai- 
mann und Gramer, zu der Annahme, daß ihre Zahl eine sehr große ist. 
Crambr fand unter 1000 Studierenden der Universität Göttingen, welche 
ihn in seiner Sprechstunde konsultierten, 80 Studierende im Jahr, die an 
Grenzzuständen litten. Berücksichtigt man, daß es sicher nicht alle geistig 
Minderwertigen unter den Studierenden Göttingens waren, die Cramer auf 
suchten, so ergibt sich, daß ihr Prozentsatz noch höher angenommen werden 
muß, als er in diesen Ziffern zum Ausdruck kommt. Dagegen war der Prozent¬ 
satz dieser geistig minderwertigen Studenten, der sich antisoziale, strafbare 
Handlungen zu Schulden kommen ließ, nur ein verschwindend kleiner. Von 
den 80 minderwertigen Studenten wurde höchstens einer im Laufe von drei 
Semestern kriminell. Hieraus die Annahme herleiten zu wollen, daß die geistig 
Minderwertigen überhaupt nur in geringer Zahl kriminell werden, wäre natür¬ 
lich ein Irrtum, wie ein Vergleich mit der Kriminalität einer anderen Klasse 
von geistig Minderwertigen mit den geistig minderwertigen Fürsorgezög¬ 
lingen ergibt. Unter den von Gramer untersuchten Pfleglingen, welche an 
Orenzzuständen litten, war nicht ein einziger, der nicht zugleich auch kri¬ 
minell geworden war. Dieser Unterschied in der Häufigkeit der Kriminalität 
erklärt sich sehr einfach durch die verschiedenen sozialen und Wirtschaft 
liehen Verhältnisse der beiden untersuchten Klassen von geistig Minder¬ 
wertigen und zeigt uns, daß das Milieu, die Umgebung, in der ein Mensch 
groß wird und lebt, für das Zustandekommen der Kriminalität auch bei 
den geistig Minderwertigen eine ausschlaggebende Rolle spielt. Es ist daher 
nicht angängig, die geistig Minderwertigen schlechthin als die geborenen Ver¬ 
brecher zu bezeichnen, denn ein großer Teil von ihnen kommt niemals mit 
dem Strafgesetz in Kollision. Diese Tatsache ist für die Beurteilung der 
Gemeingefährlichkeit geistig Minderwertiger von Bedeutung. 

Die Klinik der Grenzzustände setzt sich aus einer Reihe von ver¬ 
schiedenen, teils angeborenen, teils erworbenen Krankheitszuständen zusammen, 
deren wesentliche Merkmale in einer mäßigen quantitativen Abschwächung 
oder leichten qualitativen Änderung der geistigen Beschaffenheit, in psychisch 
abnormen Zuständen liegt, die sich nicht oder noch nicht bis zur ausge¬ 
sprochenen Geisteskrankheit entwickelt haben. Zu den hier in Betracht 
kommenden Krankheitsgruppen gehören die verschiedenen Neurosen, die 
Epilepsie, die Hysterie, unter Umständen auch die Neurasthenie, die ange¬ 
borene psychopathische Konstitution oder Entartung, die Intervalle der 
periodischen Geistesstörungen, jene Zustände geistiger Minderwertigkeit, die 
durch bestimmte Schädlichkeiten traumatischer und toxischer Natur erworben 
werden, wie die psychischen Veränderungen nach Kopfverletzungen, mindere 
Grade des chronischen Alkoholismus, des Morphinismus und Kokainismus, 
ferner die beginnenden organischen Gehirnerkrankungen und die schwer er¬ 
kennbaren Anfangsstadien mancher echten Geisteskrankheiten, die arterio¬ 
sklerotische Atrophie, die senile Seelenstörung, die Hirnsyphilis, die pro¬ 
gressive Paralyse, leichte melancholische und hypomanische Zustände, das 
Vorstadium der Paranoia, und endlich die leichteren Grade des Schwach¬ 
sinns, sowie das Gebrechen der Taubstummheit, sofern es mit geistiger 
Minderwertigkeit verbunden ist. 

Bei vielen dieser Grenzzustände sind eine Reihe allgemeiner Eigen¬ 
tümlichkeiten zu beobachten, die von den Laien gewöhnlich nicht für krank¬ 
haft gehalten, sondern als Verschrobenheiten, Wankelmut, Energielosigkeit. 
Leichtsinn, Verlogenheit, Schlechtigkeit, Charakter- und Ehrlosigkeit ange 
sehen werden. Wenn man solche Individuen dann psychiatrisch untersucht, so 
stellt sich heraus, daß der formale Ablauf ihrer psychischen Funktionen und 
der Inhalt ihrer Vorstellungen durch krankhafte Elemente beeinflußt wird. 
Gewisse Umstände, die den »normalen« Menschen nicht abnorm beeinflussen, 


Digitized by 


Google 



262 


Minderwertigkeit. 


wirken auf sie in besonderer Weise, so vor allem der Alkohol, der Affekt 
und namentlich die Kombination beider Schädlichkeiten; ferner Traumen, 
die mit Hirnerschütterungen verbunden sind, sexuelle Exzesse und beim 
weiblichen Geschlecht die an sich durchaus normalen Zustände, die mit dem 
Fortpflanzungsgeschäft verknüpft sind, die Menstruation, die Schwanger¬ 
schaft, die Geburt, das Wochenbett und das Klimakterium. Die Reizbarkeit 
solcher Personen ist oft eine sehr große, so daß die Affekte mit ihren An* 
lassen in keinem Verhältnis stehen und schon durch kleine Veranlassungen 
abnorm starke Reaktionen ausgelost werden. Die Stimmung ist häufigen 
grundlosen Schwankungen unterworfen, das Handeln ist inkonsequent, vieles 
wird angefangen, aber alles bleibt unvollendet, bei jeder Arbeit tritt leicht 
Ermüdung ein. Dabei ist die Phantasie oft sehr lebhaft, das Erinnerungs¬ 
vermögen unzuverlässig und das Hervortreten der egoistischen Antriebe 
sehr stark, ln dem Urteil und den Entschließungen erhalten impulsive An¬ 
triebe und Geföhlsstimmungsn den Vorzug, während die Bildung gegen¬ 
sätzlicher Motive zu Ungunsten von Moral und Recht nicht voll zur Geltung 
kommt. Häufig bestehen auch Zwangsvorstellungen, Verkehrungen der nor¬ 
malen Gemeingefühle oder ausgesprochene Defekte auf intellektuellem oder 
ethischem Gebiet. Von nervösen Störungen finden sich Neigung zu Krampf 
anfällen, Störungen in dem Ablauf der Reflexe, Sensibilitäts- und Motilitäts¬ 
störungen, Parästhesien, Hyperästhesien, Tremor, abnorme vasomotorische 
Erregbarkeit, Lähmungen usw. Mitunter sind auch eine Reihe körperlicher 
Abweichungen vorhanden, die als sogenannte »Entartungszeichen« be¬ 
kannt sind: allerlei Asymmetrien und Abweichungen des Schädels von seiner 
normalen Form, die mit einem gewissen Recht auf Besonderheiten der Ge¬ 
hirnentwicklung zurückzuführen sind, fliehende Stirn, Prognatie, abgeflachtes 
Hinterhaupt, steiler Gaumen ; andere Entwicklungsstörungen und Mißbildungen, 
wie Unterschiede in der Brechung beider Augen, Zahn verbild ungen, über¬ 
zählige Finger und Zehen, Anomalien im Rachen, morphologische Eigentüm- 
lichkeiten in der Ohrbildung, angewachsene Ohrläppchen, sogenanntes Mokel- 
sches Ohr, Ungleichheiten der Pupillen oder der Irisfärbungen, bisweilen zu¬ 
sammen mit Iriskolobom, Anomalien des Augenhintergrundes, angeborener 
Nystagmus, Sprachstörungen, lokale Entwicklungshemmungen an den Ge¬ 
schlechtsorganen, mangelhafte Entwicklung der in der Pubertät auftretenden 
Behaarung, abnorme Behaarungen und Pigmentierungen, Bestehenbleiben 
embryonaler Zustände usw. Es ist aber für die Bewertung dieser körper¬ 
lichen Entartungszeichen zu beachten, daß sie allein, selbst wenn sie in ge 
häufter Zahl Vorkommen, niemals genügen, um ihren Träger zu den geistig 
Minderweitigen zu rechnen. 

Alle die erwähnten psychischen Eigentümlichkeiten, die sich im geringeren 
Grade auch bei dem »normalen Menschen« zeigen und in ihm die intellek¬ 
tuellen und gemütlichen Vorgänge in einem individuell schwankenden Grade 
beeinflussen, ohne sein Handeln aber bereits in krankhafter Weise zu ver¬ 
ändern, können diesen Grad der Einwirkung bei den geistig Minderwer 
tigen erreichen, wenn auch hier dasselbe gilt, was schon von den körper¬ 
lichen Entartungszeichen gesagt worden ist, nämlich daß einzelne der 
genannten Erscheinungen nicht genügen, um die Annahme einer geistigen 
Minderwertigkeit zu begründen, sondern daß hierzu diese Krankheitszeichen 
in ausgeprägter Weise und in größerer Zahl vorhanden sein müssen. Wäh¬ 
rend die psychischen Qualitäten des geistig Minderwertigen in der gleich¬ 
mäßigen Ruhe des Alltaglebens ausreichen, um sein Handeln den allgemein 
gültigen Normen anzupassen, können ungewöhnliche, dem Alltagsgetriebe 
fremde Ereignisse und Situationen ihn ratlos machen und ihn infolge von 
Einflüssen, welche den eben erwähnten Eigentümlichkeiten entspringen, zu 
Handlungen veranlassen, die als Folgewirkung dieser Eigentümlichkeiten 


Digitized by 


Google 



Minderwertigkeit, 


263 


anzusehen und daher krankhaft bedingt sind. Dabei kann die Art, wie sich 
diese Eigentümlichkeiten in seinen Handlangen Geltung verschaffen, eine 
sehr verschiedene sein. Der Schwachsinnige gerät durch seine große Empfind¬ 
lichkeit gegen den Alkohol in Zustände, in denen sein Bewußtsein getrübt 
ist, dem Entarteten raubt seine Unfähigkeit, starken Affekten den nötigen 
Widerstand entgegenzusetzen, die Besonnenheit, bei Frauen von psycho¬ 
pathischer Konstitution treten infolge von Menstruation, Schwangerschaft, 
Klimakterium spontan abnorme Gefühlsbetonungen auf, der Schwachsinnige 
leichten Grades, der sich trotz seiner intellektuellen Mängel im gewöhnlichen 
Leben, wo ihm genügend Zeit zur Urteilsbildung und Entschlußfassung zu 
Gebote steht, oft noch recht gut zurechtfindet, kommt infolge seiner geistigen 
Schwerfälligkeit und der Unfähigkeit, seine Verstandeskräfte im geeigneten 
Moment entsprechend schnell und prompt mobil zu machen, zu unzweck¬ 
mäßigen und antisozialen Handlungen, wenn er sich plötzlich und unver¬ 
mutet in eine Lage versetzt sieht, die rasches und entscheidendes Handeln 
erfordert. Das Wichtige und für die geistig Minderwertigen Charakteristische 
aller dieser Fälle ist die labile Gleichgewichtslage ihres Geisteszustandes, 
die nicht ohne weiteres als Geisteskrankheit bezeichnet werden, die aber 
jederzeit durch Einflüsse gestört werden kann, welche beim normalen Men¬ 
schen diese Wirkung nicht haben. Sie ist die Ursache, daß ein geistig 
Minderwertiger durch plötzlich wirksam werdende innere oder äußere Schäd¬ 
lichkeiten von der Schwelle der Geisteskrankheit vorübergehend in einen 
Zustand ausgesprochener geistiger Störung gelangen kann. Natürlich sind 
die Aussichten für die Überschreitung dieser Schwelle um so größer, je 
näher Ihr der Grenzzustand liegt und je‘gehäufter die schädlichen Einflüsse 
auftreten, so daß durch vorübergehende Einwirkung der gleichen Schädlich¬ 
keit bei einem nur wenig von der Norm entfernten Grenzzustand die 
Grenze zur Geisteskrankheit noch nicht überschritten zu werden braucht, 
während sie bei einem stärkeren Grade abnormer Geistesbeschaffenheit be¬ 
reits erreicht werden kann. 

Die rechtliche Beurteilung der Grenzzustände nach dem gel¬ 
tenden Deutschen Recht macht insofern Schwierigkeiten, als weder das 
Strafgesetzbuch noch das bürgerliche Gesetzbuch irgendwelche Bestim¬ 
mungen enthält, die sich mit den geistig Minderwertigen beschäftigen. 

Das Deutsche Strafgesetzbuch setzt von jedem erwachsenen Menschen 
voraus, daß er zurechnungsfähig ist, d. h. daß er für eine durch das Straf¬ 
gesetz mit Strafe bedrohte Handlung zur Verantwortung gezogen werden 
kann, es sei denn, daß bei ihm ein Strafausschließungsgrund vorliegt. Als 
solcher wird nach dem § 51 des St.-G«-B. ein Zustand von Bewußtlosigkeit 
oder krankhafter Störung der Geistestätigkeit angesehen, durch welchen bei 
Begehung der strafbaren Handlung die freie Willensbestimmung des Täters 
ausgeschlossen war. Das Gesetz kennt also nach seinem klaren Wortlaut 
nur zwei Möglichkeiten, geistige Gesundheit, welche Zurechnungsfähigkeit 
voraussetzt, und geistige Krankheit, welche Unzurechnungsfähigkeit bedingt, 
insofern unter Geisteskrankheit der Rechtsbegriff eines die freie Willens¬ 
bestimmung ausschließenden Zustandes krankhafter Störung der Geistes¬ 
tätigkeit verstanden wird. Nicht jede geistige Anomalie läßt es somit als 
Strafausschließungsgrund gelten, sondern nur eine bestimmte Höhe der 
geistigen Krankheit, ein gewisses Quantum psychischer Störungen. Es zieht 
zwischen diesem Begriff und der geistigen Gesundheit aber eine scharfe 
Grenze und berücksichtigt dabei nicht, daß die Medizin eine solche scharfe 
Trennung nicht kennt, und daß zwischen geistiger Krankheit und Gesund¬ 
heit die große Gruppe der Grenzzustände liegt. Mit dieser Tatsache hat 
sich der ärztliche Sachverständige zur Zeit vor Gericht abzufinden, mag er 
noch so sehr von der Unzulänglichkeit der bestehenden Gesetze überzeugt 


Digitized by 


Google 



264 


Minderwertigkeit. 


sein and noch so sehr die Bestrebungen als gerechtfertigt anerkennen, welche 
eine Änderung dieser gesetzlichen Bestimmungen verlangen. Solange besondere 
Bestimmungen über die Beurteilung der geistig Minderwertigen in der Straf¬ 
gesetzgebung fehlen, handelt er inkorrekt und bringt den Richter, der an 
das geltende Recht gebunden ist, in Verlegenheit, wenn er in seinem Gut¬ 
achten mit Begriffen wie »geistige Minderwertigkeit« u. a. operiert, ohne 
sich darüber auszulassen, ob dieser Zustand im Sinne des §51 St.-G.-B. 
als geistige Krankheit oder Gesundheit anzusehen ist. Auch bei der recht¬ 
lichen Beurteilung der Grenzzustände wird er zunächst immer den Versuch 
machen müssen, den geistig Minderwertigen diesseits oder jenseits der vom 
Gesetz gezogenen Grenze der Zurechnungsfähigkeit unterzubringen. Gelingt 
dieses nicht, so bleibt nichts weiter übrig, als ein »non liquet« auszu- 
sprecben und dem Richter allein die Entscheidung zu überlassen. Ohne 
Zweifel liegt in den schroffen Bestimmungen des geltenden Strafrechtes, die 
den Sachverständigen zwingen, Menschen rechtlich wie geistig Kranke oder 
Gesunde zu beurteilen, die nach medizinischen Begriffen weder wirkliche 
Geisteskranke, noch geistig vollwertige Individuen sind, den geistig Minder¬ 
wertigen gegenüber eine große Härte, welche praktisch nur dadurch etwas 
gemildert wird, daß der Richter bei manchen Delikten mildernde Umstände 
zubilligen oder als Ersatz für sie vereinzelt auch den Fahrlässigkeitspara- 
grapben anwenden kann und bei der Strafzumessung einen ziemlich breiten 
Spielraum hat. Auch ist nach einem Urteil des Reichsgerichtes vom 23. Oktober 
1890 zugunsten eines Angeklagten zu entscheiden, wenn berechtigte Zweifel 
an seiner Zurechnungsfähigkeit bestehen. Endlich bleibt es dem Sachver¬ 
ständigen unbenommen, in seinen? Gutachten in hypothetischer Form zuin 
Ausdruck zu bringen, daß ein Individuum zwar nicht im Sinne des § 51 
St.-G.-B. geisteskrank sei, daß es aber unter den Rechtsbegriff der geistigen 
Minderwertigkeit fallen würde, wenn dieser dem Gesetz bekannt wäre. Selbst¬ 
verständlich hat der Sachverständige die Pflicht, den Richter auf alle die 
Momente in seinem Gutachten hinzuweisen, welche ihn veranlassen, im kon¬ 
kreten Falle eine geistige Minderwertigkeit anzunehmen, da er der fach¬ 
männische Berater des Richters ist, an dessen Auseinandersetzungen dieser 
zwar nicht gebunden ist, die er aber doch oft dankbar und gern für sein 
Urteil verwerten wird. 

Auch das bürgerliche Gesetzbuch nimmt auf die Eigenart der geistig 
Minderwertigen keine Rücksicht, wenigstens insoweit ihre Geschäftsfähigkeit 
in Betracht kommt. Während ein wegen Geisteskrankheit Entmündigter 
überhaupt keine rechtlich verbindliche Handlung mehr vollziehen kann, ein 
wegen Geistesschwäche Entmündigter dagegen noch zu einer großen Reihe 
von Handlungen berechtigt ist, nämlich zu allen Handlungen, welche einem 
Minderjährigen über 7 Jahren zustehen, werden in der Rechtsfähigkeit des 
nicht entmündigten Geisteskranken gar keine Unterschiede gemacht. 
Dieser ist entweder voll geschäftsfähig oder voll geschäftsunfähig, je nachdem 
er sich in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krank¬ 
hafter Storung der Geistestätigkeit befunden hat oder nicht, ohne Rücksicht 
darauf, ob sein Krankbeitszustand ihn wirklich zu allen oder nur zu ge¬ 
wissen Rechtshandlungen unfähig macht. Das bürgerliche Gesetzbuch läßt 
also für entmündigte Personen in den Rechtsbegriffen der Geisteskrankheit, 
der Geistesschwäche und, bei Anwendung der Pflegschaft, des geistigen Ge¬ 
brechens eine graduelle Abstufung der geistigen Erkrankung zu, dagegen 
kennt es bei nicht entmündigten oder nicht unter Pflegschaft gestellten Per¬ 
sonen in bezug auf die Geschäftsfähigkeit nur geistig Gesunde, denen es 
die volle Geschäftsfähigkeit gibt, und geistig Kranke, denen es volle Ge¬ 
schäftsunfähigkeit einräumt, wobei auch hier unter Geisteskrankheit ein 
ganz bestimmter Rechtsbegriff verstanden wird, wie im § 51 des St.-G.-B., 


Digitized by ^.ooQle 



Minderwertigkeit. 


265 


nämlich eine die freie Willensbestimmung aasschließende geistige Storung. Die 
zwischen der geistigen Gesundheit und diesem Rechtsbegriff der Geisteskrank¬ 
heit liegenden Grenzzustände werden somit auch hier nicht berücksichtigt, 
obwohl der geistig Minderwertige häufig weder als voll geschäftsfähig, 
noch als voll geschäftsunfähig anzusehen ist, sondern in seiner Geschäfts¬ 
fähigkeit nur mehr oder weniger beschränkt erscheint. So wird man 
z. B. die Geschäftsfähigkeit eines Paralytikers im Anfangsstadium seiner 
Krankheit nicht ohne weiteres als ausgeschlossen betrachten können, sondern 
wird ihm oft für bestimmte Teile seiner Tätigkeit und seines Berufes noch 
eine gewisse unbeschränkte Geschäftsfähigkeit zugestehen müssen. Cramer 
führt das Beispiel eines solchen Kranken an, der trotz sichergestellter Para¬ 
lyse noch imstande war, einen guten Bericht über das Ruderkommando bei 
einer fremden Kriegs- und Handelsmarine zu liefern, also unmöglich, wie 
das Gesetz es verlangt, in seiner Geschäftsfähigkeit einem unmündigen 
Kinde gleichgestellt werden konnte. 

Bei der rechtlichen Beurteilung der einzelnen Grenzzustände 
nach dem geltenden Recht hat sich der Sachverständige zuerst immer 
die Frage vorzulegen, ob die vorhandenen psychischen Eigentümlichkeiten 
die Annahme einer geistigen Minderwertigkeit auch wirklich rechtfertigen. 
Die Auffindung der Grenze sowohl nach der geistigen Gesundheit, wie nach 
der Geisteskrankheit hin wird erleichtert, wenn man beachtet, daß die klini¬ 
schen Kennzeichen einer ausgesprochenen Geisteskrankheit auf jeden Fall 
das Vorliegen einer geistigen Störung im Sinne des § 51 des St.-G.-B. be¬ 
weisen, durch welche Unzurechnungsfähigkeit bedingt wird, und daß ferner 
vereinzelte Auffälligkeiten, wie erbliche Belastung, leichte Reizbarkeit, kör¬ 
perliche Entartungszeichen etc. allein noch nicht zur Annahme einer gei¬ 
stigen Minderwertigkeit ausreichen, sondern daß diese Annahme erst dann 
begründet ist, wenn sich ein Komplex von Symptomen nachweisen läßt, 
der klinisch dem Bilde eines Grenzzustandes entspricht. 

Man kann die einzelnen Grenzzustände für ihre strafrechtliche Be¬ 
urteilung in Gruppen zusammenfassen. Wie man die Gruppierung vornimmt, 
ist ohne wesentliche Bedeutung, wenn man sich nur vergegenwärtigt, daß 
es nicht nur Zustände von andauernd bestehender oder länger dauernder 
geistiger Minderwertigkeit gibt, sondern daß auch solche von kurzer Dauer 
vorkommer, wo die geistige Minderwertigkeit passager auftritt und nur 
unter besonderen Umständen, z. B. unter dem Einfluß großer Hitze, körper¬ 
licher Erschöpfung usw. zum Vorschein kommt. 

Zu den Grenzzuständen gehören in erster Reihe die vielen Abstufungen 
des angeborenen oder früh erworbenen Schwachsinns, die von der ein¬ 
fachen Beschränktheit zum ausgesprochen krankhaften Schwachsinn hin¬ 
überführen, wo der Intelligenzdefekt so hochgradig ist, daß man ihn unbe¬ 
denklich einer Geisteskrankheit im Sinne des § 51 gleichsetzen kann. Der¬ 
artige Schwachsinnige leichteren Grades kommen recht häufig mit dem 
Strafgesetz in Konflikt, namentlich wenn sie sich im Affekt oder unter 
Einliuß von Alkohol befinden. Die forensische Erfahrung lehrt, daß es in 
der Regel sehr schwer für den Laien, für Richter und Geschworene ist, 
diese zweifellos minderwertigen Individuen von den Beschränkten zu trennen, 
die noch als geistig gesund anzusehen sind. Der Sachverständige aber findet 
bei näherer Untersuchung eine ganze Reihe von krankhaften Zügen, erb¬ 
liche Belastung, abnorme Reizbarkeit, leichte Zugänglichkeit für fremde Ein¬ 
flüsse usw., die ihm zeigen, daß die Grenze nach der geistigen Gesundheit 
bereits überschritten ist. Solche Individuen brauchen keineswegs ohne 
weiteres als Geisteskranke im Sinne des Strafgesetzes und als unzurechnungs¬ 
fähig angesehen zu werden. Für ihre Abtrennung von den Geisteskranken 
ist ihre soziale Brauchbarkeit maßgebend. Ein Schwachsinniger, der den An- 


Digitized by 


Google 



266 


Minderwertigkeit« 


Sprüchen des sozialen Lebens nicht gewachsen ist, der nicht imstande ist, 
sich eine seinem Bildungsgrade entsprechende Stellung im Leben za er¬ 
ringen, dem die Fähigkeit zu einer selbständigen Lebensführung mangelt, 
rechnet nicht mehr zu den geistig Minderwertigen, sondern muß als krank 
im Sinne des Gesetzes gelten. Aber auch der geistig minderwertige Schwach¬ 
sinnige. der noch nicht in dem Grade intellektuell beschränkt ist, daß er 
für gewöhnlich sofort als schwachsinnig erkennbar ist, kann durch seine 
Erregbarkeit im Affekt, seine Intolleranz gegen den Alkohol jederzeit in 
einen Zustand geraten, der unbedingt als eine die freie Willensbestimmung 
ausschließende Geisteskrankheit anzusehen ist. Gerade in solchen Zuständen 
kommt es leicht zu strafbaren Handlungen, Lustmord, Notzucht, Brand¬ 
stiftung, die als wohlüberlegte Gewalthandlungen oder Rachehandiungen 
imponieren. 

Eine besondere Gruppe unter den geistig minderwertigen Schwachsinnigen 
bilden die sogenannten moralisch Schwachsinnigen, die wegen ihres an¬ 
geborenen ethischen Defektes nicht imstande sind, moralische Vorstellungen 
und sittliche Eigenschaften zu entwickeln, und sich daher durch große 
ethische Depravation und antisoziale Instinkte auszeichnen. Besonders die 
Steigerung des Trieblebens und die Neigung zu Affekten führt sie leicht 
zu strafbaren Handlungen, brutalen Körperverletzungen, Unzucht, Notzucht 
u. a. Von einer geistigen Minderwertigkeit kann in allen diesen Fällen nur 
dann gesprochen werden, wenn der Nachweis gelingt, daß der moralische 
Defekt auf krankhafter Grundlage beruht, wenn sich also krankhaft be¬ 
dingte lntelligenzdefekte, die Zeichen der Entartung etc. nachweisen lassen. 

Auch die Entarteten oder psychopathisch Minderwertigen, bei 
denen sich die abnorme Richtung der gesamten Geistesentwicklung von 
Jugend an geltend macht, sind den Grenzzuständen zuzuzählen. Während 
die schweren Formen der erblichen Entartung, das sogenannte Entartungs¬ 
irresein, das Zwangsirresein, ohne Zweifel als ausgesprochene Geisteskrankheit 
nnzusehen sind und Unzurechnungsfähigkeit bedingen, ist bei den leichteren 
Graden der Entartung Zurechnungsfähigkeit in beschränktem Maße sicher noch 
vorbanden. Hierher gehören die erblich belasteten Nachkommen von Geistes¬ 
kranken. Epileptikern, Trinkern, Nervenkranken, die durch das Vorherrschen 
egoistischer Motive und den Mangel an psychischem Gleichgewicht ausge¬ 
zeichnet sind. Ihre mangelhafte soziale Anpassungsfähigkeit, welche die Folge 
ihrer krankhaften Launenhaftigkeit, ihres gesteigerten Egoismus, ihrer Reiz¬ 
barkeit und Neigung zu Affekten ist, führt sie leicht zu Konflikten mit 
ihrer Umgebung und zur Begehung strafbarer Handlungen. Läßt sich 
nachweisen. daß diese Handlungen durch heftige Affekte, plötzlich auf¬ 
tauchende starke Triebe, sonderbare Gelüste, Zwangsideen bervorgerufen 
sind, so ist, zumal wenn noch Schädigungen wie Alkoholgenuß hinzu¬ 
kommen, auch hier nicht ein Zustand geistiger Minderwertigkeit, sondern 
ausgesprochene Geisteskrankheit im Sinne des § 51 St -G.-B. in der Regel 
anzunehmen, welche dem Täter für einen bestimmten Zeitraum die Zurech¬ 
nungsfähigkeit raubt. In dieses Grenzgebiet gehören noch die sogenannten 
konträr oder pervers Sexuellen, bei denen die degenerative Veranlagung, 
ihre psychopathische Konstitution, den Boden für die Entwicklung des ab¬ 
normen Geschlechtslebens abgibt. 

In einer anderen Gruppe von Krankheitsformen ist die geistige Minder¬ 
wertigkeit nur Teilerscheinung einer schweren geistigen Störung, so bei 
den periodischen Geistesstörungen, bei der Epilepsie, der Hysterie 
und Neurasthenie. Bei allen diesen Individuen bildet sie den psychischen 
Dauerzustand, der unter gewöhnlichen Verhältnissen nicht als Geisteskrank¬ 
heit bezeichnet werden kann, auf dessen Boden sich aber ausgesprochene 
Geistesstörungen jederzeit spontan oder bei Einwirkung besonderer Um- 


Digitized by ^.ooQle 



Minderwertigkeit. 


267 


stände entwickeln können. In den Zeiten schwerer Störungen ist natürlich 
immer Geisteskrankheit im Sinne des § 51 St.-G.-B. mit völliger Unzu¬ 
rechnungsfähigkeit anzunehmen, so z. B. bei den eigentlichen Anfällen der 
periodischen Geistesstörungen, gleichgültig ob ein manisches, stuporöses oder 
depressives Zustandsbild besteht, während in den intervallären Zeiten nur 
geistige Minderwertigkeit vorliegt. Auch bei der Epilepsie sind alle die 
Fälle als krank im Sinne des Gesetzes zu betrachten, wo es bereits zu 
einer ausgesprochenen Abnahme der Intelligenz und Veränderung des Cha¬ 
rakters oder zur Entwicklung einer wirklichen epileptischen Geistesstörung 
gekommen ist. Das Gleiche gilt von epileptischen Dämmerzuständen, in denen 
die Kranken bekanntlich außerordentlich gewalttätig werden und Mord, 
Brandstiftung, Notzucht, Sittlichkeitsverbrechen begehen können, auch ohne 
daß das Bewußtsein vollständig aufgehoben ist (Siemerling). Ebenso ist in 
der Regel eine mit Unzurechnungsfähigkeit verbundene Geistesstörung an¬ 
zunehmen, wenn bei länger bestehender Epilepsie besondere Schädlichkeiten, 
wie ein Affekt oder Alkohol einwirken, da der Epileptiker im Affekt unge¬ 
wöhnlich stark erregbar ist. noch dazu bei Genuß von Alkohol, und diese 
Erregung bei ihm leicht einen Zustand getrübten oder aufgehobenen Be¬ 
wußtseins auslösen kann. Nicht gerade selten tritt aber beim Epileptiker 
auch episodisch eine hochgradige Gemütsreizbarkeit als Folge extremer 
Stimmungsschwankungen ohne die Einwirkung besonderer Schädlichkeiten 
spontan auf und wird die Veranlassung zu strafbaren Handlungen. Diese 
Handlungen sind dann gleichfalls als Ausfluß der Krankheit anzusehen und 
dem § 51 des St.-G.-B. zu unterstellen. Begeht dagegen ein Epileptiker im 
anfallsfreien Intervall ein Verbrechen, einen Diebstahl, einen Betrug oder 
eine Unterschlagung, bei welchem Affekt, Alkohol und extremer Stiramungs 
Wechsel keine Rolle spielen, so wird zwar sein Dauerzustand geistiger 
Minderwertigkeit zu berücksichtigen, niemals aber wird eine Geisteskrank¬ 
heit im Sinne des Gesetzes anzunehmen sein. Denn an und für sich kann 
das Bestehen einer Epilepsie weder strafrechtlich noch zivilrechllich die 
Annahme einer mit Willensunfreiheit verbundenen Geisteskrankheit recht¬ 
fertigen. Es genügt in solchen Fällen, wo die Abnahme der sittliche^ Ge¬ 
fühle den Epileptiker zum Landstreicher, zum Gewohnheitsdieb hat werden 
lassen oder aus ihm einen Sittlichkeitsverbrecher gemacht hat, wo seine 
chronisch vorhandene Reizbarkeit ihn zu Verleumdungen, Ehrkränkungen, zu 
Bedrohungen oder Körperverletzungen geführt hat, bei der rechtlichen Be¬ 
urteilung seine geistige Minderwertigkeit hervorzuheben. Auf zivilrechtlichem 
Gebiet darf Geschäftsunfähigkeit bei einem Epileptiker nur dann angenommen 
werden, wenn der Nachweis erbracht ist, daß er das Rechtsgeschäft in einem 
Dämmerzustand abgeschlossen oder bei dessen Abschluß an einer epilepti¬ 
schen Geistesstörung gelitten hat. 

Ähnliches wie von der Epilepsie gilt von der Hysterie. Die psychischen 
Eigentümlichkeiten der Hysterischen werden ebenfalls leicht die Veranlassung 
zur Begehung strafbarer Handlungen. Ihr Egoismus, ihre gemütliche Reiz¬ 
barkeit, ihre Launenhaftigkeit verwickelt sie in Streit und Händel, ihre 
Rachsucht und Bosheit führt sie zu Verleumdungen und falschen Denun¬ 
ziationen, zu Beleidigungen und Körperverletzungen, die mangelhafte Re¬ 
produktionstreue zu falschem Zeugnis, die krankhafte Lust, Aufsehen zu er¬ 
regen, zu Betrügereien, ihr auf falschen Bahnen sich bewegendes Geschlechts¬ 
gefühl zu Eifersuchtshandlungen, zu Ehescheidungsklagen oder falscher Be¬ 
zichtigung unsittlicher Handlungen. Auch hier aber kann unter gewöhnlichen 
Verhältnissen weder strafrechtlich noch zivilrechtlich von einer Geisteskrank¬ 
heit im Sinne des § 51 die Rede sein. Nur wenn sich eine wirkliche hyste¬ 
rische Geistesstörung oder ein hysterischer Dämmerzustand nachweisen läßt, 
darf eine solche angenommen werden. Ebenso können auch hier Alkohol 


Digitized by 


Google 



268 


Minderwertigkeit. 


und Affekt und bei Frauen die mit dem Fortpflanzungsgeschäft zusammen¬ 
hängenden Vorgänge, Menstruation, Schwangerschaft etc. Zustände von Be¬ 
wußtseinsveränderung hervorrufen, welche die Zurechnungsfähigkeit aus 
schließen. 

Auch bei den Neurasthenikern und Traumatikern sind Störungen 
mehr elementarer Art, einfache Reizbarkeit, leichte Beeinflußbarkeit, Mangel 
an Energie, Abschwächung des Gedächtnisses nur im Binne einer geistigen 
Minderwertigkeit zu verwerten, ausgesprochene neurasthenische und trau* 
matische Geisteskrankheiten schließen dagegen jede Art strafrechtlicher wie 
zivilrechtlicher Verantwortlichkeit aus. 

Ein Zustand geistiger Minderwertigkeit kann auch durch die Ein¬ 
wirkung toxischer Schädlichkeiten hervorgerufen werden. Hier ist in 
erster Linie der chronische Alkoholismus zu nennen. Die tiefgreifende 
Charakterveränderung, die Abnahme von Gedächtnis und Urteil, die sich 
allmählich entwickelnde sittliche Depravation bringt den chronischen Alko- 
holisten sehr vielfach mit dem Strafgesetz in Konflikt. Widerstand, Beleidi¬ 
gung, Bedrohung, Körperverletzung, Betrug, Unterschlagung, Meineid sind 
teilweise für ihn geradezu typische Delikte. Für geisteskrank im Sinne des 
Gesetzes ist er nur dann zu erklären, wenn sich eine ausgesprochene alko¬ 
holische Geisteskrankheit bei ihm nachweisen läßt, Eifersuchtswahn. Alkohol¬ 
demenz, Delirium tremens, KonsAKowsche Krankheit, geistige Störungen, die 
sich häufig auf dem Boden des chronischen Alkoholismus entwickeln. Zu 
beachten ist, daß auch hier ungünstige schädigende Umstände, Affekt, akuter 
Rausch, körperliche Erschöpfung, außergewöhnliche Temperaturdifferenzen, 
geschlechtliche Ausschweifungen die Veranlassung zur Überschreitung der 
Grenze nach der Geisteskrankheit werden können. Solche im Trancezustand 
oder pathologischem Rausch befindliche chronische Alkoholisten sind als 
Geisteskranke zu beurteilen. Auch die hochgradigen Angstzustände und die 
starke Schreckhaftigkeit, die den chronischen Alkoholisten eigentümlich ist, 
kann sie im Momente der Wirksamkeit zu Geisteskranken im Sinne des 
Gesetzes machen. Cramer berichtet von einem chronischen Alkoholisten, der 
am offenen Fenster stehend von seiner Frau im Scherz von hinten einen 
Stoß erhält, sie infolge seiner pathologischen Schreckhaftigkeit im selben 
Augenblick faßt und zum Fenster hinaus auf den Hof herunterwirft. Liegen 
keine der genannten Zustände ausgesprochener Geisteskrankheit vor, so 
sind die chronischen Alkoholisten zwar als geistig Minderwertige, aber nicht 
als Geisteskranke im Sinne des § 51 des St. G. B. zu beurteilen. 

Von ähnlichen Gesichtspunkten aus hat die rechtliche Beurteilung der 
chronischen Morphinisten und Kokainisten zu erfolgen. Auch sie 
sind zu den geistig Minderwertigen zu rechnen, da ihre Willensfreiheit bei 
Begehung strafbarer Handlungen oft infolge ihrer krankhaften Charakter¬ 
veränderung mehr oder weniger beeinträchtigt ist. 

Unter den Zuständen geistiger Minderwertigkeit sind weiter zu er¬ 
wähnen die Anfangsstadien aller langsam und allmählich sich entwickelnden 
Geisteskrankheiten. Hierher gehören namentlich die chronischen Pa¬ 
ranoiaformen, die oft jahrelang unerkannt bleiben, da die intellektuellen 
Fähigkeiten bei ihnen, wenigstens soweit das äußere Verhalten und das Ver¬ 
sehen des Berufes in Frage kommt, anscheinend völlig unberührt bleiben. 
Ferner die progressive Paralyse, die arteriosklerotische Atrophie 
des Gehirns und die senilen und präsenilen, sowie die organischen 
Gehirnerkrankungen überhaupt. Bei der strafrechtlichen Beurteilung 
dieser Zustände ist daran festzuhalten, daß in allen Fällen, wo sichere 
Symptome der Krankheit nachzuweisen sind, die Bedingungen des § 51 des 
St.-G.-B. als erfüllt angesehen werden müssen. Zivilrechtlich wird dagegen 
immer zu individualisieren und zu überlegen sein, ob im einzelnen Falle die 


Digitized by 


Google 


Minderwertigkeit. 


269 


Intelligenz des Kranken durch die Krankheit auf die Stufe eines Kindes 
heruntergedrückt wird, welches das 7. Lebensjahr noch nicht vollendet hat. 
ln jenen Fällen, wo sich durch die gerichtlichen Ermittlungen glaubwürdig 
feststellen läßt, daß in dem Verhalten eines bis dahin völlig unbescholtenen 
Individuums eine der Umgebung unerklärliche Veränderung eingetreten ist. 
wo aber der Sachverständige außerstande ist, zu entscheiden, ob diese ledig- 
lieh einer Neurasthenie ihre Entstehung verdankt oder ob sie den Beginn 
einer Paralyse, einer senilen Geistesstörung oder das Vorstadium einer 
Paranoia oder Manie bedeutet, wird der Sachverständige bei der strafrecht¬ 
lichen Beurteilung einen Zustand geistiger Minderwertigkeit annehmen dürfen. 
Das Gleiche gilt für die Fälle von Gehirnapoplexien, Gehirntumoren, trauma¬ 
tischen Schädelverletzungen etc., wo sich mitunter einige Zeit später Defekte 
in der Intelligenz, leichte Verblödung, Gedächtnisschwäche und Charakter- 
depravation einstellen. 

Zustände geistiger Minderwertigkeit können nach v. Schrenck* Notzing 
endlich dadurch hervorgerufen werden, daß die freie Willensbetätigung bei 
strafbaren Handlungen durch suggestive Mittel im Wachzustände und 
hypnotische wie posthypnotische Eingebungen abgeschwächt wird; 
allerdings gelingt die Erzeugung krimineller Handlungen auf suggestivem 
Wege selten bei Geistesgesunden, sondern meist nur bei schon vorher 
geistig minderwertigen Individuen, Entarteten, Schwachsinnigen und Hyste¬ 
rischen mit mangelhaft entwickelter Willenssphäre. 

Alle die vorher erwähnten Mittel, welche zur Abschwächung der durch 
die völlige Ignorierung der geistig Minderwertigen hervorgerufenen Unge¬ 
rechtigkeit dem Richter und Sachverständigen zu Gebote stehen, können 
die Härten des geltenden Strafrechtes wohl bis zu einem gewissen Grade 
mildern, aber nicht beseitigen. Mit vollem Recht wird daher von der 
Psychiatrie nachdrücklich die Forderung erhoben, daß in dem Strafrecht 
der Zukunft die strafrechtliche Behandlung der geistig Minderwertigen 
geregelt werde und daß die Grenzzustände die ihnen gebührende Berück¬ 
sichtigung finden mögen. 

Die Vorschläge, welche für die rechtliche Behandlung der geistig 
Minderwertigen im künftigen Strafgesetzbuch gemacht worden sind, 
hängen eng zusammen mit dem Begriff der »geminderten« oder »vermin¬ 
derten« Zurechnungsfähigkeit. Das Deutsche Strafgesetzbuch kennt 
den Rechtsbegriff der verminderten Zurechnungsfähigkeit nicht, es kennt 
nur eine absolute Zurechnungsfähigkeit und eine absolute Unzurechnungs¬ 
fähigkeit, indem es von der Voraussetzung ausgeht, daß der geistesge- 
sunde Mensch in der Wahl seiner Entschlüsse frei, bei einem geisteskranken 
Menschen aber die freie Willensbestimmung aufgehoben ist. 

Die Erkenntnis aber, daß von dem Geistesgesunden zum Geisteskranken 
eine ununterbrochene Skala von Zwischenstufen mit fließenden Übergängen 
führt, und daß an dem einen Ende dieser Skala die zweifellos Zurechnungs¬ 
fähigen, an dem anderen die gänzlich Unzurechnungsfähigen stehen, drängte 
zu der Annahme einer graduell verschiedenen Zurechnungsfähigkeit, eines 
Zustandes, in dem die Verantwortlichkeit für die Handlungen mehr oder 
weniger beeinträchtigt, die Störung der* Geistestätigkeit aber nicht hoch¬ 
gradig genug ist, um die freie Willensbestimmung vollständig aufzuheben, 
und führte so zu der Prägung des Begriffs der »verminderten Zurech¬ 
nungsfähigkeit«, indem man der verminderten subjektiven Schuld die 
verminderte Zurechnung gegenüberstellte. Bereits vor der Einführung des 
Strafgesetzbuches für den Norddeutschen Bund im Jahre 1870, dem das 
geltende Deutsche Strafgesetzbuch entspricht, war dieser Begriff der Straf¬ 
gesetzgebung vieler DeutscherBundesstaaten bekannt. M it Ausnahme des 
Preußischen und der ihm nachgebildeten Strafgesetzbücher Waldecks, Olden- 


Digitized by 


Google 



270 


Minderwertigkeit. 


burgs und Lübecks enthielten alle Strafgesetzbücher der Deutschen Staaten 
besondere Bestimmungen, welche den Grenzfällen zwischen Gesundheit und 
Geisteskrankheit in Form einer Art geminderter Zurechnungsfähigkeit ge¬ 
recht zu werden suchten, so z. B. das Bayerische, das Hessische, das Württem- 
bergische, das Sächsische, das Braunschweigische. Auch das Preußische Land¬ 
recht kannte Grade der Zurechnungsfähigkeit, indem es Teil I, Tit. 20, § 18 
bestimmte, daß alles, was das Vermögen eines Menschen, mit Überlegung 
und Freiheit zu handeln, mehrt oder mindert, auch den Grad der Strafbar¬ 
keit mehrt oder mindert. Die Nichtaufnahme der verminderten Zurechnungs 
fähigkeit in das Deutsche Reichsstrafgesetzbuch bedeutete daher einen Rück¬ 
schritt und eine Durchbrechung des Rechtszustandes, der bisher im größten 
Teile Deutschlands Geltung gehabt hatte. Im ersten Entwurf für das St.-G.-B. 
des Norddeutschen Bundes war zwar auf Grund eines Gutachtens der 
Preußischen wissenschaftlichen Deputation für das Medizinalwesen die ver¬ 
minderte Zurechnungsfähigkeit in folgender Bestimmung berücksichtigt 
worden: 

»Befand sich der Täter zur Zeit der Tat in einem Zustande, welcher 
die freie Willensbestimmung zwar nicht völlig ausschloß, sie aber beein¬ 
trächtigte, so ist auf eine Strafe zu erkennen, welche nach den Ober die 
Bestrafung des Versuchs aufgestellten Grundsätzen abzumessen ist.« 

In dem dem Reichstag vorgelegten dritten Entwurf war diese Be¬ 
stimmung aber wieder beseitigt worden, da die Majorität der Gesetzgebungs¬ 
kommission sich davon überzeugt £atte, daß es nicht zweckmäßig sein 
möchte, mit dieser doch immer zweifelhaften Bestimmung vorzugehen, zumal 
die mildernden Umstände, welche in sehr weiter Ausdehnung in dem revidierten 
Entwurf Berücksichtigung gefunden hätten, das praktische Bedürfnis, welches 
jener Bestimmung unverkennbar unterliege, Jp der Hauptsache erledigten. 
Damit ist die verminderte Zurechnungsfähigkeit aus dem Deutschen Straf¬ 
gesetzbuch entfernt worden und als Ersatz für sie nur die Anwendung der 
mildernden Umstände übrig geblieben. 

Dieser Ausweg ist kein glücklicher, da das Deutsche Strafgesetzbuch 
eine ganze Reihe strafbarer Handlungen aufführt, bei denen die Annahme 
mildernder Umstände nicht zulässig ist. Unter 239 Verbrechen und Ver¬ 
gehen werden nur bei 62 mildernde Umstände zugelassen, bei 177, also 
nahezu bei Dreivierteln der Fälle, ist ihre Annahme ausgeschlossen, und 
zwar gehören zu diesen gerade die schwersten Verbrechen, wie Meineid, 
Notzucht mit verursachtem Tode, schwere Kuppelei, Brandstiftung, Raub, 
Totschlag und Mord. Ein hinreichender Ersatz für die Bestimmung über die 
verminderte Zurechnungsfähigkeit wird also schon aus diesem Grunde in 
der Annahme mildernder Umstände kaum gesehen werden können. 

Der Begriff der verminderten Zurechnungsfähigkeit hat auch in der 
Gesetzgebung einer Reihe von außerdeutschen Staaten Berücksichtigung 
gefunden. So besitzen 9 Staaten, nämlich Dänemark, Norwegen, Schweden, 
Rußland, Finnland, die Schweiz, Italien, Griechenland, San Marino, ausdrück¬ 
liche Bestimmungen über vermindert Zurechnungsfähige. In 12 anderen 
Staaten finden sich in der Zulässigkeit mildernder Umstände oder dem 
Fehlen eines Strafminimums Bestimmungen, die als Ersatz für die ver¬ 
minderte Zurechnungsfähigkeit dienen können. In dem Strafgesetz von 
Montenegro und der Türkei fehlen auch diese. Österreich und Schottland 
kennen zwar die verminderte Zurechnungsfähigkeit ebenfalls nicht, sehen 
aber Verstandesschwäche als Milderungsgrund an. In Rußland, der Schweiz, 
Belgien und Italien gehen taubstumme Täter je nach ihrem Unterscheidungs¬ 
vermögen entweder straffrei aus oder sie werden milder bestraft. In anderen, 
8 Staaten, Österreich, Norwegen, Montenegro, Rumänien, der Schweiz, Spanien 
Portugal, Italien, bedingt unverschuldete Trunkenheit einen Strafmilderungs- 


Digitized by 


Google 



Minderwertigkeit. 


271 


grund, während Rußland Strafverschärfung eintreten läßt, wenn sich der 
Täter absichtlich betrank, um die Tat leichter ausführen zu können. 

Von den außereuropäischen Strafgesetzen hat eine große Zahl die 
Bestimmungen der europäischen GesetzesbQcher nahezu wörtlich fibernommen. 
So wird auch in einigen von ihnen die verminderte Zurechnungsfähigkeit 
berücksichtigt, nämlich in den 5 Staaten Peru, Uruguay, Costa*Rica, Guatemala 
und Brasilien, wo sie als mildernder Umstand gilt. Andere Staaten, Japan. 
Argentinien, Ecuador, Paraguay, Columbia, Mexiko, Honduras, Salvador haben 
nur mildernde Umstände, 3 Staaten, ein Teil der Vereinigten Staaten von 
Nordamerika, China und Marokko kennen auch diese nicht, ln Ecuador und 
Brasilien werden Taubstumme je nach ihrem Unterscheidungsvermögen ent¬ 
weder als zurechnungsfähig oder als unzurechnungsfähig beurteilt. Unver¬ 
schuldete Trunkenheit gilt in 5 Staaten, in Peru, Uruguay, Columbia, Mexiko, 
Brasilien als mildernder Umstand. 

Überlickt man diese Gesamtfibersicht über die Strafgesetze aller 
Staaten der Erde — nur 4, Nicaragua, Bolivia, Persien und Siam, sind nicht 
berücksichtigt, weil über sie keine Literatur vorliegt —, so ergibt sich, daß 
die meisten von ihnen auf die Grenzzustände keine genügende Rücksicht 
nehmen. Nur 14 Staaten haben Bestimmungen über die verminderte Zu- 
rechnungsfähigkeit und 2 Staaten lassen Geistesschwäche als Milderungs¬ 
grund gelten. Alle übrigen kennen sie nicht, haben aber mit Ausnahme von 
10 Staaten Milderungssysteme, die als Ersatz für sie eintreten können. In 
8 Staaten wird auch die Taubstummheit berücksichtigt, in 13 Staaten wird 
unverschuldete Trunkenheit milder bestraft. 

Die Erkenntniss, daß die rechtliche Beurteilung und Behandlung 
der geistig Minderwertigen nach dem Deutschen Strafgesetzbuch 
eine unzulängliche und reformbedürftig ist, beschränkt sich nicht mehr 
auf die Kreise der Psychiater, sondern hat sich auch in juristischen Kreisen mehr 
und mehr Geltung verschafft. Die Benutzung des Begriffs der freien Willens- 
bestimmung, der kausalitätslosen Selbstbestimmungsfähigkeit des mensch¬ 
lichen Willens, welcher den Boden für die Sühnetheorie des geltenden Straf¬ 
rechtes bildet, als Unterscheidungsmerkmal für geistig Gesunde und geistig 
Kranke, ffir Zurechnungsfähige und Unzurechnungsfähige ist nach den An¬ 
schauungen der modernen Naturwissenschaft, in der das Kausalitätsgesetz 
gilt, nicht mehr haltbar. Denn alles, was in der organischen Natur und dem¬ 
entsprechend auch im menschlichen Organismus vorgeht, ist abhängig von 
dem Kausalitätszusammenhang zwischen Ursache und Wirkung, d. h. von 
materiellen Vorgängen. Auch jede Handlung eines Menschen hat solche 
materiellen Vorgänge zur Grundlage, sie kann daher nicht dem freien Willen 
entspringen, sondern ist von ihm unabhängig (Cramer). 

Über die Notwendigkeit einer Berücksichtigung der geistig Minder¬ 
wertigen und einer entsprechenden Revision des Deutschen Strafgesetzbuches 
ist man sich in den beteiligten Kreisen im allgemeinen einig. Dagegen sind 
die Meinungen über die Wege zur Abhilfe und namentlich darüber ge¬ 
teilt, ob die Aufstellung des Begriffes der verminderten Zurech¬ 
nungsfähigkeit zulässig und seine Einführung in das Strafgesetz¬ 
buch wünschenswert erscheint. 

Von juristischer Seite ist namentlich der Einwand erhoben worden, 
daß der Begriff der verminderten Zurechnungsfähigkeit theoretisch unhaltbar 
und daß der Terminus irreführend ist Man hat eingewandt, daß es nur 
eine unteilbare psychische Freiheit und Unfreiheit, nicht aber ein Mittelding 
oder verschiedene Grade der Freiheit gibt (Schnitzer). Ein Mensch ist ent 
weder zurechnungsfähig oder er ist es nicht. Grade der Zurechnungsfähig¬ 
keit sind nicht denkbar; nicht diese, sondern die Schuld und die durch sie 
bedingte Strafe können Grade aufweisen. Nicht die Zurechnungsfähigkeit 


Digitized by 


Google 



272 


Minderwertigkeit. 


ist gemindert, sondern die Zurechnung, die Verantwortlichkeit ist zu mindern. 
Es handelt sich also lediglich um eine verminderte Zurechnung zur Schuld 
und dieser wird innerhalb der Weite des Strafrahmens oder durch das System 
der mildernden Umstände hinreichend Rechnung getragen. FQr die Aufnahme 
des widersinnigen Begriffs der verminderten Zurechnungsfähigkeit liegt da- 
her nicht das geringste Bedürfnis vor (Berner). Andere Juristen verwerfen 
diese Bezeichnung ebenfalls, erkennen aber sachlich die geistige Minder- 
Wertigkeit als Strafmilderungsgrund an. Dagegen hält Finger ihre Aner¬ 
kennung als allgemeinen Strafrailderungsgrund überhaupt nicht für empfehlens¬ 
wert unter Hinweis darauf, daß ein vermindert Zurechnungsfähiger doch 
auch nur als ein Geisteskranker anzusehen sei und ein Geisteskranker unter 
keiner Bedingung bestraft werden könne. Verstehe man unter verminderter 
Zurechnungsfähigkeit jeden Zustand, in welchem infolge gewisser, dem In¬ 
dividuum zur Zeit des Handelns eigentümlicher Schwächen dieses in einem 
Konflikt mit dem Strafgesetz leichter unterliege, dann lasse sich eine all¬ 
gemeine Bestimmung des Inhaltes, daß der betreffende Täter milder zu be¬ 
handeln sei, nicht rechtfertigen. Es genüge der Hinweis, daß einzelne im 
Affekt verübte strafbare Handlungen nicht mildere, sondern strengere Ahn¬ 
dung verdienten, ferner der Hinweis, daß die Schwäche eine durch gewohn¬ 
heitsmäßige Verübung von Handlungen dieser Art erworbene sein könne. 
Verstehe man aber unter verminderter Zurechnungsfähigkeit eine auf patho¬ 
logischen Momenten basierende psychische Beschaffenheit, dann sei die Strafe 
im Rechtssinn keine zur Reaktion gegen »verbrecherische« Handlungen 
solcher Individuen brauchbare Maßregel. Derartige Individuen müßten irren¬ 
ärztlicher Behandlung unterworfen werden. 

Auch auf Seiten der Mediziner finden sich Gegner, welche die ver¬ 
minderte Zurechnungsfähigkeit als Rechtsbegriff ablehnen. Zu ihren ent¬ 
schiedensten gehört Jessen, der scharf zwischen der moralischen und juri¬ 
stischen Zurechnungsfähigkeit unterscheidet. Für jene gibt er zwar die Mög¬ 
lichkeit einer Abstufung in verschiedene Grade zu, bestreitet aber, daß sich 
die juristische in einem ähnlichen Verhältnisse abstufen läßt. Er macht auch 
auf die Schwierigkeit aufmerksam, welcher die Abgrenzung der in Betracht 
kommenden Krankheitszustände begegnet, und fürchtet, daß hieraus Unge¬ 
rechtigkeiten entstehen und daß viele zweifellos Geisteskranke in Zukunft 
nur als vermindert zurechnungsfähig angesehen werden würden. Auch von 
anderer Seite ist darauf hingewiesen worden, daß der Sachverständige in 
zweifelhaften Fällen zu schnell mit der Annahme einer verminderten Zu¬ 
rechnungsfähigkeit bei der Hand sein werde, was entweder eine große Härte 
bedeute oder leicht zu einer ungebührlichen Milde und zu einer Sentimen¬ 
talitätspraxis führen könnte, und daß sich hinter dem Schlagworte der ver¬ 
minderten Zurechnungsfähigkeit bei zweifelhafter Diagnose Unkenntnis und 
mangelnde Gewissenhaftigkeit verbergen können. Andere .Mediziner, wie 
Mendel und Strassmann, halten eine Änderung des Strafgesetzes für über- 
flüssig, Mendel, weil er glaubt, der Richter könne den geistig Minderwertigen 
durch Zubilligung mildernder Umstände oder Anwendung anderer Gesetzes¬ 
paragraphen gerecht werden, Strassmann, weil er die schwereren Fälle den 
Unzurechnungsfähigen zurechnet, während er den leichteren Graden der geisti¬ 
gen Minderwertigkeit durch Erweiterung der richterlichen Freiheit und durch 
Verbesserungen im Strafvollzug gerecht zu werden suchet. Grashey endlich 
will die verminderte Zurechnungsfähigkeit durch eine »partielle« ersetzen. 
Der Nachweis einer krankhaften Störung der Geistestätigkeit genügt nach 
seiner Ansicht noch nicht, sondern sie soll in jedem Falle auch nachgewiesen 
werden, daß die freie Willensbestimmung in bezug auf die strafbare Hand¬ 
lung ausgeschlossen war, daß zwischen dieser und der Geisteskrankheit ein 
ursächlicher Zusammenhang bestand. Gegen diese Anschauung ist von 


Digitized by 


Google 


Minderwertigkeit. 


273 


Schäfer, Schüle, Wollenberg und Hitzig geltend gemacht worden, daß es bei 
der Kompliziertheit der psychischen Vorgänge gar nicht möglich ist, so tief 
in das Seelenleben eines anderen Menschen einzudringen, um den ursäch¬ 
lichen Einfluß der krankhaften Gedankenbildung auf die strafbare Handlung 
zu erkennen. 

Die gegen eine graduelle Abstufung der Zurechnungsfähigkeit erhobenen 
Bedenken mögen vom juristisch-theoretischen Standpunkt aus gerechtfertigt 
erscheinen. Auch vom Standpunkt des ärztlichen Sachverständigen können 
mancherlei berechtigte Einwendungen gemacht werden, soweit sie sich gegen 
die Einführung des Ausdrucks »verminderte Zurechnungsfähigkeit« in die 
Strafgesetzgebung richten. Es sei nur darauf hingewiesen, daß der Arzt da¬ 
durch in die schwierige Lage käme, sich über einen Begriff gutachtlich zu 
äußern, der tatsächlich gar kein medizinischer, sondern ein juristischer ist. 
Die Tatsache indessen, daß es zwischen der geistigen Gesundheit und der 
Geisteskrankheit Grenzzustände gibt, die vom geltenden Recht nicht be 
rücksichtigt werden, wird dadurch nicht aus der Welt geschafft, daß es 
bisher nicht gelungen ist, für sie einen brauchbaren Rechtsbegriff zu finden. 
Sie ist von den Anhängern der Lehre von der verminderten Zurechnungs- 
fäbigeit immer wieder nachdrücklichst mit dem Hinweise betont worden, 
daß es weder der Wissenschaft, noch den Bedürfnissen der Praxis entspricht, 
sich mit Ignorierung der Zwischenglieder lediglich an die Schlußglioder der 
Erscheinungsreihe zu halten und dort unvermittelte Gegensätze zu statuieren, 
wo die Natur fließende Übergänge zeigt. Aus medizinischem wie aus juri¬ 
stischem Lager sind die Stimmen immer zahlreicher geworden, die auf den 
Mangel der Berücksichtigung dieser Übergangsfälle hinweisen und eine Reform 
des geltenden Rechts fordern (Jolly, Schäfer, Wollenberg, Weber, Aschaffen¬ 
burg, v. Schrenck-Notzing, Merkel, v. Liszt, Gretener, Hübbe, Seuffert, 
v. Bar u. a.). Auch in ärztlichen, juristischen und gemischten Versammlungen 
hat man sich eingehend mit der Frage der verminderten Zurechnungsfähig* 
keit beschäftigt. Namentlich ist es die Internationale kriminalistische Ver¬ 
einigung gewesen, die sich mehrfach mit dem Thema befaßt und es zum 
Gegenstand ausführlicher Referate und Erörterungen gemacht hat, so im 
Jahre 1902 in Bremen, 1903 in Dresden, 1904 in Stuttgart, wo der Be¬ 
schluß gefaßt wurde, den gesetzgebenden Faktoren des Reiches die Bitte 
zu unterbreiten, ein Gesetz anf Grund der von der Vereinigung angenommenen 
Grundsätze auszuarbeiten, und endlich 1905 in Hamburg auf dem 10. inter¬ 
nationalen Kongreß der I. K. V. Auch in den Verhandlungen der forensisch¬ 
psychiatrischen Vereinigung zu Dresden 1897 und 1898, auf der Jahres¬ 
versammlung des Vereins deutscher Irrenärzte in Halle 1899, in der Rhei¬ 
nisch-Westfälischen Gefängnisgesellschaft zu Düsseldorf 1902 und auf dem 
deutschen Juristentag 1902 und 1904 kam die Frage der verminderten Zu¬ 
rechnungsfähigkeit zur Erörterung. In all diesen Erörterungen und den aus 
ihnen hervorgegangenen Vorschlägen zur Formulierung bestimmter Gesetzes- 
Paragraphen wird an dem Begriff der verminderten Zurechnungsfähigkeit 
festgehalten, obwohl man sich wohl allgemein darüber einig ist, daß dieser 
Ausdruck logisch anfechtbar und inkorrekt ist. Ein von Krohne gemachter 
Vorschlag, ihn durch »geistige Minderwertigkeit« zu ersetzen, fand zunächst 
keine Zustimmung. Erst Kahl hat diesen Ausdruck in seinem 1904 auf 
dem deutschen Juristentag in Innsbruck erstatteten Referat wieder aufge¬ 
nommen, indem er von der strafrechtlichen Behandlung der »geistig Minder¬ 
wertigen« sprach und die vermindert Zurechnungsfähigen als »Zurechnungs¬ 
fähige mit geistiger Minderwertigkeit« bezeicbnete. Den Begriff der ver¬ 
minderten Zurechnungsfähigkeit eliminierte er aus der von ihm empfohlenen 
gesetzlichen Formulierung, ersetzte ihn durch einen neu geprägten Begriff 
und sprach von einem andauernd krankhaften Zustand, welcher das Ver- 

Enejrelop. Jahrbücher. N. F. VIII. (XVII.) lö _f _ 

Digitized by Vji 7Iß 


274 


Minderwertigkeit. 


ständnis för Bestimmungen des Strafgesetzes oder die Widerstandskraft 
gegen strafbares Handeln vermindert. 

Für den ärztlichen Sachverständigen würde die Einführung eines Rechts¬ 
begriffs der geistigen Minderwertigkeit in die Qetzgebung an Stelle der 
verminderten Zurechnungsfähigkeit ohne Zweifel einen wesentlichen Vorteil 
bedeuten, da dieser Begriff sich mit dem medizinischen Begriff der gei¬ 
stigen Minderwertigkeit ungefähr deckt und an Vorstellungen anknüpft, 
welche dem Arzt geläufig sind. Dem Sachverständigen würde dann nicht 
die undankbare Aufgabe zufallen, sich gutachtlich über einen Begriff äußern 
zu müssen, dessen Beurteilung seine ärztliche Kompetenz überschreitet, wie 
dies im geltenden Recht für die freie Willensbestimmung des § 51 zutrifft 
und auch zutreffen würde, wenn der Ausdruck »verminderte Zurechnungs¬ 
fähigkeit« im Gesetz Aufnahme fände; er würde sich vielmehr nur mit 
der rein medizinischen Feststellung zu befassen haben, ob ein Grenzzustand 
vorliegt oder nicht. Mit der Diagnose eines Grenzzustandes wäre dann auch 
der Nachweis geliefert, daß eine geistige Minderwertigkeit im rechtlichen 
Sinne besteht. Auf die Bedeutung dieser Tatsache ist besonders von Crambr 
hin gewiesen worden. 

Im Verlauf der Diskussion hat sich indessen die Erkenntnis allmählich 
Bahn gebrochen, daß der Schwerpunkt der Frage gar nicht in der Auf¬ 
findung einer geeigneten Terminologie, in der strafrechtlichen Beurteilung, 
sondern in der Art und Weise der strafrechtlichen Behandlung der 
geistig Minderwertigen zu suchen ist. Diese Erkenntnis bedeutet einen 
entscheidenden Fortschritt in der Lösung des ganzen Problems. Zutreffend hat 
man ausgeführt, daß nicht eine mildere Strafe, sondern eine besondere Art 
der Strafe, nicht eine quantitativ, sondern eine qualitativ andere Behand¬ 
lung der geistig Minderwertigen notwendig sei und daß es nicht auf eine 
Verkürzung der Strafzeit, sondern unter Umständen gerade darauf ankomme, 
die geistig Minderwertigen so lange zu internieren, als ihre Gemeingefähr¬ 
lichkeit besteht, damit die Gesellschaft vor ihnen und sie vor sich selbst 
geschützt und gesichert werden (Aschaffenburg, v. Liszt u. a.). 

Da die geistige Minderwertigkeit verminderte Zurechnungsfähigkeit 
bedingt und diese zwischen den beiden Gegensätzen der Zurechnungsfähig¬ 
keit, welche Strafe erfordert, und der Unzurechnungsfähigkeit steht, welche 
die Strafbarkeit ausschließt, so lag zunächst der Gedanke nahe, die geistig 
Minderwertigen mit einer zwischen diesen beiden Gegensätzen liegenden 
Strafe, d.h. mit einer milderen Strafe zu belegen. Dahin gehen denn auch 
die Vorschläge, die zuerst für ihre strafrechtliche Behandlung gemacht worden 
sind (Mittermaibr, Westphal, L. Meyer, wissenschaftliche Deputation). Eine 
mildere, d. h. kürzere Strafe ist aber für die geistig Minderwertigen unge¬ 
eignet und bedenklich. Denn einmal besteht für viele unter ihnen die Ge¬ 
fahr in unverändertem Maße fort, infolge des ungünstigen Einflusses der 
Haft an einer ausgesprochenen Geisteskrankheit zu erkranken, und ferner 
wird ihre soziale Gefährlichkeit durch eine milde Strafe eher gesteigert, da 
die Erinnerung an die Milde ihre Furcht vor der Strafe abschwächt und sie 
leichter zur Begehung neuer strafbarer Handlungen veranlaßt. Sie erblicken 
schließlich in der Milde des Urteils einen Freibrief für ihre unsozialen Hand¬ 
lungen, weil die Strenge der Strafe bei ihnen als Gegenmotiv unwirksam 
geworden ist (Aschaffenburg, Liepmann, Ferri, Prins, Camusbt u. a.). Um 
einen Maßstab für den Grad der Milderung zu gewinnen, ist vorgeschlagen 
worden, die Zubilligung mildernder Umstände auf alle strafbaren Handlongen 
auszudehnen, für das vollendete Verbrechen die Strafe des Versuchs eln- 
treten zu lassen oder die Bestimmungen des § 57 des St.-G.-B. über die 
Jugendlichen auf die geistig Minderwertigen anzuwenden (Koch, Strassmanx, 
Gretener, HCbbe, v. Liszt, van Calker u. a.). Da aber bei vielen Minder- 


Digitized by 


Google 



Minderwertigkeit. 


275 


wertigen, wenn überhaupt, so eher eine Strafe von längerer, als von kurier 
Dauer angebracht erscheint, so ist mit der Ausdehnung der mildernden Um¬ 
stände auf alle Verbrechen nichts gewonnen. Ebenso ist es ganz willkürlich 
und unbegründet, für ihre strafbaren Handlungen die Strafe des Versuchs 
einzusetzen, mit dem die Zustände der geistigen Minderwertigkeit innerlich 
gar nichts gemein haben (Nbumann, Grbtbner, Hübbb). Die Strafbestimmungen 
über die Jugendlichen hält besonders v. Liszt für ein sehr geeignetes Vor¬ 
bild zur Behandlung der Minderwertigen, weil ja auch bei den Jugendlichen 
im Sinne des Gesetzes ein besonderer Fall der verminderten Zurechnungs¬ 
fähigkeit vorliege. Indessen diese Anschauung stützt sich nur auf eine äußer¬ 
liche Ähnlichkeit und berücksichtigt nicht, daß zwischen dem Geisteszustand 
der Jugendlichen und dem der geistig Minderwertigen ein grundlegender 
Unterschied besteht, der in der pathologischen Art der Abweichung bei 
den Minderwertigen liegt, und daß daher auch die Wirkungen der Strafe 
auf sie andere sein müssen, wie auf die Jugendlichen, ebenso wie beide 
Gruppen in dem Grade und der Richtung ihrer Gemeingefährlichkeit Ver¬ 
schiedenheiten zeigen (Kbäpblin). Man hat auch vorgeschlagen, noch über 
die Strafmilderung bei Jugendlichen hinauszugehen und den Richter bei der 
strafrechtlichen Behandlung der geistig Minderwertigen überhaupt an keine 
untere Grenze und keine bestimmte Strafart zu binden, sondern beides 
seinem freien Ermessen zu überlassen (Schweizerischer Strafgesetzentwurf, 
auch v. Liszt Heruntergehen unter das Mindestmaß der Strafe). Diese Ma߬ 
nahme würde sich im Prinzip nicht wesentlich von der Ausdehnung der 
mildernden Umstände auf alle strafbaren Handlungen unterscheiden, nur daß 
der Willkür des Richterspruches ein noch größerer Spielraum gelassen wäre, 
wenn mit ihr nicht andere Maßregeln verbunden würden, die zum Teil eben¬ 
falls bei den Jugendlichen Anwendung finden, bedingte Verurteilung, be¬ 
dingte Strafaussetzung, bedingte Begnadigung und vorläufige Entlassung 
aus dem Strafvollzug. Zweifellos ist die Voraussetzung richtig, daß bei vielen 
haltlosen geistig Minderwertigen die wie ein Damoklesschwert über ihnen 
hängende Strafhaft die ihnen aus krankhafter Ursache teilweise fehlenden 
Hemmungen zu ersetzen geeignet wäre und daß für sie die drohende Strafe 
eine wirksamere Warnung vor der Rückfälligkeit sein würde, als die ver¬ 
büßte. Läßt doch der Versuch der bedingten Begnadigung bei den Jugend¬ 
lichen, bei denen sich in 71% die Strafvollstreckung als unnötig erwies, 
erwarten, daß diese Maßregel auch bei den geistig Minderwertigen Erfolg 
verheißt (Aschaffbnburg, Weber, Crambr). Endlich ist noch von juristischer 
Seite der über die Forderungen der Psychiater hinausgehende Vorschlag 
gemacht worden, auf die Bestrafung der geistig Minderwertigen ganz zu 
verzichten und sie wie Unzurechnungsfähige zu behandeln, da sie doch nicht 
voll zurechnungsfähig seien und daher irrenärztlicher Behandlung bedürftig 
wären (Finger). Der Verzicht auf die eigentliche Strafe wird zwar auch von 
anderer Seite entweder überhaupt oder unter gewissen Umständen gebilligt, 
als Ersatz für sie werden aber andere Maßregeln verlangt, ärztliche Be¬ 
handlung, Erziehung, Verwahrung oder deren Androhung, Entmündigung, 
Beaufsichtigung und Fürsorge, ferner ergiebige Ausbildung und Handhabung 
der Schadenersatzpflicht unter Heranziehung des Vermögens und der Arbeits¬ 
kraft des Täters, nach Umstanden auch der für ihn verantwortlichen Um¬ 
gebung (Kräpblin, v. Speyr, Stooss). 

Gegenüber diesen auf eine Strafmilderung gerichteten Bestrebungen 
ist nun besonders von ärztlicher Seite darauf hingewiesen worden, daß es 
bei der strafrechtlichen Behandlung der geistig Minderwertigen nicht auf 
eine Herabsetzung der Strafe, sondern viel mehr auf eine Änderung des 
Strafvollzuges ankommt. Wenn Verwaltungsbeamte der Meinung sind, 
daß man der Eigenart der geistig Minderwertigen schon jetzt in den Grenzen 


Digitized by 


Goögle 



276 


Minderwertigkeit. 


des bestehenden Strafvollzuges gerecht werden kann, indem man die Schwäch¬ 
linge in den Anforderungen an ihre Arbeitsleistung, an Ordnung und Rein¬ 
lichkeit milder beurteilt und die Epileptiker und Maniakalischen vor Rei¬ 
zungen durch Gefangene oder Beamte hütet (Krohne, Finckelnburg), so ist 
dem entgegenzuhalten, daß wohl durch eine verständnisvolle, individuali¬ 
sierende Behandlung der geistig minderwertigen Verbrecher von seiten der 
Strafanstaltsbeamten und durch gebührende Rücksichtnahme auf ihre leichte 
Ermüdbarkeit, ihre Reizbarkeit, wechselnde Stimmung und ähnliche Eigen¬ 
tümlichkeiten manches gebessert, die Lösung des Problems aber nicht er¬ 
reicht werden kann. Wer die Praxis des Strafvollzugs der Gegenwart aus 
eigener Erfahrung kennt, weiß zudem, wie es mit der individualisierenden 
Behandlung und mit der Rücksicht auf die psychische Eigenart der Ge¬ 
fangenen in den Strafanstalten steht. 

Nicht Milderung, sondern Änderung in der Art des Strafvollzuges 
ist also erforderlich. Dieses Ziel will man dadurch zu erreichen suchen, daß 
man dem Arzt einen größeren Einfluß auf die Gestaltung des Strafvollzuges 
einräumt, um die geistigen Mängel der minderwertigen Rechtsbrecher, welche 
die Ursache ihrer Kriminalität sind, durch ärztliche Behandlung zu bessern 
oder womöglich zu beseitigen. Wo eine ärztliche Behandlung aussichtslos 
erscheint, soll zum Schutz der Allgemeinheit an die Stelle der ärztlichen 
Behandlung die Sicherung treten. Dabei wird von den einen nur Verwahrung, 
von den anderen außer ihr oder neben der ärztlichen Behandlung auch noch 
die Verbüßung einer Strafe verlangt. Man sagt, daß die geistig Minder¬ 
wertigen einer Schuld noch fähig seien und daher einerseits Strafe ver¬ 
dienen, andrerseits einer Verwahrung bedürfen, und fordert, wenigstens für 
die gemeingefährlichen und straffähigen unter ihnen, nach der Strafverbüßung 
Unterbringung in Heil- und Pflegeanstalten oder in besonderen Anstalten 
oder Sicherungsmaßregeln anderer Art (Lenz, v. Liszt, Kahl, Finckelnburg, 
I. K. V. zu Dresden 1903 u. a.). So empfiehlt Kahl, die Detentionsbedürftigen 
der geistig Minderwertigen nach Verbüßung der abgemilderten Strafe auf 
unbestimmte Zeit in Sicherungsanstalten zu verwahren. Die eigentliche Strafe 
soll dabei möglichst durch Kleidung, Energie des Arbeitszwanges, Disziplin 
»markiert« werden, während nach Ablauf der richterlich umgrenzten Straf¬ 
zeit eine individualisierende Behandlung mit Abstufung der Freiheitsgewäh¬ 
rung, Aussicht auf bedingte Entlassung und ausgiebiger ärztlicher Einwir¬ 
kung eintreten darf. Dies ist ein Kompromiß, der aus einer Vereinigung der 
Vergeltungstheorie mit modernen Anschauungen heraus geboren ist* Mit 
derartigen Kompromissen kann sich aber die wissenschaftliche Erörterung 
einer Frage nicht abgeben (Finger). Zutreffend wendet Kräpelin dagegen 
ein, daß die geistig Minderwertigen entweder einer besonderen Behandlung 
bedürfen, dann ist es vernünftig, sie ihnen von vornherein angedeihen zu 
lassen, anstatt vorher an ihnen eine Art Scheinstrafe zu vollziehen; oder 
sie sind wie andere zu strafen, dann läßt sich die Freiheitsentziehung nach 
verbüßter Strafe kaum rechtfertigen. 

Unter den vorgeschlagenen Sicherungsmaßregeln nimmt die erste 
Stelle die Überweisung an geeignete Bewahranstalten ein. Auch über 
die Art dieser Anstalten ist man geteilter Meinung. Einzelne glauben mit 
den vorhandenen Strafanstalten auskommen zu können (Krohne, Finckeln- 
burg), oder fordern besondere »Lazarette für vermindert Zurechnungsfähige« 
(A. Leppmann). Andere sind für die Errichtung besonderer Strafanstalten zur 
Aufnahme invalider, zum regelmäßigen Strafvollzug ungeeigneter Sträflinge 
und wollen mit ihnen modern eingerichtete Sträflingsirrenabteilungen ver¬ 
binden (Gutsch), oder sie wünschen Irren Stationen als Adnexe der größeren 
Strafanstalten (Dellbrück), Strafhausadnexe, in denen eine etwas straffere 
Disziplin als bei den eigentlichen Geisteskranken herrscht und wo die ge- 


Digitized by 


Google 



Minderwertigkeit. 


277 


wöhnliche Gefangenenkost verabreicht wird (Näcke). Die Mehrzahl verlangt 
indessen die Einrichtung besonderer Anstalten, die weder den Charakter 
von Strafanstalten, noch von Irrenanstalten haben, Zwischenanstalten, Siche- 
rnngsanstalten, Verwahranstalten, Anstalten auf dem Lande mit wirtschaft¬ 
lichem und industriellem Betriebe oder von kolonialem Charakter, Arbeiter - 
kolonien (Koch, Forel, v. Liszt, Legrain, Weingart, Aschaffenburg, van 
Calker, Kahl, I. K. V. zu Dresden 1903, Bumke, Näcke). In allen diesen 
Anstalten soll der persönlichen Eigenart des geistig Minderwertigen Rechnung 
getragen und der ärztlichen Mitwirkung ein größerer Spielraum eingeräumt 
werden, als bisher. Die Behandlung soll den pädagogischen, den Heilcharakter 
oder einfache Sicherung ohne unnötige Strenge hervortreten lassen und eine 
systematische Erziehung, Gewöhnung an Tätigkeit, Abgewöhnung bedenk¬ 
licher Neigungen wie z. B. der Trunksucht erstreben. Es soll kein Arbeits¬ 
zwang herrschen, aber Anregung zur Arbeit gegeben werden (Aschaffen¬ 
burg, Weingart). 

Die Einrichtung dieser Anstalten hat man sich so gedacht, daß 
sie aus drei Abteilungen bestehen sollen, der Beobachtungsabteilung zur Fest¬ 
stellung der individuellen Behandlung, der Arbeitsabteilung zur Gewöhnung 
anfregelmäßige Arbeitsleistungen landwirtschaftlicher und anderer Art und 
der freiere Bewegung gestattenden Arbeitskolonie. Für jede Arbeitsleistung 
wäre ein bestimmter Lohn zu gewähren, der nach Abzug eines Teiles der 
Unterhaltungskosten in Sparkassenbüchern angelegt würde; ein anderer 
Teil von ihm soll zur Gewährung einiger Vergünstigungen, besseres Zimmer, 
bessere Kleidung, besseres Essen, Tabak usw. verwendet werden. Bei guter 
Führung wird probeweise Entlassung versucht (A. Bary). Die Umsetzung 
dieser Gedanken in die Praxis wird dadurch sehr erschwert, daß die Leitung 
der Anstalten nur in den Händen kriminalpädagogisch vorgebildeter Straf¬ 
anstaltsbeamter liegen dürfte und solch ein berufsmäßig ausgebildetes Auf¬ 
sichtspersonal zur Zeit vollständig fehlt. Notwendig wäre zunächst, die Mög¬ 
lichkeit einer speziellen akademischen Berufsausbildung von Kriminalpäda¬ 
gogen auf unseren Hochschulen zu schaffen; die einfache Beiordnung eines 
psychiatrisch geschulten Arztes mit der platonischen Anweisung, sich um 
die geistig Minderwertigen besonders zu kümmern, reicht nicht aus, um 
dem Arzte auch wirklich genügenden Einfluß zu sichern (Kräpelin). 

Wichtig ist die Frage nach der Dauer der Verwahrung und ob 
diese durch Spruch des ordentlichen Richters oder durch andere Personen 
bestimmt werden soll. Einigkeit herrscht wohl allgemein darin, daß die 
Aufenthaltsdauer in der Anstalt nicht nach der Schwere der Tat, sondern 
nach der Gemeingefährlichkeit des geistig Minderwertigen zu bemessen ist 
(Forel, Aschaffenburg u. a.). Ja, man schreckt sogar vor den letzten Kon¬ 
sequenzen dieser Anschauung nicht zurück und fordert für die Nichtbehand¬ 
lungsfähigen und Unverbesserlichen lebenslängliche Aussonderung aus dem 
öffentlichen Leben, wie diese bei vielen Geisteskranken erfolgt (Aschaffen¬ 
burg). Die Entscheidung über die Dauer der Verwahrung wollen die einen 
dem Vormundschaftsgericht oder gemischten Kommissionen übertragen oder 
von Sachverständigengutachten abhängig machen (Weingart, Legrain, v. Liszt, 
Kreuser u. a.), die anderen sehen sie als eine Befugnis der erkennenden 
Gerichte an (Seuffert, Kahl u. a.). Meinungsverschiedenheiten bestehen auch 
darüber, wer für die Anordnung der Verwahrung zuständig sein soll. Kahl 
will sie dem Strafrichter zuerkennen mit der Motivierung, daß die Fest¬ 
stellung der verminderten Zurechnungsfähigkeit ein integrierender Bestand¬ 
teil der Schuldfrage sei, wogegen von Aschaffenburg geltend gemacht wird, 
daß die Sicherungsmaßregel keine Strafe ist und sich daher der Zuständig¬ 
keit des Strafrichters entzieht, v. Liszt dagegen wünscht, daß der Straf¬ 
richter nur die vorläufige Verwahrung anordnet, die endgültige aber dem 


Digitized by 


Google 



278 


Minderwertigkeit« 


Entmündigungsrichter überlassen bleibt, und begründet diesen Wunsch da¬ 
mit, daß in der Erregung einer Strafverhandlung nicht immer dem Ange¬ 
klagten gegenüber die ruhige Beurteilung seiner Persönlichkeit gesichert 
ist, während doch gerade bei der so schwerwiegenden Entscheidung über 
das Geschick eines vermindert Zurechnungsfähigen nur seine Individualität, 
nicht seine Straftat den Maßstab für die Art und Schwere des staatlichen 
Eingreifens geben soll. Gegen die Überweisung der geistig Minderwertigen 
an den Eütmündigungsrichter ist von Kreusbr der Einwand erhoben worden, 
daß keineswegs alle von ihnen der Fähigkeit ermangeln, ihre Angelegen¬ 
heiten zu besorgen. Dem läßt sich aber dadurch abhelfen, daß man das 
Entmündigungsverfahren in geeigneter Weise für die Anwendung auf die 
geistig Minderwertigen, modifiziert. 

Freilich mit längerer oder kürzerer Anstaltsverwahrung und einfacher 
Entmündigung nach der Entlassung allein wird der Zweck, die Allgemeinheit 
vor Schädigung durch die geistig Minderwertigen zu bewahren, noch nicht 
erreicht. Hierzu ist vielmehr noch eine weitere sichernde Nachbehand¬ 
lung auch nach der Anstaltsentlassung erforderlich. Stellung unter eine 
Art modifizierter Polizeiaufsicht für bestimmte Zeit oder Überweisung an 
die Landespolizeibehörde (Krohne, van Galker, Köhler u. a.) bietet keinen 
Vorteil vor der Entmündigung und ist gleichbedeutend mit einfachem Laufen* 
lassen, wenn mit diesen Maßregeln nicht auch die Befugnis verbunden wird, 
die Minderwertigen bei Rückfälligkeit ohne weiteres wieder in Anstaltsver¬ 
wahrung zu nehmen, ihnen den Wohnsitz anzuweisen und sie daduroh den 
Schädigungen der Großstadt fernzuhalten. Man hat deshalb auch gefordert, 
daß die Entlassung nur bedingt erfolgen und während eines gesetzlich be¬ 
grenzten Zeitraumes widerruflich sein soll und daß vor der Entlassung in 
jedem Falle ein neues Arbeitsverhältnis oder andere Unterkunft durch Ver¬ 
mittlung der Anstalt gesichert wird. Hierzu müßte noch die Möglichkeit 
kommen, dem geistig Minderwertigen bei Arbeitslosigkeit Hilfe zu gewähren, 
um ihn vor der Gefahr neuer Entgleisungen zu schützen, und das Recht, 
ihm nur das für den Lebensunterhalt notwendige Geld seines Verdienstes 
auszuhändigen, den übrigen Teil seines Arbeitserlöses aber nutzbringend für 
ihn anzulegen. Sehr zweckmäßig erscheint auch der Vorschlag v. Liszts, den 
in der Anstalt ontergebrachten Minderwertigen mit Zustimmung des An¬ 
staltsleiters nach seiner Entlassung seiner eigenen oder einer fremden zu¬ 
verlässigen Familie zur Pflege und Beaufsichtigung zo überweisen. 

Bei den völlig unverbesserlichen geistig Minderwertigen ist von 
erzieherischen Einwirkungen freilich nichts mehr zu erwarten. Hier kann es 
sich nur um eine dauernde Anstaltsverwahrung handeln, wie man ja auch 
für die Gewohnheitsbettler die Unterbringung in Arbeitshäusern auf Lebens¬ 
zeit vorgeschlagen hat (v. Hippel). 

Da der Sammelbegriff »geistige Minderwertigkeit« ein buntes Gemisch 
verschiedenartiger Persönlichkeiten umfaßt und es daher nicht angeht, sie 
alle nach dem gleichen Rezept zu behandeln, hat man sich bemüht, sie nach 
dem Gesichtspunkt ihrer strafrechtlichen Behandlung in bestimmte Gruppen 
einzuteilen, für welche eine gleiche strafrechtliche Behandlung angebracht 
erscheint. Crambr unterscheidet zu diesem Zweck vier verschiedene Gruppen. 
Zu der ersten rechnet er Geistesgesunde, bei denen sich für gewöhnlich nur 
einzelne pathologische Momente nachweisen lassen, die aber unter dem Ein¬ 
fluß von Überanstrengung, Alkohol, Affekt und ähnlicher Umstände ganz 
vorübergehend in einen Zustand geistiger Minderwertigkeit geraten können. 
Für sie empfiehlt er Freisprechung oder wenn auf Strafe erkannt werden 
muß, bedingte Strafaussetzung. In einer zweiten Gruppe faßt er Fälle zu¬ 
sammen, deren Habitualzustand zwar dauernd ein leicht krankhafter Ist, 
sich im Sinne einer geistigen Minderwertigkeit aber nur äußert, wenn be- 


Digitized by 


Google 



Minderwertigkeit» 


279 


sondere Anforderangen an den Menschen herantreten, die aus dem Rahmen 
des alltäglichen Lebens herausfallen. Die Angehörigen dieser Gruppe sind 
entweder besserungsfähig und eignen sich dann für eine bedingte Strafaus¬ 
setzung und Begnadigung, oder sie sind einer Besserung nicht zugänglich. 
Dann müssen sie so lange in Verwahrung genommen werden, als der Zu¬ 
stand der geistigen Minderwertigkeit anhält. Hierbei ist zweierlei zu be¬ 
achten, einmal, daß gerade bei den Zuständen passagerer geistiger .Minder¬ 
wertigkeit keineswegs immer eine längere Verwahrung und Behandlung 
notwendig und zweckmäßig erscheint, und ferner, daß bei der Annahme einer 
Unheilbarkeit Vorsicht geboten ist, da bei geeigneter Behandlung mitunter 
die unsozialsten Fälle noch sozial werden. Auch bei längerer Verwahrung 
ist die Hauptaufgabe die Behandlung, die in manchen Fällen noch die Rück¬ 
kehr ins Leben unter gewissen Bedingungen möglich macht. Auch in einer 
dritten Gruppe von Fällen, bei dem Vorhandensein einer ausgesprochenen 
dauernden Minderwertigkeit kann ebenfalls Besserung eintreten und die 
Gemeingefährlichkeit sich allmählich verlieren, oder es kommt zu einer Ver¬ 
schlimmerung und zur Entwicklung einer echten Geisteskrankheit. Besserung 
muß auch hier allmählich die Gewährung einer größeren Bewegungsfreiheit 
nach sich ziehen, während der Übergang in Geisteskrankheit eine entspre¬ 
chende Anstaltsbehandlung erfordert. Für die letzte Gruppe, die dauernd 
antisozialen und ethisch depravierten geistig Minderwertigen verlangt Cramer 
dauernde und sichere Verwahrung. Zu vermeiden ist bei ihnen die Ver¬ 
hängung der Isolierhaft, weil durch sie eine Verschlimmerung ihres Zustandes 
herbeigeführt werden kann, während durch eine auf möglichst vielseitige 
Beschäftigung bedachte Behandlung unter Umständen sogar eine Besserung 
selbst dieser Zustände möglich ist. 

Ähnlich wie Cramer hat auch Kräpelin versucht, eine Gruppierung 
der geistig Minderwertigen zum Zwecke ihrer strafrechtlichen Behandlung 
vorzunehmen. Für die Alkohol- und Äthertrinker, Morphinisten und Kokainisten 
fordert er die Beseitigung der gemeingefährlichen Lebensgewohnheiten durch 
eine staatlich angeordnete und beaufsichtigte Heilbehandlung; für die an Rausch¬ 
zuständen Leidenden Aufnahme in eine Sicherungsanstalt. Epileptiker, Hyste¬ 
rische, Kranke mit Schreckneurose, mit konstitutioneller Verstimmung, mit 
Zwangsbefürchtungen und krankhaften Antrieben sollen gleichfalls solange 
in ärztliche Behandlung genommen werden, bis sie für die .Allgemeinheit 
nicht mehr gefährlich sind oder die Gefahr einer Schädigung doch wesentlich 
abgeschwächt ist. Von einer Bestrafung ist abzusehen, da sie der Gesell¬ 
schaft keinen Nutzen bringt, den Täter aber unter Umständen sogar schädigt. 
Ebenso hält er die Bestrafung der jugendlichen geistig Minderwertigen für 
zwecklos und schädlich, weil sie infolge ihrer leichten Zugänglichkeit für 
fremde Einflüsse und ihrer Willensschwäche durch den Aufenthalt im Ge¬ 
fängnis vielfach erst zu Verbrechern erzogen werden. Bei ihnen versprechen 
Maßregeln heilpädagogischer Natur mehr Erfolg als eine schablonenmäßige 
Abstrafung. Den großen Rest der geistig Minderwertigen endlich teilt er in 
die Nichtdetentionsbedürftigen (einfach Schwachsinnige, Psychopathen ver¬ 
schiedener Art ohne besondere verbrecherische Neigungen, Altersschwache 
und Apoplektiker) und die Detentionsbedürftigen, die wegen ihrer dauernden 
Gemeingefährlichkeit unter allen Umständen auf längere Zeit in einer An¬ 
stalt verwahrt werden sollen, wobei aber dem Arzt im Gesamtbetriebe ein 
ausreichender Einfluß einzuräumen ist. Bei den Nichtdetentionsbedürftigen 
wünscht Kräpelin ausgedehnten Gebrauch der bedingten Verurteilung, da 
der Strafvollzug die Gesundheit der meisten von ihnen schwer schädigt und 
der Strafzweck bei allen überhaupt nicht erreicht wird. Daneben empfiehlt 
er eine länger fortgesetzte Überwachung, etwa in Form einer zuverlässigen 
Familienpflege, Aufnahme in eine Pfründe oder in ein Siechenhaus. Das ge- 


Digitized by 


Google 



280 


Minderwertigkeit. 


richtliche Verfahren gegen die geistig Minderwertigen denkt sich KrApelin 
so, daß zunächst das Strafverfahren bis zur Feststellung ihrer Täterschaft 
durch geführt, ihr weiteres Schicksal aber nicht durch Richterspruch, sondern 
durch fortgesetzte sorgfältige sachverständige Beobachtung in den Beob¬ 
achtungsabteilungen der Strafanstalten bestimmt wird, wo die definitive Ent¬ 
scheidung über die zweckmäßigste Behandlung des Einzelfalls getroffen wird. 

Nicht allein die rechtliche Behandlung, sondern auch eine geeignete 
prophylaktische Behandlung der geistig Minderwertigen ist für die All¬ 
gemeinheit von der allergrößten Bedeutung. Da die geistige Minderwertig¬ 
keit ihre Wurzeln in der ererbten Anlage hat, muß eine zielbewußte Pro¬ 
phylaxe bei der Bekämpfung ihrer ätiologischen Ursachen beginnen. Ein¬ 
schränkung des Alkoholgenusses, Verhütung der Syphilis und der anderen 
Geschlechtskrankheiten, erfolgreiche Bekämpfung der Tuberkulose, verbesserte 
Wohnungshygiene usw. muß auch zu einem Rückgang der geistig minder¬ 
wertigen Nachkommenschaft führen. Für die Kinder- und Schuljahre kommt 
sorgfältige Überwachung und Erziehung in Haus und Schule in Betracht. 
Wo solche im Elternhaus nicht zu erreichen ist, muß für die Aufnahme der 
geistig minderwertigen Kinder in Kinderhorte nnd Kindergärten Sorge ge 
tragen werden. Sind die Eltern ihren moralischen Qualitäten nach zur Er¬ 
ziehung ihrer Kinder ungeeignet, so ist die Fürsorgeerziehung einzuleiten, 
und zwar so frühzeitig als möglich, wenn die Kinder kriminelle Neigungen 
erkennen lassen. Neben der Überwachung und Beratung ist besonders auf 
die Anleitung zur Arbeit, und zwar solcher Arbeit Rücksicht zu nehmen, 
die dem Können der geistig minderwertigen Jugendlichen entspricht. Viele 
von ihnen gehören in die Hilfsklassen för weniger begabte Kinder, wo ihrer 
individuellen Eigenart im Schulunterricht mehr Rechnung getragen werden 
kann, als in der Normalklasse, und Lehrer und Schularzt einen genaueren 
Einblick in ihre geistige Veranlagung erhalten. Die Anlegung von Personal¬ 
bogen müßte für die geistig minderwertigen Kinder der Hilfsschule zur 
Pflicht gemacht werden. In diese wären neben genauen Personalangaben 
Mitteilungen über die Herkunft der Kinder, über erbliche Belastung. Trunken¬ 
heit und Kriminalität der Eltern, über den Zustand des Kindes bei der 
Aufnahme in die Schule, über seine Entwicklung während der Schulzeit und 
über den Zustand bei seiner Entlassung aufzunehmen. Durch Eintragung 
des Hauptinhaltes dieser bei den Hilfsschulen geführten Personalbogen in 
die Strafregister der Staatsanwaltschaften wäre weiter den Gerichten die 
Möglichkeit gegeben, ohne weiteres aus dem Strafauszug im konkreten Falle 
ersehen zu können, daß man es mit einem geistig Minderwertigen zu tun 
hat. Als zweckmäßige Schutzmaßregel ist endlich noch der Vorschlag v. Liszts 
anzusehen, bei den geistig Minderwertigen nicht erst mit der Anordnung 
eines Sicherungsverfahrens bis zur Begehung einer strafbaren Handlung zu 
warten, sondern dem Entmündigungsrichter durch Einleitung der Entmündi¬ 
gung schon vorher die Möglichkeit zu einer prophylaktischen Einweisung 
der geistig Minderwertigen in eine Anstalt zu geben, auch wenn sie ihre 
Gemeingefährlichkeit noch gar nicht durch die Tat bewiesen haben. 

Literatur: Außer den Lehrbüchern der gerichtlichen Psychiatrie und gerichtlichen 
Medizin, unter denen besonders Cramkb, Gerichtliche Psychiatrie, 1908, 4. Aufl. — Hocbb, 
Handbuch der gerichtlichen Psychiatrie, 1909, 2. Aull. — Si kmbkling, Schmidtmanns Hand¬ 
buch der gerichtlichen Medizin, 1906. — Strassmann, Lehrbuch der gerichtlichen Medizin, 
1895, angeführt seien und wo anch ausführliche Literaturangaben zu finden sind, noch : 
Abchaffbnbürg, Das Verbrechen und seine Bekämpfung. 2. Aufl., Verminderte Zurechnungs¬ 
fähigkeit. Ärztl. Sachverständigen-Ztg., 1899, Nr. 19 und Deutsche med. Wochenschr., 1904, 
Nr. 31. — A. Baby, Verminderte Zurechnungsfähigkeit. Wiener Klinik, 1905, H. 12 — 0. Bcmkb, 
Landläufige Irrtümer in der Beurteilung von Geisteskranken. Wiesbaden 1908, J. F. Berg¬ 
mann. — A. Cbamkr, Die strafrechtliche Behandlung der geistig Minderwertigen. Münchener 
med. Wochenschr., 1904, Nr. 40; Psychiatrische Wünsche zur Strafrechtsreform. Münchener 
med. Wochenschr., 1908, Nr. 40; Die forensische Bedeutung der Grenzzustände. Zeitschr. f. 


Digitized by 


Google 



Minderwertigkeit. — Myopathien, funktionelle. 


281 


ärztl. Fortbildung, 1907, Nr. 6 und Berliner klin. Wocheoschr., 1900, pag. 1053 and 1096. — 
Finger, Geminderte Zurechnungsfähigkeit and strafrechtliche Behandlung der gemindert Zu¬ 
rechnungsfähigen, Der Gerichtssaal, 1904, H. 4. — J. Fritsch, Willensfreiheit und Zurech¬ 
nungsfähigkeit. Handbuch der Sachverständigentätigkeit von P. Dittrich, 1907, Lief. 14/15. — 
Forel, Zurechnungsfähigkeit des normalen Menschen. München 1907, E. Reinhardt. — A. Gott- 
schale, Materialien zur Lehre von der verminderten Zurechnungsfähigkeit. Berlin 1904, 
J. Guttentag. — F. Hoppe, Verminderte Zurechnnngsfähigkeit. Frirdreichs Blätter f. gerichtl. 
Med., 1906, pag. 347 und 422. — Kahl, Die strafrechtliche Behandlung der geistig Minder¬ 
wertigen. Verhandl. des 27. Deutschen Juristentages. Berlin 1904, J. Guttentag. — H. Kiel- 
bork, Die geistig Minderwertigen vor Gericht. Monatsschr. f. Krim.-Psych., IV, pag. 165. — 
Kirn, Geminderte Zurechnungsfähigkeit. Viel teljahrsschr. f. gerichtl. Med., 1898, XVI. — 
E. KrIpelin, Zur Frage der geminderten Zurechnungsfähigkeit. Monatsschr. f. Krim.-Psych., 
Bd. I, pag. 477. Kreuser, Die Stellung der Geisteskranken iu Strafgesetzgebung und Strafprozeß. 
Juristisch-psychiatrische Grenzfragen, 1906, Bd.III, H. 6/7.— H.Kurella, Zurechnungsfähigkeit. 
Halle a. S. 1903, Gebauer-Schwetschke. — K. v. Lilientbal, Über Zurechnungsfähigkeit. 
Monatsschr. f. Krim.-Psych., V, pag, 257. — Longard, Die geminderte Zurechnungsfähigkeit. 
Monatsschr. f. Krim.-Psych., Bd. 111, pag. 87. — Mbnprl, Geminderte Zurechnungsfähigkeit. 
Verhandlg. des Vereins deutscher Irrenärzte 1888 zu Bonn. Allgem. Zeitschr. f. Psych., XLV, 
pag. 524. — Pelmarn, Die geminderte Zurechnnngsfähigkeit. Bonn 1903, Röhrscheid & Ebbecke. 
— ScbIfer, Straf- und zivilrechtliche Begriffe in 8achen von Geisteskranken. Vierteljahrsschr. 
f. ger. Med., 1900, Bd. XX. — v. Schbrkck-Notzino, Kriminalpsychologische und psychopatho- 
logische Studien. Leipzig 1902, J. A. Barth. — R. Sommer, Kriminalpsychologie und straf¬ 
rechtliche Psychopathologie. Leipzig 1904, J. A. Barth. — Strassmann, Verminderte Zu¬ 
rechnungsfähigkeit. Vierteljahresschr. f. ger. Med., 1905, XXX; Die strafrechtliche Bedeutung 
des Morphinismus. Vierteljahresschr. f. gerichtl. Med., XXXI, H. 2. — S. Töbkel, Die krimi¬ 
nellen Geisteskranken. Wien 1905, Moritz Perles; Vereinigung für gerichtliche Psychologie 
und Psychiatrie im Großherzogtum Hessen, Die Fürsorge für gefährliche Geisteskranke. Juri¬ 
stisch-psychiatrische Grenzfragen, 1908, H. 5. — R. Wernf.r, Geistig Minderwertige oder 
Geisteskranke. Fischers med. Buchhandlung, H. Kornfeld 1906. E. Ziemke. 


Morptiiiibrommettiylat. Absgedehnte klinische Erfahrungen 
mit Morphinbrommethylat hat Hirschlaff gesammelt. Er lobt die schmerz¬ 
stillende Wirkung, die hustenmildernde Wirkung, den beruhigenden und 
schlafbringenden Einfluß des Morphinbrommethylats. Ebenso leistete das 
Pr&parat zur Morphiumentziehungskur sowie als Antiepileptikum gute 
Dienste, endlich kann es in Verbindung mit Skopolamin verwandt werden. 

Die Dosierung des M. brommethyl. ist liach Hirschlaff folgende: 
»Innerlich: bei Kindern je nach dem Alter 0*02—01 g als Pulver oder in 
Form der 5%igen Losung (4—40 Tropfen) mehrmals täglich. Bei Er¬ 
wachsenen 0 05—0*2 g als Pulver oder in 5%iger Lösung (20 Tropfen bis 
2 Teelöffel) mehrmals täglich. Subkutan: 0*1—0 25 g — 2—5 m 3 der 5%igen 
Lösung, eventuell mehrmals täglich. Eine Höchstdosis besteht nicht, doch 
dürfte bei Kindern eine Tagesdosis von 0*3 g, bei Erwachsenen eine solche 
von 0*75—1*0 j zu überschreiten selten notwendig sein.« Die 5%ige Lösung 
färbt sich beim Sterilisieren braun und kristallisiert leicht aus; sie muß 
dann vor Gebrauch erwärmt werden. 

Der Arbeit sind zahlreiche Krankengeschichten beigefögt sowie nach 
einem geschichtlichen Überblick das Wissenswerte über Chemie und Pharma¬ 
kologie der Substanz angegeben. 

Literatur: Hirschlaff, Zur neueren Morphinforschung, mit besonderer Berücksichti¬ 
gung des Morphinbrommethylates. Therapeut. Monatsh., Oktober und November 1908. 

E. Frey. 

Myopathien, funktionelle« Die geringe Beachtung, die man 
den myogenen Funktionsstörungen schenkte, sofern es sich nicht um Ver¬ 
änderungen handelte, die zur Atrophie und Lähmung führten, stand bis vor 
kurzem in einem ganz sonderbaren Mißverhältnis zu dem Umfange, in dem 
der angehende Arzt während seines Studiums mit der Nomenklatur und 
Topographie der Muskeln geplagt wird. Nur der Hexenschuß eigentlich war 
ein mehr oder weniger dankbares Objekt der Therapie, ohne aber trotz 
seines wissenschaftlichen Namens Lumbago, ebensowenig wie der »Muskel¬ 
rheumatismus« als ein des wirklichen ärztlichen Interesses oder gar der 


Digitized by 


Google 



282 


Myopathien, funktionelle* 


Vorstellung in der Klinik würdiges Objekt zu gelten. Jedenfalls hielt man 
es, ehe 0. Rosenbach sich eingehend mit dem Studium der funktionellen 
Störungen am Muskelapparat beschäftigte, für wissenschaftlicher oder exakter, 
bei schmerzhaften Affektionen im Muskelnervengebiete die Diagnose auf 
eine Nervenerkrankung, Neuralgie oder sogenannte Neuritis zu stellen. Erst 
Rosenbach war der Nachweis Vorbehalten, daß der in seinem Spannungs¬ 
verhältnisse so außerordentlich labile Muskelapparat eine große Bedeutung 
für schmerzhafte Empfindungen und abnorme motorische Erscheinungen so¬ 
gar im Gebiete der inneren Organe hat und daß nicht nur der reinen 
Myalgie, resp. den sogenannten rheumatischen Muskelaffektionen die als 
charakteristisch für Neuralgien angesehenen Symptome zukommen, sondern 
daß die Muskulatur in vielen Fällen der hauptsächliche, wenn nicht gar 
ausschließliche Sitz des Leidens ist, wo fälschlich eine tiefer liegende Affektion 
angenommen wird. 

Die Beschwerden, die im Grunde auf eine funktionelle Störung im 
Muskelapparate zu beziehen sind, äußern sich bald als reine »Myalgie«, bald 
als diejenige Form der motorischen Störung, die von Rosenbach zuerst als 
»perverse Innervation« charakterisiert worden ist. Ira letzteren Falle per- 
sistiert auch nach Nachlassen der ursprünglichen Schmerzhaftigkeit eine 
gewisse Unzulänglichkeit der Willensakte für die Überwindung der gewohn¬ 
heitsmäßig gewordenen Hemmungen, resp. der Unlustgefühle, wie sie infolge 
der langen Inaktivität gewisser Muskeln oder Muskelgruppen bei jedem Ver¬ 
such einer Innervation der Antagonisten zur Erzielung des normalen synerge¬ 
tischen Effektes im Sinne der richtigen Koordination entstehen. Bei den myai- 
gischen Beschwerden selbst aber kann es sich das eine Mal um eine im 
Parenchym des Muskels primär entstandene Veränderung, das andere Mal 
um eine reflektorische Beeinflussung seines Tonus oder um die Folge einer 
zirkulatorischen, von der Nachbarschaft ausgehende Störung handeln. 

Die eigentliche gewebliche Grundlage der Myalgie oder richtiger das 
Wesen der inneren Betriebsstörung, die zur Myopathie führen, ist uns leider 
ebenso wenig bekannt, wie der Vorgang im Nerven, durch den Hyperästhesien, 
Hyperalgien und Neuralgien hervorgerufen werden. Es kann aber nicht 
zweifelhaft sein, daß es sich um verschiedenartige oder wenigstens durch 
ganz verschiedene Ursachen bedingte innere Veränderungen handelt; denn 
bald ist die Muskelsubstanz selbst, bald mehr das Gebiet der Faszien, Apo- 
neurosen und Sehnen beteiligt und auch der Haut und den Hautmuskel¬ 
nerven kommt je nach den Umständen ein mehr oder weniger großer An¬ 
teil am Symptomenbilde zu. 

Ebenso sind in dem einen Falle rein mechanische, im anderen ther¬ 
mische oder chemische, resp. zirkulatorische Anomalien wirksam. Wir 
wissen, daß je nach der individuellen Disposition 1. zu starke Abkühlung, 
namentlich bei schwitzender Haut (Erkältung), 2. übermäßiger Anstren¬ 
gung, besonders plötzliche oder langdauernde Spannung, seltener ein 
Trauma solche Zustände hervorruft, daß sie aber 3. auch durch Zirku¬ 
lationsstörungen aller Art bedingt werden und 4. unter dem Einflüsse kon¬ 
stitutioneller Zustände (Menstruation, Klimakterien, nervöser Disposition und 
gewisser Krankheiten, speziell der Stoffwechselkrankheiten [Nephritis, Dia¬ 
betes]) auftreten. 

Um auf die besonders wichtigen Formen von Myalgien resp. funktio¬ 
nellen Myopathien einzugehen, die teils aus Unkenntnis der diese Zustände 
charakterisierenden Beschwerden, teils wegen der herrschenden Neigung, 
»Organdiagnosen« (d. h. eigentlich nichts anders als Diagnosen auf Erkrankung 
innerer Organe) zu stellen, leider nur zu häutig mit ganz heterogenen Affek¬ 
tionen verwechselt werden, so sind da zunächst viele Fälle von vermeint¬ 
licher Ischias aufzuführen. 


Digitized by 


Google 



Myopathien, funktionelle. 


283 


Gerade im Hinblick an! diese Form der Ischias werde von Rosenbach 
der Nachweis zuerst erbracht, daß aoch der reinen Myalgie gewisse als 
charakteristisch für die Neuralgie angesehenen Symptome, nämlich Druck¬ 
sohmerzpunkte (neben diffuser Schmerzhaftigkeit) und typische Periodi¬ 
zität, resp. Intermittenz der Erscheinungen, recht oft zukommen. Man 
ist, wie ich das aus meinem eigenen Erfahrungskreise durchaus nur bestätigen 
kann, bei eingehender Prüfung im Sinne der nachstehenden Ausführungen 
geradezu erstaunt über die Seltenheit, mit der sich einem reine Typen der 
Neuritis ischiadica präsentieren. Teils findet man dann, daß die »klassischen 
Symptome« sich bei genauer Beobachtung doch nicht so deutlich nachweisen 
lassen, wie das auf den ersten Blick den Anschein hatte, teils daß sie, 
auch wo sie tatsächlich vorhanden sind, häufig ganz anders gedeutet werden 
dürfen und müssen, als das auf Grund der herrschenden Doktrinen und nach 
dem landläufigen Schema in der Regel geschieht. Der letzte Beweis für die 
myogene Natur des Leidens aber pflegt durch die Therapie erbracht zu 
werden, auf die unten noch eingehend zurückgekommen werden soll. Was 
speziell die erwähnten als Ischias klassifizierten Fälle anlangt, so war vor 
allem die Feststellung wichtig, daß die typischen ausgebreiteten Störungen 
an der Beugeseite des Schenkels und sogar die Beteiligung des anderen 
Beines (also »doppelseitige Ischias«) häufig nur Folge der primären Myalgie 
sind. Es handelt sich hier um sekundäre Affektionen: durch die primär ge¬ 
setzte Funktionsstörung in einem kleinen Muskelgebiet, das allerdings der 
Durchtrittsstelle des Nervus ischiadicus entspricht, werden andere Muskeln, 
namentlich die Wadenmuskeln, abnorm belastet und erkranken dann all¬ 
mählich in gleicher Weise. 

Sehr oft ist die primäre Muskelaffektion rheumatischer Natur, aber 
mindestens ebenso häufig, wenn nicht häufiger, ist ein Zusammenhang 
mit Störungen im Verdauungsapparate nachweisbar, die sich nicht 
genau präzisieren lassen, aber gewöhnlich mit Anomalien des Stuhlgangs 
und oft mit deutlichen Veränderungen im Venensystem in charakteristischer 
Weise vergesellschaftet sind. 

Es handelt sich hier mit einem Worte um das Gebiet der hämor- 
rhoidalen Erkrankungen. Und so sehr man auch in früheren Zeiten die 
Bedeutung der Hämorrhoiden übertrieben hat, so wenig läßt sich leugnen, 
daß diese, abgesehen von den funktionellen Störungen im Gebiet der Unter¬ 
leibsorgane — ob kausal, sekundär oder akzidentell, mag dahingestellt 
bleiben —, oft mit starken Muskelbeschwerden, namentlich in den großen 
Rücken-, Becken- und Beinmuskeln verbunden sind und daß nach einer 
Blutung oder bei Regulierung des Stuhlganges die Beschwerden ganz wesent¬ 
lich geringer werden. Jedenfalls lehrt die Erfahrung, daß zahlreiche Fälle 
von sogenannter Ischias, namentlich linkseitiger, mit Störungen im Darme 
Zusammenhängen, resp. daß sie durch deren Beseitigung oder — um ja 
nichts zo präjudizieren — mit ihrer Beseitigung behoben werden. Die Er¬ 
fahrung Rosenbachs, daß funktionelle Anomalien im Gebiet des Coecum, 
resp. des Colon ascendens vorzugsweise mit rechtseitiger und solche im 
Gebiet des Colon descendens mit linkseitiger Ischias, richtiger mit Schmerzen 
und Bewegungsstörungen in den Muskeln der Extremitäten oder des Rückens 
auf der betreffenden Seite auffallend häufig verbunden sind, habe ich, seit¬ 
dem ich auf Grund meiner Beziehungen zu Rosenbach diesen Fällen meine 
Aufmerksamkeit in besonderem Maße zuwandte, immer wieder bestätigt 
gefunden. 

Wie schon erwähnt, sind diese für neuralgisch angesehenen Affektionen 
an der Hüfte, allerdings häufig auch zweifellos rheumatischer Natur. Und 
da scheint es mir nicht unangebracht, zumal ja die ätiologische Bedeutung 
der Erkältung vielfach geleugnet wird, im Einklänge mit den schon von 


Digitized by 


Google 



284 


Myopathien, funktionelle« 


Rosenbach gemachten Ausführungen darauf hinzuweisen, daß empfindliche 
und stark transspirierende Personen über die erwähnten Beschwerden nicht 
seiten zum ersten Male am frühen Morgen nach dem Aufstehen klagen, be¬ 
sonders wenn sie nachts bei offenen Fenstern geschlafen haben. Zweimal 
begegneten mir Fälle, in denen die (weiblichen) Patienten sich die vermeint¬ 
liche Ischias in einer Lungenheilstätte zugezogen hatten, in der die kon¬ 
tinuierliche Zufuhr fnscher Luft auch bei der Nacht als conditio sine qua 
non der Heilung betrachtet und zum Prinzip der Behandlung erhoben worden 
ist. Mehr oder minder starke, sich gerade morgens einstellende Empfindungen 
von Steifigkeit und Schmerzen in den Beinen und im Kreuz« aber auch 
weiter den Rücken hinauf und in den Armen, namentlich bei solchen Per¬ 
sonen, die angeben, daß sie in den ersten Stunden im Bett nicht recht warm 
werden konnten, sind überhaupt nichts seltenes. 

Es gibt freilich andrerseits Fälle, in denen der Muskelschmerz von 
einer durch festen Schlaf bedingten mehrstündigen Zwangslage herrührt, 
und ebenso andere, in denen nicht die langdauernde, sondern die 
plötzliche Spannung eines Muskelkomplexes, z. B. bei sehr hurtigem 
Aufstehen (besonders von einem sehr weichen Lager), ein hastiges Bücken 
beim Anziehen der Fußbekleidung oder dergleichen zur Ursache einer oft 
langwierigen Myalgie wird. In solchen länger bestehenden Fällen geben die 
Patienten den Sitz der Beschwerden zuweilen nicht richtig an, weil bereits 
irradiierende Schmerzen oder abnorme sekundäre Muskelaffektionen ent¬ 
standen sind. Auch können gerade auf Grund der noch unten zu erwähnenden 
perversen Innervation durch Überanstrengung ganz fern gelegene Gebiete 
dort sekundär Schmerzen in den Muskeln oder ihren Faszien und Sehnen 
auftauchen, die dann nicht nur vom Kranken selbst, sondern auch vom 
Arzte leicht ganz falsch gedeutet werden. Das habe ich z. B. in bezug 
auf die Metatarsalgie verschiedentlich zu beobachten Gelegenheit ge¬ 
habt, die gewöhnlich mit Knochen-, Periost- oder wenigstens Schleimbeutel¬ 
erkrankungen in Zusammenhang gebracht wird, während es sich offenbar 
nicht selten um einen in der Sehne des M. flexor digitorum communis longus 
lokalisierten Schmerz infolge krampfhafter Inanspruchnahme der Muskulatur 
des falsch belasteten Fußes bei rheumatischen und anderen Erkrankungen 
des Hüftgelenkes, resp. der es umgebenden Muskeln handelt. Diese Meta¬ 
tarsalgie muskulärer Provenienz pflegten übrigens in den von mir beobachteten 
Fällen (im Gegensatz zu der auch unter dem Namen der »MoRTONschen 
Krankheit« gehenden, auf neuropathischer Basis entstandenen, nicht am 
Caput des vierten, sondern) am Köpfchen des zweiten Metatarsus lokalisiert 
zu sein. Die Affektion betraf jedesmal die linke untere Extremität. 

Daß Konstitutionskrankheiten häufig eine Disposition zu Myalgien 
schaffen, und daß sie bei Diabetes und bei chronischer Nephritis be¬ 
sonders häufig sind, wurde bereits erwähnt. Schon aus der Häufigkeit, mit 
der hier eine genaue Untersuchung der schmerzhaften Partien den Nachweis 
erbringt, daß die hauptsächlichsten Schmerzpunkte mehr dem Verlaufe ge¬ 
wisser Muskeln als dem der Nervenbahnen, resp. der größeren Nerven- 
stämme entsprechen, ergibt sich die myalgische Natur vieler dieser meistens 
als spezifische Neuralgien betrachteter Leiden. Die Schmerzhaftigkeit beim 
echten Diabetes beschränkt sich meistens auf die Muskelgruppen der 
unteren Extremitäten. Seitdem ich aber unter dem Einfluß der Rosenbach- 
schen Lehren in meiner Krankenhaus- und konsultativen Praxis auch den 
von diesem Forscher unter dem Namen der »Melliturie« zusammengefaßten 
Funktionsanomalien erhöhte Beachtung schenke, ist mir das überaus häufige 
Zusammentreffen von äußerst mannigfaltig lokalisierten myopathischen Affek¬ 
tionen besonders mit denjenigen Formen der pathologischen Zuckeraus¬ 
scheidung aufgefallen, die zu der hypokinetischen Form der Fettleibigkeit 


Digitized by 


Google 



Myopathien, funktionelle. 


285 


(Adipositas e fnnctione minori) in Beziehung standen. Bei derartigen Kranken, 
die, wenn auch oft sehr korpulent, keine starken Esser und keineswegs die 
zahlreichen und kopiösen Darmentleerungen der zuckerausscheidenden Fett- 
sfichtigen mit absoluter Luxuskonsumption haben, sondern im Gegenteil an 
mehr oder weniger hartnäckiger Verstopfung leiden, treten zunächst gern 
die unten noch zu erwähnenden Schmerzpunkte im Epigastrium auf. Ich 
fand aber Schmerzhaftigkeit mit konsekutiven Bewegungsstörungen in Form 
perverser Innervationen sich nicht selten hinauf erstreckend bis in den 
Obiiquus abdominis externus, in den M. latissimus dorsi, den Serratus 
anticus major und auf die Armmuskulatur überstrahlend, namentlich auch 
im Triceps. Gerade bei der Melliturie aus relativer Luxuskonsumption hatte 
ich Gelegenheit, seitdem ich gewohnt bin, meine Exploration auf diesen Punkt 
auszudehnen, ein Symptom mit zunehmender Häufigkeit zu konstatieren, das 
ich auch anderenorts beschrieben habe: von den Kranken werden die Be¬ 
schwerden besonders heftig empfunden, si alvo dejecta anum pertergere 
conantur. Infolge der Scheu vor der fatalen Situation, die die Schmerz¬ 
haftigkeit einzelner dieser Muskeln und der sie, resp. ihre Antagonisten be¬ 
fallenden Krämpfe verursacht, wird dann der Defäkationsakt nach Möglich¬ 
keit hinausgeschoben und damit nicht nur der an sich vorhandenen Tendenz 
zur Unregelmäßigkeit noch mehr Vorschub geleistet, sondern auch das Ent¬ 
stehen der schon erwähnten und noch weiter zu erörternden Myalgien im 
Bereiche des Epigastriums entschieden begünstigt. 

Zu den konstitutionellen Erkrankungen gehört auch die konstitu¬ 
tionelle Neurasthenie und die zu dieser in unverkennbaren Beziehungen 
stehende Chlorose. 

Daraof, daß bei der Neurasthenie in vielen Fällen gerade die »reiz¬ 
bare Muskelschwäche« das Hauptsymptom ist, wurde von Rosenbach wieder¬ 
holt hingewiesen. Der Muskel ist ja eine Hauptquelle der Energie resp. der 
Energiespannungen im Körper, die für die Willenstätigkeit fast allein in 
Betracht kommen. Deshalb kann es nicht wundernehmen, daß sich bei der 
Neurasthenie so häufig primär Myalgien und konsekutiv, d. h. infolge der 
schmerzhaften Empfindungen und begünstigt die gleichzeitige Anomalie der 
Willensakte, speziell durch das unzureichende Vermögen, die kinetischen 
Impulse in der gesetzmäßigen Reihenfolge und mit einem der Leistung genau 
adäquaten, nicht über das Ziel hinausschießenden Kraftaufwande an die 
Peripherie gelangen zu lassen, auch Jene Störungen im Tonus entfernterer 
Muskelgebiete einstellen. Doch habe ich diese von Rosenbach zuerst als 
Äußerungen einer »perversen Innervation« erkannten und beschriebenen 
Zustände in dessen Jahrbüchern (neue Folge, Bd. IV, 1906) bereits ein¬ 
gehend genug geschildert, um hier von der Wiedergabe weiterer Details 
absehen zu können. 

Meiner Erfahrung nach werden besonders diejenigen Neurastheniker 
von Myalgien besonders häufig und schwer befallen, deren Gemütsstimmung 
stark vom Wetter beeinflußt wird, ohne daß deshalb doch diese Affektionen 
lediglich als »rheumatische« zu bezeichnen berechtigt wären. 

Bei chlorotischen Mädchen, aber auch bei anämischen Knaben in 
der Pubertätszeit hatte ich Gelegenheit, ein bisher meines Wissens nicht 
beschriebenes myoneurasthenisches Symptom zu finden, nämlich eine 
Myalgie im Bereiche des Musculus cucullaris. Nicht nur daß sich 
auf entsprechendes Befragen äußerst quälende, brennende und lähmende 
Sensationen in den oberen Teilen der Rückenmarksmuskulatur eruieren 
lassen, die sich steigern, sobald ein Arm auch nur im geringsten 
(z. B. durch eine Bücher- und Musikmappe oder dergleichen) oder der 
Schultergürtel (z. B. durch ein nicht ganz leichtes, namentlich aber lose 
sitzendes Kleidungsstück) belastet ist — es finden sich auch hier mindestens 


Digitized by 


Google 



286 


Myopathien, funktionelle. 


in der Hälfte aller Fälle ausgesprochene, in die prominenten Ränder des 
Schulterblattes gruppierte Druckschmerzpunkte. Myalgische Erscheinungen 
dieser Art in mehr oder minder ausgesprochenem Maße kann man bei 
Chlorotischen in etwa 80%, bei anämischen Personen männlichen Geschlechtes, 
namentlich bei Schülern, die die mittleren und oberen Klassen der höheren 
Unterrichtsanstalten besuchen, in etwa 30% der Fälle antreffen. 

Von Rosenbach ist ferner wiederholt darauf hingewiesen worden, daß 
die funktionellen Erkrankungen der die großen Körperhöblen 
begrenzenden Muskeln unter Umständen Erscheinungen hervor- 
rufen, die mit Affektionen der angrenzenden inneren Organe die 
größte Ähnlichkeit haben. So ist für den weniger Erfahrenen beständig 
Gelegenheit zu keineswegs bedeutungslosen diagnostischen resp. progno¬ 
stischen und auch therapeutischen Mißgriffen gegeben, zumal die gangbaren 
Lehrbücher über die Symptomatologie der funktionellen Myopathien auf¬ 
fallend arm sind. 

Ein recht interessantes Kapitel derartiger funktioneller Muskelerkran¬ 
kungen bilden die Myalgien der oberen Teile der Bauchmuskulatur — 
interessant nicht nur deshalb, weil sie eine typische Kardialgie oder andere 
Formen der Magenerkrankung vorzutäuschen imstande sind, sondern vor 
allem auch, weil sie einer bei Magenleiden sonst gerade nicht üblichen 
Therapie, und zwar meistens mit sehr günstigem Erfolge, unterzogen werden 
können. 

Die Affektion befällt vorwiegend Frauen und Mädchen, zum großen 
Teile jüngere und besonders solche, die sich gewissen, mit Zwangshaltung 
des Körpers verbundenen Beschäftigungen, wie Maschinennähen, Wäsche¬ 
bügeln, Schreiben, Musterzeichnen, Klavierspielen usw. berufsmäßig oder sonst 
in anstrengender Weise unterziehen. Der wesentliche Charakterzug des 
Krankheitsbildes ist ein bohrender oder stechender und sich auf ganz mäßigen 
Druck steigender Schmerz im Abdomen, der nur selten auf einen eng um¬ 
schriebenen Bezirk unterhalb des Processus xiphoideus oder längs des Rippen¬ 
bogens lokalisiert ist, sondern meistens unter Bevorzugung der linken Seite 
das ganze Epigastrium einnimmt. Appetitlosigkeit ist in der Regel nicht 
vorhanden, aber abgesehen von der Steigerung der Schmerzen während des 
Verdauungsaktes wird auch über das Gefühl von Aufgetriebenheit der Magen¬ 
gegend und über leichte Übelkeit nach den Mahlzeiten geklagt. Neben diesen 
Anomalien der Verdauung bestehen gewöhnlich Beschwerden bei der Defä- 
kation. Begünstigt durch eine fast regelmäßig vorhandene Obstipation, pflegen 
recht schmerzliche Empfindungen in den affizierten Partien bei jeder lebhafteren 
Aktion der Bauchmuskeln aufzutreten. Eine Gasansammlung läßt sich aber bei 
der objektiven Untersuchung nicht nachweisen, sondern nur die erwähnte 
diffuse oder seltener auf bestimmte Bezirke beschränkte Hyperästhesie der 
Muskulatur. 

Wenn Rosenbach seinerzeit die Befürchtung äußerte, daß die groben 
Täuschungen über die Natur dieser Beschwerden bei der noch immer vor¬ 
handenen Sucht, funktionelle Störungen zu ignorieren, und andrerseits, von 
einem möglichst radikalen Vergehen alles Heil zu erwarten, sogar zu ver¬ 
hängnisvollen operativen Eingriffen Anlaß geben konnten, so muß ich leider 
auf Grund meiner Erfahrungen während einer inzwischen verflossenen sieben¬ 
jährigen Frist bestätigen, daß die Tatsachen dieser ominösen Vorhersage 
durchaus entsprochen haben. Am leichtesten wäre ja die Verwechslung mit 
Kardialgien, Ulcus rotundum oder auch Darmkoliken, aber ich habe, schlecht 
gerechnet, anderthalb Dutzend Fälle in dieser Zeit gesehen, in denen man 
trotz der vorwiegenden Lokalisation der Schmerzen auf der linken Seite 
dem modernen Faible für die Typhlitis- und Gallensteindiagnosen Konzes¬ 
sionen machte und operierte oder wenigstens dem Kranken die Operation 


Digitized by 


Google 



Myopathien, funktionelle. 


287 


«ehr ernstlich in Vorschlag gebracht hatte. Und doch ist die Differential¬ 
diagnose, anoh wenn der Sitz der Beschwerden Verwechslungen nicht schon 
vornherein ansschließt, keineswegs schwierig, wenn man der von Rosenbach 
konstatierten Tatsache Beachtung schenkt, daß bei der Myalgie jede Ver¬ 
änderung des Volumens der Bauchorgane die kontinuierlichen Schmerzen 
ganz außerordentlich steigert, daß also der Schmerz bei der Entspan¬ 
nung mindestens fortbestehen bleibt, aber in der Regel sogar 
stärker wird wie im voraufgegangenen Zustande der Spannung, 
und daß man andrerseits die heftigen Schmerzen durch Empor¬ 
heben und Kompression einer kleinen Partie der Haut resp. des 
Fettgewebes in jener zu lokalisieren vermag. 

ln Parallele mit diesen Affektionen der oberen Teile der Bauchmus¬ 
kulatur sind die Myalgien der unteren Partien der Rückenmusku- 
latur zu setzen. Hier wie da bestanden bei den meisten der von Rosen¬ 
bach und mir behandelten Patientinnen — um Männer handelt es sich, wie 
bemerkt, relativ selten, und die Erscheinungen sind hier durchgängig 
leichter — nicht unbeträchtliche Grade von Anämie resp. Chlorose und von 
nervösen Beschwerden, wie sie mit diesen Konstitutionsanoraalien Hand in 
Hand zu gehen pflegen. In der Regel erfolgen in beiden Kategorien von 
Fällen die Attacken in einem gewissermaßen regelmäßigen Turnus und lassen 
sich dann bei genauer Anamnese nicht immer nur auf periodisch wieder- 
kehrende körperliche Anstrengung zurückführen. Bei einer Reihe von 
Kranken ist der Anfall an die Menstruationsperiode gebunden oder wird 
jetzt wenigstens auch schon durch leichtere Schädlichkeiten hervorgerufen, 
bei anderen allerdings ist die Attacke an die Zeiten der »großen Wäsche«, 
namentlich wenn im Anschlüsse daran viel zu bügeln war, oder auch an 
die wiederkehrenden Generalreinigungen der Wohnungen vor den großen 
Festen, bei noch anderen wieder nur an die strapaziöse Gesellschaftssaison 
gebunden. 

Nicht minder als die Anstrengung durch zu vieles Tanzen scheinen 
auch übermäßig langes Sitzen in fester, beengender Kleidung oder auf un¬ 
bequemen Stühlen sowie der mit dem gesellschaftlichen Leben unvermeid¬ 
bar verbundene Zwang zu diätischen Verstößen, die noch keineswegs mit 
Exzessen identisch zu sein brauchen, als schädliche Momente zu wirken. 

Die weit selteneren Myalgien der unteren Rückenmuskeln bei Männern 
sind meistens auf mehr akut wirkende Noxen zurückzuführen und 
pflegen auch im übrigen die Charakteristika der Lumbago zu zeigen. Vor¬ 
aufgegangene stärkere und ungewohnte körperliche Anstrengungen (Heben 
schwerer Gegenstände, Kletterpartien in Bergen, Wiederaufnahme von Reit- 
Abungen nach längerem Intervall) können bei längerer Enthaltung von aus¬ 
giebiger Muskeltätigkeit, speziell bei neurasthenischer Konstitution oder der 
Neigung zu Fettleibigkeit und Melliturie ebenso (mehrfach rezidivierende) 
Muskelschmerzen im Rücken hervorrufen, wie solche auch im Epigastrium 
vereinzelt durch den langandauernden Druck des Schreibtisches oder des 
Zeichenbrettes bei derartigen Personen verursacht werden, wenn diese die ent¬ 
sprechenden Arbeiten nicht gewohnt und namentlich wenn sie zugleich kurz¬ 
sichtig sind. 

Unter den von Rosenbach charakterisierten Myopathien, die zu Ver¬ 
wechslungen mit Erkrankungen der inneren Organe Anlaß geben können, 
ist weiter die myogene Pseudstenokardie (myogene Pseudoangina 
pectoris) hervorzuheben. 

Die Erfahrung lehrt, daß durch perverse oder ungenügende Atmungs¬ 
tätigkeit, also einen rein funktionellen Vorgang, eine große Reihe von Be¬ 
schwerden (Brust- und Rückenschmerzen, Schlingbeschwerden, Pulsarhythmie, 
starkes Druckgefühl in der Herzgrube) hervorgerufen wird. Es gibt zunächst 


Digitized by 


Google 



288 


Myopathien, funktionelle. 


auffallend viel Personen, die bei energischer Inanspruchnahme der Aufmerk¬ 
samkeit, bei eifrigem Lesen, Schreiben, Zeichnen, Rechnen, nicht nur lange 
Zeit hindurch in einer sehr ungeeigneten Haltung verharren, <L h. ihre 
Muskeln abnorm und ungleichmäßig beanspruchen, sondern dabei auch die 
Atmungstätigkeit auf ein Minimum beschränken, ja man könnte sagen, zeit¬ 
weise völlig zu atmen vergessen. Jedenfalls sind die Atmungsexkursionen 
unter diesen Umständen überaus flach, kaum wahrnehmbar; oft steht aber 
wirklich, wie beim Cheyne- STOKESschen Phänomen, die Respiration während 
15—20 Sekunden vollständig still, bis dann die Pause durch einen sehr 
tiefen oder ein paar schnellere Atemzüge unterbrochen wird. Daß dies nicht 
ohne Einfluß auf die Innervation des Herzens bleiben kann, ist klar; und 
wir sehen als tatsächliche Folge Pulsarbythmie oder Paroxysmen von Herz¬ 
klopfen, schließlich Zustände heftigster Beklemmung resultieren, die jede 
stärkere Muskelanstrengung zu einer wahren Qual machen. 

Diese Anomalien der Atmung scheinen aber nicht nur durch längeres 
Verweilen in einer gebückten Stellung, sondern auch durch andauernde 
Spannung der Körpermuskulatur in sehr festem Schlaf, ferner durch Erkäl¬ 
tung und durch reichliche Mahlzeiten bei besonders Disponierten namentlich 
dann herbeigeführt werden zu können, wenn ein gewisser Grad von Stuhl¬ 
verstopfung vorhanden ist. 

Einen sehr eklatanten Fall von Summation dieser auslösenden Mo¬ 
mente erlebte ich vor 28 Jahren bei einem jungen Krankenhausassistenten, 
der nach ganz unglaublichen, im Anschluß an ein Souper verübten Exzessen 
in venere und einer mehrstündigen Droschkenfahrt in kalter Winternacht 
gegen Morgen in seine Dienstwohnung heimgekehrt war, um aus einem 
mehrstündigen, geradezu bleiernen Schlaf unter den Symptomen einer Steno¬ 
kardie zu erwachen, die die ganze Kollegenschaft alarmierten und trotz des 
Mangels nachweisbarer Veränderungen am Herzen und Bekanntwerdens der 
Vorgeschichte prognostisch nur die übelste Deutung zuzulassen schien Der 
Patient, der aus einer Familie von Hämorrhoidariern stammte, in der auch 
ingogeniesthenische Symptome, wie ich später erfuhr, nichts seltenes waren 
und der selbst immerwährend mit Stuhl Verstopfung zu kämpfen hatte, er¬ 
holte sich über Erwarten schnell von dieser Attacke und lebt, nur durch 
verschiedene anderweitig lokalisierte Myalgien in seiner Lebensfreude etwas 
beeinträchtigt, noch heute. Auch mir natürlich ist die Deutung des Zu¬ 
sammenhanges erst sehr viel später möglich geworden. Es besteht in solchen 
Fällen, wie ich sie in den letzten 7—8 Jahren noch viermal zu beobachten 
Gelegenheit hatte, der von Rosenbach erwähnte zirkumskripte, sich auf Druck 
und bei jedem Versuch zu atmen steigernde Schmerz am Processus xiphoideus 
und den angrenzenden Partien der Brust, speziell unterhalb der beiden 
Rippenbögen. Im Einklänge mit den RosENBACHscben Schilderungen fand ich 
auch, daß die tiefe Palpation der Muskulatur an den anderen, besonders 
den seitlichen Teilen des Thorax und ebenso der Druck auf einzelne Rippen 
ausnahmslos recht schmerzhafte Sensationen auslöste, wohingegen ich die 
von Rosenbach als diesen Fällen in der Regel zukommend beschriebene 
Druckschmerzhaftigkeit der oberen und seitlichen Partien der Bauchmusku¬ 
latur nur einmal, Druckschmerz im Bereiche der Halsmuskeln bisher in 
keinem der von mir gesehenen Fälle feststellen konnte. Der von Rosen¬ 
bach erwähnte dumpfe Druck entlang der hinteren Fläche des Brustbeins 
aber wurde seitens der durchwegs intelligenten Patientin übereinstimmend 
mit solcher Bestimmtheit hervorgehoben, daß bei der vorsichtigen Art 
der Fragestellung ein »Hineinexaminieren« des vermuteten Symptoms in 
die Aussage und jede Auto- wie Fremdsuggestion in dieser Hinsicht aus¬ 
geschlossen erschien. Das Beklemmungsgefühl wurde mit der Empfindung 
verglichen, als ob der Thorax von jener Stelle aus zusammengepreßt oder 


Digitized by 


Google 



Myopathien, funktionelle. 289 

als ob ein um den Brustkorb gelegter Reifen von dort aus immer fester 
angezogen würde. 

Wegen der Druck- und Schmerzempfindungen, die den Kranken ver¬ 
anlassen, jede tiefere Inspiration zurückzuhalten, gestaltet sich auch jeder 
Versuch, sich aus der liegenden Steilung (namentlich von einem weichen 
und nach allen Richtungen nachgiebigen Lager, z. B. einem Federnunterbett) 
zu erheben, ebenso qualvoll, wie die sich anzuziehen, sich zu bücken, die 
Arme nach hinten oder in die Kopfhöhe zu bringen, also z. B. sich zu waschen 
und die Haare zn kämmen. Nicht nur das Treppensteigen, sondern selbst 
das Gehen und weiter die Defäkation ist entweder ganz unausführbar oder 
wegen der sich dabei steigenden Beklemmungsgefühle nur bei fortwährender 
Unterbrechung durch längere Pausen möglich. Doch auch die Erleichterung, 
die die Einstellung der Bewegungen verschafft, pflegt wegen der unver¬ 
meidlich sich einschiebenden tiefen und seufzenden Inspirationen nicht von 
langer Dauer zu sein. Häufig macht sich auch subjektiv ein starkes, schmerz¬ 
haftes Pulsieren am Halse und am Rücken, vor allem jedoch und in einer 
für den Kranken ganz besonders beängstigenden Weise in der Herzgegend 
bemerkbar. Der Druck über dem Sternum, der auch bei der Vermeidung 
aller die Schmerzanfälle steigernden Situationen in der ruhigsten Lage an* 
hält, erzeugt einen Drang zu tiefen Inspirationen. Und da diesem wegen der 
Furcht, die Schmerzempfindung zu steigern, nicht nachgegeben werden kann, 
macht er sich, genau wie bei der wahren Stenokardie, namentlich auf dem 
Wege einer perversen oder paradoxen Innervation in einem ganz auffallend 
häufigen und dadurch lästigen Gähnen Luft. 

Daß die starke Muskelanstrengung beim Unterdrücken der Inspira¬ 
tionen von normaler Tiefe und die Schwierigkeit, das richtige Maß der er¬ 
forderlichen Impulse zu treffen, das Übergreifen der Innervation auf die sich 
am Brustbein und den Rippen ansetzenden, am Gähnakte beteiligten Mus¬ 
keln bewirkt, wird wohl auch durch die Beobachtung Rosenbachs bestätigt, 
daß sich nicht selten bei sonstigem Wohlbefinden der Anfall durch einen 
wahren Paroxysmus von Gähnbewegungen einleitet, die stundenlang an- 
halten. 

Der Zustand kann in wechselnder Intensität mit einzelnen sehr be¬ 
trächtlichen Remissionen (also bei vollständig neuralgiformem Charakter) 
Stunden, Tage, ja selbst Wochen lang anhalten. Selbst in der Periode der 
Besserung werden die Kranken, wenn auch entschieden in einem immer mehr 
abnehmenden Maße durch verschiedene Beschwerden beim Gehen, Steigen 
und namentlich beim Sichniederbücken an ihr Leiden erinnert: durch einen 
ganz plötzlich auftretenden Druck auf dem Brustbein, hinter den Schulter¬ 
blättern oder auch das Gefühl, das mir schon mehrfach von Patienten an¬ 
gegeben wurde, als müßten sie an einem tief in die Speiseröhre hinab¬ 
geglittenen Fremdkörper ersticken; zuweilen stellen sich auch noch in 
diesem Stadium der Krankheit häufiger schmerzhafte Pulsationsgefühle hinter 
dem Brustbein und in der Fossa jugularis bei den leichtesten Anstren¬ 
gungen ein. Das Beängstigende dieser Erscheinungen hat nicht selten, be¬ 
sonders wenn nicht eine eingehende, dem Verständnis des Klienten ange¬ 
paßte und darum auch düsen überzeugende Aufklärung seitens eines mit 
diesen Zuständen vertrauten Arztes erfolgt, Depressionszustände, wahre 
Herzhypochondrie zur Folge. 

Bemerkenswert erscheint nach Rosenbachs Beobachtungen der Um¬ 
stand, daß relativ häufig neben anämischen Frauen ganz besonders kräftig 
konstituierte, blühend aussehende Männer befallen werden, denn daß anämi¬ 
sche resp. chlorotische Personen bei der besonderen Empfindlichkeit ihrer 
Muskeln zu Myalgien und Anfällen von funktioneller Muskelinsuffizienz dis¬ 
poniert sind, ist ja nicht mehr auffallend. Aber auch von diesen anscheinend 

Enejrclop. Jahrbücher. N. F. VIII. (XVII.) 19 _\ 

Digitized by VjO 1 T yLC 



290 


Myopathien, funktionelle. 


so robusten Patienten hatten viele schon in früherer Zeit Symptome der 
Neurasthenie gezeigt oder boten sie später. 

Die Diagnose des Zustandes ist namentlich im ersten Anfalle nicht 
immer leicht, schon wegen der Schwierigkeiten, die sich einer eingehenden 
Untersuchung entgegenstellen. Bedeutungsvoll ist, daß Arhythmie — außer 
bei sehr unregelmäßiger Atmung — immer fehlt und daß auch Tachykardie 
und entsprechende Pulsverlangsamung relativ selten sind, außer dort, wo 
große, psychisch bedingte Angst besteht Ferner ist die flache und be¬ 
schleunigte Atmung im Gegensatz zu dem wahren stenokardischen Anfalle 
charakteristisch und das erwähnte Bestreben, die sich oft einstellenden 
tiefen, seufzenden Inspirationen zu hemmen. Bin besonderes Gewicht für die 
Differentialdiagnose ist auch der Tatsache beizulegen, daß bei Druck auf 
den Processus xiphoideus des Brustbeins und bestimmte Teile der Inter¬ 
kostal-, Hals- und Schulterblattmuskulatur die Schmerzhaftigkeit, die sonst 
und speziell in der Ruhelage wenigstens nicht hochgradig ist, sich enorm 
steigert. Auch finden die Kranken nicht wie die wirklichen Asthmatiker nur 
in sitzender Haltung Erleichterung, sondern fühlen sich meistens in der 
Rückenlage und mit verhältnismäßig niedrig gebettetem Kopfe am wohlsten. 
Schon die Lage, in der man den Patienten während des vermeintlichen 
stenokardischen Anfalls antrifft, gestattet also gewisse Schlüsse auf die 
Natur des Leidens. 

Gerade weil unbegreiflicherweise im Publikum die Zahl der unter Kopf 
und Rücken geschobenen Kissen als Indikator für die richtige Einschätzung 
der den Kranken drohenden Gefahr und nicht minder für die Opferfreudig¬ 
keit und Sorgsamkeit seiner Umgebung angesehen zu werden scheint, pflegt 
man in diesen Fällen auf einen dem erfahrenen Arzte ganz befremdlich er¬ 
scheinenden Bruch mit den traditionellen und trotz aller Belehrungen mit 
Zähigkeit festgehaltenen Gewohnheiten zu stoßen. 

Wenn nicht schon vorher Klarheit über die Art des Leidens geschaffen 
war, kann die Dauer des ersten Anfalls wertvolle Fingerzeige geben: durch 
Kompensationsstörungen bedingte Stenokardien pflegen nicht länger anzu¬ 
halten, bei etwas längerer Dauer aber sicher von auskultatorisch nachweis¬ 
barem Zeichen des Lungenödems oder mindestens der bronchialen Hyperämie 
begleitet zu sein. Der myogene Anfall oder richtiger Krankheitszustand dau¬ 
ert, wie bemerkt, länger und mit seinen Remissionen (aber ohne völlige 
Intermission der Beschwerden) in der Regel wochenlang. Während ferner 
Herzkranke nach dem Überstehen eines so schweren Anfalls von wahrem 
Asthma stets noch längere Zeit hindurch einen wesentlichen Defekt in der 
Leistung zeigen oder nach jeder stärkeren Inanspruchnahme für nach außen 
zutage tretende Arbeit schnell Zeichen der Insuffizienz bieten, so daß hier 
bei Überanstrengung relativ schnell die Erscheinungen der Herzkachexie 
auftreten, ist nach dem Vorübergehen der sich ja allerdings länger hin¬ 
ausziehenden myogenen Erscheinungen immer auch wirklich vollkommene 
Gesundung eingetreten, so daß der Kranke zu allen Leistungen, Berg¬ 
steigen, Laufen usw., wieder in vollem Maße befähigt ist. 

Auch das ätiologische und konstitutionelle Moment muß bei der Dia¬ 
gnose berücksichtigt werden. Vorausgesetzt, daß keine objektiv nachweis¬ 
baren Zeichen wesentlich veränderter Arbeitsleistung im Kreislaufsapparate 
bestehen, liegt, wenn zugleich Abusus spirituosorum, besonders aber über¬ 
triebener Tabakgenuß, ferner aber auch psychische Emotionen oder auch nur 
nervöse Disposition nachgewiesen werden kann — namentlich in den ersten 
drei Lebensdezennien, bei anämischen Frauen vielfach später und im Klimak¬ 
terium auch bei Nichtanämischen — die Annahme einer funktionellen Genese 
weit näher als die eines durch unsere derzeitigen Hilfsmittel nur nicht nach¬ 
weisbaren organischen Leidens. Es handelt sich in solchen Fällen meistens 


Digitized by 


Google 



Myopathien, r funktionelle. 


291 


nur um die Differenzierung der myogenen von der nervösen Form des Asthmas 
und neben den schon erwähnten Momenten wird es da von Bedeutung sein, 
ob die oben angeführten, den nervösen Anfall auslösenden ätiologischen 
Einflüsse nachweisbar sind oder nicht. 

Die letzten Zweifel aber werden auf Grund der unumstößlichen Erfah¬ 
rung beseitigt werden, daß wir Mittel in der Hand haben, myalgische Affek¬ 
tionen jeder Art auffallend schnell in günstigem Sinne therapeutisch zu be¬ 
einflussen. Da diese Maßnahmen unten eingehend erörtert werden sollen, sei 
hier nur der Hinweis gestattet, daß die Myopathien gerade zu den wenigen 
Gebieten der Pathologie gehören, die es gestatten, hier auf die sonst nicht 
immer unbedenkliche Diagnose ex juvantibus zu rekurrieren. 

ln vielleicht noch höherem Maße gilt das für die immerhin doch nicht 
so ganz variierend von »exakten« Klinikern nur mit einem gewissen Auguren- 
lächeln der Zuhörerschaft zur Kenntnis gegebene Verlegenheitsdiagnose 
»Pleurodynie«. Diese mystische Affektion wird ja nicht als Form der Myalgie, 
sondern meistens als »Reizung der Pleura« betrachtet. 

Tatsächlich kann eine Pleuritis (ja sogar ein tuberkulöser Lungenkatarrh 
mit Beteiligung der Pleura) durch die schmerzhafte Affektion der Thorax¬ 
muskulatur vorgetäuscht werden, wenn diese mit gewissen akustischen Phäno¬ 
menen vergesellschaftet ist. Oft schon wurden Geräusche, die während der 
Respiration in den Muskeln entstehen, bei oberflächlicher Untersuchung für 
pleurale bzw. pulmonale gehalten. Im allgemeinen schützt ja aber vor einer 
Verwechslung mit pleuritischem Reiben auch unter normalen Verhältnissen 
bisweilen die diagnostisch wichtige Eigenschaft der Muskelgeräusche, daß 
sie am Thorax fast stets symmetrisch auftreten und daß sie während der 
ganzen Beobachtungsdauer eine auffallende Konstanz zeigen, während das 
pleuritische Främissement seinen Charakter bekanntlich häufig ändert. 
Wichtig ist vor allem aber, daß dort, wo das Knarren als zufälliger 
Befund konstatiert wird, die Stärke des Reibegeräusches in frappantem 
Gegensatz zu der Abwesenheit aller sonstigen charakteristischen Symptome 
und dem relativen Wohlbefinden der Betreffenden steht, daß keine Ver¬ 
änderung des Atmungstypus, keine Dämpfung, kein Fieber und auch kein 
Schmerz vorhanden ist. Anders ist die Sache natürlich, sobald die Muskel¬ 
geräusche bei einer gleichzeitigen Myalgie der Interkostalmuskeln gefunden 
werden. Wenn die von diesem Leiden Befallenen infolge der durch die Atem¬ 
bewegungen hervorgerufenen Schmerzen kaum zu atmen wagen und dann 
etwa infolge der die Ursache bildenden Erkältung noch gar Fieber besteht, 
Ist eine Verwechslung mit doppelseitiger oder einseitiger Pleuritis, je nach 
der Ausdehnung und der Lokalisation der rheumatischen Affektion, möglich. 
Namentlich können das Zurückbleiben der erkrankten Seite in den Exkur¬ 
sionen bei der Respiration, die Abschwächung des Atmungsgeräusches und 
die eventuell auch zutage tretende leichte Schalldämpfung infolge der 
krampfhaften Muskelkontraktion unter Umständen eine Pleuraerkrankung 
der betreffenden Seite solange Vortäuschen, bis der erwähnte Schlhß ex 
juvantibus den Zusammenhang definitiv klarstellt. 

Überaus wichtig gerade für den Praktiker ist ferner die von Rosen¬ 
bach und Norström gleichzeitig und in vollständiger Unabhängigkeit von¬ 
einander festgestellte Tatsache, daß auch gewisse Formen der Migräne 
rein myogener Natur sind. Nachdem man sich von der Unmöglichkeit 
überzeugt hatte, den nur auf den ersten Blick monotonen, tatsächlich aber 
äußerst vielgestaltigen Symptomenkomplex der Migräne in den engen Rahmen 
einer Erkrankung bestimmter Nervenbahnen, des Sympathikus oder Trige¬ 
minus einzuzwängen, war man bekanntlich in das entgegengesetzte Extrem 
verfallen und hatte, gestützt auf die Eigenartigkeit der Anfälle, die Länge 
der Intervalle, die nicht wegzuleugnende hereditäre Disposition, die Mit- 


Digitized by 


i». 



292 


Myopathien, funktionelle. 


beteiligung des Gesamtorganismus usw. versucht, die Krankheit auf eine 
möglichst breite Basis zu stellen und die Migr&ne als Analogon der Epi¬ 
lepsie als Konstitationskrankheit, als allgemeine Neurose zu proklamieren. 
Wenn auch die Sachlage dadurch ebensowenig geklärt, sondern im gün¬ 
stigsten Falle verschoben und nur ein neues Unbekanntes an die Stelle des 
alten, nicht gelösten Rätsels gesetzt wurde, wie Rosbnbach sagt, so muß 
als das Resultat aller dieser mißglückten, weil zu einseitigen Erklärungs¬ 
versuche, von denen jeder zweifellos etwas Richtiges enthält, ein Gewinn immer¬ 
hin verzeichnet werden, nämlich die sich allmählich bahnbrechende Über¬ 
zeugung, daß die Migräne, wie schon angedeutet, ein vielgestaltiges, die 
verschiedensten Gebiete beteiligendes und weder in allen Fällen gleich¬ 
artiges, noch gleichwertiges, d. h. durch die gleiche Ursache bedingtes Lei¬ 
den ist. 

Ein hervorragendes Verdienst an der Konstatierung dieser Tatsachen 
ist den Untersuchungen am Anfang der achtziger Jahre über die Abhängig¬ 
keit der Migräne von Erkrankungen der Nasenschleimhaut zuzusprechen, 
denn sie haben, so sehr dieser Zusammenhang im ersten Enthusiasmus auch 
überschätzt wurde, doch zweifellos gezeigt, daß von der Nase aus auf dem 
Wege des Reflexes im weitesten Sinne des Wortes ganz differente Nerven¬ 
bahnen und scheinbar recht entfernte Provinzen des Organismus in Mit¬ 
leidenschaft gezogen werden können und daß neben dem für Migräne typi¬ 
schen einseitigen Kopfschmerz noch eine Reihe von koordinierten, sogar an 
entlegenen Stellen auftretenden Störungen als Folge der Reizung der Nasen¬ 
schleimhaut zu betrachten ist. Weiter fing man dann an, auch die Be¬ 
ziehungen zu Affektionen der Zähne mehr zu berücksichtigen. Demgegen¬ 
über mußte die große Zahl der von einer Nasen- (oder Zahn-) Erkrankung 
unabhängigen Migränefälle den Beweis dafür liefern, daß auch noch andere 
Ursachen diesem Leiden zugrunde liegen können, ja müssen. Und diese Er¬ 
kenntnis forderte den unvoreingenommenen Beobachter geradezu heraus, 
den noch unbekannten ätiologischen Momenten der einzelnen Krankheits¬ 
bilder — jeder Patient spricht ja in ganz charakteristischer Weise von 
»seiner« Migräne — sorgfältig nachzuspüren, damit auch durch eine kausale 
Therapie mit entsprechend günstigen Erfolgen der berechtigten Forderung 
der Klientel, die von ihrem Arzte nicht mehr oder minder fremdklingende 
Krankheitsbezeichnungen hören, sondern Hilfe finden will, wirklich nachzu¬ 
kommen. 

Wenn nun von Norström und von Rosenbach die Aufmerksamkeit auf 
eine von Affektionen bestimmter Muskelgebiete des Kopfes und Halses ab¬ 
hängige und somit von der auf nervöser Basis beruhenden Hemikranie grund¬ 
sätzlich zu trennende Form der Migräne hingelenkt wurde, so ist nament¬ 
lich von seiten des letzterwähnten Autors dabei nie die Betonung der Aus¬ 
sichtslosigkeit aller Versuche, ein einheitliches Erklärungsprinzip für alle 
Formen der Migräne zu finden und ebensowenig die nachdrückliche Klar¬ 
stellung verabsäumt worden, daß seine Darlegungen nur für eine beschränkte 
Anzahl von wohl charakterisierten Fällen Geltung beanspruchen 

Die Beobachtungen Rosenbachs betrafen Personen beiderlei Geschlechtes 
unter vorwiegender Beteiligung des weiblichen. Die Anfälle sind ganz typisch 
und entsprechen den oft geschilderten der nervösen Hemikranie. Nach 
körperlichen oder geistigen Anstrengungen, nach reichlicherem Genuß geistiger 
Getränke, namentlich wenn dabei die Nachtruhe wesentlich verkürzt wurde — 
also nach Abendgesellschaften, Banketts und ebenso nach einer durchtanzten, 
wie einer am Schreibtisch verbrachten oder in Sorgen durchwachten Nacht 
— seltener nach Erkältungen erwacht der Patient nach dem nachgeholten, 
meistens sehr festen, aber unbehaglichen Schlafe mit dem Gefühle heftigen 
Schmerzes in der einen Kopfhälfte, häufiger anscheinend in der linken, wie 


Digitized by 


Google 



Myopathien, funktionelle. 


293 


in der rechten. Meistens sind dort die Schmerzen in der Stirngegend am 
st&rksten ausgeprägt. Weniger intensiv, aber doch häufig machen sie sich 
auf der anderen Kopfseite bemerklich. In den von mir gesehenen Fällen 
— deren Zahl in keinem Verhältnis zu den von Rosenbach beobachteten 
steht — wurde auffallend häufig neben der linken Stirnhälfte auch das 
Hinterhaupt und der Nacken als Sitz der äußerst quälenden Sensationen 
bezeichnet. 

Betastet man die schmerzhafte Kopfhälfte und Qbt einen mäßigen 
Druck auf die Weichteile aus, so findet man neben allgemeiner Hyperästhesie 
und Hyperalgesie, die durch Berührung mit kalten Gegenständen sichtlich 
noch gesteigert wird, eine Reihe von schmerzhaften Stellen, bzw. Bezirken, 
die den bekannten Nervenschmerzpunkten gegenüber eine ganz andere Loka¬ 
lisation haben und sich überhaupt nicht auf eine bestimmte Nervenbahn 
zurückführen lassen, sondern den Ansatzpunkten oder dem Verlaufe gewisser 
Muskeln, nämlich des Frontalis, Temporalis und des Occipitalis entsprechen. 
Die schmerzhaften Stellen finden sich in den einzelnen Fällen dementsprechend 
in wechselnder Intensität ausgeprägt oberhalb des Arcus superciliaris, ober¬ 
halb des Jochbeins und der vom Processus mastoideus nach der Protu- 
berantia occipitalis externa ziehenden Linea semicularis superior entlang 
lokalisiert. 

Es scheint aber, daß die erwähnten Muskeln selten allein beteiligt 
sind, sondern daß in mehr oder minder starkem Maße fast immer Kombi¬ 
nationen mit den anderen schon erwähnten Lokalisationen der Myalgie vor¬ 
liegen, mit denen ja auch hinsichtlich der Ätiologie zahlreiche Berührungs¬ 
punkte nicht zu verkennen sind. So konnte Rosenbach häufig am Sternocleido- 
mastoideus drei besonders schmerzhafte Bezirke konstatieren: nämlich in 
der Gegend des Proc. mastoideus, dann in der Mitte des Halses, wo sich 
die beiden Köpfe übereinander schieben und schließlich entlang seiner Ansatz¬ 
fläche resp. seiner Aponeurose am Schlüsselbein; hier kann man durch Pal¬ 
pation der dorsalen Fläche des Knochens recht lebhafte Schmerzäußerungen 
hervorrufen. Ich selbst habe mehrfach den oberen Teil des Cucullaris, 
und zwar in seinem ganzen Verlaufe auf Druck schmerzempfindlich ange¬ 
troffen und nicht bloß, wie das bei den Patienten Rosenbachs der Fall ge¬ 
wesen , vorwiegend die Partie in der Nähe des Akromion; in einem 
Fall fand ich diese allerdings in einem derartigen Maße hyperalgisch, daß 
nicht einmal der Druck der Überkleidung, geschweige denn der Hosenträger 
ohne die unangenehmsten Sensationen, die als starkes Brennen in und unter 
der Haut geschildert werden, ertragen werden konnten. In etwas geringerem 
Grade sind häufig auch die Teile der Brustmuskulatur, die ich, namentlich 
bei zur Fettleibigkeit, zur Meliturie neigenden Personen als an und für sich 
zu Myalgien disponiert bezeichnet habe, besonders der Pectoralis major 
befallen. 

Die Kranken, die sich sehr abgeschlagen und kraftlos fühlen, bei 
leichtester Anstrengung in Schweiß geraten, über Übelkeit und Brechneigung 
klagen, auch sehr blaß und angegriffen aussehen, »Beutel unter den Augen«, 
öfter leichtes ödem der Lider und Ungleichheit der Lidspalten, seltener 
leichte Pupillendifferenz zeigen, werden neben dem Flimmern vor den Augen 
vor allem auch durch ein lästiges Pulsieren im Kopfe belästigt, das sich 
bei der leisesten Bewegung, namentlich bei jedem Lagewechsel zu fast 
unerträglicher Höhe steigert. Den Kranken behagt deshalb eine regungslose 
Rückenlage oder die sitzende Stellung mit hintenübergelegtem Kopfe am 
besten. Da das Pulsieren in der Stirne und im Hinterkopf sie am meisten 
quält, so daß sie für dessen Beschwichtigung gern eine Verstärkung anderer 
unangenehmer Sensationen durch die gezwungene Haltung in Kauf nehmen, 
versuchen sie wohl durch ein krawattenförmig zusammengelegtes Tuch, das 


Digitized by 


Google 



294 


Myopathien, funktioneile. 


sie um die Stirn legen und dessen Enden sie über Kreuz mit den Händen 
im Nacken — oder in umgekehrter Richtung — zusammenziehen, die 
rhythmische Erschütterung der Muskeln durch die mit Herzsystole an- 
dringenden Blutwellen abzuschwächen. Wenn man derartige Kranke so da¬ 
sitzen sieht, weiß man bei einiger Erfahrung schon, was die Glocke ge¬ 
schlagen hat. 

Gegenüber der nervösen Migräne mit ihren charakteristischen Schmerz- 
punkten ist bei der myogenen Form neben der Mitbeteiligung der Hais¬ 
und Nackenmuskulatur das Vorhandensein schmerzhafter Regionen be¬ 
zeichnend. Die auf nervöser Basis entstandene Hemikranie pflegt ja, nament¬ 
lich da, wo eine lokale Nasen- oder Zahnaffektion die Ursache der Erschei¬ 
nungen ist, einen Temporal-, einen Supraorbital- und einen Nasalpunkt (an 
der Verbindungsstelle des knöchernen und knorpeligen Teiles der Nase etwas 
lateralwärts vom Nasenrücken) aufzuweisen und stets mit Symptomen von 
seiten des Auges (leichter Konjunktivalinjektion, Tränenträufeln, Lichtscheu, 
nicht selten Pupillenerweiterung) einherzugehen. Bei der myogenen Migräne 
hingegen finden wir zwar auch Störungen zirkulatorischer und reflektorischer 
Natur, die aber weit weniger ausgesprochen sind und hinter den Beschwerden, 
die von den schmerzhaften Regionen am Kopfe, in der Regel unter Mit¬ 
beteiligung des Nackens und Halses ausgehen, ganz zurücktreten. Die mit 
der myogenen Migräne gewöhnlich verbundene Hauthyperästhesie unter¬ 
scheidet sich von der die nervösen Formen begleitenden dadurch, daß sie 
nicht auf bestimmte Nervenäste lokalisiert ist, sondern nur das die affizierten 
Muskeln beteiligte Integument trifft, und daß die Schmerzen nicht — wie 
bei der Neuralgie eigentlich stets — paroxysmenweise auftreten, sondern 
(so sehr sie auch hinter den Schmerzen in der Muskelsubstanz zurücktreten) 
andauern, solange der Anfall besteht. Während bei der reflektierten Migräne 
die Muskeln auf Druck und wohl meistens auch bei Kontraktionen unempfind¬ 
lich sind, hängt die myalgische Affektion am Schädel und speziell der in der 
Stirn lokalisierte Kopfschmerz mit dem Befallensein des Musculus frontalis 
und der anderen den Kopf schwach bewegenden Muskeln in so direkter Be¬ 
ziehung, daß das leichteste Stirnrunzeln, selbst der Lidschlag, ja jedes unver¬ 
meidbare Mienenspiel eine heftige Schmerzattacke nach sich zieht. 

Bezüglich der Genese der myalgischen Form der Hemikranie 
unterliegt es keinem Zweifel, daß hier, wie bei einem großen Teil der 
Myalgien überhaupt, die deshalb auch des Morgens beim Erwachen mit Vor¬ 
liebe plötzlich zutage treten, die Erkältung weit seltener eine Rolle spielt, 
als die mechanische Schädigung des Muskels durch eine mehrstündige wider¬ 
natürliche Haltung während eines infolge der Verkürzung der Nachtruhe 
besonders festen Schlafes. Mit diesem Entstehungsmodus lassen sich gewisse, 
dem Bilde der Migräne eigentümliche Züge gut vereinigen, nämlich erstens 
die unleugbar vorhandene erbliche Disposition, zweitens der Einfluß, den 
gewisse äußere Momente (z. B. das Auftreten der Menstruation) auf die 
Entstehung der Anfälle ausüben und drittens der Effekt gewisser, zum Teil, 
wie oben erwähnt, vom Kranken empirisch ermittelter Maßnahmen, durch 
die eine ganz wesentliche Linderung erzielt werden kann. 

Was zunächst die Erblichkeit anlangt, so kann ja selbstverständ¬ 
lich nicht die Disposition zur Migräne als solcher, sondern nur die der ge¬ 
samten Körpermuskulatur zum leichteren Befallenwerden von schmerz¬ 
haften Affektionen auch auf relativ unbedeutende Schädigungen hin vererbt 
werden. Speziell sind Rosenbachs zahlreiche und einwandfreie Beobachtungen 
geeignet, den Satz, daß die Disposition zu Muskelerkrankungen 
funktioneller (und vielleicht auch organischer) Natur auf einer 
familiären Heredität beruhe, zu stützen. Auch ich selbst habe trotz 
eines an Quantität weit geringeren einschlägigen Beobachlungsmaterials, 


Digitized by 


Google 



Myopathien, funktionelle. 


295 


seitdem ich durch Rosenbachs Arbeiten zum Studium dieses damals — und 
leider auch jetzt noch — etwas vernachlässigten Kapitels der Pathologie 
angeregt worden bin, in drei Generationen einer Familie (übrigens zugleich 
in verschiedenen Zweigen des gleichen Stammes) diese Anlage zu Erkran¬ 
kungen des Muskelapparates in höchst variabler Lokalisation mit Sicherheit 
feststellen können. Eine genaue Untersuchung und Befragung der Migräne¬ 
kranken dieser Kategorie z. B. wird häufig zeigen, nicht nur daß bei diesen 
selbst auch andere myogene Affektionen, wie fälschlich für nervös ge¬ 
haltene Kardialgien, asthmatische Beschwerden oder wenigstens rheumatoide 
Schmerzen im Rücken oder in den Extremitäten, schon immer von Zeit zu 
Zeit zutage getreten, sondern daß auch bei anderen Familienmitgliedern 
Myopathien der verschiedensten Art und deren Folgen (perverse Inner¬ 
vationen) feststellbar sind. 

Der Umstand, daß man die Migräne mehr als andere Formen der 
Myalgie bei Frauen gerade zur Zeit der Menstruation findet, läßt sich 
vollständig befriedigend erklären, wenn wir berücksichtigen, daß die Migräne 
nur im Vordergrund der durch die Zirkulationsveränderung bedingten Er¬ 
scheinungen steht, weil der Kopfschmerz eben eminent heftig ist, während 
Störungen, namentlich in den Röcken- und Oberschenkelmuskeln von den 
Betreffenden eher als unvermeidliche Begleit* oder Folgeerscheinungen des 
zeitweiligen Zustandes angesehen werden und zudem wegen der Ruhelage, 
die dieser ihnen unter solchen Umständen aufzuzwingen pflegt, auch weniger 
oder gar nicht empfunden werden. 

Daß diese Prävalenz des Kopfschmerzes überhaupt das Symptomenbild 
sehr verdunkelt, läßt sich auch bei Männern nachweisen. In der Meinung, 
wie bei den meisten anderen Formen des Kopfschmerzes müßten auch hier 
die Beschwerden durch Bewegung in frischer Luft, leichte körperliche Be* 
tätigung usw. eher gemildert werden, pflegt man den Patienten ein gewisses 
Maß von Muskelarbeit (ganz im allgemeinen, im Gegensatz zur planvoll 
geleiteten Inanspruchnahme einzelner, und zwar vorher genau eruierter 
Muskelgruppen) anzuraten und dadurch gerade die bis dahin latenten 
Myalgien in anderen Provinzen des Körpers manifest zu machen. 

Kurz wäre noch auf die Beschwerden seitens des Magens einzu¬ 
gehen, die sich bei vielen Patienten mit myogener Migräne finden und auf 
den ersten Blick mit den supponierten Grundlagen der Affektion nicht recht in 
Einklang zu bringen sind. Eine Erklärung für diese Symptome am Verdauungs¬ 
apparat ist vor allem, wie schon Rosenbach ausgeführt hat, durch die An¬ 
nahme einer reflektorischen Entstehung nicht gegeben, da diese die Tat¬ 
sache ja nur umschreibt, aber nicht in ihren letzten Gründen klarlegt. Viel¬ 
leicht spielt mehr oder weniger, wenigstens als begünstigendes Moment, 
der reichliche Genuß ungewohnter oder unbekömmlicher Speisen oder Ge¬ 
tränke eine Rolle. Die Digestionsstörungen würden in solchen Fällen als 
der Migräne koordiniert, aber nicht als deren Folge zu betrachten sein. 
Während übrigens Übelkeit geringeren oder stärkeren Grades recht oft vor¬ 
handen war, konnte Erbrechen, das doch andere Formen der Migräne so 
häufig begleitet, von Rosenbach und mir nur einige Male konstatiert werden. 
Die Tatsache, daß in diesen selteneren Fällen nach Erfolgen des Erbrechens 
die Symptome der Hemikranie bedeutend nachlassen, wird auch von Rosen* 
bach bestätigt und damit zu erklären gesucht, daß die mit dem Brechakte 
notwendigerweise verbundenen starken Kontraktionen der Kopf-, Hals- und 
Nackenmuskeln, zu denen die Kranken wider ihren Willen gezwungen 
werden, im Sinne einer etwas forcierten Massage auf die affizierten Teile 
einwirken. 

Darüber, ob es sich nicht manchmal bei den als Polyneuritiden an¬ 
gesehenen Zuständen, speziell bei deren akuten sogenannten amyotrophischen 


Digitized by 


Google 



296 


Myopathien, funktionelle« 


Formen, ursprünglich um Muskelaffektionen handelt und die Veränderungen 
an den Nerven, die als das anatomische Substrat dieser Krankheit ange¬ 
sehen werden, nicht erst sekundär entstehen und dann degenerativer, nicht 
entzündlicher Natur sind, sind mir auf Grund eines tot einer Reihe von 
Jahren in Gemeinschaft mit zwei überaus erfahrenen Kollegen beobachteten 
und damals übereinstimmend als Neuritis multiplex begutachteten Falles auf 
Grund des weiteren Verlaufes doch recht begründete Zweifel gekommen — 
ich unterlasse aber nicht hinzuzufügen: als Eingebung des sogenannten Esprit 
de l'escalier hinterher, nachdem ich gelernt hatte, den Myopathien größere 
Beachtung zu schenken! 

Dagegen aber glaube ich im Hinblick auf den von Rosbnbach ein¬ 
genommenen und auch von mir geteilten Standpunkt bezüglich der Tabes- 
frage — nach dem die spätere Koordinationsstörung und im Schlußstadium 
die graue Degeneration der Hinterstränge sich erst als Folgeerscheinungen 
einer myotonischen Insuffizienz der gesamten quergestreiften und glatten 
Muskulatur entwickeln — nicht genug betonen zu können, daß dieser Prozeß 
wegen der zweifellos synzialen Natur des Leidens nicht als Myopathie 
in dem hier charakterisierten Sinne zu betrachten ist. 

Die Prognose der Myalgien hängt im wesentlichen von ihrer recht¬ 
zeitigen Erkennung ab. Wird die Muskelaffektion längere Zeit gar nicht 
oder unzweckmäßig behandelt, so entstehen infolge der durch die abnormen 
inneren Vorgänge bedingten beträchtlichen Spannungsveränderungen in den 
Muskeln nun auch schmerzhafte Empfindungen während der Ruhe, und relativ 
schnell werden auch andere Gebiete durch Reflex oder stärkere Be¬ 
anspruchung symptomatisch affiziert. Hiezu kommt, daß sich im Anschluß 
an die kinetische Störung psychische Unlustgefühle und Hemmungen aus¬ 
bilden, so daß es nach Eintritt dieses Stadiums schon höchst energischer 
therapeutischer Manipulationen und physischer Einwirkungen bedarf, um 
die primär physisch verursachten, aber durch psychische Einflüsse unter¬ 
haltenen Anomalien im innern Gleichgewichte des Muskels zu beseitigen, 
d. h. die perverse Innervation auf sensiblem und motorischem Gebiete 
aufzuheben und den normalen Muskeltonus wieder herzustellen. 

Immerhin lassen sich auch ältere und eingewurzelte Affektionen, wenn 
auch unter entsprechendem Aufwande von Geduld und Energie (von Seite 
des Arztes nicht minder wie des Patienten) beseitigen. Das lehren gerade 
die Fälle, in denen die Kranken nach oft jahrelanger fruchtloser ärztlicher 
Behandlung tatsächlich Hilfe bei einem Laienpraktiker gefunden haben. 
»Dieser hat«, wie Rosenbach sagt, »eigentümliche Vorstellungen von dem 
Wesen der KrankheitsVorgänge in den ihm nicht vor Augen liegenden Organen; 
er kennt nur wenige Möglichkeiten resp. Formen der Störung, weiß aber 
durch Erfahrung oder Tradition, daß energische Eingriffe bei subakuten und 
chronischen Leiden mannigfacher Art durch Umstimmung oder Ableitung, 
physisch oder psychisch wirksam sind. Mit anderen Worten: ihm kommt 
überaus oft, wenn die psychischen Unlustgefühle, die Hyperästhesie, die 
Willensschwäche eine große Rolle spielen, seine Einseitigkeit zustatten. 
Namentlich aber gilt das für solche Leiden, die eo ipso relativ am besten einer 
energischen mechanischen Beeinflussung zugänglich sind. So kuriert er nach 
seiner Schablone und als Fanatiker energisch darauf los, selbst auf die 
Gefahr hin, zu schaden. Denn leider ist sein Risiko — im Vergleich zu dem 
des Arztes — nicht groß, weil ja der beim ungeprüften Heilkundigen 
suchende Kranke stets von der Verschlimmerung seines Zustandes unter 
ärztlicher Behandlung schon überzeugt und deshalb von vornherein geneigt 
ist, wohl die Besserung, aber nicht die Verschlechterung seines Leidens dem 
Wunderdoktor zuzuschreiben.« Aber eben deshalb muß auch gerade das 
Gebiet der Myopathien dem denkenden Arzte zurückerobert und wieder 


Digitized by 


Google 



Myopathien« funktionelle. 


297 


zur Dom&ne des berufsmäßigen Beobachters der Lebensvorgänge werden, 
der die Fälle nicht nach der Schablone und auf gut Glück behandelt, wie der 
Pfuscher. 

Schwierigkeiten kann die Beseitigung der im Klimakterium auftretenden 
Myalgien bereiten, die als von Zirkulationsveränderungen abhängige Störungen 
eine Analogie zu den menstruellen bilden und natürlich erst behoben werden 
können, wenn die zugrunde liegende Zirkulationsstörung ausgeglichen ist. 
Aber doch gelingt es, wie die mit der Menstruation entstehenden und nach 
ihr zurückbleibenden, so auch die myogenen Beschwerden klimakterischer 
Provenienz durch eine zielbewußte Behandlung nach den noch zu erörternden 
Prinzipien im günstigen Sinne zu beeinflussen. 

An und für sich bedeutet ja schon die Erkenntnis, daß es sich lediglich 
um eine Myalgie handelt, eine Verbesserung der Prognose gegenüber den 
andernfalls in Betracht kommenden Störungen. Das gilt namentlich auch 
für die oft unter so alarmierenden Erscheinungen auftretende myogene 
Pseudostenokardie. Es blieb aber bei den von Rosenbach viele Jahre hin¬ 
durch kontrollierten Kranken und auch bei denen aus meinem eigenen, wie 
bemerkt, weit beschränkterem Beobachtungskreise eine Herz- oder Gefä߬ 
erkrankung entweder ganz aus oder das Alter war in denjenigen Fällen, 
die später Zeichen von Arteriosklerose boten, wohl als ein ausreichender 
ätiologischer Faktor für das Zustandekommen dieser pathologisch-anatomisch 
nachweisbaren Veränderungen zu betrachten. Jedenfalls war, soweit die bis¬ 
herigen Beobachtungen reichen, die manifeste Herzerkrankung von der 
Periode des Pseudoasthmas stets durch einen so langen Zeitraum getrennt, 
daß an einen Zusammenhang nicht gut gedacht werden konnte. 

Therapie. Wie schon bemerkt, waren die Bemühungen einer »rohen 
Empirie« auf dem hier abgehandelten Gebiete immer ganz unvergleichlich erfolg¬ 
reicher als die der offiziellen, auf ihre wissenschaftliche Basis nicbt ohne 
Berechtigung stolzen Medizin. Und wenn wir dieser Erscheinung in ihren 
letzten Ursachen nachgehen, so können wir den Grund nur in der recht¬ 
zeitigen und energischen, man kann fast sagen schonungslosen 
An Wendung mechanischer Maßnahmen sehen. Greifen wir eine in ihrer 
Ätiologie so durchaus klar liegende und der ärztlichen Behandlung kaum 
je für würdig gehaltene myalgische Affektion, wie das sogenannte »Reit¬ 
weh« heraus, so ist es jedem Kavalleristen, aber auffälligerweise nur selten 
den Ärzten bekannt, daß hier traditionell »der Teufel durch Beelzebub aus¬ 
getrieben« und nicht nur der Anfänger, der Rekrut trotz der Schmerzen und 
Bewegungsstörungen in den Oberschenkel- und Rückenmuskeln erbarmungs¬ 
los zur Fortsetzung der Reitexerzitien angebalten wird, sondern auch der 
ältere Kavallerist, der infolge Entwöhnung durch Krankheit, Urlaub oder 
Kommando nach dem ersten Ritt von diesen Beschwerden befallen wird : 
das erprobte Heilmittel ist, baldmöglichst eine viertel bis eine halbe 
Stunde lang ein Pferd im Trabe durch die Bahn zu bewegen. Und auch bei 
den ernsteren Formen der Myopathie pflegen die Pfuscher im Gegensätze 
zum ärztlichen Therapeuten, der im Streben nach exakter Organdiagnose 
mit den erforderlichen lokalen Eingriffen oft zu lange zögerte, wenn er nicht 
unter der Annahme einer Neuritis, Stenokardie, Kardialgie usw. in falscher 
Richtung wirkte, an dem eigentlichen Locus affectus den Hebel anzusetzen. 
Mag das von Seiten dieser Laien eingeschlagene Verfahren von noch so 
falschen Voraussetzungen ausgehen, gerade infolge der prinzipiellen Bevor¬ 
zugung einer lokalen Therapie kamen nennenswerte Fehlgriffe dabei nicht 
vor. Sie trafen von ihren beschränkten Gesichtspunkten ausgehend sogar 
mit der bei ihnen so beliebten Applikation von Pflastern und Wärme das 
Richtige, selbst wenn sie sich einmal von der erwähnten Neigung zu energischen 


Digitized by 


Google 



298 


Myopathien, funktionelle« 


Eingriffen frei zeigten nnd nicht durch »Strecken« oder »Ziehen« der Glieder, 
durch »Dehnen« der vermeintlichen »Magen-« oder Mutterbänder oder andere 
derartige brutale Manipulationen zu helfen suchten und schließlich auch in 
der Tat halfen. 

Von einer rechtzeitig und methodisch angewandten mechanischen 
Behandlung, der Kinesiotherapie in ihrer exzessiven oder mode- 
rierten Form, vor allem aber der Massage in ihren verschiedenen 
Modifikationen ist nun nach Rosenbach überall da — und zwar in erster 
Linie — Erfolg zu erwarten, wo es sich nicht um entzündliche oder andere 
anatomische Läsionen im Muskelgewebe, sondern nur um den funktionellen 
(molekularen) Vorgang der Überdehnung, resp. Streckung handelt. 

Die Massage stellt, je nach ihrer Anwendung, einen der stärksten und 
wirksamsten Reize zur Anregung der inneren Zirkulation resp. der Gewebs- 
tätigkeit dar. Nicht nur durch Fortschaffung der Blutergüsse und anderer 
abnormer Produkte aus den Gewebsinterstitien und Lymphgefäßen, sondern 
auch dadurch, daß die unter dem Einflüsse des Shocks oder des Schmerzes 
weniger erregbaren, aber notorisch gesunden Zellen maximal gereizt und zu 
exzessiver Tätigkeit angeregt werden, greift gewissermaßen eine Normalisie¬ 
rung des Stoffwechsels Platz. Einen weiteren wichtigen Einfluß übt die 
Massage — den Begriff im allgemeinsten Sinne gefaßt — auf die Haut aus; 
denn Haut- und Muskelapparat stehen ja in außerordentlich engen Bezie¬ 
hungen. Sowie im Fieber der abnorme Stoffwechsel des Muskels mit Hyper¬ 
ämie und gesteigerter Tätigkeit der Haut verbunden ist, von der ja die 
Wassersekretion nur eine Seite repräsentiert, so befindet sich auch bei 
myalgischen Affektionen besonders oft die Haut, namentlich wenn eine die 
Myalgie verursachende einseitige und intensive Anspannung der Muskulatur 
vorausging, in einem auffallenden Zustande von Reaktionsschwäche. Rosen¬ 
bach hat, nachdem er einmal auf diesen Punkt aufmerksam geworden war, 
eine große Anzahl von Patienten mit Muskelaffektionen auf ihre Temperatur¬ 
verhältnisse hin untersucht und erstaunlich oft lokale Abnormitäten der 
Hauttemperatur mit ihnen verbunden gefunden. Gewöhnlich waren die Haut¬ 
partien über den heftig schmerzenden, resp. funktionsschwachen Muskeln 
ungewöhnlich kühl, während sie in gesunder Zeit auffallend warm sind und 
zu starker Transpiration neigen. Ein solcher Befund läßt nach Rosenbach 
schon immer darauf schließen, daß die Betreffenden nicht nur stark zu 
Muskelaffektionen disponiert, sondern auch mit konstitutioneller Neurasthenie 
behaftet sind, von der deutliche Symptome sich auch niemals vermissen 
lassen. Dabei ist das Kältegefühl in den abnorm funktionierenden Teilen 
durchaus nicht immer unangenehm, aber doch pflegen die Patienten, nament¬ 
lich wenn die Thoraxpartien beteiligt sind, die Empfindung von Spannung 
und Beengung zu haben; in anderen Fällen leiden sie sehr unter der starken 
lokalen Hyperästhesie, die sie schon den Druck und das Reiben der Kleidungs¬ 
stücke wie auf wunder Haut empfinden läßt. 

Bei allen Formen der Muskelüberanstrengung ist die Massage also von 
größtem Vorteil und in akuten Fällen geradezu das souveräne Mittel, wenn 
die Affektion an der Faszie oder der Sehne, resp. an der Infektionsstelle 
des Muskels am Periost lokalisiert ist. Aber die chronischen Myalgien ver¬ 
langen die Massage nicht minder. Und je älter der Fall ist, mit um so 
größerer Sorgfalt muß die schmerzende Partie aufgesucht und um so ener¬ 
gischer muß sie massiert werden. Um die Prüfung mit der erforderlichen 
Genauigkeit vornehmen zu können, müssen zur Untersuchung die mannig¬ 
faltigsten und oft ganz absonderliche Stellungen und Lagen seitens des 
Patienten eingenommen werden. Denn auf die Angaben des Kranken selbst, 
der, sobald sich erst irradiierende Schmerzen oder sekundäre abnorme 


Digitized by ^.ooQle 



Myopathien, funktionelle. 


299 


Reaktionen (perverse sensible und motorische Innervationen) eingestellt 
haben, den Sitz seiner Beschwerden meist falsch lokalisiert, ist absolut kein 
Verlaß. So ist z. B. bei linkseitiger myalgischer Pseudo-Ischias die haupt¬ 
sächlich schmerzhafte Stelle oft nur dann zu finden, wenn der auf der 
rechten Seite Liegende sich noch um ein gewisses Stück der Bauchlage 
zudreht und dabei Knie- und Hüftgelenk möglichst beugt. Wenn man dann 
lateral vom Tuber ischii in die Tiefe geht, so wird man das schmerzhafte 
Gebiet in der Sehne des Pyriformis, Obturatorius oder dem Gebiet des 
Glutaeus minimus entdecken und oft in der Lage sein, durch eine wenige 
Minuten währende mechanische Einwirkung zunächst einmal mehrstündige 
Besserung zu erzielen. Mir erwies es sich mitunter ganz zweckmäßig, 
daß ich z. B. bei linkseitigen Schmerzen den Patienten sich seitlich so 
auf einen Stuhl setzen ließ, daß sich die Stuhllehne unter seiner rechten 
Achsel befand und daß mehr die Oberschenkel als die über den Stuhlsitz 
zum größten Teile herausragenden Nates als Sitzfläche benutzt wurden. Ver¬ 
anlaßt man dann den Patienten, dadurch, daß ich ihm sein Gesicht der Stuhl¬ 
lehne, resp. der rechten Schulter zu wenden ließ, eine Torsion des Rumpfes 
vorzunehmen, so gelang es immer leicht, die schmerzenden Bezirke für die 
Untersuchung und Behandlung zugänglich zu machen. Denn nur deren Auf¬ 
findung garantiert den Erfolg, der in derartigen Fällen mit keinem anderen 
Mittel zu erreichen ist. Rosenbach hat bei einer großen Zahl von Patienten, 
die bereits längere Zeit kunstgerecht mit Massage behandelt waren und die 
jeden weiteren Versuch damit für aussichtslos hielten, in relativ kurzer Zeit 
auf diese Weise geheilt, nachdem er aber zuvor durch eine mühevolle, oft 
viertelstundenlang dauernde Untersuchung die affizierte Region festgestellt 
hatte. Und auch mir ist in einer kleineren Zahl von Fällen dasselbe ge¬ 
lungen. 

Solche schmerzende Stellen, an denen die Myalgien mit Vorliebe 
lokalisiert sind, lassen sich bei Kranken, die unter allen möglichen anderen 
Diagnosen schon lange in ärztlicher Behandlung waren, ferner oft wider 
alles Erwarten an den unteren Extremitäten finden: an der Innenfläche des 
Oberschenkels etwas oberhalb des Condylus internus in der Muskelfurche 
zwischen dem Vastus internus und den Adduktoren bei starker Flexion und 
Adduktion, ferner längs der inneren Kante der Tibia, dann lateralwärts unter¬ 
halb des Peronealpunktes, ebenso an den Metatarsalköpfchen, besonders 
häufig, wie bemerkt, am zweiten, namentlich wenn man zwischen diesem 
und dem Kopfe des ersten Metatarsus etwas in die Tiefe geht. 

Die schmerzhaften Stellen bei Myalgien unterhalb des Rippenbogens 
lassen sich oft nur bei starker Erschlaffung der Bauchdecken, im Sitzen 
also bei stark vorgebeugtem Oberkörper, ermitteln. Leichter sind diejenigen 
unterhalb des Schlüsselbeins, oberhalb der Spina scapulae, unterhalb des 
Processus mastoideus, in den Nackenmuskeln, am Sternokleidomastoideus, 
am Cucullaris aufzufinden. Recht schwer dagegen kann die Feststellung der 
affizierten Partien in der Fossa iliaca werden, da die meisten Patienten erst 
nach vielen Versuchen die Bauchmuskeln genügend erschlaffen — und am 
schwierigsten gestaltet sich wohl durchgehends die Auffindung der sehr oft 
vorkommenden myogenen Affektionen an den Muskeln der Wirbelsäule, 
namentlich an der Stelle, wo gewöhnlich von dem Kranken selbst die 
»Nierenschmerzen« lokalisiert werden. Um den Locus affectionis wenigstens 
annähernd zu bestimmen, muß man sich für jeden Patienten eine spezielle, 
für die Untersuchung günstige Position ausdenken. Bei manchen findet man 
sie im Stehen, wenn bei fest aufgestützten Armen der Oberkörper ein wenig 
nach vorn geneigt wird, bei anderen besser im Sitzen, wenn der Rumpf 
bei fixiertem Becken nach hinten gebeugt wird. 


Digitized by ^.ooQle 



300 


Myopathien, funktionelle. 


Aber euch bei den Myalgien, die die Grundlage einer Hemikranie bilden, 
verdient die Maiwage fiberall da den Vorzug, wo es gilt, die sehnigen Aus¬ 
breitungen an den Insertionspunkten des Muskels zu treffen, die in der 
Regel der Hauptsitz der Schmerzen sind, ln den allermeisten Fällen gelingt 
es auf diese Weise schon innerhalb weniger Minuten, ein Schwinden der 
fiberaas lästigen Erscheinungen herbeizuffihren. Aber nicht in jedem einzelnen 
Falle kann man die schmerzhaften Regionen mit Sicherheit eruieren und 
auch nicht immer kommt man mit der Massage zum Ziele, weil ihre An¬ 
wendung in dem erforderlich starken Maße wegen der Schmerzhaftigkeit bei 
abnorm empfindlicher Haut nicht ertragen wird. 

Hier muß dann der faradische Strom substituierend eintreten. Namentlich 
wo die Stellen ffir Massage nicht zugänglich sind, ist die Anwendung starker 
Induktionsströme unter Applikation breiter, aber sehr feuchter Elektroden 
indiziert und man erreicht mit ihr auch entschieden eher Erfolge als mit 
einer nicht den Locus affectus treffenden Massage. Die Wirkung des f&radi- 
schen Stromes beruht auf den sehr starken Kontraktionen des Muskels und 
den hierdurch gesetzten mechanischen Veränderungen in ihm. 

Neben der erwähnten Kategorie von Fällen bilden diejenigen das Haupt¬ 
gebiet ffir die erfolgreiche Anwendung der Indnktionsströme, in denen weniger 
die Aponeurosen als die Muskelbäuche selbst sehr schmerzhaft sind. Aber auch 
sonst wird durch die Faradisation mindestens der gleiche Effekt bewirkt, 
wie durch eine nur mäßig ausgefibte Massage, und da die Muskelkontrak¬ 
tionen sich bis zu den Insertionsstellen fortsetzen, können nicht nur alle 
leichteren Fälle, sondern auch solche durch diese Behandlungsmethode im 
günstigen Sinne mechanisch beeinflußt werden, in denen die Aponeurosen 
in höherem oder geringerem Grade schmerzhaft sind. 

An einzelnen affizierten Stellen verbietet sich allerdings der Gebrauch 
des Induktionsstromes wegen der großen Schmerzhaftigkeit, die die Appli¬ 
kation der Elektroden direkt am Knochen verursacht, wie z. B. an der Stirn, 
am Schlfisselbein, am Proc. mastoideus usw. Aber bei den meisten ander¬ 
wärts lokalisierten Myalgien, bei den Affektioneo am Becken, an der Wirbel¬ 
säule und in den Bauchdecken, ebenso bei der Pseudostenokardie ist die 
Behandlung, wenn es sich nicht um sehr veraltete Fälle handelt, 
fast immer wirksam; und man wird sich um so eher zu ihr entschließen, 
als die Lokalisation nicht so genau zu sein braucht wie bei der Massage. 
Das iBt namentlich dann von Wichtigkeit, wenn bereits andere Muskeln 
durch perverse Innervation in Mitleidenschaft gezogen sind. Hier empfiehlt 
es sich in Anbetracht der äußerst komplizierten und von vornherein schwer 
zu analysierenden Verhältnisse, eine ganze Muskelgruppe zu ausgiebiger 
Kontraktion zu bringen. 

Von dem konstanten Strome, der ja in einzelnen Fällen von wirklicher 
Neuralgie (z. B. auch in solchen von rein nervöser Migräne) zufrieden¬ 
stellende Erfolge aufzuweisen hat, konnte ich ebensowenig wie Rosbnbach 
irgend welchen therapeutischen Nutzen sehen, es sei denn, daß durch häufige 
Unterbrechungen oder Umkehrungen der Stromrichtung (VoLTAsche Alter¬ 
nativen) auf die Auslösung energischer Muskelkontraktionen hingearbeitet 
wurde. Ffir die Applikation am Kopf ist ja aber der galvanische Strom auch 
ohne die hier erwähnten Modifikationen wegen der überaus unangenehmen 
Nebenwirkungen (Geschmacksempfindungen, Blitzen vor den Augen) an sich 
nicht geeignet. Kommt man aus irgend welchem Grunde — z. B. wegen 
der Unzugänglichkeit der befallenen Partien der Rücken- oder Bauchmus¬ 
keln — nicht zum Ziele, so wird man sich vielfach genötigt sehen, den 
Patienten methodisch diejenigen Bewegungen ausführen zu 


Digitized by 


Google 



Myopathien, funktionelle. 301 

lassen, die ihm am schwersten fallen und am schmerzhaftesten 
sind. — 

Doch ist da eine gewisse Vorsicht immerhin am Platze and weit 
häufiger — in der relativ geringen Zahl einschlägiger Fälle — wird man 
sich auf gymnastische Bewegungen mäßigen Grades (Beugen und 
Strecken des Oberkörpers, Rotationen des Rumpfes, langsames Sichaufrichten 
aus liegender Stellung usw.) beschränken. Doch erleidet diese und noch mehr 
die vorher gegebene Regel wichtige Ausnahmen! Zu solchen Ausnahmen ge¬ 
hören vor allem die periodischen, auf Muskelaffektionen zurückzuführenden 
Beschwerden der Neurasthenischen, Chlorotischen, Anämischen und 
Zuckerkranken. Hier verbieten sich überhaupt, wenn nicht der sichere 
Nachweis einer akuten Veranlassung zu erbringen ist, alle lokalen Ma߬ 
nahmen, und nur ein Regime, welches auf die Besserung des Grundleidens 
hinwirkt, kann da erfolgverheißend sein. Wie der Induktionsstrom in der¬ 
artigen Fällen niemals zur Anwendung kommen sollte und sogar eine mäßige 
Massage unter Umständen, die wir nicht kennen und nicht vorauszusehen 
imstande sind, schädlich wirken kann, so ist auch mit methodischer Gym¬ 
nastik in jeder Form, die im allgemeinen doch nur von Vorteil für die An¬ 
regung des Stoffwechsels und die Stärkung der Muskeln sein könnte, die 
äußerste Zurückhaltung geboten. Selbst in der vorsichtigsten Weise hat sie 
aller Erfahrung nach hier doch einen wesentlich geringeren Nutzen als 
Bettruhe und Wärme. (Regulierung der Wärmeabfuhr durch Ver¬ 
stärkung der Bekleidung, Erwärmung des Schlafzimmers, eventuell des 
Bettes, Erzeugung reaktiver Wärme durch milde hydropathische Proze¬ 
duren U8W.) 

Aber auch wenn eine akute Veranlassung für die Myalgie vorliegt, 
bei sogenanntem Muskelrheomatismus und bei der Muskeldehnung resp. 
-Überanstrengung, ferner bei Myalgien der Brustmuskeln nach einer durch¬ 
wachten Nacht kann man durch die Therapie oft geradezu die Bestätigung 
der Diagnose erhalten, indem man z. B. starke Wärmegrade stundenlang lokal 
einwirken läßt und dadurch ein Schwinden der Symptome mit einem Schlage 
oder andernfalls wenigstens solange erzielt, als Ruhe eingehalten wird. Bei 
sehr schwächlichen, anämischen Personen ist körperliche Ruhe am ersten 
oder zweiten Tage immer sehr vorteilhaft; doch muß dann mit mäßigen 
Bewegungen begonnen werden, da die schmerzhaften Teile, wie bemerkt, 
später immer schwerer beeinflußbar werden. 

In Verbindung mit Ruhe und Wärme wirken sehr günstig die Brom¬ 
präparate und sonstige Mittel aus der Klasse der sogenannten 
Nervina. Gerade bezüglich des Antipyrin, Phenazetin, Salipyrin usw., 
von denen man hier zweifellose Erfolge sieht, hat Rosenbach nachgewiesen, 
daß es sich in erster Linie um eine Muskel- und erst sekundär um eine 
Nervenwirkung handelt, da sie wesentlich die mit starken Muskelaffektionen 
verbundenen Neuralgien und vor allem die myalgische Form der Migräne 
beeinflussen. Auch ihr antithermischer Effekt dürfte wohl von ihrem Einfluß 
auf die Muskulatur abhängen, indem sie die abnorm hohe Muskelerregbarkeit 
herabsetzen und Produkte liefern, die den Antagonismus zwischen Haut und 
Muskulatur im Sinne der Norm regeln, dadurch aber der infolge ungenügenden 
Wärmeverbrauchs im Muskel entstehenden Wärmestauung entgegenwirken 
(O. Rosenbach). 

Wie namentlich bei der myogenen Form der Migräne und der Kardialgie 
durch Antipyrin in Dosen von y^bis i/ 2? höchstens lg die Beschwerden oft mit 
einem Schlage beseitigt werden, so sieht man auch bei den remittierenden 
Formen des Asthma myalgicum (wo sonst respiratorische Beschwerden 
mehrere Tage mit kurzen Remissionen — vollständige Intermittenz ist 


Digitized by ^.ooQle 



302 


Myopathien, funktionelle. 


selten — fortbestehen and stärkere Paroxysmen sieh häufig: wiederholen) bei 
Ruhe, Wärme und der erwähnten inneren Medikation die Anfälle entweder 
sofort und völlig schwinden oder die Erscheinungen nach dem Abklingen 
der Wirkung gewöhnlich doch so unbedeutend werden, daß meist eine er¬ 
neuerte, kleinere Dosis dauernd Abhilfe schafft. Bei chronischen Fällen 
von Myalgie pflegen die medikamentösen Antimyalgica jedoch 
völlig zu versagen. 

Der Zusammenhang von Haut- und Muskelfunktion — von Haut¬ 
neuralgie, die nur bei oberflächlicher Untersuchung das alleinige Leiden 
zu sein scheint, und sehr ausgesprochener Myopathie — hat wohl den Salben 
und Pflastern früher zu ihrem Ruhme verholfen und in gewissen Kreisen 
bis zum heutigen Tage erhalten. Ganz abgesehen von energischen Einrei¬ 
bungen, bei denen die Massage mitspielt, erfahren tatsächlich die Affektionen 
schon durch die abschließende Umhüllung mit Salben und Pflastern 
(deren Natur im Grunde so gut wie gleichgültig ist, sobald sie nur Fett 
enthalten) eine relativ schnelle Besserung. Das muß auch ein noch so 
skeptischer Beobachter zugeben. Ob nun die Verhinderung der Wärme¬ 
abfuhr aus den abnorm funktionierenden Muskeln resp. der sie bedecken¬ 
den Haut, ob die gleichmäßige Fixation des Muskels und der Haut, ob die 
Fettzufuhr oder die bloße Abhaltung der Impulse der Außenwelt so günstig 
wirkt, das läßt sich nicht entscheiden; wahrscheinlich wirken oft alle diese 
Faktoren zusammen. Das eine steht fest, daß der günstige Effekt, der bei 
einer Gesichts- oder Armneuralgie durch eine Bedeckung der kranken Teile 
erzielt wird, auch bei gewissen Myopathien, namentlich den nach Erkäl¬ 
tung und Überanstrengung resp. leichterer Überdehnung entstehenden zu 
beobachten ist. Vieles spricht dafür, daß ein Faktor der wohltätigen Beein¬ 
flussung der Hautfunktion durch die Massage auch in dem zu Hilfe ge¬ 
nommenen Fett zu suchen ist, sei es, daß die mechanischen Impulse nun 
gleichmäßiger auf das ganze Gebiet und besonders in die Tiefe wirken, sei 
es, was nach Rosenbach wahrscheinlicher ist, daß die anämisch-empfindliche 
Haut durch die Imprägnation mit Fett geschmeidiger und weniger empfind¬ 
lich, damit zugleich aber der darunter liegende Muskel reflektorisch im Sinne 
größerer Funktionstüchtigkeit beeinflußt wird. Rosenbach glaubt besonders 
die Wirkung der Pflaster bei Pseudokardialgien und anderen zirkumskripten 
schmerzenden Stellen an den Bauchmuskeln hervorheben zu müssen: das 
steht ganz im Einklang mit dem Renommee, das gewisse fett- und harz- 
haltige Kompositionen beim Publikum genießen. 

Keinesfalls dürfen aber diese Maßnahmen soweit getrieben werden, daß 
der leidende Teil, wie man das in von Laien behandelten Fällen zuweilen 
sieht, unvollständig immobilisiert wird. Bei funktioneller Muskelschwäche 
und übergroßer myogener Schmerzempfindlichkeit oder gar bei perverser 
Innervation ist, wie das Rosenbach immer besonders betont hat — im Gegen¬ 
satz zu den wirklich entzündlichen Vorgängen resp. Gewebsverletzungen — 
nichts schädlicher als die Fixation in starren Verbänden. Wie bemerkt, 
wirken auch Ruhe und Wärme nur vorübergehend, nicht als dauernd fest¬ 
gehaltenes Regime günstig. 

Den Fanatikern der Ruhe und Immobilisation in ärztlichen und Laien¬ 
kreisen stehen auf der andern Seite die der Bewegung gegenüber. Wenn 
wir erwägen, wie schmerzhaft jede Bewegung der kranken Teile ist — auch 
wenn sie, wie z. B. bei der Migräne, nicht direkt zur Lokomotion gebraucht 
werden — und wie in vielen Fällen der Patient einer planlos und vorzeitig 
ausgegebenen Parole »mehr Bewegung« durch instinktive Beschönung gerade 
der erkrankten Partien unter Anbahnung ganz widernatürlicher, später gewohn- 


Digitized by 


Google 



Myopathien, funktionelle. 


303 


heitsmäßig beibehaltener Innervationen entgegenarbeitet, werden wir auf die 
Einhaltung des rechten Maßes und der rechten Zeit für Betätigung und 
Ruhe immer bedacht sein. 

Die Störungen schließlich, die auf hämorrhoidale Beschwerden im 
weitesten Sinne oder habituelle Obstipation zurückzuführen sind, setzen, 
abgesehen von der so wichtigen Berücksichtigung konstitutioneller Verhält¬ 
nisse, vor allem auch die methodische Regulierung des Stuhlgangs 
voraus. Hierbei ist nach Rosenbach der Sitz der Obstipation von großer 
Bedeutung und um ihn festzustellen, können die Angaben eines richtig 
beobachtenden Kranken mitunter ebenso maßgebend sein wie das Resultat 
der ärztlichen Untersuchung. 

Wenn das Kolon Sitz der schwachen Funktion ist, so können nicht 
Klistiere den oft schon hier zu konsistenten Massen geballten Darminhalt 
wegschaffen, sondern es bedarf der drastischen Mittel oder unter Um¬ 
ständen der Bitterwässer, während bei Affektionen, die unterhalb der linken 
Flexur lokalisiert sind, warme Eingießungen den Vorzug verdienen Ich selbst 
habe in solchen Fällen — und meistens handelte es sich um Patienten, die 
wegen vermeintlicher »Verdauungsschwäche« auf eigene Hand oder auch 
auf ärztlichen Rat in ihrer Diät immer vorsichtiger und unnatürlicher ge¬ 
worden waren und der heutigen Moderichtung entsprechend eine möglichst 
leicht verdauliche, an animalischem Eiweiß überreiche und Kunstpräparate 
bevorzugende Ernährungsweise einhielten — die Kranken möglichst bald von 
rein evakuierenden Maßregeln medikamentöser wie mechanischer Art unab¬ 
hängig zu machen gesucht, indem ich sie zum Genuß einer gerade nicht 
leicht verdaulichen, vorwiegend Vegetabilien (Gemüse, Hülsenfrüchte, 
Salat, Schwarzbrot), aber auch reichlich Käse und Butter enthaltenden 
»Hausmannskost« ermutigte. Ich erzielte auch damit fast ausnahmslos sogar 
in den Fällen Erfolge, in denen schon Jahrzehnte hindurch Abführmittel 
gebraucht worden waren. Darin stimme ich Rosenbach allerdings vollkommen 
bei, daß bei denjenigen Myalgien der Bauch- und Rückenmuskeln, die unter 
dem Bilde eines Magenleidens verlaufen, jede schroffe Änderung der Diät 
zu vermeiden ist, da sie häufig die Patienten nur schwächt und empfind¬ 
licher macht. 

Diese Maßnahmen schließen schon ein gutes Stück Prophylaxis in 
sich. Im Hinblick auf diese erwächst unserem ärztlichen Handeln aber weiter 
die Pflicht, in jedem Falle, in dem eine so abnorme starke Empfindlichkeit 
gegen Erkältungseinflüsse, gegen starke Muskeltätigkeit oder ungewohnte 
Körperhaltung zu konstatieren ist, daß wir an eine myopathische Anlage 
denken müssen, durch methodische Gymnastik schon in gesunden Tagen eine 
Abhärtung der schwachen, leicht ermüdenden und infolge übermäßiger 
Transspiration zu Erkältungen geneigter Muskeln zu erzielen und da¬ 
neben auch durch häufigere kalte Waschungen die Hautempfindlichkeit zu 
vermindern. 

Ich will diese Ausführungen nicht ohne den Hinweis darauf schließen, 
daß wir gerade bei der in den vorstehenden Seiten charakterisierten Häufig¬ 
keit dieser im großen und ganzen so wenig beachteten Leiden nicht in den 
Fehler einseitiger Phantasten und Fanatiker gewisser Behandlungsmethoden 
verfallen dürfen, nun etwa jede Migräne, jede Ischias oder jede Kardialgie als 
myalgischen Ursprungs anzusehen. Speziell im Hinblick auf die myogene 
Migräne hat Rosenbach immer betont, daß seine Darlegungen nur 
für eine beschränkte Anzahl von wohlcharakterisierten Fällen 
Geltung haben. Wissenschaftliche Befriedigung und praktische Erfolge wird 
nur der erzielen können, der in jedem Falle mit allen ihm zu Gebote stehen¬ 
den Mitteln dem Werdegang der Störung nachspürt. Geschieht dies aber, 


Digitized by ^.ooQle 



304 


Myopathien, funktionelle. 


so wird man vielleicht nirgends mehr als in diesem an sieh eng begrenzten 
Kapitel der Pathologie den alten Satz bewahrheitet finden: »Qni bene 
dtetingoit, bene medebiturc. 

Literatur: 0. Rosehbach, Über einige seltener auftretende palpatorische and aus¬ 
kultatorische Phänomene. Berliner klin. Wochensehr., 1876, Nr. 22 ff. — Derselbe, Über 
die an! myopathischer Basis beruhende Form der Migräne und Aber myopathische Kardialgie. 
Deutsche med. Wochensehr., 1886, Nr. 12 u. 13. — Derselbe, Die Entstehung und hygienische 
Behandlung der Bleichsucht. Leipzig, C. G. Naumann, 1893. — Derselbe, Beiträge zur Patho¬ 
logie und Therapie der Verdauungsorgane. Arch. f. Verdauongskrankh., Bd. I, 1895. — 
Derselbe, Nervöse Znstände und ihre psychisehe Behandlung. Berlin, Fischers med. Buchh., 
1. Aull. 1897, 2.Aufl. 1903.— Derselbe, Zur Lehre von der spinalen (muskulomotorischen) 
Insuffizienz (Tabes dorsalis). Deutsche med. Wochenschr., 1899, Nr. 10—12. — Derselbe, 
Über pseudopulmonale und pseudopleurale Geräusche (Muskelknarren und Muskelknacken). 
Wiener klin. Bundschau, 1899, Nr. 26. — Derselbe, Zur Behandlung der Chlorose durch 
Bettruhe. Berliner klin. Wochenschr., 1899, Nr. 20. — Derselbe, Über myogene Pseudo¬ 
stenokardie. Therap. d. Gegenw., 1902, Februarheft — Derselbe, Über die diagnostische 
Bedeutung und Behandlung funktioneller Myopathien. Therap. d. Gegenw., 1903, Aprilheft. 

Vgl. auch Nostböm, Traitement de la migraine par le massage. Les Progrös med., 1886, 
Nr. 3. — Eschle, Die krankhafte Willensschwäche und die Aufgabe der psychischen Therapie. 
Berlin, Fischers med. Buchh., 1904. — Derselbe, Willensschwäche. Eulenburgs Enzykl. 
Jahrb., neue Folge, Bd. III, 1905. — Derselbe, Perverse Innervation. Ebenda, Bd. IV, 1906. 
— Derselbe, Die funktionelle Diagnostik O. Robkrbachs und die Therapie des krankhaften 
Zuckerverlustes. Therap. Rundsch., 1909, Nr. 11—12. Eschle . 


Digitized by ^.ooQle 



N. 


Nasenbluten« Obwohl das Nasenbluten nicht als selbständige 
Krankheit aufgefaßt werden darf, verdient es doch eine besondere Be¬ 
sprechung, zumal in neuerer Zeit Fortschritte in der Behandlung desselben 
gemacht worden sind und die plötzliche Natur und das öfters bedroh¬ 
liche Auftreten ein Eingreifen auch des Nichtspezialisten häufig erforderlich 
macht. Verletzungen bilden die häufigste Ursache von Nasenbluten. Bei 
prädisponierten Nasen, z. B. solchen, die an der Scheidewand eine Ex- 
koriation schon haben (Rhinitis sicca anterior), genügt als Verletzung das 
bloße Naseschnauben, besonders wenn es ungeschickterweise mit dem Hin- 
und Herbiegen der Scheidewand verbunden wird. Niesen, Bücken, Heben, 
ferner äußere Gewalteinwirkungen, Schlag, Stoß, Fall, rufen leicht Nasen¬ 
bluten hervor. Manche Leute sehen Nasenbluten, speziell in der Jugendzeit, 
als periodisch an und nicht für krankhaft. Ein Beweis dafür ist niemals 
geliefert worden. Nur bei solchen Frauen, wo anstatt der ausbleibenden 
Periode Nasenbluten eintritt, kann man das als einen physiologischen Not¬ 
behelf ansehen. Als erleichternd für gewisse Beschwerden der Kongestion, 
speziell bei Verkalkung der Adern, bei höchsten Fieberzuständen darf man 
das Bluten ruhig bis zu einem gewissen Grade gehen lassen, da die Patienten 
einen symptomatischen Nutzen davon haben, sonst aber ist man bei allen 
nicht ganz unbedeutenden Blutungen zur Stillung verpflichtet. 

Regelmäßige oder wiederholte Blutungen machen den Verdacht auf 
Geschwülste rege. Es brauchen nicht immer maligne Geschwülste sich dar¬ 
unter zu verstecken. Der »blutende Nasenpolyp« ist mit die häufigste 
Ursache leicht auftretender und bedeutender Blutungen. Es handelt sich bei 
diesem stets um ein gefäßreiches Granulationsgewebe in Form einer Neu¬ 
bildung, die aber nicht stets histologisch denselben Charakter hat. Der fast 
immer am vorderen Teil des Septums gelegene blutende Polyp ist manch¬ 
mal nur ein gefäßreiches Granulom, manchmal mehr Angiofibrom, manch¬ 
mal mehr histologisch, aber nicht klinisch (!) ein Angiosarkom. Ich selbst 
habe die Beobachtung gemacht, daß er bei schwangeren Frauen besonders 
häufig ist. Überhaupt scheint er bei Frauen öfter vorzukommen. Einmal 
sah ich ihn bei einem Jungen, der ein angeborenes Gefäßmal auf derselben 
Seite im Gesicht hatte, das bis über die betreffende Nasenseite ging. Hier 
lag also ein Überfluß an Gefäßmaterial schon lokal vor, als das Granulom 
sich bildete. Es wird sich meiner Meinung nach fast immer bei diesem blu- 
tenden Septumpolypen um eine lokale Reizung handeln, doch fehlen darüber 
noch gute Beobachtungen. Jedenfalls findet er sich bei den so häufigen 
Perforationen des vorderen Septums mit Krustenbildungen, die sehr leicht 
kleine Blutungen machen,, nicht, obwohl gerade hier durch Fingernagel etc. 


Encyclop. Jahrbücher. N. F. VIIL (XVII.) 


Digitized by Google 



306 


Nasenbluten. 


sehr lange Zeit Reizungen stattfinden. Hier ist aber die Schleimhaut dünn, 
trocken, narbig, zu Plattenepithel verwandelt und nicht geeignet zur Pro¬ 
duktion von Granulombildungen. 

Wie der blutende Septumpolyp, können auch andere, aber bösartige 
Geschwülste schwere Blutungen machen. Eiterungen der Nebenhöhlen, ge¬ 
wöhnliche Polypen geben zu Blutungen keinen Anlaß. Leicht dagegen ist 
eine häufige Blutung bei kleinen Rindern oder auch bei indolenten Er¬ 
wachsenen das einzige Zeichen eines in die Nase geratenen Fremdkörpers, 
so daß es geradezu Pflicht des Arztes ist, bei Kinderblutungen an einen 
Fremdkörper zu denken. Dieser ist nicht immer mit der Sonde zu fühlen, 
auf die sich immer noch gern der ungeübte Arzt verläßt. Ich selbst habe 
Papierknäuel, Zunderstücke als Ursache von Blutungen entfernt, die nur 
durch sehr genaue Inspektion zu entdecken waren. Eine Untersuchung der 
Nase ohne Spiegel, ohne gute Beleuchtung, ist in allen Fällen ungenügend. 

Alle Blutstauungen im Bereiche des Kopfes können infolge von Herz-, 
Nieren- und Lungenkrankheiten, von Druck durch große Kropfgeschwülste, 
durch enge Halskragen, ferner infolge von Erkrankungen der Baucheinge¬ 
weide (Unterleibstyphus, akute gelbe Leberatrophie), bei krankhafter Be¬ 
schaffenheit der Nasenschleimhaut zu Nasenbluten führen. Sodann 
führen dazu auch die WBRLHOPsche Krankheit, der Scbarbock (Skorbut), 
Hämophilie, Chlorose, Anämie, Leukämie, Malaria, sowie Arteriosklerose. 
Nasenbluten wird bei wahrscheinlich sonst gesunder Nasenschleimhaut auch 
bei rascher Abnahme des Luftdruckes (Luftballonfahrten) beobachtet, während 
andrerseits dem nach reichlichem Genuß geistiger Getränke oder nach Ein¬ 
nahme starker Mahlzeiten, ferner bei größeren körperlichen Anstrengungen 
und bei Einwirkung großer Hitze gelegentlich vorkommenden Nasenbluten 
stets eine kranke Nasenschleimhaut, bzw. kranke Gefäßwände zugrunde 
liegen. Das sogenannte gewohnheitsmäßige, also häufig sich wiederholende 
Nasenbluten beruht stets auf einer örtlichen Erkrankung der Nase, und 
wenn es auch häufig von selbst zu kommen scheint, so fehlt dennoch nie¬ 
mals eine Gelegenheitsursache, wie Jucken, Kratzen, Schneuzen, Niesen u. dgl., 
wenn solches auch im Schlafe oder kurze Zeit vor Eintritt der Blutungen 
unbewußt, wie ja so häufig, geschehen ist. Um derartiges auszuschließen, 
genügt es nicht, daß Kranke es leugnen. Es ist nur zu bekannt, daß solche 
Vorgänge meist unbewußt geschehen, jedenfalls aber, solange die Aufmerk¬ 
samkeit nicht darauf gelenkt ist, so wenig dem Gedächtnisse sich einprägen, 
daß einer späteren Aussage beweisende Kraft nicht beigemessen werden kann. 

Das an Stelle von Menstruations- oder Hämorrhoidalblutungen beob¬ 
achtete Nasenbluten kann vielleicht als ein wirklich stellvertretendes an¬ 
gesehen werden. Es kann bei an sich nicht gesunder Schleimhaut auftreten, 
wenn krankhafte Vorgänge innerhalb der Bauchhöhle, wie bereits erwähnt, 
sich abspielen, wie dies ja in den beiden genannten Fällen zutrifft, wenn 
auch im ersteren Falle bei Eintritt der Wechseljahre ein sogenannter physio¬ 
logischer Vorgang zugrunde gelegt wird. 

Beim Nasenbluten tropft oder läuft das Blut gewöhnlich aus den vor¬ 
deren Nasenlöchern heraus; es kann aber auch beim Liegen in den Hals 
laufen und in der Nacht nicht als Nasenbluten, sondern als Lungenblutung 
angesehen werden. Heftiges Nasenbluten kann zu Schwindel, Ohrensausen 
und Ohnmacht führen; häufig sich wiederholendes, wenn auch noch so 
geringfügiges, schließt eine große Gefahr für das Wohlbefinden in sich, 
indem die Blutbildung gestört wird. Zuweilen gehen der Blutung infolge 
der vorhandenen Blutstauung ein Druck- und Hitzegefübl im Kopfe, Be¬ 
nommenheit, Ohrensausen voraus; alle diese Erscheinungen geben mit dem 
Eintritte der Blutung sofort zurück, was bei Vollblütigkeit (Plethora) von 
entschiedenem augenblicklichen Heilwerte ist (Bresgen). 


Digitized by 


Google 



Nasenbluten. 


307 


In der Nase findet man am häufigsten die blutenden Stellen an der 
Nasenscheidewand dort, wohin der betreffende Kranke mit seinem Finger¬ 
nagel gerade noch hingelangen kann, ferner an dem vorderen Ende der 
mittleren Muschel; aber auch alle anderen Stellen der Nase können gelegent¬ 
lich bluten, wenn festhaftende Krusten gewaltsam entfernt werden oder 
wenn geschwörige Erkrankung daselbst besteht. 

Zur Feststellung des Ortes der Blutung muß die Nase mit aus¬ 
reichender Beleuchtung und Spiegel untersucht werden. Findet man die 
blutende Stelle nicht sogleich vorn an der Scheidewand, so muß die Nase 
mit kleinen Wattebäuschchen von oben nach unten hin gesäubert werden. 
Dabei kann die blutende Stelle unserer Beobachtung sich nicht entziehen. 
Zu beachten ist, daß auch eine Blutung im Nasenrachenraum eine solche 
der Nasenhöhle Vortäuschen kann. — 

Die Behandlung des Nasenblutens umfaßt die kleinsten Maßnahmen, 
wobei es genügt, einen Wattebausch in die blutende Nasenseite zu stecken 
und die aufregendsten Szenen im ärztlichen Leben, bei denen es erst nach 
sehr vielen und wiederholten Eingriffen gelingt, der bedrohlichen Blutung 
Herr zu werden. Todesfälle sind zwar selten, aber kommen doch vor und 
nicht bloß bei Hämophilen. Blutungen nach Operationen sind nicht selten, 
besonders wenn der Patient versäumt, sich 1—2 Tage ruhig zu halten, 
Märsche macht, Tennis spielt. Späte Operationsnacbblutungen, nach einigen 
Tagen, ja nach 2—3 Wochen, kommen auch vor, besonders nach Operationen 
im Siebbein und an der mittleren Muschel. Ich habe selbst solche schwersten 
Charakters erlebt. Gegen diese kann man sich nicht durch richtiges Verhalten 
schützen. Ebenso wie Ruhe ist Alkoholabstinenz nach allen blutigen 
Nasenoperationen, auch solchen kleineren Charakters, nötig. Der Hals ist 
nicht einzuengen, die Speisen nicht zu heiß zu nehmen. 

Bei allen schneidenden Nasenoperationen mit Messer, Schere, Conchotom 
und Schlinge, Meißel und auch bei der Glühschlinge denke man an Nach¬ 
blutungen, verwarne die Leute, besonders wenn sie Eisenbahnfahrten nach 
ihrem Heim zu machen haben, so daß sachverständige Hilfe nicht bald zur 
Stelle sein kann. 

Um zu zeigen, daß die Welt sich langsam in Spiralen dreht, tauchen 
jetzt, nachdem wir in örtlicher Blutstillung unter Spiegelleitung das alleinige 
Heil der Medizin und ihrer Fortschritte zu sehen gewöhnt waren, von bester 
wissenschaftlicher Seite (Jurasz in Lemberg [Münchener med. Wochenschr., 
1909, Nr. 35]) Vorschläge auf, die an die alte Volksmedizin anknüpfen. Es 
gilt auch hierzulande noch als Blutstillungsmittel, kalte Schlüssel in den 
Nacken zu stecken. Jurasz empfiehlt kalte Begießungen des Nackens und 
berichtet von einem Fall, der trotz vielfacher, über Tage sich erstreckender 
Tamponade erst zum Stillstand kam, als das ableitende Wasser- resp. 
Kälteverfahren angewendet wurde. Als Notmittel kann man es also doch 
betrachten und es der Vergessenheit entreißen. 

Es scheint die Nasenschleimhaut auf Kältereize im Nacken besonders 
zu reagieren. Man denke an den Schnupfen, der bei Zug in den Nacken 
entsteht, auch erinnere ich an die neuesten Veröffentlichungen 0. Mucks in 
Essen (Münchener med. Wochenschr., 1909, Nr. 29), der kalte Nacken¬ 
begießungen bei den Niesattacken der Rhinitis vasomotoria empfiehlt. 

Die erste Aufgabe bleibt stets, den Patienten zu beruhigen, ihn eine 
Stellung einnebmen zu lassen, die den blutenden Teil hoch stellt, also meist 
militärische Haltung im Sitzen, ihm anzuraten, das viele Schneuzen und 
Ausspucken zu unterlassen, lieber etwas Blut zu schlucken. Befreiung des 
Halses von allen engen Kragen. Besichtigung der Nase, um festzustellen, 
welche Seite angefangen hat zu bluten. Dann Abtupfen der Gerinnsel, eventuell 


Digitized by 




308 


Nasenbluten« 


Aiisblasen derselben, wenn Beleuchtung and Spiegel zur Hand ist. Das hellste 
Licht ist gerade gut genug. 

Man suche systematisch zuerst das Septum auf, besonders den vorderen 
unteren Teil, da drei Viertel aller Blutungen an dieser Stelle beginnen. Dort ist 
durch feste Tamponade mit Watte, Gaze, die auch mit einem Nebennieren - 
präparat zu tränken ist (Adrenalin, Suprarenin etc.), die Blutung zu stopfen. 
Wenn man den Patienten in der Sprechstunde hat, so wendet man am besten 
Kokain-Suprareninmischung an und brennt dann mit dem Glühkauter die 
blutende Stelle ab. Man muß nicht vergessen, ihn glühend anzulegen und 
auch noch glühend abzuheben, sonst reißt man den Schorf mit ab. Auch 
Chromsäure, Trichloressigsäure können kleinere Blutungen lokal ätzend stillen. 
Beide werden nur an kleiner Wattesonde nach vorheriger Kokainisierung 
angewandt. Leider ist das schlechteste Blutstillungsmittel, das Eisensesqui- 
chlorid, immer noch durch den Verkauf und das Angebot in den Apotheken 
und Drogerien das häufigste. Es verschmiert das Gesichtsfeld, unter seinen 
weichen Krusten blutet es weiter; es ätzt in unangenehmer Weise die 
Schleimhaut. Die Eisenchloridwatte taugt eigentlich gar nichts, bröckelt bei 
der Entfernung in unangenehmer Weise und wirkt überhaupt nur mechanisch. 

Zu einer Zeit, die uns so ideale Blutstillungsmittel ohne Ätzwirkung 
wie die Lösungen von Adrenalin und die noch praktischeren fertigen Ver¬ 
dünnungen von Suprarenin hydroch. sol. in Fläschchen zu 5 und 10 ccm zur 
Verfügung stellt, soll man endlich aufhören, das mittelalterliche Eisensesqui- 
chlorid und das jetzt unnütze Ferropyrin (Mischung von Eisen und Anti- 
pyrin) sowie die Penghawa-bjambiwatte in der Nase zu verwenden. Zu¬ 
mal gerade nach Eisenchlorid die schwersten Mittelohrentzündungen als 
Folge gesehen wurden. Bei hinterer Tamponade darf es nie angewendet 
werden. 

Die vordere Tamponade geschieht schichtweise von unten nach 
oben. Man stopfe nicht zu dicke Tampons, da sie nicht weit nach hinten 
gehen. Wenn die Stelle bekannt ist, die blutet, so richtet sich die Tam¬ 
ponade (korrekt heißt es eigentlich »tamponnement«) natürlich darnach, 
so daß es gelingt, so zu tamponieren, daß darüber oder darunter noch 
ein Kanal frei für die Atmung bleibt. Bei schweren Blutungen, besonders 
bei Nephritis, Herzfehlern, Hämophilie muß man die Gänge der Muscheln 
und der Scheidewand hermetisch ausfüllen. Unter guter Beleuchtung und 
mit etwas Kokain gelingt das leicht, wenn die richtigen Instrumente 
zur Hand sind. Im Bett, wo man nicht ordentlich an den Patienten heran 
kann, macht das auch Schwierigkeiten. Steht die Blutung nicht, so ziehe 
man forsch die ganze Tamponade auf einen Ruck heraus, beginne dann 
noch einmal und eventuell noch einmal von neuem, eventuell mit Supra- 
reninlösungen, ehe man sich zur hinteren Tamponade entschließt. In 
meiner Praxis vergehen viele Jahre, ehe ich nötig habe, die ominöse hin¬ 
tere Tamponade mit dem BELLOC-Röhrchen anzuwenden. Sie ist schwierig, 
roh, für den Patienten sehr unangenehm zu ertragen und bringt das 
Mittelohr in große Gefahr, wobei noch die Unannehmlichkeit in Kauf ge¬ 
nommen werden muß, daß bei der Entfernung des Tampons, die spätestens 
nach 48 Stunden erfolgen muß, es gewöhnlich von neuem anfängt zu 
bluten. Im Nasenrachen kann man eben den Tampon nicht aufweichen. Bei 
vorderer Tamponade mache ich es mir seit den letzten Jahren zur Gewohn¬ 
heit, mit reinen, dünnen 3°/ 0 igen Wasserstoffsuperoxydlösungen oder noch 
besser mit 3°/ 0 igen Perhydrollösungen langsam die anklebenden Tampons 
abzulösen, um erneute Blutung und damit erneute Tamponade zu vermeiden. 
Das »Perhydrol« von Merck ist überhaupt ein leidlich gutes Blutstillungs¬ 
mittel, das man auch an Stelle von Suprarenin anwenden kann. Es ätzt 
nicht und ist ungiftig. Besonders zu empfehlen, auch wegen seiner reinigen- 


. Digitized by 


Google 



Nasenbluten. — Nephritis. 


309 


den und antiseptischen Wirkung ist es zur Nachbehandlung blutender 
Wunden, speziell am operierten Nasenknochen. 

Als ultimum refugium dient Serum vom Pferd, am leichtesten in 
Form des gewöhnlichen Diphtherieserums in schwacher Konzentration unter 
die Haut gespritzt. Man nehme die Lösungen, die nur zur Prophylaxe an¬ 
gewendet werden, da hier das Antitoxin eine überflüssige Beimengung ist 
und nur die gerinnungsfördernde Eigenschaft des artfremden Serums in 
Betracht kommt. Die Serumeinspritzung, die ja nicht gleichgültig in ihren 
Folgen zu sein braucht und Exantheme, Schmerzen, Gelenksschwellungen 
zur Folge haben kann, hat eigentlich ihre Berechtigung nur bei Blutern 
oder bei solchen Fällen, wo infolge schwerer Krankheit (pernic. Anämie, 
Morb. Werlhofii, Krebs, Leukämie oder tropischen Krankheiten) das Ge¬ 
rinnungsvermögen des Blutes herabgesetzt ist oder wo alle örtlichen Mittel 
versagen. Wenn man nicht Serum zur Hand hat, kann man auch reine 
Gelatine örtlich oder subkutan anwenden. Hierbei ist noch größere Zurück¬ 
haltung des Arztes zu beobachten als bei der Serumeinspritzung, da Todes¬ 
fälle an Tetanus infolge von unreiner Gelatine vorgekommen sind. Die 
Herkunft der Gelatine aus alten Knochen ist eine höchst verdächtige Quelle, 
so daß ich seit Jahren nur das teuere, aber wirklich sterile Gelatinpräparat 
der Firma Merck in zugeschmolzenen Röhren benutze. Hier heißt es aber 
nicht zu zaghaft sein. Man spritzt subkutan gleich eine große Röhre der 
Originalgelatine Merck ein! 

Bei Hämophilie verdient nach Kafemann das alte Mittel Kalzium¬ 
phosphat innerlich mehrmals hintereinander eine Messerspitze Beachtung. 

Avellis. 

Nephritis. Die Lehre von der akuten und chronischen Nieren¬ 
entzündung bietet noch immer ein so weites Feld für noch ungelöste Pro¬ 
bleme dar, daß eine erschöpfende und grundlegende Darstellung dieses Gegen¬ 
standes vorläufig noch nicht geliefert werden kann. Wenn auch patholo¬ 
gische Anatomie und klinische Forschung ein Erhebliches dazu beigetragen 
haben, uns absolut feststehende Tatsachen zu liefern, so wogt doch noch 
ein heftiger Streit über die wesentlichsten Fragen in der Lehre von der 
Nephritis. Ein Blick auf die klinische Terminologie wird uns schon zur 
Genüge lehren, daß manches hier noch nicht spruchreif ist. Die Mannig¬ 
faltigkeit der Bezeichnung für diese Erkrankung der Nieren ist ein Beweis 
dafür, wie verschieden und zum Teil unklar die Vorstellungen über den 
Prozeß waren. Immer mehr sind wir zu der Erkenntnis gekommen, daß die 
Bezeichnung Nephritis einen Sammelbegriff darstellt, unter den von Jeher 
bis auf unsere Tage die verschiedensten Krankheitsbilder subsumiert wurden. 
Allerdings ist es schon gelungen, gewisse Gruppen von Albuminurien als 
klinische Entitäten abzusondern. Immer noch aber bildet die Tatsache einer 
Eiweißausscheidung oder Zylindrurie vielfach das Kriterium für die Dia¬ 
gnose einer Nephritis, und unter dieser Bezeichnung segeln oft Krankheiten, 
die erst nach längerer Zeit in ihrer wahren Natur erkannt werden. 

Zum besseren Verständnis der verwickelten Verhältnisse in der Ter¬ 
minologie ist wohl eine kurze historische Betrachtung am Platze. 

Die Epoche vor Richard Bright wußte noch nichts von der diffusen 
Entzündung der Nieren. Höchstens hatte man seit Cotugno (1770) gewisse 
Vorstellungen von einem Zusammenhang zwischen Wassersucht und Eiweiß- 
aubscheidung. Erst 1827 wurde von Bright das klinische Bild einer 
Nephritis beschrieben. Er lehrte schon damals, daß die Wassersucht nicht 
notwendig zum Bilde der Nephritis gehöre, und daß die Herzhypertrophie 
im Gefolge dieser Krankheit auf treten könne. Auch schilderte er schon in 
klarer Weise das Bild der urämischen Anfälle. Trotz der mannigTachen 
pathologischen Befunde, die bald eine weiche, bald eine harte, bald eine 


Digitized by 


Google 



310 


Nephritis. 


gelbe oder weiße Niere konstatieren, neigte schon Bright dazu, all den ver¬ 
schiedenen pathologischen Formen den einheitlichen Prozeß der Entzündung 
zugrunde zu legen. Dieser geniale Gedanke bedeutete aber für die Er¬ 
forschung einen gewaltigen Fortschritt, auf der anderen Seite aber auch 
eine Hemmung. Denn es war ja so naheliegend, in Anlehnung daran den 
Sammelbegriff einer Nephritis zu ausgiebig zu verwenden. Bayer schuf 
denn auch in Frankreich die Bezeichnung »Nephrite albumineuse« und 
Christison unterschied in England die akute von der chronischen Ent¬ 
zündung der Niere. 

In Deutschland wurde durch die Arbeiten Henles, Frerichs u. a. m. 
der Grund zum pathologischen Verständnis der entzündlichen Prozesse in 
der Niere gelegt und seit den Untersuchungen Virchows über die bei der 
Entzündung eintretenden Zellveränderungen sprach man von einer paren¬ 
chymatösen Entzündung, die die Zerstörung der Glomeruli und der Harn¬ 
kanälchen verursachen sollte. Cohnheim wiederum betonte die primäre Er¬ 
krankung des interstitiellen Gewebes, was zur Bezeichnung der interstitiellen 
Nephritis führte. Auf Einflüsse englischer Forscher ist es dann weiter zu¬ 
rückzuführen, daß man die akute Entzündung scharf von der chronischen 
schied. Man sprach von akuten und chronischen parenchymatösen, sowie 
interstitiellen Nephritiden, und da man annahm, daß jede dieser Formen 
zur Schrumpfung führen könne, hielt man es für berechtigt, eine sekundäre 
Schrumpfniere von einer primären genuinen zu trennen, v. Leyden, Senator 
und Rosenstein konnten jedoch zeigen, daß die anatomischen Veränderungen 
keine Basis für eine klinische Einteilung liefern konnten. Bei der diffusen 
Entzündung konnte es sich nur um einen Prozeß handeln, der in den ein¬ 
zelnen Fällen nur graduelle Unterschiede bot, indem nämlich einmal die 
parenchymatöse Degeneration, ein anderesmal die interstitielle Affektion 
überwog. Daß eine anatomische Scheidung in parenchymatöse und inter¬ 
stitielle Nephritis nicht mehr möglich ist, wurde schließlich endgültig von 
Weigert gezeigt. Bei der eigentlichen Nephritis handelt es sich also stets 
um eine diffuse Entzündung beider Nieren. Der Morbus Brightii ist auf eine 
auf dem Blutwege die Niere treffende Schädigung zurückzuführen. Stauungs¬ 
zustände als Folge von Zirkulationsstörungen oder herdförmige eitrige 
Erkrankungen gehören nicht im strengen Sinne zur Nephritis. Nach Rosen¬ 
stein ist des weiteren die akute Nephritis durchaus von der Wesens ver¬ 
schiedenen chronischen zu trennen. Erstere sei vor allem nie als ein Vor¬ 
stadium der letzteren zu betrachten. Rosensteins Anschauung erscheint uns 
jedoch einseitig. Die Klinik kann sich auf zahlreiche Beobachtungen stützen, 
aus denen hervorgeht, daß Übergänge von der akuten in die chronische 
Form Vorkommen. 

Was die Ätiologie der Nephritiden betrifft, so war es von vornherein 
klar, daß Schädlichkeiten, die im Blute kreisten, zunächst für die Ent¬ 
stehung der Entzündung in Frage kamen. Sind doch die Nieren das Filter, 
durch welches alle Noxen passieren müssen, um den Körper zu verlassen. 
Ob Bakterien, die im Blute kreisen, zur Entzündung führen können, ist 
noch nicht mit Sicherheit erwiesen. Es steht jedenfalls fest, daß dies nicht 
der Fall zu sein braucht. Mikroben können die Niere passieren, ohne eine 
Läsion zu setzen. Sicher ist jedoch, daß die verschiedenen bei Infektions¬ 
krankheiten im Blute vorhandenen Toxine die Nieren schädigen können, 
und so können wir bei allen Infektionskrankheiten eine akute Nephritis als 
Nachkrankheit beobachten. Die schwersten Formen der akuten toxischen 
Nephritis pflegen nach Scharlach aufzutreten, während die auf Pneumonie 
oder Typhus folgenden Nephritiden gewöhnlich relativ milde verlaufen. 

Eine ebenso wichtige ätiologische Bedeutung haben diejenigen Gifte, 
die mit der Nahrung oder in gewissen Berufsarten auf andere Weise und 


Digitized by 


Google 



Nephritis. 


311 


schließlich als Medikament in den Körper gelangen. Letztere können ent¬ 
weder per os oder kutan in die Zirkulation geraten. Es sind dies vorzugs¬ 
weise Metall verbind ungen, die zu degenerativen Veränderungen der Nieren- 
epithelien führen und das interstitielle Gewebe fast gar nicht angreifen. 
Wir nennen hier nur die Nephritiden nach Blei- und Quecksilberintoxikation. 
Auqh das Kali chloricum ist eine den Nieren schädliche Metallverbindung. 
Besonders deletäre Wirkungen entfaltet das Cantharidin. Abgesehen von 
diesen direkten toxischen Versuchen gibt es noch eine Reihe anderer die 
Nieren schädigender Faktoren. Die nach schweren Verbrennungen beob¬ 
achteten akuten Nephritiden sind vielleicht noch auf gewisse bei der Ver¬ 
brennung im Blute entstandene Gifte zurückzuführen. Unsicher erscheint 
der toxische Einfluß bei der Erkältungsnephritis. Daß eine Erkältung zur 
Nephritis führen kann, ist schon vor längerer Zeit auf Grund einwandfreier 
Beobachtungen behauptet worden. Neuerdings hat Siegel hierfür den 
experimentellen Beweis erbracht. Er hat bei Tieren eine Niere freigelegt 
und mit Eis abgekühlt, wodurch er eine doppelseitige parenchymatöse 
Nephritis erzeugte. Auch durch einfache Abkühlung der hinteren Extremitäten 
konnte Siegel Hunde nephritisch machen. Ein Tier, das nach 9 Tagen ein¬ 
ging, hatte einen starken Aszites. Mit dieser Tatsache steht vielleicht in 
Zusammenhang, daß Hunde sehr oft an Schrumpfniere zugrunde gehen. Die 
Erklärung für diese Erkältungsnephritis sieht Siegel darin, daß durch den 
Kältereiz eine Kontraktion der Nierengefäße eintrete, die eine Anämie und 
später eine Degeneration des Parenchyms zur Folge habe. 

Alle bisher genannten Schädigungen können natürlich auch in der 
Ätiologie der chronischen Nephritis Geltung haben. Nach v. Strümpell be¬ 
ziehen sich ja die Bezeichnungen »akut« und »chronisch« nur auf zeitliche 
Verhältnisse, ln dem Maße, wie eine Krankheit unmerklich und schleichend 
beginnt und fortschreitet, sind wir gewöhnt, sie chronisch zu nennen. Das¬ 
selbe Gift aber, das ein spontanes Auftreten der Nephritis verursachen kann, 
wird bei geringerer und langsamerer Einwirkung zu einer unmerklichen 
Entwicklung der Krankheit führen. Endlich betont auch v. Strümpell die 
Möglichkeit des Überganges einer akuten in eine chronische Nephritis. 

Zum Unterschied von akuten Nephritiden gibt es allerdings bei der 
chronischen Nephritis zwei Gifte, die in exquisit chronischer Weise toxisch 
wirken und zur Schrumpfniere führen. Es sind dies der Alkohol und das 
Blei. Auf welche Weise diese Gifte schädigend wirken, ist noch nicht ganz 
klar. Jedenfalls ist das Primäre eine Schädigung des Gesamtorganismus, 
worauf die Widerstandsfähigkeit der Nieren herabgesetzt wird und letztere 
besonders empfindlich gegen die geringste anderweitige Schädigung oder 
gegen die leichteste Mehrleistung werden. 

Weiterhin spielen die Anomalien des Stoffwechsels in der Entstehung 
der chronischen Nephritis eine wichtige Rolle. Hier sei nur auf den Zu¬ 
sammenhang der Nephritiden mit Diabetes und Gicht hingewiesen. Daß 
Arteriosklerose und Schrumpfniere in Kausalnexus zueinander stehen, braucht 
ebenfalls hier nur erwähnt zu werden. 

Beim Mangel jeglicher ätiologischer Momente in der Anamnese werden 
wir in nicht wenigen Fällen gezwungen sein, von einer genuinen oder idio¬ 
pathischen chronischen Nephritis zu sprechen. Daß solche Nephritiden Vor¬ 
kommen, ist von verschiedenen Seiten bestätigt worden. Es ist auch nicht 
einzusehen, warum nicht eine primäre angeborene konstitutionelle Schwäche 
der Nieren das bestimmende Moment für die Entstehung der Nephritis sein 
sollte. Was für das normale Organ dann nur Mehrleistung bedeuten würde, 
das wäre für ein konstitutionell unterwertiges Organ schon Schädigung. 
Und müßte nicht letztere, wäre sie auch noch so gering, schließlich bei 
stetiger Einwirkung zu dem führen, was man mit dem größten Recht als 


Digitized by 


Google 



312 


Nephritis. 


das ideale Bild der genuinen Schrompfniere ansehen müßte! Ks sind ancb 
solche »hypogenetische« Nieren von Babes und seinen Schülern beschrieben 
worden und Mironescu beschreibt einen Fall, der besonders lehrreich ist. 
Die Krankheit begann plötzlich nach einer geringfügigen Infektion und 
zeigte klinisch eine bedeutende Herzhypertrophie sowie schwere Urämie. 
Bei der Sektion erwiesen sich die Nieren als hypogenetiscb. Sie waren 
kleiner als normal und zeigten eine geringe Entwicklung der Pyramiden. 
Diese Fälle von konstitutioneller Unterwertigkeit bilden den Übergang za 
der Gruppe von Albuminurien, die man gemeinhin noch zu den physiologi¬ 
schen rechnet. 

Die pathologische Anatomie der Nephritiden kann hier nur in Um¬ 
rissen angeführt werden. Die gewöhnlich vergrößerte Niere ist meist auf 
der Oberfläche mit punktförmigen Blutungen bedeckt. Die Rinde ist meist 
verbreitert. Mikroskopisch finden wir Blutergüsse in den Glomeruli, den Harn¬ 
kanälchen und auch in den Interstitien. Letztere sind kleinzellig infiltriert. Die 
Epithelien zeigen Trübung und Schwellung. Je nach dem Grade der Er¬ 
krankung herrschen natürlich mehr entzündliche oder mehr degenerative 
Veränderungen vor. Bei der akuten Nephritis wird naturgemäß die Trübung 
und Schwellung der Epithelien überwiegen. Dies gilt besonders von der 
Scharlachnephritis, bei der vor allem die Glomeruli affiziert sind. 

Was die Symptomatologie betrifft, so ist das Krankheitsbild trotz der 
Vielgestaltigkeit der pathologischen Veränderungen ziemlich gleichförmig. 
Subjektive Symptome können im Anfang, besonders bei Nephritiden im 
Gefolge von Infektionskrankheiten ganz fehlen. Bei primären akuten Nephri¬ 
tiden kann jedoch Schüttelfrost mit Fieber die Krankheit ankündigen; auch 
klagt der Patient über Kreuz- und Lendenschmerzen sowie über Mattigkeit 
und andere allgemeine Symptome. Am häufigsten werden als erste Symptome 
Störungen in der Diurese bemerkt. Die Patienten können auch schon am 
Anfang ödematöse Schwellungen aufweisen. Der Harn wird in verminderter 
Menge abgeschieden, hat eine dunkle Farbe und ein hohes spezifisches 
Gewicht (1020 —1030). Der Eiweißgehalt des nephritischen Harns schwankt 
zwischen l°/oo —1%* Die hier ausgeschiedenen Eiweißarten sind vorzugs¬ 
weise Serumeiweiß und Globulin. Als morphologische Bestandteile finden 
wir rote Blutkörperchen, Epithelien und Zylinder aller Art 

Natürlich muß bei tiefgreifender Veränderung der Epithelien die Sekre¬ 
tion erheblich leiden. Durch die Kryoskopie haben wir über diese Verhält¬ 
nisse Aufschluß erhalten. Einen Maßstab für die sekretorische Leistungs¬ 
fähigkeit der Niere bietet uns die Valenzzahl, d. h. das Produkt aus der 
Gefrierdepression A und der Harnmenge. Die Oligurie hat uns gezeigt daß 
schon die Wasserelimination beeinträchtigt ist, woraus sich die Bildung der 
Ödeme zum Teil erklärt. Auch die Stickstoffausscheidung leidet, doch ist 
die N'Retention sehr wechselnd. Am meisten wird Harnsäure retiniert. 

Über die Ausscheidung der anorganischen Salze ist in letzter Zeit 
viel diskutiert worden, besonders über die Bedeutung der Chloride. Straüss 
fand, daß der chronische parenchymatöse Nephritiker Na CI schlecht elimi¬ 
niere. In jeder serösen Flüssigkeit soll Na CI retiniert werden, woraus die 
Ödeme zu erklären seien. Widal und Javal konnten durch Salzentziehung 
ein ödem zum Schwinden bringen. Nach Gluzinski gibt es in der Kochsalz¬ 
retention bei der chronisch interstitiellen Nephritis gewisse Perioden, die 
oft mit dem Bilde einer schweren Allgemeinerkrankung einhergehen (Uraemia 
achlorica). Ganz so eindeutig scheinen die Verhältnisse nicht zu liegen. 
Rumpf konnte zeigen, daß der Chlorgehalt des Blutes von Nephritikern 
sehr wechselnd sei. So fand er den Chlorgehalt trotz ödem, Retinitis 
albuminurica und Urämie vermindert Andrerseits gab es viele Fälle mit 
peritonealen Ergüssen ohne Nephritis mit Chlorwerten, die diejenigen bei 


Digitized by 


Google 



Nephritis« 


313 


Nephritis weit fiberstiegen. Nach Rumpf ist die Chlorretention nicht spezifisch 
ffir Nephritis. 

Die funktionelle Schädigung der Niere and die damit einhergehende 
Retention gewisser harnfähiger Stoffe maß naturgemäß noch andere auf den 
Organismus zorfickwirkende Erscheinungen zur Folge haben. Das Blut muß 
mit Stoffen fiberladen sein, die toxisch wirken und bei einer gewissen 
Konzentration den Symptomenkomplex hervorrufen, den wir Urämie nennen. 
Als Ausdruck einer gewissen kompensatorischen Bestrebung des Organismus, 
sich dieser Gifte auf andere Weise zu entledigen, finden wir den arteriellen 
Blutdruck erhöht. Dadurch vermag der Körper die Diurese noch aufrecht 
zu erhalten. Bei akuten Nephritiden pflegt die Blutdruckerhöhung schon in 
den ersten Wochen aufzutreten, der Puls ist gespannt, der zweite Aorten¬ 
ton ist akzentuiert. In chronischen Fällen tritt dies langsamer und später 
ein, und hier kommt es auch häufig zur Hypertrophie des linken, in vor¬ 
geschrittenen Fällen auch des rechten Ventrikels. 

Unter der kompensatorischen Blutdrucksteigerung kann die Krankheit 
jahrelang gutartig verlaufen. Vermag der Organismus jedoch nicht mehr 
genfigend harnfähige Stoffe auszuscheiden, so kommt es zu urämischen Er¬ 
scheinungen. Kopfschmerzen, Erbrechen, Benommenheit und Dyspnoe sind 
die relativ leichteren Beschwerden. Bei stärkerer Vergiftung kommt es zu 
epileptiformen Krämpfen und komatösen Erscheinungen. Es gibt auch Fälle, 
in denen einzelne urämische Anfälle spontan auftreten und mit anfallsfreien 
Intervallen abwechseln. 

Im Verlaufe der Urämie kann es weiterhin zu entzfindlich-degenerativen 
Veränderungen der Gewebe kommen, und zwar können die verschiedensten 
Organe in Mitleidenschaft gezogen werden. Es gewinnt dadurch das Bild 
der urämischen Nephritis eine große Vielgestaltigkeit Bronchitis, Pneumonien, 
Perikarditis und Retinitis albuminurica gehören zu diesen Erscheinungen. 
Die Retinitis kann allerdings schon sehr früh auftreten und führt manchmal 
zur Diagnose der Nierenaffektion. 

Die vorstehend angeführte Symptomatologie ist natürlich ganz allgemein 
gehalten und liefert uns keine Handhabe zur Differenzierung der verschiedenen 
Formen von Nephritis. Man hat vom klinischen wie anatomischen Stand¬ 
punkte aus versucht, die Nephritiden in gewisse Gruppen einzuteilen, wie 
die »große rote Niere«, oder die diffuse parenchymatöse Degeneration, die 
»große weiße Niere«, oder Degeneration des Parenchyms mit fettiger Ent¬ 
artung, ferner hämorrhagische Nephritis, sekundäre und genuine Schrumpf- 
niere. Doch halten wir uns vor Augen, daß alle diese Einteilungen nur 
künstlich sind, und daß alle möglichen Übergänge Vorkommen. Natürlich 
werden wir aus dem mikroskopischen Befunde im Urin gewisse Schlüsse 
hinsichtlich der Schädigung bestimmter Teile der Niere ziehen können. So 
wird man eine hämorrhagische Nephritis von einer nicht hämorrhagischen 
unterscheiden. An dem reichlichen Vorhandensein von Zylindern, Epithelien 
und Blutkörperchen wird man die diffuse Natur der Nephritis erkennen. 

Hinsichtlich des Krankheitsverlaufes zeigen akute und chronische 
Nephritis insofern einen Unterschied, als die akute nach einiger Zeit ab¬ 
heilen kann, wenigstens auf Jahre, während die chronische Nephritis in 
2—3 Jahren zum Exitus führt, wenn sie nicht in eine sekundäre Schrumpf¬ 
niere übergeht. 

Ehe wir zur Behandlung der Nephritis übergehen, sei hier kurz die 
Frage der einseitigen Nephritis gestreift. Es wird im allgemeinen als fest¬ 
stehend angesehen, daß die Nieren auf hämatogenem Wege toxisch ge¬ 
schädigt würden. Daraus folgerte man, daß beide Nieren gleichzeitig er¬ 
kranken müßten. Trotzdem ist die Möglichkeit einer einseitigen Nephritis 
nicht ausgeschlossen. Wenn z. B. eine Niere eine kongenitale oder erworbene 


Digitized by 


Google 



314 


Nephritis« 


Minderwertigkeit besitzt, so besteht hier ein Locus minoris resistentiae. Eine 
die Nieren treffende Schädlichkeit wird natürlich hier zuerst angreifen« and 
die Möglichkeit einer einseitigen Nephritis ist a priori gegeben« Die patho¬ 
logische Anatomie hat auch gezeigt, daß in 14'5°/ 0 (Pousson) die Niere ein¬ 
seitig befallen war, was von Israel und anderen bestätigt wird. Nach 
Pousson werden häufig genug sogenannte essentielle Nierenblutungen als 
einseitige hämorrhagische Nephritiden erkannt. Die Symptome bestehen in 
starker Hämaturie, Nephralgie, Albuminurie, Hypazoturie und Polyurie. 
Rathery und Leenhardt beschreiben den Fall einer Frau von 33 Jahren, 
die im urämischen Koma gestorben war. Die linke, abnorm kleine Niere 
war atrophiert und zeigte eine fast vollständige fibröse Degeneration. Die 
rechte Niere war mehr als viermal so groß und zeigte nur die Zeichen 
einer subakuten Entzündung, die wohl erst in den letzten Tagen entstanden 
war. Die Diagnose einer einseitigen Nephritis kann nur mit Sicherheit 
durch die Kystoskopie und die getrennte Untersuchung des Harns gestellt 
werden. 

In der Behandlung der Nephritis spielen natürlich allgemeine Ma߬ 
nahmen eine große Rolle. Absolute Ruhe und Milchdiät sind in akuten 
Fällen streng geboten. Auch bei chronischen Nephritiden sollen die Patienten 
möglichst ruhig leben. Ihre Diät soll fleischarm sein, dagegen Milch und 
Mehlspeisen bevorzugen. Natürlich sind Gewürze, Alkohol und alle die Niere 
schädigenden Reizmittel fernzuhalten. Einen breiten Raum in der Behandlung 
der Nephritis nehmen in der modernen Therapie die balneologischen Pro¬ 
zeduren ein. Nach v. Noorden haben Schwitzkuren eine große Bedeutung 
für die kutane Ausscheidung von Toxinen und harnfähigen Stoffen. Auch 
wird der Körper hierdurch entwässert Je nach der Natur des Falles werden 
warme Bäder, Kaltwasserprozeduren« C0 2 -Bäder etc. empfohlen. Für klima¬ 
tische Kuren ist es von Wert, ein trockenes Klima zu wählen. 

Zur Bekämpfung der Ödeme ist von der Schule Widal, Taval und 
Straus8 die Dechloruration des Körpers empfohlen worden. Wir haben schon 
oben darauf hingewiesen, daß diese Anschauung nicht allgemein gültig ist 
Es bat seine Schattenseiten, das Kochsalz gänzlich zu entziehen, und es 
müßte wohl in jedem besonderen Falle festgestellt werden, ob und in 
welchem Grade eine Chlorretention besteht. 

Um die Kongestion der Nieren zu beseitigen, empfiehlt Baccblli den 
Aderlaß am Fuß bei akuter Nephritis. Nach der Venaesectio sollen die 
Patienten mehr Urin lassen, mit weniger Blut und Eiweiß. Baccblli konnte 
durch diese Prozedur vollkommene Heilung der akuten Nephritis erzielen. 

Von dem Gedanken ausgehend« daß eine große Anzahl von Nephritiden 
ohne nachweisbare Ursache durch eine aufsteigende Pyelitis entstehen, 
empfiehlt Ayres eine Ausspülung des Nierenbeckens. Er behandelte auf 
diese Weise 6 Fälle, bei denen, abgesehen von 8 Fällen, Eiweiß und Kpi- 
thelien aus dem Urin nach der Spülung verschwanden. Die Spülungen wurden 
oder Albargin vorgenommen. 

Diese Prozedur beruht natürlich auf einer völligen Verkennung der 
Nephritis vorliegenden Verhältnisse; ich erwähne die Arbeit 
hantastische Verirrung, die genau so zu bewerten ist wie der 
Casper und Engel , die Nephritis mit Serum zu behandeln, 
als früherer Assistent Caspers fast all seine mit Serum be- 
e gesehen; nicht in einem einzigen Falle war eine wirkliche 
Heilung zu sehen, kaum trat jemals eine vorübergehende Besserung der 
; wohl aber sah ich im Anschluß an die Injektion Abszesse 
auftreten. di< eine Inzision erforderlich machten, und ich glaube, wir haben 
alle rsi 1 den an für sich geschwächten Körper des Nephritikers nicht 
noch erneuten Gefahren durch nutzlose Experimente auszusetzen. 


Digitized by 


Google 



Nephritis. — Nervennaht. 


315 


Ernsthafter zu diskutieren ist über den Versuch von Edebohls, die Nephritis 
operativ, und zwar durch Dekapsulation, zu heilen. Diese Operation hat sich 
zunächst symptomatisch glänzend bewährt zur Bekämpfung der im Laufe 
der Nephritis gelegentlich auftretenden Koliken, dann aber zur prompten 
Beseitigung der Anurie; hier wirkt die Operation direkt lebensrettend, wie 
ich selbst an geeigneten Fällen gesehen habe. Edebohls hat die Operation 
an einem großen Material erprobt: von 72 Fällen wurden 17 Nephritiker 
geheilt, 20 gebessert. Natürlich ist eine große Literatur über diese Operation 
entstanden, die Urteile widersprechen sich vielfach; so behaupten Kümmel, 
Israel u. a. m., keinen Erfolg gesehen zu haben. Israel glaubt, daß es sich 
in Edebohls Fällen nicht um eine wahre Nephritis gehandelt habe. Auch 
Rooswg, Albarran und Gatti sprachen sich gegen die Operation aus. Es 
fehlt jedoch nicht an Operateuren, die nur Günstiges von der Entkapselung 
zu berichten wissen. So haben Claude und Duval in zwei Fällen von 
chronischer Granularatrophie mit der Dekapsulation einen guten Erfolg ge¬ 
habt. Fowler beobachtete nach 14 Monaten nach der Dekapsulation eines 
Falles von interstitieller Nephritis eine vollkommene Heilung. Phocas führte 
die Dekapsulation in 10 Fällen von chronischer Nephritis mit gutem Erfolge 
aus. In einem Falle von akuter Anurie bei einem Knaben konnte Schmidt 
durch die Entkapselung eine dauernd gute Diurese erzielen. 

Durch die Enthülsung soll das Organ vor allem entlastet werden. So¬ 
dann soll ein komplementärer Kreislauf zwischen dem Parenchym der Niere 
und dem umgebenden Gewebe erzielt werden. Stern konnte nun an Tieren, 
die er dekapsuliert hatte, zeigen, daß es nicht zur Bildung einer gleichwertigen 
Kapsel komme. Es wird nur Bindegewebe gebildet. Um eine bessere 
Zirkulation zu erzielen, vernäht Bakes die dekortizierte Niere in das Netz. 

Über die EnEBOHLsscbe Operation kann man jedenfalls so viel sagen, 
daß sie als ein Ultimum refugium zu betrachten ist. Besonders indiziert ist 
sie bei schweren Blutungen. Hier kann sie lebensrettend wirken. Ebenso ist 
Anurie eine Indikation zur Entkapselung. Die einseitige Nephritis ist viel¬ 
fach durch Entkapselung geheilt worden. Jedenfalls ist hierbei die Operation 
insofern von Wert, als sie explorativ ist Sicherlich wird sich die wahre Natur 
einer einseitigen scheinbaren Nephritis bei dieser Gelegenheit erweisen und 
dies ist um so wichtiger, als in Fällen von Massenblutungen nur die Operation 
feststellen kann, ob es sich um Nephritis oder um malignen Tumor handelt 

Literatur: Albarran, Ann. d. malad, d. org. gen. orin., 1906, pag. 148. — Ayreb, 
Lavage of the frenal pelvis in Brights disease. Med. News, 1905. — Babbsch, ef. Miro- 
nbscü. — Bakbs, Centralbl. f. Chir., XXXI, 14, 1904. — Baccklli, Aderlaß am Foß als Be¬ 
handlung akuter Nephritis. II Policlinico, 1907. — Bbight, siehe Rosenstein. — Caspbr und 
Engel, Uber einen Versuch, die chronische Nephritis serotherapeutisch zu behandelo. Berliner 
klin. Wochenschr., 1908, Nr. 41. — Claude und Duval, Presse möd. beige, LVII, 10, 1905. 

— Cotüono, s. Rosenstein — Cbristison, s. Rosenstbin. Edebohls, Med. Record, 21, XII, 
1901 und Brit. med. Journ., 8, XI, 1902. — Fowler, F. Hopkins Hosp. Report., XIII, 1906. 

— Gatti, Langrnbecks Archiv, LXXXVII, Nr. 3. — Gluzinski, Wiener klin. Wochenscbr., 
1908, Nr. 14. — Mibobescu, Über hypogenetische Nieren. Centralbl. f. innere Med., 1908. — 
▼. Noorden, Wiener med. Wochenschr., 1908, Nr. 50. — Phocas, Arch. prov. d. Chir., 1907. — 
Poosson, Über das einseitige Auftreten der Nephritis. Zeitschr. f. Urol., 1907, I. — Rathäby 
und Lebnhardt, Bull. Soc. Anat., Paris 1906, pag. 521. — Roosint, Mitt. a. d. Grenzgeb. 
d. Med. und Chir., Bd. X, 3 n. 4. — Ropenstein, Deutsche Klinik. Bd. 4 und Centralbl. f. Chir., 
1904. — Rumpp, Deutsche Ärztezeitung, 1907, Nr. 3. — Siegel, Abkühlung als Krankheits¬ 
ursache. Deutsche med. Wochenschr., 1908. Nr. 11. — Schmidt, Deutsche Zeitschr. f. Chir., 
Bd. 78, pag. 296. — Stern, Deutsche med. Wochenschr., XXXII, 11,1905. W . Karo (Berlin). 


Nervennaht. Für die Nahtvereinigung durchtrennter Nerven gibt 
es bekanntlich zwei Methoden, die direkte Nervennaht durch die Substanz 
der Nerven und die indirekte oder paraneurotische Naht durch die 
Nervenscheide und durch das die Nervenscheide umgebende Bindegewebe. 
Es empfiehlt sich, beide Methoden zu kombinieren, indem man zunächst — 


Digitized by 


Google 



316 


Nervennaht. 


natürlich unter strengster Asepsis — eine feine gekrümmte Nadel mit einem 
möglichst dünnen Katgut- oder Seidenfaden etwa 1 cm von der Schnittfläche 
der Nervenenden ein- nnd anssticht, nnd zwar nicht durch die ganze Dicke 
des Nerven, sondern nur möglichst oberflächlich, damit die Nervenfasern sa 
wenig als möglich verletzt werden. Nach Knotnng dieser direkten Naht legt 
man noch je eine Nahtschlinge seitlich vom Nerven durch das paraneuro¬ 
tische Bindegewebe. Ist die Vereinigung der Nervenstümpfe infolge ihre» 
größeren Abstandes erschwert, so kann man durch Zug am zentralen und 
peripheren Nervenstumpf die dehnbaren Nerven so verlängern, daß non die 
Nahtvereinigung gewöhnlich leicht gelingt, falls nicht größere Nervendefekte 
vorhanden sind. Gelingt es bei Substanzverlusten der Nerven durch 
diese Dehnung resp. Verlängerung der Nerven nicht, die Naht zu ermög¬ 
lichen, dann wird man aus einem oder aus beiden Nervenstümpfen je ein 
gestieltes Läppchen bilden, dieselben in den Nervendefekt Umschlägen und 
durch Naht vereinigen (siehe auch die Abbildung beim Artikel Sehnennaht). 
Ferner kann man bei Nervendefekten die zuerst von Lätiävant empfohlene 

Nervenanastomose oder Nervenpfrop- 
Flg * 41 fong (Nervenkreuzung) vornehmen, indem 

£ £ man das periphere Ende eines durchtrennten 

)] T Nerven mit einem benachbarten unverletzten 

■ |»| Nerven verbindet, z. B. den peripheren Ner- 

l LJ venstumpf des durchschnittenen N. mediana» 

# \ J \* \ roit dem intakten N. ulnaris, oder gelähmten 

W /+ 1L \ß N. radialis mit dem N. medianus, den ge- 

/ * '' / lähmten N. facialis mit dem N. hypoglossus 

\ \ oder N. accessorius. Diese Nervenanastomose 

''I \ \ macht man entweder so, daß man den peri- 

I | pheren Nervenstumpf des durchtrennten oder 

I I den gelähmten Nerven seitlich an den intakten 

I - I * Nerven annäht, oder indem man den Nerven- 

J j stumpf zwischen die Fasern des intakten 

P P Nerven hineinschiebt und durch eine Naht 

Vereinigung zweier benachbarter Narren durch die Nervenscheiden fixiert. Man kann 
durch Nervenanaetomoee bei Nerven- außer dem peripheren Nervenstumpf auch noch 

defekten nach Tili.mannh. C Centrum. 1 _ * r 

p Peripherie. das zentrale Ende des durchtrennten Nerven mit 

dem benachbarten intakten Nerven verbinden. 
Sind zwei Defekte an zwei benachbarten Nerven in verschiedener Höhe 
vorhanden und ist die Nervennaht oder die Neuroplastik mittelst gestielter 
Läppchen aus den Nervenstümpfen nicht möglich, so könnte man noch nach 
dem in Fig. 41 angegebenen Schema eine Nervenanastomose vornehmen. 
Die Nervenanastomose hat sich in neuester Zeit besonders bei unheilbaren 
Lähmungen des N. facialis und anderer Nerven bewährt. Ito und Soyesima haben 
im Anschluß an eigene Beobachtungen 57 Fälle von Anastomose des ge¬ 
lähmten N. facialis mit dem N. accessorius (35 Fälle) und mit dem N. hypo¬ 
glossus (22 Fälle) aus der Literatur zusammen gestellt. Entweder wurde 
das distale Ende des durchschnittenen N. facialis mit dem zentralen Ende 
des durchschnittenen N. accessorius oder hypoglossus vereinigt, oder aber, 
was besser ist, es wird ein läppchenförmiges Längsstück vom N. accessorius 
oder vom N. hypoglossus mit zentraler Basis abgespalten und mit dem 
distalen Ende des durchschnittenen gelähmten N. facialis verbunden oder 
in einen Längsschlitz den nicht durchtrennten, genügend frei präparierten 
N. facialis eingefügt. Man kann auch vom gelähmten N. facialis ein läppchen- 
förmiges Längsstück mit peripherer Basis abspalten und in einen Längs¬ 
schlitz des N. accessorius oder des N. hypoglossus einfügen. Diese Nerven¬ 
anastomose wird man bei unheilbaren peripheren Lähmungen in Zakunft 


Digitized by 


Google 



Nervennaht 


317 


Immer häufiger anwenden und vor allem in der Weise, daß man wie bei 
der Sehnentransplantation (siehe Sehnennaht) den gesunden und gelähmten 
Nerven, wenn möglich, nicht durchschneidet und dann entweder vom ge- 
«unden Nerven ein gestieltes Läppchen mit zentraler Basis abspaltet oder 
vom gelähmten Nerven ein möglichst großes gestieltes Läppchen mit peri¬ 
pherer Basis bildet und dann diese abgespalteten gestielten Läppchen in 
einen Längsschlitz des anderen Nerven einfügt. In allen solchen Fällen von 
Nervenanastomose lernen die Kranken durch Schulung und Übung des 
Willens allmählich die Peripherie wieder richtig zu innervieren. Eine voll¬ 
kommene Restitutio ad integrum wird durch die Nervenanastomose gewöhn¬ 
lich nicht erzielt. Bei der Anastomose des Facialis mit dem N. accessorius 
oder hypoglossus sind die Mitbewegungen der Schulter oder der Zunge 
mehr oder weniger störend. 

Endlich hat man Nervendefekte durch Implantation eines entsprechenden 
Nervenstückes aus einem menschlichen oder tierischen Nerven geheilt (Phi- 
lippbaux, Vulfian, Gluck). Das implantierte Nervenstück heilt als solches 
wohl ein, aber die in ihm erhaltenen Nervenfasern gehen ausnahmslos zu¬ 
grunde und werden durch neugebildete Nervenfasern ersetzt, es erleichtert 
aber insofern die Regeneration resp. die Überbrückung des Nervendefektes 
durch neugebildete Nervenfasern, weil es das Hineinwachsen von Bindege¬ 
webe zwischen die Nervenstümpfe verhindert. Gluck hat, ähnlich wie bei 
Sehnendefekten (siehe Sehnennaht), in einen 5 cm großen Defekt des N. 
radialis ein Katgutbündel implantiert, nach einem Jahre war die Funktion 
vollständig wieder hergestellt. Auch hier ermöglicht das Katgutbündel die 
Regeneration des Nervendefektes, es verhindert das Hineinwachsen von Binde¬ 
gewebe zwischen die Nervenstümpfe und dient gleichsam als Leitband für 
die neugebildeten Nervenfasern. Auf dieselbe Weise erklärt sich die Rege¬ 
neration von Nervendefekten, wenn man nach Vanlair die Nervenenden in 
ein offenes, entkalktes Knochenrohr legt, oder in einen resorbierbaren 
Magnesiumzylinder (Payr), in ein resorbierbares, in 2% Formalin gehärtetes 
Gelatineröhrchen (Lotheissen), in sterile, in Formalin gehärtete Arterien¬ 
oder Veneustücke von frisch geschlachteten Kälbern oder von Hunden 
<Foramitti, Spitzy, Ramsauer); die letzteren soll man über Glasröhren ge¬ 
zogen aseptisch vorrätig haben, nachdem sie in Formalinlösung gehärtet, 
ausgewässert und dann gekocht worden sind. Taylor heilte eine totale Läh¬ 
mung des Armes durch Zerreißung des Plexus bei der Geburt, indem er 
ein Jahr später den Plexus bloßlegte, den narbig degenerierten Teil rese¬ 
zierte und dann die beiden Plexusenden ähnlich wie Gluck durch Chrom- 
katgutfäden bis zu 2 cm Entfernung näherte und den Nervendefekt mit einer 
Cargilemembran umgab; nach 34^ Monaten war ein normaler Gebrauch 
des Armes beim Spielen und Essen möglich. 

Löbker resezierte bei einem Defekt des N. medianus und ulnaris so¬ 
wie der Beugemuskeln am Vorderarm subperiostal ein der Größe des Weich¬ 
teildefektes entsprechendes Knochenstück aus Radius und Ulna und ver¬ 
einigte dann die angefrischten Sehnen- und Nervenstümpfe durch Naht. 

Auch bei veralteten Nervendurchtrennungen wird man die (»sekun¬ 
däre«) Nervennaht vornehmon, indem man die Nervenstümpfe aufsucht, aus 
ihrer bindegewebigen Verwachsung löst, anfrischt und dann in der be¬ 
schriebenen Weise durch Naht vereinigt. Wie aus der oben mitgeteilten 
Beobachtung von Taylor und aus anderen Fällen hervorgeht, ist die Nerven¬ 
naht noch ein Jahr nach der Verletzung erfolgreich gewesen, ja in einem 
Falle von Jessop wurde 9 Jahre nach der Durchtrennung des N. ulnaris 
die Nervennaht mit befriedigendem Erfolg ausgeführt. 

Die Nachbehandlung nach der Nervennaht besteht in Naht der Haut¬ 
wunde und in zweckmäßiger Immobilisierung der betreffenden Körperstelle 


Digitized by 


Google 


818 


Nervennaht. 


durch einen aseptischen Verband, z. B. bei Naht des N. medianus oder ulnaris 
am Vorderarm oberhalb des Handgelenks wird die Hand in volar flektierter 
Stellung durch Schienenverband fixiert, damit die Nervennaht möglichst ent* 
spannt wird. Nur bei reaktionsloser Heilung per primam intentionem ist 
ein gutes Resultat zu erwarten. Nach Heilung der Wunde besteht die weitere 
Behandlung in Anwendung der Elektrizität, der Massage und methodischer 
Übung der Muskeln. 

Entsprechend der allmählich stattfindenden Regeneration der Nerven¬ 
durchtrennungen durch Überbrückung mit neugebildeten Nervenfasern stellt 
sich die Funktion erst in einiger Zeit wieder her, zuerst gewöhnlich — etwa 
in der 2.—4. Woche — die Sensibilität, dann die Motilität, nur in Ausnahme¬ 
fällen erscheint letztere zuerst. Als frühester Zeitpunkt, wo die Rückkehr 
der Motilität nach der Nervennaht beginnt, kann nach den vorliegenden 
Tatsachen der 16. bis 19. Tag bezeichnet werden. Zuweilen beginnt die 
Besserung der Motilität erst nach mehreren Monaten, ja erst nach 10 bis 
12 Monaten. Nach den Statistiken von Wolberg, Tillmanns, Weissbnstbtn 
und Hodges war die primäre Nervennaht in 74% von 104 Fällen erfolgreich, 
die sekundäre in 80% von 108 Fällen. Eine vollkommene Restitutio ad 
integrum ist selten. Bleibt eine Nervennaht erfolglos oder ist das Resultat 
unbefriedigend, dann wird man eine Autopsie der betreffenden Nervenstelle 
vornehmen, das Vorgefundene Hindernis eventuell beseitigen und die Nerven¬ 
naht wiederholen. Man hat in solchen Fällen besonders die Neurolyse mit 
gutem Erfolg vorgenommen, d. h. den Nerven an der Verletzungsstelle aus 
dem drückenden Bindegewebe befreit, das narbige Bindegewebe an der Naht¬ 
stelle exstirpiert und dann die Nervenenden nach ihrer Anfrischung wieder 
durch Naht vereinigt oder den Nervendefekt nach den oben angegebenen 
verschiedenen Methoden behandelt 

Auf die verschiedenen Ansichten bezüglich der Regeneration der 
Nerven nach der Nervennaht resp. Neuroplastik können wir hier 
nicht näher eingehen, es sei nur hervorgehoben, daß nach den neueren Unter¬ 
suchungen von Ballaner, Stewart, O. Schultze u. a. die WALDBYKRsche 
Neuronlehre nicht mehr haltbar erscheint, daß also die periphere Nerven¬ 
faser kein Zellfortsatz mit aufgelagerten Scheidenzellen ist, sondern viel¬ 
mehr ein Syncytium mit zahlreichen eigenen trophischen und regenerations¬ 
fähigen Zentren. Ein Defekt in diesem Zellenkomplex wird nach vorüber¬ 
gehender zentraler und peripherer Degeneration sowohl von der zentralen 
wie von der peripheren Seite her durch Proliferation von Zellen regeneriert, 
deren Kerne die ScHWANNschen Kerne sind. Nach der anderen, besonders 
früher gültigen Anschauung nahm man an, daß die Regeneration der Nerven 
nach der Nervennaht nur durch Neubildung von Nervenfasern vom zentralen 
Nervenende aus stattfinde, daß diese neugebildeten Nervenfasern in dem 
degenerierten peripheren Nervenstumpf bis in die Muskeln, bis in die Haut 
wachsen. Ich habe schon früher die Ansicht derjenigen geteilt, welche an- 
nahmen, daß auch der periphere Nervenstumpf sich an der Regeneration 
beteiligt, wenn er durch die Nervennaht mit dem zentralen Nervenende resp. 
dem Zentrum verbunden wird. Eine autogene Regeneration des dauernd 
vom Zentrum abgetrennten Nervenstumpfes gibt es nicht, aber er kann 
sich nach Margulies autonom ohne Einfluß der Ganglienzelle vollkommen 
regenerieren, wenn er durch Verbindung mit dem Zentrum den funktionellen 
Reizen zugänglich wird. Darüber ist man aber jedenfalls einig, daß es eine 
prima reunio der durchtrennten Nervenfasern an der Nahtstelle nicht gibt, 
wie auch Gluck in neuester Zeit im Gegensatz zu seiner früheren Ansicht 
zugegeben hat. 

Literatur: Davidsohn, Nervenpfropfung. Beiträge zur klin. Chir., LV. — Gaüdiyr, 
Nerventransplantation. Französischer Chirurgenkongreß 1907. — Glück, Probleme und Ziele 


Digitized by Ujoooie 



Nervennaht. — Nucleogen. 


319 


der plastischen Chirurgie. Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte in Stuttgart 1906. 

— Ito und Soybsima, Nervenpfropfung bei Fazialislähmung mit Literatur. Deutsche Zeitschr. 
f. Chir., XC. — Mabgulies, Nervenregeneration. Vibchows Arch., CXCI. — Oppel, Neurolyse. 
Ross. Arch. f. Chir., 1908. — Ramsaueb, Nervennaht. Ioaug.-Diss. Bonn 1907. — Spishabny, 
Nervenanastomose. Russki Wratsch, 1908, Nr. 25. — Spitzt, V. Kongreß der Deutschen Ge¬ 
sellschaft für orthopäd. Chir. in Berlin 1906. — Derselbe, Zeitschr. f. orthopäd. Chir., XIII. 

— Derselbe, Wiener med. Wochenschr., 1907, Nr. 48 und Münchener med. Wochenschr., 
1908, Nr. 27. — Tatlob, Journal of the american med. association. Vol. 50, Nr. 13. — Till- 
manbs, Nervenverletzungen und Nervennaht mit Literatur. Arch. f. klin. Chir., XXVII. 

H. Ti Um Anna. 

Nucleogen. Unter Verwendung von Hefezellen wird von dem 
Laboratorium RoSENBERG-Charlottenburg ein Präparat mit 15% Eisen, 9% 
Phosphor und 5% Arsen hergestellt. Es kommt nach Schramm in zuge¬ 
schmolzenen Phiolen in den Handel, welche die einmalige Dosis für Er¬ 
wachsene enthalten. Kindern injiziert man die Hälfte des Inhaltes jeden 
zweiten Tag. Die intramuskulären Injektionen, besonders die ersten sind 
schmerzhaft, es kommt zu starker Empfindlichkeit der Injektionsstelle und 
zu allgemeinen Reaktionserscheinungen in leichten Temperatursteigerungen, 
Schwindel und allgemeiner Abgeschlagenheit bestehend. Störungen von seiten 
des Magendarmkanales sind nicht aufgetreten. Dagegen macht sich ein 
»blecherner Geschmack« % bis % Stunden nach der Injektion bemerkbar, 
der bis zu 7 Stunden Anhalten kann. Über die Resultate dieser subcutanen 
Eisentherapie spricht sich Schramm auf Grund von 76 Fällen sehr lobend 
aus. Hauptsächlich wurde sie bei Chlorose und Anämie angewandt, und 
zwar gab Schramm nie unter 20 Injektionen, häufig bis 40 und darüber. 

Literatur: Schramm, Über die intramuskuläre Anwendung eines neuen arsen- und 
phosphorhaltigen Eisenpräparates. Med. Klinik, 1908, Nr. 18, pag. 670. E . Frey. 


Digitized by ^.ooQle 



Ophthalmia electria, s. Ultraviolette Strahlen. 


Orthotische Albuminurie« Die orthotische oder orthostatische 
Albuminurie ist eine Form der Eiweißaasscheidung, Ober deren Wesen die 
Anschauungen lange Zeit sehr schwankend und widersprechend waren. Kli¬ 
nische Beobachtungen sowie experimentelle Stadien der letzten Jahre haben 
uns jedoch dem Verständnis dieser eigenartigen Anomalie erheblich näher 
gebracht. Charakterisieren läßt sich die orthotische Albuminurie durch eine 
Eiweißausscheidung im Urin, die nur nach dem Übergange von der horizon¬ 
talen Lage in die vertikale Stellung zu beobachten ist Der Urin von In¬ 
dividuen mit orthostatischer Albuminurie unterscheidet sich im allgemeinen 
in nichts vom Urin normaler Personen, und wir finden keinen Hinweis auf 
eine Nierenerkrankung. Der in der Ruhelage abgesonderte Urin ist durch¬ 
aus normal. Unmittelbar nach dem Aufstehen jedoch wird ein Urin entleert, 
der stets Eiweiß, zuweilen in recht erheblicher Menge, enthält. Diese Albu¬ 
minurie verschwindet jedoch beim Herumgehen oder wenn das Individuum 
sich wieder hinlegt. Es handelt sich also um eine Eiweißausscheidung, die 
zweifellos von dem Wechsel der Körperhaltung abhängig ist. Diese Erschei¬ 
nung ist so scharf charakterisiert, daß wir sie zunächst von gewissen anderen 
Albuminurien abgrenzen können, mit denen sie früher zusammengeworfen 
wurde. Mit der sogenannten physiologischen Albuminurie ist die orthotische 
nicht zu identifizieren. Erstere, die nach sportlichen Anstrengungen oder 
infolge alimentärer Einflüsse beobachtet wird, zeigt einen ganz anderen Cha¬ 
rakter und vor allem keine Abhängigkeit von der Körperhaltung. Auch die 
intermittierende Eiweißausscheidung, die man als zyklische Albuminurie be 
zeichnete, ist durchaus zu trennen von der orthotischen Albuminurie. Wir 
müssen nach wie vor diese Erscheinung als eine Anomalie sui generis be« 
trachten, wenn auch, wie wir sehen werden, der von Teissier geschaffene 
Ausdruck: orthotische Albuminurie einer anderen Bezeichnung Platz machen 
sollte. 

Der bei dieser Anomalie ausgeschiedene Eiweißkörper ist in der Kälte 
durch Essigsäure fällbar. Durch Ferrocyankali wird der Niederschlag nicht 
verstärkt. Nach neueren Forschungen von Langstein handelt es sich, wenigstens 
bei Kindern, nicht um ein Nukleoalbumin, sondern um ein phosphorfreies 
chondroitinschwefelsäurehaltiges Harneiweiß. Der Urin orthostatischer In¬ 
dividuen enthält stets diesen Eiweißkörper und unterscheidet sich in dieser 
Beziehung vom nephritischen Urin, der den durch Essigsäure in der Kälte 
fällbaren Eiweißkörper nur in minimaler Menge enthält. 


Digitized by 


Google 



Orthotische Albuminurie. 


321 


Das Auftreten der orthotischen Albuminurie ist ausschließlich an das 
kindliche oder jugendliche Alter geknöpft. Nach Teissier ist sie zwischen 
dem 5. und 25. Lebensjahre zu beobachten, und v. Noorden glaubt, daß diese 
Albuminurie zwischen dem 7. und dem 15. Jahre am häufigsten aufzutreten 
pflege. Neuere Untersuchungen, besonders die Beobachtungen Jehles, scheinen 
darauf hinzuweisen, daß die Zeit der Pubertät und die Wachstumsperiode 
das von dieser Albuminurie besonders bevorzugte Alter seien. 

Über die Dauer der orthotischen Albuminurie sind die Angaben sehr 
verschieden, v. Noorden konnte die Eiweißausscheidung über einen Zeitraum 
von 3 Jahren beobachten. Sicher ist, daß die Albuminurie in vielen Fällen 
nach längerer oder kürzerer Dauer vollständig verschwindet. 

Wenn über die Ätiologie der orthotischen Albuminurie so viele diver¬ 
gierende Anschauungen ausgesprochen wurden, so liegt dies in erster Linie 
daran, daß die Anomalie teilweise bei scheinbar Gesunden, teilweise nach 
Nierenkrankheiten, oder im Gefolge anderer Störungen beobachtet wurde. 
Dies veranlaßte schon Teissier, eine echte orthotische Albuminurie von der 
unechten sekundären zu unterscheiden. Die echte Albuminurie faßte er als 
eine klinische Entität auf, die auf Mängel in der Konstitution zurückzu- 
föhren sei, während die sekundäre der Ausdruck einer gewissen nach 
Nephritis zurückbleibenden Schwäche des harnbereitenden Organs sei. Dieser 
Auffassung schloß sich auch anfangs Heubker an. Senator bestritt überhaupt, 
daß eice Niere bei bestehender orthotischer Albuminurie gesund sein könne. 
Die Anschauungen hierüber konnten lange Zeit nicht geklärt werden, denn 
es fehlte uns jede pathologisch anatomische Grundlage für die Beurteilung 
der Anomalie. Eine Beobachtung Heubners hat nun Licht auf diese Frage 
geworfen. Er batte Gelegenheit, bei einem 10jährigen Mädchen eine ortlio- 
tische Albuminurie zu beobachten. 

Das Kind stammte von gesunden Eltern. Eine Schwester war an Lungen¬ 
tuberkulose gestorben. Das Kind ging an einem Zystengliom im linken Klein¬ 
hirn zugrunde. Bei der Sektion zeigten die Nieren makroskopisch ein durch¬ 
aus normales Aussehen. Infolge der Stauungsvorgänge in den letzten Krank¬ 
heitstagen fand sich nur eine Hyperämie der Kapillaren. Man fand jedoch 
nicht das geringste Zeichen einer Entzündung oder Degeneration der Nieren 
Damit schien der Beweis geliefert, daß die orthotische Albuminurie ohne 
organische Läsion der Niere bestehen kann. 

Interessant war die Beobachtung, daß das Kind einen tuberkulösen 
Herd in der linken Lungenspitze hatte. Nach Heubner scheint diese Tat 
sache die Angabe einzelner Autoren zu bestätigen, wonach die orthotische 
Albuminurie eine prätuberkulöse Erscheinung sei: Ich persönlich halte diesen 
Schluß für nicht zwingend, da bei der Häufigkeit der Tuberkulose sehr wohl 
ein zufälliges Zusammentreffen ohne kausale Beziehungen vorliegen kann. 
Es kann natürlich nicht geleugnet werden, daß eine orthotische Albuminurie 
bei nephritisch geschwächten Nieren vorkommt. Dauchez klassifiziert diese 
als sekundäre orthostatische Albuminurie infektiösen Ursprungs mit leichter 
Läsion. Meist soll sie auf einer partiellen Nephritis bei hereditärer Prä 
disposition beruhen. Engel-Helouan steht ganz auf dem Standpunkte, daß 
die orthostatische Albuminurie der Ausdruck einer reizbaren Erschöpfung 
bei nephritisch geschwächten Nieren sei. Die Beobachtung Engels ist jedoch 
sehr einseitig, da sie sich nur auf drei Fälle von Nephritis bei jugendlichen 
Individuen erstreckt. 

Auch Hauser sah sich auf Grund seines Materials veranlaßt eine ana¬ 
tomische Läsion der Niere anzunehmen und Kapsammer vertritt den Stand¬ 
punkt, daß die orthostatische Albuminurie nicht vollkommen von der Nephrits 
zu trennen sei. 


Enojdop. Jahrbücher. N. F. YUI. (XVT1.) 


Digitized by UjOoQLe 


322 


Orthotische Albuminurie. 


Wir haben gesehen, daß pathologisch-anatomische Befände uns er¬ 
lauben, diesen Standpunkt zurückzuweisen. Selbst die Tatsache, daß ge¬ 
formte Elemente bei Orthostatikern im Urin gefunden werden, können nicht 
als Stütze dieser Anschauung herangezogen werden. In der Regel werden 
ja Zylinder und Epithelien nicht beobachtet Bruck konnte jedoch in einem 
Falle Epithelien, Leukozyten und Zylinder nachweisen. Ebenso sah Korach in 
einem Falle von typischer ortho9tatischer Albuminurie hyaline, granulierte 
und epitheliale Zylinder. Es handelte sich in dem Falle um einen 20jährigen 
Studenten, der nephrektomiert worden war. Unmittelbar nach dem Aufstehen 
erschien Eiweiß im Urin. Wir können hier nun die Zylindrurie keineswegs 
als Ausdruck einer organischen Läsion auffassen, denn es wäre nicht zu 
verstehen, warum nur nach dem Aufstehen Zylinder ausgeschieden werden, 
während in der horizontalen Lage der Urin ganz frei von morphotischen 
Elementen ist. 

Was die prädisponierenden Momente betrifft, so stimmen die meisten 
Autoren darin überein, daß ein gewisser Habitus bei orthotischen Individuen 
nachzuweisen sei, und wir können wohl mit Langstein annehmen, daß das 
prädisponierende Moment eine gewisse konstitutionelle Schwäche sei. Auch 
v. Noorden fand die Anomalie fast ausschließlich bei anämischen Individuen, 
deren Eltern oder Geschwister meist Degenerationszeichen aufwiesen. Viel¬ 
leicht ist auch in vielen Fällen eine ererbte Schwäche des uropoetischen 
Organs anzuschuldigen, denn Castaigne und Rathery fanden bei den meisten 
Orthostatikern, daß die Eltern nephritisch waren. Auch sonst sollen diese 
Individuen Zeichen einer »Döbilitö rönale« aufgewiesen haben. 

Nach Albu sind auch Stigmata psychopathischer Belastung bei Ortho¬ 
statikern nachzuweisen. Er fand in der Aszendenz Taubheit, Psychoneurosen, 
Psychosen und Neurasthenie. 

Daß die Tuberkulose ein zur orthostatischen Albuminurie prädispo¬ 
nierendes Moment sein kann, wird von vielen Autoren angegeben. Rryher 
fand unter seinem poliklinischen Material in 18% aller Kinder orthotische 
Albuminurie und unter diesen in 40% Tuberkulose. Pfaundler, Birk und 
andere betonen, daß die Tuberkulose zur orthotischen Albuminurie prä¬ 
disponiere. Wir sind jedoch wohl berechtigt zu sagen, daß nicht die Tuber¬ 
kulose an und für sich das ätiologisch wichtige Moment ist, sondern daß 
im allgemeinen chlorotische, anämische und neuropathische Individuen das 
große Kontingent der Orthostatiker liefern. Auffallend ist ja das von einzelnen 
Autoren angegebene Vorwiegen des weiblichen Geschlechts, bei dem wir ja 
meistens eine konstitutionelle Minderwertigkeit annehmen können. Daß eine 
angeborene oder erworbene Minderwertigkeit der Nieren zur orthostatischen 
Albuminurie disponieren kann, ist von vornherein klar. Mit demselben Recht, 
wie wir von angeborener Herzschwäche sprechen, können wir auch eine 
konstitutionelle Insuffizienz des Nierenfilters annehmen, die sich darin äußert, 
daß bei sonst normaler Funktion ein äußerst geringfügiger Reiz imstande 
ist, Störungen in der Harnsekretion hervorzurufen. Diese renale Minder¬ 
wertigkeit läßt sich anatomisch bis jetzt noch nicht exakt definieren. Nach 
Leube handelt es sich um eine Undichtigkeit des Harnfilters und v. Noorden 
bezeichnet die Anomalie als Diabetes albuminosus. Die renale Minderwertig¬ 
keit kann natürlich auch erworben werden, etwa durch nephritische Prozesse, 
oder durch Verkleinerung des harnbereitenden Organs bei Exstirpation 
einer Niere. 

Mit dem bisher Ausgeführten haben wir natürlich noch nicht das Wesen 
der orthostatischen Albuminurie erklärt. Wir sprachen oben von einem Reiz, 
der die an und für sich insuffiziente Niere trifft, und der Gedanke liegt 
nahe, das Aufstehen als einen solchen auslösenden Reiz anzusehen. In der 
Tat hat man sehr früh die durch das Aufstehen bedingten Schwankungen 


Digitized by 


Google 



Orthotische Albuminurie. 


323 


in den zirknlatorischen Drackverh&ltnissen als die Ursache der Albuminurie 
angesehen. Edel war einer der ersten, der die hier obwaltenden Verhältnisse 
in der Zirkulation eingehend würdigte. Er fand, daß Pulsfrequenz und Blut¬ 
druck sich bei Orthostatikern anders verhielten als bei Normalen. Während 
der Gesunde eine Blutdrucksteigerung nach Bewegungen zeigte, sank der 
Blutdruck bei Orthostatikern. Nach dem Aufstehen zeigten diese eine mangel¬ 
hafte Reaktion des Blutdrucks. Die Insuffizienz würde also nach diesen 
Untersuchungen nicht in den Nieren selbst, sondern im Gefäßsystem zu 
suchen sein. Erlanger und Hooker nehmen Änderungen in der kardiovasku¬ 
lären Funktion an. Sie beobachteten bei Orthostatikern ein geringeres An¬ 
steigen des diastolischen Blutdrucks nach dem Aufstehen als bei Gesunden. 
Diese Anschauung versuchte Loeb durch Untersuchungen über den Koranyi- 
schen Quotienten zu stützen. Aus dem Verhalten der Gefrierpunktserniedri¬ 
gung und dem Befunde am Herzen der Orthostatiker schloß er, daß die 
Ursache der Albuminurie in kardiovaskulären Momenten zu suchen sei. Auch 
Pelnar erblickt in Druckschwankungen die Ursache der Albuminurie. Er 
beobachtete Pulsbeschleunigung, Dikrotie und Oligurie. Durch Stauung im 
Splanchnikusgebiet werde der Blutstrom in den Malpighischen Körperchen ver¬ 
langsamt, besonders beim Übergange von der Ruhelage in die vertikale Stellung. 

Es ist klar, daß diese Erklärungsversuche nicht befriedigen konnten, 
denn einmal wurde die erwähnte Differenz in der Druckschwankung nicht 
überall beobachtet; sodann war nicht einzusehen, warum dann nicht die 
Nieren auch beim Umhergehen Eiweiß ausscheiden. 

Es war daher eher an lokal wirkende Ursachen zu denken. Eine so 
temporäre Herabsetzung der Leistungsfähigkeit der Niere kann nicht durch 
kardiovaskuläre Momente zu spontanem Entstehen und ebenso spontanem 
Verschwinden gebracht werden. 

Zugunsten einer Erklärung aus lokalen Ursachen sprechen schon die 
Untersuchungen von Weintraüd und Frank. Diese Autoren fanden, daß nach 
Darreichung von Theocin bei Orthostatikern der Eiweißgehalt sank und 
die Diurese und Na CI-Ausscheidung anstiegen. Auch bei Faradisierung am 
Dorsalteile der Wirbelsäule wurde die Albuminurie günstig beeinflußt. Auch 
Pribram zieht eine Störung im lokalen Kreislauf zur Erklärung heran, und 
zwar glaubt er, daß es sich um ein Hindernis im arteriellen Gefäßsystem 
der Niere handle. Am wahrscheinlichsten sei es, einen Krampf der Nieren¬ 
gefäße für die Ursache der Eiweißausscheidung zu halten. Das Tierexperiment 
habe ergeben, daß ein solcher Arterienkrampf wohl durch die verschiedensten 
Reize zustande kommen könne. 

Zu einer rein mechanischen Erklärung der orthotischen Albuminurie 
gelangte Jehle auf Grund eingehender Beobachtung an so veranlagten 
Kindern. In 7 Fällen beobachtete Jehle eine orthotische Albuminurie mit 
einem Eiweißgehalt bis zu 32°/o 0 - War der Eiweißgehalt sehr hoch, so fanden 
sich auch weiße und rote Blutkörperchen, Epithelien und granulierte Zylinder. 
Jehle machte nun die interessante Beobachtung, daß die Eiweißausscheidung 
nur im Stehen erfolgte, während weder im Gehen noch im Sitzen Eiweiß 
im Urin nachzuweisen war. Am meisten Eiweiß wurde ausgeschieden, wenn 
das Kind kniete. Saß das Kind jedoch beim Knien auf den Unterschenkeln, 
so hörte die Albuminurie auf. Die Ursache dieses eigentümlichen Verhaltens 
erblickt nun Jehle in einer Änderung der physiologischen Lordose der 
Wirbelsäule. Jede Stellung, die diese Lordose zustande bringt, muß eine 
Albuminurie her vorrufen, und so ist es auch zu verstehen, daß nicht nur 
im Stehen, sondern auch bei Stellungen, die der vertikalen Haltung ent¬ 
sprechen, Eiweiß ausgeschieden wird. Wurde die Lage des Patienten so 
fixiert, daß seine Wirbelsäule lordotisch gekrümmt war, so hatte er auch 
im Liegen eine Albuminurie. Andrerseits konnte durch Entfernung der Schuh- 




824 


Orthotische Albuminurie. 


absätze, also durch eine geringfügige Änderung der Haltung, das Eiweiß 
zum Verschwinden gebracht werden. An allen seinen Patienten konnte auch 
Jkiii.k eine statische Lordose am 1. und 2. Lendenwirbel nachweisen, anstatt, 
wie bei normaler Wirbelsäule, am 3. und 4. Lendenwirbel. Diese Verlegung 
der physiologischen Lordose hält Jbhle für die Folge einer Schwäche der 
Lendenmuskulatur. Durch die Lordose werde aber eine Abknickung der 
Nierengefäße bewirkt, die ihrerseits eine Stauung in der renalen Zirkulation 
und Albuminurie zur Folge habe. Durch entsprechende Bandagen konnte 
Jkiimc diese orthotische, oder, wie er sie zu nennen vorschlägt, lordotische 
Albuminurie beseitigen. Die von Jehle später an insgesamt 50 Fällen nach- 
gewiesene lordotische Entstehung der Albuminurie wurde auch durch Bruck 
oxporimentell hervorgerufen. Er konnte eine Albuminurie dadurch erzeugen, 
daß er den liegenden Patienten die Bettlehne rücklings umfassen Heß. Nach 
Hhucks Statistik hatten von 44 Kindern 8 = 18% hei künstlicher Lordose 
eine Albuminurie. Eine weitere Bestätigung erfuhr die Annahme Jehles durch 
Nothmanns Beobachtungen an Kindern mit progressiver Muskeldystrophie. 
Boi der hier bestehenden Lendenlordose fand sich ebenfalls eine Albuminurie. 
Auch bei Patienten, die nierenkrank gewesen waren und noch nicht ganz 
gesunde Nieren hatten, konnte Nothmaxn durch eine experimentelle Lordose 
eine Albuminurie resp. eine Steigerung der schon bestehenden Eiweißaus- 
Scheidung Hervorrufen. Das Unterschieben einer Rolle unter die Lenden- 
Wirbelsäule genügte schon, um diesen Effekt hervorzubringen. Bingel be¬ 
stätigte ebenfalls Jkhi.rs Auffassung. Er konnte durch Ausgleichung der 
Lordose die Albuminurie zum Verschwinden bringen. Die von Wixtbrxitz 
bei Schwimmern beobachtete Albuminurie läßt sich zwanglos dadurch er- 
klären, daß beim Schwimmen mit rückwärts geneigten Kopf und Oberkörper 
eine lordotische Ktümmung der obersten Lendenwirbel zustande komme. 

Die von Jkiii.k gelieferte und von den meisten Autoren heute akzeptierte 
rein mechanische Erklärung der orthotischen Albuminurie können wir für 
durchaus befriedigend halten. Natürlich dürfen wir nicht vergessen, daß zum 
Zustandekommen der Anomalie zwei Faktoren wirksam sein müssen, nämlich 
L die individuelle Prädisposition ^konstitutionelle Insuffizienz etc . 

das mechanische Moment |die LordoseL 
Bei ganz gesunden und widerstandsfähigen Individuen kann eine so 
geringfügige K nwirkur.g. wie die vorübergehende Lordotisierung der obersten 
l.ordor.wirbol urd eine darauf fo gende transitorische Stauung noch nicht 
*i;r Albuminurie führen. 


lltwamr: Ai*v. rit ra.'h K.'**, * 1 c — P:\sru. Ar:.'«ftfif der sograaaaten lordo* 
>•. h. « A ' * v. o IV ; tri W r- t i.>ehr. Nr ^ — BrmiL. Uber zyklische 

vir,'. r.’Vi X r\ ius. ‘ K.. ;rr Okt; Nnr ' *,». T. — E&xvs. Tr-er AN-cmmcn* pro- 

v.x s ' ä V . • ,N; t { : r.xv\ X\\.. * .» N* 44 — 0 i«:a- :^s cud Rathk»t, zit. nach 

N,,vv \ bi. ,m A rr * c rr. V £o ger. tnr. . ';i V Vx i. Nr. lt. — Ittts- 

yj .x. W ,x Vt , U N* 4’" G; 1\ r.:>. S? K'(x" W.«; N-'-xtscfcr , Nr. 36 37. — 

V\ . i. V, i.xr . \ ..1 . i . r-. r r»x*.' Vv .v 1 1 r*. ,\r.. \: — Elu&vaijl H Jokn 

i . v . v : .v. b p. V.* ** , n-t ., r Tyvxsk iBxag.-Pt** 

> ? v 4 V - V;..v>x. i'V A‘: .... -.rr -1 V? rh ö?*r R;r. G+**-. 19 C 4 . 

i' i «, 1§» J \, svfk iv *\-r. - k r. XX ,v K ts.. n-.. * :•» Nt ' r-Jif 1—4 — Jselx. Di- 

>. ..v, >./ v 1 . tvx 1 it r V c .x u n u 7 vrtr& h ! ttj. Med- pag fö*. 

V !•»*’.' r *.\ X* ,x 1 *. :■>. ti\ X: ' - K-xa 1 »'!. . r>. L” ! B'rfu- 1 ^ Cx PU 

k v 1 4 • x i '. : ,v:h. : .v ;)a Nr\ .*i. K 1 . *. Z :♦ Nr 47. w«: — 

♦ v , v , - , > ^ r V vv ^ f 1^-- t r ■ ’i.i rn: Bars ö'-r Kied^r. 

k t xi l% > — . .v'k . u - k : i t > o-r AJMaBamrO. 

. vi xK' a . 1 ' *. i t. V >*-, . \\\ .. - \ iv.xv . > - n? AJMat**ntrH* Arrk 

1 i 1 X .n . - . r r 1 \ . , J f.* - . 7# * taf I tiii — Psuir. 

1 1 - • 1 v 'v . t ' I i. - I . r - ! . 1 X . :* V- — P*"**A». 

V t 1 *’ -v - - 1 -<»*.: a r- t 1 >. > i”N. ^ *. e r A *Nr Z —4. — 

-■ • ■ t- t V v . ,'\ k - iv - : v tAvt . r — 1 t r-ftsekr ? irzti 

> ' r » rt. t, N V.- .V — V V vv^ V * * : ru < 1 -, c.-^rhr A n: Äa*B~»r Keltert, 

v U. ; v. ^ 


Digitized by 


Google 






Oxalurie. 


325 


Oxalurie. In bezug auf die Bedeutung der Oxalurie haben sich in 
den beiden letzten Jahrzehnten die Anschauungen außerordentlich geändert. 
Einst galt sie als ein ernstes Symptom einer Stoffwechselanomalie, nament¬ 
lich hatte ihr Cantani die Rolle einer selbständigen konstitutionellen Diathese 
zugeschrieben, welche dem Diabetes nahe stände. Davon kann heute keine 
Rede mehr sein. Die frühere Überschätzung der pathologischen Bedeutung 
der Oxalurie war die Folge einer einseitigen Betrachtung der Oxalsäure- 
ausscheidung im Harn. Man schloß nämlich aus der reichlichen Anwesenheit 
von Kristallen des oxalsauren Kalks im Harnsediment auf eine vermehrte 
Bildung oder Anhäufung der Oxalsäure, auf mangelhafte Oxydation derselben 
im Körper u. dgl. mehr. Heute wissen wir, daß die erste Bedingung für die 
Beurteilung der pathologischen Bedeutung von Stoffwechselprodukten die 
Kenntnis des Verhältnisses von Ein- und Ausfuhr ist. Es hat sich heraus¬ 
gestellt, daß das Auftreten von Oxalaten im Harn selbst nicht einmal bei 
zahlreicher Menge derselben einen Schluß auf eine vermehrte Oxalsäureaus¬ 
scheidung, geschweige denn auf eine Oxalämie gestattet. Schon der normale 
Harn enthält stets geringe Mengen Oxalsäure. Der weitaus größte Teil der¬ 
selben stammt aus der Nahrung, und die Ausscheidungsmenge wird um so 
größer, je mehr davon in dem Nahrungsmittel enthalten war. Die Oxalurie 
ist also zumeist alimentären Ursprungs. Die Oxalsäure ist als un¬ 
lösliches Kalksalz, besonders in zahlreichen Vegetabilien enthalten, am 
stärksten in Kakao, Schokolade, Tee, Spinat, Sauerkraut, Rhabarber, Pfeffer 
u. a. m. Der überwiegende Teil des Kalkoxalats gelangt im Verdauungskanal 
zur Lösung und dadurch zur Resorption und Ausscheidung. Wenn in der 
älteren Literatur sich oft Angaben über Oxalurie bei Magen- und Darra- 
katarrhen, insbesondere auch bei Ikterus finden, so mag das vielleicht hier 
und da mit Resorptionsstörungen seitens der erkrankten Schleimhäute des 
Verdauungskanals im Zusammenhang stehen; zumeist aber hat dabei nur 
eine zufällige Nahrungszusammensetzung ihren Einfluß ausgeübt. Noch weit 
sicherer läßt sich das behaupten von der Oxalurie im Gefolge interkurrenter 
Krankheiten und in Begleitung besonders von Nervenkrankheiten, so daß 
der stets unklare Begriff der »nervösen Oxalurie« gegenwärtig ganz hin¬ 
fällig geworden ist. Die Oxalurie ist niemals Ursache irgend welcher Krank¬ 
heitserscheinungen oder gar ganzer Symptomenkomplexe, sondern nur eine 
harmlose Begleiterscheinung wechselnder Ernährungsweise. 

Das Ausfallen des oxalsauren Kalks im Harn ist lediglich auf die 
physikalisch-chemische Beschaffenheit im Harn desselben zurückzuführen, es 
ist vor allem von der Harnazidität abhängig. Das an sich unlösliche Kalk¬ 
oxalat wird im Harn vornehmlich durch das saure phosphorsaure Natrium 
in Lösung gehalten, wird aber durch die Gegenwart reichlicher Alkalien, 
ferner auch durch die Veränderung des normalen Mengenverhältnisses von 
Kalk zu Magnesia, wie durch die Untersuchungen von Klemperer und 
Tritschler festgestellt worden ist, in mehr oder minder großer Menge aus¬ 
gefällt. Deshalb ist z. B. das Vorkommen der Oxalurie bei Blasenkatarrh 
beobachtet worden. Die Sedimentmenge im Harn, welche bei der mikrosko¬ 
pischen Untersuchung sehr sinnfällig wird, ist durchaus kein Maßstab für 
die in Harn enthaltene Oxalsäuremenge. Sie kann bei reichlichem Krystall- 
niederschlag sehr gering sein, andrerseits bei fehlendem Sediment sogar recht 
erheblich. Im normalen Harn finden sich nach den Angaben von Fürbringer, 
Autenrieth und Barth täglich etwa 0 02 g. 

Neben der präformierten Oxalsäure kommt aber zuweilen im Harn 
zweifellos auch eine andere Art Oxalsäure vor, die als intermediäres Stoff¬ 
wechselprodukt anzusehen ist, die sich also in den Geweben durch Abbau 
gebildet hat. Aber die Quelle dieser endogenen Oxalurie ist noch nicht 
sicher bekannt. Man hat z. B. die Oxalsäure als ein Zersetzungsprodukt der 


Digitized by 


Google 



326 


Oxalurie. — Oxygar. 


Harnsäure angesprochen, aus der sie sich auf dem Umwege über Alloxan, 
Parabansäure und Oxalursäure bilden soll. Aber diese theoretisch wohl mög¬ 
liche Annahme hat sich experimentell nicht erweisen lassen. Am meisten 
wahrscheinlich ist die Vermutung, daß die nicht aus der Nahrung stammende 
Oxalsäure aus den Eiweißkörpern und ihren Spaltungsprodukten, insbesondere 
aus dem Leim sich bildet. Freilich hat Rosenquist wiederum wahrscheinlich 
gemacht, daß es im Leim die Nukleine sind, welche als Quelle der Oxal¬ 
säure in Betracht kommen. Auch die Kohlehydrate sind als Muttersubstanz 
derselben angesprochen worden. Insbesondere hat Paul Mayer die Ansicht 
vertreten, daß aus Glukose und Glukuronsäuren Oxalsäure entstehen und die 
Oxalurie demgemäß als eine Folge der Störung des Kohlehydratstoffwechsels 
des Organismus auftreten könne. Das ist aber zur Zeit noch eine offene Frage. 

Die Ausscheidung von Oxalsäuren und ihren Salzen im Harn hat nach 
obigen Auseinandersetzungen nur insofern praktische Bedeutung, als sie Ver¬ 
anlassung zur Bildung von Oxalatsteinen in den Harnwegen geben kann. 
In dieser Hinsicht weist der angegebene Ursprung der hauptsächlichsten 
Oxalsäureausscheidung im Harn einen sicheren Weg zur Verhütung: die 
Einschränkung bzw. das Verbot des Genusses oxalsäurehaltiger Nahrungs¬ 
mittel. Ferner erweist sich die künstliche Steigerung der Harnazidität als 
zweckmäßig zur Erhöhung der Löslichkeit des oxalsauren Kalks im Harn, 
schließlich noch die Wahl einer kalkarmen, aber magnesiareichen Nahrung: 
Fleisch, Bouillon, Hülsenfruchte, Brot, Mehlspeisen, Kartoffel Apfel, Kaffee. 

Gleichsam in die Reihe der alimentären Oxalurie gehört diejenige Form 
derselben, welche nach Vergiftungen mit Oxalsäure (Zuckersäure, Kleesäure) 
beobachtet wird. Aiba. 


Oxygar. Ad. Schmidt macht darauf aufmerksam, daß die chronischen 
Diarrhöen mit flüssigen Stuhlentleerungen nicht durch erhöhte Peristaltik 
des Darmes zu erklären sind. Denn einmal werden viel zu große Flüssig¬ 
keitsmengen entleert, sodann finden sich nicht immer unresorbierte Nahrungs¬ 
reste in den Fäzes wieder. Sodann aber müssen Resorptionsstörungen nicht 
mit Notwendigkeit zu Zersetzungen und sekundären Durchfällen führen, 
wenn dies auch manchmal der Fall sein kann. »In der Tat ist die Neigung 
zur Fäulnis neben der flüssigen Beschaffenheit das konstanteste und prä¬ 
gnanteste Merkmal des Durchfalles.« Das Wesen des Durchfalles ist die 
Absonderung einer fäulnisfähigen Flüssigkeit durch die Darmwand. Diese 
Fäulnis löst die gesteigerte Peristaltik aus und kann unter Umständen sich 
auch auf die unresorbiert gebliebenen Nahrungsreste ausdebnen. 

Als bestes Mittel, diese Fäulnis hintanzubalten, also den Durchfall 
kausal zu bekämpfen, hat sich das H 3 0 2 erwiesen. Die Schwierigkeit besteht 
nur darin, das Wasserstoffsuperoxyd unzersetzt bis in den Darm zu bringen. 
Es gelingt nun, durch Bindung des H 2 0 2 an Agar-Agar ein Präparat her¬ 
zustellen, Oxygar genannt, welches 10—12% H 2 0 2 enthält und erst ganz 
allmählich den Sauerstoff abgibt. Agar-Agar selbst ist ein indifferenter Körper, 
der für Bakterien unangreifbar ist. Bei den kleinen Mengen, welche hierbei 
eingeführt werden, fällt die stuhlgangbefördernde Wirkung des Agar-Agar 
weg, wie sie sonst nach Anwendung in Form des Regulins durch Quellung 
zustande kommt. Die klinische Prüfung des »Oxygar« ergab, daß das Mittel 
wenigstens »bei denjenigen Formen chronischer Diarrhöen, die einen hohen 
Ursprung haben, also den Dünndarmdiarrhöen, wirksam ist. Das gilt speziell 
für die gastrogenen Formen oder die von Schütz sogenannten chronisch- 
dyspeptischen Diarrhöen, während zum Teil die Diarrhöen der Darmtuber¬ 
kulose und reine Dickdarmdiarrhöen unbeeinflußt bleiben«. 


Literatur: Ad. Schmidt, Über Durchfall. Med. Klinik, 1909, Nr. 13, pag. 457. 


Digitized by 


E. Frey. 

Google 



Ozaena. 


327 


Ozaena« Unter Ozaena verstehen die Rhinologen einen bestimmten, 
von B. Frasnkel znm ersten Male 1874 formulierten chronischen Prozeß der 
Nase. dessen Merkmale sind: Atrophie der Schleimhaut und der Knochen, 
speziell der unteren Muschel, Borkenbildung und übler Geruch ohne Zer¬ 
störung und Geschwürbildung in der Nase oder deren Nebenhöhlen. 

Die reine Atrophie ohne übelriechende Absonderung gehört ebenso 
wenig zur Ozaena simplex wie die syphilitische Stinknase. Auch andere 
übelriechende Prozesse der Nase, wie Rhinolithenbildung, zählen nicht in dies 
genau umgrenzte Gebiet. Stinknase und Ozaena sind also eigentlich nicht 
identisch. Der Geruch gehört verschiedenen Krankheiten an. 

Zaufal berichtet 1875, daß Ozaena Zusammenhänge mit rudimentärer 
Bildung der unteren Muschel, Sattelnase und breitem Nasenrücken, 
also infantile Nase im Gesicht des Erwachsenen. Zuckerkandl wies aber 
nach, daß die angenommene angeborene Atrophie der unteren Muschel 
nicht vorkomme, sondern daß es sich bei der Ozaena um einen chronischen 
Entzündungsprozeß der Schleimhaut handle, der zur Atrophie führe. 
Die Beziehung der Sattelnase zur Atrophie der unteren Muschel, die Zaufal 
zum ersten Male betonte, ist dagegen nie mehr angezweifelt worden. E. Fraenkel 
betont später, daß auch andere Teile des Nasengerüstes an der Atrophie 
teilnehmen, so z. B. das Septum. Hopmann der Ältere wies dann unwider¬ 
leglich nach (1894), daß das Septum bei reiner Ozaena im Durchmesser 
von vorn nach hinten verkürzt ist (5—15 mm\ der Nasenrachenraum also 
entsprechend länger. Später bewies derselbe Autor, daß die Verkürzung 
des Septums auch mit einer Verlagerung desselben verbunden ist. Der 
hintere Rand ist vorgelagert. Es spielen Wachstumsvorgänge des Grund¬ 
körpers und anomale Schließung der Synchondrosen des Keilbeinkörpers 
dabei eine Rolle. Die Choanen behalten zeitlebens die infantile Form. Es 
kehrt also zum zweiten Male der infantile Typus wieder, den wir schon bei 
der äußeren Form der Nase erwähnt haben. 

Der Choanalring liegt also nach Hopmann zu weit nach vorn. Dazu 
findet sich die Beobachtung Alkans 1900, daß auch der harte Gau meu 
auf der zu kurzen infantilen Stufe bei Ozaena stehen bleibe 

Nachdem nun bewiesen worden, daß Kindernase, Kinderseptum und 
Kindergaumen bei 0. zu finden sei, ging man allmählich weiter auf den 
ganzen Schädel über und fand (Kayser, Siebenmann), daß bei Ozaena die 
Chamaeprosopie (Breitgesichtigkeit, also infantiles Gesicht) bei weitem 
vorherrsche. Die Vorlagerung der Choane sei eine Eigenschaft aller Breit- 
gesichter. Wir resümieren also: Die Ozaena erscheint als Hypotrophie 
einiger oder vieler Knochen des Schädels. Kommt diese Knochenatrophie 
von der primären Atrophie der Schleimhaut? 

Wenn dem so wäre, wie kommt es, daß nicht bloß die untere Muschel, 
sondern auch Septum und auch Siebbein atrophieren oder die Choane vor 
gelagert wird? Es finden sich auch im Septum nie Dehiszenzen. Auch steht 
die Scbleimhautatrophie nicht in Parallele zum Knochenschwund, bei ge- 
ringer Schleimhaut Veränderung findet man starke Muschelatrophie. Auch der 
mikroskopische Befund spricht nicht für einen solchen Zusammenhang 
(Alexander). Cholewa betont auch, daß das Periost auch sonst nicht immer 
als Regenerator des Knochens angesehen wird, wie kann auch eine Schleim¬ 
haut soliden Knochen einschnüren? Ein solcher Vorgang kommt sonst am 
Körper nicht vor. Auch ist die Ozaenaschleimhaut zart und dünn, kann also 
keinen Druck hervorhringen. Es entsteht also die neue Frage: Kann nicht 
dieselbe Ursache Knochen und Schleimhaut zur Atrophie bringen? 

Die Histologie gibt keinen genügenden Anhalt zur Aufklärung des 
Prozesses, denn alle Veränderungen von Metaplasie des Epithels, Drüsen¬ 
schwund, Infiltration und Bindegewebsentwicklung und Verminderung des 


Digitized by 


Google 



328 Ozaena. 

Schwellgewebes kommt, wenn auch nicht in so hohem Grade, bei vielen 
Nasenkrankheiten vor. 

Es kehren nun in den verschiedenen Hypothesen der merkwürdigen 
Krankheit eine Reihe von Aufstellungen immer wieder, die der Krankheit 
eine angeborene Schwäche zugrunde legen. Schon Rosenfeld spricht 
1890 von ererbter weiter Nase mit ungenügender Energie des Luftstromes 
zur Reinigung der Nase von Kokken, Demmr schreibt der Schädelkonfigu¬ 
ration die mechanische Disposition der Ozaenanase zu (1891). Schrstakow 
nimmt eine noch unbekannte konstitutionelle Erkrankung an, die zu 
einer Entwicklungshemmung der Nasenmuscheln führt. Wir wissen schon 
lange, daß Erblichkeit und Geschlecht eine große Rolle bei der Ozaena 
spielen. Ich selbst habe vor Jahren eine unveröffentlichte Statistik gemacht 
die nachwies, daß in sehr vielen Fällen von behandelter Ozaena meiner 
Praxis Mutter und Tochter, manchmal mehrere Geschwister an derselben 
Krankheit litten, auch solche, die sich für ganz gesund hielten und nur auf 
meinen Wunsch untersucht wurden. Ich konstatierte, wie andere auch, also 
einen Einfluß der Blut Verwandtschaft. Hopmann drückt diesen Umstand 
als hereditäre, in der Anlage bereits angeborene Entwicklungsstörung mit 
Gewebsschwäche aus. Zu dieser ererbten Gewebsschwäche kommen nach 
den Autoren dann Gelegenheitsursachen. Siebenmann und seine Schüler 
schreiben der eintretenden Gewebsnietaplasie (Verwandlung in Plattenepithel) 
eine hervorragende Rolle dabei zu. Es konnte aber nicht nachgewiesen 
werden, daß beim Neugeborenen diese Metaplasie schon statthat. Übrigens 
findet sie sich auch sonst oft, ohne daß es zu Ozaena kommt. 

Die Ansicht Cholewas, daß es sich hier um primäre Knochen¬ 
krankheit handelt, behält also die Oberhand. Rachitis und Osteomalazie 
stellen verwandte Bilder zu dieser primären Knochenerkrankung dar. 

Es könnte sein, daß dem Knochen nicht genügend Nährmaterial zu¬ 
geführt wird, daß das Nährmaterial schlecht sei oder daß der Knochen die 
Fähigkeit eingebüßt hätte, das richtige Material zu assimilieren und zweck¬ 
entsprechend zu verarbeiten. Alexander sucht das letztere (Arch. f. Lar., 
1909, III) nachzuweisen. 

Während normalerweise Resorption und Aufbau beim lebenden Knochen 
gleichen Schritt halten, kommt es bei der Ozaena zu einem krankhaften 
Abbau. Die leimgebenden Substanzen sind es hauptsächlich, die abge- 
schwemmt werden. Diese geben vielleicht nach Alexander gerade bei ihrer 
Zersetzung den charakteristischen Gestank. 

Es ist schon früher aufgefallen, daß trotz Schleimhautatrophie die 
Sekretion vermehrt ist. Alexander meint, das komme von der Durch* 
schwenimung dtr Schleimhaut mit denjenigen Substanzen, die der Knochen 
abschiebt. Das Sekret bei der Ozaena entstellt nach vielfältiger Beobachtung 
auf der Schleimhaut in kleinsten Pünktchen, stammt nicht aus den 
Nebenhöhlen, wie Grünwald nachweisen wollte. Das frisch abgesonderte 
Sekret ist merkwürdig klebrig, dadurch ähnelt es allen Knochenabschei¬ 
dungen bei Verletzungen dieser. 

Das eigentliche Agens, das die Knochenstörung hervorruft bleibt nach 
wie vor unbekannt, trotz aller Bakterien, die bei der Ozaena gefunden worden 
sind und sich nur als Saprophyten erwiesen haben . l ) 


x ) Auch die Ausicht, daß es sich Lei der Ozaena um ererbte Lues handle, hat keine 
Stütze gefunden. Die WakskrmaxnbcIic Komplementbindungsmethode fiel nach Souernubim 
(Arch. f. Lar., 1909, I) in allen Fällen negativ aus. Jedenfalls spricht dieser Ausfall nicht 
dafür, daß Syphilis eine Rolle spielt, auch nicht als metasyphilitische Erscheinung, wie *. B. 
Tabes. 


Digitized by LjOOQle 



Ozaena. 


329 


Unaufgeklärt bleibt auch die Tatsache, daß das weibliche Geschlecht 
viel häufiger erkrankt als das männliche, daß Menstruation die Ozaena be- 
deutend verschlimmert, auch Schwangerschaft, wie ich selbst zuerst nach* 
gewiesen, so daß bei ihr Erstickungserscheinungen auftreten können (Ozaena 
laryngis). Hier spielen also noch viele Faktoren mit, die wir noch gar nicht 
ahnen. (Der Kropf kommt auch bei den Frauen viel häufiger vor.) Auch 
sehen wir viele Ozaenafälle anämisch werden oder sein. 

Wir resümieren: Die Ozaena ist ein Knochenschwund am Gesichts- 
schidel dessen erste Ursache unaufgeklärt ist, dessen Entstehung nicht 
immer ins erste Kindesalter fällt und dessen Konsequenzen zur Schleimhaut¬ 
atrophie, Weitnase, Sattelnase und Stinknase führen. 


Behandlung der Ozaena . 


Die Vorstellung, daß es sich bei der Ozaena um eine krankhafte Ent¬ 
wicklungsstörung, vielleicht um eine gestörte »innere Sekretion« handelt, 
drängt also den Arzt dazu, sein Heil nicht in der großen Chirurgie, Auf¬ 
meißelungen der Kieferhöhlen etc. zu suchen. Solche Maßnahme kann nur 
dann in Betracht kommen, wenn bei oder infolge einer Ozaena diese 
Höhlen nachweislich lokal, und zwar derart erkrankt sind, daß ein Eingriff 
gerechtfertigt werden könnte. Eine Heilung der Ozaena darf man aber durch 
solche Eingriffe nicht versprechen. 

Solbad, See, frische Luft, kräftige Ernährung könnten der konstitu¬ 
tionellen Anomalie vielleicht etwas Vorbeugen. Nach langem Bestehen heilt 
schließlich die Ozaena von selbst aus! Man sicht nicht selten Fälle, die 
früher viel an übelriechender Sekretion mit Borken gelitten haben und die 
nun gar keine Beschwerden mehr haben. Die weite Nase, die Atrophie von 
Knochen und Schleimhaut bleibt bestehen, macht aber dem Patienten keinerlei 
Unannehmlichkeit. Anosmie ist schon viel früher, vor der Selbstheilung 
eingetreten und heilt nie. Alexander rät zu Phosphor und Lezithin, doch nur 
aus Theorie. Die Allgemeinbehandlung hat wohl noch keinem Ozaenakranken 
geholfen. Es reicht auch die Lokalbehandlung aus. 

Ausspülungen mit warmen Lösungen sind nicht zu entbehren, sie 
müssen aber unter den üblichen Kautelen vorgenommen werden. 1—2 / 
kommen oft zur Anwendung. Die GoTTSTEiNsche Nasentamponade wäre ein 
vorzügliches Mittel, wenn sie der Patient selbst machen könnte. Als schwacher 
Ersatz derselben genügt, wenn sich der Patient vor der Nasenreinigung 
einen trockenen Wattebausch lang und hoch in die Nase hinauf steckt. Der 
Reiz dieses Fremdkörpers lockert die Krusten, sie lassen sich nun leicht 
durch Schneuzen oder Spülen entfernen. Der Bausch kann mit Borsäure 
bepudert oder mit Mentholöl getränkt werden. Praktisch ist auch der fabriks- 
roäßig angefertigte Wattedraht, von dem man wie von einer Spule finger¬ 
lange Stücke abschneiden und nach oben ohne Instrument in die Nase 
praktizieren kann. 

Die Zahl der Substanzen, die als wirksamer Zusatz zur Spülflüssig¬ 
keit empfohlen werden, ist Legion. Salz, Borax und vor allem Seife, die 
etwas reizt, ist am besten. Neuerdings wird »Saponin« empfohlen. Es 
wird aus Cortex Quillajae bereitet. Alexander empfiehlt l%te e Lösungen 
von »Saponinum depuratum Sthamer«. 

Die submukösen Paraffininjektionen, die die Nase verengern sollten, 
habe ich früher gemacht, aber, wie wohl die meisten, wieder verlassen. Es 
ist sehr schwer, die brüchige Schleimhaut mit Paraffin aufzubauen. Das 
Depot bleibt auch nicht sehr lange am Platze, aber die Hauptsache ist, daß, 


Digitized by 


Google 



330 


Ozaena. 


wenn man erst viele Injektionen gemacht hat, aach das Unglück nicht 
aasbleibt and schwere Schädigungen durch Abwanderung des Paraffins r 
Embolie feiner Arterien, ja Blindheit sich einstellen kann und wird. 

Die Massage der Schleimhaut ist eine Maßnahme, die als Reizung und 
Reinigung nur so lange hilft, als der Arzt sie anwendet. Glaubt übrigens 
jemand im Ernst, daß man eine angeborene Knochenanomalie des Schädels 
dadurch heilen kann, daß man die gerade zugänglichen Flächen der unteren 
Muscheln massiert? Flatau hat Einkeilungen von Elfenbeinstäbchen unter die 
Schleimhaut empfohlen. Ich glaube wohl, wenn das gelungen ist, ein Reiz¬ 
zustand der Schleimhaut eintritt für einige Zeit, der das Sekret verdünnt und 
die Nase enger macht. Die Knochenatrophie wird aber schließlich den Sieg 
davontragen. 

Der Weg der Zukunft deutet auf einen schwierigen Pfad: Es wird ge¬ 
sucht werden müssen, wie bei der Osteomalazie, ob nicht ein inneres Organ 
zu wenig oder zu viel arbeitet, wie z. B. bei der konstitutionellen Fettsucht, 
wo die Schilddrüse versagt, beim Myxödem, bei der Akromegalie infolge 
Hypophysisleiden, bei anderen Anomalien, die beim Aufbau und Abbau der 
Gewebe eine Rolle spielen. Bis zur Aufhellung dieser dunklen Pfade ist 
aber noch ein weiter Weg. Aveius . 


Digitized by ^.ooQle 



Pädagogische Psychologie und Psychohygiene. Im 

Gegensatz zur Psychotherapie, die sich die Normalisierung krankhafter 
seelischer Vorgänge durch psychische Beeinflussung zur Aufgabe macht, die, 
mag sie nun das suggestive resp. hypnotische oder das rein erzieherische 
Verfahren bevorzugen, ausschließlich in das Gebiet des ärztlichen Wirkens 
fällt, ist das Objekt aller »pädagogischen« Maßnahmen die noch unentwickelte 
Kindesseele. Durch eine rationelle und zielbewußte Pädagogik sollen von 
dieser nicht nur, wie man das häufig für genügend hält, alle der Weiter¬ 
entwicklung schädlichen Einflüsse fern gehalten, sondern über diese Be¬ 
tätigung im Sinne einer bloßen Prophylaxis hinaus auch die positiven Grund¬ 
lagen für die Entfaltung der noch schlummernden Kräfte des Intellekts, des 
Gemütes und des Willens — kurz des Charakters — geschaffen werden. 

Da nun das erfolgreiche Bestreben, eine nach der individuellen wie 
nach der sozialen Seite hin vollwertige Persönlichkeit heranzubilden, identisch 
ist mit der Erziehung zu geistiger Gesundheit, und diese wieder mit der 
körperlichen in so engen Wechselbeziehungen steht, liegt hier ein Gebiet 
vor, in dessen Bebauung sich nicht nur der Arzt mit dem Berufspädagogen 
zu teilen hat, sondern dessen Erkundschpftung mindestens jedem obliegt, 
dem die Fürsorge für eine heranwachsende Generation anvertraut ist und 
der es mit diesen Pflichten ernst nimmt. 

Um aber zur peinlichen Erfüllung aller berechtigten psychohygienischen 
Forderungen befähigt zu sein, ist es für jeden am Erziehungswerke Be¬ 
teiligten vor allem unerläßlich, 


Beginn und Entwicklung des kindlichen Seelenlebens 
bis auf die ersten Anfänge zu verfolgen. 

Die Entwicklung der Sinne . Das Sehvermögen zunächst zeigt beim 
Neugeborenen eine Reihe von Unvollkommenheiten, die erst langsam im 
Laufe der nächsten zwei Jahre ausgleichen. Die Augen sind anfangs nicht 
nur unvermögend, bestimmte Gegenstände zu fixieren und darum auch Di¬ 
stanzen zu schätzen, sondern auch Farben zu unterscheiden. Während das 
junge Hühnchen die aufzupickenden Körner schon wenige Minuten, nachdem 
es dem Ei entschlüpfte, sicher ins Auge zu fassen und ihre Entfernung 
richtig zu beurteilen weiß, sieht der Säugling zwar die Dinge der Außen¬ 
welt ganz deutlich, wenn er sie hintereinander anschaut, aber ihren Abstand 
vom eigenen Auge und voneinander kann er nicht schätzen: er greift noch 
monatelang wie nach der Lampe am Plafond so auch nach dem Monde. 
Zum sicheren »Einstellen« eines Objektes bedarf das kleine menschliche 


Digitized by 


Google 



332 Pädagogische Psychologie und Psychohygiene« 

Wesen eines gewissen — nnr durch Übung zu erzielenden — Zusammen¬ 
wirkens der einzelnen Augenmuskeln und zur Taxe von Entfernungen nicht 
nur dessen, sondern auch eines bereits gesammelten ersten Erfahrengs 
Schatzes. Zu einem sehr wesentlichen Teile kann dieser aber erst voraus¬ 
gesetzt werden, wenn dem Kinde eine Fortbewegung zu dem gesehenen 
Objekte möglich ist, d. h. wenn es gehen oder mindestens kriechen gelernt 
hat. Vorher hat es nur innerhalb seines allernächsten Bereiches Gelegenheit, 
die Dinge auf ihre Distanz zu taxieren. 

Der Umstand, daß meistens, wenn das Kind die Lider hebt, eine Un¬ 
gleichheit in der Richtung der Augenachsen (Schielen) und eine absonder 
liehe Asymmetrie auch in der Weite der Lidöffnungen zu beobachten ist, 
läßt den Schluß zu, daß es — wie übrigens nach 0. Rosenbachs und des 
Verf. Untersuchungen auch ein großer Teil der Erwachsenen — immer nur 
ein Auge, das linke oder das rechte abwechselnd, zum Sehen benutzt. Da 
das körperliche Sehen von Objekten beim Erwachsenen in solchen Fällen 
lediglich auf der Kenntnis des betreffenden Gegenstandes nach Maßgabe der 
Erfahrung beruht, darf man weiter schließen, daß in der ersten Zeit des 
Lebens die ganze Umgebung nicht körperlich, sondern nur als ein flächen 
artiges Mosaikbild gesehen wird. Ferner fällt es auf, daß der Säugling an¬ 
fangs das Auge gewissermaßen nach allen Seiten gleichmäßig aufreißt; bei 
der Richtung nach unten z. B., d. h. in dem Falle, in dem der Erwachsene 
den Blick senken würde, wird auch das obere Augenlid — unnötigerweise 
— gehoben. Erst in der zweiten Hälfte des zweiten Monats folgt, das Lid 
konstant der Pupille nach und die Augen werden nicht mehr ohne erkenn* 
baren Grund »verdreht«. 

Als weitere Unvollkommenheit tritt der anfänglich bestehende Mangel 
jeder Farbenunterscheidung hinzu: offenbar wird zunächst »hell« und »dunkel« 
differenziert, dann scheinen auch rote und gelbe Farbentöne als solche er¬ 
kannt zu werden; aber der Farbensinn entwickelt sich zu seiner normalen 
Höhe nur ganz allmählich; und erst am Ende des zweiten Jahres (in der 
112.—114. Woche) hat das Unterscheidungsvermögen in dieser Hinsicht einen 
solchen Grad erreicht, daß jetzt wenigstens die Grundfarben mit einer ge¬ 
wissen Regelmäßigkeit richtig bezeichnet werden. Aber noch um diese Zeit 
ist das Verständnis für Abbildungen, namentlich für Zeichnungen in schwarz 
und weiß, recht mangelhaft. 

Wie wenig Gewicht überhaupt die Natur zunächst auf den Gesichts¬ 
sinn zu legen scheint, geht auch daraus hervor, daß das Kind in den ersten 
Monaten die Augen meistens geschlossen hält. 

Ganz unentwickelt ist das Gehörvermögen der Neugeborenen, weil 
die Wände des inneren Gehörganges zunächst dicht aneinander schließen 
und noch keinen offenen Kanal bilden, durch den Luft in die Paukenhöhle 
treten kann. Ist deshalb das soeben geborene Kind taub, so besteht 
auch noch einige Zeit weiter Harthörigkeit, mindestens allen tieferen 
Tönen und allen nicht besonders lauten Geräuschen gegenüber. Zwar gelingt 
es schon sechs Stunden nach der Geburt durch ungewöhnlich durchdringende 
Geräusche, wie sie z. B. ein sogenanntes Cri-Cri von sich gibt, das Kind 
zum Zusammenfahren zu bringen, aber erst nach einer halben oder gar einer 
ganzen Woche ist dieses imstande, Händeklatschen oder einen Glockenton 
zu vernehmen, wenn man ein charakteristisches Zwinkern mit den Augen 
als Anzeichen dafür gelten läßt. Ein wiederholtes Öffnen und Schließen der 
Lider beobachtet man in der vierten Lebenswoche schon, wenn man mit 
Flüstern der Stimme zu dem Säugling spricht, aber gegen das Ende des 
zweiten Monates sind dessen Äußerungen auf Gehörseindrücke ganz unzwei¬ 
deutig geworden; wird ihm Musik vorgespielt, so strampelt es vor Ver¬ 
gnügen mit Händen und Füßen. Und nach einem Monat später wendet es 


Digitized by 


Google 



Pädagogische Psychologie und Psychohygiene. 


333 


den Kopf dem Entstehnngsort aller ans nicht za weiter Entfernung kommen¬ 
den Geräusche zu. Trotz der offenbaren Freude an der Musik, die so bald 
schon hervortritt, kann man doch von einem eigentlichen musikalischen 
Empfinden während des ersten Lebensjahres noch nicht sprechen; nur in ganz 
wenigen Ausnahmefällen werden schon im 14. Monat Melodien nachgesungen, 
in der Regel erst im 21. Monat, zu derselben Zeit, in der man durchschnitt¬ 
lich auch die ersten taktmäßigen Bewegungen nach dem Rhythmus der ver¬ 
nommenen Musik beobachtet. 

Das Vorhandensein eines Unterscheidungsvermögens für Ge¬ 
schmacksempfindungen gibt sich schon in den ersten Wochen in den 
wunderlichen Grimassen kund, die der junge Weltbürger bei jeder unge¬ 
wohnten Zusammensetzung seiner Nahrung schneidet. Man darf aber hieraus 
nicht so sehr Schlösse auf eine Beleidigung der kindlichen Geschmacksnerven, 
als auf die ablehnende Haltung allem Ungewohnten gegenüber schließen, 
wie sie bekanntlich auch der unerzogene Naturmensch noch im späteren Alter 
allem Fremden gegenüber an den Tag legt. Die Eigentümlichkeiten des 
biederen Landbewohners in dieser Hinsicht werden ja durch ein bekanntes 
Sprichwort drastisch gekennzeichnet. Es ist z. B. ganz auffällig, wie die 
Verabreichung saurer und bitterer Gemische in der Form von Arzneien 
(etwa eine leichte, aber dem Erwachsenen schon recht bitter vorkommende 
Chininlösung) in den ersten zwei Lebensmonaten keineswegs einen stärkeren 
Widerstand hervorruft, als die eines ungewohnten Nährpräparates. Trotz 
aller anfänglichen Gebärden des Befremdens wird die bittere Mixtur schlie߬ 
lich doch mit derselben Gier getrunken, wie sonst die verdünnte und ge 
süßte Milch. Das hört aber spätestens am Ende des dritten Quartals auf 
und im zehnten Monat darf man schon von einer bewußt vergleichenden 
Geschmacksempfindung sprechen. Die Natur scheint damit anzudeuten, 
daß jetzt der Zeitpunkt für einen größeren Spielraum in der selbständigen, 
zunächst instinktiven Auswahl unter den Nahrungsmitteln verschiedenster 
Art und Herkunft gekommen ist. 

Der Geruchssinn, dessen Vorhandensein sich schon einige Stunden 
nach der Geburt offenbart, bleibt auch in der Folge eher für die Wahl der 
Nahrung von entscheidender Bedeutung als der Geschmack. Überhaupt ist 
noch lange nach der Entwöhnung der Geruch unstreitig das am meisten 
verwertete Mittel zur Erkenntnis der Dinge; erst mit den zunehmenden 
Jahren tritt er bei dem Kulturmenschen hinter der anderen Unterscheidung 
und Orientierung zurück. Schon in den ersten Lebenswochen wird die mit 
Eau de Cologne frisch gewaschene Mutterbrust ebenso zurückgewiesen wie 
das mit petroleumbefleckter Hand berührte Saughäutchen der Milchflasche, 
deren Inhalt, wie erwähnt, weniger kritisch behandelt wird. Mit der Zeit 
tritt aber Gewöhnung an befremdliche, sogar recht intensive Gerüche ein. 
Wie sollte es sonst manchmal der arme Säugling in der Umgehung, auf die 
er angewiesen ist, aushalten? 

Die Haut der Neugeborenen ist zwar nicht ganz unempfindlich, 
aber doch unvergleichlich weniger empfindlich als die älterer Kinder 
und Erwachsener gegen schmerzhafte Einwirkungen. Bekannt ist es, 
daß es beim Neugeborenen, der nicht atmen will, einiger recht scharfer 
Klapse auf die von der Natur mit einer für diesen Zweck geeigneten Formen¬ 
fülle ausgestatteten Körpergegend bedarf, um den ersten Schrei und zugleich 
die Atmung auszulösen. Eine Schmerzempfindung ist also wohl auch schon 
jetzt, aber wegen des Darniederliegens der höheren Gehirnfunktionen und 
damit des Mangels an allen Vorstellungen nur ganz dunkel vorhanden. Jedoch 
reagieren Frühgeborene auf diese brutale Bewillkommnung in der »besten 
aller Welten« oft gar nicht und, wenn sie ohnedies atmen, wenigstens während 
der ersten Tage auch auf mäßige Nadelstiche gar nicht. Auch beim normalen 


Digitized by 


Google 



334 


Pädagogische Psychologie und Psychohygiene. 


Kinde fällt es, wenigstens in den ersten Wochen auf, eine wie lange Zeit 
verhältnismäßig zwischen irgend einem schmerzhaften Eingriff und der 
Schmerzäußerung vergeht, ferner wie wenig intensiv und wenig anhaltend 
diese ist. Das hat man namentlich bei erforderlich werdenden kleinen Ope¬ 
rationen am ganz jungen Kinde zu bemerken Gelegenheit: sie schreien erst 
dann, wenn der Arzt schon lange fertig ist und dann wider alle Befürchtungen 
der besorgten Eltern nicht einmal heftig und lange. Der Liderschluß, den 
die Berührung des Auges schon beim Neugeborenen zur Folge hat, ist aller¬ 
dings ein Zeichen für die Empfindlichkeit der Haut (bzw. der Schleimhaut), 
ohne die ein derartiger reflektorischer Vorgang gar nicht gedacht werden 
kann, aber keineswegs für das Bestehen einer nennenswerten Schmerz- 
empfänglichkeit selbst an dieser später so empfindlichen Stelle. 

Die Empfindlichkeit der Haut steigert sich eben sukzessive und 
namentlich die gegen Hitze und Kälte in weit höherem Maße als die 
Schmerzempfindlichkeit. Besonders bezieht sich das auf die Mundschleim¬ 
haut, die Zunge und die Lippen. Die Saugflasche wird z. B. schon in den 
ersten Lebenstagen unter heftigem Schreien zurückgewiesen, sobald sie nur 
einige Grade über der Blutwärme hat oder nur wenig kälter ist. Relativ 
weniger empfindlich gegen Temperatureinflüsse bleiben noch lange Hände 
und Füße, während sonst eine gewisse Abneigung namentlich gegen örtliche 
und allgemeine Wärmeentziehungen (kühle Waschungen und nicht hinläng¬ 
lich warme Bäder) unverkennbar ist und als eine Art von »Wasserscheu« 
in der Regel bis in das dritte Lebensjahr bestehen bleibt. 

An das Hautorgan ist aber bekanntlich nicht nur die Schmerzempfind¬ 
lichkeit und die Temperatur, sondern auch der Tastsinn gebunden. Dieser 
bleibt bis zur 32. Woche merkwürdig unentwickelt. Ist das Kind, was sehr 
zu empfehlen ist, nicht zu eng in seine Umhüllung geschnürt und hat es somit 
die genügende Bewegungsfreiheit, so kann man um diese Zeit oft beobachten, 
wie es auf dem Wege von Tastversuchen die ersten Studien über seine 
eigenen Körperverhältnisse anstellt: auf dem Rücken liegend zieht es die 
Beine senkrecht empor, betrachtet seine Füße ernst und aufmerksam, wie 
sonst andere ihm vorgehaltene Gegenstände, und greift dann mit den Händen 
nach ihnen. Ohne die Direktive des Gesichtssinnes bleibt eben das Tasten 
noch recht unvollkommen, während beide Sinne vereint bald recht Erstaun¬ 
liches leisten. Womöglich wird auch noch der Geschmackssinn für die Fest¬ 
stellung, welcher Art die beobachteten Objekte sind, zu Hilfe genommen; 
und wie alle Gegenstände, führt der kleine Naturforscher bei den erwähnten 
Versuchen, über die anatomischen Verhältnisse seines eigenen Körpers ins 
reine zu kommen, oft die Zehen mit der Hand in den Mund. 

Die Entwicklung des Gefühlslebens . Das neugeborene Kind scheint 
weder wahre Lust- noch wahre Unlustgefühle zu kennen. Zuerst — und 
zwar nach Ablauf der ersten 24 Stunden — stellen sich aber schon die 
ersten Unlustgefühle ein, und zwar in Gestalt des durch den ersten Hunger 
bedingten Unbehagens. Von Lustgefühlen ist dagegen noch lange nicht die 
Rede und man kann sogar sagen, daß diesen gegenüber das ganze erste 
Vierteljahr hindurch die Unlustgefühle die Oberhand behalten, ja daß sie, 
abgesehen von der durch die Nahrungsaufnahme bewirkten Befriedigung, in 
dieser Zeit eigentlich nur schwinden, wenn der Schlaf wieder in seine Rechte 
tritt. Dieser füllt glücklicherweise aber auch nahezu die ganze erwähnte 
Lebensperiode, wenigstens bei dem gesunden Säuglinge, aus. Das Kind erwacht 
eigentlich nur, um zu trinken, und wird selbst durch die Verrichtung der 
sonstigen körperlichen Bedürfnisse nicht immer aus dem Schlummerzustande 
aufgestört. Eine praktische Lehre können wir aus dieser Beob¬ 
achtung ziehen, nämlich die, daß wir unseren kleinen Lieblingen 
ein relativ angenehmes Dasein mehr durch die Beseitigung Un- 


Digitized by 


Google 



Pädagogische Psychologie und Psychohygiene« 


335 


last erregender Zustände (Hanger resp. Durst, Nässe, Kälte, allzagroße 
Beengung durch Umhüllungen) zu verschaffen imstande sind, wie durch 
positive Arrangements zu ihrer Erheiterung, als da sind: Zeigen 
von bunten Gegenständen, Erregung von Geräuschen, Schaukeln, Wiegen, 
Umhertragen usw. Erst im vierten Monat gibt sich zeitweilig in den Ge¬ 
bärden und im ganzen Verhalten ein gewisses Behagen kund, z. B. im gut 
temperierten Bade, beim sanften Abtrocknen nach und bei dem Entkleiden 
vor dem warmen Bade. Aber erst sehr langsam gewinnen diese Lustgefühle 
den noch immer vorherrschenden Unlustgefühlen gegenüber an Mannigfaltig¬ 
keit und Nachhaltigkeit. 

Furchtgefühl taucht wohl kaum vor dem Eintritt ln das zweite 
Lebensquartal beim Kinde auf. Aber immerhin lassen sich früh genug Furcht¬ 
samkeit oder Tapferkeit, und zwar in gewissem Grade als angeborene (und 
meistens wohl ererbte) Eigenschaften nachweisen, so sehr auch die Cha¬ 
rakterartung der Umgebung, namentlich ein mutiges oder furchtsames und 
ängstliches Gebaren der mit der Pflege betrauten Personen von Einfluß 
sein wird. FurchtgefOhle können verursacht werden durch bisher nicht ge¬ 
sehene Tiere und schwarze Gestalten. Aber auch ein fremdes Gesicht, eine 
ungewohnte tiefe Stimme ist an sich dazu angetan, bei Kindern im vierten 
Monat und darüber ein größeres oder geringeres Maß von Furcht zu er¬ 
wecken. Eine gewisse Scheu vor Fremden bleibt in der Regel noch bis weit 
in das zweite Jahr hinein zurück! Furcht vor der Dunkelheit hingegen 
zeigen ganz junge Kinder fast nie und man wird wohl mit der Annahme 
nicht fehlen, daß diese wesentlich ein künstliches Produkt einer unver¬ 
nünftigen Umgebung ist, das erst später durch die Erfüllung der Phantasie 
mit Schreckbildern erzeugt wird. 

Zornige Regungen treten im ersten Lebensjahre gar nicht zutage, 
wohl aber schon im Beginn des zweiten Jahres bei Kindern, in denen durch 
eine vollständig verkehrte Erziehung der Grund zu Eigensinn und andere 
üblen Charaktereigenschaften gelegt worden ist. 

Im Gegensatz zu den niederen, den sogenannten »sensuellen« Ge¬ 
fühlen, den Lust- und Unlustempfindungen und den qualitativen Modifikationen 
der letzteren in Gestalt des Zornes, des Ärgers, der Furcht, stehen die 
höheren, sogenannten »intellektuellen« Gefühle mit ethischem und 
ästhetischem Untergründe gegenüber (Gefühle der Zuneigung, Dankbar¬ 
keit, der Scham usw.). Unzweideutige und freiwillige Äußerungen der Zu¬ 
neigung, mit denen in erster Linie die Mutter bedacht wird, sind jedoch 
mit Sicherheit im ersten Jahre gar nicht, frühestens in der Mitte des fünften 
Lebensquartals zu beobachten. Die Empfindung der Scham lernt das Kind 
frühestens in der ersten Hälfte des dritten Lebensjahres kennen. 

Die Entwicklung des Verstandes. Die Verstandsfunktionen setzen sich 
zusammen aus Urteil und Gedächtnis. Was zunächst das letztere anbe¬ 
trifft, so pflegt man fälschlich anzunehmen, daß alle Erinnerungen nicht 
weiter zurückreichen als bis in das vierte Lebensjahr. Das dreijährige und 
vierjährige Kind [erinnert sich aber ganz zweifellos einzelner Erlebnisse und Er¬ 
fahrungen schon aus seinem zweiten Lebensjahre und es bedarf nur irgend¬ 
welcher begünstigender Umstände, um die Erinnerungen daran für das ganze 
Leben wachzuerhalten. Gemeint sind natürlich nur solche Fälle, die es als 
sicher ausgeschlossen erscheinen lassen, daß derartige Erinnerungen aus dem 
zweiten Jahre dem Kinde nicht durch Erwachsene nachträglich eingeredet 
sind, daß es sich also um Kunstprodukte handelt. Tatsächlich gehen ein¬ 
zelne meiner eigenen deutlichen Erinnerungen aus frühester Kindheit bis 
auf das Alter von 22 1 /* Monaten zurück. 

Muß nun auch als sicherster und zuverlässigster Maßstab für die Ent¬ 
wicklung des Verständnisses der Fortschritt der Sprache (siehe unten) gelten, 


Digitized by 


Google 



336 


Pädagogische Psychologie und Psychohygiene. 


so ist doch schon lange vor deren Gebranch als Verständigungsmittel. ja 
schon vor der Erlernung des ersten Wortes das Kind imstande, Vorsteilangen 
in logischer Weise zn verknüpfen and sich Begriffe zu bilden. 

Jede im eigentlichen Sinne intellektuelle Tätigkeit, die auf Ur 
teilen und Schlüssen begründet ist, setzt ein gewisses Maß von Auf 
merksamkeit, ein Interesse an Vorgängen der Außenwelt voraus. Bereits 
in der vierten Woche zeigt der Säugling durch unzweideutige Bewegungen 
(Aufreißen des Mundes und der Augen beim Anblick der Matterbrust oder 
der Flasche) zunächst ein Interesse und damit wenigstens eine Art von über 
den bloßen Instinkt hinausgehendes Verständnis für die wichtigste Frage 
des Lebens, die Selbsterhaltung. Noch deutlicher tritt das Regewerden der 
Aufmerksamkeit nach Ablauf der 16. Woche hervor, wenn auch nur zeit¬ 
weilig und nur einem einigermaßen beschränkten Kreise von Vorgängen 
gegenüber. Aber bereits am Ende des zweiten Quartals oder längstens im 
Laufe des siebenten Monats werden Gesichter unterschieden, so daß zunächst 
die Mutter oder die Pflegerin, bald darauf auch der Vater und schließlich 
eine immer größere Reihe von Personen mit Sicherheit erkannt wird. Bild¬ 
liche Darstellungen zu erfassen lernt das Kind erst im zweiten Lebensjahre 
Das wird bekanntlich auch den Wilden nicht leicht — ein Zeichen entweder 
dafür, wie schwer die Aufmerksamkeit willkürlich zu konzentrieren ist 
oder wie sehr auch trotz aller anscheinenden Realistik die malerischen und 
zeichnerischen Darstellungen von konventionellen Symbolen beherrscht werden. 
Große und farbige Flächendarstellungen werden leichter verstanden als 
kleinere und namentlich Zeichnungen in Schwarz und Weiß: Die Schatten 
weiß sich das kleinere Kind nicht recht auszulegen. Erst nach Ablauf des 
zweiten Jahres ist auch hierin ein Fortschritt zu verzeichnen, indem zunächst 
nicht kolorierte Physiognomien, speziell auch kleinere Photographien wieder¬ 
erkannt werden. 

Übrigens ist die Leichtigkeit, mit der Kinder getäuscht werden können, 
weit weniger auf den Mangel an Verstand (Urteil), als auf den an Er¬ 
fahrung — und dementsprechend an Mißtrauen — zurückzufübren. 

Die Entwicklung des Willens und der willkürlichen Bewegungen. Die 
Bewegungen in der ersten Lebensperiode erfolgen rein automatisch und 
stehen damit im Gegensatz zu den willkürlichen Muskelaktionen, wie wir 
sie neben jenen in den späteren Epochen vorfinden. Die willkürliche Inan 
spruchnahme des Bewegungsapparates, mag sie sich nun als Tat im engeren 
Sinne, als Gebärde oder Wort äußern, setzt etwas Gewolltes, einen Zweck 
voraus und hat nicht nur ein schon entwickeltes Vorstellungsleben im all¬ 
gemeinen, sondern besonders auch die Befähigung zur Aufmerksamkeit zur 
Voraussetzung. Ehe daher eine Aufmerksamkeit, wenigstens auf einige 
Augenblicke, zu erzielen ist, kann nach Maßgabe dos oben über die Ver¬ 
standesentwicklung Gesagten auch von wahren Willensakten, etwa bis zur 
16. Lebenswoche, kaum die Rede sein. 

Allerdings bekommt das Kind, das bis Mitte des vierten Monats, oft 
noch länger, nicht einmal imstande ist, seinen Kopf aufrecht zu halten, sondern 
ihn immer wieder nach vorne, nach hinten oder zur Seite fallen läßt, schon 
kurze Zeit vor der 16. Woche seine Muskulatur soweit in die Gewalt, daß 
es diese einer gewissen Führung durch andere will g Überläßt. Will man in 
der Befähigung, sich der Vernunft anderer anzu vertrauen, schon den Anfang 
der Vernunft selber sehen, so wird man doch mindestens für das erste Quartal 
jede andere als eine rein reflektorische Aktion ausschließen dürfen. Während 
es dem Kinde vor der 14. Woche nicht möglich war, nach Aufrichten und 
bei Unterstützung des Rückens in sitzender Lage zu verharren, vermag es 
erst viel später, etwa in der 40. Woche, auch ohne jede Hilfe längere 
Zeit sitzen zu bleiben. Erst im 5. oder 6. Monat ist die kindliche Musku- 


Digitized by 


Google 



Pädagogische Psychologie und Psychohygiene« 337 

latnr soweit erstarkt, daß sie unter dem Einfluß — zunächst natürlich noch 
ganz dunkler, aber doch immerhin vorhandener — Vorstellungen in einem 
kombinierten System zusammenarbeitet: jetzt erst wälzt sich der Säugling 
zur Seite und gibt die vorher ausschließlich eingehaltene Lage der unge¬ 
borenen Leibesfrucht (Rückenlage mit aufgebogenen Ellenbogen und nach 
dem Gesicht geballten Fäustchen) wenigstens zeitweilig während des Wachens 
auf; im Schlafe kann er sich von dieser auch jetzt noch nicht emanzipieren. 

Von Laien wird ja oft fälschlich jedes automatische Hin- und Herfahren 
mit den Händen schon in den ersten Lebenstagen für ein bewußtes «Greifen« 
nach Gegenständen gehalten, ebenso wie jedes Verziehen des Mundes als 
»Lächeln» und später die Erzeugung unartikulierter Lall-Laute, aus denen 
der Vokal a herausklingt, als »Rufen« nach Papa und Mama gedeutet wird. 
Doch darüber sind für den naturwissenschaftlich geschulten und unbefan¬ 
genen Beobachter keine Worte zu verlieren. Auch die Kratzbewegungen 
(z. B. bei juckenden Hautausschlägen) und die Muskelaktionen, die das über 
40 Tage alte Kind vornimmt, sobald es gekitzelt wird, erfolgen rein mecha¬ 
nisch, nicht willkürlich. 

Die ersten bewußten und überlegten Greifbewegungen, d. h. solche, 
die von einem deutlich erkennbaren Verlangen eingegeben sind und einen 
bestimmten Zweck verraten, sieht man nie vor dem Eintritt in das zweite 
Quartal, sogar selten vor der 18. Woche. Selbst in der 30. Woche ist die 
Unsicherheit im Fassen der erstrebten Gegenstände noch sehr groß, weil 
die Erfahrung über die Gestalt der Dinge und in der Abschätzung der Ent¬ 
fernungen zum wesentlichen Teile fehlen. Meistens wird alles Ergriffene an¬ 
fangs noch automatisch und unterschiedslos in den Mund geführt oder, 
falls es sich uro ein größeres Objekt handelt, wenigstens mit der Zunge 
beleckt. 

Zu Kriechen fangen die Kinder schon mit 5 Monaten an, wenn man 
ihnen Gelegenheit dazu gibt, vom 9. Monate ab entwickeln sie in der Vor¬ 
wärtsbewegung auf allen Vieren geradezu eine Virtuosität. Im Anschluß 
hieran werden dann die ersten Gehversuche gemacht. Von solchen Kindern, 
die in der Freiheit und unter anderen kleinen Kindern aufwachsen, pflegen 
sie relativ früh — aber nie vor der 41. Woche — unternommen zu werden. 
Der Nachahmungstrieb hilft hierbei mit. In der Regel aber lernen die Kinder 
«rst am Schlüsse des ersten Jahres sich ohne Hilfe auf die Beine stellen 
und im 14. oder den nächsten beiden Monaten ohne fremde Führung zu 
gehen. Unter den ersten willkürlichen Aktionen sind Nachahmungsbewegungen 
ganz hervorragend vertreten, denen natürlich ein weit geringerer intellek¬ 
tueller Wert zukommt, als den hier auf Grund eigener Überlegung vorge¬ 
nommenen. Schon in der Mitte des zweiten Vierteljahres kann man Kinder 
auf die Nachahmung von Grußbewegungen, das Handgeben und ähnliches 
dressieren; aber einigermaßen korrekt wird alles dies erst nach Ablauf des 
dritten Quartals und wirklich rasch und geschickt erst gegen Ende des 
ersten Lebensjahres vorgenommen. 

Auch im späteren Seelenleben beeinflußt der Nachahmungstrieb ganz 
wesentlieh die Art der kindlichen Betätigung, und wir tun gut, ihm freien 
Spielraum zu gewähren; wird er nicht zu den üblichen Dressurkunststückchen 
verwertet, so trägt er zur Erweckung des Verständnisses ebenso wie zur 
Vermehrung der körperlichen Geschicklichkeit das seinige reichlich bei. Ohne 
ihn verliert vor allem das reizende und unschuldige kindliche Spiel zum 
guten Teil jeden Boden. Gegen das Ende des zweiten Jahres regt der Nach¬ 
ahmungstrieb das Kind zu einer ehrgeizigen Betätigung an allem an, was 
in seiner Nähe vorgeht: es sucht beim Ein- und Auspacken, beim Tisch¬ 
decken, beim Feueranzünden, beim Heben und Umsetzen von Mobilien zu 
helfen. Seine Spiele bestehen wesentlich in einem altklugen Nachahmen aller 

Bacjclop. Jahrbücher. N. F VIII. (XVTI.) 22 

Digitized by V^rOOQlC 



338 


Pädagogische Psychologie and Psychohygiene« 


möglichen Tätigkeiten von Erwachsenen and mach verschiedene zeremonielle 
Bewegungen (wie Größen durch Hotahnehmen osw.) werden jetzt ohne jede 
Dressur aus Freude an der Sache imitiert. 

Einen ebenso großen Fortschritt der Entwicklung wie die Ausführung 
der ersten gewollten koordinierten Bewegungen bedeutet der Gewinn der 
Fähigkeit, den Hemmungsapparat für unwillkürliche Bewegungen in Gang 
zu setzen. Bei dem ganz jungen Kinde werden Urin und Kot zunächst rein 
automatisch bei einem gewissen Fällungszustande der betreffenden Hohl¬ 
organe entleert. Erst mit dem Eintritt in das vierte Quartal tritt der Hem¬ 
mungsapparat in Tätigkeit und das Kind vermag jetzt die Entleerung will¬ 
kürlich eine gewisse Zeit hinauszuschieben. 

Eine besondere Beachtung erfordert: 

Das Erscheinen von Ausdmcksbewegungen. Jedes starke Gefühl zieht 
eine Entladung am Bewegungsapparat nach sich. Auch bei dem Erwach¬ 
senen schließen wir ja auf etwaige Gemütsbewegungen nur aus dem Aus¬ 
druck, den sie in der Sprache und in den Gebärden finden. Und so sehen 
wir denn auch die ersten Unlustgefühle, später auch die Lustgefühle beim 
kleinen Kinde sich in gewissen Aktionen, vor allem in Geschrei kund¬ 
geben. Ächzen und Stöhnen kann der Säugling in der ersten Zeit ebenso¬ 
wenig wie lachen, er kann nur schreien und das Geschrei mit einer be¬ 
schränkten Anzahl von Bewegungen begleiten. Bei dem Geschrei der Un¬ 
lust beobachten wir ein Zukneifen der Augen, ein Abwenden des Kopfes 
und ein ganz charakteristisches Herabziehen der Mundwinkel. Mit zunehmen¬ 
dem Alter wird dies letzterwähnte Anzeichen der üblen Stimmung immer 
ausgeprägter, so daß das Mäulchen in solchen Fällen, etwa vom achten 
Monat an, eine geradezu quadratische Form annimmt, die schon von Darvin 
als Ausdruck der höchsten Unlust beschrieben wurde. Als Zeichen der spär¬ 
lichen Lustgefühle treten — im Einklänge mit dem vorher Gesagten selten 
vor Ablauf des dritten Monats — Bewegungen der Gliedmaßen zu dem 
Geschrei hinzu: Das Kind »strampelt« vor Vergnügen mit Armen und 
Beinen. 

Der Schrei der Lust ist mehr krähend, später oft geradezu jauchzend 
— der der Unlust von unterschiedlichem Charakter: durchdringend und von 
anhaltender Eintönigkeit bei Schmerz, wimmernd bei unbequemer Lage, zu 
unerwarteter Stärke anschwellend und plötzlich wieder abnehmend bei 
heftigem Begehren. Man sollte sich aber hüten, zu viel in das kind¬ 
liche Geschrei hineinzudeuten und ebenso in die unartikulierten 
Laute, die dem Geschrei der Lust wie dem der Unlust bald bei¬ 
gemengt werden. Namentlich Großmütter und Tanten leisten in diesen 
Auslegungen des auch dem Erfahrensten meistens dunkel bleibenden Textes 
ja oft Unglaubliches. Alles spricht dafür, daß nicht jedes Schreien auf eine 
Gemütsbewegung zurückzuführen ist, sondern daß das Kind nur von Zeit 
zu Zeit einem unüberwindlichen und wohl auch zweckmäßigen Natur¬ 
triebe zum Schreien Folge gibt, den die Elternfreude nun einmal als kleine 
Unannehmlichkeiten in den Kauf nehmen muß, den man aber in gewissen 
Grenzen zu halten trotzdem recht wohl bedacht sein darf. Schon vom dritten 
Monat ab ist das Schreien überdies mitunter gerade ein Zeichen des Wohl¬ 
befindens, Stillsein des Gegenteils. 

Das Geschrei ist in den ersten zwei Monaten nie, vor Ablauf des 
dritten Monats selten von Tränen begleitet. Neugeborene und ganz junge 
Säuglinge weinen bekanntlich nicht. Nach der erwähnten Zeit aber wird das 
Schreien zum »Schreiweinen«, noch viel später tritt das Weinen ohne 
Geschrei allein auf und nicht vor dem siebenten Monat gibt sich die 
tiefer gehende gemütliche Erregung durch Schluchzen beim Weinen kund. 


Digitized by 


Google 



Pädagogische Psychologie und Psychohygiene. 339 

Ein lebhafterer Ausdruck des Erstaunens ist erst in der Zeit zwischen 
der 22. und 29. Woche zu bemerken. 

Als Lachen oder mindestens Lächeln pflegt Ja der Elternstolz schon 
jede Verziehung des Mundes zu deuten, die nicht von Schreien oder Schrei¬ 
weinen gefolgt ist. Und doch hat der alte Plinius im großen und ganzen 
recht, wenn er sagt, vor dem 40. Tage lache kein Kind. Um diese Zeit 
ist sogar meistens erst durch Kitzeln ein reflektorisch (also vollkommen 
gedankenlos) eintrelendes und auch so klingendes Lachen zu erzielen, 
während andere Reflexbewegungen durch das Ritzeln schon eine oder einige 
Wochen früher hervorgerufen zu werden pflegen. Jedenfalls stehen die Beob¬ 
achtungen, daß Kinder schon im ersten Monat beim Sattsein zu lächeln be¬ 
ginnen, ganz vereinzelt da. Als Ausdruck einer wahrhaften inneren Befriedi¬ 
gung oder platzgreifender Vorstellung angenehmer Art (z. B. wenn das Kind 
das liebevolle Antlitz der Mutter erblickt, wenn eine vertraute Person ihm 
freundlich zunickt, zuspricht oder ihm etwas vorsingt oder vor allen Dingen 
auch, wenn ihm die Mahlzeit gut geschmeckt hat) tritt wohl nie vor dem 
vierten Monat, meistens noch beträchtlich später auf. Erst mit oder kurz vor 
dem Eintritt in das vierte Quartal wird das Lächeln durch Hinzutritt lauter 
Töne zum jubelnden Lachen, man merkt es: jetzt lacht das Kind mit 
vollem Verständnis. Ansteckend auf dasselbe wirkt das Lachen anderer erst 
gegen das Ende des ersten Jahres. Schelmisches Lachen beobachtet man 
erst am Ende des zweiten Lebensjahres und höhnisches Lachen am Ende 
des vierten — beides in der Regel fröher bei Mädchen als bei Knaben. 

Mit den Gemütsbewegungen werden schließlich die Zärtlichkeits¬ 
bezeugungen in einen engen Zusammenhang gebracht — oft ganz fälsch¬ 
lisch, da auf diesem Gebiete gerade Nachahmung und Dressur eine hervor 
ragende Rolle spielen. So geht z. B. dem Kinde im ersten Jahre sicher noch 
jede Vorstellung ab, was ein Kuß bedeutet. Und doch lernt es schon früh¬ 
zeitig das Küssen, namentlich wenn es ein Mädchen ist. Die Mädchen sind 
offenbar nicht nur der Dressur leichter zugänglich, »gelehriger«, wie man 
sich galanter ausdrücken kann, sondern auch ihrer ganzen Veranlagung 
nach zur Annahme von rein äußerlichen Zärtlichkeitsformen (übrigens auch 
zu gedankenloser Beibehaltung im späteren Leben) mehr geneigt als die 
Knaben. Spontane Äußerungen der Zuneigung, im Gegenteil zu den ange¬ 
lernten, z. B. Sichanschmiegen an die Mutter, Auflegen der Hand auf deren 
Hand, Schulter oder Antlitz werden wohl kaum vor dem 14. Monat zu 
beobachten sein. 

Zu den Ausdrucksbewegungen gehört auch die Gebärde des Bittens 
unter Zusammenlegen der Handflächen. Diese wird lediglich durch Nach¬ 
ahmung, vor dem Abschluß des ersten Lebensjahres sogar nur durch Dressur 
erworben und kann nie als der spontane Ausdruck des der Geste ent¬ 
sprechenden seelischen Vorganges betrachtet werden. 

Das Zeigen und Hindeuten auf einen Gegenstand entwickelt sich aus 
dem Greifenwollen. Aber erst bei einem Kinde von l 1 /, Jahren darf soviel 
Verständnis vorausgesetzt werden, daß man die Gebärde als Interpretation 
der sonst unzulänglichen Willensäußerungen und nicht als Dressurergebnis 
auffassen darf. 

Die Entwicklung der Sprache. Die Bildung von Vorstellungen ist 
keineswegs an die Befähigung zum Sprechen gebunden, sondern sie ist im 
Gegentheil die Vorbedingung für die Erlernung von Worten. 

Nicht ohne Berechtigung ist gesagt worden, der Mensch würde taub¬ 
stumm geboren; der erste Schrei entbehrt absolut eines jeden sprachlichen 
Werts und kann mit der Ausdrucksfähigkeit für seelische Vorgänge, wie 
sie uns in den Modulationen der Sprachlaute gegeben ist, gar nicht in 
Parallele gestellt werden. Und doch wird die überwiegende Mehrzahl der 

Digitized by Go<?föle 



340 


Pädagogische Psychologie und Psychohygiene. 


Laute, deren sich der Mensch während seines späteren Lebens bedient, in 
einer Periode gebildet, in der vom »Sprechen« noch gar keine Rede sein 
kann, d. h. in den ersten acht Wochen. 

Schon im zweiten Lebensmonat erkennt man, wie sich die unartiku¬ 
lierten Laute, die dem kindlichen Geschrei beigemischt sind, zu gewissen 
Ursilben formieren, in denen der Vokal a und der Diphthong 5 mit den 
Konsonanten m, s, d, g und auch mit dem r — die Schwierigkeit, das r 
zu bilden, wird in Verallgemeinerung von Einzelerfahrungen bei Kindern 
entschieden Qberschätzt! — in mannigfacher Variation kombiniert wird. 
Bei dem lauten Krähen des Kindes, das sich gegen das Ende des ersten 
Qaartals als Äußerung der vorläufig noch recht selten die Oberhand ge¬ 
winnenden wohligen Stimmung einstellt und uns als solches so ergötzlich 
klingt, spielt sogar der >r«-Laut die Hauptrolle. In diese Zeit fallen auch 
die ersten Versuche, aus den erwähnten einfachen Elementen vernommene 
Laute nachzubilden. Ja, der Silbenvorrat, den das Kind beherrscht, wird 
innerhalb weniger Wochen, namentlich wenn er sich durch die Aufnahme 
des Vokals i und der Konsonanten b, 1 und n noch weiter vermehrt hat, 
zu einer Art von Beantwortung freundlichen Zuspruches, seltener zur Kund- 
gäbe von einer ablehnenden resp. abweisenden Haltung der kleinen Majestät 
verwertet, die ein unartikuliertes Geschrei zur Dokumentierung der aller¬ 
höchsten Ungnade im großen und ganzen noch vorzuziehen geruht. 

Im vierten Monat pflegt dann der reine e-Laut zuerst aufzutreten, 
k und f kommen im fönften und sechsten Monat hinzu, so daß dann jene 
possierlichen, oft lange ausgedehnten Lallmonologe entstehen (»tata mama- 
mam-örrö arra addada-eti« usw.), die im siebenten Monat noch abwechslungs¬ 
reicher werden, da jetzt auch das harte p keine Schwierigkeiten mehr macht 
und damit Silbenkompositionen zustande kommen können, die anscheinend 
auch den Gefühlen des bisher in unverantwortlicher Weise vernachlässigten 
Papas Rechnung tragen. 

Der siebente Lebensmonat, der durchschnittlich den Eintritt in eine 
Phase beschleunigter Entwicklung der Ideen verbind ungen und mittelbar 
auch des Urteils markiert, läßt neben den wesentlichen Fortschritten in der 
Lautbildung auch eine gewisse Verknüpfung von Vorstellungen mit sprach¬ 
lichen Lauten erkennen. Beim Hören der Namen von Personen, die mit dem 
Kinde ständig in Verkehr stehen, wird der Blick schon nach ihnen ge 
wendet. Auch die Bezeichnungen für einzelne Objekte werden verstanden, 
namentlich wenn eine gewisse Tonmalerei dabei zum Ausdruck gelangt. Auf 
das Stichwort »Ticktack« sieht das Kind z. B. nach der Uhr, die man ihm 
zum Spielen reicht, wenn es mehrfach Gelegenheit hatte, unter diesem Namen 
mit dem Gegenstände Bekanntschaft zu machen, bei »Mäh-Mäh« auf das 
Wollscbäfchen, dem die Mutter durch Druck auf den Magen diesen Laut 
zu entlocken pflegt, usw. (Bei geistig besonders regen Kindern kommt 
übrigens das Sprachverständnis in diesem beschränkten Umfange schon be¬ 
deutend früher, im fünften Monat zum Vorschein ; ob die Berichte, nach 
denen das schon bei Kindern von 18 Wochen der Fall gewesen sei, zuver¬ 
lässig sind, mag dahingestellt bleiben.) Jedenfalls aber sind die ein- oder 
mehrsilbigen »Antworten« des Kindes in dieser Zeit immer noch nicht der 
Ausdruck für ein tatsächliches Begreifen des ihm zu gesprochenen Wortes, 
wie man das so oft annimmt. Nur die Klangfarbe, die Stimmhöhe, die Be¬ 
tonung, die Intensität der vernommenen Laute erregen dadurch, daß sie 
von den für gewöhnlich vernommenen Äußerungen abweichen, die Aufmerk¬ 
samkeit bzw. das Interesse und rufen so eine Stimmungslage und damit 
auch eine Lautreaktion seitens des Kindes hervor. Ehe also von diesem 
ein Wort als solches verstanden wird, kann lediglich durch die Art und 
Weise, in der die Ansprache erfolgt, schon bei dem Kinde im siebenten 


Digitized by 


Google 



Pädagogische Psychologie und Psychohygiene. 


341 


Monate eine Gemütsstimmung erzielt werden, der es durch die Art seiner 
Laute Ausdruck verleiht. Immerhin erhebt sich das kleine menschliche Wesen 
dadurch noch nicht viel über das intelligente Tier. Denn die Beantwortung 
freundlichen Zuspruches mit jubelndem Gebell und ernsthaften Scheltens mit 
winselnden Tönen finden wir auch beim Pudel. 

Ein klares Verständnis für die Bezeichnung »Mama« und »Papa«, resp. 
die sich mit ihnen deckenden Begriffe findet sich nicht vor dem zehnten 
Monat. Und früher werden sie auch als Anruf nicht unzweideutig und mit 
voller Einsicht in die Situation angewandt, wenn auch ein gewisses tröst¬ 
liches Gefühl als Reaktion auf das Hören dieser Silben schon beim sieben 
Monate alten Kinde eintritt, sobald es mit ihnen die Vorstellung sicherer 
Geborgenheit und treuer Fürsorge zu verbinden gelernt hat. Wenn nicht 
die Begriffe selbst, so werden doch die Laute im zehnten Monat und noch 
später (oft bis in den 13. Monat hinein) miteinander verwechselt oder kom¬ 
biniert, so daß Vater wie Mutter zuweilen mit den verkehrten Bezeichnungen 
oder auch eines von ihnen als »Mapa« oder »Papmam« angeredet wird. 
Selbst das korrekte Nachsprechen beweist aber nichts für ein volles Ver¬ 
ständnis des Gesagten, wie sehr man das durch die erwähnten Dressur¬ 
kunststückchen glauben machen will. 

Erst der elfte Monat schließt in der Regel mit einer festen Ver¬ 
knüpfung der Artikulation und Vorstellung ab, wenn auch ein gedankenloses 
Nachplappern namentlich der letzten Silben gehörter Sätze (die sogenannte 
»Echolalie«) einen hervorragenden Platz in den kindlichen Sprechübungen 
— oft bis in das dritte Jahr hinein — beibehält. 

Wiederholen also die Kinder, namentlich vor Ablauf des zehnten Monats, 
immerhin vieles, was sie nicht verstehen, so verstehen sie doch auch vieles 
am Ton und an den Gebärden, was sie nicht wiederholen können. Sie geben 
durch Mienen und Gebärden, außerdem durch Schreilaute und allerlei Be 
wegungen eine Fülle von Beweisen für ihr Verständnis einzelner Vorgänge. 
Namentlich wird deren Bedeutung dann, wenn irgend ein Zusammenhang 
mit der Nahrungsaufnahme besteht, schon sehr früh erfaßt, und zwar lange 
bevor ein einziges Wort ausgesprochen werden kann. Es deckt sich eben 
die Entwicklung des Verstandes mit der Sprache nicht in dem Grade, wie 
man das annimmt. 

Wie schon aus dem Gesagten hervorgeht, ist mit dem ersten Jahre die 
sprachliche Entwicklung noch lange nicht abgeschlossen, nicht einmal was 
die Fähigkeit zur Produktion der einzelnen Sprachelemente betrifft. In den 
ersten vier Wochen des zweiten Lebensjahres pflegt die Grundlage für 
stereotype, aber mit der Sprache des Erwachsenen sich noch nicht deckende 
Bezeichnungen gelegt zu werden, die dann oft lange Zeit trotz weitgehen¬ 
der Vervollkommnung in der Aussprache beibehalten werden, z. B. »njeng« 
für »gib her«, »gib mir die Hand«, aber auch für »bitte« im allgemeinen. 

Der W-Laut wird schon gegen das Ende des ersten Jahres richtig 
gebildet, aber das s erst in den ersten, das q erst in den letzten Monaten 
des zweiten Jahres; x pflegt erst mit 27 Monaten richtig ausgesprochen, 
sobald es aber einmal eingeübt ist, auch wohl für das tz substituiert zu 
werden, z. B. »jext« statt »jetzt«. 

Wie viel zu der Tatsache, daß die Kinder bis zum Ablauf des dritten 
Jahres in der dritten Person von sich reden, die üble Gewohnheit der mit 
ihnen verkehrenden Erwachsenen beiträgt, daß sie sich auf eine kindliche 
Stufe herablassen und von sich selbst zu dem Kinde nur als von dem »Papa«, 
der »Mama«, der »Tante«, aber nicht von »mir« reden, mag dahingestellt 
bleiben. Das eine ist sicher, daß dem Kinde im ersten Lebensjahre seine 
Hände, Füße und Zähne als fremde Objekte, oft als Spielzeug erscheinen 
und daß es die Einheitlichkeit und Unteilbarkeit des Organismus noch nicht 


Digitized by 


Google 



342 


Pädagogische Psychologie und Psychohygiene« 


einzusehen vermag. Das >Ich« wird selten vor Ende des zweiten Jahres 
gebraucht. Die Teile tatsächlich durch ein geistiges Band zu verknöpfen 
und sie einem den einzelnen Sinnesgebieten vorstehenden, einem empfin¬ 
denden, wahrnehmenden und zu Vorstellungen befähigten, einem denkenden, 
fühlenden und wollenden »Ich« auch in seinen Oedankengang einzuordnen, 
ist das Kind erst wenige Monate vor Ablauf des dritten Jahres befähigt. 

Die Anfänge der Erziehung. 

Wann soll die Erziehung beginnen? Wenn gesagt worden ist, die 
Erziehung des Kindes mösse neun Monate vor seiner Geburt beginnen, so 
ist das eine jener anscheinend tiefen Weisheiten, die zum guten Teil ihrer 
Mystik wegen und weil man sich dabei sehr viel oder sehr wenig, 
alles oder nichts denken kann, ein applaudierendes Publikum finden. Wer 
Klarheit liebt und sich nicht durch Schein- und Halbwahrheiten blenden 
läßt, kann Erfolge von Erziehungsversuchen doch nur dann erwarten, wenn 
er die eigentümliche Artung des zu erziehenden Wesens erkennt, wenn er 
seine starken und ebenso seine schwachen Seiten zu ergründen beginnt. 
Solange wir noch auf unsere fünf Sinne als Quellen unserer Erkenntnis an¬ 
gewiesen sind, wird der angehende Mensch doch wohl zunächst ans Tages¬ 
licht getreten sein müssen, ehe wir erzieherisch auf ihn einwirken können. 

Wollte man aber mit jenem Bonmot nur der Tatsache Ausdruck geben, 
daß jeder Erziehungsversuch zunächst Selbsterziehung voraussetzt, so wird 
man nicht umhin können, den Termin für den Anfang einer solchen als 
reichlich verspätet zu betrachten, wenn er erst mit dem Beginn der Mutter 
schaft zusammenfallen soll. 

Nichtsdestoweniger führt uns das aber auf den Kern alier erziehe¬ 
rischen Maßnahmen, wenigstens während der ersten drei Lebensmonate. 
Das ganze elterliche Kapital von Charakterfestigkeit, Konsequenz und Um¬ 
sicht soll jetzt zinstragend angelegt werden und oft muß das, was bisher 
lediglich Gesinnungstüchtigkeit war, nun zum ersen Male fruchtbar gemacht 
werden in praktischer Betätigung dem wertvollsten lebenden Objekte, dem 
jungen Menschen gegenüber. 

Im ersten Vierteljahr muß der ganze Schwerpunkt der Erziehung, die 
ganze elterliche Strenge in erster Linie gegen die Regungen 
eigener Schwäche, gegen die eigene Inkonsequenz und Lässlgkeit 
gerichtet sein, die andernfalls Unzweckmäßiges oder gar für das Kind 
direkt Schädliches zur Gewohnheit werden läßt. 

Wer soll die erste Erziehung übernehmen? Gewöhnlich hält man ja 
Erziehungsversuche im frühesten Säuglingsalter für unnötig, und wenn man 
gar nicht das Kind Fremden anvertraut, verläßt man sich im besten Falle 
auf das »richtige Gefühl* der Mutter, die wohl wissen — oder wenn nicht 
wissen, so doch merken — wird, was dem körperlichen und geistigen 
Gedeihen des Kleinen förderlich und was ihm schädlich ist. Wenn nun auch 
ohne Zweifel die Mutter mit der Übernahme der hauptsächlichsten Sorgen 
auch das erste Recht auf die Erziehung während des ersten Lebensjahres 
hat, so sollte doch auch dem Vater ein gewisser Einfluß Vorbehalten bleiben. 
Schon deshalb, weil man bei ihm — unbeschadet allen Respekts vor den 
weiblichen Gemüts- und Charaktereigenschaften — durchschnittlich doch 
immerhin eine größere Konsequenz in der Durchführung des einmal für 
richtig Erkannten voraussetzen darf. Tatsächlich gedeihen Kinder, die 
ausschließlich unter weiblicher Obhut heranwachsen, selten. Weit 
verhängnisvoller als der unbeschränkte Einfluß der Mutter kann — ganz 
zu schweigen von der verwerflichen Überlassung an ungebildete oder vor¬ 
urteilsvolle fremde weibliche Personen (mögen sie sich nun Kindermädchen, 
Kinderfrauen oder Kinderfräulein nennen) — die Erziehung durch Groß- 


Digitized by ^.ooQle 



Pädagogische Psychologie und Psychohygiene. 


343 


mütter oder Tanten werden. Bei der »Verantwortlichkeit aus zweiter Hand«, 
wenn der Ausdruck erlaubt ist, wird die Rührung beim Anblick eines un¬ 
schuldigen kleinen Wesens nur zu leicht zur uneingeschränkten Bewunderung, 
das Mitgefühl mit seiner Hilfsbedflrftigkeit zur schwächlichen Nachgiebigkeit 
um jeden Preis, kurz die Liebe zur A ffenliebe, die das Kind durch Zart 
lichkeit, wenn auch nicht direkt zu Tode quält, so doch körperlich und 
geistig minderwertig macht. 

Die Gewöhnung an Ordnung ist während der ersten drei Lebensmonate 
die einzige, aber deshalb doch eine solch große erzieherische Auf¬ 
gabe, daß sie die ganze Aufmerksamkeit, Opferwilligkeit und 
Energie der Eltern in Anspruch nimmt. Nur zu oft wird das angeb¬ 
liche Mitleid mit dem Kinde als bequemer Deckmantel für die eigene Be¬ 
quemlichkeit und elterlichen Egoismus benutzt. 

Schon in der Pünktlichkeit bei der Ernährung wird viel gesündigt, 
und in den Kreisen der Gebildeten und Wohlhabenden nicht minder als in 
denen der Unwissenden und Armen. Finden auch manche andere Vorschriften 
der Gesundheitslehre, namentlich die über die erforderliche Reinlichkeit in 
der Kinderpflege, schon wegen des Vorhandenseins größerer Mittel und der 
entsprechend vermehrten Hilfskräfte eher Beachtung in den sogenannten 
»besseren Ständen«, so liegt hier die Ernährung, -was eine zielbewußte 
Ordnung und Pünktlichkeit anlangt, eher noch mehr im argen als bei den 
Minderbemittelten. Man mag das Lautwerden des Kindes nicht hören und 
bei jedem Schrei wird nach der Flasche gelaufen oder die Amme gezwungen 
zu stillen, bis das arme Würmchen »von Milch, Wonne und Wehmut über¬ 
fließt«. Pünktlich auf den Glockenschlag muß dem Kinde die Nah¬ 
rung geboten werden, ohne Rücksicht auf irgend welche beson¬ 
deren Vorkommnisse, und man darf sich selber erst gar nicht ange¬ 
wöhnen, Zufälle und Störungen irgend welcher Art als begründete Ab¬ 
haltungen von der strengen Erfüllung der elterlichen Pflicht zu betrachten. 
Sonst werden sie sich bald wiederholen. Weder notwendig werdende Be¬ 
sorgungen im Haushalte, noch unerwartete Besuche, weder Vergnügungen, 
noch die Erfüllung vermeintlicher Pflichten gegen andere, weder das Schreien 
des Kindes, noch auch sein Schlaf sollten vor dem eigenen Gewissen als 
Rechtfertigungsgründe für eine Unpünktlichkeit Bestand haben dürfen. 

Das gleiche gilt natürlich für den Wäschewechsel und die damit ver¬ 
bundenen Reinigungsprozeduren, das tägliche Bad usw., ebenso aber auch 
in Krankheitsfällen für die peinliche Einhaltung der ärztlichen Vorschriften. 

Ein neues Stadium der Erziehung, das der Gewöhnung an Gehorsam , 
beginnt mit dem Eintritt in das zweite Lebensquartal, wenn sich die 
ersten Regungen eines bewußten Willens kundgeben. Erst jetzt kann von 
einer direkten Beeinflussung des Kindes anstelle der bisher lediglich in¬ 
direkten die Rede sein. Und wenn es erforderlich wird, die Strenge, die 
die Eltern bisher bei der peinlichen Beobachtung aller Vorschriften gegen 
sich selbst zu beobachten versuchten, in einer mehr positiven Form gegen 
das Kleine anzuwenden, so wird man sich dabei niemals verhehlen dürfen, 
welchen Teil der Schuld man sich selbst durch eine falsche Behandlung in 
der allerersten Entwicklungsperiode zuzumessen hat. Dieser Gedanke wird 
uns vor jeder Härte gegen den kleinen Zögling ebenso bewahren, wie vor 
der Gefahr, den alten Versäumnissen noch neue hinzuzufügen. 

Jetzt werden wir vor allem auf zweckmäßige Maßnahmen bedacht 
sein müssen, um das Geschrei des Kindes nicht zur schlechten Ge¬ 
wohnheit werden zu lassen. 

Im Geschrei des kleinen Kindes spricht sieb ja keineswegs immer Ver¬ 
langen, Schmerz oder Unbehagen, sondern mangels anderer Wege, die ihm 
hierfür offen stehen, oft auch nur ein unüberwindlicher Trieb zur Betätigung 


Digitized by 


Google 



344 


Pädagogische Psychologie und Psychohygiene. 


ans. Vor allem schreit das Kind nicht immer, weil es krank ist oder ans 
Hunger, sondern weit öfter infolge der Spannungsgeffihle bei einer Über¬ 
lastung der Verdauungsorgane, ferner weil es naß liegt oder sonst vorüber¬ 
gehend eine Unbequemlichkeit empfindet. Eine drückende Falte in der Unter¬ 
lage, eine beengte Lage, ein in die Hüllen geratener, das Kleine drückender 
Gegenstand, z. B. eine Haarnadel, kann ebenso die Ursache des Schreiens 
sein, wie ein Floh, von dem es gepeinigt wird. Das Kind schreit aber auch, 
wie bemerkt, einem dunklen Triebe folgend, weil das Schreien für die Ent¬ 
wicklung einzelner Organ offenbar unentbehrlich ist. Da das Schreien die 
Zirkulation begünstigt, die Lunge an ausgiebige Tätigkeit gewöhnt und — 
namentlich bei »gewickelten Kindern« — die mangelnde Bewegung der 
Gliedmaßen ersetzt, ist es sogar der Gesundheit eher förderlich, vorausge¬ 
setzt eben, daß es mit Maß geschieht. Am allerhäufigsten immerhin schreit 
das Kind (und zwar dann wirklich im Übermaß und in einer geradezu uner¬ 
träglichen Weise), wenn es verwöhnt worden ist. 

Gerade bei einer großen Zahl recht schwerer Erkrankungen schreien 
ja die Kinder nicht, namentlich wenn die Atmungsorgane befallen sind, z. B. 
bei Pneumonie, Brustfellentzündung, Diphtheritis und Krupp. Sie wimmern 
dann bekanntlich meistens nur leise vor sich hin oder liegen teilnahmslos da. 

Trotzdem daher ein schreiendes Kind durchaus nicht krank zu sein 
braucht und selbst wenn es krank ist, im großen und ganzen der Umgebung 
nicht soviel Sorge machen sollte wie ein zu ruhiges — lautes Geschrei 
setzt ja überdies noch immer das Vorhandensein respektabler Kräfte voraus — 
bemänteln die Eltern ihre zu große Nachgiebigkeit und Schwäche, die sie 
dazu treibt, das Kind weiter zu verwöhnen, teils durch die Deutung des 
Schreiens als Krankheitssymptom, teils im prophylaktischen Sinne durch 
die Befürchtung, das Kind könne sich durch das Schreien Schaden tun. 

Gerade der ärztliche Berater der Familie sollte deshalb bei sich bietender 
Gelegenheit den Hinweis auf das Unbegründete der Befürchtungen unter¬ 
lassen, das Kind könne sich einen Bruch anschreien oder infolge des Schreiens 
in »Krämpfe« verfallen. 

Ebenso wie das Vollstopfen mit Nahrung das Kind allerdings zeitweilig 
vom Schreien abhält, sind auch das stürmische Wiegen, Schaukeln und 
schnelles Herumtragen beliebte Mittel, es auf dem Wege einer nichts weniger 
als zuträglichen und noch weniger vom erzieherischen Standpunkte zu 
billigenden Art von Betäubung einstweilen zur Ruhe zu bringen. 

Nur bei zu früh geborenen Kindern, die meistens nur zu 
ruhig sind, ist öfteres Aufnehmen geboten, damit sie schreien 
und dabei tiefer Atem holen. 

Wenn sich beim Säugling erst einmal eine direkte Empfindung dafür 
herauszubilden beginnt, welche mächtige Waffe gegen seine Umgebung ihm 
die Natur mit der Befähigung zu tüchtigem Geschrei in die Hand gegeben 
hat, muß man sich vor nichts mehr hüten, als durch Wachrufen oder Be- 
günstigen derartiger, den Eigensinn und den Egoismus fördernden Regungen 
einen Tyrannen für das ganze Haus großzuziehen. Viele Ursachen über¬ 
flüssigen Geschreies wird ja schon im ersten Quartal durch Gewöhnung aller 
Körperfunktionen an Pünktlichkeit durch strenge Einhaltung der Ordnung 
in den Mahlzeiten, durch Überwachung der Darmentleerung, durch Vermei¬ 
dung unnützen Herumhantierens an dem Kinde, des Wiegens, Schaukeln» 
und Umhertragens, unnötigen Bewundernlassens und Abküssens durch Fremde, 
durch zeitige Entwöhnung von der Nahrungsaufnahme zur Nachtzeit, schlie߬ 
lich durch jeweilige Befragung des Arztes bei tatsächlichen Zweifeln über 
den Grund des Schreiens vorgebeugt. Namentlich sollte der sogenannte 
»Schnuller«, der, obwohl ihm unbegreiflicherweise neuerdings sogar aus den 
Reihen der Pädiater ein Verteidiger erstand, vom hygienischen wie vom ästhe- 


Digitized by ^.ooQle 



Pädagogische Psychologie und Psychohygiene. 345 


tischen Standpunkte ans gleich verwerflich ist, in einigermaßen aufgeklärten 
und gebildeten Kreisen aus der Kinderstube verbannt werden. 

Demungeachtet darf bei anhaltendem und heftigem Schreien 
des Kindes die Mutter oder Wärterin sich nicht abhalten lassen, 
nachzusehen, ob nicht Verunreinigungen oder Schmerz die Ver¬ 
anlassung desselben ist, ob nicht etwa eine Nadel oder sonst ein 
Gegenstand, der das Kind belästigt, in dessen Bekleidung ge¬ 
drungen ist. 

Ist das Schreien darauf zurfickzuffihren, daß — vielleicht infolge von 
Schwäche oder Unpäßlichkeit des Kindes bald nach der Geburt — die strenge 
Ordnung nicht von vornherein eingehalten werden konnte und nun dem 
Verlangen nach den Mahlzeiten, die bisher in zu kurzen Zwischenräumen 
gereicht wurden, in stürmischer Weise seitens des Säuglings Ausdruck ge¬ 
geben wird, so mache man zunächst in folgender Weise einen Versuch, den 
Mißstand abzustellen: Man reiche zurZeit des von Schreien begleiteten Er¬ 
wachens einen oder zwei Teelöffel gut gekochten und wieder auf Stuben¬ 
wärme abgekühlten Wassers, das man für diesen Zweck bereit hält. Ein 
Zuckerzusatz ist durchaus zu widerraten. Das reine Wasser kann auch durch 
den in gewissen Kreisen so beliebten (aber ungesüßten) Fencheltee ersetzt 
werden, ohne daß dieser Vorzüge vor jenem hätte. Hierdurch wird das etwa 
vorhandene Durstgefühl gestillt und dem Magen des ruhenden Kindes keine 
Leistung zugemutet. Nach längstens 8 Tagen werden die meisten Kinder, 
welche sich mit dem Schluck Wasser begnügen lernten, ihren Magen an 
die vollständige Enthaltsamkeit während der Nachtstunden gewöhnt haben 
und ihre Umgebung nicht weiter durch Geschrei stören. 

Aber wenn ein gesundes Kind im vierten Lebensmonat un- 
gewöhlich viel schreit, kommt man mit dieser Maßregel doch 
nicht immer aus. Und da das Schreien, wenn es erst durch eine 
fortgesetzt falsche Erziehung in der ersten Lebenszeit zur üblen 
Gewohnheit geworden ist, schlimme Folgen nicht nur für das 
körperliche Gedeihen, sondern auch für die Charakterentwicklung 
haben kann, muß man dem übertriebenen unmotivierten Geschrei 
nach Ablauf der ersten drei Lebensmonate auch durch die Herbei¬ 
führung gewisser Unlustempfindungen (Strafen in äußerst milder 
Form) entgegentreten. 

Folgendes Verfahren hat sich auf Grund meiner eigenen jahrzehnte¬ 
langen Erfahrung am ersten bewährt: 

Nachdem man das Kleine und seine Wäsche visitiert und es in eine 
bequeme unbeengte Lage gebracht hat, entfernt man sich längere Zeit von 
dem Kinde, ohne es dabei ganz außer Augen zu lassen, aber doch so¬ 
weit, daß man nicht gesehen oder bei seiner Beschäftigung gehört wird. 
So kann man schon im ersten Vierteljahr viel zur Unterdrückung der ersten 
instinktiven tyrannischen Regungen bei dem angehenden Kämpfer ums Da¬ 
sein (und nicht minder um die Herrschaft im Hause) beitragen. Kommt 
man nach Ablauf der ersten drei Monate mit dieser Maßregel nicht aus, 
so pflegt die sofortige Verbringung in ein verdunkeltes Zimmer oder 
den verdunkelten Teil eines Zimmers von ganz eklatanter, fast nie ver¬ 
sagender Wirkung zu sein. Die Dunkelheit hat für das Kind, dessen Gehirn 
noch von keinem Ammenmärchen und Schaudergeschichten — wie leider 
oft in späterer Zeit — erfüllt ist, nichts Beängstigendes, es merkt aber, 
daß es mit seinem Geschrei nichts erreicht, beginnt sich dabei zu langweilen 
und schläft nun in der Regel schnell ein. Wiederholt sich dies Verfahren 
konsequent bei jedem unmotivierten und zu lange fortgesetzten Geschrei, 
so genügt oft schon die Bewegung der Türklinke an der »Dunkelkammer«, 
um die Vorstellung der langweiligen Verbannung in die Finsternis und da- 


Digitized by 


Google 



346 Pädagogische Psychologie und Psychohygiene. 

mit eine Hemmung der unerwünschten Art des Betätigungsdranges wach¬ 
zurufen. 

Im 11. und 12. Monat läßt sich jedes bisher einigermaßen verständig 
behandelte Kind schon durch ein entschiedenes »Sch« oder durch Singen, 
das keineswegs kunstgerecht, melodisch oder auch nur richtig zu sein braucht, 
beruhigen, oft sehr viel früher. 

Das führt uns auf die zweckmäßige Anwendung von 

Belohnung und Strafe, Lob und Tadel beim rationellen erzieherischen 
Vorgehen im allgemeinen. 

In der ersten Periode der kindlichen Entwicklung, in der das ganze 
Schwergewicht auf die Erziehung zum Gehorsam gelegt werden muß, können, 
wie schon aus dem oben Gesagten hervorgeht, auch leichte Strafen nicht 
ganz entbehrt werden. Im Gegensatz zu der noch heute verbreiteten Anschauung, 
daß die Strafen für eine spätere Zeit zu reservieren seien, kann gar nicht 
genug betont werden, daß gerade im II. Lebensquartal der geeignete (viel¬ 
leicht der vorwiegend geeignete) Zeitpunkt für die Anwendung dieses früher 
bei der Jugend jenseits der Wiege geradezu universell und unterschiedslos 
angewandten, jetzt aber mehr und mehr in Mißkredit kommenden Erziehungs¬ 
mittels herangerückt ist. 

Äußerst beachtenswert scheinen in dieser Hinsicht einige für die Aus¬ 
übung der militärischen Disziplinargewalt aufgestellte Grundsätze, deren 
Formulierung direkt auf die ritterliche Persönlichkeit unseres ersten deutschen 
Kaisers zurückgeführt wird: >1. Nur wenn es unumgänglich ist, soll 
gestraft werden, dann aber empfindlich. 2. Die Strafe soll mög¬ 
lichst auf frischer Tat erfolgen. 3. Es entspricht nicht einer vor¬ 
nehmen Gesinnung, mit Strafen zu drohen, die gegebenenfalls 
auch tatsächlich zu verhängen man nicht die Absicht oder nicht 
die Macht hat.« 

Die Strafen brauchen, wie z. B. die erwähnte Verbannung ins Dunkle, 
gar nicht äußerlich als solche erkennbar zu sein und müssen auch in einer 
späteren Zeit sogar den bösen Schein vermeiden, daß hier nur das Recht 
des Stärkeren in Anwendung kommt oder ein brutaler Racheakt für die 
den Trägern der elterlichen und Erziehungsgewalt bereiteten Unannehmlich¬ 
keiten vollzogen wird. Es kann dem Erzieher wohl kaum als Selbstbetrug 
— und bei der humanen Absicht noch weniger als Tücke — ausgelegt 
werden, wenn er die rein erzieherischen Motive mit hygienisch-fürsorglichen 
zu verquicken, bzw. jene durch diese zu ersetzen sucht. Auf diese Weise 
werden die Zusammenhänge von Handlungen resp. Unterlassungen mit den 
Folgen und dementsprechend die Beweggründe für das unlusterregende 
Vorgehen für das kindliche Verständnis, ganz plausibel. So kann bei älteren 
Kindern, die ungehorsam werden, die Entziehung gewisser Vergnügungen, 
das Verbot mancher Spiele usw. durch das Erfordernis der Ruhe wegen 
vermeintlicher übergroßer Erregung des zu Bestrafenden motiviert werden, 
ebenso die Entziehung von Lieblingsspeisen (nicht nur bei Naschhaftigkeit, 
sondern auch bei Trägheit und Launenhaftigkeit) durch den anscheinend ver¬ 
dorbenen Magen, der solche abnorme Zustände begünstige. 

Man wird sich um so leichter auf diese Art des Strafens beschränken 
und sogar ohne den von vielen Seiten von Zeit zu Zeit für unentbehrlich 
gehaltenen »gelinden Klaps« auszukommen versuchen, wenn man sich vor 
Augen hält, daß die meisten Verfehlungen des Kindes ja nicht in bösem 
Willen, sondern in unzulänglicher Aufmerksamkeit auf das, was im ge¬ 
gebenen Moment das gebotene Tun und das angebrachte Maß des Tuns ist, 
ihre Ursache haben. 


Digitized by ^.ooQle 



Pädagogische Psychologie und Psychohygiene. 


347 


Bine Strafe in dem hier angedeuteten Sinne trägt dann das ihrige 
dazu bei, die Ermüdung der Aufmerksamkeit leichter zu überwinden und 
sine größere Konzentration des Willens herbeizuführen. 

Ein (mindestens instinktives) Bewußtsein, daß bestimmte Handlungen 
bestimmte Folgen haben, erwacht bei dem Kinde sehr früh und schon im 
Beginn des fünften oder spätestens im sechsten Monat hat es gelernt, aus 
den Gebärden und Worten, vor allem aus dem Ton der Stimme mit er¬ 
staunlicher Sicherheit zu entnehmen, ob die Erwachsenen, die sich mit ihm 
beschäftigen, in ernster oder freundlicher Stimmung sind und, da es schon 
vorher in der erwähnten Weise die Außenwelt in Beziehung zu sich selbst 
zu bringen und die Erlebnisse als Rückwirkungen seines Verhaltens zu be- 
trachten begonnen hat, auch, ob die Umgebung mit ihm zufrieden ist oder 
nicht, ob sie lobt und ermuntert oder schilt und droht. 

Im Durchschnitt schon in der 18. Woche pflegt eben das gesunde und 
geistig einigermaßen geweckte Kind soviel Verständnis für die Vorgänge 
der Außenwelt zu haben, daß es auf freundlichen Zuspruch ebenso wie auf 
ernsthaftes Scheiten mit entsprechenden Lauten reagiert, mindestens aber 
sich durch jenes gehoben, durch dieses — einem kleinen, liebevoll aufge¬ 
zogenen Hündchen gleich — beschämt fühlt. 

Diesen Zeitpunkt darf man keinenfalls vorübergehen lassen, ohne jetzt 
schon die soliden Grundlagen für die Erziehung ganz im allgemeinen, vor 
allem die zum Gehorsam und damit auch zur Gewöhnung an Ordnung 
zu legen. Überhaupt wird jetzt der aufmerksame Beobachter manche Eigen¬ 
tümlichkeiten und besondere seelische Regungen bemerken, die beim Kinde 
nunmehr zutage treten; er wird in der Lage sein, beizeiten vorzubeugen, 
wenn er sich im rechten Augenblick darüber klar ist, welche Seiten des 
sich erst formenden Charakters in ihrer Weiterentwicklung zu hemmen, 
welche zu fördern sind. 

Die Erziehung zur Reinlichkeit muß insofern, als sie zunächst die 
Beherrschung der Blasen- und Mastdarmfunktionen ins Auge faßt, schon 
frühzeitig ihren Anfang nehmen. Das ist notwendig, nicht so sehr weil da¬ 
durch Arbeit und Wäsche erspart wird, als weil die Gesundheit durch die 
stete Verunreinigung und das fortwährende Naßliogen leicht Schaden nimmt 
und außerdem die Unreinlichkeit zu einer ebenso lästigen wie schwer zu 
beseitigenden Gewohnheit werden kann, die dem älteren Kinde und gar 
dem Erwachsenen noch andere als gesundheitliche Nachteile bereitet. 

Viele Kinder schreien das ganze erste Jahr hindurch erst nach erfolgter 
Verunreinigung infolge des Unbehagens beim Naßliegen. Das ist ein Zeichen, 
daß die Erziehung schon manches versäumt hat. 

Schon nach Ablauf der ersten 5 Monate kann mit Erziehungsversuchen 
in dieser Richtung begonnen werden. Sie bestehen darin, daß man das Kind 
nach jeder Mahlzeit, nach jeder notwendig werdenden Reinigung, nach dem 
Bade, nach dem Erwachen sowie bei länger fortgesetztem Schreien und ehe 
man es schlafen legt unter freundlichem Zuspruch und Äußerungen ganz 
bestimmter, jedesmal wiederkehrender Laute über ein Geschirr hält und, 
wenn es dann einmal gelungen ist, mit dieser Hilfeleistung den richtigen 
Moment abzupassen, hinterher mit Schmeicheleien, Äußerungen des Lobes 
und der Bewunderung nicht kargt. Dann pflegen Wiederholungen schon auf 
die gleichen Zurüstungen hin immer leichter und sicherer zu erfolgen, um 
schließlich schon im Anfang des IV. Quartals zur Regel zu werden. 

Aber auch sonst pflegen die nur einigermaßen sorgsam abgewarteten 
Kinder sich spätestens vom Ende des 9. Monats ab schon im voraus der 
ihnen aus der Verunreinigung erwachsenden Unbequemlichkeit bewußt zu 
werden und bereits vor dem Eintritt der Entleerung ein lebhaftes Geschrei 
anzustimmen. Nimmt man sich, nachdem man die soeben empfohlenen Maß- 


Digitized by 


Google 



348 


Pädagogische Psychologie und Psychohygiene. 


regeln solange verabsäumt batte, jetzt wenigstens des Kindes an, sobald 
es schreit, so erfolgt die Entleerung meistens erst mehrere Sekunden nach 
Erteilen der geeigneten Stellung; und wenn gewisse Laute des Erwachsenen 
diese Handlung begleiten, lernt das Kind auch bald, diese nachzuahmen 
und nicht mehr durch ein stürmisches Geschrei das Bedürfnis anzumelden, 
sondern dieses nur durch Signale anzudeuten und dann solange zurückzu¬ 
halten, bis alle Vorbereitungen getroffen sind. 

Gehorsam und Suggestion. Die Erziehung zum Gehorsam schlägt ein 
Verfahren ein, als ob die Einsicht in das Nützliche des einzelnen Befehles 
oder Verbotes schon beim Säugling vorhanden wäre. Aus der Einbildung, 
der »Suggestion«, nur das Erlaubte wäre gut und zweckmäßig, erwächst 
tatsächlich nach und nach, erst unklar, dann immer klarer die Einsicht, 
wie gut es ist, durch die Fürsorge anderer alle unzweckmäßigen Hemmnisse 
beseitigt und alle Wege geebnet zu sehen. 

Das Kind läßt sich einreden, daß es satt oder daß es hungrig ist, daß 
eine Speise oder ein Medikament gut oder schlecht schmeckt, daß kühle 
Waschungen angenehm oder unangenehm sind — kurz die junge Menschen¬ 
seele gleicht der weichen Tonmasse, die eine bestimmte Form erst unter 
den Händen desjenigen annimmt, der in der frühesten Jugend mit Verstand 
oder mit Unverstand, in durchdachter Weise oder gedankenlos die Erziehung 
in die Hand nimmt. 

Durch die Äußerungen dieser Suggestibilität, der enormen Leicht¬ 
gläubigkeit, die eine ebenso große Gelehrigkeit zu Folge hat, auf der einen 
Seite, durch die Unselbständigkeit des Willens, die die große Willfähigkeit 
und Folgsamkeit zeitigt, auf der andern, wird ja die Inangriffnahme des 
Erziehungswerkes in der frühesten Jugend erst möglich, in der späteren 
Zeit wenigstens ungemein erleichtert. Nur müssen wir uns hüten, diese 
Suggestibilität, die die arglose Kinderseele in tausend Zügen offenbart, zu 
mißbrauchen. Die Klippen, an denen wir scheitern können, sind einmal die zu 
lange Beibehaltung der suggestiven Methode, die übertriebene Betonung der 
elterlichen Autorität auch in einer späteren Periode der Entwicklung, dann 
aber auch die Ausbeutung der Gelehrigkeit zu 

Dressurkunststückchen bei ganz jungen Kindern. Die Eitelkeit vieler 
Eltern gefällt sich darin, durch das Exerzitium von Kunststückchen aller 
Art den Beweis zu erbringen, was sie für ein kluges Kind haben. Wären 
sie einigermaßen gescheit, so könnten sie sich selbst sagen, daß dadurch 
keine besondere Intelligenz dargetan wird, sondern höchstens ein passables 
Gedächtnis und eine gewisse Gabe zur Verknüpfung von Vorstellungen. 
Begabter als es ist, können wir durch alle Kunst ein Menschenkind nicht 
machen, ebensowenig wie wir durch Überfütterung imstande sind, den Fond an 
körperlichen Kräften zu steigern. Aber in beiden Richtungen wird aus elter¬ 
licher Eitelkeit viel gefehlt: man kann es nicht ertragen, daß das eigene 
Baby an Körpergewicht oder vermeintlicher Klugheit hinter Altersgenossen 
zurückstehen sollte. 

Und doch ist das Tempo, in dem sich die geistigen Fähigkeiten ent¬ 
wickeln, ganz nach der Natur des einzelnen Kindes verschieden und ge¬ 
stattet keinerlei Rückschluß auf den Grad, den der Intellekt später erreichen 
kann. Wüßten die Eltern alle, daß durch die Dressur, die eine 
geistige Frühreife vortäuscht, das Kind nicht nur nicht klüger 
wird, sondern Einbuße an seiner Verstandesentwicklung, an der 
Fähigkeit erleidet, später mit Urteilen und Schlüssen statt mit 
eingelernten Ideenverbindungen zu urteilen, sie würden wahrlich 
für immer von derartigen Versuchen abstehen! 

Das Organ der Seele, das Gehirn, macht ohnedies in der ersten Lebens¬ 
zeit eine so rapide Entwicklung durch, wie nie mehr im ganzen Leben, und 


Digitized by 


Google 



Pädagogische Psychologie und Psychohygiene. 


349 


wir können im großen und ganzen nur abwartend dieser erstaunlichen Ent¬ 
faltung geistiger Fähigkeiten zuschauen. Wir dürfen es versuchen, hier den 
ersprießlichen Ablauf der Lebensäußerungen durch Ermunterung zu fördern, 
auch deren Exzeß durch Suggestion, Tadel und leichtere Strafen auf das 
richtige Maß einzudämmen, aber uns niemals vermessen, mit brutaler Hand 
in den natürlichen Werdegang einzugreifen. Das Geheimnis einer ver¬ 
nünftigen körperlichen und geistigen Erziehung besteht darin, 
das jedem Kinde natürliche Tempo und die natürliche Richtung 
der Entwicklung herauszuspüren. Unsere Pflicht dem heranwachsenden 
Menschen gegenüber ist mit der des erfahrenen Steuermanns vergleichbar, der 
mit ruhiger Hand das ihm anvertraute Schifflein durch Klippen und Wogen 
lenkt, aber sich nicht vermißt, dem Sturm gebieten zu können. 

Übergang von der Forderung blinden Gehorsams zur Belehrung. Nur 
in der allerersten Jugendzeit sollten sich die erzieherischen Maßnahmen 
lediglich auf die Gewöhnung an den Gehorsam beschränken, schon vom 
zweiten Lebensjahre ab jedoch wenigstens damit beginnen, in zu¬ 
nehmender Weise an den Verstand zu appellieren. 

Und gerade darin steht eine rationelle Erziehung von Anfang an im 
schroffen Gegensätze zu den Dressurversuchen, die nur zur Verdummung 
des Kindes führen können. 

Im vollendeten Gegensatz zu dem Vorwalten der suggestiven Beein¬ 
flussung in der ersten Epoche der Kindheit sucht die spätere Erziehung sich 
nach und nach von der Geltendmachung der Autorität, die nichts als blinden 
Gehorsam verlangt, zu emanzipieren und ihr Ziel auf dem Wege der Auf¬ 
klärung und Belehrung zu erreichen, wie das in psychotherapeutischer 
Hinsicht namentlich von 0. Rosenbach so schön ausgeführt worden ist. Und 
zwar muß damit schon vor dem Eintritt in das schulpflichtige Alter der 
Anfang gemacht werden. Dieser Weg ist nicht so bequem gangbar für den 
Erzieher, als der bloße Zwang unter das autoritative Kommando und unend¬ 
lich groß ist die Zahl der Fragen, auf die schon die kindliche Wißbegierde 
und das Persönlichkeitsgefühl in seinen ersten Regungen Aufklärung verlangt. 

Das Fragen des Kindes. Jedenfalls ist der pädagogische Standpunkt 
durchaus veraltet, welcher sich den kindlichen Fragen gegenüber ablehnend 
verhält und namentlich diejenige nach dem »Warum?« bei Geboten und Ver¬ 
boten schon als Versuch zu einer ungehörigen Auflehnung gegen die Autorität 
des Erwachsenen betrachten zu dürfen glaubt. Eine Gelegenheit zur Auf¬ 
klärung — natürlich in einer für das jeweilige Alter passenden Form — 
sollte man nie versäumen. Ganz etwas anderes ist es mit gewissen Fragen, 
die nicht im Aufklärungsbedürfnis, sondern mehr in dem im Plappern Ge¬ 
nüge findenden Spieltrieb des Kindes ihren Grund haben. Hier hilft man 
sich am besten, wenn man auf übertriebenes Fragen nach Dingen, die ohne 
Bedeutung sind, grundsätzlich, wie das auch Mathias empfiehlt, mit Gegen¬ 
fragen antwortet. (Frage: weshalb ist diese Kuh schwarz und weiß ge¬ 
fleckt und die andern rot?« Gegenfrage: »weshalb sollen sie alle rot 
sein?« Frage: »weshalb spricht die Dame im blauen Kleid so laut?« Ant¬ 
wort: »weshalb sollen nur Damen in weißen oder grünen Kleidern laut 
sprechen?«) Lag der Frage wider Erwarten doch Wissensdrang zugrunde, 
so wird das Kind auf diese Weise am ehesten dazu gebracht, sie in einer 
mehr den Kern der Sache treffenden Form zu wiederholen. Mindestens aber 
wird es zum Nachdenken statt zum bloßen Plappern angeregt. 

Aber tatsächlich kommt auch der durchaus Gebildete und Lebens¬ 
erfahrene nicht selten in die Lage, auf eine richtige und dem kindlichen 
Verständnis angepaßte Antwort nicht präpariert zu sein. Man wird in solchen 
Fällen, je nach der Art des berührten Themas, entweder sein eigenes Nicht¬ 
wissen eingestehen oder die richtige Aufklärung auf eine spätere Zeit ver- 


Digitized by 


Google 



350 


PAdagogische Psychologie und Psychohygiene« 


schieben, da das Verständnis dieser Dinge erst auf den Grund gewisser, sei 
es durch die Schule, sei es sonstwie vermittelter Kenntnisse möglich sei. Eine 
andernfalls bei derartigen Gelegenheiten geflissentlich ausgesprochene Unwahr* 
heit rächt sich früher oder später immer, während mit der Vertröstung in 
dem an gedeuteten Sinne sich das arglose jugendliche Gemüt, dessen Ver¬ 
trauen in den Erzieher noch niemals getäuscht wurde, meiner Erfahrung 
nach auffallend leicht vorderhand zufrieden gibt. 

Sexuelle Aufklärung . Peter Rosegger erzählt in seiner anschaulichen 
und schlichten Art folgendes kleine Geschichtchen, das uns besser als lang¬ 
atmige Auseinandersetzungen Aufschluß gibt, wie man die kindlichen Fragen 
nach d er Herkunft des Menschen in taktvoller Weise beantworten kann: 

»Ich weiß einen Vater, der hat einen fünfjährigen Sohn. Und dieser 
fragte einmal: Vater, woher bin ich denn gekommen? Der noch jugendliche 
Vater ist von der Frage überrascht, er will sein Kind nicht anlügen und 
er antwortet: Mein Kind, das will ich dir ein anderesmal sagen, wenn du 
brav bist. — Das Hübel war brav. Und als es ein paar Tage lang recht 
brav gewesen war, fragte es: Vater, bin ich brav? — Sehr. — So sage 
mir jetzt, woher ich gekommen bin. — Das will ich dir nun sagen, mein 
lieber Bub. Von der Mutter bist du gekommen. — Der Kleine: Wie ist das 
gewesen? — Ja, das ging so zu. Als die Mutter und ich zusammen geheiratet 
hatten, baten wir den lieben Gott, daß er uns ein Kindlein geben möchte. 
Da war es nicht lange und die Mutter hatte eines in sich. Unter dem 
Herzen ist ein Kammerl, und da war es drinnen und wuchs. Und als es so 
groß war, daß es im Kammerl nicht mehr Platz hatte, da kamst du zu 
uns. — Der Knabe war befriedigt, geschirrte sein Schaukelpferd auf und 
dachte nicht weiter daran. — Die verfänglichste und wichtigste Wissenschaft 
war dem Knaben mit wenigen Worten beigebracht, zur Zeit, da man damit 
noch nicht Schaden tun kann. Ist erst die kindliche Neugierde gestillt, dann 
hält die Unschuld länger vor. — Ich weiß es aus der Bauernschaft, wo in 
der animalischen Umgebung das Kind frühzeitig wissend wird. Und die Ver¬ 
derbnis der Jugend ist dort nicht größer als in Kreisen, wo noch ins Gym¬ 
nasium der Storch mitgebt.« 

Die Lügen des Kindes lassen sich nach drei Motiven trennen und 
sind dementsprechend auch ganz verschieden zu bewerten. Wir haben zu 
unterscheiden: 1. die Phantasielüge, 2. die Angstlüge und 3. die be¬ 
trügerische Lüge zur Erlangung positiver Vorteile. 

Es ist ja ein großer Unterschied, ob ein Kind, dem im Walde ein 
Hund entgegenlief, hinterher erzählt, ihm sei der Wolf begegnet, der Rot¬ 
käppchens Großmutter gefressen — oder ob es behauptet, keineswegs wider 
das elterliche Verbot spielend am Teiche verweilt und ins Wasser gefallen 
zu sein, sondern vom Stehen unter einer Dachtraufe durchnäßte Kleider 
bekommen zu haben — oder ob es schließlich sich von der Mutter eine 
Orange für einen kranken Gespielen von vornherein in der Absicht erbettelt, 
sie in aller Stille selbst zu verzehren! 

Die betrügerische Lüge, die sich von der Angstlüge dadurch unter¬ 
scheidet, daß sie nicht aus Furcht vor Strafe die Vergangenheit färbt, son¬ 
dern auf die unerlaubten Genüsse einer näheren oder ferneren Zukunft durch 
lügenhaftes Gebaren spekuliert, ist die einzige Art der Lüge, die wirklich 
den Schluß auf ernste Versehen in der Erziehung oder auf eine von dieser 
unabhängige brutal-egoistische Veranlagung des Charakters gestattet. Hier 
wird auch fast jeder Versuch einer Korrektur fruchtlos sein, doch kann es 
unter Umständen wohl noch gelingen, durch beständiges Aufderhutsein, durch 
ernsten Tadel und eventuell durch konsequente Strafen Hemmungsvorstel¬ 
lungen zu erregen, die einem allzu üppigen Wuchern der egoistischen Re¬ 
gungen, der Ursache solcher Unwahrheiten, entgegentreten. 


Digitized by 


Google 



351 


Pädagogische Psychologie und Psychohygiene. 


Wesentlich milder als die betrügerische Lüge und auch wesentlich 
milder, als das seitens der Eltern oder Erzieher gewöhnlich geschieht, ist. 
die Angstlüge zu beurteilen. Sie mag Tadel verdienen, aber keine Strafe, 
keinesfalls harte Strafe, wenigstens in den Augen dessen, der die Aufgaben 
der Erziehung der Jugend darin sieht, Vertrauen zu ihren Führern, aber 
nicht Furcht vor ihnen einzuflößen, ln enger Beziehung zur Angstlfige steht 
ja auch die Gefälligkeitslüge, die mit den konventionellen und gesell¬ 
schaftlichen Unwahrheiten, die die Erwachsenen sich töglich zu schulden 
kommen lassen, so gut wie identisch ist. Hier fürchtet man sich lächerlich 
zu machen, einem Unbefugten einen zu tiefen Einblick in sein Inneres zu 
gewähren oder auch in einem andern beschämende oder peinliche Gefühle 
wachzurufen — und dort glaubt das Kind sich durch eine der Wahrheit 
entsprechende Verneinung, etwa der Frage, ob es gern in den Religions¬ 
unterricht ginge, ob es seine Lehrer auch liebe und ihnen gehorche u. dgl., 
in den Augen des Fragenden bloßzustellen. 

Nicht durch Strafen, ja nicht einmal durch Verbote, sondern durch unser 
eigenes Beispiel, durch wahrheitsgemäße Aufklärung, durch Gewähren und 
Erzeugen von Vertrauen kann auch die Phantasielüge in den erforder¬ 
lichen Schranken gehalten werden, die mit der unschuldigen Freude am 
Fabulieren und Ausdenken von Märchen beginnt, aber in ihren plumperen 
Formen zur Pseudologia phantastica der psychopathischen Persönlichkeiten 
ausartet, um schließlich in der boshaften und geradezu perversen Neigung 
zu grundloser Beschuldigung anderer — rein aus dem Motive heraus sich 
interessant zu machen — gipfelt. 

Die Erweckung des Pßichtgefübls. Alle guten Seiten des Geistes- und 
Gemütslebens kommen eben in derjenigen jungen Meeschenseele zum Vor¬ 
schein, die nur Liebe, Vertrauen und wohlwollenden Rat, keine demütigenden 
Strafen, keinen drückenden Zwang erfahren hat. An der Stelle des blinden, 
sklavischen tritt dann der freie, von der Vernunft eingesehene Gehorsam 
und an die Stelle der instinktiven Vermeidung der zeitweiligen Unlust¬ 
empfindungen, die jede Anstrengung zu unbekannten Zwecken unweigerlich 
begleitet, die auf ein wertvolles Ziel gerichtete Anstrengung, der ein höheres 
Glück schaffende Verzicht auf die Lust des Augenblickes, wie das Ellen 
Key in einer ihrer Schriften so schön ausführt. 

In der Erweckung eines Gefühles für die Pflicht und in der 
zur Freude an der freiwillig übernommenen Pflicht gipfelt das 
Wesen einer menschenwürdigen Erziehung. — Und nicht früh 
genug kann dieses Ziel ins Auge gefaßt werden! 

Die Bewahrung der Kindlichkeit , von der so oft und so viel die Rede 
ist, wird durch eine vollständige Belehrung und Aufklärung niemals beein¬ 
trächtigt, wohl aber durch die Dressur. Durch sie, durch die Abrichtung 
wird jener Gegensatz zur naiven Kindlichkeit geschaffen, wie er uns in der 
sogenannten Frühreife entgegentritt. Wir bewahren unserem Nachwuchs 
die Kindlichkeit am ehesten, wenn wir ihm eine glückliche Jugend 
schaffen. Niemals sollte man aber, um die Kindlichkeit zu erhalten, ge¬ 
flissentlich auf die tiefere Stufe des zu Erziehenden hinabsteigen. Stets 
müssen wir vielmehr bestrebt sein, unsere Schutzbefohlenen zu uns auf ein 
höheres Niveau zu erheben. Auf einen Umstand mag da besonders hinge¬ 
wiesen werden, der in diesem Zusammenhänge selten betrachtet zu werden 
pflegt, der aber die Aufmerksamkeit erregen sollte, sobald das Kind zu 
sprechen und zu spielen beginnt. So belustigend die Eigensprache des Kindes 
mit den selbsterfundenen (manchmal aber auch von Erwachsenen komponierten 
und dem Kinde auf dem Wege der Dressur beigebrachten) Bezeichnungen 
und drolligen Wortverdrehungen auch sein mag, man muß schon beizeiten, 
wie das namentlich von einem so erfahrenen und weitsichtigen Pädagogen, 


Digitized by 


Google 



352 


Pädagogische Psychologie und Psychohygiene, 


wie A. Mathias, treffend hervorgehoben worden ist, ernstlich darauf Bedacht 
nehmen, dieses Kauderwelsch nicht allzu üppig ins Kraut schießen zu 
lassen. Es gar geflissentlich zu kultivieren, wie das nicht selten geschieht, 
beeinträchtigt mit der Ausbildung des feineren Sprachgefühls auch den 
logischen Aufbau der Gedanken, der durch das gesprochene oder geschriebene 
Wort später seinen Ausdruck finden soll. Fehler, die in dieser Hinsicht 
während der ersten Erziehung gemacht sind, treten nur zu oft in ihren Nach* 
Wirkungen in dem allzu kindlich und unfertig erscheinenden Benehmen der zu 
Jünglingen oder Jungfrauen Herangewachsenen zutage. 

Der erzieherische Wert des Spiels. »Die Spiele der Jugend«, sagt * 
W. Wundt, sind kein müßiger Zeitvertreib, sondern sie gehören zu den 
wichtigsten Erziehungsmitteln, bei deren Auswahl und Wechsel der Zweck 
der harmonischen Ausbildung des Körpers und Geistes im Vordergründe 
stehen sollte.« 

Die Ermüdung, die infolge der Anspannung der Aufmerksamkeit ein- 
tritt und um so leichter eintritt, je jünger das Kind ist, macht auch die so 
oft zu beobachtende Neigung zu schnellen Wechsel der Spiele verständlich. 
Deshalb kann auch nicht eindringlich genug vor einem verwirrenden Zuviel 
gewarnt werden. Die Verwöhnung in dieser Hinsicht durch alle möglichen 
Onkel, Tanten und Freunde des Hauses pflegt, je mehr das Kind den Windeln 
entwächst, die Entwicklung der Beharrlichkeit—einer der wichtigsten Seiten 
des Charakters — ungemein zu erschweren. Nur durch die Beharrlichkeit, 
die eine vollkommene Ausbildung der willkürlichen Hemmungen zur Voraus¬ 
setzung hat, können später die bei der Ausübung von Pflichten so häufig 
dazwischentretenden Unlustgefühle in Schranken gehalten werden, während 
man andernfalls Eigensinn und Launenhaftigkeit großzieht. 

Im übrigen tut der Erzieher gut, das Kind bei seinen Spielen im 
späteren Alter sich möglichst selbst zu überlassen, nicht zu viel mit Rat¬ 
schlägen und Nachhilfe einzugreifen. Spielend lernt das Kind gewissermaßen 
sich in das Leben hineinzuarbeiten, seine Erscheinungen zu verstehen und die 
ersten Erfahrungen zu sammeln. Das schließt eine eingehende und interessierte 
Beobachtung aber nicht aus: denn in der Art zu spielen offenbart sich am 
frühesten und deutlichsten der Charakter des Kindes. 

Es darf hier die Bemerkung nicht unterlassen werden, daß erfahrungs¬ 
gemäß das Kind an luxuriösen und komplizierten Spielsachen auch im späteren 
Alter weit weniger Freude hat als an einfachen, die der jugendlichen Phantasie 
einen weiten Spielraum für ihre Betätigung und für immer neue Variationen 
in der Ausgestaltung der durch das Spiel darzustellenden Lebensvorgänge 
bieten. Auch bei der Auswahl der ersten Bilderbücher sollte man aus ähn¬ 
lichen Gründen das Prinzip größter Einfachheit in den Vordergrund stellen. 

Die Bewegungen der Kinder im Freien sollen ihnen zugleich Gelegenheit 
zum Spielen geben. Die Freude an Schönheiten der Landschaft geht auch 
älteren Kindern noch vollständig ab, und die Blumen im Chausseegraben, die 
sie pflücken, der Schmetterling auf dem Kartoffelacker, dem sie nachjagen 
dürfen, entzückt sie mehr als den Erwachsenen die schönste Alpenaussicht. 
Aus dem Spiel entwickelt sich die Neigung zum Sammeln von Blumen, 
Schmetterlingen, Käfern, Mineralien; dabei wird die Beobachtungsgabe ge¬ 
schärft und das Denken durch Einordnung der Eindrücke in schon vorhandene, 
dem Kinde geläufige Vorstellungsreihen angeregt. Aber das »artige 
Spazierengehen« unter der Leitung beständig zum Anstand ermahnender Er¬ 
wachsener bringt Kindern wegen Fortfalls jeder Möglichkeit, ihren spiele¬ 
rischen Neigungen zu folgen, weder körperlichen noch geistigen Gewinn. 

Die Erziehung zur Lebensfreude eröffnet den Weg zum Glück für das 
Kind. Zwar ist die Möglichkeit, Pflichten zu übernehmen und zu erfüllen, 


Digitized by 


Google 



Pädagogische Psychologie und Psychohygiene. 


353 


eine Vorbedingung fflr das Beharren au! diesem Wege, aber das Vermögen, 
ihn zu finden, Überhaupt Freude am Leben zu haben, glücklich und zufrieden 
sein zu können, ist doch mit höherem Grade eine Charaktereigenschaft, die 
im Menschen schlummert und die durch die Erziehung ebenso geweckt wie 
zur Verkümmerung gebracht werden kann. Jedenfalls ist die Freude weit 
unabhängiger von äußerem Geschehen, als man das für gewöhnlich annimmt 
»Ich glaube,« sagt auch Georg Hermann, »daß Glück und Unglück keine 
Schicksale, sondern Gemütsarten sind.« Manche Menschen haben es nie ge¬ 
lernt, sich zu freuen und scheuchen sich selbst die guten Stunden fort, weil 
sie über sie hinweg nach besseren schauen. »Und doch sind in Jedes Men¬ 
schen Seele« nach Rud. Hans Bartsch »Möglichkeiten, sich zu freuen — 
in ieder Seele andere Möglichkeiten. Selbst kann sie Jeder bebauen, be¬ 
gießen und pflegen, wenn er nur gelernt bat, sich freuen zu wollen. 

Was können auch hier schon Haus und Schule tun, wenn sie jedes beson¬ 
dere Kind im Gedeihen der ihm eigenen Freude unterstützten!« 

Im Hinblick darauf, daß heute beim Publikum die »Opfer der Schule« 
in einem ähnlichen Maße überschätzt werden, wie die der Blinddarmentzündung 
und Gallensteinkrankheit, darf die Bemerkung nicht unterdrückt werden, daß 
den hier gekennzeichneten Forderungen von den Berufspädagogen entschieden 
mehr Rechnung getragen zu werden pflegt, als das im Durchschnitt seitens 
der häuslichen Erziehung der Fall ist. Denn hier kennt man nur zwei 
Extreme: Fortwährende Nörgelei in dem Bestreben, daB überlebte Autoritäts¬ 
verhältnis einer früheren Epoche aufrecht zu erhalten oder im Gegensatz 
hierzu ein unbedingtes Gehen- und Geschehenlassen, eine Anarchie, die die 
verwöhnte Jugend alle Freuden der reiferen Jahre antizipieren läßt, und 
durch die Erweckung eines schrankenlosen Egoismus Jede reinere und höhere 
Befriedigung im Keime erstickt. Und doch müßte es für Eltern, die sich 
von Anbeginn mit liebevollem Verständnis in die Kinderseele zu vertiefen 
Willens sind, nicht schwer sein, die in ieder Menschenbrust wohnende 
Empfänglichkeit für reine, von keiner Reue getrübte Freuden zu hegen 
und zu pflegen. Aber wie wenig solcher Eltern gibt es! »Es ist seltsam,« 
sagt der bekannte holländische Schriftsteller Multatuli, »daß sich so viele 
Menschen anmaßen, Kinder zu haben. Im Tiergarten kenne ich einen Mann, 
der mit Tigern umzugehen versteht; ein anderer hat eine Liebhaberei für 
Vögel; auch die künstliche Fischzucht hat ihre Spezialisten. Aber Kinder 
hat ein Jeder.« Und dennoch dürfen wir hinter dem unbewußten und 
unergründlichen Drange zur Fortpflanzung und zur Erhaltung der Rasse 
mit Frederik van Eeden ein geheimnisvolles Liebesband zwischen uns 
und unseren Nachkommen suchen. Nur das eine Ideal sollte uns bei 
allem unseren erzieherischen Beginnen vorschweben, unser Geschlecht 
höher hinaufzuführen. Ja, darin sollten wir geradezu den Zweck unseres 
Dasein sehen. »Der Mensch lebt nur,« wie Lothar Brieger-Wasservogel 
sagt, »damit die Nachkommen etwas Feineres und Höheres werden als 
er selbst.« 


Literatur: Buttebsack, Mängel in der psychischen Konstitution nnserer Zeit. Monats¬ 
schrift f. soziale Medizin, 1909, I. — Eschlk, Die krankhafte Willensschwäche und die Auf¬ 
gaben der erziehlichen Therapie. — Eschlk, Psychische Therapie. Eolknbubgs Enzyklopäd. 
Jahrb., Neue Folge, 1908, N. F. VI (XV). — Eschle, Die Anfänge einer Erziehung zu geistiger 
und körperlicher Gesundheit. Fortschritte der Medizin, 1908, Nr. 21. — E9chlk, Die Anfänge 
der geistigen Entwicklung beim Kinde. Ärztl. Rundschau, 1908, Nr. 33 u. 34. — Eschlk, Er¬ 
nährung und Pflege des Kindes unter besonderer Berücksichtigung des ersten Lebensjahres. 

5. Aull., Leipzig 1909, B. Konegen. — Mathias, Wie erziehen wir unseren Sohn Benjamin? 

6. Aull., München 1908, C. H. Bein. — Pbeykb, Die Seele des Kindes. (Nach dem Tode des 

Verf. bearbeitet und herausgegeben von K. L. SchXfbb.) 7. Aull., Leipzig 1908, Th. Grieben. 
— Rosexbach, Nervöse Zustände und ihre psychische Behandlung. 2. Aufl. Berlin 1903, Fischers 
med. Buchh. (H. Kornfeld). — Derselbe, Vorwort zu Gbamzow, Fr. E. Benecke als Vorläufer 
der pädagogischen Pathologie. Gütersloh 1898, G. Bertelomann. Eschfe. 


Encydop. Jahrbücher. N. F. VIII. (XVII.) 


Digitized by 


Gö 3 ogle 



354 


Pantopon« — Pentosurie. 


Pantopon« Au! Anregung von Sahli wird ein gereinigtes Opium¬ 
extrakt hergestellt, welches sich auch für die subcutane Anwendung eignen 
soll. Es enthält 89*77% Oesamtalkaloide, während die salzsauren Gesamt* 
alkaloide ca. 90% Alkaloid enthalten sollen. Da das verwendete Opium 
10% Morphin und 18% Gesamtalkaloide enthält, entspricht 1 g Pantopon, 
5 g Opium oder 0*5 g Morphin + 0*4 g Nebenalkaloide = 0*9 g Gesamtalkaloide. 
Es reagiert wegen der schwachen Basizität der Opiumalkaloide sauer auf 
Lackmuspapier, doch sind die 2%igen Lösungen, welche zur Anwendung 
kommen, subcutan injiziert nicht schmerzhaft. Das Präparat ist bräunlich 
gefärbt, weil sich die Farbstoffe nicht ganz entfernen lassen, da eine Um¬ 
kristallisation bei dem Gemisch nicht möglich ist. Die Lösungen sind sterili- 
sierbar, es soll später in fertiger Lösung eventuell mit Zusatz von 5 bis 
10% Alkohol oder 25% Glyzerin in den Handel kommen. Karbolsäurezusätze 
von %% rufön Trübungen hervor, ebenso solche von Acetonchloroform. 

Entsprechend dem Morphingehalt wandte Sahli das Präparat in doppelt 
so großer Dosis an als Morphin, gab also bei dyspnoischen Zuständen oder 
zur Schmerzstillung 2 cg , d. h. 1 Pravazspritze der 2%igen Lösung. Bei Auf¬ 
regungszuständen muß man mehr geben. Innerlich wird Pantopon in Pillen 
zu 1—2 cg, in Pulvern oder als Zusatz zu Hustenmixturen 5—6 cg auf 
200 cm 8 gegeben. 

Eine stärker stopfende Wirkung als das Morphin hat Sahli nicht 
beobachten können; er zieht es der ausschließlichen Anwendung des Mor¬ 
phins vor. Auch ein anderes Präparat, welches alle Alkaloide mit Ausschluß 
des Narkotins enthält und Pleistozon heißt, hat Sahli mit gutem Erfolg 
angewandt. 

Literatur: 8abli, Über Pantopon. Therap. Monatsh., 1809, H. 1, pag. 1. E . Fr * j . 

Pentosurie« Unter den nichtdiabetischen Glykosurien, welche im 
allgemeinen seltene Störungen des Kohlehydratstoffwechsels sind, bat die Pen¬ 
tosurie theoretisch das größte Interesse und praktisch am meisten Wichtigkeit. 
Die Pentose ist ein fünfatomiger Kohlenwasserstoff C 6 H l0 O 5 . Bemerkens¬ 
werterweise kommt die Pentose im freien Zustande gerade nur im mensch¬ 
lichen Harn vor, in unseren Nahrungsmitteln dagegen, die als Quelle der 
Pentosurie in Frage kommen könnten, nur in Form der Anhydride: Pentosane 
(Xylan, Araban u.dgl.), aus welchen die Pentosen durch hydrolytische Spaltungen 
hervorgehen. Die Pentosane kommen besonders häufig in den Früchten und 
in einigen Gemüsearten vor, im Tierreich in verschiedenen inneren Organen, 
am reichlichsten im Pankreas als Bestandteil der Nukleinsäure. Aber die 
Pentose der tierischen Organe ist nach den Feststellungen von Neubkrg und 
Wohlgemuth eine rechtsdrehende Xylose, während die Harnpentose eine op¬ 
tisch inaktive Arabinose ist. Die Quelle der Harnpentose ist zurzeit noch 
nicht bekannt. Am wahrscheinlichsten ist es, daß sie im Organismus selbst 
gebildet wird. Nach Neubergs Ansicht ist sie aus der Galaktose abzuleiten, 
welche im menschlichen Körper allerdings nur sehr selten als Spaltungs¬ 
produkt des Milchzuckers vorkommt. 

Die Pentosurie tritt als eine selbständige Stoffwechselanomalie auf. Sie 
ist zuerst 1892 von Salkowski und Jastrowitz beobachtet worden. Danach sind 
noch etwa 10 Fälle bekannt geworden (Blumenthal, Bial, Brat u. a.). Die 
praktische Bedeutung der Pentosurie liegt darin, daß sie mit der diabetischen 
Glykosurie verwechselt werden kann und worden ist, weil der Harn der 
Pentosuriker eine wichtige Eigenschaft mit dem der Diabetiker gemeinsam 
hat, nämlich die Reduktion von Metallsalzen in alkalischer Lösung. Dennoch 
ist aber schon bei dieser Harnprobe die Unterscheidung für den aufmerk¬ 
samen Beobachter nicht schwer. Bei Anwesenheit von Pentose im Harn pflegt 
nämlich der Kupferoxydulniederschlag plötzlich schußartig aufzutreten. Wich- 


Digitized by 


Google 



Pentosurie. — Plasmazellen. 


355 


tiger aber ist das vollkommene Fehlen des Gärungsvermögens beim Pentose- 
harn und sehließlich dreht er auch nicht die Ebene des polarisierten Lichtes, 
weil er optisch inaktiv ist. Einen direkten Nachweis der Pentose ermöglicht 
die ToLLBNssche Orzinprobe, welche namentlich in der Modifikation von Bial 
auch ft&r den praktischen Arzt leicht ausführbar ist: man erwärmt 3—5 on* 
Harn mit dem doppelten Volumen des Orzinreagens (500 cm 3 konzentrierte 
Salzsäure, lg Orzin, 20—30 Tropfen 10%iger Eisenchloridlösung). Bei 
eben beginnendem Sieden der Flüssigkeit tritt eine grünblaue Färbung auf, 
die beim Stehen noch deutlicher wird. Bei dieser Probe darf man aber nicht 
kochen, weil sie sonst auch bei glykuronsäurehaitigem Harn positiv ausfällt. 
Das Reagens verdirbt übrigens sehr leicht und muß deshalb immer frisch 
hergesteilt werden. Die Grünblaufärbung läßt sich durch Amylalkohol extra¬ 
hieren und zeigt dann im Spektroskop Absorptionsstreifen im Rot zwischen 
C und D. Nimmt man statt Orzin Phlorogluzin, dann kommen die Absorp¬ 
tionsstreifen des Amylalkoholauszuges im Hellgrün zwischen D und E zu liegen. 
Freilich geben glykuronsäurehaltige Harne dieselben Farbenreaktionen, doch 
kann man sie vom Pentoseharn dadurch unterscheiden, daß erstere die Ebene 
des polarisierten Lichtes drehen, und zwar nach links, ferner auch mit Phenyl¬ 
hydrazin kein Ozazon bilden im Gegensatz zur Pentose. Das Pentasazon ist 
ein schön ausgebildetes kristallinisches Produkt von charakteristischem 
Schmelzpunkt (154—160°). 

Bei der Pentosurie wird der zuckerähnliche Körper viele Jahre aus¬ 
geschieden, ohne daß es zu irgendwelchen Krankheitserscheinungen, wie so 
häufig beim Diabetes kommt. Die Mehrzahl der Menschen, welche diese an¬ 
scheinend ganz harmlose Stoffwechselanomalie mit sich herumtragen, sind 
Neurastheniker, zum Teil sogar durch Vererbung. Besonders ist die Pentosurie 
auch in Begleitung von Neuritis und Neuralgien beobachtet worden, so z. B. 
in einem neueren Falle von Cassirkr and Bambbrger. Der Ablauf des Um¬ 
satzes der übrigen Kohlehydrate ist beim Pentosuriker durchaus normal. Die 
vermehrte Zufuhr von Pentosanen steigert die Pentoseausscheidung im Harn 
nicht wesentlich. Andrerseits hat es sich nicht als möglich erwiesen, die 
Pentosurie durch irgend welche diätetische Maßnahmen zu unterdrücken. 
Erwähnenswert ist die Tatsache, daß mehrere Male nach längerem Kokain- 
bezw. Morphiumgebrauch die Pentosurie beobachtet worden ist, die aber 
doch vielleicht gerade in diesen Fällen nur eine vermehrte Glykuronsäure- 
ausscheidung war. Brat, Blumenthal und Bial haben Fälle von familiärer 
Pentosurie mitgeteilt. Einen Fall von alimentärer Pentosurie (nach Frucht¬ 
saftgenuß) beschrieb v. Jaksch. Es ist Von Wichtigkeit, die Patienten über 
die Natur dieser Affektion aufzuklären, damit sie nicht unberechtigterweise 
mit diätetischen Beschränkungen belästigt oder gar, wie es vorgekommen 
ist, von Lebensversicherungen ausgeschlossen werden. Eine Kombination von 
Pentosurie mit Diabetes ist bisher noch nicht beobachtet worden. Aibu. 

Plasmazellen» Der Name wurde zuerst im Jahre 1875 durch 
Waldeyer geschaffen, welcher dadurch eine besondere Gruppe von Zellen 
des Bindegewebes bezeichnete, die sich durch besonderen Protoplasma¬ 
reichtum auszeichneten. Diese Zellengruppe umfaßte hauptsächlich die 
EHRLicHschen Mastzellen, daneben aber, wie das sich durch die Unter¬ 
suchungen von Waldeyer selbst und Unna herausstellte, noch andere Zell¬ 
arten, wie die der Zwischensubstanz des Hodens, die der Steiß- und Karo¬ 
tidendrüsen, der Nebennieren, des Corpus luteum und der Decidua. In¬ 
zwischen hatte Unna (1891) mittelst spezifischer Färbemethoden des Proto¬ 
plasmas in den vielen pathologischen Prozessen der Haut Zellen entdeckt, 
für welche er den Namen Plasmazellen vorgeschlagen und folgende Definition 
angegeben hat: »Die Plasmazellen sind im großen und ganzen als einseitig 

Digitized by GÖogle 



356 


Plasmazellen. 


hypertrophische Bindegewebszellen zu definieren, in denen der körnige Be* 
standteil des Protoplasmas maximal vermehrt ist. Mit dieser Vermehrung 
geht eine Abrundung der Form Hand in Hand, die Ausläufer des Spongio- 
plasmas werden eingezogen, es entstehen rundliche, ovale oder bei Einschluß 
in kollagene Spalten oder komprimierte Herde: kubische Gestalten. Der 
Kern ist gewöhnlich schön oval, liegt häufiger an einem Ende der Zelle und 
erscheint bei der »Protoplasmafärbung« als hellerer Fleck in der (bei dieser 
Färbung mit polychromer Methylenblaulösung) dunkelblauen Zelle, bei Kern¬ 
färbung aber oder vollkommener Protoplasmafärbung zeigt er ein grob* 
balkiges Chromatinnetz mit einer Reihe sehr großer, stark tingibler Chro¬ 
matinkörner oder bei stärkerer Entfärbung nur die letzteren. Das Proto¬ 
plasma ist bei manchen durchweg blauschwarz gefärbt, an anderen fällt 
aber die blaue Farbe stellenweise aus, man sieht das leere, violett gefärbte 
Spongioplasmanetz der Zellen und bemerkt, daß die Reste der blauen Farbe 
an feinen Punkten, an Körnchen haften. Mitosen finden sich in den Plasma- 
zellen sehr selten, dagegen häufig und in den größeren fast immer eine 
Reihe sehr gleichartiger, ovaler, zuweilen facettierter Kerne; ich halte sie 
für amitotisch entstanden« (s. Taf. Fig. 1). 

»Die Plasmazellen liegen in rundlichen oder eckigen Hohlräumen des 
kollagenen Gewebes und werden nicht durch Fortsätze miteinander ver¬ 
bunden (außer etwa im Momente der Teilung). Sie haben keine Beziehung 
zur Genese des fibrillären Gewebes und stellen sich damit in Gegensatz 
zu den großen Spindel- und Spinnenzellen des Bindegewebes, welche nur 
wenig körniges Protoplasma um den Kern aufweisen, dafür aber eine Hyper¬ 
trophie des Spongioplasmas und der Zellenausläufer zeigen. Nur diese Binde¬ 
gewebszellen zeigen eine Beziehung zur Entstehung der kollagenen Zwischen¬ 
substanz.« 

Um die Qenese und Bedeutung dieser Zellen besser kennen zu lernen, maß man die 
UNMASchen Theorien über Protoplasma im allgemeinen und die Bindegewebszellen der Hast 
heranziehen. Man weiß jetzt, daß das Protoplasma keine einheitliche Substanz bildet. Die 
spezifischen Protoplasmafärbungen von Unna haben im Protoplasma der Zellen zwei Grund- 
substanzen, eine homogene und eine körnige, gezeigt. Erstere hat die Neigung, sich in Form 
netzförmig durchbrochener Flächen und schwammartig durchlöcherter Körper auszubreiten, 
letztere dagegen zeigt stets die Form von unregelmäßigen gröberen Brocken oder feineren 
Körnern. Erstere hat Unna Spongioplasma, letztere im Gegensatz dazu Granoplasma genannt 
Dieses Granoplasma hat keine Verwandtschaft mit den spezifischen Granulationen, welche 
Ehrlich und Altmann beschrieben haben; »es gehört vielmehr, wie das Spongioplasma, zur 
Grundsubstanz< und findet sich in geringem oder höherem Grade bei jeder größeren Binde¬ 
gewebszelle in den Maschen des Spongioplasmas eingelagert. Bei intensiver Ausbildung dieses 
Granoplasmas nimmt die Hautbindegewebszelle die Form der Plasmazelle an. Bei allen zu 
Überernährung der Haut führenden Prozessen findet man Zellen, bei welchen der spongio- 
plasmatische Teil der Zellenleiber an Ausdehnung und Komplikation zunimmt Man siebt 
dann solche hypertrophischen Bindegewebszellen, welche Unna als Flügel-, Platten-, Spinnen- 
und Schaumzellen bezeichnet. Diese Zellen enthalten nur wenig Granoplasma, welches sich 
in der Kegel um den Kern oder an einer Seite der Zelle anhäuft. Man konstatierte weiter, 
daß der Neubildung von Kollagenfibrillen immer die Neubildung von Spongioplasmazellen 
vorhergeht. Diese Zellen vermehren sich auf mitotischem Wege, während der Mitosennach¬ 
weis in den Plasmazellen nur schwer zu erbringen ist. Unna hat sich Mühe gegeben zu 
erforschen, welche Richtung der Zellenhypertrophie, die spongioplastische oder granoplastiscbe, 
im einzelnen Falle den Anfang des pathologischen Prozesses kennzeichnet. Durch vortreffliche 
Färbung des Protoplasmas hat er nachgewiesen, daß durch eine ganze Kette von ver¬ 
schiedenen Formen eine kontinuierliche Reihe gebildet wird zwischen der an Granoplasma 
reichsten, der Plasmazelle, einerseits und den an Spongioplasma überreichen Zellen andrerseits. 

Die durch Unna definierten Plasmazellen spielen in der Geschichte 
vieler Hautkrankheiten histologisch eine große Rolle. Diese Zellen hat Unna 
zuerst in tuberkulösen und syphilitischen Geweben studiert, später aber 
auch bei Karzinomen, Sarkomen, Mycosis fungoides und verschiedenen 
chronischen Krankheiten der Kntis nachgewiesen. Man findet sie ebenso in 
dem Infiltrationsgewebe von Ulcus molle, bei Akne, bei eiternden Tricho¬ 
phytien usw. Aber die Plasmazelle bildet auch einen Hauptteil des jüngeren 


Digitized by 


Google 



Plasmazellen. 


357 


Granulationsgewebes, während mit der größeren Reife desselben immer 
mehr hypertrophische Spindelzellen und fibrilläres Gewebe Oberhand nehmen. 
Die Idee also, daß sich die Plasmazellen an das Dasein besonderer Infek¬ 
tionen knüpfen, kann nicht aufrecht erhalten werden; man konnte sie andrerseits 
niemals in der embryonalen und normalen Haut finden. Die Plasmazelle ist 
also ein rein pathologisches Gebilde. Sie ist fQr gewöhnlich das Zeichen 
einer starken, chronischen progressiven Ernährungsstörung. Es bedarf zu 
ihrer Entstehung eines auf das erwachsene Gewebe wirkenden, starken 
Reizes, eines Tumors, eines Substanzverlustes oder eines infektiösen Reizes, 
und zwar eines solchen, welcher länger dauert. 

In allen diesen pathologischen Prozessen, in welchen sich Plasmome 
befinden, beobachtet man an der Grenze zwischen Plasmom- und Fibrom¬ 
herden zunächst Plasmazellen, die sich durch langgestreckte Ausläufer aus¬ 
zeichnen. An denselben Stellen sind auch solche Bilder vorhanden, in denen 
regelmäßig kubische Plasmazellen in einer Reihe liegend eine einheitliche 
Lymphspalte ausffillen und sowohl die erste wie die letzte nach außen mit 
Ausläufern endet. Am lehrreichsten in diesem Sinne sind die Bilder der 
großen Spindelzellen, in welchen die Ansammlung von Granoplasma im 
Zellenleibe und von Cbromatin in vermehrten Kernen zustande kommt, 
während die Ausläufer an den Enden der Spindelzellen erhalten bleiben. Man 
sieht also deutlich, daß eine etwa demnächst folgende Zerklüftung dieser 
Zelle zur Entstehung von einigen Plasmazellen führen muß (s. Taf. Fig. 2a). 
Man begegnet aber auch einen anderen Ursprungsort von Plasmazellen, 
welcher bis jetzt zu wenig gewürdigt ist, nämlich: die Endothelien und 
Perithelien der Blutkapillaren, was verhältnismäßig leicht im Lupusgewebe 
gesehen werden kann (s. Taf. Fig. 2 b). 

Die zweite Lebensperiode der Plasmazellen bildet ihre Vermehrung 
und die Bildung der Herde von Plasmatochterzellen, die auf die Weise 
entstehen, daß nach stärkerer Ansammlung von Granoplasma im Zellen¬ 
leibe und von Chromatin in den Kernen eine senkrechte Zerklüftung einer 
Zelle in mehrere kubische Portionen einhergebt. Nur diese durch Teilung 
entstandenen kleinen Plasmazellen nennt jetzt Unna »Plasmatochter¬ 
zellen« (s. Taf. Fig. 3). 

Das weitere Schicksal der Plasmazellen kann verschieden sein. 

In den Wundgranulationen ohne Tendenz zu rascher Vernarbung er¬ 
scheinen sowohl die Fibroblasten wie die Plasmazellen zum großen Teile 
durch das allgemeine ödem verändert. Alle Zellen nehmen eine mehr 
kugelige Gestalt an und in dem Zytoplasma der Plasmazellen entstehen 
einzelne ganz granoplasmafreie Waben. Von diesen Formen finden sich all¬ 
mähliche Übergänge zu den ganz blassen Schaumzellen (s. Taf. Fig. 4). In den 
Kernen solcher ödematösen Zellen erscheint Chromatin nicht bloß in isolierten 
Brocken, sondern mehr gelöst im Kernsaft. Dieses »chronische ödem« 
ist auch die Ursache, daß die Plasmazellen sich weniger scharf von den 
Fibroblasten abtrennen lassen. 

Neben den kleinen Plasmazellen, die durch Proliferation aus den großen 
amitotisch und mitotisch entstehen (Plasmatochterzellen), befinden sich bei 
vielen Prozessen (z. B. Lupus, Ulcus molle, Rhinophym) anders aussehende 
kleine Plasmazellen, die von Unna atrophische Plasmazellen benannt 
wurden (s. Taf. Fig. 5). 

Der Unterschied ist hauptsächlich der, daß es bei den letzteren sich 
um einen tatsächlichen Zytoplasmaschwund handelt. Man beobachtet also, 
daß der Protoplasmasaum ganz unregelmäßig, granoplasmaarm, viel schwächer 
tingibel erscheint. Die Kerne sind chromatinärmer, homogener gefärbt. Es 
ist auch eine auffällige Differenz zwischen diesen zwei Arten von kleinen 
Plasmazellen in der Lagerung derselben im Gewebe. Die Plasmatochter- 


Digitized by 


Google 



358 


Plasmazellen. 


zellen liegen dicht beieinander, sie sind durch wenig Kollagen getrennt, die 
atrophischen Plasmazellen liegen dagegen, dorch wohlerhaltenes Kollagen so¬ 
weit getrennt, wie die vorher dagewesenen großen Plasmazellen gewesen sind. 

Es gibt auch Prozesse, wie z. B. Mykosis fungoides, bei welchen sich 
neben, gewöhnlichen Plasmazellen andere blässere und größere Zellen finden, 
an denen das Granoplasma stellenweise ausgewaschen oder vollständig aus¬ 
gelaugt ist, so daß der wabige Bau des Spongioplasmas deutlich hervortritt. 
Bei diesen Zellen ist meistens auch der Kern geschwollen, kugelig, chromatin- 
arm, doch finden sich auch dunkle Kerne, ja selbst Mitosen. Am Ende dieser 
Veränderung, die man als eine Kombination von Granolyse und Chro- 
matolyse bezeichnen kann, stehen blasse Schatten von Zellen (s. Taf. Fig. 6). 

Unna hat im weiteren nachgewiesen, daß wir mittelst der Behandlung 
des toten Materials durch Kochsalzlösungen, von verschiedener Konzentration 
und verschiedener Zeitdauer, die verschiedensten Formen von Auflösung 
und Zerfall des Zelleibes und Kernes nachzuahmen imstande sind. Man 
kann also Plasmazellen sehen, an denen sich das Granoplasma in Körner* 
und Tropfenform abbröckelt, so daß diese Körner die Kerne umgeben und 
in die Saftspalten hinübergehen. Es ist daher eine Granolyse, denn nach 
längerem Auswaschen in Kochsalzlösung zeigen schließlich die Plasmazellen 
nur wohlerhaltenen Kern mit einigen Körnern des Zytoplasmas an der 
Peripherie. Neben diesen sind auch künstlich erzeugte atrophische Plasma¬ 
zellen zu sehen. In dem Rhinopbymgewebe kann man durch dieselbe Prozedur 
die Erzeugung von Schaumzellen hervorrufen, welche gewöhnlich in Wund* 
granulationen und Rhinosklerom zu sehen sind. Endlich hat Unna ähnliche 
Bilder der Granolyse auch durch die Einwirkung des Serums auf die Ge¬ 
webe erzeugt gesehen. Längere Einwirkung der Kochsalzlösungen verursacht 
auch die Degenerationen der Kerne, in welchen das Chromatin abgeschmolzen 
und zu Fäden ausgezogen ist. Diese Kerndegeneration hat Unna Chro* 
matotexis benannt (s. Taf. Fig. 7). 

Bei einigen chronischen Dermatosen erleiden die Plasmazellen die 
hyaline Degeneration; am meisten ist das der Fall beim Rhinosklerom. 
Bei guter Hyalinfärbung zeigt sich, daß das Hyalin nur aus dem Grano¬ 
plasma entsteht (nicht aus den Körnelungen Schkiddks), während das Spongio- 
plasma noch lange in seiner Wabenform erhalten bleibt und die hyalinen Klümp¬ 
chen regelmäßig einschließt. Auch der Kern nimmt nie an der hyalinen 
Umwandlung teil, sondern persistiert, obwohl geschrumpft und etwas anders 
gefärbt. Unna beschreibt zwei Hauptformen dieser Degeneration: Brorabeer- 
form, bei welcher das kleinwabige Spongioplasma vollständig von kleinen 
Hyalinklumpen erfüllt ist, und Kugelform, welche einige wenige, aber größere 
Klumpen in der Zelle zeigt. Außer diesen finden sich noch kristalloide und 
schalenförmige konzentrische Gebilde von Hyalin (s. Taf. Fig. 8). 

Was die Herkunft der Plasmazellen betrifft, so nimmt Unna an, die 
Plasmazellen stammen von den Bindegewebszellen ab, da ihm die mikro¬ 
skopische Untersuchung bisher nur die geschilderte histiogene Abstammung 
als die einzig tatsächlich vorkommende ergab. 

Nachdem Unna durch Anwendung seiner vortrefflichen Protoplasma* 
färbung, im Gegensätze zu den allein früher gebräuchlichen Kernfärbungen, 
die Plasmazellen kennen gelehrt hatte, nahm die sich daran anschließende 
Diskusion verschiedene Richtungen an, besonders aber über den Ursprung 
und über die Frage von der rein pathologischen Bedeutung dieser Zellen. 

v. Mahschalkü war der erste, der das Wort in dieser Hinsicht genommen hat. Er hat 
in seiner ersten Arbeit bewiesen, daß in den bisherigen Kundzelleninfiltrationen verschiedener 
Prozesse gewisse Zellen deutlich hervortreten, die sich durch ihre Größe und Form, dorch 
ihre dunkle Färbung nnd eigentümliche Verteilung ihres Protoplasmas von den sie amgeben¬ 
den kleineren Rundzellen abheben. Die Form der Plasmazellen ist nach Marschalkö dort, 
wo sie frei liegen, gewöhnlich eine rnnde oder ovale, wo sie dicht nebeneinander liegen, 


Digitized by 


Google 



Plasmazellen. 


359 


eine mehr kubische, polygonale oder längliche. Der Kern liegt exzentrisch and bei den ovalen 
Zellen in dem einen Pole derselben. Die Verteilung dea Protoplasmas ist eine eigentümlich 
ungleichmäßige, derart, daß dasselbe gegen die Peripherie der Zelle sich znsammenballt und 
anhäuft, so daß der Rand am stärksten, nnd zwar dankeigefärbt erscheint, während in der 
Mitte des Zelleibes ein heller Hof entsteht. Diese beiden letzterwähnten morphologischen 
Eigenschaften seien nach Mabschalkö die charakteristischen Merkmale der Plasmazelle, 
während Unna das Hauptgewicht auf die Tinktion legt. Diese beiden Merkmale hat übrigens 
Umra ganz deutlich beobachtet und beschrieben, aber nur bei großen ovalen Zellen, die 
kleinen haben nur einen ganz schmalen Protoplasmamantel, so daß bei ihnen von Exzentrizität 
des Kerns keine Rede sein kann. Unna hat denn auch bemerkt, daß bei guter Färbung das 
körnige Protoplasma sich häufig ganz regellos verteilt zeigt, zuweilen fast ganz verschwunden 
ist — es handelt sich dann um degenerative und regressive Veränderungen. Daraus geht 
also hervor, daß Mabschalkö einen viel zu eng begrenzten morphologischen Habitus von 
anderen dazu gehörigen Zellen als Plasmazellen abgesondert hat. v. Mabschalkö ist aber auch 
durch Hervorrufen einer künstlichen Entzündung in verschiedenen Organen (Leber und Unter¬ 
hautzellgewebe) und durch seine histologischen Untersuchungen solcher entzündlichen Gewebs- 
stücke zu dem Schlüsse gekommen, daß in den ersten Stunden um die größeren Gefäße 
zahlreiche polynukleäre Leukozyten sich finden, welche aber nur eine provisorische Rolle 
spielen und bald verschwinden. Den wesentlichen Anteil jedoch nehmen an dem entzünd¬ 
lichen Infiltrat kleine runde Zellen, Lymphozyten, die aus den Gefäßen auswanderten. Die 
sogenannten Plasmazellen oder »Krümelzellen« Mabschalkös sieht er ebenfalls schon nach 
24 Stunden in solcher Menge zwischen den Lymphozyten auftreten, daß ihre Entstehung 
aus den fixen Bindegewebszellen wenigstens auf mitotischem Wege schon aus diesem Grnnde 
absolut ausgeschlossen erscheine. Dagegen versucht Mabschalkö zu beweisen, daß er die 
Umwandlung der Lymphozyten in Plasmazellen auf das deutlichste beobachtet hat. Er hat 
also eine nene Hypothese, die lymphozytäre Hypothese über die Genese der Plasmazellen 
aufgestellt, aber weder dieser Verfasser selbst noch jemand anderer hat dieselbe bisher 
einwandfrei bewiesen. Mabschalkö behauptet anch, daß in der normalen Milz der Tiere 
sowohl als auch der Menschen ganz massenhaft solche Zellen existieren, die von den Plasma¬ 
zellen sich weder morphologisch noch tinktoriell unterscheiden und die er demzufolge für 
solche ansprechen zu müssen glaubt. 

Demgegenüber Btehen die Untersuchungen Hodabas, nach denen die Plasmazellen in 
normalen blutbereitenden Organen nicht zu treffen sind, während da, wo solche konstatiert 
wurden, eine Organerkrankung nicht in Abrede gestellt werden konnte. In anderen Fällen 
jedoch zeigten die von ihm beobachteten Zellen morphologische Eigenschaften der Plasma¬ 
zellen, aber ihr Protoplasma war durchsichtig, so daß man sie mit Recht nicht als Plasma¬ 
zellen betrachten konnte. Ohne genaues Studium des Charakters der Plasmazellen konnte 
man die Zellen, die er infolge der Mannigfaltigkeit ihrer Formen als Polyeidozyten 
(Darieb) bezeichnet und die nichts weiteres als mononukleäre Leukozyten sind, leicht mit 
echten Plasmazellen verwechseln. Er hält Unnas Plasmazellen für ein pathologisches Produkt, 
da man sie andernfalls immer in normalen blutbereitenden Organen treffen müßte. 

Seit dieser Zeit sind die Plasmazellen im ganzen anerkannt worden 
und man ist darüber einig, daß sie nicht einfach als »Rundzellen« oder 
»embryonale Zellen« bezeichnet werden dürfen. Es herrscht aber keine 
Einigkeit über den Ursprung dieser Zellen. Es gibt Anhänger von Mar- 
schalkös Ansicht, daß die Plasmazellen aus ausgewanderten kleinen, ihnen 
morphologisch ähnlichen Lymphozyten hervorgehen, also hämatogenen Ur¬ 
sprungs sind, andere haben diese nur teilweise angenommen; es gibt aber 
auch Autoren, die auf Grund ihrer Untersuchungen zur UNNASchen Lehre 
neigen und sie mehr oder weniger bestätigen. 


Jusn kommt zu der Schlußfolgerung, daß die Plasmazellen wahrscheinlich durch eine 
progressive Entwicklung aus den kleinen runden Leukozyten entstehen. Den Stützpunkt 
für diese Ansicht sieht er darin, daß er in einiger Entfernung von Gefäßen niemals typischen, 
nicht veränderten Plasmazellen begegnete, welch letztere immer entweder unmittelbar an 
den Gefäßen oder doch unweit von ihnen lagerten — eine Observation, die niemand 
bestätigte. 

Kbompechkb steht im Prinzip auf dem Standpunkt Arnolds, nämlich, daß die Plasma¬ 
zellen sich hauptsächlich aus Lymphozyten bilden, obwohl auch Leukozyten dem Vorgänge 
der Plasmazellenbildung nicht fremd bleiben. Plasmazellen seien nach ihm Übergangsformen 
von Lymphozyten zu Bindegewebszellen. 

SchottlIndbr äußert sich auch in diesem Sinne. Aus seinen Untersuchungen geht 
aber hervor, daß ein prinzipieller Unterschied zwischen histiogenen und hämatogenen Wander¬ 
zellen nicht bestehe, daß beide in gleicher Weise progressiver Umwandlung fähig seien. 

Elsk von dbh Lkyen, welche akute und chronische Prozesse der Lungen, Pyosalpinx 
und Epithelioma untersucht hat, behauptet, daß die Plasmazellen sich stets mit Lymphozyten 
vornehmlich zusammenfanden und daß man Übergänge zwischen diesen beiden Zellarten nach- 


Digitized by 


Google 



360 


Plasmazellen. 


weisen konnte. Sie hat auch Lymphozyten innerhalb der Gefäß Wandungen , oft direkt im 
Durchritt durch sie begriffen, angetroffen. 

Ziegler kommt auf Grund der Einwirkung einer FiNSEN-RBYN-Lampe als entsündnag- 
erregendes Mittel zu folgendem Ergebnis: ln den ersten 15 Stunden sind im Enixündnnga- 
gebiet erscheinende Zellen als aus der Blutbahn stammende Elemente aufzufas&en. Zoerat 
treten die kleinen Lymphozyten auf, die sich dann im Gewebe durch Vermebrang des Grano 
plasmas zu sogenannten großen Lymphozyten (Polyblasten Maximows) umwandeln. Sie werden 
in den frühesten Stadien hauptsächlich mit dem stark fibrinreichen, entzündlichen Exsudat 
aus den Gefäßen mechanisch ins Gewebe hineingeschwemmt; nur zum kleinen Teil ist ihr 
Erscheinen zu erklären durch aktive Auswanderung, die aber in allen Stadien and in den 
späteren anscheinend häufiger beobachtet werden kann. Die granulierten Leukozyten, die 
zunächst gleichzeitig mit den Lymphozyten vorwiegend passiv ins Gewebe gelangen, treten, 
wie in der Blutbahn, gegenüber den Lymphozyten etwas zurück. Erst später wandern sie 
immer zahlreicher aktiv aus und überwiegen schließlich im Gewebe ganz erheblich. 

Nach Pinkus handelt es sich in den leukämischen Tumoren der Haut um reine massen¬ 
hafte Einlagerungen rundkerniger Zellen (Lymphozyten) in das Maschenwerk von Korium 
und subkutanem Gewebe. Pinkus sucht zu beweisen, daß eine Lymphozytenauswanderung 
aus den Gefäßen unwahrscheinlich, dagegen die Lymphozytenanhäufung durch Zellteilung 
am Orte des Infiltrates sehr wahrscheinlich sei. Er hat aber auch in diesen Fällen den 
Zellen in den Rundzelleninfiltraten sehr ähnliche Lymphozyten in den Blut- und Lymph¬ 
gefäßen gefunden. 

Für Maximow sind die kleinen und großen Lymphozyten des granulierenden Gewebes 
größtenteils ausgewanderte Blutzellen, die entweder direkt ad hoc aus den Gefäßen aus¬ 
wandern oder von präformierten lymphoiden Wanderzellen des Gewebes abstammen ; die 
letzteren sind aber nicht histiogenen Ursprungs, nicht autochthon, sondern ehemals ebenfalls 
emigriert. 

Andere Autoren, wie Cohnheim, Ybrsin, Tschivitowich, Metschnikoff, Arnold, 
Schbjdde, plädieren auch für den hämatogenen Ursprung der Plasmazellen, identifizieren 
diese mit einkernigen Lymphozyten und sprechen ihnen die Fähigkeit zu, sich in fixe 
Bindegewebszellen umzuwandeln. 

An der Grenze dieser zwei entgegengesetzten Theorien Über die Herkunft der Plasma¬ 
zellen steht die dualistische Lehre von Joannowicz, nach welcher am Aufbau von Granu- 
lationsgewebe sowohl histiogene Elemente, wie aasgewanderte Blutelemente, partizipieren. 
Er meint also, daß die Plasmazellen sowohl aus Lymphozyten, wie aus fixen Stroma zellen 
hervorgehen können. 

Almkvi8t hat in einem Falle von Lupus die UNNASchen Plasmazellen und alle mög¬ 
lichen Zwischenformen zwischen diesen und den Bindegewebszellen beobachtet. In einem 
anderen Falle von dieser Krankheit dagegen fand er in ziemlich diffus ausgebreitetem 
Granulationsgewebe große protoplasmareiche Zellen, die mit den von Marschalkö als 
Plasmazellen bezeichneten Zellen übereinstimmten. Almkvist sagt weiter, daß er in keinem 
Falle beide Arten von Plasmazellen zusammen angetroffen hat, und er läßt es dahingestellt, 
ob die UNNAschen Plasmazellen lediglich aus Bindegewebszellen, die MAascHALxöschen aus¬ 
schließlich aus Leukozyten entstehen und ob nicht die Möglichkeit einer anderen Herkunft 
dieser Zellen besteht. 

Unna hat nach der Prüfung der ALMKVisTSchen Präparate die gefundenen Differenzen 
der Plasmazellen durch den Gebrauch eines gerbsäurehaltigen Spiritus beim Härten des 
einen Präparates erklärt. 

Porcile hat die Plasmazellen in der Leber, in welche er Terpentinöl einspritzte, schon 
nach 30 Stunden um die großen Gallengänge gefunden. Er leitet sie von Lymphozyten ab, 
die im Gewebe präexistent gedacht werden, also nicht aus Blutgefäßen ausgewandert sind. 

Nach Schridde entwickeln sich die Plasmazellen aus den perivaskulär gelegenen 
Lymphozyten; er ist aber der Ansicht, daß die Plasmazellen niemals direkt von den Blut¬ 
lymphozyten abstammen können, sondern immer bloß von den kleinen, perivaskulär gelegenen 
Lymphozyten. Bindegewebszellen können nach ihm auf keinen Fall als Mutterzellen der 
Plasmazellen angesprochen werden, ebensowenig wie sie aus denselben hervorgehen können. 
Er behauptet auch, daß zwischen Plasmazellen und Leukozyten vielseitige Analogien in 
morphologischer und biologischer Hinsicht bestehen — trotz der differenzierten Zellform, 
als Zeichen für die verwandte Abstammung, Knochenmarkzellen einerseits, perivaskuläre 
Lymphozyten andrerseits. In den Plasmazellen hat Schbjdde über eigentümliche Kurnelungcn 
berichtet. Dem mikrochemischen Verhalten nach hat er in diesen Zellen neutral-, azidophil- 
und metachromatisch-basophil-gekömte Individuen unterschieden. 

Viele Antoren stellen sich wiederum auf die Seite der UNNAschen An¬ 
schauung, daß die Plasmazellen durch Proliferation der fixen Bindegewebs¬ 
zellen entstehen, während andere, wie Ziegler und Thoma, sich d&hin 
äußern, daß diese sog. embryonalen Bindegewebszellen Derivate der Kapil- 
larendothelien wären, was Unna in seinem Histologischen Atlas auch deutlich 
nachgewiesen hat. 


Digitized by t^ooQle 



Plasmazellen. 


361 


Hiebest, der neben der Haut hauptsächlich die Schleimhäute untersuchte, kommt zu 
dem Resultate, daß die in dem Granulationsgewebe sich befindenden Plasmazellen binde¬ 
gewebiger Natur sind. Er hat auch beobachtet, wie die Plasmazellen aus dem Bindegewebe 
in die Gefäße emigrieren, das Umgekehrte aber bat er niemals gesehen. 

Die Hypothese Ribbebts ist auch von der Ansicht Mabschalkös abweichend, da er 
anf dem Standpunkt steht, daß die Infiltrationszellen durch Wucherung kleinster präformierter 
Lymphknötchen hervorgehen. Während Marschalkö diese Rundzellen für aus den Gefäßen 
aosgewanderte Lymphozyten hält, erklärt Bie Bibbert für extravaskulär an Ort und Stelle 
entstandene Lymphozyten und ihre Anhäufungen somit nicht für Infiltrate, sondern für 
Hyperplasien. 

Nach Boskllihi stammen die Plasmazellen von den fixen Bindegewebszellen ab. In 
einigen Granulomen können sie sich in junge fixe Bindegewebszellen umwandeln, in anderen 
degenerieren sie zu teils epithelioiden, teils kolloiden oder hyalinen Zellen. Die Plasmazellen 
sind von den Elementen, die aus den Gefäßen stammen und ihnen sehr ähneln können, zu 
trennen; letztere wären als Pseudoplasmazellen zu bezeichnen. Ein Unterschied zwischen 
Plasma- und Pseudoplasmazellen läßt sich insofern machen, daß die ersteren ein pathologi¬ 
sches Produkt darstellen, welches durch Umbildung der präexistierenden fixen Zellen ent¬ 
standen ist, während die Pseudoplasmazellen eingewanderte, im normalen lymphoiden Gewebe 
als das Resultat eines physiologischen Prozesses entstandene zeitige Elemente Bind. Bosellini 
beschreibt, wie die fixe Zelle unter einem pathologischen Reize reicher an Kernchromatin 
wird, während sich das Zytoplasma verdichtet, größer und basophil wird. Die Basophilie 
kann verschiedene Intensitätsgrade zeigen, weshalb die Plasmazellen verschiedenes Aus¬ 
sehen haben können. (UNNAScher, Marsch ALKÖscher Typus und verschiedene intermediäre 
Typen.) Von diesen verschiedenen Zellentypen stammen auch kleine plasmazelluläre Elemente 

ab (Tochterzellen). 

Sehr interessant sind die Ausführungen von C. Otto, der im Blut, in der Milz und 
im Knochenmark nie Plasmazellen nachweisen konnte. Er verneint auch auf Grund zahl¬ 
reicher Beobachtungen an großem Material von Typhus und Tuberkulosekranken die An¬ 
schauung, daß die kleinen Lymphozyten per diapedesin aus den Blutgefäßen emigrieren. Es 
unterliegt für Otto keinem Zweifel, daß die kleinen Lymphozyten im Entzündungsgewebe 
nicht hämatogenen Ursprungs sind. Otto fand auch bei Karzinomen verschiedene Formen, 
die als Zwischenstufen zwischen den fixen Bindegewebszellen und den Plasmazellen zu 
deuten waren. Er hat auch fast alle von Unna beschriebenen Metamorphosen der Plasma¬ 
zellen beobachtet. 

Ehelich (Leo) ist auch ähnlicher Meinung, denn er sagt: »Es gibt bisher nur eine 
sicher bewiesene Entstehungsart der UNNAseben Plasmazellen und diese ist die Entstehung 
ans hypertrophischen BindegewebBzellen mittelst eigenartiger Übergangszellen.« 

Ramon v Cajal erklärt: Die embryonalen Bindegewebszellen der Neubildungen, chroni¬ 
scher entzündlicher Prozesse und Granulome stammen weder von fixen Bindegewebszellen, 
noch von Leukozyten, noch von Endothelien, sondern von gewissen bindegewebigen Keim- 
körperchen (corpusculos germinalis), welche in den Lymphspalten des Bindegewebes, haupt¬ 
sächlich aber unter den Epithelien, sowie auch Blutgefäßen von bestimmtem Kaliber entlang 
angehäuft sind. Das Hauptlager dieser bindegewebigen Keimkörperchen, die Ramon y Cajal 
mit Osteoblasten, Leuko- und Erythroblasten usw. identifiziert, sollen die Lymphdrüsen 
sein, deren zellige Elemente er zum größten Teil für solche Keimkörperchen hält; sie sollen 
aber auch in anderen Organen und Gewebsarten vorzufinden sein. 

Nach P. FoAs Ansicht stammen die Plasmazellen weder von den Blutelementen ab, 
noch von den fixen BindegewebBzellen, sondern sie bilden Zellen sui generis, die neben den 
fixen Zellen existieren, aber seltener sind als die letzteren. Diese Zellelemente existieren 
neben den Fibroblasten in der Form kleiner runder Elemente, welche wie Lymphozyten 
aussehen und im Ruhezustände einen runden Kern mit nur wenig Protoplasma bilden. 
Unter der Wirkung eines gewissen Reizes nimmt die Menge des vorherrschend basophilen 
Protoplasmas in den kleinen runden Elementen zu und diese letzteren werden zu Plasma¬ 
zellen umgebildet. 

Veratti neigt zu der Ansicht, daß die Plasmazellen nicht hämatogenen, sondern 
histiogenen Ursprungs sind. Dagegen — sagt er — weiß man nicht, ob alle oder nur eine 
bestimmte Kategorie von fixen Bindegewebszellen befähigt sind, sich in Plasmazellen um¬ 
zuwandeln. Es scheint jedoch, daß hierbei besonders diejenigen fixen Zellen eine Rolle 
spielen, die sich in unmittelbarer Nähe der Gefäße befinden, die sogenannten Adventitia- 
zellen von Marchavd oder die den Klasmatozyten ähnlichen Zellen. Die lymphozytenähnlichen 
Elemente, welche für sich allein oder in Verbindung mit den Plasmazellen die sogenannten 
kleinzelligen Inliltrationsherde bilden, haben nichts mit den Plasmazellen zu tun und stammen 
nicht von ihnen ab. Die Bezeichnung von »Tochterplasmazellen« ist somit eine unpassende. 
Die Ansammlung von Leukozyten ist eine Reaktionsform der Gewebe und der Gefäße, welche 
gleichzeitig mit jeder anderen Reaktionsform bestehen kann, die zur Umwandlung der fixen 
Bindegewebszellen in Plasmazellen führt, von der sie aber unabhängig ist. 

Nach Whitfield sammeln sich bei einer chronischen Entzündung Zellen an, welche 
von den Lymphozyten und den großen mononukleären Zellen des normalen Blutes nicht zu 
unterscheiden sind. Sie werden zuerst in der Nachbarschaft der Kapillaren und kleinen Venen 


Digitized by 


Google 



362 


Plasmazeilen. 


erzeugt. Viele dieser Blotgefäße sind von ihnen vollgepfropft. Es ist nicht unwahrscheinlich, 
daß die mononukleären Zellen des Blotes vom Endothel abstammen nnd daß von derselben 
Quelle her die Lymphfollikel sich entwickeln mögen. Die kleinen mononukleären Zellen oder 
Lymphozyten stammen in der Mehrzahl nicht von den Plasmazellen ab. Am wahrschein¬ 
lichsten ist für Whitfield der Ursprung der lokal produzierten Zellen im Endothel der 
Gefäße nnd der perivasknlären Räume zu suchen. 

Nach den Befunden von Huik an der Milz eines Hnndes erscheint es ihm nicht 
zweifelhaft, daß die Plasmazellen dnrcb Abstoßung von den Endothelien der Blutgefäße ent¬ 
stehen, während er den lymphozytären Charakter derselben völlig negiert. Endlich sollen 
noch die Anschaunogen Pappenhetms Erwähnung finden, die Anschauungen, die der Verfasser 
selbst mit der Zeit modifizierte. Er hat im Jahre 1902 der Ansicht Ausdruck gegeben, daß 
die Plasmazellen durch eine Umwandlung der in loko autochthon vermehrten lympbozytifoimen 
Wanderzellen entstehen; er meinte auch, daß diese letzteren Zellen einer lokalen extra¬ 
vasalen Proliferation, im Sinne von Marchand, gewisser adventitieller Bindegewebszetlen 
(Klasmatozyten; ihre Entstehung verdanken. In dem 8inne also wären zweierlei Bindegewebs¬ 
zellen zu unterscheiden, die in der Plasmazellenfrage eine Rolle spielen, einmal gewöhnliche 
Bindegewebszellen, die sich in histiogene Entzündungszellen bzw. Fibroblasten umformen 
(welche Pappenheim Plasmazellen nicht benannt wissen will), und zweitens gewisse endo¬ 
theliale Perithelien, die erst durch multiple Proliferation eine Brut junger kleiner lympho¬ 
zytenförmiger Wanderzellen produzieren, die sich in Plasmazellen (Marschalkös) umformen. 
Dementsprechend wären ebenfalls zweierlei Lymphozyten zu unterscheiden: echte hämato- 
organogene Blutlymphozyten und zweitens histiogene, d. h. von Bindegewebszellen abstammende, 
lymphozytoide Wanderzellen. 

Für die eigentlichen (wie Pappenheim nur die MARSCHALEÖschen Zellen nennt) Plasma¬ 
zellen kämen nur die histiogenen Wanderzellen in Betracht, da das Emigrationsvermögen 
echter Lymphozyten bestritten ist. Später (1905) hat Pappenheim auch Plasmazellen (Hodaras 
Pseudoplasmazellen) aus eigentlichen echten Lymphozyten der hämatopoetischen Organe an¬ 
erkannt, aber nur in diesen Organen selbst. Er gibt zwar im weiteren Mabschaleö zu, daß 
die Plasmazellen ans emigrierten Lymphozyten sich bilden, er meint aber auch, daß das 
Gros der entzündlichen lymphozytären Infiltrations- und Granulationszellen und der ans 
ihnen entstehenden Plasmazellen, wenn schon echte Lymphozyten, so doch nicht emigrierte, 
sondern in loco entstandene, ammigrierte und vermehrte Lymphozyten von ursprünglich 
histiogec-perithelialer Abkunft darstellen. Es sei auch erwähnt, daß Pappbnheim Plasmazellen 
nicht nur, wie Schridde, aus kleinen Lymphozyten, sondern auch aus großen lymphoblastischen 
Lymphozyten, eventuell lymphoiden Leukozyten, ableitet. 

Alle diese Hypothesen und Theorien über die Herkunft der Plasma- 
zellen und über ihr Verhältnis zu anderen Zellelementen beweisen, wieviel 
Interesse die von Unna beschriebenen Zellen erweckt haben — sie können 
aber die ursprüngliche Ansicht (Unna) über die Genese dieser Zelle bisher 
nicht stürzen, da wenigstens bis jetzt von niemandem mit absoluter Sicher¬ 
heit bewiesen worden ist, daß die Plasmazellen anderer Natur sind. 


Literatur: Almkvibt, Vibchows Archiv, 1902, CLXVI; A. f. Derm., LVI1I; Monats¬ 
hefte f. prakt. Derm., 1902, XXXIV. — Arnold, Münchener med. Wochenschr., 1906. — Bacm- 
o arten , Deutsche path. Gesellsch., Kassel 1903. — Benda, A. f. Anat. u. Physiol., 1896- —- 
Bosellini, Giorn. ital. d. mal. d. 1. pell., 1902, 1904. — Castellani, Journ. of cut. dis.. 1908. — 
Darier, Annal. de derm., 1895; La prat. derm., 1900. — Dominici, Assoc. d’anat , 1901; A. d. 
med. exp., 1902. — Ehrlich, A. f. mikr. Anat., 1877. — Ehrlich, L. , Vircbows Archiv. 
CLXXV. — Foa, A. ital. d. biol., XXXVIII. — Gcland u. Lovell, Brit. med. Journ., 1904. — 
Herbert, Monatshefte f. prakt. Derm., 1900, XXX. — Himmel, Ibidem, 1902, XXXIV. — 
Hodara, Ann. d. derm., 1895; Monatshefte f. prakt. Derm., 1896, XXII. — Hoffminn, R.. 
Münchener med. Wochenschr., 1904. — Israel, Berliner klin. Wochenschr., 1905 — Jadas- 
sohn, II. Kongreß deutscher Dermatologen, 1891; A. f. Derm., 1892; Berliner klin. Wochen¬ 
schrift, 1893; Erg. d. Path., 1896. — Joannowitz, Zeitsehr. f. Heilk., 1899, XXII. — Jollt, 
Assoc. d’anat., Lyou 1901. — Joseph, Monatshefte f. prakt. Derm., 1902, XXXIV. — Jüsti, 
Virchows Archiv, 1897, CL. — Krompkcher, Beitr. z. path. Anat. , 1898, XXIV. —- Leven, 
Else, Inaug.-Diss., Halle 1901. — Macleod, Path. of the skin., London 1903. — Marchakd, 
X. intern. Kongreß. Berlin 1890. — Marschalkö , A. f. Derm., 1895, XXX; Zentralbl. f. allg. 
Path., 1899, X. — Maximow, Beitr. z. path. Anat., 1902. — Neisseb, A. f. Derm., 1895, XXXI. 
— Otto, C., Poln. Zeitschr. f. Derm., 1907, II. — Otto, H., Inaug.-Diss., Zürich 1904. — 
Pappenheim, Virchows Archiv, CLI, CLX, CLXIV, CLXV, CLXIX; Monatshefte f. prakt. Denn., 
1901, XXXIII; 1902, XXXIV, XXXV; 1903, XXXVI; Berliner klin. Wochenschr., 1908; 
F. Haem., 1907, IV; 1908, V. — Pinkus, A. f. Derm., 1899, L. — Pobcilb, Zieglers Beitr. 
z. path. Anat., 1904, XXXVI. — Ramon y Cajal, Rev. trim. micrograf., 1896. — Ravoou, 
Monatshefte f. prakt. Derm., 1908, XLVI. — Ribbert, Virchows Archiv, 1897, CL. — Rubens- 
Düval, A. d. med. exp., 1906; Cytologie des inflammat., Paris 1908. — Schlesinger, Virchows 
Archiv, 1902, CLXIX. — Schottländer, Eierstocktuberkulose, Jena 1897. — Schbidde. 


Digitized by 


Google 





Tafel IX. Zum Artikel „Plasmazell en a . 


Encyclopädische Jahrbücher. N. F. VIII. 







Digitized by 



Plasmazellen. — Plastische Operationen, 


363 


Münchener med. Wochenschr., 1905; Zentralbl. f. allg. Path., 1905; Anat. Hefte, 1905; A. f. 
Denn., 1905, LXXIH. — Unna, Monatshefte f. prakt. Denn., 1891, XII; 1894, XIX; 1895, 
XX; 1901, XXXII; 1902, XXXIV, XXXV; 1903, XXXVI; 1904, XXXVIII; Berliner klin. 
Wochenschr., 1892. 1893; Deutsche Med.-Ztg., 1895, 1902; Enzykl. d. raikr. Technik; Histol. 
Atlas, 6/7. 8. — Unna u. Speck, Monatshefte f. prakt. Denn., 1891, XIII. — Veratti, Bizzoni, 
Pavia 1906. — Veress, Monatshefte f. prakt. Denn., 1908, XLVI. — Vlasopp u. Sepp, Med. 
Cbosr. Moskau, 1903. — Waldeyer, A. f. mikr. Anat., 1875; Monatshefte f. prakt. Denn., 1895, 
XXI. — Williams, H., Amer. Jonrn. of the med. Sciences, 1900. — Whitpibld, Brit. Jonrn. 
of denn., 1904. — Wolpp, A., Berliner klin. Wochenschr., 1901; Münchener med. Wochen¬ 
schrift, 1902; A. d. mdd. exp., 1903. — Wolpp n. Michaelis, Deutsche med. Wochenschr., 
1901; Virchows Archiv, 1902, CLXVII. — Ziegler, K., Zentralbl. f. allg. Path., XVIII. 

Krzysztalowicz. 


Erklärung der Tafel. 

Fig. 1. Plasmazellen (Syphilis, Epitheliom, Lupus). 

Fig. 2a. Entstehung der Plasmazellen aus Spindelzellen (Epitheliom, Aktinomykosis, Lupus). 
Fig. 26. Entstehung aus Endothelien (Syphilis primaria). 

Fig. 3. Plasmatochterzellen (Syphilis primaria, Lupus). 

Fig. 4. Ödem der Plasmazellen und Übergang zu den Schaumzellen und Fibroblasten 
(Granulationen). 

Fig. 5. Atrophische Plasmazellen (Rhinophym). 

Fig. 6. Granolyse und Chromatolyse (Mycosis fungoides). 

Fig. 7. Granolyse und Chromatolyse durch Kochsalzbehandlung. 

Fig. 8. Hyaline Degeneration der Plasmazellen (Scleroma). 

Färbung der Fig. 1 —7: Methylenblau — Methylgrün-f Pvronin-Methode (Pappenheim- 
Unna). — Fig. 8: Methylenblau -f Safranin—Alaun—Anilin-Methode (Unna). 


Plastische Operationen. Wir beschäftigen uns zunächst mit 
den plastischen Operationen an der Haut. Die einfachste Methode, um einen 
Hantdefekt zu schließen, besteht, abgesehen von der Hauttransplantation 
(siehe Transplantation), in dem Herbeiziehen der von der Unterlage etwas 
abgelösten Wundränder und in der Vereinigung derselben durch die Wund¬ 
naht. Zuweilen verbindet man damit seitliche Entspannungsschnitte, um die 
Nahtlinie zu entspannen. Sehr zweckmäßig ist es, wenn man ferner dadurch 
die Hautverschiebung bewirkt, daß man vom Defekt aus nach bestimmter 
Richtung einen oder zwei oder mehrere Verlängerungsschnitte ausführt, ent¬ 
weder geradlinig oder bogenförmig, und dann durch Abpräparieren der Haut 
von der Unterlage eine Lappenbildung vornimmt und durch Hautverschiebung 
den Defekt schließt. 

Die wichtigste und am häufigsten angewandte Methode der plastischen 
Operationen besteht in der Bildung gestielter Hautlappen. Bei der Bildung 
dieser gestielten Lappen ist stets sorgfältig darauf zu achten, daß dieselben 
gut ernährt sind und per primam einheilen. Der Stiel des Lappens muß 
stets so gebildet und gelagert werden, daß genügend Gefäße in den Lappen 
eintreten können, d. h. der Stiel sei nicht zu schmal, nicht zu dünn und 
werde bei der Einpflanzung des Lappens in den Defekt nicht zu sehr 
gedreht. Wie Gersuny zuerst gezeigt hat, kann man zuweilen Hautlappen, 
welche nur einen möglichst dicken Stiel aus Unterhautfettgewebe besitzen, 
mit Vorteil zu plastischen Zwecken verwerten. Ein solcher Lappen wird 
wie ein Türflügel in den Defekt eingeschlagen oder durch ein Hautloch, 
z. B. bei Defekten der Wange resp. der Mundschleimhaut, so in die Mund¬ 
höhle gelegt, daß die Hautfläche nach letzterer gerichtet ist. Ist im Bereich 
der Hautdefekte Haut in genügender Weise nicht vorhanden, dann ent¬ 
nehmen wir sie von entfernten Körperteilen, z. B. für die Rhinoplastik 
vom Ober- oder Vorderarm. In neuerer Zeit hat man immer häufiger Haut¬ 
defekte durch Einheilen gestielter Lappen von entfernten Körperstellen durch 
sogenannte Wanderlappen ergänzt, besonders auch dann, wenn die Haut¬ 
transplantation nach Thiersch oder Krause (siehe Transplantation) nicht 
möglich ist. Auf diese Weise kann man die konservierende Behandlung 


Digitized by 


Google 



364 


Plastische Operationen. 


schwerer Extremitätenverletzungen noch ansführen, wo sie früher nicht mehr 
möglich war. Man hat besonders einfache oder doppeltgestielte (brücken¬ 
förmige) Hantlappen vom Thorax oder Oberschenkel auf frische oder granu¬ 
lierende Weichteildefekte im Bereich des Ellbogen- oder Handgelenks, in der 
Kniekehle nsw. eingeheilt and dadurch Kontrakturen der genannten Gelenke, 
z. B. nach Verbrennungen, nach Hautabreißungen etc. verhindert resp. be¬ 
seitigt (v. Hacker, Steinthal, Tillmanns u. a.). Plessing empfahl, für 
Höhlen wanddefekte, z. B. der Mundhöhle, oder bei Ectopia vesicae solche 
gestielte Hautlappen anzuwenden, welche vorher durch Hauttransplantation 
nach Thiersch überhäutet sind. 

Auch am Knochen heilen Wir Defekte durch Bildung gestielter Periost¬ 
knochenlappen oder Hautperiostknochenlappen oder durch Implantation von 
entsprechenden Stücken lebender Knochen Substanz mit Periost (freie Auto¬ 
plastik), endlich durch Einheilung von verschiedenem teils homoplastischem, 
teils heteroplastischem Material. 

Bezüglich der plastischen Operationen an den Sehnen, Muskeln und 
Nerven verweise ich auf die Artikel Sehnennaht und Nervennaht. 

Das bis jetzt im allgemeinen 
Fig 42 Gesagte wird am besten durch die 



Die Schädelhöhle eröffnen wir oft unter Bildung gestielter Haut- 
periostknochenlappen (Fig. 42), indem wir den Knochen mittelst der Fraisen 
von Doyen oder Sudeck anbohren und dann von diesen Bohrlöchern aus 
den Knochen mittelst Knochenzangen (Dahlyren, Tillmanns) oder der Draht¬ 
säge nach Gigli oder elektrischer Kreissägen unter möglichster Beschrän¬ 
kung der Blutung durchtrennen; an der Basis des Knochenlappens wird die 
Knochenbrücke von beiden Wundwinkeln aus leicht eingemeißelt und dann 
klappt man den ganzen Lappen auf (Fig. 42). Den so gebildeten Weichteil¬ 
knochenlappen heilt man später wieder ein. Die Anwendung des Meißels 
bei der Bildung gestielter Knochenlappen ist am Schädel immer seltener 
geworden. Oft wird der Schädel in der Weise eröffnet, daß man nach An¬ 
bohrung des Knochens mit einer DoYENschen Kugelfraise einen größeren 
Teil des Knochens mit einer Knochenzange einfach entfernt. Größere Knochen¬ 
defekte am Schädel bleiben gewöhnlich als Knochenlücken bestehen, nur in 
Ausnahmefällen hat man beobachtet, daß sich Schädeldefekte von 8—20 cm 
Umfang knöchern geschlossen haben (F. Küster, P. von Bruns, Tillmanns). 
Knochendefekte der Schädelknochen (siehe Fig. 43 A) kann man in verschiedener 
Weise operativ schließen, besonders durch Autoplastik, d. h. durch einen ge¬ 
stielten Hautperiostknochenlappen aus der Lamina externa der nächsten Um- 


Digitized by 


Google 



Plastische Operationen. 


365 


gebung nach W. Müller und F. König (siehe Fig. 43 2?), durch subkutan ver¬ 
schobene gestielte Periostknochenstficke oder Periostlappen nach v. Hacker, 
durch Implantation eines KnochenstQckes mit Periost von der vorderen Fläche 
der Tibia, von gekochtem Knochen oder heteroplastisch, z. B. durch Ginheilung 
einer Zelluloidplatte nach Fraenkel oder von Zelluloidstreifen nach Porges 
(siehe den Artikel Transplantation). 

Die Technik der plastischen Operationen an den äußeren Weichteilen 
ergibt sich am besten aus der Beschreibung der Lippen-, Wangen- und Nasen¬ 
plastik. 

Die plastischen Operationen an den Lippen (Cheiloplastik). 
Wir berücksichtigen zunächst den plastischen Ersatz der Unterlippe. 
Kleinere dreieckige oder bogenförmige Defekte an der Unterlippe können 
durch Heranziehung der dehnbaren Lippenteile ohne plastische Operation 
durch die Naht geschlossen werden, nach Bedarf erweitert man die Mund¬ 
öffnung durch einen horizontalen Schnitt von einem oder von beiden Mund¬ 
winkeln aus. Fügt man dem horizontalen Erweiterungsschnitt noch je einen 
Längsschnitt oder Bogenschnitt hinzu, so entstehen zwei seitliche Lappen 


Fig. 44. 


Fig.45. 


Fig. 46. 



Fig. 47. 


Fig. 48. 


Fig.49. 



nach Fig. 44 (Cheiloplastik nach Dieffenbach) oder nach Fig. 45 (nach Jaesche). 
Bei dem letzteren Verfahren werden die horizontalen Erweiterungsschnitte 
an den Mundwinkeln nur bis auf die Schleimhaut geführt, letztere wird dann 
abpräpariert und entsprechend den punktierten Linien in Fig. 45 höher oben 
durchschnitten; das so gebildete Schleimhautläppchen wird Jederseits zur 
Umsäumung der Hautlappen benutzt. Oft genügt ein einziger seitlicher 
Lappen nach Fig. 45 (nach Jaesche), man muß ihn dann natürlich entsprechend 
breiter bilden. Die Cheiloplastik nach Syme-Buchanan (Fig. 46), nach Blasius 
(Fig. 47), nach Estländer aus der Oberlippe (Fig. 48 und Fig. 49 nach der Naht), 
nach v. Langenbeck (Fig. 50, 53 und 54 [nach der Naht von Fig. 53]) und 
nach Bruns sen. (Fig. 51 und 52 [nach der Naht von Fig. 51]) ist nach 
den Abbildungen leicht verständlich. Die in Fig. 50 abgebildete Umschneidung 
der Unter- und Oberlippe mit Verziehung des Lippensaumes nach v. Langen¬ 
beck eignet sich besonders für seitliche Defekte. Das Lippenrot wird man, 
wenn möglich, durch Abpräparieren und Verziehen des Lippensaumes aus 
der Oberlippe entnehmen (Fig. 50 und 55). Mit Schleimhaut umsäumte 
Lappen schrumpfen weniger. Bei jeder Cheiloplastik soll man die Schleim- 


Digitized by 


Google 



366 


Plastische Operationen. 


haut nach Möglichkeit erhalten, sie entsprechend ablösen und zur Umsäumung 
benutzen. Endlich sei noch das Verfahren von Morgan erwähnt, welcher 
die Unterlippe durch Verschiebung der Unterkinnhaut bildet, indem er nach 
Fig. 56 einen dem Defektrande parallelen Schnitt entlang dem Unter¬ 
kiefer führt. 

An der Oberlippe sind plastische Operationen seltener als an der 
Unterlippe. Größere Defekte kann man durch Dieppenbachs Wellenschnitt 
decken, indem man die Nasenflügel nach Fig. 57 umschneidet und die 
Wundränder genügend vom Knochen ablöst, so daß schließlich die Operations¬ 
wunde nach der Naht das in Fig. 58 wiedergegebene Aussehen hat. Auch 
durch Bildung seitlicher Lappen aus der Wange nach Fig. 59 kann man 
die Oberlippe bilden. Empfehlenswert ist ferner die Bildung zweier ähnlicher 



Fig.66. 


Fig. 67. 


Fig. 68. 


Fig. 69. 



Lappen wie in Fig. 59, aber aus der unteren seitlichen Wangen- und 
Kinnhaut nach S£dillot, indem man vom Mundwinkel durch die ganze 
Dicke der Weichteile jederseits gerade nach abwärts schneidet, dann den 
Lappen weiter durch Querschnitt, dann durch Schnitt nach oben bildet, so 
daß die Basis des Lappens jederseits seitlich vom Mundwinkel liegt. Diese 
Methode von S£dillot eignet sich auch für die Cheiloplastik an der Unter¬ 
lippe. Auch die EsTLANDERSche Methode für die Unterlippe (Fig. 48 und 49) 
läßt sich für die Cheiloplastik an der Oberlippe verwenden, indem man einen 
analogen Lappen aus der Unterlippe entnimmt. Auch bei der Cheiloplastik 
an der Oberlippe soll man die Schleimhaut nach Möglichkeit erhalten und 
zur Umsäumung der Hautlappen benutzen; besonders wird man hier die 
freien Lippenränder mit Schleimhaut aus der Unterlippe resp. von den Mund¬ 
winkeln umsäumen. 


Digitized by ^.ooQle 



Plastische Operationen. 


367 


Die Mundbildung (Stomatoplastik) wird teils bei angeborenen 
oder erworbenen Defekten, teils bei narbiger Verengerung der Mundöffnung 
ausgeffthrt. Man verfährt hier teils nach den Regeln der Hasenscharten¬ 
operation, teils ähnlich wie bei der eben beschriebenen Cheiloplastik oder 
wie bei der Wangenbildung (Meloplastik, siehe unten). Die narbigen Ver¬ 
engerungen der Mundöffnung können hohe Grade erreichen, man beseitigt 
sie in einfachen Fällen durch Spaltung der vorhandenen Öffnung jederseits 
in horizontaler Richtung und umsäumt dann die beweglich gemachten Wund¬ 
ränder mit der genügend abpräparierten Schleimhaut. Fehlt die Schleimhaut, 
dann umsäumt man die Wundränder mit äußerer Haut. An der Stelle des 
neuen Mundwinkels wird man, wenn möglich, eventuell jederseits einen drei¬ 
eckigen Schleimhautlappen bilden, indem man den Schnitt hier -^-förmig 

gestaltet. 

Eng verbunden mit der Stomatoplastik ist, wie schon erwähnt, die 
Wangenbildung (Meloplastik). Kleinere Substanzverluste schließt man 
durch Herbeiziehung der hier sehr dehnbaren Wundränder durch einfache 


Fi?. 60. 


Fig. 61. 


Fig.62. 


Fig. 63. 




Naht. Oberflächliche* nur die Haut 
betreffende Defekte können auch 
durch Hauttransplantation gedeckt 
werden (siehe Transplantation). 
Bei größeren Defekten benutzt man 
gestielte Lappen aus der Stirn-, 
Schläfen-, Oberkiefer-, Unterkiefer¬ 
oder Kinngegend, z. B. nach Fig. 60 
und 61 [nach der Naht]). Bei jeder 
Wangenplastik soll man darauf 


werden. 

Schwieriger ist die Wangenbildung bei ausgedehnteren Substanzverlusten 
mit Kieferklemme, z. B. nach Noma. Gussenbauer pflanzte mit gutem 
Erfolg nach Spaltung resp. Anfrischung der Wange gedoppelte Hautlappen 
in den Defekt, aber das Verfahren in Fig. 60 und 61 genügt auch. Man 
kann ferner, z. B. nach Exstirpation von Wangenkarzinomen, Hautlappen aus 
der Wangen-, Schläfen-, Unterkiefer- oder Kinngegend so einnähen, daß die 
Hautfläche nach der Mundhöhle zugekehrt ist (Fig. 62 und 63 nach 
Kraske). Die äußere Wundfläche in Fig. 63 kann man dann durch Haut¬ 
transplantation oder später durch einen zweiten Lappen decken. Ist in der 
Nähe des Defektes nicht genügend Haut vorhanden, dann empfiehlt sich 
das Verfahren von Israel (Fig. 64—66), d. h. man nimmt einen langen 
Lappen aus der mittleren Halsseite (Fig. 64) oder aus der Brustgegend (Hahn), 
näht ihn mit der Hautseite nach der Mundhöhle in den Defekt (Fig. 65), 
durchtrennt nach seiner Einheilung den Stiel, klappt den Hautlappen doppelt 
zusammen, so daß dann nach der Mundhöhle und nach außen Haut liegt 


Digitized by 


Google 




368 


Plastische Operationen. 


(Fig. 66). Unter Umständen kann man den Decklappen vom Oberarm entnehmen. 
Näht man Hautlappen mit der Wundfläche nach der Mundhöhle hin in den 
Defekt, dann kann man eine Schleimhautdecke von der Ober- oder Unter¬ 
lippe oder vom harten Gaumen bilden. 

Die plastischen Operationen an der Nase betreffen vor allem 
die totale oder partielle Rhinoplastik. Die totale Rhinoplastik besteht 
bekanntlich aus vier Akten: 1. Anfrischung des Defektes; 2. Umschneidung 
und Ablösung des Stirnlappens mit Periost und etwas Knochen, den man 
vom Stirnbein abmeißelt; 3. Drehung und Überpflanzung des in bestimmter 
Weise modellierten Lappens in den angefrischten Nasendefekt durch sorg¬ 
fältige Naht (Fig. 67); 4. Verkleinerung des Stirndefektes durch Situations¬ 
nähte und Hauttransplantation nach Thiersch oder Krause (siehe Trans¬ 
plantation). Die verschiedenen Modelle für Stirnlappen bei der totalen Rhino¬ 
plastik sind in Fig. 68 abgebildet, im allgemeinen sind die Modelle b und d 
die zweckmäßigsten. Aus jedem bimförmigen Lappen b kann man nach¬ 
träglich die Modelle d und e bilden. Bei der Einnähung des Lappens in den 
Defekt darf die Stielstelle nicht zu sehr gedreht werden. Behufs Bildung 
des Nasenseptums und der beiden Nasenflügel macht man an der Basis des 
Hautlappens, z. B. des bimförmigen, die beiden in Fig. 68 b durch punktierte Linien 
angedeuteten Inzisionen. Das Mittelstück wird dann durch Verdoppelung zum 

Septum, aus den beiden seitlichen Zipfeln 
07. macht man die Nasenflügel und fixiert alles 

durch entsprechende Nähte. Schneidet man aus 
dem bimförmigen Lappen jederseits ein kleines 
Dreieck, so erhält man das v. LANGEXBECKsche 
Modell d (Fig. 68) und durch Zustutzen der 
Seitenläppchen das Modell e (Fig. 68). Man 

Fig. 6$. 


I e J e 




kann die Modelle d und r auch gleich so aus der Stirnhaut aus- 
schneidon, der mittlere Teil der Lappenbasis ist für das Septum, die seit¬ 
lichen für die Nasenflügel bestimmt. In die Nasenlöcher legt man behufs Er¬ 
leichterung der Nasenatmung je ein Gummiröhrchen (Fig. 67). Die Nachopera¬ 
tionen, welche nach F.inheilung der neugebildeten Nase vorgenommen werden, 
bestehen gewöhnlich in keilförmiger Exzision der gewulsteten Stielstelle und 
in sonstigen Verbesserungen, besonders an den Nasenflügeln. Die Kunst der 
Rhinoplastik besteht darin, Nasen mit gutem Profil, lang, hoch und spitz 
tu machen. l‘m das Schrumpfen und Kinsinken der Nasen zu verhindern, 
muß man in die Stirnlappen, wie schon erwähnt, ein Stück Periost mit 
einer Knochenloiste mit hineinnehmen. Ferner kann man zu demselben Zweck 
den Stirnlappen mit einem vorher aus der Nasenwurzel entnommenen Haut- 
Uppen untertüttero. indem man letzteren in den Defekt umklappt und nun 
den Stirnlappen über die WundLäche des Nasenwurzellappens legt. Man 
kann auch aus den vorhandenen Resten der Nasenknochen gestielte Knochen- 
balkchon abtrennen, sie wie Dachsparren über den Defekt legen und darüber 
den Stirnlappen lagern Fehlt das knöcherne Nasengerüst, so kann man ein 
mit Ponost versehenes Kmvher.stück von der vorderen Fläche der Tibia 
emhe.len, Hkk;MK. y K.sr. s.okg und F.wrv erzielten schone Nasen bei 


Digitized by 


Google 




Plastische Operationen, 


369 


fehlendem Knochengerüst durch Einheilen eines Fingers. Will man den 
ganzen Finger, z. B. den linken Ringfinger, für die Rhinoplastik resp. für das 
fehlende Knochengerüst benutzen, so wird man seine Spitze und die Dorsal- 
fläche der beiden letzten Phalangen unter Exzision des Nagels anfrischen 
und denselben in den Defekt, besonders im Bereich der Nasenwurzel am Stirn¬ 
bein fest einheilen; nach der Einheilung wird der linke Ringfinger exartikuliert 
und die Grundphälanx als Septum benutzt 

Von sonstigen Methoden der Rhinoplastik seien noch diejenigen von 
Ollier, Vernbuil, Mason, Thiersch und Schimmelbusch erwähnt Ollier und 
Verneuil lagerten den Stirnlappen mit der Wundfläche nach außen und 
legten Jederseits einen Nasenwangenlappen darüber. Thiersch verfuhr um¬ 
gekehrt und ähnlich wie Mason. Der letztere bildete Jederseits einen recht¬ 
eckigen Lappen aus der Wange, klappte dieselben nach innen um, bildete 
ferner aus der Haut der Nasenwurzel einen Lappen, schlug ihn nach unten 
um und legte nun über diese drei Lappen einen Stirnlappen. Thiersch legte 
über die beiden nach der Mittellinie umgeschlagenen und hier durch Matratzen¬ 
nähte etwas eingerollten Wangenlappen einen Stirnlappen. Diese anfangs 
sehr breiten Nasen verschmälert man durch Abtrennen der seitlichen Um¬ 
schlagsstellen resp. Ränder von 
ihrer Basis und durch Einnähen 
in neue, mehr nach einwärts ge¬ 
machte Hauteinschnitte. Schimmel¬ 
busch hat mit gutem Erfolg die 
Nasen vollständig aus Knochen in 
folgender Weise gebildet (siehe 
Fig. 69^4 und B ). Bei der totalen 
Rhinoplastik wird ein der Nasen¬ 
oberfläche entsprechender drei¬ 
eckiger Hautknochenlappen aus 
der Mitte der Stirn abgemeißelt, 
die schmälere Basis liegt an der 
Nasenwurzel, die breitere Seite 
genau in der Mitte der Stirn. Der Stirndefekt wird durch Naht geschlossen, 
nachdem man von seinen beiden oberen Ecken aus Je einen großen bogen¬ 
förmigen Schnitt über den Schädel nach den Ohren hin geführt hat und die 
so gebildeten Hautlappen durch Ablösen beweglich gemacht hat. Den ab¬ 
gelösten Hautknochenlappen läßt man erst granulieren, dann wird seine 
Wundfläche durch Hauttransplantation epidermisiert. Ist das geschehen, dann 
wird die Knochenplatte in der Mitte in der Längsrichtung eingesägt und 
durch Zusammenfalten der beiden Hälften die Form der Nase gebildet. Der 
so geformte Lappen wird nun mit seiner Hautfläche nach außen in den 
angefrischten Nasendefekt eingenäht (Fig. 69 B). Das Nasenseptum bildet 
man aus Hautstreifen von den Rändern des Defektes. In den ersten Wochen 
wird in der Nähe der Nasenflügel ein Silberdraht mit zwei Knöpfen an den 
Enden quer durch die Nase gelegt, um durch diesen seitlichen Druck die 
Konfiguration der Nasenflügel zu bilden. 

Die partielle Rhinoplastik betrifft vorzugsweise den Ersatz der Nasen¬ 
spitze, der Nasenflügel, der Seitenwand der Nase und des Septums. Fehlt 
die ganze Nasenspitze oder der ganze bewegliche knorpelige Teil der Nase, 
während der knöcherne Teil der Nase mit seiner Hautdecke vorhanden ist, 
so kann man letztere in der Mittellinie spalten, seitlich zurückpräparieren 
und nun einen Stirnlappen wie bei der totalen Rhinoplastik einpflanzen. 
Man kann die Haut des Nasenrückens auch in der oben beschriebenen Weise 
zur Unterfütterung des Stirnlappens benutzen, indem man letzteren über 
die Wundfläche des nach unten umgeklappten Nasenwurzellappens legt. Ferner 

Encjcloi). Jahrbücher. N. F. VH!. (XVII.) 24 

Digitized by VjOOQIC 




370 


Plastische Operationen. 


kann man auch nach der früher erwähnten Methode von Mason oder Thirrsch 
verfahren oder nach Nelaton (Fig. 70) oder nach Serre (Fig. 71 A and B 
[nach der Naht]). Einen Nasenflügel kann man ans der Haut der anderen 
Nasenhälfte nach v. Langenbeck bilden (Fig. 72.4), eventuell mit Unter¬ 
fütterung durch einen kleinen Wangenlappen nach v. Hacker (Fig. 72 B). 
Man kann auch die Haut des Nasenrückens verwenden oder man verfährt 
nach Fig. 73. Das fehlende Septum kann man durch einen Hautlappen aas 
dem Philtrum oder mehr seitlich aus der Oberlippe oder aas dem Nasen¬ 
rücken bilden (Fig. 74). 

Für die Operation der sogenannten Sattelnasen, bei welchen der 
knöcherne Teil der Nase fehlt, gibt es verschiedene Methoden. Man kann 
solche Sattelnasen bessern durch Einheilen eines Knochenstücks mit Periost 
von der vorderen Fläche der Tibia, durch Implantation von Rippenknorpel 
(v. Mangoldt) oder eines ausgekochten Knochenstücks (v. Eiselsgerg), durch 


Fig. 70. 


Fig. 71. 





B 


Fig. 73. Fig. 74. 



die bereits erwähnte Einheilung eines Fingers, durch die oben ebenfalls er¬ 
wähnte Bildung von Knochenbälkchen aus den vorhandenen Knochenresten 
nach v. Langenbeck oder durch die Einheilung eines Hautperiostknochen¬ 
lappens nach König oder Schimmelbusch. Das Verfahren nach König wird 
in folgender Weise ausgeführt: Quere Abtrennung der Weichteile an der 
tiefsten Stelle des Sattels, Bildung eines Weichteilknochenlappens aas der 
Nasenwurzel und der unteren Stirngegend, welcher, mit seiner Wundfläche 
nach außen, nach unten umgeklappt und an den Hautrand resp. die Weich¬ 
teilnase angenäht wird (Fig. 75). Über dieses Knochenstück legt man non 
einen Hautlappen aus der seitlichen Stirngegend. Auch das oben erwähnte 
Verfahren von Schimmelbusch kann in folgender Weise bei Sattelnasen 
benutzt werden. Der oben beschriebene Hautknochenlappen wird nicht durch 
Hauttransplantation epidermisiert. Nach Durchsägung der Mitte des Knochens 
in seiner Längsrichtung werden die beiden Seitenteile des Lappens so auf- 
gestellt, daß die Wundflächen nach außen kommen. Dann wird die Sattel- 


Digitized by 


Google 



Plastische Operationen« 


371 


nase der Länge nach gespalten, die beiden Hälften werden abgelöst und 
zur Seite geschoben. Der Stirnlappen wird dann mit der Hautfläche nach 
der Nasenhöhle hin eingeheilt, indem die beiden Nasenhäiften seitlich an 
das neue Stützgerflst angelegt werden. 

In der neueren Zeit hat man Sattelnasen und sonstige deforme Nasen 
besonders durch Injektion von Paraffin nach Gersuny und Delangre 
gebessert (siehe das Nähere in dem Artikel Transplantation). Endlich sei 
noch erwähnt, daß man eingesunkene Nasen durch Stfitzgerüste aus Gold¬ 
blech, Metalldraht, Bernstein, Silber, Platin usw. gebessert hat. 

Ist im Gesicht keine Haut für die Rhinoplastik oder für eine sonstige 
Gesichtsplastik vorhanden, dann wenden wir bekanntlich statt der bis 
jetzt beschriebenen indischen Methode der Rhinoplastik die italienische 
oder deutsche Methode nach Tagliacozza, Heinrich von Ppolspeundt 
und Gräfe an, indem wir einen Hautlappen aus dem Oberarm oder aus dem 
Vorderarm mit einer Knochenleiste aus der Ulna nach Habs entnehmen. 
Man kann den Hautlappen auch durch ein Knochenstück aus der Tibia 
stützen (v. Eisblsberg). Der ausgeschnittene gestielte Hautlappen des Armes 
wird mit einem Ende in den Nasendefekt eingenäht. Während der Einheilung 
des Lappens muß der Arm unbeweglich an den Kopf 
des Kranken fixiert werden und der Hautlappen selbst 
durch Salbe vor Eintrocknung geschützt werden. Nach 
Einheilung des Lappens im Defekt wird der Stiel des¬ 
selben durchschnitten, und der Lappen wird nun zur Nase 
in der früher angegebenen Weise modelliert. Man kann 
auch den am Oberarm ausgeschnittenen Hautlappen in 
situ vorher durch Hauttransplantation epidermisieren und 
dann in den Nasendefekt einnähen. Man kann die Arm- 
h&ut auch als Unterfütterungslappen und für die Bildung 
von Nasenspitzen usw. benutzen. Endlich kann man die 
Haut von anderen entfernteren Körperstellen für Gesichts¬ 
defekte resp. für die Rhinoplastik verwenden, indem 
man sie zuvor auf den Arm anheilt und dann von hier 
auf den Gesichtsdefekt. 

In neuerer Zeit hat man in zum Teil sehr gelun¬ 
gener Weise größere Nasendefekte durch künstliche Pro¬ 
thesen aus Zelluloid, vulkanisiertem Kautschuk, Weicbkautschuk, Silber, 
Aluminium usw. ersetzt. Diese Prothesen in natürlicher Hautfarbe werden 
z. B. durch ein Brillengestell oder durch zwei pinzettenartig auseinander 
federnde Drähte an der Nase fest gehalten. 

Von den plastischen Knochenoperationen im Gesicht seien be¬ 
sonders die osteoplastischen (temporären) Resektionen an der Nase und am 
Oberkiefer erwähnt. Die temporäre Aufklappung der Nase nach Cassaignac 
und Bruns sen. ist in Fig. 76 und 77 abgebildet. Nach Ausführung des 
Hautschnittes (Fig. 76) werden die knöchernen und knorpeligen Nasenteile 
im Verlauf des Hautschnittes mit einer Knochenschere durchtrennt, dann 
wird nach Durchschneidung des Nasenseptums die äußere Nase seitlich um¬ 
geklappt, indem man auf der anderen Seite das Nasenbein leicht einbricht, 
so daß sich dann das in Fig. 77 wiedergegebene Bild darbietet. Nach Be¬ 
seitigung der vorhandenen Nasenkrankheit (Polypen, Tuberkulose, Fremd¬ 
körper etc.) wird die Nase entweder sofort oder erst später nach einer 
gewissen Zeit wieder zurückgeklappt und nun in ihrer normalen Lage wieder 
eingenäht. Man kann auch bei dieser Aufklappung der Nase den knorpeligen 
Teil der Nase in situ lassen, indem man ihn quer vom knöchernen Nasen¬ 
teil abtrennt. Ollier klappt die Nase nach abwärts über den Mund, indem 
er Haut, Periost, Knochen und Knorpel jederseits in der Nasenwangenfurche 

Digitized by Cj^ÖqIc 




372 


Plastische Operationen. 


und an der Nasenwurzel durchtrennt, die Nasenscheidewand wird natürlich 
inderseiben Ebene durchtrennt. Die unilaterale Aufklappung der knöchernen 
und knorpeligen Nase oder nur der knöchernen Nase macht man am besten 
von einem Schnitt in der Mittellinie der Nase aus. Gussrnbauer hat die 
Nasenhöhle, die Sinus frontales, ethmoidales, sphenoidales und die Orbita, 
z. B. bei Sarkom, durch Bildung eines Weichteilknochenlappens freigelegt, 
indem er letzteren nach oben umklappte. Bezüglich der zuletzt erwähnten 
Methoden verweise ich auf die Lehrbücher der Chirurgie, z. B. von Kocher, 
Tillmanns u. a. 

Die temporäre Ablösung der Weichteile der Nase macht man 
nach Rouge (Fig. 78) in folgender Weise: Ablösung der Oberlippe vom Ober¬ 
kiefer durch einen Schnitt an der Grenze von Lippe und Zahnfleisch, vom 


Fig. 76. 


Fig. 77. 




Fig. 78. 




Fig. 80. 


ersten Backzahn der einen Seite zu dem der anderen, Ablösung des Septum 
cartilagineum von der Spina nasalis ant. und der Nasenflügelknorpel vom 
Oberkiefer beiderseits. Wenn nötig, wird auch die knöcherne Nasenscheiden¬ 
wand mit einer Schere durchtrennt. Die abgelöste Nase wird nachjoben 
gegen die Stirn hin heraufgeklappt (Fig. 78). 

Die temporäre osteoplastische Resektion des Oberkiefers 
nach v. Langenbeck behufs Freilegung des Nasenrachenraumes, der retro- 
maxillaren Gegend und der Schläfengrube, z. B. bei Geschwülsten, bei den 
sog. Nasenrachenpolypen, wird in folgender Weise ausgeführt. Weichteile 
und Knochen werden nach Fig. 79^4 und B durchtrennt, und zwar so, daß 
man dem unteren Weichteilschnitt sofort die Trennung des Kieferkörpers 
folgen läßt, dann durchtrennt man die Weichteile und Knochen am Joch¬ 
bein und schließlich an der unteren Orbitalwand in der Richtung des oberen 


Digitized by 


Google 



Plastische Operationen* — Pneumothorax, Behandlung des. 373 


Schnittes. Die Verbindung des Oberkiefers mit Stirn und Nasenbein an seiner 
firnährungsbrücke wird zuletzt eingebrochen und dann der vollständig los¬ 
gelöste Oberkieferteil nach der Seite gelagert. Nach Beendigung der 
Operation, z. B. nach Exstirpation eines sog. Nasenrachenpolypen, wird der 
aufgeklappte Oberkieferteil wieder an seine normale Stelle gebracht und 
durch Nähte fixiert. 

Man kann sich ferner in sehr guter Weise den Nasenrachenraum und 
die Schädelbasis durch die temporäre osteoplastische Resektion 
beider Oberkiefer nach Kocher zugänglich machen (Fig. 80). Man spaltet 
am hängenden Kopf in gemischter Morphium-Chloroformnarkose die Ober¬ 
lippe vom linken Nasenloch nach abwärts, dann macht man einen Quer¬ 
schnitt über den Alveolarbogen durch Schleimhaut und Periost bis auf den 
Knochen. Nach kurzer Tamponade wird nun der Meißel zuerst auf den 
linken, dann auf den rechten Oberkieferkörper in der Höhe der Spina nasalis 
ant. aufgesetzt, und die beiden Oberkieferkörper werden Ober den Proc. 
alveolares durchgeschlagen (Fig. 80). Nach kurzer Tamponade Durchtrennung 
des Proc. alveolaris und des harten 
Gaumens in der Mittellinie; die beiden 
unteren Oberkieferhälften werden nun 
mit scharfen Haken auseinander ge¬ 
zogen und nach Spaltung der Schleim¬ 
haut des Bodens der linken Nasen¬ 
höhle und Abdrängen des Vomer nach 
rechts ist der ganze Nasenrachen¬ 
raum und die Schädelbasis vorzüglich 
za übersehen. Der weiche Gaumen 
wird nur im Notfälle gespalten (Fig. 80), 
wenn z. B. die Geschwulst mit ihm 
verwachsen ist. Nach Exstirpation der 
vorhandenen Geschwulst mittelst Elevatorien, Thermokauter usw. und nach 
sorgfältiger Blutstillung und Tamponade werden die getrennten Teile wieder 
reponiert und durch Knochen- und Weichteilnähte in ihrer normalen Lage 
befestigt. 

Die plastischen Operationen am Rumpf und an den Extremi¬ 
täten werden nach denselben Grundsätzen ausgeführt, wie wir sie eben 
beschrieben haben. Bezüglich der Osteoplastik verweise ich auf den Artikel 
Transplantation, bezüglich der Neuro- und Tendoplastik auf die Artikel 
Nervennaht und Sehnennaht. Auch am Rumpf und an den Extremitäten 
entnehmen wir bei Substanzverlusten die Ersatzlappen eventuell von entfernten 
Körperstellen in der früher angegebenen Weise. Ausgedehntere Hautdefekte im 
Bereich der Ellenbeuge können wir nach Fig. 81 A durch einen gestielten 
Hautlappen vom Thorax ersetzen und dadurch die Entstehung von Narben¬ 
kontrakturen verhüten oder bereits vorhandene auf diese Weise beseitigen. 
In Fig. 81 B ist der Thoraxlappen in der Ellenbeuge eingeheilt. Den Thorax- 
defekt deckt man durch Hauttransplantation. Man kann auch brückenförmige 
(doppelt gestielte) Hautlappeu bilden und lagert dann die betreffende Defekt¬ 
stelle, z. B. des Handgelenks, der Ellenbeuge, der Kniekehle, nach v. Hacker 
unter die gebildeten brückenförmigen Lappen, so daß sie an der Defekt¬ 
stelle anheilen können. Strengste Immobilisierung der betreffenden Körper¬ 
teile ist natürlich auch hier durchaus notwendig. h. TiJimanns. 



Pneumothorax, Behandlung des. In der Behandlung des 
Pneumothorax ist im allgemeinen in der neueren Zeit keine wesentliche 
Änderung eingetreten. Die Therapie ist exspektativ geblieben. Gegen die 
schwersten Symptome wird symptomatisch mit Morphium, Kampfer etc. vor- 


Digitized by 


Google 



374 


Pneumothorax, Behandlung des. 


gegangen. Bei starken Verdrängungserscheinungeil, bei geschlossenem Ventil¬ 
pneumothorax wird das Ablassen der Luft durch einfache Punktion als 
Palliativmethode empfohlen. Im übrigen gilt als Grundsatz, daß der einfache 
Pneumothorax keiner speziellen Behandlung bedarf, da er sich meist, in 
unkomplizierten Fällen, rasch von selbst zurückbildet 

Niedner hat nun, von dem Gesichtspunkt ausgehend, daß man in den¬ 
jenigen Fällen, in denen bei offener Kommunikation zwischen Pleura und 
Bronchus (Ventilpneumothorax) jeder Atemzug neue Luft in die Pleurahöhle 
gelangen läßt und so der Resorption der Luft bzw. der Heilung entgegen¬ 
arbeitet, durch geeignete Ruhestellung der erkrankten Seite die Heilung 
um vieles beschleunigen könne, die Anlegung seines fixierenden HeftpQaster- 
verbandes empfohlen. Er hatte diesen Verband zunächst für diejenigen Fälle 
von Hämoptoe angegeben, in denen der Sitz der Blutung bekannt und eine 
Stillung derselben mit den geläufigen Mitteln nicht zu erreichen war. Es 
war von vornherein wahrscheinlich, daß beim Ventilpneumothorax dieselbe 
Methode gute Erfolge haben mußte. In der Tat sind seine Erfahrungen 
günstige; in den sekundären Fällen mit destruktiven Lungenprozessen kann 
der Erfolg natürlich nur ein symptomatischer sein. Sehr günstig hingegeo, 
symptomatisch sowohl wie in bezug auf die Heilung, erwies sich der Heft- 
pflasterverband in einem Falle von traumatischem Pneumothorax. Der Heft¬ 
pflasterverband wirkt nämlich durch die Herabsetzung der Atmungs¬ 
exkursionen der erkrankten Seite so, daß die durch die Dyspnoe forcierten 
Pumpbewegungen der Brustwand nicht mehr imstande sind, den Klappen¬ 
verschluß der Kommunikation zwischen Lunge und Pleura zu öffnen und 
daß eine schnellere Verklebung der Lungenfistel eintritt. Niedner benutzt 
jetzt, im Gegensatz zu den früheren schmalen, breite Heftpflasterstreifen zur 
Anlegung seines Verbandes. 

Zur Beseitigung des vor allem die Dyspnoe hervorrufenden intra¬ 
pleuralen Überdrucks hatte, wie schon oben erwähnt, Aron vorgeschlagen, 
durch eine Art BüLAUscher Heberdrainage die Luft dauernd abzuleiten. Zu 
dem Zweck ließ er eine mit einem Schlauch armierte Punktionsnadel, die 
in ein mit steriler Borlösung gefülltes Gefäß tauchte, im Thorax stecken, 
bis jede Dyspnoe beseitigt war. In noch wirksamerer Weise versuchte 
Zuelzer den Überdruck zu beseitigen, indem er mit der Heberdrainage eine 
ganz vorsichtige Aspiration verband. Der Fall, in dem sich diese Methode 
bewährte, betraf einen bis dahin ganz gesunden Studenten, der beim Fechten 
plötzlich einen rechtseitigen Pneumothorax akquiriert hatte. Die Aspiration 
wurde so vorgenommen, daß der Heberschlauch, während er zentralwärts 
zugehalten wurde, auf einer Länge von ca. 20—30 cm luftleer gemacht und 
dann wieder zentralwärts geöffnet wurde. Es traten dann stets 2—4 Luft¬ 
blasen durch die sterile Borlösung, in welche der Heberschlauch eintauchte, 
aus. Die während vieler Stunden fortgesetzte Aspiration bewirkte ein so 
viel schnelleres Verschwinden des Pneumothorax, so daß bereits 48 Stunden 
nach dem Auftreten desselben, der als vollständiger recbtseitiger Pneumo¬ 
thorax sich dargestellt hatte, nur noch über dem Komplementärraum, zwischen 
der sechsten und achten Rippe, hypersonorer Schall bestand. 

Denecke hat diese Methode der Aspiration in zwei Fällen von ge¬ 
schlossenem Pneumothorax unter Röntgenkontrolle angewandt, und ebenfalls, 
wie hier objektiv auf dem Röntgenbild nachweisbar, überraschend schnelle 
Heilerfolge erzielt. Die Aspiration wurde in regelmäßigerer Weise dadurch 
bewirkt, daß die Punktionsnadel mit einer Auslauf flasche verbunden wurde, 
so daß durch langsames Auslaufen des sterilen Wassers aus der Flasche 
beliebige Mengen, in einem Falle 600 m* Luft, in konstanter Weise aus 
dem Thorax abgesogen werden konnten. Der Nutzen der Aspiration ist da¬ 
durch illustriert, daß in dem einen Falle bereits 25 Tage lang der Pneumo- 


Digitized by 


Google 



Pneumothorax, Behandlung des. — Polyneuritisches Irresein. 375 


thorax ohne wesentliche Veränderung bestanden hatte, während er nach 
der Absaugung von 1400 cm 8 Luft in wenigen Tagen verschwand. 

Ein ähnlich gutes Resultat hatte, wie Denecke berichtet, Fawcbtt er¬ 
zielt und auch durch Röntgiogramme objektiv belegen können. 

Literatur: Abon, Die Mechanik und Therapie des Pneumothorax. Berlin, Hirschwaldi 
1902. — Dbhscke, Fortschritte auf dem Gebiet der Röntgenstrahlen. Bd. XIII. — Zublzkb, 
Therapie der Gegenwart. 1902. O. Zaelxer. 

Polyneuritisches Irresein (alkoholische Pseudoparalyse, 
KoRSSAKOWSche Krankheit). Nicht selten kommt es bei einem viele 
Jahre lang und in ausgiebigem Maße fortgesetzten Potatorium, unter Um¬ 
ständen, ehe sich anatomisch nachweisbare Veränderungen an anderen Organen 
ausgebildet haben, zu tiefgehenden Störungen im zentralen wie im peripheren 
Nervensystem, die sich in einem ganz eigentümlichen Symptomenkomplex 
äußern. Im Vordergründe des Krankheitsbildes sehen wir auf der 
einen Seite ganz charakteristische Pseudoreminiszenzen neben 
delirösen Erscheinungen, auf der anderen Seite die unverkenn¬ 
baren Manifestationen des als multiple Neuritis bezeichneten 
Prozesses stehen. 

Im Verlaufe des chronischen Alkoholismus pflegen ja an sich bei 
der allerorts sich dokumentierenden progressiven Insuffizienz der fGr die 
Lebensfunktionen wichtigsten Organe Erscheinungen an den peripherischen 
Nerven — neben solchen von seiten des anomal arbeitenden psychischen 
Organs — selten auszubleiben. Während diese sich aber in der Regel, außer 
gewissen Charakterveränderungen, zunächst in der eintönigen und gewisser¬ 
maßen typischen akuten Form der Seelenstörung dokumentieren, die wir 
als Delirium potatorum (tremens, alcoholicum) bezeichnen, sind die Er¬ 
scheinungen an den peripherischen Nerven recht mannigfaltig und nach 
dem Grade der Alkoholintoxikation resp. dem Stadium der chronischen 
Stoffwecbselstörung verschieden. Man pflegt dieselben dem Bilde der peri¬ 
pherischen Neuritis einzureihen, darf sich aber nicht verhehlen, daß das 
von 0. Rosenbach auf Grund des negativen Ausfalls seiner Tierexperimente 
»über die aszendierende Neuritis« bereits 1877 erhobene Postulat, genauere 
Kriterien für die Sonderung der entzündlichen von den bloß degenera- 
tiven oder atrophischen Veränderungen aufzustellen, noch immer nicht 
erfüllt ist. 

Die so häufig vorkommende kutane und muskuläre Hyper¬ 
ästhesie, die oft recht starken Schmerzen in den Beinen und die zu¬ 
weilen vorhandenen objektiven Gefühlsstörungen, die dem Ausbreitungs¬ 
bezirk gewisser peripherer Nerven, z. B. desCutaneus femoris externus, folgen, 
würden als die leichtesten Grade dieser Veränderungen zu betrachten sein. 

Ob auch die »Wadenkrämpfe« und verwandte tonische Muskelspannungen auf leichtere 
derartige Vorgänge (seien sie nun entzündlicher oder degenerativer Natur) an den Nerven 
und Muskeln zurückzuführen sind, hält auch H. Oppenheim nicht für sichergestellt. Meiner 
Auffassung nach handelt es sich hier um eine »perverse Innervation«, wie sie von 
O. Rosembach zuerst beschrieben und in ihren charakteristischen Erscheinungen klargelegt 
wurde, d. h. um ein Mißverhältnis in den zentralen Impulsen, mit denen die znsammen- 
wirkenden Muskelgruppen bei jeder Aktion, selbst bei der Einhaltung einer scheinbaren 
Ruhestellung beschickt werden. Dieser perversen Innervation, die man in schweren Fällen 
sich zu einer stark an die Ataxie der Tabiker erinnernden Koordinations- 
Störung (Pseudotabes peripherica) auswacbsen siebt, braucht durchaus noch keine 
entzündliche oder degenerative, ja, überhaupt keine anatomisch demonstrierbare Veränderung 
an der Peripherie zugrunde zu liegen, so sehr auch eine primäre funktionelle Schwäche 
und leichte Ermüdbarkeit einzelner Muskeln einer Gruppe, die auf das Zusammenwirken 
mit ihren Partnern angewiesen ist, den Vorgang begünstigt. Die Störung tritt vielmehr dann 
ein, wenn einer oder eine Mehrzahl der eine funktionelle Einheit repräsentierenden Muskeln 
aus irgendwelchen — gleichgültig ob zentral oder peiipher zu suchenden — Ursachen weniger 
leicht in Tätigkeit zu setzen ist und nun von den zentralen Impulsen in stärkerem Maße 
bedacht ist, als es sonst notwendig gewesen wäre und jedenfalls als das im vorliegenden 


Digitized by 


Google 



376 Polyneuritisches Irresein« 

Falle für die Anfreehterhaltung de« Gleichgewichtes gegenüber den Antagonisten zweck¬ 
mäßig ist. 

Erst unter dem Einflüsse bestimmter Schädlichkeiten, namentlich 
des immer weiter fortgesetzten Alkoholabusus, entwickelt sieh dann ans 
der funktionellen Störung die organische des anatomisch nachweisbaren 
degenerativen Prozesses. Es steigert sich, wie man gesagt hat, jene »latente« 
Neuritis zur »echten« multiplen Neuritis (Polynenritis alcoholica). Denn durch 
die neueren Untersuchungen von Edixgbr, Nissl, Hbilbroxxzb and Bobhöfteu wurde nach* 
gewiesen, daß bei den schwersten Qraden des Potatorimna, die also schon ein »Alkohol- 
sieehtnm« bedingt haben, das gesamte Nervengewebe von der Hirnrinde bis za den peripheren 
Nerven ausgeprägte Zerfaliserscheinungen aalweist, so variabel diese auch in ihrer Aus¬ 
dehnung und so verschiedenartig die Gewebselemente im Einzelteile auch sein können, dir 
von dem Rückbildung«- (und konsekutiven Wucherung«-) Prozesse betroßen werden. 

Wie die Tabes dorsalis enge Beziehungen za dem der paralytischen 
Seeleustörung zugrunde liegenden progressiven Gehirnprozesse aufweist, 
so kann sich die »periphere Pseudotabes« des Alkoholikers bei un¬ 
geschmälertem Fortwirken der Noxe zur »alkoholischen Pseudopara¬ 
lyse« auswachseu, die wohl zuerst von Kräpelix als mit der von Korssakow 
geschilderten Krankheit identisch erkannt wurde. 

Daß bei den chronischen Seelenstörungen aal alkoholistischer Basis bald eine Be¬ 
einträchtigung der Distioktion in qualitativer Hinsicht, d. h. in Sinnestäuschungen zutage 
tritt, bald eine qnantitative Insuffizienz auf dem gleichen Gebiete im Vordergründe steht, 
sei es in Form eines eigentlichen Intelligenzdefektes, sei es in Gestalt einer hochgradigen 
Gedächtnisschwäche mit konsekutiver Bewußtseinstrübung, war schon vor den Untersuchungen 
Korssakows und Krapklixs bekannt und kam in der Aufstellung der beiden Typen der 
»alkoholischen Verrücktheit« und der »alkoholischen Demenz«, die man aocb 
heute noch mntatis mo tan dis aufrecht erhält, zum Ausdruck. Ebenso war den Psychiatern 
der alten Schale nicht die Häufigkeit entgangen, in der sich gerade bei Alkoholisten phreno- 
pathische Symptome mit neuropatbischen, vornehmlich mit Sensibilitätsstörnngen und ver¬ 
schieden hohen Graden motorischer Insuffizienz, von einer leichten »Unbeholfenheit« be¬ 
ginnend, auf dem Wege über die Parese einzelner Muskelgruppen bis zur Ataxie und voll¬ 
kommenen Lähmung, zn einem einheitlichen Komplex verschmelzen. Man subsumierte diese 
Fälle, denen trotz der fortschreitenden psychischen Schwäche, dem höchst mangelhaften 
Urteil nnd dem Abhandenkommen der Orientierung über die nächstliegenden Verhältnisse 
der dauernd und unaufhaltsam progressive Charakter der Paralyse entschieden abging und 
die dementsprechend au! einer gewissen Stufe des Verfalls über Jahre, ja, über Jahrzehnte 
hinaus verharren konnte, unter den Begriff der »alkoholischen Demenz mit Lähmun¬ 
gen«. Erst KbIpelix zeigte, daß es sich bei einem großen (oder vielleicht dem größten) 
Teil dieser Fälle nm den von Korssakow (znerst 1887) beschriebenen 8ymptomenkomplex, 
um die auf polyneuritischer Basis entstehende Form des Irreseins handle. 

Bonhöffer faßt die KoRSSAKOwsche Krankheit ln ihrer psychischen 
Manifestation geradezu als chronisch gewordenes Delirium auf, und 
auch Kräpelix ist der Ansicht, daß es sich hier nur um eine Steigerung 
der Vorgänge bandelt, die sonst als akutes Symptom das Delirium 
bedingen. 

Klinisch finden sich neben Schwindel, Kopfschmerz und Tremor aus¬ 
gesprochene neuritische Störungen: schmerzhafte Druckpunkte, Anästhesien. 
Parästhesien und Hyperästhesien, ferner Anomalien der Reflexe (häufig 
Steigerung, seltener Grloschensein). Mit den reißenden Schmerzen verbindet 
sich ein bald stärkerer, bald kaum merklicher Muskelschwund; gelegentlich 
sieht man Paraplegien mit hochgradiger Atrophie ausgedehnter Muskel¬ 
gruppen, meistens aber trifft man neben abnormer Druckempfindlichkeit der 
Nerven und Maskein und den sonstigen Sensibilitäts- sowie den erwähnten 
Reflexanomalien nur leichte lähmungsartige Erscheinungen, Schlaffheit und 
Volumsabnahme gewisser Muskelgebiete, namentlich an den unteren 
Extremitäten. Dadurch kommt daun auch die auffallende Unsicherheit 
heim Gehen und Stehen zustande. 

In einem Falle von KoRSSAKowscher Krankheit, den A. Westphal beschrieb, war dis 
Verhalten der Patellarreflexe höchst auffallend: sie fehlten (auch bei Prüfung nach 
Jrxdbassik) beiderseits ; bei der Perkussion der Patellarsehne trat aber regelmäßig in dem 
entgegengesetzten Abdoktorengebiete eine lebhafte nnd ausgiebige Zuckung ein. Der auf den 
ersten Blick rätselhafte Vorgang ist wohl nur durch das Alternieren von Reizsymptomen mit 


Digitized by 


Google 



Polyneuritisches Irresein. 


377 


Ausfallserscheinungen za erklären (wie es in so paradoxem Grade sonst nur bei der Hysterie 
gesehen wird). Auch Weotphal sacht die Erscheinung in diesem Sinne zn deuten. Daß die 
leichteste Erschütterung des Körpers resp. seines Knochenskeletts genügt, um gegebenenfalls 
reflektorisch ganz bestimmt lokalisierte Muskelkontraktionen, ja sogar Muskelkrämpfe hervor- 
zurofen, habe ich gleichfalls an einem schweren Falle von (nicht alkoholischer) Polyneuritis 
zu beobachten Gelegenheit gehabt. 

Steigert sich die Schwerfälligkeit des Ganges za leichteren oder 
schwereren Graden der Ataxie, verbanden mit dem RoMBERGschen Zeichen, 
and finden sich, wie nicht so ganz selten, Beschwerden bei der Blasen- 
entleerang, Schlackstörungen, verwischte Sprache, Fazialisparese, Abduzens¬ 
lähmungen, Differenz and geringe Beweglichkeit der Papillen oder — was 
allerdings nur vereinzelt beobachtet wird — Lichtstarre, so bedarf 
es gar nicht einmal der sich meistens gleichzeitig entwickelnden psychischen 
Symptome, wie der Bewußtseinstrübung, der Gedächtnisschwäche und eines 
meist geradezu blühenden Größenwahns, um die Bezeichnung dieses Kom¬ 
plexes als »alkoholische Pseudoparalyse« zu rechtfertigen. 

Aber in den Erinnerungstäuschungen, die gerade dadurch, 
daß sie den Charakter »vollster subjektiver Gewißheit für den 
Kranken« tragen (Kräpelin), etwas ganz Typisches haben, ferner 
in den polyneuritischen Erscheinungen und schließlich auch in der 
Tendenz zu einer relativ schnellen Genesung gerade von den 
schwersten und am Anfang am bedenklichsten erscheinenden 
Symptomen bekunden sich die Hauptmerkmale der Korssakow- 
schen Krankheit so deutlich, daß eine Verkennung in der Mehr¬ 
zahl der Fälle schwer ist. 

Das weibliche Geschlecht scheint übrigens, wenn man auf dem vor¬ 
handenen, noch immer geringen Material überhaupt eine Statistik begründen 
darf — trotz des selteneren Vorkommens alkohologener Störungen bei ibm —, 
in ganz besonderem Maße zu dem Befallenwerden von polyneuritischem 
Irresein zu tendieren. 

Differentialdiagnose. Wie die multiple Neuritis, bei der sich (nament¬ 
lich allerdings, wenn es sich um die sog. »generalisierende Form« der diph- 
theritischen Lähmung handelt) auch Ataxie, WESTPHALsches und RoMBERGsches 
Symptom, Augenmuskellähmungen, Gefühlsstörungen in den Extremitäten 
usw. finden können, oft zur Verwechslung mit der Tabes führt, so ist 
auch die Differenzierung der im Geleite der alkoholischen Polyneuritis auf¬ 
tretenden psychischen Symptome von solchen der progressiven Paralyse 
nicht gerade immer auf den ersten Blick möglich, zumal gar nicht selten 
die psychische Schwäche auch dort in die erste Linie rückt. Die KoRSSAKOWsche 
Krankheit gibt sich aber wohl stets durch die Mannigfaltigkeit der Illusionen 
und Halluzinationen, durch deren typische Kombination mit Erinnerungs¬ 
täuschungen und durch die nur selten zu vermissenden Anzeichen des Alko¬ 
holismus zu erkennen. Der mit dem KoRSSAKOWschen Symptomenkomplex 
Behaftete erfindet vor allem ohne jede tatsächliche Unterlage Abenteuer, 
die er, ohne sich durch Einwände und Gegenvorstellungen irre machen zu 
lassen, mit allen ihren unmöglichen Einzelheiten erlebt haben will; er zeigt 
aber ganz wie der Paralytiker, ad absurdum geführt, in so durchsichtiger 
Weise die Tendenz zum Verharren in seiner sorglosen Zuversicht und so 
auffällig das Bestreben, jeder Situation nur die angenehmste Seite abzu¬ 
gewinnen, daß er unter diesen Umständen einfach das Thema fallen läßt 
und auf ein anderes übergeht, abermals aber nur, um seine eingebildete 
Größe dem Hörer an weiteren Exempeln zu demonstrieren, die ihm die 
massenhaften Phantasmen und Pseudoreminiszenzen ja in Hülle und Fülle 
darbieten. 

Immerhin gibt es Fälle, die man nicht umhin kann, als wirkliche 
»alkoholische Paralyse« zu bezeichnen. Hier handelt es sich nach 


Digitized by 


Google 



378 


Polyneuritisches Irresein. 


Kräpelin wohl durchgehende um eine einfache Kombination der Erscheinungen 
des Alkoholismus mit denen der progressiven Paralyse. Zu der Gedächtnis* 
schwäche und der gemütlichen Stumpfheit der Paralytikers gesellen sich die 
Sinnestäuschungen und Eifersuchtsideen, zu seiner Sprechstorung der Tremor 
und die neuritiseben Symptome des Alkoholisten. Der Kranke erzählt aber 
nicht so viel und so eingehend von merkwürdigen Erlebnissen und sonder* 
baren Begegnungen, die immer wieder durch neu ihm einfallende Details 
ergänzt und fortgebildet werden, während andere Einzelheiten verblassen 
und aus der Erzählung allmählich eliminiert werden; die Schilderungen ent¬ 
behren auch jeder Pointe, die gewissermaßen bewußt die eigene Persönlich- 
keit in einem besonderen Lichte erscheinen lassen will. 

Es ist ferner, namentlich in neuester Zeit, vielfach hervorgehoben 
worden, daß im Anschlüsse an Kopfverletzungen die bekannten neuropathischen 
Symptome oft mit phrenopathischen kombiniert sind, die bald den Charakter 
des manisch-depressiven Irreseins, bald den der periodischen Manie tragen, 
bald katatonischen Krankheitsbildern aufs Haar gleichen, bald auch die 
Anfangsstadien einer sich entwickelnden multiplen Sklerose oder Paralyse 
darstellen. Hier haben wir, wie 0 . Kölpin nachwies, nicht eine direkte und 
unmittelbare Folge der Erschütterung des Zentralnervensystems zu sehen, 
sondern nur eine indirekte und mittelbare, indem jene nur als auslösende 
Ursache auf einen schon vorbereiteten Boden wirkt. Ebenso hat man sich 
wohl den Zusammenhang zwischen den Kinetosen und der Paralyse, der 
multiplen Sklerose, ferner einem neuen, von A. Eulenburg beschriebenen, 
noch nicht klassifizierbaren Symptomenkomplex und ebenso auch der Kors- 
SAKOWschen Krankheit zu denken, in der F. Kalberlah, ehe die Auffassung 
von Bonhöffer und Kräpelin durchgedrungen war, die typische Kom- 
motionspsychose sehen wollte. Es handelt sich in allen diesen Fällen aber 
weniger um eine Differentialdiagnose im eigentlichen Sinne als um eine 
Analyse der verschiedenen ineiuandergreifenden Vorgänge. 

Anatomisch wird Schwund der Tangentialfasern, Rindenatrophie, Unter¬ 
gang der Nervenbahnen und Neurogliawucherung gefunden. Der letzterwähnte 
Prozeß ist aber nach den Untersuchungen von Gowbrs und von Eimngbr 
für die Neuritis im allgemeinen als sekundär und reparativ festgestellt worden. 

Bei der Prognose hat man die Therapie des Symptomenkomplexes, 
der oft im Verlaufe mehrerer Monate zur Heilung kommt, wenn der körper¬ 
liche Verfall nicht zu weit vorgeschritten ist, von der des ihn bedingenden 
Potatoriums zu unterscheiden. Die Schwierigkeiten, gerade einen eingefleischten 
Trinker von seiner Gewohnheit abzubringen, sind bekannt genug. Und die 
Trinkerheilst&tten, für die ja soviel Propaganda gemacht wird, dürften bei 
der Schwierigkeit, Handhaben zu dauernder Internierung zu gewinnen, und 
bei der dementsprechend hier in der Regel nur für kurze Frist durchführ* 
baren erzieherischen Beeinflussung auch nicht viel Erfolge versprechen. 

Die Prognose aber ist ohnedies in allen schwereren Fällen einigermaßen 
getrübt durch die von dem fortgesetzten Alkobolabusus gezeitigten Ver* 
änderungen an allen möglichen lebenswichtigen Organen, vor allem am 
Zentralnervensystem und am Herzen. Auch bleibt häufig nach Vorübergehen 
der meisten anderen Krankbeitssymptome Schwachsinn zurück. 

Die Therapie verlangt neben einer roborierenden Diät und Ruhe 
dringend eine sorgfältige Überwachung gegen die anscheinend nicht ganz 
seltenen Selbstmordversuche und schon unter diesem Gesichtspunkte die 
Unterbringung in eine Anstalt. Der Gebrauch von lauen Bädern und von 
Zeit zu Zeit auch von Schlaf- und Beruhigungsmitteln wird von der jeweiligen 
Lage des einzelnen Falles abhängig sein. Aber auch nach eingetretener 
Besserung oder Heilung von der Krankheit an solcher, muß der Haupt¬ 
schwerpunkt in die — wie schon bemerkt, leider relativ selten erfolgreichen 


Digitized by 


Google 



Polyneuritisches Irresein. — Propftsin. 


379 


— VersQche gelegt werden, den Patienten dauernd und vollständig vom 
Genüsse geistiger Geträoke zu entwöhnen, ehe man an eine Entlassung aus 
der ärztlichen Kontrolle denken kann. 

Literatur: F. Edingeb, Eine neue Theorie über die Ursachen einiger Nervenkrank¬ 
heiten, insbesondere der Neuritis und Paralyse. Volkmahrs Samml. Nr. 106, Leipzig 1894; 
Der Anteil der Funktion an der Entstehung der Nervenkrankheiten. Wiesbaden 1908. — 
F. Eschle, Grundzüge der Psychiatrie. Berlin und Wien 1907. — L. Hirt. Beitrag zur 
Pathologie der multiplen Neuritis. Neur. Zbl., 1884, Nr. 21. — A. Hochs, Handbuch der 
gerichtlichen Psychiatrie. Berlin 1901. — E. Kieffbs, Über einige Fälle von chronischem 
Alkoholdelirium. Inaug.-Diss. Breslau 1890. — L. Korssakow, Psychosis polyneuritica s. Gere- 
bropathia psychica toxica. Mirzejbwskis Westnik psichiatrici, 1887, IV, H. 2, Botkirs techene- 
deljnaia klinitscheskaja Gaseta, 1899, Nr. 5—7 und Medizinskoje Obosrenie, 1889, Nr. 13; 
Eine psychische Störung kombiniert mit multipler Neuritis. Allg. Ztschr.!. Psych., XLVI; 
Erinnerungstäuschungen, Pseudoreminiszenzen bei polynenritischer Psychose. Allg. Ztschr. 
!. Psych., XLVII, auch A. f. Psych. u. Nerv , XXI u. XXIII; Übereine eigentümliche Form von 
Geisteskrankheit, die mit multipler Neuritis kombiniert ist. Vortrag a. d. Int. Kongreß d. 
Irrenärzte zu Paris, August 1889 (Le progres medical, Nr. 32, 33, 35). — E. Kbäpelin, Ein¬ 
führung in die psychiatr. Klinik, Berlin 1901; Psychiatrie, 7. Aufl., Leipzig 1904. — 
H. Ofpeehziic, Allgemeines und Spezielles über toxische Erkrankungen des Nervensystems. 
Vortrag a. d. 64. Vers. d. Natur!, n. Ärzte zu Halle 1891. — 0. Rosenbach, Experimentelle 
Untersuchungen über Neuritis. A. f. exp. Path. u. Pharm., 1877, VIII; Energetik n. Medizin. 
2. Aufl., Berlin 1904; Das Problem d. Syphilis. 2. Aufl, Berlin 1906, p. 110 ff. — H. Tilihg, 
Über alkoholische Paralyse und infektiöse Neuritis multiplex. Ztschr. f. Psych , 1897, XLVIII. 

— A. Westphal, Über einen Fall von polynenritischer >Kob 98 ako wacher« Psychose mit 

eigentümlichem Verhalten der Sehnenreflexe. D. med. Woch., 1902, Nr. 5. — W. Wbygahdt, 
Atlas u. Grundriß der Psychiatrie. München 1902. Eschle 


Propftsin» Bei einer vergleichenden Prüfung von Estern der 
Paramidobenzoesäure und der Amidooxybenzoesäuren ergab sich nach 
Stürmer und Lüders 1 ), daß die Ester der Paramidobenzoesäure eine 
größere anästhesierende Eigenschaft besitzen als die der verwandten Säuren. 
Zur Esterbildung gelangten die Alkohole der Fettreihe, der Propylalkohol, 
Butylalkohol, Amylalkohol, sodann auch die aromatischen Alkohole, wie 
Guajakol, Thymol, Menthol. Letztere erweisen sich aber als sehr schwach 
anästhesierend den Estern der ersten Reihe gegenüber. Es zeigte sich, daß 
vom Methyl und Äthylester der Paramidobenzoesäure (-Anästhesin) aus¬ 
gehend die anästhesierende Eigenschaft mit der Länge der Kohlenwasser¬ 
stoffkette der verwendeten Alkohole wächst, daß aber die höheren Glieder 
gleichzeitig eine Reizwirkung entfalten. Der Propylester zeigte die therapeu¬ 
tisch vorteilhaftesten Eigenschaften, er wirkte am stärksten anästhesierend 
und war reizlos, der Amylester kam ihm zwar an Wirkungsintensität 
gleich, reizte aber zu sehr. 2 g des Propylesters sollen per os gut vertragen 
werden. 

Dieser Propylester der Paramidobenzoesäure, »Propäsin« genannt, 
besitzt die Formel 

°. H <co6 C, H, = NH - < > °° »' 

Es ist ein weißes, kristallinisches, lockeres Pulver, nahezu geschmack- und 
geruchlos, es löst sich in Wasser nur wenig, dagegen leicht in Alkohol, 
Aether und sonstigen organischen Lösungsmitteln. Die Substanz schmilzt bei 
73—74° und wird durch längeres Kochen mit Alkalien verseift. Mit Mineral- 
säuren und Essigsäure bildet sie schön kristallisierte Salze, die aber leicht 
wieder in Säure und Ester zerfallen. 

Stürmer und Lüders 1 ) haben das Propäsin als 15%ige Salbe bei Pruritus 
cutaneus angewandt; nach kurzer Zeit ließ das lästige Jucken nach. Ebenso 
hörte bei einem Fall von Ulcus cruris der intensive Schmerz nach 1 / l Stunde 
nach Aufträgen der Salbe auf. Bei schmerzhaften Affektionen des Mundes 
und Rachens, z. B. bei sekundären syphilitischen Schleimhauterkrankungen, 
ließ der Schmerz nach Einnehmen einer Propäsinpastille zu 0*012 g Propäsin 


Digitized by 


Google 



380 


Propäsin« — Pseudoleukämie, 


nach etwa 10 Minuten nach und es entstand ein taubes Gefühl im Munde, 
das 2 Stunden lang anbieit. 

Bei Hustenreiz hat Kluger s ) Propäsintabletten zu 0*02 g angewandt 
und wechselnde Erfolge gesehen, in der Mehrzahl der F&lle ließ der Husten¬ 
reiz nach, aber auch Verstärkung desselben wurde beobachtet Besser waren 
die Erfolge bei Magenschmerzen, hier trat fast stets sofort Nachlassen der 
Beschwerden ein, so bei Magenkrebs, auch bei Übelkeit infolge von Herz¬ 
fehlern. Bei einem Fall von Meteorismus und einem von Ulkus war ein günstiger 
Effekt nicht zu verzeichnen. In allen diesen Fällen mit Magenbeschwerden 
wurde Propäsin als Pulver zu 0 5 pro dosis gegeben. 

Außerdem gelangt ein zweites Präparat 3 ) »Di-Propäsin« in den Handel, 
eine Verbindung von der Formel: 

,NH — C 6 H 4 — COO C 3 H 7 

\NH — C 6 H 4 — COOC 3 H 7 

Es ist in Wasser unlöslich und zerfällt in alkalischen Flüssigkeiten, also im 
Darm, in 2 Moleküle Propäsin. Es schmilzt bei 171/172°. Bei drei Kranken, 
bei denen Kluger dieses Präparat versuchte, führte es zweimal zu Besserung 
der Magenschmerzen, einmal ließ es im Stich. 

Literatur: *) 8türmeb and Lüders, Propäsin, ein nenes, sehr starkes Lokalanästhe¬ 
tikum. Deutsche med. Wochenschr., 1908. Nr. 53, 8. 2310. — *) Klüger, Über Propäsin, ein 
neues Lokalanästhetikum. Therapeutische Monatshefte, Februar 1909, S. 76. — *) Med. Klinik, 
1908, Nr. 50, S. 1924. E . Frey 

Pseudoleuk&mie. Es gibt wohl wenig Krankheitsbezeichnungen, 
die für im Grunde genommen so verschiedene Affektionen gebraucht worden 
sind, wie der Ausdruck Pseudoleukämie. Das röhrt daher, daß im Laufe der 
Jahre Pseudoleukämie ein klinischer Begriff geworden ist; ohne sich um die 
pathologisch-anatomische Grundlage zu kömmern, bat man sich im Laufe der 
Jahrzehnte daran gewöhnt, alle diejenigen Erkrankungen, die wegen des 
Vorhandenseins von Lyrophdrüsen- und Milzschwellung eine gewisse äußere 
Ähnlichkeit mit der Leukämie haben, schlechtweg dann als Pseudoleukämie 
zu bezeichnen, wenn das Blut keine leukämischen Veränderungen aufweist. 
Da natürlich die mannigfachsten pathologischen Prozesse Milz- und Drüsen¬ 
tumoren hervorrufen, ist es klar, wie groß die Verwirrung sein muß, welche 
durch die kritiklose Anwendung des Namens »Pseudoleukämie« angerichtet 
worden ist und wohl auch noch täglich angerichtet wird. Noch schlimmer 
ist die Sache dadurch geworden, daß manche Autoren nicht nur alle mög¬ 
lichen klinischen Krankheitsbilder, sondern auch die grundverschiedensten 
pathologisch-anatomischen Prozesse unter den Sammelbegriff der Pseodo- 
leukämie subsumiert haben. So ist leider vielfach, »Pseudoleukämie« nicht 
nur eine klinische, sondern vielfach sogar eine pathologisch-anatomische Ver¬ 
legenheitsdiagnose geworden. 

Untersuchen wir zunächst die historische Entwicklung der Bezeichnung 
»Pseudoleukämie«, so finden wir, daß kein geringerer als Cohnheim der 
Autor dieses Namens ist. Er hat zuerst einen Fall beschrieben, in welchem, 
ohne daß das Blut irgendwelche leukämischen Veränderungen zeigte, doch 
in den Blutbildungsorganen die gleichen Veränderungen wie bei der lympha¬ 
tischen Leukämie gefunden wurden. Er hat dann vorgeschlagen, derartige 
Affektionen, die sich also pathologisch-anatomisch von Leukämien gar nicht 
unterscheiden lassen, mit der Benennung »Pseudoleukämie« zu kennzeichnen. 
Die Mehrzahl der Autoren ist dann dem Vorschläge Cohnheims gefolgt und 
ich nenne in erster Linie Ziegler, der in seinem Lehrbuch der pathologischen 
Anatomie sagt: »Als Pseudoleukämie pflegt man zu Kachexie führende Er¬ 
krankungen zusammenzufassen, bei welchen eine fortschreitende Hyperplasie 
des lymphadenoiden Gewebes, besonders der Lymphdrösen und der Milz aof- 


Digitized by 


Google 



Pseudoleukämie. 


381 


tritt, während im Blute bei Abnahme der Zahl der roten Blutkörperchen 
keine erhebliche Vermehrung der farblosen Elemente besteht.« Kaufmann 
sagt in seinem Lehrbuch: »Die Pseudoleuk&mie stimmt klinisch und ana¬ 
tomisch mit der Leukämie im großen und ganzen überein, ausgenommen den 
Blutbefund.« Insbesondere unter den speziellen Blutforschern hat man bis 
heute die Begriffsbestimmung der Leukämie ganz in dem alten CoHNHEiMschen 
Sinne akzeptiert. Unter der Ägide Ehrlichs hat namentlich Pinkus in Ehrlichs 
»Anämie« in diesem Sinne die Bezeichnung »Pseudoleukämie« definiert und 
auch Sternberg sagt in seiner »Pathologie der Primärerkrankungen des lympha¬ 
tischen und hämatopoetischen Apparates«: »Wir verstehen unter Pseudo¬ 
leukämie ein Krankheitsbild, das anatomisch und histologisch der lympha¬ 
tischen Leukämie vollständig gleicht, sich*aber von derselben durch den 
Blutbefund unterscheidet.« Auch andere Autoren haben wiederholt in ihren 
wissenschaftlichen Arbeiten sich auf diesen Boden der alten CoHNHEiMschen 
Definition gestellt, ich nenne Pappenheim, Wolff-Eisner, Hirschfeld u. a. 

Wenn man sich an diese Definition hält, nach welcher die eigentliche 
Pseudoleukämie eine ihrem Wesen nach durchaus der Leukämie identische 
Affektion ist, die sich von letzterer nur graduell unterscheidet, und zwar 
dadurch, daß aus noch nicht bisher geklärten Gründen die massenhafte 
Überschwemmung des Blutes mit farblosen Elementen ausbleibt, dann muß man 
nach dem heutigen Stande unseres Wissens zwei Formen der Pseudoleukämie 
unterscheiden. Ebenso wie es eine lymphadenoide und myeloide Leukämie 
gibt, so maß es auch eine lymphadenoide und myeloide Pseudoleukämie 
geben. Jahrzehntelang kannte man nur eine lymphadenoide Pseudoleukämie, 
in den letzten Jahren sind aber auch einwandfreie Fälle sicherer myeloider 
Pseudoleukämie bekannt geworden. 

Das anatomische Substrat der lymphadenoiden Pseudoleukämie ist eine 
Wucherung von Lymphozyten in den follikulären Apparaten der Milz und 
der Lymphdrüsen sowie den übrigen lymphatischen Einrichtungen des Or¬ 
ganismus. Sie ist ebenso wie die Lymphozytenleukämie eine Systemerkrankung 
des gesamten lymphatischen Apparates. Wir finden also bei ihr nicht nur 
auf Lymphozytenproliferation beruhende Wucherungen und Schwellungen 
der Milz, der Lymphdrüsen, der Schleimhautfollikel, der Thymus und des 
Knochenmarkes, sondern auch Lyraphozytenherde in allen möglichen anderen 
Organen, die aber nicht etwa als Metastasen aufzufassen sind, sondern als an Ort 
und Stelle entstandene Neubildungen hervorgerufen durch denselben plastischen 
Reiz, der die lymphadenoide Umwandlung des eigentlichen Blutbildungs¬ 
apparates ausgelöst hat Der Grad dieser Neubildung lymphadenoiden Gewebes 
ist nun im Organismus ein in den weitesten Graden variierender. In den 
klassischen Fällen sind vornehmlich die Lymphdrüsen zu oft enormen Tumoren 
vergrößert. Bald ist die Milz gleichzeitig in gleichem oder in höherem Grade 
geschwollen, oder aber auch ihre Vergrößerung übertrifft die der anderen 
lymphatischen Apparate in so hohem Grade, daß sie im Mittelpunkt des 
ganzen Krankheitsbildes zu stehen scheint. Bei manchen Pseudoleukämien 
sind auch vornehmlich die inneren Lymphdrüsen, besonders die der Bauch¬ 
höhle bisweilen gemeinsam mit den lymphatischen Darmapparaten ergriffen. 
Andere Fälle sind wieder vornehmlich in der Haut lokalisiert (Lymphodermia 
cutis), andere besonders im lymphatischen Rachenring. Wenn indessen auch 
vorzugsweise nur bestimmte lymphatische Apparate des Körpers befallen 
sind, so zeigen doch in den meisten Fällen auch alle übrigen, wenn auch 
in geringerem Grade und nur mikroskopisch, die charakteristischen Ver¬ 
änderungen. Rein histologisch hat die lymphadenoide Pseudoleukämie auch 
sicher Verwandtschaft mit Zuständen, die ätiologisch wohl ganz anderer 
und vor allem harmloserer Natur sind, nämlich mit der sogenannten lympha¬ 
tischen Konstitution und besonders auch mit den Gaumen- und Rachen- 


Digitized by 


Google 



382 


. Pseudoleukfimle. 


mandelhyperplasien der Kinder, die ihrerseits wieder auch häufig ein Aus¬ 
druck der sogenannten lymphatischen Konstitution sind. 

Die pseudoleukämischen Drüsentumoren sind anatomisch gutartige Ge¬ 
schwülste ohne Tendenz, in die benachbarten Gewebe aggressiv hineinzu¬ 
wuchern. Sie sind meist gut zu paipieren und von der Unterlage abzoheben 
und von benachbarten Drüsen zu isolieren. Sie sind kaum jemals schmerz¬ 
haft und haben keine Neigung zu regressiven Rückbildungen wie Vereite¬ 
rungen oder Verkäsungen. Selten nur findet man in ihnen kleine Nekrosen. 
Ihre Konsistenz ist meist ziemlich weich und es ist ziemlich leicht mit 
Hilfe gut ziehender Spritzen sie zu punktieren. Der auf diese Weise ge¬ 
wonnene Lymphdrüsensaft besteht nur aus großen und kleinen Lymphozyten, 
die häufig Mitosen zeigen. In allen vorgeschrittenen Fällen ist die bekannte 
Lymphdrüsenstruktur völlig verwischt Es besteht also sowohl rein klinisch, 
wie pathologisch-anatomisch eine absolute Übereinstimmung mit der lympha- 
denoiden Leukämie. 

Der Blutbefund bei dieser lymphadenoiden Pseudoleukämie kann in 
den ersten Stadien der Krankheit ein völlig normaler sein. Später aber tritt 
stets eine mehr oder weniger schwere Anämie hinzu, die aber nur selten 
höhere Grade erreicht. Von seiten der Leukozyten fehlen bisweilen jegliche 
Anomalien, in vielen Fällen aber besteht eine relative Lymphozytose. Be¬ 
merkenswert ist ein von mir häufig erhobener Befund, den ich sonst in der 
Literatur nicht erwähnt finde, daß gar nicht selten die vorhandenen Lympho¬ 
zyten, mag ihre Zahl normal oder relativ vermehrt sein, ausschließlich oder 
doch zum großen Teile der Gruppe der sogenannten großen Lymphozyten 
angehören, die im normalen Blute ganz oder fast ganz fehlen. 

Es gibt viele Pseudoleukämien, die unter diesem Blutbefunde unter 
Zunahme der Kachexie und dem Hinzutreten sekundärer Komplikationen 
zugrunde gehen. Es kommt aber auch gar nicht selten vor, und das ist für 
die Auffassung des Wesens der Affektion von so grundlegender Wichtigkeit, 
daß ein Übergang in echte Lymphozytenleukämie stattfindet. Besonders in¬ 
teressant und wichtig ist es aber, daß nach Feststellungen von Stanislaus 
Klein dasselbe Individuum bald das Blutbild der echten Lymphozytenleuk¬ 
ämie, bald das der Pseudoleukämie mit oder sogar ohne relative Lymphozytose 
darbieten kann. 

Hieraus geht also jedenfalls hervor, daß ein Wesensunterschied zwischen 
echter Leukämie und Pseudoleukämie in CoHNHEiMschen Sinne nicht existiert. 
Beides sind durchaus identische Affektionen mit absolut identischen Ver¬ 
änderungen der Blutbildungsorgane und bisweilen kann im Verlaufe der Krank¬ 
heit der Blutbefund bald leukämisch, bald subleukämisch, bald aleukämisch 
sein. Neuerdings ist noch ein weiterer Beweis für die Identität von Leukämie 
und Pseudoleukämie in diesem Sinne durch die Untersuchungen von Ellbrmanx 
und Bang an der übertragbaren Hühnerleukämie geliefert worden. Manche 
der mit Leukämie infizierten Tiere erkrankten wohl, hatten aber keinen 
leukämischen Blutbefund; trotzdem fand man in den Blutbildungsorganen 
nach ihrer Tötung typische leukämische Veränderungen, mit einem Wort 
also, eine CoHNHEiMsche Pseudoleukämie. Bei weiterer Übertragung der Krank¬ 
heit von diesen Individuen aus entstand bei den Impftieren zum Teil Leuk¬ 
ämie, zum Teil Pseudoleukämie. 

Es wurde bereits oben erwähnt, daß bei der lymphadenoiden Pseudo- 
leukämie die Veränderungen bald in dieser, bald in jener Drüsenregion stärkere 
wären, bald die Milz in besonders erheblichem Maße beträfen, bald die Haut etc. 
Von besonderem klinischen Interesse sind nun diejenigen Formen, welche 
lediglich oder vorwiegend das Knochenmark betreffen und deshalb als me¬ 
dulläre Pseudoleukämien bezeichnet worden sind. Die gewöhnliche diffuse 
medulläre Pseudoleukämie, bei welcher wir eine lymphadenoide Umwandlung 


Digitized by 


Google 



Pseudoleukämie. 


383 


des Knochenmarkes finden, ist zwar schon in früheren Jahren einige Male 
beschrieben worden, einwandfreie, mit modernen «Methoden untersuchte Be¬ 
obachtungen stammen aber im wesentlichen aus den letzten Jahren. Ich 
habe hier namentlich die Fälle von Senator, Rubinstein und v. Domarus 
im Auge. Alle diese Fälle haben das Gemeinsame, daß sich eine schwere 
progrediente Anämie entwickelt, ohne daß irgendwelche Zeichen von Rege¬ 
neration im Blute nachzuweisen sind. Die Krankheit scheint bisher nur in 
jugendlichem Alter beobachtet worden zu sein. Senators Patient war 13 Jahre 
alt, Rubinsteins 16, v. Domarus’ 6 Jahre. In allen Fällen bestand neben der 
Anämie eine relative Lymphozytose. (Bei Senator 83*6, bei Rubinstein 68, bei 
v. Domarus 85°/ 0 .) Nur der Patient Rubinsteins hatte auch einige Myelozyten. 
In allen Fällen wurde eine diffuse lymphadenoide Umwandlung des Knochen¬ 
markes festgestellt, in dem Falle von v. Domarus bestanden gleichzeitig hyper¬ 
plastische Prozesse der Milz, der Leber und der Tonsillen. In diesen Fällen 
wird offenbar die Anämie lediglich durch die Verdrängung des erythroplasti- 
schen Knochenmarkgewebes durch Lymphozytenwucherung bedingt und nicht 
dnrch primär im Blute stattfindenden vermehrten Verbrauch. Hierfür spricht 
insbesondere noch die bei Rubinstein und v. Domarus festgestellte fehlende 
Siderose der Leber, die doch sonst bei allen auf Blutzerfall beruhenden 
Anämien beobachtet wird. 

Die pseudoleukämischen und leukämischen Erkrankungen der Haut 
sind noch relativ wenig studiert. Zunächst kommen in derselben zirkum¬ 
skripte tumorartige Knoten von leukämischem Bau vor. Außerdem aber 
gibt es pruriginöse, erythematöse, lichenoide, urtikarielle und auch bullöse 
Hautaffektionen, die vielfach als komplizierendes, oft aber auch als einziges 
sichtbares und in die Augen fallendes Symptom bei leukämischen und pseudo¬ 
leukämischen Erkrankungen Vorkommen und der Diagnose große Schwierig¬ 
keiten bereiten können. 

Histologisch wesensgleich mit der lymphadenoiden Pseudoleukämie sind 
zweifellos die Lymphosarkome. Dieselben sind in einigen Fällen allerdings 
lokale Bildungen, können aber auch gar nicht selten den ganzen lympha¬ 
tischen Apparat befallen, und man spricht dann von Lymphosarkomatose. 
Die Lymphosarkome sind in ihrer mikroskopischen Struktur von der ein¬ 
fachen hyperplaBtischen lymphadenoiden Pseudoleukämie gar nicht zu unter¬ 
scheiden, wenn man davon absieht, daß sie bisweilen einige etwas atypische 
Zellformen enthalten. Im allgemeinen aber bestehen sie lediglich aus denselben 
Lymphozyten wie die rein hyperplastischen Lymphozytome. Der Unterschied 
von letzteren beruht darauf, daß sie schrankenlos in die Nachbarschaft 
wuchern und Metastasen machen. Indessen ist ihre Tendenz, ihre natürlichen 
Grenzen zu überschreiten, nur ein qualitativer Unterschied gegenüber den 
rein hyperplastischen Pseudoleukämien. Nach Orth findet man auch bei 
leukämischen wie pseudoleukämischen Lymphomen bis zu einem gewissen 
Grade eine Überschreitung der natürlichen Grenzen durch die Wucherung 
der spezifischen Zellen. Andrerseits ist es doch keineswegs ausgemacht, ob 
die sogenannten Metastasen der Lymphosarkome nicht vielleicht ebenso 
autochthone Bildungen sind wie die universell verbreiteten Lymphome der 
Pseudoleukämie. Allerdings ist es bei den Lymphosarkomen erwiesen, daß 
die wuchernden Zellen in die Gefäßwände hineinbrechen und so in den Kreis¬ 
lauf gelangen können und somit natürlich Gelegenheit haben, sich überall 
metastatisch anzusiedeln. Diese weitgehende histologische Analogie zwischen 
Lymphosarkomen und hyperplastischer lymphadenoider Pseudoleukämie läßt 
natürlich noch keineswegs ohne weiteres den Schluß auf eine ätiologische 
Identität beider Erkrankungen zu. 

Außer der lymphadenoiden Psoudoleukämie muß es auch eine myeloide 
Pseudoleukämie geben, d. h. eine Affektion, bei der wir ohne leukämischen 


Digitized by 


Google 



384 


PseudoleukAmie. 


Blutbefund doch in den Blutbildungsorganen die gleichen Veränderungen wie 
bei der myeloiden Leukämie vorfinden. Derartige Fälle sind unter den 
verschiedensten Benennungen, wie »atypische Leukämien«, »Anaemia 
splenica mit Myelozyten«, »Leukanämien« etc. beschrieben worden. Dieselben 
müssen zum Teil wegen ihres submyelämischen Blutbefundes, insbesondere 
wegen des Fehlens einer Vermehrung der Gesamtleukozytenzahl durchaus 
den lymphadenoiden Pseudoleukämien mit relativer Lymphozytose in Paral¬ 
lele gesetzt werden. Selbst Fälle mit leukämischen Organveränderungen und 
nicht im mindesten an Leukämie erinnernden Blutbefund sind bekannt ge¬ 
worden. In allen hierhergehörigen Beobachtungen war die Zahl der weißen 
Blutkörperchen gar nicht oder nur wenig vermehrt, bisweilen sogar sub¬ 
normal. In qualitativer Hinsicht war das Mischungsverhältnis der Leukozyten 
insofern verändert, als ziemlich hohe Myelozytenwerte festgestellt wurden. 
Die Untersuchung der Blutbildungsorgane ergab hochgradige myeloide Me¬ 
taplasie, sowie das Vorhandensein von myeloiden Herden in anderen Or¬ 
ganen. In einer Beziehung allerdings zeigen diese Fälle eine Besonderheit, 
insofern nämlich, als sie alle mit ziemlich schweren Anämien kompliziert 
waren, die vielfach direkt den Charakter der perniziösen Anämie zeigten. 
Woher es kommt, daß gerade die myeloiden Pseudoleukämien im Gegensatz 
zu den lymphadenoiden Formen zu so hochgradigen Anämien führen, läßt 
sicht zur Zeit nicht sagen. 

Zu den hyperplastischen Prozessen des hämatopoetischen Apparates 
ohne leukämischen Blutbefund, die wir hier unter dem Sammelnamen Pseudo¬ 
leukämien nach den CoHXHEiMschen Grundsätzen geschildert haben, gehören 
auch die multiplen Myelome, von der es eine lymphadenoide wie eioe myeloide 
Abart gibt. Ihre histologische Stellung zur medullären Pseudoleukämie ist 
ungefähr dieselbe wie die der Lymphosarkome zu den vorzugsweise in den 
Drüsen lokalisierten lymphadenoiden Pseudoleukämien. Bei der medullären 
Pseudoleukämie besteht eine lymphadenoide Umwandlung des Knochen¬ 
markes, bei den multiplen Myelomen desgleichen, nur mit dem Unterschied, 
daß das neugebildete tumorartige Gewebe die Knochensubstanz zerstört und 
über die Knochengrenze hinaus wuchert. Die lymphadenoide Umwandlung 
des Knochenmarkes bei den multiplen* Myelomen kann eine diffuse und eine 
zirkumskripte sein. Die Tumorzellen können, wie neuere Untersuchungen ge¬ 
zeigt haben, aus Lymphozyten, aus Plasmazellen oder aus neutrophilen 
Myelozyten bzw. deren ungranulierterten Vorstufen bestehen. In der großen 
Mehrzahl aller Fälle ist lediglich das Knochenmark Sitz der Neubildung 
gewesen und man ist vielfach sogar soweit gegangen, die Diagnose multiples 
Myelom davon abhängig zu machen, daß andere Organe frei von derartigen 
Wucherungsprozessen seien. Indessen haben neuere Beobachtungen gelehrt, 
daß von dem Vorhandensein oder Fehlen von Metastasen die Diagnose 
»multiples Myelom« nicht abhängig gemacht werden darf. Es gibt zweifellos 
sichere Fälle mit Milz- und Lymphdrüsenveränderungen. Daran, daß die 
multiplen Myelome eine Primärerkrankung des hämatopoetischen Apparates 
allerdings mit vorzugsweiser Lokalisation derselben im Knochenmarke sind, 
die zu den pseudoleukämischen Neubildungen gehört, kann wohl nicht mehr 
gezweifelt werden. 

Das klinische Krankheitsbild der multiplen Myelome ist zwar äußerst 
charakteristisch, wird aber auch durch primär multiple Tumoren des Skelett¬ 
systems hervorgerufen, die histologisch ganz anderer Natur sind, die Endo- 
theliome, Chondrosarkome oder echte Sarkome, in selteneren Fällen sogar 
durch metastatische Karzinome oder Sarkome. Die Patienten erkranken all¬ 
mählich oder plötzlich mit heftigen Schmerzen in irgend einem Abschnitt 
des Skelettsystems, in bestimmten Rippen, der Wirbelsäule, dem Becken 
oder den Extremitäten, die sich allmählich weiter verbreiten. Es entwickelt 


Digitized by 


Google 



Pseudoleukämie. 


385 


sich allmählich ein gewisser Grad von Anämie und Kachexie. In sehr vielen 
Fällen entstehen dann starke Deformitäten des Skeletts durch Verbiegungen, 
besonders im Bereich des Thorax und der Wirbelsäule und bisweilen treten 
direkt fühlbare Tumoren hervor und gar nicht selten kommt es aus geringsten 
Anlässen zu Spontanfrakturen. Sehr auffällig ist in den meisten Fällen die 
Verkrümmung der Wirbelsäule, die vielfach eine beträchtliche Herabsetzung 
der Körpergröße des Individuums zur Folge hat. Infolge der starken Ver¬ 
biegung der Knochen, insbesondere der Wirbelsäule, sowie auch durch den 
Druck von Tumoren kommt es zu einer großen Reihe auffälliger nervöser Er¬ 
scheinungen, die wohl im wesentlichen durch Druck auf die austretenden 
Nervenstämme zu erklären sind. Im Bereich der motorischen Funktionen 
sehen wir einmal Reizerscheinungen wie Zuckungen, zweitens aber Lähraungs- 
erscheinungen, darunter auch Blasen- und Mastdarminkontinenz auftreten. Auch 
auf sensiblem Gebiete finden wir Reiz- wie Lähmungserscheinungen; erstere 
äußern sich in Schmerzen und Parästhesien, letztere in Anästhesien. Eine 
sehr auffällige, aber nicht in allen Beobachtungen festgestellte Erscheinung 
ist die Ausscheidung eines eigentümlichen Eiweißkörpers, der Bence- JoNESschen 
Albumoge mit dem Urin. Dieser Eiweißkörper hat die eigentümliche Eigen¬ 
schaft, bei Erhitzung auf 70° zu koagulieren und bei stärkerer Erhitzung 
wieder sich aufzulösen. Indessen ist derselbe auch wiederholt bei Leukämien 
gefunden und einige Male bei Primärtumoren des Skelettsystems vermißt 
worden. Den ganzen hier geschilderten Symptomenkomplex, multiple Defor¬ 
mitäten und eventuell Tumoren des Skelettsystems, Anämie und Kachexie, 
nervöse Lähmungs- und Reizerscheinungen, sowie die Ausscheidung des 
BENCE-JoNEschen Eiweißkörpers im Urin hat zuerst Kahler als charakte¬ 
ristisch für das multiple Myelom erkannt. Erst spätere Beobachtungen haben 
gezeigt, daß er auch durch andere multiple Primärtumoren des Skelett- 
systems in ganz gleichen Weise hervorgerufen werden kann. Gerade in dem 
von Kahler selbst gesehenen Fall lag, wie die spätere Untersuchung zeigte, 
kein Myelom, sondern ein Endotheliom vor. 

Intra vitam wird also die Diagnose eines multiplen Myeloms niemals 
mit Sicherheit gestellt werden können, sondern dieselbe wird erst post 
mortem auf Grund der histologischen Untersuchung möglich sein. 

Wir haben bereits oben betont, daß der Unterschied zwischen den 
eben beschriebenen lymphadenoiden und myeloiden Pseudoleukämieformen 
und den echten Leukämien nur ein gradueller ist und daß es sich im 
wesentlichen um histologisch völlig identische Prozesse handelt. Warum bei 
den sogenannten pseudoleukämischen Formen die Überschwemmung des 
Blutes mit Leukozyten ausbleibt, ist bisher völlig ungeklärt. Von ver¬ 
schiedenen Autoren, ich nenne besonders Benda und Plehn, ist mit Recht 
gegen die CoHNHEiMsche Nomenklatur eingewendet worden, daß sie eigent¬ 
lich unserem Sprachgebrauche nicht entspricht. Eine Pseudoleukämie ist 
eigentlich doch eine Krankheit, die nur scheinbar den Eindruck einer Leukämie 
macht, in Wirklichkeit aber gar keine Leukämie ist. Die CoHNHEiMsche 
Pseudoleukämie ist aber eine Leukämie. Auf Grund dieses durchaus richtigen 
Gedankenganges haben sich neuerdings viele Autoren — ich nenne besonders 
Benda, Plehn, BEiTZKEund mich selbst— dahin ausgesprochen, die Bezeichnung 
»Pseudoleukämie« gänzlich aus der medizinischen Nomenklatur zu elimi¬ 
nieren und sie höchstens noch als klinische Verlegenheitsdiagnose zu be¬ 
nutzen. Für die Leukämie im CoHNHEiMschen Sinne hat Plehn die Benennung 
latente Leukämie vorgeschlagen. Noch zweckmäßiger aber ist es wohl dem 
Vorgänge Orths zu folgen, der das Wort »Pseudoleukämie« in der neuesten 
Auflage seines Lehrbuches überhaupt gar nicht gebraucht und die betreffenden 
Affektionen rein anatomisch benennt. Auch Nägeli nimmt in seinem Lehrbuch 
diesen Standpunkt ein. Man spreche also in Zukunft am besten statt von 


Eneyclop. Jahrbücher. N. F. VLU. (XVII.) 


Digitized by 


25 

Google 



386 


Pseudoleuk ämie. 


lymphadenoider und myeloider Pseudoleukäroie von aleukämischen Lympho¬ 
zytomen oder Myelozytomen bzw. aleukämischen Lymphomatösen und Myelo- 
matosen. Natürlich wird es nicht immer möglich sein, diese Diagnosen immer 
intra vitam zu stellen. Trotzdem braucht man aber meiner Ansicht nach 
auch klinisch sich nicht mehr mit der Verlegenheitsdiagnose Pseudoleukämie 
herumzuquälen. Wenn man schon anerkennt, daß es sich dabei nur um 
eine Verlegenheitsdiagnose handelt, ist es meiner Ansicht nach besser, ein¬ 
fach von unklaren Drüsen- bzw. Milzaffektionen etc. zu sprechen. Im 
übrigen verfeinern sich die Hilfsmittel unserer Diagnostik immer mehr und 
in den meisten Fällen dürfte wohl, wo die klinische Symptomatologie ver¬ 
sagt, eine Probepunktion, noch besser aber eine Probeexzision und histolo¬ 
gische Untersuchung auf die richtige Diagnose leiten. 

Manche Autoren haben auch für das große Gebiet aller derjenigen 
Affektionen, welche gar nichts mit der Leukämie zu tun haben, aber durch 
die grob klinischen und anatomischen Symptome der mehr oder weniger 
ausgedehnten Lymphdrüsen- und Milztumoren an Leukämie erinnern, in 
Wahrheit aber tuberkulöser, syphilitischer, granulomatöser oder sonstiger 
Natur sind, die Bezeichnung »Pseudoleukämie« vorgeschlagen. Andere nam¬ 
hafte Autoren, die sonst Anhänger der CoHNHEiMschen Nomenklatur sind, 
haben die verschiedenen Formen dieser Krankheitsgruppe unter dem Begriff 
der pseudoleukämieartigen Erkrankungen zusammengefaßt, z. B. Ziegler. 
Konsequenterweise müssen wir auch diese Benennung ablehnen und auch 
diese Erkrankungsformen, die, wie gesagt, mit der wirklichen Leukämie 
histologisch nicht das geringste zu tun haben, nur rein anatomisch be¬ 
zeichnen. 

Hier ist in erster Linie die echte Tuberkulose des lymphatischen 
Apparates zu besprechen, welche in ihrer klinischen Symptomatologie den 
aleukämischen Lymphomatösen oft zum Vorwechseln gleicht. Wir haben hier 
nicht diejenigen bekannten Fälle im Auge, bei denen eine Erweichung der 
Drüsen früher oder später eintritt und die dann selbstverständlich sehr 
leicht als tuberkulöser Natur erkannt werden können, sondern solche Affek¬ 
tionen, bei denen lange Zeit hindurch gewaltige lokale oder allgemeine 
Lymphdrüsenschwellungen, bisweilen auch Milztumoren bestehen, ohne daß 
es jemals zu Erweichungen und Durchbrüchen nach außen kommt. Solche 
Individuen brauchen auch sonst keinerlei Symptome, welche auf Tuber¬ 
kulose hinweisen, zu zeigen und haben auch bisweilen wirklich in keinem 
anderen Organe tuberkulöse Veränderungen. Die Diagnose solcher Fälle, in 
denen es sich also um eine tuberkulöse Systemerkrankung des ganzen 
lymphatischen Apparates handelt, ist nur möglich durch anatomische Unter¬ 
suchung exzidierter Drüsen. Eventuell kann auch in solchen Fällen der 
positive Ausfall einer Drüsenpunktion durch den Nachweis von Tuberkel¬ 
bazillen ohne Probeexzision die Diagnose aufklären. Indessen gerade bei 
solchen Drüsen ist es manchmal kaum möglich, Lymphdrüsensaft zu aspi¬ 
rieren. Natürlich beweist der negative Ausfall einer Tuberkelbazillenfärbung 
des Drüsenpunktates gar nichts, da man ja zufällig an eine noch gesunde Partie 
geraten sein kann. Daß auch die Tuberkulose der Milz bisweilen sehr er¬ 
hebliche Schwellungen dieses Organs hervorrufen kann, deren Natur im 
Leben kaum zu erkennen ist, sei hier auch erwähnt. Nach Wolff-Eisner 
fällt leider die Konjunktivalreaktion fast stets bei tuberkulösen Drüsen¬ 
schwellungen negativ aus, ganz konstant z. B. bei torpider Skrofulöse. 

Eine Affektion ganz anderer Natur ist dagegen das von Bbkda als 
malignes Granulom bezeichnete Krankheitsbild, das einige Autoren auch 
mit dem Namen der HoDGKixschen Krankheit bezeichnet haben, eine Be¬ 
nennung, die aber am besten ganz fallen gelassen wird, da sie nur Ver¬ 
wirrung stiftet, weil ja auch die echte lymphadenoide Pseudoleukämie im 


Digitized by G^OOQLe 



Pseudoleuk&mie. 


387 


CoHNHEiMschen Sinne von manchen Autoren ebenso benannt worden ist. 
Eine wissenschaftliche Grundlage im modernen Sinne für das maligne Granulom 
ist erst durch die Untersuchungen Paltaufs und Sternbergs geschaffen 
worden. Nach Sternberg handelt es sich dabei um eine eigenartige Tuber¬ 
kulose des lymphatischen Apparates. Er beschreibt die Veränderungen der 
Lymphdrüsen in folgender Weise: Man findet in ihnen einen Reichtum an 
eigentümlichen großen, ein- und mehrkernigen Zellen mit reichlichem Proto¬ 
plasma und großen runden oder eingebuchteten und gelappten Kernen, die 
sehr an Geschwulstzellen erinnern. Zwischen ihnen und gewöhnlichen Endo¬ 
thelzellen der Kapillaren lassen sich alle möglichen Übergangsformen finden; 
man sieht ferner in derartigen Drüsen nekrotische Herde mit typischen Ver¬ 
käsungen und LANGHANSschen Riesenzellen. In der Mehrzahl der Fälle fand 
Sternberg Tuberkelbazillen. Diese Befunde Sternbergs sind aber von einigen 
Nachuntersuchern insofern nicht ganz bestätigt worden, als die tuberkulöse 
Ätiologie des Leidens bestritten wurde. Ich selbst verfüge über eine Reihe 
von Fällen, in welchen sich weder im histologischen Bilde, noch im 
Meerschweinchen versuch irgend ein Anhaltspunkt für Tuberkulose finden 
ließ. Allerdings habe ich neuerdings in einem Falle neben echten granulo- 
matösen auch tuberkulöse Veränderungen gefunden und sogar Tuberkel¬ 
bazillen nachweisen können. Offenbar kommt in manchen Fällen eben eine 
Kombination von Granulom und Tuberkulose vor. Über den klinischen Ver¬ 
lauf dieser eigenartigen universellen Systemerkrankung des lymphatischen 
Apparates, die übrigens auch in anderen Organen Metastasen machen kann, 
ist zu bemerken, daß die Erkrankung meist mit einer Schwellung der 
Lymphdrüsen am Halse beginnt und alsdann erst allmählich die übrigen 
Regionen und eventuell auch innere Organe wie Milz, Leber und Knochen¬ 
mark befallen werden. Es stellt sich eine Anämie ein, die selten höhere 
Grade erreicht und manchmal mit einer neutrophilen Leukozytose einhergeht. 
Immer kommt es zu ausgesprochener Kachexie, häufig zu Fieberperioden 
und wiederholt ist die Diazoreaktion positiv gefunden worden. Die Krankheit 
kann sich über Jahre erstrecken und führt unter zunehmender Kachexie 
zum Tode, sie kann aber auch einen akuten Verlauf nehmen, der sich in 
einem von mir bei einem 61jährigen Manne beobachteten Falle auf über 
6 Wochen erstreckte. 

Endlich will ich darauf hinweisen, daß universelle, oft recht erhebliche 
Lymphdrüsen- und Milzschwellungen auch auf Lues beruhen können. 

Eine Affektion, die bisher vielfach zur Gruppe der pseudoleukämischen 
Erkrankungen gerechnet worden ist, ist die Bant ische Krankheit, die wir 
hier nur kurz erwähnen wollen, über die Existenzberechtigung derselben als 
selbständige Affektion ist vielfach gestritten worden. Und bis zum heutigen 
Tage sind die widerstreitenden Ansichten in dieser Beziehung noch keines¬ 
wegs geklärt. Nach der Beschreibung von Banti selbst beginnt die Krank¬ 
heit mit einer Vergrößerung der Milz, zu der sich eine immer stärker 
werdende Anämie hinzugesellt. Später entwickelt sich eine Leberzirrhose, es 
tritt Aszites auf, unter zunehmender Kachexie erfolgt der Tod. Nach Banti 
werden vorzugsweise junge Leute und Erwachsene befallen, in der Ätiologie 
sollen Malaria, Syphilis, Infektionskrankheiten, akute oder chronische Ver¬ 
giftungen, Alkoholismus, Diätfehler und Verdauungsstörungen keine Rolle 
spielen. Die Krankheit verläuft in 3 Stadien, einem anämischen, dem Über¬ 
gangsstadium und dem aszitischen Stadium. Zuerst entsteht die Vergößerung 
der Milz, die langsam fortschreitet und so erhebliche Grade erreichen kann 
wie bei Leukämie, dann erst entsteht allmählich die Anämie, die mit 
Poikilozytose und Mikrozytose einhergeht, während kernhaltige rote Blut¬ 
körperchen immer fehlen sollen. (Nach neueren Beobachtungen stimmt das 
aber nicht.) Nach Banti ist auch die Leukozytenzahl eine normale. Bis- 

25* 

Digitized by VjOOQIC 



388 


PseudoleukAmie. 


weilen treten Fieberanfälle aal Das anämische Stadium dauert 3—5, oft 
10—11 Jahre, im Übergangsstadium findet man Urobilin und auch manchmal 
Gallenpigment im Urin. Haut und Schleimhäute werden ikterisch, Magen- 
und Darmfunktionen sind gestört. Nach wenigen Monaten beginnt das aszi- 
tische Stadium, in welchem die Symptome der Anämie immer stärker werden. 
Nach 5—7 Monaten, spätestens nach einem Jahr tritt dann der Tod ein. 
Pathologisch-anatomisch findet man die 1 —Vbkg schwere Milz von weiften 
und harten Knötchen durchsetzt, die den Follikeln entsprechen. Letztere 
sind zum Teil in Bindegewebe umgewandelt und auch das Netzwerk der 
Pulpa ist stärker als normal In der Milzvene und in der Pfortader ist die 
Intima mit derben Plättchen bedeckt, die alle Merkmale der atheromatösen 
und sklerotischen Platten der Aorta aufweisen. Die Leber zeigt im aszi- 
tischen Stadium alle Merkmale der atrophischen Zirrhose. Senator, der sich 
in Deutschland besondes um das Studium der BANTischen Krankheit ver¬ 
dient gemacht hat, macht auf das besonders häufige Vorkommen einer Leuko¬ 
penie bei der BANTischen Krankheit aufmerksam. Indessen gibt es doch 
eine Reihe von sicheren Fällen, die sogar normale und übernormale Leuko¬ 
zytenzahlen aufweisen. Daß eine gewöhnliche Leberzirrhose, bei welcher bis¬ 
weilen auch große Milztumoren Vorkommen und auch anämische Symptome 
in mehr oder weniger hohem Grade beobachtet werden, zu Verwechslungen 
mit BANTischer Krankheit Veranlassung geben kann, ist sicher. Es gibt 
aber auch Erkrankungen, die klinisch absolut der echten BANTischen Krank¬ 
heit gleichen, auch Leukopenie aufweisen und dennoch, wie verschiedene 
Sektionsbefunde gezeigt haben, ganz anderer Ätiologie sind, nämlich auf 
hereditärer Lues beruhen. 

Jedenfalls ist die BANTische Krankheit eine Affectio sui generis, die 
mit den übrigen Affektionen, die unter dem Sammelbegriff Pseudoleukämie 
zusammengefaßt werden, nicht das geringste zu tun hat, aber doch hier erwähnt 
werden mußte, weil sie vielfach zur Pseudoleukämie gerechnet worden ist. 

Endlich sei noch erwähnt, daß unter dem Namen »Splenomegalie Typ 
Gaucher« ein Krankheitsbild beschrieben worden ist, das vielfach familiär 
auftritt und bei dem von Jugend auf ein sehr großer Milztumor besteht, 
der wohl zu Anämie, aber niemals zu Aszites führt. Histologisch ist für 
diese Fälle charakteristisch, daß in der Milz haufenweise endothelartige Zellen 
zusammenliegen, die aber auch in der Leber, in den Lymphdrüsen und im 
Knochenmark gefunden werden können. Über diese eigenartige Affektion 
wissen wir vorläufig noch weniger, als über die BANTische Krankheit. 

Ein Krankheitsbild »Anaemia spienica« als selbständige Affektion 
existiert nicht. Vielfach hat man das erste Stadium der BANTischen Krank¬ 
heit so genannt. Anämien mannigfachster Art können natürlich mit mehr 
oder weniger großen Miiztumoren einhergehen; das ist aber nichts be¬ 
sonderes und darf keine Veranlassung dazu geben, auf Grund des Milz¬ 
tumors nun diese Anämie mit einem eigenen Namen zu benennen. 

Der bisher üblichen und weitverbreiteten Nomenklatur entsprechend 
haben wir in diesem Kapitel eine Reihe von Krankheiten besprochen, die 
unter dem Sammelbegriff der Pseudoleukämie in der medizinischen Literatur 
viel Verwirrung angerichtet haben. Nur ein Teil derselben hat überhaupt 
ihrem Wesen nach mit der Leukämie etwas zu tun, alle anderen dagegen 
sind ätiologisch und histologisch grundverschieden von ihr. Es ist dringend 
zu wünschen, daß die Bezeichnung »Pseudoleukämie« sobald wie möglich 
aus der medizinischen Nomenklatur verschwindet und auch nicht mehr als 
Verlegenheitsdiagnose ein trauriges Dasein fristet. 

Literatur: Die Lehrbücher der Hämatologie von Ehrlich, Gr4witz, Naqbli, und Folia 
haematologica, in letzterem siehe besonders die Verhandlungen der Berliner himatolo- 
gischen Gesellschaft. Haas HirachfeJd{ Berlin). 


Digitized by 


Google 



Psychogalvanisches Reflexphänomen. 


389 


Psycliogalvaiiisclies Reflexphflnomen and ver¬ 
wandte Erscheinungen, Wir wollen hier gewisse bioelektrische 
Äußerungen am unversehrten Menschen im Zusammenhänge behandeln, 
welchen eine gewisse Bedeutung in praktisch-klinischer Hinsicht, speziell 
für experimentell-psychologische, neurologische und psychiatrische Zwecke 
zuzukommen scheint. Sie gehören im wesentlichen in das Gebiet der 
Sekretionsströme und des elektrischen Leitungswiderstandes der 
Haut. Wir beginnen am besten mit dem berühmten Versuche E. du Bois- 
Reymonds über den sogenannten Willkürstrom: Leitet man von zwei sym¬ 
metrischen Hautstellen des Körpers, z. B. durch Eintauchen je eines Fingers 
beider Hände in passende Elektrodengefäße zu einem Galvanometer ab und 
macht auf der einen Seite eine Muskelanstrengung (Beugung des betreffenden 
Armes), so erhält man eine Ablenkung des Galvanometers im Sinne eines 
Stromes, welcher im Körper von der tätigen zur untätigen Seite geht. 
E. du Bois-Reymond hielt dies für eine »negative Schwankung des Muskel- 
stromes« in dem bewegten Arme, also ein elektrisches Phänomen der 
Muskeltätigkeit am unversehrten Menschen. Diese Deutung ist von L. Her¬ 
mann bekämpft worden, da an unversehrten Muskeln kein »Ruhestrom« und, 
insofern die Aktionswelle kein Dekrement zeigt, auch keine »negative 
Schwankung« desselben möglich ist. Der sogenannte »Willkürstrom« E. du 
Bois-Reymonds ist vielmehr der »einsteigende« Sekretionsstrom der Schwei߬ 
drüsen der betreffende Seite, welche zugleich mit der Muskeltätigkeit in 
Aktion versetzt werden, wie sich in den Untersuchungen von Hermann und 
Luchsinger über Schweißsekretion und Sekretionsströme an Tieren gezeigt 
hatte. Freilich hat es bis auf den heutigen Tag nicht an Stimmen gefehlt, 
welche eine Beteiligung der Muskeln beim du Bois-REYMONDschen Will¬ 
kürversuch behaupten, zum Teil auf Grund beobachteter Persistenz der Ab¬ 
lenkung nach Atropindarreichung (M. Mendelssohn). 

Daß indessen die Beteiligung der Schweißdrüsen zweifellos ist, kann 
als gesichert gelten durch die merkwürdigen Beobachtungen von Tar- 
chanoff 1 ), welcher fand, daß bei Ableitung von zwei verschiedenen Haut¬ 
stellen zu einem sehr empfindlichen Galvanometer Ablenkungen auch dann 
zu beobachten sind, wenn gar keine Muskelbewegung ausgeführt wird, 
sondern nur irgendwo am Körper der Versuchsperson eine sensible 
Reizung ausgefübrt, oder die Aufmerksamkeit derselben erregt wird, 
kurz reflektorisch oder psychisch Hautsekretion angeregt wird; 
Hautpartien mit spärlichen Schweißdrüsen (Rücken, Nates, Oberschenkel 
usw.) gaben dabei nur minimale oder gar keine Wirkungen. 

Tarchanofp gab ausdrücklich an, daß die elektrische Erscheinung nach 
dem Reize mit einer längeren (1 bis 3 Sekunden dauernden) Latenzzeit 
beginnt und ihn beträchtlich überdauert, wobei allerdings die Trägheit des 
von ihm angewendeten Galvanometers berücksichtigt werden muß. 

Nachgeprüft und teilweise bestätigt wurden Tarchanoffs Versuche durch 
Sticker 2 ); im Anschluß an beide hat endlich R. Sommer 3 ) die Entstehung 
von Strömen bei der Berührung metallischer, polarisierbarer Elektroden mit 
der Haut systematisch zu untersuchen unternommen, da nicht alle vor¬ 
gedachten Autoren mit unpolarisierbaren Kombinationen abgeleitet hatten. 

Bei jedem Galvanometerkreise, in welchem lebende Gebilde eingeschaltet 
sind, muß ja beim Auftreten von Ablenkungen nach außerhalb des Körpers 
befindlichen »fremden Stromquellen« gesucht werden, ehe man die 
lebenden Gebilde selbst als solche bezeichnen darf; in beiden Fällen aber können 
Ablenkungen nicht nur durch eine Veränderung der elektromotorischen 
Kraft, sondern auch durch solche des Widerstandes erzeugt werden. 

In dieser Beziehung ist nun ferner zu erwähnen, daß schon vor Tar¬ 
chanoffs Versuchen F£re gefunden hatte 4 ), daß bei hysterischen Personen, 


Digitized by 


Google 



390 


Psych ogalva nlsches Reflexphänomen. 


welche mit einer fremden Stromquelle hintereinander in einen Galvano - 
meterkreis geschaltet waren, dann ein Ausschlag auftrat, wenn sie Sinnes* 
reizen ansgesetzt wurden, ein Ausschlag, welchen Fer6 auf Veränderung 
des Leitungswiderstandes des Körpers der Versuchspersonen zu¬ 
rück führte. 

Letzteres ist nun ganz offenbar der Fall bei der Anordnung, auf welche 
neuerdings Veraguth 5 ) unabhängig von den bisher erwähnten Arbeiten 
durch eine Beobachtung des Züricher Elektrikers Eugen Konrad Müller 
gebracht wurde: Es wird die Versuchsperson durch Anfassen zweier gewöhn¬ 
licher Nickelgriffelelektroden mit zwei Leclanchö-Elementen hintereinander 
in den Kreis eines Drehspulgalvanometers geschaltet, welches durch einen 
Nebenschluß auf passende Empfindlichkeit gebracht ist und dessen Aus¬ 
schläge mit Lichtquelle und Skala beobachtet oder besser fortlaufend photo¬ 
graphisch registriert werden. Man erhält so nach Schließung des Kreises, 
solange die Versuchsperson sich ruhig verhält und kein Reiz auf sie ein¬ 
wirkt, eine durch die Stromquelle veranlaßte Dauerablenkung, resp. eine 
mit minimalen Schwankungen im wesentlichen geradlinig verlaufende »Ruhe* 
kurve«; auf jeden Reiz hin, der die Aufmerksamkeit erregt, ja schon bei 
der Erwartung eines solchen, bei geistiger Arbeitsleistung (Assoziations¬ 
experimente usw.) erhält man Ausschläge im Sinne einer Verstärkung jener 
Dauerablenkung, welche mit einer gewissen Latenzzeit nach dem »Reize« 
beginnen und je nach Umständen sehr verschiedene Dauer und verschieden¬ 
artigen Verlauf zeigen. Bis zu einem gewissen Grade scheint die Grüße 
dieser Ablenkungen dem Maße der psychischen Erregung resp. Anstrengung 
zu entsprechen, so daß die Möglichkeit, diese Erscheinung, welche Veraguth 
als »psycho galvanisches Reflexphänomen« bezeichnet, zu psycho¬ 
logischen, insbesondere zu psychopathologischen Untersuchungen, eventuell 
diagnostischen Zwecken zu benutzen, durchaus nicht unbegründet erscheint 

Es sei erwähnt, daß Veraguth die Ablenkungen unverändert erhielt bei 
EsMARCHscher Blutleere oder BiERscher Stauung des betreffenden Körperteils. Die 
Größe ist sehr von der Intensität der Affekte abhängig, für deren 
Studium in bezug auf Ablauf und Nachwirkung, z. B. bei traumatischen Neurosen, 
die Methode nach Veraguth sehr geeignet ist. Andere Anwendungen ergeben 
sich daraus, daß von anästhetischen Hautbezirken aus das Reflexphänomen 
nicht auszulösen ist (Simulation); höchst merkwürdigerweise ließ es sich 
aber von hysterisch anästhetischen Zonen aus erhalten, wie von normalen 
Körperstellen aus. Auch Tierversuche hat Veraguth in dieser Richtung 
angestellt und gefunden, daß beim narkotisierten Tiere resp. von lokal- 
anästhesierten Stellen aus keine Galvanometerschwankungen erhalten werden. 

In seiner zweiten Mitteilung finden sich auch Versuche an psychisch 
erkrankten Personen; noch weiter sind in der klinischen und forensischen 
Verwertung die Amerikaner gegangen. Pbtkrson (New-York) und Jung 
(Zürich) haben in einer in Bleulers Klinik angestellten Untersuchung *) 
im wesentlichen Veraguths Technik befolgt und gleichzeitig mit den Gal¬ 
vanometerschwankungen auch die Atembewegungen registriert. Vielfach 
fand sich ein Parallelgehen der beiden zu beobachtenden »Reflexe« resp. 
psychischen Rückwirkungen. Sie fanden die Ablenkungen besonders stark 
bei allen »emotional States«, bei mißtrauischen Paranoikern usw.; sehr 
herabgesetzte Anspruchsfähigkeit und kleine Ablenkungen wurden bei Katatonie 
beobachtet. Peterson und Jung machten A s so ziat io ns versuche, bei denen 
stets etliche Millimeter Ablenkung und 1—2 Sekunden pathologischerweise 
auch längere Latenz- oder »Reaktionszeiten« beobachtet wurden. Man ist 
soweit gegangen, Proportionalität der Ablenkungen mit dem ausgelözten 
Affekt zu statuieren und die Apparatur als »Psychometer« für foren¬ 
sische Zwecke, die Entlarvung von Verbrechern üsw. einführen zu wollen. 


Digitized by 


Google 



Psychogalvanisches Reflexphänomen, 


391 


Ea muß dem gegenüber erwähnt werden, daß auch weniger enthusiastische 
Erfahrungen vorliegen, vor allem ist zu betonen, daß die praktische An¬ 
wendung einer solchen komplizierten Sache ihr völliges theoretisches Ver¬ 
ständnis voraussetzen sollte. Hinsichtlich des Zustandekommens der Aus¬ 
schläge erscheint es hier, da ja symmetrische Ableitung von beiden Hand¬ 
flächen stattfindet, so gut wie sicher, daß es sich um eine Verminderung 
des Leitungswiderstandes des Körpers, und zwar speziell der Haut 
handelt, durch welche die Vergrößerung der Intensität des von den 
Elementen gelieferten Stromes stattfindet; die Sekretionsströme 
beider Seiten würden sich ia bei dieser Anordnung gegenseitig aufheben, 
wenn man nicht annehmen wollte, daß etwa die sekretomotorische Tätigkeit 
einer Körperseite (etwa gewöhnlich der rechten, bei »Linksern« der linken) 
stark überwiege; dem widerspricht aber, daß es sich meistens um eine 
Verstärkung, selten um eine Verminderung der Dauerablenkung handelt. 
Außerdem wäre die Einschaltung einer starken körperfremden Stromquelle, 
wenn man die reinen Sekretionsströme beobachten wollte, durchaus störend, 
daher widersinnig. Aber die Widerstandsverminderung und damit die Aus¬ 
schläge kommen nicht etwa durch unwillkürlich stärkeres Drücken 
der Elektroden, sondern durch Vorgänge in der Haut zustande, vielleicht 
indem »psychoreflektorisch« ein Sekretionsprozeß der Schweißdrüsen 
ein ge leitet wird, welcher bereits zur stärkeren Anfeuchtung oder Durch¬ 
tränkung der Haut führt; oder aber — wogegen schon die oben erwähnten 
Kontrollversuche sprechen — durch Erweiterung der Hautgefäße, welche 
mit der größeren Blutfülle deren Widerstand herabsetzt. Daß die Sekretions* 
tätigkeit der Haut die Grundlage des »psychogalvanischen Reflexphänomens« 
bildet, hat Veraguth selbst dadurch bewiesen gefunden, daß es nach einiger 
Zeit nachläßt (Ermüdung der Drüsen) und daß es dann wieder in voller 
Stärke erscheint, wenn andere Hautstellen (beide Füße statt der Hände) 
genommen werden. Ferner gelang es ihm, genau analoge Kurven mit 
gleichem Latenzstadium usw. auch ohne die körperfremde Strom¬ 
quelle zu erhalten, von einer beschränkten Hautstelle, indem er eine 
Metallplatte auflegte und als zweite Elektrode darunter eine Nadel einstach. 
Hier müßte man sogar zunächst wieder an den Sekretionsstrom denken, 
wofern die Ungleichartigkeit der Elektroden nicht doch als Stromquelle 
wirkt und der Reizeffekt hauptsächlich in einer Widerstandsänderung besteht. 
Es muß hier schließlich noch erwähnt werden, daß Sidis und Kalmus 7 ) 
aut Grund umfänglicher Versuche zu dem Ergebnis gelangen, daß weder 
ein Sekretionsvorgang, noch eine Widerstandsänderung bei den psychisch 
ausgelösten Ablenkungen beteiligt ist, vielmehr eine noch unerkannte elektro¬ 
motorische Kraft im Körper im Spiele; auch sei der Möglichkeit der Ein¬ 
wirkung der Aktionsströme des Herzens auf ein sehr empfindliches ge¬ 
wöhnliches Galvanometer (nicht Saitengalvanometer) gedacht, ebenso um¬ 
gekehrt an den Einfluß von Sekretionsströmen auf das Saitengalvanometer 
bei der Aufnahme des Elektrokardiogramms. Der Ref. ist mit einer 
Nachuntersuchung des ganzen Gebiets zur Zeit beschäftigt, deren an anderer 
Stelle mitzuteilende Ergebnisse in einem späteren Jahrgang nachgetragen 
werden sollen. 8 ) 

Literatur: *) Pflügers Archiv f. d. ges. Pbysiol., Bd. 46, S. 46, 1890. — *) Wiener 
klinische Rundschau, 25. Juni 1897. — 3 ) Beiträge zur psychiatrischen Klinik, Wien 1902. 

— 4 ) Comptes rendus de la Societe de Biologie, 1888. — 5 ) Psyehol.-neurol. Ges. Zürich, März 
1906; Monatschr. f. Psychiatrie, Bd. 21, S. 387, 1907; Bd. 23, 8.204, 1908. — •) Brain, 
Bd. 30, S. 153, 1907. - 7 ) Psychologien! Review, Bd. 15, 8. 391, 1908; Bd 16, 8. 1, 1909 

— *) Bis zur Drucklegung dieses Artikels erschienen noch andere Berichte von Vkraguth, 

mit den ersten zusammengefaßt in Buchform (Berlin, 8. Karger, 1909); wesentlich Neues 
enthalten sie nicht. Borattau. 


Digitized by ^.ooQle 



392 


Puerperalfieber. 


Puerperalfieber. Seit dem Erscheinen der letzten Abhandlung 
über das Puerperalfieber, die FRÄNKEL-Breslauf für den XIII. Band der Ency- 
clopädischen Jahrbücher 1906 verfaßt hat, sind besonders In der bakterio¬ 
logischen Auffassung dieser Erkrankung, in der Lehre von ihrem Infektions- 
modus und in den therapeutischen Bestrebungen wesentliche Änderungen 
eintreten. 

In den letzten zwei Jahren wurde auf diesem Gebiete besonders eifrig 
gearbeitet, weil bei der Wichtigkeit des Themas für die Wissenschaft and 
Praxis die Behandlung des Rindbettfiebers als Hauptthema für den 13. Gynä¬ 
kologenkongreß in Straßburg, Pfingsten 1909 auf die Tagesordnung gesetzt 
wurde. Die Verhandlungsresultate des Kongresses dürfen als Niederschlag 
der derzeitigen Ansichten der deutschen Geburtshelfer über die Therapie des 
Puerperalfiebers angesehen werden. 

In den folgenden Zeilen sollen nur die hauptsächlichsten Änderungen 
in den Anschauungen über die Pathologie, insbesondere die Bakteriologie 
des Puerperalfiebers kurz erörtert, im übrigen aber die moderne Therapie, 
so weit sie sich seit 1906 geändert hat, besprochen werden. 

Über die Gonokokken-Infektion im Pnerperium, wenn man sie über¬ 
haupt in das Kapitel »Puerperalfieber« einreihen will, sind besondere neue 
Gesichtspunkte nicht zutage getreten. Meistens verläuft sie, wenn auch 
die ersten Erscheinungen sehr stürmisch, ja direkt lebenbedrohend auftreten 
können, später in verhältnismäßig milder Form und nur selten kommt es 
zu einer allgemeinen Peritonitis, die tödlich verläuft. 

Solche letale Fälle, über welche ab und zu in der Literatur berichtet 
wird, sind übrigens nur dann als wirklich gonorrhoisch aufzufassen, wenn eine 
exakte bakteriologische Untersuchung stattgefunden hat, und dieser Forderung 
genügen nur die wenigsten Berichte. Das fällt aber bei der ziemlich schwierigen 
Diagnostik des Gonokokkus sehr ins Gewicht und fordert zur vorsichtigsten 
Beurteilung solcher Fälle auf. 

Auch bezüglich der saprophytären Puerperalerkrankungen haben die 
Anschauungen wesentliche Änderungen nicht erlitten. Auch sie können 
anfangs schwere, denen bei septischer Infektion gleiche Erscheinungen machen, 
welche jedoch sehr rasch wieder abklingen, sobald das für das Gedeihen 
der Saprophyten notwendige tote Material aus den Genitalien ausgestoßen 
oder entfernt ist. 

Wichtig aber ist zu wissen und nochmals hier hervorzuheben, daß 
nicht selten neben den Saprophyten auch Streptokokken im selben Uterus 
sich befinden — Mischinfektion, ferner, daß durch Schottmüller neuer¬ 
dings obligat-anaerobe Streptokokken sowohl aus dem Uterus als auch 
aus dem Blute fiebernder Wöchnerinnen gezüchtet wurden, daß also auch 
anaerobe Streptokokken, die man bisher nach den Untersuchungen von Kroenig 
und Menge für harmlos gehalten hatte, hoch pathogen werden können — 
und endlich daß namentlich gelegentlich therapeutischer Eingriffe, die zur 
Entfernung von totem Material (Eireste) vorgenommen werden, die Strepto¬ 
kokken in das tiefere Gewebe implantiert und so auch allgemeine Strepto- 
mykosen erzeugt werden können. 

Das weitaus größte Interesse in wissenschaftlicher wie in praktischer 
Hinsicht beansprucht die eigentliche septische Puerperalinfektion, als deren 
Erreger fast stets der Streptokokkus sich nachweisen läßt. 

Zahllos sind die Arbeiten, die sich mit seiner Biologie beschäftigen, 
noch sind wir aber entfernt, zu einer einheitlichen Auffassung dieses In¬ 
fektionserregers gelangt zu sein. Ja, im Gegenteil, je mehr über diese Frage 
gearbeitet wird, desto widersprechender werden die Resultate. 

Als einigermaßen sicher festgestellter wissenschaftlicher Besitz können 
folgende Tatsachen gelten. 1. Streptokokken kommen in den Lochien 


Digitized by 


Google 



Puerperalfieber. 


393 


der meisten, auch ganz gesunden Wöchnerinnen vor (bis zu 75% der 
Fälle). 2. In der Scheide vollkommen gesunder Schwangerer 
kommen häufig Streptokokken vor. Diese können, auch wenn bei 
der Geburt keine innere Untersuchung stattgefunden hat, im 
Wochenbett in den Uterus aufsteigen, ohne daß die große Mehr¬ 
zahl dieser Streptokokken-Trägerinnen klinische Krankheits¬ 
symptome aufweist. Ebenso können aber schwere Infektionen im 
selben Fall auftreten. 3. Auch bei solchen Wöchnerinnen, die vor, 
während und nach der Geburt innerlich nicht untersucht worden 
sind und bei denen die Geburt rasch und ohne stärkere Quet¬ 
schungen der Weichteile verlaufen ist, können schwere, in sel¬ 
tenen Fällen sogar tödliche Infektionen eintreten. 

Die Tatsache, daß Streptokokken sich bei der großen Mehrzahl aller 
Wöchnerinnen finden und daß aus ihrem Nachweis allein sich noch keinerlei 
Urteil öber die Prognose des Einzelfalles abgeben läßt, hat naturgemäß zu 
einer Vertiefung der Studien über die Biologie dieses in seinen Lebens¬ 
äußerungen so merkwürdigen Mikroorganismus geführt. 

Die früher versuchte, von Kroenig und Menge verfochtene Unterschei¬ 
dung eines anaeroben saprophytären avirulenten und eines aeroben viru¬ 
lenten parasitären Streptokokkus hat sich nicht aufrecht erhalten lassen. 
Aber eben so heftig wie seinerzeit der Kampf um Aerobiose und Anaero- 
biose, tobt heute der Streit über die Eigenschaft der Hämolyse des Strepto¬ 
kokkus und ihre Bedeutung für die Infektion. 

Seitdem Schottmüller durch Züchtung auf Blutagar mehrere Formen 
des Streptokokkus unterschieden hat und den Streptococcus haemolyticus 
dem Streptococcus mitior gegenüberstellte, hat sich die Geburtshilfe mit 
großer Begeisterung dieses Arbeitsfeldes bemächtigt. 

Die anfangs gehegte Annahme, daß nur der Streptococcus haemolyticus 
die schweren Fälle von puerperaler Infektion bedinge, wird heute nur noch 
von wenigen (Veit, Fromme) aufrecht erhalten, und auch von diesen nicht mehr 
unbedingt. Zahlreiche andere Untersucher haben nachgewiesen, daß hämo¬ 
lytische Streptokokken auch in ganz leicht verlaufenden Fällen, sowie bei 
Oberhaupt nicht erkrankten Wöchnerinnen Vorkommen, sowie ferner, daß 
auch tödlich verlaufene Fälle durch nicht hämolytische Streptokokken ver¬ 
ursacht sein können. 

Endlich ist von einigen Untersuchern nachgewiesen worden (Zöppritz), 
daß die hämolytische Form des Streptokokkus durch Umzüchtung in die 
nichthämolytische umgewandelt werden kann, sowie daß ein und derselbe 
Stamm verschieden intensive Hämolyse unter veränderten Bedingungen 
annehmen kann. 

Alle diese Untersuchungen und Tatsachen machen es wahrscheinlich, 
daß die Hämolyse nicht eine konstante Eigenschaft einer bestimmten 
Abart des Streptokokkus ist, sondern daß sie eine mit den veränderten 
Lebensbedingungen wechselnde Eigenschaft des arteinheiilichen Strepto¬ 
kokkus darstellt. 

Da die Umzüchtung aus der hämolytischen zur nichthämolytischen 
Form auf künstlichen Nährböden nicht leicht gelingt, die Hämolyse bei den 
aus kranken Wöchnerinnen gezüchteten Stämmen aber nicht allzu selten 
ist, so liegt die Annahme nahe, daß die Bedingungen dazu in dem er¬ 
krankten Individuum und seinen Organsäften (Serum) zu suchen sind, in 
den Verhältnissen also, welche man als Disposition, Immunität, Wider¬ 
standsfähigkeit bezeichnet und für welche man bisher eine wissenschaftlich 
exakte Erklärung und Messung noch nicht gefunden bat. Dafür sprechen 
die Befunde, bei welchen z. B. während der Schwangerschaft in der Vagina 
und an der Vulva nichthämolytische Streptokokken nachgewiesen wurden, 


Digitized by 


Google 



394 


Puerperalfieber. 


die Geburt ohne jede innere Untersuchung verlaufen ist und später hämo¬ 
lytische Streptokokken in den Lochien sich fanden. Dann hätte man sich 
die Sache so vorzustellen, daß das betreffende Individuum eine geringere 
Widerstandsfähigkeit in seinem Blutserum und Protoplasma gegen die 
Streptokokken besitzt und daß diese dann auf dem für sie günstigen Nähr¬ 
boden in vielen — nicht in allen — Fällen die Eigenschaft der Hämolyse 
annehmen. Über die Widerstandsfähigkeit des Einzelindividuums und die 
Faktoren, durch die sie bedingt wird, herrscht, wie gesagt, bisher noch 
vollkommenes Dunkel. Mit ihr hängt aber naturgemäß der Begriff der 
sogenannten »Virulenz« auf das innigste zusammen. Daraus erklärt sich 
auch die Tatsache, daß ein und derselbe Stamm für das eine Individuum 
äußerst gefährlich, ja tödlich sein kann, während er für ein anderes, wider¬ 
standsfähigeres vollkommen harmlos ist. Danach ist es auch bei dem heutigen 
Stand unserer Kenntnisse nicht angängig, im einzelnen Falle von harmlosen 
saprophytären, im anderen Fall von virulenten parasitären Streptokokken 
zu reden, wie das z. B. Fromme tut. 

Wir wissen eben nicht, ob es sich im einzelnen Falle um saprophytäre 
oder parasitäre Streptokokken handelt, und alle unsere bisherigen auf das 
biologische Verhalten begründeten Unterscheidungsmerkmale haben sich als 
unzureichend herausgestellt. Fromme nimmt die Frage, deren Beantwortung 
wir suchen, als entschieden an und baut auf diesen unsicheren Boden weit¬ 
gehende Schlüsse auf. 

Angesichts der Tatsache, daß wir bei Vorhandensein von Strepto¬ 
kokken im Genitalkanal einer Wöchnerin stets mit dieser unbekannten 
Größe, nämlich der Widerstandsfähigkeit, zu rechnen haben, ist es nicht 
zu verwundern, daß die Versuche, eine sichere Prognose der puerperalen 
Infektion zu stellen, bisher als gescheitert anzusehen sind, obgleich auch 
hierüber zahlreiche Arbeiten erschienen sind. Nur Veit und Fromme be¬ 
haupten immer noch, annähernd eine Prognose aus dem Verhalten der Strepto¬ 
kokken stellen zu können. Alle übrigen Untersucher verhalten sich in dieser 
Beziehung mit einer sehr gerechtfertigten Zurückhaltung. 

Da die bakteriologische Untersuchung der Lochien bezüglich der Pro¬ 
gnose uns im Stich gelassen hat, wandte sich die Arbeit der letzten Zeit 
vor allem der Untersuchung des Blutes zu, und zwar konzentrierte sich 
die Aufmerksamkeit auf zwei Faktoren, die Leukozyten und den Bakterien¬ 
gehalt. 

Bezüglich der Leukozytose sollte die Zahl der weißen Blutkörperchen 
einen Aufschluß über das Vorhandensein und die Funktion der Abwehr¬ 
kräfte des Organismusmus geben, dergestalt, daß hohe Zahlen ein gutes 
Funktionieren der blutbereitenden Organe, vor allem des roten Knochen¬ 
marks, anzeigten, während niedere Zahlen ein Versagen der Schutzkräfte 
des Körpers anzeigen sollten. Aber auch die aus der Leukozytenzählung ge¬ 
machten prognostischen Schlüsse erwiesen sich als durchaus trügerisch. Dann 
versuchte besonders Arneth, aus dem Zahlenverhältnis der Kerne der ein¬ 
zelnen Leukozyten Schlüsse zu ziehen (ARNETHsches Blutbild). Jedoch auch dieses 
erwies sich zur Stellung einer sicheren Prognose als unzureichend. Nachdem 
dann besonders durch Lenhartz die relativ häufige Anwesenheit von Erregern 
im Blute bei allen möglichen Infektionskrankheiten nachgewiesen worden 
war, suchte man mit Hilfe methodischer Blutuntersuchungen auf den 
ScHOTTMüLLERschen Blutagarplatten in der Prognosenstellung weiter zu kommen. 
Das durch Punktion der Vena mediana der Ellenbeuge gewonnene Blot wurde 
mit Agar gemischt und zu einer Platte gegossen, wobei nicht nur dieZahl der 
Kolonien, sondern auch zugleich die hämolytische Eigenschaft festgestellt 
werden konnte. Aber auch dieses Verfahren erwies sich als nicht ausreichend: 
sowohl mit als auch ohne Streptokokken im Blut kamen Todesfälle und 


Digitized by 


Google 



Puerperal fleber. 


395 


Genesungen vor, nur die Hallenser Klinik (Veit, Fromme) hält auch jetzt 
noch an der Bedeutung dieser Zeichen fest. Immmerhin muß zugegeben 
werden, daß das bei mehrfach wiederholten Untersuchungen immer wieder 
nachgewiesene Auftreten von Streptokokken im Blut noch am ehesten ge¬ 
eignet ist, eine jedenfalls ernste Prognose zu rechtfertigen. Zieht man aus 
allen diesen neueren Arbeiten das Fazit, so kann man folgendes als einiger¬ 
maßen gesichert betrachten. 

I. Schwere Puerperalfieber werden fast ausschließlich durch den Strepto¬ 
kokkus hervorgerufen, nur selten durch den Staphylokokkus. 

II. Die verschiedenen Formen, in welchen der Streptokokkus auftritt, 
sind nicht als verschiedene Arten aufzufassen, sondern stellen Abweichungen 
des biologischen Verhaltens dar, welche durch das verschiedene Reagieren 
des befallenen Organismus (Eigenschaft des Organserums, Protaplasmas usw.) 
bewirkt werden. Es gibt nur eine Art des Streptokokkus. 

III. Die Prognose der Puerperalinfektion kann nicht mit einiger Sicher¬ 
heit gestellt werden. 

a) Die morphologische Untersuchung des Blutes auf das Verhalten 
der Leukozyten in bezug auf Gesamtzahl sowie das zahlenmäßige Verhältnis 
der einzelnen Formen erlaubt keinen Schluß auf den Verlauf der Erkrankung. 

b) Auch die biologischen Veränderungen im Auftreten* des Strepto¬ 
kokkus (Hämolyse) erlauben keine Prognose. Am ehesten läßt noch der bei 
mehrfachen Untersuchungen immer wiederholte Befund zahlreicher Strepto¬ 
kokken im Blut eine ernste Prognose stellen, doch kommen auch hier 
Heilungen vor. 

Auch die Versuche Wrights, mit Hilfe der öfters wiederholten Fest¬ 
stellung des opsonischen Index die Prognosenstellung zu erleichtern, sind 
von Erfolg nicht begleitet gewesen. Zudem ist das Verfahren zu kompliziert 
und seine Fehlerquellen zu zahlreich, als daß es sich für die Allgemeinheit 
eignen könnte. 

Betrachten wir nach dem bisher Erörterten die Lage, in der sich der 
Praktiker gegenüber einem fieberhaft verlaufenden Wochenbett befindet, 
so ist dieselbe auch heute noch eine recht mißliche, da er eben nur selten 
den einzelnen Fall nach seiner Schwere von vornherein richtig wird beur¬ 
teilen können. Er wird, wenn er nicht in der Lage ist, wenigstens einfachere 
bakteriologische Untersuchungen selbst auszufübren oder zum mindesten 
einwandfrei Material zu entnehmen, um es einem bakteriologischen Unter¬ 
suchungsinstitut zuzusenden, bezüglich der speziellen Diagnosen- und Pro¬ 
gnosenstellung vollkommen ira Dunklen tappen und häufig unliebsame Über¬ 
raschungen erleben müssen. Ist der Praktiker in der Lage, einfachere bak¬ 
teriologische Untersuchungen selbst vorzunehmen, so ist etwa folgendes 
Verfahren vorzuschlagen: 

1. Ausschließung einer extragenitalen Fieberquelle (Mastitis, Pneu¬ 
monie usw.); Untersuchung auf retinierte Plazentarreste und Lochialverhaltung. 

2. Entnehmen von Uterussekret mit dem DöDERLEiNschen Röhrchen 
zunächst zur einfachen mikroskopischen Untersuchung im Ausstrichpräparat. 
Hierbei kann eine gonorrhoische Infektion meist schon mit Sicherheit fest¬ 
gestellt werden. 

3. Eventuell Übersendung des Uterussekretes an ein bakteriologisches 
Institut zur weiteren Feststellung der darin enthaltenen Mikroorganismen, 
speziell Streptokokken. 

4. Entnahme von wenigsten bcni z Blut durch Punktion der Vena 
mediana mit steriler Spritze, Übersendung an ein bakteriologisches Institut. 
Die Blutentnahme muß eventuell mehrmals wiederholt werden. 

Es ist von vornherein klar, daß die Möglichkeit, in der nach Nr. 3 und 4 
geschilderten Weise zu verfahren, nur bei der Minderzahl von praktischen 


Digitized by 


Google 



396 


Puerperalfieber. 


Ärzten vorhanden sein wird. Deshalb wird die Diagnose und Prognose sich in 
den allermeisten Fällen au! den klinischen Befund allein stützen und darum 
muß vor allem natürlich die sorgfältigste Beobachtung des Krankheitsver¬ 
laufes als solchen verlangt werden. Es ist selbstverständlich, daß auf das 
Verhalten von Temperatur und Puls, Rückbildung des Uterus, Beschaffenheit 
der Lochien, peritoneale Reizung, Schüttelfröste, Nahrungsaufnahme und Ver¬ 
dauung, Schlaf, Seosorium genauestens geachtet werden muß, besonders dann, 
wenn eine bakteriologische Untersuchung nicht ausgeführt werden konnte. 
Dabei muß sich aber der behandelnde Arzt völlig klar sein, daß er weder 
aus dem bakteriologischen Befund noch aus dem klinischen Verlauf in der 
Lage ist, eine sichere Prognose zu stellen. Weder das Auftreten von hämo¬ 
lytischen Streptokokken überhaupt, noch auch der Nachweis von Kokken 
im Blut macht die Prognose schlecht, ebensowenig wie sie günstig ist, wenn 
diese Zeichen fehlen. Weder zahlreiche Schüttelfröste, noch Zeichen peri- 
tonitischer Reizung lassen eine absolut schlechte Prognose steilen. Jeder 
Schüttelfrost kann der letzte sein und anscheinend peritoneale Reizung kann 
auf Darmatonie infolge der Erschlaffung der Bauchdecken beruhen. Man muß 
also in bezug auf die Prognose äußerst zurückhaltend sein und namentlich 
den Angehörigen gegenüber sich nie vollkommen festlegen, da auch die 
schwersten Fälle schließlich in Heilung übergehen können, während dagegen 
ganz harmlos erscheinende Infektionen einen tödlichen Verlauf nehmen. 

Auch die Zeit nach der Entbindung, welche bis zum Einsetzen des 
Fiebers vergeht, gibt keinen sichern Anhalt für die Schwere der Infektion, 
noch auch für die Art der Erreger. Die frühere Annahme, daß die Infektion 
um so schwerer sei, je früher das Fieber beginnt, und daß späte Infektionen 
meist gonorrhoisch seien, hat sich als unhaltbar herausgestellt. Daß im all¬ 
gemeinen diejenigen Fälle, in welchen eine Lokalisation des Prozesses er¬ 
folgt in Gestalt von Exsudaten, Pyosalpingen, retrouterinen Abszessen, eine 
bessere Prognose geben, als die Fälle von Pyämie mit Schüttelfrösten oder 
Septikämie mit den Zeichen der allgemeinen Infektion, soll nochmals hier 
hervorgehoben werden. 

Der wichtigste rein klinische Anhaltspunkt über den Zustand einer 
Puerperalfieberkranken liegt stets in dem Verhalten des Pulses. So lange 
er verhältnismäßig wenig frequent und kräftig bleibt, ist auch bei hohem 
Fieber eine unmittelbare Gefahr nicht vorhanden. Je frequenter nnd kleiner 
der Puls wird, um so schlechter ist der Zustand der Kranken zu beurteilen, 
auch wenn die Temperatur heruntergehen sollte. 

Die Prophylaxe des Puerperalfiebers muß auch heute noch als die 
eigentlich wichtigste therapeutische Maßregel anerkannt werden. Je weniger 
innerlich untersucht wird, je weniger unnötige geburtshilfliche Eingriffe aus¬ 
geführt werden und je reinlicher die Kreißende an sich selbst und in ihrer Um¬ 
gebung gehalten ist, um so weniger leicht werden Infektionen auftreten. Dabei 
darf aber, wie schon oben ausgeführt,, nicht verheimlicht werden, daß die Be¬ 
obachtungen zahlreicher ohne jede innere Untersuchung verlaufener Geburten 
erwiesen haben, daß auch bei solchen, anscheinend ganz reinen Fällen viele 
leichte, selten schwere, ja ausnahmsweise sogar tödliche Infektionen Vorkommen, 
daß also die vielumstrittene Lehre von der Selbstinfektion doch nicht so ganz 
zu verwerfen ist, wie das vielfach geschehen ist. Es hat sich in dieser Beziehung 
in der letzten Zeit ein gewisser Umschwung zugunsten der Lehre von der 
Selbstinfektion vollzogen, deren Wichtigkeit z. B. für forensische Fälle ein- 
leuchtent ist. Es gibt sicher Fälle, bei denen schon in der Schwangerschaft 
Streptokokken in der Scheide nachgewiesen werden, und diese können eben 
manchmal unter uns noch unbekannten Umständen (sogenannte Virulenz- 
änderung) aus harmlosen Saprophyten zu gefährlichen Parasiten werden. 
Wie diese Keime in die Scheide kommen, ist auch noch nicht nachgewiesen. 


Digitized by 


Google 



Puerperalfieber« 


397 


jedoch gibt es dafür viele Gelegenheiten (Kohabitation, Verunreinigung mit 
Darminhalt, Waschen mit unreinen Schwämmen, Selbsttuschieren), denen im 
einzelnen Fall nachzugehen äußerst schwierig ist. Als unschädlich muß nach 
den neuesten Untersuchungen Hörmanns das Bad angesehen werden, da 
das Badewasser stets nur soweit vordringt, als die Scheidenwände nicht 
aneinanderliegen. Frauen mit ausgedehntem Deszensus und Inversion der 
Scheide erscheinen durch das Bad und auch durch andere Gelegenheits- 
Ursachen vielleicht eher der Infektion ausgesetzt, als solche mit bis zum 
Introitus aneinander liegenden Scheidenwänden. 

Die prophylaktischen Vaginalspülungen werden von den meisten 
Geburtshelfern nicht mehr gemacht, da bei ihrer Einführung sich die Mor¬ 
bidität im Wochenbett meist nicht verbessert, eher etwas verschlechtert hat. 
Nur Hopmeier hält an dieser Maßregel nach wie vor fest und hat bei etwa 
10.000 Geburten sehr gute Morbiditätsverhältnisse erreicht. Äußerst wichtig 
ist, daß die Hände der untersuchenden Personen möglichst frei von der Be- 
rührung mit infektiösem Material gehalten werden, da erwiesenermaßen auf 
der gewöhnlichen Tageshand von Laien meist nur harmlose Bakterien an¬ 
getroffen werden. Für die Hebammen bestehen ganz bestimmte strenge 
Vorschriften, welche ihnen die Berührung irgendwelcher infektiöser Dinge 
verbieten und ihnen eventuell, wenn sich eine solche Berührung einmal nicht 
hat vermeiden lassen, Abstinenz von Geburten und Meldung beim Kreisarzt 
auferlegen. Für den Arzt aber, der tagtäglich mit infektiösem Material in 
Berührung kommt, können solche Bestimmungen nicht getroffen werden 
und er verläßt sich auf die Wirksamkeit einer gründlichen Desinfektion. 
Da nun durch zahlreiche Experimente festgestellt ist, daß durch die ge¬ 
bräuchliche Desinfektion die Hände nicht absolut keimfrei gemacht werden 
können, so verdient der Gebrauch der sterilen Gummihandschuhe bei 
der Untersuchung Kreißender auf des wärmste empfohlen zu werden. Ebenso 
aber auch empfiehlt es sich, wenn irgend möglich, septisches Material nur 
mit Gummihandschuhen anzufassen (Prinzip der subjektiven Noninfektion 
oder Abstinenz.) Leider ist die Überzeugung von der Notwendigkeit solcher 
prophylaktischer Maßnahmen durchaus noch nicht Gemeingut aller Ärzte 
geworden, so daß in dieser Beziehung noch viel gesündigt wird. Außerdem ist 
den Hebammen der Gebrauch der Gummihandschuhe noch nicht obligatorisch 
gemacht und da sie etwa 90°/ 0 aller Geburten leiten, entspringt hieraus leider 
die Notwendigkeit der auch heute noch auftretenden Infektionen. Die beste 
Prophylaxe bleibt, abgesehen vom Gebrauch der Gummihandschuhe, die Ver¬ 
meidung der inneren Untersuchung überhaupt oder doch wenigstens ihre 
Einschränkung bis auf das äußerst notwendige Maß. Es wird noch lange 
nicht genug in den Lehrbüchern der Geburtshilfe hervorgehoben, daß der 
größte Teil der Geburten mit Hilfe der äußeren Untersuchung und Kon¬ 
trolle der kindlichen Herztöne allein geleitet werden kann, und daß nur der 
Dammschutz, und zwar mit sterilem Gummihandschuhen, ausgeführt werden 
sollte. Mit der weiteren Erkenntnis dieser Möglichkeit bei Ärzten und Heb¬ 
ammen wird eine bedeutende Quelle der Infektion verschlossen werden. 
Daß die Schwangeren im allgemeinen zur körperlichen Reinlichkeit durch 
Bäder angehalten und daß in der letzten Zeit vor der Geburt die Kohabi¬ 
tation und das leider ziemlich verbreitete Selbsttu schieren unterlassen werden 
sollen, ist ebenso selbstverständlich, wird jedoch leider aus vielen naheliegenden 
Gründen durchaus nicht allgemein befolgt. Damit wären die prophylaktischen 
Maßnahmen erschöpft. 

Die Therapie des Puerperalfiebers hat sich in den letzten Jahren in 
zwei entgegengesetzten Richtungen entwickelt. Auf der einen Seite ist die 
früher beliebte und sicher oft schädlich gewesene Polypragmasie einer fast 
inaktiven Behandlung wenigstens gegenüber den lokalen Veränderungen 


Digitized by 


Google 



398 


Puerperalfieber. 


gewichen. Auf der andern Seite haben sich die Bestrebungen, welche mehr 
chirurgische Verfahren in der Geburtshilfe zur Anwendung bringen wollen, 
auch auf das Puerperalfieber ausgedehnt und zu verschiedenen Versuchen 
geführt, durch operative Entfernung des primären Krankheitsherdes Heilung 
zu bringen. Leider sind diesen Bestrebungen die glänzenden Erfolge, die die 
operative Geburtshilfe gezeitigt hat, bisher noch versagt geblieben. Man 
kann sagen, daß sie über das Stadium der Versuche noch nicht hinaus ge¬ 
diehen sind. 

Angesichts der verschiedenen Formen, in welchen die Puerperalinfektion 
auftritt, ist auch ihre Therapie in gesonderten Gruppen zu besprechen, dabei 
wird vorausgesetzt, daß eine einigermaßen sichere Diagnose gestellt ist. Es 
ist am Eingang dieses Artikels erörtert, wie schwierig eine solche sein kann, 
zumal der praktische Arzt im allgemeinen darauf angewiesen ist, sie ledig¬ 
lich aus den klinischen Erscheinungen zu stellen. Unter den therapeu¬ 
tischen Maßnahmen, die in Betracht kommen, kann man 3 Gruppen unter¬ 
scheiden. 

1. Lokale, d. h. solche, welche beabsichtigen, an der Eingangspforte 
der Infektion anzugreifen. 

2. Allgemeine, d. h. solche, die den ganzen Organismus in seinem 
Kampf gegen die Infektionserreger unterstützen sollen. 

3. Größere chirurgische Maßnahmen; obgleich diese eigentlich auch 
zur lokalen Therapie im weiteren Sinne gehören, sollen sie in einem besonderen 
Abschnitt behandelt werden, da sie nur dann in Anwendung kommen, wenn 
die Infektion von einem ursprünglich lokalen Herde aus sich bereits im 
ganzen Körper verbreitet hat und in diesem Sinne eine allgemeine ge¬ 
worden ist. 

Ich folge damit annähernd der Einteilung, wie sie auf dem Gynäko- 
logenkongreß in Straßburg gegeben war, insbesondere auch aus dem rein 
praktischen Grunde, daß auf diese Weise die Darstellung des Verlaufes und 
der Therapie von den einfacheren zu den schwereren Fällen geschildert wird. 

Demnach unterscheiden wir in der 1. Gruppe (Lokalerkrankungen): 
a) Endometritis saprophytica und streptococcica (eventuell retinierte Eihaut- 
und Plazentarreste); b) Parametritis und Exsudation; c) Pyosalpinx; d) Ver¬ 
eiterte Damm-, Scheiden- und Zervixrisse. 


Lo kalbe ha n diung. 

Weitaus am häufigsten ist die Gruppe «, bei der die Infektion sich 
im Endometrium abspielt und das Fieber durch die Resorption der Bakterien 
und Fäulnisgifte unterhalten wird. 

Bei dieser Erkrankung sind seit der Erkenntnis ihrer parasitären Natur 
unendlich vielfache und verschiedene lokale therapeutische Maßnahmen 
versucht worden. Ausspülungen mit den verschiedendsten Antiseptizis, per¬ 
manente Irrigationen, Ausschabung, Ausbürstung (Ecouvillonage\ digitale Aus¬ 
räumung, Tamponade, Drainage in den mannigfaltigsten Variationen haben 
sich abgelöst, ohne daß es gelungen wäre, mit ihnen sichere Resultate 
zu erzielen, und gerade ihre Mannigfaltigkeit und der Eiter, mit dem immer 
neue Modifikationen erfunden und empfohlen wurden, zeigen, daß keine 
von ihnen befriedigende Resultate ergeben hat. Ja, der objektiv beurteilende 
Beobachter muß sagen, daß manche Fälle durch lokale therapeutische 
Maßnahmen nicht gebessert, sondern verschlechtert wurden, daß aus 
einer lokalen Endometritis eine allgemeine Infektion gemacht wurde. Diese 
Beobachtungen wurden erklärt durch die Erkenntnis, daß im Endometrium 
ein schützender Wall von Granulationsgewebe sich bildet, der ein weiteres 
Vordringen der Erreger wirksam verhindert. Ebenso klar war, daß durch 


Digitized by 


Google 



Puerperalfieber. 


399 


jeden, auch den scheinbar kleinsten und harmlosesten Eingriff, dieser Wall 
durchbrochen und den Erregern der Eintritt in weitere Gebiete eröffnet 
werden konnte. So haben erst einige, dann immer mehr Geburtshelfer sich 
zu der Erkenntnis durchgerungen, daß bei der Behandlung der puerperalen 
Endometritis der strengste Konservatismus am Platze und jede lokalthera¬ 
peutische Maßregel vom übel ist. Auf diesem Standpunkt steht das Referat 
Winters auf dem Gynäkologenkongreß in Straßburg 1909 und es ist mit 
guten Gründen gestützt. Es stellt voran den Satz: nihil nocere und be¬ 
weist, daß die Heilungsresultate ohne jede lokale Therapie ebenso gut, ja 
besser sind, als mit lokalen Eingriffen. 

Es sei hier zunächst kurz die Therapie geschildert, wie sie der Verfasser 
für die klinische Behandlung jetzt empfiehlt und durchführt, sodann sei er¬ 
örtert, wie sich der praktische Arzt zu verhalten hat. 

Bis vor kurzem wurde an der Erlanger Klinik bei jedem Fall, 
der 2 Tage über 38 fieberte (Rektalmessung), die bakteriologische Unter¬ 
suchung mit DöDERLEiNschen Röhrchen unter Einstellung und Anhaken der 
Portio gemacht und im Anschluß daran der Uterus einmal mit 2 Liter 37° war¬ 
mem 75°/ 0 igen Alkohol ausgespült. Nachdem sich auf Grund der neueren Unter¬ 
suchungen die intrauterine Lochienentnahme als unnötig herausgestellt hat, 
wird auch dies unterlassen. Es wird einfach unter Spreizen der Labien mit 
sterilen Gummihandschuhen die Scheide freigelegt und mit der Platinöse 
Sekret entnommen, sonst aber nichts gemacht, auch keine Scheidenaus¬ 
spülung. Dagegen wird stets für gute Kontraktion des Uterus durch Sekale 
oder Sekakornin gesorgt, und zwar am besten mit subkutaner Injektion. 
Aut diese Maßregel ist der Hauptwert bei der Therapie zu legen. Auf 
den Uterus kommt eine Eisblase, es wird streng auf regelmäßige Stuhl- 
und Urinentleerung geachtet. Die Reinigung der äußeren Teile wird durch 
Abrieseln mit l 0 / 0 iger Lysollösung zweimal am Tage, bei sehr starkem Aus¬ 
fluß auch öfter, besorgt. Auf die Ernährung wird besonderes Gewicht gelegt 
(8. unter Allgemeinbehandlung). 

Ebenso wird verfahren, wenn es sich um Retention von Eihäuten oder 
kleinen Plazentarresten handelt, welche keine starken Blutungen verursachen. 
Denn es hat sich herausgestellt, daß solche retinierte Eiteile unter Anregung 
der Kontraktion des Uterus meist sehr bald spontan mit den Lochien aus¬ 
gestoßen werden. Gerade hier wird aber der Widerspruch der Praktiker 
einsetzen, denn es galt bisher als Dogma, daß gerade solche Eireste die 
Träger der Infektion seien und unbedingt entfernt werden müßten. Daher 
alle die Maßnahmen und Instrumente, welche für diesen besonderen Zweck 
angegeben worden sind. Der Grund für die jetzt empfohlene äußerste Zu¬ 
rückhaltung liegt, wie schon früher angedeutet, in der Beobachtung, daß 
zwar nicht selten nach der Entfernung solcher Eireste das Fieber abfällt 
und rasche Genesung eintritt, manchmal aber auch schwere Verschlimmerungen 
Schüttelfröste, Pyämie, ja tödliche Sepsis entstehen können, während 
andrerseits die Fälle ohne jeden lokalen Eingriff meist günstig verlaufen. 

Nur in einer Kategorie von Fällen muß doch die Entfernung dieser Ei¬ 
reste befürwortet werden: wenn nämlich durch sie starke Blutungen 
unterhalten werden, welche bei längerer Dauer den Allgemeinzustand und die 
Widerstandsfähigkeit schwer schädigen. Dann muß aber die Ausräumung 
in der schonendsten Weise, wenn irgend möglich nur mit dem Finger 
geschehen und möglichst ohne Gebrauch der Kürette oder sonstiger In¬ 
strumente. Denn jede stärkere Verletzung des Uterusinnern durchbricht den 
schützenden Granulationswall und eröffnet neue Eingangspforten für die 
Erreger. 

Was nun die Frage angeht, wie man sich verhalten soll, wenn sofort 
nach der Entbindung das Fehlen von größeren Stücken Eihaut oder Pla- 


Digitized by 


Google 



400 


Puerperalfieber. 


zenta bemerkt wird, so sind hierüber die Anschauungen noch geteilte. Daß 
dann, wenn durch solche Retentionen atonische Blutungen Unterhaltes werden 
und der Uterus sich schlecht kontrahiert, sofortige Ausräumung unter 
strengsten aseptischen Maßregeln geboten ist, darüber herrscht Überein¬ 
stimmung. Tritt aber keine Atonie ein und kontrahiert sich der Uterus gut, 
so glauben manche Oeburtshefer (v. Herff u. a.) von jedem intrauterinen Ein¬ 
griff abraten zu sollen, da angeblich solche Reste keine Gefahr bieten, sondern 
von selbst ausgestoßen werden. Demgegenüber ist daran zu erinnern, daß 
gerade solche Eihaut- und Plazentarreste, besonders wenn sie etwa durch den 
äußeren Muttermund in die Scheide hineinragen, leicht ein guter Nährboden 
für die Scheidenbakterien werden und zum mindesten eine saprophytäre, 
nicht selten aber auch parasitäre Infektion vermitteln. Auch dann kann man 
sie ja, wenn starke Blutungen durch sie nicht bedingt werden, ruhig sich 
selbst überlassen. Müssen sie aber doch ausgeräumt werden, so ist die Aus¬ 
räumung jetzt, d. h. nach erfolgter Infektion, entschieden gefährlicher, als 
unmittelbar post partum. Daher gebe ich den Rat, nur ganz kleine Eihaut¬ 
reste im Uterus zu belassen, größere Eihautfetzen dagegen, oder gar Pla¬ 
zentarstücke sollten unter allen Umstanden sofort ausgeräumt werden. Das 
ist, wenn auch nicht gleichgültig, so doch weniger gefährlich als die Aus¬ 
räumung nach schon erfolgter Infektion. 

Muß nach erfolgter Infektion ausgeräumt werden, so ist eine im An¬ 
schluß an die Ausräumung erfolgte einmalige Ausspülung des Uterus mit 
37° warmem Alkohol nicht schädlich. Alle weiteren Spülungen, aber ebenso 
wie die heute noch sehr beliebte Ausschabung, sind strengstens zu unter¬ 
lassen, da sie nur schädlich, niemals nützlich sein können. Man enthalte 
sich in dieser Beziehung jeglicher Polypragmasie. Auch bei der Behandlung 
von vereiterten Damm- und Scheidenrissen ist die größte Zurückhaltung ge¬ 
boten. Sind solche Risse genäht worden und dann in der Tiefe vereitert, 
so sind die Nähte zu entfernen und weiterhin nach den Grundsätzen der 
offenen Wundbehandlung zu verfahren. Es wird in dieser Beziehung häufig 
Schaden gestiftet, indem man sich scheut, die Prima intentio vollkommen 
aufzugeben. Jedoch kann hier nicht genug vor falscher Zurückhaltung ge¬ 
warnt werden, da die Eitererreger, wenn ihnen der Weg nach außen durch die 
Naht verschlossen ist, durch die Lymphspalten in die Tiefe eingepreßt und so 
erst recht über die ursprüngliche Wunde hinaus weiter verbreitet werden. Auch 
die so beliebten Ätzungen der Damm- und Scheidenrisse mit starken Ätz¬ 
mitteln (Karbolsäure, Chlorzink, Jodtinktur, Formalin^ sind am besten ganz 
zu unterlassen. Der sich bei ihrer Anwendung bildende feste Schorf spielt 
eine ähnliche Rolle wie die Naht, unter ihm breitet sich oft io der Tiefe 
die Infektion weiter aus. Man läßt am besten auch offene infizierte Risse 
ganz in Ruhe. 

Wenn nach den hier dargelegten Prinzipen des strengsten Konserva¬ 
tismus in den Kliniken ohne weiteres verfahren werden kann, so ergibt 
sich die Frage, ob dies in der allgemeinen Praxis auch durchführbar ist. 
Diese Frage läßt sich nicht ohne weiteres mit einem einfachen Ja oder Nein 
beantworten. Es muß sicher zugegeben werden, daß es dem einzelnen Praktiker 
gelegentlich schwer fallen muß, in einem so negativen Verhalten bezüglich 
der Therapie zu verharren. Das Puklikum weiß, daß der Uterus und die 
Scheide der Sitz des Krankheitsprozesses ist, es ist gewöhnt, auch außer¬ 
halb des Puerperiums, daß Ausfluß und Entzündungen mit Spülungen be¬ 
handelt werden, und wird nicht leicht verstehen können, daß es besser sei, 
davon abzustehen. Theoretische Erörterungen über die Wundinfektion und 
darüber, daß sich die Bakterien durch keinerlei Spülungen vernichten lassen, 
helfen dabei nicht. Trotzdem wird bei der sicheren Zwecklosigkeit aller der¬ 
artigen Maßnahmen der Arzt es verstehen müssen, eine sachgemäße Therapie 


Digitized by 


Google 



Puerperalfieber. 


401 


ohne dieselben durcbzuführen und dabei doch dem Publikum den Anschein 
zu erwecken, »daß etwas geschieht«. Er mache die Abrieselung beim täg¬ 
lichen Besuche selbst und suche durch diätetische Maßnahmen die Umgebung 
des Kranken möglichst zu beschäftigen. Zu keinem intrauterinen Eingriff, 
auch nicht zu einfachen Spülungen, entschließe sich der Arzt ohne 
die strengste Indikation, immer eingedenk des primum nihil nocere. 

In den Prizipien der Behandlung ausgesprochener parametritischer 
Exsudate sind in den letzten Jahren Änderungen nicht eingetreten. Sowie 
das Exsudat erkannt ist, was durch schonende bimanuelle Untersuchung 
leicht gelingt, so ist auch hier zunächst Bettruhe, Eisblase, Diät, Stuhlent¬ 
leerung anzuordnen, im übrigen nichts Aktives zu unternehmen, selbst wenn 
Fieber und Puls hoch sind. Erfahrungsgemäß gehen auch große Exsudate oft 
rasch zurück unter lytischem Abfall des Fiebers. Nicht selten erfolgt auch 
die eitrige Einschmelzung der derben Infiltration und kann dann ein Durch¬ 
bruch in Rektum, Scheide, Blase oder nach außen in der Leistengegend ent¬ 
stehen. Dann fällt die Temperatur kritisch zur Norm ab, um bei ungehindertem 
Abfluß des Eiters dauernd normal zu bleiben. Die entstandenen Fisteln in den 
Hohlorganen schließen sich meist von selbst nach Versiegen der Eiterung. Ein 
aktives Eingreifen ist nur dann indiziert, wenn eine deutliche Einschmelzung des 
Exsudates ohne Durchbruch eintritt. Es pflegt dann Fluktuation meist in der In¬ 
guinalgegend, selten im Scheidengewölbe fühlbar zu werden. Man kann in solchen 
Fällen, wenn man seiner Sache nicht ganz sicher ist, den Eiter durch Probe¬ 
punktion mit langer dünner Kanüle (der Eiter ist oft von dickem, schwartigen 
Gewebe umgeben) feststellen, zögere aber dann nicht mit der Eröffnung. 
Diese wird in der Inguinalgegend durch äußere Inzision parallel dem Liga¬ 
mentum inguinale leicht ausgeführt, der Eiter entleert, ausgespült und eine 
Gummdrainage eingelegt. Stellt sich das Exsudat nach der Scheide hin, so legt 
man das Scheidengewölbe mit Spiegeln frei, punktiert, bis man Eiter bekommt, 
und geht mit dem Messer entlang der liegen gebliebenen Kanüle ein. Hierbei 
müssen eventuell spritzende Gefäße umstochen werden, so daß man also bei 
diesem Eingriff mit der vaginalen Technik einigermaßen vertraut sein muß. 
Bei sehr großen, vielbuchtigen, parametranen Eiterhöhlen empfiehlt es sich, 
nach oben und unten zu inzidieren und die Drainage von den ßauchdecken 
ins Scheidengewölbe durchzuführen. Die Heilung erfolgt hier meist rasch. 

Die puerperale Pyosalpinx, nicht nur gonorrhoischer, sondern auch 
septischer Natur, ist viel häufiger, als sie diagnostiziert wird, da meist der 
Befund als Parametritis gedeutet wird. Nicht selten sind beide Prozesse 
miteinander vergesellschaftet. Bei reiner Pyosalpinx findet man das Para- 
metrium meist weich und kann die Ligamenta sacro-uterina unter dem Tumor 
abtasten. Die Behandlung der puerperalen Pyosalpinx hat nach den heutigen 
Anschauungen eine streng konservative mit Bettruhe und Eisblase zu sein, 
da erfahrungsgemäß auch große Tubeneitersäcke spontan stark schrumpfen 
und zurückgehen können. Nur dann, wenn etwa ein mit Pyosalpinx verge¬ 
sellschafteter Abszeß im Cavum rectouterinum ins hintere Scheidengewölbe 
durchzubrechen droht, inzidiert und drainiert man, aber ohne etwa nach 
oben gegen die Bauchhöhle bestehende Verklebungen zu durch¬ 
brechen. Dadurch könnte eventuell allgemeine tödliche Peritonitis entstehen. 
Aus diesem Grund unterlasse man in diesem Falle auch die Ausspülungen 
und beschränke sich auf Ablassung und Austupfen des Eiters. 

Die früher geübte baldige Entfernung eitriger Tubensäcke ist heute 
allgemein verlassen, nur dann, wenn der Prozeß ein chronischer geworden 
ist und auf lange konservative Behandlung nicht ausheilt, kann man später 
operativ Vorgehen. Dann werden auch wahrscheinlich die Erreger zugrunde 
gegangen sein, wobei allerdings zu bemerken ist, daß Streptokokken noch 
nach 19 Jahren in den Tubensäcken lebend vorgefunden worden sind. 

Encjclop. Jahrbücher. N. F. VIII. (XVII.) ^ dtß\C%\o 

Digitized by VjiVJÜvlL 



402 Puerperalfieber. 

Zasam men fassend kann an den Schloß dieser Schilderung der Lokal¬ 
therapie der Puerperalinfektion der Satz gestellt werden: Im allgemeines 
ist jede lokale Therapie zu vermeiden, weil sieleicht unberechen¬ 
baren Schaden stiften kann und ihr Nutzen sich als äußerst frag¬ 
würdig herausgestellt hat Nur auf ganz bestimmte Indikationen 
hin soll aktiv vorgegangen werden (Blutungen bei Retention von Ei¬ 
resten, vereiterte Exsudate, Douglasabszesse), aber auch dabei immer 
möglichst vorsichtig undimmer in dem Oedanken, den um die In¬ 
fektionsstelle gebildeten Granulationswall möglichst zu schonen. 


Allgemeinbehandlung. 


Ist schon bei der Behandlung lokalisierter Infektionsprozesse die Zu¬ 
rückhaltung gegenüber allem aktiven Vorgehen nach unseren heutigen 
Kenntnissen unbedingt geboten, so wird sie zur vollkommenen, durch die 
Vernunft diktierten Pflicht, wenn, abgesehen von der primären Eingangs¬ 
pforte, nur Allgemeinsymptome der Puerperalinfektion zu konstatieren sind. 
In gewissem Sinne enthält dieser Satz allerdings einen Widerspruch, inso¬ 
fern eben immer die primäre Infektionsstelle einen anfänglich lokalisierten 
Herd darstellt, aber bei den hier zu erörternden Formen der Puerperalin¬ 
fektion bleibt eben dieser Primärherd durchaus nebensächlich gegenüber 
den Erscheinungen der allgemeinen Infektion des ganzen Körpers durch die 
Erreger. Diese sind fast ausschließlich Streptokokken, selten Staphylokokken. 

Zu den größten Seltenheiten gehören gonorrhoische Allgemeininfektionen. 
die zu Endokarditis oder Gelenkerkrankungen führen. Sie gehören nicht 
hierher und sind hier nicht weiter zu erörtern. 

Als Ausgangsherd für die septischen Allgemeininfektionen dient fast 
stets die Endometritis puerperalis streptococcica. Wird diese nicht durch 
Abwehrmaßnahmen des Organismus auf das Endometrium beschränkt, son¬ 
dern wird der Granulationswall durchbrochen, so gelangen die Kokken in die 
Blutsinus der Uteruswand, besonders an der Plazentarstelle. Von da aus ent¬ 
steht dann entweder eine Pyämie mit Schüttelfrösten oder eine allgemeine Septi- 
kämie. Bei beiden Formen der Infektion gelingt in einem Teil von Fällen der Nach¬ 
weis der Erreger im Blut, in einem anderen Teil bleibt die Blotuntersuchung 
negativ trotz schweren, ja manchmal tödlichen Verlaufes. Daß weder die 
biologischen Eigenschaften der Lochialstreptokokken, noch der positive oder 
negative Blutbefund eine sichere Prognosenstellung gestatten, ist oben schon 
erörtert; ebenso die verhältnismäßig ernste Bedeutung mehrfach wiederholter 
positiver Blutbefunde. 

Diese Formen des Puerperalfiebers bilden die ernsteste Erscheinungs¬ 
form dieser Infektion und stellen bezüglich der Behandlung die schwierigsten 
Aufgaben. Daß die auch hier noch vielfach versuchte Therapie mit intra¬ 
uterinen Spülungen zwecklos ist, soll noch einmal hervorgehoben werden. 
Besonders bei der pyämischen Form trägt sie häufig zur Verschlimmerung 
bei, indem durch die Manipulationen an den Genitalien erneute Schüttelfröste, 
ja sogar deletäre Embolien hervorgerufen werden können. Abgesehen von den 
Bestrebungen, die Widerstandskraft des Organismus durch diätetische Ma߬ 
nahmen zu stärken, interessieren hier theoretisch vor allem die Versuche, die 
Erreger selbst im Blute zu beeinflussen, gewissermaßen eine Desinfektion des 
Gesamtblutes durchzuführen, ebenso die Versuche, einen gegen die Erreger 
spezifischen Antikörper einzuführen und sie so im Körper zu vernichten. Die 
ersteren Versuche konzentrieren sich zur Zeit auf die Verwendung des Kollargol. 
besonders in Form der intravenösen Infusion einer 2°/ 0 igen Lösung, wie sie 
von Cred£ angegeben wurde. Die Technik des Verfahrens ist in Bd. XIII, 
neue Folge IV der Encyclopädischen Jahrbücher geschildert. 


Digitized by 


Google 



Puerperalfieber. 


403 


Bezüglich der Wirkungen äußert sich dort der Autor Frankel sehr 
vorsichtig, indem er die Unschädlichkeit der Injektion konstatiert, aber eine 
Ansicht Ober die positiven Erfolge nicht ausspricht. Eine kritische Be¬ 
trachtung der erreichten Resultate, führt Jedoch Walthard zu dem Schluß, 
daß dieselben in keiner Weise mit Sicherheit als gute bezeichnet werden 
können. Die vielen guten Erfolge, die berichtet werden, werden ebenso auch 
ohne Kollargol erreicht und die tödlichen Ausgänge nicht mit einiger Sicher¬ 
heit vermieden. Die Unsicherheit der Prognose des Puerperalfiebers an sich 
erschwert die Beurteilung der therapeutischen Wirkung und verleitet, wenn 
nicht große Zahlen vorliegen, zu optimistischen Trugschlüssen. 

Ebenso wie mit dem Kollargol, steht es mit den übrigen zur Injektion 
empfohlenen Antiseptizis, Formalin, Guajasanol usw. 

Alle Versuche, die Bakterien im Körper durch Antiseptika zu töten, 
scheitern an der Tatsache, daß wirksame Dosen auf den Organismus meist 
ungünstiger wirken als auf die Bakterien, also direkt schädlich sind. 

Ähnlich verhält es sich mit den Versuchen einer kausalen Therapie, 
als deren Repräsentanten man die verschiedenen Antistreptokokkensera an¬ 
zusehen hat. Ebenso gehören hierhin die Versuche aktiver Immunisierung 
durch abgetötete Streptokokkenkulturen. Weder durch die verschieden¬ 
artigen monovalenten respektive polyvalenten Antistreptokokkensera, noch 
durch aktive Immunisierung mit getöteten Reinkulturen hat man positive 
Erfolge errungen. Bei kritischer Beurteilung lassen sich alle die günstigen 
Wirkungen als spontane Heilungen erklären, und so bedauerlich es auch sein 
mag, man muß die Anwendung als zwecklos bezeichnen. Schädliche Wirkungen 
sind angeblich auch hie und da beobachtet, doch empfiehlt sich bei ihrer 
Beurteilung die äußerste Vorsicht, da ja auch hier spontan eintretende 
Verschlimmerungen das Bild trüben können. 

Auch die Versuche, die Bildung der Leukozyten, als der Vorkämpfer 
gegen die Infektionserreger, durch Injektion von geeigneten Mitteln (Nu¬ 
kleinsäure) anzuregen, haben nur zu negativen Resultaten geführt, so daß 
auch sie im allgemeinen als abgetan gelten können. Alle Effekte, die man 
durch die verschiedenen Mittel erreicht zu haben glaubt, lassen sich auch 
durch Infusionen mit physiologischer Kochsalzlösung erzielen, welche un¬ 
gleich einfacher, billiger und sicher unschädlich sind. Ihre Wirkung sucht 
man auf Verdünnung der Toxine im kreisenden Blut und vermehrte Aus¬ 
scheidung derselben durch Beschleunigung des Stoffwechsels zu erklären. 

Auch die Versuche, durch Gaben großer Dosen von Antipyretika (Anti- 
pirin, Curschmann) die Puerperalinfektion günstig zu beeinflussen, können 
als abgetan betrachtet werden. Sie haben Erfolge, die einer Kritik stand¬ 
halten können, nicht gezeitigt. 

Alles in allem genommen, kann man hier auch den Satz aufstellen: 
Die medikamentöse Allgemeintherapie des Puerperalfiebers, 
mit welchen Mitteln sie auch immer versucht werde, hat keinerlei 
positive Erfolge aufzuweisen. Alle die vielen günstigen Berichte über 
einzelne Mittel sind an zu kleinem Material gewonnen und können ebenso¬ 
gut als Spontanheilungen respektive -Besserungen erklärt werden. 

Es bleibt also für die puerperale Allgemeinbehandlung lediglich bei 
der von jeher in den Vordergrund gestellten guten allgemeinen Pflege, die 
auf der einen Seite in entsprechender Ernährung, auf der andern Seite in 
möglichster Erhaltung der Herzkraft gipfelt Hierüber hat v. Herff in 
Winckels Handbuch für Geburtshilfe Bd. VII eine klassische Schilderung 
geliefert, auf die hier verwiesen sei. Nur bezüglich eines Mittels, das 
v. Herff völlig verwirft, seien hier noch einige Worte gesagt: nämlich über 
den Äthylalkohol, wie ihn Runge mehrfach warm empfohlen hat. Ihn so 
völlig zu verwerfen, wie es von den Abstinenzanhängern geschieht, halte 


Digitized by 


Gdögle 


# 



404 


Puerperalfieber. 


ich Dicht für richtig. Vielmehr glaube ich ihn io reiner Form, besondere 
als alten Rheinwein, bei der Behandlung des Puerperalfiebers wohl empfehlen 
su können. Jedenfalls schadet er in keiner Weise. 

Die bisherige Schilderung der Therapie der puerperalen ADgemeinin- 
fektion hat sich im wesentlichen in durchaus negativen Erörterungen be¬ 
wegen müssen. Fragt man sich, was non, abgesehen von der Pflege und 
Ernährung, zu tun sei, so kann man das in 3 Worten zusammenfassen: 
1. Sekale, in irgend einer Form zur Anregung der Kontraktion und Zu¬ 
rückbildung des Uterus; 2. Eisblase auf den Bauch und 3. Kxzitantien, 
wenn das Herz zu versagen droht (Kampfer, Digitalis, Alkohol, Kochsalz¬ 
infusionen). 

Wird in der Praxis vom behandelnden Arzt verlangt, daß etwas ge¬ 
schieht (da das Poblikum von Serum, Kollargol usw. Kenntnis bat), so gebe 
er ruhig Kollargol oder bei wohlhabenden Patientinnen auch Serum. Er 
wird mit diesen Mitteln nicht schaden, soll sich aber bewußt bleiben, daß 
etwa eintretende Besserungen durchaus nicht stets auf diese Mittel surück- 
zuführen sind, sondern auch sehr oft spontan eintreten. Das »post ergo 
propter hoc« hat hier so gut wie keine Berechtigung. 


Operative Behandlung. 


Angesichts der zweifelhaften Erfolge der Allgemeinbehandlung der 
schweren Formen des Puerperalfiebers mit irgend einem der zahlreichen 
Mittel und Methoden, entsprach es nur dem therapeutischen Betätigungs¬ 
bedürfnis, wenn die sogenannte chirurgische Behandlung des Puerperalfiebers 
in den letzten Jahren eine erweiterte Ausdehnung erfahren hat. 

I. Exstirpation des Uterus. Es lag klar, daß man zunächst ver¬ 
suchte, den als Ursprung der Infektion erkannten Uterus operativ zu ent¬ 
fernen, und diese Operation war die erste, die man planmäßig in solchen 
verzweifelten Fällen ausfübrte. Nicht gering ist die Zahl der von den ver¬ 
schiedensten Autoren beschriebenen Fälle mit günstigem Ausgang und es 
könnte auf den ersten Blick erscheinen, als ob dieser Operation ein her¬ 
vorragender Anteil an der Bekämpfung schwerer Allgemeininfektionen be- 
schieden sein werde. In seinem Referat über die operative Behandlung des 
Puerperalfiebers auf dem 13. Gynäkologenkonkreß Straßburg 1909 stellt 
ßuiiM aus der Literatur 287 Fälle von Exstirpation des puerperal-septischen 
Uterus mit 51*5% Mortalität zusammen. Das heißt, es starben von 287 
148, geheilt wurden 139. Das scheint ein nicht ungünstiges Resultat zu 
sein, wenn man annimmt, es sei nur bei den schwersten Fällen operiert 
worden, was jedoch nicht immer der Fall gewesen sein dürfte. Ganz anders 
erscheint die Sache, wenn man erwägt, daß bei schweren Puerperalinfek- 
tionen auch unter nicht operativer Therapie die Mortalität sicher nicht 
über 50 % beträgt und also zum mindesten nicht schlechter ist als mit 
der Exstirpation. 

Die größte Schwierigkeit liegt in der Indikationsstellung, und das 
ist durchaus begreiflich, wenn wir uns erinnern, was im Eingang dieser Ab¬ 
handlung über die Diagnose und die Prognose des Puerperalfiebers gesagt 
ist. Wir können nicht einmal mit Sicherheit entscheiden, ob wir im ein¬ 
zelnen Fall eine verhältnismäßig harmlose saprophytäre oder gefährliche para¬ 
sitäre Erkrankung vor uns haben, noch viel weniger können wir eine Pro¬ 
gnose des Verlaufes und Ausgangs stellen. Schwerste, anscheinend dem Tod 
verfallene Fälle bessern sich ganz plötzlich, anfangs anscheinend leichte er¬ 
liegen in kürzester Zeit. Wenn wir daher in den Publikationen so häufig lesen, 
es sei die Uterusexstirpation aus »vitaler Indikation bei schwerster Infektion« 
erfolgt, so müssen wir uns klar machen, daß sicher von den nach der 


Digitized by 


Google 



Puerperalfieber. 405 

Operation genesenen Fällen eine ganze Reihe auch ohne solche geheilt 
worden wäre, während vielleicht unter den Gestorbenen manche ohne den 
schweren Eingriff genesen wären. Denn ein schwerer Eingriff bleibt die Operation 
immer und manche Kranke erliegt dem Operationsshock. 

Es muß also zugegeben werden, daß eine sichere Indikationsstellung für 
die Totalexstirpation bis letzt völlig außerhalb des Bereichs der Möglichkeit 
liegt, daß sie sich vielmehr auf rein subjektive Eindrücke und Überlegungen 
der einzelnen Beobachter stützen muß. Es ist unter diesen Umständen er¬ 
klärlich, daß eine Reihe von Autoren die Operation überhaupt ablehnt, weil 
sie eine einigermaßen wissenschaftlich oder praktisch begründete Indikations¬ 
stellung nicht finden können (Küstner, Menge). Andrerseits werden die¬ 
jenigen Operateure die besten Resultate haben, welche die Operation am 
häufigsten ausführen, denn bei ihnen wird die verhältnismäßig größte Zahl 
Operierter mit unterlaufen, die auch ohne Operation genesen wären. 

Nach dem Gesagten läßt sich ein einigermaßen vernünftiger Wegweiser 
für den Praktiker in der Frage dieser Indikationsstellung ehrlicherweise 
nicht geben. Jeder wird mit sich selbst zu Rate gehen und sich fragen 
müssen, ob er in dem betreffenden Falle eine Heilung ohne Operation noch 
für möglich hält oder nicht, und danach seine Entscheidungen treffen müssen, 
in dem Bewußtsein, den größten Irrtümern unterworfen zu sein. Stets bleibt 
zu bedenken, daß bei schon weiter vorschrittenem Verfall des Kräftezustandes 
der Eingriff an sich oft tödlich wirkt (Verfasser verlor 4 Fälle auf dem 
Operationstisch), eine weitere Erschwerung der Indikationsstellung. 

Hat man sich zur Entfernung des puerperal-septischen Uterus ent¬ 
schlossen, so bleibt noch die Frage, ob abdominal oder vaginal vorzugehen 
sei. Auch dieses läßt sich nicht prinzipiell beantworten. Der einzuschlagende 
Weg hängt im wesentlichen von der subjektiven Neigung des Operateurs 
zu vaginalen oder abdominalen Operationen ab. Bei der abdominalen Operation 
ist jedenfalls nach Porro zu verfahren, d. h. der uneröffnete Uterus ist mit 
dem Koilum in den unteren Bauchwundwinkel dicht einzunähen, die Bauch¬ 
wunde völlig durch Nähte zu schließen, mit Kollodium oder Kompressen 
dicht abzudecken und dann erst der Uterus mit dem Thermokauter in 
gleicher Höhe mit der Bauchhaut abzutragen (Bumm). Operiert man dagegen 
vaginal, wogegen die Größe des Uterus kein Hindernis bildet, so soll man 
die Bauchhöhle offen lassen und nach der Scheide hin drainieren. Die Nach¬ 
behandlung unterscheidet sich in keiner Weise von der bei anderen Bauch¬ 
operationen, die Resultate sind, wie gesagt, unsicher. 

II. Operationen bei Thrombophlebitis. Mindestens ebenso schwierig 
wie bei der Uterusexstirpation ist die Indikationsstellung für die Unter¬ 
bindung der septisch-thrombosierten Beckenvenen bei der pyämischen Form 
des Puerperalfiebers, wie sie Trendelenbdrg zuerst ausgeführt und emp¬ 
fohlen hat. Von ihr stellt Bumm (1. c.) 51 Fälle zusammen, mit 62 7°/o Mor¬ 
talität (19 geheilt, 32 gestorben). E9 läßt sich weder mit Sicherheit an der 
lebenden Frau entscheiden, ob überhaupt Beckenvenen tbrombosiert sind, 
noch auf welcher Seite, noch wie weit zentralwärts die Thrombosierung 
schon vorgeschritten ist, und man wird nicht selten operieren, wenn es 
schon zu spät ist, d. h. die Thrombose sich schon in die Vena cava hinein¬ 
streckt. Manche Autoren (z. B. Bumm) glauben zwar, bei der bimanuellen 
Untersuchung die thrombosierten Venen und die weichen Ödeme des um¬ 
gebenden Bindegewebes durch den Tastbefund feststellen zu können, jedoch 
muß diese Diagnostik entschieden als eine sehr unsichere bezeichnet werden. 
Andrerseits kann auch jeder Schüttelfrost der letzte sein und eine spon¬ 
tane Organisation und Ausheilung der Thrombosen erfolgen. In der Diskussion 
in Straßburg schien die Tendenz jetzt dahin zu gehen, womöglich nur die¬ 
jenigen Fälle zu operieren, in denen der pyämische Prozeß schon mehr ins 


Digitized by 


Google 



406 


Puerperalfieber. 


chronische Stadium übergetreten sei, da die Prognose bei noch akuten 
Fällen fast absolut ungünstig sei. Verfasser, der 5 Fälle operiert und sämt¬ 
lich verloren hat, kann sich nach seinen Erfahrungen diesen Vorschlägen 
nur anschließen. Die Frage, ob bei beschlossener Operation extra- oder 
transperitoneal vorzugehen sei, ist gleichfalls schwer zu beantworden. Bei 
extraperitonealem Operieren muß man doppelseitig Vorgehen, da man nie 
wissen kann, ob die Trombosen nicht doppelseitig sind. Bei transperitonealem 
Verfahren fällt diese Schwierigkeit weg, dagegen gehen die Operierten leicht 
an septischer Peritonitis zugrunde, da sich eine Verschleppung der Strepto¬ 
kokken aus den eröffneten Beckenbindegewebsräumen ins Peritoneum nicht 
vermeiden läßt. Stets empfiehlt es sich, die von Bumm festgestellten drei 
venösen Blutbahnen der betreffenden Seite zu unterbinden, da man sonst 
leicht unvollständig operiert. 

Der extraperitoneale Weg wird sich wegen der Notwendigkeit, doppel¬ 
seitig vorzugehen, kaum viele Freunde erwerben. Vielmehr wird man ver¬ 
suchen, die Gefahren des transperitonealen Verfahrens möglichst zu ver¬ 
mindern, am besten vielleicht durch eine ausgiebige Drainage nach außen. 
Auf die Exstirpation der erkrankten Venen sollte verzichtet werden, weil 
sie, auch mit dem Glüheisen ausgeführt, zu infektionsgefährlich ist. Man 
sollte sich in der Regel mit der Unterbindung der Venen zentral und peripher 
von der Thrombose begnügen. Ist die Thrombose bereits in die Vena cava 
vorgeschritten, so ist der Eingriff aussichtslos und der tödliche Ausgang 
so gut wie sicher. Auch diese Operation ist an sich sehr gefährlich wegen 
des Shocks. 

Die Narkose sollte Äther-Sauerstoffnarkose sein, von Lumbalanästhesie 
ist, wie bei allen septischen Fällen, abzusehen. 


Puerperale Peritonitis. 


Die Behandlung der puerperalen septischen Peritonitis war bis vor 
kurzem eine lediglich symptomatische, ihre Prognose fast völlig infaust. In 
Anlehnung an die von den meisten Chirurgen befürwortete aktiv-operative 
Behandlung der Perforationsperitonitis bei Appendizitis und sonstigen Magen- 
und Darmerkrankungen hat sich auch, besonders angeregt durch v. Winckel, 
die Mehrzahl der Geburtshelfer entschlossen, die puerperale Peritonitis durch 
Laparotomie anzugreifen. Es läßt sich ja nun allerdings nicht verkennen, 
daß die Verhältnisse hier ungünstiger liegen, als bei den chirurgischen Peri¬ 
tonitiden. Bei diesen sind die Erreger meist Darmbakterien, die sich in bezug auf 
Gefährlichkeit in keinerlei Weise mit den Streptokokken der puerperalen Peri¬ 
tonitis vergleichen lassen. Dementsprechend sind auch die Resultate der Opera¬ 
tion der letzteren lange nicht so günstig wie bei den chirurgischen Fällen. Nach 
Bumm (1. c.) wurden von 177 Fällen der Literatur 108 geheilt, 69 starben, 
also eine Mortalität von 38'9%, wobei aber zu bemerken ist, daß in dieser 
Zusammenstellung auch viele leichte, z. B. abgesackte Fälle mit eingeschlossen 
sind. Bei einer akuten diffusen Streptokokkenperitonitis sind die Resultate 
sicher viel schlechter, von akuten Formen wurden nach Bumm geheilt 27, 
33 starben, also Mortalität von 55%, was sicher die unterste Grenze der 
Mortalität darstellt, da viele ungünstige Fälle nicht publiziert werden. Man 
muß sich aber sagen, daß sicher ohne Operation so gut wie alle Fälle zu¬ 
grunde gehen, und wird sich daher leichter zu dem Eingriff als ultima ratio 
entschließen, wenn die Diagnose einmal gestellt ist. Daß dies so frühzeitig 
wie möglich geschieht, davon hängt der Erfolg des Eingriffes zum größten 
Teil ab, es kommt hier auf Stunden an und man wird ebenso wie bei der 
Appendizitis die besten Erfolge mit der frühen Operation haben. Man soll 
nicht warten, bis das ganze Peritoneum erkrankt ist, sondern womöglich 


Digitized by 


Google 



Puerperalfieber. 


407 


eingreifen, wenn die Infektion sich noch auf die unteren Partien des Bauches 
beschränkt. Zur sicheren Frühdiagnose der Peritonitis und ihrer Erreger 
empfiehlt Bumm die Punktion an den abhängigen Partien oder eine ganz 
kleine Inzision, da bei durch Untersuchung der Peritonealflüssigkeit be¬ 
stätigter Diagnose sofort die weitere Operation zu folgen hat. 

Bumm empfiehlt dafür folgendes Verfahren. Patientin bleibt im Bett, 
wird nur in Ätherrausch versetzt, die Haut mit Jodtinktur bestrichen. Es 
wird dann die dicht über der Symphyse angelegte diagnostische Inzision 
so erweitert, daß eine lange, biegsame Sonde eingeführt und bis in die 
Gegend der Spina anterior superior gebracht werden kann. Dann wird 
auf die Sonde inzidiert, an ihren Kopf ein langes Gummidrainrohr ange¬ 
bunden und zur unteren Wunde wieder herausgeführt. Ebenso wird auf der 
anderen Seite verfahren, so daß also 3 Öffnungen entstehen, in denen 2 lange 
Drainrohre liegen, welche sich vorne über der Symphyse kreuzen. Eventuell 
kann man jederseits von der Spina anterior superior aus auch noch eine weitere 
Inzision tief und seitlich in der Flankengegend anlegen und auch hier noch 
Drains durchziehen, so daß also dann deren vier liegen. Bumm verwirft die 
breite Eröffnung der Bauchhöhle ebenso, wie das Ausspülen mit Kochsalz¬ 
lösung, wie es von vielen Chirurgen empfohlen wird. Ersteren Eingriff hält 
er für sehr groß und daher schädlich, letztere Maßnahmen lehnt er ab, weil 
dadurch die Keime erst recht in bis dahin nicht befallene Teile des Peri¬ 
toneum verschleppt werden. Bei schon ausgebreiteter allgemeiner, akuter, 
puerperal-septischer Peritonitis hält Bumm den Eingriff auch für aussichtslos. 
Dagegen glaubt er die subakuten, mehr chronisch verlaufenen und noch 
nicht über die ganze Bauchhöhle verbreiteten Fälle sicher retten zu können. 
Die gleichzeitige Exstirpation des Uterus hält Bumm nur bei ganz be¬ 
ginnenden Fällen für angezeigt, meist verwirft er diesen Eingriff als zu groß 
und unnötig. 

Über die von Bumm abgelehnte breite Eröffnung der Peritonealhöhle, 
die Ausspülung mit großen Mengen Kochsalzlösung und nachträgliche Drainage, 
sind die Akten ebenfalls noch lange nicht geschlossen. Beide Verfahren, 
das letztere sowie das BuMMsche lassen sich natürlich mit theoretischen Be¬ 
gründungen stützen, allein schließlich entscheidet doch nur der klinische 
Erfolg, und solange dieser noch nicht durch große Zahlenreihen nach der 
einen oder anderen Seite entschieden ist, werden sowohl die einfache Drai¬ 
nage als auch die breite Laparotomie mit Spülungen ihre Anhänger behalten. 
Auch auf dem Chirurgenkongreß 1909, auf welchem dieses Thema ausführlich 
erörtert wurde, ist eine endgültige Entscheidung noch nicht erfolgt. Welche 
der Methoden zu wählen ist, steht bei dem jeweiligen Operateur. Verfasser 
zieht die breite Eröffnung und Drainage vor, wie sie Rehn, Nötzel, Kotzen¬ 
berg u. a. empfehlen. 

Überblicken wir nach den vorstehenden Ausführungen den heutigen 
Standpunkt unserer Kenntnisse über die puerperale Infektion und die aus 
ihnen, sowie aus den klinischen Erfolgen resultierenden Richtlinien für die 
Therapie, so müssen wir gestehen, daß wir wesentlich weiter nicht ge¬ 
kommen sind. Zwar haben sich unsere Kenntnisse über die Biologie der 
Erreger sowohl als auch über die pathologisch-biologischen Vorgänge im 
erkrankten Organismus durch zahlreiche spezialistische Forschungen wesentlich 
vertieft, aber trotzdem sind wir weit entfernt von einem vollen Verständnis des In¬ 
fektionsvorganges, seines Verlaufes und seiner Bekämpfung durch den Körper. 
Vielmehr kann man sagen, daß die Verwirrung und Unklarheit heute größer 
ist als je zuvor und daß namentlich in therapeutischer Hinsicht die meisten 
Hoffnungen, die in die Vertiefung unserer Kenntnisse gesetzt worden sind, 
fehlgeschlagen sind. Vor der naheliegenden Gefahr aber, deshalb in Pessi¬ 
mismus und therapeutischen Nihilismus zu verfallen, kann nicht genug 


Digitized by 


Google 



408 


Puerperalfieber. 


gewarnt werden. Nicht als wissenschaftlicher Theoretiker, sondern als Arzt 
soll der Geburtshelfer der puerperal infizierten Frau beistehen und das 
ganze Rüstzeug der zu Gebote stehenden Therapie aufbieten können. Wenn 
er damit keinen Erfolg erzielen kann, so weist ihn das um so mehr auf die 
einzige Therapie hin, deren Wert wirklich unbestritten ist, auf die Pro¬ 
phylaxe. Sie ist die beste Verhüterin des Kindbettfiebers und sie immer 
weiter auszubauen bleibt die schwere verantwortungsvolle Aufgabe der 
Geburtshelfer. 

Literatur: Ein bis zum Jahre 1904 reichendes, ausführliches Literatorverzeichnis 
von 75 Druckseiten Umfang findet sich in der großen Monographie von v. Hkrfp Aber das 
Puerperalfieber in v. Wihckkls Handbuch der Geburtshilfe, Dl.Bd., DLTeil, S. 255ff. 
Seitdem sind über 2000 neue Arbeiten auf diesem Gebiet erschienen, welche im einzelnen 
anzuführen unmöglich ist. Es sei daher hier anf den FsoMmLSchen Jahresbericht über Ge¬ 
burtshilfe und Gynäkologie 1905, 1906, 1907, 1908 verwiesen, sowie anf die fortlaufenden 
Literaturverzeichnisse, die jedem Einzelheit der Monatsschrift für Geburtshilfe und Gynä¬ 
kologie beigefügt sind, ebenso auf die Referate im Zentralblatt für Gynäkologie. Eine 
gedrängte kritische Übersicht über die Therapie des Puerperalfiebers findet sich, aber ohne 
spezielle Literaturangabe, in den Verhandlungen der deutschen Gesellschaft 
für Gynäkologie, Straßburg 1909, und zwar: Walthajld M., Die interne Behandlung 
puerperaler Infektionen. Wintkb G., Über die lokale Behandlung puerperaler 
1 nfektionskrankheiten. Bumm E., Über die operative Behandlung des Puerperal¬ 
fiebers. Vgl. außerdem die weiteren Verhandlungen dieses Kongresses. p^ ^ M ^.Erlangen. 


Digitized by ^.ooQle 



Q 


Quecksilber. Graues öl, Kalomelöl. Über die Verwendung 
hochprozentiger Quecksilbermischungen zur Syphilisbehandlung, wie sie an der 
NEissERschen Klinik gehandhabt wird, gibt Zieler 1 ) genaue Angaben. Um 
an Stelle des unresorbierbaren Paraffinum liquidum im grauen öl ein resor¬ 
bierbares öl zu setzen, wandte Zieler das Oleum Dericini an, welches aus 
Rizinusöl bei hoher Temperatur gewonnen wird und sich durch Erhitzen 
keimfrei machen läßt. Das graue öl wird nun in der Weise hergestellt, daß 
das Quecksilber mit dem Lanolin sorgfältig verrieben wird und dann das 
Oleum Dericini zugesetzt wird. Im mikroskopischen Präparat sollen die 
Quecksilberkügelchen eine gleichmäßige Größe von Vi Vio des Durch¬ 
messers eines roten Blutkörperchens, also im allgemeinen nicht über 2 [/. 
zeigen, so gründlich hat die Verreibung zu geschehen. Beim Stehen scheidet 
sich etwas öl an der Oberfläche ab, doch genügt ein Umschütteln, um 
wieder eine gleichmäßige feine Verteilung zu erreichen, da die Quecksilber¬ 
kügelchen nicht zusammenfließen. Von großer Bedeutung ist das Verwenden 
eines wirklich guten Präparates, da sonst schwere Vergiftungserscheinungen 
auftreten können. Bei Anwendung eines tadellosen Präparates (s. u.) war 
aber Zieler mit den Resultaten der Injektionen des 40°/ 0 igen grauen Öles 
sehr zufrieden. Von Männern wurden die Einspritzungen gut vertragen, nur 
bei Frauen ist es in 4 Fällen zur Einschmelzung gekommen. Allerdings 
handelte es sich dabei stets um sehr große Dosen. Nur einmal traten Ver¬ 
giftungssymptome bei einer schwächlichen Frau auf, welche in klinischer 
Behandlung abheilten. Sonst spricht sich Zieler über die Verträglichkeit 
der 694 Injektionen (davon 515 zu 014 Hg) sehr günstig aus. Allerdings 
muß man alle Vorsichtsmaßregeln genau beachten, da das graue öl zwar 
langsam, aber außerordentlich energisch wirkt. Es ist eine genau graduierte 
Spritze notwendig, die mit der Nadel zusammen im Paraffinum liquidum 
aufbewahrt wird, das steril bleibt. Die Injektionen sollen stets tief in die 
Glutäen ausgeführt werden; nach dem Einstechen ist die Spritze von der 
Nadel zu entfernen, um festzustellen, ob nicht ein Blutgefäß getroffen wurde, 
eventuell soll auch aspiriert werden. Um ein Zurückdringen des grauen Öles 
in den Stichkanal zu verhüten, muß die Haut um die Kanüle herum tief 
hineingedrückt und fest zusammengepreßt werden. Bilden sich Infiltrate, so 
muß man die Injektionen mit grauem öl aussetzen, weil unter diesen Um¬ 
ständen die Depots abgekapselt werden und dann durch Einschmelzen der 
bindegewebigen Kapsel große Mengen Hg auf einmal zur Resorption 
kommen, die gefährliche Intoxikationen machen können. Ebenso darf niemals 
dieselbe Stelle mehrmals zur Injektion benutzt werden. Bei kräftigen Leuten 
können nach Zieler jeden 4.—5. Tag 0 07 Hg eingespritzt werden, im Verlauf 
der Kur wird dann nur wöchentlich einmal injiziert. Liegen keine Gegen¬ 
gründe vor, so injiziert Zieler eine ganze BARTHELEMYsche Spritze (=0*14 Hg), 
später wird die Dosis verringert. »Bei Erkrankung innerer Organe (Niere, 
Darm, Leber), bei chronischen Intoxikationen (Alkohol, Blei, Tabak usw.), 
ebenso bei alten Leuten, Kachektischen, Gichtikern, Arteriosklerotikern, 
Tuberkulösen und bei Schwangeren mit Nierenstörungen darf graues öl nicht 
verwendet werden wegen seiner langanhaltenden, energischen Wirkung. 


Digitized by 


Google 



410 


Quecksilber« 


Sorgfältige Kontrolle des Urins ist selbstverständlich, ebenso peinlichste 
Mundpflege.« Sind Symptome vorhanden, die ein sofortiges Eingreifen er¬ 
heischen, so ist das energischeste Präparat, das KalomelöL am Platze. Das 
Kalomel (Calomel via humida paratem) muß aufs feinste verrieben werden. 
Für die Anwendung gelten dieselben Grundsätze wie beim grauen ÖL Zieler 
hat von der 40° 0 igen Mischung (mit Lanolin-Dericinöl) (s. u.) als Anfangs¬ 
dosis eine ganze BARTHäLEMYsche Spritze (= 0*112 Kalomel) gegeben, später 
12 Teilstriche. Die Injektionen wurden in 4—6tägigen Zwischenräumen ge¬ 
macht Frauen vertragen auch diese Injektionen schlechter als Männer. 
Außer Lokalerscheinungen, die manchmal aufgetreten sind. ist es einige 
Male zu Allgemeinerscheinungen gekommen, bestehend in starker Schwäche, 
Appetitlosigkeit, Magen- und Kreuzschmerzen, Seitenstechen, Husten und 
hohem Fieber. Jedenfalls aber wurden die Kalomeünjektionen in dieser Form 
weit besser vertragen als in 10° 0 igen Suspensionen. Meist hat Zieler zuerst 
Kalomeleinspritzungen und dann solche von grauem öl im Verlauf einer 
Kur gemacht. 

»Sowohl die Behandlung mit grauem öl wie die mit Kalomelöl erfordern, 
darauf möchte ich zum Schluß noch einmal hinweisen, ein wirklich gut 
hergestelltes Präparat und genügende Vorsicht in der Anwendung, was 
Technik und Auswahl der Fälle anbelangt Dann ist diese Methode auch 
absolut ungefährlich. Die oben angegebenen Maße und Zahlen gelten für 
die alte BARTHELEHYsche Spritze, von der, wie erwähnt, jeder Teilstrich 
V 6 o cmZ entspricht Darin liegt eine gewisse Kompliziertheit Deswegen möchte 
ich für die Praxis folgendes Verfahren empfehlen: Auf unsere Veranlassung 
hat die Firma Dewitt und Herz, Berlin, eine »Rekordspritze« hergestellt 
die in 15 Teile zu je 1 40 cm 3 eingeteilt ist Es würde also jeder Teilstrich 
bei 40° 0 igen Mischungen (auf das Volumen berechnet) 0*01 des verwendeten 
Medikamentes entsprechen. Diese Spritze ist recht genau gearbeitet und, 
wie die Rekordspritzen überhaupt äußerst dauerhaft, während die alte 
BARTHKLEMYsche Spritze außerordentlich schonend behandelt werden muß 
und leicht zerbricht Wir können jenes Modell, das für die neuen französischen 
Vorschriften (von gleicher Konzentration) sich natürlich ebensogut eignet 
wie für unsere, nach jeder Richtung hin empfehlen. Die Anwendung des 
grauen Öles und das Kalomelöls mit dieser Spritze würde am besten so 
erfolgen, daß man sich die Mischungen nach folgenden Formeln herstellen 
läßt: 1. Für das graue Öl: Hydrarg. puriss. 4 0; Lanolin anhydric. 2*6; 01. 
Dericini 6*5; = 10cm 3 . 


2. Für das Kalomelöl. 

Calomel via humida et frigide parat 4*0 | ut 

Lanolin anhydr. camphorat. (5%) 25° 0 ( f. 

01. Dericini camphorat (5%) 75% I ^ S * I 10 cm 3 

Beide Mischungen sind gleich konzentriert; es enthält also jeder Teil¬ 
strich der Spritze 0 01 des Medikamentes (Hg. bzw. Kalomel). die ganze 
Spritze somit die Maximaldosis des grauen Öles, während man vom Kalomelöl 
im allgemeinen nicht über 10 Teilstriche (= 0 1 Kalomel) hinausgehen wird. 
Graues öl und Kalomelöl werden in ausgezeichneter Qualität von der Engel¬ 
apotheke. Breslau IX, Schnitnigerstraße 28, hergestellt: sie hat auch die 
vorschriftsmäßigen Spritzen zur Verfügung.« 

Zur Herstellung des grauen Öles bemerkt Geyer*), daß er es für voll¬ 
kommen ausgeschlossen hält, »daß ein beliebiger Apotheker eine für In¬ 
jektionsbehandlung genügend feine Verreibung des metallischen Quecksilbers 
herstellen kann«. Er schlägt daher folgendes Verfahren vor: Man kocht 
\0y Olivenöl in einer weithalsigen Flasche, läßt auf 40° abkühlen, fügt dazu 
30 g einer 33%° 0 igen Hg-Mitinsalbe von Krewel & Co. = 25%iger Queck- 


Digitized by 


Google 



Quecksilber« 411 

silberverreibung. Unter leichtem Erwärmen wird J / 4 —in Zeiträumen 
von 5—7 Tagen injiziert. 

KnoMAYERsche Quecksilbermaske. 

Eine bequeme Form der Hg-Einverleibung hat Kromayer 3 ) angegeben. 
Er läßt eine Maske ähnlich der gewöhnlichen Chloroformmasken mit einem 
Stoff überziehen, welcher mit Hg imprägniert ist, und den Patienten mit 
dieser Maske stundenlang oder auch nur nachts inhalieren. Die Ausscheidung 
von Quecksilber im Harn bei dieser Kur ist recht bedeutend; einmal im 
Durchschnitt von 18 Tagen 3*6 mg pro die, das andere Mal 1*4 mg pro die 
(unter 11 Tagen). Auch Bendig 4 ) hat gute Erfahrungen mit dieser von 
Beiersdorf gelieferten Maske in 20 Fällen gemacht. Nach Kromayer soll 
die Maske, welche 8 <7 Hg enthält, 5 Tage in einer Lage, dann 5 Tage in 
entgegengesetzer Lage getragen werden. Nach der Größe der Diurese ge¬ 
messen, klingt die Wirkung der Maskenbehandlung schon am 8 . Tage ab, 
so daß ein achttägiger Wechsel des Überzuges vielleicht geraten erscheint. 
Die ausgeschiedene Hg-Menge stieg allmählich während der Kur an; am 
6 .Tage: 1*75 mg\ am 12.: 3*24; am 18.: 4 mg\ am 22.: 3*64 mg; am 30.: 4 * 68 m^ 
und am 36. Tage 4*82 mg Hg. 

»Biologische Quecksilbertherapie.« An einem großen Material 
hat Citron ö ) das gesetzmäßige Verhalten der WASSERMANNschen Reaktion 
zur Hg-Behandlung festgestellt. Er fand als erstes Gesetz: Je länger das 
Syphilisvirus auf den Körper eingewirkt, je stärkere Krankheitserscheinungen 
es ausgelöst und je häufiger es Rezidive gemacht hat, desto regelmäßiger 
und stärker ist der Antikörpergehalt (Reagiergehalt) des Serums; und als 
zweites: Je früher die Quecksilbertherapie eingesetzt hat, je länger sie 
fortgesetzt ist, je häufiger sie wiederholt wurde, je zweckmäßiger die Appli¬ 
kationsform war und je kürzere Zeit seit der letzten Kur verstrichen ist, 
desto geringer wird der Antikörpergehalt (Reagiergehalt), desto häufiger 
ist er gleich Null. Die Gründe, auf welchen sich diese Schlüsse aufbauen, 
sind das lange Bestehen der Reaktion bei fehlender oder unzureichender 
Behandlung, das Wiederauf flackern der Reaktion bei jedem Rezidiv und der 
Einfluß der Behandlung auf die symptomlosen Fälle mit positiver Reaktion. 
Als Leitsätze für die Behandlung stellt Citron folgende Sätze auf: »Das 
Ziel der biologischen Quecksilbertherapie ist die Beseitigung aller sichtbaren 
Erscheinungen der Syphilis und der positiven Reaktion. Die Resultate einer 
erfolgreichen Kur sind durch häufige Besichtigungen sowie durch chronisch¬ 
intermittierende Untersuchungen der Serums zu kontrollieren. Jedes Wieder¬ 
ansteigen der Reaktion gibt ebenso wie die geringfügigste Manifestation 
die Indikation zu einer neuen Kur ab.« 

Quecksilberintoxikation. Endlich muß ich noch 5 Fälle von töd¬ 
licher Quecksilberintoxikation Erwähnung tun, von denen 2 nach Hg salicy- 
licum, 2 nach Kalomel Crestmol und einer nach einer Schmierkur auftrat 
[Bartsch ®) und v. Crippa und Feichtiger 7 )j. 

Literatur: *) Zieler, Über die Verwendung hochprozentiger Quecksilbermischungen 
(graues öl, Kalomelöl) zur Syphilisbehandlung. Münchener med. Wochenschr., 1908, Nr. 46, 
pag. 2372. — *) Geyer, Zur Syphilisbehandlung mit grauem öl. Münchener med. Wochenschr., 
1909, Nr. 4, pag. 181. — *) Kromayer, Die Quecksiberkur mittels der Merkulatormaske Beiers¬ 
dorff im Vergleich zu den bisher üblichen Kuren. Monatschr. f. prakt. Dermat., Bd. XLVI, 
pag. 425, zit. n. Pinkcs, Med. Klinik, 1908, Nr. 43, pag. 1655. — 4 ) Bendig, Die KROMAYERSche 
Quecksilberinhalationskur bei Syphilis. Münchener med. Wochenschr., 1908, Nr. 35, pag. 1831. 
— 5 ) Citron, Über die Grundlagen der biologischen Quecksilbertherapie der Syphilis. Med. 
Klinik, 1909, Nr. 3, pag. 86. — 8 ) Bartsch, Quecksilbervergiftung mit tödlichem Ausgang. 
Münchener med. Wochenschr., 1907, Nr. 43, pag. 2138. — 7 ) v. Crippa und Feichtingbr, Ein 
Fall von tödlich verlaufener Quecksilberintoxikation. Münchener med. Wochenschr., 1907, 
Nr. 26, pag. 1282. E. Frey. 


Digitized by ^.ooQle 



R. 


Rechts- und Linkshändigkeit.* I. Kind. Es ist allgemein 
bekannt, daß Kinder im 1. Lebensjahre beide Arme gleichmäßig gebrauchen, 
jedenfalls den rechten Arm nicht bevorzugen. Man hat daraus geschlossen, 
daß. die spätere Rechtshändigkeit eine Folge der Gewöhnung oder Erziehung 
sei. Dies ist nicht richtig. Ohne alle äußeren Einflüsse beginnen die Kinder 
etwa im 8. Monat den rechten Arm (ausnahmsweise den linken) vorzuziehen, 
und bei Beginn des 2. Lebensjahres ist die Rechts- (oder Links-)händigkeit 
vollständig ausgebildet. Bei Kindern sind die beiden Arme anfangs an Länge, 
Stärke und Gewicht gleich, sowohl die Knochen als die Muskeln. Später 
finden wir Differenzen, fast stets zugunsten des rechten Armes. Obwohl 
sonach das Kind bei der Geburt und in der ersten Zeit nach derselben voll¬ 
ständig symmetrische Arme besitzt, bringt es doch in der großen Mehrzahl der 
Fälle zwei Dinge mit auf die Welt: 1. die dem rechten Arm innewohnende 
Tendenz zu stärkerer Entwicklung oder eine stärkere »Wachstumsenergie«, 
2. die Neigung, den rechten (ausnahmsweise den linken) Arm im Gebrauch 
vorzuziehen. 

II. Rechts- und Linkshändigkeit in der Geschichte. Alles, 
was wir über die Völker dieser Erde wissen, Waffen und Geräte aller Art, 
Abbildungen, direkte Überlieferungen, vor allen Dingen die Ausdrücke in 
den verschiedensten Sprachen, alles beweist, daß sämtliche Völker Rechts¬ 
händer waren, oder genauer ausgedrückt, daß bei allen Völkern die Rechts¬ 
händer stets in der großen Mehrzahl waren. Nirgends wird in alten Schrift¬ 
stellern von einem Volk berichtet, das überwiegend linkshändig war (s. u.). 
Behauptet worden ist dies, aber mit Unrecht, von den alten Ägyptern, ferner 
liegen Angaben vor über einige Völker oder Stämme in Indien (Pendschab), 
der Südsee, Südamerika. 

Daß die alten Israeliten schon 1500 v. Chr. ganz überwiegend Rechts¬ 
händer waren, geht aus einer Stelle des alten Testamentes hervor. Im 
Buche der Richter. Kap. 20, Vers 15 und 16 wird berichtet, daß der Stamm 
Benjamin 26.700 Mann (nach anderen Lesearten 23- oder 25.700) waffen¬ 
fähige Männer hatte; unter diesen waren 700 Linkshänder, die aber ganz 
besonders im Schleudern geübt waren, so daß sie auf weite Entfernung 
ein Haar treffen konnten. Je nach den Lesarten ergeben sich 2*6—2*95% 
Linkshänder, das ist ungefähr derselbe Prozentsatz, wie wir ihn jetzt 
annehmen. 

III. Rechts- und Linkshändigkeit in der Gegenwart. Die bis¬ 
herigen Untersuchungen über diesen Gegenstand sind sehr mangelhaft, vor 


* Mit Benutzung von Ernst Weber, Ursachen und Folgen der Rechtshändigkeit. 1905. 


Digitized by ^.ooQle 



Rechts- und Linkshändigkeit. 


413 


allem was ihre Zahl betrifft. Zwar hat eine Reihe von Forschern an Lebenden 
wie an Skeletten Messungen über die Differenzen zwischen rechts und links 
angestellt, aber die Zahl der von dem einzelnen Untersucher genau ge¬ 
messenen Arme und Hände ist eine sehr geringfügige; ja es ist bisher nicht ein¬ 
mal an einer größeren Menge von Menschen festgestellt worden, ob sie 
rechts- oder linkshändig seien. Bei den so häufigen Volkszählungen und statisti¬ 
schen Feststellungen (»Enqueten«) über Beschäftigung oder Gewerbe, die 
seitens des Reiches, der Staaten und der Städte stattfinden, könnte ja ganz 
gut auch eine Untersuchung über Rechts- oder Linkshändigkeit angestellt 
werden. Wir würden so leicht ein Material über viele Millionen Menschen 
erhalten. Oder man könnte bei den Aushebungen oder bei der Einstellung 
die jungen Leute fragen oder aber später während des Dienstes ver¬ 
gleichende Messungen zwischen dem rechten und dem linken Arm aus¬ 
führen.* 

Die einzige Untersuchung derart in größerem Maßstabe wurde von 
Hasse und Dehner an 5145 Soldaten angestellt. Sie fanden ungleiche Arm¬ 
länge bei 4254 Mann, also 82°/ 0 ; gleiche Armlänge bei dem Rest, also 18%. 
Rechtshänder waren davon 5083 oder fast 99%, Linkshänder 58 Mann 
oder etwas über 1%. Bei allen Linkshändern überwog die Länge des linken 
Armes, mit Ausnahme eines Falles. Dieser Prozentsatz der Linkshänder ist 
auffallend gering und wohl nur so zu erklären, daß es sich um dienende 
Leute handelte, denen die Linkshändigkeit im Dienste abgewöhnt worden 
war, da bekanntlich der Dienst allgemein auf Rechtshändigkeit einge¬ 
richtet ist 

Über die Häufigkeit der Rechts- und Linkshänder finden sich in der 
Literatur verschiedene Angaben. 

Malgaigne (1838) fand unter 182 Männern 160 Rechts-, 15 Links¬ 
händer, 2 Ambidextri, 15 fraglich. Unter 33 Weibern waren weder Links¬ 
händer noch Ambidextrae. In Malgaignes Traite d’anatomie chirurgicale 
(1838) wird der Prozentsatz der Linkshänder auf 2—3 angegeben. 

Sehr bestimmte Angaben über die Längen- und Breitenunterschiede 
zwischen der rechten und linken oberen Gliedmaße hat Max Schüller (1885) 
gemacht. Nach Schüller ist die rechte obere Extremität »in der Regel, 
entsprechend ihrem vorwiegendem Gebrauche, im allgemeinen etwas länger 
wie die linke«. Die Längendifferenz beträgt bei Erwachsenen 10—1*5 cm. 
Sie betrifft vorzugsweise den Humerus, in abnehmendem Grade die übrigen 
Abschnitte. Zuweilen ist die Längendifferenz an der Hand relativ groß. Die 
rechte Hand ist auch breiter (an den Metacarpo-Phaiangealgelenken), bis 
zu 1 cm, besonders bei Handarbeitern, zumal wenn sie eine Hand zu schwerer 
Arbeit brauchen. Aber auch bei Näherinnen u. dgl. ist die Differenz erheblich; 
bei »Arbeitern« ohne bestimmtes Handwerk weniger; bei Frauen stärker 
als bei Männern (!). — Schulterblatt und Schlüsselbein sind rechts regel¬ 
mäßig etwas länger; die Differenz beträgt bis zu 1 cm. — Die Muskulatur 
der Schulter und des Armes ist rechts durchschnittlich viel stärker, die 
Kraft erheblich größer. Die Unterschiede finden sich besonders bei muskel¬ 
starken Männern, bei Frauen weniger. Schüller fand Unterschiede zwischen 
rechts und links schon bei 5jährigen Kindern, bei Knaben größere als bei 
Mädchen; bei jüngeren Kindern werden die Unterschiede allmählich geringer 
und sind bei 1—2jährigen in der Regel nicht nachzuweisen. Schüller zieht 
hieraus den Schluß, daß die Differenzen »wohl wesentlich auf den vor¬ 
wiegenden Gebrauch der rechten Extremität zurückzuführen sind«. »Diese 


* Seine Exzellenz der Generalstabsarzt der Armee, Herr Professor Dr. v. Schjerninq, 
bat der Bitte des Verf. entsprechend eine dahin zielende Untersuchung der im vorigen Herbst 
zur Einstellung gelangten Rekruten angeordnet, deren Ergebnisse Verf. seinerzeit veröffent¬ 
lichen wird. 


•Digitized by ^.ooQle 



414 


Rechts- und Linkshändigkeit. 


Ansicht wird überdies noch dadurch unterstützt, daß diese Größenverhält¬ 
nisse bei den wenigen Linkshändigen, welche ich zu untersuchen Gelegenheit 
hatte, zugunsten der linken Extremität geändert erschienen.« ln einer An¬ 
merkung spricht Schüller den sehr bedeutungsvollen Satz aus: »Ob die 
überwiegende Entwicklung der rechten oberen Extremität in irgend welcher 
Beziehung zu einer ähnlichen Bevorzugung der linken Hirnhälfte 
steht, in welcher sich das Sprachvermögen befindet, das will ich hier 
nur als Vermutung, die sich aber bislang noch nicht beweisen läßt, aus¬ 
sprechen.« 

Delaunay (1874) gibt das Verhältnis der Linkshänder zu den Rechts¬ 
händern wie 1 : 40 an, das sind also 2*5% Linkshänder. Lombroso: unter 
671 Arbeitern 27 Linkshänder, also 4*02%. — Unter 100 Bersaglieri: 5% 
»Ambidextri«; unter 238 Arbeiterinnen: 13 Linkshänder und 1 Ambidextra 

= 5*88%. 

Raggi: 6 Linkshänder auf 103 männliche Irre 
5 „ „117 weibliche „ 

Amadli: 9 „ „ 260 Irre 

Sa: 20 Linkshänder auf 480 Irre = 4* 16% 

Makro: bei männlichen Verbrechern 13*9%» bei weiblichen Verbrechern 
2 2*7% Linkshänder. 

Nach den bei Schneidern mit sehr großer Kundschaft (40.000 Messungen), 
Schneiderinnen u. dgl. gesammelten Erhebungen Van Biervliets (1897) ist 
bei der »immensen« Mehrzahl der Frauen der rechte Arm länger und stärker. 
Nach diesen Angaben gibt es in Belgien 2—3% Linkshänder bei Frauen, 
nicht mehr als bei Männern, nach anderen nur 1 %. Handschuhmacher 
geben an, daß in 97% die rechte Hand zwar nicht länger, aber stärker sei. 
In Gent hat die rechte Hand der Männer im Mittel Nr. 7 4 / 4 , die linke 7%, 
bei Frauen rechts 6%, links 6%, also nur Vs Zoll weniger. Die Differenz beginnt 
mit 14—18 Jahren, überwiegen der linken Hand wurde allgemein auf 2 % 
angegeben. Bei vergleichenden Kraftmessungen, die Van Biervliet 200 
Studenten ausführen ließ, fanden sich zunächst 35 Armlinkser, von denen 
aber nur 3% gestanden, daß sie links stärker seien (vgl. Hasse und 
Dehner). Die Kraft der rechten Hand verhielt sich bei Rechtshändern zu 
der der linken wie 10:9; das Entsprechende fand sich für Linkshänder. 

Ließ Van Biervliet Studierende im Vorsaal der Universität mit ver¬ 
bundenen Augen geradeaus gehen, so wurde konstant eine Abweichung 
von der geraden Richtung beobachtet, und zwar bei Rechtshändern nach 
links, bei Linkshändern nach rechts. 

Von hohem Interesse sind die Feststellungen von Van Biervliet be¬ 
treffs der verschiedenen Sensibilität der rechten und der linken Körper¬ 
hälfte oder, wie er direkt sagt, des rechten und des linken Menschen. Auf 
Hörempfindungen wurden 100 Individuen geprüft; es ergab sich bei 
Rechtshändern wie bei Linkshändern, wenn man die überwiegende Seite = 10 
setzt, für die andere 91. 

Auch die Sehschärfe verhielt sich bei Rechts- und Linkshändern etwa 
wie 10:9 zugunsten der stärkeren Seite. Prüfung mit dem Ästhesiometer 
von Weber ergab bei 100 Individuen, unter denen nicht weniger als 22 (!) 
Linkshänder waren: das Verhältnis von 10:9 06. 

Van Biervliet schließt aus seinen Versuchen und den Literaturstudien, 
daß der Mensch von Anfang an asymmetrisch gewesen sein müsse: on natt 
droitier ou gaucher. Keine Erziehung wird aus einem Rechtshänder einen 
Linkshänder machen. Die Konstanz des Verhältnisses der Kraft und der 
Sensibilität der beiden Seiten (10:9) beweist, daß die Ursache der Asym¬ 
metrie eine anatomische ist. 


Digitized by ^.ooQle 



Rechts- und Linkshändigkeit. 


415 


Der genannte Genter Psychologe fand unter 300 Individuen etwa za. 76% 
(Kraft- und Sensibilitäts-) Rechtshänder, 22% ausschließlich »Sensibilitäts- 
Linkshänder«, die er — vielleicht mit Unrecht — Ambidexter nennt, und 
nur 2% vollständige Linkshänder (Kraft und Sensibilität). 

Qubtelet hat vor 70 Jahren (1839) mittelst des Dymamometers die 
Differenz der Kraft der beiden Hände zu % zugunsten der rechten Hand 
festgestellt. Er hat aber nur 36 Menschen untersucht, 20 Männer und 
16 Frauen. Unter diesen 36 fand sich kein Linkshänder! 

Hecht und Lang stein haben (1900) die Höhe des Blutdruckes am 
rechten und am linken Arm gemessen. Von den 63 untersuchten jungen 
Männern waren 56 Rechts- und 7 Linkshänder; das ergibt 11% (!) Links¬ 
händer. Das Ergebnis der Bestimmungen ist kurz: An dem allgemeinen 
Überwiegen einer Körperseite nimmt in 95% der Blutdruck teil. Das Mehr 
(4-) einer Seite schwankt zwischen 5 und 20 mm Hg, beträgt meist 10 mm, 
das heißt gleichfalls 10% des absoluten Blutdruckes. Verf. möchte auf die 
auffallende Übereinstimmung der 10% Differenz mit der von Van Bieevliet 
gefundenen Zahl ffir die Differenz der Sensibilität und der Muskelkraft der 
beiden Körperseiten hinweisen. Hiernach verhalten sich Blutdruck, Sensibilität 
und Muskelkraft direkt proportional. 

G. Guldbergs Messungen an 190 Rekruten und 21 Medizinern 
ergaben 18*4 und 10% Linkshänder. Gekreuzte Asymmetrie (oben*rechts, 
unten-links stärker) war in 40% der Fälle vorhanden. 

Die Messungen an Skeletten wurden zuerst 1844 von F. Arnold ausge- 
föhrt. Er maß im ganzen 16 Skelette und fand Differenzen in der Länge 
zugunsten der rechten Seite am Oberarm 14mal, am Unterarm 12mal. Die 
Differenzen betrugen bis zu 3 Linien (etwa 8 mm). 

Erst nach 25jähriger Pause wurden 1869 von Harting Messungen am 
Gliedmaßenskelett angestellt. Er maß die Armknochen von 10 Menschen und 
fand, daß die Knochen des rechten Armes um 16 mm größeren Umfang 
haben. 1874 veröffentlichte derselbe Messungen der Länge der Armknochen 
an 6 männlichen und 3 weiblichen Skeletten. Trotz der kleinen Zahl kam 
Harting zu dem neuerdings bestätigten Ergebnis, daß die Asymmetrie beim 
Manne stärker ausgeprägt ist als beim Weibe. Den größten Unterschied zeigte 
der männliche Oberarmknochen: bis zu 6 mm, im Mittel 3—4 mm. Auch das 
Schlüsselbein zeigt rechts und links Unterschiede bis zu 5 mm. — Die 
Messungen von Raymondaud vom Jahre 1882 beziehen sich auf 14 Lebende 
und 4 Skelette. Von den 14 Lebenden hatten nur 7 einen längeren rechten 
Arm; 3mal war der linke länger, 4mal beide Arme gleich. Die 3 Menschen 
mit längerem linken Arm waren Linkshänder. Bei den 4 Skeletten war 
3mal der rechte Arm länger, einmal gleich. 

Wägungen des Gliedmaßen-Skelettes bei Feten, Kindern und Erwachsenen 
hat Debierre (1887) ausgeführt, allerdings nicht in genügender Zahl (3 Feten 
von 6—7 Monaten, 8 Kinder bis zu 2 Jahren). 

Im Durchschnitt wogen die Knochen der oberen Extremität rechts 103, 
links 102 g. 

Debierre schiebt die Rechtshändigkeit auf die Erziehung und Übung 
(Arbeit). Er zitiert Luys, der bereits an das Überwiegen der linken Hirnhälfte 
gedacht hat, Agassiz (»man ist Linkser durch Atavismus«), Paul Bert und 
Delaunay, die die Erblichkeit betonen, Broca (»wir sind Rechtser, weil 
unsere Vorfahren es waren«), und bleibt dabei, daß wir Rechtser wesentlich 
durch Erziehung werden. 

Godin (1900) kommt nach Messungen an 200 jungen Leuten zu folgenden 
Ergebnissen über das Stärkeverhältnis der oberen und unteren Gliedmaßen: 
1. die rechte obere Extremität ist 0 5 cm dicker als die linke, 2. die linke 
untere Extremität ist 0 5 cm dicker als die rechte, 3. das funktionelle Über- 


Digitized by 


Google 



416 


Rechts- und Linkshändigkeit. 


wiegen (»suractivitö fonctioneile«) ist also gekreuzt. Humerus + Radius sind 
rechts um 1 cm länger, Femur 4 - Tibia links um dasselbe Maß. Bei Links¬ 
händern ist die gekreuzte Asymmetrie gleichfalls, natürlich in umgekehrtem 
Sinne, vorhanden. 

Die Unterschiede der Längen der proximalen Phalangen der 4 Finger 
(2.—5.) waren nach Düncker (1904) bei 551 englischen Frauen folgende 
(in mm): 



rechts 

links 

Differenz ( + r) 

Zeigefinger 

. . . 44-06 

44*50 

0-46 

Mittelfinger 

. . . 47-757 

47*33 

0*427 

4. Finger. 

. . . 44-21(2) 

43*75 

0*46(7) 

5. Finger. 

. . . 36-85 

36-39 

0*46 

Die proximalen Fingerglieder der rechten Seite sind durchschnittlich 

eine halbe »Varianten-Einheit«, = % mm, 

länger. 

Am meisten differieren 

dea 5. (0 46: 36 85), 

am wenigsten die des 3. Fingers (0*427:47*757). 

Die Größendifferenzen betrugen: 




2 . 

3. 

4. 5. Finger 

bei linkshändigen Individuen: —1*41 

1-40 

1-41 1-49 mm 

bei rechtshändigen 

„ : -146 

1-51 

1-54 1*53 „ 


Symmetrische Individuen wurden 42*7—45*9%, Linkshänder 8 —J9%, 
Rechtshänder 47*6—445% gefunden. 

Die Ergebnisse von Moser (1906) von Messungen des Armes an 
Lebenden sollen hauptsächlich deshalb mitgeteilt werden, um zu erneuten 
Messungen an Lebenden aufzufordern, gleichzeitig aber um zu äußerster 
Vorsicht hierbei zu mahnen. Eigene Erfahrungen haben den Verf. belehrt 
wie leicht man hier grobe Fehler machen kann. Die in Mosers Aufsatz 
mitgeteilten Ergebnisse stammen von verschiedenen Untersuchern (Ärzten), 
wodurch ihre Brauchbarkeit nicht erhöht wird, da vielfach das Subjektive 
(die »persönliche Gleichung«) eine große Rolle spielt 

Die 216 Messungen ergaben folgendes: Oberarm und Unterarm rechts 
+ : 86 mal oder 40%, um 1 cm + nnr 24mal (11%). 

Rechter Oberarm allein +: 122 mal oder 564%; davon: über 1 cm: 
31ma1 oder 14*3%, lcm:59mal oder 27-3%, unter lcm:41mal oder 19%. 

Rechter Unterarm allein + : 117mal oder 54*1%; davon: über 1 cm: 
27mal oder 12’5%, 1 cm: 56mal oder 26%, unter 1 cm: 26mal oder 12%. 

Der rechte Oberarm war kürzer: 41 mal oder 19%. Der rechte Unter¬ 
arm war kürzer: 26mal oder 12 %. Der rechte Ober- und Unterarm: 11 mal 
oder 5%. 

Alter und Beruf schienen keinen Einfluß zu haben. 

1888 führte Rollet in Lyon sehr genaue und zahlreiche Messungen 
an 100 Skeletten, je 50 Männern und Frauen, aus. Der Oberarm war fast 
stets rechts länger, bei je 2 Männern und Weibern gleich, einmal beim Manne 
und 2 mal beim Weibe links länger. Der Unterschied zugunsten des rechten 
Oberarmes betrug im Mittel 5 mm, oft 7—9, seltener 12—18 mm. Auch die 
Speiche war in den meisten Fällen rechts länger, nur je 5mal rechts und links 
gleich lang oder links länger. Der Unterschied der ganzen oberen Gliedmaße 
betrug im Mittel 7 —8 mm zugunsten der rechten. Er stieg bis zu 22 mm. 

GAUPp(Diss. Breslau 1889) fand bei Messungen an 12 Feten und Neu¬ 
geborenen Gleichheit der Knochen rechts und links, bei zwei älteren Kindern 
schwache Unterschiede zugunsten der rechten Seite, bei einem nicht 
Messungen an lebenden Kindern zwischen dem 5. und 12. Jahre ergaben, 
daß der rechte Arm schon bei 9jährigen bis um fast 1 cm den linken zu 
übertreffen scheint. 


Digitized by ^.ooQle 



Rechts- und Linkshändigkeit. 


417 


Matiegka (1893) studierte die Asymmetrie am Skelett in 53 Fällen, 
von denen ein Teil noch nicht ausgewachsen war. Gleichheit der Knochen 
fand er nur in % der Fälle. Von den 84% mit Ungleichheit waren etwa 
77% rechts, 7% links stärker. 

Die Untersuchungen von G. Guldberg (1896) betrafen 16 Skelette, von 
denen 14 auf der rechten Seite überwogen, während sie 2mal rechts und 
links gleich stark waren. 

Die sehr spärlichen Wägungen von Knochen beider Seiten haben 
Im wesentlichen dasselbe ergeben wie die Messungen. Auch die Wägungen 
der Muskeln der beiden Arme oder der ganzen Arme, d. h. also Skelett, 
Muskeln und andere Weichteile, ergaben eine Differenz zugunsten der rechten 
Seite um ungefähr 10%. 

Nun haben genauere Untersuchungen ergeben, daß die Zahlen 1. für 
das Cberwiegen der rechten Seite des Skelettes, 2. der Muskeln, 3. der 
rechten Hand unter sich nicht übereinstimmen. Die »Skelettlinkser«, auch 
die »Muskellinkser« und die im Leben wirklich als Linkshänder zu Bezeich¬ 
nenden zeigen verschiedene Prozentsätze. So ergaben die Untersuchungen 
von Guldberg 12*5% Skelettlinkser, während wirklich lebende Linkser auf 
sehr viel weniger, nämlich etwa auf 4%%, ja bei militärisch ausgebildeten 
Leuten nur auf 1% zu schätzen sind. Zwischen den Skelettlinksern und 
den wirklichen Linkshändern im Leben stehen noch die Muskellinkser mit 
etwa 9%. Erwachsene Linkshänder ohne besondere Auswahl gibt es, soweit 
unsere Kenntnisse reichen, also wesentlich nach Schätzungen und Annahmen, 
zwischen 4% und 1%. Ogle fand durch Nachfragen in einem Hospital (England) 
unter 2000 Menschen 4%% Linkshänder. Die Hälfte von diesen gab an, 
daß noch andere Linkshänder in ihrer Familie seien. Hyrtl fand nur 2% 
Linkser und Hasse (s. o.) 1%. 

Fast alle Untersucher stimmten darin überein, daß Frauen viel 
häufiger Linkshänder sind als Männer. Es seien hier nur die Forscher ge¬ 
nannt, welche sich speziell mit dieser Frage befaßt haben. Dies sind Jobert, 
Van Biervliet, Amadei und Tonnini. Die beiden letztgenannten fanden den 
Prozentsatz der Linkshändigen bei Frauen 5 8%, bei Männern 4*3%. Sehr 
auffallend ist, daß Linkshändigkeit so außerordentlich häufig bei »Ver¬ 
brechern« vorkommt und daß bei Riesen der Unterschied zwischen den 
Geschlechtern noch viel stärker hervortritt als bei normalen Menschen. Die 
eben genannten Italiener fanden unter Verbrechern weibliche Linkshänder 
22*7%, männliche 13*9%. 


Die Entstehung der Rechtshändigkeit. 


Theorien über die Ursachen der Rechtshändigkeit. I. Die 
Blutversorgung des Körpers. Die Tatsache, daß rechts die beiden 
großen Schlagadern mit einem gemeinsamen Stamme, links dagegen von 
Anfang an getrennt entspringen, hat man schon seit dem Anfang des vorigen 
Jahrhunderts mit der Rechtshändigkeit in Verbindung gebracht. 

Im Jahre 1871 nahm Ogle diese Theorie wieder auf. Die älteren 
Anatomen geben übereinstimmend an, daß die rechte Carotis und rechte 
Subclavia stärker seien als die betreffenden Gefäße der linken Seite. Man 
kann aber mit der verschiedenen Stärke der großen Gefäße entgegengesetzte 
Behauptungen beweisen, je nachdem man die direkte Zufuhr des Blutes 
zum Arm oder den Umweg über das Gehirn wählt. Eine bessere Ernährung 
der linken Hirnhälfte wird eine bessere Nervenversorgung des rechten Armes 
herbeiführen müssen. Während dies z. B. die Theorie von Ogle ist, hat 
Chudleigh (1885) die Rechtshändigkeit direkt, d. h. ohne den Umweg durch 
das Gehirn zu erklären versucht. In etwas anderer Weise als Ogle, aber 


Encyclop. Jahrbücher. N. F. vm. (XVII.) 


Digitized by 


27 

Google 



418 


Rechts- und Linkshändigkeit. 


wie dieser auf dem indirekten Wege Ober das Gehirn, sucht Lueddeckexs 
die Rechtshändigkeit von der Asymmetrie der großen Gefäße abzuleiten. 
Er meint, daß der Blutdruck in einem Gefäße nicht nur von der Weite der 
Lichtung, sondern auch von der Richtung des Gefäßes abhängig sei. Aus 
diesem Grunde, so behauptet Lueddeckexs, erhalte die obere linke Körper¬ 
hälfte und damit auch die linke Hirnhälfte mehr Blut als die rechte. Als 
ferneren Beweis för den stärkeren Blutdruck der linken Carotis führt 
Lueddeckexs noch an, daß auf der linken Seite häufigere Blutgerinnsel von 
den Herzklappen aus nach dem Gehirn befördert werden, daß also Schlag¬ 
anfälle häufiger links als rechts Vorkommen. 

Natürlich müßten bei Linkshändigkeit alle diese Verhältnisse umge¬ 
kehrt liegen, dies ist aber nur gelegentlich der Fall. Gegen die Erklärung 
von Lueddeckexs ist geltend zu machen, daß nach bekannten physikalischen 
Gesetzen sich der Druck in Flüssigkeiten immer nach allen Seiten gleich¬ 
mäßig fortpflanzt; ferner sind die großen Gefäße keine starren Röhren, die 
mal leer, mal voll wären, sondern sie sind elastisch, stets mit Blut gefüllt, 
dessen Druck in bestimmten Grenzen mit den Zusammen zieh ungen des 
Herzens steigt und sinkt Es sollen hier nicht alle anderen Ein wände gegen 
die Theorie vom verschiedenen Blutdruck in den Hirnhälften vorgebracht 
es soll nur der Angabe entgegengetreten werden, daß die linke Carotis 
meist stärker sei als die rechte. Dies hat Cuxnixgham 1902 als Irrtum 
nachgewiesen, indem er die Carotiden beider Seiten an den verschiedensten 
Stellen direkt maß. Der Behauptung von Lueddeckexs, daß infolge des Ver¬ 
haltens des Gefäße der rechte Arm unter schwächerem Druck stehen müsse 
als der linke, daß dies aber durch die stärkere Innervation von der linken 
Hirnhälfte mehr als ausgeglichen werde, ist durch die Untersuchungen voi 
Hecht und Langsteix (s. o.) die Spitze abgebrochen worden, da diese nach- 
weisen konnten, daß der Blutdruck des rechten Armes den des linken um 
über 10 % übertrifft. Unerklärt bleibt nach der Theorie von Ogle und 
Lueddeckexs, warum beim Kinde im 1 . Lebensjahre noch keine Rechtshän¬ 
digkeit besteht, da das Verhalten der Gefäße bei der Geburt schon dasselbe 
ist, wie später. Ferner könnte Linkshändigkeit nur in den Fällen vorhanden 
sein, wo das Herz und die großen Gefäße eine entgegengesetzte Lage haben 
als in der Regel. Diese Fälle sind aber bekanntlich ganz erheblich seltener 
als die Linkshändigkeit Situs inversäs kommt etwa lmal auf Zehntausend 
vor, also in 0 * 1 %, Linkshändigkeit, wie gesagt, in mindestens 2—4%. Dazu 
kommt noch, daß, wie Pye Smith 1891 nach wies, die verkehrte Lage der 
Organe bei Rechtshändern ebenso häufig oder ebenso selten vorkommt wie 
bei Linkshändern. 

II. Die Lage des Kindes vor der Geburt Comtb bat 1828 die 
Theorie aufgestellt, daß die stärkere Entwicklung des rechten Armes auf 
die Lage des Kindes vor der Geburt zurückzuführen sei. Bekanntlich werden 
die weitaus meisten (95%) Kinder mit dem Kopfe voran geboren. Der 
Kindskopf tritt aus dem großen in das kleine Becken, welches er fast voll¬ 
ständig ausfüllt. Er liegt hier entweder mit dem Hinterhaupt nach links 
( 1 . Schädellage) oder nach rechts ( 2 . Schädellage). Die 1 . Schädellage ist die 
überwiegend häufigere (ß5—70% der Schädellagen). Comte glaubt nun, daß 
bei dieser Lage des Kindes, in der die linke Seite desselben, besonders der 
linke Arm, der Wirbelsäule der Mutter dicht anliegt, dieser Arm durch den 
Druck gegen die Wirbel in seiner Entwicklung behindert werde, da sein 
Blutzufluß geringer sei und er sich weniger frei bewegen könne. Der 
rechte Arm dagegen würde weder direkt noch indirekt in seinen Be¬ 
wegungen und in seiner Entwicklung behindert, auch lägen die Nabel¬ 
gefäße günstiger für ihn. Comte führt nun für seine Theorie folgende 
Zahlen an: Unter 25.500 Geburten waren 19.700 Schädellagen, von diesen 


Digitized by o.ooQLe 



Rechts- und Linkshändigkeit. 


419 


17.200 erste, 2100 zweite Schädellage *), danach müßten etwa 11% Linkser ge¬ 
boren werden, von denen dann später ein Teil durch Angewöhnung oder 
Nachahmung Rechtser werden. Die Tatsache, daß, wie wir sahen, die Rechts¬ 
händigkeit erst am Ende des 1. Lebensjahres auftritt, spricht entschieden gegen 
die CoMTRsche Theorie, denn nach dieser müßte sie schon sofort nach der 
Geburt vorhanden sein. Selbst wenn die Theorie Comtes richtig wäre, müßte 
man den Ursachen nachgehen, warum die 1. Schädellage so sehr überwiegt. 
Man nimmt dafür die asymmetrische Lage der Gebärmutter, andere die 
Asymmetrie des Beckens an. Diese beiden Erscheinungen werden aber wieder 
im letzten Grunde auf die vorwiegende Rechtshändigkeit der Mutter (Wirbel¬ 
säule, Becken) zurückgeführt. Da scheint es allerdings erheblich einfacher, 
die Rechtshändigkeit des Kindes direkt von der der Mutter herzuleiten, d. h. 
sie als ererbt zu betrachten. Comtes Theorie bewegt sich also im Kreise: 
was er als Ursache der Rechtshändigkeit hinstellt, ist nicht Ursache, sondern 
Folge derselben. 

III. Die Lage des Schwerpunktes im Körper. Buchanan suchte 
1862 die Rechtshändigkeit durch die Tatsache zu erklären, daß der Schwerpunkt 
des Körpers hauptsächlich wegen der unsymmetrischen Lage der Leber, 
dann aber auch wegen der stärkeren Beanspruchung der rechten Hälfte 
des Brustkorbes durch die größere rechte Lunge, also besonders bei stärkeren 
Bewegungen des Körpers, ziemlich weit nach rechts von der Mittellinie liegt. 
Die Theorie Buchanans läßt sich mit den anatomischen Tatsachen nicht in 
Einklang bringen. Linkshändigkeit dürfte nach ihr nur in den außerordentlich 
seltenen Fällen von Situs inversus (Leber) Vorkommen. Buchanan war durch 
einen derartigen Fall, der zufällig einen Linkser betraf, auf seine Theorie 
gekommen. Den ihm gemachten Einwänden gegenüber sah er sich zu einer 
Änderung seiner Theorie genötigt. Es lohnt sich nicht, die Theorien 
Buchanans zu widerlegen. 

IV. Zufälligkeiten als Ursachen. Man hat ernstlich versucht, die 
Art, wie Mütter, Ammen, Kindermädchen die Kinder auf dem Arme tragen, 
für die Erklärung der Entstehung von Rechts- und Linkshändigkeit herbei- 
zuziehen; schade nur, daß im einzelnen die tatsächlichen Angaben und die 
Schlußfolgerungen auseinandergehen. Der eine behauptet, die Kinder würden 
mit dem rechten als dem stärkeren Arm getragen, andere behaupten das 
Gegenteil. Ferner wird von dem einen behauptet, der der Mutter oder 
der Trägerin zugewandte Arm werde mehr bewegt, die anderen behaupten 
das Gegenteil. Man kann wohl annehmen, daß die Mehrzahl der Kinder 
mehr links getragen wird und der linke Arm im allgemeinen freier beweglich 
ist. Es> müßten also, wenn diese Dinge miteinander zusammenhingen, die 
Kinder überwiegend Linkser werden. Andere meinen, die Linkshändigkeit 
entstehe durch Eigensinn oder Opposition der Kinder gegen die Er¬ 
mahnungen und das Beispiel der Eltern und Erzieher! — Noch andere bringen 
die Rechtshändigkeit in Verbindung mit dem bei den meisten Menschen 
zur Gewohnheit gewordenen Schlafen auf der rechten Seite. Diese Lage 
soll zu einer Konzentrierung der Hirntätigkeit auf der linken Seite und 
dadurch zur Rechtshändigkeit, führen. 

V. Die Rechtshändigkeit als indirekte Folge der Lage der 
Organe im Körper. Eine von Pye Smith 1871 und Rayer aufgestellte, 
von Ernst Weber weiter durchgeführte Theorie läßt sich kurz folgender¬ 
maßen zusammenfassen: Die Lage des Herzens auf der linken Seite des 
Körpers beeinflußt den rechten Arm nicht unmittelbar, sondern indirekt. 
Ursprünglich war die Fähigkeit beider Arme völlig gleich in Kraft und Gescbick- 


*) Diese Zahlen weichen von den Angaben der neueren Lehrbücher, die au! vielen 
Ruuderttausendcn von Geburten beruhen, erheblich ab. 


Digitized by 


GdSgle 



420 


Rechts* und Linkshändigkeit. 


lichkeit, ebenso wie die der Vorderbeine des vierfüßigen Tieres. Aber infolge 
des aufrechten Ganges des Menschen oder richtiger der Aufrichtung unserer 
Vorfahren wurde das bis dahin durch das Schulterblatt geschützte Herz 
in eine gefährliche, relativ freie oder exponierte Lage gebracht. Die nicht 
mehr zur Ortsbewegung nötigen, für andere Bewegungen frei gewordenen 
Arme begannen sich zu Schutz und Trutz des Körpers primitiver Waffen, 
z. B. Baumäste oder Steine, zu bedienen. Die Benutzung von Waffen führte 
zur Bevorzugung eines Armes für aktive Bewegungen, zur Benutsnng des 
anderen als Schutz für das Herz, später mittels besonderer Vorrichtungen, 
aus denen sich dann der Schild entwickelte. Im Vorteil waren die, welche 
das Herz mit dem linken Arm schützten und den rechten Arm aktiv be- 
wegten. Auf diese Weise habe sich, meinen die genannten Autoren, aus der 
anfänglichen Ambidextrie allmählich eine Mehrheit von Rechtsarmigen und 
Rechtshändern entwickelt. Als dann später gemeinsame friedliche Tätigkeit 
im Hause und im Felde eine gleichmäßige Gewöhnung den Gebrauch der¬ 
selben Hand für bestimmte Verrichtungen erforderte, wurde die Minderheit 
allmählich veranlaßt, die Gewohnheit der Mehrheit anzunehmen, ln dieser 
Entwicklung befinden wir uns zurzeit. Noch ist die Linkshändigkeit nicht 
verschwunden und wird wohl auch sobald nicht verschwinden, da sie heut¬ 
zutage ja keine direkten Gefahren, sondern nur Unannehmlichkeiten oder 
Unbequemlichkeiten mit sich bringt. 

Gegen die Ableitung der Rechtshändigkeit von der Linkslage des 
Herzens spricht, wie v. Meyer 1873 hervorhob, die Tatsache, daß in keiner 
bekannten Sprache ein Wort für links vorkommt, das der Bezeichnung für 
das Herz entspricht oder ähnlich ist. In manchen Sprachen wird links 
mit der Schutzwaffe, dem Schilde, gleich bezeichnet. Ferner widerspricht der 
überall mit der linken Seite verbundene Begriff des Geringschätzigen den 
angenommenen Beziehungen zum Herzen. Daß der Schild mit dem linken 
Arm gehalten wurde, während der rechte das Schwert und den Speer führte, 
darf nach der Überzeugung v. Meyers nicht mit der Lage des Herzens in 
Beziehung gebracht werden, sondern ist davon abzuleiten, daß die linke 
Seite die schwächere schon war, als man Schwert und Schild erfand, daß 
man selbstverständlich den stärkeren Arm für die Trutzwaffe, den schwächeren 
für die Schutzwaffe wählte. Ja, Verf. (B.) ist der Überzeugung, daß, selbst 
wenn die Herzspitze rechts läge, trotzdem der rechte Arm nicht den Schild, 
sondern das Schwert geführt hätte. 

v. Meyer ist der Ansicht, daß die Bevorzugung von rechts im letzten 
Grunde auf religiöse Vorstellungen zurückzuföhren sei. 

E. Weber bemerkt, daß zwar vieles durch die »Herztheorie« klarer 
werde, daß aber die volle Lösung der Frage damit nicht gegeben werde, 
die Frage werde nur ein Stück weiter zurück verlegt. Denn selbstverständlich 
erhebt sich sofort die zweite Frage: »Warum liegt das Herz links?« Diese 
Frage hat unter anderen Broca zu beantworten gesucht. Er bringt die in der 
Säugetierreihe nachweisbare, schon bei Anthropoiden sehr deutliche, aber 
auch bei niederen Säugern, z. B. bei den Haustieren, nachweisbare Links¬ 
lage der Herzspitze in Beziehung zur Aufrichtung des Menschen. Rechts 
wird, wie Broca ausführt, der Raum durch die größere rechte Lunge beengt, 
also muß das Herz nach links sinken. Gegen Broca ist anzuführen, daß 
1 . schon bei niederen Säugern das Herz unsymmetrisch, mit der Spitze nach 
links liegt, — 2. daß die Verzögerung der rechten Lunge auch erst noch 
erklärt werden müßte. Wir kommen so schließlich auf einen stammesge¬ 
schichtlichen Prozeß, der bei den Säugetieren beginnt, dessen eigent¬ 
liche Ursache wir aber nicht kennen. 

Dieser eben angedeuteten stammesgeschichtlichen »Erklärung« können 
wir eine entwicklungsgeschichtliche an die Seite stellen, die mit jener 


Digitized by CjOOQle 



Rechts* und Linkshändigkeit« 


421 


das Gemeinsame hat, daß sie selbst auch wieder erklärt werden muß. Diese 
Theorie röhrt von Dareste (1885) her und lautet kurz: Die Embryonen 
aller höheren Wirbeltiere liegen anfangs mit der Bauchseite auf dem Ei¬ 
dotter, drehen sich aber nach einiger Zeit derart, daß sie mit der linken 
Körperseite auf den Dotter zu liegen kommen. Die mechanische Ursache 
dieser Drehung ist aber wiederum das Herz, das nach rechts hin ausbiegt 
und diese Richtung nach rechts auch dem Kopf und dem übrigen Körper 
des Embryo mitteilt. In seltenen Fällen dreht sich der Herzschlauch und 
der Embryo nach der anderen Seite, dann liegen aber später nicht nur das 
Herz, sondern alle inneren Organe umgekehrt. Wäre Darestes Theorie 
richtig, dann müßten natürlich auch die Linkshänder die umgekehrte Lage 
sämtlicher Organe haben (vgl. oben). 

Fassen wir das Gesagte kurz zusammen, so kommen wir zu dem Er¬ 
gebnis, daß ein zwingender anatomischer Grund för die Rechtshändigkeit 
noch nicht gefunden ist, ebensowenig dafür, warum ein bestimmter Prozent¬ 
satz der Menschen linkshändig ist. 


Folgen der Rechtshändigkeit. 


Einfluß auf das Gehirn. Alle Angaben über das spezifische Gewicht 
der grauen und der weißen Substanz stimmen darin überein, daß die graue 
Substanz leichter i*t. Dann muß natürlich die mit relativ mehr grauer Sub¬ 
stanz (Hirnrinde) ausgestattete Hirnhälfte leichter sein als die andere. Aus 
den bisher vorliegenden Messungen geht hervor, daß die linke Hirnhälfte 
etwa 1% größer und um ebensoviel leichter sein dürfte als die andere. 
Es kommt aber für unsere Frage nicht auf die gesamte Hirnrinde, sondern 
nur auf diejenigen, ziemlich kleinen Bezirke an, in denen die Zentren für 
die Arme liegen. Hierüber hat Cunningham im Jahre 1902 genaue Unter¬ 
suchungen angestellt, die sich auf den erwachsenen Menschen und auf 
Embryonen erstreckten. Es wurde festgestellt, daß die Rindenzentren für 
die Arme beiderseits gleichzeitig im 4. embryonalen Monat auftreten, während 
das Sprachzentrum erst kurz vor der Geburt sich anlegt und erst am Ende 
des 1. Lebensjahres vollständig entwickelt ist. 

Vor allen Dingen soll hier aber auf die wichtigste Beeinflussung des 
Gehirns durch die Rechtshändigkeit hingewiesen werden: die einseitige 
Lage des Sprachzentrums. Die von Broca entdeckte Lokalisation der 
mit der Sprache zusammenhängenden Verrichtungen, d. h. Bewegungen und 
Empfindungen, in der linken Großhirnhemisphäre muß als eine der merk¬ 
würdigsten Tatsachen bezeichnet werden Mit seltenen Ausnahmen liegt bei 
Rechtshändern das Sprachzentrum links, bei Linkshändern rechts. Gelegentlich 
scheint es doppelseitig zu sein. 

Im Laufe der Jahre vergrößerte sich in unserer Erkenntnis allmählich 
der Kreis der Leistungen der linken Hirnhälfte. Man beobachtete, daß mit dem 
Verlust der eigentlichen Sprachfunktionen sich auch die Fähigkeit, Gesichts¬ 
ausdrücke oder sogenannte mimische Gebärden auszuführen, verloren hatte. 
So wurde der Begriff der »Aphasie« erweitert zu dem der »Asymbolie« 
(Finkelnburg), d. h. dem Verlust der Fähigkeit, überhaupt Begriffe mittelst 
konventioneller Zeichen zu verstehen oder kundzugeben. Auch für die symbo¬ 
lischen Verrichtungen wurde nacbgewiesen, daß sie vorwiegend links 
lokalisiert sind, oder daß diese Tätigkeiten durch Läsionen nur der linken 
Hemisphäre aufgehoben werden. 

Aber noch überraschender war die Entdeckung von H. Liepmann (1905), 
daß die Überlegenheit der linken Großhirnhälfte noch viel weiter geht, 
daß dieser beim Handeln überhaupt, wenn auch nicht in demselben Maße 
wie beim Sprechen, das Übergewicht zukommt. Unter »Handlungen« ver- 


Digitized by 


Google 



422 


Rechts- und Linkshändigkeit. 


steht Liepmann »Zweckbewegungen«, d. h. »jene erlernten Verknüpfungen 
einfacher (elementarer) Muskeltätigkeiten, die entweder Einwirkungen auf 
die Objektwelt oder Kundgebungen seelischer Vorgänge für andere (Ausdrucks- 
bewegungen) darstellen«. Wenn die Einzelbewegungen, wie Beugen, Strecken, 
Heben, Senken usw. der Glieder und Gliedteile, mit gehöriger Kraft und 
Koordination vollzogen werden, aber die zur Herbeiführung eines gewollten 
Endzweckes (Effektes) erforderliche Zusammenfügung nicht gelingt, so liegt 
»Apraxie«, bei geringerem Grade »Dyspraxie« vor. Man könnte sonach 
die Apraxie die Aphasie der Gliedmaßen nennen; zutreffender ist es. die 
expressiv-aphasischen Störungen als Apraxie der Sprachmuskeln zu be¬ 
zeichnen.* Libpmanns Untersuchungen über Apraxie beziehen sich auf über 
90 Fälle von Hirnkranken. * Unter den 89 zur Prüfung geeigneten Fällen 
waren 42 linkseitig gelähmte, also mit rechtshirnigen Herden, und 41 rechts¬ 
gelähmte mit linkseitigen Herden. Bei den 83 Gelähmten wurde nun eine Prüfung 
auf die Gebrauchsfähigkeit der nicht gelähmten Hand vorgenommen. Die 
Patienten mußten Ausdrucksbewegungen (drohen, winken, Kußhand werfen, 
lange Nase machen, den militärischen Gruß usw.) ausführen, — ferner Be¬ 
wegungen markieren, also aus der Erinnerung machen (anklopfen, Klingel 
ziehen, Geld aufzählen, Fliegen fangen, Drehorgel spielen usw.), — oder mit 
bestimmten Objekten (Kamm, Kleiderbürste, Streichholz, Petschaft, Siegel¬ 
lack, Briefmarke usw.) die üblichen Bewegungen (Haare kämmen, Ärmel 
bürsten, Brief siegeln, Marke aufkleben usw.) ausführen. Außerdem wurden 
sie veranlaßt, bestimmte Bewegungen nachzumachen. Die Ergebnisse 
waren kurz folgende: Bei den 42 linkseitig Gelähmten kam es nur selten 
vor, daß eine oder die andere der gestellten Aufgaben (rechts) nicht prompt 
gelöst wurde, niemals aber, daß eine größere Reihe derselben nicht erledigt 
wurde. Die Prüfung der Linksgelähmten ging stets sehr schnell von statten, 
die Bewegungen gingen »wie am Schnürchen«. Bei den zur Kontrolle her¬ 
angezogenen, nicht gelähmten Senilen und Dementen gelangen gleichfalls 
die verlangten Bewegungen mit der linken Hand. 

Ganz anders verhielten sich die rechtseitig Gelähmten. Ungefähr die 
Hälfte (20) zeigten deutliche Störungen in der Ausführung der Aufgaben 
mit der linken, also gesunden Hand. Bei 21 Rechtsgelähmten wurden die 
Aufgaben ausgeführt, zum Teil allerdings waren die Handlungen unsicher, 
langsam und ungenau. Unter den 20 Rechtsgelähmten mit Apraxie der 
linken Hand zeigten 14 Fälle schwere Sprachstörungen (motorische Aphasie), 
von den nicht apraktischen 21 nur 4. Auffallend war immer die motorische 
Hilflosigkeit der linken Hand, auch bei den Bewegungen, die im großen 
und ganzen gelangen, eine Hilflosigkeit, die weit über das hinausgeht, was 
man sonst »linkisch« nennt. Die linke Hand dieser Rechtsgelähmten ist 
vielfach ganz ratlos, sie hat aufgehört, ein gehorsames und lenkbares Werk¬ 
zeug des Besitzers zu sein. 

Es zeigt sich also, daß Läsionen der linken Hemisphäre, und zwar 
an oder nahe der Rinde, nicht nur die gekreuzte Hand lähmen, sondern 
auch in mäßigem, in manchen Fällen auch in erheblichem Grade das Handeln 
der linken Hand stören, und zwar indem die Erinnerung für bestimmte er¬ 
lernte Bewegungsformen überhaupt erloschen oder doch schwer weckbar 
ist, vielfach auch außerdem die Innervierbarkeit der linken Hand für 
gegenwärtige, durch Vormachen gegebene Bewegungsbilder schwer ge¬ 
litten hat. 

Diese Tatsachen sind von der größten Bedeutung für die Frage von 
der Rechtshändigkeit. Die Rechtshändigkeit besagt, daß die rechte Hand 
vieles kann, was die linke nicht kann. Die Untersuchungen von Liepmakx 


* Früher verstand man nnter Apraxie ein Verkennen der Gegenstände. 


Digitized by 


Google 



Rechts- und Linkshändigkeit. 


423 


zeigen, daß auch das, was die linke Hand kann, zum großen Teil nicht 
ihr (also der rechten Hemisphäre) Eigentum, sondern etwas von der rechten 
Hand (also der linken Hemisphäre) Entlehntes ist. Wir kommen so zu 
der Vorstellung, daß das rechtshirnige Zentrum für den linken Arm dauernd 
in einer gewissen Abhängigkeit von dem linkshirnigen Zentrum steht, und 
daß das linke Armzentrum durch Vermittlung der Balkenfasern Führerin 
des rechten ist. Die verschiedenen Möglichkeiten von Läsionen des linken 
Zentrums oder seiner Nachbarschaft, der linken inneren Kapsel und des 
Balkens veranschaulicht beistehendes Schema (Fig. 82). In Worten läßt sich 
dies so ausdrücken: 1. Herde, die das iinkseitige Armzentrum oder die 
Projektionsfasern desselben mit den Balkenfasern treffen, berauben das 
rechtshirnige Armzentrum der Führung durch das linke und lähmen gleich¬ 
zeitig den rechten Arm. 2. Herde, welche Kapsel- und Balkenkörper selbst 
treffen, haben denselben Erfolg in noch höherem Grade. 3. Ein Herd, der 
nur den Balkenkörper (in geeigneter Ausdehnung und Stelle) trifft, wird 


Fig. 82. 



Nach Likfmakn. 

B. Balken. J. B. Innere Kapsel. 1. Kindenlöeion. 2. Suprakapsal&re Läsion. 3. Balkenläsion. 

4 . Kapsnläre Läsion. 


linkseitige Dyspraxie machen, indem er das rechtseitige Handzentrum der 
Führung durch das linkseitige beraubt, während die rechte Hand weder 
gelähmt noch apraktisch zu sein braucht. 4. Ein Herd, der die linke innere 
Kapsel trifft, verschont die Balkenfasern, er macht daher nur Lähmung 
der rechten Hand, stört aber die Gebrauchsfähigkeit der linken nicht. 

Aus diesen Beobachtungen und anderen Erfahrungen der Neuropatho¬ 
logie geht hervor, daß die Rinde der rechten Großhirnhälfte weniger hoch 
steht als die linke. Hierfür sprechen auch Erfahrungen über die »Seelen¬ 
blindheit« nach Läsionen der linken Seite. Die rechtseitige Hirnrinde scheint 
noch auf dem Standpunkt der subkortikalen Zentren zu stehen, da sie wie 
diese auf die Weisungen der linken Rindenzentren angewiesen ist. Soviel 
wir wissen, ist bei allen Tieren, auch bei denen mit sehr hoch organisierten 
Sprachzentren (Papageien), die rechte und die linke Hemisphäre gleichwertig. 
Die Hauptursache für die Überlegenheit des Menschen über das Tier ist 
sonach auf die Überordnnng der linken Hemisphäre über die rechte zurück¬ 
zuführen. Sie hängt offenbar mit der vorwiegenden Übung der rechten Hand 
zusammen. Man hat deshalb vorgeschlagen, bei Sprachlähmung durch Übung 
der linken Hand die rechte Hirnhälfte gewissermaßen zu erziehen, auf einen 
höheren Standpunkt zu bringen. 

Digitized by Google 




424 


Rechts- und Linkshändigkeit. 


Aber auch für Gesunde, vor allem fGr Kinder, ist eine gröbere Übung 
der linken Hand und des linken Armes vorgescblagen worden. Da voraus 
sichtlich unsere linke Hirnbälfte ihre hohe Stellung nicht verlieren wird, 
wenn wir die rechte Großhirnrinde höher ausbilden, so wäre allerdings, wie 
Liepmann mit Recht hervorhebt, die Erwägung ernstlich ins Auge zu fassen, 
durch eine allgemeine Ausbildung der Kinder im Gebrauche beider Arme 
und beider Hände eine höhere Entwicklung auch der rechten Hirnhälfte 
zu versuchen. Das Menschengeschlecht könnte selbstverständlich nur ge* 
winnen, wenn es statt einer auf das höchste entwickelten Hirnhälfte deren 
zwei besäße, die nicht nur im Falle der Not, sondern auch im täglichen 
Leben för einander eintreten und gemeinsam wirken könnten. 

Doch kehren wir zur Apraxie zurück. In den 1906 und 1907 von 
Liepmann gegebenen Ergänzungen weist er darauf hin, daß die Unfähigkeit 
der rechten Hemisphäre zur Ausführung von Zweckbewegungen nur in einer 
Minderheit der Fälle darauf beruht, daß mit Objekten verkehrt manipuliert 
wird. Das Sehen und das Betasten der Objekte gibt eine große StGtze 
für das Handeln. Erst wenn man dem Kranken die Hilfe der Objekte ent¬ 
zieht und ihn nötigt, Bewegungen ganz aus der Erinnerung zu machen, 
tritt die Unzulänglichkeit der rechten Hemisphäre so auffällig hervor. Nun 
ist bekanntlich das Sprechen eine Bewegung, die im Gegensatz zum Kauen 
und ähnlichem von den Zungen-, Lippen- und Gaumenmuskeln ohne Objekt 
ausgeführt werden muß. Auch ist die Kontrolle, die das Ohr beim Sprechen 
übt, der Leitung, die Hand und Auge durch das Objekt erfahren, nicht 
gleichwertig, da der Klang unserer Stimme zu spät kommt. Es ist also die 
Überlegenheit der linken Hemisphäre für das Sprechen auf ihre allgemeinere 
Überlegenheit für Bewegungen ohne Objekte, allein aus der Erinnerung 
zurückzuführen. Man kann sich auch so ausdrücken: Die Überlegenheit 
der linken Großhirnhälfto für Handeln und Sprechen ist unter einen um¬ 
fassenden Gesichtspunkt gebracht, wenn wir sagen: die rechte Großhim- 
hälfte ist besonders für Bewegungen, die ohne Leitung von Objekten aus 
dem Gedächtnis gemacht werden sollen, untauglich. 

Nun sind nach der geistvollen, in neuester Zeit aber meist verlassenen 
Synergastiktheorie Max Müllers (Oxford) von dem Ursprung der Sprache 
die Sprachwurzeln Bezeichnungen für Tätigkeiten, welche aus rhythmischen 
Lautäußerungen hervorgingeu, die gemeinsame Bewegungen vieler Menschen, 
z. B. das Rudern, Rammen, Hämmern begleiteten. Wenn die ersten Worte 
des Urmenschen Gliedmaßenbewegungen begleiteten und von diesen abhängig 
waren, und wenn diese Bewegungen überwiegend von der linken Hemisphäre 
geleitet wurden, so würde die Tatsache, daß auch die Sprachproduktion von 
den Nachbarteilen des durch die Armbewegung erregten Gebietes besorgt 
wurde, nicht auffallend sein (Liepmann). 


Das Schreiben als Ursache der einseitigen Lage des Sprach¬ 
zentrums im Gehirn. Wie der englische Nervenarzt Bastian neuerdings 
nachgewiesen hat, gibt es außer dem von Broca in der dritten linken Stirn¬ 
windung entdeckten Sprachzentrum oder dem motorischen Zentrum für die 
Innervierung der Sprachenbewegungen, das Bastian jetzt als glossokinästhe¬ 
tisches Zentrum bezeichnet, noch ein besonderes Zentrum für die Schreib¬ 
bewegungen, das cheirokinästhetische Zentrum. Die Lage dieses Schreib¬ 
zentrums konnte noch nicht genau bestimmt werden; vielleicht fällt es mit 
dem Rindenzentrum für die Armmuskeln zusammen oder bildet einen Teil 
desselben. Außer diesen Zentren für die eigentlichen Bewegungen beim 
Sprechen und beim Schreiben werden noch unterschieden: ein Zentrum für 
Klangbilder, eines für optische Erinnerungsbilder der Buchstaben, eines für 
Bewegungsbilder der Muskeln und ein Begriffszentrum, Zentren, in denen 


Digitized by 


Google 



Rechte- und Linkshändigkeit. 


425 


die Erinnerungsbilder für die Worte aufgespeichert werden, ohne deren 
Erregung also die Bewegungszentren für Sprechen und Schreiben nicht 
wirken können. Bastian meint, man müsse zwei Zentren für diese Er¬ 
innerungsbilder annebmen, ein optisches und ein akustisches Wortzentrum, 
d. h. eins für die durch Vermittlung des Auges und eins für die durch das 
Gehör gewonnenen Bilder von Worten. Die Beobachtungen an Patienten mit 
Sprachstörungen und die Befunde bei den Sektionen der betreffenden 
sprechen sehr für die Annahme Bastians. Die genannten vier Zentren müssen 
natürlich durch Nervenbahnen untereinander in Verbindung stehen, so daß 
bei Tätigkeit eines Zentrums auch die anderen bis zu einem gewissen Grade 
beteiligt werden. Eine besonders starke Verbindung muß zwischen dem 
akustischen Wortzentrum und dem für Sprachbewegungen bestehen. Aber 
auch zwischen dem optischen Wortzentrum und dem der Schreibbewegung 
muß es starke Verbindungen geben, um die Erinnerungsbilder an geschriebene 
Wörter in die Schreibbewegung überzuleiten. Ferner müssen Verbindungen 
bestehen zwischen den beiden Wortzentren für die Gesichts- und Gehörs* 
eindrücke, ja um alle Arten von Sprachstörung zu erklären, werden wir 
annehmen müssen, daß die vier Zentren nicht nur durch die vier Seiten 
eines Vierecks, sondern auch durch dessen Diagonalen verbunden sind. 

Da wir nach dem heutigen Stande der Wissenschaft zwischen den ge¬ 
nannten Zentren der rechten und der linken Hirnhälfte keine anatomischen 
oder histologischen Unterschiede finden können, da ferner viele Beobachtungen 
dafür sprechen, daß die rechtseitigen Zentren unter Umständen für die 
linkseitigen eintreten können oder vielleicht sogar fortdauernd mit und 
neben ihnen wirken, scheint es schwer verständlich, daß für gewöhnlich 
nur die der linken benutzt werden. Ein großer Teil der Neurologen nimmt 
an, daß überhaupt infolge des stärkeren Gebrauches des rechten Armes die 
linke Hirnhälfte im ganzen und damit insbesondere die Sprachzentren besser 
ernährt und entwickelt werden. Andere meinen, daß dem linkseitigen Zentrum 
für den rechten Arm stärkere Reize zukommen, die sich von hier dem Sprach¬ 
zentrum, also natürlich dem linkseitigen mitteilen. Noch andere Forscher werfen 
ein, daß, wenn die Rechtshändigkeit als solche allein die linkseitige Lokalisa¬ 
tion des Sprachzentrums veranlaßt hätte, dies schon in den allerältesten Zeiten 
der Menschheit geschehen sein müsse; es sei dann sehr auffallend, daß das 
rechtseitige Sprachzentrum keine Zeichen der Rückbildung aufweise, Ja, 
wie wir sehen werden, oft noch an Stelle des linken die Sprachfunktionen 
übernehmen kann. 

Die jetzt allgemein angenommene Auffassung (s. C. v. Monakow, Gehirn¬ 
pathologie, 1897, pag. 497 ff., 537 ff.) ist die, daß bei Rechtshändern die linke 
Hemisphäre, speziell das BROCASche Zentrum besonders für die Erregung 
der Wortlaute benützt wird, während die rechte dritte Stirnwindung mehr 
für die äußere und grobe Lautmechanik eingeübt wird. Wahrscheinlich be¬ 
teiligen sich beide Sprachzentren, das rechte und das linke, wenn auch in 
ungleicher Weise, an der Erzeugung des inneren Wortes und an der äußeren 
Wortmechanik. 

E. Weber hält es nun für viel wahrscheinlicher, daß zu der uralten 
Bevorzugung der rechten Körperseite oder doch des rechten Armes noch 
etwas anderes aus jüngerer Zeit dazugekommen sei. Als dies betrachtet 
er das Schreiben mit der rechten Hand. Hierfür sprechen Beobachtungen 
an Kranken, besonders auch an Kindern, die noch nicht geschrieben haben. 
Bei diesen scheinen noch beide Sprachzentren, das rechte und das linke, 
tätig zu sein. Es sind sichere Fälle bekannt, in denen bei rechtshändigen 
Kindern Sprachstörung auch nach Erkrankung der rechten Hirnhälfte er¬ 
folgte, andere Fälle, in denen nach ausgedehnter Zerstörung des linken 
Sprachzentrums das rechte Zentrum dauernd die Sprachfunktion übernahm. 


Digitized by 


Google 



426 Rechts- und Linkshändigkeit. 

Ähnliche Fälle kennt man von Erwachsenen, die sehr wenig geschrieben 
hatten. 

Eine Sprache, die von den meisten Menschen nicht geschrieben, 
sondern höchstens gelesen, meist nor gehört wird, ist die Sprache der 
Musik. Das Masikzentrum liegt entweder beiderseits oder mal rechts, 
mal links. 

Kehren wir zum Schreiben zuröck. Es erscheint ja zunächst unwahr¬ 
scheinlich, daß die schwachen Bewegungen der Hand oder des Armes einen 
größeren Einfluß auf das Gehirn haben sollten als die viel stärkeren Be¬ 
wegungen anderer Art. Aber es ist ein allgemeines Gesetz, daß die Zentren 
der Hirnrinde in ihrer Entwicklung nicht von der Masse der Muskeln ab- 
hängen, sondern von dem feineren Gebrauch derselben. So ist das Arm 
muskelzentrum verhältnismäßig sehr viel größer als das Zentrum für die 
massigen Muskeln des Beines. Sehr richtig scheint folgende Bemerkung von 
Weber zu sein: »Wie außerordentlich fein und empfindlich für die geringsten 
Einflüsse die Muskelbewegungen beim Schreiben sind, sehen wir daraus, 
daß in der Handschrift jedes Menschen immer wiederkehrend und sich 
sogar nach den jeweiligen Stimmungen modifizierend, gewisse Eigentümlich¬ 
keiten des Schreibers sich ausdröcken. Daß aber eine Bewegung, der eine 
so enorm hohe Empfindlichkeit und Ausdrucksfähigkeit innewohnt, auch 
auf das Gehirn einen sehr großen Einfluß haben wird, ist nach dem obigen 
ohne weiteres klar.c 

Es kann hier nicht im einzelnen auseinandergesetzt werden, wie 
es kommt, daß das Schreibzentrum in der linken Hirnhälfte nicht nur beim 
Schreiben, sondern auch beim Lesen erregt wird, daß es ferner seine Er¬ 
regung dem akustischen Wortzentrum und dadurch dem motorischen Sprach- 
Zentrum mitteilt. Bei dieser engen und so häufig benutzten Verbindung der 
genannten Zentren muß das andauernde Schreiben mit der rechten Hand 
auch dem linken Sprachzentrum eine bedeutende Überlegenheit über das 
rechte verschaffen und schließlich zur einseitigen Lokalisation des Sprach¬ 
zentrums führen. Um es kurz zusammenzufassen, führen Bastian und Ernst 
Weber die einseitige Ausbildung des Sprachzentrums in der linken Hirn¬ 
hälfte also nicht auf die Rechtshändigkeit allein, sondern vor allem auf das 
Schreiben mit der rechten Hand und das Lesen zurück. Ob man mit den 
genannten Verfassern annehmen darf, daß die einseitige Ausbildung des 
Sprachzentrums erst eine Erscheinung der Neuzeit sei, und daß die Ent¬ 
deckung des Zentrums im Jahre 1862 im Zusammenhang mit der allgemeinen 
Einführung der Schreibkunst in die Volksmassen bestehe, erscheint zweifelhaft. 
Jedenfalls ist bekanntlich dieses in seiner Einseitigkeit und Bedeutung auf¬ 
fallendste und hervorragendste Hirnrindenzentrum das erste und lange das 
einzige sicher festgestellte geblieben. Aber seine Entdeckung und über allen 
Zweifel erhabene Existenz (trotz einiger neuesten Anfechtungen, P. Marie u. a.) 
ist ja der Ausgangspunkt für die Auffindung der zahlreichen anderen Zentren 
gewesen, die wir heute kennen. 

Wenn nun die höhere Organisation der linken Hemisphäre nicht Ursache, 
sondern Folge der Rechtshändigkeit ist, so erhebt sich die Frage: wie ist 
diese — und wie ist die bei einem zwar kleinen, aber, wie es scheint, 
konstanten Prozentsatz der Menschheit vorhandene Linkshändigkeit in die 
Welt gekommen? Daß es sich heutzutage um angeerbte, wenn auch nicht 
von Geburt an bestehende Eigenschaften des Großhirns, des Skelettes, der 
Muskeln und der Gefäße handelt, ist über allen Zweifel erhaben. Für Links¬ 
händer liegen ebenso wie für Rechtshänder Beobachtungsreihen aus Familien 
vor, die eine deutliche Sprache reden (Luedpeckexs). 

* * 

* 


Digitized by ^.ooQle 



Rechts- und Linkshändigkeit. 


427 


Merkel schließt einen Aufsatz über unser Thema (Ergebnisse, 1903) 
mit dem Satze: »Die Rechtshändigkeit und Linkshändigkeit sind begründet 
in einer ursprünglich besseren Organisation hier der linken, dort der rechten 
Hemisphäre des Großhirns.« 

Wenn Verf. auch mit Merkel unbedingt auf dem Standpunkte der 
Erblichkeit steht, so vermag er seiner Auffassung, daß der größere 
Windungsreichtum oder die größere Schwere der linken Hemisphäre das 
Primäre, die Rechtbändigkeit das Sekundäre sei, nicht zuzustimmen. Nach 
allem, was die Literatur hierüber besitzt, vor allem nach den Erfahrungen 
der Neurologen muß die Sache umgekehrt liegen: die Rechtshändigkeit ist 
und war das Primäre, die höhere Organisation der linken Hemisphäre war 
und ist ihre Folge. 

Für diese Auffassung sprechen nun vor allem auch die erst in neuester 
Zeit von Mollison (1908) und dem Verf. (1909) angestellten Untersuchungen 
(Messungen) über die Rechts- und Linkshändigkeit bei den anthropoiden 
Affen. 

Mollison zieht aus seinen Messungen an Affen und den ihm von 
Frizzi zur Verfügung gestellten Messungen beim Menschen folgende Schlüsse: 
Mensch, Orang und Gibbon sind ausgesprochene Rechtshänder, der Mensch 
am stärksten, weniger der Orang, am wenigsten der Gibbon. Die Differenzen 
zwischen rechts und links sind bei den Anthropoiden viel geringer als beim 
Menschen. Der Schimpanse erweist sich deutlich als Linkshänder, jedoch 
ist diese Linkshändigkeit nicht so betont wie bei den anderen Anthropoiden 
die Rechtshändigkeit. Mollison geht auch auf die Frage des Zusammen¬ 
hanges der Aortenverzweigung und der Rechts und Linkshändigkeit ein, 
gibt die Zusammenstellung von Keith wieder und stellt fest, daß Orang 
und Gibbon verschiedene Verzweigungsart haben, unter sich und vom Menschen 
abweichen, mit dem sie die Rechtshändigkeit gemeinsam besitzen; Gorilla 
und Schimpanse haben dieselbe Verzweigungsart wie der Mensch (Anonyma, 
Carotis sin., Subclavia sin.), sind aber Linkshänder. 

Mollison sagt vom Gorilla, daß er »vielleicht« Linkshänder sei, am 
Schlüsse seines Aufsatzes läßt er das »vielleicht« fort. Verf. muß mich nach 
seinen Messungen der letzteren Leseart anschließen und erklären, daß 
Gorilla (6 Individuen gemessen) ein entschiedener Linkshänder ist. Verf. be¬ 
obachtete überhaupt keinen Fall von Rechtshändigkeit. Dagegen möchte 
Verf. den Schimpanse nicht so ohne weiteres, wie Mollison es tut, als 
»Linkshänder« bezeichnen, da unter 10 hier in Betracht kommenden Indi¬ 
viduen außer 2 ohne Unterschied rechts und links (davon 1 junges) 5 Arra- 
linkser und 3 Rechtser oder, wenn wir das junge Tier fortlassen, 3 rechts, 
5 links, 1 gleich waren. Auch der rechtshändige Gibbon zeigt einen recht er¬ 
heblichen Teil Linkser, besonders für den Oberarm, und es kommt wesentlich 
auf den Humerus an. Die Vorderarmknochen sind bei Affen in phyletisch 
neuen Zeiten so stark sekundär (Anpassung) in die Länge gewachsen, daß 
ihr Verhalten für Vererbungsfragen weniger ins Gewicht fällt, während der 
Oberarm den äußeren Einwirkungen gegenüber viel konservativer geblieben 
ist, so daß sein Verhalten für Vererbungsfragen von größerer Bedeutung ist. 

Die Messungen von Mollison und dem Verf. geben den unzweifel¬ 
haften Beweis, daß Rechts- und Linkshändigkeit bereits bei Affen, besonders 
bei den anthropoiden, einschließlich Hylobates, besteht, ferner ein Blick auf 
die Abbildung (Fig.83), daß sie mit der Art der Aortenverzweigung nichts 
zu tun hat. 

Es fragt sich nun, wie ist die Rechts- und Linkshändigkeit bei den 
Affen entstanden? Ferner: ist die Rechtshändigkeit des Menschen von der 


Digitized by ^.ooQle 



42 m Rechts- und Linkshändigkeit. — Rettungswesen. 

eine« der lebenden Alfen abzoleiten? Daß der Mensch rom Ormng abstammL 
ist doch wohl heutzutage nicht mehr annehmbar. Aber eine Abstammung 
vom Gibbon dürfte ebenso unwahrscheinlich sein. Alle uns bekannten Spezies 
höherer Affen sind bereits viel zu sehr differenziert — auch der sonst so 
primitive Gibbon hat die unverhältnismäßig langen Arme — als daß wir 
den Menschen von ihnen berleiten könnten. So werden wir wohl auf eine 
hypothetische Urform zurückgehen müssen, von der sich nach der einen 
Richtung Gibbon. Orang und Mensch, nach anderen Richtungen Schimpanse 
und Gorilla entwickelt haben. 

Wir kommen also zu dem Ergebnis: die Rechtshändigkeit des Menschen 
ist nicht nur von seinen menschlichen, sondern von weit primitiveren, uns 
unbekannten Vorfahren ererbt, sie wird auch heute noch von einer Generation 
auf die andere weiter vererbt. 

Ebenso aber ist die Linkshändigkeit angeerbt und wird weiter ver¬ 
erbt; woher sie stammt, ist ebenso unbekannt. Da wir nicht gut Rechts- 


Fig. s&. 



Maoara«. A. Hvlobat**. R <L>. ‘»rang. R- Men*ch. R. 

Gorilla. L 
ScliiapaAM 1t i R). 

A — Ambidextor. R = Rechtshänder. L = Linkshinder. 


händer und Linkshänder unter den Menschen von zwei verschiedenen Ur¬ 
formen ableiten können, ist anznnehmen, daß die Urform ambidexter. aber 
mit starker Neigung nach rechts war oder mit Vorwiegen von Rechts¬ 
händigkeit. Somit fallen sämtliche bisher aufgestellten Erklärungsversuche 
in nichts zusammen. Es bandelt sich am eine morphologische Tatsache, für 
die es einstweilen keine Erklärnog gibt, ebensowenig wie für die Asymmetrie 
in der Familie der Pleoronektiden, von denen auch einige Spezies die rechte, 
andere die linke Seite nach oben kehren, bei denen die Augen zum Teil 
nach rechts (Hippoglossus, Platessa, Solea u a.), zum Teil nach links 
(Rhombus, Plagosia) wandern. — Keine Erklärung ist aber doch besser 
als eine oder mehrere irrtümliche! Karl von BuirirUb™. 


Rettungswesen. Auf dem Gebiete des Rettungswesens bat der 
im Juni 1908 in Frankfurt a. M. stattgebabte L internationale Kongreß 
für Rettungswesen erheblichen Einfluß ausgeQbt. Die vom Verf. dieses Bei¬ 
trages herausgegebenen Verhandlungen lassen in deutlicher Weise erkennen, 
daß auf dem Kongreß ein erheblicher Teil Arbeit zur Förderung des Rettungs¬ 
wesens geleistet worden ist, der in Zukunft gute Fruchte zu tragen verspricht. 
Auf einzelnen Gebieten des Rettungswesens sind besonders zahlreiche Vorträge 
gehalten worden, so auf dem Gebiete des ärztlichen Rettangswesens and 
des Rettungswesens in großen Städten, die naturgemäß breiten Raum ent¬ 
nahmen und lebhafte Erörterung hervorriefen. 

Bezüglich des Rettungswesens in den Städten ist zu sagen, daß in 
einer Großstadt, nämlich Berlin, wo bekanntlich die Verhältnisse des 
Rettungswesens durch die Vielgestaltigkeit der von den einzelnen mit der 


Digitized by 


Google 



Rettungswesen. 


429 


ersten Hilfe sich befassenden Körperschaften eingerichteten Veranstal¬ 
tungen etwas schwer verständlich sind, jetzt eine einheitliche Organi¬ 
sation dadurch geschaffen worden ist, daß unter der Führung des Magistrats 
ein »Berliner Rettungswesen« geschaffen worden ist. Hauptsächlich drei 
Körperschaften hatten sich früher in Berlin dem öffentlichen Rettungswesen 
gewidmet: die nach dem Kriege 1870/71 ins Leben gerufenen Sanitätswachen, 
weiche nur Nachtdienst ausübten, ferner die Berliner Unfallstationen vom 
Roten Kreuz, die 1894 begründet wurden, und die Berliner Rettungsge¬ 
sellschaft, die unter Ernst v. Bergmanns Leitung im Jahre 1897 ins Leben 
trat. Alle drei Gesellschaften waren im Jahre 1903 zu einem Verband für 
erste Hilfe zusammengetreten, aus dem die Berliner Rettungsgesellschaft 
einige Jahre später wieder ausschied. 

Es möge an dieser Stelle kurz erwähnt werden, daß die Berliner 
Rettungsgesellschaft die weitgehendste Zentralisation der Einrichtungen für 
erste Hilfe, die je bestanden hat, durchgeführt hat. Durch einen einzigen 
Anruf bei der Zentrale der Gesellschaft konnte schnell ein Arzt herbeige¬ 
schafft, ferner ermittelt werden, wo ein Bett für einen Verunglückten oder 
schwer Kranken frei war, ein Krankenwagen bestellt und Pflegepersonal 
in dringlichen Fällen herbeigeschafft werden. Letzteres geschah durch den 
der Gesellschaft angegliederten »Zentralkrankenpflegenachweis für Berlin und 
Umgegend«. 

Längere Zeit vorher hatten Verhandlungen der Berliner Rettungsge¬ 
sellschaft mit dem Berliner Magistrat begonnen bezüglich Übernahme der 
Gesellschaft in städtische Regie. Am 1. April 1907 waren diese Verhand¬ 
lungen so weit gediehen, daß der Magistrat das Gesamtinventar der Berliner 
Rettungsgesellschaft übernahm und einen eigenen Nachweis für freie Betten 
in Krankenhäusern in seiner Zentrale im Rathaus einrichtete. Der Magistrat 
schloß dann mit dem Ärzteverein, der den Namen »Ärzteverein des Berliner 
Rettungswesens« erhielt, einen Vertrag, indem er ihm die in Berlin vor- 
handenenen früheren Rettungswachen der Berliner Rettungsgesellschaft nicht 
nur zur Besetzung mit Ärzten, sondern auch für die ganze Betriebsleitung 
und technische Verwaltung unter gleichzeitiger Zahlung einer bestimmten 
Jahressumme übergab. Ein großer Schritt weiter vorwärts geschah aber 
dadurch, daß der Magistrat unterm 1. April 1909 mit dem Ärzteverein 
des Berliner Rettungswesens, den Berliner Unfallstationen vom Roten Kreuz 
und den Sanitätswachen Verträge abschloß, denen zufolge eine Neuordnung 
so geschah, daß zunächst eine Anzahl von Wachen und Stationen verlegt 
bzw. aufgehoben wurde, so daß sich in Berlin jetzt 17 Hilfswachen befinden, 
von denen 6 Rettungswachen und 11 Unfallsstationen sind. 4 Rettungswachen 
und 7 Unfallstationen sind mit Sanitäts wachen verbunden, die letztere in 
den betreffenden Hilfswachen den Nachtdienst versehen, während in 2 Rettungs¬ 
wachen und 4 Unfallstationen die Rettungswachen bzw. Unfallstationen 
Tag- and Nachtdienst besetzt haben. Der Ärzteverein des Berliner Rettungs¬ 
wesens stellt die Ärzte nicht nur für den Dienst in den von ihm im Auf¬ 
träge des Magistrats unterhaltenen Rettungswachen, sondern auch für die 
Unfallstationen, deren jede ihren angestellten dirigierenden Arzt behielt. In jeder 
Unfallstation sind aber mindestens 10 Ärzte für den Wachtdienst vorgesehen. 

Die Sanitätswachen behalten das bei ihnen eingeführte Ärztesystem 
bei, nach welchem der Nachtdienst immer für jede Nacht zwischen einer 
kleinen Zahl, 2—4, fest angestellten Ärzten wechselt. 

In den Rettungswachen fungieren die aus der Mitte der wachthabenden 
Ärzte jeder Wache selbst gewählten Obmänner als Wachtvorsteher. Die Zahl 
der diensttuenden Ärzte in den Rettungswachen ist nicht begrenzt. 

Die Nachbehandlung berufsgenossenschaftlicher Kranker findet nicht 
mehr in den Unfallstationen statt, da von sämtlichen Hiifswachen überhaupt 


Digitized by 


Google 



430 


Rettungs wesen. 


nur erste Hilfe geleistet werden darf. Es sind von den Unfallstationen 
eine Reihe eigener Ambulatorien errichtet worden, in denen die Nachbe¬ 
handlung berufsgenossenschaftlich Verletzter stattfindet. Diese Stationen 
werden aber nicht der Öffentlichkeit als Stellen für erste Hilfe bekannt¬ 
gegeben und haben auch nicht derartige äußerliche Bezeichnungen. 

Alle drei Körperschaften erhalten vom Magistrat einen Zuschuß, der 
für den Ärzteverein die gesamte zur Erhaltung der Rettungswachen erfor¬ 
derliche Summe beträgt. Die Unfallstationen und Sanitätswachen erhalten 
eine Summe, die ausreichend ist, mit ihren Einnahmen aus den ersten Hilfe¬ 
leistungen und aus den Beiträgen ihrer Mitglieder die Unkosten der Körper¬ 
schaften zu decken. 

Auch für eine gemeinsame Regelung der Anzeigen der Rettungsein¬ 
richtungen ist Sorge getragen. Sämtliche Rettungswachen, Sanitatswachen 
und Unfallstationen tragen die einheitliche Bezeichnung »Hilfswachen«. Es 
ist zu hoffen, daß in nicht allzu ferner Zeit das gesamte Berliner Rettungs¬ 
wesen vollkommen von der Berliner Stadtgemeinde übernommen wird, in 
Übereinstimmung mit allen in Frage kommenden Faktoren, mit den Be¬ 
hörden, der Ärzteschaft und den übrigen Körperschaften, die an der Leitung 
der ersten Hilfe Interesse haben. 

Für das ärztliche Rettungswesen ist der beim Ärzteverein des Berliner 
Rettungswesens, ferner in Frankfurt a. M. und Leipzig gültige Grundsatz, 
alle sich zum Wachtdienst meldenden Ärzte zuzulassen, von entscheidender 
Wichtigkeit. 

Nicht materielle Gründe führen die Ärzte dazu, ihr Interesse in tat¬ 
kräftigster Weise an der Leistung der ersten Hilfe im Rahmen des öffent¬ 
lichen Rettungswesens zu betätigen, als besonders die Sorge für ihre 
Weiterbildung in der ersten Hilfe. Dieser Punkt muß immer bei der Organi¬ 
sation des Rettungswesens hervorgehoben werden, denn er ist einer der 
wichtigsten überhaupt. 

Ärztliche Fortbildung und erste Hilfe bzw. die Ausbildung der Medi¬ 
ziner in der ersten Hilfe sind für die gesamte Ausbildung und Vorbildung 
der Ärzte von großer Bedeutung, so daß die Ausgestaltung des Rettungs¬ 
wesens nach den großen von Ernst v. Bergmann einst vorgezeichneten 
Plänen für alle Großstädte dringend zu empfehlen ist. 

Besonders wichtig ist die Ausbildung der Ärzte auf einem Gebiete, 
das in den letzten Jahren immer wieder vom Verf. in den Vordergrund 
gerückt worden ist, auf dem Gebiete der Versorgung der Bewußtlosen. Die 
Versorgung der Epileptiker, Alkoholiker und auch Geisteskranken im Rahmen 
des öffentlichen Rettungswesens ist eine außerordentlich schwierige. Die 
Schwierigkeiten sind vielfach dargelegt worden, denn in Krankenhäusern 
sind diese meist unruhigen Kranken schwer unterzubringen. Es müssen für 
diesen Bedarf eigene, von dem übrigen Betriebe der Kranken gänzlich ab¬ 
gesonderte Räume vorhanden sein, so daß die unruhigen Kranken — besonders 
nachts— die übrigen nicht stören, ferner muß außer den Räumen und sonstigen 
Vorrichtungen eine genügende Anzahl von Wartepersonal zur Verpflegung 
der Kranken zur Verfügung stehen. Verf. hat vorgeschlagen, eigene Beob¬ 
achtungsstationen in den Großstädten einzurichten, in denen oben genannte 
Kranke Aufnahme finden können, bis sie entweder Krankenanstalten, Irren¬ 
anstalten oder ihren eigenen Behausungen überwiesen werden können. Die 
Befürchtung, daß dadurch eine Zunahme der Alkoholkranken stattfinden 
würde, ist sicher unbegründet. Es kann sogar eine Bekämpfung des Alkohol¬ 
mißbrauches von seiten dieser Beobachtungsstationen insofern ausgeübt 
werden, als Patienten, die häufiger den Stationen zugeführt werden, den 
Alkoholentziehungsanstalten überwiesen werden. 


Digitized by 


Google 



Ret tun gewesen. — Röntgendiagnostik. 


431 


Ein besonderes Behandlungsverfahren für Bewußtlose unter entspro¬ 
chenen Umständen bildet die künstliche Atmung. Verf. hat bereits früher 
in einer Vortragsreihe über erste ärztliche Hilfe, die vom Zentralkomitee 
für das ärztliche Fortbildungswesen in Preußen veranstaltet war, darauf 
bingewiesen, daß er ein Verfahren für das zweckmäßigste zur Ausübung 
der künstlichen Atmung hielte, das aus einer Vereinigung des Verfahrens 
von Silvester und Brosch besteht. Das Verfahren von Brosch ist in der 
Wiener klinischen Wochenschrift geschildert. Verf. hat dieses Verfahren als 
das gänzlich durcbgeführte SiLvESTERsche Verfahren bezeichnet. 

Wie vor einigen Jahren vom Verf. zusammen mit Adolf Loewy, Berlin, 
ausgeführte Untersuchungen über den Gaswech9el und den Blutkreislauf 
bei verschiedenen Verfahren der künstlichen Atmung erwiesen haben, findet 
bei dem letztgenannten Verfahren der bedeutendste Luftwechsel in den Lungen 
statt. Es ist daher dieses Verfahren als das ausgiebigste zu empfehlen. Der 
Patient, dessen Zunge herausgezogen und in bekannter Weise festgehalten wird, 
wird auf den Rücken mit einem erhöhenden Polster oder dgl. unter den Schultern 
gelagert. Der hinter dem Kopf befindliche Retter ergreift mit den Händen, 
deren 4 Finger nach innen und Daumen nach außen gerichtet sind, die 
Arme des Verunglückten oberhalb der Ellenbogen, führt sie nach hinten 
und oben und drückt sie kräftig nach unten auf den Boden. In diesem Augen¬ 
blick ist der Körper des Verunglückten in Opisthotonusstellung, d. b. nur 
auf der Unterlage mit den Fersen und den Vorderarmen aufliegend, 
während der übrige Körper einen Bogen nach oben bildet. Nun ergreift 
der Retter die Oberarme des Verunglückten oberhalb der Ellenbogen in um¬ 
gekehrter Weise, indem er die 4 Fingerseiner Hand nach außen, die Daumen 
an die Innenseite der Oberarme legt und die Arme des Verunglückten 
nach vom und oben auf die Brust des Patienten bringt und einen kräftigen 
Druck sagittal und in der Richtung nach hinten und oben auf den Brust¬ 
korb ausübt. Verf hat mit Loewy zusammen Röntgenaufnahmen von dieser 
Methode hergestellt, welche sehr bemerkenswerte Ergebnisse gezeigt haben. 
Auch wurden kinematographische Aufnahmen des Verfahrens hergestellt. 

Das Verfahren ist nicht schwieriger ausführbar als das Verfahrea von 
Silvester bisher, es erfordert nicht immer zwei Retter, aber immerhin 
Aufmerksamkeit auf die Zunge des Patienten. Ferner ist bei Ertrun¬ 
kenen dafür Sorge zu tragen, daß der Mund vor Beginn der Atembe¬ 
wegungen von etwa darin befindlichen Fremdkörpern, Schlingpflanzen usw. 
gesäubert und in entsprechender Weise möglichst für Entleerung etwa in 
die Luftröhre gelangter Flüssigkeit gesorgt wird, was in der Weise ge¬ 
schieht, daß eine Sekunde lang der Körper des Verunglückten nach der 
Seite gedreht und einige kräftige Schläge mit flacher Hand auf dem Rücken 
zwischen den Schulterblättern ausgeführt werden. Dann wird der Verun¬ 
glückte wie beschrieben sogleich auf den Rücken gelegt und mit den Atem¬ 
bewegungen begonnen, die 12—14mal in der Minute ausgeführt werden. 

George Meyer. 

Röntgendiagnostik des Magendarmkanals. Beob¬ 
achtung des Ösophagus im BöntgenbiJde. Unter normalen Verhältnissen 
ist der Ösophagus als dünnes membranöses, leicht mit Röntgenstrahlen 
durchdringbares Rohr weder bei sagittaler noch bei schräger Durch¬ 
leuchtungsrichtung radioskopisch sichtbar; will man ihn zur Darstellung 
bringen, so muß man in den Ösophagus eine Metallsonde beziehungs¬ 
weise eine mit Schrot oder Quecksilber gefüllte Sonde einbringen und die 
Beobachtung des Ösophagus in der ersten oder zweiten schrägen Durch¬ 
leuchtungsrichtung vornehmen (siebe Fig. 84); besonders die zweite schräge 
Durcbleuchtungsrichtung ist zu bevorzugen, da der Ösophagus hier dem 
Schirm, resp. der Platte näher liegt und deswegen schärfer hervortritt. Der 


Digitized by t^ooQle 



432 


Röntge ndiagnostik« 


Ösophagus (beziehungsweise das in ihn eingefflhrte Metallrohr) erscheint 
dann im hellen Mittelfelde als ein annähernd parallel der Wirbelsäule ver¬ 
laufendes, nur nach unten zu sich von ihr entfernendes intensives Schatten¬ 
band, das bei mittlerer Röhrensteliung unter dem Niveau des Zwerchfellbogens, 
welcher nach unten das helle Mittelfeld abschließt, in den Magen (das heißt 
röntgenologisch die helle Magenblase) einmöndet. 

Besonders deutlich werden diese Verhältnisse, wenn man den Magen 
vorher mit Luft beziehungsweise Kohlensäure aufbläht. Der Ort, wo die 
Sonde in den Magen einmündet, ist die Kardia. 

An dem Ösophagus (Sonden-)Schatten sieht man keine peristaltische Be¬ 
wegungen, wohl aber im unteren Teile pulsatorische Bewegungen, die von 

dem rechten Vorhof fortge¬ 
leitet sind. 

Die Beobachtung des 
Ösophagus ist nun wichtig 
zur Feststellung von 
a) Fremdkörpern, 
ß) Tumoren des Öso¬ 
phagus, 

y) Ösophagusstenosen, 
ö) Erweiterungen des 
Ösophagus (Divertikelbil¬ 
dungen). 

x) Die Feststellung von 
Fremdkörpern im Ösopha¬ 
gus ist nur dann möglich, 
wenn diese eine hinreichende 
Dichte besitzen, um Schatten 
auf dem Röntgenschirm be¬ 
ziehungsweise auf der Platte 
zu erzeugen. Dazu ist ferner 
die Durchleuchtung im ersten 
oder zweiten schrägen Durch¬ 
messer notwendig. 

ß) Von Tumoren des 
Ösophagus sind die Karzi¬ 
nome praktisch am wich¬ 
tigsten. Röntgenologisch sind sie der Diagnose zugänglich bei der Durch¬ 
leuchtung in schräger Durchleuchtungsricbtung. Man erkennt alsdann im 
hellen Mittelfelde einen dunklen unregelmäßigen Schatten, in den die Schrot¬ 
sonde oder Metallsonde, welche in den Ösophagus eingeföhrt ist, einmündet. 

y) Verursacht der Tumor eine Enge (Ösophagusstenose), so bleibt 
der Schatten der Sonde in dem Turaorschatten stecken. Läßt man statt der 
Einführung einer Sonde den Patienten Milch, der Wismut beigemengt 
ist (siehe weiter unten), trinken, so sieht man, wie der Wismutschatten 
an dem Tumorschatten hängen bleibt und erst allmählich durch die 
Tumorenge passiert. Man fügt zu 200 g Milch etwa 5—10 g Bismuthum 
carbonicum hinzu und läßt, nachdem man gehörig umgerührt hat, den Pa¬ 
tienten die Wismutmilch schluckweise trinken. Alsdann beobachtet man bei 
erster oder zweiter schräger Durchleuchtungsrichtung im hellen Mittelfelde 
das Hinabgleiten des Wisrautschattens durch den Ösophagus und das Fest¬ 
haften an der Enge; hier sammelt sich dann bei hochgradiger Stenose das 
Wismut über der Stenose, als dunkler Fleck auf dem Röntgenschirm sicht¬ 
bar, an. Mitunter erkennt man an dem dunklen Fleck eine peristaltische 
Aufwärtsbewegung. Stenosen können auch darch Strikturen, Fremdkörper, 


Fig. 84. 



Zwerchfell 


I. Schräge Dnrchleuchtungsrichtung (Lampe links hinten, 
Schirm rechts vorn; Aortaverlauf angedeutet). Schematisch. 
Zwischen Herz und Wirbel das Rotrokardialfeld, in dem der 
Ösophagus verläuft. 


Digitized by 


Google 


Röntgendiagnostik. 


433 


Spasmus und Kompression des Ösophagus erzeugt werden. Der Lieblings¬ 
sitz der Stenosen liegt da, wo auch schon normalerweise eine gewisse 
Enge des Ösophagus besteht, nämlich: 1 . an der Cartilago cricoidea, 2 . am 
vierten Brustwirbel (Aortenenge), 3. an der Kardia; letztere entspricht also 
der Pars abdominalis oesophagi. 

Über die Art der Stenose gibt das Röntgenbild insofern manchmal 
Aufschluß, als eine gutartige Stenose an sich keinen Schatten im hellen 
Mittelfeld erzeugt im Gegensatz zum Karzinom. Ferner lassen Stenosen, 
durch Fremdkörper hervorgerufen, in vielen Fällen auch die Fremdkörper 
als Ursachen erkennen. Indessen gibt das Röntgenbild keineswegs immer 
einen Aufschluß über die Art der Stenose. Bei Stenosen, die an der Kardia 
gelegen sind, sieht man, wenn der Patient die Wismutmilch getrunken hat, 
den unteren Teil des Ösophagus über dem Zwerchfell spindelförmig mit dem 
Wismutschatten gefüllt. Um Stenosen an der Kardia der Beobachtung be¬ 
sonders gut zugänglich zu machen, empfiehlt sich hohe Lampenstellung und 
womöglich Aufblähung des Magens mit C0 S (Brausepulver). 

Der Ösophagusspasmus läßt sich durch die Röntgenbeobachtung mit 
Sicherheit nur dann differenzieren, wenn er vorübergehender Natur ist, das 
heißt, wenn die Stenosenerscheinungen schnell wechseln. Schwieriger ist die 
Entscheidung bei langdauerndem Ösophagusspasmus, bei dem die Differen¬ 
tialdiagnose oft nur durch längere klinische Beobachtung möglich wird. 

8) Über Erweiterungen des Ösophagus gibt das Röntgenbild eine 
vortreffliche Auskunft, so siebt man eine spindelförmige Dilatation des 
Ösophagus über einer Stenose als spindelförmigen breiten Schatten im hellen 
Mittelfelde bei schräger Durchleuchtungsrichtung, wenn man den Patienten 
die Wismutmilch hat trinken lassen. Besteht keine Dilatation des Ösopha¬ 
gus über der Enge, so füllt sich der Ösophagus gleichmäßig mit der Wis¬ 
mutmilch und erscheint als schmales Schattenband, an dessen oberem hoch¬ 
gelegenen Spiegel man eine peristaltische Auf- und Niederbewegung wahr¬ 
nimmt. (Häufig genug kommt es dabei auch zum Regurgitieren der Wismut¬ 
milch.) Bei spindelförmiger Ösophagusdilatation liegt der Spiegel des Wis¬ 
mutschattens tiefer und ruhiger. 

Das Divertikel des Ösophagus läßt sich radioskopisch als ein durch 
Trinken von Wismutmilch darstellbarer Schatten erkennen, welcher je nach 
der Form und Sitz des Divertikels von dem Ösophagus, den man außerdem 
noch durch eine schattenliefernde Sonde sichtbar machen soll, abzweigt. 
Um die Diagnose des Divertikels mit Sicherheit stellen zu können, ist eine 
Durchleuchtungsrichtung zu wählen, in der man die Abzweigung des Diver¬ 
tikels von dem Ösophagus deutlich erkennen kann, das heißt, wenn der auf 
Divertikel verdächtige Raum mit schweren Flüssigkeiten gefüllt, als intensiv 
dunkler, scharf umschriebener Schatten sichtbar wird, wenn dann eine 
Durchleuchtungsrichtung aufgefunden zu werden vermag, in der eine ein¬ 
geführte schwere Sonde neben, also außerhalb des obigen Schattens gesehen 
wird (Holzknecht); man muß also die Durchleuchtung des Thorax in den 
verschiedensten schrägen Richtungen vornehmen. 

Röntgenologische Untersuchung des Magens. 

Zur Untersuchung des Magens, der als häutiges Organ in der Bauch¬ 
höhle nicht genügend Dichtigkeit besitzt, um durch die Röntgenstrahlen als 
differentes Gebilde unterschieden werden zu können, benutzt man die Riedbr- 
sche Wismutmahlzeit, die aus 400 <7 Brei besteht (Kartoffel- oder son¬ 
stigen Brei), in den 40 <7 Wismutum carbonicum, die vorher mit Wasser 
gut verrührt sind, gemischt wird. Man kann diesen Brei entweder während 
der Untersuchung eßlöffelweise nehmen lassen (der Magen muß vorher leer 

Encyclop. Jahrbücher. N. F. VIH. (XVII.) s~> 28 I 

Digitized by x^rOO^lC 



434 


Röntgendiagnostik« 


sein, desgleichen der Darm, das heißt, der Patient muß vorher abgeführt 
haben) oder man untersucht den Patienten, nachdem er die Mahlzeit völlig 
genossen hat. Vor der Untersuchung markiert man den Nabel durch eine 
Bleimarke, die man mit Heftpflaster festklebt, und stellt die Röhre so ein, 
daß der Schatten der Bleimarke etwa in gleicher Höhe mit den Darmbein¬ 
kämmen steht. Am besten verfährt man so, daß man zunächst bei leerem 
Magen sich über die Abdominal Verhältnisse auf dem Fluoreszenzschirm orien¬ 
tiert* und dann den Patienten auffordert, einige Löffel der Wismutmahlzeit 
zu nehmen; man beobachtet dabei den Eintritt des Bissens durch die Kardia 
und verfolgt ihn bis zum tiefsten Punkt. Jetzt läßt man den Patienten, 
indem man zunächst die Beobachtung aussetzt, die Mahlzeit ganz zu Ende 
nehmen und beobachtet nunmehr an dem mit Wismut gefüllten Magen Form, 
Lage und Größe des Magens, wobei man zweckmäßig die Zirkumferenz des 
Magens mit einem bunten Fettstift auf die Glasplatte de 9 Fluoreszenzschir¬ 
mes zeichnet, um später das Bild auf Pauspapier durchzupausen. Zwerch¬ 
fell, Nabelmarke, eventuell Beckenschaufel werden ebenfalls aufgezeichnet. 
Die Beobachtung wird im Stehen des Patienten ausgeffihrt*; statt dessen 
kann man auch eine Teleaufnahme (2 rn Distanz) unter Anwendung eines 
Verstärkungsschirmes machen. 

Nachdem man die Aufnahme des Magens im Stehen ausgeftthrt bat, 
empfiehlt sich auch mitunter die Feststellung des Magens bei Seitenlage. 

Nachdem dann auf diese Weise der erste Teil der Magen Untersuchung 
durchgeführt ist, kann man (auf spezielle Beobachtungen wird weiter unten 
noch eingegangen) unmittelbar die Entleerung des Magens feststellen, indem 
man erneut alle halbe Stunden den Magen röntgenoskopiert; die Darmunter¬ 
suchung läßt sich gleichfalls anschließen, indem man die Wanderung des 
Wismutchymus durch den Darmkanal in Abständen von 6 zu 6 Stunden 
nach der Entleerung des Magens verfolgt. 

Holzknecht und Brauner gehen in etwas anderer Weise vor, die sich 
vielleicht noch mehr empfiehlt, indem nämlich hier mit der röntgenoskopi- 
schen Betrachtung gleichzeitig eine manuelle Beeinflussung auf den Magen 
ausgeübt wird. Wir folgen hier der Darstellung von Holzknecht und Jonas 
(Ergehn, d. inneren Med. u. Kinderheilkunde, Bd. 4, 1909): 

Der Patient, der zur Durchleuchtung möglichst mit leerem Magen, also 
am besten morgens nüchtern erscheint, wird an die Durchleuchtungswand 
gestellt, eine für Röntgenstrahlen durchlässige dünne Holzwand, die rück¬ 
wärts, äquilibriert aufgehängt, die mit einer Blende fest verbundene Rönt¬ 
genröhre und vorn den Fluoreszenzscbirm, gleichfalls beweglich aufgebängt, 
trägt und gegen die sich der Patient lehnt, um bei der Palpation und Kom¬ 
pression einen Rückhalt zu haben. Er erhält bei schon verfinstertem Zim¬ 
mer nach einem Blick auf die Thoraxorgane Wismutwasseraufschwem¬ 
mung (10—15^ Bismuthum carbonicum in 100—150^ Wasser) gründlich 
aufgerührt. Dieselbe fließt nach Passage des Ösophagus und der Kardia an 
der kleinen Kurvatur der an ihrer Gasblase kenntlichen Pars cardiaca des 
Magens ein, sammelt sich zunächst am Eingänge der Pars media, wo ihr 
Vordringen durch die quer zum linken Musculus rectus eingedrückte Hand 
verhindert wird (Inspektion der Pars cardiaca), an und fließt sodann ge¬ 
radeaus an den tiefsten Punkt des Magens, den kaudalen PoL Daselbst 
breitet sie sich quer-halbmondförmig aus und kann durch knetende Bewe¬ 
gungen der mit dem Rücken aufgelegten linken Hand (die rechte hält die 
mit der Röhre verbundene Blende) innerhalb der Grenzen des kaudalen 
Teils ausgebreitet und durch effleurierende Bewegungen des sich über die 
vorspringende Wirbelsäule abrollenden Handrückens in die Pars pylorica 


* Die orthodiagraphisclie Aufnahme bietet keine Vorteile. 


Digitized by 


Google 



Röntgendiagnostik. 


435 


gebracht (Fig. 85 c) und in vielen Fällen in das Duodenum ausgepreßt wer¬ 
den. Dabei tritt häufig eine kleine Ansammlung von Wismut im obersten 
Teil des Duodenums (Pars horizontalis duodeni) auf und läßt zwischen diesem 
und der MagenfQllung eine etwa bleistiftdicke Schattenaussparung hervor¬ 
treten, die dem Pylorus, respektive seinem Muskelring entspricht, dessen 
Lumenfüllung meist zu dünn ist, um einen sichtbaren Schatten zu liefern 
(Fig. 85 a, b } c). Dieser Expressionsversuch muß sofort ausgeführt werden, da 
sich der Pylorus nach dem Einlangen der ersten Ingesten bald verschließt 
(wie später ausgeführt werden soll) und dient zur Bestimmung der Lage 
des Pylorus (nicht seiner Durchgängigkeit). Das Phänomen fehlt in etwa 
der Hälfte der Fälle, sei es mangels 
Leerheit des Magens oder infolge 
zu hoher Lage des Pylorus, zu 
starker Querdehnung des Magens, 

Spannung der Bauchdecken, Py- 
loruskrampf, bei fehlender Übung 
des Untersuchers. 

Zunächst ergibt sich bei den 
röntgenoskopischen Magenunter¬ 
suchungen, daß der Magen fast 
stets Luft enthält, und zwar am 
meisten bei nüchternem Magen. 

Die Luft sammelt sich unter dem 
linken Zwerchfell an und stellt 
sich röntgenologisch als helle 
»Magenblase« dar. 

Was nun die Form und 
Lage des normalen Magens im 
Röntgenbilde anbetrifft, so sind in 
dieser Beziehung die Ansichten der 
Autoren geteilt. 

Rieder sieht eine Form des 
Magens als die typische an, bei 
der der Magen im wesentlichen 
vertikal gestellt ist und vom linken 
Zwerchfell bis unter den Nabel 
nach abwärts reicht, um dann im 
scharfen Bogen zum Pylorus auf¬ 
zusteigen. Er nennt diese Form 
die Hakenform. Den tiefsten Punkt 
nimmt also dabei (bei aufrechter 
Körperstellung) nicht der Pylorus 
ein, sondern ein Teil der großen 
Kurvatur. Hingegen nimmt Holz* 
knecht als Normaltyp eine Form 
des Magens an, die mehr schräg verläuft, indem nämlich der Pylorus hier 
den kaudalsten Punkt des Magens bei aufrechter Stellung darstellt. Holz¬ 
knecht bezeichnet diesen Magentyp als Rinderhorn form. 

Wir wissen jetzt, daß beide Formen als Normaltypen Vorkommen und 
daß zwischen beiden Übergänge existieren. Der häufigere Typ ist dabei der 
RiBDERsche, indessen lassen sich die pathologischen Veränderungen, worauf 
besonders Holzknecht und Jonas hinweisen, leicht von dem RiEDERschen 
Typ ableiten, was nach Ansicht dieser Autoren ein Beweis dafür sein 
soll, daß der HoLZKNECHTsche Typ gewissermaßen der reinste normale 
Typ ist. 


Fig. 86. 


a 

-JAf d 


b 

A V 


A SCL - 

r.~ 


Aktive und passive Motilität in der I’ars pylorica. 
(Nach Hoi.zknecht und Jonas, 1. c.) 


a) P.pyl. Konturen des Füllungsbildes der Pars pylorica. 
1). Füllungsbild des an den Pylorus grenzenden Abschnittes 
des Duodenums. P. Füllungsfreie Stelle zwischen Magen 
und Duodenum, dem Pylorus entsprechend. Peristal - 
tische Einziehungen, an Tiefe gegen den Pylorus zu¬ 
nehmend. <— Ihre Richtung. 

b) Sn. Vollkommene peristaltische Abschnürung des Ma¬ 
gens am Sphincter antri. A. Antrum zwischen Sphincter 
antri und Pylorus mit seiner eigenartigen konzentrischen 

Peristaltik. 

c) Efflourage des Mageninhaltes in das Duodenum. Ab¬ 
rollen des Rückens der rechten Faust auf der Wirbel- 
sänle unter Hebung des Mageninhaltes. P.p. Pars pylorica. 
P. Pylorus. h. s. Pars horizontalis superior duodeni. d. Pars 
descendens. h.i. Pars horizontalis inferior. Im Duodenum 
Wismutingesta und Gasblasen. Streifchenformation, ent¬ 
sprechend den Valvulae conniventes Kerkringii. F. d. Fle- 

xura dnodeni. 

d) Die baggerartige Wirkung der Peristaltik auf kleinen 
Inhalt, gezeigt an etwas Wismntwasser (halbmondförmiger 
kaudaler Pol) und einer wismntgeiiillten Gelatinekapsel. 


Digitized by 






436 


Röntgendiagnostik. 


Jedenfalls müssen wir jetzt im allgemeinen die Steflstellnng des Magens, 
d. b. die Hakenform, als die gewöhnlichste Magenform ansehen and an ihr 
nach dem Vorgänge Groedels folgende Bezeichnungen durchführen: Man 
unterscheidet den absteigenden Magenteil der Silhouette, in dem sich die 
Magenblase befindet and den aufsteigenden: Antrum und Sphincter an tri. 
Dieser Magenteil endigt mit dem Pylorus. Den tiefsten Magenpunkt nennen 
wir den kaudalen Punkt, den höchstgelegenen Punkt (an der linken Zwerch¬ 
fellspange) den kranialen Pol; der Abstand beider heißt die Magenhöbe, 
während der Abstand des Pylorus vom kaudalen Pol die Hubhöhe dar¬ 
stellt. Die Verbindungslinie soll der Längsdurchmesser des Magens benannt 
werden, der Winkel zwischen dieser und der Mittellinie der Neigungswinkel 
des Magens (Groedel). 

Über die Form des Magens bei frontaler Durchstrahlung orientiert am 
beeten beifolgende orthodiagraphische Aufnahme (Fig. 88). 

Was nun die Beweglichkeit des Magens anbelangt, so wird der Magen 
inspiratorisch durch das Zwerchfell nach abwärts gedrängt und exspiratorisch 
gehoben, da sowohl die Lage der Kardia wie des Pylorus vom Zwerchfeil- 


F «g. &0. Fig. 87. 



Hakenform de« Magen«, dorsoyentrale Stierhornform de« Malens, dorsorentrale 

Aufnahme. Durchleuchtung. 


stände abhängig ist. Gleichzeitig mit dieser Höhenveränderung muß der 
Magen auch aus der mehr senkrechten Lage bei der Inspiration eine mehr 
schräge einnehmen, da der Inhalt der Bauchhöhle bei der Inspiration in toto 
verkleinert wird. 

Die Abhängigkeit der Magenform von der Körperlage mögen die fol¬ 
genden Abbildungen (Fig. 89, Fig. 92 und Fig. 93) demonstrieren. 

Besonders wichtig ist, daß der Magen beim Einziehen der Bauchmus¬ 
kulatur, d. b. also wenn der Nabel der Wirbelsäule genähert wird, in die 
Höhe wandert, und zwar um mehr als seine volle Breite (Holzknbcht). 
Holzknecht schreibt diesem Verfahren besondere diagnostische Bedeutung 
zu, da diese Verschiebung des Magens nach oben nicht möglich ist, wenn 
der Magen an einer Stelle mit der Bauchwand verwachsen ist. 

Der Inhalt des Magens läßt sich, wie man sich auf dem Röntgenschirm 
leicht überzeugen kann, prompt nach allen Seiten verschieben, wenn man 
den Magen von den Bauchdecken aus palpiert. 

Was nun den Eintritt der Ingesta in den Magen anbetrifft, so ist 
nüchtern der Magen bis auf die Magenblase kollabiert; gelangt nun ein 


Digitized by 


Google 






Röntgendiagnostik 


437 


Bissen der Probemahlzeit durch die Kardia, so sieht man den Schatten des 
Bissens durch die Magenblase hindurchgleiten zur Pars media, wo der Bissen 
einige Zeit verweilt, indem er allmählich diesen Teil eröffnet; nunmehr sam¬ 
melt sich kaudal halbmondförmig mit großem Niveau der Schatten des 
Speisebreis an, wobei zunehmend die beiden Schenkel des hakenförmigen 
Magens gefüllt werden, allerdings steht der Speisebrei in der Pars antri, 
d. h. dem aufsteigenden Teil des Magens weniger hoch, als dem absteigen¬ 
den Teil, da die Passage des Chymus durch den Pylorus verhindert wird; 
in dem Moment nämlich, wo der Speisebrei in den Magen gelangt, schließt 
sich der Pylorus, um sich in der Ausbreitungsperiode rhythmisch etwa alle 
Vs Minute einmal zu öffnen. Die Lage des Pylorus ist nun nicht etwa eine 
fixe, sondern eine in gewissen Grenzen variable (durch Respiration und 
Körperlage). 

Was die Peristaltik des Magens anbetrifft, so tritt nach den Unter¬ 
suchungen von Holzknecht und Kaufmann bald nach dem Einbringen des 
Bissens in den Magen eine peristaltische Welle an der großen Kurvatur 


Fig.88. 



Frontale Magenaufnahme. 


Fig.89. 



Normaler Magen. Aufnahme Jra Liegen. 


auf, die gegen das Ende des Magens zu fortschreitet; ihr kommt auf hal¬ 
bem Wege eine zweite Welle von der kleinen Kurvatur entgegen, die sich 
an der Pars antri am Sphincter antri vereinen und auf diese Weise einen 
Schattenkomplex, dem Antrum entsprechend, abschnüren. Dieser Teil, auf 
den die Welle im eigentlichen Sinne des Wortes nicht übergegangen ist, 
verkleinert sich konzentrisch und verschwindet schließlich, worauf sich 
das alte Schattenbild wie zuvor wieder herstellt. Die einzelnen peristalti¬ 
schen Wellen sind kurz, tief und rhythmisch und folgen sich in Zeitabständen 
von etwa 22 Sekunden. 

Die Verhältnisse sind so zu deuten, daß zunächst durch die Kontrak¬ 
tion des Sphincter antri das Antrum von dem übrigen Teil des Magens ab¬ 
geschlossen wird ; jetzt beginnt sich das Antrum zu kontrahieren, wobei 
nach Eröffnung des Pylorus der Inhalt in das Duodenum getrieben wird. 
Schließt sich nunmehr der Pylorus und erschlafft das Antrum unter Eröff¬ 
nung des Sphincters, so wird der Inhalt aus dem Magen in das Antrum her¬ 
eingesaugt und es kann nunmehr das Spiel von neuem beginnen. 

Was die Entleerungszeit einer RiEDERschen Probezeit aus dem Magen 
anlangt, so dürfte im ganzen wohl die obere Grenze der Norm eine Zeit- 


Digitized by 


Google 





438 


Röntgendiagnostik« 


dauer von 4 Standen sein; in den meisten F&llen findet sieh der Magen 
schon nach 2—3 Standen entleert Rieder sieht die Grenze für die Ent¬ 
leerung von 30 g Wismat aas dem Magen in einer Dauer von 2—3 Stan¬ 
den. Nach Holzknecht entleert ein Magen von dem Rinderhorntypus den 
Inhalt in 2 Standen, die längsgestellte Type Rieders je nach ihrer Länge 
bis knapp ober, am oder unterhalb des Nabels in 4—6 Standen. Entleerangs- 
zeit über 6 Standen bedeutet also nach Holzknecht Motilitätsstörung, Ent¬ 
leerungszeit Ober 24 Standen ohne Sistierung der übrigen Ernährung sichere 
Verengerung. 

Die pathologischen Magenveränderongen im Röntgenbilde. 

a) Formveränderungen des Magens. 

Unter diesen ist die wichtigste die Sanduhrform des Magens. Ihre Dia¬ 
gnose aas dem Röntgenbilde ist leicht and hier am sichersten zu führen, 
indessen sind Verwechslungen mit anderen Zuständen, z. B. Kontraktionen 
des Magens vorübergehender Natur, durchaus möglich (sogenannter spasti¬ 
scher Sanduhrmagen). Man muß daher auf das Bestehenbleiben der Ein¬ 
schnürung bei Palpation des Magens und nach teilweiser Entleerung des 

Mageninhaltes besonders bedacht 
Fig. »o. sein. Meist ist die Ursache des Sand- 



Gastroptose. Sandubrmagen. 


b) Zirkumskripte Füllungsdefekte und Tumorendiagnostik 
(Holzknecht und Brauner, Holzknecbt und Jonas). 

Da wo ein Tumor die Magenwand infiltriert hat, wird diese erstens 
weniger dehnbar sein, zweitens wird bei Füllung des Magens mit einer 
Wismutmahlzeit der Magen da, wo die Intumeszenz besteht, einen Füllungs- 
defekt (nach Holzknecht) aufweisen. Einen solchen Füllungsdefekt finden 
wir normalerweise in der Pars cardiaca bedingt durch die sogenannte Magen¬ 
blase. Andrerseits trifft man mitunter auch dann Füllungsdefekte an, wenn 
der Tonus der Magenwand sehr kräftig ist und zudem ein kräftiger intra- 
abdomineller Druck besteht, der auf den Mageninhalt komprimierend wirkt. 
Derartige Füllungsdefekte pflegen indessen nicht lokalisiert zu bleiben, 
sondern lassen sich durch manuelle Palpation verändern. Also nur dann 
sind Füllungsdefekte von einer diagnostischen Bedeutung für das Bestehen 
einer Neubildung der Magenwand, wenn sie stationär lokalisiert sind und 
auch bei der Palpation nicht nachgeben. 


Digitized by CjOOQie 




Röntgendiagnostik. 


439 


Auch abnorme Kontur des Magens und abnormes Verhalten der 
palpatorischen Inhaltsverschiebung muß nach Holzknecht unter Um¬ 
ständen als Zeichen einer Intumeszenz des Magens angesehen werden. 

Von großer Wichtigkeit ist auch die Beobachtung der Peristaltik 
für das eventuelle Vorhandensein eines Tumors. Abgesehen von sogenannten 
antiperistaltischen Wellen (bei Pylorusstenose) beobachtet man mitunter an 
irgend einer Stelle der großen Kurvatur ein Stehenbleiben der peristaltischen 
Wellen oder eine pathologische Antrumperistaitik mit unvollständiger Ent¬ 
leerung des Antrums. Auch ein derartiges Verhalten kann radiologisch 
diagnostisch fflr die Annahme eines Magentumors wichtig werden. 

c) Schließlich sei noch hingewiesen auf verschiedene radiologisch leicht 
nachweisbare Veränderungen des Magens, wie den Tiefstand, oder Vor¬ 
lagerung beziehungsweise V er dräng ung des Magens, Veränderungen, die 
sich gerade radiologisch leicht deuten lassen. Ferner dokumentiert sich das 
Offenstehen des Pylorus mit besonderer Deutlichkeit im Röntgenbilde nach 


Fig.02. 



Normaler Magen, in linker Seitenlage 
aufgenommeu. 


Fig. 98. 



Normaler Magen, ira Stehen. 


Wismutföllung des Magens, ferner erhält man leicht Auskunft Ober die 
Funktion einer Gastroenterostomie. 

Daß Fremdkörper, die radiologisch Schatten geben, diagnostisch zu¬ 
gänglich sind, braucht nicht erst hervorgehoben zu werden. 


Röntgendiagnostik des Darmes. 


Was die Röntgendiagnostik des Darmes anbelangt, so steht diese 
noch nicht auf der gleichen Stufe, wie etwa die Röntgendiagnostik des 
Magens, wenigstens nicht die Röntgendiagnostik des Dünndarms. Gewöhnlich 
ist man nur imstande, den oberen Schenkel des Zwölffingerdarms, die so¬ 
genannte Pars horizontalis, nach einer Wismutmahlzeit zur Darstellung zu 
bringen; es markiert sich dieser Teil deutlich gegenüber dem sogenannten 
Pylorus, der als Schattenaussparung imponiert. Den übrigen Verlauf des 
Duodenums können wir nicht verfolgen, da das Wismut diesen Teil zu 
schnell verläßt; ebensowenig ist eine einwandfreie Beobachtung der Dünn¬ 
därme nach einer Wismutmahlzeit möglich. Dagegen gelingt es leicht, den 
Dickdarm radiologisch zu beobachten, entweder mehrere Stunden (6 bis 12 bis 
24 Stunden) nach Verabreichung einer Wismutmahlzeit oder nach Verab- 


Digitized by 


Google 






440 


Röntgendiagnostik« 


reich ung eines Wismutklystiers. Man verabreicht am beeten das Klystier 
in linker Seitenlage; hohe Einfühlung des Darmrohres ist dabei nicht not¬ 
wendig, sofern man das Klystier ans einer gewissen Höhe verabreicht and 
eventuell den Dickdarm vom S Romanum bis com Coecnm hinauf massiert 

Man erkennt an derartigen radiologischen Bildern den ganzen Dick¬ 
darm bis zu dem vom Colon descendens sich nicht scharf absetzenden 
Coecnm ; charakteristisch wird der Dickdarm durch seine radiologisch sich 
schön darstellenden Hanstren. Mitunter gelingt es auch radiologisch den 
Appendix als zarten danklen Strang darzustellen, ln der Gegend der Flexura coli 
dextra und sinistra beobachtet man häufig eine Luftblase. Das Colon trans- 
versum verläuft meist in einem nach unten konvexen Bogen. 

Was die spezielle Zeit der Dickdarmfüllung anbelangt, so beginnt 
diese nach Groedel nach einer Wismutmahlzeit ja schon nach 2—3 Stunden 
und ist ^iach frühestens 4 und (normalerweise) längstens nach 6 Stunden 
beendet. Da zu dieser Zeit fast die ganze Chymusmenge im Coecum be¬ 
ziehungsweise Colon ascendens angesammelt ist, so erscheinen diese Darm¬ 
abschnitte stark ausgedehnt. Die Füllung des Colon transvereum beginnt 
frühestens 4 Stunden nach der Riedermahlzeit, vollständig wird er kaum vor 
der 10.—12. Stunde sichtbar. Nach 24 Stunden hat dann der Wismutinhalt 
die Ampulla recti erreicht. 

Der Wert der radiologischen Darmdiagnostik liegt nun erstens in dem 
Feststellen der Koloptose. Das Wesentliche ist radiologisch dabei nicht 
allein das Tieferliegen des Querkolons, sondern seine »Schlingen- oder 
Winkelbildung« (Groedel). Eine weitere große Bedeutung erhält die Darm¬ 
diagnostik durch Feststellung von Darmtumoren, sofern diese Stenosen 
bilden. 

Literatur: Holzkhecht and Johas: Die Röntgendiagnostik des Magens and ihre 
diagnostische Bedeutung, Ergebnisse der inneren Medizin u. Kinderheilkunde. Bd. IV, 1909 
nnd Groedel , Die Röntgenuntersuchung des Magendarmkanals in Frasz M. Grobdkls Atlas 
and Grundriß der Röntgendiagnostik in der inneren Medizin. Mönchen, Lehmanns Verlag, 
1909. (In beiden eine vollständige Literaturubersicht.) Th. Brpgach. 


Digitized by 


Google 



Sahromin« Ähnlich dem Sajodin, dem Kalksalz der Monojodbehen- 
säure, haben Fischer und v. M bring auch die analoge Brom Verbindung her- 
gestellt. Aber wie v. Mering l ) berichtet, erwies sich das monohromhehensaure 
Kalzium als zu wenig wirksam, das dibrombehensaure Kalzium dagegen 
den Bromalkalien gleichwertig. Es ist ein farbloses, geruch- und geschmack¬ 
loses Pulver, enthält 29—30% Brom. Ihm kommt die Formel (C aa H 41 0 2 Br 2 ) 2 Ca 
zu. Im Magen wird die Dibrombehens&ure frei, welche sich der Magenschleim¬ 
haut gegenüber völlig indifferent verhält und erst im Darm resorbiert wird, 
v. Mering hat das Sahromin bei Hysterie und Neurasthenie, leichten ner¬ 
vösen Erregungszuständen, Herzklopfen und Angstgefühl sowie hei nervöser 
Schlaflosigkeit bewährt gefunden. Er gab 1—2 g 1 Stunde nach dem Essen. 
Die Wirkung tritt nicht so rasch ein wie nach Bromalkalien, ist aber pro¬ 
trahierter. Unangenehme Nebenwirkungen, insbesondere Erscheinungen von 
Bromismus sind nicht aufgetreten, auch wenn man täglich 3mal 1 g nehmen 
läßt. Bei diesen sind ungefähr die gleichen wie beim Bromkalium, trotzdem 
das Sahromin nur die Hälfte Brom enthält wie Bromkali (67%). 

In 14 Fällen hat Eulenburg 2 ) das Sahromin längere Zeit angewandt, 
und zwar in Form von Tabletten zu 0*5. Einzeldosen von 0 5— 10 , in Tages¬ 
dosen nicht über 3*0 (6 Tabletten) hat Eulenburg niemals gastrointestinale 
Störungen oder Bromismus gesehen, nur einmal trat eine leichte Bromakne 
auf. Es entspricht dies ganz der geringen Bromdosis von nicht über 0*9 
Brom. Dabei waren die Erfolge sowohl hei idiopathischer Epilepsie, bei 
Neurasthenie, Angstneurose, Hysterie, psychischen Depressionszuständen 
gute, zum Teil sogar frappante. So zum Beispiel blieben bei einem 18jähri- 
gen epileptischen Menschen, der im Laufe des letzten Jahres sieben schwere 
Anfälle gehabt hatte, die Anfälle bei einer Sabromingabe von täglich vier 
Tabletten neben der Vorschrift chlorarmer Diät und entsprechenden hygie¬ 
nischen Maßregeln ganz aus und hatten sich auch 5 Monate nach Beginn 
der Behandlung noch nicht wieder eingestellt, so daß mit der Tagesdosis 
auf 3 respektive 2 Tabletten herabgegangen wurde. Außerordentlich gün¬ 
stig war auch der Erfolg in 2 Fällen von hochgradiger psychischer Depres¬ 
sion und nervöser Agrypnia und in Fällen sexueller Neurasthenie, so daß 
Sahromin auch als Antaphrodisiakum Gutes leistet. 

Literatur: l ) v. Merino, Über Sahromin, ein nenes Brompräparat. Med. Klinik, 1908, 
Nr. 38, pag. 1464. — 2 ) A.Eclenburg, über Sabromin. Med. Klinik, 1908, Nr. 45, pag. 1718. 

E. Frey. 

Schlafmittel, neuere arzneiliche. Über die modernen Schlafmittel 
im Hinblick auf die Beziehungen zwischen ihrem chemischen Aufbau und 
ihrer Wirkung hat Thoms einen interessanten orientierenden Vortrag ge- 


Digitized by 


Google 



442 


Schlafmittel 


halten. Ans demselben geht hervor, daß wir eine eigentliche Grundlage zur 
Beurteilung eines Mittels als Schlafmittel noch nicht besitzen, d. h. daß wir 
die Frage, welche Eigenschaften der Schlafmittel deren narkotische Wirkung 
bedingen, noch ebenso unvollkommen beantworten können, wie diejenige nach 
den natürlichen Ursachen des Schlafes überhaupt. Wir wissen nicht einmal, 
ob es chemische Wirkungen sind, die den natürlichen Schlaf hervorrufen, 
oder ob dieser die Folge physikalischer Vorgänge ist. Die Beobachtung hat 
nur gelehrt, daß beim Schlafen eine Erweiterung in den Gefäßen der meisten 
Organe eintritt, mit Ausnahme der Hirngefäße, welche kontrahiert werden. 
Daraus hat Brunton als Vorbedingung für das Eintreten des Schlafes postu¬ 
liert: Der Blutzufluß zum Gehirn muß so viel wie möglich verhindert wer¬ 
den, was dadurch geschehen kann, daß man ihn ableitet oder die Herztätig¬ 
keit beruhigt, und zweitens, die funktionelle Tätigkeit des Gehirns muß 
herabgesetzt werden. Hiermit im Einklang steht auch die Tatsache, daß die 
exzitierenden Mittel den Blutdruck steigern, die schlafbringenden ihn herabsetzen. 

Bezüglich der narkotischen Wirkung der Schlafmittel hat Hans Meyer 
eine bemerkenswerte Eigenschaft aufgefunden. Er hält die narkotische Wir¬ 
kung der Schlafmittel für eine Funktion ihrer Fettlöslichkeit und hat seine 
sich auf praktische Versuche stützenden Ansichten wie folgt formuliert: 
Alle chemisch zunächst indifferenten Stoffe, die für Fett und fettähnliche 
Körper löslich sind, müssen auf lebendes Protoplasma, sofern sie sich ver¬ 
breiten können, narkotisch wirken. Die Wirkung wird an denjenigen Zellen 
am ersten und stärksten hervortreten müssen, in deren chemischem Bau jene 
fettähnlichen Stoffo vorwalten und wohl besonders wesentliche Träger der 
Zellfunktion sind: in erster Linie also an den Nervenzellen. Die verhältnis¬ 
mäßige Wirkungsstärke solcher Narkotika muß abhängig sein von ihrer 
mechanischen Affinität zu fettähnlichen Substanzen einerseits, zu den übrigen 
Bestandteilen, d. i. hauptsächlich Wasser, andrerseits; mithin von dem Tei¬ 
lungskoeffizienten, der ihre Verteilung in einem Gemisch von Wasser und 
fettähnlichen Substanzen bestimmt. 

Auf Veranlassung von Hans Meyer hat ein Schüler von ihm, Fritz 
Baum, eine Tabelle veröffentlicht, aus welcher hervorgeht, daß mit dem 
Wachsen oder Abnehmen des Teilungskoeffizienten der aus der Verteilung 
des betreffenden Narkotikums in einem Gemisch von öl (Olivenöl) und 
Wasser beim Schütteln einer wässerigen Lösung der Substanz mit öl er¬ 
mittelt wurde, auch die Stärke der pharmakologischen Wirkung variiert, 
indem die stärksten Narkotika, die also in der geringsten wirksamen Mo¬ 
lekularkonzentration Narkose hervorrufen, auch den größten Teilungskoef¬ 
fizienten besitzen. Mit der Auffindung dieser interessanten Tatsache ist 
wenigstens so viel gewonnen, daß bei einem neuen chemischen Individuum, 
hinsichtlich seiner Verwendbarkeit als Schlafmittel, durch die Feststellung 
des Verhältnisses zwischen Wasser- und Fettlöslichkeit die Wirkungsgröße 
des neuen Produktes als Narkotikum festgestellt werden kann. 

Ebenso hat Rudolf Höber darauf hingewiesen, daß bei der Darreichung 
der Narkotika der zur normalen Erregung gehörige Kolloidprozeß gehemmt 
werde, und es sei anzunehmen, daß dieser Kolloidprozeß sich im Lecithin 
abspiele. Narkose beruhe demnach auf Ansammlung lipoidlöslicher Substanz 
im lipoiden Lecithin bis zu einer bestimmten Konzentration und Sistierung 
des sich normalerweise bei der Erregung dort abspielenden Kolloidvor¬ 
ganges durch diese Substanz. 

Thoms hebt hervor, daß eine befriedigende Erklärung fhr die physika¬ 
lisch-chemischen Vorgänge, die durch die Narkotika im Organismus hervor¬ 
gerufen werden, durch diese Deutung noch nicht gegeben werde. 

Die chemische Einteilung der modernen Schlafmittel ist von Sibgmund 
Fränkel in dessen Arzneimittelsynthese in folgender Weise gemacht wor- 


Digitized by ^.ooQle 



Schlafmittel. 


443 


den, eine Einteilung:, deren Prinzipien sich Thoms anschließt. Frankel teilt 
die Narkotika ein in Substanzen, deren Wirkung auf dem Qehalt an Halogen 
beruht, in Substanzen, deren Wirkung auf den Qehalt an Alkylgruppen zu- 
rückzuführen ist, und in Substanzen, deren Wirkung in der Gegenwart einer 
Aldehyd- oder Ketongruppe zu suchen ist. 

Bei dieser Einteilung ist zu berücksichtigen, daß eine scharfe Abgren¬ 
zung nicht möglich ist, weil Körper der einen Gruppe mit solchen der anderen 
kombiniert werden, und dann als neue Schlafmittel erscheinen. Thoms hat auf 
den Prinzipien dieser Hauptgruppe folgende Untergruppierung vorgenommen: 


I Halogenhaltige Schlafmittel 
A. Gruppe des Chloralhydrats. 

CC1, 

C<0 + H0 

Chloralformid. Chloralose. Dormiol. Hypnal. Isopral. 

cci, 

c /H 

l \oh 


ch 3 

B. Halogenhaltige Säureamide. 

Neuronal. Bromural. 

Diäthylbromacetamid. Monobromisovalerianylharnstoff. 


£ ! 2 5 >CBr— CO -NH 


CH 


CH^CH . CHBr . CO . NH . CONH 


//. Schlafmittel, deren Wirkung auf den Gehalt an Alkylgruppen zurück¬ 
zuführen ist. 


Äthylalkohol. 

c 2 H B 

I 

OH 


A. Alkohole. 


Amylenhydrat. 

C 2 H b 

I 

CH S —C —CH 


OH 


B. Methanderivate der Sulfone. 


CH. 


Sulfonal. 


/SOo C- H 5 


J 3\n/ 

CH 8 A\S0 2 c 2 h b 


Trional. 

^2 H 5 \p/S0 2 C 2 H b 


Tetronal. 


CH/^SOg C a H 6 
Substituierte Kohlens&ureamide. 
Derivate der Karbaminsäure. 


C* HjXp/SOj C s H 6 
C, H./^^SO. C, H. 


Uretban. 

£q/OC 2 H b 

lu \nh 2 


Hedonal. 

C 0 <S Hi • CH< ^ 7 


Methylpropylcarbinolnrethan. 
Derivate des Harnstoffes. 

Malonylbarnstoffe. 


Veronal. 

C I H iSc /CO-NHv co 
C 2 H 6 /°\CO —NH/ OU 


Proponal. 

C 3 H 7 / U \CO —NH/ UU 


Digitized by 


Google 



444 


Schlafmittel 


III. Aldehyde und Ketone als Schlafmittel, 


Acetaldehyd. 

CH S 

c /H 


Paraldehyd. 

,ch“ 

—Je H. ' 
OA X 0; 


l 

CH, . HC 


0 /CH.CH s 


Aceton (Dimethy Iketon). 

CH, 

I 

CO 

I 

CH, 

Propion (Diäthylketoa). 

C 2 H 5 

I 

CO 

I 

C, H, 


Hypoon (Acetopbenon). 

ch 3 


CO 

I 

C*H b 

Bei dieser Einteilung ist die Gruppe des Morphiums beziehungsweise 
der Opiumalkaloide, die Bromsalze und das sehr wichtige Hyoscin als nicht 
synthetische Körper naturgemäß außer acht gelassen. Bei der Bewertung 
der verschiedenen Schlaf- beziehungsweise Beruhigungsmittel können nur 
klinische Erfahrungen maßgebend sein. Von den hier aufgezahlten Medika¬ 
menten, von denen das Paraldehyd im Jahre 1882 den Reigen eröffnete, 
sind eine große Menge wieder in Vergessenheit geraten, sei es, daß bei 
längerer Erfahrung sich unangenehme oder Nebenwirkungen heraussteilen, 
sei es, daß sie keinerlei Vorzüge vor den vorher erschienenen boten. 

Würschmidt, welcher bei einem eigenen großen Material als Direktor 
einer Kreisirrenanstalt die meisten der erschienenen Schlafmittel selbst aus¬ 
probiert hat, bat über den Wert derselben ein selbständiges Urteil abge¬ 
geben, das für die Allgemeinheit von Interesse sein dürfte. — Wir folgen 
daher in der nachfolgenden Ausführung über die klinische Brauchbarkeit 
beziehungsweise Bedeutung der einzelnen Schlafmittel im großen und ganzen 
seinen Ausführungen. Er hat unter den oben genannten zahlreichen Mitteln 
folgende 8 Medikamente als diejenigen herausgegriffen, welche er als vor¬ 
züglich würdig erachtet in den ständigen Arzneischatz als Schlafmittel auf¬ 
genommen zu werden. 

I. Das Paraldehyd. Dasselbe wurde im Jahre 1882 von Cervbllo 
eingeführt. Es ist ein chemisches Produkt aus der Reihe der Aldehyde, und 
zwar das 3fache polymere des Acetalaldehyds. Würschmidt verordnet* es 
zumeist in Form der SrocKschen Mixtur: Paraldehyd 100, Spir. Sacch. opt. 
150, Syr. sirapl. 300, Essent. Citr. 10 , Aqua font. 1440, so daß auf je 20 <7 
Flüssigkeit 1,0 Paraldehyd trifft. Die Dosierung schwankt zwischen 2 und 
12 ^, als Mitteldosis ist 5 g anzusehen, vereinzelt kommt man auch mit 
kleinen Gaben aus. Die Darreichung ist per os. Besonders günstig wirkt 
das Paraldehyd bei Manie, manischen Erregungszuständen, bei Dementia 
praecox, bei Paralyse, Epilepsie und Hysterie. In 85% der Fälle wurde 
volle schlaf machen de Wirkung erzielt; die Dauer des Schlafes betrug zirka 
5 —8 Stunden. Störende Nebenwirkungen waren in der Regel nicht wahr¬ 
zunehmen. 5 g Paraldehyd überstieg die Wirkung von 2 g Chloral. Am Morgen 
nach der Einnahme ist der Kopf des Kranken meist viel freier als nach 


Digitized by ^.ooQle 



Schlafmittel, 


445 


dem subkutanen Gebrauch von Chlor&l oder Morphium. Unangenehm ist nur 
der Geruch und Geschmack; ersterer noch mehr wie letzterer, um so mehr 
als die mit Paraldehyd Behandelten selbst einen penetranten Geruch exha- 
lieren. 

IL Das Amylenhydrat oder tertiärer Amylalkohol wurde von Mering 
1887 eingefflhrt Die mittlere erfolgreiche Dosis beträgt 3 g, variiert jedoch 
zwischen 2 und 5 g. Es wird in wässeriger Lösung mit Extractum Liquiritiae, 
Syr. rub. id. oder mit Aqua Menthae gegeben. Manche Kranken nehmen es 
lieber mit einem Schluck Bier. Es bewirkt einen ruhigen, nicht sehr tiefen, 
durchschnittlich 6 Stunden währenden Schlaf. Üble Nebenwirkungen be¬ 
stehen nicht. Es kann bei allen Formen geistiger Störung angewendet wer¬ 
den. Hie und da wurden auch die Anfälle der Epileptiker durch Anwendung 
des Amylenhydrates seltener und schwächer. 

III. Das Sulfonal. Es gehört zur Gruppe der sogenannten Disulfone, 
das heißt organisch schwefelhaltigen Verbindungen. 

Es wurde 1877 von Käst eingeföhrt. Es stellt ein vollständig geruch- 
und geschmackloses Pulver dar, das schwer löslich ist, deswegen eventuell 
in heißer Suppe oder Tee zu geben ist. Die Dosis beträgt 1—3 g. Die 
hypnotische Wirkung wurde bei Melancholie, Manie, Hysterie, Paraqoia, 
Paralyse und Verblödungsprozessen stets in gleicher Weise von W. erzielt. 
Ein Erfolg, der freilich bei allgemeinerer Anwendung später nicht voll be¬ 
stätigt wurde. Der danach eintretende Schlaf ist meist tiefer als nach den 
oben erwähnten Medikamenten. Eine sedative Wirkung kommt dem Sulfonal 
nicht zu. W. hat beobachtet, daß nach längerem Sulfonalgebrauch auffallende 
Störungen der Motilität auftraten, denen ein Gefühl der Müdigkeit und Ab¬ 
spannung vorausgegangen war, doch besserten sich die Erscheinungen schon 
am ersten Tage nach Aussetzen des Mittels, um am zweiten Tage ganz 
zu verschwinden. Als Vorzug des Sulfonals ist die vollkommene Geruch- 
und Geschmacklosigkeit zu betrachten, die es ermöglicht, Kranken ohne 
ihr Wissen das Mittel in heißer Flüssigkeit zu geben. 

IV. Das Trional: Dasselbe unterscheidet sich vom Sulfonal nur da¬ 
durch , daß die eine der im Sulfonal an den Kohlenstoff angelagerten Methyl¬ 
gruppen im Trional durch eine Äthylgruppe ersetzt ist. Es wurde 1891 von 
Schulze eingeführt und hat das Sulfonal in weitem Umfange verdrängt. Es 
teilt mit letzterem die Vorzüge der Geruchs- und Geschmacklosigkeit und 
besitzt daneben die weiteren der leichteren Löslichkeit, sowie den, daß es 
in geringerer Dosis wirksam ist. 0’5%ig sind die üblichen Gaben. Der 
nach längerem Sulfonalgebrauch zu beobachtende schwerfällige Gang und 
Sprache sind auch hie und da nach chronischem Gebrauch von Trional ge¬ 
sehen worden. Von einzelnen Autoren sind nach längerem Trionalgebrauch 
blutige Stühle und ganz vereinzelt auch andere Vergiftungserscheinungen 
beobachtet worden. Die Wirkung des Trionals kann durch abwechselnde 
Verordnung von Sulfonal oder anderen Hypnoticis verstärkt werden. Wirkung 
auf den Schmerz kommt weder dem Trional noch den vorher erwähnten 
Mitteln zu. Als Nachteil des Trionals hebt Ziehen hervor, daß man sehr 
häufig danach auf den Schlaf warten muß. Er tritt oft erst mit 2, 3 oder 
mehr Stunden Verspätung ein, während es andrerseits einen ziemlich langen 
Schlaf ziemlich sicher garantiert. Um obige Nachteile der verspäteten Wirkung 
zu beseitigen, hat Ziehen ein von Pouchet vorgeschlagenes Verfahren mit 
Erfolg nachgemacht, indem er Trional mit Paraldehyd verbindet. In diesem 
Falle tritt der Schlaf viel rascher ein, und man kann mit viel kleineren 
Dosen von Trional und Paraldehyd auskommen. 

V. Das Veronal. Dasselbe ist 1903 von Fischer und Mering ein¬ 
geführt worden. Es ist ein Harnstoffderivat, Diäthylmalonylharnstoff. Es 
wird zur Hälfte unverändert durch den Harn wieder ausgeschieden. Es übt 


Digitized by 


Google 



446 


Schlafmittel. 


seine schlaf machen de Wirkung in Dosen 0*5—0*7 < 7 . in der Hegel ohne alle 
Nebenwirkungen aus. Würschmidt hatte zunächst, so lange er das Veronal 
in Tablettenform gab, recht wechselnde Erfahrungen gemacht. Zu einem 
einheitlichen Erfolg ist es notwendig, die Tabletten oder das Pulver in 
heißem Wasser, Tee oder dergleichen aufzulösen. Würschmidt hat in seiner 
Anstalt über 4000 g Veronal Tausenden von Kranken gegeben, so daß er 
berechtigt ist, über dieses heute wohl verbreitetste Schlafmittel ein defini¬ 
tives Urteil abzugeben. Er kommt zu folgendem Endurteil: Das Veronal 
ist ein ganz vorzügliches Hypnotikum, das in manchen Fällen auch aus¬ 
gesprochene sedative Wirkung hat, und zu den besten der bekannten Schlaf- 
und Beruhigungsmittel gezählt werden muß. Man kann es ohne Schaden 
auch den dekrepiden, anämisch arteriosklerotischen Individuen geben. Seine 
Erfolge schätzt Würschmidt auf 80— 85% der Fälle. Bei exzessiven Er¬ 
regungszuständen ist der Erfolg im ganzen nicht so groß wie bei weniger 
erregten oder nur schlaflosen Kranken, doch wurde auch da öfters ein Er¬ 
folg erzielt, wo alle vorher angewendeten Mittel versagt hatten. Die not- 
wendige Dosis ist freilich sehr schwankend, oft genügt schon 1 4 g : mehr 
als 1 g wurde auch den Männern im allgemeinen nicht gegeben, in einzelnen 
Fällen war es jedoch notwendig, selbst bei Frauen bis zu 2g pro die zu 
geben. Der Schlaf trat zumeist schon nach %— 3 4 Stunde ein und dauerte 
6 —8 Stunden und länger. Der Kopf war danach im allgemeinen frei. Auf 
die Anfälle der Epileptiker hatte das Veronal keinen Einfluß. Die von 
einzelnen Beobachtern berichteten ungünstigen Nebenerscheinungen, wie 
Schwindel, Benommenheit, Eingenommenheit des Kopfes, Übelsein, Erbrechen, 
Herzklopfen lassen sich nach Ansicht von Würschmidt ganz oder größten¬ 
teils vermeiden, wenn man bei der Veronalbebandlung mit entsprechend 
kleinen Dosen beginnt, und vor allem dafür sorgt, daß das Medikament in 
heißer Flüssigkeit gelöst gegeben wird, und eventuell noch ein Quantum 
Flüssigkeit nachgetrunken wird. 

Auch dem Veronal kommt keine schmerzstillende Wirkung zu. Man 
hat deswegen zu dem Auskunftsmittel gegriffen, das Verona! mit Dionin 
zu kombinieren. Beides zusammen soll schmerzstillend wirken. 

Tritt, wie nicht selten, eine Gewöhnung an Veronal oder an Trional 
ein, so hat man von dem Wechseln der beiden Medikamente unter sich, 
worauf Ziehen besonders aufmerksam macht, keinen Vorteil; trotz der 
chemischen Verschiedenheit zeigt sich eine klinische Verwandtschaft zwischen 
beiden, so daß das Prinzip des Abwechselns, das für andere Schlafmittel von 
allen Seiten empfohlen wird, hier nicht mit Erfolg anzuwenden ist. Es 
müssen daher andersartige Abwechslungen vorgenommen werden. 

DasMedinal ist das lösliche Natriumsalz des Veronals; ihm kommen 
dieselben Wirkungen, in entsprechend der höheren Löslichkeit verstärktem 
Maße wie dem Veronal zu (s. unter Medinal). 

VI. Das Proponal wurde ebenfalls von Fischer und Mering empfohlen 
und stellt im Gegensatz zum Veronal als einer DiäthylVerbindung eine Di- 
propylverbindung dar; es ist der Dipropylharnstoff. Es sollte in der halben 
Dosis des Veronal wirken und bei Gewöhnung an letzteres dasselbe er¬ 
setzen. Es scheint jedoch, daß die notwendige Dosis auch 0*3—0*5 g ist. 
Besondere Vorzüge vor dem Veronal besitzt es augenscheinlich nicht. 

VII. Das Bromural. Dasselbe wurde 1907 von Saam dargestellt und 
ist ein Alphamonobromisovalerianyl-Harnstoff. Es stellt weiße Nädelchen, in 
kaltem Wasser nur schwer, in heißem Wasser leicht löslich dar. Das Mittel 
wurde besonders zum Gebrauch für hysterische und neurasthenische Per¬ 
sonen, auch alte Leute und Kinder bestimmt. Würschmidt hat es bei einer 
Reihe von Kranken angewendet, deren geistige Störungen vorzugsweise auf 
neurasthenischer oder hysterischer Grundlage direkt erwachsen waren, oder 


Digitized by 


Google 



Schlafmittel. — Schulgesundheitspflege. 


447 


bei denen im Gefolge der geistigen Störung ausgesprochen neurasthenische 
oder hysterische Erscheinungen zur Beobachtung gekommen waren. Er 
kommt auf Grund freilich nicht sehr großen Materials zu der Überzeugung, 
daß das Bromural bei der Behandlung gewisser Formen geistiger Störang 
in Zukunft als Hypnotikum sowohl wie als Sedativum einen hervorragenden 
Platz einnehmen wird. Besonders geeignet erscheint es für weibliche Kranke. 
Die Dosierung schwankt zwischen 0*3 und 0*6^, in einigen außergewöhn¬ 
lichen Fällen wurden sogar bis zu 1*5^ gegeben. 

VIII. Das Hyoscin nimmt einen besondem Platz unter den Beruhigongs- 
mitteln ein. Es ist ein Alkaloid des Bilsenkrautes, das von Gnauck 1882 in 
die psychiatrische Therapeutik eingeführt wurde, um das Hyosciamin, eben¬ 
falls ein Alkaloid des Bilsenkrautes, zu ersetzen, das sich als ein pharma¬ 
kologischer Irrtum herausgestellt hatte. Das Hyoscin wird meistens als 
H. hydrobromicum oder hydrochloricum angewendet. Die Dosierung des 
Mittels läßt sich auch heute noch nicht auf eine bestimmte Maximaldosis 
festlegen. Während einzelne Autoren schon Gaben von 0*00025—0*0005 als 
wirksam erachteten, fangen andere mit 1 mg an; wiederum andere geben 
wochen- und monatelang 1—3 mg innerlich ohne üble Folgen. Würschmidt 
gibt anfänglich 0*0003—0*0005 mit gutem Erfolg. Tritt bei kleinen Dosen 
eine Angewöhnung ein, so muß auf 0 0006—0*0008, ja bis auf 1 mg ge¬ 
stiegen werden. Wenn auch diese Gaben nicht mehr ausreichten, stieg 
Würschmidt nicht höher, um die Nebenwirkungen, die sich auch beim 
Hyosciamin geltend gemacht hatten, zu vermeiden, im besonderen Delirien 
und Gesichtshalluzinationen. Einzelne Kranke klagen auch über rauschartige 
Überwältigung ihres Bewußtseins und zeitweilige Ausschaltung ihrer will¬ 
kürlichen Bewegungen. Der Schlaf trat meist sehr rasch und prompt schon 
nach wenigen Minuten ein. Er betrug etwa 7—8 Stunden und die danach 
fortdauernde Beruhigung (Erschlaffung) ebensolange. Doch ist er nicht als 
ein erquickender zu bezeichnen, da meist eine Art Katzenjammer folgte, 
allgemeine Müdigkeit, Abgeschlagenheit, Benommenheit im Kopf. Bei an¬ 
haltender exzessiver psychomotorischer Unruhe erscheint das Hyoscin geradezu 
lebensrettend. 

Die subkutane Anwendung ist derjenigen per os vorzuziehen. In letzter 
Zeit hat Würschmidt , den Beispielen anderer Kliniken folgend, das Hyoscin 
als H. hydrobromicum (Skopolamin) in Verbindung mit Morphium zur An¬ 
wendung gebracht, Skopolam. 0*002, Morphium 0*2, Aq. dest. 10, davon eine 
halbe Spritze zu geben. Davon hat Würschmidt niemals üble Nebenwirkungen 
gesehen und doch volle beruhigende und schlafmachende Wirkungen erzielt. 
Allerdings nur, wie er hervorhebt, bei Kranken weiblichen Geschlechtes, 
zumeist sehr exzessiven hysterischen. Demgegenüber möchte Referent darauf 
hinweisen, daß er es auch bei urämischen Zuständen und schweren finalen 
Herzstadien in der gleichen Kombination und Dosis auch bei Männern mit 
ausgezeichnetem Erfolge angewandt hat. 

Literatur: Würschmidt, Ärztliche Fortbildung, 5. Jahrgang, Nr. 8 u. 10, pag. 240. 
— Thoms, Deutsche naed. Wochenschr., 34. Jahrgang, Nr. 14, pag. 577. — Ziehen, Deutsche 
med. Wochenschr., 34. Jahrgang, Nr. 14, pag. 580. Zuelzer. 

Schulgesmicilieitspfiege. a)Schulgebäude (hygienisch). Lage. 
Schulgebäude müssen eine ruhige Umgebung haben. Sie sollen deswegen 
möglichst wenig an Verkehrsstraßen liegen, die Straßen sollen womöglich 
nicht gepflastert sein. Ist dies nicht der Fall, so leidet die Lüftung der 
Klassen. Denn während des Unterrichtes können die Fenster nicht offen ge¬ 
halten werden. In allen Teilen soll das Gebäude ausreichendes Licht erhalten. 
Deswegen ist die Lage an einem freien Platz die beste. Gegenüberliegende 
Häuser dürfen nicht so hoch gebaut werden, daß sie die Unterrichtsräume 
verdunkeln. Der Baublock, in dem die Schule liegt, darf nicht eng bebaut 


Digitized by 


Google 



448 


Schulgesundheitspflege. 


sein, da die Darchlüftb&rkeit der Schule im ganzen leiden würde. Beson¬ 
ders würde sich das während der heißen Jahreszeit fühlbar machen. 

Himmelsrichtung. Die Hauptfronten der Schule sind so zu richten, 
daß alle Klassenzimmer annähernd gleiches Licht erhalten. Dies wird am 
vollkommensten erreicht bei Ostwestlage. Sind dabei die Räume so verteilt, 
daß nach Westen diejenigen liegen, welche nachmittags seltener benutzt 
werden, so entfällt auch der Nachteil der heißen Nachmittagssonne im Som¬ 
mer. Die Räume nach Osten können im Sommer leidlich kühl gehalten wer¬ 
den. Zweckmäßig ist auch die Südostlage, da bei dieser jeder Schulraum 
im Laufe von 24 Stunden Sonnenlicht erhält. Dagegen unvorteilhaft ist die 
reine Nordsüdlage. Die Nordzimmer erhalten nie einen Strahl Sonne, sind 
deswegen stets unfreundlich und dunkel, schlecht durchlüftbar. Auch der 
Anstrich der Wände dunkelt schneller. Die Luft in diesen Klassen ist stets 
schlechter wie in den Südklassen. Diese letzteren sind zwar an und für sich 
infolge der starken Sonnenbestrahlung sehr angenehm für den Unterricht, 
haben aber im Sommer den Nachteil großer Vormittagswärme. 

Sollte für die Zukunft durchgehender Vormittagsunterricht eingeführt 
werden, am Nachmittag also die Schule leer stehen, so bestünde mehr Frei¬ 
heit in der Auswahl der geographischen Lage. Die Südostlage könnte als 
gleichwertig mit der Ostwestlage empfohlen werden. 

Größe. Ein Schulgebäude sollte nur so groß gebaut werden, als es 
gut zu ventilieren ist. Ist beim Betreten eines Gebäudes die »Schulluft« 
bemerklich, so ist entweder schlecht gelüftet worden oder das Gebäude 
kann wegen seiner Größe nicht gut gelüftet werden. Dies dürfte vor allem 
bei den vierstöckigen Gebäuden zutreffen, die 1500 und mehr Kinder be¬ 
herbergen. Die Korridore und Treppenhäuser füllen sich bei jeder Pause 
mit Kindern, die in dichten Scharen sich durcheinander bewegen und alles 
mit feinem Staub erfüllen. In den größeren Pausen vergeht viel Zeit mit 
dem Weg nach dem Hofe. Bei schlechtem Wetter sind die Kinder ganz auf 
die Schule angewiesen. Die Anforderung, alle Räume beständig mit guter 
Luft zu versorgen und die schlechte zu entfernen, ist für solche große 
Schulkörper zu hoch. Sie kann nicht erfüllt werden. Eine Schule sollte nicht 
mehr wie drei Stockwerke hoch und mit nicht mehr als höchstens tausend 
Schulkindern besetzt sein. Alle hygienischen Anforderungen an die Schule 
werden alsdann viel leichter erfüllt werden können. 

b) Schulhöfe. Schulhöfe müssen genügend groß sein, um allen Kindern 
gleichzeitig ausgiebige freie Bewegung zu gestatten. Dieser Forderung 
werden natürlich kleinere Schulen mit 600 und weniger Schülern leichter 
genügen können. Für Schulen mit 1000 und mehr Zöglingen läßt sich selten 
ein genügend großer Hof beschaffen. Die Kinder sind dann gezwungen, in 
geschlossener Reihe zu wandeln und haben nicht die rechte Gelegenheit, 
sich auszulüften. Die Nachteile zu umfangreicher Schulen treten dabei recht 
zutage. Es gibt nur eine, bei ungeteiltem Vormittagsunterricht höchstens 
zwei Pausen, während deren der Hof betreten werden kann. In kleineren 
Schulen dagegen kann zwischen jeder Stunde der Hof ausgenutzt werden. 

c) Heizung. Mit allen Arten von Heizung lassen sich gute Resultate 
erzielen. Es kommt nur auf sorgfältige Anlage und Bedienung des Heiz¬ 
systems an. Die in vielen älteren Schulen noch befindlichen Ofenanlagen be¬ 
währen sich ausgezeichnet, wenn sie gut konstruiert sind und mit dem 
zweckmäßigen Feuerungsmaterial beschickt werden. Dem Zweck der Schule 
entsprechend, in kurzer Zeit einen gegebenen Raum schnell auf eine ge¬ 
wisse Temperatur zu bringen, werden in Schulen mit Ofenheizung fast nur 
eiserne Öfen verwendet. Auch sehr große Räume können durch neuere 
Konstruktionen eiserner Füll- und Regulieröfen genügend schnell erwärmt 
werden. Der Ventilationseffekt der Öfen ist zwar gering, jedooh bei dem 


Digitized by 


Google 



Schulgesundheitspflege. 


449 


hohen Wert einer guten Entlüftung gerade in Schulen wohl in Rechnung 
zu ziehen. In früherer Zeit sind vielfach Versuche gemacht worden, mit der 
Ofenheizung eine Zufuhr frischer Luft zu verbinden. Man führte gemauerte 
Kanäle durch das Innere der Gebäude, brachte sie einerseits mit der Außen¬ 
luft und andrerseits mit den Öfen in Verbindung, hoffte die eintretende 
frische Luft mit der warmen Ofenluft zu einer gesunden Mischluft zu ver¬ 
einigen und auf diese Weise die Klasse mit andauernd guter Luft zu ver¬ 
sorgen. Aber die Erfahrung hat gezeitigt, daß auch die besten Konstruk¬ 
tionen dieser Art versagen. Nur ausnahmsweise findet die Außenluft ihren 
Weg in das Innere der Klassenzimmer, häufig ist sie dann mit dem Schmutz 
der einer Reinigung nicht zugänglichen Kanäle erfüllt. Schließlich werden 
aber die Öfen nur selten zuverlässig bedient; die regulierenden Klappen 
finden sich falsch gestellt, ja auch die zuführenden Luftkanäle abgeschlossen. 
Man hat deswegen die Kombination von Öfen mit Ventilationsführung längst 
als unpraktisch verlassen. 

In den siebziger Jahren kam die Luftheizung auf. Auch sie beruhte 
auf dem Prinzip, den einzelnen Räumen eine gewärmte Mischluft zuzuführen. 
Man verlegte aber die Heizquelle in den Keller. Je nach ihrer Größe be¬ 
sitzt eine jede Schule drei, fünf und mehr im Keller gelegene Heizkammern. 
Dieselben erhalten ihre Frischluft von außen. Die kalte Luft passiert ein 
Staubfilter und gelangt in die Heizkammer. Daselbst streicht sie über ein 
System heißer Röhren, erwärmt sich und steigt durch an der Decke der 
Heizkammer angebrachte senkrechte Kanäle direkt in je ein Klassenzimmer, 
woselbst der Kanal in halber Zimmerhöhe endigt. Durch Klappenvorrich¬ 
tungen innerhalb der senkrechten Kanäle kann die Schnelligkeit des Auf¬ 
triebes der warmen Luft reguliert werden. 

Im ganzen hat sich diese Art der Zuführung warmer Luft bewährt, 
besonders wenn ihr durch Verdunstung von Wasser innerhalb der Heizkam¬ 
mern genügend Wasserdampf beigemischt wird. Gewisse Nachteile scheinen 
jedoch schwer vermeidbar zu sein. So ist je nach der Windrichtung und 
Windstärke der Auftrieb der Luft häufig schwankend und gibt oft durch 
heftigen Zug in den Klassenzimmern zu Klagen Anlaß. Unvermeidlich ist 
trotz aller Vorsichtsmaßregeln die Mitgabe von Staub, wenn auch in fein 
verteiltem Zustand. Sorgfältig muß die Bedienung sein. Der Heizer hat für 
jede Klasse die Mischklappen genau im Auge zu behalten und besonders 
zu stellen. Soll warme Luft nicht mehr zugeführt werden, so ist zur Ver¬ 
meidung des Eindringens kalter Luft in die Zimmer der Auftrieb ganz ab¬ 
zustellen. Schwierig gestaltet sich die Heizung von Eck- und Parterrezim¬ 
mern. Hier genügt die Luftheizung allein ebensowenig wie bei größeren 
isoliert stehenden Gebäuden überhaupt. Man hat deshalb sehr bald mit der 
Luftheizung in Verbindung gebracht die Wasserheizung beziehungsweise 
die Dampfheizung. Bei der Wasserheizung (gewöhnlich Warmwasser¬ 
heizung) ist die gleiche Zahl von Heizquellen im Keller vorhanden wie bei 
der Luftheizung. Das in Kesseln erwärmte Wasser wird durch ein Röhren¬ 
system in sämtliche zu heizenden Räume der Schule geführt (in neueren 
Schulen auch in Turnhallen, Korridore und Abortanlagen). Es gelangt als¬ 
dann wieder an die Ausgangsstelle zurück und kann beliebig oft zirkulieren. 
Die Heizröhren werden in den Klassenzimmern zweckmäßig an der Fenster¬ 
wand entlang unterhalb der Fensterbrüstungen geführt. Schwer heizbare 
Räume erhalten entsprechend mehr Röhren. Bei der Dampfheizung (gewöhn¬ 
lich Niederdruckheizung) befindet sich die Heizquelie in einem einzigen 
größeren tief eingesenkten Kellerraum und besteht nach der Größe der 
Schule aus einem bis vier großen Dampfkesseln. Von da aus werden eines¬ 
teils die Frischluftkammern der Luftheizunganlage mit Heizschlangen ver¬ 
sorgt, andrerseits wird wie bei der Warmwasserheizung vermittelst eines 


Eneyclop. Jahrbücher. N. F. VIII. (XVn.) 


Digitized by 


29 

Google 



450 Schulgesundheitspflege« 

geschlossenen Röhrensystems der Dampf in alle zn heizenden Räume und 
wieder zurück geführt. Die Praxis gibt dieser Art von Heizung — kom¬ 
binierte Luft- und Niederdruckdampfheizung — den Vorzug. Sie 
versagt auch bei hohen Kältegraden nicht. Die Anheizung erfolgt in den 
frühesten Morgenstunden und kann in den mittleren Vormittagsstunden ab¬ 
gestellt werden, da der zirkulierende Dampf noch lange seine Wärme behält. 

Man hat demnach gelernt, große freistehende Schulgebäude durch die 
erwähnten Heizsysteme genügend mit Wärme zu versehen und das Problem 
einer ausreichenden Schulheizung kann deshalb als gelöst gelten. 

Ventilation . So vollkommen wie das Problem einer ausreichenden 
Heizung der Schule gelöst ist, so wenig kann man dasselbe von der 
Lüftung sagen. Während es sich bei der Heizung um die Erwärmung so¬ 
wohl des Luftraumes als auch besonders der festen Teile des Gebäudes 
handelt, die durch Wärmestrahlung ihre Wärme beständig an das Innere 
der Räume abgeben, ist die Aufgabe der Entlüftung eine ganz andere. Es 
kommt nicht nur darauf an, einen gegebenen Raum einmal mit guter Luft 
zu versehen und die verbrauchte Luft am Ende der gesamten Unterrichts¬ 
zeit wieder abzuführen, sondern die wesentlich schwierigere Aufgabe besteht 
darin, in jeder Unterrichtsstunde ein gleiches Maß einwandsfreier Luft 
zu gewährleisten. Während bei der Heizung die Entweichung der zuge¬ 
führten Wärme sorgfältig zu vermeiden ist, hat bei der Lüftung gerade im 
Gegenteil die Sorgfalt sich auf eine beständige Ableitung der verbrauchten 
Luft zu richten. Die Doppelaufgabe heißt also: während jeder Unterrichts¬ 
stunde die Luft in der gleichen Beschaffenheit dadurch zu erhalten, daß eine 
beständige Zuleitung frischer und Ableitung verbrauchter Luft stattfindet. 
Kompliziert wird dieses Problem weiterhin dadurch, daß gerade bei der Ab¬ 
leitung von Luft notgedrungen auch Wärme verloren geht, was wiederum 
nicht im Sinne einer sparsamen Schulverwaltung liegt. 

Betrachten wir nun im einzelnen, welche Faktoren auf die Zusammen¬ 
setzung der »Schulluft« von Einfluß sind, so sind es nach der Reihenfolge 
ihrer Bedeutung geordnet: die Ausatmungsluft des Schulkindes, seine Kleider 
und der Staub des Schulraumes. Das Schulkind selbst ist die Hauptquelle 
schlechter Luft Die Ausatmungsluft ist, gemischt mit den flüchtigen Be¬ 
standteilen des Inhaltes der Mundhöhle; dazu kommen die sonstigen körper¬ 
lichen Ausdünstungen. Je sozial niedriger die Volksklasse, um so stärker 
die Ausdünstungen. Der von Pettenkofer aufgestellte Indikator von 1%0 
Kohlensäure als zulässige obere Grenze in einem Raumteil Zimmerluft ist 
nur als ein Anzeichen schlechter Luft unter vielen anderen anzusehen. Man 
hat Berechnungen aufgestellt über die zulässige Schülerzahl auf dem Kubik¬ 
inhalt eines Schulzimmers und nimmt 4—5 Kubikmeter pro Kind als not¬ 
wendig an, ferner einen mindestens dreimaligen Luftwechsel pro Stunde. 
Diese Forderungen werden fast niemals erfüllt. Jedes Schulkind über die 
normale Zahl verschlechtert also die Schulluft und erschwert die Aufgabe 
der Lüftung. Einen Behälter und Konservator schlechter Gerüchte stellen 
die Anzüge und Überkleider unserer Schulkinder dar, wiederum diejenigen 
der unteren Volksklassen mehr wie der oberen. Deswegen muß die Entfer¬ 
nung der Überkleider aus den Schulklassen dringend gefordert werden. Bei 
mangelhafter Reinigung des Schulraumes wird durch den sich anhäufenden 
Staub und Schmutz natürlich die Luft weiterhin verschlechtert. 

Welche Mittel sind nun geeignet, eine Klasse gründlich zu entlüften? 
In erster Linie kommt die Fensterlüftung in Betracht, in zweiter die 
sogenannte künstliche Entlüftung. Schulen mit einfachen Fenstern 
pflegen besser gelüftet zu sein als die Schulen neuester Konstruktion mit 
Doppelfenstern. Der Grund ist klar. Durch die kleinen und kleinsten 
Ritzen und Fugen der Fenster namentlich bei älteren Schulgebäuden findet 


Digitized by 


Google 



Sch ulgesundheitspflege. 


451 


ein beständiger, kaum bemerkbarer Luftaustausch statt. Ohne Öffnung eines 
Fensters erneuert sich die Luft innerhalb der Klasse in einem Umfang, der 
häufig nichts zu wünschen übrig läßt. Unterstützt wird diese den Sinnen 
kaum merkliche Lüftung durch das öffnen der Fenster während der Unter¬ 
richtspausen. Vorschriften hierüber finden sich in allen Schulen, aber viel¬ 
fach werden sie nicht genügend befolgt. Es hängt viel von der Persönlich¬ 
keit des Direktors und des Lehrers ab, ob tatsächlich, auch bei kaltem 
Wetter die Lüftung während der Pausen in ergiebiger Weise stattfindet. 
Dasselbe gilt von den Anweisungen, die über ausgiebiges öffnen der Fenster 
am Schlüsse der gesamten Unterrichtszeit gegeben sfnd. Da dieses dem 
pflichtgemäßen Ermessen untergeordneter Organe (Heizer und Hausmann) 
überlassen ist und der Direktor nur selten eine Kontrolle ausüben kann, 
so ist eine ausreichende Gewähr nicht dafür vorhanden, daß wirklich gründ¬ 
lich gelüftet wird. Vielfach findet sich am anderen Morgen zu Beginn des 
Unterrichtes die verdorbene Luft des vergangenen Tages noch vor. 

Zur künstlichen Entlüftung dienen seit den siebziger Jahren ge¬ 
mauerte Kanäle, die in die Wände der Klassenräume eingebaut sind, vom 
Fußboden derselben beginnen, senkrecht in die Höhe steigen und unter Dach 
endigen. Innerhalb der Klassen besitzen sie zwei Öffnungen. Die obere unter¬ 
halb der Decke ist während des Sommers offen, die untere, etwas oberhalb 
des Fußbodens angebracht, während des Winters. Ältere Konstruktionen 
sehen nicht einen senkrechten Verlauf der Kanäle vor. Sie vereinigen die 
Abzugskanäle mehrerer Räume zu einem gemeinsamen Sammelkanal und 
erreichen auf kompliziertem Umwege oft über das Dach geführt das Freie. 
Man hat diese Anordnungen als unpraktisch verlassen und wendet jetzt nur 
noch die oben erwähnte Konstruktion an. Die Saugkraft dieser Kanäle ist 
nicht in Zweifel zu ziehen. Sie führen eine große Portion verbrauchter Luft 
nach oben ab, besonders im Winter, wo infolge der Temperaturdifferenz der 
Auftrieb sehr gut zu sein pflegt. Durch geeignete Klappen innerhalb der 
Kanäle kann der Auftrieb beschleunigt oder vermindert werden. Während 
somit konstruktiv die künstliche Entlüftung keine wesentliche Schwierig¬ 
keiten bietet, stellen sich ihr praktisch sehr erhebliche Hindernisse in den 
Weg. Warum finden sich in den meisten Schulklassen diese Kanäle so 
häufig außer Funktion gesetzt, sei es durch Cberdeckung der unteren Ven¬ 
tilationsöffnungen, sei es durch völligen Abschluß? Die Ursache liegt in der 
starken Zugwirkung der Kanäle. Sie verursachen dadurch, daß sich an ihren 
Öffnungen Luftwirbel und kühle Luftströmungen bilden, unangenehmen Zug 
und belästigen die in ihrer Nähe befindlichen Kinder und Lehrer. Vielfach 
wird auch die Bedeutung der Kanäle verkannt, man hält sie für Luft zu¬ 
führende Gänge, während sie doch in Wahrheit die Luft absaugen. Tatsäch¬ 
lich führen sie aber auch in vereinzelten Fällen den Klassenraum Luft zu. 
Das geschieht zum Beispiel dann, wenn in einem Nebenraume eines oder 
mehrere Fenster offen stehen. Es entsteht dann eine lebhafte Saugwirkung 
der betreffenden Abluftkanäle, die Luft wird mit großer Gewalt durch den 
Kanal in den Dachraum getrieben und springt daselbst in die nachbarliche 
Endöffnung eines anderen Abluftkanales um. In diesem fährt sie alsdann 
in die Nebenklasse herab und wird mit lebhaftem Zug in die Klasse hinein¬ 
geblasen. Solche Fälle sind zwar nicht die Regel, aber sie kommen mit¬ 
unter vor. Was die Belästigung durch Luftzug betrifft, so sind in dieser 
Beziehung die Lehrer außerordentlich verschieden. Ein Luftzug, der dem 
einen gar nichts anhabt, bringt den andern zur Verzweiflung. Wieder andere 
Lehrer unterliegen vollständig der Suggestion und empfinden Zug bereits 
dann, wenn nach Lage des Falles ein solcher überhaupt ausgeschlossen ist. 
Wie dem auch sei, man hat selbst bei der besten Konstruktion dieser Ab¬ 
luftkanäle und der sorgsamsten Bedienung beziehungsweise Klappenstellung 


29* 


Digitized by 


Google 



452 


Schulgesundheitspflege. 


immer and immer wieder mit den geschilderten Schwierigkeiten za rechnen 
and wird schon aas diesem Grande den Ablaftkanälen nicht diejenigen Wir¬ 
kungen zuschreiben dürfen, die rein konstruktiv betrachtet ihnen zagesprochen 
werden müssen. 

Erschwert wird die Lüftang bei den neueren Schalbauten außerordent¬ 
lich durch die Einrichtung der Doppelfenster. Selbst in Schulen, deren Doppel¬ 
fenster in ihren oberen Teilen aasreichend mit sogenannten Klappvorrich* 
tungen versehen sind, wodurch die natürliche Lüftung wesentlich erleichtert 
wird, pflegt die Klassenluft erheblich schlechter za sein als in Schulen mit 
einfachen Fenstern. 

Es mag aus der vorangegangenen Schilderung die Schwierigkeit einer 
ausgiebigen Entlüftung unserer Schulen ersehen werden. Noch weit sind 
wir von der Lösung dieses Problems entfernt. Zusammenwirken muß die 
Kenntnis der Ventilationseinrichtungen seitens der Lehrkr&fte, die strenge 
Befolgung ausreichender Lüftungsvorschriften und der gute Wille aller Be¬ 
teiligten die Lüftung ausgiebig zu gestalten. Schließlich, und das ist ein 
Zukunftswunsch, sollte in jeder Klasse mit Doppelfenstern eine Vorrichtung 
bestehen, vermittelst deren eines oder mehrere Klappfenster auch während 
des Unterrichtes, wenn auch nur spaltweise, offen stehen und auf diese 
Weise für Luftersatz sorgen. Ein mit Doppelfenster versehenes Klassen¬ 
zimmer, das während des Unterrichtes lediglich auf die Entlüftungskanäle 
angewiesen ist, wird niemals gut entlüftet. Die Luft wird am Ende des 
Unterrichtes immer schlechter sein wie am Anfang. Durch das vorgeschla¬ 
gene Offenstehen der Klappfenster würde ein weiterer wesentlicher Fort¬ 
schritt in der Lüftungsfrage zu verzeichnen sein. 

Was die hie und da vorgeschlagene, in Deutschland meines Wissens 
nur vereinzelt eingeführte Ableitung verbrauchter Luft durch motorische 
Kraft anbetrifft, so wird auch sie mit den Gefahren einer unangenehmen 
Zugwirkung zu rechnen haben, um so mehr als damit die gleichzeitige me¬ 
chanische Zuleitung frischer Luft in dem nämlichen Umfang wie die Ab¬ 
führung verbrauchter verbunden sein muß. Im übrigen werden sich einem 
solchen künstlichen Entlüftungssystem die außerordentlich hohen Kosten 
hindernd in den Weg stellen. 

Reinigung der Schulräume. Von Räumen, die tagtäglich von Hunderten 
mehr oder weniger schmutzigen Stiefeln betreten werden, müssen wir zum 
mindesten die gleiche Sauberkeit verlangen wie für die eigene Wohnung, 
mit anderen Worten, die täglich benutzten Schulräume müssen auch täglich 
gesäubert werden. Dieser Forderung wird bis jetzt nur vereinzelt entspro¬ 
chen. Abgesehen von den hohen Kosten einer täglichen Reinigung, mangelt 
es bei großen Schulkörpern auch an Zeit, die Reinigung täglich vorzunehmen. 
Man begnügt sich deswegen mit einer Säuberung zweimal, höchstens drei¬ 
mal wöchentlich. Eine wesentliche Verringerung des Schulstaubes ist durch 
die staubbindenden Öle erzielt worden. Wo dieselben regelmäßig angewendet 
werden, ist ein bedeutender Fortschritt zu verzeichnen. Insbesondere bat 
die Klage der Lehrer über staubige Luft fast ganz aufgehört. Trotz dieses 
Fortschrittes muß jedoch nach wie vor an der Forderung der täglichen 
Reinigung der Schulklassen festgehalten werden. 

Abortanlagen. Schon früh haben sich Regierungen und Verwaltung mit 
eingehenden Vorschriften über Anlage und Einrichtung von Abortgebäuden 
bei Schulen befaßt. Früher fand man keine Bedenken, die Aborte in die 
Schulgebäude und in die einzelnen Stockwerke selbst zu verlegen, was den 
Vorteil schneller Benutzung für sich hat. Seit den siebziger Jahren baut 
man die Aborte außerhalb der Schulgebäude und vermeidet dadurch das 
Eindringen lästiger Gerüche. Um bei schlechtem Wetter den Zugang zu er¬ 
leichtern, bringt man ab und zu die Aborte durch offene oder gedeckte 


Digitized by t^ooQle 



Schulgesundheitspflege. 


453 


Gänge wieder in Verbindung mit dem Hauptgebäude. Neuerdings hat man 
durch Wasserspülung, Ölpissoirs gelernt, die Abortgerüche möglichst auszu¬ 
schalten und verlegt die Anlage wiederum in die Gebäude selbst, versieht 
sie mit Vorräumen und stattet sie reichlich mit Luft und Licht aus. Dieses 
letztere ist ein Haupterfordernis. Wird mit Luft und Licht gespart, so rächt 
sich dies augenblicklich durch verminderte Sauberkeit. Gerade bei den Klo- 
settanlagen ist es notwendig, Licht bis in den kleinsten Winkel zu werfen, 
um die vielfachen Verschmutzungen sofort zu erkennen und zu beseitigen. 
Wichtig ist es ferner, diese Anlagen heizbar zu gestalten. Während acht 
Monaten haben wir rauhes Wetter, das zu Erkältungen reichlich Anlaß gibt. 
Während des Winters pflegen aber die Klosetts außerordentlich auszukühlen. 
Es empfiehlt sich deswegen, da, wo Zentralheizung besteht, die Aborte an 
dieselbe anzuschließen. Ofen sind unpraktisch, da sie aus Sparsamkeit zu 
selten geheizt werden und ihre Bedienung umständlich ist. Für die Klosetts 
selbst ist Wasserspülung, für die Pissoirs reichliche Ölung das zweckmäßigste. 

Turnhallen. Seit den siebziger Jahren wird auf die Bereitstellung von 
Turnhallen große Sorgfalt verwendet. Man turnt außerhalb der Schule, selten 
in gemieteten Räumen, meist in eigenen Hallen. Größere Schulen mit 700 
und mehr Kindern erfordern zwei Hallen, da sonst die Reinlichhaltung nicht 
möglich ist. Turnhallen müssen natürlich sehr hell und gut durchlüftbar 
konstruiert sein. Auf Erneuerung der Luft muß schon aus dem Grund ge¬ 
halten werden, weil bei der rascheren Atmung während des Turnens die 
schlechte Luft besonders nachteilig ist. Tägliche Fußbodenreinigung ist ein 
unbedingtes Erfordernis. Die Behandlung des Fußbodens mit staubbindenden 
ölen ist wegen der Glätte weniger zu empfehlen. Die Fenster müssen mit 
leicht zu handhabenden Klappvorrichtungen versehen sein. Ausreichende 
Heizung durch Öfen oder Zentralheizung ist erforderlich. Zur Sauberhaltung 
gehört auch, daß die Kinder mit Turnschuhen versehen sind, die in einem 
geeigneten Vorraum aufbewahrt werden können. Das täglich gebrauchte 
Schuhwerk sollte nicht in die Turnhallen kommen. 


b) Erkrankungen der Lehrer und Lehrerinnen. 


Der Lehrberuf begünstigt bei vorhandener Anlage Erkran¬ 
kungen des Nervensystems und der Atmungsorgane. Beim Nerven¬ 
system sind es zumeist die leichteren und mittelschweren Formen der Neur¬ 
asthenie, die häufige Versäumnisse veranlassen. Ursache ist offenbar die 
Konzentration verschiedener psychischer Tätigkeiten, die speziell der Lehr¬ 
beruf erfordert: angespannte Aufmerksamkeit während des Unterrichtes, 
Selbstzucht gegenüber den Unbotmäßigkeiten, Nachsicht gegenüber den 
Schwachen; dazu kommt die mit dem Lehren an sich verbundene körper¬ 
liche und geistige Anstrengung sowie, was nicht zu unterschätzen, das in 
hohem Maß erforderte Verantwortlichkeitsgefühl. Der hierdurch erzeugten 
Abspannung des Nervensystems unterliegt mancher disponierte Lehrer trotz 
der dem Lehrberuf so reichlich zuerteilten freien Zeit der Sonntage und der 
Ferienzeit. Bei den Atmungsorganen ist es nicht die Tuberkulose, die den 
Lehrerstand besonders befällt, sondern die mannigfachen Formen katar¬ 
rhalischer Affektionen der oberen Luftwege: der Nase, des Rachens, 
des Kehlkopfes, der Luftröhre und ihrer Äste. Mit dem andauernden Spre¬ 
chen ist stets eine verstärkte Atmung und damit ein mechanischer Reiz 
auf die beim Sprechen tätigen Organe gegeben, der sich vermehrt, wenn es 
sich um staubige und schlecht gelüftete Räume handelt. Auch hier sind die 
Disponierten im Nachteil. 

Abhilfe ist möglich zunächst durch eine strenge ärztliche Auswahl 
beim Eintritt in die Vorbereitungsanstalten. Neben der körperlichen 


Digitized by 


Google 



454 


Schulgesundheitspflege. 


Untersuchung hat seitens der Seminardirektionen eine Prüfung der heredi¬ 
tären Verhältnisse stattzufinden. Letztere wird natürlich beim Mangel der 
erforderlichen Unterlagen häufig versagen. Gs werden deshalb auch in Zu¬ 
kunft bei der Aufnahme völlig gesunde Bewerber späterhin an ihrem Ner¬ 
vensystem und den Atmungsorganen Schaden leiden. Peinlich und streng 
müssen deshalb bei der Aufnahme in das Seminar die Schwächlichen und 
Mittelkräftigen ausgeschieden und nur die körperlich nach jeder Richtung 
Einwandfreien zugelassen werden. Trotz dieser Vorsichtsmaßregeln wird man 
jedoch auch in Zukunft mit einem gewissen Prozentsatz zu Krankheiten 
Veranlagter rechnen müssen. Bine körperliche Elite unter den Lehrern zq 
schaffen wird ebenso unmöglich sein wie bei anderen Berufsständen. 

Um so mehr ist es geboten, Lebensweise und Unterricht so zu ge¬ 
stalten, daß die erwähnten Erkrankungen möglichst ausgeschaltet werden. 
Hierzu gehört vor allen Dingen methodische körperliche Abhärtung 
in jungen Jahren. Seminaristen und Seminaristinnen müssen schon wäh¬ 
rend ihrer Lehrzeit viel mehr als bisher ihren Körper pflegen. Neben Turn¬ 
unterricht und Jugendspielen muß vor allen Dingen das Wandern gepflegt 
werden. Dem natürlichen Trieb der Jugend, sich körperlich zu betätigen, 
kommt das Wandern am meisten entgegen. Alle Sinne werden entwickelt, 
gestärkt, der Sinn für Schönheit der Natur geweckt, alle edleren Eigen¬ 
schaften erfahren bei geeigneter Aufsicht eine Förderung. Ein mit Umsicht 
ausgeführter Wandertag wirkt auf die ganze folgende Schulwoche belebend 
ein. Ferner dürfen die Nachmittage in den Seminarien nicht zu sehr be¬ 
lastet sein. Der heranwachsende Körper verlangt körperliche Übung und 
erschlafft bei übermäßiger geistiger Kost. Lieber ein und zwei Jahre mehr 
Seminar, als bleichsüchtige, brillentragende Prüflinge! 

Hat der Lehrer seinen Beruf angetreten, so sei er Zeit seiner Lehr¬ 
tätigkeit darauf bedacht, seinen Körper weiter zu pflegen. Sonntage und 
Ferienzeit bieten ihm dafür ausreichend Zeit Gelegenheit Körper und da¬ 
mit den Geist frisch zu erhalten, gibt es im deutschen Vaterland überall. 
Mit sehr geringen Mitteln und ohne sich weit von der Scholle zu entfernen, 
bietet sich dem für Natur Empfänglichen die Möglichkeit sich von den An¬ 
strengungen des Semesters zu erholen und neue Kräfte für die kommende 
Arbeit zu sammeln. Kleine Wanderungen in der Nähe des Heimatsorte 9 ge¬ 
nügen für die ersten Jahre fast stets. Nur gewöhne man sich, um sich zu 
schauen, stehen zu bleiben, nachzudenken und das Gesehene zu verarbeiten. 
Ohne körperliche Anstrengung wird sich in kurzer Zeit körperliche und 
seelische Erholung einstellen. Hat man einigermaßen die Kunst und die 
Technik des Wanderns erfaßt — ein jeder muß sie selbst erlernen —, dann 
wird man um so größeren Genuß an größeren Streifzügen haben. Wer aber 
ohne jede sportliche Vorbildung bei den ersten Ferien mit einer großen 
körperlichen Anstrengung einsetzt, in acht Tagen ein schwieriges Hoch- 
gebirgsgelände bis zur völligen körperlichen Erschöpfung »abroacht« oder 
sich in mehrtägiger forcierter Radtour sein Herz kaput arbeitet, wird 
zum Schluß der Reise ein körperliches und psychisches Defizit ver¬ 
zeichnen und nicht die gewünschte Erholung, sondern das Gegenteil ge¬ 
funden haben. 


Von der größten Wichtigkeit ist natürlich die peinliche Sauber¬ 
haltung der Unterrichtsräume, insbesondere Fernhaltung von 
Staub und verdorbener Luft. An dieser Stelle sei nur soviel gesagt, 
daß der Staub seit Einführung der staubbindenden Fußbodenöle erheblich 
abgenommen hat. Gleichwohl muß die Forderung auf tägliche Säuberung 
der Fußböden aufrecht erhalten werden. Das Problem dagegen, die Luft 
während des Unterrichtes gleichmäßig rein zu erhalten, ist bis jetzt trotz 


Digitized by 


Google 



Schulgesundheitspflege. 


455 


aller Fortschritte der Technik noch nicht gelöst. Man wird, im Winter we¬ 
nigstens, bei geschlossenen Fenstern stets mit einer Verschlechterung der 
Luft während des Unterrichts zu rechnen haben. Auf diese eminent wichtige 
Frage muß deshalb dauernd die Aufmerksamkeit aller Beteiligten ge¬ 
richtet sein. (Vgl. auch »Ventilation«.) 

Auch die Einführung des ungeteilten Vormittagsunterrichtes 
kann nicht anders als vorteilhaft auf die Gesundheit der Lehrer sein. Schon 
die Aussicht, den Nachmittag nicht in der Schule zu verbringen, wirkt 
seelisch auf den Lehrer und veranlaßt ihn zu gesteigerter Leistung. Ferner 
wird jede Stunde, die er nicht in schlecht ventilierten Klassen zu verbrin¬ 
gen hat, fördernd auf seine Gesundheit einwirken und schließlich dient es 
wesentlich zur Sanierung des Schulgebäudes selbst, wenn seine Leerstellung 
und damit bessere Durchlüftung während des Nachmittags möglich wird. 
Der Unterricht in völlig auBgelütyeten Räumen wird zweifellos für den Lehrer 
gesundheitlich von dem allergrößten Nutzen sein. 

Die Behandlung der genannten Krankheiten hat nach allgemeinen 
medizinischen Grundsätzen zu erfolgen. Die Halsaffektionen werden je nach 
Lage des Falles örtlich, in Sanatorien, in der Sommerfrische, im Gebirge, 
an der See behandelt werden, die Neurasthenie wird in den meisten Fällen 
durch längeres Fernhaiten vom Unterricht, derweilen in staubreiner, wald¬ 
reicher Gegend und entsprechender psychischer Behandlung günstig beein¬ 
flußt werden können. 


Was die Lehrerinnen, besonders der Volksschule, betrifft, so 
haben neuere statistische Erhebungen ergeben, daß bei sonst gleichen Ver¬ 
hältnissen sie häufiger erkranken wie die Lehrer und auch länger 
krank bleiben. Von sämtlichen Lehrkräften einer Schule bleiben etwa die 
Hälfte während des Jahres gesund, das heißt sie versäumen den Unterricht 
nicht, von den übrigen fehlt der bei weitem größte Teil 1—3 Tage und der 
Rest verteilt sich auf die länger dauerndeh Krankheiten in der Weise, daß 
bei diesen die Lehrerinnen das größere Krankheitsprozent stellen. Bei den 
kurz dauernden Krankheiten scheinen Lehrerin und Lehrer ungefähr in 
gleichem Umfang beteiligt. Man muß aus dieser vielfach beobachteten Er¬ 
scheinung den Schluß ziehen, daß die Lehrerin den Anstrengungen ihres Be¬ 
rufes auf die Dauer nicht in dem Maße gewachsen ist wie ihr männlicher 
Kollege, und daß, um sie leistungsfähig zu erhalten, deswegen eine Vermin¬ 
derung der wöchentlichen Stundenzahl angezeigt ist. Die Verhältnisse mögen 
örtlich sehr verschieden sein. In den großen Städten zum Beispiel wird die 
Lehrerin wahrscheinlich wirtschaftlich mehr zu kämpfen haben und deswegen 
leichter erkranken. Auch wird sich bei besserer Bezahlung ihr Gesundheits¬ 
zustand heben. Dasselbe günstige Resultat wird natürlich von einer zweck¬ 
mäßigen, auf die körperliche Ausbildung der Mädchen größeres Gewicht als 
bisher legenden Seminarbildung und vor allen Dingen eine Verlängerung des 
Seminarunterrichtes von 3 auf 4 Jahre haben, aber andrerseits darf nicht 
unterschätzt werden, daß die Lehrerin mit zwei Gegnern zu tun hat, die 
dem Lehrer fehlen: die Jahre der Bleichsucht und Blutarmut in der Ent¬ 
wicklungszeit und die nicht minder gefährliche Zeit des Klimakteriums. 
Die Lehrerin nimmt es außerordentlich ernst und gewissenhaft mit ihrem 
Beruf und setzt ihren ganzen Ehrgeiz daran, es auch körperlich den Lehrern 
gleich zu tun, aber gerade dieser Mangel an Schonung zu richtiger Zeit 
bringt es wahrscheinlich mit sich, daß sich mit Zunahme des Dienstalters 
die körperliche Kraft schneller erschöpft wie beim Mann und die Lehrerin 
früher aus dem Dienst ausscheiden muß. Um so mehr muß deshalb bei der 
Lehrerin die Berücksichtigung der oben zur Verhütung der erwähnten Krank¬ 
heiten empfohlenen Maßregeln gefordert werden. Thiersch. 


Digitized by 


Google 



456 


Sehne nnaht* 


Sehnennalit* Für die Nahtvereinigung durchtrennter Sehnen 
stehen uns bekanntlich verschiedene Methoden zur Verfügung. Als Naht- 
material bevorzuge ich feine aseptische Seide vor dem Katgut, weil der 
Seidenfaden durch Kochen sicher sterilisiert werden kann und in feinster 
Stärke zu haben ist. 

In zweckmäßiger Weise macht man die Sehnennaht so, daß man die 
Methoden von Wölfler, Witzel und Friedrich kombiniert, indem man die 
Sehnenstümpfe zunächst quer durchsticht und iwar entweder einfach oder 


Fig. 94. 


Fig. 95. 


Fig. 96. 



Sehnennaht 
nach Wölfler. 



Sehnennaht 

nach Sultan. 



b 

Sehnennaht nach Trnka. 


C 


indem man nach WöLFLER;mehrmals ein- und aussticht (Fig. 94); diese beiden 
Fadenenden benutzt man zunächst als Halteschlingen und vereinigt dann die 
beiden Sehnenstümpfe entweder durch eine weitgreifende Knopfnaht durch 
die Mitte der beiden Sehnenenden (Friedrich) oder durch zwei seitliche 
Knopfnähte und schließlich wird die zuerst angelegte Quernaht (die Halte¬ 
schlinge) geknüpft. Bei stärkerer Spannung kann man auch noch die Sehnen¬ 
scheide durch Nähte zusammenfügen. Rotter empfahl für solche Fälle seine 
randständige Sehnennaht, d. h. die Sehnenstümpfe noch seitlich durch einige 
Knopfnähte an das umgebende Bindegewebe anzunähen. 

Fig. 97. 




SrLTAN näht nach Fig. 95, die Fadenschlinge a wird mit o l nnd die 
Fadenschlinge b mit b l zusammengeknotet. Trnka durchsticht die Sehnen¬ 
enden zunächst quer, und zwar doppelt (Fig. 96 a) und fügt dann die Sehnen¬ 
enden in der Weise zusammen, daß er seitlich bei e eine Schlinge bildet 
und die Fadenenden bei t zusammenknotet i^Fig. 96 6), oder er verfährt nach 
Fig. 96 r, d. h. Schlingenbildung bei (j und Zusammenknüpfen der Fäden bei h . 
Stter durchsticht die Sehnenstümpfe nach Fig. 97 a und bindet sie dann nach 
Fig. 97 />, r oder d zusammen. Sikvers und Wilms nähen nach Fig. 98. 


Digitized by 


Google 




Sehnennaht. 


457 


Das Auffinden des zentralen Sehnenstumpfes ist zuweilen in¬ 
folge seiner Retraktion erschwert. Oft gelingt es, den Sehnenstampf mit einem 
feinen Häkchen hervorzuziehen, besonders wenn man den betreffenden 
Muskelbauch durch Druck oder an den Extremitäten durch elastische Ein¬ 
wicklung vom Zentrum nach der Peripherie hin nach vorn treibt. Nach 
Bedarf spaltet man die Sehnenscheide seitlich etwas, um den zentralen 
Sehnenstumpf aufzusuchen. Bei veralteten Sehnendurchtrennungen hat sich 
das zentrale Sehnenende oft weit zurückgezogen und ist an der abnormen 
Stelle mit der Sehnenscheide verwachsen. In solchen Fällen macht man 
eventuell eine Inzision oberhalb der Wunde respektive der Narbe und nach 
seitlicher Eröffnung der Sehnenscheide und nach Lösung des etwa ver¬ 
wachsenen zentralen Sehnenstumpfes schiebt man letzteren mit einer Sonde 
oder mit einer halbgekrümmten gestielten Nadel nach dem peripheren Sehnen¬ 
stumpf hin vor. Auch hier eröffnet man die Sehnenscheide seitlich, damit 
die Sehne von der Sehnenscheide bedeckt bleibt und nicht mit der Umgebung 
verwächst. Sollte die direkte Vernähung 

der Sehnenstümpfe, zum Beispiel bei F1 &- "• Fig. 100. 

Sehnendefekten, nicht möglich sein, 

dann bildet man aus einem der beiden 

Sehnenstümpfe nach Fig. 99 ein gestieltes 

Läppchen, schlägt es in den Defekt um 

und vernäht es mit dem peripheren Sehnen- *1 

stumpf. Man kann bei größeren Defekten 
auch aus jedem Sehnenstumpf je ein gestieltes 


Fig. 98. 



Sehnennaht nach Sif.veks und Wilms. 




U 




Tendoplastik bei Tendoplastik 

Sehnendefekten. nach Trnka. 


Läppchen bilden. Trnka empfiehlt außer der Bildung eines gestielten Läppchens 
nach Fig. 100 L bei der Tendoplastik noch eine Nabtschlinge nach Fig. 100 N an¬ 
zulegen. Man kann auch bei Sebnendefekten aseptische Seiden- oder Katgutfäden 
in den Defekt implantieren, es bildet sich dann um die unter prima intentio 
eingeheilten Fäden neues Sehnengewebe mit vollständiger Wiederherstellung 
der Funktion (Gluck, Monod, Kümmell, G. Lange, Menci&re, Tillmanns). 
Menci&re hat bei Hunden die ganze Achillessehne bis auf einen kleinen 
Stumpf am Fersenbein reseziert, zwischen dem Muskel und dem Sehnenstumpf 
wurde eine Seidenfadenschlinge angelegt, nach 6 Monaten war die ganze 
Achillessehne neugebildet, starker als die am anderen Bein. Auch beim 
Menschen hat man Regeneration von Sehnendefekten mit voller Wiederher¬ 
stellung der Funktion beobachtet, wenn man die Sehnenstümpfe zum Beispiel 
durch zwei Seidennahtschlingen nur einander genähert hat. Wie bei Nerven- 
defekten (s. Nervennaht), so hat man auch bei Sehnendefekten empfohlen, 
die Sehnenstümpfe durch resorbierbare entkalkte Knochenröhrchen, Ma¬ 
gnesium- oder Gelatineröhrchen oder durch gehärtete aseptische Arterien- 


Digitized by 


Google 



458 


Sehnennaht. 


stücke in Verbindung zu bringen. Zuweilen verwachsen die Sehnenenden 
bei nicht genähten Sehnendurchtrennungen mit der Haut und die Haut kann 
dann so beweglich, so dehnbar werden, daß sie den Bewegungen und der 
Zugwirkung der Sehne nachgibt. 

Eine praktisch sehr wichtige Behandlungsmethode von Sehnendefekten, 
von Muskellähmungen, von Kontrakturen, von angeborenen und erworbenen 
Deformitäten der verschiedensten Art ist die Sehnenverpflanznng oder 
Sehnenanastomose (Sehnentransplantation), ferner die Verlänge¬ 
rung verkürzter Sehnen und umgekehrt die Verkürzuung zu langer 
Sehnen. 

Die Sehnenverpflanzung oder Sehnenanastomose ist schon 1770 
von Missa, 1869 von Tillaux und 1876 von Düplay vorgenommen worden, 
sie ist aber erst in neuester Zeit besonders durch Nicoladoni, Drobnik, 
Vulpius , Hoffa, F. Lange, Codivilla und andere immern mehr ausgebildet 
worden. Durch die Sehnenverpflanzung eines funktionstüchtigen Muskels, 
des Kraftspenders, mit der Sehne eines gelähmten Muskels können wir 
Lähmungen sehr gut beseitigen. Vor jeder Sehnenverpflanzung muß ein ge¬ 
nauer Operationsplan entworfen werden, bei Lähmungen wird man durch 
eine sorgfältige elektrische Untersuchung und durch Prüfung der aktiven 
Beweglichkeit feststellen, welche Muskeln gelähmt und welche funktions¬ 
tüchtig sind. Oft hat man bei angeborenen und erworbenen Deformitäten 
mit Unrecht Sehnenverpflanzungen vorgenommen, wo eine andere Behand¬ 
lungsmethode zweckmäßiger gewesen wäre. Vor diesem irrationellen Mi߬ 
brauch der Sehnentransplantation auf Kosten anderer bewährter Behand¬ 
lungsmethoden muß nachdrücklich gewarnt werden. 

Ich mache die Sehnenanastomose stets mit aseptischer Seide. In Fig. 101 
bis 111 sind die verschiedenen Methoden der Sehnenverpflanzung angegeben, 
wie sie in neuester Zeit von Vulpius genauer beschrieben worden sind. Wir 
unterscheiden die totale Funktionsübertragung (totale Anastomose) 
und die partielle Funktionsübertragung oder Funktionsheilung. 

Bei der totalen Funktionsübertragung wird die Sehne des gesunden 
Kraftspenders durchschnitten, man wird sie nur in seltenen Fällen anwen¬ 
den, wo die Funktion des gesunden Muskels entbehrlich ist Die verschie¬ 
denen Methoden der totalen Anastomose sind in Fig. 101—106 abgebildet. In 
sämtlichen Fig. 101—111 ist der Kraftspender (der funktionsfähige Muskel) 
schwarz, der gelähmte Muskel hell gezeichnet. Das zentrale Sehnenende des 
durchschnittenen Kraftspenders wird in Fig. 101 mit dem peripheren Sehnen¬ 
stumpf des ebenfalls durchschnittenen gelähmten Muskels vereinigt. Um 
den peripheren gesunden Sehnenstumpf wieder in Tätigkeit zu setzen, kann 
man ihn mit einer gesunden Nachbarsehne vereinigen (Fig. 102 b) oder auch mit 
dem gelähmten peripheren Sehnenstumpf (Fig. 103) oder mit dem zentralen 
Sehnenstumpf des zum Beispiel nur partiell gelähmten Muskels (Fig. 104). 
ln Fig. 105 und 106 findet die Sehnenanastomose des durchschnittenen Kraft¬ 
spenders mit der nicht durchtrennten gelähmten Sehne statt. 

Besser ist die viel häufiger ausgeführte Sehnenverpflanzung mit Funk¬ 
tionsteilung. Hier wird der kraftspend ende Muskel respektive seine Sehne 
nicht durchschnitten, der periphere Stumpf des kranken durchschnittenen 
Muskels wird entweder nach Fig. 107 oder Fig. 108 an den Kraftspender an¬ 
genäht, oder man verfährt nach Fig. 109, 110 oder 111, das heißt auch der 
kranke Muskel wird nicht durchschnitten, es wird aus letzterem ein Sehnen¬ 
zipfel abgetrennt (Fig. 109) oder aus beiden Muskeln (Fig. 110) oder nur aus 
dem Kraftspender (Fig. 111). Die Richtung, in welcher die Sehnen verlagert 
werden, ist teils absteigend, teils aufsteigend. Die totale Funktionsüber¬ 
tragung ist zum Beispiel absteigend ausgeführt in Fig. 106, beiderseitig in 
Fig. 101, 104 u. 105, die Funktionsteilung ist absteigend in Fig. 111, auf- 


Digitized by 


Google 



Sehnennaht. 


459 


steigend in Fig. 107 n. 109,5beiderseitig in Fig. 108 u. 110. Mit der Sehnen- 
Verpflanzung verbinden wir oft die Sehnenverkürzung oder Sehnenver¬ 
längerung oder beide zugleich, eventuell auch ohne Sehnenanastomose bei 


Fig. 101. Fig.JlOS. Fig. 108. 



Fig. 104. Fig. 105. Fig. 100* Fig. 107. 



Fig. 108. 


Fig. 109. 


Fig. 110. 


Fig. 111. 



Die verschiedenen Methoden der Sehnenverpflanzung. Der kraftspendende (gesunde) Muskel 
ist schwarz, der kraftempfangende (kranke) Muskel hell gezeichnet; Fig. 101—106 zeigen die 
verschiedenen Methoden der totalen Funktionsübertragung (totalen Anastomose) mit Dnrch- 
trennung des Kraftspenders. Fig. 107—111 zeigen die verschiedenen Methoden der Funktions- 
teilnng des Kraftspenders ohne Dnrchtrennung desselben, so daß der Kraftspender erhalten 
bleibt nnd er außer seiner Funktion noch die des gelähmten Muskels übernimmt. 


verschiedenen Deformitäten. Die SehnenverkGrzung geschieht durch 
Faltenbildung, durch Raffung (Raffnaht) nach F. Lange (Fig. 112a und b) 
oder durch Übereinandernähen der beiden Sehnenstömpfe nach Durchtren- 


Digitized by 


Google 



460 


Sehnennaht. 


nung der Sehne. In Fig. 112 a ist die Naht in der Sehne angelegt, in Fig. 112 b 
ist die Sehne durch Anziehen (Raffung) der Naht verkürzt. Solche Sehnen¬ 
verkürzungen sind oft notwendig, um die vorhandene Deformität über¬ 
korrigieren zu können und eine gute Funktion zu sichern, respektive eine 
vorzeitige Dehnung der Sehnen zu verhüten. Eine Verlängerung zu kurzer 
Sehnen macht man entweder durch mehrfache Einkerbungen an den 
beiden Rändern der bloßgelegten Sehne (Fig. 113 a, a l die durch Einkerbungen 
verlängerte Sehne) oder durch subkutane Einkerbungen nach Bayer (Fig. 113 b), 
ferner nach Sporon (Fig. 114), indem man der Einkerbung an den beiden Rändern 
der Sehne noch je einen Längsschnitt nach unten und oben hinzufügt, ohne 
daß die Sehne vollkommen durchtrennt wird. Bayer macht eine Z-förmige 
Durchtrennung der Sehne (Fig. 115) und näht die Sehnenstümpfe nach Fig. 116 
zusammen, v. Hacker empfiehlt statt des zweistufigen Verlängerungsschnittes 
in Fig. 115 einen dreistufigen mit nachfolgender Naht analog von Fig. 116. 

In geeigneten Fällen verändern wir die Ansatzstelle der Sehnen 
am Knochen nach F. Lange. Bei dieser periostalen Sehnenverpflanzung 
wird entweder die ganze Sehne oder nur ein Sehnenenzipfel des kraftspen- 
denden Muskels mit dem Periost vernäht. Ist die kraftspendende Sehne oder 
der Sehnenzipfel zu kurz oder zu dünn, 
dann kann man nach F. Lange ein strick- Fig. ns. 

nadeldickes seidenes Sehnenstück aus t i i . » 

einer 4—8fachen Lage stärkerer Seidenfäden I I 11 

einpflanzen, indem man das eine Ende der I II 



SehnenverkUrzung durch Raffaaht nach 
F. Lange; a in der Sehne angelegte Naht¬ 
schlinge, b Raffung (Verkürzung) der Sehne 
durch Anziehen der Nahtschlinge. 


Sehnenverlängernng durch Einkerbun¬ 
gen an den beiden Sehnenrändern : a an 
der btofigelegten Sehne, b subkutan 
nach Bayer, a l Verlängerung der Sehne 
nach den Einkerbungen. 


Seidenfäden durch Raffnaht (Fig. 112) mit der Sehne vernäht, das andere Ende 
unter starker Spannung mit dem Periost. Ferner kann man auf die Abspaltung 
eines Sehnenzipfels vom kraftspendenden Muskel überhaupt verzichten, man 
befestigt das eine Ende einer seidenen Sehne an eine gesunde Sehne mittelst 
Raffnaht und das andere Ende periostal an einem freigewählten Insertiona- 
punkte (Fig. 117). Um die Seidenfäden bildet sich bei reaktionsloser Heilung 
echtes Sehnengewebe, Lange empfiehlt für seine seidenen Sehnen Sublimat¬ 
paraffinseide, das heißt die Seide wird 1 / l Stunde lang in Sublimatlösung 
1 : 1000 gekocht, dann nach dem Trocknen vor der Operation eine 
Stunde lang in Paraffin mit einem Schmelzpunkt von 65° im Wasserbade 
gekocht. 

Die Dauererfolge nach der Sehnenverpflanzung respektive nach der 
Sehnenanastomose lassen oft zu wünschen übrig, ja im allgemeinen hat die 
Operation den gehegten Erwartungen nicht entsprochen. Wichtig für einen 
guten Erfolg sind eine richtige Vorbehandlung, ein bestimmter Operations¬ 
plan, eine gute Technik und vor allem eine sachgemäße Nachbehandlung. 

Quer durchtrennte Muskeln vereinigt man ebenfalls durch Knopfnähte 
mit Katgut oder Seide. Muskeldefekte behandelt man ähnlich wie Sehnen- 


Digitized by 


Google 



Sehnennaht. — Sekale. 


461 


defekte durch gestielte Muskellappen oder durch Implantation von Katgut- 
oder Seidenfäden. Die Implantation von tierischer Muskelsubstanz in Muskel¬ 
defekte hat sich nicht bewährt, ein solches MuskelstGck verfällt nach Magnus, 

Rud. Volkmann, M. Cupurro und anderen 
stets der Resorption. Bei Muskeldefekten 
können die Muskelstümpfe auch ohne 
Plastik durch Narbengewebe, gleichsam 


Fig. 117. 


Fig. 114. 


Fig.115. 


Fig. 116. 



Fig. 114 SehnenTerlüngemng nach 
Sporok, Fig. 116 n. 116 nach Bayf.k. 


Sehnenplastik 
nach F. Lange. 


durch eine Inscriptio tendinea ohne Funktionsstörung zusammenheilen. Muskel¬ 
defekte werden bekanntlich stets nur durch Bindegewebe ausgefüllt, niemals 
durch neugebildete kontraktile Muskelsubstanz. Das Regenerationsvermögen 
der Muskeln ist im Gegensatz zu dem der Nerven sehr gering. 


Literatur: Auffret, Transplantations tendineuses dans le traitement de la paralysie da 
tnembre införienr, 117 8., 7 Abbild. These de Paris, G. 8teinheil, 1905 (mit Lit.). — Bade, 
Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte in Dresden 1908 (Sehnenoperationen bei 
Lähmungen). — Codivilla, Policlinico 1904, Ser. chir. Fase. 4 (Sehnentransplantation). — 
Doberaueb, Prager Med. Wochenschr. 1905, Nr. 13—17. — Gattdier, Französischer Chirur¬ 
genkongreß Paris 1907 (Sehnennaht). — Gerlach, Inaug.-Diss. Rostock 1904 (Sehnentrans¬ 
plantation). — Gibmry, New York Med. Journal 1902, Nr. 19 (Sehnentransplantation). — 
Gluck, Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte in Stuttgart 1906 (Probleme und 
Ziele der plastischen Chirurgie). — Hkrtle, Deutsche Zeitschr. !. Chir., Bd. 65 (Sehnen¬ 
defekte). — Hoffa, Arch. f. klin. Chir., Bd. 81 (Endresultate nach Sehnenplastikeu). — Km- 
mi68on, Französischer Chirurgenkongreß 1907 in Paris (Sehnentransplantationen). — Lange, 
Münch. Med. Wochenschr. 1902, Nr. 1 und Zeitschr. f. orthopäd. Chir., Bd. 17 (Seidensehnen). 
— Menci&re, Prov. möd. 1906, Nr. 47 (Sehnenersatz durch Seide). — Ritter, Med. Klinik 
1908, pag. 1191 (Sehnennaht). — Öchanz, Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte 
in Dresden 1908 (Sehnenoperationen bei Lähmungen). — Süter, Arch. f. klin. Chir., Bd. 72 
(Sehnennaht). — Tillmanns, Lehrbuch der allgemeinen Chirurgie, 10. Auli., 1907. — Vulpius, 
Die Sehnenverpflanzung, Leipzig, Veit & Co., 245 S. mit zahlr. Abbild. — Derselbe, 
Berl. klin. Wochenschr. 1906, Nr. 42 (Mißerfolge nach der Sehnentransplantation). 

H. Tillma,nns. 


Sekale. Einen dankenswerten Überblick über den jetzigen Stand 
der Mutterkorn frage hat Kehrer gegeben, welcher zahlreiche Präparate auf 
ihre Wirksamkeit auf den überlebenden Uterus geprüft hat. Auch heute 
noch gilt die Mutterkorn frage trotz unsäglicher Mühen als ungelöst, die 
Reindarstellung des wirksamen Prinzipes ist noch nicht gelungen. Jeden¬ 
falls sind die auf die glatte Muskulatur wirkenden Sekalebestandteile wasser¬ 
löslich, durch Äther nicht extrahierbar nnd gehen bei weiterer chemischer 
Verarbeitung bis jetzt verloren. Die Wirksamkeit der Droge selbst unter- 
liegt großen Schwankungen. Wenn man nach Kehrer als Tastobjekt den 
überlebenden Katzennterus benutzt, so läßt sich zeigen, daß die Wirksam¬ 
keit bei Aufbewahrung der so gepulverten Droge in den Apotheken inner- 


Digitized by 


Google 



462 


Sekale. — Sepsis und Pyämie, 


halb eines Jahres sich am das 7—8fache, innerhalb von 2 Jahren am etwa 
das löfache abschwächt. In praktischer Beziehung wichtig ist, daß von den 
von Kehrer untersuchten 27 Mutterkornpräparaten bei Uterusblutungen am 
meisten das DENZELsche Ergotin, das Ergotin. dialysat. Wernich, Bon- 
jean und Bonjean depuratum (von Merck bezogen) und das Seka- 
kornin (La Roche) zu empfehlen ist. Große Wirksamkeit kommt auch den 
Hydrastin- undKotarninpräparaten zu, dem S typticin (s&lzsauresKotarnin), 
dem Styptol (phtalsaures Kotarnin) und dem choialsauren Kotarnin; 
letzteres Präparat wurde deswegen hergestellt, weil die Galle, das heißt die 
Choialsäure in ihr, ebenfalls einen erregenden Einfluß auf die Uteruskontrak- 
tionen besitzt. 

Literatur: Kkbbeb, Die medikamentöse Therapie bei Uternsblntangea und der 
jetzige Stand der Mntterkornfrage ; Übersiehtsreferat. Med. Klinik, 1908, Nr. 20, 21, 22. 

E. Erey. 

Sepsis und Pyämie« Die Begriffe »Sepsis« und »Pyämie«, die 
schon lange vor dem Beginn der bakteriologischen Ära als auf rein klini¬ 
schen Erfahrungen begründete bestanden, haben seither ihre ursprüngliche 
Bedeutung so gut wie ganz eingebüßt. Es ist das im wesentlichen die Folge 
der großartigen Errungenschaften der Bakteriologie, die uns überhaupt erst 
das richtige Verständnis des Infektionsprozesses vermittelten und lehrten, 
daß besonders unter Sepsis sehr verschiedenartige Vorgänge zu verstehen 
waren, die weit über die ursprüngliche enge Begrenzung des Begriffes hin¬ 
ausgingen. Durch das Bestreben aber, die mannigfachen, zudem sich viel¬ 
fach verquickenden pathologischen Vorgänge mit besonderen Namen zu be¬ 
zeichnen, ist schließlich eine recht unangenehm fühlbare Verwirrung ent¬ 
standen, die einige Autoren, namentlich Chirurgen der neueren Zeit veran¬ 
laßt hat, die alten Bezeichnungen ganz fallen zu lassen. Septikämie, Sept- 
hämie, Septikopyämie, Saprämie, Bakteriämie, Toxinämie — alle diese 
Einzelbenennungen fallen unter die großen Sammelbegriffe »Sepsis« und 
»Pyämie« und sind, wenn man nur mit diesen letzten beiden Namen rich¬ 
tige Vorstellungen verknüpft, schon deshalb überflüssig, weil nur selten der¬ 
jenige Vorgang, den man besonders betonen wollte, allein in Frage kommt. 

Die alte Bedeutung der Begriffe »Sepsis« und »Pyämie« hat sich in¬ 
soweit erhalten, als wir auch heute noch unter ihnen eine in der Mehrzahl 
der Fälle tödlich verlaufende Allgemeinerkrankung des Organismus, von 
irgend einem primären Infektionsherde ausgehend, verstehen. Das Ver¬ 
ständnis des Wesens dieser Allgemeinerkrankung des Organismus, die an 
sich auf zum Teil recht komplizierten Vorgängen beruht, wird zunächst wohl 
gefördert, wenn man nach dem Vorschläge Lexers die Sepsis als pyogene 
oder putride, nicht metastasierende und die Pyämie als pyogene metasta¬ 
sierende Allgemeininfektion bezeichnet. In dieser Bedeutung lassen sich 
die beiden ursprünglichen Bezeichnungen sehr wohl weiter verwerten. Im 
einzelnen sind dann freilich viele Fragen zu erörtern. 

Was zunächst die Ursache der Allgemeininfektion, um mit der Be¬ 
sprechung der Sepsis zu beginnen, anbelangt, so glaubte man früher, daß 
sie ausschließlich in der Vergiftung des Blutes mit Fäulnisprodukten, be¬ 
sonders beim Vorhandensein gangränöser, stinkender Jaucheherde, zu suchen 
sei, die man ganz und gar der außerhalb des Körpers sich abspielenden 
Kadaverfäulnis gleich stellte. Viele Mühe ist darauf verwendet worden, der¬ 
artige Fäulnisprodukte ihrer Natur nach näher zu präzisieren, sie führte 
nach den Vorarbeiten Billroths, Panums und anderer zu der Darstellung 
des Sepsins (v. Bergmann , Schmiedeberg) , des Pyrotoxins und ähnlicher 
den Alkaloiden nahestehender und als Ptomaine und Toxalbumine be- 
zeichneter Substanzen. Briegers Arbeiten waren in dieser Hinsicht besonders 
bedeutsam. 


Digitized by 


Google 



Sepsis und Pyftmie. 


463 


Mit der Zeit hat sich dann der Begriff der Sepsis immer mehr ver¬ 
schoben. An die Stelle des ursprünglich einheitlich gedachten Fäulnisgiftes 
war immer mehr eine ganze Reihe von giftigen Stoffen verschiedenster Art 
getreten, deren Entstehung nicht auf die Gewebsfäulnis an sich, sondern 
auf die Anwesenheit und Lebenstätigkeit von Mikroorganismen zurückzu- 
führen war. Daß die Endprodukte der Fäulnis an sich zwar giftig sind, aber 
keine Sepsis zu erzeugen vermögen, erkannten Weber und Billroth schon 
früh, und da das Bild der Sepsis sich auch von nicht jauchenden, sondern 
nur eiternden Wunden aus entwickeln konnte, so kamen in der Hauptsache 
Stoffwechselprodukte und Leibessubstanzen der Mikroorganismen in Frage, 
wie wir sie in der Folge allmählich als Toxine, Endotoxine, Proteine recht 
genau kennen und darzustellen gelernt haben. Namentlich die berühmten 
Untersuchungen Robert Kochs haben dann an die Stelle aller dieser Gift¬ 
stoffe, die man ausschließlich von irgend einem Eiter- oder Jaucheberd in das 
Blut eintreten ließ, die Bakterien selbst gesetzt und mit Koch und Gapfky 
verstehen noch heute viele unter Sepsis »eine rapid tödlich verlaufende 
übertragbare Wundinfektionskrankheit, bei welcher das Blut der Träger des 
Virns ist«. Dieses Virus war aber belebt; die Vermehrung der pathogenen 
Mikroorganismen selbst im Blute ohne Bildung metastatischer Eiterherde 
galt als das Charakteristikum der Sepsis und grundsätzlich glaubte man die 
Intoxikation, die Wirkung von ins Blut aufgenommenen Giftstoffen, von 
dieser trennen zu müssen. 

Im Interesse eines klaren Begriffes »Sepsis« war diese Scheidung nicht 
sehr vorteilhaft, vom rein klinischen Standpunkte aus sogar ganz unmög¬ 
lich. Die Bakteriologie selbst hat uns gelehrt, wie untrennbar Ansiedlung 
von pathogenen Mikroorganismen im tierischen Körper und eine von ihnen 
ausgehende Giftwirkung sind, und so erweist es sich denn auch für unsere 
Vorstellungen am zweckmäßigsten, wenn wir zwischen lokaler Infektion und 
Giftbildung und der Sepsis als allgemeiner Infektion und Giftbildung nur 
einen allerdings extremen graduellen Unterschied sonst gleicher Vorgänge 
sehen. Unter der Bezeichnung Sepsis verstehen wir daher mit Kocher und 
Tavel sowohl eine Bakteriämie als auch eine Toxinämie. Beide Zustände 
gehören auf das engste zusammen, aber es ist natürlich einleuchtend, daß 
eine Toxinämie allein vorhanden sein kann, während andrerseits wohl jede 
Bakteriämie zugleich auch eine Toxinämie ist. 

Bei der prinzipiellen Wesensgleichheit lokaler und allgemeiner Infek¬ 
tion und Intoxikation wirft sich natürlich die Frage auf, welche Ursachen 
zur Allgemeinerkrankung führen, und wir werden nicht fehlgehen, wenn 
wir diese sowohl bei den infizierenden Bakterien als auch im infizierten 
Organismus selbst suchen. 

Bleiben wir zunächst bei den Bakterien, so herrschte eine Zeitlang die 
Tendenz vor, ganz bestimmte Arten, und zwar vor allem Streptokokken und 
Staphylokokken, die Eitererreger par excellence, als Erreger der Sepsis zu 
betrachten. Heute müssen wir daran festhalten, daß nicht nur viele, son¬ 
dern sogar alle für den Menschen pathogenen Mikroorganismen gelegentlich 
zur Allgemeininfektion führen können, wenngleich der Häufigkeit nach Unter¬ 
schiede bestehen und Strepto- und Staphylokokken natürlich an der Spitze 
stehen. Wir fragen jetzt nicht mehr danach, welche Bakterien durch Über¬ 
tritt ins Blut und dauernde Vermehrung in ihm zur Sepsis führen, sondern 
warum sie so tun. Bei jeder Infektion fast, so müssen wir annehmen, ge¬ 
langen Mikroorganismen ins Blut, ohne daß es zur Allgemeininfektion kommt. 
Es sei nur, ganz abgesehen von Strepto- und Staphylokokken, an die 
Pneumokokken, Gonokokken, Typhusbazillen, das Bacterium coli erinnert 
und auf den gelegentlichen Nachweis selbst des Micrococcus tetragenus und 
von Hefe- und Schimmelpilzen im Blute hingewiesen. Alle diese Mikroorga- 


Digitized by 


Google 



464 


Sepsis und Pyfimie. 


nismen können eine Sepsis erzeugen , wie sehr zahlreiche und eingehende 
Mitteilungen beweisen. Die Virulenz der Bakterien spielt dabei aller Wahr¬ 
scheinlichkeit nach eine große Rolle. Sie kann von vornherein eine hohe 
sein oder erst an der Eintrittspforte, namentlich in jauchigen Wunden unter 
dem Einfluß von Fäulnisbakterien und durch Symbiose mit an sich harm¬ 
losen Saprophyten gesteigert werden. Bedeutsamer aber scheinen mir die 
im infizierten Organismus begründeten Momente zu sein. An der Infektions¬ 
pforte kann durch rein lokale Gewebsverhältnisse, wie zum Beispiel an der 
Plazentarstelle des puerperalen Uterus, oder durch ausgiebige Gewebsein¬ 
schmelzung der Eintritt der Bakterien in das Blut besonders begünstigt 
werden. Derartige lokale Verhältnisse spielen, wie wir noch betonen werden, 
namentlich für das Zustandekommen einer Pyämie eine große Rolle. Weiter 
ist von Bedeutung die Disposition des Organismus, eine gewisse Wider¬ 
standslosigkeit gegenüber bestimmten pathogenen Erregern, die wir uns bei 
allgemeiner Empfänglichkeit als eine individuell gesteigerte vorstellen müssen, 
mag diese nun in der Konstitution begründet oder durch gleichzeitig vor¬ 
handene Krankheit bedingt sein. In letzterer Hinsicht spielt ja der Diabetes 
mellitus eine besonders berüchtigte Rolle. Da an sich bei jeder Infektion 
die Reaktionserscheinungen seitens des Organismus als zweckmäßig auf Ab¬ 
wehr gerichtet aufzufassen sind, so ist bei jeder Sepsis ein Versagen oder 
Erlahmen der natürlichen Widerstandskraft anzunehmen. In der Schwächung 
des Widerstandes des Organismus gegen die Sepsiserreger liegt auch die 
Bedeutung der Misch- und Sekundärinfektion. Der Organismus muß ge¬ 
wissermaßen einen Kampf gegen zwei Fronten führen oder einen neuen auf¬ 
nehmen , nachdem er eben erst den einen mit Mühe überstanden bat. So 
führt beispielsweise die Milzbrandinfektion viel häufiger zur Allgemeininfek- 
tion, wenn gleichzeitig Streptokokkeninfektion besteht, als ohne diese. 

Für die Aufnahme der verschiedenen Giftstoffe ins Blut kommen alle 
diese Faktoren in gleicher Weise in Betracht. Manche Bakterien produzieren, 
entsprechend zum Teil der Virulenz, besonders viele und gefährliche Gifte, 
für die andrerseits eine erhöhte Empfänglichkeit vorhanden sein kann. So 
ist die Resorption solcher Stoffe naturgemäß gesteigert auf großen Wund¬ 
flächen (puerperaler Uterus), in Höhlen (Peritonealhöhle) und bei Sekret¬ 
stagnation, wie sie in tiefen, buchtigen Zerfallshöhlen zustande kommt. So¬ 
weit Bakterien im Blute kreisen und sich vermehren, kann eine gleichzeitige 
Toxinämie fast als etwas selbstverständliches gelten; um aber allein aus der 
Resorption giftiger Stoffe von einem lokalisierten Eiterherde aus das Bild 
der Sepsis erklären zu können, dazu bedürfen wir der Betrachtungen über 
alle angeführten begünstigenden Momente, weil die Aufnahme von Gift¬ 
stoffen in geringen Mengen eine regelmäßige Erscheinung ist und sich doch 
gewöhnlich nicht bis zur Erzeugung einer Sepsis steigert. 

Vor allem ist hier auch auf jene Formen von reiner Toxinämie hinzu¬ 
weisen, die von Lf.xer als putride Allgemeininfektionen bezeichnet worden 
sind und in gewissem Sinne dem ursprünglichen Begriffe der Sepsis noch 
nahe stehen. Sie gehen von Wunden aus, deren Hauptmerkmal nicht die 
eitrige, sondern die jauchige Entzündung mit fauliger, gangränöser Gewebs¬ 
einschmelzung und Bildung stinkender, gashaltiger Flüssigkeit ist. Die aller¬ 
dings dabei fast meistenteils festzustellende Anwesenheit echter Eitererreger 
spielt zunächst nur eine nebensächliche Rolle, das entscheidende Gewicht 
ist auf Fäulnisbakterien zu legen, Vertreter der Proteus- und Koligruppe, 
ferner E. Fraenkels Gasbazillus, den Bazillus des malignen Ödems, die in 
absterbenden und abgestorbenen Geweben zur Fäulnis führen und als Stoff¬ 
wechselprodukte die oben erwähnten Ptomaine und Toxalbumine bilden. 
Früher war eine solche jauchige Zersetzung besonders im Anschluß an 
schwere Gewebszerreißungen und komplizierte Frakturen keine Seltenheit 


Digitized by 


Google 



Sepsis und Pyämie. 


465 


und unter der Bezeichnung »Hospitalbrand« namentlich in Kriegslazaretten 
heimisch. Dank unserer modernen Wundbehandlung ist die jauchige Wund¬ 
gangrän fast ganz unbekannt geworden. Jauchige Perforationsperitonitiden, 
Kotphlegmonen, Urininfiltration, verjauchende Dekubitalgeschwüre, die mit 
ihren sinuös unterwühlten Rändern der Entwicklung von Fäulnisbakterien 
besonders günstig sind, endlich die feuchte, faulige Extremitätengangrän 
(Diabetes 1) geben heute in erster Linie den Anlaß zur tödlichen Toxinämie. 

Die zur Sepsis führende Aufnahme von Bakterien und Giftstoffen in 
das Blut schließt sich stets an eine Läsion der Haut oder der Schleim¬ 
häute an. Die alte Erfahrung, daß es nicht immer gelingt, die Eintrittspforte 
der Mikroorganismen festzustellen, führte zu der Aufstellung des Begriffes 
der kryptogenetischen Sepsis durch v. Leube, aber immer mehr haben der¬ 
artige, früher dunkle Fälle eine befriedigende Erklärung gefunden, seit 
unsere bakteriologischen Kenntnisse so ungeahnte Förderung erfahren haben 
und wir namentlich den Affektionen der Schleimhäute größere Aufmerksamkeit 
schenken. Man denke nur an die oft unscheinbaren Erkrankungen der Tonsillen ! 

Die bei Sepsis sich einstellenden pathologischen Organveränderungen 
sind mannigfacher, vorwiegend degenerativer Natur, graduell in verschie¬ 
denem Maße ausgeprägt und im wesentlichen nicht spezifisch für den je¬ 
weils in Betracht kommenden Erreger der Sepsis. Das Blut kann, abgesehen 
vom Bakteriengehalt, der natürlich bei reiner Toxinämie fehlt, eine ganz 
normale Beschaffenheit zeigen. In anderen Fällen tritt Leukozytose auf und 
in wieder anderen, wenn besonders gewisse Streptokokkenarten als Erreger 
in Betracht kommen, schwere Hämolyse. Die Hämoglobinämie kann das 
klinische und anatomische Bild völlig beherrschen. Leichtere Grade von Zer¬ 
störung der roten Blutkörperchen deutet zuweilen ein Ikterus an. Schädi¬ 
gungen des Blutgefäßapparates werden nur selten vermißt; darauf weisen 
die Blutungen hin, die man besonders häufig unter den serösen Häuten, 
dann aber auch in der Retina, in Herz- und Gefäßintima, in allen Organen 
und in der Haut findet In ganz schweren Fällen entwickelt sich zuweilen 
das charakteristische Bild der hämorrhagischen Diathese. Am Klappen¬ 
apparat des Herzens kommt es nicht selten durch die Ansiediung und Wir¬ 
kung der im Blute kreisenden Bakterien zu endokarditischen Prozessen, 
die nicht nur zur mehr weniger schweren Zerstörung der Herzklappen selbst, 
sondern durch die Verschleppung infektiösen Materials zu einer kompli¬ 
zierenden Pyämie führen können. Überall, namentlich aber am Parenchym 
hochdifferenzierter Organe, können sich degenerative Vorgänge, Verfettungen 
und Nekrosen einstellen, wie wir sie besonders an der Herzmuskulatur, an 
den Nierenepithelien und den Leberzellen kennen. Auch am zentralen und 
peripheren Nervensystem lassen sich oft schwere anatomische Schädigungen 
nachweisen. Die septische Milzschwellung ist eine der konstantesten Er¬ 
scheinungen. Von vielen Chirurgen wird darauf aufmerksam gemacht, daß 
schon das Aussehen der Wunde mit trockenen mißfarbenen Belägen und 
mangelnder Eitersekretion auf das Erlahmen der Widerstandskraft des Orga¬ 
nismus hinweisen kann, anatomisch aber braucht sich die Infektionspforte 
in nichts von ähnlichen Zuständen ohne Sepsis zu unterscheiden. 

Im Gegensatz zur Sepsis, bei der wir es allein mit einer Überschwem¬ 
mung des Blutes mit Bakterien und deren Giftstoffen, einer Allgemeininfek¬ 
tion ohne metastatische Eiterherde, zu tun haben, verstehen wir unter 
Pyämie eine Allgemeininfektion des Organismus mit Bildung mehr weniger 
zahlreicher sekundärer Eiterherde. Der Eintritt der Bakterien, die genau 
wie bei der Sepsis in allen pathogenen Arten in Betracht kommen, ins Blut 
kann ein einmaliger vorübergehender oder schubförmig und dauernd sich 
wiederholender sein. Eine Pyämie kann sich allein ausbilden durch die Auf¬ 
nahme der Bakterien selbst ins Blut, nie durch Resorption von Giftstoffen. 


Enojclop. Jahrbücher. N. F. VUL (XVII.) 


Digitized by Google 



466 


Sepsis und Pyämie. 


Das hängt auf das engste mit der Läuterung des Begriffes »Pyämie« zu¬ 
sammen, die wir Virchow verdanken. Gr wies zuerst auf die Beziehungen 
der Pyämie zu embolischeu Prozessen hin und zeigte, daß nicht ins Blut 
aufgenommener Eiter dieses in einen eiterähnlichen Zustand versetzt, son¬ 
dern unter der Einwirkung metastatisch verschleppten bakterienhaltigen Ma¬ 
terials an den verschiedensten Stellen des Organismus neue lokalisierte 
Eiterherde entstehen. Die Resorption von Giftstoffen wird auch hei der 
Pyämie nur selten fehlen, steht aber in keiner Beziehung zu den für die 
Pyämie charakteristischen anatomischen Veränderungen. 

Der sich zunächst aufwerfenden Frage, weshalb in einem Falle die¬ 
selben Bakterien eine Sepsis, im anderen dagegen eine Pyämie erzeugen, 
wenn sie ins Blut gelangt nicht zugrunde gehen, wird am ehesten die ana¬ 
tomisch-ätiologische Auffassung gerecht Es ist wenig wahrscheinlich, daß die Ver¬ 
ringerung der Bakterienvirulenz und die Herabsetzung der Fähigkeit des 
Körpers, Antistoffe zu bilden, von ausschlaggebender Bedeutung sind, wenn 
schon die Feststellung, daß die aus den metastatischen Eiterherden gezüch¬ 
teten Mikroorganismen häufig eine geringe Virulenz zeigen, auch in dem 
anatomischen Befunde von Kokkenembolien in wenig alterierten oder ganz 
reaktionslosem Gewebe gelegentlich ihre Bestätigung zu finden scheint. Der 
mehr chronische Verlauf der Pyämie mag eine derartige Virulenzabschwä- 
chung der Eitererreger mit bedingen, die somit mehr eine Folge als eine 
Ursache gerade der Pyämie wäre. 

Dagegen lehrt sowohl die klinische Erfahrung über die Lokalinfektionen, 
die am häufigsten zur Pyämie führen, als auch anatomische Beobachtung, 
daß die lokalen Verhältnisse an der Eintrittspforte der Bakterien von aus¬ 
schlaggebender Bedeutung sind. In den meisten Fällen entwickelt sich eine 
Pyämie aus Eiterungen an solchen Stellen, an denen klaffende Blutgefäße, 
insbesondere Kapillaren und Venen, den unmittelbaren Eintritt der Eiter¬ 
erreger ins Blut oder die Bildung der, wie wir hören werden, bedeutsamen 
Thrombophlebitis begünstigen. Ich erwähne die so häufigen Pyämien im An¬ 
schluß an eitrig* jauchige Entzündung der Plazentarstelle des entbundenen 
Uterus, im Gefolge der eitrigen Osteomyelitis, der Furunkelbildung im Be¬ 
reich der Vena facialis, der Mastoiditis mit eitriger Thrombophlebitis meist 
des Sinus sigmoideus. Oft schließt sich die Pyämie an die gewaltsame, ope¬ 
rative Eröffnung von Blutgefäßen an wie bei der Aufmeißelung osteomyeli¬ 
tischer Eiterherde und diese Eröffnung kann sogar zugleich erst den Infek¬ 
tionskeim an Ort und Stelle tragen, wie wir es am puerperalen Uterus nach 
manuellen Eingriffen annehmen müssen. 

Nur ausnahmsweise gelangen die Bakterien direkt in die Blutbahn, 
in der Mehrzahl der Fälle indirekt durch eine von außen nach innen fort¬ 
schreitende eitrige Entzündung der Venenwand mit oder ohne nachfolgende 
eitrig schmelzende Thrombose des Lumens. Greift eine eitrige Entzündung 
nach Zerstörung der adventitiellen Schichten der Venenwand allmählich auf 
die inneren Schichten über, so wird schließlich auch die Intima angegriffen, 
die dabei ihren Glanz und ihre glatte Beschaffenheit verliert und sich zu¬ 
weilen pustelförmig ins Lumen vorwölbt. Durch die Ruptur der Intima ge¬ 
langen dann Bakterien in ungeheurer Menge in das Venenblut. Gewöhnlich 
aber wird das dadurch verhindert, daß sich schon bei beginnender Schädi¬ 
gung der innersten Wandschicht eine zunächst parietale, durch Apposition 
dann obturierende Thrombose des Venenlumens ausbildet. Dieser an sich 
günstige Vorgang vermag leider deshalb nichts zur Lokalisation des Eite¬ 
rungsprozesses zu tun, weil es mit der Einschmelzung der Intima zugleich 
zur Infektion des Thrombus kommt, der nun selbst das septische Material 
liefert, das infolge der Einschmelzung leicht im Venenblute zum rechten 
Herzen und den Lungen getragen werden kann. 


Digitized by 


Google 



Sepsis und Pyfimie. 


467 


In solchen Eiterherden, wo sich klaffende Kapillaren in großer Menge 
finden wie im Knochenmark, können sich wohl auch die in die Blutbahn 
eingedrungenen Bakterien an Ort und Stelle zu kompakteren Konglomeraten 
vermehren. 

Endlich mössen wir hier noch einmal auf die Endokarditis als Aus¬ 
gangspunkt einer Pyämie verweisen. Eine Entzündung der Herzklappen kann 
sich sowohl an die Ansiedlung spärlicher ins Blut gelangter Bakterien als 
auch an die Überschwemmung dieses mit Eitererregern, also im Verlaufe 
einer Sepsis einstellen. Die eitrige Einschmelzung der Klappen und die Ab¬ 
lagerung thrombotischen, aber gleichfalls der Vereiterung anheimfallenden 
Materiales geben in reichem Maße Gelegenheit, daß bakterienhaltige Massen 
innerhalb der Blutbahn verschleppt und peripher abgelagert werden. An allen 
diesen Ablagerungsstellen bilden sich unter der Einwirkung der Eitererreger 
metastatische Abszesse aus. 

Die Verschleppung des bakterienhaltigen Materials innerhalb der Blut¬ 
bahn, also die Bildung metastatischer Abszesse von einem primären (respek¬ 
tive sekundären) Eiterherde aus folgt den Gesetzen der Embolie. Material, 
welches von den peripheren Venen dem Herzen zugeführt wird, kommt in 
erster Linie in den Lungen zur Ablagerung, die daher auch last regelmäßig 
bei Pyämie metastatische Eiterherde zeigen. Nur wenn die verschleppten 
Partikel sehr klein sind, zum Beispiel aus kleinen Bakterienhaufen be¬ 
stehen, passieren sie die Lungenkapillaren und werden nun auch in das 
periphere Gebiet des großen Blutkreislaufes verschleppt. Endokarditisches 
Material des linken Herzens gelangt unmittelbar in den arteriellen Körper¬ 
kreislauf. 

Entsprechend der äußerlichen Beschaffenheit des infektiösen Embolus 
zeigen die metastatischen Eiterherde insofern eine Verschiedenheit, als ein¬ 
fache Kapillarembolien unmittelbar zur Bildung eines Abscesses führen, 
während bei Embolie größerer zusammenhängender Thrombusmassen die 
Abszedierung sich stets an die Entstehung eines typischen Infarktes an¬ 
schließt mit Ausnahme der Lungenembolien, die bekanntermaßen nicht un¬ 
bedingt Infarktbildung im Gefolge haben. 

In sehr vielen Fällen von Pyämie findet man neben mehr weniger 
zahlreichen Eiterherden auch typische frische Infarkte. Alle solche Infarkte 
aber schmelzen infolge des Bakteriengehaltes des Embolus von dem Sitz 
dieses aus eitrig ein und bilden schließlich Abszesse, die nichts mehr von 
dem ursprünglichen Infarkt erkennen zu lassen brauchen. 

Liegt ein solcher eitrig schmelzender Infarkt an der Oberfläche nach 
einer serösen Höhle frei, so schließt sich eine anfänglich zirkumskripte und, 
wenn Abkapslung ausbleibt, schnell allgemeine eitrige Serosaentzündung an. 
Pleuraempyeme können so nach pyämischen Lungenabszessen, eitrige Peri¬ 
tonitiden im Anschluß an Milz- und Leberabszesse auftreten. Es ist nicht 
immer leicht, bei derartigen veralteten Serosaeiterungen den manchmal nur 
kleinen durchgebrochenen Abszeß zu finden und der Charakter der Pyämie 
kann sich in chronischen Fällen, wenn solche metastatische Abscesse iso¬ 
liert bleiben und womöglich der Primärherd zur Verheilung gelangt ist, ganz 
verlieren. Eben weil es nicht immer gelingt, die Serosaeiterungen aus dem 
Durchbruch von Abszessen zu erklären, halten es manche Autoren nicht 
für unmöglich, daß es im Verlaufe einer Pyämie direkt zu einer Ausschei¬ 
dung von Bakterien auf den serösen Häuten kommen kann. Eine solche Aus¬ 
scheidung auf freier Fläche im Gegensatz zur Ablagerung innerhalb der 
Blutbahn ist wohl möglich und manche Drüseneiterungen, so zum Beispiel 
in der Prostata, sind auf eine Bakterienausscheidung in das Drüsenlumen 
zurückgeführt worden. Bewiesen glaubte man die Möglichkeit durch den 
Nachweis von Bakterien im Schweiß und die bekannte Beobachtung der 

3 0* 



468 


Sepsis and Pyämie* 


sogenannten Ausscheidungsherde in den Markkegeln der Nieren. An prak¬ 
tischer Bedeutung steht natürlich die Ablagerung des verschleppten infek¬ 
tiösen Materials innerhalb der peripheren Arterienverzweigungen ganz im 
Vordergrund. 

Zur Py&mie gehört auch die Verschleppung infektiösen Materials im 
Bereich der Pfortader, wenngleich es sich hier um einen örtlich beschränkten 
Ausbreitungsbezirk handelt. Von allen möglichen eitrigen Affektionen im 
Wurzelgebiete der Pfortader, also wesentlich im Darmkanal, vor allem aber 
im Anschluß an eine chronische, eitrige und jauchige Entzündung des Wurm¬ 
fortsatzes kann durch Vermittlung einer eitrigen Thrombophlebitis Material 
in die Leber gelangen und diese geradezu mit metastatischen Abszessen 
übersäen. Eine Ausdehnung über die Leber hinaus ist eine seltene Er¬ 
scheinung. 

Das klinische Bild der Sepsis kann sich schnell und plötzlich an eine 
oft unscheinbare Verletzung anschließen oder ganz allmählich aus den Sym¬ 
ptomen, welche eine lokale Infektion verursacht, hervorgehen. Schwere Fälle 
führen in ganz kurzer Zeit zum Tode, andere nehmen einen subakuten oder 
selbst durch Remissionen unterbrochenen chronischen Verlauf, oft unter dem 
Bilde perniciöser Anämie. 

Neben dem hohen Fieber ist die allgemeine Abgeschlagenheit für das 
klinische Bild charakteristisch, das durch die Beteiligung der einzelnen Or¬ 
gane, wie des Herzens, des Zentralnervensystems, der Nieren eine Vervoll¬ 
ständigung erfährt, auf die näher einzugehen zu weit führen würde. Die 
Bedeutung der Hämoglobinämie und der hämorrhagischen Diathese wurde 
bereits hervorgehoben. Die klinischen Symptome der Pyämie sind, soweit 
sie durch den primären Infektionsherd und die Resorption der von den 
Bakterien in allen Abszessen gebildeten Giftstoffe bedingt werden, denen 
der Sepsis sehr ähnlich. Es drängen sich aber gewöhnlich die mehr weniger 
zahlreichen Erscheinungen seitens der Einzelorgane, die Sitz metastatischer 
Abszesse werden, mehr auf und besonders können eitrige Entzündungen 
der serösen Höhlen das klinische Bild ganz beherrschen. Bezeichnend für 
die Pyämie ist das Auftreten heftiger Schüttelfröste, die bei Sepsis fast nur 
initial beobachtet werden, dann steile hohe Fieberanstiege (40—41°) mit 
tiefen und jähen Abstürzen, so daß das Fieber einen remittierenden oder 
auch intermittierenden Charakter erhält. 

Je mehr sich die Aufnahme von Giftstoffen geltend macht, um so 
mehr verliert auch dieses pyämische Fieber seine Besonderheit Der Verlauf 
der Pyämie- ist im allgemeinen ein langsamerer als der der Sepsis, kann 
aber auch, besonders bei Abszeßbildung im lebenswichtigen Organ, ganz akut 
zum Tode führen. 

Sowohl für die Sepsis als auch für die Pyämie ist die Prognose eine 
außerordentlich schlechte. Prophylaxe ist im Kampfe gegen diese beiden 
Allgemeininfektionen am wichtigsten, wie wir leicht aus den Erfolgen unserer 
modernen Wundbehandlung, der Asepsis und Antisepsis am Operationstisch 
ersehen können. Ist es einmal zum Ausbruch einer Sepsis oder Pyämie ge¬ 
kommen, so sind wir fast machtlos und deshalb darf der Chirurg bei der 
Prophylaxe selbst vor frühzeitigen radikalen Eingriffen nicht zurücksohrecken, 
wie sie zum Beispiel Amputationen darstellen. Die Unterbindung der vom 
Primärherd abfließenden Venen, wie sie namentlich Bumm bei puerperaler 
Infektion empfiehlt, führt selten zum Ziele. Die Therapie muß sich in den 
meisten Fällen darauf beschränken, die Leiden der Patienten zu lindern und 
besonders durch das bewährte Mittel der Kocbsalzinfusion die Herztätigkeit 
zu heben. Die mit so viel Hoffnung begrüßte Serumtherapie hat vorerst 
noch keine glänzenden Erfolge aufznweisen. Neben allgemeinen Maßnahmen 
geht die zweckmäßige Behandlung der primären Infektions wunde und der 


Digitized by 


Google 



Sepsis und Pyämie. — Sexualität des Kindes. 469 

hervortretenden Organschädigungen einher, bei Pyämie die Spaltung sekun¬ 
därer, leicht zugänglicher Abszesse und Höhleneiterungen. 

Literatur: Eine ausführliche Literaturangabe erübrigt sich bei der enormen Zahl der 
in Betracht kommenden Einzelarbeiten unter Hinweis auf die modernen Lehrbücher der 
allgemeinen Pathologie und Chirurgie. Hart , Berlin. 


Sexualität des Kindes« Während man früher angenommen 
hatte, daß das Leben des Kindes vollkommen asexuell ist, haben sich die 
Anschauungen in dieser Beziehung in der letzten Zeit erheblich geändert. 
Nachdem schon von verschiedenen Seiten, besonders aber von Krafft- 
Ebing als paradoxer Geschlechtstrieb pathologische Fälle beschrieben worden 
waren, wo in einem abnormen Lebensalter sexuelle Erscheinungen auf- 
treten, zum Beispiel beim Greise oder beim Kinde, hat sich in neuerer 
Zeit mehr und mehr herausgestellt, daß nicht nur unter pathologischen Ver¬ 
hältnissen, sondern auch sonst sexuelle Erscheinungen beim Kinde Vor¬ 
kommen. Zerstreut findet man an verschiedenen Stellen der Literatur, so¬ 
wohl in der wissenschaftlichen wie in der belletristischen, Hinweise auf 
sexuelle Vorgänge der Kindheit. Von wissenschaftlichen Arbeiten erwähne 
ich eine Arbeit von Sanfobd Bell, A Preliminary Study of the Emotion of 
Love between tbe Sexes (The American Journal of Psychology, July 1902); 
ferner die fünf Bände der Studies in the Psychology of Sex von Havelock 
Ellis; Kötscher, Das Erwachen des Geschlechtsbewußtseins und seine 
Anomalien, Wiesbaden 1907. Vergleiche auch den Artikel FREUDsche Theorie. 
Erwähnt sei ferner, daß von einer Reihe hervorragender Persönlichkeiten, 
besonders von Künstlern und Dichtern, nicht selten Liebesempfindungen aus 
der Kindheit berichtet werden, zum Beispiel von Hebbel, der seine bereits 
im 4. Jahre erwachte Liebe zu Emilie, der Tochter des Kirchspielschreibers, 
schildert. 

Soweit das Material gegenwärtig gesichtet werden kann, tun wir gut, 
die Kindheit in zwei Perioden zu teilen, deren erste bis zum vollendeten 
7. Jahre, deren zweite vom 8. bis zum vollendeten 14. Jahre reicht. Damit 
soll keine schroffe Trennung, sondern nur ein gewisses Schema gegeben 
sein, zumal da ja Rasse, Familiendisposition, das Geschlecht — bei Mädchen 
tritt die sexuelle Reifung früher ein als beim Knaben — erhebliche Ver¬ 
schiebungen im einzelnen Falle herbeiführen können. 

Wenn wir die sexuellen Vorgänge beim Kinde betrachten, müssen wir, 
ähnlich wie beim Erwachsenen, die Vorgänge an den äußeren Geschlechts¬ 
organen und die seelischen Prozesse unterscheiden. Zu den ersteren gehört 
beim Knaben der Eintritt der Erektionen, die Erzeugung der den Samen 
zusammensetzenden Produkte; beim Mädchen die Ovulation und die Menstru¬ 
ation. Bei beiden Geschlechtern haben wir ferner das allgemeine Wachstum 
der Genitalien, das Auftreten von Wollustempfindungen zu berücksichtigen. 
Zu den seelischen Prozessen gehört die erotische Neigung zu anderen Wesen. 
Daß beide Gruppen von Vorgängen (periphere, somatische und zentrale, 
psychische) bei Erwachsenen miteinander verbanden sind, ist bekannt. Auch 
in der Kindheit kann das schon der FalJ sein. Übrigens zeigen sich in der 
Kindheit ja auch sonst deutliche Differenzen des Geschlechts, und zwar, 
auch wenn wir von der Bildung der Geschlechtsorgane absehen. Bereits am 
Ende der ersten Kradheitsperiode tritt in der Bildung der unteren Körper¬ 
hälfte, besonders auch in der Hüftgegend, der charakteristische Unterschied 
schon hervor. In der zweiten Periode werden dann die Körperunterschiede 
noch erheblich größer. Kinder zeigen auch schon seelische Geschlechtsunter¬ 
schiede. Die Wildheit des Knaben ist gar nicht selten bereits in der Kind¬ 
heit von der sanfteren Gemütsart des Mädchens zu unterscheiden. Die Nei¬ 
gung des Mädchens zum Spielen mit der Puppe wird gerade in neuerer Zeit 


Digitized by 


Google 



470 


Sexualität des Kindes. 


durchaus nicht als eine bloße Folge äußerer Einflfisse angesehen, vielmehr 
als die angeborne Neigung des Mädchens, sich im Spielen, ähnlich wie es 
die Mutter später im Ernst tut, zu betätigen. Auch die Erfahrungen der 
experimentellen Psychologie scheinen für einen seelischen Unterschied der 
Geschlechter in der Kindheit zu sprechen. So sollen Gedankenkreis und An¬ 
lage schon in der Kindheit deutliche Geschlechtsdifferenzen zeigen. Auch die 
Erfahrungen der Pathologie sind wichtig: bevorzugen doch manche Krank¬ 
heiten schon in der Kindheit das eine Geschlecht mehr als das andere, zum 
Beispiel die Bluterkrankheit das männliche, der Veitstanz das weibliche. 

Gehen wir zu den eigentlichen sexuellen Vorgängen über, so finden 
sich Liebesempfindungen beim Kinde nicht selten. Neigungen zu einer anderen 
Person, die nur als sexuelle betrachtet werden können, werden oft beob¬ 
achtet. Bald richtet sich die Neigung des Knaben auf ein gleichaltenges 
Mädchen, bald auf eine erwachsene Frau, und das Analoge zeigt sich bei 
weiblichen Kindern. Nach Sanford Bell müßte man annehmen, daß sexuelle 
Neigungen bereits im Alter von 2 Jahren auftreten, was jedoch für gesunde 
und gesund veranlagte Kinder nicht bewiesen ist. Die Neigungen selbst 
zeigen in der Kindheit insofern Unterschiede von denen der Erwachsenen, 
als der Trieb vielfach undifferenziert ist. Es kann der Knabe ebenso Neigung 
zu einem Knaben haben wie zu einem Mädchen, das Mädchen ebenso zu 
einer Geschlecbtsgenossin wie zu einer männlichen Person. Ja, es können 
sexuelle Neigungen zu Tieren in dieser Zeit auftreten und allerlei sonst 
pervers erscheinende Charaktere (zum Beispiel masochistische und sadistische) 
die Neigung komplizieren, ohne daß wir berechtigt sind, hierin eine patho¬ 
logische Perversion zu sehen. Abgesehen davon, zeigt sich schon beim Kinde 
vieles, was auch die sexuellen Gefühle des Erwachsenen charakterisiert 
Schönheit des Mädchens lockt den Knaben; ein schöner Lehrer reizt das 
Mädchen weit eher als ein häßlicher. Sehr deutlich ausgeprägt ist oft schon 
beim Kinde die Eifersucht; Streitigkeiten in Pensionaten und Internaten sind 
mitunter hierauf zurückzuführen. 

Was die peripheren Vorgänge betrifft, so sind Erektionen beim kleinen 
Knaben nicht selten. Zuweilen beruhen sie auf entzündlichen Vorgängen an 
den äußeren Genitalien, auf einer vollen Blase, kurz und gut, auf peripheren 
Reizen, die nicht sexueller Natur sind. In anderen Fällen aber hängen sie 
direkt mit dem Sexualleben zusammen. So kann die Vorstellung oder An¬ 
näherung bestimmter Personen schon bei 10- und 11jährigen Knaben zu 
Erektionen führen. Weit später als diese treten die Ejakulationen auf. An¬ 
fangs ist das Ejakulat noch frei von Samenfäden. Diese können auch unter 
normalen Verhältnissen selbst in dem Ejakulat von 16- und 17jährigen 
Knaben fehlen. Im allgemeinen gilt bei uns das Alter von 13Vs Jahren als 
das früheste, wo bereits Samenfäden auftreten; doch können anscheinend 
in allerdings sehr seltenen Ausnahmefällen schon früher Samenfäden Vor¬ 
kommen. Woher das Sekret stammt, bevor Samenfäden auftreten, ist keines¬ 
wegs vollständig sicher. Vielleicht wird in den Hoden, ehe die Samenfäden 
erzeugt werden, ein indifferentes Sekret bereitet. Sicher ist, daß die 
CowPERschen Drüsen bereits in der Kindheit, nach Henle sogar in den 
ersten Lebenswochen sezernieren. Ferner können die Samenblasen ein Sekret 
liefern, bevor Samenfäden nachweisbar sind. Ob noch andere Drüsen, zum 
Beispiel die LiTTREschen, die Prostata, vor der vollen Ausbildung der Hoden 
sezernieren können, ist fraglich. Beim weiblichen Geschlecht können die 
BARTHOLiNischen Drüsen schon in der Kindheit sezernieren. Möglicherweise 
treten aber auch andere Drüsenprodukte (Schleimdrüsen der Gebärmutter, 
des Gebärmutterhalses, der Scheide, der äußeren Scham, vielleicht auch 
der Harnröhre) in das Ejakulat weiblicher Kinder ein. Wollustempfindungen 
werden bereits bei kleinen Kindern beobachtet Indessen darf man nicht 


Digitized by 


Google 



Sexualität des Kindes. 


471 


alle Fälle, wo Kinder ein gewisses subjektives Behagen mit leichten Wiege¬ 
bewegungen zeigen, ohne weiteres als Wollustgefühl ansehen. Die eigent¬ 
liche Wollustakme und das damit verbundene BefriedigungsgefQhl treten 
übrigens im allgemeinen bei beiden Geschlechtern erst später als die gleich¬ 
mäßigen Wollustempfindungen auf. Während nach den Berichten der meisten 
die Wollustakme erst beim Auftreten von Ejakulat berichtet wird, gibt es 
einzelne Fälle, wo sie der Ejakulation anscheinend vorangeht. Doch ist nicht 
klar erkennbar, ob nicht ein minimales Sekret, das nicht bis nach außen 
ejakuliert wird, auch schon in solchen Fällen vorhanden ist und bei den 
rhythmischen Muskelkontraktionen herausgedrückt wird. 

Man wird aus dem vorhergehenden leicht begreifen, daß auch bei 
Kindern Masturbation nicht selten ist, und in der Tat wird jeder erfahrene 
Arzt über solche Fälle verfügen. Die vielfach erörterte Frage, welches 
Geschlecht hierbei stärker beteiligt ist, muß nach meinen Erfahrungen 
dahin beantwortet werden, daß das männliche Geschlecht einen erheblich 
höheren Prozentsatz stellt, daß aber bei weiblichen Kindern, wenn Mastur¬ 
bation geübt wird, in vielen Fällen eine exzessive Ausübung der Mastur¬ 
bation stattfindet, in dem Sinne, daß sie oft sogar mehrfach hintereinander 
in dem Zeitraum weniger Stunden ausgeführt wird. In nicht wenigen Fällen 
findet übrigens der erste Erguß im Schlaf statt, und zwar bei Auftreten 
eines sexuellen Traumes. Sexuelle Träume finden sich überhaupt öfter, be¬ 
reits in der zweiten Kindheitsperiode. 

Es liegt nahe, die Frage zu erörtern, unter welchen Bedingungen 
sexuelle Vorgänge beim Kinde auftreten, welches die Ursachen des früh¬ 
zeitigen Auftretens sind und welche Bedeutung letzteres hat. Man muß 
hierbei die beiden Kindheitsperioden unterscheiden und ebenso die Frage, 
ob es sich lediglich um psychische Vorgänge handelt oder nicht. Die Er¬ 
fahrung zeigt nun, daß psychosexueile Vorgänge in der zweiten Kindheits¬ 
periode durchaus nicht selten sind, daß sie ohne krankhafte Veranlagung 
verhältnismäßig oft Vorkommen. Eine ernstere Bedeutung hat das Auftreten 
der somatischen Vorgänge an den Genitalien. Im allgemeinen können wir 
das Auftreten dieser peripheren Vorgänge in der ersten Kindheitsperiode 
als Krankheit ansehen. Desgleichen ist das Vorkommen der psychischen 
Vorgänge in dieser Zeit auf pathologische Veranlagung verdächtig. Auch in 
den ersten Jahren der zweiten Kindheitsperiode wird man in dem Auftreten 
der peripheren Vorgänge einen Hinweis auf pathologische Veranlagung er¬ 
blicken dürfen, während die psychischen Erscheinungen des Geschlechts¬ 
triebes, erotische Neigungen, bereits in den ersten Jahren der zweiten 
Kindheitsperiode, ohne pathologisch zu sein, beobachtet werden. Selbstver¬ 
ständlich darf man nun nicht etwa mit einem bestimmten Tage eine deutliche 
Scheidung versuchen. Die Übergänge sind ganz allmähliche, und wenn wir 
die vielen individuellen Differenzen betrachten und ferner den Unterschied 
des Geschlechtes, den Einfluß der Rasse, der FamUienveranlagung usw., so 
wird man begreifen, daß man die Frage, ob etwas Pathologisches vorliegt, 
oft erst bei genauer Berücksichtigung aller individuellen Verhältnisse ent¬ 
scheiden kann. 

Unter den Faktoren, die für das Auftreten sexueller Erscheinungen 
in der Kindheit eine Rolle spielen, können wir die eingeborenen von denen, 
die erst später wirken, unterscheiden. Es gibt ganze Familien, bei denen 
auffallend früh das Geschlechtsleben erwacht. Vielfach wird hierbei erbliche 
Belastung angetroffen, aber doch nicht immer. Mit der Intelligenz hat die 
sexuelle Frühreife nichts unmittelbar zu tun. Letztere findet sich sowohl 
bei Imbezillen wie auch bei geistig besonders hervorragenden Personen. Bei 
manchen Rassen tritt die sexuelle Reifung früher ein als bei anderen. Wäh¬ 
rend nach Ribblng der Beginn der Geschlechtstätigkeit beim Weibe im 


Digitized by 


Google 



472 


Sexualität des Kindes« 


schwedischen Lappland im durchschnittlichen Alter von 18 Jahren, in Berlin 
von 15 Jahren 7 Monaten 6 Tagen erfolgt, wird für Ägypten das Alter von 
10 Jahren angenommen. Der Einfluß des Klimas ist ebenfalls oft angeführt 
worden, doch wird er sehr leicht mit dem der Rasse verwechselt. Jeden¬ 
falls ist die Annahme, daß die Wärme des Klimas das Eintreten der Periode 
verfrüht, Kälte verzögert, nicht bedingunglos richtig, da zum Beispiel bei 
den Samojeden-Eskimos die Periode bereits mit 12—13 Jahren, bei Dänen 
und Schweden aber im Alter von 16 oder 17 Jahren eintritt. Die vielfach 
sich findende Behauptung, daß bei den Mädchen der höheren Klassen das 
Geschlechtsleben früher eintritt als bei denen der unteren, ist nicht be¬ 
wiesen. Selbst die häufige Annahme, daß die Periode bei den Mädchen der 
Stadt früher eintritt als bei denen des Landes, darf nicht überschätzt wer¬ 
den, zumal da andere sexuelle Erscheinungen in der Kindheit auf dem Lande 
verhältnismäßig häufig beobachtet werden. Die angeblich größere Sittlichkeit 
des Landes besteht nur in der Phantasie; sie ist nicht nur durch zahlreiche 
Einzelbeobachtungen, wie sie mir in nicht geringer Zahl zur Verfügung 
stehen, leicht zu widerlegen, sondern sie ist auch, gerade was sexuelle Ver¬ 
fehlungen von Kindern betrifft, durch die bekannte Umfrage dreier Pastoren, 
.Wagner, Wittenberg und Hückstädt (Die geschlechtlich-sittlichen Verhält¬ 
nisse der evangelischen Landbewohner im Deutschen Reiche, zwei Bände, 
Leipzig 1897), widerlegt. Auch bestimmte Einflüsse des Lebens können eine 
Rolle spielen, zum Beispiel die Verführung, und zwar sowohl durch un¬ 
mittelbare körperliche Reizungen (Berührungen der Genitalien durch andere 
Personen) wie durch das psychische Kontagium. Dem Stangenklettern, den 
engen Hosen, dem Alkohol wird oft ein Einfluß beigemessen; es sind aber 
diese Einflüsse, wenn wir sie mit der Bedeutung der angeborenen Anlage 
vergleichen, nicht sehr groß. 

Wenn es einerseits sehr wichtig ist, das sexuelle Erwachen des Kindes 
zu erkennen, so bietet doch die Diagnose Schwierigkeiten. Die Unaufrich¬ 
tigkeit, die aus dem falschen Schamgefühl hervorgeht und auch das Sexual¬ 
leben des Erwachsenen verschleiert, findet sich schon beim Kinde, das in¬ 
stinktiv merkt, daß es sich hier um etwas ganz besonderes handelt, und 
daß es nicht mit dem Freimut darüber sprechen darf, wie über sonstige 
körperliche und seelische Vorgänge. Die Beobachtung des Kindes, die Fest¬ 
stellung sexueller Handlungen, zum Beispiel der Masturbation, aber auch 
eines auffälligen, leidenschaftlichen Herandrängens an andere Personen, das 
allzu zärtliche Liebkosen derselben können von größter Wichtigkeit für die 
Diagnose sein. Die oft für die Masturbation angegebenen Zeichen, Ränder 
an den Augen, eingefallene Wangen und ähnliche sind mehr als trügerisch, 
da sie weder allgemein bei Masturbation Vorkommen, noch auf diese be¬ 
schränkt sind. 

Da die somatischen Zeichen leicht täuschen, das Kind auch nicht nur 
unaufrichtig, sondern direkt zur Irreführung fähig ist, wird man begreifen, 
wie schwer es ist, über seine sexuellen Empfindungen Gewißheit zu erlangen. 
Am ehesten wird man durch eine Vertrauensperson zum Ziele kommen, 
deren Vertrauenswürdigkeit das Kind kennt. Ihr vertraut sich das Kind bei 
geeigneter Einwirkung sehr leicht an. Jedenfalls soll man das Kind nicht 
zu mißtrauisch ansehen. Es gibt Fälle, wo die Kinder so lange von einer 
mißtrauischen Mutter gedrängt werden, daß sie schließlich sexuelle Vor¬ 
gänge, zum Beispiel auch Masturbation, zugeben, ohne daß diese in Wirk¬ 
lichkeit besteht. Geständnisse, die auf starken Druck erfolgen, soll man 
nicht überschätzen. 

Wichtig können auch differentialdiagnostische Fragen werden; zum 
Beispiel soll man nicht jede Erektion als den Beweis des bereits erwaohten 
Sexuallebens ansehen, da, wie schon erwähnt, solche Erektion auch die Folge 


Digitized by 


Google 



Sexualität des Kindes 


473 


rein peripherer Prozesse sein kann (Ekzeme an den Genitalien, Würmer im 
Darm), die mit dem Sexualleben nichts zu tun haben. Ferner wird man 
etwaige, bloß der Nachahmung entsprungene Handlungen, selbst Spielen an 
den Genitalien nicht als den Beweis des erwachten Sexuallebens ansehen 
dürfen. So kann auch ein Flirt zwischen Knaben und Mädchen ausschlie߬ 
lich der Nachahmung entspringen, ohne daß hierbei von einem sexuellen 
Prozeß die Rede zu sein braucht. Schwierig kann die Diagnose dadurch 
werden, daß weit häufiger als beim Erwachsenen die verschiedenen Sym- 
pathiegefühle, zum Beispiel Freundschaft und Liebe, ineinander übergehen. 
Wenn sich die peripheren Vorgänge an den Genitalien noch nicht mit den 
psychosexuellen verknüpft haben, können Zweifel entstehen. Die Neigung 
eines Knaben zu einem gleichaltrigen Mädchen kann ebensowohl als Freund¬ 
schaft wie als Liebe angesehen werden, weil eben die Sympathiegefühle 
weniger voneinander getrennt sind. Die Eifersucht, die bei Erwachsenen 
mitunter ein erotisches Gefühl von einem anderen abgrenzen läßt, ist bei 
Kindern sehr ausgebreitet und durchaus nicht auf sexuelle Gefühle be¬ 
schränkt. Differentialdiagnostisch ist es ferner notwendig, auf den undifferen¬ 
zierten Geschlechtstrieb zu achten, damit nicht die von diesem abhängigen, 
anscheinend perversen Neigungen als Beweis einer sich entwickelnden Per¬ 
version angesehen werden. Masochistische und sadistische Empfindungsweise 
können ebenso wie homosexuelle in der Undifferenziertheit ihre Ursache 
haben und später spontan verschwinden. 

Der Umstand, daß aus dem frühzeitigen Erwachen der Sexualität un¬ 
günstige Folgen hervorgehen können, führt von selbst dazu, auf eine Unter¬ 
drückung solcher Erscheinungen zu sehen. Nicht etwa der Glaube, daß 
alles Sexuelle etwas sündhaftes ist, wie es Sittlichkeitsfanatiker hinzustellen 
belieben, soll zu solchen Maßregeln führen, sondern lediglich der genannte 
Grund. Man hat allerlei hygienische Maßnahmen seit langer Zeit empfohlen, 
um solchen frühzeitigen Regungen des Geschlechtstriebes entgegenzutreten. 
Man solle Kinder nicht im warmen Federbett, besonders wachend, liegen 
lassen. Man wird auf alle örtlichen Reizungen der Genitalien und der Ge¬ 
nitalgegend achten müssen, sei es, daß es sich um entzündliche Prozesse 
an den Genitalorganen selbst handelt, sei es, daß eng ansitzende Kleidungs¬ 
stücke dazu führen. Einige wollen das Stangenklettern beim Turnen ausschal¬ 
ten; manche haben sogar das Radfahren und Reiten als schädlich hingestellt. Bei 
auftretender Masturbation hat man auch Instrumente angewendet, die die 
Berührung der Genitalien unmöglich machen sollen. Methodische Abhärtung 
durch Wasserprozeduren, die Vermeidung bestimmter Gerichte, zum Beispiel 
der Fleischnahrung, sind ferner empfohlen worden. Doch glaube ich nicht, 
daß diese Vorschriften für genannten Zweck große Bedeutung haben. Mit¬ 
unter kann der Alkohol schädliche Wirkungen haben, indem sexuelle Phan¬ 
tasien dadurch angeregt werden, und deshalb wird man, zumal da er für 
Kinder einen Nutzen nicht gewährt, ihn diesen entziehen dürfen. Starke 
körperliche Bewegung bis zur Ermüdung ist schon von Hufeland gefordert wor¬ 
den. Gegen die verhältnismäßig häufig vorkommende nächtliche Masturba¬ 
tion kleiner Kinder hat Ftnt die längere Beaufsichtigung des Kindes wäh¬ 
rend der Nacht empfohlen. Es ist stets in dem Augenblick die Hand her¬ 
vorzuziehen, wo das Kind zu masturbieren sucht, mag es dabei wachen 
oder schlafen. 

Wichtiger al 9 die physikalischen Maßnahmen sind die psychischen; die 
in neuerer Zeit stark diskutierte Frage der sexuellen Aufklärung gehört 
hierher. Hygienische Gründe sprechen für die sexuelle Aufklärung, schon 
um das Kind, sei es für jetzt, sei es für später, vor Infektionskrankheiten 
und vor der Onanie zu schützen. Ethische Gründe desgleichen, weil die 
schmutzige Art der Aufklärung durch Kameraden gewiß das sittliche Ge- 


Digitized by 


Google 



474 


Sexualität des Kindes. 


fühl verletzt. Desgleichen können andere Grönde dazu führen. Gibt es doch 
zum Beispiel Frauen, die vollständig anwissend in die Hochzeitsnacht gehen. 
Im allgemeinen wird man aber die Aufklärung nicht zu weit treiben dürfen, 
und besonders wird die heute vielfach empfohlene Aufklärung in der Schule 
besser durch die im Hause, zumal durch die Mutter ersetzt werden, 
wenigstens soweit es sich um das eigene subjektive Sexualleben des Kindes 
handelt. Aber man soll überhaupt die Bedeutung der sexuellen Aufklärung 
nicht überschätzen. Wichtiger als der Appell an die intellektuelle Seite ist 
in sexuellen Fragen die Wirkung auf das Gemüt. Die Anerziehung eines 
nicht übertriebenen Schamgefühls und wahrer Sittlichkeit, die Zurückwei¬ 
sung der Forderungen von Sittlichkeitsfanatikern, die die Nacktheit des 
Menschen als etwas hinstellen, dessen er sich zu schämen hätte, wird von 
Bedeutung sein. Die in neuerer Zeit oft erörterte Frage der gemeinsamen 
Erziehung der Geschlechter hat auch ihre Bedeutung für das Sexualleben. 
Gerade in ihm hat man Gründe gegen dieses Erziehungssystem gesucht, 
indem man glaubte, daß dadurch sexuelle Frühreife und unsittliche Hand¬ 
lungen von Kindern ausgelöst würden. Mag man aber gegen die gemein¬ 
same Erziehung vieles Vorbringen und vielleicht soviel, daß man zu dem 
Schlüsse kommt, die gemeinsame Erziehung sei zu verwerfen, unter keinen 
Umständen ist es berechtigt, aus dem genannten Grunde diesen Schluß zu 
machen. Die Erfahrung hat nicht gezeigt, daß, wo die gemeinsame Erziehung 
stattfindet, das Geschlechtsleben der Kinder früher erwacht. Die vielen Er¬ 
fahrungen über sexuelle Akte in Internaten und in Pensionaten, wo Knaben 
und Mädchen voneinander getrennt erzogen werden, zeigen vielmehr, daß 
unabhängig von der Anwesenheit des anderen Geschlechts sexuelle Hand¬ 
lungen in der Kindheit ausgelöst werden. Auch der von manchen Seiten so 
warm geforderten religiösen Erziehung kann man einen sehr großen Einfluß 
auf das Sexualleben nicht beimessen. Daß eine wahrhaft religiöse Erziehung 
ähnlich gut wirkt wie eine wahrhaft sittliche Erziehung, ist allerdings zu¬ 
zugeben. Wenn man aber sieht, was heute unter religiöser Erziehung ver¬ 
standen wird, so kann man nur sagen, daß nichts verkehrter ist, als hierin 
ein wesentliches Mittel gegen sexuelle Handlungen von Kindern zu finden. 
Epidemien von maßloser Onanie sind mir aus Instituten bekannt, wo jeder 
Tag mit religiösem Gesang und Gebet eingeleitet wird, und ich weiß von 
Kindern, die Bibelsprüche und ähnliches recht genau auswendig wußten, 
dabei aber die Anführer in sexuellen Unsittlichkeiten waren. Daß eine wahr¬ 
haft religiöse Erziehung wohltätige Folgen haben kann und vielleicht auch 
manche sexuelle Akte unterdrückt, soll damit nicht bestritten werden. Auch 
manches, was zur religiösen Erziehung gehört, zum Beispiel die Lektüre der 
Bibel, muß besonders erwähnt werden, zum Beispiel die vielen sexuellen 
Stellen in der Bibel, bei denen sehr leicht dem Kinde der Widerspruch mit 
der sonstigen Scheu vor der Erwähnung des Sexuellen auffällt. Auch die 
Gefahren des Beichtstuhles seien angeführt, zum Beispiel die sicherlich gut 
gemeinten Worte des Beichtvaters, wenn das Kind seine sexuellen Verfeh« 
lungen schildert, die trotz der guten Absicht wegen des Fehlens der genü¬ 
genden Individualisierung ohne gute Wirkung bleiben müssen. Ferner er¬ 
wähne ich noch kurz die hypnotische Suggestion, die zuweilen gegen M&stur* 
bation empfohlen wird und die Ablenkung, die ebenfalls in der sexuellen 
Erziehung eine Rolle spielt, und bei frühzeitiger Sexualität nicht ganz wir¬ 
kungslos ist. Daß ganz besonders vor der Verführung das Kind geschützt 
werden muß, ist selbstverständlich. Im übrigen soll man sich vor der Poly¬ 
pragmasie hüten, da durch zu viele Maßregeln und eine zu ausgedehnte 
Beachtung der sexuellen Erscheinungen dem Kinde eher geschadet als 
genutzt wird. 

Literatur: Albfrt Moll, Das Sexualleben des Kindes. Berlin 1909. Albert Moll. 


Digitized by 


Google 



Spinale Kinderlähmung. — Spirosal. 


475 


Spinale Kinderlähmung* Über die FrQhstadien der spinalen 
Kinderlähmung macht Eduard Müller au! Grund von annähernd 50 frischen 
Fällen von »Poliomyelitis acuta epidemica«, die in der Provinz Hessen- 
Nassau zur Untersuchung kamen, beachtenswerte Mitteilungen. Die Über¬ 
tragung fand anscheinend von Person zu Person, häufig durch scheinbar 
gesunde Zwischenglieder — auch durch Erwachsene — statt; die Inkuba¬ 
tionszeit beträgt mindestens 5 Tage, durchschnittlich etwa eine Woche. Nach 
unbestimmten Vorläufersymptomen von wenigen Tagen setzt die Krankheit in 
der Regel ziemlich akut ein mit raschem Fieberanstieg (nicht selten 40—41°). 

Im febrilen Stadium bestehen entweder nur fieberhafte Allgemeiner¬ 
scheinungen oder daneben deutliche Lokalsymptome seitens des Respirations¬ 
und Digestionstraktus: Angina, Bronchitis, Gastroenteritis; nur einmal traten 
Lähmungserscheinungen auf, sonst keine spinalen Störungen. Häufig bleiben 
die letzteren Oberhaupt ganz weg, oder es kommt nur zu Verlost der 
Sehnenreflexe, zu Muskelhypotonien ohne gröbere Paresen. Trotzdem ist wäh¬ 
rend einer Epidemie die Stellung einer Diagnose schon in diesem Frflhstadium 
möglich, und zwar namentlich auf Grund von drei Kardinalerscheinungen: 
1. der auffälligen Neigung der Kinder zu profusen Schweißen; 2. der 
noch wichtigeren, geradezu pathognomonischen eigenartigen Hyperästhesie. 
Schon bei der schonendsten Untersuchung, bei bloßem Anfassen, bei der ge¬ 
ringsten passiven Bewegung schreien die Kinder laut auf, ziehen aus Angst 
vor Berührung die Bettdecke Ober sich usw. — Dabei besteht gewöhnlich 
keine Wirbel- und Nackensteifigkeit, sondern eher schmerzhafte Schlaffheit. 
Von der Überempfindlichkeit bei Meningitis ist diese Hyperästhesie schon 
durch das Fehlen von Bewußtseinstrübung und Wirbelsäulensteifigkeit sowie 
durch das Ergebnis der Lumbalpunktion leicht zu unterscheiden. Endlich 
3. der Leukopenie, der gelegentlich erheblichen Herabsetzung der Leuko¬ 
zytenzahl trotz des.Fiebers und der bestehenden Lokalerkrankungen. Weiter 
kommen eine gewisse Schläfrigkeit sowie eine lokalisierte Schwäche und 
Müdigkeit in den Extremitäten, Bauchmuskelschwäche, Meteorismus und 
Verschwinden der Bauchdeckenreflexe fröhdiagnostisch in Betracht. Bei der 
Lumbalpunktion stets Druckerhöhung und abnorm reichliche Flüssigkeit, 
klarer Liquor bei erhöhtem Eiweißgehalt, im Sediment nur Lymphozyten. 
— Als Krankheitserreger kommen vor allem Protozoen in Frage, Eingangs¬ 
pforte des Virus ist wohl der Respirations- und Darmtraktus (häufig die 
Tonsillen); hämatogene Invasion des Zentralnervensystems ist weniger wahr¬ 
scheinlich als lymphogene. Die Krankheit wäre am besten (nach Wickmann) 
als HciNE-MEDiNsche Krankheit zu bezeichnen. (Münchener Med. Wochen¬ 
schrift, 30. November 1909.) a. Eaienburg. 


Spirosal* Über diesenMonoglykolsäureesterder Salizylsäure zuräußeren 
Anwendung wurde bereits in Eulenburgs Encyclopädischen Jahrbüchern, 
Bd.16, N.F., T.Jhg. 1909, pag. 596 berichtet. Die ölige Flüssigkeit wird mit 
Spiritus aa. aufgepinselt und mit einem undurchlässigen Stoff bedeckt. Perl 1 ) 
hat 3—4 mal teelöffelweise dieses Gemisch in die Haut ein wirken lassen und 
bei akuten Krankheiten mit Schmerzen (Pleuritis sicca, Interkostalneuralgie, 
Lumbago, Muskelrheumatismus etc.), ebenso bei chronischen Nervenleiden 
(Tabes) gute Erfolge gesehen. Manchmal mußte die innerliche Aspirinmedi¬ 
kation zur Unterstützung herbeigezogen werden. Besonders in Verbindung 
mit Massage ist die Spirosaltherapie von Erfolg. Ebenso spricht sich Leh¬ 
mann 3 ) und Koch und Schultz 2 ) günstig über das Mittel aus. Die letzteren 
Autoren kombinierten es mit Stauung, ein Einfluß derselben auf die Resorp¬ 
tion des Salizyls ließ sich nicht feststellen, 

Literatur: *) Pbhl, Über Spirosal. Med. Klinik 1908, Nr. 15, pag.538. — *) Liebmann, 
Das Spirosal, Die Therapie der Gegenwart. August 1908, pag.383. — 3 ) Koca und Scbultz, 
Untersuchungen über Spirosal. Therapeutische Monatshefte, März 1909, pag. 156. E. Frey. 


Digitized by 


Google 



476 


Strophantin. 


Strophantin« Nachdem von Frankel das Strophantin in die intra¬ 
venöse Therapie eingeführt worden ist, hat es in neuerer Zeit zahlreiche 
Anwendung gefunden. Bei der Einspritzung dieser stark wirkenden Sub¬ 
stanz in die Blutbahn vollzieht sich die Umgestaltung des pathologischen 
Kreislaufes sofort vor unseren Augen und es weckt dieser plötzliche Um- 
Schwung »wie eine Wunderkur«. Auf der anderen Seite sind aber schlimme 
Erfahrungen nicht ausgeblieben, es ist zu plötzlichem Herztod gekommen. 
Und zwar handelt es sich bei diesen traurigen Ereignissen keineswegs immer 
um das Eintreten der gefürchteten Kumulationswirkung, indem schon inner¬ 
halb oder bald nach Ablauf von 24 Stunden eine neue Dosis gegeben wurde, 
sondern es haben Gaben von 0 * 6 , ja von 0 4 mg plötzlich zum Exitus ge¬ 
führt. Dies liegt offenbar daran, daß man im Einzelfaile nicht sagen kann, 
ob das kranke Herz über genügende Reservekräfte verfügt, um der plötz¬ 
lich gestellten Arheitsanforderung gewachsen zu sein. Während die einen 
einer vorsichtigen intravenösen Therapie — zum Beispiel nur wenn keine 
Digitalismedikation vorhergegangen ist oder mindestens 4 Tage nach einer 
solchen — das Wort reden (Fränkel x ), Liebermeister 2 ), widerraten andere 
(zum Beispiel Mendel 3 ) die intravenöse Gabe von so stark wirksamen Me¬ 
dikamenten überhaupt. 

In dieser Hinsicht muß eine Arbeit von Heffter 4 ): Sind die Strophan¬ 
tins des Handels pharmakologisch gleichwertig? unser Interesse auf sich 
ziehen. Heffter fordert von einem intravenös zu applizierenden Arznei¬ 
mittel in erster Linie, daß es ein einheitlicher, mit Sicherheit zu identifi¬ 
zierender chemischer Körper sei. Dieser Anforderung genügen die Strophan¬ 
tins des Handels nicht. Schon das Ausgangsmaterial, die Samen vonStro- 
phantus kombö, scheinen nicht immer gleichmäßig rein zu sein, die tief grüne 
Färbung des Endosperms mit konzentrierter Schwefelsäure geben nicht alle 
Samen, einmal nur 34 von 50 Stück. Auch die Strophantins selbst zeigen 
ein verschiedenes Verhalten gegenüber konzentrierter Schwefelsäure, das 
krystallisierte Strophantin Thoms (aus dem Samen von Strophantus gratus) 
wird orange- bis ziegelrot verfärbt, die übrigen amorphen Strophantins, 
welche kolloidale, schäumende Lösungen geben, zeigen einen grünen Farben¬ 
ton mit Schwefelsäure. Letztere Präparate sind das Strophantin von Bokh- 
ringer und Söhne, Strophantin puriss. von E. Merck, Strophantin puriss. 
von Schuchardt. Kocht man diese drei amorphen Strophantine mit , / t °/ 0 iger 
Salzsäure, so werden sie unter Bildung eines wasserunlöslichen kristallisierten 
Strophantidins zerlegt. Aus allen drei Präparaten entsteht dasselbe Stro- 
phantidin, aber in einer Ausbeute von 25—42%, also differieren die Han¬ 
delsprodukte erheblich voneinander. Aus dem Strophantin B, welches mit 
konzentrierter Schwefelsäure keine rein grüne Färbung gab, sondern einen 
rötlichbraunen Ton beigemengt zeigte, hat Heffter durch Behandeln mit 
Alkohol ein kristallinisches Strophantin erhalten können, das mit Schwefel¬ 
säure sich rot färbt und auch sonst die Eigenschaften des kristallinischen 
Strophantin Thoms besitzt. Die pharmakologische Prüfung dieser Präparate 
am Frosch ergab, daß die Mengen, welche das Herz eines 50 <7 schweren 
Frosches in 30 Minuten zum Stillstand brachte, sehr verschiedene sind, am 
wirksamsten waren die beiden kristallisierten Präparate. Ebenso verschieden 
waren die letalen Dosen bei intravenöser Injektion beim Kaninchen: gr.- 
Strophantin krist. 016 mg pro 1 kg, Stroph. B. krist. 0*16, Stroph. B. 0*34. 
Stroph. M. 0*22 , Stroph. Sch. 0’36 mg pro 1 Ä*</, es kommen also Schwan¬ 
kungen von 1 : 2*2 in der Gabengröße vor. Die kristallisierten rot reagie¬ 
renden Strophantine sind also die wirksamsten Präparate, 2mal so wirk¬ 
sam als die amorphen Handelssorten. Da letztere therapeutisch allein an¬ 
gewendet werden, und zu ihrer Herstellung zum Teil von einem nicht 
einheitlichen Drogenmaterial angegangen wird, so kann einmal ein anders 


Digitized by 


Google 



Strophantin. — Sumach« 


477 


wirkendes Präparat in den Handel kommen, sobald der Vorrat an Stro¬ 
phantin oder an der Droge in der Fabrik za Ende ist. Daher warnt Heffter 
vor der intravenösen Injektion dieser nicht genügend reinen Substanzen. 
Daß bisher verhältnismäßig wenig schlimme Erfahrungen damit gemacht 
worden sind, liegt darin, daß bisher klinisch ausschließlich das Präparat 
einer Fabrik angewandt wurde, das Strophantin von Boehringer und 
Söhne ; schon das MERCKsche Präparat ist bei weitem wirksamer und 
giftiger. 

Literatur: *) FrInkel, Über die Gefahren der intravenösen Strophantintherapie. 
Therapent. Monatshefte, Febrnar 1909, pag. 109. — *) Ltbbsrueister, Med. Klinik, Beiheft 8, 
1908. — s ) Mbhdel, Die Wirkung and Ausscheidung intravenös injizierter Medikamente, 
nebst Bemerkungen über die intravenöse Attritin-, Atoxyl* und Digitalistherapie. Die Therapie 
der Gegenwart, Juli 1908, pag. 297. — 4 ) Hepftkr, Sind die Strophantine des Handels 
pharmakologisch gleichwertig? Therapeut. Monatshefte, Januar 1909, pag. 45. 

E . Frey . 

Stovain. In einer Reihe von Fällen, in welchen die Stovainanästhesie 
des Rückenmarkes angewandt und später aus verschiedenartiger Ursache der 
Tod eingetreten war, hat Spielmeyer die histologische Untersuchung des Zen¬ 
tralnervensystems ausgeführt In 7 Fällen war 012 oder 01 und in 6 Fällen 
0*05—0*07 Stovain gegeben worden. In den letzten Fällen und in 3 Fällen 
der ersten Gruppe ließen sich keine charakteristischen, pathologischen Ver¬ 
änderungen nachweisen. »Allerdings zeigten die NissL-Präparate in 5 von 
diesen 9 Fällen deutliche Abweichungen vom Äquivalentbilde der normalen 
Zelle. Aber da handelt es sich lediglich um das, was man wohl als »ein¬ 
fache Chromolyse« der Nervenzellen bezeichnet: um eine krümelige oder 
stäubchenförmige Auflösung der Nisslschollen, um ein Zusammenfließen der 
Granula, eine unscharfe Differenzierung der ungefärbten Bahnen von dem 
benachbarten Tigroid, Fältelung der Kernkapsel etc.« Die Veränderungen 
fanden sich wechselnd in ihrer Ausbreitung und Verteilung über die verschie¬ 
denen Höhen des Rückenmarkes, und zwar immer nur vereinzelt. Solche 
»einfache Chromolyse« trifft man nach Spielmeyer häufig unter dem Einfluß 
von Allgemeinerkrankungen, Vergiftungen und Infektionen oder nach länger 
dauernder Agone. Sie sind uncharakteristisch. 

In einigen Fällen aber fanden sich ebenso wie bei experimenteller 
Stovaineinspritzung in dem Wirbelkanal von Hunden und Affen andere Ver¬ 
änderungen , welche Spielmeyer als charakteristische Schädigungen des 
Rückenmarkes durch das Stovain ansieht. Es handelt sich dabei um eine 
Erkrankung der großen polygonalen, motorischen Zellen im Vorderhorn. 
Diese degenerativen Veränderungen waren teils reparabel, teils irreparabel. 
Sie scheinen die Ursache für die manchmal beobachteten Augenmuskelläh¬ 
mungen zu sein. Gerade hier, wo nur eine kleine Anzahl von Zellen in den 
motorischen Kerngruppen in Frage kommt, kann ein Ergriffensein einiger 
Zellen schon einen funktionellen Ausfall bedingen, während sich die Schädi¬ 
gung anderer Vorderhornzellen klinisch nicht bemerkbar macht. Außerdem 
fand sich bei den Tierexperimenten eine Degeneration in den hinteren 
Rückenmarkswurzeln und den langen Faserzügen derselben Stellen, die sich 
durch eine hohe Empfindlichkeit (Tabes, Trypanosomentabes, Hinterwurzel¬ 
degenerationen bei Hirntumoren) auszeichnen. 

Literatur: Spirlmkykr, Veränderungen des Nervensystems nach Stovainanästhesie. 
Münchner Med. Wochenschr., 1908. Nr. 31, pag. 1629. E.Frey . 

§nmach. Neben der im Band II, Neue Folge dieser Jahrbücher auf 
pag. 518 besprochenen Primula o'bconica und neben Cypripedium (vgl. 
pag. 120 des VH. Bandes) sind als Pflanzen mit spezifisch hautreizenden Eigen¬ 
schaften gewisse Sumach-(Rhus-)Arten (Familie der Anacardiaceen) zu 
nennen. 


Digitized by t^ooQle 



478 


Sumach. 


Rhus Toxicodendron L. Giftsumach, Giftefeu, Gifteiche, Sumac 
vöndneux, Poison ivy, Poison oak, kommt in zwei Varietäten vor, 
als niederliegender Strauch (Var. vulgare) und als aufrechter Strauch oder 
niedriger Baum (Var. quercifolium). Der Giftsumach ist in Nordamerika 
heimisch, wird aber auch bei uns als Zierstrauch bisweilen angepflanzt und 
ist vereinzelt hier verwildert gefunden worden (Fig. 118). 

Rhus venenata D. C. (Rhus vernix L.), Firnisse mach, poison- 
sumac, -tree, -dogwood usw. Ein niedriger Baum, dessen Heimat das 
atlantische Nordamerika (Kanada bis Florida im Osten, Minnesota und 
Louisiana im Westen) ist; er dient zur Firnisbereitung. 

Diese beiden Sumacharten enthalten einen gelben Milchsaft, der sich 
an der Luft unter Schwarzwerden verändert. 

Sie gelten als die giftigsten Pflanzen 
(Rhus Toxicodendron wird in Amerika sogar 
als die Giftpflanze bezeichnet), was dann 
berechtigt erscheint, wenn man annimmt, 
daß nicht nur der Milchsaft bei Berührung, 
sondern selbst die Ausdünstungen dieser 
Sträucher schwere Hautentzündung veran¬ 
lassen können; übereinstimmend lauten die 
Angaben hierüber jedoch nicht. So meint 
Kunkel, daß auch dem Milchsaft nach der 
Aussage von Leuten mit eigenen ein¬ 
schlägigen Erfahrungen nicht die Giftigkeit 
des Giftsumachs zuzuschreiben sei. Auch 
Schwalbe nimmt an, daß die Trichome der 
Pflanzen es sind, die ähnlich wie bei der 
Primula obconica ein Sekret produzieren, 
das, mit der Haut in Berührung gebracht, 
örtlich reizend wirkt. Schwalbbs Behaup¬ 
tung, daß diese Härchen Toxicodendrol ent¬ 
hielten , ist durch keinerlei Beweise ge¬ 
stützt. Durch keine einwandfreie Beobach¬ 
tung ist sichergestellt, daß die »Ausdünstun¬ 
gen«, »Emanationen«, der Pflanze eine 
Sumachdermatitis erzeugen, so daß also 
eine Dermatitis durch den Giftsumach par 
distance, ohne jedes Inberührungkommen 
mit Teilen des Strauches, als ausgeschlossen 
bezeichnet werden muß. Mit Rücksicht auf 
die Verschiedenheit der Ansichten über die 
Ursache der hautreizenden Wirkungen des 
Giftsumachs erscheint es notwendig, zunächst das Beobachtungsmaterial über 
die Wirkungen dieser Giftpflanze hier zusammenzustellen. 

Fontana schreibt hierüber 1781: »daß er sehr ernsthafte Zufälle er¬ 
litten habe, als er die Blätter von Rhus toxicodendron zu drei verschiedenen 
Malen und in einer Zwischenzeit von mehreren Tagen berührt hatte; vier 
oder sechs Tage nachher schwollen die Augenlider, Ohrläppchen und über¬ 
haupt die ganzen Teile des Gesichtes an und schienen mit einer wässerigen 
Flüssigkeit angefüllt zu sein. Die Zwischenräume zwischen den Fingern 
wurden rot und mit kleinen Blasen, die eine durchsichtige Feuchtigkeit 
enthielten, bedeckt; die Oberhaut sonderte sich in kleinen Schuppen 
ab; er bekam 14 Tage lang ein erschreckliches Brennen, und in den 
folgenden 14 Tagen ein unerträgliches Jucken; der Puls war sehr auf¬ 
geregt«. 


Fig. 118. 



Rhus Toxicodendron. (Nach Enoler in 
Natitrl. Pflanzenfam.) 


Digitized by 


Google 



S um ach. 


479 


Buchheim gibt an, daß, wenn nach Berührung etwas Milchsaft auf 
der Haut des Menschen eintrocknet, eine ekzematöse Entzündung entsteht 
und daß diese durch die Finger auf andere Körperstellen zu übertragen sei. 

Maisch (1865), der annahm, daß ein flüchtiger Stoff von Säure¬ 
charakter, die Toxicodendronsäure, die Giftigkeit des Giftsumachs be¬ 
wirke, berichtet, bei der Darstellung dieses Stoffes als wässerige Lösung durch 
Mazeration der Blätter, Auspressen und Destillation an einem ausgedehnten 
Ekzem mit zahlreichen Bläschen auf dem Handrücken, den Fingern, Hand¬ 
gelenken und Unterarmen gelitten zu haben; er selbst habe das Bläschenekzem 
auf andere Leute, denen er die Hand gegeben, übertragen. Durch Aufträgen der 
verdünnten Säure auf die Haut mehrerer Personen sei es ihm gelungen, in 
einigen, wenn auch nicht in allen Fällen Eruptionen auf der Haut zu erzeugen. 

Ebensowenig wie über die Wirkungen im einzelnen sind wir über die 
wirksamen Bestandteile der giftigen Rhusarten unterrichtet. 

Als wirksamer Bestandteil des Giftsumachs wurde von Buchhbim 
Cardol angesehen. Pfaff hält auf Grund seiner Versuche die von Maisch 
gefundene flüchtige Säure, die sogenannte Toxicodendronsäure, für Essig¬ 
säure. Er erhielt bei seinen Versuchen zunächst ein noch unreines öl, das, 
auf die menschliche Haut gebracht, die von der Berührung des Giftsumachs 
her bekannten Hautentzündungen erzeugte. Pfaff fand in diesem öl als 
wirksame Substanz einen Stoff, der zwar nicht Cardol ist, aber ohne Zweifel 
in die pharmakologische Gruppe der Hautreizmittel des Cardols einzureihen 
ist, Toxicodendrol, das er als Bleisalz gewinnen konnte. (Andere Ver¬ 
bindungen sind nicht dargestellt worden, auch ist die Ausführung der 
Elementaranalyse sowie die Entscheidung der Frage, ob das Toxicodendrol 
von Rhus toxicodendron und das von Rhus venenata chemisch identisch sind, 
von Pfaff bisher erst in Aussicht gestellt worden.) 

Pfaff fand das Toxicodendrol genannte unreine öl in allen Teilen 
der Pflanze, in Stamm, Zweigen, Wurzeln, Blättern und Früchten (nicht 
angegeben, ob grüne oder reife Früchte). Blätter und Früchte enthielten die 
größte Menge dieses Öls. Rhus venenata scheint nach Pfaffs Untersuchungen 
reicher an Toxicodendrol zu sein als Rhus toxicodendron. Toxicodendrol ist 
bei gewöhnlicher Temperatur nicht flüchtig. 

An rohem öl enthielten von Rhus toxicodendron: die Früchte 3*6%, 
die Blätter 3*3%, die Stämme und Zweige 1*6%- 

Das wirksame öl ließ sich auch gewinnen aus Pflanzen, die wochen¬ 
lang mit Schnee im Winter bedeckt gewesen waren, ebenso aus völlig aus¬ 
getrockneten Ästen, die über ein Jahr im Laboratorium gestanden hatten. 

Das öl beider Sumacharten zeigte die nämlichen Entzündung erregenden 
Wirkungen. 

Dr. Hibbard, der vorher schon zu wiederholten Malen bei dem Arbeiten 
mit diesen beiden Sumacharten Hautentzündungen erlitten hatte, brachte in 
Pfaffs Laboratorium zu Versuchszwecken eine kleine Menge Toxicodendrol 
(aus Rhus venenata) auf den einen Unterarm. Nach 5 Stunden verspürte 
er leichtfes Brennen; es folgten Hautrötung, Schmerzen, Bläschenbildung 
und Schwellung. Den Zustand nach 65 Stunden zeigt Fig. 119. Als die Ent¬ 
zündung um sich griff, wurde Zinkpastenbehandlung eingeleitet. Fig. 120 stellt 
die Erscheinungen am 6. Tag dar. Schließlich wurde die Zinkpastenbehandlung 
unterlassen und der Arm mit Wasser und Seife intensiv wiederholt gewaschen. 
Die Hanterkrankung, die alle Stadien der Entzündung bis zur Krusten¬ 
bildung durchgemacht hatte, heilte ohne Folgeerscheinung innerhalb 14 Tagen. 
Allgemeinstörungen waren niemals vorhanden, nur wird angegeben, daß 
leichtes Fieber (?) während eines Tages bestand. 

Pfaff erzeugte sodann zwei weitere derartige Dermatitiden, die aber 
nicht behandelt wurden ; die Weiter Verbreitung wurde hierbei durch perma- 


Digitized by 


Google 



480 


Sumach. 


nentes Bandagieren verhindert. Auch stellte er zahlreiche Versuche an sich 
and anderen an. am die Starke der Reizwirkung des Toxicodendrols and die 
Länge der Latenzperiode za bestimmen. Mit einer einzigen Ausnahme erwies 
sich das aas dem Bleisalz freigemachte öl als ein sehr starkes Hautreiz- 
mittel, von dem bereits äußerst kleine Mengen wirksam waren. Einige 
Zehntel eines Milligramms erzeugten mehrere hundert Bläschen und be¬ 
trächtliches ödem des Vorderarmes. In einem Fall genügte schon das Auf¬ 
trägen von V200 mg Toxicodendrol, um eine mit Schmerzen and Schlaflosig¬ 
keit einhergehende heftige Dermatitis hervorzurufen, in einem anderen soll 
selbst V1000 eines Milligramms wirksam gewesen sein. 

Pathognomonische Kennzeichen, die ohne Kenntnis der Kranken¬ 
vorgeschichte die sichere Diagnose auf Rhusdermatitis stellen lassen, sind 
in der Fachliteratur nicht beschrieben. 

Fig. 119. 



Experimentell erzeugte Dermatitis durch ein aus Rhus renenata gewonnenes öl, 65 Standen 
nach der Applikation. (Nach Fr. Pfaff.) 

Fig. 1*20. 



Experimentell erzeugte Dermatitis (s. Fig. 126), 6 Tage nach der Applikation. (Nach Fr. Pfaff.) 


Die Latenzzeit war, wie bei den gelegentlichen Vergiftungen durch 
Berührung des Giftsumachs, sehr schwankend, betrug in der Regel 4 bis 
5 Tage. Bei Kaninchen trat die experimentell erzeugte Entzündung auf der 
rasierten Haut durch Toxicodendrol erst nach 1 bis 2 Wochen auf. Nach dem 
Abheilen des Ekzems zeigten die Haare an diesen Stellen ein stärkeres 
Wachstum (ähnlich dem Verhalten bei Kanthariden). 

Als beste Behandlung der Rhusdermatitis hat Pfaff die Be¬ 
seitigung der Bläschen, der Krusten usw. empfohlen, und zwar zunächst 
mechanisch durch Abwaschen mit Seifenwasser und Abbürsten, sodann 
chemisch durch Abreiben mit Alkohol, Äther oder anderen Lösungsmitteln 
für öl. Acree und Syme wollen Kaliumpermanganatlösung erprobt haben. 
Zu vermeiden ist streng die Weiterverbreitung des Giftstoffes durch Kratzen, 
Reiben des Kleidungsstückes : deshalb ist Salbenbehandlung nicht rationell. 

Acree und Syme haben neuerdings aus dem ätherischen Extrakt von 
Blättern und Blüten des Rhus toxicodendron eine komplexe Substanz von 


Digitized by 


Google 








Sum ach. 481 

glykosidischer Natur isoliert, deren Wirksamkeit im Selbstversuch er¬ 
wiesen werden konnte. 

Nach diesen Laboratoriums versuchen erscheint es ausgeschlossen, 
daß ohne eine Berührung mit Teilen der Pflanze die Rhusderma- 
titis entsteht, allerdings mag schon die leiseste Berührung genügen, um 
sie zu erzeugen; derartige flüchtige Berührungen können begreiflicherweise 
leicht übersehen werden. Wenn es zutreffend ist, daß bei männlichen Bäumen 
in der Blütezeit durch Pollen — und sie sollen Toxicodendrol enthalten — 
die Dermatitis erzeugt wird, so erklärt es sich leicht, warum das Schlafen 
unter solchen Sträuchern diese gefährliche Erkrankung nach sich gezogen 
hat. Pfapp, der über ausgedehnte eigene Erfahrungen verfügt, schreibt noch 
besonders, daß Hunderte von Personen während seiner Versuche durch das 
Laboratorium gingen, daß aber nur dann Erkrankung erfolgte, wenn Personen 
mit der Pflanze oder dem freien öl in direkte Berührung kamen, oder wenn 
sie mit Personen oder Gegenständen in Kontakt kamen, die mit der Pflanze 
eben in Berührung gewesen waren. 

Damit stehen auch die von K. Schwalbk (Los Angeles) angezogenen Beobachtungen 
in Übereinstimmung: 

1. Ein Rind von'6 Jahren wurde von einem Diener, der während des Vormittags mit 
Ausrottung von Rhuspflanzen beschäftigt gewesen war, gebadet und dabei unter den Achsel¬ 
höhlen gehalten. Nach drei Tagen traten in den Achselhöhlen und überall da, wo das Kind 
sonst berührt worden war, Hautaffektionen ein, die in Ulzerationen übergingen und den Tod 
veranlaflten (1873). Der Diener wurde anscheinend nicht von einem Ekzem befallen. 

2. Eine Dame schlief mit ihrer Schwester in dem Bett, in welchem der mit Rhus in¬ 
fizierte Qatte der Frau die Nacht vorher geschlafen hatte, ohne daß das Bettzeug gewechselt 
worden war. Die Dame bekam einen Ausschlag im Nacken und im Qesicht; die Schwester blieb 
frei von jeder Hauterkranknng (Dr. Walker, Med. News 1891). 

3. Eine Wöchnerin wurde von einer Wärterin besorgt, die auf einem Spaziergang von 
einer Rhuspflanze gepflückt, hinterher sich aber gründlich gewaschen hatte. Drei Tage später 
stellte sich bei der Wöchnerin ein Bläschenausschlag in der Nabelgegend ein. Ein ähnliches 
Ekzem trat auch an den Händen der Wärterin auf (Cantrbll, Med. News 1901). 

Von Allgemeinerscheinungen werden in den Sammelwerken beschrieben: 
Brechneigung, zentrale Störungen, Schwäche, Sopor; vermutlich liegen hier 
Verwechslungen mit Erkrankungen nach dem Genuß von Teilen des Sumachs 
vor. Die Originalarbeiten enthalten wenigstens derartige Angaben bei Rhus- 
dermatitis nicht. White beschreibt einen Fall, bei dem tiefe Geschwüre 
auftraten und die Vergiftung tödlich war. In einem anderen Fall war eine Person 
durch Berührung des Giftsumachs 18 Monate lang krank; sie klagte mit Erfolg 
auf Schadenersatz gegen die Direktoren eines Friedhofes in New-York, in dem 
die Bäume standen, welche die Dermatitis veranlaßten (Peterson und Haines). 

Pfafp, der bei seinen Versuchen das öl Toxicodendrol auch Kaninchen 
in den Magen einführte, fand bei den Tieren nach dem Tode diphtherische 
Auflagerungen im Magen und schwere Nierenentzündung. Auch Menschen 
sollen infolge Genusses frischer Teile der genannten Rhusarten gestorben sein; 
Sektionen scheinen nicht vorzuliegen. 

Unaufgeklärt ist, daß einzelne Menschen unempfindlich gegen das 
Sumachgift zu sein scheinen und daß einige wenige Menschen auch eine 
ganz besondere Empfindlichkeit zeigen. Ähnliches ist auch von der Empfind¬ 
lichkeit gegenüber der Primula obconica berichtet worden; doch hat Nestler, 
der erfahrenste Kenner der hautreizenden Primelarten, neuerdings gelegentlich 
der Untersuchung der Primula mollis behauptet, daß bei geeigneten Ver¬ 
suchsbedingungen jeder Mensch sowohl gegen Primula mollis als gegen 
Pr. obconica empfindlich sei. (Sanftes Reiben der Innenseite des Unterarmes 
mit einem stark behaarten Blütenschaft, so daß auch das Sekret der 
kleinsten Drüsenhaare auf die Haut gelangt.) Hiernach darf vermutet werden, 
daß sich auch die Sumachdermatitis experimentell an geeigneten Hautstellen 
bei jedem Menschen würde erzielen lassen. 

Eaojrclop. Jahrbücher. N.F. VIII. (XVII.) Google 



482 


Sumach. 


Stevens und Wahren haben chemisch eingehend Rhos venenata 
untersucht, vermochten aber ebenfalls nicht zur Gewinnung einer reinen 
Substanz zu gelangen. Da die Werte der ElementaranalyBe der dem Toxi- 
codendrol Ppafps analogen Substanz aus Rhus venenata unter sich weit aus¬ 
einander gingen, halten sie den wirksamen Bestandteil von Rh. ven. nicht 
für einen einheitlichen Stoff, sondern für ein Gemisch. Die reifen Früchte 
enthielten die hautreizende Substanz nicht. Die Wirksamkeit des hautreizen¬ 
den Bestandteiles der Rhus venenata prüften sie auf zwei Weisen. Einerseits 
wurde auf den Unterarm nach Aufkleben eines gummierten Papiers mit 
einem Loch vom Durchmesser 6 mm auf diese Flüche die zu prüfende Substanz 
mit dem Glasstab eingerieben; wenn nach 30 Minuten das Papier beseitigt 
und die eingeriebene Stelle mit Äther abgewaschen wurde, war die Haut¬ 
stelle gerötet (Stevens). Oder es wurde auf die Innenfläche des Ohrs eines 
Kaninchens die betreffende Substanz gebracht, nach 2 bis 5 bis 6 Tagen 
zeigte sich Rötung, Schwellung, Bläschenbildung mit nachfolgender Nekrose 
(Jadassohn). 

Ähnlich hautreizend sollen auch noch andere Sumacharten wirken, die 
aber für Europa kein praktisches Interesse darbieten ; nur die sogenannte 
Lackkrankheit ist hier noch zu erwähnen, die beim Hantieren mit dem 
zum Lackieren der Japanwaren gebrauchten Milchsaft aus Rhus vernici- 
fera D. C., dem Lackbaum (Japan, China), entstehen kann, aber nur eine ver¬ 
hältnismäßig leichte Hautentzündung darstellt Stevens und Wahren stellten 
fest, daß im Tierversuch die reizende Wirkung des Lackbaums ganz ühnlich 
der von Rhus venenata ist. Tschirch und Stevens fanden darin neben Essig¬ 
säure ein nichtflüchtiges Harz, das sie als wirksamen Bestandteil ansehen. 

Folia Toxicodendri, Herba Rhois Toxicodendri, die getrockneten 
Blätter des Giftsumachs, waren früher in Deutschland (Pharm. Germ. I) und 
in Frankreich offizineil. Sie wurden bei Hautkrankheiten (chronisches Ekzem. 
Psoriasis, Zoster) und bei rheumatischen und gichtischen Leiden in Form 
von Einreibungen verwendet. Bei verschiedenen Lähmungsarten wurden sie 
auch innerlich verordnet; doch dürfte ihr Gebrauch nur noch ganz vereinzelt 
sein. Beim Hantieren mit den getrockneten Blättern sind keine Reizer¬ 
scheinungen beobachtet worden. Zu arzneilichen Zwecken finden manche 
andere Sumacharten Anwendung, so Cortex radicis Rhois aromaticae 
(Sweet sumac) ; ein daraus hergestelltes Fluidextrat ist als blutstillendes 
Mittel, ferner bei Dysenterie und Enuresis vereinzelt angewendet worden 
(Tinctura Rhois aromaticae — Dresdener Vorschrift — besteht aus Fluid¬ 
extrakt 1, Spiritus 1 und Wasser 2). 

In den Arzneibüchern der Kulturstaaten ist zurzeit keine Rhusart offizineil. 

Literatur: S. F. Acrke und W. A. Syme, Einige Konstituenten des Giftsumachs. 
American Chem. Journal, 1906, XXXVI, pag. 301, zitiert nach Chem. Zentral bi 1906, 11, 4, 
pag. 1441. — Buch heim , Lehrbuch der Arzneimittellehre. 3. Aufl., 1878, pag. 381. — Fok- 
tana, zitiert nach Orfilas Allgem. Toxikologie, 1839, I, pag. 596. — F. Louis Frani, 
Remarks on Rhus Toxicodendron. Medical Record, 1898, I, pag. 561. — A. F. Hudson, Au 
antidote to the Rhus poison. Ebenda II, pag. 173. — Kobhbt, Lehrbuch d. Intoxikationen, 
1906, II, pag. 511. — Maisch, Proceed. of the Amer. pharm aeeut. associat., 1865, pag. 166, 
zitiert nach Pfaff. — Franz Pfaff, On the active principle of Rhus toxicodendron and 
Rhus venenata. Journ. of exp. medicine, 1897, Bd. II, pag. 181. — K. Schwalbe, Die giftigen 
Arten der Familie Rhus nsw. Münchener raed. Wochenschr., 1902, II, pag. 1616. — A. B. Stk 
ven s und L. E. Wahren , Poison sumac. American Journal of pharmacy, 1907, LXXIX, 
pag. 499. — A. Tschirch und A. B. Stevens, Über den Japanlack (Kiurusbi). Arch. d. 
Pharm., 1905, CCXXX1II, pag. 504 . — C. James White, Dermatitis venenata. Boston 1887, 
zitiert nach Pfaff und nach F. Peterson und W. Haines, A textbook of legal medicine and 
toxicology, 1904, II, pag. 632. — Außerdem: A. Nestler, Die hautreizende Wirkung der 
Primula mollis Hook und Primula Arendsii Pax. Ber. d. Deutschen Botan. GeselUch., 1908, 
XXVIa, pag. 468. — A. Nestler, Über hautreizende Pflanzen. Lotos, 1908, LVI, Heft 6. 

B. Rost- 


Digitized by ^.ooQle 



Tabakrauch* Interessante Studien über das Tabakrauchen hat 
Lehmann angestellt. Er untersuchte, wieviel Nikotin beim Rauchen in den 
Rauch Übergeht, ob diese Menge genügt, um die bekannten Erscheinungen 
hervorzurufen, oder ob noch andere Substanzen dabei in Frage kommen. Im 
Tabak selbst ist das Nikotin das einzig praktisch in Frage kommende Gift. 
Anders verhält es sich mit dem Rauch. Hier finden sich außer dem Nikotin 
noch Pyridinbasen, Kohlenoxyd, Blausäure und Schwefelwasserstoff. Raucht 
man durch eine Wasserflasche mit verdünnter Schwefelsäure, so können 
ohne Schaden die stärksten Zigarren geraucht werden. Auch wenn man eine 
Luft von 6*5% Kohlenoxyd, wie sie dem Rauch entspricht, eine Stunde 
lang in die Mundhöhle saugt und dann wieder ausbläst, zeigt sich keine 
Wirkung. Es kommen also nur die 3 basischen Bestandteile des Tabak¬ 
rauches, Nikotin, Pyridin und Ammoniak in Betracht. Eine quantitative 
Untersuchung des Zigarrenrauches wurde in der Weise vorgenommen, daß 
die Säugpumpe Zigarren oder Zigaretten rauchte (= Hauptstrom) und 
daß über die brennende Zigarre eine Glasglocke gestülpt wurde, in der sich 
ein gelblicher Belag niederschlägt (aus dem »Nebenstrom« stammend, der 
sonst ins Zimmer geht). Es ergab sich, daß zirka 92% des Nikotins in den 
Rauch übergeht. Praktisch gelangt allerdings nur % des Nikotins in den 
Mund, da sich das letztere im Stummel ansammelt. Es werden aus 1 g Zi¬ 
garre etwa 5 mg Nikotin in die Mundhöhle aufgenommen, aus 1 g Zigarette 
4 mg und gleichzeitig 1*2 mg Pyridin (bei der Zigarette 0 9 mg und 5 resp; 
3*2 mg Ammoniak). Wieviel nun von diesen Mengen zur Resorption kommen, 
hat Lehmann auf zwei Weisen ermittelt, erstens nach der Spülmethode: 
nach 2—3 Zügen wird der Mund des Rauchers ausgespült und die Basen 
im Spülwasser bestimmt. Der zweite Weg ist der indirekte und nach Leh¬ 
mann der bessere: es wird ein Raucher in dem Hauptstrom eingeschaltet, 
der den Rauch durch die Absorptionsgefäße bläst. 

Aus diesen Versuchen ergibt sich, daß Pyridin, Lutidin und Kollidin 
in so geringen Mengen aufgenommen werden, daß sie eine Wirkung nicht 
entfalten können. Je 50 mg dieser Substanzen, das heißt weit größere Men¬ 
gen als beim Rauchen in Frage kommen, sind von Lehmann ohne eine Spur 
von Wirkung innerlich genommen worden. Ammoniak könnte höchstens 
Reizsymptome des Rachens herbeiführen und zur »Schärfe« des Eindruckes 
beitragen, aber nicht zerebrale Wirkungen entfalten. Das Nikotin wird zwar 
in geringen Mengen absorbiert aber doch genügend, um alle Symptome der 
akuten Tabakintoxikation zu erklären» — »Nach unseren Versuchen vertragen 
erwachsene Raucher etwa 5—10 mg Nikotin binnen % Stunde im Wasser 
genommen gut, dagegen wird von 15 mg ab das Gefühl einer starken Zi- 

Digitized by Google 



484 


Tabakrauch. — Thalassotherapie. 


garre verspürt, das heißt es tritt Speichelsekretion, kalter Schweiß, Brech¬ 
reiz und schließlich Erbrechen ein. Eine Zigarre von 4 g führt etwa 7 bis 
10 mg Nikotin in ! /i— s / 4 Standen za. Nichtraucher brechen schon auf Men¬ 
gen am 5 mg herum, gleichgültig, ob das Nikotin aas einer Zigarre oder als 
Lösung binnen einer Vs Stunde anfgenommen wird.« Somit ergeben also 
diese Untersuchungen, daß das beim Rauchen aufgenommene Nikotin die 
Erscheinungen der Tabakrauchvergiftung hervorruft. 

Literatur: Lehmahh, Untersuchungen über das Tabakrancben. Münchner med. Wochen¬ 
schrift, 1908, Nr. 14, pag. 723. B Frej. 


Tartarti9 depuratus« An der Hand einiger Krankengeschichten 
macht Eichhorst auf die günstigen Wirkungen des Tartarus depuratus, 
eines etwas in Vergessenheit geratenen Arzneistoffes aufmerksam. Beson¬ 
ders bei alkoholischer Leberzirrhose sah Eichhorst von dauernder Verab¬ 
reichung von Weinstein ausgezeichnete Erfolge, er konnte 3 Fälle mit schwerer 
Leberzirrhose hintereinander als geheilt entlassen. Unter Heilung versteht 
dabei Eichhorst das Schwinden des hochgradigen Aszites, das Freiwerden 
von Gelbsucht, ein gesundes Aussehen, guter Appetit, geregelter Stuhl und 
eine Zunahme an Körperkräften, daß sich der Patient wieder gesund und 
arbeitsfähig fühlt, also eine Heilung im klinischen Sinne, wenn auch die 
Leber höckerig hart und in ihrem Umfange unverändert geblieben ist. Sonst 
stellen sich an der Züricher Klinik die Heilungsaussichten der alkoholischen 
Leberzirrhose wie folgt: Von 166 Kranken wurden 22 (= 13*3%) geheilt, 
38 (22*9%) gebessert, 37 (22*2%) blieben ungeheilt und 69 (41*6°/ 0 ) starben. 
Eichhorst verwendet den Weinstein bei der in Frage stehenden Erkrankung 
in kleiner Dosis, aber fortgesetzt bis zu 4 Monaten ohne Unterbrechung. 
Er verordnet: Rp. Decocti radicis Althaeae 10*0: 180*0 ; Tartari depurati 
15*0; Sirupi simplicis 20 0; M. D. S. Wohlumgeschüttelt 2stündlich 15 cm 3 zu 
nehmen. Ein günstiger Einfluß macht sich nur langsam, aber stetig bemerk¬ 
bar und Eichhorst warnt vor einer Beschleunigung der Kur durch Steige¬ 
rung der Gabe. Die diuretische Wirkung des Weinsteins ist dabei keine 
große, tägliche Harnmengen von über 2000 ctn s gehören schon eher zu den 
Ausnahmen, aber die Wirkung dauert an, so lange das Mittel gegeben wird, 
und darin scheint seine Überlegenheit über das Diuretin-Theocin, welches 
bei einer Patientin (der drei oben erwähnten Kranken) zuerst gegeben wor¬ 
den war. — Auch bei Seropleuritis hat Eichhorst Nutzen von der Anwen¬ 
dung des Weinsteins gesehen. Störende Nebenwirkungen sind niemals auf¬ 
getreten, so lange die obige Dosis nicht überschritten wurde. 

Literatur: Eichhoest, Über die Wirkungen des Tartarus depuratus. Med. Klinik, 
1909, Nr. 11, pag. 381. E. Frey. 


Thalassotherapie. Das Meer als Heilfaktor des näheren zu 
würdigen, seine hygienische und therapeutische Verwertung als Seebad, See¬ 
luft, ja sogar zum inneren Gebrauche des Meerwassers zu erörtern, soll 
Aufgabe jenes Zweiges der allgemeinen Balneologie sein, welcher sich als 
Thalassotherapie bezeichnet. Das wachsende Interesse großer ärztlicher und 
Laienkreise, welches sich in der steigenden Frequenz der Seekurorte, der 
Hospize und Sanatorien an den Meeresküsten wie der Seereisen bekundet, 
rechtfertigt ein eingehenderes Studium dieser Disziplin, zu deren Förderung 
auch die vier bereits abgehaltenen internationalen Kongresse für Thalasso¬ 
therapie beitragen. 

In erster Linie scheinen uns zur szientischen Entwicklung dieser 
Spezialtherapie die in den Seekurorten befindlichen, ärztlich entsprechend 
geleiteten Seehospize geeignet zu sein. Aus denselben liegt auch bereits 
ein Bericht von Prof. Monti vor, welcher als Gründer und 20jähriger Leiter 
eines Seehospizes (in S. Pelagio bei Rovigno, Österreich) über die Beein- 


Digitized by 


Google 



Thalassotherapie. 


485 


flussung des kindlichen gesunden und kranken Organismus durch 
Seeklima und Seebäder berichtet. Nach dieser Darlegung charakterisiert 
sich die Beschaffenheit der Seeluft durch den hohen Luftdruck, hohen Feuch¬ 
tigkeitsgrad , größere Gleichmäßigkeit der Temperatur, stärkere Luftströ¬ 
mung, hohen Sauerstoff- und Ozongehalt, geringeren Kohlensäuregehalt, rela¬ 
tive Staubfreiheit und den je nach der Örtlichkeit wechselnden Salzgehalt, 
der Luft Die Zusammensetzung der Seeluft ist folgende: In 100 Raumteilen 
sind 21 Volumina Sauerstoff, 79 Volumina Stickstoff und 0025% Kohlen¬ 
säure enthalten. An der See wird durch die Luftbewegung und Feuchtig¬ 
keit der Luft die Wärmeabgabe des Körpers vermehrt und werden die 
entsprechenden Wärmeersatzorgane angeregt. Auf diese Weise wird eine 
mächtige Steigerung des Stoffwechsels und eine Erhöhung der Nerven- 
energie veranlaßt. Es ist eine konstante Beobachtung, daß während des Auf¬ 
enthaltes an der See Kinder gesteigerte Eßlust zeigen, es tritt ferner eine 
Zunahme der Harnausscheidung ein; im Harne wird eine Vermehrung des 
Harnstoffes, eine Verminderung der Harnsäure und Phosphorsäure nachge 
wiesen; es zeigt sich eine fortschreitende Körpergewichtszunahme, welch 
letztere allerdings von dem Zustande der Verdauungsorgane und dem vor¬ 
liegenden Ernährungszustände abhängt. Das Seeklima übt ferner einen gün¬ 
stigen Einfluß auf die Schleimhäute, besonders die Nasen-, Rachen- und 
Bronchialscbleimhaut aus. Der belebende Reiz der Luftwellen auf die Haut¬ 
nerven bewirkt eine stärkere Füllung der Hautgefäße, ein frisches Kolorit 
und bessere Ernährung der Haut. 

Die Seebäder fördern wesentlich die durch die Seeluft bedingte An¬ 
regung des Stoffwechsels. Für Kinder, die infolge ungünstiger Verhältnisse 
oder überstandener Krankheiten in der Ernährung und im Wachstum zu¬ 
rückgeblieben sind, wird nach Monti eine längere, durch mehrere Monate 
fortgesetzte Seebadekur stets von günstigem Erfolge sein. Besonders bei 
Kindern, die zur Zeit der Pubertät in der Entwicklung Zurückbleiben, so¬ 
wie bei anämischen, ferner bei den mit einer skrofulösen oder tuberkulösen 
Dyskrasie behafteten Kindern wird man mit einer mehrmonatlichen Seekur 
schöne Resultate erzielen. 

Was die einzelnen in dem bezeichneten Seehospize zur Behandlung 
gekommenen Erkrankungen betrifft (bei 7926 schwer kranken Kindern), so 
ergibt sich folgendes: Bei Augenaffektionen, zumeist Ophth. lymphatica, 
Pannus, Iritis, Blepharadenitis, Keratitis, erzielt man mit der Seekur unter 
fachmännischer Behandlung der Augen und Durchspülung der Nase mit See¬ 
wasser in relativ kurzer Zeit Heilung und bedeutende Körpergewichtszu¬ 
nahme. Bei der skrofulösen Hauterkrankung zeigte sich ein mächtig 
günstiger Einfluß der Seebäder und Seeluft. Die Fälle von Koxitis waren 
301 schwere Fälle, von denen 166 vollständig geheilt, 50 wesentlich ge¬ 
bessert, 56 gestorben sind und 29 sich als unheilbar erwiesen. Es sind die 
günstigen Resultate infolge der Einwirkung der Seeluft, kombiniert mit der 
entsprechenden operativen Behandlung, nicht in Abrede zu stellen. Bei 
Drüsenerkrankungen zeigten sich sehr gute Erfolge und selbst bei 
tuberkulösen Erkrankungen der Drüsen wurde durch entsprechende opera¬ 
tive Eingriffe und lange Verpflegung im Seehospize eine vollständige Heilung 
und Kräftigung des Organismus erzielt. Bei Karies der Knochen trägt im 
allgemeinen die durch das Seeklima und die Seebäder bedingte Besserung 
der Ernährung auch zur Heilung oder Besserung des Lokalprozesses bei. 

Genaue Stoffwechseluntersuchungen an der See hat Loewy auf 
Westerland-Sylt angestellt, deren vorläufige Resultate sind: 

1 . Eine Zunahme des Gas wechsele war nur in wenigen Fällen zu konstatieren. 

2. Beim reinen Luftgenusse, besonders nach dem Luftbade, war der 
Blutdruck herabgesetzt, auch dann, wenn die Haut blaß blieb. 


Digitized by 


Google 



486 


Thalassotherapie. 


3. Die Wasserdampfabgabe durch Haut und Lungen ist herabgesetzt, 
die Urinmenge vermehrt. 

4. Bei der Heimkehr fiel auf, daß das Gesicht schmäler geworden, 
trotz gleich gebliebenen Körpergewichtes. Es ist also ein Einfloß des See- 
klimas auf die Wasserbilanz oder den Fettkonsum so vermuten. 

Den Heil wert der Seereisen rühmen Castiglioni und Moser. In 
erster Linie für das so wechselvolle Krankheitsbild der Neurasthenie, be¬ 
sonders wenn die Fälle mit Schlaflosigkeit einhergehen. Auch die Nerven¬ 
schwäche der Kinder und die sexuelle Neurasthenie im Pubertätsalter weicht 
dem Einfluß einer Seefahrt schon in kurzer Zeit. Die Seeluft übt eine toni- 
sierende und zugleich beruhigende Wirkung aus, dem Meere wohnt eine un¬ 
geheure suggestive Kraft inne, die großartigen Einflüsse der Bewegung und 
Fahrt des Schiffes bemächtigen sich unwiderstehlich der Seele des Menschen 
und verdrängen die krankhaften Gefühle. Die Eigenschaft der Seeluft als 
appetiterregender Faktor beeinflußt vorteilhaft die atonischen und nervösen 
Störungen im Digestionstrakte. Die stete, wenn auch wenig merkliche Er¬ 
schütterung durch die Schiffsbewegung versetzt die Bauchorgane in konti¬ 
nuierliche Vibration und gibt den erschlafften Geweben durch diese ge¬ 
wissermaßen molekulare Massage dem Tonus wieder. Anämische, chloro- 
tische und lymphatische Individuen finden durch den Aufenthalt auf hoher 
See Besserung oder Genesung; ebenso Rekonvaleszenten jeder Art sowie 
alle jene hereditär Belasteten, die mit einer Disposition für Phthise behaftet 
sind. Die katarrhalischen Affektionen des Respirationstraktes emp¬ 
finden bald die günstige Wirkung der feuchten, salzhaltigen Meeresluft, den 
wohltätigen Effekt des Eiratmens der absolut staub- und bakterienfreien 
Luft auf dem Meere; Asthmatiker finden Erleichterung bei einer einfachen 
Atemmethodik: Einatmen gegen den Wind, Ausatmen mit dem Munde. An 
Heufieber und Heuschnupfen Leidende bleiben auf hoher See anfallsfreL 
Auch verschiedene Herzbeschwerden mindern sich, die Herzarbeit wird 
erleichtert durch den erhöhten Tonus der Gefäße, durch die Hyperämisiernng 
der Haut infolge des steten Bestrichenwerdens von der scharfen Salzluft im 
Verein mit dem Bestrabltwerden von der Sonne. 

In gleicher Weise wird das Reisen auf hoher See als Machtfaktor 
bei verschiedenen Erkrankungen von H. Pauli betont, welcher die Beob¬ 
achtungen an den Reisenden gemacht hat, die jährlich die von der Hamburg* 
Amerika veranstalteten Vergnügungsreisen im Mittelmeere und im Nord¬ 
lande unternehmen. Das Wesen der »Ozeanität« ist der milde Ausgleich der 
Temperatur; die jährlichen, monatlichen und täglichen Temperaturschwan¬ 
kungen sind auf dem Meere milde, sanft ineinander hinfließend. Es kommt 
dann ein klimatischer Faktor hinzu: die Konstanz und der Grad der Luft¬ 
bewegung (Rubner). Das Polarklima, welches auf jenen Reisen während des 
Sommers in Betracht kommt, hat nach Pauli als wichtigstes Charakteri¬ 
stikum das schiefe Einfallen der Sonnenstrahlen. Wenn auch die Sonne wäh¬ 
rend des Sommers nicht unter den Horizont sinkt, so ist sie doch nicht 
imstande, eine ausgiebige Erwärmung der Polarregionen zu bewirken, zu¬ 
gleich bewirken die gewaltigen Wassermassen im Sommer eine beträchtliche 
Verminderung der Lufttemperatur — dies zwingt den Reisenden, sich mit 
guter Winterkleidung zu versehen. Das Sommerklima Spitzbergens erweist 
sich als besonders günstig, für das Wohlbefindes heilsames. Auf den Nord¬ 
landsfahrten durch die Nordsee, das europäische Nordmeer und das nörd¬ 
liche Eismeer bis Spitzbergen gibt sich namentlich in den Monaten Juli und 
August vorzügliche Gelegenheit zu einer ausgiebigen Meerluftkur. Ein ganz 
anderes klimatologisches Gebiet eröffnet sich bei den Mittelmeerfahrten 
während des Winters (Jänner bis April). Die Luft auf dem Meere ist im 
Winter ceteris paribus beträchtlich wärmer als die Festlandsluft; der Mittel- 


Digitized by 


Google 



Thalassotherapie. 


487 


meerregen charakterisiert sich durch Kürze und Heftigkeit. Von den Winden 
kann für die Luftkur nur der Schirokko in Betracht kommen. Dieser wird 
aber im Winter selten beobachtet, die übrigen Winde des Mittelmeeres sind 
reine Meereswinde von mäßiger Intensität und Stürme gehören zu den großen 
Seltenheiten. Konstanz und hoher Grad der Feuchtigkeit geben der Mittel¬ 
meerluft ein ausgesprochen ozeanisches Gepräge. Eine Eigenart dieser Ver¬ 
gnügungsfahrten in der Nordsee and im Mittelmeer liegt in der häufigen 
Unterbrechung der Meerfahrt durch Landaufenthalte. Die Unermeßlichkeit 
des Meeres wird, wenn die Einwirkung ununterbrochen stattfindet, von den 
meisten Reisenden als Zwang empfanden; die eingeschalteten Landeindrücke 
erfahren immer wieder von neuem den erfrischenden Reiz der Meeresfahrt. 

Soll aber der Vorteil der langen Meeresfahrt den Leidenden in aus¬ 
giebigerem Maße als bisher zuteil werden, so ist die Indienststellung spe¬ 
zieller für Erholungsbedürftige und Kranke ausgestatteter Schiffe notwen¬ 
dig, welche in den für die betreffenden Jahreszeiten geeigneten Klimen und 
Meeren kreuzen, denn die allzu lange Dauer der Segelscbiffreisen mit den 
für Leidende unzureichenden Ernährungsverhältnissen, der rasche Wechsel, 
dem Kranke auf überseeischen Dampferlinien ausgesetzt waren, brachte 
zahlreiche Enttäuschungen und die Seefahrten als Heilmittel bei den Ärzten 
in Mißkredit. Pauli befürwortet darum die Schaffung eines eigenen Schiffs¬ 
sanatoriums, welches auch in der Lage wäre, seinen Kurs den klima¬ 
tischen und meteorologischen Verhältnissen anzupassen. Die Meeresgebiete 
hohen und niederen Luftdruckes sind |a genau bekannt, durch vieljährige 
Beobachtangen für jeden Monat eingehend von der deutschen Seewarte be¬ 
arbeitet. Wenn das Schiffssanatorium die bekannten Gebiete des hohen Luft¬ 
druckes aufsuchen, die des niederen Luftdruckes geflissentlich vermeiden 
würde, dann würde schon durch die Auswahl der zu befahrenden Meeres¬ 
gebiete die Seekrankheit auf ein Minimum reduziert werden. Die Technik 
würde noch weiter helfen. Durch die drahtlose Telegraphie mit dem Heran¬ 
nahen einer Depression bekannt gemacht, könnte unter Zuhilfenahme seines 
Schiffbarometers und der von auswärts signalisierten Wetterberichte der 
Kapitän jedem Sturm durch Anlauf des nächsten Hafens tatsächlich entgehen. 

Hinsichtlich der baulichen Gestaltung müßte das Schiffssanatorium mit 
demselben Komfort ausgestattet werden wie das Landsanatorium. Hydro-, 
elektro und mechanotherapeutische Anstalten können in dem schwimmenden 
Kurhaase eingerichtet werden, ebenso Wohn-, Konsultations, Operations¬ 
und Untersuchungszimmer für die Ärzte. Die Küche wird allen ärztlich an¬ 
geordneten Diätkuren leicht entsprechen können. Die Kurmittel, welche dem 
Sanatorium schiffe zur Verfügung stehen, sind in erster Linie die Meeresluft 
und die Sonne, für deren ausgiebigen Genuß vorgesorgt sein muß. Es sind 
mindestens drei offene Decks erforderlich. Das oberste unbedeckte Sonnen¬ 
deck würde als Freiluft- und Sonnenbad herzurichten sein in getrennten 
Abteilungen für beide Geschlechter; das zunächst darunter befindliche, nur 
nach den Seiten offene Deck würde den in bequemen Liegestühlen ruhen¬ 
den Patienten einen ungestörten Ausblick aufs offene Meer ermöglichen; das 
dritte Deck wäre als Bewegungsdeck für Promenaden einzurichten. 

Die Auswahl der zu befahrenden Meeresgebiete hat nach Pauli nach 
folgenden Grundsätzen zu erfolgen: Auswahl passender Klimate, Vermeidung 
schnell aufeinander folgender Klimawechsel, möglichst ausgiebige Ausnutzung 
der Ozeanität, Möglichkeit zu öfterem Anlandegehen in seuchenfreien Hafen¬ 
plätzen. 

Der Indikationskreis für die Ausnutzung der Seefahrten auf einem 
solchen Sanatorium ist ein weiter. Da schon seit alter Zeit die Lungen¬ 
schwindsucht als diejenige Krankheit hingestellt wird, zu deren Heilung das 
Meer besonders günstige Aussichten bietet, so werden wohl besondere Schiffs- 


Digitized by 


Google 



488 


Thalassotherapie. — Thermopenetration. 


Sanatorien für Lungenkranke gefordert werden müssen. Als absolute Gegen¬ 
anzeigen gegen das schwimmende Sanatorium führt Dikm an: Hochgradige 
Schwächezustände, die eine unmittelbare Gefahr bedeuten, starke Herzen 
Weiterung und bedenkliche Herzschwäche mit oder ohne Klappenfehler, 
Atherom höheren Grades, besondere Neigung zu Hämoptoe bei Lungentuber¬ 
kulose oder fortgeschrittene Formen des Leidens, Glaukom, Epilepsie, schwere 
Melancholie, sonstige Geistesstörungen, die den Umgang mit anderen Passa¬ 
gieren unmöglich machen oder ausgesprochene Neigung zu Suicidium zeigen, 
alle jene Leiden, die eine Gefahr der Übertragung in sich bergen und jene, 
die dem Patienten ein so auffälligeres Äußeres verleihen, daß dadurch das 
Gemüt der Mitpassagiere irgendwie unangenehm erregt werden kann, wie 
zum Beispiel durch manche Hautkrankheiten, übermäßige Neigung zur See¬ 
krankheit. 

Diese Kontraindikationen erweitert noch Bassengb. Nach diesem Autor 
ist von der Behandlung durch Meeresfahrt von Stoffwechselkrankheiten Ab¬ 
stand zu nehmen, welche eine sorgfältig ausgewählte Diät beanspruchen; das 
gleiche gilt für die Mehrzahl der Erkrankungen der Zirkulationsorgane, för 
die chronischen Nephritiden und für die Erkrankungen der Blase. Ebenso 
sei abzuraten von der Behandlung tropischer Krankheiten durch Seereiseo, 
wie der Malaria und besonders der chronischen Ruhr. Wenn auch Fälle 
überraschender Genesung aus den Tropen heimkehrender Malariakranker 
auf Seereisen zu verzeichnen sind, so wird man diese Erkrankungen doch 
besser einer stationären Behandlung in der Heimat unterziehen. 

Literatur: Barbier, Indications et eontrindi cations da bord de la mer dans les anae- 
mies de l’enfance und die daran sieh anschließende Diskussion an! dem IV. internationalen 
Kongresse für Thalassotherapie. Zentralbl. f. Thalassotherapie, 1909, Nr. 1. — R. Bassknoe, 
Therapie der Seereisen. Zeitschr. f. Balneol., Hydr. u. Kurorthyg., 1909, Nr. 10. — A. CAsnauosn 
und Karl Moser, Über den Heilwert der Seereisen, Zeitschr. f. Balneol., Klimatol. u. Kurorthyg., 
1908, Nr. 7; ebendaselbst H. Pacli, Thalassotherapie anf Schiffen und das Schiffssanatorium 
der Zukunft. — Dikm, Schwimmende Sanatorien, Wien 1908. — Monti, Die Seeluft nnd 
-bäder und ihre Wirkung anf den kindlichen Organismus. Zeitschr. f. Balneol., Klimatol. u. 
Knrorthyg., Berlin 1908, Nr. 7, 8 u. 9. Kisch 


Thermopenetration. (Wärraopenetration, Transthermie). 
Es wird hierunter eine neue eigenartige Methode der Wärmebehandlung 
mittelst elektrischer (an eine Starkstromleitung angeschlossener) Apparate 
verstanden, durch welche es ermöglicht werden soll, beliebige, auch tiefere 
und innere Teile des Körpers in höherem Maße, als es bisher durch äußere 
Wärmeapplikationsweisen geschehen konnte, einer direkten »Wärraednrch- 
dringung« zu unterziehen. Nach dem JouLEschen Gesetz wird bekanntlich 
elektrische Energie in Wärme amgewandelt, wenn der Strom einen Leiter 
von relativ hohem Widerstand durchfließt; was also auch beim Durch¬ 
gang des Stromes im menschlichen Körper theoretisch der Fall sein müßte. 
Allein da wegen der Reizwirkungen der bisher benutzten Stromarten und 
der einzelnen zukomtnenden elektrolytischen Wirkungen stets nur geringe 
Stromintensitäten zur Anwendung kommen konnten, mußte auch die dabei 
im Innern des Körpers erzeugte Wärmemenge äußerst geringfügig sein und 
praktisch ganz außer Betracht bleiben. Anders konnte die Sache sich erst 
gestalten, als man mit Strömen bekannt wurde, die auch bei ungemein be¬ 
deutender Intensitätssteigerung dennoch weder entsprechend erhöhte Reiz¬ 
wirkungen noch elektrolytische Wirkungen and überhaupt keine als solche 
bemerkbaren Reizwirknngen der gewöhnlichen Art zu erzeugen vermochten: 
die hochfrequenten Wechselströme, von denen wir therapeutisch m 
der Form der Arsonvalisation bekanntlich neuerdings vielfach Anwen¬ 
dung machen (vgl. Encyclopädische Lehrbücher, N. F., I, pag. 60). Indessen 
auch hier kommen für therapeutische Zwecke zunächst verhältnismäßig hohe 
Spannungen und geringe Stromstärken in Betracht, sowie außerdem ge- 


Digitized by 


Google 



Thermopenetratioo* 


489 


dämpfte Schwingungen, mit denen bei hochgesteigerter Intensität eine völlige 
Reizlosigkeit nicht gewahrt werden konnte (ziemlich weite trennende Inter¬ 
valle der einzelnen »Schwingungsgruppen«). Erst die Anwendung von Hoch¬ 
frequenzströmen mit zusammengedrängten Schwingungsgruppen 
gestattete bei verhältnismäßig niedriger Spannung schon die Erzielung er- 
heblicher thermogener Effekte im Innern des Körpers ohne unerwünschte 
Nebenerscheinungen (Reizwirkungen). Das Schema dieser Ströme ist aus 
Fig. 121 ersichtlich, wo links die gewöhnlichen Hochfrequenzschwingungen, 
rechts die gedrängt stehenden Hochfrequenzschwingungen (zusammenge¬ 
drängten Schwingungsgruppen) bildlich dargestellt sind. 

Auf diesem Prinzip der Anwendung gedrängt stehender Schwingungen,, 
die bei entsprechender Schwingungszahl und Maximalamplitude den soge¬ 
nannten »ungedämpften« Strömen (mit fortdauernd gleicher Amplitude) vir¬ 
tuell sehr nahe kommen, beruht die Benutzung des von der Firma Reiniqer, 
Gebbert & Schall neuerdings hergestellten Instrumentariums für Thermo- 
penetration, von dessen Hauptteilen Fig. 122 eine Übersicht bietet (»Thermo- 
penetrationsapparat auf fahrbarem Holztischchen«, mit Generator, Konden¬ 
sator, Induktionsspulen, Hitzdrahtmessungsinstrument etc.). Der wichtigste 
Bestandteil ist der »Generator«, der aus zwei kräftigen, durch geringen Ab¬ 
stand getrennten Kupferelektroden besteht, zwischen denen im abgeschlos¬ 
senen Raum die Entladungen erfolgen; diese werden hervorgerufen durch 
die hohe Spannung der mit den Elektroden in Verbindung gebrachten elek¬ 
trischen Stromquelle und einen parallel dazu geschalteten »Schwingungs¬ 
kreis«, bestehend aus einem Kondensator sowie einer in Serie mit ihm ge- 


Fig.121 



schalteten Selbstinduktionsspule, die auf die erforderliche hohe Schwingungs¬ 
zahl (mehrere Millionen in der Sekunde) richtig bemessen sein müssen. 

Die im Kondensatorkreis erzeugten Schwingungen kommen nicht direkt 
zur Anwendung, sondern werden durch Induktion auf eine passende Span¬ 
nung gebracht, die durch verschiedene Abzweigungen von der Sekundär¬ 
spule noch abgestuft werden kann. Zur feineren Regulierung dient eine 
in die Ableitung eingeschaltete Selbstinduktionsspule (Regulierspule), auf 
deren Windungen ein durch Pedal und Schnurrollenübertragung beweglicher 
Schieber gleitet (vgl. Fig. 123). 

Diese Art der Regulierung läßt die Hände des Arztes für das ge¬ 
naue Andrücken der Elektroden an die betreffenden Körperteile frei, 
was für die gleichmäßige Wärmeentwicklung sehr wichtig ist. Der Strom 
wird durch Leitungsschnüre nach den Elektrodenplatten hingeführt, die 
aus waschledernen Taschen mit schmiegsamen Metalleinlagen bestehen und 
so eingerichtet sind, daß sie dem Arzte gestatten, beim Aufdrücken der 
Elektroden einige Finger in den Überzug einzuschieben, wodurch die Fixie¬ 
rung erleichtert und das zur Kontrolle notwendige Gefühl der örtlich er¬ 
zeugten Wärme am besten gewährleistet wird. Die Größe der Elektroden 
wechselt natürlich nach der Körperstelle und Indikation (am meisten solche 
von 60 X 80 mm ); eventuell kann auch ein sogenanntes Kondensatorbett 
(mitMetallbelegung unter der isolierenden Auflegefläche) in Anwendung kommen. 

Dre Apparat funktioniert in direktem Anschluß an Wechselstrom 
(110 Volt), dessen Spannung jedoch vor Einleitung in den Generator durch 
einen ruhenden Transformator erhöht wird. Bei Gleichstrom wird zur Um- 


Digitized by ^.ooQle 




490 


Thermopenetration. — Thiozon. 


wandlang: in Wechselstrom ein kleiner Motoramformer (mit Rheost&t) be¬ 
nutzt. — Als Indikationsgebiet haben sich nach den bisherigen Erfahrungen 
besonders Affektionen verschiedenster Art, wobei es auf schmerzstillende 
Wirkungen ankommt, entzündliche Anschwellungen, Arthritiden, Rheumatis¬ 
mus, Neuralgien usw. herausgestellt, übrigens ist gerade in allerletzter Zeit 
an vielen Orten mit dem Verfahren gearbeitet worden und sind mehrere 
Vorträge darüber bei Gelegenheit des bevorstehenden Kongresses für Physiko- 
therapie in Paris (von Strauss, Laqueur und anderen) angekündigt, die eine 
genauere Kundgebung über die bisher erzielten Resultate und Indikations- 


Fig. 122. Fig. 128. 



Stellung erwarten lassen. Es sei bemerkt, daß dabei Stromstärken von 
0*6—1, ja selbst unter Umständen bis 3 Ampere, 5 bis 10 Minuten hin¬ 
durch zur Anwendung kommen sollen, daß aber bei Beobachtung der nötigen 
Vorsicht alle bedenklichen Nebenerscheinungen örtlicher oder allgemeiner 
Natur wohl vermeidbar zu sein scheinen. a. Eaienbarg .. 

Thiozon c Angeregt durch die therapeutischen Erfolge mit Thiopinol 
(s. Eulenburgs Encyclop. Jahrb., Bd. XVI, N. F. VII. Jg., pag. 598) hat Nagel¬ 
schmidt ein neues Präparat untersucht, welches Erdmann dargestellt hat 
Nach Erdmann bildet der 3atomige Schwefel nach Art der Ozonide mit unge¬ 
sättigten organischen Verbindungen Thiozonide, zum Beispiel das Thiozonid 
des Linalylazetats: 

S 







Thiozon. — Transplantation. 


491 


Diese Substanz löst sich in alkoholischer Na 2 S-Lösung zu thiozonid- 
saurem Na; außerdem entsteht Thiozonat in der Form: 

s = s = s 

/\ 

Na NaS. 

Diese alkoholische Losung hat den Namen Thiozon erhalten. 50 g 
Thiozon werden auf ein Bad gerechnet (= 2*5 g Schwefel). Im Badewasser 
tritt eine milchige Trübung ein, das Bad riecht nach Lavendelöl; Metall¬ 
wannen bekommen einen dunklen Anflug, der sich leicht entfernen läßt. 
Sowohl nach Bädern wie nach Applikation von Thiozonsalbe wird im Harn 
die Gesamtschwefelsäure erhöht gefunden. Bei Ekzem, Skabies hat Nagel¬ 
schmidt von der Thiozonbehandlung Erfolge gesehen, so daß ihm das Prä¬ 
parat dem Therpinol in jeder Weise überlegen erscheint. 

Literatur: Nagelschmidt, Über Schwefelbalsame. Therapeutische Monatshefte, Ok¬ 
tober 1908, pag. 520. E. Frey . 

Thyresol. Ein Santalolpräparat, welches frei von den Reizwirkungen 
der ähnlichen Präparate sein soll, ist der Methyläther des Santalols, das 
Thyresol. Es ist ein farbloses öl, der Körper scheidet daraus kein Santalol 
ab, es wird hydroxyliert als gepaarte Glykuronsäure ausgeschieden. Man 
kann das neue Balsamikum rein zu etwa 80 Tropfen Wasser 3mal täglich 
in kalter Milch nehmen lassen oder in Form von Gelatineperlen zu 0*25 
Thyresol oder als Tabletten zu 0*25 Thyresol, welch letztere mit Mag. carbon. 
hergestellt sind und deshalb leicht abführend wirken; von ihnen gibt man 
2 Stück 3—4mal. Mit der Wirkung des Präparates waren Joachim j ) und 
Bornemann *) zufrieden, besonders wird die gute Verträglichkeit, das Weg¬ 
fallen des Anfstoßens, die Appetitlosigkeit etc. gerühmt; auch Nierenreizungen 
waren selten. 

Literatur: *) Joachim, Über ein neues Santalolpräparat, da9 Thyresol. Die Therapie 
der Gegenwart, November 1908, pag. 527. — *) Borhbmann, Über ein neues Santalolpräparat, 
das Thyresol. Med. Klinik, 1908, Nr. 48, pag. 1837. E. Frey. 


Transplantation. Wir berücksichtigen zunächst die von den 
Indern bereits angewandte Hauttransplantation, welche 1870 besonders 
von Reverdin empfohlen wurde, um größere Wundflächen rascher zur Über¬ 
häutung zu bringen. Thieksch und F. Krause haben dann die ursprünglich 
unvollkommene Methode wesentlich verbessert, so daß sie gegenwärtig 
sehr brauchbar ist. Durch die Hautanfpfropfung wird nicht nur die Über¬ 
häutung der Wundflächen beschleunigt, sondern gleichzeitig auch die Narben¬ 
schrumpfung bedeutend verringert. Bei frischen Hantdefekten wird die Hant 
nach sorgfältiger Blutstillung aufgelegt, bei granulierenden (älteren) Haut¬ 
defekten kann man vor der Hauttransplantation die Granulationsfläche mit 
dem scharfen Löffel abtr&gen, was aber durchaus nicht notwendig ist. Die Granu¬ 
lationsflächen sollen nur rein, also entsprechend vorbehandelt sein. Auch 
die Haut von ganz frischen Leichen vor Eintritt der Totenstarre nnd von 
eben amputierten Extremitäten kann man zur Transplantation verwenden. 
Menschliche Epidermiszellen können außerhalb des Organismus noch über¬ 
raschend lange fortleben, besonders wenn sie feucht in steriler physiolo¬ 
gischer Kochsalzlösung oder in steriler Aszitesflüssigkeit aufbewahrt wer¬ 
den. Ljungren hob Hantläppchen 2 Tage bis zu mehr als 3 Monate lang 
in steriler Aszitesflüssigkeit auf und benutzte sie mit Erfolg zur Transplan¬ 
tation. Ähnliche Beobachtungen haben Wbntscher, Enderlen, Perrolini und 
Burckhardt gemacht. Nach Wentscher, welcher die KRAUSEschen Hautstück¬ 
chen aus der ganzen Dicke der Kutis teils in physiologischer Kochsalz¬ 
lösung, teils trocken in einer mit Wattepfropf verschlossenen Flasche auf 
Gaze steril aufbewahrte, war das jüngste mit Erfolg transplantierte Haut- 


Digitized by 


Google 



492 


Transplantation. 


Stückchen 7 Tage alt, das älteste 22 Tage. Bei trockener Aufbewahrung der 
Haut wird natürlich ihre Vitalität rascher und stärker beeinträchtigt; nach 
Perrolini ist die Konservierung der Haut bei 0° C vorteilhaft Burckhardt 
empfiehlt 24 Stunden lang in einer feuchten Kammer steril aufbewahrte 
Haut als sehr geeignet für die Transplantation. 

Die Hauttransplantation nach Thiersch wird in folgender Weise unter 
strengster Asepsis ausgeiührt. Antiseptische Lösungen dürfen bei der Haut¬ 
transplantation nicht verwendet werden, sondern nur sterile Kochsalzlösung 
und steriles öl, weil durch antiseptische Lösungen die Integrität der Haut¬ 
läppchen beeinträchtigt wird. Die Haut wird mit Vorliebe von den Extre¬ 
mitäten unter künstlicher Blutleere entnommen, auch ohne Narkose und 
ohne Lokalanästhesie. Die betreffende Hautstelle wird vorher gründlich mit 
lauwarmem Wasser abgeseift, rasiert und mit Benzin abgerieben. Nach 
E. Fürst, W. Petersbn und R. Werner scheint durch Ätherspray abgekühites 
Epithel sich sehr gut für die Hauttransplantation zu eignen, sie empfehlen 
daher kurzes Gefrierenlassen der Haut nnd der Granulationsflächen durch 
Ätherspray. Die Haut entnehmen wir mit einem großen sterilen Rasiermesser 
oder Mikrotom, deren Schnittfläche mit sterilem öl bestrichen ist, unter mög¬ 
lichster Anspannung der betreffenden Hautstelle durch Hin- und Herziehen 
des Messers so dünn als nur möglich. Es gelingt leicht , dünnste Haut¬ 
schnitte von 10—12 cm Länge und 2—3 cm Breite zu transplantieren. Vor 
der Transplantation der Haut auf ganz bluttrockene, frische oder granu¬ 
lierende Wqndflächen durchloche ich die Hautstücke auf einem größeren 
Spatel mit einer kleinen CooPERschen Schere an verschiedenen Stellen, damit 
das Wundsekret sich nicht hinter den Hautläppchen anhäuft und ihre An¬ 
heilung verhindert. Die einzelnen Hautstückchen werden mittelst eines 
größeren Spatels auf die Wunde aufgelegt und hier ganz glatt ausgebreitet, 
so daß sich ihre Ränder leicht berühren. 

Die Hauttransplantation nach F. Krause hat sich in der neueren 
Zeit immer mehr bewährt. Auch sie wird aseptisch ausgeführt, ferner ist 
wichtig trockenes Operieren und eventuell entsprechende Vorbereitung des 
betreffenden Wundbodens. Die Hautstreifen aus der ganzen Dicke der Kutis 
werden bis zirka 20—25 cm Länge und 6—8 cm Breite zum Beispiel dem 
Oberschenkel unter künstlicher Blutleere entnommen und der Defekt wird 
sofort durch fortlaufende Naht geschlossen. Dann wird vom exzidierten 
Hautstück das Unterhautfettgewebe entfernt und nach Bedarf zerschneidet 
man das Hautstück in 2, 3 oder mehrere Stücke und kerbt sie an den 
Rändern hier und da ein. Auf die Wundfläche gebracht, werden die Haut¬ 
läppchen leicht angedrückt und sitzen dann gewöhnlich rasch wie ange- 
leimt fest. Die KRAUSEscbe Methode ergibt, wenn sie gelingt, widerstands¬ 
fähigere Narben; sie empfiehlt sich auch zum Ersatz von Haaren, zum Bei¬ 
spiel der Augenbrauen, indem man dann haarhaltige Haut transplantiert. 

Als Verband nach Hauttransplantationen bevorzuge ich trockene 
Verbände mit sterilem Mull und später antiseptische Pulververbände (Xero¬ 
form, Airol etc.). Kuhn bedeckt die Hauttransplantationen mit wasserdichtem 
Tüll. Andere empfehlen feuchte Verbände mit steriler Kochsalzlösung oder 
sterilem öl, oder die Wunden werden mit durchlochtem Wachstaffet, 
Protektiv, Stanniol oder Guttaperchapapier bedeckt und darüber wird trocke¬ 
ner steriler Mull gelegt. Jeder Verband muß leicht komprimierend wirken und 
vor Verschiebung geschützt werden, zum Beispiel durch einige Heftpflaster¬ 
streifen und an den Extremtäten durch möglichste Immobilisierung durch 
Schienen. Der erste Verbandwechsel findet nach etwa 5—8 Tagen statt, 
und zwar mit großer Vorsicht, damit die transplantierten Hautstückchen 
nicht abgehoben werden. In geeigneten Fällen läßt man die auf der 
Wunde einget-^kneten Verbandstoffe ruhig liegen, bis sie von selbst 


Digitized by 


Google 



Transplantation. 


493 


abfallen. Durch Eiterung und Blutung wird eine erfolgreiche Anheilung 
verhindert. 

Die Hauttransplantation hat sich bei frischen und älteren (granulieren¬ 
den) Substanzverlusten in der verschiedensten Weise sehr bewährt, ganz 
besonders auch bei größeren Defekten der Kopfhaut, bei breiten und tiefen 
Granulationsrinnen nach Nekrosenoperationen, bei Brandwunden, Ulcus 
crurrn usw. Die Skalpierungen der Kopfhaut durch Maschinenverletzungen 
verliefen früher infolge der profusen Eiterungen und Nekrosen des Knochens 
allzu leicht tödlich, jetzt vermögen wir sie durch Hauttransplantation in 
verhältnismäßig kurzer Zeit zu heilen. Ich habe fast die ganze behaarte 
Kopfhaut nach Exstirpation eines großen diffusen Fibroms durch Hauttrans¬ 
plantation nach Thiersch mit ausgezeichnetem Erfolg dauernd epidermisiert, 
ferner habe ich in einem ganz desolaten Falle wegen Empyem und Tuber¬ 
kulose der linken Pleura und der linken Thoraxwandungen die linke Pleura¬ 
höhle durch ausgedehnte Resektion der linken Thoraxwandungen dauernd 
bloßgelegt und später durch Hauttransplantation in eine offene, trockene 
Hautmulde verwandelt. 

Die Anheilung der Hautstücke geschieht bekanntlich nach Mar- 
chand, Garrü, Goldmann, Jüngengbl, Enderlen, Tillmanns und anderen in 
der Weise, daß etwa vom dritten Tage an, nachdem das Hautläppchen durch 
Gefäßsprossen von der Wunde aus vaskularisiert ist, die dem Verklebungs¬ 
exsudat aufliegenden Epithelzellen, besonders der angeschnittenen Haarbälge 
und Drüsenausführungsgänge, zapfenartige Wucherungen in die Tiefe senden. 
Etwa 14 Tage nach der Transplantation ist das Granulationsgewebe durch 
Bindegewebe ersetzt, aber die definitive Anheilung der aufgepfropften Haut 
ist erst nach Wochen, ja oft erst nach Monaten beendigt. Wird der trans¬ 
plantierten Haut vor ihrer definitiven Anheilung eine größere Arbeitsleistung 
zugemutet, dann bricht die Hautnarbe leicht wieder auf. Die transplantierten 
Hautläppchen werden nach Marchand und Enderlen allmählich durch neu¬ 
gebildetes Gewebe vom Mutterboden aus ersetzt, von den KRAUSBschen 
Hautläppchen können aber Teile erhalten bleiben, wie zum Beispiel auch 
der Ersatz von Haaren beweist (W. Braun, Henle, Wagner, Perrolini, Till¬ 
manns). 

Von sonstigen Epidermisierungsmethoden seien noch folgende 
erwähnt: Schweninger und Nussbaum haben Hautdefekte durch Aufstreuen 
von Haaren zu überhäuten versucht. Besitzen die Haare noch eine äußere 
Wurzelscheide an ihrer Wurzelpartie, so vermögen sie allerdings ein-Über¬ 
häutungszentrum zu bilden, das Haar selbst fällt nach einigen Tagen aus. 
Haare ohne Wurzelscheide haften überhaupt nicht. 

v. Mangoldt empfahl, unter aseptischen Kautelen die Haut bis auf den 
Papillarkörper mit einem sterilen Rasiermesser abzuschaben und den so er¬ 
haltenen, mit Blut untermischten Epithelbrei auf die frische oder auf eine 
ältere, von den Granulationen befreite, nicht mehr blutende Wundfläche 
mittelst Spatel und Myrthenblattsonde ziemlich fest aufzustreichen. 

Auf Schleimhautdefekten, zum Beispiel in der Mundhöhle (Wange), 
an der Harnröhre, Konjunktiva etc., hat man mit Erfolg Schleimhaut trans¬ 
plantiert (Wölfler, Tillmanns). 

Auch von Tieren hat man Haut und Schleimhaut auf den Menschen 
transplantiert, zum Beispiel die Konjunktiva von Kaninchen auf Defekte 
menschlicher Lider. Baratoux und Dubousquet-Laborderie haben Frosch¬ 
haut auf granulierende Wundflächen beim Menschen transplantiert, dieselbe 
verlor nach 10 Tagen ihr pigmentiertes Aussehen und wurde der mensch¬ 
lichen Haut immer ähnlicher, das heißt sie wurde allmählich durch mensch¬ 
liches Narbengewebe ersetzt. Um Schleimhaut für die Transplantation auf 
Schleimhautdefekte, zum Beispiel der Harnröhre, des Mastdarms etc., zur 


Digitized by 


Google 



494 


Transplantation« 


Verfügung zu haben, hat Esau auf Anregung von Payr bei Hunden Dünn* 
darm ausgeschaltet und in Verbindung mit den Mesenterialgefäßen zunächst 
zwischen die Bauchdecken eingeheilt; dann wurde das zuführende Mesen¬ 
terium durchschnitten, der Darm blieb lebend und seine Schleimhaut konnte 
zum Ersatz von Schleimh&utdefeken verwandt werden. Tierische Gewebe 
können wohl als solche beim Menschen einheilen, werden aber stets durch 
menschliches Gewebe ersetzt Berthold, Haug und Schüller empfahlen die 
epithelhaltige Schalenhaut des Hühnereies für die Überhäutung granulieren* 
der aseptischer Wunden; die innere, dem Eiweiß zugewandte Seite wird auf 
die Wundfläche gelegt 

Bezüglich der Heilung von Defekten an den Sehnen, Muskeln 
und Nerven sowie bezüglich der Sehnentransplantation verweise ich 
auf die Artikel Sehnennaht und Nervennaht 

Arterien* und Venendefekte hat man bei Tieren durch Auto-, Ho* 
moio* und Heteroimplantationen zu heilen versucht, sie gelingen besonders, 
wenn man Arterien- und Venendefekte durch entsprechende Arterien- respek¬ 
tive Venenstücke derselben Tierspezies ersetzt (Glück, Höpfnkr, Carrel, 
Guthrie, Garr&, Stich, Makkas, Dorman, Levin, Larkin, Ward, Borst und 
Enderlen). Körperfremde Gewebe, das heißt von einer anderen Tier¬ 
spezies entnommen, können nach Stich und anderen wohl vollkommen ein¬ 
heilen, werden dann aber zum Beispiel nach den Versuchen von Ward, 
Schöne, Borst und Enderlen vollkommen resorbiert, zuweilen sogar 
ohne Funktionsstörung an der Implantationsstelle. Man hat teils lebens¬ 
warme Gefäßstücke transplantiert oder 1—l J / 2 Stunden nach dem Tode 
des Tieres entnommene. Levin und Larkin haben tote, in Formalin gehärtete 
Aortenstücke vom Hund beim Hund eingeheilt 

Bei der Implantation von Gefäßstücken in Blutgefäßdefekte, zum Bei¬ 
spiel in Arterien, verfährt man am besten so, daß man unter Absperrung 
des Blutstromes durch Kompressorien die Gefäßenden entweder mit durch¬ 
greifenden Seidensuturen vernäht oder indem man die Gefäßenden nach 
außen umkrempt, zwei Haltescblingen anlegt und dann fortlaufend vernäht; 
der Faden der fortlaufenden Naht wird mit den Halteschlingen verknüpft. 
Schließlich zieht man noch die Adventitia über die Nahtlinie und vernäht 
sie ebenfalls. Man kann auch die Gefäßenden entsprechend dem Blutstrom 
invaginieren und so vernähen. Man hat größere Arterien und Venenstücke 
zum Beispiel von 5—6 cm Länge mit Erfolg eingepflanzt. Man kann auch 
Arteriendefekte durch Venenstücke gleichen Kalibers ersetzen, die dünnere 
Venenwand bläht sich dann zwar infolge des arteriellen Blutdruckes in be¬ 
ängstigender Weise auf, aber sie platzt nicht, sondern hält Stand (Cabrbl, 
Garr£, Borst, Enderlen). 

Auf diese Weise ist es gelungen, Arterien- und Venendefekte bei 
Tieren ohne Thrombenbildung, ohne Verengerung des Gefäßlumens zu heilen. 
Die Gefäßnarbe wird im wesentlichen von der Intima und der Adventitia 
gebildet. Stich, Makkas und Kapelle empfehlen für die Praxis beim Men¬ 
schen, in Arteriendefekte frisch entnommene Venenstücke von demselben 
Individuum zu implantieren. Payr hat bei Tieren und in einem Falle beim 
Menschen die Invagination der Gefäßenden unter Anwendung eines resor¬ 
bierbaren Hohlzylinders aus Magnesium und zweier Seidenligaturen mit gutem 
Erfolg angewandt. Das zentrale Arterienende wird unter den Hohlzylinder 
nach außen umgestülpt, so daß letzterer mit dem Blutstrom nicht in Be¬ 
rührung kommt, die Intima der invaginierten Gefäßenden aber breit über¬ 
einander liegt. 

Von den Jüngsten Mitteilungen über Transplantation an den Blutge¬ 
fäßen empfehle ich besonders diejenigen von Borst und Enderlbx (Deutsche 
Zeitschrift für Chirurgie, Bd. 99, 1909) und von Stich, Makkas und Kapelle 


Digitized by 


Google 



Transplantation. 495 

(Beiträge zur klinischen Chirurgie, Bd. 62), auch mit RQcksicht auf die Li¬ 
teratur. 

Knochendefekte hat man durch Implantation von lebendem und 
totem Knochen ersetzt. Die beste Osteoplastik ist die Autoplastik mittelst 
gestielter Haut-Periostknochenlappen oder Periostknochenlappen (siehe auch 
den Artikel plastische Operationen). Ist diese Autoplastik nicht anwendbar, 
dann kann man Knochendefekte teils homoioplastisch durch Implantation 
von lebenden Knochenstücken mit Periost oder von toten Knochenstücken 
ersetzen oder heteroplastisch durch verschiedenartiges totes Material. 
Von diesen verschiedenen Methoden erwähne ich besonders die Transplan¬ 
tation größerer oder kleinerer, dem Menschen oder Tier (Kalb, Kaninchen) 
entnommener frischer (lebender) Knochenstücke mit und ohne Periost und 
Mark (»freie Osteoplastik«), ferner die Transplantation von toten, ge¬ 
kochten, kalkhaltigen oder entkalkten Knochenstücken, von steriler Knochen¬ 
kohle, die Einheilung von Elfenbeinstücken, von Zelluloidplatten, von Eisen¬ 
stücken, Draht und Drahtnetzen aus Silber- oder Aluminiumbronzedraht, end¬ 
lich die Plombierung von Knochenhöhlen mit erhärtendem Material. Bei Jeder 
Osteoplastik muß durch strengste Asepsis Eiterung vermieden werden. Die 
freie Autoplastik durch Implantation eines größeren Knochenstückes mit Periost 
und Mark ist in neuester Zeit besonders Gluck, Bier, W. Müller, Timann und 
vor allem Lexer gut gelungen. Tillmanns ersetzte große Knochendefekte der 
Tibia durch Transplantation einer größeren Zahl von kleineren Knochenstücken 
mit Periost und Mark vom Menschen und von Jungen, eben getöteten 
Kaninchen. Nach der Trepanation hat man zuweilen die ausgesägte Kno¬ 
chenscheibe mit Erfolg wieder eingeheilt, v. Mangoldt hat mit gutem Er¬ 
folg Knorpel zur Transplantation verwandt, zum Beispiel menschlichen 
Rippenknorpel. Auch tote Knochen, besonders Knochenkohle (Barth) 
und gekochten Knochen (v. Eiselsberg, Mertens, Tillmanns) kann man 
zur Transplantation verwerten. Das tote Material wird nach Marchand, 
Barth, Seydel und Tillmanns unter allmählicher Resorption durch neuge¬ 
bildeten Knochen ersetzt. Wird Knochen mit lebendem Periost frei im¬ 
plantiert, dann kann nach den Erfahrungen von Lexer das Periost erhalten 
bleiben, letzteres bildet dann neuen Knochen, die frei eingepflanzte Knochensub¬ 
stanz dagegen wird wohl auch hier allmählich durch neugebildeten Knochen 
ersetzt. Der frei implantierte Hyalinknorpel scheint dagegen als solcher ein¬ 
zuheilen. 

Die von A. Fränkel empfohlene Transplantation von Zelluloid¬ 
platten hat sich bei Schädeldefekten, bei Spina bifida, bei Defekten am 
Oberkiefer, an der Orbita, am Ringknorpel etc. mehrfach bewährt. Die Platte 
wird dem Defekt entsprechend zugeschnitten, in den Defekt eingefügt und 
die Haut darüber vernäht. Eventuell wird man behufs Abfluß des Wund- 
sekretes Löcher in der Platte anbringen oder nur Zelluloidstreifen nach 
Porges benutzen, welche zur Verknöcherung des Defektes anregen. 

Am weitesten in der Heteropla9tik bei Knochendefekten ging Gluck. 
welcher zum Beispiel größere Elfenbeinstücke transplantierte, auch behufs 
Gelenkbildung. Giordano soll in einen Tibiadefekt ein 23 cm langes und 
18—12 mm dickes Eisenstück dauernd eingeheilt haben, welches am oberen 
und unteren Ende einen Meniskus aus Elfenbein besaß. P£an hat angeblich 
die obere Hälfte des Humerus durch eine Prothese aus Kautschuk und 
Platiniridium ersetzt. C. Martin heilte bei einem Hunde einen Knochen¬ 
defekt des Radius von 4 cm durch Implantation eines Platiniridiumstückes. 
Zweckmäßiger als die kompakten Metallprothesen sind Drahtnetze aus Alu- 
miniumbronze, Silber oder Filigran, welche als implantierte Fremdkörper 
zur Knochenbildung und somit zur Verknöcherung des Defektes anregen. 
Über die Fälle von angeblich dauernder Einheilung von größeren Fremdkör- 

Digitized by V^rOO^lß 



496 


Transplantation. 


pern in Knochendefekten fehlen leider spätere Berichte, zuweilen maßte der 
Fremdkörper nach einer gewissen Zeit wieder entfernt werden oder wurde 
spontan aasgestoßen. Birchbr hat mit gutem Erfolg Elfenbeinstöcke oder 
sonstige Fremdkörper bei komplizierten Frakturen, Pseodarthrosen oder 
Knochendefekten behufs Anregung der Knochenbildung vorhergehend ein¬ 
gepflanzt, zum Teil auch einheilen lassen. 

Die Ausfüllung von Knochenhöhlen mit erhärtendem Ma¬ 
terial, die sogenannten Plombierungen mit Gips, Kupferamalgam, 
Zahnguttapercha, RiCHTERschem Zement usw. hat sich bei größeren Knochen¬ 
höhlen — natürlich abgesehen von der zahnärztlichen Technik — bis jetzt 
nicht bewährt, besser sind die Erfolge mit der Jodoformplombe nach 
v. Mosetig-Moorhof, welche aus 60 Teilen Jodoform und je 40 Teilen Wal¬ 
rat und Sesamöl besteht. Die Masse wird in einem Thermophorapparat 
gleichmäßig flüssig erhalten und in die möglichst aseptisch und trocken zu 
gestaltende Knochenhöhle unter künstlicher Blutleere hineingegossen. Erst 
nach der vollständigen Erstarrung wird die Konstriktionsbinde gelöst und 
dann die Hautwunde durch Naht geschlossen. Die Plombierung eignet sich 
nur für Knochenhöhlen, und ihre Hauptschwierigkeit besteht darin, letztere 
möglichst trocken und völlig keimfrei herzustellen. 


Die Implantation von Paraffin respektive Vaseline in die Ge- 
webe wurde von Drlangre und Gersuny unabhängig voneinander zuerst 
empfohlen, um Gewebsdefekte, eingezogene Narben, Sattelnassen usw. zu 
bessern. Das Verfahren hat sich mehrfach bewährt, zum Beispiel auch bei 
Mastdarmvorfällen und behufs Verschließung von Bruchpforten, besonders 
bei Nabelbrüchen. Die Technik des Verfahrens ist in neuerer Zeit ver¬ 
einfacht worden. Früher benutzte man entweder bei 36—40° C. schmelzen¬ 
des Weichparaffin oder nach Eckstein Hartparaffin mit einem Schmelzpunkt 
bei 57—60° C. Das Weich- oder Hartparaffin wird durch Aufkochen sterili¬ 
siert, in eine warme Spritze mit feiner Nadel gefüllt und in derselben so¬ 
weit abkühlen gelassen, daß das Paraffin bei der Injektion als feiner Faden 
aus der Nadel austritt. Zweckmäßiger und einfacher ist die Injektion der 
von Gersuny in neuester Zeit empfohlenen Ölvaselinemischungen (4 Teile 
öl : 1 Teil Vaseline). Stein empfiehlt eine knetbare Mischung von Hartparaffin 
mit 50—60% Vaseline, weiche mit einer Metallspritze in Form eines zu¬ 
sammenhängenden Fadens injiziert wird, so daß die Entstehung von Em¬ 
bolien verhindert wird. Krlix hat einen vollständigen Apparat mit allem 
Zubehör für die Paraffin - Implantation zusammengestellt. Vorsicht ist 
bei den Paraffininjektionen jedenfalls geboten, besonders bei Einspritzungen 
in venenreiche Körperstellen und in der Nähe des Auges. Man bat Embo¬ 
lien der Lunge, der Vena ophthalmica mit Erblindung, ja Todesfälle beob¬ 
achtet (Pfannenstiel, Leiser, Holden, Mintz, Uhthoff und andere). Um 
üble Folgen nach Paraffininjektionen zu verhüten, injiziere man geringere 
Mengen von Paraffin und in längeren Pausen, vermeide Einspritzungen in 
zentripetaler Richtung größerer Venenbahnen, bei subkutanen Injektionen 
in Sattelnasen komprimiere man die Nasenwurzel, damit die Injektions¬ 
masse nicht nach der Augenhöhle Vordringen kann, und benutze kein Pa¬ 
raffin mit niedrigem Schmelzpunkt. 


Über die Transplantation ganzer Organe oder Organ teile 
(Schilddrüse, Epithelkörperchen, Nieren, Nebennieren, Eier¬ 
stöcke, Hoden etc.) liegen bereits relativ zahlreiche Mitteilungen vor, be¬ 
sonders von Schiff, Carle, Drobnik, Gluck, v. Eiselsberg, Endbrlkx, 
Carrel, Guthrie, Payr, Kocher, Christiani, Sultan, Ribbebt, Gar rä, Stich, 
Makkas, Towmann, Zaajer, Wullstein, Schöne, Sermann, Müller und be¬ 
sonders in jüngster Zeit von Borst und Exderlen. 

Digitized by VjOOQIC 



Transplantation. 


497 


£8 würde den Rahmen meiner Mitteilungen über Transplantation weit 
überschreiten, wollte ich auf dieses neue wichtige Gebiet der Transplantation 
genauer eingehen, um so mehr, als die praktische Verwertung der Organ¬ 
transplantation für die Chirurgie beim Menschen noch sehr der weiteren 
Ausbildung bedarf. Wer sich für die Transplantation von Organen interes¬ 
siert, dem empfehle ich die jüngste vorzügliche Arbeit auf diesem Gebiet: 
Die Transplantation von Gefäßen und ganzen Organen von Borst und 
Bnderlen in der Deutschen Zeitschrift für Chirurgie, Bd. 99, 1909, wo auch 
die betreffende Literatur eingehend berücksichtigt ist. Hier sei nur kurz 
folgendes hervorgehoben: Das Gelingen einer Transplantation eines ganzen 
Organes hängt — natürlich abgesehen von einer strengen Asepsis — vor 
allem von einer technisch gut ausgeführten Gefäßnaht ab, wie wir es bereits 
oben bei der Transplantation an den Gefäßen beschrieben haben. Alle par¬ 
tiellen und fötalen Organtransplantationen gelingen am besten autoplastisch 
bei demselben Individuum oder homoioplastisch auf ein anderes, junges, gleich¬ 
geschlechtliches, eventuell blutverwandtes Tier derselben Art. Hetero¬ 
implantationen von einem Tier auf ein Tier einer anderen Spezies gelingen 
nach den Erfahrungen von Carrel, Borst, Enderlen und anderen nicht, 
sie ergeben jedenfalls keine dauernden funktionellen Resultate; die verein- 
zelten gegenteiligen Behauptungen sind nicht beweisend. Die Nerven- 
durchschneidungen scheinen bei den Transplantationen von Organen ohne 
besondere Bedeutung zu sein. 

Von den verschiedenen Organtransplantationen seien besonders die der 
Schilddrüsen, der Epithelkörperchen und der Nieren erwähnt. 

Die Transplantationen der Schilddrüse — teils des ganzen Organes, 
teils nur partiell — hat man relativ häufig sowohl experimentell als auch bei 
Myxödem, Athyreosis congenita, Cachexia thyreopriva, Kretinismus usw. 
mit zum Teil gutem Erfolge vorgenommen, so daß das transplantierte 
Schiiddrüsengewebe gut funktionierte (Schipp, Carle, Drobnik, v. Eisels- 
berg, Christiani, Sultan, Müller, Seemann, Ribbert, Salzer, Carrel, 
Guthrie, Stich, Makkas, Payr, Borst, Enderlen und anderen). Die Ver¬ 
pflanzungen — total oder partiell — wurden vorgenommen entweder 
subkutan oder in das Knochenmark, ferner zwischen Faszie und Peri¬ 
toneum, intramuskulär, intraperitoneal (frei oder in das Netz eingehüllt), 
ferner wurden Reimplantationen einer exstirpierten Schilddrüse ausgeführt, 
oder sie wurde an die Milzgefäße implantiert. Payr implantierte Schild¬ 
drüsengewebe in die Milz, Kocher in die Tibia. Es handelte sich bei den 
Schilddrüsenverpflanzungen teils um Autotransplantationen bei Menschen 
oder Tieren, oder es wurden von einem Menschen oder von einem Tier auf 
einen anderen Menschen oder auf ein anderes Tier derselben Spezies oder 
einer anderen Gattung implantiert. Für die Praxis beim Menschen, zum Bei¬ 
spiel bei Athyreosis congenita (Myxödem), Kretinismus, Cachexia thyreo¬ 
priva usw. scheint sich besonders die so einfache subkutane Implantation 
von kleinen Schilddrüsenstückchen nach Christiani zu bewähren, welcher 
nach Verpflanzung von Schilddrüsenstückchen unter die Akromialhaut beim 
Menschen sogar eine funktionelle Hypertrophie feststellte; die Schilddrüsen¬ 
stückchen waren zu neuen Schilddrüsen ausgewachsen. 

Leischner, Pfeipper, Meyer, v. Eiselsberg und andere haben Epi¬ 
thelkörperchen (Nebenschilddrüsen) bei Tieren und Menschen funk¬ 
tionsfähig in die Bauchdecken zwischen die Faszie des Musculus rectus und 
des Peritoneums eingepflanzt und dadurch Tetanie nach Ausfall der Epithel¬ 
körperchen verhindert. Garre pflanzte bei chronischer Tetanie nach Kropf¬ 
operation die Epithelkörperchen eines Basedowkropfes in die Tibiadiaphyse, 
es erfolgte wesentliche Besserung. Auch in anderen Fällen von Tetanie aus 
anderen Ursachen ist die Verpflanzung von Epithelkörperchen vielleicht er- 


Enejelop. Jahrbücher. N. F. YDI. (XVII.) 


Digitized by 


Google 



498 


Transplantation« 


folgreich. Die Beschaffung von Epithelkörperchen für ihre Verpflanzung 
beim Menschen ist schwierig, v. Eiselsberg empfiehlt, eventuell die Epithel¬ 
körperchen von an Verletzung Verstorbenen gleich nach dem Tode zu ent¬ 
nehmen. 

Nierentransplantationen haben Ullmann,Exner,Dbscatello, Carrel 
und Guthrie, Garr£, Stich, Makkas und Towmann, Unger, Zaajer, Borst und 
Enderlen vorgenommen, teils autoplastiscb, teils homoio-, teils heteroplastisch. 
Als Einpflanzungsstelle wurde besonders der Hals, die Leistengegend oder 
die Milzgefäße benutzt. Die Carotis und Vena jugularis, die Vasa iliaca oder 
Milzgefäße wurden mit den Nierengefäßen exakt vereinigt. Am Halse ließ 
man den Ureter frei ausmünden, bei der intraperitonealen Implantation 
konnte der Harnleiter in die Blase eingepflanzt werden. Die Resultate sind 
verschieden. Nach den vorliegenden Erfahrungen, besonders von Carreu 
Borst und Enderlen gelingen auch hier die beteroplastischen Implantation«! 
von einem Tier auf ein anderes von einer anderen Gattung infolge ihrer 
chemischen Unterschiede nicht. Ferner ist es nach Borst und Enderlbs 
noch nicht sicher bewiesen, daß man Nieren von einem Tier auf ein anderes 
der gleichen Art mit dem Erfolg einer dauernden anatomischen und funk¬ 
tioneilen Erhaltung verpflanzen kann. Das anfangs vorhandene gute Resultat ist 
mehrfach erst später durch Änderung in Lage und Länge der Gefäße, durch 
Dehnung derselben, durch abnorme Narbenbildung aufgehoben worden. Sehr in* 
teressant ist die Beobachtung von Carrel, daß die Tiere mit gelungenen Nieren¬ 
implantationen nach 31 und 36 Tagen Gefäßverkalkungen im ganzen Körper 
aufwiesen. Dagegen ist durch die Versuche von Carrel, Stich, Makkas, Tow¬ 
mann, Zaajer, Borst und Enderlen der Beweis erbracht, daß autoplastische 
Nierenimplantationen, sowohl einfache Reimplantationen als Einpflanzungen 
mit Anschluß an die Milz- und Iliakalgefäße vollen Erfolg bringen können, 
wie auch besonders bewiesen wurde durch sekundäre Entfernung der an¬ 
deren Niere nach Einheilung der implantierten nach Wochen oder Monaten 
oder durch primäre Exstirpation einer Niere bei der Nierentransplantation. 

Verpflanzungen von Nebennierengewebe in die Nieren haben in 
neuerer Zeit besonders Schmieden und v. Haberer vorgenommen, Schmiedens 
Arbeit enthält ein Literaturverzeichnis von 90 Nummern. Diese Versuche 
sind von Interesse mit Rücksicht auf das Vorkommen kongenital versprengter 
Nebennierenkeime und bezüglich der Entstehung gewisser Nierengeschwülste, 
besonders auch der GRAwiTZschen Strumae suprarenales. 

Bezüglich der Parabiose künstlich vereinigter Warmblüter 
verweise ich auf die interessanten Mitteilungen von Sauerbruch, Heyde und 
Morpurgos (siehe Literatur). 

Die Wiederanheilung einer amputierten Extremität gelang 
HÖpfner beim Hunde nur zum Teil, jedoch scheint dieselbe nach Höpfxbrs 
Versuchen möglich zu sein. 

Literatur: Borst und Enderlen, Transplantation von Gefäßen und ganzen Organes 
(mit Literatur). Deutsche Zeitschr. f. Chir., Bd. 99, 1909. — Bull, Tidsskrift for the norake 
Laegefor., 1906, Nr. 5 und 6. — Cabrbl, Proc. of the New York path. soc., Vol. VII, Nr. 5 
und 8. — Carbel and Guthrie, Transplantation von Blutgefäßen und Organen. Brit. med. 
Journ.. 22. Dezember 1906. — Christi ani und Kummer, Verpflanzung von Schilddrüsenstfiek* 
chen beim Menschen. Münchner med. Wochenschr., 1906, Nr. 48. — Dklahqrk, Paraffin* 
injektion. Bull, de l’acad. Royale de m6d. de Beiges, 1901, Nr. 4. — v. Eisslsberg, Krank* 
heiten der Schilddrüsen. Deutsche Chirurgie, Lief. 38 (mit Literatur). — Derselbe, Ver* 
Pflanzung von Epithelkörperchen. Verhandlungen der Deutschen Gesellschaft für Chirnrgir, 
1908. — Esau, Med. Klinik, 1908, pag.324. — Försterling, Zentralbl.f. Chir., 1907, pag. 

— Garr&, Gefäß* und Organtransplantation. Verhandlungen deutscher Naturforscher and 
Ärzte in Stuttgart 1906. — Derselbe, Verpflanzung der Epithelkörperchen in die Tibi* 
diaphyse. Verhandlungen der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie, 1908. — Gereuet, P* 
raffinprothesen. Zeitschr. f. Heilk., Bd. 21. — Gluck, Probleme und Ziele der plastisches 
Chirurgie. Verhandlungen Deutscher Naturforscher und Ärzte in Stuttgart 1906. — Qrm». 
American Journal of physiol., März 1908. — v. Haberer, Verpflanzung der Nebennieren in 


Digitized by ^.ooQle 



Transplantation. — Trigeminusneuralgie, 


499 


die Nieren. Verhandlungen der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie, 1908. — Kapp, Haar¬ 
implantation. Monatsschr. f. prakt. Dermat., Bd. 43. — Kocher, Transplantation von Schild¬ 
drüsengewebe in die Tibia. Verhandlungen der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie, 1908. 

— Krlin, Apparat für Paraffininjektionen. Arch. f. klin. Chir., Bd. 74 und Zentralbl. f. Chir., 
1904, pag. 813. — Lanz, Hauttransplantation. Zentralbl. f. Chir., 1908, Nr. 3. — Levin und 
Larkin, Transplantation von Arterienstücken. Proc. of the soc. for ezper. biolog. and med., 
Juli 1908. — Lob, Transplantation von Periost. Ga*, des höp., 1908, Nr. 80. — Morpurgos, 
Parabiose. Verhandlungen der Deutschen pathologischen Gesellschaft zu Leipzig 1909. — 
v. Mosetig-Moorhof, Jodoformplombe. Zentralbl. f. Chir., 1903, Nr. 16. — Payr, Transplan¬ 
tation von Schilddrüsengewebe in die Milz. Verhandlungen der Deutschen Gesellschaft für 
Chirurgie, 1906. — Saukrbruch und Heyde, Parabiose. Münchner med. Wochensohr., 1908, 
Nr. 4. — Schmieden, Verlagerung von Nebennierengewebe. Deutsche Zeitschr. f. Chir., Bd.70. 

— Schoene, Transplantation körperfremder Gewebe. Verhandlungen der Deutschen Gesell¬ 

schaft für Chirurgie, 1908. — Silbermann und Damianos, Jodoformplombe. Deutsche Zeitschr. 
f. Chir., Bd. 66 und 68. — Stich, Transplantation von Gefäßen und Organen. Verhandlungen 
der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie 1907 und Naturforscherversammlung 1908. — 
Stich, Makkas, Towmann und Kapelle, Arteriennaht und Gefäßtransplantation. Beitr. z. klin. 
Chir., Bd. 53 und 62. — Tillmanns, Lehrbuch der allgemeinen Chirurgie, 10. Aufl., 1907. — 
Ward, Transplantation von Arterienstücken. Proc. of the soc. for ezperiment biolog. and med., 
Juli 1908. — Wkischkb, Wundbehandlung nach der Hauttransplantation. Zentralbl. f. Chir., 
1906, pag. 689. H. Tillm&nna. 

Trigeminusneuralgie« Fuchs erörtert die vielfach ungenügen¬ 
den Erfolge der üblichen physikalischen, insbesondere der elektrischen und 
der medikamentösen Behandlungsweisen und empfiehlt als einen »Lichtpunkt« 
der letzteren die Akonitintherapie, von deren Wirksamkeit er sich in 
16 Fällen schwerster, in weiteren fast 100 Fällen weniger schwerer, aber 
doch den gewöhnlichen antineuralgischen Mitteln widerstehender Trigeminus¬ 
neuralgie überzeugt haben will. Er benutzt zu diesem Zwecke die von 
Moussette herstammenden, durch Clin in den Handel gebrachten Pillen, die 
0*0002 Akonitin in jeder Pille enthalten. Er läßt bis zu 8 und 10 Pillen, 
also maximal 0*002 Akonitin im Laufe des Tages nehmen, glaubt aber, daß 
man auch noch unter ärztlicher Kontrolle darüber hinausgehen könne, zu¬ 
mal die ersten Vergiftungserscheinungen sehr prägnant seien (Parästhesie 
an der Zunge, an Lippen und Händen, meist im Ulnarisgebiete). Mit der 
Akonitinkur ist eine energische Abführkur (wie sie schon vor 23 Jahren 
Gussenbauer bei Trigeminusneuralgie mit Recht anempfahl) zu verbinden; 
man reicht am ersten Tage Kalomel in lOstündlichen Dosen von 0*1 und 
setzt dann die Behandlung mit Bitterwasser fort (früh, mittags und abends 
je x / t l Ofner Hunyadi — in hartnäckigen Fällen sogar das Doppelte! — 
Diese großen Mengen sollen sehr gut vertragen werden und ausgezeichnet 
wirken). — Von der chirurgischen Behandlung ist Fuchs im ganzen nicht 
sehr eingenommen. Periphere Resektionen usw. sowie auch das Injektions¬ 
verfahren nach Schlösser, Ostwald und anderen, wobei mittelst eigens kon¬ 
struierter Nadeln hinter dem Proc. alveolaris des Oberkiefers dem Keilbein 
entlang an der Schädelbasis eingedrungen und in die Foramina der letz¬ 
teren eine alkoholische Kokainlösung eingespritzt wird — haben nur tem¬ 
poräre Erfolge. Was die »Radikaloperation« (Exstirpation des Ganglion 
Gasseri) betrifft, so verfügt Fuchs über 9 Fälle, von denen einer an den 
Folgen der Operation starb ; von den übrigen 8 wurden nur 4 »dauernd« 
geheilt, von denen auch freilich 3 in der Zeit von 1—1 1 j % Jahren nach der 
Operation starben (2 an Karzinom, 1 an Apoplexie); nur 1 Fall ist seit 
4 Jahren ganz schmerzfrei. Die übrigen 4 operierten Fälle haben trotz ge¬ 
lungener Radikaloperation auch weiter ihre Schmerzen, die allerdings als ge¬ 
ringer angegeben werden, aber mitunter doch auch noch in recht beträcht¬ 
lichem Maße auftreten. Fuchs meint daher, auch in Anbetracht der sonstigen 
Operationsfolgen (Lähmung der oberen Facialäste, Keratitis usw.) werde 
man sich zu der Radikaloperation nur in ganz vereinzelten Fällen ent¬ 
schließen, zumal wir in der Akonitinkur unter allen Umständen eine aus- 

Digitized by 



500 


Trigeminusneuralgie. — Tuberkulose der Lungen. 


gezeichnete Palliativmethode besitzen. (Ich habe so evidente Erfolge bisher 
nicht gesehen. Ref.) 

Literatur: Alfred Fdchs, Die Therapie bei T rigeminusneuralgie. Med. Klinik, 1909, 
Kr. 29. (Vortrag in der Wissenschaftlichen Sitzung des Wiener Med. Doktorenkollegiams vom 
26. April 1909). A. EaJenbarg. 

Tuberkulose der Lungen. I Theorien der Taberkalin - 
Wirkung. Diese Wandlangen der Taberkalintherapie haben ihren inneren 
Grand ganz ohne Zweifel in den seit der ersten Taberkalinepoche immer 
wiederkehrenden Erfahrungen, daß das Tuberkulin im Kocnschen Sinne 
sicherlich kein Heilmittel der Tuberkulose ist, daß es aber tuberkulöse 
Krankheitsherde in eigentümlicher Weise beeinflußt, so daß in ganz mini¬ 
malen Dosen doch vielleicht ein Vorteil für den tuberkulösen Menschen er¬ 
wartet werden kann. Erst in zweiter Linie wird der Wert der KocHschen 
Tuberkulintherapie nach rein wissenschaftlichen Gesichtspunkten beurteilt 
Die klinische Erfahrung hat ihr Urteil gesprochen und ihre abwartende 
Haltung und ihr vorsichtiges Urteil auch betreffs der minimalsten Tuber¬ 
kulindosen gut begründet; die Wissenschaft ist aber zurzeit immer noch 
nicht so weit in die Erscheinungen eingedrungen, daß die Grundlagen der 
Tuberkulinwirkung einigermaßen sicher beurteilt werden könnten. Nur so 
viel l&ßt sich mit Sicherheit sagen, daß bisher noch jede Theorie der Tuber¬ 
kulinwirkung mehr oder weniger versagt hat 

Die ursprüngliche KocHsche Vorstellung von der Wirkung des Tuber¬ 
kulins ging dahin, daß er das Vorhandensein einer gewissen Menge nekro¬ 
tisierender Substanz in dem Tuberkulin annahm, die in genügend großer 
Dosis auch beim Gesunden bestimmte Gewebselemente, vielleicht die weißen 
Blutkörperchen oder ihnen nahestehenden Zellen sch&digen und damit Fieber 
und den ganzen eigentümlichen Symptomenkomplex bewirken solle. Beim 
Tuberkulösen genügt aber schon eine sehr viel geringere Menge, um an 
bestimmten Stellen, nämlich da, wo Tuberkelbazillen vegetieren und bereits 
ihre Umgebung mit demselben nekrotischen Stoff imprägniert haben, mehr 
oder weniger ausgedehnte Nekrose von Zellen nebst den damit verbundenen 
Folgeerscheinungen für den Gesamtorganismus zu veranlassen. Zugleich 
glaubte Koch damit auch das höchst eigentümliche Verhalten des Tuber- 
kulins erklären zu können, daß es nämlich in sehr schnell gesteigerten 
Dosen gegeben werden kann. Da nämlich das lebende tuberkulöse Gewebe 
die Tuberkulinreaktion auslösen solle, so müsse bereits eine geringe Menge 
zu einer starken Reaktion ausreichen, so lange viel lebendes tuberkulöses 
Gewebe vorhanden ist. Durch jede Reaktion wird aber nach Koch eine 
gewisse Menge reaktionsfähigen Gewebes zum Schwinden gebracht, und es 
werden daher immer größere Dosen nötig, um denselben Reaktionsgrad wie 
früher zu erzielen. Ganz folgerichtig stellte Koch sich dann vor, daß 
schließlich, wenn der Tuberkulöse so weit mit steigenden Dosen behandelt 
ist, daß er nur noch ebensowenig reagiert wie ein Nichttuberkulöser, dann 
alles reaktionsfähige, also alles tuberkulöse lebende Gewebe getötet sei. 

Diese Theorie Kochs gibt keine befriedigende Erklärung und die Er¬ 
fahrung hat schon lange widerlegt, daß eine solche von Koch angenommene 
Beziehung zwischen Tuberkulin und tuberkulösen Krankheitsherden existiert, 
und schon bald nach der KocHschen Mitteilung konnte Rosbhbach mit Recht 
darauf hinweisen, daß ein ganz anderer Faktor, nämlich die Disposition, das 
heißt die Erregbarkeit des Individuums eine wichtige Rolle spielt. Aller¬ 
dings, eine eigenartige Wirkung auf tuberkulöse Krankheitsherde übt das 
Tuberkulin aus, wenn auch, wie besonders Matthes und Krehl nach weisen 
konnten, ganz ähnliche Erscheinungen tuberkulös erkrankter Teile nach 
Einspritzung von Albumosen auftreten. Tatsächlich gibt es aber keinen Stoff, 
der in so minimalen Dosen gleiche Wirkungen bei Tuberkulösen entfaltet, 


Digitized by 


Google 



Tuberkulose der Lungen. 


501 


wie das Tuberkulin (Zupnik, Feistmantel und andere). Rosenbach wollte 
allerdings dem Tuberkulin trotzdem seine spezifische Natur absprechen und 
erkannte ihm nur stark entzündungserregende Eigenschaften zu. Gerade bei 
Tuberkulosen findet sich nun aber eine auffallende Reizbarkeit gegen die 
aus Tuberkelbazillen gewonnenen entzündungserregenden Stoffe, aber sie 
findet sich nach Rosenbach nicht ausschließlich bei Tuberkulösen. Die Re¬ 
aktion bedeutet also in seinem Sinne nicht, daß die Betreffenden, bei denen 
sie erzielt wird, tuberkulös sind, sondern nur, daß sie leichter fiebern als 
andere. Und Rosenbach sieht daher in der Tuberkulin Wirkung gewissermaßen 
ein Maß der Disposition speziell für die fieberhafte Reaktion. Die Folge¬ 
zeit hat ihm in dieser Auffassung allerdings nicht Recht gegeben, es bestehen 
tatsächlich andere Beziehungen zwischen Tuberkulin und tuberkulösen Krank¬ 
heitsherden, aber wie wir später sehen werden, ist die Allgemeinreaktion, 
wie Rosenbach richtig erkannte, ohne den Begriff der Dispostion nicht zu 
verstehen. 

In neuerer Zeit haben Wassermann und Bruck versucht, eine be¬ 
friedigende Erklärung der Tuberkulinreaktion zu geben. Sie glaubten den 
experimentellen Nachweis erbracht zu haben, daß in tuberkulösen Krank¬ 
heitsherden nicht nur, wie schon Koch angenommen hatte, Tuberkulin 
vorhanden ist, sondern auch ein spezifischer Antikörper, ein Antituberkulin. 
Sie glauben ferner nachgewiesen zu haben, daß im allgemeinen Blutkreis¬ 
lauf der Tuberkulösen nach längerer Behandlung mit Tuberkulin ebensolche 
Antikörper auftreten können. Da nun nach der EHRLicHschen Theorie dort, 
wo Antikörper vorhanden sind, das Antigen (Tuberkulin) vermöge der den 
beiden innewohnenden Avidität auch aus den stärksten Verdünnungen hinein¬ 
gezogen wird, so muß nach einer Tuberkulineinspritzung dieses in das 
tuberkulös erkrankte, Antituberkulin enthaltende Gewebe hineingezogen 
werden. Bei dieser Vereinigung von Tuberkulin und Antituberkulin wird 
aber Komplement gebunden, und überall dort, wo mittelst Ambozeptors 
Komplemente konzentriert werden und zur Wirksamkeit gelangen, werden 
vorhandene Eiweißsubstanzen im Organismus aufgelöst und verdaut. Daraus 
ergibt sich nach Wassermann und Bruck , daß bei der Vereinigung von 
Tuberkulin und Antituberkulin die im Blute vorhandenen eiweißverdauenden 
Faktoren im tuberkulösen Gewebe konzentriert werden und daß hierin der 
Grund der Einschmelzung des tuberkulösen Gewebes begründet ist. 

Ferner konnten die Autoren nachweisen, daß Antituberkulin auch im 
allgemeinen Blutkreislauf von solchen Tuberkulösen auftreten könne, die 
längere Zeit mit Tuberkulin behandelt waren, so daß dann das eingespritzte 
Tuberkulin schon im Blute von dem Antituberkulin abgefangen werden 
und nicht mehr zum Krankheitsherd gelangen kann. Auf diese Weise 
glauben sie die Abstumpfung gegenüber dem Tuberkulin und das Aufhören 
der Wirkung auf das tuberkulöse Gewebe erklären zu können. 

Indessen auch diese Theorie der Tuberkulinwirkung hat ein schnelles 
Ende gefunden. Zunächst haben die experimentellen Untersuchungen keine 
allseitige Bestätigung gefunden (Weil und Nakajama, Morgenroth und 
Rabinowitsch), vor allem weisen aber Morgenroth und Rabinowitsch nach, 
daß die Schlußfolgerungen der Autoren jeder tatsächlichen Stütze entbehren. 
Denn es ist gerade einer der springenden Punkte der EHRLicHschen Theorie, 
daß der Ambozeptor die Komplementwirkung ausschließlich an die Ver¬ 
ankerungsstelle des Ambozeptors selbst lenkt, so daß zum Beispiel im 
PPEiFFERschen Versuch die Bazillen eben deswegen aufgelöst werden, weil 
sie mittelst der Ambozeptoren mit dem Komplement in Verbindung gebracht 
wurden. Bei der Tuberkulinreaktion könnte sich die Komplementwirkung 
also nur auf das von dem Antikörper gebundene Tuberkulin erstrecken, 
nicht aber, wie Wassermann und Bruck wollen, auf das tuberkulös er- 


Digitized by 


Google 



502 


Tuberkulose der Lungen# 


krankte Gewebe. Damit fällt aber die von ihnen aufgestellte Theorie der 
Tuberkulinwirkung in nichts zusammen. 

Dagegen ist unserem Verständnis das Wesen der Tuberkulinreaktion 
wesentlich nähergerückt durch die Auffassung v. Pirquets, der die lokale 
Tuberkulinreaktion als eine Teilerscheinung des allgemeinen Gesetzes der 
Allergie erkannt hat. Dieser Begriff der Allergie knüpft an die veränderte 
Reaktionsfähigkeit des Organismus an, die nach der Einspritzung artfremden 
Eiweißes erfolgt. Wenn einem Menschen Pferdeserum unter die Haut ge¬ 
spritzt wird, so wird dieses artfremde Eiweiß anscheinend resorbiert, aber 
nach etwa 8—12 Tagen können krankhafte Symptome, nämlich Fieber, 
Exantheme und Ödeme erscheinen, die als Serumkrankheit (Pirquet und 
Schick) bezeichnet werden. Wenn nun nach Ablauf dieser Erscheinungen, 
etwa nach einigen Monaten, derselbe Mensch nochmals mit Pferdeserum 
behandelt wird, so kann er bereits in den ersten Stunden nach dieser 
zweiten Injektion in gleicher, eventuell in noch intensiverer Weise erkranken. 
Der Organismus muß sich also zweifellos in der Zwischenzeit verändert 
haben, und für diesen auf die erste Erkrankung folgenden Zustand hat 
v. Pirquet den Ausdruck Allergie eingeführt, der weiter nichts als ver¬ 
änderte Reaktionsfähigkeit besagen soll. 

Zunächst befaßte v. Pirquet sich nun mit dem Studium der Vakzination, 
und er konnte nachweisen, daß in den Erscheinungen der Vakzination und 
Revakzination der Beweis für eine gesetzmäßige Umwandlung der Reaktions¬ 
fähigkeit des Organismus begründet liegt. Die Reaktion nach der ersten 
Impfung unterscheidet sich nach Form und Zeit von dem Typus der Re¬ 
vakzination, der sogenannten Frühreaktion. Eine ganz analoge allergische 
Reaktion tritt nun nach v. Pirquet auf, wenn tuberkulösen Personen etwas 
Tuberkulin in die Haut eingeimpft wird. Es entsteht in der Haut an der 
Impfstelle eine lokal bleibende Reaktion spezifischer Natur, die als Aus¬ 
druck der veränderten Reaktionsfähigkeit des Organismus andeutet, daß 
der Organismus bereits einmal mit Tuberkulose infiziert worden ist. Als 
Ergänzung dieser kutanen Tuberkulinimpfung berichtete dann Wolf-Eisxer 
über eine ähnliche Reaktion nach konjunktivaler Tuberkulineinverleibung, 
die darin besteht, daß eine Entzündung und Rötung der mit Tuberkulin in 
Berührung gekommenen Konjunktiva eintritt. 

Das Wesen dieser kutanen und konjunktivalen Tuberkulinreaktion be¬ 
steht also, ganz allgemein ausgedrückt, in der durch die erste .Infektion ver¬ 
änderten Reaktionsfähigkeit des Organismus. Denn genau so wie jemand, 
der die Variola überstanden hat oder einmal vakziniert worden ist, bei der 
Wiederimpfung sich anders verhält als bei der ersten Impfung, indem die 
lokale Reaktion früher einsetzt und schneller abläuft, so tritt auch bei 
Tuberkulösen eine eigentümliche, rasch ablaufende kutane und konjunktivale 
Reaktion auf, die bei solchen Menschen, die noch niemals eine Tuberkel¬ 
bazilleninfektion gehabt haben, nicht eintritt. Ein Vergleich der Wieder¬ 
impfung mit der Erstimpfung wie bei der Vakzine ist natürlich bei 
den Tuberkulösen nicht möglich, weil die Impfung bei der Vakzination 
mit lebendem Gift ausgeführt wird', das in der Haut haftet, während eine 
Erstimpfung mit Tuberkulin eben ohne sichtbaren Effekt verläuft und nur der 
durch die tuberkulöse Infektion veränderte Organismus mit einer lokalen 
Reaktion antwortet. Ohne weiteres tritt aber die Gleichartigkeit dieser Vor¬ 
gänge ganz prägnant hervor im Tierversuch mit lebenden Bazillen, und das 
eigentümliche Verhalten des Meerschweinchens nach erster und wiederholter 
Impfung, das für Koch der Ausgangspunkt seiner Tuberkulinarbeiten wurde, 
findet in dieser v. PiRQUETschen Auffassung seine volle Erklärung. Die erste 
Tuberkelbazillenimpfung verläuft zunächst symptomlos, und erst nach 10 bis 
14 Tagen macht sich an der Impfstelle ein Knötchen bemerkbar, bei einem 


Digitized by 


Google 



Tuberkulose der Lungen. 


503 


tuberkulösen Tiere entsteht dagegen schon am Tage nach der Wiederimpfung 
eine Reaktion, die sich nicht allein zeitlich, sondern auch in ihrem ganzen 
Wesen von dem ersten Impfeffekt unterscheidet. Und was für lebende 
Bazillen gilt, hat ebensolche Bedeutung für die Reaktion mit abgetöteten 
und mit B^zillenextrakt. Die eigenartigen Erscheinungen der Tuberkulin¬ 
reaktion beim tuberkulösen Menschen haben ihren Grund in der durch die 
erste Infektion veränderten Reaktionsfähigkeit des Organismus. Ein völliger 
Parallelismus zwischen Revakzination und Tuberkulinreaktion kann selbst- 
verständlich nicht bestehen, wegen der Verschiedenartigkeit der Gifte und 
ihrer Beziehungen zum menschlichen Körper. Schon die verschiedene An¬ 
wendungsweise des Tuberkulins bedingt ja schon sehr ungleichartige Er¬ 
scheinungen, ihrem Wesen nach beruhen aber die KocHsche subkutane, die 
PiRQUETsche kutane und CALMETTEsche konjunktivale Reaktion auf dem¬ 
selben Prinzip der Allergie. 

Die Verwertung dieser Reaktionen in der praktischen Medizin bringt es 
nun allerdings mit sich, daß bei der kutanen und konjunktivalen Reaktion 
lediglich die lokalen Veränderungen, bei der subkutanen Injektion dagegen 
die allgemeinen Erscheinungen Bedeutung erlangen, während die Symptome 
an der Infektionsstelle ganz zurücktreten. Tatsächlich laufen aber bei allen drei 
Modifikationen dieselben Vorgänge ab. Die Erscheinungen aber, welche den 
ganzen Komplex der Reaktion zusammensetzen, sind bisher meist in drei 
Kategorien geteilt worden: die lokale Reaktion des tuberkulös erkrankten 
Gewebes, die Allgemeinreaktion und die Reaktion, die sich an der Infektions¬ 
stelle abspielt. Den jeweiligen praktischen Bedürfnissen entsprechend, ist 
nun bald dieses, bald jenes Symptom als das wichtigere ins Auge gefaßt 
worden, immer aber ist das Vorhandensein eines tuberkulösen Krankheits¬ 
herdes als das wesentliche für die Reaktion angesehen worden, denn nur 
auf einen solchen Herd soll ja das Tuberkulin spezifisch wirken. Das war 
der springende Punkt des Kocuschen Gedankenganges, und das wird auch 
heute noch als die Voraussetzung der Spezifizität dieser Reaktion anerkannt. 
Man hält es wohl für denkbar, einen Tuberkulösen mit Tuberkelbazillen¬ 
präparaten zu beeinflussen, ohne daß er beträchtliche Ausschläge in bezug 
auf seine Körpertemperatur zeigt, es ist aber undenkbar, dies zu tun, ohne 
daß dabei auf sein tuberkulöses Gewebe spezifisch eingewirkt wird (Wasser¬ 
mann und Bruck). Es gilt also auch heute noch für ausgemacht, daß tuber¬ 
kulöses Gewebe vorhanden ist, wenn der Organismus in besonderer Weise 
auf Tuberkulin reagiert. 

Diese Frage ist für das Verständnis des Wesens der Reaktion von 
prinzipieller Bedeutung, und um die Antwort gleich vorwegzunehmen, so 
scheint mir diese Vorstellung nicht richtig zu sein. Die Tuberkulinreaktion 
kommt vielmehr zustande durch die veränderte Reaktionsfähigkeit des Or¬ 
ganismus, und diese Veränderung hat ihren Grund in einer vorher abge¬ 
laufenen Tuberkelbazilleninfektion und in dem Vorhandensein eines tuber¬ 
kulösen Infektes. Ob sich aber aus diesem Infekt anatomisch nachweisbare 
Krankheitsherde entwickelt haben und ob diese vielleicht wieder in Heilung 
übergegangen sind, oder ob endlich die Infektion überhaupt niemals Anlaß 
zu »tuberkulöser Veränderung« gegeben hat, das sind alles Fragen ganz 
sekundärer Bedeutung. Die Reaktion des Organismus auf den Tuberkel¬ 
bazillus, nicht der Ausgang der Infektion, ist die Ursache der Allergie. Zwar 
deuten die Verhältnisse im Tierexperiment auf eDge Beziehungen der Tuber¬ 
kulinreaktion zu dem tuberkulös erkrankten Gewebe hin (Bard), aber ge¬ 
rade die unmittelbare Übertragung experimenteller Erfahrungen auf die 
menschliche Pathologie hat sich bekanntlich in der Tuberkulinfrage schwer 
gerächt. Wir wissen nicht, wie die Tuberkelbazilleninfektion beim Menschen 
unter natürlichen Verhältnissen verläuft, wir wissen nur, daß sie ganz anders 


Digitized by 


Google 



504 


Tuberkulose da* Lungen. 


verläuft als die experimentelle Meerschweinchenmfektion, und wir wiesen, 
daß der tuberkulöse Infekt in sehr vielen Fällen auch dann nicht rar Lungen¬ 
tuberkulose fährt, wenn bereits tuberkulöse Organveränderungen zustande 
gekommen sind, wir wissen endlich aber auch, daß Tuberkelbazillen in den 
Körper eindringen können, ohne daß es überhaupt zu spezifisch tuberkulösen 
Herderkrankungen kommt, so daß die Infektion gleichsam ohne sichtbare 
Spuren für den Organismus ablaufen kann. Dazu kommt aber ferner, daß 
sich seit der ersten KocHschen Mitteilung über Tuberkulin von Zeit zu 
Zeit immer wieder Beobachtungen wiederholen, wonach trotz Auftretens der 
typischen Tuberkulinreaktion kein tuberkulöser Herd bei der Sektion ge¬ 
funden werden konnte. Und darin liegt bereits ganz unmittelbar der Beweis, 
daß die Reaktion nicht notwendig an die Anwesenheit tuberkulösen Ge¬ 
webes geknüpft ist. Nicht anatomische Organveränderungen, sondern die 
funktionelle Veränderung des Organismus ist der wesentliche Grund der 
Tuberkulinreaktion. 

Damit findet nun auch eine andere Erscheinung, die einer befriedigen¬ 
den Erklärung so lange Schwierigkeiten machte, eine ungezwungene Lösung, 
nämlich der Unterschied der Turberkulinwirkung auf den Gesunden und den 
tuberkulös erkrankten Menschen. Schon Koch wußte sieh nur in der Weise 
zu helfen, daß er diesen Unterschied in den Beziehungen des Tuberkulins 
zu tuberkulösen Krankheitsherden suchte, woraus dann nicht allein die 
Schwierigkeit erwuchs, für die Allgemeinreaktion bei Kranken und Gesunden 
zwei ganz verschiedene Erklärungen zu geben, sondern auch die Notwen¬ 
digkeit, für die Beurteilung dieser zweideutigen Allgemeinreaktion in der 
Intensität derselben eine ziemlich willkürliche Grenze zu ziehen. Aus der 
von uns vertretenen Auffassung, daß die Tuberkulinreaktion Ausdruck der 
Allergie ist, folgt dagegen, daß in der verschiedenen Intensität, mit der die 
Reaktion abläuft, kein Wesensunterschied gegeben sein kann, daß die Re¬ 
aktion vielmehr, mag sie auf kleine oder große Tuberkulinmengen erfolgen, 
immer dieselbe allergische Bedeutung hat. Schwer- und Leichtreagierende 
sind daher nicht spezifisch verschieden, wie Koch angenommen hat, sondern 
Jeder, der überhaupt im Sinne der KocHschen Reaktion auf Tuberkulin 
reagiert, ist früher einmal mit Tuberkelbazillen infiziert worden und hat 
durch die Infektion diese eigentümliche Reaktionsfähigkeit erworben. Wenn 
jemand auf 0*25 cm * Tuberkulin, wie zum Beispiel Koch selbst, in derselben 
Weise reagiert wie ein Phthisiker auf eine geringere Dosis, so beweist die 
Gleichartigkeit der Reaktion bei verschiedener Intensität, daß in beiden 
Fällen die gleiche Reaktionsfähigkeit vorliegt, die nur in verschiedener Inten* 
sität auftritt, respektive in gleicher Intensität nur durch Anwendung ver¬ 
schiedener Tuberkulinmengen ausgelöst werden kann. Die verschiedene Emp¬ 
findlichkeit auf Tuberkulin, die übrigens großen zeitlichen Schwankungen 
unterworfen ist, muß demnach einen anderen Grund haben; wer niemals 
mit Tuberkelbazillen infiziert worden ist, zeigt auch bei Anwendung großer 
Dosen keine Tuberkulinreaktion. 

Daß es tatsächlich Menschen gibt, die nicht auf Tuberkulin reagieren, 
auch nicht auf solche Dosen (001 und darüber), die bei den meisten ge¬ 
sunden Menschen eine Reaktion auBlösen, beweisen schon die ersten Be¬ 
richte über das KocHsche Heilmittel. Als eine besonders auffällige Erschei¬ 
nung berichtet schon 1890 Schreiber, daß neugeborene Kinder niemals — 
selbst bei 0*01 und 0 05 cm z — auch nur eine Andeutung einer Reaktion 
zeigten. Selbstverständlich wird man nicht erwarten können, daß solche 
Menschen beliebig große Tuberkulindosen gut vertragen, denn das Tuber¬ 
kulin ist ein Gift, das ohne Zweifel in größeren Dosen auch auf solche 
Menschen, die noch nie mit Tuberkelbazillen in Berührung gekommen sind, 
schädlich und schließlich auch, wie beim Versuchstier, tödlich wirkt. Das 


Digitized by 


Google 



Tuberkulose der Lungen. 


505 


Eigenartige besteht nur darin, daß es beim Menschen, der einmal mit 
Tuberkelbazilins infiziert worden ist, ganz anders wirkt, daß diese Wir¬ 
kung spezifisch anders abläuft als vor der Erstinfektion mit Tuberkel¬ 
bazillen. 

Diese Auffassung der Tuberkulinreaktion als Ausdruck einer spezifischen 
Änderung des Organismus ohne Rücksicht auf noch bestehende oder jemals 
vorhanden gewesene tuberkulöse Krankheitsherde, wirft auf die Bedeutung 
der Reaktion für die praktische Medizin ein ganz anderes Licht wie die 
meisten Theorien der heutigen Literatur. Die Tuberkulinreaktion, mag sie 
in der alten Weise nach Koch oder nach v. Pirquet oder nach Calmette an¬ 
gestellt werden, ist eine spezifische Reaktion, aber sie ist nicht spezifisch 
für eine tuberkulöse Erkrankung, sondern immer nur für einen durch die 
Tuberkelbazilleninfektion hervorgerufenen Zustand des Organismus; dieser 
Tuberkelbazilleninfekt kann zur Zeit dieser Allergie noch bestehen und es 
können sich Gesundheitsstörungen und Krankheitsherde entwickelt haben, 
aber der Infekt braucht nicht notwendig in aktiver Entwicklung begriffen 
zu sein, er kann auch völlig abgelaufen sein, ohne daß noch eine Krank¬ 
heit besteht und ohne daß sich überhaupt einmal Störungen aus dem In¬ 
fekt entwickelt haben. Dieser eigentümliche Zustand des Organismus, den 
die Tuberkulinreaktion anzeigt, ist also an sich kein krankhafter Zustand, 
sondern er kann ebensowohl eine Empfänglichkeit für die Tuberkulose wie 
eine Immunität anzeigen, nimmermehr ist er aber das Zeichen eines be¬ 
stehenden Krankheitsprozesses. 

Die ursprüngliche und bis jetzt maßgebende Ansicht Kochs, wonach 
quantitative Verhältnisse die Spezifizität des Tuberkulins für den tuberku¬ 
lösen Krankheitsprozeß begründen sollen, muß demnach als verfehlt aufge¬ 
geben werden. Übrigens hat auch niemals eine feste Grenze in der Emp¬ 
findlichkeit gesunder und tuberkulöser Menschen für das Tuberkulin be¬ 
standen, und noch heute ist die Frage nach der Grenzdosis für praktische 
Bedürfnisse heiß umstritten. Daß die Tuberkulinempfindlichkeit bei gesunden 
und tuberkulösen Menschen sich nicht exakt zahlenmäßig ausdrücken läßt, 
tritt nun noch sehr viel prägnanter hervor bei Anwendung der kutanen und 
konjunktivalen Einverleibung. Die PiRQUETsche Reaktion, richtig angewandt, 
tritt nur bei ganz wenigen Menschen nicht auf, und es ist wohl allgemein 
anerkannt, daß die Tuberkulinempfindlichkeit, die sich auf diese Weise doku¬ 
mentiert, kein Indikator für frische tuberkulöse Prozesse, sondern ganz all¬ 
gemein nur für eine Tuberkelbazilleninfektion ist (v. Pirquet, Wolpp-Eisner, 
Bandelier und Röpke und andere). Etwas willkürlicher stellen sich die 
Autoren zu dieser Frage betreffs der CALMETTESchen Reaktion. Denn die 
Empfindlichkeit der Konjunktiva für Tuberkulin in der jetzt üblichen Ver¬ 
dünnung (2%) ist zweifellos nicht so stark wie die der Haut bei der Imp¬ 
fung mit 25%i£ em oder unverdünntem Tuberkulin, und daher weichen die 
Resultate der CALMETTESchen und der v. PiRQUETschen Reaktion ziemlich 
erheblich voneinander ab. Das Bestreben aber, solche Reaktionen prak¬ 
tischen Zwecken dienstbar zu machen, hat die Erklärungsversuche eigen¬ 
tümlich beeinflußt So glaubt zum Beispiel Wolpp-Eisner, daß die Kutan¬ 
reaktion einen inaktiven, abgekapselten tuberkulösen Herd im Körper an¬ 
zeigt, während die Konjunktivalreaktion nur die aktiven und halbaktiven 
Herde anzeigt. Abgesehen von dem Wunsche, die Reaktion klinisch ver¬ 
werten zu können, läßt sich aber eigentlich nichts anführen, das dieser Auf¬ 
fassung eine Stütze geben könnte, und die sicherste Methode, hier Klarheit 
zu schaffen, die anatomische Untersuchung, spricht gegen seine Auffassung. 
In acht Fällen, in denen Kutanreaktion ohne Konjunktivalreaktion beob¬ 
achtet war, fanden sich bei der Sektion nur in sechs Fällen ausgeheilte 
Herde, im siebenten dagegen gar keine tuberkulöse Erkrankung und im 


Digitized by 


Google 



506 


Tuberkulose der Lungen. 


achten eine frische Tuberkulose der Lunten. Dies Resultat spricht nicht für 
die WoLPP-EisxERsche Theorie und wenn es trotzdem in seinem Sinne ge¬ 
deutet wird, so kommt darin nur die große Liebe zur Theorie und eine 
ebensolche Abneigung gegenüber sachlichen Gründen zum Ausdruck. 

Aus eigenen Untersuchungen konnte ich eine ganze Reihe Beobach¬ 
tungen mitteilen (Fehsexfeld), welche die Beziehungen der Konjunktival- 
reaktion zu aktiver Tuberkulose nicht bestätigen, eine solche Auffassung 
muß aber überhaupt auf Grund ganz allgemeiner Erfahrung abgelehnt wer¬ 
den. Denn die Mitteilungen zahlreicher Untersucher (Calmettb. Cohx, Lewy, 
Kliexebkrger und andere) besagen, daß der Ausfall der Reaktion genau so 
wie bei der KocHschen subkutanen Methode von der Konzentration des 
Tuberkulins abhängig ist. Bei Verwendung stärkerer Lösungen steigt die 
Zahl der positiven Reaktionen und nähert sich damit den PiRQCBTschen 
Resultaten. Wiederum erhebt sich hier also die Frage nach der Grenzdosis, 
einerseits für tuberkulöse Herderkrankungen und andrerseits für die Infek¬ 
tion überhaupt. Wiederum sprechen hier die tatsächlichen Erfahrungen gegen 
die angenommene Beziehung zwischen Reaktion und tuberkulöser Herder¬ 
krankung, und es bleibt auch hier nur die Erklärung, daß auch die Kon- 
junktivalreaktion ganz allgemein nur Ausdruck der Allergie sein kann. 

Auch die Überempfindlichkeit der Konjunktivs nach mehrmaliger Ein¬ 
träufelung findet hiermit eine einfache Erklärung. Es ist eine bekannte Tat¬ 
sache, daß eine geringe Reaktionsfähigkeit durch Wiederholung der Impfung 
deutlicher, das heißt im gleichen Sinne stärker wird, es ist aber noch 
niemals beobachtet worden, daß die Reaktionsfähigkeit durch Einträufelung 
von Tuberkulin ins Auge sich im Sinne der Allergie geändert hätte. Die 
Reaktion nach wiederholter Einträufelung ist also zweifellos Ausdruck der¬ 
selben Reaktionsfähigkeit des Organismus und nur graduell von der Reak¬ 
tion bei der ersten Einträufelung verschieden. 

Wenn es nun die tatsächlichen Erfahrungen auch nicht rechtfertigen, 
die Tuberkulinempfindlichkeit auf eine tuberkulöse Herderkrankung oder 
gar auf eine Lungentuberkulose zu beziehen, so bat doch von jeher allge¬ 
meine Übereinstimmung darin geherrscht, daß unter den Phthisikern gerade 
diejenigen am regelmäßigsten deutliche Tuberkulinempfindlichkeit erkennen 
lassen, deren Erkrankung nicht allzuweit vorgeschritten ist und manchmal 
überhaupt kaum klinisch hervortritt; dazu kommt ferner, daß sich gerade 
unter denen, die klinisch keine sicheren Symptome darbieten, sondern der 
tuberkulösen Erkrankung nur sehr verdächtig erscheinen, viele befinden, 
die eine deutlich positive Tuberkulinreaktion zeigen. Da nun diese Diffe¬ 
renzen in der Intensität der Reaktion nicht spezifisch sein können, weü 
jede Reaktion, auch die schwächste, Ausdruck eines Tuberkelbazilleninfektes 
ist, so muß der Unterschied in anderen, außerhalb der bakteriellen Kom¬ 
ponente dieses Infektes gelegenen Ursachen gesucht werden. Der Schlüssel 
zum Verständnis dieser Erscheinung liegt denn auch in dem, was oben über 
den Mechanismus der Tuberkuloseätiologie ausgeführt ist. Aus einem tuber¬ 
kulösen Infekt entwickelt sich nur dann eine Lungentuberkulose, wenn ganz 
bestimmte Bedingungen und Eigenschaften des Organismus vorliegen. Wenn 
nun eine solche Eigenschaft in einer gewissen Reizbarkeit und dadurch be¬ 
dingten Tuberkulinempfindlichkeit besteht, so würde sich daraus eine ganz 
annehmbare Erklärung für die verschiedene Intensität der Tuberkulin reak¬ 
tion ergeben. Die verschiedene Tuberkulinempfindlichkeit würde nämlich 
damit in Eigentümlichkeiten des Organismus begründet liegen, und zwar in 
genau denselben, die den Organismus zur Tuberkuloseerkrankung disponieren. 
Die konstitutionelle Schwäche, die für die Tuberkuloseätiologie einen so 
wichtigen Faktor darstellt, würde unter anderem auch in der starken Tu¬ 
berkulinempfindlichkeit zum Ausdruck kommen und damit wäre es ver- 


Digitized by 


Google 



Tuberkulose der Lungen. 


507 


stündlich, warum sich deutliche Tuberkulinreaktionen so oft bei solchen der 
Lungentuberkulose verdächtigen Menschen finden. 

Mit dieser Auffassung kommen wir auf eine alte Ansicht Rosenbachs 
zurück. Schon Rosenbach hat mit aller Entschiedenheit gegenüber der Koch- 
schen Theorie den Standpunkt vertreten, daß die Tuberkulinreaktion bei 
Gesunden und Kranken dieselbe Ursache haben müsse und daß die ver¬ 
schiedene Empfindlichkeit in der Disposition des Organismus begründet 
liege. Tatsächlich reagiert ja auch der Gesunde, wenn auch erst auf größere 
Dosen, in genau derselben Weise auf Tuberkulin wie der Tuberkulöse und 
auch auf kleinere Dosen antwortet der gesunde Organismus mit Abgeschla- 
genheit, mit Glieder- und Muskelschmerzen, also mit einer Allgemeinreaktion. 
Auch die Antikörperbildung, die nach Tuberkulineinspritzungen einsetzt, er¬ 
folgt bei Gesunden und Kranken in genau derselben Weise, wie sich aus 
der Prüfung der Agglutininproduktion (Jürgens) und den Opsoninschwan¬ 
kungen (Wright) ergeben hat. Zweifellos muß daher die Tuberkulinreaktion 
bei Gesunden und Kranken als derselbe Vorgang aufgefaßt werden, und 
nicht die Herdreaktion, sondern die Allgemeinreaktion ist das Primäre, aus 
der sich alle anderen Erscheinungen, wie zum Beispiel bei Phthisikern durch 
Steigerung der lokalen Entzündung die Herdreaktion, entwickeln. Die Tuber¬ 
kulinreaktion ist aber mit allen ihren Komponenten, also auch das Fieber 
und die Entzündung des tuberkulösen Gewebes, von individuellen Faktoren 
abhängig. Rosenbach drückt diesen Gedanken so aus, daß er sagt: Hätte man 
den Begriff der Disposition noch nicht gekannt, so hätte man ihn aus dem 
Verhalten der Temperatur nach Injektionen von Tuberkulin und aus der 
verschiedenen Art der Reaktion nach derselben Dosis erschließen müssen. 

Diese Disposition, auf Tuberkulin mit Fieber und eventuell mit Ent¬ 
zündung des tuberkulösen Gewebes zu reagieren, ist nun aber durchaus 
nicht bei allen Tuberkulösen vorhanden. Die Beobachtung, daß schwerkranke 
Phthisiker meist nur schwach und oft gar nicht mehr auf Tuberkulin re¬ 
agieren, muß allerdings als eine sekundäre Erscheinung gedeutet werden. 
Eine einfache Überlegung sagt ja, daß diese Phthisiker früher gegen Tuber¬ 
kulin, zum Teil wenigstens, empfindlicher gewesen sein müssen. Aber auch 
unter den Kranken mit beginnender Phthise gibt es manche, die für Tuber¬ 
kulin nur sehr wenig empfindlich sind. Andrerseits ist aber die Disposition 
zu starker Tuberkulinreaktion auch gar keine ausschließliche Eigentümlich¬ 
keit der Tuberkulösen! Sie findet sich vielmehr gerade bei solchen Men¬ 
schen, die eben wegen ihrer Neigung zu leichter Fiebersteigerung zu ent¬ 
zündlichen Reaktionen und wegen einer Schwäche der natürlichen Schutz¬ 
apparate des Körpers zur Tuberkulose disponiert sind. Dieser allgemein ge¬ 
haltene Dispositionsbegriff gewinnt heute vielleicht dadurch eine etwas prä¬ 
zisere Fassung, daß wir mit einigem Recht nicht allein die Ursache des 
Fiebers auf Toxinwirkungen und Antikörperbildung zurückführen können, 
sondern auch den ganzen Komplex der Tuberkulinreaktion mit allen ihren 
Komponenten mit ebenderselben Antikörperbildung in Zusammenhang brin¬ 
gen müssen. 

Nach dieser Auffassung würde also die Eigentümlichkeit der Tuber¬ 
kulinreaktion darauf beruhen, daß sie nur bei solchen Menschen auftritt, 
die durch eine vorhergegangene Tuberkelbazilleninfektion eine Funktions¬ 
änderung erfahren haben. Diese Änderung kann man sich als die Fähigkeit 
vorstellen, auf das neueingeführte Gift sofort mit Antikörperbildung zu ant¬ 
worten, und die Reaktionen würden dann etwa folgendermaßen zu erklären 
sein: Das in den Körper — kutan, konjunktival oder subkutan — eindrin¬ 
gende Gift kann nicht ungehindert seine schädliche Wirkung entfalten, son¬ 
dern findet in den nächstgelegenen Zellen Abwehrkräfte vor, die mit den 
giftigen Substanzen in Beziehung treten und sie eventuell unschädlich ma- 


Digitized by 


Google 



508 


Tuberkulose der Lungen. 


eben. Diese zelluläre Tätigkeit übersteigt aber eventuell die physiologische 
Grenze, es entsteht an Ort und Stelle eine Reizung mit den gewöhnlichen 
Folgen der Hyperämie und Entzündung. Diese lokale Reaktion wird also 
dort am intensivsten auftreten, wo das Tuberkulin mit reaktionsfähigen 
Zellen am innigsten in Berührung kommt. Je leichter aber die Möglichkeit 
besteht, daß das Tuberkulin, ohne von den nächst gelegenen Zellen festge¬ 
halten zu werden, in den Säftestrom gerät, desto leichter wird auch eine 
allgemeine Reaktion eintreten können. Ein Tropfen einer 2%igen Tuber¬ 
kulinlösung enthält etwa 0*001 cm 1 Tuberkulin, also dieselbe Menge, die 
auch, subkutan gegeben, bei vielen Menschen eine Reaktion auslöst. Wenn 
nun Konjunktivs und Unterhautgewebe nicht in gleicher Weise eine ört¬ 
liche Reaktion zeigen, so kann trotzdem der Vorgang derselbe sein, aur 
tritt die Schädigung im Unterhautgewebe nicht so merklich hervor wie im 
Auge. Es können aber auch die tuberkulinempfindlichen Zellen quantitativ 
und qualitativ verschieden sein, so daß vom Unterhautgewebe aus mehr 
Tuberkulin ungehindert in den Säftestrom gelangt als von der Koniunktiva 
oder von der Kutis aus. Mit anderen Worten, der klinisch wahrnehmbare 
äußere Ablauf der verschiedenen Tuberkulinreaktionen hat seinen Grund in 
der Verschiedenheit der lokalen Verhältnisse am Ort der Infektion. 

Die Reaktion selbst aber, und damit komme ich auf den Ausgangs¬ 
punkt dieser Betrachtungen zurück, ist bei Gesunden und Kranken nur 
graduell, nicht qualitativ verschieden. Sie tritt bei allen Menschen auf, die 
eine tuberkulöse Infektion überstanden haben, und ihre Intensität ist sicher¬ 
lich nicht von der Anwesenheit eines tuberkulösen Herdes abhängig, son¬ 
dern von der Eigenart des Organismus, auf diesen Reiz zu antworten. Da 
nun eine solche konstitutionelle Schwäche, wie oben ausführlich dargelegt 
ist, einen sehr wichtigen Faktor in der Ätiologie der Lungentuberkulose 
darstellt, so wird hiermit die Tatsache verständlich, warum gerade solche 
Menschen stark auf Tuberkulin reagieren, die sehr gefährdet oder bereits 
der Lungentuberkulose verfallen sind. Andrerseits ist es bei dieser Auffas¬ 
sung auch ganz natürlich, daß nicht jeder, der auf Tuberkulin stark reagiert, 
bereits eine Lungentuberkulose hat oder überhaupt jemals bekommt, denn 
die Reaktion ist nur Ausdruck der Disposition eines mit Tuberkelbazillen 
infizierten Organismus, auf den Reiz des Tuberkelbazillus und auf Tuber¬ 
kulin in pathologisch gesteigerter Form zu reagieren. Diese Reaktion be¬ 
deutet also tatsächlich ein Signal, daß Verhältnisse vorliegen, die erfahrungs¬ 
gemäß leicht zur Tuberkulose, und zwar zur Lungentuberkulose führen, 
aber sie vermag nicht den Ausgang dieses Spiels ätiologischer Faktoren 
vorauszusagen! Denn viele, durch ihre phthisische Konstitution, durch ihre 
Neigung zu großer Reizbarkeit, zu entzündlichen Prozessen, zu leichter 
Fiebersteigerung und zu starker Tuberkulinreaktion gefährdete Individuen 
verfallen trotz ihres tuberkulösen Infektes nie der Lungentuberkulose und 
andere ereilt das Geschick der Tuberkulose trotz ihrer größeren Wider¬ 
standskraft und ihrer großen Tuberkulinfestigkeit, weil der Einfluß anderer 
Ursachen mächtig genug war, auch den wenig disponierten Organismus zu 
überwältigen. 

Die Tatsache, daß viele Faktoren für die Ätiologie der Lungentuber¬ 
kulose in gleicher Weise Bedeutung haben, bahnt also auch das Verständnis 
für die Tuberkulinwirkung an, und die Bedeutung der Individualität für den 
Mechanismus der Tuberkuloseätiologie führt damit von der experimentellen 
Immunitätsforschung zurück zu dem alten Begriff der Immunität, als einer 
Eigenschaft des Organismus, die unlöslich mit der Disposition verknüpft in 
allen Lebenserscheinungen zum Ausdruck kommt. 

IL Symptome der Lungentuberkulose, Unter den lokalen Erschei¬ 
nungen der Lungentuberkulose ist zunächst der Brustsehmerz zu erwähnen, 


Digitized by 


Google 



Tuberkulose der Lungen. 


509 


wenn er auch an Wichtigkeit manchen anderen Symptomen nachsteht. Ge¬ 
rade im Beginn der Erkrankung fehlen Brustschmerzen oft vollständig, so 
daß die Patienten das Auftreten eines leichten Hustens und selbst den Aus¬ 
wurf nicht allzu ernst nehmen und nicht auf eine besondere Erkrankung 
der Lunge beziehen. Auch im weiteren Verlaufe bleiben manche Phthisiker 
von eigentlichen Brustschmerzen völlig verschont. Und doch ist der Brust¬ 
schmerz ein Symptom, das nicht gering geachtet werden sollte, gibt es uns 
doch in manchen Fällen einen Anhaltspunkt, wo noch alle anderen Erschei¬ 
nungen fehlen oder noch einen sehr unbestimmten Charakter zeigen. Er¬ 
krankungen der Lunge selbst lösen keine Schmerzen aus, sondern nur die 
Beteiligung der Pleurablätter, die auch bei beginnender Phthise einen Lieb¬ 
lingssitz tuberkulöser Veränderungen bilden. Meist sind die Schmerzen vorn 
auf der Brust lokalisiert, gleich unterhalb des Schlüsselbeins, oft werden 
sie auch zwischen den Schulterblättern empfanden. Anscheinend entspricht 
der Ort dieser Brustschmerzen nicht immer den Herderkrankungen, doch 
sind sie in der Regel auf der erkrankten Seite lokalisiert. Selten treten 
Brustschmerzen dauernd in gleichmäßiger Stärke auf, gewöhnlich sind sie 
leicht vorübergehend, von stechendem Charakter, beeinflußt durch Atembe¬ 
wegungen und Husten und gesteigert durch Lageveränderung oder Druck 
auf die kranke Seite. 

Bei vorgeschrittenen Veränderungen der Lunge treten aber nicht selten 
auch anhaltende Schmerzempfindungen auf, die streng auf die betreffende 
Stelle lokalisiert sein können und insbesondere bei Druck an Intensität zu¬ 
nehmen. Auch an Karies der Rippen muß man bei solch hartnäckigen 
Schmerzen denken. Nicht selten kommt es auch bei anhaltenden Husten¬ 
anfällen zu Schmerzempfindungen in den Bauchmuskeln und im Zwerchfell. 
Abgesehen von diesen meist stechenden Schmerzen kommt es nun bei vor¬ 
geschrittenen Fällen noch zu allerhand anderen schmerzhaften Sensationen 
in der Brust. Die Patienten klagen über ein Gefühl der Völle, des Druckes 
in der erkrankten Lunge, oder es quält sie eine Unruhe, es kocht in der 
Brust und manchmal macht sich nach quälenden Hustenperioden das Ge¬ 
fühl der Leere und Schlaffheit in der kranken Stelle fühlbar. 

Sehr viel konstanter und bezeichnender als die Brustschmerzen ist der 
Husten. Aber auch der Husten hat keine Beziehungen zum Verlaufe und 
zur Ausdehnung der Erkrankung, denn er kann quälend und anhaltend im 
Beginn, dagegen leicht und zeitweise ganz stockend gegen Ende der Phthise 
sein. Der Husten entsteht durch Reizung der größeren Bronchien, der Tra¬ 
chea und des Kehlkopfes und er kann daher völlig fehlen, wenn die Ver¬ 
änderungen in dem eigentlichen Lungenparenchym und in den kleinsten 
Bronchien sitzen. Meist macht sich allerdings schon der Beginn der Lungen¬ 
tuberkulose durch Husten bemerkbar, und zwar zunächst oft nur als ein 
oberflächliches Hüsteln oder Räuspern besonders früh morgens oder durch 
ein leichtes Anstoßen bei längerem Sprechen. Bezeichnend aber ist, daß 
solch ein leichter kurzer Husten, der auch wohl einmal als eine schlechte 
Gewohnheit verkannt wird, dauernd bestehen bleibt oder doch nur zeitweise 
verschwindet, um später eventuell in verstärkter Weise wiederzukehren. 
Dieser trockene Husten stellt sich meist periodenweise ein, des Morgens 
gleich nach dem Erwachen, mittags nach dem Essen und gelegentlich des 
Abends. Eines Tages wird aber mit solchen Hustenstößen schon eine ge¬ 
ringe Menge klaren glasigen Schleims heraufbefördert, der dann die Auf¬ 
merksamkeit des Patienten oder seiner Angehörigen schon mehr in Anspruch 
nimmt, bald auch ein regelmäßiges Begleitsymptom des Hustens wird und 
seine Beschaffenheit rasch ändert Indessen kann der Husten auch gleich 
beim ersten Auftreten einen heftigen, rauhen Charakter zeigen und manch¬ 
mal in länger dauernden Anfällen auftreten. Je stärker die Schleimhaut der 


Digitized by 


Google 



510 


Tuberkulose der Lungen, 


Bronchien affiziert ist, desto starker ist der Hustenreiz, der immer von dem 
Zustand der Schleimhaut und von den auch von außen einwirkenden Schäd¬ 
lichkeiten, niemals von der Ausdehnung des Krankheitsherdes abhängig ist 
Auch der Druck geschwollener Bronchialdrüsen kann einen intensiven lästigen 
Husten herbeiführen, der besonders bei Kindern lange Zeit als einziges 
Symptom einer Bronchialdrüsenerkrankung bestehen kann. Am empfind¬ 
lichsten für äußere Schädlichkeiten ist die Bifurkationsstelle, die im ent¬ 
zündeten Zustande schon bei ganz geringfügigen Schädlichkeiten Husten¬ 
reiz auslüst. 

Die weitere Entwicklung des Hustens beim Fortschreiten der Erkran¬ 
kung gestaltet sich nun sehr verschieden und ist nicht allein von Zuständen 
der Bronchien, sondern auch von der Erregbarkeit des Patienten abhängig, 
so daß reizbare, nervöse Kranke oft erheblich leichter und mehr husten und 
auch mehr darunter leiden als andere Patienten. Der Klang des Hustens, 
der in allen möglichen Modifikationen auftreten kann, hat keine bestimmte 
Beziehung zu der Art der Lungenerkrankung, nur der heisere und der ganz 
tonlose hohle Husten, der von Laien meist als Zeichen vorgeschrittenster 
Schwindsucht gedeutet wird, pflegt bei Erkrankungen des Kehlkopfes auf¬ 
zutreten. Beeinflußt wird die Art des Hustens allerdings durch etwa vor¬ 
handene Schmerzen, die den Kranken, wie bei der Pneumonie, veranlassen, 
kurz, abgebrochen zu husten. 

Bei der Kavernenphthise erfolgt der Husten meist leicht und mühe¬ 
los, doch können auch hier besondere Verhältnisse einen qualvollen Husten 
herbeiführen. Gegen Ende der Erkrankung mildert die völlige Entkräftung 
gewöhnlich auch den Hustenreiz. 

Der Auswurf der Phthisiker kann sehr verschieden beschaffen sein. 
Zwar ist von jeher nach charakteristischen Merkmalen gesucht worden und 
manche Eigenschaften sind als typische Zeichen der Tuberkulose angespro¬ 
chen worden, doch liegt in diesen Beobachtungen nur insofern etwas Wahres, 
als gewissen Erkrankungsformen der Lungentuberkulose auch ganz bestimmte 
Sputa entsprechen; Form, Aussehen und Menge des Auswurfes sind aber 
niemals pathognomonisch für die Phthise und auch wohl nie dafür gehalten 
worden. Da jedes Sputum Sekrete des ganzen Respirationstraktus enthalten 
kann und seine Herkunft durch seine Bestandteile dokumentiert, so kommt 
der Untersuchung des Auswurfes auch dann noch große Bedeutung zu, 
wenn die Diagnose der Tuberkulose durch den Bazillennachweis längst ge¬ 
sichert ist. 

Ein vorwiegend schleimiges, glasiges, ziemlich klebriges Sputum 
(Sputum crudum) stammt aus den Bronchien und gilt mit vollem Recht als 
ein sehr verdächtiges Zeichen einer sich entwickelnden Tuberkulose, wenn 
es längere Zeit in unveränderter Weise erscheint. Mit der Zeit verliert es 
den durchscheinenden Charakter, leichte Streifchen und Fädchen von mehr 
gelblichem Aussehen und eiteriger Beschaffenheit durchziehen den schlei¬ 
migen Aus wurf, mehr und mehr nimmt die eiterige Beschaffenheit zu 
(schleimig-eiteriger Auswurf) und schließlich überwiegen eiterige Bestand¬ 
teile (eiterig-schleimiger Auswurf, Sputum coctum), so daß der Auswurf eine 
gelbliche, graue oder gelblich-graue Farbe annimmt und nicht mehr wie im 
schleimigen Zustande auf dem Wasser schwimmt, sondern an einem Schleim¬ 
faden hängend untertaucht (Sputum globosum, fundum petens) oder völlig 
zu Boden sinkt. Dieses eiterige Sputum findet sich fast bei allen Phthisikern 
mit Kavernen, und das eigentümliche, wie angenagte Aussehen, die geballte 
Form, die sich auch im Wasser längere Zeit nicht ändert, und endlich die 
dichte Konsistenz, die ein rasches Untersinken bedingt, deutet darauf hin, 
daß es wohl meist aus Kavernen und von geschwürigen Flächen stammt, 
wo es abseits von Luftströmungen eine kompakte Konsistenz behält. Tritt 


Digitized by 


Google 



Tuberkulose der Lungen. 


511 


die eiterige Natur noch mehr hervor, so kann der Auswurf eine für Kavernen¬ 
phthise äußerst charakteristische Beschaffenheit annehmen. Die schmutzig¬ 
gelben oder gelbgrünlichen Massen haben ein großes Volumen, sinken so¬ 
fort zu Boden und fließen auf dem Boden des Speiglases münzenförmig aus¬ 
einander (Sputa numulata). Sicherlich wäre es aber falsch, ein solches 
Sputum immer auf Kavernen zu beziehen und als Kavernenauswurf zu be¬ 
trachten, denn auch in den Bronchien ist Gelegenheit zur Bildung eines der¬ 
artigen Auswurfes gegeben, selbst bei Erkrankungen nichttuberkulöser Natur. 

Immer deutet diese eiterige Beschaffenheit des Auswurfes aber auf be¬ 
stimmte Veränderungen der Lunge hin. und darin liegt auch bei der Lungen¬ 
tuberkulose der Wert der Beachtung des Sputums. Das glasige, schleimige 
Sputum, das geballte, schleimig-eiterige, das münzenförmige Sputum kenn¬ 
zeichnen die Art der Erkrankung bis zu einem gewissen Grade ebensogut, 
wie ein übelriechendes Sputum auf jauchige Prozesse oder ein serös-schaumiges 
Sputum auf Lungenödem hindeutet. 

Ein besonders von dem gewöhnlichen Phthisikersputum abweichendes 
Aussehen zeigt der Auswurf bei der akuten käsigen Pneumonie. Hier ist 
der Auswurf meist nicht sehr reichlich und nimmt oft eine rötliche, manchmal 
sogar rostfarbene und fast immer eine zähe Beschaffenheit an, so daß er 
dem Sputum bei genuiner Pneumonie täuschend ähnlich sein kann. Nur in 
den Fällen, wo die pneumonische Form sich zu einer schon ausgedehnten 
Phthise hinzugesellt, kann der schleimig-eiterige Charakter bestehen bleiben 
und den Eindruck des rein pneumonischen Sputums verwischen. Immer 
kommt diesem Auswurf große praktische Bedeutung zu und oft ist er das 
erste Zeichen der tuberkulösen Pneumonie, manchmal allerdings auch die 
Ursache einer Verwechslung mit der kroupösen Pneumonie. 

Beimengung von Blut zum Sputum ist immer von großer diagnostischer 
und praktischer Wichtigkeit, und schon der Laie denkt bei blutigem Aus¬ 
wurf zuerst an Schwindsucht. Auch hier ist es wieder nicht das Blut an 
sich, wodurch der Auswurf der Phthisiker so charakteristisch wird, sondern 
die Art, wie Blut dem Sputum beigemischt ist So sind es oft nur kleine, 
streifenförmige Blutbeimengungen, die dem spärlichen Auswurf anhaften 
und beim Fehlen anderer sicherer Zeichen der Tuberkulose oft als unschuldige 
Produkte der oberen Luftwege gedeutet werden. Meist gehören sie zu den 
sichersten Zeichen der Tuberkulose, wenn ihnen auch im übrigen keine be¬ 
sondere Bedeutung zukommt. Manchmal sind sie allerdings auch die Vor¬ 
boten stärkerer Blutungen, und statt der feinen, nur ganz zufällig bemerkten 
Streifchen erscheinen deutliche Blutstreifen und schließlich deutlich blutig 
gefärbtes Sputum. Meist wird dieses blutige Sputum dadurch charakterisiert, 
daß es mit frischem unverändertem, hellrotem Blut leicht gemischt er¬ 
scheint, so daß sich blutige Stellen aus dem übrigen Sputum abheben. In 
anderen, besonders in vorgeschrittenen Fällen ist allerdings gerade das innig 
mit Blut gemischte Sputum eine ganz gewöhnliche Erscheinung, wie es 
durch Mischung des eiterigen Sekretes von Kavernen mit kapillären Blutungen 
entsteht. Meist nimmt das Sputum dann eine schmutzige, bräunliche oder 
schokoladenartige Färbung an. Wiederum ganz anders sieht das obener¬ 
wähnte zähe, rote oder rostfarbene Sputum gewisser pneumonischer Tuber¬ 
kuloseformen aus, das aus den Bronchien der Lunge stammt. 

Als ein seltener Befund im Auswurf müssen noch die Lungensteine 
erwähnt werden, linsen- oder bohnengroße steinharte Gebilde, die sich im 
verhaltenen Bronchialsekret oder in infiltriertem, in schwieliger Umwand¬ 
lung begriffenem Gewebe bilden, sich beim Zerfall der Umgebung allmählich 
lösen und gelegentlich durch heftige Hustenstöße entleert werden. 

Über weitere Eigenschaften des Auswurfes orientiert uns die mikro¬ 
skopische Untersuchung. Die einzelnen Bestandteile des Sputums, vor allem 


Digitized by 


Google 



512 


Tuberkulose der Lungen. 


auch Blutspuren, lassen sich mikroskopisch in zweifelhaften Fällen meist 
leicht nachweisen, auch Ober die Anwesenheit von Leukozyten, vor allem 
von großen Lymphozyten, von eosinophilen Zellen, von Alveolarepithellen 
und von Pigment- und Myelinzellen gibt das mikroskopische Präparat Auf¬ 
schluß. Die Hauptbedeutung der mikroskopischen Untersuchung liegt aber 
in dem Nachweis von elastischen Fasern und besonders von Tuberkel* 
bazillen. 

Elastische Fasern im Auswurf zeigen immer destruktive Prozesse an, 
die ja zum Wesen 'der Lungentuberkulose gehören. Zwar gibt es auch andere 
Erkrankungen, die mit Zerstörung von Lungengewebe einhergehen. Diese 
Erkrankungen zeigen aber meist auch andere Symptome, und der Nachweis 
von elastischen Fasern bei der Lungentuberkulos ist auch heute noch von 
großem Wert. Bei der Untersuchung ist achtzugeben auf Verwechslung mit 
Bestandteilen der im Munde zurückgebliebenen Speisereste. 

In den meisten Fällen ist allerdings der Nachweis von elastischen 
Fasern überflüssig geworden durch den Tuberkelbazillenbefund. Und in der 
Tat ist diese Untersuchung auf Tuberkelbazilien in verdächtigen Fällen von 
so eminenter Bedeutung, daß ohne eine solche keine Krankenuntersuchung 
als abgeschlossen gelten kann. Die Methoden des Bazillennachweises sind 
bereits oben besprochen, es soll nur noch erwähnt werden, daß es hierbei 
nicht so sehr auf eiteriges, mehr oder weniger planloses Bazillensuchen an¬ 
kommt, als vielmehr au! eine sorgsame Auswahl solcher Spotumteilcheu, 
die erfahrungsgemäß meist Bazillen enthalten. Es sind dies kleine graue 
oder grau-gelbliche, linsenförmige Partikelchen, die schon bei schwacher 
Vergrößerung als käsig-eiterige Massen oder als körniger Detritus erkannt 
werden und meist abgestoßene, mehr oder minder nekrotische Oewebsfetzen 
(Corpuscula oryzoidea) darstellen und in der Hegel Tuberkelbazillen enthalten. 

Sind solche Linsen im Auswurf vorhanden, so ist auch der Bazüfon- 
n ach weis leicht, fehlen sie und ist der Auswurf mehr schleimig, so kann 
die Untersuchung langwieriger werden. Ferner ist er von Bedeutung, daß nicht 
jeder Auswurf für die Bazillenuntersuchung gleich gut geeignet ist. Durch 
längeres Stehen werden Zersetzungen begünstigt und vor allem finden Be¬ 
gleitbakterien und andere aus der Außenwelt stammende Mikroorganismen 
Gelegenheit zu starker Vermehrung, so daß wesentliche Bestandteile des 
Sputums hierdurch überwuchert werden. Es empfiehlt sich also, das Sputum 
frisch zu untersuchen oder, wo dies nicht angeht, das Sputum wenigstens 
möglichst vor Verunreinigungen zu schützen. Dazu kommt noch, daß ein 
Auswurf, der am Tage von den durch allerhand Schädlichkeiten gereizten 
größeren Bronchien geliefert wird, für die Untersuchung nicht die gleiche 
Bedeutung hat wie ein nach längerer Schonung der Atemorgane des Morgens 
früh heraufbefördertes Sputum. Hiernach empfiehlt es sich also, daß der 
Patient des Morgens nach dem Erwachen zunächst seine Mundhöhle reinigt 
und daß er dann den bei den folgenden Hustenstößen produzierten Auswurf 
in ein reines Gefäß mit Wasser entleert. Zur Untersuchung wird ein solcher 
Sputumballen in sterilem Wasser gewaschen und von den einhüllenden Be¬ 
standteilen der oberen Luftwege mit ihren Bakterien möglichst gereinigt 
und dann erst werden aus dem Innern des Sputumballens geeignete Stellen 
zur mikroskopischen und bakteriologischen Untersuchung verwendet. Eine 
auf diese Weise sorgfältig ausgeführte Untersuchung ist wertvoller als das 
eifrigste Färben ungezählter wahllos angefertigter Präparate. 

Gelangt man auf diese Weise nicht zum Ziel, so kann ein Sedimen- 
tierungsverfahren nach Biedert versucht werden. Der Auswurf wird mit der 
doppelten Menge Wasser und einigen Tropfen Natronlauge vermischt, ge¬ 
schüttelt, nochmals mit Wasser verdünnt und bis zur Verflüssigung auf- 
gekocht. Alsdann wird zentrifugiert und der Bodensatz auf Bazillen unter- 


Digitized by 


Google 



Tuberkulose der Lungen» 


513 


sucht. Endlich kommt für den Bazillennachweis noch der Tierversuch in 
Betracht, den man mit Vorteil in der Weise aasführt, daß man die zur 
Impfstelle gehörigen Inguinaldrüsen vor der Impfung stark quetscht, wo¬ 
durch die etwaige Ansiedlung der Bazillen beschleunigt wird (Bloch). 

Wie fast jedes prägnante Symptom der Lungentuberkulose einmal 
überschätzt und für die Beurteilung des jeweiligen Zustandes der Lunge 
mißbraucht worden ist, so ist auch das Erscheinen der Tuberkelbazillen im 
Auswurf des Phthisikers zeitweise überschätzt und falsch bewertet worden. 
Hat man doch selbst für klinische Zwecke eine Tabelle konstruiert, nach 
der die ungefähre Menge der in einem bestimmten Sputum vorhandenen 
Tuberkelbazillen aus einem mikroskopischen Präparat berechnet werden 
konnte. Eine praktisch bedeutsame Beziehung zwischen Bazillenmenge der 
einzelnen Sputa und Art oder Ausdehnung der Erkrankung kann ebenso¬ 
wenig bestehen, als wie die Bazillenmenge in prognostischer Beziehung 
einen Anhaltspunkt zu geben vermag. So lange allerdings Bazillen im Aus¬ 
wurf erscheinen, so lange sind auch die Krankheitsprozesse als noch nicht 
abgeschlossen zu betrachten, über die Art dieser Vorgänge gibt der Bazillen¬ 
nachweis aber natürlich keinen Aufschluß. Diese Entscheidung ist nur auf 
Grund des gesamten Symptomenkomplexes unter genauester Berücksichtigung 
des physikalischen Untersuchungsbefundes möglich. 

Physikalische Untersuchungsmethoden. Fast jede Feststellung 
von Krankheitssymptomen der Lungentuberkulose wird aus einer mehr oder 
minder großen Anzahl physikalischer Wahrnehmungen gewonnen. Doch sind 
von jeher zusammenhängende Reihen bedeutungsvoller physikalischer Eigen¬ 
schaften aus der schwer zu ordnenden Menge der übrigen hervorgehoben 
worden, und als die eigentliche physikalische Untersuchung werden die¬ 
jenigen Methoden bezeichnet, durch welche solche Zeichen zur Wahrnehmung 
gelangen (Gerhardt). Es sind das die Inspektion, Palpation, Mensuration, 
Perkussion und Auskultation. Sie alle orientieren uns über Eigenschaften 
physikalischer Art, die aber nicht als solche einzeln unmittelbare Bedeutung 
haben, sondern im Zusammenhang mit anderen Untersuchungen erst die 
Grundlage für ein Urteil abgeben. Jede Zeit ist geneigt, die gerade vor¬ 
herrschende Forschungsrichtung als die wichtigste und bedeutungsvollste 
unter allen dasselbe Ziel anstrebenden Wegen anzusehen, und so sind auch 
diese physikalischen Methoden einmal überschätzt und ihr Wert mißdeutet 
worden, so ist aber diese Art der Untersuchung in neuerer Zeit auch wohl 
mißachtet und vernachlässigt worden. Was aber auch der Nachweis des 
Tuberkelbazillus für die Diagnose der Lungentuberkulose bedeutet, für die 
Ausdehnung der krankhaften Prozesse, für den Verlauf und die Art der Er¬ 
krankung, mit anderen Worten für die Bedürfnisse einer praktischen Medizin 
bildet der physikalische Befund auch heute die Grundlage der Erkenntnis, 
Anfang und Ende des ärztlichen Handelns. 

Inspektion. Schon vor jeder näheren Berührung gibt die Inspektion 
manchmal deutliche Zeichen der Erkrankung. Durch die Veränderungen in 
der Lunge wird die Atmung oft merklich beeinflußt, ganz allgemein tritt 
eine Beschleunigung der Respiration ein, vor allem aber wird der Atem¬ 
typus verändert. Frauen mit kostaler Atmung schonen die obere Partie des 
Brustkorbes und gehen zu mehr oder minder ausgesprochener Zwerchfell¬ 
atmung über. Die Atmung wird auch flacher und ein ganz oberflächliches, kurz 
abgesetztes Atmen mit etwas Unregelmäßigkeit deutet auf pleuritische 
Sch merze cf hin. Schon bei beginnender Spitzenerkrankung kann die Atmung 
ungleichmäßig werden, indem die erkrankte Seite in den oberen Partien 
merklich zurückbleibt. 

Gerade bei beginnender Phthise gibt dieses Nachschleppen einer Spitze 
manchmal einen sehr bedeutsamen Fingerzeig, und dadurch, daß dieses 


Encydop. Jahrbücher. N.F. VHI. (XVII.) 


Digitized by 


Google 



514 


Tuberkulose der Lungen. 


Nachschleppen um so deutlicher sein kann, \e frischer die Erkrankung ist. 
wird der Wert dieses Symptoms noch erhöht (Turban). Denn sehr leicht 
kann diese Funktionsstörung bei günstigem Verlaufe der Erkrankung wieder 
ausgeglichen werden, während Einziehungen und Abflachungen der Brust, 
als Ausdruck einer Schrumpfung, natürlich nicht wieder völlig verschwinden 
können. In vorgeschrittenen Fällen machen sich derartige Unterschiede dann 
auch manchmal noch viel deutlicher bemerkbar. Schrumpfungen der er¬ 
krankten Lunge führen zu dauernden Abflachungen der Brust, große In¬ 
filtrate und starke Beteiligung der Pleura bedingen ein abgeschwächtes 
Atmen und selbst ein völliges Stillstehen des betreffenden Abschnittes der 
Brust. 

Durch die Veränderungen der oberen Lungenabschnitte kommt es bei 
chronischer Phthise zur Ausbildung einer eigentümlichen Form des Brust¬ 
korbes, durch den Zug der schrumpfenden Lungenspitzen wird der obere 
Teil des Sternums der Wirbelsäule genähert, so daß der Sternalwinkel 
(Louisscher Winkel) besonders stark hervortritt. Die Sopra- und Infra- 
klavikulargruben erscheinen bedeutend vertieft, die Rippen verlaufen steiler 
nach abwärts, ihr Ansatzwinkel am Sternum wird spitzer, der epigastrische 
Winkel wird kleiner und der ganze Thorax erscheint auffallend flach und 
lang. Mit anderen Worten: durch die tuberkulöse Lungenerkrankong ent¬ 
steht die paralytische Thoraxform, die bereits oben als Ausdruck des 
Habitus phthisicus besprochen worden ist. Zum Unterschied vom ange¬ 
borenen, ererbten hat man hier vom erworbenen Habitus phthisicus ge¬ 
sprochen, und die Verwechslung oder Identifizierung beider Formen hat 
schon zu vielen Irrtümern und Mißdeutungen geführt. Wie die Thoraxfonn 
zweifellos in der Konstitution begründet sein kann und damit auch für die 
Ätiologie der Lungentuberkulose Bedeutung gewinnt, so kann diese Ver¬ 
änderung der Körperform auch sekundär durch die Erkrankung der Lunge 
zustande kommen, und in diesem Falle gehört sie zu den Folgezuständen 
der Lungentuberkulose. 

Palpation . Eine weitere Methode besteht in der Betastung des Brust¬ 
korbes. Reibegeräusche und auch gröbere Rasselgeräusche können manch¬ 
mal für die tastende Hand fühlbar werden, ihre Bedeutung für die physika¬ 
lische Untersuchung soll indessen später bei der Auskultation besprochen 
werden. Zwar gewinnt auch der Pektoralfremitus meist erst im Zusammen¬ 
hang mit anderen physikalischen Zeichen den rechten Wert, auf eine für 
die Diagnose der beginnenden Tuberkulose wichtige Erscheinung soll aber 
schon hier hingedeutet werden. Es ist das der verstärkte Stünmfremitus 
über der erkrankten Lungenspitze, ein Symptom, das allerdings nur unter 
Berücksichtigung der Tatsache verwertet werden kann, daß der Pektoral¬ 
fremitus bei Gesunden über dem rechten Oberlappen wegen der größeren 
Weite des rechten Bronchus (Sbitz), vor allem aber wohl wegen der 
stärkeren Verzweigung des Bronchialbaumes (Helm) deutlicher erscheint 
als links. 

Mensuration. Auch dieser Methode kommt große Bedeutung zu, und 
zwar nicht allein wegen der bei der Inspektion schon besprochenen Brust¬ 
maße, sondern auch wegen der durch den Spirometer feststellbaren vitalen 
Kapazität. Gerhardt meint, daß genügende vitale Kapazität der Lunge ganz 
unbedenklich als Zeichen gesunder Atmungswerkzeuge angesehen werden 
kann. Und erfahrungsgemäß wirkt unter allen Lungenkrankheiten keine 
früher und keine in ihrem Verlaufe in höherem Maße auf das Atmungsver¬ 
mögen ein als die Tuberkulose. Darin liegt die Bedeutung dieser Methode 
für die Erkennung verborgener Lungenerkrankungen und für die besonders 
von Meissen stets betonte Beurteilung des Verlaufes der Tuberkulose. Sorg¬ 
fältig ist allerdings bei dieser Untersuchung die erste Forderung und große 


Digitized by t^ooQle 



Tuberkulose der Lungen. 


515 


Vorsicht ist in der Verwertung der Zahlen geboten bei ungenügender Übung 
der Kranken. Bei Patienten, die im Gebrauch des Spirometers geübt sind, 
gibt die Untersuchung sehr konstante, nur wenig differierende Werte, so 
daß eine plötzliche Verminderung der vitalen Kapazität um vielleicht 100 bis 
200 cm* schon auf neue Herderkrankungen hindeatet, während steigende 
Werte wegen der größeren in der wachsenden Übung gelegenen Fehler¬ 
quelle meist vorsichtiger zu beurteilen sind. Auch die neuere Erfahrung, daß 
die vitale Kapazität der Lungen sich bei körperlichen Anstrengungen und 
bei verschiedenen Krankheitszuständen vergrößert, daß der Organismus 
gleichsam in der Verschiebung der vitalen Mittelstellung ein Mittel hat, den 
vermehrten Anspruch an die Zirkulation durch die Lungen zu kompensieren 
(Bohr), berechtigt nicht dazu, die Bedeutung der Spirometrie für die Beur¬ 
teilung der Lungentuberkulose einzuengen, sie mahnt nur zur Sorgfalt in 
der Untersuchung. 

Perkussion. Mit der Untersuchung durch Beklopfen des Thorax kommen 
wir nun zum wichtigsten, aber auch schwierigsten Kapitel der physikalischen 
Methoden. Die Ergebnisse der Perkussion sind von der Art der anatomi¬ 
schen Veränderungen abhängig, und da diese ein so vielgestaltiges und 
kompliziertes Bild darstellen, sind auch die perkutorischen Erscheinungen 
außerordentlich mannigfaltig und selbst bei gleichartigen Erkrankungen 
wechselnd und verschieden. Sitz und Ausdehnung der Erkrankung gleichen 
sich in den einzelnen Fällen so wenig, daß auch die perkutorischen Befunde 
sich von Fall zu Fall ändern. Meist sind die Veränderungen in Gestalt 
kleiner Herdchen oder unbedeutender Verdichtungen und Infiltrate über 
einen größeren Teil der Lunge verstreut, wodurch zwar eine Luftverringe¬ 
rung des betreffenden Lungenabschnittes, aber auch Spannungsänderungen 
in den nicht beteiligten, zwischenliegenden Partien gegeben werden. 

Andrerseits können geringfügige tuberkulöse Veränderungen durch 
Verstopfung der Bronchien zur Resorption der abgeschlossenen Luft führen, 
und Schrumpfungsvorgänge und alte Narben bedingen oft genug die Aus¬ 
bildung eines kompensatorischen Emphysems in der Nachbarschaft. Endlich 
übt auch die Pleura, sei es unmittelbar durch dicke Schwartenbildung oder 
sei es durch die infolge leichter Verwachsungen und Verklebungen verän¬ 
derten Schallverhältnisse von Lunge und Thoraxwand, einen solchen Einfluß 
auf die Resultate der Perkussion aus, daß hierdurch die Möglichkeit einer 
endlosen Variation des perkutorischen Befundes gegeben ist. Besonders er¬ 
schwerend tritt nun noch der Umstand hinzu, daß jede tuberkulöse Neu¬ 
bildung, jedes Infiltrat, jedes Exsudat nur beschränkte Lebensdauer hat, daß 
sich an Stelle von Verdichtungen Hohlräume bilden, die wiederum eine Zu¬ 
nahme des Luftgehaltes der erkrankten Lunge bedingen und damit deutliche 
Dämpfungen wieder aufhellen und modifizieren. 

Von vornherein ist es also klar, daß die Intensität eines perkutori¬ 
schen Symptoms, zum Beispiel einer Dämpfung, in keinem Verhältnis zu 
stehen braucht zu der Schwere der Erkrankung, und andrerseits wird es 
auch erklärlich, warum manchmal sehr ausgedehnte vorgeschrittene Prozesse 
viel geringere und schwerer wahrnehmbare Veränderungen des Perkussions¬ 
schalles bedingen als kleinere, kompakte, der Lungenoberfläche nahe gelegene 
Herde einer beginnenden Erkrankung, deren Erkennung auch dem weniger 
Geübten nicht schwer fällt. Die Methode erfordert also eine große Übung 
und die Deutung ihrer Befunde bestimmte Kenntnisse , aber der in dieser 
Methode erfahrene Untersucher vermag auch durch die sorgsame Beklopfung 
der Brustwand Resultate zu gewinnen, die den leichter ausführbaren Me¬ 
thoden nicht immer zugänglich sind. 

Bei vorgeschrittener LungeDphthise, wo die Veränderungen nicht mehr 
auf einen Oberlappen beschränkt sind, und wo vor allem Erweichungspro- 


Digitized by 


GoSgl 



516 


Tuberkulose der Lungen. 


zesse Platz gegriffen haben, treten andere Erscheinungen, insbeson¬ 
dere auskultatorischer Natur, mehr in den Vordergrund, so daß die Wichtig* 
keit des perkutorischen Befundes etwas zurücktritt, meist ist aber auch 
bei ausgedehnten auskultatorischen Erscheinungen die Deutung des Befundes 
nur im Zusammenhang mit der Perkussionsmethode möglich. Handelt es 
sich in solchen Fällen um diffuse Veränderungen oder um alte, chronische 
Erkrankungen, die immer wieder zum Stillstand kommen, sich aber auch 
immer weiter über die Lunge ausdehnen, und deren auskultatorischer Be¬ 
fund sich in diesen Perioden nicht viel von katarrhalischen Symptomen 
anderer Art unterscheidet, so kann die sichere Beurteilung sehr schwer 
werden. Auch die Perkussion liefert hier keine prägnanten Zeichen, dadurch 
aber, daß die Spannung solcher tuberkulös erkrankten Abschnitte vermin¬ 
dert ist, gibt sich die Veränderung gewöhnlich in einem leicht tympanitischen 
Beiklang des Klopfschalles zu erkennen. Deutliche Dämpfungen im Bereich 
der Unterlappen treten natürlich nur dort auf, wo Infiltrate größeren Um¬ 
fang annehmen, und wo zur eigentlichen Tuberkulose Komplikationen bin- 
zutreten. 

Mit großem Eifer wurde die Perkussion früher zur Erkennung von 
Kavernen angewendet. Die Erscheinungen des Schall Wechsels bei geöffnetem 
und geschlossenem Munde (WixTRicHscher Schallwechsel), beim Aufsetzen 
und Niederlegen (GERHARDTscher Schallwechsel) und endlich der unterbro¬ 
chene Wintrich sehe Schallwechsel, der durch öffnen und Schließen des 
Mundes nur im Liegen oder nur im Aufsitzen wahrnehmbar wird, in der 
veränderten Lage aber unterbrochen wird, haben in den diagnostischen 
Übungen einmal eine große Rolle gespielt. Die Erfahrung hat aber gelehrt, 
daß der WiNTRicnsche Schallwechsel auch durch die Veränderung der phy¬ 
sikalischen Verhältnisse der Luftsäule von der Trachea bis zu den großen 
Bronchien innerhalb verdichteten Lungengewebes bedingt sein kann (zum 
Beispiel bei der Oberlappenpneumonie), und daß zweitens auch ein Exsudat 
im unteren Teil des Pleurasackes oder Verdichtungen im Unterlappen die 
Spannungsverhältnisse der Lungenspitzengegend derart verändern können, 
daß hier im Sitzen der Perkussionsschall höher erscheint als im Liegen. 
Endlich haben auch der Metallklang und das »Geräusch des gesprungenen 
Topfes«, Symptome, die auch bei anderen pathologischen Zuständen und bei 
Kindern selbst über der normalen Lunge entstehen können, nicht mehr die 
Bedeutung für die Diagnose der Kavernen, die man solchen Erscheinungen 
früher beizulegen geneigt war. Die Erscheinungen sind zwar dieselben ge¬ 
blieben und zur Übung des untersuchenden Ohres haben sie gewiß auch 
heute noch eine große Bedeutung, unsere Auffassung der Kavernenphthise 
hat sich aber derart geändert, daß Lage und Gestalt der Höhlenbildung, 
worauf sich jene Wahrnehmungen doch beziehen, kein sonderliches Inter¬ 
esse haben und jedenfalls anderen, praktisch angreifbaren Fragen nachstehen 
müssen. Für die Beurteilung der Phthise ist zwar die Kavernenbildung von 
großer Bedeutung, aber die großen, starrwandigen Höhlen, deren Nachweis 
zur Ausbildung besonderer Methoden führte, haben schließlich keine andere 
Bedeutung als die unregelmäßig geformten Kavernen, die in dem zerklüf¬ 
teten Lungengewebe als Gewebsspalten keine »Kavernensymptome« in 
jenem Sinne darbieten. Erweichungs- und Destruktionsprozesse lassen sich 
aber aus dem ganzen Krankheitsbilde schon viel früher feststellen, als es mit 
Hilfe der klassischen Kavernensymptome gelingt. 

Eine besondere Bedeutung kommt der Perkussion für die Diagnose 
der beginnenden Spitzenerkrankung zu. Von rein theoretischen Ge¬ 
sichtspunkten aus muß es allerdings zweifelhaft erscheinen, ob wirklich der 
erste Beginn der Lungentuberkulose der perkutorischen Untersuchung zu¬ 
gänglich ist. Ein Lungenherd von Kirschgroße ist nur dann durch Perkus- 


Digitized by t^ooQle 



Tuberkulose der Lungen. 


517 


sion sicher nachweisbar, wenn er unmittelbar unter der Pleura gelegen ist; 
kirschkerngroße und kleinere Herde sind also auch in dieser exponierten 
Lage einzeln nicht nachweisbar (Ostreich), wieviel weniger in der Tiefe der 
Lunge, wo der tuberkulöse Prozeß doch einmal einsetzt! Nun gebraucht 
aber der einzelne Tuberkel schon 2—3 Wochen zu seiner Entwicklung und 
so kann man sich leicht vorstellen, daß geraume Zeit, daß Monate ver¬ 
gehen, bis ein Tuberkelherd nur annfihernd die Größe hat, um den Per¬ 
kussionsschall merkbar zu beeinflussen. Diese theoretischen Erwägungen 
(Cornet) sind sicher richtig, aber sie haben keine Bedeutung für die hier 
aufgeworfenen praktischen Fragen. Man darf den diagnostischen Wert der 
Perkussion nicht durch theoretische Gründe herabsetzen, um so weniger, wenn 
diese Theorien nur auf schwachen Füßen stehen. Über die ersten Vor¬ 
gänge der tuberkulösen Infektion wissen wir außerordentlich wenig Tat¬ 
sächliches, nur so viel kann als ausgemacht gelten, daß sie sich sicherlich 
nicht in der Lungenspitze abspielen, und daß es weniger anatomische als 
rein funktionelle Vorgänge sind, die hier Bedeutung haben. Diese wissen¬ 
schaftlichen Fragen haben aber gar keine Bedeutung, wenn es sich darum 
handelt, eine in der Lungenspitze lokalisierte Herderkrankung als Teiler¬ 
scheinung eines pathologisch-klinischen Syndroms festzustellen. Nur das hier 
hat Bedeutung, was der klinischen Auffassung zugänglich ist. 

Vorgänge, die unterhalb des Niveaus liegen, bleiben naturgemäß auch 
den klinischen Methoden unzugänglich. Eine spätere Zeit wird hier klarer 
sehen, bis dahin müssen wir uns mit den Erscheinungen abfinden, die uns 
zugänglich sind, denn bei jedem Versuch, tiefer in diese Dinge einzudringen, 
verlieren wir den Boden und damit die Möglichkeit, der praktisch-klinischen 
Seite dieser Sache zu dienen. 

Der erste Beginn der Lungentuberkulose macht sich in der Lungen¬ 
spitze meist erst bemerkbar, wenn es bereits zur Ausbildung deutlicher 
Herderkrankung gekommen ist, und diese in der Spitze lokalisierte Erkran¬ 
kung ist nicht durch die Perkussion festzustellen. In der Regel ist der 
Schall bei der gewöhnlich einseitigen Erkrankung über beiden Spitzen un¬ 
gleich, und wenn auch keine deutliche Dämpfung hervortritt, so ist der 
Schall über der erkrankten Spitze doch kürzer als über der gesunden Seite 
und sehr oft etwas tympanitisch. Auf die Bedeutung einer eigenartigen, 
von Da Costa, Rosenbach und anderen beschriebenen und mittelst der 
sogenannten respiratorischen Perkussion nachweisbaren Erscheinung macht 
neuerdings Goldscheider wieder aufmerksam. Sie besteht darin, daß 
bei Herderkrankung einer Spitze die für gewöhnlich bei der Einatmung 
auftretende Veränderung, nämlich das Lauterwerden des Schalles, nicht 
eintritt. 

Deutlichere Unterschiede in den Schallverhältnissen der Lungenspitzen 
treten allerdings meist erst später hervor, die dann auch bald ihre Bestä¬ 
tigung durch auskultatorische Erscheinung erhalten. Die ersten Herde in 
der Lungenspitze machen sich aber noch auf andere Weise perkutorisch be¬ 
merkbar, die großes praktisches Interesse verdienen. Die Lungenspitzen 
stehen beim gesunden Menschen gleich hoch und durch die Perkussion der 
Fossa supraclavicularis und supraspinata müssen daher die Grenzbestim¬ 
mungen der Lungenspitzen beiderseits gleiche Resultate geben. Durch leise 
perkutorische Abgrenzung des Lungenschalles von dem leeren Schall der 
Umgebung entstehen zwei Schallfelder (Krönig) über den Lungenspitzen, 
die gleichsam eine Projektion der oberen Lungenpartien auf die Spitzen¬ 
gegend darstellen. Diese topographisch - perkutorische Bestimmung der 
Grenzen erlaubt nun eine genaue Vergleichung der beiden Schallfelder. 
Über gesunden Lungen ohne Herderkrankung und mit normaler Wand¬ 
spannung sind diese Grenzlinien durch den scharfen Übergang des Schalles 


Digitized by 


Google 



518 


Tuberkulose der Lungen. 


von lufthaltigem zu luftleerem Gewebe genau zu bestimmen (Fig. 124 u. 125). 
Ganz anders dagegen bei pathologischen Verhältnissen. Tritt eine tuber¬ 
kulöse Erkrankung in dem oberen Teil eines Oberlappens auf, so kommt 


Fig.124. 



es schon im ersten Beginn, sei es durch die infolge Verstopfung eines kleinen 
Bronchus oder durch Kompression desselben hervorgerufene Atelektase in 
dem zugehörigen Alveolarbezirk oder sei es durch andere beginnende tuber- 


Fig. 125. 



kulöse Veränderungen, zu einer verminderten Wandspannung auch des be¬ 
nachbarten Lungengewebes. Unter diesen Verhältnissen wird aber nach 
Krönig eine scharfe Abgrenzung des Lungenschalles außerordentlich er- 


Digitized by 


Google 



Tuberkulose der Lungen. 


519 


schwort, die normalerweise schar! begrenzten Schallfelder zeigen auf der 
einen oder der anderen Seite eine Verschleierung der Grenze (Fig. 126) und 
in diesem perkutorischen Befund sieht Krönig ein Frühsymptom der Lungen- 


Fig. 126. 



Spitzenerkrankung. Ein wirkliches Tiefertreten der Lungenspitze und eine 
meßbare Verkleinerung des Schallfeldes tritt dagegen erst auf (Fig. 127), wenn 
Schrumpfuogsprozesse vorliegen. 


Fig. 127. 



Ganz anders beurteilt Goldscheider diese Frage. Goldscheider weist 
darauf hin, daß bei der Perkussion der Fossa supraclavicularis hauptsächlich 
die erste Rippe und nur ein schmaler lateraler Anteil der Apertur der Unter- 


Digitized by 


Google 



520 


Tuberkulose der Lungen. 


suchung unterzogen wird, während der eigentliche apikale Teil der Lungen¬ 
spitze viel mehr medialwärts unter dem Sternocleidomastoideus und dem 
Scalenus verborgen liegt (Fig. 128). Noch viel weniger werden aber bei der 
lateralen Orenzbestimmung (nach Krönig) Abschnitte der Lungenspitze nach 
oben projiziert, vielmehr werden sehr viel tiefer liegende Regionen, selbst 
die Gegend der 3. und 4. Rippe getroffen, wie sich unmittelbar aus Fig. 129 
ergibt. Goldschkider schlägt nun vor, zwischen den Köpfen des Sterno¬ 
cleidomastoideus den apikalen 
Fi * 128 Anteil der Lungenspitze zu per- 



Topographie der Lungenspitze. Links ist der 
claviculare Kopf des Sternocleidomastoideus entfernt, so 
daß der Scalenus ant. sichtbar wird. Der obere Lungen- 
rand geht ein wenig über den medialen Band der 1. Rippe 
hinaus. 


kutieren und von hier aus auch 
die eigentliche Apexkuppe, die 
man durch Palpation aufsucht, 
indem man am medialen Rande 
der 1. Rippe tastend bis zum 
Rippenhals vorgeht. Die Per¬ 
kussion wird sehr leise und in 
sagittaler Richtung vorgenom¬ 
men, entweder in PLESCHscher 
Fingerhaltung oder mittelst des 
GoLDSCHEiDERschen stumpfwin¬ 
kelig geknickten Glasgriffels 
(Fig. 130). Auf ähnliche Weise 
kann die ganze Apertur, die 
erste Rippe und die Interkostal¬ 
räume ausperkutiert werden, 
und Goldscheider glaubt, daß 
auf solche Art sehr viel leichter 
und früher Veränderungen, be¬ 


sonders kleine Dämpfungen 
nachgewiesen werden . können 



Grenzen nach Krönig . 


als durch andere Methoden. Zur 
Perkussion der hinteren Fläche 
der Lungenspitze empfiehlt 
Goldscheider, daß man den Pa¬ 
tienten in sitzender Stellung mit 
dem Arm weit nach vorn und 
seitlich ausgreifen läßt, etwa 
um die Stuhllehne zu umfassen, 
wodurch das Schulterblatt ganz 
aus dem Untersuchungsfelde 
entfernt wird. Jetzt wird wie¬ 
derum die erste Rippe aufge¬ 
sucht, resp. der Winkel zwischen 
erster Rippe und Wirbelkörper. 
Auch auf der hinteren Fläche 
findet man auf diese Weise bei 
initialer Phthise leicht ein 


Tieferstehen der Lungenspitze oder eine Einziehung der medialen Grenze. Trotz 
der Bedenken, die dieser subtilen Methode entgegengestellt worden sind (Simons, 
Aravantinos), muß man doch anerkennen, daß damit in der Hand eines geübten 
Untersuchers eventuell viel geleistet wird, aber auch die KRöNiGsche Methode 
sollte nicht vernachlässigt werden. Wie auch immer die Theorien über den 


Wert einer Methode urteilen, schließlich entscheidet doch der Erfolg, und daß 
man auf die eine oder die andere Weise mittelst der Perkussion frühzeitig 
Spitzentuberkulose feststellen kann, unterliegt keinem Zweifel. 


Digitized by 


Google 





Tuberkulose der Lungen. 


521 


Auskultation . Ergänzt und erweitert wird die physikalische Unter¬ 
suchung durch die Behorchung der Brust Die mittelst dieser Methode wahr¬ 
genommenen Erscheinungen beziehen sich auf das Atemgeräusch, auf die 
begleitenden Geräusche und auf die Auskultation der Stimme. Das normale 
vesikuläre Atemgeräusch kann schon durch geringfügige Veränderungen in 
der Lungenspitze modifiziert werden. Auch ohne daß die tuberkulöse Er¬ 
krankung zu nennenswerter Sekretion in den Bronchien führt, wird das 
Atmen schon durch kleine, ins Lungenparenchym eingesprengte Herde in 
der Art verändert, daß es rauher, verschärft und im Exspirium verlängert 
erscheint. Ein reines Vesikuläratmen entsteht eben nur dann, wenn das 
Lungenparenchym in allen Teilen ein schwammiges Gewebe von ganz gleich¬ 
mäßiger Spannung darstellt; kommt es zu Verdichtungen und Änderung 
der SpannungsVerhältnisse, so ändert sich auch das Atemgeräusch. Insbe¬ 
sondere wird auch das in den Bronchien entstehende Exspirium nicht so 
vollständig modifiziert, wie wenn es durch ein normales, völlig lufthaltiges 
Gewebe zum Ohr dringt. Durch eingelagerte Verdichtungen wird die 
Leitung günstiger und das Ex¬ 
spirium wird lauter, verlängert Pi ff .i8o. 

und behält auch etwas deut¬ 
licher seinen ursprünglichen 
Charakter; jedes verstärkte und 
verlängerte Exspirium nähert 
sich also etwas, wenn auch nur 
sehr gering, dem bronchialen 
Typus. Aber schon früher als 
dieses verlängerte Exspirium 
kommt es zu anderen Modifi¬ 
kationen des Atemgeräusches. 

Insbesondere gehört das rauhe 
Atmen zu den allerersten 
Symptomen der beginnenden 
Spitzenerkrankung. Schon Dett- 
weiler gebraucht diesen Aus¬ 
druck für eine leichte Verän¬ 
derung des normalen Atemge- 
räuches, das gleichsam aus einer 
ganzen Reihe von kurzen, dicht 
hintereinander folgenden Ge¬ 
räuschen zusammengesetzt erscheint, und bezog es auf wulstige Schwel¬ 
lungen in den feineren Atemwegen. Andere (Grancher und Turban) glauben, 
daß ein rauhes Atmen dadurch zustande kommt, daß die Luft in die durch 
die Nachbarschaft kleiner luftleerer Herde behinderten Alveolen ruckweise 
eindringt. Ob diese ganz annehmbare Vorstellung den wirklichen physika¬ 
lischen Bedingungen entspricht, muß dahingestellt bleiben, übrigens wird 
der Begriff des rauhen Atmens nicht von allen Autoren im selben Sinne 
gefaßt, manche verstehen darunter ein unreines, andere auch wohl ein ver¬ 
schärftes Atmen, sicherlich aber ist es richtig, daß eine solche vielleicht 
nicht immer im gleichen Sinne aufgefaßte Modifikation des normalen Atem¬ 
geräusches von großem diagnostischen Werte ist. 

Auch das deutlich verschärfte Atmen muß als Zeichen einer Lungen¬ 
veränderung aufgefaßt werden, wenn Fehlerquellen, die zu solcher Erschei¬ 
nung führen können, ausgeschlossen sind, wie Beengung der unteren Lungen¬ 
partien durch Schnüren, pneumonische Erkrankung oder große pleuritische 
Exsudate. Endlich gehört auch das ab geschwächte Vesikuläratmen zu 
den initialen Symptomen der Tuberkulose, gewöhnlich geht mit der Ab- 



Perknssion zwischen den Köpfen dos Stemocleidomaßto- 
ideus mit dem Glasstttbchen. 


Digitized by 


Google 








522 


Tuberkulose der Lungen. 


Schwächung aber auch der rein vesikuläre Charakter verloren. Auch hier 
ist zu beachten, daß auch durch Schonung einer Seite ein leises, schwaches 
Atezngeräu8ch entsteht und daß auch Pleuraschwarten zu dieser Erscheinung 
führen können. 

Ein anderes Symptom ist das sog. sakkadierte Atmen, das vielleicht 
durch eine ungleichmäßige inspiratorische Ausdehnung der Alveolen ent¬ 
steht und sich anhört, als ob das Atemgeräusch nicht gleichmäßig in einer 
Phase abläuft, sondern einige Male angehalten oder unterbrochen würde. 
Es wird meist während der Inspiration, seltener in der Exspiration gehört 
und ist in seinen physikalischen Ursachen noch nicht völlig aufgeklärt 
Titrban glaubt auch diese Erscheinung in ähnlicher Weise wie das rauhe 
Atmen erklären zu können und macht darauf aufmerksam, daß es selten 
in der Lungenspitze, häufiger am Übergang zum normalen Gewebe gehört 
wird. Von Wichtigkeit ist es, auf eine Verwechslung des sakkadierten Atmens 
mit einer ähnlichen Erscheinung zu achten, die gerade während der ärzt¬ 
lichen Untersuchung dadurch entsteht, daß der Patient ungeschickt in 
kleinen Absätzen atmet. Auch durch die Herzaktion und das Klopfen der 
großen Gefäße kann das Atemgeräuscb so beeinflußt werden, daß es abge¬ 
setzt klingt, meist ist die Erscheinung dann aber nur in der nächsten Um¬ 
gebung dieser Organe deutlich oder wenigstens am meisten ausgeprägt* 
während die erste Fehlerquelle dadurch erkannt wird, daß ein solch ab¬ 
gesetztes Atmen dann nicht über einer Lungenspitze isoliert, sondern über 
der ganzen Lunge auftritt. 

Steht die tuberkulöse Erkrankung nicht mehr im ersten Anfang und 
sind bereits größere Verdichtungen entstanden, so kommt es zu mehr oder 
weniger deutlichem Bronchialatinen. Indessen ist zu beachten, daß ein 
lautes, ausgesprochenes bronchiales Atmen nicht zu den gewöhnlichen Er¬ 
scheinungen der Phthise gehört, meist sind auch bei vorgeschrittener Phthise 
die Veränderungen im Oberlappen derart, daß neben und zwischen den In¬ 
filtraten immer noch lufthaltiges Gewebe vorhanden ist, so daß der vesikuläre 
Typus des Atemgeräusches mehr oder weniger erhalten bleiben kann. Viel 
bezeichnender ist es, daß das bronchiale Atmen nicht über der ganzen 
Spitzengegend zu hören ist, sondern nur an umschriebenen Stellen, die 
mit anderen Stellen mehr vesikulären Atmens abwechseln. Der Gesamtcha¬ 
rakter des Atemgeräusches über der Lunge ist auch bei vorgeschrittener 
chronischer Lungentuberkulose ein vesiko-bronchiales oder ein broncho-vesi- 
kuiäres Atmen. Deutliches, lautes, über größere Bezirke ausgedehntes 
Bronchialatmen legt immer den Verdacht nahe, daß es sich um andere 
Formen als die gewöhnliche chronische Tuberkulose handelt. So kann die 
akute käsig-pneumonische Form in wenigen Tagen zu völliger Infiltration 
eines Lungenabschnittes mit lautem Bronchialatmen führen. Aber auch 
chronisch verlaufende oder subakut entstandene Infiltrate können allmählich 
den ganzen Oberlappen einnehmen und verdichten. Schließlich kann es auch 
durch starke Bindegewebsentwicklung und fibröse Neubildung zur Schrump¬ 
fung der Lunge kommen, und wiederum wird hierdurch das Atemgeräusch 
mehr oder weniger deutlich bronchial werden. In weitaus den meisten Fällen 
ist aber das Atemgeräusch mehr oder weniger stark verändert, ohne rein 
bronchial zu werden. Endlich muß erwähnt werden, daß über größeren 
Kavernen nicht selten amphorisches Atmen zu hören ist und daß unter 
bestimmten Bedingungen ein metamorphosierendes Atemgeräusch zustande 
kommt. 

Zu den konstantesten Symptomen gehören bei der Phthise die Rassel¬ 
geräusche. Allerdings im ersten Beginn der Erkrankung können sie lange 
Zeit fehlen, und sicherlich kann in vielen Fällen die Diagnose der tuber¬ 
kulösen Spitzenerkrankung gestellt werden, bevor es zu Rasselgeräuschen 


Digitized by 


Google 



Tuberkulose der Lungen. 


523 


kommt. Erst wenn starke Schleimhautschwellungen, größere Sekretanhäu- 
fungen in den Bronchien oder Erweichungsmaterial auftreten, können Rassel¬ 
geräusche entstehen. Die Art dieser Nebengeräusche ist ganz von den ana¬ 
tomischen und physikalischen Bedingungen ihrer Entstehung abhängig, doch 
läßt sich nur selten mit einiger Wahrscheinlichkeit aus den auskultatorischen 
Wahrnehmungen ein Schluß auf die vorliegenden Veränderungen ziehen. Bei 
beginnender Infiltration hört man oft feines krepitierendes Rasseln meist 
ausschließlich im Inspirium, während eigentliche katarrhalische Prozesse in 
den Bronchien mehr durch giemende oder pfeifende trockene Geräusche 
charakterisiert sind. Meist treten trockene und feuchte Rasselgeräusche 
nebeneinander auf oder wechseln sich ab, manchmal treten eigentümliche, 
kurz abgesetzte, knackende Geräusche auf, von Laennec als Tuberkelknacken 
bezeichnet. Auch hier gilt dasselbe, wie für die Beurteilung des Atem¬ 
geräusches, daß eine genaue Charakterisierung der einzelnen Rasselgeräusche 
deshalb so schwer ist, weil die akustischen Phänomene sich nicht objektiv 
darstellen lassen, sondern der subjektiven Deutung unterliegen. Was nun 
die Deutung dieser Erscheinungen anlangt, so ist hier wiederum zu sagen, 
daß es kein Rasselgeräusch geben kann, das an und für sich den Verdacht 
einer Tuberkulose rechtfertigen könnte, auch die auskultatorischen Erschei¬ 
nungen sind nur Bausteine zu einem aus vielen solchen Momenten zusammen¬ 
gesetzten Urteil. Im allgemeinen liegt aber die Bedeutung der Rasselge¬ 
räusche in zwei Eigentümlichkeiten der tuberkulösen Erkrankung begründet. 
Erstens beginnt die Erkrankung fast immer im oberen Teil eines Ober¬ 
lappens und bleibt lange hier beschränkt, und deshalb treten gerade bei 
der Phthise Rasselgeräusche isoliert in einer Lungenspitze auf. Zweitens 
aber unterscheiden sich tuberkulöse Veränderungen von anderen Lungen¬ 
affektionen durch destruktive Prozesse, und deshalb sind klingende Rassel¬ 
geräusche in der Lungenspitze immer ein Zeichen der Phthise. 

Auch hier möchte ich das wiederholen, was ich über die Bedeutung 
der perkutorischen Schallphänomene bei Besprechung der Kavernen gesagt 
habe, daß nämlich bei vorgeschrittener Phthise auch die auskultatorischen 
Erscheinungen lange nicht mehr die Bedeutung haben, die man ihnen früher 
in Ermangelung besserer Hilfsmittel beilegen mußte. Die auskultatorischen 
Erscheinungen einer postpneumonischen Gangränhöhle unterscheiden sich in 
nichts von denen einer tuberkulösen Kaverne und die Rasselgeräusche der 
tuberkulösen Bronchitis und Peribronchitis können ganz denen einer Affek¬ 
tion des Diplokokken- oder Inflaenzabazilleninfektes gleichen, der Unter¬ 
schied liegt immer nur in der Gesamtheit aller klinisch-pathologischen Er¬ 
scheinungen. 

Nur auf eine Bedeutung der Rasselgeräusche möchte ich noch auf¬ 
merksam machen. Wie schon oben erwähnt, bringt es die Eigenart der 
tuberkulösen Erkrankung mit sich, daß sie sich nicht kontinuierlich auf 
immer weitere Bezirke der Lunge ausdehnt, sondern daß sie in weit aus¬ 
einander liegenden versprengten Herden weitere Abschnitte in Angriff nimmt. 
Daher können, wenigstens in den Unterlappen, verborgene Herde lange Zeit 
der Perkussion entgehen und durch die große Masse benachbarten normalen 
Lungengewebes auch im Atemgeräusch unmerklich untergeben. Erst bei aus¬ 
gebreiteter Erkrankung machen sich Modifikationen des Atemgeräusches 
deutlich bemerkbar, dagegen werden auftretende Rasselgeräusche meist 
leichter unterschieden und deshalb hat man mit vollem Recht immer be¬ 
tont, daß die Ausdehnung einer tuberkulösen Erkrankung durch kein an¬ 
deres Symptom so sicher bestimmbar ist, als durch die auskultatorischen 
Erscheinungen. 

Schließlich muß noch die auskultatorische Untersuchung der Flüster¬ 
stimme erwähnt werden. Die Veränderung der Schalleitung in einer tuber- 


Digitized by 


Google 



524 


Tuberkulose der Lungen. 


kulös verdichteten Langenspitze besteht darin, daß die in der Luftröhre und 
im Kehlkopf erzeugten Schallwellen in einer verdichteten Lungenspitze 
bessere Schalleitungsverbältnisse finden als in einer völlig lufthaltigen Lunge 
ohne Veränderung der Bronchien. Während also eine Flüsterstimme in einer 
gesunden Lungenspitze fast völlig reflektiert wird und kaum hörbar bleibt, 
kann sie auf der kranken Seite viel deutlicher an unser Ohr dringen und 
für die Diagnose beginnender Spitzentuberkulose haben wir daher in dieser 
Untersuchung ein sehr brauchbares Hilfsmittel (Masikg, Moses). Berück¬ 
sichtigt muß allerdings werden, daß die Flüsterstimme gewöhnlich auf der 
rechten Seite wegen des stärker verzweigten Bronchialbaumes merklich 
deutlicher gehört wird als links. 

Röntgendurchleuchtung. Die bisher besprochenen physikalischen Me¬ 
thoden erfahren nun eine sehr wertvolle Ergänzung in der Röntgendurch¬ 
leuchtung. Die Technik der Radioskopie ist in den letzten Jahren so sehr 
verbessert worden, daß diese Methode gerade für das praktisch wichtigste 
Gebiet der beginnenden Phthise nicht allein anwendbar, sondern in vielen 
Fällen ganz unentbehrlich geworden ist. Mit Vorteil werden besonders kon¬ 
struierte Blenden für die Durchleuchtung der Lungenspitzen verwendet und 
zweifellos ist diese Methode auch fernerhin noch entwicklungsfähig. Ihre 
Bedeutung liegt hauptsächlich darin, daß der physikalische Befand in ge¬ 
wissem Sinne objektiv kontrolliert werden kann und daß in Schattenbildern 
manches unmittelbar sichtbar wird, was aus den übrigen physikalischen 
Wahrnehmungen erst durch Überlegungen mit mehr oder minder großer 
Sicherheit geschlossen werden kann. 

Dies gilt zum Beispiel für die Beurteilung der Ausdehnung einer tuber¬ 
kulösen Lungenerkrankung. Perkussion und Auskultation reichen meist nicht 
aus, den Umfang der tuberkulösen Veränderungen physikalisch festzustellen, 
erst auf Grund der klinischen Erfahrung schließen wir aus gewissen per¬ 
kutorischen und auskultatorischen Wahrnehmungen nicht allein auf Verän¬ 
derungen der Lunge an der Stelle dieser Wahrnehmungen, sondern auch 
auf den Zustand weiter abwärts und tiefer gelegener Partien. So kann zum 
Beispiel mit ziemlicher Sicherheit bei einer Dämpfung, die bis zur zweiten 
Rippe reicht, angenommen werden, daß die Erkrankung den ganzen Ober¬ 
lappen ergriffen hat, auch wenn keine sicheren Zeichen über der unteren 
Hälfte des Oberlappens wahrnehmbar sind. Unser Urteil gründet sich also 
nicht allein auf die physikalischen Zeichen jedes einzelnen Falles, sondern 
erst Überlegungen und Erinnerungen an frühere Erfahrungen bilden die Vor¬ 
stellung über die Ausdehnung der vorliegenden Erkrankung. Noch weit mehr 
als bei der beginnenden Tuberkulose ist dies der Fall bei, älteren chroni¬ 
schen Erkrankungen, die bis in die Unterlappen herabreichen, an manchen 
Stellen zum Stillstand gekommen sind, sieb aber immer wieder weiter aus¬ 
breiten. Die Durchleuchtung bringt allerdings auch nicht die einzelnen Herde 
zur Anschauung, sie zeigt aber eine Verdunkelung des Lungenfeldes, die 
oft weit über den durch andere physikalische Methoden nachweisbaren Herd 
hinausgeht. Nicht selten werden auch in diesen diffusen Trübungen kleine 
dunklere Partien sichtbar oder es heben sich schärfer umschriebene, wenig 
lichtdurchlässige Stellen ab, womit unmittelbar zum Ausdruck kommt, daß 
schon umfangreichere Verdichtungen respektive pneumonische Infiltrate vor¬ 
handen sind. Kleine, erbsen- bis hohnengroße schwarze Stellen deuten auf 
alte abgekapselte, verkalkte oder verkreidete Herde hin. 

Besondere Beachtung verdienen gewisse streifen- oder schlierenförmige 
Schattierungen im Lungenfeld, die dem Verlaufe der größeren Bronchien 
und den mit ihnen verlaufenden Gefäßen entsprechen, daher unmerklich in¬ 
mitten des Lungenfeldes beginnen und allmählich stärker werdend zar Lungen¬ 
wurzel verlaufen, wo sie sich als sogenannte Hilusschatten zu beiden Seiten 


Digitized by 


Google 



525 


Tuberkulose der Lungen. 

des Herzschattens mehr oder minder deutlich abheben. Bei Phthisikern sind 
diese Hilusschatten gewöhnlich sehr stark ausgeprägt und nicht selten 
können vereinzelte Schlieren von der Hilosgegend zu dem Herdschatten im 
oberen Lungenfeld verfolgt werden. Es liegt nun auf der Hand, daß der¬ 
artige Schlieren auch dann einige Bedeutung haben können, wenn in der 
Lungenspitze noch keine deutliche Herderkrankung nachweisbar ist, die 
ersten Veränderungen kommen eben im Schattenbilde manchmal noch nicht 
zum Ausdruck, wenn bereits sekundäre Veränderungen als Hilusschlieren 
hervortreten und auf die Erkrankung des zugehörigen Lungenabschnittes 
hinweisen. Vergrößerte und veränderte Bronchialdrösen können natürlich 
viel zur Verstärkung der Hilusschatten beitragen und größere Drösenpakete 
können bei günstiger Lage bei der Bronchialdrüsentuberkulose der Kinder 
im Röntgenbilde umgrenzte Schatten geben. Selbstverständlich kommen der¬ 
artige starke Hilusschatten in gleicher Weise auch bei nichttuberkulösen . 
Lungenerkrankungen vor, die Röntgenbilder sind also immer sehr vorsichtig 
zu beurteilen, aber in Ergänzung des übrigen physikalischen Befundes leisten 
sie doch der Diagnose große Dienste. 

Endlich muß erwähnt werden, daß auch manche Veränderungen der 
Pleura, die ja die Lungentuberkulose immer begleiten, im Röntgenbilde er¬ 
kannt werden können und so indirekt auf die Lungenerkrankung hinweisen. 
Bereits geringe entzündliche Veränderungen auf den Pleurablättern sind im¬ 
stande, die Atembewegungen recht erheblich zu beeinflussen, und auch ohne 
daß auf andere Weise diese Vorgänge wahrgenommen werden können, tritt 
die Bewegungsbeschränkung bei der Durchleuchtung oft deutlich hervor. 
Ganz besonderen Wert hat diese Methode, wenn die entzündliche Verände¬ 
rung auf der Pleura diaphragmatica sitzt und damit der tastenden Hand 
ganz unerreichbar wird. Die pleuritischen Veränderungen bedingen nämlich 
eine Bewegungsbeschränkung des Zwerchfells und diese läßt sich auf dem 
Röntgenschirm meist gut beurteilen. Während beide Zwerchfellbäljften sich 
nämlich in der Norm so ziemlich gleich bewegen, tritt bei erkrankter Pleura 
eine Hemmung auf der betroffenen Seite auf. Die Zwerchfellkuppe kann der 
Inspirationsbewegung nicht so folgen wie in der Norm und, anstatt daß 
beide Hälften sich gleichmäßig bewegen, tritt die durch pleuritische Ver¬ 
klebungen oder Verwachsungen festgehaltene Seite weniger tief herunter, 
oder aber die Bewegung setzt zeitlich später ein und erfolgt ruckweise. 
Diese unter der Bezeichnung des * Willi AMschen Symptoms« bekannte Er¬ 
scheinung wird bei der initialen Phthise ziemlich häufig beobachtet, und 
dg la Camp und Mohr haben versucht, auf experimentellem Wege diese 
Störung durch Parese des Zwerchfells zu erklären, die durch den Druck 
der Pleuraschwarte oder der tuberkulösen Herde in der Lungenspitze auf 
den Phrenicus zustande kommen soll. Wieweit eine solche Annahme richtig 
ist, wird die weitere Erfahrung lehren, sicherlich kann sie nur für einen 
Bruchteil der Fälle gelten. Da dieselbe Erscheinung auch bei solchen Er¬ 
krankungen des Oberlappens, die gerade die obere und mediale Partie frei¬ 
gelassen haben, auftritt, so liegt es nahe, an andere Ursachen, zum Beispiel 
an eine reflektorisch eintretende Ruhigstellung der erkrankten Lunge oder 
an eine begleitende Reizung der Pleura diaphragmatica zu denken. Aber 
welche Erklärung auch immer den tatsächlichen Verhältnissen am nächsten 
kommen mag, sicher ist es, daß solche Bewegungsstörungen des Zwerch¬ 
fells sehr oft bei Verklebungen und Verwachsungen beobachtet worden sind, 
und einem solchen Befunde kommt daher in dieser Richtung auch eine ge¬ 
wisse diagnostische Bedeutung zu. Dabei ist noch zu bemerken, daß die 
Störung nicht immer bei der gewöhnlichen flachen Atmung auftritt, sondern 
oft erst hei tiefer Inspiration deutlich wird. Werden solche Erscheinungen, 
wo das Zwerchfell an der einen oder anderen Stelle gleichsam festgehalten 


Digitized by 


Google 



526 


Tuberkulose der Lungen« 


wird, auf der Platte fixiert, so erscheint die Begrenzung des Zwerchfells 
nicht mehr als Kuppe, sondern als eine wellenförmige Linie. Fig. 131 zeigt 
eine derartige Zwerchfellkuppe, die an zwei Stellen durch Adhäsionen an 
ausgiebiger Bewegung gehindert wird. Auch sieht man von diesen beiden 
buckelförmigen Vorwölbungen deutliche Schlieren zur Hilusgegend ziehen, 
und inmitten der einen deutet ein kleiner intensiver Schatten auf einen viel- 
leicht verkalkten Herd hin und gibt damit noch Zeugnis von einer hier ab¬ 
gelaufenen und mit der umschriebenen Pleuritis in Beziehung stehenden 
Lungenerkrankung. 

Lungenblutungen. Wohl das dem Laien am eindringlichsten sich dar¬ 
bietende Symptom der Schwindsucht ist die Lungenblutung. Sie kann die 
pneumonische Form der akuten Lungentuberkulose einleiten, hauptsächlich 
ist sie aber eine Erscheinung der chronischen Lungentuberkulose, und hier 
kann sie bei allen Formen der Erkrankung auftreten und in jedem Stadium, 
wenn auch nicht in gleicher Häufigkeit und in gleicher Weise. Die Häzn- 
optöe kann sicherlich das erste Symptom der Erkrankung sein und oft 
schließen sich an diese Blutung keine weiteren Erscheinungen einer fort- 


Fig.131. 



schreitenden Tuberkulose an, so daß man früher zeitweise geneigt war, die 
Hämoptoe zu den Ursachen der Phthise zu rechnen (Morton, Nibmkybr). 
Auch heute kann nicht geleugnet werden, daß eine Hämoptoe in manchen 
Fällen ursächliche Bedeutung för das Fortschreiten einer bis dahin latenten 
Tuberkulose hat und es ist sicherlich verkehrt, solche klinische Erfahrungen 
durch experimentelle Tatsachen, wonach das in die Bronchien ergossene 
Blut rasch und reizlos resorbiert wird, widerlegen zu wollen. Bei tuberku¬ 
lösen oder zur Tuberkulose disponierten Menschen wird eben eine Lungen¬ 
blutung nicht immer reizlos vertragen, und ob dieser Reiz allein von den 
im Blute enthaltenen Bazillen oder von der Blutung an sich abhängt, dar¬ 
über ist auch heute noch nicht das letzte Wort gesprochen. Dagegen hat 
es keinen praktischen Wert mehr, auf die Gründe einzugehen, die für die 
Bedeutung der Hämoptoe als Ursache der Phthise angeführt worden sind, 
seitdem wir wissen, daß die Tuberkulose eben im ersten Beginn unmerk¬ 
lich verläuft und daß gerade im ersten Beginn eine tuberkulöse Lungen¬ 
blutung sehr häufig ist. In seltenen Fällen wird ja eine Lungenblutung auch 
als kongestioneile oder vikariierende Blutung ohne jede tuberkulöse Lungen- 


Digitized by 


Google 



Tuberkulose der Lungen. 


527 


Veränderung auftreten können, schließlich werden aber heute nur dann Blu¬ 
tungen als Symptom der Phthise aufgefaßt, wenn die Diagnose sich auch 
auf andere Momente stützen kann. 

Verwechslungen einer Hämoptöe mit Blutungen aus anderen Organen 
sind meist leicht zu vermeiden, wenn die Beschaffenheit des Blutes, ihre 
helle Farbe, ihre schaumige Konsistenz und die Entleerung durch Husten¬ 
stöße beobachtet wird. Hysterische Personen und Schwindler können allerdings 
dem ärztlichen Urteil große Schwierigkeiten bereiten. Vor Verwechslungen 
mit andersartigen Lungenblutungen schützt nur die ärztliche Untersuchung. 

Tuberkulöse Lungenblutungen kommen dadurch zustande, daß durch 
eine tuberkulöse Zellwucherung in der Gefäßwandung die Gefäße verengt, 
verschlossen werden und durch die Veränderungen in Media und Intima 
morscher und zerreißlicher gemacht werden (Rindfleisch). Da nun die 
Lungenarterien Endarterien sind, so wird ein erhöhter Blutdruck dies Blut 
aus einer verstopften Arterie nicht ableiten können, es kommt zu erhöhter 
Spannung und Ruptur der Gefäßwand. Anders liegen die Verhältnisse, wenn 
es zu größeren Zerstörungen gekommen ist. Zunächst bieten die Gefä߬ 
wandungen den Erweichungsprozessen erfolgreich Widerstand, schließlich 
aber unterliegen auch sie den zerstörenden Einwirkungen, und durch er¬ 
höhten Druck oder Zerrungen bei Hustenstößen kommt es zum Einreißen. 
Sehr oft allerdings erfolgen die Blutungen aus bereits erweiterten Arterien, 
die in der Wand von Kavernen verlaufen oder sich als Aneurysmata in die 
Höhle der Kavernen vorbuchten. 

Aus praktischen Gesichtspunkten kann man Früh- und Spätblutungen 
unterscheiden. Die Frühblutung bildet oft das erste Symptom derLüngen- 
erkrankung und führt nicht selten den Patienten zum Arzt. Meist sind 
schon unbedeutende Krankheitserscheinungen vorangegangen unf fast immer 
sind solche durch objektive Untersuchung nachweisbar, in seltenen Fällen 
wird aber auch ein Mensch in blühendster Gesundheit von solch einem Zu¬ 
fall überrascht. Eine lebhafte Bewegung oder Erschütterung, eine Kongestion 
oder ein Hustenstoß geben meist die Veranlassung, manchmal gehen aller¬ 
dings auch Unbehagen und Oppressionsgefühl als Vorboten voraus. Die Blu¬ 
tung selbst kommt gewöhnlich sehr bald zum Stehen, und wie schon er¬ 
wähnt, gibt es Erkrankungen, die sich nur durch solch eine einzige Häm¬ 
optöe geäußert haben. Von den die Blutung begleitenden Erscheinungen 
hängt nun auch in erster Linie die Beurteilung des Symptoms und die Pro¬ 
gnose der Erkrankung ab. Abgesehen von einer Pulsbeschleunigung, von 
einer psychischen Schwäche und ihrer Wirkung auf den ganzen Organismus 
bleiben manche Patienten von jeder weiteren Störung ihres Befindens frei 
und die Hämoptöe geht vorüber ohne einen Eindruck auf die Allgemeiner¬ 
krankung zu hinterlassen. In anderen Fällen aber stellt sich mit der Häm¬ 
optöe oder bald nachher Fieber ein, das zwar nach wenigen Tagen schon 
wieder verschwindet, in der Regel aber den Patienten etwas länger ans Bett 
fesselt. In einer dritten Kategorie endlich kommt es zu bedrohlichen Stö¬ 
rungen. Es entwickelt sich unter Fieberbewegung ein akutes Krankheits¬ 
bild, das anscheinend zwar in keinem Zusammenhang mit der bereits über- 
standenen Hämoptöe steht, das sich aber doch an diesen Vorgang anschließt 
und daher von jeher in Beziehung zur Hämoptöe gebracht worden ist In 
der Tat liegt nun in diesem verschiedenen Ablauf der Hämoptöe ihre große 
Bedeutung für die Beurteilung der ganzen Erkrankung. Es kann keinem 
Zweifel unterliegen, daß die Hämoptöe als solche bei der käsig-fibrösen 
Form der chronischen Lungentuberkulose die unmittelbare Ursache einer 
akuten Verschlimmerung und einer weiteren Ausdehnung der Erkrankung 
werden kann, eine Gefahr, welche bei der mehr fibrösen Form der Phthise 
sicherlich ganz wesentlich zurücktritt. Der Ablauf einer Hämoptöe gibt also 


Digitized by 


Google 



528 


Tuberktüooe der Langen 


ziemlich bedeutsame Anhaltspunkte für die Beurteüimg der Krankhetteiecm. 
Die fieberfreie, rasch ablaufende Blutung als Frühsymptom and manchmal 
einziges Symptom der abortiven Form der chronischen Taberknloee bildet 
das eine Extrem, die Hämoptöe mit Neigung zu Fiebersteigerung und nach¬ 
folgenden entzündlichen Erscheinungen das andere. 

Fieber. Wie schon in der Darstellung der verschiedenen Formen der 
Lungentuberkulose ausgeführt worden ist, gehört das Fieber zu den be¬ 
deutsamsten Symptomen der Tuberkulose, und die genaue Kenntnis der 
Temperaturschwankungen ist für die Beurteilung einer tuberkulösen Lungen- 
erkrankung ganz unerläßlich. Der Grund hierfür ist unmittelbar in den Ur¬ 
sachen der Temperaturschwankungen gegeben. Der Begriff des Fiebers ist 
unlöslich mit dem der Infektion verknüpft, und ganz allgemein muß daher 
das Fieber auf die Wirkung des Tuberkelbazillus, beziehungsweise seiner 
Gifte zurückgeführt werden. Da aber die Vorgänge, die sich infolge dieses 
bakteriellen Reizes im Organismus abspielen, in der Hauptsache von der 
Reaktionsfähigkeit des menschlichen Organismus abhängen, so muß die Ver- 
schiedenartigkeit des Organismus und seine Fähigkeit, den bazillären Reis 
zu ertragen und zu überwinden, auch in der Temperaturbewegung zum Aus¬ 
druck kommen, und hierin liegt die große Bedeutung des Fiebers für die 
Beurteilung der Lungentuberkulose. 

Es gibt eine Lungentuberkulose, die ganz fieberlos verläuft, die sich 
in der Lungenspitze ganz unmerklich bis zu einer gewissen Ausdehnung ent¬ 
wickelt, stationär wird und ausbeilt, ohne daß der Betreffende jemals von 
diesen krankhaften Vorgängen etwas merkt. Allerdings ist die Möglichkeit 
nicht ausznschließen, daß bei dauernder Temperaturmessung doch vielleicht 
zeitweise Temperaturerhöhungen gefunden worden wären, sicherlich hat aber 
in den meisten solcher Fälle, wo sieb eine Lungentuberkulose als zufälliger 
Befund bei der Sektion herausstellte, kein hohes und kein lang dauerndes Fieber 
bestanden. Im Gegensatz hiezu tritt aber bei den allermeisten Phthisen, die 
klinisch in Erscheinung treten und demnach nicht im allerersten Stadium 
zum Stillstand und zur Heilung gekommen sind, zeitweise mehr oder minder 
hohes Fieber auf. Im großen und ganzen läßt sich nur sagen, daß Tempe¬ 
ratursteigerungen hauptsächlich dann zustande kommen, wenn es sich um 
die Entwicklung von entzündlichen und käsigen Prozessen handelt, daß da¬ 
gegen die fibröse Form der Lungentuberkulose unzweifelhaft eine geringere 
Neigung zu Fieber erkennen läßt Da nun jede Lungentuberkulose, auch im 
ersten Beginn, eine Kombination einer Reihe von ganz ungleichartigen Pro¬ 
zessen darstellt, und da ferner auch jede besondere Form der Lungentuber¬ 
kulose in Ausdehnung und Verlauf der Erkrankung großen Schwankungen 
unterworfen ist, so wird es erklärlich, warum es keinen Fiebertypus der 
Lungentuberkulose geben kann, und warum auch innerhalb jeder einzelnen 
Formenreihe Art und Verlauf des Fiebers erheblich wechseln kann. Trotz¬ 
dem ist von jeher versucht worden, verschiedene Formen des Fiebers bei 
der Lungentuberkulose auseinanderzuhalten, und sicherlich entspricht es 
einem praktischen Bedürfnis, die einzelnen Fieberperioden nach ihrer klini¬ 
schen Bedeutung voneinander abzugrenzen und einzuteilen. So hat man eine 
Einteilung versucht in Initialfieber, in begleitendes und Eiterfieber (Driver), 
andere haben ein entzündliches Fieber vom Tuberkulisationsfieber unter¬ 
schieden und von einem Resorptionsfieber gesprochen. Wieder andere haben 
rein schematisch eine ganze Reihe von Fiebertypen aufgestellt, oder sich 
auf die Einteilung in kontinuierliches Entzündungsfieber und intermittieren¬ 
des hektisches Resorptionsfieber beschränkt. Manche Autoren endlich ver¬ 
zichten bei der Mannigfaltigkeit der Fiebertypen auf jede Einteilung. 

In der Tat scheint auch mir die Möglichkeit einer richtigen Bewer¬ 
tung des Fiebers nicht so sehr in der Form der Fieberkurven zu liegen. 


Digitized by 


Google 



Tuberkulose der Lungen. 


529 


als vielmehr in der richtigen Auffassung der Beziehungen zwischen Fieber 
und den übrigen Symptomen. Ganz gleich verlaufende akute Fieberattacken 
können in ihrer Bedeutung außerordentlich verschieden sein, und ein un¬ 
aufhörliches, völlig regelloses Fieber hat dieselbe infauste Prognose, wie eine 
schön ausgeprägte hektische Form und in beiden Fällen wissen wir nichts 
Sicheres über die eigentliche Ursache dieser Verlaufsarten. Ratsam ist es 
daher, den einzelnen Fiebertypen nicht allzuviel Gewicht beizulegen, in 
Jedem einzelnen Falle das Fieber aber vor allem danach zu bewerten, ob 
es von vorübergehender, kurzer Dauer ist, oder ob es sich über längere 
Zeit hinsieht, schwer zu beseitigen ist und immer wieder von neuem wieder¬ 
kehrt. Mit. einer solchen Einteilung in akute und chronische Fieberzustände 
ist schon manches gewonnen, insbesondere auch für die Stellung der Pro¬ 
gnose und für die Behandlung und Bekämpfung des Fiebers. 

Akute Fieberzustände. Wenn wir von den akuten Formen der Lungen¬ 
tuberkulose absehen, die auch hinsichtlich des Fiebers eine Sonderstellung 
einnehmen, so lassen sich bei der chronischen Lungentuberkulose wiederum 
zwei Gruppen von akuten Fieberzuständen unterscheiden (Saugmann), die 
ganz verschiedene Bedeutung haben. Einmal hat dieses akute Fieber direkte 
Beziehungen zum Krankheitsherd. So kann zum Beispiel im ersten Beginn 
die Erkrankung unter Fiebererscheinungen einsetzen, gleichsam unter dem 
Bilde einer Erkältungskrankheit, einer Grippe oder einer Magendarmver¬ 
stimmung. Oder aber der Fieberanfall erscheint, zugleioh charakteristischer 
und schärfer begrenzt, im Anschluß an eine Lungenblutung oder endlich 
als Folge irgend eines anderen Zufalles, wie sie im Verlauf der chronischen 
Tuberkulose Ja oft genug durch unzweckmäßiges Verhalten des Kranken, 
durch körperliche Überanstrengungen oder psychische Insulte herbeigeführt 
werden. Wesentlich ist es für solche Zustände, daß sie vorübergehen und 
nach kurzer oder auch etwas längerer Zeit wieder der normalen Tempe¬ 
ratur weichen. Gewöhnlich handelt es sich bei diesen akuten Fieberperioden 
um ein schubweises Fortschreiten der Erkrankung, und nicht selten gibt 
daher auch der physikalische Befund zur Zeit der akuten Fieberperiode 
oder bald nachher die Bestätigung dieser Befürchtung. Das Fieber erscheint 
in solchen Fällen meist in der Form einer Continua mit raschem Anstieg 
und allmählichem, manchmal sich auch recht lange hinziehendem Abfall, es 
gehört zu den häufigsten Erscheinungen der chronischen Lungentuberkulose 
und bedeutet stets einen ernsten Zufall, dessen Ende und dessen Folgen 
sich nie sicher berechnen lassen. Je kürzer und Je seltener diese Fieberan¬ 
fälle auftreten, desto besser für den Kranken, je häufiger und intensiver 
sie einsetzen, desto schlimmer die Prognose. 

Hiervon zu unterscheiden sind ähnliche akute Fieberzustände, die bei 
Phthisikern oft als Folgen anderer Infektionen und schädlichen Einwirkungen 
auftreten. Meist sind es die Erkrankungen der Atmungsorgane und 
insbesondere der oberen Luftwege, die gleichsam als Komplikation zur tuber¬ 
kulösen Erkrankung hinzutreten, meist ohne Einwirkung auf den tuber¬ 
kulösen Herd bleiben, nicht ganz selten aber auch eine allgemeine Schä¬ 
digung des Organismus und damit eine Ausbreitung der Tuberkulose be¬ 
dingen. 

Endlich ist eine dritte Gruppe von Temperatursteigerungen zu erwähnen, 
die sich unmittelbar an große körperliche Anstrengungen, an psychische 
Aufregungen oder an reichliche Mahlzeiten anschließen und meist nach 
wenigen Stunden wieder verschwinden. Sie charakterisieren den äußerst 
labilen Zustand der Temperatur und geben manchen Anhaltspunkt für die 
Beurteilung des Verlaufes der Tuberkulose. Hierher gehören auch die bei 
Frauen während oder kurz vor der Menstruation auftretenden Temperatur¬ 
steigerungen, die meist in einer Erhöhung der Minimaltemperaturen, seltener 


Encyclop. Jahrbücher. N. F. VIII. (£VII.) 


34 


Digitized by 


Google 



530 


Tuberkulose der Lungen. 


in einer Steigerung auch der oberen Grenze der Tagesschwankung bis za 
subfebrilen Werten bestehen. 

Chronische Fieberzustände. Von diesen verschiedenen akuten Fieber¬ 
perioden müssen nun die mehr chronisch verlaufenden Fieberzustande unter¬ 
schieden werden. Sie sind prognostisch meist ungünstiger zu beurteilen und 
deuten auf Einschmelzung und ein stetiges Fortschreiten der Erkrankung 
hin. Mit einiger Vorsicht kann man die Angaben von Harris und Bkalb 
verwerten, die darauf aufmerksam gemacht haben, daß die dauernde Er¬ 
höhung der Minimumtemperatur mit großer Wahrscheinlichkeit auf chronisch 
entzündliche Vorgänge und weitere Ausbreitung des tuberkulösen Prozesses 
hindeuten, während ein chronisches, intermittierendes, mäßig hohes Fieber 
mit normalen oder nahezu normalen Minimumtemperaturen meist auf Ein¬ 
schmelzung und Resorptionsvorgänge, viel seltener dagegen auf gleichzeitige 
weitere Ausbreitung der Erkrankung zu beziehen sein soll. Sehr viel un¬ 
günstiger wird die Prognose, wenn die Temperaturschwankungen auffallend 
groß werden, so daß die täglichen Remissionen mehrere Grade betragen. 
Bei solchem stark intermittierenden »hektischen« Fieber steigt die Tempe¬ 
ratur meist in wenigen Stunden unter Frösteln auf 39 oder 40, selbst 41° 
und fällt nach kurzer Zeit unter starkem Schweißausbruch wieder ab zur 
Norm oder selbst unter die Norm. Die Zeit des Temperaturanstieges ist 
individuell sehr verschieden, bleibt aber beim selben Kranken oft wochen¬ 
lang die gleiche, so daß die Fieberkurve ein ganz einförmiges Bild dar¬ 
bietet. 

Nicht iramer^ fällt der Anstieg auf die späten Nachmittags- oder Abend¬ 
stunden, schon um die Mittagszeit kann die Höhe erreicht werden und am 
Nachmittag bereits wieder die Norm. Tritt die Steigerung schon am Vor¬ 
mittag oder am Morgen auf. so daß die tiefste Remission in die Abend¬ 
stunden fällt, so spricht man wohl von einem Typus inversus, der indessen 
selten lange Zeit bestehen bleibt und bald wieder einem anderen Typus 
weicht. Von praktischer Bedeutung ist es, daß in manchen Fällen der An¬ 
stieg auch erst am späten Abend oder erst in der Nacht erfolgt, während 
die Tagesmessungen ganz normale Temperaturen aufweisen können. Dieses 
hektische Fieber hat von jeher eine üble Bedeutung gehabt und deutet 
immer auf eine schwere Erkrankung hin. In den meisten Fällen ist die 
Prognose wohl infaust, und wenn es auch in manchen Fällen gelingt, den 
hektischen Typus zum Schwinden zu bringen, so wird ein dauernder Still¬ 
stand bei solch tiefgreifenden Erkrankungen wohl nur äußerst selten er¬ 
reicht. Als Ursache dieses intermittierenden Fiebers hat man früher wegen 
der Ähnlichkeit mit dem Streptokokkenfieber eine Mischinfektion angenommen 
(Koch, Petrüsky, Cornet, Spengler und andere), ohne indessen dafür einen 
stichhaltigen Grund anführen zu können, und andere Autoren haben diesen 
Theorien vorläufig jeden tatsächlichen Boden entzogen (Schröder, Mennes, 
Meissen und andere). 

Zirkulationsapparat . Als unmittelbare Folge der Fieberzustände macht 
sich eine Steigerung der Pulsfrequenz geltend, und zwar geht dieselbe bei 
den meisten Phthisikern nicht proportional der Temperaturerhöhung, son¬ 
dern sie steigt relativ höher. Dazu kommt nun als sehr konstantes und 
sehr beachtenswertes Symptom eine Erhöhung der Pulsfrequenz auch in 
fieberfreien Zeiten und bei ganz fieberfreien Patienten. Schon im allerersten 
Beginn der Erkrankung, wo noch weiter keine sicheren Zeichen einer Lun¬ 
gentuberkulose vorliegen, fällt manchmal die große Erregbarkeit der Herz- 
aktion auf. Leichte körperliche Anstrengungen, ein kurzer Spaziergang, ja 
manchmal schon das Aufsitzen im Bett haben eine auffallend hohe Steige¬ 
rung der Pulsfrequenz zur Folge. Auch ganz geringfügige psychische Ein¬ 
drücke machen sich im Verhalten des Pulses deutlich bemerkbar. In vielen 


Digitized by CjOOQle 



Tuberkulose der Lungen. 


531 


Fällen bleibt diese Erregbarkeit des Herzens auch in der Ruhe bestehen, 
um dann bei besonderen Anlässen enorm gesteigert zu werden. Der Puls 
ist dabei weich und manchmal etwas flatternd, und über dem Herzen ist 
oft ein leises systolisches Blasen hörbar, meist über der Pulmonalis am 
deutlichsten. Diese auffallenden Störungen der Herztätigkeit im initialen 
Stadium der Tuberkulose haben schon in hohem Maße die Aufmerksamkeit 
Brkhmers gefesselt, und er glaubte, in der Herzaffektion eine Ursache der 
Phthise suchen zu müssen. Neuerdings hat man diese Erscheinung rein me¬ 
chanisch durch Druck tuberkulöser Tracheobronchialdrüsen auf den Vagus 
zurückzuführen und somit den Dispositionsbegriff ganz zu eliminieren ver¬ 
sucht. Sicher ist aber, daß eine solche Erklärung nicht für alle Fälle stich¬ 
haltig ist, und die klinische Erfahrung muß daran festhalten, daß diese 
Störung sehr oft jedenfalls funktioneller Natur ist. Sicherlich ist bei vielen 
Patienten die labile Herztätigkeit bereits Folge der tuberkulösen Erkranr 
kung, die weitere Beobachtung hat aber zu entscheiden, ob sie in allen 
Fällen erst sekundär nach Entstehung der Herderkrankung in der Lunge 
entsteht, oder ob nicht vielmehr eine enge Beziehung zwischen dem vor 
jeder Lungenerkrankung bestehenden tuberkulösen Infekt und der Schwäche 
des Herzens nachweisbar ist. Damit würden dann manche Patienten mit 
erregbarem Herzen wieder aus der Reihe der wirklich Lungenkranken aus- 
scheiden und zu den Prophylaktikern gerechnet werden müssen. 

Im weiteren Verlaufe der Tuberkulose kommt es nun in recht vielen 
Fällen zu deutlich nachweisbaren Symptomen am Herzen selbst. Zunächst 
ist ein systolisches Geräusch, besonders über der Pulmonalis, wahrnehmbar, 
und dazu gesellt sich oft eine Verstärkung des zweiten Pulmonaltones, so 
daß die Erscheinungen einer Mitralinsuffizienz vorgetäuscht werden können, 
zumal auch eine Vergrößerung der Herzdämpfung durch Dilatation des 
rechten Ventrikels und Retraktion des linken Herzlungenrandes zustande 
kommt. Gewöhnlich wird die Verstärkung des zweiten Pulmonaltones auf 
Zirkulationserschwerung in der verdichteten Lunge und das systolische Ge¬ 
räusch auf Beeinträchtigung des Arterienrohres durch benachbarte Infiltra¬ 
tionen oder geschwollene Drüsen erklärt. Sicherlich sind hier aber auch 
noch andere, noch nicht übersehbare Faktoren maßgebend. 

Wirkliche tuberkulöse Erkrankungen des Herzens sind selten, gelegent¬ 
lich wird wohl eine geringe Endokarditis an den Klappen gefunden und 
einzelne Tuberkel- entwickeln sich auch wohl im Herzen, ohne indessen 
klinische Bedeutung zu haben. Praktisch von großer Bedeutung ist dagegen 
eine tuberkulöse Perikarditis, die nicht selten das Krankheitsbild nicht un¬ 
wesentlich erschwert. 

Andere Schwindsuchtssymptome. Schon frühzeitig macht sich bei der 
chronischen Lungentuberkulose eine allgemeine neuro muskuläre Schwäche, 
eine auffallende Blässe und eine zunehmende Abmagerung geltend. Im Ver¬ 
laufe der chronischen Krankheit gibt es ja viele Ursachen, die hier verant¬ 
wortlich gemacht werden müssen und zur immer deutlicheren Ausbildung 
dieses schwindsüchtigen Syndroms stetig arbeiten. Insbesondere ist das 
immer wiederkehrende Fieber, dann die gestörte Verdauung, der Appetit¬ 
mangel und die lästigen, schwächenden Nachtschweiße zu nennen. Neuer¬ 
dings hat man geglaubt, der Ursache dieser Erscheinungen näher zu kommen, 
wenn man sie als Wirkungen der Proteine der Tuberkelbazillen auffaßt. 
Ich meine, auch hier tut man gut, etwas vorsichtiger zu urteilen, von 
koordinierten Vorgängen zu sprechen und nicht immer das eine als Ursache 
des anderen hinzustellen. Die Schwindsucht liegt begründet in der unter- 
wertigen Konstitution des Kranken, der nicht mehr fähig ist, den tuber¬ 
kulösen Infekt niederzuhalten, sondern immer mehr unter dem wachsenden 
Einfluß der Giftstoffe verfällt. Welche Faktoren hier primär, welche sekundär 

Digitized by GdCfele 



532 


Tuberkulose der Lungen. 


wirken, ist ziemlich belanglos, entspringen sie doch schließlich alle einer 
Wurzel, der Unfähigkeit des Organismus, dem tuberkulösen Infekt Schranken 
zu setzen. 

Von erheblich größerem Werte fttr das Verständnis des Wesens der 
Tuberkulose wäre ein Einblick in den Mechanismus dieser Vorgänge im 
ersten Beginn der Erkrankung. Wohl jedes einzelne Symptom, das im Verein 
mit vielen anderen das ausgeprägte Bild der Schwindsucht bildet, kann 
gelegentlich als Fröhsymptom erscheinen und damit große Bedeutung ge¬ 
winnen. Nicht selten ist es die ohne nachweisbaren Grund fortschreitende 
Abmagerung, bald die blasse, fahle Gesichtsfarbe und recht oft die allge¬ 
meine Schlaffheit und leichte Erschöpfung, die den Verdacht auf eine in 
der Entwicklung begriffene Lungentuberkulose lenken. In anderen Fällen 
sind es Nachtschweiße, leichte, ungeklärte Fieberzustände oder auch die 
besprochene Erregbarkeit des Herzens, die auf die gestörte Funktion des 
Organismus aufmerksam machen. Gewöhnlich bleibt ein einzelnes verdächtiges 
Symptom nicht lange allein, bei genauerer Untersuchung und Beobachtung 
kommen andere hinzu und geben in ihrer Vereinigung die sichere Diagnose. 

Je zahlreicher die Einzelsymptome werden, desto mehr wird man ver¬ 
leitet, die eine Erscheinung von der anderen abhängig zu machen, schließ* 
lieh kann aber jedes Symptom als erste Störung auftreten und eben des¬ 
halb kann jede Störung auch primär, unabhängig von allen anderen Krank¬ 
heitserscheinungen entstanden gedacht werden. Sicherlich ist es denkbar, 
daß bei progressen Phthisikern jede einzelne Erscheinung auf Wirkung der 
Tuberkelbazillenproteine beruht, und ebenso wahrscheinlich ist es, daß auch 
ein gesunder Mensch der Einwirkung einer solchen Menge Giftstoffe, wie 
sie zeitweise im tuberkulösen Organismus gebildet werden, nicht reaktionslos 
widerstehen würde. Ganz anders liegen diese Verhältnisse aber im ersten 
Beginn der Phthise, bevor es zu ausgedehnten oder Oberhaupt nachweis¬ 
baren Herderkrankungen gekommen ist. Auch hier bestehen Beziehungen 
zwischen Störungen des Organismus und Giftproduktion der Tuberkelbazillen, 
aber der Zusammenhang ist doch etwas anders. Nicht jeder unterliegt diesem 
bazillären Reiz, nicht jeder antwortet mit Reaktionen, die einen Schaden 
für den eigenen Organismus bedeuten und sich als Krankheitssymptome 
bemerkbar machen. Die meisten Menschen vertragen vielmehr den tuber¬ 
kulösen Infekt, und nur, wer ihm nicht gewachsen ist, leidet unter dem 
Einfluß dieser Schädlichkeit, gibt ihr nach und verleiht ihr zugleich das 
Übergewicht Die Schwäche des Organismus kann also auch als das Primäre 
angesehen werden, woraus erst der Anlaß zur Weiterentwicklung des tuber* 
kulösen Infektes entspringt Nicht jede Abmagerung, nicht jede Anämie und 
nicht jede Schwäche muß daher bei initialer Phthise als die Folge der Er¬ 
krankung angesehen werden, mit demselben Recht kann sie als die Ursache 
bezeichnet werden, und dies um so mehr, als mit der Beseitigung dieser 
Störungen oft auch die drohende Gefahr schwindet 

Zu diesen nicht immer zu beurteilenden Erscheinungen gehören auch 
die Nachtschweiße, die immer als ein lästiges und oft genug den Kranken 
schwer schädigendes Symptom empfunden werden. Von einer leichten, kaum 
merkbaren Neigung zum Feuchtwerden der Haut an Händen und Füßen 
oder auf der Stirn kann sich im vorgerückteren Krankheitsstadium diese 
Erscheinung zu profusen Schweißausbrüchen steigern, die den Kranken 
zwingen, mehrmals des Nachts einen Wäschewechsel vorzunehmen. Die Nacht¬ 
schweiße gehören zu den unangenehmsten und gefürchtetsten Erscheinungen, 
sie stören nicht allein die Ruhe der Kranken, sondern beeinträchtigen auch 
oft genug die Psyche der gequälten Patienten mehr als irgend ein anderes 
Symptom. Individuell wechselt diese Erscheinung sehr beträchtlich, manche 
Patienten leiden schon im Beginn der Krankheit daran. Meist allerdings 


Digitized by 


Google 



533 


Tuberkulose der Lungen. 


treten die Sehweiße in erheblicher Intensität erst im vorgerückteren Stadium auf, 
wo die Ernährung schon beeinträchtigt und starke Abmagerung eingetreten ist. 

Über die Ursachen der Schweiße sind verschiedene Theorien aufgestellt 
worden. Zunächst dachte man an Folgezustände des Fiebers und an eine 
kompensatorische Mehrleistung der Haut infolge der durch die Lungener¬ 
krankung verkleinerten Atmungsfläche; andere Autoren machen die Er¬ 
scheinung von der in der Nacht eintretenden Pulsverlangsamung und Blut- 
druckerniedrigung abhängig, wahrscheinlich spielen aber auch hier Gifte eine 
Rolle, die ihren Einfluß auf die nervösen Apparate der Schweißbildung und 
der Wärmebildung ausüben. Wiederum muß aber hier hervorgehoben werden, 
daß dieser kausale Zusammenhang zwar bei vorgeschrittenen Phthisen, nicht 
aber ohne weiteres auch dort angenommen werden darf, wo von einer massen¬ 
haften Gift Produktion auch gar keine Rede sein kann. 

Endlich muß noch erwähnt werden, daß die Psyche der Phthisiker 
während der Erkrankung eigentümliche Veränderungen erleidet und manch¬ 
mal bereits lange vor Ausbruch der ersten Erscheinungen eine solche 
Wandlung erkennen läßt. Leichte Erregbarkeit, große Gereiztheit und auf¬ 
fallende Labilität der Stimmung und Launenhaftigkeit findet man bei 
manchen Patienten schon lange vor der eigentlichen Erkrankung. Wiederum 
ist hier die Frage nach dem Zusammenhang dieser Erscheinungen berechtigt. 
Vielleicht sind es bereits Folgen einer noch versteckten Krankheit, vielleicht 
aber entwickelt sich die Tuberkulose erst unter dem Einfluß solcher psy¬ 
chischen Affekte. Sicherlich übt aber die Lungentuberkulose im weiteren 
Verlaufe auf die Psyche der Kranken einen unverkennbaren Einfluß aus. 
Launen und Stimmungen spielen im Leben des Phthisikers eine große Rolle, 
und Mangel an Energie und Entschlußfähigkeit erschwert manchem die 
Innehaltung der notwendigen Lebensweise. Die Leichtlebigkeit und Leicht¬ 
sinnigkeit mancher Phthisiker ist bekannt, und vielleicht darf man die 
Kritiklosigkeit insbesondere bei Beurteilung des eigenen Zustandes als ein 
großes Glück für die armen Kranken betrachten, die ja oft genug durch 
die trübseligsten Stimmungen und düstersten Todesahnungen aus ihren opti¬ 
mistischen Hoffnungen herausgerissen werden. Diese Einbuße an Selbst¬ 
beherrschung und Charakter, die sich oftmals bemerkbar macht, ist nicht 
ohne praktische Bedeutung für die Behandlung des Kranken, der infolge all 
dieser psychischen Veränderungen manchen Schädigungen seitens der Familie 
und der nächsten Umgebung ausgesetzt ist. Zu wirklichen Geistesstörungen 
kommt es, abgesehen von den durch Anämie und Inanition bedingten Zu¬ 
ständen, indessen nur selten, erklärlich wird es aber, daß nervöse Leiden, 
insbesondere die Hysterie, durch eine Lungentuberkulose eigenartig beein¬ 
flußt und erheblich verschlimmert werden können. Ein besonderes Gepräge 
gewinnt die Phthise auch dann, wenn' sie traumatischen Ursprungs ist und 
nun mit Begehrungsvorstellungen kompliziert wird. 

Eng verknüpft mit dieser Veränderung des Gemüts ist das Liebesieben 
des Phthisikers. Statistische Prüfungen besagen zwar, daß im allgemeinen 
mit dem Fortscbreiten der Erkrankung auch die Vita sexualis erhebliche 
Einbuße erleidet, trotzdem sagt aber eine alte Erfahrung, daß in manchen 
Fällen die Libido und Facultas coeundi bis ins Krankhafte gesteigert sein 
kann. Auch hier handelt es sich augenscheinlich wieder um ein Symptom, 
das man nicht ohneweiters auf die Tuberkuloseerkrankung beziehen, son¬ 
dern etwas selbständiger als eine Eigenart mancher Menschen auffassen 
muß, die durch manche Eigentümlichkeiten, durch ihren Charakter, ihr Ge¬ 
mütsleben und auch durch ihren sexuellen Trieb zusammengehören und 
leichter als andere der Lungentuberkulose verfallen. Durchaus verträglich 
mit einer solchen Auffassung wäre dann die Tatsache, daß sich im Verlaufe 
der Tuberkulose krankhafte Steigerungen dieses Triebes herausbilden. 


Digitized by 


Google 



534 


Tuberkulose der Lungen. 


Komplikationen . Eine strenge Scheidung der lokalen Symptome von 
den Allgemeinerscheinongen ist, wie oben erwähnt, nicht immer möglich, 
noch weniger schar! ist aber der Begriff der Komplikationen der Lungen¬ 
tuberkulose begrenzt. Im allgemeinen werden hierunter wohl Krankheits¬ 
erscheinungen verstanden, die trotz ihres Ursprungs aus demselben Infekt 
außerhalb der Lunge ablaufen und damit das Krankheitsbild erweitern und 
eventuell völlig verändern. Indessen schon bei der Besprechung der Allge¬ 
meinerscheinungen sind vielfach Erkrankungen anderer Organe berührt 
worden, ich erinnere nur an die Wirkungen des Fiebers oder an die Ver¬ 
änderungen der Herztätigkeit unter dem Einfluß des tuberkulösen Infektes. 
Man wird daher vielleicht hinzufugen können, daß unter Komplikationen 
nur solche Syndrome verstanden werden, die auch för sich allein als selbst¬ 
ständige Erkrankung auftreten und nicht selten erst durch ihre ätiologischen 
Beziehungen zur Lungentuberkulose hinüberleiten. 

Pleuritis . Wohl als ständige Begleiterscheinung der Lungentuberkulose 
kann eine Erkrankung der Pleura angesehen werden, wenn sie auch nicht 
immer mit ihren Erscheinungen so markant hervortritt, daß ihr Beachtung 
geschenkt wird. Sie entwickelt sich entweder als eine Tuberkulose der 
Pleura durch direktes Übergreifen von dem Lungenherd her, resp. durch 
primäre Entwicklung einer Tuberkulose auf der Pleura, oder aber die Pleuritis 
entsteht, ohne daß die Pleura selbst tuberkulös verändert wird, bei einem 
Phthisiker. Fast immer werden in den Pleurakuppen Verklebungen oder 
feste Verwachsungen gefunden, indessen auch an jeder anderen Stelle können 
Entzündungen auftreten. 

Am leichtesten verraten sich solche Entzündungsherde, insbesondere 
wenn sie in den seitlichen und unteren Partien sitzen, durch Reibegeräusche 
oder durch Schmerzen, die indessen meist auch andere Deutungen zulassen. 
Sind bereits feste Verwachsungen eingetreten, so machen sie selten erheb* 
liehe Erscheinungen, können aber eventuell im Röntgenbilde nachweisbar 
werden. 

Merkliche Beschwerden und akute Verschlimmerungen treten dagegen 
fast immer bei der Entwicklung exsudativer Pleuritiden auf, die meist leicht 
aus dem veränderten physikalischen Befunde erkannt werden, die Beurteilung 
allerdings wieder erheblich erschweren, wenn es zur langsamen Resorption 
und mehr oder minder dicken Schwartenbildung kommt. Von großer Be¬ 
deutung ist es auch, daß sich große Exsudate nicht ganz selten ganz un- 
merklich entwickeln, wodurch der richtigen Beurteilung und sachgemäßen 
Therapie nicht geringe Schwierigkeiten erwachsen. 

Pneumothorax . Eine viel schlimmere, oft lebensgefährliche, allerdings 
auch sehr viel seltenere Komplikation ist die Bildung des Pneumothorax. 
Derselbe kommt dadurch zustande, daß die Wand einer nahe der Pleura 
gelegenen Kaverne oder der Pleuraüberzug einer sonst stark veränderten 
Lungenpartie unter der Einwirkung eines starken Hustenstoßes oder eines 
auf andere Weise entstandenen übermäßigen Druckes einreißt und Luft in 
den Pleurasack eintreten läßt. Manchmal setzt ein solches Ereignis ganz 
plötzlich unter den Erscheinungen des Shocks ein. Oft genug bedingen aber 
die anatomischen Verhältnisse ein ganz allmähliches Eintreten von Luft in 
den Pleurasack oder in einen durch Verwachsungen ringsum verschlossenen 
Abschnitt desselben. Nicht selten entsteht auch bei der Punktion pleurltischer 
Exsudate dadurch ein Pneumothorax, daß bei zu starker Saugwirkung der 
Pleuraüberzug der Lunge an bereits stark veränderten Stellen nicht genügend 
nachgibt und einreißt. Die Bedeutung des Pneumothorax für den Kranken 
kann, je nach den vorliegenden Verhältnissen, sehr verschieden sein. Oft 
genug bleiben kleine Luftblasen im Pleuraraum ganz unbemerkt und werden 
bald wieder resorbiert, in vielen Fällen hat der Pneumothorax die Bildung 


Digitized by 


Google 



Tuberkulose der Lungen. 


535 


seröser oder eiteriger Exsudate im Gefolge, und manchmal tritt er gleich 
beim ersten Beginn als ein höchst lebensgefährliches Ereignis auf (Näheres 
siehe Art. Pneumothorax). 

Bronchialdrüsen. Wohl ausnahmslos erkranken beim Phthisiker die 
Bronchialdrtlsen, doch werden dadurch nur selten gut abgegrenzte Erschei¬ 
nungen ausgelöst, die man als Komplikationen im klinischen Sinne auf¬ 
fassen könnte. Bei Kindern allerdings tritt die Erkrankung der Drüsen oft 
genug so in den Vordergrund, daß die sich anschließende Erkrankung der 
Lunge in manchen Fällen mit einigem Recht als Komplikation der Drüsen¬ 
tuberkulose aufgefaßt werden kann. 

Kehlkopf. Sehr beeinflußt wird dagegen das klinische Bild der Lungen¬ 
tuberkulose durch hinzutretende Erkrankung der oberen Luftwege und be¬ 
sonders des Kehlkopfes. Ausführliches hierüber ist in den betreffenden 
Kapiteln nachzusehen. Auch Rachen, Mundhöhle, Nase und Ohr können im 
Verlauf der Phthise Sitz tuberkulöser Veränderungen werden. 

Magenstörungen. Einen wesentlichen Einfluß auf den Zustand des 
Phthisikers haben die Verdauungsorgane. Funktionsstörungen dieser Organe 
gehören zu den häufigsten Symptomen der Lungentuberkulose und zu den 
wichtigsten Komplikationen. Leichte Veränderungen und dyspeptische Be¬ 
schwerden der Phthisiker haben allerdings ihren Grund nicht in wirklich 
tuberkulöser Erkrankung des Magens, sondern beruhen wohl auf einer all¬ 
gemeinen Funktionsstörung, die individuell sehr verschieden sein kann und, 
wie schon Brehmer betonte, von Jugend an manchen zur Phthise dispo¬ 
nierten Menschen eigen ist. Es liegt auf der Hand, daß solche Zustände 
auf die Entwicklung einer Tuberkulose gewissen Einfluß ausüben können, 
daß sie andrerseits aber nach Ausbruch der Phthise durch die Giftproduktion 
der Tuberkelbazillen unterhalten und gesteigert werden können. Mit Marian 
können die Verdauungsstörungen als Früh- und Spätsymptome in zwei ver¬ 
schiedene Gruppen geteilt werden. Eigentümliche, sehr wesentliche Ver¬ 
änderungen des Appetits, leichte, vorübergehende Störungen der Verdauung, 
saures Auf stoßen und Magenschmerzen nach dem Essen oder ein unbestimmter 
Druck in der Magengegend, manchmal auch ein auffallender Wechsel von 
völligem Appetitmangel und Heißhunger treten bei manchen Phthisikern im 
ersten Beginn der Erkrankung auf und machen sich oft — und darin liegt 
die Bedeutung dieser Erscheinungen — lange vor dem Beginn der Lungen¬ 
erkrankung bemerkbar. Sicherlich wäre es falsch, sie als Frühsymptome 
der Lungentuberkulose ganz allgemein aufzufassen, denn sehr oft erleben 
Menschen mit solchen Symptomen in der Jugend den Ausbruch der Phthise 
gar nicht. Sie gelten als Schwindsuchtskandidaten, zeigen gewöhnlich auch 
andere verdächtige Erscheinungen, werden aber unter den ängstlichen Blicken 
ihrer Umgebung älter und älter, ohne jemals lungenkrank zu werden. Die 
Magenbeschwerden verlieren sich allmählich, gelegentlich treten andere Er¬ 
scheinungen auf, die als Frühsymptome der Phthise ebenso gefürchtet sind, 
aber auch diese vergehen nach Jahr und Tag, und der Betreffende erreicht 
ein hohes Alter, bleibt allerdings auch immer ein Schwindsuchtskandidat. 
Ich meine, es gilt hier das, was schon öfters erwähnt wurde: Gewisse 
Schwächen des Organismus leiden unter dem Bestehen eines tuberkulösen 
Infektes, sie leiden aber nicht immer so sehr und wirken nicht immer so 
schädigend auf den Gesamtorganismus, daß der Infekt sich ausbreiten und 
zur Lungentuberkulose führen kann. Viele solcher Frühsymptome der Lungen¬ 
tuberkulose gehören also zum guten Teil dem Vorstadium dieser Krankheit 
an, dem tuberkulösen Infekt, aus dem heraus sich die Phthise erst unter 
ganz bestimmten Umständen entwickelt. 

Im weiteren Verlaufe der Lugentuberkulose stellen sich aber als so¬ 


genannte Spätsymptome Erscheinungen 


einer chronischen Gastritis ein: 

Digitized by Google 



536 


Tuberkulose der Lungen. 


Völliges Daniederliegen der Eßlust, Empfindlichkeit oder Druck der Magen- 
gegend, Atonie des Magens und endlich ein sehr lästiges, schwer zu be¬ 
seitigendes Erbrechen. In seltenen Fällen werden nun allerdings auch wirk¬ 
lich tuberkulöse Veränderungen des Magens gefunden, und zwar sowohl 
eine Entwicklung von Tuberkeln als auch tuberkulöse Geschwüre. Eine 
klinische Bedeutung kommt diesen Prozessen aber jedenfalls nur in Aus¬ 
nahmefällen zu. 

Darmtuberkulose. Ganz anders liegen die Verhältnisse im Dannkanal. 
Auch Darmstörungen der Phthisiker sind manchmal funktioneller Natur, so¬ 
wohl langdauernde Obstipation als auch immer wiederkehrende Diarrhöen 
kommen im Beginn der PhthisiB vor, ohne daß tuberkulöse Darmverände¬ 
rungen vorzuliegen brauchen; mit der Zeit erkrankt aber die Mehrzahl der 
Schwindsüchtigen auch an einer Darmtuberkulose, so daß in späteren Stadien 
der Erkrankung ein sicheres Urteil über die Ursachen der vorliegenden Darm¬ 
störungen nicht leicht und manchmal unmöglich wird. Gewöhnlich wird die 
Entstehung der Darmtuberkulose auf Infektion durch verschlucktes Sputum 
zurückgeführt, da aber auch bei Phthisikern, die niemals Sputum produ¬ 
zieren, und bei Patienten mit ganz gesunden Lungen, die an einer Uro¬ 
genitaltuberkulose leiden, gelegentlich eine Danntuberkulose entsteht, so 
muß die Infektion des Darmes auch auf dem Lymph- und Blutwege vor 
sich gehen. Abgesehen von den gewöhnlichen Erscheinungen des Darm¬ 
katarrhs, machen tuberkulöse Veränderungen des Darmes in vielen Fällen 
lange Zeit gar keine Beschwerden, erst durch die Beteiligung des Perito¬ 
neums und vor allem durch Ausbildung von Darmstenosen kann es zu 
schmerzhaften Zuständen kommen. 

Tuberkulöse Darmstenosen bilden sich fast ausschließlich im Dünndarm, 
wo die Ringform der tuberkulösen Geschwüre ja ohneweiters die Entstehung 
der Stenose erklärt. Äußerst schmerzhafte Darmkoliken mit Erbrechen können 
sich als Zeichen solcher Prozesse einstellen, die im übrigen nicht immer 
leicht zu diagnostizieren sind und sich am leichtesten noch dann verraten, 
wenn es sich um Frauen mit schlaffen Bauchdecken handelt, so daß die 
periodisch eintretenden Darmversteifungen leichter gefühlt und oft auch ge¬ 
sehen werden können. 

Auch eine andere Form der Darmtuberkulose, die sogenannte hyper¬ 
trophische, zu tumorartigen Anschwellungen führende Form (Mathibu) kommt 
nicht selten zur Beobachtung, und von einiger praktischer Bedeutung ist 
die tuberkulöse Appendizitis und die Tuberkulose des Zökums. Auch die 
tuberkulöse Peritonitis kann in ihren verschiedenen Formen die Phthise 
komplizieren und eventuell das Krankheitsbild total verschieben. 

Leber und Milz. Tuberkelbildung in Leber und Milz wird bei der 
chronischen Lungentuberkulose häufig gefunden, auch ist die Fettleber und 
die Amyloidentartung eine häufige Komplikation der Phthise, und manche 
Erscheinungen werden mit diesen Prozessen in Zusammenhang gebracht. 
Meist läßt sich indessen bei der Vielgestaltung der vorgeschrittenen Phthise 
nicht viel Sicheres hierüber sagen. 

Urogenitalapparat. Große Aufmerksamkeit erfordert dagegen der Uro¬ 
genitalapparat. Wiederum kann es hier im Verlauf der Lungentuberkulose 
zu einer tuberkulösen Erkrankung der Blase oder der Nieren kommen, 
andrerseits werden diese Organe aber auch auf andere Weise in Mitleiden¬ 
schaft gezogen. So kommt manchmal, auch schon bei beginnender Lungen¬ 
tuberkulose, eine leichte Albuminurie zur Beobachtung, die auf Wirkung 
der Bazillengifte zurückgeführt, aber auch wohl als febrile Erscheinung ge¬ 
deutet worden ist. 


Eine Zeitlang glaubte man der bei vorgeschrittener Phthise ziemlich 
oft und auch bei wenig ausgedehnter Erkrankung manchmal auftretenden 


Digitized by 


Google 



Tuberkulös« der Lungen. 


537 


Diazoreaktion eine prognostisch ungünstige Bedeutung beilegen zu dürfen, 
zurzeit ist diese Auffassung aber wieder verlassen. 

Schwerwiegender als die meist vorübergehende leichte Albuminurie ist 
das Auftreten einer richtigen akuten oder chronischen Nephritis und der 
Übergang in Amyloidentartung. Endlich muß erwähnt werden, daß sich an¬ 
scheinend nicht selten im Anschluß an die Lungentuberkulose, und zwar 
schon im Beginn derselben, eine chronische parenchymatöse Nephritis ent¬ 
wickelt, die so sehr das Krankheitsbild beherrscht, daß die primäre Lungen¬ 
erkrankung dagegen ganz zurücktritt. 

III Diagnose . Die Diagnose der Lungentuberkulose muß sich im 
wesentlichen und in erster Linie auf den physikalischen Untersuchungsbefund 
stützen. Der erste Beginn liegt allerdings weit vor der Ausbildung solcher 
physikalisch nachweisbaren Lungenherde, und die erste Lokalisation der 
Tuberkelbazillen in den Lungen ist den physikalischen Methoden absolut 
unzugänglich. Deshalb ist ja auch versucht worden, als erstes Stadium der 
Lungentuberkulose die Vorgänge aufzufassen, die sich unmittelbar an die In¬ 
vasion der Tuberkelbazillen anschließen, die Entwicklung physikalisch nach¬ 
weisbarer Lungenherde aber bereits dem vorgeschrittenen Stadium der Er¬ 
krankung zuzurechnen. Von theoretischen Gesichtspunkten hat eine solche 
Auffassung ihre volle Berechtigung, eine erste Infektion mit Tuberkel bazillen 
muß der Lungentuberkulose vorangegangen sein, und schärfer als durch 
diesen Moment kann der Beginn aller tuberkulösen Krankheitsprozesse nicht 
gefaßt werden, alles, was für die Pathologie Bedeutung hat: die Allergie 
(Tuberkulinreaktion), die skrofulöse Diathese und die Drüsen- und Lungen¬ 
tuberkulose, fällt in die Zeit nach der ersten Bazilleninfektion. Werden diese 
Vorgänge vom Standpunkte der Bakterien aus betrachtet, so bedeutet der 
Moment der Infektion den Beginn einer neuen Lebensperiode der Bakterien, 
die alle Wandlungen, jedes Aufblühen, jede Hemmung der Bazillenvegetation 
in fließender Entwicklung umfaßt. Die Lungentuberkulose würde nichts anderes 
sein als eine Phase in der Geschichte dieser Bazillenwelt, und unsere initiale 
Spitzentuberkulose eine ganz beliebige Epoche in dieser Phase, die nur 
dadurch, daß sie der klinischen Methodik zugänglich ist, unsere besondere 
Aufmerksamkeit fesselt. 

Indessen, eine solche Auffassung genügt der praktischen Medizin nicht. 
Eben dadurch, daß die Tuberkelbazilleninfektion fast jeden Menschen befällt 
und den meisten keinen Schaden tut, werden diese bakteriellen Vorgänge 
sehr verschieden bewertet, und für die Pathologie gewinnen gerade die¬ 
jenigen Vorgänge Bedeutung, die vom Infekt zur Lungentuberkulose über¬ 
leiten. Aber auch bei dieser Trennung der Krankheit von dem Zustande des 
Infektes kann die ärztliche Vorstellung nicht stehen bleiben. Aus dem Infekt 
entwickelt sich eine ganze Reihe in praktischer Beziehung ganz verschieden¬ 
artiger Krankheiten und, wie oben begründet, stellt sich der ärztlichen 
Auffassung auch die Lungentuberkulose als eine Gruppe von Krankheiten 
dar, die prognostisch und therapeutisch wichtige Differenzen aufweisen. Die 
praktische Medizin darf sich daher bei völliger Anerkennung der inneren 
Berechtigung jeder theoretischen Auffassung doch nicht so weit von diesen 
Theorien leiten lassen, daß dabei Zweck und Ziel ihrer eigenen Bestrebungen 
völlig preisgegeben wird. 

Für uns Ärzte beginnt die Lungentuberkulose nicht dort, wo der 
Bazillus seine Entwicklung beginnt, sondern erst dort, wo der Mensch an- 
fängt krank zu werden, alles, was vor dieser Zeit liegt, gehört nicht ins 
Gebiet der Lungenkrankheiten, sondern in das der Prädisposition. Die 
Diagnose der Lungentuberkulose darf sich deshalb nur auf solche Symptome 
gründen, die unmittelbare Beziehungen zum Krankheitsherd haben, und des¬ 
halb bildet der physikalische Untersuchungsbefund die notwendige Grund- 


Digitized by 


Google 



538 


Tuberkulose der Lungen. 


läge der Diagnose. Nach allem, was oben ausführlich dargelegt ist, braucht 
nicht nochmals begründet zu werden, welche Schwierigkeiten hier entstehen 
und welche Grenzen der Diagnostik hier gesetzt sind, aber auch das mag 
aus den Ausführungen entnommen werden, daß keine Erscheinungen so be- 
stimmend auf das diagnostische Urteil wirken, als ein sicherer Lungen¬ 
befund. Eine sorgsame, in dieser Richtung unternommene Untersuchung wird 
meist zum Ziele führen, und ob der Perkussion, der Auskultation oder einer 
anderen Methode der größere Wert beigelegt werden soll, ist im allgemeinen 
ganz belanglos; jeder einzelne Fall erfordert besondere Überlegungen, und 
immer ist es erst die Vereinigung mehrerer Erscheinungen, die eine Diagnose 
sichert. Husten, Auswurf und physikalischer Befund ergänzen sich meist 
so, daß es überflüssig ist, hier nochmals auf die Bedeutung jeder einzelnen 
Erscheinung hinzuweisen. Und wenn der Nachweis der Tuberkelbazilien im 
Auswurf oft al9 das »sicherste« diagnostische Zeichen hingestellt wird, so 
ist dies schon etwas zu theoretisch gedacht. Tatsächlich wird heute die 
absolut sichere Diagnose der Lungentuberkulose in den allermeisten Fällen 
auch ohne Bazillennachweis geführt, und selbst bei initialen Erkrankungen 
gehört es zu den allergrößten Seltenheiten, daß ein Phthisiker keine anderen 
Erscheinungen seiner Lungentuberkulose zeigen sollte, als einen bazillen¬ 
haltigen Auswurf. Daß aber die Sputumuntersuchung in jedem Falle nötig 
und bei zweifelhaften Fällen von größter Bedeutung ist, braucht wohl nicht 
noch besonders erwähnt zu werden, niemals darf aber vergessen werden, 
daß auch bei positivem Bazillennachweis orst der physikalische Befund im 
Verein mit dem übrigen klinischen Bild eine brauchbare Diagnose liefern 
kann. Auf die Schwierigkeiten, die trotz des Bazillennachweises und trotz 
eines deutlichen Lungenbefundes beim Bestehen von anderen Lungenkrank¬ 
heiten sich geltend machen, ist oben hingewiesen worden. 

Neben dem lokalen Untersuchungsbefund haben stets die Allgemein¬ 
erscheinungen große diagnostische Bedeutung, und unter ihnen vor allem 
das Fieber, das besonders in initialen Fällen der Diagnose eine sichere 
Stütze geben kann. Viele andere Symptome treten, wie oben ausgeführt, 
gerade deswegen hingegen zurück, weil sie nicht unmittelbare Kraukheits- 
erscheinungen zu sein brauchen, vielmehr oft nur Ausiruck einer Pradis- 
position sind, die allerdings wieder unter dem Einfluß des Tuberkelbazillen¬ 
infektes stehen kann und sicherlich auch sehr oft steht. 

Auch die Tuberkulinreaktion kann als diagnostisches Mittel Verwendung 
finden, allerdings nicht in dem ursprünglich von Koch geforderten Maße 
und nicht in dem der Reaktion von Koch untergelegten Sinne. Die positive 
Reaktion ist in jeder Form (subkutan, kutan und konjunktival) nur Aus¬ 
druck einer Allergie, nicht aber das Zeichen einer ganz bestimmten, klinisch 
abgegrenzten Lungenerkrankung. Die Reaktion besagt an sich nur, daß ein 
Tuberkelbazilleninfekt besteht, und auch die Stärke der Reaktion hat keine 
unmittelbaren Beziehungen zu dem Ablauf dieses Zustandes, sondern nur 
zur individuellen Disposition, auf gewisse Reize in pathologischer Weise zu 
reagieren. Das Tuberkulin wird also für diagnostische Zwecke sicherlich 
einen großen Wert behalten, es kann dem Arzt aber immer nur einen 
Baustein zu seiner Diagnose liefern, wer mehr erwartet und sich auf diese 
Reaktion zu viel verläßt, ist bald verlassen und steht der praktischen Forde¬ 
rung einer Abgrenzung der Lungentuberkulose von dem Bazillendefekt 
machtlos gegenüber. 

IV. Prognose . Eine Prognose der Lungentuberkulose zu stellen, ist eine 
außerordentlich schwere Aufgabe und nur dann mit aller Vorsicht möglich, 
wenn jede Einzelheit des betreffenden Falles genau geprüft ist. Es erübrigt 
Bich, hier nochmals auf die prognostische Bewertung der einzelnen Symptome 
einzugehen, bei der Besprechung der klinischen Erscheinungen ist hierauf 


Digitized by 


Google 



Tuberkulose der Lungen. 


539 


Rücksicht genommen und insbesondere auch hervorgehoben worden, daß 
die Prognose nicht so sehr in einzelnen Symptomen zum Ausdruck kommt, 
sondern mehr in der ganzen Krankheitsform, wie die Lungentuberkulose in 
jedem Einzelfalle auftritt und wie sie durch ihren weiteren Verlauf sich 
charakterisiert, begründet liegt. Vor allen Dingen mag nochmals betont 
werden, daß nicht die Ausdehnung des Lungenherdes an sich schon einen 
sicheren Anhalt für die Beurteilung der Prognose abgeben kann. Weit vor¬ 
geschrittene Phthisen sind selbstverständlich immer ungünstig zu beurteilen, 
denn auch die Heilungsvorgänge, die zum Beispiel in ausgedehnter fibröser 
Umwandlung oder in sekundärer Schrumpfung bestehen, haben meist keinen 
dauernden Heilangseffekt mehr und machen es daher erklärlich, daß auch 
die chronische fibröse Phthise trotz des Überwiegens solcher Heilungsvor¬ 
gänge doch meist eine schlechte Prognose gibt. 

Von einer günstigen Prognose der chronischen Lungentuberkulose kann 
nur so lange gesprochen werden, als der Krankheitsprozeß noch räumlich 
beschränkt geblieben ist, so daß nach Ausschaltung der erkrankten Lungen¬ 
bezirke die Funktion des Organs ohne merkliche und progressive Schädi¬ 
gungen erhalten bleibt. Nur in dieser Beziehung liegt eine Berechtigung 
vor, die Prognose von der Ausdehnung des Krankheitsherdes abhängig zu 
machen, innerhalb dieser Grenzen steht aber die günstige Prognose dem 
physikalischen Untersuchungsbefund nicht immer proportional und die ersten 
Zeichen einer käsigen entzündlichen Phthise geben eine weit schlechtere 
Prognose als eine deutliche Spitzendämpfung bei einem an chronischer 
fibröser Phthise leidenden Patienten. Die Vorbedingung jeder Prognose ist 
also die sichere Beurteilung der klinischen Erkrankungsform und diese 
gründet sich nicht allein auf nachweisbare Lokal- und Allgemeinerschei¬ 
nungen, sondern auch auf funktionelle Eigenschaften des Patienten, deren 
Ursprung weit über die lokale Lungenerkrankung hinausreicht und auf die 
Gesamtkonstitution des Organismus zurückgeht. Es gibt keine Schwind¬ 
sucht, die den Menschen anfällt und nun bei jedem in gleicher Weise ihren 
Gang geht, die Lungentuberkulose ist vielmehr eine Lebensäußerung des 
menschlichen Organismus, deren Erscheinung und Ablauf ihre innere Be¬ 
gründung im Organismus selbst haben. Soweit nun diese Faktoren zum 
Beispiel als labile Herztätigkeit, als Neigung zu Temperatursteigerung und 
zu Entzündungserscheinungen oder als psychische Schwäche in Erscheinung 
treten, lassen sie sich auch prognostisch verwerten, aber manche für die 
Vorhersage wichtige Verhältnisse kommen nicht in jedem klinischen Bilde 
unmittelbar zum Ausdruck. So ist die Prognose von jeher mit der Frage 
nach der Heredität verknüpft worden und sicherlich mit vollem Recht. Aber 
es wäre verkehrt, in einer erblichen Belastung ohne weiteres ein für die Pro¬ 
gnose ungünstiges Moment erblicken zu wollen oder gar durch Summierung 
der ätiologisch wichtigen Faktoren die Prognose abstufen zu wollen. Es 
kommt eben, wie überall in der Pathologie, auf die gegenseitigen Beziehun¬ 
gen der einzelnen Faktoren zueinander an, die sich nicht rechnerisch in 
Formeln zwingen lassen, sondern nur durch klinische Erfahrung und ärzt¬ 
liche Beobachtung aufgefaßt und verwertet werden können. 

Schon vor langen Jahren hat Meissen darauf hingewiesen, daß die 
hereditäre Belastung an sich keine schlechte Prognose für den Ausgang der 
Lungentuberkulose bedeutet und andere Autoren haben diese Erfahrung 
seitdem bestätigt. Sehr eingehend hat sich Reibmayr mit dem Problem der 
Immunisierung und Durchseuchung befaßt und eine größere Beachtung seiner 
Ausführungen von klinischer Seite wäre für die Klärung solcher Fragen 
von großer Bedeutung. Als prognostisch ungünstig ist dagegen der ausge¬ 
prägte Habitus phthisicus zu betrachten und andere Konstitutionsanomalien, 
wie zum Beispiel die schon von Brehmer betonte Eigentümlichkeit mancher 


Digitized by 


Google 



540 


Tuberkulose der Lungen. 


Patienten, von Jeher »schlechte Esser« gewesen su sein, oder die große 
Neigung zu katarrhalischer Erkrankung der oberen Luftröhre. Gleichzeitig 
bestehende andere Erkrankungen, beispielsweise die Entwicklung einer Phthise 
in einem bereits erkrankten Organismus verschlechtert sehr oft die Pro¬ 
gnose. So ist dieselbe bei Diabetikern fast immer infaust, auch die Lues 
und noch mehr vielleicht die chronische Gonorrhöe haben einen ungünstigen 
Einfluß. Auf die günstige Bedeutung der Mitralstenose und der arthritischen 
Diathese für die Entwicklung einer Lungentuberkulose ist ebenfalls oben 
hingewiesen worden, doch haben auch diese Beziehungen nur eine bedingte 
Gültigkeit und dürfen für die Prognose nur im Zusammenhang mit anderen 
Überlegungen vorsichtig verwertet werden. 

V. Therapie . Prophylaxe. Vorbeugungsmittel gegen die Lungentuber¬ 
kulose hat es immer gegeben, aber erst seit der Entdeckung des Tuberkel- 
baxillus hat die Prophylaxe eine festere Grundlage erhalten. Wie in allen 
bakteriologischen Fragen, richtete Koch auch nach der Entdeckung des Tu¬ 
berkelbazillus sein Streben sofort auf die Ziele der praktischen Medizin. 
Während bis dahin die Tuberkulose als Ausdruck des sozialen Elends an¬ 
gesehen und eine Besserung in allgemeinen sozialen und hygienischen Ma߬ 
nahmen erhofft wurde, erreichte Koch, daß mit allen Mitteln eine Bekämp¬ 
fung der Infektionserreger in die Wege geleitet und mit allem Nachdrnck 
durchgeführt wurde, ln dem Tuberkelbazillus war die letzte Ursache der 
Tuberkulose gefunden und seine Vernichtung mußte die Beseitigung der 
Lungenschwindsucht bedeuten. Dieses Ziel hatte sich in der Tat Koch und 
seine Schule gesteckt, Staat und Gesellschaft fanden sich bereit, zur Aus¬ 
führung dieser radikalen Vorbeugungsmaßregeln Mittel zur Verfügung zu 
stellen und auch heute noch gibt es Anhänger dieser Bestrebungen, die 
nicht allein auf diesem Wege unentwegt Weiterarbeiten, sondern auch 
beweisen zu können glauben, daß in diesem 28Jährigen Kampfe der 
Tuberkelbazillus zurückgedrängt und die Tuberkulosemorbidität verringert 
worden sei. 

Inzwischen ist aber die Wissenschaft vorwärts gegangen und hat uns 
einen etwas tieferen Einblick in den Mechanismus der Tuberkuloseentstehung 
gegeben. Auch heute kann die Vernichtung aller Bazillen noch als das 
sicherste Mittel gegen alle Infektionskrankheiten gepriesen werden, aber 
der Streit über die Zweckmäßigkeit und Durchführbarkeit eines solchen 
Bazillenkampfes verstummt mehr und mehr mit der wachsenden Erkenntnis, 
daß nicht die Bazilleninfektion, sondern individuelle Ursachen auf dem Boden 
eines die Kulturwelt befallenen Infektes die Lungenschwindsucht verursachen. 
Zwar ist die Tuberkuloseätiologie noch nicht in allen Punkten geklärt, so 
viel läßt sich aber mit aller Sicherheit sagen, daß in praktischer Beziehung 
nicht dem bakteriellen Infekt, sondern den prädisponierenden und indivi¬ 
duellen Ursachen die wesentlichste Bedeutung zukommt und daher auch 
hier eine rationelle Prophylaxe einzusetzen hat. Die KocHschen Anschau¬ 
ungen haben durch den Einfluß einer ganz neuen Methodik einen gewal¬ 
tigen Einfluß auf das Denken der ärztlichen Welt ausgeübt und alte, be¬ 
rechtigte Vorstellungen über die Tuberkulose nicht allein niedergedrückt, 
sondern auch die selbständige Entwicklung neuer, der bakteriologischen 
Denkweise entgegenstehender Ideen zu unterdrücken vermocht. Betrach¬ 
tungen, wie sie von Hüppe, Gottstein, Meissen, Martius und anderen der 
herrschenden KocHschen Lehre entgegengesetzt wurden, wie sie bei vielen 
selbständig denkenden Ärzten in gleicher und ähnlicher Weise wiederkehrten, 
blieb lange Zeit die Anerkennung versagt, und erst Jetzt, wo die bakterielle 
Prophylaxe ihren Anhängern unter den eigenen Händen zergeht, wendet sich 
die ärztliche Welt ganz allgemein wieder mehr den tatsächlichen Dingen 
zu. Allerdings die Laienwelt wird lange Zeit gebrauchen, bis sie sich von 


Digitized by 


Google 



Tuberkulose der Lungen. 


541 


der Bazillenfurcht wieder erholt, denn die kontagionistische Theorie von der 
bakteriellen Ureaohe der Tuberkulose hat im Volk einen fruchtbaren Boden 
gefunden und es werden lange Zeiten vergehen, bis hier gesündere An¬ 
schauungen sich Geltung verschaffen. Dazu kommt nun noch ein anderer Punkt, 
auf den Martius ausdrücklich hinweist. Eine Prophylaxe gegen die Lungen¬ 
tuberkulose wird in Preußen bekanntlich nicht allein von Ärzten getrieben, 
sondern die »führenden« Personen solcher Bestrebungen sind meist Regie¬ 
rungs- und Verwaltungsbeamte, die durch eine öffentliche Fürsorge, durch 
Gesetzesparagraphen und Polizeivorschriften den weitesten Einfluß auf die 
breiten Massen gewinnen. Auch in diesen Kreisen läßt sich aber sehr viel 
leichter mit Theorien Stimmung machen, die sich bequem in Vorschriften 
und Gesetzesparagraphen umsetzen lassen, als daß den tatsächlichen Ver¬ 
hältnissen Anerkennung verschafft werden könnte, die deutlich erkennen 
lassen, wie tief die Wurzeln der Tuberkulose ins soziale Leben, in die Woh¬ 
nungsfrage, in die Berufstätigkeit und in viele Verhältnisse eindringen, die 
nicht durch ein Machtwort beseitigt werden können. In der allgemeinen 
Prophylaxe der Tuberkulose liegt eine Kulturarbeit, die durch unnütze, von 
einseitigen Theorien diktierte Bestrebungen oft gehemmt worden ist und 
erst erfolgreich gefördert werden wird, wenn die tatsächlichen Verhältnisse 
der Ätiologie besser bekannt und die Bedingungen der Tuberkuloseent¬ 
stehung beeinflußt werfen können. 

Bis dahin ist es unsere Pflicht, in jedem Einzelfalle für individuelle 
Prophylaxe Sorge zu tragen. Hierher gehört nun sicherlich auch die Ver¬ 
meidung der Infektionsgelegenheit. Wir wissen zwar, daß fast jeder Mensch 
im Leben einmal infiziert wird, aber über Infektionswege und -mechanismus 
ist uns sehr wenig Sicheres bekannt und die Erfahrungen mit anderen para¬ 
sitären Erkrankungen lehren uns, daß jeder infektiöse Zustand nach Zeit 
und Umständen großem Wechsel unterworfen ist. Daher wird man jeden 
Phthisiker als ansteckenden Kranken betrachten und jede Gelegenheit der 
Infektion nach Möglichkeit zu meiden suchen. Gänzlich verfehlt aber wäre 
es, die Infektion an sich als das gefürchtete Gespenpt hinzustellen und da¬ 
mit alle durch die Infektion gefährdeten Individuen als tuberkulosekranke 
Personen zu behandeln. In der Tat verfahren auch heute noch viele Ärzte 
so und besonders im Publikum ist diese Aufklärung so weit verbreitet 
und so festgewurzelt, daß es schwer ist, sich in der öffentlichen Sprech¬ 
stunde der Tuberkulosefürsorge mit den Klienten zu verständigen. Eine 
Mutter bringt zum Beispiel ihr Kind und fragt, ob es vom lungenkranken 
Vater angesteckt sei. Findet der Arzt nun die Tuberkulinreaktion positiv, 
im übrigen aber das Kind ganz gesund, so könnte er sagen: Das Kind ist 
bereits mit Tuberkelbazillen infiziert worden, es ist aber nicht lungenkrank 
und überhaupt nicht krank. Der Zustand ist aber derart, daß schlechte Er- 
nährungs-, Wohnungs- oder Lebensverhältnisse dazu führen können, daß das 
Kind später einmal lungenkrank wird. Auch können Masern, Keuchhusten 
und andere Umstände ihm gefährlich werden. Es soll daher gut gepflegt, 
vorsichtig abgehärtet und zur Reinlichkeit angehalten werden, sich auch 
hüten vor unnützer Berührung mit dem kranken Vater, weil doch auch 
wiederholte Infektionen vielleicht Bedeutung haben. 

Würde ein Arzt der Mutter diese Auskunft geben, so würde er un¬ 
verstanden bleiben. Denn all die guten Ratschläge kennt sie ja; glaubt sie 
auch schon immer zu befolgen, das einzige, was sie fürchtet und was sie 
verhüten möchte, ist die Infektion. Und alle Belehrungen des Arztes nutzen 
nichts, bestenfalls wird die Mutter überredet, ihre eingewurzelte Bazillen- 
und Infektionsfurcht fallen zu lassen, aber schon die nächste Aussprache 
mit Freundinnen oder gar dem in der Heilstätte belehrten Mann macht sie 
schwankend und bestimmt sie wieder, ihr Kind für tuberkulös zu halten. 


Digitized by ^.ooQle 



542 


Tuberkulose der Lungen. 


Ein andermal würde der Arzt vielleicht vorsichtiger sein und, um jeder 
Mißdeutung aus dem Wege zu gehen, sich auf die Auskunft beschränken, 
daß das Kind nicht lungenkrank sei und jede Erwähnung der Infektion ab- 
sichtlich vermeiden. Doch wiederum würde eine solche Auskunft zwecklos 
sein. In der frohen Überzeugung, der drohenden Gefahr entgangen zu sein, 
würde die Mutter ihr Kind auch ferner vom Vater so gut wie möglich iso¬ 
lieren, andere Maßnahmen aber trotz eindringlicher ärztlicher Belehrung 
doch nur gering achten und statt dessen von Zeit zu Zeit sich in der Für¬ 
sorge die Gesundheit bestätigen lassen. 

Sehr viel wirksamer würde eine Prophylaxe ausgeübt werden können, 
wenn die Mütter belehrt würden, daß die Bazillen nur dann den Kindern 
gefährlich werden, wenn auch andere Schädlichkeiten auf den jungen Orga¬ 
nismus einwirken. Allgemeine hygienische Maßnahmen und eine naturge¬ 
mäße Lebensweise wirken so fördernd auf die Gesundheit des Kindes, daß 
die Bazillen nichts ausrichten können, während eine Unterernährung und 
ungesunde Lebensverhältnisse allmähliche, manchmal ganz unmerkliche Ge¬ 
sundheitsstörungen im Gefolge haben, die früher oder später bei Gelegen¬ 
heit den Ausbruch der Lungenkrankheit herbeiführen. Sicherlich kommen wir 
mit dieser Anschauung den tatsächlichen Verhältnissen näher and sicher¬ 
lich würde auch das Volk solche Vorbeugemaßnahmen verstehen und schätzen 
lernen, wenn nur die Ärzte als Anwälte der Volksgesundheit diesen Stand¬ 
punkt überzeugungstreu vertreten und nicht immer den wechselnden wissen¬ 
schaftlichen Theorien und ihren Hintermännern nachgeben würden. 

Eine ganze Reihe der praktisch wichtigsten Fragen ist lediglich durch 
die Kathederweisheit und Verquickung mit experimentellen Spekulationen 
so kompliziert worden, daß von einer einheitlichen Auffassung meist keine 
Rede sein kann. Hierher gehört zum Beispiel die Frage nach der Bedeu¬ 
tung der Heredität für die Entstehung der Tuberkulose und die sich daraus 
ergebende Bedeutung der Prophylaxe. Anstatt hier ganz unbefangen der 
ärztlichen Erfahrung zu vertrauen und die Vorteile eines gesicherten Ehe¬ 
standes gegenüber einem unruhigen und wechselvollen Junggesellenleben 
oder der Ungewißheit einer langen Brautzeit in jedem Einzelfalle abzuwägen 
und die Entscheidung von der Gesamtheit aller Faktoren abhängig zn 
machen, hat man ein Eheverbot der Tuberkulösen und der Prophylaktiker 
formuliert und damit praktische Prophylaxe zu treiben geglaubt! Und wel¬ 
cher Wandlungen müßte die ärztliche Anschauung, welcher Vertrauensselig¬ 
keit das Publikum fähig sein, wenn sie jeden Wechsel mitmachen wollten, 
der durch immer neue Theorien über die Infektion im ersten Kindesalter 
herbeigeführt worden ist. Bis über die Pathogenese der Tuberkulose etwas 
gefestigtere Anschauungen gewonnen sind, wird es gut sein, prophylaktische 
Maßnahmen nicht zu sehr von einheitlichen wissenschaftlichen Gesichts¬ 
punkten aus abzuleiten, sondern in jedem Einzelfalle praktisch durchführ¬ 
bare und den therapeutischen Bestrebungen angepaßte Maßregeln zu treffen. 

Therapie . Ein Heilmittel gegen die Lungentuberkulose gibt es nicht 
und kann es auch nicht geben in dem Sinne, wie es von manchem thera¬ 
peutischen Fanatiker gesucht und vom Publikum so oft herbeigewünscht 
worden ist. Die Ursachen der Lungentuberkulose sind zu verschiedenartig 
und zu sehr mit individuellen Verhältnissen verquickt, als daß eine einzige 
Maßregel für alle oder auch nur für die Mehrzahl der Patienten die gleiche 
Bedeutung haben könnte. Immerhin gibt es aber eine ganze Reihe von Be¬ 
handlungsmethoden und Arzneipräparaten, die als sicher wirkende Heilmittel 
gegen die Lungenschwindsucht gepriesen, geprüft und bald wieder ver¬ 
gessen worden sind. 

Hier ist vor allem das Kreosot zu nennen, daß im Jahre 1830 von 
Reichenbach entdeckt und gegen Tuberkulose angewendet wurde, aber erst 


Digitized by 


Google 



Tuberkulose der Lungen. 


543 


1887 durch Sommerbrodt zu neuem Ansehen gelangte. Der vermeintliche 
günstige Einfluß auf den tuberkulösen Prozeß, der unter der Kreosotwirkung 
zum Stillstand kommen sollte, ist nicht von Dauer gewesen, und auch der 
Hauptbestandteil des Kreosots, das Guajacol sowie das Kreosotal (Creoso- 
tum carbonicum), Duotal (Guajacolum carbonicum) sowie das Eosot (Creo- 
sotum valerianicum) haben heute nur noch geringe Bedeutung. Ebenso findet 
das Ichthyol, das eine antibakterielle und eiweißzerfallhemmende Wirkung 
ohne toxische Nebenerscheinungen haben soll, heute keine große Anwen¬ 
dung mehr. Etwas länger hat sich die Behandlung mit Zimmtsäure nach 
Länderer als spezifische Kur behauptet. Länderer ging von der Wirkung 
des Perubalsams aus, der sich nach der Injektion in der Nähe der tuber¬ 
kulösen Herde in Form fein emulgierter Körperchen ablagert und eine Ent¬ 
zündung hervorruft. Im weiteren Verlauf seiner Studien verwandte er einen 
Bestandteil des Perubalsams, die Zimmtsäure und später die wässerige Lö¬ 
sung zimmtsaurer Salze. In seinen experimentellen Versuchen glaubte er, 
in der Umgebung tuberkulöser Herde eine Reaktion wahrnehmen zu können, 
die zunächst in einer Leukozytenansammlung, dann aber in einer Bindege- 
websneubiidung bestehen und schließlich zu einer Resorption nekrotischer 
Massen und einer Vernarbung führen sollte. Eine wirksame Therapie der 
Lungentuberkulose hat sich aber auch aus diesen Ideen nicht entwickeln 
können, ebensowenig wie aus den Versuchen Liebreichs mit cantharidin¬ 
saurem Kali. Cantharidin ruft an den Kapillaren eine seröse Exsudation 
hervor, und aus seiner Vorstellung, daß eine solche Exsudation in Kapil¬ 
laren in gereiztem Zustande leichter zustande komme, entwickelte er die 
Möglichkeit, mittelst Cantharidin auf die pathologisch gereizten Kapillaren 
einwirken zu können, ohne dem Gesamtorganismus zu schaden. Die an den 
kranken Stellen gebildeten Exsudatmassen sollten eine bakterizide Wirkung 
entfalten und so zu einer Heilung der Tuberkulose führen. Auch diese 
Methode ist über unsichere Resultate nicht hinausgekommen und wegen 
der schädlichen Wirkung des Cantharidins auf die Nieren heute völlig 
verlassen. 

Ungeheures Aufsehen erregte die Ankündigung eines Heilmittels gegen 
Tuberkulose von Robert Koch im Jahre 1890. In der Besprechung der 
Beziehungen des Tuberkulins *zur Tuberkulose ist bereits ausführlich mit¬ 
geteilt worden, daß auch diese Heilungsbestrebungen von falschen Voraus¬ 
setzungen ausgingen und daß diese Tuberkulinepoche kaum 3 Monate nach 
der KocHschen Ankündigung in den Sitzungen der Medizinischen Gesell¬ 
schaft ihren Abschluß fand. Eine Heilung der Tuberkulose, wie sie von 
Koch ausgedacht war, gibt es nicht und kann es nicht geben, weil in dem 
Mechanismus der Entstehung und des Verlaufes der Lungentuberkulose ganz 
andere Faktoren maßgebende Bedeutung haben, als wie von Koch ange¬ 
nommen war. Eine spezifische Therapie, wie sie von Koch in der Tuber¬ 
kulinanwendung verkündet wurde, kann es vor allem deswegen nicht geben, 
weil jedes Tuberkulin und jedes andere Mittel, das spezifische Beziehungen 
zum Tuberkelbazillus hat, doch immer nur durch Vermittlung des mensch¬ 
lichen Organismus wirken kann. Eine Heilung der Lungentuberkulose kann 
immer nur dann zustande kommen, wenn die inneren Kräfte des Organis¬ 
mus imstande sind, den Ablauf der Lebensvorgänge wieder so zu gestalten, 
daß jede Störung beseitigt wird. Auch wenn das Tuberkulin (was bisher 
noch nicht erwiesen ist) besser als andere Mittel dem Organismus hierzu 
die Anregung geben könnte, so wird der Erfolg doch immer von der Re¬ 
aktionsfähigkeit des menschlichen Organismus abhängen, und auch im aller¬ 
ersten Beginn der Lungentuberkulose würde jeder Erfolg einer solchen Tu¬ 
berkulintherapie ausbleiben, wenn der Organismus unfähig ist, solche Reize 
zu seinem eigenen Nutzen zu verarbeiten. 


Digitized by CjOOQle 



544 


Tuberkulose der Lungen, 


In diesem Sinne gibt es kein Spezifikum gegen Tuberkulose und in 
dieser Bedeutung des Organismus für die Vorgänge der Infektion und der 
Infektionskrankheiten liegt der Grund, warum aueh das Tuberkulin nioht 
imstande ist, den Gang der bazillären Infektion aufzuhalten. Tatsächlich ist 
es nicht möglich, durch Tuberkulinanwendung Mensch oder Versuchstier in 
dem Sinne immun zu machen, daß die Tuberkelbazilleninfektion zum Still* 
stand kommt oder eine nachträgliche Bazilleninfektion ausbleibt Mit Tuber¬ 
kulin vorbehandelte Tiere sind trotz der erreichten hohen Immunität gegen 
Tuberkulin doch nicht gesichert gegen eine nachträgliche Bazilleninfektion. 
Dieser bazilläre Infekt geht seinen Gang weiter trotz der unter der Tuber¬ 
kulintherapie immer mehr steigenden Tuberkulinimmunität, und es ist bis¬ 
her nicht gelungen, den Infekt zum Stillstand oder gar zur Heilung zu 
bringen. Aber die Tuberkulose nimmt einen anderen Verlauf unter der Tu- 
berkulinanwendung, und hier liegt der Punkt, wo die Tuberkulinanwendung 
auch heute noch für die Behandlung der Lungentuberkulose Bedeutung hat. 
Die Wirkung des Tuberkulins auf den menschlichen Organismus ist aktiv 
immunisierend. Aber nicht gegen die bazilläre Infektion wird der Mensch 
immunisiert, sondern gegen die Giftwirkung des Tuberkulins. Durch Verab¬ 
reichung allmählich steigender Dosen kann diese Behandlung zu einem hohen 
Grade von Unempfindlichkeit gegen Tuberkulin führen, und hierin liegt der 
Wert des Tuberkulins als brauchbares therapeutisches Mittel in der Be¬ 
handlung der Tuberkulose. Denn viele Krankheitserscheinungen des Phthi¬ 
sikers haben ihren letzten Grund in der Resorption von Tuberkelbazillen¬ 
giften und ohneweiters muß anerkannt werden, daß die Ausbildung einer 
Giftfestigkeit, eines Zustandes, der den Organismus mehr oder minder un¬ 
empfindlich gegen solche Gilfte macht, von therapeutischer Bedeutung 
sein kann. 

Von vornherein muß allerdings der Auffassung entgegengetreten wer¬ 
den, daß diese Tuberkulinwirkung immer eintreten muß, und daß wir in 
dem Tuberkulin ein zuverlässiges Mittel haben, bei jedem Phthisiker Stö¬ 
rungen zu beseitigen, die auf Giftwirkung zurückgeführt werden müssen. 
Eine Immunität gegen Tuberkulin läßt sich bei jedem Menschen und bei 
jedem Phthisiker, bei dem einen leicht, beim anderen schwerer erreichen, 
damit ist aber noch nicht gesagt, daß der gegen Tuberkulin immunisierte 
Phthisiker auch gegen die im Verlaufe der Tuberkulose auftretenden Giftwir¬ 
kungen immer sicher geschützt ist Wäre dies der Fall, so hätten wir in der 
Tat in der Tuberkulinmethode ein unschätzbares Mittel, wie es vollkommener 
kaum erwartet werden darf. Die tägliche Erfahrung lehrt uns aber, daß 
dies nicht der Fall ist Auch bei dem chronisch fiebernden Phthisiker mit 
elendem Allgemeinzustand, mit völlig darniederliegendem Appetit und all 
den Störungen, die mit einigem Recht auf Giftwirkungen zurückgefQhrt 
werden müssen, gelingt es ziemlich leicht, duroh Tuberkulineinspritzungen 
einen hohen Grad von Giftimmunität zu erzielen, recht selten gelingt es 
aber, mit dieser Immunität auch die Störungen zu beseitigen, die ihm die 
eigene Giftproduktion bereitet. Mit anderen Worten, auch die künstlich er¬ 
zielte Giftimmunität gibt keine Sicherheit dafür, daß der Kranke auch den 
im Verlaufe der Krankheit auftretenden Gifteinwirkungen gewachsen ist, 
und die klinische Erfahrung belehrt uns, daß dies in den allermeisten Fällen 
nicht der Fall ist. Auch das Tuberkulin ist nur ein symptomatisches Mittel, 
dessen Wirkung experimentell genau charakterisiert ist, dessen Effekt am 
Krankenbett aber noch von anderen unberechenbaren Faktoren abbängt und 
wie jedes Mittel leider sehr oft versagt. 

Immerhin gehört das Tuberkulin zu den brauchbaren Mitteln in der 
Behandlung der Lungentuberkulose, und mit einigem Recht darf von der 
Tuberkulinanwendung noch bedeutend mehr erwartet werden als zurzeit ge* 


Digitized by ^.ooQle 



Tuberkulose der Lungen* 


545 


leistet wird. Notwendig ist es aber, bei der Beurteilung dieser therapeuti¬ 
schen Versuche sich an das zu halten, was die ärztliche Erfahrung uns 
bietet, und jede theoretische Spekulation, wie sie seit der ersten KoCHschen 
Ankündigung immer wieder in ähnlicher Gestalt Einfluß zu gewinnen sucht, 
abzulehnen. 

Die Anwendung des Tuberkulins darf also nicht schematisiert werden, 
sie bleibt immer nur ein vorsichtiger Versuch, der nicht in jedem Falle 
Vorteile bringt, niemals als selbständige, anderen Methoden überlegene Be¬ 
handlung auftreten darf und immer dem übrigen Heilplan angepaßt werden 
muß. Auch die Bewertung der verschiedenen Tuberkulinpräparate kann sich 
nur auf ärztliche Erfahrung gründen. Immer noch zu empfehlen ist das ur¬ 
sprüngliche alte KocHsche Tuberkulin, doch ist es ganz Sache der klinischen 
Erfahrung, ob man neuere Präparate, wie zum Beispiel das DENYssche oder 
BERANEKsche Tuberkulin, vorziehen will. Ein praktischer Vorteil liegt sicher¬ 
lich darin, daß zum Beispiel das BERANECKsche Präparat in einer Form in 
den Handel gebracht wird, die dem Arzt die Anwendung des Mittels sehr 
erleichtert. Der theoretischen Begründung einer besseren Heilwirkung des 
einen oder anderen Präparates ist dagegen nach den bisherigen Erfahrungen 
nicht allzuviel zu trauen, in letzter Linie entscheidet hier nur der klinische 
Erfolg. 

Die Methode der Tuberkulinbehandlung hat sich natürlich unter diesen 
ganz veränderten Gesichtspunkten völlig geändert, denn nicht theoretisch 
geforderte immunisatorische Effekte können für die Behandlung als Richt¬ 
schnur dienen, sondern lediglich tatsächlich am Krankenbett hervortretende 
Erscheinungen. Da jede Temperatursteigerung nach der Tuberkulinein¬ 
spritzung, jede Allgemeinstörung und auch jede lokale Reizung als Aus¬ 
druck der Giftwirkung dem Patienten Nachteil bringt, muß das Tuberkulin 
in so großen Mengen gegeben werden, daß jede merkliche Reaktion aus¬ 
bleibt. Sahli empfiehlt, mit V20 cm 3 der BERANECKschen Lösung A/32 anzu¬ 
fangen, andere empfehlen andere Anfangsdosen, und manche beginnen die 
Behandlung mit V20000 m 9 (Wright) des alten KoCHschen Tuberkulins. Wesent¬ 
lich scheint nur zu sein, daß jede lästige Giftwirkung vermieden wird, und 
daß es besser ist, mit zu niedrigen als zu hohen Dosen anzufangen. Auch 
über den weiteren Gang der Behandlung ist noch keine einheitliche Auf¬ 
fassung erzielt worden. Während Sahli und die meisten Kliniker ein vor¬ 
sichtiges Ansteigen der Tuberkulingaben für nötig halten, gehen andere 
über die niedrigsten Gaben nicht hinaus. Eine wissenschaftliche Begründung 
dieser zweiten Methode ist ebenso leicht zu beschaffen (Wright) wie die der 
Anwendung steigender Tuberkulindosen, ein sicheres Urteil kann aber erst 
später aus klinischen Erfahrungen gesammelt werden. Zurzeit sind wir in 
der Tuberkulintherapie über die ersten Versuche nicht hinaus, in minimal¬ 
ster Dosis angewendet, ist das Tuberkulin aber höchstwahrscheinlich ein sym¬ 
ptomatisches Mittel von großer Bedeutung, das in geeigneten Fällen vor¬ 
sichtig versucht zu werden verdient. 

Neben dieser KoCHschen Tuberkulintherapie haben auch andere soge¬ 
nannte spezifische Methoden zeitweise von sich reden gemacht, ohne indessen 
bisher wirkliche Bedeutung erlangt zu haben. So ist zum Beispiel ein Heil¬ 
serum von Maragliano ziemlich bekannt geworden, welches durch seinen 
Gehalt an Antitoxinen Tuberkelbazillengifte im menschlichen Körper ver¬ 
nichten soll. Gewonnen wird das Serum von Hunden, Pferden und Eseln, 
die mit steigenden Dosen einer aus virulenten Tuberkelbazillen gewonnenen 
Bakteriensubstanz so lange behandelt worden sind, bis ihr Serum andere 
Versuchstiere (Meerschweinchen) für diese sonst tödlich wirkende Bakterien¬ 
substanz unempfindlich macht. Ganz anders begründet Marmorek die Wir¬ 
kung seines Heilserums. Er geht in seinen Versuchen vom Tuberkulin aus, 

Encyclop. Jahrbücher. N. F. VIII. (XVU.) 35 I 

Digitized by VjOOQLC 



546 


Tuberkulose der Lungen. 


glaubt aber, daß das KocHsche Tuberkulin nicht das eigentliche Tuberkel- 
baziliengift enthalte. Durch besondere Maßnahmen glaubt Marmorek aber 
aus den Bazillen das richtige Toxin gewonnen zu haben, und durch Behand¬ 
lung von Pferden mit diesem Toxin gewinnt er sein Heilserum. Trotz sehr 
zahlreicher glänzender Bestätigungen sowohl der einen als auch der anderen 
Heilmethode haben diese Heilsera aber am Krankenbett bei unbefangener 
Prüfung keinen nennenswerten Erfolg gehabt. Auch die BEHRiNGschen Be¬ 
strebungen, Säuglinge durch die in der Milch von immunisierten Kühen ent¬ 
haltenen Antikörper vor einer Tuberkuloseinfektion zu schützen, sind über 
theoretische Erfolge und geheimnisvolle Ankündigungen nicht hinausge¬ 
kommen. 

Allgemeinbehandlung . Unbeeinflußt von diesen Wandlungen in der 
Auffassung der Heilbarkeit der Phthise und unberührt von den Bestrebun¬ 
gen, eine radikale Heilmethode aufzufinden, ist es der unbefangenen Beob¬ 
achtung der Praktiker nicht entgangen, daß die Entwicklung der Lungen¬ 
tuberkulose durch eine ganz bestimmte Lebensführung gehemmt und der 
Heilung ohne Einwirkung besonderer Heilmittel zugeführt werden kann. Es 
ist das Verdienst Brehmers, die sich hieraus ergebende Allgemeinbehand¬ 
lung in eine feste Form gebracht, und die Lebensarbeit Dbttweilers, ihr 
allgemeine Anerkennung und weiteste Verbreitung verschafft zu haben. Die 
Prinzipien dieser wirksamen Behandlung der chronischen Lungentuberkulose 
lassen sich mit wenig Worten zusammenfassen: Sie besteht in dem Wechsel 
des Aufenthaltsortes, in einer sogenannten Freiluftkur und in der Sorge für 
eine geeignete Ernährung. Mit allem Nachdruck soll gleich hier betont wer¬ 
den, daß die Bedeutung dieser Behandlungsmethode in der Gesamtheit der 
einzelnen Faktoren liegt, und daß es verkehrt wäre, aus diesem Programm 
einzelne, Arzt oder Patienten in jedem Einzelfall besonders imponierende 
Maßregeln herauszugreifen. Immer wieder ist ja der Versuch gemacht wor¬ 
den, sogenannte exakte Beweise für die Wirksamkeit einzelner Maßnahmen 
zu finden. Ich erinnere nur an die BREHMERsche Idee von der Immunität 
gewisser Orte, an den Glauben an die Höhenluft und die Versuche, mit 
wissenschaftlichen Methoden faßbare-Resultate hierfür zu gewinnen, endlich 
an die Zeit der Mästung der Phthisiker und an die übertriebenen Bestre¬ 
bungen der Freiluftkur. Nicht die einzelnen Faktoren sind es, die den Wert 
dieser Methode ausmachen, ihre heilsame Bedeutung liegt vielmehr in der 
gesamten durchgreifenden Änderung der bisher gewohnten Lebensweise. Es 
gibt keinen Ort und keine Luft, die an sich auf die Lungenschwindsucht 
einen heilenden Einfluß ausübt. Auch an den gepriesenen Zufluchtsorten der 
Genesung suchenden Phthisiker bleibt die eingesessene Bevölkerung nicht 
verschont von dieser Geißel der Menschheit und weder die trockene Luft 
der Sahara noch das feuchte Klima Madeiras übt einen unmittelbar heilen¬ 
den Einfluß auf die kranke Lunge aus. Wie die Ätiologie der Lungentuber¬ 
kulose ein kompliziertes, im einzelnen noch ganz unübersehbares Spiel zahl¬ 
reicher Faktoren darstellt, so vollzieht sich auch ihre Heilung nur unter 
dem harmonischen Zusammenwirken aller Faktoren. 

Der Wechsel des Aufenthaltsortes bezweckt vor allem, den Pa¬ 
tienten aus der gewohnten Umgebung und Lebensweise herauszuheben. Zwar 
könnten die meisten Maßnahmen, besonders bei gut situierten Patienten, 
auch im eigenen Hause vorgenommen werden, in Wirklichkeit ist dies aber 
fast nie durchzuführen. Mögen die Lebensverhältnisse noch so günstig und 
die Wohnung noch so behaglich und zugleich hygienisch einwandfrei einge¬ 
richtet sein, ein Wechsel des Aufenthaltes ist trotzdem geboten. Der Kranke 
muß aus seinen Verhältnissen, unter denen er krank wurde, heraus in eine 
ganz neue Umgebung versetzt werden, die ihm vielleicht zuerst weniger 
zusagt als seine Häuslichkeit mit ihren gewohnten Bequemlichkeiten, die 


Digitized by 


Google 



Tuberkulose der Lungen« 


547 


aber doch völlig auf den einen Zweck, die Genesung des Kranken, zuge¬ 
schnitten ist. Welcher Ort in ledern Fall zu wählen ist, ob ein offener Kur¬ 
ort oder eine geschlossene Anstalt, kann heute nicht mehr allein durch die 
Eigenheiten des Ortes bestimmt werden, wird vielmehr von den Besonder¬ 
heiten jedes einzelnen Falles und nicht zum wenigsten von der guten Ein¬ 
richtung und der jeweiligen Leitung der Sanatorien abhängig gemacht wer¬ 
den müssen. Zweifellos scheint es mir richtig zu sein, einen Kranken mit 
beginnender Lungentuberkulose in eine geschlossene Lungenheilstätte zu 
schicken, denn nur hier muß er sich einer strengen Hausordnung und einer 
vom Arzt bis ins kleinste geregelten Lebensweise fügen. Die Tage gehen 
nicht nutzlos dahin, die Zeit verstreicht in streng geregelter Weise, selbst 
die Langeweile hat ihre Gesetze und ihre Grenzen und wird dadurch der 
lähmenden Einwirkung beraubt. Jedes Tun und Lassen des Kranken hat 
einen bestimmten Zweck und ein sicheres Ziel, und in dieser bewußten 
aktiven Lebensführung liegt der große Vorteil gegenüber einem dumpfen 
Hinbrüten und einer ungeduldigen Erwartung einer untätigen Rekonvales¬ 
zenz. Hieraus ergibt sich mit Notwendigkeit die völlige Abtrennung des 
Patienten von seiner Familie und näheren Bekanntschaft. Der rücksichts¬ 
vollste Gatte, die treusorgendste Mutter vermag dem Phthisiker nicht das 
zu geben, was er notwendig braucht: ein gleichmäßiges, durch keine Affekte 
gestörtes Gemütsleben. Übertriebene oder auch nur merkbare Ängstlichkeit 
der Mutter, jede Sentimentalität des Ehegatten kann für den Kranken eine 
Störung des Krankheitsverlaufes bilden, und eine lange Trennung ist daher 
heilsamer als eine durch nicht ausbleibende Störungen des Affektlebens be¬ 
gleitete öftere Unterbrechung der Anstaltsbehandlung. Die Dauer des Sa¬ 
natoriumaufenthaltes ist nicht sicher zu bestimmen, doch wird man zunächst 
als Minimum wohl 6 Monate fordern müssen. Im weiteren Verlaufe zeigt 
sich meist bald, ob es ratsam ist, die Kur fortzusetzen, zu unterbrechen 
oder eventuell auf kürzere Zeit auszusetzen. Eine Heilung kann in so kurzer 
Zeit natürlich niemals erwartet werden, aber dje Anstaltsbehandlung soll 
in erster Linie auch nur den Weg zur Heilung und Besserung zeigen, die 
völlige Heilung im Sanatorium abzuwarten, verbietet in den meisten Fällen 
schon die wirtschaftliche Lage des Kranken. Eine gründliche, gut durchge¬ 
führte Anstaltsbehandlung ist aber für jeden Phthisiker auch dann von 
großem Wert, wenn er genötigt ist, in seine gewohnte Umgebung zurück¬ 
zukehren und seinen Beruf wieder aufzunehmen. Er hat die Bedeutung 
seines Zustandes kennen gelernt, lernt selbst zu beurteilen, was ihm schäd¬ 
lich, was nützlich ist, und betrachtet die Verhältnisse, in denen er krank 
wurde, mit ganz anderen Augen als vorher. 

Nur selten wird es genügen, eine derartige Kur nur einmal vorzu¬ 
nehmen, meist macht sich die Notwendigkeit ihrer Wiederholung früh genug 
geltend. Es ist von Wichtigkeit, auf diesen Gang der Dinge beizeiten hin¬ 
zuweisen und gleich bei ddi* ersten Entscheidung über die Notwendigkeit 
des Aufenthaltsortes diese Frage mit in Betracht zu ziehen. Es ist in der 
Regel nichts dagegen zu sagen, wenn Phthisiker, die in einer Anstalt früh¬ 
zeitig geschult sind und nicht allzu leicht vom Wege der Tugend abweichen, 
in späteren Zeiten offene Kurorte aufsuchen oder sich durch geeigneten 
Landaufenthalt oder Seereisen den gewohnten Schädlichkeiten ihres Berufs¬ 
lebens entziehen, sicherlich ist es aber ein großer Fehler, mit solchen Ma߬ 
nahmen die beginnende Phthise beeinflussen zu wollen, für die als erste 
Bedingung eine strenge Erziehung in einer Anstalt immer empfohlen werden 
sollte. Dieser Forderung stehen nun allerdings pekuniäre Schwierigkeiten 
entgegen. Private Sanatorien sind den meisten Phthisikern wegen der hohen 
Kosten verschlossen, und daher ist es ein gewaltiger Fortschritt gewesen, 
daß jetzt auch in ausgedehnter Weise für Unbemittelte in Volksheilstätten 


Digitized by 


Google 



548 


Tuberkulose der Lungen. 


geeignete Fürsorge getroffen wird. Ein längerer Kuraufenthalt als 3 Monate 
kann im allgemeinen allerdings nicht gewährt werden, und wenn darin auch 
ein Mangel gesehen werden kann, so darf doch nicht vergessen werden, 
wie viel mehr heute für die breiten Massen der Phthisiker getan werden 
kann als früher. Die Auswahl für die Volksheilstätten ist bei dem großen 
Andrange natürlich so, daß in erster Linie solche Personen berücksichtigt 
werden, die einen Erfolg noch erwarten lassen, und daß sehr viele Tuber¬ 
kulöse keine Aufnahme in Volksheilstätten finden können. Da zugleich auch 
die Krankenhäuser überfüllt sind und sich, um nicht in Siechenhäuser ver¬ 
wandelt zu werden, von der allzu starken Belegung mit vorgeschrittenen 
Phthisen absichtlich frei halten, so ist es eine lange geforderte Notwendig¬ 
keit, durch Gründung von Heimstätten und Krankenhäusern Fürsorge für 
diese Phthisiker zu treffen. Einer anderen Forderung der weiteren Fürsorge 
für die aus den Heilstätten entlassenen Phthisiker durch rationelle Prophylaxe 
ist man seit längerer Zeit durch Gründung von Fürsorgestellen für Tuber¬ 
kulose und Tuberkuloseverdächtige nähergetreten. Endlich macht sich als 
eine sehr bedenkliche Lücke in diesen Bestrebungen der Tuberkulosebe¬ 
kämpfung das Fehlen von Mittelstandskrankenhäusern und -Sanatorien fühlbar. 

Das zweite Mittel der Allgemeinbehandlung ist die Freiluftkur. Es 
braucht nicht erst begründet zu werden, welchen Nutzen eine reine, staub¬ 
freie Luft für die kranke Lunge bringt, und wie wichtig es für den Lungen¬ 
leidenden ist, daß er den schädlichen Einflüssen von Wind und Wetter ent¬ 
zogen wird. Beiden Forderungen in ausgiebigster Weise gerecht zu werden, 
bezweckt nun die in den Heilstätten geübte Freiluftkur. Lage des Hauses, 
der Fenster, der Veranden und der Liegehallen müssen so gewählt sein, 
daß die Insassen möglichst gegen die Einflüsse des Wetters geschützt und 
damit in den Stand gesetzt sind, sich möglichst dauernd der freien Luft 
aussetzen zu können. Das Schlafen bei offenen Fenstern gehört zu den 
wichtigsten und wohltuendsten Maßnahmen, und die regelmäßige Benutzung 
der Veranden und Liegehallen auch bei schlechtem Wetter ist eine not¬ 
wendige Forderung, die allerdings erst erlernt und vorsichtig geübt sein 
will. Dazu gesellt sich nun in regelmäßigem Wechsel eine dem Krankheits¬ 
zustand und der Leistungsfähigkeit des Patienten genau angepaßte Be¬ 
wegung im Freien. Wiederum ist in den Anstalten Sorge getragen für eine 
leichte und zweckdienliche Ausführung dieser Körperbewegung. Die Garten¬ 
anlagen sind derart hergerichtet, daß bequeme und völlig ebene Wege mit 
einladenden Ruheplätzen kleine Spaziergänge von den Liegehallen aus er¬ 
möglichen. Sanft ansteigende Wege gestatten etwas größere Bewegung und 
auch für längere Wege ist selbstverständlich gesorgt. Dem Patienten kann 
täglich ein bestimmtes Maß von Bewegung zugemessen werden, und je 
nach seiner Leistungsfähigkeit und seiner Reaktion auf solche körperliche 
Anstrengungen können ihm bestimmte Wege« vorgeschrieben und ein all¬ 
mähliches Anwachsen seiner Leistungen erzielt werden. Von großer Be¬ 
deutung für längere Wanderungen besonders mit Terrainsteigungen ist es, 
daß der Nachhauseweg immer absteigende Richtung hat und bequemer und 
kürzer ist als der vorangehende Teil des Spazierganges. Denn so heilsam 
und anregend Bewegungen im Freien für den Phthisiker sind, so nutzlos 
und nachteilig sind ermüdende Touren und erschöpfende Überanstren¬ 
gungen. Die Zeiten der Gewaltkuren sind längst vorbei. Erzwingen läßt 
sich die Gesundheit nicht, die Leistungsfähigkeit des Organismus erfordert 
immer die genaueste Berücksichtigung, und nur durch harmonische An¬ 
passung der zu bewältigenden Aufgaben an die oft wechselnde Leistungs¬ 
fähigkeit des Phthisikers kommen wir dem Ziel näher. Solche Signale, die 
uns über die Energie des Organismus orientieren, gibt es eine ganze Reihe. 
Wer sich nur von dem Ermüdungsgefühl, von Unbehagen nach der Arbeit 


Digitized by 


Google 



Tuberkulose der Lungen. 


549 


von Pulsbeschleunigung und Temperatursteigerungen und anderen Folgen 
auch der leichtesten Überanstrengung leiten läßt, gleicht einem Kritiker, 
der alle Fehler und Folgen eines falschen Kurses genau notiert, aber niemals 
bessernd und fördernd eingreift. Die ärztliche Erfahrung muß die Leistungs¬ 
fähigkeit des einzelnen abzuschätzen versuchen, um Ruhe und Bewegung 
so abzustufen, daß kein Zuviel an Arbeit verlangt und geleistet wird und 
daß der Organismus doch durch regelmäßige Übung seine Kräfte stählt und 
seine Leistungsfähigkeit steigert. Jede Überanstrengung ist daher, auch 
wenn sie nur dem Arzt und nicht dem Patienten merkbar wird, als ein 
Nachteil für den Kranken zu betrachten und daher sorgfältig zu meiden. 
Wie weit dies dem behandelnden Arzt gelingt, ohne dem entgegengesetzten 
Extrem des völligen Verzichtes auf jede Anregung und jede Übung zu ver¬ 
fallen, ist Sache seiner Erfahrung und seiner ärztlichen Geschicklichkeit. 

Wirksam unterstützt und ergänzt wird diese Übung der Muskeln, mit 
ihrer Einwirkung auf Herz, Gefäßsystem und Verdauungsapparat, durch 
Gymnastik, Atemübungen und Massage, insbesondere dann, wenn sich die 
Bewegungen im Freien verbieten. Auch die günstige Wirkung einer Hyper¬ 
ämie ist durch zeitweise Tieflagerung des Oberkörpers auszunutzen ver¬ 
sucht worden, und neuerdings macht die KuHNsche Saugmaske viel von 
sich reden. In erster Linie müssen aber die Bestrebungen auf eine Abhärtung 
des Organismus gerichtet sein. Warme und durchlässige Kleidung sowie 
systematische Gewöhnung an Witterungsverhältnisse spielen hier eine Haupt¬ 
rolle, und durch sorgfältige Hautpflege mit allen Hilfsmitteln der Hydro¬ 
therapie muß auf die Funktionstüchtigkeit der Haut eingewirkt werden. In 
den allermeisten Fällen wird allerdings, zunächst wenigstens, eine schonende 
milde Behandlung am Platze sein, mit der Zeit können und müssen aber 
energischere Eingriffe vorgenommen werden. Immer gilt aber auch hier das 
Prinzip der Individualisierung und die Sorge, alle therapeutischen Maßnahmen 
gegen die verfügbaren Kräfte des Organismus abzustimmen. 

Die Neuzeit hat nun auch hier versucht, die ärztliche Kunst in ihre 
einzelnen Komponenten aufzulösen und durch Bearbeitung eines einzelnen 
Faktors ein objektives Mittel für die Beurteilung der Leistungsfähigkeit 
des Organismus zu gewinnen. So hat Koch versucht, die Agglutininbildung 
zu verwerten und als Maßstab für den Verlauf der Tuberkulose und als 
Wegweiser für therapeutische Maßnahmen zu benutzen. Indessen, diese Er¬ 
wartungen haben sich nicht bestätigt (Jürgens), und die Methode hat keine 
praktische Bedeutung mehr. Neuerdings hat nun eine andere Methode viel 
von sich reden gemacht und versucht, für die praktische Medizin Bedeutung 
zu gewinnen. In sehr sinnreicher Weise hat Wright eine Methode ausge¬ 
arbeitet, die es ermöglicht, das Vermögen des Organismus, auf Bakterien 
so einzuwirken, daß diese dem vernichtenden Einfluß der Phagozyten und 
der übrigen antibakteriellen Kräfte verfallen, zahlenmäßig festzustellen, und 
in dieser Bestimmung des opsonischen Index glaubt er ein sicheres und 
jederzeit anwendbares Mittel gefunden zu haben, die Kräfte des mensch¬ 
lichen Organismus im Kampfe gegen den tuberkulösen Infekt objektiv 
zu beurteilen. In konsequenter Weise führt Wright die Behandlung der 
Phthise auf die Art durch, daß er sich in allen therapeutischen Maßnahmen 
von den Schwankungen des opsonischen Index leiten läßt. Eine große Op¬ 
soninproduktion mit nachfolgendem Tiefstand gibt ihm das Signal, solche 
Bewegungen noch zu meiden, und jede außergewöhnliche Schwankung der 
Opsoninkurve mahnt nach Wright zur Vorsicht. Das ganze Verhalten des 
Phthisikers will er der Opsoninkurve angepaßt wissen, und alle Eingriffe 
sollen durch den opsonischen Index auf ihre Zweckmäßigkeit geprüft werden. 
Es unterliegt keinem Zweifel, daß diese sinnreiche Methode der Wissen¬ 
schaft neue Wege eröffnet und sehr interessante Einblicke in das Spiel 


Digitized by 


Google 



550 


Tuberkulose der Lungen. 


des pathologischen Geschehens zu gewähren verspricht; wer aber daran 
denkt, dem opsonischen Index eine Souveränität unter den Erscheinungen 
des normalen und pathologischen Lebens beizulegen, der verkennt die Ab¬ 
hängigkeit der einzelnen Faktoren voneinander und den Zusammenhang der 
gesamten Lebensvorgänge. Die praktische Bedeutung der Opsonintheorie 
kann am Krankenbett nicht anders beurteilt werden als die früher so sehr 
gepriesene und bald wieder völlig verlassene Anwendung der Agglutinin¬ 
kurve. Diese Antikörperbildung erfolgt im einen wie im anderen Falle auf 
bakterielle Reize, die Reaktion auf solche Reize, d. h. die Agglutinin- und 
Opsoninbildung, bestimmt aber der Organismus selbst. Die Schwankungen 
der Opsoninbildung bedeuten also nichts anderes für die Beurteilung der 
inneren Kräfte des Organismus als die Labilität des Pulses, die Reizbarkeit 
des Temperaturzentrums und andere Symptome, wonach der Praktiker bis¬ 
her den gesundheitlichen Stand zu beurteilen pflegte. Jede Bestrebung, auf 
den Phthisiker so einzuwirken, daß die Erscheinungen des gestörten Gleich¬ 
gewichtes verschwinden, muß als ein erfolgreiches therapeutisches Handeln 
angesehen werden, warum aber die Agglutinin* oder die Opsoninkurve mehr 
leisten soll als die Beobachtungsreihen anderer Symptome, ist nicht einzu¬ 
sehen, die wissenschaftliche Exaktheit bleibt im opsonischen Laboratorium 
zurück, wenn der Index dasselbe verläßt, um mit gleichartigen Faktoren 
im ärztlichen Urteil verwertet zu werden. 

Zu dieser Allgemeinbehandlung des Phthisikers gesellt sich nun die 
Sorge für eine ausreichende und zweckmäßige Ernährung. Eine Mästung 
der Schwindsüchtigen kann nach dem, was oben über die Heilungsbedin¬ 
gungen der Lungentuberkulose gesagt ist, nicht das Ziel einer rationellen 
Therapie sein und bringt durch die Beschwerden der Fettleibigkeit und 
durch Verdauungsstörungen eventuell Nachteile mit sich. Was angestrebt 
werden soll, ist ein leistungsfähiger Körper, und nur diesem Zweck soll 
die Ernährung dienen. Besonders muß darauf hingewiesen werden, wie eng 
der Erfolg diätetischer Maßnahmen mit der bereits besprochenen Bewegungs¬ 
und Freiluftkur verknüpft ist. Die geringe Eßlust mancher Phthisiker und 
die Verdauungsstörungen verschwinden in der Anstaltsbehandlung unter der 
Einwirkung all dieser sich gegenseitig unterstützenden Faktoren oft in auf¬ 
fallend kurzer Zeit, und im Verein vieler gleichgerichteter Bestrebungen 
wird oft erreicht, was früher trotz der gleichen Mittel nicht gelingen wollte. 
Auf einzelne Diätvorschriften kann hier nicht eingegangen werden, doch 
mag erwähnt werden, daß die Milch zwar eine große Rolle in der Ernährung 
des Lungenkranken spielt, daß aber eine übertriebene Milchkur kaum 
dauernde Vorteile bringt. Auch der Alkohol hat seinen Ruf als Allheil- und 
Sparmittel lange verloren, vielleicht ist es sogar nötig geworden, darauf 
hinzuweisen, daß er zur rechten Zeit mäßig genossen keine Nachteile, oft 
genug aber Anregung und Unterstützung bringt. Weit überschätzt werden aber 
auch heute noch die künstlichen Nährpräparate, sie sind vollständig entbehr¬ 
lich und leisten niemals das, was in ihren Anpreisungen versprochen wird 
und was mancher auf Grund der sogenannten wissenschaftlichen Gutachten 
von ihnen erwartet. 

Diese Allgemeinbehandlung der Lungentuberkulose ist zurzeit die 
leistungsfähigste Therapie, die wir haben, und sie wird immer, welche Wege 
die Zukunft uns auch weisen wird, ihre Bedeutung behalten. Nur eines darf 
nicht vergessen werden: Lungentuberkulose ist ein weiter Begriff und es 
gibt keine Behandlung der Lungentuberkulose. Bevor eine naturgemäße Be¬ 
handlung einsetzen kann, muß die Form und Art der Erkrankung festge¬ 
stellt sein. Es hat ebensowenig Sinn, eine floride, akute oder subakute Tu¬ 
berkulose in die Anstalt zu schicken, wie man von vorgeschrittenen Phthi¬ 
sikern mit unaufhaltsamen Destruktionsprozessen durch Allgemeinbehandlung 

Digitized by (j ooQle 



Tuberkulose der Lungen. 


551 


Erfolge erwarten kann. Diese Therapie paßt also nur für einen kleinen be¬ 
stimmten Teil der Phthisiker. Hier vermag sie aber erfolgreich einzugreifen 
and in nicht wenigen Fällen die Erkrankung zur dauernden Besserung und 
Heilung zu bringen. 

Symptomatische Behandlung . Neben diesen allgemeinen Prinzipien 
der Behandlung hat die Therapie der Lungentuberkulose in der Linderung 
und Beseitigung der Krankheitserscheinungen noch ihre besonderen Aufgaben. 
Schon oben wurde darauf hingewiesen, wie sehr der Erfolg einer allgemeinen 
Behandlungsmethode oft von kleinen Änderungen der Einzelerscheinungen 
abhängig sein kann; die symptomatische Therapie bildet daher immer einen 
wesentlichen Teil jeder Tuberkulosebehandlung. Leider liegt es aber in dem 
Wesen mancher Tuberkuloseformen begründet, daß sie einer Heilung und 
dauernden Besserung unfähig sind, so daß die Therapie sich auf die War¬ 
tung und Pflege des Kranken sowie auf den Versuch einer Linderung seiner 
Leiden beschränken muß. 

Schmerzen der Phthisiker erfordern immer eine besondere Rücksicht, 
weil sie manchmal Vorläufer einer Komplikation sind und fast immer auf 
den Gang des Verlaufes unvorteilhaft einwirken. Von medikamentöser Be¬ 
handlung darf nicht allzuviel erwartet werden, Antipyrin, Phenacetin, Pyramidon 
und die Salizylpräparate mögen gelegentlich versucht werden, mehr empfiehlt es 
sich, mit feuchten Umschlägen, Einreibungen, Massage, Senfpapier und Schröpf¬ 
köpfen auf die Schmerzempfindungen einzuwirken und vor allem einen Versuch 
mit Ruhigstellung der Stelle durch Heftpflasterstreifen zu machen. Mit Anwen¬ 
dung von Narkotizis ist selbstverständlich äußerste Vorsicht geboten. 

Fast alle Phthisiker klagen über Husten und Auswurf und verlangen 
Verhaltungsmaßregeln und Linderung der dadurch hervorgerufenen Beschwer¬ 
den. Zunächst ist hier eine pädagogische Behandlung am Platze, wie sie 
schon von Brehmer empfohlen wurde. Eine Unterdrückung des Hustens, der 
den Auswurf herausbefördern soll, wird damit nicht verlangt, aber auf jeden 
Reiz, jeden Kitzel und auf jedes unbehagliche Gefühl mit Husten zu ant¬ 
worten, kann auch zur schlechten Gewohnheit werden, und hier soll der 
Patient angehalten werden, solchen Reizen nicht immer gleich nachzugeben. 
Sehr bald wird er selbst merken, wieviel sich auf diese Weise tatsächlich 
erreichen läßt und wie der Hustenreiz nach dem Überwinden des ersten 
Kitzelgefühls bald ganz nachläßt. Im übrigen empfiehlt es sich, durch tiefe, 
langsame Inspirationen den Reiz zu überwinden oder einen Schluck heißen 
Wassers zu nehmen. Auch lindernde Pastillen (Salmiak, isländisches Moos, 
Bormentol) oder Emser und Sodener Salz können helfen, dürfen aber nicht 
gewohnheitsmäßig genommen werden. Handelt es sich um Reizzustände in 
den oberen Luftwegen, so können Inhalationen versucht und der Aufent¬ 
halt in Inhalationsräumen empfohlen werden. In vielen Fällen können in¬ 
dessen auch Narkotika nicht entbehrt werden, doch wird man nicht gleich 
zum Morphium greifen und lange mit dem viel ungiftigeren und gut wir¬ 
kenden Kodein auszukommen suchen. Auch die Expektoration läßt sich in 
gewissen Grenzen durch das Verhalten des Kranken beeinflussen. Eine ge¬ 
wisse Atemgymnastik wirkt günstig ein und von jeher ist vorsichtiges Berg¬ 
steigen (respektive Treppensteigen) 'als Mittel gegen zu lästigen Auswurf 
empfohlen worden. Bei der Kavernenphthise soll manchmal das Tieflagern 
des Oberkörpers Nutzen bringen und ganz allgemein wird der günstige 
Effekt der Hydrotherapie und einer kräftigen Frottage gerühmt. Unter den 
Medikamenten erfreuen sich die Ipekakuanha, das Apomorphin, die Salmiak¬ 
präparate und die Senegawurzel einer ausgedehnten Anwendung. Vor einem 
dauernden Gebrauch dieser Mittel muß indessen wegen der fast nie aus¬ 
bleibenden schädigenden Nebenwirkungen gewarnt werden, gelegentlich ge¬ 
geben, können sie indessen manchen Nutzen bringen. Auch Jodkali kann 


Digitized by 


Google 



552 


Tuberkulose der Lungen. 


versucht werden, und wo der Auswurf in großen Mengen entleert wird, tut 
die Einatmung von Terpentinöl, Eukalyptusöl und anderen ätherischen ölen 
gute Dienste. 

Eine besondere Besprechung erfordert die Behandlung des Blut¬ 
hustens. Schon beim ersten Auftreten blutgefärbten Auswurfes muß kör¬ 
perliche Ruhe gefordert und jede Schädigung, die eine Steigerung des Blut¬ 
druckes hervorrufen könnte, vermieden werden. Insbesondere bei plötzlich 
auftretenden stärkeren Lungenblutungen gehört auch die psychische Be¬ 
ruhigung zu den ersten ärztlichen Pflichten. Der Kranke wird zu Bett ge¬ 
bracht, bequem gelagert und erhält einen Eisbeutel auf die kranke oder 
vermeintlich kranke Brustseite. Jede Untersuchung muß unterbleiben, weil 
sie eventuell schaden kann und auf das therapeutische Handeln doch keine 
Einwirkung hat. Der Hustenreiz wird am besten gleich durch Narkotika gemil¬ 
dert, und zwar durch subkutane Morphiumeinspritzung, wodurch zugleich 
der Blutdruck herabgedrückt wird. Eine weitere Sorge besteht in der Rege¬ 
lung des Stuhlganges durch leichte Abführmittel oder Klistiere sowie in 
der Verordnung einer leichten, jede Magenüberladung vermeidenden Ernäh¬ 
rung. Auch heiße und kohlensäurehaltige Getränke sowie Alkohol müssen 
gemieden werden. Unter den Arzneimitteln genießt das Kochsalz einen alten, 
guten Ruf. Es vermag Flüssigkeiten anzuziehen, und die Theorie von der 
Eindickung des Blutes durch große Kochsalzgaben entbehrt somit nicht der 
tatsächlichen Unterlage. Andere Mittel, wie Plumbum aceticura, Secale cor- 
nutum, Ergotin und andere, werden besser ganz gemieden, ihr Erfolg ist 
höchst zweifelhaft und ein Nachteil nicht immer auszuschließen. Dagegen 
hat man den Terpentinpräparaten eine sichere Wirkung zugeschrieben, indem 
sie im Blute ein gerinnungsförderndes Ferment bilden sollen. Sehr viele 
Freunde hat sich in neuerer Zeit die Anwendung der Gelatine erworben, 
seitdem sie als »Gelatina sterilisata Merck« gebrauchsfertig in den Handel 
gebracht ist. Sie kann subkutan oder auch per rectum gegeben werden. 
Ein altes, aber auch in der neueren Zeit immer wieder empfohlenes Mittel 
besteht in dem Abbinden der Glieder (v. Dusch, G. Seitz, Weismayr und an¬ 
dere). Durch Umschnürung der Oberarme und Oberschenkel bis zur Stau¬ 
ung des venösen Rückflusses, bei unbehindertem arteriellen Zufluß, so daß 
der Kranke gleichsam in die abgeschnürten Glieder hineinblutet und seine 
Lunge außerordentlich entlastet, wird meist ein sofortiges Aufhören der 
Lungenblutung erzielt. Die Schnürung kann allerdings wegen der gewöhn¬ 
lich sehr bald sich einstellenden Unbequemlichkeiten und Schmerzen nicht 
lange bestehen bleiben und schon nach 1 / A oder 1 / i Stunde ist man ge¬ 
nötigt, die Binden wieder zu lösen. Von wesentlicher Bedeutung ist nun, 
daß diese Lösung nicht zu plötzlich geschieht, sondern ganz allmählich muß 
.eine Binde nach der anderen gelockert werden, damit der Blutdruck nicht 
auf einmal zu stark ansteigt und durch eine neue Blutung den ganzen Er¬ 
folg in Frage stellt. 

Zu den schwierigsten und undankbarsten Aufgaben gehört wohl die 
Behandlung des Fiebers. Es ist bereits erwähnt worden, wie sehr die Tem 
peratur von dem Allgemeinverhalten des Kranken abhängig ist und wie sehr 
allgemeine therapeutische Maßnahmen daher den Gang des Fiebers beein¬ 
flussen. Jeder fiebernde Kranke gehört ins Bett! Dies gilt sicherlich auch 
für den Lungenkranken und oft genug wird der Patient, der sich mit leich¬ 
tem oder höherem Fieber lange Zeit herumgeschleppt hat, Wunder erleben, 
wie plötzlich das Fieber bei absoluter Bettruhe von selbst schwindet. Auch 
die leichten, nur durch sorgfältige Messungen feststellbaren Temperaturer¬ 
höhungen der initialen Phthise verlangen eine strenge Bettruhe, ebenso wie 
alle akut auftretenden vorübergehenden Fieberzustände der chronischen 
Phthise. Überhaupt wird die Verordnung der Bettruhe beim fiebernden 


Digitized by 


Google 



Tuberkulose der Lungen. 


553 


Phthisiker gewissermaßen von der Prognose etwas abhängig sein, je mehr 
Aassicht auf Heilung vorhanden ist, desto strenger wird der Arzt die Bett¬ 
ruhe durchfahren, einem Schwerkranken gegenüber wird dagegen Nach¬ 
giebigkeit und Berücksichtigung des persönlichen Wohlbefindens des Pa¬ 
tienten mehr am Platze sein. Neben dieser ersten Forderung der Bettruhe 
muß auch für alle anderen Mittel gesorgt werden, die zur Entfieberung bei¬ 
tragen können. Hierher sind zu rechnen das Fernhalten jeder geistigen Ar¬ 
beit und jeder psychischen Aufregung, die ausgiebige Einwirkung der fri¬ 
schen, reinen Luft und eine gute Ernährung. Auf diesen letzten Punkt muß 
besonders hingewiesen werden. Sicher wäre es verkehrt, erst die Entfiebe¬ 
rung und dann eine Gewichtszunahme anstreben zu wollen, die Erfahrung 
hat gelehrt (Schröder), daß nicht selten bei dauerndem Fieber Gewichts¬ 
zunahme erzielt werden kann und daß alsdann auch das Fieber nachzulassen 
beginnt. Auch medikamentöse Fiebermittel können schon zur Beseitigung 
der lästigen Symptome des Fiebers nicht entbehrt werden und haben manch¬ 
mal eine glänzende Wirkung. Besonders das Pyramidon zeigt sich als ein 
sehr brauchbares Mittel und seine Anwendung führt nicht selten zu einer 
auch über den Pyramidongebrauch hinaus dauernden Entfieberung. 

Mit besonderer Sorgfalt muß die Behandlung auf Beseitigung der 
Nachtschweiße bedacht sein, unter denen die Kranken oft schwer leiden. 
Das Schlafen bei offenem Fenster und die Vermeidung allzu warmer Be¬ 
deckung wirken hier sehr günstig und bilden auch heute noch das beste 
Mittel gegen die Nachtschweiße. Eine andere, ebenfalls schon von Brehmer 
empfohlene Vorschrift geht dahin, daß man den Kranken vor dem Einschlafen 
im Bett ein Glas kalte Milch mit Kognak trinken läßt. In anderen Fällen 
müssen abendliche Abreibungen des ganzen Körpers mit Franzbranntwein 
oder Lysollösang versucht werden; als schweißhemmendes Mittel wird auch 
das Tannoform als Streupulver (1 Teil Tannoform, 2 Teile Talcum venet.) 
gerühmt. Von innerlichen Medikamenten ist seit alter Zeit der Salbeitee 
empfohlen, und als Mittel von sicherer Wirkung muß das Atropinum sulfu- 
ricum bezeichnet werden. Man verordnet Pillen von l / 4 mg oder einer halben 
Spritze einer Lösung von 0 01 : 10 0. Nicht so sicher hat sich das Agaricin 
in Dosen von 0*01—002 in Pillenform bewährt. Jürgens. 


Digitized by ^.ooQle 



Ultraviolette Strahlen« Ihre Einwirkung auf das Auge. Es ist 
eine schon seit einer Reihe von Jahren und heute allen Elektrotechnikern be¬ 
kannte Tatsache, daß an den Augen entzündliche Erscheinungen entstehen, 
wenn dieselben sich längere Zeit ohne Schutzvorrichtungen dem Lichte elek¬ 
trischer Bogenlampen aussetzen. Man hat sie unter dem Namen der elek¬ 
trischen Ophthalmie zusammengefaßt. Es entsteht außer Veränderungen an 
der Lidhaut, welche denen beim Erythema solare gleichen, Trockenheit, Sprödig¬ 
keit, dunkle Verfärbung und Abschuppung, eine sehr starke Blutüberfüllung 
der Bindehaut und des Augapfels, wässerige Chemose, epitheliale Verände¬ 
rungen der Hornhaut, Hyperämie der Iris, Verengerung der Pupille (es wurden 
sogar Synechien beobachtet), in seltenen Fällen Netzhautveränderungen im 
Bereiche der Macula lutea. Es tritt zuerst ein hartnäckiges Nachbild ein, selten 
bleiben positive Skotome zurück, immer ist starkes Tränen und Schleim¬ 
sekretion vorhanden und es gesellen sich heftige Schmerzen hinzu ; die Augen 
können wegen Lichtscheu nur schwer geöffnet werden. In 6—10 Stunden 
haben die Beschwerden ihren Höhepunkt erreicht, und lassen dann all¬ 
mählich nach. Von den genannten seltenen Ausnahmefällen abgesehen, 
tritt vollständige Heilung ein. Rezidive sind bei neuerlicher Einwirkung der 
Schädlichkeiten häufig. 

Man ist heute darüber einig, daß die ultravioletten Strahlen die 
Ursache der Ophthalmie sind. 

Nach den neuesten Untersuchungen von Schanz und Stockhalsbn ist 
die Wirkung der Lichtstrahlen auf das Auge folgende: Die sichtbaren Strahlen 
(760—400 aa) gelangen unverändert zur Netzhaut. Von den unsichtbaren, 
deren Wellenlänge 400—375 [/.u beträgt, wird ein Teil in der Linse in 
Fluoreszenzlicht umgewandelt, ein Teil wird von ihr verschluckt, ein 
größerer Teil aber gelangt bis zur Netzhaut und wird von dieser in Fluores¬ 
zenzlicht umgewandelt, zum Teil unverändert als lavendelgrau wahrgenommen. 
Strahlen von Wellenlänge 375 — 320 [/.(/. sind an der Fluoreszenz der Linse 
nur wenig beteiligt, werden von der Linse intensiv absorbiert und gelangen 
nur im jugendlichen Alter sehr abgeschwächt zur Netzhaut. Das Fluoreszenz¬ 
licht ist ein Reiz für die Netzhaut, es verschleiert das Netzhautbild, er¬ 
schöpft die Sehstoffe in der Netzhaut und bewirkt dadurch ihre raschere 
Ermüdung, wohl zu beachtende schädliche Momente, auch wenn sie nicht 
zu ernsteren Läsionen führen. Strahlen von geringerer Wellenlänge als 320 (X{i 
dringen nicht durch die Hornhaut, verursachen aber vor allem Entzündungen 
am äußeren Auge. 

Der Gehalt des Tageslichtes an ultravioletten Strahlen ist verschieden 
je nach der Tages- und Jahreszeit; er ist am größten, wenn die Sonne am 


Digitized by 


Google 



Ultraviolette Strahlen. 


555 


höchsten steht, er nimmt ferner zu mit zunehmender Meereshöhe — daher 
die Schneeblindheit auf Bergen, die Erythropsie an Wintertagen im alpinen 
Gebiet (Fuchs). 

Während die alten künstlichen Lichtquellen, Kerzen, öl- und Petroleum¬ 
lampen arm an den kurzwelligen Strahlen sind, nimmt ihre Menge mit der 
Vervollkommnung unserer Beleuchtungsindustrie immer zu. 

Nach den Untersuchungen von Schanz und Stockhausen haben die 
römische Olivenöllampe, die Walratkerze, die Stearinkerze, die Moderateur- 
lampe, der Petroleumschnittbrenner, der Gasschnitt-Argandbrenner keine 
ultravioletten Strahlen, wenige besitzen der Petroleumrundbrenner, die 
Petroleum- und Spiritusglühlampen, viel mehr das Gasglühlicht, Azetylen¬ 
lampen, sämtliche elektrischen Glühlampen (Kohlenfadenglühlampe, Tantal-, 
Nernst-, Zirkon-, Osram-, Kolloid-, WoLFRAM-Lampe), ungemein reich sind 
die Bogenlampen und die Quecksilberdampflampe. 

Unsere am häufigsten gebrauchten künstlichen Lichtquellen sind also 
reich an ultravioletten Strahlen. 

Die häufigen Klagen über Empfindlichkeit der Augen während des 
Arbeitens bei künstlichem Licht, welche bei Tageslicht vollkommen fehlt, 
über rasches Ermüden, über das Gefühl, daß das Licht auf das Auge drücke, 
alles dies in erhöhtem Grade, wenn bereits ein Bindehautkatarrh vorhanden 
Ist, sollen nach der Ansicht von Schanz von den ultravioletten Strahlen 
herrühren und die allerersten Anfänge des als Ophthalmia electrica be- 
zeichneten Krankheitsbildes sein. 

Birch-Hirschfeld hat mehrere Fälle beobachtet, bei welchen nach 
längerem Arbeiten mit der Quecksilberdampflampe (Heräuslampe, Uviol- 
lampe) perizentrale Farbenskotome für Rot und Grün auftraten, die sich 
im Laufe von mehreren Wochen zurückbildeten. 

Zur Netzhaut gelangt im allgemeinen nur wenig ultraviolettes Licht, 
da ein großer Teil von der Linse absorbiert wird. Man kann, wie bereits 
gesagt, beobachten, daß die Linse bei Bestrahlung mit ultraviolettem Licht 
fluoresziert, daß somit die unsichtbaren Strahlen sichtbar werden. Wird die 
Linse durch eine Operation entfernt, so fehlt diese Schutzvorrichtung. 
Es ist naheliegend daran zu denken, ob nicht die ultravioletten Strahlen 
eine Rolle beim Zustandekommen von Linsentrübungen haben. Nachdem 
Widmark, Schulek und Hess durch Belichtung mit ultraviolettem Licht 
experimentell Linsentrübungen erzeugt haben, nachdem Schanz frühzeitige 
Linsentrübungen bei einem Manne beobachtete, der 30 schwere elektrische 
Ophthalmien überstanden hat, nachdem man den Glasmacherstar mit der 
Lichteinwirkung in Zusammenhang bringt, ist es nicht absurd daran zu 
denken, ob nicht die Starbildung in irgend einem Zusammenhänge mit dem 
ultravioletten Lichte stehe. Doch ist in dieser Richtung die größte Reserve ge¬ 
boten. Bemerkt muß werden, daß in Ländern, in denen das Licht intensiver 
auf das Auge ein wirkt als bei uns, Starbildung häufiger vorkommt, zum 
Beispiel in Indien, wo der Star auch im Durchschnitt 10 Jahre früher zur 
Operation kommt als bei uns. 

Als Schutzvorrichtung gegen die schädliche Einwirkung der ultravioletten 
Strahlen hat man Glassorten angewendet, welche entweder zur Anfertigung 
von Brillen oder für Lampenzylinder, Lampenglocken und Kugeln oder als 
Birnen für elektrische Glühlampen verwendet wurden. 

Daß gewöhnliches Brillenglas die ultravioletten Strahlen nicht durch¬ 
lasse, wie man früher glaubte, ist experimentell erwiesen unrichtig. Vogt 
hat, alle farbigen Gläser verwerfend, ein von der Firma Schott u. Gen. 
in Jena bezogenes, ziemlich farbloses (schwach gelbliches), sehr stark blei- 
hältiges Schwerflintglas empfohlen, welches den weitaus größten Teil der 
ultravioletten Strahlen absorbieren soll. Schon vor Jahren hat Fieuzal gelb- 


Digitized by 


Google 



556 


Ultraviolette Strahlen. — Unfallkunde. 


grüne Gläser empfohlen, an deren Stelle Hallauer graugrüne Gläser gesetzt 
hat, welche die Firma Nitsch & Günther in Rathenow als »Hallauer Gläser« 
in den Handel bringt. 

Sehr ausführliche Untersuchungen haben Schanz und Stockhausen 
ausgefübrt und die Absorptionsgrenzen für zahlreiche Glassorten festgestellt. 
Nach diesen lassen alle Gläser, auch das Fieuzal- und das verwandte Enixanthos- 
glas, reichliche Mengen ultravioletter Strahlen passieren, das VoGTsche 
Schwerflintglas absorbiert nur in einer Dicke von 6—8 mm genügend. 

Sie haben ein gelbgrünliches Glas hergestellt und als Euphosglas in 
den Handel gebracht, welches die ultravioletten Strahlen vollständig absor¬ 
biert. Ich schreibe diesen Artikel bei Beleuchtung mit einem Gasglühlicht 
mit mattiertem Euphosglaszylinder ohne merkbaren Verlust an Lichtstärke 
und ohne daß die grünliche Färbung geniert. (Bezugsquelle für Brillen- 
und Tafelgläser Deutsche Spiegelglasgesellschaft Freden a. d. Leine, für 
Beleuchtungsgläser Gebrüder Putzier, Glashütten werke Penzig i. Schl.) 

Über die Schädlichkeit des ultravioletten Lichtes sind wohl alle 
Untersucher einig, Differenzen der Meinungen existieren nur betreffs der 
Notwendigkeit und der Art der Schutzmittel; am sichersten geht man jeden¬ 
falls, wenn man das bis jetzt unbestritten wirksamste Mittel, das Euphos¬ 
glas, empfiehlt. 

Literatur: Vogt, Erkrankaugen des Auges durch die ultravioletten Strahlen greller 
Lichtquellen und Schutz gegen dieselben durch ein neues, in ddnnen Schichten farbloses 
Glasmaterial. Arcb. f. Augenheilk , LX, Heft 2/9, 1908. — Hallauer, Einige Gesichtspunkte 
für die Wahl des Brillenmaterials. Sitzungsbericht der Ophthalmolog. Gesellsch. Heidelberg 
1907. Wiesbaden 1908. — Schanz und Stockhausen, Wie schützen wir unsere Augen vor 
der Einwirkung der ultravioletten Strahlen unserer künstlichen Lichtquellen? v. Grakfks Arch. 
f. Ophthalm., LXIX, 1, 1908. — Dieselben, Über die Wirkung der ultravioletten Strahlen 
auf das Auge. Ebenda, LXIX, 3, 1908. — Dieselben, Die Schädigung der Augen durch 
Einwirkung ultravioletten Lichtes, und: Ist durch das ultraviolette Licht der modernen 
künstlichen Lichtquellen eine Schädigung der Augen zu befürchten? Elektrotechnische Zeit¬ 
schrift. 1908. — Schanz, Demonstration des durch ultraviolette Strahlen zu erzeugenden Lid¬ 
schlußreflexes und der durch die Strahlen veranlaßten Fluoreszenz der Linse. Sitzungsber. 
d. Ophthalm. Gesellsch. in Heidelberg 1908. Wiesbaden 1909. — Dieselben, Über Blendung, 
v. Graefes Arch. f. Ophthalm., LXXI, 1, 1909. — Birch-Hirscbfeld, Weiterer Beitrag zur 
Schädigung des Auges durch ultraviolettes Licht. Zeitschr. f. Augenheilk., XX, Juli 1908. 
— Derselbe, Zur Beurteilung der Schädigungen des Auges durch leuchtende und ultra¬ 
violette Strahlen. Klin. Monatsbl. f. Augenheilk., XLV1I, 1909, Juli. — Best, Klin. Monats¬ 
blätter f. Augenheilk., XLVII, 1909, Mai. r. Beass. 

Unfallktmde. 1. Ärztliche Versorgung der frisch Ver¬ 
letzten. Während bisher in der Unfallheilkunde der Nachdruck zumeist auf 
die Beseitigung der nach Unfällen zurückbleibenden Beschwerden und Ver¬ 
änderungen gelegt wurde, ist neuerdings mehr das Interesse für die Ver¬ 
hütung von Unfällen und für die erste Behandlung in den Vordergrund 
getreten. Mit Recht, weil die »Nachbehandlung«, wie man sich ausdrückt, 
wenig erfreuliche Resultate erzielt hat und weit mehr von einem principiis 
obsta zu erwarten ist. Wenn die erste Behandlung eine richtige und erfolg¬ 
reiche gewesen ist, so fällt eben die Nachbehandlung von selbst fort. Die 
Unfallneurosen bilden noch immer ein unerfreuliches Kapitel innerhalb der 
Unfallversicherungsmedizin. Mir liegt ein Bericht vor von Professor Wind¬ 
scheid 1 ) aus der Unfallnervenklinik Stötteritz bei Leipzig über das Jahr 1908. 
Dort befanden sich unter 1008 Aufnahmen 362 an Nervenschwäche und 
275 an Hysterie Leidende. Von den 1008 Patienten blieben 333 ohne Ver¬ 
änderung durch die Behandlung. Also 33%, wenn man alle Aufgenommenen 
mitrechnet, und über 50% , wenn man nur die Unfallneurosen in Betracht 
zieht, dabei immer noch ein ganz gutes Resultat. Und ebenso schlimm wie 
in der Neurologie sieht es auch bei den Orthopäden aus, wenn man an die 
Erfolge der Nachbehandlung denkt. Die Versteifungen der Gelenke, die 
Muskelschwäche, die Funktionsuntüchtigkeit werden selten, wenn sie längere 


Digitized by 


Google 



Unfallkunde. 


557 


Zeit als Unfallfolgen bestanden haben, beseitigt oder gebessert, weil eben 
der Wille des Patienten fehlt and die beträchtliche Rente den Wunsch, ge¬ 
sund zu werden, unterdrückt. 

Darum richten sich die Bestrebungen sowohl der Ärzte wie der Be¬ 
hörden, vor allem des Reichs Versicherungsamtes darauf, die Beruf s- 
genossenschaften zur frühzeitigen Über nähme der ärztlichen Be¬ 
handlung der Unfallverletzten zu veranlassen, zu der sie bisher nach dem 
Gesetze nur berechtigt, aber nicht verpflichtet sind. Sobald erst die 13 Wochen 
der Karenzzeit verstrichen sind, in denen die Krankenkasse mit ihren ge¬ 
ringen Mitteln die Behandlung bestreitet, sind häufig die Folgen schon so 
erheblich, daß dann auch die beste Nachbehandlung vergeblich ist und jeden¬ 
falls große Unkosten zur Beseitigung der Funktionsuntüchtigkeit erforderlich 
werden. Durch eine Umfrage, die der Präsident des Reichsversicherungs- 
amtes Dr. Kaufmann veranlaßt hat, ist festgestellt worden, wie Geheimrat 
Dr. Klein 2 ) berichtet, daß nur in 1*89% der Fälle die gewerblichen Berufs¬ 
genossenschaften und in 1*83% die landwirtschaftlichen im Jahre 1907 
innerhalb der ersten 13 Wochen das Heilverfahren übernommen haben. Nur 
einzelne Berufsgenossenschaften machen eine Ausnahme, zum Beispiel die 
Papierverarbeitungsberufsgenossenschaft, die 38*98%, die Posensche landwirt¬ 
schaftliche Berufsgenossenschaft, die 12*65% auf weist. Der Herr Präsident 
des Reichsversicherungsamtes will daher zu erwirken suchen, daß die früh¬ 
zeitige Übernahme des Heilverfahrens durch die Berufsgenossenschaften ge¬ 
setzlich verlangt wird. Dies hat er selbst in einer Sitzung des Deutschen 
Vereins für Versicherungswissenschaft am 12. Mai 1909 ausgesprochen. 

Die ärztliche Versorgung der frisch Verletzten war der Hauptgegen¬ 
stand der Besprechung in dieser Sitzung, sie bildete einen Teil der Vorträge 
auf dem Ende Mai 1909 in Rom tagenden 11. internationalen Kongreß für 
Unfallmedizin und stellte auch eine Frage dar iu einem von Herrn Dr. Rigler 
an viele Ärzte versandten Fragebogen. Es handelt sich hierbei um zweierlei, 
einmal um die erste Hilfe bei Unfällen und dann um die Frage der Heil¬ 
stättenbehandlung. 

Die Träger der Unfallversicherung haben sich schon seit lange die Ver¬ 
hütung der Unglücksfälle und die zweckmäßige erste Hilfe angelegen sein 
lassen. Die Leistungen der Berufsgenossenschaften auf diesem Gebiete hat 
Regierungsrat Dr. Stöcker 8 ) zusammengestellt. Die Normal-Unfallverhütungs¬ 
vorschriften aus dem Jahre 1896 empfehlen folgende Anordnungen: 1. In 
jedem Betriebe ist mindestens eine Tafel auszuhängen, auf der die erste 
Hilfeleistung bei Unfällen allgemein beschrieben und durch entsprechende 
Abbildungen soweit erforderlich erläutert ist. 2. In jedem Betriebe ist das 
notwendigste Verbandmaterial vorrätig zu halten und zum Schutze gegen 
Verunreinigung durch Staub, unreine Hände usw. zweckentsprechend aufzu¬ 
bewahren. 3. Der Arbeiter hat dafür Sorge zu tragen, daß jede Wunde, 
auch wenn sie noch so geringfügig erscheint, sofort gereinigt und gegen 
das Eindringen von Staub und sonstigen Unreinlichkeiten sorgfältig geschützt 
wird. 4. Jede im Betriebe erhaltene Verletzung ist von dem Verletzten, so¬ 
bald er hierzu imstande ist, an zuständiger Stelle zu melden. 5. Solange 
die Verletzung nicht mindestens durch einen Notverband geschützt ist, hat 
der Verletzte die Arbeit zu unterbrechen. Außerdem haben die verschiedenen 
Berufsgenossenschaften für die in ihren Betrieben oft vorkommenden Ver¬ 
letzungen besondere Vorschriften, zum Beispiel für Augen- und für Finger- 
verletzungen. Ebenso ist für den ersten Transport Sorge zu tragen, der 
häufig das Schicksal des Kranken entscheidet. Generalarzt Dr. Düms 4 ) hat 
sich um die Verbesserung der ersten Hilfe bei Unfällen verdient gemacht. 
Er hat eine Sammelforschung vorgeschlagen, die sich auf folgende Punkte 
beziehen soll: 1. Auf die Art der direkten körperlichen und psychischen 


Digitized by 


Google 



558 


Unfallkunde. 


Schädigungen infolge von Massenverunglttckongen nach der besonderen Eigen¬ 
art dieser. 2. Auf den Erfolg ärztlicher Maßnahmen bei den Verunglückten. 
3. Auf Vorschläge, das ärztliche Eingreifen wirksamer zu gestalten. Diese 
Fragebogen sollen für den III. internationalen medizinischen Unfallkongreß, 
der 1911 in Düsseldorf stattfinden wird, bearbeitet werden. 

Die zweite Frage nach der Heilstättenbehandlung der Unfallverletzten 
ist eine brennende mit bezug auf die frühzeitige Übernahme des Heilver¬ 
fahrens durch die Berufsgenossenschaften. Denn man muß diesen sagen 
können, was sie zu tun haben, um eine schnelle Heilung der Verletzung 
und die völlige Beseitigung der Funktionsstörung zu erzielen. Vulpius 5 ) sagt 
hierüber: »die ärztliche Behandlung Unfallverletzter muß dort stattfinden, 
wo die Heilbedingungen am günstigsten sind. Erstbehandelnder Arzt ist unter 
den heute bestehenden Verhältnissen selbstverständlich der praktische Arzt 
in der Mehrzahl der Fälle. Eine Prüfung der Sachlage von Fall zu Fall 
durch den berufsgenossenschaftlichen Arzt ist indessen angezeigt. Versicherte 
Verletzte werden am zweckmäßigsten in eigenen Unfallkrankenhäusern 
ambulant und stationär behandelt, welche von den Berufsgenossenschaften 
nach territorialen Gesichtspunkten erbaut werden und welche neben der 
chirurgischen Hauptstation Spezialabteilungen für die übrigen in Betracht 
kommenden Disziplinen besitzen. Aus Verwaltungsgründen empfiehlt es sich, 
solche Krankenhäuser am Sitz berufsgenossenschaftlicher Behörden zu er¬ 
richten«. Auf die von mir 6 ) erwähnte Umfrage von Dr. Riglbr Hefen 
270 Antworten ein, davon sprachen sich 247 für die Unterbringung der 
Verletzten in Krankenhäusern und spezial ärztlich geleiteten Anstalten aus. 
Die übrigen lehnten eine Antwort ab, zum Teil mit der Begründung, daß 
in den Unfallkrankenhäusern die Gefahr der psychischen Infektion bestehe, 
also der Suggestion und Simulation. Aber auch die anderen Herren halten 
zumeist allgemeine Krankenhäuser für ausreichend, in denen allerdings be¬ 
sondere Vorkehrungen für die Behandlung der Verletzten vorhanden sind, 
also medico-mechanische Apparate, Heißluftapparate, elektrische, Röntgen¬ 
apparate und geeignete Vorrichtungen für Kaltwasserbehandlung. Die Patienten 
sollen nicht zusammen, sondern unter den anderen Patienten verteilt liegen. 
Hierdurch würde am besten die Gefahr einer Belehrung der neu Ankommenden 
durch ältere Rentenempfänger vermieden werden. Andrerseits sind spezielle 
chirurgische Kliniken durchaus nicht immer für die Behandlung von Unfall¬ 
kranken geeignet, weil einmal die Geduld, oft auch das richtige Verständnis 
für diese Kranken fehlt, dann aber überhaupt nur ernstere und besonders 
interessante operative Kranke dort gern und mit entsprechender Sorgfalt 
behandelt werden. Liniger 7 ) sagt, man wolle den Kliniken erst dann ver¬ 
sicherte Verletzte überweisen, wenn die Leiter sich mit den versicherungs¬ 
technischen Fragen genügend vertraut gemacht haben. Auch ThSbault«) 
warnte vor den Hospitälern, weil das chirurgische Personal nicht die richtige 
Aufmerksamkeit den Versicherten widme. Hier ist sicher ein wunder Punkt 
vorhanden. Die moderne Chirurgie ist von dem Vorwurf nicht frei zu sprechen, 
daß sie es hat geschehen lassen, daß die Unfallmedizin, ein ursprünglich 
rein chirurgisches Gebiet, ihr entrückt ist und weit mehr von den inneren 
Medizinern, den Neurologen und Orthopäden als von den Chirurgen selbst 
gepflegt und wissenschaftlich gefördert wird. Das ist aber nicht nur aus 
wissenschaftlichen Gründen ein Fehler, sondern weit mehr noch aus prak¬ 
tischen. Die chirurgischen Kliniken sind eigentlich für die Behandlung der 
versicherten Verletzten, auch nach der psychischen Seite am geeignetsten. 
Hier herrscht eine freudige, zuversichtliche Stimmung, hier wird die Diagnose 
am bestimmtesten gestellt, hier werden die meisten Fälle durch die Kunst 
des Arztes geheilt, hier ist daher auch die Dankbarkeit der Patienten ge¬ 
wöhnlich am größten. Kurz, das ganze Milieu ist so recht geeignet, alle ln 


Digitized by ^.ooQle 



Unfallkunde. 


559 


dem Versicherten aufkeimenden Vorstellungen zurückzudrängen und ihn 
mit froher Zuversicht, ich möchte sagen, mit dem Ehrgeiz, schnell gesund 
zu werden, zu erfüllen. Die Chirurgen müssen freilich zu diesem Zwecke 
die Patienten regelmäßig sehen, sie besonders beachten und nicht als Kranke 
zweiten Grades behandeln, nur weil sie kein operatives Leiden darbieten. 
Diese Patienten halten ihre Leiden für ebenso wichtig, wie das ihres nicht 
verletzten Nachbars und sind in der Gewalt ihrer suggestiven Vorstellungen, 
wenn sie glauben, daß ihre Verletzung wegen mangelhafter Beobachtung 
nicht gut heilen kann. 

Die Augenkranken sollten nach der übereinstimmenden Meinung aller 
Berufsärzte sofort in ein Spezialkrankenhaus gebracht werden. Denn aus 
der leichtesten Augenverletzung kann sich oft das ernsteste Leiden ent- 
wickeln. Für Ohrenkranke ist eine spezialistische Krankenhausbehandlung 
zumeist nicht im ersten Augenblick erforderlich. 

Wie schon hervorgehoben, ist die Frage im Grunde eine Personen¬ 
frage. Wo der praktische Arzt tüchtig und in chirurgischen Dingen erfahren 
ist, kann man ihm getrost die erste Behandlung und die Entscheidung über¬ 
lassen, wann der Patient in eine Anstalt zu schicken ist und in welche. 
Wo die Voraussetzung aber nicht zutrifft, ist sicher der erstbehandelnde 
Arzt ein wesentliches Hindernis für eine glatte Heilung. 

Was die Art der Verletzungsfälle anbetrifft, die sich zur sofortigen 
Unterbringung in Krankenanstalten eignen, so sind die Meinungen hier ver¬ 
schieden. Einige sagen: alle schweren Fälle, die operative Eingriffe er¬ 
fordern, alle Fälle, in denen die Funktion gefährdet erscheint, in denen die 
Diagnose schwierig, Narkose erforderlich ist, die Gelenke, die Sinnesorgane, 
die Zentralorgane des Nervensystems betroffen sind. Bei Blutungen, Bewußt¬ 
losigkeit, bei komplizierten Brüchen, bei Verletzungen an den Händen, am 
Becken, an den unteren Extremitäten. Auch wenn Verdacht auf Simulation 
besteht. Die Kranken sind übrigens auch gewöhnlich in den Krankenhäusern 
geneigter, einen verbessernden operativen Eingriff zuzulassen, so daß dort 
eine intensivere Ausnutzung des Heilverfahrens möglich ist. Dr. Klein führt 
das Gutachten eines der vom Reichsversicherungsamte befragten Ärzte an: 
»Was zunächst die Auswahl der richtigen Fälle anbetrifft, so läßt sich 
darüber etwas allgemeines nicht sagen. Es kommt hierbei auf die Eigenart 
der Verletzung und nicht zum mindesten darauf an, welchen ärztlichen 
Stellen die erste Behandlung zugefallen ist. 

Eine Reihe der hiesigen Berufsgenossenschaften läßt sich hierbei von 
uns beraten. Sie übersendet uns wöchentlich ein- oder zweimal alle ein¬ 
gegangenen Unfallmeldungen; wir sind dann in der Lage, je nach der Art 
der Verletzung und, soweit er uns bekannt ist, nach den Leistungen des 
zugezogenen Arztes, ihnen wegen der frühzeitigen Übernahme des Heilver¬ 
fahrens zu raten .... Leider werden die Berufsgenossenschaften und ihre 
Verletzten dadurch nicht selten erheblich geschädigt, daß der behandelnde 
Arzt sich über die Art der Verletzung und über die voraussichtlichen Re¬ 
sultate seiner Maßnahmen ein nicht richtiges Bild gemacht hat.« 

Wenn wir das vorliegende Material ins Auge fassen, muß man zu folgenden 
Schlüssen kommen: 1. Die sachgemäße erste Behandlung ist entscheidend für die 
glatte Heilung des Unfalls und für das funktionelle Resultat. Sie ist zugleich das 
wichtigste Mittel gegen das Auftreten von Neurosen. 2. Die beste sach¬ 
gemäße Behandlung ist für alle irgend erheblichen Verletzungen nur in einer 
Heilanstalt zu erreichen. Verletzungen an den Augen dürfen nur in spezial¬ 
ärztlich geleiteten Krankenhäusern behandelt werden, Nervenleidende mög¬ 
lichst früh in Nervenkliniken. 3. Die Kontrolle der Verletzten durch die Ver¬ 
trauensärzte der Berufsgenossenschaften soll sobald als möglich einsetzen. 
4. Die praktischen Ärzte müssen sich durch besondere Ausbildung für die 


Digitized by ^.ooQle 



560 


Unfallkunde. 


sachgemäße Beurteilung und Behandlung der Verletzten vorbereiten. Im 
allgemeinen sollen sie unter Verzicht au! die erste Behandlung der schweren 
Verletzungen durch frühzeitige Entlassung des Verletzten aus den Anstalten 
und Übernahme deren Nachbehandlung entschädigt werden. 5. Es ist mit 
aller Macht anzustreben, daß die Unfallmedizin wieder zur Chirurgie zurück- 
geführt wird, deren eigentliches und alleiniges Gebiet sie darstellt. Die großen 
chirurgischen Kliniken sollten durch Anstellung von Assistenten, die in der 
Orthopädie und in der Neurologie geschult sind, den Besonderheiten der 
Unfallmedizin gerecht werden und die hauptsächlichsten Lehrstellen der 
Unfallchirurgie, auch der für versicherte Verletzte, darstellen. 

2. Prognose der Unfallnenrosen und Einfluß der Entschädi¬ 
gungsart auf ihren Verlauf. Es wurde eben ausgeführt, daß man durch 
eine sachgemäße Behandlung der Verletzten von Anfang an am besten den 
Unfallneurosen entgegenarbeiten könne. Darum ist aber natürlich nicht dieses 
schwierigste Kapitel in der ganzen Unfallheilkunde erledigt. Es wird immer 
schwere Fälle von Neurosen geben, die trotz aller Vorsicht sich entwickeln, 
und daher wird die Frage noch lange eine der wichtigsten auf diesem Ge¬ 
biete bleiben: wie hat man die Neurosen nach Unfällen zu beurteilen und 
wie kann man ihren Verlauf beeinflussen? Förster 9 ) schildert die Aufgaben 
der psychischen Behandlung folgendermaßen : »Ist einmal ein Unfall einge¬ 
treten, so ist alles zu vermeiden, was zu psychischen Aufregungen führen 
könnte. Hierbei ergibt sich eine große Verantwortung für den Arzt, denn 
durch eine unvorsichtige oder unbedachte Äußerung bei der ersten Unter¬ 
suchung nistet sich leicht bei dem labilen Gemütszustand des Verletzten 
eine Angst- oder Beeinträchtigungsvorstellung dauernd fest, die zu einer 
überwertigen Idee und zu immer weiter um sich greifenden Beeinträchtigongs- 
vorstellungen führen kann. Es bildet sich in solchen Fällen ein Gemütszu¬ 
stand aus, der den von Wernicke beschriebenen Autopsychosen auf Grund 
einer überwertigen Idee im Anschluß an ein effektvolles Erlebnis entspricht. 
Unter Autopsychose versteht Wernicke eine krankhafte Veränderung des 
Persönlichkeitsbewußtseins, wobei die Beurteilung der Welt, soweit sie mit 
den persönlichen Erlebnissen nicht direkt in Beziehung steht, intakt bleibt. 
Bei den uns interessierenden Fällen ist das effektvolle Erlebnis der Unfall. 
Die überwertige Idee entsteht im Anschluß an eine Äußerung des Arztes, 
die dieser ganz harmlos gemeint haben kann, zum Beispiel »da müssen die 
sich sehr vorsehen — da kann etwas Zurückbleiben — das ist eine schwere 
Erkrankung usw.« Eine derartige Äußerung vergißt der empfängliche Kranke 
nie, er kommt immer wieder auf sie zurück, benutzt sie, um alle Einwürfe 
zu entwaffnen, spinnt immer neue angstvoll gefärbte Gedanken an sie an 
und macht im Anschluß an sie immer neue Beobachtungen, die beweisen, 
daß man ihn mißversteht, falsch beurteilt, benachteiligt.« 

Biondi 10 ) schildert die posttraumatische Neurose als eine von psychischen 
wie physischen Traumen bewirkte Neurasthenie, die sich von der gewöhn¬ 
lichen Neurasthenie nur durch die besondere Gruppierung und Lokalisation 
der Symptome unterscheidet. Die überangestrengten Arbeiter sind die Kan¬ 
didaten der traumatischen Neurosen. Er hält die frühzeitige Wiederaufnahme 
einer graduierten, dem Kräftezustand des Verletzten entsprechenden Arbeit 
für das beste Mittel zur Heilung der Neurosen. Der Schadenersatz soll 
möglichst in der Kapitalabfindung bestehen und die beste Prophylaxe sieht 
Biondi in einer guten sozialen Fürsorge für die Arbeiter, um die Ursachen 
der Überanstrengung zu bekämpfen. 

Tamburini n ) unterscheidet streng die organischen Formen von den 
funktionellen. Er macht darauf aufmerksam, daß von den Symptomen zwar 
einzelne echt, aber gleichzeitig andere vorgetäuscht sein können. Ollivb 
und LeMeignen 12 ) halten diejenigen Formen für prognostisch ungünstig, in 


Digitized by 


Google 



Unfallkunde. 


561 


denen die Saggestion in einer vorg&ngigen Verletzung eine Stütze hat und 
hiervon Narben oder Deformationen zurückgeblieben sind. Gleichfalls ungünstig 
sind die mit Alkoholismus und Arteriosklerose kombinierten Formen. In den 
Fällen mit geringer organischer Veränderung und bei ganz glatter Heilung 
der Verletzung erscheint den Autoren die Prognose der posttraumatischen 
Neurosen durchaus günstig. 

Brissauo und Oettinger 13 ) unterscheiden gleichfalls die organischen 
von den funktionellen Neurosen. Brissaud hält noch energisch an der Eigen¬ 
art der posttraumatischen Neurosen fest und empfiehlt die Bezeichnung 
Sinistrose, die wie ähnliche Namen, zum Beispiel Traumasthenie, von anderer 
Seite, wie Thiem und den meisten deutschen Ärzten, verworfen werden. 
Brissaud macht darauf aufmerksam, daß die Neurosen seit Einführung der 
Unfallgesetze häufiger geworden sind und daß sie eher bei leicht verletzten 
Arbeitern als nach schweren Verletzungen beobachtet werden. Die Ursache 
der funktionellen Formen ist die Autosuggestion. Diese wird erweckt durch 
den Kleinmut des Verletzten und die Überzeugung, daß er auf einen er¬ 
heblichen Schadenersatz Anspruch habe. Die Suggestion kann ein vollkommen 
klinisches Bild vortäuschen mit verschiedenartigem Verlauf, mit Affektionen 
jeder Art und jeden Sitzes. Das Beste ist wiederum schnelle Abfindung auf 
Basis einer geringen Arbeitsbehinderung. Die Prognose der organischen 
Formen ist weit ernster. Bei ihnen muß man höhere Summen bewilligen, 
was zwar nicht die ganze Krankheit zur Heilung bringen, aber doch einige 
neben der tieferen Störung vorhandene psychische Symptome beseitigen wird. 
Die Ansicht von G. Lumbroso 14 ) über diese Frage deckt sich mit der der 
meisten Autoren. Das System der Renten und die Möglichkeit der Revision 
ist für die Patienten schädlich. Arbeit und schnelle Kapitalabfindung ist das 
beste Mittel zur Heilung der leichteren Neurosen. Auch Windscheid 15 ) faßt 
die Unfallneurosen als eine Erkrankung des Zentralnervensystems mit noch 
unbekannter Grundlage auf, die aber keinesfalls organischer Natur sein kann. 
Ohne Rente gibt es nach Windscheid keine posttraumatischen Neurosen, 
die ja bei Offizieren, Studenten, Artisten fast nie beobachtet werden. Die 
Begehrungsvorstellungen bilden einen integrierenden Bestandteil der Unfall¬ 
folgen, genau wie ein Knochenbruch oder eine andere sichtbare Verletzung. 
Die Renten müssen in den leichteren Fällen, besonders im Anfang nicht zu 
hoch sein, weil sie sonst die Begehrlichkeit noch mehr steigern. Die Kosten- 
losigkeit der Berufungen ist ein großer Fehler. Man sollte, wie Windscheid 
empfiehlt, im Falle der Ablehnung die Kosten dem Arbeiter auferlegen. Bei 
der jetzigen Sachlage wird der Versicherte durch die Kostenlosigkeit zum 
beständigen Rentenkampfe angeregt, während er sonst durch die etwaigen 
Unkosten davon abgeschreckt würde. Die Abfindung wäre sehr zu empfehlen. 
Aber diese Form der Entschädigung wäre noch nicht genügend klar ge¬ 
stellt. Aach könnten sich dann Kapitalabfindungsneurosen entwickeln, wenn 
nämlich die Versicherten unzufrieden mit der erhaltenen Summe sind. Daher 
müßte jedenfalls die Abfindung unwiderruflich bleiben. In vielen Fällen würde 
eine entsprechende Kapitalabfindung aber sicherlich auf die Heilung der 
Neurosen günstig wirken. Selbstverständlich wird auch die Arbeit als ein 
wichtiges Mittel zur Beseitigung der krankhaften Vorstellungen von Wind¬ 
scheid dringend empfohlen. 

Wimmer leugnet auf Grund seiner Erfahrungen die Gefahr einer Ab¬ 
findungsneurose. In Dänemark scheint man allerdings nur die leichteren 
Formen der posttraumatischen Neurosen zu beobachten. Denn es waren 
dort nur 104 Fälle in den Jahren 1898—1902 behandelt worden. Die ein¬ 
malige Abfindung ist in Dänemark obligatorisch, demnach auch das normale 
Verfahren für die Neurosen. Nach Ablauf eines Jahres muß die Summe 
ausbezahlt werden, selbst wenn das Heilverfahren nicht erledigt ist. Da das 

Encyclop. Jahrbücher. N. F. VIII. (XVII.) 361 

Digitized by VrrOOV?L6 



562 


Unfallkunde. 


bei den Neurosen nicht der Fall za sein pflegt, so gilt hierfür die zwei¬ 
malige Kapitalentscbädigung, das heißt eine vorläufige Abfindung, wenn die 
Behandlung einen gewissen Abschluß erreicht hat, oder nach Ablauf eines 
Jahres; und eine zweite, wenn das Leiden nach 1—2 Jahren noch nicht 
beseitigt ist. Das Verfahren wird dann wieder auf genommen und letzt eine 
dem bestehenden Zustande entsprechende Summe als letzte Leistung aus- 
gezahlt, während die zweite Zahlung natürlich fortfällt, wenn das Leiden 
geheilt ist. Von den 104 Fällen wurden 54 durch die erste Kapitalabfindung 
erledigt. 16 Fälle blieben ungeheilt, auch nach der zweiten Auszahlung, 
44 Fälle wurden durch die zweite Abfindung geheilt. Wimmer macht einen 
Unterschied zwischen den reinen und den komplizierten Neurosen. Von den 
16 ungeheilten Fällen waren alle mit Arteriosklerose und anderen Krank¬ 
heiten kompliziert. Wimmer sieht in dem Verfahren das beste Mittel zur 
Bekämpfung der posttraumatischen Neurosen. In Deutschland wird es schwer 
sein, dies Verfahren so allgemein anzuwenden bei den hier so viel häufigeren 
Fällen. Ich habe selbst eine Oenesungsprämie zur Verhütung der Neurosen 
empfohlen. Da, wie wiederholt ausgeführt, die Vorstellung bei der Entste¬ 
hung der posttraumatischen Neurosen eine so große Rolle spielt, nämlich 
die Vorstellung von der Schwere der Erkrankung, und da hierdurch auch 
der Gedanke und die Erwartung einer hohen Rente erzeugt wird, so soll 
man die Gedankenriohtung des Verletzten umwandeln. Er soll, statt an seine 
Krankheit und an die voraussichtliche Invalidität zu denken, sich mit seiner 
Heilung beschäftigen. Dies wäre möglich, wenn man — namentlich bei typt* 
sehen Verletzungen — auf die prompte Heilung eine Prämie setzen würde. 
Ich gehe dabei von der Erwägung aus, daß die meisten Verletzten durch 
Verzögerung der Arbeitsaufnahme doch eine weit über die normale Dauer 
der Heilung hinausgehende Zeit ihre Rente empfangen. Man würde ihnen 
also in Wirklichkeit gar nicht mehr geben, als sie gewöhnlich so wie so 
beanspruchen. Man würde ihnen aber das gutwillig und gewissermaßen als 
Belohnung gewähren, was sie bisher nur durch eine Art von Täuschung er¬ 
halten haben, indem sie sich arbeitsunfähiger hinstellten, als es wirklich der 
Fall war. Der Vorteil liegt demnach in der moralischen Einwirkung auf den 
Verletzten, der zur Hoffnung auf die Genesung angeregt wird, die für ihn 
mit einem besonderen Vorteil verbunden wird. Er wird alle empfohlenen 
ärztlichen Verordnungen gerne ausführen. Denn je früher er arbeiten 
kann, desto länger erhält er die freiwillig geleistete Rente. Wenn zum Bei¬ 
spiel ein Arbeiter, der einen Radiusbruch erlitten hat, nach Ablauf von 
6—8 Wochen seine volle Arbeit wieder aufnimmt, wie das zumeist bei 
glattem Verlauf der Fall zu sein pflegt, so soll er noch für 4—5 Wochen 
seine Rente als Belohnung erhalten, eine Summe, die doch zumeist für die 
versicherten Verletzten wegen der Hinausschiebung der Heilung notwendig 
wird. Durch eine Kommission von Ärzten und Technikern würde die im 
einzelnen Falle zu gewährende Genesungsprämle ohne Schwierigkeit festzu¬ 
stellen sein. 

Aus den Antworten auf die mehrfach erwähnte Umfrage hat Doktor 
Rigler 16 ) eine Abhandlung über die Bekämpfung der traumatischen Neu¬ 
rosen zusammengestellt, in der er drei Arten dieses Leidens unterscheidet: 
1. die wahren Neurosen, die auf organischer Grundlage beruhen, 2. die ein¬ 
gebildeten, auf Suggestion oder Autosuggestion beruhenden und 3. die Misch¬ 
formen. Als Hauptaufgaben für die Bekämpfung führen die Gutachter an die 
Ausschaltungen der Begehrungsvorstellungen und die Abkürzung des Renten¬ 
verfahrens. Die Meinungen der Ärzte sind in bezug aut die Kapitalsabtindong 
sehr geteilt, die einen sind eifrige Befürworter, die anderen heftige Gegner. 
Man befürchtet Steigerung der Neurosen und der Simulation. Riqlkr hält 
das Verfahren für ein zweischneidiges Schwert und weist darauf hin, daß 


Digitized by 


Google 



Unfall^upde. 


563 


die Erfahrungen, die man damit in <jler Schweiz gemacht hat, ungünstige 
seien. Rigler empfiehlt eine gesetzlich festgelegte Staffelung für die ge¬ 
wöhnlichen Formen der posttraumatischen Neurosen, 4 Q rart, daß im ersten 
Jahr 30% oder 20%, ira zweiten 15 oder j0% gewährt werden und diese 
Re^te dapn automatisch erlischt. Die Gutachter glauben fast durchwegs, 
daß bei den Durchschnittsformen der Neurosen innerhalb 3 Jahren Gewöhnung 
eintritt. 

Viele Ärzte erklären eich sehr energisch gegen di? häufigen Unter¬ 
suchungen. Liniger sagt, »je mehr Ärzte den Falf begutachten, um so 
schlimmer wird die Neurose«. Man ist vielleicht im Hinblick auf die Beob¬ 
achtungen von Babinski, der alle hysterischen Stigmata als vom unter¬ 
suchenden Arzt suggeriert betrachtet, zu weit gegangen in der Auflassung, 
daß die Nervenärzte durch ihre Gründlichkeit an der Häufigkeit der Neu¬ 
rosen nach Unfällen Schuld haben. Aber immerhin ist hier in der Tat große 
Vorsicht geboten, da viele an sich unschuldige Symptome, die yon den Neu¬ 
rologen festgestellt werden von dem Patienten als wesentliche Zeichen seines 
fortbestehenden Leidens betrachtet werden. Marechaux sagt hierüber: »Eine 
eingehende Untersuchung ist gewiß gut, und Je mehr Rüstzeug herbeige¬ 
tragen wird, um so besser ist es zur Sicherung und Begründung der Dia¬ 
gnose. Aber aus der Menge der kleinen und kleinsten Störungen den Schluß 
zu ziehen, daß der Betreffende auf dem wirtschaftlichen Arbeitsmarkt sich 
nicht betätigen kann, Lst in vielen Fällen nicht berechtigt. Was verschlägt 
es denn, wenn der Beschädigte zum Beispiel an der Außenseite des rechten 
Oberschenkels oder des Kleinfingerballens anästhetische oder hypästhetische 
Zonen bat? Was schadet es, wenn die Kniereflexe gesteigert sind oder 
der Würgereflex fehlt? Stets muß die Frage an die Spitze gestellt werden, 
was von alledem bindert, den Beschädigten nun wirklich an der Betäti¬ 
gung seiner körperlichen Kräfte hei der praktischen ihm zukommenden 
Arbeit.« 

Was die Behandlung der Neurosen anbetrifft, so sagt Köster, »daß 
nicht viel dabei herauskommt«, tyfan muß wohl trotz mancher Bedenken 
die UnfaUnervenkrapkenhäuser für die besten Stätten zur Behandlung der 
Neurotiker erklären. Hier müßte vor allem die Energie der Arbeiter ge¬ 
weckt werden, um ihre Lust an der Arbeit zu erregen und ihr Selbstver¬ 
trauen zu erhöhen. Aber das darf nicht eine mechanische Arbeit an Apparaten 
sein, die zwecklos ist und dem Patienten nicht als Leistung imponiert. 
Besser jst eine landwirtschaftliche Tätigkeit oder eine Tätigkeit in Werk¬ 
stätten, die der Nervenheilanstalt angegliedert und von tüchtigen Werk¬ 
meistern geleitet werden. Vor allem müßten die Verletzten dort etwas ver¬ 
dienen und durch den Verdienst den Trieb zur Tätigkeit finden. Förster 
macht auf die yon Dejeine angegebene Isolierungsmethode aufmerksam, die 
in manchen Fällen von ausgezeichnetem Erfolge begleitet sein soll. Die 
Kranken werden in einem großen hpllen Saal untergeßracht, jedes Bett ist 
durch einen ringsherum angebrachten weißen Vorhang nach außen .vollstän¬ 
dig abgeschlossen. Die Patienten liegen also für sich allein. Durch 
Krämpfe, Zittern können sie picht das Mitleid oder die Aufmerksamkeit 
der Umgebung erregen, da sie hinter dem Vorhang verborgen bleiben. Trotz¬ 
dem fühlen sie sich nicht einsam, weil sie ja jederzeit die im Baal an¬ 
wesenden Pflegerinnen, die sie durch den leichten Vorhang immer hören, 
zu sich rufen können. Außerdem wirkt die ärztliche Suggestion besonders 
günstig, weil die Kranken die Mitpatienten zwar nicht sehen, aber immer 
hören, wie der Arzt an jedem Bett einen Fortschritt, eine Besserung konstatiert. 
Da wollen sie nicht Zurückbleiben. Schließlich wirkt mit der Zeit auch die 
Langeweile therapeutisch ein und durch das Geständnis der Besserung suchen 
sich die Patienten aus ihrer Isolierung zu befreien. Denn selbstverständlich 


Digitized by 


Google 



564 


Unfallkunde. 


dürfen sie sich während der Dauer der Behandlung: nicht miteinander unter¬ 
halten und nur ausnahmsweise Briefe oder Besuche empfangen. 

3. Schätzung der Arbeitsfähigkeit vor und nach dem Unfall. 
Auf dem II. internationalen Kongreß für Unfallmedizin in Rom wurde die 
Frage von mehreren Referenten behandelt und eingehend besprochen. Man 
ist sich darüber im Klaren, daß es nicht gut angeht, die vor dem Unfall 
bestehende Arbeitsverminderung nach einem Unfall mit zu entschädigen. 
Aber es ist schwierig hier das Richtige herauszufiuden. R£clus hält es für 
ungerecht, daß Hernien entschädigt werden, die doch präformiert sind und 
nur eines geringfügigen Anlasses bedürfen, um deutlich hervorzutreten. In 
Deutschland wird ja die vor dem Unfall etwa bestehende geringere Arbeits¬ 
fähigkeit bei der Berechnung nicht in Betracht gezogen, da das Arbeits¬ 
buch, also der Verdienst des letzten Jahres bei der Rentenbemessung zu¬ 
grunde gelegt wird. C. Kaufmann 17 ) führt unter Anlehnung an Siefart die 
wichtigsten Anhaltspunkte für die Schätzung an: 1. Das ärztliche Gutachten. 
Es soll sich vorwiegend mit den funktioneilen Wirkungen des Unfalles auf 
den Verletzten beschäftigen. 2. Die tatsächlichen Arbeits- und Lohnverhält- 
nisse zur Zeit der Schätzung. 3. Die Angaben der Arbeitgeber über den 
Einfluß der Unfallfolgen auf die Arbeitverrichtung und die Vergleiche mit 
den Arbeit- und Lohnverhältnissen gleichartiger unverletzter Arbeiter. Ein 
Schätzungsverfahren hat sich durch die Erfahrungen nach den Rekursent¬ 
scheiden herausgebildet und zur Anlegung von Tabellen geführt. Es gibt 
nur wenige fest normierte Schätzungen, zum Beispiel für einen einfachen 
Leisten- oder Schenkelbruch 10%, für den Verlust eines Auges oder ein¬ 
seitige Erblindung bei gewöhnlichen Arbeitern 25%, bei qualifizierten 33%%. 
Der Verlust einer Hand und eines Armes wird gewöhnlich mit 50—70%, 
der eines Fußes, Unter- oder Oberschenkels mit 50—66%% geschätzt. Ver¬ 
lust des rechten Daumens 25—30%, der des linken 15—30%, Verlust des 
Zeigefingers 10—15%, des Mittel-, Ring- und Kleinfingers je mit 10%. 
Ferner stellt C. Kaufmann folgende Sätze auf: 1. Die wenigsten Schätzungen 
dürfen als Ausdruck der zeitlebens bleibenden Erwerbsunfähigkeit angesehen 
werden. 2. Von einer Anzahl von Schätzungen ist es bekannt, daß sie ge¬ 
troffen werden, obgleich eine tatsächliche Erwerbseinbuße nicht besteht, 
zum Beispiel die Schätzung der Leistenbrüche mit 10% und der einseitigen 
Erblindung mit 25%. 3. Der Einfluß der Gewöhnung an die Verletzungs¬ 
folgen wird jetzt mehr von den Rekursgerichten gewürdigt. Es müssen 
Tabellen angefertigt werden, die nach systematischer Beobachtung der tat¬ 
sächlichen Erwerbsverhältnisse der Unfallrentner, wie sie Schnitzxer ver¬ 
langt, die Schätzung ermöglichen. Liniger 18 ) hat zum Beispiel das Durch¬ 
schnitt sprozent von 300 Oberschenkelbrüchen bestimmt und gefunden, daß 
es nach % Jahr 100, nach % Jahr 75, nach 1 Jahr 50, nach l 1 /, Jahren 
35, nach 2 Jahren 30 und nach 4 Jahren noch 25 betrug. Brouardbl 1 *) er¬ 
örtert die vorbestehenden tuberkulösen Zustände der Unfallverletzten. Er 
unterscheidet die latenten Zustände, die durch den Unfall zur Auslösung 
gebracht wurden und genau wie reine Unfallfolgen zu entschädigen sind, 
und die vor dem Unfall schon in Entwicklung begriffenen Zustände. Hier 
will er, daß in Erwägung gezogen wird, wie der Verlauf der Tuberkulose 
ohne Unfall wahrscheinlich gewesen wäre, und er verlangt, daß man diese 
Beeinträchtigung der Gesundheit bei der Schätzung der Unfallfolgen in Be¬ 
tracht ziehe durch zahlenmäßige Berechnung. Auch Lenoir ä0 ) will die Prä¬ 
disposition nicht ohne weiteres ausgeschlossen sehen. Er sagt, daß in der 
französischen Gesetzgebung ursprünglich die Absicht bestand, die Verschlim¬ 
merung früherer Krankheiten von der Unfallentschädigung auszuschalten. 
Aber die Praxis habe ergeben, daß man sich nur nach der Arbeitsfähigkeit 
vor und nach dem Unfall als den einzigen berechenbaren Faktoren richten 


Digitized by t^ooQle 



Unfallkunde. 


565 


könne. Lenoir will aber, daß unter allen Umständen die sicher festgestellte 
Prädisposition und die erwiesenermaßen vor dem Unfall vorhandene Er¬ 
krankung bei der Schätzung in Abrechnung kommen. Ebenfalls Perrando 21 ) 
hebt die Schwierigkeit der Beurteilung hervor, die dem Sachverständigen 
die Unterscheidung der durch das vorangegangene Leiden und der durch 
den Unfall bedingten Krankheitserscheinungen oft unmöglich macht. Es kann 
ein allgemeiner Schwächezustand bewirkt worden sein, es können posttrau¬ 
matische Neurosen dadurch mit veranlaßt werden. Manchmal bedeutet der 
Unfall aber nur eine zufällige Koinzidenz. Manchmal sind die Unfallfolgen 
deutlich von den Zeichen der vorherigen Erkrankung zu trennen. Dann darf 
man bei der Abschätzung der Unfallfolgen ruhig die vorhergegangene und 
noch bestehende, vom Unfall unabhängige Krankheit vernachlässigen. Man 
soll nicht schematisch verfahren, sondern nach streng wissenschaftlichen 
Erwägungen. Liniger sagt: »Kaum 50% der Arbeiter sind völlig gesund. 
Viele leiden an Krankheiten, Gebrechen und alten Unfallfolgen. Richtig wäre 
es, wenn der Arbeiter bei der Einstellung in den Betrieb genau untersucht 
und diese Untersuchung etwa jährlich wiederholt würde. Das ist aber nicht 
durchführbar. Daher muß jedenfalls bei der ersten Untersuchung nach dem 
Unfälle ein genauer allgemeiner Befund aufgenommen werden. Die Prognose 
des Falles ist vom allgemeinen körperlichen Zustande sehr abhängig. Nun 
können Arbeiter, selbst mit schweren Erkrankungen (Lungentuberkulose) 
und alten erheblichen Unfallfolgen doch voll arbeitsfähig sein. Nach dem 
Unfall versuchen sie, diesem möglichst viel aufzubürden. Ohne voraufge¬ 
gangene Untersuchung gelingt dies den Arbeitern auch häufig. Später ar¬ 
beiten diese Leute dann nicht mehr, um ihrer hohen Rente nicht verlustig 
zu gehen. Bei jüngeren Verletzten, besonders bei denen mit relativ gering¬ 
fügigen Unfallfolgen ist es anders. Diese arbeiten wieder nach eingetretener 
Gewöhnung und verdienen sogar oft einen höheren Lohn als vor dem Un¬ 
fälle. Die Kontrolle der Arbeitsfähigkeit und der Lohnauskünfte bei den 
Rentenempfängern wird wahrscheinlich künftighin die Rentengewährung aus¬ 
schließen in Fällen, in denen sie heute gegeben wird. Die Schätzung muß 
außer von dem behandelnden Arzte auch von dem Kontrollarzte vorge¬ 
nommen werden. Die Rente kann bei gleichem Befunde höher bemessen 
werden, wenn es sich um Qualitätsarbeiter oder um Frauen handelt. Es ist 
ein Unterschied zu machen zwischen reellen und eventuellen Unfallfolgen. 
Die Rente soll ruhen, wenn der Lohn des Verletzten mit der Rente den 
früheren Lohn übersteigt.« Korteweg hebt hervor, daß in jedem Menschen 
eine größere Leistungsfähigkeit vorhanden ist als 100%, daß der Arbeiter 
also eine Art Reservekraft besitze, die einen etwa nach dem Unfall zurück- 
bleibenden Schaden wieder wett mache und die bei der Rentenbemessung wohl 
in Betracht zu ziehen sei. 

4. Neuere Untersuchungsmethoden. Imbert 22 ) sagt, die Schätzung 
der Arbeitsfähigkeit vor dem Unfall ergibt sich aus dem verdienten Lohn. 
Nach dem Unfall ist der Schätzung hinderlich einerseits die allgemeine Nei¬ 
gung der Arbeiter, den Grad ihrer Unfähigkeit zu übertreiben, andrerseits 
die Weigerung der Arbeitgeber, verletzte Arbeiter anzunebmen, deren Ar¬ 
beitsfähigkeit in gewissen Proportionen reduziert ist. So bringt diese Frage 
ein zweifaches Problem mit sich: 1. Bestimmung der Unfallfolgen auf die 
verschiedenen Funktionen des Organismus. 2. Einfluß dieser Folgen auf den 
Erwerb. 

Imbert will nun die Leistungen der verschiedenen Arbeiter an den 
von ihnen bei der Arbeit benutzten Instrumenten prüfen und genau regi¬ 
strieren. Er hat zu diesem Zwecke mit den Werkzeugen, wie Hammer, 
Meißel, Schere, Hobel, Schiebkarren usw. manometerartige Apparate ver¬ 
bunden, die nach mechanischen Einheiten die Kraft des Arbeiters verzeichnen. 


Digitized by 


Google 



566 


Unfallkunde. 


Er sieht hierin wohl mit Recht ein besseret Verfahren &ls dfe Anwendung 
des Dynamometers, weil der Arbeiter mit seinem Werkzeug vertraut ist 
und hier seine wirkliche Kraft in mehr überzeugender Weise deutlich wird. 
Sehr ingeniös sind die Registrierapparate, die von Prof. Sommer in Gießen 
erfunden und von ihm vielfach angewandt sind. Er hat sehr exakte Apparate 
angefertigt, um zum Beispiel das Kniephänomen in seiher Ergiebigkeit zu 
messen, wobei auch die für die Auslösung des Phänomens in Betracht 
kommende, auf den Perkussionshammer übertragene Kraft gemessen wird. 
Ein anderer Apparat dient zur Feststellung der Pupillendifferenz, die mathe¬ 
matisch genau festgestellt werden kann. Überraschend einfach ist die Vor¬ 
kehrung zur Hörbarmachung des Pulses. Man kann jede Veränderung in der 
Qualität sofort an einem Höher- oder Tieferwerden des Tones wahrnehmen, 
der durch eine Pfeife hervorgebracht wird. An der Pfeife befindet sich eine 
sehr leicht verschiebbare und durch einen Manometer schlauch mit dem Puls 
verbundene Hülse, die je nachdem mehr oder weniger von der Öffnung frei 
läßt, durch die beständig die Luft streicht, wobei sie eben einen gleich¬ 
mäßigen Ton hervorruft. Besonders kommt aber für die Unfallverletzten ein 
Registrierapparat in Anwendung, der dazu dient, die Bewegungen des Zeige¬ 
fingers aufzuzeichnen. Es entsteht eine Kurve auf der Trommel, die geringe 
Zitterbewegungen aufweist, bei mäßigen Exkursionen. Jede Mattigkeit des 
Untersuchten, aber auch sein Alkoholismus macht sich in Abweichungen 
sofort bemerkbar. Eine besonders charakteristische Kurve zeigen die Hy¬ 
sterischen und die Hystero-Epileptischen. In einem Falle von angeblicher 
Taubheit konnte Sommer die Simulation durch diesen Apparat klarstellen. 
Der Patient, allerdings ein psychopathischer Mann, hatte sein Leiden schon 
jahrelang vorgetäuscht, als ihn Sommer mit seinem Apparat untersuchte. 
Während die Kurve aufgenommen wurde, ertönte plötzlich eine elektrische 
Klingel. Hierbei zeigte sich sofort eine mächtige Erhebung der Kurve in¬ 
folge des durch den Schreck bewirkten größeren Fingerausschlages. Diese 
Erscheinung wiederholte sich mehrfach, weil der Wille die Zitterbewegung 
unmöglich unterdrücken konnte. Gegenüber dem offenbaren Beweise gab 
der Simulant auch den Betrug zu. Er wurde aber später wieder rückfällig 
und geisteskrank. 

Bemerkenswert sind auch die Bemühungen von Dr. Cornelius* 3 ) . die 
subjektiven peripherisch-nervösen Beschwerden zu objektivieren. Er geht 
von dem Gedanken aus, daß 90% aller Reize peripherischer Natur sind. 
Man untersucht bei den Nervenkranken, besonders nach Unfällen, zumeist 
die Zentralorgane und nennt nur objektive Symptome, die mit jenen Or¬ 
ganen in Zusammenhang gebracht werden können. Indem Cornelius die 
Reize im Nervensystem als wellenförmige bezeichnet, die vom Zentrum nach 
der Peripherie und umgekehrt verlaufen, nimmt er bei allen nervösen Lei¬ 
den gewisse Nervenpunkte an, die wohl charakteristisch seien, kleine Stellen, 
deren Erregung zum Beispiel schon durch einen Druck genau dieselben Be¬ 
schwerden hervorruft, wie sie spontan bestehen. 

Cornelius sagt: »Ich erzeuge zum Beweise der Tatsache einer von 
dem Untersuchten behaupteten Beschwerde auf künstliche, aber für gesunde 
Stellen nicht pathologisch wirkende Weise genau dieselben Beschwerden, wie 
sie der Kranke angibt, und zwar mit Folgen, die sich in ganz unverkennbarer 
Weise dem Untersucher bemerklich machen müssen. Und wie geschieht 
das? Ich will das zunächst an einer sensiblen Störung erläutern. Jemand 
gibt an, daß er an irgend einer zugänglichen Stelle des Körpers nach ganz 
bestimmten Reizen, oder auch ohne solche, ganz bestimmte Schmerzen be¬ 
kommt. Nachdem die somatische Untersuchung ergeben hat, daß ein anderer 
Grund, wie Entzündung, Verletzung usw., hier nicht vorliegt, wir also nach 
der heutigen Anschauung den Schmerz als rein nervös anzusehen berechtigt 


Digitized by 


Google 



UnfalikuiKle. 


567 


sind, legen wir ganz leise die Hand an! den als Sitz der Schmerzen be- 
zeichneten Körperteil, wobei es durchaus gleichgültig ist, ob der Unter- 
sechte in dem Augenblicke Schmerzen empfindet oder nicht. Ganz sachte 
geht der tastende zweite oder dritte Finger der rechten oder linken Hand 
in die Tiefe, leicht vibrierend weiterschreitend. So lange die Stelle unter 
dem tastenden Finger schmerzlos ist, fühlt dieser nichts als das nachgiebige 
elastische Gewebe. Aber kaum ist der Anfang der schmerzhaften Region er¬ 
reicht , so beginnt eine für den Erfahrenen ganz unverkennbare Spannung, 
die immer mehr znnimmt und schließlich zu einer brettharten, meist kleinen 
rundlichen Muskelkontraktion führt. Bei stärkerer Erregung springen sogar 
ganze Muskelteile hervor, dem Auge leicht sichtbar. Gehen wir nun von 
dem Höhepunkt weiter vorwärts, so nehmen die Erscheinungen in derselben 
Weise ab, um schließlich wieder ganz normaler Gewebsspannung Platz zu 
machen. Kontrollieren wir das Gefühl, das wir unter unserem Finger haben, 
mit den Aussagen eines in jeder Hinsicht einwandfreien Patienten, so ist 
das Resultat jedesmal das: mit dem Augenblicke, in dem die erhöhte 
Spannung anfängt, beginnt auch beim Untersuchten ein vom normalen 
Druckgefühl wohl zu unterscheidendes Schmerzgefühl, das sich schließlich auf 
der Höhe bis zur Unerträglichkeit steigert und dann zu Abwehrbewegungen 
und Schmerzäußerungen Veranlassung gibt, um mit der Abnahme der 
Spannung seinerseits wieder abzunehmen.« 

Cornelius findet, daß fast alle irgend schmerzhaften inneren Erkrankungen 
in irgend einer Beziehung mit peripheren Nervenpunkten stehen, zum Bei¬ 
spiel findet sich die Herzgegend gespickt mit solchen Stellen bei nervösen 
Herzleiden. Auch bei Darmerscheinungen nervöser Art, bei nervösen Sexual¬ 
besch werden, bei Krampfzuständen oder Lähmungen in den verschiedensten 
Gebieten findet er die Nervenpunkte. Man muß nur die rechte Stelle aus¬ 
findig machen, so kann man nach seiner Meinung stets die Beschwerden 
auslösen und sie damit als objektiv vorhanden erweisen. Ob die systematische 
Ausgestaltung dieses Verfahrens sowohl hinsichtlich der Untersuchung, wie 
in betreff der Behandlung schon wissenschaftlich hinreichend begründet ist, 
um es allgemein, namentlich für die Unfallverletzten, in Anwendung zu 
bringen, möchte ich bezweifeln. Daß aber ein guter Kern in der Sache liegt, 
glaube ich wohl. Es ist ganz sicher richtig und gewiß von jedem Arzt, auch 
von den Masseuren oft beobachtet, daß viele Patienten nicht nur die be¬ 
kannten Schmerzpunkte, sondern bestimmte kleine schmerzhafte An¬ 
schwellungen unter der Haut darbieten, die besonders beim Berühren und 
Streichen der Teile hervortreten. Daß diese Muskelkontraktionen durch 
peripherische Reize hervorgebracht werden, ist in der Tat sehr wahrscheinlich, 
und darum müßte man die Methode bei den Unfallverletzten besonders 
prüfen. 

5. Funktionelle Anpassung der verletzten Gliedmaßen. 
Remy 24 ) erörtert die Gründe für die Akkommodation oder Anpassung. Sie wird 
auf verschiedene Weise bewirkt, manchmal durch anatomische und funktionelle 
Verbesserung der verletzten Teile; zuweilen geschieht die Wiederherstellung 
der Funktion durch die Mitwirkung eines benachbarten Organs, zuweilen 
durch Veränderung der Arbeit und Wahl eines neuen Berufes. Stets ist 
dabei der gute Wille des Verletzten mit wirksam und das wiedererwachte 
Selbstvertrauen. Remy findet, daß die Verletzten infolge der Gewöhnung oft 
keinen Lohnverlust haben und verlangt, daß man diesen Umstand bei der 
Rentenbemessung in Betracht ziehe. Liniger 25 ) zeigte auf dem Kongreß in 
Rom eine Reihe von Abbildungen Verstümmelter, die vortreffliche Arbeits¬ 
fähigkeit haben. Er erklärt: Der Mensch kann sich in hervorragender Weise 
an verletzte Glieder gewöhnen, besonders wenn der Unfall sich in der 
Jugend ereignet hat. Man sieht in dieser Beziehung bei nicht Versicherten 


Digitized by 


Google 



568 


Unfallkunde. 


die lehrreichsten Beispiele. Selbst an Armen oder Beinen Amputierte, ja an 
beiden Beinen Amputierte werden gelegentlich in bestimmten Berufen wieder 
vollerwerbsfähig. Bei älteren Personen tritt die funktionelle Anpassung der 
verletzten Glieder erst nach erheblich längerer Zeit ein und in weit ge¬ 
ringerem Maße, als bei jungen Personen. Der Zeitraum bis zom Eintritt 
der Gewöhnung an Unfallfolgen ist natörlich sehr verschieden je nach 
Art und Schwere der Verletzung. Bei jüngeren Verletzten ist im allgemeinen 
ein Zeitraum von 1—2 Jahren für die funktionelle Anpassung erforderlich, 
bei älteren oft das Dreifache der Zeit. Wichtig ist zum Beispiel die all¬ 
mähliche Ausgleichung einer Beinverkflrzung durch Beckensenkung, das 
Eintreten benachbarter Gelenke für ein versteiftes Gelenk, der allmähliche 
Ausgleich von Muskelatrophien, die Gewöhnung an Schmerzen, die Zu¬ 
nahme der Geschicklichkeit des einen Armes bei Verstümmelung des anderen. 
Die Gewöhnung kommt als wichtiges Moment für den Nachweis einer wesent¬ 
lichen Besserung der Unfallfolgen in Betracht und das Reichs versicherungs¬ 
amt hat bereits in einer großen Reihe von Entscheidungen betont, daß be¬ 
sonders bei der Verletzung der Glieder, auch ohne Änderung des objektiven 
Befundes, in der funktionellen Anpassung eine wesentliche Hebung der Er¬ 
werbsfähigkeit zu erblicken sei. Die Einziehung von Arbeitsberichten und 
Lohnauskönften ist ein gutes Mittel, um die Gewöhnung festzustellen. Das 
Fundament für den Eintritt der größtmöglichen funktionellen Anpassung ver¬ 
letzter Glieder ist die gute anatomische und funktionelle Heilung der Ver¬ 
letzungen. 

Es mag noch auf die vor mehreren Jahren in der Ȁrztlichen Sachver- 
ständigen-Zeitung« erschienene Arbeit Nonnes aufmerksam gemacht werden, 
der in Photogrammen die erheblichen Verstümmelungen einiger nicht Ver¬ 
sicherter zeigte, zum Beispiel von Ärzten und Krankenpflegerinnen, die aber 
doch ihren Beruf in vollkommener Weise erfüllten. Ähnlich hat nun Hillbx- 
berg 26 ) solche Fälle bei landwirtschaftlichen Arbeitern zusammengestellt, 
die hauptsächlich Fingerverletzungen gehabt hatten und in keiner Weise in 
ihrer zum Teil sehr anstrengenden Tätigkeit behindert waren. Hillenberg 
glaubt, daß die Gewöhnung das Typische sei, seine Fälle wären durchaus 
keine Ausnahme. Die Arbeiter hätten ohne besondere Willensstärke ihre er¬ 
heblichen körperlichen Schäden überwunden. Er fordert daher dringend zur 
Vorsicht auf bei der Abschätzung der Arbeitsunfähigkeit. Da die praktischen 
Erfahrungen, führt Hillenberg aus, doch meist an Individuen gewonnen 
werden, die unter dem Versicherungsgesetz standen und die Wohltat der 
Rente vielfach gekostet haben, so sind diese Erfahrungen nicht einwandfrei. Sie 
müssen eben stets korrigiert werden durch die Erfahrungen aus der präsozialen 
Zeit, das heißt durch diejenigen an den nicht versicherten Verletzten, bei 
denen die Rente keine Rolle spielt. Hillenberg will so eine realere Grund¬ 
lage schaffen für die gerechte Abschätzung von entschädigungspflichtigen 
Unfallfolgen, die sicherlich heute viel zu hoch bewertet werden. 

Literatur: *) Prof. Windscheid, Bericht über das Hermann-Hans in Stötteritz b. Leipzig 
über das Jahr 1908. — 2 ) Dr. Klein, Geheimer Regierungsrat, Die frühzeitige übernähme des 
Heilverfahrens durch die Berufsgenossenschaften. Veröffentlichungen des Deutschen Vereins f. 
Versicherungswissenscbaft, Heft 17. — 3 ) Dr. Stöcker, Regierungsrat, Berichte des 1. inter¬ 
nationalen Kongresses für Rettungswesen in Frankfurt a. M., 1908. Verlag von Ang. Hirscli- 
wald. — 4 ) Dr. Düms, Generalarzt, Über ärztliche Organisation bei Unfällen und Massenverun- 
glückungen. Berichte des II. internationalen Kongr* sses für Unfallmedizin. Rom 1909. — 8 ) Prof. 
Vülpius, In welchen Heilstätten wird die Behandlung von Unfallverletzten am zweckmäßigsten 
durchgeführt? Berichte des II. internationalen Kongresses für Unfallmedizin. Rom 1909. — 
®) Dr. L. Fkilchknpeld , Über die ärztliche Versorgung der frisch Verletzten. Zeitschr. f. 
Versicherungsmedizin, 1909, Augustnummer. — 7 ) Prof. Linioer, Berichte des II. Kongresse* 
für Unfallmedizin. Rom 1909. Organisation in der Unfallpflege. Diskussion. — TbAbault, 
ebenda. — 9 ) Förster , Über die psychische Behandlung der Verletzten. Heft 17 der Ver¬ 
öffentlichungen des Deutschen Vereins für Versicherungswissenschaft 1909. — 10 ) Biondi, 


Digitized by 


Google 




Unfallkunde. — Unterchlorigsaures Natron als Desinfiziens. 569 

Über die frühzeitigen Symptome nnd die Schätzung der traumatischen Neurosen. Berichte 
des II. internationalen Kongresses für Unfallmedizin. Rom 1909. — n ) Tamburini, ebenda, 
Über das gleiche Thema. — ,a ) Ollivb nnd Le Mbignbn, ebenfalls. — ia ) Brissaud nnd 
Obttingeb, ebenfalls. — 14 ) G. Lumbroso, ebenfalls. — 1R ) Windschkid, ebenfalls. — ,# ) Doktor 
Riglbb , Über die Bekämpfung der traumatischen Neurosen. Zeitschr. f. Vers.-Med. 1909» 
Nr. VI und VII. — n ) C. Kaufmann, Allgemeine Gesichtspunkte für die Schätzung der 
Erwerbsunfähigkeit. Berichte des II. internationalen Kongresses für Unfallmedizin. Rom 1909. 
— ,8 ) Linigkr, ebenda, über das gleiche Thema. — 1# ) Brouardbl, ebenfalls. — 20 ) Lenoir, 
ebenfalls. — ai ) Pkbranlo, ebenfalls. — ,a ) Imbert, ebenfalls. — ia ) Cornelius, Der objek¬ 
tive Nachweis der subjektiven peripherisch nervösen Beschwerden. Deutsche med. Wochenschr., 
1908» Nr. 53. — a4 ) Remy, Berichte des II. internationalen Kongresses für Unfallmedizin. 
Rom 1909. Funktionelle Anpassung der verletzten Gliedmaßen. — * 5 ) Liniger, ebenda. — 
24 ) Hillknberg, Einige nicht entschädigungspflichtige Fälle von erworbenen Körperschäden 
und deren Einfluß auf die Arbeits- und Erwerbsunfähigkeit der Betroffenen. Ärztl. Sachver- 
ständigen-Zeitung, 1909, Nr. 1. L. Feilchenfeld (Berlin). 

Unterchloiigsaures Natron als Desinfiziens hat 

Hartung verwandt: In l*6%iger Lösung Wurde das Mittel bei septischen 
Wunden angewandt, und zwar hauptsächlich zur Bekämpfung des Bacillus 
pyocyaneus, der sich auf längere Zeit bestehenden Wunden so leicht an¬ 
siedelt. Auch stark verunreinigte Wundflächen säubert eine Lösung von 
unterchlorigsaurem Natron in kurzer Zeit und führt zu frischroten Granu¬ 
lationen. 

Literatur: Hartung, Unterchlorigsaures Natron als Desinfiziens. Med. Klinik, 1908, 
Nr. 39, pag. 1494. E. Frey. 


Digitized by ^.ooQle 



V. 


Valisan. Nach Mabdkr ist die Verbindung von Brom mit Bornyval 
(Boraeolieovalerianat) mit 25*2 Brom ein brauchbares Sedativum. Es kommt 
in Gelatineproben zu 0*25 g in den Handel. 

Literatur: Maedbb, Valisan, ein neues Sedativum. Therap. Monatshefte, Oktober 
1908, pag. 624. E. Frty. 


Verbrennung. Die Verbrennungen des menschlichen Körpers ent- 
stehen besonders durch die direkte Berührung mit einer Flamme, bei Ex¬ 
plosionen von Pulver, Leuchtgas, »schlagenden Wettern« in Steinkohlen¬ 
gruben, durch heiße Flüssigkeiten, Dämpfe, Gase, durch heiße feste Körper 
(Metalle etc.), durch den Blitz, in der Elektrotechnik durch den Kontakt 
des menschlichen Körpers mit metallischen Elektrizitätsleitern bei hochge¬ 
spannten Strömen, durch die Radium- und Röntgenstrahlen, Sonnenstrahlen 
usw. Auch die Ätzwirkung durch konzentrierte Säuren (Schwefelsäure, Sal¬ 
petersäure etc.) oder durch kaustische Alkalien rechnen wir zu den Ver¬ 
brennungen. 

Der klinische Verlauf einer Verbrennung hängt ab von dem Grad 
der lokalen Gewebszerstörung und von der Ausdehnung derselben. Die Unter¬ 
scheidung der örtlichen Erscheinungen infolge der Verbrennung in drei 
verschiedene Grade hat sich klinisch und therapeutisch durchaus bewährt: 
erster Grad — Hyperämie, zweiter Grad — Blasenbildung und dritter Grad 
— Schorfbildung (Gangrän). Bei den Verbrennungen dritten Grades ist die 
Verschiedenheit der einzelnen Fälle sehr groß, hierher gehören zum Beispiel 
alle Jene Brandwunden von einer nur partiellen Zerstörung der Haut bis 
zur vollständigen Verkohlung einer ganzen Extremität. Das Aussehen der 
Gangrän ist bald aschgrau, braun, gelb oder schwarz, feucht oder trocken. 
Die Lösung der abgestorbenen Gewebe durch die demarkierende Eiterung 
geschieht zuweilen sehr langsam, ganz besonders auch am Knochen. 

Die Narben nach den Verbrennungen geben bekanntlich nicht selten 
zu hochgradigen Funktionsstörungen und Entstellungen Veranlassung, zum 
Beispiel zu Verziehungen der Augenlider (Ektropium) und der Gesichtshaut, 
zu Verwachsungen des Kinns mit der Brust, zu Kontrakturen der Gelenke, 
zu Narbenkeloiden (siehe Keloid), zu Geschwürsbildungen, zu Karzinom usw. 

Die allgemeinen Symptome nach Verbrennungen hängen vorzugs¬ 
weise von der Ausdehnung der Verbrennung ab. Unmittelbar nach einer 
ausgedehnten Verbrennung des Körpers sind die Patienten gewöhnlich 
sehr aufgeregt und klagen über heftige Schmerzen. Das Sensorium ist an¬ 
fangs ungetrübt. In den rasch letal endigenden Fällen sind die Kranken 
meist sehr unruhig, der fadenförmige Puls ist sehr frequent, die Körper¬ 
temperatur vermindert, die Respiration oberflächlich und beschleunigt, die 


Digitized by 


Google 



Verbrennung. 571 

Extremitäten sind kühl und unter zunehmenden Kollapserscheinungen und 
Apathie kann bald der Tod durch Herzlähmung eintreten, ähnlich wie beim 
Shock. Die Temperaturerniedrigung ist wohl vorwiegend eine Folge der 
abnorm gesteigerten Wärmeabgabe seitens der dilatierten und ihrer schützen¬ 
den Hautdecke beraubten Blutgefäße im Bereich der Brandstellen (Cohn¬ 
heim, Falk). Der Durst ist gewöhnlich beträchtlich, der Urin meist sehr 
spärlich oder fehlt ganz, nicht selten besteht Hämoglobinurie infolge der 
Zerstörung der roten Blutkörperchen. Nach Locke ist das Blut dunkelrot, 
zähflüssig, die Zahl der roten und weißen Blutkörperchen trotz ihrer zu¬ 
weilen hochgradigen Zerstörung vermehrt. 

Der Tod erfolgt bei ausgedehnten Verbrennungen entweder wie beim 
schweren Shock im Verlauf der beiden ersten Tage oder später im Sta¬ 
dium der entzündlichen Reaktion oder noch später durch die anhaltende 
Eiterung mit ihren Folgezuständen und durch Erschöpfung. 

Wie ist der frühzeitige Tod in den ersten Tagen nach der 
Verbrennung zu erklären? Diese Frage ist sehr verschieden beantwortet 
worden, und auch die neuesten Forschungen haben dieselbe noch nicht ge¬ 
nügend aufgeklärt. Man hat besonders folgende Hypothesen bezüglich der 
Todesursachen aufgestellt: 1. die Zerstörung der roten Blutkörperchen, die 
Hämolyse (Wertheim, Ponfick, v. Lesser, Pawlowsky, Helsted und andere); 
2. der Wasser- oder richtiger der Plasmaverlust des Blutes, welcher tat¬ 
sächlich stattfindet, sich aber sebr bald in 2—3 Tagen ausgleichen kann 
(Tappeiner, A. Koch, Wilms); 3. die Bildung zahlreicher Thromben und 
Embolien (Silbermann, Welti , Steinhaus. Markusfeld, Salvioli) ; 4. die 
Unterdrückung der Hauttätigkeit; 5. die reflektorische Herabsetzung des 
Blutdruckes eventuell mit Herzlähmung infolge der übermäßigen Reizung 
des Nervensystems (Sonnenburg) und infolge Überhitzung des Blutes bei 
längerer Hitzeeinwirkung (Eijkman, van Hoogenhuyze) ; 6. die Vergiftung 
des Blutes und der Gewebszellen durch ein in den verbrannten Geweben 
entstehendes Gift (Catiano, Reiss, Boyer, Guinard, Lustgarten, Kijanitzin, 
Parascandolo, Dohrn, Wilms, Weidenfeld, Dieterichs, Eijkman, van Hoogen¬ 
huyze). Durch diese Vergiftung sollen in erster Linie die Sektionsbe¬ 
funde bei Verbrannten bedingt sein, dieselben bestehen besonders in Alte¬ 
rationen des Blutes mit Zerstörung der roten und weißen Blutkörperchen, 
mit Thrombenbildungen und Hämoglobinurie, in entzündlichem Hirnödem, 
akuter Encephalitis, Schwellung der Mesenterialdrüsen, der Magen- und 
Darmfollikel, in toxischen Degenerationen der Nieren, Leber, Milz und Lungen. 

Nach Dieterichs findet sich das Gift besonders reichlich im Blut 
innerhalb der ersten 5—10 Stunden nach der Verbrennung. Ob das Gift 
vorzugsweise in den Brandherden oder im Blut oder in beiden gebildet 
wird, darüber sind die Ansichten geteilt, ebenso bezüglich der Art des 
Giftes. Catiano denkt an ein Gift analog der Blausäure, nach anderen ist 
die Vergiftung durch Anhäufung von Ammoniak im Blute (Ammoniämie) 
bedingt, nach Reiss gehört das Gift zu den Pyridinbasen, nach Wilms zu 
den giftigen Spaltungsprodukten des Eiweißes, zu den Albumosen und Pep¬ 
tonen, nach Pfeiffer handelt es sich um ein Gift der durch die Hitze ver¬ 
änderten Eiweißmoleküle und nach Lustgarten, Kijanitzin, Boyer und 
Guinard um eine Intoxikation durch die Bakterien in den Brandwunden. 
Nach Burkhardt und H. Doering ist der Verbrennungstod nicht durch 
hämolytische Prozesse bedingt. Valentin fand bei letal verlaufenen Ver¬ 
brennungen verschiedene Degenerationszustände der Epithelzellen der Schild¬ 
drüse, das Kolloid war spärlich vorhanden, wahrscheinlich infolge von Ver¬ 
flüssigung und Resorption desselben. Nach Polland beginnt einige Stunden 
nach der Verbrennung eine zunehmende Giftigkeit des Harns und führt zu 
Degeneration der Nieren, dazu kommt später noch die Giftwirkung des Serums, 

Digitized by (j ooQle 



572 


Verbrennung* 


wodurch die Nierendegener&tionen noch beschleunigt werden, ferner zeigen 
sich nekrotisierende Prozesse besonders im Darmkanal mit Geschwürsbilduog« 

Sehr wahrscheinlich sind die Ursachen des frühzeitiger} Verbrennungs¬ 
todes innerhalb der ersten Tage verschiedener Natur, im wesentlichen aber 
dürfte derselbe teils durch eine Vergiftung des Blutes, teils durch nervöse 
ShockWirkung mit sekundärer Herzlähmung bedingt sein. Im späteren Ver¬ 
lauf können Kranke mit ausgedehnteren Verbrennungen an verschiedenen 
Komplikationen zugrunde gehen, zum Beispiel durch Entzündüngen innerer 
Organe (Darm, Nieren, Lunge, Pleura, Gehirnhäute usw.), infolge der Blut- 
alteration mit Thrombosen und Embolien, durch Erysipel, Pyämie, Sepsis usw. 
Die Entstehung der Geschwüre des Darmkanals, besonders des Duodenums, 
und der Darmkatarrhe ist noch dunkel, nach Catiano und Hunter sind sie eine 
Folge der vorhandenen Vergiftung, nach anderen embolischer Natur. 

Die Prognose der Verbrennungen ergibt sich aus dem Gesagten. Je 
ausgedehnter die Verbrennung, um so ungünstiger ist die Prognose quoad 
vitam. Wenn mehr als die Hälfte der Körperoberfläche selbst geringen 
Grades verbrannt ist, dann erfolgt sicher der Tod innerhalb der ersten 
Tage nach dem Unfall, bei Verbrennungen eines Drittels sehr wahrschein¬ 
lich. Besonders ungünstig ist die Prognose bei Kindern, bei welchen Ver¬ 
brennungen am häufigsten Vorkommen. Im übrigen sind die Lokalität der 
Verbrennung, ihre Tiefe sowie die Konstitution des Verletzten von großer 
prognostischer Bedeutung. Besonders am Schädel können Verbrennungen 
durch sekundäre Meningitis tödlich endigen. Bei elektrischen Verbrennungen 
durch metallische Elektrizitätsleiter bei hochgespanntem Strome tritt ent¬ 
weder sofortiger oder baldiger Tod durch Herzlähmung ein oder man beob¬ 
achtet schwere nervöse Störungen und atrophische Zustände, besonders 
auch in Muskeln (Mally). Quoad functionem sind besonders die Narbenkon¬ 
trakturen nach Verbrennungen dritten Grades zu fürchten. 

Die Behandlung der Verbrennungen ist bei ausgedehnteren Ver¬ 
letzungen teils eine lokale, teils eine allgemeine. Die Allgemeinbehandlung 
bei umfangreichen Verbrennungen sofort und in den ersten Tagen nach dem 
Unfall ist im wesentlichen dieselbe wie beim Shock, sie besteht in Tief¬ 
lagerung des Kopfes, ausgenommen bei venöser Stauung im Gesicht, in 
Stillung des Schmerzes durch Narkotika, besonders durch eine subkutane 
Morphiuminjektion, bei Kollapserscheinungen gibt man subkutan Kampfer, 
innerlich exzitierende warme Getränke, ferner in jedem Falle subkutan, 
intravenös oder per rectum heiße Kochsalzeinläufe besonders auch bei Kin¬ 
dern, welchen man zur Beruhigung Tinct. opii benzoica gibt, gegen Erbrechen 
empfiehlt sich Atropin mit Opium. Bei der subkutanen oder intravenösen 
Infusion von 0*6—0 8% Kochsalzlösung — eventuell mit Adrenalinzusatz 
(1 : 20.000—40.000) — läßt man etwa 2 — 5 ccm in der Minute einlaufen. 
Bei venöser Stauung infolge von Shockwirkung empfiehlt sich auch die 
Autotransfusion durch Einwicklung und Hochlagerung der Extremitäten und 
Anlegung eines Kompressionsverbandes um den Unterleib. Sehr wichtig ist 
die Vermeidung von Abkühlung, Verbrannte sollen so warm als möglich 
gehalten werden. 

Die lokale Behandlung besteht in der Anlegung eines zweckmäßigen 
Verbandes. Bei kleineren Verbrennungen wird der Schmerz vor allem durch 
Eis mit Aq. plumbi oder 1% essigsaurer Tonerde gestillt. Größere Brand¬ 
wunden zweiten und dritten Grades behandle ich in folgender Weise. Die 
Brandwunden werden nicht gereinigt, nicht desinfiziert, etwaige Brandblasen 
werden durch Einstich oder mit einer CooPERschen Schere entleert, dann 
verbinde ich entweder mit in 0*6%iger steriler Kochsalzlösung angefeuch* 
tetem aseptischen Mull und meinem Papierverbandstoff (Spongidin) oder 
ich lege die v. BARDELEBENschen Brandbinden direkt über die verbrannte 


Digitized by 


Google 



Verbrennung. 


573 


Rörperstelle. Die v. BARDELEßENschen Brandbinden sind bekanntlich mit Wis¬ 
mut and Metallsalzen imprägniert und werden vom Apotheker G. Schmidt 
in Bremen hergestellt. Billiger als diese Wismutbrandbinden ist die Be- 
streuung der Brandwunden mit 1 Teil Bismuthum subnitricum au! 2 Teile 
Kaolin, pulv. nach Renner, darüber legt man aseptischen Mull, sterile Watte 
oder meinen Papierverbandstoff und befestigt das Ganze durch Mullbinden. 
Dieses Pulver beschränkt ebenfalls die Sekretion der Wunden, es desinfiziert 
gut und der Verbandwechsel ist leichter, als bei den Brandbinden. Wird 
das Wismut bei ausgedehnten Brandwunden nicht vertragen, was sich durch 
Unruhe des Patienten, urtikariaartige Ausschläge und Jucken zu erkennen 
gibt, dann muß man das Mittel aussetzen, gibt ein Bad und bedeckt dann 
die Wunden nur mit Mull. Man kann auch sonstige antiseptische ungiftige 
Pulver anwenden. Trockene, die Wundsekretion beschränkende Verbände 
halte ich für zweckmäßiger als feuchte. Man hat besonders feuchte Ver¬ 
bände mit 1—2% essigsaurer Tonerde empfohlen, ferner mit Chinosollosung 
(1 : 2000), Chlorzinklösung (1 : 600—1000). Von sonstigen Behandlungsme¬ 
thoden erwähne ich noch die Anwendung von Leinölfirnis (1 Teil Plumbum 
oxydatum in 25 Teilen kochendem Leinöl aufgelöst, dann 5—10% Salizyl¬ 
säure in der Wärme zugesetzt) mit darüber gelegter Watte und elastischer 
Binde (Nitzsche), Bepinselung mit Thiolum liquidum oder Bepudern mit 
Thiolum siccum (A. Bidder), Zinkperhydrat in Pulver- und Salbenform 
(Jacoby) usw. Beim Verbandwechsel benutzt man als Wundreinigungsmittel 
entweder sterile 0*6%ige Kochsalzlösung oder Wasserstoffsuperoxyd (10- bis 
15volumprozentige Lösung). Verbrannte Extremitäten sind natürlich zu 
immobilisieren und zweckmäßig (erhöht) zu lagern. Oft wird man Brand¬ 
wunden und die granulierenden Wunden offen behandeln, man muß dann 
aber die Krankenzimmer besonders bei ausgedehnten Brandwunden sehr 
warm halten, wie wir schon hervorgehoben haben und wie besonders auch 
Sueve empfohlen hat. 

Bei ausgedehnten Brandwunden empfiehlt sich unter Umständen die 
Lagerung der Verletzten im permanenten Vollbad von 38—39° C. In den 
ersten Tagen nach der Verbrennung halte ich mit Sonnenburg und anderen 
die Anwendung dieser Vollbäder wegen ihrer erschlaffenden Einwirkung auf 
den Gefäßtonus und auf das Herz für gefährlich, der Tod durch Herzläh¬ 
mung kann durch sie begünstigt werden. 

Die Überhäutung größerer granulierender Wundflächen beschleunigt 
man durch zeitweilige Anwendung des Höllensteinstiftes, durch Einwirkung 
der Sonnen- und Röntgenstrahlen, durch Lichttherapie, durch Zerstäuben 
von Äther oder Äthylchlorid auf die durch Vaseline geschützte Granulations¬ 
fläche (Stiassny), vor allem aber durch Hauttransplantation (siehe Trans¬ 
plantation) oder durch Hautplastik mit gestielten Hautlappen (siehe plasti¬ 
sche Operationen). Auf diese Weise vermeidet man am besten ungünstige 
Narbenkontrakturen. Entstellende Narben oder Narbenkontrakturen mit ent¬ 
sprechenden Funktionsstörungen wird man exzidieren, die Wunde durch 
Naht schließen oder den Defekt durch Hauttransplantation oder durch ge¬ 
stielte Hautlappen schließen. In leichteren Fällen von Verbrennungskontrak¬ 
turen genügt die Dehnung derselben durch Extensionsverbände, methodische 
Bewegungen und Massage. Hochgradig verbrannte Extremitäten, deren Er¬ 
haltung unmöglich ist, wird man baldigst amputieren respektive exartiku¬ 
lieren, sobald die Shockerscheinun<cen verschwunden sind. 

Bei Pul ververbrennungen der Haut kann man die Entstellung infolge 
der Einheilung der Pulverkörner und Schwarzfärbung der Haut, zum Bei¬ 
spiel im Gesicht, durch Abschaben der Haut und der Pulverkörner mit dem 
scharfen Löffel verhindern, eventuell mit nachfolgender Hauttransplantation 
oder Naht, wo etwa die Haut in dickerer Schicht entfernt werden mußte. 


Digitized by 


Google 



574 Verbrennung. 

Man kann auch nach Smith 10—12 Stunden nach der Verletzung die durch 
exsudative Entzündung abgehobenen Hautpartien in Narkose oberfläch¬ 
lich entfernen und die so entstandene Wundfläche durch Abreiben mit 
sterilem Wasser und Seife von den noch vorhandenen Pulverkörnern befreien. 

Die Verbrennungen durch die Sonnenstrahlen im Sommer bei 
Touristen, Gebirgsreisenden in der Form von schmerzhaften entzündlichen 
Rötungen (Erythema solare) oder mit Bläschenbildung (E czema solare) 
behandelt man anfangs, so lange noch heftige Schmerzen vorhanden sind, 
mit kühlen Umschlägen (Aq. plumbi mit etwas Eis), dann mit Waschungen 
mit verdünntem Alkohol und schließlich durch Bestreichen mit Zinkpaste 
und Bepudern mit Zinkoxyd und Amylum (1 : 5—10). Prophylaktisch emp¬ 
fiehlt es sich, daß Personen mit empfindlicher Haut sich gegen Sonnenver¬ 
brennungen bei größeren Bergtouren schützen durch Tragen von Sonnen¬ 
schirmen, Schleiern oder durch Bestreichen der Haut mit Zinkpaste und 
durch Bepudern mit Amylum usw. 

Die Behandlung der Verbrennungen durch den Blitz ist dieselbe 
wie bei den gewöhnlichen Brandwunden (siehe oben). Die sogenannten 
Blitzfiguren der Haut, die bekannten vielfach verzweigten, braunroten 
Zickzacklinien oder Verästelungen erfordern keine Behandlung, sie sind nach 
Rollet durch Hämoglobin bedingt, welches infolge der Einwirkung des 
Blitzes auf das Blut von den roten Blutkörperchen gelöst wird und dann 
durch die Gefäßwände nach außen transsudiert. Haberda erklärt die Blitz¬ 
figuren durch eine Paralyse der Gefäßnerven. Die Allgemeinsymptome 
der vom Blitz Getroffenen werden nach denselben Regeln wie beim Shock 
behandelt, wir haben die Therapie oben kurz angegeben. Oft sind Wieder¬ 
belebungsversuche (Frottierungen, künstliche Respiration etc.) bei scheinbar 
Leblosen notwendig, und man muß dieselben oft längere Zeit fortsetzen, bis 
sie erfolgreich sind. Die motorische Schwäche der Extremitäten, die Blitz¬ 
paralysen dauern gewöhnlich nur wenige Tage oder heilen vollständig unter 
elektrischer Behandlung. 

Auch in der Elektrotechnik entstehen besonders durch den Stark¬ 
strom, wie schon erwähnt, Verbrennungen und in klinischer und forensischer 
Beziehung interessante Verletzungen, sie sind zum Teil ähnlich wie beim 
Blitzschlag; sie sind besonders von Jellinkbr genauer beschrieben worden. 

Die Verbrennungen durch die Röntgenstrahlen sind in letzter Zeit 
seltener geworden, weil wir gelernt haben, die Röntgentechnik richtiger an¬ 
zuwenden, als es früher der Fall war. Bei empfindlicher Haut sind wir vor¬ 
sichtig mit der Anwendung der Röntgenstrahlen. Ich sah eine vollständige 
Verbrennung respektive Verstümmelung der rechten Hand eines Kaufmanns, 
bei welchem ein Arzt wegen Lupus die Röntgenstrahlen zu intensiv ange¬ 
wandt hatte. Mühsam beobachtete den Verlust eines Fingers bei einem Arzt, 
Brown, Osgood und andere konstatierten vorübergehende Sterilität (Azoo¬ 
spermie) durch Absterben der Spermatozoon. Besonders bei Kindern sei man 
vorsichtig mit der Anwendung der Röntgenstrahlen. Försterlixg sah bei 
jungen, stark wachsenden Tieren schon nach einmaliger andauernder Be¬ 
strahlung erhebliche Wachstumsstörungen. Die erwähnten Verbrennungen 
und Gewebsstörungen sind zuweilen erst 5—6 Monate nach Aussetzen 
einer monatelang angewandten Röntgenbestrahlung aufgetreten (Skixnrr). 
Besonders Albers- Schönberg , Lew-Dorn und andere haben zuerst 
Schutzvorrichtungen für Patienten, Ärzte und Fabrikanten gegen Röntgen¬ 
strahlen angegeben. Um Schädigungen der Kranken bei der Röntgenbe¬ 
strahlung zu vermeiden, schützen wir die gesunden Körperteile durch Blei¬ 
platten, dosieren die Stärke der Strahlen durch ein Chromoradiometer, 
wählen den richtigen Fokusabstand (9—12—20 cw), wenden mittel weiche 
bis harte Röhren nicht zu lange an usw. 


Digitized by ^.ooQle 



Verbrennung. — Veronfünatrium. 575 

Audi die Radiumstrahlen soll man mit größter Vorsicht anwenden 
und die Stärke des Präparates vor der Anwendung bei Kranken an seiner 
eigenen Haut prüfen. 

Die Behandlung der Verbrennungen durch Röntgen- und Radiumstrahlen 
geschieht In der oben angegebenen Weise. 

Literatur: Albkbs-ScbCmbbbo, Lehrbuch der Röntgentechnik. Hamburg, Lucas, Graefc 
& Silfom, 2. Aull., 1906, — Derselbe, Schutzvorrichtungen gegen Schädigungen durch 
Röntgen strahlen. Zentralbl. f. Chir., 1903, pag. 637. — Ärnavirlche, Blitzverletzungen. Arch. 
de mäd. et de pharmac. militaires, August 1908. — Burkhardt, Verbrennungstod. Arch. 
!. klin. Chir., Bd. 75. — Dieterichs, Verbrennungstod. Ross. Arch. (. Chir., 1903. — Burma* 
und van Hoooemhutzb, Verbrennungstod. Virohows Arch., Bd. 183. — Freund, Grundriß 
der gesamtes Radiotherapie. Wien 1903. — Helstbd, Verbrennungstod. Arch. f klin. Chir., 
Bd. 79, — Jblunmhr, Elektropathologie. Die Erkrankungen durch Blitzstrahl und Starkstrom. 
Stuttgart, Ferd. Enke, 1903. — Lealb, Verbrennung bei Kindern. New York med. record, 
1908. — Locke, Blutuntersuchungen bei Verbrennung. Boston med. and surg. Journal, No¬ 
vember 1902. — Pfeiffer, Verbrennungstod. Vibchows Arch., Bd. 180. — Polland, Ver- 
brenuungstod. Wiener klin. Wochenschr., 1907, Nr. 8. — Renner, Behandlung. Zentralbl. !. 
Chir., 1908, pag. 907. — Sqnnunbubq, Deutsche Chir., Lief. 14. — Tillmanns, Lehrbuch 
der allgemeinen Chirurgie, 10. Aufl., 1907. — Valentin, Verhalten der Schilddrüse bei Ver¬ 
brennungen. Vibchows Arch., Bd. 191. — Wbidenfbld, Archiv für Dermatologie u. Syphilis, 
Bd. 61 und Wiener med. Wochenschr., 1902, Nr. 44 und 45. — Wilms, Verbrennungstod. 
Grenzgebiete der Medizin und Chirurgie, Bd. 8. H. Tillminns. 

Veronalnatrimn. Um ein gut lösliches Schlafmittel herzustelien, 
versetzte Steinitz 1 ) eine Aufschwemmung des schwer löslichen Veron&ls 
mit Alkali, wobei das leicht lösliche Veronalnatrimn entstand. Später ließ 
er sich das Salz von der chemischen Fabrik Schering hersteilen und stellte 
damit eingehende Versuche an. Das Veronalnatrimn ist das Mononatriumsalz 
der Diäthylarbitursäure von der Formel 

/Na 

c 2 CO—n/ 

>c< 

C t H 6 / x CO—NH 

Es ist ein weißes kristallinisches Pulver von bitterem und schwaoh alkalischem 
Geschmack. In kaltem Wasser löst es sich leicht zu 20%, während Veronal 
selbst nur zu 0*7% löslieh ist. Unter Erwärmen lassen sich sogar 30%ige 
Lösungen herstellen. Innerlich gab Steinitz das Präparat in etwa % Glas 
Wasser, worin es sich leicht löste. Ist der Magen nicht säurefrei, so wird das 
Salz darin in das freie Veronal verwandelt, daher empfiehlt Steinitz, die 
Abendmahlzeit 3—4 Stunden vor dem Schlafengehen einnehmen zu lassen 
und dann das Veronalnatrimn zn geben, wo es dann in einen leeren oder 
doch säurefreien Magen kommt. Es wirkte nach Steinitz rascher als das 
Veronal Die gute Wasserlöslichkeit des Salzes ist fflr die rektale Anwendung 
des Mittels von großem Werte, da man mit sehr kleinen Flüssigkeitsmengen 
auskommt. Man kann dann nach Steinitz mit einer kleinen Spritze 5 cm 8 
injizieren, was reizlos vertragen und von gutem Erfolge war. Dagegen ließ 
sieh nach subkutanen Injektionen eine deutlich schnellere Wirkung nicht 
mit Sicherheit konstatieren. Die Menge der zu injizierenden Flüssigkeit läßt 
sich bei der guten Löslichkeit des Salzes auf 2 cm 8 für 0*5 g einschränken, 
doch reizt diese 25%ige Lösung etwas, besser werden 10%ige Injektionen 
vertragen. Während Steinitz das Präparat für die innere und rektale An¬ 
wendung warm empfiehlt, rät er zur subkutanen Injektion nur in besonderen 
Fällen. Desgleichen war Ebstein 2 ) mit dem Veronalnatrimn (hauptsächlich 
bei innerer Anwendung, seltener rektal) sehr zufrieden. 

Auch Winternitz 8 ), welcher mit v. Mering öfters die einzelnen 
Glieder der Veronalgruppe vor ihrer Einführung in die Praxis geprüft hatte, 
wandte in einer Reihe von Fällen das Veronalnatrium an. Ein Vergleich er¬ 
gab, daß manchmal Veronal, manchmal das Natriumsalz desselben die bessere 



Digitized by 


Google 



Wirksam ufm. Der CitcrseUed im Eutritt 4er Wl-k—g war frtt ^n>6 
Der Wirkungntnodus ist natürlich bei beides Prifwitf der rfnrbp Sr dje 
rektale Anwendung ist die Leichtlösiichkett des \atrwabcs ne Verteil 
bei interner Anwendung ist Yeronal des besseres Gesrh-inrhren r tfia tjc* 
zuziehen« Aaeb die subkutane Injektion des meoem Mitiek kt Wornum ‘t 
geprüft und gefunden, daß die Schlaf Wirkung kaeesrcgs m pnspl «foi^t 
ab man erwarten sollte: (ro Veronalnatrimn wirken rssfrkrh n kbi iA 
stärker als 10 Veronalnatriom subkutan. Das subkutan wirkende, dem 
Verona! im übrigen gleichende Schlafmittel, das ins sack Zimg Am sp ra ch 
noch fehle, ist also das Veronainatriom nicht. Wonroani Misst an. daß 
vielleicht die Upoiden Stoffe im Unterhaotzeflgewebe and im Mssireffect- 
gewebe im Sinne der Mmtscben Xarkosetheorie das Srhlefmfttel provi¬ 
sorisch an sich reißen and daß dadurch die schwache Wirkumg der sub¬ 
kutanen Injektion ihre Erklärung findet. 

In der psychiatrischen Praxis hat Mm *) auf der KBuflfc von ZnHi\ 
das Veronalnatriom erprobt and es bei Delirium tremen s . Parmnoca chronica. 
Paranoia acuta hallocinatoria, Dementia paralytica. Loes cerebri and Hysterie 
angewandt. Er fand, daß Injektion» von 1*0 Veronalnatrium nkht imstande 
sind, >Erregungszustände mit der dominierenden Gewalt des Hyoszins mm 
unterdrücken. Schlaf trat nach den Einspritzungen zwar verschiedentlich, 
jedoch meist erst nach einigen Stunden ein. Einen Unterschied der Wirkung, 
ob das Mittel per os oder subkutan verabreicht wurde, konnten wir nicht 
feststellen«. Für die sobkutane Anwendung kommt noch in Betracht. daß 
wegen der stärkeren Kanüle, der größeren Flussigkeitsmeiige (5 cm : ) und 
der Konzentration der Lösung die Injektionen beschwerlicher waren 'als die 
Hyoszineinspritzangen), so daß die Patienten beim Anblick der Spritze in 
Aafregang gerieten. Bei Schlaflosigkeit und Unruhe, Verwirrungszuständen. 
bei Status epilepticus und den nächtlichen Anfällen haben Fischsä und 
Hoppe 4 ) von der rektalen und subkutanen Anwendung des Veronalnatriums 
recht Gutes gesehen, allerdings steht das Mittel an Wirksamkeit dem 
Amylenhydrat bei Status epilepticus nach. 

Das Präparat wird von MBRCK-Darmstadt und von Bayer- Elberfeld als 
Veronalnatrium, von Schering als Medinal in den Handel gebracht. 

Wer sich für die Symptomatologie und Kasuistik der VeronalVer¬ 
giftungen interessiert, sei bei dieser Gelegenheit auf die ausführliche Zu¬ 
sammenstellung von Steinitz 7 ) hingewiesen. 

Literatur: i ) Steibitz, Über die therapeutische Verwendung leicht töelicber Schlaf¬ 
mittel ans der Veronalgruppe. Die Therapie der Gegenwart, Juli 1908, pag. 292. — Ä > Ea- 
steim, Über Erfahrungen mit Medinal (Schkbimo). Münchener med. Wochenschr., 1909, Nr. 3, 
pag. 130. — •> H. WiRTKBNiTz, Über Veronalnatrium. Med. Klinik, 1906, Nr. 31, pag. 1189- 
— 4 ) H. Wimtkkmitz, Über Veronalnatrium und die Erregbarkeit des Atemzentrums, sowie 
den Bauerstoffverbraocb im natürlichen und künstlichen 8ch1af. Münchener med. Wochenschr., 
1908, Nr. 50, pag. 2599. — •) Fbitz Mohz, Klinisch-therapeutische Versuche mit Medinal. 
Med. Klinik, 1908, Nr. 48, pag. 1834. — 6 ) Fischeb und Hoppe, Über Veronalnatrium. Die 
Therapie der Gegenwart, Dezember 1908, pag. 551. — 7 ) Stbihitz, Zur Symptomatologie, 
Prognose und Therapie der akuten VeronalVergiftungen. Die Therapie der Gegenwart, Mai 
1908, pag. 203. E. Frey. 


Digitized by t^oooLe 



Wüstenklima* In letzter Zeit mehren sich die Stimmen, welche 
das Wüstenklima als besonders heilsam und den Winteraufenthalt in dem¬ 
selben als Kurmittel empfehlen. Page-May, P. Engel, H. Engel und Hobson 
haben durch mehrjährige Beobachtungen in Helouan zur Charakterisierung 
dieses Klimas beigetragen. Aus den Tabellen über die mittlere Temperatur, 
die extremen Temperaturen und die mittlere Morgen- und Abendtemperatur 
in den Monaten November bis April ist ersichtlich, daß der Krankentag 
in Helouan, das heißt die Anzahl der Stunden, während welcher die Kranken 
täglich im Freien weilen können, eine ganz bedeutend größere ist als in 
unseren Winterkurorten. Man kann mit wenigen Ausnahmen sich täglich 
von 9 Uhr morgens bis 6 Uhr abends außerhalb des Hauses aufhalten und 
selbst die späteren Abendstunden von 9 Uhr ab sind noch geeignet zum 
Liegen im Freien. Allerdings sind die Teraperaturdifferenzen zwischen Tag 
und Nacht sehr groß, und wenn auch die große Lufttrockenheit der Kälte 
teilweise ihre schädigende Wirkung nimmt und der abendliche Temperatur¬ 
abfall nicht plötzlich, sondern langsam und unmerklich erfolgt, so ist doch 
für Rheumatiker und Nephritiker Vorsicht empfehlenswert. Ein mächtiger 
Heilfaktor ist der intensive, am Tage fast ununterbrochene Sonnenschein, 
wobei durch die außerordentliche Klarheit der Wüstenatmosphäre die Sonnen¬ 
strahlen ungehindert und ungeschwächt zur Erde gelangen. Die wesentlichste 
Eigenschaft des Wüstenklimas ist seine Trockenheit, die mittlere relative 
Feuchtigkeit erreicht besonders in den wärmeren Monaten erstaunlich niedrige 
Werte (am niedrigsten im Juni 12'1 %i am höchsten im Dezember 63*9%). 
Die sprichwörtliche Trockenheit der Wüstenluft ist nach H. Engel in dem 
Mangel üppiger Vegetation, in der außerordentlich austrocknenden und 
Feuchtigkeit aufsaugenden Wirkung der Sonnenstrahlen sowie in der weiten 
Wüstenfläche begründet, über welcher sich nicht nur in den Bergen Nebel 
und Wolken sammeln, sondern wo jeder Dunst im weiten Raume rasch 
verflöchtet. Den Begriff von drückender erschlaffender Schwüle kennt man 
im Wüstenklima nicht. Da in der Wüste wenig Feuchtigkeit von der Erde 
aufsteigt, so sind auch Wolkenbildungen und damit Niederschläge selten; 
ein wirkliches »Einregnen« kommt auch im Winter nicht vor. Es fühlen sich 
in dieser trockenen, warmen Luft besonders Rheumatiker, Gichtleidende 
und Nierenkranke sehr wohl. Hervorzuheben ist auch die Reinheit und 
Keimfreiheit der Luft, nach H. Engel sind durchschnittlich 28 Keime pro 
100 Liter Luft in der Wüste. Diese Reinheit der Luft läßt die Pracht des 


Digitized by 


Google 


Encyclop. Jahrbücher. N. P. VIII. (XVII.) 



578 


WQstenklima. 


reinen Blau des Himmels, des Sternenglanzes und des Vollmondlichtes so 
herrlich hervortreten. Der Barometerstand ist sehr wenig wechselnd, zirka 
755—762 mm, Gewitterbildung ist selbst im Sommer selten. Für den Kur¬ 
ort Helouan, welcher der geeignetste Aufenthalt zur therapeutischen Ver¬ 
wertung des Wüstenklimas bietet — die Saisonzeit ist Anfang November 
bis Ende April —, hat H. Engel folgende Indikationen angegeben: Als 
wichtigste Heilanzeige Nephritis besonders nach Scharlach, Influenza, chro¬ 
nische Nierenbeckenentzündung, Rekonvaleszenz nach Nierenoperationen, 
chronische Katarrhe der Blase. Von Krankheiten der Respirationsorgane: 
Nicht vorgeschrittene Lungentuberkulose, chronische Bronchialkatarrhe, 
Asthma, Heufieber. Weiters fUieumatismus der Muskeln und Gelenke sowie 
hartnäckige Hautkrankheiten (Mitbenutzung der warmen Schwefelquellen 
Helouans), Syphilis, Neurasthenie, Diabetes und Gicht, Rekonvaleszenz. 

Literatur : F. Engel, Das Winterklima Ägyptens. Berlin 1903. — H. Engel, Über 
Ägyptens Knrorte nnd Indikationen. Zeit sehr. f. physiol. u. diätet. Therapie. Bd.9, 1905. — 
H. Engel nnd W. Pbeminger, Der Wüstenknrort Helonan and seine Schwefelquellen. Helonan 
1908. Kisch. 


Digitized by ^.ooQle 



Index. 


ä. 

Abdominaltyphus 1, Über¬ 
tragungsmodus 1, Basillen¬ 
träger 2, Auftreten im Heere 
2, pathologische Anatomie 
und experimentelle Patholo¬ 
gie 3, Klinik 3, Prognose, Dia¬ 
gnose 5, WiDAL»che Agglu¬ 
tinationsprobe 6, Ophthalmo- 
nnd kutane Reaktion 6, Para- 
typhus 6, Metatyphus 7, Ty- 
phobazillose 7, Therapie 8, 
Therapie der Darmperfora¬ 
tion 10. 

Acetaldehyd 444. 

Aceton 444. 

Aeetophenon 444. 

Ad e r 1 a ß 11, bei Stauungen im 
kleinen Kreislauf 11, bei 
Pneumonie 12, bei Hirndruck 
nach Verletzungen 12, bei 
Apoplexia cerebri 12, bei 
Polycythämie 13, beim Herz¬ 
schlag 13, bei Urämie 13, 
bei Eklampsie 13, bei Ver¬ 
giftungen 14, Technik 14. 

Adrenalin 14 , Chemie 15, Pu¬ 
pillenerweiterung 16, Gefä߬ 
streifenmethode 16, Adrena- 
linämie bei Nephritis 16, 
Dauerwirkung 17, Wande¬ 
rung im Nerven 18, Wech¬ 
selbeziehungen mit anderen 
Organen 18, Osteomalacie 
und Rachitis 19, exzitierende 
Wirkung 20, bei atonisoher 
Nachblutung 20, Arterio¬ 
sklerose 21. 

Adrenalin als Hormon 203. 

Adrenalinämie bei Nephritis 16. 

Adrenalinmydriasis 18. 

Agglutininschwankungen nach 

’ } Tuberkulineinspritzungen 
607. 

Akonitintherapie der Trige¬ 
minusneuralgie 499. 

Aktionsströme des Herzens, 
Ableitung der 113. 

Albulaktin 24 . 


Alkalidarreiohung und Azeton- 
körperausscheidung 105. 

Alkoholische Demenz 376. 

Alkoholische Paralyse 377. 

Alkoholische Pseudoparalyse 
375, 376. 

Alkoholische Verrücktheit 376. 

Allophansäure 25. 

Allosan 25 . 

Almatein 26 . 

Ameisensäure im Harn 252. 

Amidosäuren, Zuckerbildung 
aus — beim Phlorizindia- 
betes 99. 

p-Aminophenylarsinsaures Na¬ 
trium 34. 

Amylenhydrat 443, 445. 

Amylenhydrat bei 
Eklampsie 26 . 

Anaemia splenica 388. 

Aneurysmenoperationen 

27 , Diagnose des Aneurysma 

28, Therapie 29, Operations¬ 
methoden nach Antyllus 29, 
nach Hütkb 29, nach Huntbb 
30, nach Bbasdor 30, mo¬ 
derne Methoden 30. 

Anosmie bei Ozaena 329. 

Antiformin 31. 

Antituberkulin im Blute 501. 

Aperitol 32 . 

Aphasie 421. 

Aphasie bei cerebraler Kinder¬ 
lähmung 233. 

Apomorphin 33. 

Apoplexia sanguinea, Aderlaß 
bei 12. 

Apraxie 422. 

Arbeitsfähigkeit vor und nach 
dem Unfall 564. 

Arhovin 33. 

Aristol 34 . 

Arsanitas 34. 

Arsazetin 34 . 

Arsen 35. 

Arsenogen 36 . 

Arsonvalisation 488. 

Arterenin 15. 

Arteriendefekte, Heilung durch 
Transplantation 494. 


Arterionekrose nach Adrenalin- 
injektionen 21. 

Arteriosklero se 36 , patho¬ 
logisch - anatomische Be¬ 
schreibung 36, TnoMAssche 
Lehre 36, experimentelle Ar¬ 
teriosklerose 89, Verbreitung 
4t, Symptomatologie 42, 
Therapie 42. 

Äthylchlorid als Inha- 
lationsanästhetikum 

22 . 

Äthylalkohol 443. 

Äthylaminoazetobrenzkatechin 

15. 

Asferryl 43 . 

Asklerosol 43 . 

Aspirin 44 , Idiosynkrasie 
gegen 44. 

Asthmabehandlung mit Glüh¬ 
lichtbädern 198. 

Asymbolie 421. 

Asymmetrie, bilaterale 
44 , beim Menschen und bei 
höheren Tieren 44 , Asym¬ 
metrie der Knochen 46, der 
Gliedmaßen 46, des Nerven¬ 
systems und der Sinnesor¬ 
gane 48, der äußeren For¬ 
men des lebenden Körpers 
48, Rechtshändigkeit und 
Asymmetrie der beiden Kopf- 
und Gesichtshälften 50, 
Asymmetrie des Gesichts 51 r 
Formen der Gesichtsasym¬ 
metrie 51, Asymmetrie in 
der Kunst 63. 

Atmen, verschärftes, abge¬ 
schwächtes 521, sakkadier- 
tes 522, Bronchialatmen 522, 
bei der Auskultation der 
Lungen. 

Atmung, künstliche 431. 

AtoniBche Nachblutung, Adre¬ 
nalinwirkung bei 20. 

A t r o p i n 53, bei Asthma bron¬ 
chiale 53, bei Ulcus ven- 
triculi 53. 

Atropinbehandlung der 
Hypersekretion 54 , 




580 


Index. 


Atropin um metby lbroma- 
tnm 56. 

Angenheilmittel 56 . 

Augenmuskelinnervation, Stö¬ 
rungen der 233. 

Auswurf bei Lungentuberku¬ 
lose 510. 

Azetessigsäure 103. 

Azidosis beim Menschen 102, 
Einfluß der Kohlehydrate 
104. 

Azetonausscheidung beim Phlo- 
rizindiabetes 101. 

Azetonkörper 102. 

Azeton 102. 


B. 

Balkenstich 196. 

BAHTi8cbe Krankheit 387. 

Bazillenträger 2. 

Benzinvergiftnng 58 . 

Berliner Rettungsgesellschaft 
429. 

Blausäure 58 . 

Blut, Übertragung des Typhus 
durch 2. 

Blutdruckmessung, Me¬ 
thoden der 58 , auskul¬ 
tatorische 59, oszillatorische 
59, 60, graphische 59. 

Bluthusten, Behandlung 552. 

Blutkörperchenzählung, Pipet¬ 
ten zur 74. 

Blutmenge des Gesunden 74, 
bei Fettleibigen 74, bei Chlo- 
rotischen 74, bei ödem 74. 

BlutmengenbeBtimmung 
beim Lebenden 65 , ko- 
lorimetrische Bestimmung 
nach Ple8ch 65, Bestim¬ 
mungsmethode durch Koh¬ 
lenoxydinhalation und di¬ 
rekte CO - Bestimmung in 
ganz geringen Blutquanti¬ 
täten nach Zumtz-Plbsch 70. 

Blutung beim Typhus 3. 

Blutuntersuchung 74 . 

Bolus 75 , bei Diphtherie 75. 

ß-Oxybuttersäure 102. 

Brom 76, Wirkung der Brom¬ 
salze 76. 

Bromural 77, 443, 446. 

Bronchialdrüsen bei Lungen¬ 
tuberkulose 535. 

Brustschmerz bei Lungentuber¬ 
kulose 510. 

Brustumfang beim Gesunden 
243. 

Bnttersäure im Harn 252. 


c. 

CALMETTKSche kou junkti vale 

Tuberkulinreaktion 503. 
Caput obstipum 81. 
Cardiotonin 79 . 


I Cardol 479. 

Cheiloplastik 365. 
Chloralformid 443. 
Cbloralbydrat 443. 

Cbloralose 443. 

Chloroform, innerlich 91. 
Cholalsaures Kotarnin 462. 
Chorea bei zerebraler Kinder¬ 
lähmung 232. 

Chrom 79 . 

Chromatolyse 358. 
Chromatotexis 358. 
Chromophotometer nach 
Plbsch 68. 

Chronischer Alkobolismns und 
Minderwertigkeit 268. 
Chrysarobin 80 . 

Cbylurie 257. 

! Contraktur 80 . 
i CowpBRBche Drüsen, Sekretion 
i der, beim Knaben 470. 
Corpuscula oryzoidea im Ans- 
wurf bei Lungentuberkulose 
512. 

Cyanhämoglobin 58. 


D. 

Dammrisse, vereiterte 398. 
Dampfheizung in Schulen 449. 
Darm, Röntgendiagnostik des 
439. 

Darmperforation beim Typhus 
5, Behandlung der 10. 
Darmschleimhaut, transito¬ 
rische Hyperämie der, mit 
blutigen Diarrhöen bei Ery- 
sipelas 124. 
Darmtuberkulose 536. 

D6bilit6 rönale 322. 
Dechloruration bei Nephritis 
314. 

Dekapsulation der Nieren bei 
Nephritis 315. 

Desalgin 91 . 

Diabetes 91 , Zuckerbildung 
aus Eiweiß 91, Zuckerbil¬ 
dung aus Fett 95, Phlorizin- 
diabetes 98, intravenöse 
Phlorizininjektion 100, Phlo- 
rizindiabetes beim Menschen 

101, Azidosis beim Menschen 

102, Duodenaldiabetes 107. 
Diabetes und Myopathien 284. 
Diarrhöen, Behandlung mit 

Oxygar 326. 

Diarrhöen, blutige, bei Diar¬ 
rhöe 124. 

Diäthyl-Barbitursäure, wasser¬ 
lösliches Mononatriumsalz 
der 259. 

Diäthylbromacetamid 443. 
Diäthylketon 444. 
Dibromkohlensaures Kalzium 
441. 

Digipuratum 110 . 
Dimethylketon 444. 

Dionin 57. 


Dioxyphenyläthanolamin 15. 

Dioxyphenyläthanolraetbyla- 
min 15. 

Diplosal 111 . 

Diuretika 128. 

Dormiol 443. 

Dracontiasis, klinisches Bild 
166. 

Dracuncnlus Mcdinensis 133. 

Druckpunkte 283. 

Duodenaldiabetes 107. 

Duodenum, Exstirpation des, 
und Diabetes 107. 

Dünndarmgeschwüre bei Ery- 
sipelas 124. 

Dyspraxie 422. 

E. 

Eczema solare 574. 

EDBBOBLssche Operation der 
Nieren 315. 

Eihautreste, retinierte 398. 

Eisenarsenpräparate 319. 

Eklampsie, Behandlung mit 
Amylenhydrat 26. 

Eklampsie der Kinder, Behand¬ 
lung mit Atropinbrom me¬ 
tby lat 55. 

Elastische Fasern im Auswurf 
bei Lungentuberkulose 512. 

Elektrische Ophthalmie 554. 

Elektrische Ophthalmie siehe 
ultraviolette Strahlen. 

Elektrischer Leitungswider- 
stand der Haut 389. 

Elektrokardiogramm 118 , 
Form des normalen 113, 
Bezeichnung der Zacken 
115; Systolen und Extra¬ 
systolen im Elektrokardio¬ 
gramm , die Deutung der 
Kurven 116, Diagnostik des 
pathologischen Elektrokar¬ 
diogramms 118, Elektrokar¬ 
diogramm bei Herzfehlern 
120 . 

Elephantiasis arabum und Fi- 
laria Bancrofti 144, 147. 

Empfindlichkeit der Haut gegen 
Hitze und Kälte beim Kin¬ 
de 334. 

Endometritis saprophytica, 
streptococcica 398. 

Entartete 266. 

Entartungszeichen bei Minder¬ 
wertigen 262. 

Epilepsie 266. 

Epilepsie und cerebrale Kin¬ 
derlähmung 234. 

Epithelkörperchen, Transplan¬ 
tation der 497. 

Erektionen bei Knaben 470. 

Erfrierung 120 , Symptoma¬ 
tologie 120, Behandlung 122. 

Erfrierungstod 122. 

Erinnerungstäas chungen bei 

polyneuritischein Irresein 
377. 


Digitized by 


Google 



Index. 


581 


Ernährung bei Lungentuber¬ 
kulose 550. 

Erysipel, kuratives 125. 

Erysipelas 122 , klinisches 
Bild 123j Komplikationen 
124, Behandlung 125, Be¬ 
handlung des Fiebers 126. 

Eryeipelas gangraenosum 124. 

Erysipele salutaire 125. 

Erysipeloid, zoonotiscbes 126. 

Erythema migrans 126. 

Erythema solare 574. 

Escalin 127 . 

Essigsäure im Harn 252. 

Eucerin 67. 

Eulatin 127. 

Euphorglas 556. 

Euphyllin 128. 

Eustenin 42, 129 . 

Extrasystolen im Elektrokar¬ 
diogramm 116. 


F. 

Fermotoxin 8. 

Fettniere bei Pankreaskrank- 
lieiten 256. 

Fettsäuren , Ausscheidung 
flüchtiger 252, im Hunger 
253. 

Fettsäuren und AzetonkÖrper- 
austcheidung 106. 

Fibroly sin 130 . 

Fibrolysin bei Angenkrank¬ 
heiten 57. 

Fieber bei Lungentuberkulose 
528, 529, 530. 

Filaria Bancrofti 133, 134, 
Übertragung 146. 

Filaria Demarquay 133, 157, 
Beschreibung 157, Embryo¬ 
nen 158. 

Filaria dinrna 133, Periodizi¬ 
tät 139. 

Filaria loa 133, 149, geogra¬ 
phische Verbreitung, Be¬ 
schreibung 150. 

Filaria magalhaesi 167. 

Filaria mcdinensis 162. 

Filaria nocturna 133, 135. 

Filaria Ozzardi 158. 

Filaria perBtans 133, 155, Be¬ 
schreibung 155, Embryonen, 
Übertragung 156. 

Filaria Powelli 168. 

Filaria volvulus 133, 159, Pa¬ 
thologie 161, Therapie 162. 

Filarien 131 , Technisches 
132. Filaria Bancrofti 134, 
Epidemiologie der Filaria 
Bancrofti 143, pathologische 
Anatomie 144, Klinik 145 
(Abszeß, Lymphangitis 146, 
Lyraphskrotum, Elephantia¬ 
sis 147, variköse Leisten¬ 
drüsen, Chylurie 148), Chy- 
lozele 149, Varicen der 


Lymphgefäße 149, Orchitis 
149. 

Firnissumach 478. 

Fischvergiftung 7. 

Fluktuation 239. 

Flüsterstimme, auskultatori¬ 
sche Untersuchung der 523. 

Folia Toxicodendri 482. 

Formamint 170 . 

FoBNETSches Verfahren znr An¬ 
reicherung der Typhusba¬ 
zillen 6. 

Freiluftkur bei Lungentuber¬ 
kulose 548. 

FaEunsche Theorie 171 . 

Frostbeulen 121, Behandlung 

122 . 

Frnchtzuckerausscheidang im 
Harn 251. 

Fürsorge erziebung 176 , 
französisches Fürsoigeer- 
ziehungsgesetz 176, Beschäf¬ 
tigung und Unterweisung 
geistig abnormer Zöglinge 
190, Fragebogen zur Fest¬ 
stellung geistiger Minder¬ 
wertigkeit bei dem Fürsorge¬ 
zögling 191, Aufhebung der 
Fürsorgeerziehung 193, psy¬ 
chiatrische Belehrung in der 
Fürsorgeerziehung 195, Ein¬ 
richtung von Unterrichts- 
knrsen 195. 


G. 

Gallenanreicherungsmetbode 
der Typbusbazillen 6. 

Gallenblase, Rolle der, beim 
Typhus 2. 

Gastritis, eitrige 7. 

Gehirnstich 196. 

Gehörvermögen, Entwicklnng 
des — beim Kinde 332. 

Gehversuche beim Kinde 337. 

Geisteskrankheit und Minder¬ 
wertigkeit 268. 

GelcnkihenmatiBmus und Ty¬ 
phus 4. 

Geloduratkapseln 197 , zur 
PaukreaBdiagnostik 198. 

Geruchssinn beim Kinde 333. 

Geschmacksempfindungen, Un¬ 
terscheidungsvermögen für, 
beim Kinde 333. 

Giftsumach 478. 

Girasanzahnpaste 198 . 

Gleitpalpation der Intestina 

212 . 

Glüblichtbäder bei Asth¬ 
ma 198 - 

Glykonsäure, Wirkung auf die 
Azetonkörperausscheidung 

105. 

Glykosurie, nicht diabetische 
354. 

Granolyse 358. 

Gn ajakose 199 . 


Gummihandschuh, steriler, An¬ 
wendung bei der Unter¬ 
suchung Kreißender 397. 


H. 

Hämatemese beim Typhus 4. 

Hämoptoe bei Lungentuberku¬ 
lose 526, 527. 

Hallauergläser 556. 

Herz, Schädigungen des, 
beim Typhus 3. 

Herzkranke, Behandlung mit 
der Karellkur 220. 

Hauttransplantation nach 
Thieksch 492, nach Kbausb 
492, Verband 493, Anhei¬ 
lung der Hautstiicke 493. 

Hedonal 443 

HEiNE-MEDiNsche Krankheit 
226. 

Hemisphäre, Läsionen der lin¬ 
ken, des Gehirns 422. 

Heräuslampe 555. 

Herba RboYs Toxicodendii402. 

Hermophenyl 56. 

Herzfehler, Elektrokardio¬ 
gramm bei 120. 

Hitzschlag, Aderlaß bei 13. 

Hochfreqnenzströme mit zu- 
saramengedrängten Schwin¬ 
gungsgruppen 489. 

Hodennekrose beim Typhus 4. 

HoDKiNBche Krankheit 386. 

Homorenon 15. 

Hormone 200 , Begriff 200, 
Beispiele 201. 

Hornhaut, Braunfärbung der, 
durch Chrom 79. 

Hydrastin 462. 

Hydriatik des Typhus 9. 

Hydrokephalus und Balken¬ 
stich 196. 

Hyoscin 447. 

Hyperämie, arterielle 239. 

Hypersecretio chronica con- 
tinua, Behandlung mit Atro¬ 
pin 54. 

Hypersekretion, alimentäre 
oder digestive, Behandlung 
mit Atropin 54. 

Iiypnal 443. 

Hypnon 444. 

Hysterie 266. 

Hysterische Phänomene, psy¬ 
chischer Mechanismus 171. 


i. 


Idiotie und zerebrale Kinder¬ 
lähmung 235. 

Inbalationsanästhetikum 22. 
Insuff icientia vertebrae 
207 , Behandlung 210. 
Interkostalneuralgie, doppel¬ 
seitige 208. 


Digitized by 


Google 



582 


Index. 


Intestinalpalpation mit¬ 
tels der topographi¬ 
schen Gleit- und Tiefen- 
palpation 212 . 

Ischias nnd Myopathien 282. 

Isopral 443. 


j. 

Jodoformersatzmittel 26. 
Jodomenin 219 . 


K. 

Kalabarschwellnngen 153. 

Kalomelöl 409. 

Kamerunschwellnngen 153. 

Karellkur 220 , Indika¬ 
tionen 222. 

Kehlkopf bei Lungentuberku- 
lose 535. 

KehlkopftnberknloBe, 
chirurgische Behand¬ 
lung der 222 , mit Milch¬ 
säureätzung 223, mit Gal¬ 
vanokaustik 223. 

Keloid224, Behandlung225. 

Keuchhustenmittel 127. 

Kinderlähmung, spinale 
225 , akutes Stadium 226, 
chronisches Stadium 226, 
227, Therapie 227, patholo¬ 
gische Anatomie 228. 

Kinderlähmung, zere¬ 
brale 229 , klinische Er¬ 
scheinungsform 230, patho¬ 
logische Anatomie 236, The¬ 
rapie 236. 

Klimatische Bubonen 237 . 

Klumpfuß, paralytischer 87. 

Knochendefekte, Heilung durch 
Transplantation 495. 

Knochenhöhlen, Ausfüllung von, 
mit erhärtendem Material 
496. 

Kochsalz bei Lungen¬ 
blutungen 238 . 

Kolloidale Metalle in der 
Typhustherapie 9. 

Kompressionsmyelitis, Kon¬ 
trakturen bei 86. 

Kongestion 239 , funktio¬ 
nelle 239, passive 240. 

Kontrakturen 80 , ange¬ 
borene 80, erworbene 82, 
dermatogene und desmogene 
82, myogene 83, ischämische 
84, spastische 85, neurogene 
84, Reflexkontrakturen 84, 
paralytische Kontrakturen 
86, arthrogene 89, Behand¬ 
lung 89. 

K onstitutionsanomalien 

241 . 

Konträr-Sexuelle 266. 

Konversion 173. 

KoRssAKOwsche Krankheit 375. 


Krankenbeförderung 
246 , auf dej Eisenbahn 247, 
Gerätschaften zur Beförde¬ 
rung Verunglückter und 
Kranker 250. 

Kreosotalollophansäureester 

25. 

KuöNiosche Schallfelder 518. 

Kutane Reaktion bei Typhus 6. 

L. 

Lähmungen, kortikale 229, spi¬ 
nale 225. 

Lähmungen und Kontrakturen 

86 . 

Laktalbumin 24. 

Lävulosämie 251. 

Lävulose, Wirkung auf die Aze- 
tonkörperaussebeidung 105. 

Lävnlosurie 251 . 

Laxinkonfekt 252 . 

Leber, Verhalten der, bei Lun¬ 
gentuberkulose 536. 

Leberveränderungen nach Adre¬ 
nalininjektionen 21. 

Leberzirrhose, hypertrophische 
beim Typhus 4. 

Lehrer, Erkrankungen 453. 

Lehrerinnen, Erkrankungen 
453. 

Leistendrüsen, Entzündung der 
237. 

Linoval 252 . 

Linsenkern, Herde im 232. 

Lipacidurie 252 , hepato- 
gene 253. 

Lipurie 254 , Nachweis des 
Fettes 254, hämatogene Li¬ 
purie 255, bei Krankheiten 
der Niere 256, bei Lipämie 
und Verfettung innerhalb des 
uropoetischen Systems 256, 
Unterscheidung der Lipurie 
von der Chylurie 257, Be¬ 
handlung 257. 

Lochien, bakteriologisch 393. 

Luftheizung in Schulen 449. 

Lumbago 287. 

Lumbalneuralgie, doppelseitige 
208. 

Lnngenblutungen 526. 

Lungenödem, Aderlaß bei 11. 

LungenBpitzenperkussion nach 
Goldscheidrr 520. 

Lungensteine im Auswurf bei 
Lungentuberkulose 511. 

Lungentuberkulose, Komplika¬ 
tionen der 534, physikali- 

j sehe Untersuchungsmetho- 

I den 513, Inspektion 51, Pal¬ 

pation, Mensuration 514, Per¬ 
kussion 515, Auskultation 
521, Röntgendurchleuchtung 
524, Prophylaxe der 540, 
Therapie 542, Allgemeinbe¬ 
handlung 546, symptoma¬ 
tische Behandlung 551, Sym¬ 
ptome 508. 


Luxationen, paralytische des 
Hüftgelenks 88. 

Lymphangitiden, rezidivierende 
bei Filaria Bancrofti 144. 

Lymphangoitis, fortschreitende 
kapilläre der Haut 122. 

Lymphdrüsen, Verbreitung der 
Typhusbazillen in 3. 

Lymphodermta cutis 381. 


M. 


Magen, Röntgendiagnostik des 
433, Form und Lage des 
normalen Magens 435 (Ha¬ 
kenform 425, Rinderhorn¬ 
form 435), Peristaltik des 
Magens im Röntgenbilde 437, 
pathologische Magenverän¬ 
derungen im Röntgenbilde 
438. 

Magenbeschwerden bei Patien¬ 
ten mit myogener Migräne 
295. 

Magenblase im Röntgenbilde. 

Magenblutungen, Behandlung 
mit Escalin 127. 

Magenstörungen bei Lungen¬ 
tuberkulose 535. 

Makrobiose 258 . 

Malaria und Typhus 5. 

Malignes Granulom 386. 

Malonylharnstoffe 443. 

Maltosurie 258 . 

Malzzuckerausscheidung im 
Harn 258. 

Mammahormon 203. 

Massage bei Myopathien 298. 

Masturbation bei Kindern 471. 

Medinal 259 , 446, 576. 

Melliturie 284. 

Meloplastik 637. 

Meningitis und Erysipelas 124. 

Menthol in der Typhusthera¬ 
pie 9. 

Mergal 56. 

Metatarsalgie 284. 

Metatyphns 7. 

MEYKKSTBiNSche Methode zur 
Anreicherung der Typhus- 
bazillen 6. 

Microfilaria diurna 150, Sym¬ 
ptome 152. 

Migräne myogener Natur 294, 
Genese der myalglscben 
Form 294. 

Mikrofilarien 131. 

Milch, Pasteurisierung der 8. 
Übertragung des Typhus 
durch 1. 

Milchkuren 220. 

Milz, Verhalten der, bei Lungen¬ 
tuberkulose 537. 

Minderwertigkeit, geisti¬ 
ge 259 , Abgrenzung des 
Begriffes 259, Neigung der 
Minderwertigen za antisozia¬ 
len Handlungen 260, Klinik 


Digitized by 


Google 



Index, 


583 


der Grenzznstände 261, recht¬ 
liche Beurteilung der Grenz¬ 
zustände nach deutschem 
Recht 263, angeborener oder 
•früh erworbener Schwach¬ 
sinn 265, moralisch Schwach¬ 
sinnige 266, psychopathisch 
Minderwertige 266, Minder¬ 
wertigkeit als Teilerschei¬ 
nung schwerer geistiger 
Störung (bei periodischen 
Geistesstörungen, Epilepsie, 
Hysterie und Neurasthenie) 
266) bei chronischem Alko- 
bolismus 268, bei chroni¬ 
schem Morphinismus und Ko¬ 
kainismus 268, bei Geistes¬ 
kranken 268, Begriff der 
geminderten oder vermin¬ 
derten Zurechnungsfähigkeit 
269, Änderung des Straf¬ 
vollzuges 275, Bewahran¬ 
stalten 276, Einrichtung 
dieser Anstalten 277, Dauer 
der Verwahrung 277, sichere 
Nachbehandlung 278, pro¬ 
phylaktische Behandlung 
280. 

a - Monobromisovalerianylharn- 
»toff 77. 

Monobromisovalerianylbarn- 
stoff 443. 

Moralisch Schwachsinnige 266. 

Morphinismus, chronischer und 
Minderwertigkeit 268. 

Morphiumbrommethylat 

281 

Mobton sehe Krankheit 284. 

Mückenstechrtissel, Bau des 
141. 

Mundbildung 367. 

Multiples Myelom 383. 

Musikzentrum 426. 

Muskelrheumatismus und Kon¬ 
trakturen 83. 

Myalgie 282 . 

Myalgien der oberen Baucb- 
muskulatur 286. 

Myalgien der unteren Partien 
der Rückenmuskulatur 287. 

Myeloide Pseudoleukämie 383. 

Myopathien, funktionelle 
281 , rheumatischer Natur 
283, bämorrhoidaler Natur 
283, bei Konstitutionskrank¬ 
heiten 284, funktionelle Myo¬ 
pathien der die großen Kör¬ 
perhöhlen begrenzenden Mus¬ 
keln 286, Migräne myogener 
Natur 291, Prognose 296, 
Therapie 297. 


N. 

Nachahmungstrieb beim Kinde 
337. 

Nachtschweiße der Phthisiker 
532. 


Nährpräparate 258.) 

Narbenkeloide 224. 

Narkose 22, 23. 

Nasenbluten 305 , infolge 
blutenden Nasenpolyps 305, 
infolge bösartiger Geschwül¬ 
ste 306, infolge krankhafter 
Beschaffenheit der Nasen¬ 
schleimhaut 306, vikariie¬ 
rendes 306, Feststellung 
des Ortes 307, Behandlung 
307 (durch vordere Tampo¬ 
nade 308, durch Serumein¬ 
spritzungen 309). 

Nasenpolyp, blutender 305. 

Nebennieren 14, 15. 

Nebennierengewebe, Trans¬ 
plantation in die Nieren 498. 

Nephritis 309 , Ätiologie 
310, pathologische Anatomie, 
Symptomatologie 312, funk¬ 
tionelle Schädigung und Re¬ 
tention harnfähiger Stoffe 
313, Behandlung 314, ope¬ 
rative Behandlung 315, Ad- 
renalinämie bei 16, chroni¬ 
sche und Myopathien 284, 
genuine, idiopathische chro¬ 
nische 311. 

Nervennaht 315 , direkte 
315, indirekte, paraneuroti- 
sebe 315, bei Substanzver- 
lustendes Nerven 316, Nach¬ 
behandlung 317, Regenera¬ 
tion der Nerven nach der 
Nervennaht resp. Neuro- 
plsstik 318. 

Nervus peroneus, Lähmung im 
Gebiete des 88. 

Nenrasthenie 266. 

Neuronal 443. 

Neuroplastik 318. 

Nierendiagnostik und Phlori- 
zinglykosurie 102. 

Nierenentzündung, akute, 
chronische 309. 

Nierenkrankheiten und Lipnrie 
256. 

Nierentransplantationen 498. 

Nikotin im Tabakrauch 483. 

Nukleogen 319 . 


o. 

Ödeme, Bekämpfung der 314. 

öl, graues 409. 

Ophthalmoreaktion bei Typhus 

6 . 

Opsonin Schwankungen nach 
Tube rkulineinspritzungen 
507. 

Orgasmus 239. 

Orthostatische Albuminurie 
320. 

Ort ho tische Albuminurie 
320 , der ausgesebiedenen 
Eiweißkörper 320, Auftreten 
und Ätiologie 321, Wesen 


der 322, infolge Verlegung 
der physiologischen Lordose 
324 

Ösophagus, Fremdkörper des 
432, Tumoren 432, Stenosen 
432, Divertikel 432. 

Ösophagus, Röntgendiagnostik 
des 431. 

Osteomalazie und Nebennieren 
19. 

Osteoplastik 495. 

Ozalurie 325 . 

Oxybuttersäureausscheidung 
beim Phlorizindiabetes 101. 

Oxygar 328 . 

Ozaena 327 , Ozaena Sim¬ 
plex 327, Chamäoprosopie 
bei Ozaena 327, Wesen der 
Ozaena 327, Behandlung 329. 


p. 

Pädagogische Psycholo¬ 
gie und Psychohygiene 
331 , Beginn und Entwick¬ 
lung des kindlichen Seelen¬ 
lebens 331, Entwicklung der 
Sinne 331, Entwicklung des 
Gefühlslebens 334, Entwick¬ 
lung des Verstandes 335, 
Entwicklung des Willens und 
der willkürlichen Bewegun¬ 
gen 336, Erscheinen der Aus¬ 
drucksbewegungen 338, Ent¬ 
wicklung der Sprache 339, 
die Anfänge der Erziehung 
342 (Wann soll die Erziehung 
beginnen 342, Wer soll die 
Erziehung übernehmen 342, 
Gewöhnung an Ordnung 343, 
Belohnung und Strafe 346, 
Erziehung zur Reinlichkeit 
347, Gehorsam und Sugge¬ 
stion 348, Dressur 348, Be¬ 
lehrung 349, das Fragen des 
Kindes 349, sexuelle Auf¬ 
klärung 350, die Bewahrung 
der Kindlichkeit 351, Er¬ 
weckung des Pflichtgefühls 
351, der erzieherische Wert 
des Spieles 352). 

Palpation der Intestina 212, 
topographische Palpation 
215. 

Palpation des Pylorus 216, der 
großen Kurvatur des Magens 
217, des Appendix 217 (pal- 
patorische Unterscheidung 
des, von der Pars coecalis ilei 
217), Palpation des Coecum 
und Colon transversum 218. 

Pankreasexstirpation und 
Adrenalinwirkung 18. 

Pantopon 354 . 

Parabiose 498. 

Paratfinimplantation 496. 

Paraffininjektionen zur Behand¬ 
lung der Sattelnasen 371. 


Digitized by 


Google 



584 


Index, 


Paraldehyd 444. 

Parametritis 398. 

Paratyphus 6. 

Paratyphusbazillenträger 7. 

Pentosurie 354 . 

Periodische Geistesstörungen 
266. 

Peristaltikhormon 204. 

Perkussion der Lungen bei 
Tuberkulose 515. 

Perniones 121. 

Pervers Sexuelle 266. 

Perverse Innervation 282. 

Phenolphthalein als Abführ¬ 
mittel 32. 

Pblorizindiabetes 98. 

Phlorizindiabetes und Pan¬ 
kreasdiabetes, Verhalten des 
Quotienten D:N 99. 

Phtalsanres Kotarmin 462. 

Pikrinsäure - Brillantgrünagar 
zum Nachweis von Typhus¬ 
bazillen 6. 

Plasmatochterzellen 357. 

Plasmazellen 355 . 

Plasmazellen, atrophische 357. 

Plastische Operationen 

363 , Bildung gestielter Lap¬ 
pen 363, an der Schädelhöhle 

364, an den Lippen 365, Mund¬ 
bildung 367, Wangenbildung 
367, plastische Operationen 
anderNase368, Operation der 
Sattelnasen 370, plastische 
Knochenoperationen im Ge¬ 
sicht 371, die temporäre Ab¬ 
lösung der Weichteile von der 
Nase 372, die temporäre 
osteoplastische Resektion des 
Oberkiefers 373, die plasti¬ 
schen Operationen am 
Rumpfe und Extremitäten 
373. 

Plazentarreste, retinierte 398. 

Pleuritis bei Lungentuberkulose 
534. 

Pleuritis, vorgetänscht durch 
eine Affektion der Thorax- 
muskulatnr 291. 

Pneumonie, Aderlaß bei 12. 

Pneumothorax, Behand¬ 
lung des 373 , bei Lungen¬ 
tuberkulose 534. 

Poliomyelitis acuta epi¬ 
demica 375 . 

Poliomyelitis anterior acuta und 
Kontrakturen 87. 

Polyneuritisch (‘«Irresein 
375 , Differentialdi agnose 

377, Anatomie, Prognose, 
Therapie 378 

Polycythiimie, Aderlaß bei 13. 

Propäsin 379. 

Propion 444. 

Proponal 443, 446. 

Prosekretin 201, 202. 

Pseudoangina pectoris, myo- 
gene 287. 


Pseudoleukämie 380 , Be¬ 
zeichnung 380, Formen 381, 
anatomisches Substrat 381, 
lymphadenoide Pseudoleuk¬ 
ämie 381, Lymphosarkome 
383, myeloide Pseudoleuk¬ 
ämie 383, multiples Myelom 
383, Diagnose der Pseudo¬ 
leukämie intra vitam 385, 
Tuberkulose des lymphati¬ 
schen Apparates 386, malig¬ 
nes Granulom 386, Hodokih- 
8che Krankheit 387, Banti- 
sehe Krankheit 387, Anaemia 
splenica 388. 

Pseudostenokardie, myogene 
287. 

Pseudotabes peripherica 375, 
376. 

Psyche der Phthisiker 533. 

Psychogalvanisches Re¬ 
flexphänomen und ver¬ 
wandte Erscheinungen 

389 . 

Psychopathisch Minderwertige 

266. 

Puerperale Peritonitis 406. 

Puerperalfieber 392 , über 
Gonokokkeninfektion im 
Puerperium 392, septisches 
392, Prophylaxe 396, Thera¬ 
pie 397, Lokalbehandlung 
398, Allgemeinbebandlung 
402, operative Behandlung 
404, puerperale Peritonitis 
406. 

Pulver Verbrennungen der Haut 
573. 

Pupillenerweiternde Wirkung 
des Suprarenins 16. 

Putride Allgemeininfektionen 
464. 

Pyäinie (s. a. Sepsis) 462,465. 

Pyosalpinx 398. 

Pyocyanase bei Augenkrank¬ 
heiten 57. 


Q. 

Quecksilber 409 , graues 
' öl, Kalomelöl 409, Kho- 
mayeks Quecksilbermaske 
41. 

Qnecksilbcrtherapie, biologi¬ 
sche 411. 


R. 

Rachitis und Nebennieren 19. 

Rasselgeräusche bei Lungen¬ 
phthise 522. 

Rechtshändigkeit und 
Linkshändigkeit 412 , 
beim Kind 412, in der Ge¬ 
schichte 412, in der Gegen¬ 
wart 412, Häufigkeit 413, 
Entstehung der Rechtshän¬ 


digkeit 417 (Theorie 417, 
Lage des Kindes vor der Ge¬ 
burt 418, Lage des Schwer¬ 
punktes im Körper 419, Zu¬ 
fälligkeiten als Ursache 419, 
die Rechtshändigkeit als in¬ 
direkte Folge der Lage der 
Organe im Körper 419, ent- 
wicklungsgeschichtlicbe Er¬ 
klärungen 420), Folgen der 
Rechtshändigkeit 421, das 
Schreiben als Ursache der 
einseitigen Lage des Sprach¬ 
zentrums im Gehirn 424. 

Rechtsverbrecher 260. 

Regionen, schmerzhafte, bei 
Affektionen der Nackenmus¬ 
kulatur 294. 

Resorzin 56. 

Rettungswesen 428 . 

Rhinoplastik, partielle oder 
totale 368. 

Rhois aromaticae 482. 

Rhus Toxicodendron 478. 

Rhus venenata 478. 

Rhus vermicifera 482. 

RizinusÖlallophansäureester25. 

Röntgendiagnostik des 
Magendarmkanals 431 , 
Beobachtung des Ösopha¬ 
gus im Röntgenbilde 431, 
Röntgenologische Untersu¬ 
chung des Magens 433, Rönt¬ 
gendiagnostik des Darms 
439. 

Röntgendurchleuchtung der 
Lungen bei Tuberkulose 524. 

Rose 122. 

Rotlauf 122. 


s. 


Sabromin 441 . 

Salizylsäure, Bern stein säure- 
ester der 110. 

Santalolpräparate 491. 

Sattelnasen, Operation der370. 

Schädeldefekte, Transplanta¬ 
tion bei 495. 

Scharlachrot 57. 

Scheidenrisse, vereiterte 398. 

Schiefhals, angeborener 81. 

Schiffssanatorium 487. 

Schilddrüse, Transplantation 
der 497. 

Schlafmittel 441 , halogen¬ 
haltige 443, Schlafmittel, 
deren Wirkung auf den Ge¬ 
halt an Alkylgruppen zu- 
rtickzuführen ist 443, Alde¬ 
hyde und Ketone als Schlaf¬ 
mittel 444. 

Schleimhauterysipele 124. 

Schmerzpunkte 283. 

Schreiben als Ursache der ein¬ 
seitigen Lage des Sprach¬ 
zentrums 424. 

Schulgebäude (hygienisch) 447, 
Lage 447, Himmelsrichtung, 


Digitized by 


Google 



Index. 


585 


Größe 448, Schulhöfe 448, 
Heizung 448, Ventilation 
450, Reinignng 452, Abort¬ 
anlagen 452, Turnhallen 453. 

S chulgesund hei ts pflege 
447 , Schulgebäude 447, 
Erkrankungen der Lehrer 
und Lehrerinnen 453. 

Schwachsinn, angeborener oder 
früh erworbener 265. 

8eerouscheln, Übertragung des 
Typhus durch 2. 

Sehnennaht 456 , das Aul¬ 
finden des zentralen Sehnen¬ 
stumpfes 457, Sehuenver- 
pflanzung undSehnenanasto- 
mose 458, Sehnenverkürzung 
oder Sehnenverlagerung 459, 
Veränderung der Ansatz- 
steile der Sehnen 460. 

Sekale 461 

8ekretin 201. 

Sekretionsströme der Haut 389. 

Sepsis und Pyämie 462. 

Serratuslähmung, doppelsei¬ 
tige, beim Typhus 4. 

Serumbehandlung des Typhus 

8 . 

Sexualität des Kindes 
469 , sexuelle Vorgänge 470, 
Masturbation bei Kindern 
471, Erwachen des Ge¬ 
schlechtslebens 471, sexu¬ 
elle Aufklärang 473. 

8exuelle Träume bei Kindern 
471. 

Sinoval als Salbengrundlage 
57. 

Skoliosis hysterica 86. 

Sphygmomanometer nach Riva- 
Rocci, v. Rkcklinghausen 59, 
Uskoff 62, Bingbl 63, Pal 
64, Strauss 64. 

Sphygmomanometrie s. Blut¬ 
druckmessung 58. 

8pinale Kinderlähmung 

475 . 

Spirosal 475 . 

Sprache, Entwicklung der, 
beim Kinde 339. 

Sprachzentrum, einseitige Lage 
des 421. 

SpRBMGKLSche Deformität 81. 

Stoffwechseluntersucbungen 
beim Typhus 4. 

Stomatoplastik 367. 

Stovain 477. 

Stovainan ästhesie des 
Rückenmarkes 477 . 

Streptococcus haemolyticus 
393, roitior 393. 

Streptokokken in den Sexual¬ 
organen der Wöchnerin 393. 

Streptokokkeninjektion der 
Haut 123. 

Streptokokkeninfektion im Pu¬ 
erperium 392. 

Strophantin 476 . 

Stypticin 462. 


Styptol 462. 

Sublimatinjektion zur Typhus¬ 
therapie 9. 

Sulfonal 443, 445. 

Sumach 477. 

Suprarenin 15, synthetisches 15. 
Syphilisbehandlung mit Ars- 
acetin 84. 


T. 

Tabakrauch 483. 

Tartarus depuratus bei 
Leberzirrhose 484 . 

Tastsinn beim Kinde 334. 

Tetronal 443. 

Thalassotherapie 484 , 
Seehospize 484, Seebäder 
485, Stoffwechseluntersu¬ 
chungen an der See 485, 
Heilwert der Seereisen 486, 
Indikationskreis 487, Kon¬ 
traindikationen 488. 

Thermopenetration 488 . 

Thiozon 490 . 

Thrombophlebitis, Operationen 
bei 405. 

Thyresol 491 . 

Tiefenpalpation der Intestina 
212. 214. 

Tinctura Rhois aromaticae 482. 

ToLLBMSSche Orzinprobe 355. 

Topographische Gleit- und 
Tiefenpalpation 212. 

Torticollis rheumatioa 83. 

Toxicodendronsäure 479. 

Toxinämie 464. 

Tragbahren 250. 

Transplantation 491 , 
Hauttransplantation 491, 
Schleimhauttransplantation 
493, bei Arterien und Ve¬ 
nendefekten 494, bei Kno¬ 
chendefekten 495, Ausfül¬ 
lung von Knochenhöhlen 4%, 
Implantation von Paraffin 
oder Vaseline 496, Trans¬ 
plantation ganzer Organe 
496, Parabiose 498. 

Transthermie 488. 

Traumdeutung 174. 

Trigeminusneuralgie 

499 . 

Trional 443, 445. 

Tuberkelbazillen, Verhalten 
der, gegen Antiformin 32. 

Tuberkulinreaktion, kutane 
502, konjnnktivale 502. 

Tuberkulinreaktion als dia¬ 
gnostisches Mittel der Lun¬ 
gentuberkulose 538. 

Tuberkulinreaktion und Herd¬ 
erkrankung 505, 506. 

Tuberkulinwirkung, Theorie 
der 500. 

Tuberkulose der Lungen 

500 , Theorien der Tuber¬ 
kulin Wirkung 500, Symptome 


Enojolop. Jahrbücher. N. F. VDI. (XYII.) 


der Lungentuberkulose 508, 
Diagnose 537, Therapie 540. 

Tuberkulose des lymphatischen 
Apparates 386. 

Turgor 239. 

Turgosphygmograph 64. 

Turgotonometrische Pulsdruck- 
meisung nach Strauss 64. 

Turnhallen 453. 

Typhobazillose 7. 

Typhuserreger, Nachweis im 
Blute 5. 


u. 

Überleitungsstörungen am 
Herzen im Elektrokardio¬ 
gramm 118. 

Ultraviolette Strahlen, 
ihre Einwirkung auf 
das Auge 554 . 

Unfallkunde 556 , Ärztliche 
Versorgung der frisch Ver¬ 
letzten 556, Prognose der 
Unfallneurosen und Einfluß 
der Entschädigungsart auf 
ihren Verlauf 560, Schätzung 
der Arbeitsfähigkeit vor und 
nach dem Unfall 564, Neuere 
Untersuchungsmethode 565, 
Funktionelle Anpassung von 
verletzten Gliedmaßen 567. 

Unfallneurosen, Prognose der 
560. 

Unterchlorigsaures Na¬ 
tron als Desinfiziens 

569 . 

Unterschenkelmuskulatur, voll¬ 
ständige Lähmung der 88. 

Urämie, Aderlaß bei 13. 

Urethan 443. 

Urogenitalapparat, Verhalten 
des — bei Lungentuberku¬ 
lose 536. 

Uterus, Exstirpation bei Puer¬ 
peralfieber 404. 

Uviollampe 555. 


v. 

Valeriansäure im Harn 252. 
Valisan 570 . 
Vaselineimplantation 496. 
Venendefekte, Heilung durch 
Transplantation 494. 
Ventilation im Schulgebäude 
450. 

Verbrennung 570 , klini¬ 
scher Verlauf 570, Narben, 
allgemeine Symptome 571, 
Erklärung des frühzeitigen 
Todes 571, Prognose, Be¬ 
handlung 572. 

Verbrennung durch Röntgen- 
strahlen 574, durch Blitz 

574, durch Radi umstrahlen 

575. 

Digitized by VjOQÄ 



586 


Index. 


Vergiftungen, Aderlaß bei 14. 
Veronal 443, 445. 
Veronalnatrinm 575. 

w. 

Wallung 239. 

Wangenbildung 367. 
Wärmepenetration 488. 
Wasser, Übertragung des Ty¬ 
phus durch Wasser 1. 
Wasserbehandlung des Typhus 
8 . 

Wasserbeizung in Schulen 449. 
Wechselströme, hochfrequente 
488. 


WiDJxsche Agglutinationspro¬ 
be beim Typhus 5. 

Wirbelsäule, Schmerzhaftig¬ 
keit der 207. 

Wismutmahlzeit 433. 

Wismutwasseraufschwemmung 

434. 

WaiOHTSche Schutzimpfung 
gegen Typhus 8. 

Wurstvergiftung 7. 

Wüstenklima 577. 

x. 

Xylose, Wirkung auf die Aze¬ 
tonkörperausscheidung 105. 


z. 

Zerebrospinalflüssigkeit, Nach¬ 
weis der Typhuserreger in 
der 6. 

Zervixrisse, vereiterte 398. 

Zirkulationsapparat, Verhalten 
des — bei Lungentuberku¬ 
lose 530. 

Zuckersäure, Wirkung auf die 
Azetonkörperausscheidung 
105. 

Zurechnungsfähigkeit, gemin¬ 
derte oder verminderte 269. 

Zurechnungsfähigkeit, vermin¬ 
derte 259. 


Druck ron Gottlieb Gietel & Cie. in Wien. 


Digitized by 


Google 



Verlag von URBAN Ä SCHWARZENBERG in Berlin nnd Wien. 


Soeben erschien: 

ATLAS 

CHIRURGISCHER KRANKHEITSBILDER 

IN IHRER VERWERTUNG FÜR 

DIAGNOSE UND THERAPIE 

FÜR PRAKTISCHE ÄRZTE UND STUDIERENDE. 

Von 

Dr. Ph. Bockenheimer, 

(Professor and Privatdozent der Chirurgie an der Universität Berlin.] 

Zweite, verbesserte Auflage. 

150 farbige Abbildungen auf 120 Tafeln nebst erläuterndem Text.j 
Lieferung X. ' ] 

Preis: 3 M. = 3 K 60 h. 

Diese neu verbesserte Auflage gelangt in 12 Lieferungen äjK 6 oh zur 
Ausgabe und wird bis zum Winter 1910 fertig vorliegen . jj? 

Es ist damit ein Werk dem ärztlichen Publikum geboten, das nicht 
nur an Schönheit und Gediegenheit, sondern auch an Billigkeit seinesgleichen 
sucht. Das Werk geht aber noch über den vom Autor gesteckten Rahmen 
hinaus. Es wird dem praktischen Arzt ein willkommenes Belehrungsmittel, 
aber auch dem Lehrer, und nicht nur dem der Chirurgie, sondern besonders 
auch dem der pathologischen Anatomie, eine wertvolle Bereicherung des 
Unterrichtsinventars sein. . . (»Therapie der Gegenwart«.) 


ATLAS DER HAUTKRANKHEITEN 

MIT EINSCHLUSS 

DER WICHTIGSTEN VENERISCHEN ERKRANKUNGEN 
FÜR PRAKTISCHE ÄRZTE UND STUDIERENDE. 


Von 

Prof. Dr. E. Jaoobi, 

Direktor der Dermatologischen Universitätsklinik in Freiburg i. Br. 

Vierte, vermehrte Auflage. 


248 farbige und 2 schwarze Abbildungen auf 134 Tafeln mit erklärendem Text. 
Preis: 44M. = 52K 80 h in Halbfranzband. 


Der Siegeslauf, den dieser prachtvoll ausgestattete Atlas unaufhaltsam 
nimmt, ist wohl verdient. Ich kann mir kaum einen besseren Ratgeber für 
den Anschauungsunterricht in der Dermatologie vorstellen als dieses groß 
angelegte Werk, dessen Abbildungen Kunstwerke sind, lauter Treffer, keine 
einzige Niete. Der Preis ist für das, was geboten wird, ein mäßiger zu 
nennen. (»Therapeutische Monatshefte.«) 


Digitized by 


Google 





Verlag ron PRBAM & SCHWAftZEMBERG ln Berlin und fiep. 


ANATOMISCHER ATLAS 

FÜR STUDIERENDE UND ÄRZTE. 


Unter Mitwirkung von Prof. Dr. DALLA ROSA herausgegeben 


von 


Dr. Karl Toldt, 

k. k. Hofrat, o. ö. Professor der Anatomie an der Universität Wien. 


Sechste, verbesserte und vermehrte Auflage. 

Mit 1505, zum Teil mehrfarbigen Holzschnitten und erläuterndem Text. 

Preis komplett: 57 M. 20 Pf. = 68 K 64h in 6 Bdn. geb. 

Die glänzenden Vorzüge des Toldtschen Atlasses sind schon mehr¬ 
fach hervorgehoben worden. — Dazu prägt sich auch hier wieder die 
souveräne Beherrschung des Stoffes in der Auswahl der Figuren aus, von 
denen eine jede ihren wohlüberlegten besonderen Zweck erkennen läßt. 
Dem Praktiker ist Toldts Atlas immer wieder rückhaltlos zu empfehlen 

(»Zentralblatt für Chirurgie.«) 


ATLAS 

DER 

ÄUSSEREN AUGENKRANKHEITEN 

FÜR ÄRZTE UND STUDIERENDE. 


Von 


Dr. Richard Greeff, 

Professor der Augenheilkunde an der Universität und Direktor der königl. Augenklinik in der Cbaritl, Berlin. 
84 farbige Abbildungen nach Moulagen auf 54 Tafeln mit erläuterndem Text. 

Preis: 25 M. = 30K gebunden. 

Dieser Atlas kann nicht nur dem Ophthalmologen, sondern auch dem 
praktischen Arzt empfohlen werden, da er ihm ein genaues, wahrheitsge¬ 
treues Bild von den meisten äußeren Augenkrankheiten gibt. 

(»Deutsche med. Wochenschrift.«) 

Digitized by Google 












% 


0 







*