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LAHE MEDICAL LIBRARY
STANFORD UNIVERS1TY
MEDICAL CENTER
STANFORD, CAUF. 94305
REAL-ENCYCLOPÄDIE
GESAMMTEN HEILKUNDE.
DREI UYDZ W A>TZ t GS T ER BAND»
REAL-ENCYCLOPÄDIE
DER
GESAMMTEN HEILKUNDE.
MEDICLNISCH-CHIRURGISCHES
HANDWÖRTERBUCH
FÜR PRAKTISCHE ÄRZTE.
HERAUSGEGEBEN
PROF. D" ALBERT EULENBURG
in BERLIN.
Mit zahlreichen Illustrationen in Holzschnitt.
Zweite, umgearbeitete und vermehrte Auflage.
DREIÜNDZWANZIGSTER BAND.
WIEN und LEIPZIG.
Urban & Schwarzenberg.
1891.
ENCYCLÖPÄDISCHE JAHRBÜCHER
DER
(iE SAH TEN HEILKUNDE.
UNTER MITWIRKUNG DER HERREN
Hofrath Prof. ALBERT, Wien - Doc. B. BAGINSKY, Berlin - Geh. Ober- Med.- Rath Prof.
A. BARDELEBEN, Berlin — Prof. K. BARDELEBEN, Jena — Docent G. BEHREND, Berlin — Prof.
BINSW ANGER , Jena — Med. -Rath Prof. BIRCH - HIRSCHFELD , Leipzig - Dr. A. BUM, Wien —
Oberstabsarzt a. D. v. CORVAL, Baden-Baden — Prof. EICHHORST, Zürich — Doc ENGLISCH,
Wien — Prof. EWALD, Berlin — Oberstabsarzt H. FRCELICH, Leipzig — Prof. FÜERBRINGER,
Berlin - Prof. GAD, Berlin - San. -Rath Doc. P. GUTTMANN, Berlin — Prof. Th. HD SEMANN,
Gottingen — Prof. v. JAKSCH, Prag — Med-Rath Prof. KISCH, Marienbad-Prag - Prof. KLEIN-
W^CHTER , Czernowitz — Prof. J. KRATTER, Innsbruck - Prof. LCEBISCH, Innsbruck — Prof.
LORENZ, Wien — Doc. A. MARTIN, Berlin - Doc. v. METNITZ, Wien — Doc. J. MÜNK, Berlin —
Geh. Med.-Rath Prof. PELMANN, Bonn — Hofr. Prof. PREYER, Berlin — Prof. v. REUSS, Wien — Doc
L. RIESS, Berlin — Prof. ROSENBACH, Breslau — Dr. ROSIN, Breslau — Prof. SAMUEL, Königsberg —
Prof. SCHAUTA , Prag — Dr. M. T. SCHNIRER, Wien — Prof. SCHUELLER, Berlin — Prof. SONNEN-
BURG, Berlin — Reg.- u. Med.- Rath WERNICH, Köslin — Kais. Rath Prof. WINTERNITZ, Wien -
Stabsarzt a. D. WOLZENDORFF, Wiesbaden — Doc. M. v. ZEISSL, Wien — Doc. ZIEHEN, Jena
flERAUSßEQEBEN
VON
PROF. DB ALBERT EULENBURG
IH BERLIN, W., LÜTZUWSTRASSE 60».
Erster Jahrgang.
Mit zahlreichen Illustrationen in Holzschnitt.
WIEN und LEIPZIG,
Urban & Schwarzenberg.
1891.
3
:e>e
A.
Abasie und Astasie, p. blocq hat im Jahre 1888 eine eigen-
tümliche Störung des Gehens und Stehens als Abasie und Astasie beschrieben.
Beide sind dadurch charakterisirt, dass das normale Stehen und Gehen unmöglich
ist, während alle anderweitigen Beinbewegungen kräftig und wohl ooordinirt voll-
zogen werden. Der erste Ausbruch ist meist ein ziemlich plötzlicher. Die Störung
ist bald eine andauernde, bald tritt sie anfallsweise auf. In letzterem Falle lässt
sich für den einzelnen Anfall zuweilen keinerlei Gelegenheitsursache nachweisen,
zuweilen knüpft er an bestimmte Nebenumstände an, wie z. B. an das Gehen
auf weiten offenen Flächen und Wegen oder an das Stehen ohne besondere Stütze.
Das Zusammenbrechen ist in der Regel von starkem Schwindelgefühl und Angst
begleitet. Sobald der Kranke sich hinlegt, verschwinden Schwindel und Angst.
Dem Zusammenbrechen können heftige Taumelbewegungen, Zittern oder auch
rhythmische Zuckungen vorangehen. Ab und zu kehrt die Gehfähigkeit zurück,
sobald der Kranke eine vom normalen Gehen abweichende bizarre Gangart (z. B.
mit gekreuzten Beinen oder militärischen Schritt) annimmt. Das Bewusstsein bleibt
im Wesentlichen meist intact.
Die bis jetzt bekannt gewordenen Fälle von Abasie und Astasie weichen
untereinander dermassen ab, dass eine Vereinigung zu einem einheitlichen klinischen
Bild unmöglich ist. Ebensowenig ist auch die psychologische Entstehung in allen
Fällen dieselbe. Zunächst sind einige Fälle unzweifelhaft der Hysterie zuzurechnen.
Die — allerdings mehr oder weniger unbewusste — Vorstellung des Nichtgehen-
könnens und Nichtstehenkönnens würde in diesen Fällen die Störung auslösen.
Charcot's Schüler haben daher geradezu eine Functionsuntüchtigkeit bestimmter Zell-
gruppen angenommen. Umgekehrt neigt Binswangee zur Annahme einer durch den
Affectchoc bedingten Associationsstörung. Andere Fälle haben mit Hysterie nichts
zu thun und nähern sich entweder der WESTPHAi/schen Agoraphobie mit ihrem
primären pathologischen Angstaffect oder den Zwangsvorstellungen oder endlich
den Intentionspsychosen L. Meyer's. — Speciell hat Binswanger auch die
Wichtigkeit pathologischer Organempfindungen des locomotorischen Apparates für
die Entstehung der Störung hervorgehoben.
Erbliche Belastung und neuropathische Disposition werden fast nie ver-
misst. Therapeutisch kommen Opiumbehandlung, Bettruhe, methodische Uebung
der Willkürbewegung der Beine und des Rumpfes, sowie namentlich Suggestion
(in leichter Hypnose) in Betracht.
Literatur: P. Blocq, Arch. de Neuro!. 1888 (hier auch eine Zusammenstellung
alterer Fälle). — 0. Binswanger, Berlin, klin. Wochenschr. 1890, Nr. 21. — Grasset,
Lefom sur un cos d'hystSrie mdle avec astasie, abaste, Paris 1869. — Ladame, Arch. de
Neuro). 1890. — Moebius, Schmidt's med. Jahrb. 1890. — Souza-Leite, Progres
med. 1890. — Thyssen, Vortr. auf dem X. intern. Congress. 1890- — Eulenburg, Neurolog.
Centralbl. 1890, Nr. 23.
Th. Zieh«*.
2
ABDOMINALTYPHUS.
AbdOmifUlltyphUS. Die wesentlichsten, wenn auch keinenfalls praktisch
wichtigsten Fortschritte, welche das seit der letzten Publication des Artikels
Abdominaltyphus verflossene halbe Jahrzehnt gefördert, bewegen sich auf
dem Gebiete der Aetioiogie der Krankheit. Hier begegnen wir, nachdem
A. Pfeiffer die Typhusbacillen in den Stuhlgängen der Kranken als Erster
nachgewiesen, charakteristische Colonien auf Agarfleischpepton und Kartoffeln
gezüchtet, in den fleissigen Untersuchungen von E. Frankel und Simmonds
Bemühungen, den eigentlichen Nachweis derpathogenen Natur der Mikro-
organismen zu führen. Den Experimentatoren schienen vor Allem Uebertragungs-
versuche auf Mause, Meerschweinchen und Kaninchen geglückt zu sein, denen das
Material der Reinculturen intraperitoneal, intravenös und durch Injectionen in
den Darm (Inhalationen erfolglos) beigebracht wurde. Auch A. Frankel erzeugte
tödtliche Infectionen durch Einführung der Bacillen in das Duodenum der Thiere,
während Baum garten und Wolffowitz diese pathogene Bedeutung nicht recht
zu bestätigen vermochten. Und in der That scheint es sich in den Fällen mit
positiven Ergebnissen um Intoxicationen mit den Ausscheidungsproducten (s. unten)
der Typhusbacillen gehandelt zu haben, welche letztere als auf Thiere über-
tragbar nicht gelten können.
Nur ausnahmsweise entdeckten E. Frankel und Simmonds die Bacillen
im Darminhalt, mit welchen Befunden unsere eigenen Erfahrungen durchaus im
Einklänge stehen, soweit frische Dejectionen in Frage kommen Im Blute wurden
die Krankheitserreger vermisst, wie auch die Untersuchungen von Merkel und
Goldschmidt, Janowski und Seitz ergeben haben. Wohl aber gewann man die
Bacillen aus dem Harn Typhöser. Rücksichtlich der praktischen Bedeutung des
letztgenannten Befundes, sowie des Nachweises der Mikroorganismen aus den
Roseolaflecken und dem Milzsaft im lebenden Kranken ist der Abschnitt „Diagnose"
einzusehen.
Es scheint, als ob als praktisch verwerthbarste Diagnose der bekanntlich
nach der GRAM'schen Methode sich nicht färbenden Typhusbacillen ihr von Gaffky
erschlossenes charakteristisches Wachsthum auf Kartoffeln nach wie vor
bewährt bliebe. Makroskopisch wird nämlich auf den mit Erfolg besäten Flächen
so gut wie Nichts wahrgenommen, während man bei der Entnahme mit der Nadel
den Eindruck einer zusammenhängenden feuchten Haut erhält und allenthalben
die Bacillen mikroskopisch in überraschender Menge gefunden werden. Dass die
Typhusbacillen Sporen bilden, zu welcher Frage sich Gaffky und Pfühl eingehend
geäussert, hat Büchner neuerdings in Abrede stellen zu sollen geglaubt.
Von besonderem Interesse ist der Nachweis eines giftigen Alkaloids,
des „Typbotoxins", als isolirbaren Stoffwechselprod uctes der Bacillen durch Brieger.
Dass für die meisten Complicationen des Typhus , wie die Pneumonie,
Pleuritis, Meningitis, Phlegmonen, die Typhusbacillen nicht verantwortlich gemacht
werden dürfen, haben bereits E. Fräskrl und Simmonds dargethan. Immerhin
geht es nicht an, deu Begriff der Eiterung bei der Krankheit überhaupt ausser
Connex mit den pathogene u Mikroorganismen zu setzea, nachdem unter Anderen
Ebb&maier unter ihrer Wirkung richtige Knocheneiterungeu (vergl. Symptomato-
logie) hat zu Staude kommen sehen. Vielmehr werden wir dieses von Donin
ausgesprochene Gesetz dahin zu modificiren haben, dass wir für die „secundären",
beziehungsweise „Misjhinfectionen" hier, wie bei den meisten acuten Infeotions-
krankheiten, den verschiedenen pyo^enen Coccen die Hauptrolle zuweisen (Escherich,
Fischl, Anton, Füttere* u. A.).
Die postmortale Vermehrung und Lebenszähigkeit der Typhusbacillen hat
so manche experimentelle Bestätigung gefunden. Von Belang ist der Nachweis
einer grossen Resistenz gegen Eintrocknung (Seitz). Nach Uffelmann bleiben
die Mikroben 4 Wochen lang im menschlichen Kothe lebend. In Canaljauche
sterben sie schnell ab, in — künstlich inücirtem — Brunnenwasser schwinden sie
nach etwa 2 Wochen (Karlinski). Granchez und Deschamps Hessen mit Typhus-
ABDOMINALTYPHÜS.
3
bacillen versetztes Wasser auf Erde fliessen, um nach Wochen ein nur 50 Cm.
tiefes Eindringen der Pilze in den Boden nachzuweisen.
Derartige Nachweise sind wohl dazu angethan, zur Klärung der Frage,
wie und auf welchen Wegen die Typh usbacillen in unseren
Körper gelangen, beizutragen. Ein entscheidender Werth kommt ihnen natur-
gemäss nicht zu. Auch heutzutage sind wir von einer endgültigen Beantwortung der
genannten Frage nach der Aetiologie unserer Krankheit noch weit entfernt, so
werthvolle Anhaltspunkte gerade die neuesten Epidemieberichte uns geliefert haben.
Nach wie vor stehen sich hier die Boden- und Trink wasserth eorie gegen-
über, wenn auch freilich die letztere immer mehr Anhänger findet. Untersuchungen,
bei Gelegenheit der grossen Züricher Typhusepidemie im Jahre 1884 angestellt,
Hessen weder die Abtrittsverhältnisse und die Canalisation , noch das Grundwasser
als Ursache der Verbreitung erkennen, wohl aber das Trinkwasser aus den Ver-
brauchswasserleitungen als wahrscheinliche Infectionsquelle (Eichhorst , Custer).
Auch Flathen vermochte für Köln einen Zusammenhang der Typhusfrequenz
mit den Bewegungen des Grundwassers nicht ausfindig zu machen. War für die
Wiesbadener Epidemie im Sommer 1885 durch die bezügliche Commission ein
Einfluss der städtischen Wasserleitung auf Entstehung und Verbreitung der Krank-
heit abgelehnt worden, so lehren doch gerade die neuesten Beobachtungen, dass
das Trinkwasser nicht ohne Weiteres als unbetheiligt gelten darf*), und dies um
so weniger, als, nachdem bereits öfters Typhusbacillen in Trinkwässern gefunden
(Chantemesse , Dreyfüs-Brisac und Widal, Morpmanx u. A.), C. Frankel
jüngst den belangvollen Nachweis geliefert hat, dass das Trinkwasser der Stadt
Berlin durch die Sandfiltration von den Typhusbacillen (und anderen Bacterien)
mit Sicherheit nicht befreit zu werden vermag. **) Aber es geht nicht an, aus solchen
Befunden eine rückhaltlose Bejahung der Verbreitung des Typhus durch das Trink-
wasser — Frankel selbst bewahrt hier eine weise Reserve — zu folgern. Ist
doch weder für die Wiener, noch Pester jüngst 3 Epidemie, noch fflr die Verhält-
nisse in Ulm (Volz) eine sichere Ursache ermittelt worden, und haben wir nicht
selbst uns überzeugen müssen, dass das ganz auffallende Epidemisiren des Typhus
in Berlin im Vorjahre weder in der Boden-, noch Trink wassertheorie eine aus-
reichende Erklärung fand. Durchseuchte wie verschonte Stadttheile hatten ihren
Durst aus denselben Wasserleitungen gestillt. Andererseits bestand gerade in den
Strassen mit der dichtesten Morbidität seit längerer Zeit Anschluss an die Canali-
sation, deren — auch andererseits, so für Hamburg durch Simmonds, für München
durch v. Ziemssen***) und Pettenkofer vertretene — einschränkende Wirkung!)
somit diesmal durch einen neuen, einstweilen unbekannten Factor übercompensirt
worden sein muss. Der letztere bleibt trotz der die Trinkwassertheorie für die
*) Für das jüngste Epidemisiren des Typhus in Hamborg (1883—1887) hält Cursch-
xnann (mit Krieg und Hopp fn er) unter sehr bemerkens werther Begründung, aber nicht
ohne lebhaften Widerspruch (Reincke, Körting, Wallichs) das aus der Elbe bezogene
Wasser „dringender wie alles Andere" verdächtig. Bcachtenswerth ist eine neuerdings durch
Cluzan bekannt gegebene Beobachtung, nach welcher sämmtliche an einer kleinen Epidemie
zu Vernon betheiligten Typhuskranke ihr Trinkwasser einem Bache entnommen hatten, in
welchem die Typhuswäsche einer oberhalb gelegenen Ortschaft gewaschen worden war.
**) Die immer noch von Laien und (besonders älteren) Aerzten vertretene Ansicht,
dass der Grad der chemischen Reinheit des Trinkwassers bei dem Zustandekommen von
Typhusepidemien eine Rolle spiele, bedarf hiernach keines Commentars. Wir lenken aber die
Aufmerksamkeit auf die sehr genauen und interessanten Studien Kratter's über die ein-
schlägigen Verhältnisse bei der Grazer Epidemie im Jahre 1886, welche in dem — uns jetzt
verständlichen — Resultat gipfeln, dass gerade in den Hausern mit gutem, beziehungsweise
reinem Trinkwasser die Krankheit sich die meisten Opfer holte.
***) Man vergleiche dessen Berichte über die umfangreichen Assanirungsmassregeln
in München.
+) Nach den Nachweisen von Virchow zeigten gerade diejenigen Stadttheile von
Berlin, welche am längsten die Canalisation geniessen, die wenigsten Todesfälle, eine beredte
Thatsache gegenüber den Anschuldigungen der städtischen Canalisation, dass die aus den
Canälen aufsteigenden Luftmassen die Typhuskeime weiter trügen und die Krankheit in die
Häuser schleppten.
4
ABDOMINALTYPHUS. •
Berliner Epidemie glatt ablehnenden Einwände Pettenkofkr's bestehen, denn
das zeitweise Aufflackern der Morbidität auch nach der Bodenassanirung und die
als Gleichniss herangezogene Thatsache, dass bisweilen auf einem un gedüngten
Felde in einem fruchtbaren Jahre mehr wachse , als in einem unfruchtbaren auf
gedüngtem Acker, ist eben nur mit Hilfe eines besonderen Factors möglich.*)
Auch die Milch ist wieder als Verbreitungsmittel für den Typhus ange-
schuldigt, so namentlich im Canton Luzera und in Dänemark, wo, wie Lehmann
anführt, die Centraimolkereien zu wahren Brutstätten der Krankheit wurden, inso-
fern ihnen Milchsorten aus uncontrolirbaren Ställen und Häusern zugeführt wurden.
Eine eigentümliche Uebertragungsart des Typhus hat Gelau in der
Infection von 8oldaten durch die von Typhuskranken getragenen und mangelhaft
gereinigten Reithosen wahrscheinlich gemacht. Vielleicht haben ähnliche Ursachen
beim Auftreten des Typhus unter den britischen Truppen in Suakin eine Rolle
gespielt. Hier musste das Wasser als unbetheiligt gelten, da die Erkrankten, wie
Sqüire sich überzeugen konnte, zum Kochen und Trinken sich nur des destillirten
Wassers bedient hatten.
Alles in Allem wird der ehrliche und erfahrene Kliniker bezüglich einer
einheitlichen Verbreitungsweise des Typhus mit einem Non liquet schliessen. **)
Dass die Trinkwasserätiologie nach den heut geltenden Anschauungen und beob-
achteten Thateachen für das Gros der Epidemien vor der Bodentheorie das
Moment des Wahrscheinlichen voraus habe, davon halten wir auch uns überzeugt.
Rücksichtlich der ehedem viel ventilirten Frage nach der Uebertragung
unserer Krankheit von Person zu Person sind wieder einige Beiträge zu ver-
zeichnen. Dass nosokomiale Ansteckungen existiren, wird füglich kein erfahrener
Arzt bezweifeln dürfen, allein sie stellen bei schneller und ausgiebiger Desinfection
der Typhusstühle entschiedene Seltenheiten ***) dar. Diese Meinung haben neuer-
dings wieder Goltdammeb, P. Güttmann und wir selbst auf Grund persönlicher
reicher Krankenhauserfahrung auf das Bestimmteste vertreten. So haben wir bei
der letzten Berliner Epidemie, welche einen Präsenzbestand bis zu 114 Typhus-
kranken in das Krankenhaus Friedrichshain lieferte und jede Isolimng aus-
schloss , keine einzige Uebertragung auf andere Kranke zu beklagen gehabt, f)
Andererseits lehrte auch hier die Infection von 4 Pflegeschwestern und 2 Wärtern,
dass in dem fortwährenden Hantiren mit der von infectiösem Material besudelten
Wäsche eine entschiedene Gefahr der Krankheitsübertragung (durch Sitzenbleiben
bacillenhaltigen Materials unter den Nageln mit Mund infection , Zerstäubung und
Einathmung trocken gewordener Kothspuren vor ihrer Desinfection) gegeben ist.
Dass solche Uebertragungen nicht in eine Parallele mit denjenigen der Masern,
des Scharlachs u. dergl. gestellt werden dürfen, ist ebenso selbstverständlich, wie
der Vorwurf eines unverständlichen Gegensatzes jener Vorkommnisse zur Ansteckung
von Person zu Person unerfindlich.
Die Symptomatologie unserer Krankheit anlangend, verfügen wir
über zum Theil recht werthvolle Ausarbeitungen des klinischen Bildes, ohne dass,
von wichtigen Hinweisen auf die Behandlung des Typhus abgesehen, wesentlich neue
Gesichtspunkte gewonnen worden wären. Am zahlreichsten finden sich Mittheilungen
über die Erscheinungen von Seiten des Digestions- und Nervensystems vertreten.
*) Wie die höheren Organismen sind vielleicht anch „die niederen Lebewesen einer
zeitweisen Verkümmerung ausgesetzt" (Seitz).
**) Dass selbst innerhalb der anscheinend durchsichtigsten Fälle unüberwindliche
Schwierigkeiten des Nachweises ätiologischer Momente entstehen können, hat neuerdings wieder
Bartels an der Hand einer eigentümlichen, genau beobachteten Hausendemie gezeigt.
**) Wir dürfen hierbei nicht verschweigen, dass Goth für die Kieler med. Klinik
in der Zeit von 1871—1885 (597 F.) nicht weniger als 5*5°/t Spitalinfectionen berechnet.
f) Man wende nur nicht ein, dass nosokomiale Infectionen uns durch zu frühes
Verlassen der Anstalt seitens der Angesteckten entgangen sein könnten. Wer im Incubations-
stadiam aus unserem Krankenhaus anstritt, dürfte wohl erst recht Veranlassung haben, dasselbe
zur Heilung der neuen Krankheit wieder aufzusuchen.
ABDOMINALTYPHUS.
5
Um mit den Symptomen allgemeineren Charakters zu beginnen,
theüt Paepreb einen Fall mit atypischer Entfieberung unter Schüttelfrösten mit.
Derartige Erscheinungen beobachten wir (die wir mit Weil die intermittirenden
Formen überhaupt zu den leichten Erkrankungen zählen) in mehr weniger aus-
geprägter Form alljährlich mehrere Male, desgleichen Extreme mit fast fieberlosem
Verlauf, wie sie auch Eichhorst nicht weniger als 9 Mal gesehen hat. Sehr
eingehende Aufschlüsse über den Gang des Fiebers auf Grund fleißigster metho-
discher Beobachtungen giebt Ampügnani. Aus ihnen folgt die beachtenswerthe
Schlussthese , dass die hohen Temperaturen gewöhnlich üicht von ungünstiger
Bedeutung sind, vielmehr die höchsten Werthe solche Kranke dargeboten haben,
welche sämmtlich geheilt sind. Das bedeutet eine volle, wenn auch indirecte
Bestätigung der belangreichen Mittheilungen Gläser'S über die Körpertemperatur-
verhältnisse in 200 tödtlich verlaufenden Typhusfällen. Der Autor hat es sich
nicht verdriessen lassen , die Krankengeschichten und Temperaturcurven der
genannten Zahl durchzusehen und durchzurechnen mit dem merkwürdigen Resultat,
dass der Tod in der überwiegenden Mehrheit der Fälle nicht nach einem Ver-
laufe unter hohen Temperaturen eintritt, dass viel höhere Werthe, als man
bislang angenommen, mit dem Leben verträglich sind und dass man im Typhus
sowohl bei durchschnittlich niederen, als bei tief remittirenden Temperaturen
stirbt. Ueber die Beziehungen des Inhaltes solcher Schlüsse, die wir auf Grund
eines reichen eigenen Materials durchaus zu bestätigen in der Lage sind, zur
Prognose und Therapie folgen in den späteren diesbezüglichen Abschnitten noch
weitere Ausführungen. Wohl die werthvollsten neueren Aufschlüsse über die
Gestaltung der Fiebercurve des Typhus an sich verdanken wir Weil, der nicht
weniger als 61 Fälle graphisch darstellt. Wir können hier unmöglich auch nur
die wichtigsten Erscheinungsformen andeuten, glauben aber eine aus ihrer Gestaltung
folgende Lehre des Autors als hervorragend bemerkenswerthe hier reproduciren zu
sollen, umsomehr, als wir selbst durch wachsende Erfahrung fort und fort über ihren
wahren Inhalt uns belehrt sehen : „Es kann sich da, wo der Fiebergang
allen Bedingungen entspricht, die nach den bekannten Sätzen
Wünderlich's einen Typhus mit Sicherheit auszuschli essen
gestatten, dennoch um unzweifelhaften Typhus handeln."
Das Verhalten des Körpergewichtes im Verlaufe des Typhus hat
Cohin eingehend und exact geprüft. Leichte Formen hatten durchschnittlich einen
täglichen Verlust von 1/2 — 1 Pfund zur Folge, schwere, complicirte von l bis
2 Pfund. Maximum der Abnahme zwischen 2. und 3. Woche; die Zunahme erfolgt
viel langsamer. Der Behauptung Kohlschütter's, dass der Gewichtsverlust einer
Zunahme Platz mache, sobald die letzte Spur von Fieber verschwunden, hat neuer-
dings Gläser in ihrer exclusiven Fassung auf Grund eines stattlichen eigenen
Materials widersprechen müssen.
Sehr schwankend sind die Angaben über die Häufigkeit der Recidive
der Krankheit. So fand Schmidt für Leipzig einen Procentsatz von 6*8 (neben
kaum 5% Recrudescenzen) , Weil für Heidelberg 17°/o , Cürschman* für Ham-
burg 14% , Seitz für München 5'60/0. Alles das sind Berliner Verhältnissen
gegenüber auffallend niedrige Zahlen. Schmidt folgert, dass das Auftreten der
Rückfalle in erster Linie vom Charakter der Epidemie abhängig ist, nicht aber
Behandlung und Individualität der Kranken eine Rolle spielen.
Dass wiederholtes Erkranken an Abdominaltyphus zu den ausge-
sprochenen Seltenheiten zählt, ist so ziemlich allgemeine Annahme der Autoren.
Dem gegenüber registrirt Eichhorst, nachdem bereits Skitz in 13 Fällen (2-5°/0)
dasselbe Individuum wiederholt am Typhus erkranken gesehen, dass die Zahl der
mehrmals Befallenen von 666 Typhösen seiner Beobachtung nicht weniger als 28
(4'2°/0) betrug; selbst 3- und imalige Erkrankungen wurden bei einem und
demselben Individuum constatirt. Der Zeitraum zwischen den einzelnen Erkran-
kungen schwankte zwischen 3 Monaten und 30 Jahren.
6
ABDOMINALTYPHUS.
Digestionsapparat. Hier haben die typhösen Rachenerkran-
kungen die ausgiebigste Berücksichtigung gefunden. Mit Recht weist Weil auf
die relativ hohe Zahl (seiner Beobachtung nach fast 12°/0) solcher Patienten hin,
die gleich im Beginne des Typhus die Beschwerden und den objectiven Befund
einer bisweilen sehr intensiven Angina pharyngea klagten und darboten. Auch
uns bind Fälle bekannt, welche mit der Diagnose „Halsentzündung" in's Kranken-
haus geschickt wurden oder, was wesentlich bedenklicher, wegen einer „einfachen
Angina" der Gefahr, von der Aufnahme ausgeschlossen zu werden, mit Noth
entgangen waren. Cm das specielle Studium der einzelnen Formen der Rachen-
erkrankung haben sich besonders Wagneb, Belde und Landgraf verdient
gemacht. Nachdem der erstgenannte Autor die Aufmerksamkeit insbesondere auf
die speeifisch typhöse, unter dem Bilde charakteristischer grauweisser Geschwüre
auf dem Gaumen und den Gaumenbögen (nicht Tonsilleu) erscheinende Form
aufmerksam gemacht, hat Belde unter Zugrundelegung von 24 einschlägigen
Beobachtungen aus unserer Abtheilung des Krankenhauses Fried richbhain unser
Wissen Lach mancher Richtung erweitert. Er unterscheidet Hyperämien, Hämor-
rbagien, Anginen (mit den Unterabtheilungen der catarrhalischen, folliculären und
croupösen, beziehungsweise diphtherischen Tonsillitis), Geschwüre und Lähmungen.
Als von den meisten früheren Angaben abweichendes Resultat ergiebt sich unter
Anderem, dass die recht häufigen Rachenerkrankungen in allen Stadien der
Krankheit vorkommen können und die diphtherischen wie speeifisch typhösen
Formen vorwiegend eine grosse Malignität besitzen. In einem gewissen Gegensatz
hierzu hat Landgraf, welcher die durch Erkrankung der Mundspeicheldrüsen
bedingte Austrocknung der Mundhöhle die Art der Entzündung, beziehungsweise
Geschwürsbildung beeinflussen lässt, an der Hand eines nicht geringen Materials
die hohe Neigung selbst der schwersten Formen der Rachenschleimhauterkrankung
zur Heilung betont. Hier kann nur eine auffallende Häufung günstiger Fälle auf
der einen und ungünstiger auf der anderen Seite den Widerspruch erklären,
denn an Umsichtigkeit in der Behandlung hat es bei uns nimmer gefehlt. Die
Gefahr der Verwechslung der „pseudomembranösen" Form mit Diphtherie im
Kindesalter hat Cadet de Gassicoürt nach Gebühr hervorgehoben.
Von den Darmerscheinungen haben fast nur die Blutung und
Perforation eingehende Würdigung gefunden. Weil, der stärkere Hämor-
rhagien in 7*6% beobachtete, kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass, von
den massenhaften Blutverlusten abgesehen, mit dem Erscheinen der Blutung eine
gewisse Wendung zum Besseren einzutreten pflegt. Nach Lindsay gestaltet eich
die Prognose um so übler, je später die Complication eintritt. Auf Bekanntgabe
der in nicht unbeträchtlicher Zahl erfolgten statistischen Beiträge müssen wir
hier verzichten.
Rücksichtlich der Darmperforation beanspruchen jüngste Mitthei-
lungen Reuxert's besonderes Interesse , da sie einmal nicht gewöhnliche statistische
Daten beibringen, das andere Mal 3 einschlägige Genesungsfälle aus dem
Krankenhause am Friedrichshain in ausführlicher Begründung mittheilen. Sie
betreffen 3 Frauen im Alter von 22 , 25 und 48 Jahren. Die sichere Diagnose
des Darmdurchbruches war zu entnehmen aus dem plötzlichen Auftreten heftiger
Schmerzen im Verein mit rapidem Collaps, insbesondere kleinem und jagendem
Pulse. Rücksichtlich der Gestaltung der Leberdämpfung und Exsudatbildung sind
die eingehenden Erörterungen Reuxert's allgemeineren Werthes in Bezug auf
die — bislang nur mangelhaft gewürdigte — Unterscheidung einer brutalen Per-
foration mit Pneumatose der ganzen Bauchhöhle und einer solchen ohne oder mit
beschränktem Gasaustritt. Es besitzt diese Differenzirung , wie wir aus unseren
klinischen Beobachtungen gar nicht scharf genug deduciren können, einen eminenten
Werth für die Stellung der Prognose. Rücksichtlich der Häufigkeit der Perfora-
tionen im Verhältniss zur Mortalität des Alters der Kranken und der Localität
des Dnrehbruches ergab eine Durchsicht der Sectionsprotokolle über die im
ABDOMINALTYPHUS.
7
Krankenhaus Friedrichshain in den letzten 12 Jahren unter Anderem erfolgten
362 Typhustodesfälle das jedenfalls aparte statistische Resultat einer relativ leb-
haften Betheiligung des Kindesalters, beziehungsweise der ersten 12 Lebensjahre
an der (im Ganzen 41 Mal [ll'3°/0] beobachteten) tödtlichen Complication, nämlich
zu fast 10% bei 60 Todesfällen. Auch eine 87jährige Frau bezahlte die Compli-
cation mit dem Leben. Die Perforation selbst wurde mit wenigen Ausnahmen im
Ileum, in geringer Entfernung von der Klappe aufgefunden.
In einen eigen thümlichen Gegensatz zu den obenerwähnten Erfahrungen
über die Häufigkeit des Darmdurchbruches bei typhösen Kindern stellt sich die
Erfahrung Wolbbrg's, der in 277 Fällen von Kindertyphus kein einziges Mal
Peritonitis oder Perforation beobachtete. Auch Montmollin berechnet die Häufig-
keit der letzteren auf nur l'3°/n.
Die vorwiegende Localisation des Typhusprocesses im Dickdarm stattet
Mebcier mit den klinischen Symptomen des Schmerzes, besonders bei Palpation
des Colon, tehr starkem Mettorismus und ungewöhnlich reichlichen Diarrhoen aus,
was wir unserer Erfahrung nach, für welche Colotyphen keine besondere Selten-
heit bedeuten, nur mit weitgehenden Einschränkungen gelten lassen können.
Endlich ist erwähnenswerth, dass Klempeeek in der Leiche eines unter erschöpfendem
Erbrechen und Durchfall zu Grunde gegangenen Typhuskranken Magengeschwüre,
wahrscheinlich traumatischen Ursprungs (Aetzwirkung) und Diphtherie des Dick-
darmes (keine Calomelbihandlung) fand. Im Leben fehlte die „Typhushysterie"
bei habitueller Neurasthenie, die gewöhnliche Grundlage der von uns beobachteten
lebensgefährlichen Hyperemesen Typhöser.
Der perforativen Peritonitis ganz ähnliche Erscheinungen können Milz-
berstungen bedingen (Chrostowski).
Respirationsorgane. Wie Lewy gezeigt hat, können bei Kindern
schwere Larynxstenosen, welche den Luftröhrenschnitt erheischen, durch markige
Schwellungen unterhalb der falschen Stimmbänder hervorgerufen werden. Mit
Recht betont Landgraf mit Schrötter, dass die im Allgemeinen leicht gelingende
Untersuchung des Kehlkopfes bei Typhuskranken nicht versäumt werden dürfe,
da auch hier wie im Rachen entzündliche und geschwürige Processe zu ver-
schiedenen Zeiten des Grundleidens auftreten, ohne dass wesentliche Beschwerden
bestehen. Leicht kommt es au den seitlichen Kehldeckelränder u zu Schrunden,
aus denen sich Ulcerationen entwickeln. Von schwerer Bedeutung sind nach
Landgraf die gleich von vornherein als Verschorfungen der Schleimhaut, beziehungs-
weise auch des Knorpels einsetzenden Formen. Specitisch typhöse Veränderungen
können sich nur an der hinteren Wand des Kehlkopfes und Deckels, sowie an
den Taschenbändern finden, da nur hier adenoides Gewebe vorkommt. Die
Knorpelhautentzündung bedeutet stets eine ernste Complication. Dass der Luft-
röhrenschnitt wenig guten Erfolg verspreche, haben wir durch 2 eigene Fälle,
trotzdem es sich um bereits moribunde Kranke gehandelt, nicht bestätigen können.
Bei beiden trat nach der Operation glatte Heilung ein. Endlich erwähnen wir,
dass wir in einem Falle als Ursache schwerster Kehlkopf erscheinungen und Schling-
unvermögen eine Austapezirung des ganzen , dem Gesichte zugänglichen Larynx-
cavum mit Soor fanden. Der verzweifelte Fall gelangte mittelst Cocalnanästhesie
zur Genesung.
Circulationsapparat. Hier ist allenfalls die Beobachtung einer Endo-
carditis verrucosa durch Senger als sehr seltenen Vorkommnisses erwähnenswerth.
Mehr neue Züge hat das klinische Bild durch ein ziemlich eingehendes
Studium der Symptome von Seiten des Nervensystems gewonnen. Um abzu-
sehen von der Bekanntgabe von hysterischen, beziehungsweise hysteroiden Er-
scheinungen (Weil, Lazarus) mit wahrscheinlicher Localisation der „feineren"
Erkrankung in die Gegend des hinteren Schenkels der inneren Kapsel u. dergl.,
von myopathischen oder ischämischen Contracturen und Atrophien der Bein- und
Wirbelsäulenmusculatur (Kussmaul, Feey), Trismus uud dwäs&taii
8
ABDOMINALTYPHUS.
(Skitz), von atrophischer (auf multipler Neuritis, nicht Poliomyelitis beruhender)
Paraplegie (Alexander), von Aphasie mit bleibender Demenz (Eschebich und
Fischl), von vorübergehender und bleibender Amaurose centralen und neuritischen
Ursprungs (Szwajcer) , interessiren besonders die durch F. Schültzk , Cursch-
mann , Bernhardt, Freyhan und F. Wolff (12 Beobachtungen!) mitgetheilten
Typhusfälle mit richtigen Meningitissymptomen, sowie der durch die beiden
erstgenannten Autoren erbrachte Erweis der Möglichkeit eines im Wesentlichen,
zumal makroskopisch intacten Zustandes des Gehirns und Rackenmarks, beziehungs-
weise der Anwesenheit von Typhusbacillen in der weissen Substanz der Medulla.
In unseren von Freyhan mitgetheilten 3 Fällen mit Ausgang in Heilung bestand
wahrscheinlich die Complication mit einer veritablen Meningitis (unter Anderem
richtige Lähmungs- und Reizungserscheinungen von Seiten der Hirn- und Spinal-
nerven). Wie weit eine Mischinfection oder Einwirkung der Typhusbacillen, bezie-
hungsweise ihrer Stoffwechselproducte in Betracht kommt, entzieht sich einstweilen
unserer sicheren Kenntniss.
Haut- und Muskelsystem. Dass die R o s e o 1 a während der ganzen
Krankheit fehlte, vermochte Weil in 15°/0 seiner Fälle nachzuweisen; Sokolowski
findet gar 5O°/0. Das sind beachtenswerte Angaben (mit deren Mittelzahl sich
etwa unsere Erfahrungen decken) gegenüber der noch immer gewagten Behauptung
eines regelmässigen Vorkommens des Exanthems. Nicht minderen praktischen
Werth hat die Bekanntgabe zufälliger (erythematöser, miliarer, urticarer) Haut-
ausschläge beim Typhus vasomotorischen und septischen Ursprungs durch Morre
in Bezug auf Differenzirung gegen Masern, Scharlach u. dergl. Unter „Frühbrand"
beschreibt Eichhorst im Gegensätze zum Decubitus bösartige Gangränformen
neuroparalytischen Ursprungs. Auch wir haben wiederholt diese schlimmen Corapli-
cationen gesehen und wollen nicht an dieser Stelle zu erwähnen unterlassen, dass
Müret gangränescirende Entzündungen der Genitalien, wie er glaubt, als Folgen
einer Naphthalinbehandlung wiederholt gesehen hat (vergl. Therapie).
Muskelabscesse sind neuerdings wieder eingehender beschrieben, so
von Weil und Seitv. Sie kommen multipel und als mächtige Eiterein Schmelzungen
vor. Wiederholt haben wir einen grossen Theil des Rumpfes durch solche Phleg-
monen einnehmen und den Eiter auf Schnitt sich geradezu literweise entleeren
sehen. In einem Falle war innerhalb weniger Tage das halbe Abdomen und die
ganze Genitoanalgegend eingenommen. Prognose vorwiegend günstig. Selbstver-
ständlich sehr lange Heilungsdauer da, wo erst spät operirt wird.
Knochensystem. Hier hat eine von uns auf dem letzten Congress
für innere Medioin in extenso behandelte, gleich wissenschaftlich interessante, wie
praktisch wichtige Complication des Typhus, die Knochenentzündung, bis-
lang keinen lehrbuchmässigen Ausdruck gefunden und ist selbst von den ausführ-
lichsten Bearbeitungen des Darmtyphus nur flüchtig und summarisch gestreift,
trotzdem, wie wir gezeigt, zahlreiche, insbesondere französische Forscher die
Krankheit in den letzten zwei Jahrzehnten ausführlich und gut, wenn auch mehr-
fach recht kritiklos, beschrieben haben. Als neueste, vor unserer Publication
bekannt gewordene Behandlungen des Themas glauben wir zum Mindesten die-
jenigen durch Freund, Schede, Bourgeois, Obermaier und Witzel erwähnen
zu sollen. Es handelt sich, wie wir an der Hand von 5 eigenen Beobachtungen
im Verein mit den in der Literatur deponirten Fällen ausgeführt, um längere
und kürzere Frist währende, leichtere und schwerere Formen von Periostitis und
Osteomyelitis in eitriger und nichteitriger, beziehungsweise spontan heilender Form.
Dieselben befallen die verschiedensten Skeletabschnitte, obenan die Diaphysen der
grossen Röhrenknochen , bisweilen in ganz ähnlicher Weise wie die genuine,
multiple und recidivirende Osteomyelitis der protrahirteren und deshalb milderen
Form , verdanken aber ihre Entstehung , wie Obermaier zuerst nachgewiesen,
zunächst und zumeist der Invasion der Typhusbacillen. Rücksichtlich der näheren
Symptomatologie heben wir die ganz auffallende nächtliche Exacerbation der
ABDOMINALTYPHUS.
9
Schmerzen (welche den Dolores osteocopi bei Syphilis an die Seite zu setzen) zn, das
schleichende Zehrfieber und die dnrch dasselbe wie durch die ersteren bedingte
Gaehexie hervor. Ohne Eiterung einhergehende Fälle sind relativ häufig; ein
Theil der suppurativen Formen beruht wahrscheinlich auf Sepsis, scrophulöser
Anlage, vorherigem Siechthum, vielleicht auch verkehrter Behandlung. Gewisse
Formen des „Knochenrheumatoids" verlaufen geradezu latent (Mosler). Traumen
durch Badetherapie des Typhus, wie sie Witzel mit der Complication in Beziehung
setzt, waren als Veranlassungen in unseren Fällen unwahrscheinlich, beziehungs-
weise mit Sicherheit auszuschliessen.
Der letztgenannte Autor giebt zugleich eine treffliche Darstellung der
besser (namentlich seitens der Chirurgen) gekannten Gelenkentzündungen
im Verlauf des Typhus oder im Anschluss an denselben. Auch hier beobachten
wir die Gruppen des Gelenkrheumatoids und der eitrigen Arthritis (Hüter, Volk-
hann, Güterbock, Krönlein u. A.). Richtige Complicationen mit rheumatischer
Polyarthritis finden sich auch neuerdings wieder beschrieben (Wagner, Weil).
Wir sahen sie mehrfach. In einem Falle trat sie auf der Höhe der Krankheit
in nur wenigtägiger Dauer auf.
Urogenitalsystem. Den noch immer viel anerkannten Schilderungen
des „Nephrotyphus", beziehungsweise der „renalen Formu des Typhus widersprechen
unsere eigenen, relativ reichen Erfahrungen, insofern wir in der Mehrzahl der
Fälle ebensowenig wie Wagner, Weil und Seitz, welche Autoren durch sorg-
fältige Beobachtungen den Sachverhalt neuerdings in das rechte Licht gesetzt,
das gewöhnliche Bild des Typhus durch die intensive, zum Theil mit mächtigem
Hydrops einhergehende hämorrhagische Nephritis*) verwischt, resp. einen neuen
charakteristischen Symptomencomplex angetroffen haben. Aach im Kindesalter
existirt kein Nephrotyphus (Geier). Nur 2 Mal überraschten uns (gleich Demuth)
außergewöhnlich schwere urämische Krämpfe, welche in der That für einige Tage
die Züge der typhösen Erkrankung maskirten. Ganz ähnlich sprechen sich
Longuet und Rosenstein aus, welcher Letztere mit Recht das hohe Fieber
als Unterscheidungsmerkmal aufführt. Die günstige Prognose Weil's vermögen
wir aber nicht zu bestätigen.
Ueber typhöse Orchitis hat Moizard eine gute Zusammenstellung geliefert.
Wir schliessen diesen Abschnitt mit der Erwähnung der sehr bemerkens-
werten Ausführungen Gerhardt's und Eisenlohr's über das namentlich in den
späteren Stadien der Krankheit beobachtete Auftreten hämorrhagischer Zustände,
an deren Zustandekommen nach Ersterem Fieber, Hunger, vorwiegend animalische
Diät (welche für Eisenlohr fraglich), vielleicht auch die Kaltwasserbehandlung
besonderen An theil haben mögen, sowie mit der Angabe, dass Robin im Harne
der Typhuskranken abnorm grosse Mengen gepaarter, vom Körper selbst gelieferter
Schwefelsäuren fand , weshalb Verabreichung von Carbol , Naphthalin u. dergl.
bedenklich erscheint.
Rücksichtlich der Diagnose des Typhus finden sich bereits im Vorher-
gehenden verschiedene Momente aufgeführt. Sie ist im Wesentlichen eine klinische
und anatomische geblieben, wenn auch freilich der Nachweis von Typhusbacillen
in der Leiche (s. oben) noch nachträglich in zweifelhaften Fällen werthvollste
Aufschlüsse liefern kann, so namentlich bei fehlendem Milztumor und dem Aus-
bleiben von Geschwürsbildung im Darm, beziehungsweise geringer Entwicklung der
Follikelinfiltration.
Die Hoffnung, die man an die Entdeckung von Neuhaus geknüpft, aus
dem Nachweis der Bacillen im Blute, beziehungsweise in den Roseolen Lebender
für die Diagnose Nutzen zu ziehen, hat sich aus Anlass der im Wesentlichen
*) Dass nicht die Bacillen an sich, sondern ihre löslichen Ausscheid ungsproducte
im Gros der Fälle die Entzündung hervorrufen , haben wir wiederholt betont und steht im
besten Einklänge mit dem Nachweis der Abwesenheit der Pilze im Organ durch Wyssoko-
witfch und Neumann.
lü
AHDOKESALTEPSCS.
negativen. Befunde 'RCracEraH^ Yhhttrt.. Goudschmidt. äfflzrz nicht recht erfüllt,
ebensowenig der Nachweis dar Bacillen durch Xüspnnctian setsiu Phujpowicz
and Lücatsllo sieh einbürgern kännen. Bisweilen Hart sieh der Pils aus den.
Dejectionen relativ leicht itiehten vergL AetioLogie . Besonders in den ersten
Aiitangsstarfien ist aber die Schwierigkeit der Diagnose des Typhus, wie E. PhJlsilel
richtig bemerkt, auf haeterffllftgisebem Weg» wie überhaupt !'. eine im Allgemeinen
grosse. Anders lautende Angaben dürften mit mangHnrter praktischer Erfahrung
in dum haben. In neuester Zeit lenkt IL Xethaxs die Anünerksamkeit auf die
diagnostische Bedeutung der bereits von Hüpph Säitz_ MiffHincr. and Gold-
schmidt eonstaarrgn Anwesenheit der Typhnsbaeälen im Harn. Wir haben aber
letztere mit 5rühacs so häufig hier vermiest oder im Verein mit anderen
Baeterien angetrolEen . dass wir an einer wesentlichen praktisehen Terwerthung
des Befundes zweifeln müssen»
Tan begxeä&eher Wichtigkeit ist die Unterscheidung des Aborärtyphus
vom rieherhaäen Xagendarmcatarrh. Wie Wul sehr trelfend bemerkt» gleicht oft
der letztere ?*andenbock. dem hefüosen Messer r dem die Klinge fehlt kein Leib-
sehmerz, kein Erbrechen, keine schmerzhaften Durchfalle., aber Sehwindei, mehr-
tägiges Fieber, Milztumor).
Die Dilferenzirung gegen Meningitis soll in dem Fehlen der Pateflarredexe
bei letzterer Krankheit eine relativ Leichte Erledigung tinden (Jackson* Mgitry .
Ruekmehrlich der unseres Ermessens noch viel zu wenig gewürdigten
Möglichkeit einer bestimmten Unterscheidung des Typhus mit intermittensaiinlicher
Curve von richtiger, aber atypischer MaLaria glauben wir der bemerkenswerthen
Darstellung der Frage der Mi se h inf eetio n von Typbas and Wechseineber
durch Elü&acti hier Erwähnung tbun zu sollen. Auf Grund einiger eigener (zum
Theil durch Chinin coupirrer . der Diagnose nur schwer zugänglicher derartiger Fälle
müssen wir den Ausführungen des Autors im Wesentlichen folgen.
Bisweilen kann die Differentialdiagnose gegen Int'lueuza Schwierigkeit
machen, zum <~rluck für den aufmerksamen Beobachter nur für eine kurze Frist.
fületaichtlich der Di&renzirung gegen die ^Wm/sehe Krankheit** int
die Darstellung dieser, welche wir mit Fleldleh. a A. rar einen Morbus sui generis
ersehten . einzusehen. Aber auch von dieser Krankheit abgesehen« kann der
^eberhafce Icterus"4' im weitesten Sinne des Wortes unserer Erfahrung nach böse
diagnostische Schwierigkeiten auf Zeit veranlassen^ in erster Linie Hepatitis durch
fJhoielithiasis mit zurücktretenden Localbeseh werden und zumal die Compücation
des Typhus mit dieser AJfeetion.
Prognose und Behandlung. Hier haben gerade die letzten Jahre
einen tiefgreifenden Umschwung der Anschauungen gebracht, insofern die Erkennt
niss. dass neben derGefahr der erhöhten Temperatur durch
die toxische Einwirkung der Ptomalne der Bacillen bedingte
eine grosse Rolle spielt, der ^antipyretischen Heilmethode"» einen argen Stu^s
versetzt hat. Tn welchem Verhältniss die beiden genannten Faetaren an dem
Begriffe des Krankens des typhösen Körpers betheüigt sind . entzieht steh einst-
weilen unserer Kennmiss. Wir selbst nähern uns auf Grund eigenster Ertiahrungtin,
ohewar wir ans zu der Anschauung von der Harmlosigkeit oder gar des Eutzens
des Fiebers noch keineswegs zu bekennen vermögen« entschieden der Meinung
Jener, welche die Hauptgefahr in der Vergiftung der Gewebe des Körpers
mit den Typhotoxinen erblicken.
Es liegt uns fern, auch nur die Hauptgrundzuge des modernen Kamp los
gegen die alte Anschauung vom Fieber und seiner Behandlung hier historisch zu
entwickeln. E#* g*»nflgt. als Hanptreprisentanteu der neuen Lehre in ihrer schar&teu
Ausprägung Gläser and Unterricht zu erwähnen. Hat der Erstgenannte in
seinen bereits angefahrten icf. Symptomatologie). Gediegenheit und Judiz ver-
rathenden Mitrheilungen über die Fieberverhdltnisse in 300 tödtüeh verlaufenen
Typhnsfaflen ausgefahrt. dass die hohen Temperaturen ebensowenig wie das Baxo-
ABDOMINALTYPHUS.
11
meter die Ursache des Sturmes, die Ursache der Krankheitszunahme sind und
dass die Wärmeentziehung ohne wesentlichen Einfluss auf die Mortalität des
Typhus sei, so neigt Unvebricht unter dem Hinweise auf die Willkür der Auf-
fassung des Fieberhegriffes als einer gefährlichen Wärmestauung und auf das
Fehlschlagen des Nachweises einer Abhängigkeit der parenchymatösen Degeneration
von der Temperatursteigerang zu der Anschauung, dass das (unter Anderem die Ent-
wicklung von Bacterien schädigende) Fieber eine zweckmässige und heilsame
Einrichtung der Natur sei. Eine praktische Bestätigung seiner Ansichten deducirt
der Autor aus den Erfahrungen einer Reihe meist gleich erfahrener und bewährter,
wie competenter und nüchterner Kliniker und Krankenhausvorstände, welche
ebensowenig wie Gläser der Temperaturherabsetzung als solcher eine generelle
Bedeutung für die Typhustherapie beimessen können. Hierzu zählen unter Anderen
C URS CH MANN, ElCHHORST, FlSCHL, FfiÄNTZEL, GOLTDAMMER, HEUBNER, V. jAKtCH,
Naunyn, Schultz, Senator, Stiller, Strümpell und Warfvinge, während
Liebermeister (gleich Riess) nach wie vor seinen Standpunkt vertheidigt, dass
die Bekämpfung der gefährlichen Steigerung der Körpertemperatur durch geeignete
Massnahmen Aufgabe des Arztes sei.
Dass die modernen medicamentösen Antipyretica , insbesondere das
Antipyrin, Antifebrin und Phenacetin *J, die Temperatur in ausgezeichneter Weise
herabzusetzen vermögen, ist heutzutage eine unbestrittene Thatsache. Andererseits
haben die Berichte über bedenkliche Nebenwirkungen der Mittel, ja tödtliche
durch sie veranlasste Intoxicationen einen ganz stattlichen Umfang angenommen
und die Warnungen vor den Gefahren ihrer Verabreichung immer festere und
ausdrucksvollere Gestalt gewonnen. Wird auch hier mehr die Unvorsichtigkeit
des Arztes und Patienten verantwortlich zu machen sein , als die Arzneikörper
selbst, so sehen wir doch unsere läugst geäusserte Ansicht bestätigt, dass ihre
Wirkungen mit ganz ähnlicher Vorsicht tiberwacht werden müssen wie diejenigen
anderer Gifte, etwa der Nareotiea.
Relativ conservativ, jedenfalls den neueren Destructionsbestrebungen
ziemlich fern stehend, zeigt sich v. Ziemssen (mit Pott und v. Jaksch) in seiner
Haltung zu den antipyretischen Mitteln, die er beim Typhus Euphorie und Appetit
erzielen lässt. Wir selbst haben bei unseren Kranken auf den ersteren Effect —
vielleicht den einzigen, der noch zu halten ist, aber auch nicht unterschätzt werden
darf — ehedem mit Nachdruck gefahndet, leider keineswegs immer mit der
gleichen Befriedigung, von der Ziemssen berichtet. Auch Fischl resumirt aus
seinen, von seltener Objectivität zeugenden Erfahrungen, dass die innere Antipyrese
bisweilen Unruhe, Schlaflosigkeit, Hitzegefühl und Abgeschlagenbeit der Typhus-
kranken gtiustig beeinflusst, gesteht aber offen, dass die unberechenbare Even-
tualität des Eintrittes der bekannten peinvollen und gefährlichen Nebenerscheinungen,
richtiger Vergiftungssymptome, ihn „mit grösster Angst und Unruhe" zur ver-
suchsweisen Anwendung der Antipyretica schreiten Hess. Ebensowenig zeigen
sich Seiiz und Ccrschmann als besondere Freunde der genannten Mittel, obwohl
Letzterer gesehen , dass sie , rechtzeitig angewandt , auch eine Herabrainderung
der Pulsfrequenz und Aufhellung des Sensoriums zu erzielen vermögen.
In neuester Zeit sind die Stimmen über die günstige Beeinflussung des
Typhus durch innere Antipyretica so gut wie verstummt. Eine ganz auffallende Häufung
der Recidive findet Pastebnazki zur Zeit ihrer Verabreichung, nachdem ver-
schiedene Aerzte auf eine ungebührlich lange Convalescenz nach der Behandlung
*) Das Verdi et des Kairins ist ein geradezu einstimmiges; auch die Salicyl-
säure wird nur selten mehr gereicht, dergleichen vermuthlich das Thaliin, dessen conti-
nuirliche Darreichung zur dauernden Niederhaltung der Temperatnr (Ehrlich, Laquer)
von uns in einer Reihe von Fällen ohne den gewünschten Erfolg versucht woiden. Das
Chinin hat wieder Weil mit Wärme, besonders bei intermittirendem Fiebergang, empfohlen.
Das neueste „Salipyrin" Riedel wirkt nach unseren Erfahrungen nicht anders als eine
Mischung von Salicylsäure mit Antipyrin.
12
ABDOMINALTYPHUS.
mit diesen Mitteln hingewiesen. Eine Abkürzung der Krankheit durch dieselben
wagt wohl Niemand mehr zu behaupten.
Wir selbst wenden die genannten Antipyretica nur noch ganz ausnahms-
weise beim Typhus an, insbesondere wenn Bäder bei hochgehender Fieberwirkung
durchaus nicht vertragen werden und das subjective Hitzegefühl den Kranken sehr
lästig wird. Aber selbst hier haben wir öfters mit der vorsichtigst eingeleiteten
Darreichung der drohenden Collapse, des Uebelbefindens der Patienten *) etc. halber
abbrechen müssen. Wir haben endlich die grosse Genugthuung erfahren, eine
stattliche Zahl von Collegen , mit denen wir consultirt , von der Nutzlosigkeit
und den Gefahren einer inneren Antipyrese um jeden Preis nachhaltig überzeugt
zu sehen.
Brand, der Vater der Kalt wasserbehandl ung des Typhus, ist der
alte Brand geblieben, der mit unentwegter Starrheit seinem Verfahren unter abso-
luter Verwerfung der arzn ei liehen Fiebermittel die Superiorität zu erkämpfen
sucht. Hierbei stützt er sich vorwiegend auf Militärstatistiken (die bekanntlich,
worauf auch Pürjesz den Nachdruck legt, bei jeder nicht gar zu verkehrten
Behandlung außergewöhnlich günstige Mortalitätsziffern liefern), insbesondere auf
die Erfahrungen GlEnard's, Vogl's, Tripibr's und Bouveret's, welche Autoren
fast völlig auf dem BRAND'schen Standpunkte stehen. Die Methode soll Alles
gehalten haben, was sie versprochen: Umwandlung eines schweren Typhus in
einen leichten, 0% Mortalität, wofern die Behandlung rechtzeitig (am 4. Krank-
heitstage!) begonnen und nach den Vorschriften des Meisters gehandhabt wird,
wenn nicht, beziehungsweise unter besonders ungünstigen Verhältnissen, bis 5°/0 (1).
Speciell soll es bei regelrechter Durchführung gar nicht zur Ulceration der Darm-
drüsen kommen, sondern die Affection bei der Infiltration stehen bleiben.**)
Die schweren Bedenken, die jede schablonenhafte Behandlung an und
für sich involvirt, mussten im Verein mit den wahrhaft unerhörten Verheissungen
der Kaltbadeenthusiasten die schwersten Verurteilungen der BRAND'schen Methode
seitens nüchterner und erfahrener Kliniker reifen. So finden wir sie denn in
neuester Zeit dem „Curiositatencabinet der medicinischen Literatur u überwiesen
(ünverricht) und als „Windmühlenkampf" getauft (Cürscbmann). Die Be-
hauptungen Vool's, dass der Abfall der Typhusmortalität im Münchener Garnison-
lazareth nur von der strengen Durchführung der BRAND'schen Methode abhänge
und mit ihr den Bedingungen grösster Einfachheit und Energie bei völliger Gefahr-
losigkeit in hervorragender Weise genügt werde, steht in schlechtem Einklang
mit der Summe anders lautender Berichte aus den verschiedensten Krankenanstalten
(so spricht, wie Gläser gezeigt, im Hamburger Krankenhause die Differenz im
Heileffect der hydriatischen gegenüber der exspectativen Methode zu Ungunsten
der Wasserbehandlung), während Port den Nachweis antritt, dass nur der Zufall
Vogl eine günstige Beeinflussung des Typhus durch die Brand' sehe Behandlung
vorgetäuscht habe. Zur Zeit ist, soweit die Literatur Aufschluss giebt, gerade
an den massgebendsten Stellen die der BRAND'schen Gefahren und Unverträg-
lichkeiten ***) entkleidete Wasserbehandlung, d. i. die milde und individuali-
sirende Badebehandlung des Typhus zur Norm erhoben, da wo die
rein exspectative Therapie noch nicht zu den erstreben 8 wert hen Institutionen
Zählt (BOUCHARD, CöRSCHMANN, ElSENLOHR , FlSCBL , FRÄNTZEL, GOLTDAMMER,
*) Experimenti causa haben wir eine Anzahl von Typhösen abwechselnd durch
sich völlig gleichende pilbr. mit und ohne Antipyreticum antifebrinisirt nnd expectativ
behandelt, um jede Wirkung durch Einbildung auszuschlifssen. Die grosse Hälfte lobte die
Wirknng der indifferenten Pillen!
**) Man vergleiche mit derartigen Behauptungen u. A. den Inhalt der Berichte von
F. Schnitze über die Resultate der Kaltwasserbehandlung des Typhus (Beidelberg 1875).
***) „Man muss das Widerstreben der meisten Kranken, die Cyanose nach dem Ver-
lassen des Bades, den sie schüttelnden Frost gesehen haben, um das Verfahren in der That
als eine Qual zu erkennen" (Fischl).
ABDOMINALTYPHUS.
13
Lkgexdre, Robin, Seitz*), v. Zibmssen u. v. A.). Wir selbst sind ein warmer
Anhänger der genannten, für die meisten Kranken gleich erfrischenden wie ange-
nehmen Therapie**), deren antipyretischer Effect freilich weit hinter demjenigen
der kalten Bäder und der niedicamentösen Antipyretica zurückbleibt. Wie anwesent-
lich aber gerade dieser Erfolg und wie belangvoll ihm gegenüber die Wirkung
des Bades als eines Excitans und Diäteticums (Auffrischung des Nervensystems,
Reinlichkeitspflege, Anregung des Appetits, Bekämpfung der Hypostasen, des
Decubitus etc.) erscheinen muss, lehren die vorstehenden Erörterungen. Ueber
den objectiven Erfolg***) dieser mit kräftigster Kost, rechtzeitiger energischer Exci-
tation einhergehenden, die innere Antipyrese fast völlig mindernden therapeutischen
Massnahmen glauben wir erst später berichten zu sollen. Einstweilen ist die
gewonnene Mortalitätsziffer bei Ausschluss jeder Möglichkeit eines statistischen
Unfugs hervorragend günstig.
Wie weit eine derartige Behandlung an der Abnahme der Typhussterb-
lichkeit überhaupt Theil hat da, wo an einem Milderwerden der Krankheit nicht
gut zu zweifeln ist, bleibt vor der Hand eine unbeantwortete Frage. Ueber den
Einfluss sanitärer Massnahmen haben wir bereits gesprochen (cf. Aetiologie), die
Vortheile der Krankenpflege im engeren Sinne des Wortes und der hygienischen
Bedingungen des Krankenzimmers liegen auf der Hand. Nach Senator fällt auch
die bessere Diagnose (frühere Behandlung!) für das Besserwerden der Prognose
in's Gewicht.
Für lauwarme protrahirte Bäder plaidirt in neuester Zeit Riess auf
Grund eigener günstiger antipyretischer Resultate. Es wird sich aber fragen, ob
diese von der Temperaturherabsetzung als solcher abhängen und nicht das kurze
laue Bad die immerhin umständliche Methode bestens zu ersetzen vermag.
Nur der Vollständigkeit halber erwähnen wir noch das neuerdings von
Placzek empfohlene PfiEYEB'sche Abkühlungsverfahren (Wasserapplication auf
den nackten Körper in Sprayform) und die von Weich ardt jüngst geübte Typhus-
behandlung unter der Form der Application je einer Eisblase auf Milzgegend und
Abdomen. Beide Methoden haben sich auf unserer Abtheilung, wie H. Wolff
näher begründet, nicht bewährt.
Von neu empfohlenen specifischen Methoden der Typhusbehandlung
erwähnen wir — diejenige mit Carbolsäure, Eucalyptol und Jod hat gründlich
Fiasco gemacht (Pape, Seitz u. A.) — dieMercurialisation mittelst grauer
Salbe (Kalb) und Sublimat (Greifenbergkr, Rondüt), sowie die Behandlung des
Typhus mit Naphthalin (Götze).
Trotz der Summe der noch heutzutage zu Gunsten der altehrwürdigen
Oalomeltherapie erhobenen, freilich immer mehr verklingenden Stimmen kann an
der Nutzlosigkeit jeder Quecksilberbehandlung als solcher nicht mehr gezweifelt
werden. Es ist zunächst Weil gewesen , der gezeigt hat , dass in der Nicht-
kenntniss der Häufigkeit der Abortivtyphen die Täuschungen über die „coupirende"
*) Dessen Stadien mit dem beherzigenswerthen Satze sch Hessen : „Ueberbiicken wir
die Leistungen in der Therapie des Typhus während der letzten Decennien, so erscheint neben
der besseren Ernährung die Behandlung mit Bädern von einem dem einzelnen Kranken ange-
passten Temperatargrade als bleibende Errungenschaft."
**) Im groben Durchschnitt geben wir bei Temperaturen von mehr als 39 5 (drei-
stündige Messung!) ein Bad von 26° R.t das wir je nach der Verträglichkeit allmälig auf 24
bis höchstens 20° abkühlen. Bei bedrohlicher Schwäche: Bad von 28°, eventuell mit kalten
Uebergiessnngen. Sehr hoher Temperatnrgang ohne wesentlichen Status typhosua las st uns
erst bei 40°, geringes Fieber mit schweren Nervenerscheinungen bereits bei 39° die Bäder
verabreichen und mit Senator und Fräntzel um so kühlere, je mehr der Typhus stupidus
sich ausprägt. Nachts unterbleiben dieselben im Princip, da uns ihr Nutzen zu der Inanspruch-
nahme des Pflegepersonals in keinem annehmbaren Verhältnis» zu stehen scheint.
***) Für diesen ist für uns in erster Linie die Gestaltung der Sterblichkeit bestimmend,
nicht die Dauer der Krankheit, um deren Begründung sich Weil und Cur sch mann Ver-
dienste erworben haben.
14
ABDOMINALTYPHUS.
CalomelwirkuDg begründet zu sein pflegen.*) Wir selbst sind gleich Weil in
demselben Masse von unserem ursprünglichen Glauben an die (zweifellos die
Temperatur relativ stark und prompt herabsetzende) Calomelwirkung ernüchtert
worden, als unsere Einsicht in den spontanen Abortivverlauf zahlreicher Typhen
gewachsen. Die antifebrile Wirkung des Calomels ist, wie wir an der Hand
bacteriologischer Untersuchungen der Typhuscalomelstühle gezeigt, keine Folge
der Tödtung der Typhusbacillen im Darme oder ihrer Entfernung aus demselben,
sondern eine Art chemische Gegengiftwirkung (Vernichtung des Typhotoxins),
indess auf so kurze Zeit, dass von einem (neuerdings auch von Cürschmann,
Ratjen, Sfjtz und Alexander abgelehnten) praktischen Nutzen nicht wohl die
Rede sein kann. Wir reichen Calomel bei Typhus principiell nicht mehr, da uns
unschädlichere Abführmittel zur Verfügung stehen. Nachprüfungen der Greifen-
berGtEr' sehen Sublimatbehandlung haben wenig ermunternde Resultate geliefert
(Glaser, Leyden u. A.).
Dass die von Rossbach und Götze empfohlene Abortivbehandlung des
Typhus mit Naphthalin nach den Grundsätzen der Bacterienkunde keineswegs
im Stande ist, in irgend annehmbarer Weise die Fieber- und Convalescenzdauer
abzukürzen, Complicationen und Recidive zu verhüten, die Mortalität zu ver-
mindern, haben wir auf dem Wege des sogenannten alternirenden Verfahrens an
50 Typhuskranken endgiltig erwiesen. Dem durchaus negativen Ergebniss (zu
welchem auch Müret, der sogar die Naphthalinbehandlung für beobachtete schwere
gangränöse Processe verantwortlich macht, und Leyden gelangt ist) entsprach
die bacterioskopische Prüfung des Typhusstuhles , insofern haufenweise Spaltpilze
mit geringerem Widerstandsvermögon als die Typhusbacillen am Leben geblieben
waren. Solchen Thatsachen gegenüber müssen Bestrebungen, wie sie jüngst
Sehrwald zu Gunsten der Naphthalintherapie des Typhus an den Tag gelegt,
als verfehlt gelten. Nicht Ztichtungs- und Thierversuche, sondern einzig die Beob-
achtung am kranken Menschen entscheidet solche Fragen in letzter Instanz.**)
In Bezug auf die Behandlung einzelner Symptome sind belangvollere
neue Methoden nicht zu verzeichnen. Doch glauben wir der jüngst von Backhaus
empfohlenen Darminfusion von Tanninlösung als einer profuse Durchfälle zu
beschränken geeigneten Behandlung gedenken zu sollen.
Die Darreichung von Narcoticis beim Typhus, zu unserer Väter Zeit
fast allenthalben perhorrescirt und auch noch jetzt vielfach mit Aengstlichkeit
angeschaut, ist unserer Erfahrung nach eine hervorragend erfolgreiche Behand-
lungsmethode, welche vor Allem in der Beseitigung der widerwärtigen Krankheits-
delirien unter der Form subcutaner Morphiuminjectionen Dienste leistet, wie kein
anderes Verfahren, Mit gebührendem Nachdruck betont die9 auch Goltdammer.
Nur empfehlen wir dringend kleine Anfangsdosen und vorsichtige Steigerung.
Die Darmperforationen hat man in den letzten Jahren auf chirur-
gischem Wege zu behandeln gesucht. Wir haben in der ersten Zeit unserer
Berliner Thätigkeit sämmtliche Fälle verloren, in Folge dessen die betroffenen
Patienten später im Falle sicherer Diagnose der operativen Behandlung der
äusseren Station überwiesen. Die Operation ist in diesen Fällen fast durchweg gut
und schnell geglückt; man hat nach der Laparotomie das Loch gefunden und
schliessen können; trotzdem sind alle Patienten rasch zu Grunde gegangen, und
wir haben uns die Frage vorgelegt, ob überhaupt ein Typhuskranker im Stande
sei, den Eingriff einer Laparotomie, nachdem eine Perforation erfolgt, zu ver-
tragen. Es existirt in der Literatur unseres Wissens nur ein einziger derartiger,
mit Heilung endender Fall, der kürzlich von Wagxer in Königshütte gemeldet
worden. In Folge der genannten Erfahrungen haben wir dann wieder die
*) Weil beobachtete bei den nicht mit Calomel behandelten Typhen geringere
Schwere und Dauer der Krankheit, als bei den mit diesem Mittel verschonten.
**) „Die Bedeutaug der Behandlungsmethode ist von der Richtigkeit der theoretischen
Voraussetzung, von der sie ausgeht, in weiten Grenzen unabhängig" (Weil).
ABDOMINALTYPHUS. — ABFALLSTOFFE.
15
Perforationen der internen Therapie anheimfallen lassen, mit welchem günstigen
Erfolge, ist bereits bei der Besprechung der Symptome von Seiten des Darms
gesagt worden.
Zur Frage der Desinfection der Typhusstühle hat jüngst Pfuhl
sehr bemerken8werthe Beiträge geliefert, indem er zeigte, dass ein Zusatz von
Kalkmilch bis zur alkalischen Keaction zur Vernichtung der Typhusbacillen genügt.
Literatur. Dieselbe schliesst zeitlich an die von Zülzer grösstentheils in der
Ferna von Fussn<»ten zum Artikel Abdominaltyphus (I, pag. 18 — 69) gegebenen Belege
an, umfasst demgemass die Jahre 1885 — 1890 mit der Massgabe, dass das letztgenannte laufende
Jahr sich nur mit einigen wenigen Abhandlungen vertreten findet. Auch sonst ist die Aus-
wahl eine relativ beschrankte. Allgemeinere Lehrbücher finden sich nicht erwähnt. Alexander,
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1837; Münchener neueste Nachrichten. 1839. v •
Jhürbringer.
Abfallstoffe, Abwässer. Nach langem Kampfe, in welchen — was
deutsche Verhältnisse betrifft — fast alle grossstädtischen Geraeinwesen während
der jtiDgst vergangenen Jahrzehnte hineingezogen wurden, darf als der siegreiche
Gedanke auf dem Gebiete der Städtereinigung der bezeichnet werden, dass für
16
ABFALLSTOFFE.
jede topographische Individualität der besondere Modus ermittelt werden muss,
unter dessen technisch vollkommenster Anwendung Abfallstoffe flüssiger wie fester
Natur am raschesten ausser Bereich grösserer Wohnungscomplexe geschafft werden,
ohne an ihrem Bestimmungsort zur Entfaltung schädlicher Wirkungen neue Gelegen-
heit zu erhalten. Dass über diesem Zweck der Nutzwerth jener fortzuschaffenden
Materien nicht völlig ausser Betracht gelassen werde, ist eine Aufgabe, deren
Lösung in befriedigender Weise nur von Fall zu Fall und in ebenso sorgfältiger
Berücksichtigung aller localen Vorbedingungen bewirkt werden kann; Haupt-
gesichtspunkt bleibt aber, dass die Verwerthung der Abfallstoffe zurücktrete
gegenüber ihrer Entfernung, Beseitigung und Unschädlichmachung. Seit dem Platz-
greifen dieser Erkenntniss würden einstweilen Städtereinigungen nach vorgefassten
Plänen den niedrigeren Standpunkt der Zweckmässigkeit darstellen ; dagegen nach
den localen Verhältnissen erwogene und ausgeführte Projecte als Repräsentanten
des freien beispielgebenden Fortschritts auf diesem Felde anzusehen sein.
I. Die Beseitigung aller Abfallstoffe durch Canäle ist nur
zulässig, wenn die in Betracht kommenden Flüssigkeiten mit dem in ihnen
Suspendirten rasch und ununterbrochen ablaufen können. Will man den Unter-
grund drainiren , so muss dies unabhängig von der Anlage der Canalnetze
selbst bewerkstelligt werden. Bei der Tracirung der letzteren, ihrer Neigung und
der Profilirung der Canäle ist das Hauptaugenmerk auf hinreichendes Gefälle und
Ausschluss aller todten Punkte, — bei der Auswahl des Baumaterials und der
technischen Herstellung der Sohlen und Wandungen auf möglichst absolute Dicht-
heit zu richten. Grobe Schmutzstoffe sind von den Canälen fern zu halten; ihre
Lüftung hat unabhängig von der Lüftung der Hauscanäle zu erfolgen und ist
praktisch nur auf natürlichem Wege durchführbar.
Doch werden auch künstliche Canalventilatoren und Canalgaszerstörer von
Zeit zu Zeit angegeben, so neuerdings ein von Keeling construirter, welcher (in
Form eines Laternenpfostens) die von einem Gasbrenner aspirirten Canalga3e
mittelst der Gasflamme zerstört. Einen complicirten Canalspülapparat (der indess
wahrscheinlich mit ungenügenden Wassermassen arbeitet) construirte James Scott.
Sorgfältige Untersuchungen des flüssigen und gasförmigen Inhaltes von
Sielsystemen wurden angestellt von Klas Sonden (Stockholm) und Poincabe
(Nancy). Ersterer fand die Trockensubstanz pro Liter schwankend in den Grenzen
zwischen 660— 2056 Grm. , das Chlor zwischen 160— 801 Grm., den Stickstoff
zwischen 3 — 41 Grm. pro Liter des aus Stockholm strömenden Sielwassers, dessen
Menge im Jahre 5,700.000 Cbm. betrögt. Nach Poincare enthielt die Sielluft (in
Nancy) zwischen 15 — 303 Mikroben pro Cubikmeter, und zwar zum grössten Theil —
und ohne erhebliche Abhängigkeit von Luftdruck und Luftfeuchtigkeit — die im
unter ihr dahinfliessenden Sielwasser. Letzteres war am reichsten an Streptococcen
und kettenförmig an einander gereihten Diplococcen; weniger reich an Spirillen,
Leptothrixarten und kurzen Stäbchen; auf den 160. Theil eines Cubikmeters
schwankte die Gesammtzahl sämmtlicher Formen zwischen 38 — 582 Einzelindividuen.
Aus dicht bevölkerten Quartieren entströmende Sielwässer enthielten auch die
relativ grösste Mikrobenzahl. Am schlimmsten verunreinigend — in bacterioskopischer
Hinsicht — wirkten Papier- und Strohhutfabriken, dann verschiedene Lebensmittel-
betriebe, dann erst die Waschanstalten. Temperaturen des strömenden Wassers
von + 22 — 28° C. lassen die Mikroben sich stark vermehren, solche von 0 bis
+ 3° bewirkten eine merkliche Abnahme derselben. Auch über die pathogenen
Eigenschaften der Sielwassermikroben stellte Poincare Versuche an und sah von
116 damit inficirten Yersuchsthieren 7 (an Septicämie?) eingehen.
Die Schicksale der irgendwie gereinigten oder ohne Reinigung weiter-
laufenden Canalwässer werden von einer grossen Reihe neuerer und neuester
Arbeiten in's Auge gefasst. J. König erklärte die Berieselung unumwunden
für das wirksamste und natürlichste Mittel zum Zweck einer solchen Reinigung.
Dem Boden dürfe jedoch nicht eine grössere Quantität Schmutzwässer zugeführt
ABFALLSTOFFE.
17
werden, als er zu verarbeiten im Stande sei; das in demselben wahrscheinlich
vorauszusetzende Verhältniss an Pflanzennährstoffen müsse auch dem Bedürfniss
der anzubauenden Pflanzen möglichst genau angepasst werden. Frankland ging
in einem grösseren Referat von der These aus, dass bisher ein chemisches
Verfahren, welches eine Canaljauche soweit reinigt, dass sie die Wasserläufe gar
nicht verschlechtere, nicht entdeckt worden sei. Das einzige wirksame Verfahren der
Reinigung ist zur Zeit die Filtration durch den Boden. Wo Grundstücke billig
zu haben sind, empfiehlt sich die Berieselung, wobei auf 100 Einwohner je
1 Acre zu rechnen ist. Wo aber Grundstücke nicht reichlich zu Gebot stehen,
soll man die in t ermittiren de Abwärtsfiltration (1 Acre auf 1000 bis
2000 Einwohner) anwenden. Zu Gunsten des letzterwähnten Verfahrens die Grenzen
etwas zu verschieben, wünscht Knaüff, welcher die Berieselung als ein im Ganzen
zu kostspieliges Verfahren erklärt. Denn bei der intermittirenden Abwärtsfiltration
bedürfe man der Anlagen so vieler Gräben und Zufahrtswege nicht; jedem Theil
des Terrain 8, das in seiner Gesammtfläche zur blossen Reinigung benutzt werden
könne, kann mehr Jauche zufliessen; da die Rücksichtnahme auf die Pflanzen
ausser Auge gesetzt werden dürfe, komme man mit einer sehr viel kleineren
Bodenfläche, einer leichteren Adaptirung und geringeren Betriebskräften aus. Die
Ansammlung fester Schmutzstoffe auf der Oberfläche des drainirten Terrains sei
unleugbar; doch, meint Enatjff, theile das Verfahren diesen Uebelstand mit der
Berieselung. Belege für die Verwendbarkeit der intermittirenden Abwärtsfiltration
kann man einem Buche Bajly-Denton's entnehmen, inhaltlich dessen in Merthyr-
Tydfil, Eendal, Abingdon , Great-Malvern , Halstead, Barnsley, Forfar, Hitchin,
Oakham , Earlsdon , Radford , Dewsburg , Withington , Levenshulme , Walford
und Birmingham die Abwässerreinigung durch intermittirende Bodeninfiltration zur
Ausführung gebracht worden ist und sich am letztgenannten Platze in Verbindung
mit Rieselplantagen, bei einem grossen Theil der übrigen Städte in Verbindung
mit einem Jauche-Entschlammungsverfahren gut bewährt hat. Nichtsdestoweniger
werden die Vortheile der völlig adaptirten Rieselplantagen von den damit aus-
gestatteten Städten unentwegt hochgehalten und in den neuesten Berichten über
das Rieselwesen in Berlin, Danzig, Breslau und verschiedenen ausserdeutschen
Städten die hiermit gemachten Erfahrungen als die günstigsten bezeichnet.
Ganz besonders sorgfaltig verdienen die Klärbeckenanlagen in
Bezug auf die Erfüllung der durch sie angestrebten Reinigungszweoke geprüft zu
werden, wie dies Lubberger versucht hat, um schliesslich zu dem Ergebniss zu
gelargen , dass die Kläranlagen gegenüber den Rieselanlagen eher theuerer als
wohlfeiler arbeiten , und bezüglich einer Ausnützung der Spüljauchennährstoffe
hintenan , bezüglich der Unterbringung des Schlammes aber vor einer ungelösten
Frage stehen. Dieses Resultat stützt sich auf die von Frankfurt a. M., Wiesbaden
uud Essen erhaltenen Erfahrungen. Günstiger sprachen sich über die mit dem
Müllkr-N Ahnsen' sehen Klärverfahren in Halle a. S. erzielten Ergebnisse Hüll-
hann und Arnold aus. Ersterem zufolge sind die der Reinigung unterworfen
gewesenen Abwässer klar, geruchlos (oder schwach nach Fäcalien duftend), frei
von Schwefelwasserstoff, von Nitriten und Nitraten, annähernd frei von Ammoniak,
reich an Phosphorsäure. Die bacteriologischen Prüfungen ergaben günstige Befunde.
Doch ist das Verfahren wegen der Unmöglichkeit, die Schlammkuchen abzusetzen,
theuer, Gestank in den Maschinenräumen nicht zu vermeiden. Arnold speeificirt
den Reinigungseffect besonders unter Hinweis auf die Abnahme der Bacterienkeime,
deren Zahl im Schmutz wasser 6i;2 Million, im gereinigten Abwasser 8 auf den
Gubikmeter betrug. — Auch die über Ehrenfeld bei Köln, über Dortmund- und
Marienfelde bei Berlin gesammelten Erfahrungen über chemische Fällung,
Klärung und Filtration lassen diese Methoden, combinirt oder einzeln,
allenfalls für Plätze empfehlen, für welche Berieselungsanlagen nicht zu be-
schaffen oder Berieselungen mit Boden filtration aus anderen Gründen nicht durch-
führbar sind.
Encyclo/>. Jahrbüoher. I.
18
ABFALLSTOFFE.
Was die Chemikalien, welche ausser dem A etzkalk und den Röckkbr-
RoTHE'schen Reinigungsgemischen zur Abklärung der Sielstoffe verwendet werden
könnten, anlangt, so hatte man für den Inhalt des neuen Londoner Canalsystems
Kaliumpermanganat in Aussicht genommen, läset aber jetzt nochmals die Wirkungen
dieses Mittels genau durchprüfen. Ein umfassenderes Studium wandte dieser Frage
Br. Krüger zu. Er machte Versuche mit Aetzkalk (und Zusätzen), Aluminium-
oxyd, Calciumcarbonat, Cokes, Holzkohle, Kieseiguhr, Magnesiumoxyd, Sand,
Ziegelmehl und vertheidigt die Meinung, dass feinvertheilte, chemisch indifferente
Substanzen, in Abwässer gebracht, deren suspendirte Bacterien etc. mit zu Boden
nehmen, dies um so sicherer, je mehr Material eingebracht wird und je langsamer
dasselbe niedersinkt. Doch erhöhe eine gleichzeitig chemische Wirkung den
Reinigungseffect , so dass schliesslich doch Aetzkalk und Kalkmilch (ersterer ad
0*2 Grm. auf 1 Liter) empfohlen werden.
Der Schwierigkeit, die zu Boden geschlagenen Schlammmassen in
«ine ver werthbare Form zu bringen , suchen zu begegnen : Defosse mit dem
Vorschlage, das Canalwasser zunächst mit Kalk, Aluminiumsulfat und Kalium-
permanganat zu behandeln, dann zu filtriren, die Flüssigkeit nunmehr durch fein
zerkleinerte Ziegelsteine laufen zu lassen, sie aufs Neue mit Chemikalien zu be-
handeln (Eisenmangan , Kalk), sie endlich noch durch eine Schichte Torf laufen
zu lassen; ferner Sodthee, der die alte ABC Masse wieder in Vorschlag bringt,
auf Maidstone exemplificirt und die dort mittelst einer besonderen Filterpresse
präparirten Sewage-Cokes als eine kohlenartig aussehende, fast wasserfreie, leicht
zu handhabende Masse von grossem Dungwerth empfiehlt; Petri, nach dessen
Vortrage die Kläranlagen von Marienfelde darauf eingerichtet sind, aus den Ab-
wässern durch Kalk und Magnesiumsulfat (75 Pfd. Kalk, 10 Pfd. Magnesiumsulfat
auf 100 Cbm. Jauche) einen verwerthbaren Niederschlag zu erzeugen. Derselbe
stellt nämlich ein streubares Pulver dar (Stickstoffgehalt: l'5°/0).
Für die Gesetzgebung bestand die grösste Erschwerung, einen festen
Standpunkt gegenüber der Reinigung der Abwässer zu gewinnen und fest-
zuhalten in der Unbestimmtheit der Anforderungen, welche an ein den öffentlichen
Wasserläufen zuzuführendes Wasser zu stellen sind. Von chemischer Seite ist
J. König auch dieser Frage näher getreten und normirt jene Anforderungen
dahin, dass in
Liter Abwasser nicht über 5 — 10 Mgrm. suspendirter Schlammstoffe,
„ „ „ „ 3 „ N in irgendwelcher Verbindung,
„ „ „ „ 2 „ Schwefelwasserstoff oder eines löslichen
Schwefelmetalls,
„ „ „ „ 5 „ freier S08 oder freien Alkalis,
„ „ „ „ 001 „ Arsen,
„ „ „ „ 10 „ Zink- oder Eisensulfat
„ „ „ „ 30 „ Eisen- oder Aluminiumalaun,
„ „ „ „ 200 „ Chlorcalcium oder Chlormagnesium,
1 „ „ „ 500 „ Chlornatrium,
1 „ „ „ n 0 05 „ theeriger oder öliger Producte
enthalten sein sollen. Ferner soll die Zuleitung heisser Abwässer das Totum der-
selben nicht höher als auf 170° C. erwärmen. Inwieweit diese Grenzwerthe durch
die bisherigen Reinigungsweisen innegehalten werden, ist immerhin für die Mehr-
zahl der letzteren noch zu entscheiden. Der Spree werden jedenfalls auch nach
Ableitung der eigentlichen Schmutzstoffe noch ausserdem verunreinigende Zuflüsse
während ihres Laufes durch Berlin beigemengt, welche — nach Frank — hin-
reichen, in ihrem Wasser eine starke Zunahme des Chlors, eine Zunahme des Ammoniaks
wie des Trockenrückstandes und auch eine starke Zunahme der Bacterienzahl zu
•erzeugen. Ueber das Wesen der Flussverunreinigung und der sogenannten
Selbstreinigung der fliessenden Gewässer haben sich neuerdings besonders
€. Aird und Schneider verbreitet. Letzterer kritisirt die Anschauung, nach welcher
ABFALTjSTOFFE.
19
die Selbstreinigung der Flüsse auf die Oxydation organischer Stoffe durch Vermittlung
von Mikroorganismen zurückzuführen sei; Aird betont, im Anschluss an die
Beobachtung, dass starkes Fischsterben in der Spree stets nach Gewitterregen und
stets unterhalb Berlins vorkommt, dass das plötzliche Hereinfluthen schmutzigen
Wassers durch die Nothauslässe die eigentliche Ursache des Fischsterbens sei,
welches letztere theils in Form der Erstickung, theils (seltener) in Form der
Vergiftung zu Stande komme. Doch handelt es sich sichtlich um ein als Ausnahme-
ereigniss auftretendes nothwendiges Uebel, welches angesichts der grossen Vorzüge
einer alle Unreinigkeiten mit grösster Schleunigkeit aus der Stadt spülenden
allgemeinen Schwemmcanalisation ertragen werden muss.
II. Diese Vorzüge bleiben auch dann noch deutlich sichtbar, wenn die
Fortschritte, welche die Separationssysteme im letzten Quinquennium auf-
zuweisen haben, mit voller Ünparteilichkeit gewürdigt werden. In Bezug auf die
direete Geruchlosmachung und Verwerthung flüssiger und fester Fäcalien ist Zerning
mit einem Verfahren hervorgetreten, welches darin besteht, die flüssigen und festen
Fäcalien (10 Th. lufttrocken) mit Torfmull (1 Th.) zu Dünger oder mit noch 1 Th.
Kohlenpulver zu Brennmaterial zu verarbeiten. Schneidbb verbreitete sich sehr aus-
führlich über die industrielle Verarbeitung der Abfuhrstoffe zuconcentrirten
Düngstoffen, speciell über das Eindampfen in Pfannen, die Destillation mit Ein-
dampfen, eine verbesserte Destillation mit gleichzeitiger Anwendung von Filter-
pressen, über das Augsburger Eindampf- und Trockenverfahren, die in Freiburg
angewandte Destillations- und Präcipitationsmethode. Unter Uebergehung der
Separationssysteme Shohne und Waring, Berlier, Goldner, welche mehr in
England und Amerika zu praktischen Versuchen geführt haben , darf für Mittel-
europa noch immer der Streit über die Mängel und Vorzüge des System Liernor
als im Vordergrunde des Interesses stehend betrachtet werden. Haynis (Prag)
erklärte die Grundidee Librxur's für eine gute, die Hoffnung, aus der Poudrettirung
einen Gewinn zu erzielen, für eine Chimäre und das neuere LiERNüR'sche Projeot
(Einrichtung von Rohrsystemen mit Injectoren zur künstlichen Beschleunigung der
Ableitung von Haus- und Regenwässern) für einen „technischen Scandal". Ein-
gehend berichteten Drvaux, Pützeys und Royers über die sonstigen Systeme der
Fäcalienbeseitigung im Vergleich mit dem System Liernür. Schlechterdings unzu-
lässig sei die Benutzung von einfachen 8enk-(Versitz-)gruben ; die Systeme mit
Desinfection seien einerseits unwirksam, andererseits kostspielig; kein Vertrauen
verdiene, weil unzuverlässig functionirend, das „Systeme divisseur" ; dagegen könne
man die „Fosses fixes" und „Fosses mobiles" unter bestimmten Bedingungen
gestatten , als das beste System jedoch nur ein solches bezeichnen , welches in
undurchlässigen sicheren Canälen alle Excrementstoffe fortschaffe: das System
Liernür. — Als beispielgebende Trennungssysteme haben neue Darstellungen
erfahren: das Abfuhrwesen der Städte Würzburg (durch Högel), Leipzig (durch
Rost), Heidelberg (durch Hirschbold), Rostock (durch Uffelmann), Stuttgart
(Zeitschrift „Gesundheit").
Einrichtungen zur Abkehr derjenigen Abfallstoffe , welche unter der
Benennung „Kehricht" zusammengefaßt werden, und nach Knauff's Berechnungen
ein Drittel als Strasse nkehricht, zusammen mit dem Haus- und Gewerbe-
abfall aber zwei Drittel der soliden Abfalle betragen , sind auf den jüngsten
hygienischen Congressen vielfach zur Demonstration und Besprechung gelangt. In Paris,
wo jährlich gegen eine Million Cubikmeter Haus- und Strassenkehricht zu beseitigen
sind, hat sich — nach Do Mesnil's Ausführungen — ein dringendes Bedürfniss
herausgestellt, metallene Bottes a ordures (Roberts) zum Ersatz der noch immer
gebräuchlichen Holzkästen heranzuziehen, „Depots d'inimondices" vor den Grenzen
des Stadtweichbildes zu errichten und eine landwirthschaftliche Verwendung jener
Stoffe anzubahnen. Einer Verbrennung durch Kehrichtverbrennungsapparate (Nelson's
„Destructor of refuse", Leschewitsch [Petersburg], Eagle's Destructor u. A.) sind
nicht alle Stimmen günstig, obwohl London (Whitechapel) , Glasgow, Bradford^
ABFALLSTÜFFE. — ABBÜSGIFT.
SKQns&am. Lted*. Manchester. Blaekford. BoHon. Barr. Preston. Salford, New-
eascLe^ HnHL Derbj. Bkaekbnrm. Heekmond rille. Warrin^ton. Kating. Sonthampton,
Braam. Winchester. B*>nrneiDonth. aneh amerikanische Städte Montreal u. a.)
dcnetöee Terfcrennnn^sapparate in Gebrauch haben, nnd man am all diesen Plätzen
uns Asr T*arfcehrin£ recht «frieden ist {aneh was die rielpeftrehteten flblen
ftWrtieibc a&Eanigt - Die Betriebskosten bei dem EAGLEsehea Destraetor. der besonders
ät Xaniadncrfka Tcihicilanjgr erlangt hatte, sollen sieh nieht höher stellen, als pro
Tum* — 2»>Cl Pfennige).
Liceratar faath Jahrgängen geordnet). i88r>: Soyka. Zar Assaairaag Prags.
Ptatpir mmi W*iÄ«sekr. XL — Weiss, Die Aasaairaag 4er Stadt Stettin. Friedrckh*» BL
t gBpitf&gf. Ä*i. 37- — Martin. £e* prvjtt* cT «*&s»Mijjrm*n£ 4m Hmrrt. Barne
•rky^piffift. THL — Joardaa. L'm*#ri*Ü3*m*mt dt P+ri*. Paris; /f rünjMani/o e?i Xapoli.
trenne -feHa suckc* real, digiene. TI1L — Zerniag's Ter&hren. Mmneüaagen Iber Land-
wnt&HcaaA *r.£, THL — Deraix. Pataers a&d Borers. Ar titoif»em*mt de* matihrt*
djiui1 HmmtoemtUx, Bn&weJL — L. Har a is. Historisch kritische Stadien aber das Liernur-System.
Ptätl — Pusick. Wmrimf* Sytttwu tie. Berne d*hrgicne. YIIL — Soathee, Sanitary
EUeurC aast -fTS — Def »»sc. Ebenda, pag. — Petri, TagebL d. 59. Xatarforacherrars.,
V**. — L Hagel. CnahVation aad Abfahrwesea der Stadt Wärabnrg. Wanbarg. —
C Atri. Itevciche TkrteljahraKhr. £ öfentL GesnniheitspdL XVTÜ aad C. H. Sehneider
< CbrSzaasxLwxr^ . Flh&arreramrezaigaag- T1.TIT — 1$£7 : A****m*#tement 4t Ari*. Berne
i'Tryjiwi*. IX. — J. Konig. Die Teraareiaigang der Gewässer. Bertia. — D. Brix, Die
CananrnTTfon. na WöesbaeVa. Wiesbaden. — Keeliag. James Scott ireil im Gesvndkeits-
'uapaäasftr IV\ Caia£reii£g«zgsapparate — G. Fraak. Zeitsehr. t Hygiene. HL — Fraak-
laxi. Bnüexnr 4er Canalwässer. Terhand'. d. TL intern. Ceogrem» 1 Hygiene. — Cor-
tf t* L i _ TTm AnviflhmMf «»4 mtützmtiom «tr'm^. Lende«. — Knaaff. Gesamdheitmngenienr.
CT tut A ra*U_ Beinigang städtischer Abwässer. Dentache Tiejteijakrssckr. L oJeatL Gesaad-
fcBsgifes*. TJX. — BaUmaaa. Das Mäller-Xahnsea sehe Beiaigangsrstent städtischer Ab-
räwar zx Ha3fe a. S. Dentsche Tternfjahrssehr. f. taVntl Gesandheitspl XIX — J. König,
«•jBtrraDiL t al^rcnteiatf GesandheHsnA. TL — 1588: Koka. D:* Enträseraaar der Torort«
€hastSarssnbrttT . Scheneberg etc. duck SekvtauManalüatioa etc. Berlin. — Cffelmaaa,
Wvp*Bnai&* f«^igrap&ie der Stadt Bd«tock. Bestock. — C H. Sckaeider. Die Besehignng
wm. rxeatb»CiiiflHL- Gesomdhehsangeaiear. T. — H. Weigmaaa. Beiaigaif; der Abwässer.
EBemia. ~ Trelat. Daselbe Thema im Berne d'hjpene. X. — BertiCtoa. L'Amt *mwit*ir*
U ^mimni£Üm. Pari* — Kaaaff . Die Cnschädlichmacknag des Strassen* aad Hanskehrichta.
öawf AsjljJa. na^.219. — 1S59: Hofmaan. Beseiägaag der AhnlbtanV in Städten.
<«9aaräeirs&$eiL3fnr. TL — Bost. Die Beseifiignag der Facalssoie in der Stadt Lainaig.
TIS. t usräfriL Med. LI. — Hirsckbold. Gesnadhehsingenwnr. TL — Potacare.
Ben» £*7<£räie XL — KL Soadea. B*r*ti*Lt* +m mKm**** k«i#tfi&ft**ii<t i Siech-
foiüm, 4t* SnKkhahn. — Br. Kräger . Tersache aber die Wirkung im KSarmrteln ia Schmnts-
väeaexs. Zesfischr. 1 H^iene. TII. — Ha ppe. üeber Kmranmgen. Arckir f Hygiene. EL —
t'Tcracck de Meijer. AnnaL dkrg. pabL XX IL S. — Da Mesnil aad Jaarnet,
B«»ti» £"krgw«e. XL — Knaaff. Gesaadtctesingenienr. TL — A. Deraax aad F. Pataera,
U tmm + TAptmt: <r* Btifiq**. BrasseL — l&fc): Kammel. Wassarr«rsorgang and Unsav
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AiwayiL Wanchen. — K. W. Jarisch. Die Teraareiaigang der Gewässer etc. Berhn. —
B Lea sfas. Chentsiche Cnfersachangen aber die Beiaignng der Sielwässer im Frankfurter
Kurfacken etc. Frankfurt a. M_ — t. Petteakofer. Die Teranreinignng der Isar dnrch
•ttat Sifcw*mmsy»em ia Manchen. Hrgienische Tagesfragen Mnnchen. 3L — W. Praassaitn,
Dar Bbiins» der Möschencr Canahsatioa anf die Isar. Manchen. — B. H. Beeres. Scver
twms&atmm **4 hhmt taMäamr. London. Wernich.
AhOrteS .YoreKkeh . s. Frnehtabtreibnnar.
AmfnTSyft. Wahrend man frther die pfti^en Principien der Pianxen
zm Alka&Hdes. Sparen. Glje«isiden. Harren oder atheri^hen iVlea suehte. hat
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kdrper aitrremnden , welehe ein Pendant rn vermiedenen toxi$ehen Protein-
Terbcndanzcn b£14en . die man ans Seemen nnd Theüen giftiger Thiere < Gift-
*ekla&f*a. eiftige Spinnen, Sernm der Mnräniden danwteflt hau nnd ihre Zn-
«tfnucen^ehi^rirkect mit diesen ^es^>nders dadnreh beknnden. da^s » bei Snbentan-
apfü^irl^ l:eal eatztodan^rrecend wirken -ini bei Ein^priunn^r in das Bhrt
han>>rrha£f<ehe Ga*tn>Mi:ent£< enengen. Leutere i« die Fol^e einer Cu>a^niUt»>nt-
ABBÜSGIFT.
21
wirkang auf gewisse Eiweisskörper des Blutes und der Lymphe, wodurch Ver-
stopfungen der Gefösse und secundäre Embolien resultiren. Als die erste dieser giftigen
Protein Verbindungen des Pflanzenreiches ist das GiftderJequiritysamen (vergl.
Real-Encyclopädie, Bd. X, pag. 251) ermittelt worden, das anfangs als ein einziger
Eiweisskörper angesehen und mit dem Namen Abrin belegt, bei neueren Unter-
suchungen aber als ans zwei verschiedenen Körpern dieser Art bestehend nach-
gewiesen wurde und hierdurch in auffälliger Weise Analogie mit dem Schlangen-
gifte bietet, das ebenfalls zwei giftige Eiweisskörper, und zwar denselben Eiweiss-
gruppen zugehörig, enthält. Den Nachweis, dass die Entzündungsphänomene,
welche wässeriger Aufguss von Jequirity auf der Augenbindehaut hervorbringt, von
einer Proteinverbindung herrühren, haben bereits 1884 Bruylants und Venn em an
im Gegensatze zu der damals herrschenden Anschauung, dass Jequiritysamen-
aufgttsse durch Bacterien Augenentzündung bewirkten, geliefert und den Körper
als Zymase jöquiritique oder Jequiritin bezeichnet. Dieselben thaten dar,
da«8 dieses in Wasser lösliche und durch Erwärmen der Lösung auf 63 — 70°
unwirksam werdende Jequiritin nicht allein schon zu 1/100 und mitunter selbst zu
1/200 Mgrm. die charakteristische Jequirityentzündung erzeugt, sondern auch bei
Einspritzung in den Darm intensive hämorrhagische Gastroenteritis erzeugt und
zu 1/2 — 1 Mgrm. den Tod von Kaninchen bedingt. Während Bruylants und
Venneman ihr Jequiritin als in den Abrussamen nicht präformirt und sich nur
beim Keimen derselben bildend bezeichnen, wiesen Warden und Weddell eine
giftige und croupöse Bindehautentzündung erregende, Abrin genannte, Protein-
verbindung auch im Stamme und in der Wurzel von Abrus precatoria nach.
Nach Sydney Martin enthalten die Jequiritysamen zwei giftige Proteide, deren
eines zu den Globulinen (Paraglobulin) gehört, während das andere als Albumin ose
erscheint. Das Abrusglobulin löst sich in löprocentiger Kochsalzlösung, coagulirt
beim Erhitzen zwischen 75 und 80° und wird durch Sättigung der Lösung mit
Natriumchlorid und Magnesiumsulfat gefällt. Die Abrusalbuminose löst sich in
Wasser, wird nicht durch Kochen, wohl aber durch Salpetersäure gefällt, das
Präcipitat geht beim Erwärmen in Lösung über, scheidet sich aber beim Erkalten
wieder ab. Kupferoxyd und kaustisches Kali färben sie rosa (Peptonreaction).
Beide Proteide erzeugen croupöse Entzündung der Bindehaut und wirken bei
Subcutaninjection toxisch, indem sie ausser localem Oedem und Ecchymosen Stupor,
blutige Stühle und Gastroenteritis, Sinken der Temperatur und Abnahme der
Athemfrequenz hervorrufen ; post mortem tritt Starre rapid ein, auch finden sich punkt-
förmige Ecchymosen unter der Pleura, im Pericardium und der Darmschleimhaut,
mitunter lange flüssig bleibendes Blut. Das Globulin ist sechsmal stärker giftig als
die Albumino8e, die erst zu 60 Mgrm. pro Kilogramm subcutan Ratten tödtet. Die
Wirkung beider Proteide wird beim Erhitzen auf 50° stark abgeschwächt, in höheren
Temperaturen (75° beim Globulin, 85° bei der Albumose) vollkommen vernichtet.
Gegenüber den Proteiden des Schlangengiftes sind die Abmsgifte anscheinend von
relativ schwacher Wirkung, doch genügt bei Einführung in das Blut schon 1ll00 bis
1/ft0 Mgm. per Kilo zur Tödtung von Warmblütern. Im Magen werden die Abrusgifte
theilweise in unwirksames Pepton umgewandelt.
Zar Darstellung des Globulins zieht man die von der Binde befreiten and zer-
kleinerten Samen mit 15procentiger Chlornatriumlösung aas and fällt das klare Filtrat durch
Sättigen mit festem Natriumchlorid nach Ansäuern mit Essigsäure. Das aas Globulin mit
einem Theile der Albaminose bestehende Präcipitat wird mit destillirtem Wasser gemischt und
mehrere Tage in fliessendem Wasser dialysirt, wobei das Globulin aasfällt and die Albaminose
in Lösung bleibt. Das abfiltrirte Globulin wird mit (sterilisirtem) destillirtem Walser 2 Tage
gewasche u, bis Albaminose und Rochsalz völlig entfernt sind, dann vom Filter entfernt und
über Schwefelsäure getrocknet. Es bildet dann ein weissgelbes, amorphes Pulver, das sich
länger als 15 Monate wirkungskräftig erhält. Zar Gewinnung der Albaminose bereitet man ein
concentrirtes wässeriges Extract der Samen und tiltrirt den klaren Aufguss direct in einem
Ueberechnas von absolutem Alkohol, wodurch beide Proteide gefällt werden ; nach einigen Tagen
löst man den Niedersch'ag wieder in Wasser und fällt aaf * Neue, was man in Zwischenräumen
Ton ei o igen Monaten wiederholt. Lässt man das Präcipitat 8 Monate oder länger unter
Alkohol stehen , so ist das Globulin vollständig coagulirt , während die Mtamtaatfe w^V \&
22
ABRÜSGIFT. — ACCLIMATISATION.
Waner löblich ist. Ueber Schwefelsäure getrocknet, bildet die Abrasalbnminom eim gelbbraunes
amorphes Pulver.
Literatnr: Martin. Brit. med. Jonrn. 27. Juli 1889. Pharm. Transact 7. Sept.
1889. — Martin nnd Wolfenden. Proceed. Roval Soc. 1890, XLVI. pag. 34. — Kobert,
Sitzungtber. d. Xatnrf.-Ge*. zn Dorpat. 189Ö. pag. 114. Hnsemann.
Abwässer, s. Abfallstoffe, pag. 15.
ACClimatisatlOII. Wahrend das Wesen, die Schwierigkeiten nnd die
auf Racenverschiedenheiten zurückzufahrenden Hergänge der Acclimatisation im
Hauptartikel zn einem, dem gegenwärtigen Standpunkt des bezüglichen Wissens
entsprechenden Abschluss geführt wurden, haben einige neuere Arbeiten sieh
besonders mit der Pathologie des Acctimatisationsprocesses beschäftigt.
Um einen sicheren Maassstab für die Beurtheilung brüsker klimatischer
Einflüsse und der von solchen bedingten Schädigungen zu gewinnen, reichen weder
die (zahlreicher vorhandenen) M i l i t ä r Statistiken , noch die bisher angestellten
Erhebungen über die Sterblichkeit*- und Invaliditätsverhältnisse der Civil-
bevölkernden in den französischen, englischen und niederländischen Colonien aus.
Ein wer ent lieber Mangel all dieser Zusammenstellungen liegt schon darin, <kss
die Civilbevölkerung gefährlicher Colonien stets darauf bestrebt ist, dieselben noch
vor vollendeter Acclimatisation. jedenfalls in noch passablem Gesundheitsznstande
zu verlassen (besonders soweit Engländer und Franzosen in Frage kommen), und
dass die späteren heimatlichen Schicksale weder der bürgerlichen« noch der
militärischen ColonialLevölkerung einer der vornehmlich in Betracht kommenden
Nationen zahlenmässig festgestellt worden sind. Man wird daher den Maassstab für
die gescheiterten und geglückten Acclimatisationserfolge ebenso wie ein Crtheil
über die wesentlichsten Hindernisse der Aeclimatisations- und Colonisations-
bestrebungen nur aus den Erfahrungen und dem Urtheil der zuverlässigsten
Colonialärzte entnehmen können.
Diejenige Aeclimatisations krankheit. welche nach dem Zengniss der
älteren wie der neueren erfahrenen Colonialärzte für jeden in den Tropen leben-
den Europäer unvermeidlich erscheint, ist die verminderte Bildung des
Blutes mit ihren Folgen. Man darf heute vielleicht noch nicht einmal mit voller
Bestimmtheit sagen, ob es sich lediglich um eine verminderte Bildung, ob ea sieh
nicht vielleicht gleichzeitig und in eben so hohem Grade um eine dureh das
Trockenklima herbeigeführte vermehrte Zerstörung des Blutes nnd seiner
Bestandteile handelt.
Einige Zeit hindurch pflegt der Einwanderer nicht blos im Vollbesitz
seines Wohlbefindens, seiner Kräfte und seiner Leistungsfähigkeit zu beharren und
sein auf einer normalen Blutfülle deutendes Colorit zu behalten, sondern es tritt
oft genug sogar ein gesteigertes Wohlbefinden und eine Steigerung der Krlfts
ein. Das vollblütige Aussehen und das ganze Gebahren des auf den ersten Ueber-
gängen zum „permanenten Sonnenmenschen" begriffenen, in die Tropen ver-
setzten Europäers zeigt sowohl einen Gegensatz zu den Eingebornen, als zur
äusseren Erscheinung seiner blutarm und gedrückt aussehenden, bereits eingewöhnten
Landsleute. Nach einiger Zeit ändert sich jedoch bei den Allermeisten das ganxe
Bild. Folgt man den bezüglichen Ausführungen Yirchow's, so kann kaum ein
Zweifel darüber herrschen, dass nahezu alle in der Acclimatisation begriffenen
Europäer nach einem oder sicher doch nach einigen Jahren in einen Zustand
kommen, welchen wir mit dem Namen der Blutleere oder Blutarmuth, der „Anämie*,
bezeichnen. Die Anämie der Tropen tritt urosomehr hervor, je mehr positive
Schädlichkeiten drohen und wirksam werden, sie entwickelt sich mit grösserer
Schnelligkeit und in den schwersten, lebensbedrohenden Formen im Anschlnss an
Ueberarbeitung, an schlechte Pflege, an ernste Krankheiten, wie besonders Ruhr ;
aber auch auf Veranlassung anscheinend ganz leichter und vorübergehender
Krankheitszustände. Indessen selbst Personen, welche gar nicht von wirklichen
ACCUMATISATION.
23
Krankheiten (von Fiebern insbesondere) heimgesucht werden , verfallen mehr und
mehr der tropischen Anämie, die auch ihnen ihren Stempel : die fahle, wachsartige
Blasse, das Hervortreten der knochigen Theile, den Verlust jeder lebhaften, rosigen
Färbung, das allmälige Eintrocknen des Fettpolsters unter der Haut, aufprägt.
Wir wissen jetzt, dass es bei der Entstehung der Anämie noch manche Besonder-
heiten giebt. Während der blosse Rückgang der Blutbereitung mit gleichzeitiger
Herabsetzung des Wassergehaltes im Blute und entsprechender Entlastung des
Herzens und des Lungenkreislaufs sich unter dem Gesichtspunkt der Acclimatisations-
bestrebungen betrachten lassen, führen Malariaanfälle und Einwanderungen tropischer
Darm- und Blutparasiten anscheinend zunächst zwar ebenfalls zu anämischen
Erscheinungen. Hinter diesen steht aber als Wesen der Erkrankung die wirklich
fehlerhafte Blutmischung, die unaufhaltsam zur tiefen Zerrüttung und zum
Zerfall des Körpers führt. Geht die Bildung derartiger Anämien noch — wie bei
der Ruhr — mit directen Blutverlusten einher, so erhöht sich die Bedenklichkeit
solcher Zustände sehr bald zur directen Lebensgefahr. Da von einer Steigerung
der Widerstandsfähigkeit nordeuropäischer Einwanderer in den Tropen gegen deren
spezifische Krankheiten , in erster Reihe gegen Malaria und Ruhr, nicht entfernt
die Rede sein kann, und im Gegentheil die Geneigtheit zur Erkrankung sich mit
der Verlängerung des Aufenthaltes in den Tropen vermehrt, fallen diese Krank-
heiten nothwendig aus dem Rahmen einer Betrachtung über physiologische und
erfolgreiche Acclimatisation hinaus (s. Artikel Tropenkrankheiten). Aber
auch bei den Krankheiten, deren Repräsentant das Gelbfieber ist, nach deren
einmaligem U eberstehen nicht nur die Eingebor nen, sondern auch die Fremden aus
gemässigten und kalten Breiten gemeinhin ferner von derselben verschont bleiben,
handelt es sich nicht um eine Verwerthung der gesetzten Körperveränderungen
im Sinne einer pathologischen Acclimatisation, sondern um eino blosse Tilgung der
Empfänglichkeit für das in Frage kommende Krankheitsgift.
Nicht für den Preis einer mehr oder minder das Leben gefährdenden
Krankheitsüberstehung wird hiernach der Lohn einer unbedingten Acclimatisations-
fahigkeit erworben, sondern die Acclimatisation ist auch in den heissen
Gegenden der Erfolg eines schützenden, die Lebenskraft voll
erhaltenden Regimes. Sie ist auch lediglich in diesem beschränkten Sinne
eine erworbene Fähigkeit, deren Uebertragung auf die Nachkommen des seinerzeit
acclimatisirten Fremden, des Colonisten, denkbar und durch die Erfahrung
bestätigt ist. Ausschliesslich die regelmässige Erzeugung und die Aufziehung von
Kindern unter den Einflüssen des neuen Klimas sind die Beweise, dass eine
Acclimatisation im eigentlichen Sinne geglückt ist. Ansiedlungsversuche, welche —
selbst nachdem das Mittel der Racenkreuzung erfolglos geblieben — mit dem
Rückzüge eines Restes Kranker und Invalider nach der Heimat ihren Abschluss
finden, werden auch fernerhin für das Studium der Acclimatisation nicht zu
▼erwerthen sein.
Aus diesen Betrachtungen ergiebt sich schliesslich das wenige Feststehende,
was über die Kunst der Acclimatisation zu überliefern ist. Der erste
Theil der Vorsichtsmassnahmen wird sich stets auf das Vermeiden der tropischen
Malaria zu richten haben. Absolutes Fernhalten vom Bodenanbau mittelst eigener
Körperanstrengung, Errichtung der Wohnung auf fieberfreiem Baugrund, eventuell
Herstellung eines solchen durch Aufhebung und Drainage, ventilirbarer Unterbau
(Pfahleon8truction), Fernhaltung ungekochten Wassers aus der Nahrung, Ersatz
desselben durch präparirte Getränke (ohne oder mit leichtem Alkoholgehalt), Ver-
meidung ungewohnter, mangelhaft gekochter Speisen, der prophylactische Gebrauch
von Chinin (aber nur aus besonderen Anlässen oder zur Zeit der Fiebersaison) —
bilden die wichtigsten Abschnitte der Fieber-Prophylaxe. Debauchen jeder Art,
selbst schon zu langes Aufbleiben und jede Andeutung von Nachtschwärmerei sind
zu meiden. Grosse Mässigung im Geschlechtsgen uss ist ebenfalls geboten. Während
die obige Zusammenstellung bereits diejenigen Schutzmassregeln einschliesst, welche
ACCLIMATISATION. — ACCOMMOOATIONSKRAlfPF.
einer Reihe von Krankheitsgiften (neben der Malaria), von Blut- und anderen
Parasiten den Eingang in den Organismus zu verwehren im Stande sind, treten
hierzu noch besondere Cautelen beim Baden, beim Schlafen (Moskitonetze) und im
intimen Verkehr mit den Eingebomen.
Eine Darstellung der Einzelheiten, welche für die individuelle Er-
haltung der Gesundheit am meisten in Betracht kommen, hat im Hauptartikel
(Bd. I, pag. 238 — 240) Soyka bereits gegeben. Hinsichtlich der Erfolge dieses
Bestrebens findet sich die tröstlichste Auffassung neuerdings bei Stockvis. Nach
ihm ist die Kace auf die Widerstandsfähigkeit während der Acclimatisation 8 Vorgänge
von ganz untergeordneter Bedeutung. Auf die Verbesserung der äusseren Umstände,
auf das Fortschreiten der praktischen — öffentlichen und individuellen — Hygiene
sind alle günstigen Ergebnisse zurückzuführen, welche er aus der Geschichte und
Statistik der Acclimatisationsbestrebungen der Neuzeit in recht überzeugender
Weise vorzuführen wusste. Die Engländer in Vorderindien und Bengalen sterben
fast nie an Malaria, während die Eingebornen dort sehr schwer unter ihr zu leiden
haben. In ganz wunderbarer Weise haben sieh auch (holländische Colonien) Cholera
und Dysenterie seit der Einführung hygienischer Massnahmen in den tropischen
Colonien vermindert. Aber man müsse allerdings von einer jeden Nation, welche
an ein Colonisationswerk herantritt, fordern, dass sie die relativ gesundesten
Orte aufsuche und diese mit den tauglichsten Individuen besetze. Wie
sehr diese Voraussetzungen von ausschlaggebendem Gewicht sind beim Colonisations-
erfolg. lehren die Versuche im caraibischen Meere, auf den grossen und kleinen
Antillen, die für die verschiedenen europäischen Völkerschaften (für Dänen, Eng-
länder, Holländer. Franzosen und Spanier) von günstigen Ausgängen gekrönt waren.
Literatur: H. C. Lombard, Tratte de climatologie medicale. Paris 1 877 bis
1880» 4 Bde. — A. Hirsch. Acclimatisation und Colonisatiou. Vortrag in der Berlin, anthropol.
Gesellseh. am 21. Februar 1886. — Virchow. Ueber Acclimatisation. Vortrag auf der
58. Naturforschervers. Strassburg. 22. Sept. 1885. — The Climatologist. Washington 1838 ff. —
B. J. Stockvis. Ueber vergleichende Racenpathologie und die Widerstandsfähigkeit des
Europäers in den Tropen. Rede, gehalten auf dem X. intern. Congress. Berlin 1 890, Hirschwald.
W e r n i c h.
Accommodationskrampf. Rbcss fasst neuerdings seine Ansichten über
den sogenannten Accommodationskrampf, das heisst über diejenige Form von
Accommodationsspannung, die bei Myopen auftritt oder Myopie vortäuscht, zusammen.
Er hält ihn für einen Reflexkrampf, der beim Fixiren eintritt, in den meisten
Fällen (aber nicht in allen) unter dem grellen Lichte des Augenspiegels, das am
Fixiren hindert, ganz oder zum Theile schwindet; er tritt beim Hypermetropen
im Dienste des Deutlichsehens als latente Hypermetropie auf, oder bei beliebiger
Refraction eine Myopie vortäuschend oder eine vorhandene vergrössernd ; nur in
letzterem Falle können wir ihn als etwas Pathologisches ansehen und nur in
diesem verdient er den usuellen Namen eines Krampfes. Er ist ein häufiges Leiden
und complicirt in sehr vielen Fällen eine vorhandene , meist progressive Myopie
jugendlicher Individuen, welche viel Nahearbeit zu leisten haben ; wer Gelegenheit
hat , Schüleraugen zu untersuchen, wird ihn sehr häufig finden , dem praktischen
Arzte, dem diese Gelegenheit mangelt, wird er relativ seltener vorkommen, daher
auch die Ansichten über seine Häufigkeit verschieden sind. Er kann bestehen,
ohne andere Beschwerden hervorzurufen, als die der Kurzsichtigkeit, er kann
aber auch asthenopische Erscheinungen bedingen. Er kann jahrelang bestehen,
ohne dass die wirkliche Myopie zunimmt, sowie andererseits die Myopie wachsen
kann, ohne dass die Accommodationsspannung vorhanden ist; wenn beide, Spasmus und
progressive Myopie, nebeneinander vorkommen, so ist damit ihr causaler Zusammen-
hang nicht erwieseu. Da er aber zu übermässiger Annäherung der Objecto, also
zu erhöhter Convergenz. führt, kann er allerdings die Myopie ungünstig beein-
flussen. Therapeutisch sind ausser Atropim-uren , die, wenn sie auch oft keinen
oder nur vorübergehenden Effect baten . sicher aber nicht schaden , das Durch-
sichtstativ von Kalmaxn und. soweit die bisherigen Erfahrungen reichen, das
ACCOMMODATIONKR A MPF. — ADAPTATION.
25
Sehreiben von Steilschrift zu empfehlen. Bei jeder Verordnung einer Concavbrille
sollte man sieh zuerst durch den Augenspiegel von der wahren Refraction des
Auges überzeugen.
Literatur: Reuss, Ophthalmolog. Mittheil ungen. Wiener med. Presse. 1885.
v. Reuss.
Ad&ptatiOII des Auges, das heisst Anpassung desselben an verschiedene
Beleuchtungen, ist insofern erforderlich, als Licht, welches in zu grosser Intensität
auf die Retina fiele, dieselbe schädigen würde. Dieser Gefahr wird durch die mit
zunehmender Helligkeit vorschreitende Verengerung der Pupille vorgebeugt. Es
handelt sich aber bei der Adaptation des Auges nicht allein hierum, sondern es
kommt auch in Betracht, dass die Deutlichkeit des Sehens von der Unterschieds-
empfindlichkeit abhängt und dass letztere im Auge bei grosser und kleiner
Empfindungsstärke geringer ist als bei mittlerer. Es wäre also zweckmässig, dass
bei Zunahme der Beleuchtungsintensität über einen gewissen Werth hinaus die
Empfindlichkeit der Netzhaut in entsprechendem Masse abnähme, wodurch erreicht
würde, dass die Empfindungsstärke innerhalb des mittleren Werthes bliebe,
bei welchem die Unterschiedsempfindlichkeit ein Maximum ist. Im umgekehrten
Sinne würde Zunahme der Empfindlichkeit bei abnehmender Beleuchtungsintensität
als zweckmässig erscheinen, ja hier käme ausserdem noch der Nutzen in Betracht,
welcher aus der Erhöhung des Schwellenwerthes der Empfindung für die gröbere
Orientirung im Dunkeln erwachsen würde. Dass die Empfindlichkeit der Netz-
haut sich in diesem Sinne mit der Lichtstärke ändert, welcher dieselbe ausgesetzt
war, drängt sich in der That der unmittelbaren Beobachtung auf. Tritt man aus
dem hellen Sonnenlicht in ein nur mässig verdunkeltes Zimmer, so sieht man
zunächst gar Nichts, erst allmälig erscheinen die helleren Gegenstände, dann auch
die weniger hellen und bald ist das Auge auch für feineren Gebrauch bei dieser
Beleuchtung adaptirt. Tritt man nun wieder hinaus, so kann man wiederum
zunächst Nichts sehen, man ist von dem übermässigen Lichte geblendet. Die grosse
Empfindlichkeit der im Dunkeln ausgeruhten Netzhaut zeigt sich ebenfalls in der
Deutlichkeit und Ausdauer des positiven Nachbildes, welches von den ersten
(nicht zu hellen) Gegenständen entsteht , auf welche beim Erwachen der Blick
trifft. Die mit der Intensität der Beleuchtung schwankende Empfindlichkeit der
Netzhaut ist es aueh vorzugsweise, welche die meisten Forscher auf dem Gebiete
der physiologischen Optik veranlasst hat, viele ihrer genaueren messenden Ver-
suche im dunklen Räume nach eingetretener Adaptation der Netzhaut für das
Dunkel auszuführen. Diese Adaptation scheint für die Netzhautmitte langsamer
einzutreten als für die Peripherie. Man vermuthet dies deshalb, weil bei den bisher
im Dunkelzimmer angestellten Untersuchungen die Unterschiedsempfindlichkeit
der Netzhautmitte kleiner erschienen ist, als die der Peripherie, während bei
gewöhnlichem Tageslicht das Umgekehrte stattfindet.
Den ßubjectiven Wahrnehmungen entsprechen Befunde an Augen von
Thieren, welche dem Licht, beziehungsweise der Dunkelheit ausgesetzt wurden,
ehe man sie behufs Entnahme ihrer Augen zur Untersuchung tödtete. Die Retina
des „Dunkelauges" unterscheidet sich in 3 Punkten von derjenigen des „Hellauges".
In ersterem ist das Sehroth der Stäbchenaussenglieder vorhanden, in letzterem
gebleicht, in ersterem findet sich das Fuscin im Pigmentepithel zwischen Kern
und Basis so angehäuft, dass sowohl die Endflächen der Stäbchenaussenglieder,
als auch die zwischen den Stäbchen befindlichen Protoplasmafortsätze der Epithel-
zellen ziemlich frei davon sind. Versucht man an diesen Augen die Netzhaut
abzuziehen, so löst sie sich in der Regel von der Schicht der Pigmentzellen,
indem deren zwischen die Stäbchen eindringende Fortsätze herausgezogen werden.
In Hellaugen dagegen findet sich das Fuscin sowohl an der Endfläche der Stäbchen
angehäuft, aU auch in die Fortsätze zwischen die Aussenglieder, theilweise sogar
zwischen die Innenglieder der Stäbchen und Zapfen vorgedrungen. Da gleich-
zeitig die Aussenglieder der Stäbchen geschwollen sind, so liegen sie fester
26
ADAPTATION. — ADDISON'sche KRANKHEIT.
zusammengedrängt zwischen den gefüllteren Pigmentforteätzen. In Folge dessen
haftet die Retina des Hellauges fest am Pigmentepithel. Die Vorwandernng des
Pigments geschieht schneller als die Bleichung und als die Rückwanderung. Zum
vollständigen Vordringen des Pigments sollen etwa 10 — 15 Minuten genügen,
zur Rückbildung dagegen lx/a — 2 Stunden nöthig sein. Drittens ziehen sieh die
Innenglieder der Zapfen unter Lichtwirkung zusammen, sie werden kürzer und
dicker. Für eine künftige Deutung der Beziehungen dieser objectiven Verände-
rungen der Netzhaut zu der Adaptation für Hell und Dunkel wird vielleicht noch
in Betracht kommen können, dass chemische Wirkungen des Fuscins auf die Seh-
zellen erkannt worden sind. Im Licht gebleichtes Sehroth kann nämlich durch
Berührung mit dem Pigmentepithel regenerirt werden.
Auch dem Temperatursinnesapparat wird eine Adaptation zugeschrieben.
Während wir weder kalt, noch warm empfinden, haben die verschiedenen Haut-
regionen meist verschiedene objective Temperatur. Man drückt dies so aus, dass
man sagt , der Temperatursinnesapparat habe sich an den verschiedenen Haut-
stellen für verschiedene Temperaturen auf den Nullpunkt der Empfindung einge-
stellt. Aendert man die objective Temperatur einer Hautstelle in massigem Grade,
so hat man zunächst die Empfindung kalt oder warm. Dass diese Empfindung
dann aber bei unveränderter Temperatur bald schwindet, bezieht man auf eine
„Adaptation" für diese neue Temperatur. 6 ad.
AddiSOn'SChe Krankheit. Seit dem Erscheinen der zweiten Auflage
dieser Encyclopädie sind eiue ganze Anzahl vou Mittheilungen über ÄDDisON'sche
Krankheit erschienen ; es können indessen hier nur wenige berücksichtigt werden
und auch nur in Bezug auf die zwei wesentlichsten Fragen in der noch so rätsel-
haften Krankheit, nämlich in Bezug auf die Entstehung des Hautpigments und
das Wesen des Leidens.
Dass das Hautpigment, welches im Bete Malpighi abgelagert ist,
aus dem Blute stammt, also ein veränderter Blutfarbstoff ist, wird immer wahr-
scheinlicher. Schon frühere Autoren, später Nothnagel, Demieville, Riehl und
Andere, haben diese Quelle für das Hautp'gment angenommen. Riehl (Zeitschr.
für klin. Med., Bd. X) glaubt , dass Gefassveränderungen das Primäre seien , die
Extravasirung von Blut und dadurch folgende Tinction der Haut das Secundäre.
GABbr (Rivista clin. di Bologna, 1886) glaubt ebenfalls, dass die Pigmentation
durch einen Zerfall von Blutkörperchen zu Stande komme und verlegt diesen
Zerfall in 's Knochenmark, weil er in 2 Fällen dieser Krankheit im Knochenmark
sehr viele blutkör per chen haltige Zellen fand. Vielleicht lässt sich auch eine Beob-
achtung von Kummer (Correspondenzbl. für Schweizer Aerzte, 1885), der in einem
Falle von AüDisoN'scher Krankheit eine starke Vermehrung des Urobilin im Harn
fand, mit der hämogenen Abstammung des Hautpigments in Beziehung bringen,
da ja das Urobilin ein Derivat des Blutfarbstoffes ist. v. Kahlden (Virchow's
Archiv, Bd. CXIV) glaubt ebenfalls, dass das Hautpigment bei Morbus Addisonii
aus dem Blute stammt, weil er die pigmenthaltigen Zellen vielfach in der Nähe
der Gefasse oder sogar in der Adventit'a selbst fand ; das Hautpigment werde in
der Cutis gebildet und durch Wanderzellen in die tieferen Schichten des Bete
Malpighi verschleppt. Auch eine experimentelle Stütze hat die Anschauung von
der hämatogenen Quelle der Hautverfärbung bei Morbus Addisonii in neuester
Zeit gewonnen, indem nämlich Tizzoni (Ziegler's Beiträge zur pathol. Anat. und
allgem. Pathol. , Bd. VI) nach Nebennierenexstirpation eine Alteration der Blut-
gefasswaudungen beobachtete, häufig auch Häraorrhagien eintreten sah. Gegenüber
diesen neueren Befunden kann die ältere Angabe, dass das Hautpigment vom
Hämoglobin nicht abstammen könne, weil es die Eisenreaction mit Ferrocyankalium
nicht gebe, keinen Werth beanspruchen, auch ist später die chemische Verwandt-
schaft des Hämoglobins mit verschiedenen Farbstoffen, die sich dadurch als Derivate
des Blutfarbstoffes ergaben, nachgewiesen worden.
ADDISON'sche KRANKHEIT - ADERLASS.
27
Was Dan das Wesen der Addison 'sehen Krankheit betrifft, so ist in
der letzten Auflage der Encyclopädie der Standpunkt der Anschauungen hervor-
gehoben worden betreffs der Veränderungen in den Nebennieren und im Gebiete
des Sympathicus als angenommene Ursache dieser Krankheit. In neuester Zeit sind
wieder einige Fälle bekannt geworden, wo der Sympathicus erhebliche Alterationen
zeigte, v. Kablden (1. c) hat zwei Fälle von Morbus Addisonii auf Sympa-
thicu 8 Veränderungen anatomisch genau untersucht. Im ersten Falle fand er in
beiden Semilunarganglien Pigmentatrophie der Ganglienzellen, links hyaline
Degeneration zahlreicher Gef&sse und kleinzellige Infiltration der Adventitia; im
zweiten Falle beiderseits zahlreiche Blutungen in der Peripherie, Verdickung der
Kapsel der Ganglienzellen, Gefässobturation, sowie Verdickung der Gefass wände.
Ferner hat Fleiner (Berliner klin. Wochenschr. , 1889) in einem Falle von
ADDisON'scher Krankheit bei der Section — ausser Carcinom im Magen, in der
Leber, in den mediastinalen und retroperitonealen Lymphdrüsen und in der linken
Nebenniere — Veränderungen im Sympathicus gefunden: nämlich gleichmässige
Verdickung des Grenzstranges des Sympathicus von der Abgangsstelle des
N. splanchnicus major dixter an und Verdickung auch dieses Nerven. Ebenso
bestanden augenfällige Veränderungen am linksseitigen Sympathicus: das obere
Halsganglion taubeneigross vergrössert, das mittlere Halsganglion fehlt, das untere
Halsganglion in eine geschwulstartige Masse eingebettet. Die unteren Brust- und
oberen Lendenintervertebralganglien sind linkerseits grösser als rechts, ebenso
sind die beiden oberhalb der linken Nebenniere gelegenen Ganglien stark ver-
grössert. Im Ganzen sind jetzt 40 Fälle in der Literatur bekannt , in welchen
eine Veränderung des Sympathicus bei der ADDisON'schen Krankheit nachgewiesen
worden ist. Ob und in welchem Zusammenhange diese Sympatbicuser krank ung
mit der Erkrankung der Nebennieren steht, ist eine noch nicht gelöste Frage.
Sehr bemerkenswerth ist ein diesbezügliches experimentelles Ergebniss von Tizzoxr,
der nach Exstirpation einer oder beider Nebenuieren bei Kaninchen Alterationen
im Gebiete des centralen und peripherischen Nervensystems sah.
P. Guttraann.
AderlaSS (vergl. Real-Eucyclopädie, Bd. I, pag. 198). Fast zwei Jahr-
tausende hindurch ist der Aderlass in der Behandlung innerer Erkrankungen
das angesehenste und verbreitetste Heilmittel gewesen, und man sollte deshalb
wohl meinen, die Medicin müsse über den Werth oder Unwerth desselben längst
zn einem endgiltigen Abschlüsse gekommen sein. Aber dem ist nicht so. Im
Allgemeinen zwar ist das von dem Aderlass einst so sicher beherrschte uugeheure
Gebiet der Therapie auf ein winziges Restchen zusammengeschrumpft, so dass nun
im Laufe von Jahren nicht so viel Menschen zur Ader gelassen werden, wie ehe-
dem an einem Tage. Aber hier und da regt es sich wieder zu seinen Gunsten,
und Hawbürsin in Namur hält es sogar für zweifellos, dass dies so unverdient
vernachlässigte Mittel über kurz oder lang wieder zu Ehren kommen werde.
Unter den acuten Krankheiten ist es vorzugsweise die Pneumonie,
welche immer und immer wieder den Streit der Meinungen hervorruft, und welche
auch in jüngster Zeit wieder zu zwei interessanten Arbeiten die Veranlassung gegeben
hat. Das Ergebniss derjenigen des Prof. Maragliano l) ist im Wesentlichen folgendes :
auf die Körpertemperatur ist die Venae Sectio ohne Einfluss, ebenso wie auf den
pneumonischen Process selbst. Die Pulsfrequenz wird um 2 — 14 Schläge in der
Minute vermindert, der Puls stärker nnd voller. Der Blutdruck wird für 2 bis
4 Stunden um 5— 40 Mm. erhöht; die Athemfrequenz meist vermindert (2 — 24),
vereinzelt auch gesteigert (4 — 16\ In der Regel nimmt die Lungenhyperämie ab,
die Dyspnoe wird geringer und bisweilen auch der Schmerz. Fast immer trat vom
6. — 8. Tage der Krankheit an Fieberlosigkeit ein.
Sehr viel günstiger für den Aderlass lauten die Schlüsse einer von Guido
Catola ') herrührenden Studie. Nach derselben ist der Aderlass nur contraindicirt
durch Marasmus senilis, Herzhypertrophie mit fettiger Entartung der Wandungen
28
ADEBLASS.
und durch Anämie — sonst kann man denselben immer machen. Zunächst erfallt
er die lndicatio cansalis, insofern er die Pneumoniecoccen bekämpft, ihre Menge
und Giftigkeit vermindert. Er muss daher früh geschehen, damit die Einwirkung
auf die Infectionsstoffe zu Stande kommt, der pneumonische Process abgeschnitten
oder doch in seinem Verlaufe gemildert werden kann.
Der Aderlass ist ferner notbwendig, wenn die collaterale Lungenhydrorrhoe
das Leben bedroht, wenn Schmerz und Dyspnoe* heftig sind und die Expectoration
trotz angewandter Mittel schwierig ist. (Diese Indication entspricht so ziemlich
der auch in Deutschland allgemein anerkannten : wenn das an sich kräftige Herz
das in den Lungen sich entgegenstellende Kreislaufshinderniss nicht bewältigen
kann und dadurch eine das Leben gefährdende Hyperämie entsteht.)
In der Hepatisationsperiode endlich würde der Aderlass den Zweck haben,
die Resorption des collateralen Oedems zu fördern und die fettige Degeneration
des Exsudates zu erleichtern. Die Menge des zu entziehenden Blutes darf nicht
unter 200 und nicht über 300 Grm. betragen, da sonst einerseits das Verfahren
nutzlos oder andererseits schädlich sein könnte.
Der Oberstabsarzt Dyks a. D. in Hannover verkündet seit vielen Jahren
seinen Mitmenschen, dass der Aderlass das einzige Heilmittel bei Bleichsucht
und Blutarmuth sei, fand damit aber weder bei Professoren, noch Aerzten
Gehör, eine Erscheinung, deren Ursachen hier nicht erörtert werden können.
Nur ein einziger aus der Zahl der deutschen Aerzte entschloss sich, der Sache
näher zu treten, Wilhblmi in Güstrow. Er wandte im Sommer 1887 bei
einem ausführlich beschriebenen, verzweifelten Falle den Aderlass an, und zwar
mit so überraschendem Erfolge, dass er nunmehr das Verfahren einer weiteren
Prüfung unterzog, deren Ergebniss er 1890 in einer bei Opitz & Cie. in
Güstrow erschienenen Broschüre niederlegte. An der Hand von 30 Kranken-
geschichten schildert der Verfasser in nüchterner und durchaus sachlicher Dar-
stellung seine Beobachtungen und Erfahrungen, denen gegenüber ein überlegenes
Lächeln ebensowenig angebracht ist, wie ein bequemes Nichtbeachten.
Aufgewachsen in der Lehre der heutigen Wissenschaft — sagt Wilhblmi —
war ich ebenso fest, wie alle übrigen Co liegen, davon überzeugt, dass der Aderlass
so gut wie immer ein verwerfliches Unternehmen sei ; hatte ich doch auch bisher
die DYEs'schen Veröffentlichungen als unmögliche Phantasien und marktschreierische
Reclamen verachtet; war es mir doch bei der ersten Ausführung des Aderlasses,
als beginge ich ein Verbrechen gegen die Wissenschaft, so dass mir die Hand
zitterte in dem Gedanken , eben diese Wissenschaft könne bei etwa eintretendem
Misserfolge mit den Worten „Kunstfehler, fahrlässige Tödtung" mich zermalmen.
Gewiss, eventuell hätten sich „Sachverständige" genug gefunden, die auf Eid
und Gewissen bezeugt hätten, er hätte die Verstorbene, wenn auch nicht direct
umgebracht, so doch mindestens den tödtliohen Ausgang wesentlich beschleunigt!
Wilhelmi folgte bei Ausführung des Aderlasses den DYEs'schen Vor-
schriften, nur hat er statt der von jenem vorgeschlagenen Menge von 1*0 Grm.
Blut auf das Pfund Körpergewicht anfangs halb so viel und auch später nur
wenig mehr entzogen. Stets wurde der Aderlass an der im Bette liegenden Kranken
vorgenommen, und ein Verlassen des Bettes nie vor dem nächsten Tage gestattet.
Der der Venae sectio folgende Schweissausbruch wurde durch starkes Be-
decken und durch Zufuhr warmen Getränkes unterstützt; besondere Diät wurde
nicht verordnet; hier und da ein stuhlerweichendes Mittel, sonstige Arznei aber
nicht gegeben.
Der von den Kranken dargebotene Symptomencomplex ist ein typischer;
alle Fälle bieten nahezu dasselbe Bild: hochgradige Blässe der Haut und sicht-
baren Schleimhäute, Kopfschmerzen, Herzklopfen, Athembesch werden, Mattigkeit,
Ohrensausen , Schwindel , Neigung zu Ohnmächten , kalte Extremitäten , Frösteln,
schlechter, traumreicher Schlaf oder Schlaflosigkeit, mangelhafter oder gänzlich
fehleuder Appetit, Stuhlverstopfung, Ausfallen der Haare, psychische Reizbarkeit ;
ADERLASS.
29
Oedeme; kleiner, matter, sehr erregbarer Pols, herabgesetzte Menge des Blut-
farbstoffes.
So typisch wie das Krankheitsbild, so typisch die Wirkung des Ader-
lasses : wie mit einem Zauberschlage sind die Kopfschmerzen verschwanden ; Fttsse
und Hände werden warm, bald stellt sich Schweiss ein, meist auch ein erquickender
Schlaf. Der Kranke fühlt sich völlig wohl; Appetit und ruhiger Nachtschlaf —
oft mit Träumen hungrigen Inhaltes — stellt sich ein. Herzklopfen und Athemnoth
sind fort; der Stuhlgang regelt sich, das Körpergewicht nimmt zu, das Oedem
ab, — kurz, die Kranken sind wie umgewandelt. — Die Zunahme des Körper-
gewichtes verdient als eine constante Folge des Aderlasses noch ganz besonders
hervorgehoben zu werden. Diese Zunahme gehwankt bei den einzelnen Fällen von
I1/* — 17 Pfd. ; die erste Wfigung geschah nach 10 Tagen (mit 3Vio P^.), die letzte
nach 12 Wochen mit 6 Pfd. Zunahme. Bei Einigen ging das Gewicht später wieder
zurück, ohne dass damit eine Verschlechterung des Zustandes verbunden gewesen wäre.
Von diesem typischen Verlaufe zeigten einige Fälle verschiedene
Abweichungen (völliges Recidiv ; hier und da noch Kopfweh, Herzklopfen, Mattig-
keit, Stuhlverstopfung, — wie Aehnliches ja bei allen Heilverfahren vorzukommen
pflegt; ein Misserfolg in dem Sinne, dass der Aderlass völlig nutzlos war, ist
bisher nicht vorgekommen.
Auf die Frage : „In welcher Weise kommt die höchst auffallende Wirkung
des Aderlasses zu Stande ?w antwortet der Verfasser: „Vorläufig müssen wir,
wie bei so vielen therapeutischen Massnahmen, deren Wirksamkeit unbestritten
feststeht, uns mit der empirisch gefundenen Thatsache begnügen; über das wie?
wird man zunächst noch verschiedener Meinung sein können. u
Das Schlussresultat seiner sämmtlichen bisherigen Untersuchungen fasst
Wilhelm i in folgende Sätze zusammen:
1. Es giebt eine grosse Zahl von „Bleich süchtigen", bei denen die
Anwendung der verschiedensten Stahlpräparate sich nutzlos erweist.
2. Für mindestens eine ganz beträchtliche Anzahl dieser
Kranken haben wir in kleinen Blutentziehungen durch Aderlass ein
schnelles und sicheres Heilmittel.
3. Die günstige Wirkung dieser Blutentziehungen ist in den meisten
Fällen eine geradezu plötzliche, in anderen eine mehr allmälige; nicht
selten vernothwendigt sich eine Wiederholung des Eingriffs.
4. Auch bei solchen „Bleichsüchtigen", die bisher noch kein Ferrum
genommen hatten, empfiehlt sich bei besonders hochgradigen Beschwer-
den und bei erheblicher Herabsetzung des Hämoglobingehaltes
die Vornahme eines Aderlasses.
5. Ueber die Häufigkeit etwaiger Recidive lässt sich mit
Sicherheit bisher noch nichts sagen, da eine über mehr als ein Jahr betragende
Beobachtungszeit nur bei den allerersten Fällen vorliegt. Hier hat allerdings die
Heilwirkung des Aderlasses als eine dauernde sich erwiesen.
6. Bei hysterischen und symptomatischen Anämieen ist die
Wirkung des Aderlasses, wie es scheint, entweder nur vorübergehend oder = 0.
7. Die Venaesection muss an den im Bette liegenden Kranken vor-
genommen, und der nachfolgende Schweiss abgewartet, respective durch stärkere
Bedeckung und Zufuhr warmen Getränkes unterstützt werden.
8. In der Regel wird die Entnahme eines Blutquantums von 80 bis
100 Grm. genügen.
9. Vielleicht wird der Aderlass am besten um die Zeit der Periode
ausgeführt, und zwar bei starken Blutungen zwei bis drei Tage vor dem zu
erwartenden Eintritt, bei schwächeren Blutungen zwei Tage nach Aufhören der-
selben. Bei unregelmässigen Menstrualblutungen , oder wenn solche überall noch
nieht stattgefunden haben, kann selbstverständlich zu jeder beliebigen Zeit zur
Blutentziehung geschritten werden.
10, Etwaige Wiederholungen wird man in Zwischenräumen von
vier oder acht Wochen vornehmen.
11. Eine ähnlich günstige Wirkung, wie bei „Bleichsucht44, entfaltet der
Aderlass auch bei gewissen Formen des Kopfschmerze s.
Kaum hat die Wilhel Mische Broschüre die Presse verladen, da erscheint
eine zweite Abhandlung über denselben Gegenstand von Scholz in Bremen. Scholz
geht von der Ansicht aus, das* das Gefäßsystem Bleichsuchtiger überfüllt ist, dasa
Blc ichsüchtige plethorisch sin d. Und zwar handelt es sich um eine seröse Plethora,
iodem bei der herrschenden Gligocytblmie hauptsächlich die wässerigen Bestand-
teile des Blutes vermehrt erscheinen. Die Folge hiervon sind wiederum Stauungen
in den Capillaren , in den Lymphgefässen , in den säfteführenden Maschen des
rnterhautzellgowebes. Das Herz arbeitet unter zu starkem Druck, die Arterien-
Wandungen sind stark gespanut, der Puls klein, hart, frequent; die Blutbewegung
stockt und geht besonders in den Emgeweidchaargefassen unvollkommen vor sich.
Ganz folgerichtig behandelt Scholz die Bleichsucht mit Schwitzbädern,
weil sie depletorisch wirken , weil sie das Herz und Gefasssystem entlasten, den
Kreislauf beschleunigen, die Ab und Ausscheidungen anregen. Ebenso folgerichtig
erscheint von seinem Standpunkte aus der Aderlass, uud das von Scholz über
die Krfolge desselben Mitgetheilte deckt sich nahezu vollkommen mit den Erfah-
rungen Wilhelmi's. In Bezug auf den ersten mit einer Blutentziehung von
100 Grm. behandelten Fall beisst ca bei Scholz: „Ich darf ohne eine Ueber-
treibuug sagen, in einer 35jährigen Praxis durch Nichts so überrascht worden
zu sein, als durch den augenblicklichen, gründlichen uud wnhlthätigen Erfolg dieser
Massregel. Die subjectiven Beschwerden Hessen sofort nach, die Haut fiug an,
a Ubald warm zu werden, ja selbst Neigung zur Schweissbildung zu zeigen, ein
Gefühl der Behaglichkeit und beginnender Koconvalescenz dnrehströmte die Kranke/'
VOF dem Aderlass
Fi«, lf.
Nach dt? qi Aderlaß»,
Den Nutzen des Aderlasses erklart er durch die depletorisehe Wirkung desselben,
welche sich unmittelbar auf Herz und Gefasse, sowie auf die Blut- und Saft*
bewegung erstreckt. Mag das entzogene Blut sich rasch wieder ersetzen und das
GefÄsssystem bald die alte Füllung zeigen, so kann der Ersatz doch immer nur
der Gewebsflüssigkeit entnommen werden. Die Gewebstheile selbst, vor Allem das
strotzend gefüllte Unterhautzellgewebe, werden entlastet , die Säftestockung hört
auf und die gesamoite Circulatiou belebt sich* Beigegebene Pluseurven veran-
schaulichen das Verhalten des Getasssystems. In Fig. 1 gleicht die vor dem
Aderlass aufgenommene Curve einer solchen von Kranken t die an Mitralstenose
leiden (kleiner Hebungsstoss und Ha eher Verlauf des absteigenden Astes) und
ADEBLASS. — AERZTEORG A NI S ATI ON.
31
unterscheidet sich von denen eines schwer Herzleidenden eigentlich nur durch
den regelmässigeren Rhythmus. Dagegen unterscheidet sich die am Tage nach
dem Aderlass aufgenommene Curve (Fig. 2) in Nichts von der Pufecurve Gesunder.
In einem anderen Falle zeigten die Curven vor dem Aderlass den Typus
einer Hypertrophie des linken Ventrikels, während sie nachher der normalen
mindestens sehr nahe kam.
Scholz hat in etwa 30 Fällen den Aderlass angewandt und jedesmal ohne
Ausnahme mit sehr günstigem Erfolge : die subjectiven Beschwerden verschwinden,
es tritt eine Vermehrung der Blutkörperchen und des Hämoglobingehaltes ein;
das Körpergewicht nimmt zu. Ein einziger Aderlass pflegt zur völligen Genesung
nicht auszureichen, doch lässt sich die Wiederholung des Aderlasses durch Schwitz-
bäder ersetzen, beziehungsweise vermeiden. „Wenn auch Schwitzbäder allein
ebenso rasch und sicher zum Ziele führen, so wird man doch gut daran thun,
Schwerkranken , die vor Herzklopfen und Athemnoth oft keinen Augenblick Ruhe
haben, oder bei denen schmerzhafte Oedeme eine rasche Abhilfe wünschenswerth
machen, durch einen sofortigen Aderlass augenblickliche Hilfe zu leisten. u
Zum Schlüsse weist Scholz darauf hin, dass diese depletorische Methode
der Behandlung Bleichsüchtiger bereits in einer Dissertation des Bitterfeldischen
Arztes Gottfried Aügüst Emmerich: „De genuina chlorosis indole , origine
et curatione, von der wahren Eigenschaft, Ursprung und Kur der Bleichsucht
oder sogenannten Jungffernkrankheit" vom Jahre 1731 gelehrt worden ist.
Literatur: ') Salasso nella polmonite von Prof. E. Maragliano. La riforma
med. 20. Oct. 1888. — *) Der Aderlass bei Pneumonie. Klinische Studie von G. Catola.
Lo 8perimentale. Juni 1889; Deutsche medic. Zeitung. 69/89. Wolzendorff.
Adipocire, s. Fettwachs (Leichenfett).
AerzteOrganisatiOn. Die im Artikel M e d i c i n alpersonen gegebenen
Darlegungen haben mit speciellem Bezug auf die Organisation des Aerztestandes
folgende Ergänzungen zu erfahren.
Anknüpfend an den Reichstagsbeschluss vom 1. Juni 1883, „den Reichs-
kanzler zu ersuchen, Fürsorge zu treffen, dass dem Reichstage ein Oesetzentwurf
über Herstellung einer Aerzteojdnung vorgelegt werde, in welcher Organen der
Berufsgenossen eine ehrengerichtliche Strafgewalt über dieselben beigelegt wird",
wurden die Bundesregierungen über das Bedürfniss einer von Reichswegen zu
erlassenden Aerzteordnung um Aeusserungen ersucht, welche nicht bekannt gegeben
worden sind. Auf dem XII. deutschen Aerztetage fasste die Majorität den Entschluss,
an einer solchen auf Organe des ärztlichen Standes zu übertragenden Gewalt als
an einer unerlässlichen Vorbedingung für jede engere Organisation festzuhalten
und wurde in diesem Sinne vorstellig. Unter dem 3. Mai 1889 erging die im
Wortlaut hier zu wiederholende Antwort:
„Dem Geschäftsausschuss etc. erwidere ich auf die gefällige Eingabe vom
15. März d. J. ergebeust, dass zur Zeit nicht die Absicht besteht, dem Erlass
einer umfassenden, die gesammte rechtliche Stellung der Aerzte regelnden Aerzte-
ordnung näher zu treten. Hinsichtlich des Erwerbes und der Entziehung der
ärztlichen Approbation und der mit derselben verbundenen Rechte haben sich
die geltenden gesetzlichen Vorschriften im Allgemeinen bewährt, und in dieser
Beziehung liegt zur Zeit keine ausreichende Veranlassung vor, in dem gegen-
wärtigen Rechtszustande Aenderungen eintreten zu lassen. Ueberdies lassen auch
die wiederholten Beschlüsse der Deutschen Aerztetage erkennen, dass von den
Betheiligten in den wichtigsten Punkten — Freizügigkeit der Aerzte,
Freiwilligkeit der ärztlichen Hilfeleistung, frei e Vereinbarung
des ärztlichen Honorars — auf die Aufrechterhaltung des bestehenden
Rechtes grosser Werth gelegt wird.
Was die Organisation des ärztlichen Standes anlangt, so
bestehen in dem weitaus grössten Theile des Reichsgebietes auf Grund landes-
32
AERZTE0R6ANISATI0N.
rechtlicher Bestimmungen Standesvertretungen, welchen neben der Pflege
wissenschaftlicher Bestrebungen und der Wahrung der Standesinteressen in gewissem
Umfange eine begutachtende und berathende Theilnahme an den Geschäften der
Medicinalverwaltung, sowie zum Theil auch eine Disoiplinargewalt Aber die
Berufsgenossen übertragen ist. Soweit diese Einrichtungen den berechtigten
Interessen des ärztlichen Standes etwa nicht in vollem Umfange entsprechen sollten f
wird es zunächst die Aufgabe der Landesgesetzgebung sein, dureh weiteren Ausban
der fraglichen Institutionen Abhilfe zu schaffen. Ein dringendes Bedürfnisse von
Seiten des Reichs zum Zwecke der Begründung einer ehrengerichtlichen Gewalt
dem ärztlichen Stande eine nach einheitlichen Gesichtspunkten gestaltete reichs-
gesetzliche Organisation zu geben, erscheint durch die seitherigen Erfahrungen
nicht dargethan.u
Hiernach muss der in diesem Bescheide angedeutete Weg: der Ausban
der Landesgesetzgebung zu Gunsten der Aerzteorganisationen
schärfer als bisher in's Auge gefasst werden; und die Aufgabe, den offiziellen
Vertretungen des Aerztestandes mittelst der Landesgesetzgebung grössere Rechte
und einen wirksameren Einfluss auf alle ärztlichen Elemente zu gewinnen, als ihn
die bisherige freiwillige Organisation in Form des Vereinswesens erringen konnte»
wird nunmehr von vielen Seiten als die nächste betrachtet.
Während in Oesterreich die Errichtung von Aerztekammern ebenfalls
eifrig erstrebt wird, aber soeben erst die massgebenden Instanzen behufs der
Vorberathung durchläuft, ist in Preussen diese Einrichtung zur That geworden.
Massgebend für den Erlass der sogleich zu besprechenden königlichen Verordnung
war eben einerseits jene Erkenntniss, dass es bei aller Anstrengung dem ärztlichen
Stande nicht überall möglich gewesen ist, im Wege der freien Vereinsbildung den
Gefahren zu begegnen, welche die Hervorkehrung der gewerblichen Seite des
ärztlichen Berufes in der neueren Zeit für das Ansehen und die Ehre des ärzt-
lichen Standes mit sich führen. Andererseits erwartet man, dass die autoritative
Stellung, welche die staatliche Anerkennung einer ärztlichen Standesvertretung
verleiht, es ermöglichen wird, Einrichtungen an diese Organisation anzuschließen,
welche (wie beispielsweise die Versorgung der Witwen und Waisen von Aerzten)
langgehegte Wünsche der Aerzte zu erfüllen geeignet sind.
Sodann aber wird es, bei der wachsenden Bedeutung, welche die öffent-
liche Gesundheitspflege gewinnt, mehr und mehr als ein Mangel empfunden , dass
es an einer Organisation fehlt, mittelst deren die reichen Erfahrungen der nicht-
beamteten Aerzte für die staatlichen Aufgaben auf dem Gebiete der öffentlichen
Gesundheitspflege unmittelbar nutzbar gemacht werden könnten.
Die günstigen Erfahrungen, welche nach der einen und der anderen
Richtung mit der Einführung einer ärztlichen Standesvertretung in anderen deutschen
Staaten, z. B. in Sachsen, Bayern, Württemberg, Baden gemacht worden sind,
sprachen dafür, auch in Preussen eine ähnliche Organisation in's Leben zu rufen.
Mittelst derselben ist für jede Provinz eine, ans der freien Wahl der
Aerzte hervorgehende und aus mindestens 12 Mitgliedern bestehende „Aerzte-
kammer" zu bilden, deren Aufgabe es sein wird, alle Fragen und Angelegen-
heiten zu erörtern, welche den ärztlichen Beruf oder das Interesse der öffentlichen
Gesundheitspflege betreffen, oder auf die Wahrnehmung und Vertretung der ärzt-
lichen Standesinteressen gerichtet sind.
Diese Aerztekammern, deren gutachtliche Aeusserung über wichtigere
Fragen der öffentlichen Gesundheitspflege vorgesehen und denen die Befugniss
beigelegt ist, innerhalb ihres Geschäftskreises Vorstellungen und Anträge an die
Staatsbehörden zu richten, sind mit ihren Arbeiten derart an die staatliehen
Behörden angeschlossen, dass sie Vertreter wählen, welche als ausserordentliche
Mitglieder mit berathender Stimme an wichtigeren Sitzungen der Provinzial-
Medicinalcollegien und der wissenschaftlichen Deputation für das Medicinalwesen
theilnehmen.
ARRZTE-ORGANISATION. — AGORAPHOBIE.
33
Die königliche Verordnung vom 27. Mai 1887 setzt sich aus 14 Para-
graphen zusammen, deren §. 1 die Bezirke der einzelnen Kammern sich mit den
Provinzen decken lässt. §. 2 bestimmt als Geschäftskreis: Erörterung aller Fragen
und Angelegenheiten, „welche den ärztlichen Beruf oder das Interesse der öffent-
lichen Gesundheitspflege betreffen oder auf die Wahrnehmung und Vertretung der
ärztlichen Standesinteressen gerichtet sind" .„Die Aerztekammern sind befugt, innerhalb
ihres Geschäftskreises Vorstellungen und Anträge an die Staatsbehörden zu richten,
und sollen die letzteren geeigneten Falls, insbesondere auf dem Gebiete der
öffentlichen Gesundheitspflege, den Aerztekammern Gelegenheit geben, sich über
einschlägige Fragen gutachtlich zu äussern. " §. 3 handelt über die Angliederangen
mittelst Delegirter an die Provinzial-Medicinalcollegien und die wissenschaftliche
Deputation für das Medicinalwesen, §. 4 über das Wahlrecht, §. 5 über disciplinare
Entziehung des Wahlrechtes und der Wählbarkeit , §. 6 — 7 über Einzelheiten der
Wahlvorbereitung und des Wahlmodus, §. 8 über die Zusammenberufung, Vorstands-
wähl und Vertheilung der Aemter, §. 9 über Aufgaben des Vorstandes, §. 10 über
Grundzüge der Geschäftsordnung, §. 11—12 über Gebühren und Kosten, §. 13 über
die Staatsaufsicht, welche den Oberpräsidenten zufallt, und der Schlussparagraph
über die Veröffentlichung der Verordnung.
Bei der Handhabung der den Aerztekammern ertheilten, ohnehin doch
recht beschränkten Befugnisse haben sich innere Schwierigkeiten besonders darin
kenntlich gemacht, dass durch die Exemtion der Militärärzte und der beamteten
Civilärzte von der Diseiplinargewalt der Kammern eine Ungleichmässigkeit und
Unebenheit geschaffen wurde, die ihren Ausgleich suchte in einer grossen Animo-
sität seitens der nichtbeamteten Aerzte — sowohl bei den Wahlen, als später bei
manchen Beschlüssen und Discussionen. Ein weiterer schwacher Punkt der
Organisation liegt in der Unbestimmtheit, in welcher die provinziellen Kammern
den sonstigen Provinzialbehörden angegliedert sind. Dass sie an den Provinzial-
hauptorten tagen sollen, wurde zwar durch Specialverfügung festgesetzt; die
Beziehung zum Oberpräsidenten dagegen ist bis auf den Satz, „dass diesem,
beziehungsweise seiner Aufsicht, die Kammer unterstellt sei", eine ziemlich lockere
geblieben. Indem auf der einen Seite die Aerztekammern frei erscheinen von einer
beamtlichen Einwirkung, sind sie auf der anderen darin schwach gestellt, dass
ihnen eine wirkliche Anlehnung an eine hohe Staatsbehörde eigentlich fehlt. Sie
bekommen auf die6e Weise u. A. ablehnende Bescheide, ohne dass der Ober-
präsident von dem Schicksal der diese herausfordernden Beschlüsse hört oder
Gelegenheit findet, sich zur Sache zu äussern.
Ob diesen Schwächen dadurch wird abgeholfen werden können , dass —
wie es im Plane liegt — man aus den durch die königliche Verordnung bis jetzt
einzig und allein vorgesehenen besonderen Aerztekammern mit provinzieller
Bedeutung einenAerztekammerausschuss (für den ganzen preussischen Staat)
herstellt, lässt sich kaum vorhersagen. Für diejenigen Aerzte, welche eine corporative
Gliederung des Standes mit Disciplinarbefugnissen (ähnlich wie sie den Anwalts-
kammern beigelegt sind) wünschen, liegt die Hauptschwäche der bisherigen
Organisation jedenfalls im §. 5 der königlichen Verordnung, welcher als Disciplinar-
strafen nur die Entziehung der Wählbarkeit und des Wahlrechts kennt und selbst
dieser beschränkten Disciplinarbefugniss gegenüber noch geborene Ausnahmen statuirt.
Literatur: Graf, Das ärztliche Vereinswesen in Deutschland und der deutsche
Aerztevereinsbund. Leipzig 1890. — Berichte aus den preussischen Aerztekammern,
betr. die Jahre 1888, 1889, 1890. Wernich.
AgariCin (vergl. Real-Encyclopädie, I, pag. 217). In der Pharm. Germ.,
ed. III, neu aufgenommen; Maximaldosis 0*1.
Agoraphobie (vergl. Real-Encyclopädie, II. Aufl., Bd. I, pag. 220). Die
von Wkstpbal definirte Agoraphobie umfasste nur solche Fälle von Platzangst,
in welchen das Angstgefühl durchaus primär, im directen Anschlnss an die Ge-
Encyclop. Jahrbücher. I. ^
AGORAPHOBIE. — AI* ST
*>ärt«r2Lj* z B. 5e* frecet Plaue* . ur.*h~xJkr.f-z T--a irreai weichen
VvrKftHu^rSL auftrrn : lt^ Mjrmdar traes. :«ei ii««- Ar:ra^*>i* ii tt^ta Sinne
Vr.r^fcijixi^fi — «. z. B. der Gedanke, bi^ratnez. m 2ta«e — als Erkürcnjes-
verRriie de? priTiJren ALSTyretftlue? §s>2 ia »-atrer Zea FlLe von
Piatuars: :.e*vacb:*n worden »eicbe r*:- «riL;-i:3Laisei k da.« Eoixem« sieh
der W£..t?hai ArorapLobie deeineo. deres p?yrli>^»?ie Eaissehan?
yA-sih eine prii>cipielj vtrsebieceae war. Er?sea? -i.T*>L k^ia« FlH* r>r. in
Gex.ei die A^rrs «-w-indar i*i tad pri^Ar die V :r?^II^a^ a^firhs. e* 5« »at-jctien.
des PI»« zl l?.*r*tlrei:*L. die P-eiae wtrd«. Tcr^a^et- K-Stltz werde ein-
treten a. a:. Die*e F >rx der PI*tz»^m :^ >fei.bar. w-> dies West? ha 1 be-
reit* fSr die ganz %zjkV.-'£* My§-»pbob;e e;e ierr >r^bvbe:i ha:, iea Z»icf«^>r-
*xe]I:;a2ren z'iz^r-r^LL^ nT.d von der ^EsTiHAi-ebea Az:-rapbvb5e n trennen.
N'yb in *L-iwr WeL=e enTwicsr".: Eeb psye5:-IvzL*ch die Plaaasz^: ;*£ einer
2»*:;;^ F m. Hier die Plaizaar^ asf dir freilich .abtv^««:* Erä^eron^ an
eiten ;a ihnlicaer UrLgebuDZ" wirklich a^f^:re;eaes Unfall z^rtekrcführen.
L. Meies Aren, f. Psychiatrie. Bd XX ba: d:^ Z.«ü^d- aüs In: en tions-
p-yeb'.'*en besehriebea. Eia Typi^Le- Be;?p:e* ist folzeade* "I.e. paj. S : ein
Lerr'- veranlagter ManL zrtt wih'-eai ecaer Erh/^nzsreise a^f ei^ex. gepfla-
sterten Sacapfad der A]pea a^ isi verstauchte sieh den F^ss?, zugleich fihlte
er 5ea Draag hiiiZiUWtL. AI* er i^: de- Riekw-tz dieselbe ab. ganz unge-
fährliche Stelle wieder px^irte. t^rrse^ ii^ eiac Schwache, so dass er ?irh lanzere
2>i: a^f Ftbrer ?rtuea 2:1:-=:^. >ehdes t'tertil'A ihn. «^>bald er ia «einer
Heiocautad: ?<:pf]a-ter:e Piiur .irr sehr bre:;e ?epfla*:erie Stra*jen zn
i^rvrbreiwrL Line, eiae irpi^br V.\zzjknzsz. Der p*yea >*.>rl?ebe Nexi? kann «eh
•e?i!>-**Kb LV?b e-".-a:p!>:ner ^r^A^a . :»e: k^-fd.zen Asiallts das ans-
;<r^LCe M'-xeit die Al?-: t r irr Piatza^irs: i*t. S^.»lebe Fiile hat z. B.
Hf/kLSh.wy Di*.s. Berlik I beri rLte:. E» s^bris:. ia*s diese abweichenden Formen
der Platzangst ntlai«:e^- e":»*3^ hiun^ -ini- Tie die rebe Agoraphobie Westphal"s.
Die k::s:^:hr ^t-ü-l? irr Ajrvrapb bir ayb immer ein Geres stand
lebhafter [^l?envsi>L. B%^i »:ri -ir a • ri^r*-r Kraükhei;. bald als Syaptoa der
Ne*-ra*tben:e oder der Hyp>>eh>air:e J'-lLY a-:>ria.«t. Wiohtir :>t r>r Allem,
da.^» eine typ: -ehe P'itzaLjr*: a-rb :s der ^rsprs üblich v-n Westphal anre
jrebenea Form aüeb ul- \" 0 rU . : r r?y ^ p %. r. einer s-^h-srerea orzani^hen Him-
erkrankurj^. -peeiril der f/trn*'iS''i pi"i.: ■?•{<: i. auftreten kann. Ref. hat bereits
zweimal einen derart sjreJi F"*;; ;.^>-.aeL:e:. Ii der 2r>ssen Mehrzahl der Fiile ist
aKrriin^ da- Orundleiira ei^ 2 -L^r.-nelle* : Hy-:erie. Neirasthenie. chronischer
Alkoboli>:mur »ind seb!ies?"Jrb die erb.irbr Dr^raeratioa im Ali gemeinen *ind es.
»r>he unter ihren f*vmp:^:::ra ve^-r-ier- biufiz P*.a:zan2rs: — sei es ir- dieser,
sei e« in jener Form — zeizr^. Tb. Zi*h*=.
Ainhlim '-. er?;. Ha'jptartike: :2. I. Bd. der Kea!-Encyciopld:e . Zu Etles"
einssebenden .Studien über d:e H i • : ; '. o ? : r de- A : n h n m dienten als Unter-
Kuehun^material zwei vor* F. W. •?* ;.l:v.* v mitgebrachte, dem abschnürenden
Proce?v<e anheimgefallene Zeb«:.ri a > -.er*e:i"ede:*e:- R&twk-klunzsphasen des Leidens
Zur Aufbewahrung der Objeete diente Me^.ayiaik >':»•/.. vor der Untersuchung wurden
die .Schnitte und Geweb^theüe mittel -t \ß'\KT\^r^i\:i -^der Eosin tinarirt. Ia der
Hauptsache charakterisirt «leb die fa:. Air.a ri^er.r Veränderung in den epi-
dermoidalen .S*rhichten al« Hy|ierpiai:e . ::. dr:. :irr>r i: elenden als Entzündung.
Die elfteren wei-en ein un^ew^rjai."'::. e#.tw>krl>- Papilhrnetz . unresrelmasäp
verlin^erte Papillen und zwi-chea :a:.er. e^r.e K r:r.ze;ü?r Inriltration auf. Wander-
zel leri kommen zahlreich . k u /el '<* r:t. '. ? z * -:. > b * !" ! ;e Ep i i enn- «idcalzellen seltener
in den verlängerten und ver/r^.-- :r.e:. J'4r... :* 4-r Papillen vor. Die äusserste
hyj>ertrophirte .Schiebt wird von H'#r:ize.;e'. unter denen aUdann eine
chromopbile. unregelrnü-s-ii^ . aber dv:r, \v- r.. verdickte Schicht folsrt.
Horizontale Schnitte durch da* litt* Maf/ßiq*»> deutlich die interpapülaren
AINHÜÄL-
3*
Wucherungen, die hier und da vollständige Zellennester bilden, erkennen. Doch
sind die in ihnen liegenden Zellen auch an sich stark verändert, indem vielfach
statt der Kerne Pigrnentirungen und Vacuolen auftreten. Im (Jnterhautzellgewebe
markirt sich eine fibröse Hyperplasie; die arteriellen Hantgefässe zeigen deutlich
eine Verdickung der Adventitia; mehr noch zeigt sich d e Iotima und oft genug
in dem Grade verdickt, dass förmliche Obliterationen entstehen. Die tiefer liegenden
Captllaren scheinen in einer hyalinen Rückbildung begriffen, ihre Endothelzellen
bedeutend vergrössert. Constant zeigten sich noch Veränderungen in den Schweiss-
drüsen : Verdickung der Membrana propria, Wucherung des Drüsenepitbels, die
an den Knochen und Gelenken nachweisbare Veränderung spricht Eylbs als
„rarefioirende Ostitis" an, die anscheinend eine sehr schnelle Entwicklung nimmt.
Aetiologisch müssen nach ihm die Druckeinwirkungen, die ein epitheliomartigea
Wuchern der Epidermoidalgebilde mit trophischen Störungen in den tiefer liegenden
Gefössgebilden bedingen, in den Vordergrund gestellt werden.
Von allgemeinem Interesse für die Auffassung und Erklärung des noch
so räthselhaften Leidens sind die Erwägungen über Ainhum, welche Dupout
anstellte. Ihm scheint die Frage nach der Wesenheit dieser trophischen Störung
durch die so zahlreiche Casuistik nicht wesentlich gefördert zu sein, wohl des-
wegen, weil man über der auffallenden Erscheinung der localisirten Störung nicht
nur so wichtige Nebenerscheinungen, wie z. B. die Heredität, sondern auch Symptome
übersehen hat, welche wohl geeignet wären, auf den eigenthümlichen Sitz des
Grundleidens einiges Licht zu werfen. In dieser Hinsicht dürften die Lenden-
schmerzen obenan stehen, welche Düpoüy in keinem Falle seiner im Sudan
gemachten Beobachtungen vermieste. Hier nennt man die Abfurchung und das
endliche Abstossen der kleinen Zehe „Bankokerende", hält sie hier in demselben
Grade für hereditär wie den Aussatz (obwohl Ainh umleidende vergleichsweise
zu Leprösen noch ziemlich leicht zu einer Frau gelangen). Für sicher gilt auch,
dass Ainhum oder Bankokerende niemals vor dem Eintritt der Pubertät beob-
achtet wird. In den von ihm mitgetheilten 3 Fällen legte Düpoüy eine grosse
Betonung darauf, dass ein parasitärer Einflues wohl niemals im Stande sein dürfte,
die ringförmige Furche des Ainhum hervorzubringen und eine noch grössere auf
den Umstand, da*s thatsächlich hier stets das Initialsymptom de* Lumbarschmerzes
in einem so hohen Grade bemerkbar war, dass die Individuen zum Theil weder
zu gehen, noch zu essen im Stande waren. Leider hatte Düpoüy keine Gelegen-
heit, einen der Patienten bis zum Tode zu beobachten: „MafgrS notre vif ddrir
non* riavonß pas pu nons procurer la modle oVun sujet atteint du bankokS-
rendd; lautres seront plus heureux." — Die letzte der 3 Beobachtungen giebt
ihm auch Anlass, ausdrücklich zu betonen, dass die Mutilationen mit Aussatz
nichts zu thun hatten, — eine Versicherung, die man so manchem Falle von
Ainhum, der nicht alle pathognomischen Kennzeichen aufweist, gern angefügt sähe.
Von der Richtigkeit der DupouY'sohen Auffassung giebt auch der grössere
Theil der in der angefügten Literaturübersicht unten aufgeführten Einzelfälle
mehrfach Beweise. Der Streit über den Zusammenhang des Ainhum mit intra-
uterinen und congenitalen Abschnürungen schwebt noch. Einen Fall zur
Würdigung der Erblichkeit, wenigstens insoweit diese wichtige Frage mittelst
der Einzelbeobachtung gefördert werden kann, theilte Do h ring mit. Der Vater
des 40jährigen Kranken, eines Negers, hatte zwei Zehen durch Ainhum verloren,
seine Mutter litt an einer Zehe. Als 10 Jahre altes Kind hatte Patient zuerst
die Erkrankung dargeboten ; nach 30 Jahren erkrankte der andere Fuss — der
rechte — , an dessen abgefallener Nagelphalanx eine eingehende mikroskopische
Untersuchung vorgenommen wurde. Das Epi der mislager erscheint verdickt, in
einzelne Schichten abgetheilt, das Stratum papilläre ebenfalls bedeutend verdickt,
jede Hautpapille verlängert, schlanker als normal, spindelförmig, mit pigmentirten
Rändern. Die Papillen des Corium sind stark verlängert und verbreitert, zeigen
sehr dilatirte und gewundene Capillaren und in ihren perivasculären Räumen
V
36
AINHUM. — ALKALESCEXZ.
Massen kleiner runder Zellen. Diese drängen sieh zwischen die Masehen und
Bündel des Unterhautzellgewebes ein, welches auch sonst (besonders in der Nach-
barschaft der Schwei8sdrtt8en) vielfach gelockert und durchbrochen erscheint.
Weisse und rothe Blutkörperchen sind besonders massig auch in den perivaseu-
lären Räumen angehäuft. An den Wänden der grösseren Arterien tritt (sichtbar
bei stärkeren Vergrösserungen) eine bemerkenswerthe Verdickung der Media und
Adventitia und eine Wucherung der Endothelen hervor. Die Lymphgefasse
erscheinen ausgeweitet, aber meistens leer; die Schweissdrilsen atrophisch; den
allgemeinen Eindruck möchte Verf. als den eines entzündlichen Oedems (nin-
flammatory oedtma") wiedergeben.
Literatur: 1884. Ed. Dupouy, Considirations sur VAlnhum. Arch. de med.
nav. Rovil. L. A. Du bring, A case of ainhum. Amer. Journ. of med. sc. January. —
1885. Alb. Ruault, Un cas d ainhum. Le progre* med. Nr. 20. (Vorlegung de« Präparate*
einer abgeschnürten rechten kleinen Zehe, die von einem Hindumestizen [Insel Beunion] her-
stammte.) — 18SC. C. H. Eyles, The histology of ainhum. The Lancet 25. Sept. J>. G.
Crawford, Sott on four cases of Ainhum. Edinb. med. Journ. June. — 1887. Orville
Horwitz, Case of ainhum occurring in the ouUdoor surgical department of Jefferson
mcdical College hospital. Philad. med. aud snrg. Rep. 21. May. Francis J. Shepherd,
A short account of the disease called „Ainhum" icith the report of a case. Amer. Journ. of
med. sc. January. R. B. Morison, Ainhum. (To the cditor of the medical News.) Amer.
med. News. 8. Jan. — 1888. R. H. Day, „Ainhum" tcith case and remarks. The Amer.
med. News. 29. Sept. — 1889. M. Reclus, Ainhum et amputations congenitales. Gaz. des
hup. Nr. Gl: Bullet, de l'Acad. 22. Mai ; Gaz. hebd. Nr. 22. Jnles Bonget, Gaz. des
höp. Nr. 103. M. A. Proust, Dtfurmations conge'nitales rappelant V ainhum. Bullet, de
l'Acad. Nr. 13.^ Wernich.
Aktin0myk086, s. Strahlenpilzerkrankung.
Albuminimeter, ein von 6. Esbach für die Bestimmung der Eiweiss-
raenge im Harne empfohlenes Instrument, mittelst welchem aus der Höhe des in
einer bestimmten Weise erhaltenen Eiweissuiederschlages , der Gehalt an Eiweiss
nach einer empirischen Seala geschätzt wird. Das Albuminimeter hat die
Form eines Reagensglases von 15 Cm. Länge und 15 — 16 Mm. Lichtung. Etwa
t> Cm. über dem Roden befindet sich ein mit U, 4 Cm. über U ein mit R bezeichneter
»Strich ; ferner sind vom Roden aus, bis zu einer Höhe von ungefähr 4 Cm. sieben
mit 1 — 7 numerirte Striche in nach oben immer geringer werdenden Abständen
aufgetragen. Hin zur Marke U wird das Albuminimeter mit Harn gefüllt, bis zur
Marke H mit dem zur Fällung dienenden Reagens — eiue wässerige Lösung von
10 Grm. Pikrinsäure und 20 Grm. Citronensäure im Liter. Dann wird das Instrument
10 — 12 Mal mit dem Daumen umgekehrt mit einem Kautschukpfropfen geschlossen,
wonach man es 24 Stunden lang in einem Gestell aufrecht stehen lässt. Nach
dieser Zeit liest man die Höhe des Niederschlages an den mit den Zahlen ver-
sehenen Strichen ab, sie geben an, wie viel Gramm Eiweiss im Liter Harn ent-
halten sind. Nach Schultz und Christelen ist die Temperatur von grossem
Kinn* Iis* auf die Höhe des Niederschlages, welcher bei höherer Temperatur erheblieh
grösser ist, als bei niederer, demnach auch bei Zimmertemperatur, bei welcher
die Probe ausgeführt werden soll. Das Verfahren ist für eiweissreichere Harne
besser geeignet als für eiweißarme, in allen Fällen bat es jedoch nur approximativen
Werth und leistet gewiss nicht mehr als die Schätzung nach Roberts Stollnikoff
nach dem Grade der Verdünnung, bei welcher der Harn noch die Heller' sehe
Eiweissreactiou — den Kiweissring nach Zusatz von Salpetersäure — nach Ablauf
einer bestimmton kurzen Zeit schwach, aber deutlich giebt.
Siehe die reiche neuer» Literatur ütwr <li<;so Bestimmuiigsmethoden iu Huppert-
Thomas, Anulyst« den HaniK. Wiftnljudeii 18!H). Loebisch
AlkaleSCenZ (vcrgl. Bd. I, pag. i>8.r>). IVbor die Alkalescenz des
Blutes beim Menschen liegen eine Reihe von Bestimmungen vor. Peiper
(Viuniow's Archiv, Rd. ('XV, pag. 3.'17) bediente sieh des von Landois vor-
geschlagenen Verfahrens fvergl. Hd. III, pag. UM), bei welchem in einem mit
ALKALESCENZ. — ALKOHOLISMÜS.
37
2 Marken versehenen Capillarrohr gleiche Mengen von Blut und von concentrirter,
mit wechselnden Mengen von Weinsäure versetzter Glaubersalzlösung zusammen-
gebracht und nach dem Entleeren des Röhrchens auf ihre Reaction mittelst Lackmus -
papiers geprüft werden. Er fand die Alkalescenz des Blutes bei Frauen niedriger
als bei Männern, bei Kindern wiederum niedriger als bei Erwachsenen ; sie steigt
während der Verdauung, ebenso in Folge heftigen Erbrechens, sinkt dagegen in
Folge von Muskelarbeit. Bei Chlorose besteht eine Zunahme, bei Leukämie,
Diabetes, Gelenkrheumatismus, Fieber etc. eine Verminderung der Alkalescenz.
Die Ergebnisse stimmen grossen Theils mit den nach einer ähnlichen Methode
von v. Jaksch gewonnenen überein. Schärfer erscheint das von Fr. Kraus (Prager
Zeitschr. f. Heilk., Bd. X, pag. 106) befolgte Verfahren. Aderlassblut vom Menschen
wird mit dem lOfachen Volumen l°/0iger Kochsalzlösung verdünnt und nach
12stündigem Absetzen der Blutkörperchen in der Kälte die abgeheberte Flüssigkeit
mit Zehntelnormalsäure titrirt. Verf. fand so die Alkalescenz des Blutes beim
normalen Menschen zu 0*18 — 0-25 Na HO pro 100 Ccm. Blut; bei fieberhaften
Zuständen (Pneumonie, Typhus, Erysipel, Scarlatina) besteht ausnahmslos eine
verminderte Alkalescenz. j. Münk.
AlkohOlismUS (vergl. Real-Encyelopädie, II. Aufl. , Bd. I, pag. 307).
Die Frage, ob gewisse fremde Bestandteile der Spirituosen Getränke die schäd-
liche Einwirkung des Alkohols zu steigern vermögen, ist im Laufe des letzten
Decenninms häufig erörtert worden und hat zu einer Anzahl experimente'ler Arbeiten
Veranlassung gegeben, welche freilich noch nicht zum völligen Abschlüsse geführt
haben. In Frankreich sind besonders die durch den chronischen Oennss des Absinths
bedingten acuten und chronischen Vergiftungen, welche Motet schon 1859 mit
dem Namen Absinthisme belegte und von dem durch andere Branntweinarten
bedingten Alkoholismus chronicus abtrennte, Gegenstand der Discussion geworden.
Man hat wohl nicht mit Unrecht behauptet, dass gerade der Gennss des fraglichen
Liqueurs sehr rasch zum Auftreten chronischer Vergiftung führe, aber ob man dies
auf die darin enthaltenen ätherischen Oele zurückführen darf, bleibt immerhin
zweifelhaft, wenn man erwägt, dass der Absinth eine ausserordentlich grosse
Menge Alkohol (60 — 72%) enthält. Vielfach ist übrigens die Ansicht hervor-
getreten, dass der Absinth auch andere Krankheitserscheinungen hervorrufe als
andere Alkoholica, und nicht nur eine eigenthümliche , durch maniakalische und
besonders epileptische Zufalle charakterisirte acute Intoxication , sondern auch
abweichende Formen chronischer Vergiftung, ausgezeichnet durch Fehlen des
Tremors, ausgeprägten Stupor, Krämpfe, eigenthümliche Hallucinationen (Sehen
von Flammen oder spitzigen Waffen) erzeuge, wodurch sich die Abtrennung des
Absinthismus als eigene Krankheit rechtfertige. Nach Laxcebeaux l) ist das Auf-
treten von Hyperästhesien und Hyperalgien bei Trinkern fast regelmässig Folge
von Absinth oder ähnlichen Liqueuren. Wenn diese Angaben richtig sind , so ist
es jedoch bestimmt nicht erlaubt, alle diese Erscheinungen auf Oleum Absinthii zu
beziehen, da in dem Absinth das eigentliche Absinthöl nur in verhältnissmässig
geringen Mengen enthalten ist, so dass der Trinker in einem Liqueurglase höchstens
Sll% — 5 Mgrm. und im Liter 2*0, d. h. eine Menge, welche, auf einmal genommen,
beim Menschen nur einen Zustand von Euphorie ohne nachfolgende Depression,
niemals aber Krämpfe, hervorruft, zu sich nimmt Der jetzt in Frankreich selbst
viel fabricirte Absinth enthält nicht weniger als 9 verschiedene ätherische Oele,
unter denen das Anisöl prävalirt. Nach Cadeac und Meünier2) rufen drei der-
selben (Absinthöl, Isopöl und Fencheiöl) in toxischen Dosen Krämpfe hervor,
während sechs (Anisöl, Sternanisöl, Pfefferminzöl und die Oele von Melissa,
Origanum und Angelica) Schlaf und Muskelerschlaffung zur Folge haben.
Uebrigens giebt es eine Reihe von künstlich dargestellten Verbindungen,
die als sogenannte Bouquets für in Frankreich gebräuchliche Liqueure und
künstliche Weine dienen, welchen eine weit grössere Giftigkeit als den im Absinth
<38
ALKOHOLISMUS. — AMPUTATION.
yorhandenen ätherischen Oelen zukommt und die zum Theil auch epileptiforme
Krämpfe hervorrufen. Am giftigsten scheint die sogenannte Essence de noyau
(Benzaldehyd mit Benzonitrit) zu sein, welche in grösseren Dosen hei Thieren auch
vom Magen ans ausgesprochenen Tetanus bedingt, während nach den Erfahrungen
von Labordr*) bei Menschen längeres Riechen an Essence de noyau heftigen
Schwindel, Ohnmacht mit nachfolgender Uebelkeit und selbst 8tägiges Unwohlsein
mit continuirlichem Kopfweh herbeiführen kann. Stark giftige Bouquets von
Weinen und Liqueuren sind nach Laborde Salicylsäure- Methylester (künstliches
Gaultheriaöl) , Salicylaldehyd (Essence de reine des pres) , Zimmtaldehyd und
Zimmtsäure- Methylester, ferner verschiedene Weinöle, schwächer giftig Benzoesäure-
Amyl- und Methylester, Buttersäure- Amyl- und Methylester, Ameisensäure-, Apfel-
säure-, Baldriansäure- und Oenanthsäure-Aethylester, Apfelsäure-Methylester, Acetal,
Methylal und Amylweinsäure. Stark toxisch sind die Essences Bouquets für Whisky,
Gin, Genever. Sherry-Brandy und Kirsch, sehr wenig schädlich diejenigen für
Rum, Cassis, Cognac- Brandy, Cura^ao, Kümmel, Maraschino, Anisette, Grenadine
und Benedictiner.
Dass der Gehalt an höheren Alkoholen, insbesondere Amylalkohol, zu
intensiven acuten Vergiftungserscheinungen durch Spirituosen, namentlich zu tieferem
Sopor, heftigerem Kopfweh nach dem Rausche u. 8. w. führen kann, wird allgemein
angenommen. Ob aber ein Fuselgehalt, wie er in dem gewöhnlichen Branntwein
regelmässig vorkommt, und wie er jetzt auch in Frankreich seit der Abnahme
der Production von Weinspiritus und der vorwaltenden Benutzung des aus Kartoffeln,
Korn, Rüben u. s. w. gewonnenen Spiritus zu Branntwein constant in letzterem
sich findet, bei Trinkern die Erscheinungen des chronischen Alkoholismus rascher
hervorruft und schwerer gestaltet, erscheint fraglich. Nach Versuchen von Strass-
mann 4) ist bei Hunden der Zusatz von 3% Amylalkohol zu dem in berauschenden
Dosen gegebene Spiritus im Stande, den Tod durch chronische Alkoholvergiftung
in weniger als der Hälfte der sonst nöthigen Zeit herbeizuführen, dagegen gestaltet
ein Zusatz von 1% zwar auch einzelne Symptome schwerer, jedoch nicht derart,
dass der Eintritt des Todes dadurch auch um etwas verfrüht wird. Solche Mengen
Fuselöl kommen aber in Deutschland niemals im Branntwein vor. Immerhin bleibt
es gerathen, gesetzmässig einen viel geringeren Fuselgehalt des Schnapses zu fordern.
Baeb hat als Grenze 0*3°/0 verlangt, doch ist es möglich, selbst bei den billigsten
Branntweinen ohne erhebliche Preiserhöhung die Entfuselung bis auf 0*1 — 0*15%
zu treiben.6)
Literatur: *) Lancereanx, Gaz. des H6p. 1889, Nr. 92. — *) Cadeac und
Meunier, Lyon med. 1889, Nr. 47. — a) Labor d e, Bull, de l'Acad. 1888, Nr. 40, 42.—
4) Strassmann, Vierteljahrsschr. f. ger. Med. 1888, XLIX, pag. 232. — *) Badlaender
und Traube, Centralbl. f. Gesundheitapfl. 1887, VI, pag. 201. xr„«,o«-„-
Musemann.
Amalgamflillungen, s. Zahnoperationen.
Amputation (vergl. Real-Encyclopädie, II. Aufl., Bd. I, pag. 363—388).
Auf dem Gebiete der Amputationen hat sich in ganz besonders auffälliger Weise
der Einfluss der antiseptischen Wundbehandlung geltend gemacht. Es 6ind dadurch
nicht nur die Indicationen für die Amputation eingeschränkt worden, indem
dafür die Resection und conservative Behandlung an Terrain gewonnen haben,
sondern auch die Erfolge der Amputationen selber weit bessere geworden wie
früher. Dies trifft nicht Mos für die Verletzungen, sondern ebenso auch für ent-
zündliche Processe, Necrosen und Geschwülste zu, und ergiebt sich auch aus allen
statistischen Zusammenstellungen, welche die Amputationen aus den letzten Jahren
mit den früheren oder mit denen der vorantiseptischen Zeit vergleichen. So starben
nach Kramer1) auf der Erlanger Klinik unter 192 Amputationen (vom Jahre
1875 — 1884) bei den nichtcomplicirten 143 Fällen 8 = 6°/0, bei den complicirten
ÖO Fällen 20 = 40%. In den letzten Jahren erfolgte kein Todesfall mehr
an einer accidentellen Wundkrankheit. Sehr auffällig war auch die stetige Zunahme
AMPUTATION.
89
der Primärheilungen ; nämlich im ersten Triennium unter 24 Heilungen nur
6 Heilungen per primam, im zweiten unter J>7 schon 25, im dritten unter
69 Heilungen 40 Primärheilungen. Nach Page2) kamen in der Newcastle-on-
Tyne Infirmary in den Jahren 1878 — 1882 160 grössere Amputationen vor mit
10*6% Mortalität, von 1883 — 1886 dagegen 222 mit nur 5*4% Mortalität oder
insgesammt 382 mit 7'5°/0 Mortalität, während beispielsweise nach Erichsen von
307 Amputirten bis zum Jahre 1871 in dem University College fast 25°/0 starben.
So hatte ferner Trelat3) unter 52 grossen Amputationen seit dem Jahre 1880
eine Mortalität von 15'3u/0, während in der vorantiseptischen Zeit die Mortalität
bei den Amputirten der Pariser Spitäler zwischen 28 und 67°/0 schwankte. Eine
fortschreitende Besserung der Resultate und Herabsetzung der Mortalität geht auch
aus dem ausführlichen Berichte Kleinwächter's *) , sowie aus allen anderen
Jahresberichten der verschiedenen Kliniken und Hospitäler hervor. Auch in der
Kriegspraxis hat sich der oben gekennzeichnete Einfluss der antiseptischen und
aseptischen Behandlung auf die Amputationen deutlich bemerkbar gemacht, wie
u. A. aus den verschiedenen Publicationen des serbisch-bulgarischen Krieges von
v. Mosetig- Moorhof 6) , Langenbdch •) , Gluck7), Frankel8), sowie auch aus
dem interessanten Berichte von Erni-Grbiffexberg 9) über die Behandlung der
Verwundeten in den Kämpfen der Holländer mit den Atohinesen überzeugend
hervorgeht. — Die Amputationstechnik und die Amputationsmethoden
sind auch in den letzten 5 Jahren im Allgemeinen die altbewährten geblieben.
Eine grössere Berücksichtigung hat neuerdings die GRiTTi'sche osteoplastische
Oberschenkelamputation gefunden. Sie wird von allen Autoren, so von E. Ried10),
welcher über 10 Fälle aus der Klinik seines Vaters berichtet , von Wenzel ll),
welcher 9 Fälle aus der Bonner Klinik mittheilt, wie von Voigt lä), welcher 10
Fälle aus der Albert' sehen Klinik beschreibt, nach den Erfahrungen auf den
betreffenden Kliniken auf das Beste empfohlen und von den Meisten sowohl vor
der transcondylären Amputation, wie vor der Exarticulation im Knie, wie selbst
vor der hohen Unterschenkelamputation vorgezogen. Ried sen. bildet am extendirten
Knie einen sehr grossen vorderen Lappen bis 2 — 3 Querfinger unterhalb des
unteren Randes der Patella, amputirt dann das Femur und bildet einen kleinen
hinteren Lappen. — Um die Drucknecrose der Haut über der Kante der durch-
sägten Tibia bei Unterschenkelamputationen zu vermeiden, sind von v. Mosetig -
Moorhof 18) , Helferich 14) und Obalinski 16) verschiedene Modifikationen an-
gegeben, v. Mosetig Moorhof bildet 2 seitliche Lappen, von denen der äussere
grösser ist, als der innere. Beide werden von hinten nach vorn zu vereinigt,
wobei über der Tibiakante eine etwas vorstehende Hautfalte gebildet wird.
Helferich bildet durch Abwärtsschneiden 1 Cm. neben der vorderen Tibiakante
einen grossen inneren Lappen, in welchen das Periost der Tibia mit aufgenommen
wird ; die Amputation wird durch Cirkelschnitt beendet und die Fläche durch den
grossen inneren Lappen gedeckt, der bei der gewöhnlichen Lagerung des Beines
dann von vorn oben her aufliegt. Obalinski empfiehlt 2 seitliche gleiche Haut-
muskellappen , welche durch Plattennaht und Knotennähte so vereinigt werden,
dass die Weichtheile „hahnenkammartig" vor der Tibia liegen. Führ dagegen
beweist nach den Erfahrungen der Giessener Klinik (Bose), dass ein durch einen
Cirkelschnitt umgrenzter innerer und äusserer Hautfascienlappen (vorderer Längs-
schnitt fingerbreit nach aussen von der Tibiakante, hinterer Längsschnitt diesem
gegenüber) nach der Naht eine gute, leicht verschiebliche Deckung der Amputations-
fläche giebt, welche nicht zu Drucknecrose führt. Nach des Ref. üeberzeugung
schützt davor nicht nur jede einfache Methode , welche für gute Deckung sorgt,
sondern wesentlich auch ein exaeter Wundverband, welcher unnöthigen äusseren
Druck vermeidet, sowie endlich rasche sichere Heilung per primam. — Die bekannte
osteoplastische Unterschenkelamputation nach Pi Rogoff hat durch Tauber 17) und
v. Eiselsberg 18) eine neue Modifikation erfahren, welche diese so vielfach bewährte
PlROGOFF'sche Operationsmethode auch in denjenigen Fällen anwendbar macht^
« au+* ww*5» ji*r>r, r; .at 7jiT3aa befestigt
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, i.. m..,„. , i„ „ piyi-t,uh>rr *U-u *A'<».;/;hth*i!»*n. Er empfiehlt deshalb
• 1 »ihm («ffilf ffff OMif»'l« n von v,lh*;r vfrr^teht — die Amputation
i ** iMifildliHi i Ifi7fii'i |iriinh' m ti n'l di<? Weichtheillappen relativ
h»Ihhih m!« ful I1 1 « fiflixMiMi liii oi«. Artfci^htori werden von Brutelle 20)
\ t<Milri Intl. in i i lifl l 1 tti |ti(M tMllif|ii ii \Utsr Amputirtari mit konischen Stümpfen
'I» • i im Ih i» • I' iimmIh-um -ipIimiIhiim, Ni>tiliililiiti(r vom K noelicnHubstanz nachwies.
IM. • 1 1 •i-liliMtfiti-ti t i:Mii>lh>n iliit - H i« Ii rti nr xcmi in Ampiitat ionsstümpfen
-i.I.h in iiiinti Ii « .«i'hIh'ii Aililnl vmi VrcitNiurn, i) besprochen. Er trennt
mti h.itit ««.lim timl i'il"i>1if Ni>utfit|>iiMi ii ml weint iinch , dass oft genug Ent-
ihi-hu» h l Un. ilu'n ni -i'lilii'li i\\<> \o\\Vi\\^\o]\ Niil^ofHHMt werden. Im Uebrigen
\ i .» -hi Vi. i.Ih .ii*- iui'Ih um Neiiimno die. neuralgischen Beschwerden in
y»iNi «ii in. ii tiiim-TiMi »ii. lio« ii «Um» Moloho anoli auf einer Neuritis a&cenden*
t,.ij..u i i* ii ii • n i H'i.-iv Wu-H hat i« den Hoohaehtungcn Witzel's21 eine
* '■»" Mm. ii-« ?• i iin.i m :< 1 "filloii xi^n Nonraljrie dos Amputation&$rumpfes
.-ii. (im ii .iu- \i«niMi tun m ein derbes Narben ee webe eingebextet,
•i \ . -s .-i .■!!• vi*. .Ni i \. . ,■»,«.•■.).•>. KTvilecnnar der Nerven brachte
. ' ■ •■ •■•» » *m V; . ,v<«sv wan * erleiden solle, die Ham-
i «ini'i-f: i.'li'vi., r.^r. drr. ;,sy":«er. «eseLT^h llt a-*
\ ... .v.i-, ■.. o ■ «l-.-c^ \x: H r x. r. —
\- v \ r-vi.... y- _ • E t.i-
* * * \ <. ««' -i •» *>»f» *>• " -t üp: r*.L^vi
* v , \ l . Vi. ii..- n»- . V iv,i"sr«!-L"' jf'f*'*
V . • .. • r. vVif. \- - " f t : r.
\ i \ . . v \. * ,Vi - ia
x V v.. . ' ^ ■ -. «i.^ f ; - . ~^~1<i .:-
W •«.- . ^ k . V ■. -. —
v>N V \ - . \ " _
•9
ANÄMIE.
41
nicht nur kein Wasser hergeben kann, sondern im Gegentheil seinerseits Wasser
verliert, dieser Umstand macht die Wiederherstellung und Erhaltung der Blut-
circulation in dieser Krankheit zu einer so sehr schwierigen Aufgabe.
Immerhin ist aber in allen solchen Zuständen eine klare Indioation
mehr und mehr in das Bewusstsein der Therapie getreten. Es gilt vor Allem zu
verhindern, dass die Herzpumpe leer geht. Weniger kommt es zunächst
darauf an, wie das Blut beschaffen ist, welches die Herzoirculation unterhält,
als dass sie continuirlich unterhalten wird. In schwächeren Fällen von Anämie kann
man es mit der Autotransfusion versuchen. NUSSBAUM1) hat vorgeschlagen,
dieselbe bei Tieflagerung des Kopfes, mittelst Massage des Unterleibes, eventuell
durch Belastung desselben mit Steinen, Hochlagerung und Einwicklung der Ex-
tremitäten mittelst elastischer Binden zu versuchen. Von der Belastung des Unter-
leibes mit Steinen abgesehen, wird man in leichten Anämiefällen eine derartige
Autotransfusion versuchen können. In schweren Fällen von stärkeren Blut- und
Wasserverlusten wird sie aber nicht ausreichen. Hier wird, da die Bluttransfusion,
ebenso wie die Infusion in's Blut mit grösseren Schwierigkeiten verbunden ist
und es zunächst darauf ankommt, gar keine Zeit bei der Wiederherstellung der
Blutcirculation zu verlieren, die subcutane Wasserinjection als die rascheste Hilfe
anzuwenden sein. Sie kann leicht unter allen Verhältnissen gemacht werden,
bedarf keiner Assistenz, keiner operativen Fertigkeit. Ebensowenig, wie an
irgend ein anderes Heilverfahren, kann man an dieses aber den Anspruch stellen,
überall zu helfen. Immer wird es Fälle geben, wo der Blut- oder Wasserverlust
bereits zu gross gewesen ist, die Hilfe also zu spät kommt Diese an sich so
leichte und ganz unbedenkliche Operation wird aber um so bessere Resultate
ergeben, je weniger man sie als ultimum refugium betrachtet, je früher man sie
vornimmt. Dies gilt von den acuten Zuständen der allgemeinen Anämie.
Bei der chronischen allgemeinen Anämie ist es die Verminde-
rung der rothen Blutkörperchen, welche in den Vordergrund tritt. Die Blutmenge
im Ge&sssystem ist nicht vermindert, die Blutcirculation selbst nicht bedroht. Diese
Fälle haben daher nichts momentan Bedenkliches an sich. Ueber die Verminderung
der Zahl der rothen Blutkörperchen bei diesen Zuständen liegen Beobachtungen
von Oppenheimer2) vor. Derselbe fand bei Blutkörperchenzählung mittelst des
Zählapparates von Thoma-Zbiss und des GLOWER'schen Hämoglobinometers, hier
und da auch des FLEisCH'schen Hämatometers Folgendes: Bei 17 Hospitalpflege-
rinnen fanden sich in 1 Ccm. Blut 4*48 Millionen rother Blutkörperchen mit einem
Hämoglobingehalt von meist 95°/,,, mindestens aber von 90°/0. Bei Anämien fand
sich die Zahl der rothen Blutkörperchen hingegen vermindert bis auf 1 '90 Millionen
pro Cubikcentimeter und der Hämoglobingehalt reducirt bis zu 40% . Bei Recon-
valescenz zeigte sich alsdann zunächst Vermehrung der Zahl der rothen Blut-
körperchen, später erst Erhöhung des Hämoglobingehaltes. Bei Chlorose war im
Wesentlichen nur eine Verminderung des Hämoglobingehaltes nachweisbar. Das
bei Herzkrankheiten und Morbus Basedowii zu beobachtende blasse Aussehen
der Patienten trotz normaler Blutkörperchenzahl glaubt der Verfasser auf reflek-
torische Gefäss Vorgänge allein zurückführen zu dürfen.
Fälle von chronischer Anämie können vorkommen bei rasch auf einander
folgenden Blutverlusten, besonders durch Hämorrhoidalblutungen und Metrorrhagien.
Hierbei können die Bedingungen für die Neubildung des Blutes gegeben sein, die-
selben können auch normal weiter funetioniren, sie sind jedoch unzureichend gegenüber
der Grösse des Verlustes. Häufiger ist der andere Fall der unzureichenden Blut-
bildung bei pernieiöser Anämie, tropischer Anämie, Leukämie, M. Addisonii, Chlorose.
Von den chronischen Anämien splittert man die Cachexien ab, als Zustände, bei denen
seeundär durch Säfteverluste mehr als durch directe Blutverluste Anämie eintritt, so
bei Carcinom, Syphilis, Nephritis mit Albuminurie, Phthists tuber culosa etc.
Literatur: *) Nussbaum. Ueber Transfusion, Infusion und Autotransfusion.
Therapeut. Monatshefte. October 1887. *) Oppenheimer, Deutsche medic. Wochenschrift.
1889, Nr. 42.
42
ANÄMIE.
2. Loeale Anämie. Die neueren physiologischen Untersuchungen über
die normale Vertheilung des Blute« im Organismus und die sieh darmufi ergebenden
notwendigen Folgen für Anämie und Hyperämie der Organe sind noch wenig
in das Bewusstsein weiterer medieiniseher Kreise eingedrungen. Viel zu sehr wiegt
noch die Vorstellung, welche durch die Leieheninjection der Gefasae geweckt ist,
als massgebend auch für den lebenden Organismus vor. Der Körper besitzt aber
gar nicht eine gleich grosse Blutmenge, um alle Gefasse in vivo in gleicher
Weise auszuspritzen. Kr hat eine viel geringere Blutmenge und kommt doch mit
ihr aus. Da« ist aber nur möglich durch eine dem Bedurft) iss angemeBaene
ungleiche Vertheilung. Würden die 10 Pfund Blut, welche der Erwachsene be-
sitzt, gleichinässig vertheilt, so würden sehr schwache Rinnsale entstehen. Ver-
gleicht man den Querschnitt der Aorta mit dem Querschnitt der sammtliehen
Capiilaren, so sieht man, dass bei gleicher Vertheilung in allen Capiilaren überall
nur unzureichende Blutmengen für Function und Secretion auftreten könnten. Die
Vertheilung des Blutes ist aber eine ganz ungleiche. Im Ruhezustand der Organe,
sagt Claude Bernard, int die loeale Blutcirculation beinahe Null : es finden sich
in den kleinen Gefässen Abschnitte, wo das Blut im Innern nur hin und her
schwankt, ohne durch anderes ersetzt zu werden < Vöries über Wärme, pag. 233j.
Ebenso spricht C. Ludwjg (in seinem Vortrag über die Nerven der Blutgefässe»:
„Ein kraftvoller Strom, wie ihn die lebendigen Organe verlangen, ist nur mög-
lich, wenn sich zu jeder Zeit ein Tbeil der Röhren zu schliefst indess sich andere
öffnen. Wären sie alle zugleich der Blutwelle zugängig, so würde der Strom in
dem allzu breiten Bette wie im Saude versiegen. •* Die doppelte Menge Blut,
die in ihm fliesst. kann der Körper daher in seinen Adern beherbergen. Er
kommt mit einer um so viel geringeren Menge deshalb au», weil stets eine ganz
ungleichmäßige Vertheilung stattfindet, die Fluth an einer Stelle durch Ebbe
anderwärts compeusirt wird. Brauchen einzelue Tbeile zu ihrer Action oder zur
Secretion mehr Blut, so lekommen sie dies Plus auf Kosten der ruhenden Theile,
die es hergeben müssen. Die contractilen Arterienwände sind es, durch deren
Zusammenziebung oder Erschlaffung der Blutzufluss nach Bedarf der Theile regulirt
wird. Durch ein höchst complicirtes S vetern von Gefässuerven werden diese Arterien-
wände regiert. Ausser den Vasomotoren, deren Action leicht verständlich ist, giebt es
noch Vasodilatatoren, nach deren peripherer Reizung die Arterien sich erweitern,
während ihre Lähmung keinen nachweisbaren Einfluss übt, insbesondere keine Anämie
hinterlässt. Ausser diesen directen Einwirkungen der Gefässnerven auf die Gefasä-
muskeln haben wir noch die iudirect»n, die durch centrale Reizung der sensiblen
Nerven inducirten Hyperämien zu verzeichnen. Durch Lähmung der sensiblen
Nerven fällt hingegen nur die Möglichkeit der inducirten Hyperämie fort, ohne
dass darüber hinaus Anämie eintritt.
Ausser diesem Spiel der Blutgelasse, welches sirh überall zur Erzielung
von Hyperämie und Anämie nach den Bedürfnissen der Organe vollzieht, zeigt
sich in einzelnen Körpcrtheilen ein scheinbar spontanes, fast rhythmisches
Spiel der Arterien und consecutiv der Venen. Dies ursprünglich zuerst am
Kaninchenohre von Schiff entdeckte spontane SpiH der Blutgefässe bat sich alsdann
an allen Hautarterien bei den verschiedensten Thieren beobachten lassen, an der
Schwimmhaut des Frosches, an der Art. Haphma. mammaria von Meerschweinchen
und Kaninchen. Doch auch an der Conjunctiva des Kaninchens, an der Zunge des
Frosches, am Mesenterium der Säugethiere, auch selbst an ausgeschnittenen Nieren
sind periodische Schwankungen der Geiässe ton den verschiedensten Beobachtern
gesehen worden.
Sau u kl l) bat nun in einer neuen Arbeit mitgetheilt, dass, wie die
Beobachtung ganz junger Tbiere im Alter von 4— f> — 8 Wochen ergiebt, ein
permanenter anämischer Zustand den Ausgangspunkt, den Ur-
zustand gewissermassen, bildet, dass erst allniälig die Dilatationen der Arterie,
anfangs sporadisch, dann periodisch sich ausbilden. Die Gefässcnge und die damit
ANÄMIE.
43
verbundene Anämie bildet also den Ausgangspunkt, kein Gefäßskrampf etwa, der
wieder der Erschlaffung Platz macht, sondern ein permanenter Zustand von Gefass-
enge, von relativer Anämie, die durch Reibung und Wärme jederzeit in Hyperämie
übergeführt werden kann. Ein gewisser Grad von Anämie ist also physiologisch
die Norm, die Hyperämie wird erst durch Induction oder Lähmung der Gefäss-
nerven herbeigeführt.
Die pathologische Anämie, welche durch Verlegung der Blut-
gefässe herbeigeführt, im Stenson 'sehen Versuche durch Unterbindung, Com-
pression der Aorta abdominalis bewirkt wird, hat durch die rasch danach auf-
tretenden Lähmungserscheinungen von jeher Aufsehen erregt. Spbonck2) hat in
einer neuen Ezperimentaluntersuchung gefunden, dass bei Compression der Aorta
abdominalis die sehr empfindlichen Ganglien der Medulla spinalis sehr früh erlahmen.
Er will sogar Erscheinungen der Necrose in den Ganglienzellen bereits nach
12 Minuten gesehen haben. Dass die periphere Zone der Vorderhörner sich
widerstandsfähiger erweist als die centrale, schiebt Verfasser auf die ungleiche
Geftssvertheilung. Zunächst treten in den Ganglienzellen Eiweissfettkörncheo auf, die
Zellen verlieren die Fortsätze, der DEiTERS'sche Fortsatz löst sich ab, der Kern
verschwindet allmälig, nach 4 — 5 Tagen stellt die Zelle nur einen Detritushaufen
dar, welcher am 6. Tage fast völlig verschwunden ist. Die weisse Substanz zeigt
Degeneration der centralen Theile. Gleichzeitig tritt eine enorme Wucherung der
Neuroglia auf, schon nach 2 Tagen, am stärksten aber nach 4 — 5 Tagen, das
interstitielle Gewebe verdichtet sich, wodurch das Rückenmark eine eigenthümliche
Gestalt erhält.
Auch in Singer's8) Versuchen über die Veränderungen am Rücken-
mark nach zeitweiser Versohliessung der Bauchaorta zeigte sich nach 24 bis
36 Stunden feinkörniger Zerfall der Ganglienzellen der Vorderhörner, nach 8 Tagen
fast voller Schwund der Ganglienzellen.
Alle die Wirkungen, welche die Anämie in verschiedenen Organen, wenn
auch kaum irgendwo so heftig wie im Centralnervensystem, hervorzurufen ver-
mag, gewinnen eine sehr viel grössere Bedeutung durch weitere Beobachtungen
Samubl's1) über den Verlauf anämischer Entzündungen. Schon vor
langer Zeit hatte derselbe dargestellt, dass bei einer Anämie, welche ohne weitere
Störung ganz symptomlos sich auszugleichen vermag, intercurrente Entzündungen zum
Brande führen. Dies ist anerkannt. Er hat aber neuerdings weiter darauf aufmerksam
gemacht, dass nach Sympathie uslähmung einerseits auf der andereren intacten Seite
eine gar nicht unerhebliche Anämie eintritt. Sie ist von den Vorunter-
suchern wohl vielfach beobachtet, aber wenig gewürdigt worden. Diese anämische Seite
wurde vielmehr so sehr als gesunde Seite angesehen, dass man sie ohne weiteres
bei Entzündungen als bestes gesundes Controlobject gegenüber der durch Sym-
pathieuslähmung hyperämisch gewordenen Seite verwenden zu können glaubte.
Doch war es Jedem zweifellos, dass die liyperämische Seite ihr Plus an Blut
lediglich der Hergabe der gesunden Seite durch die Collateralen verdankt. Dem
zu Folge fand Samuel, dass die Entzündungen auf dieser relativ anämi-
schen Seite stets zögernder und minder hyperämisch verlaufen. Doch ist der Endaus-
gang meist bei Verbrühungen geringen Grades ein günstiger, wenn die sensiblen
Nerven intact sind, da unter dem Einfluss derselben sieh, wenn auch zögernd,
eine genügende Biutcirculation schliesslich herstellt. Anders aber wenn noch dazu der
Einfluss der sensiblen Nerven in Wegfall gekommen. Damit fehlt die Möglich-
keit der inducirten Hyperämie. Durch die sensiblen Nerven kann nun
reflectorisch keine Hyperämie mehr erzielt werden. Die Anämie, die Blutverminderung
bleibt daher jetzt ungemindert während der Dauer des Entzündungsprocesses. Dies
wirkt aber in hohem Grade verderblich auf den Verlauf desselben ein, statt
Entzündung erfolgt meist Brand. Die Versuche sind deshalb von aus-
nehmend grossem Interesse, weil bei dieser Anämie von einer Verlegung der
Blutgefässe gar keine Rede ist, sondern nichts anderes als combinirte Nerven-
44
ANÄMIE. — ANEURYSMA.
affectionen vorliegen. Dass ein so grosses Resultat Brand statt Entzündung
durch scheinbar so geringfügige Momente, wie andersseitige Hyperämie und
diesseitige Lähmung der sensiblen Nerven zu erreichen ist, ist eine Ueber-
raschung von grosser Tragweite.
Literatur: *) Samuel, Ueber anämische, hyperämische und neurotische Ent-
zündungen. Virchow's Arch. Bd. XII, pag. 396. — *)Spronck, Contribution a Tetude ex-
perimentale des lesions de la mobile epiniere determinees par l'anemie passagere de cet organe.
Arch. de physiol. 1888, 1. — 8) Singer, Wiener Berichte. Bd. XCVI, Abth. 3.
Vergl. anch „Perniciöse Anämieu. Samuel.
AndrOmedotOXin. Das Andromedotoxin ist ein von Etkman1) nnd
Plügge2) gleichzeitig (1883) in der japanischen Giftpflanze Asebu, Andro-
med a j aponica , die namentlich wegen ihrer tödtlicben Wirkung auf Pferde,
die von ihren Blätter fressen, gefürchtet ist, entdeckter und später von PlüGGB 8)
in Andromeda polifolia, Rhododendron ponticum und anderen
Rbododendronarten , Azalea indica und Kaimt a latifolia entdeckter,
stickstofffreier, aus Aether schwierig krystallisirender, indifferenter, stark giftiger
Körper, der sich in kaltem Wasser dreimal leichter als in heissem löst und mit
concentrirten und verdünnten Mineralsäuren sehr intensiv rothe Zersetzungspro-
ducte liefert. Nach Zaayer4) wirkt Andromedotoxin bei Fröschen, die es schon
zu Vio Mgrm. tödtet, curareähnlich, bei Warmblütern, die nach 0*25 — 0*45 Mgrm.
pro Kilo zu Grunde gehen, als respiratorisches Gift, das häufig nach vorauf-
gehenden Convulsionen tödtet, ausserdem das Brechcentrum stark erregt und
wiederholte Defacation und erhöhte Speichel- und Harnabsonderung bewirkt. Der
Körper, welcher mit Unrecht als Gift der Ericaceen bezeichnet wird, da er in einer
grossen Anzahl Gattungen der Familie nicht vorhanden ist , hat ein besonderes
Interesse dadurch, dass er wahrscheinlich derjenige Stoff ist, welcher an bestimmten
Orten das Giftigwerden des Bienenhonigs bedingt, der aus der Gegend von
Trapezunt schon aus dem Alterthume durch den Rückzug Xenophon's bekannt
geworden ist und nach neueren Reisenden in demselben Bezirke, wo Xenophon's
Soldaten erkrankten, noch heute vorkommt. Dieser giftige Honig, welcher nach
Xenophon's Beschreibung theilweise Durchfälle, theilweise Delirien und Narcose
erzeugt, wird vorwaltend von Rhododendron ponticum und Azalea pontica
gesammelt. Aehnlich giftig wirkender Honig wurde aber auch in Nordamerika beob-
achtet und auch hier sind andromedotoxinhaltige Pflanzen (Rhododendron maximum,
Kalmia latifolia und K. angustifolia) diejenigen, von deren Blüthen der giftige
Honig stammt.
Literatur: *) Eykman, New Kemel 1882, pag. 290. — *) Plügge, Archiv
d. Pharm. 1883, XXI, pag. 1. — a) Derselbe, Nederl. Tijdschr. Pharm. 1889, pag. 84. —
«) Zaayer, Pfluger's Archiv. 1887, X, pag. 480. Hnsemano.
Aneurysma (s. Real-Encyclopädie, II. Aufl., Bd. I, pag. 412—437).
Wie die zahlreichen Mittheilungen seit dem Jahre 1885 lehren, hat die Chirurgie
der Aneurysmen wesentlich in praktischer Beziehung gewonnen. Wenngleich
indirect auch die Entstehungsgeschichte, Pathologie und Diagnose bereichert und
erweitert wurden, so haben doch in allen Mittheilungen die rein praktischen, auf
die Behandlung der Aneurysmen bezüglichen Fragen weitaus die grösste Berück-
sichtigung gefunden. Ihrer Bedeutung entsprechend werden wir uns auch in der
folgenden Uebersicht wesentlich hierauf beschränken. Was zunächst die C o m-
pression anlangt, so ist dies einfachste und zunächst liegende Verfahren nach
den neuesten vorliegenden Mittheilungen in den verschiedenen Modifikationen der
directen Comprcssion, wie in der EsMARCH'schen Einwicklung , zwar sehr oft , ja
fast regelmässig zuerst versucht worden, scheint jedoch nur selten zum Ziele
geführt zu haben. Zwei derartige Fälle theilt C. Dobson j) mit. Ein Aneurysma
der Poplitea und eines der Femoralis im SCARPA'scheu Dreiecke, beide sehr
rasch spontan entstanden, wurden durch Compression des Aneurysmas mit einem
ANEURYSMA.
45
Schrotbeutel zugleich mit continuirlicher Digitalcompression der Femoralis am
horizontalen Schambeinaste in wenigen Tagen zur Heilung gebracht. In der über-
wiegenden Mehrzahl der mitgetbeilten Fälle mus&te zu anderen Behandlungsmethoden
übergegangen werden. Unter denselben nimmt die Ligaturbehandlung in
ihren verschiedenen Formen mit Recht die wichtigste Stelle ein. Die neuere
Chirurgie drängt jedoch auch hierbei entsprechend der an tisep tischen Aera zugleich
auf eine möglichst radicale Heilung. Die Methode der Spaltung des Sackes mit
folgender Unterbindung aller zu- und abfahrenden Arterien nach Antyllus
ist ebenso wie die Unterbindung der zu- und abführenden Gefasse mit nach-
folgender Exstirpation des aneurysmatischen Sackes recht eigentlich für das anti-
septische Zeitalter geschaffen. Beide Verfahren haben die BRASDOR'sche Methode,
die Unterbindung des abführenden Gefesses und die HüNTE&'sche Methode, die
Unterbindung der zuführenden Arterie, jedenfalls nicht unerheblich eingeschränkt.
Sie werden natürlich noch da ausgeführt, wo jene zuerst genannten Ligatur-
methoden erschwert oder überhaupt nicht ausführbar sind. So wurde u. A. die
HüNTEfi'sche Methode mit gutem Erfolge an der Garotts sinistra wegen eines
grossen traumatischen Aneurysma der linken Halsnacken-Unterkiefergegend von Seb.
Cannizzaro s) ausgeführt. Ebenso hat die BRASDOR'sche Methode bei den Aneurysmen
des Truncus anonymus ihren Platz bewahrt. Wharton 8) betont hier auf Grund eines
eigenen günstig verlaufenden Falles, sowie der Fälle der Statistik die Notwendigkeit
der gleichzeitigen Unterbindung sowohl der Carotis wie der Subclavia. Im Uebrigen
scheint besonders die HcNTER'sche Methode auch bei den Aneurysmen überhaupt
immer noch in England viele Anhänger zu haben, wie ein Vortrag Savory's4)
und die daran sich anschliessende Discussion in der Medical and surgical
Society in London (1868) lehrt. Auch Pirovano in Argentinien wendet, wie
aus der sehr ausführlichen These Jcsto's 6) hervorgeht, gewöhnlich die H unter' sehe
Methode nach vorgängiger Compression des Sackes, und zwar meist mit gutem
Erfolge, an. Unter 43 durch die Ligatur mit vorgängiger Compression behandelten
Aneurysmen starben nur 6. Nach Schmidt6) hat Czerny in 8 Fällen mit Erfolg nach
Hunter operirt. — Die Operation der Aneurysmen nach Antyllus ist in der neueren
Casuistik sehr häufig vertreten. Besonders eingehend haben Reymond Largeau 7),
Annandale 8) die Vorzüge der Methode unter antiseptischen Massregeln hervorgehoben.
Es lässt sich nicht leugnen, dass sie, wo sie überhaupt anwendbar ist, an Sicherheit die
einfache Ligatur übertrifft. Doch wird ihr das Feld anscheinend erfolgreich durch die
Unterbindung mit nachfolgender Exstirpation des Sackes streitig gemacht.
Dieses Verfahren, welches bei kleineren Aneurysmen und besonders bei solchen
in der Nähe von wichtigen Nervenstämmen schon vor wenigstens 10 Jahren von
meinem Lehrer C. Huetkr regelmässig ausgeführt wurde, hat sich neuerdings
immer allgemeinere Anerkennung erworben. Es ist so unter Anderem auch in
England von Düncan 8) befürwortet und von den verschiedensten Chirurgen, besonders
in Deutschland, Oesterreich und Frankreich mit gutem Erfolge ausgeführt worden.
Leon Comte9) tritt in einer besonderen Arbeit für die Operation ein. Er berichtet
über 22 Fälle mit 20 Heilungen aus der Literatur und spricht sich darnach auch
für die Anwendung derselben bei arteriell -venösen Aneurysmen aus. Eine gut
gelungene Sackexstirpation bei einem Fall von Aneurysma artertovenosum der
Ellbogengegend durch Czerny theilt Gehle10) mit. Nach Schmidt6) wurde die
Exstirpation von Czerny auch noch in anderen Fällen, besonders von An.
anqstom. mit Erfolg ausgeführt. Endlich redet Delbet11) in einer grösseren Arbeit
über die Behandlung der Aneurysmen sehr warm der Exstirpation das Wort. Er
wünscht, dass dieselbe viel häufiger und früher ausgeführt werde und meint, dass
besonders die Compression nicht zu lange und nur mit grosser Vorsicht ange-
wendet werden dürfe, weil auch sie nicht ohne Gefahr sei, indem sie zu Ruptur
des Sackes, Gangrän, zur Entwicklung neuer Aneurysmen führen könne. Er12)
räth besonders auch bei dem Aneurysma arterto venosum nach einem kurzen
46
ANEURYSMA. — ANILINFARBSTOFFE.
Yeraeke mh Compression zu baldiger doppelter Unterbindung, eventuell mit nach-
folgender Exstirpation des Sackes.
Die Elektropunctur. resp. Galvanopunetur hat, soweit sieh ans den
vorliegenden Mittheilangen ergibt, seit 1885 nur selten Anwendung gefanden.
Die Methode ist nieht ohne Gefahren, ist in ihrer Einwirkung nicht sicher zu
fbersehen and hat anseheinend keineswegs so häufig, als es früher nach theore-
tischen Erwägungen angenommen wurde, wirkliehe Heilerfolge. Auch nach der
neueste«, obwohl nur geringen Casuistik der Galvanopunetur bei Aneurysmen
snd Beobachtungen von Embolie. Blutung aus dem Soeheanale (Czerny, Schmidt •)
von Septieämie iPölaillon 1S) vorgekommen. Nur Richter14) berichtet Aber
einen günstig verlaufenen Fall bei einem intrathoraealen Aneurysma; in einem
anderen soll wenigstens eine Besserung eingetreten sein , doch starb der Patient
an Erschöpfung. Dctxcax 15; halt eine vorsichtige Anwendung der Galvanopunetur
hei intrathoraealen und anderen schwer zugingliehen Aneurysmen für zulässig,
wenn andere Behandlungsmethoden vergeblich versucht oder unmöglich sind. Von
sonstigen Behandlungsmethoden des Aneurysmas sind Alkoholin jec tionen
bei einem Falle von An. racemosum der Hinterhauptsgegend, welche Thiebsch
Pl£.*?ixg l*j ra Dosen von J Ccm. mit erst 30% bis allmilig 75% Alkohol
flach vom Rande her in die Gesehwulst machte, hervorzuheben. Sie sind
gewiss ra analogen Fallen zu empfehlen. Dagegen hat die Einfahrung von
Stahldrahtspiralen in das Aneurysma, welche (nach Moore) von R. White
und P. Goülo 17 ) , W. Caylet1*), J. Pringle"), W Hülke20) bei Aorten-
aneurysmen versucht wurde, in aÜen Fallen den Tod zur Folge gehabt und ver-
dient gewiss mit vollem Recht den scharfen Tadel und die geradezu vernichtende
KritOu welche Verjeuil -1) in einem sehr lesenswerthen Artikel diesem durchaus
verwerflichen Verfahren zu Thefl werden llsst (unter 34 Fällen nur eine Heilung).
Literatur: l) C. Dobson, Cases of anturysm treated by digital compression.
Laaeet. 30. Mai 188). — *) Seb. Caaniaaaro, Giornale internationale delle scienae mediche.
18?8t Arnim VI, 5. pa«. 353—369. — •) Wharton. Philadelphia med. times. 30. April 1887.
— SaTory. TJus State of tke femoral arter y afte<- Ujature for popliteae aneurysm.
Laneet, 1*. Dec 1886. — *) Justo, Estudio sobrt las aneurismas arteriales quirurgicos.
Thea». Boenos-Arre* 1388. — *) Sch midt (Caerny) , Sitaongsher. d. 62- Natorf.-Vers. 1889.
— ^ S«jaoa<i Lirgeia, Du traitement des aneurysmes poplitis par la methode
*TAnt yllu*. Aren. gea. de med. Marz 1885, pag. 297—314. - *) Annandale, Edinb. med.
journ. 1*86 II. pag: 715. — */ Leon Comte, iStude sur quelques cas d'aneurysmes traitis
par rexstirpation du *ac, ou m/thode de Purmann. Lyon lSSo. — w) Gehle, Berl. klia.
WocheMcnr. 188 5r. 17. — l') D ei bet, Revue de chir. i88&Nr.7— 12; 1889, 1. — "jDelbet,
Du traitement des aneurysmes externes. Paris 1889. — 1S) Polailion, Boll, et mem. de
la äoe de chir. de Pars. T. XII, pag. 430. — l*) Richter, Med. Soc. in San Francisco. 1885.
— tT) Daaean. Edinburgh Med. Journ. 1886, IV. pag. 897. — u) Plessing, Arch f . klin.
Chirurgie. XXXIII pa*. 25 1—2-54. — tT) R. White and P. Gould, Med. chir. Transact.
1887, Ltl. — «*) W\ Cayiev. Med. chir. Transact. 1887. U. — l9) J. Pringle, Med. chir.
Tranwt. IS87. LH, — 30) W. Hnlke, Med. chir. Transact 1887. UI. — 9l) Verneuil,
De la filipunctura. Ballet, de l '.icadeuie de med. 183S. Nr. 27—31. M. Schaller.
AnlUÜOlUQIII. Die auf dem Felsengebirge Nordamerikas einheimische
Caetee Ankalonium L e wi n 1 1 Henn. liefert eia als Museale Buttons
bezeichnetes Genassmittel T welches narootisehe Wirkung iu besitzen scheint und
eine giycosidische Pflanzen base enthalt, die bei Kalt- und Warmblütern Steigerung
der Reflexaetion und Tetanus, bei Tauben nur Erbrechen bedingt.
Literatur: L.Leirin, Aren. f. exper. Pathol. 1888, XXIV, pag. 401.
Hnsemann,
AnilinfarbStoffiß als Antiseptica. Die Thatsaohe. dass Bacterien,
Bacillen und Coccen jeder Art getödtet werden, sobtld ein Anilmfarbstoff auf dem
Wege der Diffusion die Schleim membran durchdringt und das Protoplasma intensiv
gefärbt hat. veranlasste Stilling l) , die Auiliufarbstoffe auf ihre antibaeteriellen
Eigenschaften mit Rücksicht auf ihre praktische Verwendbarkeit als Antiseptica
zu prüfen. Die mit 0. Wortmaxx in Gemeinschaft geführten Untersuchungen
ANILINFARBSTOPFE.
47
ergaben, dass namentlich die violetten A nilin farbstoffe die Eigenschaft besitzen,
die Infect od za verhindern nnd bereits bestehende Eiterungen erfolgreich zu
bekämpfen; ausser diesen zeigten bestimmte Auramine (gelbe Farbstoffe, deren
Ausgangsmaterial das Tetramethyldiamidobenzopheuon darstellt) wirksame anti-
bacterielle Eigenschaften. Stilltng versuchte das Methylviolett, welches
innerlich von Kaninchen mit dem Futter gramm weise ohne Schaden vertragen
wurde, bei einer grossen Anzahl von Augenerkrankungen und bezeichnete das-
selbe, namentlich für Hornhautgeschwüre , als ein Mittel, welches alle anderen
bisher angewandten in jeder Hinsicht übertrifft. Er fand es überdies bei Blepharitis,
Conjunctivitis, Phlyctänen, auch bei Keratitis parenchymatosa , Iritis serosa in
hohem Grade nützlich. Da es nur ganz bestimmte Methylviolette — die überdies
selbstverständlich arsenfrei sein mussten — und ein ganz bestimmtes Auramin
sind, welche sich für die Anwendung in der Augenheilkunde eignen, so brachte die
ehemische Fabrik E. Merck diese Anilinfarben unter dem Namen Pyoktanin
(von 7tuov, Eiter und xtsivcü, icb tödte) in den Handel, und zwar einPyoktaninum
caeruleum hauptsächlich für chirurgische und ein Pyoktaninum aureum
hauptsächlich für ophthalmiatrische Zwecke.
Ausser den reinen Farbstoffen stellt die Firma folgende pharmaceutische
Präparate dar: Streupulver 2 0/0 (blau und gelb), Streupulver l°/00 für ophthalmo-
logische Zwecke, Salben, Stifte, Pastillen zur Bereitung von Lösungen ä 1 Orm.
und i Ol Grm. Pyoktanin. Verbandstoff l°/00 : Gaze, Watte, Seide.
In's Auge geträufelt, färben Methylviolettlösungen von 1 pro Mille Con-
junctiva, Sclera und auch die Iris deutlich blau, die normale Cornea durchdringt
der Farbstoff, ohne diese zu färben; bei Verletzung des Epithels wird auch die
Cornea intensiv gefärbt, am folgenden Tag ist die Färbung verschwunden. Streut
man Methyl violett in Substanz in den Conjunctivalsack, so schlägt sich ein Theil
des Farbstoffes auf Cornea und Conjunctiva mit metallischem Glanz nieder, einige
Tage später stösst sich das Epithel in Schollen ab. Schollen und Conjunctival-
sack sind bacterienfrei.
Für die operative Antisepsis empfahl Stilltng die Instrumente vor dem
Gebrauche in 1 : 10.000 — 20.000 Methyl violettlösung zu legen, die Wunde nach
vollendeter Operation mit 1 — 2 : 5000 Lösung zu waschen, mit Seide zu nähen,
die mit 1 pro Mille Methylviolettlösung imprägnirt ist , endlich die Wunde mit
Watte nnd Gaze, welche durch Imprägnirung mit 1 pro Mille Methyl violettlösung
hergestellt ist, abzuschliessen.
In den Versuchen, welche unter Penzoldt's 2) Leitung von Beckh über
die antibacteriellen Wirkungen einiger Anilinfarbstoffe ausgeführt wurden, zeigten
sich bei der Seidenfädenprobe mit Staphylococcus pyogenes aur. und dem Milz-
brandbacillus , völlig entwicklungshemmend bei 10 Minuten langer Einwirkung,
0'2°)0 Lösungen von Methylviolett, Malachitgrün, Phenylblau und Trimethyl-
rosanilin. Bei 1 Minute langer Einwirkung verzögerten die Entwicklung regel-
mässig Rose Bengale, Phenylblau und Methylenblau. Bei subcutaner Einwirkung
am Kaninchen bewirkten nur Rose Bengale, Phenylblau und Methylenblau Störungen.
0. Liebreich 3) macht aufmerksam, dass als Methyl violett violette Farb-
stoffe verschiedenen Ursprungs und verschiedener Zusammensetzung bezeichnet
werden und dass therapeutische Schlüsse aus künstlichen Gemischen, die uncon-
trolirbar sind, sich nicht ziehen lassen. Aus der GRAEFE'schen Klinik in Halle
bestätigte wohl Dr. Jänicke die entwicklungshemmende Wirkung des Methyl-
violett auf Bacterien, jedoch die therapeutischen Versuche, die Braqnschweig an
derselben Klinik durchführte, ergaben sehr ungünstige Resultate. Es traten Brennen
in den Augen, auch heftige Schmerzen als locale Beschwerden auf. Bei Anwendung
des Stiftes auf die Conjunctiva entstand pseudo-croupöse Entzündung der Schleim-
haut, bei zwei Kranken folgten Hornhautleiden dem Pyoktaningebrauche ; auch
Mauthner hatte nur negative Resultate ; Roeloff4) fand bei eiternden Pro-
cessen und granulirenden Wunden Methylviolettlösung 1 : 2500 ohne
48
ANILINFARBSTOFFE. — AN1LINUM.
Wirkung, während Sublimat und Jodoform sofort Besserung schaffen ; in 7 Fällen
von eitrigen Ohr ener krankun gen fand Patbzek6) das Pyoktanin ohne
deutliehen Einfluss auf den Verlauf. In der hygienischen Section des Berliner
intern, med. Congresses erklärten Claude und Vignal das Pyoktanin für ein
schwaches Antisepticum, welches dem Sublimat weit nachsteht. Nach ihnen wirkt
das Pyoktanin mehr durch seine Diffusionsfähigkeit, als durch seine antiseptisohe
Kraft, die Anwendung desselben soll daher auf jene Fälle beschränkt werden,
wo die Diffusionsfähigkeit von Nutzen sein kann, bei Uloer. corneae und Pan-
ophthalmitis.
Diesen negativen Angaben stehen andere gegenüber, welche über günstige
Erfolge berichten. Nogces, der Versuche mit französischen Anilinfarbstoffen und
mit Pyoktanin ausführte, findet letzteres viel weniger reizend als Methylviolett.
Lösungen von 1 pro Mille reizten bei Granulationen die Augen zu stark, Lösungen
von 2 pro Mille wurden besser vertragen , hatten aber nur sehr geringen Effect.
Bei Phlegmone des Thränensackes mit erysipelatöser Schwellung der Wange nahm,
nachdem der Sack eröffnet wurde, die eitrige Secretion nach Injection von Methyl-
violett sehr rasch ab. Bresgen wendete das Methylviolett nach Anwendung
des Brenners in der Nasenhöhle in der Weise an , dass er die Brandwunde
mit in 2 pro Mille Methylviolettlösung getauchte Watte abrieb , der Verlauf der
Fälle war ein günstiger; nach Aetzung in der Nase an sehr eugen Stellen war
bei dieser Behandlung keine Schwellung der äusseren Nase und der angrenzenden
Wangengegend bemerkbar. Kellereb 7) beobachtete in 2 Fällen von Croup mit
hochgradigen Stenosenerscheinungen nach Anwendung von Inhalationen einer Pyok-
taninlösung (0*5 auf 1000 Wasser) rasche Besserung. Scheinmann 8) empfiehlt
es bei tuberkulösen Ulcerationen im Kehlkopf und in der Nase. Der Sondenknopf
einer Kupfersonde wird erhitzt und in das Pulver von Pyoktanin. coeruleum
getaucht, es bildet sich eine fest anhaftende, halb verkohlte Schichte, in deren
weiterer Umgebung das Pyoktanin in feinen Körnchen angelagert ist. Nach
genügender Cocainisiruug wird mit der so armirten Sonde das Pyoktanin in den
Geschwürsgrund energisch eingerieben. Die Heilungstendenz soll sich sehr rasch
bessern. Bbandenbeko 9) hält 1 pro Mille Lösungen oder den Stift bei Ulcus
ctutx8 und stark secernirenden Wunden empfehlenswerth. Nach Fessler 10)
bekommen stark entzündete , eiternde Wunden rasch ein frischrothes Aussehen,
die umgebenden Weich theile verlieren die entzündliche Härte ; Garre und Thoje ll)
vermissen eine speeifische antipyogene Wirkung, van der Goltz wendet 2 pro Mille
Lösungen von Methylviolett zu Ausspülungen bei Blasencatarrh, Cervical-
catarrh gonorrhoischen Ursprungs, intrauterinen Irrigationen etc. an.
Unangenehm ist die starke Färbekraft des Methyl violette, Lösungen von
1 : 10.000 färben Haut und Wäsche stark blau. Die Flecken werden durch
Javelle's Lauge oder durch Seifenspiritus beseitigt.
Ueber Methylenblau s. d.
Literatur: *) J. Still in gt Anilinfarbstoffe als Antiseptica. 6. Trübner, Strass-
burg 1890. — ') Penzoldt, Archiv für exper. Pathol. und Pharmakol. XXVI, pag. 310. —
s)0. Liebreich, Therap. Monatsh. Juli 1890- — - 4) S. Eoeloff, Aus der chir. Poliklinik
von Kölliker. Berliner klin Wocbenschr. 1890, 25. — b) Patrzek, Allgem. med. Central ■
Zeitung. 1890, 63. — 6) Nogues, Med. moderne. 1890, 35. — 0 Kell er er, Münchener
med. Wochenschr. 1890, 32. — b) Scheiumann, Berliner klin. Wocheuschr. 1890, 53. —
9) Brandenberg, Correspondenzbl. der Schweiz. Aerzte. 1890, 17. — 10) Fessler, Münchener
med. Wochenschr. 1890, K5. — ") Garre und Troje, Ebenda. 1890, 25. Loebiscb
AnilinUm CrudUm. Die Anilin öle des Handels, namentlich das
Anilinuni rubrum — Rothanilin — , ein Gemisch von nahezu gleichen Theilen
Anilin, Ortho- und Paratoluidin, ferner A nilin um er u dum, ein Gemisch von
1 Molekül Anilin und 2 Molekülen Toluidin, wurden, um der misslichen Färbung
durch Methyl violettlösungen zu entgehen, von van dbb Goltz therapeutisch statt
diesen versucht. Putride Eiterungen, Entzündungen wurden von Anilinum crudum
ANILINÜM. — ANTIDOT A.
49
in einer Lösung von 0*25 pro Mille rasch beschränkt, doch wird die Application
schmerzhaft empfunden. Um Anilinum crudum in Wasser klar zu lösen, muss
stets etwas Alkohol zugefügt werden. Um 40 Grm. in 4 Liter Wasser zu lösen,
geniigen 15 Grm. Alkohol. Wässerige Lösungen von reinem Anilin 1 : 2000 sollen
auch hartnäckige Eczeme zur Heilung gebracht haben; hingegen war Anilin, in
8albenform angewendet, gänzlich wirkungslos.
Literatur: E. v. d. Goltz (New- York), Med. Monatschr. 1890, 7.
Loebisch.
AnthrOpOCtlOlalsäUre (vergl. Real-Encyclopädie, Bd. I, pag. 488.)
Gegenfiber Bayrr, dem zu Folge die menschliche Galle eine von den übrigen
Thieren verschiedene, charakteristische Gallensäure enthalten sollte, weist C. Schotten
(Zeitschr. f. physiol. Chem. X, pag. 170; XI, pag. 267) nach, dass eine solche Säure
nicht existirt, die Säure der menschlichen Galle vielmehr ein Gemisch aus der
gewöhnlichen Cholalsäure (vergl. Bd. VII, pag. 415) und einer anderen Gallensäure
ist, welche in kleiner Menge neben ersterer vorhanden ist, Fellin säure CS3
H40 04 ; aus der alkoholischen Lösung fallt sie auf Aetherzusatz in glänzenden,
rechtwinkligen Täfelchen aus, schmeckt bitter, schmilzt bei 120° und dreht rechts.
Die PßTTENKOFER'8che Reaction giebt diese Säure schwierig, die Färbung wird
dabei blauroth und verschwindet auf Wasserzusatz. j. Münk.
Antidote (vergl. Real-Encyclopädie, II. Aufl., Bd. II, pag. 489). An
Stelle oder zur Ergänzung der antidotarischen Behandlung der Ver-
giftungen ist zunächst von S. Ringer1), später besonders von Sanquirico2)
die Infusion physiologischer Kochsalzlösung in grossen Mengen zur
Verdünnung des Blutes und zur Beförderung der Elimination empfohlen worden.
Von Sanquirico hat diese Methode den Namen Lavatur (Auswaschung) erhalten.
Nach Ringer und Mürrell 8), der den Wasserreichthum des Blutes noch durch
gleichzeitige interne und peritoneale Einführung physiologischer Kochsalzlösung zu
erhöhen räth, passt die Behandlungsweise namentlich für giftige Stoffe, welche
in eonoentrirter Lösung die Herzcontractilität aufheben, dagegen diese in diluirter
Solution nicht beeinträchtigen, wohin Kalium- und Ammoniumsalze, Opium, Fliegenpilz,
Jaborandi, Alkohol und Veratrin, nicht aber Aconitin, Digitalen und Strophanthin
gehören. Sanquirico hat mit einfacher Infusion nur bei Strychnin brillante Erfolge
gesehen, so dass selbst bei dreifach minimal letaler Gabe Lebensrettung eintrat, während
die Verbindung kleiner Mengen Chloral oder Paraldehyd mit der Lavatur noch
grösseren Strychninmengen gegenüber sich wirksam zeigte. Ausserdem gab die
einfache Infusion positive Resultate bei einer nur wenig die minimal letale Dosis
übersteigenden Giftmenge von Chloral, Alkohol, Urethan, Paraldehyd, CoffeYn und
Aconitin, negative bei Morphin und Nicotin, so dass die Methode nur einen
sehr beschränkten Werth besitzt.
Mehr theoretisches als praktisches Interesse besitzt die Beobachtung von
Brunton und Cash *), dass der Organismus durch Speisung mit Gegengiften gegen
die Wirkung von Giften resistenzfähiger gemacht werden kann, indem nämlich
Fütterung mit Kalisalzen Thiere gegen die Wirkung von Barytsalzen (dagegen
nicht gegen das auf die Muskeln in gleicher Weise wirkende Veratrin) immun macht.
Von neuerdings empfohlenen chemischen Antidoten ist die Carbol-
säure bei Verätzung mit Brom zu nennen, welche, in 1 — 2% Lösung
eingeathmet, auch die irritirende Wirkung von Bromdämpfen in wenigen Minuten
beseitigt. Das Mittel ist der Anwendung von Kali vorzuziehen, weil sich bei Contact
mit diesem auch reichlich unterbromigsaurea Kali bildet , welches selbst Aetz-
wirkung besitzt (Sehrwald5).
Sulfa nilsäure in grossen Dosen (4*5 — 6*0) ist von Ehrlich und
Krokhg •) bei Jodismus empfohlen, um die auf den Schleimhäuten bei Gegenwart
von Kohlensäure sieh bildende salpetrige Säure unter Bildung unschädlicher Diazo-
wkiadangen zu binden^
frltop. ftferMohtt. I. ^
50
ANTJDOTA. — A NTIPHLOGOSE.
Natriumsulfit als reducirendes Mittel gab Viron7) bei Vergiftung mit
chromsauren Salzen gute Resultate.
Von physiologischen Antidoten haben Empfehlung gefunden an
Stelle des durch viele neue Beobachtungen bewährten Chloralhydrats bei Strychnin-
vergiftung und Intoxication mit Krampfgiften überhaupt Paraldehyd8) und
U r e t h a n 9), sowie bei Pikrotoxinvergiftung Butylchloral 10), als Stellvertreter
des Atropins bei Morphin-, C h l o r a 1- und analogen Intoxieationen das
Pikrotoxin, welches nach Bokai n) noch stärker als Atropin die Athemthätigkeit
und den Blutdruck hebt; endlich A my Ini tri t 12) bei CocaYn vergif tu ng.
Literatur: l) Ringer, Lancet. 14. April 1883. — a) Sanqnirico, Centralbl.
für die med. Wissensch. 1886, Nr. 51; Archivio p. 1. Sc. med. 1887, XI, pag. 275; Biv. clin.
Ital. 1688, Nr. 2; 1889, Nr. 1. — 8) Murr eil, Lancet. 21. April 1883. — 4) Brun ton und
Cash, Centralbl. f. med. Wissensch. 1884, Nr. 31. — Sehr wald, Wiener Wochenschr. 1881»,
25, 26. — 6) Ehrlich, Charite-Ann. X, pag. 129; Kroenig, Ebenda. 1885, pag. 177. —
7) Viron, Contribution ä Vitude physiol. des preparations chrom&s. Paris 1885. -
8) Cervello, Arch. p. 1. Scienze med. 1883, VII, Nr. 1. — 9) Coze, Bull. gen. 30. Aoüt
1886. — 1C) v. Anrep, Petersb. Wochenschr. 1886, 36, 37. — ") Bokai, Therap.
Monatsh. März 1889, pag. 141. — x%) Schilling, Bayr. Intelligenzbl. 1885. pag. 733.
Th. Husemann.
Antifebrifl, Acetanilid (vergl. Real-Encyclopädie, Bd. XXI, pag. 587). In
der Pharm. Germ., cd. III, neu aufgenommen. Maximaldosis 0'5 ; pro die 4*0.
Antinervin. Vulgärbezeichnung des kürzlich von Radlauer eingeführten
und als Antipyreticum und Antineuraigicum empfohlenen Salicylbromanilids, einer
Combination des Bromacetanilids mit Salicylanilid. Weisses, schwach säuerliches
Pulver von ziemlich angenehmen Oeschmack, in kaltem Wasser wenig, in heissem
Wasser, Alkohol und Aether leicht löslich; soll in seiner Wirkung die Eigen-
schaften des Antifebrins, der Salicylsäure und des Brom in sich vereinigen ohne
die üblen Nebenwirkungen des ersteren; vor dem Antipyrin durch billigen Preis
(10 Grm. = 50 Pf.) ausgezeichnet. Verordnung am besten als Pulver oder in
comprimirten Tabletten. Dosis für Kinder 0*25 ; für Erwachsene 0*5 — 1 Grm.
Antiphl0Q0S8. Mit welcher Lebhaftigkeit auch von verschiedenen Seiten
der Entzündungsprocess immer wieder als ein nicht blos notwendiger , sondern
auch als ein Wünschenswerther und salutärer Process hingestellt wird, so ist dies
doch für die Praxis der Antiphlogose — im Gegensatz zur Antipyrese — ganz
eindruckslos geblieben. Dies ist um so natürlicher, als der begeistertste Ver-
ehrer des Entzündungsprocesses nicht umhin kann , zuzugestehen , dass gewisse
Seiten dieses Processes , wie z. B. die Ansammlung von Exsudaten , die davon
abhängige Gewebscompression und Gewebszertrümmerung unter allen Umständen
und ersichtlich ganz bedenkliche und deletäre Vorgänge sind. Ehe daher nicht
eine Sonderling innerhalb des complicirten Entzündungsprocesses in der Art vor-
genommen wird, dass salutäre und deletäre Vorgänge so weit von einander ge-
schieden werden, als dies bei einem im Flusse begriffenen Kraukheitsprocesse möglich
ist, so lange werden alle diese Betrachtungen für die Praxis werthlos bleiben.
Ueber die Notwendigkeit der Indicath causalis ist kein Zweifel möglich.
Die Entzündung ist an sich keine Wohlthat. Rann man dem Menschen die Entzündung
ersparen, indem man ohne grösseren Schaden die Krankheitsursache frühzeitig
entfernt oder indifferenzirt, so ist diese Art der Erfüllung der Indicatio causalis
unbedingt geboten. Die Entzündungen zu Heilzwecken stehen dabei natürlich ganz
ausser Frage. Die Indicatio causalis aber ist in dem weiten Umfange zu erfüllen, dass
nicht blos die eigentlichen Entztindungsursachen entfernt, sondern dass auch alle
accessorischen Entzündungsursachen ferngehalten werden müssen. Entzündete
Gewebe und Organe werden hochgradig empfindlieh. Einwirkungen, die völlig indifferent
für ein gesundes Gewebe bleiben, sind verderblieh für eine Entzündungsstelle. Hier
hat dann auch das Gewebe ganz andere physikalische Eigenschaften, ist geschwollen,
infiltrirt, die Biutcirculation wird modificirt, die Nerven sind gezerrt. Unter diesen, der
Norm gegenüber so wesentlich veränderten Verhältnissen muss selbstverständlich die
ANTIPHLOGOSE.
51
Reaetion der Theile eine ganz andere werden. Bewegungen z. B., die für ein ge-
sundes Gelenk unschädlich, ja nothwendig sind, führen bei entzündeten Gelenken
zu Zerrungen der Synovialis, zur Verstärkung der Entzündung. Ja die physiologischen
Functionen selbst werden zum Theil verderblich, so das Sehen für das entzündete
Auge, die Verdauung für den catarrhalisch afficirten Magen. Noch mehr wie die
physiologische Function muss natürlich der Hinzutritt neuer anderweitiger Ent-
zündungsursachen abgehalten werden, von Eitercoccen z. B. zu Wunden. Wenn
wir in der Behandlung zahlreicher einzelner Entzündungen wesentlich weiter-
gekommen und glücklicher sind, so ist es die bessere und umfangreichere Erfüllung
der lndicatio causalis — nicht blos der Antisepsis allein, die die9 bewirkt hat.
Immer weiter wird man jedoch den zahlreichen accessorischen Schädlichkeiten
insbesondere nachforschen müssen, um jede Cumulation der Entzttndungsursacheu
in jedem Organe zu vermeiden.
Während über die Erfüllung der lndicatio causalis an sich gar kein
Zweifel sein kann, ist die Erfüllung der lndicatio morbi noch völlig con-
trovers. Die Discussion bewegt sich aber noch ganz in den alten Geleisen, die
neueren Untersuchungen über den Entzündungsprocess haben praktische Con-
sequenzen für die Antiphlogose noch nicht im Geringsten geübt. Hin und
wieder kommt sogar noch ein alter Nachzügler, der den Venaesectionen
bei umfangreichen Entzündungen besonders der Lungen das Wort redet, wie
Crocq in Brüssel während in Deutschland wenigstens die Venaesection fast
allgemein nicht blos als Untitz, sondern als schädlich verworfen wird und höchstens
theoretisch bei starkem Lungenödem zugelassen, in der Praxis, aber wie es scheint,
auch da nur selten gemacht wird. An den meisten deutschen inneren Kliniken
wird wohl überhaupt nur selten einmal ein Aderlass gemacht. Ganz anders steht
es mit den örtlichen Blutentziehungen , den Schröpfköpfen , den natürlichen und
künstlichen Blutegeln. Man kann fast sagen , je mehr die Aderlässe an Terrain
verloren haben, desto mehr haben die örtlichen Blutentziehungen an Terrain ge-
wonnen. Sie sind unbedenklich, sie mildern ferner zweifellos die Schmerzen und
erleichtern die Spannung. Genzmer2) hat überdies bei directer Beobachtung ge-
sehen , dass insbesondere beim Saugen der Blutegel der Blutstrom beschleunigt,
wandständige Blutkörperchen io's Rollen gebracht, Stasen gelöst werden kennen.
Wie weit dies aber auch bei schwereren Formen der Circulationsstörung in der
Entzündung gelingt, ist eine offene Frage, welche durch eine neuere Arbeit von
Pernjce 8) nach der Art der Anordnung seiner Versuche nicht gelöst werden
konnte. Hierzu werden neue Untersuchungen nöthig sein.
Ueber die antiphlogistische Wirkung der Adstringentia sind Ver-
suche von B. Heinz *) angestellt worden. Er fand bei directer Beobachtung des
in der Entzündung begriffenen Mesenteriums, dass bei Berieselung desselben mit
Lösungen von Adstringentien , die Leukocyten längs der Innenwand der Gefässe
aufgereiht bleiben, eine Zeit lang unbeweglich haften, dann weiter rollen, ohne
dass sich eines anschickt, durch die Gefässwand zu treten. Dies Bild bleibt stunden
lang unverändert dasselbe. Nirgends finden sich nach 2 — 3stündiger Beobachtung
Leukocyten um die Gefässe zerstreut. War die Entzündung schon kräftig im
Gange, so wurde von dem Momente an, wo mit der Irrigirung mit dem Adstringens
begonnen wurde, die Leukocytenauswanderung gänzlich sistirt. Die Zahl der aus-
gewanderten Leukocyten nahm nicht mehr zu, die eben im Durchschlüpfen be-
griffenen blieben, die eine Hälfte mitunter noch innerhalb, die andere ausserhalb der
Geftaswand stehen und wurden noch nach 1 Stunde in derselben Position gefunden.
In dieser Weise wurden Versuche angestellt mit 0'005°/0iger Lösung von Sublimat.
0*05% Arg. nitric, 0*1 Zincum sulfuricum, Plumbum aceticum, Cuprum sulf..
Ferrum sesquichloratum , Tannin, Alaun. Noch stärkere Concentrationen von
Adstringentien schädigen aber die Gewebe und erzeugen Entzündung, es entsteht eine
oberflächliche Coagulationsnecrose , auf die alsdann eine reactive Entzündung
folgt. Durch eine schwache Lösung desselben Adstringens kann man dann diese
52
ANTIPHLOGOSE. — ANTIPYRESE. »
Entzündung in Schranken halten. Durch die Adstringentien wird wahrscheinlich
eine Aenderung der GeftUswand, speciell eine Modification der Kittsubstanz herbei-
geführt, die den Leukocyten den Durchtritt unmöglich macht. Die bereits hindurch-
getretenen werden gelähmt. Auch bei Conjunctivitis der Kaninchen erhält man
nach Anwendung von Tannin O l — 0'5°/0 deutliche Gefössverengerung. Stärkere
Lösungen bringen nach vorübergehendem Abblassen eine stärkere Röthung hervor,
die dann auf 0*1% Tanninlösung von deutlichem Erblassen abgelöst wird. Es
sind dies Alles wohl rasch vorübergehende Wirkungen. Wie weit die Flüssigkeits-
exsudation beschränkt wird, ist nicht gesagt.
Literatur: *) Crocq, Discuasion sur la vfoicatoire et la saignie. Bulletin de
l'Acad. Beige. 1888, Nr. )i% 3, 4. — *) Genzmer, Ueber antiphlogistische Wirkung localer
Blutentziehungen. Centralblatt. 1882. — 8) Ludwig Pernice, Ueber die Wirkung localer
Bluten tziehun gen auf acute Hautentzündungen. I. D. Greifswald 188?. — 4) Heinz, Die
Wirkung der Adstringentien. (Aus dem pharmakol. Institut Breslau.) Virch. Arch. L'XVI,
PAS- 220. Samuel.
Afltipyrese. Weit einflussreicher als die Auffassung der Entzündungen
als Reactionszustand des Organismus bisher für die Antiphlogose geworden
ist 9 ist die Auffassung des Fiebers als reactiver Vorgang für die Antipyrese
geworden. Gegenüber der Forderung, welche eine Zeit lang ganz allgemeine
Geltung hatte, hohe Temperaturen an sich als gemeinschädlich für den Körper
herabzusetzen, hat sich eine starke Opposition gebildet. Am weitesten in dieser
Opposition geht wohl Un verflicht x) , der in verschiedenen Publicationen in
eine lebhafte Discussion mit Liebermeister2), dem eifrigsten Vorkämpfer einer
kräftigen Antipyrese, getreten ist. Unverricht stellt alle Grundlagen der Anti-
pyrese in Abrede. Er behauptet, dass kalte Bäder nicht antipyretisch wirken,
dass antipyretische Mittel wohl antipyretisch wirken, aber für den Kranken nicht
nützlich seien, dass hohe Temperaturen im Fieber nicht nachtheilig, sondern vor-
teilhaft seien. Er warnt geradezu davor, nicht die Krankheit günstig beeinflusst
zn glauben, wenn man nur den Maassstab für die Schwere der Krankheit — und
einen solchen Maassstab giebt das Fieber — künstlich zertrümmert habe. — Ueber-
bliokt man die Rolle, welche der Fieberproeess in der Pathologie spielt, so muss
man vor Allem sich dessen bewusst bleiben, dass der Fieberprocess zunächst in
einer complicirten Stoffwecbselstörung besteht uud dass die Fiebertemperatur nur
Product und Merkmal desselben bildet. Dies eine Merkmal kann unterdrückt
sein, der Gesammtprocess aber im Uebrigen seinen Lauf haben. Ein fester Fels
für die Betrachtung des Fieberprocesses bleibt es immer, dass fieberhafte acute
Infektionskrankheiten die Tendenz zum raschen Ablauf besitzen, nicht fieberhafte
oder unregelmässig fieberhafte, wie Syphilis, Lepra, Tuberkulose, hiugegen nicht.
Eine grosse Thateache, die unzweideutig lehrt, dass immerhin in der Stoffwechsel-
störung , welche wir als Fieber bezeichnen , ein Moment stecken muss , welches
die Ursache der Krankheit zu vernichten oder zu modificiren vermag, kurz mit
der Ursache fertig wird , während bei Fieberiosigkeit oder dyscontinuirlichem
Fieber die Krankheitsursache chronisch wird, die Krankheit weiter fortvegetirt. Hinzu-
gefügt mnss jedoch sofort werden, dass es dabei, wie es scheint, auf eine bestimmte
Temperaturhöhe nicht ankommt, denn Genesung, ja Immunität, also fernere Un-
empfänglichkeit , kann auch bei geringeren dieser Temperaturen eintreten. Indess
beweisen die niederen Temperaturen nicht, dass nicht erbebliche Stoffwechselstörungen
eingetreten sind, sie beweisen nur, dass dieser eine Effect derselben, die Temperatur-
Steigerung durch irgend welche Gegenwirkungen ausgeblieben ist. Die Bacterien
brauchen aber zu ihrem Untergang, zu ihrer Indifferenzirung nicht immer eine hohe
Temperatur, sondern nur eine Stoffwechselrevolution. Welche Dignität ist nun der hohen
Temperatur an sich zuzuschreiben ? Im Rückfallstyphus sehen wir, dass recht hohe
Temperaturen vertragen werden können ; doch die hohen Temperaturen herrschen hier
immer nur kurze Zeit. Dass sie längere Zeit hindurch gleichgiltig sind , ist
dadurch nicht bewiesen, ist auch an sich schwer annehmbar. Die Ueberlegung
ANTIPYBESE. — ANTIPYRIN.
53
der Thatsachen ergiebt, dass, wenn gewisse Krankheitsursachen in unserem Körper
sind, wir wohl eine Stoffwechselrevolution brauchen, um sie zu vernichten, nicht
aber die Temperatursteigerung, welche erst deren Folge ist. Bei der Lücken-
haftigkeit unserer Kenntnisse indes« bedürfen alle diese Combinationen der prak-
tischen Bewährung. Von den Praktikern, die mit kritischer Sorgfalt zu Werke
gehen, wird der absolute Verzicht auf jede Antipyrese des symptomatischen Fiebers
nicht getbeilt. Insbesondere gilt die Kaltwasserbehandlung im Abdominaltyphus
als eine erfolgreiche und den Mortalitätssatz entschieden herabsetzende Massregel.
Sie hat sich bewährt. Allerdings bleibt es fraglich, ob ein so mächtiger und ein-
drucksvoller Factor, wie die wiederholte Kaltwasserbehandlung ist, nur wärme-
vermindernd wirkt. Zweifellos findet dabei auch eine mächtige Einwirkung auf
das ganze Hautorgan und damit auf die Gesammtheit der sensiblen Hautnerven
statt. Welche complicirte Einwirkungen auf das Herz, auf die Blutgefässe, auf
Rückenmark und Gehirn dadurch entstehen, ist noch gar nicht absehbar. Gewiss
ist aber, dass die Kaltwasserbehandlung in keiner einzigen anderen Krankheit
sich des gleichen Beifalles zu erfreuen hat, wie im Abdominaltyphus. Nahezu
überall versucht, ist sie meist wieder verlassen worden.
An ihre Stelle sind nun vielfach medicamentöse Antipyretica
gesetzt worden. Dass dies Gifte sind, dass sich bei ihnen auch toxische Wirkungen
nicht völlig ausschliessen lassen, darf uns in der unbefangenen Auffassung ihrer
Heilwirkungen nicht stören. Die alten, längst anerkannten, zur Erfüllung der
Causalindieation dienenden Wirkungen von Chinin und Arsenik gegen Malaria
heben sich jedoch unvergleichlich gegen alle anderen Antipyretica hervor. Schon
die Wirksamkeit der Salicylsäftre, des Salol oder des benzog sauren Natron gegen
acuten Gelenkrheumatismus ist minderwerthig, wenn auch in jedem einzelnen Falle
des Versuches werth und sehr oft erfolgreich, doch nicht von gleich sicherem Erfolge.
Auch diese Mittel gelten wohl noch als Specific a gegen die Krankheitsursache.
Von denjenigen Antipyreticis, die nicht die Krankheitsursache, wohl aber die eine
Krankheitserscheinung, das Fieber bekämpfeu, sagt die Erfahrung, dass die besseren
unter ihnen wohl die Temperatur herabzudrücken vermögen, keineswegs aber
sicher einen günstigen Einfluss auf den Gesammtverlauf ausüben. Der Mortalitäts-
satz bleibt derselbe, die Dauer der Krankheit bleibt die alte, die übrigen Er-
scheinungen bis auf das Fieber dieselben. Krankheit und Tod verlaufen nur bei
niederer Eigenwärme.
Unter den vielen, in neuerer Zeit dargestellten Antipyreticis, dem Kairin,
Thallin, Exalgin , Antipyrin und Antifebrin sind es die beiden letzteren , welche
am sichersten wirken und am ungefährlichsten sind. Antifebrin oder Acetanilid
bewirkt meist schon nach 2 Stunden einen Temperaturabfall um 1 — 3° C, selbst
um 4°. Es bewirkt aber leichter Collaps und Cyanose als das Antipyrin, welches
seinerseits den Puls meist nur wenig erniedrigt. Dafür bewirkt aber das Anti-
pyrin oder Dimethyloxychinizin Uebelkeit und Brechreiz. Bei beiden Mitteln tritt
während des Absinkeus der Temperatur häufig profuse Schweisssecretion ein, bei
dem ziemlich raschen Wiederansteigen starker Schüttelfrost auf; zwischen diesen
Mitteln wird man wählen, je nach den in den verschiedenen Krankheiten zu
berücksichtigenden Gesichtspunkten und Nebenmomenten. (Vergl. die betreffenden
Specialartikel der Real-Encyclopädie.) Samuel.
Antipyrin. Die ursprüngliche Angabe von -Knorr über die chemische
Constitution des Antipyrins (s. Real-Encyclopädie, Bd. I, pag. 547) wurde von diesem
selbst dahin verbessert, dass das Antipyrin ein (1) Phenol, (2, 3)-Dimethyl, (4)-
Pyrazolon ist.
Pyrazoi nennt Knorr eiu Pyrrol, in welchem eine CH(Methin)-Gruppe durch N
ersetzt ist. Die vom Pyrazoi abstammenden Sauerstoffverbindungen werden Pyrazoione genannt.
Die eingeklammerten Ziffern zeigen die Stellung der Stubstituenten an, wobei die Stellung
des ersten Stickstoffs mit 1, die des zweiten Stickstoffs mit 2 und von hier weiter die nächst-
folgenden Stellen der Reihe nach bis 5 bezeichnet werden.
54
ANTIPYRIN. — ANTROPHORE.
Das ursprünglich als Antipyreticum empfohlene Antipyrin findet seit den
letzten Jahren häufige Anwendung als Analgeticum, Antinenralgicnm and Anti-
rheumaticum, namentlich bei Hemicranie. Ischias. Brnstschmerzen der Phthioker,
Asthma bronchiale, ferner bei Uternseoliken während der Ifensee und der Geburt.
Bei Keuchhusten werden die Anfälle gflustig beeinflusst. Gegen anfallsweise auf-
tretende schmerzhafte Zustände, bei denen Morphium injectionen aus irgend einem
Grunde coutraindicirt sind, empfiehlt Wolff die subcutane Anwendung einer
heisa bereiteten Lösung von 1*0 Antipyrin auf 0*5 Wasser. 2 Grm. auf diesem
Wege applicirt. genflgen in den meisten Fällen. Alexander beobachtete jedoch
A bscesse an der Einstichstelle. Bei Uteruscoüken bewährte sich die Anwendung
pro Clysroa l'Oprodosi in 50*0 lauwarmem Wasser. Beim Keuchhusten ver-
ordnet Wjniielschhidt 3 — 4 mal so viel Decigramme und mehr, als das Kind
Jahre zählt, zumeist in folgender Form: Antipyrini 1*0 — 5*0. Vini Tokayens, Syr.
Senegae aa. 50 0. Aq. dest. 100 0. M. D. S. 3mal tägl. 1 Esslöffel. Zur sub-
cutanen Injection empfiehlt QcrxcKE. um bezüglich der injicirten Menge
Antipyrin sicher zu sein, folgende Versehreibung: Antipyrini 3'0 . Aq. dest. q. s.
ad Ccm. VI. M. D. S. Jede Spritze dieser Losung enthält dann 0'5 Grm. Anti-
pyrin. Gerbsäurebältige Lösungen lassen sich mit Antipyrin zusammen nicht ver-
ordnen. Wässerige Lösungen, welche Antipyrin und Chloralhydrat enthalten,
bleiben erst bei einem Verhältniss von 1 Antipyrin zu 32 Wasser klar, sonst
seheiden sich die benannten Medicamente nach einigen Stunden in Form einer
kristallinischen Verbindung aus.
Neuerdings officinell in Pharm. Germ. ed. III.
Literatur. Aus den sehr zahlreichen Mi« hei Innren fähren wir die folgenden
wichtigeren an: K. Bettelheim. Zar Kenntnis? des Antipyrin. Wiener med. Jahrb. 1885,
Heft it. — MaxBeihlen. Inaup.- Dissen. Stuttgart 1SS5. — Sara Welt. Antipyrin,
antifebrile Wirkung. Deutsches Archiv für klin. Med. 1685. — C. Engel, Ueber antifebrile
und antimvcotische Wirkung des Antipyrin. Mittheilungen aus der med. Klinik zu Würzburg.
1856, II. — R. Lepine. L'antipyrine Comme Medicam. nerrin. Lyon med. 1*^6. 33. —
Bosse. Antipyrin zur Beförderung der Granulation l»ei Unterechenkelgeschvüren. Berliner
klin. Wothenschr. 1856. 33. — Hermann Haas. Antipyrin bei Flecktyphus. Prager med.
Wochenschr. 1886. 46. — E. Ungar, Antipyrin bei Hemicranie. Centralbl. für klin. Med.
1586. 45. — Windelband. Antipyrin bei Keuchhusten. All gem. med. Central-Ztg. 1887, 1. —
P. Guttmann. Antipyrin. Nebenwirkung. Therap. Monatsh. 1887, 6. — Prof. Mendel,
Antipyrin bei X-rvenk rankheiten. Ebenda. 18?7, 7. — Germain See, Antipyrin bei Schmers.
Compt. rend. 1687. — Daniel Bernouilli. Antipyrin . Nebenwirkung. Corres pond enzhl .
für Schweiz. Aeizte. 1587. — J. Friedländer. Antipyrin in der Kinderpraxis Therap.
Monatsh. 18S7. 8. — B. Hirsch. Antipyrin. schmerzstillende Wirkung. Ebenda. 1888,
pag. 453. — F. Merkel. Antipyrin. subcutane Injection. Münchn. med. Wochenschr. 1888,
3* — 33- — E. Sachs. Antipyrin bei obron. Kopfschmerz und halbseitiger Trigeminusneuralgie.
Therap. Monatsb. 15SS. pag. 4S8- — W. Lilien fei df Antipyrin bei Chorea, Ebenda,
pag. ]<* — A. Wolff, Antipyrin. subcutane Injection. Ebenda, pag *279. — M. Carter,
Antipyrin geg-n Kopischmerz. Journ. of the Amer. med. Assoc. August 1SS8- — Dr. § alemi,
Antipyrin bei Gehörs- und Gesichtshallucinationen. Bullet, gen fr. de Therap. i$S8, 44; gegen
Seekrankheit. Therap. Monatsh. 18S9. 47. — A. Roh in, Antipyrin gegen Diabetes. Gaz. med.
de Paris. 1559, 15 u. 16. — L. Seeligmann. Antipyrin gegen Geburtswehen auf Winckel'i
Klinik. Münchn. med. Wochenschr. 1859. 44. — Dupousquet-La rboderie, Antipyrin bei
Kenchbu-ten. La semaine med i8?Ü, 19 — Henry Dessau. Antipyrin bei Kinderkrankk.
Journ. of the Amer. med. Assoc. 1890. *1 auch Therap. Monatsh 1590. 9 T . . v
r Loebisch.
Antisepsis, $. Wündbehandlung*.
Antiseptin. Bezeichnung einer zur Wundbehandlung- empfohlenen Com-
binatinn von Zinc*nn jodatum and Zincum horo-thymolicum , die bei starker
antiseptiseber Wirkung keine toxischen Eigenschaften und keine schädlichen Neben-
wirkungen besitzen >oll. Ein weibliches, in Wasser leicht und klar lösliche»
Pulver. Anwendung als Streupulver mit Talcum 1 : f> oder 1:10 .. in 10f/t
Salben mit Vaseline oier Lanolin, und iu 1 wässeriger Lftsung.
Antrophore, s. t ripper behandlung.
APHASIE.
55
Aphasie (vergl. Real-Encyclopädie, II. Aufl., Bd. I, pag. 590). Der weitere
Ausbau der Lehre von der Aphasie ist ganz wesentlich in der Richtung erfolgt,
welche Wernicke's erste Arbeiten einschlugen. Vor Allem hat sich ergeben, dass
das, was wir als den concreten Begriff eines Gegenstandes bezeichnen, nicht, wie
die frühere Psychologie annahm, etwas Einfaches ist, sondern sich aus zahlreichen
Partialvorstellungen zusammensetzt, und diese Erkenntniss ist für die Lehre von
der Aphasie von grösstem Belang gewesen. Eine Rose löst nicht allein eine
Gesichtsempflndung aus und lasst nicht allein ein optisches Erinnerungsbild, eine
Gesichtsvorstellung in der Hirnrinde zurück , sondern der Duft löst auch eine
Geruchsempfindung und die weichen Blätter eine Berührungsempfindung aus und
auch von diesen Empfindungen bleiben Erinnerungsbilder, also eine Geruchsvor-
stellung und Berührnngsvorstellung zurück. Es werden also von der Rose mindestens
drei Erinnerungsbilder an ganz verschiedenen Stellen der Hirnrinde niedergelegt.
Diese Partialvorstellungen stehen in enger associativer Verbindung in Folge ihres
öfteren gleichzeitigen Auftretens, oder, anatomisch gesprochen, die Elemente der
Rinde, welche als Träger dieser Partialvorstellungen anzusehen sind, sind unter-
einander durch ausgeschliffene Associationsbahnen verbunden. Die Folge ist jeden-
falls die, dass das Auftauchen einer dieser Partialvorstellungen sehr leicht durch
Association die anderen Partialvorstellungen hervorruft. Unsere concreten Begriffe
sind also zusammengesetzt. Eine gewisse Einheit erlangt der concrete Begriff
erst dadurch, dass alle seine Partialvorstellungen mit einer einzigen Sprech-
bewegungsvorstellung sich verknüpfen. Ich begleite die oben beschriebene zusammen-
gesetzte Vorstellung der Rose mit dem Aussprechen des Wortes „Rose", d. h. mit
einer eigenthümlichen Combination von Kehlkopf-, Lippen-, Zungen- und Gaumen-
bewegungen und, wie für jede willkürliche Bewegung, nehmen wir auch für diese
Sprechbewegung als Ursache eine Beweguugsvorstellung , die Sprechbewegungs-
vorstellung „Rose" an. Auf sensorischem Gebiet entspricht derselben das Er-
innerungsbild des gehörten Wortes „Rose" oder die Sprachhörvorstellung „Rose".
Fig. 3.
Weiterhin kommen als dritte und vierte Componente der zusammengesetzten Sprach-
vorstellung die Schreibbewegungs Vorstellung und das Erinnerungsbild der gesehenen *
Sclmft, die Lesevorstellung hinzu. Es ergiebt sich also, dass nicht nur die
Sprachvorstellung Rose aus vier Coinponenten zusammengesetzt ist, sondern dass
auch der Begriff „Rose" in mehrere Partialvorstellungen zerfallt. Die Zahl der
letzteren entspricht im Allgemeinen der Zahl der Sinnesgebiete, auf welche der
Gegenstand wirkt; so würde also z. B. bei der auch auf unser Gehörorgau
wirkenden Glocke noch eine acustische Partial Vorstellung hinzukommen. Ein
allgemeines Schema der in Betracht kommenden Vorstellungen und Leituogsbahnen
giebt die nachstehende Figur. Auf derselben ist die acustische Partialvorstellung
des Begriffes der Einfachheit halber weggelassen ; ebenso sind die von f, der Lese-
vorstellung und 9, der Schreibbewegungs Vorstellung ausgehenden Leitungsbahnen
aus gleichem Grunde weggeblieben, d bezeichnet die Sprechbewegungsvorstellung,
e die Sprachhörvorstelluog oder das acustische Erinnerungsbild des ^ohftttafe.
56
APHASIE.
Wortes, a, b und c die optischen, tactilen and osmiscben Componente des Begriffes,
also z. B. die Gesichts-, Berühr ungs- and Geruchsvorstellung der Rose. Die zur
Sprache selbst in Beziehung stehenden Leitangsbshnen and Elemente sind dareh
Strichelang aasgezeichnet.
Bei dem gewöhnlichen Sprechen treten ein oder mehrere Partialvorstellungen
eines Gegenstandes auf, z. B. a oder b oder c. and erregen die Bewegungsvor-
stellang in d : mit der Erregung dieser letzteren ist die Innervation der Sprach-
musculatur bereits gegeben, das Wort wird aasgesprochen. Beim Sprechen hören
gelangt umgekehrt die acustische Erregung naeh e nnd das Klangbild des gehörten
Wortes regt auf den Bahnen ea, eb, ec die Partialvorstellangen a. b nnd c des
zagehörigen Begriffes an, so wird das Wort verstanden.
Hieraus ergiebt sich denn auch eine zweckmässige and vollständige Ein-
theilang der corticalen Aphasien. Man unterscheidet im Anschlösse an
Werxicke and Lichtheim:
1. Centrale*) sensorische Aphasie: Das Gentram der Sprach-
hörvorstellungen e ist zerstört.
2. Tr anscorticale sensorische Aphasie: Die Leitnngsbahnen
von e zu den Partialvorstellungen des Begriffes, also ea, eb, ec sind unterbrochen.
3. Centrale motorische Aphasie: Das Centrum der Sprech-
bewegungsvorstellungen d ist zerstört.
4. Transcorticale motorische Aphasie: Die Leitungsbahnen
von d zu den Partialvorstellungen des Begriffes, also da, db, de sind unterbrochen.
5. Intercentrale oder Leitungsaphasie: Die Bahn zwischen
dem Hensori8chen und dem motorischen Sprachcentrum , also de ist unterbrochen.
Die neuere Casaistik bat zahlreiche Beispiele für diese Formen geliefert.
Freilich sind eine grosse Anzahl dieser Fälle nicht rein, d. h. sehr häufig rinden
sich sensorische und motorische, centrale und transcorticale Störungen gemischt,
oder, anatomisch gesprochen, der Krankheitsprocess ist sehr häufig nicht auf eine
Bahn oder ein Centrum beschränkt.
In den typischen reinen Fällen sind obige Formen folgendermaßen
charakterisirt :
1. Centrale sensorische Aphasie. Nachsprechen und Wortver-
ständniss aufgehoben, bei dem Spontansprechen Wortverwechslungen (Paraphasie).
Letztere erklären tich wohl daraus, dass bei dem gewöhnlichen Spontansprechen
die Partialvorstellungen des Begriffes a, b und c die Sprechbewegung d nicht
nur auf den directen Bahnen ad, ld, cd innerviren , sondern zum Theil auf dem
Umwege über e, also auf den Bahnen aed, bed und ced. In seltenen Fällen kann diese
Paraphasie bei der centralen sensorischen Aphasie fehlen (Lichtheim, Werxicke).
2. Transcorticale senRorische Aphasie. Wortverständniss auf-
gehoben, Nachsprechen erhalten, beim Spontanspreeben Wortverwechslungen.
3. Centrale motorische Aphasie. Spontansprechen und Nach-
sprechen aufgehoben, Wortverständniss erhalten.
4. Transcorticale motorische Aphasie. Spontansprechen auf-
gehoben, Nachsprechen und Wortverständniss erhalten. Hierzu muss jedoch bemerkt
werden, dass das Spontanspreeben nur dann aufgehoben ist, wenn alle von den
Partialvorstellungen zum motorischen Sprachcentrum ziehenden Leitungsbahnen
unterbrochen sind. Zuweilen ist nur eine dieser transcorticalen Bahnen unter-
brochen und es resultiren dann cigenthümlicbe klinische Bilder, wie z. B. das
einer „optischen Aphasie". Bei dieser letzteren ist nur die Bahn ad unterbrochen,
während die Bahnen bd und ed erhalten sind. Solche Kranke vermögen einen
Gegenstand nicht zu bezeichnen, so lange sie ihn nur sehen; dürfen sie hin-
gegen denselben auch betasten, so sprechen sie das Wort sofort richtig aus.
*) Diese Bezeichnung möchte Ref. der Wernicke'schen (corticale s. Aphasie)
vorziehen.
APHASIE.
57
Es liegt auf der Hand, dass nur ein Krankheitsherd, welcher lediglich die Bahn ad
unterbricht, diesen Befund ausreichend erklärt. Von der sogenannten Seelenblind-
heit unterscheidet sich die optische Aphasie dadurch, dass bei letzterer die Gegen-
stände ganz richtig erkannt werden, bei ersterer nicht. Die zwei bestuntersuchten,
hierhergehörigen Fälle verdanken wir Freund.
5. Leitungsaphasie. Einziges Symptom Paraphasie.
Es ist selbstverständlich, dass der alte Begriff der amnestischen Aphasie
bei dieser neuen Gruppirung der corticalen Aphasien aufgegeben werden muss.
Die Aphrasien, Dysphrasien und Paraphrasien finden in dieser neuen Eintheilung
gleichfalls keine Stelle, da der abnorme sprachliche Ausdruck hier nur die Folge
des abnormen Denkens ist; die Störung wäre also hier nur in a, b und c und
in den sie verbindenden Bahnen zu suchen.
Die Localisation der eben genannten Störungen ist durch zahlreiche
Arbeiten der letzten Jahre gleichfalls erheblich gefördert worden. Namentlich
kann es jetzt als gesichert gelten, dass die centrale sensorische Aphasie auf
Krankheitsproce8se im Gyrvs temporalis stip. der linken Grosshirohemisphäre
zurückzuführen ist. So fanden LüCiANi und Sbpilli in 14 von 20 Fällen diese
Windung betroffen. Zum gleichen Resultat gelangt Allen Starr bei einer Analyse
von 50 Fällen. In 3 Fällen, wo die bezugliche Stelle der linken oberen Schläfen-
windung zerstört war und doch keine Worttaubheit bestand, konnte Linkshändig-
keit constatirt werden (Westphal, Senator, Bianchi). Für die centrale motorische
Aphasie steht die Localisation schon lange fest; ein besonderes Interesse ver-
dienen jedoch in dieser Beziehung die Untersuchungen und Anschauungen von
Huohlinos Jackson, denen sich neuerdings auch Gowers angeschlossen hat,
Ober die Bedeutung der BROCA'schen Stelle, also des Fusses der unteren Stirn-
windung der rechten Hemisphäre. Huuhlings Jackson unterscheidet den
sprachlichen Ausdruck intellectueller Vorgänge streng von dem sprachlichen Aus-
druck der Affecte. Die Affectäusserungen sind mehr automatisch als willkürlich.
Man hat nun beobachtet, dass die emotionellen und automatischen Sprachäusserungen
(Interjectionen, Schwüre, Flüche etc.) bei Erkrankungen der linken Hemisphäre
(speciell der BROCA'schen Stelle) nicht verloren gehen und dies darauf zurück-
geführt, dass solche affective Sprachäusserungen nicht nur von der linken, sondern
auch von der rechten BROCA'schen Stelle innervirt werden. Auch scheint die
rechte Hemisphäre bis zu einem gewissen Grade vicariirend für die linke ein-
treten zu können. Man bat nämlich Fälle beobachtet, in welchen nach einem
Sprachverlust, der von einer dauernden Zerstörung der linken Spracbregion abhängig
war, das Sprachvermögen sich wieder herstellte und erst durch eine neue Läsion
in der analogen Region der rechten Hemisphäre wieder verloren ging. So kommt
es, dass namentlich bei Rindern eine motorische Aphasie selten länger als eine
Woche anhält (Gowers, Bernhardt).
Wie dringend übrigens vor einer vorschnellen Localdiaguose und einer
schematischen Auffassung der Sprachstörungen bei dem complicirten Charakter des
Sprachmechanismus zu warnen ist, hat ein von Grashey beschriebener Fall
gelehrt, dem eine ganz fundamentale Bedeutung zukommt. Der aphasische Kranke
Gbashey's konnte ein Wort, wenn er es ganz vor sich sah, sofort lesen. Liess
man ihn aber ein Wort buchstabireo, so dass der Reihe nach ein Buchstabe nach
dem anderen sichtbar wurde, so konnte er das Wort nicht lesen. Der Fall ver-
anlasste Grashey zu der Schlussfolgerung, dass es auch Aphasien giebt, welche
weder auf Function sunfäbigk ei t der Centren, noch auf Leitungsunfähigkeit der
Verbindungsbahnen beruht, sondern lediglich auf Verminderun g derDauer
der Sinneseindrücke.
Gegenüber diesen erheblichen Fortschritten in der Erkenntniss der corti-
calen Aphasien ist die Bearbeitung der infracorticalen Sprachstörungen sehr zurück-
geblieben. Hingegen sind die zur corticalen Aphasie in Beziehung stehenden
Störungen des Lesens und Schreibens, Agraphie und Alexie von mehreren Forschern
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APHASIE. — APNOE.
in den letzten Jahren genau studirt worden. Speciell hat die Legalisation der
Agrapbie im Fuss der mittleren Stirnwindung (g der obigen schematischen Zeichnung)
sich bei den französischen Neuropathologen allgemeine Anerkennung verschafft.
Bezüglich der Alexie hat sich mit grosser Wahrscheinlichkeit ergeben, dass wie
alle optischen Erinnerungsbilder, so auch die optischen Buchstaben- und Wort-
erinnerungsbilder gleichmässigim rechten wie im linken optischen Erinnerungs-
feld der Hirnrinde niedergelegt werden. Zum Lesen ist nun jedenfalls aueh die
Intactheit des Sprachhörcentrum im linken Gyrus temporalis sup. erforderlich
und daher auch die Intactheit der Associationsbahneo , welche dies Centrum mit
der rechtsseitigen und linksseitigen Region der optischen Wort- und Buchstaben-
erinnerungsbilder verbinden. Unser Verstand niss beim Lesen wird ganz wesent-
lich durch die aenstischen Wortklangbilder vermittelt. Alexie tritt daher nicht
nur dann auf, wenn das Centrum der optischen Worterinnerungsbilder, welches
wahrscheinlich im Gyrus angularis (f der obigen schematichen Zeichnung) zu
suchen ist , zerstört ist , sondern auch dann , wenn die vom rechten und linken
Gyrus angularis zur linken oberen Schläfenwindung ziehenden Leitungsbahnen
zerstört sind (subcorticale Alexie, Wernicke). Erwägt man weiter, dass zum
Lautlesen auch die Intactheit der Bahn ed und zum Verständniss des Gelesenen
auch die Intactheit der Bahnen ea, ab, ec erforderlich ist, so wird erklärlich,
dass Lesestörungen bei den verschiedenartigsten Localisationen des Krankheits-
processes vorkommen. Auch die von Berlik beschriebene „üyslexie", für welche
charakteristisch ist, dass die Patienten beim Lesen nur wenige Worte hinter-
einander herausbringen und dann für einige Zeit absolut leseunfahig sind, stellt
nur eine besondere Varietät dar, bei welcher wahrscheinlich die Hemmungs-
erscheinungen die Ausfallserscheinungen tiberwiegen.
Dass endlich auch die musikalischen Ausdrucksbewegungen zusammen
mit der Sprache und zum Theil auch unabhängig von derselben gestört sein
können, haben Kast, Oppenheim und Knoblauch ausführlich erörtert.
Literatur: AllenStarr, The pathology of sensory aphasia teith an analysis
of fifty cas€8 in tchich Brocas centre was not diseased. Brain. 1889. — Hughes Bennett,
Sensory Aphasia. Brit. med. Journ. 18 Febr. 1898. — Berlin , Eine besondere Art der Wort-
blindheit (Dvslexie). Wiesbaden 1887. — L.Bruns, Ein Fall von Dyslexie mit Störungen
der Schrift. Neurolog. Centralbl. 1888. — L. Bruns und B. Stölting, Ein Fall von Alexie.
Ebenda. 1888. — Ballet, Le langage. interieur et les diverses formes de Vaphasie. Paris
1886. — Charcot, Des difftrentes formes de Vaphasie. Progr. med. 1883. — Bianchi,
La Psichiatria. 1888, VI. — Gowers, Diagnostik der Hirnkrankheil en. 1886, Vorl. X. —
Freund , Ueber optische Aphasie und Seelenblindheit. Archiv für Psych. XX. — Hughlings-
Jackson , Brain. I u. II. — Bernhardt, Ueber die spast. Cerebral paralysen im Rindesalter,
nebst einem Excurse über Aphasie bei Kindern. Vi rchow's Archiv. CII, H. I. — Grashey,
Ueber Aphasie und ihre Beziehungen zur Wahrnehmune. Archiv für Psych. XVI, 3. — Lichf-
hoim, Ueber Aphasie. Deutsches Archiv für klin. Me«J. XXXVI. — Knoblauch, Ueber
Störungen der musikal. Leistungsfähigkeit in Folge von Gehirnlasionen. Ibid. XLIII. — Kast,
Ueber musikal. Störungen bei Aphasie. Neurol. Centralbl. 1888, pag. 430. — Oppenheim,
Charit6-Annal. 1888. — Naunyn, Verhandl. des VI. Congr. für innere Med. — Marie, De
Vaphasie et de Vagraphie. Progr. med. 1888. Nr. 5. — Paget, Notes on an exeeptional
case of Aphasia. Brit. med. Journ. 1887. — Pitres, Rev. de med. 1834. — Seppilli, La
sorditä verbale ed afasia sensoriah. Riv. sper. di freniatria. 1884. — Senator, Charit e-
Annal. 1888. — Westphal, Berliner klin. Wochenschr. 1881. — Wernicke, Forlschr.
der Med. 1885, pag. 824 und 1^86, pag. 371 u. 463. — Wilbrand, Die Seelenblindheit als
Herderscheinung. Wiesbaden 1887. — Ziehen, Phys. Psychol. Jena, G. Fischer, Vorl. 8.
Th. Ziehen.
Apn06 tritt ein bei gewissen Verhältnissen zwischen der Erregbarkeit
der Athemcentren und der Stärke des Athemreizes. Je grösser die Erregbarkeit
ist, um so kleinere Atherareize gentigen, um die Athmung zu unterhalten. Bei dem
Fötus ist die Erregbarkeit der Athemcentren kloin, sie wird erst geweckt durch
die bei der Geburt einwirkenden Hautreize; gleichzeitig entwickeln sich mit der
Störung des Placentarkreislaufes die Athemreize. Bei einem Thier, dessen Lungen
man ausgiebig künstlich ventilirt hat und welches nun nach Unterbrechung der
künstlichen Athmung apnoisch daliegt, sind zunächst noch die Athemreize
APNOE. — APROSEXIA.
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klein, weil die Alveolarluft nahezu die Zusammensetzung der atmosphärischen
Luft erlangt hat und das Blut in Folge dessen bei dem Durchgang durch die
Lungen besser arterialisirt wird. Die Apnoe' dauert aber auch noch an, wenn
schon das Blut des linken Herzohrs sichtlich venöser geworden ist als in der
Norm. Wenn die wieder stark angewachsenen Athemreize noch nicht im Stande
sind , die Apnoe' zu unterbrechen , so muss die Erregbarkeit der Athemcentren
noch zu gering sein. Die Herabsetzung derselben ist in diesem Falle erfolgt
durch die bei der künstlichen Ventilation erfolgte starke Reizung derjenigen
Vagusfasern, welche auch bei der normalen Respiration Veranlassung sind, dass
Dehnung der Lunge zur Hemmung der Inspiration fahrt. Es sind dies dieselben
Nervenfasern, welche bei dem von Hering und Breuer als „Selbststeuerung der
Athmung" beschriebenen Vorgange die Hauptrolle spielen. Auch ohne dass künst-
liche Athmung vorhergegangen ist, kann man beim Thier Apnoe' beobachten,
wenn die Erregbarkeit der Athemcentren auf andere Weise verringert wurde.
Unterbindet man zum Beispiel bei einem chloralisirten Kaninchen beide Arteriae
vtrtebrales und eine Carotis, während man die Athmung mit dem Volumschreiber
controlirt, so sieht man, dass die Athmung ganz un geändert verläuft. Comprimirt
man nun aber die Carotis der anderen Seite allmälig, so bildet sich mässige Be-
schleunigung und Vertiefung der Atberozüge aus. Diese Ausbildung erfolgt um so
langsamer und hält sich auf einer um so niedrigeren Stufe, je allmäliger die Ab-
sperrung des ßlutzufltisses zur MeduUa oblongata erfolgte. Giebt man dann,
noch ehe das Thier in die von Kussmaul und Tknner beschriebenen Krämpfe
verfallt, den Blutstrom plötzlich wieder frei, so tritt Apnoe' ein, nach deren
kürzerer oder längerer Dauer die Athmung mit flachen seltenen Zügen wieder
beginnt, um dann allmälig in den normalen Typus überzugehen. Die einfachste
Deutung dieses Versuchsergebnisses scheint folgende zu sein. Der Athemreiz in
der Medulla oblongata wächst bei Compression der zweiten Carotis zu hohen
Werthen an. Die jeweilige Erregbarkeit der Medulla oblongata ist aber Function
der voranfgegangenen Sauerstoffzehruug. Letztere hat bei der allmäligen Be-
schränkung des Blutznflusses abgenommen und mit ihr die Erregbarkeit, so dass
es trotz des gleichzeitig wachsenden Athemreizes zu keiner bedeutenden Dyspnoe'
kommt. Wird nun plötzlich die ßlutzufuhr freigegeben, so wird die Intensität des
Athemreizes zwar sinken, aber nicht unter den, unter gewöhnlichen Bedingungen
die Athmung anregenden Werth. Dass nichtsdestoweniger die Athmung mit diesem
Moment anfangend , ganz aussetzt , ist Folge davon , dass die Erregbarkeit nicht
ebenso schnell gestiegen ist, wie der Athemreiz gefallen. Erst nachdem die Sauer-
etoffzehrung einige Zeit in ausreichender Weise erfolgte, ist die Erregbarkeit
wieder so weit gestiegen , dass der gerade vorhandene , während der Apnoe* ge-
stiegene Athemreiz die erste Inspirationsbewegung auslöst. Nicht nur von theo-
retischer, sondern vielleicht anch von praktischer Bedeutung ist ein Athemstillstand,
der unter anderen Bedingungen eintritt und von dem es wichtig sein kann, zu
wissen , dass es sich um Apnoe , nicht um Asphyxie handelt. Hat man einem
Kaninchen einen lebensgefahrlichen Aderlass gemacht, so stellt sich Dyspnoe' ein.
Durch eine Infusion von körperwarmer physiologischer Kochsalzlösung kann man
das Thier retten und namentlich kehrt die Athmung in Folge derselben schnell
zur Norm zurück. Während man aber nosh die lebensrettende Infusion macht,
kann die Athmung stille steheu. Es ist dies aber nur vorübergehend und bildet,
wenn man die Infusion ruhig fortsetzt, den Uebergang zur normalen Athmung.
Die Deutung dieser Erscheinung muss wohl in analoger Weise gegeben werden
wie in dem vorigen Falle. Gad.
ApOmOrphinum, hydrochloricum (vergl. Real - Encyclopädie , Bd. I,
pag. 622). In der Pharm. Germ. III veränderte Maximaldosis: 0'02, pro die O'l.
AprOS6XicL (a privat, und xpoTsystv tov vojv). Der Name ist zuerst von
Güte in Amsterdam gebraucht für gewisse Störungen der Gehirnfunction, welche
APRÜSEXIA. — APSITHYRIA.
durch Beeinträchtigung der nasalen Athmung herbeigeführt werden: es besteht
— and dies soll der gewählte Namen bezeichnen — häufig bei diesen Krankem
eine Unfähigkeit, die Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Gegenstaad zu lenken.
Hiermit verbunden zeigt sich meist Kopfschmerz und Vergesslichkeit, so dass die
Erkrankten zerstreut erscheinen, Nichts auffassen und begreifen können. Die
pathologischen Veränderungen der Nase, welche die nasale Respiration stören
können, sind mannigfacher Art und so können Hypertrophien der Schleimhaut,
Polypen , Nasenracbentnmoren . adenoide Vegetationen und andere Processe
ätiologisch herangezogen werden. Guye glaubt, dass das Symptom der Aproseiia
seine Erklärung finden dürfte durch den gehinderten Abflugs der Gehirnlympoe
durch die verlegten Lymphgefasse der Nasenschleirohaut , vielleicht auch durch
gewisse vasomotorische Störungen, zumal auch vielfach in diesen Fällen circum-
seripte Rötbungen über der Nasenwurzel nachweisbar bind. Es ist unzweifelhaft,
dass in Folge der gestörten Nasenathmung, namentlieb bei Kindern, sich häufig
gewisse Störungen zeigen, welche sich mit den Beobachtungen Güye's decken;
aber es bedarf immerbin einer gewissen Vorsicht in der Deutung dieser Fälle,
wie dies in den verschiedenen, den Gegenstand betreffenden Discussionen vor
anderer Seite mit Recht hervorgehoben wurde. Namentlich ist hierbei festzuhalten,
dass Kinder mit adenoiden Vegetationen häufig schwerhörig sind und dass durch
die Herabsetzung der Hörfunction sich die Aprosexia wohl erklären Hess. Weiter-
bin ist doch immerhin die Zahl der an Aprosexia Erkrankten relativ sehr gering
im Verhältniss zur Zahl der an Störungen der Nasenathmung Leidenden, bei
denen diese krankhaften Erscheinungen Seitens des Gehirns nicht vorhanden sind. Es
muss demnach, wie dies Michel hervorgehoben hat. eine gewisse Disposition vorliegen
und auch Gcve weist darauf hin. dass die Neurasthenie eine gewisse Disposition
zur Aprosexie zu bewirken scheint. Therapeutisch ist die Nasenstörung zu beseitigen
und durch geeignete Mittel die Stärkung des Nervensystems herbeizuführen.
Literatur: Archiv für Ohrenlieilk'inde. XXVII. Heft -I. pasr. ->VJ: Zeitschrift für
Ohrenheilkunde. 1888, XVI II. pag. 55 und 1889, XIX. pag. 343. " ß. Baginsky.
Apsithyrift (x privat und ytihcc;, Flüstern). Man bezeichnet mit diesem
Namen, welcher zuerst von Solis Cohen gebraucht wurde, die bei der Hysterie zu weilen
vorkommende Unfähigkeit, zu flüstern, bezw. flüsternd zu sprechen. Für denselben
Symptomcomplex existiren noch Bezeichnungen anderer Art, so bei den Franzosen
mutisme hysterique, bei Kussmaul hysterische Sprachlosigkeit, bei einzelnen
anderen Autoren (Mendel, Bock und Gottstein) hysterische Stummheit, auch
Schreck- oder fransitorische Aphasie. Der obige von S. Cohen gewählte Name
schützt vor der etwaigen Verwechslung mit der hysterischen Aphonie. Die Zahl
der in der Literatur verzeichneten Fälle ist keine übermässig grosse und neuer-
dings hat F. Peltesohn unter Mittheilung zweier Fälle 45 Fälle aus der Literatur
zusammengestellt und zugleich das Wesentliche des in Frage stehenden Krankheits-
bildes hervorgehoben. Unter den 45 Fällen finden wir als den jüngsten ein Mädchen
von 6 Jahren und als den ältesten einen Mann von 51 Jahren. 6 mal war die
Apsithyria mit Verlust des Gehörs verbunden, auffallender Weise nur bei Männern.
Die Affection befallt Männer und Frauen in ganz gleicher Weise, und
zwar meist plötzlich in Folge irgend einer psychischen Erregung, Aerger, Schreck
u. s. w. Im Allgemeinen spielen hier dieselben ätiologischen Momente mit, wie bei
der Hysterie; in einzelnen Fällen zeigte sich eine gewisse Regelmässigkeit in dem
Auftreten der Erscheinungen, so beispielsweise in dem Falle von Mendel, bei dem
ich die laryngoskopische und otiatrische Untersuchung auszuführen Gelegenheit
hatte und der von Morgens U Uhr bis zum nächsten Morgen 6 Uhr eine eom-
plete hysterische Taubstummheit darbot. Allen diesen Kranken ist eigentümlich,
dass sie plötzlich überhaupt nicht mehr sprechen können : es unterscheiden sich
diese Kranken von Taubstummen dadurch . dass letztere jederzeit schreien oder
unartikulirt reden können. Manchmal klagen die Kranken über gewisse perverse
Empfindungen im Larynx, Pharynx und der Zunge.
APS1THYRIÄ. — ARGYRIA
61
Der laryngoskopische Befund ist meist negativ ; etwaige bei den einzelnen
Fällen angegebene Veränderungen stehen meist mit der Apsithyria in keinem
direeten Zusammenhang. Solis Cohen und Revilliod fanden Paresen an den
Stimmbändern , letzterer noch eine Anästhesie des Isthmus faucium und des
Kehldeckels.
Wie bei der Hysterie überhaupt, lässt sich auch über Verlauf und Dauer
der Apsithyria kaum etwas Bestimmtes sagen ; häufig kehrt die Sprache plötzlich
wieder, häufig auch erst langsam, stammelnd und stotternd oder zuerst mit Flüster-
stimme. Bezüglich der Diagnose ist zunächst auf andere noch vorhandene hyste-
rische Erscheinungen zu achten und weiterhin die Möglichkeit einer Verwechslung
der Apsithyria mit der hysterischen Aphonie, der Aphasie und der angeborenen
Stummheit zu berücksichtigen.
Ueber den Sitz der Erkrankung lässt sich in Ermangelung eines autopti-
schen Befundes nichts Bestimmtes sagen; ob es sich hierbei um Störungen in der
Hirnrinde oder in den subcorticalen Centren, wie Mendel glaubt, bandelt, müssen
weitere Beobachtungen aufklären.
Die Therapie richtet sich in erster Linie gegen die Hysterie und soweit
noch iocale Störungen im Larynx nachweisbar sind, werden dieselben einer
passenden Behandlung unterzogen werden müssen. Von Chabcot ist die Hypnose
gegen die Apsithyria empfohlen worden und Dutil will in einem Falle durch
dieselbe in 4 Tagen Heilung erzielt haben.
Literatur: S. Cohen, Apsithyria. Tbe medical and surgical reporter. I. Mai 1875
und 10. und 17. November 1883. — Kussmaul, Störungen der Sprache. Leipzig 1877. —
C fa a r c o t , Gazette des Höpitaox. 1886 , pag. H4 und 573 — Revilliod, Du mutisme
hysterique. Revue medicale de la Luisse. 1883. — Bock, Hysterische Stummheit. Deutsche
Medicinalzeitung. 1886. — Felix Peltesohn, Ueber Apsithyria. Berl. klin. Wochenschrift.
1890, Nr. 30, pag. 681. — Dutil, Mensuelie de laryngologie. 1888, Nr. 6.
B. Baginsky.
Arbeitspausen, 8. Beschäf t i gun gsneurosen.
Argyria (vergl. Real-Encyclopädie, II. Aufl., Bd. 1, pag. 055). Für die
Aetiologie der Argyrie ist es von Interesse, dass die eigentümliche Verfärbung
der Haut auch durch den längeren Gehrauch von Silbersalpeterlosung zum Gurgeln
bei Pharyngitis zu Stande kommen kann. l) Auch liegen Fälle vor, wo bereits nach
internem Gebrauche von 70 Grm. Silbersalpeter in zwei Jahren2} und von 14*6 Grm.
in einem halben Jahre z) Argyrie entstand.
Dass die Argyrie in inneren Organen eher Platz greift, als unter der
Haut, wird namentlich durch einen in Prag vorgekommenen Fall s) erwiesen , in
welchem die scbmuUiggraue Verfärbung der Haut kaum bemerkbar war und nur an
Augenlidern, Oberschenkeln und am Bauche eine dunklere Nuance sich zeigte,
während die Plexus chorioidei, die Intima der Aorta, das Parenchym der TeRtikel
und die Nieren in weit auffalligerer Weise betroffen waren. Der von Diitrich aus-
führlich mitgetheilte Sectionsbefund zeigt, dass nur wenige Organe von der Ein
lagerung des färbenden Körpers verschont bleiben. In der Haut war der Farbstoff
am stärksten in der äusseren Wand der Talg* und Schweissdrüsen, bemerken 3
*erth auch in allen Schichten der arteriellen und venösen Gefässe und in den
Haarbälgen und Haarpapillen, dagegen nicht in der Glashaut des Haares und im
Innern der Hautdrüsen. In den Plexus chorioidei fand sich ein dichter streifen-
förmiger Saum feinkörnigen Pigments unter dem Epithel, ausserdem einzelne
Körnchen und Körnchengruppen im Verlaufe der Blutgefässe und im Bindegewebe.
In den Hoden war der Hauptsitz in den Wandungen der Drttsencanälchen, auch
fand sich feinkörniges Pigment in den Wandungen der Arterien und Venen reich-
lich, in der Albuginea spärlich. In den Nieren Hessen sich silberfreie Glomeruli
Oberhaupt nicht auffinden, die BowMAN'sche Kapsel und die Harncanälchen waren
frei, die Nierenkapseln und die Blutgefäss Wandungen nur mässig betbeiligt. Mikro-
skopisch fand sich ausserdem das Pigment reichlich und zum Theile körnig in
62
ARGYBIA. — A B SENIGS AURES KUPFER.
den Wandungen der Arterien und Venen und im lockeren Zellgewebe der Zunge,
auch in den Zungenpapillen (dagegen nicht im Zungenmuskel), in den Gefassen
der Wangenschleimhaut und des weichen Gaumens, im Stroma und in den Gefoss-
wandungen der Schilddrüse, in den Wandungen der Gallengänge, Pfortader und
Leberarterio und im intraacinösen Bindegewebe der Leber (nicht in den Leber-
zellen), im interstitiellen Bindegewebe und den Wandungen der Drüsenausführungs-
gänge des Pancreas, in der Arterienmündung und in den glatten Muskeln des
Magendarm can al es und in der Basis der Dünndarmzotten, in der Kapsel und in
den Trabekeln der Milz, im Peritoneum und im Pericardium. Das Pigment wurde
nicht gefunden in den Lungen , Nervencentren , Muskeln , Knorpeln , Knochen,
Nebennieren, Speiseröhre, Harnblase und Unterkieferspeicheldrüse.
Die ViRCHOW-RiEMKR'sche Theorie, wonach die Argyrie durch Aufnahme
äusserst fein vertheilten, im Darme durch Reduction des Silbernitrats entstandenen
Silbermetalls entstehe, stimmt mit den Resultaten der neueren Untersuchungen
Krysixsky's 4) nicht überein, welche die abgelagerten, in Cyankaliumlösung löslichen
Körner nicht als metallisches Silber, sondern als eine noch näher zu untersuchende
organische Silberverbindung erscheinen lassen. Sollten sich, früheren Angaben
entsprechend, wirkliche Silberkörner z. B. in den Nieren finden, so Hesse sich
dies auf die von Lobw 5) nachgewiesene , reducirende Wirkung des lebenden
Zellprotoplasmas auf Silberalbum inat erklären, umsomehr, wenn, wie Losw angibt,
das Pigment bei Argyrie in den MALPiGHi'schen Kapseln innerhalb der die
Schleife überkleidenden Epithelzelleu liegt.
Literatur: *) Walters, Brit. med. Jonrn. 3. Dec. 1888. — *) Shallenbe rger,
Amer. med. News. 9 April 1887. — a) Dittrich, Prag. Wochenschr. 1884, Nr. 46, 47. —
4) Krysinsky, Ueber den heutigen Staud der Argy riefragen. Dorpat 1887. — 6) Loew,
Pflüger's Arch. XXXIV, pag. 596, 601. Th. Husemann.
Arrestantenlähmung. Brenner und Bernhardt haben Fälle von
Radialialähmung oder totaler Armlähmung durch polizeiliche Fesselung in Form
von Umschntirung des Oberarmes mitgetheilt (vergl. Kadialislähmung,
Real-Encyclopädie, IL Aufl., Bd. XVI, pag. 370). Als ,.A rrestant enlähmung*4
beschreibt Edlenburg (Neurologisches Centrablatt. 188'J , Nr. 4) eine schwere
Gebrauchsstörung der Hand durch polizeiliche Fesselung der Arrestanten dicht
oberhalb des Handgelenks, und zwar mittelst einer an jedem Ende mit
einem Knebel versehenen, circa 3 Mm. dicken Schnur, die rasch zu einer Schlinge
zusammengedreht wird. Es können dabei Lähmungen der an der Unterseite des
Radiocarpalgelenkes befindlichen Nervenstämme , namentlich des Medianus , von
selbst schwerer Form und Dauer, entstehen. In dem mitgetheilten Falle bestand
Parese des N. medianes mit Betheiligung seiner motorischen Aeste für den Daumen
ballen und die Lumbricalmuskeln, sowie seiner sensibeln ersten vier Rami digitales,
und des Ramus cutaneus palmaris (Hypästhesie in Carpalgegend und Daumen-
ballen), welche offenbar durch Umscbnttrung des Medianus im Bereiche seiner
oberflächlichen Lagerung oberhalb des Radiocarpalgelenks — an oder oberhalb
der Abgangsstelle des Ramus cutaneus pulmaris — bedingt war. Die Lähmung
wurde bei elektrischer Behandlung erheblich gebessert.
ArseniQS&UreS Kupfer fanden amerikanische Aerzte gegen die Durch-
falle der Phthisiker , bei Cholera asiatica , Abdominaltyphus , bei acuter und
chronischer Ruhr in sehr kleinen Dosen wirksam. Allde reicht bei Cholera
asiatica eine Tagesdosis von 0*0006 Grm. gelöst in 120 0 — 180*0 Grm. Wasser,
zunächst alle 10 Minuten und dann stündlich, auch noch halbstündlich theelöffel-
weise; auch hat er Tabletten, welche 0*0006 Grm. und solche, welche nur
0*00012 Grm. Kupferarseuit enthalten , behufs leichterer Dosirung anfertigen lassen.
H. Schulz weist darauf hin, dass Arsen und Kupfer als Darmgifte von sehr
eingreifendem Charakter anerkannt sind und dass sie dtmgemflss in niederer Dosis
ARSEN1GSAÜBES KUPFER. - ARSENIXVEBG1FTUNG.
63
als energische Stimulantien für dasselbe Gewebe wirken können, welches sie in
grösseren Gaben als Gifte beeinflussen.
Literatur: Aulde, Medical News. 1889, 19; Therap. Gaz. 18*9. — Broughton,
Pbiladelpk Med. et Sarg. Reporter. 1890, pag. 43. — H. Schulz, Deutsche med. Wochenachr.
1^90. 18. Loebisch.
Arsenikvergiftung (vergl. Real-Encyclopädie, II. Aufl., Bd. I, pag. 673).
Ein sehr buntscheckiges Symptomenbild giebt die von Brouardel und Pouch KT
als Ar s eni cismus subacut u s bezeichnete Vergiftung durch wiederholte
kleine Dosen arseniger Säure, welche namentlich da, wo sie auf einmal an
mehreren Personen sich zeigt oder gar als Massenerkrankung sich darstellt, dem
Diagnostiker Schwierigkeiten bereitet. Bei einer in Hyeres vorgekommenen derartigen
Massenvergiftung, welche zahlreiche Arbeiterfamilien betraf, wurde das Leiden,
ehe die Ursache, tägliche Zufuhr von Arsen durch mit arseniger Säure aus Ver-
sehen gegypstem Wein, klargestellt war, theils auf Influenza wegen der vielfachen
Complicationen mit Catarrhen, theils auf Miliaria wegen des Auftretens von diversen
Exanthemen, theils auf Akrodynie wegen der hartnäckigen Kriebelgefühle in den
Extremitäten bezogen. Das Leiden, welches in den hartnäckigsten Fällen 3 bis
4 Monate dauerte, begann zuerst mit gastrischen Erscheinungen (Durchfall, Kolik,
Erbrechen), die mitunter febril verliefen , dann traten die vermeintlich akrodyni-
schen Symptome (Schmerzen, Formication, Crampi und Contracturen an den Füssen
und besonders den Händen) , verbunden mit einer gewissen Schwäche und Parese
der Glieder und mitunter Schwellung des Gesichtes und Oedem der Füsse, Binde-
haut- und Halsentzündung, hierauf Exantheme auf. Die beobachteten Exantheme
sind vorwaltend Erytheme mit nachfolgender kleienartiger Abschuppung oder
selbst mit Abstossen ganzer Hautfetzen , ausnahmsweise Pusteln , Phlyctänen,
Vesikeln oder broncefarbene Flecke. Man wird bei analogen Massenerkrankungen
stets an die Möglichkeit von Arsen Vergiftung denken müssen ; die Sicherheit
dafür giobt in allen Fällen die Untersuchung des Harns auf arsenige Säure, die
bei der subacuten Vergiftung ebenso eclatante Resultate giebt, wie sie Pütnam bei
chronischem Arsenicismus durch arsenhaltige Tapeten erhalten hat, wo sich selbst
t> Wochen nach der Entfernung der Tapeten im Urin der Erkrankten Arsen fand.
Mitunter können auch an intercurrenten Leiden verstorbene Personen bei der-
artigen Massenvergiftungen das Material für die Diagnose entscheidender Unter-
suchungen werden. So wies man in Hyeres As in Knochen , Haut und Nägeln
nach, auch in der spongiösen Knochen Substanz (Wirbel), während dasselbe bei
acuter Arsen Vergiftung sich nach Broüardel nur in compacten Knochen findet.
Das späteste Symptom des subacuten Arsenicismus ist nach Brouardel und
Poucuet die bekannte Arsenparalyse, die dabei am häufigsten und längsten
den Extensor digitorum communis befällt und sich meist auf die durch starke
Druckempfindlichkeit ausgezeichneten Muskeln des Unterschenkels beschränkt. Gar
nicht selten sind aber, wie neuere Beobachtungen von Hober und KovÄcz lehren,
derartige, oft mit Sensibilitätsstörungen verbundene Paralysen im Anschlüsse an
schweren Arsenicismus acutus gastricus, wie denn überhaupt in dunkleren Fällen
oft das Eintreten von Parästhesien und Parese den Verdacht auf Arsenik Vergiftung
zu wecken im Stande ist. Natürlich ist auch hier Sicherheit der Diagnose aus-
schliesslich in dem chemischen Nachweise gegeben, wozu bei Lebenden der Harn,
bei Leichen besonders die Organe der Bauchhöhle das geeignetste Material ab-
geben. Die Behauptung Skolosüboff's , dass Arsen sich vorwaltend im Gehirn-
und Rückenmark localisire, ist unrichtig, in der Regel enthält die Leber mehr
als die Milz, selten umgekehrt, beide mehr als die Nieren und als alle Organe
anderer Körperhöhleu.
Literatur: Skolosuboff, Arch.de pbysiol. norm. 1881, Nr. 7, pag. 323. —
Huber, ZHtschr. f. klin. Med. 1887, XIV, pag. 444. — Brouardel und Pouchet, Gaz.
des Höp. 1889, Nr. 75, pag. 689. — Koväcz, Wien. klin. WocbeDschr. 1889, Nr. 33.
Tb. Husemann.
64
ARZNEIMITTEL VERKEHR.
Arzneimittel Verkehr. Neuerungen auf dem Gebiete des eigentlichen
Apotheken wesens und der Apothekergesetzgebung sind seit dem Erscheinen des
Hauptartikels „Apothekeuu im I. Bande der Real-Encyclopädie nur in sehr
bescheidenem Umfange hervorgetreten. Für öster reichische Ve rhältn isse
machte der IX. österreichische Aerztevereinstag eine Reihe formulirter Wünsche
geltend, darunter: Wo kein die Praxis ausübender Arzt wohnt, dürfe keine
öffentliche Apotheke errichtet werden ; neben den wissenschaftlichen Nachweisen müsse
zur Erlangung einer Apotheke auch die österreichische Staatsbürgerschaft gefordert
werden; alle öffentlichen Apotheken sollen Personalgewerbe sein nnd ausschliess-
lich im Concurswege durch die politischen Behörden verliehen werden , wobei
unter mehreren Candidaten bei sonst gleichen Umständen der in der pbarmaceu-
tischen Praxis Ael teste den Vorzug erhalten soll ; dass die Apotheken vom Besitzer
persönlich geleitet werden, sei wünscbenswerth : sie sollten weder ver-
kauft, noch verpachtet, noch an andere Personen übertragen werden dürfen.
Eine Stellvertretung in der Leitung sollte nur in den durch Notwendigkeit
gerechtfertigten Fällen stattfinden. Auch wäre eine gründliche Revision aller bis-
herigen, das Apothekerwesen betreffenden gesetzlichen Vorschriften vorzunehmen,
mit Berücksichtigung der vorstehenden Wünsche ein einheitliches, den Zeitverhält-
nissen entsprechendes Gesetz zur Regelung des Apothekerwesens zu erlassen nnd
endlich wirksame Massregeln zu treffen gegenüber dem Verkauf und der An-
kündigung von Geheimmitteln, besonders derjenigen, welche gegen bestimmte
Krankheiten angepriesen werden.
Die im Mai 1890 durch das österreichische Reichsgesetzblatt veröffent-
lichten (9) Bestimmungen regeln die Anforderungen an die Vorbildung der in die
Apothekerlehre Aufzunehmenden, die Ansetznng und Ausführung der „Tirocinal-
prüfungu, die Erlangung des akademischen Grades eines „Magisters der Phar-
macieu , den fünfjährigen Apothekendienst als „Assistent" und die aus diesen
Bildung8- und Dienstperioden herzunehmenden Nachweise (Bestätigung des Magister-
diploms), auf Grund deren die selbständige Leitung einer öffentlichen Apotheke
beantragt und die Zulassung dazu ausgesprochen werden kann.
Im Deutschen Reiche wird eine einheitliche Regelung des Arzneimittel-
verkehres und ein über die Reglementation der Vorbildung und des Prüfungs-
wesens hinausgreifendes gesetzgeberisches Vorgehen von vielen Seiten — und
nicht zum wenigsten von Seiten der Apotheker — gewünscht, für nothwendig
erklärt und in immer kürzeren Zwischenräumen als nahe bevorstehend ange-
kündigt. Trotzdem ist es im letzten Jahrzehnte nicht weiter als zu einigen Decla-
rationen (betreffend das Verhältniss der Militärdienstzeit zur Servirzeit, die Orts-
frage der Gehilfenprüfung, die Examens Censurcn und einige untergeordnete
Punkte der Berufsausbildung) gekommen. In Preussen hat die Hinneigung zur
sogenannten Personalconcession Ausdruck gefunden in dem Verbot der Veräusse-
rung neu concessionirter Apotheken vor Ablauf der ersten zehn Besitzjahre
(21. Juli 1P86) — in der Auslegung der §§.45 und 151 der Gewerbeordnung
gegen die Zulässigkeit der Verpachtung von Apotheken (21. September 1886) —
auch in der Einschärfung des erschwerten Verfahrens bei Ueberführung von
Filialapothekcn in selbständige Apotheken (13. Juli 1840, 26. Mai 1887). In
den Verwaltungsbefugnissen für die nächsten Erben einer Apotheke sind neue
Erschwerungen nicht vorgesehen. Sonstige Nova betreffen hier nicht interessirende
Einzelnheiten des inneren Betriebes mit Ausnahme einer für die Rheinprovinz
uicht unwichtigen höheren Gerichtsentscheidung, welche für diesen Landestheil die
Ungiltigkeit der preussischen Apothekerordnung constatirt.
Nicht ohne einen regen Meinungsaustausch und mühevolle Vorbereitungen
ist an die Stelle der kaiserl. Verordnung vom 4. Januar 1875 , betreffend den
Verkehr mit Arzneimitteln die neue gleichsinnige Verordnung vom 27. Januar
1 89 0 getreten. Auch diese Verordnung hält an der Form fest , in zwei beige-
gebenen Verzeichnissen die Zubereitungen, beziehungsweise die Stoffe und chemi-
ARZNEIMITTEL VERKEHR. — AUCTIONATORKRAMPF.
65
sehen Verbindungen namhaft zn machen, deren Feilhalten und Verkauf dem freien
Verkehr nicht Oberlassen, d.h. den Kleindrogerien verboten ist.
Der gegenwärtige Zustand des Kleinhandels mit Arzneien, wie ihn die
Verordnungen vom 4. Januar 1875 (27. Januar 1890) geschaffen, ist nicht
aHein von dem Gesichtspunkte zu beurtheilen, dass er einen ausserordentlich
starken Eingriff in das Apothekermonopol vorstellt. Er ist gefahrbringend,
weil die Kleindrogisten sich sofort jeder neu auftauchenden Arzneisubstanz,
die im Verbotsverzeichniss noch nicht vorkommt, bemächtigen, so differente
Wirkungen sie auch habe (Cocain, Antipyrin); er ist auch verwerflich aus dem
Grunde, weil das in den Kleindrogerien kaufende Publikum sich gegen Ueber-
vortheilung durch minderwerthige Waare gar nicht oder nur sehr ungenügend
geschützt sieht.
Ob auf dem (vielfach vorgeschlagenen) Wege eine generelle Besserung
zu erzielen sein wird, 1. die Verzeichnisse der dem freien Klein verkauf zu über-
lassenden unschädlichen Arzneiwaaren in positiver Form abzufassen, 2. die
Kleindrogisten (besonders solche, welche nach wiederholten Bestrafungen oft
ihre Ansiedlungsplätze wechseln, Geschäfte verkaufen und anderwärts wieder ein-
richten) unter diejenigen Bestimmungen der Gewerbeordnung zu stellen, welche die
Wiederentziehung der Gewerbe befugniss aus Anlass wiederholter
Bestrafungen vorsehen, werden erst die Erfahrungen über die Nutzlosigkeit aller
sonstigen Versuche, die ungemein rege gewordene Gewinngier auf diesem Felde
einzudämmen, beziehungsweise weitere Versuche mit entsprechenden Modificationen
der Reichsgesetzgebung lehren können. Wem ich.
Astasie, 8. Abasie, pag. 1.
AthetOSe (vergl. Real-EncyclopÄdie, IL Aufl., Bd. II, pag. 128). Die
Casuistik der als Athetose bezeichneten eigenartigen Krampfform hat sich natürlich
vermehrt; doch sind wesentlich neue klinische Ergebnisse nicht zu verzeichnen.
Bemerkenswerth sind einige Fälle von bilateraler Athetose, wie sie congenital
(Kussmaul1) oder nach Masern (Adsbrsbn2), nach einer Gehirnerschütterung
(Hughes 8), Durchnässung (Krafft- Ebing *) oder auch anscheinend ohne besondere
Veranlassung (Blocq und Blin5) meist im kindlichen Alter zur Entwicklung
kamen. Weniger sicher sind die Mittheilungen über Athetose (oder „choreiforme"
Bewegungen) bei Tabes (Andry6), welche von einem Mitergriffensein der Seiten-
stränge abhängen sollen. Ein Fall von Sha&ket7) ist dadurch bemerkenswert^
dass die im 4. Lebensjahre entstandene posthemiplegisohe Hemiathetose der linken
Seite, später auch auf Finger und Zehen der rechten Seite überzugreifen anfing.
Athetose nach Diphtherie beschrieb Wolferden. 8) In vier von Eulenburg9)
mitgetheilten Fällen handelte es sich einmal um idiopathische Hemiathetose der
rechten Hand, einmal um Epilepsie mit linksseitiger Hemiathetose, zweimal um
posthemiplegi8che Hemiathetose in Folge infantiler Polioencephalitis. — Thera-
peutisch verhält sich die Athetose ziemlich unerfreulich; relativ am meisten
besserungsfähig scheinen noch die in früher Kindheit entstandenen Fälle post-
hemiplegischer Hemiathetose, wobei Elektricität (constanter Strom), active und
passive Bewegungen, Massage bei längerem Fortgebrauch beträchtlichen Nachlass,
wenn auch selten völlige Beseitigung des Krampfes herbeiführen können.
Literatur: *) Kussmaul, Neorol. Centralbl. 1887, pag. 333— 334. — ") Ad-
se r s e n , Hoep. Tidende. 1 886, 3. R , IV, pag. 49, 50. — •) H u g h e s , The Alienist and Neurologist.
1887, VIII, pag. 3f"8. — 4) Krafft-Ebing, Wiener med. Wochenschr. 1889, Nr. 16. —
*) Blocq und E. Blin, Revue de mädecine. Januar 1888, pag. 79. — *) Andry, Ibid.
Januar 1897. — 7) Sbarkey, Brain. April 1885. — b) Norris Wolferden, The Practitioner.
1886, XXXVII, pag. 439. — 9) Enlenburg, Wiener Med. Presse. 1889, Nr. 8.
Enlenbnrg.
Auctionatorkrampf, 8. Beschäftigungsneurosen.
Encyclop. Jahrbücher. I. 5
66
AUGENHEILMITTEL.
Augenheilmittel. Die neueren Augenheilmittel lassen sich fast voll-
ständig in drei Gruppen zusammenfassen: I. Antiseptica, II. Anästhetica, III. My-
driatica et Miotica.
I. Antiseptica. Es wurden theils die bereits bekannten Mittel auf
ihre Wirksamkeit untersucht , und zwar entweder vergleichende Untersuchungen
angestellt oder einzelne Stoffe geprüft, theils eine Anzahl neuer Mittel in Vor-
schlag gebracht.
Ziemlich alle Untersucher sind darüber einig, dass unter den gebräuchlichen
Antisepticis das Sublimat den ersten Platz verdiene, dass das Jodoform eine sehr
geringe mikrobentödtende Kraft besitze, sondern nur deren Entwicklung hemme,
und dass die so beliebte Borsäure absolut unwirksam sei. Freilich lässt sich diesen
dem Laboratorium entstammenden Resultaten manche Erfahrung aus der Praxis
entgegenhalten und muss besonders der Umstand betont werden, dass es sich
namentlich in der Ophthalmochirurgie nicht so sehr um Antisepsis als um Asepsis
handle, für welche in der Mehrzahl der Fälle weniger energisch wirkende Mittel
ausreichend sind.
Von neueren Mitteln und Compositionen bereits bekannter sind zu erwähnen :
Die Lösung von Panas: Hydrarg. jodat. O l, Spir. vini 90% 50'0, Aq. dest. 2000.
Nach van Lbes leistet sie jedoch weniger als Sublimat. Ferner die ROTTER'schen
Pastillen: Zinc. sulf. carb., Zinc. chlorat. aa. 0*6, Acid.boric. 0*4, Acid. salicyl. 0*1,
Acid. citr. (zur besseren Lösung) 0*01, Thymol. 0*01. Jede Pastille vorstehenden
Inhaltes ist zur Lösung in 250 Grm. Wasser bestimmt. Rott RR ging bei deren
Zusammensetzung von der Ansicht aus, dass durch die gleichzeitige Anwendung
einer Anzahl von Mitteln in kleinen, für den Menschen ungiftigen Dosen ein
ungiftiges Präparat von kräftiger Cumulativwirkung entstehe, wobei es freilich
fraglich bleibt, ob das zweite Mittel gerade dort die Wirkung fortsetzt, wo das
erste zu wirken aufhört. Von mancher Seite wird das Mittel gelobt, meine eigenen
Erfahrungen haben mir bisher nichts gegen dasselbe Sprechendes ergeben.
Wenig Anhänger hat das Creolin gefunden, das jüngst den Augen-
ärzten von Purtscher warm empfohlen wurde; namentlich sollte es bei Horn-
hautgeschwüren in überraschender Weise wirken. Da es nicht nur aseptisch,
sondern auch in den Verdünnungen, wie sie am Auge angewendet werden können,
antiseptisch wirken soll, so würde es von hervorragender Bedeutung für die Be-
handlung der Augenkrankheiten sein. In der Praxis hat es sich jedoch durchaus
nicht bewährt und gerade bei Hornhautgeschwüren im Stiche gelassen. Ich meine
jedoch, dass die Acten über das Mittel noch nicht geschlossen sind. Ueber das
verwandte Lysol liegen noch keine augenärztlichen Erfahrungen vor.
Vereinzelte Empfehlung fanden das (ä-Naphtbol, das Jodtrichlorid , das
Hydrogenium superoxydatum und das Jodol, letzteres als Ersatzmittel des Jodoforms.
Ganz neu ist die Verwendung der Anilinfarbstoffe durch Stillino. Da
dieselben lebende Mikroben färben und dabei tödten, hält sie Stillino für her-
vorragende Antiseptica und erzählt geradezu Verblüffendes über deren Heilwirkung.
Er brachte durch die Fabrik Merck ein Methylviolett und einen gelben Farbstoff
unter dem Namen Pyoktanin in die Hände der Aerzte. Was bisher über das
Mittel bekannt geworden, lautet wohl weniger enthusiastisch, doch ist dasselbe
noch zu neu, um ein bestimmtes Urtheil abzugeben. Stilling meint, dass die
Misserfolge in unrichtiger Anwendung ihren Grund hätten, (vergl. pag. 47).
U. Anästhetica. Das CocaYn , das derzeit tiberall verwendet wird,
hat bisher nur wenig üble Nebenwirkungen gehabt. Die Hornhauttrübungen, die
hier und da, wie Bunge berichtet, danach entstehen, sind eigentlich dem gleich-
zeitig angewendeten Sublimat zuzuschreiben. Javal sah in einem Falle, in dem
Glaucomprodrome vorhanden waren, auf 1/2 Mgrm. Cocain starke Glaucom-
erscheinungen ; Reüss hat jedoch schon früher gezeigt , dass man bei Glaucom
OcaYn ungestraft anwenden könne, dass gleichzeitig angewandtes Eserin sich in
der Wirkung auf die Pupille stets als das kräftigere Mittel erweist.
AUGENHEILMITTEL.
67
Ale Surrogate des Cocains wurden gefunden:
1. Das a-Kawaharz von Piper methysticum (Lewinin); es wirkt dem
Cocain ähnlich, kann aber wegen zu starken Brennens nicht verwendet werden
(Randolph, Filkhnk).
2. Das Benzol-Tropin wirkt exquisit localanästhesirend, macht aber
starke Mydriasis (Filebnk).
3. Das Stenocarpin (von einem acacienartigen Baume) macht in
2°/0iger Lösung ohne Schmerzen naeh 5 Minuten complete Anästhesie der Cornea
und Conjunctiva, die nach 30 Minuten schwindet, Dilatation der Lidspalte, maximale
Mydriasis, die erst nach 2 Tagen zurückgeht und ebenso Accommodationslähmung.
Auch auf die Haut soll es wirken, wenn man damit getränkte Watte einige Zeit
auf dieselbe legt, letzteres wird jedoch von Knapp in Abrede gestellt, der auch
fand, dass 4 /0ige Lösungen schon Allgeineinerscheinungen hervorrufen können
(Chbvallbreau, Jackson).
4. Coffein. Von diesem fand Boxo, dass es augenblicklich den Schmerz
stillt, der durch schneidende Instrumente oder Caustica hervorgerufen wird.
5. Drumin von Euphorbia Drumondi besitzt nach Reid anästhesirende
Wirkung, ohne die Pupille zu erweitern.
6. Nach den Untersuchungen von Staderini ruft Krötengift (1 Theil
getrockneter Hautsaft auf 100 Theile Wasser) nach */4 Stunde ohne stärkere
Reizung und ohne Schädigung der Cornea complete Anästhesie der Cornea und
Conjunctiva hervor, die 5 Stunden andauert ; Iris und Muskeln bleiben empfindlich.
Frisches Gift ruft heftige Entzündungserscheinungen hervor.
7. Zahlreiche Arbeiten sind über das Erythrophlaein erschienen.
Es ist ein Alkaloid, das den wesentlichen Theil der Wirkung des Hayagiftes
bedingt und in 2%iger Lösung des Salzsäuren Salzes langandauernde Anästhesie
am Thierauge erzeugt (Lewin). Die am Menschen gemachten Versuche ergaben
ziemlich gleichlautende Resultate.
Reuss fand, dass die Empfindlichkeit der normalen menschlichen Cornea
stets bei verschiedenen Individuen in verschiedenem Grade herabgesetzt wurde,
dass die Anästhesie nie so complet war wie nach Cocain, aber viel länger an-
dauerte, dass schwache Lösungen (0*05 — 0*125°/0), einmal eingeträufelt, keine
Beschwerden hervorriefen, aber allerdings auch meist keine ausreichende Herab-
setzung der Sensibilität, während wiederholte Einträufelungen der letzteren, sowie ein-
malige einer lU0l0\gm Lösung stets mehr oder weniger starke Schmerzen hervorriefen
und regelmässig eine länger andauernde, aber spurlos verschwindende Trübung
der Cornea erzeugten. Pupille und Accommodation wurden nicht beeinflusst. Aehn-
liches fanden Liebreich, Löwenhardt, Königstein, C. Koller, Hirschberg,
Welker, Goldschmidt, Tweedy, Schmidt-Rimpler, Panas. Das Mittel ist also
nicht zu empfehlen.
III. Mydriatica und Miotica. Ephedrin (aus Hedera Helix) als
salzsaures Salz macht in 7 — 10°/0igen Lösungen in 40 — 60 Minuten nicht
maximale Mydriasis, die nach 5 — 20 Stunden schwindet und erzeugt keine Accom-
modationslähmung.
Pseudo-Ephedrin erzeugt ziemlich bedeutende Pupillenerweiterung
mit Erhaltung der Reaction und ohne Accommodationslähmung langsam nach
Einträufelung von 1%, in etwa Va Stunde bei Anwendung von I0°/Oiger Lösung
(de Vriese, Miüra).
Nach Rampoldi macht J a b o r i n massige Mydriasis, ohne die Accommo-
dation direct zu beeinflussen, wahrscheinlich in Folge lähmender Wirkung auf
den Oculomotorius.
Ueber ein neues aus der Arecanuss in der Fabrik Zimmer's dargestelltes
Mioticum Arecolinum hydrobromicum fehlen bisher noch genauere Berichte.
Literatur: I. Weeks, Archiv of Ophth. 1897, XVI; Archiv f. Augenheilk.
1888, XIX. — Sattler, Wiener med. Presse. 1887, Nr. 2; Fortschr. d. Med. 1887. —
5*
68
ACGENHEILM1TTBL. — AUSCÜLTATIOX.
Böhmer, Archiv d'Ophth. 1887. VII. — Panaa, Boll. Acad. de med. 1886, XV. — St ad er in i,
Ref. in Nagel» Jahresber. 1888. — Purtscher, Centralbl. f. prakt Augenbeilk. 1888. —
Mergl, Ibid. — Nieden, Ibid. 1889. — Everabnsch, Ibid. 1890.— Still ing, Anilin-
farbrtoffe als Antiseptica. Strassburg 1890, 1. u. 2. Abth.
II. Jaral, Progrea med. 1886. — Reusa, Ophthal m. Mitth. Wiener med. Presse.
1885. — Bunge, Kl. MonatsbL f. Augenheük. 1885. — Herrnheiser, Ibid. 1888. —
Filehne, Berliner klin. Wochen sehr. 1687. — Chevallerean, France med. 1887. —
Jackson, Med. News. 1887. — Knapp, New York m«-d Record. 1887. — Bono, Annali
di Ottalm. 1887, XVI. — Reid. Brit. med. Jonrn. 1867. — Ceber Erythrophlaein handeln:
Lew in, Virchow's Archiv f. path. Anatomie. 1688; Deutsche med. Zeitung. lt-88. — Lieb-
reich, Berliner klin. Wochenschr. u. Münchn. med. Wochenschr. 1888. — Beug 8, Internat,
klin. Randschau. 1888. — Königstein, Ibid. — Koller, Wiener med. Wochenschr. 1888.
— Hirschberg, Centralbl. f. prakt. Auxenheilk. 1888. — Welcker, Ibid. — Gold-
schmidt, CentralbL l klin. Med. 1&8. — Tweedy, Lancet 188* — Schmid t-Bi mpler,
Berliner klin. Wochenschr. 1888. — Panas, Archiv d'Ophth. 1888 etc.
III. Miara, Berliner klin. Wochenschr. 1837. — R a m p o 1 d i , Annali di Ottalm. 1886.
v. Reusa,
Augenmuskellähmungen. Die Recti interni sind berufen, zweierlei
Arten von Bewegungen auszuführen, die aecommodativen Con vergenzbewegun gen
nnd die assoeiirten Seitenbewegungen, und bedürfen hierzu offenbar zweier ver-
schiedener Bewegungscentren. Klinische Beobachtungen haben gelehrt, dass die
eine Art der Bewegungen aufgehoben sein kann, bei Intactbleiben der anderen.
So haben Gräfe und Petebs (letzterer unter dem Namen Convergenzlähmung)
Fälle beobachtet, wo bei vollständiger Intactheit der Seitenbewegung Convergenz-
bewegungen nicht oder nur in beschränktem Masse möglich waren. Näherte man
ein Fixationsobjekt in der Mittellinie allmälig der Gesichtsfläche, so blieben beide
Augen starr in der ursprünglichen Stellung stehen und es entstanden gekreuzte
Doppelbilder, deren Distanz bei Lateralbewegungen abnahm. Bedeckte man eines der
Augen, so war das andere, wenn auch schwerfällig, im Stande, dem sich nähernden
Fixirobjecte zu folgen, doch konnte man sich überzeugen, dass dies durch assoeiirte
Lateralbewegung geschab. Namentlich bei Tabetikern und Neurasthenikern sind
solche Verbältnisse beobachtet worden. Es giebt aber auch Fälle, in denen das
Convergenzvermögen vorhanden ist und die Seitenbewegungen unmöglich sind.
Gräfe nahm an, dass in jeder Hälfte des Pons ein Centrum für die gleichseitige
Associationsbewegung vorhanden sei, und Fereol publicirte im Jahre 1873 einen
Fall von einer durch einen in der linken Brückenhälfte liegenden Tuberkelknoten
bedingten Lähmung beider Linkswender bei intacter Convergenzbewegung. In 2
von Gkäfe beobachteten Fällen war angeborene Lähmung der Mm. rect. ext. und
int. vorbanden, dabei aber das Convergenzvermögen intact. Möbius fand, dass in
einem Falle Seitenbewegungen bei verdecktem Auge durch Convergenzbewegungen
ersetzt wurden und nimmt deshalb eine Läsion beider Associationscentren bei
Integrität des Convergenzcentrums an. In Gkäfr's Falle war es jedoch dem
Kranken nach einiger Uebung möglich, dies auch bei unverdeckten Augen zu
thun. Bei Lateral Wendungen, meint Gräfe, übernehmen die Externi die Initiative,
so dass zur Vermeidung von Diplopie bei Functionsunfähigkeit dieser Muskeln die
Seitenbewegungen durch Kopfdrehungen ersetzt werden ; der Ausfall der Internus-
tbätigkeit würde in seinem Falle also nicht paralytischer Natur, sondern in
mangelnder Uebung begründet sein. Er meint übrigens, dass, wenn Möbius' Ansieht
durch weitere Beobachtungen Bestätigung finden würde, an der Richtigkeit der
von diesem vertretenen Ansicht kaum gezweifelt werden könne. v. Reuss.
AUSCUltütiOn. Im Gebiete der Auscultation sind seit dem vor 4 Jahren
in diesem Werke gegebenen Abriss dieser Untersuchungsmethode eine Anzahl
von Arbeiten erschienen , deren Inhalt im Nachfolgenden kurz wiedergegeben
werden soll.
Was zunächst das vesiculäre Athmungsgeräusch betrifft, das
man schon seit längerer Zeit nur als ein modificirtes Bronchialathmen betrachtet,
indem das laryngeale Athmungsgeräusch bei dem Durchgang durch die normalen
AÜSCULTATION.
69
Alveolen eine Veränderung erfährt, so bestätigt diese Anschauung der italienische
Arzt Qüeirolo auf Grund eines Falles von Larynxexstirpation, bei dem die aus-
cnltatorischen Erscheinungen genau untersucht wnrden.
Ueber das bronchiale Athmnngsgerän sch und die ausculta-
torischen Cavernensymptome hat Dehio experimentelle Studien veröffent-
licht. Versuche an einem von der Lnnge befreiten Bronchialbaum, der mit Gelatine
umgössen wurde, erweckten die Ueberzeugung , dass das an der Stimmritze ent-
stehende Athmungsgeräusch durch Resonanz der Luftsäule in Trachea und Bron-
chien seinen bronchialen, d. h. tonartigen Carakter bekomme.
Die Entstehung der Rasselgeräusche bei Bronchialcatarrhen ist
Gegenstand einer experimentellen Arbeit von Feletti und Apollonia. Eine mit
einer Glasröhre armirte Flasche wurde in Wasser getaucht und durch Heben und
Senken In- und Exspiration erzeugt. In die Glasröhre wurden Secretmassen ge-
bracht und so entstanden den catarrhalischen Rasselgeräuschen ähnliche Geräusche.
Für die trockenen Rasselgeräusche (Rhonchi) geben die Verff. ebenfalls die
gangbare Erklärung, dass sie nämlich durch Stenosen der Bronchienlumina in
Folge von Schleimhautschwellung und Secretanhäufung entstehen, wobei auch
Schwingungen von Schleimlamellen betheiligt seien.
Ueber die Auscultation der Stimme, beziehungsweise ihre Ver-
änderung bei pathologischen Zuständen handeln Arbeiten von Pxonol und italieni-
schen Aerzten.
Pignol stellte experimentelle Untersuchungen über Thoraxschwingungen
(Fremitu8), Aegophonie und Pectoriloquie an frisch getödteten Hunden an, welche
senkrecht aufgehängt wurden, worauf fremdartiger Inhalt theils durch eine Tracheal-
canüle in die Lungen, theils durch eine Thoraxcanüle in die Pleura eingeführt
wurde. Zur Anfüllung wurden Wasser, Salzlösung und Gelatine verschiedener
Con8i8tenz benutzt. Die Trachea wurde dann durch einen Schlauch mit einem
Blasebalg in Verbindung gesetzt oder mit einem Trichter, welcher angesprochen
wurde. Betreffs der Aegophonie giebt Pignol folgende Erklärung : Die Modi-
fikation des Klanges der Stimme hängt von der Veränderung der resonirenden
Tbeile ab, die Erhöhung des Tones von der Verkürzung des Athemrohres, die
Abschwächung des Schalles hängt von der Brechung der Schwingungen ab, von
denen ein mehr oder weniger grosser Theil absorbirt wird; das „Mäckern" ist
durch Reflexion der Schwingungen bedingt. Die Beschaffenheit der Substanz, durch
welche sich die Schwingungen verbreiten, ist irrelevant, Pseudomembranen,
Flüssigkeit, mässige Verdichtung des Parenchyms spielen die gleiche Rolle. Be-
züglich der aphoniscben Pectoriloquie fand Pignol, dass dieselbe bei einem
serösen Erguss, bei einem hämorrhagischen oder eiterigen Erguss vorbanden sein
kann; ebenso kann sie bei einfacher Verdichtung des Lungenparenchyms ohne
Spur von Flüssigkeit vorkommen. Durch eine dünne Schicht einer sehr dichten
Flüssigkeit wird die Pectoriloquie nicht verhindert, ihr Zustandekommen im
Gegentheil begünstigt. Wenn sie bei hämorrhagischem oder eiterigem Erguss fehlt,
so deutet dies darauf hin, dass die Lunge bei starker Verkleinerung durch
Schwanken u. dergl. bei Flüsterstimme nur wenig in Schwingung gesetzt wird.
Bärbacci, ebenso Palombieri wenden sich gegen die von Baccelli
behauptete Lehre, dass die Fortpflanzungsweise der Flüsterstimme durch pleuri-
tische Exsudate eine verschiedene sei je nach der Natur der Exsudate (serös,
eiterig, hämorrhagisch); sie erkennen keine Unterschiede in der Fortleitung an.
(In Deutschland ist dies ebenfalls längst festgestellt.)
Vanni fand, dass kleine pleuritiscbe Exsudate sich zuweilen durch
ein eigenthümliches mit der In- oder Exspiration synchrones Geräusch kennt-
lich machen, eine Art von Klatschen, das durch die Bewegung der Lungen in
der Flüssigkeit und Resonanz in den benachbarten lufthaltigen Organen (Darm
und Magen) entstehen soll.
70
AÜSCÜLTATIOH.
Auscultation des Cireulationsapparates.
Das Jugular venengeräuseh ( Xonnengeräuseh) ist Gegenstand einer
Untersuchung von Apetz bei 600 Kranken gewesen. Unter ihnen waren 115
Anämische, 161 kaum Anämische, 384 nicht Anämische. Bei der ersten Kategorie
fand sich das Venengeräusch in 51 9 0, bei der zweiten in 46° QJ bei der dritten
in 39%. Im Alter von 1 — 10 Jahren fand es sich bei 73%, im Alter von
61 — 80 Jahren nur bei 179 9. Innerhalb derselben Altersclasse machte bezüglich
des Vorkommens des Venengeräusches das Vorhandensein oder das Fehlen eines
anämischen Zustandes keinen Unterschied. Dass dem Venengeräusche eine dia-
gnostische Bedeutung nicht zukomme, wie Apetz behauptet, kann Referent
nicht zugeben.
Ueber acciden teil - diastolische Herzgeräusche berichtet
Litten: Sie kommen in der Mitte des Steinum vor (bei normalen Aorten-
klappen), entstehen wahrscheinlich in der Vena cava inferior und sind ehloro-
tischen Ursprunges. Die Körperstellung hat auf das Auftreten dieser Geräusche,
sowie auf deren Intensität einen unverkennbaren Einfluss. In einer zweiten Gruppe
wohl charakterisirter diastolischer Geräusche accidenteller Natur, welche ebenfalls
da auftreten, wo gewöhnlich die diastolischen Geräusche bei Aortenklappen-
insuffieienz hörbar sind, aber weniger scharf und rauschend sind und stärker
werden, je mehr man sich dem Sternoclaviculargelenk nähert, handelt es sich
um accidentell-diastolische Herzgeräusche, welche wahrscheinlich von den Hals-
venen fortgeleitet und diastolisch verstärkt sind. Hierfür sprechen die Thatsaehen,
dass man in solchen Fällen stets gleichzeitig Nonnengeräusch wahrnimmt, dass
das Geräusch während der Inspiration und durch gewisse Drehungen des Kopfes
verstärkt wird, dass es ferner ebensowenig constant zu hören ist, wie das Nonnen-
geräusch und überdies seinen Charakter eventuell wechselt. Sie kommen aus-
schliesslich bei Anämischen vor, entstehen möglicherweise in der Vena cava
inferior und stellen wahrscheinlich den diastolisch verstärkten Antheil des Nonnen-
geräusches dar.
Als pericardiales Sehnenpfeifen ist von Matrey in einem Falle
von Pericarditis ein dem systolischen Ton sich nachschleppender, scharf abge-
grenzter, einem „Pfiff1* ähnlicher musikalischer Ton beschrieben worden, der in
der Herzgegend und über dieselbe hinaus hörbar war. Nicht immer regelmässig,
war er am lautesten bei snspendirter Respiration in der Exspiration. Die Entstehung
dieses Phänomens ist in der raschen systolischen Anspannung eines oder mehrerer
interpericardialer Filamente zu suchen, da die Section ausser Pericarditis nichts
in Lungen und Gefassen ergab, was als Quelle für das pfeifende Geräusch gedeutet
werden könnte.
Skelye macht auf Grund von Untersuchungen an 300 Schülern darauf
aufmerksam (was erfahrenen Aerzten aber bekannt ist), dass nach sehr heftiger,
bis zur Erschöpfung getriebener Anstrengung in der Umgebung des Herzens
Geräusche auftreten , die er Carotiden- und Subclaviargeräusche nennt.
Das Subclaviargeräusch . links viel lauter als rechts, entsteht durch den starken
Blutstrom, der die Arterie an die Clavicula oder erste Rippe andrückt, also ihr
Lumen verengt, wobei die vorübergehende Ausdehnung der Lungen durch die tiefe
Inspiration begünstigend wirkt. Aehnlich erklärt sich das Carotidengeräusch.
Der Galopprbythmus am Herzen ist Gegenstand einer Unter-
suchung von Ccffer und Bablbilliox. Derselbe entsteht dadurch, dass zu den
beiden normalen Herztonen ein dritter von differentem Charakter hinzutritt. Er-
scheint dieser dritte Ton vor der Systole, also in der Diastole, dann ist der
Galopprhythmus ein diastolischer: wenn er hingegen dem systolischen Ton
folgt, zu diesem jedoch noch gehört, dann ist der Galopprhythmus ein meso-
8 y stolischer. Der diastolische Galopprbythmus , welcher am linken und
jued rechten Ventrikel auftreten kann, bald als vorübergehende Erscheinung (bei
AUSCULTATION.
71
acuten Nierenleiden), bald als permanentes Phänomen bei Herzhypertrophie, ist
Zeichen einer gesteigerten Herzthfttigkeit mit hoher arterieller Spannnng. Der
meso-systolische Galopprhythmus ist ein Zeichen der Herzschwäche mit
niedriger arterieller Spannnng.
Ueber die Geräusche bei Insnfficienz der Aortenklappen
sind verschiedene Arbeiten erschienen.
Timofejew's Erfahrungen lauten dahin: 1. Das diastolische Geräusch
kann ganz verschwinden und durch einen Ton ersetzt werden. 2. Die Intensität
des diastolischen Geräusches hängt vollständig ab von der Grösse der Insuffizienz
und von der Höhe des Blutdruckes in der Aorta. 3. Der Blutdruck bei Herz-
fehlern nimmt im Laufe der Zeit bedeutend ab. 4. Der zweite Ton in den Caro-
tiden des Hundes bei Insnfficienz der Aortenklappen verschwindet immer mehr
nach kürzerer oder längerer Zeitdauer. 5. Das zweite Geräusch, das man zuweilen
bei Kranken mit Aortenklappeninsufficienz in den Carotiden hört, wird nicht von
der Basis des Herzens fortgeleitet, sondern hat eine rein locale Entstehung.
6. Das erste Geräusch, das zuweilen bei Insufficienz der Aortenklappen in den
Carotiden gehört wird, kann eine rein locale Entstehung haben.
0. Bosenbach, der ebenfalls wie Timofejew künstlich an Tbieren
Klappenfehler erzeugt hat, aber zu anderen Ergebnissen gelangt ist, fasst den
Inhalt seiner Arbeit in folgenden Sätzen zusammen:
1. Bei Hunden und Kaninchen sind die Bedingungen der Geräuschbildung
nach artificieller Aortenklappenzerstörung wesentlich verschiedene , denn bei Hunden
sind die Geräusche nicht nur häufig inconstant, sondern fehlen trotz des ge-
lungenen Versuches oder verschwinden im Laufe der Beobachtung, während bei
Kaninchen die Verletzung stets das Auftreten eines constanten, intensiven Ge-
räusches zur Folge bat. 2. Diese Unterschiede beruhen nur theilweise auf der
Ausdehnung der Verletzung, die bei Kaninchen stets umfangreich ist; zum Theil
sind sie abhängig von der Beschaffenheit der Klappen selbst, indem es bei
Kaninchen nie zur Fibrinausscheidung auf das verletzte Gewebe kommt, während
bei Hunden reichlich Fibrinniederschläge sich bilden, die einen Klappendefect
zeitweise zu schliessen im Stande sind. 3. Eine gewisse Rolle spielt bei Aus-
gleichung der Störungen ein schon in der Norm bestehender Verschlussmechanismus,
der von der Musculatur des linken Ventrikels geliefert wird und die Klappen
durch active Contraction im Moment des höchsten (arteriosystolischen) Druckes
gewissermassen als Widerlager unterstützt ; ein nicht unwichtiges Moment ist auch
die die Aortenklappeninsufficienz begleitende Verminderung der Widerstände für
den Blutabfluss nach der Peripherie (Entspannung der kleinsten Gefässe). 4. Auf
die Stärke des diastolischen Geräusches bat der Druck im Arteriensystem, der
am Ende der Arterien Systole ohnehin minimal ist, keinen wesentlichen Einfluss.
Das Geräusch ist wesentlich durch die aspiratorische Thätigkeit des sich diastolisch
erweiternden Ventrikels bedingt. Diese wird ihrerseits durch die die Anfüllung
und folglich den Innendruck der Kammer regulirende Thätigkeit des linken Vor-
hofes beschränkt. 5. Die Entstehung des für die Aortenklappeninsufficienz charakte-
ristischen systolischen Geräusches ist auf die durch die Aspiration seitens des
linken Ventrikels angeregte retrograde Strömung im Anfangstheil der Aorta, welche
der systolisch ausströmende Ventrikelinhalt überwinden muss, zurückzuführen. In
der Ueberwindung dieser Strömungswiderstände ist einer der wesentlichsten Factoren,
die die Arbeit des linken Ventrikels steigern und ihn schliesslich zur Hypertrophie
bringen, zu suchen.
Die Veränderungen des diastolischen Geräusches bei
Aortenklappeninsufficienz betonen Dehio und Saündry. Ersterer Autor
hatte in einem Falle bei Ruhe nur eine Verstärkung des 2. Aortentones, beim
Aufsitzen ein deutliches Geräusch beobachtet, welches nach stärkerer Bewegung
sehr laut wurde. Letzterer Autor hatte in einem durch die Section bestätigten
Falle von Aortenklappeninsufficienz das vorhanden gewesene diastolische Geräusch
72
AUSCULTATION.
später verschwinden sehen, und in einem zweiten Falle entstand das diastolische
Geräusch erst während der Hospitalheobachtang , während das systolische gleich
bei der Aufnahme vorhanden war.
Für das Auftreten eines diastolischen Geräusches bei relativer
Insufficienz der Aortenklappen bringen Bouvbret und Renvers Belege.
Bouveret fand in einem Sectionsfalle die Aortenklappen und Aorta gesund, aber
den Ring des Aortenostiums auf 8 Cm. erweitert, ebenso war in den beiden Fällen
von Renvers das Aortenost ium erweitert, in dem einen mass es 9l/2 Cm.,
während die Aortenklappen intact waren. Das diastolische Geräusch war laut, wie
bei wirklicher Aortenklappen in sufficienz.
Hochhaus hat die auscuitatorischen Wahrnehmungen an der
Cruralarterie untersucht. Bei Insuffizienz der Aortenklappen bietet bekannt-
lich die Cruralarterie häufig, in hohen Graden des Klappenfehlers immer, ein
diastolisches und systolisches Geräusch. Wenn dasselbe auch sehr vereinzelt und
dann nur ganz schwach bei anderen Zuständen beobachtet wird, so ist es doch
für Insufficienz der Aortenklappen pathognostisch.
Andrew Clark erwähnt, dass die durch Mitralinsuffizienz bei Chorea
bedingten Geräusche grösstenteils nach 8 — 9jähriger Dauer verschwinden.
Literatur: Dehio, Experimentelle Stadien über das bronchiale Athmungsgeräusch
und die auscuitatorischen Cavernensymptome. Deutsches Archiv fiir klin. Med. 1886. —
Feletti und Apollonia, Sul modo di produzione di alcuni fenomeni acustici dipendenti
da pi-esenza di catarrho nei bronchi. Rivista clinica di Bologna. Juli 1886. — L. Vanni,
Di un nuovo segno della essudazione pleuritica liquida. Lo sperimentale. Aprile e Maggio
1337. — Pignol, Recherche* sur quelques sign es sUthoscopiques. Paris 1887. — 0. Bar-
bacci, Alcune ricerche sperimentali sulle pettoriloquia asona. Lo sperimentale. Genuajo
1887. — Palombieri, La tramissiotie della voce afona attraverso % versamenti endo-
pleurici. Riv. clin. Arch. di clin. med. 1888, Nr. 2. — G. B. Queirolo, Sulla genest del
rumore respiratorio vesicolare. Riv. clin. ital. 1888, Nr. 1.
Apetz, Ueber die pathologische Bedeutung des Nonnengeräusches für anämische
Zustände. Virchow's Archiv, 1887, CVII. — Litten, Ueber accidentell-diastolische Herz-
geräusche. Verhandlungen des Vereins für innere Med i ein. Jahrg. VI — M. Matrey, Ueber
pericardiales Sehnenpfeifen. Wiener med. Blätter. 1837, Nr. 8. — Seelye, An undescribed
arterial murmur. New- York med. Record. 5. November. 1887. — Cuffer et Barbillion,
Nouvelles recherches nur le bruit de galop cardiaque. Arch. gener. de med Fevr. et Man
1887. — R. Saundry, On the disappearance of the aortic regurgitant murmur. Edinburgh
med. Joura. February 1887. — Andrew Clark, Substance of some remarks conceming
cases of valvulär disease of the heart , knoten to have existed for over five years without
causing serious Symptoms. The British med. Journal. 12. and 19. February 1887. — Timo-
fejew, Zur Frage über die Insufficienz der Semilunarklappen der Aorta. Berl. klin. Wochenschr.
1888, 24, 25. — O. Rosenbach, Zur Lehre von der Insufficienz der Aortenklappen.
Berl. Wochenschr. 1888,37,38. — K. Dehio, Inconstanz des diastolischen Herageräusches bei
Insufficienz der Aortenklappen. Petersburger med. Wochenschrift. 1888, Nr. 50. — L. Bouveret,
Note sur Vinsufßcance aortique relative dans la niphrite interstitielle. Lyon med. 1888,
Nr. 23. — Kenvers, Casuistische Beiträge zur Lehre von der relativen Insufficienz der
Aortenklappen. Charite-Annalen. 1888. — H. Hochhaus, Zur pathologischen Bedeutung der
auscuitatorischen Wahrnehmungen an der Cruralarterie. Virchow's Archiv. CXI.
P. Guttmann.
B.
BaCterien, s. Mikroben.
Bad. In jüngster Zeit ist besondere Aufmerksamkeit der Errichtung von
Brausebädern zu hygienischen Zwecken für die unteren Volksclassen,
Soldaten und Schüler zugewendet worden. Lassar in Berlin hat namentlich nach
dieser Richtung fruchtbringende Anregungen gegeben. Die Brausebäder eignen
sich in besserer Weise als Wannenbäder für die Herstellung von Volksbädern,
weil die Einrichtung und der Unterhalt derselben weitaus mit geringeren Kosten
ermöglicht ist. Die Wassermenge eines Brausebades beträgt kaum den zehnten
Theil eines Wannenbades, die Aufstellung des ersteren erfordert einen viel kleineren
Raum als das Wannenbad und endlich können in einer Zeiteinheit viel mehr
Menschen unter der Brause baden, als in einer Wanne (so wurden die Mann-
schaften einer Infanterie - Compagnie , 110 — 115 Mann, in 45 Minuten unter
10 Brausen abgebadet. Die einzigen wesentlichen Nachtheile des Brausebades
gegenüber dem Wannenbade sind die schwierigere Regulirung der Temperatur des
Wassers und die geringere Aufweichung der Epidermis des Badenden. Eine
Contraindication könnte ferner die Neigung zu Urticaria und Erythemen geben.
Was die technische Einrichtung solcher zu Volksbädern benutzten Brause-
bäder betrifft, so soll der Ankleideraum wie der Baderaum hell und luftig sein.
Um eine Ueberheizung dieser Räume über 15 — 18° R. leicht zu vermeiden, sollen
weder die Heizanlagen für das warme Wasser, noch die Warmwasserreserven
sich im gleichen Räume mit den Brausen befinden. Für den Fussboden eignet
sich am besten ein Holzlattenrost. Als Form der Brause passt besonders eine
Regenbrause, welche, über dem Kopfe des Badenden in einer Höhe von einem
Meter angebracht, das Wasser in einem dichten Regen so herabfliessen lässt, dass
der Körper des Badenden ringsum von Wasser benetzt wird. Die Erwärmung
des für die Brause bestimmten Wassers erfolgt am vorteilhaftesten durch Mischung
des kalten Wassers mit heissem Wasser, während bei Erwärmung durch ein-
strömenden Dampf die Temperaturregulirung schwieriger ist und auch eine An-
füllung des Baderaumes mit Dampf, welcher als solcher die Brause verlassen kann,
ermöglicht wird. Die Brause soll mit einer Temperatur von etwa 26° R. gegeben
werden und nicht über zwei Minuten Dauer ausgedehnt werden, und zwar soll
hiervon 1/s zum Einseifen und Reiben, 1/3 zum Abspülen mit warmem Wasser
und das letzte Drittel zur Abkühlung der Douche (nicht unter 15° R.) verwendet
werden. Bei Kindern und im Winter genügt die Hälfte dieser Zeit.
Literatur: Rad. v. Köxslia, Uelier die Errichtung von Schul- and Volks-
braasebäderu. Münchener med. Wochenschr. 1890, Nr. 25. K.
BaSedOW'SChe Krankheit (vergl. Real Encyclopädie, II. Aufl., Bd. II,
pag. 382). Die Symptomatologie der BASEDOw'schen Krankheit hat in den
letzten Jahren einige sehr werth volle Bereicherungen erfahren. In einer Vorlesung
74
BASEDOWSCHE KRANKHEIT.
hat Chabcot1) (wie übrigens zuvor schon Marie8) auf das Zittern als ein
bisher wenig beachtetes, aber seiner Häufigkeit nach sogar unter die Cardinal-
symptome zu rechnendes Krankheitszeichen hingewiesen. Das Zittern bei
BASEDOw'scher Krankheit unterscheidet sich durch gewisse Eigentümlichkeiten
von dem Zittern bei anderen chronischen Nervenleiden (disseminirte Scierose,
Paralysis agitans), dem senilen und dem toxischen Zittern; es hat nicht den
Charakter des Intentionszitterns . verliert sich aber wie dieses meist in der Ruhe,
während es durch körperliche Anstrengungen, namentlich aber durch psychische
Erregungen, provocirt und gesteigert wird. Der Tremor verbreitet sich nicht selten
über einen grossen Theil der gesammten Musculatur, besonders des Oberkörpers,
während Kopf und Hände von selbständigen Zitterbewegungen in der Regel
verschont bleiben und mehr passiv durch die übertragenen Stösse bei grosser Heftigkeit
in Mitbewegung gerathen. (Dieser Unterschied ist jedoch keineswegs oonstant, Ref.)
Die Frequenz der Zitter- oder Schüttelbewegungen ist zuweilen beträchtlich grösser
als beim Zittern aus anderer Ursache, z. B. bei Paralysis agitans ; die Zahl der
mit grosser Regelmäsßigkeit erfolgenden Oscillationen kann bis zu 8 — 9 in der
Secunde (Marie) betragen. — Ein anderes, übrigens schon früher bekanntes, von
Charcot neuerdings wieder betontes Symptom ist das periodische Auftreten
eigenthümlicher, nicht von Colikschmerz begleiteter wässeriger Diarrhoen.
Oefters sind dieselben auch noch von anderweitigen Verdauungsbeschwerden
(Erbrechen, Bulimie u. 8. w.) begleitet. Lähmungen, Krämpfe, epileptiforme An-
fälle erwähnt Charcot j) ; Astasie- Abasie ist von mir bei BASEDOw'scher Krankheit
beobachtet worden.
Complicationen von BASEDOw'scher Krankheit mit Bronze färbung
der Haut (Morbus Addisonii) sind von Drummond8), Oppenheim4) und
von mir6) mitgetheilt worden.
In differentialdiagnostischer Hinsicht, besonders für die unvollständigen
oder rudimentären Formen (forme f rüste) von BASEDOw'scher Krankheit von
grosser Wichtigkeit ist die zuerst von Romain Vigouroux 6) beschriebene und als
pathognomonisch betrachtete Verminderungdes galvanischen Leitungs-
widerstandes, über welche seitdem von Martius7), mir8) und Kahler9)
genauere Untersuchungen angestellt wurden. Nach Charcot und Romain Vigoüboüx
sollte sich dieses, angeblich auch bei verschiedenen Herzleiden, z. B. Asystoiie
nachweisbare Symptom im Vergleiche mit gesunden Individuen darin kundgeben,
dass beim Anlegen der einen Elektrode am Brustbein, der anderen am Rüeken,
das Galvanometer einen sehr viel grösseren Ausschlag giebt, als bei Gesunden;
die Widerstände berechneten sich in 4 untersuchten Fällen auf 900 — 1080 Ohm.
Durch Martius wurden diese Angaben genauer dahin bestimmt und berichtigt,
dass die absoluten Widerstandsmini ma von an Morbus Basedowii
1 eidenden Per sonen in keiner irgendwie diagnostisch verwerth-
baren Weise von denen Gesunder , respective an anderen Krank-
heiten leidender Individuen abweichen, während dagegen allerdings
die relativen Widerstand sminima bei den ersteren viel tiefer liegen als
bei den letzteren. Ich habe in meiner ersten, auf 5 Fälle bezüglichen Unter-
suchungsreihe das Ergebniss dahin zusammengefaßt, dass allerdings bei Basedow-
scher Krankheit eine mehr oder weniger beträchtliche Herab-
setzung des galvanischen Leit ungs Widerstandes (der „relativen
Widerstandsminima") am Thorax, bei der gegebenen Versuchs-
anordnung (geringe elektromotorische Kraft , 10 Siemens - Elemente ; Durch-
ström ung des Thorax in sa gittaler Richtung; grosse, unpolarisirbare Elektroden
von circa 100 Qcm. Querschnitt) als der vorherrschende Befund ange-
sehen werden muss; daneben kann auch ein zeitlich sehr beschleunigter
Verlauf der Widers^andscurve , äusserst rapides Eintreten der
relativen Widerstandsminima vorkommen, das jedoch öfters vermisst
wird. Die Widerstandsherabsetzung bildet aber keineswegs ein constantes
BASEDOWSCHE »KRANKHEIT.
75
und p atho gnom oiiisches Symptom der Basedow's c h e n Krankheit,
da bei derselben auch nahezu normale und selbst abnorm vergrößerte Wider-
stände (Erhöhung der relativen Widerstaudsminima) bei gleicher Anordnung an-
getroffen werden. Dif feren tiäldiagnos tisch dürfte somit höchstens
in zweifelhaften Fällen die vorhandene Widerstandsherab-
setzung für BASEDOw'sche Krankheit, das Fehlen dieser Er-
scheinung aber nicht gegen letztere sprechen. Diese Auffassung ist
auch durch weitere Untersuchungen — von im Ganzen 28 Fällen — im Wesent-
lichen unverändert geblieben. Unter der Gesammtzahl der von mir untersuchten
28 Fälle waren 6, in welchen das relative Widerstandsminimum erheblich
unter 1000 (Ohm) zurückblieb; 14, in welchen es zwischen 1000 und 2000
lag ; 8, in welchen es 2000 und darüber (bis zu 5000) betrug ; Fälle, in welchen
dennoch ein diagnostischer Zweifel gegenüber den anderweitigen Befunden und dem
ganzen Krankheitsverlaufe völlig ausgeschlossen erscheinen musste. (Zwei solche
Fälle von sehr hochgradiger und in jeder Beziehung typischer BASEDOw'scher
Krankheit, in denen das relative Widerstandsminimum zwischen 3000 und 4000
Ohm betrug, also sogar abnorm hoch war, sind mir erst in letzter Zeit wieder
vorgekommen; einer davon ist der mit Astasie und Abasie complicirte.) Wir
müssen uns also damit abfinden, dass die durch rasches Absinken des
Leitu ngs Widerstandes bedingte Abnahme der relativen Wider-
standsminima bei Basedow's c h e r Krankheit ein zwar wichtiger
und diagnostisch schätzbarer, aber nicht unbedingt pathogno-
monischer und ebensowenig ganz constanter Befund ist.
Was die Ursachen dieser Erscheinung betrifft, so verwies ich auf die bei
Basedow 'scher Krankheit gewöhnlich bestehende Hyperidrosis, nebst der
dünneren zarteren Beschaffenheit der Epidermis ; überhaupt aber auf die bei solchen
Kranken vorhandene grössere Labilität des v a so motorischen Nerven-
systems und in Folge davon leicht eintretende Erweiterung und Füllung
de 8 Hautgefä8snetze8, vielleicht auch der tieferen Gefässe —
wie sie sich ja in mannigfachen Krankheitserscheinungen, Quaddelbildungen, Täches
ciribrales u. 8. w. knndgiebt. Die Ungleich mässigkeit und Mannigfaltigkeit dieser
Momente würden es begreiflich machen, dass die Erscheinung eben inconstant ist,
und bald nur in sehr abgeschwächter Weise beobachtet, bald sogar gänzlich ver-
mi8St wird. Vigouroux 10) hat dagegen das öftere Fehlen der Erscheinung dem
Umstände zugeschrieben, dass es sich dabei um hysterische Complicationen
gehandelt habe; bei Hysterie soll nämlich (auch in Fällen ohne Anästhesie) der
Leitungswiderstand erhöht sein ; beim Zusammentreffen von Hysterie und Basedow-
scher Krankheit soll nun erstere für das Verhalten des Leitungswiderstandes mass-
gebend sein (von m i r nicht bestätigt). Nach den Versuchen von Kahler scheint
es sich bei der Herabsetzung des galvanischen Leitungs Widerstandes überhaupt
nicht um physiologische, sondern um einfach physikalische Verhältnisse zu handeln,
die in entsprechenden (noch unbekannten) Veränderungen der Hautbeschaffenheit
ihre Ursache finden. Für das Schwitzen der Haut, als einen dabei massgebenden
Factor, scheinen auch von Kahler angestellte erfolgreiche Versuche mit Pilocarpin-
injectionen zu sprechen.
Uebrigens ist, wie Kahler nachgewiesen hat (und wie auch von mir
bestätigt wurde), ausser dem herabgesetzten relativen, auch ein ziemlich
niederes absolutes Widerstandsminimum bei der Basedow's c h e n
Krankheit, und namentlich die Erreichbarkeit desselben bei niederer
elektromotorischer Kraft (12 — 28 Stöhrer - Elemente , nach Kahler)
als Regel zu betrachten. Diesem Messergebnisse kommt jedoch nur geringe praktische
Brauchbarkeit zu, einmal wegen der Inconstanz, dann wegen der grösseren Schwierig-
keit des Nachweises und der damit verknüpften Schmerzhaftigkeit , welche in
zahlreichen Fällen die vollständige Durchführung der Exploration überhaupt
nicht gestattet.
76
BASEDOWSCHE KRANKHEIT.
Für die Theorie (richtiger für die pathologische Physiologie)
der BASEDOw'schen Krankheit ist eine Arbeit von Moebids u) bemerkenswert^
in welcher die Struma als Primäraffe ction anfgefasst wird nnd die übrigen
Symptome zn dieser in ein Abhängigkeitsverhältnis gebracht werden. Moebius
knüpft an die bei Tbieren (namentlich Hunden nnd Affen) und anch beim
Menschen nach Totalexstirpation der Schilddrüse beobachteten Störungen an — die
sogenannte Cachexia strumipriva (vergl. Real - Encyclopädie, II. Aufl.,
Bd. XVII, pag. 516 nnd 520), welche verschiedene Autoren veranlasst haben, der
Schilddrüse eine erhöhte functionelle Bedeutung, im Vergleiche zn den älteren
Anschauungen über dieses Organ, zuzuschreiben. Unter Bezugnahme anf die
Cachexia strumipriva und das mit ihr sich nahezu deckende Myxödem, wobei
die Schilddrüse mehr oder weniger geschwunden sein soll, hält Moebius für er-
wiesen, „dass der Verlnst der Schilddrüse tiefgehende Ernährungsstörungen im
ganzen Körper bewirkt, Störungen, welche kaum anders als durch die Annahme
einer zum Leben nöthigen chemischen Thätigkeit der Schilddrüse gedentet werden
können". Zwischen den Symptomen des Myxödems und der BASEDOw'schen Krank-
heit scheint einerseits eine gewisse Uebereinstimmung, andererseits ein Gegensatz
zu bestehen, welcher darauf bezogen werden könnte, „dass es sich beim
Myxödem um Aufhören der Function der Schilddrüse, beim
Morbus B asedowii um eine krankhafte Thätigkei t der letzteren
handelt".
Diese im Uebrigen sehr plausibeln Annahmen sind, soweit sie eine vitale
Function der Schilddrüse zur Voraussetzung haben , unvereinbar mit den
Experimentalergebnis8en von H. Münk 12), wonach der Ausfall der Drüse als solcher
keine merklichen Störungen zur Folge bat, die scheinbar nachtbeiligen Folgen bei
einzelnen Thierarten nur von unbeabsichtigten Schäden herrühren, welche der
operative Eingriff in diesen Fällen mit sich geführt hat. Ganz besonders hat
Münk die HORSLKY'schen Angaben über das Auftreten von Myxödem und
Cretinismus bei Affen nach Schild drtisenexstirpation widerlegt, welche für die
Abhängigkeit des Myxödems vom Untergange der Schilddrüsen function als Haupt-
stütze herangezogen zu werden pflegen. — Bis auf weitere endgiltige Versuche
über die Function der Schilddrüse muss also wohl die Frage der Abhängigkeit
der BASEDOw'schen Krankheit von primärer Struma noch suspendirt bleiben.
Andere Hypothesen greifen bekanntlich auf den N. vagus und dessen
bulbäre Centren (Sattler u. A.) und auf den Sympathien zurück ; letzterer Meinung
hat sich neuerdings Franz 1S) angeschlossen, während dagegen Petersen u) krank-
hafte Veränderungen der Hemmungsnerven des Herzens als Ursache ansieht.
Die Therapie der BASEDOw'schen Krankheit hat einzelne Bereicherungen
erfahren, die sich namentlich auf die klimatisch-balneologische, die elektrische und
diätetische Behandlung beziehen. In höherem Grade als früher ist man neuerdings
auf die günstige Einwirkung des Höhenklimas bei ßASEDOw'scher Krankheit
aufmerksam geworden , welches selbst durch die Complicationen mit organischen
Herzkrankheiten, mit Fehlern am Klappenapparate, Incompensationen und schweren
consecutiven Kreislaufsstörungen nicht unbedingt contraindicirt wird Das lehren
in sehr überzeugender Weise auch zwei von Stiller u) mit ^etheilte Beobachtungen :
zwei äusserst schwere Fälle von BASEnow'scber Krankheit, der eine mit Insufficienz
der Mitralis, der zweite mit gleichen Fehlern der Mitralis und Tricuspidalis, beide
mit Anasarca, Hydrops aller Körperhöhlen, bedeutender Albuminurie u. s. w. —
wobei dennoch durch langea und wiederholten Höhenaufenthalt ein nahezu voll-
ständiges Verschwinden der Krankheitserscheinungen erzielt wurde. Die hier
benutzten Höhenorte waren Preblau in Kärnten (1000 M.), Smeks in Ungarn
(101 1 M.) und Innichen in Tirol (1500 M.) ; wesentlich geringere Elevationen (500 M.)
waren zuvor ganz erfolglos geblieben, ja sie hatten sogar rapide Steigerungen der
Herzschwäche, des Hydrops u. 8. w. ebensowenig zu verhüten vermocht, wie
Digitalis und ähnliche Mittel. — Ich habe jedoch darauf aufmerksam gemacht,
BASEDOWSCHE KRANKHEIT. — BAUPOLIZEI.
77
dass es auch Fälle giebt, in denen so bedeutende Elevationen schlecht vertragen
werden, und dass im Allgemeinen für die Ueber Winterung solcher Kranken die
niedriger gelegenen, subalpinen, mit sonst guten Einrichtungen versehenen Winter-
Stationen (wie z. B. St. Blasien, 772 M.) den Vorzug verdienen. — Von Bädern haben
namentlich die kohlensäurehaltigen Sool- und Stahlbäder (Nauheim,
Franzensbad, Elster, Cudowa, Flinsberg, Schwalbach u. s. w.) günstige Erfolge
zu verzeichnen.
Für die elektrische Behandlung hat Romain Vigouroux (1. c.)
eine Methode mit Vorzugs weiser Benutzung des Inductionsstromes
angegeben, die sich auch mir mit einzelnen Abänderungen als recht nützlich
bewährt hat. Sie besteht in 4 Acten: 1. Faradisation am Halse, wobei die negative
Elektrode auf der Carotis unterhalb des Eieferwinkels, die positive an das hintere
untere Halssegment applicirt wird; 2. Faradisation am Auge (Orbicularia palp.)
mit der negativen Elektrode ; 3. Faradisation der Struma (Mm. sternohyoidei und
stemothyreoidei) ; 4. Galvanisation in der Präcordialgegend , wobei die Kathode
in der hinteren unteren Halsgegend, die Anode in der inneren Partie des 3. Inter-
costalraumes angelegt wird, bei 5 — 7 Milliamperes Stromstärke. Gesammtdauer
der Sitzung von 10 — 15 Minuten. Bei dieser Behandlung verschwinden besonders
häufig Exophthalmus und Struma, während die Herzpalpitationen meist nur vorüber-
gehend, erst allmälig nachhaltigere Beruhigung erfahren. Um auf diese und auf
das Allgemeinbefinden noch intensiver zu wirken, bedient man sich theils hydro-
elektrischer, faradischer oder galvanischer Bäder (vergl. Real-
Encyclopädie, II. Aufl., Bd. IX, pag. 677), theils auch der Inf luen zelek tricität
in der Form der Franklinisation am Kopfe (Kopfdouche) und der auf
die Herzgegend gerichteten positivenSpitzenströmung, ein Verfahren, womit
bei vorsichtiger Anwendung recht günstige, evident beruhigende Einwirkungen
erzielt werden.
Von diätetischen Verfahren haben neuerdings, wofern es sich um
sehlecht genährte anämische Individuen handelte, besonders die systematischen
Ernährun gscu ren (Mastcuren) nach Weir-Mitchell und Playfair, sowie
auch Milch- und Kefircuren immer ausgedehntere Anwendung gefunden (vergl.
Real-Encyclopädie, II. Aufl., Bd. V, pag. 290, 304, 314). — Endlich sind auch
noch die allerdings sehr vereinzelten Erfolge operativer Eingriffe, der rhi no-
ch irurgi sehen Behandlung (Hack16), B. Fraenkel 16), Hopmann17), der
totalen (Kehn18) und partiellen Strumectomie (J. Wülff 19) hierzu
erwähnen.
Literatur: ') Charcot, Neue Untersuchungen über die Krankheiten des Nerven-
Systems, insbesondere über Hysterie. Deutsche Ausgabe von S. Freud. Leipzig und Wien 1886,
28. Vorlesung, pag. 347. — *) Marie, Contribution ä Vitude et au diagnostic des forme*
frustts de la maladie de Basedow. Paris 1883. — 8)Drummond, British med. Journ.
14. Mai 1887. — 4) Oppenheim, Neurolog. Centralbl. 1888, Nr. 1, pag. 29. — 6) Eulen-
burg, Berl. klin. Wochenschr. 1889, Nr. 1. — 6) Romain Vigouroux, Progres med.
1887, Nr. 43; 18*8, Nr. 3, 5 (vergl. auch Charcot, I.e., pag. 349). — 7) Martins, Archiv
ftr Psychiatrie. XVIII, H. 2. — h) Eulenburg, Centralbl. für Nervenheilk. etc. 1887,
Nr. 17; Berl. klin. Wochenschr. 1889, Nr. 1—2; Centralbl. für klin. Med. 1890, Nr. 1;
Neurolog. Centralbl. 1890, Nr. 23. — 9) Kahler, Zeitschr. für Heilk. 1888, IX, 365. —
,#) Romain Vigouroux, Centralbl. für Nervenheilk. etc. 1887, Nr. 23. — u) Moebius,
Ibid. 1887, Nr. 8. — ") H. Münk, Sitzungsber. der königl. preuss. Akademie der Wissensch.
1887, pag. 823; 1888, pag. 1059. — ,8) Franz, Thüringer Saisonnachricht. 1889, Nr. 6 und 7 ;
Petersen, Med. Becord. 20. August 1887. — ") Stiller, Verhandl. des Congresses für
innere Med. 1888; vergl. auch Centralbl. für klin. Med. 1888, Nr. 36; Med.-chir. Rundschau.
1888, pag. 755. — 16) Hack, Deutsche med. Wochenschr. 1886, Nr. X5 — 16) B. Fraenkel,
Bert. klin. Wochenschr. 1888. — 1T) Hop mann, Ibid. 1868, Nr. 42. — 18) Reh n, Ibid. 1834,
Nr. 11. - ") J. Wolff, Ibid. 1867, Nr. 27. Eulenburg.
Bauchwunden, s. wunden.
BEUpOÜZei. Die erschöpfende und vielseitige Behandlung, welche in
dem Hauptartikel Bauhygiene (Bd. II, pag. 452 — 473) allen hierhergehörigen
78
BAUPOLIZEI.
grundsätzlichen Fragen und theoretisch zu stellenden Anforderungen zu Theil
geworden ist, erleichtert das Verständniss für die baupolizeilichen Fort-
schritte der jüngsten fünf Jahre ebenso sehr, als es nach jenen Studien berechtigt
erscheint, bei der Weiterbehandlung des Gegenstandes sofort medias in res
einzutreten.
Die Hauptschädlichkeit, wie sie nach seiner Meinung allen Insassen der
in moderner Raumausbeutung aufgerichteten Miethkasernen droht, findet Wasskb-
fuhr in der Ueberfüllung und im Mangel an Licht. Nicht nur eine irre-
parable Luftverschlechterung, sowie eine abgeschwächte Widerstandsfähigkeit des
menschlichen Organismus sei die unausbleibliche Folge beider, sondern auch die
Uebertragung von Infectionsstoffen muss durch das Gedrängtwohnen enorm er-
leichtert werden. Hauptsächlich exemplificirt Wasserführ auf Berlin. Wie hier-
selbst die Verhältnisse liegen, wird am deutlichsten klargelegt durch die Berech-
nungen im Statistischen Jahrbuch, betreffend das Jahr 1887, aus welchem speciell
auch das Verbältniss der Mortalität in den verschiedenen Stockwerken interessirt.
Von 100 Todesfellen entfielen: auf den 3. Stock 19-0, auf den 2. 18'9, auf
den 4. 17 1, auf den 1. 191, auf das Parterregeschoss 16 3, auf die Keller
9*5 Procent. — In der richtigen, allmälig überall durchdringenden Erkenntniss,
dass der Mangel an vorhandenen, genügend gesunden und einigermassen billigen
Wohnungen ein ständiger, keineswegs ein vorübergehender Fehler der heutigen
Gesellschaft ist, hat die belgische Gesetzgebung einen bedeutsamen Versuch gemacht,
jenem Mangel — mit all seinen so vielfach besprochenen schlimmen Folgen für
das Familienleben der Arbeiter — entgegen zu wirken durch eine vermittelnde
Instanz. Diese Instanz sollen die „Comites de patronage" bilden, wie sie
nach einem neuen Gesetz in jedem Verwaltungsbezirk und mit der Aufgabe einzu-
setzen sind : Die Errichtung, die Vermiethung und den Verkauf gesunder Arbeiter-
häuser zu fördern, dabei jeden Fortschritt der Bauhygiene im Allgemeinen, alle
Chancen, wie sie durch die besonderen topographischen Verhältnisse dargeboten
werden, für die Errichtung solcher Häuser zu nützen; das Spar- und Versicherungs-
wesen (behufs Erwerbung der Häuser) in jeder Richtung zu heben und zu conso-
lidiren. Zu diesem Zwecke werden jene „Comites", denen die Rechte juristischer
Personen zur Erwerbung von Legaten und Benificien aller Art ohne Weiteres
beigelegt sind, Preise für Sparsamkeit, Sauberkeit und Ordnungssinn aussetzen;
sie werden sich auf dem Boden der als zweckdienlich erkannten Massnahmen mit
grosser Freiheit bewegen und theils den communalen Verwaltungskörpern, theils
den vorgeordneten Provinzialbehörden, theils der Centraiinstanz auf den kürzesten
Wegen ihre Erfahrungen und Vorschläge mittheilen — der letzteren auch besonders
in Bezug auf erforderlich werdende Expropriationen. Ingleichen wird der jähr-
liche Bericht der „Comites" an den Minister für Ackerbau, Industrie und öffent-
liche Arbeiten zu richten und von diesem alsdann dem obersten Gesundheitsrathe
mitzutheilen sein.
Der Modus, nach welchem die Unterstützung der ganzen Einrichtung aus
gewissen öffentlichen Fonds vorgesehen ist, nach welchem bei der Ueberschreibung
der Häuser eine relative Stempelfreiheit eintritt, nach welchem die Mieth-, Grund-
stücks- und Gebäudetaxen geregelt ist, richtet sich in seinen Einzelheiten natürlich
nach den eigenartigen Verhältnissen Belgiens. Und Arnoüld hat in seiner gediegenen
Besprechung des ganzen interessanten Versuchs sicher auch mit der Bemerkung
Recht, wenn er das beispielgebende Schwergewicht desselben eben nicht in solchen
Einzelheiten sieht. Andere Länder werden anders vorgehen müssen; und vielleicht
ist für Deutschland der richtige Weg dieses Vorgehens annähernd bereits in die
richtigen Bahnen geleitet.
Das Interesse mehrerer Hauptversammlungen des Deutschen Vereins für
öffentliche Gesundheitspflege hat sich neuerdings dem Entwurf reichsgesetz-
licher Vorschriften zum Schutze des gesunden Wohnens zuge-
wandt. Die auf diesen Gegenstand verwandte grosse Sorgfalt rechtfertigt ohne
BAUPOLIZEI.
79
Zweifel die wörtliche Wiedergabe der Leitsätze, wie sie in Strassburg i. E. nach
langer Discussion zur Formalirang gelangten:
I. Strassen und Bauplätze.
§•1.
1. Die Anlage, Verbreiterung oder Veränderung einer Strasse darf nur auf
Grund eines von der zuständigen Behörde festgesetzten Bebauungsplanes erfolgen.
2. Bei Festsetzung des Bebauungsplanes für einen Ortsbezirk muss ein
angemessener Theil des ganzen Flächeninhaltes als unbebaubarer Grund für
Strassen, Plätze oder öffentliche Gärten freigehalten werden.
3. Der Bebauungsplan kann für bestimmte Strassen oder Strassentheile
das Zurücktreten der Baufluchtlinien hinter den Strassenfluchtlinien (Vorgärten),
sowie die Einhaltung seitlicher Mindestabstände zwischen den Gebäuden (offene
Bauweise) vorschreiben.
4. Zur Aufhöhung der Strassen und Bauplätze dürfen nur Boden-
arten verwendet werden, welche frei von gesundheitsschädlichen Bestandtheilen sind.
II. Neuherstellung von Gebäuden.
§• 2.
1. Die Höhe eines Gebäudes darf an der Strasse nicht grösser sein,
als der Abstand desselben von der gegenüberliegenden Baufluchtlinie.
2. Die zulässige grösste Höhe der an Höfen gelegenen Gebäudewände,
welche mit den im §. 7 vorgeschriebenen Fenstern versehen sind, beträgt das
Anderthalbfache des mittleren Abstandes von der gegenüberliegenden Begrenzung
des unbebauten Raumes.
3. Die mittlere Breite eines Hofes, auf welchen Fenster gerichtet sind,
darf nicht unter 4 M. bemessen sein.
4. Ein Zusammenlegen der Hofräume benachbarter Grundstücke behufs
Erzielung des vorschriftsmässigen Abstandes oder der vorschriftsmässigen Mindest-
breite ist statthaft, insofern die Erhaltung der Hofräume in unbebautem Zustande
gewährleistet wird.
5. Jeder unbebaut bleibende Theil eines Grundstückes muss zum Zweck
seiner Reinigung mit einem Zugang von mindestens 1 M. Breite und 2 M. Höhe
versehen sein.
§. 3.
1. Auf Baustellen, welche bereits höher, beziehungsweise dichter bebaut
gewesen sind, als die Vorschriften in §. 2 zulassen, treten im Falle eines Neu-
baues folgende erleichternde Bestimmungen ein:
Die Höhe eines Gebäudes darf an der Strasse das Anderthalbfache des
Abstandes bis zur gegenüberliegenden Baufluchtlinie und an den Höfen das Drei-
fache der Hof breite betragen.
Die Hofbreite darf bis auf 2*50 M. eingeschränkt werden.
2. Bei Anwendung dieser Bestimmungen darf jedoch eine Verschlechte-
rung der früher vorhanden gewesenen Luft- und Lichtverhältnisse des betreffen-
den Grundstückes keinesfalls herbeigeführt werden.
§. 4.
Ein Neubau ist nur dann zulässig, wenn für die genügende Beschaffung
von gesundem Trinkwasser, sowie für den Verbleib der Abfallstoffe und Ab-
wässer auf gesundheitlich unschädliche Art gesorgt ist.
§• 5.
1. Die Zahl der erforderlichen Aborte eines Gebäudes ist nach der
Anzahl der regelmässig in demselben sich aufhaltenden Menschen zu bestimmen.
In der Regel ist für jede Wohnung ein besonderer, umwandeter, bedeckter und
verschlies8barer Abort anzulegen.
80
BAUPOLIZEI.
2. Jeder Abort muss durch ein unmittelbar in das Freie gehendes beweg-
liches Fenster lüftbar sein.
3. Aborte-Fallrohre müssen aus undurchlässigen Baustoffen hergestellt
und in der Regel als Luftrohre über das Dach hinaus verlängert werden.
4. Die Fussböden und Decken der Ställe, sowie deren Trennungswinde
gegen Wohnräume sind undurchlässig herzustellen.
5. Das Gleiche gilt für die Fussböden , Decken und Trennungswinde
solcher Geschäftsräume, hinsichtlich derer erhebliche gesundheitliche Bedenken
vorliegen.
6. Die Verwendung gesundheitsschädlicher Stoffe zur Ausfüllung der
Fussböden und Decken ist verboten.
III. Neuherstellung der zu längerem Aufenthalt von Mensehen
dienenden Räume.
§. 6.
1. Räume, welche zu längerem Aufenthalte von Menschen dienen, müssen
eine lichte Höhe von mindestens 2*5 M. haben.
2. Höher als in dem vierten Obergeschoss , d. h. im vierten der über
dem Erdgeschoss liegenden Stockwerke, dürfen Wohnungen nicht hergestellt werden.
§• 7.
1. Alle zu längerem Aufenthalt von Menschen dienenden Räume müssen
bewegliche Fenster erhalten, die unmittelbar in das Freie führen. Erleichternde
Ausnahmen sind zulässig, wenn auf andere Weise eine genügende Zuführung von
Luft und Licht gesichert ist.
2. In jedem solchen Räume soll die lichtgebende Gesammtfläche der nach
der Vorschrift in Abs. 1 notwendigen Fenster mindestens ein Zwölftel der
Grundfläche betragen. Für Geschäftsräume und Dachkammern sind Erleichte-
rungen zulässig.
§.8.
1. Der Fussboden aller Wohnräume muss über dem höchsten Grund-
wasserstande, im Ueberschwemmungsgebiete über Hochwasser liegen.
2. Die Fussböden und Wände aller zu längerem Aufenthalt von Menschen
dienenden Räume sind gegen Bodenfeuchtigkeit zu sichern.
3. Wohnungen in Kellern, d. h. in Geschossen , deren Fussboden unter
der Erdoberfläche liegt, sind nicht zulässig.
4. Zu längerem Aufenthalt von Menschen dienende Räume, insbesondere
einzelne Wohnräume, dürfen in Kellern nur unter der Bedingung hergestellt
werden, dass der Fussboden höchstens 1 M. unter , der Fenstersturz mindestens
1 M. über der Erdoberfläche liegt. — Erleichterungen sind statthaft, insofern
die gewerbliche Verwendung der Räume eine grössere Tieflage erfordert.
IV. Benutzung der zu längerem Aufenthalt von Menschen
dienenden Räume.
§. 9.
1. Alle zu längerem Aufenthalt von Menschen bestimmten Räume dürfen
nur nach ertheilter Genehmigung zu diesem Zweck in Gebrauch genommen werden.
2. Diese Genehmigung ist bei Neu- und Umbauten insbesondere dann
zu versagen, wenn die betreffenden Räume nicht genügend ausgetrocknet sind.
§. 10.
1. Gelasse, deren Fenster den in §. 7 gegebenen Vorschriften nicht
entsprechen, dürfen als Wohnräume nicht benützt werden.
2. Vermiethete, als Schlafräume benutzte Gelasse müssen für jedes Kind
unter zehn Jahren mindestens 5 Cbm. , für jede ältere Person mindestens 10 Cbm.
Luftraum enthalten. In Miethsräumen, für welche nach §. 7, Abs. 2, Erleichterungen
BAUPOLIZEI.
81
zugelassen sind, müssen immerhin, wenn sie als Schlafräume benutzt werden, auf
jedes Kind unter zehn Jahren mindestens O'l Qm., auf jede ältere Person mindestens
0*2 Qm. lichtgebende Fensterfläche entfallen. Kinder unter 1 Jahre werden nieht
mitgerechnet.
3. Diese Bestimmungen treten für bestehende Gebäude erst nach fünf
Jahren in Kraft , können jedoch nach Ablauf von zwei Jahren bei jedem Wohnungs-
wechsel in Wirksamkeit gesetzt werden.
4. Angemessene Räumungsfristen, deren Beobachtung nötigenfalls im
Zwangsverfahren zu sichern ist, sind von der zuständigen Behörde vorzuschreiben.
§. ii.
1. Räume, welche durch Verstösse gegen die vorstehenden Bestimmungen
in §§. 2 bis 8 oder sonstwie' durch ihren baulichen Zustand gesundheitswidrig
sind, sollen auf Grund eines näher anzuordnenden Verfahrens für unbrauchbar
zum längeren Aufenthalt von Menschen erklärt werden.
2. Werden aus diesen Gründen ganze Häusergruppen oder Ortsbezirke
für unbenutzbar erklärt, so bat die Gemeinde das Recht, den vollständigen Umbau
zu veranlassen oder vorzunehmen. Es steht ihr zu dem Zweck bezüglich aller in
dem umzubauenden Bezirk befindlichen Grundstücke und Gebäude die Zwangs-
enteignung zu. Für das Enteignungsverfahren sind die Landesgesetze massgebend.
Die Vorschriften dieses Gesetzes gelten als Mindestanforderungen und
8chliessen weitergehende Landes-, Provinzial- und Local Verordnungen nicht aus.
Der Erlass von Ausführungsbestimmungen steht den Landesbehörden zu.
Die Handhabung dieses Gesetzes liegt überall den Baupolizei- und
Gesundheitspolizeibehörden ob , sofern nicht durch die Landesgesetzgebung ander-
weitige Bestimmung getroffen ist.
Ein Theil (aber auch n u r ein solcher) der vorstehenden Grundsätze findet
sich in das Praktische übergeführt durch die neue Berliner Baupolizei-
ordnung vom 15. Januar 1887. Als wesentliche Fortschritte gegenüber den
früheren Bestimmungen dürfen hervorgehoben werden : Die Beschränkung für die
Höhe der Häuser; dieselben sollen — sofern sie an einer Strasse liegen — nieht
höher sein dürfen, als die Strasse breit ist, unter allen Umständen aber nicht
über 22 M., resp. über 5 Stockwerke hoch. Von den zum dauernden Bewohnt-
sein bestimmten Räumen wird verlangt, dass sie eine lichte Höhe von mindestens
2*5 M. besitzen und (als Kellerwohnungen) über 1/3 M. unter das Niveau des
Erdbodens nicht hinabreichen. Dachräume sollen als Wohnungen nur dienen,
wenn ihre Beschaffenheit denselben Bedingungen entspricht, wie solche für die
Räume der unteren Stockwerke vorgeschrieben sind. Die Grösse der Höfe, die
Lichtfläche der nach diesen oder nach der Strasse liegenden Fenster werden gegen
früher bedeutend heraufgesetzt. Die Abwässer sind mittelst dichter Röhren oder
Rinnen in Canäle oder Strassenrinnen abzuleiten. Die Bestimmungen über Wasser-
zufuhr und Entwässerung bleiben dabei aufrecht erhalten. Wo Anschluss an die
reguläre Canalisation noch nicht erreicht ist, muss vor der Ableitung eine Reini-
gung des Hauswassers (mittelst Schlammfang) stattfinden. Alle Röhren zur Ab-
leitung unreiner Stoffe sollen ausnahmslos mit einem über das Hausdach hinaus-
reichenden Dunstrohr versehen sein.
Genaue Vorschriften, die Höhe der Häuser betreffend, finden sich in der
neuen Baupolizeiordnung für Cöln. In Strassen von weniger als 6 M.
Breite haben 11*5, in solchen von 6 — 9 M. Breite 12*5, und bei grösserer
Straasenbreite trotzdem uoch 12*5 M. als die Grenze der Häuserhöhe zu gelten,
d. h. der Höhe der Front. Ueber dieser darf das Dach nicht steiler als in einem
Winkel von 50° ansteigen. Vom obersten Geschoss wird noch eine lichte Höhe von 2*5,
von jedem der darunter liegenden zum Wohnen bestimmten Geschosse aber eine solche
von 3*2 M. Höhe gefordert. Kellerwohnungen sind absolut verboten. Die Fenster-
fläche wird ad minimum auf 1 Qm. für je 45 Cm. Wohnraum festgesetzt.
Bacyclop. Jahrbücher. I. ^
82
BAUPOLIZEI. — BELEUCHTUNG.
In New- York darf (wie ans der eingehenden Schilderung der dortigen
baupolizeilichen Verhältnisse von Martin und Massox hervorgeht) überhaupt
keine Wohnung vermiethet werden, welche nicht den Bestimmungen des Code
of health ordinances vollständig entspricht. Die Forderungen des letzteren richten
sich besonders auf eine ganz bestimmte, durch den Board of health regulirte
Construction der Aborte, der zu diesen gehörigen Syphons, Hausleitungen und
Ableitungen; für je 20 Bewohner soll 1 Closet vorgesehen sein. Bei der Er-
richtung von Neubauten darf niemals ein grösserer Theil der Baufläche als 65° 0
mit Baulichkeiten bedeckt werden. Das Minimum der Zimmerhöhe ist 2*44 M.,
das der Fensterfläche 10% der Bodenfläche. Das Fundament muss vom Oberbau
des Hauses gehörig isolirt sein ; etwaige Kellerwohnungen müssen eine Minimal-
höhe von 2*15 M. im Lichten haben, ihre Decke mindestens 0*3 M. über dem
Strassen niveau sich erheben. Die vorher bereits angedeuteten Forderungen des
Board of health an die Abort- und Entwässerungsvorrichtungen beziehen sich auf
das Material der zu legenden Rohre (Eisen), auf den Plan der Hausentwässerung
(derselbe unterliegt der Revision und Billigung des Board of health). Das Gefälle
des — möglichst ohne Krümmungen zu legenden — Hauscanales, der stets mit
Ventilationsrohr versehen sein muss, soll nicht unter 1" auf 1' sein. Die Prüfung
auf die Dichtigkeit der gesammten Entwässerungsleitung geschieht in Gegenwart
eines Gesundheitsinspectors vermittelst der Wasser- und der Ptefferminzölprobe.
Wo etwa noch Abortgruben unvermeidlich sind, wird für sie gefordert : Die Her-
stellung der Wände aus absolut impermeablem Baumaterial und ein Abstand vom
Brunnen im Betrage von 50 Fuss mindestens.
Von grösstem Interesse im Hinblick auf die Feuer Sicherheit ist die
Preussische Landespolizei -Verordnung vom 30. November 1889, betreffend die
bauliche Anlage und innere Einrichtung von Theatern, Circusgebäuden und öffent-
lichen Versammlungsräumen.
Literatur: Verhandlungen des D. Vereines für öffentliche Gesundheitspflege.
XIV. und XV. Versammlung zu Frankfurt a. M. ; zu Strasshurg. Braunschweig, Vieweg. 1889,
resp. 1890. — Wasser fuhr, D. Vierteljahreschr. f. öffentliche Gesundheitspflege. XVIII. —
Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin, 18^9. — Generalbericht über das Sanitäts- und
Mcdicinalwesen in Berlin, betr. die Jahre 1886, 1887. 1888. Berlin 1890. — Fünfter General-
bericht über das öffentl. Gesundheitswesen des Reg.-Bez. Cöln, betr. 1883, 1884. 1885. Daselbst
1886. — Baumeister, Die Berliner Baupolizei-Verordnung. D. Vierteljahrsschrift f. öffentl.
Gesundheitspflege. XIX. — Skalweit, Beziehung zwischen Bauordnung und öffentlicher
Gesundheitspflege. Vortrag in den Verhandlungen des Magdeburgischen Vereines f. öffentl.
Gesundheitspflege. XIV. — Jules Arnould, La boi Beige sur les habitions ouvrieres du
9. Aoüt 1889. Revue d'bygi&ne et de police sanitaire. 1890, Nr. 9. Wernich.
Beleuchtung. Neue Erscheinungen auf dem Gebiete der Beleuchtungs-
physiologie und -hygiene sind seit der Abfassung des betreffenden Artikels in
grosser Zahl hervorgetreten. Im Vordergrunde des Interesses stehen die hinsicht-
lich der Zukunft des elektrischen Lichtes gewonnenen Ansichten.
Während die Einführung desselben in Fabriken, Hotels, Restaurationen,
Läden und besonders auch Theatern die erwarteten regelmässigen Fortschritte
macht, bleibt sie auffällig zurück, wo es sich um die elektrische Beleuchtung von
Privaträumlichkeiten handelt. Es mangelt bezüglich des letzteren Punktes wohl
noch an billig zu beschaffenden und bequem zu versorgenden Batterien , wiewohl
den früneren Berechnungen von Th. Erhard (Brennstunde einer 16kerzigen
Glühlampe =11 Pf.) jetzt schon billigere Anschläge — so für eine Ross'sche
Zinkkohlenbatterie, für eine in England patentirte Chlorgasbatterie — gegenüber-
gestellt werden. Die Erzeugung elektrischer Energie für Beleuchtuugszweeke auf
chemischem Wege ist jedoch (nach Hospitalier) zur Zeit noch lediglich für
Amateurinstallationen anwendbar: für mehr als 12 Glühlampen eignen sie sich
nicht, und auf der anderen Seite sind ihre hygienischen Uebelstände nicht gering.
Lassen nämlich die Chlorgasbatterien eine für das Privathaus viel zu bedenkliche
Chlorentwicklung zu, so werden durch die Arbeit andersartig construirter Elemente
BELEUCHTUNG.
83
(Sambuc) viel zu grosse Mengen von Wasserstoff oder gar Arsenwasserstoff frei,
welche sich in die Binneuräume des Hauses verbreiten.
In den oben aufgezählten nnd sonstigen öffentlichen Räumlichkeiten sollen —
nach Herzberg's Darlegungen — die elektrischen Lichtleitungen besonders darauf
geprüft werden, ob sie überall den Vorschriften entsprechenden Schluss haben;
ob der Leitungswiderstand das zulässige Mass nicht übersteigt ; welches Mass die
Isolirung hat. Wird dieser Voraussetzung genügt, so wächst für öffentliche Gebäude
die Feuersicherheit aus folgenden Gründen : Dass weder zum Erzeugen des elek-
trischen Lichtes Flammen erforderlich sind, noch strahlende Wärme durch das-
selbe entwickelt wird; dass weder eine Explosionsgefahr, noch heisse Brenngase
erzeugt werden; dass endlich, selbst wenn etwa bereits Feuer zum Ausbruche
gekommen ist, die Gluth desselben durch das Inthätigkeitbleiben der Glühlicht-
anlage keinerlei Steigerung erfährt. Die Temperatursteigerung in 3 Theatern, wie
sie einerseits durch elektrische Beleuchtung, andererseits durch Gas bewirkt wurde,
verglich in Versuchen (ähnlich wie Renk und v. Pettenkofer) Dobroslawine
in St. Petersburg. Das Ergebniss der — nicht ganz ein wandsfreien , weil nicht
nnter durchaus ähnlichen Versuchsbedingungen angestellten — Experimente war,
dass die Erhöhung der Temperatur bei Gasbeleuchtung durchschnittlich um 8° 0.
stärker, die Mehrproduction von C02 aber eine bei beiden Beleuchtungsarten sehr
ähnliche war. Mittel, um die oft allzu blendende Lichtstrahlung bei elektrischen
Glühlampen abzudämpfen, wurden verschiedene angegeben : so Collodiumüberzüge,
auch Bestreichungen mit Salzlösungen, nach deren Verdunstung sich die Ober-
fläche der Glasglocken mit einem Ueberzuge von Krystallen bedeckt. Sehr
bemerkenswert!! erscheinen hinsichtlich der durch elektrische Lichtanlagen bedingten
Gefahren noch die Zusammenstellungen aus New -York, laut deren (amtliche
Statistik) in den Jahren 1880—1887 72 Personen und 1888—1889 sogar
44 Personen durch plötzliche Berührungen mit den elektrischen Leitungsdrähten
getödtet wurden. Doch beziehen sich diese Ziffern nur auf die „agnoscirten" Leichen ;
die Gesammtzahl der in dieser Weise im ganzen Lande Verunglückten wird auf
circa 200 Personen geschätzt, der hauptsächlichste Grund der Calamität auf die
mangelhaften Arten der Isolirung zurückgeführt. Nach Brown kann durch den
menschlichen Körper noch ohne Gefahr ein Gleichstrom von 1042 Volt ge-
leitet werden; dagegen liegt schon bei Wechselströmen von 160 Volt Spannung
eine dringende Lebensgefahr vor. Bei den amerikanischen Anlagen liegen meistens
Spannungen vor, welche bis zum Zehnfachen stärker sind. — Um in Deutschland
ähnlich besorgnisserregenden Anlagen vorzubeugen, wünscht man durch ein Gesetz
verboten zu sehen , dass bei irgend einer Beleuchtungsanlage in der Leitung die
Spannung einen Werth von 300 Volt überschreite ; falls letzteres im speciellen Falle
nöthig : Polizeiliche Anmeldung , Erlaubniss Ertheilung nur nach ausdrücklicher
Inpflichtnahme des Antragstellers, ganz bestimmte, jede Gefahr ausschliessende
Vorsichtsmassregeln zu treffen. Bei Maschinenanlagen soll die Grenze bis 150 Volt
sein. (Sehr eingehende Besprechungen aller der elektrischen Beleuchtung inne-
wohnenden Eigenthümlichkeiten finden sich in dem Journal „La lumiere electrique"
nnd im „Centralbl. für Elektrotechnik".)
Gaslicht findet in Bezug auf seine hygienische Bedeutung eine aus-
führliche Vergleichung mit anderen Beleuchtungsarten in einer Arbeit von Gariel,
welche speciell den Einfluss jeder einzelnen auf Kohlensäuregehalt und Temperatur
erörtert; wird die Hitze und C02-Production einer Oellampe, welche 42 Grm. Oel
pro Stande verbrennt = 1 gesetzt, so producirt — bei gleicher Helligkeit —
eine Gasflamme 1*25 Hitze, 1*5 C0a (Petroleum-, Glüh- und Bogenlicht bedeutend
weniger). AüBR'sches Licht, ein Gasglühlicht, in welchem der Leuchtkörper aus
einer Compositum von Cerium, Didym und Lanthan besteht (seine Benutzbarkeit
wird auf 1200 Brennstunden veranschlagt), ist weiss, giebt wenig Wärme und,
bei sparsamem Gasverbrauch, eine von Zuckungen ganz freie gleichmässige Hellig-
keit. Doch soll es in den mit Eohlengas versorgten Plätzen nur für private
84
BELEUCHTUNG.
Beleuchtungszwecke, für grosse Anlagen nur da mit erheblichem Vortheil dienlieh
sein, wo Wassergas zur Hand ist
Die Anwendung des letzteren (Mischung von Kohlenoxyd, Kohlensäure
und Wasser, entsteht, wenn man Wasserdämpfe Ober glühende Kohlen leitet)
besprach Hartmann. In Amerika pflegt es durch Zugabe schwerer Kohlenwasser-
stoffe carbonirt zu werden. In Deutschland und Oesterreich bringt man in das
entzündete Gas, um die Leuchtkraft zu erhöhen, einen Kamm ausgebrannter
Magnesia. Lunge schildert das erstereals das eigentlich zum Leuchten bestimmte
Wassergas und stellt weitere Versuche darüber in Aussicht
Nach der hygienischen Seite hat inzwischen dieser Gegenstand eine
Förderung durch Experimente von Schiller erfahren, welche derselbe mit dem
Downson- Wassergase anstellte (ebenfalls erzeugt, indem man den überhitzten
Wasserdampf in einen Vergasungsschacht leitet, in welchem Anthracit oder Goaks
verbrennt) : Meerschweinchen, Mäuse, Kaninchen, Katzen wurden der Einwirkung
des Wassergases ausgesetzt und zeigten Vergiftungserscheinungen bei 1*0— 3*0°/oo>
während die tödtliche Concentration bei 1*0 — 1'5° 0 liegt. Bei schneller Her-
stellung einer günstigeren Mischung der Respirationsluft (als l°/0o) erholen sich
die Versuchstiere meistens; der Obductionsbefund an den tödtüeh vergifteten
Thieren war der der Kohlenoxydvergiftung. In New- York sollen während der
Jahre 1880 — 1888 bereits 184 tödtliche Wassergasvergiftungen gezählt sein. Dem
gegenüber wird der Vorschlag begreiflieh, das Entweichen des Gases (durch
Imprägnirung mit Nitrobenzol oder Mercaptan) bemerklich zu machen. Auch ein
Patent (Baueb) ist genommen worden anf ein Verfahren, mittelst Zumischung von
Eisenoxyd zu der in Anwendung kommenden Kohle die En tgiftung zu bewirken.
Bei seinem angenehmen Licht und der Wohlfeilheit seiner Herstellung
würde die Beleuchtung mittelst Wassergases schnell einen grösseren Umfang
gewinnen, wenn dasselbe nicht — eben wegen der durchwegs wohl schwer meidlichen
Kohlenoxydabgabe — in Wohnräumen geradezu verboten werden müsste.
Von Kohl engas-Beleuchtungsapparaten sind die neuerdings
noch mehr verbesserten Siem ENs'schen Regenerativbrenner, die Gaslichtsparbrenner
von Schülke, die unter allen am hellsten und sparsamsten arbeitenden Regenerativ-
brenner des System Muchall, besonders hervorzuheben ; am zweckmäßigsten sind
grosse Brenner, bei denen das Höhenmass der Flamme gleich oder grösser ist
als das der Breite. Vorwärmung des Gases findet — ausser bei den Siemens-
sehen und MüCHALL'schen Regenerativbrennern — auch bei den Lampenconstruo-
tionen von Wenham, O'Neill, Bower und Westphal-Bützke statt.
Der Leuchtkraft des Petroleums widmete Alftan eine besondere
Aufmerksamkeit, indem er die Frage nach denjenigen Beimengungen aufstellte,
die eine Herabsetzung der Leuchtkraft bedingen und als solche schwere Kohlen-
wasserstoffe, Magnesia- und Kalksalze ermittelte, während ein geringer Eisen-
gehalt sich als in dieser Beziehung nicht besonders beeinträchtigend ergab. Ver-
besserungen in der Construotion von Petroleumlampen beziehen sich besonders
auf die Anbringung von Brennscheiben und gewisse Cy linderformen. In dem
Ko8mos-Vulcanbrenner von Wild und Wessel hat der Cylinder eine Einschnürung,
darüber eine kugelförmige Erweiterung, in deren Centrum die Brennscheibe placirt
ist. Die Flamme nimmt ebenfalls eine Kugelgestalt an, füllt die Erweiterung des
Cylinders total aus, brennt hellleuchtend und sparsam. —
Von neuen Leuchtstoffen wird Gebrauch gemacht in Harcoürt's
Pen tan -Normallampe (das Brenngas besteht aus 3 Th. Luft und 1 Th. Pen tan)
und bei Haünay's Lucigen-Licht (schwere Kohlenwasserstoffe, welche mittelst
Pressluft zerstäubt und als Nebel zum Ausströmen gebracht werden).
Schliesslich wären noch die Discussionen zu berühren, welche über die
Gefährlichkeit des elektrischen Lichtes, insoweit das Sehorgan in Frage kommt,
auch neuerdings wieder gepflogen worden sind. Dass durch übermässig intensives
und durch ununterbrochenes elektrisches Licht Blepharospasmus, Chromatopsien
BELEUCHTUNG. — BERI-BERI.
85
und Nachbilder, centrale Scotome, Anästhesien der Retina, bei anderen Individuen
Neigung zu Augenthränen , Stechen im Bulbus, starke Lichtscheu und dauernde
Injectionen der Conjunctiva entstehen, wird kaum noch geleugnet. Unsicherer
stehen die Nachrichten über Dermatosen (Jucken, Abschilfern der Haut) und hitz-
schlagähnliche Symptome da. Ein neuerer amerikanischer Bearbeiter des Themas
(G. M. Could) verbürgt sich mit Eifer dafür, dass die Augenerscheinungen, wo
sie auftreten, fast ausnahmslos nach einigen Tagen wieder nachlassen. Durch
dunkle Brillengläser wären sie aber überhaupt zu verhüten ; wohl constatirte Fälle
wären nur an Arbeitern (im gebräuchlichen Sinne) oder Gelehrten beobachtet,
welche ohne alle Schutzvorrichtungen und ohne vorangehende Gewöhnung sich
unmäs8ig lange dem elektrischen Licht ausgesetzt hätten.
Literatur: Gariel, Revue scientiflqne. 1886, II. — H.Cohn, Tagebl. der
59. Naturf.-Versamml., pag. 162. — AI f tan, Repert. der Chemiker-Ztg. 1887, 11. — K. Hart-
mann, Verhandl. des VI. internat. Bygiene-Congr. Heft kS. — Schälke, Gesundheits-Inge-
nienr. 1887, Nr. 12. — Schilling, Der gegenwärtige Stand der elektrischen Beleuchtung.
München 1887. — Sambnc, Revue d'hyz. 1887, IX. — Herzberg, Gesundheits-Ingenieur.
1887, Nr. 1. — Dobroslawine, Ebenda. Nr 19. — H. Schiller, Zeitschr. für Hygiene.
IV, pag. 440 (Die Wirkungen des Wassergases etc.). — Fr. Siemens, K. Hartmann, Ge-
sandheits-Ingenieur. 1888, Nr. 2, 19. — Busquet & Bassgy, Ref in Gesundheits-Ingenieur.
1889. — Could, Med. News. 8. Dec 1889. — v. Pettenkofer, später von Voit,
Bemerkungen über Gas- und elektrisches Licht. Vorträge im Münchener ärztlichen Vereine.
Münchener med. Wochenschr. 18U0. Wem ich.
Beri-Beri. Die Uebersichtlichkeit des nachfolgenden Ergänzungsartikels
dürfte wesentlich gefördert werden durch die Voranstellung der jüngsten Re-
capitulationen über Beri-Beri, wie dieselben auf dem X. internationalen medicinischen
Congress dem Referat von Pekelhauing und dem Correferat des Verfassers
gegenwärtigen Artikels zu Grunde gelegt wurden. Prof. Pekelharing äusserte
zur Aetiologie und Therapie des Beri-Beri ungefähr Nachstehendes: Wiewohl der
Name und aphoristische Schilderungen der wichtigsten Symptome dieser Krankheit
schon zu Anfang des 1 7. Jahrhunderts durch die Niederländer aus dem ostindischen
Archipel zu uns herübergebracht worden sind, datiren die genaueren Unter-
suchungen doch erst aus den letzten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts. Beri-Beri
herrscht ausschliesslich dauernd in tropischem und endemisch in subtropischem
Gebiet. Früher hatte man über die Aetiologie die verschiedensten Ansichten.
Boden- und Luftverhältnisse, besondere Eigenschaften pflanzlicher und thierischer
Nahrung, wie Mangel und unrichtiges Verhältniss der einzelnen Bestandteile, zu
grosse Hitze, zu starke Abkühlung durch Regen und Wind, schlechtes Trink-
wasser, Eingeweidewürmer, ja selbst Verdruss und Langeweile wurden ange-
schuldigt. Jedenfalls muss es eine Ursache sein von der Art, dass sie zu gleicher
Zeit eine Anzahl in derselben Umgebung lebender Personen treffen kann und
durch hohe Temperatur und Feuchtigkeit begünstigt wird. Pekelhamxg geht
nun der Reihe nach die einzelnen angeschuldigten Ursachen durch und weist die
Unhaltbarkeit der betreffenden Ansichten nach. Dass ein unpassendes Verhältniss
der Bestandtheile der Nahrungsmittel ätiologisch in Betracht kommt, sei bereits
von Hirsch widerlegt worden. Ebenso sei kein einziger Fall von Contagiosität,
Uebertragnng von Person zu Person bekannt. Aber sicher sei, dass die Krankheit
von einem Ort zum anderen Überträgen werden kann.
Die ersten positiven Resultate bacteriologischer Natur berichteten de La-
serda, Brasilien und Ogata, Japan. Sie fanden im Körper des Beri-Berikranken
Mikroorganismen, welche als Ursache angeschuldigt werden mussten. Die Mikro-
organismen Bassen im Blute, hatten pathogeue Eigenschaften und konnten ausserhalb
de* Körpers gezüchtet werden. Winkler und Pekelharing haben dann bei ihren
in Niederländisch-Indien gemachten Versuchen dasselbe constatirt. (Pekelharing
verbreitet sich dann des Genaueren über die weiter unten folgenden Ergebnisse
seiner bacterieilen Untersuchungen.) Das Resultat der Invasion der Mikroorganismen
besteht in der Degeneration der peripheren Nerven. Schon in der wtesL Tä\\»
86
BERI-BERI.
constatirt man Abnahme der Reizbarkeit der Nerven, besonders der unteren
Extremitäten. Es gelang auch bei Tbieren durch Einimpfung der Bacterien
Nervenentartung zu erzeugen. Zwar hat Sigmund Maykr gezeigt, dass auch in
Nerven normaler Thiere degenerirte Fasern vorkommen ; aber bei den Versuchs-
thieren Wjnkler's und Pkkklharinü's war die Zahl der entarteten Fasern eine
viel grössere. Hinsichtlich der Therapie empfiehlt Pekelhabing Wechsel der
Umgebung, Stärkung des Widerstandsvermögens des Körpers, gute Ernährung
und Sorge für die anderen in Betracht kommenden hygienischen Factoren und
entsprechende Desinfection.
Correferent Wernich will den Vorredner in 3 Punkten ergänzen.
Zunächst muss nach seinen Erfahrungen jeder Zweifel an der Identität der ver-
schiedenen Beri-Beri-, Kakke- etc. Arten fallen gelassen werden. Die neuen Errungen-
schaften über die Kenntniss des Infectionsstoffes und der Pathogenese der Beri-Beri
liegen auf neuropathologischem Gebiete. Aber der Disposition bleibt noch ein
grosser Spielraum bewahrt. Die localen Gruppen des Krankenmaterials decken
sich nicht mit den Gruppen der in Wirklichkeit Erkrankenden. Dies sind Männer
in gewissem kräftigen Lebensalter; Kinder, Greise, Weiber bleiben unter gleich
localen Gefahren verschont. Auch auf therapeutischem Gebiete hat die Polyneuritis
beri-berica keinen dankbareren Gegenstand dargeboten als die Polyneuritis nostras.
Mag man mit gutem Erfolge dem Desinfectionsvorschlage von Pekelharing folgen :
noch die Arbeiten neuesten Datums wissen anerkennenswerthe Heilresultate zu
berichten, sowohl durch rationelle Regelung und Hebung der Ernährung, als auf
dem Wege einer Aenderung des Klimas. —
Hinsichtlich des allgemeinen Krankheitsbildes und der pathogenetischen
Auffassung der Beri Beri sammelte während einer längeren Dienstzeit in den nieder-
ländischen Colonien Weixtraub verwerthbare Erfahrungen. Er unterscheidet (mit
älteren Autoren) eine paralytische (oder trockene) und eine hydropische Form
und beschreibt die Unterscheidungsmerkmale beider nach bekannter Weise. Hin-
sichtlich der durch van Leent's abweichende Aeusserung angeregten Frage des
Vorkommens von Albuminurie tritt er auf die Seite derjenigen Forscher, welche
Eiweiss im Harn der Beri-Berikranken nur ganz ausnahmsweise constatiren konnten.
Eine polysarcose Form, wie sie sich noch von älteren Autoren beschrieben findet,
kann er nicht statuiren. Aus eigener Erfahrung stehen ihm, hinsichtlich des Ver-
laufes, Fälle von foudroyanter Beri-Beri zu Gebot. Das Bild des Todeskampfes
schildert er wie folgt (nach des Referenten Erfahrung recht treffend): „Die in
Folge der vermehrten Exsudation in die serösen Körperböhlen gesteigerte Atbem-
noth zwingt den Kranken, im Bette aufrecht zu sitzen, mit den über seinen Kopf
erhobenen Händen sucht er nach irgend einer Stütze; andere wälzen sich auf
ihrer Lagerstätte herum. Mit geöffnetem Munde schnappen sie nach Luft, manchmal
stossen sie einen erschütternden Schrei aus. In den Augen, die allmälig ihren
Glanz zu verlieren beginnen, spiegelt sich das Angstgefühl ab; Respiration und
Puls sind beschleunigt, die Cyanose des Gesichtes und besonders der Lippen nimmt
an Intensität zu. Je länger dieser Zustand dauert, desto frequenter wird die
Respiration, desto kleiner wird der Puls, bis er endlich ganz verschwindet." Auch
von dem so langsamen und oft unterbrochenen Genesungsprocess giebt Weintraüb
eine treffende Schilderung. Was die anatomischen Untersuchungsbefunde betrifft,
so dienen ihm die Sectionen von Lodewjjks und von Haga vornehmlich zur
Stütze seiner Angaben, während die Sectionsresultate anderer Forscher nur
nebenher Erwähnung finden. Hinsichtlich der Befunde an den peripheren Nerven
der Beri-Berikranken heisst es wörtlich: „Scheube und Baelz wollen in denselben
die Symptome einer abgelaufenen Entzündung entdeckt haben; diese Neuritis,
souic auch ähnliche entzündliche Veränderungen in den Muskeln (Myositis) sollen
ihrer Ansicht nach das eigentliche Wesen der Krankheit und den Ausgangspunkt
derselben bilden. Die Anzahl der Fälle, auf Grund deren sie eine Neuritis an-
nehmen, ist jedoch zu gering. Ich selbst habe während des ersten Jahres meines
BERI-BERI.
87
Aufenthaltes im indischen Archipel, als ich das Entstehen der Beri-Beri klimatischen
Einflüssen zuschrieb, eine Entzündung der peripheren Nerven und Blutgefässe als
die Ursache der Krankheit betrachtet, habe mich aber bald dieser Ansicht ent-
schlagen, nachdem ich zur Erkenntniss gelangte, dass sie viele andere Erschei-
nungen der Beri-Beri zu erklären nicht im Stande ist." In den Befunden am Herz
und Herzbeutel schliesst sich Wbintraüb ganz den Befunden Haga's und meistens
auch dessen Schlussfolgernngen, in Bezug auf die Beschaffenheit der Blutkörper-
chen giebt er die Ergebnisse der Untersuchungen des Referenten wieder. Die
Darmbefunde, Hyperämie, Ecchymosirung in seltenen Fällen, Trichocepkalus dispar
(Erni), Anchylostoma duodenale (Stammeshaüs), werden einfach recapitulirt.
Sehr entschieden tritt Weintraüb , was die Ausgangspunkte der Circulations-
störungen (besonders auch am Herzen) betrifft, auf die Seite der Forscher, welche
jene in einer ursprünglichen Erkrankung der Gefäss Wandungen suchen und macht
als eigentliche causa morbi eine Reizung und Entzündung der letzteren, daneben
auch eine Blutdecomposition durch das Beri-Berigift (den Beri-Beribacillus) verant-
wortlich. Von grossem Gewicht sind für diese letztere Beri-Berifrage die Forschungen
von Pekelharing und Winkler (in Atjeh angestellt). Doch treten die Mikroben-
ergebnisse wohl besser mit denen der Coccen forscher in directen Zusammenhang
(s. unten). Als äusserst bedeutungsvoll haben Pekelharing und Winkler mit
Recht die elektrischen Nerven- und Muskelerscheinungen gewürdigt, welche sie
bereits im Anfang des Leidens nie vermissten , wenn Gehstörungen und Abwei-
chungen der Herzinnervation noch kaum zu merken sind. Man soll unterscheiden :
die einfache Herabsetzung der elektrischen Erregbarkeit von Nerv und Muskeln
beiden Stromesarten gegenüber, die partielle Entartnngsreaction , die complete
Entartung8reaction. Sehr hervortretend unter den Anfangserscheinungen ist die
Functionsstörung \m Nervus peroneus, rcspective in den von ihm versorgten
Dorsalflectoren des Fusses, dann folgen in gleicher Betheiligung: die Plantar-
flectoren des Fusses, die Strecker des Knies, die Adductoren des Schenkels nach,
während die Beuger des Knies und die Adductoren der Sehenkel am längsten
functionsfahig erhalten bleiben. Am Rumpfe werden der Reihe nach betheiligt:
die Bauchmuskeln, die J/tw. intercostales, die Strecker (dann Beuger) der Hand
und der Finger, das Diaphragma ; nach diesen Muskeln kommen die vom Laryn-
geus inferior, den Nervi vagi, dem Laryngeus swperior, dem Nervus facialis
versorgten Bewegungsapparate an die Reihe. Bereits in die ersten Stadien der Krank-
keit fallen auch die Sensibilitätssymptome, soweit sie als Parästhesien , Ameisen-
kriechen, Nervenschmerz (besonders bei Druck) den Kranken bewusst werden.
Abnahme des Tastsinnes ist sehr constant, Wärme- und Kältesinn erlöschen an
verschiedenen Körpergegenden, an denen auch das faradoelektrische Gefühl voll-
kommen aufgehoben sein kann. Zu den vasomotorischen Störungen glauben die
Autoren die partiellen Initialödeme zählen zu sollen, welche jedenfalls als Stauungs-
ödeme nicht gedeutet werden können. Ein Theii der später auftretenden Haut-
nnd Höhlenödeme muss allerdings als vom leidenden Zustand des Herzens abhängig
erklärt werden. An acuter Herzinsuffizienz gehen die meisten Beri-Beri kranken zu
Grunde, und zwar unter Symptomen von Präcordialangst mit relativer Tricuspidal-
insufficienz, pulsirenden Venen und Lungenödem. Auch im Herzen sind die eigent-
lich leidenden Theile die Nervenzellen („Neurite pariaxileu Gombaült's). Ein-
fache klumpige Degeneration wird man in den Muskelästen wohl noch stets vor-
finden , dazwischen auch die rosenkranzförmigen degenerirten Fasern mit Kern-
vermehrung und den Buckeln, welche mit der eigenthümlichen schaumartigen
Masse gefüllt sind, und worin der Axencylinder sich der Beobachtung entzieht.
Degenerationen der Gefässnerven sind nur in den weit vorgeschrittenen Fällen zu
eonstatiren, noch seltener sind Degenerationen in den Plexuswurzeln und Rücken-
marksganglien. Die Vagusverzweigungen im Herzmuskel sind mit positivem Erfolge
auf degenerative Veränderungen untersucht worden. Aus den mehr spärlichen
pathologischen Befunden an den Centralnervenorganen musste entnommen, TOtta^
88
BERI-BERI.
dass je mehr man sich den letzteren mit der Untersuchung nähert, um so mehr
die nachweisbaren Abweichungen schwinden.
(Unter den verschiedenen späteren Controluntersuchungen, betreffend die
elektrische Erregbarkeit bei Beri-Beri, schliessen sich die von Etjkman den Aus-
führungen und Resultaten seiner Landsleute Pekelharing und Winkler genau
an ; bei aller Würdigung des diagnostischen Werthes positiver Befunde sieht sieh
Verfasser doch genöthigt, hinsichtlich der prognostischen Fingerzeige auch dieses
Symptoms grosse Vorsicht anzuempfehlen, besonders auch was die Veranschlagung
der Genesungsfrist selbst günstig liegender Fälle betrifft.)
Bei der Untersuchung des Augenhintergrundes von 60 Beri-Berikranken
hält Kessler auseinander: Verengerung des Lumens und mangelhafte Füllung
der Retinalarterien — eine weisse Streifung bald in geringerer, bald in stärkerer
Breite längs des Arterien- und Venenverlaufes in der Retina — , weissüche Ver-
färbung der Papilla Nervi optici. An der Letzteren kommt in einer bedeutenden
Zahl von Fällen auch ein Zustand von Verwaschenheit der Contouren zur Beob-
achtung, in welchem besonders die oberen und unteren Grenzen keinen deutlichen
Uebergang in die anderweitigen Retinalgebiete mehr erkennen lassen. Auf die
Details, welche die gewöhnliche Form der Stauungspapille von dem Bilde der-
selben, wie man es bei Beri-Berikranken siebt, auseinander halten lassen, geht
Kessler des Näheren ein: der physiologische Grund der Verschiedenheit dürfte
für die Mehrzahl der Fälle in der mangelhaften Blntfüllung der Retinalarterien zu
suchen sein. Blutaustritte werden nur dann und wann deutlich beobachtet. In
einer der Arbeit beigegebenen tabellarischen Uebersicht, welche 35 genau speculirte
Fälle umfasst, sind — neben einer kurzen Charakteristik des allgemeinen Krank-
heitszustandes — genau gebucht : der Zustaud der Opticuspapille, die Beschaffenheit
der Retinalarterien wie der Retinalvenen, dazu insbesondere die Veränderungen der
Gefässwände, der sonstige Aspect des Augenhintergrundes, der Umfang des Ge-
sichtsfeldes, die Sehschärfe und etwaige subjective und entoptische Erscheinungen.
Seit 1878 ist in Tokio eine besondere Abtheilung des Hospitals für
Beri-Beri- (Kak-ke-) Kranke eröffnet worden , auf welcher Miüra das
Material für eine systematische Untersuchung des Centrainervensystems zu ge-
winnen in der Lage war. Einen öfter wiederkehrenden Befund des Rückenmarkes
bildeten Ganglienzellen in den Vorderhörnern, die sich durch Vacuolen — ver-
einzelt oder in Gruppen — bemerkbar machten. Letztere waren vorwiegend in
der nächsten Umgebung der Zellkerne localisirt, ohne dieselben irgendwie zu
alteriren. In den Fortsätzen der Ganglienzellen wurden Vacuolenbildungen nicht
beobachtet. Scierose der Vorderhörner, Atrophie und Schwund der Ganglienzellen
fehlten in den untersuchten (allerdings durchweg acuten oder subacuten) Fällen
gänzlich. Am Herzen zeigte sich Dilatation und Hypertrophie des Herzens ohne
Klappenanomalien als ein fast regelmässiger Befund der an chronischer Kak-ke,
respective deren Exacerbationen Verstorbenen. Die fettige Degeneration des Myo-
cardiums scheint ebensowenig vollständig constant vorzukommen, wie die gelegentlich
gefundene Colloidmetamorphose und das Auftreten von Mastzellen im interstitiellen
Gewebe des Herzfleisches. An den Nieren Hess sich in zwei Fällen eine Glomerulo-
nephritis nachweisen, im Magen findet sich zuweilen das Bild der hämorrhagischen
Erosion. Die Untersuchungen peripherer Nerven fielen bei acuten Kak-ke-
fallen bis jetzt fast immer negativ aus , so dass es für diese Fälle durchaus an
Unterstützungen der von einigen Autoren behaupteten Entzündungsbefunde, respective
der Theorie einer sogenannten Neuritis multiplex, Polyneuritis epidemica oder
dergl. mangelt. Betrachtet man die Muskeln von an Kak-ke Verstorbenen unter
dem Mikroskop, so können sich verschiedene Bilder darbieten, nämlich: iu toto
aufgequollene, gleicbmässig feinkörnig getrübte Muskelfasern mit kaum sichtbarer,
feiner, spärlicher Längsstreifung, oder stark aufgequollene, körnig getrübte Muskel-
fasern mit knotigen Auftreibungen, an deren Sitz die veränderte Muskelsubstanz
heller und glänzender aussiebt; oder eine andere aufgequollene Faser ist in ver-
BERI-BERI.
89
schiedene dicke , mit keinerlei Streifungen versehene , hellgraue und stark glän-
zende Scheiben oder nnregelmässig geknäuelte Klumpen zerlegt, welche sich inner-
halb des Sarkolemmschlauches neben einander oder in gewissen Abständen vor-
finden. Verfasser entscheidet sieh weder für die Gleichstellung dieser Verände-
rungen mit Zenker's „wachsartiger Degeneration", noch mit einer „Colloidmeta-
morphose"; er möchte es sogar einstweilen dahingestellt lassen, ob es sieh dabei
um eine Leichenerscheinung oder um eine Quellung der Muskelfasern durch das
Eindringen der Gewebsflüssigkeit intra vitam handelt.
In seiner Arbeit, die Pathologie der Kak-ke betreffend, wendet
sich Miüra zuvörderst zu dem so oft das fatale Endstadium in Form der Herz-
paralyse beginnenden Symptomencomplex acut eintretender Respirations- und Circu-
lationsstörungen, wie derselbe aus den Schilderungen sämmtlieher Beri-Beriautoren
zur Genüge bekannt geworden ist. 5 eingehend untersuchte Fälle führten ihn
darauf, den Hochstand des Zwerchfelles, beziehungsweise den erheblichen Wider-
stand , der durch denselben der Triebkraft des rechten Ventrikels entgegengestellt
wird, zur Erklärung heranzuziehen. Dieser Stand des Zwerchfelles aber dürfte,
worüber Mjura Versuche hinsichtlich des elektrischen Verhaltens desselben zum
Reiz des Ioductionsstromes anstellte, auf eine im Lauf der Kak-ke-Krankheit sich
herausbildende Zwerchfellparese zurückzuführen sein. Aus den Umständen, dass
durch die elektrische Behandlung des Zwerchfelles die Zwerchfellsathmung , die
Bauchpresse wieder hergestellt, die Accentuation des 2. Pulmonaltones allmälig
ausgeglichen, die Thätigkeit des Verdauungstractus gehoben und die Herzthätigkeit
in merkbar wohlthätiger Weise beeinflusst wurde, glaubt Verfasser seine Ansicht
von der ätiologischen Bedeutung des Zwerchfellhochstandes und von dem thera-
peutischen Werth der Zwerchfellfaradisation reichlich begründen zu können. Gegen
das häufige Vorkommen einer Endocarditis bei Kak-ke spricht Miüra sich ebenso
entschieden aus, wie es Seitens des Referenten und fast sämmtlieher späterer
Beobachter Hoffmann gegenüber geschehen ist.
Als ätiologisch wichtigste Erfahrung fuhrt Miüra unter allen,
welche er gemacht hat, an, dass die Kak-ke einerseits nahezu verschwunden sei
aus der Marine, wo Fleischnahrung mit Brot und Gemüsen, wenig Reis, fast gar
kein Fischfleisch als Mannschaftsnahrung gereicht wird, und andererseits aus
solchen Sträflingsanstalten, wo ein Gemisch von Reis und Gerstengries, wenig
Rindfleisch und überhaupt wenig eiweisshaltige Nahrungssubstanzen und ebenfalls
frisches Seefischfleisch fat gar nicht dargereicht wird. Während die Nahrung auf
der Marine dem Haushalt des Körpers vermöge ihrer Zusammensetzung gar wohl
genüge, sei dies bei der Strafanstaltsnahrung doch ganz und gar nicht der Fall :
das gemeinsame Moment sei aber die Ausschaltuug gewisser
Fisehfleischsorten aus der Speiserolle. Auf diesen Umstand gründet
Miura seine ätiologische Meinung über die Kak-ke, dass dieselbe nämlich nicht
auf einer dyskrasischen Blutverarroung (Wernich) und nicht auf einem Virus,
sondern auf einem Venenum beruhe und führt als Beweis noch das nahezu voll-
ständige Freibleiben von Fremden an, weil diese das Seefischfleisch nicht in dem
Masse wie die Japaner gemessen. Weitere Gründe seiner Ansicht lägen noch in
dem geringen positiven Leichenbefunde (bei acuten Fällen scheint die „Nerven-
degeneration" zu fehlen, sicher fehlt ausnahmslos die „Infectionsmilz") ; ferner im
klinischen Verlauf: Parästhesien und Anästhesien wie bei den toxischen Lähmungen ;
ferner im prognostischen Verlauf: Heilung der Kak-ke, wenn überhaupt erreichbar,
▼ollständig, bei Neuritis multiplex letzteres nie. Endlich sprechen für die Ver-
giftungshypothese die Erfahrung der japanischen Aerzte, dass die Kak-ke in einem
gewissen frühen Stadium durch eine Abführcur bei strenger Diät coupirt werden könne.
Einige ihm keineswegs verborgen gebliebene Lücken sucht Miura durch
die beiden jüngsten der von ihm verfassten Arbeiten auszufüllen. Als Fische,
welche mit Wahrscheinlichkeit als Träger des Kak-kegiftes anzusprechen sein
dürften, glaubt Miura folgende Scombridenarten bezeichnen zu sollen: Pelemys
90
BERI-BERI.
orientalis Schi., Thynnus sibi Sohl., Thynnus albacora Löwe, Amis tapeinsoma
Bleek. (gleichn. Auxis Rochei Risso), Caraux hippos L., Cybium niphonium Cuv.
et Val., Seriola quinque radiata Schi., Scomber Saba Bleek. Ferner geht Miuba
auf die Compensationsstörungen im Gefässsystem der Kak-kekranken näher ein
nnd erklärt die Entstehung des ersten spontanen Arterientons an den Art. crur.
und brach, aus der ausschliesslichen energischen und plötzlichen Spannung, welche
die Ttmica elastica wahrend der Arteriendiastole auszuhalten hat. Für die Ent-
stehung des hohen Percussionsschalles über den Lungen (Schachtelton) ist die
Retraction und verminderte Spannung des Lungengewebes verantwortlich zu
machen. Hinsichtlich seiner Erklärung, dass der Hockstand des Zwerchfelles bei
der Kak-ke eine starke Beengung des Thoraxraumes und Retraction der Lungen,
somit Verkleinerung nicht blos der athmenden Fläche, sondern auch des Strom-
bettes im kleinen Kreislauf zur Folge hat, dass also für die Triebkraft des
rechten Ventrikels ein grosser Widerstand eingeschaltet ist, bringt Verfasser einige
weitere klinische Beweise bei. Auch fanden sich in seinem neuen Material ge-
eignete Fälle, an welchen die Faradisation der Nervi phrenici sowohl bei acuter
als bei chronischer schwerer Kak-ke gute Dienste leistete, so dass Miüra sieh
zum Schluss in der Lage sieht, für dieses therapeutische Verfahren eine Reihe
von speciellen Iudicationen anzugeben.
Beim Uebergange auf diejenigen Arbeiten, welche mittelst mikroskopischer
Erforschung dem so räthselhaften Wesen, dem „Ens" des Morbus Beri-Beri
näher zu treten bestrebt waren, dürfen uns einige gegen die Bacterienbegründung
anstrebende neuere Theorien nur ganz vorübergehend aufhalten. Erni, der seinen
Wohnsitz längere Zeit in Batavia nahm und hier wohl genügende Gelegenheit zur
Untersuchung von Beri-Berimateral hatte, bleibt gleichwohl bei seiner Behauptung
(s. Hauptartikel, Real-Encyclopädic, II. Aufl., Bd. II, pag. 633) stehen , dass ein
wesentlicher Theil der Beri-Beri-Erscheinungen zurückzuführen sei auf Verletzungen
im Darm, welche den Beri-Berikranken der Trichocephalus dtspar zufüge.
Kynsey wünscht eine Beri-Beriform malarieller und eine „due to te presence in
the intestinal canal of parasites, mainly of the anehylostomum duodenale, but
possibly also of the trichoeephalus dispar" unterschieden zu wissen und gründet
darauf Heilpläne gegen diese „Oligocythaemia" und „Oligochromocythaemia".
Eine ätiologische Untersuchung , welche Drieescbe (durch Vermittlung
von Barella) der belgischen Akademie vorlegen Hess, hatte auf diese letztere die
Einwirkung, dass sie unter mehreren sonstigen „Conclusionen" auch die (zweite) zu
der ihrigen machte: die Regierung werde ersucht, eine besondere Ueberwachung
des Imports von unreifem oder sonst minderwerthigem Reis aus China und für
die Beri-Berikrankbeit in Frage kommenden Nachbarländern eintreten zu lassen.
Als erster Begründer einer Mikrobentheorie für Beri-Beri muss wohl
DE Lacerda genannt werden. Indess wurden seine Methoden durch die bekannten
Fortschritte der bacterioskopischen Forschung so bald überholt, dass sich die
näheren Beschreibungen der Mikrobenbefunde nothwendig vorwiegend an die Namen
seiner Nachfolger knüpfen.
Unter diesen diagnosticirte Ooata die von Baelz und Scueübe ge-
suchten, aber nicht gefundenen pathogenen Spaltpilze im Rückenmark von Kak-ke-
kranken, und zwar aus den Kernanhäufungen der weissen Substanz (nachdem
Rückenmarksschnitte mit in Anilinwasser gelöstem Metbylviolett gefärbt und mit
Essigsäur ewasser ausgewaschen waren) in Gestalt runder uod mehr länglicher
violetter Körperchen. Aus Blut, wo die gefundenen Körperchen übrigens nur
in extremer Selteubeit gesehen wurden , stellte Ooata nun Culturen her und
untersuchte die Wachsthumsverhältnisse seines Pilzes. Auf der mit der Blutprobe
beschickten Gelatine schwammen am 2. — 3. Tage nach der Infection ein wolkiges,
eventuell auf Schütteln zu Boden sinkendes Pilzflöckcheo , in dickerer Gelatine
büschelförmige Gebilde, auf Agar-Agar ein starkes Auswachsen der Cultur an
der Oberfläche und sich über dieselbe erhebend. Die Farbe war anfangs
BERI-BERI.
91
gelblich- grau weiss, die Culturen, zunächst glatt und glänzend, werden später matt
und faltig. Die Bacillen, aus denen sie bestehen, sind nur wenig kleiner als
Milzbrandbacillen und zeigen im hängenden Tropfen bei Bi utofentemperatur deut-
liche Eigenbewegung. Thierversuche wurden auch angestellt: an Mäusen, Ratten,
Kaninchen, Affen, Hunden. Die letzteren reagirten gar nicht, an den Affen wurde
Schwellung der Extremitäten und Pulsbeschleunigung festgestellt, bei dem einen
such Abnahme des Körpergewichtes. An den Kaninchen fanden sich in vielen
Organen Embolien und Blutungen vor, sowie die Bacillen. Auch die Ratten und
Mäuse, die vor dem Tode hauptsächlich „paretischen Gang" gezeigt hatten,
enthielten in den serösen Secreten, in Nieren, Leber und Milz die Bacillen.
Weitere Förderungen Hessen der Mikrobenätiologie Pekelharing und
Winkler zu Theil werden. Im Blute noch lebender Beri-Berikranker, das von
Mikroorganismen nie ganz frei war, haben diese Verfasser theils Coccen (oft
Diplococcen), theils kurze dünne, in ihren Dimensionen wenig constante Stäbchen
gefunden. Das Vorkommen dieser Bacterien geht , nach ihnen , dem Eintritt der
Krankheit voraus. In den Organen von Leichen Beri-Berikranker haben sie nie
mit Sicherheit Bacterien festgestellt. Die Ergebnisse der Züchtungsversuche und der
Thierinfectionen lassen verschiedene Deutungen zu.
Doch geht aus den späteren ergänzenden Mittheilungen der genannten
Beri-Beriforscber noch hervor, dass sie ihre Mikroben cultivirten und mit dem
Erfolge der Degeneration einer Reihe peripherer Nerven Hunden und Kaninchen
einimpften. Die meiste Aehnlichkeit würde der erhaltene und cultivirte Mikrobe mit
dem titaphylococcus pyogenes albus haben. Er gelangt in den menschlichen Organis-
mus nicht auf den Verdauungs-, sondern auf den Respirationswegen und wohl in der
Form eines an der trockenen Sommerluft zerfallenden, leichtbeweglichen Staube 8.
Von der Erkenntniss , dass die aus dem Blute von Beri-Berikranken
cultivirten und in Reinculturen fortgepflanzten Coccen noch keineswegs eine durch-
gehende Uebereinstimmung zeigen, ausgehend, machte Ali Cohen den Versuch,
diese Abweichungen durch Formübergänge und wechselnde Varietäten zu erklären.
Zum Schluss erübrigt es, der Therapie zu gedenken und — unter Ab-
sehung von weiteren, speciell klinischen Heilerfolgen im Sinne Miura's — die all-
gemeinen Erfolge kurz zu charakterisiren , welche die klimatische, die anti-
infectiöse und die alimentäre Behandlungsweise darzubieten haben. Eine ausge-
prägte Skepsis findet sich bei Wein tr a üb. Die Reis-, Fisch und Malariatheorie
werden ablehnend besprochen, die Beri-Beri auf Schiffen durch Einschleppung
erklärt, psychische Ueberspannung und Depression gebührend gewürdigt. Bei der
Besprechung der Prognose bringt Verfasser die sehr unzuverlässigen bisherigen
Angaben der Armeestatistik zur Sprache. Vom therapeutischen Gesichtspunkte
aus verwirft er die empfohlenen Arzneimittel ; die Evacuation nach Gebirgsorten
befürwortet er als „Entfernung des Beri Beri kranken aus dem Sitze des In-
fectionsherdes". Hiernach hält er auch die Prophylaxe neben dem Ortswechsel in
Form von Absonderung, Vermeidung der psychischen Depressionen, Beachtung
der ersten Krankheitserscheinungen, für die wirksamste Therapie.
Es begreift sich leicht, dass in noch entschiedenerer Weise diejenigen
Autoren eine antiinfectiöse Therapie befürworten, welche von der Verschleppbarkeit
— wenn nicht von der directen persönlichen Uebertragungsfähigkeit — der
Beri-Berimikroben in dem Masse durchdrungen sind, wie die mit ihren Unter-
suchungen im Vordergrunde stehenden niederländischen Forscher. Zufolge einer
von Pf kelb abing aufgestellten Uebersicht, betreffend die Zahl der Beri-Beri-
erkrankungen in Atjeh im Jahre 1887 gegenüber denen des Vorjahres
ist ein sehr beträchtlicher Rückgang der Krankenziffern unverkennbar. Es wurden
zunächst die Truppen und die Gefängnissinsassen der Colonie in 's Auge gefasst,
und in sämmtlichen Monaten des Jahres 1887 eine Minderheit von circa 50° 0
bei den Soldaten und eine noch grössere bei den Zwangsarbeitern, schon was die
Morbidität betrifft, constatirt. Die Mortalität sank von 303 Beri-Beritodten dea
92
BERI-BERI.
Jahres 1886 auf 85 im Jahre 1887, obwohl die Kopfstärke der Truppentheile
nicht ab-, sondern sogar etwas zunahm. Aach wurde die Sterblichkeitsberechnung
im Jahre 1887 strenger geführt als vorher, wo oft auf die Todesfälle der Eva-
cuirten nicht die genügende Rücksicht genommen worden ist. Da nicht nur die
Besserung der Zustände an sich unbestreitbar ist, sondern auch eine plötzliche
Wendung derselben, so macht Pekelharing zur Erklärung der letzteren, die
mit seinen Vorschlägen zur Desinficirung der Wohn- und Krankenräume (von
Beginn 1887) zusammenfiel, natürlich diese sanitäre Massregel geltend. Was die
Verwerthung der Ergebnisse bei den Gefangenen anlangt, so darf bei diesen
der wichtige Umstand nicht ausser Betracht gelassen werden, dass ein grosser
Theil derselben bereits beri berikrank ist oder noch öfter Beri-Berianfalle durch-
gemacht hat, bevor die Ueberftthrung nach Atjeh erfolgte. Aber eine Verbesserung
der Morbiditätsverhältnisse wie der Sterblichkeit ist auch bei dieser Kategorie
nach Einführung der Desinfection nicht in Abrede zu stellen.
Neben diesen Erfolgen der auf die bacilläre Theorie gegründeten Be-
ll andlunga weisen fehlt es aber auch heute noch nicht an solchen , welche unter
Berücksichtigung der alimentären Verhältnisse gewonnen wurden — und zwar
wiederum in Japan. Der dortige Surgeongeneral Takaki hat ganz besonderen
Werth darauf gelegt, den Antheil, welchen die Ernährungseigenthümlichkeiten der
Japaner an der Entstehung der Kak-ke haben, zu ermitteln und zunächst sein
Augenmerk auf die an Bord von japanischen Schiffen zu machenden Erfahrungen
gelenkt. Auf dem Schleppschiff Hiujio, welches von Yedo nach Neuseeland
272 Tage unterwegs war, kamen unter der 276 Köpfe betragenden Besatzung
im Ganzen 169 Beri Berifälle (mit 25 +) vor. Jedesmal, so oft die Nahrung stick-
stoffhaltige Ernährungsmittel in günstigerem Verhältniss aufwies, trat die Krank-
heit zurück. Ein ähnliches Experiment bot die 287tägige Reise des Cadetten-
schiffes Tsukuba insofern dar, als nur diejenigen jungen Leute auf ihm an Beri-
Beri erkrankten, welche einen Hauptbestandteil der stickstoffhaltigen Nährstoffe,
die condensirte Milch zu geniessen ausser Stande waren. Auch aus anderen ver-
gleichend statistischen Tafeln, die sich auf die Marinegefängnisse beziehen, ver-
mochte Takaki weitere Belege für seine Anschauung zu entnehmen. Wie die
Summen der Krankheitsanfalle sich an Zahl verminderte, so nahm aber auch die Zahl
der Verpflegungstage und die Dauer der Reconvalescenz ab, wenn für die Kak-ke-
kranken in den Hospitälern eine stickstoffreiche Extradiät eingeführt wurde. In
einer dieser Tafeln sank der Antheil der Kak ke an sämmtlichen Erkrankungs-
formen unter dem abgeänderten Regime von 27\30°/0 auf 0*59° 0. Auch auf eine
Reihe anderer Krankheitsgruppen übte die verbesserte Diät, wenn auch nicht in
solchem Masse, einen wesentlich bessernden Einfluss aus; so besonders auf die
Leiden der Verdauungsorgane.
Literatur. (Das nachstehende Verzeichniss knöpft genau an den Schluss des dem
Hauptartikel der Real-Encyclopädie, II. Aufl., Bd. II, pag. 638 beigegebenen an.) 1884: J. B. de
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93
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schichte und Kritik der bacteriologischen Erforschung der Beri-Berik rankheit. Geneeskund.
Tijdschr. voor Nederlandsch-Indie. XXIX, 2 en 3. Wem ich.
Berylliumverbindungen. Die Verbindungen des dem Aluminium nahe-
stehenden Metalles Beryllium wirken nach Thier versuchen mit löslichen organi-
schen Beryllsalzen auf Warmblüter 20 — 40mal so giftig wie Aluminiumsalze und
tödten bei wiederholter interner Einführung kleiner Mengen, während Aluminium-
salze nur anfangs Durchfälle erregen. In der Leiche mit Berylisalzeo vergifteter
Thiere finden sich intensive hämorrhagische und ulcerative Gastroenteritis, paren-
chymatöse Nephritis und Leberverfettung. Die Vergiftungserscheinungen bestehen
in Verlust der Fresslust, Durchfall mit nachfolgender hartnäckiger Verstopfung,
allgemeiner Abmagerung und Schwund der Eörpermusculatur, Abnahme der Harn-
secretion (mitunter Albuminurie), Mattigkeit, Trägheit, schliesslich Sopor und
starkem Sinken der Temperatur bis zu dem an respiratorischer Lähmung, häufig
nach terminalen Convulsionen erfolgenden Tode. Beryllsalze werden bei völliger
Integrität der Darmschleimhaut resorbirt und gehen in den Harn über.
Literatur: Siem, Ueber die Wirkung des Aluminiums nnd Berylliums.
Dorpat 1886. Th. Hasemann.
Be8Chäftigung8neur08en (vergl. Real-Encyclopädie, II. Aufl., Bd. II,
pag. 652). An die dort citirten Fälle von Melkerkrampf (1. c. pag. 667)
reiht sich ein neuer, von Remak j) mitgetheilter , welcher besonders dadurch
bemerkenswerth ist, dass bei der 30jährigen Kranken auch nach Aussetzen des
Melkversuches Krämpfe bis zu 15 Minuten in der rechten Hand mit Zusammen-
ballen der drei ersten Finger und Einschlagen des Daumens eintraten. Nach
Lösung der Contracturen durch galvanische Anodenbehandlung des Plexus und des
N. medianus ergab sich auch das Bestehen von Motilitäts- und Sensibilität**-
94
BESCHÄFTIGUNGSNEÜROSEN. — BEULEN.
Störungen im Medi anusgebiete , nämlich eine leichte Atrophie des Daumenballens
mit erschwerter Opposition des Daumens, mangelhafte Perception von Nadelstiehen
an der Ulnar- und Dorsalseite — die Sensibilitätsstörung übrigens aueh auf das
Hautgebiet des iVT. radialis superficialis übergreifend. Dabei war herabgesetzte
faradische Reizbarkeit der Daumenballenmuskeln und träge Zuckung im Opponeus
poll. nachweisbar, auch der Medianus über dem Handgelenk druckempfindlich. Es
musste also eine degenerative Neuritis des AT. medianus auf Grund
localisirter professioneller Schädlichkeiten als Ursache des „Melkerkrampfes" in
diesem Falle angenommen werden. Die von Rem ak für derartige Fälle vor-
geschlagene Bezeichnung „A rbeit spare senu dürfte zur Unterscheidung von
den eigentlichen ßeschäftigungsneurosen sehr glücklich gewählt sein. In diese
Kategorie gehört auch die von L. Bruns 2) neuerdings als „T r o mm 1 e r 1 ä h m u n gM
beschriebene isolirte Lähmung des linken Flexor pollici« longus (durch Ueberan-
strengung beim Halten des Trommelstockes). Auch hier handelte es sich um eine
per ipher-neuri tische Lähmung.
Ueber Beschäftigungsneurosen der oberen Extremitäten, besonders Ciavier-
spielerkrampf, hat Poore3) eine Abhandlung veröffentlicht. Er beobachtete
vom Ciavierspielerkrampf 21 Fälle, wovon 19 bei Frauen und 2 bei Männern;
als Hauptursache erscheint die schädliche Handhaltung mit fast ununterbrochener
Extension der Finger (ausgenommen die in Flexionsstellung arbeitende Endphalanx
derselben) und die Uebermtidung durch zu langes, oft 10 — 12 Stunden am Tage
dauerndes Ueben. Auch constitutionelle Schädlichkeiten anämischer, dyspeptischer,
rheumatischer Natur sind häufig betheiligt. Die Behandlung hat auf diese besonderen
Noxen Rücksicht zu nehmen ; ausserdem locale Behandlung , wobei auch der in
England und Amerika geübten Tenotomie Erwähnung geschieht (Trennung der
Bandfasern, welche die Extensionssehnen des Ringfingers beiderseitig mit den
benachbarten Extensionssehnen verbinden, um eine Kraftverbesserung bei der
Extension zu erzielen).
Als Auctionatorkrampf (auetioneers crampj ist von Zerner*) eine
angebliche Form sprachlicher Beschäftigungsneurose beschrieben worden. Der
Patient, der als Versteigerer irgend eine Zahl häufig wiederholen musste, bemerkte
zuerst, dass dies nicht mehr so leicht gelang wie früher, worauf später auch
Störungen in der gewöhnlichen Rede eintraten: bei jedem Sprachversuche eine
spastische Contraction verschiedener Gesichtsmuskeln, hauptsächlich des Orbicularis
oris auf der linken Seite. Hob der Kranke den linken Mundwinkel mit dem Finger,
so konnte er geläufig und präcis reden. Dabei bestand allgemeine nervöse
Depression. Die Diagnose war offenbar unsicher; einseitige Facialparese ? — Ueber
die ebenfalls den Beschäftigungsneurosen zuzurechnende ßeschäftigungsschwäche
der Stimme, Mogiphonie. vergl. Real Encyclopädie, II. Aufl., Bd. XIII, pag. 361.
Literatur: l) Remak, Deutsche med. Wochenschr. 1889. — Ä) L. Bruns, Neu-
rolog. Centralbl. 1890, Nr. 12 — ») G. Vi v. Poore, British med. Joura. 26. Februar 1887,
pag. 441. — *) Zern er. 12 th annual meeting of the American neurological association.
Journ. of nervous and mental disease. 1886, Nr. 9 and 10. Eulen bürg.
Beulen, endemische Beulen, Boutons. Die völlige Identität aiier
im Gesicht etc. auftretenden endemischen Beulen mit der zuerst von A. Rüssel
1756 geschilderten Aleppo-Beule ist seit jener Zeit nicht allein für eine Reihe
anderer Orte Syriens , Persiens , Indiens , für eine Reihe von Plätzen der nord-
afrikanischen Küste zwischen Egypten und Marocco, sondern auch für Kleinasien,
Cypern, Creta etc. festgestellt. Riehl schliesst sich der Anschauung von der
Einheitlichkeit der verschieden benannten Beulen an und giebt eine Darlegung seiner
dieselben betreffenden Forschungen unter der Collectivbezeichnung „Orientbeule",
wobei er vorläufig die Zugehörigkeit auch der Beulen in der Krim, in Taschkent, an
den Ufern des Tschirtschik dahingestellt sein lässt. Die erste Serie mikroskopischer
Objecte erhielt Riehl aus der (in Ofra acquirirten) Orientbeule eines Arztes, die
dieser sich exstirpiren liess. Weit auffallender als im Bereich der in etwas
BEULEN.
95
gelockerten, aber möglichst vollständig unterbrochenen Schichten der Epidermis
und des in ungleicher Mächtigkeit sich hinziehenden Bete Malpighi erwiesen sich
die das Corium betreffenden Veränderungen. Im centralen Theile der Beule erschien
bei oberflächlicher Betrachtung das ganze Gewebe der Cutis ersetzt durch ein
zelliges Infiltrat, welches nach der Peripherie hin in einzelne kleine Lager oder
Herde zerfiel, zwischen denen grössere Bindegewebszttge herliefen. Ganz am Rande
der Schnitte verschmachtigten sich die Infiltratherde zu schmalen Zügen, welche
die Gefässe begleiteten, resp. zu spindelförmig angeordneten Zellhäufchen, die in
örtlichen Beziehungen zu den Blut- und Lymphgefässchen, auch zu den Schweiss-
drttsenknäueln blieben, dagegen ganz unabhängig von den Haarbälgen und Talg-
drüsen sich erhielten. Das infiltrirende Gewebe bezeichnet Riehl als Granulations-
gewebe, dessen kleine Rundzellen besonders regelmässig in den centralen Partien
angeordnet waren ; doch fanden sich hier auch bei Tinctionsbehandlung schwächer
tingirbare ovale Zellen, dicht aneinander gedrängt, dann vielkernige Zellen und
Riesenzellen, vielfach etwas peripher gelagert; endlich innerhalb der glasig
gequollenen Reste von Bindegewebsbündeln auch Mastzellen. Wo sich grössere
Massen des Granulationsgewebes anhäuften, fanden sich zahlreich aus einer regressiven
Metamorphose der Zellen entstandene, in ihren Grössenverhältnissen sehr schwankende
Hyalinkugeln. Der bei weitem geringere Theil der Infiltrate bestand aus „einfach
entzündlichen Zellen" ; in den aus der Mitte der Geschwulst stammenden Schnitten
fand sich eine schmale, streifenförmige Gewebspartie mit den Zeichen der Necrose
ausgeprägt, und zwar da am deutlichsten, wo das Bete Malpighi sehr verdünnt
war. Den Hergang bei der Ausbreitung des Granulationsgewebes denkt Riehl
sich so, dass dasselbe von den centralen Theilen mehr und mehr das gesunde
Bindegewebe durchsetzt und dabei begleitet und unterstützt wird durch eine ent-
zündliche Infiltration. Leucocyten erfüllen darauf das Zwischengewebe und dringen
in die Granulationsherde selbst ein. Bei weiterer Zunahme der Ernährungsstörung
entwickelt sich motorischer Zerfall der ganzen infiltrirten Partie , welchem ein an
den verschiedenen Stellen mit ungleicher Schnelligkeit sich vollziehender Ulcerations-
process folgt. Ueber dio parasitäre Natur der infiltrirenden Substanz gab eine
Färbemethode mit Thymol Gentiana Aufschluss. nach deren Anwendung sich zahl-
reiche Coccen — kugelig, Diam. O l — l'l Mikren, weder Haufen noch Ketten
bildend — erkennen Hessen. Diese Mikroben lagen in den periphersten Schichten
des Infiltrats, sehr vereinzelt auch innerhalb der leucocytenartigen Gebilde, in
grossen Massen dagegen in den gequollenen epithelialen und in den Riesenzellen.
Jeder Ooccus liegt isolirt und hat, wie sich bei Anwendung von Entfärbungs-
methoden zeigt, eine Kapsel. Mit dem Material des Rieh Loschen Falles stellte
Dr. Paltauf Culturversuche an, die indess sowohl hinsichtlich der ectanthropen
Züchtung als der Uebertragung auf Thiere ebensowig Erfolg aufzuweisen hatten,
wie frühere von anderen Seiten unternommene gleichsinnige Bestrebungen.
Die eigenen Beobachtungen von Schweninger und Buzzi stützen sich
auf die Untersuchung von 6 Fällen der in Persien einheimischen Form von Aleppo-
Knoten (Salek), wie sie an den unbedeckten Körpertheilen — meist im Gesicht
und hier um den Jochbogen am äusseren Augenwinkel, am unteren Augenlid, an
der Wange, der Nasenspitze, seltener an der Nasenwurzel, der Stirn, dem oberen
Augenlid , an Armen und Beinen — , nie am Bart und am behaarten Kopftheil
oder an Handteller, Fusssohlen, Genitalien vorkommen. Die Träger der Affection
gehörten zur Deutschen Gesandtschaft in Teheran, der Eine war dort deutscher
Arzt ; die erste Entwicklung der Beulen hatte in Teheran ihren Anfang genommen.
Alle waren mit mehr oder minder grosser Wahrscheinlichkeit auf den Ausgangs-
punkt aus Moskitobeulen zurückzuführen. Der Verlauf war äusserst chronisch und
ohne Schmerzen. Die Verf. treten dafür ein, die Aleppo-Beulen von den Gruppen
der Hautaffectionen, in welche sie sonst wohl einbezogen sind, zu trennen; auch
vom Lupus, obwohl schon nach Pollak's Ausspruch „ein europäischer Arzt, der
nichts von Salek weiss, in Persien unter der bezeichneten Affection immer einen
96
BEULEN.
Lupus zu finden und ein persischer Arzt, in Europa einen Lupus sehend, des-
selben unfehlbar für Salek ausgeben würde". Als charakteristisch fflr letzteren
verdient der charakteristische, äusserst chronische, aber immer zur Heilung tendirende,
niemals Recidive bringende Verlauf in den Vordergrund gestellt zu werden. Die
Moskitos als Vermittler, Träger des die Beulen erzeugenden Giftes anzusehen,
erscheint berechtigt ; vielleicht fallt die gleiche Rolle auch Fliegen, vielleicht selbst
leblosen Medien (Wäsche, Kleidungsstacken) zu; Waschwasser ist ebenfalls —
wohl nicht mit Unrecht — in diesem Sinne verdächtigt worden. Trinkwasser-
Entstehungstheorien, die nicht fehlen, haben wenig Haltbares; auch die Disposition,
die man im lymphatischen Habitus hat entdecken wollen, bedarf einer sehr
kritischen Prüfung, wie vielleicht nicht minder die ganze differentialdiagnostische
Seite der gesammten Lehre von den endemischen Beulen.
Der reservirte Standpunkt, welchen Riehl sich hinsichtlich der in Tasch-
kent, wie auf mehreren anderen Schauplätzen Südrusslands, beziehungsweise Trans-
kaspiens beobachteten Beulen noch wahren zu sollen glaubte, dürfte kaum noeh
festzuhalten sein. Jedenfalls ist ein Urtheil neuerdings bedeutend leichter zu gewinnen,
da die russischen Truppeoconcentrationen im Transkaspigebiete einer Reihe von
Beobachtern (s. Literatur) Gelegenheit geboten haben, sich mit einer neuen
Form der endemischen Geschwüre, dem Pendhe-, Penjde-, Penshde-
geschwür bekannt zu machen und dasselbe näher zu beschreiben. Ueberein-
stimmend werden folgende Charaktere der Affection angegeben: Das Geschwür,
beginnend mit einem hirsekorn grossen Fleck, prädilectorisch an den Unterextremi-
täten, sich bald zu einem hanfkorngrossen , mit speckigem Grunde versehenen
Krater erweiternd, befallt Einheimische wie Zugereiste. Mehrere Geschwüre können
confluiren , bilden dann umfangreiche Ulcerationen bis Thalergrösse , verursachen
rosenkranzförmige Lymphangitiden, eitern lebhaft. Die Verheilung und Vernarbung
geht mittelst warziger Granulationen vor sich. Die Narben sind meist vertieft,
beweglich, nach einiger Zeit weiss. Ausser dem Fuss (Gegend des Fussgelenkes)
bilden auch die Handgelenke, die Stelle des Leibes, wo der Gürtel aufliegt, Stirn,
Hals, Gesicht noch Lieblingsstellen. Ljubetzki hatte Gelegenheit, die geogra-
phische Begrenzung zu studiren und fand das Geschwür besonders verbreitet um
Merw und — neben Pendhe — noch um Dasch-Kepri, sporadisch aber im gauzen
Murghab-Thal. Heydenreich fand, epeciell zur bacterioskopischen Untersuchung
von Petersburg entsandt, einen mit den Mikroben der Biskra-Beule identischen
Mikroparasiten im Geschwür und erzeugte Wiederholungen desselben an Hunden
durch subcutane Injection der mit Sand verriebenen Culturen. Die Contagiosität
des Pendhegeschwüres unterliegt noch der Controverse, Quecksilberpräparate und
Jodoform erwiesen sich heilsam.
Anlässlich der Vorstellung eines Falles von Bouton d'Aleppo gab
Kaposi die folgende Schilderung der Entwicklung der Krankheit. Ohne bekannte
äussere Veranlassung entsteht auf einer Hautstelle, zumeist des Gesichtes oder
der Streckseife der Hände und Fasse, häufig in der Nähe der Gelenke, wie ange-
geben wird, nie auf der Flachhand und Fusssohle, — ein rother, urticariaähnlicher
Fleck von Linsengrösse oder etwas darüber, flach erhaben, mässig juckend. Ganz
allmälig, binnen mehreren Wochen, 2 — 4 Monaten, bildet sich der Fleck zu einem
erbsen- , lohnen- , nussgrossen , bis über wallnussgrossen , rothbraunen , länglich
runden, furunkelähnlichen, hervorragenden derben Knoten heran, dessen mittlere
Oberfläche von dünnen trockenen Schüppchen oder gelblichbraunen Krüstehen
bedeckt oder oberflächlich excoriirt erscheint. Um den 5. — 6. Monat pflegt rascher
Zerfall des centralen Theiles von der Oberfläche her sich einzustellen und bildet
sich allmälig ein Substanzverlust heraus, welcher als ein kraterförmig ausgehöhltes
torpides Geschwür mit serös-viscider Secretion sich darstellt. Nach kürzerer oder
längerer Frist stellt sich eine grössere Succulenz des Grundes und Randes ein,
die bei Berührung leichter als zu Anfang bluten, womit auch vom Grunde her
Fleischwärzchenbildung auftritt und der Substanzverlust rasch verheilt, während
BEULEN.
97
das Infiltrat der Umgebung sich verliert. Eine dem Umfange und der Form des
Geschwüres entsprechende Narbe bleibt als Folge des Bonton zurück. In der
Regel findet sich an dem Betroffenen nur ein Knoten (männlicher Bonton); doch
kommen auch Fälle von mehreren, 8 — 12 und darüber, gleichzeitigen Beulen vor
(weiblicher Bouton). Man erkrankt im Leben nur einmal an dem Uebel.
Als Themata für zwei bezügliche Arbeiten wählten sich Boinet und
Deperet mehrere Punkte aus der Pathologie der Gafsa-Beule zur Er-
örterung aus. Das Terrain des Vorkommens ist ziemlich beschränkt, nämlich auf
die Region der Schotts, etwa bis zur tripolitanischen Grenze, also Gafsa, El Guettar,
Tozer, Nefta, Djerid. Schon in Sphax und Gabes ist die Beule unbekannt; auch
die Oasen von Süd-Tunis erscheinen vollkommen immun. Die Jahreszeit des Auf-
tretens ist der Herbst: Ende September; Personen, die um diese Zeit in Gafsa
anlangen, aequiriren die Beule oft in wenigen Tagen, besonders sind um diese
Jahreszeit Europäer bedroht. — Specieller mitgetheilt wird eine Beobachtung,
welche das spontane Auftreten des Leidens an einer Hündin betrifft, welche es
drei Jungen noch mittheilte, nachdem bei ihr selbst bereits eine vollständige Ver-
narbung der Beulen stattgefunden hatte. Auf ihre mit Culturflüssigkeiten des
Mikroben der Beule angestellten Versuche kommen die Verf. zurück, um zu
erwähnen, dass jene Flüssigkeiten nach einer gewissen Zeit an Virulenz «inbüssen
und in diesem Zustande die Qualität von Schutzflüssigkeiten — vaccinale Kraft —
zu haben scheinen. Mittelst Impfmaterials von Kranken des südlichen Tunis waren
dieselben Verf. bemüht, Inoculationen auszuführen, welche bei Meerschweinchen
einen schwankenden, bei Kaninchen und Pferden aber den ziemlich constanten
Erfolg hatten, dass Ulcerationen ganz ähnlich der Beule am Menschen erzeugt
wurden. Zu Inoculationsmaterial konnte die frisch austretende Lymphe, wie auch
die angetrockneten Borken mit gleich positivem Erfolge benutzt werden ; auch
Culturflüssigkeiten, in denen der „Mikrococcus" rein dargestellt wurde, gaben ein
wirksames Impfmaterial.
Für die Biskra-Beule behauptete Vidal (zum Theil unter Bezug-
nahme auf die sogleich zu erwähnende DuCLOüx'sche Arbeit) sowohl den infectiösen
Charakter als die Uebertragbarkeit vom kranken auf gesunde Theile. Derselbe
Forscher nahm auch Veranlassung, einen histologischen Befund Raymond's mitzu-
theilen, der von den Befunden sonstiger Forscher etwas abwich: es zeigten sich
im Umfang der Beule die Epidermislager durch eine förmliche Membran verdrängt,
die aus kleinen, abgeplatteten Zellen mit leicht sichtbar zu machenden Kern wie
ein Mosaik zusammengefügt war.
Von einem tunesischen Kranken, der speciell am Vorderarm eine Anzahl
Biskra-Beulen aufzuweisen hatte, entnahmen Dücloüx und Heydenreich
Blut und züchteten daraus einen Mikroben. Bei der Lückenhaftigkeit, in welcher
sie ihre Beschreibung der Reinzüchtungsversuche halten und bei dem Fehlen jeder
Abbildung, selbst jeder genaueren Schilderung des vermutheten „Coccus", recht-
fertigt sich ein Eingehen auf die Entdeckung nur durch die Sicherheit, mit
welcher die Infectionsversuche an Thieren gelungen zu sein scheinen. Dieselben
wurden an Kaninchen angestellt und erzielten — an zum Theil weit von der
Impfstelle entfernten Körperstellen — zuerst Papeln, dann Exulcerationen, welche
man mit Sicherheit als modiflcirte Beulen ansprechen konnte ; allerdings entwickelten
sie sich mit einer von dem am Menschen bekannten Tempo gänzlich abweichenden
Schnelligkeit. Unsicherer wird der Zusammenhang wiederum dadurch, dass ander-
weitige Kaninchen, denen von der Mikrobencultur grössere Quantitäten intraperi-
toneal oder intravenös beigebracht wurden, ganz anderen Krankheitszuständen
dadurch anheimfallen, so einer ausgedehnten Lymphangitis, intensiver Pericarditis.
Die Verf. versuchen hierfür die Erklärung — nicht dass ihr Mikroorganismen-
material möglicherweise sehr verschiedene Dinge enthielt, sondern — dass es
hiernach Mikroben gebe, die verschiedene Krankheitszustände hervorzubringen im
Stande seien.
JEnoyelop. Jahrbücher. I. *l
98
BEULEN. — BIER.
Cunningham entdeckte mittelst der Gen tianaviolett - Färbemethode im
Grunde derDelhi-BeuleneinenMikroorganismus, der seinen gewöhn-
lichen Sitz mitten unter den hier angehäuften Lymphzellen hatte. Grosse Variationen
in seinen Grössenverhältnissen darbietend, auch der Gestalt nach bald rund, bald
elliptisch, theils gelappt (lobate), soll der Mikrobe die Lymphkörperchen meistens
an Grösse überragen. In seinem Inneren unterschied Cunningham kernförmige
Körperchen, welche besonders chromatophil erschienen und zuweilen gegenseitige
Lagerungsverhältnisse wie die einzelnen Körperchen bei Actinomycosis zeigten.
In dem granulirenden Gewebe am Papillarkörper der Haut war der häufigste Sitz
des Mikroben, nur ausnahmsweise fand man ihn auch in den schon der Epidermis
angehörigen Schichten. Eine Classification der Gebilde wird versucht durch die
Angabe, dass sie den Monadinen angehören könnten. Die Vermutbungen Aber
ihr Eindringen in die Haut, Aber ihr Verhalten zu den Haarfollikeln und Schweiss-
dr tisen bedürfen anscheinend noch weiterer Untersuchungen, um in ihrem Mecha-
nismus klar zu sein. Die Art, wie die Mikroparasiten sich in der Haut ansiedeln
und vertheilen, würde die freie Excision in der Therapie der Delhi-Beule als
souveränstes Mittel erscheinen lassen (vergl. im Literaturverzeichniss Coustan).
Literatur: 1884. Ch. Deperet nnd Ed. Boinet, Du bouton de Gafsa au camp
de Sathonay. Anh. de med. milit. Nr. 8. — E. Ducloux und L. Heydenr«ich, JsÜude d'utt
microbe rencontre rhez un malade atieint de Vaffection appelde clou de Biskra. Arch. de
phys. norm, et pathol. Nr. 6; auch Gaz. hebd. de med. et de chir. Nr. 24. — Ed. Boinet
nnd Ch. Deperet, Nouveaux faits rilatifs ä Vhistoire du bouton de Gafsa. Arch. de med.
milit. Nr. 23; auch in Bull, de 1'Acad. de med. Nr. 25. — Kaposi, Demonstration eines Falles
von Bouton d'Alep. Wiener med. Bl. Nr. 46. — E. Dnclanx, Ütude d'un microbe rencontre
nur un malade atteint de clou de Biskra. Annales de Dermat. V, Nr. 7. — Coustan, Note
relative au traitement du clou de Biskra. Arch. de med. et pharm, milit. Nr. 13 (10 schwere
Fälle, geheilt nach dem Fehlschlagen aller sonstigen Mittel durch Listerverbände). —
1886. Vulvkre de Penjdi. Gaz. hebd. de med. et de chir. Nr. 22. — Ssuski, Kurze Bemer-
kungen über das Pendhegeschwür. W ratsch. Nr. 9. — Ljubetzki, Ueber das Pendhegeschwür.
Ibid. Nr. 18. — P. Welitschk in, Pendhegeschwür. Ibid. Nr. 19. [Finkel stein , Das
Pendhegeschwür. Prot. kawk. Ob. 18^-5. Nr. 11.] — Gustav Riehl, Zur Anat. und Aetiol. der
Orientbeule. Vierteljahrschr. für Dermat. und Syphil., pag. 805. — Cunningham, A peculiar
parasitic organism in the Delhi boil. Scientif. memoire of med. officers of the Anny of
India. Part. 1. Calcntta 1885. Ref. in Phil. med. and Surg. Rep. Oct. 2. — Riehl, Ueber
die Orientbeule. Wiener med. Wocbenschr. 1887, Nr. 1. — Vi dal, Du bouton de Biskra.
Semaine med. 6. Avril. (Ref in Annal. de Dermat. 1888, Ser. IX.) — E. Schweninger
und F. Buzzi, Casuisti-che Beiträge aus der dermatol. Klinik- I. Ueber endemische Beulen
(Bouton d'Orient, d'Alep, Salek etc.). Chariie-Aunalen. 1889, XIV, pag. 718. Wernich
Bier. Zu junges, d.h. ungenügend vergohrenes Bier wirkt
nach den Untersuchungen von Mori (Archiv f. Hygiene. VII), durch seinen Gehalt
an Hopfenharz, beziehungsweise wenig bekannten Hopfenstoffen , direct schädlich
auf die Harnorgane. Blasenkrampf, Brennen in der Harnröhre kann man in gleicher
Weise durch Decocte von Hopfen erzeugen. Die Hopfenharze fallen erst im weiteren
Verlaufe der Gährung in genügender Weise aus dem Biere aus. Bei der Unter-
suchung des Bieres erkennt man, ob das Bier zu jung ist, durch die Bestimmung
des Vergährungsgrades (V). Man bezeichnet als solchen das Verhftltniss
der durch die Gährung verschwundenen (d. h. in Kohlensäure nnd in Alkohol
verwandelten) Extractmenge, e — E, zu der gesammten in der Würze enthaltenen e
lOU (E— — e)
(welche den Ausdruck für die Würzeconcentration bildet) V = — =
= 100.(1 — I. Ergiebt die Berechnung weniger als 48% Vergährungsgrad,
dann ist das Bier als ungenügend vergohren zu bezeichnen. Nur bei Luxusbieren
darf der Vergährungsgrad wegen des hohen Extractgehaltes bis 45% herab-
gehen; schon bei diesem Vergährungsgrade ist Alkohol in genügender Menge
enthalten, um die Abscheid ung der Hopfenharze zu bewirken und das Bier haltbar
zu machen.
Saures Bier, wenn auch für den Gesunden oft unschädlich, ist doch
für Menschen mit empfindlichen Verdauungsorganen bedenklich.
BIER. — BLAUSÄURE.
99
Aubry und H. Vogel stellten bei der V. Vereiniguug bayerischer Chemiker in
Würzburg folgende Thesen über saures Bier auf: 1. Jedes Bier, welches sich durch einen
auffallend sauren nod schlechten Geschmack auszeichnet, dessen Acidität 3 Ccm. Normalkali
entsprechend 0*27 Grm. Aailchsame in 100 Grm. Bier überschreitet und in dessen Absatz und
snspendirt sich gegenüber der Hefe vorwiegend Säurebacterien nachweist n lassen, ist als
saner zu bezeichnen. 2. Jedes Bier, dessen Gesammtaciditäi die nach den Vereinbarungen
gesetzte Greine nicht überschreitet, das aber grössere Mengen von Essigsäure enthält, ist als
saner zu bezeichnen, wenn die Menge des lttztertn aus 100 Ccm. Bier mehr als 1 Ccm.
1 10 Normallange zur Neutralisation erfordert, d.h. 0006 Grm. Essigsäure enthält.
Ueber die Gesundheit Schädlichkeit hef etrüber Bier e ist noch wenig
Sicheres bekannt. Im gäbrenden Most trinken wir ganze Massen von Hefe, den
französischen Gefangenen worden 1871 gegen Scorbut in Ingolstadt täglich zwei
Esslöffel Bierhefe „mit bestem Erfolge" gereicht; andererseits sind nach Genuss
befetrüber Biere doch auch schwere Magendarmcatarrhe beobachtet worden,
v. Pettenkofee ist der Ansicht, dass nur schlecht vergohrene Biere, wenn sie
hefetrtlbe sind, schädlich wirken, weil mit der Hefe auch eine genügende Menge
Nährsubstanz gleichzeitig eingeführt wird, so dass sich die Hefe im Magen ver-
mehren kann. Er hält ferner für möglich, dass nur gewisse Hefearten schädlich
sind , oder dass nur gewisse zuweilen die Hefe begleitende Spaltpilze schädlich
sind, die Hefe an sich aber unschädlich ist.
Literatur: S. Simanowsky, Ueber die Gesundbeitsschädlichkeit We trüber
Biere. Arch. f. Hygiene. IV. L o e b i s c h.
Blausäure (vergl. Real-Encyclopädie, II. Aufl., Bd. III, pag. 84). Nach
den Versuchen Geppert's x) über den Gaswechsel bei Blausäurevergiftung ist
diese als innere Erstickung der Organe bei Gegenwart überschüssigen Sauerstoffs
aufzufassen. Die Blausäure entzieht den. Muskeln die Fähigkeit, Sauerstoff zu
binden, in Folge wovon nicht allein der Sauerstoffverbrauch , sondern auch die
Rohlen8äureausscheidung herabgesetzt wird. Steigerung des Sauerstoffverbrauchs
kommt nur ganz im Anfange der Blausäureintoxication vor, dann folgt ohne
besondere andere Erscheinung rascher Abfall, der im Stadium der Krämpfe an-
dauert und erst im asphyctischen Stadium wieder etwas geringer wird. Im
arteriellen Blut kann die Kohlensäure selbst auf 1 3 der Norm, in den Venen
kann sie selbst unter den Gehalt normalen arteriellen Blutes sinken, woraus sich
die hellrothe Färbung des gesammten Blutes erklärt. Die früher angenommene
festere Bindung des Sauerstoffes findet nicht statt, da einerseits das hellrothe Blut
während der Vergiftung wieder dunkler wird, andererseits auch der Sauerstoff
dem Blute durch Wasserstoffathmung leicht entzogen werden kann. Die Wirkung
der Blausäure auf die Sauerstoffbindung ist sowohl von der Einwirkung des
Giftes auf die Nervencentren, die vielmehr zum Theil , wie die rapiden Athem-
stillstände, möglicherweise selbst auf gehemmter Sauerstoffbindung beruht, als
auch von der Temperatur unabhängig.
Dass die Blausäure auch cumulative Wirkungen hat und chronische Ver-
giftung zu Stande bringen kann, zeigen mit Bittermandelwasser (2mal täglich
10 Tropfen) angestellte Versuche Taube's2), in denen constant nach 3 — 5 Tagen
anhaltender, starker Schnupfen mit Stirnkopfschmerz, Pharyngitis mit starker
Secretion, Druckgefühl auf der Brust mit Husten, Müdigkeitsgefühl und unruhiger
Schlaf, Schwindel, Ohnmachtsanwandlungen und abnorme Empfindlichkeit gegen
Geräusche eintraten. Die Erscheinungen erinnern an die leichten Vergiftungen durch
die beim Versilbern mit Kaliumsilbercyanid sich entwickelnden Blausäure-
vergiftungen, von denen Martin 8) einen neuen Fall beschrieben hat.
Eine durch Blausäureabspaltung giftige Verbindung ist nach Hermann
und Davidsohn 4) das Nitroprussidnatrium, das bei Anwesenheit von
Eiweissstoffen bei Körpertemperatur rasch Blausäure exhalirt. Bei vergifteten
Thieren zeigt der Athem deutlichen Blausäuregeruch und im Blute lässt sich Blausäure
ehemisch darthun. Die Vergiftungserscheinungen treten bei Warmblütern in
15 Minuten, bei Kaltblütern sogar erst in einigen Stunden ein.
100
BLAUSÄURE. - BLEI.
Literatur: ') Geppert, Zeitschr. f. klin. Med. XV, pag. 208, 306. — ') Taube,
Ein Beitrag zur Wirkung des Aqua Amygdalarum amararum. Greifswald 1883. — 8) Marti h,
Friedreich's BI. 188S, pag. 3. — 4) Davidsohn, Versuche über die Wirkung des Nitro-
prussidnatriums. Königsberg 1888. xh. Husemann.
BleichSliCht, Aderlassbehandlung, s. Ad er las 8, pag. 28—31.
Blei (vergl. Real-Encyclopädie, II. Aufl., Bd. III, pag. 94). Dass acute
Bleivergiftung nicht bloa durch Bleiacetat, sondern auch durch Blei-
carbonat hervorgerufen werden kann, zeigt der von Freyer1) commentirte
Tod einer 30jährigen Frau, welche in abortiver Absicht 45 Grm. Bleiweiss ein-
genommen hatte. Derselbe erfolgte am vierten Tage, nachdem zuerst l/s Stunde
nach dem Einnehmen heftiger Durst und Erbrechen mit Schmerzen im Hinter-
kopfe und im Kreuze , später (am vierten Tage) Convulsionen eingetreten waren,
und bei der Section fand sich die Magenschleimhaut in der Nähe des Duodenum
röthlich, im Fundus schwärzlich, wie mit Kohlenstaub bestreut, nirgends angeätzt.
Der Bleisaum fehlte und in der Leiche fanden sich nur Spuren von Blei.
Eine Reihe neuer ätiologischer Momente für das Zustande-
kommen von chronischem Saturnismus hat sich in den letzten Jahren
ergeben. Die gewerbliche Bleivergiftung wird dabei repräsentirt durch Arbeiter in
Cartonfabriken, welche das Bekleben mit Miniumorange gefärbter Streifen, von
denen jeder 12 Mgrm. Blei enthält, besorgen müssen2), durch Arbeiter, welche
das Einhüllen präparirter, mit Bleinitratlösung erwärmter Kohle (Braise chimique)
besorgen und den bleihaltigen Kohlenstaub inhaliren 8), durch Jaquartweber,
welche in Folge der Reibung der die Fäden der Ketten in Spannung haltenden
Bleigewichte Staub athmen, welcher 56*80°/0 Pb enthält4), durch Telegraphen-
aufseher, welche mit Blei in doppelter Weise in Berührung kommen können,
einmal mit Telegraphendrähten, die mit bleihaltigem Zink überzogen sind, dann
beim Reinigen der Bleifassung der in Frankreich meist benutzten Lbclanche-
schen Batterien , welche durch Salmiaklösung angegriffen wird 6) ; endlich durch
Arbeiter, welche den Staub mit Chromgelb gefärbter Garne beim Abhaspeln ein-
athmen. 6) Eigenthümlich ist eine medicinale Vergiftung bei einem Säuglinge,
dessen Mutter Bleisalbe gegen Schrunden der Brustwarze gebrauchte.7) Reicher
vertreten ist die Zahl der Intoxicationen durch bleihaltiges Wasser, das in ver-
schiedenen englischen Städten, wie Tredegar in Monmouthshire ö), Sheffield 9) und
in Deutschland in Dessau 10) zu Massenerkrankungen Anlass wurde. Die Vorkomm-
nisse bieten aufs Neue Belege zu der Thatsache, dass besonders weiches, wenig
Kalksalze enthaltendes Wasser dazu prädisponirt , dass Blei (in den fraglichen
Endemien 9 — 10 Mgrm., in Dessau selbst bis 40 Mgrm. im Liter) in Wasser
gelöst wird. In Sheffield zeigte das aus einem mit Torf bedeckten Territorium
stammende Wasser sauere Reaction. Eine viel ausgedehntere Saturnismusepidemie
mit zahlreichen Todesfallen führte in Philadelphia der Gebrauch von Bleichromat
zum Gelbfärben von Cakes und anderen Backwerks herbei. ll)
Durch die letzterwähnte Massenerkrankung ist auch der Beweis geliefert,
dass der chronische Saturnismus nicht selten unter Erscheinungen auftritt,
welche von den bekannten Formen wesentlich abweichen. So wurden manche
Fälle von schwerer Anämie, peripherer Neuritis, spastischer Paralyse, Neurasthenie
und selbst von Manie, periodischem Tremor und typischer Paralysis agitons durch
die Harnuntersuchung als wahrscheinliche Folge von Chrombleivergiftung nach-
gewiesen. Auch an Sclerose erinnernde Zufalle (Tremor universalis mit Auf-
hebung des Patellarreflexes und Fussphänomens, mit langsamer Sprache, jedoch
ohne Nystagmus) kommen als Folge von Blei vor. 12) Von besonderer Bedeutung
erachtet Stewart die Beziehungen zu Herzaffectionen, indem er einerseits Palpi-
tationeu mit Kurzathmigkeit und starker Pulsbeschleunigung, andererseits wirk-
liche Hypertrophie und Dilatation des Herzens im Laufe der Bleivergiftung ent-
stehen sah. Der bei Bleikranken sehr häufige abnorm starke Herzimpuls mit
Accentuirung des zweiten Aortentons und starker Spannung der Arterien lässt
BLEI.
101
im Zusammenhang mit der constanten Anämie und mangelhaften Ernährung selbst
günstige Bedingungen für die Entwicklang von Klappenfehlern nieht verkennen,
wie denn auch von verschiedenen Autoren (Dcrosiez, Trksillian) geradezu
chronische Endocarditis und Insuffizienz der Mitralis oder andere Klappenfehler
anf Bleivergiftung bezogen werden. Hypertrophie und Dilatation des Herzens
kann übrigens nach Leydbn 18) auch eine unter dem Bilde der rothen Granular-
atrophie Bich darstellende Nierenaffection begleiten , welche als saturnines Leiden
aufzufassen ist, da sie einerseits bei jugendlichen, nicht cachectischen Arbeitern
vorkommt, andererseits die anatomische Eigentümlichkeit zeigt, dass eine ver-
hältni8smä8sig geringe Schicht der Nierenrinde ausschliesslich erkrankt und nur
die kleinen Arterienäste hyalin degeneriren, während die grösseren höchstens
geringfügige Hypertrophie der Intima zeigen.
Von besonderem Interesse sind die neuesten experimentellen Studien über
Bleivergiftung, insoferne es Prevost und Binet14) gelungen ist, durch Monate
lange Verffltterung von Bleisalzen nicht nur Erscheinungen von Cachexie und
colossaler Anämie und Gewichtsabnahme (selbst bis auf 1 3 des ursprünglichen
Gewichtes), sondern auch wirkliche Neuritis peripherica zu erzeugen. Diese Ver-
änderungen resultiren nicht durch Einführung von Bleiplatten unter die Uaut oder
in die Bauchhöhle, noch auch durch subcutane Application von Bleichlorid-, Blei-
acetat- nnd Bleipeptonatlösungen , noch durch intravenöse Einführung von Blei-
alb uminat oder Bleipeptonat. Die bei Verfütterung entstehenden nervösen Er-
scheinungen stellen sich namentlich als eigenthümliche Lähmungserscheinungen
am Hintertheil, besonders Schwäche der Extenso res digitorum , Abstumpfung der
tactilen und thermischen Empfindung, mitunter in Form von Analgesie und Ab-
nahme der Patellarreflexe dar. Anatomisch ist Neuritis peripherica , die besonders
den Ischiadicus betrifft, während Nervenwurzeln und Vagus frei bleiben und
Muskelatrophie das Leiden niemals begleitet, immer erst nach mehreren Monaten
nachweisbar; in der Periode der Reconvalescenz finden sich schmale varicöse
Fasern mit enormen Mengen von Kernen der Neuroglien.
Der von Prevost und Binet gemachte eigenthümliche Befund in den
Nieren mit Blei chronisch vergifteter Thiere, interstitielle Nephritis mit Kalk-
ablagerungen, ist bisher bei bleikranken Menschen nicht angetroffen worden. Von
den Kalkdepöts der Hydrargyrose unterscheiden sich diejenigen des Saturnisraus
durch ihre chemische Natur (pbosphorsaurer Kalk), durch ihren Sitz ausserhalb
der Tubuli und durch das Fehlen gleichzeitiger Entkalkung der Knochen.
Die Verlheilung des Blei bei chronischem Saturnismus gestaltet sich bei
Thieren so, dass die Nieren stets die relativ, meist auch die absolut grösste
Menge enthalten, darnach folgen die Knochen, welche das Metall wahrscheinlich
als saures Phosphat enthalten, da es aus der calcinirten Masse nicht durch
Schwefelsäure, wohl aber durch Salpetersäure aufgenommen wird; die übrigen
Tbeile enthalten nur wenig Blei (Leber und Testikel mehr als Gehirn und Blut)c
Die Elimination geschieht bei Thieren nur äusserst langsam, so dass selbst vier
Monate nach Aufhören der Bleizufuhr und selbst nach vorheriger Anstellung von
Entbleiungsversuchen mittelst Jodkalium noch reichlich Pb in Nieren und Knochen
existirt (Prävost und Binet).
Inwieweit die Verhältnisse der Vertheilung des Bleies bei kleinen
Thieren (Prevost und Binet benutzten namentlich Ratten, Meerschweinchen und
Kaninchen als Versuchsthiere) auch auf den Menschen zutreffen, ist fraglich, da
ja wiederholt grössere Mengen im Gehirne gefunden wurden. Aus dem Gehirne
einer an Epilepsia satumina zu Grunde Gegangenen isolirte Blyth 1 17 Mgrm.
Bleisulfat. 16) Das Kleinhirn enthielt relativ mehr als das Grosshirn ; die Haupt-
masse (s/i) war dabei in den mit Alkohol und Aether ausziehbaren, N- und P-
haltigen Stoffen vorhanden.
Literatur: *) Freyer, Therap. Monatsh. 1888, pag. 444. — 8) Dugnet, Rev.
dTiyg. 1888, pag. 124. — 8) Dugnet, Gaz. Höp. 1885, Nr. 11. — «) Schuber, Viertel-
102
BLEI. — BLITZSCHLAG.
jahreschr. f. Geßundheitspfl. 1885, pag. 274. — *) Fleury, Rev. d'hyg. 1885, pag. 285. —
6) Smith, Glasgow, med. Journ. April 1885, pag. 345; Weyl, Zeitschr. f. Hyg. 1889, VI,
pag. 369. - ^ Van Hove, Ball. med. de Gand. 1889, pag. 151. — 8) Brown, Practit.
1884, XXXIII, pag. 396. — •) Thome, Pract. Dec. 1885. — 10) Wolffhügel, Arb. k.
Gesundheitsamt. 1887. II, pag. 1. — n) Marshall. Amer. med. News. 1. Jan. 1888. —
Stewart, Ebenda. 18. Juni, 27. Ang. 1886, 26. Jan. 1889. — 1?) Tresillian, Brit. med.
Jonrn. 29. Nov. 1889. — IS) Leyden, Deutsch, med. Wochenschr. 1883. Nr. 13, pag. 385. —
14) Prevost und Binet, Rev. m6d. Suisse. Oct., Nov. 1889. — Blyth, Jouro. of ment. Sc.
Jan. 18*8, pag. 48J. Th. Hagem inn.
Blepharitis CÜiariS. Als häufige Ursache der Blepharitis ulcerosa
führt Fuchs die von ihm zuerst beobachtete angeborene Kürze der Lidhaut an.
Wenn man die Entfernung des freien Lidrandes bei leicht geschlossener Lidspalte
von der Mitte der Augenbrauen misst, so erhält man die Lidhöhe. Zieht man das
am freien Rande gefasste Oberlid herab, spannt es leicht an, und misst dann
abermals, erhält man die verticale Ausdehnung der Lidhaut. Der Werth des
Coefficienten dieser beiden Grössen darf beim Erwachsenen nicht unter 1*5 sinken.
Ist der Lidschluss nicht exact, so dass die Lidspalten im Schlafe nicht genügend
geschlossen werden, so kann dadurch Blepharitis entstehen. Verband der Augen
mittelst eines dick mit weisser Präcipitatsalbe bestrichenen Läppchens wird
empfohlen. Dieses ätiologische Moment hat jedoch bisher noch nicht genügende
Berücksichtigung erfahren.
Stillixg wendet gegen Blepharitis, wie er angiebt mit grossem Erfolge,
eine 2°;0ige Pyoctaninsalbe oder gehöriges Touchiren der Haarwurzeln mit dem
Stifte an. Die Heilung erfolgt in wenigen Tagen. Wegen der weniger auffallenden
Färbung empfiehlt er den gelben Stoff.
Literatur: Fuchs, Archiv f. Ophthalm. 1685, XXXI, 2. — Stilling, Anilin-
farbstoffe als Antiseptica. Strassburg 1890, 2. Abth. v. Renas.
Blitzschlag, charcot hat in einem Vortrage, über die Wirkungen des
Blitzschlages auf das Nervensystem" (vom Verfasser autorisirte deutsche Ueber-
setzung in: Wiener med. Wochenschr. 1890, Nr. 1, 2, 3) auf Grund eingehender
Untersuchungen eines vom Blitze getroffenen 45jährigen Mannes einige neue
Tbatsachen über die Folgen des Blitzschlages bekannt gemacht. Es giebt
2 Formen des Blitzes, den Zickzackblitz, und den allerdings selteneren und weniger
gekannten Kugelblitz. Der Patient Charcot's ist nun dadurch interessant, dass er
die Blitzerscheinung gesehen und das folgende Rollen des Donners gehört hat, im
Gegensatze zu dem gewöhnlichen Vorkommniss, dass der vom Blitze Getroffene
den Blitzstrahl nicht sieht und überhaupt völlig bewusstlos ist. Charcot betrachtet
dies als eine dem raketen- oder kugelförmigen Blitz (foudre en fusee ou en globe)
wegen des weniger raschen Ablaufes der Erscheinungen zukommende Eigentüm-
lichkeit. Als Störung der Gehirnfunctionen war ein Symptomencomplex vorhanden,
der als „Delirium der vom Blitze Getroffenen" bezeichnet wird, überdies central
bedingte linksseitige Parese und Anästhesie.
Dies waren die hervorstechendsten unmittelbaren Blitzwirkungen.
Dazu gesellten sich nun in der Folge secundäre Erscheinungen, welche direct
mit dem Blitzschlage gar nichts zu thun haben. Dieselben bestehen in vollständigem
Mangel des Geschmacks- und Geruchssinnes linkerseits, in concentrischer Ein-
schränkung des Gesichtsfeldes um 30° für das linke und um 70° für das rechte
Auge, Anästhesie des Rachens, Krampf der Oberlippe, Stottern. Später traten
schwere, zum Theile sogar mit Bewusstlosigkeit verlaufende Krampfanfalle (Wein-
krampf) auf, denen eine deutliche Aura vorherging. Unter dem linken Rippen -
bogenrande war ein Schmerzpunkt, durch dessen Druck alle Symptome der Aura
hervorgerufen werden. Dieser mit den traumatischen Neurosen nach Eisenbahn-
Unfällen („Eisenbahnneurose", „Railwayspine") zu vergleichende Zustand ist nach
Chakcot wirkliche Hysterie, so dass er folgende Sätze aufstellt: 1. In Fällen von
Blitzschlag muss man sich ausser den nervösen Störungen, die direct von der
BLITZSCHLAG. — BLUTANÜMAUEN.
103
elektrischen Erschütterung abhängig sind, auf das Eintreten der Hysterie gefasst
machen. 2. Wenn ein partieller Blitzschlag eine einfache Lähmung erzeugt , und
wenn die Hysterie hinzutritt, so kann sieh die hysterische Lähmung hinzugesellen
und später die ursprüngliche Lähmung substituiren.
Einen Beitrag zur Diagnose des Todes durch Blitzschlag hat
Referent auf dem X. internationalen medicinischen Congresse in Berlin gebracht,
indem er einen Klumpen zusammengeschweißter Kupfermünzen demonstrirte , die
in der Westentasche eines vom Blitze erschlagenen Bettlers gefunden worden sind.
Da bekanntermaßen ein Zusammenschweissen von Metallen in der Art , wie dies
hier der Fall war (die einzelnen Stücke waren in ihrer Form völlig erhalten, die
Prägung an den Randstücken schön sichtbar) nur durch sehr starke elektrische
Schläge, nicht aber durch gewöhnliche Feuerwirkung möglich ist, so ist ein der-
artiger allerdings seltener Befund für die Todesart absolut beweisend. Er würde
dieselbe auch dann noch klarzulegen im Stande sein, wenn er sich bei einer Leiche
vorfände, die schon in weitvorgeschrittener Verwesung begriffen ist. Kratter.
BllltanOmalien. Anomalien der Blutmenge, cf. Anämie und Plethora. —
Anomalien der rothen Blutkörperchen. lieber die von E. Neumann ge-
fundene Entstehung der rothen Blutkörperchen im rothen oder lymphoiden Knochen-
mark des Menschen und der Säugethiere ist wohl allseitige Ue berein Stimmung
erreicht. Sie gehen daselbst aus kernhaltigen hämoglobingefarbten Zellen hervor. In
diesen Hämoblasten des Knochenmarks sind von Bjzzozero und Flemming massen-
hafte Kerntheilungsfignren nachgewiesen worden. Als Vorstufen dieser kernhaltigen
gefärbten Blutkörperchen wurden von Löwit J) und Denys 2) übereinstimmend farb-
lose, d. h. hämoglobinfreie Bildungszellen, sogenannte Erythroblasten bezeichnet,
welche ebenfalls zahlreiche mitotische Kernfiguren darbieten. Da bereits beim
Embryo junge proliferationsfähige Blutzellen, gefärbte und farblose, im rothen
Knochenmark nachweisbar Bind, so ist diese Art von Entstehung der rothen
Blutkörperchen durch conti nuirliche Descendenz und Proliferation unabweisbar vom
Embryonalleben bis in das späteste Alter. E. Neumann ') macht nun in einer
neuen Publication darauf aufmerksam, dass sich ausser diesem Modus auch noch
postembryona], unabhängig von dem schon bestehendem Knochen-
mark unter verschiedenen, theiis physiologischen, theils pathologischen Bedingungen,
jederzeit neues rothes Mark mit zahlreichen kernhaltigen rothen Blutkörperchen zu
bilden vermag. „Es ist bekannt, dass noch nach der Geburt während des ersten
Lebensdecenniums und darüber hinaus in den knorpeligen Skeletttheilen zahlreiche
neue Knochenkerne auftreten, die zum Theil ausser jeder Verbindung mit anderen
Knochen tbeilen verbleiben , wie die Handwurzel- und die meisten Fusswurzel-
knochen , zum Theil erst nach vollendetem Wachsthum mit den bei dem Embryo
angelegten Knochenmassen verschmelzen , wie die meisten Epipbysenkerne der
Extremitätenknochen. Alle diese postembryonal entstehenden Knochenkerne bestehen
aus spongiöser Substanz und als Inhalt der Maschenräume finden wir ein typisches
rothes Mark mit kernhaltigen rothen Blutzellen, welches sich später in gelbes
Fettmark verwandelt. Die jungen Blutkörperchen treten also hier neben den
anderen Markbestandtheilen, Gefassen, Stützgewebe, Markzellen inmitten knorpe-
liger Theile auf, die somit zu neuen Blutbildungsstätten werden. Das Gleiche
gilt aber auch von der Verknöcherung der Kehlkopfknorpel, die erst zwischen
dem 20. und 30. Lebensjahre eintritt. Auch in den verknöcherten Kehlkopf-
knorpeln haben wir einen durchaus selbständig für sich bestehenden Herd der
Blutbildung mit nachweisbar kernhaltigen rothen Blutzellen in dem rothen lym-
phoiden Fettmark. Der gleiche Nachweis ist von Neumann für den so häufig
innerhalb nichtknöcherner Theile auftretenden Ossificationsprocess geführt. Aber
auch bei der Metaplasie des Markgewebes, der Umwandlung des gelben Fett-
marker der Extremitätenknochen in rothes lymphoides Mark, die bei bestehenden
Anämien compensatorisch eine lebhaftere Regeneration in's Leben ruft, zeigt sich
104
BLUTANOMALIEN.
die Blutregeneration auch an den Stellen, wo ursprünglich reines ausgebildetes
Fettmark das Innere des Knochens erfüllt, ein Mark, dem sowohl lymphoide
Markzellen, als kernhaltige rothe Blutkörperchen gänzlich abgehen. Unklar bleibt
nun aber, ob die rothen Blutkörperchen aus den Gewebselementen des Knochen-
markes selbst hervorgehen oder den Knochen nach der Geburt durch die Arterien
zugeführt werden.
Kernhaltige rothe Blutzellen sind zur Zeit der Geburt noch vereinzelt
im Blute vorhanden, verschwinden aber alsbald aus der Blutströmung. 8ind sie
aber auch der normalen Zusammensetzung des Blutes fremd, so finden sie sieh
doch sehr leicht in Fällen von hochgradiger Anämie und Leukämie, wenn auch
meist in geringer Zahl. Dasselbe scheint von den hämoglobinfreien Bildungszellen
der obigen Erythroblasten zu gelten, welche in der Norm nicht nachweisbar sind,
sich aber allerdings nach Blutentziehungen sofort einstellen.
Neumann hält Löwit gegenüber daran fest, dass bei Menschen und
Säugethieren unter physiologischen Verhältnissen dem Knochenmark
ausschliesslich die Bildung rother Blutzellen obliegt, dass in der Milz sowohl
wie in den Lymphdrüsen embryonale rothe Blutzellen fehlen , dass nur bei den
geschwänzten Amphibien die Milz stets eine grosse Zahl in Vermehrung begriffener
rother Blutzellen enthält an Stelle des dort zur Blutbildung unfähigen, weil nur
aus Fettgewebe bestehenden Knochenmarks.
Dass bei der Malaria ein Unter gang rother Blu tkörperch en
dadurch stattfindet, dass die specifischen Mikroorganismen in die rothen Blut-
körperchen einwandern, in ihnen leben, sich weiter entwickeln und vermehren,
das Hämoglobin in Melanin verwandeln, haben Celli und Marchiafava *) nach-
gewiesen. Es sind ihrer Angabe nach amöboide kleine Plasmodien, während die
von Laveban gefundenen halbmondförmigen Parasiten einer späteren Entwick-
lungsform angehören. Den verschiedenen Jahreszeiten, Gegenden und Malaria-
formen entsprechen nach ihnen verschiedene Malariaparasiten, welche sämmtlich
zu den Gregarinen und Coccidien zu gehören scheinen.
Sehr wichtig ist die von Oskar Silbermann6) nachgewiesene Verände-
rung der rothen Blutkörperchen durch Verbrennung. Hier an dieser Stelle können
wir über die Kritik der anderweitigen Theorien betreffs der Entstehung der zahl-
reichen Störungen, die nach Hautverbrennungen auftreten können, hinweggehen, da
wir an dieser Stelle nur mit den rothen Blutkörperchen zu thun haben. Schon frühere
Untersuchungen, von Schultze , Wkrtheim, Ponfick, Klebs, hatten nach
starker Erhitzung Untergang rother Blutkörperchen durch eine Art von Zer-
bröcklungsvorgang festgestellt. Die weissen Blutkörperchen zeigten keine Gestalts-
veränderung. Von den rothen aber sah man Trümmer, Schatten (entfärbte rothe
Blutkörperchen), gequollene, etwas blasse rothe Zellen (Mikrocyten), aber all dies
doch nur vereinzelt, während das Gros der rothen Scheiben vollständig normal
erscheint, v. Lesser war zuerst auf die Idee gekommen, dass die Verbrühung
des Hautorganes auf die Blutkörperchen trotz deren scheinbaren Intactheit eine
tiefere Alteration hervorgebracht haben könne. Dass dem in der That so ist, dass
die rothen Blutkörperchen trotz ihrer äusserlichen Unversehrtheit stark gelitten
haben, dieser Kachweis gelang Silbermann mit einer von Maragliano adoptirten
Methode, welche eine eingehende Besprechung verdient.
Maragliano6) bat die Resistenz der rothen Blutkörperchen
des gesunden und kranken Menschen geprüft nach folgenden Methoden: a) durch
Paraffinverschluss, b) durch Erhitzung auf 50° C, c) durch Trocknung bei 26° C,
d) durch Compression, e) durch Behandlung mittelst verschiedener Reagentien,
endlich f) durch Einwirkung von Farbstofflösungen. Er fand, dass sich die
Erythrocyten, die rothen Blutkörperchen bei Kranken anders verhalten, als die
des Normalblutes: die Resistenz war verschiedenen Einwirkungen gegenüber
wesentlich gemindert.
BLUTANOMALIEN.
105
Als Silbermann diese Methoden Maeagliano's nun vergleichsweise bei
gesundem und verbrühtem Hunde- und Kaninchenblute anwandte, zeigte es sich
bald, daas die ihrer Form nach unversehrten Erythrocyten eine gewisse Resistenz-
verminderung gegen all die genannten mechanischen, chemischen und thermi-
schen Einwirkungen an den Tag legen. Schon nach zwei Stunden fanden sich
trotz Paraffineinschlieasang im Blute verbrannter Thiere viel Schatten und sehr
viel gequollene rothe Blutkörperchen, birnförmige Blutkörperchenfragmente und
Mikrocyten, während normales Blut unter Paraffin verschluss sich noch nach
fünf Stunden nicht wesentlich verändert zeigte. Getrocknetes Blut bei 26° zeigt
innerhalb der nächsten Stunde fast keine bemerkenswerten Gestaltsveränderungen,
das Blut verbrannter Thiere hingegen schon nach wenigen Minuten. Kurz nach
jeder Methode zeigte sich das Blut verbrannter Thiere viel leichter destruirbar,
als die Blutkörperchen gesunden Blutes. Diese Veränderung der Blutscheiben
bedingt nun in Verbindung mit den zahlreichen Blutkörperchentrümmern und
Blutplättchen das Zustandekommen vieler thrombotischer Gefässver-
schlüsse und Stasen in den verschiedensten Organen. Dass diese Gefass-
verlegungen aber in der That intravital und nicht post mortem entstehen, lässt
sich durch die Selbstfärbung der Thiere nach Einspritzung von Eosin (dasselbe
enthält die Alkalisalze des Tetrabromfluorescefn) erweisen. Wie vollständig
sich alle Erscheinungen bei schweren Haut Verbrennungen, die Dyspnoe, Cyauose,
das Coma, die Kleinheit des Pulses, die Lungenaffection , die Krämpfe , die Anurie
und die Erniedrigung der Hauttemperatur allein durch die Gefässverlegungen in
Folge der ausgedehnten Thrombenbildung erklären lassen, dies weiter zu ver-
folgen, geht hier über unsere Aufgabe hinaus.
Oscar Silbermann hat in einer anderen Arbeit7) „Ueber das Auf-
treten multipler intravitaler Blutgerinnungen nach acuter Intoxicatiou durch chlor-
saure Salze, Arsen, Phosphor und einige andere Blutgifte" berichtet. Auch hier
wurde der Nachweis der intravitalen Blutgerinnung durch Injection von Eosinroth,
und zwar herzwärts in die Carotis geführt.
In der Mehrzahl der Fälle sind die feineren Lungenäste der Sitz der
Verlegungen. Die Capillarthrombosen treten hier und in anderen Organen zu
einer Zeit auf, in welcher die grossen Gefasse noch völlig wegsam sind. Das
unaufhaltsame Sinken des Aortendruckes, das bei diesen Vergiftungen im Mittel-
punkt der Krankheitserscheinungen steht, ist durch die Verlegungen im pulmo-
nalen Stromgebiete bedingt, welche stromaufwärts eine enorme Stauung, strom-
abwärts eine grossartige Anämie hervorruft. Manche dieser Blutgifte bewirken
zunächst Blutkörperchenauflösung mit Hämoglobinurie, Bildung von Schatten und
Blutkörperchentrümmern. Dass Auflösung von Blutkörperchen Blutgerinnung her-
vorrufen kann , ist bekannt. Nach Silbermann sind alle Krankheitsprocesse,
mögen dieselben von Hämoglobinurie begleitet sein oder nicht, bei denen der
pathologisch-anatomische Befund mehr oder weniger ausgebreitete Blutungen und
Infarcirungen in den verschiedensten Organen, besonders in Lunge, Magendarm-
schleimhaut und Nieren, ferner unaufgeklärte Stauungen in den venösen Unterleibs-
gefassen ergibt, verdächtig mit derartigen, auf primärer Blutdyscrasie beruhenden,
intravitalen Gerinnungen, beziehungsweise Stasen einherzugehen.
Anomalien der weissen Blutkörperchen. Von der Pbagocytose
abgesehen, die in anderweitigem Zusammenhang erörtert wird , ist nichts Neues
über diese Materie zu berichten.
Bl ut scheibchen , Blutplättchen, Hayem's Hämatoblasten, glo-
bulins du chyle, der vielgenannte dritte F o rmbes tand theil des Blutes,
ist in den letzten Jahren sehr lebhaft discutirt worden. Nachdem Carl Laker8)
in einem Aufsatze unter dem Titel: „Die Blutscheibchen sind constante Form-
elemente des normal circulirenden Säugethierblutes" , deren normale Existenz
durch directe Beobachtungen am Fledermausflügel dargethan haben wollte und
beschrieben hatte, dass er wiederholt mit grösster Deutlichkeit 20 — 50 und noch
106
BLUTANOMALIEN.
mehr Blntscheibchen durch ein Capillar strömen gesehen habe, so dass jede
Secunde ein Blutscheibehen den Geftssquerschnitt passirte, ja dass manchmal
2 — 3 bis 20 und noch mehr Blntscheibchen auf einmal passiren, bevor ein
rothes oder weisses Blutkörperchen vorüberkommt , jedoch ohne dass dieselben
mit einander verklebt sind , hat Löwit 9) die Präexistenz der Blutplättchen im
normalen Blute überhaupt in Abrede gestellt. Er sieht die Blutplättchen für aus-
gefälltes und in bestimmter Weise modificirtes Globulin an, hält sie für ein Prodnct
des Zerfalles der weissen Blutkörperchen oder in anderen Fällen als einen Nieder-
schlag aus dem Blute. Er hält sich zu dieser Behauptung berechtigt, weil einer-
seits Blut des Menschen, unter bestimmten Cautelen aufgefangen — in einer
Vermengung von Ricinusöl mit Oleum jecoris Aselli — , gar keine Blut-
plättchen ergiebt, weil andererseits bereits äusserst geringfügige
mechanische und physikalische Veränderungen (Deckgläschen,
geringe Veränderung der Blutwärme) ausreichen, um Blutplättchen alsbald zum
Vorschein zu bringen. Der Zerfall der weissen Blutkörperchen in plättchenähnliche
Gebilde kann also ausserordentlich leicht stattfinden ; andererseits kommt auch das
Auftreten von Blutplättchen in solchen Bluttröpfchen vor, in welchen Leucocyten
nicht nachzuweisen sind. Bewährt sich die Angabe, dass das Blut, unter gewissen
Bedingungen aufgefangen, ursprünglich nur rothe und weisse Blutkörperchen zeigt,
aber keine Blutplättchen, so werden dieselben als drittes normales Formelement
natürlich nicht anzuerkennen sein. Wenn dieselben aber auch keine physiologische Rolle
spielen , so wird ihnen bei der Leichtigkeit und Massenhaftigkeit ihrer Entstehung
eine bedeutende pathologische Rolle nicht abzustreiten sein, insbesondere bei der
Entstehung der Thrombose. Welche pathologische Dignität die Thrombose aber zu
beanspruchen hat, geht aus den vorher citirten Arbeiten hervor (cf. auch Eberth
und Schimm elbusch, Monographie über die Thrombose10).
Veränderungen der Alkalescenz des Blutes. Hiertiber liegen
zwei Untersuchungen vor. Die eine von Peipkr n) nach der Methode von Landois:
Neutralisation einer kleinen im Capillarröhrcben abgemessenen Blutmenge durch
ein Gemisch von Weinsäurelösung von 7*1 p. m. mit concentrirter neutraler
Glaubersalzlösung im Verhältnis* von 10:100, 20:90, 30:80 bis zu 100:10.
Jede Blutprobe wird zu gleichen Theilen mit diesen 10 verschiedenen Lösungen
gemischt, die Reaetion durch sehr empfindliches Lackmuspapier geprüft, um zu
bestimmen, durch welches Gemisch die Blutprobe neutralisirt wird. Mittelst dieser
Untersuch ungsmethode kam der Verfasser zu dem Ergebniss, dass nur innerhalb
geringer Grenzen die Alkalescenz des Blutes schwankt, dass sie bei der Ver-
dauung und heftigem Erbrechen steigt, bei Muskelthätigkeit und Strychninkrämpfen
sinkt. Bei fieberhaften Processen tritt eine Abnahme der Alkalescenz ein, die
von der Höhe des Fiebers, nicht von der Dauer desselben abhängt. Ueber andere
Krankheiten cf. das Original.
Kraus ia) erörtert, da der Grad der Alkalescenz des Blutes von Beinern
Gehalte an neutralem Carbonat abhängt, eine directe Bestimmung des einfachen
und doppeltkohlensauren Natron neben einander nicht einfach ausführbar ist, die
verschiedenen Wege . um das Ziel zu erreichen durch a) die Bestimmung des
Kohlensäuregehaltes des Blutes . b) Bestimmung der Aeidität , cj Bestimmung
der Alkalescenz. Betreffs des Näheren über die Methoden muss auf die Original-
abhandlung verwiesen werden. Die Untersuchungen bestätigten die Abnahme der
Alkalescenz bei Fiebern , von der Pneumonie abgesehen : von anderen Krankheiten
«Diabetes. Chlorose. Phosphorvergiftung hatte Verfasser nur Gelegenheit, einzelne
Fälle zu untersuchen.
Literatur: M Löwit. Sitzungsberichte der Wiener Akademie. 1SS3, LXXXVIII;
XCII; 1SS7. XUV. — *) Denys in LuceUuU. 1SS7. IV — *\ E. Xeumann, Ceber
die Entwicklung rother Blutkörperchen im ueug^Mldeten Knochenmai k. Virch. Arcb. CXIX,
pag. 3>5. — *> Celli und Marchiafava. Fortschritte der Medicin. 1SS5, Xr. 11. —
Oscar Silbermann. Untersuchungen über die Krankheitserscheinungen und Ursachen
des raschen Todes nach schweren Haut Verbrennungen. Virch. Arch. CXIV, pag. 488. —
BLUTANOMALIEN. — BLUTFLECKENKB ANK BETT.
107
*)Maragliano, Ueber die Resistenz der rothen Blutkörperchen. Berl-. klin. Wochenschr. 1887,
Nr. 43. — 7) OscarSilbermann, Ueber das Auftreten multipler intravitaler Blutgerinnungen
nach acuter Intoxication durch chlorsaure SaJze, Arsen, Phosphor und einige andere Blut-
gifte. Virch. Arch. CXVII, pag. 288. — *) Carl Laker, Die Blut scheibchen sind constante
Formelemente des normal circolirenden Säugethierblules. Ebenda. CXVI, pag. 28. —
•) Löwit, Beiträge zur Lehre von der Blutgerinnung. Ueber die Bedeutung der Blut-
plättchen. Sitzber. d. Wien. Akad. d. Wissensch. 1884, XC, III. Abth., pag. 124; neuerdings:
Ueber die Präexistenz der Blutplättchen und die Zahl der weissen Blutkörperchen im normalen
Blute des Menschen. Virch. Arch. 1889, CXVII, pag. 545. — 10) Eberth und Schimmel-
busch, Die Thrombose nach Versuchen und Leichenbefunden. Stuttgart 1888 — u) Erich
Peiper, Alkalimetrische Untersuchungen des Blutes. Virch. Arcb. 1889, CXVI, pag. 337. —
1S) Kraus, Ueber die Alkalescenz des Blutes und ihre Aenderungen durch Zerfall der rothen
Blutkörperchen. Arch. f. exper. Pathol. XXVI. pag. 186. Samuel.
Blutfleckenkrankheit, Morb us maculoßus W erlhofii (vergl.
Real-Encyclopädie, II. Aufl., Bd. III , pag. 206). Die Anschauungen , welche aus
den neuesten Mittheilungen über den Morbus maculosus hervorgehen,
bestärken zum grossen Theil den schon früher oft ausgesprochenen Zweifel, ob
man diesen Namen zur Bezeichnung einer eigenartigen, von den übrigen hämor-
rhagischen Affectionen abzutrennenden Erkrankungsform noch beibehalten soll.
Zunächst wird der schon lange eingebürgerte Gebrauch, den Begriff Morbus
maculosus als identisch mit den primären (idiopathischen) Formen der
„Purpura haemorrhagica" (d. h. der mit Schleimhaut- und ähnlichen
Blutungen verbundenen Hautpurpura) anzusehen, von fast sämmtlicheu neuen
Beobachtern festgehalten. Unter den Veröffentlichungen der letzten Jahre finde
ich nur von Düplaix l) die Ansiebt vertreten, dass Morb. macul. nicht mit
Purp, haemorrhag. zusammenzuwerfen sei. Doch ergiebt die von ihm aufgestellte
Eintheilung der hämorrhagischen Gruppen (rheumatische, infectiöse, kachektische,
toxische u. s. w. Purpura und WfiKLHOF'sche Krankheit) die Art einer solchen
Trennung nicht deutlich.
Weiterhin betonen fast alle neuen Beobachter noch stärker, als ein Theil
der älteren, die Verschiedenheit der Ursachen, aus denen das Symptom der Purpura
entspringen kann, und die Mannigfaltigkeit der Uebergangsstufen zwischen den
durch dieselbe charakterisirten Rrankheitszuständen. Dieselben Autoren möchten
daher unter den hämorrhagischen Erkrankungen möglichst wenige Gruppen unter-
scheiden, namentlich zwischen Morb. macul. (Purp, haemorrhag.), Purp, simpltx,
Purp, rheumat. u. Aehnl. keine strengere Trennung machen. Diesen Standpunkt
vertritt besonders Molliäre2), wie er es schon früher gethan hat; ähnlich
Gimard 8) und Andere. Die Selbständigkeit des Morb. macul. finde ich in letzter
Zeit nur bei R. Wagner4) hervorgehoben.
Dem gegenüber scheint es immerhin auch heute nicht nur gestattet,
sondern auch rathsam, unter der Bezeichnung Morb. macul. (Purp, haemorrhag )
diejenigen Formen von mit inneren Blutungen complicirter Purpura
zusammenzufassen, welebe ohne nachweisbare Ursache und vorüber-
gehend die Kranken befallen, und welche somit zu den Formen der Purp,
simpltx und der Purp, rheumat., sowie des Scorbut und der Hämophilie in
einem gewissen Gegensatz stehen. Wenigstens ist die in Rede stehende Krankheit
von jeder der anderen genannten Formen durch bestimmte, theils klinische, theils
ätiologische Momente zu trennen : so vom Scorbut durch das Fehlen der charak-
teristischen Zahnfleischaffectionen und des Einflusses der Ernährung; von der Hämo-
philie durch das Fehlen angeborener Anlage ; von der Purp, simplex durch
das Hinzutreten innerer Blutungen; von der Purp, rheumat. durch den Mangel
eines Zusammenhanges mit rheumatischen Erscheinungen.
In letzter Beziehung hebe ich hervor, dass meiner Meinung nach die
Unterscheidung einer Purp. (Peliosis) rheumat. auch nach neuen Erfahrungen
nicht, wie ein grosser Theil der Beobachter wünscht, aufgegeben werden darf:
Sind auch die meisten hämorrhagischen Erkrankungen häufig mit Gelenkschmerzen
und Gelenkschwellungen, welche durch Blutungen in die Gelenkkapseln etc. erklärt
108
BLUTFLECKENKRANKHEIT.
werden können, verbunden, so unterscheiden sieb diese Erscheinungen durch Ihre
Art und die Zeit ihres Auftretens doch meist wesentlich von den rheumatischen
Beschwerden , welche bei der Peliosis rkeumatica die hämorrhagischen Symptome
zu begleiten, meist sogar ihnen vorauszugehen pflegen. Auch die Beziehungen
zum sogenannten exsudativen Erythem, welche die rheumatische Purpura zeigt,
und welche neuerdings namentlich E. Wagner*) geschildert hat, scheinen der
Purp, haemorrhag. ganz zu fehlen.
Selbstverständlich ist zuzugestehen , dass namentlich bei den leichteren
und weniger ausgesprochenen Fällen der verschiedenen oben genannten hämor-
rhagischen Formen eine Differentialdiagnose unter Umständen recht schwierig sein
kann, und zwischen manchen von ihnen, namentlich zwischen Purp, simplesc,
haemorrhag* und rkeumat. gewisse Uebergaugsstufen angenommen werden dürfen.
Streng zu unterscheiden ist die hier in Rede stehende primäre (idio-
pathische) Purp, haemorrftag . gewiss von all den offenbar secundären Formen
reiner oder mit inneren Blutungen verbundener Purpura, welche im Gefolge acuter
oder chronischer anderweitiger Erkrankungen , also z. B. bei bestimmten acuten
Infectionskrankherten. bei schwerem Icterus, bei Leukämie, Pseudoleukämie, perni-
cioser Anämie, tuberkulöser oder carcinöser Kachexie u, a, w. eintreten.
In Bezug auf die Aetiologie und das Wesen der Krankheit hat die
früher schon oft angedeutete Verrouthung, dass es sich bei der Purp, haemarrhag,
um infectitfse, durch Bacterien getragene Zustände handelt, neuerdings von
verschiedenen Seiten Unterstützung gefunden. Und in der That ist die klinische
Form, namentlich der sehr schnell verlaufenden Fälle dieser Krankheit, der einer
acuten Infeetionskrankheit durchaus ähnlich und die Erklärung der multiplen
Blutung durch die Bildung von Bacterienh erden mit Auftreten von Thrombosen und
Embolien (wie wir dies bei manchen Infectionskrankheitcn kennen) sehr naheliegen
Doch sind von bacteriologi sehen Ergebnissen, welche di
Anschauung stutzen können, bisher nur wenige bekannt geworden and auch
diese noch nicht zuverlässig genug, um einen entscheidenden Beweis zu liefern:
Zunächst hat Petronh *) seine in der Real-Encyclopädie, Bd. III, pag. 208 citirteu
Versuche fortgesetzt und nunmehr bei einer Reihe verschiedener Fälle von Purp,
haemorrhag. im Blut Mikroorganismen gefunden , von denen er Reineulture
anlegen, und die er bei den meisten Fällen mit Erfolg auf Thier c überimpfen
konnte. Allerdings war das Ergebnis» nicht ganz constant, bestand auch zum
Theit nur in dem Entstehen weniger hämorrhagischer Flecke bei dem Impfthier;
ferner werden Petroxe's Befunde dadurch etwas unklar, dass er sie in derselben
Weise bei anderen, von der Purp, haemorrkag * abzutrennenden hämorrhagischen
Erkrankungen, wie Purp, simplex und Scorbut gemacht hat. — Von auderer
Seite ergaben dagegen gleiche Untersuchungen negative Erfolge: so konnte
llftYNTSCHAK 7) weder Mikroorganismen im Blute finden , noch Kaninchen durch
Impfung mit letzterem krank machen. Auch die Erfahrungen von Reher8) sind
zum Theil negativ, indem er bei einem Fall von ^iufectiösem Petechialfieber"
zwar aus dem Leichenblut und den Organen Mikrocoecenculturen , dagegen bei
Impfung an Mäusen keine Resultate erhielt Aehnlich sind die Erfahrungen von
Gimakd (1. c). Den überzeugendsten Eindruck machen bisher die Mittheilungen
Lktzebfcb's *), welcher aus dem Blute eines Falles von Purp» haemorrhag, (Horb.
macuLj Culturen eines „Bacillus Purp, hoemorrhag*u erhielt, dessen Impfung
bei Kaninchen stets positiven Erfolg mit stärkster Entwicklung der Bacillen in
der Leber ergab. Aber auch diese Angaben bedürfen noch weiterer Bestätigung,
Die klinischen Belege für die infectiöse Natur der Krankheit gehen nicht
viel darüber hinaus, dass an ihrem Verlauf der Eindruck einer infectiösen Er-
krankung hervorgehoben wird. Einer Mitl hei hing, nach welcher in kurzen Zwischen-
räumen 3 Fälle von „WßRLHOF'scher Krankheit"; 2 davon Geschwister betreffend,
beobachtet wurden ") , kann wohl auch keine Beweiskraft in dieser Beziehung
zugeschrieben werden , zumal im Blut keine Mikroorganismen gefunden wurden.
BLUT FLECKENKRANKHEIT.
109
Daneben wird in neueren Mittheilungen wie früher das Wesen des Horb,
macul. vielfach auf eine Erkrankung des vasomotorischen Nerven-
systems zurtlckgefflhrt, welche zu einer abnormen Durchlässigkeit der Geftss-
wände oder sonstigen leichteren Gefassveränderungen führen soll. Nur in Aus-
nahmefallen sind auch nach den neueren Erfahrungen Geftssalterationen anatomisch
nachweisbar gewesen, so bei E. Waoneb (1. c.) in Form von Varicositäten und
Thrombosirungen kleiner Gefasse der Gaumenschleimhaut.
Es sei hier auch angeführt, dass eine Mittheilung die tödtliche Erkrankung
eines 70jährigen Mannes und seines 21jährigen Sohnes als Zeichen der Erblich-
keit der Krankheit ansieht. u)
In Bezug auf das klinische Bild der Krankheit haben die letzten
Erfahrungen wenig Neues hinzugefügt. Nur werden mehr als früher die schweren
tödtlichen Formen, welche sich gleichzeitig durch besonders kurzen Verlauf aus-
zeichnen, betont. Unter der hierher gehörigen Casuistik sind Fälle, bei welchen
der Tod am 3., 4., 7., 8. Tage u. s. w. der Krankheit eintrat. 12) Gleichzeitig
betreffen die meisten dieser Fälle auffallend jugendliche Kinder, welche z. B.
26 Monate, 2l/a, 3, 5 Jahre u. 8. w. zählten.
Hierher scheinen auch die beiden Fälle zu gehören, welche Henoch12)
als „Purp. fulminansu bei Kindern beschrieb, und welche nach 24 8tunden, resp.
3 — 4 Tagen tödtlich endeten.
Ebenso werden in grösserer Zahl als früher die jedenfalls auch hierher
zu rechnenden Fälle mitgetheilt, welche Henoch und Andere als „Purpura mit
Unterlei bssymptomen" oder Aehnliches geschildert haben, und in welchen sich
eine Purp, haemorrhag. mit schweren Darmerscheinungen, Gelenkschmerzen,
nervösen Symptomen, zum Theil auch Oedemen complicirte. 1S) Auch diese Fälle
betrafen vorwiegend junge Kinder. Für ihre Erklärung wird von verschiedenen
Seiten die nervöse, vasomotorische Entstehungsart besonders hervorgehoben. —
v. Dusch ") will mit Rücksicht auf die begleitenden Gelenkschmerzen diese Form
als Abart der Purp, rheumat auffassen und sie mit dem acuten Gelenkrheuma-
tismus in Beziehung bringen, ohne dass die sonstigen Erfahrungen über diese
Fälle für eine solche Auffassung zu sprechen scheinen.
Im Hinblick auf diese reichliche Anzahl schnell tödtlich verlaufender
Fülle dürfte die Prognose, welche früher bei der Krankheit meist sehr günstig gestellt
zu werden pflegte, etwas zu raodificiren sein. Ebenso sind in Bezug auf das
vorwiegende Alter die Fälle des frühen Kindesalters mehr einzurechnen. Aller-
dings führt eine kürzlich gegebene Uebersicht der Literatur wie früher das am
stärksten befallene Alter zu 15 — 20 Jahren, sowie ein Vorwiegen des weiblichen
Geschlechtes an.4)
Die Unterscheidung fieberhafter und fieberloser Formen der Purp,
haemorrhag. ist von der Mehrzahl der neueren Beobachter fallen gelassen worden,
wohl mit Recht, da auch bei den schwersten und acutesten Fällen die Temperatur-
Steigerung eine nebensächliche Rolle zu spielen pflegt.
Der Befund einer Pigmentinfiltration nebst abnorm hohem Eisengehalt,
welcher bei einem früheren Falle von Morb. macul. lö) in gewissen Organen,
namentlich in Leber und Lymphdrüsen gemacht war, konnte durch eine neue
Untersuchung, bei welcher für den Eisengehalt dieser und anderer Organe viel
kleinere Zahlen nachgewiesen wurden16), nicht bestätigt werden.
Ein kürzlich mitgetheilter Fall der Krankheit zeichnete sich durch die
seltene Complication mit Hämothorax aus. 17)
Die Diagnose kann mit Rücksicht auf das, was oben von den Ueber-
gangsformen zwischen den verschiedenen hämorrhagischen Erkrankungen gesagt
ist, auch nach den neuen Erfahrungen, namentlich bei den leichten und wenig
ausgesprochenen Fällen unter Umständen schwierig sein. Von den durch immer
wiederkehrende Recidive sich lange hinziehenden Fälleu wird wiederholt die Aehn-
lichkeit mit gewissen Scorbutformen hervorgehoben. Bei den unter furibunden
110
BLUTFLECKENKRANKHEIT. — BLUTSPUREN.
Symptomen schnell tödtlich endenden Fällen ist verschiedentlich auf die Aehnlich-
keit mit den stürmischen Formen der Variola haemorrhag. hingewiesen worden,
und es ist nicht ausgeschlossen, dass auch unter den neuerdings mitgetheilten
Fällen dieser Art einige der letzten Krankheitsform angehörten.
Auch in Bezug auf die Behandlung liefern die letzten Jahre keine
wesentlichen Fortschritte. Kürzlich ist als bestes (auf die vasomotorischen Nerven
wirkendes) Mittel gegen die Krankheit das Argent. nitric. (zu O'Ol 2mai tägl.)
gerühmt worden 18) ; ich selbst sah in einer kleinen Reihe von Fällen von Liq.
ferr. sesquichlorat., in häufig wiederholten Dosen von 5 Tropfen , recht schnelle
günstige Wirkung.
Neue Literatur: *) Duplaix, Gaz. des höpit 1888, Nr. 141. — "JMolliere,
Annal. de Dermatol. 1887, pag. 231 und 326. — 8) de Gimard, These Paris 1888. —
*} R. Wagner, Dissert. München 1886. — b) E. Wagner, Deutsches Archiv für klin. Med.
XXXIX, pag. 431. — a) Petrone, Rivist. clin. di Bol. 1883, Nr. 7 und 1887, Nr. 10;
Speriment, Dec. 1888. — ') Hry ntschak, Archiv für Kioderheilk. 1884, V, Nr. 11 u. 12. —
8) Reher, Archiv für exper. Pathol. XIX, pag. 415. — 9) Letzerich, Unters, etc. etc.
Leipzig 1889. — 10) Giacanelli, Speriment Dec. 1888. — ") Knott, Dublin Journ.
Sept. 1888. — ,8)Pleszynski , Przegl. lek. 1887, Nr. 23. Brück, Pester Pr. 18Q8, Nr. 22. —
ls) Hu e t , Nederl. Tijdschr. 1886, Nr. 6. Hirschsprung, Hospit. Tid. 1886, Nr. 29. Dreye r,
Lange, Ebendas. Nr. 31. Levy, Wiener Wochenschr. 1883, Nr. 36— 38. - 14) v. Dusch,
Deutsche med. Wochenschr. 1889, Nr. 45. — 15) H indenlang. Virchows Archiv. 1880,
LXXIX, pag. 492. — ,6) Zaleski, Archiv für exper. Pathol. 1887, XXIII, pag. 77. —
17) Joseph, Dispert. Erlangen 1889. — ,8) Poulet, Bull, de therap. 30. Mai 1889.
Riesa.
Blutspuren (fo rensisch). E. Hering hat eine vereinfachte spectro-
skopische Methode zum Nachweise des Blutfarbstoffes angegeben, die besonders
geeignet ist, auch forensischen Zwecken zu dienen (Prager med. Wochenschr.
1886, Nr. 10). A. Maschkk giebt eine genauere Beschreibung dieser Methode.
In der einfachsten Form besteht der Apparat aus einem schwarzen Schirm mit
feinem Spalt und einem beliebigen Glasprisma mit brechendem Winkel von 60°.
Lässt man durch den Spalt Tages- oder künstliches Licht auf das Prisma, dessen
brechende Kante dem Spalt parallel gestellt sein muss, einfallen, so erhält man
ein sehr helles, etwa 1 Cm. langes Spectrum. Bringt man unmittelbar vor den
Spalt eine Farbstofflösung, so erscheinen die charakteristischen Absorptionsstreifen
im Spectrum als feine, aber ungemein scharf begrenzte Striche. Ihre Höhe hängt
von der II Ohe der Flllssigkeitsschichte ab. Man bringt am zweckmässigsten die
zu untersuchende Lösung so vor den Spalt, dass oberhalb und unterhalb ihres
Spectrums das normale Spectrum behufs Vergleiches sichtbar ist. Am besten ver-
wendet man das auf Grund der HERixG'schen Angaben vom Universitäts-Mechaniker
Rothe in Prag verfertigte, von Maschek (Prager med. Wochenschr. 1886,
Nr. 20, 21) beschriebene „Spectroskop ohne Linsen".
Fig. 4.
Der Apparat (Fig. 4) besteht aus zwei ineinander verschiebbaren Röhren,
von denen die äussere einen mittelst einer Parallelogrammverschiebung stellbaren
Spalt trägt, nebst zwei Klammern zum Fixiren von Glasröhrchen oder Object-
trägern. An dem dem Beobachter zugekehrten Ende des inneren Rohres befindet
sich ein Prisma nebst einem abgeschrägten Ansatz, der das Auge vor seitlich
einfallendem Licht schützt. Diese Röhren müssen so zu einander gedreht werden,
dass das etwas über I Cm. breite Spectrum rechtwinklig erscheint. Sieht der
Beobachter senkrecht zu der schrägen Fläche des Ansatzes in das Spectroskop,
BLÜTSPÜBEN.
111
80 ist sofort das Spectrum siebtbar, bestehend aus Roth, wenig Gelb, Grün, Blau
und Violett (Fig. 5).
Bei der Untersuchung von Blut sieht man entsprechend der Dicke der
Flüssigkeitsschicht und deren Concentration im Gelb und Grün zwei scharf
begrenzte, wie mit Bleistift oder Tusche eingezeichnete dicke Linien (Fig. 6).
Zahlreiche Blutuntersuchungen, welche mit diesem einfachen und daher
auch von weniger Geübten leicht zu handhabendem Apparate im forensischen
Institute in Innsbruck ausgeführt wurden, haben uns von der Brauchbarkeit des-
selben auch für gerichtlich-mediciniscbe Untersuchungen überzeugt.
v. Brücke hat van Dben's Blutprobe (Bläuung von Guajaktinctur bei
Zusatz von ozonisirtem Terpentinöl) zwar nur in der Absicht geprüft, um ihre
Verwendbarkeit zum Nachweise von Blut oder auch Fig 6
von blossem Blutfarbstoff im Harn auch bei gleich- r— — ^—
zeitiger Anwesenheit von Eiter zu bestimmen, allein
hierbei auch für den forensischen Blutnachweis wichtige
Ergebnisse erhalten , wenn auch , wie v. Brücke be-
merkt, diese Blutprobe in gerichtlichen Fällen nur
noch angewendet zu werden scheint, um ein negatives
Resultat völlig sicher zu stellen. Nach ihm tritt die L-« ,
Schönbein -v. DEEN'sche Reaction sowohl mit frisch abc d e
bereiteter, als mit älterer Guajaktinctur ein. Man prüft sie mittelst kalt bereitetem
Malzauszuge oder kalt bereiteter Mimosen-Gummilösung. Die Tinctur muss mit
derselben sofort deutlich und entschieden blau werden. Man befolgt Vitalis Regel,
die Tinctur zuerst allein zuzusetzen und zu beobachten, ob Bläuung eintritt oder
nicht. Tritt keine Bläuung ein, so kann die Probe ohneweiters vollendet werden.
Blutfarbstoff und dessen Derivate verlieren durch Kochen nicht die Fähigkeit,
Ozon zu tibertragen, somit auch dann noch die Guajaktinctur zu bläuen. Referent
bedient sich im Gegensatze zu der von v. Brücke ausgesprochenen Meinung der *
Guajakreaction bei jeder forensischen Blutuntersuchung als Vorprüfung.
Verdächtige Flecken oder sonstige gerichtliche Objecte, welche bei der Prüfung
nach v. Deen-Schönbein ein negatives Ergebuiss liefern, rühren nicht von Blut her.
Bezüglich der Darstel 1 un g von H äminkrystallen hat S. Feld-
baus die Angabe gemacht, dass Kochsalzzusatz überflüssig und störend sei. Man
erhalte die Krystalle am sichersten, wenn man kleine Mengen Blut unter dem
Deckglas mit Essigsäure erhitzt und so lange vor dem völligen Austrocknen durch
Zusatz neuer Essigsäure schützt, bis die Krystallisation begonnen hat. C. A. Mac
Münn empfiehlt, zur Darstellung von Hämatin den Blutkuchen mit durch Schwefel-
säure angesäuertem Spiritus zu behandeln, die erhaltene Lösung mit gleichen
Theilen Wasser zu verdünnen und mit Chloroform auszuschüttein. Das abgegossene,
mit Wasser gewaschene Chloroform wird in verschlossener Flasche hingestellt.
Beim Stehen fällt krystalliniscbes Hämatin aus. G. Büfalini und E. Bikfalvi
empfehlen zum Nachweis von Blutfarbstoff die Darstellung der Jodhäminkry-
stalle nach Husson durch Erwärmen mit Jod tinctur und Eisessig. Sie soll
leichter gelingen als die der Teich mann 'sehen Häminkrystalle, was auch schon
V. D. Harris früher angegeben hat. Axenfeld schlägt den Ersatz der Essig-
säure und des Kochsalzes beim forensischen Blutnachweis durch Ameisensäure
und Calcium- oder Magnesiumsulfid vor. Ausserdem eignet sich dazu noch die
Milchsäure ; um mit anderen Säuren die Häminkrystalle zu erhalten, ist es nöthig,
das Blut durch Zusatz von Glycerin an der Coagulation zu hindern und durch
Resorcin oder Pyrogallol die rothen Blutkörperchen in Lösung zu bringen. Unter
diesen Umständen scheinen fast alle Säuren in gelinder Wärme die Bildung von
Hämin zu veranlassen, mit Ausnahme der Gerbsäure.
Ueber störende Einwirkungen, welche die Darstellung von Hämin-
krystallen erschweren oder ganz verhindern, liegen mehrere neuere Beobachtungen
und experimentelle Untersuchungen vor. Ugo Zanelli giebt an, dass dieser
1J2
BLÜT3PCFEN,
ttlutnachweis in verschiedenen Geweben nach dem Waschen derselben mit
kaltem oder warmem Wasser noch wohl, aber nach dem Waschen mit Seife und anderen
Reinigungsmitteln nicht mehr gelinge. Ktjnyosi Katajama und später Misceaca
haben die Einwirkung höherer Temperaturen experimentell geprüft und
gefunden, das« die Grenze des sicheren Blutnachweises durch Erzeugung von
Häminkrystallen um 140" C. gelegen sei; nur nach kurzer Bitzeeinwirkung konnten
auch noch bei Temperaturen von 170 — 190 ö, aber nicht mehr bei 200* die Teich-
Ha NN 'sehen Krystalle gewonnen werden« Misoraca hat auch den Einfluss der
F ii u 1 n i s s geprüft und gefunden , dass faulendes Blut nach einiger Zeit ( 3 bis
4 Monate) die Fähigkeit verliert, Ha min krystalle zu bilden. Nach Untersuchungen
von NicOLETTi verhindert die Anwesenheit von Eisensalzen (Rostflecken) die
Darstellung von Häminkrystallen nicht — mit Ausnahme des Eisenchlorids — ,
aber die Krystalle sind weniger schön und minder zahlreich. Auch die Behand-
lung mit Sublimat nnd Tannin vermag nach demselben das Entstehen der Hü min
krystalle nicht zu hindern (?). Felletar sieht das sicherste Mittel zur Erkennung
von Blut auf rostigem Eisen in der Hervorrufung des Spectrums des reducirten
lhimatins und Finzi schlägt zur Erkennung von im Roste eingesangten Blutspuren
folgendes Verfahren vor: Ein Tropfen 750/0ige Kochsalzlösung wird auf ein Uhr*
glas gegeben, eingedampft und der zu untersuchende Stoff unter Zufügung von
Eisessig zerzupft , leicht macerirt. Hierauf wird einmal aufgekocht , die Lösung
mittelst Pipette auf einen erwärmten Objectträger gebracht und zwischen diesem
und dem Deckgläschen ein Faden des zerzupften Zeuges gelegt Nach dem im
Wärmekasten erfolgten Verdunsten Bieht man die Krystalle entlang des Fadens
und an den Rändern des Deekgläschens, eine übrigens längst bekannte Localisation
der Häminkrystalle.
Als bestes Lösungsmittel für Hämoglobin und Methämoglobin fand
Klein mit Kohlensäure gesättigtes Wasser , welches sich daher insbesondere zur
Extraction alter Blutflecken eignet. Die damit erzengten Lösungen sind schön roth
und zeigen ein Absorptionsband, welches dem des reducirten Hämoglobins ähnlieh
ist. Wie dieses wird es durch Natronlauge und Schwefelammon in das Spectrum
des reducirten Hämatins übergeführt. Im Uebrigen extrahirt kohlensaures Wasser
nur Spuren von Hämatin, während es Oxy- und Methämoglobin vollkommen lfist.
Zur Unterscheidung von Menschen- und Thierblut empfiehlt
Monctton Co pe man die Darstellung der Hämoglobinkrystalle; ebenso
Misoraca. Ausser durch ihre Form unterscheiden sich die menschlichen von den
thierischen Hämoglobinkry stallen noch dadurch, dass erstere nur aus reducirtem,
letztere aus Oxyhämoglobin bestehen (mit Ausnahme des Affenblutes). Zu ihrer
Darstellung wird ein Tropfen frisches Blut unter Zusatz einer ganz kleinen Menge
destilürten Wassers auf einem Objectträger so lange der Verdunstung überlassen,
bis der Hand einzutrocknen beginnt , dann mit einem Deckgläschen bedeckt und
nun von dessen Rändern aus das Präparat mit in Xylol oder Terpentinöl
gelöstem Canadabalsam umgeben. Eingetrocknetes Blut wird zuerst in eiu feines
Pulver zerrieben und dieses mit etwas Wasser , dem auch eine Spur Ammoniak
oder Kochsalz zugesetzt werden kann , gelöst. Die Krystalle erscheinen an den
Randpartien , und zwar entweder sofort oder nach 24 Stunden (v. Hofmann in
Virchow-Hirsch's Jahresberichte der ges, Heilk. für 1889, pag. 487). Die Ver-
fahr ungBweise entspricht im Ganzen der schon von Stanisl. v. Stein angegebenen,
von E. Smreker und 0* Zoth nachgeprüften und erweiterten Methode der Dar-
stellung von Hämoglobinkrystallen. Die diagnostische Vorwerfbarkeit der Hämo-
globinkrystaile , im Sinne Misüraca's und Moxctton Copeman's für forensische
Zwecke, wo es sieh fast niemals um Untersuchung frischen , sondern meist rech
alten ( den mannigfaltigsten Einwirkungen ausgesetzt gewesenen Blutes bandelt,
mag vorläufig dahingestellt bleiben, Untersuchungen f die im Innsbrucker foren-
sischen Institute angestellt wurden , haben bisher keine besonders günstigen Ergeb-
nisse für den Werth dieser Methode zu Tage gefordert.
BLUTSPÜREN. — BLUTSTILLUNG.
113
Ob und in welchem Umfange dem von Mulder entdeckten, von Hoppe-
Seyleb, Nencki und Sieber näher untersuchten Blutfarbstoffderivate, dem
Hämatoporphyrin , eine Bedeutung in der forensischen Praxis zukomme, darüber
sind soeben Untersuchungen, die von Schülern des Referenten ausgeführt werden,
im Zuge. Nach unseren bisherigen Erfahrungen hat es den Anschein, als ob das
Spectrum dieses eisenfreien Blutfarbstoffderivates selbst dann noch zu erhalten
wäre, wenn Einflüsse das Blut so verändert haben, dass sogar das für den gericht-
lichen Blutnachweis so wichtige Spectrum des reducirten Hämatins nicht
mehr auftritt.
Literatur: F. Feldhaus, Häminkrygtalle. Pharmac. Centralbl. XXV, 567—568. —
Mac Mnnn, Beobachtungen über den Gallen- und Harnfarbstoff und über eine leichte Dar-
stellung von Hämin. Journ. of physiol. VI, 1—4, 22 — 39; ref. in Maly's Jahresber. über die
Fortschritte der Thierchemie für das Jahr 1885. XV, 187, 322. - V. D. Harris, Hämatin-
verbindungen. Journ. of physiol. V, 209 — 21*^; ebenda ref. 126. — G. Bufalini, Ueber die
Darstellung von Jodhämin. Annal. di chim. med. farm. 1, 291—292; ebenda ref. 127. —
0. Axenfeld, Die Wirkung der Halogene auf das Hämin. Centralbl. für die med. Wissensch.
1885, Nr. 47. — M. Nencki und N. Sieb er, Untersuchungen über den Blutfarbstoff. Archiv
für exper. Pathol. und Pharmak. XVIII, 401—422. — Stanisl. v. Stein, Eine neue Methode,
Hämoglobinkrystalle zu erhalten. Centralbl. ftr die med. Wissensch. 1884, Nr. 23 und Virchow's
Archiv. XCVII, 483—501. — H. Struve, Studien über Blut. Joorn. für prakt. Chemie. N. F.
XXIX, 304—350. — F. Hoppe-Seyler, Ueber Blutfarbstoffe und ihre Zer*etzungsproducte.
Zeitschr. für physiol. Chemie. X, 331—366. — £. Smreker und 0. Zoth, Darstellung von
Hämoglobinkrystallen mittelst Canadabalsam und einige verwandte Gewinnungsweisen. Aus
dem physiol. Institute in Graz. Sitzungsber. der Wiener Akad. April 1836, XCIII, III. Abth. —
A. Maschek, Ueb^r eine einfache spectrosk. Metbode zum Nachweis des Blutfarbstoffes. Prager
med. Wochenschr. 1886, Nr. 20 und 21. — Ugo Zane Iii, Annal. di chim. e di farm. 4. Ser.,
III, 302 — o08 — C Dannenberg, Nachweis von Blutflecken bei Gegenwart von Eisenrost.
Pharm. Centralh. XXXVII, 449—552; Chem. Centralbl. XVII, 840—842. — A. Tamassia,
Zur Hanno probe. Centralbl. für die med. Wissensch. 1886, Nr. 9. — A. Horrig gia, Physio-
logische und forensiscb-medicinische Untersuchungen über das Blut. Annal. di chim. et di farm.
V. 38 — 39. — E. Felle tar, Beitrag zum sicheren Erkennen von Blutflecken, welche auf
rostigem Eisen oder anderen Gegenständen eingetrocknet sind. Ref. in M a 1 y's Jahresber. über
das Jahr 1887. XVII, 71, pag. 125. — Nencki und Sieb er, Ueber das Hämatoporphyrin.
Archiv für exper. Pathol. und Pharmak. XXIV, 4H0— 446. — Nicoletti, SulV azione del
ferro nella produzione dei cristalli di emina. Bivista sperm. di med. legale. XIII, 146. —
Derselbe, Supra V azione del sublimato corrosivo e delV acido tannico sulla produzione
dei cristalli di emina. Ibid. XIV, 193 ; Centralbl. für die med. Wissensch. 1889. pag. 192. —
K. Katayama, Ueber das forensisch wichtige Verhalten von Blutspuren zu verschieden hoher
Temperatur. Vierteljahrsschr. für gerichtl. Med. 1888, XLIX, pag. 269—281. — G. Misuraca,
SulV importanza della ricerca dei cristalli di emoglobina nelV esame delle macchie di sangue.
Rivista sperim. XV, 36. — A. Klein, Studien über den gerichtl. -chem. Nachweis von Blut.
Dorpat. Dissert.; weitere Literatur ref. inVirchow-Hirsch's Jahre- ber. für 1889; Gerichts-
arzneikunde, bearb. von E. v. Hofmann, pag. 486 — 488. — E. v. Hof mann, Lehrbuch der
gerichtl. Med. 1890, 5. Aufl., I. Th. — E. v. Brücke, van Deen's Blutprobe und Vitali's
Eiterprobe. Wiener med. Sitzungsber. XCVIII, Abth. III und Monatsh. für Chem. X, 3. Heft,
129 — 143. — F.Falk, Ueber postmortale Blutveränderungen. Vierteljahrsschr. für gerichtl.
Med. 1890, N. F., LH, 2 Hft, pag. 215 und LIII, 1. Hft.. pag. 76. ~ „
ix r a 1 1 e r.
Blutstillung (Real-Encyclopädie, 2. Aufl., Bd. II, pag. 225).
A. Pharmacen tische Mittel, a) Allgemeine. Auf dem ganzen
Gebiete der Blutstillung zeigt sich in den letzten Jahren eine lebhafte Bewegung.
Dem Ergotin, welches als inneres Hämostaticum eine überlegene Stellung einnahm,
ist von anderen Mitteln der Rang mit mehr oder weniger Erfolg streitig gemacht
worden; so namentlich von Hydrastis canadensis und Hamamelis virgintca.
Das erstgenannte ist von Schatz in Deutschland eingeführt und findet vor-
zugsweise Verwendung bei Blutungen von Myomen, bei Blutungen aus dem
excentrisch hypertrophirten Uterus, der nach Entleerung seines Inhaltes immer
wieder erschlafft und so neue Blutung verursacht; bei allen Fällen von
Hyperämie der Genitalien, in denen es nicht gelingt, den Uterus mit Seeale
zu contrahiren; ferner bei Epistaxis, bei Hämoptoe, bei Hämorrhoidalblutungen.
Man giebt den Fluidextract 15 — 20 Tropfen; bei bestehender Blutung 30 bis
40 Tropfen 3— 4mal.
Rncyolop. Jahrbücher. I. &
114
BLUTSTILLUNG.
Rp. Extr. fluid, hydrast.
Vin. Malacens. aa. 30 0,
Syr. Cinnam. 15*0.
MDS. 3— 48tündlich 1 Theelöffel bis Vi Esslöffel. *)
Die Hamamelis virginica wird bei alleo Formen der Blutung gegeben,
nnd zwar als Extr. fiuidum circa 2stündlich 20 Tropfen.
Die von Tbovati mit diesen 3 Mitteln in Bezug anf ihre blutstillende
Kraft vorgenommenen Versuche haben ergeben, dass in 10 Minuten der Strom des
Blutes durch Anwesenheit von 21,3%o Ergotin um 1/8 , von 2i/ä%o Hydrast.
canad. um 2 3, und durch Extr. Hamam. virg. in demselben Grade verlangsamt
werde. — Das Antipyrin hat nach Hexocque und Mo ot ard -Martin bei Hämoptoe
keine Wirkung. 2)
Die Bryonia alba bringt nach Petrescd's Untersuchungen eine Zusammen-
ziehung der Haargefasse, und in Folge dessen einen Stillstand des Kreislaufes
hervor. Das Mittel äussert vorzugsweise seinen Einfluss auf glatte Muskelfasern,
und ist daher in erster Linie angezeigt, bei Blutungen aus den an glatten Muskeln
reichen Organen. Die Anwendung ist folgende: 20*0 — 25*0 Grm. der trockenen
Wurzel werden mit 300 Grm. Wasser auf 150 eingekocht, filtrirt und mit Symp
in 3 — 4 Theilen halbstündlich genommen. Auch ein alkoholisches Extract, 2*0 bis
3*0 Grm. pro die, erwies sich bei den verschiedensten Blutungen wirksam. Die
Bryonia alba 3) wird in Rumänien als Volksmittel benutzt, und von Petrbscu über
Seeale, Hamamelis und andere Hämostatica gestellt.
Das Geranium maculatum wirkt durch seinen Gehalt an Gerb- und
Gallussäure blutstillend, und wird von Shoemaker*) auf Grund langjähriger
Erfahrungen empfohlen. Er giebt die Wurzel zu 0*6 — 2*5 oder das Fluidextract,
welches auch äusserlich als Stypticum verwendet werden kann. Zum innerlichen
Gebrauch giebt Shoemaker folgende Formel:
Rp. Tinct. nuc. vomic.
Tinct. sanguin. aa. 7*5,
Extr. geran. fluid. 45*0,
Syr. simpl. 10 0.
MDS. Alle 4 Stunden 1 Theelöfel voll in Wasser.
Endlich ist noch das Laminm album zu erwähnen, welches nach Florain 6)
ein hämostatisch wirkendes Alkaloid . das Lamin, enthält und von Florain in
folgender Weise verordnet wird:
Rp. Tinct. Lamii albi 100 0,
Syr. simpl. 50 0,
Aqu. dest. 25*0.
MDS. VWttadlidi 1 Esslößel bis zum Aufhören der Blutung;
dann alle 4 Stuuden 1 EsslöfFel.
h) 0 e r 1 1 i c h e. Auf die blutstillende Wirkung des Antipyrins7) ist
zuerst von Hkxocqüe (Real-Encyclopädic, 2. Aufl , Bd. II, pag. 225) hingewiesen.
Er fand, dass das Mittel, sowohl in Pulverform, wie in Lösung Verengerung der
Gefasse bewirkt und die Gerinnung des Blutes befördert. Die Anwendungsweise ist
dieselbe, wie bei allen styptischen Mitteln : man bestreut die Wunde mit dem Pulver
und befestigt darüber einen Deckverband aus Watte oder Gaze und Binde ; grössere
Flächen bespült man mit einer 5% igen Lösung. Man kann auch hygroskopische Stoffe,
wie Fliesspapier, Feuerschwamm nach vorheriger Sterilisirung mit einer coneentrirten
Antipyrinlösung tränken und trocken für den Gebrauch aufbewahren. Selbstver-
ständlich eignet sich das Mittel nur für oberflächliche Wunden. Zur Bekämpfung von
Metrorrhagien umhüllt man eine kleine Menge Antipyrin mit einem Wattebauschen
und drückt denselben gegen das Collum, beziehungsweise in das Cavum colli
hinein. — Bei Hämorrhoiden findet das Antipyrin in Form von Suppositorien,
Antip. 0'05, Ol. cacao. 2*0 8), Verwendung. Ueberraschende Erfolge sah Schreiber9)
bei Hämorrhoidalgeschwüren : durch Bestreuen mit dem Pulver — anfangs täglich,
BLUTSTILLUNG.
115
später jeden 2. Tag — verloren sich die Schmerzen und das lästige Jucken
bald und die Heilung erfolgte in drei Wochen.
Insonderheit ist für das Nasenbluten eine ganze Schaar von Mitteln
und Verfahren angegeben, und damit der Beweis erbracht, dass die bisher
bekannten trotz ihrer grossen Zahl nicht befriedigten. Die Nasenärzte verwerfen
alle diese Mittel, ohne welche die Praxis nun einmal nicht auskommt. Befindet
sich die blutende Stelle am unteren Theile des Septum, was glücklicherweise oft
der Fall ist, so kann man durch Druck von aussen und durch vordere Tamponade
meist die Blutung bewältigen. Liegt aber die blutende Stelle weiter nach hinten,
dann nützen diese Verfahren nichts ; die hintere Tamponade aber ist, ganz abgesehen
von ihrer Gefährlichkeit, namentlich bei Kindern eine so lästige Procedur, dass
man gern darauf verzichtet. Es ist daher sehr gut, mit einer grösseren Zahl von
Mitteln bekannt zu sein, damit man gegebenen Falles nicht in Verlegenheit geräth.
Unter den neuempfohlenen medicamentösen Mitteln sind hervorzuheben :
Das Antipyrin, welches man in Pulverform einblasen oder als 5° 0ige
Lösung einziehen lässt. Leicht zu haben nnd von Geneüil 10) als zuverlässig
gerühmt, ist der frisch ausgedrückte Saft der Citrone, den man mit einer
kleinen Spritze in die blutende, vorher von Gerinnseln befreite Nasenhälfte einspritzt.
Steht die Blutung nach 1 — 2 Minuten nicht, dann wird das Verfahren wiederholt.
Auch das altbewährte Terpentinöl mag im Falle der Noth benutzt werden,
aber das Mittel ist für den Kranken höchst unangenehm: es schmerzt gewaltig
und lässt sehr langsam heilende Aetzungen der Schleimhaut zurück. Indessen da,
wo Gefahr im Verzuge liegt, kann man auf derartige Uebelstände keine Rücksicht
nehmen. Weniger unangenehm ist das von Ruault und Bouchard empfohlene
Cocain, weiches man in 2° 0iger Lösung mit Hilfe eines Wattebauschens auf
die blutende Stelle bringt. — Auch die alte Auffassung, dass in grosser Zahl
von Fällen das Nasenbluten mit der Leber (stellvertretende Hämorrhoidalblutung),
in anderen mit der Milz in Verbindung stehe, hat in neuerer Zeit wieder Vertreter
gefunden, welche durch Vesicantien oder Schröpfköpfe in der Leber-, beziehungs-
weise Milzgegend die Blutung bekämpfen wollen. — Schliesslich sei auf die von
Alvin 1}) noch besonders empfohlene Irrigation mit heissem Wasser (53°)
hingewiesen, bei der der Kranke geräuschvoll (schnarchend) durch den Mund
atbmen muss, damit das Eintreten von Wasser in den Kehlkopf vermieden werde.
Für das Wasserstoffh y per o xy d 12) ist Neudöbfer eingetreten und
rühmt nach langjähriger Erfahrung den Nutzen desselben, namentlich bei Höhlen-
wunden: Das Aufbringen weniger Tropfen auf die blutende Stelle gentigt zur
völligen Stillung des Blutes.
B. Thermische Hämostatica. In den letzten Jahren hat auf dem
Gebiete der Blutstillung die Hitze gegenüber der Kälte immer mehr Boden
gewonnen, lieber die Heisswasserdouche , beziehungsweise Irrigation bei Uterin-
blutungen ist bereits in Bd. II, pag. 230 der Real-Encyclopädie berichtet worden,
entsprechender Aenderung lässt sich das Verfahren auch auf andere Blutungen In
in Form der Berieselung der Wunden, der Nase, der Scheide, des Rectum über-
tragen; bei Magenblutungen hält Flaschen13) das Trinken von heissem Wasser
für ein sicheres und angenehmes Mittel, und bei Hämorrhoidalblutung empfiehlt
sich das Auflegen feuchter heisser Schwämme.
G. Mechanisch wirkende Blutstillungsmittel. Von besonderem Interesse
sind die von Michelson in Königsberg veranlassten Untersuchungen des Dr. Noltenius,
durch welche das den jüngeren Aerzten wohl kaum dem Namen nach bekannte
Penghawar-Djambi, die Spreuhaare einiger auf Sumatra und Java vor-
kommender Farren, der Vergessenheit entrissen worden ist. Früher pflegte man
das Penghawar-Djambi zn den verklebenden Mitteln zu rechnen, und wenn die
Chirurgen sich gegen dasselbe ablehnend verhielten , so waren sie von ihrem
Standpunkte aus dazu berechtigt. Jetzt ist nun festgestellt, dass das Mittel Wasser
nur sehr schwer aufnimmt, und dass es mithin gar nicht unter die Agglutinantia gebracht
116
BLUTSTILLUNG.
werden kann. Ebensowenig wirkt es als chemischer Reis zusammenziehend auf die
Gefässe oder gerinnenmachend auf du Blat ; seine blutstillende Wirkung ist eine
rein mechanische. Bringt man beispielsweise einen Penghawarballen in die blutende
Nasenhöhle, so sangt derselbe sich nicht voll Blut, wie ein Wattetampon, sondern
nur sein Bandtheil wird mit Blut getränkt ; er sinkt auch nicht zusammen, sondern
int stets bestrebt, seine ursprüngliche Gestalt zu bewahren ; er behält seine Feder-
kraft und wirkt vermöge seiner Elasticität durch Druck. Das Mittel läast sieh
nicht blos bei Epistaxis, sondern auch bei buchtigen und Oberhaupt bei Hohlen-
blutuogeo verwenden. Bei der Selbstbereitung der Ballen nmgiebt man dieselben,
um das Verstäuben zu verhüten, mit einem Gazebeutelchen. Hartmann und
Heideureich stellen übrigens schon fabrikmässig Penghawar- Watte (Penghawar
und Watte) und Jodoform-Penghawarwatte her. Das Penghawar ist an sich, wie die
irische Holzfaser, Aseptisch.
Acufilopressur (vergl. Real-Encyclopädie, 2. Aufl., Bd. I, pag. 182).
„Eine neue einfache und sichere Methode, Blutungen vorzubeugen und Aneurysmen
zu behandeln " beschreibt Muscroft; bei Exarticulatio femoris sticht man eine
10 Cm. lange, an der Spitze etwas gebogene Nadel 4 Cm. (l1/* Zoll) unterhalb
des Püupart' sehen Bandes von innen nach aussen unter den Gefassen her quer
durch den Oberschenkel hindurch, führt nnn eine Darmsaite in Achtergängen um
beide Enden der Nadel herum und über die zwischen denselben liegende Weich-
theilmaHse hinweg. Dadurch wird die Arterie zusammengedrückt, und die Operation
geschieht mit geringem Blutverlust. In ähnlicher Weise verfahrt man bei hohen
Oberarmamputationen, sowie bei Nachblutungen nach Amputationen am Bein.
Muscroft empfiehlt nun das Verfahren wegen seiner Einfachheit und leichten
AuHführbarkeit sowohl zur Stillung vorhandener Blutungen nach Verletzungen, wie
zur Vorbeugung von Blutungen bei Operationen.
Es kann nicht zweifelhaft sein, dass das Verfahren nicht neu, sondern
durchaus gleich ist mit dem als Acufilopressur bezeichneten, zuerst von Johann
dk VuiO und npäter von Vklpeau angegebenen Versuchen. In Vigo's „Practica in
rhirurgia" heiflst es: Modus ligationis aliquando efficitur intromittendo acum sub
vena (im allgemeinen Sinne für Blutgefässe) desuper filum stringendo. — Velpkaü,
Nouvcaux Clements, T. 11, 70, beschreibt das Verfahren dann noch genauer.
Dasselbe wurde aber zunächst nicht beachtet, später jedoch in jene Gruppe von
HlutMtillungHverfahren eingereiht, welche man als Acupressur zusammengefasst hat.
Die AcupresHur, mit sammt ihren Varianten, sollte die Ligatur in der Wunde ver-
drängen, weil man von dem Unter bin dungsfaden einelnfection der Wunde befürchtete.
Allein trotz der mächtigen Fürsprache Simpson's gelang ihr das nicht; die
Acupressur fand keine Verbreitung. Jetzt will Muscroft mit dem Verfahren
die elastische Comprcssion (künstliche Blutleere), wenigstens für gewisse Fälle
ersetzen, aber nach meinem Dafürhalten wird es der Acupressur heute so ergehen,
wie es ihr vor 40 Jahren erging.
Fig. 7.
Da$re$reü erscheint das als Aeupressurforeeps 1<J) bezeichnete kleine
Instrument von Allis handlich und brauchbar. Dasselbe besteht, nach Art der
BLUTSTILLUNG.
117
CHARRiÄRE'schen Unterbindungspinoette , aus zwei federnden, sich kreuzenden
Armen. Der eine Arm jedoch stellt eine Nadel dar, welche beim Gebrauch durch
das blutende Gewebe hindurchgestossen wird. Lässt der Druck der Hand nach,
dann federn die beiden Arme gegeneinander, pressen die zwischen ihnen liegenden
Theile zusammen und stillen so die Blutung. Das kleine Instrument ist vorzugs-
weise bestimmt für die capilläre Blutung nach Abnahme des elastischen Schlauches,
lftsst sich auch anderweitig bei passender Gelegenheit verwerthen.
Auch sonst noch ist das hämostatische Instrumentarium vielfach vermehrt,
aber nicht in demselben Masse bereichert worden. Ich begnüge mich daher damit,
das Wichtigere hervorzuheben. Die
queren Furchungen der hämostati-
schen Zangen lassen sich schwer
reinigen und Spencer- Wells hat
daher bei seinen Zangen diese
Furchen weggelassen. Ein anderer
Uebelstand ist der, dass die Schnäbel
langer , gerader Zangen sich beim
Fassen der Gewebe nicht immer
genau aufeinander legen , sondern
sich mehr oder weniger kreuzen.
Zur Vermeidung dessen hat Girard
in Bern Zangen anfertigen lassen,
bei welchen der eine Arm eine
prismatische Rinne der ganzen Länge
nach bildet, während die andere im
Gegentbeil eine entsprechende Kante
besitzt, welche beim Schliessen genau
in die Rinne der anderen passt
(s. Durchschnitt Fig. 8).
Ferner besitzt die Zange vorn
Häkeben, und das Schloss ist so
eingerichtet, wie das zum Zwecke
der Reinigung jetzt vielfach bei
allen sebeerenartigen Instrumenten
geschieht , dass die beiden Arme leicht
auseinander genommen und wieder
zusammengefügt werden können.
Die in erster Linie für die Tracheotomie bestimmte Venenklemme
(Fig. 9) von Köllicker in Leipzig unterscheidet sich dadurch von der gewöhn-
lichen Schieberpincette, dass das untere Schnabelende um etwa 2 Cm. länger ist,
als das obere. Dieser vorragende Theil ist gut geglättet, abgerundet und leicht
nach oben gewendet. Mit dieser sonden förmigen Verlängerung dringt man unter
die zu unterbindende Vene, isolirt dieselbe durch seitliches Hin- und Herbewegen
des Instrumentes, schiebt dasselbe etwas vor und fasst die* Vene.
Fig. 9.
Die Arterienpincette von Forbes hat einen leicht gekrümmten, kräftigen
olivenförmigen Schnabel, welcher ein leichtes Abgleiten des Fadens gestattet.
Das zangenartige Compressorium für Blutungen aus den Tonsillen,
den Wangen, Lippen etc. von Mikulicz, modificirt von Stork, findet sich ab-
gebildet, Real-Encyclopädie, 2. Aufl., Bd. XIX, pag. 705.
118
BLUTSTILLUNG. — BRANNTWEIN.
Das Beckentourni qu e t von Ward Cousins für Operationen an
der Hüfte besteht aus einem elastischen Schlauehe mit Metallklammer zum Fest-
stellen desselben. Zur Compression der Iliaca trägt der Schlauch als Pelotte
ein gepolstertes Holzblöckchen, das an der oberen Fläche zwei Rinnen zur Auf-
nahme der Schläuche hat. Mit Hilfe einer centralen Schraube und zweier Spiral-
federn kann die Pelotte höher oder niedriger gestellt werden.
Literatur: l) Langaard, Ein therapeutischer Röckblick. Deutsche med*
Wochenschr. 1887, 3. — 2) Societe de Therapeut. Paris, 11. Jan. 1888; Le Progres med.
1887. 7. — s) Z. Petrescu, Bryonia alba, ein neues Hämorrhagicam. Bukarest 1888,
Wiegand. - 4) Shoemaker, Med. Reg. 1887, 22; Deutsche med. Zeitung. 1889, 27. —
*) Bullet, therapeut. 1887. — e) Societe de Therapeut. Le Progres med. 1887, 7. — T)Leon
Ardnin, Contnbution ä V finde therapeutique et phys. de Vantipyrine. Paris 1885. —
*) Henri Huchard, Etüde* therap. sur Vantipyrine. Bull, de la Soc. de ther. Paris
1685. — v) Antipyrin gegen Hämorrhoid» lgeschwüre. Therap. Monatsh. 1888, VII. — 1C) Des
ivjections de jus de citron dans les epistaxis. Bull. gen. de therap. 3. November 1887. —
ll) Acad. de med. de Paris. 19. Jnni 1888. — **) Wiener med. Blätter. 1887, 5. — "■) Allgem.
med. Centralztg. 1888, b*. — M) N ölten ins, Die blutstillende Wirkung der Penghawar-
Watte. (Aus dem Ambulatorium des Dr. Michelson in Königsberg.) Therap. Monatsh.
1890, 3. — 1:) The Cincinnati Lancet. 1887; Deutsche med. Ztg. 1887, 41. — Illustr.
Monatsschr. für äiztl. Polytechnik. März 1884. — l7) Illustr. Monatsachr. 1887, H. 5. —
l*) Ebendas. H. 12. — ,9) Ward Cousins, Brit. med. journ. September 1887. w.
BOHIX, dessen kranipfstillende Wirkung schon Hohberg 1702 hervorhob,
w ird neuerdings wieder von englischen and französischen Aerzten gegen Epilepsie
empfohlen. Nach Stewart (Brit. med. Journ. 1890) soll es besonders bei
Epiltpsia nocturna wirken, während bei Epilepsia diurna Bromkalinm wirk-
samer sein soll. Hingegen beobachteten J. S. Risiex, Kussel und James Taylor
(Lancet. 1890, Bd. 1> bei den von ihnen behandelten Epileptikern nach Darreichung
von 10 0 Grm. Borax pro die unangenehme Nebenwirkungen, die auch nicht aus-
blieben, als mit der Dosis auf 5*0 täglich berabgegangen wurde, namentlich traten
auf: Uebelkeit, Erbrechen, Wundsein der Lippen und Zunge, Abmagerung. Die
Anfälle wurden in den meisten Fällen seltener und blieben in einigen sogar ganz
aus : keineswegs leistet es aber soviel wie die Bromide und soll erst versucht werden,
wenn diese erfolglos waren oder schlecht vertragen werden. Dijoud reicht Borax
bei Epilepsie in folgender Form: Natrii biboracici 10*0, Glycer. pnri 6'0, Syr.
Aurant. cort. 94 0. DS. Esslöffelweise = 2 0 Borax p. d. (Sem. med. 1890, 20).
Die Unschädlichkeit des Borax in kleinen Gaben behufs Conservirung
von Nahrungsmitteln, beziehungsweise auch von Seefischen betont 0. Liebreich
(Therap. Monatsh. lt?87, pag. 3ö3) neuerdings. Auf Grund seiner Thierversuche,
welche ergaben, dass mit Tuberkelbaeillen geimpfte Kaninchen bei einer täglichen
Dosis von 0*2 Borsäure frei von Tuberkulose blieben, während die Controlthiere
nach den Impfungen ausgedehnte tuberkulöse Läsionen aufwiesen, empfiehlt
Gaucher ' Bullet, med. 1890, 64 1 die Borsäure bei Lungenschwindsucht.
Bei einer Dosis von 1 Grm. Borsäure täglich blieben bei den von ihm behandelten
tuberkulösen Individuen die Lungenveränderungen stationär und der Allgemein-
zustand wurde ein befriedigender.
Die Borsäure findet wegen ihrer desodorisirenden Wirkung nach
Bezold's Empfehlung in der Ohrenheilkunde ausgedehnte Anwendung. Faust
empfiehlt dieselbe auch bei Balano-Posthitis, wie sie durch Zersetzung des Smegmas
im Präputium auftritt /Therap. Monatsh. 1889, pag. 514-. Das Borsäure-
lanolin ^Acid. borae. 0*5, Lanolini 50'0, Vaselin. americ. 10*0) bewährte
sich bei Intertrigo der Kinder, fetter Leute und Greise, wobei es zugleich des-
odorisirend wirkt (Therap. Monatsh. 1889, pag. 343 . Loebisch.
Bosnische Mineralquellen, s. G uberquelle.
Branntwein. Bei der hygienischen Beurtheilung des Branntweins soll
nach K. B. Lehmann zwischen dem in grossen Massen verbrauchten Trinkbrannt-
wein und den nicht im Grossen eonsuniirten, aus feinen Ingredienzen hergestellten
BRANNTWEIN. — BROM.
119
Luxusbranntweinen unterschieden werden. Von 265 im deutschen Gesundheitsamt*
untersuchten Schnäpsen hatten nur 23 einen Gehalt unter 30 Volumprocent Alkohol,
81 einen Gehalt von 40 — 45 Volumprocent, 31 einen solchen von 45 — 50%, 9
einen Gehalt von 50 — 78 Volamprocent ; es sollte ein gewisser Maximalgehalt des
Branntweines an Alkohol, 40 Volumprocent nach Bär, festgestellt werden.
Die Frage, inwieweit die Schädlichkeit des Branntweins, dessen
Verunreinigung namentlich auch durch den Fuselölgehalt bedingt wird, ist
neuerdings von E. Sell (Arbeiten aus dem königl. Gesundheitsamte. Bd. IV) ein-
gehend bearbeitet worden. Es ist kein Zweifel, dass alle anderen alkoholisch-
ätherischen Bestandtheile der Branntweine schädlicher sind als der Aethylalkohol ;
doch läset sich nicht mit Sicherheit beantworten, ob die Fuselölmengen, die in
der Mehrzahl unserer Trinkbranntweine vorkommen (unter 0'2 — 0 3°/0), wirklich
nennenswerth zur Erhöhung der Gesundheitsschädlichkeit beitragen ; immerhin wäre
eine gesetzliche Regulirung der Frage in der Weise, dass nur ein geringerer
Gehalt, etwa O'l0,o, gostattet wird, wünschenswerth.
Die geringen Mengen von giftigen Pyridinbasen , wie sie durch Zusatz
von denaturirtem Spiritus unter Trinkbranntweinen in denselben gelangen können,
scheinen nicht gesundheitsschädlich zu wirken.
Die Luxusbranntweine enthalten häufig 50 — 70 Volumprocent Alkohol,
sind auch sehr fuselreich. Eingehend wurde bisher nur A b s y n t h untersucht. Der-
selbe enthält aus Artemiaia Absynthium das giftige ätherische Absinthöl, welches
die Wirkung des alkoholischen Getränkes so weit beeinflusst, dass Muskelzuckungen,
klonische Krämpfe und bei chronischer In toxica tion sogar epileptiforme Zustände
auftreten. Loebisch.
Brausebäder, s. Bad, pag, 73.
Brillen. Als „Contactbrille" beschreibt A. E. FiCK im Archiv für
Augenheilk., 1888, Bd. XVIII, ein neues optisches Hilfsmittel bei unregelmässigem
Astigmatismus. Er Hess kleine Glasschälchen schleifen, die auf die Sclera aufgelegt
werden und durch Contact auf ihr festhaften ; in deren Mitte ist, der Cornea ent-
sprechend, die Wölbung von kürzerem Radius. „Eine Glascornea von 8 Mm.
.Krümmungsradius sitzt mit einer Basis von 7 Mm. Radius auf der Glassclera, die
letztere ist 3 Mm. breit und entspricht einer Kugel von 15 Mm. Krümmungs-
radius; die Glascornea ist parallelwandig , aussen und innen geschliffen und
polirt; desgleichen ist der freie Rand der Glassclera geschliffen und polirt ; Gewicht
einer Contactbrille etwa 0*5 Grm.w Zwischen Glas und Cornea wird etwas
erwärmte Zuckerlösung gefüllt. Die Brille macht keine Beschwerden, nur äusserst
wenig Injection der Conj. bulbi. In einem der wenigen Fälle, bei denen Fick den
Apparat versuchen konnte, wurde die Sehschärfe von Vjo au^ 2 12 gebessert. Zu
einer praktischen Verwerthung konnte er die Vorrichtung wegen Mangels passender
Fälle bisher nicht verwenden. v. Reusa.
Brom und Präparate. Gegen Verätzungen der Haut mit Brom
empfiehlt Sehrwald l) als verlässliches Antidot und Anästheticnm verdünnte Carbol-
säure (1 — 2°/0 Lösung), ferner bei Reizungen der Schleimhäute durch Bromdämpfe
das Einathmen der Dämpfe der concentrirten verflüssigten Carbolsäure. Als
Präventivmittel gegen Lyssa rühmt Galtier2) folgende Mischung: Glycerini
250 Ccm., Bromi 4 Ccm. und Aq. dest. 750 Ccm. zum Verband der gebissenen
Stellen, auch zu hypodermatischen Injectionen in der afficirten Gegend.
Eine Aqua bromata , Bromwasser (zu unterscheiden vom gleich-
namigen Präparat Erlenmeyer's , vergl. Real-Encyclopädie , 2. Aufl., Bd. III,
pag. 370), bestehend aus einer l°/0 Lösung von Brom in Wasser, empfiehlt
Mollerau (1883) 1 a— 1 4 stündlich 1 — 3 Tropfen in Zuckerwasser bei Diphtherie.
Maurice Doyon s) leitet gewisse Intoxicationserscheinungen, die beim
Menschen nach längerem Darreichen von Bromalkalien eintreten, von einer
120
BRÖK. — BRUSTFELLENTZÜNDUNG.
Retention eines kleinen Bruchtheils von Brom im Organismus ab. Er fand in der
Gehirnmasse eines wegen Epilepsie über ein Jahr hindurch mit Bromkali um
behandelten nnd dann an Scharlach verstorbenen 12jährigen Mädchens 2 Grm.
nnd in der Leber 0*7 Grm. Ealiumbromid.
Neu ist die erfolgreiche Anwendung von Bromkalium und Salicylsäure,
aa. 1*2 Grm. zweistündlich gegen traumatischen Tetanus von Bütlin4). Nach
Ebnst (Wiener med. Blätter. 1889) wird nach längerem Gebrauch von Brom-
alkalien bei früher regelmässig menstruirenden Individuen das Intervall zwischen
den Menstruationsperioden um 8 — 14 Tage verlängert.
Das Bromoform wurde von Stepp6) gegen Keuchhusten empfohlen,
die günstige Beeinflussung der Keuchhustenanfalle wurde von H. Neumann 6) und
die der Krankheitsdauer von H. Löwenthal7) an einem grösseren Krankheits-
materiale bestätigt. Nachdem Stepp ursprünglich 5 — 10 — 15 — 20 Tropfen in
100— 120 Wasser mit Hilfe von 1-0 Grm. Spiritus auf je 2—3 Tropfen Bromo-
form löste und von der Lösung 1—2 Esslöffel stündlich verabreichte, hat er
später die Darreichung des Bromoform in Tropfenform vereinfacht. Man lässt die
erforderliche Tropfenzahl in einen Kaffeelöffel mit Wasser fallen. Das Bromoform
sinkt auf den Boden des Löffels und bildet dort eine Perle, welche mit dem
Wasser vom Kinde — da kaum eine Geschmacksempfindung aufkommt — gerne
genommen wird. Man giebt bei einem 3 — 4wöchentlichen Kinde 3 — 4mal täglich
1 Tropfen, bei älteren Säuglingen 3mal täglich 2 — 3 Tropfen; bei Kindern im
2. — 4. Lebensjahre 3 — 4mal täglich 4 — 5 Tropfen und bis zum 7. Lebensjahre
3 — 4mal täglich 6 — 7 Tropfen. Die Genesung war zumeist in der 2. — 4. Woche
erfolgt. Die Besserung macht sich schon nach einigen Tagen bemerkbar. Das
Bromoform darf nicht zersetzt sein, also kein rothes Aussehen zeigen.
Literatur: ») E. Sehrwald, Weener med. Wochenschr. 18Q9, 25—26. —
*) Galtier, Lyon med. 1887, 10. — 8) Maurice Doyon, Therapeut. Gazette. 15. Mai
1889. — 4) Butlin, British med. Journ. 1889, pag. 74 ; Therap. Monatah. 1888, pag. 82. —
6) Stepp, Deutsche med. Wochenschr. 1889 , 31 und 44. — *) H. Neu mann, Therap.
Monatsh. Juli 18^0. — T)H. Löwenthal, Berl. klin. Wochenschr. 1890, 23.
Loe bisch.
Brustfellentzündung. Die Arbeiten des letzten Lustrum auf dem Ge-
biete der Erkrankungen des Brustfellraumes haben sich wesentlich mit der Aetiologie
und Therapie beschäftigt; namentlich ist die Frage der operativen Behandlung
des Empyems und der einfachen serösen Pleuritis Gegenstand einer Reihe statistischer
Arbeiten gewesen und hat einen grossen Theil der Arbeiten zweier Congresse für
innere Medicin (1886 und 1889J in Anspruch genommen. Von sonstigen Ver-
öffentlichungen können noch einige experimentelle Arbeiten, sowie Untersuchungen
über den Lage Wechsel pieuri tischer Exsudate ein grösseres Interesse beanspruchen.
Was die Aetiologie der Pleuritis anbetrifft, so verdienen hier die
Beobachtungen dreier Forscher, A. Fränkel's, Weichsblbaum's und Nkttbr's,
die die bacteriologische Seite der Frage genau studirt haben, besondere Erwähnung.
A. Frankel ist der Ansicht, dass die Mehrzahl aller serös - fibrinösen
Ergüsse der Pleura bacterienfrei ist, und dass bei der unter dem Bilde der genuinen
Pleuritis sero-ßbrinosa auftretenden Erkrankung vorher gesunder Personen Mikrobien
ausnahmslos fehlen. Spaltpilze werden (abgesehen von der mit Tuberkulose der
Pleura complicirten exsudativen Entzündung, die oft Tuberkelbacillen im Exsudat
enthält) nur unter folgenden drei Bedingungen bei serösen Ergüssen getroffen:
1. bei embolischer Pleuritis, die durch keim tragende Emboli bedingt ist;
2. wenn ein benachbarter, durch Mikrobien bedingter, Entzündungsherd auf dem
Wege der Lymphbahnen die Pleurahöhle inficirt: 3. wenn das Blut der Patienten
Bacterien führt. In allen diesen Fällen, namentlich aber in den ersten beiden,
pflegt jedoch das Exsudat sehr bald eitrig zu werden. Weich sklbacm fand in
8 Fällen primärer seröser Pleuritis 6 mal keine Mikrobien , 2 mal Streptococcen ;
in einem serös - eitrigen Erguss den Streptococcus pyoyenes. — Wenn man der
Ansicht huldigt, dass die Krankheitsursache in allen Fällen von Entzündung der
BRUSTFELLENTZÜNDUNG.
121
Pleura, auf einer Bacterieninvasion beruht, so muss man für die Fälle mit negativem
bacterioskopischem Resultat die Annahme machen, dass hier die Entzündungs-
erreger in dem Gewebe fest haften und nicht in's Exsudat gelangen, während
bei den eitrigen Ergüssen ihr Transport in das Exsudat durch die massenhaft
emigrirten Phagoeyten erfolgt, eine Annahme, die ja manche Schwierigkeiten
löst, aber doch nicht Alles erklärt.
Dass die eitrigen Exsudate immer durch Mikroorganismen bedingt
sind, darüber kann kein Zweifel herrschen; man findet bei ihnen alle Arten der
Eiterungserreger: Streptococcen, Staphylococcen, Kettencoccen etc. Eine besondere
Beachtung verdienen hier die sogenannten metapneumonischen E mpyeme,
die namentlich von Netter ausführlich bearbeitet worden sind. Sie schliessen
sich gewöhnlich an eine lytisch endigende croupöse Pneumonie so an, dass der
Entfieberung bald eine hohe Fiebersteigerung folgt; sie treten häufig in Form
von kleinen Endemien, am häufigsten bei Patienten, die vor dem 40. Lebensjahre
stehen, auf. Sie besitzen eine grosse Neigung zu Abkapselungen und Verkle-
bungen, zeigen ein verhältnissmässig dickes, viel Fibrin und Eiterkörperchen
enthaltendes Exsudat und brechen auffallend häufig nach den Lungen durch,
vielleicht weil die erkrankte Lunge leichter eitrig zerfällt. Oedem der Brustwand
fehlt bei ihnen gewöhnlich, ebenso Schüttelfröste und intermittirendes Fieber; die
Mortalität in operirten Fällen ist ausserordentlich gering. Nach Netter steht einer
Mortalität von 25% operirter Fälle des gewöhnlichen Empyems eine solche von
2*3° o beim metapneumonischen Empyem gegenüber, und es erklärt sich aus diesem
Umstände vielleicht manche Differenz in den Statistiken der Operationsresultate.
Der Erreger der Eiterung beim reinen metapneumooi scheu Empyem ist einzig
und allein der Pneumoni ecocou 8 A. Fränkel's. In complicirten Fällen findet
er sich mit anderen Eitererregern vereint, und die Prognose der Fälle
scheint allein von diesen Verhältnissen abzuhängen, da die relative Benignität der
metapneumonischen Empyeme vielleicht zu der Kurzlebigkeit und geringeren
Resistenz des sie bedingenden Pneumoniecoccus in Beziehung steht. Für diese
Ansicht spricht auch der Umstand, dass die Empyeme des Kindesalters,
in deren Mehrzahl der schon erwähnte Coccus der Pneumonie als Krankheits-
erreger zu betrachten ist, eine relativ gute Prognose haben, ja oft spontan oder
nach einer blossen Punction zur Heilung gelangen. Wenn sich diese Annahmen
bestätigen, so würde die bacteriologische Untersuchung der durch
Probepnnction entleerten Flüssigkeit eine wesentliche Förderung der Prognose
ergeben. Anwesenheit des Pneumoniecoccus bei Abwesenheit von
Streptococcen und Staphylococcen würde den Versuch einer blossen
Punctionstherapie räthlich erscheinen lassen ; Anwesenheit von Eitererregern würde
die Schnittoperation unvermeidlich machen. Wir kommen auf diesen Punkt noch
später zurück.
Bei jauchigen Exsudaten finden sich neben den Erregern der
Eiterung die bekannten Fäulnissbacterien in grösserer oder geringerer Anzahl;
ihrer Thätigkeit ist die Zersetzung des Pleurainhaltes zu verdanken.
Bei tuberkulösem Exsudat seröser Natur ist die bacteriologische
Untersuchung entweder negativ oder sie ergiebt, je mehr das Exsudat sich dem
eitrigen nähert, die oben erwähnten, für die Eiterung charakteristischen Mikrobien.
Sehr selten finden sich in den eitrigen Exsudaten Tuberkulöser Tuberkelbacillen ;
man muss annehmen, dass sie unter der Menge der Eitererreger zu Grunde
gegangen sind oder in Form von Sporen, wie im Eiter und Käse der Gelenke,
existiren; doch ist auch diese Annahme fraglich, da Injectionen des pleuritischen
Exsudats Tuberkulöser in die Bauchhöhle von Meerschweinchen keine Tuberkulose
hervorrufen und da Impfversuche mit solcher Flüssigkeit auf geeigneten Nähr-
böden fruchtlos waren (Gilbert und Liox, Girode u. A.). Es scheint pleuritisches
Exsudat überhaupt kein geeigneter Boden für die Entwicklung von Tuberkel-
bacillen zu sein, da in sterilisirter erstarrter Pleuraflüssigkeit, die mit Tuberkel-
122
BRUSTFELLENTZÜNDUNG.
baeillen geimpft wird, eine Fortentwicklang erst dann eintritt, wenn dem Exsudate
vorher zur Hälfte Kalbfleischbrühe mit Glycerin zugesetzt wird. Ans der Be-
schaffenheit der Exsudate lässt sich also die tuberkulöse Natur der Pleuritis meist
selbst dann nicht erschliessen, wenn Tuberkelbacillen im Sputum die tuberkulöse
Erkrankung der Lungen sicher anzeigen. Die Anwesenheit von Tuberkelbacillen
im Exsudat wird wohl meistens auf eine Communication von Lunge und Pleura-
raum zurückzuführen sein.
Der Lagewechsel bei pleuritischen Exsudaten ist von
Gerhardt, Strauch, Nicolay u. A. behandelt worden. Strauch hat naeh der
bereits von da Costa empfohlenen Methode — bei sitzender Stellung des Patienten
die Dämpf ungsgrenze zu bestimmen und dann in vollkommen horizontaler Bauch-
lage des Patienten noch einmal zu percutiren — nur in einem Falle Verschiebung
des Exsudats beobachtet, Nicolay dagegen in 55° 0 Beweglichkeit, in 30% wenig,
in 15°/0 gar keine Verschieblichkeit constatirt. Nach unserer Auffassung ist die
Frage von der Verschieblichkeit der pleuritischen Exsudate eine so complicirte, dass
sie durch eine und dieselbe Untersuchungsmethode nicht entschieden werden kann.
Wenn man nur bedenkt, wie beträchtlich die blosse Entfaltung der Lungen
bei tiefer Einathmung auf das Verhalten der Dämpfung selbst und ihren Grenzen wirkt,
ohne dass sieh das Exsudat zu verschieben braucht, so wird man ein blosses Lauter-
werden des Percussionsschalles nicht auf eine Verschiebung des Exsudates zurück-
führen dürfen. Da bei sitzender Haltung die Lungen und der Thorax an ganz
anderen Stellen ihre grösste Ausdehnung haben als bei Rücken- oder gar bei
Bauchlage, da namentlich bei der letzteren die Rückenpartien mehr Luft enthalten
müssen als vorher, so ist es klar, dass selbst ohne Niveauverschiebung des Exsudats
eine Veränderung des Percussionsschalles durch die Aenderung des localen Luft-
gehaltes der Lunge hervorgerufen werden muss. Dass überhaupt das Verhalten
der Exsudate bei den besonderen Druck Verhältnissen in der Pleura ein ganz eigen-
thümliches, nicht immer von der Schwere allein abhängiges ist, dass es sich hier
um ganz complicirte statische und dynamische Verhältnisse (Aspirationswirkung,
Wirkung capillärer Räume , locale Druck unterschiede etc.) handelt , beweisen
Beobachtungen, die Symington an gefrorenen Leichen, die nicht sehr umfangreiche
pleuritische Kxsudate aufwiesen, angestellt hat. Er fand nämlich an Horizontal-
durchschnitten, dass Vorder- und Seitenfläche der Lungen von Exsudat frei blieben,
während die Rückenfläche durch eine in fast gleicher Mächtigkeit von oben bis
unten reichende Exsudatscbicht bedeckt war und er constatirte zugleich, dass die
unteren hinteren Complementärräume der Pleura so vollkommen frei von Flüssig-
keit waren, dass sich die Pleurablätter berührten. Gerhardt findet, dass bei
Lagewecbsel häufig eine Verschiebung der Dämpfung erst nach längererZeit
zur Beobachtung kommt, was vielleicht davon herrührt, dass leichte Verklebungen
sich erst lösen müssen ; jedenfalls hat nach seiner Ansicht die auch schon von
Laennec vertretene Anschauung Geltung, dass ein Lagewechsel grösserer Exsudate
nur dadurch zu Stande kommen kann, dass ein Luftwechsel in den einzelnen
Partien der Lungen vor sich geht , indem von den das Exsudat begrenzenden
Partien einzelne luftleer, andere lufthaltig werden. Gbrhardt bestätigt ferner die
Erfahrung Damoiseau's , dass bei massigem Exsudate auch die gesunde Seite
stark erweitert wird und dass das Zwerchfell auf der gesunden Seite sogar tiefer
stehen kann, als in der Norm; nach der Punction, resp. Resorption geht dann
das Zwerchfell auf beiden Seiten beträchtlich in die Höhe und der Brustumfang
nimmt auf beiden Seiten entsprechend ab. Hier liegt wohl nicht eigentlich eine
passive Ausweitung des gesunden Brustraumes in Folge von Verdrängung der Brust-
organe durch das Exsudat, sondern eine active Einwirkung durch vicariirende
stärkere inspiratorische Inanspruchnahme vor. Bezüglich der bekannten Ellis-
Damoiseau 'sehen Curve — die obere Begrenzungslinie pleuritischer Exsudate soll
eine Parabel bilden, deren Scheitelpunkt in der Seitenwand des Thorax, gewöhnlich
in der Axillarlinie liegt — vertritt Gerhardt die Ansicht, dass eine solche
BRUSTFELLENTZÜNDUNG.
123
gekrümmte Linie nur bei Individuen zur Beobachtung kommt, die andauernd auf
der kranken Seite liegen ; in anderen Fällen, die die Regel bilden, ist die Linie
horizontal, mit leichter Erhebung an der Rücken fläche.
Von experimentellen Arbeiten ist eine Arbeit von 0. Rosenbach zu
erwähnen, der das Verhalten von Hunden und Kaninchen bei künstlicher Druck-
steigerung in der Pleurahöhle durch Injection von Oel, Gyps oder Luft oder bei
Einführung eines aufblasbaren Gummiballons studirte. Die bemerkenswerthe,
schon von Lichtbejm constatirte Thatsache, dass trotz beträchtlicher Raum-
beschränkung der Blutdruck constant bleibt, darf nicht dazu verleiten, aus
der Constanz der Druck Verhältnisse eine Constanz der Kreis-
laufsverhältnisse zu erschliessen, denn das Gleichbleiben des Arterien-
druckes kommt nur durch eine immense Mehrarbeit der die Kreislaufsstörung
compensirenden Apparate zu Stande, und es besteht trotz anscheinender Intaotheit
des Druckes venöse Hyperämie und arterielle Anämie. Dabei leistet das Herz eine
beträchtliche Mehrarbeit, es verlangsamt seine Schlagfolge, es besteht stärkere
und frequentere Athmung und eine beträchtliche Verengerung des Arterienlumens
durch Contraction der musculösen Gefasswandungen — Alles Vorgänge, die die
deletären Folgen der Raambeschränkung in der Pleurahöhle für den Kreislauf
möglichst zu compensiren geeignet sind. Dass in der That trotz des constanten
Druckes sogar Gehirnanämie besteht, kann aus der Reizung des Vagus- und vaso-
motorischen Centrums erschlossen werden. — Bei allen plötzlichen Todesfallen
während des Bestehens grösserer pleuritischer Exsudate, die nicht auf Herz-
erkrankung zurückzuführen sind, ist der Ein flu ss der Erschwerung des
Venenblu tstromes, namentlich die Verlegung der Vena cava
durch Abknickung zu berücksichtigen. Die Abknickung des grossen Venen-
stammes rührt nicht immer von einer directen Verschiebung der Vene durch
das Exsudat, sondern von der starken Contraction des Zwerchfells
der gesunden Seite her, welches bei jeder forcirten Inspiration (da bei
grossen Exsudaten die herabgedrängte Zwerchfellshälfte [der kranken Seite] nicht
agirt) die Vene nach der gesunden Seite herüberzerrt und a u f 's
Stärkste verengert. Auch beim Entstehen des Pu Isus paradoxus
spielt dieser Mechanismus, wie Roskxbach zeigt, eine Hauptrolle, da bei Druck-
Steigerung im Thorax durch Flüssigkeitsansammlung jede Inspiration zur
temporären Unterbrechung des Venenblutstromes und somit zu
mangelhafter Füllung de s Herzens V eran las sun g geben muss.
Die Resorptionsfähigkeit der Pleura für corpusculäre Elemente hat Flejner
geprüft, indem er bei Thieren unter sorgfaltiger Vermeidung des Luftzutrittes
gewisse Mengen defibrinirten Blutes oder verriebener Tusche in den Pleuraraum
injicirte und die Versuchsobjecte nach 10 bis 15 Minuten tödtete. Er fand,
dass innerhalb sehr kurzer Zeit corpusculäre Elemente aufgenommen, in den Lymph-
bahnen der Pleura weiter transportirt und in regionäre Lymphdrüsen abgelagert
werden. Die Aufnahme erfolgt merkwürdigerweise wohl von der Pleura costalis
und mediastinalis , aber nicht von der Pleura pulmonalis aus. Die von der
Pleura costalis aus, zum Theil unter Mitwirkung von Athembewegungen, resor-
birten Körnchen gelangen in die intercostalen , aber nie in die bronchialen
Lymphdrüsen; die aus der mediastinalen Pleura stammenden Elemente werden in
den peritrachealen Lymphdrüsen oberhalb der Bifurcation abgelagert. Da die
vollgestopften Lymphdrüsen ein Hinderniss für die Resorption bilden , so glaubt
Fleiner, dass bisweilen wohl die Störungen in der Aufsaugung pleuritischer oder
pneumonischer Exsudate auf die bisher nicht gewürdigten Lymphdrüsenverände-
rungen zurückgeführt werden müssen.
Eine besondere Beachtung hat in den letzten Jahren, wie schon oben
erwähnt, die T h e r a p i e , und zwar die operative des Empyems gefunden,
während man bezüglich der Behandlung der serösen Ergüsse ziemlich auf dem
alten Standpunkte steht, abgesehen davon, dass einzelne Forscher für eine sehr
124
BRUSTFELLENTZÜNDUNG.
frühzeitige Punctum plaidiren, der wir nach unseren Erfahrungen nicht zuneigen.
Zu Punctionen empfiehlt sich der Doppeltroioart von Fiedler, eine Hohlnadel,
innerhalb welcher eine Cantile beweglich ist, die nach dem Einstich vorge-
schoben wird und so die Spitze unschädlich macht ; doch haben wir bei vielfachen
Punctionen mit der blossen Hohlnadel nie Verletzung der Lungen beobachtet, da
es ja leicht ist, sich innerhalb des Exsudates zu halten, wenn man die Ausfluss-
geschwindigkeit bei einer bestimmten Haltung der Canflle genau beobachtet
Der Streit der Meinungen dreht sich um die Frage, ob Punctionsaspiration
(resp. permanente Aspirationsdrainage) nach Bülaü (s. Artikel Brustfellent-
zündung, Real-Encyclopädie, Bd. Hl, pag. 502) oder Radicaloperation durch Schnitt
vorzuziehen sei ; doch hat man sich wohl im Allgemeinen für die letztere Eventualität
entschieden, obwohl die Vorzüge des BÜLAü'schen Verfahrens für geeignete Fälle
auf der Hand liegen , da namentlich bei schwachen , erschöpften Kranken , bei
denen man die Narcose fürchtet, die BüLAu'sche Metbode, die zudem allen
Ansprüchen der Theorie in der idealsten Weise gerecht wird,
alle Vortheile des operativen Verfahrens ohne bemerkenswerthe Nachtheile bietet.
Was im Uebrigen die Art der Operation anbetrifft, so gereicht es dem Verfasser
dieser Zeilen zur grossen Freude, dass die Ansichten über Operation und Nachbehand-
lung der Empyeme, die er in der zweiten Auflage der Real-Encyclopädie aussprach
(Jodoformbehandlung, Vermeiden des- Ausspülens, Einlegen
zweier dicker Drains), im Allgemeinen acceptirt worden sind; er kann des-
halb auf seine früheren Ausführungen (1. c. pag. 504 ff.) verweisen. Man nimmt
jetzt allgemein Abstand von öfteren Irrigationen, man eröffnet nur einen Inter-
costalraum ; die Jodoformbehandiung, die Verfasser zuerst empfohlen, erfreut sich
immer grösserer Anerkennung. Ob man eine Rippe reseciren soll, ob man an
der tiefsten Stelle des Pleuraraumes einschneiden, ob man nach der Anlegung
des Schnittes eine einmalige Ausspülung vornehmen soll, das hängt ja von
den Umständen des speciellen Falles ab, für die sich n i e i m
Vor au 8 allgemeine Regeln geben lassen. Sehr enge Intercostalräume , mehr-
kammerige Exsudate, Verklebungen, Ansammlungen von Eiter zwischen den Lungen-
lappen, Abscesse, die häufig circumscript sind, werden den Arzt stets vor neue
Erwägungen stellen und ihn zwingen, seinen Operationsplan dem Fall entsprechend
zu modificiren. Für die Operation gilt aber als erste wichtige Vorbe-
dingung, „dass man das Exsudat nicht zu alt werden lasse11 (Ewald) und an
dieser Aufforderung an die diagnostische Fähigkeit müssen wir festhalten,
obwohl einige Statistiker (Runeberg, Holsti) beweisen wollen, dass die im ersten
Monat des Bestehens operirtcn Exsudate eine längere Heilungsdauer haben als
die später operirten. Auch hier spielen die individuellen Verhältnisse wohl eine
Hauptrolle und die Art der Infection (Pneumoniecoccen oder Streptococcen), die
Ausdehnung der Erkrankung, der Umstand, ob Primär- oder Secundäraffection,
werden für das schliessliche Resultat ausschlaggebender sein , als die Art der
Operation. Wichtig ist es stets , sich durch Probepunction ein Urtheil über die
Art der vorhandenen Krankheitserreger , die Beschaffenheit des Exsudats , seine
Lagerungs Verhältnisse etc. zu schaffen und bei Annahme eines eitrigen Exsudates —
namentlich unter bestimmten typischen Fieberverhältnissen , Schüttelfrösten,
Sch weissen — sich durch das vergebliche Resultat einer Probepunction
nicht von weiterer Punction abschrecken zu lassen. Man findet oft erst nach
6 — 8 Punctionen, oft erst nach Anwendung einer Canüle von grösserer Länge
und grösserem Lumen die richtige Stelle, die dann auch über den Ort der
Operation entscheidet. Eine besondere Erwähnung verdient noch die unter dem
Namen EsTLANDER'sche Operation bekannte Resection grosser Theile der Brust-
wand, die namentlich von Schede in vorzüglicher Weise ausgebildet worden ist,
denn durch Schede's Operationsmethode wird dem früher unerfüllbaren Postulat,
den Sehl u 88 der Brustfisteln auch dann herbeiführen zu können, wenn die starren
Wandungen der Pleurahöhle sich der anscheinend nicht mehr ausdehnungsfähigen
BRUSTFELLENTZÜNDUNG.
125
Lunge nicht zu adoptiren vermögen, in ausgezeichneter Weise dadurch Rechnung
getragen, dass Schede im ganzen Bereiche der Empyemböhle nicht nur die Rippen,
sondern auch die starren Zwiscbenrippentheile wegnimmt, so dass nur ein Haut-,
resp. Hautmuskellappen sammt der Scapula flbrig bleibt, der sich der Lunge gut
anschmiegt und mit ihr verwächst. Die Heilung ist eine so vollkommene, dass
nach Vollendung der Vernarbung, wenn dem Patienten wieder Bewegung der
Arme gestattet werden darf, die Lunge sich allmälig ausdehnt und leidlich athmet,
ja dass sogar der verstümmelte Thorax ein anderes Ansehen gewinnt und die
Scoliose der Wirbelsäule sich verliert. Schede hat in dieser Weise von 7 Kranken
5 geheilt, ein vortreffliches , kaum zu erwartendes Resultat , wenn man bedenkt,
dass alle derartigen Patienten sonst eine sichere Beute der amyloiden Degeneration
geworden wären.
Bei dem traumatischen Empyem nach Stich- oder Schusswunden
sah Schede unter 11 Fällen der ersten Art nur 3 mal, unter 9 der letzten 2mal
Verjauchung eintreten. Hier ist es am besten , um Sepsis zu vermeiden , dem
Vorschlage Küster's zu folgen, d. h. mit einer durch die ja meist vom oder
seitlich gelegene Wunde eingeführten langen Sonde den untersten tiefsten Theil
des Pleuraraumes aufzusuchen, hier zu incidiren und dann eine ordentliche Des-
infection der Höhle einzuleiten. Unter 20 so behandelten Fällen hat Schede nur 2
durch Collaps bei bestehender Myocarditis und durch Hämopericardium verloren.
Die Statistik der Empyemoperationen ist jetzt Oberhaupt eine sehr günstige und
schwankt zwischen 84 — 94% Genesungen ; sie ist aber eine unsichere, da eigent-
lich die Fälle der einzelnen Beobachter nicht direct vergleichbar sind. Deshalb ist
von Letden eine eingehende Statistik, an der sich alle Aerzte nach bestimmten
Gesichtspunkten betheiligen sollen, angeregt worden.
Bezüglich der Behandlung der tuberkulösen Pleuritis liegen die
Indicationen noch wie früher. Grosse, seröse Exsudate sind zu punctiren; eitrige
sind bei leidlichem Kräftezustande der Patienten durch Schnitt zu operiren,
sobald kein Pneumothorax vorhanden ist und keine grösseren Cavernen nach-
weisbar sind.
Von M e d i c a m e n t e n für die Behandlung der serösen Pleuritis sind in
neuester Zeit Salicylpräparate wieder warm empfohlen worden, namentlich Aufrecht
bat von ihnen günstige Resultate gesehen. Eine Berechtigung, vorzugsweise Salicyl-
präparate bei Pleuritiden in Anwendung zu ziehen, kann man aus den Unter-
suchungen von 0. Rosenbach und Pohl herleiten , die gefunden haben , dass
Sal icy lderiva te nach interner Application stets in die Flüssig-
keitsansammlungen (exsudative oder hy dropische) derPleura übergehen,
während Jodpräparate nur in dieStauungstranssudate der serösen
Höhlen abgesondert werden und in Exsudaten nie in einer für thera-
peutische Zwec ke in Betracht kommenden Dosis vorhanden sind.
Literatur. Aetiologie der Pleuritis: A. Frankel, Bacteriologische Mit-
theilungen. Zeitscnr. für klin. Med. X, pag. 413. — Derselbe, Septische Infection im Ge-
folge von Erkrankung der Bachenorgane. Ibid. XIII, pag. 25. — Derselbe, Ueber die
bacterioskopische Untersuchung eitriger pleuritischer Ergüsse nnd die sich aus denselben
ergebenden diagnostischen Schlussfulgerungen. Charite-Annalen. XIII, pag. 147. — Weichsel-
baum, Ueber die Aetiologie der acuten Lungen- und Brustfellentzündung. Wiener med. Jahr-
bücher. N. F. 1886, pag. 403 ff. — Derselbe, Wiener med. Wochenschr. If86, Nr. 39—41. —
Netter, De la pleurtvie purulente tnetapneumonigue et de la pleurisie purulente pneumo-
niae primitive, Bullet, et mem. de la soc. med. des Höpit. de Paris. 1889, III. — Gilbert et
Lion, De la recherche des microorganismes dans les e'paritements pleuraux. Ann. de l'in-
stitut Pasteur. II, 12, pag. 662. — Netter, Microbes contenus dans la bouche de sujets
sains, tnaladies, qu'ils provoquent etc. Bev. d'hyg. 1889, Nr. 6.
Lagewechsel der Exsudate: F. Symington, Notes on the position of the
fluid in cases of pleuritic effusion. Edinb. med. Journ. 1886, March. — C. Gerhardt,
Ueber pleuritische Bewegungsvorgänge. Zeitschr. für klin. Med. XI, pag. 303. — Strauch,
Ueber den Nachweis der Beweglichkeit pleuritischer Exsudate beim Lagewechsel. Virchow's
Archiv. CXVI, Heft 3. — Nicolay, Ueber die Beweglichkeit pleuritischer Exsudate. Inaug.-
Dissert. Giemen 1889.
126
BRUSTFELLENTZÜNDUNG. — BUBO.
Druck- und Resorptionsverhältnisse im Pleuraraum: 0. Rosenbach,
Experimentelle Untersuchungen über die Einwirkung der Raumbeschränkungen in der Pleura-
höhle, nebst Bemerkungen über den Pulsus paradoxus. Virchow's Archiv. CV, Heft 2. —
W. Fleiner. Ueber die Resorption corpusculärer Elemente durch Lungen und Pleura. Ibid.
CXII, pag. 282. — A. Keppler, Ueber Pleuritis pulsans. Deutsches Archiv für klin. Med.
XLI. — Gr. R u m m o , Le pleuriti puUanti. La pulsazione endopleurica ed esopleurica etc.
La Riforma medica. 1889. Nr. 219 ff. (Unterschied zwischen Pulsus esopleuricus — der sicht-
end fühlbare positive Puls bei Pleuritis pulsans, den man ohne Weiteres vermittelst gra-
phischer, auf den Thorax aufgesetzter Apparate aufzeichnen kann — und dem Pulsus endo-
pleurirus, der erst aufgezeichnet werden kann, wenn man den Pleuraraum mit einem Manometer
verbunden hat. Die letzte Pulsform ist Begleiterin aller grossen linksseitigen Pleuraergüsse.)
Therapie: Lewinski, Ueber di« sogenannte halbseitige Schrumpfung des Brust-
kastens, nebst Bemerkungen über eine neue Methode zur Resorption eitriger Pleuraergüsse.
Virchow'M Archiv. CIX. (Empfiehlt rhythmische Compression während der Exspiration.) —
Otto, Ueber den pleuiitischen Schmerz und seine Behandlung durch partielle Compression
des Thorax. Berliner klin. Wochenschr. 1889, Nr. 69. (Compression durch eine 6-7 Cm. breite
Binde, welche so fest aufliegt, dass sie die respiratorische Thätigkeit des comprimirten Theiles
des Brustkorbes aufhebt. — G.Krüger, Selbstirripation des Thorax bei Empyem und Pyo-
pneumothorax. Deutsche med. Wochenschr. 1839, Nr. 10. (Punctionsdrainage mit Ventilvor-
richtong, die bei der Inspiration eine Aspiration anti septischer Flüssigkeit gestattet, bei der
Exspiration einen Austritt des Inhalts des Pleuraraumes bewirken soll.) — Rosenbach und
Pohl, Ueber das antagonistische Verhalten der Jod- und Salicylpräparate bezüglich der Aus-
scheidung in Gelenke, Exsudate und Transsudate. Berliner klin. Wochenschr. 18H0, Nr. 36. —
Aufrecht, Zur Behandlung der Pleuritis unl des Empyems. Ebenda. 18 ^6 , Nr. 70. —
B. Tetz, Die Behandlung der serösen Pleuritis mit Natr.salicyl. Therap. Monatsh. Juli 1890. —
W. Osler, On the treatment of pleurisy tvith effasion by Hay's method. Med. News. 1886.
Nr. 24. (Die abführenden Mittel [5 — 10 Grm. schwefelsaures Natron in 30 — 60 Grm. warmen
Wassers gelöst] in concentrirten Lösongen sollen, Frühmorgens nüchtern gegeben, durch die starke
wässerige Abscheidung in den Darm eine Resorption von Trans- und Exsudaten herbeiführen.)
Operative Behandlung der Pleuritis: Verhaudlungen des Con-
gresses für innere Medicin. 1886. (Referate von Frantzel und Weber) —
Fürbringer, Klin. Beobachtungen über den Werth der Punctionsmethode bei seröser Pleuritis,
unter besonderer Berücksichtigung des Exsudatdruckes. Bei Huer klin. Wochenschr. 1888,
Nr. 12 ff. (Liefert den Beweis, dass man bei gewissen Fällen von Pleuritis eine stärkere
Aspiration nicht entbehren und deshalb nicht immer mit einem einfachen Heberapparat aus-
kommen kanu. Fürbringer hat einen Apparat construirt, der die Vortheile der Heber-
apparate mit der notwendigen stärkeren, aber genau abzumessenden Aspirationswirkang ver-
einigen soll.) — Brünniche, Kostotomie som regulär Operation red Empyemet. Hospital-
Tidende. 1885, pag. 1165. — H. Holst i, Ueber Empyemoperationen , insbesondere deren
Nachbehandlung. Deutsches Archiv für klin. Med. XLII, pag. 548. — Falken heim, Zur
Lehre vom Empyem. Mittheil, aus der med. Klinik zu Königsberg i. Pr. — C. Küster,
Ueber die Grundsätze der Behandlung von Eiterungen starrwandiger Höhlen, mit besonderer
Berücksichtigung der Empyeme der Pleura. Deutsche med. Wochenschr. l8Sy. — Ueber die
Behandlung der Empyeme. (Referat von Immermann und Schede.) Verhand-
lungen des Congresses für innere Medicin. 1890. — 0. Rosenbach, Zur Behand-
lung der Empyeme. Berliner klin. Wochenschr. 1^90, Nr. 24. (Hinweis darauf, dass Verfasser
schon 1£8'4 die Irrigation der Pleura verworfen, für trockene Behandlung mit Jodoform plaidirt
und die Einführung zweier dicker Drains zur Offenhaltung « er Brustwunde i.nd zur Drainage
empfohlen hat.) — S. La ach e, On Empyenm Pleurae. Kristiania 1£89. — E. Kirchhof,
Die Behandlung des Empyems der Brusthöhle. Therap. Monatsh. April 1890. — P. K. Pel,
Bemerkungen über die Behandlung der Pleuraempyeme. Zeitschr. für klin. Med. XVII, pag. 199.
i* . - 0. Rosenbach.
BrUStWUnden, s. Wunden.
Bryonia alba, Blutstillungsmittel, s. pag. 114.
BubO. Was die Pathologie desselben betrifft, linden sich einzelne Be-
merkungen bei Besprechung des Schankers. Was die Behandlung des Bubo anlangt,
so sei hier nur die von E. Lang im Jahre 1889 mitgetheilte hervorgehoben.
Lang operirt so gründlich als möglich. Er führt den Schnitt durch die fluetuirende
Geschwulstkuppe, wenn eine solche vorhanden, lässt die Exstirpation, beziehungs-
weise Ausräumung alles Krankhaften nachfolgen und desinlicirt die Wundhöhle
ausgiebig. Sodann trägt er die verdünnten Wundränder in der Weise ab, dass
eine möglichst lineare Vereinigung zu Stande kommen kann. Diese erfolgt mittelst
Häften der Knopfnaht. Um die Spannung zu verringern, werden zwei bis drei
weitausgreifende Stütznähte angelegt. In die Mitte der Wundflächen wird ein
kleines Drain passend eingeknüpft und nach einiger Zeit entfernt. In mehreren
BUBO. — BUTTER.
127
Fällen erfolgte die Heilung per primam inten tionem. Wenn aber auch keine solche
erfolgte und alle Nähte durchschnitten, resultirte keine Verzögerung, sondern eine
Verkürzung des Heilverfahrens. Bei alten fistulösen Gängen wird zunächst alles
Krankhafte in der Tiefe der Fistelgänge entfernt , und hernach so verfahren wie
früher angedeutet. Im Jahre 1883 habe ich eine Reihe von Bubonen in ähnlicher
Weise operirt und genäht, und habe ich bei diesem Vorgänge unter antiseptischem
Oeclusivverband in Bezug auf Erhaltung der Hantdecke und die Heilungsdauer
günstige Ergebnisse zu verzeichnen gehabt. v. Zeissl.
BllttBP (sanitätspolizeilich). Die ältere und neuere Literatur verzeichnet
eine sehr erhebliche Menge in der Butter vorgekommener, angeblich nachgewiesener
Verfälschungsmittel. Als solche mineralischer Natur werden genannt:
Alaun, Borax, Kreide, 3chwerspath, Thon, auch Bleisalze. Von pflanzlichen Zu-
mischungen werden Getreidemehl und Rartoffelmehl, Cocosfett, Pflanzenöle, endlich
auch einige animalische Fälschungsstoffe — Käse, fremde tbierische Fette — namhaft
gemacht. Während es nicht allzu schwer fallt und selbst dem Laien wohl möglich
ist, den übermässigen Gehalt an Salz, auch an Käsestoff und Wasser zu entdecken
und ungefähr abzuschätzen, ist die Zumischung fremder Fette nur bis zu einem
gewissen Grade auch für die chemische Untersuchung nachweisbar. Die von
0. Hehner, wie die von Reichert eingeführten Methoden zur Untersuchung der
festen, beziehungsweise der flüchtigen Fettsäuren (letztere auch besonders nach
der Emendirung durch Meissl als Reich ert-M EissL'sches Verfahren) sind bereits
im Hauptartikel erwähnt, und während der Zwischenzeit in der Praxis zu einer
sehr umfangreichen Anwendung gebracht. Wie Bischoff ausführte, sind die von
HfiHNER für die nicht flüchtigen Fettsäuren gewählten Grenzwerthe zu eng
bemessen; nach den in Berlin ausgeführten Butteranalysen darf man als das
Maximum des Gehaltes an nicht flüchtigen, beziehungsweise unlöslichen Fettsäuren
in einer unverfälschten Butter noch 90°/0 (statt Hehner's 86 — 88%) ansehen.
Das REiCHERT'sche Titrirverfahren wurde — nach vielseitiger Prüfung in der
Praxis — als anwendbar und im Princip richtig anerkannt. Während es jedoch
für die Vergleichung verschiedener Buttersorten zwar ausgezeichnet verwerth-
bare Zahlen liefert, fanden verschiedene Untersucher zum Theil erheblich niedrigere
Werthe für die „kritische Zahl" der flüchtigen Fettsäuren. Auch die von Meissl
vervollkommnete Formel hat nur dann Werth , wenn man vor der Bestimmung
bereits weiss, welche Mengen von flüchtigen Fettsäuren in einem zur Herstellung
notorisch gemischter Butter benutzten Butterfett enthalten waren.
Diese Schwierigkeiten für die Untersuchung lagen anerkannt vor, als die
neuen Gesetze über den Verkehr mit Kunstbutter, „Ersatzmitteln für Butter", in's
Leben traten. Diese letzteren anlangend, so hat ihre hygienische Seite und die
sanitäre Bedeutung ihres Gebrauches besonders Sell gewürdigt. Etwas weniger
gut verdaulich als Milchbutter ist zunächst jede Kunstbutter. Doch wäre hieraus
ein Nachtheil für die Gesundheit noch nicht herzuleiten, wenn die gebräuchlichen
Surrogate nur stets aus Fetten gesunder Thiere hergestellt würden. Es wird aber
höchst wahrscheinlich ein Theil der Kunstbutter verfälscht durch Zumischung von
Substanzen, welche die Gefahr einer Uebertragung von Krankheitsstoffen nicht mit
Bestimmtheit ausschliessen und daneben besteht der Verdacht, dass mitunter sehr
ekelerregende Ingredienzen zur Verwendung gelangen. Al. Möller forderte aus
ähnlichen Gründen eine scharfe Controle — unter Empfehlung des Refracto-
meters und der Dialyse — , stellte sich aber auf die Seite derjenigen, welche die
Kunstbutter als billiges Volksnahrungsmittel nicht aus dem Verkehr auszuschliessen
wünschen. Von Schrodt wurde in ähnlichem Sinne geltend gemacht, dass neben
eine durchaus reelle Kunstbutterfabrication jene unreelle Concurrenz getreten sei,
welche Pflanzenöle und Fettsubstanzen so zweifelhafter Provenienz benutzt, dass
diese ekelerregend und gesundheitsschädlich wirken könnten. Frischer Kunstbutter
kann trotzdem ein der Milchbutter täuschend ähnliches Aeussere mitgetheilt werden,
128
BUTTER.
und um solchen Täuschungen wirksam entgegenzutreten, wurde nach umfassenden
Vorarbeiten der Verkehr mit Ersatzmitteln für Butter geregelt durch das
Reichsgesetz vom 12. Juli 1887:
§. 1. Die Geschäftsstände und sonstigen Verkaufsstellen einschliesslich
der Marktstände, in welchen Margarine gewerbsmässig verkauft oder feilgehalten
wird, müssen an in die Augen fallender Stelle die deutliche, nicht verwischbare
Inschrift: „Verkauf von Margarine" tragen. Margarine im Sinne dieses Gesetzes
sind diejenigen, der Milchbutter ähnlichen Zubereitungen, deren Fettgehalt nicht
ausschliesslich der Milch entstammt.
§. 2. Die Vermischung von Butter mit Margarine oder anderen Speise-
fetten zum Zweck des Handels mit diesen Mischungen, sowie das gewerbsmässige
Verkaufen und Feilhalten derselben ist verboten. Unter diese Bestimmung fällt
nicht der Zusatz von Butterfett, welcher aus der Verwendung von Milch oder
Rahm bei der Herstellung von Margarine herrührt, sofern nicht mehr als
100 Gewichtstheile Milch oder 10 Gewichtstheile Rahm auf 100 Gewichtstheile
der nicht der Milch entstammenden Fette in Anwendung kommen.
§. 3. [Specialbestimmungen über En detail- und En gros -Verpackungs
gefösse, die Umhüllungen und deren Bezeichnung mit dem Wort „Margarine",
welches bei Verkauf in würfelförmigen Stücken der Masse selbst aufgeprägt
sein mu8S.]
§. 4. Die Vorschriften dieses Gesetzes finden auf solche Erzeugnisse der
im §. 1 bezeichneten Art, welche zum Genüsse für Menschen nicht bestimmt sind,
keine Anwendung.
§. 5. [Strafbestimmungen, auch für den Wiederholungsfall, dreijährige
Verjährung des vorgängigen Falles — Einziehung der feilgehaltenen Gegenstände.]
§. 6. Die Vorschriften des Gesetzes, betreffend den Verkehr mit Nahrungs-
mitteln, Genussmitteln und Gebrauchsgegenständen vom 14. Mai 1879, bleiben
unberührt. Die Vorschriften der §§. 16 und 17 desselben finden auch bei Zuwider-
handlungen gegen die Vorschriften des gegenwärtigen Gesetzes Anwendung.
Mit dem Erlsss dieses Gesetzes trat die Frage nach der analytischen
Methode für die Butteruntersuchung wieder in den Vordergrund; speciell stellte
der §. 2 des Margarinegesetzes der analytischen Chemie die Frage so: ob ein
Zusatz von kleinen Mengen Naturbutter zur Margarine nachzuweisen sei oder nicht.
Vier Gewichtstheile Milchfett, beziehungsweise natürliches Butterfett wurden der
Margarinefabrication concedirt, weil nur unter Zusatz von Rahm oder Durcharbeiten
des 01eomargarin8 (beziehungsweise der anderweitigen Speisefette) mit Milch die
den butterähnlichen Charakter der Margarine bedingenden Eigenschaften erhalten
werden. Bei den vielfachen Margarineuntersuchungen, welche mit Rücksicht aut
den genannten Paragraph zur Ausführung kamen, trat als Hauptergebniss hervor,
dass in über 70°/0 der Analysen der Gebalt an Butterfett sehr bedeutend höher
festgestellt wurde, als derselbe sein konnte. Der Fehler lag in der Analy-
sirungsmethode selbst; um seine Eruirung hat sich Wollny grosse Ver-
dienste erworben und mit Erfolg den Versuch gemacht, seine neue, von den er-
kannten Fehlerquellen befreite Modifikation der Reichert-Meiss loschen Fettsäuren-
bestimmungsmethode in die Praxis einzuführen. Die Details dieser Fehlerquellen
entziehen sich an diesem Ort selbstverständlich der Wiedergabe. Weniger Freunde
als Wollny's Modifikation haben sich die von Mansfeld und Goldmann erfundenen
gewonnen; in dem bayerischen Laboratorium kam eine von Sendtner präcisirte
(besonders auf das schnelle Arbeiten in einem Zuge begründete) Rehabilitation des
REiCHERT-MEissL'schen Verfahrens stark in Aufnahrae.
Zu all diesen Bestrebungen nimmt in seiner neuesten Arbeit Bischoff
Stellung, wenn er als das Ergebniss seiner sehr umfangreichen Analysen die Sätze
hinstellt: „Die Grenze des Zusatzes von Margarine oder eines anderweitigen
Fettes zur Butter ist zur Zeit kaum mit annähernder Sicherheit zu
bestimmen, wenn man nicht das Ausgangsmaterial kennt, mit
BUTTER.
129
welchem das Gemisch erzeugt wurde", — und : „In extremen Fällen können selbst
30 — 40% Margarine in einer Mischbutter enthalten sein, ohne dass man
einen solchen Zusatz mit Sicherheit erkennen könnte. Im Durch-
schnitt wird jedoch ein Zusatz von 15 — 25°/0 Margarine oder anderweitiger fremder
Fette zur Butter verrathen."
Die auf so viele Nahrungsstoffe in neuester Zeit ausgedehnten Unter-
suchungen, inwieweit dieselben als Conserviru ngsmi ttel und Nährböden
pathogener Bacterien dienen können, haben sich auch auf Margarine-
butter erstreckt. Scala und Alessi stellten fest, dass der Rotz-, der Milzbrand-
und der Tuberkelbacillus sich eine Reihe von Tagen (selbst Wochen) in solchen
Buttergemischen lebensfähig erhalten.
Die Urtheilssprflche der Gerichtshöfe in Nord- und Süd-
deutschland, welche gegen Buttergemische gefällt wurden, haben sich nach
Erlass des oben namhaft gemachten Gesetzes bedeutend vermehrt. Man findet vor-
dem 13, nachher 61 principiell wichtige Entscheidungen — den Zusatz fremder
Fette, wie den von Wasser, Salz, Kartoffeln, alter Butter betreffend — dem
Wortlaut nach wiedergegeben in dem hierunter zuletzt aufgeführten offiziösen
Publicationsorgan .
Literatur: Skalweit, Das spec. Gewicht der Butter. Dingler's Journ. 263. —
Schrodt, Landwirthschaftl. Wochenbl. für Schleswig-Holstein. 1887. — Fleischmann,
Westpr. landwirthschaftl. Mitth. X. — Boysen und Herter, Monogr. Kiel. — E. Frank,
Monogr. Frankfurt a. M. — Wollny, Monogr. Leipzig. — Seil, Arbeiten ans dem kaiserl.
Gesandheitsamte. I. — AI. Müller, Archiv f. Pharm. 1886; sämmtlich zur Kunstbutter-
frage. — Scala und Alessi, Ann ali dell* istituto d'igiene di Roma. I. — Bruce Warren,
Chem. Zeitung. 1888. — L.Röhe, Pharm. Zeitung. 1888. — Looker en, Milchzeitung.
1888: Nene Methoden zur Bntterprüfnng. — C. Bischoff, Die Ueberwachung des Verkehrs
mit Butter und Margarine in Berlin. Die Grenzen der Durchführbarkeit des Margarinegesetzes
und deren Gründe. Deutsche Vierteljahrsschr. f. öffentl. Gesundheitspfl. XXII. 2. H. — Ver-
öffentlichungen des kaiserl. Gesundheitsamtes. 1890, Nr. 16—23.
Wernich.
Sncyclop. Jahrbücher. I.
9
c.
Canalisation, 3. Abfa 11 Stoffe, pag. 16.
Carbolsälire bei Bromverätzung, 8. Antidota, pag. 49 und Brom,
pag. 119.
CarCinOm. Tuberkulose und Krebs sind Krankheiten, deren Kenntniss
in den ältesten medicinischen Urkunden nachweisbar ist; sie haben von jeher das
praktische und wissenschaftliche Interesse der Aerzte in hohem Grade in Anspruch
genommen. Aber so vielfältige Gelegenheit zur Beobachtung sich bei diesen
allgemein verbreiteten Krankheiten bot, so unermüdlich die Forschung das räthsel-
hafte Wesen derselben zu erfassen suchte, bis in die neuere Zeit bot die Aetiologie
beider Processe in gleichem Grade ungelöste Probleme.
Für die Tuberkulose hat sich bekanntlich dieser Zustand in überraschender
Weise im Verlauf weniger Jahre geändert. Dadurch, dass R. Koch mit einwand-
freien naturwissenschaftlichen Methoden den Beweis lieferte, dass der Tuberkel-
bacillus die essentielle Ursache dieser Krankheit ist, wurde eine gesicherte Grund-
linie gewonnen, neben welcher die noch zweifelhaften Punkte der Aetiologie, wie
zum Beispiel der Eintiuss der Disposition, die Bedeutung der Ililfsmomente , die
Natur der Infectionspforten für die Mehrzahl der Fälle spontaner Entstohung, von
secundärer Bedeutung sind. Auf die neueste, wiederum von R. Koch eröffnete
Aussicht erfolgreicher Therapie der Tuberkulose braucht hier gar nicht einge-
gangen zu werden ; schon der Hinweis auf die ätiologische Frage genügt, um zu
zeigen, wie gegenwärtig eine Parallele zwischen Tuberkulose und Krebs in hohem
Grade zu Ungunsten des letzteren ausfallen muss.
Und doch lässt sich beim Ueberblicken der neueren Arbeiten über das
Carcinom nicht verkennen, dass offenbar von den Entdeckungen über die Ursachen
der Tuberkulose und verwandter geschwulstartiger Processe ein Impuls zu neuer
Inangriffnahme der Carcinomfrage ausgegangen. Wie kurz vor Entdeckung des
Tuberkelbacillus die morphologische Erkeuntniss der tuberkulösen Neubildung zu
einem gewissen Absehluss gekommen war, so war auch die Histologie der einzelnen
Formen krebsiger Neubildung nach allen Seiten durchforscht und im Allgemeinen
waren die Pathologen der Thiersch- Walde YERschen Lehre über die Histo-
genese des Carcinoms beigetreten, nach welcher die Carcinomzellen als
Abkömmlinge physiologischer Deck- oder Drüsenepithelzellen aufzufassen sind.
Die Entdeckung der karyomitotischen Zelltheilung , die sich für zahlreiche histo-
genetische Fragen fruchtbringend erwies, musste natürlich auch zu erneuerter
Prüfung der Herkunft der Krebszellen anregen und andererseits Hess sich hier
von vornherein die Frage aufwerfen, ob bei dem bekannten stürmischen Ablauf
der Zellwucherung im Carcinom nicht möglicher Weise auch ein morphologischer
CABCINOM.
131
Ausdruck des „atypischen" Charakters dieser Neubildung erkennbar sei. Mit
diesen Fragen beschäftigt sich ein Theil der neueren Arbeiten, auf deren wich-
tigere Resultate wir im Folgenden kurz eingehen wollen.
Experimentelle Versuche der Uebertragung des Carcinoms auf
Thiere sind bekanntlich in der älteren und neueren Literatur in ziemlicher
Zahl mitgelheilt (von Längenbeck, Doutrelepont, Köster, Nowinsky, Schotte-
liüs u. A.), sie sind theils sicher negativ ausgefallen , theils in ihren Resultaten
zweifelhaft geblieben. Aus neuester Zeit liegen Angaben über besser gesicherte
positive Versuchsergebnis se vor. Die dritte Gruppe der Arbeiten bezieht sich
auf bacteriologische Untersuchung krebsiger Neubildungen und auf morphologische
Befunde, die zu Gunsten des Vorkommens fremdartiger parasitärer Ein-
schlüsse im Carcinom gedeutet werden.
Die umfängliche Schrift von Dr. J. E. Alberts l) stellt sich als eine
ziemlich bunte Zusammenstellung von Materialien zur historischen Entwicklung
des Carcinombegriffs dar, an welche sich dann eine Darlegung der eigenen
Anschauungen des Autors über Ursache und Wesen des Carcinoms und einige
andere Dinge anschliesst. Weder in dem geschichtlichen Theil der Schrift*),
noch in ihren theoretischen Deductionen findet sich ein für unseren Gegenstand
wichtiger neuer Gesichtspunkt, man müsste denn als solchen die vom Verfasser
energisch vertretene Annahme eines „Krebspilzes" gelten lassen. Die von Alberts
unternommenen Uebertragungsversuche von menschlichem Carcinom auf
Hunde (intravenöse Injection einer Emulsion — Transplantation frisch exstirpirter
Carcinomstücke) sind negativ ausgefallen.
Wehr2) hat in ähnlicher Weise wie Nowinsky, dessen Versuche unter
den früheren noch am meisten zu Gunsten der Uebertragbarkeit des Carcinoms
sprechen, Theile krebsiger Geschwülste von Hunden auf andere Hunde zu tiber-
tragen versucht; ihm standen 5 Vaginal- und 2 Peniscarcinome zu Gebote, von
denen auf 26 Hunde Ueberimpfungen stattfanden. Im Ganzen kamen bei letzteren
24 Knötchen zur Entwicklung, von denen 5 zur Untersuchung exstirpirt wurden,
während die übrigen der spontanen Resorption anheimfielen ; nur bei einer Hündin
entwickelten sich die Knoten an 4 Stellen des Unterleibes zu grösseren Knoten.
Der Tod dieses Versuchstieres erfolgte nach Verlauf eiues halben Jahres und es
fand sich jetzt ein grosser krebsiger Retroperitonealdrüsentumor, welcher durch
Druck Ruptur der Harnblase bewirkt hatte.
Hanau •) tibertrug von dem primären verhornenden Plattenepithelcarcinom
der Vulva einer weissen Ratte (mit Metastase auf die beiderseitigen Inguinal-
drüsen) kleine Stückchen (aus den nichtulcerirten krebsigen Drüsen) in die Tunica
vaginalis von 2 alten Ratten, von welchen eine nach fast 7 Wochen starb und
allgemeine Carcinose des Bauchfells zeigte, während bei der zweiten, als sie nach
8 Wochen getödtet wurde, nur zwei kleine Knötchen am Nebenhoden entstanden
waren, die sich mikroskopisch als Plattenepithelkrebse charakterisirten. Die Ueber-
*) In Bezog auf eine geschichtliche Frage, die Herleitung der Bezeichnung
„Carcinom", ist gerade an dieser Stelle eine Bemerkung angezeigt. Herr Alberts schreibt:
„In der Literatur ist vor Hippokrates nichts aufzufinden, was d»m Carcinom ähnelt. Ungefähr
zehn Jahrhunderte nachdem, wie die Mythe sagt, der Centaur Chiron, des Asklepios Lehrmeister,
von einem ?Axo? /povtxdv sprach, diagnosticirte Hippokrates das xapxtvtofxa, welches er — und
nicht Galenus, wie die Real-Encyclopädie der gesammten Heilkunde meint — nach seiner Aehn-
lichkeit mit einem Krebse und nach seiner hervorstechendsten Eigenschaft (ve'fistv, vo;at[ = ver-
wüsten, um sich greifen, fressen — fressendes Geschwür) benannte." Der Verfasser des be-
treffenden Artikels der Encyclopädie brauchte nicht auf die Lesefrüchte des Herrn Alberts
zu warten, um zu erfahren, dass die Bezeichnung „Carcinom" bereits bei Hippokrates vor-
kommt. Auf die Stelle de-« Galen wnrde nur deshalb Bezug genommen , weil sie unseres
Wissens die älteste Erläuterung über die Herleitung jener Benennung gieht. Mit dem Satz:
rDer Name Krebs, Carcinom, stammt nach einer Stelle des Galen wahrscheinlich von dem
Aussehen gewisser Geschwülste der Mamma, welches den Vergleich mit dor Form eines Krebses
nahe legte", ist nichts Weiteres gesagt , als dass Galen den Namen Carcinom in dieser Weise
erklärt; es ist damit nicht einmal behauptet, dass diese Erklärung von ihm seihst herrührt.
3*
133
CARCINOM.
tragung eines Geschwulststückchen in das Sorotum einer dritten Ratte ergab
wiederum ein positives Resultat, indem die letztere eine von der geimpften Scrotal-
hälfte ausgehende Carcinose des Peritoneum darbot (Tödtung nach 3 Monaten).
Hanau hebt ausdrücklich hervor, dass diese Versuche für die Theorie der
infectiösen Ursache der Krebsbildung nicht zu verwerthen sind; nach seiner
Auffassung sind die lebenden Geschwulstzellen die Träger der Metastase. Es handelt
sich demnach um eine Transplantation entwicklungsfähiger Geschwulst-
elemente, welche die in ihrem Wesen unbekannten Eigenschaften, die zur Ent-
stehung der spontanen Primärgeschwulst führten, als Abkömmlinge von Carcinom-
zellen durch ihre Weiterentwicklung am Orte der Ueberpropfung erhielten.
Von Interesse für die Frage der Entwicklungsfähigkeit von dem ursprüng-
lichen Ort ihrer Entwicklung entzogenen Krebselementen sind auch die Erfahrungen,
die E. Hahm*) am Menschen machte; es zeigte sich, dass kleine Partien von
Cancer en cuirasse auf gesunde Hautstellen transplantirt werden konnten, nur
ist hierbei zu berücksichtigen, dass nicht isolirte Carcinomherde, sondern von
solchen durchsetzte Hautstücke verpfropft wurden.
Die neuesten experimentellen Uebertragungsversuche von C. A. Bal LANCE
und S. G. Shattock25) frisch exstirpirter, vom Menschen stammender Carcinom-
theile auf Affen (die meist die Impfung nur kurze Zeit überlebten), Kaninchen,
Hunde, Schafe hatten durchaus negative Resultate.
Die Untersuchungen über die Kerntheilungsvorgänge im Carcinom
wurden durch J. Arnold6) eröffnet; es ergab sich zunächst, dass auch bei der
Theilung der Geschwulst zellen die für die embryonale und regenerative Zellneu-
bildung typischen Kerntheilungsfiguren nachweisbar sind; freilich traten auch im
Einzelnen gewisse Differenzen hervor, deren principielle Bedeutung für die
Geschwulstbildung von J. Arnold von vornherein als zweifelhaft angesehen wurde.
Dahin gehört der Befund von Mehrtheilungen , der allerdings nicht nur in
Geschwülsten, sondern überhaupt in Herden lebhafter Zellbildung aus verschiedenen
Ursachen vorkommt (W. A. Martin 6) , Martinotti und Oliva 7) u. A.). Ferner
wurde von Pfitzner ö) auf den in Carciuomzellen beobachteten geringen Chromatin-
gehalt hingewiesen und daraus auf den „embryonalen Charakter11 der letzteren
geschlossen. Von Klebs 9) wurde auf eine auffällige Beziehung der Einwanderung
farbloser Blutkörperchen zur Geschwulstbildung Gewicht gelegt. Die Karyomitosen
sollen in den wuchernden Epithellagen dort am reichlichsten auftreten, wo eine
lebhafte EinwanderungvonLeukocyten stattfindet. Klebs hält für möglich,
dass sowohl das Zellprotoplasma wie die achromatischen Kernsubstanzen der
letzteren mit dem Körper der Epithelzellen verschmelzen, während die Kern-
fragmeute zu einem einfachen Körper zusammenfliessen ; der letztere soll mit den
Kernmassen der Epithelzelle verschmelzen und auf diese Weise Baumaterial für
die Weiterentwicklung des Epithelkernes liefern. Es handelt sich dabei um eine
quantitative Verstärkung des letzteren , aber wahrscheinlich auch um die Ueber-
tragung fremdartiger Eigenschaften durch die Aufnahme des fremden Elementes.
In diesem Sinne bezeichnet Klebs die aus dem Chromatin der Leukocytenkerne
hervorgegangenen Gebilde als „Keirnkörner" und spricht die Hypothese aus , dass
es sich bei dieser Verschmelzung zwischen Abkömmlingen des mittleren Keim-
blattes und der Epithelzelle um einen Befruchtungsvorgang handeln könne. Klebs
weist im Anschluss an diese Darlegung auf die Unregelmässigkeiten in der Form
der Kernfiguren solcher Geschwulstzellen, auf den oft übermässigen Chromatin-
gehalt (Hyperchromatose) hin. Gewisse Unregelmässigkeiten in der Entwicklung
der Kerntheilungsfiguren in Carcinomzellen hat D. Hansemann 10) zum Gegenstand
eingehender Untersuchung gemacht. Er fand in 13 Fällen von Epithelkrebs eine
asymmetrische Karyokinese; dieser Befund wurde in keinem von Hanse-
maxn darauf hin untersuchten Fall von Epithelkrebs vermisst, während er bis
jetzt niemals in gutartigen Epithelgeschwülsten oder einfachen Hyperplasien
gefunden wurde. Die Asymmetrie ist dadurch charakterisirt, dass einer der Tochter-
CARCINOM.
133
kerne oder eine Vorstufe desselben weniger Chromatinschleifen erhält als der
andere. Ans dieser asymmetrischen Theilung lassen sich die im Carcinom auf-
fallenden Ungleichheiten im Chromatingebalt der verschiedenen Kerne herleiten
(hyper-normal-hypo -chromatische Zellen). Die bereits von Klkbs erwähnten Carcinom-
zellen mit sehr unregelmässigen Kernfiguren sieht Haxsemann als in der Auf-
lösung begriffene Formen an. In Betreff der hypothetischen biologischen Darlegungen,
die Hansemann an die Schilderung seiner Befunde knöpfe, muss auf das Original
verwiesen werden; hier mag nur hervorgehoben werden, dass nach Hansemann
im Epithelkrebs zwei Arten von Zellen zu unterscheiden sind , die sich bis jetzt
nur an der Art ihrer Karyokinese erkennen lassen; erstens solche mit durchweg
geringer Zahl von Segmenten, die bald dem physiologischen Tod anheimfallen,
zweitens solche, die sich symmetrisch weiter theilen und zur Vergrösserung der
Geschwulst beitragen. Die letzteren, als „Hauptzellen" bezeichneten Epithelien
können physiologische Umwandlungen erleiden nach Art der Zellen, deren
Abkömmlinge sie sind (Verhornung, Fettdegeneration), ein grosser Theil der
Geschwulstzellen geht dagegen pathologisch zu Grunde. Diese Hauptzellen sind
nach Hansemann's Auffassung als „anaplastische" zu bezeichnen, sie sind aus
einem höher differenzirten Zustand in einen geringer differenzirten übergegangen ;
«8 ist aber nicht richtig, sie als „embryonale" Zellen anzusehen, denn ihnen fehlt
im Gegensatz zu letzteren die Fähigkeit zur Erreichung des höchstmöglichen
Grades der Differenzirung.
J. Schütz ll) ging bei seinen mikroskopischen Carcinomuntersuchungen
von der Voraussetzung aus, dass die Carcinomzelle im Gegeusatz zur gesunden
Epithelzelle , deren Ueberimpfung (wie auch die Versuche von Schweninger ia)
und Kaufmann1') ergeben) immer nur gutartige Epithelwucherungen erzeugt, in
ihrer Entstehung, Entwicklung und ihrem Untergange Unterschiede gegenüber den
gewöhnlichen Epithelzellen zeigen müsse. In dieser Richtung hebt Schütz aus
seinen Befunden hervor: 1. die Reichlichkeit der Mitosen im Carcinomgewebe,
"2. das Vorkommen unverhältnissmässig grosser in Karyokinese befindlicher Kerne,
3. die Verschiedenheiten in der Grösse der Mitosen im Carcinom bei einem und
demselben Individuum, 4.' die hervorragend periphere Lage der Mitosen in den
Krebszellzügen, 5. den Befund von reichlichen Wanderzellen mit fractionirten
Kernen innerhalb des Krebsepithels. In Bezug auf den letzterwähnten Punkt weist
Schütz darauf hin, dass bereits von Pagenstecher und Köster auf hierhergehörige
Befunde hingewiesen wurde, während neuerdings Cornil ") die Vermuthung aus-
gesprochen, dass diese lymphatischen Zellen den Krebszellen Nährmaterial für die
Kerntheilung zuführten ; die Deutung von Klebs ist bereits oben berührt. J. Schütz
deutet die Verwerthung seiner Refunde für die Aetiologie des Carcinoms nur an,
indem er darauf hinweist, wie chronisch formative Reize und Ueberernährung,
namentlich an gewissen Prädilectionsstellen , schliesslich Epithelien von einer den
physiologischen Geweben gegenüber höheren Valenz erzeugen können („ Valenz-
theorie"), eine Eigenschaft, welche durch Vermittlung der Leukocyten wieder
metastatisch anderen Organen zugetragen werden könnte; das Hauptgewicht legt
aber der genannte Autor auf die diagnostische Verwerthbarkeit Feiner Befunde,
die allerdings auf der Voraussetzung beruht, dass die für die mikroskopische
Untersuchung bestimmten Geschwulsttheile vor der Härtung in lebend-frischem
Zustande einer Fixation (am besten nach der FLEMMiNG'schen Methode) unter-
worfen werden.
In sehr eingehender Weise hat in neuester Zeit G. Hauser die Histo-
genese des Cylinderepitbelcarcinoms des Magens und Dickdarms verfolgt und ist
auf Grund seiner tbatsfichlichen Befunde auf die Discussion der Aetiologie des
Carcinoms eingegangen. Mit voller Bestimmtheit kommt G. Hauser in Ueberein-
stimmung mit der von Thiersch und Waldeyer vertretenen Lehre zur Annahme
des epithelialen Ursprunges des Cylinderzellenkrebses. Die erste Ent-
wicklung des Krebses beginnt in der Schleimhaut mit Wucherung des präex&tiraidftfe.
134
CABCINOM.
Drüsenepithels; im weiteren Verlauf durchbricht das Epithel der entarteten
Schleimhautdrüsen die Membrana proprio, des Drösenschlauches und dann die
Muhcularis mucosae, um sich in der Submucosa und den tieferen Gewebsschichten
in Form eines zusammenhängenden Netzwerkes (nicht in abgeschlossenen Alveolen)
auszubreiten. Dieses anastomosirende Canalsystem entspricht theils den Lymph-
bahnen, theils den Spalträumen, theils ist es durch die das Bindegewebe aus-
einanderdrängenden Krebskörper gebildet. Wenn dieser continuirliche Zusammen-
hang der epithelialen Wucherung mit den Schleimhautdrüsen ein stringentes
Argument zu Gunsten des epithelialen Ursprunges des Carcinoms darstellt, so wird
ein weiteres Beweismoment durch die innerhalb der epithelialen Wucherungen
nachweisbaren Karyomitosen geliefert ; die letzteren sind umso reichlicher, je mehr
sich die Wucherung dem medullären Charakter nähert, umso weniger zahlreich,
je mehr der scirrhöse Charakter des Krebses ausgesprochen ist. Auch O. Hauser
weist auf gewisse Unregelmässigkeiten der Kerntheilungsfignren im Carcinom hin :
auf das Vorkommen hyperplastischer Formen, Mehrtheilungen, Aborüverscheinungen
(Zusammenfliessen der Chromatinschleifen zu unregelmässig gruppirten Tropfen);
auch bestätigt er, dass in den Krebsepithelien , namentlich in den Fällen mit
granulationsgewebeartigem Stroma öfters Leukocytenkerne und Theilstücke solcher
eingeschlossen waren; doch konnte Haiser niemals eine Verschmelzung dieser
Fragmente mit der gesetzmässigen Kerntheilungsfigur beobachten, vielmehr war
mit der Anwesenheit solcher Chromatinkörner stets eine Unregelmässigkeit der
Kernfigur verbunden. Aus diesem Verhalten ist eher auf eine Störung als auf
eine Förderung des Kerntheilungsvorganges durch die Anwesenheit der Körner
zu schliessen. Auch die H ist o genese der metastatischen Krebswucherung ergab
für die letztere eine selbständige, vom Bindegewebe völlig unabhängige Wucherung
der epithelialen Elemente ; Hauser kam demnach auch hier zu dem Schlüsse, dass
die in den Lymphdrüsen, der Leber und an anderen Orten auftretenden meta-
statischen Krebsknoten auf selbständige Wucherung der vom primären Krebsherd
abgelösten und auf dem Wege der Lymph- oder Blutbabn verschleppten epithelialen
Krebszellen zurückzuführen sind. Es mag hier bemerkt werden, dass auch
Zehxder 1ü) in einer neueren Untersuchung über Krebsentwicklung in den Lymph-
drüsen hinsichtlich der Nichtbetheiligung der Zellen des Lymphdrüsengewebes an
der Bildung der Krebszellen zu dem gleichen Resultate gekommen ist.
Die Versuche, den infectiösen Ursprung des Carcinoms nach-
zuweisen, stützten sich in erster Linie auf den Befund von Bacterien in krebsigen
Neubildungen, an welche sich dann weiter Culturv ersuche und lnfectionsexperi-
mente anschlössen. Nachdem Rappjn17) über das Vorkommen von Diplococcen
im Krebs berichtet, erregten die Angaben von Scheurlen18) allgemeines Auf-
sehen ; der eben genannte Autor züchtete aus Carcinomen verschiedener Organe
sporenbildende Bacillen, deren Keinculturen auf Thiere verimpft zellige Wucherungs-
herde hervorriefen , deren krebsige Natur freilich weder aus dem histologischen
Befund, noch aus dem Entwicklungsgange der Neubildung nachgewiesen wurde.
Im Krebsgewebe selbst fand Scheurlen keine Bacillen , doch sollten sie nach
einer späteren Mittheilung von Klempereu im Blute von Krebskranken nachweisbar
sein. Bald nach Veröffentlichung der ScHEUKLEN'schen Entdeckung des „Carcinom-
bacillus" wurden von mehreren Seiten Mittheilungen über bereits früher beobachtete
Bacterienbefunde im Carcinom gemacht, so von Schill ly) (Doppelpunktstäbchen),
Domingos Freire20) (Bacillen im Krebsgewebe und im Blut), Lampiasi u. A.
Gegenwärtig ist ein näheres Eingehen auf die bezüglichen Angaben nicht mehr
erforderlich; durch die Kritik und die Controluntersuchungen von E. Senger21),
Baümgarten 22), A. Pfeiffer23), Sanarelli -*) u. A. ist nachgewiesen, dass der
SCHEURLEx'sche Bacillus ein harmloser Saprophyt ist, der gelegentlich auf der
menschlichen Haut schmarotzt. Seitdem ist zwar von mehreren Seiten über Bacterien-
befunde im Carcinom berichtet, doch ohne dass den Mikroorganismen ätiologische
Bedeutung zugeschrieben wurde; so erwähnt J. Schütz n) , dass er dreimal bei
CARCINOM.
135
Lippencarcinom im Krebsgewebe Bacterien antraf: einmal schlanke Stäbchen von
der Grösse des Tnberkelbacillns, das andere Mal runde, regellos gruppirte Coccen,
drittens 6 — 12 [/. lange, wetzsteinförmige, sporenhaltige Bacillen mit spitzen Enden.
Dagegen gelang es Ballanck nnd Shattok**) frisch exstirpirte Carcinomstücke
auf verschiedenen Nährboden (menschliches Blutserum, Agar-Agar) völlig steril
zu erhalten. Mit Recht wurde es von mehreren Seiten als von vornherein unwahr-
scheinlich bezeichnet , dass Spaltpilze die Ursache der carcinomatösen Neubildung
wären; hierbei fand namentlich ein schon früher von Billroth vertretenes
Argument Verwerthung, welches davon ausgeht, dass alle bekannten, durch Spalt-
pilze erzeugten Neubildungen histologisch dem Granulationsgewebe angehören, also
aus emigrirten Leukocyten und jungen Bindegewebszellen bestehen, während in
den Metastasen des Carcinoma als wesentliche Elemente die Zellen des primären
Standortes wiederkehren. Es hat natürlich keine Schwierigkeit, zu verstehen,
dass ein im Körper durch die Blutbahn oder Lymphbahn verschleppter Spaltpilz
an den Orten, wo er haften bleibt und sich vermehrt, einen specifischen Reiz auf
seine Umgebung ausübt, der zur entzündlichen Reaction, zur Auswanderang von
farblosen Blutkörperchen und zur Neubildung von Bindegewebszellen führt; in
den verschiedensten Organen sind die Voraussetzungen für das Auftreten von
Zellen solcher Herkunft gegeben. Beim Carcinom dagegen, wo die Form und der
Charakter der Krebszellen in den secundären Geschwülsten nicht vom Standorte
der letzteren, sondern von der Natur der Zellen des Ausgangsortes der Neubildung
abhängt, muss notwendiger Weise eine Verschleppung von Zellen vor-
ausgesetzt werden ; es handelt sich im Gegensatz zu den Granulationsgeschwülsten,
die unter den Begriff der entzündlichen Neubildung fallen, um eine
Transplantation und Fortentwicklung (für den Ort ihrer secundären Fest-
setzung) fremdartiger Zellen, also um einen heteroplastischen Vorgang.
Dafür aber, dass durch Spaltpilze solche Formen der Neubildung hervorgerufen
werden könnten, fehlt es an jedem tatsächlichen Nachweis.
Die Versuche, das Carcinom auf Bacterieninfection zurückzuführen, sind denn
auch bald fallen gelassen ; dagegen ist in neuester Zeit anf gewisse mikroskopische
Befunde hingewiesen worden, welche die Vorstellung nahe legen, dass möglicher
Weise Parasiten anderer Art Bedeutung für die Entstehung des Krebses haben
können. Die bezüglichen Mittheilungen sind unabhängig von einander von mehreren
Orten, zum Theil von bewährten Beobachtern ausgegangen und es kommen dabei
morphologische Veränderungen in den Carcinomzellen in Betracht, die sich mit
einfachen Untersuchungsmethoden leicht controliren lassen. Die Schwierigkeit ergiebt
sich aber sofort bei der Deutung dieser Befunde und hier stehen sich zwei Auf-
fassungen diametral gegenüber ; nach der einen handelt es sich um in den Krebs-
zellen schmarotzende Mikroorganismen aus der Classe der Sporozoen; nach der
anderen Auffassung sind die betreffenden morphologischen Befunde in den Carcinom-
zellen auf degeuerative Vorgänge in ihrem Protoplasma oder in den Zellkernen,
zum Theil auch auf Metamorphose von eingedrungenen Zellen (Leukocyten) zurück-
zuführen. Ehe wir kurz auf die zu Gunsten beider Auffassungen angeführten
Gründe eingehen, erscheint eine zusammenfassende Darstellung der hier in
Betracht kommenden thatsächlichen Befunde geboten.
Die ältesten Angaben über das Vorkommen „coccidienartiger" Körper in
den Zellen geschwulstartiger Producte beziehen sich auf das „Epithelioma
contagiosum", eine übertragbare papillomähnliche Wucherung, die am Kamme, an
den Augen, am After von Hühnern und Tauben vorkommt (Bolllnger) und
daran schliessen sich ähnliche Befunde beim „Molluscum (s. Epithelioma)
contagiosum" des Menschen ; zuletzt ist Neisser *6) für die parasitäre Natur der
eigentümlichen runden, homogenen Körper in den Zellen dieser epithelialen, vom
Stratum Malpighi der Haut ausgehenden Wucherungen eingetreten. Für die
Aetiologie des Carcinoma ist diese Frage insofern von Bedeutung, als bei
Anerkennung der Molluscumkörperchen als Coccidien hier das Beispiel einer durch
136
CARCINOM.
Parasiten hervorgerufenen EpitheJneubildung gegeben wäre; freilich bat dieselbe
beim Menschen einen durchaus homöoplastischen und auch in klinischer Hinsicht
gutartigen Charakter.
Die nach Paget (1874) benannte Affeotion der Brustwarze beginnt
nach der Auffassung mancher Pathologen als ein chronisches Eczetn, an das sich
im weiteren Verlaufe eine als Epitheliom zu deutende Neubildung anschließt,
wahrend von Anderen (TaiN, Duhring) behauptet wird, das» die Krankheit von
vornherein den Charakter einer » Dermatitis papillaris maligna" habe. Von
Darier20) wurde zuerst das Vorkommen runder, von einer doppelten Contour
begrenzter Körper in den Epithelien der Wucherung nachgewiesen; dieselben sind
ohne Weiteres bei Zusatz von Waaser (besser noch in einer Jodlösung) sichtbar;
Darier deutet diese Körper als zur Classe der Sporozoen gehörige Mikro-
organismen , und zwar rechnet er sie unter die Gruppe der Psorospermien. Die
Körper übertreffen die normalen Epithelien an Umfang , so dass die Zellen , die
sie enthalten, bedeutend vergrössert erscheinen; die Membran der Körper um*
schliesst ein granulirtes Protoplasma, öfters ist das letztere in mehrere rundliche
Körper getheilt, auch kommen mit zahlreichen runden Körnern gefüllte Formen
vor. Die erste Entwicklungsstufe stellen nach Dabier rundliche Plasmamassen mit
oder ohne Kern dar, dann bildet sich die Membran und weiter tritt eine fortgesetzte
Segmentation des Inhaltes ein, deren Endresultat die als „Sporooysten" aufge-
fassten, mit zahlreichen rundlichen Körpern gefüllten Formen darstellen« Wickham *7)
bestätigte die Befunde von Darier (als Fixationsmittel für die Körper bewährten
sich am besten doppeltchromsaures Kali und Pikrinsäure); er bebt hervor, dass
die cneystirten Formen verhältnissmässig selten sind, während die zahlreichen,
das Gewebe iufiltrirenden Psorospermien morphologisch wenig scharf hervortreten
und degenerirten Epithelien gleichen. Uebertragungsversuche , die Wickham am
eigenen Körper vornahm, verliefen negativ; bei Culturversuchen auf feuchtem
Sand zeigten sich nach 16 Tagen, während die epithelialen Elemente durch
Maceration zerstört waren, die Psorospermien wohlerhalten ; auch im caneeröseu
Stadium der Paget sehen Krankheit sind die Psorospermien in den wuchernden
Epithelien nachweisbar.
In Anschluss an die Mittbeilung von Darier demonstrirte Albarrax2*)
Präparate von Epithelkrebsen, welche die gleichen corcidienartigen Körper ent-
hielten und Malasse? 2 9) berichtete über analoge Befunde in zahlreichen Cancroideu.
Völlig unabhängig von den Mittheilungen der oben genannten Autoreu«
kurze Zeit nach dem Vortrage von Darier (13. April 1889), veröffentlichte
Thoma 30) seine Beschreibung „eigenartiger parasitärer Organismen in den Epithel-
zellen der Carcinome"; dieselben finden sich in den epithelialen Kernen und
erscheinen als einzellige Organismen von 4— 15 ja Durchmesser; sie bestehen aus
Protoplasma uud Kern, ihre Gestalt ist unrcgelmäSBig rundlich, häufiger noch oval,
zuweilen Wetzstein- oder schiffälmüch. Diese Qebilde liegen einzeln oder in
Gruppen zu 4 — 6 in den Kernen, wobei letztere ihre Färbbarkeit völlig ein»
bussen, während die fraglichen Körperchen durch Hamatoxyün , Eosin, Safranin,
Alauncarmin deutlich gefärbt werden können. In manchen Fällen hat sich unmittelbar
neben den Zellkernen eine Höhlung gebildet , welche die einzelligen Organismen
enthält. Zuweilen nnden sich in den Höhlen feinkörnige oder homogene Kugelu
von starker Lichtbrechung, die kernähnliche Gebilde in grösser Zahl einschiiessen.
Thoma fand diese Gebilde in Carcinomeu des Mastdarms, des Magens und
der Mamma
Offenbar auf die gleichen morphologischen Befunde in Krebszellen bezieht
sich die eingebende Beschreibung der protozoenartigen Organismen im Carcinom
von N, SjÖBRING hier wird aus den Einzelbildern eine Entwicklungsreihe
zusammengestellt, nach welcher die fragliehen Gebilde unter Hinweis auf die
bekannten Darstell ungeu der Protozoen von Bütschli und Balblanc zu den
Mikr< 'sporidtcii gerechnet werden, wobei die Analogie mit der Entwicklung der
CABCINOM,
157
Pebrineorganismen hervorgehoben wird. Die erste Stufe wird durch sehr kleine
runde, protoplasmatisohe Körper repräsentirt , die zunächst frei im Gewebe
liegen und dann in Epithelkerne einwandern, wo sie während ihres ersten Wachs-
thums verweilen; weiterhin tritt der Parasit in das Zellprotoplasma aus und ver-
grössert sieh auf Kosten des letzteren; es wird ein Kern in dem vergrösserten
Protoplasmakörper (Plasmodium) sichtbar, während an der Peripherie des letzteren
eine Membran erkennbar wird; dann treten im Protoplasma kleine Pünktchen
auf, die sich vergrössern und schliesslich die Form gebogener Stäbchen annehmen ;
gleichzeitig tritt um die letzteren ein hyaliner Hof auf, der sich immer schärfer
abgrenzt, so dass schliesslich von deutlichen Membranen umgebene „Sporen", die
Keimkörper einsohliessen , entstehen. Diese Entwicklungsstufe wird demnach als
„Sporoeyste" aufgefasst. Die Kernkörper entschlüpfen den Sporen wahrscheinlich
durch Aufsprengen ihrer Kapsel und die freien Kerne wachsen wieder zu Sarcoden
aus und stellen so den Ausgang neuer Entwicklung dar.
Eine weitere Mittheilung über intracelluläre Gebilde bei Carcinomen rührt
von Siegenbeck van Hbnkelom83) her; er unterscheidet: 1. grosse runde oder
ovale Kugeln mit einem oder mehreren tingiblen Kernen ; sie finden sich nament-
lich in metastatischen Herden, besonders in Krebsepithelien , die im Innern von
Blutgefässen liegen; 2. kleine Kügelchen, die sich lebhaft mit Eosin färben, sie
liegen im Kern oder im Protoplasma von Krebszellen, namentlich in primären
kleinzelligen Carcinomen, es kommen Uebergänge zwischen ihnen und den grossen
Kugeln vor ; 3. kleine glänzende, in den Kernen gelegene, in Carmin nicht färb-
bare Gebilde. Der genannte Autor enthält sich eines Urtheils über die ätiologische
Beziehung dieser Körper, die offenbar mit einem Theil der von Thoma und
Sjöbring beschriebenen Formen übereinstimmen.
Die neueste hierhergehörige Mittheilung wurde von W. Rüssel 88) (Edin-
burg) in der pathologischen Gesellschaft von London vorgetragen; unter 45 unter-
suchten Carcinomen fanden sich in 43 Fällen Körper, die bei Doppelfärbung der
Schnitte mit wässeriger Carbolfuchsinlösung und darauffolgender Carbol-Jodgrün-
färbung sich durch ihre lebhafte rothe Farbe auszeichneten, während die übrigen
Gewebselemente grün gefärbt wurden ; doch ist hervorzuheben, dass der Vortragende
selbst angiebt, er habe die gleichen „Fuchsinkörper" in einem chronischen Unter-
schenkelgeschwür, in einem Falle von Gelenktuberkulose, einem Gumma der Dura
mater und in einem Adenom der Mamma gefunden, uebrigens lassen sich die
Körper auch nach der GRAM'schen Metbode durch Färbung mit Methylviolett
nachweisen. Die Körper fanden sich in und zwischen den Epithelzellen des
Carcinoma, aber auch in der kleinzelligen Infiltration an den Rändern des krebsigen
und in den Lymphdrüsen; sie waren in der Regel in Gruppen von 2, 10, 20
oder mehreren vorhanden, fast immer von einem hellen Räume umgeben, meist
4 [/. im Durchmesser, von vollkommen runder Form und homogener Structur. Die
im Innern von Zellen gelegenen Körper lagen in einer Vacuole im Zellprotoplasma,
auch fanden sich in solchen kleinere „ Fuchsinkörper " , zuweilen von einer deut-
lichen Kapsel umgeben. Manche der Körper erschienen granulirt und hatten ihre
Tinctionsfkhigkeit durch Fuchsin verloren und zeigten unzweifelhafte Sporen in
ihrem Innern.
Rüssel will die beschriebenen Gebilde nicht als Protozoen anerkennen;
an nach der GRAM'schen Methode gefärbten Körpern konnte er deutlich sehen,
dass von den grösseren Fuchsinkörpern durch Sprossung kleinere kugelförmige
Körper gebildet wurden, die mit der Mutterzelle durch Fäden verbunden blieben ;
durch neue Sprossung von der wachsenden Tochterzelle entstehen zuweilen kurze
Ketten. Auf Grund solcher Befunde rechnet Rüssel die von ihm beschriebenen
Körper zu den hefqartigen Mikroorganismen (Sprosspilze, Näoeli);
Culturversuchd wurden von ihm nicht angestellt.
Wenn man zunächst die Thatsfichlichkeit der morphologischen Befunde,
von denen die eben angeführten Veröffentlichungen ausgehen, in Betracht zieht,
138
CARC1N0ÄT
so kann man sich an genügend feinen Schnitten (am besten nach Einbettung in
Paraffin) aus krebsigen Neubildungen bald überzeugen, das« die Mehrzahl der
geschilderten Bilder fast in jedem Falle nachweisbar ist. Dem Verfasser dieser
Uebersicht stehen in dieser Richtung zahlreiche eigene Erfahrungen ans Careinomen
der verschiedensten Organe zn Gebote und auf Grund derselben kann bestätigt
werden , dass sowohl die von Thoma beschriebenen Körper im Innern der Epithel-
kerne, als namentlich auch die grosseren zelligen Einschlüsse im Zellprotoplasma
der Krebszellen in den verschiedensten Entwicklungsstufen (Protoplasmakugeln
mit nnd ohne Kern, membranös abgegrenzte Kugeln, welche wieder einzelne oder
mehrfache kugelige Gebilde einschliessen) ohne Schwierigkeit nachzuweisen sind.
Die Verdrängung und der schliessliche Zerfall des Zellkernes , die bedeutende
Vergrößerung der Krebszellen mit dem Wachstbom der von ihnen umschlossenen
Korper, auch diese Verhaltnisse sind in der Regel unzweideutig erkennbar. Die
günstigsten Objecte für die Wahrnehmung der eben berührten Befunde boten nach
unseren Erfahrungen Plattenepitbelcarcinorae mit raschem Wachsthum ; in ihnen
lagen die verAnderten Epithelzellen öfters in Haufen zusammen , meist mehr in
den centralen Theilen der Krebszapfen, Öfters in der Nähe der sogenannten Krebs-
nester. Am seltensten kamen uns die als Sporocysten gedeuteten vielkernigen
Formen vor und nur ganz vereinzelt konnten in den von letzteren umschlossenen
glänzenden Kftrperchen an sirhelförmige Keimkörper erinnernde Gebilde erkannt
werden. Die sichere Erkennung der als freie Sarcoden angesehenen (Sjöbring),
Fi %, Ith
2
'EL
Protozoen aus der Niere der Gartenschnecke,
/ Xierenzelle, ein kernhaltigen PUsmodinm von Kloasia helicina eittsoh Ii essend*
z Sporenhfclttge Cys*e denselben Parasiten in hochgradig vergrößerter Nierenzelle.
3 Encyntlrte Kiossifi (Kern nicht erkennbar. # Spore mit Keimen and freie Bichel*
förmige Keime«
morphologisch wenig charakteristischen Formen, wenn sie frei zwischen den jungen
und degencrirten Epithclzellon , den Leukocyten und jungen Stromazellen im
Krebsgewebe nachgewiesen werden sollen , erscheint unmöglich , so lange nicht
die Differeuziruug durch eine besondere Färbungsmethode möglich ist. An Schnitten,
die mit Hamatoxyliu vorgefärbt wurden, tilsst sich durch Einlegen in eine wässerige
Magdalarothlösung und nach her ige Behandlung mit schwach aalzsäurehal tigern
Alkohol eine RothfSrbung der hier besprochenen intracellularen und auch freier
amöben artiger Körper erzielen ; doch färben sich bei diesem Verfahren auch noch
andere Substanzen roth (Horn kugeln, manche Zellkerne, rot he Blutkörper), obwohl
in der Regel die Färbung der ersteren intensiver ausfällt. Wenn man demnach
CABCINOM.
139
diese Tinction zum Deutlichmachen der fraglichen Gebilde wohl verwenden kann,
so ist dieselbe doch keineswegs als eine specifisch differenzirende Färbungsmethode
anzuerkennen.
Müssen wir demnach auf Grund eigener Erfahrungen die Thatsächlich-
keit der meisten oben besprochenen morphologischen Befunde bestätigen, so
verkennen wir doch keineswegs die Unsicherheit, die den Deutungen derselben
anhaftet. Handelt es sich in der That um Parasiten? Für diese Annahme ist
geltend zu machen, dass gewisse den Sporozoen zugerechnete* Protozoen Ent-
wicklungsformen bieten , deren morphologische Aehnlichkeit mit jenen Gebilden
unverkennbar ist; konnte doch Sjöbring auf Grund dieser Aehnlichkeit die Ent-
wicklungsreihe der Carcinomparasiten von der freien Sarcode zur Sporoblasten-
bildung bis zum Austritt neuer Keimkörper aus den Sporen illustriren. Es kommt
hinzu, dass gewisse Sporozoen als Epithelschmarotzer im thierischen Körper sicher
nachgewiesen sind; wir verweisen in dieser Hinsicht auf die an eigenen Beob-
achtungen reiche Schrift von L. Pfeiffer (Die Protozoen als Krankheitserreger.
Jena 1890), der übrigens bereits 1888 auf den Befund sporidienartiger Körper
in Krebszellen hingewiesen hat. 84) Die vorstehende Fig. 10 giebt verschiedene
Entwicklungsstufen einer als Schmarotzer in den Nierenepithelien der Garten-
schnecke nicht selten anzutreffenden Sporozoe, während die übrigen, ebenfalls nach
eigenen Präparaten gegebenen Abbildungen (Fig. 11 und 12) einige charakteristische
Formen der im Carcinom nachgewiesenen als Parasiten gedeuteten Gebilde darstellen.
Fig. 11.
a Zellen häufen ans einem Geb&rmuttercarcinom, sämmtliche Zellen protozoenähnliche
Einschlüsse enthaltend (Zellkerne verdrängt). — - b Sehr grosse Zelle ans einem Epithel-
krebs des Penis, der zerfallende Zellkern nach rechte verdrängt, zelliger, doppelt-
contonrirter Rinscblnss. — « Csrcinomzelle, in einer Vacuole mit doppelt contonrirtem
Saom einen plasmodienartigen Körper einschliessend , nach oben ein freier Barcoden-
artiger Körper (beide durch Magdala roth gefärbt, Zellkerne blau dnreh Hamatoxylin). —
d Grosse mit zahlreichen runden (sporenartigeo) Körpern gefällte Zelle ans einem Zungen-
carcinom. — e Zelle aus einem Lungencarcinom, farblose Blutkörperchen mit nag-
mentirten Kernen einschUessend.
Bei aller Anerkennung der hervorgehobenen Aehnlichkeit ist damit doch
die parasitäre Natur der fraglichen Carcinomkörper nicht erwiesen. In gewissen
Entwicklungsstadien sind die betreffenden Protozoen normalen Körperzellen morpho-
logisch so ähnlich, dass eine Unterscheidung unmöglich ist; das wurde bereits
oben für die freien amöboiden Formen hervorgehoben. Aber auch die intra-
cellulflren Gebilde können zum Theil ohne die Annahme parasitärer Eindringlinge
140
CARCINOM.
erklärt werden. Die Einwanderung von Lenkocyten in Carcinomzellen wurde
schon berührt; auch rothe Blutkörperchen können in den letzteren eine hyaline
Umwandlung erleiden; anderereits ist auch die Möglichkeit nicht zurückzuweisen,
Fi*. 12.
Zellen ans einer Zottengesch wntet der Harnblase; in drei derselben plasmodienartijre
Einschlüsse.
dass junge Krebszellen in das Protoplasma älterer Zellen hineinwandern oder
passiv in dieselben hineingedrückt werden können; auf diese Weise lassen sich
manche der beschriebenen Bilder auf Invaginationsvorgänge beziehen, für deren
Zustandekommen die stürmische und in gewissem Sinne ungeordnete Zellneubildung
im Krebs günstige Bedingungen bietet. Auch das Auftreten von herdförmiger
Degeneration im Protoplasma von Krebszellen (Vacuolenbildung mit hyalinem
Inhalt), das Vorkommen sogenannter Nebenkerne wäre zu berücksichtigen. In der
That sind auf solche Deutungen gestützte Einwände mehrfach erhoben worden
(so von J. Schütz11), Eberth86), Klebs9). Es ist auch darauf hinzuweisen,
dass man zuweilen den fraglichen Gebilden ähnliche Formen antrifft, wo kein
Zweifel besteht, dass es sich um degenerirte Zellen des Körpers handelt. Zum
Beispiel kommen in den Alveolen der fötalen Lunge gequollene epitheliale Zellen
von hyalinem Glanz (nicht selten mit doppelt contourirter Zellgrenze) vor, die
den intracellulären Carcinomkörpern morphologisch gleichen.
Die Zurückweisung solcher Einwände wäre möglich auf Grund einer
d iff erentiellen Färbungsmethode, nachdrücklicher noch, wenn es
gelänge, durch Abimpfung aus frischem Carcinom Reinculturen der angeb-
lichen Parasiten herzustellen. In Bezug auf das erste Desiderat genügt auch
die oben angeführte Fuobsin-Methylgrüiif&rbungsmethode von Rüssel 8S) nicht
strengen Anforderungen, da auch bei dieser Tinction noch andere Dinge die
Fuchsin färb ung festhalten (Hornkugeln, rothe Blutkörper, Plasmazellen) ; übrigens
ist zu bemerken, dass die frei im Gewebe, meist in kleineu Gruppen auftretenden
Kugeln, die nach GRAM'scher Färbangsmethode die Methylviolettfkrbung festhalten,
keineswegs für das Carcinom charakteristisch sind (die intracellulären Formen,
die Rüssel ebenfalls beschreibt, sind hierbei ausser Betracht); das geht zum
Theil schon aus den Angaben des Autors selbst hervor; Verfasser dieser Ueber-
sioht kann hinzufügen, dass ihm derartige Gebilde seit Jahren bekannt sind, sie
wurden in syphilitischen Herden (Gumma, Condylom), in leukämischen Lymph-
drüsen, in Rundzellen8arcomen, im Granulationsgewebe von Geschwüren gefunden
und entsprechen ganz der Beschreibung von J. Rüssel; die Deutung dieser
Körper mag fraglich sein, möglicherweise handelt es sich um „Chromatintropfen",
die durch Zerfall in Theil ung begriffener Zellen frei wurden ; jedenfalls schliesst ihr
Vorkommen bei verschiedenartigen pathologischen Processen eine speoifische ätio-
logische Bedeutung dieser freien „Fuchsinkörper" mit gr'lsster Wahrscheinlichkeit aus.
In Bezug auf Culturversuche liegt nur für die bei der Pag et 'sehen
Krankheit gefundenen Körper die Angabe Darier's über eine stattgofundene Ver-
mehrung derselben auf nassem Saud vor; im Uebrigen ist darauf hinzuweisen,
dass überhaupt für die hier in Frage kommendeu Protozoen eine Reinzüchtung
CARCINOM.
141
in künstlichen Nährmedien bis jetzt Dicht gelangen ist. Anch die spärlichen
gefangenen Uebertragnngen von Carcinom bei Tbieren haben für den Nachweis
der Parasiten nichts Positives ergeben.
Man mnss sich demnach bei aller Anerkennung des Interesses der oben
erwähnten Mittheilungen in Bezng anf die Deutung der Befunde im Carcinom noch
vorsichtig verhalten; ein sicherer positiver Beweis für die parasitäre Natur
der fraglichen intracellulären und freien Gebilde fehlt noch und wenn hierfür
stichhaltige Gründe beigebracht würden, so wäre immer noch nachzuweisen, dass
die Parasiten nicht accid enteile Eindringlinge sind, sondern in ursächlicher Be-
ziehung zur Entstehung des Krebses stehen.
Auf der anderen Seite geht man zu weit, wenn man
a priori die Möglichkeit, dass der Krebs durch Parasiten der
hier in Betracht kommenden Art veranlasst werden könne, von
der Hand weisen will. Die Gründe, die sich gegen die Annahme, dass
der Krebs eine Bacterienkrankheit sei, anführen lassen, die sich vorzugsweise auf
die bekannten histologischen Verhältnisse der sicher durch Spaltpilze hervor-
gerufenen Neubildungen, der Infectionsgeschwülste , beziehen , lassen sich auf die
Sporozoen nicht übertragen. Solche Protozoen treten bei niederen und höheren Thieren
(z. B. im Epithelioma contagiosum des Geflügels) als Schmarotzer in Epithel-
zellen auf, die inficirten Zellen können längere Zeit hindurch ihre Lebensfähigkeit
erhalten, ja sie hypertrophiren ; es findet demnach eine gewisse Symbiose zwischen
Eindringling und Wirthzelle statt, ein Parasitenthum im eigentlichen Sinne. Wenn
nun endlich mit dem Zerfall der Wirthzelle auch der Schmarotzer sein Reifestadium
erreicht hat und Keime abgiebt, so können die letzteren neue Zellen der Umgebung
inficiren und so breitet sich die Erkrankung auf dem Wege fortschreitender regio-
närer Zellinfection aus. Es liegt auf der Hand , dass eine solche Art der Ver-
breitung auch der Entwicklung der krebsigen Neubildung entspricht; die Zellen
der letzteren haben ja einerseits eine entschiedene Tendenz zur Degeneration, zum
Zerfall, während andererseits in der Peripherie die Zellwucherung zerstörend fort-
schreitet. Die Thatsache, dass fast niemals die krebsige Neubildung durch
geschwürigen Zerfall oder durch schleimige, fettige Degeneration zum Stillstand
kommt, würde vom Standpunkt der parasitären Hypothese dadurch zu erklären
sein, dass der Parasit zwar auf der Höhe seiner Entwicklung die Wirthzelle zer-
stört, aber in diesem Stadium Keime aussendet, die neue Zellen inficiren, dieselben
und ihre Umgebung zu intensiver Neubildung anregend. Dass nun von einge-
wanderten Keimen befallene junge Zellen in die Lymphbahn oder in Blutgefässe
gelangen und durch Lymph- oder Blutströraung fortgeführt werden könnten, um
an entfernten Orten den Ausgang neuer Wucherungsherde zu bieten, das würde
bei der Art des Vordringens der krebsigen Neubildung denkbar sein, wenn man
voraussetzt (wofür, wie schon bemerkt, gerade bei den in Betracht kommenden
Protozoen Analogien vorliegen), dass die Infection mit Erhaltung der Lebens-
fähigkeit der Zelle längere Zeit vei träglich ist. Auf diese Weise würde die That-
sache erklärlich, dass im Allgemeinen die Zellform der secundären Krebsherde
dem Zelltypus des primären Carcinoms entspricht. Man könnte jedoch in Bezug
auf den zuletzt berührten Punkt die Frage aufwerfen, weshalb denn beim Vor-
dringen des Carcinoms die von den inficirten Zellen berührten, einem anderen
Typus angehörigen Epithel- und Drüsenzellen nicht ebenfalls von den Parasiten
befallen würden, zum Beispiel von den Zellen eines in der Leber entwickelten
secundären Plattenepithelkrebses die Leberzellen und Gallengangepithelien. Diese
Frage lässt sich freilich auch hypothetisch nicht ohne Weiteres beantworten ; doch
ist darauf hinzuweisen, dass selbst wenn man das Carcinom auf eine Infection des
Deck- oder Drüsenepithels durch niedere Organismen der bezeichneten Art zurück-
führt, doch nothwendiger Weise die Mitwirkung disponirender Factoren anzuerkennen
ist, durch welche erst das Eindringen der Parasiten in die Epithelien und ihre
Fortentwicklung in letzteren möglich würde. Es wäre auch denkbar, dass dieselben
142
CARCINOM.
Schmarotzer, je nach dem Zustande der Gewebe, bald gutartige hyperplastische
Neubildungen (Warze, Papillom), bald tiefgreifende maligne, carcinomatöse
Wucheruug erzeugten ; auch die erwiesene Möglichkeit des Ceberganges einer Form
der Neubildung in die andere würde in diesem Sinne zu deuten sein. Rechnet
man aber überhaupt mit disponirenden Factoren, so würde nicht ohne Weiteres
eine Uebertragung der Parasiten auf vom Carcinom berührte gesunde (i. e. wider-
standsfähigere) Zellen des gleichen und namentlich auch eines fremden Typus
anzunehmen sein. Es könnte ja sein, dass gerade die von inficirten Zellen
abstammenden jungen Krebszellen wieder für den Parasiten die günstigste
Entwicklungsstätte böten. Uebrigens ist die Frage, ob nicht doch in manchen
secundär von Krebs ergriffenen Organen eine active Betheiligung von Zellen
der letzteren vorkommt, noch näher zu untersuchen; hierbei handelt es sich
nicht um den selbstverständlichen Antheil des Bindegewebes an der Bildung des
sogenannten Carcinomstroma, sondern um atypische Wucherung epithelialer Zellen.
Auch die allerdings seltenen Fälle des gleichzeitigen Vorkommens mehrerer primärer
Carcinome würden für die Möglichkeit der Infection verschiedener Zelltypen in
demselben Körper angeführt werden können.
Die vorstehenden Ausführungen sollen nur den neuerdings mehrfach ver-
fochtenen Satz, dass ein parasitärer Ursprung des Carcinoms undenkbar sei,
bekämpfen. Die bekannten Thatsachen in der Entwicklung und der Verbreitungsart
des Krebses widersprechen keineswegs der parasitären Hypothese, ja sie werden
zum Theil von derselben aus verständlicher im Hinblick auf Entwicklung und
besondere Art des Schmarotzerthums der hier in Betracht kommenden Protozoen.
Dass auf der anderen Seite der naturwissenschaftliche Beweis für den parasitären
Ursprung des Carcinoms nicht erbracht ist, wurde oben schon genügend hervor-
gehoben; in der That fehlt noch die erste Grundlage des Beweisverfahrens, für
welche der sichere morphologische Nachweis der Parasiten in den
Erkrankungsherden gefordert werden muss. Immerhin hat die parasitäre Hypothese
genügende Wahrscheinlichkeit für sich, um zur Fortsetzung der Untersuchung in
ihrer Richtung aufzufordern. In dieser Hinsicht ist darauf hinzuweisen, dass
keine der sonstigen bis in die neueste Zeit für die Aetiologie des Carcinoms auf-
gestellten Hypothesen zu befriedigen vermag. So ist die bekannte, von Cobxhkim
vertretene Annahme der embryonalen Anlage der Geschwülste (Hervorgehen der
Neubildungen aus überschüssig im Gewebe liegen gebliebenen embryonalen Zell-
herden) gerade für das Carcinom, das in der Hauptsache eine Krankheit des
höheren Lebensalters ist, wenig wahrscheinlich ; umso weniger, da die Histogenese
des Krebses auf den Ausgang der Wucherung von fertigen functionirenden
Epithel- und Drüsenzellen hinweist. In dem oben erwähnten Buche von G. Hauser 16)
ist in eingehender und überzeugender Weise die CoHNHEiM'sche Theorie für
das Carcinom zurückgewiesen (I.e. pag. 109 — 115). Wenn weiter der eben
genannte Autor, nachdem er auch die Infectionshypothese als unhaltbar hingestellt
(wobei im Wesentlichen die oben berührten Gründe gegen den bacteriellen Ur-
sprung des Carcinoms geltend gemacht werden), hervorbebt, dass am meisten noch
düe von Thiersch vertretene Hypothese und die verbreitete Lehre vom irritativen
Ursprung des Carcinoms den thatsächlichen Vorgängen bei der Krebsentwicklung
und dem klinischen Verhalten des Carcinoms gerecht werden, so hebt Hauser doch
selbst hervor, dass die Zurückführung des Epitbelkrebses auf eine Störung des
histogenetischen Gleichgewichtes zwischen Epithel und Stroma zu Ungunsten des
letzteren (Verminderung der physiologischen Widerstände des Bindegewebes gegen-
über der erhaltenen histogenetischen Energie des Epithels) keine genügende Er-
klärung für die den Krebszellen eigene Proliferationsenergie giebt.
Untersucht man rasch wachsende Carcinome, so erhält man den Eindruck, dass
überall, wo die Krebskörper sich vorschieben, eine irritative Wucherung des
Bindegewebes entsteht, welche die Einschmelzung der gesunden Gewebe und ihren
Ersatz durch Krebszellen einleitet. Die Hypothese von Thiersch berührt offenbar
CARCINOM.
143
ein sehr wesentliches Hilfsmoment, weiches unter Umständen darüber entscheidet,
ob eine Epithelneubildung einen gutartigen Charakter hat oder sich zum Carcinom
entwickelt; daneben bleibt aber die eigentliche Ursache der Zellwucherung unbe-
kannt, denn aus einfacher Verminderung der Gewebswiderstände kann wohl eine
sogenannte atypische Zellwucherung entstehen, die histologisch mit beginnendem
Carcinom Aehnlichkeit hat, die sich aber in ihrem Stillstehen an der Grenze
widerstandsfähiger Gewebe und in ihrem durchaus gutartigen Charakter sehr
wesentlich von demselben unterscheidet. Es würde sich demnach die parasitäre
Hypothese ohne Zwang mit der von Thiebsch vertretenen ätiologischen Lehre ver-
einigen lassen in der Weise, dass der in die Epithelzellen eingedrungene Parasit
zwar stets als Erreger lebhafter Zellwucherung wirke, aber erst unter der Voraus-
setzung herabgesetzter Gewebswiderstände (unter Anderem durch senile Verände-
rungen im Bindegewebe) zu einer die normalen Gewebsgrenzen durchbrechenden
Epithelwucherung führen könne. Das Gleiche gilt auch für die ätiologische
Beziehung zwischen chronisch • entzündlichen Processen und dem Carcinom , für
welche zwar sehr schlagende Belege angeführt werden (z. B. die Paraffinkrebse,
der Schornsteinfegerkrebs, das Carcinom in Magengeschwürsnarben, in der Gallen-
blase bei Cholelithiasis), ohne dass es jedoch gelänge, diesen Zusammenhang als
allgemein gilt ig für die Genese des Carcinoma nachzuweisen. Auch iu den Fällen,
in weichen ein irritativer Process dem Krebs vorausgeht, kann der Anschluss
der excessiven, weit über die ursprüngliche Oertlichkeit hinausgreifenden krebsigen
Zellwucherung nicht erklärt werden; weder die Ueberernährung der Zellen durch
die Hyperämie, noch die Herabsetzung der Widerstände im Bindegewebe kann in
dieser Richtung genügen, umsoweniger, weil doch das Hervorgehen von Krebs
aus chronisch-entzündlichen Veränderungen, die in der grossen Mehrzahl der Fälle
ohne solche Metamorphose ablaufen, der Ausnahmefall ist. Für den letzteren
muss demnach die Mitwirkung eines Factors von besonderen Eigenschaften ange-
nommen werden ; das heisst : die chronische Entzündung kann als gelegentliche
Causa disponens für Carcinomentwicklung wirken; die essentielle Ursache der
letzteren könnte aber ein Parasit sein.
Auch die neueren Hypothesen geben keine befriedigende Erklärung für
den wichtigsten Punkt in der Carcinomgenese, die Ursache der von jeder physio-
logischen Neubildung unterschiedenen, einerseits zum Zerfall disponirten, anderer-
seits zu excessiver, fast unbegrenzter Vermehrung befähigten Zellwucherung; ganz
abgesehen von ihren mangelhaften thatsächlichen Grundlagen. Hierher gehört die
oben berührte Idee, dass die Krebswucherung durch Befruchtungs Vorgänge zwischen
Körperzellen verschiedener Herkunft angeregt werde, wonach die Krebselemente
gewissermassen durch illegitime Copulation erzeugte Bastardzellen wären. Auch
eine neuerdings von Schleich 3,i) aufgestellte Hypothese geht von der Annahme
eines eigenthümlichen pathologischen Befruchtungsvorganges aus (eine Idee, die
übrigens unabhängig von der oben berührten, von Klebs gegebenen Andeutung
entstanden ist). Nach Schleich tritt in den Körperzellen, die ihre physiologische
Vollreife erreicht haben, ein Zustand des labilen Gleichgewichtes zwischen Tod und
erneuter Lebensfähigkeit ein. Wird eine derartige Zelle von einem neuen Reiz
getroffen, so kann sie infectiös werden, das heisst zu einem „pathologischen Sperma u
gewissermassen umgestimmt werden ; indem sie dann die Nachbarzellen inficirt, ist der
Ansto88 zur Geschwulstbildung gegeben. Und weiter : „Die widerstandslose Zelle kann
ein pathologisches Sperma der Geschwulst werden. Es bildet sich dann durch patho-
logische Zeugung eine Art fragmentarischen Embryos — eine Geschwulst. u Durch
derartige Speculationen wird die schwierige Frage der Aetiologie der Geschwülste
nicht aufgehellt, ebensowenig wie durch eine andere Hypothese, nach welcher die Ge-
schwulstbildung auf einer Art von Atavismus beruht, einem Zurückfallen der Körper-
zellen in einen den Zellen niederer Thierformen (Zellcolonien) entsprechenden Zustand.
Das Ergebniss unseres Ueberblickes der neueren Arbeiten über das
Carcinom ist, dass die Histogenese dieser Neubildung im Sinne seines
144
CARCINOM. — CATARACTA.
ausschliesslich epithelialen Ursprunges neue Bestätigung fand, während die morpho-
logischen Vorgänge bei der Theilung der Carcinomzellen genauer
erkannt wurden und drittens, dass beweisende Experimente für die Ueber trag-
barkeit des Carcinoma bei Thieren beigebracht wurden. Die Frage
nach der Natur der wesentlichen Ursache des Carcinoms bleibt
aber trotz der auf diesen Punkt gerichteten neueren Arbeiten
eine offene.
Literatur: *) J. E. Alberts, Das Carcinom in historischer und exper. -patholo-
gischer Beziehung. Jena 1887. — *) Wehr, Langenbeck's Archiv für Chir. XXXIX, pag. 216. —
*) A. Hanau, Exper. üebertragang des Carcinoms. Ebenda. XXXIX. pag. 678: Fortschritte
der Med. 1889, VII, 9. — 4) E. Hahn, Berliner klin. Wochenschr. 1888, 21. — *) J. Arnold,
Virchow's Archiv. LXXVIII, pag. 279; XCVIll, pag. 501. — •) W. A. Martin, Ebenda.
LXXXVI, pag. 57. — 7) Martinotti e Oliva, Sulla divisione del nuclei nelle cellule dei
tumori. Torino 1887. — 8)P fitzner, Virchow's Archiv. Gill. — •) Kleba, Die allge-
meine Pathologie. Jena 1889, II, 768; Deutsche med. Wochenschr. 1890, 32. — l0) D. Hanse-
mann, Asymmetrische Zelltheilung. Virchow's Archiv. CXIX, pag. 299. — n) J. Schütz,
Mikroskop. Carcinombefande. Frankfurt a. M. 1890- — ") Schweninger, Charite-Annalen.
XI. — ") Kaufmann, Ueber Encatarrhaphie von Epithel. Diss. Bonn 1884. — ") Cornil,
Sur le procidi dt division indirecte des noyaux des cellules epitheliales dans les tumeurs.
Aren, de physiol. 1886, pig. 310. — lb) 6. Hauser, Das Cylinderepithelcarcinom des Magens
und des Dickdarmes. Jena 1890. — 16) Zehnder, Ueber Krebsentwicklnng in Lymphdrüsen.
Virchow's Archiv. CXIX. — 17) Rappin, Gaz. med. de Nantes. Aug. 1886. — l8) Schenrlen,
Die Aetiologie des Carcinoms. Deutsche med. Wochenschr. 1887, 48. — 19) Schill, Ebenda.
1887, 48. — *°) Domingo Freire, Ebenda. 1888, 14. — ,!) E. Senger, Berliner klin.
Wochenschr. 1888, Nr. 10. — **) Baum garten, Centralbl. für Bacteriol. 1888, III. 13. —
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critici di Siena. VI f. VII. — 26) CA. Bailance und S. G. Shattock, A Note on an
experimentel investigation into the pathology of Cancer. Proc. of the Royal Soc. 1. Mai
1890, XLVIII. — *•) N ei ss er, Molluscum contagiosum. Vierteljahrsschr. für Dermatol. und
Syphilis. 1888, 553. — *') Darier, Soc. de biologie. 15. Avril 1889. — ,B) Wickham,
Arch. de med exper. et d'anat. path. 1890, II, 46. — **) Alba r ran, La semaine mid.
1S89, pag. 117. — 80) Malassez, Arch de med. exper. et d'anat. path. Mars 1890. —
81) Thoma, Fortschr. der Med. 1. Juni 188'*, Nr. 11. — M) Sjöbring, Ebenda. 1890-
Nr. 14. — Siegenbeck van Henkelom, Ueber intracellulare Gebilde beim Carcinom.
Leyden 1890. - ") W. Russell, The Lancet. 18. Dec. 1890, pag. 1259. — 36) L. Pfeiffer,
Coirespondenzbl. des allgem. ärztl. Vereins von Thüringen. 18^8, II. — M) Eberth, Fort-
schritte der Med. 1890, VIII, Nr. 17. — ö7) Schleich, Ueber die Aetiologie der Geschwülste.
Berlin 1889; lnfection und Geschwulstbildung. Deutsche med. Wochenschr. 1891, Nr. 3.
Birch-Hirschfeld.
Caries (der Zähne), s. Zahnkrankheiten.
Carotidengeräusch, s. Auscuitation, pag. 70.
Cataracta. Ueber Cataracta durch Blitzschlag, eine seltene Form,
von der bisher nur 9 sichere Fälle bekannt sind, hat Hess experimentelle Unter-
suchungen angestellt (VII. internationaler Ophthalniologen-Congress, 1888), indem
er mittelst einer grossen LKiDXER-Flasche Funken gegen den Kopf der auf Metall-
platten sitzenden Thiere abgab. Er fand, dass das Kapselepithel in grösseren
oder kleineren Partien ertödtet ward, durch die hierdurch bedingten veränderten
Ernährungsverhältnisse der Linsenfasern dürfte dann die Trübung derselben
entstanden sein. Kr weint, dass die Ansichten, dass es sich um catalytische
Wirkungen der Elektricität handle (Leber) oder um Gerinnung des Eiweisses der
Linsenfasern (Silex) oder um eine Iridocyclitis (Vossius), dadurch widerlegt seien.
Auf ein bisher nicht bekanntes ätiologisches Moment der Cataractbildung
hat Meyhöfer (Klin. Monatsbl. für Augenheilk. 1886) aufmerksam gemacht. Er
fand Staarbildung in überraschend hoher Zahl (fast 12%) bei Glasmachern,
besonders bei jugendlichen Individuen und glaubt, dass einerseits der hohe Hitze-
grad, dem diese Leute ausgesetzt sind, andererseits der riesige Wasserverlust
durch Transpiration die Ursache seien.
Betreffs des Einflusses der Albuminurie auf das Auftreten von Staar
kommt Ewetzky (Arch. d'Ophth. 1889, VII) zu dem Schlüsse, dass bei jungen
CATARACTA.
145
Leuten, die an Nephritis leiden, St&arbildung in der Regel nicht nnd bei alten
Leuten nicht öfter als sonst beobachtet wird.
Die Arbeiten Schön's über den Einfluss der Accommodation auf das
Zustandekommen von Glaucom und Alterscataracta sind sehr interessant, wurden
aber mit grosser Reserve aufgenommen. (Vergl. Leber, Stilling, Straub im
Berichte über den VII. internationalen Ophthalmologen-Congress.) Bekanntlich
nimmt Schön an (Archiv für Ophthalm. 1886—1887, XXXI, 4; XXXII, 2;
XXXIII, 1 und VII. Ophthalmologen-Congress), dass die Lamellen der Suprachorioidea
die Sehnen der Meridionalfasern des Ciliarmuskels sind und sich an die Sehnerven-
scheide ansetzen, also den ganzen Glaskörper umspannen, sowie dass die Zonula
anatomisch in einen vorderen und hinteren Strang zerfallt, welche beim Accommo-
dationsact verschiedene Functionen haben. Der Zug der Sehnenfasern an den
Opticusscheiden führt zu accommodativer Excavation, die Zerrung an den Zonula-
fasern zur Faltenbildung der Linsenkapsel und dadurch veranlassten radiären
Trübungen. Unter 95 Augen mit beginnender Linsentrübung fand Schön kein
einzigesmal Kernsclerose ohne Aequatorialcataract , dagegen 90mal letztere ohne
Eernscierose. Es handelt sich fast durchweg um Hypermetropen und Astigmatiker
und der Rest sind Presbyopen.
Der Vollständigkeit wegen mögen noch einige Thatsachen Erwähnung
finden, die sich auf künstlich erzeugte Cataracten beziehen. Wenn man
Kaninchen mit Naphthalin füttert, so tritt bei ihnen Cataracta auf, der aber
entzündliche Veränderungen in der Netzhaut vorausgehen (Bouchard und Charrin,
Panas, Dor, die letzte Arbeit stammt von Koltnski, Archiv für Ophthalm. 1889,
XXXV, 2).
Michel (Festschr. der Würzburger Universität, 1882) hat durch Auf-
legen von Eisstückchen auf den Bulbus, sowie durch Aether und höhere
Temperaturen Cataracta erzeugen können.
Endlich hat Stanislaus v. Stein in Moskau regelmässig Staar hervorge-
rufen, wenn er Meerschweinchen in einen Kasten setzte, auf dem er eine elektrisch
tönende Stimmgabel anbrachte (Centralbl. f. prakt. Augenheilk. Januar 1887
und Referat über russische Arbeiten in Nagel's Jahresber. 1887). Je jünger das
Thier und je grösser die Stimmgabelschwingungen, desto rascher trat die Staar-
trübung ein.
- Paul Meter hat (Archiv für Ophthalm. 1887, XXXIII) eine Zusammen-
stellung aller bisher bekannten Fälle von spontaner Aufsaugung von seniler
Cataracta bei unverletzter Kapsel gegeben und handelt nebenbei die Versuche einer
roedicamentösen Heilung des Staars ab. In demselben Jahre veröffentlichte auch
Kipp (ref. in Nagel's Jahresbericht) einen einschlägigen Fall. Einen eben solchen
beschreibt v. Reuss (Ophthalm. Mittheil, in Wiener Med. Presse. 1885); er ist
sowohl dem Referenten im erwähnten Jahresberichte, als P. Meter entgangen.
In keinem Falle war jedoch eine Aufhellung getrübter Linsensubstanz eingetreten,
sondern stets nur Resorption meist der verflüssigten Coiticalis bei Cat. Morgagni.
Ebenso handelt es sich bei den Aufhellungen der traumatischen stern-
förmigen Trübungen in der hinteren Corticalis nicht um eine Aufhellung getrübter
Linsenfasern , sondern, wie Fuchs (Wiener med. Wochenschr. 1888) meint, um
lnjectionen eines physiologischen Lymphspaltensystems der Linse, die natürlich
wieder verschwinden können. Den zuerst von Rydel (1867) veröffentlichten Fällen
fügt Fuchs 4 neue hinzu; auch Magnus (Deutsche kün. Wochenschr. 1888)
hat zwei hierhergehörige Beobachtungen publicirt.
Ueber die operative Behandlung der Cataracta liegen so zahl-
reiche neue Arbeiten vor , dass nur die hauptsächlichsten hier kurze Erwähnung
finden können.
Die Maturation unreifer Cataracten nach Förster hat zahlreiche
Anhänger gefunden. Paracentese der vorderen Kammer oder Iridectomie allein
genügen nicht , die Hauptsache bleibt die Massage , die jedoch genügend lange
Encyclop. Jahrbücher. I. \&
146
CATARACTA.
gemacht werden muss; Beschränkung der Trabung auf die vordere Corticaiis
rührt von zu kurz dauernder Massage her, wovon sich Schirmes experimentell
fiberzeugen konnte. Man kann die Iridectomie auch weglassen (Meyhöfer,
Schweigger, Deeren) und nach einfacher Paracentese massiren; Rothmtjnd
massirt direct bei der Extraction vor und nach der Iridectomie. Da v. Stellwag
die Reifung durch Discission der vorderen Kapsel nicht für unbedenklich hält, hat
er die hintere Kapsel eingeschnitten, die Methode aber bald wieder aufgegeben.
Schirmer hat übrigens an Kaninchen ausgedehnte Versuche über den Einfluss
der Massage auf die Linse angestellt und hat von einer Massagedauer von einer
halben Minute bei 52 Linsen 46mal deutliche Trübung und darunter lOmal
Totalcataracta erhalten (Archiv für Ophthalm. XXXIV, 1).
Eine künstliche Maturation ist jedoch, wenn wir Schweigger's Ansichten
(Deutsche med. Wochenschr. 1890, Nr. 28) adoptiren, unnöthig bei Leuten, die
das 60. Lebensjahr erreicht haben. „In dem Lebensalter, in welchem eine
Accommodation noch vorhanden ist, besteht die Linse, mindestens die noch immer
durchsichtige Corticalis, aus einer zähen, klebrigen Masse, welche der Kapsel fest
anhaftet. Bei der Extraction tritt der Linsenkern aus, aber die durchsichtige
Rindenschicht bleibt an der Kapsel haften ; die Pupille erscheint zunächst schwarz
und rein , bald aber werden die zurückgebliebenen Linsenreste vom Kammer-
wasser durchtränkt, sie trüben sich und quellen auf." Bei jüngeren Individuen
werden diese Linsenmassen, ohne Schaden zu stiften, aufgesaugt, bei älteren haben
sie schwere Entzündungen zur Folge, nicht nur in der Iris und Chorioidea,
sondern auch in der Hornhaut. Jedoch „in dem Lebensalter, in welchem durch
die physiologischen Altersvorgänge in der Linse die Accommodation vernichtet
ist , also gegen das Ende der Fünfziger und ganz sicher nach dem sechzigsten
Jahre können wir jede Cataract extrahiren, sobald die Sehstörung die Operation
wünschenswerth macht, auch wenn der grösste Theil der Linse noch ungetrübt
ist". Dass man gewisse Formen von Staaren auch ohne vollständige Trübung
extrahiren kann, z. B. die als Cat. nigra bezeichneten, war schon lange bekannt
und wurde in einer früheren Arbeit Schweigger's (Archiv für Augenheilk. 1888,
XVII) neuerdings betont.
Was die Staaroperationen, in specie die Extractionen betrifft, wurden sie
durch zwei Neuerungen in den letzten Jahren wesentlich beeinflusst. Die eine ist
die Einführung der Cocainanästhesie. Sie ist eine so allgemeine, ihre Vörtheile
sind so gewaltige, dass die geringen Nachtheile, die man mit in den Kauf nimmt,
kaum in die Wagsehale fallen können. Zwar macht v. Stellwag (Neue Abhand-
lungen aus dem Gebiete der Augenheilk.) darauf aufmerksam, dass bei dem gänz-
lichen Fehlen des Glaskörperdruckes nur äussere Triebkräfte zu Gebote stehen
und dass bei der Entbindung des Staares und bei der Entfernung von Linsen -
resten sich rebelstände ergaben, zwar muss man öfters den halb entwickelten
Staar im buchstäblichen Sinne durch Anhaken extrahiren, doch sind diese Nach-
theile unerheblich gegenüber den Vortheilen, die aus der Schmerzlosigkeit der
Operation resultiren. Von anderweitigen üblen Zufällen, z. B. Cornealtrübungen,
lang zurückbleibender Hypotonie etc., ist in den letzten Jahren nichts weiter
bekannt geworden.
Die zweite wichtige Neuerung ist die Einführung der Asepsis. Sie
wird allenthalben geübt, freilich in sehr verschiedener Weise.
Während Manche sich auf die einfache Anwendung reinen Wassers be-
schränken, aber dieses in ausgiebigem Masse verwenden, gebraucht die Majorität die
verschiedensten A s e p t i c a und Antiseptica, soweit deren Anwendung vermöge
ihrer Natur oder des erlaubten Concentrationsgrades gestattet ist. Am häufigsten
werden Borsäure oder Sublimat, in der letzten Zeit die ROTTER'sehe Lösung (siehe
den Art. Augenheilmittel; in Anwendung gezogen. Die Sterilisirung der
Instrumente geschieht durch siedendes Wasser, durch trockene Hitze in einem
Sterilisationsofen , durch absoluten Alkohol oder durch eines der gebräuchlichen
CATARACTA.
147
Äntiseptica. Der Conjunctivalsack und die Umgebung des Auges werden mit einem
der genannten Mittel gewaschen, und zwar meist unmittelbar vor der Operation
oder bereits am Vorabend und es wird nachher das Auge über Nacht aseptisch
verbunden; nach der Operation wird mit denselben Mitteln das Operationsfeld
gereinigt oder auch Jodoform eingestaubt, es werden die verschiedensten anti-
septischen, trockenen oder nassen Verbände angelegt, kurz Alles, was der Chirurg
mit Erfolg in Anwendung zieht, wird auch vom Augenoperateur verwendet, soweit
es eben am Auge möglich ist.
Die wichtigste Consequenz der Anwendung des CocaYns und der Antisepsis
ist die Zurück kehr zur Extraction ohne Iridectomie, die von mehreren Seiten,
und zwar von illustren Ophthalmologen, vertheidigt wird. Dass die Extraction ohne
Iridectomie mit Bildung eines flachen Lappens, wie er jetzt allgemein üblich ist,
möglich sei, steht ausser Frage. Dagegen wird nur die Möglichkeit einer Iris-
einklemmung mit ihren Folgen geltend gemacht und diese Möglichkeit ist es eben,
welche die Majorität der Augenärzte abhält, die Iridectomie aufzugeben und die
modificirte GRÄFE'sche Extraction — id est die Bildung eines nicht zu hohen
Lappens an der Corneoscleralgrenze nach oben und nachfolgende Iridectomie —
zu verlassen.
Vielfach ventilirt wurden die Ausspülungen der Vorderkammer
nach Entbindung der Linse zur Entfernung von Staarresten, besonders bei der Ope-
ration unreifer Cataracten. Wenn man von älteren Zeiten absieht, wurde die Aus-
spülung zuerst von Inoüye in Japan ausgeführt. Nachher hat Reuss (Ophthalm.
Mittheil. 1885) Thierversuche mit Borsäure und physiologischer Kochsalzlösung
vorgenommen, dieselben aber wieder aufgegebeu, da er stets, allerdings vorüber-
gehende Iritis erhielt, die er auf nicht genügende Asepsis bezieht. Wjcherkirwicz
(Klin. Monatsbl. für Augenheilk. 1885 ; Internat, ophthalm. Congress in Heidelberg.
1888) hat die Ausspülungen mit Erfolg am Menschen ausgeführt, und zwar mittelst
eines undinenartigen Instrumentes und mit Borsäure, später mit schwachen Koch-
salzlösungen. Mac Keown (Ann. d'oeulist. 1888) benützt eine Spritze und sterili-
sirtes Wasser; Panas eine Lösung von Hydrarg. bijodat. 1 : 20000 und 4°, „ige
Borsäurelösung, beobachtete aber wiederholt plastische Iritis als Folge. Die Methode
hat ihre Anhänger, allgemeine Aufnahme jedoch nicht gefunden.
Die Eröffnung der Linsenkapsel wird von einem Theile der
Augenärzte gern mittelst einer Kapselpincette ausgeführt und wurden verschiedene
Modificationen dieses Instrumentes angegeben , neuestens von Wicherkikwicz
(Klin. Monatsbl für Augenheilk. 1889).
Die Extraction in geschlossener Kapsel, welche hauptsächlich
von Pagenstbcher vertheidigt und geübt wird und deren Indicationen er (Archiv
für Ophthalm. 1888, XXXIV, 2 und VII. internat. Ophthalmologen-Congress, 1888)
recapitulirt , wurde von Jacobson (Centralbl. für prakt. Augenheilk. 1889) in
folgender neuen Weise ausgeführt :
Schwache Atropinmydriasis, Cocain. Eine halbe Stunde vor der Operation
wird ein Co njunetival läppen rechteckig nach unten umschnitten und so unter-
minirt, dass möglichst viel subconjunctivales Gewebe an der hintereu Fläche der
Conjunctiva bleibt. Einstich mit einer Iridectomielanze in der Halbirungslinie des
äusseren unteren Quadranten , etwa 4 Mm. vom Scleralrande , ein kleines, dem
Schielhaken ähnliches, geknöpftes Instrument wird durch die Pupille hinter die
Iris geführt, der Haken nach hinten gedreht, der Linsenraud umfasst und leicht
gegen den Operateur angezogen; dann wird die Zonula zuerst nach der einen,
dann durch neuerliches Einführen des Häkchens nach der anderen Seite hin gelöst.
Hierauf wird Eserin eingeträufelt und mit Chloroform narcotisirt.
Dann wird ein Sclerallappen in der Weise gebildet, dass zuerst am
nasalen, dann am temporalen Ende desselben ein GRÄFE'sches Linearmesser ein-
gestochen und kurze Schnitte gebildet werden, durch welche nachher eine stumpfe,
rechteckige Klinge von 8;4 Mm. Höhe mit der Schneide nach abwärts von der
148
CATARACTA. — CATHETERISMUS DER LÜFTWEGE.
temporalen Wunde aus hinter der Ins in die nasale Wunde geführt, die Schneide
um 70° gedreht und langsam von hinten nach vorn geschnitten wird- Dann
wird die Linse , die jetzt beweglich in ihrem Teller Hegt , mit dem Häkchen
herausgezogen* Sutur des Lappens, Jodoform, Verband. Weitere in Aussicht
gestellte Mittheilungen wurden durch den Tod Jacobson'« vereitelt.
Die von Gayet auf dem letzten internationalen Ophthalmologen -Congreeae
erwähnte Möglichkeit einer Sutur derOperationswunde wurde von Czrrmak
W iener klin. Wocbenscbr. 1888) durch Versuche am Menschen bewiesen. Er
legte bei 9 Fällen je 2 Suturen mit schwarzer Conjunctivalseide an; in 7 Fallen
trat kein Iriaprolaps (Extraction ohne Iridectomie) ein. Auch Mendoza (Ree.
dopbth. 1889) hat in 15 Fällen in etwas modificirter Weise die Cornealnaht
angelegt; Martin (Ibid.) bekämpft sie jedoch als überflüssig und gefährlich (conf.
V alude, Soc. d'Ophth. de Paris. 1889).
Zu erwähnen wäre endlich , dass namentlich von Seiten amerikanischer
Aerzte die Nachbehandlung in denkbarster Weise vereinfacht wird. Einfaches
Verkleben der Lider mit englischem Pflaster (wie es früher ja auch gethan wurde),
Aufgeben der Bettruhe, keine Rücksichtnahme auf die Art der Nahrung u. s. w*
Es scheint ja in vielen Fällen die sorgsame Nachbehandlung überflüssig, bis
c odi ich ein durch Ausserachtlassung derselben verschuldeter Verlust die Rückkehr
zum strengen Regime erzwingt.
Als Nachataaroperation empfiehlt Scewejgger die Diaciasion
mittelst zwei von ihm angegebenen breiten, lanzettförmigen Nadeln.
Dass die bedeutend besseren Resultate der Extractionen (im Mittel 1 bis
2W,„ Verluste) der Asepsis zu verdanken sind, ist selbstverständlich, ebenso aber,
dass dabei die Vervollkommnung der Technik nicht zu vernachlässigen ist. Von
den vielen, diese mehr allgemeinen Fragen behandelnden Arbeiten empfehlen sich
zur Leetüre besonders die Arbeiten von Scbweigger (Archiv für Angenbeilk.
XXVII; Archiv für Opbtbalm. XXXIV), Jacobson (Arohiv für Opbthalm. XXXIV),
Gbäfe (Ibid.)* Steffan (Ibid. XXXV), v. Stell wag (Neue Abhandlungen aus
dem Gebiete der prakt. Augenbeilk. Wien 1886), der Bericht des VIL interuat.
Ophthalmologen-Congresses in Heidelberg, 1888 u. A, m. v. Rens*.
Catheterismus der Luftwege (vergi. Reai-Encyciopädie , 2. Auh\,
Bd. IV, pag. 67). Der bisher nur selten in Anwendung gezogene Catheterismus
der Luftwege bat durch die Bestrebungen O'Dwyer's in New-York einen erheb-
lichen Fortschritt zu verzeichnen. O'Dwyeb hat die von ihm sogenannte Intubation
zun ilchst als Ersatz für die Tracheotomie vorgeschlagen und namentlich folgten
seinem Beispiele amerikanische Aerzte. Die Methode besteht darin, dass statt der
Tracheotomie, welche bei der Diphtherie unter Umständen nöthig ist, vom Munde
aus Röhren in den Larynx eingeführt werden und daselbst einige Tage ver-
bleiben. O'Dwvek benutzt 5 Röhren von verschiedener Länge und verschiedenem
Durchmesser und elliptischem Querschnitt, an deren oberem Ende steh eine Aus-
buchtung befindet, wodurch ein Hineingleiten der Röhre in die Trachea verhütet
werden soll. Die Einführung der Röhren und ihre Entfernung geschieht mittelst
besonderer Instrumente. Das obere Ende der Rohren ruht auf den Taschenb&ndern,
das untere Ende ragt in die Trachea hinein. Es sind Modificationen mancher
Art an den Röhren vorgenommen worden , so von Waxham , welcher statt der
silbernen Röhren solche von Kautschuk anwendet, ferner von Hoadley, Fasheb u A.
Die therapeutischen Erfahrungen, welche über diese Methode, namentlich von
amerikanischer Seite, vorliegen, sind im Allgemeinen günstiger als die in Deutsch-
land gesammelten ; ein sicheres Urtheil lässt sich iudess bisher nicht fällen, zumal
die diphtherischen Erkrankungen als solche bei dem verschiedenen Genius eptde-
mtcus einen verschiedenen Charakter darbieten und der Procentsatz der Heilungen
auch nach der Tracheotomie ja bekanntlich ausserordentlich schwankt. Es werden
deshalb noch erheblich viel mehr Versuche angestellt werden müssen, will man
CATHETERISMUS DER LUFTWEGE. — CHLOROSIS.
149
Uber diese Methode ein sicheres ürtheil gewinnen. In Deutschland haben nament-
lich in letzter Zeit Ranke nnd Widerhofer Versuche mit dieser Intubation
angestellt und fassen ihr Urtheil dahin zusammen, dass die Intubation ihre Zukunft
verdient nnd sie auch finden wird, aber mit Auswahl. Namentlich sind die etwaigen
Folgezustände nach der Intubation zu beachten, so Decubitus, beziehungsweise
Druckneurose , lobuläre Pneumonie und die schwierige ungenügende Ernährung.
Die Tube darf höchstens 10 Tage, bei Kindern unter zwei Jahren nur 6 Tage
liegen bleiben.
Literatur: Dr Joseph O'Dwyer, Intubation in chronic Stenosis ofthe Larynx
unth a report of 5 cases. The New- York med. Jouro. March 1888 und New laryngeal tubes
for Intubation. New- York med. Record. 21. Dec. 1839. pag. 686. — Moont Bley er, New- York
med. Journ. 1889. — Hanter Mackenzie, Brit. med. Journ. 1890. — Prot Koch,
Nederl. Tijdschr. voor Geneesk. 1890; vergl. auch Deutsche Medicinal - Zeitung. 1890, Nr. 73
und 74. — H Ranke, Intubation des Kehlkopfes bei erschwertem Decanulement nach
Tracheotomie. Padiatr. Arbeiten. Festschrift zu Herrn Henoch's 70. Geburtstage. Berlin,
Hirschwald, 1890. — Prof. Widerhofer in Wien, Ibid. — O'Dwyer, Intubation und die
Tracheotomie bei der diphtheritischen Larynxstenose. ß. Babinsky.
Cement, 8. Zahnsubstanzen. — CementfU Illingen, s. Zahn-
operationen.
ChalaziOII. Bei Eröffnung derselben geht Ray (Araer. Journ. of Ophth.
1888) naeh einer von ÄGNfcw angegebenen Methode folgendermassen vor. Das
Lid wird zwischen zwei Fingern comprimirt, so dass sich die erkrankte Drüse
durch Austreten von Inhalt aus der Mündung markirt. Es wird an dieser Stelle
eine PfiAVAz'sche Spritze eingestochen und eine kleine Menge einer 4° Oigeo
Coealnlösung injicirt, hierauf mit einem Gräfe' sehen Linearmesser tief vom Rande
aus incidirt und die Geschwulst ausgelöffelt. Rat will auf diese Weise die Bildung
einer stärkeren Narbe auf der Conjunctivalseite des Oberlides verhüten, welche
möglicherweise die Hornhaut reizen könnte, eine Befürchtung, welche durch die
bisherigen Erfahrungen nicht ganz gerechtfertigt erscheint. v Reng8
ChinOtOXill. Das als Chinotoxin bezeichnete Dimethylsulfat des Dichin-
olylin (Cl8H12Na) wirkt nach Art des Curare und tödtet zu 15 Mgrm. pro Kilo
Kaninchen. Künstliche Athmung wirkt lebensrettend.
Literatur: H. Hoppe -Seyler, Arch. f. exp. Path. 1888. XXIV, pag. 241.
Husem ann.
ChlOralformamid (vergl. Real-Encyclopädie, Bd. XXI, pag. 606). Ais
„Chloratum formamidatum" in der Pharm. Germ. III neu aufgenommen Maxi-
male Einzeldosis 4*0, pro die 8*0.
ClllOrOSiS, Bleichsucht (vergl. Real-Encyclopädie, II. Aufl., 1885,
Bd. IV, pag. 210). Die Kenntnisse und Anschauungen über das Wesen der
Chlorose sind durch die Fortschritte der letzten Jahre in den Hauptpunkten
wenig verändert worden. Nach wie vor sehen wir in der Krankheit die häufigste
und wichtigste Form der primären Anämie, welche unter Umständen von ange-
borenen Bildungsfehlern (Engigkeit des Gefässsystems, Virchow) auszugehen scheint,
bei der wir aber bisher keine anatomisch nachweisbare Erkrankung der blut-
bildenden Organe kennen gelernt haben, und deren meist anscheinend vorhandener
Zusammenhang mit der Pubertätsentwicklung, resp. mit gewissen Störungen der
Sexualorgane auch noch nicht bestimmt erklärt werden kann.
Nach wie vor ist anch als hauptsächliches Charakteristicum für die
chlorotische Blut Veränderung die Abnahme des Hä in oglobingehaltes
anzusehen. Diese schon durch frühere Untersuchungen zuverlässig festgestellte
Thatsache ist durch verschiedene Mittheilungen der letzten Jahre neu bestätigt
worden. So fand z B. Barbacci l) als Durchschnitt aus 28 Fällen von Chlorose
eine Verminderung des Hämoglobingehaltes auf 44°/0 der Norm. Daneben con-
statirte aber eine Reihe der neuesten Beobachter bei der Chlorose eine beträcht-
150
CHLOROSIS.
liehe Abnahme der Zahl der rothen Blutkörperchen, was früher auch schon vielfach
angegeben, von einigen Autoren, namentlich Hayem, jedoch geleugnet worden ist.
Besonders wurde neuerdings während des Eisengebrauches häufig eine schnelle
Zunahme der Blutkörperchenzahl constatirt. Immerhin scheint aber die Hämoglobin
abnähme der Blutkörperchen Verminderung gegenüber die constantere und wichtigere
Blutveränderung zu sein. Eine kürzlich von Dowd 2) über diesen Punkt gemachte
Mittheilung stellt nach der Untersuchung des Blutes von 31 Chlorotischen den
Sachverhalt folgendermassen hin : Zu Anfang der Behandlung findet man gewöhn-
lich (aber nicht immer) Verminderung der rothen Blutkörperchen; die Intensität
der Symptome geht aber der Blutkörperzahl nicht parallel. Die Abnahme des
Hämoglobin ist stets beträchtlicher als diejenige der Blutkörperzahl, und die Con-
statirung ersterer genügt zur klinischen Beurtheilung.
Hiermit stehen einige neuerdings über die Anämie gegebenen allge-
meineren Auseinandersetzungen im Einklang. So unterscheidet See8) unter den
„wahren Anämien" drei Typen: 1. Totale Anämie, 2. „Hypo Hämoglobinämie",
der Chlorose entsprechend, und 3. Hypoglobulie. Und Forchheimer 4) stellt bei
der Besprechung der Beziehungen zwischen einfacher Anämie und Chlorose letztere
als „Oligochromämie" der Oligocytbämie gegenüber, wobei er allerdings betont,
dass beide Zustände sich verbinden, auch in einander übergehen können.
Nach einer neuen Mittheilung6) fand sich im chlorotischen Blut auch
eine Zunahme der Alkalescenz, worauf hin die Wirkung des Eisens auf
eine Alkalientziehung zurückgeführt werden soll.
Eine enge Verwandtschaft zwischen Chlorose und pernieiöser Anämie
glaubt Henry b) annehmen zu müssen , indem er als unterscheidendes Moment
nur den bei beiden Zuständen verschiedenen Hämoglobingehalt des Blutes ansieht.
Er schliesst dieses Verhältniss besonders aus den seltenen Fällen, in denen ein
Uebergang der einen Erkrankungsform in die andere angegeben wird, und fährt
namentlich eine Beobachtung an, in welcher bei Besserung einer pernteiösen
Anämie unter Zunahme der Blutkörperchenzahl Verminderung des Hämoglobin-
gehaltes (d. h. Chlorose) eingetreten sein soll. Doch steht die Annahme eines so
nahen Verhältnisses beider anämischen Formen mit den allgemeinen Erfahrungen
über dieselben nicht im Einklang (vergl. auch Perniciöse Anämie).
Den Versuch einer Eintheiiung der Chlorose in klinische Gruppen
macht Cc^grave 7), indem er unter den beim weiblichen Geschlecht während der
Pubertätszeit eintretenden Chloroanämien 3 Formen trennt, je nachdem dieselben
1. mit Ansammlung von Fettgewebe, 2. mit übermässigem Wachsthum oder 3. mit
allgemeinem Ernährungsmangel zusammenhängen; für die zweite Form hebt er
ihre Heredität hervor.
Für einen Theil der Fälle glaubt Mauhel8) nach 16 einschlägigen Beob-
achtungen die Entstehung chlorotischer Zustände bei jugendlichen Individuen auf
abnorm geringen Querschnitt des Thorax und dürftigen Lungenbau
zurückführen zu können, welche zu Sauerstoffmangel bei der Respiration und zu
„Hypobämatose" führen müssen: Zustände, die nach seiner Erfahrung durch
methodische Lungengymnastik schnell zu bessern sind.
Unter den klinischen Symptomen der Chlorose wurde in neuester
Zeit von verschiedenen, namentlich französischen Beobachtern das Verhalten
der Temperatur genau verfolgt und dabei die Häufigkeit eines „chloro-
tischen Fiebers" festgestellt. s) Zuerst fand Molliere nach Beobachtungen
an 30 Fällen reiner Chlorose, dass eine Temperaturerhöhung bei dieser Krankheit
Regel ist ; po lange die Erkrankung in der Entwicklung war, lag die Temperatur-
curve ausnahmslos über der Norm (meist zwischen 37*8 und 38*8) und ging mit
der Besserung um ungefähr 1° hinunter; daneben traten oft intercurrente Ex-
acerbationen (über 39, selten auch über 40°) ein. Leclerc, der die Häufigkeit
der Temperatursteigerung bei ausgesprochener Chlorose bestätigte, sah am meisten
Febris continua mit leichten Oscillationen , in der Hälfte der Fälle ab und zu
CHLOKOSIS.
löl
Typus inversus) die Steigerung erreichte in seinen Beobachtungen selten 39°,
höhere Erhebungen leitet er von intercurrenten Störungen ab; die Dauer des
fieberhaften Stadiums wechselte in seinen Fällen von einigen Tagen bis zu
41/3 Monaten. Zur Erklärung der Temperatursteigerungen ziehen die Beobachter
rein nervöse Störungen, am wahrscheinlichsten Reizung der thermischen Centren
durch das veränderte Blut heran.
Die bei Chlorose so häufigen anämischen Herzgeräusche werden
auch in letzter Zeit von verschiedenen Seiten besonders in Bezug auf die Art
ihrer Entstehung neu besprochen und dabei zum Theil in alter Weise durch
Schwingungsanomalien der membranösen Theile der Klappen und Gefasswände
(am Mitral- und Pulmonalostium) erklärt10), zum Theil nach neuer Hypothese
auf schlechte Füllung der grossen , in das Herz mündenden Venen (analog dem
Nonnengeräusch) zurückgeführt. ll) Ein italienischer Beobachter will bei Anämie
neben dem systolischen Pulmonalgeräusch oft eine Dilatation des Stammes der
Art. pulmonal, mit sichtbarer Pulsation der Brustwand nachgewiesen haben. ia)
Das Nonnengeräusch der Jugularvenen muss nach wie vor als eine bei Chlorose
(und anderen Formen der Anämie) besonders häufige Erscheinung angesehen
werden, wenn auch eine neuere Mittheilung u) den diagnostischen Werth desselben
anzweifelt. Zu erwähnen ist eine andere Mittheilung, nach welcher unter 6 Fällen
schwerer Chlorose 4mal ein Doppelton an der Art. cruralis gehört wurde. 14)
Das bei der Krankheit nach Körperanstrengungen eintretende Herzklopfen
wird von einem neuen Beobachter aus der Steigerung des Blutdruckes und der
Herzthätigkeit, welche die Folge der Verarmung des Blutes an Sauerstoff ist,
erklärt. lß)
Interessant ist der kürzlich mitgetheilte Nachweis einer gesteigerten
Hämatin- und Eisenausscheidung durch den Koth. welcher v. Hösslin 1 h) unter
67 Fällen von Chlorose 2 5 mal gelang, und den derselbe ursächlich auf versteckte
capilläre Blutungen der Magen- und Darmschleimhaut zurückführen möchte. Viel-
leicht steht in gewissem Zusammenhang hiermit das (schon früher von Leube u. A.
betonte) Symptom einer Hyperästhesie der Magenschleimhaut, welche kürzlich
Rosenheim 17 ) bei einer Reihe von Chlorotischen sehr ausgesprochen fand (durch
Magendrücken, Schmerzhaftigkeit des Magens, Erbrechen etc. sich kennzeichnend) ;
auch hier wird auf die Möglichkeit der Abhängigkeit des Symptoms von Substanz-
verlusten der Magenschleimhaut hingewiesen , eine Annahme , die durch den
günstigen Einfluss des Gebrauches von Argent. nitric. auf die Störung gestützt wird.
Verhältnissmässig häufig wird in den letzten Jahren das sonst als selten
geltende Auftreten umfangreicher Ven enthro m bösen im Gefolge von Chlorose
mitgetheilt. Der seltenste dieser Fälle betrifft den plötzlich eingetretenen asphyc-
tischen Tod einer Chlorotica, bei der eine spontane Thrombose der Art, pulmonal.
gefunden wurde. 18) Mehrfach wird das Auftreten von (zum Theil doppelseitiger)
Phlegmasia alb. dolens bei Chlorotischen mitgetheilt. 19) In einem (übrigens
geheilten) Fall verbreiteten sich die Thrombosirungen so über fast sämmtliche
grossen Körpervenen, dass nur die rechte Ven. subclavia und jugul. frei blieben. ao)
Endlich sei noch ein von Lepine21) mitgetheilter seltener Fall erwähnt,
in welchem eine schwere Chlorose sich mit atrophischer Lähmung der Exten soren
aller vier Extremitäten complicirte, wobei übrigens die Besserung nach einer
venösen Kochsalzinfusion eintrat.
Die Therapie der Chlorose wird nach wie vor vom Eisen mit seinen
vielen Präparaten beherrscht. Auch in den Mittheilungen der letzten Jahre findet
man in grösserer Zahl theils neu dargestellte Eisenmittel empfohlen, theils an aus
älterer Zeit bekannte erinnert und diese Empfehlungen zum Theil durch den
Nachweis einer Zunahme der Blutkörperzahl und des Hämoglobin geh altes im Blut
während des Gebrauches unterstützt. Am meisten beliebt sind neuerdings die
Eisenalbuminate und - Pepton ate verschiedener Form; daneben findet man auch
wieder das Jodeisen , die subcutane Anwendung gewisser Eisensalze (namentlich
152
CHLOROSIS.
des Ferr* citric*) a manche Eisenwässer (besonders die Arsen enthaltenden ) u. e, w.
gepriesen. Im Gegensatz zu den älteren AnBehauungen werden jetzt von vielen
Seiten die grossen Eisendosen betont3-); zum Theil wird angegeben, dass
nach kleinen Gaben nnr eine Vermehrung der Zahl der Blutkörperchen und erst
nach grösseren eine Zunahme ihres Hämoglobingehaltes stattfinden soll.
Neben dem Eisen und namentlich für die nicht seltenen schweren Falle,
in denen jenes fehlschlagt, ist neuerdings wieder die SoluL Fowler%3 nnd
zwar in grossen Dosen (eventuell bis zu 30 Tropfen) empfohlen. ls) In ähnlichen
Fallen wurde auch der Schwefel ( messerspitzweise 3mal täglich mit Milchzucker)
mit theil weise günstigem Erfolge versucht, a*)
Der Werth einer directen Einführung von Hämoglobin in den Körper
ist noch zweifelhaft. Ob die neuerdings von v. Ziemssex für verschiedene Formen
von Anämie empfohlenen subcutanen Blutinjectionen den Verlauf der Chlorose
abändern könuen, bedarf noch weiterer Prüfung. Das altberühmte Bluttrinken ist
in Form des täglichen Genusses von 60 — 200 Grm, Hühnerblut neuerdings wieder
angeregt worden. 3f') Kürzlich wurde auch die Behandlung der Chlorose mit
Klyatieren von defibrinirtem Blute gerühmt. *•)
Den letzten Empfehlungen entgegengesetzt und allen neuereu Anschauungen
über die bei Chlorose und Anämie anzunehmenden Vorgänge widersprechend ist
die kürzlich wieder aufgetauchte Anwendung des anscheinend längst vergessenen
Aderlasses zur Behandlung der hier in Rede stehenden Zustände.
Nachdem eine solche Methode seit einigen Jahren in zum Theil unwissen-
schaftlicher und daher von den Aerzten ignorirter Form von Dyks in Hannover
empfohleu war, ist sie kürzlich von zwei Beobachtern in zuverlässiger Weise bei
schweren Fällen von Chlorose und verwandten Formen von Anämie (zum Theil solchen
Fällen, die vorher mit anderen Mitteln vergebens behandelt waren) nachgeprüft
worden , und zwar mit anscheinend sehr günstigem Erfolge. Wilhelmi *7) hat
(ohne nach theoretischer Erklärung zu suchen) gegen 30 solcher Fälle mit kleineu
Aderlässen (von 80 — 100 Ccm«) behandelt und in der Mehrzahl der Fälle einen
sofortigen Nachlass der hauptsächlichsten Beschwerden dem Aderlass folgen sehen *
namentlich ein Heben des Pulses , Verschwinden des Frierens und der kalten
Füsse, der Schlaflosigkeit, der Appetitlosigkeit, des Kopfschmerzes und Schwindel
gefühls, sowie Zunahme des Körpergewichtes; öfters konnte auch Zunahme de*
Hämoglobingehaltes im Blut nachgewiesen werden. In vielen Fällen genügte eine
Venäsection zur Einleitung dauernder Besserung, in anderen mnsste (nach 4 bis
8 Wochen) eine Wiederholung derselben stattfinden. — Zu denselben Resultaten
kam Scholz -*) durch die Anwendung kleiner Aderlässe bei ebenfalls ungefähr
30 Fällen von Chlorose; er bebt als Folge der einzelnen Venäsection besonders
das schnelle Verschwinden von Herzklopfen und Athemnoth, eine spbvgmographisch
nachweisbare Abnahme des Aortendruckes, Zunahme des Körpergewichtes nnd Ver-
mehrung der Blutkorperzahl (eventuell auch des Hämoglobins) hervor Zur Er-
klärung zieht er die von ihm festgehaltene alte Anschauung heran , wonach b?
der Chlorose T vielleicht zum Theil mit der angeborenen Engigkeit der GeftUse
zusammenhängend, eine „Plethora'* ■ „ad va.muJ besteht und demnach eine
depletorische Behandlungsmethode günstig einwirken muss. Dies findet er bestätigt
durch die gleichen günstigen Erfolge , die er seit langer Zeit bei Chlorose von
der Anwendung von Schwitz bäde rn erhielt, nach denen er ebenfalls Abnahme
des Aortendruckes und schnelle Zunahme des Körpergewichtes nachwies« Indem
er jetzt den Aderlass mit solchen Schwitzbädern verbindet, macht er die Wieder
holung des ersteren nunöthig. Er weist noch besonders darauf hin, dass diese
Behandlungsmethode nichts ist, als die Wiederholung der alten Lehren * die sieh
in der für die Entwicklung der Kenntnisse von der Chlorose so berühmten Disser-
tation von EüMRICH; ^De genuina chlorosis indole etc**f 1731, finden, welche
im Anschluss an die Anschauungen von Böhrhaave und Hoffmaxn das Bestehen
einer Plethora und Noth wendigkeit einer depletoriscben Behandlung bei der
CHLOROSIS. — CHOLAGOGA.
153
Chlorose in derselben Weise hinstellt. — Ob nun die neue Empfehlung vor dem
Forum weiterer zuverlässiger Nachprüfungen zu Recht bestehen wird, muss noch
abgewartet werden.
Neuere Literatur: ') Barbacci, Oentralbl. f. die med. Wisseusch. 1887, Nr. 35
m d 8periment. Agost u. Settemb. 1887. — *) Dowd, Amer. Journ. of med. Scienc June 1890. —
•) G. See, Union med. 1888, Nr. 24— 97. — 4) Forchheimer, Amer. med. News. 19. Oct.
1889. — *) Graber, Therap. Monatsh. Oct 1887. — •) Henry, Amer. med. News. 3. July
1886 und 5. Oct. 1689. — *) Gosgrave, Brit. med. Journ. 31. March 1888. — *) Maurel,
Arch. gener. Juin 1889. — 9) Molliere, Lyon med. 188*. Nr. 50 und 1884, Nr. 21. —
Leclerc, De Vexistence frequente dt la fihvre chez les chlorotiques. Karis 1885. — Weil,
Disaert Würxburg 1889. — 10) Landerer, Dissert. Ebenda 1838. — ") Sehrwald,
Deutsche med. Wochenschr. 1889, Nr. 19—21. — 1Ä) Patella, Annal. univers. April 1888. —
Apeta, Virehow's Archiv. 1887, CVII, pag. 419. — u) Jacoby, Dissert Berlin 1887. —
") Stössel, Wiener med. Zeitechr. 1886, Nr. 36. — te) v. Hö sslin , Mftnchn. med. Wochen-
schrift. 1890, Nr. 14. — iT) Bosen he • m , Berliner klin. Wochenschr. 1890, Nr. 33. —
1S) Rendu, Gaa, hebd. 1887, Nr. 16 lÄ) Perret, Lyon med. 1888, Nr. 26. — Laurencin,
Ibid. Nr. 41. — ,0) Huels, Berliner klin. Wochenschr. 1889, Nr. 41. — ,!) L6pine, Lyon
med. 1886, Nr. 30. — ") Willcocks, Brit. med. Journ. 13. Nov. 1886. — Duckworth,
Ibid. 12. March 1887. — ■■) De Renzi, Morgagni. Febbr. 1^89. — **) Schulz und Stru-
bin g, Deutsche med. Wochenschr. 1887, Nr. 2. — "•) Brancaccio, Prager med. Wochen-
schrift 1886, Nr. 22. — ,e) Antiq, TraitenCent de la Chlorose par les lavements de sang
difibrinL Paris 1889. — ,T) W i 1 h e 1 m i , Bleichsucht und Aderlass. Güstrow 1890- — ") S c h o 1 z,
Die Behandluog der Bleichsucht mit Schwitzbädern und Aderlässen. Leipzig 1890.
Riess.
Cholagoga. Sowohl die Beantwortung der Frage, ob es Mittel giebt,
welche die Gallensecretion befördern, als die Lehre von der Wirkungsweise jener
Stoffe, denen bisher ein Einfluss auf die Steigerung der Gallensecretion zuerkannt
wurde, haben durch neuere Arbeiten wesentliche Förderung erfahren. Indem wir
bezuglich der älteren Untersuchungen in dieser Frage auf die Darstellung von
W. Nissen *) verweisen, müssen wir vor Allem betonen, dass die einzelnen Forscher
bis vor Kurzem wegen der verschiedenen Versuchsanordnungen, die sie benützten,
in Bezug auf die Wirkung beinahe sfimmtlicher hier in Betracht kommenden
Mittel zu sich widersprechenden Resultaten gelangten. Erst als durch Vossius,
Stadelmann, Gorodecki u. A. sichergestellt war, dass die Ausscheidung von
Galle während eines grösseren Zeitraumes, z.B. 12 Stunden, sowohl in Bezug
auf Menge der Galle, als auf deren Zusammensetzung eine ziemlich constante ist,
war ein sicherer Standpunkt für die Prüfung des Einflusses bestimmter Mittel auf
die Gallensecretion gewonnen. Auf dieser Grundlage sind nun unter Stadel-
mann'8 Leitung die Versuche von Nissen über den Einfluss von Alkalien auf
die Secretion und Zusammensetzung der Galle ausgeführt. Bei ganz gesunden
Hunden mit Monate vorher angelegter permanenter Gallenfistel war Wasser, selbst
in Mengen von 2 — 5 Liter, ohne Einwirkung auf die Menge der Galle, sowie
auf ihren Gehalt an Gallenfarbstoff und an Gallensäuren. An Alkaliverbindungen
wurden in wässeriger Lösung die folgenden, erst in kleinen, dann in immer
grösseren Dosen in den Magen einverleibt : Natrium bicarbonicum, Natrium chloratum,
Natrium sulfuricum, künstliches Carlsbader Salz der Pharm. Germ. ed. II, Natrium
phosphoricum, Kalium aceticum, Magnesinm sulfuricum. Alle diese Verbindungen
bewirkten in schwächeren Lösungen keine Erhöhung, in concentrirten Lösungen
aber eine unbeträchtliche Verminderung der Gallenabsonderung. Nur schwefelsaure
Magnesia und schwefelsaures Natron bewirkten eine Verminderung der Gallen-
menge schon bei kleinen und mittleren Gaben. Während der ersten 12 Stunden
jedes Versuches sank in Folge Einwirkung der Alkalien die Gallenmenge unter
das Durehschnittsmass hinab und verharrte hier allerdings unter grösseren oder
geringeren Schwankungen. Nach Ablauf der Wirkung, die 12—36 Stunden
andauerte, trat wieder Rückkehr zur Norm ein. Es ergab sich ferner, dass mit
Abnahme der Gallenmenge der relative Procentgehalt an Gallen farbstoff steigt, dass
also die Galle in Folge der Alkalien Wirkung wasserärmer und concen-
trirter wird; hingegen zeigten sich die Gallensäuren gegen die Einführung
von Alkalisalzen vollständig indifferent. Nissen fasst nun die Wirkung der genannten
154
CHOLAGOGA. — CHOLERA.
Alkalisalze auf die Gallensecretion lediglich als eine Verminderung des Wasser-
gehaltes der Galle auf, umsomehr, als eine laxirende Wirkung derselben in den
meisten Fällen nicht zum Vorschein kam, eine diuretische Wirkung aber stets
prävalirte ; demnach würden die resorbirten Alkalien der Leber in gleicher Weise
wie andereu Geweben Wasser entziehen und dieses dem Organismus entführen.
Nun fragt sich aber, in welcher Weise bringt Nissen seine erwähnte
Ansicht mit der allseits anerkannten günstigen Wirkung der Alkalien bei Gallen-
steinen und bei Icterus in Einklang? Dies geschieht, indem er in diesen Fällen
gerade der verminderten Gallensecreliou einen Theil der günstigen Wirkung vindicirt,
welche bisher allgemein von der Gallenvermehrung erwartet wurde. Bedenkt man,
dass bei Icterus auf catarrhalischer Grundlage Schwellungszustande der Schleim-
haut das Hinderniss für den Durchgang der Galle bilden und dass dieses Passage-
hinderniss jene DracksteigeruDg innerhalb der Gallenwege bedingt, die schliesslich
zur Resorption von Galle innerhalb der Gallengänge führt, so darf man mit
Nissen fragen, ob es unter solchen Umständen zweckmässig wäre, die Druck-
Steigerung durch grössere Secretionsthätigkeit der Leber noch zu vermehren ?
Indem die Alkalien aber die Wasserausscheidung in der Leber herabsetzen, beugen
sie gerade der übermässigen Drucksteigerung in den Gallengängen vor; kommt
hierzu noch die wohlthätige Wirkung der Alkalien auf die afficirten Schleimhäute,
ferner deren Einwirkung auf den Gallenschleim, wodurch die Galle an ihrer Zähigkeit
verliert, so sind genug Anhaltspunkte gegeben, um die wohlthätige Wirkung der
Alkalien bei den obengenannten Zuständen zu erklären. In den Versuchen Nissen's
setzten Kalium aceticum und das Carlsbader Wasser die Gallensecretion am
meisten herab. Versuche an Unverricht's Klinik in Dorpat Hessen die günstige
Wirkung des Kali aceticum bei länger bestehendem catarrhalischen Icterus und
auch in zwei Fällen von hypertrophischer Lebercirrhosis deutlich erkennen, indem
das Hautjucken bei dieser Behandlung schon nach kurzer Zeit aufhörte.
Als Mittel, welche in hohem Grade die Gallenmenge vermehren, fand
Nissen in Uebereinstimmung mit frühereu und späteren Angaben die gallensauren
Salze, und zwar glycochol- und taurocholsaures Natron, hierbei kommt es zu
einer vermehrten Wasser- und Gallensäureausscheidung durch die Leber. Von
salicylsaurera Natron sind kleine Dosen auf die Gallenmenge ohne Einfluss, grosse
Dosen (toxische) setzen die Menge der Galle und ihren Gehalt an Gallensäuren
herab. Siegfried Rosenberg 3), der die Angaben Nissen's in Betreff der Wirkung
des Carlsbader Wassers auf die Gallensecretion, ferner die der gallensauren Salze
bestätigt, fand beim Eingeben von mittleren Dosen Natron 8alicylic. die Menge
der Galle stark zu-, aber ihre Consistenz stark abnehmen. Nach ihm wirkt auch
reines Terpentinöl in grösseren Gaben die Gallensecretion anregend, jedoch
aai wirksamsten in letzteren Beziehung das Olivenöl, welches er im Einklang mit
Chauffard und Dlpre s) als brauchbarstes Cholagogum für klinische Zwecke,
namentlich bei Cholelithiasis, erklärt. Hingegen will Kischkin4) nach seineu Er-
fahrungen eine cholagoge Wirkung des Olivenöls nicht annehmen , es färbe nur
an sich den Stuhl icterischer Patienten grün.
S. auch die gallensauren Salze in pharmakologischer Beziehung.
Literatur: l) W. Nissen, Experimentelle Untersuch an gen über den Einfluss von
Alkalien auf Secretion und Zusammensetzung der Galle. Dissert. Dorpat 1889. — ') S. Bosen-
berg, Ueber die cholagoge Wirkung des Olivenöles etc. Pflüger's Archiv. XLVI, pag. 334. —
8) Chauffard und Dupre, Note sur le traitement de la lithiase biliaire. Bullet, et m6m.
de la Societe med. de Paris. 1688. — 4) Kischkin, Medizinskoje Obosrenije. 1889.
Loebiscb.
Cholera. Unter allen Leistungen, welche auf dem Gebiete der Cholera
asiatica wahrend der letzten fünf Jahre erschienen sind, muss jener eingehende
Bericht obenangestellt werden , welchen die unter Koch's Leitung von dem
deutschen Reiche 1883 zuerst nach Egypten und dann nach Indien entsandte
Commission über ihre Studien abgestattet hat. l) Bekanntlich führten diese Unter-
suchungen zur Entdeckung des KocH'schen Kommabacillus. Schon diese eine That-
CHOLERA.
155
sache genügt, um Koch's Namen nnvergesslioh zu machen. Sind auch die Haupt-
resultate der Forschungen Koch's und seiner Mitarbeiter (Gaffky und Fischer)
bereits aus kurzen Mittheilungen bekannt geworden, so dass wir uns bei unserer
Schilderung der Krankheit vor fünf Jahren auf dieselben stützen konnten , so
wird dennoch das Studium des genannten Buches für jeden Arzt eine Quelle
reicher Belehrung und gerechter Bewunderung sein.
Freilich haben sich sehr bald gegen die Annahme , dass es sich bei der
Choleraansteckung allein um das Eindringen des KocH'schen Kommabacillus handelte
(contagionistischer Standpunkt), Anfechtungen erhoben und namentlich hat sich
v. Pettenkofer 2) bemüht, die Bedeutung der Cholerabacillen entweder zu negiren
oder sie als etwas mehr Nebensächliches hinzustellen, wahrend der Hauptwerth
auf die Beschaffenheit des Bodens zu legen sei (localistischer Standpunkt). Auch
von den Contagionisten wird begreiflicherweise der Einfluss des Bodens nicht
geleugnet und es sind mehrfache Bemühungen veröffentlicht worden, die eine ver-
mittelnde Rolle, freilich mit Accentuation des ätiologischen Werthes der Komma-
bacillen, zu übernehmen versucht haben. 8)
Das regelmässige Vorkommen der Koc H'sehen Komma-
bacillen bei der asiatischen Cholera ist von den verschiedensten Seiten 4) bestätigt
worden, wenn es noch einer solchen Bestätigung bedurft hätte.
Auf jene zahlreichen Veröffentlichungen, die sich mit den biologischen
Eigenschaften der Cholerabacillen beschäftigen, wollen wir deshalb
nicht genauer eingehen, weil dieselben zu eigentlich praktischen Ergebnissen kaum
geführt haben. Die Angabe von Ho Eppe *), dass bei Cholerabacillen Dauerformen
in Gestalt von Arthrosporen vorkommen, ist nicht ohne Grund von anderer Seite
in ihrer Richtigkeit in Zweifel gezogen worden. 6) Auch die Versuche, an Thieren
mittelst Reinculturen Cholera zu erzeugen, wurden mehrfach fortgesetzt 7), doch wäre
zu wünschen gewesen , dass dieselben noch überzeugendere Folgen gehabt hätten.
Die Ansichten darüber, ob bei den Symptomen der Cholera vorwiegend
Giftwirkungen der Cholerabacillen in Fra«:e kommen (sogenannte Toxine) oder
inwieweit die Eindickung des Blutes zu beschuldigen ist, sind noch nicht geklärt,
namentlich da man sich erst am Beginne der Studien über die Choleratoxine
befindet. 8)
Gehen wir noch auf therapeutische Bestrebungen ein, so ver-
suchten Gamaleia *) und Löwenthal 10) durch Schutzimpfung Immunität gegen
die Seuche herbeizuführen, aber praktische Erfahrungen liegen bis jetzt nicht
vor und theoretisch haben diese Bemühungen doch manche Bedenklichkeiten. Ueber
die Erfolge der Enteroclyse mit Tanninlösungen nach Cantani liegen bestätigende
Beobachtungen vor neben Misserfolgen; auch über die Hypodermoclyse mit Salz-
wasser nach Samuel lässt sich kein abschliessendes Urtheil gewinnen, da in
den letzten Jahreu keine Choleraepidemien in Deutschland beobachtet wurden. Viel
Erfolg verspricht man sich von dem Salol, welches sich in einigen orientalischen
Epidemien bereits erprobt haben soll.
In Bezug auf Cholera n ostras sei bemerkt, dass es sich mit Sicher-
heit herausgestellt hat, dass bei der Entstehung derselben der sogenannte Finkler-
PRiOR'sche Kommabacillus ohne jede ätiologische Bedeutung ist und im Stuhle
fehlen kann.
Literatur: *) G. Gaffky, Bericht über die Thätigkeit der zur Erforschung der
Cholera im Jahre 1883 nach Egypten und Indien entsandten Coromission. Berlin 1887. —
*)M. v. Pettenkofer, Znm gegenwärtigen Stand der Cholerafrage. Archiv für Hygiene.
1886 und 1687, IV— VII. Idem, Der epidemiologische Theil des Berichtes über die Thätig-
keit der zur Erforschung der Cholera im Jahre 1883 nach Egypten und Indien entsandten
deutschen Commission. München nnd Leipzig 1888. — 8) Vergl. n. A. Biedert, Die Cholera.
Deutsche Medicinal-Ztg. 1888, Nr. 59 — 63 und Hueppe, Zur Aetiologie der Cholera asiatica.
Berliner klin. Wochenschr. 1890, Nr. 9. — 4) A. Lustig, Bacteriologische Studien über
Cholera asiatica. Zeitschr. für Hygiene. 1887, III. Th. Zäslein, Deutsche Medicinal-Ztg.
1887t Nr. 23 und 34* — Frank und "Weisser, Mikroskopische Untersuchung des Darra-
in halt es von an Cholera asiatica verstorbenen Imh'ern. Zeitschr. für Hygiene. 1887. I. —
ö) H neppe, lieber die Danerformen der sogen. Komm aba rillen. Fortschritte der Med. 1835.
Nr. 19. — ") M, G ruber , Baden ologi sehe Untersuchung von c hole raverdächt igen Fällen unter
erschwerenden Umstanden. Wiener med, Wochenachr. 1887, Nr. 7 — 8. — ^) Tinoni und
Cattani, Vers ach e Aber Infection und Vergiftung mit Cholera. Central bl. für die med.
Wissensch. 1887, Nr. 29. — *) Vergl. B rieger, Verhandlungen des Congresse« für innere
Medicin. Wiesbaden 1888. pag- 195. H. Scholl, Untersuchungen Über Choleratoxine. Berliner
kün. Wochenschr. 1890, Nr. 41. — *) Gamal ei' a, Compt. rend. de l'Acad. des scienc. de
Paris. 20. Aoät 188& — lü)W. Löwenthal, ExpJrteitces biologiqut* et thetapeutiques sur
U ckoUr*. Jbid. 1888, CTO, pag. 27. Hermann Bichhornt
Cholesterin, C^H^O (vergl, Real-Encyclopädie, IL Aufl., Bd. IV,
pag. 254). Zum Nachweis von Cholesterin hat C, Liäbermaxx (Berichte der
deutschen chemischen Gesellschaft. 1885, pag. 1803) folgende sehr empfindliche
Reaction empfohlen: Die zu prüfende Substanz wird in soviel Essigsäureanhydrid
gelost, dass sie in der Kälte eben gelöst bleibt, und dann unter Abkühlen tropfen-
weise wenig reine concentrirte Schwefelsäure zugesetzt. Zuerst wird die Lösung
rosenroth, doch verschwindet diese Farbe schnell, namentlich auf Zusatz einer
kleinen Menge Schwefelsäure, um einer schönen, ziemlich bestäudigeu Blaufärbung
Platz zu machen (Liebermaxn's Cholestolreactionj. Wie 0. Liebreich
(Berliner kliu. Wochenschr, 1885 > Nr- 47) hinzufügt und EL Bürchard <Diss.
Rostock 1889) bestätigt und weiter ausführt, geht bei dieser Reaction die Rosa
farbung schnell in eine stark blaue und grüne über, ja iu ganz verdünnten Losungen
ist weder Rosa* noch Blaufärbung zu constatiren, sondern erst nach 3 — 5 Minuten
tritt Grünfärbung von grosser Beständigkeit auf. Bükckard hat diese Reaction
dahin verfeinert, dass er die zu prüfende Substanz in Chloroform löst und erst dann
Essigsäureanhydrid und wenig Schwefelsäure zusetzt. So gelingt es nach Liebreich
noch l/a„ ooo Cholesterin nachzuweisen; 1 a0 Mgrm, Cholesterin, in 2 Ccm. Chloro-
form gelöst, zeigt auf Znsatz von Essigsäureanhydrid und etwas Schwefelsäure
noch d entliche GrünfÄrbung,
Mit Hilfe dieser Reaction konnte Burcharti in jedem thierischen Organe
Cholesterin nachweisen. Auch in trockenen Pflanzensamen und Wurzeln* endlieh
in chlorophyllfreien Pflanzen konnte ausnahmslos Cholesterin nachgewiesen werden *
so dass man sagen darf: Cholesterin oder eine Cholesterin« rtige Substanz ist ein
regelmässiger und wohl auch wesentlich er Bestand theil th i er i scheu wie pflanzlichen
Protoplasmas*
Die Anschauung, dass das Cholesterin ein Spaltungsprodukt des Ei weiss
sei. konnte Bdrchard nicht stützen; weder Säuren noch Alkalien, noch Bauch-
Speichelferment vermögen aus reinem Ei weiss Cholesterin abzuspalten. Allerdings
gelang dies in mit Fäulnisskeimen beschicktem Eiweiss , daher man wohl ganz
allgemein das Cholesterin als durch analytische und synthetische Processe ans dem
Eiweiss hervorgehend ansehen kann.
Die L i ebrrm an n-Burc hard1 sehe Reaction geben, ebenso wie das Cholesterin«
noch die Cholesterin äth er oder das Cholesterin fett (vergl. Lanolin* Real Encyclo-
pädie, IL Aufl., Bd. XI, pag. 45. VJ.
Die Trennung des Cholesterin von Cholesterinfettea bewerkstelligt
Liebreich (Virchows Archiv. Bd. CXXl, pag, 394) mittelst Acetessigäthyläther,
der von Cholesterin etwa die Hälfte mehr löst als von Cholesterin fett. Werden
beide Substanzen in dem heissen Lösungsmittel in eben für die Lösung des
Cholesterins ausreichender Menge gelöst, so scheidet sich beim Erkalten das
Cholestcrinfett aus; dieses kann durch wiederholtes Auswaschen mit kleinen
Portionen des Lösungsmittels vollständig vom freien Cholesterin befreit werden.
Endlich bat v. Udraxszky (Zeitschr. für physiol. Chemie. Bd. XU,
pag. 355) noch folgende Farbeureaetion auf Cholesterin empfohlen : Fügt man der
Losung einer 8pur von Cholesterin in 1 Com. Alkohol einen Tropfen 1 2g öiges
Ftirfurolwasser hinzut lüsat unter die Mischung 1 Ccm. reine Schwefelsäure fliessen,
CHOLESTERIN. — CHOBEA.
157
und die Temperatur nicht über 50° steigen, so färbt sich die Flüssigkeit lebhaft
roth, später blau. j Münk.
Chromverbindungen (vergl. Real-Encyclopädie, 2. Aufl., IV, pag. 289).
Die toxische Wirkung der Chromoxydverbindungon ist nach Kobert und
Pander *) derjenigen der Chromsäureverbindungen wesentlich gleich, aber bedeutend
schwächer (bei Fröschen 8mal, bei Warmblütern sogar lOOmal schwächer). Während
die Chromate stürmisch verlaufende choleraähnliche Vergiftung mit Krämpfen und
bedeutender Herabsetzung der Nervencentra hervorrufen, erregen Verbindungen des
Chromoxyds mit organischen Säuren (Milchsäure, Weinsäure, Citronensäure) chronische
Intoxication mit Durchfallen, lähmungsartiger Schwäche, Albuminurie und Nephritis,
welche ganz der durch Chromate erzeugten Nephritis entspricht Sie äussert sich
in croupöser Entzündung der Glomeruli und gewundenen Harncanälchen , betrifft
am stärksten die Rinde, von der sie aber auch auf die tiefer gelegenen Theile
übergeht und combinirt sich bei längerer Dauer auch mit interstitieller Nephritis.
Die Section mit Chromoxydsalzen vergifteter Thiere zeigt wie nach Chromatver-
giftung constant Epithelnecrose und Ecchymosen im Magen und Schwellung und
Verschwärung der solitären Follikel und der PEYER'schen Drüsenhaufen. Coecum
und Colon sind dabei am wenigsten afficirt. Nicht constant kommen Endocarditis
und Ecchymosen in den Gefassen, Abnahme der weissen Blutkörperchen und Ver-
änderungen der Erythrocyten vor. Die Resorption der Chromoxyd Verbindungen
geschieht langsamer als die der Chromate und erfolgt auch bei unversehrter
Magen- und Darmschleimhaut ; die Elimination erfolgt vorwaltend durch den Harn,
in geringer Menge durch die Galle und in noch geringerer Quantität, aber constant
bei subcutaner Einführung, durch Magen- und Darmschleimhaut. Eine Reduction
der eingeführten Chromate zu Chromoxyd bei Vergiftung mit Chromaten ( Kali um -
dichromat), wie solche Dümontler2) gefunden haben wollte, konnte Pander bei
Thieren nicht constatiren, doch deutet in mehreren neueren Intoxicationen mit
Chromsäure8) und Bleichromat 4) die grüne Färbung des Erbrochenen und des
Darminhaltes auf die Möglichkeit einer solchen hin. Vi RON fand bei Warmblütern
schwefelsaures Chromsesquioxyd und Chromchlorür etwa lOmal weniger giftig als
Kaliumdichromat und Ohromoxydhydrat (Vert de Guignet, Chrom-
grün) völlig ungiftig, während Chromsesquichlorür und Chromsesquioxydhydrat
vom Magen aus nur bei Ifingeier Darreichung giftig wirkten.
Als Antidot bei Vergiftung mit Chromaten empfiehlt Vi RON
im Hinblick auf die schwächere Giftigkeit der Chromoxydverbindnngen die An-
wendung reducirender Substanzen, unter denen sich ihm Natriumsulfit und
Gallussäure am besten bewährten.6)
Literatur: M Kobert, Dorpater pharmakol. Arbeiten. II, pag. 1. Pander,
Beitr. zur Chromwirkung. Dorpat 1888- — ■) Du montier, Progr. med. 1 £82, 33. — 8) Fowler,
Brit. Journ. 18. May 1889. — *) Falk, Vierteljahrsschr. für ger. Med. 188 \ XLII, pag. 281. —
s) V i r o n, Contribution d Vetude physiol. et toxicol. de quelques priparations chromies. Paris 1885.
Husemann.
Chorea (vergl. Real-Encyclopädie, 2. Aufl., Bd. IV, pag. 267*). Zur
Aetiologie der Chorea sind einige Mittheilungen zu erwähnen, welche sich auf
das Verhältniss zum acuten Gelenkrheumatismus und zu Herzaffectionen beziehen.
Thomas1) fand unter 19 von ihm zusammengestellten Choreafällen nur einen,
in welchem Gelenkrheumatismus voraufgegangen war; einmal waren anämische
Herzgeräusche vorhanden. Dagegen standen nach Peiper2) unter 30 der Greifs-
walder Klinik und Poliklinik entnommenen Choreafällen 14 (=46*6%) mit
rheumatischen Erkrankungen oder Endocarditis im Zusammenhange. In 7 Fällen
*) Es sei hier beiläufig corright, dass die 1. c. erwähnte Capelle des heil. Vitus,
von welcher die Bezeichnung „Veitstanz1* herstammen soll, sich nicht bei Ulm, sondern in
Ulm befindet, worauf ich durch Herrn Geheimrath von Renz in Wildbad freundlichst auf-
merksam gemacht wurde.
158
CHOREA.
schloss sich die Chorea unmittelbar oder in verhältnissmässig kurzer Zeit an
acuten Gelenkrheumatismus an; in einem Falle entwickelte sieh im Laufe der
Chorea acuter Gelenkrheumatismus und Herzerkrankung; 6 Falle endlieh betrafen
Chorea, welche mit Endocarditis eomplicirt war (5mal Klappenfehler der Mitralis,
lmal Aorteninsufficienz). Nur in einem dieser letzteren Fälle war acuter Gelenk-
rheumatismus ein halbes Jahr voraufgegangen, während sich in den 5 übrigen
Fällen kein Zusammenhang mit rheumatischer Erkrankung nachweisen Hess. Von
sonstigen ätiologischen Momenten der Chorea hebt Pbfper besonders starke
GemüthsafFecte hervor ; in vielen Fällen bestand neuropathische Grundlage , in
anderen Entwicklungschlorose.
Scheele 8) beobachtete einen Fall von Chorea mit Rheumatismus
nodos us bei einem 12jährigen Knaben, der schon vorher 2mal an Chorea, nie
aber an Gelenkrheumatismus gelitten hatte (knötchenförmige Verdickungen an
den Sehnen der Fingerbeuger, später auch an den Sehnen der Peronei, des Tibialis
anticus, des Triceps und der Unterschenkelstreckmuskeln ; keine Veränderung am
Herzen; Heilung unter Gebrauch von Natrium salicylicum in 8 Wochen). Aus
der Literatur führt Scheele noch mehrere ähnliche Combioationen von Chorea
mit Rheumatismus nodosus (im Ganzen 12) an.
Von hereditärer Chorea der Erwachsenen theilte Zacher4)
einen Fall mit, der einen 45jährigen, seit 4 Jahren erkrankten Mann betraf, in
dessen Familie das Leideu bereits seit drei Generationen herrschte (Grossvater
mütterlicherseits und zwei seiner Brüder , Onkel und Mutter des Patienten, 47jährige
Schwester und 4 2jährige r Bruder desselben), bei allen war die Krankheit anscheinend
stets in dem nämlichen Alter, zwischen 40 und 42 Jahren, zur Entwicklung
gekommen. Eine 12jährige Tochter des Patienten soll ebenfalls gelegentlich
Zucken im Gesichte haben. Bemerken swerth ist, dass die choreatischen Bewegungen —
im Gegensatz zur gewöhnlichen Chorea — durch den Willen vorübergehend unter-
drückt werden konnten.
Der Einfluss von Schulschädlichkeiten auf die Entstehung von
Chorea wurde von Korner6) gewürdigt, der in der Schule zu Schwanheim eine
Chorea-Epidemie beobachtete, wobei besonders psychische Erregung durch Züchti-
gungen und andere Strafen zu Grunde lag. Ausserdem verfallen besonders
schlecht genährte und in der Schule übermässig angestrengte Kinder der Chorea;
selten führt Nachahmung zu epidemischer Verbreitung der Krankheit. Eine den
körperlichen Zustand und die häuslichen Ernährungs Verhältnisse der Schüler bei
Bemessung der Anforderungen berücksichtigende Schulhygiene ist präventiv von
besonderem Werthe.
Von symptomatologischcm Interesse ist eine Mittheilung von
Marie 6) über das Vorkommen von Ovarie bei gewöhnlicher Chorea.
Von 33 jugendlichen, im Alter von 9 — 15 Jahren stehenden Choreatischen
(27 Mädchen, 6 Knaben) zeigten die Mädchen, mit Ausnahme von dreien, sämmt-
lich das Symptom der Ovarialhyperästhesie , und zwar lOmal nur links, lOmal
nur rechts, 4mal beiderseitig. Von den Knaben zeigte nur einer eine der Ovarie
vergleichbare Druckempfindlichkeit in den Weichen. Auch in einem Falle von
Chorea gravidarum konnte die Ovarie — und zwar der veränderten Stellung des
Uterus entsprechend, höher als gewöhnlich — nachgewiesen werden. Auch scheint
das Symptom meist auf der Seite seinen Sitz zu haben, wo die ersten Chorea-
bewegungen beginnen.
Gehaltvolle Beiträge zur klinischen Nosographie und besonders zur Theorie
der Chorea liefern die Arbeiten von Giuffke 7) (in Palermo) und die der Leipziger
Klinik und Poliklinik entnommenen Beobachtungen von P. Koch. 8) In dem der
Ontologie der Chorea gewidmeten Theile seiner Abhandlung gelangt Koch
zu dem Ergebniss, die Chorea scharf von der Gruppe der constitu-
tionellen Neuropathien zu scheiden. Er sieht das Wesen der Chorea
in einer transitorischen . subacut oder chronisch verlaufenden Veränderung ganz
CHOREA. — CINEOL.
159
bestimmter Tbeile des cerebrospinalen Systems (Pyramidenbahnen?), welche durch
Einwirkung eines ganz bestimmten oder verschiedener, einander ähnlicher Irrita-
mente bedingt werde. Das dem so eigenartigen Krankheitsbilde der Chorea mit
ihrem typischen Verlaufe und der vorausgesetzten bestimmten Localisation ent-
sprechende einheitliche Causalmoment glaubt Roch ausschliesslich in der Annahme
von infectiösen Ursachen finden zu können. Auf Grund der Statistik u. s. w.
sei specieU eine derartige Verwandtschaft zwischen dem Virus der
Chorea und dem der Polyarthritis vorauszusetzen, dass eine gelegent-
liche Entstehung der specifisch choreat ischen Veränderung
auch durch das letztere als möglich erscheine. Die Endocarditis werde
durch das specifische Chorea virus veranlasst, sie sei ein Symptom der Chorea-
tischen Allgemeinerkrankung. Die Primäraffection hat in den weitaus
meisten Fällen ihren Sitz im Nervensystem, seltener in den Gelenken, noch
seltener im Endocard. Bedingt wird sie durch das eigenartige Virus der Chorea,
vielfach wohl auch durch das jenem nahe verwandte pol yarthri tische. Vielleicht
können in vereinzelten Fällen auch noch andere infectiöse Keime das gleiche
Krankheitsbild erzeugen. — Trotz dieser und ähnlicher beachtenswerther Dar-
legungen ruht die Infectionstheorie der Chorea, wie sich nicht verkennen lässt,
bisher auf äusserst schwachen thatsächlichen Grundlagen.
Zur Therapie der Chorea liegt wenig Material vor. Cheadle9)
empfiehlt als Hauptmittel Arsenik, von je 3 — 5 Tropfen Solut. Fojrleri beginnend,
um je 1 Tropfen steigend bis zur „vollen" Dosis von 10 — 12 Tropfen; bei ein-
tretender Intoxication Calomel, dann wieder Arsengebrauch in verkleinerter Dosis.
Oefters soll dabei eine dem bronzed-skin ähnliche Verfärbung der Haut mit Aus-
nahme des Gesichtes eintreten, die jedoch meist binnen weniger Monate wieder
verschwindet. Ventra 10) will von Curare (subcutane lnjectionen einer wässerigen
Lösung 1 : 50, Einzeldosis von 0*005 auf 0 02 allmälig steigend) Nutzen ohne
üble Nebenerscheinungen , gesehen haben. Mac Dougall 1]) sah bei einer seit
41 Jahren besteheuden Chorea (50jährige Frau, gleichzeitig heftige Schmerzen im
rechten Oberschenkel) von der vorgenommenen Operation , Dehnung des
N. er uralt s, auch für die Chorea erheblichen Nutzen.
Recht beachtenswerth sind die Erfolge der Suggestionsbehand-
lung, welche neuerdings von Bebnhrim13), wie auch von Wetterstrand18)
mitgetheilt wurden. Leichtere Fälle von Hemichorea, sowie auch partielle Residuen
früherer Chorea können innerhalb einiger Wochen durch Suggestion leicht und
sicher geheilt werden. Auch schwere Fälle von Chorea, sowie verwandte spastische
Krampfformen werden durch Suggestion nicht selten günstig beeinflusst.
Literatur: l) Thomas, Dissert. Berlin 1885. — *) Peiper, Deutsche med.
Wochenschr. 1888, Nr. 30. — ■) Scheele, Ibid 1885. Nr. 61. — 4) Zacher, Neurolog.
Centralbl. 1888, Nr. 2. — *) Körner, Deutsche med. Wochenschr. 1888, Nr. 51; Deutsche
Vierteljahreschr. für öffentl. Gesundheitspfl. 1889. — 6) Marie, Progr. med. 1886, Nr. 3. —
*) Giuffre, Sulla corea del Sydenham. Palermo 1886; Bullet, del circolo med. di Palermo.
1886, 1, Nr. 4—5. — *) P. K o c h , Deutsches Archiv für klin. Fed. XL, pag. 544- — ö) Cheadle,
The Practitioner. 1886, Nr. 81. — K) Ventra, II manicomio. 1885, pag. 225. — u) Mac
Dougall, Lancet. 1885, pag. 742. — ") Bern heim, De la Suggestion ei de ses appli-
cations ä la therapeutique. 1888, pag. 349. — 18) Wetterstrand, Der Hypnotismus und
seine Anwendung in der prakt. Medicin. 1891, pag. 32. « , *
Eulenour g.
Cl'neOl, C10 H18 0, Cineolum purum, aus dem Oele der Zittwersamen Semina
Ginae dargestellt, findet sich überdies in vielen Eucalyptusspecies und mehreren
therapeutisch verwendeten Pflanzenölen (im Cajeputöl, Rosmarinöl, Myrrhenöl,
Campheröl u. A.). Das von S c h i m m e 1 & Comp, sehr billig gelieferte Eucalyptol
hat sich identisch mit Cineol erwiesen. Nach Robert ist das Cineol
der eigentliche wirksame Bestandteil der Zittwersamen, nicht aber das San ton in ;
auch sei Alles, was man von Eucalyptuspräparaten bei den verschiedenen Dar-
reichungsformen von Wirkung gesehen hat, auf das Cineol zu beziehen und es
wäre angezeigt, die Medication statt mit Eucalyptuspräparaten durch eine solche
CINEOL. — CUMACTERISCHE3 ALTER DER FRAUEN.
mit Cineol zu ersetzen, Kobert empfiehlt dasselbe in Tropfenform oder in Capsulen
»der in Form von Inhalationen oder als cineolgetr iinkte Watte izum Wundverbami :
anzuwenden. Innerlich in Dosen von 0*1 — TO.
Literatur: Kobert, Fortschritte der Medicia. 1889. 24. t tj u
l o e d i ? c b.
Clavierspielerkrampf, s. Beschäftigu ngsneurosen, pag. 94,
Climacterisches Alter der Frauen. Die im climacterium , der
„Wechselzeit" der Frauen, so häufig vorkommenden leichteren oder intensiveren
AniUlle von Schwindel will Bokrner nicht, wie dies zumeist geschieht, vor-
wiegend auf hyperämische Zustände zurückführen, nicht Mos als einen Effect der
nun nicht mehr erfolgenden Ausscheidung des Blutes betrachten, die es verschulden
soll, dass jetzt die sämrotlichen Gefässe im Uebermass vollgefüllt sind (Plethora).
Bokrner hat bezüglich der Schwindelanfälle im Climacterium Folgendes beobachtet:
Es kann bei einem ganz gesunden Individuum, das bis dahin regelmässig menstrulrt
war, die Periode mit einem Male and für die Dauer erlöschen, und trotzdem das
Individuum quoad Nahrungsaufnahme , Verdauung und sonstigem Wohlbefinden
keinerlei Schwankung zeigt , trotzdem also die günstigsten Bedingungen für das
Zustandekommen einer relativen Blutüberftillung vorhanden wären, ist das Auf-
treten vod Schwindelanfällen durchaus keine Notwendigkeit. Es kann ein Indi-
viduum, welches das climacterische Alter bereits erreicht hat. ohne dass sich
bislang noch die mindeste Unregelmässigkeit der Menstruation eingestellt hätte
oder eine Aenderung der Ernährungsverhältnisse erfolgt wäre, an heftigen Schwindel-
anfdilcn zu leiden haben. Oft zeigen sich letztere bei regelmässiger Menstruation
schon vor dem gewöhnliehen ciimacterischen Alter und wird man selten fehl-
geben, wenn man selbe dann zunächst als erste Andeutungen des herannahenden
Climax auflaset. Es kann die Menstruation im Climax noch so allmälig erlöschen,
also eine noch so günstige Accommodation des Organismus an das Aufhören der
gewohnten Blutabgaben statthaben, und doch bestehen möglicherweise heftige
Schwindelanftlle. Es kann das Quantum des verlorenen Blutes im Climax ein
unverhältnissmässig grösseres sein als zuvor, und doch kommt es zu den ganz gleichen
Scbwindelanfällen, Es kann die Periode längst versiegt sein, so das* der Organismus
mit Noth wendigkeit an die sisttrte Blutah^abe gewöhnt wurde und gleichzeitig
die Lebensweise eine noch so rationelle sein (Vermeidung sitzender Lebensweise,
üppiger Kost u. s. w.) und doch können Schwindelanfalle kommen. Es kann endlich
ftieh in Folge heftiger climacterischer Blutungen hochgradige Anämie entwickelt
haben , es kann ein zumal nervöses Individuum durch Störung der Ernährnnga-
vor&änge oder andere intercurrente Zustände recht auffällig herabgekommen sein - —
und fast gewöhnlich wird unter solchen Verhältnissen Über Seh windet anstände
geklagt. Abgesehen von Fällen, in denen hyperämische Zustände die Ursache
des Schwindels im Climacterium sind , glaubt demnach Boernkb als Ursache
der ciimacterischen Schwindelanfälle einfache Hysterie, dann chronische
Störungen des Verdau ungstractes, endlich Anämie bezeichnen zu
müssen. In Bezug auf therapeutische Massnahmen erscheint es von Wichtigkeit,
die jeweiligen individuellen Verhältnisse genau zu erwägen.
Als Cardicpatkis de la minopattse beschreibt CLEMENT vier von ihm beob-
achtete Fälle, in denen bei ciimacterischen Frauen, wo zugleich anämische Zustände
vorhanden waren , anfallsweiae auftretende Herzpalpitationen sich geltend
machten. In diesen Fällen kamen folgeude Momente zur Beobachtung: Beginn der
Palpitationen bei noch regelmässiger Menstruation und dann deren Typus innehaltend
zur Zeit der ersten Unregelmässigkeiten; succeasive Steigerung zu regelrechten,
mit Schwindel, Präcordialangst und Athemnoth verbundenen Anfällen, Auftreten
derselben bei stärkerer Bewegung oder im Schlafe, Neigung zu Onumachts-
anfäUeu u. s. w., dabei uuregelmässigor und kleiner Puls, aber kein organischer
Fehler des Herzens y kein Luugeucatarrb , kein Eiweiss im Harne, nur immer
CLIMACTKRISCHES ALTER DER FRAUEN.
161
auffallende Blässe, häufiger hochgradige Anämie. Clement nimmt zur Erklärung
dieser Fälle eine specielle, durch die Menopause geschaffene Disposition an, die
zu hochgradiger Veränderung in der Innervation des Sympathicus fuhrt und die
geschilderten Zustände herbeiführt.
Die Herzbe8ohw erden climacterischer Frauen hat Ktsch auf
Grundlage zahlreicher Beobachtungen geschildert. Zunächst begegnete ihm als
eine häufige Beschwerde in den Wechseljahren die Tachyoardie. Zumeist im
Beginn des Climacteriums klagen Frauen, deren Herzthätigkeit bis zu jenem Zeit-
punkte ganz normal war, über Anfülle von Herzklopfen, welche zuweilen ohne
jeglichen Anlass oder nach einer geringfügigen Veranlassung, bisweilen im Schlafe
auftreten, meistens nur einige Minuten dauern und sich verschieden oft wieder-
holen. Das Gefühl der beschleunigten und verstärkten Herzschläge wird als sehr
belästigend geschildert und ist zugleich mit Angstgefühl, mit der Empfindung
von Druck auf der Brust, Pochen in den Garotiden, Pulsation der Aorta abdo-
minalis verbunden, weiter mit fliegender Hitze, heftigen Kopfschmerzen. Die Zahl
der Pulsschläge ist zuweilen bis auf 120 — 150 in der Minute beschleunigt, der
Pols selbst gewöhnlich kräftig, gut gefüllt, regulär. Mit diesen oardialen Be-
schwerden ist gewöhnlich ein Zustand körperlicher und geistiger Unruhe verbunden,
Untersuchungen bezüglich des Hämoglobingehaltes des Blutes bei diesen Frauen
ergaben sehr hohe Percentualverhältnisse. Dyspnoische Symptome sowie cardiales
Asthma waren nicht vorhanden, Stauungserscheinungen sehr selten zu beobachten.
Diese paroxysmale Tachyoardie kann die ganze Zeit des Climacteriums, so lange
die Unregelmässigkeit der Menses besteht, vorkommen, sie kann diese Zeit noch
überdauern und dann noch auftreten, wenn die Menstruation gänzlich oessirt hat ;
aber üble Folgeerscheinungen von Bedeutung hat Kisch davon nicht beobachtet.
Als Ursache dieser Herzneurose nimmt er eine Reizung der excitomotorischen
Herznerven an, welche reflectorisch durch die im Climacterium vorkommenden
Veränderungen in den Ovarien veranlasst wird. Eine andere Form der Herz-
beschwerden, über welche die Frauen zur Wechselzeit klagen, zeigt die bekannten
Symptome der Herzschwäche. Es sind zumeist zarte Frauen, die in den Ent-
wicklungsjahren an Chlorose litten, in späteren Jahren über Erscheinungen von
Anämie klagten und wo das Climacterium heftige Menorrhagien mit sich führt,
oder Frauen, die stets an sehr reichlicher Menstrualblutung gelitten, häufige und
schwierige Entbindungen überstanden oder öfter abortirt hatten, welche jene
cardialen Beschwerden bieten. Der Puls ist schwach, klein, niedrig, leicht unter-
drückbar, zuweilen aussetzend oder arhythmisch. Die Herzaction zeigt Schwäche
und Energielosigkeit. Die betreffenden Frauen sind kurzathmig, haben Anfälle von
eardialem Asthma, nicht selten auch mit Angina pectoris. Dabei geben sich
Stauungserscheinungen kund, sehr oft Oedem an den Füssen, der Harn ist zuweilen
eiweisshaltig. Der Hämoglobingehalt des Blutes ist stets wesentlich verringert.
In diesen Fällen ist ein genauer Genitalbefund festzustellen, welcher Auf-
klärung über die Blutungen und die davon abhängige Herzschwäche giebt. Eine
dritte Gruppe von Herzbeschwerden hat in der im Climacterium vorhandenen
Neigung zum stärkerenFettansatze am Körper ihren Grund. Diese durch
die Fettumwucherung des Herzens verursachten cardialen Beschwerden geben sich
zumeist dadurch kund, dass bei stärkeren körperlichen Bewegungen leicht Kurz-
athmigkeit und Herzklopfen eintritt. Nur bei jenen Frauen, welche von Jugend
auf mit Neigung zur Lipomatosis universalis behaftet sind, erreichen die Herz-
beschwerden in der climacterischen Lebensperiode hohe Grade; die in Folge der
verminderten Triebkraft des Herzens bewirkte Erschwerung der Blutoirculation
giebt sich in den verschiedensten Venengebieten kund, es kommt zu Oedem an
den Füssen, Stauungscatarrh in der Lunge, Albumengehalt des Blutes u. s. w.
Untersuchungen, welche Glaevecke über körperliche und geistige
Veränderung en im weiblichen Körper nach künstlichem Ver-
luste der Ovarien einerseits und des Uterus andererseits angestellt hat, zeigten^
Encyclop. Jahrbücher. I. \\
162
CLIMACTERISCHES ALTER DER FRAUEN.
— COLCHICUM
dass nach Castration eine Reihe von climacterischen Beschwerden auftritt, wie
sie sonst in der Wechselzeit der Frauen beobachtet werden: das Gefühl von
heissen Begiessungen 1 Schweisse, Schwindel, Fluor albus, Henpalpitationen und
Kopfschmerzen. Die Castration entwickelt also ein künstliches Cümacterium,
welches in allen Punkten genau dem natürlichen gleicht und die Frau tritt durch
die Castration vor der Zeit in das climacterische Alter.
Literatur: Bo er n er, Die Wechseljahre der Frau. Stattgart 1886- — E.Clement,
Cardiopathie de la mSnopause. Societe nationale de med. de Lyon. 1884. — E. Heinrich
K isc h , Die Herzbeschwerden climacterischer Frauen. Berliner klin. Wochenschr. 1889, Nr. 50. —
L. Glaevecke, Körperliche und geistige Veränderungen im weiblichen Körper nach künst-
lichem Verluste der Ovarien einerseits und des Uterus andererseits. Leipzig 1889.
Kisch.
CoCHTn (vergl. Real-Encyclopädie, IV, pag. 347). Als „Cocainum Hydro-
chloricum" in der Pharm. Germ. III neu aufgenommen. Maximale Einzeldosis 0*05,
pro die 0*15. lieber C. als Augenheilmittel 8. pag. 66 und 146; zur örtlichen
Anästhesirung s. pag. 164.
CodeYn, Methyl-Morphin (s. Real-Encyclopädie, 2. Aufl., Bd. XV,
pag. 15). In jüngster Zeit wurden die Indurationen für die Anwendung des Codelns
genauer präcisirt, nachdem die Wirkung desselben an grösserem Krankenmateriale
geprüft wurde. Es zeigte sich in der schmerzstillenden Wirkung weit hinter dem
Morphium zurückstehend, es muss in 3mal so grosser Dosis wie dieses gegeben
werden, um eine Wirkung zu erzielen (ist auch 2xj2m*\ theurer wie Morphium).
Es bewährt sich jedoch noch in Fällen, wo bereits Gewöhnung an Morphium vor-
handen und ist auch brauchbar, um vor Angewöhnung an Morphium zu schützen,
indem es zeitweilig als Surrogat desselben dient, in letzterer Beziehung ist es aueh
bei Entziehungscuren von Morphium werthvoll. Das CodeYn ist frei von den üblen
Nebenwirkungen des Morphins, es stört den Appetit nicht, bewirkt kein Erbrechen,
auch keine Stuhlverstopfung. Wenn es auch beim Bronchialcatarrh die
Expectoration erleichtert, so reicht es doch gegen den Husten der Phthisiker auch
bei Laryngitis chronica nicht aus. Nur bei von Eierstöcken ausgehenden Schmerzen
fand es Freund sehr wirksam, auch bei leichten Formen von Agrypnie ist es
brauchbar, hingegen ist es ohne Wirkung bei Aufregungszuständen des Nerven-
systems. Sehr geschwächte Individuen zeigen nur geringe Toleranz gegen das
Mittel, so da88 man bei diesen besser mit kleineren Dosen beginnt, um neben
schwacher oarco tisch er Wirkung Betäubung und Schwindel zu verhüten. Da das
Mittel bitter, so wird es zweckmässig in Pillen , Pastillen , Oblaten gereicht , in
Einzelgaben von 0*03 — 0 05 Grm. ! oder als Mixtur 0*3 : 130 Aq. mit Syrup;
als CodeYnsuppositorium. Grössere Einzeldosen sind wirksamer als die in stündliche
Gaben verzettelte Tagesdosis (0*2 !). Zur subcutanen Injection ist das phosphorsaure
Salz empfohlen: CodeYni phosphor. 1-0, Aq. dest. 20*0, Acidi Carbol. cryst. 0*02.
Hiervon 1 — 2 Spritzen zu injiciren. (Die Pharm. Germ. III enthält Codeinum
phosphoricum an Stelle von Codeinum; maximale Einzelgabe Ol, pro die 0*4).
Literatur: Lauder Brunton, Brit. med. Journ. Janaar 1888. — Fischer,
Correspondenzbl. für Schweiz. Aerzte. 1888, 19. — G. Rheiner, Therap. Monatsh. 1889,
9 n. 10. — 0. Dornbitith, Ibid. pag. 361 — H. W.Freund, Ibid. 1889, pag. 399. —
AI. Rosenthal, Wiener med. Presse. 1889, 37. — G. Kobler, Ans v. S c hrött er's Klioik
in Wiener klin. WocheDschr. 1890. 12. — Löwenmeyer, Verein für innere Medicin zu
Berlin. Sitzung vom 17. März 1890. Tä u..ääv
° L06D18CI1.
CofffeYn (vergl. Real-Encyclopädie, IV, pag. 355). Veränderte Maximal-
dosis der Pharm. Germ. III: pro dosi 0*5, pro die 1*5.
ColChicill, Colchicum (vergl. Real- Encyclopädie, II. Aufl. , Bd. IV,
pag. 364). Die Angabe Dkagendorff's , dass das Colchicin im Organismus sieh
theilweise zersetze, hat durch Jacobj l) eine Erweiterung dahin erfahren, dass die
ganze Wirkung des Colchicins bei Warmblütern auf der Bildung eines Oxydations-
COLCHICIN. — COLITIS.
163
producta, einer Base von der Formel (C21 H26 N06)j 0 , beruht Dieser Oxydi-
colchicin genannte Körper verhalt sieh Lösungsmitteln und Reagentien gegen-
ober im Allgemeinen wie reines krystallisirtes Colchicin, ist aber amorph, roth-
braun, in wässeriger Lösung von juchtenartigem Gerüche und löst sich etwas
weniger leicht in Chloroform. Das Oxydicolchicin kann durch Einwirkung von
naseirendem Sauerstoff aus Colchicin erhalten werden, bildet sich auch an der
Luft aus demselben und begleitet dasselbe in allen mehr gelb oder dunkel gefärbten
Handelswaren. Das krystallisirte Colchicin ist auf Frösche so gut wie ungiftig,
wahrend Oxydicolchicin bei denselben ein ähnliches Vergiftungsbild wie Veratrin,
und namentlich die eigentümlichen Muskelcurven des Veratrins erzeugt, von denen
man nach krystallisirtem Colchicin nichts wahrnimmt.2) Bei Warmblütern ist die
Wirkung des Colchicins und Oxydicolchicins vollkommen gleich, beide veranlassen
ausser den Veränderungen der Muskelcurven stark gesteigerte Peristaltik, Durch-
fall und hämorrhagische Enteritis, später aufsteigende Lähmung der im Rückenmark
und im verlängerten Marke belegenen motorischen Centren und tödten schliesslich
durch Lähmung des Athemcentrums. Die Uebereinstimmung der Wirkung bei
Warmblütern gegenüber dem grossen Giftigkeitsunterschiede bei Kaltblütern läset
sich nicht anders wie durch die Oxydation des Colchicins im Organismus der
Warmblüter erklären, und in der Tbat hat Jacobj in künstlich durchbluteten Nieren
die Umwandlung von 1/6 des benutzten krystallisirten Colchicins in 4 Minuten in
eine nach Art des Oxydicolchicins auf Frösche wirkende Substanz beobachtet. 3)
Das Colchicin und die Colcbicumpräparate haben in den letzten Jahren
wiederholt den Gegenstand gerichtlicher Verhandlungen gebildet, welche theils
absichtliche, theilt fahrlässige Tödtung betrafen. Viel besproehen ist ein Pariser
Fall, in welchem die angesehensten Pariser Experten es nicht wagten, trotz der Ueber-
einstimmung der Symptome und des Obductionsbefundes , ein decisives Gutachten
abzugeben , weil der chemische Nachweis nicht mit Sicherheit geführt wurde. 8)
Die an denselben Fall sich knüpfenden zahlreichen Versuche, charakteristische
anatomische Befunde der Colchicin Vergiftung zu ermitteln, sei es in Bezug auf
die Veränderungen im Darmoanal, sei es hinsichtlich anderer Organe, haben zu
einem positiven Resultate nicht geführt. Die von Combemale und Mairet4]
constatirte Hyperämie der Epiphysen und des Knochenmarkes ist in keiner Weise
constant. 6) Vom Darme ist der obere Theil des Dünndarms (Duodenum, Jejunum)
am meisten betroffen, wo sich starke Hyperämie und mitunter auch Ulcerationen
finden; doch kann auch der Dickdarm hyperämisch sein, wenn auch selten so
stark wie nach Coloquinthen. 6)
Ueber die kleinste Menge Colchicin, welche den Tod eines Menschen
herbeiführen kann , haben die neuesten Erfahrungen noch nichts Sicheres fest-
gestellt« In einem von Albertoni und Casali 7) begutachteten italienischen Falle
führten 2 Pulver von je 0*2 im Zwischenraum von 2 Stunden genommen den Tod
einer Frau nach wiederholtem Erbrechen und blutiger Diarrhoe in 53 Stunden
herbei. Das ist indess eine jedenfalls weit über der Minimaldose liegende Quantität,
da schon das Extr actum Colchici der französischen Pharmakopoe zu 0*6 in drei
zweistündigen Einzelgaben den Tod in 2 Fällen herbeigeführt hat. b) Bei den
ausserordentlichen Schwankungen der Empfänglichkeit der einzelnen Individuen
wird der Arzt nur mit der grössten Vorsicht die Colchicumpräparate zu ver-
ordnen nahen.
Literatur: *) Jacobj, Archiv f. exper. Pathologie. 1890, XXVII, pag. 118. —
*) Laborde und Hönde, La colchique et la colchicine. Paris 1887. — a)Brouardel,
Vulpian, 8chützenberger, Ogier und Pouchet, Ann. d'hy*. 1888, XV, pag. 230. —
*) Mairet und Combemale, Compt. lend. 1887, Nr. 7 nnd 8. — 5) Granow, Zur
Wirkung des Colchicin. Greifswald 1887. — 6) Bütte, Ann. d'hyg. 1888, XV, pag. 437. —
7) Albertoni und Casali, Annali di Chim. Marzo 1890, pag. 169. — *) Der Strassburger
Vergiftungsprocess. Pharm. Zeitung. 1888, pag. 305, 315. Th. Husemann.
Colitis, 8. Darmentzündung, pag. 174.
164
C0MPRE9SI09.
COMpreSSWIL Der Gebranch der elastischen Binde zur Erzeugung einer
künstlichen Blutleere gehört längst zu dem eisernen Besitzstande der Chirurgie;
aber das Verfahren hat sieh noch nach einer anderen Richtung hin als nutz-
bringend erwiesen. Leonard Corning l) nämlich stellte dnreh Yersuche fest, dass
da* Zustandekommen einer örtlichen Anästhesie dnreh kunstliehe Blutleere in vor-
thefthafter Weise beeinftusst wird. Da die anästhesirende Flüssigkeit durch den
abschnürenden Ring an dem Eintritt in den Kreislauf behindert, und Oberhaupt
auf ein kleines Gebiet beschrankt bleibt, so ist einerseits die Gefahr einer Ver-
giftung nahezu ausgeschlossen und andererseits laset sieh die beabsichtigte
Empfindungslosigkeit durch erheblich schwächere Cocainlösungen erreichen, ais
dies sonst der Fall sein würde.
An den Gliedmassen ist das Verfahren CoRNixe's folgendes: zuerst legt
er oberhalb des Operationsfeldes eine elastische Binde in der Weise an, dass nur
der Strom der Hautvenen, nicht aber der der Arterien unterbrochen wird, also
wie beim Aderlass. Dann folgt die elastische Einwicklung von unten auf bis zur
unteren Grenze des Operationsgebietes ; nun folgen die Einspritzungen, und unmittelbar
nach denselben, oberhalb der Injectionsstellen, das Anlegen eines gut schliessenden
Tourniquets, welches bis nach Beendung der Operation Hegen bleibt, während die
RsifARCH'sche Einwicklung vorher entfernt wird.
Zur Ausführung des Verfahrens am Schädel benutzt Corning einen mit
Kautsehuck Aberzogenen Drahtring (Fig. 10), welcher mit Hilfe zweier Bänder so
am Kopfe festgebunden wird, dass er die zu anästhesirende Stelle umfasst. Für
Wange. Lippen etc. hat er eine Klemme (Fig. 11) angegeben, welche derjenigen
Fig. 10.
Fi«, lt.
ähnlich ist. welche man früher zur schmerzlosen Durchbohrung des Ohrläppchen*
benutzte : der eine Arm der Klemme endet mit einer Peiotte, der andere mit einem
entsprechend grossen Ringe, zwischen beiden wird die betreffende Stelle eingeklemmt
Während Corning offenbar den Schwerpunkt darin legt, dass das
Anästhe^rongsmittel von allen Seiten möglichst eingedämmt werde, um so die
Wirkung zn coneentriren . hat sich herausgestellt , dass die kunstliche Blutleere
an »ich das Znstandekommen der örtlichen Anästhesie begünstigt; mit anderen
Worten : das Cocain (beziehungsweise Erythrophlaein) wirkt umso kräftiger, je
blutarmer das zu anästhesirende Gewebe ist. Diese wichtige Thatsacbe ist nun
zwar seither vielfach bestätigt, allein es scheint, als ob dieselbe doch nicht die
wohlverdiente allseitige Würdigung gefunden hätte. Der jüngere Pernice 2) macht
in einer , an* der Halle'schen Klinik stammenden Arbeit darauf aufmerksam,
dass die verminderte Gefahr einer Cocainvergiftung nicht blos durch die Ab-
sehnflrnng, d. h. dnreh Unterbrechung des Blutstromes, sondern auch dadurch
bedingt sei , dass die nach Wegnahme der elastischen Binde eintretende Blutung
das nun überflüssig gewordene Cocain aus den Geweben herausspüle. Daher
könnte denn auch, wenn nöthig, bei Verletzungen ohne jede Gefahr eine grössere
Menge Cocain znr Anwendung kommen.
Bo wie einerseits künstliche Blutleere die Cocainwirkung steigert, so
erweisen «ich andererseits sehr blutreiche, vor allem aber acut entzündete Gewebe
C0M£RE8SI0N. — CONDYLOME.
165
als angeeignet zu Cocaineinspritzungen. Nun ist aber gerade bei Entzündungen
und auch bei Verletzungen, namentlich bei Quetschungen, zwecks der erforderlichen,
meist sehr schmerzhaften Eingriffe die Anästhesie sehr wflnschenswerth , eine
regelrechte EsMAhCu'sche Einwicklung jedoch unausführbar. Man sucht sich
daher auf andere Weise zu helfen. Für Finger und Zehen ist von mir8) u. A,
folgendes einfache Verfahren angegeben : Man bringt einen entsprechend weiten
und dicken Gummiring über die Spitze des Fingers und rollt ihn bis zur Wurzel
desselben hinauf. Die Ringe verschaffe man sich dadurch , dass man in einer
Gummi waarenhandlung sich von Schläuchen verschiedener Dicke kleine Stücke
abschneiden lässt. Ein Vorrath von wenigen Ringen reicht für Jahre. Statt des
Ringes kann man im Falle der Noth sich des unteren Randes eines Gummifingers,
Gommisaugers etc. bedienen. — Den Gummiring über entzündete Stellen oder
über Wunden fort zu rollen ist aber in der Regel nicht zulässig, Pernice hat
daher eigens ein Instrument erfunden, mit dessen Hilfe sich der Ring leicht ohne
Berührung des Gliedes bis an die Wurzel desselben bringen lässt. Ist so die Blut-
leere, beziehungsweise die Abschnürung bewirkt, dann wird die Einspritzung,
central von der entzündeten Stelle, aber in der Richtung nach dieser hin gemacht.
Die früher vielfach erörterte Frage, ob die künstliche Blutleere für sich
allein anästhesirend wirke oder nicht, scheint nunmehr durch Karbwski's 4) Versuche
endgiltig dahin (ntschieden zu sein: die elastische Einwicklung erzeugt wohl
Tarästhesien aber keine Anästhesie.
Die einfache Compression hat durch Otto6) in Dorpat insofern eine
interessante Erweiterung ihres Gebietes erfahren, als sie von demselben zur
Behandlung der Pleuritis verwendet wird. Er beabsichtigte, auf die Rippen
einen Druck dergestalt auszuüben, dass ihrer „Inspirationsexcursionu ein Hemmschuh
angelegt werde. Zu diesem Behufe wird eine 6 — 7 Cm. breite Baumwoll- (nicht
Kautschuk-) Binde in einer der Localisation des Schmerzes entsprechenden Höhe
angelegt. Ist, wie meist, nur die eine Thoraxhälfte erkrankt, so beginnt man an
der Axillarlinie der gesunden Seite, legt zwei sich deckende Kreisgänge stramm
um den Thorax und befestigt das zum Anfangstheil zurückkehrende Ende mit
diesem und dem mittleren Theil der Binde durch eine grosse Sicherheitsnadel,
während kurz vorher der Kranke noch einmal tief ausathmet. Die Binde muss
mit der erforderlichen Kraft angezogen sein und glatt liegen. Anfangs fühlen sich
die Kranken beengt, bald aber werden sie ruhiger, die Stiche und schmerzhaften
Hustenstösse hören auf und das Athmen wird regelmässiger.
Das Verfahren richtet sich in erster Linie gegen den pleuritischen
Schmerz; Otto ist aber der Ueberzeugung, dass die relative Ruhigstellung
antiphlogistisch wirke und also auch den Entzündungsprocess selbst günstig
beeinflusse.
Literatur: *) New- York med. Journal. 2. Januar 1886. Illnstr. Monatsschr.
1887. — *) Pernice, Ueber Cocain an asthesie. Deutsche med. Wochenschr. 1890. 14. —
*) Handb. der kleinen Cbir. II. Aufl., pag. 291. — 4) Karewski: Hat die künstliche Blutleere
anästhesirende Wirkung? Theiapent. Monatsh. April 1888. — '') Ueber den plenritischen
Schmers uud »eine Behandlung durch partielle Compression des Thorax. Berlin, klin.
Wochenschr. 1889. 39. Wolzendorff.
Condylome (Spitze) sollten besser venerische Papillome genannt werden.
Unkovsky lenkt die Aufmerksamkeit auf die Erweiterung der Lymphgefässe
derselben. Unkovsky gibt an, dass er in Schnitten von in Alkohol gehärteten
Präparaten in den erweiterten Lymphspalten Colonien von Mikrococcen gefunden
habe. Diese sollen schwer Farbstoffe aufnehmen und sich nur in Fuchsin (nach
tingiren. Die Herstellung von Reinculturen gelang und sollen diese, an
Ferkeln und Kaninchen unter die Haut des Scrotums und des Bauches injicirt,
nach drei Wochen an der Injectionsstelle kleine warzenartige Erhebungen hervor-
gerufen haben, welche sich allmälig vergrößerten und nach Unkovsky makro-
skopisch und mikroskopisch alle Erscheinungen venerischer Papillome darboten.
166
CONDYLOME. — CONJUNCTIVITIS.
Diese künstlich erzeugten Vegetationen schwanden stets von selbst meist big
2 Wochen nach ihrem Erscheinen. Diese Angaben bedürfen noch der Bestätigung
Kkkmann bat mit Vortheil die Elektrolyse zur Entfernung der venerischen
Papillome benützt. Er sticht die Kathode als Stahlnadel in das zu entfernende
Gebilde und legt die Anode als Sehwammelektrode auf eiuen indifferenten Körper
tbeil. Wo mehrere Warzen vorbanden sind, verwendet Ehrmann als Kathode ein
mehrtheiliges Kabel, dessen Enden mit 1 Cm* langen . in leichten Klammern
steckenden Nadeln versehen sind, die, einmal eingestochen, nicht weiter fixirt zu
werden brauchen, so dass der Strom zu gleicher Zeit an 3 — 6 Stellen seine Wirkung
entfalten kann. Ehrmann verwendet einfache spitze Nadeln, welche er, um das
Keimlager zu treffen, schräg unter die Basis einsticht. Eh KM ANN rühmt als Vor-
theile dieser Behandlungsmethode 1. den geringen Schmerz, 2, das Wegfallen
der Blutung, 3, die Leichtigkeit, mit der die Antisepsis durchgeführt werden kann,
4) dass man, ohne eine Wunde zu setzen, das Gebilde bis in die Tiefe zerstören
kann , wodurch Narben vermieden und Recidive verhindert werden, Bockha&t
empfiehlt namentlich für die Behandlung kleiner, isolirter, eng beisammenstehender
venerischer Papillome das Ptumbum causticum von Gerhard entweder in Losung
(PIK oxyd. 0'J?5, gelöst in 7*5 einer 33procentigen KalicausticumlöRung) oder
in Stiftfonn (2 Theile Bleioxyd in 8 Theilen geschmolzenem reinem Aetzkali). Die
Wirkung soll eine radicale, und die Aetzgeschwüre klein sein und rasch heilen.
Literatur: liikrorvrganismeo der spitzen Condylome, Wr&tsch. 18^5, Nr* 14. *—
Resultate der Inoculatioti von Ctilturen dar Mikfoben der spitzen Condylome, W rutsch. 188*
Nr. 46 — Heber die Behandlung warziger Gebilde mittelst Elektrolyse. Wiener Med Presse
1890t Nr. 9 und 10. — Monatshefte fax pnüct. Dermat. 1888, Nr. 4. v. ZeiasJ.
Conjunctivitis, Die äusserst reichliche Literatur der letzten Jahre
bringt bei strenger Sichtung wenig für den praktischen Arzt Wichtiges, wenig
Abgeschlossenes,
Fast ausschliesslich beschäftigt sie sich mit den Mikroben der Conjunctiva,
besonders mit denen des Trachoms, dann in ausgedehntem Maasse mit dem Trachom
überhaupt, und zwar mit der Stellung der folliculären Conjunctivitis zum Trachom oder
mit therapeutischen Versuchen einer rascheren Heilung dieser Krankheit. Ueber di
beiden letzten Punkte haben besonders russische Aerzte zahlreiche Arbeiten gelief
Die Mikroben von zahlreichen Personen mit gesunder oder chronisch
catarrhalischor Oonjuuctiva bat A. E, Fick (Ueber Mikroorganismen im Conjunctivae
sack, Wicshadflü 1887) uuirisin'ht. l> tand t» Artui von StilhHieu, darunter besonders
häufig das Luftstabeben Mjchel's (Xerosebacillus ?) und 4 Arten von Coccen» Die
in der Conjunctiva überhaupt gefundenen Mikroben theilt er in 4 Hauptgruppen :
U Solche, die, auf gesunde Conjunctiva gebracht, sich vermehren und
speci fische Krankheiten erzengen (Gonococcus, Trachoracoccus).
2. Solche, die nur unter besonderen Umständen, z. B, bei Epitheldefecteu,
sieh einuisten und dann speci fische Erkrankung erzeugen (Tuberkel bacillen,
Schimmelpilze, Staphylococcus pyogenes aureus etc.).
3. Solche, die auf gesunder und pathologischer Schleimhaut zwar wachsen,
aber keine pathologischen Procease auslösen (a. B das Luftstäbchen etc.).
4. Solche, die sich im Bindehautsack nicht vermehren köunen und früher
oder spater von den Thränen weggeschwemmt werden (st. B. Sarcine, Fäden-
bacillen u. a.).
Von den pathogenen Mikroorganismen wird es nur vom Gonococcus als
sicher angenommen, dass er der Erreger der acuten Bindehautblennorrhoe
sei. (An Zweiflern an dieser Sicherheit fehlt es allerdings auch nicht; Ottava in
Nagel 's Jahresbericht. 1888.) Auf die vollkommen intacte Bindehaut gebracht,
kann er schon in 12 bis 24 Stunden eine heftige Entzündung erregen, und man
kann die Coccen zwischen dem Epithel bis an den Papillarkörper vorgedrungen
finden. Sattler (VIL intern, period. Ophthalmologenoongress in Heidelberg 18S8
nimmt an, dass sie bei ihrer Vegetation auf dem ihnen sehr zusagenden Nährboden,
CONJUNCTIVITIS.
167
den die feuchte Conjunotivaloberfläohe vorstellt, eine intensiv giftige Substanz
produeiren, die auf dem Wege der Diffusion in das Schleimhautgewebe vordringt,
und hier besonders die Wand der kleinen Gefasse so verändert, dass eine enorme
Erweiterung der letzteren und massenhafter Durchtritt von geformten und un-
geformten Blutbestandtheilen zu Tage tritt.
Sehr zweifelhaft sind die Coecen des Trachoms, die von Sattler,
Kuchabsky, Petresco u. A. besehrieben wurden, die übrigens nicht mit einander
übereinstimmen. Es sind vom Gonoeoceus verschiedene kleine Diplococcen, die im
spärlicher Anzahl vorkommen, sieb schwer cultiviren lassen und nur ausnahmsweise
auf menschlicher Bindehaut haften, so dass man nicht mit Sicherheit annehmen kann,
dass sie die eigentlichen Erreger des trachomatösen Prooesses seien (Sattler).
Auch bei Conjunctivitis fo llicularis wurde ein kleiner runder,
vom Diplococcus verschiedener Coccus von Basevi (Annal. d'Ottalm. Bd. XVII,
1889) gefunden.
Bei Croup und Diphtheritis hat man bisher noch keinen speeifisehen
Mikroorganismus entdeckt.
Auch Sattler hat wie Weeks bei acutem contagiösen Augen-
c a t a r r h einen Bacillus gefunden, doch sind die beiden verschieden. Sattler fand
auch bei diesen Conjunctivitiden ziemlich regelmässig den Staphylococcus pyogenes,
der in einer seiner drei Arten anzutreffen war.
Ob der bei Conj. lymphatica (phlyctaenulosa) von Burchardt,
G alleng a, Leber und Sattler gefundene Mikrococcus zu der Krankheit in
irgend einer Beziehung stehe, ist sehr zweifelhaft, wie Sattler selbst aus-
spricht; vielleicht, meint dieser, sind sie für die consecutiven schweren Eiter-
infiltrate in der Cornea verantwortlich zu machen. Leber hat von seinen
Cocceu gefunden, dass sie die Ursache des aus kleinen Pusteln bestehenden Exan-
thems auf der Haut sind, das mit den sogenannten sorophulösen Ausschlägen ganz
übereinstimmt. Wie man sieht, sind die ätiologischen Beziehungen der Mikroben
zu den Bindehauterkrankungen noch nahezu unbekannt.
Sehr heftige Debatten werden über das Verhältniss der sogenannten
folliculären Conjunctivitis zum Trachom geführt. Während die Einen
(Reich, Chodin, Peknow) jede folliculäre Bindehautentzündung für ein mildes
Trachom ansehen, sprechen sich Andere ebenso entschieden gegen die Identität der
beiden Processe aus. Nach meiner Meinung ist es zweifellos, dass in manchen Fällen
die Follioularconjunctivitis ein abgeschwächtes Trachom ist, wobei ich besonders
an zahlreiche derartige Fälle denke, die ich in einer Caserne beobachtete, die seit
30 Jahren beständig von Trachom heimgesucht ist. Aber für ebenso sicher halte
ich es, dass die so häufig sporadisch auftretenden Erkrankungen nichts mit dem
Trachom zu thun haben. Es scheint mir vielmehr, dass unsere diagnostischen
Mittel derzeit nicht hinreichen, um die zwei ihrer Wesenheit nach verschiedenen,
in ihrem Aussehen aber gleichen Processe zu trennen.
Als dem Trachom in manchen Fällen sehr ähnlich wurde Tuberkulose
erklärt, nur der Nachweis der Tuberkelbacillen vermag die Diagnose zu sichern
(Rhein); Goldzieher und Sattler haben Körnerbildungen in der Bindehaut
beobachtet, die sie für syphilitischer Natur erklären.
Betreffs der Therapie des Trachoms wird entweder nach medi-
camentösen Mitteln gesucht oder es werden operative Eingriffe vorgeschlagen, um
die langwierige Krankheit abzukürzen. So wird von mehreren Seiten Sublimat-
lösung empfohlen, Felskr erklärt Jodtrichlorid für das beste Antisepticum für den
Conjunctivalsack und zieht es dem Sublimat vor. Schjepkjn empfiehlt subconjunctivale
Injectionen von 2°/0iger Carbollösung, Wadz[NSKY und Serrbrejjnikowa verwerfen
dieselben. Wagjeewsky empfiehlt Jod- Jodkaliumlösung (1 J + 2 K J : 2000 bis 4000'.
Andere pinseln die Trachomkörner mit Drahtpinseln aus (Schröder),
quetschen und drücken oder löffeln sie aus, zerstören sie mit dem Galvanocauter
durch Punctur (Reich, Karwetzky U.A.), suchen sie durch Elektrolyse zu zer-
168
CONJUNCTIVITIS. — CRETINISMUS-
stören (Johnson, Archiv für Augenheilk. 1890, Bd. XXIII i oder schneiden die
ganze erkrankte Bindehaut aus. Allgemeine Aufnahme hat keine dieser Methoden
gefunden, so weit sie bisher einer Controle unterzogen wurden, die Excisionen
wurden direet abgelehnt, da sie zu noeh grösserer Verkürzung des Bindehaut&ackes
führen (FüCHS, Lehrb.)-
Bei Diphtheritis der Bindehaut hat Leber durch vorsichtiges Pinseln
mit starker l%iger Sublimatlösung so gute Resultate erhalten, dass er das Mittel
empfehlen zu können glaubt Fieczal pinselt die diphtheritiscben Stellen mit
frischem Citronensaft ein , was , wie ein Gegner dieser Empfehlung bemerkt , das
Gute hat, dass der Arzt vom Aetzen dieser Stellen abgehalten wird.
EifERT ii! acht auf das Auffallende der geographischen Verbreitung des
Frübjahrsoatarrha aufmerksam. 88°l0 seiner Fälle stammten aus dem See-
bezirk des Berner Oberlands, In einem Fatle sah er Seh winden der Krankheit,
als der Kranke sich in 's Waadtland begab, und Wiedererkrankung als er zurück-
kehrte. Vollständige Heilung wurde durch bleibenden Domicilwechsel erreicht
Cuibret fand, dass in einer gewissen Höhe im Binnenlande das Trachom sehr
selten sei, und dass es, wenn eingeschleppt, rasch und fast spontan heilte, was
IIa ab auch in der Schweiz öfters beobachtet hat. v. Betisa.
Co ntactb rillen, s. Brillen, p&g. ii$m
CreOlin, e. Augenheilmittel, pag. 66.
CretiflismtlS. Unter Aoftebot ganz besonderer Mittel sind neue For-
schungen über das Wesen des Cretinismus in Italien bewerkstelligt worden. Von
Privatunternehmungen fnsst eine von Verga und Bkünati herrührende Studie
über die Aetiologie des Cretinismus und Idiotismus zunächst die in
der Literatur landläufigen Anschauungen zusammen. Sie selbst gründeten einen
unabhängigen Pfad der Forschung auf die Beantwortung eines Fragebogens mit
25 Fragen . welche letzteren neben einem sehr eingehend speeificirten Nationale
auch die geographisch-pathologischen Eigentümlichkeiten der Kropf- und Oed neu-
bezirke, die frühesten Erscheinungen der fraglichen Gebrechen, alle Fingerzeige
der Heredität, die auf- oder absteigende Frequenz , in welcher sich die Krank-
heiten bewegten und Aehnliches im Auge behielten. Als gemeinsamer Grund-
factor für den Kropf wie für den Cretinismus schien sich eine Entwicklungshemmung
des Gehirns, „eine cerebrale Scrophulose" herauszustellen , die mit der Entwick-
lung der allgemeinen Scrophulose Hand in Hand geht. Muss man auch mit der
Mehrzahl älterer Forscher die Erblichkeit der Scrophulose zugestehen t so wird
ihre Entwicklung besonders mit Bezug auf die in Rede stehende Form doch
besonders begünstigt, durch Mangel an Luft und Licht gefördert. Diesem in früher
Jugend stark zur Wirkung gelangenden Einfluss gegenüber stellt das Gehirn bei
den Rcropbulös Beanlagten gewissermaßen den Locus minorts rexistenUae dar.
Daneben lassen die Verfasser indess auch gewisse örtliche Schädlichkeiten und
den Einfluss der Blutsverwandtschaft gelten, so dass sie als praktisch in Frage
tretende Vorbeugungsmassregeln auch die Vermeidung der Ehen mit Blutsver-
wandten und mit Alkobolisten hervorheben* Besondere Bedeutung kommt , dem
Ergebniss der Fragebogen zufolge, auch Krankheitsanfällen während der Schwanger-
schaft und während derselben erlittenen Traumen (besonders solchen, welche den
Uterus direet treffen) zu.
Als etwas jüngere Anregung (1887) von einer um die Seuchenforschung
bereits mehrfach hochverdienten Stelle , dem Ministerium für Landwirtschaft,
Industrie und Handel , ist die von demselben veranstaltete Enquete über Kropf
und Cretinismus besonders hervorzuheben. Die Fragestellungen knüpfen mehrfach
an Sormani's gleichsinnige Untersuchung (Gcogmfia nomlogica deW Italia. 1881)
an; doch darf als wesentlicher Unterschied nicht unbetont bleiben, dass SOBUANl's
Material im Wesentlichen nur aus den Hecrutirungslisten bestand-
CRETINISMUS.
169
Diese neue Enquete hatte nun nicht allein die fraglichen Verhältnisse
für st mmtliche Schichten und Lebensalter der Bevölkerung klarer zu
legen, sondern ganz besonders auch eine Feststellung des V erhältnisses von
Kropf undCretinismus zu bewirken, welches trotz der vorhandenen Special-
arbeiten von Bonacossa, Tbombotti, Galli, Tardffi noch immer vielfache
Widersprüche aufwies, und endlich möglichst alle ätiologischen Momente
in die Fragestellung aufzunehmen.
Zur Erfüllung dieser Zwecke wurden den Prftfecturen Anleitungen in
Form von Fragebogen zugestellt , aus denen für den Cretinismus Folgendes
sich ergeben sollte: Localitäten des Districts, in welchen Cretinen überhaupt und
in welcher Anzahl sie gefunden werden. Welche Massnahmen haben daselbst zur
Unterdrückung des Uebejs ihre Anwendung gefunden und wie haben sie gewirkt?
Was hält man für die Ureachen des Leidens ? Giebt es im Bereiche des Districts
Ehen zwischen Cretinen oder solchen mit gesunden Personen? Angaben über die
geologische Beschaffenheit der betreffenden Terrains und besonders über etwaige
auffallige Luftstagnationen (Mängel in der Ventilation de* Ortschaften) und endlich
speciell sich auf den betreffenden Bezirk beziehende monographische Abhandlungen
über diesen Gegenstand (gedruckt oder geschrieben).
Aus den Resultaten (es werden die den Kropf betreffenden an dieser
Stelle übergangen) heben sich am markantesten folgende Thatsachen hervor : Die
Verminderung der Cretinen im Thale von Aosta innerhalb 40 Jahren um
über 40°/ o ; die enorme Vermehrung unter der Bevölkerung von Jvrea im
gleichen Zeiträume von 331 auf das Siebenfache. Geringe Verminderungen der
Cretinen hatten Susa und Pinerolo aufzuweisen. Für Italien in toto ergab sich
ein Plus von 1344 (seit 1848).
(Für spätere Enqueten hinsichtlich des Cretinismus wird vor Allem
besonderes Gewicht darauf gelegt werden müssen, den Semicretinismus
einerseits und den vollständigen Idiotismus andererseits womöglich schon durch
besondere Zählkarten von dem ausgesprochenen Cretinismus abzugrenzen. Tarüffi
hat in Bezug auf diese Punkte werth volle Unterscheidungsmomente aufgestellt.
Auch auf den Umstand der wirklichen Endemicität und des Entstehens des
Cretinismus am Orte der Zählung selbst wird besonders zu achten sein.)
In Beziehung auf die Entstehungsursache tauchten in den Einzel-
berichten alle möglichen Theorien wieder auf; neben der Anklage einer dicken,
unbewegten oder auch miasmengeschwängerten Luft, die Hinweise auf verschiedene
mangelnde oder im Ueberschuss vorhandene Bestandteile des Trinkwassers,
auch auf Mikroorganismen im Sinne von Elkbs. Selbst die schon oft
literarisch erörterten Streitigkeiten über den Zusammenhang oder Nichtzusammen-
haog von Kropf und Cretinismus, über die Zulässigkeit des Bestehens
gemeinsamer oder getrennter Pathogenese und veranlassender Momente wurden in
den Berichten wieder belebt. In der Frage, ob Heredität und Verwandt-
schaftsheiraten zur Verbreitung des Cretinismus tragen, haben viele Bericht-
erstatter ebenso eine affirmative Stellung eingenommen, wie gegenüber den
Zweiflern, ob die Förderung der allgemeinen Lebensbedingungen und die Fort-
schritte im Verkehrs- und Sanitätswesen dazu beigetragen haben, dem Uebel
Schranken zu setzen.
Ueber den alpinen Cretinismus in Steiermark hat Kkatteb (2)
gearbeitet und seine Resultate theils monographisch, theils durch Vorträge in der
österreichischen Gesellschaft für Gesundheitspflege bekannt gegeben. Nach der
Volkszählung von 1880 kommen auf 100.000 Einwohner in Vorarlberg 34, in
htrien 36, in Krain 51 , in Görz und Gradisca 64, in Niederösterreich 79, in
Tirol 112, in Oberösterreich 155, in Steiermark 240, in Salzburg 309, in
Kärnten 343 als Cretinen bezeichnete Individuen, d. b. durchschnittlich 69 und
bei einer Gesammtbevölkerung von etwas über 22 Millionen 15.195. Kärnten weist
lOmal, Salzburg 9mal, Steiermark 7 mal soviel Cretinen auf, als das auf der
170
CRETfNISMUS. - CURARE.
südlichen Kalkalpenparallelkette gelegene Küstenland. Verfasser hat nun die Ver-
keilung des Uebels auf die einzelnen Distriete Steiermark^ genau studirt and
kartographisch dargestellt Auftallig selten finden sich Cretinen — den Boden-
formen nach — auf den Alpenkalkterritorien : der Cretinismus tritt auf den
jrcsammten Tertiärformationen des Landes entschieden numerisch zurück. I>i>;
intensivsten Herde finden sieh in den offenen ThÄlern ; speciell gehäuft erscheint
das Uebel auf dem Diluvium jener Flüsse, deren Quellgebiete im Urgestein liegen ;
das Elevationsgebiet erscheint schmal begrenzt (zwischen 300 — 1000 Meter verti-
caler Erhebung), mit einer Prädilection für die Zone zwischen 450 — 700 Meter.
Trotz dieser anscheinend gegebenen Bedingungen legt Kratter doch auf hygienische
Prophylaxe grosses Gewicht,
Literatur: Giov. Batt. Verga e Ag. Brun&ti, Studio suW tziologia dett
erttinismo e delV idiozia Gasz. med. Jtal -Lombard. Nr. 5, 6, 8, 9. — B a 1 1 i 8 t a Verga,
Appendice allo studio sulV tziologia dtll* idiopazio e det cretinumo. Ibid. Nr, 10. — Min
äterio di agricoltura , industria e com mer ei o t Studio tulle en Hernie del cretiniw
(t <iel gozzo). Amiali di agricoltura* 18*7. Koma, Bottn's Erben* 352 Seiten. — J. Kratter*
Der alpine Cretinismns, insbesondere in Steiermark. Graz. Auch ref. in Wiener med. Wochensclir.
Nr, 18. — Kirkt Sporadic crttittium in Scottaud. The Lancet. 30. Aug. (Besprechung von
5 einsebläsigeu, mit Myxödem* eompticirten Fällen, eine Complicata n, welche K i r k als ätio-
logische Verwandtschaft za deuten geneigt ist*) Wem ich*
Curare {vergl. Real Encyclopftdie, II. Aufl., Bd. IV, pag. 613). Man
ist in neuerer Zeit allgemein zu der üeberzeugung gelangt, dass die geradeso als
Curarewirkung bezeichnete paralysireude Action auf die peripheren Nerven-
endigungen nicht als eine dem Cnrarin zukommende ausschliessliche Beziehung zu
diesem Theile des Nervensystems aufzufassen sei. Cnrarin ist ein Gift, das auf
alle Theile des Nervensystems wirkt, wenn es zu diesen in einer zur Erzielung
des Effectes nfithigen Menge gelangt und die nfUbige Zeit zur Beeinflussung der
betreffenden Partien bat; doch Bind die peripheren Nervenendigungen auf alle Fälle
bedeutend empfindlicher. Bringt man Curare in grösseren Mengen zum Rücken -
marke, sei es durch direete Application desselben oder durch lnjeetion durch die
Aorta nach Unterbindung der das Blut zu anderen Kflrperth eilen führende □
Gefässe, so zeigt Curare auch eine der Lähmung voraufgehende tetanisirende
Wirkung, die wie solche auch anderen dem Curare verwandten Giften, z, B. dem
Methylstrychnin zukommt. 1 1 Eine lähmende Wirkung zeigt das Curare auch aui
die peripheren Endigungen der GefäaBnerven , denn auch nach Elimination des
Vagus und aller centralen nervösen Einflüsse, sowie der centralen Reflexe erzeuin
die Einspritzung von Curariolösung in die Blutgefässe, sowohl Venen als Arterien,
unmittelbares Sinken des Blutdruckes* *) Von wesentlicher Bedeutung ist hierbei
die Thierart, indem z. B. beim Kaninehen auf das Sinken des Druckes bei kleinen
Curarinmengen starke Erhöhung, verbunden mit enormer Steigerung der Reflexerreg-
barkeit des vasomotorischen Systems folgt, die durch grosse Curarin gaben aufgehoben
wird. Wie wesentliche Unterschiede aber in der Empfänglichkeit der Muskelnerven
endigungen und der vasomotorischen Nerven bestehen, zeigt das Factum, dass zur
vollständigen Lähmung der vasomotorischen Nerven bei Kaninchen die 100 — 300fache
der zur Lähmung der Muskelendtgungen erforderlichen Curarinmenge nöthig ist. Auch
bezüglich der nöthigen Menge zur Aufhebung der Hemmungswirkung des Vagus auf
das Herz, welche grosse Dosen Curarin constant herbeiführen, ist die Thierart von
Bedeutung: Kaninchen sind weniger empfindlich als Katzen nnd Hunde. Am stärksten
widerstehen der lähmenden Wirkung die glatten Muskeln und ihre Innervation ; die
erweiternde Wirkung der peripheren Reizung des Halssympatbicus auf die Pupille bleibt
auch nach grossen Dosen Cnrarin erhalten und dasselbe gilt von der Peristaltik. Merk*
würdig ist das Verhalten der verschiedenen Thierarten bei localer Curareapplieation
auf das Auge, bei Säugethiereu tritt keine Pupillenerweiterting ein, bei Vögeln regel-
mässig. A tropin wirkt in dieser Beziehung gerade umgekehrt. *) Interessant bt
nneb das Verhalten der Fische: bringt man diese in eine Curarelftsuug, so bedingt
das Gift Herabsetzung der cerebralen Thätigkeit (Sopor) , bei lnjeetion unter die
CURARE. — CYANOSE.
171
Haut exquisite Lähmung durch Paralyse der Muskelendigungen. Die Ursache dieser
Differenz Hegt darin, dass die Fischhaut der Resorption des Curare ein Hemmniss
in den Weg stellt und hei dem Aufenthalt von Fischen in Curarelösungen das
Gift nicht zu den Nervenendigungen gelangt, sondern durch die Kiemen resorhirt
und sodann mit dem Blute in grösseren Mengen den Nervencentren zugeführt wird.
Dass von der Oberhaut keine Curareresorption stattfindet, erklärt es auch, weshalb
manche Arthropoden, z. B. Mtlckenlarven in Curarelösungen nicht afficirt werden,
indem ihr Chitinüberzug dem Gifte den Weg versperrt. a)
Uebrigens ist Curare nicht blos giftig für Thiere mit ausgebildetem
Nervensystem, es ist auch ein Protoplasmagift. Es setzt die Bewegungen der
Amöben und der Lymphkörnchen der Frösche in exquisitester Weise herab. Zu
einer vollständigen Lähmung kommt es aber nicht, vielmehr stellt sich nach
wiederholter Ausspülung die Bewegungsfähigkeit der gedachten Gebilde wieder her.
Der Umstand, dass das Ausspülen durch Curare gelähmter Extremitäten bei
höheren Thieren die Bewegungsfthigkeit restituirt, hat Nikolski und Dogjel2)
zu der Theorie geführt, dass Curare in ähnlicher Weise auch auf das Protoplasma
der Nerven und Muskeln wirke, so dass nur eine sehr lockere Verbindung mit dem
letzteren existire.
Eine gewisse Bedeutung für die Wirkung mancher Curaresorten scheint
auch dem von Böhm darin aufgefundenen zweiten Alkaloide , dem C u r i n , zuzu-
kommen. Während dieses ohne Einfluss auf die peripheren Nervenendigungen ist,
beeinflusst es die Herzthätigkeit nach Art des Digitalins und Veratrins. Bei den
geringen Mengen des Curins im Curare und bei der ziemlich starken Dose, welche
nöthig ist, um Blutdruckabfall und Herzstillstand herbeizuführen (beim Kaninchen
0'08 intravenös), tritt dessen Wirkung bei Vergiftungen mit den gewöhnlichen
Curaresorten nicht zu Tage. Es ist aber nicht unmöglich, dass einzelne der zur
Cur&rebereitung benutzten Strychnosrinden grössere Curinmengen enthalten. So
hat Tillier das wässerige Extract einer derartigen aus Neu- Granada stammenden
Rinde untersucht, das offenbar in Folge von Kreislaufstörungen Lähmung bedingte. *)
Literatur: ') Tillie, Archiv f. exper. Patb. 1890, XXVI, pag. 1. Journ. of
Anat aod Physiol. XXIV, pag. 5l9, XXV, pag. 41. — *) Nikolski undDogiel, Pflüger*
Archiv. XLVII, pag. 65. Hnsemann.
Cy&llOSB (maladie bleue). Auch neuere Untersuchungen Ober jene
Cyanose, die bei angeborenen Herzleiden mit Communieation zwischen beiden
Herzhälften auftritt, bestätigen, dass die Cyanose dabei kein constantes, sondern
ein labiles Symptom ist. Solche Untersuchungen liegen von Thomas Oliver 1)
und von Düroziez 2) vor. Einerseits ist Cyanose schon beobachtet worden bei einem
nur sehr schmalen Offenstehen des Foramen ovale. Andererseits ist sie ausge-
blieben in Fällen von Offenbleiben des Foramen ovale nicht nur, sondern auch
des Ductus Botalli, ja sogar beim Fehlen der Ventrikelscheidewand. Daher
konnten Personen mit congenitalen Herzdefecten 50 — 60 Jahre alt werden. So
lange der Blutdruck nur in beiden Herzhälften fast gleich ist, wird trotz defecten
Septums und trotz der dadurch ermöglichten Blutmischung der beiden Blutarten keine
Cyanose eintreten. Sie tritt jedoch alsbald auf, wenn central oder peripher ein
Hinderni8sfürdieBlutcirculation entsteht, wenn das Gleichgewicht durch
irgend welche intercurrente Affection aufgehoben wird. Insbesondere sind dies oft
Lungenaffectionen und Degeneration des Herzmuskels mit Asystolie des Herzens. Es
treten alsdann neben der Cyanose des Gesichtes, der Hände und Fflsse Anfälle von
schwerer keuchender Respiration mit grosser Herzbeängstigung auf. Die Temperatur
ist dabei erniedrigt, die Fingerspitzen werden allmälig kolbig. Unter derartigen,
oft sich wiederholenden Anfällen kann es alsdann schon sehr früh zum tödtlichen
Ausgang kommen.
Literatur: ') Thomas Oliver, Clinical and patholoyical bearings of mal-
formation of the heart. British Journ. 5. Jan. 1889. — *) Düroziez in Union med. 1888,
Nr. 107 und 108. Samuel.
172
CYANVERBINDUNGEN. — CYCLAMIN.
Cyanverbindungeil (vergl. Real-Encyelopädie, II. Aufl., Bd. XI,
pag. 623). Die Giftigkeit der S ulfocy anwassersto ff säure ist durch
Paschkis1) dargethan. Sie steigert bei Fröschen und Warmblütern die Reflex-
erregbarkeit und ruft Tetanus hervor, bedingt bei Fröschen dauernde, durch
Atropin aufhebbare Herzstillstände und erzeugt bei Warmblütern bedeutende
Steigerung des Blutdrucks und Arhythmie des Pulses. Rhodannatrium erregt die
Peristaltik. Die Rhodanverbindungen können in allen Organen und im Harne
nachgewiesen werden.
Literatur: Paschkis, Wiener med. Jahrb. 1885, pag. 531.
Tb. Husemann.
Cyclamin. Das in Knollen von Cyclamen europaeum L. enthalten
Glykosid Cyclamin ist ein den Saponinen (s. d.) sehr nahe verwandtes Gift,
unterscheidet sich aber in seiner Wirkung wesentlich dadurch, dass es bei Ein-
spritzung in das Blut ausgesprochene Hämoglobinurie erzeugt, die bei den kleinsten
giftigen Gaben (15 Mgrm. per Kilo) die einzige Vergiftungserscheinung ist,
während grössere Gaben noch verschiedene Organentzündungen und Veränderungen,
die mit dem Zerfalle der Blutkörperchen und mit der dem Cyclamin zukommenden
coagulirenden Wirkung auf Blut und Myosin im Zusammenhange stehen, erzeugen. Zu
den durch Inf usion von Cyclamin bewirkten Entzündungen gehört namentlich Nephritis
parencbymatosa und Glomerulonephritis, aber auch hämorrhagische Gastroenteritis,
Hepatitis und Bronchopneumonie. Die Cyclaminniere weicht von der Kalium-
chromatniere dadurch ab, dass die Veränderung stets in Einlagerung einer hyalinen
nussbraunen Masse in die geraden Harnkanälchen und in die aufsteigenden Aeste
der HENLE'schen Schlingen und in Ansammlung eines gerinnbaren, der Kapsel
anhaftenden Exsudats in den Glomeruli besteht. Im Harn findet sich stets das
OxyhämoglobiDspectrum, niemals Methämoglobin. Sehr grosse Dosen bewirken intra-
venös unmittelbaren Erstickungstod und Stillstand des Herzens, kleinere Erbrechen,
anfangs Steigen, dann Sinken des Blutdrucks, Schwäche, Dyspnoe, Arhythmie
des Pulses , mitunter Krämpfe ; charakteristisch ist starker Rigor mortis. Bei
Durchleitungsversuchen tritt an Gefässen colossale Verengung, offenbar durch
anatomische Veränderung, da frisches Blut nicht restituirend wirkt, ein; Herz
und Muskeln werden bei Durchströmung durch Myosingerinnung leistungsunfähig.
Auf der Haut wirkt Cyclamin nicht entzündungserregend , wohl aber subeutau ;
intern bedingt es vermehrtes Wonnegefühl im Magen und in grösseren Dosen
Erbrechen.
Literatur:Kobert and Tufanow, Dorpater pharmakol. Arbeiten. 1 888, 1, pag. 100.
Th. Husemann.
D.
Darmblutungen. Zu den toxischen Substanzen, welche unter Umständen
Darmblutungen verursachen, gehört nach neueren Erfahrungen auch das Sublimat.
Virchow (Berliner klin. Wochenschr. 1887, Nr. 50) sah Fälle dieser Art
naeh Ausspülung der Vagina zu geburtshilflichen Zwecken und bei puerperalen
Erkrankungen, sowie bei chirurgischer Behandlung. Es entsteht eine diphtherie-
ähnliche Entzündung des Dickdarms, Tenesmus, Leibschmerzen und Meläna. Die
Obduction zeigt eine oberflächliche Necrose, wie bei der catarrhalischen Ruhr
oder eine in die Tiefe greifende Entzündung von diphtherischem Habitus, welche
sich entweder auf die Mucosa beschränkt oder durch diese bis auf die Muscularis
greift. Die Affection kann schon 24 Stunden nach Anwendung des Sublimats auf-
treten, ergreift am stärksten das Rectum und nimmt nach oben an Stärke ab.
Auch nach äusserer Einreibung von 2 Grm. Ung. cinereum ist ein derartiger
Symptomencomplex beobachtet worden.
Ueber die Darmblutungen beim Typhus s. den Artikel Abdominal-
typhus, (pag. 6). Hier sei nur aus dem Berichte von Joske im Austrat, med.
Journ., June 1887, herausgehoben, dass er in 266 Fällen 33mal = ll'5°/ö Darm-
blutungen mit 6 Todesfallen hatte.
DarmCatarrh. In der Behandlung der catarrhalischen Erkrankungen
des Darms — diese Bezeichnung im weitesten Sinne genommen und nicht auf
den eigentlichen Darmcatarrh beschränkt — nimmt die Antiseptik des Darms,
d. h. die Zerstörung der Producte des Stoffwechsels der Mikroben im Darmcanal
in jüngster Zeit einen breiten Raum ein.
ROGER (Fermentation* et piürdfactions intestinales. Gaz. des höp. 1888,
Nr. 39) empfiehlt zu diesem Zweck nach dem Vorgange von Bouchabd das
Naphthol-a und -ß anzuwenden. Die anderen in Frage kommenden Antiseptica,
wie z. B. das Chinin , das Schwefelkohlenstoffwasser , die Quecksilbersalze , das
Jodoform u. s. f. haben , wenn sie in genügend starker Dose gegeben werden,
toxische Eigenschaften oder sind, wie z. B. die Wismuthsalze , zu schwach und
ihre Wirkung in Folge ihrer schnellen Absorption von zu kurzer Dauer. Das
Naphthalin ist wegen seiner unangenehmen Nebenwirkungen auf den uropoetischen
Apparat nicht oder doch nur mit grosser Vorsicht verwendbar, dagegen rühmt
8ahu neuestens das Salol, welches sich bekanntlich im Darm in Phenol und
Salicylsäure spaltet. Mit 2*5 Grm. Naphthol-ß oder mit 3 — 4 Grm. Naphthol-a
pro die soll man eine so vollständige Desinfection des Darmeanals zu Wege
bringen können , dass geruchlose Stühle entleert werden. Wir (Ewald) haben bei
mehrfachen Versuchen, die sich freilich alle auf Abdominaltyphus mit übrigens gutem
Verlauf bezogen, ein so günstiges Resultat nicht erhalten, vielmehr eine grob
merkbare Veränderung der Stühle nach mehrtägigem Naphthol-ß-Gebrauch über-
174
DARMCATARRH. — DARMENTZÜNDUNG.
haupt nicht constatiren können, wollen aber gerne zugestehen, dass unsere Versuche
zur Abgabe eines definitiven Urtheils nicht genügend zahlreich und namentlich
zu einseitig bei Typhus (für den die Methode allerdings ganz besonders von
Roger empfohlen wird) angewandt sind.
Bei allen Formen tiefer sitzender Catarrhe, besonders bei den acuten
Catarrhen der Kinder brauchen wir fast ausschliesslich einfache Irrigationen mit
mässig temperirtem Wasser, wie diese auch Baginsky und Monti (Archiv für
Einderheilk. VII, pag. 161) anwenden, wobei man dem Wasser adstringirende
(Tannin, Alaun , Plumb. acet.) oder desinficirende Substanzen zusetzen kann , je
nachdem der entzündliche oder der fermentirende Charakter des Processes mehr
in den Vordergrund tritt. c a. Ewald
Darmentzündung. Unter den Ursachen der Darm-, und zwar speoiell
der Dickdarmentzündung ist hier die Quecksilberdarreichung nachzutragen, welche
durch Grawitz (Deutsche med. Wochenschr. 1888 , pag. 43) eine ausführliche
Besprechung erfahren hat. Die Einwirkung auf die Darmsohleimhaut kann nach
innerlichem Gebrauch, nach subcutaner Injection, Einreibung mit grauer Salbe und
selbst nach Ausspülen des Mundes mit schwachen Sublimatlösungen eintreten und
das Bild der Darmdiphtherie veranlassen. Der anatomische Befund ist hier mit
dem bei der Ruhr (s. d.) zu beobachtenden identisch. In den schweren Formen
treten necrotische Herde und hämorrhagische Entzündung mit enormer Ausdehnung
auch der Dünndärme auf, wobei es zu einer massenhaften Ansiedelung von Mikro-
organismen an den betreffenden Stellen kommt. Salkowski hat direct Hg in den
erkrankten Darmpartien nachgewiesen. Der Entstehungsmodus ist offenbar, wie
schon E. Feaenkel (Virchow's Archiv. Bd. XCIX) angegeben hat, der, dass die
Erkrankung durch das resorbirte und nach dem Darm hin wieder ausgeschiedene
Sublimat veranlasst wird, und zwar beruht die hervorragende Betheiligung der
Taenien des Dickdarms, wie Grawitz durch das Experiment am Hunde nachwies,
nicht darauf, dass die Falten des Darms vorherrschend durch die Darmcontenta
gereizt und so besonders empfänglich für die Corrosionswirkung des Hg werden,
denn Grawitz sah dieselben Erscheinungen bei einem Hunde mit ganz leerem
Darme auftreten. Vielmehr hat man sich zu denken, dass eine krampfartige
Contraction der Muscularis , verbunden mit hochgradiger Hyperämie der Schleim-
haut zu Stande kommt, wobei dann die Höhe der Falten in erster Linie der
Anätzung und Necrose verfällt.
Der eigenthümliche Krankheitsprocess der Enteritis (Colitis) mem-
branacea besteht darin, dass in längeren oder kürzeren Zwischenräumen
grössere oder geringere, zuweilen ganz colossale, bandartige oder cylinderförmige,
vielfach verzweigte, den Fibringerinnseln des geschlagenen Blutes ähnliche Massen
per rectum entleert werden. Ebenso kommt es zur Ausscheidung röhrenförmiger
oder membranartiger, wie Kartoffelschalen aussehender Gebilde , die meist glasig
gequollen sind und zuweilen an die bäum förmigen Ausscheidungen bei Bronchitis
ßbrinosa erinnern. Fast ausnahmslos werden sie ohne Beimengung eigentlicher
gefärbter Fäcalmassen entleert, häufig nachdem ein Stuhl vorangegangen ist.
andere Male vor der eigentlichen Stuhlentleerung, wieder andere Male ohne dass
überhaupt Fäcalien zu gleicher Zeit deponirt würden. Frauen werden im Ganzen
häufiger wie Männer betroffen und unter den ersteren wiegen solche mit hysterischen
Erscheinungen vor.
Was die Natur dieser Gebilde betrifft, so herrscht darüber kaum eine
Meinungsdifferenz unter den Autoren, dass es sich im Wesentlichen um schleimige
Absonderungen, in welchen Darmepithelien, körnige Detritusmassen und spärliche
Rundzellen eingebettet sind, mithin nicht um die Producte eines speeifischen ent-
zündlichen Processes wie bei den fibrinösen Häuten der schweren Diarrhoen, der
Dysenterie, der Enterocolitis der heissen Länder etc. handelt. Vanni fand von
Mikroorganismen nur einen einzigen, nicht näher charakterisirten Coccus vou
DABMKNTZÜNDÜNG. — DARMGESCHWÜR.
175
0*6 — 0*8 [x darin. Edwards fand in einem Falle, in dem noch bei der Obduetion
zahlreiche Membranen im Colon vorhanden waien, ein durchaus normales Ver-
halten der Darmwand.
Während Walter, Lyon und Litten als Ursache eine chronische Ob-
stipation mit Stauung der Fäcalmassen im Dickdarm und Entstehung catarrhaliseher
Proeesse mit Ausschwitzung auf die freie Fläche (also doch einen entzündlichen
Processi Ewald) annehmen und sich darauf berufen, dass die Symptome nach
Behebung der Obstipation sehwinden, kommt Vanni in einer längeren Abhandlung
zu der Annahme, der auch ich (Ewald) mich anschliesse, dass hier eine reine
Neurose vorliegt, die er als Mioangioneurose bezeichnet. Hierfür spricht nicht
nur die Beschaffenheit der Absonderungen, die nicht den Charakter entzündlicher,
catarrhaliseher Producte haben, und die Thatsache, dass zahllose Fälle hartnäckiger
chronischer Obstipationen ohne Membranabscheidung verlaufen, vielmehr die Scybala
eine schleimige, oft blutig schleimige Umhüllung tragen, sondern besonders der
Umstand, dass die Darmschleimhaut an den Stellen, wo sie am meisten der Reizung
durch harte Fäcalmassen ausgesetzt ist, also auf der Höhe der Falten schnell
atrophisch wird, während es sich bei dem in Rede stehenden Krankheitsbilde
gerade umgekehrt um eminent chronische Proeesse handelt; ferner dass man
durch experimentelle Reizung der Dickdarmschleimhaut, also Injection reizender
Stoffe, traumatische Insulte etc. niemals eine Colitis membranacea hervorrufen
kann, und endlich dass der Gang der Krankheitserscheinungen in ihrem wech-
selnden unberechenbaren Auftreten und Verschwinden in Zusammenhalt mit den
nahezu regelmässig nachweisbaren anderweitigen nervösen , resp. hysterischen
Symptomen und Störungen in der Genitalsphäre nachdrücklich auf die nervöse
Natur des Leidens hinweisen.
Dem entspricht auch die geringe Beeinflussung des Leidens durch thera-
peutische Massnahmen. Ganz im Gegensatz zu den erstgenannten Autoren muss
ich, gestützt auf ein reiches Material, behaupten, dass die Ausscheidungen durch
Abführmittel nicht wesentlich beeinflusst werden. Zunächst gelingt es nur in den
seltensten Fällen die Obstipation oder besser den atonischen Zustand der Därme,
der die Ursache der Obstipation ist, durch die gebräuchlichen Aperientien und
Kccoprotica wirklich zu beheben, vielmehr tritt, selbst wenn das betreffende Mittel
eröffnend wirkt, sofort nach Aussetzen oder selbst auch bei längerem Gebrauch
desselben die Obstipation wieder ein. Die Membranen werden nach- wie vorher
ausgeschieden. Ebensowenig nützt die locale Behandlung mit Darmeinläufen von
adstringirenden oder angeblich schleimlösenden (alkalischen) Lösungen. Ich kenne
eine Dame, welche Jahre lang ohne die mindeste Besserung den ganzen soge-
nannten Arzneischatz nach dieser Richtung verwendet und erschöpft hat. Nur
von allgemein tonisirenden und die Neurasthenie beeinflussenden Mitteln kann man
sich in solchen Fällen und auch dann nur nach langwieriger, die Geduld des
Arztes wie des Kranken in gleichem Masse in Anspruch nehmender Behandlung
einen Erfolg versprechen. Dass man dabei gleichzeitig auch die etwa vorhandene
Obstipation zu bekämpfen hat, ist selbstverständlich. Aber wenn schliesslich das
Leiden eines Tages, ohne dass eine greifbare Ursache dafür vorliegt, weicht und
sich die Darmthätigkeit überhaupt wieder regelt, so ist hier kein causales Verhält-
niss zwischen diesen beiden Factoren massgebend, sondern beide hängen vou
einem dritten, der allgemeinen, resp. localen Neurose und ihrer Besserung, resp.
Verschwinden ab. c A Ewald>
DarmgeSChWÜr. Zum Verhalten der tuberkulösen Darmgeschwüre hat
GiRODE (Thöse de Paris) einen interessanten , auf die sorgfältige Analyse von
'2 4 Fällen gegründeten Beitrag gegeben. Es geht daraus hervor, dass man die
Häufigkeit und die diagnostische Bedeutung des ringförmigen Verlaufes der Darm-
geschwüre auf tuber culöser Basis bedeutend überschätzt hat. In den vorgenannten
Fällen war nur 7mal eine vollständig ringförmige Geschwürsfläche vorhanden.
176
DARMGESCHWÜR. — DARM IN FUSION.
In neun Fällen entsprach die Richtung deB Geschwürs der Längsachse des
Darm«», in dem Rest der Fälle waren beide Arten der Ausbreitung- vorhanden.
Die ringförmigen Geschwüre kamen häufiger im Jejunum und Ileum vor und
gingen bis ziemlich hoch hinauf. Die langen Geschwüre entstehen häufig aus
einer Verkäsung der PEYKß'schen Plaques, häufiger jedoch aus dem Zusammen-
tfiessen vieler lenticulflrer Geschwüre; die ringförmigen Geschwüre sollen ihren
ersten Anlass in einer Tuberkulose der benachbarten, resp, zuführenden Lymph-
gefasse haben , wie denn überhaupt die Einschleppung des tuberkulösen Virus,
neben dem bekannten Weg durch deu Intestinaltract , auch auf den Bahnen des
Gefasssysteros von anderen Ablagerungfistellen aus zu Stande kommt.
Die tuberkulösen Danngeschwüre enthalten Bacillen, sobald die Epithel
decke über dem verkästen Follikel durchbrochen, also eine wirkliebe UIceration
vorhanden ist. War jene noch erhalten, so konnte Hönisg (Disaert. Bonn 1887)
keine Bacillen nachweisen. Wahrscheinlich werden die geseh wollenen Follikel bei
den Phtbisikern erst tuberkulös, wenn nach der Necrose der Epitheldecken Bacillen
aus dem Damiinhalt eindringen kennen. Der Site der Bacillen ist eigentümlich
im Falle von Ghiffiths. In der Nähe und unter dem unterhalb des Pylorus
sitzenden Ulcus waren viele Mikroorganismen, aber keine Tuberkel bacillen , aber
zahlreich waren sie in den Uleerationen des Ileum. Der Patient litt an Phthise
und Pneumothorax mit Erscheinungen schwerer Anämie.
CORXIL (Des infiammattons pseudo membraneuses et ulcereu&es dt t in-
testina Bullet de l'Acad. de Med. 1889, Nr. 32) behandelt in einer kurzen Mit-
theilung die fibrinösen Häute, welche im Verlauf acuter Darmerkrankungen , der
schweren Diarrhöen , der Dysenterie , der Enterocolitis der heissen Länder , dos
Typbus bei Vergiftungen nnd bei gewissen acuten Erkrankungen des Darroeauals
bei Thieren (Cholera der Schweine) entstehen. Alle diese Erkrank ungs formen
sind durch speeifische Organismen bedingt nnd bewirken in den Därmen acute
und chronische Entzündungen, deren Verlauf Corkcl mit Hilfe histologischer
Methoden studirt hat. Sie geben von der Oberfläche der Schleimhaut aus und
führen zuerst zur Gongest ion derselben, zu Fibrinlamellen, welche in ihren Maschen
Rundzellen führen, degenerirte Epitholien und eine colossale Menge von Mikro
Organismen enthalten. An ihrer Entstehung betheiligen sich auch die Lieber -
KÜHN'scben Drüsen, welche ein sehleimiges, fibrinhaltiges Secret absondern und
schliesslich in ihren Elementen degeneriren. Es kommt hinzu eine kleinzellige
Infiltration der ganzen Schleimhaut und der Follikel , die schliesslich necrotisiren
und Uleerationen bilden. Das Ganze ist durchsetzt mit Mikroorganismen ( und
zwar finden sich die gewöhnlichen Mikroben des D&rmschletms mehr in den Pseudo-
membranen und in der Oberfläche der Schleimhaut, während die speeifische u
Organismen zahlreicher in deu Tiefen lagen und in den lymphatischen Ganglien
angetroffen wurden, Beide Formen propagiren auf dem Wege der Gefaase,
Therapeutisch hat Staek (Lancet. 10. Nov. 1888) bei chronischer Dysen-
terie , bei welcher alle anderen Mittel erfolglos angewendet waren , mit gutem
Resultate 0*1 Jodoform in einer Stärkeabkochung 18 Monate lang gebrauchen lassen.
C, A. Ewald.
Darminfusion. Für die locale Therapie des Darmes hat die Frage,
wie weit man Luft oder Flüssigkeit vom Rectum aus in die Höhe treiben kann,
eine hervorragende Bedeutung und ist auch noch in letzter Zeit mehrfach bearbeitet
worden. Cantani will die Einlaufsflflssigkeit mit seiner bekannten Enteroklyse
(g, Real-Encyclopädie. Bd. V, pag. 89) nicht Dur bis an die Vatvula ßauhinii
hinanf gebracht haben, sondern es sollen die Flüssigkeiten sogar bis in den Magen
vorgedrungen sein. Wir mochten diese Angabe umsomehr für controvere halten, als
in der Literatur bei den Versuchen, welche über die Insufflation des Darmes vom
Rectum aus mit Luft oder Flüssigkeit angestellt sind, nirgends eines derartigen Ver-
haltens Erwähnung geschieht. Seit den Versuchen V. Zi Russen s haben sich besonders
Damsch (Ueber den Werth der künstlichen Auftreibung des Darmes durch Gas.
D A RMINF Ü8I0N.
177
(Berliner klin. Wochenschr. 1889, Nr. 15), Debiebre (Lyon m6d. 1885, Nr. 45)
und Rosenbach (Berliner klin. Wochenschr. 1887, Nr. 28 ff.) mit der Frage, ob
die BAUHiNi'sche Klappe ein Hinderniss für die Insufflation oder Infusion der Dünn-
därme abgiebt, beschäftigt. Rosenbach hat weder beim Lebenden, noch an der Leiche
die per rectum injicirte Kohlensäure Ober die Klappe hinaus in's Ileum vordringen
sehen und auch nach Eröffnung des Abdomens (an der Leiche) schien eine Füllung
des Deum vom Rectum aus nicht oder nur unvollkommen möglich zu sein, während
der Verschluss der Klappe leicht überwunden wurde, wenn man möglichst nahe
der Klappe einen Catheter in das untere Darmstück einband und nun Gas oder
Wasser unter schwachem Druck einströmen liess. Für dieses Verhalten stellt
Rosenbach: mehrere Hypothesen auf, deren Besprechung hier zu weit führen würde.
Genug, dass er ganz im Einklang mit v. Zikmssen und Damsch (1. c.) zu dem
Resultat kommt, dass beim Lebenden die Klappe einen unüberwindlichen Abschluss
des Dickdarms zu Stande bringt, sobald Kohlensäure eingeblasen wird. Damsch
findet allerdings, dass sich beim langsamen Eintreiben von Luft der Klappenver-
schlus8 als insufficient erweisen und Luft in die Dünndärme übertreten kann. Zu
einer gleichen Auffassung war auch schon früher Debiebre gelangt. Meine Er-
fahrungen, die sich nicht auf Leichenexperimente, aber auf eine sehr grosse Zahl
von Darmaufblähungen mit Luft beim Lebenden beziehen, weil ich dieses ebenso
einfache, wie diagnostisch werthvolle Verfahren in den allermeisten Fällen und
ausnahmslos in allen Fällen irgend unklarer Darm- etc. Erkrankungen anwende,
sprechen in dem 8inne Rosenbach's dafür, dass beim Lebenden die Dünndärme
nicht aufzublasen sind. Ich habe mich nie mit Sicherheit davon überzeugen
können, dass Luft in die Ileumschlingen übertrat. Vielleicht wäre dies bei forcirter
Eintreibung und in tiefer Chloroformnarcose möglich. Darüber fehlt es mir an Er-
fahrung. Unter gewöhnlichen Verhältnissen setzt aber schon allein die starke
Schmerzempfindung , die durch die Blähung des Dickdarms hervorgerufen wird,
dem weiteren Eintreiben von Luft in so grossen Mengen, dass dadurch der
Klappenverschluss überwunden werden könnte, einen unüberwindlichen Widerstand
entgegen.
Unter allen Umständen ist die Aufblähung des Darms mit Luft von ausser-
ordentlicher diagnostischer Bedeutung, theils um über die topographischen Verhältnisse
der Bauchhöhle, die Beziehungen des Darms zu den Nachbarorganen, zu etwaigen
Neubildungen extra intestina in's Klare zu kommen, — wobei die Abdominaltumoren
dahin auszuweichen pflegen, wo das Organ, dem sie angehören, normaler Weise
gelegen ist, — theils um durch die Auscultation der eingetriebenen Luft etwaige
Hindernisse, die dem Eindringen derselben in den Därmen begegnen, zu erkennen.
Dieses Vortheiles, ganz abgesehen von der umständlicheren und unsauberen Mani-
pulation, begiebt man sich, wenn man noch wie Minkowski (Berliner klin. Wochen-
schrift. 1888, Nr. 31) auf dem einseitigen Standpunkt der Wasserinfusion in den
Darm behufs diagnostischer Zwecke steht.
Die bereits von Mosler und Franke (s. Real-Encyclopädie. Bd. V, pag. 89)
beobachtete günstige Wirkung antibacterieller Darminfusionen bei Typhus hat
auch Scaspabi (II Morgagni. 1886) bestätigt. Verwendet wurden 2 — 3 Liter einer
O*5°/0igen Carbolsäurelösung. die bei Frauen und zarten Personen, Kindern u. 8. f.
auf die Hälfte zu verringern sind. Der Verlauf des Typhus soll wesentlich dadurch
abgekürzt worden sein. Jedenfalls wurde hier wie bei anderen fieberhaften Er-
krankungen , z. B. bei schweren puerperalen Processen, auch ein antipyretischer
Effect festgestellt und die ausgiebige Resorption der Carbolsäure, unabhängig von
etwa bestehenden Darmgeschwüren, im Urin nachgewiesen. Ueber Vergiftungs-
erscheinungen wird jetzt Nichts berichtet.
Zur Technik der Injection sind seit längerer Zeit weiche Kautschukrohre,
die am besten an der Spitze und an den Seiten durchlöchert sind , in Gebrauch.
Bei Einführung derselben, die möglichst hoch zu geschehen hat, lasse man
noch während des Einführens Wasser oder Luft in den Darm einströmen. Man
Encyclop. Jahrbücher. I.
178
DABMINFÜSION. — DARMSTENOSE.
verhindert dadurch Dicht nur, dass sich die Augen des Analrohres mit Roth ver-
stopfen, sondern man bläht den Darm vor dem nachdringenden Rohr auf, so dass
sich dieses nicht vorschnell an Falten des Darmes stösst, knickt und nicht genügend
hoch hinaufkommt. Gewöhnlich schliesst der Sphincter ausreichend, um den Rück-
tritt von Wasser oder Luft zu hindern. Bei geschwächtem oder gelähmtem Schliess-
muskel oder sehr forcirter Eingiessung thut man am besten, einen festen Watte-
ring, den man eventuell mit Jodoformcollodium bestreichen kann, an das Rohr
gegen das Orificium ani anzudrücken. Die mehrfach beschriebenen, nach Art
der Colpeurynter construirten Gummitampons haben nach unseren auch an anderem
Orte ausgesprochenen Erfahrungen (s. Klinik der Verdauungskrankheiten. 2. Aufl.,
II, pag. 105) nur einen sehr unvollkommenen Nutzen. c A Ewald.
Darmperforation bei Abdominaltyphus, s. pag. 6, 14.
DarmStenOSe. Zu dem Capitel der Darmverschliessung sind in den
letzten Jahren zahlreiche casuistische Beiträge geliefert worden, behufs deren Ein-
sicht wir auf die Jahresberichte verweisen , weil sie generell nichts Neues enthalten,
vielmehr unter die verschiedenen, in dem Artikel Darmstenose (Real-Encyclopädie.
Bd. V, pag. 110) aufgezählten Möglichkeiten fallen. Als dort nicht angegeben
sind hier noch diejenigen Darmocclusionen anzuführen, welche nach Laparotomien
durch spätere peritoneale Verklebungen verursacht werden. Besonders kann bei
Ovariotomien die Darmserosa mit dem sogenannten Stiel verwachsen und dadurch
die Bildung peritonealer Stränge zu Stande kommen, die ihrerseits wieder zu
Abknickungen, Drehungen, Einklemmungen acuter Art Veranlassung geben. In allen
diesen Fällen ist sofortiger erneuter chirurgischer Eingriff zur Beseitigung des
Hemmnisses nothwendig.
Das möglichst frühzeitige Eingreifen des Chirurgen ist in allen den Fällen
indicirt, bei denen der Sitz und die Natur des Hindernisses erkannt oder wenigstens
vermuthet werden können und die Unzulänglichkeit der nicht operativen Behandlung,
sogenannter innerer Mittel, ausser Frage steht. Hierher gehören in erster Linie
die verschiedenen Formen der inneren Einklemmung, als da sind die Litt r Euchen
Hernien, die Hernia obturatoria^ die en masse reponirten eingeklemmten Brüche,
die Einklemmungen in das Netz, die Knickungen und Verschlingungen um peri-
toneale Stränge, um MECKEL'sche Divertikel, deren freies Ende wieder mit dem
Darm verwachsen ist etc. und ferner die obturirenden Geschwülste, die im Darm
oder am Darm ihren Sitz haben. In allen diesen Fällen ist der Natur der Sache
nach eine Spontanlösung oder eine Behebung der Affection auf unblutigem Wege
ausgeschlossen und die heutige Ausbildung der chirurgischen Technik giebt diesen
Operationen eine gegen früher sehr erheblich verbesserte Prognose.
Dieser Gruppe steilen sich diejenigen Fälle von Darmverschluss gegen-
über — ich spreche hier nicht nur von Stenosen im engeren Sinne, sondern ganz
allgemein von Verschliessungen , hochgradigsten Verengerungen des Dannlumens
und allen den Zufällen, die zu einer mit schweren Symptomen verbundenen
Stauung des Darminhaltes an irgend einer Stelle des Darmes führen — , welche
sich entweder spontan oder durch geeignete innerliche, d. h. nicht operative Be-
handlung beheben können. Was letztere betrifft, so haben uns die letzten Jahre
ein neues und unter Umständen höchst wirksames Verfahren gebracht, dessen früh-
zeitige Anwendung in keinem Falle von Darmstenose oder DarmverschlusB
unterlassen werden sollte, nämlich die wiederholte Ausspülung des Magens,
welche zuerst auf der Kussmaul' sehen Klinik in Strassburg i. E. angewandt und
von Cahn veröffentlicht, einer Reihe von Beobachtern — es seien hier nur Senator,
Küster, Hbnoch, Ewald, Lenbartz, Bardeleben und Mahnert (Der acute
innere Darmverschluss und Werth der Magenausspülungen bei demselben. Memorab.
1889, Bd. VIII) genannt — vortreffliche Resultate gegeben hat, die ich nach weiteren
eigenen Erfahrungen vollauf bestätigen kann. Ich lege aber besonderes Gewicht
DARMSTEKOSE.
m
auf die im obigen Satze gesperrt gedruckten Worte „frühzeitig" nnd „wieder-
holt", weil die Methode nur dann in ihrer ganzen Leistungsfähigkeit zur Geltung
kommen kann, wenn die- er Anforderung in vollem Maasse entsprochen wird.
Es bedarf an dieser Stelle nicht des ausdrücklichen Hinweises, dass die Magen-
spülungen selbstverständlich nicht die erste Stelle der Behandlung, zeitlich genommen,
einnehmen , dass ihnen vielmehr auf längere oder kürzere Zeit die bekannten
anderweitigen Mittel, bei sicheren Koprostasen Abführmittel, in allen anderen Fällen
die Darreichung von Opiaten in dreisten Dosen, hohe Eingiessungen, calmirende
Umschläge, eventuell vorsichtige Massage der Därme voranzugehen haben (s. darüber
den Artikel Darmstenose. Bd V, pag. 116) und dass sie erst dann in Frage
kommen, wenn sich der Darminhalt in den Magen zurüokstaut Aber diese
Eventualität kann, wie ich wiederholt gefunden habe, viel früher ein-
treten, als sich äussere Zeichen derselben, das Kothbrechen
oder auch nur Aufstossen mit kothige m Ger uch oder Gescbm ack
zeigen. Man findet, wenn man den Magen in solchen Fällen von mehr weniger
acutem DarmverschlubS bereits innerhalb der ersten Krankheitstage entleert, nicht
selten, dass das Organ schon mit reichlichen Mengen eines dünnflüssigen, f&culent
riechenden Inhaltes gefüllt ist, der offenbar nur zum Theil aus den stagnirenden
genossenen Getränken, beziehungsweise zerschmolzenen Eisstöckeben, zum anderen
Theil aus zurückgetretenem Darminhalt besteht. Dies habe ich unter Anderem schon
am dritten Krankbeitstage eines sogenannten Heus paralyticus bei einer Perforations-
perityphlitis mit tödtlichem Ausgang constatiren können. In einem anderen Falle
haben wir bei einer wahrscheinlichen Achsendrehung dieselbe Erfahrung am fünften
Tage, vom Beginne der ersten Erscheinungen ab gerechnet, gemacht. Es ist ein-
leuchtend, dass je früher und ausgiebiger diese Massen aus dem Magen und damit
mittelbar auch aus den Därmen entfernt werden und so gewissermassen eine Defäcation
per os zu Wege gebracht wird, desto mehr, abgesehen von der rein mechanischen
Entlastung des Verdauungsschlauches mit ihren Folgen, auch der Zersetzung des
Darm- und Mageninhaltes und der Resorption der gebildeten Toxine, d. h. der Auto-
infection des Organismus vorgebeugt wird. Man kann zu diesem Zwecke der Magen-
ausspülung die Eingiessung einer antiseptischen, beziehungsweise antifermentativen
Flüssigkeit, eine Lösung von Natrium salicylicum , Borax , Resorcin , Naphthalin,
ß-Napbthol u. Aehnl. folgen lassen, nur soll man die Quantität derselben nicht
zu gross, nicht über einen halben Liter wählen, um den mechanischen Effect der
Magenausspülung nicht wieder durch Eingiessen grösserer Flüssigkeitsmengen zu
beheben. Dagegen kann die Concentration eine möglichst hohe sein und habe
ich mich speciell bisher entweder 50/0iger Salicylsäurelösung oder 10°/oiger Naphthol-
lö8ung (mit Hilfe von Spiritus) bedient. Man nimmt die Ausspülungen am ein- •
fachsten in halbliegender Stellung des Patienten mit dem EwALD'schen Magenschlauch
und aufgesetztem Trichter vor, nachdem man den Patienten vorher, um jeden
Würg- nnd Brechreiz zu vermeiden, ausgiebig cocainisirt hat, eventuell bei sehr
empfindlichen und ängstlichen Naturen der ersten Ausspülung eine kleine Morphium-
einspritzung vorausgeschickt hat. Es ist oft erstaunlich, wie grosse Mengen von
Wasser, bis 5 Liter und mehr, durch den Magen gespült werden müssen, bis die
auslaufende Flüssigkeit einigermassen klar geworden ist. Oft kommt es vor, dass
sich das eingegossene und wieder ausgeheberte Wasser, nachdem es schon fast
klar geblieben ist, plötzlich wieder stark trübt und reichliche fäcale Beimengungen
mit sieh führt, zum Beweise, dass neue Mengen Darminhalt in den Magen ein-
gedrungen sind.
Man soll sich nun nicht mit einer Magenausapülung begnügen oder die-
selbe nur täglich einmal machen, sondern die Procedur wiederholentlich
vornehmen. Theoretisch genommen, so oft wie überhaupt fäculente Massen heraus-
gebracht werden können. Praktisch wird man in dem Eräftezustand des Kranken,
an dem die Ausspülungen immerhin einen gewissen Anspruch machen, eine Grenze
finden. Es ist aber hier hervorzuheben, dass bei geschickter Ausführung nnd
Benützung aller Hilfsmittel der Kranke nur wenig dadurch angegriffen wird und
mit jeder weiteren Ausspülung eine erhöhte Indifferenz gegen die Procedur bei
fast allen Patienten eintritt, der wohlthÄtige Einfluss der Ausspülungen auf das
Allgemeinbefinden aber selbst da — wenn auch leider nur vorübergehend — in
eclatanter Weise zur Geltung kommt, wo die letzte Ursache des Darm verschlusses
nicht behoben wird. In dem oben erwähnten Falle von Achsendrebung haben
wir zuerst 4 mal, später 3 mal täglich die Ausspülungen vorgenommen und über
eine Woche fortgesetzt. Die von Mahnert {1. c.) befürchteten Schluckpneuraonieu
kommen meines Erachtens dabei kaum in Betracht. Wenn mau die Vorsicht ge-
braucht, den Schlauch vor dem Herausziehen dicht vor dem Munde mit Daumen
und Zeigefinger zuzukommen und schnell mit einem grossen Zug herauszuziehen,
so tiiesst niehtB aus ihm aus und der Patient bat nicht einmal den widerwärtigen
Geschmack des Mageninhaltes, weil sich der Schlauch an der Wand der Speise-
röhre abstreift» In den allermeisten Fällen und sicher dann, wenn man möglichst
frühe mit den Ausspülungen beginnt, sind die Patienten überdies in der Lage,
etwaige aspirirte Partikel etc. durch Reflexaction wieder aus den Respirationswegen
zu entfernen.
In directer Folge der Magenausspülungen und zweifellos durch dieselben
veranlasst sind nach den Berichten zuverlässiger und nüchterner Beobachter schwere
Fälle von Darmverschlass zur Lösung gekommen und ist vollständige Wegsamkeit
des Darmes erzielt worden. Leider nicht in allen Fällen und leider ohne dass
eine bestimmte Vorhersage im conoroten Falle zu stellen wäre. Dass der curative
Erfolg der Magenausspülungen an die oben genannte zweite Gruppe von Obstruc-
tionsformen gebunden ist, leuchtet von selbst ein, wie auch soviel von vornherein
anzunehmen ist, dass er eher bei partiellem als totalem Darmverschluas und
desto eher eintreten wird, je leichter der Verschlussmecbanismus im betreffenden
Falle zu beheben ist. Da wir aber selten oder nie in der Lage sind, hierüber
eine klare Einsicht zu haben, so stehen wir bei jeder Magenausspülung einem
Versuche gegenüber, dessen Erfolg sich nicht vorhersagen läsat. Ein palliativer
Nutzen wird aber unter allen Umständen und selbst da erzielt, wo eine Behebung
der letzten Ursache auf unblutigem Wege ausser dem Bereiche der Möglichkeit liegt.
Es entsteht aber in jedem Falle die Frage, wie lange die Magenausspülnng
vorgenommen werden soll , deren Beantwortung mit der allgemeinen Frage , wie
lange in zweifelhaften Fällen die innerliche Behandlung durchzuführen ist, zusammen-
fallt. Die Veröffentlichungen der letzten Jahre, besonders die Verhandlungen der
leitenden ärztlichen Gesellschaften in Amerika und Deutschland (s* besonders die
Verhandlungen des Congresses für innere Medicin, 1889 und der Berliner med.
Gesellschaft. Berliner klin, Wochenschr. 1889, Nr, 16; Goltdajimbr, Ueber Ileus,
Ibid, Nr, 10 und 16 ; R, Fitz , The diagnoais and medical treatment of acut
intestinal ob&truction* Boston med. Jouxn. 29. Nov, 1888) haben ausgiebige Dift-
cussionen dieses schwierigen Capitets gebracht. Bedauerlicher Weise muss man
auch aus diesen neuen Erörterungen das altbekannte Facit ziehen, dass allge-
meine Bestimmungen nicht zu geben sind, jeder einzelne Fall für sich erwogen
sein will und bis zu einem gewissen Punkte dem Tact, d. h. dem subjectiveu Er-
messen des Arztes unterstellt ist. Gerade das Schwankende und Unsichere, was sich
ans dieser Bachlage ergiebt, macht die Position des Arztes in jedem Falle zu einer
so verantwortungsvollen und , wenn dieser Ausdruck nicht viel zu milde dafür
ist, unbehaglichen. Den Fällen frühzeiger, von glücklichem Erfolge gekrönter
chirurgischer Intervention stehen andere gegenüber, in denen noch in später
Stunde bei richtig geleiteter Behandlung von Seiten des inneren Arztes eine kaum
noch erhoffte Lösung des Hindernisses eintrat. Wenn auch die neuere Chirurgie
die Gefahr entzündlicher Processe nach der Operation auf ein Minimum zurück-
gebracht hat, eo bat sie doch die Gefahren der Kareose unmittelbarer oder mittel-
barer, d. K ihre Folgen betreffender Natur noch nicht auazuschalten vermocht,
den unaufhaltsamen Collaps, der zuweilen die vor der Operation bei gutem
DARMSTENOSE.
181
Kräftezustand befindlichen Patienten befallt, nicht aufhalten gelehrt und ist vor
Allem keineswegs in der Lage, dem Patienten garantiren zu können, dass nicht
nach Behebung der momentanen Gefahr aus den Folgezuständen der Operation im
günstigen Falle Narbenbildung, Verlöthung der Darmschlingen, Pseudomembranen
u. dergl. m. , zu anderen Malen durch eine nicht zum Verschluss zu bringende
Fistel dauerndes schweres 8ieohthum erwächst. Aus diesen Gründen wird man
sieh denjenigen, welche jede Darmocclusion je früher je lieber auf dem Operations-
tisch sehen möchten, nicht ansehliessen können. Den Einwand, dass es sich in
den Fällen später spontaner Heilung, wie sie oben angeführt sind, nur um
Koprostasen gehandelt habe, hat Curschmann thatsäehlich dadurch zurückgewiesen,
dass er Fälle zur Kenntniss gebracht hat, die mehrmalige Attaquen von Ileus
überstanden hatten und schliesslich einem letzten Anfalle erlagen, die Obduction
dann die Natur des Hindernisses aufdeckte und zeigte, dass von einer Coprostase
keine Rede sein konnte.
Vor dem Missbrauch der Abführmittel bei Darmverschliessungen ist in
letzter Zeit oft und eindringlich gewarnt worden — in besonders zutreffender
Weise hat Nothnagel (Zur med. Behandlung des Ileus. Wiener med. Blätter. 1889,
Nr. 12) dies Thema behandelt — und in der That liegen sicherlich in neun
Zehntheilen der Fälle die Verhältnisse so, daas die Darmperistaltik schon ohne
unser Zuthun bestrebt ist, den Darminhalt fortzuschaffen und das betreffende
Hiadanuas zu überwinden. Man hört in solchen Fällen oft bereits von Weitem
sieher bei der Auscultation die lebhafte Bewegung des Darminhaltes und sieht
die Därme sieh in Wülsten aufbäumen — nebenbei gesagt, ein fast untrügliches
Zeichen, dass noch keine Peritonitis vorhanden ist — wobei der Patient mit leb-
haften Sehmerzen, die bald über den ganzen Leib ziehen, bald mehr localisirt
sind, zu kämpfen hat. Aber diese Peristaltik ist nicht im Stande, das H indem iss
zu beheben, und hier ist zunächst die Frage zu erörtern und wenn möglich zu
entscheiden, ob es sich im concreten Fall um eine Roprostase oder um einen,
den Darm in seiner Wand treffenden Process handelt. Die diesbezüglichen dia-
gnostischen Anhaltspunkte sind bereits in dem Artikel Darmstonosen (l. c.) be-
sprochen. In jedem Falle verstärkt die Peristaltik das primäre hindernde Moment,
wenn der Darmsperre eine Invagination, eine Acbsendrehung, eine Darmverschlin-
gung etc. zu Grunde liegt, und wehe dem Arzte, der durch Verabfolgung von
Abfuhrmitteln, welche die Peristaltik vermehren, einen weiteren Anläse zur Steige-
rung eines solchen Zustandes giebt. Hier ist das Opium in grossen Dosen,
stündlieh 1 — 2 Cgrm. des Extractes — das reine Opium macht manchem Patienten
eine unangenehme nauseöse Empfindung — 0*5 bis 1 Grm. ! pro die anzuwenden,
daneben hohe Eingiessungen von lauwarmem Wasser, von Eiswasser oder Salzwasser
zu machen. Unter dieser Behandlung, zu der noch eventuell die Magenausspülungen,
unter Umständen die Punetion der Därme hinzukommt, wird jeder erfahrene Arzt
eine Reihe von Heilungen selbst in scheinbar verzweifelten Fällen erlebt haben.
Den Einwurf mancher Chirurgen, dass die durch das Opium erzeugte Euphorie
den besten Zeitpunkt zur Operation versäumen lasse, indem der Patient nur zu
leicht dadurch in eine trügerische Euphorie versetzt und der Arzt über die Schwere
der Situation hinweggetäuscht werde, kann ich nicht gelten lassen. Der einzige,
aber zuverlässige Massstab, der uns bei der Beurtheilung dieser Zustände leiten
muas, liegt in der genauesten Ueberwachung des Pulses, beziehungsweise der
Herzaetion. Sobald die Herztöne schwach werden, der Puls klein, leicht unter-
drückbar , frequent wird , ist der Zeitpunkt des operativen Eingriffes gekommen,
der dann aber auch sofort ohne Zeitversäumniss innerhalb der nächsten Stunden
ausgeführt werden muss.
Was nun, um darauf zurückzukommen, die Ursache der günstigen Wirkung
der Darmausspülungen ist, so dürfte sie je nach dem im gegebenen Augenblick
zu Grunde liegenden Verhalten der Därme in zwei scheinbar ganz entgegen-
gesetzten Richtungen sich äussern. Bei Stauung des Darminhaltes mit heftigen
p eristaltisehen Bewegungen werden letztere durch die Entleerung der Darm-
schlingen , durch die Entfernung der reizenden zersetzten Massen gemildert und
der schädigende Druck gegen die Stelle des Hindernisses wird aufgehoben oder
doch Ii er abgesetzt. Die Entfernung von Gas uud flüssigem Koth aus dem Magen
un d den oberen Darmabschnitten lässt wieder eine gelinde, der Länge des Darmes
nach verlaufende Peristaltik aufkommen. Es wird Raum zur Entfaltung mehrerer
D armschlingen geschaffen, die über dem Hindernis* gelegenen Darmschlingen ent-
spannen sich, der Druck, unter dem sie aneinander gepresst werden, wird aufge-
hoben und so können gedrückte , verdrehte , umschlungene Darmsehlingen frei
werden und in ihre natürliche Lage zurückkehren, Auf der anderen Seite kann
bei gelähmter Darmperistaltik durch rerlectorisehe Anregung, resp, Hemmung der
Wirkung des Splanchnicu* (Mahnert), welcher durch die Ausdehnung der Darme
gereizt ist, die Darmbewegung wieder in natürlicher Weise in Anregung gebracht
werden, ohne dass man nöthig hat, zu Drasticis, die in ihren Folgen unbe-
rechenbar sind, zu greifen.
Schliesslich wäre noch der Punetion der Därme zu gedenken T die in
neuerer Zeit von Curscbmann und ganz besonders von Rosknbach (Berliner kl in.
Wocbenecbr. 1889, pag, 370) lebhaft empfohlen ist. Letzterer hat bei vorsichtiger
antiseptischer Ausführung des Verfahrens niemals irgend welche Nachtheile, Ent-
zündungen, Kothaustritt aus den Därmen u. Aebnl. gesehen, rühmt dagegen der
Entlastung , beziehungsweise der Entspannung der Darme alle die schon oben
angeführten Vortheile für die Behandlung der Darmstenosen nach. Wir haben
die Darmpunctiouen schon seit Jahren gemacht (s. Berl. klin. Wochenschr. t8S6,
pag. 543) und wenden folgendes Verfahren an: lieber die gut sterilisirte und mit
einigen Tropfen üarbolsäarelöaung gefüllte Canüle wird ein längerer Öummischlaueh
gezogen und die Canüle durch die gut gereinigten Bauehdeokeu langsam in die
am meisten prominirende lufthaltige Darmschlinge eingestossen. Man presst dann die
Flüssigkeit aus der Canüle durch Zusammenpressen des Schlauches aus — eventuell
kann man dies auch mit einer am freien Ende aufgesetzten Spritze thun — , taucht
das freie Ende des Schlauches unter Wasser und sieht zu, ob und wie lange Luft
austritt. Vor dem Herausziehen der Canüle werden einige Tropfen schwache Carbol-
lösuug zur Entfernung etwaiger an der Spitze haftender Darmcontenta in den Darm
gespritzt und die Canüle dann in schnellem Zuge herausgezogen. Ist auf die erste
Punetion keine genügende Entspannung der Därme eingetreten, so wird die
Procedur noch ein oder mehrere Male wiederholt. Wir können nach unseren Er-
fahrungen Bosenbach darin ganz beistimmen, dass das Verfahren ungefährlich
ist und haben in den Fällen, die später zur Section kamen, die Stelle der
Punetion an den Därmen überhaupt nicht auffinden können, aber wir haben
andererseits leider durchaus nicht immer den beabsichtigten Effect gesehen T indem
entweder trotz stark geblähter Darmschlingen und mehrfacher Punetion irgend
erhebliehe Gasmengen nicht zum Abströmen kamen, andererseits trotz ausgiebiger
Gasentleerung die erhofften Folgen auf die Herstellung einer normalen Darmpasaage
ausblieben, und zwar in Füllen, wo, wie die Section lehrte, die Möglichkeit dazu
gegeben war Deshalb nehmen wir die Punetion der Därme erst dann vor, wenn
die consequente Ausspülung des Magens erfolglos geblieben ist. „ , _ 1 ,
U, A, E v u 1 d.
Dengue, Denguefieber (vergl. Rea1-Encyclopädie, IL Aufl. t Bd. vf
pag* 205), In dem dichtbevölkerten Juden viertel von Smyrna brach Anfangs
Juni 1889 eine Dengue Epidemie aus, die sich schnell über die ganze Stadt aus-
dehnte. Gegen neun Zehntel der (250.000) Einwohner sollen ergriffen gewesen
Bein. Später trat die Krankheit noch auf in Pera, G a I a t a , Stambul und
in einigen mlQftSeiidcn Ortschaften. In Beynit wurden 15.0UU Personen befallen.
In Constantinopel (wo sie auf die Quartiere am goldenen Horn, die an das
Thal von Kassim Pascha angrenzenden Viertel > die Thäler von Beschiktasch,
Ortakeni und Skutari beschränkt blieb) war der Frühherbst 1889 die Zeit des
DENGUE. — DE3INPECTI0N.
183
Hauptausbruches. Trotz weiter Verbreitung (die nach Zeitungsnachrichten auch
auf Theile des griechischen Archipels sich erstreckt haben soll) und trotz
der im Hauptartikel ausführlich geschilderten protrahirten Genesung waren die
Erkrankungen im Ganzen doch leichter Natur und gingen — wie stets bei Dengue —
in Genesung aus. Unter dem 12. December 1889 wurde das völlige Erlöschen
dieser Epidemie amtlich und mit Bestimmtheit gemeldet.
Von vornherein unbestimmter klangen die Nachrichten über einen Dengne-
Ausbruch in St. Louis am Senegal (Juli 1890), der als paudomischer Natur
geschildert und dann später als eine Influenza-Epidemie bezeichnet wurde. Auch
konnte es bei diesen zuwiderlaufenden Auffassungen der nämlichen Epidemie
kaum Wunder nehmen, wenn die ersten Meldungen über die von Osten herauf-
gezogene Influenza-Epidemie 1889 — 1890 sich mit den Ausklängen der Dengue-
Mittheilungen begegneten und Zweifel im Publicum darüber erregten, ob Dengue-, ob
Influenza-, ob gemischte Seuchenausbrüche vorlägen. Die in Paris und an einigen
anderen Plätzen kurze Zeit gehegte Unsicherheit wurde durch Schilderungen
griechischer Aerzte beseitigt, welche dem grosseren Publicum dankenswerthe
Aufklärungen über Dengue eintrugen. Die sparsamen Berührungspunkte in der
beiderseitigen Aetiologie hat bereits Hirsch (Histor.-geogr. Pathologie. II. Aufl.,
Bd. I, pag. 56) kurz aber classisch geschildert. Wem ich.
DCSinfCCtiOfl (nach Massgabe der im Hauptartikel innegehaltenen Grenzen :
d. h. im engeren Sinne, da alle in das Bereich der Asepsis und Antisepsis
fallenden Desinficientien, die antiseptischen Verbandstoffe, die der Chirurgie und
Operationspraxis dienenden Verfahrungsweisen in einem eigenen Artikel zur Be-
sprechung gelangen ; s. andererseits auch Anilinfarbstoffe als Antiseptica,
Antiseptin u. s. w.
Unter den theoretischen Erörterungen über das Wesen der Des-
infection ragt besonders die zweite Arbeit von Geppert hervor, der sich zunächst
mit der Sublimatwirkung beschäftigt und dabei einen höchst bedenklichen Fehler
der früher über dieselbe angestellten Versuche aufgedeckt hatte. Die vorgeblich
so starke Desinfections Wirkung des Sublimat, so führt Geppert aus, war lediglich
bedingt durch Eigenthümlichkeiten des Substrats, auf welchem die (als Standard
gewählten) Milzbrandsporen angeklebt waren: durch Eigenthümlichkeiten des
Seidenfadens, mit welchem Koch und Nachfolger experimentirten. Zwischen
Seide und Sublimat tritt eine chemische Verbindung, eine Art Beizung ein
(Schäffer), so dass das Abspülen mit Wasser keineswegs das Sublimat zu ent-
fernen im Stande war. Wurde nun ein so behandelter Seidenfaden auf ein Probe-
object verimpft, so hinderte das stets mi tverimp fte Sublimat das Auskeimen
der Sporen auf den Nährböden, das Angehen von Culturen — und täuschte den
früheren Beobachtern eine wirkliche Desinfeotion vor. Bestrich Geppert mit den
Milzbrandsporen Eisennägel oder dünnste Glasplättchen (statt der Seidenfäden), so
gingen nicht allein die so angeklebten Sporen trotz 20 Minuten langen Aufenthalts
in 1 pro mille Sublimatlösung nachher noch auf künstlichen Nährböden an, sondern
Thiere mit so behandelten — eben nicht desinficirten — Objecten geimpft,
gingen an Milzbrand ein. Nicht also mit dem Träger der Infection, sondern
mit dem Vehikel des Sublimats hatte man experimentirt. Je mehr ein
solches, gleichzeitig zur Ueberführung der Keime benutztes Vehikel im Stande
war, das Sublimat in sich zurückzuhalten (wie der Seidenfaden) oder nicht (wie
Eisen oder Glas), desto weniger oder desto mehr wird es fähig sein zu inficiren.
(Eine von allen betheiligten Seiten mit Spannung erwartete Erwiderung auf diese
principalen Einwürfe ist während des seitdem verflossenen J a h r e s nicht erfolgt.)
Mittelst seiner von Fehlern freieren Methode prüfte Geppert noch con-
centrirte (7p/0ige) Carbolsäurelösung ; Resultat: Infectionstüchtigkeit der Milzbrand-
sporen nach 38tägiger Einwirkung. Ferner siedendes Wasser : nach einer Minute
Sieden waren die Milzbrandsporen noch wacbsthumsfUhig wie infectionstüchtig ;
184
DESINFECTION.
nach zwei Minuten Sieden letzteres nicht mehr, während sie auf Agar noch Fiden
trieben; nach fünf Minuten Sieden waren erst beide Eigenschaften aufgehoben.
Als Kriterium für eine gelungene Desinfection würde Gbppkrt das Thierexperiment
stete vorziehen. Er räth ferner bei allen Desinfectionsversuchen , die baeterio-
logisohe Frage getrennt zu behandeln von der chemischen und physikalischen
Frage. Die erst er e dreht sich um die Zeit, in welcher ein Infeetionsträger, der
unter die Einwirkung eines desinficirenden Mittels gelangt, desinfieirt wird. Die
zweite, aber eben so dringende Reihe der Fragen muss dahin aufgeworfen
werden, ob im gegebenen Falle die Bedingungen so liegen, dass die Infeetions-
träger auch in den Wirkungskreis des Desinficiens wirklich gelangen und ob sie
nach Willkür demselben auch — wie sich die früheren Experimentatoren eben
mehr einbildeten — jener Einwirkung auch wieder entrückt und entzogen
werden können.
Eine naturgemäss auf viele theoretische Einzelnheiten gelegentlich ein-
lenkende Erörterung der hauptsächlichsten Desinfeotionsfragen boten auch die
Referate (von Richard, Löffleb und Dobroslavinb) auf dem VI. internationalen
Congress für Hygiene und Demographie (1887) dar. Es handelte sich jedoch —
die GfiPPERT'schen Arbeiten waren noch nicht erschienen — um Rückblicke auf
Bekanntes, so dass ein näheres Eingehen auf jene sehr erschöpfenden Recapitula-
tionen an dieser Stelle wohl unterbleiben kann. Als Leitsätze wurden die
folgenden aufgestellt:
1. Damit die Desinfection fruchtbringend werde, muss sie durch ein für
das ganze Land verbindliches allgemeines Oesetz für alle Fälle schwerer,
contagiöser Krankheiten (zu welchen die Tuberkulose zu zählen ist) zur Pflicht
gemacht werden; dasselbe Gesetz muss den behandelnden Aerzten die Anzeige-
pflicht für diese Krankheiten vorschreiben.
2. Die Desinfection verdient dann Vertrauen , wenn sie von eigens für
diese Aufgabe geschulten An gestellten ausgeführt und von sachkundige n
Personen überwacht wird.
3. Was den Kostenpunkt anbelangt, so scheint die vorherrschende Meinung
dahin zu gehen, dass sie für die Armen unentgeltlich sein müsse.
4. Die von der Privatindustrie unternommenen Versuche von Desinfections-
einrichtungen sind viel eher zu fördern als zu hemmen, wenn man auch wünschen
muss, dass überall öffentliche Desinfection sanstalten errichtet werden.
5. Die Desinfection der Kleider, Möbel, Wäsche ist heute durch Dampf-
desinfectionsapparate in entsprechender Weise erreichbar.
6. Die Desinfection der Räumlichkeiten ist mit den Mitteln, über
die wir verfügen, nicht leicht in sicherer Weise auszuführen; unsere Anstrengungen
müssen dahin gehen, diese Lücke — die ernsteste in unserer Desinfectionspraxis —
auszufüllen.
7. Bezüglich der Aborte und Canäle giebt es nur ein gutes Mittel,
nämlich: technisch tadellose Herstellung und sorgfältigste Instandhaltung.
Als Leitfaden für die Aneinanderreihung der ungemein zahlreichen, auf
den Einzelgebieten des Desinfectionsthemas geleisteten Arbeiten wird sich die im
Hauptartikel erprobte Folge empfehlen.
Dass der Erdboden, der Untergrund der Städte, wie die
Iiiessenden Wässer viel leichter von groben Verunreinigungen durch inficirende
-Materialien zu schützen, als nachträglich von denselben zu befreien sind, ist
unbestritten. Hinsichtlich des Grundwassers und der Brunnen verdienen
folgende Ergebnisse der Untersuchungen von C. Fbaenkel hier eine Wiedergabe.
Er stellt die Frage, ob es überhaupt erreichbar ist, Infectionsstoffe, die einmal
in einen Brunnen gelangt sind, mit Sicherheit aus demselben zu entfernen? Bei
der Beantwortung durch den Versuch musste auf die verschiedenen Arten von
Brunnen, die primitiven Cisternen, die Kesselbrunnen mit ummauertem Bassin,
die Röhrenbrunnen 9 bei denen der Kessel durch ein tiefreichendes eisernes Rohr
DKSINFECTION.
185
ersetzt wird, die nöthige Rücksieht genommen werden. In einer Hauptrücksicht
besteht zwischen den beiden loteten Arten eine sehr wichtige Verschiedenheit, da
in die Kesselbrunnen Verunreinigungen von oben her meistens ohne jede Schwierig-
keit gelangen können. Aber auch seitlich stehen vermöge der ursprünglichen
Undichtigkeit des Mauerwerks oder vermöge geringer Bewegungen und Verschie-
bungen des vom Grundwasser durchströmten Erdreiches sehr bald zahlreiche Ein-
gangspforten für alle Unreinigkeiten, die in der Nähe des Brunnenbassins erzeugt
oder angesammelt werden, offen (Ausgüsse, Waschvorrichtungen, Abtritte). Zu den
Röhrenbrunnen haben hauptsächlich nur Unreinigkeiten, die aus dem das Rohr
von unten speisenden Grundwasser stammen könnten, Zutritt, also schmutziges
Wasehwaaser, Abgänge in Form von Cholera- und Typhusdejectionen nur in
seltenen Ausnahmsfällen (Ueberschwemmungen).
Das Grundwasser an sich erschien nahezu bacterienfrei , wenigstens
kann man ihm den Charakter der Sterilität zusprechen ; es bleibt in diesem Sinne
auch als Brunnenwasser rein und keimfrei, wenn das gehörig tief gesenkte
Brunnenrohr gründlich von allen anhaftenden Verunreinigungen befreit und auch
später wiederholt (von Keimen, welche mit dem Staube, den Regentröpfchen etc.)
hineingelangen, gereinigt wird. Tritt das Bedürfniss der Reinigung eines Röhren-
brunnens ein, so darf man sich zunächst auf die rein mechanische (Ausbürstung)
mit nachfolgender energischer Entleerung des Brunnens verlassen; nur in Aus-
nahmsfällen sei mit der Desinfection in der (ebenfalls durch Versuche erprobten)
Weise vorzugehen, dass der Pumpenkopf abgeschraubt, in das offene Rohr 1 bis
2 Liter concentrirte Schwefelcarbolsäuremisehung eingegossen , die Pumpe wieder
eingestellt, kurz in Thätigkeit gebracht, 24 Stunden in Ruhe gelassen und dann
zur Hebung von einigen 100 Liter Wasser in Action gesetzt wird. Eine Kalk-
desinfection ist bei Röhrenbrunnen wirkungsvoll, bei Kesselbrunnen aber,
welche einer gründlichen Säuberung unzugänglich sind und bleiben, nur vom
Werthe und der Bedeutung eines provisorischen Reinigungsmittels.
Zum Zwecke der S terilisirung von Trinkwasser glaubt van
Hettinga Tbomp das Wasserstoffsuperoxyd empfehlen zu sollen. Milzbrandsporen
zollen durch 24stündige Einwirkung von 2 Ha Oa auf 10.000 Wasser geschwächt,
durch 5 : 10.000 getödtet werden ; noch schneller war — bei gleichem Verhält-
nis* — die abtödtende Wirkung auf Typhus- und Cholerabacillus im Wasser.
Bei „gewöhnlieh verunreinigtem" Trinkwasser schwankte der zur völligen Sterili-
sation erforderliche Wasserstoffsuperoxydzusatz zwischen 1 : 5000 und 10 : 5000.
An die Spitze der Bemühungen, Grenzflächen von verdächtigen
Räumen zu desinficiren, sind die Arbeiten von Esmarch: „Ueber den Keimgehalt
der Wände und ihre Desinfection" zu stellen. Der fragliche Keimgehalt ist
kein unbedeutender, wie durch Abreiben der Wandflächen mittelst sterilisirter
Sehwämmchen und Vertheilung der von solchen aufgenommenen Keime in Nähr-
gelatine (Rollenverfahren) festzustellen war. 20.000 Keime dürfen auf 1 Quadrat-
meter unter gewöhnlichen Verhältnissen gerechnet werden als lose der Wandfläche
aufritzend und zum Mobilwerden in der Zimmerluft bereit. Trockene Hitze und
das Emailiren von Gasen wurde von der Untersuchungsreihe ausgeschlossen,
strömender Wasserdampf theils wegen der Abkühlung, theils wegen anderer
mechanischer Unzuträglich keiten als unpraktisch befunden und nun also als eigent-
liche Versuchsaufgaben in Angriff genommen: Waschungen mit Lösungen von
Carbolsäure und Sublimat, Berieselungen der Wände mittelst solcher, Abreiben
mit Brot. Alle diese Manipulationen wurden an eigens für die in Frage stehenden
Zwecke hergerichteten Tapeten angestellt.
Ergebnisse: Das Abwaschen mit den genannten Lösungen kann zwar
die Wände nicht absolut keimfrei machen, aber schon nach der ersten, noch mehr
stach der zweiten Waschung ist ein bedeutender Erfolg zu bemerken. Da hierbei
die Concentrationen der desinficirenden Lösungen keinen Unterschied bewirken,
so seheint die Hauptwirkung des Waschens in der mechanischen Abschwemmung
186
DESINFECTION.
zu bestehen, woför noch weiters spricht, dass durch feuchte Schwämme allein
die Wandungen grösstenteils von Keimen befreit werden können. — Beim
Berieseln der Wände ist zunächst zu bemerken, dass dadurch ein Ablösen
der Keime von denselben und Verbreiten in der Zimmerluft nicht zu befürchten
ist. Mit sterilisirtem Wasser berieselte und nicht berieselte Stellen einer und
derselben Wand zeigen einen gleichen Keimgehalt. Das „Be sprayen" hat
ungefähr denselben Erfolg. Die Wirkung des Spray ist daher nicht wie jene
einer Waschung in einer mechanischen Loslösung zu suchen — denn die Keime
bleiben ja, wie soeben bemerkt, dabei an den Wänden haften — , sondern in einer
Tödtung der Keime an der Wand mittelst des im Berieselungswasser gelösten
Desinfectionsmittels , welches hier länger mit der Wand, resp. den Keimen in
Berührung bleibt als beim blossen Abwaschen ; berieselte, d. h. mit Spray behan-
delte Wände bleiben viel länger nass als abgewaschene. Veränderung der Farbe etc.
der Wände ist nicht zu befürchten. — Das Abreiben mit Brot gab die besten
Resultate. In drei Fällen waren die so behandelten Wände schon nach der ersten
Abreibung keimfrei ; nach der zweiten in allen, bis auf die sehr keimreiche Wand
eines Thierstalles. Die Keime haften (wie sich bei der Cultivirung derselben her-
ausstellte) dem Brote ungemein hartnäckig au. Die beim Abreiben zur Erde
gefallenen Brotstückchen müssen sorgfaltig gesammelt und verbrannt werden. —
Das A b waschen lässt sich ohne Schädigung der Wandverkleidung nur dann durch-
führen, wenn dieselbe aus einem Oelanstrich besteht oder in einer anderen Art
waschbar gemacht worden ist. Selbstverständlich ist für die gründlichste Besei-
tigung des Waschwassers Sorge zu tragen. Die Anwendung von Spray schadet
den Wandungen in ihrem Aussehen nicht. Sublimat bleibt aber lange haften, und
ob das durch hinterheriges Besprayen mittelst einer Sodalösung daraus umge-
wandelte Oxydchiorid nicht giftig ist, bleibt dahingestellt. Carbolsäurespray ist
sicherlich nicht giftig, die Wände behalten aber für längere Zeit einen fatalen
Geruch, wodurch der Aufenthalt in solchen Räumen unbehaglich wird. Das Abreiben
mit Brot macht die Wände rasch rein, schön aussehend, sofort wieder bewohnbar,
schadet auch den Arbeitern nicht und wird daher von Esmarch bestens empfohlen.
Die Versuche, welche Kbüpin im städtischen Barackenspital zu St. Peters-
burg anstellte, knüpften sich an die Zweifel, welche hinsichtlich der reellen Wirk-
samkeit der C hl orräucberungen rege wurden. In einer für Scharlachkranke
bestimmten Baracke, in welcher durch einen hereingebrachten Diphtheriefall einige
Scharlachreconvalescenten angesteckt worden waren, erkrankten nach äusserst
energischer Chlorgasentwicklung und siebenmonatlichem Leerstehen je einmal
Masernkranke und dann Pockenkranke unter den der Hautdiphtherie eigenen Er-
scheinungen. Als man experimentell die an den Wänden lose fixirten Milzbrand-
sporen mittelst den nämlichen Ohioreinwirkungen abzutödten versuchte, ergaben
diese Bestrebungen durchweg unbefriedigende Ergebnisse, so dass — wenigstens
in den der Praxis entsprechenden Verhältnissen, beziehungsweise im nicht hermetisch
verschlossenen Räume — eine genügende Concentration ebensowenig wie eine
gleichmassige Vertheilung der Chlorgase erzielt werden kann.
Eine etwas ältere Angabe von König: durch Räucherungen mit
Sublimatdämpfen könne eine sichere Desinfection von Krankenräumen erzielt,
dann im Anschluss durch ein nachhaltiges Schwefeln (Entwicklung schwefliger
Säure) das etwa noch im Räume vorfindliche Sublimat seinerseits unschädlich
gemacht werden, — erfuhr eine Widerlegung durch Kreibohm , wie auch durch
Heraeüs. Letzterer experimentirte in Berlin , Ersterer in Göttingen , beide mit
dem Ergebnisse, dass durch Sublimaträucherungen eine zuverlässige Desinfection
von Krankenräumen nicht erzielt werden kann.
Die Wände von Räumlichkeiten auf dem Wege des Bepinseins mit
verschiedenen Lösungen zu befreien, versuchten Guttmann und Merke. Die
in Frage gezogenen Substanzen waren Carbolsäure und Sublimat. Die
erstere erwies sich als vollkommen unzureichend. Sublimatlösung (1 : 1000) tödtete
. DESINFECTION.
187
anscheinend Milzbrandsporen (dieselben waren indess — wie im Röckblick auf
die am Eingang des Artikels referirten Geppürt 'sehen Versuche besonders betont
werden muss — an Seidenfaden angetrocknet). Die Verfasser empfehlen als
Methode: den Fussboden mit der Sublimatlösung in der namhaft gemachten
Starke gehörig zu durchtränken; die Decke mit der nämlichen Lösung so lange
zu besprayen, bis Tropfen zusammenfliessen ; die Wände so lange, bis die Lösung
daran herunterrieselt. Eine in ahnlicher Weise und auch in ähnlichem Masse
sofort angeschlossene Nachbesprengung mit l°/0iger Sodalösung soll die desinfi-
cirenden Arbeiter, wie auch die Zimmerbewohner vor allen Nachwirkungen des
verwendeten. Sublimats zu schützen fähig sein. Wandtapeten leiden unter dem
Verfahren, welches auch an sich den Vorzug der Wohlfeilheit besitzt, angeblich nicht.
Auch zu Gunsten der schwefligen Säure haben sich neuerdings
wieder Stimmen erhoben. H. Dübief und J. Brühl glauben deren „Mikroben
vernichtende" Wirkung, besonders auf wasserdampfgetränkte Objecto, aber auch
bei genügend langer dauernde Einwirkung auf ganz trockene nachgewiesen zu haben.
Endlich schliesst sich hier noch an . das von P. Canalis für die D e 8-
infection von Viehwaggons experimentell erprobte Verfahren: sehr sorg-
faltige Befreiung des Bodens von der Streu, Abkratzung der Wände und sofort daran
angeschlossene Abbürstung derselben mittelst saurer Sublimatlösung (1*5 : 1000).
Darauf noch Abspritzen (Irrigiren) der raumbegrenzenden Flächen mittelst derselben
Lösung. Die Abbürstung der Wände kann, wo es sich nicht um kranke Thiere
gehandelt hat, auch mittelst warmen Wassers bewerkstelligt werden, was den
Consum an Sublimat von 60 auf 22*5 , den der rohen Salzsäure von 200 auf
75 Grm. herabsetzt.
Eine über die Desinfection von Flächen, resp. Räumen weit hinausgreifende
Aufgabe stellte sich H. Jaeger, als er die Wirksamkeit „verschiedener
chemischer Desinfectionsmittel bei kurz dauernder Einwirkung auf
Infectionsstoffe" untersuchte (der zunächst infs Auge gefasste praktische Zweck war
die Desinfection von Thierställen). Die geprüften Substanzen waren Kalk (Kalk-
milch, Kalkbrei), Chlorkalk (in sehr verschiedenen Concentrationen), Theer, rohe
Carbolsäure (4%) mit Zusatz von Salzsäure (2°/,.), rohe Schwefelcarbolsäure,
Creolin, Cresolin, Natron- und Kalilauge, Sodalösung (gesättigte == 16%ige und
dünnere), Kieselfluornatrium, Kalium permanganicum , Eisenvitriol. Als Probe-
objecte dienten vorwiegend: Micrococcus prodigiosus, M. aurantiacus, M. tetra-
genus, Staphylococcu8 aureaus, Rosahefe; dann die Bacillen des Schweinerothlaufes,
der Sehweineseuche, der Schweinepest, der Hübnercholera, des Rotzes, der Mäuse-
septieämie, Typhus-, Tuberkel-, Milzbrandbacillen. Kalkmilch und Kalkbrei
(in Form von frischem Kalkanstrich) müssen beide auf die widerstandsfähigeren
Bacillenformen längere Zeit einwirken ; erfolglos erwiesen sie sich nur gegen Milz-
brandsporen und Tuberkelbacillen. Chlorkalk erwies sich als sehr wirksam
(besonders auch bei den Mikroben der genannten Tbierkrankheiten). Theer ist
gegen Milzbrandsporen und Tuberkelbacillen nur ein zweifelhaftes, gegen Hühner-
cholera, Schwe^neseuche, Schweinepest ein wirksames Desinfectionsmittel. Rohe
Carbolsäure, im oben angegebenen Verhältniss mit S alz säu re gemengt,
erwies sich gegen Milzbrandsporen und Tuberkelbacillen als äusserst wirksam;
gegen letztere allein die rohe Schwefelsäure und Creolin. Natron- und
Kalilauge von 1084 spec. Gew. tödtet nur sporenfreie Bacillen (nicht
Milzbrandsporen und Tuberkelbacillen) völlig sicher. Sodalösung bewirkt
Tödtung der Hühnercholerabacillen in der Concentration von 1 : 1000, der Schweine-
rothlaufbacillen bei 4 : 200, der Milzbrandbacillen bei 5 : 100.
Wie Nissen fand , werden Typhusbacillen , Cholerabacillen , Milzbrand-
bacillen und -Sporen, Stapbylococcus aureus wesentlich beeinflusst durch die Ein-
wirkung des Chlorkalks (für die Massbestimmung der letzteren wurde der
Gehalt an unterchloriger Säure titri metrisch bestimmt). Typhusbacillen werden —
ob filtrirte oder unfiltrirte Chlorkalkflüssigkeit in Anwendung gezogen wurde,
188
DFSINFECTION.
erschien gleichgiltig — bereits vernichtet nach 5 Minuten langer Einwirkung einer
bis zu 0"12 Proeentgehalt mit Chlor versetzten Nährbouillon ; bei stärkerem
Proeentgehalt war bereits nach 1 Minute die Abtödtung au eonstatireu. Noch
schneller bewirkten die entsprechend versetzten Nährtiussigkeiten das Zugrande-
gehen der Ch o lera b ac i 1 len (0*12°/0 innerhalb 1 — 5 Minuten), Sporenfreie
Mi lzbrand bacillenculturen waren bei O'l°/o Chlorkalk in 1 Minute vernichtet;
sporenhaltige hatten ihre Fortpflanzungsfahigkeit verloren, nachdem eine 5%ige
Chlorkalkflüsaigkeit 16 — 30 Minuten zur Anwendung gebracht war. Um Milz-
brandsporen (an Seiden f äden aufgetrocknet!) abzuttfdtcn, bedurfte es bei
ausgedehnterer Einwirkung (70 Minuten) nur einer Lösung von 1° V Staphylo-
coccus pyoge n es aureus und Streptococcus erysipelatis erwiesen
sieb als nicht mehr wachsthumsfähig nach Aufenthalt von 1 Minute Dauer in
einer 0*2% Chlorkalk enthaltenden Bouillon. Auch die an Fäces angestellten
Versnobe liessen ein praktische Verwerthung des Chlorkalks als durchaus ange-
zeigt erscheinen.
Für Typhus- und Choleraausleerungen ein sicheres Desinfectionsv erfahren
zn ermitteln, versuchte Pfuhl. Der gelöschte Kalk würde dem gebrannten
Kalk vorzuziehen sein, Er muss jedoch — da er sieh in Pulverform mit Stuhl-
massen schlecht mischt — in Form der Kalkmilch angewandt werden. Die zu
den Versuchen de« Weiteren verwandte Kalkmilch enthielt 13*7°/0 Kalkhydrat.
Von ihr genügte ein Zusatz von 2° • '0 , um binnen einer Stunde die Abtödtung
sämmt lieber im Stuhl befindlicher Typbus- und Cbolerabacillen herbeizu führen.
Das« die (noch unbekannten) Dysenterieerreger auf gleiche Weise vemiohtet
werden dürften, ist Pfühl sehr wahrscheinlich. Bei den praktisch (an wirklichen
Senkgruben) angestellten Versuchen ergab sich , dass 225 Liter Kalkhydratpulver,
mit der vierfachen Wassermenge gemischt, ausreichten, um in 224 Liter Fäcalien
eine wirksame Alkalescenz hervorzurufen.
Sehr umfangreiche Versuche über Fücali eudesin fection rühren von
v. Gerloczy und von ÜFFELMANN her.
1. Sublimat verdient als Desinfectionsmittel für Excremeute und
Kehricht offenbar bei weitem nicht jenes Vertrauen , welches man demselben
auf Grund der älteren Desinfections versuche entgegen brachte. Zur De sin fection
des Inhaltes von Senkgruben kann dasselbe überhaupt nicht in Betracht kommen,
weil selbst die concentrirtesto flüssige Lösung desselben Exerementstoffe von
gleicher Menge nicht zn desinficiren vermag. Auch zur Desinfection frischer Ex*
cremen te mttsste man 1 heraus viel davon verwenden , was den Nacht heil der
Kostspieligkeit zur Folge bat. Zieht man ausserdem noch in Betracht, dass
Sublimat in den Händen von Laien , ja auch in denen des zur Desinfection ver-
wendeten Dienstpersonals , zu Vergiftungen Anlasa geben kann , so wird das
Sublimat in der grossen Praxis nicht als ein empfehlenswerthes Mittel erscheinen.
Uffklmann fand saure Sublimatlösung gegenüber den Keimen in den Fäcal-
m aasen ziemlich wirksam; den Effect der nicht sauren dagegen ebenfalls recht
unsicher.
2. Auf Grund der GBRLOczif 'sehen Versuche kann besonders Cuprum
sulfuricum als vielversprechendes Desinfectionsmittel hervorgehoben werden.
Es zeigte sich, dass dieses Mittel die CanalÜüssigkeit schon in einer Quantität
von 1 : 1000 ganz reinigt und geruchlos, ja selbst dauernd steril macht; es
zeigte sich ferner, dass dasselbe, in gehöriger Menge angewendet (und die Billig*
keit dieses Mittels gestattet dies), auch den Inhalt von Senkgruben und umso
mehr frische Excremente desinficirt. Vorzüge von Kupfervitriol sind noch, dass
cm verhältnismässig sehr wohlfeil, sowie nicht so sehr giftig ist und vormöge
seiner auffälligen Farbe nicht leicht zu Irrthttmern Anlass bietet* Jedenfalls ver-
dient dasselbe, dass die Behörden damit in grösserem Masse Versuche anstellen.
3. Ebenso nachdrücklich kann als Desinfectionsmittel die aus Asche be-
reitete Lange empfohlen werden. Starke Lauge desinficirt frische Excremente,
DESINFECTION.
189
auch wenn sie kalt ist. Siedendheisse Lange aber muss zu den wirksamsten und
am schnellsten wirkenden Desinfectionsmitteln gezählt werden. Siedendes Wasser
fand Uffelmann ganz unwirksam.
4. Krystallisirte Carbolsäure verdient bei der Desinfection weniger
Beachtung als Cuprum sulfuricum oder Lauge, und zwar um so weniger, da
der Preis derselben im Verhältniss zu ihrer massigen Wirkung ein sehr hoher
ist ; Uffslmann fand 25%ige Carbolsäure nach 24 Stunden wirkungsvoll.
5. Rohe Carbolsäure ist als Mittel zur Geruchlosmachung werth-
voll; nach Uffelmann's Versuchen sind Salz- und Schwefelsäure zulässiger.
6. Die in neuester Zeit zur Desinfection empfohlenen Mittel, nämlich
Creolin und a-Oxynaphtholsäure, können für die Desinfection der bei vorliegenden
Untersuchungen benutzten Stoffe nicht in Betracht kommen (auch nach Uffelmann
fand Keimtödtung durch Creolin erst in 24 Stunden statt). Auf Grund dieser Dar-
legungen wäre für die Desinfection folgendes Verfahren in Vorschlag zu bringen :
a) Desinfection und Geruchlosmachung von Senkgruben. Die vollständige
Desinfection der Senkgruben kann nur in ausserordentlichen Fällen beantragt
werden, wie z. B. in Cholerazeiten bei den zuerst auftauchenden Fällen, wenn
das Exerement in den Abort geschüttet wurde. Zur Desinfection empfiehlt sich
dann eine starke Lösung von Cuprum sulfuricum, und zwar mindestens 40 Kgrm.
auf 1 Cbm. Senkgrube. Zur Geruchlosmachung empfiehlt sich rohe Carbolsäure,
und zwar auf 1 Cbm. wenigstens 20 Kgrm.
b) Desinfection und Geruchlosmachung von Canalflttssigkeiten. Schlammige,
stark stinkende Ausgussrinnen können mit roher Carbolsäure geruchlos gemacht
werden. Die Canalöffhungen und Schlammbehälter werden am zweokmässigsten
durch Ausspülen mit Wasser, eventuell mit Zinkvitriol oder rohem Carbol geruch-
los gemacht und rein gehalten.
c) Trockener Strassenkehricht ist zu befeuchten und schnell aus der
Stadt zu entfernen. In den Wohnhäusern, auf den Stiegen und in den Höfen
sollte es aber nicht gestattet sein, Carbolkalk aufzustreuen, sondern sollte der
Staub und Kehricht lieber durch fleissiges Fegen und Aufwaschen mit Zinkvitriol-
lösung entfernt, resp. unschädlich gemacht werden.
d) Zur Desinfection frischer Excremente ist eine starke Lösung
von Kupfervitriol zu empfehlen, und zwar wenigstens 1 Gnu. Kupfervitriol
auf 100 Ccm. Excremente. Noch angezeigter ist es, die Excremente mit dreifacher
Menge siedender Lauge (1 Th. Asche auf 2 Th. Wasser) zu desinficiren. Billig
und gut desinficirt auch noch Kalkmilch (1 Th. Kalk in 20 Th. Wasser gelöscht)
im beiläufigen Quantum von 1/6 — 1/10 des Excrementes. Mit diesen der Kalkmilch
so günstigen Resultaten befindet sich auch die Arbeit von Liborius in Uebereinklang.
Demgegenüber fehlt es nicht an Stimmen, welche auf die schon bei
älteren Gelegenheiten (s. den Hauptartikel) hervorgehobenen Bedenken, Fäoalien
mittelst chemischer Stoffe zu desinficiren, hinweisen. Wassiljew betont besonders
den Choleradejeotionen gegenüber die mangelnde Sicherheit, die Desinfections-
substanz in gehöriger Quantität zuzusetzen und noch die mechanische Schwierig-
keit, eine innige Vermischung der desinficirenden Substanz und der zu desinfi-
cirenden Masse herbeizuführen. Aehnlich gross erscheinen anderen Autoren
(Granchrr, de Gbnnes) die Hindernisse, welche das Tuberkelsputum der
gehörigen Zumischnng und der Einwirkung aller chemischen Desinficientien ent-
gegensetzt.
Es kann hiernach nicht befremden, wenn auch für Zwecke, wie die eben
genannten, die Hitzedesinfection herangezogen wird, wenn Wassiljew für
die Choleradejeotionen einen Apparat vorschlägt, der mit erhitztem Wasserdampf
arbeitet, wenn Grancher und de Gennes (nach mancherlei missiungenen Ver-
suchen) sich mit dem von Genest und Herscher gebauten Desinfectionskaslen
zum Behnfe der Sterilisirung von Tuberkelmaterien befriedigt erklären (der Apparat
kann stündlich 40 Spucknäpfe desinficiren).
DESINFECTION.
Noch im Beginn des Jahres 1886 brachte der „Saoitary Recordu «ine
Beschreibung ausländischer De si nfec ttonsapparate, die sich so vertbeilten,
dass auf 9 mit heisa er Luft arbeitende (Bradfohd's, Fraskr's, J Ennings',
Leonis', Nelson 's, Nottingham's, H, Roger's, Scott's, Taylor^) nur drei mit
Wa sä er dampf ihre Wirkung erzielende kamen (Benham's, Bradford's, Was-
hington Lyon's). In dem seither vergangenen Zeitraum haben jedoch — als
Ergebnisse der im Literaturverzeiehniss aufgeführten Arbeiten — die nachfolgen-
den Anschauungen ither die Wirkungsweise der Desinfectionsapparate wie in
Deutschland so im Auslande Geltung gewonnen.
Ungleich prompter als die heisse Lnft dringt der überhitzte Wasser*
dampf in Ohjecte ein, wie sie gewöhnlich aus Krankenhäusern zur Desinfektion
eingeliefert werden» Sind jedoch viele Schichten zu durchdringen, um bis zu dem
abzutödtenden Bacterien- und Sporenmaterial zu gelangen, so wird auch hier eine
nicht unbeträchtliche Zeit erfordert. Nasse Ohjecte bedürfen stets einer inten-
siveren und längeren Behandlung durch überhitzten Wasserdampf. Für trockene
Objecto muss man zur Abtödtung in ihnen enthaltener resistenter Bacillensporeu
eine 30 — 60 Minuten lange Einwirkung directen strömenden Wasser-
dampfes von 100° beanspruchen; nasse Umhüllungen machen eine mindestens
zweistündige Einwirkung des nämlichen Desinfectionsmittels erforderlich. Diese
zeitlichen Bestimmungen sind abstrahirt aus gelungenen Abtödtnugsversuchen von
Sporen , welche mitten in fest geschnürten und gerollten Ballen von wollenen
Decken (T68 : 2*02 M, Fläche) untergebracht gewesen waren (M. Wolff). Ein
neuerer englischer Experimentator (Parsons t in Verbindung mit Klein und
Buchanan) sieht bei Anwendung des Dampfes (auch des siedenden Wassers) bereit»
eine Einwirkung von 5 Minuten als für die meisten Krankheitskeime genügend an.
DobrosIiAVINE erstrebte eine Vereinfachung des Systems der Verwendung
heisser Dämpfe auf dem Wege, dass er zu dem verdampfenden Wasser Kochsalz
oder Chlorealcium oder kohlensauren Kalk zusetzte, wodurch also der Siedepunkt
des Wassers auf 108, 114<> erhöht werden kaun (ßtuve selhydrique).
In einer wichtigen Abhandlung verbreitete sich über die Wirksamkeit
des TfltTRSFrRLD'&cben Desinfectors Grüber. Die desinficirende Kraft des heiseen
Wasserdampfes gelangt nach ihm nur dann zur vollen Entfaltung, wenn derselbe
möglichst unver mischt mit Luft ist und wenn er auf den Objecten
selbst sich condensirt , d. h. wenn es zur Benetzung der letzteren mit tropfbar-
flüssigem Wasser kommt. Grober glaubt auch , dass die raschere Wirkung des
starken Dampfstromes bei den Versuchen \\ Esxarch's auf der rascheren Ver-
drängung der Luft beruhe und dass die Annahme einer grundsätzlichen Bedeutung
des starken Strömens des Wasserdampfes nicht mehr aufrecht zu erhalten sei.
Rohrbeck hob hervor, dass die Temperatur allein die wirksamen
Eigenschaften des Dampfes noch keineswegs hinreichend bestimme. Dampf von
der nämlichen Temperatur kann gesättigt , nass oder Überhitzt , trocken sein.
Gesättigter Wasserdampf desinficirt, trockener Dampf desinficirt
nicht Wo weniger geübte Personen mit der Desinfection betraut werden müssen,
ist es räthlich, Dampfapparate ohne Spannung zu verwenden , weil es einfacher
ist, einen gesättigten Wasserdampf auf der Höhe von 100° zu erhalten, als auf
einer höheren Temperatur. Schneller (sicherer) desinltcirend wirkt aber immer
ein gesättigter Wasserdampf von über 100° Temperatur, der die entsprechend
höhere Spannung hat. Für die Desinfection im Grossen empfiehlt sich deshalb
die Beschaffung von Apparaten mit höherer Spannung. Die Bildung überhitzten
Dampfes muss ebenso verhütet werden, wie die Entfernung der Luft gesichert sein.
Das letztere Moment erstrebt Walz, der einen besonderen Mechanismus
anbringt, um überhitzten Dampf erst nach dem Abströmen von Luft und (Con-
densations) Wasser in Wirksamkeit treten zu lassen.
Als besonderes Thema stellte sich Büddk die Aufgabe , Spannkraft,
Temperatur und Bewegung des Dampfes, wie dieselben sich in Dampfapparaten
DESINFECTION.
191
verschieden gestalten, experimentell zu untersuchen. Unter sonst gleichartigen
Bedingungen trug eine höhere Spannung, sowie schon die Bewegung
des Dampfes dazu bei, die Hitze schneller in die Tiefen der Desinfections-
apparate eindringen zu machen. Eine ununterbrochene Einströmung von stark
gespanntem Dampfe in den Desinfectionsraum, verbunden mit der ebenso ununter-
brochenen Ausströmung desselben, stellt die wirksamste Form der Dampfdesinfection
dar. Auch Budde kommt (in einer zweiten Arbeit) zu dem Schlüsse : der Dampf
sei — besonders für grössere Verhältnisse — anzuwenden als strömender,
als stark gespannter, als ni cht über hitzter. Ein von Reck construirter,
diese Leistungen erfüllender (dabei billiger) Apparat wird als Ergebniss dieser
Studien empfohlen.
Dem Principe des Thürsfield* sehen Apparates stehen nahe: ein von
Brocardel 1886 gelegentlich der Schweissfrieselepidemie in Montmorillon ange-
gebener; der Schaff er- und WALCKER'ache Apparat; ein von Overbeck de
Meter (wie betont werden muss) ganz unabhängig von dem THURSFiELD'schen
erfundener Dampfdesinfectionsapparat.
Mit dem BuDBNBEKG'schen Desinfector kann man auf zweierlei Weise
desinficiren: 1. Mit strömendem Wasserdampf ohne nennenswerthen Ueberdruck
bei offener Klappe. 2. Mit strömendem gespannten Wasserdampf bei geschlossener
Klappe. Rascher und kräftiger wirkt der Apparat, wenn er mit gespanntem Dampf
betrieben wird. Bei der Desinfection sehr locker gepackter oder eo ipso viel
Lnft enthaltender Sachen muss, um eine starke Durchnässung derselben vermieden
zu sehen, der Dampf sehr langsam und vorsichtig zugelassen werden.
In welchem Masse die der Desinfection mit strömendem oder gespanntem
Wasserdampf ausgesetzten Objecto einer Beschädigung preisgegeben werden,
suchte Levisox zu entscheiden.
Eine wesentliche Frage ist die, welche Artikel dem erforderlichen Hitze-
grad ausgesetzt werden können, ohne am Aussehen und Gewebe Schaden zu
erleiden, weil von ihrer Beantwortung die Entscheidung abhängt, in concreten
Fällen die vollständige Vernichtung der inficirten Gegenstände der Desinfectiom
derselben vorzuziehen. Es kann diese Frage indes* nicht allein durch Experi-
mente in den Laboratorien gelöst werden, sondern mehr noch auf dem Wege
praktischer Erfahrung. Sie erfordert technische Kenntnisse und ist auch in
pecuniärer Beziehung von Bedeutung. Die Anwendung der Hitze kann eine Ver-
minderung im Werthe der zu desinficirenden Artikel auf verschiedene Weise her
beifahren: 1. durch Austrocknen des Materials und Brüchigwerden; 2. durch
Versengen; 3. dadurch, dass Flecken entstehen, welche durch Auswaschen nicht
mehr zu beseitigen sind; 4. durch das Flüssigwerden schmelzbarer Gegenstände
(wie Wachs und Firniss); 5. durch Veränderung in Farbe und Glanz gefärbter
und polirter Gegenstände ; 6. durch Einschrumpfen und Verfilzen wollener Artikel ;
7. durch Feuchtwerden. Das Austrocknen entsteht nur, wenn trockene Hitze
angewendet wurde, das Feuchtwerden nur durch Dampf oder siedendes Wasser.
Das Einschrumpfen kommt mehr bei trockener Hitze als bei Anwendung von
Dampf zu Stande. Die übrigen Veränderungen können bei trockener oder feuchter
Hitze eintreten. Wollene Artikel, z. B. Flanelle, Bettdecken etc., versengen eher
als Baumwolle oder Leinen. Rosshaare können hohe Temperatur vertragen; that-
säehlich wird bei dem Kräuseln derselben eine Hitze von 130° angewandt. Die
meisten Stoffe können eine Hitze von 121° ohne jedes Verderbniss ertragen.
Wird jedoch diese Temperatur tiberschritten, so stellen sich rasch Zeichen von
Veränderung ein. Werden Flanelle und Bettdecken eine halbe Stunde lang Dampf
von 122*6° ausgesetzt, so werden sie ein entschieden gelbes Aussehen annehmen
und das Gewebe wird an Festigkeit verlieren. Wird dagegen weisser Flanell
viele Stunden lang einer trockenen Hitze von 104*5° oder eine halbe Stunde
lang Dampf bei 108 9° ausgesetzt, so wird derselbe einen leichten Stich in's
Gelbliche annehmen, das Gewebe aber an Festigkeit nicht verlieren. Dem
192
DESINFECTION.
Yerderbniss durch Austrocknen kann man einigermaßen vorbeugen , wenn man die
Stoffe, nachdem sie der trockenen Hitze ausgesetzt waren , längere Zeit an der
Luft liegen lagst, ehe man sie in Gebrauch nimmt. Sie erlangen dann meist
ihren natürlichen Grad von Feuchtigkeit wieder. Wenn leinene Artikel der Bett-
und Leibwasche mit Blut , Fäcalien etc. beschmutzt sind f so werden , wenn sie
sofort der trockenen Hitze oder siedendem Wasser ausgesetzt werden, un vertilg-
bare Flecken zurückbleiben. Um dies zu vermeiden, müssen solche Artikel nach
Entfernung des gröberen Schmutzes erst in kaltem oder lauwarmem Wasser auf-
geweicht und dann erst der Siedehitze ausgesetzt werden. Sie werden auf diese
Weise keine Flecken behalten und vollständiger desinfioirt werden, als wenn man
ihre Desinfection auf chemischem Wege versuchen wollte» Die Wirkung der Hitze
auf Farben ist meist von geringer Bedeutung. Trockene Hitze verändert die
Farbe wenig oder gar nicht, nur Dampf oder siedendes Wasser wird die weniger
dauerhaften Farben verwischen. Der Glanz polirter Artikel schwindet, gefirnisste
Gegenstände werden blasig und bei Anwendung- v<>n Dampf wird der Leim los*
weichen. Trockene Hitze bewirkt bei wollenen Stoßen nur ein geringes, feuchte
Hitze ein stärkeres und dauerndes Einschrumpfen. Ein fernerer Nachtheil , der
kaum zu verhüten ist, besteht in dem Verfilzen und in dem Verlust der Elasti-
cität der Gewebe, da namentlich die Wollenstoffe hierdurch an Wärme verlieren
und hart werden.
Ein wirksamer, zugleich derartige Beschädigungen möglichst hindernder
Desinfection sapparat ruuss folgende Bedingungen erfüllen; a) gleichmässige Ver-
keilung der Hitze in allen Theilen der Kammer, b) andauernde Erhaltung des
erforderlichen Temperaturgrades, c) rasche Wirkung, d) Billigkeit der ersten
Anschaffung«- und Unterhaltungskosten. Die gleichmässige Vertheil eng der Hitze
ist deshalb von grösster Wichtigkeit, weil nur dadurch der erforderliche Grad
von Hitze in alle Theile der infieirten Gegenstände eindringt und diese vor theil-
weisem Verderbnis« bewahrt bleiben. Hat ein Theil der Kammer einen erheblich
höheren Hitzegrad , so können die hier placirten Artikel versengt sein , bevor
die in dem weniger erhitzten Theile befindlichen desinficirt sind. Bei der Er«
hitzung der Kammer durch Dampf ist die Temperatur überall nahezu gleich-
niässig, dagegen diflerirt dieselbe in Kammern mit trockener Hitze in den einzelnen
Theilen bisweilen um mehr als 37*8° (dies gilt besonders von solchen Apparaten,
in welchen die Hitze dircet oder von dem Boden oder den Wänden aus in das
Innere der Kammer ausstrahlt)» Dagegen wird eine um so grössere Gleichmäßig-
keit iu der Vertheilung der Wärme erzielt, je weiter die Hitzequelle von der
Kammer entfernt ist. Zur Controle der andauernden Erhaltung des erforderlichen
Temperaturgrades wird anstatt der gewöhnlichen Thermometer die Anwendung
eines Metallpyrometers empfohlen»
Die Schnelligkeit, mit welcher ein Apparat auf den erforderlichen Hitze*
grad gebracht werden kann, variirt nach der Art der Feuerung, nach dem Ver-
hältnis* des Quantums der zugeführten Hitze zu der Grösse des zu erhitzenden
Raumes, nach der Oonstruction der Kammer und nach anderen Umständen. (Bei
der Anwendung trockener Hitze tritt die Wirkung bei Kohlenfeuerung weniger
schnell ein als bei Feuerung mit Gas, Dampfheizung erhitzt die Kammer schon
nach wenigen Minuten vollständig.) Die Schnelligkeit der Wirkung ist in der
Praxis besonders dann von grossem Vortheil, wenn grosse Quantitäten von infi-
cirtum Material oder sehr massige Artikel zu desinficiren sind. Eine Dampf-
kammer kann das Doppelte und Dreifache einer Trockenhitzekammer leisten und
ermöglicht eine schleunige Zurückgabe der desinficirten Gegen-
stände an die Eigenthümer, ein Vortheil, der besonders bei der ärmeren
Volksclasse nicht zu unterschätzen ist.
Somit wurde man die Anforderungen an einen guten Desinfector reen-
mirend dahin zusammenfassen: Er soll im Staude seint auch die allerwiderst&nds-
fähigsten unter den patbogenen Mikroorganismen abzutödton ; er soll diese Wirkung
DESINFECTION.
193
ausüben in allen seinen Theilen und in einem Zeitmasse, welches je nach der
GrOsse der Objecto variirt. Der Apparat soll nicht zu complicirt und leicht zu
bedienen sein. Die Desinfeetionsobjecte sollen möglichst wenig geschädigt werden.
Die Form der gebräuchlichen Apparate ist eine sehr verschiedene; man
fabricirt viereckige Kasten mit scharfen oder abgerundeten Ecken in den mannig-
fachsten Oestaltungen; man fabricirt stehende und liegende Oylinder von rundem
und ovalem Querschnitt. Billiger herzustellen ist die letztere Form, doch ist der
von ihr gewährte Raum für manche Zwecke weniger gut auszunützen als die
rechteckigen Formen , so z. B. wenn Gegenstände nur ohne Beschädigung auf
Hürden ruhend, desinficirt werden sollen, die in runden Apparaten weniger gut
Platz finden. Aufrecht stehende Cylinder sind unbequem zu füllen, noch unbe-
quemer zu entleeren, so dass sie schon an mittelgrossen Apparaten nicht mehr
praktisch erscheinen. Für die Entscheidung der Frage, wie gross man die Apparate
bemessen soll, ist der Umstand zu berücksichtigen, dass mit wachsendem Umfange
nicht allein die Anschaffungskosten, sondern auch die Betriebskosten nicht
unwesentlich steigen ; jedoch wird man gut thun, unter ein gewisses, etwas reich-
lieh bemessenes Maass nicht allzu tief hinunter zu gehen. Selbst kleinere Asyle,
Polizeianstalten und Krankenhäuser sollten Apparate vorziehen, welche mindestens
1 Cm. freien Füllungsraum darbieten; in diesen wären aber Bett- und Sopha-
rahmen, umgeknickte Matratzen etc. schon nicht mehr zu desinfioiren, so dass
Anstalten von mehreren hundert Betten und mittelgrosse Gemeinden jedenfalls
Apparate von 2 — 5 Cm. verfügbaren Raumes haben müssen. Für grössere An-
forderungen kommt dann die Aufstellung mehrerer Apparate zu je mindestens
2 Cm. in Frage. Ob der Dampferzeuger gleich unter dem Apparat selbst ange-
bracht oder in der Nähe desselben aufgestellt wird, erweist sich von geringer
Bedeutung. Bildet das Wasserbassin zugleich die Wandung des Desinfectionsraumes,
so kann eine Vorwärmung des letzteren damit erzielt werden.
Trotz der nahezu allseitig der Anwendung gespannter Dämpfe zuge-
standenen Vorzüge (Schnelligkeit, Gleichmäßigkeit des Eindringens, Wegfall todter
Ecken) stehen der allgemeinen Einführung der Apparate mit hohemDruck
einige beachtenswerthe Hindernisse entgegen: die Nothwendigkeit der polizei-
lichen Concession , die (wegen der Explosionsgefahr) unumgänglich stärkere (daher
theuerere) Construction , das Erforderniss eines geübten Personals etc. So hat
man in der Construction von Apparaten, die mit einem geringeren Ueberdruck
arbeiten, die concessionslos aufgestellt werden dürfen, leichter construirt und
leichter zu bandhaben sind, einen Mittelweg gefunden.
Unter gehöriger Berücksichtigung aller erwähnten Momente erscheint nur
für ländliche Gegenden die Beschaffung billiger transportabler Dampf-
infectionsapparate rathlich, während für grössere Plätze die Aufstellung
wirksamster stabiler Apparate in ordentlichen, nur diesem Zweck dienen-
den, soliden Backsteingebäuden das eigentliche Bedürfniss erfüllt. Dies umso
mehr, als ohnehin eine eigentliche Desinfectionsanstalt ohne ein derselben stetig
angehörendes Personal, ein strenges Reglement über Transport, Ein- und Aus-
lieferung der zu desinficirenden Gegenstände und eine bureaumässige Handhabung
des gesammten Betriebes nicht gedacht werden kann. Auf der Höhe, allen An-
forderungen zu genügen, steht die Berliner Desinfectionsanstalt. (Genaue
Beschreibungen des Betriebes und der Einrichtungen lieferten wiederholt Mebkk
und P. Gcttmann; von Letzterem rührt auch unter dem Titel „Statistisches über
Desinfection bei contagiösen Krankheiten in Berlin" eine zusammenfassende Ueber-
sicht über die Verbreitung der Desinfection im Publicum , die behördliche und
private Inanspruchnahme und einiges Kritische , betreffend die der Desinfection
hauptsächlich zu unterwerfenden Krankheiten her.)
Amtliche Anweisungen zur Desinfection sind seit 1886 in vielen
Deutschen Staaten und Gemeinwesen erlassen worden, wobei theils directe Bezug-
nahmen, theils stillschweigende Anlehnungen, sei es auf die früheren, sei es an
Encyclop. Jahrbücher. I.
die sogleich zu besprechenden jüngsten Berliner Bestrebungen zum Ausgangspunkt
gedient haben. Das Österreichische Kriegsministerium Hess sieh von Florian
Kbatscbmeb die Materialien zu einer „Desinfeetion s Vorschrift" unter-
breiten, die auf den allern euesten Errungenschaften fassen soll. In derselben sind
für diesen Zweck die auf dem VL internationalen Congress für Hygiene und Demo-
graphie (1687) und die so zahlreichen Arbeiten der drei jüngst verflossenen
Jahre als Grundlage angenommen.
Einfacher als die Verordnung und Anweisung des Berliner Polizeipräsidiums
vom 15. August 1883, deren Tendenz : eine möglichst speci fische Desinfection
Hir die einzelnen Arten der Krankheitserreger zu bewirken — von einer Reihe
darnach gebildeter Verordnungen aufgenommen wurde — , ist die neue Berliner
Desi nfeetion san Weisung (vom 7. 8. Februar 1887). Es beruht dies aal'
dem Vertrauen, welches von Seiten der Behörden der (oben erwähnten) städtischen
Desinfectionsanstalt zugewandt wird, s. unten die §§. 11 und 12. Von Krank-
heiten fasst die Anweisung (wie die frühere) in's Auge unbedingt Desinfektion
erheischende, und zwar: Indische Cholera, echte und modificirte
Poeken, Fleck- und Rückfalltyphus, Diphtherie; als zweite Gruppe
Darmtyphus, Scharlach, epidemische Ruhr, Masern, Keuch
husten, Lungenschwindsucht, bei welchen nur auf besondere amtliehe
Anordnung Desinfection statthaben muss, anderenfalls dringend empfohlen wird.
Nach einer Belehrung (§§* 3 — ö) Über die Art der Krankheitsverbreitung, die
peinlichste Reinlichkeit, Lufterneuerung, Wäschewechsel macht die „Anweisung^
als Desinfectionsmittcl namhaft: a) den strömenden überhitzten Wasserdampf
(Desinfectionsanstalt), b) halbstündiges Kochen in Wasser,, cj 6° 0 ige Carbol»
säurelösung, J) 2procentige CarbolsÄurelösung und e) Verbrennung werthloser
Gegenstände*
Sic führt dann wörtlich fort:
§. 6, Falls der Kranke nicht in ein Krankenhaus gebracht wird, ist ein
thunlichst abgesonderter Raum als Krankeuzimmer zu wählen und ausser Verkehr
zu stellen. In eiuem Zimmer, in welchem eine an Cholera , Pocken, Fleck- oder
Rückfalltyphus, Diphtherie, Scharlach oder Ruhr erkrankte Person untergebracht
ist , müssen in der Regel die zur Zeit befindlichen Möbel und Gebrauchsgegen-
stände jeglicher Art verbleiben. Ist die Entfernung einzelner Stücke nicht zu
umgehen, so sind dieselben vor Gebrauch nach diesen Vorschriften zu desiniieiren.
Alle vom Kranken während der Erkrankungszeit bentitzten Leib- und Bettwäsche
stücke, zum taglichen Aufwischen des Zimmers gebrauchte Tücher, sowie alle
sonst waschbaren Gegenstände weiche man nach der Aussergebrauchstellung, ohne
sie vorher zu schütteln oder auszustauben, in 2%iger Carbolsäurelösung mindestens
24 Stunden ein, koche dieselben dann eine halbe Stunde in Wasser und wasche
sie in Kaliseifenlauge aus, welche aus 20 Grm, Kali- (schwarzer oder grüner)
Seife mit 10 Liter Wasser hergestellt wird.
7T Alle Absonderungen von Cholera-, Typhus-, Diphtherie-, Scharlach-
und Ruhrkranken fange man in Gefässen , welche zu einem Viertel mit 5%iger
Carbolsäurelösung gefüllt sind, auf und schütte sie in den Abtritt In Betracht
kommen bei Cholera; Erbrochenes, Stuhlgang und Urin; bei Diphtherie
und Sc ha rlao h: Auswurf, Nasenschleim und Urin; bei allen Typhusarten
und epidemischer Ruhr: die Stuhlgänge. Abtritte (Ciosets) dürfen Kranke
vorgedachter Art nicht benutzen. Ist dies dennoch vor Feststellung der Krankheit
oder später verbotswidrig geschehen, so reinige man die Sitzbretter und Abtritts-
trichter sofort durch Abscheuern mit 5° 0iger Carbolsäure und spüle letzten' dur<*b
Eingiessen von reichlichen Mengen (3 — 4 Liter) derselben Lösung sorgfaltig nach.
§. 8. Speisen und Getränke dürfen im Kraukenzimmer weder aufbewahrt,
noch von irgend Jemand, ausser dem Kranken, genossen werden.
§4 8, Benutzte Verbandstücke werden sofort verbrannt, Instrumente in
obiger Carbolsäurelösung gereinigt.
DESINFECTION.
195
§. 10. Ueble Gerüche beseitige man lediglich durch Entfernung der
Geruchsquelle (Entleerungen, Verbandstücke etc.) und durch wiederholte ausgiebige
Lüftung, Räucherungen mit wohlriechenden Stoffen bewirken keine Desiafection,
verdecken nur den Geruch, beseitigen ihn aber nicht.
§.11. Nach Ablauf der Krankheit bringe man benützte, nicht waschbare
Kleidungsstücke , Betten , Kissen , Matratzen , Decken , seidene Stoffe , Teppiche,
Pelzwerk, Polstermöbel, ohne fournirtes äusseres Holzgestell vorsichtig, d. h.
ohne viel zu rühren, beziehungsweise gar zu schütteln oder ausznklopfen , in ein
mit 2°/0iger Carbolsäurelösung angefeuchtetes Leinentuch eingebunden in eine der
städtischen Anstalten mittelst deren Transportwagen. Besudelte Ledersachen
(Schuhwerk) sind mit 5°/0iger Carbolsäure zu reinigen.
§. 12. Alle werthlosen Gegenstände (Bettstroh, unbrauchbar gewordene
Kleider und dergleichen) werden verbrannt, und zwar soweit nach Umfang möglich,
im Heiz- oder Kochherd, welcher zur Zeit mit Speisen nicht besetzt sein darf;
grössere Gegenstände aber, wie grosse Mengen Bettstroh, gefüllte und leere Bett-
säcke und dergleichen mehr werden durch die Revierpolizei den städtischen Anstalten
zur Unschädlichmachung überwiesen.
§.13. Polirte und geschnitzte Möbel, Bilder mit Rahmen, Metall- und
Kunstgegenstände werden mit trockenen Lappen scharf, Tapeten wie gestrichene
Wände mit Brod trocken und scharf abgerieben, nachdem der Fussboden des
Zimmers vorher mit 5%iger Carbolsäurelösung stark angefeuchtet ist. Von den
Wandflächen , welche mit Auswurfsstoffen des Kranken besudelt sind , müssen
Tapeten, beziehungsweise Anstrich nach Anfeuchten mit 5°/0iger Carbolsäurelösung
durch Abkratzen in entsprechender Ausdehnung entfernt werden. Alle Fussböden
ohne Unterschied, Thüren, Fenster, sowie alle Holzbekleidungen ohne Politur sind
nach Cholera, Pocken, Diphtherie, Fleck- und Rückfalltyphus mit 5%iger Carbol-
säurelösung sorgfältig abzuscheuern; letztere lässt man in etwaigen Dielenfugen
einziehen und wäscht die gereinigten Flächen mit reinem Wasser nach (das zum
Abreiben verwendete Brod, beziehungsweise die Lappen werden verbrannt).
§. 14. Nachdem so jeder Gegenstand im ehemaligen Krankenzimmer,
wie jeder Theil des letzteren selbst vorschriftsmässig und sorgfältig gereinigt
ist, lüfte man das Zimmer nach Cholera, Pocken, Diphtherie, Fleck- und Rück-
falltyphus 24 Stunden hindurch.
§. 15. Die Benutzung von öffentlichen Fuhrwerken (Lohnwagen, Droschken,
Omnibus, Pferdebahnen, Eisenbahnen) und von öffentlichen Wasserfahrzeugen zum
Transport von Cholera-, Pocken-, Typhus-, Diphtherie-, Ruhr-, Scharlach- und
Masernkranken ist verboten. Derartige Kranke sind in besonderen Krankenwagen
zu transportiren. Kranken- wie Wagen der Desinfektionsanstalten bestellt das
zuständige Polizeirevier auf Verlangen.
§. 16. Genesene Kranke müssen, bevor sie mit Gesunden wieder ver-
kehren, sich in einem warmen Seifenbad und, falls dies nicht thunlich ist, durch
Abwaschen des ganzen Körpers mit warmem Seifen wasser sorgfältig reinigen,
darauf reine Wäsche und in der Krankheit nicht benutzte oder desinfioirte
Kleider anlegen.
§. 17. Leichen von an Cholera, Pocken, Diphtherie, Ruhr oder einer
Typhusart Verstorbenen sarge man nach Feststellung des Todes ungewaschen
und in ein in 5°/0iger Carbolsäurelösung getauchtes Leichentuch gehüllt ein und
führe sie thunlichst bald mittelst Leichenwagens aus der Wohnung in eine
Leichenhalle über.
§. 18. Alle Personen, welche mit an Cholera, Pocken, Diphtherie, Schar-
lach, Fleck- oder Rückfalltyphus Erkrankten in Verkehr getreten sind, haben
sich, bevor sie wieder mit Gesunden in Berührung kommen, die Hände mit 2°/0iger
Carbolsäurelösung, Pfleger und Pflegerinnen auch das Gesicht, Haupt- und Bart-
haar sorgfältig zu reinigen. Desinfectoren tragen während ihrer Thätigkeit einen
lediglich für diesen Zweck bestimmten Arbeitsanzug, reinigen sich nach der Arbeit
W
ite
DESINFECTION.
wie die Pfleger und haben wie Letztere nach vollendeter Arbeit Wasche und
Kleider zu wechseln*
§. 19. Die Vorschriften der §§, 13 — 18 kommen auch in denjenigen
Fällen zur Anwendung, bei welchen Desinfection auf amtliche Anordnung stattfindet.
§♦ 20. Ist bei Darmtypbua, Scharlach oder Ruhr amtlich eine Desinfectiou
nicht angeordnet, so findet dieselbe, wie bei Masern, Keuchhusten, in jedem ein-
seinen Falle nach ärztlichem Ermessen statt. (Die Desinfectiou bei Lungen-
schwindsucht ist seit December 1890 obligatorisch.)
Hieran reihten sich als Schluss noch einige besondere Anweisungen,
betreffend die Ausführung der Desinfection durch Heilgehilfen (geprüfte
Heildiener). Dieselben sind für Berlin wesenlos geworden dadurch, dass im Laufe
des Jahres 1890 hier allen Personen das Vornehmen voo Desinfection en unter-
sagt wurde, welche nicht als städtische Desinfectoren ausgebildet und
befähigt worden sind. (Es waren Ende 1890 in Tbätigkett: 27 „Desinfectiona-
aufseher" und 107 „Desinfectoren",)
Der Schwerpunkt der Berliner Anweisung liegt in der Disposition über
ein solches Personal und über mustergültige Dampfdesinfectionsanstalteu , daneben
aber sichtlich in den §§. 13 und 14, von denen der letztere nach vollbrachter
Reinigung nur noch 24stündige Lüftung des Krankenzimmers — auch bei Cholera,
Pocken, Diphtherie, Fleck- und Rückfaütyphus — verlangt und der erstere alles
Vertrauen, sozusagen den ganzen Einsatz, auf die 5%i geCarbolsäurelösung
setzt. Bewähren sich die vier Absätze dieses Reinigungsparagraphen als stichhaltig,
so ist eine ungemeine Vereinfachung und Verbiüigung der Desinfection erreicht.
(Während der Verfasser gegenwärtiger Arbeit, welchem seinerseits stets
die speci fische Desinfection [also eine nach den besonderen Lebenseigen-
Schäften der einzelnen Krankheitserreger variirte] als das eigeutliche £iel der
Prophylaxe erscheinen wird, sich versagen muss, schon jetzt der neuen Anweisung
gegenüber eine Stellung einzunehmen, fehlt es an Stimmen nicht, welche gegen
die Carbolsäure in der ihr zugewiesenen Hauptrolle Widerspruch erheben,)
Literatur: Praxis der Desinfection, Reff* von Richard, Löffler, Dobras
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Nr, 5. — v. Esmareh, Zeitschr. für Hygiene, V, pag. 67. — Budde, Archiv für Hygiene.
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197
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Nr. 36 und 1890, Kr. 11. — C. Fraenkel, üeber die Wirkung der Cresole. Zeitachr. für
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Revue d*hyg. XI, pag 641. — Martin Hahn, Versuche aber die Leistungsfähigkeit de-*
Bndenberg'schen Dampfdesinfectionsapparates. Deutsche med. Wochenschr. 1890, Nr. 12. —
R o hr beck , üeber die Desinfection mit Wasserdampf. Beschreibung von Apparaten. Eigene
Broschüre. 18K). — Prof. Dr. Florian Kratscbmer, Der gegenwärtige Stand der Des-
infectionspraxis. Wien 1890, Holder, pag. 69. — Anweisung des Berliner Polizeipräsi-
diums zur Desinfection bei Volk*krankheiten. Vom 7./8. Februar lb87. Berlin 1887, W. Hayn's
Erben. — Erwin v. Esmarch, Desinfectionsapparate und ihre Anwendung. Leitartikel der
„Hygienischen Rundschau". I. Jahrg., Nr. 1. Wem ich
Desinfectol, ein dem Kreolin in seinen Eigenschaften nahestehendes
Antisepticum, welches als wesentliche ßestandtheile Harzseifen, die Natriumver-
bindungen von Phenolen und Kohlenwasserstoffe enthält, ist eine schwarzbraune
Flüssigkeit von alkalischer Reaction, die mit Wasser eine Emulsion bildet. Hin-
sichtlich der desinficirenden Kraft auf dünne Fäcaiien stellt sich nach Beselin
die 5% ige Desinfectolemulsion in der Wirkung gleich: der 12'5°,0igen Creolin-, der
33° 0igen Salzsäure-, der ö°/0igen Carbolsäure- und der 2%igen nichtsauren und
Salzsäuren Sublimatlösung. Wurde bei Ohrenkranken in 1 a und 1% Emul-
sion versucht. Die gleichmässige Zusammensetzung dieses chemisch nicht genau
definirten Präparates ist nicht gesichert.
Literatur: Beselin, Ueber das Desinfectol und dessen desinficirende Wirkung
auf Fäcaiien. Centralbl. f. Bacteriol. n. Parasitenkunde. 1890, Nr. 12. . ,
' Loe Olsen.
Diabetes insipidus, Polyurie (vergi. Reai-Encyciopädie. 1886,
2. Aufl., Bd. V, pag. 249). Die nicht zahlreichen Mittheilungen aus dem Zeit-
raum 1885 — 1890, welche die Pathologie der zuckerlosen Harnruhr behandeln,
schliessen sich grö98tentheils den bisherigen Anschauungen Aber das Wesen dieses
Vorganges an.
In Bezug auf die Aetiologie suchte Kahler1) die Abhängigkeit des
Dxab. insipidus von Vorgängen innerhalb der Schädelhöhle sowohl
auf statistischem wie auf experimentellem Wege noch bestimmter, als bisher an-
genommen wurde, festzustellen. In erster Beziehung sammelte er eine grössere
Reihe von Fällen, in welchen eine dauernde Polyurie die Folge theils von Traumen
des Schädels und Gehirns, theils von Gehirnerkrankungen war; für die trauma-
tischen Formen ergab sich dabei, dass sie nicht mit Sicherheit auf die Läsion
bestimmter Gehimtheile zurückzuführen sind; für die durch Gehirnerkrankungen
hervorgerufene Form, dass ihr Silz sich im Allgemeinen auf die in der hinteren
Schädelgrube liegenden Hirntheile beschränken lässt. Experimentell erhielt er eine
mindestens einige Wochen dauernde Polyurie (mit Polydipsie) bei Kaninchen durch
Injection von Silbemitratlösung in die Medulla oblongata; aus weitergehenden
Versuchen schliesst er, dass die Erkrankung nicht auf das Kleinhirn, sondern auf
bestimmte Abschnitte des Pons und der Med u II. oblong, zu beziehen und
als Reizerscheinung aufzufassen ist.
Neuere casuistische Stützen für diese Abhängigkeit des Diab. insipidus
von Gehirnerschütterung, Herderkrankungen des Gehirns (im Bereich der hinteren
Schädelgrube) u. Aehnl. werden von verschiedener Seite geliefert; in mehreren
der hierher gehörenden Fälle sprachen die Symptome für einen pathologischen
Prooess in der Nähe des IV. Ventrikels; in dem einen fand sich eine von der
Oland. pituifaria ausgehende Geschwulst.2) Ein anderer zeigte die Polyurie als
Folge von Hirnsyphilis und kam unter Gebrauch von Schmiercur und Jodkalium
in fünf Wochen zur Heilung.8) Vielleicht gehört hierher auch der Fall eines Knaben,
bei dem nach dem Biss einer Zecke (Ixodes) in den Hinterkopf für 2 Monate
Polyurie nebst Stumpfsinn aufgetreten sein soll.4)
Die Annahme, dass der Diab. insipidus von degenerativen Veränderungen
des Plexus coeliacus herrühren solle (Dickinson, Schapiro), wurde durch
198
DIABETES IN8IPIDUS. — DIABETES MELLITUS.
kürzlich von Petpeb ö) mitgetbeilte, bei Kaninchen mit Exstirpation des Plexus
coeliacus angestellte Versuche widerlegt. Dieselben ergaben niemals Polyurie ;
Ubrigms auch (abweichend von früheren Angaben) keine Pancrensatrophie , keine
profusen Diarrhoen, endlich Melliturie, Acetonurie und Albuminurie nur inconstant
und iu schwachem Grade.
In Bezug auf das Wesen der Krankheit spielt noch immer die Frage
eine Rolle: ob die gesteigerte Fl tissigkeitsauf nähme eine Folge der Polyurie sei,
oder letzterer immer eine Polydipsie vorausgehe ? In zwei neueren Mittheilungen *)
werden die ihnen zu Grunde liegenden beiden Fälle als „p ri märe Polydipsie*4
daraufhin aufgefaset, dass in ihnen bei Verminderung der Getränkmenge die Urin-
menge dieser parallel lief, in dem einen Fall sogar durch Einschränkung der
Flüssigkeitszufubr annähernd normal gemacht werden konnte. Ob dieser Scbluss
gerechtfertigt ist, erscheint allerdings noch zweifelhaft. Uebrigens trat in dem
einen Fall nach einem n Durstversuch" schnelle Heilung ein. — Control versuche
zwischen einem Diabetes insipidus und einem Gesunden > der gleiche Getränk-
mengen aufnahm, wurden neuerdings wieder von Kraus7) angestellt, und dabei
Consta tirt, dass der auffallendste Unterschied betreffs der Urinausscheidong beider
in dem schnelleren Eintritt reichlicher Diurese nach der Flüesigkeits&ufüahme
(„Taehyune<4j bei dem Dich, insip. besteht. Die insensible Perspiration schien
sieb bei diesen Versuchen von der eines Gesunden nicht wesentlich zu unterscheiden.
Die Häufigkeit, mit welcher das Kindesalter an der Erkrankung
Theil nimmt, wird auch durch die neuere Erfahrung bestätigt; der jüngste der
mitgeteilten Fälle betraf ein dreimonatliches Kind.14) Hier sei auch die Beob-
achtung von drei Geschwistern, welche au Diab. insip*, und zwar stimmt lieh im
9. Lebensjahr, erkrankten, erwähnt,9)
In Betreff des Symptomen b ild es kann angefahrt werden, dass mehrere
neue Mittheilungeu wieder mannigfache nervöse Beschwerden als Begleitcrschei*
Bungen der Polyurie hervorheben; dass ein Mal dabei Mageneetasie 10) {als Folge
der gesteigerten Getränkeeinfuhr) und einmal Zusammentreffen der Erkrankung
mit allgemehier Adiposität11') beobachtet wurde.
Für die Therapie ist von neuen Mitteln das Antipyrin, welches
gegen Diab. mellitus vielfach empfohlen wird, auch bei Diab. insip., in Dosen
bis zu 6'0 pro die, sehr gerühmt worden u) ; von länger bekannten Medicamenten
findet das Ergotin neue Empfehlung.13)
Neue Literatur: A) Kahler, Präger med, Wocbenschr. 1885t Nr. 51 und
Prager Zeit^chr. der Beilk. l?Sb\ VJt pag. 106. — *) Bern er, Norek Mayaz. 188b\ R. 3>
XV, p;i£, 550. — *) v. Hösslin, DttBtaäti* Archiv für klin. Med. 1F85, XXXVII, pag. 500.—
4) Johannesen, Norsk Magaz. 1 88t>, R. Hj XV, peg. 401 ■ — *) Peiper, Verhandle das
IX. Conffr, für innere Med, lb90, pag. 497. — ") G ei gel, Deutschet* Archiv für klin. Med,
1885, XXXV11, pag, 51. Westpbal, Berliner klin, Wocbenachr 18^, Nr. 35. — J) Kraus,
Prager Zeitach r. für Heilk. 1887, pag. 431, — *) Liebmaon, Dissert. Berlin 188?. —
¥) Clav. Laneat. 15. Juni 1RSH. — ,u) Laurent, Gaz. tned. de Pari* 1868» Nr. 6. —
") Mösl er, Deutsche med, Woeheuscbr. 18&J, Nr. 10. — ") Opitas, Ebenda, 18*9, Nr. 32. —
la) Horshey, Anw. meJ. New». 23. Sept. 1889. RieBs
Diabetes mellitus, Glykoßnrie (vergl. Real - Encyclopadie , 1886,
11. Aufl., Üd. V, pag. 250), Unter den das Wesen, resp. die A e ti o logie des
Diabetes mellitus berührenden experimentellen Arbeiten, welobe seit dem Erscheinen
des Hftuptnrtikela bekannt wurden (Anfang 1886 bis Ende 1890), stehen zwei
obenan durch das Interesse, welches sie beanspruchen, und die Wichtigkeit, welche
sie voraussichtlich auch für weitere Untersuchung mancher noch fraglichen Punkte
der Diabetes- Pathologie behalten werden.
Die erste betrifft die Aufstellung eines neuen Intoxicationsdiabetes
durch v, Mering, v) Es gelang ihm, durch Einführung des (aus der Wurzelrinde
gewisser Obstbäume stammenden) Glykosids Pbloridzin zunächst bei Hunden
eine sehr reichliche, mit der Dose des Mittels steigende Zuckerausscheidung zu
erhalten, die sich von der weiteren Nahrung unabhängig erwies Auch nach so
DIABETES MELLITUS.
199
langem Hungern, dass das Thier als kohlehydratfrei anzusehen ist, dauert die
Glykosurie fort, was Merino als schlagenden Beweis der Bildung des Zuckers
aus Ei weiss ansieht. Durch die fortgesetzten Untersuchungen sowohl Mering's,
wie einiger anderer Beobachter, welche seine Befunde im Wesentlichen bestätigten *),
ergab sich unter Anderem die wichtige Thatsache, dass der Phloridzindiabetes
auch bei entleberten Vögeln eintritt ; ferner, dass das Phloretin (Spaltungsproduct
des Phloridzin) dieselbe Wirkung zeigt, dass von einem Theil der Thiere auch
vermehrter Harnstoff, Aceton, Oxybuttersäure etc. ausgeschieden werden, sowie
dass auch bei dem Menschen dieselbe Zuckerausscheidung ohne nachtheilige Neben-
wirkungen durch das Mittel erzielt werden kann.
Noch wichtiger erscheint die zweite Versuchsreihe, in der v. M bring und
Minkowski2) nach Pancreasexstirpation bei Hunden einen starken und
andauernden Diabetes beobachteten, bei welchem die Zuckerausscheidung im Hunger
auf 5 — 10% , bei Fleischnahrung noch höher stieg, und der Zuckergehalt des
Blutes bis 5% betrug. Durch Zurücklassen eines nicht zu kleinen Stückes des
Pancreas wird der Eintritt des Diabetes gehindert. — Diese Angaben wurden
von Lepine4) bestätigt, der die Erklärung des Vorganges in einem Ferment-
mangel sieht. — Es sei hier angefügt, dass kürzlich von anderer Seite nach Pancreas-
exstirpation bei Hunden Beeinträchtigung der Resorption der Nahrungsstoffe,
speciell der Fette nachgewiesen wurde. 6) — Nimmt man diese Befunde zusammen
mit der schon früher von vielen Beobachtern (besonders Cantani, Lancereadx,
Baümel etc.) betonten und auch neuerdings wieder constatirten 6) Häufigkeit einer
Atrophie oder ähnlichen degenerativen Veränderung des Pancreas bei dem mensch-
lichen Diabetes, so scheint es jetzt sichergestellt, dass in einem Theil der Fälle
die diabetische Erkrankung von einer Aufhebung der Pancreasfunction abhängig
ist, und man von einem „pancrea tisch en Diabetes" sprechen darf. Wie
der Zusammenhang anzunehmen ist, in welchem diese Form der Krankheit zu den
vielen Fällen des Diabetes steht, in denen keine Alteration des Pancreas zu finden
ist, bleibt natürlich noch eine offene Frage.
Verwandte Thierversuche, welche Lüstig 7) anstellte, betrafen die Exstir-
pation des Plexus coeliacus bei Kaninchen ; er beobachtete danach vorüber-
gehende Glykosurie, ferner Acetonurie, Albuminurie, progressive Abmagerung etc.
Doch stehen dem die inconstanten Ergebnisse gegenüber, welche bei gleichen
Versuchen Peiper erhielt (vergl. auch Diabetes in sipidust).
Dagegen wollen auf anderem experimentellen Wege Arthaud und Bdtte 8)
ebenfalls einen dem wahren Diabetes analogen Zustand bei Hunden und Kaninchen
hervorgerufen haben, nämlich durch dauernde Reizung des Vagus, indem
8ie eine Aufschwemmung von Lycopodiumpulver oder eine Lösung von Ol. Groton.
iu den Cervicaltheil des einen Vagus injicirten; die Thiere zeigten danach Gly-
kosurie, Polyurie, Polydipsie, Abmagerung u. s. w. Sie sehen die Resultate als
Stütze der „tropho-n eurotischen" Diabetestheorie an. Bei ähnlichen Versuchen
mit Vagusreizung konnten übrigens See und Glky y) nur Azoturie erhalten.
Unter den neuerdings gegebenen allgemeinen Betrachtungen über das
Wesen des Diabetes fällt besonders die ausführliche Auseinandersetzung auf, in
welcher Ebstein 10) die Krankheit durch eine (auf Protoplasmaerkrankung beruhende)
relativ unzureichende Bildung von Kohlensäure in den Geweben zu
begründen sucht. Er stützt die Theorie durch den experimentellen Nachweis
eines hemmenden Einflusses, den die Kohlensäure auf die saccharificirende Thätig-
keit der Drüsensecrete and Fermentlösungen ausübt, und schliesst, dass bei Ver-
minderung der Kohlensäure das im Körper sich bildende Glykogen rascher und
ausgiebiger als normal in Zucker übergeführt wird. Diese in mancher Hinsicht
bestechende Hypothese hat schon von einigen Seiten, z. B. von Cantani, der seine
alten Anschauungen neu darstellt n), Widersprach erfahren.
Wie Letzterer, haben auch Pavy und Seegen in den letzten Jahren an
verschiedenen Stellen, darunter auch auf dem internationalen Congress zu Berlin
200
DIABETES MELLITUS.
1890, Auseinandersetzungen gegeben, in welchen sie zeigen, dass sie in Bezug auf
die Hauptpunkte an ihrer früheren Auffassung vom Wesen des Diabetes festhalten.
Von spezielleren ätiologischen Momenten ist die Erkältung auch neuer-
dings wieder für einige Diabetesfalle zuverlässig constatirt. ia) Auch der Schreck
wird als nicht allzu seltene Gelegeuheitsuraacbe festgehalten. 19) Für den trau-
matischen Diabetes giebt Brouardel u) die Zusammenstellung einer grösseren
Anzahl von Fällen, aus der hervorgeht, dass bei den frühzeitig nach dem Trauma
eintretenden Erkrankungen die Prognose meißt günstig ist.
Die Behauptung von Schnee **) , dasß der echte Diabetes immer die
Folgte von hereditärer Syphilis sei , wird anscheinend wenig Unterstützung
finden. Doch ist auch neuerdings eine kleine Anzahl von Fällen mitgetheilt, in
weichen der Diabete» mit constituttoneller Lues zusammenzuhängen schien, uud
hei denen derselbe zum Theil nach antisyphilitischer Cur verschwand.16) Dem
gegenüber mag auch eine Beobachtung erwähnt werden, nach welcher bei gleich-
zeitigem Bestehen von Diabetes und Lues während des jeweiligen Auftretens einer
neuen syphilitischen Manifestation der Zucker verschwinden, nach ihrer Heilung
wieder auftreten solh 17)
Auf die Möglichkeit einer directen üebertragung der diabetischen Er-
krankung hat Schmitz MJ kürzlich aufmerksam gemacht im Hinblick auf eine
Anzahl von Fällen , die vor dem Ausbruch der Krankheit in langer Berührung
mit anderen Diabetikern standen. Doch findet die Annahme bisher wohl keine
anderweitige Unterstützung.
In Bezug auf die allgemeine Symptomatologie der Krankheit hat
die Erfahrung der letzten Jahre nicht viel Neues lehren können. Eine ausfuhr
liehe Schilderung, welche Lecorch& 19) vom Krankheitsbild beim weiblichen Ge-
schlecht giebt, weicht von dem allgemein Bekannton in den Hauptpunkten wenig ab.
Die bekannte Unterscheidung der leichten und schweren Form
des Diabetes führen die meisten neuereu Beobachter nur insoweit fort, dass sie
dieselben als quantitativ ? aber nicht dem Wesen nach getrennte Erkrankung^
formen ansehen und die Möglichkeit oder sogar das häufige Vorkommen von
Uebergängen zwischen beiden annehmen. Für die praktische Betrachtung, nament-
lich auch in Bezug auf die Therapie , fügen einige Autoren , z. B. Kaunyn so),
die Z wie chen form eines „mi ttel schwere n" Diabetes ein. Nur Sergen31) bleibt
auf dem Standpunkte stehen, beide Formen auch dem Wesen nach gegenüber zu
stellen: die leichte Form erklärt er für hepatogen, auf der Unfähigkeit der Leber-
zellen, die eingeführten Kohlehydrate zu verwerthen , beruhend , während in der
schweren Form eine Unfähigkeit des Gesam tntkör pers besteht, den in der Leber
gebildeten Zucker umzusetzen.
Dagegen zeigt sich jetzt vielfach das Bestreben, einzelne klinisch
Gr uppen aus dem Gesammtbild des Diabetes auszusondern, namentlich wenn
dieselben bestimmten ätiologischen Momenten erwiesene renassen oder hypothetisch
unterzuordnen sind. In dieser Weise wird der oben besprochene pancreatische
Diabetes schon vielfach für sich betrachtet. Aehniich schlägt Hopfmann **) vor, den
„neurogenen" Diabetes und die bei Fettleibigen vorkommende Form zu trei«nen.
Letztere hebt auch Kisch33) als „lipogenen" Diabetes hervor. Endlich ist kürz-
lich auf eine klinisch abzutrennende Form der Erkrankung aufmerksam gemacht
worden , bei welcher die Resorption von Eiweisa und Fett sehr verschlechtert
ist. 3i) Vielleicht fallt nach dem oben Besprochenen diese Form zum Theil mit
dem pancrea tischen Diabetes zusammen.
Im Anschluss hieran seien die kürzlich von verschiedenen Seiten mitge*
theilten Untersuchungen über das Verhalten des Magensaftes bei Diabetes **)
erwähnt ; dieselben ergaben ein sehr wechselndes Verhalten desselben mit nicht
seltenem Fehlen der Salzsäure, Veränderungen, welche zum Theil auf Magen-
neurosen, grösstenteils aber auf tiefere Erkrankung der Magenschleimhaut
bezogen werden.
DIABETES MELLITUS.
201
Von weiteren chemischen und ähnlichen Untersuchungen der Organe und
Seerete Diabetischer sind zunächst neuere Blutuntersuchungen von Seegen26) zu
nennen, welche ergaben, dass der Blutzucker, während er bei schwerem
Diabetes beträchtlich vermehrt ist, in einigen Fällen der leichten Form kaum
erhöht war und mit wachsendem Harnzucker nicht stieg, worauf hin er Bernabd's
Auffassung der Glykosurie als gesteigerter Glykämie für nicht stichhaltig erklärt.
Den Hämoglobingehalt des diabetischen Blutes fand HAnocquk *7) meist nahe der
Norm. — Glykogen wurde von mehreren Seiten in vielen Organen Diabetisoher,
namentlich ausser der Leber in Milz, Nieren und Gehirn, besonders den Capillaren
der Grosshirnrinde gefunden 28) ; ein Mal wurde dasselbe auch im Urin mit Wahr-
scheinlichkeit nachgewiesen. *•)
Im Urin wurde femer das Vorkommen der Oxybuttersäure in den
letzten Jahren in noch grösserem Umfange als vorher constatirt; auch flüchtige
Fettsäuren wurden in demselben (sowie im Blut) ab und zu gefunden 80) ; ferner
ausser dem gewöhnlichen Harnzucker auch andere reducirende Substanzen, und
zwar neben linksdrehender Zuckerart (Külz) auch eine nicht gährungsfahige,
linksdrehende reducirende S abstanz nachgewiesen.81) Die Albuminurie ist nach
den neuesten Erfahrungen bei Diabetes viel häufiger, als man früher annahm,
was namentlich Stokvis82) hervorhebt; nach einer 1187 Carlsbader Patienten
betreffenden Statistik schätzt sie Pollatschek 88) auf 36*7°/0 ; mehr als früher
sind die Beobachter auch der Ansicht, dass dieselbe grösstenteils auf wirkliche
Nierenaffectionen zurückzuführen ist.
Bei einem Controlversuch zwischen einem Diabetiker und einem gleiche
Flüssigkeitsmengen aufnehmenden Gesunden fand sich, dass die Harnausscheidung,
also auch die Wasserresorption bei Beiden keinen wesentlichen Unterschied
zeigte, nur dass bei dem Diabetiker dieselbe gleichmässiger als bei dem Gesunden
über die Ausscheidungszeit- vertheilt war.34)
Endlich seien noch Kohlensäurebestimmungen erwähnt, die bei drei
Diabetikern unter verschiedener Diätform angestellt wurden und ergaben, dass
die Kohlensäureausscheidung im Allgemeinen in umgekehrtem Verhältniss zur Höhe
der Zuckerausscheidung stand, am höchsten also bei Fleischkost, aber auch da
noch unter der Norm sich befand. 36)
Unter dem Symptomenbild des Görna diabeticum trennt (zum Theil
nach dem Vorgang von Frerichs) ein Theil der Beobachter, darunter z. B. auch
Stokvis 8a) , die auf Collapszuständen und Herzschwäche beruhenden Fälle von
den eigentlichen Formen der Selbstintoxication. Letztere werden jetzt von manchen
Seiten mit Bestimmtheit als der Ausdruck einer Säur ein toxica tion aufgefasst
und von Stadelmann86) direct von dem Auftreten von Oxybuttersäure abhängig
gemacht ; doch hat diese Anschauung noch nicht allgemeine Anerkennung gefunden.
Mehrfach wird auch auf die Rolle aufmerksam gemacht, welche Verdauungs-
störungen bei der Entstehung des Görna diabeticum spielen.
Von Einzelsymptomen werden nervöse (hysterische) Beschwerden
im Verlauf des Diabetes auch neuerdings verschiedentlich hervorgehoben ; kürzlich
ist auf das nicht seltene Vorkommen neuritische? Lähmungen, vorzugsweise
an den unteren Extremitäten, hingewiesen.87) Den Verlust der Sehnenreflexe
fand Niviere88) unter 210 gesammelten Fällen 89mal, d.h. in 43%, und zwar
(entgegen früheren Angaben Rosenstein's) der Schwere der Erkrankung parallel
gehend. — Eine Volumenvergrösserung des Herzens (theils Hypertrophie, theils
Dilatation) hält J. Mater 89) für eine häufige Begleiterscheinung des Diabetes ;
er will sie in dem vierten Theil der von ihm beobachteten Fälle gefunden haben
und leitet sie von der Reizung des Herzens durch das veränderte Blut ab; doch
sind diese Angaben durch anderweitige Erfahrungen noch nicht bestätigt. — Die
Häufigkeit phlegmonöser und gangränöser Processe im Verlauf der Krankheit
wird auch neuerdings betont; unter den hierher gehörigen Mittheilungen findet
sich auch eine symmetrische Gangrän und eine Spontangangrän des Penis. Kürz-
Lieh wurde auch auf die Häufigkeit der Cystitis bei Diabetes hingewiesen. Von
iier den Diabetes complicirenden Lungen phthtse wird jetzt wobl allgemein aner-
kannt , dass sie Bich von sonstiger Lungentuberkulose nicbt wesentlich unter-
scheidet. — Unter den Complicationen von Seiten der Sinnesorgane stehen nach wie
tot die Augenerkrankungen obenan, von welchen Hirschberg40) eine anschauliche
1'ehersicbt giebt; derselbe hat kürzlich die diabetische Netzhautentzündung
ausführlicher beschrieben» Mittelohreiterung wurde neuerdings im Verlauf der
Krankheit nicht selten gesehen.
In pathologisch-anatomischer Beziehung wurde bei den Sectioncn
Diabetischer neuerdings das Vorkommen der hyalinen (reap. glykogenen) Degene-
ration der Niere nepithelien vielfach bestätigt Eine für C&ma dinheUcum
angeblich charakteristische Verfettung der Nierenepitheiieu, bei welcher die Fett-
tropfchen sich perlschnurartig an der Basis der Zellen anordnen sollen, beschreibt
Fichtner 4I) nach mehreren Fallen. Von einer Reihe französischer Beobachter
wird das Vorkommen einer mit Pigmentbildung einhergehenden Lebercirrhose
(„Pigmentcirrhose44) bei Diabetes hervorgehoben*-); in einem Theil der Fäll
fand sich auch Pigmentirung anderer innerer Organe und der Haut („broncirter
Diabetes"). — In einem neuen Fall ergab die Section den seltenen (bei Diabetes
mellitus angeblich noch nicbt gemachten) Befund eines Cysticercus im vierten
Ventrikel. *«)
Dass die Behandlung des Diabetes in erster Linie auf der Diät zu
fussen hat, und dass in letzterer hierbei die Einfuhr der Kohlehydrate beschränkt
werden muss, ist jetzt wohl allgemeine Ceberzeugung. Doch tritt in deu Mit-
theilungen der letzten Jahre vielfach eine gewisse Abneigung vor der strengen
Durchführung der StickstofTdiätT namentlich in Form der (CANT&Ni'achen) Fleisch-
diät, zu Tage. Diese Abneigung hat anscheinend ihren Grund in der Furcht, dass
eine solche Diät theils nicbt lange vertragen wird, theils zum Eintritt einer
schlimmen Wendung der Krankheit, namentlich eines Görna diabettcum, beitragen
kann (was vom theoretischen, wie praktischen Standpunkte vielfach behauptet
worden ist). Dem gegenüber wird neuerdings von verschiedenen Seiten, nament-
lich von Stokvis s*) und Nauntk**), wieder die leichte Durchführbarkeit und
günstige Einwirkung consequenter Eiweissdiät bei der Behandlung des Diabetes
hervorgehoben, natürlich unter Beobachtung der nöthigeu Cautelen (wie Aussetzen
der Diät bei allgemeiner Verschlechterung, zunehmender Acetonurie, drohendem
Coma etc) und namentlich unter genauer Beschränkung der eingeführten Ei weiss-
menge. Mit Hecht stellt Naüxyn als Desiderat für eine richtige antidiabetische
Diät hin, dass sie dem Ktfrper die Verarbeitung von nicht mehr Zucker, als t
verbrauchen kann, zumuthen soll: was für viele Diabetesfälle ohne strengste
Stiokstoffdiät nicht zu erreichen ist. Nach eigenen Erfahrungen schliesse ich mich
diesen Vorschriften durchaus an. Bei einer grossen Anzahl von Diabetesfällen,
die ich im Krankenhause unter streng controlirter Ei weiss- (eventuell reiner
Fleisch-) Diät oft viele Monate beobachtete, habe ich von dieser Kost im Allge-
meinen nur gute Erfolge, niemals schwere Nachtheile, namentlich kein auf die
Diät zurückzuführende* diabetisches Coma gesehen.
Für die Behandlung des Coma diabeticum hat die Auffassung, welche
in demselben eine Säurcintoxicatiou sieht, die Empfehlung einer möglichst reich*
liehen Einführung von Alkalien zur Folge gehabt; namentlich rätb Stadel-
MANN u) prophy luetisch kohlensaures Natrium in Saturation , nach Eintritt des
Coma intravenöse Injcction von kohlensaurem Natrium in Kochsalzlösung anzu-
wenden. Die Anzahl der Fälle, bei welchen diese Vorschriften bisher versucht
wurden, reicht noch nicht hin , um die möglichen Erfolge zu beurtheilen; nach
der Injection trat in der Kegel eine kurze Besserung der comatosen Erscheinungen
auf, doch erfolgte in fxwt sätumtlichen Fällen trotzdem bald darauf der Tod. —
Eine kleine Anzahl von comatttaM Diabetes kranken will nach kurzlicher Mitthei-
lung Schmitz1 *') durch Abführmittel (OL Ruin!) r die er in der Annahme einer
DIABETES MELLITUS.
203
vom Darminhalt ausgehenden Intoxication reichte, vom Tode gerettet haben ; ob
in diesen Fällen wirklich finale Comazustände vorgelegen haben können, müssen
weitere Erfahrungen lehren.
Für die medioamentöse Behandlung des Diabetes ist in den letzten Jahren
von französischen Beobachtern45) das Antipyrin in hohem Masse empfohlen
worden; dasselbe soll in erster Linie die Zuckerausscheidung, in zweiter die
übrigen Symptome der Krankheit energisch vermindern. In Deutschland ist das
Mittel bisher weniger betont worden;, eine kleine Reihe von Fällen meiner Er-
fahrung zeigte deutliche,, aber keine glänzenden Erfolge. — Ueber das ostindische
Anüdiabeticum „Jambolw (Rinde von Syzyßtum Jambolana) liegen bisher zu
wenig Erfahrungen vor, um seinen Werth zu beurtheilen.
Aus den sonstigen reichlichen therapeutischen Mittheilungen der letzten
Jahre sei die Empfehlung des subcutan angewendeten Ergotinin, der Salicylsäure,
des Salol, der MABTiNEAu'schen Verbindung von Lithium und Arsenik, des Sauer-
stoffwassers, des Thymol etc. erwähnt; Pancreatin wurde ohne Erfolg versucht.
Eine grosse Bedeutung für die Beköstigung des Diabetikers hat das vor
einigen Jahren eingeführte Saccharin erlangt. Da von demselben festgestellt
ist, dass es die Zuckerausscheidung nicht vermehrt, auch die von einigen Seiten
demselben zugeschriebenen Verdauungsstörungen nicht allgemeiner beobachtet sind,
so ist gegen den Gebrauch des Mittels zur Versflssung der geeigneten Nahrungs-
mittel nichts einzuwenden. Doch liegen Erfahrungen dafür vor, dass nicht selten
die Kranken nach kurzer Zeit Widerwillen gegen das Mittel zeigen
Die Wichtigkeit stärkerer Muskelaction für das Wohlbefinden vieler
Diabetiker wird auch neuerdings hervorgehoben, namentlich wird dies auch für
die passiven Muskelbewegungen in Form der Massage40) und der Heilgym-
nastik betont.
Die Aengstlichkeit in Bezug auf grössere chirurgische Eingriffe bei
Diabetikern ist in den letzten Jahren geringer geworden. Rathen erfahrene
Chirurgen auch von unnöthigen Operationen bei der Krankheit ab, und suchen
sie auch , wenn möglich , einer indicirten Operation eine antidiabetische Cur vor-
auszuschicken, so schrecken sie doch vor dringenden schleunigen Eingriffen nicht
zurück; und es liegt z. B. für Amputationen, welche bei Diabetikern durch
Gangrän etc. nöthig wurden, eine Reihe durchaus günstiger Erfolge vor.
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204
DIABETES MELLITUS. — DIÄT,
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lipt. 1^88. Barth, Bull, de la Soc. aaat. de Paris. Mai 1889. — ") Michael, Deutsch -
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Gaa. med, de Paris. 1889, Nr, 15 und 16. Eloy. Gaz. hebd. 1889, Nr, 23, — «•) Finkler,
Verhandl. des V. Oongr. für innere Med. 1886. pag. 191. Eieaa.
Diät. Unsere Kenntnisse über zweckmässige Krankenernährung sind noch
sehr lückenhaft und eine rationelle Diätetik oder Ernährungstherapie muss erst
auf den Ergebnissen der Stoffweehsellehren am Gesunden, sowie auf Erkenn tuiss
der Störungen bei gewissen Krankheiten aufgebaut werden. Die Mangelhaftigkeit
der Grundlagen für einen wissenschaftlich begründeten Eraäbrungsplan treteu be-
sonders auf dem Gebiete der chronischen Verdauungsstörungen hervor.
Die Gesichtspunkte, die bei der Frage der zweckmässigen Diät für Magen-
und Darmleiden nach dem gegenwärtigen Standpunkte unserer Anschauungen
in Betracht kommen, fixirt J. Boas in folgender Weise: Die erste Aufgabe ist die
Berücksichtigung der Constitution und des Ernährungszustandes des Kranken.
Wir müssen vor Allem im Auge haben , den Magen- und Darmleidenden gut und
ausreichend zu ernähren, dadurch den Körper widerstandskräftiger zu machen,
aber auch das erkrankte Organ selbst zu kräftigen. So können wir durch eine
an Albuminaten reiche Nahrung die atonische Magen- oder Darmmusculatur kräf-
tigen nnd sie befähigen, die Widerstände, die sich der Fortschaffung des Chymus,
beziehungsweise der Eicrete entgegenstellen , durch eine oompensatorische Hyper-
trophie zu überwinden. Eine weitere Berücksichtigung erfordern die Lebensweise
und die Gewohnheiten des Individuums. Der wichtigste Punkt besteht aber in der
Diätverordnung mit Rücksieht auf die Verdauungsstörung selbst. In letzter
Beziehung ist bei Magenkrankheiten zu erniren, ob eine Störung der Drüsenfunc-
tionen, beziehungsweise ob Gäbrungsprocesse im Magen vorhanden sind, ob die
motorische Thätigkeit des Magens gelitten hat, oder ob beides, und wenn, in
welchem Grade, der Fall ist.
Boas weist auf das Beispiel des erst in neuester Zeit klinisch gewür-
digten Krankheitsbildes der Atrophie der Magendrüsen hin. Hier lehrt
die Sonden Untersuchung, dass eine Umwandlung von Albumin körpern so gut wie
gar nicht stattfindet, während die Kohl enhyd rat verdaunng besser als im Normalen
ist. Diesen Thatsaobeu schiene die Ernährung derartiger Kranken in dem Sinne
zn entsprechen, dass sie vorwiegend aus Kohlenhydraten unter thunlieber Be-
schränkung von Albuminaten zu bestehen habe. Aber dieser Standpunkt läuft den
Forderungen des Stoffwandeh zuwider und dann spricht dagegen auch der Umstand,
dass in Fällen mit mangelhafter Säureabscbeiduug eine compensatorisch ausgezeich-
nete Dünndarmverdauung stattfindet. Diese Erfahrung gestattet eine sichere Direk-
tive in der Ernährung. Wir müssen solche Patienten mit reichlichen Albumin-
Substanzen ernähren, diese aber in einer Form reichen, die dem Magen ßo gut wie
g;ir keine Last aufbürdet. Das Ideal dieser Eutlastuug besteht in der Peptonisirnng
des Ei weisses. Aber schon eine scrupulfls feine mechanische Vcrtbeilmig von
Fleisch und anderen Albuminaten, die Behandlung im Dampfkochtopfe und andere
auf die Lösung der Muskeln" brillen gerichtete Verfahren erscheinen hier sehr
geeignet; auch müssen solche Individuen zu ergiebigem Kauen der Albumhut?
angehalten werden. Kohlenhydrate, also Gemüse, Mehlspeisen, Brod u. a.f müssen
im Speisezettel solcher Krauken hervorragend vertreten sein. Doch ist auf zweck-
DIÄT.
205
massige mechanische Verkleinerung und Verreibung dieser Speisen zu sehen, das
Gemüse nur in Pureeform zu reichen. Der Fettgenuss ist in solchen Fällen einzu-
schränken, weil im Darm bei dem Mangel der antizymotischen Wirkung der HCl
eine excessive Abspaltung von Fettsäuren erfolgt. Ein nicht unwichtiges Moment
für die Diät in solchen Fällen stellen die Nährsalze, namentlich das Kochsalz
dar. In Fällen von Anacidität ist der Genuas stark gesalzener Speisen zu empfehlen,
auch sonstiger Gewürze, wenn sie nicht zu stark irritirend wirken.
Bei der Übermässigen Säuresecretion, derHyperaeidität, liegen die Ver-
hältnisse umgekehrt. Hier ist eine vorzügliche, zum grossen Theil bereits im Magen
sich abwickelnde Albuminverdauung neben schlechter Kohleohydratverdauung.
Die Diät muss kräftige, der Auflösung im Magen Widerstand leistende Albumin-
substanzen wählen; hier passen nicht Geflügel, Tauben, Hühner, Kalbfleisch,
Kalbshirn, sondern derbes, möglichst noch nicht völlig durchgebratenes Rindfleisch
in seinen verschiedenen Formen. Gemüse soll nur beschränkt, in Quantitäten von
einigen Esslöffeln und in guter Zubereitung gereicht werden; hier werden auch
besonders die dextrinirten Mehle, wie Avenacea, Leguminosenmehl, gut vertragen,
auch leichte Mehlspeisen können in nicht zu grossen Quantitäten gereicht werden.
Eine Beschränkung der Fette ist geboten, doch können sie, wenn von tadelloser
Beschaffenheit, in geringer Menge genossen werden. Nährsalze, Gewürze, picante
saure Speisen müssen thunlichst vermieden werden.
In den Fällen von Insufficienz der motorischen Thätigkeit
des Magens hat die Diätetik die Aufgabe, längeres Verweilen der Ingesta zu
hindern, respective Alles zu vermeiden, was der motorischen Thätigkeit allzu grosse
Opfer abfordert. Statt der üblichen Flüssigkeitsentziehung ist empfehlenswerth,
die Flüssigkeiten in kleinen Einzeldosen zu reichen. Boas pflegt in solchen Fällen
1 Liter Flüssigkeit per os in Dosen von 100 — 150 Grm. und eine gleiche Quanti-
tät per Klysma, zu je 1/2 Liter, zu verordnen. Besonders wichtig ist hier ein
ausreichender Eiweissgehalt der Nahrung, um die Magenmusculatur zu kräf-
tigen. Complicirter gestaltet sich die Ernährung, wo mehrere oder selbst alle
Functionen des Magens gelitten haben; die diätetischen Massnahmen müssen sich
auf die vorhandenen krankhaften Symptome stützen. So macht sich, seitdem wir
wissen, dass beim Ulcus die Hyperchlorhydrie ein sehr häufiges Symptom ist,
bezüglich der Ernährung eine andere Anschauung geltend. Früher wurde nur die
vorsichtigste Eiweissernährung eingeleitet, jetzt giebt man, sobald das acute
Stadium des Ulcus geschwunden ist, reichliche derbe Fleischkost, um das Frei-
werden grösserer HCl-Mengen und hierdurch den deletären Einfluss auf die
Magenschleimhaut hintanzuhalten.
Bezüglich der Ernährungslehre bei Krankheiten der Verdauungsorgane
stellt Boas im Allgemeinen folgende Sätze auf: Die rationelle Ernährung bei
Krankheiten der Verdauungsorgane erfordert eine sorgfaltige Berücksichtigung
der allgemeinen Constitution, sowie des Ernährungszustandes und der Lebens-
gewohnheiten des kranken Individuums. Die Erhaltung des Stoffwechselgleich-
gewichtes ist eine wesentliche, in keinem Falle ausser Acht zu lassende diätetische
Aufgabe. Es giebt keine Verdauungsstörung, welche ein absolutes Verbot der
für den Aufbau des Körpermateriales in Betracht kommenden Nährstoffe, Flüssig-
keiten und Salze für längere Zeit noth wendig" macht. Einen sicheren Anhaltspunkt
für das Kostregime gewährt allein die Prüfung der Functionen des Magen-Darm-
canales im Einzelfalle; nur unter besonders günstigen Umständen kann sie durch
andere Untersucbungsmethoden ersetzt werden. Auch das Verbot von Genuss-
mitteln ist nur da aufrecht zu erhalten, wo entweder die Erfahrung im Einzel-
falle oder sicher begründete, kritisch unanfechtbare Thatsachen dafür sprechen.
Specielle Grundsätze für die Diät bei den genannten Leiden lassen sich nicht
aufstellen, man kann nur im Allgemeinen die Principien angeben; je nach den
übrigen hierbei in Betracht kommenden Verhältnissen erfordern dieselben im
Einzelfalle einen detaillirten Ausbau.
206
DIÄT. - DIGITALIS.
Literatur: J. Boas, üeber die Grundsätze der Diätetik bei Krankheiten der
Yerdauungsorgane. Veröffentlichungen der Hufeland'schen Gesellschaft. Berlin 1S90.
Kisch.
Diaphanoskopie (rergl. Real-Encyclopädie, II. Aufl., Bd. V, pag. 320).
Darch Benutzung der EDisox'schen elektrischen Glühlampe hat die Durchleuchtung
der Organe weitere und erhebliche Fortschritte zu verzeichnen und namentlich
waren es die Bestrebungen VOLTOLLvf 8, die Durchleuchtung des Kehlkopfes, des
Cavum pharyngo-nasale, des harten und weichen Gaumens und besonders des Antrnm
Highmori ftir die Diagnostik praktisch zu verwerthen. Voltolini und mit ihm
noch einzelne Andere hielten die Durchleuchtungsmethode für die Diagnostik
äusserst werthvoll, während Andere sich von der grossartigen Bedeutung derselben
nicht überzeugen konnten und dieselbe für eine moderne Spielerei erklärten. Für
die Diagnostik der Kehlkopfkrankheiten hat die Durchleuchtungsmethode bisher
einen irgendwie nennenswerthen Erfolg kaum zu verzeichnen; ob es gelingen
wird, mit dieser Metbode, wie Voltolini vermuthet, maligne Tumoren am Stimm-
bandrande von benignen im Anfang ihrer Entwicklung zn unterscheiden, so dass
die gutartigen Tumoren sich vom Stimmband direct abheben, während die malignen,
z. B. das Carcinom , Epithelzapfen in das Gewebe hineinsenden, bedarf noch
genauerer Untersuchung. Etwas bessere Resultate bezüglich der Diagnostik ergiebt
die Durchleuchtung der Highmorshöhle. Hier zeigt sich, wie VoLTOLixr, Hertno,
Vohsen n. A. nachgewiesen haben , dass in einer Reihe von Fällen bei Empyem
der Highmorshöhle die Durchleuchtung die erkrankte Seite dunkel, die gesunde
dagegen roth erscheinen lässt. Wenn auch in einzelnen Fällen diese Erscheinung
für die Diagnose der Empyeme verwerthbar ist, so müssen wir doch Zirmssrn,
Srebrxy u. A. darin beipflichten, dass die Durchleuchtung vielfach im Stiche lässt
und deshalb für die allgemeine Diagnostik nur mit grosser Vorsicht zu ver-
werthen ist, umsomehr, da auch die Technik, welche Voltolini, Hertng und
Vohsen beschreiben, eine keineswegs leichte und nur durch gute Uebnng zu
erlernen ist.
Weiterhin hat im Anschlnss an die Versuche von Milliot, welcher
bereits 1867 die elektrische Durchleuchtung der Magenhöhle bei Thieren demon-
8trirte, Dr. Einhorn in New- York in der Sitzung der dortigen deutschen medi-
ciniscben Gesellschaft am 4. November 1889 die elektrische Durchleuchtung des
Magens bei einem Patienten mit Magendilatation demonstrirt. Der Apparat heisst
Gastrodiaphan. Die Untersuchung wurde in einem dunklen Zimmer vorgenommen ;
in den Magen wurde ein weicher Schlauch eingeführt, an dessen Ende eine aus
Hartglas gebaute, in Metall eingefasste Edison 'sehe Lampe sich befand.
Literatur: Voltolini, Die Durchleuchtung des Kehlkopfes nnd anderer Höhlen
des menschlichen Körpers. Monatsschr. für Ohrenheilk. 1888, Nr. 11; Allgem. Wiener «ed.
Ztg. 1888, 47 nnd 48 ; Intern, chir. Bundschau. 1888, 48 und 49 ; Breslaner äratl. Zeitsckr.
1688, 22 Krankheiten der Nase und des Nasenrachenraumes, nebst einer Abhandlung aber
Elektrolyse. Breslau 1&88; Monatsschr. fdr Ohrenheilk. 1889, Nr. 2. — Heryng, Die elek-
trische Durchleuchtung der Highmorshöhle bei Empyem. Berliner klin. Wochenschr. 1889,
Nr. 35—39. — Vohsen, Zur elektrischen Beleuchtung nnd Durchleuchtung der Körperhöhlen.
Ebenda. 1890. Nr. 12. — Derselbe, Die Durchleuchtung der Oberkieferhöhle nnd Stirnhöhle
und deren Erkrankungen. Ebenda. 1890, Nr. 46. — Srebrny, Zur Fraie der Durchleuchtung
der Oberkieferhöhle bei Empyem derselben. Ebenda. 1890, Nr. 46. — Ziem, In Sachen der
Durchleuchtung der Oberkieferhöhle Ebenda. 1890, 36. — C. Bloch, Das Empyon der
Highmorshöhle. Inaug.-Dis«ert. Königsberg 1890. B ßaginsky.
Digitalis (vergl. Real-Encyclopädie, IL Aufl. , Bd. V, pag. 345). Das
Auftreten des Pulsus bigeminus während der Medication mit Digitalis erklärt
Düboziez l) als ein Zeichen , um mit dem Mittel auszusetzen. Das Symptom ist
nicht nur am Herzen und an den Arterien, sondern auch an den Venen wahr-
nehmbar; auch persistirt der Pulsus bujeminus noch am Herzen, während er an
den Arterien schon fehlt. Hcchard warnt vor Anwendung der Digitalis in
angeeigneten Fällen und in unpassender Form , Intoxi<5ationseroheronjig» «oflem
DIGITALIS. — DIPHTHERITTS.
207
mehr nach Gebrauch von Pillen als von flussigen Formen auftreten. Er hält es
nützlich bei Hyposystolie, für schädlich bei Hypersystolie, ferner bei ausgesprochener
Asystolie in Folge von Muskeldegeneration. Bei Arteriosclerose verbindet er es mit
dem die Gefassspannung herabsetzenden Nitroglycerin. Hüchard giebt die Digitalis
stets in absteigenden Tagesdosen, beginnt mit 0*25 Digitalispulver als Aufguss,
in den folgenden 4—5 Tagen weniger. Blachez *) wendet das Mittel auch bei
Asystolie versuchsweise einige Tage an, da man deo Grad der Muskeldegeneration
völlig genau nicht bestimmen kaon. Nach Eichhobst 4) ist die Digitalis noch
immer das brauchbarste Herzmittel. Wichtig ist dessen Combination mit Alko-
holicis und Excitantien in Fällen von Collaps mit vorgeschrittener Cyanose. Schneller
wirksam als das Infusum erweisen sich die pulverisirten Digitalisblätter; letztere
verdienen den Vorzug namentlich in den Fällen, wo man eine diuretische Wirkung
beabsichtigt; besonders wirksam in letzterer Beziehung ist die Verbindung mit
grösseren Gaben Calomel, die sich bei allen Hydropsien empfiehlt. Mürri 6) erklärt
die Digitalis am nützlichsten bei Mitralinsufficienz, schon weniger bei den Stenosen
der venösen Ostien und am wenigsten bei Aortenfehlern.
Die Versuche, die reinen Digitalisstoffe, namentlich auch das Digitoxin,
in der Praxis zu verwerthen, sind bisher noch erfolglos geblieben.
Infus. 0-5 — 1-0—2-0 auf 150— 200 Colatur, davon 2— 3stündlich ein
Esslöffel. Extra ct. Digitalis (Pharm. Germ. III) , maximale Einzelgabe 0*2,
maximale Tagesgabe 1 '0 ; Tin ct. Digital is , maximale Einzelgabe 1 #5 (30 Trpf.),
maximale Tagesgabe 5*0. Zu längerem Gebrauche nicht geeignet.
Literatur: *) P. Duroziez, Du pouls g 4 mini. Oompt. rend. CV, pag. 291. —
*) H. Huchard, Quand et comment doit on prescrire la digitale. Paris 1889. — •) Blachez,
Gaz. hebd. 1879, pag. 461. — 4) Eich hörst, Ueber moderne Herzmittel. Correspondenzbl.
für Schweiz. Aerzte. 1689, 2. — 5) Murri, Die Digitalis, die Pulsfrequenz bei kranken
Herzen. Wiener allgem. med. Ztg. 1889, 2. — Paul Kaufmannn, Ueber den Einfluss des
Digitoxins auf die Entstehung eitriger Phlegmone. Archiv für exp. Pathol. CXXV, pag. 397.
Loebisch.
Dilatationsaneurysmen, 8. Endarterütis.
DinitrOCreSOl. Unter dem Namen S afransurrogat ist ein gelber
giftiger Farbstoff im Gebrauch, der seiner chemischen Zusammensetzung nach als
Dinitrocresol zu bezeichnen ist und bei Thieren schon in geringen Dosen (0 06
pro Kilo intern) Erbrechen, Diarrhoe und Zitterkrämpfe nach Art der Carbolsäure
bedingt. Beim Menschen können 3*0— 5*0 in 3 Stunden den Tod eines Erwach-
senen nach vorausgehenden Krämpfen und Athembescb werden herbeifuhren. Der
Farbstoff hat analog der Pikrinsäure (Trinitrophenol) die Eigenschaft, bei der
Vergiftung Gelbfärbung verschiedener Körpertheile, bei Lebzeiten der Bindehäute
und Mundschleimhaut, bei der Section an der Magenschleimhaut und im Serum
des Herzbeutels hervorzurufen, sowie auch des Harnes zu bedingen. x) Die färbende
Wirkung auf die Organe ist indess nicht so stark wie die der Pikrinsäure und
bei Thieren das Dinitrocresol nicht in allen Organen, sondern nur im Magen und
Darmcanal chemisch nachweisbar. 2)
Literatur: l) Weyl, Berliner klin. Wochenschr. 1888, 31. — *) Ryrasza, Ein
Beitrag zur Toxikologie der Pikrinsäure. Dorpat 1889. „
° * * Husemann.
DiphtheritiS (vergl. Real-Encyclopädie, II. Aufl., Bd. V, pag. 360). Die
Anschauungen über die Aetiologie der Diphtheritis haben sich durch neuere
Untersuchungen etwas mehr gefestigt und gewähren somit einen sicheren Boden
für die weitere Ausbildung unserer Therapie. Während noch vor wenigen Jahren
die Bedeutung der Mikroorganismen mit Rücksicht auf die Erzeugung der Diph-
theritis völlig unklar war, ja Löffler selbst die specifische Bedeutung des zuerst
von Klebs (1883) und dann von ihm (1884) bei der Diphtheritis gefundenen
Bacillus in Frage ziehen zu müssen geglaubt hat , aus Gründen , welche bereits
früher erwähnt sind, hat jetzt diesen Bacillus die grösste Zahl der Untersucher,
206
DIPHTHERTTIS.
Löffleb voran, mit der allergrössten Wahrscheinlichkeit als den Erreger der
Diphtheritis anerkannt. Bei seinen systematisch fortgesetzten Untormdingai lud
Löffleb in 21 frischen typischen Diphtheritisf&llen mit Hilfe der Culteraetfcode
seinen Bacillus ausnahmslos wieder nnd vermisste ihn stets im Mund- und Baeaea-
secrete Gesunder, ebenso bei an Anginen erkrankten Individuen. Eine grosse
Reihe von Untersuchern gelangte bei ihren Culturversuchen zu dem gleichen
Resultate. Wir erwähnen Flügge, Wysöokowttsch , Cornil, Babes. D'Espwr,
v. Hoffmann- Wellenbof, Obthmanx, Roüx und Yebsin, Kolisko und Paltaüf.
Auch Zabxiko, Söbknsen und Beck schlössen sich auf Grund ihrer Untersuchungen
Löffleb an. Beck, welcher seine Untersuchungen im hygienischen Institute zu
Berlin ausführte, fand mit Hilfe der Blutserumculturmethode in 18 Fallen von
typischer Diphtheritis fiberall die typischen Bacillen und konnte sieh durch Meer-
schweinebenimpfungen ?on ihrer Wirkung fiberzeugen ; dagegen erhielt er bei 10
an Angina Erkrankten und bei 3 Gesunden stets negative Resultate.
Dieser stattlichen Zahl von Untersuchern steht gegenüber eine kleinere,
welche den LöFFLEBfschen Bacillus nicht so ohne Weiteres als ätiologisches
Moment der Diphtheritis anerkennt und welche sich zum Theil ablehnend gegen
die Anschauung Löffleb's und seiner Mitarbeiter verhält. Schon Bauhgabtkx
betrachtet die Bacillen als häufige, wenn nicht regelmässige Bewohner des Pharynx.
Nicht minder ablehnend verhalten sich Heübner und Penzoldt. Ersterem war
es besonders auffallend, dass er die Bacillen gerade in den ersten Stunden der
Erkrankung nicht auffinden konnte.
Die Thatsache, dass am zweiten Krankheitstage einzelne Bacterien durch
die Untersuchungen nachgewiesen werden konnten, konnte die Zweifel Heubneb's
nicht beseitigen, um so weniger, als diese Bacillen sich nur auf der Oberfläche der
diphtherischen Membran vorfanden. Löffleb konnte die von Heübner gemachte
Beobachtung nicht bestätigen. Bei 3 Kindern, welche am Tage vorher noch ganz
munter und gesund waren, konnte Löffler am nächsten Morgen, da eben die
Erkrankung an Diphtheritis nachweisbar war, aus den Belägen die Bacillen in
Reincultar gewinnen. Penzoldt war nicht im Stande, menschliche Diphtheritis
auf Thiere zu übertragen und kommt demnach zum Schlussresultat, dass entweder
alle erzielten Impferfolge mit der menschliehen Diphtheritis Nichts zu thun haben
oder dass der diphtheritieche Process im anatomischen und klinischen Sinne nicht
ausschliesslich einem , sondern mehreren Krankheitserregern zugleich oder bald
diesem, bald jenem vorwiegend ihren Ursprung verdankt. Endlich ist zu erwähnen,
dass Mitchell Prüdden bei seinen experimentellen Untersuchungen in 24 typischen
Diphtheritisfollen niemals die LöFFLER'schen Bacillen auffinden konnte. In
22 Fällen fand Prudden einen Streptococcus, welchen er als Erreger der Diph-
theritis anspricht. Unter der Voraussetzung, dass Prüdden mit allen Cautelen
bacteriologischer Untersuchungsmethodik gearbeitet hat, besteht demnach hier ein
unaufgeklärter Widerspruch. Vielleicht lässt sich derselbe dadurch erklären, dass
Prudden die Streptococcen, welche als Begleiter der Diphtheritis meist vor-
kommen, vor der Ueberimpfung nicht entfernt hat. Diese Streptococcen sind es,
welche augenscheinlich Drüseneiterungen und auch diphtheritisähnliche Erkran-
kungen der Schleimhäute erzeugen. Sie sind wahrscheinlich auch die Erzeuger
der Necrosen bei der necrotisirenden Mandelentzündung des Scharlachs, mit
der Diphtheritis haben sie indess nichts zu thun. Allerdings kommen auch
morphologisch von Diphtheritisbacillen nicht unterscheidbare und zugleich auch
pathogene Bacillen auf den Schleimhäuten von nicht an Diphtheritis erkrankten
Individuen vor und diese können, wie dies Löffler selbst zugiebt, natürlich
Zweifel an der Specilicität der von ihm gefundenen Bacillen wachrufen, wie
namentlich Culturversuche von v. Hoffmann und Babes ergaben. Bei genauerer
Untersuchung indess zeigt es sich, dass es sich in den letzteren Fällen um Bacterien
handelt, welche nur scheinbar den Diphtheritisbacillen gleichen, ihnen morpho-
logisch, culturell und auch in ihren pathogen en Eigenschaften nur ähnlich sind,
DIPHTHEBITIS.
209
Bich von ihnen aber doch unterscheiden. Da, wo die Unterschiede nicht sehr
prägnant hervortreten, ist es geboten, durch weitere Untersuchungen die Differenzen
festzustellen, und es ist wohl möglieh, dass die Unterschiede zwischen den schein-
bar echten und den wirklich echten Bacillen gefunden werden.
Was überdies weiterhin zu Gunsten der LÖFFLER'schen Anschauungen
spricht, sind die Secundärerscheinungen , welche von Löffler an den geimpften
Thieren neuerdings herbeigeführt werden. Während Löffler früher dem Menschen
analoge Lähmungserscheinungen bei mit Diphtheritisbacillen geimpften Thieren
niemals beobachten konnte, gelang es ihm seitdem bei zwei diphtherisch infi-
eirten Meerschweinchen Lähmungen zu constatiren, und zwar bei dem einen
Thiere eine vollkommene Lähmung der hinteren Körperhälfte, bei dem anderen
eine geringere Lähmung. Bei beiden Thieren bildeten sich die Paresen zurück.
Roux und Yersin beobachteten in gleicher Weise Lähmungen bei Tauben. Auch
am Kaninchen konnten diese beiden Autoren Lähmungszustände constatiren, welche
indeas, da sie sich im Verlaufe der Impfkrankheiten einstellten, den diphtherischen
Lähmungen beim Menschen nicht entsprechen durften. Die Thatsache, dass trotz
der schwersten Veränderungen in den inneren Organen, in der Pleura, in den
Nieren bei den mit Diphtheritisbacillen geimpften Meerschweinchen sich daselbst
keine Bacillen vorfanden, mussten bezüglich der Schädlichkeit, welche hier in
Frage kommt, Löffler zu dem berechtigten Schlüsse führen, dass die Bacillen
ein Gift produciren müssen, welches deletär auf die Blutgefässe einwirkt. Und
Löffler bemühte sich bereits 1887 und 1888 Aufklärung über die Natur des
Giftes zu erhalten. Möglichst frisches Fleisch wurde zerhackt, genau neutralisirt,
in der Menge von 200 — 500 Grm. in Kolben eingefüllt , sterilisirt , von einer
Reincultur der Bacillen besät und im Brutapparat von 37° aufgestellt. Das Fleisch
wurde dann 4— 5 Tage nach der Aussaat mit einer reichlichen Menge reinen
Glycerins Übergossen und 24 Stunden im Brutapparat belassen. Dann wurde der
Glycerinauszug mit dem öfachen Volumen absoluten Alkohols gefallt. Der Nieder-
schlag wurde nach 24 Stunden abfiltrirt , mit Alkohol gewaschen und getrocknet
und in etwas Wasser gelöst. Die Lösung wurde wieder mit dem öfacben Volumen
absoluten Alkohol versetzt unter gleichzeitiger Durchleitung von C0a, der weisse
Niederschlag abermals filtrirt, getrocknet und schliesslich wieder in Wasser gelöst.
Mit dieser Lösung wurden nun am Meerschweinchen Injectionen gemacht mit dem
nämlichen Erfolge, wie nach Injection der Bacillen selbst. Local zeigten sich fibrinöse
Knoten, Hämorrhagien der Musculatur, Oedeme mit Hautnecrose, innerlich fanden
sich starke Hyperämien , besonders der Nieren. Das Gift war demnach eine Art
Enzym. Zu ähnlichen Resultaten gelangten auf anderen Wegen der Untersuchung
Roux und Yersin, Kolisko und Paltauf. Zu erwähnen ist noch, dass das von den
enteren Forschern gewonnene Gift beim Meerschweinchen nur subcutan wirkt, vom
Magen aus keine Wirkung entfaltet, weder beim Meerschweinchen, noch bei der Taube.
Diese Untersuchungen über das Wesen des Dipbtheritisgiftes wurden alsdann von
B bieg er und C. Frankel aufgenommen und weiter geführt. Diese Forscher
gelangten zu dem Resultate, dass die LÖFFLER'schen Diphtheritisbacillen in ihren
Culturen eine giftige, lösliche, von den Bacterien trennbare Substanz erzeugen,
welche bei empfanglichen Thieren diejenigen Erscheinungen hervorruft, die sich
sonst nach der Uebertragung der lebenden Mikroorganismen entwickeln. Diese
Substanz ist aber kein Ferment und kein Enzym, wie die früheren Autoren an-
nahmen, da sie unter dem Einflüsse höherer Wärmegrade, über 60°, zu Grunde
geht und das Eindampfen bei 50° verträgt, selbst bei einem vorhandenen Ueber-
schuss von Salzsäure. Ebenso ergab die Untersuchung, dass es sich nicht um
Toxine oder PtomaTne oder flüchtige Substanzen handelt. Vielmehr zeigte es
sich, dass das Gift ein Eiweisskörper besonderer Art ist, ein directer Abkömmling
der Eiweissstoffe, für den der Name Toxalbumin vorgeschlagen wurde. Die so
gewonnene Substanz, welche sich beim Trocknen im Vacuum bei 40° als schnee-
weisse, amorphe, krümelige, sehr leichte Masse darstellt, besass hervorragend
Encyclop. Jahrbücher. I. \JV
210
DI PHTHEBITIS.
giftige Eigenschäften; sowohl vom Unterbantzellgewebe, wie von der Blutbahn
aus wirkte sie bei Meerschweinchen und Kaninchen giftig, schon in sehr geringer
Menge wirkt sie tödtlich. Dagegen konnte die Entstehung von Pseudomembranen
durch Einbringung der trockenen oder gelösten Substanz auf die verletzte Schleim-
haut der Conjunctiva oder der Vagina und Trachea nicht hervorgebracht werden.
Oketel wirft nun die Frage auf, welche eiweissreichen Gewebstbeile durch die
Intoxication vorwiegend oder ausschliesslich der Zersetzung unterliegen und ob es
nicht möglich ist, Vorgänge in dem inficirten Körper nachzuweisen, in denen
eiweissreiche Elemente zum Absterben gebracht werden ? Er findet in der bei der
Diphtheritis auftretenden Necrobiose, vom Epithel der primär inficirten Schleimhaut
durch die verschiedensten Organe bis in die Milz die multiple Bildungsstätte des
Giftes innerhalb des Organismus und ist der Meinung, das9 das massenhafte Ab-
sterben der zelligen Elemente, die Auflösung und Verflüssigung der sie zusammen-
setzenden Ei weisskörper mit der Bildung jener aus den Eiweisskörpern entstehenden,
toxisch wirkenden Substanz in Zusammenhang zu bringen sei.
An die eben gewonnenen Erfahrungen knüpft sich nunmehr die Betrachtung
(Iber die Art der Verbreitung der Diphtheritis und weiterhin die Besprechung der
etwaigen prophylaktischen und therapeutischen Massregeln. Bezüglich des ersten
Punktes wird allerseits besonders und stets der Nachdruck darauf gelegt, dass
die Krankheit local im Rachen beginnt. Ob das Virus auf der unverletzten
Schleimhaut haftet oder nicht, ist bis jetzt noch nicht erwiesen. Allerdings wollen
Klebs, sowie auch Kolisko und Paltaüf ein directes Eindringen der Bacillen
in die Epithelien beobachtet haben. Wie dem indess auch sei, so viel steht fest,
dass oberflächliche epitheliale Substanzverluste die bacillären Einwanderungen in die
Lymphbahnen erheblich erleichtern und befördern werden. Andererseits erkranken
ganz plötzlich gesunde Kinder, bei denen irgendwelche krankhafte Veränderungen der
Schleimhäute vorher nicht nachweisbar waren. Für diese Erkrankungen werden
naturgemäss mannigfache äussere Einflüsse als ätiologische Momente herangezogen ;
so sollen nach den verschiedensten Ansichten gewisse Witterlingsverhältnisse,
kalte trockene , kalte feuchte Luft besonders prädisponirend für die Diphtheritis
sein. In dieser Beziehung haben Brühl und Jahr in einer statistischen Zusammen-
stellung gefanden, dass die Sterblichkeit an Diphtheritis entsprechend der mittleren
Jahrestemperatur abnahm, dass beispielsweise die zwischen den Isothermen von
6 — 7° gelegenen Kreise 36*7, die zwischen denen von 11 — 12° gelegenen
dagegen nur 10 G Mortalität aufwiesen (die Sterblichkeit auf je 10.000 Lebende
berechnet). Innerhalb der einzelnen Kreise, welche den gleichen, durch die Jahres-
isothermen gebildeten Gruppen angehören , schwankte die Sterblichkeit recht
bedeutend, und um diese Schwankungen zu erklären, glaubten sie in dem Sättigungs-
deficit das Moment gefunden zu haben ; der Uebergang aus einer Luft , welche
den Respirationsorganen wenig Wasser entzieht, in solche, welche diese Organe zur
Abgabe von sehr viel Wasser veranlasst y soll namentlich zur Verbreitung der
Diphtheritis beitragen. Die Untersuchungen von Brühl und Jahr sind, wie
Rahts nachgewiesen hat, nicht einwandsfrei und deshalb sind auch die Schluss-
folgerungen nach mancher Richtung zu beanstanden; überdies hat auch Johannessev
meteorologische Einflüsse auf das Zustandekommen grösserer Epidemien in Nor-
wegen nicht nachweisen können. Auch die Behauptungen anderer Autoren (Lonquet),
dass Anhäufungen von Düngmassen in der Nähe menschlicher Wohnungen für die
Verbreitung der Diphtherie besonders günstig sind, bedürfen noch weiterer Be-
stätigung. In letzter Linie ist, wenn die Bacillen die Ursache der Diphtherie
abgeben, die Lebensdauer derselben in und auf den Nährsubstraten im einge-
trockneten Zustande in der Mund- und Rachenhöhle festzustellen. Bereits früher
hatte Löffler angegeben, dass die Bacillen bei Brut- und Zimmertemperatur
circa 3 Monate lebensfähig bleiben. Neuere Untersuchungen beweisen, dass hier
grosse Schwankungen vorkommen. Auf Blutserumculturen fand Löffler nach
12 Wochen, v. Hoffmann nach 155 Tagen die Culturen noch lebensfähig. Im
DIPHTHERITIS.
2ir
trockenen Zustande an Seidenfäden waren die Culturen nach den Versuchen von
v. Esmarch nach 16 und 33 Tagen noch lebensfähig, bei Löffler wuchsen nach
60, 71 Und 101 Tagen an den Seidenfäden noch vereinzelte Colonien. Für das
Verhalten der Diphtheritisbacillen in der Mund- und Rachenhöhle diphtherisch
Erkrankter ergiebt eine genaue Untersuchung Löffler's, dass die Bacillen fast
3 Wochen lang noch, nachdem die Temperatur bereits zur Norm zurückgekehrt
war, im infectionsfähigen Zustande in der Mundhöhle nachweisbar waren. Mit
Berücksichtigung aller dieser Verhältnisse ergeben sich nun prophylactische Mass«
regeln, welche mannigfach besondere Berücksichtigung verdienen. Löffler hat
dieselben in Thesen gefasst, welche wir reproduciren :
1. Diphtheritiskranke sind strengstens zu i9oliren, so lange sie noch
Bacillen in ihren Excreten beherbergen. Die Fernhaltung an Diphtherie erkrankter
Kinder von der Schule wird auf mindestens 4 Wochen zu bemessen sein.
2. Die Diphtheriebacillen sind in Membranstückchen im trockenen Zustande
4 — 5 Monate lebensfähig. Es sind deshalb alle Gegenstände, welche mit den
Excreten Diphtheriekranker in Berührung gekommen sein können: Wäsche, Bett-
zeug, Tisch- und Essgeräth, Kleider der Pfleger u. s. w. durch Kochen in Wasser
oder Behandeln mit Wasserdämpfen von 100° zu desinficiren. Ebenso sind die
Zimmer, in welchen Diphtheriekranke gelegen haben, sorgfältig zu desinficiren.
Die Fussböden sind wiederholt mit warmer Sublimatlösung (1 : 1000) zu scheuern,
die Wände und Möbel mit Brod abzureiben.
3. Die Bacillen sind möglicher Weise, im feuchten Zustande conservirt,
noch länger lebensfähig als im trockenen Zustande. Feuchte dunkle Wohnungen
scheinen besonders günstig zu sein für die Conservirung des diphtherischen Virus.
Solche Wohnungen sind daher zu assaniren; namentlich ist für die gründliche
Austrocknung derselben und für Zutritt von Licht und Luft zu sorgen. Besonders
beim Wohnungswechsel ist für eine gründliche Desinfection inficirt gewesener
Wohnungen Sorge zu tragen.
4. Die Diphtheriebacillen gedeihen ausserhalb des Körpers noch bei
Temperaturen von 20°. Sie wachsen sehr gut in Milch. Der Milchhandel ist
daher sorgfältig zu beaufsichtigen. Der Verkauf von Milch aus Gehöften , in
welchen Diphtherieerkrankungen festgestellt sind, ist zu verbieten.
5. Da die Läsionen der Schleimhäute der ersten Wege das Haften des
diphtherischen Virus begünstigen, so ist in Zeiten, in welchen Diphtherie herrscht,
der Reinhaltung der Mund-, Nasen- und Rachenhöhle der Kinder eine besondere
Sorgfalt zu widmen. Prophylactische Mundausspülungen und Gurgelungen mit aro-
matischen Wässern oder schwachen 8ublimatlösungen (1 : 10.000) sind zu empfehlen.
Von den vielen zur Behandlung der Diphtheritis empfohlenen Mitteln hat
sich keines besonders bewährt, wie dies auch Henoch von Neuem wieder betont.
Wir nehmen Abstand, dieselben einzeln aufzuführen. Roux, Yersin, Oertel u. A.
halten sowohl in prophyl actisch er Weise, als auch zur Behandlung ausgesprochener
Diphtheritis die Oarbolsäure für das beste Mittel, und zwar in 5°/0iger Lösung
zur Inhalation 1 — 2stündlich 2 — 3 Minuten lang, wobei der zuleitende Glastrichter
des Apparates tief in den Mund des Kindes eingeführt werden muss (Oertel).
Henoch schliesst seinen Vortrag im Verein für innere Medicin 1889 mit den
Worten: „Hoffentlich gelingt es der Bacteriologie , das eigentliche Agens der
Diphtherie, resp. die dadurch erzeugten chemischen Stoffe zu finden und dadurch
eine erfolgreiche antiparasitäre Therapie gegen die mörderische Krankheit vorzu-
bereiten." Dieser letztere Wunsch scheint nun in der That in Erfüllung gehen
zu sollen. In zwei soeben erschienenen Arbeiten von C. Fraenkel und Behring-
Kitasato werden Versuche, allerdings zunächst erst an Thieren, mitgetheilt, aus
denen hervorgeht, dass es gelingt, Thiere gegen die Diphtheritis immun zu machen.
Was zunächst die Untersuchungen von Fraenkel- anlangt, so benützte er die
keimfrei gemachte Culturflüssigkeit der Diphtheriebacillen. Mit der unveränderten
Culturflüssigkeit selbst behandelte Thiere zeigten einige Resistenz, aber wirklich
immun waren sie noch nicht. Bei seinen weiteren Versuchen gelang es C. Fraenkel,
eine Modification der Nährflüssigkeit zu erzeugen , welche nunmehr Immunität
herbeiführte. Diese Modification wurde gewonnen durch einetündiges Erwärmen
der Nährfltissigkeit auf 65 — 70°. 10 — 20 Gern. — je nach der Grösse des
Thiere» — einer 3 Wochen alten 7 in dieser Weise präparirten Bouillon cultur der
Dipbtheriebacillen Meerschweinchen unter die Baucbhant gespritzt , gentigen , um
das Thier gegen die nachfolgende subcutane Impfung mit virulenten Batterien zu
bnmunisiren. Allerdings ist eine Vorsichtsmassregel hierbei nöthig : die Infeotion
mit dem virulenten Material darf erst frühestens 14 Tage nach der Ausführung
der Schutzimpfung stattfinden. Das Mittel ist machtlos, sobald die Diphtherie den
Organismus ergriffen hat.
Behring und Kitasato ist es gelungen, sowohl diphtherisch und tetaniscb
inficirte Thiere zu heilen , wie die gesunden derartig vorzubebandeln , das« sie
später nicht mehr an Diphtherie und Tetanus erkranken, und zwar beruht, wie
beim Tetanus, so auch bei der Diphtheritis die Immunität der bisher untersuchten
Thiere auf der Fähigkeit des Blutes, die von den Tetanus-, beziehungsweise
Diphtheritisbacillen producirten giftigen Substanzen unschädlich zu machen. Der
Methoden der Immunisirung giebt es mehrere; die eine derselben ist die von
C. Fraenkel bereits beschriebene; andere Methoden bestehen nach Behring
in der Ueberimpfung der Bacillencultureu , welche mit Jodtncblorid behandelt
waren, andere in der Benützung von Stoffwechselproducten, welche von den Diph-
theritisbacillen im lebenden thierischen Organismus erzeugt werden (Pleuratrans-
sudate diphtherischer Thiere), endlich kann die Immunität erzeugt werden dadurch,
dass man die Thiere zuerst inficirt und dann die deletäre Wirkung durch thera-
peutische Mittel aufhebt. Obenan in der Wirkung steht hier das Jodtrichlorid,
welches bei subcutaner Injection heilend wirkt und Thiere gegen spätere Infectimi
immun macht» Hierbei wirken aber immer Stoffwechsel produete der Diphtherie-
bacillen mit, da es bisher niemals gelungen ist, durch alleinige Vorbehandlung mit
Trichlorid Meerschweinchen immun zu machen. Es gelingt dann weiterhin, durch
\V:isHTst(»ffKiij>en>xyd Immunität herbeizuführen. Dieses Mittel hat mit den Stoff-
wechselproducten der Diphtherien acillen nichts zu thun. Bei Anwendung diese«
Mittels zeigt es sich, dass nur mit Wasserstoffsuperoxyd v o r behandelte Thieie
einen gewissen Grad von Immunität erlangten, dass dagegen Thiere, welche nach
der Injection mit diesem Präparat behandelt wurden, keine Immunität zeigten, int
Qegentheil sehr schnell der Infectionsdiphtheriüs erlagen. Sind auch diese bisher
am Thiere gewonnenen Erfahrungen für die Behandlung der menschlichen Diph-
theritis nicht zu verwerthen, so ist doch zu hoffen, dass auf dem vorbezeichneten
Wege sich Mittel werden finden lassen, welche die Mortalität dieser so pernietösen
Krankheit wesentlich beschränken dürften; grössere Triumphe könnte die moderne
Bacteriologie kaum feiern.
Literatur: Bah es, Zeitscbr. für Hygiene. V, pag. 177. — Beck, Ebenda, 1890,
Till. Bacleriologische Untersuchungen aber die Aetiologie der menschlichen Diphtheritis. —
Behring und Kitasato, lieber das Zustandekommen der Diphtherieimmunität und der
Tetanusimmunilat hei Thieren. Deutsche med. Wochenschr. 1890, 49. — Behring, Unter-
suchungen über das Zustandekommen (1er Diphtherieimmunität hei Thieren. Ebenda. 189u.
Nr. 50. — Brie ger und Fraenkel, Untersuchungen über Bacteriengifte. Berliner ktin.
Wochenschr. 1890, Nr, 11 u, 12. — D'Espine, Bevne medicale de Ja Suisse romande. l£88,
Nr. 1, pag. 49. — Fraenkel, I mm nnisirunga versuche bei Diphtherie. Ebenda. 1890i 49. —
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med. Wochenschr. 1868, XXXVIII» Nr. 3/4* Unt ersuch un gen über den Klebs- LöflWschen
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Forekomtt i Noryc. Christ iania- 1888. — Xolisko, Zorn Wesen des Croup und der Diph-
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Stand der Frage nach der Entstehung der Diphtheritis. — Derselbe, Berliner klin.
Wochenschr. 1890, 39/40. Welche Mapsregeln erscheinen gegen die Verbreitung der Diphtherie
geboten1/ — Derselbe, Ontralbl. für Parasitenk. Jahrg. I. Ergebnisse neuester Untersuchung
DIPHTHERITLS. — DRAINAGE.
213
Uber Diphtheriebacillen. — Oertel, Die Pathogenese der epidemischen Diphtherie. Leipzig
1887. — Derselbe, Ueber das diphtherische Gift und seine Wirkungsweise. Deutsche
med. Wochenschr. 1890, Nr. 45. — Orthmann, Berliner klin. Wochenschr. 1889, Nr. 10,
pag. 218. — Pensoldt, Ueber Versuche, Diphtherie aufThiere zn übertragen. Beiträge cur
pathol. Anat , ezperim. Pathol. und prakt Med. Festschr. F. A. v. Zenker. Leipzig 1888. —
Prudden, On the etxology of Diphtheria, an experimental study. The Amer. Journ. of the
nv»d. scienc. April-Mai 1889, XCV1I. — Prud den und North rup, Studies of the etxology
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Ronx und Yersin, Contribution ä V Stüde de la diphtherie. Annales de l'institut
Pasteur sc. 1888, II, Nr. 12, pag. 629. — Sörensen, Nordisk medicinsk Arkiv. 1889, XVIII,
Nr. 26. — Zarniko, Centralbl. für Bacteriologie. VI, pag. 153, 177, 244. ß Bagjnsky
Diuretin (vergi. Real-Encyclopädie, Bd. XXI, pag. 612). Die diuretische
Wirkung dieses Theobromindoppelsalzes wird von mehreren Kliniken anerkannt.
In 60 Procent der von Koritschoner beobachteten 38 Fälle genügten 5*0, in
30 Procent 6 0 nnd in 10 Procent erst 7 Grm. pro die, am die Diärese einzu-
leiten. Man beginne mit 4 — 5 Grm. pro die und steigere die Dosis, wenn nöthig,
langsam. Die Wirkung pflegt erst nach dem dritten Tage kräftig einzutreten.
Bei zu rascher Steigerung der Gabe und der hierdurch zu reichlichen Diurese
kann ähnlich wie nach Punctionen Collaps eintreten. Das Mittel kann in wässeriger
Lösung (die Tagesdosis in 150 Grm. Wasser, 1 — 2 Stunden 1 Esslöffel), auch in
Milch verabreicht werden. Das Pulver selbst zersetzt sich an der Luft nach
wenigen Tagen. Zusatz von Fruchtsyrupen , Succus liquir. oder Pflanzeninfusen
ist zu vermeiden, da durch den Säuregehalt derselben unlösliches Theobromin aus-
fällt (Aug. Hoffmann), v. Schröder verschreibt: Diuretini 5 0 — 7*0, Aq. dest. 90*0,
Aq. Menth, pip. 100*0, Syrup. simpl. 100 0. MDS. 1— 2stttndlich einen Esslöffel.
Literatur: M. Koritschoner, Klinische Versuche über das Diuretin - Knoll.
(Ans der Abtheilnng des Prof. v. Schrötter.) Wiener klin. Wochenschr. 1890, 39. — v. Schröder,
Ueber die Verordnung des Diuretin. Therap. Monatsh. Juli 1890. — Mme. Kouindzy-
Ponierantz, Ballet gener. de Therap. 15. Aug. 1890. — Aug. Hoffmann (aus der Ab-
theilong des Prof. Erb), Med. Gesellsch. zu Heidelberg. 1890. Loe bisch
Döglingöl, En tenwalöl, Oleum Physeteris 8. Chaenoceti , das aus
dem Specke des Enten wals (Hyperoodon diodon, Lacepöde) durch Pressen in
der Eilte gewonnene Oel. Nach Goldberg eignet es sich wegen seines geringeren
speeifisohen Gewichtes und wegen seiner grösseren Fähigkeit, durch die Haut zu
gehen, als dies bei den meisten anderen thierischen Fetten der Fall ist, für
manche medicinische Zwecke. Als Verbindungen zum allgemeinen Gebrauche werden
empfohlen: Eine 2*5 — 5% ige Lösung von Carbolsäure in Ol. Chaenoceti; ferner
eine Salbenbasis, bestehend aus : Ol. Chaenoceti 80*0 , Cerae japonic. 20*0. Das
für medicinische Zwecke gebräuchliche Döglingöl ist um mehr als die Hälfte
billiger wie Olivenöl.
Literatur: Guldberg, Monatsschr. für prakt. Dermat. 1890. T v v
r Loebiscn.
Drainage, a) w unddrainage. Schon im Jahre 1 886 waren in Bezug
auf die Wunddrainage Wandlungen eingeleitet, welche bis auf den heutigen Tag
sich mehr und mehr entwickelt, einen völligen Abschluss jedoch noch nicht erreicht
haben. In der Kette von Massnahmen, welche das ursprünglich LiSTE&'sche Ver-
fahren ausmachten, bildete die Drainage ein durchaus unerlässliches Glied. Die
starke Reizung der Wunden bedingte eine so reichliche Ausscheidung von Wund-
flüssigkeiten, dass die Ableitung derselben nach aussen unbedingt nothwendig
war, und dazu bedurfte man eben der Drains. Aber so herrlich der Lister-
verband im Vergleiche zu den früheren Verbänden auch sein mochte, so Hess er
doch nach manchen Seiten hin zu wünschen übrig, und auch die Drainage zeigte
sich mit einer ganzen Reihe von Uebelständen verknüpft. So arbeiteten denn die
Chirurgen unablässig daran, das Gute durch Besseres zu ersetzen und in dem
Maasse , als sie den ursprünglichen Listerverband änderten , gingen sie auch der
Drainage zu Leibe. Ja, man kann sagen, dass mit dem Aufgeben des Lister-
DRAISAGIL
*rbbl V~tff!aiiraiä die primäre Wunddrainage ihre Existenzberechtigung verlor.
Vitt Jtüwmhm^ der Drains war immer nur ein Nothbehelf , denn sie bilden
gnPHmfk«lrper. welche die genaue Yereinigang der Wundfläehen hindern, einen
iftexm Verbandwechsel fordern, die Heflug stören oder verzögern und gelegen t-
Jflhj -Hiear *»ine Infeetion der Wunde vermitteln können. Der erste Ansturm ging
wa !Fktb£& aas7 der mit Hilfe der resorbirbaren Drains seine Dauerverbinde
*eimf : aber diese resorbir baren Drainage- and Beinignngsrohre bewährten sich
triefet» s» sind nach den Untersuchungen Pacisottis' l) nur zum Theil als solche
an. betrachten ; während sie stets die Heilang der Wände verzögern, lassen sie in
derselben entweder nicht resorbir bare Theilchen zurück, die als Fremdkörper ein-
gekapselt werden, oder sie werden vollständig resorbirt und dann bilden sie einen
Knoten retraetilen Narbengewebes, der ungünstig auf die Vernarbung wirkt.
Bei einer aseptischen Wunde sammelt sich stets im Innern des Rohres
eise Masse von Leukocjten und rothen Blutkörperehen derartig an, dass sie einen
die Lichtung des Drains verstopfenden Thrombus bilden, „der den Zweck einer
Canalisation in den ersten Tagen vereitelt, während in den folgenden dieser sich
organisireude . canaiisirende und retrahirende Thrombus noch die gefährlichen
Beziehungen der Umgebung zum Innern der Wunde zulässt, die bis auf die
Lagerun gsstelle des Rohres geschlossen ist~.
Demnächst war man allgemein darauf ausgegangen, die Ansammlungen von
Seemen auf andere Wefce zu verhindern und so die Drainage überflüssig zu
machen. Wo Wundäussigkeiten fehlen, bedarf es keiner Drains. Es kam also
darauf an. durch Vermeidung reizender Antiscptica die Wundsecretion auf ein
thunliehst geringes Maass herabzusetzen und andererseits die Eutstehung von
Lücken und Hohlräumen zu verhüten, mithin ein möglichst vollkommenes Anein-
anderfegen der Wandfliehen zu erzielen. Die Mittel aber, deren man sich hierzu
vorzugsweise bedient, sind: geeignete Schnittfuhrung . Druckverband, Anlegung
versenkter Nähte. Anbringung von Gegenöffnungen, Offenhalten der Wundwinkel,
Herbeiziehen und Ueberpflanzen benachbarter Theile. Kocher und v. Bergmann
ersetzten die Drainage durch die Tamponade aller frischen Wunden und die
Secundärnähte.
Aber noch nach einer anderen Seite hin vollzogen sich höchst interessante
Wandlungen. Der alte Listerverband wehrte mit seinem luftdichten Abschlnss der
atmosphärischen Luft den Zutritt und brachte die Wunde in einen Zustand behag-
ficher feuchter Warme, den man zur Entwicklung schädlicher Mikroorganismen
geradezu für günstig hielt. Ohne den Zusammenhang der Dinge völlig zu durch-
dringen, wählte man doch den richtigen Weg: die erhöhte Wärme war uaoh
Braatz s Untersuchungen gar nicht vorhanden und an Feuchtigkeit fehlte es auch
unter dem Mooskissen nicht. Man kam all mal ig dahinter, dass. abgesehen von
mficirten Krankensälen, der Wunde weit weniger Gefahr drohe von der Luft , als
von der Berührung mit nicht reinen Händen. Instrumenten. Verbandstoffen. An
Stelle des feuchten Listerverbandes setzte man eintrocknende Verbände, hergestellt
aus äusserst porösen Stoffen, welche eine rasche Verdunstung der Secrete gestatten ;
man schal* Verbände, welche die antiseptische Wirkung der benutzten Verband-
stoffe vereinigten mit der Wirkung der Verdunstung und Austrocknung. Während
man jetzt dem Sauerstoff der Luft freien Zutritt gewährte, hatte der Listerverband
denselben beschränkt und „dadurch der Entwicklung der schlimmsten Fäulniss-
vorgänge unter Anaerobiose Vorschub geleistet, nachdem der im Verbandmaterial
vorhandene Sauerstoff von der aeroben Th&tigkeit der in dasselbe hineingelangten
Baeterien aufgezehrt worden war** i Braatz).
Der nächste weitere Schritt war der, dass man der nur trocknenden
Fähigkeit der höchst hydrophilen Verbandstuffe allein vertraute und die Impräg-
nimng dieser Suffe mit antiseptiscben Mitteln ganz fallen liess: an Stelle der
antiseptischen Behandlung trat die asep tische: die Sterilisirung der Verband-
Stoffe und Instrumente, sowie die sortilltigste Vermeidung jeder Contactinfection.
DRAINAGE.
215
Die Drainage, deren Unterlassung noch vor wenigen Jahren ein Verbrechen war,
gilt bei reinen Wunden heute als „dem Geiste der Chirurgie zuwider" — eine
jener Thatsachen, welche ebenso bezeichnend sind für die Wandelbarkeit wissen-
schaftlicher Lehren, wie für das ununterbrochene Streben und Suchen nach Ver-
vollkommnung Einst hiess es: „fort mit dem Spray" — jetzt heisst es: fort
mit der Drainage bei reinen Wunden, fort mit dem Antisepticum , fort selbst mit
dem Wasser. Das Ziel, die Wunden trocken zu legen, erstrebt man nicht mehr
durch eingelegte Röhrchen, sondern durch „trockene aseptische Operations- und
Verbandmethoden". 2)
Anders bei inficirten Wunden. Hier tritt die Antisepsis nnd die
Drainage in ihre alten Rechte; statt der Gummiröhren bedient man sich vielfach
der Glasdrains oder auch Streifen von Jodoformgaze, weil durch diese gleichzeitig
eine örtliche Desinfection bewirkt wird.
Soviel Aber die primäre Drainage, d. h. Aber die Drainage frischer
Wunden, bezüglich deren ausführliche Besprechung ich auf das Capitel über
Wundbehandlung verweise.
bj Die secundäre Drainage, welche die Aufgabe hat, bereits vor-
handenen, zu mehr oder weniger grossen Mengen angesammelten Eiter nach aussen
zu leiteo, findet in erster Linie Anwendung bei Abscessen aller Art, und zum
Durchlegen der Drains durch die betreffenden Abscesshöhlen sind neuerdings von
Brüns , Maurer , Fraipont u. A. besondere Instrumente erfunden worden. Bei
dem BRUNs'schen Instrumente wird das über den Knopf einer Sonde gebrachte
Drainrohr durch feine Spangen festgehalten. Die Maurer' sehe Sonde endet mit
zwei, durch eine Einsenkung getrennte Anschwellungen; der Drain wird also
gerade so befestigt , wie der elastische Schlauch bei Zugverbänden. Weite An-
erkennung hat sich auch das FRAiPONT'sche 8) Instrument erworben (Fig. 12).
Dasselbe besteht aus einer gebogenen Troicarröhre , deren hinteres Ende mittelst
einer Schraube an dem hölzernen Griff befestigt und deren vorderes Ende mit
einem 3 Cm. langen soliden Schnabel durch Bajonett verschluss verbunden ist.
An diesem Schnabel ist ein in die Röhre hineinragender kleiner Haken ange-
bracht, an welchem das Drainrohr angehängt wird. Darauf führt man das
Instrument durch die Abscesshöhle bis zu der Stelle, an welcher die Gegenöffnung
angebracht werden soll, schneidet auf dem andringenden Schnabel ein, schiebt
den Führer, so weit als nöthig ist, vor, nimmt den Schnabel fort, befestigt das
Drainrohr und zieht den Führer zurück.
Entsprechend seiner hervorragend praktischen Bedeutung hat die An-
wendung der Drainage bei Empyem, und zwar in der Form des Bu lau1 sehen
Verfahrens, die lebhaftesten Erörterungen hervorgerufen. Die Chirurgen ziehen
allerdings die breiten Einschnitte, womöglich mit gleichzeitiger Fortnahme eines
oder mehrerer Rippenstücke, der „permanenten Aspirationsdraioage" vor, aber
andererseits sind die von zahlreichen Klinikern und Aerzten mit dieser Methode
gemachten Erfahrungen so günstig, dass der Nutzen derselben in passenden
Fällen nicht mehr bezweifelt werden kann. Ziemlich aligemein bezeichnet man
frische Erkrankungen mit dünnflüssigem, beziehungsweise seropurulentem Erguss
(Psl4) als besonders günstig, aber auch bei sehr heruntergekommenen Kranken
Fi*. 12.
DRAINAGE
bietet das Verfahren einen sehr willkommenen Ersatz für die etwa später noch
vorzunehmende RippeuresecHou (Fbäntzkl). ß)
80 lange die Lunge noch leicht und völlig ausdehnbar ist, genügt es*
den Drain mit einem Heber zu verbinden ; anderenfalls jedoch, und ebenso hei
sehr dickflüssigem Eiter, fügt man zum Heber noch eine Saugvorrichtung hinzu.
Man hat nun dem Verfahren vorgeworfen, dass man mit demselben nur Zeit ver-
liere und schliesslich doch zur Radicaloperation schreiten müsse* dass der Drain
sich leicht verstopfe* dass es bei Kindern und unruhigen Kranken sehr schwierig
sei, „den subtilen Mechanismus intact zu erhalten" (Schede). °) Bülaü weist diese
Aussetzungen zurück t er sieht dieselben lediglich veranlasst durch eine nicht
genügende Ausführung seines Verfahrens und bringt deshalb in der Zeitschrift
für klinische Medicin , 1890, 11* eine ausführliche Beschreibung, aus der d:is
Wichtigste hier mitgetheilt wird*
Zur Heberdrainage sind erforderlich: 1, Ein Troicar von 6 Mm. Weite;
2. ein neuer, genau in die Troicarcanüle passender Catbeter (Jaqttes' Patent),
ohne Pavillon, gut desinficirt; 3. ein (ingerlanges Glasrohr, welches mit seinem
etwas verjüngten Ende in den Catbeter, mit dem anderen in den weiteren Gummi-
sehlauch passt; 4. ein 9/i — 1 Meter langer Gummischlauch, dessen freies Ende
mit einem Gewicht beschwert wird; 5. Watte, Gazebinde, Collodium elast.,
Kautaehiikpflaster, Seidenfädcn , 2 Qnetschbähne , ein Glastrichter zum Füllen des
Schlauches und ein Geföss zur Aufnahme des Eiters-
Nachdem so Alles vorbereitet ist, wird die Haut Uber der Einstichst eil 0
gespalten , der Troicar eingestossen , der Catbeter sofort nach Herausnahme dea
SUchels durch die Canflle geschoben und letztere mit dem Catbeter so weit her-
ausgezogen, dass die CanUle sich ganz ausserhalb der Wunde befindet. Nun zieht
man die Canttle vom Catheter ab, der alsbald von der Haut fest umschlossen und
bis zu seiner Befestigung am Thorax mit dem Quetschhahn gesperrt wird. Diese
Befestigung kann auf verschiedene Weise geschehen, Bülaü „knotet unmittelbar
über der Auatrittsstelle des Catheters an der Haut einen Faden fest, dessen beide
Enden in Schlingen geknüpft sind und mittelst Gazestreifen und Collodium oder
mittelst HeftpßaBterstreifen das eine vorn , das andere hinten am ßrustk&sten
gespannt, befestigt wird". Man kann den Catheter dann mit etwas Watte oder
Collodium noch sicherer au der Haut befestigen oder eine gespaltene, mit Bor*
wasser oder irgend einer antiseptiseben Flüssigkeit befeuchtete Compresse um den
Catheter legen, denselben mit Guttaperchapapier bedecken und das Ganze mit
einer Gazebinde befestigen.
Darauf wird der vorher mit antiseptischer Flüssigkeit gefüllte Schlauch
mit dem Catheter verbunden, das freie beschwerte Ende des Schlauches in ein
mit derselben Flüssigkeit zu einem Drittel gefülltes Geftss getancht und der
Qnetschhahn entfernt. In dem Maasse nun, als der Eiter abfliegst, muBS die Lunge
sich ausdehnen. Damit der Schlauch durch seine Schwere nicht am Catheter zerrt
und dadurch Schmerzen und andere (Jebelatände hervorruft, nmss derselbe an der
Matratze oder am Bettrande so aufgehängt werden, dass eine 40 — 50 Cm, lange
Schlinge neben dem Kranken im Bette liegt.
Das Fenster des Catheters ist freilich l1/* Cm. von dessen Ende entfernt,
aber das hindert den Abfluss nicht* weil der Eiter in die Höbe steigt. Man kann
aber auch durch Abschneiden des Schnabels den Catheter in ein gewöhnliches,
vorn offenes Drain röhr verwandeln.
Etwaige Verstopfungen des Catheters durch Gerinnsel werden dadurch
beseitigt* dass man durch centrifugales Streichen (Effleurage) am Schlauche die
Saugkraft des Hebers stärkt* Meist läsen sieh die Verstopfungen von selbst oder
der Kranke hilft dnreh einen Hustenstoss nach. Werden die verstopfenden Ge-
rinnsel auf diese Weise nicht beransbe fördert , so kann mau sie durch gelinde
„Palsion" in den Thorax zurücktreiben, wo sie allmälig zerfallen, beziehungsweise
verflüssigt werden (Immermann). 7)
DRAINAGE.
217
Keinesfalls soll man sich verleiten lassen, den Catheter in den ersten
Tagen herauszunehmen; ein Wechsel ist erst erlaubt, wenn der Catheter sich in
der Fistel leicht und frei bewegen lässt. In demselben Augenblick, in welchem
der alte Catheter die Fistel verlässt, muss die Spitze des neuen in dieselbe hinein-
gleiten, sonst könnte man auf grosse Schwierigkeiten stossen. Erweist sich die
Saugkraft als zu stark, was sich durch blutige Färbung des Eiters kundgiebt,
dann stellt man das Aufnahmegefass etwas höher.
Bei geringer Absonderung und fieberfreiem Zustande des Kranken ersetzt
man das Gefass durch eine Umhängeflasche, durch deren Kork .ein Glasrohr bis
auf den Boden reicht und hier in Borsäurelösung taucht, während das obere Ende
mit dem in der Brusthöhle liegenden Drain verbunden wird. Der Kork muss
einen kleinen keilförmigen Ausschnitt haben, damit die Luft entweichen kann.
Hat die Eiterung nahezu aufgehört, dann schneidet man den Drain dicht an der
Haut ab, verhindert sein Hinabgleiten durch eine Sicherheitsnadel, legt ein Stück
Protectiv Aber, so dass dasselbe der Haut glatt anliegt oder befestigt darüber
einen aufsaugenden Verband.
Vielfach ist man bemüht gewesen, die Technik der Drainage bei Empyem
zu vervollkommnen ; vorzugsweise aber richten sich diese Bestrebungen darauf, das
Hinabgleiten der Drains in den Thoraxraum durch eine sichere, den Kranken
nicht belästigende Art der Befestigung zu verhüten. Huber8) berichtet über
Fig. 13.
25 Fälle, in denen sich dieses schlimme Vorkommniss nach Empyemoperation bei
Kindern ereignete und empfiehlt zur Befestigung das von Baxter angegebene Ver-
fahren (Fig. 13). Man steckt das Drainrohr durch eine entsprechend grosse Oeffhung
einer Gummiplatte, so dass ein 3 — 4 Cm. langes Stück herausschaut, spaltet dieses
mit der Scheere in 4 Zungen , breitet dieselben aus und befestigt sie an der
Gummiplatte mit Silberdraht.
Bei dem HEUSTON'schen 9) Instrument sitzt der Drain fest an einer weichen
Gummiplatte, welche zum Durchziehen von Bändern mit Oeffhungen versehen ist ; um
das Herausfallen der Drains zu verhüten, sind, nach Analogie des Holt' sehen
Catheters, 5 Cm. nach innen von der Platte 3 Flügel angebracht. Das äussere
an der Platte sitzende Ende des Drains ist hart, damit es von den Rippen nicht
zusammengedrückt werden kann. Auch die Pen ny 'sehe 10) Empyem-Canüle sitzt an
einer mit Schlitzen versehenen Platte; das Drainrohr selbst ist einer Trachea
ähnlich und besteht aus einzelnen, beweglich miteinander verbundenen Silberringen.
c) Wenn in der Wundbehandlung die Drainage mehr und mehr an
Boden verloren hat, so hat sie andererseits in der Behandlung des Anasarca
eine gesteigerte Anerkennung gefunden. Da das Anbringen des Gummischlauches
an der bereits in die Haut eingestossenen Canüle für den Arzt schwierig und für
den Kranken schmerzhaft sein kann, so hat Michael ein sehr einfaches Verfahren
angegeben, welches diesen Uebelstand vermeidet und sich auch auf andere, behufs
218
DRAINAGE.
Ableitung von Flüssigkeit auszuführende Functionen übertragen lässt (Fig 14).
Der Witz liegt nämlich darin, dass man den Gummischlauch b vorher tiber
das äussere Ende der Troicarcanüle a bringt, den Stachel c durch die Gummi-
wand hindurch in die Canüle einführt und punctirt. Zieht man nun den Stachel
heraus, so schliesst sich sofort die Stichöffnung im Drain und die Ableitung der
hydropischen Flüssigkeit beginnt.
Fig. 14.
Bei derTrichterdrainage Bcchwald's wird nicht ein Drainrohr
in'8 Gewebe eingelegt, sondern auf die zuvor scarificirte Hautstelle wird ein Glas-
trichter gestülpt (Fig. 15), welcher durch einen seitlichen Ansatz mit einer Eiweiss
nicht fällenden, antiseptischen Flüssigkeit gefüllt wird. Sobald das soweit geschehen,
dass die Flüssigkeit aus der mit einem Abflussrohr versehenen oberen centralen
Oeffnung des Trichters abläuft, wird der zuführende seitliche Schlauch geknickt
Fig. 15.
und mit einem Quetschhahn geschlossen. Letzteres geschieht, während noch der
Schlauch mit antiseptischer Flüssigkeit gefüllt ist. Der Trichter wird wie ein
Öchröpfkopf durch Luftdruck auf der Haut festgehalten, während der als Heber
wirkende Abführschlauch die Oedemflüssigkeit beständig aus dem Trichter in ein
Gef&ss ableitet.
Literatur: ') Giuseppe Pacinotti, Ueber die durch Ableitungsmaterial bei
den aseptischen Wunden verursachten Reactionserscheinungen. Rev. venet. di sc. med. 1889, 9 ;
Deutsche med. Ztg. 1890. 34. — *) Landerer, Ueber trockenes Operiren. Archiv für klin.
Chir. 1889, 1. — Schmidt (Stettin), Wandlungen im Werth und in der Art der Wnnd-
drainage. Berliner Klinik. 1889, 11. — Emerich Reczey (Budapest), Wundheilung ohne
Drainage. Pester med. -chir. Presse. 18^0. 13. — Braatz, Die Bedeutung der Anaerobiose
für die Wundheilung etc. Deutsche med. Wochenschr. 1890, 46. — Edgar Kur« (Florenz),
DRAINAGE. — DYSLEXIE.
219
Ueber trockene aseptische Operations- nnd Verband methoden. Deutsche med. Wochenschr.
1890, 47. — Landerer, Trockenes Wundverfahren. Wiener Klinik. 1890, H. 2. — Berg-
mann, Ueber trockene Wundbehandlung. St. Petersb. med. Wochenschr. 1889, Nr. 52. —
*)Fraipont (Liege), Annales de Ja societe de Liege. Illustr. Monatsschrift für ärztl. Poly-
technik. 1887, pag. 106. — 4) Pel (Amsterdam), Bemerkungen über die Behandlung des Pleura-
empyems. Zeitschr. für klin. Med. XVII. — 6) Oscar Frantzel, Ueber die Behandlung
eitriger pleuritischer Exsudate. Charite-Annalen. XV. Jahrg. — *) Verhandlungen des Oongr.
für innere Med. Wien 1690. — *) Med. Record. 5. Jan. 1885 ; Illustr. Monat sschr. 1887, pag. 29.
— 8) Heuston (Dublin), Brit. med. Journ. 24. Dec. 1887. — 9) Penny (Bristol), Lancet.
19. März 1887. — 10) Michael, Congr. für innere Med. Wiesbaden 1888.
Wolzendorff.
Drumin, s. Au genheilmittel, pag. 67.
DllbOiSin (s. Reai-Encyclopädie, II. Aufl., Bd. V, pag, 449). Nachdem
die Identität des Duboisins mit dem Hyoseyamin (C17 H23 N03) — Hyos-
cyaminum crystallisatum — festgestellt ist, wäre es zweckmässig, den einen
oder den anderen Namen des Präparates ausschliesslich anzuwenden, nm Wieder-
holungen zn vermeiden. In neuerer Zeit empfiehlt Ostermayer subcutane Injektionen
von 1 bis 1*5 Mgrm. Duboisin als rasch wirksam bei Erregungszuständen Geistes-
kranker. Dasselbe berichteten Gnaück nnd Mendel schon vor Jahren vom
Hyoseyamin. Als Nebenerscheinungen beobachtete Ostermayer in einigen Fällen
geringes Zittern der Extremitäten, kurz andauernden Schwindel. Nach längerem
Gebrauch tritt Abnahme der Wirkung ein, durch Vergrößerung der Dosis oder
nach mehrtägigem Aussetzen erhält man wieder die gewünschte Wirkung. Subcutan
in 1 pro mille Lösung pro dosi 1 — 3 Mgrm. ; pro die 4 — 6 Mgrm.
Literatur: N. Ostermayer, Ueber die beruhigende und hypnotische Wirkung
des Atropins nnd Duboisins. (Orvosi hetil. 1890 [nngar.].) Therap. Monatsh. 1890, pag, 561.
Loebisch.
Dyslexie, s. Aphasie, pag. 58.
Eiset! Und Eisenpräparate. Neuere Untersuchungen von R* Guttmeb lj
ergaben für die täglichen Eisenmengen im normalen Harn bei 5 Personen von
1*59 — 3*69 Mgrm. , also als mittlere Ausscheidung 2*59 Mgrm. Während einer
dreitägigen Eiseneinnahme fiel in einem Falle der Eisengehalt der Harnasche bis
auf Null ab, nach dem Aussetzen der Eisendarreich ang stieg er wieder an. Bei
Nervenkranken, denen das Eisen bei constanter Diät 1 Monat hindurch gegeben
wurde, folgte dem anfänglichen Zurückgehen der Eisen au Scheidung eine allmftiige
Zunahme, die aber die Grenzen der normalen Ausscheidung nicht überschritt.
Bunge3; folgert aus neuen Versuchen, dass der Eisengehalt des Gesammt-
organismus bei der Geburt am höchsten ist und mit dem Wachsthum des Thier
allmälig abnimmt. Da die Assimilation der organischen Eisenverbindungen eine
sehr schwierige ist, geht der mütterliche Organismus mit dem erworbenen Vor-
rathe äusserst sparsam um. Würde die Hauptmenge der Eisen Verbindungen durch
die Milchdrüse abgegeben, so könnte sie im Verdauungscanale des Säuglings
möglicherweise noch vor der Resorption durch Bacterien zerstört werden, gelangt
sie dagegen durch die Placenta in den Organismus des Kindes, so ist sie demselben
bleibend gesichert. Bünge ist geneigt anzunehmen, dass die Mutter den für die
spätere Frucht nöthigen Eisenvorrath in irgend welchen Organen schon längere
Zeit vor der ersten Conception aufspeichert. Aus dieser Annahme würde sich er-
klären, warum die Chlorose vorzugsweise beim weiblichen Geschlecht und gerade
/ur Zeit der Pubertätsentwicklung auftritt,
v. Ziemssen *j beobachtete ein rasches Steigen des Hämoglobin geh altes
des Blutes bei Cblorotischen, sowohl bei innerlicher als subcutaner Anwendung des
Eisens; er hält daran fest, dass das Eisen bei Chlorotisehen resorbirt wird und
den rothen Blutkörperchen zu Gute komme. Zur subcutanen Anwendung diente
folgendes Präparat : Ferr* pyrophoaphoric* cum Ammonio citric* 0*08 bis
01:25*0 Aqua destiU. täglich injicirt W. la Roche*) schildert die Wirkung
des Eisens in sehr kleinen Gaben (innerhalb 4 Wochen nicht ganz l,a Grm,
Ferrum sesquichlorat.) bei 4 gesunden jungen Männern. In allen Fällen begann
die Eisenwirkung mit Empfindlichkeit der Magengegend, zu welcher sich Uebel-
keiten mit Appetitstöruugeo gesellten, dann entwickelten sich ziemlich gleichzeitig
Co ngestionser scheinungen mit stürmischer Herzaction und ausgesprochener Brust-
beklemmung. Die Pulsfrequenz hob sich schon 2 Tage nach der ersten Aufnahme,
sie nahm in zwei Fällen constant zu, um ihr Maximum einige Tage nach der
letzten Eisenaufnahme zu erreichen. In den Nachmittagsstunden traten jähe Ex-
acerbationen auf, welche den Puts über 100 hinaufschnellen Hessen. Bei einer der
Versuchspersonen trat eine cougestive Conjunctivitis ohne äusseren Grund auf.
Schulz 6) betont neuerdings die nicht zu leugnende Aehnlichkeit der Eisenwirkang
mit der Wirkung des Arsens, ferner die rasche Hesorbirbarkeit und Wirksamkeit
kleiner Eisendosen . er weist darauf hin , dass die wirksamen Quellen, und zwar
Bchwalbacher Stahlbrunnen im Liter nur 8 Cgrm, Eisen bicarbonat und
die Franzensbader Stahlquelle noch etwas weniger, enthalten.
Dl et KRicu stellte eine ganze Reihe indifferenter Eisen Verbindungen, d, h.
solche Verbindungen des Eisens her, welche die bekannten charakteristischen
EISEN UND EISENPRAPABATE. — ELEKTRO DIAGNOSTIK. 221
Reaetionen der Eisensalze nicht oder nur in vermindertem Grade zeigen. Hier-
her gehören das Ferrum oxydat. saccharat. aolub. der Pharmacopöe, ferner das
Albnminat nnd Peptonat. (S. Hblfenberger's Annalen. 1887 , auch Therap.
Monatsh. 1888, pag. 352.) Ferrum succinicum im Verein mit Chloroform
zu 10 Tropfen 4 — 6mal täglich, das bernsteinsanre Eisen theelöffelweise nach
jeder Mahlzeit, wird von Bückler (Deutsch, med. Ztg. 1889, pag. 79) bei Gallen-
steinen empfohlen; der Gebrauch ist mehrere Monate fortzusetzen.
Literatur. *)R. Gottlieb, Beitrage zur Kenntniss der Eisenansscheidung durch
den Harn. Archiv f. ex per. Pathologie u. Pharmakologie. XXVI, pag. 139 — 146. — *)G. Bunge,
Ueber die Aufnahme des Eisens in den Organismus des Säuglings. Zeitschr. für physiol.
Chemie. XIII, pag. 399—406. — 8) v. Ziemssen, Wirkung des Eisens bei Chlorose. Mttnchn.
med. Wochenschr. 1887, Nr. 31. — 4) Wilh. la Roche, Experimentelle Beiträge zur Eisen-
Wirkung. Inauz.-Dissert. Greifswald 1887. — 6) H. Schulz, Zur Wirkong und Dosirung des
Eisens. Tb erap. Monatsh. 1888, pag. II. Loebisch.
Die am 1. Jannar 1891 in Kraft tretende Pharm. Germ. III. enthält in Be-
ziehung auf Eisenpräparate einige bemerkenswerthe Veränderungen. Weggefallen ist
Ferrum jodatum; an dessen Stelle aufgenommen Liquor ferr i jo da ti (in
100 Theilen 50 Theile Eisenjodür enthaltend), mit der Massgabe, dass bei Verord-
nung von Ferrum jodatum in Substanz die doppelte Menge des Liquor in einer
eisernen Schale rasch eingedampft werden soll. — Neu aufgenommen sind ferner
Ferrum citricum oxydatum und Liquor ferri albuminati (dieses
in 1000 Theilen 4 Theile Eisen enthaltend). — Verändert sind Pilulae ferri
carbonici; jede Pille enthält nunmehr 0*02 Grm. Eisen (früher 0*025).
Elektri8Ch68 LiCht, s. Beleuchtung, pag. 82.
Elektrodiagnostik und Elektrotherapie (vergi. Reai-Encyciopädie,
2. Aufl., Bd. VI, pag. 41 — 132, sowie ausserdem die Artikel Galvanooa ustik,
Galvanolyse, hydroelektrisches Bad und im Anhang den Artikel über
Gynäko- Elektrotherapie, Bd. XXI, pag. 632).
Elektromedicinische Apparate fürlnductions - und galva-
nischen Strom (vergl. Bd. VI, pag. 47 ff.). Unter der grossen Menge elektro-
medicinischer Novitäten können selbstverständlich nur besonders wichtige oder
augenblicklich noch im Vordergrunde des Interesses stehende Erscheinungen
hervorgehoben werden. Auf dem Gebiete der Elektricitätsquellen muss
als eine höchst bedeutsame Neuerung von noch gar nicht abzusehender Tragweite
die Benutzung der von Dynamomaschinen erzeugten Elektricität zu medici-
nischen Zwecken in's Auge gefaest werden, worüber zuerst Broese1) in den
Sitzungen der Berliner medicinischen Gesellschaft am 26. Mai und 4. Juni 1890
eingehende Mittheilungen gemacht hat und womit auch bei Gelegenheit der mit
dem internationalen medicinischen Congress verbundenen Ausstellung in Berlin
Versuche angestellt wurden. Nachdem schon früher Masset a), Cabpenter 8) u. A.
die Benutzung der für Haus und Beleuchtung dienenden Leitungen empfohlen,
wurden die ersten systematischen Versuche in der Berliner allgemeinen Poliklinik
angestellt, wobei die von den Berliner Elektricitätswerken (Centraistation Mark-
grafenstrasse 44) ausgehende Leitung benutzt wurde. Der daselbst erzeugte Strom
(Gleichstrom) verlaset diese Station mit einer Voltspannung von 115, welche jedoch
unterwegs durch die Widerstände in den Abzweigungen u. s. w. auf ungefähr
105 reducirt wird; für die Berechnung wird, grösserer Bequemlichkeit halber, eine
Spannung von 100 Volt zu Grunde gelegt. Diese Spannung, welche ungefähr
derjenigen einer grossen Batterie von 60 Leclanche-Elementen entspricht, muss
natürlich für die medicinischen Zwecke angemessen modificirt werden , wobei in
Betracht kommt, dass für elektrodiagnostische nnd speciell elektrotherapeutische
Zwecke in der Regel nicht mit Stromstärken von mehr als 20 Milliamperes gear-
beitet wird, während dagegen für galvanoly tische Zwecke (in der Gynäko-
therapie etc.) Stromstärken bis zu 300 Milliamperes zur Verfügung stehen müssen.
Die för therapeutische Zwecke erforderliche Abschwächung muss natürlich durch
222
ELEKTRODIAGNOSTIK.
Einschaltung geeigneter Widerst ands Vorrichtungen in der Leitung erzielt
werden, wie solche von der Firma W. A. Hirschmann in Berlin in ent-
sprechender Weise hergestellt wurden. Die Abbildung Fig. 16 zeigt bei -BZ einen
mit 6 Contacten versehenen Rheostat, durch welchen das in den Stromkreis hin-
einzulassende Maximum regulirt wird. Steht die Kurbel auf dem ersten Contact,
so ist der Strom unterbrochen. Beim zweiten Contact beträgt die grösste
erreichbare Stromintensität bei kurzem Schluss (ohne Einschaltung des Körpers)
20 Milliamperes, der eingeschaltete Widerstand also 5000 Ohm, denn nach dem
Ohm'schen Gesetz sind je 20 Milliamperes
100 (Volt)
( = fööö Amp0 =
Fig. 16.
5000 (Ohm) "
Beim dritten Contact ist das Strommaximum = 50 Milliamperes (Widerstand
2000 0hm); beim vierten 100 Milliamperes (Widerstand = 3000); beim fünften
200 Milliamperes (Widerstand = 500) ; beim sechsten 300 Milliamperes (Wider-
stand — 333). Bei Ausschliessung der Galvanolyse
sind nur die zwei, resp. drei ersten Contacte er-
forderlich. Die übrigen Einrichtungen des Apparates
entsprechen, natürlich mit Wegfall des Elementen-
zählers, den bei grösseren Stationärbatterien sonst
gebräuchlichen ; wir haben dort den zum Ein- und
Ausschleichen bestimmten Metallrheostat (22 II) mit
68 Contacten — für Elektrotherapie und Elektro-
lyse — in der Nebenschliessung und zu gleichem
Zwecke noch den weiterhin zu erwähnenden
Eulenburg 'sehen Flüssigkeitsrheostat, das Hirsoh-
MANN'sche absolute Verticalgalvanometer (G),
Stromwechsler, Stromwender und Inductionsapparat.
Hinsichtlich des letzteren sei bemerkt, dass, wie
die angestellten Versuche ergeben haben, auch
hierfür als Stromquelle die üblichen galvanischen
Elemente durch den Strom der Dynamomaschine
sehr wohl ersetzt werden können; es ist hierfür
bei der vorhandenen Voltspannung 100 eine Ein-
schaltung von 320 Ohm Widerstand erforderlich,
so dass die Stromstärke in der primären Kette
auf ungefähr 1jz Amp. herabgesetzt wird, während
bei erheblich geringerem Widerstand (grösserer
Stromstärke, 2 Amp.) ein starker Funkenübergang zwischen der Metallfeder und
der Schraubenspitze des NEEF'schen Hammers beobachtet wurde.
Der Apparat ist auch als transportabler zu gebrauchen, er kann in jedem
Zimmer, in welchem sich ein elektrischer Strom von gleicher (105 Volt) Spannung
befindet, mit den Leitungsdrähten ohne Weiteres verbunden werden. Bei den bisheri-
gen Versuchen erwies sich der Strom von ganz ausgezeichneter Constanz ; die physio-
logischen und chemischen Wirkungen sind völlig dieselben wie bei den von Batterien
gelieferten Strömen und ebenso natürlich auch die therapeutischen Wirkungen sowohl
in der eigentlichen Elektrotherapie, wie zur Ausführung elektrolytischer Operationen.
Der Strom der Dynamomaschine kann auch für gaivanocaustische
Zwecke benutzt werden, wobei alle die durch Un Vollkommenheit der Elemente
erzeugten Störungen in Wegfall kommen. Um bei 100 Voltspannung einen Strom
von 20 Amp. zu erhalten , muss ein Widerstand von 5 Ohm eingeschaltet werden.
Hierbei findet jedoch beim Oeffnen der Kette in Folge der hohen Spannung eine
ausserordentlich starke Funkenbildung statt. Um diesem Uebelstande abzuhelfen,
wird die einen Widerstand von 5 Ohm enthaltende Kette zuerst mit b1/^ Ohm
Widerstand versehen und geschlossen und dieser letzt eingeschaltete l/2 Ohm Wider-
stand erst in dem Augenblick ausgeschaltet, in welchem (durch Zusammendrücken
ELEKTRODIAGNOSTIK.
Ö23
des Elektrodenhebels) die galvanocaustische Kette eingeschaltet wird, so dass beim
Schliessen und Oeffnen der letzteren immer nur eine geringe Stromschwankung
stattfindet. Statt des Neusilberdrahtes, der sich zu leicht zum Glühen erhitzt,
mu8S ein verhältnissmassig dicker und langer Eisendraht gewählt werden. Beim
Oeffnen der Kette muss der Operateur natürlich, nachdem er die galvanocaustische
Kette ausgeschaltet hat, auch den zuvor geschlossenen Stromkreis wieder öffnen, in
welchem sonst ein Strom von 20 Amp. nutztos fortkreisen würde ; um ihn hieran zu
erinnern, ist eine mit dem Stromkreis von 5 x/2 Ohm Widerstand parallel geschaltete
Warnungslarape angebracht, die so lange glüht, bis das Oeffnen der Kette erfolgt ist.
Als überwiegende Vortheile der von Dynamomaschinen
gelieferten Elektricität vor der von Batterien erzeugten sind vor Allem
zu betrachten : Das Wegfallen aller Unbequemlichkeiten und Unannehmlichkeiten,
welche der Gebrauch von Elementen mit sich bringt; die grossartige Constanz des
Stromes; die Möglichkeit, Stromintensitäten zu erlangen, welche von Batterien
nie erreicht werden können; endlich die (unter günstigen Umständen) bedeutend
geringeren Kosten des Anlagecapitals und die fast völlig verschwindenden Kosten
des Consums. Letztere sind beinahe gleich Null ; für technische Zwecke berechnet sich
eine Milliampere-Stunde auf 0 005 Pfennige; die Ausgabe eines Elektrotherapeuten,
der 300 Tage im Jahr 20 Milliamperes eine ganze Stunde fortwährend verwendet,
beträgt demnach 30 Pfennige! An eine durch die Leitung bedingte Gefahr ist,
wie beiläufig hier bemerkt werden mag, bei der Spannung von 105 Volt, mit
welcher die Gleichstrommaschinen für die gewöhnliche Hausbeleuchtung arbeiten,
absolut nicht zu denken, während Wechselströme bisher für medicinische Zwecke
überhaupt nicht zur Verwendung gelangten. (Die sämmtlichen oben geschilderten
Vorrichtungen kommen in gleicher Weise auch in der Nervenpoliklinik des
Referenten derzeitig zur Benützung.)
Bezüglich der Inductionsapparate sind die Versuche bemerkens-
werth , welche in neuester Zeit gemacht wurden , um einmal eine bessere Aus-
nützung der inducirenden Stromquelle und dadurch häufigere Interraissionen als
bei dem gewöhnlichen Schlittenmagnetelektromotor zu ermöglichen , sodann die ge-
wöhnlichen Wechselströme dieser Apparate durch gleichgerichtete, galvano-
metrisch messbare Schliessungs und Oeffnungsströme zu ersetzen. Zu ersterem
Zwecke haben Pürthner , Adler und Lewandowski *) besondere Vorrichtungen
angegeben; Pürthner schloss den Strom alternirend durch zwei von einander
getrennte Primärrollen, die gemeinschaftlich auf eine einzige Secundärrolle wirkten,
während bei der ADLER'scben Vorrichtung umgekehrt eine einzige Primärrolle
auf mehrere von einander getrennte Secundärrollen einwirkt. Lewandowski Hess
statt des horizontal oscillirenden WAGNER'schen Hammers einen vertical aufge-
hängten Pendel-Interruptor anbringen, bei welchem die Regulirung der Intermissionen
durch einfache Verschiebung eines Laufgewichtes viel präciser gelingt und dessen
Hammer durch zwei Contactfedern mit den Eisenkernen zweier Priroärspiralen in
Verbindung tritt ; über jede dieser Primärspiralen können Secundärrollen geschoben
werden, die in beliebiger Stärke einzeln für sich oder auch combinirt ausgenützt
werden können. Diese Vorrichtung lässt sich auch hier zur Erzielung gleich-
gerichteter galvanometrisch messbarer Inductionsströme verwerthen. Dem letzteren
Zwecke speciell dient Edelmanns6) absolut geaichterlnductionsapparat
(Faradimeter). Der zur Speisung der primären Rolle dienende Strom wird
vermittelst eingeschalteter Widerstände stets auf einem bestimmten Werthe
(= 0*3 Ampere) erhalten, den man nach dem Niederdrücken eines Schlüssels galvano-
metrisch ablesen kann; Elemente, Widerstände und Galvanometer sind dabei auf
einem besonderen Wandconsol, vom Inductionsapparate getrennt, angebracht, damit
der Magnetismus der letzteren nicht störend auf das Galvanometer einwirken kann.
An der Scala des Schlittenapparates befindet sich statt der gewöhnlichen Milli-
metertheilung eine absolute Aichung in Volt ; diese giebt das Maximum der elektro-
motorischen Kraft des Inductionsstosses während des Verlaufes vom Oeffnungs
inductionsstrome an. (Pieis 260 Mark , ein billigeres transportables Faradimeter
soll demnächst construirt werden«)
Hinsichtlich der B at t e ri e n für den constanten Strom sind keine
wesentlichen Veränderungen hervorzuheben. Edelmann 6) hat in den schon «übten
Schriften seine absolut geaichten Galvanometer neuerdings wieder
zusammengestellt; sie erscheinen in den drei Hauptformen des Taschengalvano-
meters und des in sechs Modifikationen hergestellten Einheitsgalvauometers (vergl.
Real Encyclopädie, Bd. VI, pag. 54 ff.). Seit Anfang 1888 wurde von Edelmann
auf Veranlassung von d'Arman (Venedig) eine Wippe construirt, welche in ihrer
einen Stellung jedes Galvanometer als Voltmeter, in der anderen als Milliampere-
meter zu mesBen gestattet, ohne dass dureh diese verschiedene Anwendungsweise
und Umschaltung des Galvanometers Stromstärke- und Spann ungsveränderongen im
durchströmten Korpertbeilo zu Stande kommen.
Hirschmann hat seine bekannten grossen und kleinen Verticalgalvano-
meter für absolute Messungen mit astatischer Nadel neuerdings durch mechanische
Dämpfungen wirksamer aperiodisch gemacht ; ausserdem hat derselbe neuerdings
Fi*, 17, Fig. 18.
Hir«chmann*8cb#« Horizontal -Galvano- KoalraasoV Strom wange
meter mit schwimmendem Anker. (Fedtfr^alvanometer).
ein (von Eülenbürg &) beschriebenes) aperiodisches Horizontal-Galvan
m e t e r nach neuem Princip (mit schwimmendem Anker) hergestellt , d
in verschiedenen Grössen für therapeutische und diagnostische Zwecke, mit einem
Mes&umfansr von 1 10o — 500 Milliamperes angefertigt wird (vergl. Fig* 17)« Vor
den mit Fadensuspensron versehenen Instrumenten zeichnet sich dieses Galvano-
meter durch grössere Empfindlichkeit p Transportabilität und Unmöglichkeit jeder
Beschädigung aus: ebenso auch vor den Galvanometern mit Spitzeususponsion,
welche in Folge der unvermeidlichen Beschädigung der Suspensionsspitze leicht
ungenau werden, Auf einem anderen Wege noch wurde die Gewinnung eines für
praktische Zwecke brauchbaren absoluteu Messinetrumentes angestrebt durch die
KOHLKAüsCH'sch e Stromwaage (Federgalvanometer, vergl. Fig. 18
in der von Hibschmakx dem Feder - Galvanometer gegebenen Modificatitm für
absolute StromstÄrkemessuogen von t — 15 Milliamperes), welches auch fUr
transportable Batterien (Eulknrurg b) zur Verwendung gebracht wird. Die Be
nUtzung dieses Instrumentes zur Strommessung beruht auf der Tbatsache, dass
eine Magnetnadel , die nur theilweise in eine Drahtrolle eintaucht, von einem
ELEKTRODIAGNOSTIK.
225
in bestimmter Richtung durch die Rolle hindurchgehenden Strome mit einer
gewissen Kraft in die Rolle hineingezogen wird. LäS9t man also den Batterie-
strom durch die am Fussende des Instrumentes befindlichen Polklemmen in eine
im Postament verborgene Spirale eintreten, so wird die an einer freien Spiral-
feder hängende Stahlnadel alsbald in einer der Stromstärke entsprechenden
Ausdehnung in die Spirale hineingezogen und das an der Befestigungsstelle der
Nadel angebrachte dünne Zeigerplättchen aus Elfenbein stellt sich ohne störende
Eigenschwingungen augenblicklich auf den entsprechenden Theilstrioh der Scala.
Es ist jedoch nothwendig, dass der Strom stets in bestimmter und gleichbleibender
Richtung durch die Rolle hindurchgeht ; bei Verwendung eines Stromwenders ist
das Instrument daher am passendsten vor diesem (zwischen Stromwender und
Batterie) in den Stromkreis zu schalten. Anderenfalls wird es durch Stöpselung
ausgeschaltet. Der Eigenwiderstand beträgt 1000 Ohm. Als Vorzüge namentlich
den Verticalgalvanometern gegenüber, sind die grössere Constanz und bessere
Dämpfung des Instrumentes zu betrachten.
Bezüglich derRheostaten (Real-Encyclopädie, Bd. VI, pag. 56 ff.) sind
die allerdings schon früher gebräuchlichen, in den letzten Jahren aber mehr aus-
gebildeten und mannigfach modificirten Graph it rheostate (Reiniger, Gaertner9),
Leiter, Lewandowski10) zu erwähnen. Der nene Lewandowski - LEiTER'sche
Graphit- Quec k sil berrheostat hat auf der Unterseite einer kreisförmig
begrenzten, 8 Mm. dicken Glasplatte eine Sternfigur mit 30 langen Zacken 1 Mm.
tief eingeätzt und diese 2100 Mm. lange Strecke mit dichtgepresstem Graphit
belegt. Diese Glasplatte bildet den Deckel einer Hartgummibüchse, an deren
Boden eine Vertiefung mit Quecksilber derartig gefüllt ist , dass dessen Oberfläche
in Folge des hydrostatischen Druckes eben die Glasfläche berührt. Die Glasplatte
ist durch eine Kurbel drehbar, wobei der ganze Graphitweg successive nach und
nach mit dem Quecksilber in Contact tritt und so ein ganz allmäliges, sprung-
loses Ein- und Ausschrieben des Stromes gestattet. — Ein ähnliches Ziel verfolgt
der neue GAKRTNER-SCHULMEiSTER'scbe n) Caolinrheostat, wobei zwischen
den Widerstandsplättchen aus Kohle und schlecht leitendem Silicat metallene, in
Ausleitnngscontacte übergehende Verbindungsstücke geschaltet sind, über welche
ein Schlussschieber gleitet; hier wie bei den älteren Graphitrheostaten erfolgt
jedoch das Anwachsen der Widerstände
19* nicht gleichmässig , sondern sprungweise
von Contact zu Contact. Ein ganz allmäli-
ges An- und Abschwellen gestattet dagegen
den zugleich sehr bequem und compendiös
gestalteten Eulenburg ia) - Hirschmann-
schen Flüssigkeitsrheostat (vergl.
Fig. 19). Er besteht aus einem mit ge-
wöhnlichem Wasser, circa 20 Com. (nach
Entfernung der Schraube Ä) füllbaren Hart-
gummikästchen mit den Polklemmen +
und — und einer Kurbel (K)} die in der
Richtung des Pfeiles bis an den Zeiger (Z)
drehbar, den Widerstand bis zu seinem Ma-
ximum steigert, in umgekehrter Richtung
bis zum Minimum verringert. Die mit der
+ -Klemme leitend verbundene Innenwand
Bnl m^mÄ"*'- « aas Metall gefertigt, — endet in einen
verticalen Metallstab; beide Metallenden
ragen in die Flüssigkeit hinein. Bei Bewegung der Kurbel nun wird ein geschlitzter
Hartgummimantel um den Stab derartig herumgeführt, dass seine Oberfläche suocessiv
bis auf einen ganz engen Spalt verdeckt wird, wodurch der Widerstand maximal
wird, während in entgegengesetzter Stellung bei freier Communication des Metall-
Bncyclop. Jahrbücher. I.
ELEKTR0D1AGN0STIK.
Flg. so*
Galr. Batt Ind. App.
AM
&Ube& mit der Flüssigkeit das Minimum des Widerstandes stattfindet, Die auf
solche Weiße ein- und ausschaltbaren Widerstände schwanken zwischen ein»*
180 Ohm als Minimum nnd circa 50.000 Ohm als Maximum ; die Wirkung ist
beim An- oder Abschwellen sehr alltnälig und gleichmäßig, der Apparat natürlich
ebenso gut für kleine transportable, wie für grössere Stationärbatterien in der
Hauptleitung verwendbar, wobei am passendsten sä mm t liebe Batterie-Elemente
zum Zwecke gleich massiger Conservirung derselben eingeschaltet werden und die
Reguliruog der Stromstärke ohne Elementenzähler, nur mittelst des Rheostaten
bewirkt wird.
Von sonstigen Neben Vorrichtungen beim Batteriebetrieb sei noch die von
Lewandowski l-) beschriebene „einfachste Schaltvorrichtung für
galvanischen, inducirten undgalvanofaradischeuStro nr4 erwähnt
(Fig. 20), die eine Stöpselklemmvorrichtung mit
drei , durch zwei Zwischenräume (h< i) getrennten
Metallsaulehen (X, XI, XU) enthält Das mittlere
Säulchen XI nimmt den einen Pol der galvanischen
Batterie und den einen Pol des Iuductionsap parates
auf, während der andere Batteriepol zur Klemme A\
der andere Pol des Inductionsapparates zur Klemme
hingeführt wird ; K ist mit dem Säulchen X,
Kx mit XII verbunden. Durch Stöpselung bei t
liefern die Klemmen K und Kx galvanischen, durch
Stöpselung bei h inducirten Strom; stöpselt man
gar nicht, so wird der galvanofaradische Strom
abgeleitet.
Bezüglich der Elektroden (Real-Ency-
elopädie, Bd. VI, pag. 55 ff.) sind zunächst Vorrich-
tungen zur leichten und bequemen Fixa-
tion der Elektroden am Körper oder söge-
nannte Fixationselektroden zu erwähne«, t*£ffiX*5ffi.
wohin die Glockenelektrode Pänzoldt's, der Fiia- vaao>i*aiu*hai ström,
üonsgtlrtel von Loewknfeld und Anderl, die
GAERTNEß'sche Fixationselektrode, die Gurtscbach er' sehe Universalpatentschnalle
u. dergl. gehören. u) Auch Hirschmann hat ähnliche Vorrichtungen äuge*
fertigt; seine fix ir baren Elektroden (Fig, 21) bestehen aus einem federnden
Fig. 21.
Fixirbare Elektrode.
Metalistreifen, welcher die Zuleitungsklemme, das Gewinde zum Ansetzen beliebiger
Elektrodenplatten und die Vorrichtung zum Fixiren eines 2 Cm. breiten, hinreichend
langen Bandstreifens trägt; das Band wird nach Placirung der Elektrode durch
die mit dem Knopfe ä verbundene Klammer hindurchgezogen, welche letztere bei
genügend festem Anziehen das Band in der gegebenen Stellung selbstthätig fixirt
und dadurch die Elektrode andauernd mit gleichmäßigem Drucke festhalt; um
ELEKTRODI AGNOSTI K .
227
die Fbrirung zu lösen, braucht nur der Knopf a etwas heruntergedrückt und das
Band so gelockert zu werden.15)
Nachstehend ist ferner Hibschmann's an einem gewöhnlichen Heft anschraub-
bare Rheostatelektrode abgebildet (Fig. 22), deren breite Basis c bei a in
einen nach b spitz zulaufenden Fortsatz übergeht; letzterer ist bis a mit einer
dünnen Gummilage bedeckt, über welche ein Torfmoos- und Leinwandüberzug zu
liegen kommt, während dieser bei c der Metallplatte direct aufliegt. Um die
Fig. 22.
Rheostat-Elektrode (Hirsch mann).
Elektrode zum „Ausschleichen" des Stro-
mes zu verwerthen , wird mittelst ent-
sprechender Bewegung des Griffes die mit
c aufgelegte Elektrode langsam über a
hinaus wiegenförmig gedreht, bis endlich
nur noch die zungenförmige Spitze b den
Körpertheil unmittelbar berührt, wobei das
Fig. 25.
Kehlkopf-
elektro«
de.
Fig. 24.
Ohr-
elektrode.
Angenelektrode.
mit Wasser vollgesogene Torfmoospolster,
das auf b vom Metall isolirt ist, als ein
ganz allmälig anschwellender Widerstand
einwirkt. Umgekehrt verfährt man natür-
lich beim Einsohleichen des 8tromes. lö) — Von den übrigen Abbildungen geben
Figur 23 eine Darstellung meiner zur episcleralen Muskelreizung bestimmten , mit
Unterbrecher versehenen Angenelektrode10), Fig. 24 und Fig. 25 meiner
Fig. 26. modificirten Ohr- und Kehlkopfe lektrode17); die ebenfalls
imit Unterbrecher ( U) versehen und mit einer verschiebbaren Silber-
drahtschlinge (8) armirt sind, durch welche ein Wattebausch (W)
gezogen wird, Fig. 26 ist eine zur Ausübung der Elekt To-
mas sage dienende walzenförmige Elektrode (Mass irr o lle);
Fig. 27 eine zur elektrischen Hautreizung bestimmte Drahtbürste
mit Stiel; Fig. 28 eine zu gleichem Zwecke dienende grössere
Drahtbürste ohne Stiel, für beide Pole (alle diese In-
strumente werden von W. A. Hirschmann in Berlin angefertigt).
Grosse Bedeutung erlangen neuerdings die weichen, bieg-
samen Bleiplattenelektroden von Hirschmann, die in
den verschiedensten Grössen (7 x 20 Cm. und darüber) hergestellt,
M*,8,rpolle- unter Anderem von M. Meter zur Zertheilung von Geschwülsten
durch percutane Galvanisation l8), von anderen Seiten auch zur Elektrolyse vielfach
benutzt wurden.
i>28 ELEKTRODIAGNOSTIK,
i
Lebhafte Aufmerksamkeit erregte einige Zeit hindurch die von Adam
kiewicz 1 9) angegebene sogenannte Diffusionselektrode, an welche sieh
eine zum Theil sehr scharf geführte Polemik anknüpfte. Diese Elektrode (vergK
Fig. 29) sollte, als Anode angewendet, dazu dienen . anästhesirende Flüssigkeiten,
Fi«, 17,
P ■ Ht. In w
DnüUbürate mit Stiel.
Fig. *S.
z. B. Chloroform, mittelst der kataphorischen Strom Wirkung durch die Haut hin-
durch auf schmerzhafte Stellen, bei Neuralgien u. 8. w. zu übertragen. Das platten -
förmige metallische Ansatzstück besteht zu diesem Zwecke aus einem runden hohlen
Reservoir, in welches als Boden eine dünne Platte von sogenannter elektrischer
Kohle eingesetzt wird» Letztere soll vermöge ihrer Porosität die Diffusion unter-
halten und vermöge ihrer Leitungsfahigkeit den Strom zu leiten
im Stande sein. Das Reservoir fasst circa S Ccm. Flüssigkeit;
vor der Verwendung wird ein über einen Metallreif gespannter
Leinwandüberzug darüber gebreitet, um die schmerzhafte Ört-
liche Reizung bei unmittelbarer Örtlicher Application der Kohlen-
platte auf die Haut zu verhüten. Paschkis und Wagner20)
haben den selbstverständlichen Einwand erhoben, dass das Chloro-
form als solches den Strom fast gar nicht leitet, wogegen
Adamkikwicz in einer zweiten Mittheilung«1) meint, dass der
elektrische Strom die Wirkung des Chloroforms erhöhe , das*
selbe in innigeren Contact mit den Geweben bringe, in die Ge-
webe „hineinziehe". Weiterhin hat Hoffmann aa) durch Versuche DoppeidrahtMrgUn
erwiesen, dass der Kataphorese bei der Diffusionselektrode keine rnj^beide Pole.
Bedeutung zukommt, dieselbe überhaupt für diesen Zweck fehler-
haft construirt ist. Etwaige therapeutische Wirkungen seien auf die Anoden Wirkung
des Stromes und die Hautreizung zu beziehen ; übrigens sei die Methode wegen ihrer
Schmerzbaftigkeit nicht zu empfehlen. In gleicher absprechender Weise äussert »eh
neuerdings Fr. Petersen -ä), der dagegen selbst mit einer entsprechend verbesserten
Fig. 29.
Adamkiewicz, Dtffaaioxuefektrode.
Diffusionselektrode Versuche über elektrische Kataphorese als thera-
peutisches Verfahren mit 10% igen Coeainlösungen und alkoholischen
Aconitinlösungen erfolgreich anstellte.
lieber die Polarisation der Elektroden, welche in der Elektro*
therapie Anwendung finden, hat neuerdings Vibgilio Machado1*) Versuche
angestellt, welche das Vorhandensein einer doppelten Polarisation bei den benutzten
(mit Gemsleder überzogenen Kohlen-) Elektroden erwiesen. Jede solche Elektrode
zeigt zwei Pole und wirkt durch den sieh entwickelnden Gegenstrom wie ein
ELEKTBODIAGNOSTIK.
229
Accumulator; die als „virtuell" angenommenen Pole haben demzufolge auch objective
Bedeutung. Wattkville ") hat jedoch bereits früher gezeigt, dass die bei Strom-
wendung eintretende vorübergehende Vermehrung der Stromstärke wahrscheinlich
mit der Polarisation der Elektroden nichts zu thun hat.
Zur Elektrophysiologie und Elektropathologie sind zunächst Untersuchungen
bemerkenswerth , welche von verschiedenen Seiten über den Leitungswider-
stand des menschlichen Körpers und dessen Veränderungen
durch den Strom veröffentlicht wurden. Stintzing und Graeber28) fanden,
dass die bei Einleitung schwacher galvanischer Ströme eintretenden ungeheuren
Wider8tandssch wankungen die Stromstärke fast ganz unverändert lassen ; starke
Ströme (5 — 10 Milliamperes) hingegen setzen den Widerstand in kürzester Zeit bis
zu absoluter Constanz — „constantes Minimum" — herab, mit welcher eine
Constanz der Stromstärke parallel geht, woraus das schon längst durch die Praxis
wahrscheinlich gemachte Ergebniss folgt, dass die Widerstandsschwankungen im
menschlichen Körper die Sicherheit der gebräuchlichen galvanodiagnostischen
Untersuchungen nicht beeinträchtigen, vorausgesetzt, dass dieselben mit genügend
gedämpftem Galvanometer angestellt werden. Durch schwache und mittel-
starke faradische Ströme wird der Leitungswid erstand nicht
herabgesetzt, während sehr starke faradisohe Ströme eine allerdings geringe
Abnahme bewirken. Daraus folgt, dass bei Untersuchungen des motorischen und
sensiblen Systems mit Inductionsströmen durch Nichtbeachtung des Leitungswider-
standes kein Fehler begangen wird, vorausgesetzt, dass es sich um Untersuchung
eines vom galvanischen Strome noch unberührten Objectes handelt (auch von
L. Mann m) bestätigt). Was die Deutung der gefundenen Widerstandsveränderungen
betrifft, so führen die Verfasser, im Einklänge mit Münk und Gaertner, dieselben
wesentlich auf physikalische, kataphorische Wirkungen zurück; doch scheinen
daneben, wie schon Jolly hervorhob, auch physiologische (vasomotorische) Ein-
flüsse zur Geltung zu kommen. Dieselbe Meinung vertritt auch Martius >7), der
übrigens die Veränderungen des Leitungswiderstandes durch den constanten Strom
unter verschiedenartigen Versuchsbedingungen genauer prüfte. Er fand dabei ein
stetes Anwachsen der absoluten Grösse der bei gleicher Stromrichtung erreich-
baren Widerstandsverminderung mit der elektromotorischen Kraft, d.h. mit der
Zahl der angewendeten Elemente bis zu einer gewissen Grenze („absolutes
Widerstandsminimum"); über diese (etwa 1300 0hm betragende) Grenze
hinaus bringt Steigerung der elektromotorischen Kraft keine weitere Widerstands-
verminderung mehr hervor. Die Widerstandsverminderung unter der Anode ist, wie
schon Gaertner durch Leichenversuche gefunden hatte, erheblich grösser als
unter der Kathode. Durch Stromwendung kann nach Erzielung des absoluten
Minimums für eine Stromrichtung noch eine weitere, jedoch rasch vorübergehende
Widerstandsab8chwächung erzielt werden. Ist bei Verwendung einer kleinen
Elektrode als Kathode das Minimum für diese Stromrichtung erreicht, so
bringt Wendung zur Anode eine sehr schnell ablaufende Widerstands Verminderung
hervor, die alsbald einer beträchtlichen Vermehrung des Widerstandes Platz macht.
Zu ähnlichen Ergebnissen gelangten neuerdings Silva und Pescarolo. 8S)
Ueber die diagnostische Verwendung der galvanischen
Widerstandsprtifung bei B asedo w'scher Krankheit (Romain
Vigouroüx, Martius, Edlenburg, Kahler u. A.) vergl. Basedow's che Krank-
heit, pag. 75 und 76. — Ueber die Messung galvanischer Leitungs-
widerstände am Kopfe und deren semiotische Verwerthung sind
von Eulenburg28) zahlreiche, übrigens noch nicht abgeschlossene Versuche ver-
öffentlicht worden. Bei Melancholischen fand Seglas 3i) den Leitungswiderstand
in einigen Fällen gesteigert.
Ueber den elektrischen Widerstand des menschlichen Körpers
gegen Indnctionsströme hat Gaertner89) neuerdings genaue ta\%*taftL
230
ELEKTRODIAGNOSTIK.
gemacht. Darnach wechselt dieser Widerstand je nach der Spannung: der luduc-
tionsströme ; je grösser die Spannung, desto geringer der Widerstand* Bei gleichem
Rollenabstand ist daher auch der Widerstand des Oeffnungssehlages geringer als
der des Schliessungssehlages, worin die grosse physiologische Prävalenz der Oeff-
nungssehläge zum Theil ihre Erklärung findet.
Von grossem clektrodiagnostischcm Interesse sind die Untersuchungen
von Stintzijcg über elektrodiagnostische Grenzwertbe50), über die
Varietäten d er E n tart ungsre ae ti o n uud ihre diagnostisch-pro-
gnostische Bede u tun g, 3l) Die Untersuchungen der Grenzwertbe wurden mit
der „Eiuheitaeiektrode" von 3 Qcni. Querschnitt vorgenommen, womit die
Breite der faradischen und der galvanischen Erregbark eitssehwaukungen bei dem-
selben und bei verschiedenen Individuen ermittelt wurde spezifische Strom breiten**
der einzelnen Nerven und Muskeln). An der Hand der so eruirten Normal wertbe
lassen sich selbst geringe Steigerungen und Verminderungen der elektrischen
Erregbarkeit mit Sicherheit erkennen. Einfache Steigerung, meist nur für
galvanischen Strom, fand Stützing u. A. bei spinalen Erkrankungen,
und zwar im Beginne der acuten Myelitis , bei Tabes im späteren Stadium f als
erstes erkennbares Symptom bei progressiver Muskelatrophie ; Verminderung der
galvanischen bei erloschener faradischer Erregbarkeit häufig bei multipler Neuritis;
erloschene galvanische bei herabgesetzter faradischer in einem Falle von rheu-
matischer Faciallährnuug.
Als Formen und Abarten der Entartungsreaction unterscheidet Stintzing:
L Complete« typische Entartungsreaction mit totaler Cnerrcgbarkeit der Nerven
(Abart 1 : Nerv unerregbar bei träger faradischer und galvanischer Muskel erreg-
barkeit; Abart 2 : Nerv unerregbar bei trager galvanischer, aber prompter fara-
discher Muskelerregbarkeit). IL Entartungsreaction mit partieller (faradischer)
Erregbarkeit vom Nerven aus* HL Entartungsreaction mit faradischer Zuckungs-
trägheit vom Nerven aus (Abart 1: träge, Abart 2: prompte galvanische Zuckung
vom Nerven aus ; Abart 3 : träge faradische und prompte galvanische Zuckung
aowohl bei directer, wie bei indireeter Reizung). IV. Entartungsreaction mit prompter
Zuckung vom Nerven aus (gewöhnliche partielle Entartungsreaction ; Abart 1 :
herabgesetzte , aber prompte Reaction der Nerven für beide Stromarten mit com-
pleter Entartungsreaction im Muskel ; Abart 2 : indirect normale Erregbarkeit, trage
farado- und galvanomusculäre Zuckung ; Abart 3 : herabgesetzte , aber prompte
Reaction der Nerven auf beide Stromarten und des Muskels auf den faradischen
Strom, bei galvanomuaculärer Zuckungsträgheit). Da, als seltener Ausnahmsfall (III),
auch träge faradische bei prompter galvanischer Zuckung vorkommen kann, so ist
als ausnahmslos zutreffende Th eilerscheinung der Entartungs-
reaction nur die Zuck u ngsträghei t für den oonstanten oder
für den I n d uet i on s s tro m zu betrachten.
Uebrigens hat die diagnostische Bedeutung der „Entartungsreaction" in
neuester Zeit eine bemerkenswerte Abschwächung erfahren, indem sowohl Fälle
von primär myopathischer Erkrankung, wie auch Fälle von rein cerebraler Herd-
erkrankung mit den mehr oder weniger ausgesprochenen Befunden der Entartung»
reaction (und mit gleichzeitiger Muskelatrophie) bekannt wurden. Fälle letzterer
Art hat neuerdings besonders Eisenlohr »*) mitgetheilt, in denen die Section eine
absolute Integrität der vorderen grauen Substanz, der Wurzeln und peripherischen
Organe nachwies. Ihre Erklärung ist sehr schwierig, wenn man nicht (mit Chabcot
und BabinskO eine lediglich ..d y n amis cb eM Läsion der vorderen Ganglienzellen
annehmen will. Wahrscheinlich handelt es sich um von gewissen Hirnprovinzen
ausgehende trophische Einflüsse, die sich in einer eigentümlichen Veränderung
der Muskelcoutractilität geltend machen können, ohne eigentliche „Entartung1*.
Herabsetzung der elektrischen Erregbarkeit hat schon früher Wernigkb**) als
directes Herdsymptom bei cerebraler Hemiplegie und Hemianästhesie auf der
gelähmten Seite beobachtet
ELEKTRODIAGNOSTIK.
231
Zar ElektrophysiologieundElektropathologie des Gehör-
nerven (Real-Encyclopädie, Bd. VI, pag. 83 — 87) sind die neueren Untersuchungen
von Gradenigo 87) erwähnenswerth , welcher auch die Reactionsveränderung des
funotionell normalen N. acusticus zur Diagnose intracranieller Erkrankungen
verwerthen will; besonders galvanische Hyperästhesie des Acusticus bei intra-
craniellen Erkrankungen mit Stauungspapille, chronischer Meningitis mit Hydro-
cephalus. Lümbroso und Coen88) gelangten dem gegenüber bei Prüfungen der
galvanischen Erregbarkeit des Acusticus in zahlreichen Fällen von Gehirnkrank-
heiten und allgemeinen Nervenkrankheiten zu einem wesentlich negativen Ergebniss.
Für die allgemeine Auffassung und das Verständniss elektrotherapeutischer
Wirkungen — eine Frage, mit welcher sich in den letzten Jahren Lewandowski 89),
E ULENBURG 40) u. A. beschäftigten — sind die interessanten kritischen Betrach-
tungen von Moebius 41) hervorzuheben, wonach die Heilerfolge der Elektrotherapie nur
zum geringsten Theile von physiologisch-physikalischen Wirkungen herrühren, zum bei
weitem grösseren Theile psychisch vermittelt, als eine Art von Suggestions-
wirkung aufzufassen seien. Moebius weist insbesondere darauf hin, dass die
Elektrotherapie vielfach bei denselben Krankheiten zur Anwendung komme und
Heilerfolge erziele, wie die hypnotische Suggestion, dass die bekannten physio-
logischen Wirkungen der Elektricität auf Nerven und Muskeln für ihre praktische
Anwendung keine Bedeutung besitzen und die elektrotherapeutischen Heilwirkungen
überhaupt rein empirischer Natur sind; dass verschiedene Aerzte mit den ver-
schiedensten Methoden oft dieselben Erfolge erreichen und eine grosse Zahl von
Nervenkrankheiten ohne elektrische Behandlung ebenso wie mit derselben ver-
läuft u. s. w. Fribdlaender 42) ist diesen Anschauungen entgegengetreten, ohne
sie jedoch in den Hauptpunkten zu entkräften. Kürzlich hat Moebius ' 8) seinen
Standpunkt noch schärfer und präciser formulirt in einer Reihe von Thesen ;
er sagt, es sei durch nichts bewiesen, dass die Elektricität bei organischen
Lähmungen heilbar wirke ; zweifellos helfe sie nur gegen manche Schmerzen,
Parästhesien, motorische Reizerscheinungen, gegen manche functionelle Störungen,
welche auch von der Suggestion beeinflusst werden. Es sei daher möglich, dass
die Elektricität durch Suggestion wirke. Für diese Annahme sprechen ver-
schiedene Gründe, besonders die Unregelmässigkeit im Eintritt der elektrischen
Heilwirkungen und der Umstand, dass zur Krreichung eines Heilerfolges die
Methode gleichgiltig sei, insofern gleiche Erfolge durch die verschiedensten An-
wendungsweisen erzielt worden sind und mit derselben Methode der eine Arzt
glänzende, der andere gar keine Wirkungen erhielt. Es ist hier nicht der Ort,
in eine Discussion der einzelnen MoEBius'schen Sätze einzutreten. Referent kann
nur erklären, dass er selbst diesen Anschauungen im Allgemeinen recht nahe
steht, wenn auch im Einzelnen wohl eine erheblich grössere Zahl von physiologisch-
physikalischen Heilwirkungen zu constatiren wäre, als Moebius anscheinend
bisher zuzugeben geneigt ist. — Auch bei der Elektrotherapie ist eben, wie bei
so vielen Heilmitteln und Methoden, der Arzt massgebend und nicht das Mittel.
Manchem mag das ja eine Art von schmerzlicher Enttäuschung bereiten und ihn
aus seinem therapeutischen Sicherheitsgefühl unangenehm aufschrecken ; im Allge-
meinen jedoch haben wir Aerzte gar keine Ursache, mit einem Standpunkte unzu-
frieden zu sein, der den viel zu sehr vernachlässigten psychischen Factor dieser
wie jeder Therapie mehr in den Vordergrund rückt und von uns Allen etwas
weniger schein wissenschaftlichen Ballast, dagegen freiere und höhere Entwicklung
der wirkenden Persönlichkeit fordert.
Ueber hydroelektrische Bäder und über Influenzmaschinen
(Franklinisation, Franklinotherapie) vergl. die betreffenden Specialartikel.
Literatur: *) Broese, Berliner klin. Wochenschr. 1890, Nr. 41. — *)Massey,
Med. and Snrg. Reporte. 14. Mai 1887. — *) Carpenter, Med. Record. 31. März 1888. —
4) Lewandowski, Zeitschr. für Elektrotechnik. 1886, Heftl; Wiener med. Presse. 1888v
232
ELKKTBODIAGNOSTTK. — ENADBTERUTI3.
Nr. 9C; AUgem. Wieoer med. Zeitg. 1888, Kr. 45. — *) Edelmtin, Elektrotechnik ftr
Aerzte (alB Hannccript gedruckt). Hänchen 1890 und lUustr. Verzeichnis Nr. II der elektro-
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Wochenschr. 1890, Nr. 30. — ^Kohlrtnech, Sitxnngsber. der Wfirzbiuger phyaol.-med.
Oeeellaeh. 25. Juli 1885. — *) Enlenbnrg, Deutsche med. Wochenschr. 1886. Nr. 26; 1867,
Nr. 22 ; Therap. Monatah. Ang. 1887. — 9) Gaertner, Wiener med. Fresse. 1886, pag. 273. —
iV) Lewandowe ki, AUgem. Wiener med. Zeitg. 1890; Zeitschr. Ar Therapie. 1890, Nr. 7;
Wiener klin. Wochenschr. 1890, Nr. 11. — ") Gaertner, Sitxnng der k. k. G eselisch, der
Aerzte. 24. Jan. 1890. — ") Enlenbnrg, Berliner klin. Wochenschr. 1889, Nr. 16 —
") Lewandowski, Wiener med. Presse. 1887, Nr. 36. — M) Derselbe, Elektrodiagnostik
nnd Elektrotherapie. Wien und Leipzig 1887, Urban & Schwarzenberg; Wiener med. Presse.
1887, Nr. 49. — ") Enlenbnrg, Deutsche med. Wochenschr. 1888, Nr. 24. — ") Der-
selbe, Centralbl. für prakt. Angenheilk. Harz 1887. — ") Derselbe, Honataschr. für Ohren-
heilkunde etc. 1887, Nr. 5. — u) H. Hey er , Berliner klin. Wochenschr. 1890, Nr. 30. —
") Adamkiewicz, Nenrolog. Centralbl. 1886, Nr. 8. — *9 Paschkis nnd Wagner, Ibid.
Nr. 18. — fl) Adamkiewicz, Ibid. Nr. 21. — ") Hoffmann, Ibid. 1888, Nr. 21. —
**) Petersen,New-York med. Jonrn. 27. April 1889. Hed. r^cord, 31. Jan. 1891. — **) Machado,
Centralbl. für Nervenheilk. nnd Psychiatrie. Sept. 1890. — ") Watte ville, Nenrolog. Centralbl.
1886, Nr. 9. — M) S t i n t z i n g nnd G r a e b e r , Gesellsch. für Morphologie nnd Pbysiol. zn München.
1886,pag.43. — ,T)Martins, Archiv ftr Psych. 1886, XVIII, Heft 3. — *") Eni enbnrg,
Zeitschr. für klin. Med. XU, Heft 4. — «^Gaertner, Med. Jahrbücher. 1889, pag. 509. —
,ü) Stintzing, Deutsches Archiv für klin. Med. XXXIX, pag. 76. — il) Derselbe, Die
Varietäten der Entartungsreaction nnd ihre diagnostisch - prognostische Bedeutung. Leipzig
1886. — "} L. Mann, Deutsches Archiv für klin. Med. XLV, Heft 3 und 4, pag. 311. —
") Silva und Pescarolo, Rivista sperim. di fren. e di med. legale. 1889, XV, Heft 2
und 3. — *4) Seglas, Annal. med. psychol. 1890, XII, pag. 280. — **) Eisenlohr, Neuro-
logisches Centralbl. 1890, Nr. 1. — **) W er nicke , Breslauer ärztl. Zeitschr. 1887, Nr. 17;
Fortschr. der Med. 1887, Nr. 18. — r) Gradenigo, Archiv für Ohrenheilk. 1889, XXVII,
Heft 2 nnd 3, pag. 105; XXVIII, Heft 4, pag. 241. — M) Lumbroso nnd Coen il Segno.
März 1890, Nr. 13. Gradenigo, Bolletino delle malattie delV orecchio etc. 1890, Nr. 4.
Lumbroso, Sulla eccitabilitä elettrica del nervo acustico e sul valore diagnostico di questa
nelle malattie cerebrali e del sistema nervoso in generale. Livorno 1890. — a9) Le Wan-
do wski, Entwicklung, Fortschritt und dermaliger Stand der Elektrodiagnostik nnd Elektro-
therapie. Wien 1888. — 40) Eulenburg, Berliner klin. Wochenschr. 1886, Nr. 12 n. 13. —
41) Moebius, Schmidfs Jahrb. 1&37, CCXHI; 1889. CCXXI, pag. 81. — 4>) Friedländer,
Nenrolog. Centralbl. 1889, Nr. 12, pag. 349. — ") Moebius, Schmidfs Jahrbücher. 1890,
CCXXIX,pag.81. Eulenburg;.
Elektr0ly86 bei venerischen Papillomen, 8. Condylome, pag. 151.
Empyem, 8. Brustfellentzündung, pag. 121 ff.
Endarteriitis, Art erioscleroseund Aneurysma. Die eingehende
Darstellung der pathologischen Anatomie der Krankheiten der Arterien von Mahchaxd
(vergl. Real-Encyclopädie, 2. Aufl. , Bd. I, pag. 687) bedarf nur in einigen Richtungen
einer durch neuere Arbeiten gebotenen Ergänzung. Dieselbe bezieht sich auf die
acute Entzündung der Arterien (1. c, pag. 702), die chronische End-
arteriitis (A rt eriosclerosis), drittens auf das Aneurysma (I.e., pag.719).
Nauwerck und Eyrich l) beziehen sich im Eingang ihrer Mittheilung
über „verrucöse Aortitis" auf den Ausspruch Marghand's, nach welchem
die Existenz einer selbständig auftretenden acuten Entzündung der Arterien, etwa
nach Art einer acuten Endocarditis, bezweifelt wird. Die bisher in der Literatur
niedergelegten Beobachtungen von Bizot , O. Weber , Orth , Heydloff u. A.
ergaben allerdings keine zwingenden (durch histologische Untersuchung begründeten)
Beweise gegen diese Auflassung, doch sind Nauwerk und Eyrich in der Lage,
zwei Fälle anzuführen, bei denen auch die histologische Beobachtung dafür sprach,
dass es in der Aorta einen Process giebt, der in seinem Aufbau mit der verru-
cösen Endocarditis übereinstimmt und mit solcher Selbständigkeit auftritt, dass
die Bezeichnung desselben als acute Aortitis verrucosa berechtigt ist.
Der erste Fall betraf eine 41jährige Frau, bei der wegen einer Unter -
leib8geschwulst die Laparotomie gemacht wurde; von der Vollendung der Operation
wurde Abstand genommen wegen Eintritt hoher Pulsfrequenz und unregelmässiger
lierzthätigkeit; nach 4 Tagen trat der Tod ein. Die Obduction ergab den seltenen
END ARTERIITIS.
233
Fall einer Ovarial Schwangerschaft mit maoerirter Fracht. Unter Uebergehung
des sonstigen Befundes ist hier anzufahren, dass mässige excentrische Hypertrophie
des linken Herzventrikels bestand, während die Aortenklappen etwas rigid, die
Mitralklappen an den Rändern verdickt und gewulstet waren. Im aufsteigenden
Theil des Aortenbogens fanden sich ziemlich umfangreiche
sclerotische Verdickungen der Intima, ihre Peripherie war
fast durchwegs besetzt von Gruppen zarter, durchscheinender
Efflorescenzen von fleischwarzenartigem Aussehen. Im abstei-
genden Theil der Aorta thoracica nehmen die sclerotischen Platten ab, die
letzten Efflorescenzen liegen etwa handbreit oberhalb des Zwerchfells, die Bauch-
aorta war frei davon, ebenso die übrigen grossen Arterien. Im Fundus des
Magens fand sich ein rundlicher Substanzverlust mit injicirten Rändern.
Der zweite Fall betraf eine 40jährige Frau, die an den Folgen von
Perforation des Wurmfortsatzes, die zu retroperitonealem Eothabseess
und rechtsseitiger jauchiger Pleuritis führte, gestorben war. Auch hier fanden
sich an den Aortenklappen nur leichte Verdickungen, Mitralis normal. In der
aufsteigenden Aorta wurden knotige und warzige Excrescenzen auf der Intima
nachgewiesen, die sich genau wie bei der ersten Beobachtung verhielten.
Die mikroskopische Untersuchung ergab, dass die warzigen Efflorescenzen
in beiden Fällen aus weissen und rothen Blutkörperchen, Blutplättchen, Fibrin
bestanden, also als Thromben aufzufassen waren, die der verdickten zellreichen
Intima auflagen und von ihr aus von jungen Bindegewebszellen und Gefässen
durchsetzt wurden; Neubildungszeichen, die der sogenannten Organisation
derThromben entsprechen. Nachdem durch die Untersuchungen von Ziegler *)
und Tafel 8), sowie von Weichselbäum *) nachgewiesen ist, dass auch die verru-
cösen Vegetationen an den Herzklappen aus Thrombosen hervorgehen, in welche
vom Endoeardium aus neugebildetes Bindegewebe hineinwächst, ist die Analogie
der von Nauwerck und Etrich in der Aorta nachgewiesenen Veränderung mit
der Endocarditis verrucosa ausgemacht. Die ausgedehnten entzündlichen Ver-
änderungen in den sämmtlichen Häuten der erkrankten Aorta legen unzweifelhaft
die Annahme eines entzündlichen Ursprunges der Erkrankung sehr nahe;
indessen spricht Manches in den Befanden der genannten Autoren (namentlich die
derben bindegewebigen Lagen in der Gefösswand) für die Annahme, dass die
acnte Entzündung in einer bereits chronisch erkrankten, arterio-
solerotisch veränderten Aorta aufgetreten; auch die hervorgehobene
Thatsaehe, dass die Intimaverdickungen verdünnten Stellen der Media entsprechen,
macht es im Sinne der unten zu besprechenden Untersuchungen von Thoma
wahrscheinlich, dass es sich bei der Entwicklung der betreffenden Platten zunächst
um herdförmige Arteriosclerose gewöhnlicher Art gehandelt habe. Der Eintritt
der Entzündung mit der zelligen Infiltration der Aortenwand mag dann den
Anläse zur Bildung der verrucösen Efflorescenzen auf den arteriosclerotisch ver-
änderten Intimastellen gegeben haben. Das Hinzutreten acuter Entzündung zu
Arteriosclerose höheren Grades gehört keineswegs zu den Seltenheiten; das Be-
sondere der vorliegenden Beobachtungen würde darin liegen, dass sich hier an
eine nur in mässigem Grade ausgebildete Arteriosclerose die acute Entzündung
der Aortenwand anschloss. Es ist bemerkenswerth , dass in den beiden Fällen
von Nauwerck und Etrich die Annahme einer septischen Infection als
Ursache der acaten Aorteuentzündung nahe liegt; doch heben die Autoren aus-
drücklich hervor, dass sie weder in den verrucösen Auflagerungen, noch in den
entzündeten Gefässhäuten Spaltpilze nachweisen konnten.
Bei seinen Untersuchungen über Arteriosclerose (chronische End-
arteriitis), die in einer grösseren Reihe von Aufsätzen niedergelegt sind, geht
Thoma*) von dem bereits in der oben citirten Arbeit Marchand's (1. c, pag. 691)
angeführten Satze aus, dass die Dicke der Intima von den mechanischen Bedin-
gangen der Cireulation abhängig ist. Dieses Verhältnis* wird rmHj nfther bezeichnet
durch die Angabe, das» nach Verminderung des in eine Arterie gelangenden
Blutquantums eine dem letzteren entsprechende Verengerung des Lumens erfolgt,
welche zwar zum Theil durch Contraction der Media, namentlich aber auch durch
Bindegewebsneubüdung in der Intima herbeigeführt wird. Für diese compen-
sato rische Arter iosclerose ist von TflOMA selbst das Verhalten der in
Ohl iteration begriffenen fötalen arteriellen Bluteanäle (Ductus Botalli, Nabelarterien)
und die gleichwerthige Wucherung in den Arterien von Ampntationsstümpfen
angeführt worden; dann hat H, Westphälbn ö) , ein Schüler Tuoma's, auf das-
selbe Princip zurückzuführende Beobachtungen, die sieh namentlich auf die Art.
uterina beziehen, veröffentlicht. Bei Kindern und jugendlichen Individuen ist
die Intima des genannten Gefässes nahezu frei von Bindegewebe, besteht aus
Endothel und elastisch muscu losem Gewebe ; bei jungen Personen und bei solchen,
die nicht geboren haben, findet sich eine schmale Bindegewebslage, während die-
selbe bei älteren und gravid gewesenen Personen eine stärkere Ausbildung zeigt,
Westphalen führt diese Befunde auf periodisch veränderte Blutlulluugszustflnde
in Folge der Menstruation und Schwangerschaft zurück, Aehnliche Verhältnisse
zeigt die Art. lienalis , auch für dieses Gefäss ist die Beziehung der Ver-
dickung zu periodisch wechselnden Schwankungen der Blut fülle bei der bekannten
Disposition der Milz zu hyperämisenen Anschwellungen von kürzerer oder längerer
Dauer sehr wahrscheinlich.
Während es sich bei der eben besprochenen Veränderung um eine
compensatorischeHyperpIasie handeln würde, d ie sieh an physiologische
Wachsthumsvorgänge auch insofern anschliesst, als hier regressive Veränderungen
in der verdickten Intima in der Regel ausbleiben, so wird die eigentliche Arterio-
sclerose , obwohl auch sie nach Thum a durch relatives Zuweitwerden der Gefäss-
lichtnng veranlasst wird, doch natürlich auf pathologische Ursachen zurückgeführt
und ferner treten bei den hierhergehörigen Processen regressive und noch wettere
pathologische Veränderungen in der gewucherten Intima in den Vordergrund in
dem Umfange, dass für die höheren Grade der Arteriosclerose der anatomische
Befund und die Folgen der Erkrankung wesentlich hiervon abhängt.
Die Methode, die von Thoma angewendet wurde, war im Gegensatz zu
dem bisher üblichen Verfahren bei der Untersuchung pathologisch veränderter
Arterien auf die Gewinnung von Ge fässdurchschnitten mit anver-
änderter Form und Weite des Lumens gerichtet» Die Arterien wurden
bei einem Drucke von 16 Cm. Hg mit erwärmtem Paraffin injicirt und nach
Erstarrung des letzteren iu paraftin gesättigtem Alkohol gehärtet, sodann wurde
mit Hilfe des Dioptrographen eine genaue Zeichnung der freipräparirten Gefoss-
absehnitte hergestellt; dann wurden die Arterien an verschiedenen Stellen senk-
recht zur Achse des Lumens durchsägt uud mit Hilfe der Camera lucida bei
4 — 10 Fächer Vergrößerung gezeichnet.
Wie schon aus den älteren Beschreibungen der Arterienveränderung
hervorgeht, kann eine diffuse und eine knotenförmige Arteriosklerose unter*
schieden werden ; beide werden häufig in verschiedenen Gefilssabschnitten derselben
Leiche, ja auch iu derselben Arterie nebeneinander gefunden.
Für die Arteriosclerosis d iffu s a nimmt TflOMA auf Grund seiner
mit der ebenerwähnten Methode ausgeführten Untersuchungen an, dass sie durch
eine Verminderung der Widerstandsfähigkeit (Abnahme der El a-
sticität) der mittleren Gefösshaut bedingt wird; die weniger wider-
standsfähige Tunica media erleidet durch deu Blutdruck eine allmälige Dehnung
und in dem erweiterten und gekrümmten Gefässrohr entsteht eine fibröse
Wucherung in der Intima, welche, wie an den aufgespannten Gefäasq u ersehn itten
deutlich erkennbar ist, zur Wiederherstellung des normalen elliptischen Lumens
führt. Daraus folgt aber eine Verminderung der elastischen Dehnbarkeit der
Gefäss wand, welche durch Erhöhung der Widerstände für den Blutstrom zur
ENDARTERIITIS.
235
Hypertrophie des linken Ventrikels führt. Diese Form der Arteriosclerose , bei
welcher die Ursache in einer, zumeist durch höheres Lebensalter begünstigten
Ernährungsstörung der Muscularis der Arterienwand zu suchen ist, bei welcher
demnach der AuBgang von vornherein in Veränderung der Arterienwand gegeben
ist, wird von Thoma als primäre diffuse Arteriosclerose bezeichnet; dagegen
ist eine secundäre diffuse Arteriosclerosis abhängig vom Einfluss von Circu-
lationsstörungen in einem Theile eines Gefassbezirkes auf andere Theile desselben ;
es handelt sich hierbei um Verlangsamung des Blutstromes in gewissen
Arterienbahnen (bedingt durch periphere Erhöhung der Widerstände), welche in
Folge verminderter Leistungsfähigkeit der Media nicht durch Contractionen der
letzteren ausgeglichen werden können, so dass zur Herstellung von Lumen und
Form des gedehnten Gefassrohres eine compensatorische Bindegewebswucherung
eintritt. Primäre und secundäre Arteriosclerose im Sinne von Thoma sind somit
an eine gemeinsame Bedingung gebunden, die Verminderung der mecha-
nischen Leistungsfähigkeit der Tunica media, sei es, dass diese
durch den Einfluss des höheren Lebensalters herbeigeführt wird, sei es, dass Er-
nährungsstörungen anderer Art, chronischer Alkoholismus, chronische Bleivergiftung,
Syphilis, chronische Nephritis, Gicht oder functionelle Ueberanstrengungen der
Arterien massgebend sind. Aus diesem Grunde combiniren sich beide Formen
sehr häufig als zwei in ätiologischer Hinsicht einheitliche Glieder der Arteriosclerose.
Die Art er %08 der 08X8 nodosa ist charakterisirt durch das Auf-
treten der bekannten beetartigen Verdickungen der Intima, die an der Innen-
fläche der Aorta und der grösseren und kleineren Arterienäste einen so häufigen
pathologischen Befund darstellen. Diese Verdickungen sind theils unabhängig von
den Verzweigungsstellen der arteriellen Bahn, theils haben sie eine constante
Beziehung zu den letzteren. Gerade bei diesen knotenförmigen Verdickungen
zeigte sich der Vortheil der von Thoma verwendeten Methode; während sie an
den entspannten Gefässen in das Gefasslumen vorspringen, seine Form in unregel-
mässiger Weise verunstaltend , zeigte sich an den Durchschnitten der gespannten
Arterien, dass die Verdickungen umschriebenen Ausbuchtungen
der Media entsprachen, so dass sie die von letzteren veranlasste Ver-
änderung der Gefässlichtung ausgleichen. Die umschriebenen Ausbuchtungen sind
nach Thoma's Auffassung ebenso wie die diffusen Erweiterungen bei der diffusen
Arteriosclerose abhängig von einer allmäligen Dehnung der Tunica media; auch
sie beruhen auf einer Verminderung der mechanischen Leistungsfähigkeit, sie ent-
sprechen den Stellen, wo diese Abnahme des Widerstandes besonders ausgesprochen
ist; es erklärt sich hieraus, dass die Arteriosclerosis nodosa vorzugsweise im
Gebiete diffuser primärer Arteriosclerose auftritt. Somit hat die umschriebene
Verdickung der Intima ebenfalls zunächst die Bedeutung eines compensatorischen
Vorganges. Da die Dehnung allmälig fortschreitet, so muss sich auch eine stärkere
Spannung der neugebildeten Bindegewebsmassen geltend machen, diese führt aber
zu regressiven Metamorphosen, namentlich zunächst in den tieferen Bindegewebs-
schichten, die letzteren verfallen der Verfettung, der hyalinen Entartung, der
Verkalkung und atheromatösen Degeneration ; hierbei findet zum Theil eine Volumen-
zunahme des zerfallenden Gewebes statt und dadurch kann eine Vorwölbung der
verdickten und degenerirten Stellen der Intima in das Gefasslumen eintreten,
die sich auch an dem unter physiologischem Druck gespannten Gefassrohr als
solche geltend macht. Auch die umschriebenen, arteriosclerotischen Ver-
dickungen an den Verzweigungsstellen lassen sich von demselben
Princip, das die Grundlage der von Thoma vertretenen Theorie der Arteriosclerosis
bildet, erklären. Die Verminderung der Widerstandsfähigkeit der Media führt zu
langsam sich entwickelnden Dehnungen und Krümmungen der arteriellen Bahn,
welche vor Allem die Verzweigungswinkel und Verzweigungsebenen der Arterien
ändern; dadurch entstehen an den Theilungsstellen ungleichmässige Spannungen,
Faltungen und Dehnungen der Gefasswände und umschriebene Verzerrungen der
Geftsslumina, welche in dem Maasse, wie sie Bich bilden, durch Bindete websneu*
bildung in der Intima ihren Ausgleich finden; die Verdickungen sind jedoch in
Folge der Schwächung der Media auf die Dauer nicht im Stande, ein Fort-
schreiten der Verkrümmung und Dehnung der Gefösswaud zu hindern, sie unter-
liegen, gleich der Media , einer Ueberdehnung, welche zu Degenerationsproeeasen
tiihrt u mi andererseits erneute Bindejrewebswucherung an der Innenfläche veran-
lasst; durch die mit gewissen Degenerationen verbundene Queltung können Circu*
lationsstörungen, namentlich auch durch Verengerung von Seitenzweigen an ihren
Abgangsatellen verursacht werden.
Wenn die von Thoma nachgewiesene empirische Thatsache, dass den
arterioselerotischon Verdickungen Ausbuchtungen der Media entsprechen, die von
erateren ausgefüllt werden, in dem Sinne formulirt wird, als wenn der Binde-
gewebsueubildung die Tendenz eines ausgleichenden, anf Herstellung der normalen
Form und des dem Blutstrom entsprechenden Umfanges gerichteten Vorganges
zukäme, so kann dieser Fassung der Vorwurf teleologischer Begründung gemacht
werden. Hiergegen ist geltend zu machen , dass damit die thatsäch liehen Vor-
aussetzungen solcher Deutung nicht erschüttert werden ; es käme nur darauf an,
das Mittelglied zwischen Gefftsserweiterung und Neubildung nachzuweisen. Thoma
deutet mehrfach an, dass wahrscheinlich eine Hyperämie in den Vasa vasorum
den Anstoss zur Wucherung des Bindegewebes geben möge, diese Hyperämie
kftnne aber auf einen durch die nervösen Endapparate in der Arterienwand
(Vater sehe Körperehen) vermittelten Reflexact zurückzuführen sein, wobei der
letztere durch die veränderte Spannung in der Arterien wand ausgelöst würde.
Eis ist unzweifelhaft, dass die von Tboma begründete Erklärung sehr
gut mit den bisherigen Erfahrungen über Vorkommen und Ursachen der Arterio-
sclerose übereinstimmt; ergab sieh doch immer die Wahrscheinlichkeit einer
passiven Gewebsfäsion von chronischer Entstehungsart als Ausgang aller weiteren
Veränderungen und zeigte doch die genauere Untersuchung der Arterien in den
ersten Stadien der Erkrankung, da?s im Anfang degenerative Veränderungen ein-
treten, an welche sieh die Gewebswucherung und die entzündlichen Processe (auch
die von mehreren Seiten besonders betonte Mesart er litis) erst als secundäre Ver-
änderungen anschliessend Die Schwierigkeit ergab sich vorwiegend bei dem
Versuch , die Form und Verkeilung der arteriosclerotischen Verdickungen zu
erklären und in dieser Richtung haben die Untersuchungen von TflOMA neue
Thatsachen beigebracht, welche den Entwieklnngagang der Arteriöse lerose ver-
ständlich machen. Dieser Fortschritt wird nicht in Frage gestellt, wenn sich auch
durch weiters Untersuchung ergeben sollte, dass der von Thoma behauptete
compensatorische Charakter nicht für jede arteriosclerotisehe Verdickung nach-
weisbar ist. Gewisse streifige (zuweilen gitterartig vertheilte) Verdickungen der
Intima, wie sie namentlich oft in der aufsteigenden Aorta, aber gelegentlich auch
in der Craralis und anderen Arterien gefunden werden , legen die Vermuthung
nahe, dass sie in ähnlicher Weise wie manche sehnigen streifigen Verdickungen
der Milzkapsel durch Runzelungen entstehen können, die nach vorhergehender
Iringer dauernder Dehnung der Intima im Gefolge nachträglicher Reduction des
Lumens (Contraction der Wand» Verminderung des Blutdruckes, des Blutvolomens)
verursacht werden.
Zweitens ist die Frage aufzuwerfen, ob nicht waudständige Plättchen-
thromben an Arterienstellen mit Epithelläsion (z. ß, in Folge von Verfettung) an
der ersten Bildung mancher im Verlauf der Arteriosclerose auftretenden Verdickungen
der Intima hei heil igt sind , indem dann nachträglich neugebildetea Bindegewebe
von der Intima aus in die Plättchenthromben hineinwuchert Auf das Hinzutreten
wahrer entzündlicher Veränderungen von acuter und chronischer Verlaufsart
(zellige Infiltration durch aus den Vasa vasorum stammende emigrirte Zellen,
Wucherungen von Granulationsgewebe um die als Fremdkörper wirkenden neerc
Äirfen und degenerirten Herde) hat Thoma selbst schon aufmerksam gemacht.
ENDARTERüTIS.
237
Bei der Natur der im Verlauf der Arteriosclerose sich einstellenden Gefasswand-
Veränderungen, die besonders auch zu Continuitätstrennungen an der inneren
Oberfläche der Arterien (durch fettige Usur, Aufbruch atheromatöser Herde) führen,
ist es klar, dass unter der Voraussetzung des Eindringens infectiöser Elemente
in die Blutbahn die Entwicklung von Entzündungen solchen Ursprunges in der
Geftssintima nahe gelegt ist. Damit möchten wir freilich keineswegs, wie das in
einer neueren Arbeit von Pjbrnice7) geschehen, dem infecüösen Ursprung der
chronischen Endarteriitis das Wort reden. Dem genannten Autor gelang es, in
arteriosclerotischen Herden Mikroorganismen (in der Regel feine Einzelcoccen) im
Gewebe aufzufinden; auch wurden in einer Anzahl von Fällen aus dem Detritus
erkrankter Gefassstellen pyogen wirksame Coccen durch Cultur gewonnen. Auch
für den Fall, dass solche Angaben weitere Bestätigung erhalten sollten, wäre es
wahrscheinlich, dass es sich um accidentell aus dem Blut in die erkrankten Gefass-
stellen eingedrungene Keime handeln möchte; für den Befund im Gewebe ist
jedoch noch zu berücksichtigen, dass bei dem Auftreten feinkörniger Detritus-
massen verschiedener Art in atheromatös veränderten Herden der sichere Nachweis
von Einzelcoccen seine Schwierigkeiten hat.
In Bezug auf das Aneurysma enthalten die Veröffentlichungen aus
der neueren Zeit nicht nur zahlreiche casuistische Mittheilungen ; auch die Aetiologie
und Pathogenese dieser Arterienkrankheit ist Gegenstand umfassender und ein-
gehender Untersuchungen gewesen. Im Folgenden ist hauptsächlich auf die letzteren
Rücksicht genommen; aus der Casuistik sind hier nur einzelne Beobachtungen
berührt, welche für Aetiologie und pathologische Anatomie des Aneurysma werth-
volle Ausblicke eröffnen.
In einer umfänglichen Arbeit erörtert Eppingee8) die Pathogenese
und Aetiologie der Aneurysmen; eine eingehende Würdigung dieser
Untersuchungen, die einen staatlichen Band füllen, ist an diesem Orte unmöglich,
hier können nur die Hauptsätze, zu denen Eppingkb über die Genese des
Aneurysma gelangte, berücksichtigt werden, namentlich insoweit sie neue und
zum Theil den bisherigen Anschauungen widersprechende Gesichtspunkte eröffnen.
Eppingee geht von einer Definition des Aneurysma aus, welche gegen-
über der bisher allgemein üblichen Anwendung dieser Bezeichnung, die sich an
die grundlegende Arbeit von 0. Weber anschliesst, eine erhebliche Einschränkung
bedeutet. Das wahre Aneurysma ist nach Eppinger eine streng umschriebene
Ausbuchtung einer Arterie, die sich durch deutliche Gren zen von dem
übrigen Arterienlumen abhebt, wobei die Wandungen der Ausbuchtung und
der Arterie selbst continuirlich ineinander übergehen, unbeschadet des Umstandes,
dass in der Wandung der Ausbuchtung eine oder die andere Schicht der normalen
Arterienwand fehlt. In der zuletzt berührten Richtung wird ausdrücklich hervor-
gehoben, dass in der Wand des Aneurysma immer die elastische Gewebs-
lage fehlt und am Uebergang der Arterienwand in den Sack abgesetzt oder
wie abgerissen erscheint. Es ergiebt sich als Folge dieser Auffassung, dass alle
diffusen und spindelförmigen Arterienerweiterungen, ja auch die sackigen Aus-
buchtungen, in deren Wand sämmtliche Schichten der normalen Arterienhttlle
nachweisbar sind, zwar als Ectasien, aber nicht als Aneurysmen gelten. Für die
Eintheilung der wahren aneurysmatischen Erweiterungen, denen also gemeinsam ist,
dass sie durch einen Defect in derElastica der Gefasswand entstehen, geht
Eppingee von den ätiologischen Factoren aus, die als Ursache der bezeichneten
Continuitätstrennung wirksam sein können.
Als congenitale Aneurysmen werden umschriebene Arterien-
erweiterungen bezeichnet, welche durch ihr multiples Auftreten an den kleinen
und mittlereu Arterien, durch ihr Vorkommen im jugendlichen , zum Theil selbst
im kindlichen Alter ausgezeichnet sind ; es werden hierher gerechnet Beobachtungen
von Kussmaul und Maier (als Periarteriitis nodosa beschrieben), ferner von
239
EKD ARTERIITIS.
P. Meter und von Rokitansky. Wie Eppixger durch genaue Untersuchung von
zwei Fällen mit multipler Aneurysmenbildung nachweisen konnte, beginnt die
Gef&sserweiternng mit Ausbuchtung an einer umschriebenen Stelle, die sehr häufig
einer Verzweigungsstelle entspricht, an welcher die Elastiea völlig fehlt (am Ein-
gangsrande der Aneurysma erscheint sie wie abgerissen), während die Muscularis
sehr verdünnt wird und zuerst an der Knppe des Sackes schwindet Als Ursache
dieser Aneurysmenbildung wird eine eongenitale defeete Bildung der
elastischen Lage angenommen; es würde sieh demnach nicht um wirkliche
eongenitale Aneurysmen handeln, sondern um eine angeblich angeborene Dispo-
sition zur Aneurysmenbildung, und es bliebe immerhin möglich, dass
die multiple Aneurysmenbildung in diesen offenbar sehr seltenen Fällen auf einer
in früher Lebenszeit erworbenen Defectbildung der Elastiea beruhen kann.
Als parasitäre Aneurysmen unterscheidet Eppinger drei Unter-
arten: die mycotisch-emb olischen, die durch Tuberkulose hervor-
gerufenen Arrosionsaneur y smen und drittens die durch Strongylus
armatus erzeugten sogenannten W urmaneury smen an den Gekrösarterien
der Pferde. Für die erste Unterart wird angenommen, dass durch einen mycotisch-
emboliscben Thrombus in Folge des Eindringens der Bacterien in die Gefasswand
eine Entzündung der letzteren entsteht, die zur Continuitätstrennung der Elastiea
und Zerstörung der Intima und zur Dehnung der Muscularis und Adventitia führe.
Diese Arterienveränderung schloss sich an mycotische acute Endocarditis im linken
Herzen an. Einen in diese Kategorie gehörigen Fall hat bereits Osler •) beschrieben.
Von Thoma ist gegenüber den Beobachtungen, die Eppingbr anfahrt, das Bedenken
erhoben, dass auch durch secundäre Ansiedlung von Spaltpilzen in einem bereits
vorhandenen Aneurysma ähnliche Befunde entstehen könnten. Die bekannten
Aneurysmen kleiner, in die Wand tuberkulöser Lungencavernen hinein-
gezogener Arterien hat Eppixger sehr eingehend untersucht. Die Voraussetzung
für ihre Bildung ist, dass in der betroffenen Arterie noch ein offenes, für einen
kräftigen Blutstrom ausreichendes Lumen erhalten ist ; durch das Eindringen von
Tuberkelbacillen kommt es zur chronischen Entzündung und zur Tuberkel-
entwicklung in der Arterienwand, zur hyalinen Entartung und Verkäsung ihrer
Gewebsschichten ; es folgt Arrosion der Adventitia, Elastiea externa und media
und endlich auch der Elastiea interna, worauf die hyalin degenerirte Intima
aneurysmatisch vorgebuchtet wird. Auch die Untersuchungen über die W urm-
aneury smen des Pferdes führten zu dem Ergebniss, dass von den in die
Arterienwand eingedrungenen Parasiten Zerreissung der Elastiea interna und
damit der Anstoss für die Bildung der Gefassausbuchtung bewirkt wird.
Die dritte, von Eppixger als Aneurysma simplex (tr aumatxcum)
benannte Gruppe umfasst die Pulsadererweiterungen, mit denen sich die Patho-
logen vorzugsweise beschäftigt haben und die dementsprechend den verschiedenen
Hypothesen für die Pathogenese des Aneurysma zum Ausgang gedient haben.
Eppinoer kommt auf Grund der eingehenden histologischen Untersuchung von 13
hierhergehörigen Aneurysmen zu dem Resultat, dass diesen Arterienveränderungen
eine mechanische oder traumatische Läsion der Innenwand-
schichten einer Arterie zu Grunde liegt ; allerdings muss diese Continuitäts-
trennung von besonderer Art sein, wenn sie zur Entwicklung eines wahren Aneurysma
führen soll. Werden durch den Riss in beträchtlicher Ausdehnung die Intima und
Media, vielleicht noch die inneren Schichten der Adventitia unterbrochen mit
klaffenden Rissrändern, dann kann sich das Blut zwischen den Arterienhäuten
einen Sack auswühlen, es entsteht ein sogenanntes Aneurysma dissecans
(intramurales Hämatom, Eppixger). Erfolgt der Einriss der Innenhäute
der Arterie so, dass an einer oder der anderen beschränkten Stelle das sämmt-
liche elastische Gewebe (eventuell auch die Media) unterbrochen wird, so wird (unbe-
schadet des Eintrittes von Heilungs Vorgängen in der Intima) die betroffene Stelle
aaegrebuchtet, es entsteht ein Aneurysma simplex. Die Ausbuchtung zeigt in ihrem
ENDARTERIITIS.
239
Eingange zunächst nach der Art des Risses spaltförmige oder unregelmässige Form,
nimmt aber mit fortschreitender Ausbuchtung immer mehr runde Form an. Am
Rande der Eingangsöffnung sind die Intima, Media und sämmtliche elastische
Gewebe abgesetzt, in die Wand der Ausweitung setzt sich die Adventitia fort,
während an ihrer Innenfläche die neugebildete Innenschicht angelagert ist, diese
setzt sich an die Endo thelsch ich t der abgesetzten Intima an. Die mechanische
Läsion, welche nach der eben wiedergegebenen Theorie die wesentliche Grundlage
der Aneury8mabildung ist, kann durch plötzliche Zerrung und abnorme Dehnung
der Arterie oder durch plötzlichen Anprall der Blutwelle oder durch directes
gewaltsames Einwirken irgend einer äusseren Gewalt auf umschriebene Bezirke
der Arterien hervorgerufen werden. Eppinger hebt hervor, dass bereits die
älteren Autoren (Voiotel, Broca u. A.) auf den ätiologischen Zusammenhang
zwischen traumatischen Einflüssen und Aneurysmen hingewiesen haben, eine Be-
ziehung, der bis auf den heutigen Tag von klinischer Seite Bedeutung zuerkannt
wird ; dabei ist es jedoch klar, dass der von Eppinger dem Aneurysma simplex
gegebene Zusatz (traumaticum) sich auf den Begriff des Traumas im weitesten
Sinne, das heisst auf diemeehanischeVeranlassung der Gefassruptur bezieht.
Es ist für die hier erörterte Frage von grossem Interesse, dass Thoma 10),
von den oben besprochenen Untersuchungen über Arteriosclerose ausgehend, eben-
falls zur eingehenden Bearbeitung der Pathogenese des Aneurysma gelangte, die
bereits zum Abschluss gekommen war, als die Arbeit Eppinger's veröffentlicht
wurde; es liegen demnach zwei von einander vollständig unabhängige gründliche
und unter Anwendung aller Hilfsmittel der modernen Histologie durchgeführte
Arbeiten vor, die, von verschiedenen Grundlagen ausgehend, über dasselbe Problem
zn Resultaten kommen, die auf den ersten Blick einander in sehr wesentlichen
Punkten zu widersprechen scheinen. Indessen erkennt man bald bei näherem Ein-
gehen auf die Gründe dieses Widerspruches, dass derselbe keineswegs aus der
Divergenz thateächlicher Befunde entstanden ist, sondern aus der Verschiedenheit
der theoretischen Auffassung, zum Theil auch daraus, dass die von beiden Autoren
als Grundlage ihrer Theorie verwertheten Gebiete in ihren Grenzen nicht zusammen-
fallen. Berücksichtigt man diese Verhältnisse, so muss man anerkennen, was
übrigens in der jüngsten Aeusserung von Thoma selbst hervorgehoben wird, dass
gerade in thatsächlichen Momenten eine erfreuliche Uebereinstimmung zwischen
beiden Autoren besteht.
Thoma wurde durch die vielfach vertretene Behauptung eines ursächlichen
Zusammenhanges zwischen Arteriosclerose und Aneurysma zu einem näheren Ein-
gehen auf die letztere Arterienerkrankung angeregt; auch stand die Thatsache,
dass hier trotz allmälig zunehmender Erweiterung des Gefässrohres doch eine die
letztere compensirende Bindegewebsneubildung der Intima ausbleibt, scheinbar
in Widerspruch mit der von Thoma vertretenen Genese der Arteriosclerose. In
Bezug auf diesen letzteren Punkt wird nun zunächst hervorgehoben, dass in
Aneurysmen kleiner Arterien (namentlich der Hirnarterien) zuweilen eine den Sack
ausfüllende Bindegewebswucherung vorkommt und zweitens, dass in jedem Aneurysma,
soweit dasselbe von der ursprünglichen Intima ausgekleidet wird, eine bindegewebige
Verdickung derselben nachweisbar sei. Dass diese Neubildung zur Ausgleichung
der Erweiterung nicht ausreicht, liege darin, dass sie im Verhältniss zur fort-
schreitenden Ausdehnung des Aneurysma in der Regel viel zu langsam erfolgt,
um eine Compensation zu bewirken. Nach dieser Auffassung ist das Aneurysma
die Folge einer primären Dehnung der Media ; da ferner zuzugeben ist, dass die
normale Gefasswand den Blutdruck unter allen Umständen zu tragen vermag, so
muss eine Herabsetzung der Widerstandsfähigkeit der Gefäss-
wand der Dehnung vorausgehen. Hiernach ergiebt sich eine nahe Verwandt-
schaft in den ursächlichen Bedingungen der Arteriosclerose und
des Aneurysma; freilich schliesst diese allgemeine Uebereinstimmung die Mög-
lichkeit nicht aus, dass bei der Aneurysmenbildung besondere ätiologische Momente
240
END A RTERI1TIS.
lüitwirkeQ, kann doch die Schwächung der Gefiisswand und insbesondere der
Media aus verschiedenartigen rrsaeben hervorgehen.
Diejenigen Gefässer Weiterungen, welche durch eine Dehnung der drei
Gefässhftute entstehen, werden von Thoma als Dilat ationsaneurysmon
bezeichnet; sie sind dadurch charakterisirt , daas ihre Wandung aus allen drei
Arterienhäuten besteht , von denen die Intima und Adventitia nach längerem Be~
stehen des Aneurysma bindegewebig verdickt erscheinen, während die Media ver-
dünnt, zuweilen an einzelnen Stellen geschwunden ist (Uebergang eines Aneurysma
verum in ein Aneurysma mixtum im Sinne der älteren Autoren).
Die hierhergehörigen Aneurysmen erreichen in der Regel keinen bedeu-
tenden Umfang, ihrer Form nach können diffuse, spindelförmige (A. f umforme
stmplex und multiplex), sack ige und zeltförmige (Äm scenoideum) unterschieden
werden« Da nach Thoma's Befunden in den ersten Stadien dieser Aneurysmen
in der mittleren und äusseren Arterienhaut alle entzündlichen Veränderungen
fehlen, während dagegen bei fortgeschrittener Erweiterung stets eine fibröse Mes-
arteriitis und Periarteriitis ausgesprochen ist, so kann die Entzündung* nirht im
Sinne der von Kokster vertretenen Auffassung die Ursache, sondern nur die Folge
der Aneurysmabildung sein. Nach Thoma's Erfahrung ist die&e Form der Gefass-
erweiterung stets von Arteriosclerose begleitet.
Dem Dilatationsaneurysma wird von Thoma das Rupturaneurysma
gegenübergestellt. Diese Form geht aus dem Dilatationsaneurysma hervor, indem
bei der fortschreitenden Dehnung der Wand (die entzündlichen Veränderungen in
der letzteren vermindern fortgesetzt ihre Widerstandsfähigkeit) eine Zerreiasung
der inneren Häute erfolgt, welche entweder zu tödtiieher Blutung oder zur Aus-
bildung eines rasch wachsenden Aneurysma führt. Werden in Folge der Ruptur
durch das zwischen die Gefasshäute vordringende Blut die letzteren auf weitere
Strecken von einander getrennt, so entsteht das dissecirende Aneurysma,
kommt es in Folge der Ruptur zu umschriebenen Ausbuchtungen, so bildet sich
das sackförmige Rupturanenrysma.
Nach TflOMA?s an 48 Fällen gewonnenen Erfahrungen gehören alle
grossen Aneurysmen der Aorta hierher und es erhält somit die bereits
von Scarpa und Larrey ausgesprochene Annahme, dasa als Ursache der Aneurysmen-
bildung eine Berstung derGefässhäute zu betrachten sei, Bestätigung» In
der Mehrzahl der Fälle handle es sich aber um Wandzerreissungen in Dilatations-
aneurysmen, darin tritt ein entschiedener Gegensatz gegen die besprochenen An-
schauungen von Eppikger hervor.
In allen von Thoma untersuchten Fällen war zum Mindesten eine Zer-
reißung der Intiroa und eines Theiles der Media nachweisbar, in der Regel waren
alle Schichten der letzteren durchtrennt, zuweilen auch die Adventitia, so dass
hier die Hülle vom Gewebe der Umgebung gebildet ward. Uebrigens stellt Thoma
die Möglichkeit, dass in einer Arterie von normaler Weite ein Rupturanenrysma
entstehen könne, nicht in Abrede t wenn ihm selbst auch ein solcher Fall nicht
vorkam. Der Zusammenhang zwischen Gefft Badilatation und Bildung des Ruptur-
aneurysma, wobei also die erstere das frühere Stadium, das letztere die weitere
Entwicklungsstufe der Veränderung bezeichnet, ergiebt sich aus der folgenden
Zusammenstellung :
Unter 113 Dilatationsaneurysrnen (20 diffuse, 31 einfach spindelförmige,
49 mehrfach spindelförmige, 3 sackförmige, 10 zeltförmige) fanden sich 47 Falle,
in denen mindestens ein Dilatationsaneurysma in ein sackförmiges Rupturaneurysma
übergegangen war; im Ganzen fanden sich hier 57 Gefasserweiterungen letzterer Art.
Für die Aetiologie kommt nach Thoma in erster Linie die Arterio-
sclerose in Betracht; sämmtliche Aneurysmen fanden sich an Gefasastämmen,
welche Veränderungen dieser Gattung zeigten. Bekanntlich ist ein ursächlicher
Yai an m mt- ii hang beider Arterienerkrankungen bereits vielfach behauptet; dagegen
wurde aber geltend gemacht, dass Aneurysmen relativ häufig im mittleren Lebens*
END ARTERIITIS.
241
alter gefunden werden, während die Arteriosclerose vorzugsweise im höheren Alter
vorkommt; ferner die Thatsache, dass die Arteriosclerose eine sehr häufige und
allgemein verbreitete Veränderung ist, während Aneurysmen im Vergleiche mit
dieser Häufigkeit ihres angeblichen Grundleidens selten vorkommen und auch
keineswegs überall gleich häufig sind. Diese Einwände beseitigt Thoma, indem
er von einer von der bisher für den Zusammenhang zwischen Arteriosclerose und
Aneurysma geltend gemachten, wesentlich verschiedenen Grundlage ausgeht.
Auch nach Thoma's Erfahrung fallt die grösste Häufigkeit des Aneurysma
auf das 40. Lebensjahr , während die Arteriosclerose höherer Grade , namentlich
die knotige Form, eine senile Krankheit ist. Dagegen sind, wie Thoma mit
Recht hervorhebt, die ersten Anfänge der diffusen Arteriosclerose
sehr häufig schon vor dem 30. Lebensjahr nachweisbar und gerade dieses Anfangs-
stadium gewährt die günstigsten Voraussetzungen für die Entwicklung von
Aneurysmen ; ist dagegen bereits ein höherer Grad von Arteriosclerose vorhanden,
so bietet die wenig nachgiebige Bindegewebsschicht einen gewissen Schutz gegen
plötzliche Dehnung durch vorübergehende Steigerung des Blut-
druckes (während sie andererseits der ununterbrochenen Wirkung des mittleren
Blutdruckes allmälig nachgiebt). Für die knotige Arteriosclerose kommt, wie oben
erörtert wurde, die wenig umfangreiche, aber langsam wachsende Dehnung als
Ursache in Betracht; betrifft dagegen die Dehnung grössere Theile der Gefasswand,
so vollzieht sich die Erweiterung rascher, die Möglichkeit einer ausgleichenden
Verdickung der Intima ist für die betroffene Stelle ausgeschlossen. Demnach
können knotige Arteriosclerose und Aneurysmabildung nebeneinander vorkommen,
sie sind gewissermassen coordinirte Effecte der gleichen Grundursache. Sowohl
für die Arteriosclerose als für das Aneurysma muss eine verminderte Elasticität
der Gefasswand den Ausgang bilden. Bei vorübergehender Steigerung des arteriellen
Druckes entsteht ein Dilatationsaneurysma durch Nachgeben der im Anfangsstadium
der Arteriosclerose geschwächten Tunica media. Ist dagegen bereits eine erheb-
liche Verdickung der Intima vorhanden, so vermag die Arterienwand für kurze
Zeit eine starke Spannung auszuhalten, aber bei einer Ueberlastung wird sie ein-
reissen. Da die Disposition zur Aneurysmenbildung hiernach vorzugsweise dem
ersten Stadium der durch Schwäche der Media (in Folge verschiedener Er-
nährungsstörungen) hervorgerufenen diffusen Arteriosclerose zukommt, naturgemäss
aber diesem Stadium ein relativ kurzer Lebensabschnitt (nach Thoma's Annahme
etwa ein Jahr) entspricht und für den Eintritt der Aneurysmenbildung die Mit-
wirkung vorübergehender Steigerungen des arteriellen Blutdruckes erforderlich
ist, so erklärt sich das im Vergleich mit der Häufigkeit der Arteriosclerose seltene
Vorkommen der Aneurysmen. Die seltenere Entwicklung von Aneurysmen beim
weiblichen Geschlecht würde daraus verständlich, dass hier im Allgemeinen
die Arteriosclerose später auftritt, während schwere körperliche Arbeit mit plötz-
licher äusserster Anstrengung der Körperkräfte von weiblichen Personen jenseits
des Climacteriams seltener gefordert wird.
Auf Grund der im Vorstehenden angedeuteten Voraussetzungen (wegen
der näheren Angaben ist auf die sehr eingehende Darstellung des Autors zu ver-
weisen) benennt Thoma die von ihm beschriebenen Aneurysmen als arterio-
selerotische Dilatation s- und Rupturaneurysmen. In praktischer
Richtung geht aus dieser Lehre die grosse Bedeutung des Anfangsstadiums der
Arteriosclerose hervor. Thoma weist darauf hin, wie häufig bei kräftigen Männern
des 35. — 45. Lebensjahres rheumatoide Beschwerden in Rücken, Kreuz und an
den Seitentheilen des Rumpfes angegeben würden, die bei lebhaften Körper-
bewegungen und nach Aufregungen aller Art an Stärke zunehmen. Bei dem Vor-
handensein zahlreicher sensibler Endapparate in der Arterienwand 1 1) (PACiNi'sche
Körperchen) liegt es nahe, diese Schmerzen auf die Anfangsstadien der Arterio-
sclerose (beginnende Dehnung der Gefässwand) zu beziehen. Hieraus würde sich
für die Prophylaxe gegenüber dem Aneurysma in dieser gewissermassen krtt&s&taib.
Encyclop. Jahrbücher. I.
Periode zwischen dem 35. und 45. Lebensjahr eine einfache Indication ergeben;
Vermeidung aller Anlässe, die zu plötzlichen BliHdrucksteigeruugeD führen.
Die Differenz zwischen Thoma und Effing er bezieht sich vorzugsweise
darauf, dass der Letztere , dessen Aneurysma simplex offenbar die
gleiche Gattung von Arterienerweiterungen urafasst, die Thoha als arterio-
selcrotische Rupturaueurysmen auflagst , der Arteriosclerose eine ätiologische Be-
deutung nicht zuerkennt* dagegen den mechanischen Einwirkungen auf die Arterien-
wund (stumpfe Gewalt, Anprall der Pulswelle, z. B, durch Gemtithsbewegungj die
Hauptrolle bei der Genese des Aneurysma einräumt. Da jedoeh beide Autoren
in dem wesentlichen Theil des anatomischen Befundes der grösseren Aneurysmen,
dem Nachweis der Ruptur der Gefttashäute (elastische Lage der Intima,
Media) Ubereinstimmen, so beruht die Verschiedenheit grösstenteils auf dem
Ausgehen von einer ungleichen Definition des Aneurysma. Das Dilautions-
aneurysma TöOMa's ist für Effing er eine einfache Arterieetasie. In Betreff der
directen Entstehung des Rupturaneurysma stimmen die Meinungen beider Autoren
überein, nur ist die mechanische Veranlassung für Eppinger der eigentliche
Anlass der Aneurysmabildung t für Thoma hat sie die Bedeutung einer Gelegen-
hei ts Ursache . die aus dem Dilatation saneurysma von missiger Ausdehnung ein
rasch wachsendes Rupturaneurysma macht. Vom Standpunkt der TflOMA'scheu
Untersuchungen muss der Darstellung EPPlNGEß's der Vorwurf gemacht werden, dass
sie die der Ruptur vorausgehenden und dieselbe vorbereitenden Gefäss wand Verände-
rungen nicht genügend berücksichtigt. In dieser Hinsicht halten wir die Aus-
führungen von THOHA für durchaus überzeuge mi und ihre Bedrohung wird
keineswegs dadurch aufgehoben« dass man die Dilatation sau eurysmen als einfache
Angiectasien von den Aneurysmen abtrennt, Wir möchten uns also für die
weitere, von Thoma vertretene Fassung des Aneurysmabegriffes aussprechen und
daher auch die umschriebenen Erweiterungen der kleinen Hirnarterien (miliare
Aneurysmen), deren Bedeutung für die Entstehung der spontanen Gehirnblutungen
anerkannt ist, zu den wahren Aneurysmen rechnen.
Wenn Thoma die Arteriosclerose als die Grundursache der meisten
Aneurysmen ansieht, so lässt sich einwenden, dass diese These, selbst bei
Anerkennung des von Thoma vertretenen ätiologischen Standpunktes, nicht voll-
kommen correct ist ; denn eigentlich ist doch das Aneurysma nicht die Folge der
Arteriosclerose in ihrem ersten Stadium, sondern die Nachgiebigkeit des Gcftas-
robres, welche zu Arteriosclerose führt, kauu unter Einwirkung besonderer Insulte
zur Aneurysmen bildung den Anlass geben. Demnach haben Arteriosclerose und
Aneurysma eine gemeinsame Grundursache, aber keineswegs ist erstere die Vor-
bedingung des letzteren. Es ist also logisch nicht richtig, vou „arterioselerotischen
Aneurysmen u zu sprechen ; für diejenigen Aneurysmen , die sich gleichzeitig mit
dem ersten Stadium der Arteriosclerose entwickeln . müsste eine die primäre Ge-
fässwand Veränderung kennzeichnende Benennung gefunden werden. Indessen
braucht man auf diesen Einwand nicht zu viel Gewicht zu legen; es ist ja klar,
dass Thoma mit dem arteriosclerotischen Aneurysma eben die aus der primären
präsenilen Alteration der Gefässwand hervorgehende Gefässer Weiterung treffen
will. Hier ist nun hervorzuheben, dass Thoma keineswegs alle Aneurysmen auf
dicBe Ursache zurückführt; giebt er doch ausdrücklich auch die Möglichkeit der
Entstehung eines Rupturaneurysma ohne voraufgehende Dilatation des Gefttsarohres
zu. Hierhergehörige Fälle kannten demnach als primäre Ruptnraneurysmen
gekennzeichnet werden. Für ihre Entstehung könnte einerseits eine rasen ent-
standene Herabsetzung der Widerstandsfähigkeit der Gefässwand an einer um-
schriebenen Steile, andererseits der Einfiuss besonders heftiger mechanischer Insulte
in Betracht kommen* Das Erstere gilt für die durch infectiöse und parasitäre
Factoren veranlasste, zur Aneurysmabildung führende Schädigung der Gefässwand
(parasitäres Aneurysma Eppingkr's); Thoma selbst hat in einer neueren Arbeit1*)
auf gewisse, unmittelbar oder doch kurze Zeit nach der Gehurt im Gefolge septisch*
ENDARTERIITIS.
243
pyämischer Processe entstandene Aneurysmen hingewiesen. Ferner sind von Keen 18)
28 Fälle spontaner Aneurysmen von Individuen unter 20 Jahren zusammengestellt
worden, für welche namentlich embolischer Ursprung bei Endocarditis als Ursache
nachgewiesen wurde. Auf Grund eigener Erfahrungen möchten wir dieser Gruppe
noch weitere Vorkommnisse anreihen. Es kommen aneurysmatische Erweiterungen
der Arterien vor,. welche durch geschwürige Zerstörung der inneren
Häute entstehen ; hierbei möchten wir die eigene Beobachtung eines Aneurysma der
Aorta a8cendens rechnen, welches In die Pulmonalarterie durchbrach und durch eine
relativ rasch vorgeschrittene isolirte und von Arteriosolerose unabhängige Ulceration
in der Aortenwand entstanden war, wahrscheinlich durch ein zerfallendes
Gumma erzeugt. Ferner liegt es nahe, dass auch aus tiefgreifenden Geschwürs-
bildungen im Verlauf hochgradiger Arteriosclerose umschriebene aneurysmatische
Geftsswueherungen entstehen können ; auch hierfür sprechen gewisse Fälle multipler
Aneurysmen mit geschwüriger Innenfläche neben Arteriosclerose höchsten Grades.
Es ist ja klar , dass die Grundbedingung der Aneurysmabildung eine Läsion der
Gefässwand voraussetzt, welche nicht so hochgradig ist, dass sofort eine Durch-
reissang der letzteren eintritt, während sie andererseits so beträchtlich sein muss,
dass die Gefässwand dem Blutdruck nachgiebt und dass die Ausbuchtung zu rasch
erfolgt, als dass sie durch Bindegewebswucherung ausgeglichen werden könnte.
Diese Bedingungen sind, wie Thoma bewiesen hat, durch die präsenile, das
Anfangsstadium der Arteriosclerose einleitende Gefasser Weiterung unter der Mit-
wirkung plötzlicher Drucksteigerung gegeben und es ist ja sehr wahrscheinlich,
dass für die Entstehung der Mehrzahl der spontanen Aneurysmen diese Grund-
lage wirksam ist. Indessen bleibt die Möglichkeit offen, dass auch andere Factoren
die Disposition herbeiführen können. Von mehreren Seiten ist auf einen ätiolo-
gischen Zusammenhang zwischen Syphilis und Aneurysma hingewiesen
worden. Neuerdings hat K. M allsten ") hierfür interessante statistische Daten
zusammengestellt. Unter 69 Fällen von Aortenaneurysma mit genauen anamnesti-
schen Angaben konnte 30mal voraufgegangene constitutionelle Syphilis nachgewiesen
werden, 5mal Alkoholismus, nur in einem Fall wurde ein Trauma als Veranlassung
angeschuldigt. Natürlich kann man bei der Annahme ursächlicher Beziehung
zwischen Syphilis und Aneurysma nicht auf die oben berührten offenbar ungemein
seltenen gummösen Erkrankungen der grossen Arterien Bezug nehmen : eher wäre
naeh Analogie anderer, durch Syphilis hervorgerufener Organ erkrankungen an
diffuse oder feinvertheilte herdförmige, in Sclerose ausgehende Veränderungen
innerhalb der Gefässwände zu denken, an eine Mesarteriitü fibrosa im Sinne
Köster's. Es würde sich empfehlen, in dieser Richtung die Gefasswände der
Leichen Syphilitischer einer genauen Untersuchung zu unterwerfen. Die allgemein
zugegebene auffällige Thatsache, dass bei Syphilitischen auffallend frühzeitig und
hochgradig arteriosclerotische Veränderungen auftreten, könnte sehr wohl in einer
specifischen Schädigung der Gefässwände durch die syphilitische
Infection ihren Grund haben und der im Vergleich zu der die gewöhnliche prä
senile Gefasserweiterung einleitenden Ernährungsstörung höhere Grad der durch
Syphilis veranlassten Degeneration der Media würde es erklärlich machen, dass
gerade die Syphilis zur Aneurysmabildung disponirt. Immerhin handelt es sich
hier um eine Hypothese, die erst durch tbatsächliche Unterlagen zu stützen ist;
hier wurde dieses Problem nur berührt, um zu zeigen, wie bei aller Anerkennung
der in den Arbeiten von Eppinger und Thoma gewonnenen Fortschritte für die
Pathogenese der Aneurysmen doch noch wichtige ätiologische Fragen offen bleiben.
Auch die Bedeutung des Alkoholismus ftir die Aneurysmenbildung ist noch nicht
genügend aufgeklärt, es kann hier einerseits der chronische toxische Einfluss auf die
Gewebselemente der Gefässwand in Betracht kommen, der durch Degeneration die
Disposition zum Eintritt der präsenilen Gefasserweiterung erhöhen würde, anderer-
seits die Veranlassung plötzlicher Blutdrucksteigerung durch die acute Alkoholintoxica-
tion, die bei vorhandener Schwäche der Media die Aneurysmabildung einleiten könnte.
In einer jüngst erschienenen Arbeit hat Thoma >fi) seine Eintheilung der Aneurysmen
noch durch die Aufstellung einer weiteren Form f des Tractionsaneurysma der kind-
lichen Aorta, vervollständigt. Die Entstehung dieser Aneurysmen wird durch die Annahn e
einer Zugwirkung seitens des Ductus Botall i erklärt, welche eine Vorb&uohong der
vorderen Wand der Aorta nnd sodann eine Ausbauebang der hinteren durch die InteroosUl*
arterien an die Wirbelsäule flxürten Theile der Aortenwandung veranlasste. Hierher rechnet
Thoma auch gewisse von Rokitansky beschriebene Aneurysmen aus den Leichen Er-
wachsener, Die charakteristischen Eigenschaften dieser Tractionsaneurysmen sind; 1. Das
Besteben einer offenen Verbindung zwischen der linken A. pulmonalis nnd der Aorta an Stelle
des arteriösen Bandes ; 2. an dem der Pulmonalis zugewendeten Ostinm die Existenz einer im
Centrum perforirten Membran- an der Aortenseite eine aneurysmatische Erweiterung, welche
bisher als Aneurysma des Ductus Bofalli beschrieben wurde, aber der Aorta angehört;
4. eine Ausbuchtung der hinteren Wand der Aorta in der Höhe der obersten Intercostalarterieu*
Unter allen Formen des Aneurysma bietet das sogenannte Aneurysma
dissecans in Bezug auf seine Genese die einfachsten Verhältnisse. BöSTRÖM 1#)
bebt in seiner von sehr interessanten eigenen Beobachtungen ausgehenden Bear-
beitung dieser Form des Aneurysma hervor, dass die allermeisten, wenn
nicht alle Fälle des Aneurysma dissecans auf ein Trauma
zurückgeführt werden müssen. Der atheromatöse Process führe bekannt-
lich nur sehr selten zur Entwicklung eines solchen Aneurysma; auch wird im
Allgemeinen in den Beschreibungen der Fälle von Aneurysma dissecans die
normale Beschaffenheit des inneren Gefässrohres hervorgehoben. Plötzlicher Ein-
tritt des Risses in einer noch relativ normalen Gefässwand bietet die günstigsten
Bedingungen für die Entstehung der Trennung der Gcfässhäute durch das am
der Tiefe des Risses zwischen die letzteren eindringende Blut; dieser Voiaus-
setzung ist aber bei traumatischem Ursprung des Risses entsprochen. Besonders
eingehend beschäftigt sich Boström mit dem Heilungsvorgangim^ neurysma
dissecans. Unter 178 Fällen konnte Bostböm 18 Fälle von Heilung nach-
weisen, während löOmal Perforation nach aussen (darunter 90mal in den Herz-
beutel) eintrat. In allen gebeilten Fällen hatte die Innenfläche des aneuryswa-
tischen Sackes den Charakter einer Intima angenommen, woraus zu seh Hessen
ist, dass die Spaltung der Häute vor längerer Zeit eingetreten war. Ferner
zeigten alle Fälle darin Uebereinstimmung, dass der aneurysmatische Sack mindestens
durch eine, meistens jedoch durch mehrfache secund&re Perforationen mit dem
eigentlichen Gefassrohr in Communication getreten war. Sobald der Blutstrom
nach erfolgter secundärer Perforation in die alte Bahn zurüekgeleitet wurde und
somit der Blutdruck sich zwischen Sack und Gefassrohr ausgeglichen hatt kauu
die Ausheilung beginnen, die wahrscheinlich nach dem Modus der Vernarbung
einfacher Querrisse der Aorta unter Bildung eines sich in festes Narbengewebe
umwandelnden Granulationegewebes verläuft. Jedenfalls findet sich nach einiger
Zeit an Stelle des aneurysmatischen Sackes ein Gefassrohr mit neugebildeter
endotheltragender Intima, so dass gewissermassen eine Verdoppelung der Aorta,
resp. ein septirtes Gefassrohr entsteht. Dass unter solchen Verhältnissen die
Blutcirculation ohne wesentliche Störung Jahre lang fortbestehen kann, wird durch
zuverlässige, von Boström angeführte Beobachtungen bewiesen.
Von besonderem Interesse ist in dieser Hinsicht die erste von Boström mitge*
theilte Beobachtung. Hier fand sich bei einem 61jährigen Manne t der während eines Jahres
klinisch beobachtet wurde nnd keinerlei auf eine schwere Störung im Circulationsapparat hin-
weisende Symptome darbot, ein colosaales altes Aneurysma dissecans der Brust- nnd Bauch*
aorta. Die Intima nnd eine Schicht der Media waren von Arcus aus losgelöst nnd bildete
ein eigenes Hohr, welches im Brust räum längs der linken nnd vorderen Aortenwand (vo
Lig. arteriosum beginnend), in der Bauchhöhle längs der vorderen Wand der Aorta und de
Stamm der A. mesaraica super ior and bis zur Unken A. renatis verlief nnd (entsprechend d
Basis einiger vom Aortenrohr abgerissener Arterien) durch mehrfache Oeffnungen mit d
Aortenlumen common icirte. Der Blntstrora spaltete sich demnach an den frei in den Sac
vorspringenden Bändern des abgerissenen Aorteastnrnpfes , um Bich an den seenndären Oe
ntingen (specietl der ,4. coeliaca und renalis sinistra) wieder an vereinigen. Aus der nac
träglichen Anamnese ergab sich, dass der Verstorbene 22 Jahre vor seinem Tode durch
Prügeln eine schwere Contusion der Rückengegend erlitten nnd damals eine durch hochgradige
CircuJationsst orangen ausgezeichnete 5moaatliche Krankheit durchgemacht hatte. Es ist dem-
ENDARTERIITIS.
245
räch anzunehmen, dass die zum Aneurysma dissecans fahrende Ruptur der inneren Häute
der Aorta am Lig. arteriosum durch ein Trauma, 22 Jahre vor dem Tode des Patienten, ver-
ursacht wurde.
Auf Grund der im Vorhergehenden besprochenen Arbeiten ergiebt sich,
dass für die Pathogenese der Aneurysmen einerseits die Wirk-
samkeit aller Momente, welche eine relativ rasch eintretende
Dehnung der inneren Lagen der Intima und der Media begün-
stigen, von Bedeutung ist, dass jedoch für die Entstehung der
umfänglichen, zu progressivem Wachsthum geneigten Aneu-
rysmen dieRuptur der elastischen Lagen der Intima undMedia
die cardinale Ursache darstellt. Diese Ruptur geht für viele Fälle,
sicher für die Mehrzahl der spontanen Aneurysmen, aus im Gefolge fort-
schreitender Dehnung entstandenen Einrissen ((lebergang des Dilatationsaneurysma
in ein Rupturaneurysma) hervor ; doch kann die Ruptur auch ohne vorausgehende
Dilatation des Gefkssrohres unter dem Einflüsse von Traumen oder von patho-
logischen Veränderungen der Gefässwand zu Stande kommen (primäres Ruptur-
aneurysma). Ein Schema für die Eintheilung der Aneurysmen auf Grund der
hier besprochenen Voraussetzungen ist im Folgenden in der Hauptsache nach
Thoma wiedergegeben:
1. Aneury sma cong enitum. In der fötalen Zeit oder zur Zeit
der Geburt entstanden. Aneurysmen des Ductus Botalli.
2. T rac tionsaneurysmen der Aorta (durch den Zug des Ductus
Botalli), deren Bildung ebenfalls auf die erste Lebenszeit zurückgeht.
3. Multiple Aneurysmen jugendlicher Individuen, zum
Theil auf infcctiöse Gefässwanderkrankungen in früher Lebenszeit zurückzuführen
(Thoma); nach der Hypothese von Eppinger auf Hemmungsbildung der Elastica
zurückgeführt.
4. Aneurysma arterioscleroticum (Thoma, präseniles Deh-
nungsaneurysma)
a) per dilatationem:
ol) diffusum,
ß) fusiforme simplex,
^) fusiforme multiplex,
6) sacciforme,
e) skenoideum.
b) per rupturam (secundäres Rupturaneurysma):
a) dissecans,
ß) sacciforme,
y) varicosum (Durchbruch in eine Vene).
5. Primäres Rupturaneurysma in Folge anderer Gefäss-
erkrankungen:
a) Rupturaneury smen durch U leer ation (z. B. durch Gummabildung).
b) Rupturaneurysmen in Folge degenerativer oder chronisch
entzündlicher Gefässwandveränderungen (Syphilis, Alko-
holismus?).
c) Aneur ysma embolicum simplex (Ponfick), auf Läsion der Ge-
fosswand durch harte, verkalkte Emboli zu beziehen (von Endocarditis).
d) Aneurysma infectiosum, durch mycotische Emboli erzeugte Ge-
fässwandläsionen (Eppinger).
e) Parasitäres Aneurysma (Wurmaneurysma der Pferde).
6. Aneur y sma tr aumaticum.
a) dissecans (unabhängig von Arteriosclerose),
b) circumscriptum,
c) varicosum.
246
END ARTERIITIS — EPIDIDYMITIS.
7. Arrosionsaneurysmen (Aneurysmen der Pulmonalig in der Wand
tuberkulöser Lungencavernen, Eppinger, P. Meyer).
Literatur: *) C. Nauwerck und H. Eyrich, Zur Kenntniss der verrucösen
Aortitis. Ziegler und Nauwerck's Beiträge zur pathol. Anat. und all gem. Pathol. 1889, V. —
f) Ziegler, Verhandl. des Congr. für innere Med. Wiesbaden 1888. — *) Tafel, Unter-
suchungen über den Bau und die Entstehung der endocardi tischen Efflorescenzen. Dissert
Tübingen 1888. — *) Weichselbaum, Ziegler und Nauwerck's Beitrage zur path. Anat und
allgem. Pathol. 1888. IV. — b) R. Thoma, Ueber die Abhängigkeit der Bindegewebsneubildung
in der Arterienintüna von den mechanischen Bedingungen des Blutumlanfes Virchow's Archiv
für pathol. Anat. und Physiol. XCIII, XCV, CIV, CV, CVI. — «)Westphalen, Histologische
Untersuchungen über den Bau einiger Arterien. Dissert. Dorpat 1&86. — T) Pernice, Sull9
etiologia delV vndarterite chronica. La Riforma med. 1883. — 8) Eppinger, Pathogenesis,
Histogonesis und Aetiologie der Aneurysmen. Berlin 1887 (A. Hirschwald) ; Archiv für klin.
Chir. XXXV. — ö) W. Osler, The Gulstonian Lectures on maliynant Endocardüis. London
1885. — ,0) R. Thoma, Untersuchungen über Aneurysmen. Virchow'a Archiv für path. Anat.
und Physiol. CXI— CX1II; auch in den Arbeiten des pathol. Institutes der k Univers. Dorpat
Jahrg. 1888. — n) R. Thoma, Bemerkungen über die Vater- Pacini 'sehen Körperchen der
Gefässwand. Virchow's Archiv für pathol. Anat. und Physiol. CXVI. — ") Derselbe,
Deutsche med. Wochenschr. 1889, 16—19. — 18) Keen, Amer. med News. 24. Dec. 1887. —
14) K. Halmsten, Aorta- Äneurysmens Etiologi. Stockholm 1888. — lb) R. Thoma, Ueber
das Tractionsaneurysma des kindlichen Alters. Virchow's Archiv für pathol. Anat. und Physiol.
1890, CXXII. — 16) E. Boström, Das geheilte Aneurysma dissecans. Deutsches Archiv
für klin. Med. 1888. XLII. Birch-Hi rschfeld.
EntartlingSreaCtiOn, s. Elektrodiagnostik und Elektro-
therapie, pag. 230.
Enteritis membranacea, s. Darmentzündung, pag. 159.
Ephedrin, als Mydriaticum, s. Augenheilmittel, pag. 67.
EpididymitlS. Die Behandlung der Entzündung der Samenleiter und
die des Nebenhodens bietet keine wesentlichen Unterschiede. Die Hauptaufmerk-
samkeit hat man auf die Beseitigung der Schmerzen und darauf zu richten, dass
die Entzündung und ihre Folgen möglichst beschränkt werden. Am raschesten
sah ich die Schmerzen dann schwinden, wenn ich den von Horaxd in Lyon
angegebenen und von H. Zeissl modificirten Verband anwendete. Der Verband
besteht aus 3 Theilen: 1. aus einer genügend dicken Lage Watte, 2. aus einem
viereckigen Stücke Kautschukleinwand und 3. aus einem Leinwandsuspensorium
(Langlebert). Dasselbe hat eine dreieckige, leicht coneave Form und ist an
8 ei oeni oberen Rande mit einem Loche versehen, durch welches das Glied durch-
gesteckt wird. An seinen beiden oberen Winkeln sind zwei lange Bänder oder
noch besser ein Bauchgurt mit Schnalle, welche zur Befestigung um den Bauch
dienen, angebracht; an seinem unteren Winkel sind Schenkelriemen oder zwei
Blinder befestigt, welche entweder an den Haken des Bauchgurtes fixirt werden,
oder die durch die um den Bauch geschlungenen Gürtelbänder durchgezogen
und an diese festgeknüpft werden. An beiden Seitenrändern ist das Suspensorium
eingeschnitten und ist jeder Einschnitt mit je 2 kurzen Bändchen versehen. Zum
Anlegen des Verbandes ist es zweckmässig, den Kranken in die horizontale Lage
zu bringen. Der Patient hält das Gemachte, welches man gut mit Watte ein-
gehüllt hat, möglichst hoch gegen die Symphyse, über die Watte wird die vier-
eckige Kautschukleinwand, die an ihrem oberen Rande mit einer kreisrunden
Oeffnung, durch welche man das Glied durchsteckt, versehen ist, mit der glänzenden
Seite gegen die Watte gerichtet , — gelegt und darüber das oben beschriebene
Suspensorium befestigt. Man schliesst zunächst den Beckengürtel oder die er-
wähnten, um den Bauch gehenden Bänder , sodann die Schenkelriemen oder
Schenkelbänder und endlich die Bänder an den seitlichen Einschnitten, welche der
Patient oder noch besser ein Gehilfe nach Möglichkeit nähern muss. Dieser Ver
band hebt den Hoden sack hoch hinauf gegen die Schambeine und schwindet bei
seiner Anwendung der Schmerz fast immer augenblicklich und kann der Kranke
EPIDIDYMITIS.
247
seinem Berufe nachgehen. Innerhalb acht bis zwölf Tagen ist gewöhnlich die Epi-
didymis geheilt. Ist dies nicht der Fall, so kann man dieses Verfahren längere
Zeit fortsetzen. Wenn eine beträchtliche acute Hydrocele oder eine Entzündung
des Samenstranges die Epididymitis complicirt , so werden die Schmerzen durch
den Verband nicht beseitigt. S. Kohn in Wien und M. Ihle in Leipzig haben
Modifikationen des HORAND'schen Verbandes angegeben.
Namentlich scheint mir die von Ihle ersonnene Befestigungsmethode des
Suspensoriums recht zweckmässig. Ich bin aber mit der Wirkung der ursprüng-
lichen Form des genannten, von H. Zeissl modificirten Suspensoriums so zufrieden,
dass ich bisher keine Veranlassung hatte, ein anderes zu wählen.
6. Miliano und Loebl haben Verbände angegeben, welche man enger
machen kann, ohne dass sie abgenommen werden müssen. I. Neumann schildert
diese Verbände in folgender Weise: Loebl's Verband z. B. besteht aus einem
Hohlcylinder aus Leinwand oder Kautschuk , an dessen oberem Rande ein Zug
angebracht ist, der oberhalb des Hodens um den Samenstrang zusammengezogen
wird, während der herabhängende Theil des Sackes, nachdem er gespannt worden
war , knapp unter dem Hoden zusammengebunden und dann an einem Gürtel-
bande derart befestigt wird , dass der Hode eine erhöhte Lage erhält. Ist der
Hode kleiner, der Verband dadurch locker geworden, so kann man diesen dadurch
wieder anspannen, dass man über der unteren Ligatur wieder eine neue anlegt.
Dieser Verband gewährt auch den Vortheil, dass man über die Hodengeschwulst
Umschläge appliciren kann. Eine bequemere und gleichmässigere Oompression mit
Wärmeentziehung erreicht man durch den Hodencompressor von Jesse Hawes in
Greeley (Colorado). Derselbe besteht aus zwei in einander liegenden Gummibeuteln,
welche beide auf einer Seite geschlitzt sind , aber die Schnittkanten sind mit-
einander so eng verbunden , dass zwischen beiden Beuteln ein luftdichter Raum
gebildet wird. Auf jeder Seite des Schlitzes ist ein Streifen Gummistoffes mit
Schnürlöchern angebracht , durch welche behufs Zuschnürung ein Band gezogen
werden kann. In eine Oeffnung des äusseren Beutels ist ein Schlauch eingelassen,
durch welchen Luft oder Wasser in den Zwischenraum gebracht werden kann.
Am oberen Theile des Apparates sind mit Löchern versehene Gummistreifen ange-
bracht, welche zur Einhängung desselben an einen um den Leib zu tragenden
Gürtel dienen.
Tachard lässt den Hoden mit einer dicken Lage Watte umhüllen und
mittelst einer Flanellbinden spica an den Schenkel der gleichen Seite andrücken.
Stocqüart schlägt eine Umänderung des LANGLEBERT-HORAND'schen Ver-
bandes vor und empfiehlt , die kranken Partien sorgfältig mit Empl. hydr. zu
bedecken, um die Immobilisirung, Druck und Transpiration hervorzubringen und
darauf das rühmlichst bekannte Suspensorium zu appliciren. Bei acuten Fällen
ist durch 2 bis 3 Tage vorher die Anwendung von Eis angezeigt. Der Verband
bedingt nicht absolute Bettruhe.
M. Horovitz gab ein Suspensorium an, welches aus einem Gürtel und
einem elastischen Säckchen mit dazugehörigen Spangen besteht. An der Vorder-
fläche des Bauchgürtels befinden sich 4 Haften zur Befestigung des Schenkelriemen
und der das eigentliche Suspensorium tragenden Gurten. Das Suspensorium selbst
besteht aus einem elastischen Gewebe , welches nach der Art der Schuhzüge in
der Richtung der Kette und des Einschlages dehnbar ist.
E. Arning verwendet als Compressionsmaterial gereinigte Schafwolle.
Der Bauchgurt ist mit einem tiefen Ausschnitt der Peniswurzel versehen. Der
eigentliche Tragbeutel lässt sich durch durchgezogene Bändchen nach Massgabe
verkleinern.
Was den oben erwähnten HORAND'schen Verband betrifft, so glaube ich,
wie sein Erfinder, dass dieser Verband dadurch die Heilung begünstigt , dass er
den Hoden immobilisirt , dass er eine sehr leichte Oompression ausübt und ein
reichliches Schwitzen der Scrotaihaut hervorruft.
In einigen wenigen der von mir auf diese Webe bebandelten Falle trat
Eczema rubrum am Scrotum auf t welches der gewöhnlichen Eczetnbehandlung
alsbald wich» Alle von mir so behandelten Epididymitiskranken konnten ohne
Beeinträchtigung ihrer Gesundheit oder der Heilungadauer, welche, wie bei anderen
Heilmethoden , 8 — 20 Tage betrug , ungestört im Zimmer herumgehen und die
Meisten ihrer Beschäftigung obliegen.
Beseitigt der Verband die Schmerzen nicht oder fiebert der Kranke, so
muss er das Bett bitten, der Hodensack muss durch ein untergelegtes Handtuch
oder ein zwischen die Beine gelegtes Kissen möglichst hoch gelagert werden. Mau
kann dann kalte Ueberscbläge appliciren, Eisübersehläge vermeide man namentlich
bei tubereulösen Individuen, bei denen unter dieser Therapie zuweilen Hämoptoe
aufzutreten pflegt; auch wollen einzelne Autoren bei Anwendung von Eisüber-
schlagen Gangränescenz der Scrotalhaut beobachtet haben* Mau begnüge sich mit
in Blei wasser oder in kaltes Wasser getauchten Com pressen. Zur Linderung der
Schmerzen ist es ganz zweckmässig, eine Bolladounasalbe , Extracti Belladon uae
5"00 auf 20 00 Ung. litharg., auf das Scrotum zu appliciren. In manchen Fällen
erzielt man mit der Application der nachstehend verschriebenen Salbe gute Erfolge*
Rp. : Plumbi jodati , Extracti Belladonnae aa. 5*00 , Aluminis erudi 3*00 , Ung.
simpL 80 '00p Quecksilbersalbe wende man am Scrotum nicht an, da dieselbe oft
sehr heftige Eczeme , die bedeutend schmerzen, hervorruft- Sind die Schmerzen
sehr heftig und lassen dieselben unter Anwendung der genannten Belladounasalbe
und nach der consequentea Anwendung der Kälte nicht nach , so gelingt es oft,
durch Bäder von 28° R. und über der Salbe applicirte feuchtwarme Ueberschläge
die Schmerzen zu beseitigen und die Verdickung des Nebenhoden fast vollständig
zum Schwinden zu bringen. Lägst auch dieses Verfahren im Stich , so kaun
man in der entsprechenden Iuguin&lgegend eine subcutane Morph iuminjection
verabreichen. Von besonderer Wichtigkeit ist es, bei der Behandlung der Neben-
hodenentzündung für tagliche Stuhlentleerung zu sorgen. Ich halte es trotz gegen-
tbeiliger Anschauungen für besser, beim Auftreten der Epididymis sofort mit den
Injectionen in die Harnröhre und der innerlichen Anwendung der Balsaroica
aufzuhören.
Ein anderes Heilverfahren, um das in der Tunica vaginalis befindliche
Exsudat zur Resorption zu bringen , ist die seiner Zeit von Fricke in Hamburg
angegebene und genügend bekannte Methode der Einwicklung des betreffenden
Scrotaltbeiles in Heftpflasterstreifen* Ich wende dieses Heilverfahren bereits seit
Jahren nicht mehr an , weil durch dasselbe nicht selten Shockerscheinungeu,
d. b. durch traumatische Erschütterungen bewirkte Reäexlähmungen der Geftas-
nerven, besonders des Splanchnicus und selbst Gangrän des Sorot ums auftreten können.
In Fällen von circumscripter acuter Hydroeele habe ich von der Punction
mittelst des Spitzbistouris günstige Resultate constatiren können. Abscedirende
Nebenhodengeschwulste sind nach den allgemeinen Regeln der Chirurgie zu be-
handeln. Die Bindegewebsinduratiouen in der Umgebung des Kopfes des Neben-
hodens trotzen in der Hegel jeder topischen oder allgemeinen Behandlung, doch
habe ich in einzelnen Fällen durch den innerlichen Gebrauch der Jodpräparate
sehr günstige Resultate erzielt Beträchtliche Verdickungen derJVntca vaginalis
sah ich unter Application des grauen Pflasters schwinden.
Lanoinirende , bis in die linke Wade ausstrahlende Schmerzen, welche
sich nach linksseitiger Epididymitis eingestellt hatten, beseitigte Hohovitz durch
Gocaineinspritzungen. Er spritzte 0*10 Cocainum muriat auf ein Gramm Wasser
ein und wurde die Nadel der Pravaz 'sehen Spritze durch die Scrotalhaut gegen
das zurückgebliebene Infiltrat am Schwanz des Nebenhodens vorgeschoben. Er
machte zunächst 8 Tage lang täglich zwei Einspritzungen, später täglich nur mehr
eine, Nach 17 Einspritzungen wareu die Schmerzen geschwunden. 4 Wochen
nach Sistirung der Cur hatten sich die Schmerzen nicht wieder eingestellt.
ERDROSSELN. — ERFRIEREN. 249
Erdr08S6lll, s. Strangulation.
Erfrieren, Erfrierungstod (forensisch). Falk*) (Berlin) hat durch
experimentelle Untersuchungen unsere bisher noch recht mangelhaften Kenntnisse
von der diagnostischen Bedeutung der Befunde an Leichen Erfrorener wesentlich
bereichert. Da oft genug erstarrte oder gefrorene Leichen von Menschen aufge-
funden werden, welche durchaus nicht durch Erfrieren zu Grunde gegangen sind,
so ist es für die forensische Praxis umso wichtiger, untrügliche Zeichen des Er-
frierungstodes zu kennen.
Bekanntlich wurden seit langer Zeit die hellrothe Farbe der Todtenflecke
und des Blutes Erfrorener für ein wichtiges diagnostisches Merkmal angesehen.
Die helle Färbung der Todtenflecke ist eine unzweifelhafte Leichenerscheinung,
welche auf der nachgewiesenen Thatsache der postmortalen Sauerstoffdiffusion durch
die Haut und auf der von Pflüger8) erkannten Eigenschaft des Hämoglobins
beruht, den Sauerstoff umso energischer zu fixiren, je niedriger die Temperatur
ist. Die gewöhnliche dunkle Beschaffenheit des Leichenblates und der Todten-
flecke ist bedingt durch die Sauerstoffzehrung, welche nach P. Regnard s) bei 0°
sehr gering ist, mit der Temperatur bis 40° ansteigt, um von da abzufallen und
bei 60° wieder auf Null anzulangen. Der durch die Haut diffundirte Sauerstoff
wird also bei Leichen, die der Kälte ausgesetzt sind, in viel geringerem Masse
aufgezehrt werden. Das Blut an der Peripherie wird und bleibt hellroth.
Trotz niederer Temperatur wird aber die helle Hautröthung durch Kälte
sich nicht bemerkbar machen, wenn schon bei Beginn der Kälteeinwirkung
die cadaveröse Zersetzung fortgeschritten ist, weil bekanntlich die Sauerstoffzehrung
bei Fäulniss ausserordentlich viel energischer ist, so dass sie selbst bei 0° noch
lebhaft genug ist, um den Sauerstoff in dem Masse, wie er durch Diffusion heran-
tritt, zu consumiren. Demnach kann die Hellröthe der cutanea Todtenflecke und
der peripheren Organe, namentlich auch der Lungen, nicht für den Erfrierungs-
tod sprechen.
Anders verhält es sich mit der Blutfarbe tiefer gelegener Organe, nament-
lich des Herzens und der grossen Gefässe. Bis hierher kann der Sauerstoff durch
postmortale Diffusion nicht eindringen. Das Blut des Herzens behält somit die
Farbe, welche es zur Zeit des Todes hatte, was von Falk durch Thierexperimente
erwiesen wurde. Um Verbältnisse, wie sie in vielen Fällen von Erfrierung obwalten,
nachzuahmen, haben Falk und Züntz einem Hunde mittelst der Schlundsonde
eine betäubende Menge Alkohol beigebracht und ihn dann durch rasche Wärme-
entziehung getödtet. Bei der nach 24stündigem Liegen im Eisschranke vorge-
nommenen Obduction war das Blut im Herzen und den grossen Gefässen flüssig
und hellroth. Bei einem durch Zuleitung von Kohlensäure getödteten, sonst gleich
behandelten Hunde fand man im Herzen und den grossen Gefässen tief dunkles
flüssiges Blut, dagegen helle Färbung in Haut, Lungen und peripheren Leberpartien.
Darnach könnte man, falls in einer der Kälte ausgesetzt gewesenen
Leiehe auch das Herzblut hellroth gefunden wird und andere Todesarten, die
dem Blute eine solche Färbung verleihen, namentlich gewisse Intoxicationen aus-
geschlossen sind, für die Annahme, dass der Tod durch Frost eingetreten sei,
eine Wahrscheinlichkeit deduciren. Es lehren aber Sectionsergebnisse von notorisch
erfrorenen Menschen, dass das Fehlen jenes Herzbefundes den Erfrierungstod
nicht ausschliesst und höchstens der positive Befund Werth beanspruchen dürfte.
Durch weitere Versuche an menschlichen Leichen, namentlich Kinder-
leichen, hat sich Falk4) überzeugt, dass das Thierexperiment in der That auch
für den Menschen zutrifft. Niemals war bei intensiver Kälteeinwirkung ausgesetzt
gewesenen Kinderleichen eine durch postmortale Sauerstoffdiffusion bewirkte helle
Frost-Blutfarbung der inneren Organe wahrzunehmen, auch dann nicht, wenn die
Abkühlung bis zum Frieren des Blutes im Herzen und den grossen Gefässen
getrieben worden war.
250
ERFRIEREN. — ERTRINKEN.
Die Untersuchungen Kriege's6) über hyaline Veränderungen der Haut
durch Erfrierungen sind, so grosses wissenschaftliches Interesse namentlich für
die Theorie der Bildung des Hyalins ans dem Protoplasma absterbender Zellen
und für die Erklärung der durch Erfrierung erzeugten weissen und aus diesen
hervorgehenden hyalinen Thromben sie auch besitzen, für die Diagnose des Er-
frierungstodes aus naheliegenden Gründen belanglos.
Literatur: *) Falk, Ueber den Einfluss niederer Temperaturen auf die Blnt-
farbe. Vierteljahrsschr. für gerichtl. Med. und öffentl. Sanitätswesen. 1887 , N F., XLVII,
pag. 76. — *) Pflüge r, Archiv für die ges. Physiol. I und V. — 8) P. Regnard, Recherche*
expMntentales suv les variations pathologiquea des combustionis respiratoires. Paris 1879. —
*) Falk , Blutfarbe bei extremen Temperaturen. Vierteljahrsschr. für gerichtl. Med. und öffentl.
Sanitätswesen. 1888, N. F., XLIX, pag. 28. — 5) Kriege, Ueber hyaline Veränderungen der
Haut durch Erfrierungen. Virchow's Archiv. CXVI, pag. b'4. K ratter
Erhängen , 8. Strangulation.
Erstickung, s. Strangulation.
Ertrinken. Den Tod durch Ertrinken hat 1888 A. Paltauf *) nach
Studien an Menschen und Thieren monographisch bearbeitet und hierbei eine Reihe
von neuen Thatsachen gefunden und bisher nicht gekannte oder nicht beachtete
Befunde festgestellt, welche geeignet sind, die Diagnose des Ertrinkungstodes weit
sicherer zu gestalten, als es bisher der Fall war. Es ist bekanntlich durchaus
nicht immer leicht, an einer aus dem Wasser gezogenen Leiche mit Sicherheit zu
bestimmen, ob die Person wirklich lebend in's Wasser gekommen sei. A. Paltauf
hat die Ergebnisse seiner sorgfältigen und umfänglichen Untersuch angen in folgende
Sätze zusammengefasst :
1. Die Obduction der Mehrzahl der durch Ertrinken Verstorbenen ergiebt
eine Reihe von Befunden, durch deren Zusammenfassung es mit einer nach dem
concreten Falle sich ändernden Sicherheit ermöglicht wird, die Todesart zu
diagnosticiren.
2. Die wichtigste Stelle hierbei nehmen die Lungen ein.
3. Es ist sowohl für Mensch als Thier als die Regel hinzustellen, dass
die Ertränkungsflüssigkeit in die Lungen eindringt. Die Oberlappen enthalten in
der Mehrzahl der Fälle die meiste Ertränkungsflüssigkeit. Gleichwohl begegnet
man Ausnahmen.
4. An der Lungenoberfläche kann man röthlich gefärbte Flecken und
Stellen erkennen — Ertränkungsflüssigkeitsaustritte.
5. Die Ertränkungsflüssigkeit dringt während des Ertrinkens in die
Alveolen und von da aus in das Zwischengewebe, und zwar auf präformirten
Wegen (Kittleisten und Saftspalten), mitunter auch durch kleine Läsionen der
Alveolen wand ein. Dadurch wird jene wichtige Erscheinung bedingt, dass die
Lungen Ertrunkener beim Einschneiden nicht zusammenfallen.
G. Die in den Lungen und den Luftwegen ertränkter Thiere enthaltenen
Flüssigkeits- und Schaunimassen bestehen, abgesehen von Beimengungen an Schleim,
Blut, Epithel, zum grössten Theile aus Ertränkungsflüssigkeit. Vitale Transsu-
daten aus den Gefäpsen der Lunge trägt höchstens einen geringen Theil zu jener
Flüssigkeits- und Schaunibildung bei. Wir sind berechtigt, ein Gleiches auch für
den Menschen anzunehmen.
7. Die Lnngen ertrunkener Menschen , Erwachsener und Neugeborener,
verhalten sich, soweit die» dem untersuchenden Auge zugänglich ist, nicht merk-
lich von einander verschieden.
8. Der Gehalt der Lungen an Luft, Blut und Ertränkungsflüssigkeit
bedingt Verschiedenheiten in deren Aussehen : Blähung, Fleckung, Atelectasen etc.
9. Die Ertränkungsflüssigkeit dringt im zweiten und dritten Stadium des
Ertrinkungstodes in die Lungen ein ; hierfür , sowie für die Menge der einge-
drungenen Flüssigkeit sind verschiedene Momente massgebend.
ERTRINKEN.
251
10. Unter Anderem wird dem verschiedenen Verhalten ange-
wachsener und freier Lungentheile in Bezng auf den Feuchtigkeitsgehalt
derselben besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden sein. Angewachsene Lungen-
partien enthalten nämlich in der Regel geringere Flüssigkeitsmassen als die freien
im Gegensatz zu ödematösen Lungen, bei denen sich das Yerhältniss umkehren kann.
11. Das Blut Ertrunkener ist im Allgemeinen dankelflüssig; trifft man
Gerinnungen an, so hat man hierfür in einer Anzahl solcher Fälle eine geänderte
chemische (pathologische) Beschaffenheit des Blutes als Ursache anzusehen.
1 2. Das Blut eines Theiles der Ertrunkenen erfährt eine Verdünnung.
Dieselbe ist das Ergebniss einer vital von den Lungen her erfolgenden
Aufnahme von Ertränkungsflüssigkeit. Diese Resorption hängt ausser
von der Natur des Mittels, noch von der Menge des Eingedrungenen, der Zeit
der Einsaugung, der Dauer des Ertrinkungsvorganges, endlich auch der Beschaffen-
heit der Lunge ab. Die Blutverdünnung ist selten eine über den ganzen Körper
verbreitete, meist ist sie auf die linken Herzhöhlen und die Aorta beschränkt.
Der Nachweis der Verdünnung des Blutes könnte unter gewissen Bedingungen
als diagnostisches Hilfsmittel verwendet werden.
Das Eindringen von Ertränkungsflüssigkeit in Magen
und Gedärme haben Fagerlünd2) und Misubaca b) zum Gegenstand ein-
gehender Untersuchungen gemacht. Ersterer, der seine Arbeit grösstenteils im
Wiener gerichtlich-medicinischen Institute ausgeführt hat, kam zu dem Resultate,
dass der Befund von Ertränkungsflüssigkeit im Darm ein fast absolut sicheres
Kennzeichen des Ertrinkungstodes sei; Letzterer fand bei Thierversuchen die
Ertränkungsflüssigkeit fast immer im Magen vor, wenn das Thier lebend, dagegen
niemals, wenn es todt in dieselbe hineingelegt worden war.
Ueber plötzlichen Tod im Wasser hat Achilles Nordmann 4) an
der Hand eines von ihm und dreier durch v. Recklinghausen beobachteter Fälle
abgehandelt. Die Frage ist eine ebenso wichtige als schwierige. Unzweifelhaft
kommen Fälle von plötzlichem Tod im Wasser bei Badenden vor. Der Tod tritt
aus inneren Ursachen ein. Mit dem Ertrinken hat die Todesart nichts zu schaffen,
sondern das Wasser ist eben das Medium, in welchem der Tod erfolgt. Die
Zeichen des Ertrinkungstodes fehlen hierbei zumeist Zur Erklärung dieser Todes-
fälle ist der Verfasser geneigt, eine durch Contraction der Hautgefösse reflectorisch
bedingte acute Schwellung der Thymusdrüse anzunehmen, die an der Leiche nicht
mehr mit Sicherheit nachzuweisen ist. In allen Fällen hatten sich nämlich Reste
der Thymus, zum Theile vergrösserte Thymus vorgefunden. A. Paltaüf 6) weist
diese Erklärung auf Grund von drei analogen Fällen eigener Beobachtung zurück,
und supponirt dafür die „lymphatische Constitution" als ein in diesen Fällen die
nächste Todesursache , die Herzlähmung , begünstigendes oder veranlassendes
occasioneiles Moment.
Ueber die Frage, wie lange Zeit ein Mensch unter Wasser aushalten
könne, hat Lacassaone6) an einem professionellen Taucher, der sich für Geld
sehen Hess, Beobachtungen angestellt, die auch eines gewissen forensischen In-
teresses nicht entbehren. Während selbst geübte Taucher in der Regel selten
länger als 1 Minute unter Wasser zu bleiben vermögen, producirten sich in letzter
Zeit mehrfach Personen, die angeblich 2 — 4 Minuten unterzutauchen im Stande
waren. Capitän James, so hiess der Mann, verblieb im Bade von 31° C. zwei
Minuten 37 Secunden unter Wasser, wobei wahrend des Tauchens die Respirations-
bewegungen fortdauerten. Es ist dies nur erklärlich durch die Annahme, dass
während dieser Zeit Luft aus dem Magen in den Pharynx gelangt, aspirirt,
exspirirt und dann wieder verschluckt wird.
Literatur: *) A. Paltauf, Ueber den Tod durch Ertrinken. Nach Studien an
Menschen und Thieren. Wien und Leipzig 1888. Daselbst sorgfaltiges, vollständiges Literatur-
verzeichniss — s) L. W. Fagerlünd. Ueber das Eindringen von Ertränkungsflüssigkeit in
die Gedärme. Vierteljahrsschr. für gerichtl. Med. und öffentl. Sanitätswesen. 1890, LH, Heft 1
und 2. — 8)Misuraca, Uasfiaaia meccanica e le stte varie forme. P&tatma —
252
ERTRINKEN. — EITHORIXE.
*) Achilles Nordmann, Ueber Beziehungen der Thymusdrüse zu plötzlichen Todesfällen
im Wasser. Correspondeuzbl. der Schweizer Aerzte. Jahrg. XIXt 1889- , — *) A. P » 1 1 a a f ,
Heber die Beziehungen der Thymus zum plötzlichen Tod. Wiener klin. Wachenscbr. 1889,
Kr. 46 und 1890, Nr. 9. — *) Lacassagn e, De la ntbmersion txpirimentale. Arxb, de
ranthropol. trin, 1887, EL Kratter
Erwürgen, s. Strangulation.
Erythrophlaeifl, s. Augenheilmittel, pag. 67.
Eseriniim. Nach Instillation einiger Tropfen einer Eaerinlösung (1 : 60)
beobachtete Duxlop r) einen bald vorübergehenden Vergiftnngsanfall, der sieh in
spastischen Contracturen der Gesicbtsmuskeln mit gleichzeitiger Verwirrtheit
äusserte* Guaita -\ fand Instillationen mit 1 s — 3, i%iger Losung in mehreren
Fällen von Netzhautablösung sehr wirksam . doch ging die Besserung bald nach
dem Auasetzen des Mittels wieder zurück. Gegen die Keratitis der Austern-
sehäler soll es, vorausgesetzt, das» keine Iritis vorhanden ist, nach Harlan ■)
in 0*2°/0iger Lösung als Specificum wirken. Loddkrstadt *) räth, bei Kindern
die innerliche Darreichung nicht mit Dosen über 1 s Mgrm. zu beginnen. Nach
subcutaner Injection dieser Dosis bei einem Sjährigen Mädchen, das an Chorea
litt, traten heftiges Erbrechen, Sinken der Pulsfrequenz, Collaps, Pupillen Verengerung
ein, die erst nach mehreren Stunden unter Anwendung von Analepticis schwanden.
Nach Schweder0) wird die therapeutische Brauchbarkeit der Calabar-
alkaloide (Eserin und Eseridin) , namentlich durch die grosse Empfindlichkeit des
Herzens gegen dieselben beschränkt.
Rbiss •) rühmt das ISserin* sulfuric. in Gaben von 1 Hgrm. zweimal
täglich bei Chorea der Kinder. Bei Erwachsenen, wo es sich um acute Falle von
Chorea bandelte, Hess das Mittel im Stich. Er fand die Eserininjectionen auch
in Fällen von Tetanus , Paralysis agitans , auch in einem Falle von männlicher
Hysterie mit gesteigerter Reflexerregbarkeit wirksam,
Lituratnr: ') Andrew Danlop. An overtfore of eserine. The Lancet. 1887
pag. 621. — *) Guaita. L*Esmne contre le decoJhment de la re*ine, Annales d'oculistiqu
XCVTII, pasr. 40. — *) Harlan. Eserin and corneal uteer*, New -York Record. 18"
pag. byö. — *) Lodde rstadt , Esfliinvergiftung bei der Behandlung von Chorea. Berlin
kirn. Wocheuschr. 1888, pag. 336. — ■) Schweder, Inaug.-Dissett. Dorpat. — *) Reis»
Journ. of tbe Amer. med. AfijQC 31. Aug. 1889. T *
Loe DISCO.
EstlandeKsche Operation, s. Brustfellentzündung, pag. 124.
EucalyptOl, fc Cineol, pag. 144.
Ellphorine. Unter diesem Kamen empfiehlt Saksoni das Plienyl-
OC H
urethan C0(Nfiy H^ a^8 Antithermioum, Anürheumaticum, Analgeticum und
Antisepticum. Die Verbindung entsteht durch Einwirkung von chlor kohlensaurem
Aethyläther auf Anilin.
Das Phenylurethan stellt ein weisses, krystallinisches Pulver mit schwachem
aromatischen Gerüche dar, in kaltem Wasser sehr schwer, in Alkohol sehr leicht
löslich, auch in Mischungen von Alkohol und Wasser, wie z. B. im Wein, löst es
sich in hinreichender Menge, um praktisch verwerthbare Lösungen zu geben,
Dosen von 0*1 — 0'2 sind bei gesunden Menschen ohne Wirkung auf Puls, Athmung
und Körpertemperatur. Bei Hunden zeigte der Blutdruck, mit dem Quecksilber-
manometer gemessen, selbst bei hoben Dosen keine Erniedrigung. Nach direeter
Einführung der Euphorine in s Blut wurde keine Aenderung des spectroskopischen
Verhaltens beobachtet. Nach der Einnahme zeigt der Harn die Reaction des Para-
amidophenoles , es wird also aus dem Mittel das Anilin abgespaltet. Die anti-
thermische Wirkung des Mittels zeigte sieb bei acuten uud chronischen fieberhaften
Krankheiten. 1 t — 1 Stunde nach dem Einnehmen beginnt die Temperatur zu
sinken, Maximum der Temperaturabnahme nach 3 — 6 Stunden, Dauer der Wirkung
EÜPHORINE. — EXTRACTION.
253
5 — 7 Standen, auch weniger und mehr. Wiederanstieg der Temperatur mit Schüttel-
frost. Wahrend der Apyrexie Wohlbefinden, Collaps bis jetzt noch keiner beob-
achtet; pro die werden 1*0 — 1*5 selbst von schwachen Fiebernden ohne Unzu-
träglichkeit gut vertragen, doch führten diese Dosen manchmal bei kräftigen
Individuen zu Gollapstemperatur , ohne dass jedoch andere Collapserscheinungen
aufgetreten wären. Bei aoatem Gelenkrheumatismus bewirkte die Tages-
gabe von 1*5 — 2 0, und zwar in grösseren Einzeldosen rasch ein Schwinden der
Schmerzen. Bei chronischem Gelenkrheumatismus wirkte auch das Phenylarethan
nicht mehr wie die üblichen Antipyretica. Die analgetischeWirkung war
in Fällen von Orchitis eine namhafte , geringer war sie bei Ischias , Neuritis
cubitalis, Trigeminusneuralgien, sie blieb ganz aus bei Migräne, Intercostalneuralgie.
Es müssen 1 — 2g während 24 Stunden gegeben werden. Die antiseptische
Wirkung des Mittels zeigte sich namentlich bei alten hartnäckigen Geschwüren
und in chronischen Ophthalmien in empfehlenswerther Weise. Die Abwesenheit
ernster Erscheinungen während der Oollapstemperatar möchte Sansoni darauf
zurückführen, dass beim Zerfall des Mittels im Organismus die Aethyl-, C2 H6-Gruppe
sich der Wirkung der Phenyl-, C6 H6-Gruppe entgegenstellt.
Literatur: L. Sansoni, Rivista clinica. 1890, pag. 361; Therap. Monatshefte.
1890, pag. 452. Loebisch.
ExtraCtiOn der Linse, s. Cataracta, pag. 132.
F.
Fabrikhygiene. «Sowohl im Bereich der Gewerbehygiene und der Un-
fallverhütung in Fabriken, als auch in Bezug auf gesetzgeberische Bestrebungen
sind seit der Bearbeitung des Hauptartikels in der Real-Encyolopädie, 1886, Bd. VII,
pag. 51 — 62, bedeutungsvolle Fortschritte zu verzeichnen. (Der Artikel Arbeiter-
hygiene [Bd. I] wird auch hier zuweilen zu vergleichen sein.)
Was das Ausland betrifft, so beschäftigte sich mit der gesammten
Yentilationsfrage eine Arbeit von Herscher, der, falls die Art der Arbeit
die wesentlichste Quelle der Luftverschlechterungen darstellt, die Absaugung der
schädlichen Zumischungen dicht an der Entstehungsstelle, falls dagegen die zu
grosse Zahl der in einem Räume Beschäftigten der Grund der Luftverschlech-
terung ist, eine Zuleitung guter und Ableitung verathmeter Luft an möglichst
zahlreichen Stellen empfiehlt. In der Schweiz sind von allen Ventilationsvorrichtungen
die Klappfenster die verbreitetsten. In Neubauten wird dort Absaugung der
schlechten Luft unter den Rosten der Dampfkessel mit Erfolg versucht. Zur
Abkühlung der Luft wurde in verschiedenen Arbeitslocalen ein zweckmässig ein-
gerichteter Wasserverdunstungsapparat eingeführt : auf einem die Höhe des Arbeits-
saales erreichenden , 3 Meter breiten Gestell sind zwei Walzen angebracht , über
welche ein Tuch ohne Ende gezogen ist. Aus einem Wassergef&ss, durch welches
die untere Walze läuft, verdunsten pro die über 75 Liter Wasser, wodurch die
Temperatur des Arbeitslocales erheblich verringert wird. Howarth's Lufteinführunga-
apparat (ohne Zeichnung kaum verständlich) ist für seinen Zweck, Luft von
bestimmter Temperatur und Feuchtigkeit einzuleiten, sehr leistungsfähig. Der
Textil-Manufacturer nahm die (ältere) Idee wieder auf, die gusseisernen Säulen
der Fabrikräume zur Lufterneuerung zu benutzen. Die übereinanderstehenden
hohlen Säulen sind miteinander zu verbinden, bis über das Dach durch einen
Schlot zu verlängern und für jedes Stockwerk mit regulirbaren Schiebern zu ver-
sehen, durch welche die Abluft in die Säulen hohlräum e treten und nach oben
entweichen kann.
Ueber Erkrankungen von Arbeitern und Arbeiterinnen in
Deutschen Fabriken rinden sich grundlegende Nachrichten in den Jahresberichten
der Deutschen Fabrikinspectoren (die erste sehr instructive Zusammenstellung 1885).
Die Häufigkeit der Krankheiten, wie sie früher im Zusammenhange mit der Ver-
arbeitung von Phosphor, Blei und sonstigen Giften beobachtet wurden, hat darnach
bedeutend abgenommen, besonders die Phosphornecrose. Relativ häufig sind noch
Magencatarrhe bei Glasarbeitern, und zwar vorwiegend bei den an der Wanne
arbeitenden (Folge des häufigen Genusses kalten Wassers bei erhitztem Körper).
Ebenfalls an häufigen Magenaffectioneu leiden die Arbeiter in Kunstdüngerfabriken,
die Stein- und Blichdruckarbeiter, alle diese haben aber auch sehr oft Lungen-
FABRIKHYGIENE.
255
affeclionen , die bei den Arbeitern in Kunstdüngerfabriken als Blatspeien, bei
Cigarrenarbeitern und Tischlern als schnell sich entwickelnde Phthisen auftreten.
Näherinnen litten überwiegend an Unterleibsaffectionen , die in Spinnereien and
Webereien Beschäftigten an Blutarmuth nnd Bleichsucht, diese aber auch an
Schwindsucht. Monographisch mit den Gefährdungen nnd Krankheiten der in
chemischen Industrien thätigen Arbeiter beschäftigte sich Heinz Erling. Die
Gewinnung und Bearbeitung des Bleis, Zinks, Eisens, Quecksilbers, Kupfers,
Petroleums, Leuchtgases, Phosphors, verschiedener Explosivsubstanzen werden der
Reihe nach im ersten Theile abgehandelt, während der zweite sich in gleich ein-
gehender Weise beschäftigt mit der Zucker-, Mehl-, Bier-, Alkohol-, Zeug-, Papier-
fabrikatiou, auch auf sanitäre Gefahren der Bleichereien und Färbereien zu
sprechen kommt. Erwähnenswerth erscheinen im Anschluss hieran die experimen-
tellen Studien Korn's (Einwirkung der Kohlenpulvereinathmung) , Poincare's
(Einfluss der körperlichen Anstrengung auf Athmung und Circulation), Ebismann's
(Einfluss der Beschäftigungsart auf die Gesundheit der gewerblichen Arbeiter);
nicht weniger auch die statistischen Ermittlungen der Deutschen Fabrikinspectoren
(Antheil der Frauen an der Fabrikarbeit), Spatz' (Mortalität gewerblicher Arbeiter
in München), Rauchberg's (Analoges für Wien), Künze's (Staubinhalationskrank-
heiten) , E. Pkrlen's , Raseri's u. A. (Abhängigkeit der Tuberkulosesterblichkeit
vom Beruf) , Schuler's und Burckhardt's (Gesundheitsverhältnisse der Fabrik-
bevölkerung in der Schweiz).
In Frankreich verbreitete sich über die Notwendigkeit einer allgemeinen
Regelung der dortigen Explosivindustrie L. Faucher, indem er — auf dem
Wege des Vergleiches mit anderen bezüglichen Gesetzgebungen — den Beweis antrat,
dass die für Frankreich erlassenen Verfügungen durchaus ungenügend sind. Glüh-
licht-S icherheits lampen wurden von Ganolaire und A. Friedl ander erfunden.
Für Zwecke der Fabrikbeleuchtung hat sich das elektrische Gltih-
licht — wie die Berichte des Ans- und Inlandes übereinstimmend zeigen —
eine schnell um sich greifende Verbreitung erworben. In gleicher Weise stimmen
aus allen Gegenden die Nachrichten darin tiberein, dass für Absaugung des
Staub es in Baumwollspinnereien, Nähseidefabriken, Lumpensortirereien, Knochen*
nnd Thomas8chIackenmtihlen , Metallwaaren- und Cementfabriken bessere Vor-
kehrungen zur Absaugung des Staubes erfunden und angebracht worden sind.
Von diesen Fortschritten , sowie von BeispMen für die Einrichtung von Arbeiter-
(Brause-) Bädern gab besonders die Berliner „Allgemeine Ausstellung für Unfall-
verhütungu 1889 ausgezeichnete Belege aus fremden Ländern und nicht weniger
aus Deutschland.
Es ist hier jedoch das Augenmerk auch ganz besonders (neben England:
Working houses act, 1885 und dem italienischen Legge sal lavoro dei fanciulli,
1886) auf diejenigen Bestimmungen zu lenken, mittelst deren man erheblichen
Mängeln in der Fabrik- und Gewerbehygiene auf dem Wege der gesetzlichen
Beaufsichtigung nähergetreten ist. So sind (unter dem 3. Februar 1886)
Beschränkungen, betreffend die Beschäftigungen von Arbeiterinnen und jugend-
lichen Arbeitern in Drahtziehereien mit Wasserbetrieb ; ferner (unter dem 21. Juli
1888) vollkommener Ausschluss derselben Kategorien von der Anfertigung soge-
nannter Präservativs und ähnlicher Gegenstände im Gummiwaarenfabriken Gesetz
geworden. —
Der Vorschriften zum Schutz der Arbeiter in Bleifarben- und Blei-
zuckerfabriken, wie sie durch Reichskanzler-Bekanntmachung vom 12. April
1886 in Kraft traten, ist bereits Erwähnung geschehen. Für Ofenfabriken speciell
sind dieselben (s. u.) noch besonders fructificirt worden. Mehrere neue Gesichts-
punkte fasst die ausführliche neuere Arbeit von Panienski in's Auge. Jedoch darf
eine breitere Wiedergabe umsomehr entfallen, als die hier anzureihende Regelung
für die Einrichtungen und den Betrieb von Spiegelfabriken, wie sie der
preuasische Minister für Handel und Gewerbe am 18. Mai 1889 in's Werk gesetzt hat,
sich nach sehr ähnlichen Leitsätzen auf einem durchaus verwandten Boden bewegt.
§■ t« Die Herstellung von Quecksilberspiegel o darf nur in ebenerdigen , kühlen,
mit der Fensterwand nach Norden orientirten Räumen, in welchen — §-2. Queck-
silber vorräthe nicht aufbewahrt werden dürfen — vor sich gehen, — §. i*. Son-
derling der Beleg"- und Trockenräume untereinander und von Wohn-, Schlaf- und
Hausbaltsräumen ; guter Thtirschluss ; Interdiction der Räume ausserhalb der
Beschäftigungszeit und für Unberufene. — §♦ 4. Zum Anwarmen der Tücher
dienen nie Kohlen-, sondern lediglich mit gehörigen Abzugsvorrichtungen versehene
Petroleum öfen ; zum Erwärmen der Räume selbst vorgewärmte Luft. — §. 5. Viel
Lüftung. — §. 6. Höhe der Belegräume 3*5, Luftcubus pro Kopf in diesen 40,
in den Trockenräumen 30 Cbm. ; durch Ventilations Vorrichtungen ist pro Kopf
und Stunde ein Minimum von 60 Cbm» frischer Luft zu erzielen, Controlapparate
für dieses Ergebniss sind unerläßlich, — §. 7. Bei über 20° R+ Einstellung der
Arbeit; Controlthermometer mit Marke in Kopf höhe. — §. 8. Fussboden glatt
mit Rinne und Sammelbecken für das auf ihn gelangende Quecksilber. —
§. 9. Wände glatt, dicht, am Fussboden schließend, sind mit Oelfarbe zu streichen
und wöchentlich zu reinigen. — §. 10. Special ien betreffs Einrichtung und Reinigung
der Arbeitstische; Verbot des Anreibens der Zinnfolie mit blossen Händen. —
§. 11. FusBbodenreinigung (Modus und häufiger Wechsel des damit betrauten
Personals). — §.12. Speeialien über die Reinigung der Quecksilberabfälle und
damit verunreinigter Tücher etc. (Alles ausserhalb der Arbeitsräume). — §. 13. Er-
forclerniss ärztlicher Befundatteste über die Gesundh ei ts Verhältnisse der zuzulassenden
Arbeiter; Sammlung und Vorlegung dieser Atteste. — §. 14. Arbeitstag im
October bis April 8, im Mai bis September 6 Stunden, wozu Besehäftigungszusehlag
in gänzlich quecksilberfreien Räumen gestattet, bei häutigeren Quecksilbererkran-
kungen dagegen Kürzung geboten ist — §-15. Namhaftmachung eines mit der
Ceberwachting des Gesundheitszustandes betrauten Arztes, Controlre Visionen Seitens
desselben alle 14 Tage , Abkehr der quecksilberkranken Arbeiter von der gefähr-
denden Beschäftigung bis zur Genesung. — §. 16. Vorschriften Uber die ordent-
liche und vollständige Führung des Krankenbuches. — §. 17. Zuweisung eines
vollständigen, möglichst anschliessenden, falten- und taschen freien Anzuges (Mutze
und Schuhwerk) von Seiten des Arbeitsgebers an jeden Arbeiter zur lediglich
persönlichen Benützung iu den Quecksilberräumen, vorgeschriebene Aufbewahrung
und allwöchentliche Reinigung. — §-18, Erforderniss von (nach den Geschlechtern
getrennten) Wasch-, Ankleide-, eventuell auch Essräumen; Sauberkeit, Heizbarkeit
derselben. Gefösse zum Mundausspülen , geeignete, beziehungsweise ärztlich vor-
geschriebene Flüssigkeiten hierzu, sonstige Reinigungsmittel, Garderobe und Ein-
richtungen für wöchentliche (warme oder kalte) Bäder. — §.19* Eine Fabrik-
ordnung soll die Informationen betreffs der Arbeitskleider (§. 17) und Verbote
gegen das Mitbringen von Getränken in die Anlage, Speisen in die Arbeitsräume,
gegen das Schnupfen und Rauchen in den letzteren , gegen das Einnehmen von
Mahlzeiten ausserhalb des vorgeschriebenen Speiseraumes und andererseits genaue
Vorschriften über die Benützung und das Ablegen der Arbeitskleider, Reinigung
von Haaren , Händen , Gesicht , Nase und Mund enthalten. Das Tragen langer
Bärte ist untersagt» — §. 20. Anbringen von Plakaten mit den Vorschriften ad 1
Hb 19 in den die Gesundheit gefährdenden Räumen , auch im Ankleide- und
Speiseraumc. Ein Exemplar der Fabrikordnimg ist an jeden neueintretenden Arbeiter
auszuhändigen. Entlassung zuwiderhandelnder Arbeiter. — §. 21. Eröffnung neuer
Spiegelfabriken ist nur nach Anzeige und Revision (persönlich durch den zuständigen
Aufsichtsbeamten) gestattet. — 22. Zuwiderhandlungen ziehen die polizeiliche Ein-
stellung des Betriebes bis zur Herstellung des vorschriftsmässigen Zustandes nach sich.
Die Einrichtung und den Betrieb der z u r A n fe r t i g u n g von Cigarren
bestimmten Anlagen regelt die Deutsche Reichs - Bekanntmachung vom
9. Mai 1888. Nach derselben hat der Bundesrath (auf Grund des §. 120, Abs. 3
und des §* 139a, Abs. 1) die bezüglichen Vorschriften in 13 Paragraphen zusammen-
FABRIK HYGIENE.
267
gefasst: §. 1 dehnt die letzteren auf alle Anlagen aus, in welchen Personen
beschäftigt werden, die zur Familie des Unternehmers nicht gehören. — §.2 ent-
hält das Verbot der Souterrains und unverschalter Dachräume zu den Vorrichtungen
des Abrippens, der Anfertigung von Cigarren und deren Sortiren, sowie die
gleichsinnige Verwendung unverschliessbarer und solcher Räume, welche als
Schlaf-, Koch-, Vorraths- (Lager- und Trocken-) Räume dienen. — §. 3. Minimum
der Höhe der Arbeitsräume 3 Meter, Fenster von genügender Grösse, mindestens
zur Hälfte ihres Flächenraumes zu öffnen , werden verlangt. — §.4 schreibt
einen festen und dichten Fussboden und §. 5 mindestens 7 Obm. Luftraum pro
Arbeiter in den Arbeitsräumen vor. — §. 6. Mehr als für die Tagesarbeit erfor-
derliche Materialien, halbfertige und fertige Cigarren, die das Ergebniss der
Tagesarbeit bilden, dürfen in den Arbeitsräumen nicht lagern. Das Trocknen
von Tabak, Abfällen und Wickeln ist auch ausserhalb der Arbeitszeit in den
Arbeitsräumen untersagt. — §.7. Vorschriften über regelmässige Lüftung, während
deren Arbeiter sich nicht in den Räumen aufhalten sollen. — §. 8. Reinigung
der Fussböden und Arbeitstische. — §.9. Arbeitskleidung muss ausserhalb der
Arbeitszeit in verschlossenen Schränken oder in anderweitigen Räumen aufbewahrt
werden. — §. 10. Ausreichende Ventilationsvorrichtungen können eine Milderung
der Vorschriften der §§. 3, 5 und 7 (auch eine unter 3 Meter gehende Höhe bei
grösserem Lufträume als 7 Cbm.) bedingen. — §. 11. Arbeiterinnen und jugend-
liche Arbeiter müssen vom Unternehmer selbst engagirt sein, keine gemeinschaft-
lichen Aborte oder Ankleideräume haben. — §. 12. Anschläge mit den Maassen
des Arbeitsraumes und der darin beschäftigten Arbeiter an jeder Thür; auch die
Bestimmungen ad 2 — 11 enthaltend. — §. 13. Uebergangsbestimmungen für bereits
im Betriebe befindliche Anlagen.
Im Speciellen betrifft die Verhütung von Bleivergiftungen in Ofen-
fabriken die Berliner Polizei- Verordnung vom 22. Januar 1888. —
In beispielgebender Weise fasst für Preussen alle Punkte in Betreff
einer gesunden und gefahrlosen Beschaffenheit der Arbeitsräume
gewerblicher Anlagen ein Erlass des Ministeriums für Handel und Gewerbe
vom 28. Februar 1889 in's Auge, welcher sich zunächst auf den älteren Erlass
gleichen Ursprungs (vom 7. April 1874) und auf den §. 120 der Gewerbeordnung
zurückbezieht. Während für bestehende ältere Anlagen die Durchführung der
erforderlichen Beschaffenheit oft auf bauliche Schwierigkeiten stösst und so mit
unverhältnissmässigen Opfern für die Unternehmer verbunden ist, muss gleich bei
der ersten Einrichtung jeder gewerblichen Anlage der Hauptgesichtspunkt
festgehalten werden, dem Schutze der Arbeiter gegen Gefahren für Leben und
Gesundheit, namentlich in baulicher Beziehung gerecht zu werden. Bei
denjenigen Anlagen, welche unter §.16 der Gewerbeordnung fallen, bietet hierfür
das Concessionsverfahren die ausreichende Handhabe. Bei allen übrigen Anlagen ist
der Zweck durch ausreichende Bestimmungen im Wege der Bezirks- und Ortspolizei-
Verordnung und rechtzeitige Mittheilung derselben (mit der baupolizeilichen Ge-
nehmigung) an den Unternehmer zu erreichen, wenn laut dieser Bestimmungen
gleichzeitig mit dem Antrage auf Ertheilung des Baueonsenses für jedes in Frage
kommende Gebäude Angaben gemacht werden müssen über den Umfang des darin
zu betreibenden Gewerbes, auch die Zahl, Grösse und Specialbestimmung der
Arbeitsräume ; über der letzteren Zugänglichkeit, Licht- und Luftversorgung; die
Maximalzahl der in jedem Baume zu beschäftigenden Arbeiter und die darin auf-
zustellenden Maschinen. Die gleiche Verpflichtung wird für die Fälle auszu-
sprechen sein, in denen vorhandene Gebäude für gewerbliche Betriebe in Benützung
genommen werden sollen. Der Schlusssatz bezieht sich auf die Prüfung Seitens
der Ortspolizeibehörden im Einzelfalle, die Sachverständigenzuziehung und die Straf-
bestimmungen ; auch wird auf die nöthigen Vorkehrungen gegen Feuersgefahr in
Fabrikräumen (gehörige Treppen , genügende und praktikable Ausgangsthüren)
noch besonders hingewiesen. —
Encyclop. JahrlÜcher. I. V\
Die Fingerzeige fflr den weiteren Ausbau der Gesetzgebung auf
dem Gebiete der Fabrikbygiene erscheinen klar gegeben, wenn man an folgenden
Anforderungen festhält: Prüfung der Baupläne für Fabriken auch vom hygie-
nischen Standpunkte ; Feststellung aller die Ventilation > Beleuchtung und Er-
wärmung betreffenden Bedingungen von Fall zu Fall; FabrikaufsiMit durch du
Zusammenwirken von Aerzten und Fachleuten; Anzeigepflicht und amtliche
Feststellung für GesuodheitaachRdigungen, Förderung experimenteller S t ud i e n
zur Ermittlung des Kerns der schädigenden Momente; Ausstellungen; int er*
nationale Vereinbarungen hinsichtlich solcher Betriebe und Betrieba-
nuthoden , welche anders als durch schwere Gefahrdungen überhaupt nicht zu
bewerkstelligen sind : Ausschluss aller Kinder vor vollendeter Entwicklung
von sammtlicher Fabrikarbeit , aller Unerwaohaenen von der Nachtarbeit ;
keine Compromisse zwischen Schulunterricht und Fabrikarbeit; Beschränkung der
Arbeitszeit am Tage, Verbot des Arbeitens bei Nacht, Freihaltung einer Mittags-
zeit, Schonzeit während des Puerperiums (auch der Schwangerschaft?) in den An-
weisungen für die Arbeiterinnen; Maximal- Arbeitstag, Sonntagsruhe (beides
mit Ausnahmen) für die Mann er.
Zur Erfüllung dieser Forderungen wird für Deutschland zweifellos eine
Verstärkung des Fabrikinspectorats unerlässlicb sein. Einmal den Arbeitgebern
gegenüber und sozusagen der moralischen Seite hin: Die Arbeitgeber müssen
gesetzlich verpflichtet werden , den Fabrikinspectoren die erforderlichen Mitthei-
lungen über die Verhältnisse ihrer Arbeiter zu machen und nicht blos stati-
stische, sondern alle jene Mittheilungen, welche vom Bundesrath ( Landes -
Centralbehtirde) vorgeschrieben werden. Einen weiteren verstärkenden Rückhalt
mufs das Fabriklnspectorat insoferne erhalten, als es kein Nebenamt sein
kann, sondern eine volle Mannesthätigkeit (Vollkraft und erwerbliche Unabhängig-
keit) fordert. Auch eine Verkleinerung der Aufsiohts bezirke dürfte
anzubahnen sein und darauf gedrungen werden müssen, dass die Theiluahme der
Fabrikinspectoren bei der Leitung , Vertretung und geschäftlichen Aufsicht
von Fabrikuiiternehmungen unmöglich gemacht werde.
Eine vollständige Würdigung der hygienischen Bedeutung, welche der
neueren Legislative auf soeial-politiseher Grundlage zukommt, wird erst nach
längerem Arbeiten mit den vorhandenen Gesetzen und nach einem weitreichenden
Ueberblick möglich sein.
Was das beispielgebende Vorgehen Deutschlands betrifft , so gen (Igt es
hier, an das Gesetz, betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter (vom
15* Juni 1883) zu erinnern, welchem während der jttugst vergangenen Jahre
sich mehrere Erweiterungsgesetze — abgesehen von dem Gesetz, betreffend die
Folgen von Betriebsunfällen (6. Juli 1884) — angeschlossen haben. 1890 wurde
auf Anregung Deutschlands der Zusammentritt einer Conferenz über die Arbeiter-
Schutzgesetzgebung angeregt und diese Conferenz von Belgien, Dänemark,
Frankreich, Grossbritannien, den Niederlauden , Oesterreich Ungarn , Norwegen,
Portugal , Schweden , der Schweiz und Spanien beschickt* Allgemeinere Gegen-
stände der Berathung waren: Die Sonntagsruhe, die Arbeit der Kinder, Jugend-
iicher Personen und Frauen (daneben im Besonderen die Bergwerksarbeit)» Die
gesetzgeberische Verwerthung steht noch aus.
Literatur: Herscher, Annales d'hyg. pubt. 1885, Jaillet — Jahresberichte
der Deutschen Fabrikinspectoren 1^84 und folgende, — Poincare, A Duales d'hyg. pnbl.
1885, Juillet. — S c h u 1 e r , Fabrikhygiene u<.d Fabrikgesetzgebung. Verband!, de« VI, intern.
Congr. ftir Hygiene etc. Heft XIV. — R. Spatz , Beitrag zur MortalitaUstatistik der Gewerbe-
krankheiten. Dienert. Nürnberg 1887» — Ranchberg, Die allgemeine Arbeiter-Kranken- nnd
lavalidencasse in Wien. 188^. — Fr. Kuntze, Beitrag zur Lehre von den SUubinhalat.oi.s-
k rankheiten. Dissen. Kiel 1887- — L. Faucher, Revue d'hyg, IX. — F. Schuler und
Burckhardt, Untersuchungen über die Gesundheitsverhältnisse der Fabrikbevölkerung, Aarau
1888. — Erisuiaon, Verband!» des VI, Intern, Congr für Hygiene, Ergänz. -Hefte, auch
separat. Tübingen 1889. — Raser», Giora, della soc, ItaL d'igiene. X. — Bericht Uber die
Unfallverhütung* Au&sloUnng in Berlin. Gesundheit*- Ingenieur. 1889, Nr. 13. — Veröffent*
Hebungen de» kaiserJ, Gesundheitsamtes. 1890, vag. 237. — Wem ich, Die gütigen Med.-
FABRIKHYGIENE. — FETTSUCHT.
259
Gesetze Preussens etc. Berlin 1890. — Pistor, Deutsches Gesundheitswesen. Festschrift.
Berlin 1890. — Panienski, Ueber gewerbliche Bleivergiftung und die zn deren Verhütung
geeigneten sanitäts- polizeilichen Massregeln. Vierteljahrsschr. f. gerichtl. Medicin und öffentl.
Gesundheitswesen. Neue Folge, Bd. LI II und dritte Folge, Bd. I. — Kirt, Gesundheitslehre
für die arbeitenden Classen. Berlin 18^1. Wernich
Faradimeter, s. Elektrodiagnostik und Elektrotherapie,
pag. 223.
Federgalvanometer, s. Elektrodiagnostik und Elektro-
therapie, pag. 224.
FellmSäure, s. Anthropocholalsäure, pag. 49.
FettSUCht. Seit Veröffentlichung" des Hauptartikels in der Real-Ency-
elopädie, II. Aufl., Bd. VII, pag. 147, ist die Discussion über die Entfettungscuren in
lebhafter Weise geführt worden, wobei namentlich die Oertelcur im Vordergrunde
stand. Das wesentlichste Resultat ist die allgemeine Warnung gegen die allzu
drastischen entfettenden Methoden und dass der Werth der Oerte Loschen Behand-
lungsmethode auf das richtige Mass zurückgeführt wird. Gegen die Theorien des
Prof. Oertel hat v. Bäsch eine scharfe Polemik geführt. Er bekämpft die Be-
hauptung Oertel's, dass durch vieles Trinken die Blutmenge vermehrt werde,
ebenso die als Thatsache ausgegebene Meinung Oertel's, dass die Blutmenge bei
mangelhafter Harnsecretion vermehrt werde. Den Erfahrungssatz Oertel's, dass
es bei gewissen Kreislaufsstörungen den Patienten gut thut, wenn man ihnen
das Trinken abgewöhnt, bestätigt auch v. Bäsch, aber für die Wasserent-
ziehung kann er sich nicht erwärmen. Er betont besonders, dass für Oertel
kein Grund vorlag, das Trinken solcher Wasser zu verbieten, die, wie Marienbad,
Carlsbad, Kissingen, erfahrungsgemäss die Diurese befördern und flüssige Darm-
entleerungen verursachen. Er weist ferner auf Grund der Versuche Schwbin-
burg's entgegen der Behauptung Oertel's nach, dass bei Versuchen an Thieren
selbst sehr bedeutende Vermehrung der Flüssigkeitsmenge im Blute nicht im
Stande sei, den Venendruck dauernd zu erhöhen. Die Beziehungen zwischen Harn-
secretion, Arterien- und Venendruck sind sehr complicirte; keinesfalls kann der
OERTEL'sche Satz, dass die Verminderung der Harnsecretion auf Venenstauung
beruhe, Anspruch erheben, für alle Fälle zu gelten und keinesfalls sind wir be-
rechtigt, aus der Verminderung der Harnsecretion allein auf eine Venen Stauung
zu schliessen. Während Oertel sich vorstellt, dass vermehrtes Trinken
unter abnormen Kreislaufsverhältnissen die Blutmenge vermehre, hierdurch Venen-
stauung und durch diese verminderte Harnsecretion verursacht, stellt sich v. Bäsch
vor, dass die abnormen Kreislaufsverhältnisse, die in der Verminderung des Ge-
fälles in der Venenstauung hauptsächlich zum Ausdrucke gelangen, Schuld daran
sind, dass trotz des vermehrten Trinkens die Harnsecretion versiege. Sowie aber
die Venen&tauung und nicht das vermehrte Trinken als primäre Ursache bei der
verminderten Harnsecretion in's Spiel kommt, so kömmt die Venenentlastung, die
Aufhebung der Venenstauung da zur Geltung, wo trotz der Reduction der
Getränke die Harnsecretion durch vermehrte körperliche Bewegung zunimmt. Die
vermehrte körperliche Bewegung ist es wohl zumeist, welche die Hindernisse für
die Harnsecretion beseitigt, also hier ähnlich wirkt wie die Digitalis. Der Reduction
der Fittssigkeitsaufoahme kann ein directer Antheil an der etwaigen Aufbebung
der Venenstauung kaum beigemessen werden.
Ueber die Verwerthung der Oertelcur bei den Herzbeschwerden der
Fettleibigen hat sich Kiscr auf Grundlage seiner zahlreichen Beobachtungen
dahin ausgesprochen, dass bei der Benrtheilung vor Allem an der Sonderung einer
plethorischen und anämischen Form der Fettleibigkeit festgehalten werden muss.
Bei der enteren Form, also der grossen Mehrzahl der Fälle, zu der die Wohl-
leber, die meisten hereditären Fälle, die Frauen des climacterischen Alters, eine
gewisse Art Alkoholiker gehören, hält Kisch die Verwerthung des Principes der
Wasserentziehung för contraiudicirt. Die Herabminderung der Wassermenge des
Gesammtkörpers bei dem kräftigen Fettleibigen von guter Bl nt beschaffen he it ist
ein Umstand, welcher hier in Rechnung gebracht werden niuss« Durch den
stärkeren Ansatz des wasserfreien Fettes im subcutanea , eubseröaeo und inter-
stitiellen Bindegewebe , durch prallere Füllung der Fettzellen mit fettigem Inhalte,
durch die Fettablagerung auch an solchen Legalitäten, wo sich in der Norm
wenig oder gar kein Fett findet, erfahrt der Wassergehalt aller Gewebe eine
bedeutende Abnahme und die bei den kräftigen Fettleibigen so wesentlich gesteigerte
Verdunstung an der Haut trägt noch weiter dazu bei, den Wasserverlust des
Körpers zu steigern. Es braucht nur weiters auf die notorische Disposition der
plethorischen Fettleibigen zur Gicht, auf den häufigen Befund reichlicher Mengen
von oxalsaurem Kalke im Harne, sowie auf die Neigung zur Bildung von Gallen-
co n cremen ten hingewiesen zu werden, um es einleuchtend erscheinen zu
lassen, dass bei Entziehung des Wassers, dessen Einführung eine mächtig aus-
langende Kraft auf den Korper übt, es zu einer Stauung der Auswurfsstoße im
Körper und zu einer Ueberladung der Gewebe mit denselben kommt. Nicht ausseracht
zu lassen ist ferner, dass die Wasserentziehung auch den Chemismus der Ver-
dauung mehrfach beeinträchtigt und die ohnedies häu6g vorhandene Dyspepsie und
habituelle Stuhlverstopfung steigert, Am deutlichsten und am constantesten zeigt sich,
wenn man kräftige , blutreiche Fettleibige die Wassereutzichungscur gebrauchen
lässt, dass hierdurch der Kräftezustand des Individuums wesentlich abnimmt, dass
mit der unleugbar bedeutenden Fei tabu ahme auch eine bedeutende Herabsetzung
der Muskelkraft des Individuums einhergeht. Wenn also hier die Wasserentziehung
als schädigendes Moment hervorzuheben ist, so ist auch bezüglich des zweiten
therapeutischen Agens der Methode, der sogenannten Herzgymnastik zu erwähnen,
dass auch von deu blutreichen, kräftigen Fettleibigen in den mittleren Lebens-
jahren starke körperliche Anstrengungen, Bergsteigen etc. nieht immer gut ver-
tragen werden und gerade durch solche Übertriebene Bewegungsformen nicht
selten ein bis dahin in seiner Function Uitactea Mastfettherz die Symptome der
Ueberanstrengung in rapider Weise bietet.
Was die anämische Form der Lipomatosis betrifft, so Iässt sich bei ihr,
da bei anämischen Fettleibigen nicht wie bei pletborischeu die Wassermenge des
Gesammtkörpers herabgesetzt, sondern vermehrt ist und da solche anämische
Fettleibige auch keine besondere Disposition zu Arthritis, barnsauren Ablagerungen,
Gallencou cremen ten besitzen, keine wesentliche Einwendung gegen ein massig
wasserentziehendes Verfahren erheben, vorausgesetzt f dass dasselbe von einer
roborirenden Diät und med ieamen tosen Behandlung begleitet wird. Da in diese
Kategorie zumeist jugendliche Individuen gehören , so werden sie auch dem Er-
fordernisse stärkerer Bewegungen und körperlicher Leistungen entsprechen können.
Für wirklieh nutzbringend und indicirt hält Kiscfl das systematisch durchgeführte
Wasserentziehungsverfahren in den vorgeschrittenen Stadien der Lipomatosis, wo
eine hydrämische Beschaffenheit des Blutes zu Stande kommt und als Con-
seentivzustände der dauernden Stauung im Gebiete des Körpervenensystems die
Erscheinungen des Hydropa universalis sich kund geben. Hier tritt als eine der
wichtigsten Aufgaben heran , die Flüssigkeitsmenge in den Geweben herabzu-
mindern , eine Entwässerung des Körpers zu erzielen und als eines der Mittel,
welches dieses Ziel zu fördern vermag, muss die Herabsetzung der Wasseraufnahme
bezeichnet werden. Hingegen muss die Durchführung stärkerer Muskelactiouen und
Körperbewegungen bei solchen geschwächten Fettherzen mit bedeutenden Circnlations-
störungen als ein zweischneidiges Schwert bezeichnet werden, dessen Anwendung oft
im höchsten Grade bedrohlich wirkt, auch nicht selten den plötzlichen Tod herbeiführt«
Leyden spricht sich Uber die Anwendung der OBRTBi/sehen Behandlung
der Herzbeschwerden der Fettleibigen (sowie Herzkrankheiten überhaupt) folgender*
massen aus: Was den ersten Punkt der Methode, die Beschränkung der Wasser*
zufuhr betrifft) so erscheint es nicht erwiesen, ob eine Beschränkung der Flüssig-
FETTSUCHT.
261
keitszufuhr , wenn sie ohne wesentliche Beschwerde von dem Kranken ertragen
werden soll, auf die Blutmenge und dadurch auf das Arbeitsmass des Herzens
von merklicher Bedeutung sein kann. Was die durch methodische Bergsteigung
geübte Gymnastik betrifft, so ist der Effect derselben für ein geschwächtes und
ttberangestrengtes Herz nicht leicht abzuschätzen. Für dieses ist solche Art der
Herzgymnastik keineswegs ohne Bedenken, ja kann leicht deutliche und selbst
Fchwere Symptome von Ueberanstrengung und Schwäche dos Herzens hervorrufen.
Leyden hebt specieli hervor, dass körperliche Leistungen bei Herzkrankheiten
überhaupt nur bei reichlicher Nahrung, d. h. bei gutem Appetit riskirt werden
dürfen und dass jugendlichen Herzen auch in dieser Beziehung mehr zugemuthet
werden kann als alternden. An anderer Stelle sagt Lbydrn bezüglich der ver-
schiedenen Entfettungsmethoden, dass alle bei einer genügend consequenten
Durchführung zum Ziele führen , dass sie aber auch dieselben Gefahren haben,
wenn sie zu stürmisch betrieben werden, Anämie, Erschöpfung und besonders
Herzschwäche hervorrufen. Die Wahl der Metbode wird, abgesehen von ätio-
logischen Rücksichten, von dem Einblicke des Arztes und der Wahl des Patienten
abhingen. Die Individualität müsse dabei im Auge behalten werden. Einzelne
Familien sind mager, andere fett, es gehört zu dem physiologischen Zustand der
einen, dass ihre Angehörigen fett , der anderen , dass sie mager sind. Es kann
also nicht jeder Mensch mager werden.
W. Feilchenfelü zieht aus seinen Untersuchungen über Obrtel's Heil-
verfahren mittelst Flüssigkeitsentziehung den Schluss, dass die Letztere „bei
Fettsucht, vorsichtig angewendet, Aehnliches leiste, wie die anderen
Entfettungsmethoden u. Er hat ferner gefunden , das9 bei normalem Herzen und
Herzfehlern mit voller Compensation durch Flüssigkeitsentziehung eine relativ
vermehrte Diurese zu Stande kommt, dass dieses aber bei nicht vorhandener
Compensation von Herzfehlern gar nicht oder in nur geringem Grade der Fall ist.
Der Frage des Einflusses der Wasserentziehung auf die Fett-
leibigkeit ist Lorenz kn durch genau durchgeführte Beobachtungen an sich
selbst und an zwei jungen Männern näher getreten. Er erzielte im ersten Falle,
Körpergewicht 218 Pfund, binnen 3 Wochen eine Gewichtsabnahme von 23 Pfund;
im zweiten Falle, Anfangsgewicht 165 Pfund, eine Abnahme von 13 Pfund in
19 Tagen und im dritten Falle binnen 27 Tagen eine Körpergewichtsabnahme
von 20 Pfund bei 199 Pfund Anfangsgewicht. Der Körperurafang nahm an den
Stellen am stärksten ab, an denen die grösste Menge Fett abgelagert war, an
der Brustwarze und am Abdomen. Das Schwinden des Fettes bei der Wasser-
entziehung erklärt Lorenzen folgender massen : Wird die Wasserzufuhr beschränkt,
so wird die Eiweisszersetzung vermindert und da die Kraft der Zellen durch die
geringe Eiweisszersetzung noch nicht erschöpft ist, wird nun das im Saftstrorae
fein vertheilte Fett verbrannt. Der Verlust wird dadurch gedeckt, dass Fett aus
dem Fettgewebe in den Saftstrom übertritt. Körperfett wird überhaupt nicht
oxydirt, ohne dass vorher eine Verminderung des Fettes im Säftestrome statt-
gefunden hat, die dann vom Fettgewebe ausgeglichen wird.
Als Hauptgrundlagen für Behandlung der Fettleibigkeit sind nach Loebisch
1. diätetische Heilmethoden, 2. Brunnencuren, 3. Hydrotherapie zu betrachten. Er
meint, dass in die Kostnorm der Fettleibigen alle Nährstoffe aufgenommen
werden dürfen, aber Fette und Kohlehydrate stet* in geringerer Menge darin
enthalten sein müssen, als der Zersetzungsfähigkeit des Körpers entspricht. Ais
Anhaltspunkt für die Abmessung der Kost sollte bei der Behandlung der Fett-
leibigkeit die genaue Bestimmung der Stickstoffausscheidung, verglichen mit dem
eingeführten Stickstoff, dienen.
Hingegen stellt Kisch die Anforderung, dass bei der Durchführung einer
jeden Entfettungsmethode eine stete sorgfältige Controle über die Muskelkraft des
Individuums im Allgemeinen und specieli über die Kraft de3 lebenswichtigsten
Muskels, des Herzens geführt werde. Er hält darum das Dynamometer und den
262
FETTSUCHT. — FI LARIAKRANK HEITEN.
Spbygtnographen für wichtige Instrumente bei Vornahme der Entfettung. Zeigt
das Dynamometer während des Gebrauches einer entfettenden Methode eine Herab
mindern ng der Muskelkraft an, so ist dies ein höchst wichtiges Zeichen, dass die
Entfettung zu drastisch vorgenommen wird, d&sa nicht nur das Überschüsse
Fett, sondern auch der Eiweissbestand des Organismus angegriffen wird. Eine
Zunahme der Druckkraft, mittelst des Dynamometers nachweisbar, wird hingegen
als ein günstiges Zeichen angesprochen werden müssen. An den sphy geographisch
aufgenommenen Pulscurveu bat man beachtenswerthe Anhaltspunkte, um den Er-
nährungszustand des Herzmuskels , sein Verhalten gegenüber der FettumhUllung
»unl Fettdurehwaehsung. sowie die Leistungsfähigkeit desselben zu ermessen. Die
Vergrößerung der Rückstosswelle der Pulscurve, die Umgestaltung der letzteren
in ein uuterdicrotes oder djcrotes Bild weist auf zunehmende Herzschwäche während
der Cur hin und giebt ein warnendes Signal, dass das Mastfettherz durch die
Entfettung in seiner Structur zu stark angegriffen wird und dass der gesammte
Kräfrezustaud des Individuums überhaupt zu sehr herabgesetzt ist. Jene Ent-
fettungsmethode ist die beste, durch welche es gelingt, die Fettmenge dauernd zu
mindern , ohne dass der Eiweissbestand des Körpers angegriffen , ohne dass die
Muskelkraft herabgesetzt wird,
Literatur: v, Baach, Die Theorien des Herrn Prof. Oartel. Wiener med. Bl.
I8'flti. — Kischt lieber die Oertclcar bei Fettherz. Deutsche med. Wochenschr. 1887. —
Leyden, Herzkrankheiten in Folge von UeberuDötrengung, Zeilschr. für klin. Med. 1886
und Discussiou über Entfettunirscuren im Verein« für innere MeJicin in Berlin, 1886. —
W, Feiich en feld , Untersuchungen über Oertel's Heilverfahren mittelst Was*erent zieh nug,
Zeitschr. für klin. Med. 18?b". — Verbandl. des 7. Conjrr. *ttr innere M*d, in Wiesbaden über
die OrrleJ'sche Cur bei Herzkrankheiten, Referenten 0 artet und Lichtheim. 1888. —
Derlei, Ueber Terraincurorte zur Behandlung von Kranken mir Kreis 'autsstorangen, Kr&ft-
abnahme des Herzmuskels, ungenügender Compensatio!? bei Herztehlern, Fettherz und Fett-
sucht, Veränderungen im Lungenkreislaufe. Leipzig 1886. — Lorenzen, Ueber den Einänss
der Entwässerung des Körpers auf Entfettung, Flensburg 1887. — Loehi&ch, Ueber dt
neueren Beb undlungs weisen der Fettleibigkeit. Wiener Klinik. 1887* — Dujardin-Beau-
metz. Du rfyinns insuffisant et de Vhygihtc alimentairf darnt Vob4*it4. Ballet, gener. de
iherap. 188b, — ■ Forehheimer, Fatttf otergrowth of Ihn hearL The Amer. Journ. of the
med. scienc. Det\ 1888, — Kassel, Historisch- kritische Beiträge zur Lehre vom Fettherz.
Erlangen 1^88* — Kisch, Die Fettleibigkeit (Liponuttosin universalis) auf Grundlage zahl-
reicher Beobachtungen klinisch dargestellt. Mit 82 in den Text gedruckten Abbildungen,
Stuttgart 1888, Eake, v. ,
Fllariakrankheiten. Die wichtigsten literarischen Erscheinungen , be-
treffend die vom Jahre 1886 bis zur Gegenwart beobachteten Fitariakrankheitcu, sind
im Nachstehenden ausaüglich wiedergegeben, während die Literatur bis in die Achtziger-
Jahre im Hauptartikel der Real-Encyclopädie (IL Aufl., Bd. VII, pag. 201—206)
zusammengestellt ist. — Naturgemäss knüpfen die neueren Arbeiten an Manson s
Untersuchungen au , welchen die moderne Fragestellung in Betreff der Filaria
krankbeiten ihren Boden verdankt. Manson selbst stellt in einer neuen Arbeit
die Postulate zusammen , die man an einen esacten Nachweis des ursächlichen
Zusammenhanges zwischen Musquitos und Fllariakrankheiten
(Elephantiasis , Lymphoscrotuzn etc.) noch zu stellen hat. Es muss vor Allem
demonstrirt werden, zu welchem vorgeschritteneren Stadium der Entwicklung die
Filarien im Körper der Musquitos gelangen, ob diese vorgerückteren Filarien sich
nur bei Musquitos finden« welche mit Filarieneier enthaltendem Blute sich nähren
oder etwa auch bei soleben, welche filarien freies Blut gesogen haben, und
endlich müssten die metamorphosirteu Filarien in vorwurfsfreier Weise auf Mensch
oder Thier übertragen werden. Die Metamorphosen hat Maxson au zahlreichen,
deu Musquitos incorporirten Filarien verfolgt : sie äussern sieb besonders in einer
Verkürzung und Streifenbildung, später im Abwerfen der äusseren Umhüllung;
eichzeitig hören die Geisselbewegungcn auf, und der ganze Filarienkörper beginnt
ich in ach lau genförm igen Torsionen fortzubewegen. So wandern sie im Körper
des Musquito und verbreiten sich zunächst vom Abdomen (wohin sie primär durch
djtat Saugen gelangten) nach der Brusthöhle hin. Bier angelangt , werden die
FILARIAKRANKHEITEN.
263
Filarienkörper dicker und fast vollkommen durchsichtig, die transversale Streifen-
bildung ist gänzlich verschwanden, die Bewegungsfähigkeit hat aufgehört oder
äussert sich höchstens noch in schwachen intermittirenden Bewegungen. Dann
beginnt der Körper des Faden wurme s in die Dicke zu wachsen, nimmt eine
wurstförmige Gestalt an und trägt einen kleinen schwanzförmigen Appendix. In-
zwischen bildet sich eine deutliche Mundöffnung und eine granulöse Beschaffen-
heit des Körpers aus, indem sich ein das ganze Thier durchsetzender Verdauungs-
canal mit kernhaltigen Zellen füllt, die bald die Wände eines wohlorganisirten
Digestivschlauches austapezieren. Von nun an beginnt die Filaria schneller zu
wachsen, die ganze Körpermasse ist in deutlicher Zellenstructur angeordnet, die
erst im folgenden Stadium verloren geht, welches als das Stadium der Verlängerung
und Verdünnung bezeichnet werden kann ; letzterer ist besonders das vordere
Körperende des Fadenwurmes unterworfen. Gleichzeitig schliesst sich der Mund
und in dem immer fadenförmiger werdenden Gebilde gehen die vorher so deut-
lichen Conto uren des Digestionscanales verloren. Die letzte Metamorphose (die
sechste nach Maxson's Zählung) ist charakterisirt durch das Hervorwachsen von
3 — 4 Oaudalpapillen, deren Bedeutung noch nicht vollkommen aufgeklärt ist, und
die zuletzt eine Gestalt annehmen ähnlich dem Stempel einer Blüthe. Gleichzeitig
mit ihrer Ausbildung erreicht die Filaria ihre grösste Länge (1*50 Mm.) und
Dünne, sowie auch den Entwicklungszeitpunkt, in welchem sie den Körper des
Musquito verlässt. Die ganze Entwicklungsphase in ihren sechs Abschnitten bean-
sprucht die Zeit von 130 — 156 Stunden; nur 5 — 10°/0 aller weiblichen Mücken,
in denen sich die Vorgänge abspielen , überleben die genannte Stundenzahl. Die
ausgewachsene Filaria, welche nun sehr widerstandsfähig geworden ist, trägt
vielleicht znm Tode des Wirthes bei, der gewöhnlich auf einer Wasseroberfläche
stattfindet. Das Wasser übt in diesem Entwicklungsstadium auf die Filarien einen
geradezu belebenden Einfluss aus. — Die Frage, ob nur Musquitos, welche filarien-
eier haltiges Blut gesogen haben, Filarien des sechsten Entwicklungsstadiums
enthalten, beantwortet Manson bejahend. Den Abschiuss der Versuche, die meta-
morphosirten Filarien auf Thiere oder gar Menschen zu übertragen, hat er sich
noch vorbehalten.
In seiner geschichtlichen Skizze über die Filaria subconjuncti-
valis (Filaria Loa nach Güyot) hebt Blanchard besonders hervor, wie die
ersten Entdeckungen und Beschreibungen des Parasiten sich sowohl auf afrikanische
(Bajox in Cayenne, 1768), als auf amerikanische Fundorte beziehen (Mongin,
Mebcieb, de Lassus auf S. Domingo, 1771 und folgende Jahre). Guyot war der
Erste, welcher 1838 eine der nach ihm später benannten Filarien der Academie
des sciences vorlegen konnte. Später mehrten sich die Fälle und ihre Schilde-
rungen von beiden Continenten her, besonders nahmen auch die westafrikanischen
Missionäre in ihren Berichten von den durch die Filaria subconjunctivalis be-
dingten pathologischen Vorkommnissen Notiz, und auch die Entdeckungsreisenden
hatten immer häufiger Gelegenheit, die bezüglichen Störungen zu sehen nnd auf
den Fadenwurm als Ursache zurückzuführen. Die neuesten Phasen der Literatur
des Gegenstandes lassen unschwer erkennen, dass das Vorkommen des Wurmes
in Amerika sein Ende erreicht hat gleichzeitig mit dem Negerimport und dass
das geographische Gebiet gerade dieser Filarienart Guinea (die Küste von Angola,
die Striche der Jabon , Ogoue- und Kongo-Mündungen) ist. Ja dasselbe erscheint
bei näherer Betrachtung von sehr geringer südnördlicher Ausdehnung, nämlich
einerseits nicht über den 10° südlicher Breite, andererseits nicht über den Aequator
hinansreichend. — Der zweite Abschnitt der Arbeit behandelt die Beschaffenheit
und die Lebensweise des Parasiten. Die Angaben über seine Länge schwanken
zwischen 16 und 70 Mm. ; nicht unwahrscheinlich ist es, dass die verschiedenen
Beobachter bald das eine, bald das andere Geschlecht beschrieben. Hinsichtlich
des Zusammenwerfens der Filaria Loa mit der Filaria medinensis spricht sich
Blanchard (mit Guyot und van Beneden gegen Bojon und Küchenmeister)
26*
FJLARIAKKAXKHEITEN.
entschieden für eine Trennung aus. Die Unterscheidung des Kopfendes vom
Schwänzende scheint noch den geübtesten Entomologen Schwierigkeiten zu bereiten.
Die Einführung mit dem Trinkwasser, der Aufenthalt und das Heranwachsen in
der Blutbahn und eine grosse Teuacitat werden als tbataächlich begründet her*
vorgehoben,
Kextaro Mürata, ein japanischer Assistenzarzt, veröffentlichte gelegen t-
lich einer Anzahl von Chyluriefälleu (62), welche aus verschiedenen japa-
nischen Provinzen — die meisten aus Kiushiu (40) und Hönde* (38) — herstammten*
eine Abhandlung über Chylurie. Filuria sanguinis hominis wurde an japanischen
Patienten bereits 1877 coustatirt. Doch scheinen dem Verfasser die Beziehungen
zwischen diesem Entozoon und die Chylurie auch ferner noch recht aufklärungs-
bedürftig, und ex benutzte einen zur Section gelangten Fallt der sehr hervor-
tretende chylurische Erscheinungen zeigte (21jähriger Medicinsohüler aus Kiushiu,
wo auch Elephantiasis eine häufige Krankheit ist), um speciell den Befund an
den Nieren einer eingehenden mikroskopischen Untersuchung zu würdigen (der
Section sbefuud wurde durch einen europäischen Medieiner , Dr. van der Hkvhkw
erhoben , beziehungsweise verificirt). „Beide Nieren waren gross , Kapsel leicht
abziehbar, von mehr weicher Consistenz. Auf dem Durchschnitt von normalem
Blutreichthum, die durchschnittenen Gcfäase sehr weit und zahlreicher als in der
Norm, besonders im unteren Nierenbezirk, wo die Binde sehr verbreitert und die
Grenze gegen die Marksubstanz undeutlich wird. Die MALPiGHi'schen Körperchen
deutlich sichtbar." — „Nierenbecken rechts etwas erweitert, enthalt ein grosses
Gerinnsel von Fibrin und Blut, wie man solches im ehylurischen Urin findet und
in welchem wir Filariaembryonen fanden. Mikroskopisch erschienen in sehr
vielen M a lp ig Hi' scheu Körpereben die Glomerulusschlingen vollständig zu Grunde
gegangen, die Kapseln zuweilen vollständig leer." In der Beschreibung der Filaria-
embryonen finden sich nur geringe Abweichungen von dem bereits Bekannten.
Den Einfluss der verschiedenen Nahrung (Milch, Fette) auf den Fettgehalt des
cbylurischen Harnes fand Verfasser in seinen Fällen sehr bedeutend. In dem
Sectionsbefunde fiel noch die enorme Dilatation der Lymphgefäße, besonders der
grösseren Stämme an der hinteren Bauchwand, besonders auf*
KiSCHS Fall (s, u.) betraf einen 2 7 jahrigen Mann, der seit seinem dritten
Lebensjahre in British- Indien — theils in Bombay, theils in Calcutta — gelebt
hatte. Zur vollständigen Sicherung der Diagnose fehlt der Nachweis der Filaria-
embryonen, welcher weder bezüglich des Urins, noch bezüglich des Blutes in
erbringen war. — Nach Guiteeas* Bericht hatte derselbe zunächst in Key West
(Florida), dann aber auch in Charleston Gelegenheit, mehrere an Chylurie,
resp. Filariakrankheit leidende Individuen zu beobachten, wodurch für
die subtropischen Gegenden Nordamerikas das Vorkommen von Filaria sanguinis,
und zwar wie Verfasser zufolge seiner Nachforschungen annimmt, ein originäre*
Vorkommen des Parasiten erwiesen sein würde. Wiederholte Prüfungen der dem
Finger entzogenen Blutproben wurden zum Nachweis der Embryonen in Anwendung
gezogen. In seinen Ansichten über die Entwicklung des Wurmes und dessen
Verhältnis^ zum Musquito als Zwiscbenwirth weicht Güitkras kaum von Maxsox
ab. In dem grossen Leichtsinn, mit welchem iu Charleston die Cisternen der
Belegung mit Filarieneicrn durch die Musquitos preisgegeben sind, möchte Ver-
fasser den nächsten Grund zum Vorkommen der Krankheit dort erbiiekeu.
Unter seinen 5 chylurischen Kranken , von denen Übrigens 4 in Key West und
nur 1 in Charleston beobachtet wurde, war nur ein weibliches Individuum; 3 waren
Weisse, 2 Mulatten. Im Urin fanden sich Filariaembryonen niemals, im Blute
regelmässig vor. In der 8ymptombeschreibung bietet sich nichts Neues \ an einer
causaten Behandlung (Abtödtung der Würmer) muss die medicaraentöse Therapie
verzweifeln.
Literatur: Patrick Manson, La tnfrumorphott de la Filaria sangmm
hominis dans U moustique. Arch. de med. nav. ftov. 1884. — A* Calmette, Note auatytfqu
FILABIAKKANKHEITEN. — FLEISCHVERKEffB.
265
sur la filaire du sang humain et V Elephantiasis des Ärabes d'apres les travaux du Dr.
Patrice Manson. Ebenda. December. — J. Guiteras, The filaria sanguinis hominis in the
United states. Chyluria. The Amer. med. news. 1886. — E. H. Kisch, Ein Fall von Chy-
lorie. Prager med. Wochenscbr. 1886, Nr. 9. — M. R. Blanchard, La filaire sous-conjunc-
tivalefFil. Loa, Guyot). Le Progr. med. 1885, Nr. 29, 30. — Kentaro Murata Igaknshi,
Zur Kenntaiss der Chylnrie. Mittheil, ans der med. Facnltät der kaiserl. japan. Universität.
Tökio 1887. — Lancereaux, Un cos de filaire himatique chez Vhomme. Gaz. des höpit.
1889, Nr. H8. — van Harlingen, Note of a caee of filaria medinensis. The Philadelphia
Med. and Snrg. Rep. 6. Oct. 1889. — Sarcani, Filaria romanorum orientalis. Wiener
med. P«*se. 1889. Nr. 7. Wernich.
FiÜX m&S. In letzter Zeit häufen sich die Vergiftungen mit Extractum
ßlicis maris aethereum. Während de Man *) wiederholt 20 — 32 Grm. des Extraetes
zur Abtreibung von Taenia mediocanellata ohne jede Nebenwirkung prompt wirk-
sam fand, schildern sowohl Freyer2), als E. v. Hofkann3) Giftwirkungen dieses
Mittels. Im ersteren Falle trat der letale Ausgang bei einem 2 ^ Jährigen Kinde
nach 8 in 5 Stunden genommenen Kapseln von 1*0 Extract mit Ricinus öl
ein. Im zweiten Falle wurden 7*5 des Extraetes in 3 Theilen innerhalb l8/4 Stunden
einem 5 */ Jährigen Kinde verabfolgt. Nach ll/2 Stunden wurde ein Theil des
Bandwurmes entleert, bald darauf traten Sopor, später langdauernder Trismus
ein, einige Stunden später war das Kind todt. Die Section ergab im ersteren
Falle venöse Stauung in fast allen Organen, stellenweise Röthung im Magen und
Darm. In v. Hofmann's Fall war massiger Blutgehalt des Gehirns und seiner Um-
hüllung, Tuberkulose der Lungen und des Bauchfelles vorhanden, so dass v. Hofmann
in den durch diesen krankhaften Zustand bedingten Mangel an Resistenz die
wahrscheinlich wichtigste Ursache des letalen Ausganges sieht. Untersuchungen,
die Qüibll an Thieren ausführte, ergaben zunächst wechselnde Wirkung des
Filixextraotes, bedingt durch Alter, Standort u. s. w. der zur Darstellung dienen-
den Pflanze. Von Bedeutung zeigte sich aber auch die Darreichungsform des
Präparates. In dem Falle von Frryer hat das Kind , welches nach 8'0 Extr.
ßlicis maris aethereum in Verbindung mit Ricinusöl letal endigte, früher die
gleiche Gabe, ohne Combination mit Ricinusöl, gut vertragen. Auch Quirll fand,
daas bei Thieren die Lösung des Extraetes in Baumöl, durch Beschleunigung der
Resorption des sonst schwer löslichen Extraetes, die giftige Wirkung beschleunigt
hat. Das kräftige Extract von Wolmar in Lievland bewirkte nach einer Selbst-
beobachtung von Apping in einer Gabe von 4*0 in 1 Stunde kalten Schweiss, Zittern,
Erbrechen, Durchfall und Ohnmacht. Quirll betont auch die darmreizende Wirkung
des Präparates.
Literatur: l) de Man, üeher Extr. filicis. Therap Monatsh. 1889, pag. 21. —
*) Frey er, Ueber die Giftwirknng des Extr. filicis maris aether. Ibid , pag. 90. — •) E.
v. Hofmann, Ein Fall von Giftwirknng des Extr. filicis maris aether. Wiener klin. Wochen-
schrift. 1890 . *6. — 4) W. Qnirll, Untersnchnngen über die Wirknng des Extr. filicis
maris. Dissert. ans dem pharmakol. Institute zu Berlin. 1889. Loebisch
FleiSChverkehr. In unerwartetem Umfange sind während des jüngst
vergangenen Quinquenniums die deutschen Städte verschiedenster Grösse mit der
Errichtung von Schlachthäusern vorgegangen. Als durchschlagende Vortheile hat
man den Wegfall der Privatschlächtereien, die grössere Reinhaltung der Höfe,
die gewissenhaftere Fleischcontrole, die rechtzeitige Erkennung ansteckender Thier-
krankheiten mehr und mehr anerkannt. Allein auch die noch vor Kurzem vielfach
verbreitete Scheu vor allzu grossen Geldopfern durfte und musste fallen gelassen
werden, als die aller Orten und oft nach sehr kleinen Zeitfristen gemachten Er-
fahrungen lehrten, dass den Stadtgemeinden aus dem geregelten Betriebe der mit
Sohlachtzwang verbundenen öffentlichen Schlachthäuser, beziehungsweise aus den
Besichtigungs- und Schlachtgebühren sehr ausgiebige Einnahmen zufliessen, und
dass nicht nur die Anlagezinsen und Tilgungsbeträge nebst den Betriebskosten
gedeckt werden, sondern dass es sehr bald zur Erzielung von Ueberschüssen und
zur Herabsetzung der Gebührentarife kommt.
Werthvolle Anhaltspunkte stellte für die Untersuchungsweisen und die
Beurtheiluug zweifelhaften Fleisches Schmidt-Mülheim in einer Monographie zu-
sammen; als direct gesundheitsschädlich müssen angesehen werden: Fleisch von
Thieren, welche an Blutvergiftung i Eiterfieber, Sepsis), an Rotz, Milzbrand, Wuth
und weitverbreiteter Tuberkulose litten, jedes in Verwesung übergegangene Fleisch,
sowie das mit Finnen und Trichinen behaftete. Ekelerregend ist das Fleisch von
crepirten, gehetzten, unreifen und arzneilich behandelten, sowie an (oben nicht
bereits genannten) Infectionskrankbeiten erkrankten Thieren, ferner das der Ver-
schimmelang ausgesetzt gewesene Fleisch. Als min der werthig rouss das der notb-
geschlachteten und abgemagerten Thiere bezeichnet werden. Die Untersuchungen
A. Heidexhaik's kommen auf übereinstimmende Ergebnisse hinaus. Ein interessantes
Problem vtnrde in Berlin in Angriff genommen dnrch den Bescbluse der städtischen
Behörden : „Alles nicht durch die Schlachtungen im dortigen Öffentlichen Schlacht-
hause erhaltene Fleisch sei von der Feilbietung und vom Verkehr auswusch Hessen,
bis es einer Untersuchung durch Sachverständige unterzogen sei" ; 116 Personen
wurden für den letzteren Zweck gleichzeitig angestellt, wobei jedoch gleichzeitig
noch amtliche Ursprungsatteste mit der Versicherung gefordert werden, daas das
Thier, von welchem das Fleisch herrührt, bei Lebzeiten besichtigt und von
erkennbaren Krankheiten frei befunden wurde.
Der Schutz, welcher hiermit dem von Auswärts eingeführten Fleisch ge-
plant wurde, wäre jedoch ein unvollständiger ohne mehrere Ergänzungsbestimmungen*
Einmal beziehen sich die letzteren auf die Anstellung von Controlbeamten, welche
in den Markthallen während die Schlächter anfahren und später in Ausspannungen
und Keller wirthschaften , die feilgebotenen Fleischstüeke inspieiren; ihre Special-
Instructionen , wie ihre Beobachtungen gehen überwiegend auf telegraphisehera
Wege, Demnächst stehen mit diesen Schutzbestimmungen im innigen Zusammen-
hange lnspectionen des Fleisches tu allen Gast- uud Speise wirthschaften vor der
Zubereitung und die Prüfung des zu Würsten und Conserven bestimmten Fleisches.
Der Erlass bezüglicher Verfügungen steht nahe bevor; für manche kleinere Plätze
sind dieselben a tempo mit der Eröffnung der Schlachthäuser in Kraft getreten.
Was die technische Einrichtung der Schlachtanlagen betrifft, so sind
gewisse Resultate einer Darmstädter Commission von allgemeinerem Interesse:
„Hinaich tlich der Stallungen ist die Einrichtung von Futterböden oberhalb der-
selben vorteilhaft; in der Seh weineschlacbl halle die Queranordnung der Haken -
rahmen, in den Gross viebschlachthallen die L ä n g s anordnung der Winden; die
Ürüheinrichtuug der Schweine befinde sich nahe der Schlachthalle, aber nicht
innerhalb derselben, ingleichen die Kaidaunenwäschen, sowie auch die möglichste
Benachbartheit des Kühlhauses anzustreben ist; der Trichinenschauraum gehört
in das Verwaltungsgebäude," Mehrere andere Grundsätze: die Absonderung des
Schlachtraumes für Pferde und für krankes Vieh, der Ansehluss der Freibank an
den so abgesonderten Schlachtraum, die möglichst unmittelbare Düngerbeseitigung,
die Bücksieht auf bald noth wendig werdende Erweiterung sämmtlicher Partien —
durften wohl an den überwiegend meisten Orten respeetirt und zur Ausführung
gelangt sein, Ostboff tritt als Vertreter der Ansicht aufT dass es vortheil haft
sei, alle Gebäude, in welchen sich mit dem Schlachten in Verbindung stehende
I'roeeduren abspielen, verbunden aneinander zu legen ; selbst die Stallungen sollen
nicht durch offene Plätze (grössere Höfe), sondern nur mittelst schmalerer Ginge
(Luft- und Lichtschächte) abgetrennt sein.
Eine klare Einsicht in den Antheil , welchen die einzelnen Krankheiten
an der Zurückweisung von Thieren vom bank würdigen Feilbieten haben, gewähren
die Statistiken des Berliner Schlachthofes* 1888 gelangten (hei 130.733 Rindern t
D9.185 Kälbern, 275,049 Schafen, 419,848 Schweinen) 924. 81ö Stücke zur
Schlachtung und daneben 5783 Thiere zur Verwerfung, nämlich 2435 wegen
allgemeiner Tuberkulose, 1926 wegen Aetinoniyces , 399 wegen Rothlaufs, 311
wegen Trichinose, IM wegen Wassersucht und vereinzelte wegen Peritonitis und
FLEISCHVERKEHR. — FLUORWASSERSTOFFSÄURE.
267
Scropheln, sowie 333 „wegen sonstiger Krankheiten". 51.816 einzelne Theile,
10.720 angeborene Kälber, 157 crepirte Thiere wurden beanstandet.
Unter den Vorkommnissen, welche sich auf Erkrankungen von Mensehen
in Folge verdächtigen Fleischgen usses beziehen, waren neuerdings die merk-
würdigsten: Trichinose in Marien werder , Gütergotz, Zflllichau, Niederlöhme,
Nordhausen, Wandsbeck, Zittau (1886); in Braunschweig, Borzenzine, verschiedenen
Plätzen im Vogtlande, in Hamburg, La Salle (Illinois), Guttenberg (Jowa), Chicago
(1887); im Obercunewalde (Sachsen, 1888). Milzbrandvirus: Verschiedene
Orte Oberösterreichs (1884), der Schweiz (1887), Dippoldiswalde (Sachsen, 1887),
Maschewo (Posen , 18N7). Rothlaufvirus: Verschiedene Plätze Steiermarks
und Tirols (1884). Unbestimmte Fleisch- und Wurstgifte erregten Krank-
heitserscheinungen unter dem Bilde von Enteritiden in Chemnitz (1886:
200 Personen, rohes Rindfleisch); in Emden (1887: 9 Personen, Kalbsleber); in
Frankenhausen (1888: 58 Personen, Fleisch von einem nothgeschlachteten Rind);
in Wien (1888: 1 Person, Wurst); in Tunis (1888: 5 Soldaten, Wurst); in der
Umgegend von Tübingen (1889: 3 Personen, Wurst).
Ausserdem hat die vielfach beschriebene Massen Vergiftung in Andelfingen
und Kloten neue Darstellungen erfahren in einer Dissertation (Berlin 1887) von
Sknckpiehl und in einer Arbeit (München 1889) von J. J. Süter.
Literatur: Virchow und Gut tst ad t, Die Anstalten der Stadt Berlin; Deutsche
Fleischerzeitung. Jahrg. 1887— 1889; Kundschau für Thiermedicin. 1887 und folgende Jahrg. ;
Veröffentl. des kaiserl Gesundheitsamtes. 1887 und folgende Jahrg — Flinker, Viertel-
jahrsschr. für gerichtl. Med. XLIV. — Lohmeyer, Berliner klin. Wochenschr. 1887, Nr. 4. —
Gärtner, CorrespondenzM. des allgem. ärztl. VereiD* von Tübingen. 18*8. — A. Schmit,
Revue d'hygiene. X. — Hertwig, Dentsche Vierteljahrsschr. für öffentl. Gesundheitspflege.
1S88 — L. Becker. Ebenda. — Schmidt-Mülheim. Der Verkehr mit Fleisch und Fleisch-
waaren. Berlin 1887. — Souchay, Zur Keuntniss der Wurstvergiftung. Tübingen 1889;
Archiv für animalische Nahrungsmittelkunde. 1889. Wem ich
FlÜSSigkeitSrheOStat, s. Elektrodiagnostik und Elektro
therapie, pag. 225.
FluoresceYn, ein Theerfarbstoff, welcher in jüngster Zeit von Straub
und Thornatta zur Sicherung der Diagnose selbst sehr oberflächlicher Horn-
hautepithelverluste empfohlen wurde. Nach Einträufelung einer Lösung von FluoresceYn
in 1/a ' oiger wässeriger Soda werden die epithellosen Stellen lebhaft grün, während
mit Epithel bedeckte sich erst allmälig färben (s. auch bei Cornealerkrankungen).
Auch in der mikroskopischen Technik findet das FluoresceYn, namentlich das
Bromsubstitutionsproduct desselben, das Eosin = TetrabromfluoresceYn . als
Färbemittel des Protoplasmas Anwendung.
Das FluoresceYn oder ResorcinphtaleYn , C23 Hj 2 06 + H2 0 , entsteht
durch Erhitzen von Resorcin mit Phtalsäureanhydrit und bildet ein dunkelrothes
Pulver, löslich in Alkohol und Aether, kaum in kaltem Wasser. Es verbindet
sich mit fixen Alkalien und Ammoniak zu Salzen, die sieh in Wasser mit gelber
Farbe und prachtvoll grüner Fluorescenz lösen. Durch Einwirkung von Brom
auf FluoresceYn entsteht TetrabromfluoresceYn oder Eos in, Ca0H8Br4O6, welches
in Wasser unlösliche gelbrothe Krystalle bildet. Das wasserlösliche Natronsalz —
Eoain des Handels — färbt Wolle und Seide schön rosa und wird als Farb-
stoff benutzt.
Literatur: Straub. Eene Kleurstof als Hulpmiddel voor de diagnostick van
Hoornvlies — Aaudoemingen. Nederl. Tijdschr. 1883, pag. 317. — Fromm und Grovenouw,
Oiagaost. Verwendbarkeit der Fluoresceinfärbung bei Augenerkrankungen. Area. f. Augenkh.
1890, 2. u. 3. Heft. T . • ,
Loebiscn.
Fluorwasserstoffsäure und FlUOmatrium. Die Flusssaure wurde
in Form von Inhalationen von Seiler und Garcin im Jahre 1887 als Heilmittel
gegen Lungenschwindsucht empfohlen.
FLUORWASSERSTOFFSÄURE.
Die F I n or Wasserstoff s äu re gehört zur Gruppe der Halogeusäuren ; man kennt
nie als wasserfreie Säure, welche bei gewöhnlicher Temperatur gasförmig ist, ferner in Form
der Lösung in Wasser als sogenannte wässerige Säure Man erhalt die wässerige Säure durch
Erhitzen *ines <iemL<rhes von ] Mol. Fluss?path mit 1 Mol, concentrirter Schwefelsäure in
Ge fassen von Platin oder von Blei und Einleiten des entwickelten Gases durch eine in die
Retorte luftdicht eingefügte üasteitungsröhre von Platin in ein zum Auffangen des Gases mit
Wasser gefälltes Platingef&ss Wird die so erhaltene Säure der Destillation unterworfen , so
steigt der Siedepunkt Iiis auf 12(T C. und nun geht eine wässerige Säure ober, welche 35*6U'U
wasserfreie Floorwasserstofkänre enthält Es ist dies eine farblose, stark sauer reagireude,
an der Luft rauchende Flüssigkeit, welche fast alle Metalle — Gold und Platin nicht, Blei
nur wenig — unter Wasscrstoffentwicklnng auflöst, mit ihnen Fluorsalse, Fluoride bildend.
Glas wird schon durch verdünnte Fluorwasserstoffsäure angegriffen und angeätzt. Sie ist eines
der gefährlichsten Aetzmittel; sowohl die gasförmige als die wässerige FJusssäure erzeugt,
mit der Haut und mit den Schleimhäuten in Berührung gebracht, schmerzhafte, nach der
Breite und Tiefe gehende S übst ans Verluste, die sehr schwer heilen.
Beobachtungen (siehe bei Langgaard) , dass iu Glasfabriken , in denen
Aetzungen des Glases mittelst Flusasäure eingeführt waren, das Binatbmeu der
Säuredämpfe in der Verdünnung, wie sie in jenen Werkstätten gebräuchlich war.
auf lungenkranke Arbeiter einen heilsamen Eintiuss ausübte, gaben dazu Anregung,
Fluorwasserstoffsäure-Inhalationen bei Phthise, Keuchhusten und Diphtherie thera-
peutisch zu versuchen. Die antiseptische und anlifermeutative Wirkung der Fluss-
säure noch bei einer Verdünnung von 1 : 3000 hat Chevv beobachtet, zugleich
aucht dass Fhisasäuredämpfe mit Luft im Verhältnis von 1 : 1500 gemengt einge-
athmet, für die Luftwege ohne Nachtheil sind. Andere Consta tirten die deletäre
Wirkung auf Tuberkelbacillen in einer Verdünnung von 1 ; 5000 — 20.000.
Es sind nun verschiedene Vorrichtungen angegeben — I ) o J a u DIN -Beatj-
mktz und Chkvy? Bergeron, Bardbt — , um die Fluorwasserstoffsäure sorgfältig
dosirt (eine Verdünnung von 1 : 5000 wird ohne Beschwerden ertragen) in eigens
construirten Kammern iuhaliren zu lassen. Die Apparate sind beseh rieben und
abgebildet in dem unten citirten Artikel Langgaard's. Ueber den Werth der
Fluorwasserstoffsäure-Inhalationen bei Phthise lässt sich bis jetzt aus der Literatur
kein einheitliches Urtheil schöpfen«
Untersuchungen über die physiologischen Wirkungen des Fluornatriums
und der Flusssflure sind von Tappet>er und Schulz ausgeführt Bei Fleisch -
und Pflanzenfressern bewirken toxische Dosen (0*2— 0'4 Grm,), per os und sub-
cutan applicirt, nach Scholz unter dem Bilde zunehmender Benommenheit Zucken
der oberflächlichen Mnsculatur des Rückens und dee Kopfes, später allgemeines
Zittern des Körpers, Es erfolgt weiter Bewegungsbeschränkung und Unfähigkeit,
das Gleichgewicht zu erhalten. Die Athmung wird erschwert, Tod meist rasch
mit clonisch-tonischen Krämpfen. Bei Hunden stets Brechneigung vorhanden Bei
der Section bildet die Hyperämie der abdominellen Organe das auffallendste
Symptom. Das Fluor wird im Harn , an Alkali gebunden , ausgeschieden. In
kleineren Gaben chronisch applicirt, bedingt das Flnomatrium keine Krank-
heitserscheinungen. Die Dämpfe der Flusssäure konnten von Katzen tagelang
eingeathmet werden, selbst iu einer Menge, wo die Luft am Glase Aetzwirkungen
erkennen liess. Doch trat eine eigentümliche Schläfrigkeit ein , deren Ursache
nur in der Wirkung des Fluors auf bestimmte Theile dee Gehirns, analog der
von BrNZ für freies Chlor, Brom und Jod angenommenen, liegen kann. Tappetner
betont die starke örtliche Wirkung der Fluornatriumlösung auf Schleimhäute im
Vergleiche mit Lösungen von Chlor-, Brom- oder Jodnatrium. Bezüglich der
Wirkung auf Baeterien zeigte sich, dass 0*ö%iges Flnornatriuin jedes Wachsthum
unterdrückte } 2%ige Losungen tfldteten Baeterien während 2 — 4 Tagen , auf
Sporen blieben sie ohne Wirkung. Als Kinfluss des Fluornatriums auf das Centrai-
nervensystem beobachtet Tappbiner keine eigentliche Narcose, sondern einen
Zustand von Collaps, wobei der Blutdruck sehr stark herabgesetzt ist. Eine
Ursache dieses Zustande« bildet die Lähmung des Gefässcentrums ; andererseits
Hessen kleinere Gaben, die noch keine vasomotorische Lähmung bewirkten, bei
FLUORWASSERSTOFFSÄURE. — FRAKTUREN.
269
den Versuchsthieren deutlich eine Unlust zu willkürlichen Bewegungen, jedoch
ohne Zeichen von Benommenheit, erkennen.
Literatur: A. Langgaard, Fluorwasserstoffsäure und ihre Anwendung in der
Behandlang der Lungentuberkulose. Therap. Monatsh. 1888, pag. 178. — K. Gager, Fluor-
wasserstoffsäure bei Lungenphthise. Orvosi hetilap. 1888 , 29; deutsch Therap. Monatshefte.
1888, 367. — Jaccoud und H£rard, Discassion über die Wirkung dtr Fluorwasserstoff-
säme auf Tnberkelbacillen. Rev. gen. de clinique et de Ther. 1888, 45. — Hugo Schulz,
Untersuchungen über die Wirkungen des Fluornatriums und der Flusssäure. Archiv für exper.
Pathol. und Therap. XXV. — H. Tappeiner, Ueber die Wirkung: des Flnornatriuai. Archiv
für exper. Pathol. und Pharma kol. I. Mittheil. XXV; II. Mittheil. XX VII. — Garcin, Fluor-
wasserstoffsäure in der Behandlung der Lungentuberkulose. Journ. de med. de Paris. 31. Aug. 1890.
Loebisch.
Folia Belladonna. Nach Arzneibuch III maximale Einzelgabe 0*2 (wie
früher), maximale Tagesgabe 1*0.
Frakturen (vergl. Real-Encyclopädie, II. Aufl., Bd. VII, pag. 326 ff.).
Obgleich Malgaigne in seiner classischen Arbeit1) nicht ganz mit Unrecht sagt,
das Wort fracture gebe eine so klare Vorstellung, dass jeder Definitions-
versuch nur Gefahr laufe, diese zu verdunkeln, sich jedoch weiterhin zu der
Definition entschliesst, „Fraktur sei eine plötzliche und gewaltsame Trennung von
Knochen oder Knorpeln41, erscheint es doch weder zulässig, jede Definition abzu-
lehnen (was ja in Betreff des deutschen „Knochenbruch" fast mit mehr Recht
noch geschehen könnte, da der populäre französische Ausdruck nicht fracture,
sondern cassure lautet), noch vermögen wir uns der MALGAiGXE'schen Definition
anzuschlie8sen , da dieselbe den Unterschied von Knochen - B r u c h und Knochen -
Wunde ganz unbeachtet lässt. Diese Unterscheidung ist aber in theoretischer
sowohl, wie in praktischer Hinsicht nicht ohne Bedeutung. Trennungen der
Continuität an Knochen werden in der That veranlasst: a) entweder durch scharfe
oder doch wegen der giossen Geschwindigkeit ihrer Bewegung diesen analog
wirkende stumpfe Körper (z. B. Geschosse), welche die Continuität nur in dem-
selben Umfange trennen, in welchem sie den Knochen berühren, oder aber b) durch
eine Gewalt, welche, mit relativ grosser Berührungsfläche einwirkend, den Knochen
zerreisst, zersprengt, zerbricht, ohne dass der Umfang der Trennung und oft ohne
dass die Stelle der Trennung der Berührungsfläche des verletzenden Körpers ent-
spricht. Im ersteren Falle heisst die Verletzung „Knochenwunde", im letzteren
„Knochenbruch". Erstere ist sowohl in ihrer Looaiität, als auch in ihrer
Ausdehnung von der unmittelbaren Berührung des verletzenden Körpers abhängig ;
bei dem Knochenbruch ist dies nicht der Fall. 2) Erstere setzt immer eine offene
Wunde der die getroffene Stelle des Knochens bedeckenden Weichtheile voraus,
letzterer bei Weitem nicht immer, so dass man Knochenbrüche, bei denen dies
der Fall ist, ausdrücklich als „offene" bezeichnet. Wird durch eine Gewalt,
welche bei einem Erwachsenen einen Unocb^nbruch veranlasst haben würde, in
einem Körper, dessen Wachsthum noch nicht vollendet ist, eine Trennung an der-
jenigen Stelle eines Knochens bewirkt, wo Diaphyse und Epiphyse zusammen-
stossen, so nennt man diese Verletzung „traumatische Ablösung der Epiphyse".
Statistik. Unter einer Anzahl von nahezu 300.000 mechanischen Ver-
letzungen, welche in dem grossen London -Hospital während 33 Jahren theils
ambulant, theils stationär behandelt wurden, finden sich 45.781 Knochenbrüche,
mithin 15%. ?) In meiner Klinik (in der Berliner Charit^) wurden in 14 Jahren
3200 Knochenbrüche, an mechanischen Verletzungen aber im Ganzen 9756 behandelt.
Die Frequenz der Frakturen unter den Verletzungen überhaupt beträgt also weit
über 32°/o- Diese Differenz erklärt sich aus der Thatsache , dass eine ambulante
Behandlung Seitens meiner Klinik überhaupt nicht stattfindet, jene Zahlen sich
also nur auf stationär behandelte, im Ganzen also schwere Verletzungen beziehen,
namentlich auf solche, welche den Patienten am Gehen hindern. Wird dieser
Umstand nicht berücksichtigt, so erhält man ans der Statistik grosser Hospitäler
auch eine ganz falsche Vorstellung von der relativen Häufigkeit der Knochenbrüche
an verschiedenen Kftrperth eilen. Hieraus erklärt sich, weshalb man früher den
Brüchen der unteren Extremitäten eine viel grossere Frequenz zugeschrieben bat,
als ihnen zukommt; denn Frakturen der oberen Extremität sind in der Tbat
doppelt £0 häufig als solche der unteren. Extremitätenbrüehe machen aber mehr
als 75Q/<> aller Knochenbrttche ans, der Rumpf liefert nur 16:a%, der Kopf nur
4°/0 aller Frakturen,
Für die Diagnose eines Knochen braches ist, wenn die sogenannten
pathognomonisebeu Symptome (Deformität, Beweglichkeit der Brückenden und
Crepitation) fehlen oder undeutlich Rind t der eigentümliche Schmerz bei
Berührung der Bruchstelle von grosser Bedeutung. Derselbe wird durch eineu
leichten Druck mit dem Finger sofort zu einer unerträglichen Höhe gesteigert,
während die benachbarten Theile des Knochens und benachbarte Gelenklinien ein
solche Empfindlichkeit nicht zeigen. Lassen die Übrigen Umstände eine Fraktur
vermuthen, *o berechtigt das Vorhandensein dieses „Bruchschmerzes", wenn auch
die pathognomoniseben Symptome fehlen, zur Annahme eine* Knochen brach es, und
diese Annahme wird fast zur Gewissheit, wenn an derselben Stelle eine Sugillation
sich findet (Malgaigne). In manchen Fällen kann dann die von Mtodeldorpf 4)
empfohlene Aoupunctur noch die erwünschte Sicherheit liefern. Eine glatte
scharfe Nadel wird unter antiseptischen Cautelen und mit Vermeidung edler Theile
an der fraglichen Stelle bis auf den Knochen eingesenkt und dann als Sonde
benützt, um theüs die Bruchzacken, theils den Zwischenraum zwischen denselben
zu entdecken. Von noch viel grösserer Bedeutung ist für alle schwierigen Fälle
die Chloroformbetäubung, in welcher die ganze Untersuchung nicht blos
schmerzlos, sondern, wegen der Erschlaffung der Muskeln, auch viel genauer ana-
geführt werden kann. In demselben Chloroformschlaf kennen dann auch sofort
die wichtigsten therapeutischen Acte vorgenommen werden. Jedoch wird man die
für die Untersuchung und Behandlung erforderliche Entkleidung, welche mit
grösster Vorsicht und sorgfaltiger Schonung des Verletzten (nicht der Kleidunga-
stücke!) auszuführen ist, wohl immer vor dem Beginne der Betäubung bewerk-
stelligen, um letztere nicht unnöthig zu verlängern. Unerfahrene werden, wenn es
sich um Gewohnheitstrinker handelt, durch die Heftigkeit des Excitationsstadiums
und die dabei auftretenden gewaltsamen Bewegungen unangenehm Überrascht. Es
empfiehlt sieh, bei solchen dem Beginne der Betäubung (etwa \4 Stunde vorher)
eine hypodermatisebe Injection von Morphium vorauszuschicken, jedenfalls aber
Hände genug bereit zu halten, um den Körper des Verletzten und namentlich
den verletzten Theil vor weiteren Schädigungen zu bewahren. Sollte man auch
mit Hilfe des Chloroforms zu einer sicheren Entscheidung nicht gelangen (was
schwerlich vorkommen wird) oder Gründe haben, auf dessen Anwendung zu ver-
zichten, so wird mau, wenn Zweifel bestehen, ob Fraktur oder „blosse
Quetschung" vorliegt, um in therapeutischer Beziehung nichts zu versäumen.,
annehmen, dass ersteres der Fall sei. In Betreff der Unterscheidung von
L u x atio n und Fraktur (vergl. Real Encyclopädie, DL Aufl , Bd. XII, pag. 347 u. f.).
In der Aetiologie der Frakturen haben neuere Untersuchungen der
gewaltsamen Drehung (Rotation) eines Knochens oder eiuer Extremität um die
Längsachse eine viel grössere Bedeutung zuerkannt, als früher zugestanden wurde.
Namentlich scheint den sehr schräg (en hec de flüte) oder in Spirallinien ver-
laufenden Brüchen fast ausnahmslos eine durch Drehung wirkende Gewalt zu
Grunde zu liegen. Hierauf ist umsomehr zu achten, als solche Spiralbrüche
den Markoanal weithin öffnen, in un verhält nissmässig grosser Ausdehnung Zer-
quetechung des Marks und Ablösung des Periostes veranlassen, durch die Windung
der Bmchlinien grosse (meist rautenförmige) Splitter ganz auslösen , sich oft in
Längsfissuren sehr weit, selbst bis in ein entferntes Gelenk fortsetzen und auf
solche Weise zu besonderen Störungen und Gefahren Anlass geben, zumal ohne
Berücksichtigung der Entstehungsgeschichte der eigentümliche Verlauf der Bruch-
linie leicht unerkannt und unbeachtet bleiben kann. *}
FRAKTUREN.
271
Unter den Krankheitserscheinungen, welche auch bei ein-
fachen (nicht offenen) Knoehenbrflcben schon in der ersten Zeit nach der Ver-
letzung auftreten, erheischt vor Allein das Fieber eine besondere Beachtung.
Viel häufiger, als man früher geglaubt hat, fiebern die Verletzten anch
bei einfachen Frakturen während der ersten Tage. €J Der Grund hierfür ist einer-
seits in den oft sehr bedeutenden Blutergüssen zu suchen, welche jeden Knochen-
bruch begleiten, andererseits in den wahrscheinlich nicht selten vorkommenden
geringeren Graden der Fettembolie. Blutergüsse vermögen hier, wie liberall, Fieber
durch Resorption der flüssigen Bestandtheile zu erregen, welche das Fibrinferment
enthalten. Zur Fettembolie bietet jeder Knochenbruch Anlass durch die gleichzeitige
Anwesenheit Aussigen Fettes (aus den zersprengten Fettzellen des Markes) und
klaffender Venen im Bruchherde. Je mehr Marksubstanz an der getroffenen Stelle
vorhanden und je mehr davon verletzt (zertrümmert) ist , desto grösser ist die
Wahrscheinlichkeit, dass Lungencapillaren in grosser Menge durch das in den
Venen zum Herzen geführte und von diesem in die Lungen eingetriebene flüssige
Fett verstopft werden. Beschränkt sich diese Verstopfung auf geringe Bezirke, so
führt sie nicht zum Tode, wohl aber zu einer Erkrankung der betroffenen Tbeile
der Lungen, welche Fieber erregt Auch können gewisse Mengen Fett die relativ
geräumigeren Capillaren der Lunge passiren und sich, in dem arteriellen Blut-
strome weiter schwimmend, in anderen Organen festsetzen und dort fieberhafte
Erkrankungen veranlassen.
Ueber plötzlichen Tod durch Fettembolie bei Frakturen liegt eine
ziemlich grosse Zahl von Beobachtungen vor. 7)
Die Untersuchungen von Julius Wolff8) über die Wiederherstellung
der Architektur des Knochens an der Bruchstelle nach den von Cüli-MAXX
erläuterten statischen Gesetzen, haben in immer weiterem Umfange Bestätigung
gefunden. Die in den statischen Verhältnissen begründeten Veränderungen des
Call us sowohl, als des ganzen verletzten Knochens sind wesentlich abhängig von
dem Grade der Dislocation der Bruchstücke. Fehlt diese ganz oder findet sie sich
nur in geringem Grade, so erfolgen solche nur an der Bruchstelle und führen zur
Wiederherstellung der normalen Architektur, namentlich aueh der physiologischen
Verhältnisse der Markhöhle. Bei Heilung mit bedeutender Dislocation entsteht
nicht blos an der Bruchstelle eine neue, den statischen Verhältnissen entsprechende
Architektur, sondern auch weithin, an entfernten Gelenkendcn erfolgt eine den
statischen Gesetzen entsprechende Umbildung. Die Markhöhle wird bei Heilung
mit Dislocation niemals wieder hergestellt. Am normalen Knochen entspricht sie
den Punkten, an welchen Knochensubstanz überflüssig wäre ; am deform geheilten
Knochen ist dagegen das Bestreben wirksam, die erforderlichen statischen Stützen
durch neugebildete Knochenbälkchen zwischen den Brnchstücken herzustellen.
Bei der Behandlung der Frakturen haben unter den Schienen-
verbänden neuerdings besonders die Gyps Hanf schienen von Bbbly •) und die
von P. Bruns 10) empfohlenen Schienen aus plastischer Pappe und aus plastischem
Filz grössere Verbreitung gefunden. In Betreff des Gypsverbandes, welcher
seine Herrschaft namentlich im Bereich des Unterschenkels behauptet hat, ist die
historische Thatsache merkwürdig, dass Dfeffenbach den Gypsbindenverband aus
Binden und Gypsbrei, wie er jetzt vielfach bei Frakturen angelegt wird, bereits
empfohlen und angewandt hat, nur nicht bei Frakturen, sondern bei Klumpfüscen n),
obgleich er sich viele Jahre vorher genugsam abgemüht hatte, bei complicirten
Knochenbrflehen durch „Gypsi Infusio* günstige Resultate zu erzielen.
In Betreff des Wasserglas Verbandes muss auf Grund mehrfacher
trauriger Erfahrungen dringend davor gewarnt werden , Wasserglas mit der Haut
in Berührung zu bringen, da es furchtbare Aetzungen bewirken kann.
Die permanente Extension durch Gewichte mittelst aufgeklebter
Heftpflasterstreifen hat bei den Brüchen des Oberschenkels alle anderen Behandlungs-
weisen fast ganz verdrängt Jedoch muss zugestanden werden, dass sie bei
272
FRAKTUREN.
u u ruhigen Kranken , namentlich aber beim Delirium tremens y unzureichend i st
und mindestens die Hinzufüguog eines (oft noch durch Bandeisen zu verstärken-
den) Gypsverbandes erheischt. Auch bleibt nach langer Anwendung dieser Methode
oft eine qualende Steifheit im Kniegelenke zurück , welche bei der Extension mit
gebeugtem Kniegelenk , nach Mojsisowicz ll) und Middeldorpf u) , vermieden
wird. Eine allgemeinere Verwendung der permanenten Extension hat Barden-
HEUER u) empfohlen und zu diesem Behuf eine Reihe sinnreicher, zum Theil aber
ziemlich complicirter Apparate angegeben, an deren hohem Preise die Verbreitung
derselben ein erhebliches Hindernis finden dürfte.
Bei der Nachbehandlung der Frakturen wird neuerdings von der
Massage ein auagedehnter Gebrauch gemacht. Selbstverständlich darf man
dabei passive Bewegungen der benachbarten Gelenke nicht vernachlässigen,
und im Interesse der schnellen und vollständigen Wiederherstellung der Brauch-
barkeit der Glieder ist es im höchsten Grade wünschen sworth, dass die Verbände
möglichst früh entfernt und active Bewegungen schon vor deren Entfernung
von dem Verletzten ausgeführt werden* Auf solche Weise kann die sonst immer
wieder zu beklagende Schwäche (Atrophie) der Muskeln und Steifheit der Gelenke,
welche aus der andauernden Ruhe hervorgeht, fast ganz vermieden werden. In
diesem Sinne ist bereits von Aug, Berard (JL833) empfohlen worden, bei Brücheu
der unteren Extremitäten die Verletzten schon nach wenigen Tagen umhergehen
zu lassen (la ddambulatitjn) , Bald darauf hat Skütjn lfi) unter dem Schutze seines
Kleister Verbandes dies Princip im weitesten Umfange durchgeführt. Neuer-
dings ist diese Behandlung» weise besonders von X. Dombrowski u) wieder erprobt
und überaus vortheithaft befunden worden. Aus seinen Beobachtungen ergiebt sich
nicht blos eine sichere Verhütung jener Nachwehen der Frakturen, sondern auch
eine erhebliche Abkürzung der Heilungsdauer.
Jedenfalls darf man von den zerbrochenen Beinen nicht verlangen, dass
sie das ganze Körpergewicht tragen. Auch wenn der Verband, wie etwa die von
Hessing 17) in höchster Vollendung angefertigten Apparate, jede Bewegung an der
Bruchstelle ausschliefst, wird doch eine Unterstützung des Humpfes in der ersten Zeit
uOthig sein. Gewöhnlich bedient man eich zu diesem ßehufe der Krücken. Bei
Weitem mehr Sicherheit und Bequemlichkeit gewähren aber die nach dem Typus
der für kleine Kinder gebräuchlichen Lauf körbe eonstruirten Gehgestelle, welche
sieh auf kleinen Rollen leicht bewegen und den Armen des Patienten breite
l'nteratützungsflächen in beliebiger Höhe darbieten. In meiner Klinik haben sich
solche, ursprünglich von einem Wärter ersonnene und gefertigte Gerüste, welche
von jedem Tischler leicht gemacht werden können, durchweg bewährt und für
Uebuugen im Zimmer sowohl die Krücken, als auch die früher benützten „Lauf-
barren" ganz verdrängt.
Bei der Behandlung der offenen Frakturen muss die antiseptische
Methode mit grösster Strenge durchgeführt werden. Viel eher mag man, namentttok
nn den ersten Tagen, in Betreff der Rotention weniger genau verfahren, als irgend*
wie die Möglichkeit einer Wundinfection zulassen. Deshalb muss denn auch die
zur Bruchstelle führende Wunde in weitem Umfange frei bleiben , wenn man
Contentivverbande (namentlich auch Gypsverbände) anwendet. Diese letzteren
müssen, wo möglich, aus aseptischem Material hergestellt werden. Torfmoospappe
lässt sich zu diesem Behufe vortrefflich verwenden.
Kommt eine offene Fraktur in bereits iuficirtem Zustande, d. h. mit
Fieber und Entzündungserscheinungen, zur Behandlung, so ist vor Alhm die
A mputati ons frage zu erledigen. Darf man diese verneinen (was jetzt ungleich viel
häufiger zulässig ist, als in der vorantiseptischen Zeit), so genügt es für die
weitere Behandlung doch nicht, eine strenge antiseptische Säuberung (Desinfection)
vorzunehmen und daun antiseptische Verbände anzulegen. Es müssen vielmehr,
wie bei anderen septischen Phlegmonen, hinreichend tiefe und zahlreiche
Einschnitte gemacht und von diesen aus die erkrankten Gewebe desinficirt werden.
FRAKTUREN.
273
Dazu ist gerade bei den complicirten Frakturen die permanente anti-
septische Irrigation ein vortreffliches Mittel. Natürlich dürfen für diese
Berieselungen nur solche Antiseptica angewandt werden, deren Resorption keine
Gefahr bringt. Am meisten bewährt hat sich mir zu diesem Behufe die essig-
saure Thonerde. Zur Lagerung der zerbrochenen Extremität empfiehlt sich
eine aus Telegraphendraht und Bindenstreifen hergestellte Schwebe, wie sie
Esmarch 18) nach meiuen Angaben abgebildet hat. Dieselbe hat sich in zahl-
reichen Fällen bewährt. Bei Oberschenkelbrüchen kann auch die „vordere Schiene"
von Smith angewandt werden. Die ablaufende Rieselflüssigkeit wird durch ent-
sprechend an der Schwebe befestigte Stücke von Mackintosh oder Wachsleinwand
aufgefangen und in einen Eimer abgeleitet. Die neuerdings von E. v. Meyer19)
angegebenen, übrigens gewiss recht zweckmässigen, besonderen Kasten für die
Berieselung werden hierdurch entbehrlich. Selbstverständlich soll gerade bei
complicirten Frakturen nicht blos eine oberflächliche Berieselung stattfinden, sondern
die desinficirende Flüssigkeit muss durch eingelegte Drains bis in die Tiefen der
Bruchstelle und der phlegmonösen Herde geleitet werden.
Bei Verzögerung der Callusbildung hat Helferich20) durch
eine massige Umschnürung der Extremität oberhalb der Bruchstelle, also durch
Herbeiführung einer venösen Hyperämie, schöne Erfolge erzielt, welche zur Nach-
ahmung auffordern. Reizungen der Bruchstelle durch gewaltsames Hin- und Her-
biegen und Drehen des einen Bruchstückes gegen das andere (das Reiben der
Bruchstücke, nach Celsüs) haben sich desto mehr bewährt, je dreister man sie
in der Chloroformbetäubung auszuführen gewagt hat. Vielleicht ist es dabei auch
häufiger, als man es gerade beabsichtigt hat, gelungen, interponirte Weichtheile
aus ihrer Einklemmung zwischen den Bruchstücken zu befreien oder durch Zer-
reissung oder Zerquetschung zu beseitigen und auf diese Weise eine unmittelbare
Berührung der Bruchflächen herbeizuführen. Hierin mag auch mindestens ein Theil
der guten Wirkung zu suchen sein, welche man davon beobachtet hat, dass man
die Verletzten, sofern es sich um Brüche an den unteren Extremitäten handelte,
unter dem Schutze eines Contentivverbandes mit dem verletzten Bein auftreten
und umhergehen Hess. Jedenfalls ist auf diese mechanischen Einwirkungen
mehr Vertrauen zu setzen, als auf das Aufpinseln von Jodtinctur und ähnliche
Reizmittel.
Bleibt die Callusbildung ganz aus, kommt es also, wie man
sich etwas überschwänglich ausdrückt, zurPseudarthrosis (ununited fracture
der Engländer), so ist nur von eingreifenderen Operationen Hilfe zu erwarten.
Unter dem Schutze der Antiseptik kann man nicht blos Dieffenbach's Elfenbein-
zapfen, sondern auch gewöhnliche Nägel in die Bruchstücke einschlagen und
letztere, wenn es sich machen lässt, geradezu zusammennageln. In der Regel wird
man damit wohl eine Art von Resection, mindestens das Ausschneiden der Zwischen-
substanz und das Abkratzen der Bruchflächen verbinden. Zum Zusammennähen
resecirter Bruchstücke empfiehlt sich ganz besonders der von Wittenbürg in
Hamburg gelieferte Draht. In vielen Fällen hat sich (auch mir) die Methode
bewährt, das eine Bruchende in das andere einzubohren und einzukeilen ; dieselbe
passt besonders bei Pseudarthrosen in der unteren Hälfte des Femur.
Bei der Behandlung deform geheilter Frakturen (Dys-
morphostoses) ist zu unterscheiden , ob die durch solche bedingten Störungen von
dem Druck, welchen gewucherte, namentlich zackige Callusmassen auf die benach-
barten Weichtheile (besonders Nerven) ausüben, oder von der durch schiefes
Zusammenheilen der Bruchstücke bewirkten Missgestalt eines ganzen Knochens
abhängen. Im ersten Falle müssen zackige Osteophyten abgetragen oder die
eingeklemmten Nerven aus den sie umschliessenden Callusmassen herausgemeisselt
werden. Im zweiten Falle handelt es sich darum, den verkrümmten Knochen wieder
gerade zu machen. Unter den zu diesem Behufe anzuwendenden Eingriffen hat
die Osteotomie, durch die antiseptische Methode ihrer Gefährlichkeit entkleidet
Bncyclop. Jahrbücher. I. \&
und durch den allgemein acccptirten Gebrauch des Meisseis erleichtert, immer mehr
Boden gewonnen. Für das gewaltsame Zerbrechen des Calws bedarf ma
koinea „Dyamorphosteopalinklastes" , durch welchen ohnehin die Weichtheile in
der Umgebung der ehemaligen Bruchstelle, sobald eine etwas grössere Gewalt
erforderlich ist, bedenklich gequetscht werden. Oft kann mau den scheinbar sehr
festen Gallus doch noch mit den H ändeu zerbrechen. Für die Fälle, in denen dies
nicht gelingt, habe ich schon vor mehr als 25 Jahren *') den Rath gegebeu und
mit bestem Erfolge sowohl bei schief geheilten Frakturen, als auch bei anderen
Verkrümmungen der Knochen zur Anwendung gebracht, durch Angypsen von
Latten die Hebelarme 7 an denen man beim Zerbrechen mit den Händen wirkt,
nach Bedürfnis» künstlich zu verlängern , wodurch man die Gewalt ungemein
erhöht, ohne die Weichtheile durch stärkeren Druck zu gefährden. Von gröbster
Bedeutung Ut dies Hilfsmittel, wenn das eine Brucbende sehr kurz war, z. B. bei
eiuer Fraktur des Unterschenkels nahe oberhalb des Fussgelenks. Das obere Ende
einer starken, 60 — 80 Cm. langen Holzlatte wird mittelst eines sehr dicken
wohlgepolsterten Gypeverbaudes an dem untersten Theile des Unterschenkels und
dem Fuss befestigt, wobei das Fussgelenk zugleich unbeweglich gemacht wird;
die ehemalige Bruchstelle bleibt frei. Nach völliger Erhärtung des Gypsverbandes
ergreift der Arzt, während ein Gehilfe deu Unterschenkel gegen ein untergeschobenes
derbes Polster fest andrückt, das freie Ende der Schiene und vermag nun i^mit
einer Hand) den Callas unter krachendem Gerflusch zu zerbrechen und dem Unter-
schenkel seine normale Gestalt zu geben» Glaubt man, sich auf die Hände des
Gehilfen nicht verlassen zu können, so empfiehlt es sich, auch oberhalb des zu
zei brechenden Gallus einen analogen Gipsverband anzulegen. Es kann sogar —
namentlich am Oberschenkel, wenn der Bruch oberhalb der Mitte sass — rathsam
sein, eine lange Holzschieue mit einzugypsen , an welcher das obere Bruchstück
dann leicht festgehalten werden kann. Die Heilung erfolgt nach einer solchen
„Dysmorphosteopalinklasic" unter einem sofort anzulegenden Verbände, wie nach
einer frischen Fraktur durch indirecte Gewalt Quetschung der Weichtheile an
der Bruchstelle wird bei diesem Vorfahren gänzlich vermieden,
Literatur: 1 ) H a 1 g a i g n e , Traiti des fractures et des luxations. Paris
1847, I» — *) A. Bardelelien, Lahrbach der Chirurgie und Operationsteile. 8. Ann. Berlin
1880, II, pag. 325. — a) Paul Bruns, Die Lehre von den Knochenbrächen (AlUmeiner
Theil). Lieferung 27 der Deutschen Chirurgie. L Hälfte 1882, IL Hälfte 1886 (ebenso
gründlich wie ausführlich). — *) A. M idd el dorpf , „Afeidopeiraetik.1* Güosburg's Zeitschrift.
1856, pag, 321 und „Beiträge zur Leh>e von deu Knochen brachen". Breslau 1863. — *) Vergl.
Kroel), Deutsche Zeitschrift für Chirurgie. 1S83* XXVIII, pag. 1 n.f. und pag. 495. Diese
sorgfältige, mit sahireichen Holzschnitten ausgestattete Abhandlung giebt auch über die altere
Literatur, aos welcher namentlich die Untersuchungen von Wilhelm Koch (1873) »U grund-
legende hervorzuheben sind, hinlänglich Anfdchluss. — *) Vergl. Paul Bruns, l, c.
pag. ^ 50 u. f. — ') Vergl Scriba, Untersuchungen über die FettetnbolK Deutsche Zeitschr.
L Chirurgie, XII, pag. 118 u. f. — *) Julius Wolff, Das Gesetz der Transformation der
inneren Architektur der Knochen bei pathologischen Veränderungen der äusseren Knochen*
form, Sit*ung*bert d. Akad. d. Wissen-cb, zu Berlin. 1884. — *) ßeely, Der Gyps-Hanf-
Schienen verband. Berliner kl in. Wocbenscbr. 1H7*, Kr. Ii und Archiv f. klin, Chirurgie* XIX,
pag. 112. — ") Paul Bruns, „lieber deu plastischen Filz zu Cent eativverban den". Deutsche
med. Wochensclir. 187Ö, Nr. 29 ' und ,,Ueber einen plastischen Schienensioff, die plastische
Pappe", Verhandl. d. deutschen Gesellach. f, Chirurgie. 1881, pag. 93. — ") Fr. Dioffen-
hach, Die Durctisclmeidung der Muskeln and Sehnen. Berlin 1841, pag. 90, — ") Mojaiso-
wiez, Darstellung der Aequilibrialmethode zur sicheren Heilung der Oberschenkelbrüche ohne
Verkürzung. Wien 1840 u. 1851. — 1<l) A. Middeldorpf in Günsburg's Archiv» 1852 und
Beitrage etc. Breslau 1853. pag» 114 u. f. — ") Bardenhener, Die Verletzungen der
oberen Extremitäten, Lief 63 a) u. b) der Deutschen Chirurgie, 1886 u. 1888* Derselbe.
Die permanente Extensionsbehandlung. 1889. — n) Sentin, Du bandagt amidonne. Bruxelles
1840; Traiti de ta Methoden nmom-inamovibU. In: Memoire* de Tacadem. de medecine
belg. Fase, I, T. 11. — Vergl. Kasimir Smigrodski, Die Grenzen der Auwendung
der Rahe und der Nutzen der Bewegungen bei der Heilung von Knochenhrtlcheo. Referat im
Crntralhl. f. Chirurgie. 1891 ♦ Nr. 8, — 1T) Vergl. v, Jörgensen in der Deutschen med.
Wochenschr. 1890, Nr 48. — v, Esmarcht Handbuch der kriegschirnrgischen Technik.
Hannover 1Ö77, fing, 9 j. — ") Edward v. Meyer, lieber permanente antiaeptische Irri-
gnüon Deutsche Zeitschr. f. Chirurgie. XXXI, pag. 407. — **) Helferich, Deher künstliche
FRAKTUREN. — FRIEDREICH'SCHE KRANKHEIT.
275
Vermehrung der Knochenneubildung. Verhandl. d. deutschen Gesellsch. f. Chirurgie. XVI, 1687.
Archiv f. klin. Chirurgie. XXXVI , pag. 873. — ,l) Lehrb. d.Chirurgie etc. 5. Aufl. , Berlin
1867, n, pag. 375. A. Bardeleben (Berlin).
Franklinisation, Franklinotherapie, s. Influenzmaschinen.
FriedreiCh'SChe Krankheit, hereditäre Ataxie (vergl. Real-
Encyclopädie, II. Aufl., Bd. XIX, pag. 451). In den letzten Jahren sind besonders
zwei werthvolle monographische Darstellungen der FRiEDREiCH'schen Krankheit
erschienen: von Ladame1) und von Ceozer Griffith. 2) Nach Ladame soll die
Gesammtzahl der bisher als Friedreich 'sehe Krankheit publicirten Fälle 165
betragen; Ladame hält diese Zahl jedoch für viel zu hoch, da sich unter den
beschriebenen Fällen viele unechte befinden. Er theilt selbst einen neuen Fall
eigener Beobachtung bei einem 24jährigen, seit dem achten Lebensjahre erkrankten
Manne mit (ohne nachweisbare hereditäre Antecedentien , nur einige Familien-
angehörige „nervös"). Aetiologisch vertritt Ladame auf Grund dieses Falles,
wie auch ähnlicher, die Meinung, das9 in Familien isolirt vorkommende Fälle
von FRiEDREiCH^cher Krankheit keineswegs zu den seltenen Ausnahmen gehören
und dass also die directe gleichartige erbliche Uebertragung kein nothweadiges
Krankheitspostulat bildet. In symptomatischer Hinsicht charakterisirt sich
die Krankheit durch langsam fortschreitende Atasie aller vier Gliedmassen, gewöhn-
lich bei mehreren Kindern einer Familie, oft seit der ersten Kindheit datirend,
an den Beinen beginnend, allmälig auf Rumpf, Arme, Kehlkopf-, Zungen- und
Augenmusculatur fortschreitend; durch Schwäche der Beine mehr und mehr er-
sehwerten, „tabisch-cerebellaren" Gang (Charcot), choreiforme Instabilität oder
„statische Ataxie" (Friedreicb) ; dabei Sprachstörungen, Nystagmus, Rückgrats-
verkrümmung, paralytischer Klumpfuss, Fehlen der Kniereflexe ; völliges Ausbleiben von
Sensibilitätsstörungen, von oculopupillären Symptomen und lancinirenden Schmerzen,
von Excretionsstörungen. In dieser positiven und -negativen Symptomatik (wozu
auch das Fehlen eines ätiologischen Einflusses der Syphilis zu rechnen ist) findet
die differentielle Diagnostik der Krankheit ihre Begründung, besonders
gegenüber Chorea, Tabes, herdweiser Sclerose und den anderweitigen Formen
combinirter Rtickenmarkssclerosen , wie atactische Paraplegie (Gowers), Tabes
spasmodica, atacto-spasmodische Tabes (Grasset), allgemeine Paralyse. Möglicher-
weise existirt noch eine besondere, dem erwachsenen Alter eigene Form von
FRiEDREiCH'scher Krankheit, doch fehlt es hierüber an entscheidenden Beobach-
tungen. Die pathologische Anatomie der Krankheit beruht nach Ladame
auf 9 bisher ausgeführten Autopsien, worunter 4 von Friedreich selbst, 1 von
F. Schultz e , 1 von Ewereth Smith, 1 von Pitt, 2 von Rötimeyer. Nach
diesen Befunden unterscheidet sich die Krankheit anatomisch sowohl von der
Tabes, wie von den anderweitigen Formen combinirter Sclerose: von jener
durch die primäre Systemerkrankung der directen Kleinhirnbahnen und der
gekreuzten Pyramidenbahnen, durch die ausgesprochene Atrophie der Zellen und
feinen Fasern der CLARKE'sohen Säulen bei Integrität der LissAOEa'schen Rand-
zone , auch durch das Verschontbleiben der peripherischen Nerven ; von diesen
durch das regelmässig typische Befallenwerden ganz bestimmter Systeme und
besonders durch die mangelhafte congenitale Veranlagung der später ergriffenen
Gewebe. Die FRfKDREiCH'sche Krankheit lässt sich demnach definiren als eine
combinirte primäre Systemsclerose des Rückenmarks, wobei mehrere bestimmte
Fasersysteme von Geburt an oder während der Kindheit von einer Entwicklungs-
hemmung betroffen sind (Hinterstränge, Pyramiden- und directe Kleinhirnstränge)
und daher vor Erreichung ihrer vollen Ausbildung degeneriren. Die Prognose
der Krankheit ist, wie bekannt, ungünstig; die Therapie leistet wenig. Con-
stante Ströme an der Wirbelsäule (10 — 14 Milliampere), mehrere Jahre fortgesetzt,
sollen in einem Falle von einigem Nutzen gewesen sein; Suspension besserte
zwar einzelne Nebensymptome und das Allgemeinbefinden, Hess aber die Haupt-
erscheinungen unbeeiDflusst.
18*
276
FKIEDREICH SCHE KRANKHEIT.
Crozer Griffith 2) berichtet aus eigener Erfahrung über drei im „Home
for incurables and caneer hospital" (Philadelphia) beobachtete Fülle von Fried-
REJCH'eeher Krankheit, wovon zwei bei 23- und 26jährigen Frauen, einer bei
einem 21 jährigen Manne. Hinsichtlich des letzteren Falles äussert Griffitb die
Vermuthung, daBS eine anderweitige Nervenaffection, vielleicht Neuritis oder Polio
myelitis anterior T der Entwicklung der Ataxie um etwa 8 Jahre voraufgefangen
sei und die nachweisbare Atrophie des linken Beines zur Folge gehabt habe.
Im Uebrigen stimmt der Inhalt der G Ri FFiTH*schen 8chrift so ziemlich mit der
L aliam Euchen flberein; die Gesammtzahl der echten Fälle berechnet Griffith
auf 143; als Ursache betrachtet er Heredität im weitefiten Sinne, nicht blos im
Sinne einer directen gleichartigen Vererbung; auch anderweitige Neuropathien,
Alkoholismus, Tuberkulose, Syphilid, femer Blutsverwandtschaft u. s« w, sind als
prädisponirende Momente aufzufassen. Symptomatisch ist neben den bekannten
llaupterscheinungen auch der (übrigens verhältnissmässig seltenen) tropbiscben und
vasomotorischen Erscheinungen zu gedenken , der (ebenfalls seltenen) Excretions-
störungen von Blase und Mastdarm , der genitalen und sonstigen visceralen und
feoretorischen Störungen. Die Zahl der Sectionen berechnet Griffith auf 12
(ausser den Ladame1 sehen Fällen noch solche von Kahler und Pick, Brousse,
Erlicri und Rybotkin, Gowers, wogegen der Fall von Pitt fehlt). Therapeutisch
will Griffith vom Gypsjacket, sowie auch von Anwendung der Elektricität einige
Erleichterung gesehen haben.
Blocq und MarikesCU 3) theilen den Sectionsbefund eines von Blocq
schon früher anderweitig *) veröffentlichten Falte» von Fried reich 'scher Krankheit
mit Es fand sich eine hochgradige Atrophie des Rückenmarks, Volumsvermin-
derung nicht blos im queren, sondern auch im sagittalen Durchmesser; die Ver-
änderungen bezogen sich a) in der Lumbairegion auf Pyramideostränge und fast
den ganzen Umfang der Hinterstränge mit Ausnahme der vorderen äusseren
Zone; h) in der Dorsalregion auf Pyramiden, directe Kleiuhirnbttndel , auf das
ganze Gebiet der Hinterstränge , ausschliesslich eines schmalen Saumes um das
Hinterhorn, endlich auf die CLARKE'schen Säulen; c) in der Cervicalregion auf
Pyramiden, directe Kleinhirnstränge, GOLi/scbe und Bord ach' sehe Stränge; d) im
verlängerten Hark auf zarte Stränge, Kleinhirnbündel und Keilstränge* — Den
wesentlichen Unterschied von der atactischen Tabes (DrjCHENNE'sche Krankheit)
erblickt auch Blocq einmal in der topographischen Verschiedenheit beider Processe,
sodann aber darin, dass es sich bei der Friedreich sehen Krankheit um eine durch
Vererbung übertragene fehlerhafte Anlage der Spinalaxe, eine Entwicklungshemmung,
und zwar wahrscheinlich um eine primär vasculäre Veränderung handelt, unter
deren Einfluss sich die Atrophie des Organs, sowie die Sclerose entwickeln.
Dejercce's ä) Ansicht, dass die Verschiedenheit der Sensibilitätsstörungen bei Tabes
und bei Friedreich 'scher Krankheit (namentlich die Seltenheit lancinirender
Schmerzen) auf die ungleiche Beteiligung der hinteren Wurzeln und auf die
Integrität peripherischer Nerven bei FRiEDREiCH'scher Krankheit zurückzuführen
sei, hält Blocq in diesem Umfange nicht für zutreffend. Hereditär ist die Krank-
heit, wie auch Blocq c) bestätigt, keineswegs immer*
Däjerink7) hebt im Verein mit Letdlle hervor, dass die Sclerose
bei der Friedretch1. sehen Krankheit einen ganz besonderen, sie von allen
anderen Rückenmarkssclernsen unterscheidenden Charakter darbiete, dass es sich
nämlich um eine reine Neurogliascteroae ohne vasculäre Veränderungen, eiue
„reine Gliose der Hintersträng e" dabei handle. In einem kürzlich
erschienenen Aufsatze bringt Dejerixe *) noch ausführlichere klinische Mitthei-
lungen über „eine besondere Form von Friedreic h's eher Krank-
heit mit MuBkelatrophie und Sensibilitätsstörungen** (zwei Beob-
achtungen bei Geschwistern, Bruder und Schwester; der jetzt 28jährige Bruder
erkrankte im 14. Jahre, zeigte Atrophie mit Dcc renne- A ran Schern Typus an
den Händen, auch an den unteren Gliedmasgen, Klumpfuss, fibrillärc Zuckungen,
FRIEDBEICH'SCHE KRANKHEIT. — FUNICÜUTIS.
277
herabgesetzte faradische und galvanische Contraotilität ohne Entartungsreaction,
statische und locomotorische Ataxie, Kyphoscoiiose , Nystagmus, leichte Myosis
und Pupillenstarre, ROMBERG'sches Symptom, Aufhebung der Sehnen- und Plantar-
reflexe, hochgradige Störung der Hautsensibilität bei erhaltenem Muskelsinn,
lancinirende Schmerzen ; ganz ähnlich die jetzt 45jährige Schwester, deren Leiden
in der Kindheit mit Fussdeformation — doppelseitigem Klumpfuss, weswegen
tenotomirt wurde — anfing).
Referent beobachtete kürzlich einen Fall von hereditärer Ataxie bei einem
30jährigen Manne (aus der Ehe von Geschwisterkindern), dessen Bruder in gleicher
Weise erkrankt sein soll; das Leiden soll sich hier angeblich erst im 22. Lebens*
jähre deutlich entwickelt haben. Ausser den charakteristischen Erscheinungen, der
Incoordination , statischen Ataxie, dem eigenthümlichen Nystagmus mit ruckweise
in horizontaler Richtung erfolgenden, ungleichen und bei gewissen Endstellungen
ganz aufhörenden Bewegungen u. s. w. , war in diesem Falle auch ein allgemein
neurasthenischer Zustand und perverse Sexualempfindung vorhanden. Suspeosions-
behandlung, Bäder (Hydrotherapie) und sonstige Curen blieben ohne nachhaltige
Wirkung.
Literatur: *) Ladame, La malad ie de Friedreich (aus der Revue med. de la
Suisse romande. Juli, August und Novemb. 1889). Genf 1889. — *) J. P. Crozer Griffith,
A contribution to the study of Friedreich's ataxia with exhibition of cases (aus den Trans-
actions of College of physic. of Philadelphia. 1. Febr. 1888). Philadelphia 1889. — *) P. Blocq
und George 8 Marinescu, Compt. rend. des seances de la soc. de biol. 1. März 1890;
publications du progres medical 1890. — 4) Nouvelle iconographie de la Salpetriere. 1^88. —
b) Dejerine, Soc. de biol. 22. Febr. 1890. — e) Blocq, Gaz. des höp. 22. März 18*0. —
7) Dejerine und Letulle, Soc. de biol. 8. März 1890; Med. moderne. 17. April 1890,
Nr. 17. — 8) D6jerine, Med. moderne, la. Juni 1890, Nr. 25. « , ,
HiUlenburg.
FrUCtUS ColOCynthidiS. Nach Arzneibuch III maximale Einzelgabe
0 5, maximale Tagesgabe 1*5.
FliniCUlitiS. Auf die genügend bekannten Erscheinungen der Entzündung
des Samenstranges, welche in der Regel gemeinsam mit Entzündung des Neben-
hodens auftritt, in sehr seltenen Fällen aber auch ohne eine solche in Folge des
Tripperprocesses auftreten kann, braucht hier nicht näher eingegangen zu werden.
Er wähnens werth ist es aber, dass es in seltenen Fällen zur Vereiterung des ver-
dickten Samenstranges kommen kann. Ich selbst hatte Gelegenheit, an Professor
Albert's Klinik einen solchen Fall zu beobachten.
Prof. Lang stellte am 2. April 1890 in der Wiener dermatol. Gesell-
schaft einen ähnlichen Fall vor. Derselbe betraf einen 30 Jahre alten Mann,
weleher in Folge eines Trippers mit einer Entzündung des rechten Nebenhodens
und rechten Samenstranges behaftet war. Vom Rectum aus liess sich oberhalb
der verkleinerten Prostata nach rechts von derselben ein derber, länglicher Strang
durchtasten. Die Geschwulst im Leistencanal war 10 Cm. lang und 5 Cm. breit
und dieselbe hatte 8 Wochen, bevor der Kranke an Lang's Abtheilung kam, zu
einem Durchbruche durch die Bauchdecken geführt.
In meinem Falle wurde, als deutliche Fluctuation nachzuweisen war, der
Eiter durch Incision entleert und erfolgte rasch Heilung unter antiseptischer Be-
handlung. Eine Verwechslung mit der incarcerirten Hernie dürfte bei einiger
Aufmerksamkeit nicht leicht vorkommen. Auch Ehrmann hat einen ähnlichen
Fall gesehen. v Zeigs]
G.
Gallium. Die Verbindungen des von Lecoq de Boisbandran entdeckten
Metalls Gallium, das chemisch zwischen Aluminium und Zink steht, wirken
nach den von Rabüteaü (Compt. rend. Soc. Biol. 1883, pag. 310) mit Gallium-
chlorid angestellten Versuchen giftiger als Mangan und Kobalt, wenig giftiger
als Zink, schwächer als Kadmium, Strontium und Barium. Sie rufen bei Fröschen
Herzschlagverlangsam ung und Paralyse mit Herabsetzung der Muskel- und Nerven-
irritabilität hervor. Hnsemmn.
GalopprhythmUS, s. Auscultation, pag. 7 0.
Galvanokaustik und GalvanOlySe (vergl. Real -Encyclopädie, II. Aufl.,
Bd. VII, pag. 451 — 462). Die früher an den Tauch- (lmmersions-) Batterien be-
merkten Uebelstande sind durch die neueren Constructionen , namentlich von
Hirschmann (Berlin) und von Reiniger, Gebbert und Schall (Erlangen) beseitigt.
Vergl. den (gratis zu beziehenden) illustrirten Katalog der letztgenannten Firma.
In Städten, welche mit Elektricitätswerken versehen sind, empfiehlt sich
der Anschluss an diese als die bequemste Bezugsquelle für den erforderlichen Strom
(vergl. pag. 221).
Vergl. P. Bröse, Ueber die Verwendbarkeit der von Dynamomaschinen (apeciell der
Berliner Elektricitätswerke) erzengten Elektricität zn medicinischen Zwecken. Berliner klin.
Wochenschr. 1890, Nr. 41 und 42. A. Barel eleben, (Berlin).
Galvanometer, s. Elektrodiagnostik und Elektro-
therapie, pag. 224.
Galvanopunktur der Aneurysmen, s. Aneurysma, pag. 46.
Gaslicht, s. Beleuchtung, pag. 83.
Gastrodiaphan, s. Diaphanoskopie, pag. 206.
Gehirnkrankheiten (vergl. Real-Encyclopädie, II. Aufl., Bd. VIII, pag. 60).
Während die pathologisch-anatomische Grundlage der Hirnblutung, speciell
die pathologische Veränderung der Gefäss Wandungen, noch immer einer definitiven
Aufklärung harrt, hat die Symptomatologie der Hirnblutungen zahlreiche
Bereicherungen erfahren. Wernicke macht darauf aufmerksam, dass ähnlich wie
im Facialisgebiet die gewöhnliche cerebrale Hemiplegie nur die Wangen- und
Mundäste betrifft und die Augen- und Stirnäste frei lässt, so auch im Gebiet des
X. accessorius der Ast für den Sternocleidomastoideus regelmässig verschont
bleibt und der für den Cucullaris gelähmt wird. Die respiratorische Function des
GEHIRNKRANKHEITEN.
279
letzteren wird hiervon nicht berührt, sondern lediglich die Fähigkeit der willkür-
lichen Hebung der Schulter. Im Beingebiet ergiebt sich, dass bei der Hemi-
plegie meist die F 1 e x o r e n des Hüftgelenkes, dieExtensorendes Kniegelenkes
und die Planta rflexoren des Fassgelenkes nur relativ wenig leiden. So
vermögen z. B. die meisten Hemiplegiker in Bauchlage den Unterschenkel kaum
bis zur Senkrechten zu erheben, während die Streckung des Unterschenkels mit
annähernd normaler Kraft ausgeführt wird. Da die bei der gewöhnlichen Hemi-
plegie am wenigsten betroffenen Muskeln zugleich die für den Gang wichtigsten
sind, so wird es erklärlich, dass selbst in schweren Fällen das Gehvermögen bis
zu einem gewissen Grade wiederkehrt.
Die posthemiplegischen Bewegungsstörungen sind in den
letzten Jahren besonders eingehend studirt worden. Bezüglich der posthemiple-
gischen Chorea scheint die Zusammenstellung Stephan's die schon von Gowers
ausgesprochene Ansicht zu bestätigen, wonach diese Chorea meist von einer Läsion
des Thalamus opticus abhängig ist. Hiermit stehen auch anderweitige Beobach-
tungen gut in Einklang. Häufig ist diese Hemichorea mit Hemianästhesie vergesell-
schaftet; es ist dann der hintere Abschnitt des hinteren Schenkels der inneren
Kapsel an der Läsion betheiiigt (Charcot).
Die hemiplegischen Contracturen theilt man zweckmässig ein in
1. solche, welche gleichzeitig mit der Apoplexie auftreten;
2. solche, welche 2 — 5 Tage nach der Apoplexie auftreten (Frühcontrac-
turen) und
3. solche, welche erst nach längerer Zeit sich ausbilden (Spätcontracturen).
Die letztgenannten sind weitaus die häufigsten. Die pathologisch- anato-
mische Grundlage fflr die erstgenannte Gruppe der „simultanen Contracturen" ist
noch nicht bekannt. Dieselben finden sich meist nur bei letal verlaufenden Apo-
plexien und sind daher prognostisch im Ganzen von übler Bedeutung. Die Früh-
contracturen werden auch als primäre bezeichnet. Sie sind an den Armen am
häufigsten, fast stets überwiegt die Contraction der Flexoren. Die Spätcontrac-
turen oder secundären Contracturen entwickeln sich entweder allmälig aus den
Frühcontracturen oder häufiger treten sie selbständig auf, und zwar meist 6 bis
8 Wochen nach dem Insult. Ausnahmsweise sah Vulpian Spätcontracturen sich
schon 20 Tage nach dem Insult einstellen. Ueber die Bedeutung der secundären
Degeneration für die Pathogenese der Spätcontracturen bestehen noch immer
erhebliche Meinungsverschiedenheiten. Oefter bat man neuerdings beobachtet, dass
die secundäre Contractur auch die ursprünglich nicht gelähmten Glieder der anderen
Körperhälfte, namentlich das Bein, ergriff. Die Beziehung der Steigerung der
Sehnenphänomene und des sogenannten Fussclonus zur Spätcontractur ist nament-
lich von Charcot und Brissaud hervorgehoben worden. Nach diesen Autoren
würde der Eintritt von Fussclonus einige Wochen nach dem Insult der Ausdruck
der in das Rückenmark gelangten secundären Degeneration und damit der Vor-
bote der Spätcontractur sein. Für eine gewisse Reihe von Fällen trifft dies in
der That zu. Andererseits ist es unzweifelhaft, dass in Analogie zu den Früh-
contracturen auch schon in sehr frühen Stadien zuweilen Fussclonus vorkommt.
So haben Westphal und Schwarz Fälle beschrieben, iu denen schon eine
Stunde nach dem Insult Fussclonus bestand. Dieser frühe oder primäre Fussclonus
stellt sich sonst meist im Laufe des zweiten Tages ein, der secundäre, häufig
zur Contractur führende im Laufe der zweiten bis dritten Woche. Es würde also
der typische Verlauf folgender sein: im Insult Abschwächung oder Aufhebung
der Sehnenphänomene , am zweiten Tage Steigerung derselben , in der zweiten
oder dritten Woche abermalige Steigerung. Ausnahmen sind übrigens häufig.
Unsere Kenntniss der sensiblen, sensorischen, vasomotorischen und tro-
phischeii Störungen bei cerebralen Hämorrhagien weist wesentliche Bereicherungen
nicht auf. Bemerkenswerth ist, dass man neuerdings mehrfach auch bei cerebralen
Hemiplegien frühes Eintreten von Atrophie in den gelähmten Muskeln und Ver-
"dcr&Dgeu der elektrischen Erregbarkeit gerundcu uac. So coustatirte Borghsaim
schon am dritten Tage nach Eintritt einer cerebralen Hemiplegie eine deutliche
Muskelatrophie. Webxicke fand die Erregbarkeit der gelähmte« Muskeln bei
cerebraler Hemiplegie sowohl für den Constanten, wie für den faradischen Strom
herabgesetzt. Eisen lohe fand ausser hochgradiger Herabsetzuug der direoten
faradischen Erregbarkeit (namentlich in den kleinen Handmuskelu) auch qualitative
Anomalien der galvanischen Reactiom
in den letzterwähnten Fallen Elsexlohr's handelt es sich nicht um Hirn-
blutungen, sondern um Hirnabscesse, Ueber die Symptomatologie und patho-
logische Anatomie dieser letzteren, sowie der cerebralen Erweichungsherde haben
unsere Kenntnisse keinen wesentlichen Fortschritt aufzuweisen* Dasselbe gilt von
den Hirntumoren. Die diffusen syphilitischen, sowie die syphilitischen Herderkran-
kungen des Gehirnes haben eine sehr eingehende Bearbeitung, namentlich durch
Rümpf erfahren. Rumpf beschreibt u. A. auch eine Gruppe von Krankheitsfällen
genauer, welche er als syphilitische Hirner krau kungen ohne Herdsymptome
bezeichnet. Zum Tbeil deckt sich diese Form mit der „cephalalgischen Form"
FotJRNiEfl's, doch kommen auch hierhergehörige Fälle ohne erheblichere Kopf-
schmerzen vor. Praktisch sind diese Fälle besonders wichtig, weil sie leicht mit
einfacher Neurasthenie verwechselt werden. Die Hauptsymptome dieser Form sind
ausser Kopfweh namentlich Schwindel und Schlaflosigkeit, Differenz der Pupillen
und Aufhebung oder Beeinträchtigung ihrer Lichtreactionen (zuweilen nur der
syn ergischen). Die psychischen Krankheitserscheinungen können vollkommen denen
der einfachen Nervosität gleichen, es besteht also eine reizbare Verstimmung,
sowie eine Hemmung und rasche Ermüdung de* Vorstellungsablaufes und der
ReproductiotL Ein objeettver Defect der Intelligenz ist meist nicht nachzuweisen.
Die antisyphilitische Cur kann hier oft eine völlige Heilung erzielen; andererseits
entwickelt sich allmälig oder im Rückfall zuweilen trotz energischer antisyphili-
tischer Behandlung eine schwerere Form der Gehirnsyphilis, Endlieh kommt
zu weiten auch der Uebergang in eine typische Dementia paralytica vor, Hierher
gehören z. T. auch die Fälle Moeli's, in weichen Lichtstarre der Pupillen jahrelang
einer Dementia paralytica vorausging.
Eine erhöhte Bedeutung hat die topische Diagnostik der Gehirn
erkrankungen gewonnen, seitdem in den letzten Jahren die Gehirnchirurgie mit
wachsendem Erfolg an die Behandlung der cerebralen Herderkrankungen beran-
gegangen ist. In dieser Beziehung ist ergänzend zu bemerken, dass die Legali-
sation der einzelnen motorischen Centren auf der Hirnrinde erheblich an Schürfe
gewonnen hat, nachdem die Hirnphysiologen für ihre faradtscben Reizungsversuche
das Gehirn des Affen, neuerdings auch des Orang (Beevor und Hoksley) gewählt
haben. Die Reihenfolge der motorischen Centren auf der vorderen Centraiwindung
des Menschen wtlrde sich hiernach folgen dermassen — von der medianen Mantel-
kante beginnend — gestalten ; Zehen, Fuss, Unterschenkel, Oberschenkel, Schulter,
Ellbogen. Hand, Finger, Daumen. Das unterste Drittel der vorderen Central windung
würde den Zungen- und Mund beweg un gen gemeinschaftlich angehören, Ueber diu
•Central furche nach hinten scheinen nur die Centren der Daumen-, Zeigefinger-
und Mundfacialisbewegungen hinauszurageu. Ein Centrum für die assoeiirte 8eit-
wärts wendung der Augen wäre im vordereu Theile der untersten Stirn windung,
ein Centrum für assoeiirte Seitwärts wendung der Augen und gleichzeitige Kopf-
drehung (nach der gekreuzten Seite) am hintereu Ende des Sulc. frontalis sup.
zu suchen,
Krankheitsherde in der eben beschriebenen motorischen Region der mensch-
lichen Hirnriude führen nach den seitherigen Beobachtungen selten oder nie zu
objectiv nachweisbaren SensibiliUttsstörungen. Selbst feinere Berührungeu werden
meist empfunden. Häufiger sind Parästbesieu , namentlich eigentümliche Taub-
heitsempfindungen. Auch geben die Kranken zuweilen an, dass sie subjectiv nicht
mehr so fein in der gelähmten Extremität zu empfinden glauben. So kommen
GEHIRNKRANKHEITEN.
281
Fälle vor, bei welchen unzweifelhaft eine corticale Läsion der motorischen Region
besteht und der Kranke nicht anzugeben vermag, wieviel Blätter eines Buches
er in der gelähmten Hand zwischen den Fingern habe, während er mit der
gesunden Hand dies fast stets richtig fühlt.*) — Die Bedeutung der clonischen
Gonvulsionen (häufig mit initialem kurzen Tonus verbunden) für die Diagnose eines
Herdes in der motorischen Region ist unter Epilepsie, die Bedeutung der ver-
schiedenen Aphasien, sowie der Alexie und Agraphie für die topische Diagnostik
ist unter Aphasie nachzusehen.
Der obere Scheitellappen scheint nach Nothnagel in enger Beziehung
zu dem sogenannten Muskelgefühl der gekreuzten Körperhälfte zu stehen. Das
untere Scheitelläppchen steht, wie sich mehrende Beobachtungen ergeben, in Be-
ziehung zu den Augenbewegungen. Wernicee stellt direct den Satz auf, dass
conjugirte Augenablenkung das Herdsymptom des unteren Scheitelläppchens ist.
Im OccipitaUappen scheint es speciell der Cuneus zu sein, in welchem die Seh-
fasern enden und die Gesichtswahrnehmungen stattfinden. Auch das Symptom der
Seelenblindheit ist bei corticalen Herderkrankungen des Occipitallappens jetzt
häufig beobachtet worden, selten ohne Hemianopsie, meist mit Hemianopsie oder
Alexie. Die betreffenden Patienten sehen die Gegenstände, erkennen sie aber
nicht; auch pflegt die sogenannte optische Phantasie erloschen zu sein. Genauer
anzugeben, wo das in diesen Fällen lädirte optische Erinnerungsfeld liegt, ver-
mögen wir noch nicht. Die Herderkrankungen des Schläfenlappens zeigen im
Anfang ihrer Entwicklang oft sabjective Geräusche, wie namentlich Göwbrs betont
hat. Ueberhaupt sind Hallucinationen als Reizerscheinung bei Herderkrankung im
Gebiete oder in der Nähe einer Sinnessphäre nicht selten. Die für das Thier schon
längst behaupteten Beziehungen des Oyrus hippocampi zu dem Geruchsinn sind jetzt
durch einzelne Beispiele aus der menschlichen Pathologie bestätigt worden (Hugh-
lings Jackson und Beevor).
Grosse Schwierigkeit bietet der Diagnostik die Unterscheidung der corti-
calen Herde von den subcorticalen, d. h. den im Marklager unmittelbar unter der
Hirnrinde gelegenen Herden. Meist ist eine sichere Unterscheidung unmöglich.
Zuweilen kann der Ausfall gewisser associativer Leistungen einen Anhaltspunkt
für die Annahme eines subcorticalen Processes geben. Hierher gehört z. B. die
neuerdings beschriebene optische Aphasie (vergl. Aphasie). Für die Local-
diagnose von Tumoren ist zuweilen auch die Percussionsempfindlichkeit des Schädels
zu verwerthen.
Bezüglich der Erkrankungen der grossen Ganglien ist unsere topische Dia-
gnostik noch äusserst unsicher. Für Vierhügelerkrankungen (speciell Tumoren) scheint
nach Nothnagel charakteristisch: erstens ein taumelnder Gang (Ataxie d'ivresse)
und zweitens eine Ophthalmoplegie, welche Muskeln beider Augen in unregel-
mässiger Vertheilung und ungleichem Grade befällt; eine besondere Prädilection
besteht für Lähmung der Musculi recti sup. und in/er. Die Gehstörung ist
wahrscheinlich speciell auf die hinteren Vierhügel zu beziehen. Ueber die nach
den anatomischen Untersuchungen für Erkrankungen der vorderen Vierhügel zu
erwartende Sehstörung und die für Erkrankungen der hinteren zu erwartende
Hörstörung liegen noch zu unzureichende Daten vor (Rüel). Für Sehhügel-
erkrankungen hat Nothnagel als charakteristisch die mimische Facialislähmung
hervorgehoben. Die von ihm beobachteten Kranken, bei welchen die Section eine
Sehhügelerkrankung später nachwies, vermochten den dem Herd contralateralen Mund-
facialis activ normal zu innerviren ; nur bei mim isch en Bewegungen (Lachen,
Weinen) blieb derselbe völlig zurück. Bezüglich der Herderkrankungen des Klein-
hirns ist nachzutragen, dass neuerdings die Beobachtungen sich mehren, in welchen
trotz Localisation des Processes im Wurm die sogenannte cerebellare Ataxie
*) Der Nachweis eines engen anatomischen Zusammenhanges zwischen den Hinter-
strängen und den Centraiwindungen ist neuerdings von Flechsig geführt worden.
fehlte (Becker), — Als Kriterium der basalen Hirnsyphilis ist eine wechselnde
bitemporale Hemianopsie wichtig (Oppenheim).
Literatur: E. Becker, Virchow's Archiv. CXJV, Heft I. — Bianchi, La etni-
plegta* Napoli 1886» — Borgherini, Rimsta xperim. di frtniatria. XV; Deutsches Archiv
für klin. Med. 1689; Neurolog. CentralbL 1890, Nr. 18- — Eisenlohr, Muskelatrophie und
elektrische ErregtmrkeitBveränderungea bei Hirn h erden. Neorol. Centr&lbi. 1890, Kr. 1. Zur Dia-
gnostik der Vierhügelerkrankungen. Jahrb. der Hamburg. Staatakrankenanst. 1889. — Flechsig
und Hoesel, Die Centraiwindungen, ein Centraiorgan der Hinterstrange, Neurolog. Centralbl.
1890, Nr. 14. — Jackson and Beevor, Brain. Oct. 1889. — öreidenberg, Ucber die
postheniiplegischen Bewegougnst orangen. Archiv für Psych. XVII. — Nothnagel, (Jeher
Tumoren der Vierhügelregion. Wiener med. Presse. 1889, Nr. 3; Brain, July 1889. Zur
Diagnose der Sehhägelerkrankungen. Zeit sehr, für klin, Med. 1889, Heft 5 und 6. — Oppen-
heim, Zur Pathologie der Grosshirngeschwülste. Archiv für Psych. XXI und XXII. —
Quincke, Ueber Muskelatrophie bei Gehirnerkrank ungen. Deutsches Archiv für klin. Med.
1888. — Ruel, Physiologie et Pathologie des tubercule» quadrijumeaux* Geneve 1890. —
Rumpf, Die syphilitischen Erkrankungen des Nervensystems. Wiesbaden 18^4. — Seguin,
De Vhhnianopsie corticalc. Arch. de NenroL 1886. — Stephan, Les trcmblemetits prae- et
posthStmptfyiques ei Imrs rapports avec tes affection* c4r4brales* Revue de med. Mars 1887.
W e r n i c k e , Zur Kenotniss der cerebralen Hemiplegie. Berliner klin. Wochenschr* 1889,
Nr. 45. Herderkrankung de* unteren Scheitelläppchens. Archiv für Psych XX, Herabsetzung
der elektrischen Erregbarkeit bei cerebraler Lähmung. Breslauer ärztl. Zeitschr. 1887* Fort-
schritte der Med. 1887. Nr 18. — Wildbrand, Die Seelenblindheit als Herderscbeionng
und ihre* Beziehungen tur homonymen Hemianopsie, zur Ataxie und Agraphie. Wiesbaden 1887.
Th. Ziehen.
Gehirnkrankheiten (chirurgische), in diesem Capitei sind zunächst
die mit Erscheinungen von 1 Umdruck einhergehenden traumatischen Blutergüsse zu
berücksichtigen. Ks handelt sieh dabei ausschliesslich um arterielle Hämatome der
Ayteria menfagea media. Anderweitige intracranielle Hämatome als die venösen
Hämatome bei Sinuszerreissuugen , die diffusen subduralen Blutergüsse oder die
intermeningealen geben zu chirurgischen Eingriffen keine Veranlassung. Kbönlein
sagt mit Recht: ,,Bei unversehrten Hautdecken und geschlossener Schädelkapsel ein
Hämatom der Art, mtfwngea media richtig diagnosticiren, auf Grund dieser Diagnose
die Schfldelhöhle an richtiger Stelle künstlich eröffnen und durch Beseitigung des
ftiutextravasata das von todtlicber Lähmung bedrohte Gehirn noch zur richtigen
Zeit zu entlasten, gehört, wenn nicht zu den glänzendsten Triumphen, so doch
sicher zu den dankbarsten, weil direct lebensrettenden Handlungen der operativen
Chirurgie. u Ist ein durch Verletzung der Art. meningea verursachtes Extravasat
vorhanden , so tritt nach Ablauf der Erschutterungssyraptome ein Intervall ein,
wo der Kranke bei Bewußtsein ist; bald aber folgt Hemiplegie, dann allgemeine
Lähmung unter Bewusstlosigkeit uud endlich der Tod. Diese Symptome erklären
sich aus dem Umstände, dass das Extravasat eine bestimmte Grösse erreichen
umas, bis die Erscheinungen von Hirndruck auftreten. Das geschieht bei der
Verletzung einer so machtigen Arterie relativ schnell, meist in wenigen Stundeu.
Hier ist die Trepanation des Schädels, Entleerung des Extravasats, eventuell Unter-
bindung der verletzten Arterie angezeigt. Man unterscheidet eine vordere, mittlere
und hintere Lage des Blutergusses bei Verletzung der Art, meningea und wird
je nach den Anzeichen vorn oder hinten trepaniren , eventuell an zwei Stellen.
Bei Hirn wunden wird man operativ vorgehen, weun die Art der
gleichzeitig stattgehabten Knochenverletzung die Heilung der Gehirn wunden hindert,
schädigt oder unmöglich macht* Dahin gehören alle Verunreinigungen der Wunde
durch das Trauma selber, Splitterungen des Schädeldaches, Fremdkörper einge-
drungen bis in s Gehirn u. dergl. m. Nur dann, nach kunstgerechter Beseitigung
dieser Complicationeo, wird die für die Heilung der Gehirn wunden nöthige Asepsis
erreicht* Freilieh wird auch dann nicht immer das gewünschte Ziel erreicht
werden, denn Patienten mit ausgedehnter Zertrümmerung der Knochen, der Dura
gehen oft an Hirniidcm oder Prolapsus cerebri zu Grunde, gegen die anzukämpfen
wir machtlos sind. Bei Hirnsch (lasen rathen wir ab, operativ vorzugehen,
da die Extraction der Kugel ohne grösseren Schaden für das Gehirn doch nicht
GEHIRKKRANKHEITEN.
283
orreicht werden kann. Andere Chirurgen wollen die Eingangsöffnung so erweitern,
dass die Einführung des kleinen Fingers behufs weiterer Untersuchung möglich
wird. Selbst dann, wenn bereits deutlich ausgesprochene Symptome von Menin-
gitis und Encephalitis vorhanden sind, kann, wie einige Veröffentlichungen beweisen
(Esmarch, Mosetig), die intermediäre Trepanation noch Erfolg haben.
Die chirurgische Behand 1 ung des G eh im abscesses. Die
häufigste Ursache geben Verwundungen des Schädels ab. Die Entzündung und
Eiterung ungenügend gereinigter Hirnwunden, das Eindringen von Fremdkörpern
führen zur Bildung von Abscess. Aber auch ohne Knochenverletzung, nur durch
Weich theilsverletzung oder Entzündung können Gehirnabscesse entstehen. Ebenso
können aus anderen Ursachen entstandene Entzündungen von Schädelknochen
Veranlassungen zum Entstehen von Hirnabscessen geben. Dahin gehören die
Eiterungen des Mittelohres und die Entzündungen des Felsenbeines. Bei tief-
liegenden Hirnabscessen fehlen deutliche Herdsymptome. Hier ist die Aetiologie
von allergrösstem Werthe, die zur Wahrscheinlichkeitsdiagnose führt. Die meist
an chronische Mittelohreiterungen sich anschliessenden Hirnabscesse finden sich
in den beiden, an das Felsenbein nächst angrenzenden Hirnbezirken. Der Schläfen-
lappen des Grosshirns ist häufiger der Sitz dieser A bscesse als das Kleinhirn. Oft
sind diese Abscesse von der Dura noch getrennt durch eine Zone gesunden Gewebes.
Die otitischen Hirnabscesse sind in den letzten Jahren mit Erfolg operirt worden.
Die Entstehung derselben kann aber durch richtige Behandlung der Otitis und
frühzeitige operative Behandlung der Abscesse des Proc. mastoideus verhütet
werden. Tuberkulöse und metastatische Abscesse werden wegen der Schwierig-
keit, oft Unmöglichkeit einer sicheren Diagnose wohl nur selten Gegenstand
chirurgischen Eingreifens sein.
Die Exstirpation von Hirngeschwülsten ist in der letzten
Zeit mehrfach mit Erfolg ausgeführt worden. Nicht alleiu sind Geschwülste, die
vom Schädeldach oder den Hirnhäuten ausgingen und auf das Gehirn übergegangen
waren, mit Erfolg operirt worden, sondern auch rein endocranielle Tumoren.
Doch dürfte auch in Zukunft nur der kleinste Theil aller Hirngeschwülste
operirbar sein, da die Bedingungen für eine erfolgreiche operative Behandlung
nur selten eintreten dürften. Diese Bedingungen sind: Bestimmte Diagnose des
Sitzes des Tumors, Erreichbarkeit dieses Sitzes für das Messer, relative Gut-
artigkeit des Tumors. Die Tumoreu, die bisher Gegenstand operativen Einschreitens
bildeten, waren Tuberkel (käsige Herde), Sarcome, Gliome, Cysten und Gummata.
In einem von mir operirten Falle war ein Gumma vom Knochen aus auf die
Dura und von da in das Gehirn gewuchert und hatte Herdsymptome (typische
Rindenepilepsie) erzeugt.
Die bedeutendsten Resultate hat die Hirnchirurgie bei der Behandlung
gewisser Formen von Epilepsie gehabt. Die operative Chirurgie geht hier
Hand in Hand mit der Lehre von den motorischen Rindeucentren und vorwiegend
ist die traumatische Rindenepilepsie ihr Feld. Die Operation bezweckt
die Entfernung desjenigen motorischen Rindenfeldes, dass der Muskelgruppe ent-
spricht, in der die epileptischen Krämpfe und Couvulsionen anheben, um sich
dann auch auf andere Muskelgruppen auszudehnen. Ich habe neuerdings aber auch
mit Erfolg (wenigstens bedeutender Besserung) in zwei Fällen von cerebraler
Kinderlähmung (Hemiplegia spastica infantilis) , bei der gewisse motorische
Reizerscheinungen und Epilepsie aufgetreten waren , Operationen ausgeführt. In
beiden Fällen fand ich Cysteu vor, die ich entfernte. Natürlich gehört eine
jahrelange Beobachtungszeit dazu, über den Erfolg derartiger Operationen ein
definitives Urtheil abzugeben.
Sowohl bei diesen Operationen, als auch bei den zum Zwecke der Exstir-
pation von Tumoren ausgeführten Operationen kann man die temporäre
Resection des Schädels machen. Nur sorge man dabei für eine möglichst
breite Ernährungsbrücke des zu resecirenden Haut- und Knochenstückes. Daun.
284
G EH IRN KRANE HE1TEN. — GICHT.
ist eine Nee rose des Knochenstüekes nicht zu befürchten* Die Einheilung des
Knochenstückes erfolgt ohne Störung. Ich Labe letzthin bei drei Patienten die
temporäre Reseetion mit den besten Resultaten ausgeführt. Die Operation führt
man folgendermassen aus: Ein grosser bogenförmiger (etwa afi eines Kreises eut-
sprechender) Schnitt wird so durch die Haut bis auf den Knochen geführt , dass
die breite Hautbrücke nach abwärts, also peripher von der Mitte des Schädels
zu liegen kommt, Mit einem langen feinen Meissel wird entsprechend dem Haut-
schnitte der Knochen durch kurze Schlage an- und allmälig durch gemeisselt, ohne
dass die den Knochen bedeckende Haut nebst Periost zurückgezogen oder von der
Unterlage abgehoben wird. Dann wird entsprechend der HautbrUcke mit dem-
selben feinen Meissel die Knochenbrücke subcutan durchtrennt. Auch dieses ist
leicht und bequem und ohne Verletzung der die Brücke bildenden Haut auszu-
führen. Mit Hilfe schmaler und gebogener Elevatoren wird die Abhebung der
ausgemeisaelten Knochenplatte versucht. Da, wo noch bedeutenderer Widerstand
sich zeigt, wird mit dem Meisel die Durchtrennung des Knochens noch vervoll-
ständigt. Es gelingt dann sowohl bei Erwachsenen, wie auch bei jugendlicheren
Individuen die Knochenplatte in toto abzuheben, und zwar ohne Splitterung
derselben und sie samrat der bedeckenden Haut zurilckzuklappen. Nun folgt
der weitere Act der Operation : Spaltung der Dura, Abtragung der Gyn etc., je
nachdem diese oder jene Erkrankung vorliegt. Nach sorgfältiger Blutstillung wo-
möglich Vernähung der Dura mittelst Catgut, dann Reposition des Knochenstückes.
Dieses gelingt nicht immer vollständig und meist bleibt es, trotzdem man durch
leise Hammerschläge es in die OefTnung wieder eiu zufügen sucht, mit dem oberen
Rande etwas überstehen. Doch hat dieses für die Heilung keine Bedeutung. Schliesslich
vernäht man noch die Hautwunde mit Catgutnitbten auf das Genaueste. Keine
Drainage. Die Heilung erfolgt meist unter einem Verbände.
Sonnenburg,
Gelenkentzündung, bei Abdotninaltyphus, pag. 9.
Geranium maculatum, s, Blutstillung pag. in.
Gicht, Arthritis urica (vergl. ReaUEaeyclopädie, II. Aufl., Bd. VIII,
pag. 308). Die Erfahrungen der letzten Jahre haben die Anschauungen über das
Wesen der Gicht und die Kenntniss von ihren Erscheinungen und den Grund-
lagen ihrer Behandlung nicht bedeutend geändert. Von deu iu dies Gebiet fallenden,
nicht allzu zahlreichen Veröffentlichungen seien die wichtigsten hier nachgetragen ;
Von theoretischen Betrachtungen über das Wesen der Gicht ist eine
neue Auseinandersetzung von Ebstein \) zu nennen, welcher in einem Referat auf
dem VU1. Congress für innere Medicin im Wesentlichen deine früheren Anschauungen
bestätigte. Er trennt nach wie vor als die beiden Haupttypen der Erkrankung
die primäre Gelenkgicht und primäre Nierengicht und sucht die Grundlage der
gichtischen Erscheinungen in einer Harnsaure Stauung, die er für die Gelenk-
gicht als local, für die Betheiligung der Nieren und übrigen inneren Organe als
eine allgemeine annimmt. Die krystall inisehe Ausscheidung der Harnsaure erklärt
er (im Gegensatz zu Garrod) so, dass die in den Gewebsflüssigkeiten gelösten
Urate zu uecrotisirenden Herden führen und an diesen die Harnsäureablagerungeo
stattfinden sollen.
Einen neuen Beweis für den Zusammenhang gichtischer Beschwerden mit
ungenügender Harnsäureausscheidung liefern auch Urinuntersuchungen,
welche Haig *) bei einer an fieberhaften Gichtanfallen und Kopfschmerz leidenden
Frau in Bezug auf Aciditat des Urins , Harnstoff- und Harnsäureausscheiduug
anstellte. In der Regel zeigten Gelenkaflectionen , Fieber und Kopfschmerz Ver-
schlimmerung bei zunehmender Aeidititt des Urins und abnehmender Harnsäure-
ausscheidung ? bei umgekehrten Verhältnissen Besserung. Die Verschlimmerung
trat besonders nach gewissen Medicamenten ( Eisen, Sauren, phosphorsaurem Natrium),
GICHT. — GLYKURÖNSÄÜRE.
285
welche die Löslichkeit und Ausscheidung der Harnsäure zu vermindern geeignet
sind, ein ; die Besserung nach solchen (Alkalien, salicylsaurem Natrium), welche diese
Momente erhöhen.
Für die pathologisch- anatomischen Verhältnisse der Gicht ist eine von
Moore 3) gegebene Zusammenstellung der Obductionsberichte über 80 Fälle
von Gicht (Ausscheidung harnsaurer Salze an den Gelenkknorpeln) aus dem Londoner
Bartholomews Hospital von Interesse. Es ergab sich, dass die Ablagerung der
Urate in beiden Körperhälften ziemlich symmetrisch stattfindet, dass sie häufiger
an den Beinen als an den Armen ist, und zwar besonders häufig im Metatarso-
Phalangealgelenk der grossen Zehe, im Knie etc., dagegen selten im Hüftgelenk,
Sternoclaviculargelenk, den Larynxgelenken etc. In einem grossen Theile der Fälle
fanden sich neben den Gelenkaffectionen Veränderungen der inneren Organe,
namentlich chronische interstitielle Nephritis, Lungenemphysam, Apoplexia cerebri,
Verkalkung der Aortenklappen u. a., selten Lebercirrhose.
In Bezug auf die Symptomatologie weist Legros4) von Neuem die alte
Annahme zurück, dass der häufige plötzliche Tod Gichtkranker auf „Meta-
stasen" beruhe. Die Mehrzahl solcher Fälle erklärt sich durch lange vorbereitete,
iu Folge der gichtischen Anlage eingetretene innere Erkrankungen, in erster
Linie die Arteriosclerose ; mit dieser stehen sowohl die häufigen Nierenleiden (die
zur Urämie führen können), wie die Erkrankungen des Herzens, besonders des
Myocards (die zu acuter Lungencongestion Anlass geben), in Verbindung.
Auf die bisher wenig beachtete Localisation der Gicht in gewissen Drüsen,
namentlich der Parotis, macht Deboüt d'Estrees 6) aufmerksam : er hat 4 Fälle
gesammelt, in denen bei Arthritikern eine acute Parotitis auftrat und mit
Gichtanfallen in den Gelenken alternirte. Analog ist die gichtische Orchitis,
von denen 2 Beispiele mitgetheilt werden , in denen die Affection ebenfalls mit
Podagra sich ablöste.
Die schon öfters betonte Seltenheit der Tuber cul. pultnon.
bei Gichtkranken, resp. die Widerstandsfähigkeit letzterer gegen Tuberculose
bestätigt Molliere 6). Die gleichzeitige geringe Neigung zu Eiterungen, die bei
Arthritikern besteht, legt es nahe, dies Verhältniss dadurch zu erklären, dass im
gichtkranken Körper Mikroorganismen sich nicht leicht entwickeln.
Für die Therapie der Gicht wird jetzt wohl allgemein die rationelle
Einschränkung der Diät nebst einer angemessenen Lebensweise als Haupt-
sache angesehen. Zur Behandlung der acuten Gichtanfälle wird, neben Colchicum
und Natr. salicylicum *), neuerdings besonders Antipyrin und Galvanisirung der
erkrankten Gelenke8) empfohlen.
Literatur: ^Ebstein, Berliner klin. Wochenschr. 1889 Nr. 17— 19. — *) Hai g,
Bartholom. Hospit. Rep. 1888, XXIV, pag. 217. — •) Moore, Ebenda. XXHI, pag. 289. —
4) Legros, These. Paris 18S7. — 6) Debout d'Estrees, Med.-chir. Transact. 1887, LH,
pag. 217. — 6) Molliere, Lyon med. 1883, Nr. 15. — 7) Lapponi, Baccoglit. med.
10. Nov. 1887. — 8)Fratnich, Allgem. Wiener med. Ztg. 1888, Nr. 7. Riess
GlykOSllrie, s. Diabetes mellitus, pag. 198.
GlykurOnsälire, C6H10O7. Wie schon früher erörtert (Real - Encyclo-
pädie, II. Aufl., Bd. VIII, pag. 482), kommt die Glykuronsäure nicht als solche
im Harn vor, sondern in ätherartiger Verbindung mit verschiedenen Alkoholen
der Fettreihe und der aromatischen Reihe. Im normalen Harn scheint die Glykuron-
säure in Verbindung mit aromatischen Alkoholen : Indoxyl , Scatoxyl , Phenol u. a.
in geringen Mengen vorzukommen. Sie findet sich auch in der „Jaune indien"
oder orientalisches Pur6e benannten Farbe, welche , wie Spiegel l) nachgewiesen
hat, das Magnesiumsalz der Euxanthinsäure enthält; beim Erhitzen mit Wasser
auf 120° spaltet sich die Euxanthinsäure in Euxanthon und Glykuronsäure. Wahr-
scheinlich ist auch das Indischgelb nach E. Külz s) thierischen Ursprungs (dem
Kameelharn entstammend?).
286
GLYKURONSÄURE.
Eigenschaften. Die Glykuronsäure bildet einen in Wasser und
Alkohol löslichen Syrup. Die wässerige Lösung ist ausserordentlich zersetzlich,
sie zersetzt sich schon beim Eindampfen auf kochendem Wasserbad. Bei ein-
stündigem Rochen mit Wasser, noch besser bei höherem Druck (120°) liefert sie
20% eines Anhydrids, des in Wasser löslichen, in Alkohol unlöslichen Glykuron,
CflH80fl, das in wasserhellen dicken Tafeln krystallisirt (Schmelzpunkt 167°).
Auch die Lösungen des Glykuron drehen rechts, die spccifische Drehung betrügt
nach H. Thierfelder3) + 19*3°. Im trockenen Zustande ist das Glykuron halt-
bar. Schon bei Wasserbadtemperatur geht die Glykuronlösung zum Theil in
Glykuronsäure wieder über, daher man die wässerige Lösung am besten bei 40
bis 50° verdunsten lässt. Noch schneller wird durch Aetz- und kohlensaure
Alkalien diese Ueberführung bewirkt.
Das Kalisalz der Säure krystallisirt nach Thierfelder in feinen Nadeln,
ähnlich das Natronsalz; die Erd- und Metallsalze sind gewöhnlich amorph, das
neutrale Bleisalz ist in Wasser löslich, das basische dagegen unlöslich.
Wie die Zuckerarten giebt die Säure mit Benzoylchlorid in alkalischer
Lösung einen in Wasser unlöslichen, in heiesem Alkohol löslichen Niederschlag
von Dibenzoylglykuronsäure. Ebenso liefert sie nach Thierfelder eine Ver-
bindung mit Phenylhydrazin, die sich in gelben Nadeln abscheidet (Schmelzpunkt
114—115°).
Anhaltend mit starker Kalilauge erhitzt, liefert die Säure nach Thier-
Felder wie der Traubenzucker Brenzcatechin und Protocatechusäure , aber keine
Milchsäure, sondern Oxalsäure. Brom oxydirt die Säure zu Zuckersäure, C6 H10 08,
dagegen den Traubenzucker nach Kiliani zu Gly konsäure , C6 H12 07 ; demnach
scheint die Glykuronsäure zwischen der Zuckersäure und Gly konsäure zu stehen.
Bei der Oxydation mit Chromsäure liefert die Glykuronsäure neben Ameisen* und
Kohlensäure nach Flückiger4) Aceton.
Die Glykuronsäure wie das Glykuron reduciren Kupfer- und Wismuth-
oxyd in alkalischer Lösung, ferner ammoniakalische Silberlösung. Das Reductions-
vermögen in Bezug auf FEHUNG'sche Lösung ist nach Thierfelder beim Glykuron
ebenso gross als beim Traubenzucker.
Die gepaarten Gly kuron sä uren haben alle die gemein-
same Eigenschaft, die Ebene des polarisirten Lichtes nach
links zu drehen, im Gegensatz zu der rechtsdrehenden Glykuronsäure. Unter
Aufnahme von 1 Mol. Wasser werden sie in Glykuronsäure und die zugehörigen
Alkohole gespalten ; die meisten werden erst durch Kochen mit verdünuten Säuren
gespalten , einzelne , wie die Terpenoglykuronsäure , schon in wässeriger Lösung
bei Wasserbadtemperatur. Einige, wie die Urochloralsäure oder die Uronitrotoluol-
säure, reduciren Kupferoxyd in alkalischer Lösung, andere, wie Butylchloralsäure,
Phenolglykuronsäure, Camphoglykuronsäure, Chinäthonsäure, halten zwar Kupfer-
oxydhydrat in Lösung, reduciren es aber beim Erhitzen nicht. Wie eingeführtes
Naphthol nach v. Nencki und Lesnik , so paart sich nach Pellacani 6) auch
Menthol und Borneol, nach Külz6) auch Hydrochinon, Resorcin, Thymol und
Euxanthon im Körper mit Glykuronsäure und tritt als solche gepaarte Säure durch
den Harn heraus.
Manche Alkohole, wie Phenol und Kairin, paaren sich zunächst im Körper
mit Schwefelsäure und erscheinen als Aetherschwefelsäuren im Harn; erst wenn
mehr Phenol oder Kairin eingeführt worden ist, als durch die vorhandene Schwefel-
säure gesättigt werden kann, paart sich der Ueberscbuss mit Glykuronsäure.
Andere Alkohole, wie Naphthol und Indol, paaren sich sofort mit der Glykuronsäure.
Die gepaarten GlykuroD säuren haben sich bisher noch nicht synthetisch
extra corpus darstellen lassen; zu ihrer Erzeugung ist, wie es scheint, nur der
Organismus fähig. Soweit bisher festgestellt, ist die Fähigkeit der einzelnen
geprüften Organismen (Mensch, Hund, Kaninchen) zur Erzeugung der gepaarten
Glykuronsäure eine ungleiche und wechselnde.
GLYKURONSÄURE. — G ÜBERQUELLE.
287
Im normalen Harn scheint Phenol-, Indoxyl- und Skatoxylglykuronsäure
in kleinen Mengen vorzukommen.
Die Phenolglykuronsäure, C6 Hn (C6 H5) 07 , durch Verfütterung
von Benzol oder Phenol aus dem Harn gewonnen , stellt nach Külz 6) lange,
asbestartige Nadeln vor; sie dreht in ihren Lösungen links, reducirt aber nicht.
Bei der Spaltung mit Schwefelsäure wird Phenol und rechtsdrehende, stark
reducirende Glykuronsäure erhalten. Sie ist leichter zersetzbar als die Aether-
schwefelsäure des Phenols und aus ihr scheint das Phenol sich abzuspalten, welches
man nach Eingeben von Phenol , manchmal direct durch Destilliren ohne Säure-
zusatz erhalten kann.
Die Indoxylglykuronsäure ist nur mangelhaft bekannt. Nach
innerlicher Verabreichung von Indol dreht der Harn nach Külz links; neben
der schwerer spaltbaren Indoxylschwefelsäure findet sich nach Baumann7) eine
indigobildende Substanz, welche schon beim Stehen an der Luft durch einen
Gährungsprocess unter Abscheidung von Indigo zerfällt. Schmiedeberg8) hat
zuerst vermuthet, dass es sich hier um eine Verbindung des Indoxyl mit der
Glykuronsäure handelt. Höchst wahrscheinlich ist auch auf die Zersetzung dieser
gepaarten Säure die Ausscheidung von Indigo zu beziehen, welche in manchen
Harnen bei der alkalischen Harngährung zu beobachten ist.
Scatoxylglykuronsäure ist höchst wahrscheinlich im Harn nach
Verftitterung von Scatol. Mester 9) erhielt nach Scatolverftitterung beim Hunde
einen stark linksdrehenden und alkalische Rupferoxydlösung reducirenden Harn,
aus dem Skatoxylschwefelsäure nicht darzustellen war, der aber schon auf Zusatz
von Salzsäure allein dunkelroth bis violett wurde und höchst wahrscheinlich
Scatoxyl mit Glykuronsäure gepaart enthielt.
Literatur: *) A. Spiegel, Ber. der deutsch, ehem. Gesellsch. XV, pag. 1965. —
*) E. Külz, Zeitschr. für Biologie. XXIII, pag. 475- — *) H. Thierfelder, Zeitschr. für
physiol. Chem. XI, pap. 388 ; XIII, pag. 275 ; Berichte der deutseben ehem. Gesellsch. XIX.
pag. 3148. — 4) Fluckiger, Zeitschr. für physiol. Chem. IX, pag. 351. — *) Pellacani,
Archiv für exper. Pathol. XVII, pag. 390. — 6) E. Külz, Archiv für die ges. Physiol. XXX,
pag. 518; Zeitschr. für Biologie. XXVII, pag. 247. — 7) Baumann, Zeitschr. für physiol.
Chem. I, pag. 67. — B) Schmiedeberg, Archiv für exper. Pathol. XIV, pag. 307. —
*) Mester, Zeitschr. für physiol. Chem. XII, pag. 132. j jk£unjt
GonOCOCCUS, s. Tripper.
Graph itrheOStat, s. Elektrodiagnostik und Elektro-
therapie, pag. 225.
Graues Oel, ». Syphilis.
Grippe, Influenza (vergl. Real-Encyclopädie, II. Aufl., Bd. VIII, pag. 507
und Bd. XXI, pag. 628). Nachdem im vorigen Jahre im Nachtrage der Real-
Encyclopädie eine vorläufige Uebersicht über die seit dem Ende des Jahres 188(J
den grössten Theil der Erde überziehende neue Influenza-Pandemie nach den bis
dahin vorliegenden Veröffentlichungen gegeben worden ist, sind weitere Mitthei-
lungen kleineren und grösseren Umfanges über dieselbe in grosser Fülle erschienen.
Doch reichen dieselben noch immer nicht aus, um die diesmalige Verbreitungsart
und die übrigen allgemeinen Verbältnisse der Erkrankung endgiltig zu beurtheilen.
Auch hat die Pandemie noch nicht ihr Ende gefunden. Vielmehr sind auch in
letzter Zeit noch in verschiedenen Ländern theils zum ersten Mal Massenerkran-
kungen der Seuche, theils Recidive vorjähriger Epidemien aufgetreten. Daher
scheint es geboten, die definitive Entscheidung darüber, was die diesmalige Pan
demie etwa vor früheren ähnlichen auszeichnet, noch zu verschieben. Riess.
Guberquelle. Unter den neu erschlossenen Mineralquellen Bosniens
nimmt die „Guberquelle" von Srebrenica einen hervorragenden Rang ein. Im
äussersten Osten von Bosnien, nahe der serbischen Grenze, 366 Meter ü. M. liegt
288
GUBERQÜELLE. — GYMNASTIK.
die Bezirksstadt Srebrenica, in deren Umgebung ein ausgedehntes Quellengebiet
sich befindet, welches eine grosse Anzahl von Quellen enthält, die sämmtlich
durch beträchtlichen Gehalt an schwefelsaurem Eisen und Arsen charakterisirt
sind. Die gehaltreichste derselben, die Guberquelle, entspringt auf einem
Ockerkegel und liefert ein Wasser von 13° C. Temperatur, das nach Prof.
E. Lüdwig's Analyse in 10.000 Theilen folgende Bestandteile enthält:
Chlornatrium 0017
Schwefelsaures Kalium 0*166
„ Natrium 0037
„ Calcium 0*209
„ Magnesium 0*219
„ Eisenoxydul . . . . . . . 3*734
„ Mangan 0*009
„ Zink 0*078
„ Aluminium 2*277
Freie Schwefelsäure 0*093
Saures phosphorsaures Calcium 0 010
Arsenigsäureanhydrid 0*061
Rieselsäureanhydrid . . » 0*648
Lithium, Kupfer Spuren
Organische Substanzen 0*074
Summe der festen Bestandteile 7*539
Nach dem Ergebnisse dieser Analyse gehört die Guberquelle zu den
arsenhaltigen Eisenquellen, welche das Eisen als schwefelsaures Eisen-
oxydul enthalten und hat die meiste Aehnlichkeit mit den Quellen von Levico in
Südtirol. Die Guberquelle kann in unverdünntem Zustande eingenommen werden,
ohne irgend Beschwerden zu verursachen. Dieselbe wird im versendeten Zustande
bereits vielfach bei anämischen Zuständen gebraucht.
Literatur: E.Ludwig, Die Mineralquellen Bosnien. Wien 1890, A. Hölder.
K.
Glltti. Nach Arzneibuch III maximale Eiozelgabe 0 5 , maximale
Tagesgabe 1*0.
GynWclStik, maschinelle (ZANDER'sche), s. mechanischeTherapie.
H.
HäminkryStalle, s. Bluts puren, pag. 111.
Hämoglobinkry8talle, ibid., Pag. 112.
Hämophilie, Bluterkrankheit (vergl. Real-Encyclopädie , II. Aufl.,
Bd. VHI, pag. 615). Die nur spärlichen Mittheilungen, welche in den letzten
Jahren die Hämophilie behandelten, bringen grösstenteils casnistische Beiträge.
Zwei von ihnen seien hervorgehoben, welche ausführliche Angaben Aber die
Genealogie bekannter Bluterfamilien enthalten: In der einen beschreibt
Hoessli *) von Neuem die Bluterfamilie des Dorfes Tenna (Graubflndten) , deren
Geschichte bis zum Jahre 1640 zurückreicht, und deren Erkrankungsfälle besonders
gut den Grundtypus der Vererbung vom Grossvater durch die (latent hämophile)
Tochter auf den männlichen Enkel zeigen. — Ein anderer, von Fischer3) mit-
geteilter Stammbaum betrifft die ausgebreitete Bluterfamilie eines württembergischen
Dorfes, welche durch 4 Generationen zu verfolgen ist; unter 114 Familienmitgliedern
fanden sich 17 Bluter, darunter auffallenderweise 4 weibliche. Das Wesen der
Hämophilie sucht Fischer in der (von einigen Beobachtern nachgewiesenen) er-
höhten Menge der rothen Blutkörperchen im Blut; das Eintreten der
Blutungen und die Nebenerkrankungen der Hämophilie sollen aus dieser Annahme
heraus besonders gut zu erklären sein.
Auch sei noch ein Fall von „congenitaler Hämophilie" erwähnt, den
neugeborenen Knaben einer Mulattin betreffend, der an unstillbarer Nabelblutung
starb, und bei dem Syphilis ausdrücklich ausgeschlossen wird. 3)
Literatur: ') Hoessli, Inaug.-Diss. Basel und Zeitschr. für klin. Med. 1888,
XV. pag. ^77. — a) Fischer, Inaug.-Diss. München 1889. — ») Wendt, New-York med.
Record. 19. Febr. 1887. w . „
Kiess.
Hamamelis, s. Blutstillung, pag. 114.
Harn. Wir wollen in der folgenden kurzen Darstellung ein übersicht-
liches Bild jener für den Praktiker wichtigen Fortschritte geben, welche unsere
Kenntnisse Aber die Zusammensetzung und die Eigenschaften des Harnes erfahren
haben, und welche auf dem Gebiete der Analyse der normalen und pathologischen
Bestandteile des Harnes gemacht worden sind.
Nachdem Salomon das Paraxanthin (Dimethylxanthin) , einen dem
Theobromin isomeren Körper, unabhängig von Thüdichüm, der denselben schon
früher als Crotheobromin beschrieb, als Bestandteil des normalen Harnes ent-
deckte, während er früher schon das Heter ox an thin (Methylxanthin) als einen
Encyclop. Jahrbücher. I. 19
in sehr geringer Menge im normalen Harn vorkommenden Xanthinkörper auf-
fand, wurde die Anzahl der im Harne des Menschen vorkommenden Xauthinbasen
auch durch die Auffindung des Adenins im leaeämischen Harn von Stadthagkv
vermehrt. Auch das Heteroxanthio wurde im Harne eines Leueamischen in
relativ grösseren Mengen wie im normalen Harne aufgefunden, womit ein neuer
Beweis für die Vermehrung der Xanthinkörper im Harn bei Leukämie ge-
geben ist.
Als normale Bestandteile des Harnes kommen auch ganz kleine Mengen
von Kohlenhydraten , nnd zwar vom thierischen Gummi und auch vorn
Traubenzucker vor. Letzterer soll normal, jedoch nur in solch kleinen Mengen
vorkommen, welche durch die gewöhnlichen Zuckerreactionen nicht nachweisbar
sind; andererseits gehen bei der Ueberftlllung des Darmes mit Traubenzucker,
Milchzucker und Rohrzucker (Worm-Müllee) kleine, direct nachweisbare Mengen
dieser in den Harn über, ebenso wie nach reichlichen Mahlzeiten und nach Ge-
nuas von Champagner.
E. Luther bestimmt die Menge des normal vorkommenden Trauben
zuckers auf Oal°/0 im Mittel, er fand dieselbe, wie schon ans Obigem ersichtlich!
insbesondere von der Qualität und Quantität der Nahrung abhangig. Das thieriscbe
Gummi, als dessen Quelle wir das leicht zersetzliche Hammnein betrachten, bildet
den grössten Theil des im Harn vorkommenden Restes von nicht gährungsfähigen
Kohlenhydraten, dessen Menge beträgt beim Erwachsenen normaler Weise auch
nicht mehr als 0*1% ? diese schwankt aber viel weniger als die der Geaammt-
kohlcnbydratausscheidutig und nimmt mit dem Alter regelmässig zu. Das normale
Vorkommen des Traubenzuckers, sowie der anderen nicht gähr imgsfähigen Kohlen-
hydrate soll in einer physiologischen , wenn auch nur geringen Insuffizienz der
Niere gegen Kohlenhydrate begründet sein.
Zum Nachweis und zur Bestimmung der im physiologischen Harn vor-
kommenden Kohlenhydrate dienen mehrere Eeactionen.
1. Kann man mit Benzoylchlorid und Natronlauge in jedem
Harn einen Niederschlag erzeugen, welcher Benzoylester verschiedener Substanzen
darstellt (£. Baumann), Die nähere Untersuchung eines solchen Niederschlages
durch WEDENSKI ergab, dass dessen Zusammensetzung dir Mitte eiuers^it* zwischen
beuznylirtem Glycogen und Dextrin und andererseits zwischen Benzoylester des
Traubenzuckers innehielt; 100 Com. Harn ergaben je nach dem Individuum, der
Tageszeit und anderen Umständen 0'138 — 1*309 solcher Benzoylester.
2. Können zu diesem Zwecke die Furfurolreactioneu verwendet
werden. Es werden nämlich sämmtliche Kohlenhydrate durch Schwefel-
säure unter Bildung von Furfurol - — Brenzschteimsäurealdehyd — zersetzt. Als
«ehr empfindliche Furfurolreaction verwendete UdbAnszky die von MOLlsi:n
ursprünglich zum Nachweis von Zucker empfohlene Reaction mit a-Naphthoi und
Schwefelsaure. V. ÜDBÄNSZKT zeigte eben, dass Molisch's Reaction keine Zucker-
reaction sei, sondern allen Kohlenhydraten eigen ist« indem sie eben eine Furfurol*
reaction darstellt, er hat dann diese Reaction endlich auch für quantitative Be-
stimmungen brauchbar gemacht und die Cautelen für dieselben angegeben. Gicbt
man zu einem Tropfen einer O'06ö/Oigen Traubenz ucker lösung 2 Tropfen einer
15%igen alkoholischen Lösung von a-NapbthoIT so trübt sich zunächst die Flüssig-
keit, giesst man nun vorsichtig anter das Gemisch etwa 1 sCem. concentrirter
Schwefelsäure iu das Reagensglas , so stellt sich über dem grünen King (hervor-
gerufen durch den Einfluss der Mineralsäure auf das x~Xaphthol) nach kurzer Zelt
ein dnnkelvioletter Farbenring ein. Vermischt man die Flüssigkeiten durch Um-
schütteln (bei Abkühlung) zu der Zeit , so resultirt eine karmoisinrothe Färbung
mit einem Stich in's Blaue. Jetzt zeigt das Reactionsgemiseh folgende Special-
er scheinungen, einen schmalen nicht ganz scharfen Streifen in der Mitte zwischen
D und E. Von F aus bis zum Rande ist das ganze Spectrum verdunkelt. Geht
die Verdunkelung der Flüssigkeit weiter, was meist nach sehr kurzer Zeit ein-
HARN.
291
tritt, so verschwindet der Streifen und macht einer diffusen, bis E reichenden
Dämpfung Platz. Mit dieser Reaetion lfisst sich nach £. Luther noch 1/l0o Mgrm.
Traubenzucker, beziehungsweise Kohlenhydrat deutlich nachweisen. Klinisch wird
die Furfurolreaction erst dadurch verwerthbar, dass man sie mit der Oährungsprobe
(s. später) combinirt, indem hierdurch die Ermittlung und Bestimmung sehr ge-
ringer Mengen von Traubenzucker im Harn neben dem thieriBchen Gummi oder
nicht gährungsfahigen Kohlenhydraten Oberhaupt, ermöglicht wird.
Die im normalen Harn vorkommenden Kohlenhydrate verschwinden zum
Theil bei der ammoniakalischen Harngährung aus demselben (Salkowski). Ge-
wisse braune oder schwarze Farbstoffe, welche bei der Einwirkung von Säuren
auf den Harn entstehen, und welche den Humin sub stanzen zuzuzählen sind,
sollen nach v. Udranszky aus den Kohlenhydraten desselben hervorgehen, zumal
findet er die Ausbeute an Huminsubstanzen aus dem Harn in einem ziemlich con-
stanten Verhältniss zu seiner Reductionsfahigkeit.
Die von v. Udbänszkt aus dem Harn gewonnene Huminsubstanz bildet
glänzende schwarzbraune Plättchen, fast gar nicht löslich in kaltem Wasser, ver-
dünntem Alkohol, Aether, Chloroform, verdünnten Säuren, sehr schwer in warmem
Wasser, absolutem Alkohol, concentrirter Salz- und Schwefelsäure, gut aber im
Amylalkohol und im concentrirten Ammoniak, in Kali- und Natronlauge. Die
Lösungen zeigen keine Absorptionsstreifen. Beim Erhitzen mit Kalihydrat auf
240 — 50° C. entsteht neben Fettsäuren auch Protocatechusäure ; die gleichen
Producta geben auch die durch Einwirkung von Säure auf Zucker entstehenden
stickstofffreien Huminsubstanzen.
Das längst bekannte Vorkommen der flüchtigen Fettsäuren im
Harn erhält ein erhöhtes Interesse durch die Beobachtung von v. Jaksch, dasa
bei Fiebernden die Menge der flüchtigen Fettsäuren im Harn gegenüber der im
normalen Harn vorkommenden gesteigert sei (f ebrile Lipacidurie), auch bei
Krankheiten, die mit Zerstörung des Lebergewebes einhergehen, fand er diese
Fettsäuren im Harne vermehrt; v. Rokitansky, der diese Angaben unter der
Leitung von Loebisch mit einer verbesserten Methode der Abscheidung der
flüchtigen Fettsäuren aus dem Harn prüfte, konnte ebenfalls eine febrile Lipaci-
durie constatiren, namentlich war die Essigsäure im Harn vermehrt. Es ist aber
durch Nichts erwiesen , dass das vermehrte Auftreten der Fettsäuren im Fieber-
harn, wie dies v. Jaksch annehmen möchte, mit einem erhöhten Eiweisszerfall in
Zusammenhang steht; zum Mindesten konnte v. Rokitansky durch Darreichung
von Mehlspeisen an Reconvalescente den Gehalt an Fettsäuren (namentlich Butter-
säure) im Harn erheblich steigern. Im Fieberharn war allerdings die Essigsäure
vermehrt, diese entsteht aber reichlich bei der Darmfaulniss. Ich möchte daher
die febrile Lipacidurie als bedingt durch Resorption der Essigsäure aus den im
Darm verbliebenen Residuen der Darmverdauung auffassen.
Die Eigenschaft des Harnes, von den Blutbahnen aus giftig zu wirken, ist
durch neuere Versuche (Lehne und Aubekt, Feltz und Ritter) wieder be-
stätigt worden. Als Maas 8 der Giftigkeit des menschlichen Harnes benützt
Bouchabd das Gewicht der Kaninchen in Kilo, welches durch die vom Kilo Körper-
gewicht des Versuchsindividuums in 24 Stunden entleerte Harnmenge getödtet
wird; diese Grösse bezeichnet er als den toxischen Coeffici enten des
Harns. Er beträgt beim gesunden Erwachsen 0'465; in Krankheiten schwankt
er zwischen 0*1 — 2.
Diese Giftigkeit des Harnes kann nur zum Theil auf seinen Ge-
halt an Kalisalzen bezogen werden ; es zeigt sich der Harn eben giftiger als die
Harnasche, auch ist der von Kaliumoxyd befreite Harn noch giftig. Stadthagen,
der die bekannten giftigen Stoffwechselproducte — Peptotoxin, Cholin, Neurin u. a.
— im Harne nicht auffand, auch nach Brieger's Abscheidungsverfahren keine
Ptomaine, erklärt die Giftwirkung des normalen Harns bedingt durch die Summe
der Giftwirkungen des Kalis und anderer, für sich wenig giftiger normaler Harn-
bestandtbeile (Harnstoff, Kreatinin, Xantbinbaseu etc).
Die zahlreichen Bemühungen, aus dem normalen Harn alkaloidartige
giftige Bubstanzen zu isoliren, führten zu einigen Substanzen, welche aus alkalischer
Lfisung beim Schütteln in Aether übergeben (Bouchard, Lkpine und Gueriw
VfLLlERS, Aducco), doch war es nicht möglich, diese Substanzen, die zumeist giftig
wirken, wegen der geringen Mengen, in denen sie gefunden wurden, zu analysireu.
AdüCCO fand im Harne von Soldaten, welche anstrengende Märsche
machten, ebenfalls eine Aether lösliche Basis.
Erat Pouchet gelang es, ans normalem Harn 2 Basen zu finden, deren
eine krystallisirbar ist, und welche beide analysirt wurden. Die flüssige Basis
zeigt die Zusammensetzung Ca H6 NOf , die krystalliairbare die Zusammensetzung
C7H1jN4Os* Beide wirken auf Frösche sehr giftig, und zwar durch Lähmung
der Nervencentreu.
Im Harn eines an Cystinurie Leidenden fanden v. Udranszkt und
E. Bauhann zwei bisher nur als Fänhuasilkaloide bekannte Diamine, das Pen ta-
rne tby le ndiamin (Brieger's C adavertn) und das Tetramethylendiamin
(BalKGER's Putrescin). Stadthagen und L. Briegeb. bestätigten diesen Fund
bei zwei anderen Fällen von Cystinurie, wobei sie allerdings nur das Cadaverin,
nicht aber auch Putrescin fanden. Die erstcren Autoren fanden in ihren Fällen
auch in den Fäcee die Diamine., wonach sie annehmen, dass diese, im Darm durch
Mikroorganismen gebildeten Substanzen im Darm resorbtrt und durch den Harn
zum grösseren oder kleineren Theil wieder ausgeschieden werden. Auf Grund ihrer
Beobachtung sind v. Udranszky und E. Baumann geneigt, die Cystinurie als eine
Darmmycose aufzufassen. Auf diese Annahme hin unternommene therapeutische Ver-
suche, gegen die Cystinurie durch Antimyeotica im Darm sowie durch Ausspülungen
desselben zu wirken < führten jedoch bis jetzt nicht zu dem erhofften Resultate.
Rosenbach berichtete, dass gewisse Harne, wenn man ihnen unter
beständigem Kochen Salpetersaure Tropfen um Tropfen zusetzt, eine tief
bnrgunderrothe, im d urchfallenden Lichte manchmal Manroth erscheinende
Färbung annehmen. Dabei entsteht ein rother Farbstoff, welcher in Aether
leicht löslich ist und beim Ausschütteln damit in diesen übergeht ; dieser Farbstoff
erscheint im Harn namentlich bei schweren Darmleiden , sowie bei allgemeinen
schweren Ernährungsstörungen und sollte demgemäss diagnostische Bedeutung
haben. E, Sau^owski bemerkte hingegen, dass Rosenbach den bekannten That-
Bachen der Indigoreaction (mittelst Chlorkalk und Salzsäure im Harn) eine
neue Deutung gebe. Dem gegenüber hält Hosin die Eigentümlichkeit von
Rosenbach's Reaction aufrecht, namentlich zeigt er durch eine genaue chemische
Untersuchung, dass der fragliche rothe Farbstoff Indigorot h, und zwar identisch
mit dem pflanzlichen ludigoroth ist* Man erhält dasselbe allerdings in jedem Harn
durch Kochen mit Salpetersäure oder Salzsäure, aber auch durch Salzsäure und
Chlorkalk in der Kälte, und zwar geben die in der Wärme verlaufenden Reactionen
bessere Ausbeute als die in der Kälte durchzuführenden, entsprechend der bekannten
Thatsache, dass Indigoblau durch Wärmewirkung zum Theil in Indigoroth um*
gewandelt wird. Um die qualitative Probe auf Anwesenheit von Indigoroth in
einem Harn auszuführen, wird derselbe mit Natriumcarbonat alkalisch gemacht
und mit Aether ausgeschüttelt. Färbt sich dieser karmoisinroth , so kann der
Farbstoff nur Indigoroth sein.
Das Vorkommen von Ei weiss in minimalen Mengen in jedem normalen
Harn — die physiologische Albuminurie (Senator) — erhielt eine Stütze
durch eine grössere Versuchsreihe von PosNßfc , der das Eiweiss in grösseren
Mengen normalen Harnes durch Fällung von Tannin oder Alkohol und auch
durch Eindampfeu des mit Essigsäure angesäuerten Harnes nachzuweisen im Stande
war. Malfatti giebt jedoch dem Befunde POSNKB'S, auf Grund sorgfältiger
Untersuchungen, eine andere Deutung. Er giebt wohl zu, dass man mittelst
HARN.
293
Posnbr's Methoden fast aas jedem normalen Harn einen Körper abscheiden kann,
der die Eiweissreaetionen gibt, er bezieht aber diese Erscheinung auf die in jedem
Harne vorkommende macinähnliche Substanz und weist nach, dass , wenn man
letztere aus dem Harn mit Säuren oder mit sauren Salzen, namentlich mit Mono-
natriumpbosphat ausfällt, dann auch die PosNBR'schen Eiweissreaetionen ausbleiben.
In 8 von 28 untersuchten Fällen (31%) blieben die Eiweissreaetionen vollständig
aus, in den übrigen Fällen waren sie bedeutend verringert. Hält man diese Ver-
ringerung der Eiweissreaetionen mit den Eigenschaften des Mucins zusammen,
welches aus salzhaltigen Flüssigkeiten sehr schwierig vollständig zu entfernen ist
und überdies auf die verschiedensten äusseren Eingriffe Eiweiss abspaltet, so
erseheint es sehr wahrscheinlich, dass auch in den letzteren Fällen das Vor-
kommen von Eiweiss nur ein scheinbares, vom Mucin vorgetäuschtes war. Dass
die im Harn vorkommende mucinähnliche Substanz zum Theil aus wirklichem
Mucin besteht und nicht etwa blos ein Nucleoalbumin darstellt, geht aus ihrem Ver-
halten im Harn hervor, besonders aber daraus, dass man im Stande ist, aus der-
selben durch Kochen mit Säuren einen reducirenden Körper abzuspalten (Malfatti).
Aus diesen Erfahrungen ergiebt sich aber, dass für jene Fälle, in denen im
Harn geringe Eiweissmengen nachgewiesen werden sollen, die Kochprobe und die
Probe mit Essigsäure und Ferrocyankalium allein nicht ausreichen, denn auch
das Mucin des Harnes wird beim Kochen in Flocken abgeschieden und kann,
nachdem es sich zersetzt hat, ebenfalls die Reaction mit Essigsäure und Ferro-
cyankalium geben. Will man sehr geringe Mengen von Eiweiss neben grossen
Mengen von Mucin mit Sicherheit nachweisen , dann muss dieses früher durch
Versetzen des Harnes mit Mononatriumphosphatlösung, oder durch Stehenlassen in
der Kälte, starkes Ansäuern mit Essigsäure und sorgfältiges Filtriren entfernt
werden. Hingegen bleibt bei Ausführung der HELLER'schen Eiweissprobe der
Schleim zumeist in Lösung, sie ist daher die sicherste, um der Täuschung durch
Mucin auszuweichen. Die Salpetersäure soll mit Hilfe einer Pipette auf den Boden
des Probirgefässes unterhalb den Harn gebracht werden. Nur bei grösseren
Schleimmengen im Harn bildet sich 5 — 7 Mm. über der Berührungslinie beider
Flüssigkeiten ein trüber, nach oben und unten gleichförmig abnehmender Schleim-
ring, der von einem etwa ebenfalls vorhandenen Eiweissring durch eine klare
Zone getrennt erscheint und von diesem leicht unterschieden wird.
Die Methoden zur Bestimmung des wichtigsten stickstoffhaltigen Bestand -
theils des normalen Harnes, des Harnstoffs, wurden in den letzten Jahren
insbesondere von Pflüger und dessen Schülern Bohland, Bleibtreu u. A. ein-
gehenden, sehr sorgfältigen Untersuchungen unterzogen. Zunächst ergab sich, dass
die LiBBio'ßche Titrirmethode des Harnstoffes mittelst Mercurinitratlösung auch
in ihrer von Pflüger modificirten Form keine Bestimmung des Harnstoffs, sondern
desGesammtstiokstoffsdes Harnes darstellt (Pflüger). Für die Bestimmung
des Letzteren aber ziehen die Analytiker die Kjeld AHL'sche Methode vor, welche
bei grosser Einfachheit möglichst genaue Resultate liefert. Nach Kjeldahl erhitzt
man 5 Ccm. Harn mit überschüssiger, concentrirter oder rauchender Schwefelsäure
(40 Ccm.), bis aller Stickstoff in Ammoniak übergeführt worden ist. Hierauf wird
unter Zusatz von überschüssiger Natronlange das Ammoniak in eine titrirte
Zehntel-Normalschwefelsäure flberdestillirt und durch Resttitrirung die Menge des
gebildeten überdestillirten Ammoniaks bestimmt.
Da jedoch für die Kenntniss der Art des Eiweisszerfalles unter physio-
logischen und pathologischen Bedingungen gerade die Menge von Harnstoff in
ihrem Verhältnisse zu den übrigen stickstoffhaltigen Harnbestandtheilen von
grösster Wichtigkeit ist, war es Pflüger daran gelegen, eine Bestimmungsmethode
zu finden, welche nur die Menge des Harnstoffs mit Ausschluss der übrigen
stickstoffhaltig en Harnbestandtheile angiebt. Er erreichte dies durch eine eingehende
Abänderung der B Unsen 'sehen Harnstoff bestimm ung, welche bekanntlich darauf
beruht, dass der Harnstoff bei höherer Temperatur durch alkalische Chlorbaryuin-
lösuug in Kohlensäure und Ammoniak gespalten wird. Um nun bei dieser Metbode
alle übrigen stickstoffhaltigen Harn bestandtheile auszuschließen , welche beim
Erhitzen mit alkalischer Cblorbaryumlösung ebenfalls C0S und NH3 Hefern, fällen
Pflüger und Bohlaxd zuerst diese Stickstoff hältigen Bestandtheile mit einem
Gemenge von Salzsäure und Phosphor wolframsäure und benutzen da« Filtrat zur
Harnstoffbestimmung. In dem Filtrate kann der Harnstuff entweder in Form von
Kohlensäure oder in Form von Ammoniak bestimmt werden (es entsprechen 1 Mol.
Harnstoff 1 Mol, COj und 2 Mol. Ammoniak). Bestimmt man den Harnstoff *U
Ammoniak , so mtiss eine Correctur für das im Harn enthaltene präformirte
Ammoniak gemacht werden, auch wird in diesem Falle die Zerlegung des Harn-
stoffs mittelst Phospborsäure ausgeführt. Demnach haben Pflüg kr und Blejbtrki'
die folgende Methode der Harnstoffbestimmung angegeben: Nachdem ausser Harn-
stoff die übrigen stickstoffhaltigen Hamstoffbestandtheile mit Salzsäure und Phosphor-
wolframsäure ausgefallt wurden, wird das Filtrat mit Kalkmilch sehwach alkalisch
gemacht und in einem Theile des neuen Filtrates das präformirte Ammoniak nach
ScHLöStNG bestimmt ] dann werden etwa 15 Ccm. desselben Filtrates in einen
grossen Kolbon übertragen, in welchem etwa 10 Grm. krystallisirte Phosphorsäure
enthalten sind, und etwa 3 Standen lang bei 230 — 260° C. erhitzt* Hierbei wird
aller Harnstoff und ein etwa im Harn enthaltenes, bisher unbekanntes Urtifd zer-
setzt und das abgespaltene Ammoniak von der Phosphorsäure gebunden. Nach
dem Erkalten wird Natronlauge im Ueberechuss zugesetzt, das Ammoniak in
eine titrirte Säure tlberdestillirt und durch Resttitriren bestimmt. Nach Abzug des
präformirten Ammoniaks erhält man das aus dem Harnstoff entstandene Ammoniak,
wobei 17 Grm. NHa entsprechen 30 Grra. Harnstoff.
Nun fanden aber K. A, H. Mörner und Sjöqütst (Skandiu. Arch. f.
Physiol. 1891), dass bei der oben geschilderten Fällung mit Salzsäure und
Phosphorwolframsäure, welche den Harnstoff von den übrigen Stickstoff hältigen
Bestandteilen des Harns trennen soll , auch Harnstoff mitgefältt wird (und zwar
in concentrirter 3 — 4%iger Lösung schon an und für sich besonders in der Kälte
und bei längerem Stehen und in verdünnter 1 — 3°'0iger Losung nur bei Gegen-
wart anderer, durch das Reagens fällbarer Substanzen (Pepton, Amylogen). Wichtig
bei der Bestimmung des Harnstoff* unter Verwendung von Phosphorwolf ramsaure
ist der Umstand, dass diese häufig Salpetersäure enthält — sie muss durch Ab*
dampfen des Reagens mit Salzsäure entfernt werden« MöRKER und SJÖQülST haben
folgendes Verfahren als das genaueste und zugleich einfachste erprobt: 5 Ccm.
Harn werden in einem Kolben mit 5 Ccm. einer gesättigten Chlorbaryumlösung,
in welcher mau 5°, 0 Baryumbydrat aufgelöst hat, gemischt. Dann werden 100 Ccm.
eines Gemisches von 2 Tbeilen , 97% Weingeist und 1 Tbeil Aether zugesetzt
und bis zum folgenden Tage in verschlossenem Gefässe aufbewahrt. Hierdurch
werden die stickstoffhaltigen Bestandtheile des Harns, ausser Harnstoff, gefällt. Der
Niederschlag wird dann abfiltrirt und mit dem Alkobolätber zweckmässig mit
Hilfe der Wasserstrahlpumpe ausgewaschen. Aus dem den Harnstoff enthaltenden
Filtrat wird der Alkoholäther bei einer Temperatur von etwa 55° C, stets unter
CO0 C. durch Destillation verjagt und die Flüssigkeit bei einer Temperatur von
unter 60° C. in offener Schale eingeengt, noch besser mit Hilfe von Luftver-
dünnung. Wenn die Flüssigkeit bis auf etwa 25 Ccm. eingeengt ist, wird etwas
Wasser und gebrannte Magnesia zugesetzt und das Abdampfen fortgesetzt, bis
die Dämpfe keine alkalische Heaction mehr zeigen; bei einem geringen Ammoniak
gehalt des Harnes reicht häufig schon die nach dem Zusatz des Alkoholäthers
zurückbleibende Alkalescenz bin7 das präformirte Ammoniak auszutreiben. Die auf
15 — 10 Ccm. eingeengte Flüssigkeit wird unter Nachspülen mit Wasser in einen
zweckmässigen Kolben übergeführt, mit einigen Tropfen concentrirter Schwefel-
saure versetzt uud auf dem Wasserbade eingeengt. Der Stickstoff des so erhaltenen
Rückstandes wird nach Kjeld AHL bestimmt und der Harnstoff aus der Stickstoff-
menge bereehuet.
HARN,
295
Nach den Untersuchungen v. Schröder's sind die Leberzellen fähig, aus
Ammonsalzen Harnstoff zu bilden, demgemäss soll bei Leberleiden , welche mit
Verödung der Leberzellen einhergehen, die Harnstoffbildung verringert und die
Ammoniakausscheidung im Harn entsprechend vermehrt sein. Hallervorden
hat bei interstitieller Hepatitis eine Vermehrung der Ammoniakausscheidung beob-
achtet und auch Stadelkann hat in 8 Fällen von interstitieller Hepatitis eine je
nach dem Grade der Erkrankung mehr oder weniger hochgradige Vermehrung
der Ausscheidung von Ammoniak gegenüber dem Harnstoff gefunden. Auch in
3 Fällen von Carcinom oder Saroom der Leber fand sich eine geringe Vermehrung
des Ammoniaks im Harn. Auch die von Mörner und Sjöqüist ausgeführten
Untersuchungen ergaben in 2 Fällen von Lebercirrhose eine Vermehrung der
Ammoniakmenge gegenüber der des Harnstoffs; auch bei Lebersyphilis und
Leberkrebs wurde eine gesteigerte relative Ammoniakmenge gefunden; doch
auch in Fällen, wo keine Leberkrankheit anzunehmen war, wurde mehrmals die
relative Ammoniakmenge grösser als normal gefunden, so bei Fettherz, Pyo-
pneumothorax.
Die überraschende Synthese der Harnsäure aus Glyoocoll und Harnstoff
durch Hoebaczewskt befriedigte insoferne nur wenig, als sie keine Schlüsse auf
die Entstehungsweise der Harnsäure im lebenden Thiere gestattete. Diesem Poatulate
entspricht nun in ausreichendem Maasse die neue Synthese der Harnsäure, welche
Horbaczewsky durch Einwirkung von Trichlormilchsäureamid auf Harnstoff gelang.
Die Synthese gelingt, wenn auch weniger glatt, auch mit freier Trichlormilch-
sänre und Ammoniak. Diese Bildung der Harnsäure führt zu der von Medicüs
zuerst angegebenen Formel der Harnsäure, wonach dieselbe als Acrylsäure-
diureld
NH — C — NHv
/ II >o
CO c— nh/
\ I
NH— CO
aufgefasst werden muss. Minkowski beobachtete nach der Exstirpation der Leber
bei Gänsen das Auftreten reichlicher Mengen von Milchsäure und Ammoniak, zu
gleicher Zeit aber auch sehr bedeutende, parallelgehende Verminderung der Haru-
säurebildung ; es ist demnach die Vorstellung gestattet, dass sich die Harnsäure
im Organismus der Vögel aus Milchsäure und Ammoniak bildet. Die Versuche
von Horbaczewsky und Kanera, welche beim Menschen unter dem Einflüsse
von Glycerin eine bedeutende Vermehrung der Harnsäureproduction beobachten,
lassen an eine Bildung von Harnsäure aus Glycerin und Harnstoff oder Ammoniak
denken. Allerdings wurde durch Zufuhr von akrylsaurem Natron beim Menschen
die ausgeschiedene Harnsäure absolut und relativ vermindert, was möglicherweise
auf die Bildung von Natriumcarbonat aus dem akrylsauren Natron im Organismus
zurückzuführen ist.
Die durch die mehrfach constatirte, bedeutend vermehrte Harnsäurebildung
bei Leukämie gestützte Annahme, dass dabei die Vermehrung der weissen
Blutkörperchen einen Einfluss ausübe, regte Horbaczewsky dazu an, die Mit-
wirkung der Leucocythen an der Harnsäurebildung durch Versuche zu erhärten.
Es wurde in grosser Menge Leucocythen enthaltende Milzpulpa mit defibrinirtem
Blut vom Kalbe gut gemischt und durch die Masse bei 37 — 40° C. ein lang-
samer Luftstrom geleitet. Es zeigte sich, dass unter diesen Verhältnissen wirklich
Barnsäure gebildet wird und dass deren Menge von der verwendeten Pulpamenge und
der Versuchsdauer abhängt. Es enthält die Milzpulpa Stoffe, aus welchen sich
durch Einwirkung des Blutes Harnsäure bildet; auch lassen sich diese Stoffe der
Pulpa durch kochendes Wasser entziehen. Es ist naheliegend anzunehmen, dass
die Harnsäurebildung durch Einwirkung lebendigen Blutes auf die in demselben
coDstant enthaltenen lymphatischen Elemente erfolgt.
Bezüglich des Nachweises pathologischer Bestand theile des Harnes
waren in den letzten Jahren die Bemühungen darauf gerichtet, eine verlässliche
qualitative Prohe für den Nachweis des Zuckers im Harne zu erhalten, verlass-
lich in diesem Sinne, dass durch dieselbe nur der Harnzucker, nicht aber die
zahlreichen reducirenden Substanzen, die im Harn de norma vorkommen und
durch die Medication mit Substanzen aus der aromatischen Reihe noch vermehrt
werden, auch nicht die Glycuronsaure nachgewiesen erscheinen. Wie sich zeigte,
erfüllt diese Bedingung mit Sicherheit nur die Gährungsprobe, deren aus*
führliche Schilderung wir weiter unten folgen lassen*
Man muss sich stets vor Augen halten, dass der Reductionswerth normaler
Harne zwischen Grenzen schwankt, die 0*1 — 0*5 Traubenzucker entsprechen
(F. Moritz). Bei der TßOMMEfi'schen Probe im Harn wird das Kupferoxyd auch
durch die Harnsäure und das Kreatinin, wahrscheinlich auch durch Glycuron-
saure Verbindungen reducirt, jedoch sind wiederum Harnsäure und Kreatinin, femer
Ammoniakverbindungen im Stande, das Kupferoxydul in Lösung zu halten und
die charakteristische Ausscheidung desselben zu verhindern, so dass man annehmen
kann, es werde die reducirende Fähigkeit des normalen Harnes durch die Fähig-
keit desselben, Kupferoxydul in Lösung zu halten, für gewöhnlich oompenairt, und
dass man eine eventuelle Abscheid ung von Kupferoxydul immerhin auf die Gegen-
wart von Traubenzucker beziehen darf. Letzteres aber wieder nur bei Beob-
achtung bestimmter Cauteleu : nur die in der Wärme erfolgende Abscheidung von
Kupferoxydnl spricht für Zucker; auch soll der Harn blos stark erwärmt, nicht
etwa gekocht oder gar längere Zeit gekocht werden.
Die Böttg er sehe Probe mit basisch salpetersaurem Wismuthoxyd in
alkalischer Lösung hat vor der Trommer' scheu den Vorzug, dass das Wismutu-
oxyd durch Harnsäure und Kreatinin nicht reducirt wird , zumal war dies der
Grund ihrer Empfehlung für den Zuckernachweis im Harn. Nylander modtficirte
diese Methode in zweckmässiger Weise, indem er das Magisterium BümutJti in
eine lösliche Form brachte, Nylandee's Reagens besteht in einer Auflösung von
2 Grm. Magisterium Bi&muthi in 100 Grra. einer mit *t Grm. SeignettsaLz ver-
setzten 10%igen Natronlauge. Das Reagens wird dem Harn im Verhältnis« von
1 : 10 zugesetzt und das Kochen während 3 — 5 Minuten unterhalten. Wie be-
kannt, wird die Gegenwart von Zucker durch die Reduction des Wismuthoxyd^
zu schwarzem metallischem Wismuth bewiesen. Oer Werth dieser empfindlichen
Reaction wird in hohem Maasse durch den Einfluss beeinträchtigt, den viele Arznei*
körper auf sie ausüben. Nach Gebrauch von Rheum, Senna, Antipyrin, Terpentin,
Katrin , Tinct Eucalypti , aber auch von Salol , Salicylsäure und Campher wird
das Wismuthoxyd der Probe reducirt, ohne dass Harn im Zucker ist. Fr. Moritz
berichtet überdies, dass nicht selten auch ohne jegliche Medication im Harn
von Gesunden wie von Kranken mit dem N?LaNDE&'schen Reagens positive
Reaction eintrat, die, wie zuverlässig festgestellt wurde, durch Zucker nicht
bedingt sein konnte.
Eine Probe, bei welcher der Harnzucker in Form einer charakteristischen
kryatallisirenden Verbindung vom bestimmten Schmelzpunkt abgeschieden wird, bei
der also das erhaltene Reactionsproduct mit Bestimmtheit die Gegenwart von
Traubenzucker anzeigt, ist die Probe mit Phenylhydrazin. Da* von E. Fischer
entdeckte Phenylhydrazin, Cfl H6 - NH . NH2 , hat grosse Neigung, sich mit Aide-
hyden und Ketouen unter Wasser austritt zu gut charakterisirten , meist kristalli-
nischen Verbindungen zu vereinigen. Bekanntlich ist der Traubenzucker — die
Glucose — ebenfalls eine Substanz von aldehydischem Bau; mit diesem verbindet
sich das Phenylhydrazin zu einem im Wasser unlöslichen, krystalliniseheu, nadel-
fönnigen Körper, der bei 204 — 205° C. schmilzt und alsPhenylglucosazon
bezeichnet wird. v. Jaksch hat nun das Phenylhydrazin zum Nachweis des Zuckers
als das sicherste und empfindlichste Reagens empfohlen. Die Probe wird in folgen
der Weise ausgeführt: In eine Eprouvette werden zwei Messerspitzen voll saU-
HARK.
297
sauren Hydrazins und drei Messerspitzen voll essigsauren Natrons gebracht, die
Eprouvette zur Hälfte mit Wasser gefüllt, etwas erwärmt, dann das gleiche Volum
Harn hinzugefügt , das Gemisch in der Eprouvette in kochendes Wasser gesetzt
und nach 15 — 20 Minuten in ein mit kaltem Wasser gefülltes Becherglas gebracht.
Wenn der Harn etwas grössere Mengen Zucker enthält, so entsteht sofort ein
gelber krystallinischer — makroskopisch manchmal amorph scheinender — Nieder-
schlag, der sich bei der mikroskopischeo Untersuchung aus einzelnen oder in
Drusen angeordneten gelben Nadeln bestehend erweist. Auch bei Spuren von
Zucker wird man nach dem Absitzenlassen des Harns, eventuell in einem Spitz-
glase einzelne Phenylglucosazonkrystalle niemals vermissen. Das Vorkommen von
kleineren und grösseren gelben Plättchen oder stark lichtbrechenden braunen
Kügelchen ist für Zucker nicht beweisend. Ist der Niederschlag amorph, dann
kann man versuchen, die Phenylglucosazonkrystalle durch Umkrystallisiren des
Niederschlages zu erhalten. Zu dem Behufs löst man den Niederschlag mit heissem
Alkohol auf dem Filter und fallt das Phenylglucosazon aus der filtrirten Lösung
mit Wasser, kocht den Alkohol weg, die sich bildenden Erystalle werden dann
durch ihren Schmelzpunkt identificirt. Nach mehrfach übereinstimmenden Beob-
achtungen Anderer und meinen eigenen Erfahrungen kann man mit dieser Reaction
noch einen Zuckergehalt von 0*3 pro Mille nachweisen.
Nun auch für diese umständlichste der Zuckerproben liegt der Prüfstein
ihrer Brauchbarkeit darin, ob das Vorkommen auch der geringsten Mengen der
oben geschilderten Erystalle auf Traubenzucker zu beziehen ist oder nicht. Wenn
die Erystalle den Schmelzpunkt 204 — 205° C. haben, also Phenylglucosazon sind,
dann stellen sie gewiss die Verbindung des Phenylhydrazins mit der Dextrose
(oder auch Lävulose) dar. Es ergab sich nun, dass die genannten Erystalle that-
8ächlich in jedem Harn entstehen , dies entspräche dem normalen Zuckergehalte
des Harn 8. Auch die im Harn als normaler Bestandtheil vorkommende Glycuron-
säure giebt mit Phenylhydrazin eine in gelben Nadeln krystallisirende Verbindung,
die jedoch durch ihren bei 114 — 115° C. liegenden Schmelzpunkt vom Phenyl-
glucosazon scharf unterschieden ist Um die Bildung der Glycuronsäurephenyl-
hydrazinverbindung zu vermeiden, soll das oben geschilderte Reactionsgemisch
eine Stunde lang in kochendem Wasserbade erwärmt werden (Hirschl).
Da nun der Praktiker bei Anstellung dieser Reaction zum Umkrystalli-
siren weniger krystallinischer Gebilde, auch zu deren Scbmelzpunktbestimmung
weder Zeit, noch Geschick haben dürfte, so ist auch diese Reaction für die Er-
kennung kleiner Zuckermengen im Harn nicht verwerthbar, für grössere Zucker-
mengen reicht man ja mit der so bequem und rasch zum Ziele führenden
TROMM£BT8chen Probe aus. Wir halten demnach die Phenylhydrazinprobe für den
Praktiker vollkommen entbehrlich.
Bei sehr geringen Zuckermengen bietet allein dieGährungsprobe, unter
bestimmten Cautelen angestellt, sichere Gewähr für die Zuverlässigkeit. Die
Empfindlichkeit der Probe, mit welcher 0*1 °/0 Traubenzucker sehr leicht, 0*05 %
noch unter bestimmten Bedingungen nachweisbar ist, haben jüngst wieder Ein-
horn und Kobbak dargethan. Zusatz von Nährlösungen (Weinsäure, Pepton)
zum Harn, um seine Vergährung zu erleichtern, ist unnöthig. Fritz Moritz
empfiehlt folgende, äusserst leicht ausführbare Art der Ausführung : Ein Reagens-
röhrchen wird mit der Mischung von Harn und Hefe bis zum Rande gefüllt und
dann durch einen Gummistopfen geschlossen, der in einer Bohrung ein knieförmig
gebogenes Glasröhrchen trägt. Beim Verstopfen füllt sich letzteres mit verdrängtem
Harn. Der Apparat ist nun völlig luftleer und kann umgedreht werden, ohne
dass ein Tropfen ausfliegst. Das Röhrchen wird in ein Glas gestellt und bei
25° C. (neben einem Ofen, in der Eüche) der Gährung überlassen. Bei etwas
grösserem Zuckergehalt ist diese schon nach kurzer Frist an der Grösse des von
C03 erfüllten Raumes im oberen Theil der Eprouvette erkennbar, bei geringem
Zuckergebalt muss man 18 — 20 Stunden lang abwarten. Bei längerem Stehen an
rinem warmen Orte entwickelt sich jedoch auch in normalen Harnen mit Hefe
eine ganz geringe Menge von Gas in Folge Selbstgährung der Hefe; diese letztere
Erscheinung tritt aber auch beim Zusammenstehen von Hefe mit blossem Wasser
ein. Man mu&s also ein Controlröhrchen mit normalem Harn aufstellen t um den
Grad der Selbsfgährung zu erfahren. Ein zweites Controlröhrchen füllt man mit
dem zu untersuchenden Harn, nachdem man ihm eine kleine Menge Zucker zuge-
fügt hat. Diese Probe belehrt über die Gährungstüehtigkeit der Hefe und dar
Uber, ob der zu untersuchende Harn nicht etwa giihrungs widrig wirkt. Zusatz
von 2 Grm. käuflicher Fresshefe zu 100 Gern. Harn (beziehungsweise *2 Gewichts-
theile Hefe auf 100 Volumtheile Harn) genügt; der Hefezusatz des zu unter-
snchenden und des Controlharns soll mögliehst ein gleich grosser sein f da die
Grösse der durch die Setbstgährung der Hefe bedingten Gasentwicklung selbst-
verständlich von der Hefemenge abhängig ist. Combinirt mau die Gährungsprobe
mit einer empfindlichen Reductionsprobe , dann wird man , wenn eiü Harn nach
der Gäbruog nicht mehr reducirtf die Gewiasheit haben, dasa der reducirende
Körper Zucker war; andererseits wird die Fortdauer der Reductionsfahigkeit
eines Harnes nach dem negativen Ausfall der Gährungsprobe mit Gewissheit
darthuu, dass die reducirende Substanz keineswegs Zucker ist (Wqrm-MÜLLEB,
Rosenbach).
Loebi seh.
Harnsäurestauung, s. Gicht, pag. 234.
Hebammenwesen. Die r estrebungen der jüngsten 5 Jahre, den
II cbaimnen stand unter Acnderung mancher laudeagesetzlichen Bestimmungen zu
reformiren, die Hebammenleh ranstalten und das Hebammen wesen den Provinzial-
behörden (zu deren Ressort sie seit dem Dotationsgesetz vom 8. Juli 1375 in
den meisten Provinzen gehören) zu entziehen und wieder unter dtrecte Staats
aufsieht zu stellen, feruer den Anstaltsdirectoren einen nachhaltigeren Eintiuss auf
die spätere Entwicklung der einzelnen Personen einzuräumen , die Lehrzeit zu
verlängern, die Institute zu vergrößern, Polikliniken mit den letzteren zu ver-
binden, die Nachprüfungen zu verschärfen und durch Anstaltscurse vorzubereiten,
Hebammenvereine und -Zeitungen zu gründen : alle diese Reformideen knüpfen in
Sachsen, wie in Preussen, wo sie «ich mit beispielgebenden Folgen Bahn gebrochen
haben t an die Stellung der Hebamme zur Wochenbetthygiene an. Unter dem
22, November 1888 hat ein Erlass des Preussiseheu C ul tu s min isters eine vortreff-
liche Anweisung zur Verhütung des Kindbettfiebers für die Hebammen gebracht,
welche Alles, was fllr diesen Zweck nöthig erscheint, in 18 Paragraphen klar
und bestimmt zusammenfasse
Doch haben gerade diese isolirt erlassenen Anweisungen es klar erkennen
lassen, wo die Lücken in der Ausbildung der Hebammen am meisten klaffen und
wo die Hebel zu gründlichen Reformen eiugesetzt werden müssen. Diese letzteren
sind nur denkbar, wenn im Bereiche des Lehrbuches vorgenommen, welches
den an dasselbe zu stellenden Ansprüchen, für die späteren Aufgaben dea Heb-
ammenberufes ein treuer zuverlässiger Führer, eine Quelle des Wissens wert hen.
ein Handbuch der Repetttion , ein Wegweiser für die gesetzlichen Fragen und
Zweifel zu sein, — wohl niemals ganz genügen wird. Denn in Bezug auf die
Mittel, diesen Aufgaben gerecht zu werden, theilen sich die fachkundigen Begut-
achter in zwei Gruppen: die eine erblickt in den zu Unterrichtenden lediglich
geistig in hohem Grade zurückgebliebene Frauen, die Gattinnen von Trunkenbolden*
Müßiggängern und vom Einkommen ihrer Weiber ernährten Männern, denen auch
nicht die geringste Machtvollkommenheit oder Eigenentscheidung eingeräumt werden
dürfe. Die andere sieht in den Hebammen als Stand eine begrenzte und bestimmte
Classe des Heilpersonals; in jeder Angehörigen dieses Standes aber ein Bildungs-
objeet von dem Anspruch, dass ihm eine genaue Kenntniss der regelmässigem
und regelwidrigen Vorgänge in der Schwangerschaft , bei der Geburt und im
HEB AMMEN WESEN.
299
Wochenbett beigebracht und es dadurch bei dringender Gefahr auch zum zweck-
mässigen Eingreifen befähigt werde.
Von diesem Gesichtspunkte aus sind die heftigen polemischen Ausein-
andersetzungen zu würdigen, welche zwischen Dohrn , Ahlfkld — Abegg, Naht,
Deichmann u. A. als Vorläufer der Debatten publicirt wurden, die in der Preussi-
schen wissenschaftlichen Deputation für das Medicinalwesen mittelst der vorzüg
liehen Referate Olshaüsen's und Bockrndahl's schliesslich doch zu einer Einigung
Uber nachstehende Directiven für ein neues Lehrbuch führten.
„Die Vorschriften der Desinfectionsordnung sind (unter Weglassung der
jetzt überflüssigen Bezugnahmen auf das alte Lehrbuch) im Zusammenhange, und
zwar an derjenigen Stelle (§. 96), an welcher von dorn Verhalten der Hebamme
bei der Geburt zuerst und ausführlich gehandelt wird , aufzunehmen ; und ausser-
dem ist an allen Stellen, wo Veranlassung dazu gegeben ist, unter Hervorhebung
der Wichtigkeit der Prophylaxe auf dieselben zu verweisen.
An derselben Stelle (§. 96) ist eine praktisch gehaltene Darstellung der
Uebertragung von Krankheitsstoffen und über das Wesen der Desinfection zu geben.
Den Hebammen ist die Expression der Nachgeburt statt der bisher vor-
geschriebenen Art der Entfernung aus der Vagina (§. 119 des Lehrbuches) zur
Pflicht zu machen, mit der Beschränkung jedoch, dass die Expression nach der
Ausstossung des Kindes nicht vor Ablauf von 30 Minuten , ausser in den Fällen
von Blutungen, vorgenommen werden dürfe.
Zugleich ist eine allgemeine Belehrung über die Vorgänge, welche die
Austreibung der Nachgeburt aus dem Uteruskörper begleiten, in das Lehrbuch
aufzunehmen.
Den Hebammen ist die Wendung auf die Fasse in der Regel zu
verbieten.
Die Hebamme darf, wenn sie eine Querlage erkennt und den Muttermund
hinreichend erweitert gefunden hat, die Wendung vornehmen, wenn innerhalb
6 Stunden nach der Erweiterung des Muttermundes ärztliche Hilfe nicht eintreffen
kann. Ist letzteres möglich, so darf sie die Wendung nur dann machen, wenn
sie aus dem Zustande der Frau, insbesondere aus der Beschaffenheit der Wehen
erkennt, dass durch das Warten auf das Eintreffen des Arztes Gefahr für das
Leben der Mutter erwächst. u
[Zu diesem meistumstrittenen Fragepunkt führte das zweite Referat in
treffender Weise aus: „Die Frage, ob den Hebammen, wie bisher, die Verpflich-
tung auferlegt werden soll, bei Querlagen und bei Blutungen in der Nachgeburts-
zeit mechanisch einzugreifen, beantwortet sich lediglich aus der Noth wendigkeit,
d. h. aus denselben Gründen , welche den Staat veranlasst haben , den Schiffs-
führern an der Hand eines ärztlichen Lehrbuches die Behandlung ihrer erkrankten
Mannschaften anzuvertrauen. Es liegt nur nicht so deutlich auf der Hand, dass
in einem fortgeschrittenen Staat wie Preussen, in verschiedenen Gegenden, auf
Inseln, im Gebirge, auf Mooren und überschwemmten Niederungen und überhaupt
in menschenarmen Landstrichen, Verhältnisse vorkommen können, welche eine
Gebärende ebenso hilflos erscheinen lassen, wie sie es auf einem Schiffe ohne
Arzt sein würde; die Frage ist also eine Tbatsachenfrage , deren Bejahung
oder Verneinung allein von dem Ergebniss der Erhebungen abhängen wird,
welche die königl. Staatsregicrung in den einzelnen Regierungsbezirken hat an-
stellen lassen. "]
„Wenn der zweite Zwilling sich in Querlage einsteilt und die Schulter
nach dem Blasensprun^e tiefer herunter tritt, darf die Hebamme die Wendung
machen, wenn ärztliche Hilfe nicht alsbald zu erwarten steht. Den Hebammen
ist im Verwaltungswege aufzugeben , bei selbst ausgeführten Wendungsgeburten
sofort nach jeder Entbindung eine ausgefüllte Anzeigekarte (Zählblättchen) dem
Kreisphysicus (beziehungsweise Standesbeamten) einzureichen."
H EBA VI 11EN WESEN. — HEERE^KRANKBEITEK.
Im Lehrbuche ist auszusprechen , dass die Hebamme bei fortdauernder
Blutung in oYr N.irh^eburtsperiode, welche das Leben der Mutter in unmittelbare
Gefahr bringt, die Losung der Nachgeburt vorzunehmen hat. Einspritzungen mit
medicam entösen Stoffen in den Uterus sollen den Hebammen ganz untersagt,
Vaginalausspülungen , abgesehen von ärztlich angeordneten , strenge beschränkt,
Tamponaden mittelst eines geeigneten anti septischen Materials gestattet werden.
Gegen die Ophthalmie der Neugeborenen sollen neue deutliche und sachgemäße
Anweisungen ergehen.
Literatur: Fehling, Reform des Hebammenwesens. Deutsche m*d, Wuebenschr.
1889, Nr. 27. — Martin, Ebenda. Nr. 7. — A. Kalt, Ausübung des Hebammen berufe» auf
aatiseptiseber Grundlage — B. 8. Schnitze , Hebamineuwesen und Kindbett Öeber. VolkmaurTa
£amml küd. Vorträge Nr. 247. — Dohm, Ahlfeld, Ahegg, Zum neuen Hebammenlebr-
buch. Deutsche med. Wochenscbr. Nr. 7, 18, 27» 46. — Deichm all er, Zur operativen Befnf-
nias der Prens?. Hebammen. Zeitsehr. für Sied,- Beamte. 1890* Heft 9 — Verhandlungen de
Wissenschaft J. Deputat, für das JUedicinalwesen, Viertetjahrsschr. für gerichtl. Med. etc. 1890,
Dritte Folge. IT Sappl. — J.Veit, Der geburtshilfliche Unterricht, Berliner klin. Wochen*
schrift. 1891. Nr. 14. Wernich,
Heereskrankheiten. Der Umfang, in welchem bestimmte Krankheiten
die Heere heimsuchen und der Einflusa, welchen diese Krankheiten auf die Heere
ausüben, erhalten einen allgemeinen ziftermassigen Ausdruck durch die Verluste,
welche die den Heeren im Frieden und Kriege zufügen. Kennte iss von diesen
Verlusten erhalt man durch die Sanit&tsberichte , welche zum Segen für die
Wissenschaft und die Beere von allen Cultur Staaten periodisch veröffentlicht
werden. Die in deu letzten Jahren erschienenen Sanitätsberichte sind geeignet,
die im IX. Bande der 2, Auflage der ReatencyclopÄdie dargebotenen Verlust
Uhler (vergl. „ Heere skrankheiten" daselbst), namentlich in Hezug auf die Friedens-
verluste, zu ergänzen, und zwar nicht blos nach der Gegenwart herein, sondern
auch an denjenigen Stellen der Vergangenheit, wo die früheren Quellen Lücken
gelassen hatten. Ein Gesammtbild der den grossstaatlichen Heeren durch Krankheit
und Tod erwachsenden Verluste im Frieden mögen nunmehr die folgenden Zahlen
vermitteln.
1. Das Deutsche Reichsheer.
Das Deutsche Reichsheer ist in statistischer Beziehung bis jetzt noch
kein einheitlicher Begriff geworden. Will man Beine Statistik bis in die entlegenere
Vergangenheit zurück verfolgen , so beschränkt man sich zumeist auf das grtfsste,
das Preussische, Oontingent. Nach dem Kriege 1870 71 hat sieh das Württera-
bergische Armeecorps, für das Berichtsjahr 1882/83 und die folgenden auch das
Sächsische angegliedert, während die 2 Bayrischen Armeecorps noch ihre beson-
dere Berichterstattung beibehalten haben.
Die Form der deutschen Sanitatsberichte bat sich namentlich vom 1. April
1873 an abgeändert. Von dieser Zeit an ist der Begriff der „schonungsbedürftigen"
Leichtkranken eingeführt, vom 1. April 1882 an aber wieder mit dem Begriff
„revierkrank^ verschmolzen. Dieser Umstand verlangt bei der Beurtheilnng der
Schwankungen in den Verlustgröasen gebührende Rücksicht.
Das preussische Heer hat nach Casper in den Jahren 1829 bis 18 3 S
jährlich im Durchschnitt 1288'6°/00 der Kopfstärke Erkrankungen und 13'8%o
Todte gehabt; von 1846 bis mit 1863 nach Engkl 1336,>/00 Erkrankungen und
9-5° oo Sterbefalle; die Sterblichkeit von 1860 bis 1863 hat beständig um 6%0
betragen; 1867 erkrankten von dem 253.236 Mann starken Heere 1129%0 und
starben 6'2° 00, Die weiteren Jahre, ausschliesslich der Kriegsjahre 1870/71,
behandelt folgende Tabelle:
HEERESKRANKHEITEN.
301
Jahr
Ist stärk« dn*
Krankenzugang
im Verhältnis»
zur Iststärke
Alle Todesfälle durch
Heeres
Krankheit
Verun-
Seibatmord
!
Summe
= :
IfißQ
1ÖOÖ
OKA 07c
14»0 4 /00
5'9*/oo
118
160
6-9°/oo'
IQßQ
lOO»
»>Afl 7Aß
lwo4 „
50 n
127
167
1521 = 61 „
2037 = 7'19„
1Q79
191*4
—
lö/ö/ »4
1011 0 n
1702
165
150
2017 = 6 8 „
1ft7A/7K
1B74//Ö
31 1 ßAQ
Oll.Ow
19fi1 «fi
1418
144
179
1741-5-7 „
1 0*7»; f7ß
Q97 ORi
1 9fi7*A
1<0 # U „
1595
198
181
1974 = 6-4 „
1ft7ß/*77
lO/O/ # #
JMft ß>4ß
1 1 37«Q
HO/ Sf „
1402
171
214
1787 = 5*9 *
«ä> ff \J • %J %J ff
1877/7»
327.271
11651 „
1259
180
211
1650 = 5-0 „
1878/79
327.298
1160-9 „
1231
155
195
1581 = 4-8 ,
1879/80
330.430
1171-8 ,
1185
159
250
1594 = 4 8 „
1880/81
331.747
1136 2 „
1183
153
262
1598 = 4 8 „
1881/82
355.794
1135 5 n
1202
130
281
1613 = 4-5 „
1882/83
382.193
849-6 „
1230
136
259
1625 = 4-3 n
1883/84
383.021
8301 „
1149
139
282
1570 = 41 „
1884/85
383.714
850'3 „
1126
129
253
1508 = 3 9 „
1885/86
383.269
849-2 „
1074
123
232
1429 = 3-7 „
1886/87
386.662
808-0 „
1063
159
242
1464 = 3-8 n j
1887/88
417.104
8041 „
999
130
221
1350 = 3 2 „
Im Bayrischen Heere belief sich die Sterblichkeit während der Sechsziger-
Jahre auf 6'75°/00 der Iststärke. Die neueren Berichte vermitteln folgenden
Ueberblick :
Etatjahr
Iststärke
Krankenzugang
a in 7oo
der Iststarke
1874/75
1875/7b
1876/77
1877/78
1878/79
1879/80
1880,81
1881/82
1884/83
1883/84
1884 85
1885,86
43.238
44.659
45.345
45.644
45.020
45.257
44.610
47.091
50.563
46.634
14244
1791-3
1567-4
17740
1736-8
17558
1926-1
1764-7
1072*5
9893
J 48.465 =
l 1030°/0o
j 50216 =
i 1062°;00
Alle Todesfälle durch
Krankheit
Verun-
glücknng
Selbstmord
Summe
251
200
181
218
186
267
128
142
310
287
19
17
25
27
22
21
18
17
36
25
23
21
30
19
28
28
27
45
80
52
Dnrchschn.,
im Jahre
5-63°/0,
293
238
231
264
236
31b = 6-9870(>
173=3 87 „
204 = 4 33 „
426 = 45 „
364 = 386
Betreifs des Sächsischen Armeecorps darf ieh vielleicht auf die in meiner
„Militärmedicin" (Braunschweig 1887) und in meiner „Geschichte des Königl.
Sächsischen Sanitätscorps" (Leipzig 1888) veröffentlichten Statistiken verweisen.
Jene umfasst die Jahre 1874 bis 1881, diese den Zeitraum von 1819 bis 1886/87.
Die Deutsche Kriegsmarine lässt aus den letzten Jahren folgende Er-
krankungs- und Sterbeziffern nachweisen:
Todesfälle durch
Etatjahr
1
Kopfstärke
einschl. Bestand
Verun-
glückung
in °/m
Krankheit
Selbstmord
Summe
1876/77 '
1877/78
8.200
20
8.916
44
1878/79
9.259
28
1879/80 ,
10.069
15600
43
29
3
75 = 7-5°. 00
1880/81 1
9.885
13694
28
9
7
44 = 4*4 „
1881,82
10.246
14030
41
24
3
68 = 6*6 „
1882/83 |
10.181
1385 1
12
1
50 = 4 9 „
1883,84 !'
10.479
11591
33
15
4
52 = 5 0 „
1884/85 1
12.197
10340
53
14
4
71 = 5-8 „
1885/86 !j
-
1097-4
} 157
1886 87 1
987-0
302
HEERESKRANKHEITEN.
Betreffe des Oesterreichischen Heeres ist für die Jahre 1844 bis
1855 eine mittlere Sterblichkeit von 28° 00 und für die Zeit von 1850 bis 1860
eine solche von 17*5%0 nachgewiesen. Unter 12°/00 herab scheint die Sterblich-
keit in den Sechsziger-Jahren nicht gesanken zu sein. Weitere Aasweise gibt die
folgende Uebersioht:
1
| Jahr
iststarKe
Krankenzugang
in u/oo *
Todeisfalle durch
Krankheit
Verun-
glnckunff
Selbstmord
Summe 1
1869
269.835
1353
3128
III
219
3458 = 12-9°/0«i
1870
254.639
1700
3358
183
243
3784 = 14-9 „
1871
241.976
1869
3307
68
199
3574 = 14-8 „
1872
238.772
1825
Öl H
1873
240.662
1457
3809
122
197
4128 = 17 2 „ !
1874
4,04-DÖO
1000
2975
98
242
3315 = 131 „ !
1875
256.133
1329
2306
103
292
2700 = 10-5 „ 1
1876
258.435
1494
2038
130
330
2498= 97 *
1877
258.985
1507
1964
115
307
2386 = 9*2 „
1878
323.835
1620
4035
175
314
4524 = 140 „ ,
1879
281.799
1487
3518
123
293
3934 = 14-0 „
1880
254.170
1426
2263
118
305
2686 = 10 6 „ 1
1881
254.247
1369
1673
102
346
2121= 8-3 „
1882
27a456
1273
2227
158
323
2708= 97 n ,
1883
269.200
1200
1819
95
340
2254 = 8 4 „
1884 :
260.575
1179
1648
115
334
2097= 8-0 „
1885
263.986
1084
1594
94
331
2019= 7 6 „
1886
264.718
1064
1421
102
394
1917= 72 „
1887
269.845
955
1386
119
369
1874= 6 9 , :
1888
271.860
954
1331
96
322
1749 = 6 4 „
1889
281.569
929
1-460
92
422
1774= 6 3 „ '
Die Oesterreichische Kriegsmarine war in den Jahren 1863 bis 1867
nach Kolaczek durchschnittlich 8169 Mann stark; das Jahresmittel der Erkran-
kungen betrag 1086'3%0. das der Sterbefälle 16*4°/00 oder nach Abzag der
Verunglückungen und Selbstmorde 12*6° 00. In den Jahren 1870 bis 1879 betrug
der Krankenzugang 1504'4°/00 und die Sterblichkeit 10*8° 00 bei einer mittleren
Kopfstärke von 7317 Mann. Ueber Einzeljahre gibt die folgende Zusammen-
stellung Ausweis:
1
Todesfälle durch
Jahr
Iststärke 1
Verun-
glücknng
Krankheit |
| Selbstmord, Summe
1870
7040 '
1825'Voo
, = 15-6 0
00
1871
7000 .
.&
1 65= 9-34
y>
1872
i 7049 1
885*4 °/00]
; 87 = 12-34
n
1873
7219 |
804-83 , 1
! 51 = 7-06
7)
1874
998*8 „ 1
s-s-
CQ
103 = 147
n
1875
, 7235 !
922 04 „ J
i 80 = 1105
n
1876
743U
1596-8 „
2*5°/00
057oo
92 = 124
n
1877
7524
14219 n
1497-0 „
01 .
1 57= 76
A
1878
. 7962
B: ;
07 „
0*0 n
67= 8-4
n
1879
1293 3 „
78 = 1002
» i
1880
i
1033-27 „
49= 6-3
n
1881
1006-36 „
—
58= 7-6
n
1882
9120 n
> 7-36 „ i
7-3
n
1883
; 8562
837-0 „
, 8-3
rt
1884
1 8711
881*87 „
—
! 93
l
■ 1
1885
i 8821
817-0 „
1 71 = 80
» i
18S6
! 8682
933 65 „
6-68\, 1
1 9-09
» i
1887
| 8695 ,
860-26 „
760*33 „
5-87 , j
i 986
n
1888
j 8925
9 20 ,
1051
Im Englischen Heere muss zwischen den Truppen der Heimat und
denjenigen der Colonien, hier aber zwischen englischen und eingebornen Soldaten
statistisch unterschieden werden. Im Heere des Mutterlandes betrug die Sterblich-
HRERESKRANKHEITEN.
303
keit von 1826 bis 1846 nicht weniger als 17-5%o> von 1839 bis 1853 16'32°/00.
Auf die gesundheitlichen Massregeln, welche weiterhin in Folge des Krimkrieges
angestrengt wurden, folgte eine erhebliche Abnahme der Sterblichkeit, so dass
die letztere 1860 bis 1868 durchschnittlich auf 9'52%0 und 1861 bis 1870 auf
9*45°/00 sich belief; dabei betrugen die Lazareth-Aufnahmen 1860 bis 1865 durch-
schnittlich 993%0, 1860 bis 1868 9560/o0, 1866 bis 1872 879° 00.
Einen Ueberblick Uber das neuerliche Erkranken und Sterben im Heere
des vereinigten Königreichs (Grossbritannien und Irland) gibt folgende Zu-
sammenstellung :
Lazareth-Aufnahmen
Jahr
Kopfstärke
in %o
Todesfälle
der Kopfstarke
1866
70.292
853
9-62°/00
1868
78.*61
894
10 90 ,
1869
73764
797
9-41 „
1870
82.035
809
2H »
1871
92.637
816
1872
92.218
784
7-74 „
1873
95.767
759
791 = 8-26 ,
1874
93.198
840
819 = 8-79 „
1875 ;
88.147
831
870 = 9*36 „
1876
87.750
814
8-43 „
1878 !
101.129
812
686 = 6 53 „
1879 !
80.700
8*2*1
7-5 „ !
1883 j
6'28 „ ,
1884 i
870*2
5-33 , ;
1885
87.105
877-4
6-68 „
Die Sterblichkeit der Englischen Colonial trappen ist grösser als
die der heimatlichen Truppen. 1817 bis 1853 hat sie bei jenen durchschnittlich
69 bis 70°/00 betragen. Nachdem am 31. Mai 1859 ein Ausschuss beauftragt
worden war, Untersuchungen über das gesundheitlich ungünstige Verhalten der
Colonialtruppen anzustellen, ist von den sich anschliessenden Massregeln die
Sterblichkeit sehr günstig beeinflusst worden. Folgende Beispiele mögen dies zeigen :
In Ceylon war sie 1821 bis 1836 57-2%o, 1837 bis 1856 38 6, 1859 bis
1865 26 5, 1866 bis 1872 21-2«/00. In Mauritius war sie 1818 bis 1836 30 5,
1859 bis 1865 265 und 1866 bis 1872 22-8%o- In Jahre 1866 bewegte sich
die Sterblichkeit innerhalb der verschiedenen Colonien von 8'890,0o in Gibraltar
und Malta bis zu 32*46° 00, in China und Japan unter den weissen Truppen
und von 10*03° 0o bis zu 42*ll°/o0 unter den eingebornen Truppen. Die Erkran-
kungshäufigkeit bewegte sich von 474°/00 in Australien bis 21-23°/00 bei den
eingebornen Truppen Chinas. In Indien betrug die Sterblichkeit der Europäer
zwischen 1820 und 1830 nicht weniger als 90*7 %0, 1838 bis 1856 59*5, 1859 bis
1865 26*5° oo. 1866 stellten sich die wichtigeren Zahlen für Ostindien wie folgt :
Präsidentschaft
1
Trappen
Darchschnittl.
Kopfstärke
Lazareth-
Aufnahmen
Todesfälle
Bengalen ' !! euroPäische
, BenSalen ( eingeborae
i Madras I «?roP*i8ch«
| i eingeborae
j Bombay europäische
J l | eingeborae
! In allen 3 Präsidentschaften ( ,. T0^^
| i eingeborae
35.841
44.137
12.127
30.418
11.973
24.481
59.941
99.036
48.264
51.060
17.937
24.633
16.927
28.968
83.128
104666
690
602
238
375
146
169
1074
1146
1883 betrug die Sterblichkeit der Europäer noch 10-880/00-
Bei einer durchschnittlichen Iststärke der europäischen Truppen in
Indien von 56.967 im Jahre 1885 und 61.015 i. J. 1886 kamen 1533%o>
304
HEERESKBANEHEITEN.
beziehungsweise 1514°/00, dagegen 1884 1513°/00 Kranke in Zugang. Die Todes-
fälle beliefen sieh .1884 auf 12*56°/oo, 1885 auf 14 55 und 1886 auf 15*18%0.
Was die einzelnen Präsidentschaften anlangt , so erkrankten 1885 und 1886 in
Bengalen die meisten und in Madras die wenigsten Europäer. Die Sterblichkeit
der Europäer schwankte von 9*13%0 im Jahre 1885 in Madras bis 23*82° 0>
im Jahre 1885 in Bombay.
Die eingebornen Truppen Indiens waren 1885 115.486 Mann, 1886
aber 106.010 Mann stark. Der Krankenzugang betrug 978, beziehungsweise
973°/oo, Sterblichkeit 13*67, beziehungsweise 13*270/00.
Betrachtet man die Heerestheile (weissen Truppen) des vereinigten König-
reichs einschliesslich derjenigen in den auswärtigen Stationen, so erhält man
für die neuere Zeit folgende Aufschlüsse:
Jahr
| Istutarke
LAzareth-Aufnahmen
Todesfälle
1869—1878
1 169.87a
1016-6°/oo
1879
! 164.642
1169-1 „
20*0 n
1881
! 173.331
1115-0 n
12-85 „
1872—1881
1041-8 „
12 66 „
1882 i 174.557
1093-5 „
12-OH „
168.383
172.202
1653
1874-1883
1049-9 „
12*06 „
1884
167.686
10921 „
8-42 „
1885
177.928
1131-4 „
11-12 „
1887
194.037
984.9 „
11-75 „
Die einzelnen Stationen hatten 1879, 1884 und 1887 folgenden Antheil:
Station
Lazareth-Anfnahmen in %o
Gestorben in
%0
1879
1884
1887
1879
1884
1887
866-2
9669
674-2
99
4-03
6-29
Malta
8725
840*4
547-5
8-3
. 927
6-54
14697
753-5
7098
21-2
16-16
636
Canada
9838
778*7
624-8
4*6
632
5-46
596-4
617-6
808-9
5-08
10*96
12-68
Westindien
641-1
7495
11169
10-27
11-33
11-60
St. Helena nod Gap d.
guten Hoffnung . .
9760
6794
887-4
9-93
791
802
30431
2294*8
15925
258
2203
20*00
1181-4
1198-0
11393
19-80
1117
14-86
China n. Hinterindien
928-5
979-9
994-7
6*9
7-04
5-74
1911-6
14947
1351-1
25-8
1303
14*68
12662
11041
11-59
15-36
Die Englische Marine lässt folgende Erkrankungs- und Sterblich-
keitszahlen nachweisen :
Zeit
Trappenstärke
(einschl. Offleiere)
Erkrank an gen
Todesfälle
1860—1869
, 1865 . . .
1 1867 . . .
1868
1870 . . .
1872 . . .
1873 .. .
1874 .. .
1875 . . .
1876 . . .
1877 . . .
1878 . . .
1879
69.316
50.340
46.710
45.440
44.530
44.360
45.010
44.940
46.400
40.500
941 %
1368*2 „
1265*7 „
1295-7 „
1223 „
1170-9 „
1200 1 „
1196- 6 „
1159-1 „
1197- 5 „
1125*56 „
1177-28 „
1116*90 „
ö Ol .'oo
580 = 11-3 „
73 „
11 „
196 „
71 B
« :
88 „
9 24 „
317 = 7 05 „
669 .-=14-41 „
(Verlust d. Enrydice)
8-580/M
HEERESKRANKHEITEN.
305
Truppenstärke
(einschl. Offleiere)
Erkrankungen
Todesfälle
44.770
44.000
43.475
43.350
43.000
46.670
46.770
1172-36°/ou
1104-2 „
1148 45 „
10910 „
1158 46 „
51.472 = 1102*89 „
47.816 = 1022*36 n
12-57°/oo
(Verlust d. Atalanta)
10-94°/00
413 = 9-49 „
5-88 „
387 = 9 0 „
(Scheitern d. Wasp)
7-04%0
322 = 6-88 „
Zeit
1880
1881
1882
1883
1884
1885
1886
Die Sterblichkeit des Französischen Heeres zeigt in den früheren
Jahren folgende Schwankungen : 1822 war sie 27-9%0> 1823 28'3, 1842 24'6,
1843 20-4, 1844 156, 1845 14 8, 1846 17'6, 1842 bis 1848 nach BOUDIN
19-4° oo 5 1846 bis 1858 16°/o0, 1857 19'7O%0. Für einzelne neuere Jahre
berichten Morache u. A. über die Sterblichkeit in Frankreich , Algier und be-
ziehungsweise Italien folgende Zahlen:
Jahr
Kopfstärke
Erkrankungen
Todesfälle
1862
372.166
lO-H'/oo
1863 '
361.197
io-oo „
1864 |
347.731
1131 „
1865 i
348.968
12 65 ,,
1866 !
336.233
10-60 „
1867
384.180
11*74 „
1868
394.634
U-52 „
1869
417.660
10-30 „
1872
429.973
9'49 „
1873
480.139
1716«/„„
4204= 8-75 „
(einschl. 178 Selbstmorde)
3739 = 8-77°/00
1874 |
426.198
2046 „
(einschl. 154 Selbstmorde)
4163= 9-55°/00
(einschl. 135 Selbstmorde)
1877
424.632
2587 „
18S0
4773
1881
454.991
z
6228= U-98°/oo
(einschl. 155 Selbstmorde;
Expedit, in Tunis; Oran)
1882
463.818
5004
1883 i
455.608
3714= 815°/o.
(einschl. 154 Selbstmorde)
7'64°/00
1884
1885
7-58 „
1886 ;
471.517
3622 = 7-68 n
Die Sterblichkeit des Französischen Heeres (einschliesslich Algier und
Tunis) belief sich 1887 auf 7'250/0o , nämlich 3319 Fälle, von welchen 2579
oder 6-55%o auf das Innere, 603 oder ir09%0 auf Algier, 137 oder 14-67%0
auf Tunis entfallen. Im Jahre 1888 sind 3426, also 6'75%0 gestorben, und
zwar im Innern 2667 oder 6'090/0o, in Algier 618 oder 10-54%0 und in Tunis
131 oder 12'880/00 (die absoluten Einzelziffern entsprechen leider der Summe
der benutzten Quelle nicht — Dr. H. Frölich).
Die Sterblichkeit in der Französischen Marine-Infanterie hat 1873 bis
1880 durchschnittlich betragen 70'7°/00y und zwar in Frankreich 18'9°/o0, in
Martinique 32'2°/00 , in Guadeloupe 34'5%o> am Senegal 140,60/00, in R^union
20-9%0, in Neu-Caledonien 28-l°/00 nnd in Cochinchina 97%0.
Das Italienische Heer hatte 1840 bis 1850 eine Sterblichkeit von
16'17°/o0, 1867 bis 1869 nach Morache eine solche von 10%0 und von 1870
bis 1876 nach Sormani ll'60/o0- Für einzelne Jahre giebt es folgende Ausweise:
Rnoyclop. Jahrbücher. I.
306 HEERESKRANKHEITEN.
Jahr
Heeresstärke
Erkran kungen
in %,
Todesfälle, einschl. Selbstmorde
1870
207.000
8500
1749
—
8-4 °/„0
17
1871 .
1&9.V91
1058-0
1603
10 73 ,
183.829
1145-0
1633
10-86 ,
1Q1 ORR
1766
93 „
13
1874
193.663
1080 0
2231
11-52 .
40
200.524
1031-0
2662
13 28 ,
68
1876
190.376
1004-0
2139
11-24 ,
82
1877
196.192
9870
2072
10-56 „
86
1878
195.172
947-0
2077
10-64 „
79
1879
193.370
9360
1979
9-90 .
210.477
2138
10-84 ,
1881
199.756
2047
103 ,
1894
218.793
2195
10-0 .
69
Die Italienische Marine hatte 1873 eine Sterblichkeit von 3'70%0? 1874
3-27, 1875 4-91, .1876 2-90%0 ; in den Jahren 1879 bis 1882 hatte die
durchschnittlich 42.970 Mann zählende Marine 21.861 = 509°/oo Erkrankungen.
Die Sterblichkeit des Russischen Heeres, welches neuerdings fast
900.000 Mann stark ist, betrug 1841 bis 1852 37-4%0. 1857 bis 1861 18-7%0,
1860 17-0, 1861 15'5, 1862 13-2, 1863 13-7, 1864 16 3, 1865 16'9; 1862 bis
1871 15-44, 1870 16'7, 1872 18'42, 1873 12'69, 1874 10'4, 1875 10-03%0,
1880 8948 Todesfälle = 13'04<>/00, 1881 9268 = 14-54°/00 , 1882 7384 =
8-31°/oo; 1884 hatte das 863.675 Mann starke Heer 748'3°/o0 Erkrankungen
und 6409 = 7'420/0o Sterbefälle ausschliesslich der Verunglückungen.
Die Russische Marine hatte 1872 ein Erkrankungsverhältniss von
1006'6%o und eine Sterblichkeit von 20-44°/0o.
Jahr
Iststarke
Erkrankungen
Sterbefälle
1883
1884
25.930
1313-rYo.
37.011 = 1427-3 „
9-3°/00
244 = 9-4 „
Die periodisch vom 1. Juli des einen bis 30. Juni des anderen Jahres
laufenden Berichte über das Heer der Nordamerikanischen Freistaaten
lassen folgende Krankheits- und Sterbezahlen ans den letzten Jahren ersehen:
Jahr
!
Iststärke
Erkrankungen
iu %o
Todesfälle in °/,0 1
der Iststärke !
weisse
farbige
weisse
farbige
weisse
farbige
29.365
2608
17
19
1871 72
, 24.101
2494
15
22
1872/73
24.844
2520
17
21
1873/74
25.647
2497
13
15
1874 75
21896
2247
11
16
1875/76
21.681
2002
U
13
1877/78
20.794
1895
1489
1813
12
17
1878/79
21.716
1947
1741
2020
12
14
1880/81
21.160
2644
1768
1984
9
20
1881/82
20.778
2510
1679
1810
10
12
20.914
2598
1802
1962
10
11
1883/84
20.230
2519
1833
1910
12
10
1885.86
21.944
2194
1367
69 !
| 1886W
23.737
2358
1263
230 =
= 88 !
i
HEERESKRANKHEITEN.
307
Die Nordamerikanische Flotte bietet folgende Verhältnisse:
Jahr
Iststärke j
Erkrankungen
Todesfälle ia 7»
der Iststärke
1879
1880,
1881 ,
1883 .
1884.
1886 .
1887 ,
6869
9003
9546
9874
9959
10.488 = 1182-54°/oo
9.752 = 1083-44 „
9.483= 993 4 „
9.446
9.469
917 ^ ,
901-59 „
406
311
303
445
3-01
5
5'42
Von besonderem Interesse ist es, zn sehen, wie verschieden die Sterb-
lichkeit der Europäischen Heere nicht nur ist, sondern wie sie auch in den letzten
Jahrzehnten unseres Jahrhunderts mehr und mehr sich verändert, und zwar, zur
höchsten Befriedigung militärärztlichen Strebens, nach der Gegenwart herein sich
verbessert hat. Am günstigsten ist in den in Betracht gezogenen Zeitabschnitten
das Heer des Deutschen Reiches gestellt, und es hat dasselbe, wie die folgende
Uebersicht zeigt, seinen sanitär so hervorragenden Rang bis heute behauptet.
Selbst England mit seinen anerkannt vorzüglichen Gesundheitsvorkehrun^en thut
es ihm nicht zuvor. Die meisten jährlichen Verluste hat noch Russland zu beklagen ;
es hat erst im 8. Jahrzehnt die güustige Stufe erklommen, auf welcher sich das
Heer dea Deutschen Reiches schon etwa 40 Jahre vorher befunden hat. Aber
auch die Russische Landmacht ist neben den anderen in entschiedenem und leb-
haftem Fortschritte begriffen, der sich in jedem Jahrzehnt bemerklich macht. Dort
wie hier giebt es keinen Rückschritt und keinen Stillstaud. Das deutsche Reichs-
heer zeigt, dass ein ehedem ungeahntes und für ein Ideal gehaltenes Sterblich-
keitsverhältniss Tbatsache geworden ist, und ist daran zu zeigen, dass eine noch
geringere Sterblichkeit für die Dauer erreichbar erscheint.
Landmacht
Europäische Pro mille Sterblichkeit im
3. Jahrz. 4. Jahrz. 5. Jahrz. 6. Jahrz. 7. Jahrz.
Deutsches Reich . .
. ! 13 8
| 95
95
65
5*7
i England
. ' 17-5
| 17*5
95
83
Frankreich ....
; 194
16
11-4
9-1
; 16-17
10 2
Oesterreich ....
1 28
175
123
Rnssland
•Ii
! 374
187
154
136
8. Jahrz.
4*0
61
64
(10-0)
7*9
10-8
Literatur: Sanitätsbericht über das Preussische, Sächsische und Württembergische
Heer für 1882 bis 1884 bezw. bis 1888. — Mil.- Wochenblatt. 1890, Nr. 23 (Darmtyphus). —
Desgl. 1890, Nr. 33 (Franz. Sterblichkeit). — Le Progres militaire vom 20. August 1890
und Mil. Wochenblatt. 1890, Nr. 82 (Franz. Sterblichkeit). — D. m. Z. 1874, H. 7 (Russische
Friedens Verluste 1870) — Desgl. (Preussische Friedens Verluste 18»»8 und 1869). — D. m. Z.
1878, H. 9 (Deutsche Friedensverluste 1863, bezw. 1867 bis 1873) — D. m. Z. 1878, H. 2
(Friedensverluste 1875 in Preussen , Sachsen und Württemberg). — D. m. Z. 1883, H. 2
(Friedensverluste 1860/81 im Deutschen Heere) — D. m. Z. 1884, H. 11 (Friedens Verluste
1881,82 im Deutschen Heere). — l>. m. Z. Ib77, H. 5 (Friedensverluste in der Deutschen
Marine 1875/76). — D. m. Z. 1878, H. 2 (Des*l. frir 18J6/77). — D. m. Z. 1879, H. 3
(Desgl. für 1877/78). — D. m. Z. 1681, H. 9/10 (Desgl. für 1879,80). — D. m. Z. 188*, H. 5
(Desgl. für 1880 81). — D. m. Z. 1883, H. 2 (Dtsgl. für 18^1/82). — D. m. Z. 1884, H. 9
(Desgl. für 1882/83). — D. m. Z. 1882, H. 3 (Friedensverluste 1870—1879 in der Oesterr.
Kriegsmarine). — D. m. Z. 1874, H. 12; 1875, H. 9; 1876, H. 7; 1879, H.2 u. 5; 1881,
H. 1 (Friedensverluste in der Oesterr. Kriegsmarine). — Militärstatistische Jahrbücher
(Friedensverluste im Oesterr.-Üngar. Heere). — D. m. Z. 1872, H. 9; 1873, H. 1, 11/12;
1875, H. 9; 1877, H. 5; 1878, H. 1 u. 2; 1879, H. 2; 1876, H. 8/9, pag. 518; 1881, H. 1;
1882, H. 1 u. 3 (Englisches Landheer, Friedens Verluste). — D. m. Z. 1873, H. 2 ; 1877, H. 5 ;
1878, H. 1; 1881, H. 1 (Friedensverluste im Franz. Heere). — Lyon med. vom 14. Oct.
1883 (Franz. Marine-Infanterie). — D. m. Z. 1874, H. 1 (Friedensverluste 1870 in Italien) —
Feldarzt. 1876, Nr. 15 (Friedensverluste Italiens). — D. m. Z. 1877, H. 5; 1878. H. 1 u. 2:
1881, H. 1; 1882, H. 3 (Friedens verloste Italiens). — D. m. Z. 1873, H. 7; 1874, H. 1;
1877, H. 5 (Friedensverluste Russlands). H. Frölich.
20*
HEILGYMNASTIK,
Heilgymnastik '•maschinelle, Zand kr1 sehe). Derselben wurde bereits in
Bd. IX, IL Aufl., andeutungsweise gedacht und dabei hervorgehoben, dass die Erfahrung
noch zu beweisen habe , ob die von dem Erfinder derselben (Dr. Zander i n
Stockholm) ihr zugeschriebenen Vorzuge auch wirklich vorhanden seien. In
Schweden hatte nun aber damals bereits die Erfahrung gesprochen; eine ganze
Anzahl hervorragender Aerzte hatte die grossen Vorzüge, die erhebliche Leistungs-
fähigkeit der mechanischen, an Maschinen geübten Gymnastik gebührend anerkannt,
wahrend in Deutschland freilich kaum Gelegenheit zu bezüglichen Studien gegeben
war. Seither sind nun auch ausser Zanuers Institute in Stockholm eine
Reihe sogenannter cnedico-mechanischer Institute entstanden : in Gothen-
burg, Helaingfors, St Petersburg, London, Baden Baden, Buenos- Aires, Christiania,
Hamburg , Berlin , Breslau , Frankfurt a« M. , Dresden , Mannheim , Wttrzburg,
New -York.
Institute mit einer Auswahl Zander's eher Apparate: Upsala,
Orebro , Norrköping , Abo , Carlsruhe , München , Pforzheim , Wien , Budapest,
Kopenhagen, Moskau, Baltimore*
Im Bau begriffen: Wildbad.
Viele Aerzte haben auf diese Weise Gelegenheit gehabt, sich aus eigener
Anschauung eine Vorstellung von der Leistungsfähigkeit der ZANDER'scheu Methode
zu bilden, und es dürfte nicht zu viel gesagt sein, wenn man behauptet, dass
fast übereinstimmend die hohe Bedeutung dieser Methode anerkannt sei, und dass
nur noch über die lodicationen für dieselbe , sowie über die mehr oder weniger
durchgreifende Wirkung der Hebungen an deu Apparaten verschiedene Meinungen
zu Tage treten. Wahrend die Einen schliesslich jedes Uobel in dem medico-
mechanischen Institute behandeln, respective heilen, jede andere mechanische
Methode, & B, die ursprüngliche schwedische Heilgymnastik und Massage, aus-
schliefen wollen, verhalten sich Andere viel skeptischer, gestehen der maschinellen
Gymnastik immerhin einen gewissen Werth zu, ziehen jedoch das LrXG'sche System
entschieden vor, oder glauben durch andere mechanische Methoden mindestens das
Gleiche erreichen zu können. Die grosse Mehrzahl aller mit der Sache Vertrauten
dürfte sich jedoch dahin aussprechen, dass Zander sich mit der Erfindung seiner
sinnreich construirten Apparate eiu grosses Verdienst um die leidende Menschheit
erworben habe, dass wir heute mit Hilfe der medico-mechanischen Institute zahl-
reichen Patienten Linderung und mehr oder weniger vollständige Genesung zu
verschaffen im Stande seien, wo wir uns seither mit viel unvollkommeneren Mitteln
behelfen mussten , dass aber andererseits durchaus nicht jeder Kranke mechanisch
behandelt werden könne oder dürfe*
Hören wir Zandeji selbst, so erfahren wir, dass er bereits seit dem
Jahre 1857 seine bezüglichen Versuche begonnen und dabei zunächst im Auge
hatte, den Arzt unabhängiger vom Hilfspersonal und von seinem eigenen Körper
zu machen. Er construirte zunächst Apparate für Beugung, Streckung und Dehnuug,
respective Heilung der einzelnen Glieder und des Rumpfes, mit einem Gegengewichte
versehen, welches man durch Verschieben an einer Hebelstange nach Wunsch ab-
schwächen oder verstärken konnte. Auf diese Weise wurde es ermöglicht, den
Widerstand so einzurichten, dass er gradweise, den Hebelgesetzen entsprechend,
sowie den Gesetzen, nach welchen die Muskelkraft arbeitet, zur Wirkuug gelangt.
Hierin liegt nun ein grosser Vorzug der ZANDER'scheii Apparate gegenüber anderen,
z. B. dem Turnschranke. Ein weiterer grosser Vorzug der Zander1 sehen Maschinen
ist der, dass mit Hilfe derselben stets nur eine bestimmte Muskelgruppe in Thätig-
keit gesetzt wird und diese eine ganz genau zu bestimmende Arbeit zu leisten
hat. Eine solche genaue Bestimmung ist dem geübtesten Gymnasten ganz unmöglich,
schon aus dem Grunde, weil er die Anstrengung seiner eigenen Muskeln mehr
oder weniger stark empfinden muss, je nachdem er dieselben bereits mehr oder
weniger augestrengt hat.
HEILGYMNASTIK.
309
Alle diese, für active Bewegungen bestimmten Apparate können, wenn
nöthig, auch zn passiven Bewegungen verwendet werden, indem der Bewegungs-
geber an der Hebelstange arbeitet; hauptsächlich wurden aber für diese Zwecke,
sowie für Beweglichmachung von Gelenken eine Anzahl von anderen Apparaten
hergestellt, welche durchDampf getrieben werden, z.B. für Handbeugung und
Streckung, für Radial- und Ulnarflection ; weiter ein höchst sinnreich construirter
Apparat für Brustweitung, für Balancirbewegungen. Erschütterungen, Hackungen
lassen sich niemals in so vollkommener Weise, d. h. mit solcher Geschwindigkeit
und Gleichmäßigkeit der Bewegung von der Hand geben, wie mit Hilfe der
Apparate. Ausserdem construirte Zander noch eine Anzahl mit Dampf betriebener
Apparate zum Zwecke mechanischer Einwirkung, z. B. für Bauchknetuug, kreisende
Unterleibastreichung, Arm- und Beinwalkung, welche zur Unterstützung in vielen
1 Fällen höchst werthvolle Dienste leisten, nach Zander -s ausdrücklicher Erklärung
jedoch keineswegs die Hand des Arztes ersetzen sollen. Wo Massage nöthig
ist, wird dieselbe von Zander, respective seinen Gehilfen in ausgiebigster Weise
mit der Hand ausgeführt — von einem Massiren mit Dampf, wie die Gegner
es meinen wollen, ist bei Zander niemals die Rede.
Eine Beschreibung sämmtlicher Apparate an dieser Stelle dürfte zu weit
führen und das Verständniss doch nicht wesentlich fördern ; genaues Studium und
persönliches Ueben sind durchaus erforderlich, um sich eine richtige Vorstellung
von der Art der Wirkung der verschiedenen Apparate zu verschaffen. Zander
hat zwar eine Beschreibung seiner Apparate geliefert und derselben eine Reihe
der werthvollsten Verhaltungsregeln während der Hebungen hinzugefügt; doch
auch das sorgfältigste Studium dieser Abhandlung vermag das Studium am Apparate
selbst in keiner Weise zu ersetzen, weder zum Zwecke der Information noch viel
weniger, um nach derselben Verordnungen zu machen.
In späterer Zeit hat Zander sich auch mit grossem Erfolge der Behand-
lung von Rückgratsverkrümmungen gewidmet, und zu diesem Zwecke
mechanische, sehr werthvolle Apparate construirt, welche im Liegen eine Conrectur
der deformirten Theile bewirken sollen ; er verwendet aber selbstverständlich auch
eine ganze Reihe der übrigen activen und passiven Apparate zum Unterstützen
der Cur, indem er bald die verschiedenen Seiten verschieden belastet, bald die
verkürzte Seite unterstützt, oder die Balancirbewegungen nur noch der einen Seite
machen lässt u. s. f. — Von grosser Wichtigkeit sind endlich noch die von
Zander erfundenen Messapparate, welche die Aufnahme von genauen Bildern
gestatten und dadurch eine sichere Controle der erreichten Resultate ermöglichen,
Zander hat mit seiner Behandlungsmethode sehr Schönes erreicht, verzichtet
jedoch auf ein gewaltsames Gerademachen und begnügt sich damit,
dass er den jugendlichen Körper zum geraden Wachsen zwingt.
Von grösster Wichtigkeit ist ferner die sorgfältige Beobachtung
der von Zander vorgeschriebenen allgemeinen Regeln für die Uebungen an
den Apparaten. — Selbstverständlich müssen diese Uebungen anfangs nur mit
schwachen Nummern gegeben und nicht zu lange fortgesetzt werden ; nur genaue
Controle ermöglicht ein gleichmässiges, gedeihliches Fortschreiten, indem man die
Belastung genau dem jeweiligen Kräftezustand anpasst, d. h. weder zu grosse
Anforderungen stellt, noch auch zu geringe und damit für den Erfolg werthlose.
Von grosser Wichtigkeit, besonders für die Arm- und Beinbewegungen, ist aus-
giebiges und richtiges Athmen: im Allgemeinen fällt der mehr anstrengende
Moment der Bewegung mit dem Ausathmen, der weniger anstrengende mit dem
Einathmen zusammen. Dass man sich vor der Gymnastik nicht ermüde, sich
während der Uebungen nicht übereile, bequeme, weder Respiration, noch freie
Bewegung der Glieder behindernde Kleidung trage, vor den Uebungen keine reich-
lichen Mahlzeiten zu sich nähme, bedürfte eigentlich keiner besonderen Erwähnung,
wird aber doch nur zu oft nicht beachtet.
Wenn wir nun auch an dieser Stelle auf eine detail lirte Beschreibung
der verschiedenen Apparate verzichten müssen , so dürfte doch eine Uebersicht
Uber die vorzugsweise zur mechanischen Behandlung mit Zander sehen Apparaten
geeigneten Krankheitszustände am Platze sein, umso mehr, als über diesen
Punkt noch immer vielfach irrige Anschauungen verbreitet sind. Vor Allem müssen
wir hervorheben t dass es zur Erhaltung der Gesundheit, also in pro*
pb y 1 ac tisch er Beziehung, kaum ein besseres Mittel giebt, wie jedes Jahr einige
Monate hindurch in einem med ico -mechanischen Institute unter sachverstandiger
Leitung zu üben. Sagt doch Dubois Reyhond sehr bezeichnend, dass Leibesübungen
nicht nur Hebungen des M uskel Systems , sondern auch Uebungen des Nerven*
Systems, des HirnB und Rückenmarkes seien.
Die Turne Ale mit ihren ärztlich nicht geschulten Leitern können solchen
Zwecken nur zum Tbeil genügen , gleichwie die Zimmergymnastik einen
vollständigen Ersatz nicht zu bieten vermag, umso weniger, als unserer rastlos
strebenden Zeit, bei der fast ausschliesslich einzelne Tbeile des Körpers mit Ver-
nachlässigung der übrigen in Anspruch genommen werden j es sich doch immer
bereits um mehr oder weniger erhebliche Störungen der normalen Körperfunctionen
handelt, und wir uns bemühen müssen, die schädlichen Folgen unseres Culturlebens
rechtzeitig zu bekämpfen. Den von Hoffmaxn gestellten Indicationen der Schonung
und rebung wird mau sicherlich in allen geeigneten Fällen am Besten und
Bequemsten gerecht werden können, wenn man die von Zander gebotenen Mittel
rechtzeitig und in genügend ausgiebiger Weise gebraucht. Der Nutzen
einer derartigen Bewegungacur wird freilich nur dann entschieden zu Tage treten,
wenn die Uebungen sorgfältig Uberwacht und sachverständig ange-
ordnet werden , wie das in den medico-mechanischen Instituten als selbst-
verständlich vorausgesetzt wird.
Die Acten über die Verwendbarkeit dieser mechanischen Methode bei
Krankheiten sind freilich heute noch durchaus nicht abgeschlossen : auf der einen
Seite finden wir zu grossen Enthusiasmus, entschieden zu weit gehende Erwartungen,
auf der anderen wieder zu skeptische Anschauungen, wie das bei der relativen
Neuheit der Sache nicht anders sein kann. Auch hier mnss, wie bei so vielen
anderen Fragen, fortgesetzte Beobachtung und Erfahrung noch das letzte Wort
sprechen. In erster Reihe werden jedenfalls alle jene Leiden in Betracht kommen,
welche durch Mangel an genügender Bewegung durch einseitige
Gehirnthätigkeit hervorgerufen sind, und wird es sich in diesen Fällen zuuächst
wohl jedes Mal darum handeln, mehr oder weniger erhebliche Störungen der
Circulation auszugleichen. Den bezüglichen Ausführungen Nebei/s folgend,
bezwecken wir durch heilgymnastische Behandlung:
1 . Eine Entlastung des venösen Kreislaufes durch Verbesserung
der Circulationsverhältnisse, um damit eine Erleichterung der Hersarbeit
zu erzielen. Entlastung des Kreislaufes kann allerdings oft sehr wirksam nach
OERTEL durch Trockendiät und Beförderung der Se- und Excretionen bewirkt
werden ; Gymnastik dagegen entfaltet ihre Wirksamkeit, indem sie durch bessere
Blutvertheilung eine Entlastung des venösen Kreislaufes und eine grössere Füllung
der Arterien bewirkt, ohne dadurch den Blutdruck zu vermehren. Die Arbeit
des Herzens wird aber dadurch erleichtert, dass der Blutdruck im Aortensystem
sinkt ; a) durch Beförderung der peripheren Circulation mittelst passiver Bewegungen
und mechanischer Einwirkungen; h) durch gelinde active Bewegungen, welche die
Muskelgefässe reflectorisch erweitern, ohne das Herz zu vermehrter Action anzuregen.
2» Bewirkt die heil gymnastische Behandlung Verbesserung der
Beschaffenheit des Herzmuskels, den wir durch langsam sich steigernde
Anforderungen zu verstärkter Thätigkeit anregen und damit v erm e h r t e
W achs tb ums energi e hervorrufen, d. b, Verminderung der Dilatation
nnd Herstellung., respective Wiederherstellung com pens ato risch e r
Hypertroph ie.
HEILGYMNASTIK.
311
Die heilgymnastische Behandlang ist also eine allgemeine, keine
specielle Therapie der Kreislaufstörungen, ein diätetisch-mechanisches
Verfahren, welches keineswegs der Anwendung unserer üblichen Arzneimittel ent-
gegentritt, vielmehr recht wohl mit der medicamentösen Behandlung, natürlich
auch combinirt mit der OERTEL'schen Wasserentziehung, ihre Wirksamkeit entfalten
kann. Die schwedische, ganz besonders aber die ZAXDER'sche Gymnastik-Methode
ist jedenfalls viel leichter auszuführen und für viele Kranke rathsamer, als das
Bergsteigen, welches in Folge des vermehrten Durstgefühls und der Schwierigkeit
der Controle für viele Kranke durchaus nicht rathsam und zudem an den Ort und
die Jahreszeit gebunden ist. Unglücksfälle werden sich bei keiner Behandlung von
Herzkranken völlig ausschliessen lassen, wenn auch Zander solche in seinem
Institut in mehr als 20 Jahren nicht erlebt hat. Ein Verfahren, welches so
strenge und genaue Detailvorschriften giebt, wie das ZANDEn'sche , eine Cur,
welche stets vom Arzte überwacht, geregelt und nach Bedarf modüicirt werden
kann, lässt Missbrauch und Missgeschick wenig befürchten, wenn dieselbe dafür
auch längere Zeit in Anspruch nimmt. Für die günstige Wirkung richtig geleiteter
mechanischer Behandlung von Herzkrankheiten sprechen nun durchaus nicht nur
die Erfahrungen Z ander' s, sondern auch die einer ganzen Reihe anderer Autoren,
welche unwiderleglich beweisen, dass nicht nur Ciroulationsstörungen,
durch Schwäche und Degeneration des Herzmuskels (Fettherz,
Scierose) bedingt, sondern auch Compensationsstörungen, d urch Klappen-
fehler hervorgerufen, sich oft als sehr dankbare Objecto für mechanische
Behandlungsmethode erweisen (Wretlind, Sabthebbbrg, Mcrray, Rosander,
Nebel, Heiligenthal, Schütz u. A.), deren Urtheil wir und viele andere Aerzte,
welche seither Gelegenheit gehabt, die Methode auch an ihren Patienten zu
prüfen, sich anschliessen.
Es könnte von vorneherein auffallend erscheinen, dass die verschiedenen
Formen von Herzleiden in ähnlicher Weise behandelt werden — die Begründung
eines solchen Vorgehens liegt jedoch darin, dass die erste therapeutische Aufgabe
zunächst überall die gleiche ist: Erleichterung der Herzarbeit, Er-
weiterung der Blutbahn und Sicherung der Compensation ver-
mittelst der allgemein stärkenden Muskelübungen. Wie weit wir gehen dürfen,
welche Grenzen wir der mechanischen Behandlung der Herzkranken ziehen müssen,
das lässt sich zur Zeit noeh nicht mit Sicherheit bestimmen, weil die Erfahrung
in dieser Richtung noch lange nicht ihr letztes Wort gesprochen hat. Zander,
dem wir wohl in dieser Beziehung die ausgedehnteste Erfahrung zusprechen dürfen,
empfiehlt die mechanische Gymnastik bei allen Klappenfehlern, idiopatischer Hyper-
trophie und Dilatation (Ueberlastung) des Herzens, Myocarditis chronica, Fett-
herz, Neurosen des Herzens und Arteriosclerose. Heilungen im wahren Sinne des
Wortes will er freilich nur bei einfacher Hypertrophie und beginnender fettiger
Degeneration der Herzmusculatur gesehen haben; er hält es aber mit Recht für
einen grossen Gewinn, wenn Kranke, deren einmal entwickelte Herzfehler nicht
mehr zu beseitigen sind, Linderung von lästigen Symptomen finden oder bei Vor-
sicht in Bezug auf Anstrengungen dahin gelangen, keinerlei Beschwerden von
Seiten ihres Herzfehlers zu empfinden.
Wenden wir uns nun zu den Details der Behandlung Herzkranker mittelst
mechanischer Gymnastik, so finden wir vor Allem in der ZANDEß'schen Methode
eine Bewegung von ganz speeifischer Wirkung, welche, ähnlich wie die als Digitalis
des Gymnasten bezeichneten Herzhackungen, Herabsetzung einer überreizten Herz-
action bewirkt, die Rückenerschütterung (F. 1 — grosse Pelotte zwischen
den Schulterblättern angesetzt durch etwa 2 Minuten) hat meist eine Herabsetzung
der Pulsfrequenz zur Folge, was wir wohl als directe Vagusreizung aufzufassen
haben werden. Wie häufig man in die Lage kommt, diesen Effect erzielen zu
müssen, bedarf wohl keiner besonderen Betonung. Bei einigermassen ernsteren
Fällen werden wir stets zuerst einige passive Bewegungen und Manipulationen,
z. D. E. 2 und 3 (passive Handbeugung und Streckung; passive Radial- und Ulnar-
flexion der Hand), A. 8 b (Armwechßeldrehen) T B. 12 (Fussrollung u. dergl.)
machen lassen , bei denen auch Arm* und Beinwalkuugen eine grosse Rolle spielen,
um dann allmälig Ami- und Beinbewegungen einzuschieben und erst nach und
nach zu Kumpfbeweguagen tiberzugehen, Wohl zu beachten ist, dass einzelne
Annbewegtingen , z. B, A. 3 und A. 4 (Armeenken und -beugen, Armheben« und
-strecken) bei Herzleidenden wegen Steigerung des Blutdruckes im Kopf zu ver-
meiden oder nur mit grosser Schonung zu gebrauchen sind.
Es würde zu weit führen, auf die Details näher eiuzugehen ; obige kurzen
Andeutungen mögen gentigen, und verweisen wir auf das oft citirte Werk von
Nebel , welcher , als gründlicher Kenner der Zand er 'sc hen Methode , mit vollem
Hechte hier wie auch sonst bei jeder Gelegenheit hervorhebt, dass es keine
bestimmten Reeepte für bestimmte Leiden gäbe, dass vielmehr die
Vorschrift jeweils auf das Sorgfältigste dem gerade vorliegenden Krankheitsfalle
und Krankheitsiudividuum angepasst werden müsse. Wenn wir nun gesehen haben»
dass man selbst bei schweren, auf organischer Basis beruhenden Circutations-
störungen mit Hilfe der ZANDRRschen Maschinen bedeutende Erfolge zu erzielen,
den Patienten grosse Erleichterung zu verschaffen im Stande ist, so wird es
erklärlich sein, dass bei leichteren Circul&tionsstörungen ein Ausgleich
noch viel eher und sicherer zu erzielen sei, dass man bei allgemeiner
Körperschwache und ihren Folgezuständen * bei Anämie, abnormer Fett-
leibigkeit, bei verschiedenen Leiden des Nervensystems, wie Hysterie
und Neurasthenie, welche wenigstens zum Theil auch auf schlechter CIrculation,
auf fehlerhafter, ungleichmässiger Ernährung bestimmter Organe zurückzuführen
sein dürften n. s. f., in vielen Fällen durch mechanische Gymnastik schöne Erfolge
fielen oder doch wenigstens die Wirkung anderer Methuden wesentlich zu unter-
stützen vermag.
Bei Krankheiten der Unterleibsorgane werden wir vielfach
zunächst auch durch Regelung der Circulation günstig einwirken (Leber-
hyperämie, Hämorrhoiden z. B,) , dann aber vor Allem durch Beförderung
der peristaltischeu Bewegung des Darmes, durch Beseitigung
der Stuhl Verstopfung« Sind zu diesen Zwecken schon die verschiedenen
Beinbewegungen, die Rumpfroll ungen , die Bauchknetnng, kreisende Unterleibs-
Streichung von Nutzen, so haben wir in der Erschütterung der Lenden*
wirbelgegend noch ein besonders wirksames Mittel zur Auslösung des Reizes
für die Peristaltik.
Aus dem Bereiche der Nervenkrankheiten wäre in erster Reibe
die Neuralgie als wichtiges Object der Behandlung zu nennen, dann aber
functionelle Störungen aller Art und endlich Lähmungserschei-
nungen in Folge materieller Erkrankung der Centraiorgane.
Das* es sich bei letzteren nur um mehr oder weniger deutlich hervortretende
Besserung handeln kann, dass in Folge der systematischen Uebung der Muskeln
die Fu nction sfähig keit derselben die Ataxie gebessert, Steifigkeit und
Spannungsgefühl vermindert werden kann, dafür sprechen zahlreich
Beobachtungen. Dürfen wir auch nicht erwarten , auf die einmal gesetzten
materiellen Veränderungen (Schrumpfung, Erweichung u. s. f.) direct einzuwirken,
so lehrt "doch die Erfahrung, dass man auch z. B. mit Hilfe der Elektricität die
nur vorübergehend ausser Function gesetzten Tbeile wieder anzuregen, die gestörte
Leitung in solchen Fällen wieder herzustellen , atrophisch gewordene Muskeln in
bessere Ernäbrungsverhättniase zu versetzen und dieselben zu neuer Leistung»*
fahigkcit anzuregen vermag. Ein vorsichtiger Versuch mit mechanischer Behandlung
empfiehlt sich daher auch in derartigen Fällen immerhin , und haben wir selbst
deutliche, ja ganz erhebliche Fortschritte nach dieser Richtung beobachtet, die
Ataxie beiTabes wenigstens für längere Zeit fast verschwinden sehen u, dergl.
Auch auf dem Gebiete der traumatischen Neurosen haben wir mit Hilfe
HEILGYMNASTIK.
313
der mechanischen Gymnastik wiederholt günstige Resultate beobachtet, wenn auch
noch keine vollständige Heilung. Wie viel hier auf Rechnung der Suggestion zu
setzen sei, dürfte sich freilich schwer feststellen lassen.
Von allgemeinen Neurosen ohne bekannte anatomische Grundlage
können, abgesehen von Hysterie und Neurasthenie, deren wir schon Erwähnung
gethan, wohl nur leichte Fälle von Chorea und Paralysis agitans
in Betracht kommen. Lauten auch die Berichte über günstige Erfahrungen nicht
sehr ermuthigend, so dürften sich vorsichtig angestellte Versuche immerhin in der-
artigen Fällen empfehlen , umso mehr, als wenigstens bei Beginn sowohl, wie im
Stadium der Abnahme der Chorea eine günstige Einwirkung der sogenannten
schwedischen manuellen Gymnastik sich nicht verkennen lässt.
Eines der wichtigsten Behandiungsobjecte auf dem Gebiete der Krank-
heiten des Nervensystemes stellen aber ohne Frage die Neuralgien jeder Art,
besonders soweit die betreffenden Nerven äusseren Einwirkungen leicht zugänglich
sind, also z. B. die in dem Bereiche des Plexus brachialis, lumbalis, cruralis, des
N. ischiadicus sich abspielenden, während andere, etwa im Verlaufe von Neurasthenie
auftretend, mit Besserung der allgemeinen Neurose gleichfalls Besserung oder
Heilung zu zeigen pflegen. Seit langer Zeit schon hat die schwedische Gymnastik
auf diesem Gebiete grosse Triumphe gefeiert, und die entsprechenden Bewegungs-
curen, verbunden mit Massage, haben in dieser Richtung Grosses geleistet. Dass
die ZANDER'sche Maschinengymnastik, verbunden mit Massage, noch grössere und
schönere Erfolge erzielen müsse, wird Jedem einleuchten, der nur einigermassen
vertraut mit der Sache ist, der weiss, mit welcher Sorgfalt vorgegangen, mit
welcher Genauigkeit der Einstellung und schrittweisen Steigerung, sowie Gleich-
mässigkeit die Arbeit an den Maschinen geregelt werden kann. Hierzu kommt
noch, dass die in solchen Fällen besonders wirksamen Erschütterungen mit
Hilfe des Apparates in ungleich vollendeter Weise gegeben werden , was schon
durch den Umstand erklärt wird, dass keine noch so geübte Hand im Stande ist,
900 Erschütterungen in der Minute in stets gleichbleibender Energie und Zeitfolge
zu geben, wie die Maschine.
Abgesehen von der zertheilenden Wirkung auf etwa vorhandene
Entzündungsproducte wirken diese Erschütterungen derartig anästhesirend, dass
es sich bei heftigen Schmerzen dringend empfiehlt, die Hebungen mit Erschütterungen
zu beginnen und zu schliessen. Der günstige Ein flu ss dieser mechanischen Behandlung
von Neuralgien zeigt sich, wenn es sich um gemischte Nerven handelt, ganz
besonders auch deutlich in veralteten Fällen, wo in Folge der verminderten
Beweglichkeit und der Leitungsstörung sich deutliche Abmagerung der betreffenden
Glieder, verminderte Ernährung der Muskeln bis zu mehr oder weniger deutlicher
Atrophie derselben eingestellt haben.
Ganz das Gleiche können wir in Bezug auf Behandlung von chronischen
Gelenk- und Muskelrheumatismen sagen. Auch diese Erkrankungsformen,
so häufig sie vorkommen, so lästig und störend sie bei irgend erheblichem Grade
zu sein pflegen, werden seit langer Zeit mit Hilfe der Massage und Gymnastik
behandelt und suchen jetzt in grosser Zahl Hilfe in den medico-mechanischen
Instituten. Hier spielen neben den verschiedenen Bewegungsformen ganz besonders
die Erschütterungen und Hack un gen eine erhebliche Rolle, und müssen
wir diesen wiederum den grossen Vorzug vor den gleichen , durch die Hand
gegebenen Eingriffen zuschreiben, weil sie gleichmässiger und in viel rascherer
Folge gegeben werden können. Auch die Bewegungen aller Art werden sich ohne
Zweifel mit den Maschinen gleichmässiger und sorgfältiger ausführen, die Wider-
stände genauer reguliren lassen wie mit der Hand. Selbstverständlich wird in vielen
solchen Fällen die Massage zu Hilfe genommen werden können oder müssen,
besonders wenn es sich um Gelenke oder tiefer liegende Muskeln handelt.
In Bezug auf Behandlung chirurgischer Leiden mittelst mechanischer
Gymnastik kann es sich begreiflicherweise nur um Beseitigung von Steifigkeit
in Gelenken, um Bewegungsstörungen nach Practuren und Dis*
toraionen, um chronische Entzündungen von Schleinibeu teln und
Sehnenscheiden, um Beseitigung von Verdickungen der umgebenden Weich-
theile in Folge von Entzündungen handeln ; der Behandlung von Scoliosenu. dergl,
wurde bereits oben Erwähnung gethan. Auch in allen diesen Fällen wird zunächst
die menschliche Hand nicht zu enthehren sein ; späterhin , d. h . aber
auch nicht zu spät, werden die Uebnngen an den Maschinen mit Nutzen ein-
geschoben werden können, nnd dann wieder in Folge der grossen Genauigkeit in
Bezug auf Dosirung der Uebung häufig viel sicherere Resultate , und diese mit
geringeren Beschwerden erreichen lassen. Dafür sprechen nicht nur die Beobachtungen
vieler Autoren , sondern auch eigene Erfahrung hat uns iu verschiedenen, recht
schwierigen und hartnäckigen Fällen gezeigt, dass man mit Hilfe von Massage
tiud maschineller Gymnastik oft geradezu Uberraschende Erfolge zu erzielen vermag.
Aus vorstehender, keineswegs erschöpfender Darstellung geht ohne Weiteres
hervor, d&ss Zander mit Schaffung seiner Methode, mit Erfindung der zahlreichen,
zum Theil höchst genial construirten Maschinen, nicht minder aber auch mit seiner
wohl durchdachten Gebrauchsanweisung für dieselben, der Menschheit grosse Dienste
geleistet hat. Mag man auch der Ansicht sein» daes manche Maschinen eigentlich
überflüssig, dass andererseits vielleicht für diese oder jeue Zwecke die Aufstellung
eines neuen Apparates wünschenswerth erscheine, dass sich manche Bewegungs-
form ebenso bequem , sicher und zugleich einfacher ausführen lasse ; mag man
aussetzen, dass Zander seinen Grundprincipien bei Construction einzelner Apparate
nicht Uberall treu geblieben, dieselben z» B, bei A. 2 nnd B. 7 (Hautelbewegung und
Velocipedegang) bei Seite gesetzt habe — Niemand, der vorurteilsfrei und mit
genügender Sorgfalt seine Methode studirt und deren Erfolge beobachtet hat, wird
bestreiten wollen , dass er den richtigen Weg eingeschlagen und mit grossem
Scharfsinne T oft in genialster Weise eine Methode ersonnen und eingeführt hat,
welche auf dem Gebiete der physikalischen Therapie geradezu Grossartiges leistet.
Dass er nnd noch mehr vielleicht einzelne seiner begeisterten Anhänger hier und
da wohl etwas zu weit gehen , letztere besonders jeden etwaigen Einwand am
Sichersten damit zu widerlegen meinen, dass sie sich auf mündliche oder schrift-
liche Aeusserungen ihres verdienten Meisters berufen und damit von vornherein
den Versuch eines Einwandes gegen diesen oder jenen Ausspruch desselben an
entkräften glauben, liegt in der Natur der Sache, würde jedoch besser vermieden,
da solches Vorgehen niemals günstig zu wirken pflegt, besonders sobald das in
polemischer Weise geschieht. Einen grossen üebelstand theilen die medioo
mechanischen Institute mit manchen anderen Einrichtungen zu Curzwecken, t, B.
gewissen Bädern : sie sind eben nur möglich an bestimmten Orten , in grösseren
Verkehrscentren, daher auch nur einem verschwindend kleinen Theile der Mensch*
heit zugänglich, wenn auch an und für sich die Kosten solcher Curen keinesw
hoch zu nennen sind und noch dadurch reducirt werden, dass bei relativ gerin
Personal eine grosse Zahl der Patienten die Uebungen gleichzeitig vornehmen kann.
Wir Aerzte werden jedoch stets, eingedenk des alten aber sehr wahren Wortes : „Das
Beste ist des Guteu Feind4* versuchen dürfen und müssen , auch dem weniger
günstig situirten Theile der Menschheit t besonders soweit derselbe in kleineren
Orten wohnt, auf andere Weise die Vortheile der Bewegungscuren nach Möglichkeit
zugänglich zu machen, Wir werden die Turnsftle, die Gymnasten, die
Masseure, die Masseusen, die Zi m me rg y m n a s t ik nicht völlig entbehre
können , trotzdem wir uns dessen wohl bewusst sind , dass bei unvorsichtigem
Gebrauehe unter Umständen auch Schaden gestiftet, vor Allem aber viel weniger
erreicht werden kann . als wenn wir unsere Patienten einem wohl eingerichteten
und gut geleiteten medico- mechanischen Institute auf genügend lange Zeit anver-
trauen könnten.
Ans gleichem Grunde ist es aber sieherlieh nicht gerechtfertigt, wenn wir
alle Bestrebungen, welche einen theil weisen Ersatz für die Uebungen an Zander-
HEILGYMNASTIK.
315
sehen Apparaten bieten wollen, wenn wir den Tarnschrank, den Ergostaten, den
Steigeapparat u. dergl. sofort ans dem Grunde verdammen wollen, weil dieselben
nicht so Vollkommenes leisten wie die genial erfundenen Zander1 sehen Apparate,
und weil sie bei fehlerhafter Anwendung und mangelhafter Beaufsichtigung Sehaden
stiften können. Wenn wir hier, des Beispieles und der Begründung obiger, an die
leidenschaftlichen Parteigänger des verdienten Zander gerichteten Vorwürfe, eine
kurze Beschreibung des von uns construirten „Steigeapparates" geben, so
Fi*. 30.
Steigeapparat von Dr. v. Corval and H. Zntt.
geschieht das selbstverständlich nur, um an einem Beispiele zu zeigen, dass
man auch auf andere, wenn auch weit unvollkommenere Weise, immerhin bei
Störungen der Circulation minder erhebliehen Grades mit einer gewissen Sicherheit
ganz Schönes erreichen, vor Allem sehr gut vorbauend wirken könne.
Der Gedanke, welcher zu der Construction des Steigeapparates
führte, war zunächst der, dass man mit Hilfe desselben denjenigen, welche aus
dem einen oder anderen Grunde nicht in der Lage wären, überhaupt, oder auf
HEILGYMNASTIK.
genügend lange Zeit ein medico-niechauisches Institut zu besuchen, oder zum Zwecke
des Bergsteigens sich in einem Terraincurorte aufzuhalten, Gelegenheit ver-
schaffen sollte, der günstigen Wirkungen einer Bewegungscur sich ein ige r-
m a s s e n theilhaftig zu machen, zugleich aber auch von einem gewissen Zeitpunkte
an rascheres Fortschreiten der Cur zu bewirken, indem man durch
gleichzeitige Bewegung von Armen und Beinen jeweils in einem
grösseren Stromgebiete die Circulation freier zu machen versuchte. Die Dosirung
der Bewegung der Beine wird durch beliebiges Höher* oder Tieferstellen der schiefen
Ebene, diejenige der Arme durch Verschieben der Gewichte an den Hebelstangen
bewirkt. Die Bewegung der schiefen Ebene geschieht durch einen beliebigen
Motor oder durch die Hand.
Selbstverständlich mnss die Starke und Dauer der Uebnng genau vor-
geschrieben, desgleichen darauf geachtet werden, dass richtig ein- und ausgeathmet
wird. Wir erreichen auf diese Weise, den Beobachtungen von Braune und Herzog
zu Folge , ein regelmässiges und vollständiges Entleeren der in das Gebiet der
oberen und unteren Hohlvenen gehörigen Venen, unterstützen diesen Vorgang
durch die aspirirende Wirkung der Respiration und kräftigen endlich durch gleich-
luäsaige, aber vorsichtig dosirte Muskelarbeit die Körpermuskeln sowohl, wie die
des Herzens. Verursacht die gleichzeitige Bewegung von Armen und Beinen irgend
welche Beschwerden, so sind wir in der Lage, die Bewegungen von Arm und Bein
eine jede für sich vornehmen zu lassen* Wie bereits gesagt, kann mit Hilfe des
Steigeapparates nur ein theilweiser Ersatz für die Hebungen an den
Zander' sehen Apparaten gegeben werden. Es kann und wird niemals, selbst mit
Beihilfe der von Hand gegebenen Bowegungscuren , ein so vollständiges Resultat
erzielt ; die schweren Fälle von Cireulat Jonsstörungen müssten von vornherein
von dem Gebrauche des Apparates ausgeschlossen werden. Man wird auch auf
die beim Bergateigen nach Oertel hoch zu veranschlagende Wirkung der reinen
Luft , der psychischen Eindrücke schöner Gegend verzichten müssen , dafür aber
wieder die Uebungen genau controliren, jeder gefährlichen Uebertreihung besser
vorbeugen können als beim Bergsteigen, und doch immerhin zahlreichen Patienten
einen theilweisen Ersatz für die bessere, ihnen aber nicht zugängliche Methode
bieten. Nach diesem Ziele müssen wir wenigstens streben, wenn wir nicht unsere
weniger günBtig situirten Patienten zum Verzichte auf jede wirksame Bewegungscur
veranlassen , oder im besten Falle auf die völlig ungenügende Wirkung
des Spazierengehens auf ebenem Boden verweisen wollen« Dasa bei
dem Gebrauche deB Steigeapparates sowohl, wie bei jeder Bewegungscur überhaupt,
eine sorgfaltige ärztliche Beaufsichtigung nothwendig ist, dass andererseits
Missbräuche niemals, auch in den medi co- mechanischen in*
st Unten nicht, vollständig ausgeschlossen werden können, ist seihst -
verständlich. WTir glauben umso mehr zu derartigen Aussprüchen berechtigt zu sein,
als die Beobachtung bei dem Gebrauche des Steigeapparates in einer Reihe von
Fällen deutliche Besserung nicht nur des subjectiven Befindens ergeben, sondern
auch oft sehr günstige Erfolge mit Hilfe des Sphygmographen zu constatiren
waren. Wegwerfende, polemische Behandlung derartiger Fragen müssen der ganzen
Sache nur schaden und nirgend , wir müssen es wiederholen, so sehr wie hier
dürfte der Ausspruch: „Das Beete ist des Guten Feind" seine Berechtigung haben.
Der Bedeutung Zaxdeb\s als Begründer einer so hochwichtigen Ourmethode, seiner
Genialitat und scharfen Beobachtungsgabe wird dadurch am allerwenigsten Ab-
bruch geschehen , wenn auch Andere versuchen T auf der von demselben ein-
geschlagenen Bahn weiter zu gehen, nicht Apparate für specielle Krankheiten zu
construiren, sondern solche, mit Hilfe deren Allgemein Wirkungen und durch diese
dann auch Wirkungen auf verschiedene Organerkrankungen zu erzielen w&ren,
wenn sie sich bestreben, die Vortbeile der Bewegungscur möglichst vielen Leidenden
in mehr oder weniger vollkommener Weise zugänglich zu machen. Dass Zander
selbst die Möglichkeit der Vervollständigung seiner Apparate einsieht, dafür spricht
HEILGYMNASTIK. — HERZGERÄUSCH E.
317
wohl am deutlichsten, dass er selbst von Zeit zu Zeit mit neuen Erfindungen
hervortritt, welche selbstverständlich auch nicht immer einem absoluten Bedürfnisse
entsprechen, ja sogar wie der Apparat für Fingermassage, als durchaus
entbehrlich bezeichnet werden können.
Dass Zander selbst in seinem Institute ganz besonders schöne Resultate
erzielt, liegt ja zum Theil an der grossen Erfahrung desselben, an seinem scharfen
Blicke und seiner hochentwickelten Beobachtungsgabe, dann aber auch nicht zum
geringen Theile daran, dass seine Patienten mit wenigen Ausnahmen es als
durchaus selbstverständlich ansehen, dass die Hebungen lange Zeit hindurch (bei
erheblichen Circulationsstörungen und Scoliosen z. B.) fortgesetzt, durch mehrere
Jahre hindurch immer wiederholt werden müssen. Andere Institute, selbst in grossen
Städten, sind selten in der Lage, auf eine solche Willfährigkeit ihrer Clientel
rechnen zu können , und müssen sich meist damit begnügen , einige Monate , ja
selbst nur wenige Wochen hindurch ihre Patienten bei der Uebung zu erhalten.
Dass man dann aber gerade bei einer Methode, welche langsam, aber umso
sicherer wirkt, sich mit palliativen, nur zu häufig rasch vorübergehenden Er-
folgen begnügen muss, bei nicht wenigen Kranken der Effect sogar ein nega-
tiver bleibt, ist daher selbstverständlich und wahrlich nicht der Methode zur
Last zu legen.
Literatur: Zander, Apparate für mechanische Heilgymnastik und deren An-
wendung. Abbildangen. 1890 , 3. Aufl. — Nebel, Bewegungscoren mit schwedischer Heil-
gymnastik und Massage, mit besonderer Berücksichtigung der mechanischen Behandlung von
Zander. 1889. — Haselbrock, Das Hamburger medico-mechanische Institut. — M. Fried-
mann und G. Heuck, Das medico-mechanische Institut in Mannheim. 1889. — Haselbock,
Erschütterungen in der Zander'schen Heilgymnastik. Hamburg. — Nönchen, Scoliose.
Centralbl. für Chir. u. Mechanik. 1890. — Günther, Die Stellung der Zander'schen Heil-
gymnastik zur Massage. Correspondenzbl. für Schweizer Aerzte. Basel 1889. — Ramdohr,
Ueber die maschinelle Heilgymnastik Dr. Zander's und einige Bemerkungen über Heil-
gymnastik. Leipzig. Schmidt's Jahrbücher. — Heiligenthal, Mittheilungen aus dem
Friedrichsbade in Baden-Baden. 1888. — Corval, Baden und seine Kurmittel. 1886.
Gor val.
Hemiaria glabra et tlirSUta, Bruchkraut, Harnkraut, ist durch
ganz Europa, Hemiaria rubra in den Ländern um das mittelländische Meer
einheimisch, und gehört in die Familie der Caryopbylleen. Herbae Herniariae ist
nach Hager das zu blühen beginnende, getrocknete Kraut der vorerwähnten
Hemiaria- Arten. Dieselben zeigen einen ästigen, niedergestreckten Stengel. Der
Stengel trägt gegenständige, mit Nebenblättchen versehene, verkehrt eiförmige
oder elliptische oder ovale glatte (H. glabra) oder dicht kurzhaarige (H. hirsuta)
Blätter, und blattwinkelständige, gelbgrüne (H. glabra) oder graugrüne (H. hirsuta)
Blüthenknäule, welche 9 — llblüthig sind und mit den Blättern den Stengel von
der Basis an bedecken. Man sammelt die Pflanze ohne Wurzel in der zweiten
Hälfte des Mai und der ersten Hälfte des Juni.
Die Hemiaria wirkt, wie schon H. Zeissl hervorgehoben, sehr günstig
bei acutem Blasencatarrh. Man verschreibt zu diesem Zwecke:
Herbae Herniariae 15'0
in dos. Nr. 15. S. Thee.
Ein solcher Theil wird mit einer Tasse siedenden Wassers aufgegossen
und der Abguss getrunken. Man lässt 2 — 5 Tassen mit Milch und Zucker im
Verlaufe des Tages gebrauchen. Sehr häufig genügt dieser Thee, um den Harndrang
zu beseitigen oder wenigstens zu mindern. Versagt seine Wirkung, so muss man
zur innerlichen Verabreichung der Narcotica oder zur Verabreichung derselben in
Suppo8itorienform übergehen. Zeissl.
HerZgeräUSChe, s. Auscultation, pag. 70 ; Chlorose,
pag. 151.
318
HERZKRANKHEITEN
Herzkrankheiten. In neuerer und Allerneuester Zeit ist die Herz-
pathologie nach einem gewissen Stillstände wieder in den Vordergrund der Er-
örterungen gerückt. Die grosse Zahl der literarischen Pro d acte auf diesem Gebiete
beweist dies, wie die Menge der Vorträge und Discussionen über Herzerkrank ungen
in ärztlichen Versammlungen und auf den Congressen ; und es ist in der That
unmöglich , sie alle in einem kürzeren , referirenden Berichte , wie der vor-
liegende, auch nur einigennassen vollständig zo berücksichtigen.
Was ist nnn die Veranlassung zu dieser allseitig bemerkten neuen
Steigerung der Tbeilnahme der Kliniker und Praktiker an der Klinik nnd Patho-
logie des erkrankten Herzens?
Es hält schwer, der so umfangreichen Literatur gegenüber einen allge-
meinen Standpunkt zu gewinnen , um gewisse gemeinschaftliche Merkmale and
einen bestimmten charakteristischen Zug herauszufinden und hieraus die Ursache
für diesen Aufschwung herzuleiten.
Aber trotz der verschiedenartigsten Richtungen und Leistungen, die eich
geltend machen , lehrt doch ein orientirender Ueberblick über die gesammte
Literatur wenigstens bei vielen Arbeiten eine gemeinsame Bestrebung erkennen,
welche zugleich eine Veränderung in den Zielen und Aufgaben der neueren
Arbeiten gegenüber den alten bedeutet, — ohne dass jedoch dabei von einem schroffen
Gegensatz die Rede ist.
Diese Veränderung in der klinischen Auffassung und Behandlung der
Herzpathologie beruht in dem Zurücktreten des anatomischen Stand-
punktes gegenüber dem physiologischen, fun c ti o nellen.
In den vergangeneu Decennien gab die genaue Berücksichtigung der
anatomischen Veränderungen des Herzens, die Hypertrophie und Dilatation seiner
Ventrikel, die Anatomie der Klappenfehler und ihre Erkennung Stoff genug für
wichtige und zahlreiche klinische Arbeiten, wobei die Anwendung und Ausbildung
der exaeten klinischen Untersucbungsmethoden eine wesentliche Rolle spielte. Was
überhaupt hierdurch in Bezug auf die Klinik der Herzpathologie erzielt werden
konnte, wurde im Wesentlichen erreicht und so musste eine Erschöpfung in den
Quellen eintreten, welche die pathologische Anatomie und die darauf begründeten
Untersuchungsmethoden bisher dargeboten hatten.
Das physiologische oder functionelle Princip, welches nun neuerdings in
den Vordergrund tritt und welches vorzugsweise auf die Lebensvorgänge des
erkrankten Herzens Rücksicht nimmt T verdrängt aber nicht die Berücksichtigung
der pathologisch-anatomischen Veränderungen. Die Fragestellung, wie arbeitet
das an einer bestimmten Veränderung erkrankte Herz, hat die genaue Kenntnis*
der anatomischen Veränderungen zur Voraussetzung und ist darauf begründet,
aber noch mehr, sie führt sogar auf umgekehrtem Wege zu einem weiteren Aus-
bau und zur besseren Erkennung derselben.
Wir begegnen dementsprechend bei den neueren Arbeiten stets einer
Verbindung der Erforschung der functiouellen Störungen mit derjenigen der
anatomischen Läsion* Wir dürfen es dabei nicht unterlassen, darauf hinzuweisen,
dass auch ehedem die Störungen der Herzarbeit neben den anatomischen Ver-
änderungen öfters von den Klinikern in den Kreis der Betrachtungen gezogen
wurden, aber sie traten gegenüber den letzteren zurück und die meisten der
hierher gehörigen Fragen sind erst neuerdings aufgeworfen worden.
Das Hervortreten der physiologischen , functionellen Gesichtspunkte hat
in den neueren klinischen Arbeiten bewusst oder uubewusst zu mannigfachen
Veränder uugen in der Auffassung der Herzerkrank ungeu geführt. Die einzelnen
Krankheitsgruppen, die Bedeutung und Deutung ihrer Symptome, die Diagnostik,
Prognose und Therapie haben zum Theil erhebliche Aenderungeu erfahren, nach-
dem für dieselben nicht so sehr der Grad der anatomischen Lflsion, als die Stärke
der Störung der Lebenstbätigkeit und Arbeitsleistung als Richtschnur genommen
worden ist. Vielfach ist es bemerkt und massgebend für diese Aenderung geworden,
HERZKRANKHEITEN.
319
dass gleiche Krankheitsbilder verschiedengradigen , selbst verschiedenartigen ana-
tomischen Störungen entsprechen and dass umgekehrt bei scheinbar ganz gleichen
anatomischen Veränderungen der verschiedenste Grad der Erkrankung vorliegen kann.
Wir müssen es hier hervorheben, dass unter den grösseren allgemeinen
Arbeiten auf diesem Gebiete von besonderer Bedeutung diejenige 0. Rosenbach's
im IX. Bande der Real-Encyclopädie ist, welche als die erste die ineisten der
hierher gehörigen Fragen und die Veränderungen der klinischen Auffassung,
welche in den noch zu besprechenden neueren Arbeiten sich geltend machen,
schon alle berührt, überhaupt in dem Bewusstsein der Notwendigkeit dieser
Veränderungen dieselben gleichsam inaugurirt hat. Wir werden öfters Gelegen-
heit nehmen, hierauf zurückzukommen.
Neben dem functionellen Moment verdient aber noch ein zweites hervor-
gehoben zu werden, welches sich, wie in allen klinischen Fragen neuerdings, so
auch in der Herzpathologie geltend macht und eine ganze Reihe neuerer Arbeiten
beherrscht. Es ist das ätiologische. Eine ganze Reibe wichtiger Arbeiten
beschäftigt sich mit dem ursächlichen Momente der verschiedenartigsten Störungen
der Herzfunction , wie der anatomischen Veränderungen. Die Lebensweise, die
Ueberanstrengung in der Thätigkeit, der Alkoholismus, allgemeine Störungen der
Constitution und des Stoffwechsels, Allgemeinerkrankungen werden als wichtige
Factoren in den Kreis der ätiologischen Erörterungen gezogen. Insbesondere tritt
aber eine ätiologische Frage entsprechend dem Fortschritte der Neuzeit hervor,
die bacterielle, deren Bearbeitung bereits auf dem Gebiete der Endocarditis
im Anschlüsse an die experimentellen Arbeiten 0. Rosenbach's 1 u- ') zu wichtigen
Fortschritten in der genetischen Auffassung derselben geführt hat.
Im Nächstfolgenden soll nun eine kurze Uebersicht über die wichtigsten
Fortschritte auf dem Gebiete der Herzerkrankungen gegeben werden, welche aber
wegen der Fülle und Mannigfaltigkeit des Stoffes auf Vollständigkeit keinen
Anspruch machen kann. Es war auch aus diesen Gründen ein zusammenhängen-
des Ganze nicht zu ermöglichen, sondern die einzelnen Arbeiten konnten nur in
einer von ganz allgemeinen Gesichtspunkten geleiteten Anordnung aneinander-
gefügt werden.
Zum Beginn müssen einige wichtige physiologische Arbeiten
erwähnt werden, weil sie auch von allerwesentlichster Bedeutung für die Patho-
logie sind, zum Theil dieselbe auch thatsächlich bereichern.
Zunächst hat die Lehre von der Innervation des Herzens
durch die Untersuchungen von His und Romberg8) sehr wesentliche Verände-
rungen erfahren. Ihre Resultate, einmal auf mikroskopischem Wege, dann aber
durch entwicklungsgeschichtliche Studien gewonnen, führten zur Aufstellung
folgender, den bisherigen Ansichten widersprechender Fundamentalsätze:
1. Die Herznerven entwickeln sich nicht mit dem Herzen in demselben,
sondern wachsen vom Vagus und Sympathicus aus in dasselbe hinein.
2. Die Herzganglien sind nur sympathisch und daher nur sensible Centren,
sie haben keinen Einfluss auf Hemmung und Beschleunigung der Herzthätigkeit.
3. Der Herzmuskel arbeitet ohne Nervenanregung automatisch und aus
eigener Kraft, in ihm selbst liegen die Impulse zur Thätigkeit, und die Annahme
eines automatischen motorischen Herzner venoentr ums muss fallen gelassen werden.
Im Anschlüsse an diese ganz neuen Thatsachen haben die beiden Forscher
auch die vielfachen, besonders physiologischen Beweismittel, welche die ältere
Lehre gestützt haben, zu widerlegen sich bemüht. Sollte ihnen dies, wie es in
der That scheint, völlig gelungen sein und ihre theilweise noch durch Hypo-
thesen gestützten Ergebnisse sich bewahrheiten, so würde die gesammte Herz-
pathologie in der Zukunft die wesentlichsten Aenderungen erfahren müssen.
Ebenfalls von ganz neuen Gesichtspunkten ausgehend und von wesent-
lichster allgemeiner Bedeutung sind die Untersuchungen von Martiüs ') über
denSpitzenstoss. Durch dieselben werden zweifellos eine ganze Anzahl bisher
nicht verstandener Anomalien der Herzthätigkeit erklärt. Die neue Theorie t gipfelt
in der Einführung einer neuen Herzphase in die Herzsystole, nnd zwar in deren
Anfang. Diese Phase ist die von dem Autor sogenannte „Verschlusszeit". Es ist
dies die Zeit, in welcher der Ventrikel da« Blut von den Arterien schon erhalten hat,
die venösen Klappen bereits geschlossen, die arteriellen aber noch nicht geöffnet
sind, die Zeit also, in welcher der sich contrahirende Ventrikel den Widerstand
der letzteren, resp. den Druck in der Aorta noch nicht überwunden hat. E©
entspricht diese Phase dem Spitzen 8 t oss nnd ist zugleich seine Ursache, insofern er
durch das Anschlagen des ad maximum gefüllten Ventrikels an die Brustwand
bei Beginn seiner Systole entsteht, während nach Oefthung der arteriellen Klappen
die Contraction des Herzens eine Verkleinerung seines Lumens veranlasst und
einen Spitzenstoss nicht mehr erzeugt. Diese durch genaue Vergleichnng der
Cnrven des Spitzenstosses mit den ('gleichzeitig registrirten) Ergebnissen der Aus-
cultation erhaltenen Resultate erklären, wie erwähnt, eine ganze Reihe bisher uner-
klärter Phänomene , z, B. weshalb bei gewissen Formen von Herzschwäche der
Herzstoss und die Herzerschütterung sich so stark und heftig, die functionelle Tbätig-
keit also sich scheinbar erhöht erweist, während der Puls ganz schwach und
klein ist; es rührt dies eben daher, dasa das geschwächte Herz, weil es das Blut
nicht kräftig genug aus dem Ventrikel treibt, praller gefüllt bleibt und so mit
fOBsem Umfange in der Verschlusszeit an die Brustwand anstösst. Auch die
Auffassung der einzelnen Theile des Cardiogramms erfährt durch die Martiüs-
schen Untersuchungen bedeutende Veränderungen. Unter diesen ist die wichtigste,
dass die Systole nicht nur der Ascensionslinie, sondern auch einem Theile der
Descensionslinie entspricht, indem auf diese letztere die zweite Phase der Systole,
die Austreibuugsperiode fallt, die mit der Ueberwindung des Verschlusses der
arteriellen Klappen und des Arteriendruckes beginnt.
Auch für die pathologischen Cardiogramme der einzelnen Klappenfehler
giebt Mabtius wesentlich von den bisherigen abweichende Deutungen auf Grund
seiner Theorie, welche auch für die Diagnostik der einzelnen Klappenfehler sißh
als werthvoll erweisen dürfte. Allerdings muas dabei berücksichtigt werden was
Kkehl ö) und v. Frey neuerdings hervorheben , dass die pathologischen
Cardiogramme nicht derselben Stelle des Herzens zu entspreche n
brauchen, wie die des normalen Spitzenstosses und dass alsdann schon aus
diesem Grunde die Bilder der pathologischen Cardiogramme ver-
schieden ausfallen müssen. Die Cardiogramme stellen ja nur die Orts-
Veränderung eines Punktes der Herzoberfläche dar und sind von der Art des
Zusammenwirkens der musculären Wandelemente des Ventrikels , sowie von der
Lage Veränderung des Herzens abhängig. Deshalb zeichnen sie auch
keineswegs die Druck verhält n is se des Blutes im Ventrikel ab.
Im Uebrigen haben die Marti us sehen Resultate allgemeine Bestätigung
gefunden, besonders auch durch die interessanten Versuche von v. Ziemsskx und
v. Maximowitsch t]) am f r e i l i e g e nd e n, lebenden, menschlichen Herzen.
Als eine gewisse Erweiterung derselben ist die Schmidt 'sehe Theorie
vom Spitzenstosse 7) aufzufassen, welche für dessen Zustandekommen die Martius sehe
Verschlusszeit annimmt, aber ihn zugleich abhängig macht von einer Stau- oder
Wider welle, welche durch den Anprall des Blutes an die venösen Klappen
von rechts oben hinten nach vorn unten aussen verläuft.
Es sei hier im Anschluss noch eine Arbeit Talma 's 8) über den
Spitzenstoss erwähnt, welche nicht den functionellen Standpunkt, sondern die
anatomischen Verhältnisse (Lage zur Brustwand, Nachbarorgane et&) in
pathologischen Fällen einer werthvollen Revision unterzieht.
Nach Voranstellung dieser wichtigsten unter den neueren physiologischen
Arbeiten — auf andere muss später zurückgekommen werden — sollen hier
einige Arbeiten über allgemeinere Capitel und Fragen aus d e r H e r z-
pathologie angegeben werden.
HERZKRANKHEITEN.
321
Die Ursachen der anämischen Geräusche des Herzens haben
trotz vielfach aufgestellter Hypothesen eine nur unzureichende Erklärung ge-
funden. Sehrwald9) sucht eine bestimmte Theorie dafür aufzustellen. Unter
allen anderen, im Circulationsapparat beobachteten Geräuschen stimmen die anä-
mischen Herzgeränsche nur noch mit dem Nonnensausen in der Vena jugularis
tiberein. Eine gleiche Ursache der Entstehung ist für beide anzunehmen. Das
Nonnensausen entsteht nach Sehrwald dadurch, dass das Lumen der Vena
jugularts wegen schlechter Blutfüllung im Allgemeinen abnorm eng ist, während
der Bulbus, durch Bindegewebe an der Brustwand fixirt, unverhältnissmässig
weit bleibt; die Wirbel des in ihn aus der engen Vene einstürzendes Blutes
erzeugen das Geräusch. Ganz ähnlich erklärt Sehrwald die anämischen Herz-
geräusche. Dieselben entstehen durch schlechte Füllung und Verengerung der
grossen Herzvenen, indem das Blut aus ihnen in den weit geöffneten Vorhof
unter Wirbelbildung einströmt; da dies natürlich nur während der Diastole des
Vorhofs erfolgt, so sind die anämischen Herzgeräusche im Gegensatz zum Nonnen-
geräusch intermittirend. Da die Vorhofsdiastole mit der Ventrikelsystole gleich-
zeitig beginnt und die Aspiration des Blutes aus den Venen in diesem Augenblick
am stärksten ist, so sind die Geräusche systolisch und am erheblichsten zu Beginn
der Systole. Im linken Vorhofe sind die Bedingungen für die Wirbelbildung
günstiger als rechts, besonders weil die hineinführenden Venen enger sind. Man
hört daher diese Geräusche am besten im zweiten linken Intercostalraum. Die
Entstehung der systolischen Geräusche im Fieber muss ähnlich erklärt werden.
Eine einfache Fortleitung der Geräusche aus den Venen, worauf Rosenbach auf-
merksam macht, scheint Sehrwald nicht anzunehmen.
Die casuistische Literatur über das Phänomen der musikalischen
Herzgeräusche ist eine nicht unerhebliche. Ein zusammenhängendes Bild, welches
die verschiedensten Seiten der Entstehung berücksichtigt, giebt die Arbeit von
0. Rosenbach10) über musikalische Herzgeräusche. In derselben wird gezeigt,
dass die Ursache dieser Geräusche eine sehr verschiedenartige sein kann. Die
Mehrzahl derselben entsteht extracardial. Sie sind Herz-Lungengeräusche, resp.
Gefoss- Lungengeräusche und entstehen unter ähnlichen Bedingungen, wie die
schnurrenden und giemenden Rhonchi. Eine Prädilectionsstelle ist der Zungen-
lappen links, in welchem die Lungenluft durch die rhythmische Thätigkeit des
linken Ventrikels als dem nächsten Nachbar unter einem pfeifenden Tone hin
.und her bewegt wird, namentlich wenn der Zungenlappen selbst und die ganze
Lunge catarrhalisch afficirt ist. Aber auch durch die Pulsation der grossen
Gefässe an der Herzbasis kann an den Lungenrändern, sowie in der Gegend der
Bifurcation der Trachea ein musikalisches Geräusch erzeugt werden. Diese Ge-
räusche werden durch die verschiedenen Phasen der Athmung, durch die Körper-
lage, durch Husten etc., sowie durch Druck auf den Thorax erheblich modificirt
und sind nur Uebertragungen der Volumenschwankungen des Herzens auf die
Lungenluft. Sie bilden die erste häufigste Gruppe. Eine zweite findet ihren Ent-
stehungsort in den Venen (Vena anonyma und Vena jugul. extern.). Es sind
tönende, bis in's Herz fortgeleitete, von dessen Contractionen in ihrer Stärke
rhythmisch beeinflusste, pfeifende Geräusche, zuweilen hört man am Halse ein
continuirlicbes , mit mehrfachen Tönen vermischtes Sausen, während nach dem
Herzen nur ein besonders starker Partialton rhythmisch fortgepflanzt wird.
Eine dritte Gruppe bilden die pericardialen musikalischen Geräusche, welche
Rosenbach im Gegensatze von Skoda beobachtet hat. Die vierte Kategorie
wird von den im Herzen entstehenden musikalischen Geräuschen gebildet.
Diese Gruppe enthält zwar eine reichhaltige Literatur, aber die Angaben sind
sehr anfechtbar, namentlich in Bezug auf die Erzeugung der musikalischen
Geräusche durch überzählige Sehnenfäden. Rosenbach hat auf dem Wege des
Experimentes gefunden, dass solche Fäden, überhaupt Saiten in flüssigen Medien,
zum Schwingen gebracht, keinen Ton hervorbringen. Daher kann durch abnorme
Encyclop. Jahrbücher. I« 21
322
HERZKRANKHEITEN.
Sehnenfäden höchstens der vorüberfliessende Blutstrom in eine Wirbelbewegung
versetzt werden, welche einen Ton erzengt. Dagegen können in gewissen Fällen
Endocarditis, Verkalkung, Klappenrisse und -Perforationen das Phänomen bedingen,
bei gewisser Configuration des Risses oder der endocardialen Schrumpfung und
Verkalkung, wenn dieselbe nämlich — entsprechend physikalischen Gesetzen —
einer Lippenpfeife ähnelt. Experimentell konnte der Autor an den Aortenklappen
durch Einriss erzeugte musikalische Geräusche beobachten.
Während die Zahl der Beobachtungen über Tachycardie bei den ver-
schiedenartigsten Herzerkrankungen eine sehr umfangreiche ist und umfassende
Beschreibungen darüber existiren, ist die Verlangsamung der Schlagfolge, die
Bradycardie, nur selten beschrieben und beobachtet worden. Grob11) und
Riegel12) haben diesem Capitel ihre Aufmerksamkeit zugewendet. RtEGEL fand
die Bradycardie (60 Herzcontractionen und darunter in 1 Minute) sowohl unter
physiologischen als pathologischen Verhältnissen. Physiologisch kommt sie besonders
im Wochenbett und im Hungerzustande, aber auch als rein individuelle Eigen-
thtimlichkeit vor. Pathologisch kann sie die Erkrankungen der verschiedensten
Organsysteme begleiten, besonders häufig ist sie aber bei Magenleiden, Emphysem,
Reconvalescenz von fieberhaften Krankheiten, Nierenleiden, Bleiintoxicationen und
Hirnerkrankungen. Riegel hebt die Wichtigkeit des Phänomens hervor und die
Nothwendigkeit weiterer systematischer Prüfungen.
Eine Arbeit von Pick18) über das bewegliche Herz lehrt die
Häufigkeit einer geringeren, die relative Seltenheit einer hochgradigen Verschieb-
lichkeit des Herzens, welche dann oft Beschwerden erzeugt, nämlich Herzklopfen,
Schwäche, Schwindel und Unvermögen, die linke oder seltener rechte Seitenlage
einzunehmen. Das bewegliche Herz findet sich bei sonst Herzgesunden und
besonders bei abgemagerten Personen, wie auch bei Herzleidenden und lässt sich
durch Palpation und Percussion leicht diagnosticiren.
Das cardialeAsthma ist bisher von den Autoren (s. a. A. Fränkel's
Darlegungen im II. Bande der Real-Encyclopädie) als Folge der durch Herz-
schwäche gesetzten Circulationsverlangsamung im Lungenkreislaufe, welche zu
Mangel an Gasaustausch in den Lungen führt und zugleich als Folge der durch
die hyperämische Schwellung gesetzten Verengerung des Lumens sämmtlicher
Alveolen und feinster Bronchien aufgefasst worden. Eine davon sehr verschiedene
Erklärung und eine von ganz neuen, besonders von experimentell erhärteten
Gesichtspunkten ausgehende Lehre über das Cardialasthma hat v. Bäsch 14) gegeben
und durch Untersuchungen im Verein mit seinen Assistenten Grossmann, Bettel-
heim, Kauders und Schweinburg weiter zu bestätigen gesucht. Nach v. Bäsch
besteht die cardiale Dyspnoe bei Erkrankungen und Schwächezuständen des linken
Herzens in einer Vergrösserung der Lungen, ihres Volumens und ihres Luft-
inhaltes und in einer Starrheit der Lungenwandungen , welche zu einer Ver-
minderung des respiratorischen Gaswechsels führt. Dieser Zustand der Lungen
wird erzeugt durch alle die Herzerkrankungen und ebenso auch artificiell bei
Thieren (und Menschen) durch alle die Manipulationen, welche zu einer Stauung
und Hyperämie im Lungenkreislaufe führen. Nachgewiesen hat v. Bäsch die
Vermehrung der Lungengrösse im Anfall durch die Percussion und durch Messung
der Thoraxerweiterung, andererseits die vermehrte Lungenstarrheit spirometrisch
durch die Verminderung ihrer respiratorischen Verschiebungen. Der Beweis dafür,
dass die Ursache dieser Erscheinungen die Blutstauung ist, dass also die Ver-
grösserung der Lungen nicht durch tiefere Athemztige erfolgt, wurde erbracht
einmal durch die Durchschneidung aller reflectorischen Athmungsnerven , dann
aber durch die Bestimmung des intrathoracalen Druckes, der trotz der Vermehrung
des Lungen in nern nicht sank, sondern stieg, wodurch also ein activer Zug der
Lungen ausgeschlossen und nur eine passive Erweiterung des Lungeninuern
angenommen werden musste. v. Bäsch hat damit auf die Grundztige seiner Lehre
von dem cardialen Asthma hingewiesen, deren weiteren Ausbau er sich noch vorbehält.
HERZKRANKHEITEN.
323
Auf die von Sommerbrodt 16) schon vor längerer Zeit beobachteten
und durch Thierexperimente genetisch erklärten Herzfehlerzellen haben
Hofmann 16) und Lenhartz 17) neuerdings die Aufmerksamkeit gelenkt. Diese
Herzfehlerzelleu stellen auffallend grosse, ovale Zellen mit bläschenförmigem Kern
dar, welche mit gelbbraunem oder braunrothem Pigment erfallt sind. Hofmann
und Sommerbbodt halten dieselben für pigmentirte Alveolarepithelien , während
Lenhartz auf Grund experimenteller Untersuchungen sie in erster Linie als
umgewandelte weisse Blutkörperchen betrachtet, die sich mit zerstörten rothen
beladen haben. Diese Zellen sollen nun nach Hofmaxn und Lenhartz charak-
teristisch für chronische Herzerkrankungen und eine Folge der Stauung in den
Lungen und der braunen Induration derselben sein. Besonders reichlich hat sie
Lenhartz bei Mitralstenose beobachtet. Sommerbrodt spricht jedoch in einer
neueren Arbeit die Ansicht aus, dass die Zellen auch nach Hämoptoe und Blut-
Extravasaten in den Lungen Nichtherzkranker, allerdings nur kurze Zeit nach der
Erkrankung, sich finden dürften.
Eine Arbeit, die vorwiegend auf anatomische Verhältnisse Rücksicht
nimmt, ist diejenige von Riess lö) über die percutorische Bestimmung
der Herzgrenzen. Der Autor tritt für die Wichtigkeit der Feststellung der
Grenzen der relativen Dämpfung ein, die an Bedeutung der absoluten gleich-
kommt und nur da im Stiche lässt, wo diese auch versagt (z. B. bei Emphysem).
Ausserdem verwirft er die Sternallinie als eine für die percutorische Bestimmung
des Herzen 8 wegen ihrer variablen Lage nicht geeignete, empfiehlt dafür die
Mittellinie des Steinum als Grenzlinie einzuführen und weist ihre Bedeutung für
pathologische Fälle nach.
Als Systolia alternan s bezeichnet Uxverricht 19) die abwechselnde
Zusammenziehung der beiden Herzhälften, deren Vorkommen er für möglich
erklärt, entsprechend einer Beobachtung in einem Falle von M.tralinsufficienz.
Dieser Fall bot nämlich folgende Symptome: Bei einem Radial pulse von 36 in
der Minute bemerkte man über der Herzgegend doppelt so viele Pulsationen, von
denen je zwei dicht auf einander folgten. Bei jedem ersten dieser Herzstösse
hörte man das laute Insufificienzgeräusch der Mitralis, während bei jedem zweiten
Herzstoss ein deutlicher systolischer Ton, am lautesten über dem rechten Ven-
trikel, zu coDstatiren war. Ferner zeigte der erste Herzstoss an der Herzspitze
die stärkste Erhebung, entsprechend dem linken Ventrikel, während der zweite
am Stern um sich am hochgradigsten erwies. Sodann war der erste diastolische
Ton über der Aorta, der zweite über der Pulraonalis am lautesten. Endlich
zeigte sich nur beim zweiten Herzstoss eine nennenswerthe epigastrische Pulsation.
Also diejenigen Symptome, welche auf eine Zusammenziehung des linken Ventrikels
zurückzuführen waren, zeigten sich beim ersten Herzstoss am deutlichsten, die-
jenigen, welche für die Thätigkeit des rechten zeugten, beim zweiten.
Schon Leyden hatte das Vorkommen einer solchen getrennten Arbeit
der beiden Ventrikel angenommen, der Autor war aber später davon zurück-
gekommen und hatte sich statt dessen für den Begriff der Hemisystolie entschieden,
d. h. für die Annahme, dass bei dem ersten Stoss beide Ventrikel arbeiten, beim
zweiten aber nur der rechte. Andere Forscher waren der Ansicht, dass es sich
um eine Bigeminie des Herzens handelt, d. h. dass bei dem ersten Herzstoss die
Gontraction kräftig genug ist, um den Radialpuls zu erzeugen , in der zweiten
Phase aber versagt.
Unverricht zeigt nun, dass in seinem Falle die Symptome weder durch
die Aunahme einer Hemisystolie, noch einer Herzbigeminie genügend sich erklären
lassen. Er glaubt jedoch, dass auch diese beiden Bezeichnungen thatsächlichen
Verhältnissen entsprechen können und dass die Systolia alfernans nur das End-
glied einer Reihe von Symptomenbildern darstellt, welche mit der Bigeminie
beginnt und durch die Hemisystolie hindurchführt. Auch schliespt die abwechselnde
Zusammenziehung der beiden Herzhälften eine jedesmalige schwache Contraction
21*
:\24
H ERZ KRANK H EITEN.
der anderen nicht au*, dieselbe mag vorbanden sein, Usst sich aber physikalisch
gar nicht oder nur unzulänglich nachweisen.
1 >e r ' ; n M p p r h y t b m u s des Herzens, welcher bei den versehieiea-
art ig*ten pathologischen Zustanden, besonders auch bei Nephritis beobachtet wird,
hat bereit« von verschiedenen Autoren Erklärungen erhalten. Frantzrl**) äussert
»ich in Beinen „Vorlesungen über die Krankheiten des Herzen" derart, da« er
von den drei Tönen, die zu hören sind, zwei in die Diastole fallen läast und
vennutbet als Ursache einen durch Herzschwäche bedingten, zeitlich verschiedenen
Klappenschluss der beiden arteriellen Ostieu.
Dieser Ansicht stehen diejenigen von Traube , 0. Rqsexbach , Leydkx
und POTAIN gegenüber, welche die Verdoppelung auf andere Ursachen zurück-
führen und den ersten der drei Töne als hörbare, verstärkte Vorhofscontraction
auffassen (Rhythmus * — ~). Einen Beitrag für die Richtigkeit dieser Anschauung
triebt die Arbeit von Kriege und Schmall *>) aus der Strassburger Klinik, welche
an der Hand von Cardiogrammen den Beweis dafür zu liefern suchen; die erste
Zacke ihres Cardiogranuns, die an Stelle der (sonst sanft aufsteigenden) Linie für
die Vorhofscontraction in allen Fällen von Galopprhythmus eintrat f entstand
während des ersten der drei hörbaren Töne.
BorvEfiET und Chab alier as) hinwiederum nehmen an, dass der Galopp-
rhythmua, namentlich bei Nephritis, ein rein systolisches Phänomen ist und erzeugt
wurde durch die Üuntraetion des Ventrikeln selbst, nicht durch den Vorh^f, und
zwar durch zwei unmittelbar aufeinander folgende systolische Contractionen des
hypertroph» rten Herzens.
Von allgemeinen Arbeiten sei ferner das grössere Lehrbuch der
Herzkrankheiten hervorgehoben , welches der bekannte Pariser Kliniker
G.S&K*1) herausgegeben hat, nachdem ein grosser Theil seines Inhaltes in einer
Reihe kleiner Abhandln ngen kurz vorher erschienen war, See ist in diesem
Luhrbuche nach Form und Inhalt ganz radicat mit der Vergangenheit und vielen
früheren Anschauungen verfahren. Um so enger schliesst er sich an die Arbeit
von 0* Rosenbach über die Herzkrankheiten in diesem Werke an, aber seine
Anschauungen gehen über diejenigen des Letzteren hinaus. Während Rosenbach
aus functiouellen und ätiologischen Gründen gewisse Aenderungen in der Ein-
teilung der Herzkrankheiten vorgenommen hat, besonders bei der Lehre von
der Eridooarditis , im Uebrigen aber bei seiner Gesammteintheilung der Hers-
krankheiten wich auch von anatomischen Rücksichten leiten lässt, beginnt das
Werk von 8 kr mit dem Satze; „Es giebt keine ihrem Wesen nach von einander
verschiedene Herzkrankheiten, es bleibt vielmehr immer eine und dieselbe Krank-
heit, die nur ein verschiedenes Bild zeigt und unter verschiedenen Typen auftritt1*
Dementsprechend unterscheidet See keine verschiedenartigen Herzerkranknngen,
sondern vielmehr folgende Typen: den endooardialen, valvulären, eardioarteriellen,
coronararteriellen, anginösen, degenerativen, hypertrophischen und hypereavitären,
nervösen, pericardialen und aneurysmatischen Typus. Die Unterscheidung dieser
Typen ist nur nach der Verschiedenartigkeit und Bedeutung der durch sie gesetzten
Functionsstörungen und besonders nach ätiologischen Principieu gewählt; man
steht, dass die Anatomie dabei erheblich bei Seite geschoben ist Säe begnügt sich
aber nicht mit dieser allgemeinen Auffassung der Herzkrankheiten, sondern er giebt
auch noch weitere neue Ansichten, Bei der Endocarditis , welche die „Mehrzahl
aller Krankheitszustände des Herzens erzeugt", welche — bis auf die senilen Ver-
ehrungen an den Aortenklappen — stets „durch parasitäre Infeetion" entsteht
Bosenbach kennt auch nicht parasitäre Endokarditis), negirt er jede entzündliche
V.csr derselben, sondern vindicirt ihr von vornherein einen deireuerativen Charakter
mit BSadegewsbshyperplasie oder bindegewebiger Schrumpfung, weshalb er für den
Imi Endocardttis die Bezeichnung Endocardie einzuführen sich bestrebt
Die Auffassung von See zeigt den äussersten Standpunkt der Eingangs
«uiou Richtung, welche im Allgemeinen die neueren Arbeiten beherrscht. Der
HERZKRANKHEITEN.
325
anatomische Sitz der Krankheit tritt ganz zurück gegen den Begriff der func-
tionellen Störung, wie dies die „Typen" recht deutlich auch im Einzelnen beweisen.
Auch die Symptomatologie dieser Typen zeigt die Bevorzugung der functionellen
Symptome gegenüber den anatomischen. Als wichtigstes steht voran die Dyspnoe,
bei der See 3 Arten : die Arbeitsdyspnoe (I. Stadium der Herzkrankheit) , die
chemische (II. Stadium) und die ödematöse (letztes Stadium) unterscheidet). Dann
kommt die Beschaffenheit des Pulses und des Blutdruckes in Betracht. An vierter,
fünfter und sechster Stelle, erst in der Reihe der Symptome, kommen die ana-
tomischen: die Töne und Geräusche, die Percussion und der Herzstoss, welche
also vorwiegend den anatomischen Sitz, weniger die functionelle Art und Weise
der Erkrankung demonstriren. Diesen Störungen reihen sich dann wiederum meist
functionelle an, die Dyspepsien und Leberstörungen, die Harn Störungen , die
Hydropsie, die Cyanose, die Thrombose, die Embolien und schliesslich die Hirn-
erscheinungen.
Auf Einzelheiten des Werkes kann hier nicht näher eingegangen werden,
nur sei erwähnt, dass See die Unhaltbarkeit einer Eintheilung der Endocarditis
oder Endocardie (für ihn nur ein Typus, keine specielle Herzerkrankung) in ver-
schiedene Formen fast wörtlich nach Rosenbach hervorhebt, dass er, gleichwie
Letzterer, der Bedeutung der Erkrankung der Coronararterien eine sehr wichtige
und selbständige Rolle zuschiebt und die Herzmuskelerkrankungen von gleichen
Gesichtspunkten aus bearbeitet hat. Unter die Neurosen ist die BASEDOw'sche
Erkrankung eingereiht. Die schweren endocardialen Erkrankungen bei allgemeiner
Sepsis und Pyämie reiht er im Gegensatz zu Bosenbach unter die Endocardie.
Im Uebrigen macht sich trotz der wohl zu einseitigen Eintheilung des
Ganzen in dem Werke im Einzelnen eine hervorragende Klarheit, Uebersichtlich-
keit und interessante Bearbeitung des Stoffes geltend, dabei eine umfassende
Berücksichtigung aller bekannten Tbatsachen aus der Herzpathologie und eine
erhebliche Zahl eigener Erfahrungen und experimenteller Forschungsergebnisse,
die auch die oft citirten RosEXBACH'schen Ergebnisse der experimentellen Klappen-
fehler und ihre functionelle Bedeutung bestätigen, so dass das Lehrbuch als eine
wichtige neue Erscheinung anerkannt werden muss.
An dieser Stelle muss noch Frantzbl's 20) neues treffliches Werk, die
Vorlesungen über Herzkrankheiten , wenigstens erwähnt werden, dessen
erster Theil, die idiopathischen Herzerkrankungen, erschienen ist, enthaltend die
Hypertrophien und Dilatationen in Folge von Ueberanstrengnng, durch Nierenerkran-
kungen, überhaupt bei Drucksteigerungen im Aorten- und Pulmonalsystem, sowie
diejenigen nervösen Ursprungs. Auf den Inhalt soll hier nicht näher eingegangen
werden, es sei nur erwähnt, dass das Werk eine Fülle eigener Beobachtungen
und werthvoller Bereicherungen unserer Kenntnisse der Herzpathologie, namentlich
auf ätiologischem und functionellem Gebiete darbietet, eine Zusammenfassung der
Resultate vieler einzelner Untersuchungen und Forschungen, die der Autor
schon in früherer Zeit veröffentlicht hat und welche bereits an vielen Orten eine
Besprechung erfahren haben.
Ein Ueberblick über die Literatur der speciellen Capitel der
Herzerkrankungen zeigt eine bevorzugte Behandlung der Lehre von
den Erkrankungen des En docards. Hier hat die acute Endocarditis,
besonders hinsichtlich des ätiologischen Momentes, der bacteriellen Invasion,
zahlreiche Bearbeiter gefunden. Die casuistiscben Beiträge von Vinay 23), Hontang **),
Foltanek26), Boüisson26), Rothmünd27), Jaccoüd 2«) , Trumbull 29) sind Fäne
allgemeiner Pyämie und septischer Erkrankung, in denen, wie dies Rosenbach 1 u* 2)
bereits hervorgehoben hat , die Endocarditis nur als ein Symptom , als eine Ab-
lagerungsstelle des septischen Virus und eine bevorzugte Stelle der Ansiedlung
der dabei in Betracht kommenden Bacterien aufzufassen ist. Pyämie und Septicämie
sind scheinbar veraltete Begriffe, unter welche also diese Fälle der malignen oder
septischen oder infectiösen Endocarditis nach Rosenbach rubricirt werden sollen,
326
HERZKRANKHEITEN.
aber derselbe hofft (in den citirt. Abhandl.), dass diese Begriffe vielleicht noch
einmal zn Ehren kommen werden, weil sie in umfassendster Weise die sich
abspielenden Vorgänge charakterisiren , d. h. nicht nur die Anwesenheit kleinster
Lebewesen im Blute präjudiciren (Mikrobiohämie) , sondern auch der von ihnen
producirten Giftstoffe, welche vielleicht oft mehr als ihre Erzeuger am Entstehen
des Symptomencomplexes Schuld sind. Die neueste Zeit kehrt in der That immer
mehr zu diesem Standpunkte zurück. Fräntzel80) unterscheidet diese Art der
Erkrankung des Endocards ebenfalls von der gewöhnlichen Endocarditis, der
Endocarditis simplex, wie er sie nennt, unter welchem gemeinschaftlichen Namen
er alle übrigen Endocarditen (bis auf diejenigen älterer Personen) zusammenfasst ;
er betont ebenfalls, dass die maligne bacterische Form im Gefolge allgemeiner
septischer Erkrankung auftritt.
In einem Falle einfacher Endocarditis fand SÄNGER 81) in den Auflagerungen
Mikrococcen, welche zwei verschiedenen Gattungen angehörten,
einer nicht pathogenen Form und dem gelben Eitercoccus. Hierbei sucht er die
Thatsache zu erklären, weshalb das linke Herz die Prädilectionsstelle für Endo-
carditis ausmacht, er führt sie auf den vermehrten Sauerstoffgehalt des Blutes im
linken Herzen zurück, welches deshalb für die meist facultativ anaeroben Bacterien
ein besseres Nährmaterial abgiebt (umgekehrt wie im fötalen Leben). Sänger
scheint es dabei gänzlich übersehen zu haben, dass bereits Rosenbach und Eüg.
Frankel diese Ansicht ausgesprochen haben, und dass Ersterer für die infecüöse
Endocarditis , die ja ihre Ursache stets in einem anderwärts gelegenen septischen
Herd besitzt, sogar ein Wandern der Mikroorganismen durch den Lungenkreislauf
bis in's linke Herz angenommen hat.
Sehr wichtig und interessant sind die Beobachtungen Weichselbaum's sa),
dem es gelang, in 6 Fällen von Endocarditis, welche als Complication zu croupöser
Pneumonie, in einem Falle zu Cerebrospinalmeningitis hinzutraten, durch mikro-
skopische Untersuchung, Cultur und Thierexperimente Pnoumoniecoccen im erkrankten
Endocard nachzuweisen. Diese Endocarditis pneumonica scheint nicht
so selten zu sein, da er sie in 1/A der Fälle von Endocarditis fand.
Endlich verdienen die Beobachtungen Gluczinski's ") Erwähnung, welcher
Erkrankungen des Endocards beschreibt, die durch Gonorrhoe bedingt waren.
Die Lehre von der Thrombose d es Endocards ist von v. Ziemssen Si)
bereichert worden duich die Aufstellung eines Symptomenbildes für die Kugel-
thromben und gestielten Thromben. Die Zahl der bisher beobachteten
Kugelthromben ist sehr gering. Es handelt sich nur um 5 Fälle. In allen bestand
eine Mitralstenose und der runde, meist wallnussgrosse , an der Oberfläche mehr-
fach gedellte Thrombus eass im linken Vorhof. Für die Kugelthromben, wie auch
für die gestielten (im Ganzen sind 10 Fälle beschrieben) des linken Vorhofs lässt
sich eine Wahrscheinlichkeitsdiagnose aufstellen unter folgenden Voraussetzungen
und Erscheinungen: 1. Eine Mitralstenose muss nachgewiesen sein. 2. Es müssen
Erscheinungen eines äusserst schweren Circulationshindernisses im linken Herzen
(Cyanose, Dyspnoe, Kälte der Extremitäten) im höchsten Grade entwickelt sein,
wie man sie bei einfacher Mitralstenose nur selten findet. Die Arterienfüllung
ist minimal und der Puls sehr klein. 3. Charakteristisch ist endlich das Auftreten
von circumscriptcr Gangrän an den Füssen, welche höchst wahrscheinlich nicht
auf Embolie, sondern auf arterielle Thrombose in Folge der enormen Beschränkung
der Blutzufuhr zur Peripherie zu schieben ist. Diese Gangrän ist in dem be-
schriebenen Falle auffallend häufig beobachtet worden.
Die Erkrankungen des Herzmuskels sind grösstenteils schon längst
in Bezug auf die anatomischen Veränderungen, die sie bieten, durchforscht und
erschöpfend behandelt. Die Zahl dieser Veränderungen besitzt bekanntlich keine
grosse Mannigfaltigkeit; trübe Schwellung, Verfettung, Atrophie, fibröse Degene-
ration, entzündliche Infiltration und Pigmentirungen stellen gemeinsam oder einzeln
die ziemlich eintönigen Bilder der anatomischen Erkrankung dar. Umso viel-
HERZKRANKHEITEN.
327
fiütiger treten die klinischen Erscheinungen und diefunctionellen Störungen
der Herzmu s kel erkrankungen auf. Sie sind es, welche jetzt in den
Vordergrund der klinischen Beobachtung getreten sind, nachdem besonders die
Arbeiten von Rosenbach, Fräntzel, Leyden, da Costa auf ihre Bedeutung auf-
merksam gemacht haben.
Die secundären Störungen der Herzmuskelthätigkeit in
Folge von Klappenfehlern sind es nun nicht, auf welchen die wesentlichsten der
neuen Forschungsergebnisse beruhen. Hier verdient nur die mühevolle Unter-
suchung von Krehl86) Erwähnung Aber die Veränderungen der Herzmusculatur
bei Klappenfehlern, welche an Serienschnitten durch das ganze Herz vorgenommen
wurde und ergab, dass sich an die Herzklappenfebler auch erhebliche Verände-
rungen des Herzmuskels anschliessen , und zwar progredirende chronische Ent-
zündungen, welche auf das Endocard, Pericard und die Wandung der Herzgefosse
übergreifen, der Grad dieser Schädigungen muss also bei der Prognose der Klappen-
fehler wesentlich in's Gewicht fallen. Hingegen werden die primären, die
sogenannten idiopathischen Herzmuskelerkrankungen augenblick-
lich am wesentlichsten von den Autoren berücksichtigt. Sie werden idiopathisch
genannt, weil sich am Herzen selbst keine, wenigstens sichtbare Ursachen dafür
erkennen lassen. Es tritt aber die Erkrankung nicht vollständig spontan und
ohne nachweisbare Veranlassungen auf, nur liegt dieselbe ausserhalb des Herzens.
Dieselbe ist« in den meisten Fällen in allgemeinen oder constitutionelleu Er-
krankungen zu suchen. Der Alkoholismus, die acuten Infectionskrankheiten,
allgemeine Fettsucht, constitutionelle Ernährungsstörungen, wie Chlorose, Anämie
und Lues, selbst langdauernde und schwere psychische Alterationen und besonders
die Altersschwäche sind die Quelle für die idiopathischen Myodegenerationen des
Herzens, welche schliesslich in den Vordergrund der Erkrankung treten und den
Exitus hervorrufen. Eine ganze Reihe von Bestätigungen und Beiträgen hierzu
bietet die neuere Literatur, insbesondere eine grössere Zahl von werthvollen
Arbeiten von Kisch 86) , die bekannten Untersuchungen von Oertel S7) , ferner
diejenigen von Forchheimer 88), Smith 89), Hammond *o)f Balfoür 41) u. A. Ueberall
treten die ätiologischen Momente und die functi on eilen Störungen in den
Vordergrund der Betrachtungen.
Nach Kisch's 36) Beobachtungen findet sich beimFettherzArhythmie
nicht so häufig, als man annehmen sollte (8°/0 der Fälle). Die Gründe hierfür
sind noch unaufgeklärt. Die Arhythmie erscheint in drei Formen: 1. als Herz-
intermittenz bei jugendlichen Personen, und zwar in Form von Anfällen; 2. als
Herzirregularität in vorgerückten Jahren, bestehend in abwechselnd regelmässigen
and kleinen rudimentären Pulswellen, als Zeichen schon vorhandener Muskel-
insufficienz ; 3. als Delirium cordis in den vorgerückten Stadien der HerzinsufGcienz.
Bei der ersten Form ist Heilung möglich, bei der zweiten und dritten,
wo bereits Herzdilatation in schwächerem oder stärkerem Masse eingetreten ist,
nur eine Besserung; bei dem Delirium cordis überhaupt die Prognose quoad
vitam ungünstig und ein plötzlicher Tod häufig.
Besonders aber bat eine Seite dieses Capitels aus den Herzmuskel-
erkrankungen neuerdings eine besondere Beachtung gefunden, inaugurirt durch
Fbäntzrl und Leyden, nämlich die durch Ueberanstrengung hervor-
gerufenen Herzmuskelerkrankungen. Die Ueberanstrengung führt entweder direct
zu oft schweren und dauernden Erscheinungen der Herzschwäche und Dilatation,
oder erst zur Hypertrophie des linken Ventrikels und dann zur Degeneration
desselben. Neue Beitrage hierzu wurden besonders von Schott42), ferner von
Ott48), Sajkowic44) und Aj>ami46) gegeben. Weshalb ist nun aber, da die
körperliehe Ueberanstrengung ein so sehr häufiges Ereigniss ist, doch die Beob-
achtung einer Herzmuskelerkrankung hierdurch verbältnissmässig selten? Sommer-
brodt46) hat sich bemüht, hierfür eine physiologische Erklärung zu geben. Die-
selbe ist folgende: Bei vermehrter körperlicher (Muskel-) Arbeit wird mehr
HERZKRANKHEITEN.
Sauerstoff verbraucht und mehr Kohlensäure gebildet, diese regt das Athmungs-
eentruni zu vermehrter Thätigkeifc an , die vermehrten dyspnoischen Athemztl- ,
fuhren zu einer Steigerung des intrabronohialen Druckes, die Drucksteigening
veranlasst nach Sommerbeodt eine Reizung der sensiblen Lungennerven, welche in
diesem Zustande reflektorisch allgemein gefassentspannend und erweiternd wirken.
Durch diese Kette von Ursache uud Wirkung wird für gewöhnlich und normaler
Weise die Blutdrucksteigerung, welche vermehrte Arbeitsleistung verursachen musste,
ausgeglichen. Aber in gewissen Fallen unterbleibt dieser Ausgleich, indem durch die
Art der körperlichen Arbeit die Vertiefung der Athmung behindert wird oder weil
die Entspannung der Gefasswände aus anderen Ursachen — So M M ERB RO DT elaasi
ficirt dieselben — nicht eintreten kann und dann bildet sieh die Myodegeneratio aus.
Die eigentlichen p hy si ologischen Grü nde für die Möglich-
keit und das Zustandekommen einer vermehrten Arbeitsleistung
des Herzmuskels sind bisher noch unaufgeklärt. Man sieht sich bisher
genfithigt, nur die Thatsacbe als solche hinzunehmen, dass, wenn irgend ein Ab*
schnitt des Geftfsssystems verengt ist , oder wenn es bei Insufficienzen zur ver-
mehrten Füllung eines oder mehrerer Herzabschnitte kommt, oder wenn schliesslich
gewisse andere Ursachen zur idiopathischen Veränderung seiner Musculatur und
Function fuhren , der Herzmuskel zunächst ohne , dann bald mit Hypertrophie
normal zu arbeiten und die Störungen zu compensiren sich bestrebt, zunächst
also normal funetionirt* Diese Fähigkeit des Herzmuskels nennt man bekanntlich
seit Rosenbach seine Reservekraft. Teleologische Gesichtspunkte sind für ihr
Auftreten von den verschiedensten Autoren , namentlich von Letzterem geltend
gemacht worden, aber sie bieten nicht die physiologische Erklärung daftlr.
v, Frev *7) bemüht sich nuu, auf die Analogie des Verhaltens des Herz-
muskels mit den Skeletmuskeln in dieser Hinsicht hinzuweisen und hofft, dass
unter Berücksichtigung der Erfahrungen, welche über die mechanischen Leistungen
des Skeletmuskels gewonnen sind, eine Erklärung dieser noch dunklen Frage
ermöglicht werden ktfnnte. Am entnervten Skeletmuskel ist es von Heidenhain
und Fick nachgewiesen, dass bei seiner Reizung die Wärmeentwicklung nicht der
Reugrosse allein entspricht, sondern auch der Arbeitsleistung, und bei gleichem
Reize wächst sie innerhalb gewisser Grenzen mit der vermehrten Arbeit (ohne
erheblich vermehrte Contractionszahl). Auch der „trainirte" Skeletmuskel wächst
durch die verstärkte Arbeitsleistung. Aehnlich verhält es sich beim Herzen,
v, Frey weist darauf hin , dass am Herzmuskel , welcher durch Stenosen und
Insufficienzen mehr belastet tat, in analoger Weise eine Vermehrung seiner Arbeits-
leistung eintritt. Diese vermehrte Arbeitsleistung ist nachweislich eine directe,
sie wird nicht durch vermehrte Zahl der Contractioueu bewirkt, v. Frev konnte
dies sphygmographisch und manometrisch durch das Thierexperiment beweisen;
auch scheint diese Fähigkeit der vermehrten Arbeitsleistung, unabhängig vom
Nervenreflex zu erfolgen (Durchschneidung aller zum Herzen führenden Nerven)
und eine Eigenschaft des Herzmuskels zu sein. Diese Fähigkeit der vermehrte
Arbeitsleistung hat auch Rosexbach bei experimenteller Zerstörung der Klappen
nachgewiesen, sofort stellt sich der mittlere Blutdruck wieder ein, ein Zeichen,
dass das Herz momentan durch vermehrte Arbeitsleistung den Fehler wieder
auagleicht.
Nachdem die Bedeutung der Coronararteriensclerose für die
Herzerkrankungen anatomisch von CüHXRKiM« klinisch besonders von Rosekbach
hervorgehoben T von Letzterem auch auf die unabhängige Stellung, die sie zu der
allgemeinen Arterien seier ose in gewisser Beziehung einnimmt, aufmerksam gemacht
worden istT hat auch dieses Capitel ein bedeutenderes klinisches Interesse als bisher
^ewonnen. Auf die grosse Zahl von Arbeiten, welche zum Theil. wicKkt-Abebg **),
Odriozola *•) , HüCHAßD60), Sterkberg m ) , das klinische Bild der Erkrankung
von den verschiedensten Seiten beleuchten, zum Theil casuistische Beiträge liefern,
soll hier nicht näher eingegangen werden. Es sei nur erwähnt, dass in Hinsieht
HERZKRANKHEITEN.
329
auf die Bedeutung der Erkrankung Sternberg werthvolle Untersuchungen Aber
die Vertheil ung der Kranzarterien mittelst der Injectionsmethode vor-
genommen hat.
Die jüngsten, ziemlich spärlichen Arbeiten Aber Pericarditis sind
meist nur casnistischer Natur. Ihre geringe Zahl entspricht der immerhin geringeren
Bedeutung dieser Herzerkrankung fAr die functionellen Störungen. Bemerkens-
werth sind nur die Beobachtungen von v. Stoffela62) und von Pins68), welche
Beide bei der Pericarditis exsudativa ein neues Symptom gefunden haben,
welches einem ähnlichen bei pleuritischen Exsudaten entspricht, nämlich die Ver-
änderungen der perkutorischen Ergebnisse durch die Verschiebungen des Exsudats
bei Lagewecbsel, beim Sitzen und Liegen, v. Stoffela beobachtete den Schall-
wechsel an der Herzbasis, während Pins ihn in einem thalergrossen Dämpfungs-
bezirke wahrnahm, den er stets bei Einnahme der rechten Seitenlage bei Peri-
carditis hinten unterhalb des linken Scapulawinkels fand. Diese Dämpfung
vermindert sich beim Sitzen und verschwindet fast völlig in der Knieellenbogenlage,
indem das Exsudat nach vorn fällt und die daselbst comprimirte Lunge wieder
entlastet, welche übrigens auscultatorisch die Symptome der Atelectase an der
betreffenden Stelle darbietet.
Die Zahl der neueren Arbeiten Aber die Herz klappen fehl er Aber-
wiegt bei Weitem diejenige Aber andere Herzerkrankungen. Die Störungen in
Folge der Fehler, die Art und Weise des Ausgleiches, die Einflüsse auf den Puls,
die Blutbewegung und den Gesammtorganismus werden im Allgemeinen und io
den einzelnen Klappen von meist physiologischen Gesichtspunkten aus untersucht.
Von allgemeinen Arbeiten verdienen zunächst die umfangreichen
Statistiken von Middleton64) und Leuch55) Erwähnung. Aus denselben geht
allerdings die sichere Beantwortung der wichtigen Frage nach der Schwere der
einzelnen Arten der Herzfehler nicht hervor. Das Ergebniss alier Statistiken
hierüber ist bekanntlich ausserordentlich schwankend. Es scheint eben auf den
Grad der Widerstandsfähigkeit des Gesammtorganismus und der Abrigen Organe,
ebenso sehr wie auf die FunctioustAchtigkeit des Herzens anzukommen.
Andererseits zielt eine Arbeit RrEGEL's66) Aber die Klappenfehler
darauf hin, die Prognose der verschiedenen Herzfehler nach gewissen einfachen,
am Herzen selbst zu suchenden Principien zu bestimmen , wobei er Aberhaupt die
Lehre von der Compensation der einzelnen Herzfehler einer erneuten Revision
unterwirft. Nach Riegel's Ansicht ist die Störung durch die Stenosen eine hoch-
gradigere, die Prognose also eine ungünstigere als die durch die Insuffizienzen
gesetzte. Riegel führt als Grund dafür die Unterschiede in der Störung der
Blutvertheilung an, die Stenose fAhrt von Anfang an eine UeberfAliung des Venen-
systems, eine Blutleere des Arteriensystems herbei, die Insuffizienz dagegen zunächst
nicht; ihr Schaden beruht wesentlich nur auf der bei ihr stattfindenden Luxus-
arbeit. Dieselbe wird genügend compensirt durch die Hypertrophie der zu beiden
Seiten der Klappe befindlichen Herzabschnitte und der Kreislauf bleibt dann im
Allgemeinen intact.
Dass demgemäS8 bei der Mitralinsuffizienz der linke Ventrikel hyper-
trophiren muss, hat schon Rosenbach auf Grund einer arithmetischen Berechnung
nachgewiesen und Riegel schliesst sich seinen Anschauungen unter Wieder-
holung derselben an. Ferner bedarf nach Riegbl's Anschauung die Mitralinsuffizienz
keiner Dilatation und Hypertrophie des rechten Ventrikels zur Compensation,
dieselbe, wenn vorhanden, muss bereits als Compensationsstörung aufgefasst
werden. Riegel hält also jede Dilatation und Hypertrophie des rechten Herzens
bei Erkrankung der Klappen des linken schon für eine Compensationsstörung.
v. Dusch 67) tritt nun diesen Ansichten entgegen. Derselbe sucht zu
beweisen, dass die Stenosen und Insuffizienzen in gleicher Weise den Kreislauf
schädigen und in ihm jedesmal eioe derartige Störung hervorrufen, dass das
arterielle System zu wenig, das venöse zu viel Blut erhält. Besonders fAr die
33G
HEBZKKAKKHKITEN.
MitralinsufEeienz sucht er zn beweisen, dass in die Aorta nicht dieselbe, sondern
eine zu geringe Menge Blut, selbst trotz der Hypertrophie nnd Dilatation des
linken Ventrikels, geworfen wird. Die Unterschiede dieser beiden Gattungen von
Fehlern machen sich also nur am Herzen selbst geltend, insofern bei den Stenosen
andere Herzabschnitte als bei den Insnfficienzen dilatiren und hypertrophiren.
Der Grad der Störung ist für den Kreislauf gleich gross. Was die Frage von
der Compensation anbetrifft, so glaubt v. Dusch entsprechend der bisher üblichen
Auffassung, dass die Hypertrophie des rechten Ventrikels bei Fehlern des linken
venösen Ostiums nicht eine Compensationsstörung bedeute, sondern vielmehr für die
Compensation nöthig sei. Bei der Mitrahnsufficienz ist diese Hypertrophie nöthig,
weil der linke Ventrikel trotz Hypertrophie und Dilatation noch nicht genügend
Blut in den Arterienkreialauf wirft und so durch vermehrte Arbeit des rechten
Herzens dasselbe erhalten muss.
Die Heilbarkeit acuter und chronischer Klappenerkran-
kungen behauptet Boyd*8), welcher in gewissen Fallen echter Klappenfehler
das Verschwinden der Geräusche beobachtet zu haben angiebt, stets allerdings
nur bei Insnfficienzen, nie bei Stenosen, und zwar bei jugendlichen Individuen
und bei auf rheumatischer Basis entstandenen Erkrankungen. Selbst ein Ver-
schwinden der Hypertrophien im Anschluss an die Klappenfehler will er wahr-
genommen haben.
Dagegen widerspricht G. See69) der Annahme der Heilbarkeit von
Herzfehlern. Er hat zwar sehr oft Fälle von organischen Herzfehlern gesehen,
die Jahre lang keine Symptome darboten, so dass die Patienten — besonders
bei Aorteninsufficienzen — sich ihrer Krankheit nicht bewusst waren. Derartige
Fälle erwecken den Anschein der Heilbarkeit und Gefahrlosigkeit, jedoch glaubt
er, dass wirkliche vermeintliche Heilungen auf Irrthümern, z. B. auf Verwechslung
des pericarditischen Geräusches mit endocardialen beruhen.
Auch andere Beobachter haben, wie See, ausgezeichnete Compensationen
schwerer Herzfehler beobachtet. Besonders interessant ist die FRÄNTZEL'sche 60)
Mittbeiluug über einen Fall von Aorteninsufficienz, welche einen Arbeiter betraf,
der ohne jede Beschwerde die schwersten Arbeiten als Steinträger und Ramm-
arbeiter verrichten konnte.
Dass aber sehr heftige Anstrengung au eh Herzklappenfehler
erzeugen kann, glauben Rot und Adajo. 61) Durch Thierversuche sind sie
zu der Ueberzeugung gekommen, dass die Ueberanstrengung zu Verdickungen
und Contractionen der Klappen, sowie zu Stenosen der Ostien fuhren kann.
Jedenfalls kann es durch Herzschwäche zu einer Dilatation
des Herzens und secundärer Klappen in s uff icienz kommen. Es ist
dies die functionelle Klappenin sufficienz (Rosenbach), die oft post
mortem tiberseben wird und doch die letzte Todesursache abgegeben hat. Einen
casuistischen Beitrag hierzu hat Schuhmacher68) geliefert. Derselbe hatte in
einem Falle wegen der Ergebnisse der physikalischen Untersuchung die Diagnose
auf Mitralinsuffizienz und -Stenose im Zustande der Compensationsstörung gestellt.
Durch Digitalis und geeignete Diät bildeten sich aber alle Erscheinungen zurück,
die Herzdämpfung wurde normal und die Töne rein. Nach einem Rückfall in
Folge eines Diätfehlers ist seitdem der normale Zustand des Herzeus dauernd geblieben.
Die Diagnose lautet jetzt Herzschwäche, namentlich links, mit zeitweiliger func-
tioneller Insuffizienz der Mitralis.
Dementsprechend giebt es auch eine relative Aorteninsufficienz. Da bisher
die Möglichkeit derselben noch nicht allgemein anerkannt worden ist, so geben
Renvebs"), Bouveret64) und Schwalbe05;, Letzterer im Verlaufe seiner Arbeit
über Aorteninsufficienz, casuistische Beiträge, welche das Bestehen einer solchen
beweisen. Die relative Aorteninsufficienz kann entweder bei der Herzhypertrophie
und Dilatation im Gefolge der Nephritis sich bilden, ohne irgend welche Läsion
der Klappe, feroer auch im Anschluss an Dilatation und Hypertrophie, die durch
HERZKRANKHEITEN.
331
Atherom bedingt wird, endlich bei der durch körperliche Ueberanstrengung
erzeugten.
Die experimentellen Arbeiten über die Klappenfehler und
ihren Einfluss auf den Kreislauf gehören bis in die Neuzeit zu den der Zahl
nach seltenen Erscheinungen in der Herzpathologie. Lange Zeit blieb jene erste
grundlegende Arbeit von 0. Rosenbach l) die einzige und in Bezug auf die
Aortenfebler ist auch keine weitere erschienen, welche neue Gesichtspunkte und
Thatsachen auf dem Wege des Experimentes den von Rosenbach gefundenen
hinzufügen konnte. Ueber die künstliche Erzeugung von Mitra linsnffi-
cienz und ihre Folgen für Kreislauf und Lungen aber sind neue wichtige
Ergebnisse, einmal durch die Arbeiten von Feancois Frank und Stricker, ganz
neuerdings aber durch Bette lh bim und Kauders65) im Laboratorium von
v. Bäsch gefunden worden. Diese letzteren sollen hier erwähnt werden.
Bettelheim und Kaüdebs befolgten, um ausser dem Aortendruck auch
den der Art. pulmon. messen zu können, in der Ausführung des Experimentes
die Methode Strickeb's. Derselbe öffnet den Thorax (Rosenbach hatte dies ver-
mieden , da es ihm bei den Aortenfehlern wenig auf den Pulmonaldruck ankam
und da die völlige Aufhebung des Einflusses der Athmung auf den Blutdruck
immerhin Fehlerquellen in den Resultaten herbeiführen muss), führt durch das
linke Herzohr eine gefensterte Canttle ein und misst den Blutdruck in der Art.
pulmon. und Carotis. Bettelheim und Kauders verfuhren ebenso und führten
ausserdem nach dem Vorschlage von v. Bäsch in die Canüle einen Obturator ein,
um mit Leichtigkeit jeweils das Fenster verschliessen und öffnen zu können.
Durch diese Methode entsteht also entweder nur eine Stenose des Ostium
venös, sin. oder eine Stenose mit gleichzeitiger Insufficienz. Die Untersuchungen
der beiden Forscher bestanden nun einmal in einer Wiederholung der bereits von
Stricker angestellten unter Variation der Versuche, dann aber gingen sie auch
selbständig vor, namentlich in Bezug auf das Verhalten der Lunge im Verlaufe
der Kreislaufsstörung. Ihre Resultate sind ungefähr folgende:
Zunächst stellten sie das Verhältniss des Druckes in der Art. pulmon.
und Carotis fest, wie er normalerweise sich verhält; derselbe ist bedeutender,
als bisher angenommen wurde, nämlich durchschnittlich 8,5 und zeigt, dass unter
normalen Verhältnissen das rechte Herz schon unter verhältnissmässig geringerem
Drucke dem linken Herzen Blutmengen zufahrt, die ausreichen, dasselbe derartig
zu füllen, dass es wiederum die Arterien unter hoher Spannung zu halten im
Stande ist. Bei der einfachen Stenose der Mitralis fanden sie, dass der
Druck in der Carotis stets sinkt, der Druck in der Pulmonalarterie eine relative
Steigerung erfährt, denn derselbe beharrt entweder trotz des Sinkens des Arterien-
druckes auf seiner ursprünglichen Höhe oder er sinkt nur um ein Geringes,
nicht im Verhältniss mit dem Arteriendruck. Also das Verhältniss der Druckdifferenz
in beiden wird kleiner. Gesellt sich zur Stenose die Insufficienz
hinzu, so wird das Verhältniss noch viel kleiner. Der Druck in der Pulmonaiis
steigt noch mehr, und zwar nicht nur wie bei der Stenose im relativen Sinne,
sondern absolut. Die Veränderung, welche der Druck im Vorhofe durch die
Insufficienz erfährt, entspricht den Verhältnissen in der Art. pulmon. und bleibt
unter ihm, der Druck im Vorhof wird also durch die Insufficienz nicht so erheb-
lich verändert, dass er dem Drucke des linken Ventrikels etwa sich vergleichen
Hesse, es würde ja dann auch ein Strömen des Blutes im kleinen Kreislauf
unmöglich sein.
Was die Compensation des gesetzten Fehler*, besonders also der mit
Insufficienz gepaarten Stenose betrifft, so kann man den Grad derselben messen
an der Grösse des Druckverhältnisses in Art. pulmon. und Carotis; je grösser
dasselbe bleibt oder allmälig wird, um so besser ist die Bedingung für einen
guten Kreislauf und die Compensation; eine hochgradige Verkleinerung der Ver-
hältnisszahl entspricht nach der Ansicht von Bettelheim und Kauders dem
HERZKRANKHEITEN.
klinischen Bilde der Compensationssttfrung , des Hydrops, der Cyanose etc. Nun
kann diese Vergrößerung der Verhäitnisszabl erfolgen einmal durch die Ver-
größerung des Zählers, des Aorten- (Carotis ) Drucke« oder durch die Verklei-
nerung des Nenners, des Putmonalarteriendruckes. In den Versuchen hat sich
ergeben, dass die Compensation erfolgt stets durch eine Erhöhung des Aorten-
drnekes, während der Pulmonalarteriendruck entweder nur eine geringe Steigerung
erfährt oder gar keine oder selbst heruntergeht ; jedenfalls hat sich gezeigt, das*
die Bedingungen für die Compensation nicht im rechten Herzen zu suchen sind,
sondern im linken. Endlich wird bewiesen, dass diese Compensation nicht allein
unter hohem, sondern auch unter niedrigem Arteriendrucke eintreten kann und
dass ein Sinken des Arterien drucke« nicht immer gleichzeitig ist mit Störung der
Compensation. Also die Resultate dieser Versnebe entsprechen nicht der herr-
schenden Meinung, dass die Compensation einer Mitralinsufficieoz auf einer Mehr
arbeit des rechten Herzens beruhe, sie sprechen vielmehr dafür, dass Bedingungen,
welche im linken Herzen oder, um es noch allgemeiner auszudrücken, dass Be
dingungen, welche im grossen Kreislaufe entstehen, die durch die Insufficienz dar
Mitralis entstehende Kreislaufsstörung günstig beeinflussen können (vergl. oben
Riegel), Ueber die Natur dieser Bedingungen müssen natürlich erst Versuche
angestellt werden. Es sind dies Bedingungen , die vorläufig also noch mit dem
Namen Reserve kraft zu belegen sind.
Interessant sind die Untersuchungen, die Darier ft7) an normalen und
pathologischen Klappen bezüglich vorhandener Gefässe angestellt hat.
Im normalen Zustande haben sich Gefässe in den Klappen nur gefunden 1. bei
Neugeborenen in den venösen Klappen nahe der Herzwand, 2. bei Erwachsenen
nur im unteren Sechstel des Aortenzipfels der Mitralklappe. In pathologischen
Fallen fanden sich Gefässe überall an Aorten- und Mitralklappen, Die Ursache
dieser Gefässbildung bedarf noch weiterer Untersuchung.
Unter den einzelnen Klappenfehlern haben klinisch Mitralstenose
und Aorteuinsufficienz das meiste Interesse in Anspruch genommen.
Bezüglich des Verhaltens des linken Ventrikels bei Mitral-
stenose macht Lrxhartz G8) mit Recht darauf aufmerksam, dass dessen theoretisch
scheinbar begründete concentrische Atrophie ein durchaus nicht häufiges Vor-
kommnis» ist. Vielmehr hat er sehr häufig bei ganz reinen Fällen eine Hyper-
trophie des linken Ventrikels gefundeu. Es beweist dies, dass auch bei diesem
Herzfehler die Compensation eine bessere, als angenommen wird, zu sein pflegt.
Als Ursache der so ausgiebigen Füllung des linken Ventrikels nimmt er ausser
dem vermehrten Druck des hypertrophischen rechten Ventrikels und dem Vorhof-
druck die nachgewiesene (s, u,) Saugkraft der linken Kammer an.
Ferner wird die Qualität und Ursache des Geräusches bei
Mitralstenosen vielfach discutirt, Bekanntlich ist die Variabilität desselben eine
ganz hervorragende und die Iuconstanz seines Auftretens und Charakters ist
längst bekannt. Bald ist es kaum oder gar nicht zu hören und der Fehler wird
nur durch die anderen physikalischen Zeichen, durch die Hypertrophie des rechten
Herzens, durch den klappenden und oft so charakteristisch gespaltenen zweiten
Ton, das Verhalten des Pulses etc. nachgewiesen. Bald ist das Geräusch exquisit
präsystolisch, beginnt in der Pause zwischen zweitem und erstem Ton und endet
anschwellend mit dem Beginn des letzten. In anderen Füllen wieder ist es nicht
nur präsystolisch, sondern noch systolisch, ja überdauert sogar etwas die Systole,
Zuweilen ist sogar von einigen Autoren ein diastolisches und ausserdem ein zweites,
davon getrenntes präsystolisches Geräusch beobachtet worden. Die vorliegenden
Arbeiten (Dickixson *•) , Tüknee70), Fenwick und Walkeu71), Rolleston Ta),
Acland 7*), Hart 7*), welche sich mit diesen Geräuschen beschäftigen, suchen für
das Zustandekommen derselben , besonders auch für die letzte dieser Formen d*Ä
Geräusches Erklärungsgründe , jedoch sind die Controversen so vielseitig und die
HERZKRANKHEITEN.
333
Ergebnisse so widersprechend, dass vorläufig die Frage über die Entstehung der
Geräusche noch als eine offene betrachtet werden muss.
Bezüglich der Lehre von der Insufficienz der Aortenklappen
ist es bekannt und durch eine Reihe neuerer Arbeiten (Dehio 7ö) , Rbnvers 68)y
Litten76), Klein77), 0. Rosenbach 78) bestätigt, dass das diastolische Ge-
räusch, so charakteristisch es bei seinem Vorhandensein ist, doch variabel an Stärke
und selbst oftinconstantist. Da diese Variabilität sich als weder abhängig
von dem Grade der Klappenläsion erweist, noch etwa stets auf Schwächung der
Herzkraft oder der Verminderung des Druckes im Aortensystem, wie dies Timo-
fejew79) annimmt, zurückzuführen ist (Hosenbach), so müssen andere Ursachen dafür
angeführt werden. Rosenbach nimmt an, dass das diastolische Geräusch abhängig
ist von dem Grade des Rücksturzes des Blutes in den Ventrikel, es ist stark ausge-
bildet, wenn das Blut in der diastolischen Erweiterung intensiv und rasch zurück-
stürzt und wird geringer, wenn dies in minder heftiger Weise geschieht. Diese Saug-
kraft des Ventrikels in der Diastole ist durch neuere Arbeiten (v. Frey80), Krehl 8a),
HOrthle 8a) vollauf bestätigt. Nebenher kann ein bestehendes Aneurysma ebenfalls
das diastolische Geräusch schwächen oder ganz verhindern (Litten76), Klein77).
0. Rosenbach 8s) nimmt übrigens im Gegensatz zu den bisherigen An-
schauungen an, dass die Semilu nar klappen während der Systole
nicht fest an der Aortenwand anliegen, sondern etwas ausgebreitet
bleiben (ohne dabei das Lumen zu verschliessen), wovon er sich beim Thierexperiment
durch die Sonde überzeugt hat, welche sehr leicht in die Taschen während der
Systole sich einführen lässt, was kaum möglich gewesen wäre, wenn die Klappen
an der Aorta glatt angelegen hätten. Dieses Fernhalten der Klappen von der
Gefässwand wird auch noch durch die systolische Streckung derselben und die
Abwärtsbewegung des Herzens begünstigt. In der Diastole schliessen sich dann
die Klappen ganz, nicht in Folge des Rückpralles des Blutes, da normal nie eine
derartige Rückströmung, sondern nur eine Verlangsamung oder ein Stillstand des
centrifugal strömenden Blutes eintritt, sondern nur durch den stärkeren Druck
der Blutsäule, welcher die Klappen also schon in der Systole allmälig immer mehr
füllt und endlich ganz schliesst.
Von wichtigem diagnostischen Werthe ist nach Geigel84) die sphygmo-
graphische Untersuchung für die Aorteninsufficienz, und zwar nur für
diese Klappenerkrankung. Geigel zeigt, dass die Rückstosselevation , die im
Allgemeinen als Rückprall von den geschlossenen arteriellen Klappen aufge-
fasst wird, in der Pulscurve bei Aorteninsufficienz fehlt. Sie erscheint aber
wieder, wenn eine Mitralinsufficienz hinzutritt und entsteht dann durch den
Zusammenstoss der beiden Ströme aus den Vorhöfen und der Aorta, welcher bei
Mitralinsufficienz wegen stärkerer und schnellerer Contraction des linken Vorhofes
sehr heftig ausfallen muss. Bestätigt sich diese Thatsache in allen Fällen, so
wird die Pulscurve die Diagnose des complioirten Herzfehlers: Mitralinsufficienz
und Aorteninsufficienz wesentlich unterstützen, resp. in manchem Falle die Auf-
klärung geben, ob das systolische Geräusch nur der Aorteninsufficienz angehört
oder einer complicirenden Mitralinsufficienz.
Indess muss hier erwähnt werden, dass gewisse neuere physiologische
Arbeiten die Elevation des Cardiogramms, welche als Zeichen des Rück-
pralles des Blutes von den geschlossenen Klappen vielfach aufgefasst wird, ganz
anders deuten. Ohne hier näher darauf eingehen zu können, sei nur hervor-
gehoben , dass nach den Wahrnehmungen von Krehl 80) und v. Fest 81) die
secundäre Welle, die sich durch den betreffenden Gipfel der Pulscurve kenn-
zeichnet, durch eine von der Peripherie (den Capillaren) nach dem Herzen hin
reflectirte Welle entsteht, welche die Klappen nur zuschlägt, aber nicht an ihnen
entsteht. Andererseits fasst Hürthle83) auf Grund der Ergebnisse mit seinem
Differentialmanometer den seoundären Gipfel als Folge des Klappenschlusses und
Beginn der Diastole auf.
334
HERZKRANKHEITEN.
Das systolische Geräusch bei einer reinen Aorteninsufficienz ist
bisher als ein durch die Rauhigkeit an den Klappen sich bildendes Geräusch, als
Stenosengeräiisch oder als ein durch die Erweiterung der Aorta bedingtes aufge-
fasst worden. Bosenbach 7ö) erklärt es neuerdings durch die retrograde Strömung,
welche bei Beginn der Systole im Anfangstheile der Aorta bei Aorteninsufficienz
herrschen muss. Mit Einsetzen der Systole wird diese Strömung gewaltsam ver-
ändert, indem die systolische Blutsäule in entgegengesetzter Richtung auf dieselbe
einstürzt und zur Erzeugung des Geräusches führt.
Endlich sei erwähnt , dass Fr. Müller 86) ein neues capillarpulsa-
torisches Phänomen bei Aorteninsufficienz beschreibt, welches er öfters
beobachtet hat. Dasselbe macht sich in rhythmischen, pulsatorischen Bewegungen
des Velum palatinum, der Uvula, Ganmenbögen und Tonsillen geltend, unter
gleichzeitiger Anschwellung derselben. Daneben lässt sich eine rhythmische Ver-
stärkung der Gaumenröthung wahrnehmen.
Schwer hält es , unter Herzneurose einen abgegrenzten Krankheits-
begriff herzustellen. Denn bei den verschiedensten pathologischen Zuständen des
Herzens machen sich bekanntlich nebenher Störungen geltend, die zum Theil
wenigstens auf primäre Erkrankung oder secundäre Alteration des nervösen
Apparates zurückgeführt werden müssen.
Von diesen kann man nun aber doch gewisse nervöse Affectionen unter-
scheiden, welche entweder bei vorhandener gleichzeitiger organischer Erkrankung
den Vordergrund des ganzen Krankheitsbildes, wenn auch nur zeitweise, aus-
machen oder sogar ohne nachweisbare anatomische Läsion nur als Folgen einer
Beeinträchtigung der functionellen Energie aufgefasst werden können.
Mit solchen Herzneurosen beschäftigt sich die gegenwärtige Literatur
recht eingehend. Die Beschleunigung der Herzthätigkeit , welche aus den ver-
schiedensten Ursachen entstehen kann und von Gerhardt 6S) die Bezeichnung
Tachycardie erhalten hat, hat eine besondere Beachtung erfahren, nachdem Noth-
nagel den Begriff und das Bild der paroxysmalen Tachycardie geschildert
hat. Mit dieser Erkrankung beschäftigen sich denn auch eine Reihe casuistischer
und bestätigender Beiträge, bei welchen besonders die ätiologischen Gesichtspunkte
(Brieger86), Rost87), Honigmann 88), Bbessler89) hervorgehoben werden. Eine
Arbeit von Glanz90) beschäftigt sich mit der Aetiologie der Tachycardie
überhaupt und er weist darauf hin, dass länger andauernde und häufig sich
wiederholende Störungen in der Herzrhythmik doch immer den Verdacht einer
Herzerkrankung nahe legen müssen. Andererseits haben auch viele Autoren
(Nothnagel, Rosenbach) darauf hingewiesen, dass ganz ausserhalb des Herzens
liegende Ursachen und Erkrankungen die Veranlassung für Tachycardie und
Irregularität des Pulses bilden können. Ein werthvoller und interessanter Beitrag
hierzu ist in einer Arbeit von Kirsch91) über Verdauungsstörung und
irreguläre Herzthätigkeit, zum Theil auf Grund der Beobachtung an
der eigenen Person, niedergelegt. Es handelt sich um eine enorme Beschleunigung
der Herzthätigkeit, die mit starken allgemeinen Beschwerden, Oppressionsgefflhl,
Angstgefühl, starkem Herzklopfen, Tenesmus vesicae und vor Allem einer Auf-
blähung des Magens anfallsweise 3 — 16 Stunden, meist mit Beginn der Nacht
oder am frühen Morgen sich einstellte und auf Diätfehler und den Genuss von
blähenden Substanzen zurückgeführt werden muss, wobei die Vaguszweige durch
Druck des geblähten Magens wahrscheinlich gereizt werden und reflectorisch die
Herzstörung verursachen. Massage des Magens, Derivantien und stimulirende
Mittel werden als geeignete Behandlung empfohlen, ferner prophylactisch die Ver-
meidung schwer verdaulicher Nahrung. Die Anfalle werden dadurch sicher vermieden.
Eine kurze, aber interessante Mittheilung giebt übrigens auch Kirsch 9S)
über die Beziehung des Schluckactes zur Tachycardie. Auf Grund sphygmogra-
phischer Aufnahme und genauer Registrirung fand er, dass mehrmaliges Schlucken
eine nicht unbedeutende Pulsbeschleunigung herbeiführt.
HERZKRANKHEITEN.
335
Wasdie pathologische Anatomie des Herzens betrifft, so kann dieses
Capitel hier übergangen werden, da auf diesem Gebiete, wie erwähnt, die Forschung
einen gewissen Stillstand gemacht hat. Einige nenere Arbeiten sind bereits erwähnt.
Die Therapie der Herzkran kheiten hat in neuester Zeit wesent-
liche Fortschritte nicht aufzuweisen, es werden nur in der diesem Gebiete gewidmeten,
recht umfangreichen Literatur die kürzlich eingeführten therapeutischen Neuerungen,
insbesondere die Oertelcur, dann gewisse neuere Medicamente besprochen und
mehr oder weniger kritisch behandelt.
Nur wenige Abhandlungen allgemeiner Natur sind speciell der
Therapie gewidmet.
Hier muss besonders eine Arbeit erwähnt werden, welche die Eingangs
angedeutete functionelle Richtung neuerer Untersuchungen in hervorragender
Weise vertritt. Es ist diejenige von v. Bäsch98) über die Principien der
Therapie der Herzkrankheiten. Auf Grund seiner klinischen Erfahrung
ist er dazu gekommen, das anatomische Eintheilungsprincip der Herzkrankheiten
in therapeutischer Hinsicht völlig fallen zu lassen und sie nur vom functionellen
Standpunkte aus einzuteilen.
In dieser Hinsicht unterscheidet er zwei Hauptgruppen: 1. Krankheiten
mit rein functionellen Störungen und 2. solche mit Kreislaufsstörungen. Die func-
tionellen Störungen bestehen in functioneller Tachycardie, Bradycardie, Arhythmie,
Hypokinese und Hyperkinese (geschwächte und verstärkte Herzaction) und Herz-
palpitation. Für jede einzelne dieser Störungen giebt er die Art der Behandlung
näher an. Bei der zweiten Gruppe, unter welche also besonders auch die Klappen-
fehler untergeordnet sind und welche stets eine Herzinsuffizienz bedingen, wird
ebenfalls die Therapie genauer besprochen, dabei übrigens von der Digitalis auf
Grund eigener Experimente ausgesagt, dass sie nicht durch Blutdrucksteigerung
in den Arterien , sondern durch Herabsetzung des Druckes in den Venen wirke.
Auch die gute, übrigens noch unerklärte Wirkung von Morphium bei Herzkrank-
heiten wird hervorgehoben.
Die grosse Zahl von Berichten über die Wirkung der Tinct. Stro-
phantin und des Sparteinum sulfuricum besonders durch die Arbeiten
von See94), Bucquoy96), Gluczinski 96), Luwaschew 97) , Karloff98), Rosen-
büsch "), Eichhobst 10°) und Haas 101) gefördert, ergeben eine nicht eben grosse
Sicherheit in den praktischen Erfolgen, keines dieser Mittel vermag die Digitalis
an Wirksamkeit zu ersetzen und sie können nur als Surrogate derselben ange-
sehen werden. Auch das Nitroglycerin, besonders bei Angina pectoris
empfohlen, erweist sich von sehr mangelhafter Wirkung.
Neu ist die Einfährung von Baryumchlorid durch Hake103) in die
Herztherapie, welches die Herzaction regelmässig machen und verlangsamen und
den Blutdruck steigern soll. Die Dosis beträgt 3mal täglich 1 Theelöffel einer
l°/0igen wässerigen Lösung und wird von Hare als Ersatz der Digitalis empfohlen.
Ferner glaubt See105) in dem Milchzucker das wichtigste und geeignetste
Diureticum gefunden zu haben, die Dosis beträgt 100 Grm. pro die. Das Medi-
cament wirkt sicher nur' bei Hydropsien durch Herzleiden, nicht bei Nierenleiden.
See glaubt, dass die Diurese, die nicht durch Blutdruckbeeinflussung erfolgt,
durch Anregung der physiologischen Nierensecretion erfolgt. Als ein Beitrag zu
dieser Bedeutung des Milchzuckers für die Diurese können auch die Erfahrungen
der Dorpater medicinischen Klinik aufgefasst werden , welche Högerstedt 104)
veröffentlicht hat. Es handelte sich um eine 34 Jahre alte, sehr hydropische Herz-
kranke, bei welcher Calomel und Digitalis sich nutzlos zeigten. Der Zustand besserte
sich, als alle Medicamente bei Seite gelassen und absolute Milchdiät eingeführt
wurde. Als an Stelle der letzteren dann eine andere Beköstigung eingeführt wurde,
verschlimmerte sich der Zustand von Neuem unter schweren hydropischen Erschei-
nungen und es musste zur Milchdiät zurückgekehrt werden. Dies wiederholte sich
noch ein drittes Mal. Jedesmal stieg die Urinmenge enorm nach Beginn der Milchdiät.
336 HEEZKRANKHEITEN.
Auf Grund gleicher Gesichtspunkte aur Stärkung der Herzaction , 8
gerung des arteriellen Druckes und Vermehrung des Abflusses aus den Nieren
empfiehlt Oehtel die Massage des Herzens und William (u, A.) die per*
cutane elektrische Behandlung desselben ; da jedoch bei beiden Methoden
die Erfahrungen und Erfolge noch wenig ergiebig sind, so soll eine genauere
Beschreibung der Methoden zunächst noch unterbleiben.
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klin. Wochenschr. 1888, Nr. 20. — MJ v. Dusch, Ueber die Folgen der Herzklappenfehler
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1S88, Nr. 50. — 7e) Litten, Ueber Pathogenese und Behandlung der Aortenaneurysmen.
Berliner klin. Wochenschr. 1888, Nr. 18. — 7T) Klein, Ueber den Werth der diastolischen
Herzgeräusche für die Diagnose der Aorteninsufficienz. Wiener klin. Wochenschr. 1889, 35, 36. —
Te) O. Rosenbach, Zur Lehre von der Insufficienz der Aortenklappen. Berliner klin. Wochen-
schrift. 1889, 37, 38. — 7Ö) Timofejew, Zur Frage der Insufficienz der Semilunarklappen
der Aorta. Ebenda. 1888, Nr. 24, 25. — eo) v. Frey, Ueber die Beziehungen zwischen Puls-
form und Klappenschluss. Congressverhandl. 1890. — H1) Krehl, Untersuchungen über den
Druckablauf in den Herzhöhlen und Arterien. Ebenda. 1889. — **) Hürth le, Ueber den
£emilunarklappen8chlnss Ebenda. 1890. — "*) 0. Rosenbach, Ueber den Mechanismus der
Aorteninsufficienz. Berliner klin. Wochenschr. 1889, Nr. 2. — 84 ) Geige 1, Die Rückst oss-
elevation bei Insufficienz der Aortenklappen. Archiv für klin. Med. 1838, 42. — Fr.
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1889. — 87) Rust, Beitrag zur Kenntniss der paroxysmalen Tachycardie. Inaug.-Diss. Berlin
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Strophant. hispid. bei Herzkrankheiten. Berliner klin. Wochenschr. 18S9, Nr 7. — 10°) Eich-
horst, Ueber moderne Herzmittel. Schweiz. Correspondenzbl. 1839, Nr. 2. — 10i) Haas,
Tinctura Strophanti Combe. Archiv für klin. Med. 1889, Nr. 43. — lu,)Hare, The use
of Barium Chloride in heart disecuse. Med. News. Febr. 1889. — ,M) See, Ein neues
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casuistischer Beitrag zur Werthbeurtheilung der absoluten Milchdiät bei Herzleiden. Zeitschr.
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med. Wochenschr. 1889, Nr. 37—39. — l06) William, Electrical Stimulation of the heart.
Brit. Journ. Febr. 1889. w w .„
Encyclop. Jahrbücher. I.
22
338 HERZPALPITATIONEN. — HYDROELEKTRISCHE BÄDEB.
Herzpalpitationen, Herzschwäche im ciimactenum, 8. Pag. 145, u6.
Heteroxanthin, s. Ha™, Pag. 289.
Hirnab8ces8e, e. Geh im k rankheiten, pag. 283.
Hirnblutungen, Pag. 278.
HirngeSChWÜlSte (Exstirpation), pag. 283.
Hirnsyphilis, pag. 280.
Hirnwunden, pag. 282.
Hitzedesinfection, 8. Desinfection, pag. 189.
Homatropinum hydrObrOmiCUm. In der Pharm. Germ. ed. III neu
aufgenommen. Maximaldosis O'OOl , pro die 0*003.
HoriZOntalgalvanOmeter, s. Elektrodiagnostik und Elektro-
therapie, pag. 214.
HliminSUbStanZ im Harn, s. pag. 291.
HundSeCk, Luftearort im nördlichen badischen Schwarzwald, 886 M. ü. M.,
von der Bahnstation Bühl 21/3 Stunden, von Baden-Baden 3 Stunden entfernt.
Neues Curhaus; Saison von Anfang Mai bis 1. October. Indicationen : Functio-
nelle Neurosen, anämische Zustände, Reconvalescenz, chronische Bronchialcatarrhe
und Emphysem. Curarzt im Hause.
Hydrast'lS, s. Blutstillung, pag. 113.
Hydroelektrische Bäder (vergl. Real-Encyclopädie, II. Aufl., Bd. IX,
pag. 677). Für die Technik und den Instrumentenapparat ist besonders das
G aertner's che „Z w e i z e 1 1 e n b a du bemerkenswert!* , welches von Hirsch-
mann in Berlin und von Schulmeister in Wien ausgeführt wurde. *) Der Innen-
raum einer trogförmigen Badewanne wird dabei durch ein Diaphragma, welches
sich dem Körper des Badenden und den Wandungen der Wanne nahezu wasserdicht
anlegt, in zwei Abtheilungen oder „Zellen" getheilt. Jede derselben ist allenthalben
mit Elektrodenplatten überkleidet in der Weise, dass die Wände einer Zelle mit
dem positiven, die der anderen mit dem negativen Pol in Verbindung stehen.
Der ganze Strom rauss, um aus der einen Zelle in die andere zu gelangen, den
menschlichen Körper passiren. Eigens ausgeführte Messungen ergaben, was zu
erwarten war, dass der Strom an allen Stellen der im Wasser befindlichen Haut-
oberfläche nahezu gleiche Dichte besitzt. Damit sich annähernd gleiche Ober-
flächenhälfren deä Körpers in der oberen und unteren Zelle befinden, muss das
Diaphragma über dem Nabel zu liegen kommen. Die Stromstärke kann dabei
bis auf 100 Milliampöre gesteigert werden, ohne schmerzhaft zu werden. —
Gaertner und Ehrmann2) haben dieses Zweizellenbad zur cataphorischen Ein-
führung von Medicamenten (Sublimat) in den Körper benutzt, als „elektrisches
Sublimatbad". Aus den in drei Fällen angestellten Versuchen mit Sublimat-
zusatz (4 — 6 Grm. in die untere positive Zelle) soll Folgendes hervorgehen:
1. Die Aufnahme des Quecksilbers erfolgt durch die Haut wie bei der Inunction,
mit Vermeidung des Digestionstractus und mit Umgehung der Leber, die das
Quecksilber aufspeichert ; 2. die Aufnahme vertheilt sich gleichmässig nahezu auf
die ganze Hautoberfläche, wobei es dahingestellt bleiben mag, ob nicht auch eine
localo Einwirkung auf die in der Haut befindlichen Krankheitskeime sich geltend
machen könnte; 3. die Menge des eingetriebenen Quecksilbers hängt von wohl-
bekannten physikalischen Verhältnissen ab. Sie ist proportional der Stromstärke
und der Stromdauer. Es liegt in unserer Hand, mehr oder weniger Quecksilber
auf einmal einzuführen ; 4. die Methode ist reinlich und schmerzlos, aller Voraus-
HYDROELEKTRISCHE BÄDER.
339
sieht nach auch ganz gefahrlos. — Die Verfasser stellen weitere analoge Versuche
mit cataphorischer Einführung von Eisenpräparaten in Aussicht.
Eine andere modificirte Wannenf orm für elektrische dipolare
Bäder ist von Scheiber in Budapest beschrieben worden. 3) Sie soll dazu dienen,
eine viel gleichmäßigere Vertheilung der Stromdichte bei dieser Badeform zu
erzielen, was Scheibeb als Methode der diagonalenDurchleitung bezeichnet.
In eine gewöhnliche Holzwanne ist ein zweiter Holzboden eingepasst, auf dem
der Kranke sitzt und der mit einer grossen Anzahl von Löchern von etwa 2 Gm.
Durchmesser versehen ist. An der unteren Fläche dieses zweiten Bodens ist eine
grosse Metallplatte (vernickelte Kupfer- oder Zinkplatte) befestigt, die den einen
Zuleitungspol darstellt („Bodenelektrode") , während der zweite Pol durch
eine am Kopfende der Wanne angebrachte grosse Schaufelelektrode gebildet wird.
Die Bodenelektrode ist mit kleineren (1/a Cm.), denen des zweiten Bodens ent-
sprechenden Durchlöcherungen für den Abfluss des Wassers versehen; die obere
Bodenfläche ist mit starker Leinwand überzogen. Da Kopf- und Bodenelektrode
im Grossen und Ganzen rechtwinklig, der Richtung der oberen und unteren
Körperhälfte beim Sitzen entsprechend, zu einander gestellt sind, so empfindet
der Badende nirgends das Uebergewicht stärkerer Reizung des Stromes; auch
werden dabei die compacten Gesässmuskeln , die Beckenorgano , die Organe der
Bauchhöhle und der Ar. ischiadicus besonders unmittelbar und intensiv vom
Strome beeinflusst.
Mit den Stromverhältnissen im elektrischen Bad beschäftigen
sich Arbeiten von Stein *) und von Rorenbaüm 6). Der Erstere gelangt auf Grund
seiner Untersuchungen zu folgenden, für die Wahl der Badeform (monopolar
oder di polar) wichtigen Ergebnissen: 1. Das monopolare Bad ist für die prak-
tische Anwendung deshalb nicht empfehlenswerth , weil bei dem Stromschluss
ausserhalb des Bades an der betreffenden Körperstelle, sei es die Handfläche, sei
es der Rücken, eine Strommenge von zu grosser Dichtigkeit die Organtheile durch-
setzt, was eine bedeutende Steigerung der Polarisation zur Folge hat (lässt sich
aber durch Wahl eines grossen Elektroden querschnittes , bei verhältnissmässig
geringer Gesammtstromstärke im monopolaren Bad, leicht vermeiden; Referent).
2. Da das dipolare Bad so eingerichtet werden kann, dass die Stromdichte in
den verschiedenen Körpertheilen nicht wesentlich schwankt, so ist diese Form
für die Praxis die geeignetste. 3. Die bisherigen Behauptungen, dass der Körper
beim dipolaren Bad im Nebenschluss liege und dadurch zu wenig Strom erhalte,
beruhen auf unrichtigem Versländniss der einschlägigen Stromverhältnisse, indem
der bei dieser Anordnung im Badewasser liegende Körper nicht im Nebenschluss
liegt, sondern nach den Gesetzen der Vertheilung des Stromes in heterogenen,
aber nicht getrennten Leitern mit im Hauptstrorakreis sich befindet. 4. Sowohl
bei dem monopolaren, wie bei dem dipolaren Bade können einzelne Stromschleifen
mit Leichtigkeit abgezweigt, auf verschiedene Methoden mit empfindlichen Galvano-
metern nachgewiesen und auf das Genaueste hieraus die den lebenden Körper
durchsetzenden entsprechenden Stromlinien berechnet werden. 5. Die Polarisations-
CTScheinungen sind im dipolaren Bade in Folge der Grösse der Elektrodenfläche
und der geringen Dichtigkeit des in den Körper eintretenden Stromes an allen
Körpertheilen minimale, die hierdurch bedingte Stromstärke möglichst constant.
Rosenbaum6) hat eine Reihe von Versuchen über die Stromvertheilung
im elektrischen Bade zur Aufhellung der hier noch bestehenden Widersprüche
(E Ulenburg , Trautwein , Stein) angestellt. Er prüfte zuerst eine bestimmte
Wassermenge (190 Liter) hinsichtlich ihrer Temperatur und ihres Leitungs-
widerstandes , darauf wurde durch Einschaltung eines menschlichen Körpers von
bekanntem Querschnitt der Gesammtquerschnitt der Leitung um den des Körpers
vermehrt, endlich durch Ablassen des Wassers bis zum ersten Niveau der
ursprüngliche Querschnitt hergestellt und nun der Widerstand in dieser Leitung
gemessen, wozu eine Telephon-Messbrücke benutzt wurde. Hierbei ergab sich das
340
HYDROELBKTBJSCHB BÄDER.
interessante Resultat, dasi nach dem Eintauchen das Körpers der Widerstand
sich verkleinerte, während der Querschnitt nn verändert war; der parallel
mit dem flüssigen Leiter geschaltete feste Leiter (Körper)
bietet demnach eine geringere Summe von Widerständen, als
die durch ihn verdrängte Wassersäule. Es wurde ferner der Leitungs-
widerstand des Wassers bei verschiedenen Temperaturen gemessen, der natürlich
mit abnehmender Temperatur stieg. Im Ganren gelangte Rosenbaüm zu folgendem,
praktisch werth vollen Ergebnissen:
1. Der Körper wird, ob monopolar , ob dipolar geschaltet, naoh physi-
kalischen Gesetzen von einer bestimmten Stromintensität durchflössen, die aus
seinem Querschnitt und seinem Widerstand und denselben Factoren des neben-
liegenden flüssigen Leiters resultirt.
2. Da es nicht anzunehmen ist, dass die Körper sich im Bade wesent-
lich verschieden hinsichtlich ihres Leitungswiderstandes oeteris paribus verhalten,
so lässt sich für alle Körper ein ziemlich gleiches Gesetz bezüglich ihrer Durch-
strömung aufstellen.
3. Der Leitungswiderstand des Wassers sinkt mit zunehmender, steigt
mit sinkender Temperatur; selbst bei geringer Beimischung von Salzen wird der
Leitungswiderstand abnorm herabgesetzt und es ist daher unzweckmässig , Salz-
flüssigkeiten zum Bade zu verwenden, auch beim monopolaren Bade sicher überflüssig.
4. Da der Leitungswiderstand direct proportional der Länge, umgekehrt
proportional dem Querschnitt ist, ergiebt sich, dass man die Länge der Wanne
ziemlich adäquat der Körperlänge wählen muss und nicht breiter als zum bequemen
Liegen nothwendig ist. So wird der Widerstand der umgebenden Wassersäule
ein möglichst grosser im Yerhältniss zu dem des Körpers sein und von den ange-
wandten Stromstärken möglichst viel für den Körper sich erübrigen.
5. Der Körper ist parallel geschaltet und befindet sich nicht in der
Nebenschliessung; monopolare oder dipolare Schaltung ist gleichgiltig, es kommt
auf das Yerhältniss der Länge des Körpers zur Wasserlänge an. Würde man
den Badenden in die Mitte der Wanne packen lassen, so würde damit natürlich-
ein möglichst ungünstiges Verhalten geschaffen sein; analog ist der Versuch mit
unseren Händen, in der Mitte der Badeflüssigkeit oder in der Nähe der Pole gehalten.
Therapeutisch benutzte Rosenbaum hydroelektrische Bäder bei ungefähr
20 Patienten (260 — 300 Bäder), überwiegend faradische, selten galvanische. Die
besten Resultate wurden bei allgemeinen funotionellen Neurosen beobachtet, wie
Neurasthenie, Hypochondrie, Hysterie; weniger günstige bei localen Neuralgien,
Ischias, Cervicobrachialneuralgie und bei organischen Erkrankungen des Rücken-
marks. Das faradische Bad kam meist dipolar zur Verwendung. Das galvanische
Bad (als monopolares Kathodenbad) wirkte gut bei Athetose, Hemiparalysis agitans,
Hysterie mit multipler Neuralgie und Schlaflosigkeit; weniger bei Tabes dorsalis
und Ischias.
Ueber die Harnstoff ausscheidung nach monopolaren und
dipolaren Bädern hat Lehr6) weitere Versuche veröffentlicht. Wie daraus
hervorgeht, verursachen nur dipolare (faradische) Bäder eine nennenswerthe
procentuale Vermehrung der Harnstoffausscheidung. Die übrigen festen Bestand-
teile des Harns wurden durch beide Badeformen vermehrt ausgeschieden,
ohne dass sich dabei eine merkliche Differenz geltend machte. Diuretisch am
hervorragendsten wirkte ebenfalls das dipolare Bad, indem die täglichen Harn-
mengen die Ausscheidungen während der monopolaren Badezeit um 100 Ccm.
übertrafen. Das Körpergewicht ging der täglichen Harnausscheidung genau parallel.
Das dipolare Bad übt demnach einen grösseren Einfluss auf den Gresammtstoffwechsel
aus als das monopolare (faradische). Da nun andererseits der Körper im mono-
polaren Bade von einer relativ grösseren Strommenge durchflössen wird, so ist
als die hauptsächlichste Wirkung der faradischen Bäder eine Reflexwirkung
anzunehmen , was mit der vom Referenten ausgesprochenen Ansicht, dass die
HYDROELEKTRISCHE BADER. — HYPNOTISMUS.
341
faradischen Bader ihrer Hauptwirkoog nach zu den „h autreizende nu Bade-
formen zu rechnen seien, zusammentrifft. Damit stimmt auch die Veränderung der
Hautsensibilität durch faradische Bäder überein. Lehr fand, dass die farado-
cutane Sensibilität durch ein kurzdauerndes Bad (10 Minuten) mit schwachem
Strom erhöht, durch länger einwirkende Bäder (20 — 30 Minuten) mit höherer
Stromdichte herabgesetzt wird. Der Raumsinn wird im Allgemeinen erhöht.
Uebrigens ist auch die Wirkung auf faradocutane Sensibilität und Raumsinn im
dipolaren Bade ausgesprochener als im monopolaren.
Literatur: ') Gaertner, Sitzung der Section für innere Med. etc. der Natnr-
forscherversammlung an Strassbnrg Tom 21. Sept. 1889 (vergl. Nenrolog. Centralbl. 1889,
pag. 566). — ') Derselbe und Ehr mann, Sitsnng der k. k. Gesellsch. der Aerzte am
22. Nov. 1889 (Wiener klin. Woch* nschr. 1889). — ») Scheiber, Wiener med. Presse. 1688,
Nr. 25. — 4) Stein, Zeitschr. für klin. Med. X, Heft 5 and 6. — *) Rosenba am, Sitznng
der balneolog. Gesellsch. vom 3. März 1889 (Deutsche MedicinalZtg 1889, Nr. 37 und 38). —
•) Lehr, Archiv für Psych, etc. XX, Heft 2. ^
7 * JfinlenDnrg.
HyOSCinum hydrObrOmiClim, Hyoscinhydrobromid C17 Ha8 N03 HBr +
+ 3 H, 0. Neu in das deutsche Arzneibuch III aufgenommen. Farblose rhombische
Krystalle, in Wasser und Weingeist löslich, die Lösung reagirt sauer, ist von
bitterem, zugleich kratzendem Geschmack, in A et her und Chloroform nur wenig
löslich. Innerlich maximale Einzelgabe 0*0005, maximale Tagesgabe 0*001.
Als Sedativum bei Psychosen, ferner gegen Chorea, auch gegen Nachtschweisse der
Phthisiker 0*1 — 0*2 — 0*5 Milligramm pro dosi, innerlich oder subcutan angewendet.
Loebi ach.
HypnOtismilS, s. Suggestionstherapie.
I, J.
JabOrin, s. Augenheilmittel (Mydri&tica), pag. 67.
IdiOtiSmilS, s. Cretinismus, pag. 153.
Jequirity, s. Abrusgift, pag. 21.
Immunität. In doppelter Beziehung bedarf sowohl der kurze Artikel
auf pag. 263 des X. Bandes der Real-Encyclopädie , als das gelegentliche Expose
Aber diesen Gegenstand im Artikel Infection (Real-Encyclopädie, X, pag. 351)
der Ergänzung. Eineiseits sind ganz neue Ideengänge durch die Phagocyten-
theorie aufgeschlossen worden, andererseits sind die auf dem Gebiete des Veterinär-
wesens mit der durch Schutzimpfungen erzielten Immunität so wichtig für die
humane Pathologie, dass eine zusammenfassende Darstellung ihrer Ergebnisse bei
der Orientirung über das Wesen der Immunität nicht wohl entbehrt werden kann.
I. Zum Veretändniss des Wesens der Immunität trägt es erheblich
bei, wenn man (nach dem Vorgänge Lubabsch') die locale Immunität von der
allgemeinen (und andererseits die natürliche von der erworbenen)
trennt. Die erstere lässt sich am Yerdauungstraetus des Menschen, der in ganzer
Ausdehnung mit einer ungeheuren Menge von pathogenen Mikroorganismen und
Infectionsträgern unaufhörlich in Berührung kommt, vortrefflich studiren. Die
menschliche Mundhöhle kann sogar als ein ständiger Aufenthaltsort pathogener
Organismen angesehen werden und doch kommen von hier aus AUgemeininfectionen
nur in beschränkter Zahl vor. lieber die Ursache dieser merkwürdigen Erschei-
nung, der loealen Immunität dieser Eingangspforte, lässt sich schwerer eine
Erklärung anbahnen, als für die Immunität des Magens. Für diese ist wesentlich
die Salzsäure Grund des Absterbens einer sehr grossen Menge von Infections-
trägern. Wie viele {sporenbildende und auch nicht sporenbildende) Bacterien noch
durch den Magen hindurchgehen , lässt sich ermessen aus dem reichen Befund
von Mikroorganismen in allen Abschnitten des Darms. Fehlt es auch bis jetzt
an Funden unzweifelhaft pathogener Formen im Darm des gesunden Menschen
(analog den entsprechenden Entdeckung«! bei Thieren), so steht doch soviel bereits
fest, dass das Bacterium coli commune gelegentlieh pathogene Eigenschaften
annehmen kann. — Keine locale Immunität scheint, soweit Thierexperimente
hier entscheiden können, den Lungen eigen zu sein. Vielleicht dient nur ihre
grosse Aufnahmefläche mit dazu, die einverleibten Infectionsträger weit von ein-
ander zu trennen und derart zu rareficiren, dass die kleinen Depots keinen Halt
haben und der Vernichtung anheimfallen. Als unerklärt kann die nahezu absolute
Immunität der unverletzten Cornea v Ebeeth, Frisch u. A.) gelten , ebenso die so
ausserordentlich wichtige Frage, ob durch Entzündung und Eiterung eine Er-
höhüDg der loealen Immunität oder aber ihre Schwächung und Aufhebung n
IMMUNITÄT.
343
bewirken ist. Wahrscheinlich sind (was besonders die pathologischen Erläuterungen
zu den Einspritzungen mit Tuberculin zu befürworten scheinen) die Stadien der
Entzündung hier von verschiedener Bedeutung, so dass vielleicht die Anfangs-
stadien der Entzündung die Bacterieninvasion fördern, das Stadium der vermehrten
Absonderung dieselbe verlangsamt und das Stadium der Necrose sie aufhebt, so
dass die letztere einen die Immunität sichernden Wall um die bedrohten Locali-
täten bildet.
Beim Studium der allgemeinen natürlichen Immunität haben sich
die meisten Erforscher der Milzbrandinfection bedient. Besonders haben gerade
die Experimente über die Bedeutung der Phagooytose auf diesem Wege die
wesentlichste Förderung erfahren. Bei wirbellosen Thieren ist die Phagooytose
nur sehr unbedeutend; nicht viel erheblicher ist sie bei niederen Wirbelthieren,
bei Amphibien, Schildkröten, Eidechsen, — nichtsdestoweniger sind alle diese
gegen Milzbrand absolut immun. Beim Frosch in gewöhnlicher Lebenslage findet
eine schon sehr bemerkbare Phagocytose statt, die beim erwärmten Frosch schnell
wegfällt. Wird indess der erwärmte Frosch durch Milzbrandinfection schnell
dahingerafft, so vollzieht sich dieser Ausgang dennoch nicht in Folge der Auf-
hebung des in der Phagocytose gesicherten Immunitätsschutzes, sondern in Folge
der Erwärmung an sich (Lubabsch). Als relativ immun gegen Milzbrand können
Tauben und Hühner angesehen werden, die mittelst localer Erkrankungen reagiren
und bei denen die Phagocytose, besonders im Zustande höherer allgemeiner Wider-
standsfähigkeit, sehr ausgebildet ist. Relativ immun gegen Milzbrand zeigen sich
auch die weisse Ratte und der Mensch; absolut immun die wilde graue Ratte
und die Mehrzahl der Hundearten. Katzen dagegen und Kaninchen stehen beide
auf nahezu gleicher Stufe der Empfänglichkeit für Milzbrand. Dieser verschie-
denen Infectionsfähigkeit gegenüber kann die Thatsache nicht genug betont
werden, dass die Phagocytose bei Ratten, Katzen und Menschen auf sehr ähn-
licher Stufe steht und dass sie keineswegs völlig vermisst wird bei den absolut
empfänglichen Thieren, Meerschweinchen, Kaninchen und Mäusen. Zwar werden
die lebenden Milzbrandbacillen rascher und in erheblicherer Anzahl von den
Leucocyten aufgenommen als abgestorbene (Metschnikoff, Lubabsch}, aber eine
vollkommene Phagocytose findet niemals statt. Der Vorgang kann also für
die Vernichtung eingedrungener Infectionsträger, für die Immunisirung der höheren
Organismen nicht von principieller Bedeutung sein, sondern es kann der Phago-
cyten arbeit nur ein hier und da eintretender, nach Umständen allenfalls hier und
da auch entscheidender Werth für die Vernichtung eingedrungener Infections-
träger zuerkannt werden; besonders vielleicht dann, wenn die letzteren bereits
ausserhalb der Zellen durch die Säfte in einen Zustand versetzt wurden, in
welchem sie die Kraft zur Schädigung der Zellen nicht mehr besitzen und
vielleicht in zweiter Reihe auch dann, wenn auch innerhalb der Zellen die
Stoffwechsel Vorgänge eine Weiterentwicklung (Vermehrung, Auskeimung) der In-
fectionstrfiger zu hindern geeignet sind. Sonach kommt man — neben der Leuco-
cyten- (Cmhüllungs-) Theorie (Metschnikoff, Ribbert), neben der localistischen
und Anpassungstheorie (Buchneb, resp. Klebs, Obawitz) — nothgedrungen auf
die cellularchemischen Theorien nicht nur im Allgemeinen (Flügge, Sahli),
sondern auch auf die Retentionshypothesen (Webnich, Chauveao) und selbst
auf die Erschöpfungstheorie (Pasteub, Klebs, Baumgarten) immer wieder zurück.
Lubabsch speciell scheint nach den Ergebnissen seiner scharfsinnigen kritischen
Arbeit (die noch nicht völlig vollendet vorliegt) der Ansicht zu sein, dass je
nach der Verschiedenheit der obwaltenden Umstände auch verschiedene Mög-
lichkeiten für das Zustandekommen der Immunität gegeben sind.
Beim Uebergang zur Darstellung der erworbenen Immunität verdient
an deren Spitze die Erinnerung gestellt zu werden , dass die Schutzimpfung wie
die Therapie der Infectionskrankheiten von jeher darnach gestrebt hat, im
inficirten Körper solche Substanzen zur Geltung und zur Wirksamkeit zu bringen,
DonjsrrlT.
wiche die Entwicklung der Infeetionsketate hemmen, ohne tovinehn Nebenwirkungen
m bcsilien (vergl. kiern anefc speziell die AuafÜhrungen in Real-Bnoyelopädie,
Bd. X, pag. 352). Werden solche Substanzen entdeckt, so ist der Umfang der
irteieieüen Imnuaität Aber dm der natürlichen weit hinaus an steigen. Ja, die
auf diesem Gebiet zu erstrebenden Leistungen ststtssn sieh denjenigen Forsehern
in eiaem geradezu blendenden Lieht dar, welche die schnell anfeinander folgenden
Beweise Aber die antiseptisehen Eigenschaften Tersehiedener Körper-
slfte beibrachten, und man hat nicht gezögert, die Dedentaag der hierber-
gehörigea Tbatsachen der Phagocytose gleich-, beaiehnngsweise ihr noch voran
an stellen. Zwar konnte man zwischen der antiseptisehen Wirknag, z. B. des
Blutserums eines Thieres und zwischen seiner Immunität von vornherein keine
Parallelen ziehen; denn es entwickelt sieh beispielsweise der MUsbrandbacillus,
künstlich gezüchtet, weit üppiger anf dem Blutserum von Hunden und Katzen
(die gegen Milzbrand refraetär sind), als anf dem Blutserum des für die Milz-
brandinfeetion so ungemein empfänglichen Kaninchens. Dagegen erseheint das
antiseptische Verhalten des Blutserums präventiv geimpfter Thiere als ein
wesentlich gesteigertes. Zur Beantwortung der Frage, ob — wie die Körpersäfte —
auch die verschiedenen Gewebe an der Steigerung, beziehungsweise am Erwerb
antiseptischer Eigenschaften Theil nehmen, stellte G. H. Rogeu vergleichende
Experimente an Kaninchen und Meerschweinehen mit Rauschbrand virus an, welche
den einwandsfreien Schluss zu gestatten scheinen, dass die chemischen Verände-
rungen, welche die zum Zweek der Immunität angestellten Schutzimpfungen im
Körper hervorbringen, sich auch auf die Körpergewebe erstrecken nnd diese für
die Entwicklung der Infectionsträger ungeeignet machen. Ein noch weiterer
Sehritt, was den Erwerb antiseptischer (oder immunitätssiehernder) Eigenschaften
anlangt, scheint gethan durch die neuesten Versuche über Diphtherie und Tetanus.
Behring gelangte zu dem Resultat: Das Blut des tetannsimmnnen Kaninchens
besitzt tetanusgiftzerstörende Eigenschaften, die auch hn extravaseulären Blut und
in dem von diesem gewonnenen Serum noch vorhanden sind. Diese Eigenschaften
sind sogar von einer derartigen Dauerhaftigkeit, dass sie — mittelst der Trans-
fusion des fraglichen Blutes und Blutserums — auf andere Thiere übertragen
werden und in letzteren eine hervorragende Heilkraft entfalten können. Dagegen
fehlen im Blute solcher Thiere, welche gegen Tetanus nicht immun sind, jene
giftzerstörenden Eigenschaften vollständig; impft man ihnen das Tetanusgift ein,
so bleibt es nach dem Tode im Blut der Thiere nachweisbar und wirksam.
Ceber die Fähigkeit des extravaseulären Blutes diphtherieimmuner Thiere zur
Zerstörung von Diphtheriegift und über therapeutische Erfolge mit dem Blut
immunisirter Thiere sind von Behring weitere Mittheilungen in Aussicht gestellt.
Jedenfalls wird die Schwierigkeit gerade bei Diphtherie durch besondere
Verhältnisse gesteigert, auf welche C. Frankel die Aufmerksamkeit gelenkt hat.
Das von den Dipbtberiebacillen erzeugte eigentliche Gift, die toxisch wirkende
Substanz muss als von der immunisirenden Substanz gänzlich verschieden betrachtet
werden. Es handelt sich um differente Körper, die indes« innerhalb der Cultur-
flüsdgkeiten nebeneinander vorkommen. Die Trennung des toxischen von dem
die Immunität und den Impfschutz verleihenden Körpers ist schwierig; bis jetzt
seheint nur sicher, dass der letztere höhere Hitzegrade verträgt, während der
entere semer speoifiscben Wirksamkeit durch Temperaturen von 55 — 60°
beraubt wird.
Eines irgendwie greifbaren und der Verwerthung fähigen Resultates ent-
behren bislang die so zahlreichen, auf Cholera-, Typhus-, Flecktyphus- und
Recurrens-Schutzimpfung gerichteten Bestrebungen. Vom Gelbfieberschutz (nach
Freirb's Erfindungen) soll neuerdings im Grossen Anwendung gemacht worden
sein. Was von der Immunisirung von Meerschweinchen mittelst Tuberculins zu
halten ist, lässt sich nach den bisherigen aphoristischen Mittheilungen R. Kocr's
in keiner Weise beurtheilen.
IMMUNITÄT.
345
II. Auch auf dam Felde des Veterinären Impfschutzes fehlt es nicht an
Hauptaufgaben, welche sich, wie z. B. der Schutz gegen Boti, noch im Stadium
des Vorversuches befinden. Doch lassen sieh hier Erfolge namhaft machen, welche,
wie bekannt, der Entwicklung der Theorien weit vorausgeeilt sind. Diese Tbat-
saehen und positivem Erfolge des Schutumpfungsverfabrens sind — immer von
den Menschenpocken abgesehen — etwa die nachstehenden: Erzielung von
Immunität gegen Milabrand mittelst Einimpfung eines abgeschwächten Milz-
brandvirus (Toussaint, Pasteur, Chamberland & Roux, Thuiluer, Koch,
Chauvbau , Gaicalkia, Arloing , Woolridge , Kbasewski, Cienkowski). Das
ursprünglich von Toussaint angegebene Verfahren: Erwärmen eines defibrinirten,
milzbrandhaltigen Blutes auf 55° (10 Minuten lang), dann Vermischung mit l°/0
CarbollOsung, wurde bald von Pasteur dahin modificirt, dass er zunächst mit einem
„Premier vaccin" (24 Tage lang bei 42 — 43° fortgesetzt abschwächend gezüchtete
Milzbrandgifte), nach 12 Tagen aber mit dem „Second vaccin« impfte (letzteres war
unter gleichen Temperaturverhältnissen, aber nur 12 Tage abschwächend gezüch-
tetes Milzbrandgift). Prüfungen im Grossen wurden Anfangs der Achtziger-Jahre
vielfach an Rindern und Hammeln angestellt. Die Verluste waren jedoch, da
viele Thiere durch die der Schutzimpfung folgenden Krankheit getödtet wurden,
gross, bei den überlebenden die erzielte Immunität nicht gegen alle Arten der
natürlichen Infection stichhaltig. Diese Mängel bestimmten Chauveau zur Her-
stellung von Impfstoffen mittelst Anwendung comprimirter Luft (8 Atm.) unter
gleichzeitiger Einwirkung einer Temperatur von 38 — 39°. So abgeschwächt hielten
sieh die CHAUVEAu'schen Culturen mehrere Monate lang und verhielten sich
bezüglich ihrer Virulenz in der Art, dass nach ihrer Einverleibung empfängliche
kleinere Thiere (Meerschweinchen) zwar eingingen, Pferde, Rinder, Ziegen und
Schafe dagegen nur vorübergehend erkrankten und nach Ueberstehung dieser
Gesundheitsstörung gegen die sonst sichersten In fections weisen des Milzbrandes
und gegen das stärkste natürliche Milzbrandgift refractär waren. Der wissen-
schaftliche Werth dieser Schutzimpfungen wird von keiner Seite bestritten. Hin-
sichtlich der praktischen Nutzbarkeit müssen noch Unterschiede nach den Thierarten
zugestanden werden : Die Zahl der an natürlichem Milzbrand erkrankenden Rinder
scheint überall da, wo mit den Schutzimpfungen vorgegangen wird, erheblich
kleiner geworden zu sein ; gegen den Milzbrand bei Schafen hat die Schutzimpfung
ebenso sichtliehe Erfolge noch nicht aufzuweisen.
Erzielung von Immunität gegen den Rauschbrand der Schafe und
jungen Rinder (Arloing, Cornevin, Thomas, Floirb). Von den das Gift ent-
haltenden Rauschbraudgeschwülsten wird (nach Cornevix's speoieller Vorschrift)
ein Stück ezcidirt, zerkleinert, mit Wasser verrieben, fihrirt, auf 32 — 35° Wärme
erhalten, so zu Pulver eingetrocknet und zum Gebrauch in Glasröhren aufbewahrt.
Soll der Impfstoff zur Anwendung kommen, so präparirt man zwei „Vaeeins"
aus demselben : die schwächere durch Wasserzusatz und Erwärmen auf 100°, die
stärkere in gleicher Weise unter Anwendung von 85° (6 — 7 Stunden Einwirkung).
Jede der beiden Präparationen kann nach Eintrocknung aufbewahrt oder — nach
weiterem Wasserzusats — sofort injicirt werden. Ort der Application: Die
Sehwanzwurzel, Zahl der Schutzimpfungen 2 (durch einen Zeitraum von 9 bis
14 Tage getrennt). Zahlreiche praktische Versuche sind in der Schweiz vorge-
nommen worden, haben keine Verluste in Folge des Impf Verfahrens verursacht,
vielmehr eine Immunität von 17 — 18 Monaten Dauer erzielt und die Ziffer der
Sterblichkeit durch Ranschbrand — besonders bei den Rindern — unzweifelhaft
gemindert
Zur Erzielung von Immunität gegen den Rothlauf der Schweine
(Thuillibr, Pasteur, Löffler, Schütz, Lydtin, Schotteuüs, Emmerich). Für
diesen mikrobiologisch näher erforschten , resp. mit einem wohlcharakterisirten
Bacillus identischen Krankheitsstoff besteht das Abschwächungsverfahren im Passiren
des Körpers einer anderen Thierspecies , des Kaninchens. Wenn man junge
346
IMMUNITÄT.
Sehweine mit dein aas Kaninchen wiedergewonnenen Impfstoff (Baeülns) vaceinirt,
so sind dieselben nicht nur immun gegen den spontan auftretenden , sonst meist
tödtlieh verlaufenden Rothlauf, sondern aueh refiraetir gegenflber der künstlich
gesteigerten Modification des Rothlanfgiftes , wie man sie mittelst Durchpassiren
des letzteren durch den Körper der Tauben erzielen kann. Pastkür wendet aueh
hier zwei verschieden giftige (aus dem Kaninehen erhaltene) „Vaecins" an und
applicirt dieselben im Zwischenräume von 12 Tagen mittelst Injeetion unter die
Haut der inneren Obersehenkelflache. Sowohl die im Departement Vaueluse vor-
genommenen praktischen Versuche , als spätere Forschungsergebnisse liessen die
Annahme: „die RothUufsehutzimpfung schlitze die Thiere gegen den Rothlauf
als berechtigt erseheinen. Indess bedarf es noch (und zwar sowohl wegen der
bedeutenden Verluste an Impflingen, wie auch wegen der Gefahr der Weiterver-
breitung der Krankheit) wesentlicher Verbesserungen in der Impfstoffbereitung
und im Verfahren selbst, um letzteres in die Praxis überfahren zu können.
Mittelst eines besonders eultivirten Mikrocoeeus der „Lungenseuehe"
sind gegen diese Schutzimpfungen angestellt worden (Pobls und Nolsn, Degiyb),
und zwar ohne dass eine „Abechwicbung" auf eine der sonst gebräuchlichen
Weisen 'Temperaturerhöhung, Luftdruck, Passiren fremder Thierarten) vorange-
gangen war. 800 Rinder mit dem Coecenmaterial in der Schwanzgegend geimpft,
erweisen sich in dem von Pobls und Nolkx angestellten Versuche anscheinend
gegen Lungenseuehe immun. In Holland, wo diese Art der Schutzimpfung seit
1870 obligatorisch eingeführt wurde, ist die Krankheit in unverkennbarem Maasse
zurückgegangen. — Die Modification, welche Degive in Brüssel vorgeschlagen
hat, bezieht sieh nicht auf die Verbesserung des (noch immer fragwürdigen) Impf-
stoffes, sondern nur auf die Auswahl der Applicationsstelle : dem Kopf nahe-
liegende Stelle der seitlichen Halsfläche.
Schliesslich bedürfen der Erwähnung noch: Die Schutzimpfungen gegen
die Schafpocken (Ovinisation) , historisch merkwürdig wegen ihres mit der
Variolisation (Einimpfung der natürlichen Menschenpockeo) gleich verlaufenen Schick-
sals; die Gefahren erwiesen sich als dermassen den Nutzen überwiegend, dass
die Methode stark in Misscredit gerieth (§. 49 des Deutschen Reichs-Viehseuchen-
gesetzes handelt über die Ovinisation). Arbeiten von Toussaint, Semper und
Raupach, Focrquier sind — jedoch ohne durchschlagenden Erfolg — darauf
ausgegangen , einen mitigirten Impfstoff (im Sinne der Blatternvaccine) ausfindig
zu machen.
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Berliner klin. Wochenschr. 1890, Nr. 49. — Roger, Propriitts bactericides du Serum,
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347
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Straus, Chambon et Menard, Rechtrehes expir. sur la Vaccine chez le veau. Sem. med.
1890. Nr. 57. Wernich.
IndiCanaUSSCheidung. Vom Fehlen des Indicaos im Harn von Neu-
geborenen und gesunden Säuglingen überzeugte sich Hochsinger durch neue
Versuche. Unter den Verdauungskrankheiten des Säuglingsalters liefern nur die
echten Brechdurchfälle, iusbesonders aber die Cholera infantum, eine pathologische
Vermehrung der indigobildenden Substanz. Einfache Dyspepsien und Diarrhoen,
auch die habituellen Obstipationen der Säuglinge und jüngeren Kinder, verlaufen
ohne Indicanurie. Beim Ausschluss primärer intestinaler oder anderweitiger
Fäuln is8 Vorgänge im kindlichen Organismus deutet das Auftreten grösserer Mengen
von Indican auf schwere Störungen der Darmfunction durch ein schweres Allge-
meinleiden, namentlich in Folge tuberkulöser Erkrankung irgendwelcher Organe
hin und ist in dieser Beziehung diagnostisch zu verwerthen.
Literatur: C. Hochsinger, Ueber Indicanurie im Säuglingsalter. Wiener med.
Presse. 1890, 40 und 41. Ta ,
Loebiscn.
IndigOrOth, s. Harn, pag. 292.
IndigUriO. Eine Frau, welche Symptome von Perforationsperitonitis und
Darm verschluss darbot, entleerte 4 Tage, nachdem die Darmpassage frei geworden
war, 150 Ccm. stark saureu Harn von grüner Farbe, die an der Luft allmälig
in's Bläuliche überging und beim Erwärmen gesättigt indigoblau wurde. Salz-
säure fällte reichlich Indigo aus. Am nächsten Tage nahm der Indicangehalt ab
(H. Wolff). Bei einer 76jährigen, an Pyonephrose leidenden Frau beobachtete
Kahler intermittirend auftretende und stets mit Hydrothionurie einhergehende
Ausscheidung von Indigoblau. Der Harn reagirte alkalisch und es wurde die
Indoxylschwefelsäure bereits innerhalb der Harnwege zersetzt. Durch Alkohol
konnte man dem aus blauen Krystallnadelu , Eiterzellen u. s. w. bestehenden
Sedimente einen rothen Farbstoff entziehen.
Literatnr: A. Wolff, Ueber Indi*urie. Dissert. Berlin 1887. — Kahler, Ein
Fall von Indigurie. Prager med. Wochenschr. 1838. 50. T »•
IndllCtionsapparate, s. Elektrodiagnostik und Elektro-
therapie, pag. 223.
Influenza, s. Grippe, pag. 287.
Influenzmaschinen (Frankiini sation, Franklinotherapie,
vergl. Real-Encyclopädie , II. Aufl., Bd. VI, pag. 124 — 127). Die therapeutische
Anwendung der Influenztlektricität, oder richtiger gesagt, die Verwendung hochge-
spannter Ströme der sogen annten Influenzmaschinen — ein Verfahren,
dessen Benutzung zu Heilzwecken man als Franklinisation oder Fran klino-
therapie bezeichnet — hat in den letzten Jahren einen ziemlich erheblichen
Aufschwung genommeu. Referent selbst hat sich seit 5 Jahren in einer Reihe
von Arbeiten1) mit der Ausbildung des Instrumenteuapparates , der Technik und
Methodik , mit Prüfung der physiologischen und therapeutischen Wirkungen der
Spannungsströme beschäftigt. Die von mir benutzten und nach meinen Angaben
von der Firma VV. A. Hirschmann angefertigten Apparate werden in ihrer
neuesten endgiltigen Form durch die Figuren 31 und 32 veranschaulicht. Fig. 31
zeigt die nach dem Holtz - ToEPLER'schen Princip construirte selbsterregende
Influenzmaschine, von einem Glaskasten umschlossen (um sie vor Staub zu bewahren),
auf einem geeigneten Tische aufgestellt und mit einer Kurbel »um Handbetrieb
versehen; statt der letzteren kann natürlich ein passender Motor (Heiestuftmotor,
Fi*. Sl.
Influenzmaschine nacb Enlenbnrg-Uirschmann, im GJaakaeten,
mit Kurbel nun. Handbetrieb. Ueber dem Kaiten die Sin'en A u* die Ableitungen P, N mit den
Franklin '»eben Tafeln und die Kopfpiatie X
Wa&eermotor , Elektromotor) zur Anwendung* kommen« Der Glaskasten wird
behufs Zusammenstellung der Masehine — welche übrigens ausserordentlich leicht und
INFLUENZMASCHINEN.
348
einfach erfolgt, da die sämmtlichen Entladung«- und Ableitung» Vorrichtungen u. s. w.
an einem gemeinschaftlichen Träger befestigt sind (Fig. 32) — an der vorderen
Seite geöffnet.
Die Influenzmaschine selbst besteht aas einer rotirenden nnd einer fest-
stehenden Scheibe, den beiden Oondactoren (Fig. 32, + nnd — ), die an der Seheibe
in Saugspitecn enden, dem Entlader E und den Ableitungen P, N (Fig. 31).
Die hintere Scheibe, welche unbeweglich in den Lagern ruht, trägt auf
horizontal gegenüberstehenden Quadranten ungefähr die Hälfte derselben ein-
nehmende Papierbeläge, die kreisförmige Metallbeläge überdecken, welehe leitend
mit zwei an der Peripherie der Scheibe befestigten Metallplättchen (V, W, Fig. 31)
verbunden sind. Die drehbare vordere Scheibe trägt 4 Cm. vom Rande in gleichen
Abständen runde Metallscheiben, die im Centrum eine knopfförmige Erhöhung besitzen.
Vor den Scheiben liegt das Hartgummiquerstück A, B (Fig. 32) , das
auf zwei an den Seiten des Glaskastens befestigten Leisten ruht und sämmt-
liehe zur Ableitung, Entladung und RegulirungnöthigenTheile
trägt, die durch zwei Schrauben bei A und B unbeweglich fixirt werden. Die
Fig. 82.
+ -
Die zur Ableitung, Entladung und Regal irnng dienenden Theile der Eulenburg
Hir so hm an n'schen Influenzmaschine mit dem Hartgummi träger A, n.
Metallpinsel 1 und 3 (Fig. 32) sind mit den federnden Bügeln 7 und 8 ver-
bunden , welche sich gegen die Metallscheiben F, W (Fig. 3 1 ), die an der Peri-
pherie der hinteren Scheibe befestigt sind, legen. Die Metallpinsel 1 und 3, sowie
2 und 4 des Entladers E (Fig. 31 und 32) berühren beim Rotiren der vorderen
Scheibe leicht die Metallknöpfe ihrer Beläge. Die federnden Knöpfe D (Fig. 31 und 32)
legen sich fest gegen die hintere Scheibe, um eine Bewegung derselben während
des Arbeitens der Maschine zu verhindern. Die Conductoren (+ und — , Fig. 32)
sind beide gegen einander beweglich; die an der rechten Seite des Kastens befind-
liche Kurbel F (Fig. 31) ist mit dem Conductor durch die Querstange 27, welche
den Zeiger und die Scala trägt, verbunden und durch die Schraube bei S fixirbar.
Durch Drehen der Kurbel F werden demnach die beiden Conductorkugeln ( + , — )
von einander entfernt; ihr gegenseitiger Abstand lässt sich durch die Zeiger-
stellung an der auf der Abbildung ersichtlichen Centimeterscala bequem ablesen.
Die beiden vorerwähnten Ableitungen P und N (Fig. 31) sind fest in
der Decke des Glaskastens eingelassen, sie enden oben und unten in Kugeln.
Zwei bewegliche Spiralen, die sich in die metallischen Theile der Durchleitung
hineinschieben lassen, vermitteln die Verbindung mit den beiden Conductoren +
und — , indem sie bei 5 und 6 (Fig. 31) aufgesetzt werden. Den Durch-
350
INFLUENZMASCHINEN.
leitungen P und N gegenüber stehen zwei Säulen I und II (Fig. 31), welche
nach vorn Ableitungskngeln tragen und deren hinteres Ende mit je einem beweg-
lichen, ebenfalls in Metallkugeln auslaufenden Arm verbunden ist. Zwischen
diesen Säulen und den Durchleitungen P, N sind zwei Condensatoren (Frank-
linische Tafeln) eingeschaltet, deren Beläge sich einerseits gegen die Rugelenden
der Durchleitungen P, N, andererseits gegen die beweglichen Arme der Säulen I
und II anlehnen.
Die Maschine kann in einer zweifachen Weise für therapeutische Zwecke
geschaltet werden, nämlich ohne oder mit Einschaltung der Franklin'schen Tafeln.
Bei Ausschaltung der letzteren (directer Verwendung der von der Maschine
erzeugten Elektricität) werden die mit Metallstiften an beiden Enden versehenen
Ableitungskabel an den oberen Kugelenden der mit den Conductoren + und —
verbundenen Durchleitungen P und N angesteckt. Da hierbei eine Ausgleichung
zwischen den Conductorkugeln selbst nicht stattfinden darf, so müssen diese mittelst
der Kurbel F so weit von einander entfernt werden, dass zwischen ihnen keine
Entladungen mehr möglich sind. Hierzu ist ein Kugelabstand von 5 bis 8 Gm.
genügend. Man benutzt die directe Maschinen ab leitung insbesondere für
die Spitzenansstrahlung (Ozonisirung), die Verwendung der Kop fpla tte
(Franklinisation am Kopfe, franklinische Kopfdouche) die uni-
polare Ladung und das Fun ken ziehen. Ich bin hier, wie bei der Technik
der Franklinotherapie überhaupt, auf die möglichste Vereinfachung und Beschränkung
des Instrumentariums bedacht gewesen. Von der Verwendung besonderer Stative
als Träger der sogenannten Kopfglocke und des sogenannten Ozonisirungsapparates
ist daher völlig Abstand genommen. Diese Vorrichtungen werden durch die über
dem Dache des Maschinengehäuses an einem stellbaren und verlängerbaren Arme
bequem angebrachte Kopfplatte (A", Fig. 31) und durch eine mit passenden An-
satzstücken versehene Elektrode (Fig. 33, a, d und e) vollkommen ersetzt. Auch
die Verwendung eines besonderen Isolirtabourets hat sich in der Regel als unnöthig
herausgestellt ; für die Fälle, in denen eine Isolirnng des Körpers erforderlich ist,
gentigt meist eine isolirende Fussplatte aus Hartgummi mit einer runden Messing-
scheibe in der Mitte, auf welche der Kranke seine Füsse stellt und an welcher
das stiftförmige Ende des einen Zuleitungskabels angesteckt wird.
1. Für die Spitzenausstrahlung (Ozonisirung) muss der positive
Pol benutzt werden. Die Bestimmung der Pole, welche, da nach längerem Nicht-
gebrauch häufig ein Umschlagen der Polrichtung stattfindet, stets der Anwendung
der Maschine voraufgehen muss, geschieht am einfachsten und zuverlässigsten
nach der von Mund 2) dafür angegebenen Methode. Man bringt die Conductor-
kugeln auf einen Abstand von 1*5 — 2 Cm., der dann übergehende Funken zeigt am
positiven Conductorende eine hellglänzende weisse Strecke (positive Leucht-
strecke), welche nicht zu verkennen ist, während am negativen Ende nur ein
kleinerer leuchtender Punkt wahrgenommen wird.
Ucbrigen9 bietet bei der Spitzenausströmung schon der Charakter des
alsdann bemerkbaren Geräusches ein sicheres Erkennungszeichen für die Polarität.
Bei der Ausströmung vom positiven Pol vernimmt man ein continuirliches starkes,
rauschendes Geräusch, ähnlich dem beim Ausströmen von Dampf aus engen Oeff-
nungen entstehenden. Ausströmungen vom negativen Pol sind dagegen von einem
weit schwächeren , ungleichmässigen , mehr einem Einschlürfen oder Einsaugen
ähnlichen Geräusche begleitet. Das Ende des positiven Leitungskabels wird zu
dem mit einfachem oder multiplem Spitzenansatz armirten stabförmigen , durch
einen langen Gummigriff isolirten Hefte (Fig. 33, a, d,e) geführt. Der negative Pol
kann zur isolirenden Fussplatte, zum Isolirstuhl oder auch zum Erdboden (Gas-,
Wasserleitung) hingeführt werden; letzteres Verfahren ist zur Erzielung einer
kräftigen Spitzenwirkung mit dem positiven Pol völlig ausreichend, eine Isolirung
des Körpers ist dabei nicht nöthig. Die Elektrodenspitze kann dem Körper bis
* ' Abstand genähert werden (bei noch grösserer Annäherung erfolgt leicht
INFLUENZMASCHINEN.
351
Ueberspringen von Funken) oder auch in weiterer Entfernung gehalten werden ;
man sieht dabei ein bläulich violettes Lichtbüschel aus der Spitze hervorbrechen ;
der sich entwickelnde Ozongeruch ist sehr intensiv, der Ozonnachweis gelingt
durch geeignete Reagentien (Tetraparaphenylendiaminpapier) fast augenblicklich.
Man bezeichnet das Verfahren, aus der Entfernung angewandt, auch als elek-
trisches Effluvium, elektrischen Hauch, Wind u. dergl. ; es kommt besonders bei
Sensibilitätsstörungen (Hyperästhesien, Neuralgien) local, sowie zum Zwecke der
Ozoninhalation als allgemeines Nervinum und Sedativum in Anwendung. Für
localen Gebrauch können übrigens ausser den Metallspitzen (a) auch bis zu den
Enden mit einem Isolator umhüllte Haarpinsel (Fig. 33, b) dienen , die ebenfalls
auf das isolirende Heft geschraubt werden ; diese können als Halbleiter unmittel-
bar auf die Haut aufgesetzt werden.
2. Die Anwendung der Kopf platte (Franklinisation am Kopfe,
sogenannte franklinische Kopfdouche) geschieht in der Weise, dass in der
Regel der negative Pol mittelst eines kurzen Kabels zu der verstellbaren Kopf-
platte (A", Fig. 31) geleitet und der positive Pol zur isolirenden Fussplatte, zum
Isolirstuhl oder auch zur Erde (Gas-, Wasserleitung) hingeführt wird. Gewöhnlich
wird zuerst der Körper einige Zeit positiv geladen, bei Ableitung des negativen
Pols zum Erdboden, dann die Kopfplatte in geeigneter, durch die specielle Indi-
cation bedingter Lage über dem Haupte des Kranken eingestellt und mit dem
negativen Leitungskabel verbunden. Der Verticalabstand der Kopfplatte ist sehr
verschieden, gewöhnlich darf sie nicht mehr als höchstens 5 Cm. genähert werden,
da sonst leicht Funken tiberspringen; in der Regel ist der Abstand erheblich
Fig. 33.
a i * i
d b c a
grösser. Die Haare gehen dabei in die Höhe, und der Kranke hat bei passender
Einstellung ein angenehmes Gefühl, als ob ein warmer Regen, eine Brause auf
den Kopf niederriesle. Dnrch Verschiebung nach den Seiten, nach hinten und
vorn kann man die Einwirkung auf einzelne Regionen des Schädeldaches, auf
eine Kopfhälfte, Hinterkopf, Stirn u. s. w. localisiren. Bei Ableitung des zweiten
Pols zum Erdboden ist die Wirkung bedeutend schwächer. — Man bedient sich
der „ Franklinisation am Kopfe" oder franklinischen Kopfdouche besonders bei
functionellen Neurosen mit sensiblen Reizerscheinungen der Kopfnerven, Migraine,
Kopfdruck, nervöser Insomnie; die Wirkung ist im Allgemeinen eine sedative,
die Erfolge sind namentlich bei cephalischer Neurasthenie und Hysterie oft über-
raschend. Dauer der Sitzungen 5 — 20 Minuten , worauf später oft Ermüdung
und Schlaf folgt; bei etwa eintretendem Schwindelgefühl (wie bei manchen
Neurasthenischen, bei Patientinnen mit BASEDOw'scher Krankheit etc.) ist schon früher
abzubrechen. — Mayekhaüsen s) will neuerdings von Anwendung der franklinischen
Kopfdouche (mit + armirt) sehr günstige Resultate gegen das Ausfallen der
Kopfhaare, und zwar nicht blos bei dem mit nervösen Störungen complicirten
Haarausfall beobachtet haben.
3. Die unipolare Ladung des Körpers geschieht gewöhnlich mit
dem positiven Pol. Es wird dieser Pol daher zu dem Isolirstuhl oder zu der
isolirenden Fussplatte geleitet, welche der Kranke mit den Füssen berührt, während
der negative Pol zum Erdboden abgeleitet wird. Abstand der Conductorkugeln
dabei möglichst gross, damit keine Funken übergehen können. — Die unipolare
352
INFLUENZMASCHINEN.
Ladung (mit +) kommt als sehr mildes, beruhigendes Hilfsmittel bei Behandlung
der allgemeinen functionellen Neurosen in Anwendung. Sehr häufig verbindet
man sie mit einem der vorerwähnten Verfahren, sowie aueh hei Vorhandensein
loealer Leiden, Hyperalgesien, Schmerzpunkte u. s. w. mit dem
4. Funkenziehen. Man bedient sieh zu diesem Zwecke des Knopf-
funkengebers (Fig. 33, c) an dem oben erwähnten langen, stabfönnigen Isolir-
hefte. Der Knopffunkengeber wird mit dem negativen Conductorende verbanden
und bewirkt dann, einer Körperstelle genähert, an dieser durch die Kleidung
hindurch je nach der Capacität der Maschine und nach der durchbrochenen
Luftstrecke mehr oder weniger reizende und schmerzhafte Funkenentladung. Will
man schwächere und kaum schmerzhafte Funken entziehen, so nähert man, während
der negative Pol zur Erde abgeleitet ist , den nicht mit der Maschine verbundenen
Knopffunkengeber dem Körper bei fortdauernder unipolarer Ladung des letzteren.
Setzt man den Knopffunkengeber während der (positiven) unipolaren Ladung
an einer Körperstelle fest auf, so findet aus dem entgegengesetzten freien Metall-
ende des Knopffankengebers ein fortdauerndes Abströmen der Elektricität unter
gleichmässigem zischendem Geräusch statt.
Während bei den bisher besprochenen Formen der Franklinotherapie die
directe Maschinenableitung, bei weitem Abstände der Conductorkugeln, ausschliess-
lich benutzt wird, kann man dagegen in allen denjenigen Fällen anders verfahren,
wo es sich um locale Anwendungen der Influenzelektricität mit variabler Spannung,
besonders zum Zwecke stärkerer Muskel- und Nervenreizung, auch bei Gelenk-
affectionen etc. handelt. In solchen Fällen werden die franklinischen Tafeln
benutzt, um den Körper zwischen den äusseren Belegungen der
Tafeln einzuschalten. Zu diesem Zwecke werden die Leitungskabel an den
vorderen Metallkugelen den der mit den äusseren Belegungen der Tafeln in Ver-
bindung stehenden Säulen (I und II, Fig. 31) angesteckt. Zu bemerken ist, dass
bei dieser Schaltungsweise der Maschine die Pole denen der Conductorkugeln
entgegengesetzt sind, so dass also auf der Seite, wo sich die positive
Leuchtstrecke zwischen den Conductorkugeln befindet, der negative Pol auf den
Körper tibertragen wird und umgekehrt. — Bei der Anwendung zur localen Franklini-
sation der Muskeln und Nerven, der Gelenke etc. wird der eine Pol zur isolirenden
Fussplatte oder zum Isolirstuhl geführt, der andere, mit dem knopffftrmigen oder
einem sonstigen entsprechend geformten Ansatzstück versehene, auf die zu reizende
Körperstelle (unmittelbar oder durch die Kleidung hindurch) aufgesetzt. Ist die
Heizelektrode fixirt, so werden die anfangs geschlossenen Conductorkugeln allmälig
von einander entfernt, so dass zwischen ihnen Entladungen entstehen, denen
an Stärke gleichkommende Entladungen des zwischen den äusseren Belegungen
der Tafeln eingeschalteten Körpers entsprechen. Die zu wählende Länge der
interpolaren Funkenstrecke richtet sich natürlich nach der jedesmaligen Indication,
sie variirt zwischen 1 — 2 Mm. als Minimum und etwa 4 Cm. als Maximum; fttr
die Erregung normaler motorischer Nerven und Muskeln beispielsweise sind
Schlagweiten von 2 — 5 Mm. als minimaler Zuckungsreiz in der Regel genügend,
während bei krankhaft herabgesetzter Erregbarkeit oft weit grössere Schlagweiten
in Anwendung kommen müssen oder bei gänzlich aufgehobener franklinischer
Erregbarkeit auch bei maximaler Entladungsstärke jede Reaction ansbleibt. Im
Allgemeinen geht übrigens nach meinen, an unzähligen Lähmungsformen der ver-
schiedensten Art angestellten Beobachtungen die franklinische Reaction der moto-
rischen Nerven und Muskeln durchaus parallel der faradischen, so dass in
elektrodiagn ostischer Hinsicht eine wesentliche Bereicherung aus der franklinischen
Untersuchungsmethode nicht zu gewinnen ist. Therapeutisch dagegen ist die locale
Franklinisation bei schweren, veralteten, auch mit hochgradiger mechanischer
Immobilität durch Contractur, Ankylose u. s. w. verbundenen Lähmungen immerhii
zu empfehlen, da sie gewissermassen eine Combination der elektrischen mit hoch-
gradiger mechanischer Reizung (Erschütterung) darstellt; auch ist die graphische
INFLUENZMASCHINEN.
353
Form des einzelnen Zuckungsschlages (Zuckungscurve) der Influenzmaschine von
der des Oeffnungs- und Schliessungsinductionsstromes einigermassen verschieden.
Wird der zweite Pol nicht zum Isolirstuhl oder der Isolirplatte geführt,
sondern zum Erdboden abgeleitet, so kann man natürlich sehr viel grössere
Schlagweiten der Maschine mit geringerer Reizstärke benutzen. Auch kann man
in beiden Fällen die Reizstärke noch dadurch mannigfaltig abstufen , dass man
franklinische Tafeln von verschiedener Belegungsgrösse einschaltet; je kleiner
die Belegfläche, desto schwächer ist ceteris paribus die Spannung und Reizstärke.
Es pflegen Tafeln von 25 bis zu 100 Qcm. Belegfläche den Maschinen bei-
gegeben zu werden.
Im Vorstehenden ist in kurzen Zügen das Verfahren bei Anwendung
des von mir eingeführten Armamentariums , mit der nach HoLTZ-ToEPLRB'schen
Principien hergestellten Hirschmann' sehen Maschine, geschildert. Statt dieser
Maschine können natürlich auch andere, nach ähnlichem oder abweichendem
Princip construirte zur Benutzung kommen, deren vollständige Aufführung hier
nicht möglich ist. Besonders erwähnt sei nur noch die durch Lewandowski *)
in einer Reihe von Aufsätzen beschriebene und angelegentlich empfohlene Glaeseb-
8 che Influenzmaschine (Fig. 34). Das Princip dieser Maschine besteht
darin, dass als Elektricitätserzeuger zwei Hohltrommeln aus idiolektrischen Körpern
(Hartgummi) verwendet werden, wovon die eine, etwas kleinere, innerhalb der
anderen vollkommen luftdicht verschlossen angebracht ist und beide um eine
gemeinschaftliche Achse, jedoch nach entgegengesetzten Richtungen, rotiren. Die
Maschine steht offen auf einem rahmenartigen Untergestell (Fig. 34, Ra Rax) mittelst
zweier verticaler Metallständer (aax und bbx), welche an ihren oberen Enden,
durch den Hartgummistab a b verbunden , zur Lagerung der Stahlachse ef und
der beiden auf dieser parallelen Wellen W1 und W% dienen. Die Hauptachse
ef besteht aus einer fixen Stahlachse und zwei darüber geschobenen Hohlachsen-
stücken, auf welche an ihren lateralen Enden je eine kleine Riemenscheibe r
und rx aufgesetzt sind. Zwischen diesen Riemenscheiben sind auf der Haupt-
achse die beiden vorerwähnten Hartgummitrommeln, wovon die äussere T auf der
Figur ersichtlich, an den beiden Hohlachsenstücken durch Metallflantschen be-
festigt, so dass durch die Riemenscheibe r die innere Trommel und unabhängig
davon durch rx die äussere Trommel (T) in beliebiger Richtung rotirt werden kann.
Die unterhalb nebeneinander gelagerten Achsen Wx und W2 (Fig. 34)
tragen an ihrem rückwärtigen Ende ausserhalb des Ständers bbt je eines von
zwei ineinandergreifenden Zahnrädern. Einwärts der beiden Ständer aax und bbt
sind an den Wellen Wl und W2 die Riemenscheiben R und Rx diagonal gegen-
über angebracht und durch Treibriemen mit den oberhalb befindlichen kleinen
Riemenscheiben r und r, in Verbindung gesetzt. Die Achse W% dient zugleich
als Verbindungswelle und ist deshalb an ihrem Vorderende mit der Kurbel k
versehen (statt dessen kann natürlich auch ein besonderer Motor zum Betriebe
der Maschine benutzt werden). — Als Vortheile dieser Maschine werden die
Verwendung eines widerstandsfähigen Materials, die günstige Form (Trommelform)
der Elektricitätserreger und deren luftdichter Abschluss hervorgehoben. Ein
Uebelstand ist, dass die Maschine nicht, gleich den Toepleb-Holtz sehen, selbst-
erregend ist, sondern einer jedesmaligen Erregung (durch Annäherung eines mit
Tuch geriebenen Hartkautschukstreifens an der äusseren Trommel oder dergl.)
bedarf; sie muss daher auch frei, ohne Glasgehäuse aufgestellt werden.
Schliesslich sei noch Muxd's Messapparat für Franklinisation5)
hervorgehoben („Frank Ii n imeteru), der zur Anwendung für diejenigen Fälle
bestimmt ist, in denen nicht die Elektricität der Maschine direct benutzt, sondern
mit zwischengeschalteten Condensatoren operirt wird. Der von Schadbwell (in
Dresden) ausgeführte Apparat hat als Basis einen Holzkasten, der vier isolirende
Encyclop. Jahrbücher. I. 23
INFLUENZMAS C H I N E K ,
Stützen trägt Zwei derselben tragen je eioe Kugel, auf welcher imiucr
der drei dem Apparate beige^ebenen Kondensatoren (mit Hartgummi* afein und
Stanniol belägen) aufgesteckt werden kann. An diesen Kugeln sind noch zwei
mit isoltrenden Hangriffen und Endkngeln versehene Zaleiter angebracht, die,
wenn der Apparat in Verbindung mit einer Influenzmaschine treten soll , auf
deren beiden Conductoren autliegen müssen. Innerhalb der aus isolirender Sub-
stanz gefertigten Röhren ist je ein Fnnkenmikrometer untergebracht ; die Schlag-
weite zwischen ihren Kugeln kann vermittelst Maassstab und Mikrometerschrauben
Fl*. 3L
tri aener'Bche luÜuemmatcbinc (Dach Lewandoviki. Wiener med. Proste, IBSS, Nr. 23)
abgelesen und eingestellt werden, — Es kommen Condensatoren von drei ver-
schiedenen Capacitäteu, der kleinste von 25 Qcm, Belegfläche, zur Benutzung. Fflr
die Berechnung der relativen Energie werthe, bei Scblagweite von 1 bis
6 Mm,, giebt Mund folgende tabellarische febersicht:
Coodensator I (Capacitat 1)
n ( „ 2\
Potentiale «Schlagweite in Mm.)
2
3
4
*.
1
4
9
16
25
36
*
8
18
32
50
72
4
16
36
64
100
144
INFLUENZMASCHINEN. — JÜGULABVENENGERÄÜSCH.
355
Man sieht also, dass z. 6. Condensator III bei einer Schlagweite von
nur 2 Mm. dieselbe elektrische Energie entwickelt, wie Condensator I bei 4 Mm.
Schlagweite. — Kleine Condensatoren sind übrigens nach Mund besonders da zu
verwenden, wo neben der reinen Muskel- oder Nervenreizung noch eine mechanische
(„ekphorische" 6) Wirkung beabsichtigt wird, wie z. B. bei Anwesenheit
entzündlicher Exsudate oder bei Oedemen innerhalb der Mnskeln und deren
Umgebung. Wo eine solche Nebenwirkung nicht erwünscht ist, können dagegen
die grösseren Condensatoren zur Verwendung gelangen.
Literatur: l) Eulenburg, Tberap. Monatsh. Febr. 1887; Oesterr. Badezeitung.
1887, Nr. 2 und 3; Berliner klin. Wochenschr. 1887, Nr. 13 und 14; Deutsche med. Wochen-
schrift. 1888, Nr. 9 und 11. — *) Mond, Annalen der Physik und Chemie. 1887, XXXI. —
*) May er hausen , Internat, klin. Rundschau. 1890, Nr. 45. — 4) Le wando wski , Wiener
med. Presse. 18S8, Nr. 2 J; Wiener klin. Wochenschr. 1888, Nr. 8—10; Zeitschr. für Elektro-
technik. 1888, Heft 5 und 6; Wiener med. Ztg. 1859. — 6) Mund, Ansstellungs-Katalog der
Wiesbadener Naturforscher- Versammlung (11*87); Edelmann, Elektrotechnik für Aerzte.
München 1890, pag. 157. — 6) Vergl. auch Mund, Jahresber. der Gesellsch. für Natur« und
Heilkunde zu Dresden. 1887- 1888. Eulenburg.
IntentiOnSpSyChOSe, s. Agoraphobie, pag. 34.
Intubation, s. Catheterismus der Luftwege, pag. 148.
Jugularvenengeräuscb, e. Auscuitation, pag. 70.
K.
eri„ $5.
Kli CaBtariAMOM, eamtkaritiinsaEre* Kali. C^H^O^ — HiO,
wurde in jüngster Zeit to» Liebeilich gegre« Tnberknlöee und gegen Losas in Form
vtfa snJbeutaiien Inftfetionen entpfoUn. Yersaeae Iber die p&attnakaäriiaini&efce
Wirkung des CantkaridiEs» des wirksam« Bestandteiles der *panisenen Fliege*,
nikrten LnsaJECH im. dieser Substanz eme eigenartige Wirkung: saf &
CapöLxren. zuzuscureibexu und zwar eisen der esamisenen Beschaifenht»tt des Korpers
^igenthnmiienen ReizTorgan^ Diese Wirkung auf die CanäLartn äussert sen
•iariiK dass die Substanz zu einer FT^«fatfan m Serum Yeranlassune «riebe nur
bei aocbj£radigeu Iucoxk*at&>nst; rsekeinangen treten, die mit dem Mikroskop naen-
weisb&ren eeibriaren Exsudanuneu ein. Diese reizende Einwirkung des Cantharidxns
inf üe Gefiteswand wird« wenn. letztere seit nickt menr im normalen Zustande
}eftnjiec eine grossere sein und Ltebuhck: temritte» eine Dose
nir den <>r^ajii^mn» zu un&n* bei wetenem d» CanuTaren von geringerem Wider-
^onde jene Exsudaöon zeigen, wefcne bei grösseren Elisen, den normalen zukommt.
Ist die Hjpotuese nenl%. dann wird an. jenen Siaeüen da» Organ»niraL wo dmen
einen Iocafisirten Reiz bazillärer «)<ier anderer Xatar ein parholotrisener Tanraag-
^caxxbat^ durek die Essttdacxun irgend eine Einwirkung sentbar werden« Tnafi-
^ehlieb erseugtMn kleine Dwea von eantnadinnmirem Saü bei mit Kabflcnpf-
ruberkuiuse behageten Beranken fcenl keine Sen&iigung. bei etwas gesteigerter
Lkosis trat vermehrte Esnecturatura ein : weitere Teesiebe ergaben, das» »i Zeonnsi-
miiligramm die iuseeeste D«isis bilden, bei weLmer loeal noek seine ErsBk»mt»rtfyiHi
uittreten. dagegen »nun Drame beim Hanffassen. berohnngsweise Blut im Harn
»eobaeocet wird. Falle von BLehik') p ttiiberkriiüse und Lupus besserten sen~ Di»
Losung von untntnaridin^aii rem Kali wird nacu Ltsöhsich in mixender Weise
i e reitet : '.v^ Candbaridin und 0*4 ILtühjdrat letzteres trocken und trm von
vjhiensaore werden abgewogen, in einem Uterkoiben mit etwa iO Cent. Wsaser
m W verbaue erwärme bis klare LiJsumc enbigt : dann wird ganz aümaütt unter
rortxianerndem Erwarmen bis unge&or znr Sacke W^ser zugesetzt, «nüßssüßk
uteü dem Erkalten xsnaa bis znr Marke ameetniit. «Mer es werkten 0**1 Can-
^jaridin 'ind 0*3 Xacr»nlivdrac in ierseiben Weise zum Liier xeiöst. T.m tfiesv
L,«öun*c wird I Ccm» . zteieb 1 Zt»hnoptminf^r»-!»fnml im Hiiukau mit dar PikTü-
^•aen Spriöö -$abeuctn injieirt- Die Lnjeeuira ist etwas ^nmersnait. ioek wurefc
iiütaimjr ier Steile, aueu Eneöereraimeinamren sie bewoaenrei. W^hremi dar
Mnuieaaun ist das Verhalten ies Urins und ies StaniKanges ^ciiarf su beobaimtsn.
i ^tretendem DurjnriüL ider bramenuem *^etuJii in ier 5arnn*»nre mnss «fin
-iit-*n'»n so^Keaetzt werden. Einüfe Tmpriffn Tbux. >?mi "ihiicti ias Brennen
lum V^roenVnden: üe näeüste Inieetion *>ü in üuetten FlÜen mit dar
KALI CANTHARIDINICÜM. — KARYOKINESE.
357
halben Dosis begonnen werden. Die Injectionen werden nicht täglich, sondern
jeden dritten Tag vorgenommen. In den Fällen von P. Heymann und Frankel
verminderten sich bei Lungentuberkulose die feuchten Rasselgeräusche, der Aus-
wurf wurde dünnflüssiger und seltener, der Husten nahm an Intensität ab, Nacht
schweisse wurden weniger oder hörten ganz auf. Im Kehlkopf zeigte sich Abnahme
der Röthung und Geringerwerden der Infiltration. Liebreich selbst constatirte
durch die von ihm erfundene phaneros kopisohe Beleuchtung (siehe
Literatur) die Abnahme der Lupusknoten in Folge der Injectionen mit cantharidin-
saurem Kali. P. Güttmann beobachtete unter 7 Fällen, bei welchen von 1;lQ Milli-
gramm bis zu V2 Milligramm mit der Dosis gestiegen wurde, dreimal heftige Ein-
wirkung auf die Niere; ein Fall, bei welchem dreimal Milligramm, das
vierte Mal 1/% Milligramm während 8 Tage injicirt wurde , endete letal. Fünf
Tage nach der letzten Injection trat Anurie auf. Tod in Folge von Miliartuber-
kulose, auf der Blasenschleimhaut recente, sehr intensive Injectionen, in den Nieren
nichts Pathologisches. Die Zahl der Bacillen im Auswurfe zeigte — auch von
Anderen betont — keine Aenderung.
Literatur: Liebreich, Die Wirkung der cantharidinsauren Salze. Therap.
Monatsh. 1891, pag. 169. — Lublinski, üeber die therapeutische Wirksamkeit der cantha-
ridinsauren Salze. Ebenda. 1891, pag. 239. — Liebreich, Ueber den therapeutischen Ein-
flus8 der Cantharid in säure auf den Lupus, erkannt durch eine neue Beleuchtungsmethode. Ebenda.
1891, pag. 284. — P. Guttmann, Nierenaffectionen in Folge von Injectionen von cantharidin-
saurem Kali. Sitzungsber. der Gesellsch. für innere Med. in Berlin. 18. März 1891.
Lo ebisch.
Kalium tellliriClim, tellursauresKali, TeOjK*, wurde jüugt von
E. Neusser gegen die Nachtschweisse der Phthisiker empfohlen. Die Tellursäure
stellt sechsseitige, in Wasser lösliche Prismen vor und auch das tellursaure Kalium
ist in Wasser löslich. Es wurden tellurigsaure Alkalien bisher nur toxikologisch
von Hansen (1853) und von Rabuteaü (1869) geprüft. Neussee versuchte die
Tellursäure in Form des Kaliumsalzes bei Phthisikern zu 0 02 — 0*04 in Pillen.
Hierbei zeigte sich, dass diese Gaben in den meisten Fällen die Nachtschweisse
unterdrückten oder doch herabsetzten ; zuweilen schien auch eine geringe narcotische
Wirkung vorhanden zu sein. Nach einer Woche schien bei einigen Patienten Ge-
wöhnung an das Mittel einzutreten, bei Steigerung der Dosis auf das Doppelte
trat die Wirkung des Mittels wieder ein. Nach Tagesdosen von 0*06 stellten
sich bei längerem Gebrauch dyspeptische Symptome, Aufstossen , belegte Zunge,
Appetitmangel ein. Eine höchst unangenehme Nebenerscheinung bildet der bei
dieser Medication auftretende intensive Knoblauchgeruoh des Athems.
Literatur: E. Neusser, Ueber tellarsanres Kalium als Mittel gegen Nacht-
schweisse der Phthisiker. Wiener klin. Wocbenschr. 1£90, Nr. 23. T u • u
Loebiscn.
KaryokineSB (Karyokinesis, Schleicher, von xzpov, Nuss, Kern und
xtv7j<7i;, Bewegung, von xtvsw, bewegen: „Bewegung im Kern"; indirecte, meta-
morphoti8che Kern- und Zelltheilung, Mitose, mitotische Theilung, Flemming [von
j/.tTO?, Faden], auch Karyomitose, karyomitotische Theilung ; Cytodierese, Henneguy)
heisst die eine der beiden jetzt bekannten Arten der Kern- und Zelltheilung im
Pflanzen- und Thierreiche. Die andere wird als directe oder amitotische bezeichnet.
Die Karyokinese heisst mit Recht so, weil es sich um Bewegungserschei-
nungen im Kern handelt. Wesentlich unterscheidend gegenüber der directen oder
amitotischen Zelltheilung sind aber nicht sowohl die Bewegungen, die ja jeder
lebenden Zelle, jedem lebenden Protoplasma zukommen, sondern das Auftreten
ganz bestimmter Formen von feinen und dickeren Fäden und Figuren von solchen
in bestimmter Reihenfolge, sowie die mathematisch genaue Längsspaltung der
dickeren Fäden in zwei Hälften.
Unsere Kenntnisse von der Karyokinese sind noch sehr junge. Gesehen,
ja abgebildet worden sind die eigenthümlichen Erscheinungen derselben bereits
1857 von R. Virchow, 1858 von R. Remak, 1865 von Henle (die Hodenzellen
358
KARYOKINESE.
des Katers. Handb. der Anat. Bd. IL pag. 355, Fig. 266. 3 und 4), von Hkller,
A. Kowalewsky (1869), W. Krause (1870], abgesehen tod dem botanischen Gebiete.
Eine richtige Deutung erhielten die Zelltheüungsbilder , mit denen wir
ms hier zu beschäftigen haben werden, zuerst am Ei von Mesostomum Ehren
bergii im Jahre 1873 durch den vor Kurzem {am 30. Mai 1890) als Prof. der
Zoologie in Breslau verstorbenen Axton Friedrich Schneider. In demselben
Jahre besehrieb Fol das Auftreten rzweier Sonnen" im befruchteten Geryonia-
Ei, wahrend 1874 Bütschu seine ersten Beobachtungen von „Strahlen" bei der
Furehung der Eier von Rhabditis dolichura veröffentlichte. In dasselbe Jahr fallen
die ersten, natürlich auch noch unvollständigen oder theflweise iirthfimüehen Beob-
achtungen und Deutungen von Oellacher. Schenk, Flemming. Auerbach, dann
weitere Veröffentlichungen von Bütscbli und Fol. simmtlieh an Eiern. 1875
erschienen die Ergebnisse der ersten Untersuchungen an Pflanzen von Stras-
Bürger, welche derselbe 1874 in Jena angestellt hatte; ferner Arbeiten von FuEMMING,
O. Hertwig. Ed. van Bsneden u. A. Die seitdem in ununterbrochener Reihenfolge
bis heute erschienenen Arbeiten über die verschiedenen Formen und das Vor-
kommen der Karvokinese in der Thier- und Pflanzenwelt findet der Leser in
dem Literaturverzeichnis*. Ausser den oben genannten Forschern verdanken wir
für die uns hier vor Allem intereanrenden thierischen Zellen eine Bereicherung,
Befestigung und Vertiefung unserer Kenntnisse und unseres Verständnisses, um
nur einige zu nennen. J. Arnold. Boveri , Carxoy und seinen Schülern, ferner
C. Rabu G. Retzius u. v. A.
Die hier folgende Darstellung beruht, abgesehen von eigener Anschauung,
wesentlich auf den Angaben und Abbildungen von Ff.ianrncG und Barl, unter
Berucks eht?gung der Ergebnisse Strasburg ers für pflanzliche Zellen: ferner
wurde Waldeyers zusamnieniassender Aufsatz vom Jahre 1888 benutzt.
Die Erhaltung Regeneration^ und das Wuehsthum der Gewebe. Organe
und des ganzen Korpers beruht auf der Bildung neuer Zellen. Diese entstellen
ausschliesslich aus srhon vorhandenen, bei höheren Pflanzen und Thierem durch
Theiluag. in den meisten Fallen durch die karvoldneteehe. Ommi* ceUmla e
eelfmta Vaceowi. ihrnrnf* m*cl*m$ t mmdeo i Flemming .
Die Erscheinungen der Karvokinese. die wesentlich am Kern sieh ab-
spielen, kann man nun. behufs Erleichterung der Auffassung, in mehrere Stadien
eintheilea. deren jedes in Wirklichkeit nur eine oder
einige Minuten in Ansprach zu nehmen pflegt. ^ Ä
L Stadium: Der «ruhende- Kern
vTtg. 35 . Ehe erne ZeOe »eh zu theüen beginne
sie «eh also im «Ruhezustände** befindet, zeigt
der -Kern"' besondere Strueturen. die im Artikel
Zelle Real Eue velopidie, Bd. XXL pag. 45*> aus-
Ührich lesekrieten sind.
IL Stadium: Kniuelform. KniueL
MutterkniueL Spirem zi tzst^ax. das Ge-
wiekeke, die Windung. Tis. oi> — 41 .
1. Der Kern vercr^nfr; >5eh . seine chro-
matt-ehen Substanzen v<rmeoren sieh, die fetaeren
iseeundartn Fäden, sowie die Netzk*xen and
XueieoSen verschwinden aHndliz: das
ttien Her ai£ £r -jisusro*. ?&i*JL3ri£Dt <xb£ *6±r-
strömt gewrasetfeassea *on *L.en >fi»a aer au r-jÄma^
zarten, vorgebildeten Bahnen lasamaiea. na den ?i^tJ1Ni^^fEOTaaS^
gröberen Flden eines Kaiieis ien Crsprnn;r zu sebea. 3131
J^Gxnre stmasein-. könnte zai kx^ «azen. Frrtier
na'mr man au and von! jeezt aiea noclt xuzi TSieil STKASSCä^ES. Früher Plesqcng.
C a±> ; t. Balsiaxi . das» im nnencen Kern and in Ansang des KttAi^pfafadiTO*
nur ein einziger Fidea T\triLanden sei. wie in einem GantknascL Raul kam
KAEYOKINESE.
359
zu dem Ergebniss, dass es sich bereits in diesem Stadium um eine grössere
Anzahl (bei thierischen Zellen bis zu 20) Fäden handle. Waldeyer und Verfasser
stimmen ihm hierin bei. Es soll damit indess nicht gesagt sein, dass nicht in
späteren Stadien noch eine Trennung (Segmentirung) einzelner Fäden stattfinde,
ein Vorgang, der nach den zuerst genannten Forschern überhaupt erst im Stadium
des lockeren Knäuels eintreten soll. Die bis hierhin unregelmässig gewundenen
Fäden sind in auffallender Weise in die Nähe der Oberfläche des Kernes gerückt.
Zugleich ordnen sie sich regelmässiger , und zwar um ein an dem einen Ende
des Kerns frei werdendes Feld, das Polfeld, an , derart , dass die convexen
Umlegungsstellen nach diesem Felde hin gerichtet sind (Fig. 36). Rabl nennt
Fig. 36. Fig 37.
Kern mit dichtem Knäuel von der Seite. Kern mit dichtem Knäuel von der Gegen-
Polfeld oben. (Schema nach Rabl.) polseite aus. (Schema nach Rabl.)
diese Seite des Kerns die „Polseite", die entgegengesetzte die „Gegenpol-
seite" (Fig. 37). Man könnte einfach von „Nord-" und „Südpol" sprechen, da
wir später zwei wirkliche Pole, sowie einen Aequator kennen lernen werden. —
Die Ffiden verlaufen im Allgemeinen quer zur Längsachse des Kerns. Nach Fol
und Flemmng kommen in diesem Stadium bei Eizellen bereits polare Strahlungs-
figuren im Zellprotoplasma, bei anderen Zellen wenigstens eine „dicentrische An-
ordnung" des Protoplasma vor.
2. Der bisher beschriebene sogenannte „dichte Knäuel" geht nun all-
mälig in den „lockeren Knäuel" (Fig. 38, 39, 40) über, indem die Fäien einmal
sich gerade strecken, kürzer und dicker werden, d. h. also sich zusammenziehen,
Fig. 38. Fi*. 39. Fig. 40.
Kern mit lockerem Koäael Kern mit lockerem Knäuel, Kern mit lockerem Knäuel
von der Seite. Spindel im vom Polfeld aus, in dem von der Seite. Die Spindel
Polfeld. (Schema nach die Spindel liegt. (Schema senkt sich. (Schema nach
Rahl.) nach Rahl.) Rabl.)
zweitens einige von ihnen quer durchgetheilt, wie durchgeschnitten werden. Zwischen
den Fäden, die sich jetzt mehr der Form einfacher Haken, Schleifen oder Haar-
nadeln genähert haben, liegt der Kernsaft. Gegen den Zellieib wird der Kern
durch eine dünne, achromatische Hülle abgegrenzt. Umgeben wird er von einer
hellen, körnchen- und fadenlosen durchsichtigen Schicht. Die Zahl der Fäden
ist für die Zellen einer Pflanzen- oder Thierart, aber auch weit darüber hinaus
constant, jedenfalls, wie es scheint, für die generativen Zellen. Bei vielen thieri-
schen Zellen beträgt dieselbe 24!
3. Aus dem lockeren Knäuel wird sodann der „segmentirte Knäuel"
(Fig. 41 und 44). Dies ist das bedeutungsvollste Stadium des Knäuels nicht nur,
360
KAB YOKIKESE
sondern der ganzen Karyokinese. Jetzt beginnt namlieh die von FLKKMOro ent-
deckte , nunmehr wobl allgemein angenommene Lingstheilung oder Ltngs-
Spaltung der Fadensehleifen. Die Fäden werden zunächst breiter, im Querschnitt
oval ; dann bemerkt man zuerst in der Nähe des stumpfen Winkels eine bald den
ganzen Faden der Länge nach in zwei genau gleiche Hälften theilende Spalte. Die
beiden so entstandenen Fäden hängen noch einige Zeit, zumal an ihren freien
Sehenkelenden, zusammen, wahrscheinlich durch besondere kleine Fädehen, die för
die freien Enden sichergestellt sind (Fig. 47). Nach Pfitzxer und Balbiaxi be-
stehen die chromatischen Fäden aus aneinander gereihten Kugeln, „Chromatin-
kngeln". Nach denselben Autoren werden aus solchen auch die seeundärei
oder Tocbterfäden gebildet. Man nimmt jetzt an, dass dickere und dünnere
standtheile abwechseln, d. h dass zwischen den dickeren „Chromatinkugeiia,
-Scheiben, Chromosomen, die als kugelig oder scheibenförmig besehrieben werten,
dünnere „Fäden" liegen. Besser spricht man wohl von „knotenförmigen
Anschwellungen" der Fäden. Das Ganze erinnert an einen „ Rosenkranz"
(Fig. 42 und 43). Die „PFiTZNEß'sche Körnelung" ist in den genannten Figuren
nach Flemmikg, sowie nach Pfitzxer f schematisch) dargestellt. Ob die Längs
Spaltung wirklich in der dort angedeuteten Weise vor sieb geht, steht allerdings
noch nicht fest.
Fig. 41-
Fig. 42.
Fig. 43.
Kern mit lockerem Knäuel von der Seite.
LftngMpaltong der chromatischen Fäden.
Die Spindel hat eich weiter gesenkt und
vergrößert. (Schema nach R a b 1.)
Körnelung der sich
längsspaltenden Fäden.
(Nach Flemming.)
Schema derKörnelnng der
Fäden und der Längs
Spaltung. (Nach
Pfitzner.)
Ferner tritt jetzt (oder schon etwas früher) die achromatische Kern-
spindel, gewöhnlich schlechthin Kernspindel (Fig. 38, 39, 40, 41, 44, 45,
46, 47, 48) genannt, auf. Die Spindel besteht aus zwei Spitzen oder Polen,
in einer grossen Anzahl von, diese verbindenden, bei Pflanzen oft geradlinig
(Tonne, Cylinder), bei Thieren im Winkel oder Bogen verlaufenden, ausserordent-
lich dünnen , achromatischen Faden. Ferner kann man einen Aequator an ihr
unterscheiden. Diese feinen Fäden färben sich in den meisten Kernfärbungsmitteln
entweder gar nicht oder doch sehr viel schwächer, als die dicken, chromatischen
Fäden. Verdünnte Säuren, besonders Salzsäure, lassen sie schärfer hervortreten,
während Pepainltfsungen sie zerstöreu.
Die Spindel taucht nach Rabl zuerst im Polfelde auf (Fig. 38 und 39), wo
ihre Längsachse Anfangs schief zu der des Kerns steht, dann senkt sie sich
derart (Fig. 40, 41, 44) in die Kernsubstanz hinein, dass ihre Pole denen des Kerns,
ihr Aequator dem des Kerns entsprechen. Wir haben nun auch am Kern zwei
Pole (s. o.). Die Lageveränderungen der Spindel sind massgebend für die chro-
matischen Schleifen. Diese folgen jener wie an einem Leitbande (s. u.).
Im Zellleib treten nun die früher erwähnten Stern- oder Sonnenfiguren,
Polstrahlungen (Fig. 44 — 47), Astern, auf, deren Mittelpunkte die Pole der
Spindel bilden. Die Radien der Strahlenfigur werden von kleinsten , in geraden
"Umi angeordneten, festen Theilchcn des Protoplasma dargestellt. Ob die Kern
"ibran — soweit eine solche überhaupt als geschlossene Membran vorhanden
He — verschwindet, d. h. zerstört wird, oder ob sie nur unsichtbar wird,
h dahingestellt. Stkasbürger ist der ersteren Ansicht. Ueber den
KARYOKINESE.
361
„bellen Hof" 8. o. Die Frage, ob es zu einer Vermischung des flüssigen Antheils
des Zellprotoplasma mit dem Kernsaft komme, hängt mit der oben aufgeworfenen
zusammen. Auch sie wird verschieden beantwortet. Strasburger ist zu der
Ueberzeugung gelangt, dass die ganze Spindelfigur aus dem Zellleibe stammt, so
dass für den Kern nur die chromatischen Fäden übrig bleiben. Die allerersten
Veränderungen im Kern beim Uebergange von der Ruhe zur „Bewegung" sprechen
allerdings hierfür (Verf.). Vergl. u.
Fig. 44. Fig. 45.
Die „Pole" sind nicht blos mathematische Punkte, sondern materielle
Gebilde, welche von Ed. vax Beneden entdeckt und Polkörperchen genannt
wurden. Es sind kleine, stark licht brechende Körperchen, über deren Herkunft
und Bedeutung noch nichts bekannt ist. Carnoy lässt sie zur Aufspeicherung
von Nucleinelementen dienen, die später der jungen Tochterzelle zu Gute kämen.
III. Stadium: Mutterstern, Aequatorialstern , Aster , Monaster
(Fig. 45). Sämmtliche Faden schleifen stellen sich, mit den Schenkeln nach der
Polachse, die Schenkelenden nach der Peripherie gekehrt, in die Aequatorialebene
der Spindel. Man kann die so entstehende Figur auch als „ Aequatorialplatte"
(Flemmjng) oder „Kernplatteu (Strasburg er) bezeichnen, wobei zu bemerken
ist, dass diese Ausdrücke von den betreffenden Autoren eigentlich für das gleich
folgende Stadium gewählt wurden, welches wir als
Fig. 46. Fig. 47.
Trennung der Fadensegmente oder „Umord- Tocbterstern. Die zueinander gehörigen chro-
nung** (Metakinesis). Die zu einander ge- matischen Fäden hänge d an ihren Schenkel-
bongen (Schwester-) Fäden hängen zum enden noch durch feine Fädchen zusammen.
Theil noch aneinander. Ansatz der Spindel- (Schema nach Rabl.)
fäden an die chromatischen Fäden deutlich.
(Schema nach Rabl.)
IV. Stadium, das der Trennung oder Metakinesis, bezeichnen
(Fig. 46). Die aus der Längsspaltung (s. o.) hervorgegangenen chromatischen
Tochter- (Schwester-) Fäden rücken auseinander und vom Aequator der Spindel
362
KARYOKINESE.
fort in der Richtung nach den Polen. Durch die Untersuchungen E. van Benedeh's
(Ascaris) und Heuser's (Pflanzen) ist nachgewiesen worden, dass von den zwei
aus einem Faden entstandenen der eine zu dem einen, der andere zu dem anderen
Pole gelangt. Ob sie an den Spindelfaden entlang gleiten oder rätselten, oder
ob sie von jenen „gezogen" werden, oder durch welche Kräfte sonst diese Be-
wegung geschehe, ist noch unklar (vergl. u.). Jedenfalls gehen sie mit dem
Scheitel voran, auf den Pol zu. Die ausserordentlich wichtige Thatsache als
solche, welche im Verein mit der Längsspaltung der Fäden und ihrer einzelnen
Bestandteile von der einschneidendsten Bedeutung für die ganze ZelltheUnng
und die Lehre von der Vererbung ist, diese Thatsache selbst kann nicht mehr
bezweifelt werden.
V. Stadium: Die „Tochtersterne" , Dyaster (Fig. 47). Die Schleifen-
scbeitel näbern sich dem Pole und vermöge des hier enger werdenden Raumes
auch einander. Gleichzeitig werden die Fäden wieder kürzer und dicker. Schliess-
lich stehen sie, ganz ähnlich der Stellung im Mutterstern, in einigem Abstände
vom Pol , um diesen regelmässig gruppirt. Am Pol befindet sich wiederum ein
heller Fleck, der wie vertieft erscheint (Delle; Hilus, Rrtzius).
VI. Stadium: Die Toch terk n äuel , Dispirem (Fig. 48). Die Fäden
verkürzen und verdicken sich noch weiter und gelangen mit ihren sich biegenden
freien Enden in die Aequatorgegend. Hier, also am Aequator,
erfolgt dann die Einschnürung des Zellkörpers und die Thei- ^'J18'
lung des Zellprotoplasmas durch eine glänzende Linie (Ebene).
Noch vorher tritt eine neue (Tochter-) Kernmembran in die
Erscheinung; woher und wie ist unbekannt.
Das Vif. Stadium, die ruhenden (Tochter-)
Kerne (Fig. 49 und 50). Die neue Kernmembran wird Beginn des Tochter
fertig ; das Polkörperchen verschwindet , die chromatischen knäuel8^ (Schema nach
Fäden werden zackig, senden feine Fortsätze aus, die sich
untereinander verbinden. So entsteht wieder ein Netz mit gröberen und feineren
Fäden. Ob es zur Bildung eines dicken chromatischen Fadens aus den Seg-
menten kommt, ist sehr zweifelhaft (s. o.). Auch über das Auftreten der Kern-
körperchen ist man noch nicht im Reinen.
Fig. 49. Fig. 50.
Aelteres Tochterknäael (Epithel, Salamander- Schema des wieder znr Ruhe gekommenen
larve). Stark vergrößert. (Nach Rabl.) Kernes. Links die -primären" Fäden (vergl. j
Knäuel), rechts das Kernnetz. (Nach Rabl). ,
Vergl. hierzu Fig. 35.
Kurz zusammengefasst l&sst sich die Karyokinese also folgendermassen
kennzeichnen: „Zusammenziehung des chromatischen Kernmaterials in eine (be-
stimmte) Anzahl isolirter Stücke von charakteristischer, nach der Zellart wechseln-
der Form, die chromatischen Elemente; Ausbildung einer achromatischen Faden-
figur, sei es aus Kern- , sei es aus Zellsubstanz , mit zwei Polen ; Lagerung der
chromatischen Elemente, soweit dies ihre Zahl, Grösse und Form gestattet , in
der Aequatorialebene der achromatischen Figur; Tbeilung der chromatischen Ele-
mente in zwei Hälften, von denen jede einem anderen Pole zugeführt wird;
Auflösung der Tochterelemente in das Gerüst zweier neuer Kerne" (Boveri).
KARYOKINESE.
363
Um die „Polkörperchen" herum liegen, wie E. van Beneden hei Ascaris
fand, je eine Attractionssphäre. Anfangs nahe aneinander, stellen sie sich
dann polar und bilden die Mittelpunkte der Strahlungen. Wie weit verbreitet
diese Sphären vorkommen, ist noch unbekannt.
Die Karyokinese ist ausserordentlich weit verbreitet. Man ging sogar
eine Zeit lang so weit, sie für die einzig quasi legitime Art der Zeiltheilung zu
halten. Indess sind doch jetzt viele Beispiele von amitotischer Theilung bekannt
geworden, so beim Uterusepithel, in der Milchdrüse etc. Karyokinese wurde beob-
achtet bei allen Epithelien der Drüsen, den Bindesubstanzen, den glatten und quer-
gestreiften Muskelfasern, an Leucocyten (zum Theil amitotisch), an den Nerven-
zellen u. s. w.
Auch die pathologischen Neubildungen bedienen sich (J.Arnold)
vorwiegend der Mitose zur Zellvermehrung. Uebergänge zwischen der Karyokinese
und der directen Abschnürung haben wir nach J. Arnold in der „mitotischen
Fragmentirungu vor uns.
Waldever fasst die Frage, wie sich die beiden Arten der Zeiltheilung
zu einander verhalten, so auf, dass er die amitotische für die Grundform hält:
sie tritt überall dann auf, wenn die Kerne entweder chromatinarm sind oder es
auf eine genaue Halbini Dg des Cbromatins nicht ankommt. „Soll letzteres erreicht
werden, so treffen wir die Mitosen, denn diese sind der geradeste, sicherste und
einfachste Weg, die exacte Zweitheilung der chromatischen Substanz herbeizu-
führen ; dies wird wohl als das Ziel der Karyokiuose betrachtet werden müssen"
(1. c, pag. 45).
Eine Uebersicht über die oben besprochenen Stadien oder Phasen giebt
folgende Tabelle:
I. Ein ruhender Kern
II. Dichter Knäuel.
2. Lockerer Knäuel.
3. Schleifenspaltung, Kernspindel.
III. Ein Stern (Aequatorialstern, Monastcr).
B. IV. Trennung (Umordnung, Metakinese).
V. Zwei (Tochter-) Sterne (Dyaster).
, VI. Zwei (Tochter-) Knäuel (Dispireni).
( VII. Zwei ruhende (Tochter-) Kerne.
Von diesen Stadien entsprechen sich genau I und VII, II und VI, III
und V oder die gleichweit von dem eigentlichen Höhepunkt der Trennung ent-
fernten. Oder mit anderen Worten : Die Tochterkerne durchlaufen in umgekehrter
Reihenfolge die vom Mutterkern durchgemachten Phasen, wie es folgende Tabelle
veranschaulicht.
Stadien Zahl Form Zahl Stadien
I. 1 Ruhender Kern 2 VII.
IL 1 Knäuel 2 VI.
III. 1 Stern 2 V.
— y IV. Trennung — y
Ueber das Wesen der karyokinetischen Vorgänge und die Kräfte, welche
die mannigfachen Bewegungen auslösen, bat man bisher nur Vermuthungen. Im
Jahre 1889 hat C. Rabl auf Grund neuer Untersuchungen in einem an Geheim-
rath v. Koelliker gerichteten offenen Briefe eine Hypothese aufgestellt, die,
soweit Verfasser sieht, innere Wahrscheinlichkeit besitzt. Rabl stützt seine Be-
trachtungen, denen wir hier in Kürze folgen wollen, auf neue, mit Hilfe ver-
besserter Fixirungs- und Färbemetboden angestellter Beobachtungen, von denen
hier gleichfalls das Wichtigste mitgetheilt werden soll.
Kurz bevor die Längsspaltung der Knäuelfäden deutlich wird, sieht man
im Polfeld, nahe bei einander, die beiden Pole. Nach diesen hin verlaufen von
364
KARYOKINESE.
den chromatischen Fäden blasse, achromatische Fasern, die sich später zur Kern-
spindel zusammenordnen. Die Zahl dieser achromatischen Fasern ist eine sehr
grosse; Rabl schätzt sie auf 16 — 20 für jede Schleife und jeden Pol, d. h. also,
bei einer Zahl von 24 Schleifen auf mindestens 400 für jeden Pol oder 800 bis
1000 im Ganzen. Diese achromatischen Fäden setzen sich an die knotenförmigen
Anschwellungen der chromatischen Fäden an. Der Mittelpunkt, von dem das
ganze Bündel der achromatischen Fäden ausgeht, ist nun das Polkörperchen.
Auch die „P ol strahl u n gw des Zellleibes (Sternfigur, Sonne), welche man früher
vielfach als Ausdruck von „Strömungen" auffasste, hält Rabl für wirkliche Fasern
oder Fäden. Auch diese sind gegen das Polkörperchen centrirt, d. h. dieses bildet
den Mittelpunkt für alle geformten Bestan dt heile der Zelle.
Den Vorgang der Theilung denkt sich Rabl nun folgendermassen : Auf
irgend einen iunereu oder äusseren Reiz erfolgt eine Contraction sämmt-
licher geformter Best an dth eile. Zunächst theilt sich das Polkörperchen
und die dasselbe umgebende Attractionssphäre in zwei Hälften, wie dies van Bexedbk
und Boveri an Ascaris beobachtet haben. Die Fäden des Zellleibes strecken sich
gerade, sie werden kürzer und dicker: Polstrahlung. Die Theilung der Pol-
körperchen bedingt eine Theilung, wahrscheinlich Längsspaltung der Spindelfasern
und diese dann eine solche der chromatischen Fäden. Je mehr nun die Pol-
körperchen sich von einander entfernen, desto mehr werden auch die Spalthälften
der Spindelfasern auseinanderweichen. Diese werden aber in Folge ihrer Contraction
kürzer und dicker und werden dabei einen immer mehr gestreckten Verlauf
annehmen. Da nun die Spalthälften der Spindelfasern gleiche Länge haben, so
werden sie, wenn ihre Verkürzung bis zu einem gewissen Grade gediehen ist und
sich gleichzeitig die beiden Pole bis zu einer gewissen Distanz von einander ent-
fernt haben, nothwendig die chromatischen Schleifen, an die sie sich anheften, in
gleiche Entfernung von beiden Polen bringen müssen; mit anderen Worten, es
wird die chromatische Figur aus dem Stadium des Knäuels in das Stadium des
Muttersterns übergeführt werden. Macht die Contraction noch weitere Fort«
schritte, so werden endlich auch die Spalthälften der chromatischen Fäden in
der bekannten Weise auseinandergezogen und den Polen entgegengeführt. Auch
die chromatischen Fäden werden in Folge der Contraction kürzer, dicker
und gerader.
Rabl's Auffassung geht von der Annahme aus, dass der Bau der ruhenden
Zelle im Wesentlichen derselbe sei , wie der der jungen , eben aus der Theilung
hervorgegangenen Tochterzelle. Er schliesst dies aus den direct zu beobachtenden
Thatsachen und per analogiam : Bei der Theilung niederer Lebewesen (Planarien,
Anneliden) geht nicht erst die ganze bisherige Organisation zu Grunde, um sich
nach der Theilung wieder aufs Neue aufzubauen, sondern es bleibt dieselbe
während der ganzen Dauer des Processes in allen wesentlichen Zügen erhalten.
„Warum sollte nun eine Zelle, wenn sie sich theilt, ihre frühere Organisation
verlieren und eine ganz neue erwerben , um erst nach der Theilung wieder zum
ursprünglichen Zustande zurückzukehren?"
Handelt es sich somit nicht um organische Veränderungen im Kern und
in der Zelle, sondern nur um Bewegungen und eine mathematische Zweitheilung
der einzelnen Theilchen wie damit des ganzen Kernes, so steht die karyokinetische
Kern- und Zelltheilung der directen Theilung oder Zerschnürung erheblich näher,
als man zunächst nach dem Bekanntwerden der complicirtea Vorgänge bei der
Karyokinese annehmen zu dürfen glaubte. Waldeyer ist bereits vor einigen
Jahren (1886) noch einen Schritt weiter gegangen, indem er sagte: „Ich möchte
.... jetzt die Schranke zwischen einer directen und indirecten Kerntheilung ganz
fallen lassen. Es giebt nur eine Art der Kerntheilung, und zwar, wenn wir von
den Kcrnkörpeichen absehen, nach dem REMAK'scbcn Schema, wobei der Kern,
wie später die Zeile in einer bestimmten Ebene , der Tbeilungsebene , in zwei
meist gleiche Hälften durchgeschnürt wird."
KARYOKINESE.
365
Diese Auffassung hat durch mannigfache Beobachtungen der letzten Jahre,
besonders durch die Untersuchungen von J. Arnold, Flemming und Carnoy nebst
seinen Schülern, eine erhebliche Stütze erfahren. Es werden nicht nur „Varietäten"
der karyokinetischen Theilung, sondern auch Uebergänge zwischen dieser und der
einfachen Zerschnürung des Kernes aufgefunden. Ja, es scheint nach Allem, dass
ein und dieselbe Zellenart sieh gelegentlich des abgekürzten Verfahrens der ami-
totischen oder directen Theilung anstatt des umständlicheren, der karyokinetischen
bedienen kann.
Literatur. Dieselbe enthält die Arbeiten über Karyokinese bei thierischen
Zellen, sowie einige wichtigere Arbeilen , betreffend Pf lan zenze) len. Vergl. auch die Artikel
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366
KARYOKINESE.
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theilung. Archiv f. mikroskop. Anatomie. XXI, pag. 476. — N. Uskoff (Uskow), Zur
Bedeutung der Karyokinese. Archiv f. mikroskop. Anat. XXI, pa«. 291. — 1883. J. Arnold,
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Anzeiger. Jahrg. VI, Nr. 156, pasr. 681. — Derselbe, Biologische Studien. Halle a. 8. —
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pag. 45. — A. Kollmann, Der Tastapparat der Hand der menschlichen Rassen und der Affen
in seiner Entwicklung und Gliederung. Hamburg und Leipzig, L. Voss. — Masanori Ogata,
Die Veränderungen der Pan< reaszellen bei d*r Secretion. Archiv f. Anat. u. Physiol. Physiol.
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Ueber die Regeneration des Epithels der wahren Stimmbänder. Archiv f. mikroskop. Anat.
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1884. J. Arnold, Weitere Beobachtungen über die Tbeilnngsvorgänge an den Knochenmark-
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Kerntheilung und vielkernige Zellen. Ebenda. XÜVill, pag. 501. — Derselbe, Ueber Ken.-
und Zelltheilung bei acuter Hyperplasie der Lymphdrüsen und der Milz. Ebenda. XCV,
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Stadien über die Regeneration der Gewebe. Ebenda. XXIV, pag. 50 und pag. 338. — Der-
selbe, Ueber Bauverhältnisve, Befruchtung und erste Theilung der thierischen Eiselle.
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368
KARYO KINESE.
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rt. Ser., XVII. — R. Hartwig, Ueber die Kerntheilung bei Actinosphaenum Eichhorni.
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schrift zu Ehren Hoyer's. Warschau, pag. 531. — Ed. Strasburger, Neue Untersuchungen
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polare nell 'ovulo ovarico di alcuni mammiferi. — Intorno ad un prineipio di segmen-
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II, pag. 1 (1886? Jahreszahl fehlt im Original!). — W. Flemming, Ueber die Bildung
von Richtungsfigurfcn in Säugethiereiern beim Untergang Graafscher Follikel. Arch. f. Anat.
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Ueber die Anordnung der Kerntheilungsfiguren im Centrainervensystem und der Retina
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Protozoen. Ebenda. XI, pag. 454. — G. Platner, Ueber die Befruchtung bei Arion empiri-
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KARYOKINESE.
369
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der Geschlechtsproducte und den Befruchtungsvorgang bei Ascaris megalocephala. Archiv für
mikroskop. Anat. XXX, pag. 111. — 1888. J. Arnold, Weitere Mittheilungen über Kern-
und Zelltheilungen in der Milz; zugleich ein Beitrag zur Kenntniss der von der typischen
Mitose abweichenden Kerntheilungsvorgänge. Ebenda. XXXI, pag. 541. — J. Denys, Quel-
ques remarques sur la division des cellules geantes de la moelle des os d'apres les travaux
de Arnold, Werner, Löwit et Cornil. Aoat. Anzeiger. 13. März, Jahrg. III, Nr. 7. 1. März. —
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vorgänge bei Asc. megalocephala (vergl. oben). Sitzungsber. der k. Akad. Berlin. 19. Jan.,
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Befruchtung des Eies von Petromyzon Pianeri. Archiv für mikroskop. Anat. XXXII, pag. 613. —
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dasselbe englisch. Quarterly Journ. of Microscop, Scienc. Nr. 5, XXX; Nr. 118, Juli 1889;
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pag. 215 und in Mittheilungen aus dem embryologischen Institut der k. k. Universität Wien.
1888, 1889, pag. 30. — R. Hertwig, Ueber Kernst roctur und ihre Bedeutung für Zell-
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der Gewebelehre des Menschen. 6. umgearb. Aufl. I. Leipzig 1839. — Derselbe, Das
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og Befrugtning. Hospital-Tidende. R.III, VII, Nr. 20, 21. — W. Flemming, Amitotische
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370
KARYOKINESE. — KEFIR.
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Schriften der phys. - Ökonom. Gesellsch. in Königsberg i. Pr. Jahrg. 31. — O. Hertwig.
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Anat. XXXVI, pag. 404. — O. Schnitze, Ueber Zeiltheilung. SiUungsber. der Würzburger
physiol.-med. Gesellsch. XV. Sitzung vom 26. Juli. — F. Hermann, Die Entstehung der
kaiyokinetischen Spindelfigur. (Sitzung der Erlanger Soc. physiol.-med., 5. November.)
Münchener med. Wochenschr. Jahrg. XXXVII, Nr. 47, pag. 830.
Ende Jannar 1891. Karl Bardeleben.
Kataphorese. s. Elektrodiagnostik und Elektrotherapie,
pag. 228.
Kawaharz, 8. Augenheilmittel (An a esthetica), pag. 67.
Kefir. Bekanntlich bereiten seit langer Zeit die asiatischen Steppenvölker
aus der Stutenmilch ein alkoholisches Getränk, das sie Kumiss nennen nnd dem
sie grosse Heilwirkung bei Lungenleiden zuschreiben (s. den Artikel Diät in
Eulen bürg 's Real-Encyciopädie der gesammten Heilkunde, 2. Auflage) und wurde
dieses diätetische Heilmittel auch in den europäischen Ländern eingeführt. Der
enorme Preis desFelben stand aber trotz günstiger damit erzielter Erfahrungen der
grösseren Verbreitung entgegen und die meisten Stutcnkumissanstalten gingen iu
Folge ihres ungenügenden Absatzes wieder ein. Man suchte deshalb nach einem
billigeren Surrogate und bemühte sich, alle chemischen Milcharten in alkoholische
Oährung zu überführen, aber es gelang nicht, ein entsprechendes, dem Kumiss
ähnliches, geniessbares Getränk darzustellen ; bis vor wenigen Jahren aus Russ-
land die Nachricht kam, dass man mittelst eines bestimmten Fermentes aus Kuh-
milch echten Kumiss bereiten könne, nämlich ein von Tataren des kaukasischen
Gebirges hergestelltes Getränke, den Kefir (auch Kapir) genannt, dessen Ferment
die Kefirkörner bilden.
Eine Reihe von Publicationen sind, seit Sipowitsch im Jahre 1867 in
der kaukasischen medicinischen Gesellschaft darüber Mittheilung machte, über den
Kefir erschienen. H. Weiss in Wien hat in der unten bezeichneten Abhandlung,
KEFIR.
371
welcher wir hier folgen, diese Literatur darüber gesammelt. Mit der literarischen
Bekanntmachung ging die Verbreitung dieses Mittels in Deutschland, Oesterreich-
Ungarn, Frankreich u. s. w. einher.
Das Ferment, die Kefirkörner, Kefirsaraen, Kefirpilze besteht aus gelblich-
weissen elastischen Klümpchen, von 2 Mm. bis zu 5 Cm. Dicke und ist durch Farbe
und höckeriges Aussehen, namentlich im gequolleneu Zustande dem Blumenkohl
ähnlich. Nach Kern 's Untersuchungen besteht die Masse aus zwei mikroskopischen
Organismen, nämlich: 1. Hefezellen von der Gattung Saccharomyces Mayem und
2. einem bisher unbekannten stäbchenförmigen Mikroorganismus, einem Bacillus,
den er Dispora caucasica nannte. Dieser letztere Bacillus soll die alkoholische
Gährung der Kuhmilch veranlassen. Nach Kogelmann soll der gleiche Gährungs-
erreger, wie der Kefirpilz auch bei uns einheimisch und in der sogenannten Butter-
milch enthalten sein.
Die chemische Analyse der lufttrockenen Kefirkörner ergab:
Wasser 11*21%
Fett 3'99%
Peptonartige Substanz löslich in Wasser . . 10#98°/o
Proteinsubstanz löslich in Ammoniak . . . 10,32°/0
„ „ „ Kali 30-39%
Unlöslicher Rückstand 33*1 l°/o
100-00°/0
Der unlösliche Rückstand zeigt sich in einer verdünnten Kalilösung,
mikroskopisch untersucht als aus einem Gemenge von Hefepilzen und den oben
bezeichneten Bacterien bestehend. Aber hier bieten die Hefezellen die Eigen-
thümlichkeit , dass sie sich nur durch Knospung und nie durch Sporenbilduug
vermehren.
Die ursprüngliche Bereitung des Kefirgetränkes ist bei den kaukasischen
Gebirgsvölkern derart, dass die Milch in schmalhalsige Lehmkrüge oder in Leder-
schläuche gegossen wird, in welche man vorher eine Quantität Kefirkörner ge-
bracht hat. Wenn die Gefässe verbunden an einen kühleu Ort gebracht und
zeitweilig geschüttelt werden, so erfolgt bereits nach 1 — 2 Tagen die Gährung.
Dann wird eine bestimmte Quantität des Getränkes abgeleert und frische Milch
nachgefüllt. Der zu Arzneizwecken verwendete Kefir wird in Flaschen bereitet
(Fla schenk efir), und zwar auf zweierlei Art: 1. Durch Zusatz des sogenannten
Kefirfermentes, der Kefirpilze, 2. durch Zusatz einer bereits mittelst Kefirkörner
in alkoholische Gährung versetzten Milch.
Selbstredend müssen, um guten Kefir herzustellen, sowohl die Kefirpilze
als auch die Milch von bester Beschaffenheit sein. Der Vorgang der Bereitung
ist in den Anstalten jetzt folgender:
Die trockenen Kefirpilze werden, nachdem sie vorher sorgfältig gereinigt
und gewaschen wurden, in ein breites irdenes Gefäss gelegt und mit Milch Über-
gossen. Jeden Tag muss die abgekochte Milch erneuert werden, bis in etwa einer
Woche die früher gelblichen Pilze weiss werden und an die Oberfläche steigen,
durch Umrühren wird dies beschleunigt. Man seiht dann die Pilze von der Flüssig-
keit ab und legt dieselben in frische Milch. Auf 2 Glas = 1 2 Liter Milch nimmt
man einen Esslöffel voll zubereiteter Kefirkörner ; diesmal steigen die Pilze schon
in kurzer Zeit au die Oberfläche und nach etwa 16 Stunden wird die sauer
gewordene Flüssigkeit in Flaschen geleert. Letztere gut verkorkt, fleissig geschüttelt
und in einer Temperatur von 12° R. durch 24—72 Stunden belassen, je nach-
dem man schwachen oder starken Kefir wünscht. Je länger die Gährungsdauer,
desto saurer und reicher an Alkohol und Kohlensäure ist derselbe. Bei dreitägiger
Gährung ist der Kefir sauer und reich an Kohlensäure und Alkohol.
Auf diese Weise, durch Zusatz von Kefirkörnern, erhält man ein mög-
lichst gleichmässiges Präparat , was , wenn man die Gährung statt durch Pilze,
blo8 durch Zusatz von altem Kefir vermittelt, nicht immer der Fall ist.
372
KEFIR — KLIMATISCHE CÜREN und C URORTE.
Outer Kefir bleibt ebenso undurchsichtig wie Milch, hat die gleiche Farbe,
schmeckt angenehm saner und erfrischend und moussirt prächtig. Alle Bestand-
teile der frischen Milch sind auch im Kefir enthalten, nur dass in Folge der
Gährungs Vorgänge noch Milchsäure, Alkohol, Kohlensäure und Hemialbuminose
hinzukommen. Unter dem Einflüsse des Kefirfermentes gehen drei Processe vor
sich: 1. Ein Theil des Milchzuckers wird in Alkohol und Kohlensäure überge-
führt, 2. ein anderer Theil des Milchzuckers verwandelt sich unter Aufnahme
von Wasser in Milchsäure, es bleibt aber selbst im viertägigen Kefir eine Quantität
von Milchzucker zurück, 3. ein Theil der albuminoiden Substanz wird peptonisirt.
Die diuretische und diaphoretische Wirkung des Kefirs wird von ver-
schiedenen Beobachtern- (G. See, Richet, Moutard -Martin) betont. Der Harn
wird diluirt, an fixen Bestandteilen ärmer, der Gesammtstoffwechsel wird retardirt.
Eine methodische Anwendung findet derselbe in allen Fällen, wo eine Milchcur
angezeigt ist, besonders in allen S chwä che zu ständen, in der Reconv ale§-
cenz nach consumirenden Krankheiten, nach Typhus, nach Blutverlusten, bei
Anämie , kurz überall , wo ein rascher Ersatz der Verluste eine kräftigende
Nahrung fordert. Nicht nur das Aussehen des Patienten wird bei dieser Cur
besser, sondern auch das Körpergewicht nimmt regelmässig zu. Junger Kefir
wirkt leicht auflösend, alter hingegen verstopfend. Beim Gebrauche des Kefirs
beginnt man am besten mit etwa einer Flasche täglich und steigt auf drei Flaschen
und darüber. Am besten ist es, einen Theil Morgens nüchtern zu trinken, das
zweite Drittel des Vormittags und den Rest während des Nachmittags. Immer
rauss der Kefir schluckweise getrunken werden.
Contraindicirt ist der Kefir bei Neigung zur Fettsucht und Diabetes
mellitus. Bei chronischem Magen catarrh und Darmcatarrh, bei Cirrhosis hepatis,
bei Pleuritis, Ulcus ventriculi, chronischem Morbus Brightii, bei Scorbut wird
der Kefirgebrauch sehr gerühmt, in der Kinderpraxis hat er sich vielfach bewährt
Literatur: H. Weiss, Kefir, kaukasischer Milchwein (Kuh milch- Kaunas), seine
Anwendung und Wirkung. Klinische Zeit- und Streitfragen. Wien 1890. Kisch
Kehlkopf (Krankheiten), s. unter Larynx.
KehlkOpfgeSChWÜre bei Abdominaltyphus, s. pag. 7.
Kehlkopfspiegel, s. Laryngoskopie.
Keratinum. In Pharm. Germ. ed. III neu aufgenommen (zum Kera-
tiniren von Pillen).
Klimatische Curen und Curorte. Unter der umfangreichen Literatur
über dieses Thema nehmen die Erörterungen über D a v o s und Plätze, welche die
selben oder ähnliche Vortheile darzubieten scheinen, Jahr für Jahr die breiteste
Stelle ein.
Clifford Allbutt gibt in seiner neuen Schilderung von Davos
einen Ueberblick der Wandlungen, welche die öffentliche Meinung in England wie
auf dem Festlande in den jüngst verflossenen 1 0 Jahren zu Gunsten der Winter-
und Höheneuren durchgemacht hat. Seine Hoffnung, bei dem kürzlich von ihm
dort abgestatteten Besuch auch die Entwicklung der Verhältnisse in und um Davos
entsprechend vorgeschritten zu finden, hat ihre volle Bestätigung und Recht-
fertigung erfahren. Speciell bieten in dem englischen Viertel die Hotels neuerdings
alle Raffinements in Bezug auf Heizungs- und Erleuchtungssysteme dar ; vielleicht
nicht immer zum directen Vortheil der Phthisispatienten , was besonders von
gewissen Luftheizungssystemen zu bemerken wäre. Auch die Heranführung der
Eisenbahn bis nach Davos, mit ihr die Erzeugung von Rauch, Kohlenschmutz und
Dampf erscheint dem Verf. ein Culturfortschritt, über welchen Bedenken gestattet
sind, wenn auch auf der anderen Seite die Weiterentwicklung des Ganzen, die
Schaffung von Promenadewegen etc. selbstverständlich mit dem grösseren Zufluss
KLIMATISCHE CÜREN und CÜRORTE.
373
in nahem Zusammenhange stehen. Für nicht so bedenklich, wie sie Manchen
bereits erscheint, hält er die Gefahr, dass durch die Eisenbahn ernster Leidende
ihrem Curzweck entfremdet und zu allerlei zerstreuenden Ausflügen verleitet werden
könnten. In seinen weiteren Ausführungen bekämpft Allbütt besonders den
Irrthum der Patienten, wie mancher Aerzte, als bedürfe es nur eines kurz
bemessenen Aufenthalts im Höhenklima, um auch für tiefergehende Lungen-
affectionen, deren Bedeutung in geläufiger Weise beschönigt zu werden pflegt,
Remedur zu schaffen.
Weitere Curorte in ähnlicher Höhe wie Davos werden vielfach gerühmt,
neuerdings kein anderer so oft und anscheinend so berechtigt wie Andermatt
und allenfalls Beatenberg.
Trotz seiner um circa 100 M. tieferen Lage bietet zunächst Andermatt,
wenn man der überzeugungsvollen Schilderung Neükomm's Olauben schenken darf,
grosse Aehnlichkeit mit Davos dar , auf welche von kundigen Aerzten
bereits seit längerer Zeit hingewiesen sein soll. Es handelt sich besonders um die
grosse Anzahl nebelfreier sonniger Tage und den Umstand, dass die Häufigkeit
der Winde (N, SW, S) während der winterlichen Jahreszeit eine viel geringere
ist als im Sommer. Auf 3 X 365 Beobachtungen kamen überhaupt in Davos 702,
in Andermatt 747 Calmen; während der Zeit vom October bis März in Davos 391,
in Andermatt 386. Doch wird nicht verschwiegen, dass Föhnstürme in Andermatt
keine absolute Seltenheit sind. Was die sonnenhellen Tage anlangt, so trifft der
Durchschnitt von 99 pro Jahr sowohl für Andermatt, als für Davos zu, für den
ersteren Ort aus Beobachtungen der Jahre 1864 — 1880, für Davos aus denen
der Jahre 1867 — 1884 berechnet. Auch die Vertheilung von je 42 hellen Tagen
für die Jahreszeit von April bis September und von 57 für die winterlichen sechs
Monate ist an beiden Orten die vollkommen gleiche. Nebel hatte Davos pro
Winterhalbjahr an je 13, Andermatt an je 17 Tagen; docfi ist es hierbei aus-
nahmslos der Monat October, welcher für Andermatt die grössere Anzahl der
Nebeltage bedingt. Die mittlere Jahrestemperatur ist mit 2*6° (Davos) und 2 9°
(Andermatt) nahezu die gleiche: die durchschnittliche Wintertemperatur beträgt
— 2-96° für Davos, — 2*94° für Andermatt. Die atmosphärischen Niederschläge
sind für den ersteren Platz mit 947, für den letzteren mit 1259 Mm. Höhe
bemessen. Dabei hat jedoch Davos 141, Andermatt nur 126 Tage mit Nieder-
schlägen. Als wesentlich günstigen Umstand für dieses legt Verf. noch die Ueber-
füllung, die schon längere Zeit in Davos beklagt wird, in die Waage. Noch ein-
gehender wird der Vergleich hinsichtlich der in 's Gewicht fallenden meteorischen
Factoren in einer ausführlichen Arbeit von Schmid durchgeführt. Nach ihm liegt
Davos 1560, Andermatt 1448, St. Beatenberg 1150 M. ü. M. Die
Durchschn ittshöbe der Wintertemperatur beträgt für Davos — 2 96,
für Andermatt — 2 94 (beide sehr ähnlich), dagegen für Beatenberg +0*05°
(Messungen von 1877 — 1881). Bei einem Vergleich der verschiedenen Jahrgänge
stellt sich heraus, dass in Andermatt und Davos die Mitteltemperatur der sechs
Wintermonate in jedem Jahre unter Null steht, während dies in Beatenberg nur
1878 zu constatiren war. Ueberblickt man die sämmtlichen 30 Beobachtungs-
monate, so stehen die mittleren Monatstemperaturen über Null: in Andermatt
7 Mal, in Davos 8 Mal, in Beatenberg 16 Mal. Bei Eliminirung des October
bleiben für den letzteren Ort noch 11, für die anderen zusammen nur 5 Plus-
temperaturen. Zurückzuführen sind diese Temperaturverhältnisse für Beatenberg
auf seine günstige Lage an einem geschützten Bergabhange. Dieselbe hat gleich-
zeitig zur Folge, dass die Temperaturextreme und Tagesschwankungen hier günstiger
und regelmässiger sich gestalten, als an den Vergleichsorten. Im zweiten Abschnitt
seiner Darlegungen behandelt Schmid die Windverhältnisse der 3 Stationen.
Beatenberg hat weitaus am häufigsten bewegte Luft, bei 2733 Beobachtungen
wurde nur 69 Mal Windstille verzeichnet. Davos hatte 3 6 , Andermatt aber 3 4
Calmen. Der Richtung nach hatte Beatenberg 1639 NW, 825 SO bis SW —
374
KLIMATISCHE GOREN und CURORTE.
Davos 997 NO und 0, 267 SW — Andennatt 340 N, 413 SW bis W. Ungünstig
stellt sich für Beatenberg die grosse Häufigkeit der Nebel, indem 50 und mehr
Nebelbeobachtungen gerade auf jeden der Monate December und Januar während
der fünf Beobachtungsjahre kommen, während die anderen Orte, besonders Davos,
weit nebelfreier sind.
Im Gegensatz zur Höhen-Klimatotherapie hat die marine Klimatotherapie
ihren Gesichtskreis durch eine Reihe neuer Fragepunkte erweitert und eine Anzahl
früher noch kaum besprochener Küstenplätze in ihren Bereich gezogen.
Vom Gesichtspunkt der medicinischen Klimatologie unterscheiden
sich den Ausführungen Daubler's 9) zufolge in Norwegen drei Zonen: 1. Die
eine, welche nicht unter dem Einfluss des Golfstromes und seines das Land
erwärmenden Einflusses steht , nämlich die Süd-, resp. Südostküste; 2. die
allerdings unter dem Einfluss des Golfwassers stehende Küste des nordwest-
lichen Norwegens vom 61.° nördlicher Breite an, dessen Klima für den
Winteraufenthalt aber nicht so mild ist und welche zuviel Niederschläge hat;
endlich 3. den Küstenstrich vom 58. — 60. Breitegrade, mit Ausschluss
Bergens wegen dessen feuchten Klimas. Der Golfstrom heisst als äquatoriale
Querströmung unter dem Aequator Guineastrom, weil er von Guinea seinen
Anfang nimmt, in der Bay von Florida, durch die sogenannte Marrows eingeengt,
bildet er sich als compacter Strom unter dem Namen Floridastrom in 40* nörd-
licher Breite, wo er sich Europa zugewandt hat, erhält er den Namen Golfstrom,
er ist als Floridastrom 200 Kilometer breit, nach der Theiiung 80 — 150 Kilo-
meter. Die Temperatur seines Wassers ist je nach den Jahreszeiten wechselnd,
im Sommer schwankt sie zwischen 26 und 28° C. , im Winter zwischen 17 und
25° C. Im Mittel ist seine Temperatur zwischen dem 30. und 40. Parallelkreiso
die höchste, mit 2b° C, mit der Tiefe abnehmend. Nach den MOHN'scben Messungen
kann man annehmen, dass die mittlere Temperatur des Meerwassers an dem
sub 3 abgegrenzten Küstenstrich zwischen dem 58. und 60. Breitegrade im Sommer
18 5° C. betragt, im Winter 5° C.
Welche Wirkung diese warme Meeresströmung auf das von ihr umgebende
Land und auf die Lufttemperatur über dem Meer und an der Küste ausübt,
besonders aber auf die meisten, nur 2 — 5 Kilometer breiten, in solch temperirtes
Wasser hineinragenden Landzungen, ist leicht ersichtlich. — Während das Innere
Norwegens, welches nicht mehr unter dem Einfluss des Golfwassers steht, die-
selben Wintertemperaturen aufweist als Tirol, dennoch aber wärmer ist, als das
Innere Schwedens und auch der Garten- und Feldbau sich weiter nach Norden
erstreckt, kann man vom Ende der Fjorde an nur noch einen, einige Kilometer
breiten Streifen Landes als vom Golfstrom Vortheil ziehend in's Auge fassen.
Allein das warme Seewasser und die Eigenart der Landvertheilung in demselben
an' der norwegischen Küste bedingen ein Klima, welches für chronische Catarrhe,
Residuen pleuritischer Entzündungen und auch für chronische Pneumonien sehr
wohl als das eines geeigneten Winteraufenthaltes in Frage kommen könnte.
Hauptsächlich, glaubt Daubler, wird man Norwegen noch einmal als Wintercur-
ort würdigen lernen bei jenen chronischen Krankheiten, bei deren Heilung von
empirisch-therapeutischer Seite ein unbedingter Werth gelegt wird auf die Hebung
der Ernährung und Blutbildung.
Das Südufer der Krim bildet nach Weber's6) Beschreibung einen
schmalen, zwischen der 5000 Fuss hohen Jailakette und dem Meeresufer liegenden,
3 — 5 Werst breiten Landstrich, in welchem sich — dieser Formation entsprechend —
mehrere Punkte dicht zusammengedrängt vorfinden, deren climatische Eigentüm-
lichkeiten sie das ganze Jahr hindurch in gewisser Abwechslung zur Benutzung
für Curzwecke ganz besonders geeignet erscheinen lassen. In Jalta, dem Häupt-
ern orte des Südgestades der Krim, wird man vier Cursaisons unterscheiden dürfen :
Die Frühlings- oder Kefir-Saison (1. April bis 1. Juni alten Stils); die Sommer-
oder Kumyss- und Badesaison (1. Juni bis 15. August); die Herbst- oder Wein-
KLIMATISCHE CÜBEN und CÜRORTE.
375
traubensaison (15. August bis 1. November); die Wintersaison (1. November bis
1. April). Die besuchteste dieser Curzeiten ist die Herbstsaison, zu welcher der
Zudrang von nacbcurbedürftigen Badegästen der Schlammbäder Odessas, Saakis,
Tschokraks, sowie der kaukasischen Mineralbäder enorm ist. Die Wintersaison
besteht erst seit 3 Jahren ; sie erscheint berechtigt durch die Milde der Herbst-
spätzeit, November, December — Monate, in welchen Rosen und Veilchen dort
zur üppigsten Blüthe gelangen. Selbst im Winter und in den rauheren Monaten
Januar bis März überwiegen an Zahl die sonnigen, windfreien Tage, durch welche
das Südgestade der Krim ausgezeichnet ist. Was die Frühlings- und Sommersaison
anlangt, so hat die erstere neuerdings als Saison der Milchcuren, und zwar der
Kefircuren , ihre rechte Würdigung erfahren , da der Kumyss erst im Mai den
Charakter annimmt, der ihn als Nähr- und Heilmittel in Ruf gebracht hat. Für
Jalta tritt im Sommer die Bergstation Ssaar und das Plateauörtchen Pendiko als
geeignete Station ein. —
Südlich von Abbazia, östlich von Pola, sich längs des österreichischen
Küstenlandes in nordsüdlieher Hauptausdehnung hin erstreckend, zog die Insel
L u 8 s i n die Aufmerksamkeit Clar's zuerst auf sich durch die günstigen Curven,
welche in dieser Gegend die Isothermen innehalten. Aber nicht nur den
Vortheil einiger Wärmegrade fand er (in Uebereinstimmung mit Schrötter) bei
Besuchen des Eilandes bestätigt, sondern es ist demselben besonders noch die
Abschwächung der Temperaturextreme und ein vorragend constantes Ver-
halten der Luftfeuchtigkeit nachzurühmen. „Der Winteraufenthalt auf Lussin
pasat indess nicht für schwere Phthise , sondern sein anregendes , eine gewisse
vorausgesetzte Widerstandskraft herausforderndes und steigerndes Seeklima mit
milder, aber vielfach bewegter Luft eignet sich vor Allem für Reconvalescenten
und jene ererbten oder erworbenen Schwächezustände, von denen zu erwarten
ist, dass der Organismus den klimatischen Impuls mit einer Erhöhung seiner
Leistungsfähigkeit erwidert. Kranke, welchen absolute Windstille erstes Bedürf-
niss ist, werden während der eigentlichen Wintermonate, trotz der höheren Wärme
ihre Rechnung in Lussin nicht finden." Um die Charaktere des Klimas noch
besser zu verdeutlichen, bemerkt Clar an einer späteren Steile, dass sich eine
interessante Parallele ziehen lasse zwischen Arco und Lussin, „indem das in den
eigentlichen Wintermonaten ausserordentlich windstille, sonnige und — wenn auch
kühlere, so doch — schon schneefreie Arco dem wärmeren Lussin mit seinem
bewegteren und stärker bewölkten Luftkreise gegenüber zu stellen wäre". Günstige
Promenaden gewährt die Stadt Lussin selbst, welche, wie auch die Schwester-
städte Lussin piccolo und Lussin grande, Windschutz erhält durch das auf dem
Festlande mächtig in die Höbe strebende gewaltige Gebirgsmassiv des Velebit.
Bei Landwind ist die Küstenluft besonders warm und trocken; letztere Eigen-
schaft verliert sie vor der Ankunft auf der Insel durch das Bestreichen des fünf
Meilen breiten Meeresarms. Die Nordost- und Südostwinde kommen auf Lussin
bereits sehr abgeschwächt, nahezu als Calmen an ; der Hauptwind ist der Maästral
(Nordwest), nur selten weht der Libeccio aus Südwest. Der Strand des kleinen
Hafens liefert ein vortreffliches Seebad.
Madeira und seine Bedeutung alsCurort bat neuerdings durch
Mittermaier und Goldschmidt neue Darstellungen unter Verwerthung der von
18o6 — 1875 dort behandelten Schwindsuchtsfälle erfahren, eine Arbeit, welche
G. v. Liebig einer ausführlichen Analyse unterwirft. Von den total 284 Fällen
von Lungenschwindsucht sollen 244 als schwere, 33 als mittelschwere, 7 als
leichte bezeichnet werden. Charakteristica der ersteren sollen elastische Fasern
im Auswurf und bereits in Erweichung übergegangene ein- oder beiderseitige
Infiltrationen sein. Zum Theil waren indess diese schweren Fälle bereits zu weit-
greifenden Zerstörungen und zur Hoffnungslosigkeit vorgeschritten. Auf der Insel
starben von diesen 76, während 39 eine Reihe von Jahren dort in verhältniss-
mässigem Wohlbefinden weiterlebten. Ein Dritttheil der schweren Fälle (genau 83)
376
KLIMATISCHE CÜREN and COR ORTE.
wurden geheilt, davon 71 definitiv, 12 in der Weise, dasß sie nach einem in
völliger Gesundheit zn Hause vollbrachten freien Zeitraum von durchschnittlich
10 V2 Jahren einem Neuausbruch der Krankheit erlagen. Von den 33 mittel-
schweren und den 7 leichteren Fällen verliess keiner angeheilt die Insel. — In
seiner hieran geknüpften Untersuchung über die Gründe dieser günstigen Wirkungen
stellt Liebig voran, dass Madeira sich nicht blos im Winter, sondern auch im
Sommer zu dauerndem Aufenthalt eignet. Eine besondere Beachtung verdient auch
der Umstand, dass im Madeiraklima seltener als anderswo Bronchialcatarrhe und
andere, die Lungencapacität herabsetzende, vorübergehende, interferirende Er-
krankungen entstehen, unter denen die fatale Bedeutung der Pleuritiden für das
Umsichgreifen des Schwindsuchtsprocesses ja schon von längerer Zeit her bekannt ist.
In sehr erheblicher Anzahl lenken Beschreibungen nordamerikanischer
Aerzte die Aufmerksamkeit auf verschiedene Plätze, welche an Anmuth und neuer-
dings auch an Comfort die Concurrenz mit der Riviera aufnehmen und ebenso
heilkräftig wirken sollen. Bei dieser sehr ernstlichen Propaganda, welche besonders
für die landschaftlich und klimatisch günstig gelegenen Orte Californiens in
dem Sinne gemacht wird, dass sie sich zu Sanatorien, nicht blos für Ameri-
kaner, sondern womöglich für das leidende Publicum Europas entwickeln sollen,
ist Parkinson's Arbeit mit ihren ziffermässigen vergleichenden Angaben nicht
ohne Bedeutung. Es handelt sich im Wesentlichen um die Stationen Los Angelos.
Oakland, Red Bluff, Sacramento, San Francisco, Santa Barbara, San Diego , alle
zwischen 32 und 40° nördlicher Breite und 117 — 122° westlicher Länge belegen
und theils nur 10 — 20, theils (wie Los Angelos und Red Bluff) über 100 Meter
überm Meer. Ihr Verhältniss (in Bezug auf Temperaturen der sonstigen Jahres-
zeiten und im Winter) zu den besuchtesten Mittelmeerstationen wird durch folgende
Uebersicht klar gelegt.
Käme des Curorts und der Station
Vinter- Frühliij- 1 Sommer- Herbst- | Jahres-
Temperatur, durchschnittlich
Tempe- Tempe-
ratur- . ratur-
Maxim. 1 Minim.
Meter
überm
Meer
(Alles
in Grad Fahrenheit)
i Florenz
44*3
56*8 i
740
60-7
58'8
490
583 1
739
62-5
60*9
85
23
489
573 1
724
61-9
60-1
85
25
47*8
56*2 ■
72-3
616
59-5
49-G
57*4 |
730
610
60*2
85
20
54*6
581
66-8
626
60*5
101
32
13
53'6
58*4 .
67-8
627
60-6
112
28
111
Santa Barbara '1
543
59 4 .
677
63*1
61'0
102
31
10
Santa Cruz ||
51*8
577
622
59*6
57*8
98
30
8
' Monterev 11
50*9
567 ■
61-6
57-1
56-6
90
25
14
San Francisco I|
513
54'6
585
582
55-7
95
33
20
483
59-5
71-7
61-5
60*2
106
19
12
, Oroville :
52'9
64*5 ;
78-8
643
65-1
102
29
70
i Red Bluff Ii
46*8
598
797
632
62*4
110
19
102
I Auburn j
462
564
74-3
617
597
106
18
450
Die günstige Lage der Wintertemperaturen leuchtet ein; nicht eben er-
wünscht ist die erhebliche Kühle der Nächte in Californien. Die Zahl der klaren
Tage erscheint dort überall als eine sehr hohe.
An einem erheblichen Beobachtungsmatcrial machte der Chefarzt der
amerikanischen Marine, Gihon 2), den in der Hauptsache geglückten Versuch, die
heilenden Factoren längerer Seereisen und des oceanischen Klimas
nach ihren Einzelheiten zu betrachten. Nicht ohne Belang sind hinsichtlich der
eigentlichen seefahrenden Bevölkerung die Dispositionen, welche dem Beginn der
Reise voraufzugehen pflegen ; auf die häufig mit Krankheiten behafteten und aus
den ungünstigsten Lebensverhältnissen Ausgemusterten der Kauffahrtheiscbiffe wirkt
der Meeresaufenthalt oft sehr anders, als auf für den Dienst auf Kriegsschiffen
KLIMATISCHH CUREN und CUBORTE. — KOCH'sches VERFAHREN.
377
angeworbene, wenigstens in der Hauptsache von Krankheitsanlagen freie Mann-
schaft. Bei dieser letzteren sind es nur wenige Affectionen, die in grösserer
Häufigkeit während des Lebens auf hoher See frisch erworben werden: entzünd-
liche Affection der Luft- und Verdauungswege, Neurosen, zu denen Verfasser auch
die Seekrankheit rechnet, und Rheumatismen. Letztere möchte Gihon mit den
unvermeidlichen Deckwaschungen und der schlechten Ventilation der Mannschafts-
quartiere in Zusammenhang gebracht wissen. — Dem gegenüber wirkt der Auf-
enthalt auf einem geräumigen, wohl ausgestatteten 8chiffe, in gemässigten Breiten
und in der reinen Luft des Oceans auf nahezu alle chronischen Leiden heilend;
in erster Reihe verschwinden Nervenleiden und die Seekrankheit macht — falls
nicht auf einer unbezähmbaren Idiosyncrasie beruhend — einer vermehrten Lust
nach Nahrungsaufnahme Platz. Dieser Umschlag in Folge eines sonst mit ange-
nehmen Eindrücken verbundenen Seeaufenthaltes kommt Jedem zu Oute, am
sichtlichsten jedoch Reconvalescenten von verschleppten Fiebern, von Neurasthenie,
überarbeiteten Geschäftsleuten, Kindern von schwacher Constitution und beständig
schwankender Gesundheit.
Literatur: Allbntt Clifford, Bavos as a health resort. Lancet. 13. Oct.
1888. — Fr. Schmid, Meteorologisches über die Winterstationen Andermatt, Davos und
St. Beatenberg. Correspondenzbl. für Schweiz. Aerzte. 1888, Nr. 2 und 3. — M. Neu komm,
Andermatt als Wintercurort. Zürich 1888. — F.Weber, Ueber die clima tischen Cursaisons
in der Südkrim. St. Petersburger med. Wochenschr. 1887, Nr. 23. — C. Kruse, Ueber See-
luft und Seebadecuren bei Nervenkrankheiten. Norden 1887. — C. Clar, Aus Lussin. Wiener
klin. Wochenschr. 1888, pag. 786. — Derselbe, Arco und Lussin. Ebenda. 1889, Nr. 17. —
Da übler, Norwegen und dessen Bedeutung als Wintercurort. Aerztl. Prakt. 1889, Nr. 19. —
G. v. Liebig, Die Heilergebnisse bei Lungenschwindsucht auf Madeira und Einiges über die
Anlage zur Schwindsucht. Münchner med. Wochenschr. 1887, Nr. 78. — De Jonge, Ueber
die Bedeutung Palermos als Wintercurort. Berliner klin. Wochenschr. 1887, Nr. 38. — Otis,
Hint8 to physicians sending their consumptive patients to Colorado. Bost. Med. and Surg.
Journ. 15. Dec. 1887. — Fisk, Conditions favorable to out-of-door life in Colorado. Ibid.
22. Sept. — Huber, Bemarks on sending phthisical patients to the Rocky -Mountain
regions. Philad. Med. and Surg. Rep. 31. Sept. 1887. — Loomis, The climate and environ-
ment best suited to old age in health and disease. The Amer. Med. News. 29. Sept. 1888. —
K n i g h t , On the selection of a climate for patients %cith pulmonary tuberculosis. Boston
Med. and Surg. Journ. 5. April 1888. — Parkinson, Facts and figures in connection teith
the climate of California. Brit. med. Journ. 5. Mai 1888. — Abbott, The basis of rational
climato-therapie. Boston Med. and Surg. Journ. 1889, Nr. 4. — Gihon, The therapie of
Ocean climate. Med. News. 3. Aug. 1889. — Hirschberg, Aegypten als climatischer Cur-
ort. Deutsche med. Wochenschr. 1889, Nr. 5*2—26. — Gore, Cairo. Dublin Med. Journ. Dec.
1889. — Füller, Südafrika als climatischer Curort. London 1889. Wernich
Knochenbruch, Knochenwunde, s. Frakturen, pag. 269
KnOChenentZÜndung bei Abdominaltyphus, pag. 8.
K0Ch'8Che8 Verfahren. I. Vorbemerkungen. Wohl nie im Ver-
laufe der Geschichte medicinischer Wissenschaft ist die blosse Ankündigung einer
Entdeckung auf therapeutischem Gebiete mit solchem Enthusiasmus aufgenommen
worden, als die Mittheilung Robert Koch's in der Eröffnungssitzung des inter-
nationalen medicinischen Con grosses, dass es ihm gelungen sei, ein Mittel zu
finden, welches Versuchstbiero gegen Impfung mit Tuberkelbacillen unempfänglich
mache und bei schon erkrankten Thieren den Krankheitsprocess zum Stillstande
bringe; noch nie hat ein blosses Gerücht, dass Versuche mit dem erwähnten
Mittel an Menschen angestellt seien und zu günstigen Ergebnissen bezüglich der
Heilung tuberkulöser Erkrankungen geführt hätten, ein so gläubiges und hoff-
nungsvolles Publicum gefunden; noch nie haben Aerzte und Laien, mit wenigen
Ausnahmen, die unwahrscheinlichsten Heilresultate mit gleichem Vertrauen als
Thatsachen anerkannt, auch wenn sie allen bisherigen Erfahrungen direct wider-
sprachen. So kam es, dass das Gefühl hoffnungsfreudiger Erwartung durch eine
eigenthümliche Art epidemischer Suggestion und Autosuggestion schnell die Kraft
einer Ueberzeugung, wie sie sich sonst nur auf bewiesene Erfolge stützt, erlangte,
KOCH'tebes VERFAHREN.
und es ist deshalb nicht wunderbar 7 dass. als Koch nun wirklieh seine Er-
fahrungen Aber die Behandlung der Tuberkulose am Meaaehen reröfflatliehte , ein
Taumel der Freude die ganze Mensehheit ergriffen zu haben sehien. Eine neue Aera
des Mensehenglflcks sebien angebrochen zu sein, in der das Schreckgespenst der
Tuberkulose aller Furchtbarkeit beraubt und in der der schone Traum der Heil-
barkeit aller Krankheiten in erreichbare Wirklichkeit Yenrandelt schien; eine
Acts, die die Actien der Lebensveroicbernngs-Geeellschaften steigen und einige
phantasievolle Propheten bereits die Frage ventiliren liess, wie sich die Mensch-
heit der zu erwartenden üebervölkerung gegenüber zu verhalten habe. — Und
worauf hatte man diese utopischen Hoffnungen gebaut? Auf folgende, viel ver-
sprechende, aber immerhin noch massvolle Ausspräche Koch's in seiner grundlegenden
Arbeit: Weitere Mittheilungen Aber ein Heilmittel gegen Tuberkulose: 1. „Der
Erfolg fbei Drüsen-, Knochen-, Gelenktuberkulose) war derselbe wie bei Lupus;
schnelle Heilung in frischen und leichten Fällen, langsam fortschreitende Besserung
bei den schweren Fällen. u 2. „Nach diesen Erfahrungen mochte ich annehmen,
dass beginnende Phthise durch das Mittel mit Sicherheit zu heilen ist. Theilweise mag
die« auch noch für die nicht zu weit vorgeschrittenen Fälle gelten." 3. „Erfahrungen
Heften noch nicht darüber vor, ob die Heilung eine definitive ist, denn Recidive
sind «elbstverständlich vorläufig noch nicht ausgeschlossen; doch ist wohl anzu-
nehmen, dass dieselben eben so leicht und schnell zu beseitigen sein werden, wie
der erste Anfallt
So hoffnungsvoll die eben citirten Sätze ja auch für den klingen , der
im Verlaufe der Jahre die verhältnissmässig geringen Erfolge der Therapie tuber-
kuloser Erkrankungen der Lungen zu beobachten Gelegenheit hatte, so statuiren sie
doch gewisse Grenzen ; sie lassen von der neuen Methode unendlich mehr erwarten und
geben der Thätigkeit des Arztes grösseren Spielraum als bei den bisher geübten,
die ja ihren, in einzelnen Fällen nicht wegzuleugnenden Erfolg weniger der activen
medicamen tosen Einwirkung" auf die Kranken, als der planmässig geleiteten
hygienischen Behandlung und der Abhaltung der Schädlichkeiten zu danken hatten,
aber sie fixiren doch immerhin die Grenzen der Heilmethode ziemlich eng. Wie
ist nun trotzdem die überschwengliche Deutung, die man den Worten Koch's
gab, zu erklären? Ks wirken hier eine Reihe von Umständen mit, deren Er-
wähnung für die Beurtheilung einer Periode, die ganz einzig dasteht und von
Vorgängen, die ihres Gleichen nicht haben, von grosser Wichtigkeit ist.
Eh kommen folgende Momente in Betracht: 1. Der fascinirende Einfluss
des Namens eines Forschers, der die exaete Bacteriologie begründet und mit jeder
neuen Entdeckung, so sehr sie auch Anfangs bestritten werden mochte, die Erkennt-
nis um neue Tbatsachen bereichert hat , musste notwendigerweise bei denen, die
den Unterschied zwischen der Beweisführung im Laboratorium,
am Expori men talth iere und der Beweisführung am kranken
Menschen nicht würdigen, die leider irrthtimliche Ansicht
wachrufen, dass der dort anscheinend nie irrende Forscher
auch auf dorn durchaus anders beschaffenen Boden der mensch-
lichen Pathologie und Therapie, unter ganz anderen Voraus-
setzungen der wissenschaftlichen Fragestellung und der Be-
trachtung des Beobachteten, sich mit derselben Sicherheit be-
wegen müsse. 2. Das freudige Erstaunen, dass zum ersten Maie eine auf wirk-
lich wissenschaftlichen, experimentalen Grundsätzen entstandene therapeutische
Methode in ganz aualogen Fällen von Erkrankung zur Anwendung kam, während
doch sonst jedem am Thier erprobteu oder versuchten Heilmittel gegenüber immer
der Einwand geltend gemacht werden konnte, dass die bei Thieren zu erzeugenden
krankhaften Zustände uie identisch seien mit dem , was wir beim Menschen
Krankheit nenneu. 3. Die verblüffende Thatsache , dass das Heilmittel auch zu-
gleich ein diagnostisches Mittel sei. Damit war natürlich dem Speculationsfieber
und der Sucht, in scheinbar exaeter Weise wirklich naturwissenschaftliche
KOCH'sches VERFAHREN.
379
Hypothesen zu machen, Spielraum gegeben, und man verfehlte sogar nicht, eine
Art von chemischer Affinität des Mittels zu den Krankheitsstoffen im Körper als
Ursache der frappanten Erscheinungen anzuschuldigen. 4. Nach dem Gesetze
des Contrastes, der auch die therapeutischen Moden beherrscht, musste die
so sehr paradoxe Behauptung, dass die Entstehung von Fieber ein Zeichen der
Wirkung, der Anfang und zugleich das wesentlichste Werkzeug (wenn man so
sagen darf) des Heilverfahrens sei, am meisten auf die Gemflther der Aerzte und
Laien wirken, die bisher fast ausnahmslos gewöhnt waren, im Fieber einen
auf jede Weise zu bekämpfenden Feind zu sehen. Hat doch der
Satz: Credendum, quia absurdum (d. h. weil etwas gegen die bisherige Ansicht
und Erfahrung ist) noch immer am meisten Aussicht, wenn er nur mit Energie
vertreten wird, sich Geltung zu verschaffen. 5. Darf nicht vergessen werden,
dass die Meisten in der Meinung von der Richtigkeit aller, auch der therapeutischen
Ansichten Koch's dadurch bestärkt wurden, dass seine Angabe über das Erscheinen
einer fieberhaften Reaction nach Einverleibung seines Mittels sich alsbald be-
stätigte und so auch dem Zweifelnden ad oculos demonstrirte , dass hier ein
mächtiges Agens wirke. Diese Ueberzeugung musste noch verstärkt werden,
wenn die ausserordentlich schlagenden Veränderungen der an Lupus erkrankten
Partien auch dem Skeptiker die anscheinend typische Reaction tuberkulösen Ge-
webes auf das Einwurfsfreieste demonstrirten. So ist es nicht wunderbar, dass so
ausserordentliche Phänomene auch ganz besonders fascinirende Wirkungen auf die
Untersucher und Beobachter ausübten und, in Verbindung mit der allgemeinen Ten-
denz, Erscheinungen möglichst schnell zu verallgemeinern, zu Beobachtungen führten,
die vor ernster aprioristischer Kritik nicht Stand halten konnten und in jedem Falle
der strengen Methode naturwissenschaftlicher Schlussfolgerungen nicht entsprachen.
Nicht nur, dass man nach Anwendung der lnjection überall, an den Lungen,
im Kehlkopf, an der Niere, Veränderungen ähnlicher Natur wie an der äusseren
Haut zu sehen oder durch die bisherigen Untersuchungsmethoden erschliessen
zu können glaubte, sondern man beging, da man bona fide dem Mittel die stärksten
Wirkungen zutraute, getreu dem alten, so oft Irrthura verursachenden Grundsatze :
Post hoc ergo propter hoc, auch den unverzeihlichen Fehler, Alles, was währen d
oder nach der Anwendung der Einspritzungen bei den Kranken
auftrat, als Wirkung der lnjection zu betrachten, und so konnte es
nicht ausbleiben , dass man Röthungen , Schwellungen des Larynx , neue Herd-
erscheinungen in den Lungen, Husten, Vermehrung des Auswurfs etc. als Folgen
des Mittels betrachtete, ohne durch Controlbeobachtungen an nicht behandelten
Kranken sich zu vergewissem, wie oft diese, hier als specifisch betrachteten Symptome
sich auch im normalen Ablauf der Krankheit, also als gewissermassen normale
Erscheinungen, die den typischen Krankbeitsprocess begleiten müssen , einstellen.
Wer gewöhnt ist, Phthieiker leichten und schweren Grades, namentlich zweifelhafte
Fälle, häufig zu untersuchen, der wird wohl nicht lange im Unklaren darüber
sein, wie sich die sogenannten physikalischen Erscheinungen über den Lungen
verändern, wie bald hier Rasseln oder Schnurren verschwindet, dort auftritt, wie
Dämpfungsverhältnisse und Athmnngsgeräusche Art und Charakter ändern, wie
auch die anderen localen und allgemeinen Symptome, je nach den Verhältnissen
des Falles und der Individualität des Kranken wechseln.
Wer alle diese Veränderungen in causalen Zusammenhang mit einem
bestimmten Mittel bringt, wer alle Zufälle, die die Krankheit mit sich führt,
namentlich die guten, als Folge der Behandlung ansieht, der darf sich eben auch
nicht wundern, wenn der Kranke oder der Gegner einer bestimmten Behandlung
auch die schlechten Folgen unter dem Gesichtspunkte der (falschen) Causalität
betrachtet. Wer ein Mittel als stark wirksam betrachtet und seine Wirkung nur
dann anerkennt, wenn es Veränderungen nach der guten Seite hin herbeiführt, der
darf nicht staunen, wenn Andere ihm eben solche energische Veränderungen nach
der schlechten Seite hin zuschreiben. So kommt es, dass Blutungen, Perforationen im
380
KOCH'sches VERFAHREN.
Darm und Larynx und Tuberkeleruptionen , Meningitis etc., kurz alle Verände-
rungen, welche die Krankheit allein herbeizuführen pflegt, als Einwirkungen der
KoCH'schen Behandlung angesehen wurden, natürlich ohne Schatten eines Be-
weises, einzig und allein nur, weil sich diese Ereignisse an die Behandlung
anschlössen. Und doch sind in solchen Fällen unsere Schlussfolgerungen, wenn
sie wissenschaftlich bleiben sollen, so sehr beschränkt, denn man kann nur sagen,
dass, wenn anscheinend neue Tuberkeleruptionen vorhanden sind, das betreffende
Mittel (seine genügend lange Anwendung vorausgesetzt) das Fortsehreiten des
Processes nicht zu verhindern vermag, man kann aber, da man das Alter von
Tuberkeln nicht zu taxiren vermag, nie, auch nur mit dem geringsten
Anspruch auf Beweiskraft, die Behauptung aufstellen, dass entzündliche Vorgänge
oder miliare Enötchenbildungen durch das Mittel bedingt seien. Man könnte eine
solche Ansicht nur dann mit Erfolg vertreten, wenn man mit Sicherheit alle ähn-
lichen Erscheinungen bei nicht behandelten Kranken auszuschliessen vermöchte.
Das kann man aber nicht, da man eben bei der Section von Tuberkulösen, auch
in den schwersten Fällen, bei ausgebreiteten Cavernen und Verkäsungen, stets die
Beobachtung macht, dass sich an einzelnen Stellen noch frische Eruptionen finden.
Ebenso hat man Stauungen im Gehirn, in den Lungen, Blutungen in die Pleura,
das Bersten von Cavernen , Entstehung von Pneumo- und Pyothorax und ähnliehe
Vorkommnisse als Wirkungen des Kocbin angesprochen ! Und doch lehrt die täg-
liche Beobachtung, dass bei einem Phthisiker, der unter allmäliger Anämie stirbt,
stärkere Stauungserscheinungen fast stets fehlen, dass er aber, wenn er bei ver-
hältnissmässig gutem Kräftezustande einer acuten Verschlimmerung unterliegt,
stets frische Tuberkelnachschübe und venöse Hyperämie des Gehirns und der
Lungen mit Blutungen der Pleura aufweist. Ebenso sieht man bei Kindern, die
an Meningitis tuberculusa unter schweren Erscheinungen der Athmungsinsufticienz
schnell zu Grunde gehen, sehr häufig, ja vielleicht immer, hohe Grade venöser
Hyperämie des Gehirns und der Lungen, und darf sich daher nicht wundern, wenn
in einem Falle tuberkulöser Meningitis, der bei KoCH'scher Behandlung unter
stürmischen Erscheinungen verläuft, sich auffallende Bluttiberftillung des Schädel-
raumes findet. Die Hyperämie und Cyanose ist eben hier nur Folge der Athraungs-
insufficienz, und wo diese letztere fehlt, da fehlt auch, trotz der Behandlung nach
Koch, die venöse Stauung. So zeigte in unseren Fällen von tuberkulöser Menin-
gitis, die während KoCH'scher Behandlung starben, die Section des Gehirns
absolut keine Abnormitäten der erwähnten Kategorie, und es fehlten ebenso be-
sondere Erscheinungen, die man auf die Einwirkung eines die Gewebe s(ark
beeinflussenden Agens hätte zurückführen dürfen , wie Zeichen von sicheren
II eilungsvorgängen.
So wenig man in vielen Fällen beweisen kann, dass Darmgeschwüre
Tuberkulöser durch ein Mittel günstig beeinflusst werden , so wenig kann man
den Nachweis liefern, dass die Injection an einer Perforation die Schuld getragen
habe; denn wir sehen bei der Section unbehandelter Fälle Geschwüre in den
verschiedensten Stadien der Necrose und Reinigung, und Perforation kann, wie
die Erfahrung lehrt, doch bei jeder Form der Behandlung eintreten.
Diese Bemerkungen allgemeiner Natur mussten vorausgeschickt werden,
da sie die Sachlage klären und uns erlauben, unseren Standpunkt zu fixiren ; denn
wer ihre Richtigkeit anerkennt, der wird uns darin beipflichten müssen, dass alle
Veränderungen, die von dem erwähnten Gesichtspunkte des
natürlichen Geschehens aus erklärbar sind und bei gewöhn-
lichem Ablaufe der Erkrankung in einer bestimmten Zahl von
Füllen bei jeder Behandlungsmethode sicher zur Beobachtung
kommen, so lange nicht pro oder contra verwerthet werden
dürfen, als nicht die besondere Eigenthümlichkeit des Falles,
namentlich aber ihre besondere Häufigkeit, bei Ausschluss jedes anderen
Erklärungsgrundes als des bestimmten therapeutischen Eingriffes, einen zwingenden
KOCH'sches VERFAHREN.
381
Causalzusammenhang zwischen ihnen und der Therapie ergiebt. Ein blosses
zeitliches Zusammentreffen eines völlig unerwarteten Ereignisses mit einer
therapeutischen Massnahme berechtigt nicht zur Construction efnes solchen Connexes.
Wir werden uns also in der folgenden Darstellung darauf beschränken,
die thatsächlichen Ergebnisse zu registriren, d. h. solche, bei denen
Zufälligkeiten und Vermuthungen ausgeschlossen sind. Wir geben nur das als
That8ache, was wir selbst gesehen haben und schliessen alle
Beobachtungen aus, die, zu Gunsten des Verfahrens oder zur
Bekämpfung desselben, Ereignisse in's Feld führen, die im nor-
malen Verlaufe der Dinge auftreten und weder durch Inten-
sität, noch durch Häufigkeit als besondere Wirkungen oder
specifische Folgeerscheinungen des KocH'sehen Verfahrens zu
betrachten sind. Wenn Jemand in dem Umstände, dass wir unsere eigenen
Beobachtungen gewissermaßen als alleinigen und absoluten Maassstab der Kritik
betrachten und somit unserer Darstellung eine stark subjective Färbung geben,
eine Ueberhebung sehen sollte , so müssen wir ihm Folgendes entgegnen : Wenn
eine Behandlungsmethode in den Händen eines Beobachters angeblich einen be-
stimmten Effect hat, d. h. Erscheinungen einer bestimmten Kategorie in grösserer
Zahl und von bestimmter Beschaffenheit nach sich zieht, so ist der Beweis, dass
der betreffende Beobachter richtig geschlossen hat, erst erbracht, wenn alle Anderen,
die unter gleichen Bedingungen operiren, zu einem annähernd gleichen Resultate
kommen. Wenn nun Forscher in einer umfangreichen Beobachtungszahl, bei der
mit Hunderten von Fällen gerechnet wird, einige der angegebenen Erscheinungen,
und zwar in einer solchen Häufigkeit, wie sie bei Controlversuchen nicht vorkommt,
constatiren, eine Reihe anderer Erscheinungen aber nicht beobachten, so ist damit
der absolute Beweis erbracht, dass die positiven Ergebnisse der anderen Beobachter
in keinem Causalzusammenhang mit den V er such s be d in gungen
stehen.
Nach der allgemeinen Ansicht ist zwar eine positive Beobachtung
mehr werth als eine solche mit negativem Resultat ; doch gilt dieser Satz nur
für thatsächliche Beobachtungen, nicht für Schlussfolgerungen, denn das
Eintreten einer Erscheinung, die man auf eine bestimmte Ursache zurückzuführen
wünscht, ist trotz der Thätigkeit des bestimmten Factors kein positiver Beweis
für einen Causalzusammenhang. Sie kann mit der vermeintlichen Ursache in Zu-
sammenhang stehen, braucht es aber nicht, da es sich auch um ein zufälliges,
zeitliches Zusammentreffen zweier nicht in Beziehung stehender Ereignisse
handeln kann. Das Ausbleiben einer bestimmten erwarteten Erscheinung bei
Wirksamkeit einer und derselben b es tim mten Ursache beweist dagegen sicher,
dass die von uns angenommene Ursache nicht die von uns supponirte oder
vorausgesehene Wirkung hat. Somit ist ein negatives Resultat, wenn es sich um
die Feststellung eines Causalzusammenhanges handelt, oft mehr werth als
ein positives Ergebniss. Das letzte gewinnt erst seinen Werth, wenn es sich unter
bestimmten Bedingungen in unverhältnissmässiger Häufigkeit zeigt.
Wenn also Beobachter starke Kehlkopfreaction gesehen haben und andere
bei einer grossen Zahl von Kehlkopfkranken der verschiedensten Stadien, trotz
energischer allgemeiner Reaction, keine solche locale Einwirkung constatiren konnten,
so ist mit Wahrscheinlichkeit der Beweis erbracht, dass die von den Beobachtern
erster Kategorie als Folgen des Mittels betrachteten Symptome nur zufällige
Phänomene waren; der Beweis wird sicherer, wenn sich zeigt, dass dieselben
Erscheinungen auch bei indifferent Behandelten oder bei den mit kleinsten Dosen
Behandelten auftreten. Er wird absolut sicher, wenn sich noch zeigen lässt, dass
ein anderes, ebenfalls durch das Verfahren bedingtes, Symptom die anscheinend
specifischen localen Erscheinungen gleichfalls bedingen kann , wie z. B. im Falle
der KocH'sehen Behandlung das Reactionsfieber schon an und für sich Röthung
der Schleimhaut, vermehrte Schleimsecretion , Hustenreiz etc. herbeizuführen im
382
KOCH'sches VERFAHREN.
Stande ist. Es ist nicht nöthig, alle diese Gesichtspunkte hier zu erörtern, denn
es geht schon aus den angeführten Daten hervor, dass in der Geschichte medicini-
scher Streitfragen selten die subjective Deutung eclatanter Erscheinungen eine
solche Rolle gespielt hat, wie jetzt ; selten ist deshalb die nüchterne Betrachtung
und die Wahrung der naturwissenschaftlichen kritischen Principien der Beurtheilung
und Beobachtung von solcher Wichtigkeit gewesen, wie gerade in dieser Periode.
Deshalb sind diese, Manchem vielleicht allzu ausgedehnt erscheinenden theoreti-
schen Erörterungen nicht zu umgehen, denn nur, wenn man sie anerkennt oder
wenigstens ihre Discussion für nützlich und nothwendig erklärt, resultirt die sichere
Basis für die Beurtheilung des von Koch uns gestellten Problems. Allerdings
giebt ja schliesslich die empirische (statistische) Feststellung der Resultate ihr
unumstössliches Verdict über den Werth und die Bedeutsamkeit der von uns
angewendeten Methoden ab; aber Jeder kennt auch die Fehlerquellen, die den
einzelnen Beobachtungen anhaften, deren Summirung erst einen bestimmten Schluss
nach erlangtem tieferem Einblicke gestattet. So lange dies Material nicht vor-
liegt — und bis dahin vergeht ein langer Zeitraum — werden die subjectiv
gefärbten, entgegenstehenden Beobachtungen sich bekämpfen und für jede Be-
hauptung wird die entgegengesetzte in's Feld geführt werden, so dass eine Wider-
legung der Ansichten, da Behauptung gegen Behauptung, anscheinend sogar That-
sache gegen Thatsache steht, unmöglich wird, wie dies die Geschichte der Therapie
auf jedem Blatte zeigt. Einzig und allein durch frühzeitige Hervorhebung der unwandel-
baren Gesetze logischen und naturwissenschaftlichen Denkens kann man von vornherein
diesen Widerstreit der Meinungen beschränken, indem man zeigt, dass der Beweis
für eine Behauptung erst dann anfängt, wenn die Behauptung nicht mit sicheren
Erfahrungstatsachen im Widerstreit steht, und wenn man mit seinen Beobachtungen
ein bestimmtes Ereigniss in einer die Fehlerquellen überschreitenden Häufigkeit oder in
einer ganz besonderen Form und Prägnanz fixirt hat. Bei der Beurtheilung des Koch-
schen Verfahrens aber hat man den Maassstab, den die bereits vorhandenen That-
sachen liefern, völlig vergessen und, durchaus nicht seltene Ereignisse der täglichen
Beobachtung als etwas nie Gesehenes oder im gewöhnlichen Verlaufe der Dinge
niemals Vorkommendes betrachtet. Und dann vergesse man das Eine nicht: Es
entspricht nicht gewöhnlichem Brauche , dass wir unsere altbewährten Methoden,
mit denen wir nicht ohne Sicherheit und Erfolg über die Aufnahme in Lebens-
versicherungen, in die Armee, über die Wahl des Berufes oder die Möglichkeit
der Eheschliessung entscheiden, auf ihren Werth und ihre Bedeutsamkeit an den
Resultaten des KocH'schen Verfahrens prüfen und dass wir sie sogleich als irre-
führend oder unzulänglich bei Seite werfen , wenn die Resultate mit denen der
neuen Methode nicht übereinstimmen. Ganz im Gegentheile haben wir an das
KocH'sche Verfahren erst den bisherigen Maassstab anzulegen und müssen auf
diesem, durch die Erfahrung gesicherten Boden feststellen, welchen tieferen
Einblick die neue Entdeckung gewährt. Zu beweisen ist doch nicht, was unsere
alte Methode leistet, denn das wissen wir genau, sondern zu beweisen ist, dass
die KocH'sche Methode dasselbe oder, wie einige Heisssporne wollen, sogar mehr
leistet. — Diese Kragen sind einerseits auf Grundlage der allgemeinen, bisher
festgestellten Erfahrungstatsachen, die nicht einem blossen Problem zu Liebe um-
gestossen werden können, andererseits durch die neue Erfahrung und Beobachtung
am Krankenbette, bei der aber natürlich, je nach dem Standpunkte des Beob-
achters mehr oder weniger der psychische (subjective) Factor der Beurtheilung
seinen Antheil an dem Schlussresultate in Anspruch nimmt, zur Entscheidung zu
bringen. Wir kommen auf diesen Punkt noch zurück.
Ii. Beschaffenheit und Darstellung des Mittels.
Das Mittel, mit welchem das neue Heilverfahren gegen Tuberkulose aus-
geübt wird, ist nach Koch's Ansicht ein mit Hilfe einer 40 — 50%igen Glycerin-
lösung hergestelltes Extract aus den Reinculturen der Tuberkelbacillen.
KOCH'sches VERFAHREN.
383
In das einfache Eitract gehen nach Koch aus den Tuberkelbacillen
natürlich neben der wirksamen Substanz auch alle übrigen , in 50°/0 Glycerin
löslichen, Stoffe über, und es findet sich deswegen darin eine gewisse Menge von
Mineralsalzen, färbenden Substanzen und andere unbekannte Extraktivstoffe. Einige
dieser Stoffe lassen sich ziemlich leicht daraus entfernen. Die wirksame Substanz
ist nämlich unlöslich in absolutem Alkohol und kann durch denselben, allerdings
nicht rein, sondern immer noch in Verbindung mit anderen, ebenfalls in Alkohol
unlöslichen Extractivstoffen ausgefällt werden. Auch die Farbstoffe lassen sich
beseitigen, so dass es möglich ist, aus dem Extract eine farblose, trockene Sub-
stanz zu erhalten, welche das wirksame Princip in viel concentrirterer Form
enthält als die ursprünglichere Glycerinlösung. Für die Anwendung in der Praxis
bietet diese Reinigung des Glycerinextractes indessen keinen Vortheil, weil die so
entfernten Stoffe für den menschlichen Organismus indifferent sind und also der
Reinigungsprocess das Mittel nur unnötigerweise vertheuern würde.
Ueber die Constitution der wirksamen Substanz lassen sich, wie Koch
angiebt, vorläufig nur Vermuthungen aussprechen. Er sagt: Diese (neue Substanz)
scheint mir ein Derivat von Eiweisskörpern zu sein und diesen nahe zu stehen,
gehört aber nicht zur Gruppe der sogenannten Toxalbumine, da sie hohe Tempe-
raturen ertragt und im Dialysator leicht und schnell durch die Membran geht.
Das im Extract vorhandene Quantum der Substanz ist allem Anscheine nach ein
sehr geringes, ich schätze es auf Bruchtheile eines Procents.
Aus der Beschreibung Koch's geht durchaus nicht hervor, in welcher
Weise sich die genaue und exacte Herstellung eines so differenten Mittels bewerk-
stelligen lässt; denn angenommen, dass nicht mit 40% Glycerin, sondern stets
mit 50% extrahirt wird, so ist nicht abzusehen, wie die Ungleichmässigkeit der,
aus den einzelnen Nährböden gewonnenen Producte vermieden wird; es müsstc
denn sein, dass das Glycerin nicht ein Extractionsmittel ist, sondern nur der
Conservirung dient. Es ist ferner wahrscheinlich, dass der eine Nährboden mehr,
der andere weniger Stoffwechselproducte der Bacillen enthält, so dass auch bei
genauester Verarbeitung die einzelnen Glycerinextracte vor und nach der Filtration
nicht gleicLmässig sein können, selbst wenn sehr umfangreiche Nährböden zur
Verwendung gelangen. Bs ist also anzunehmen, dass immer die Producte einer
ganzen Reihe von Kolben oder grösseren Gefässe zusammengemischt, und je nach
den Ergebnissen des Thierversuches, bei dem ja eine Necrose erzielt werden
soll , eingedickt oder verdünnt werden. Wir wüssten wenigstens kein einziges
anderes Mittel, um die Ungleichmässigkeit des Präparats nach Möglichkeit zu
vermeiden; auch ist — und dies erhöht die Unsicherheit — nicht bekannt, ob
Koch feste oder flüssige Nährböden verwendet.
Die Beschaffenheit des Kocfl'schen Präparates scheint nicht immer dieselbe
zu sein, denn es ist neutrale und alkalische Reaction beobachtet worden; auch
variirt die Färbung , und einzelne Beobachter haben verschiedene Formen von
Mikroorganismen in der Flüssigkeit nachgewiesen ; selbst Tuberkelbacillen sind
constatirt worden, doch ist der Nachweis der Lebensfähigkeit der Mikrobien durch
Culturversuche und Impfungen nicht erbracht. Es ist anzunehmen, dass die Mikro-
bien völlig abgetödtet sind, denn unter mehr als 3000 Injectionon habe ich nicht
ein einziges Mal eine stärkere locale entzündliche Reaction an den Stichstellen gesehen.
Hüppe und Scholl haben durch folgendes Verfahren ein wirksames
Agens, ähnlich dem Kocfl'schen Präparate, erhalten:
Sie gingen aus von Bacillenculturen , deren Grundlage aus 3°/0 Pepton,
5% Glycerin, 0'50,0 Kochsalz und 0-l°/0 Fleischextract bestand und injicirten,
die gesammten Stoffwechselproducte in sterilisirtem Zustande, wodurch eine sichere,
aber wenig intensive, Wirkung erzielt wurde. Besser wirkten die Producte bei
einer 8 — 10° 0igen Peptonconcentration. Nachdem Hüppe und Scholl durch eine
Reihe von Versuchen festgestellt hatten, dass das KocH'sche Präparat nicht, wie
sie ursprünglich vermuthet hatten, ein einheitlicher Körper, sondern eine Mischung
384
KOCH'aches VERFAHREN.
von unverändertem Xährmaterial und StofFweehselproduetcn der Tuberkelbacillen
sei (BacterienproteTne), und nachdem sie durch Berechnung des Stickstoff- und des
Salzgehaltes des KocH'sehen Präparats festgestellt hatten, da» anf Nährböden
von so hohem Procentgehalt an Pepton und Kochsalz die Züchtung von Tuberkel-
bacillen unmöglich erfolgen könne, so kamen sie auf den Gedanken, dass der
Unterschied ihrer Flüssigkeit nnd der KocH'sehen nur auf der stärkeren Coneen-
tration, welche der Zersetzung mehr Widerstand leiste, beruhe, und in der That
bestätigte der Versuch ihre Vermuthung, denn die eingedickte Flüssigkeit glich
nicht nur äusserlich der KocH'sehen, sondern hatte auch dieselbe Einwirkung auf
Thiere. Von den genannten Forschern wurde ferner der Nachweis geliefert, dass
die von Koch angewendete Extraction der Nährböden mit Giyeerin nicht nöthig
sei, da einerseits in den Glyeerinextraet keine Proteine übergehen, und da anderer-
seits die Culturflüssigkeit die wirksamen Stoffe bereits gelost enthält, also nach
richtiger Behandlung (Sterilisation, Filtration, Eindickung direet als wirksames
Princip verwandt werden kann. Nach BCppe und Scholl gehört auch das speci-
fische Gift des KocH'sehen Präparates nicht zu den Proteinen, sondern zu den
Stoffwechselproducten der Batterien und der Glyeerinzusatz zum KoCHscheu
Präparat hat nur eine secundäre Bedeutung.
DI. Historisches.
Pastete verwandte bereits Schutzlymphen, d. h. solche Lymphen, welche
den Geimpften vor der Erkrankung mit homologen Infectionsträgern schützen,
als Heilmittel bei chronischen Eiterungen derselben Aetiologie. Salxon und Smith,
Rocx und Chaxbkrlaxd zeigten, dass die sterilisirten Stoffwechselproducte der
betreffenden Bacterienarten als wirksames Impfmaterial verwendet werden können
nnd dass die wichtigsten in diesen Culturen vorhandenen Substanzen Tox-
albumine seien.
Hcppe, Büchner u. A. haben betont, dass die Wirkung speeifi scher
Mittel nicht auf ihrer directen. Mikrobien tödtenden Wirkung, sondern auf ihrer
Fähigkeit, die Gewebe speeifisch reactionsföhiger zu machen , beruhe ; sie hatten
nachgewiesen , dass speeifisch kranke Gewebe gegen die spezifischen Gifte und
schon bei Anwendung kleiner Dosen energischer reagiren als gesunde. Während
kleine Gaben eine reactive Entzündung hervorrufen, also reizend wirken, wirken
grosse Gaben lähmend, entwicklungshemmend, tödtend.
A. Bcchxrb hat die eitererregende Substanz aus getödteten Bacillen-
culturen rein dargestellt; auch sind in dieser Beziehung bereits positive Versuche
am Menschen angestellt worden. Koch, Hüppe und Scholl haben dieselbe eiter-
erregende Wirkung der abgetödteten Tuberkelbacillenculturen nachgewiesen wie Koch.
Hammer schlag war es bereits 1888 gelungen, giftige Albuminate der
Tuberkelbacillen zu isoliren : Zülzkr hat ein Alkaloid aus Culturen von Tuberkel-
bacillen auf Agar-Agar dargestellt und mit dem salzsauren Salze bei Thieren
Versuche vorgenommen, die ein positives Resultat ^Temperaturerhöhung und Frotru&io
bulbi) ergaben.
IV. Bezeichnung des Präparates.
Das Mittel als Lymphe zu bezeichnen, ist eigentlich falsch, da als Lymphe
nur die aus den Thierkörpern gewonnene seröse Flüssigkeit, aber nicht ein aus
einem künstlichen Nährboden gewonnenes Product angesehen werden kann : sonst
könnte man ja schliesslich auch den bei der alkoholischen Gährung gewonnenen
Alkohol Lymphe nennen. Bosenbach hat vorgeschlagen, dem wirksamen Präparat,
bis seine Natur erkannt ist. den Namen Kochin zu geben: als officielle Bezeich-
nung ist Tubercul in um Kochii gewählt worden.
V. Resultate des Thierexperimentes.
KOGB fand, dam abgetödtete Reinculturen von Tuberkelbacillen. nachdem
m* im Waaacr aufgeschwemmt sind, bei gesunden Meerschweinchen in
KOCfl'aches VERFAHREN.
385
grosser Menge unter die Haut gespritzt werden können, ohne dass etwas Anderes als
eine locale Eiterung entsteht und er hält derartige Injectionen für eines der einfach-
sten und sichersten Mittel, um Eiterungen zu erzeugen, welehe frei von lebenden
Bacterien sind. Tuberkulöse Meerschweinchen werden. dagegen schon durch Injection
von sehr geringen Mengen solcher aufgeschwemmten Culturen getödtet, und zwar
je nach der angewendeten Dosis innerhalb 6 — 48 Stunden. Eine Dosis, welche eben
nicht mehr ausreicht , um das Thier zu tödten , kann eine ausgedehnte Necrose
der Haut im Bereiche der Injectionsstelle bewirken. Wird die Aufschwemmung nun
aber noch weiter verdünnt, so dass sie kaum sichtbar getrübt ist, dann bleiben
die Thiere am Leben und es tritt, wenn die Injectionen mit ein- bis zweitägigen
Pausen fortgesetzt werden, bald eine merkliche Besserung im Zustande der Thiere
ein; die ulcerirende Impfwunde verkleinert sich und vernarbt schliesslich, was
ohne eine derartige Behandlung niemals der Fall ist; die geschwollenen Lymph-
drüsen verkleinern sich, der Ernährungszustand wird besser und der Krankheits-
process kommt, wenn er nicht bereits zu weh vorgeschritten ist und das Thier
an Entkräftung zu Grunde geht, zum Stillstand.
Hüppe und Scholl erhielten bei ihren Thierversuchen folgende Resultate :
Gesunde Thiere reagirten auf Einspritzungen mit 1 — 2 Ccra. der concentrirten
Lymphe nicht. Im Anfangsstadium der Peritonealtuberkulose stehende Meer-
schweinchen zeigten selbst nach der Einspritzung der nur 10% igen Lymphe
(1 — 2 Ccm.) starke Temperaturschwankungen, welche mit Temperaturerhöhung
einsetzten , jedoch keinen besonderen Rhythmus zeigten. Schwer kranke Thiere
reagirten auf geringe Mengen der Lösung sofort mit starker Temperaturerhöhung,
an die sich ein collapsartiger Zustand mit starkem Temperaturabfall bis 33*3
innerhalb 6 Stunden — die normale Temperatur betrug vor der Injection circa 38° —
anschloss. Die Iocalen Processe gingen prompt zurück.
VI. Kocb's Angaben über die Wirkung des Tuberkulins beim
gesunden und kranken Menschen, sowie seine Ansicht über
die Tragweite seines Verfahrens in diagnostischer und thera-
peutischer Beziehung.
Was die Wirkung des Mittels auf den Menschen anlangt, so stellte sich
gleich beim Beginn der Versuche heraus, dass in einem sehr wichtigen Punkte
der Mensch sich dem Mittel gegenüber wesentlich anders verhält als das gewöhn-
lich benutzte Versuchsthier, das Meerschweinchen. Der Mensch erwies sich nämlich
ausserordentlich viel empfindlicher für die Wirkung des Mittels als das Meer-
schweinchen. Einem gesunden Meerschweinchen kann man bis zu 2 Ccm. und
selbst mehr von der verdünnten Flüssigkeit subcutan injiciren, ohne dass dasselbe
dadurch merklich beeinträchtigt wird. Bei einem gesunden erwachsenen Menschen
genügen dagegen 0 25 Ccm., um eine intensive Wirkung hervorzubringen. Auf
Körpergewicht berechnet, ist also 1/1600 von der Menge, welche beim Meerschwein-
chen noch keine merkliche Wirkung hervorbringt, beim Menschen schon sehr stark
wirksam.
Die Symptome, welche nach der Injection von 0*25 Ccm. beim Menschen
entstehen, hat Koch an sich selbst nach einer am Oberarm gemachten Injection
erfahren; sie waren in Kürze folgende: 3 — 4 Stunden nach der Injection Ziehen
in den Gliedern, Mattigkeit, Neigung zum Husten, Athembesch werden , welche
sich schnell steigerten ; in der 5. Stunde trat ein ungewöhnlich heftiger Schüttel-
frost ein, welcher fast 1 Stunde andauerte, zugleich Uebelkeit, Erbrechen, An-
steigen der Körpertemperatur bis zu 39*6°; nach etwa 12 Stunden Hessen
Fämmtlicbe Beschwerden nach, die Temperatur sank und erreichte bis zum
nächsten Tage wieder die normale Höhe; Schwere in den Gliedern und Mattigkeit
hielten noch einige Tage an, ebenso lange Zeit blieb die Injectionsstelle ein wenig
schmerzhaft und geröthet.
Encyclop. Jahrbücher. I. 25
396
KOCH'sches VERFAHREN.
Die untere Grenze der Wirkung des Mittels liegt für den gesunden
Menschen ungefähr bei 0*01 Ccm. (gleich 1 Ccm. der lOOfachen Verdünnung;,
wie zahlreiche Versuche ergeben haben. Die meisten Menschen reagirten auf diese
Dosis nur noch mit leichten Gliederschmerzen und bald vorübergehender Mattig-
keit. Bei einigen trat ausserdem noch eine leichte Temperatursteigerung ein bis
zu 38° oder wenig darüber hinaus.
Der gesunde Mensch soll also, wie Koch angiebt, auf O'ül Ccm. gar
nicht mehr oder in unbedeutender Weise reagiren. Ganz dasselbe soll auch für
kranke Menschen , vorausgesetzt , dass sie nicht tuberkulös sind , gellen* Ganz
anders gestalten sich die Verhältnisse bei solchen, die an tuberkulösen Aftectiouen
der Haut , Gelenke oder Knochen leiden , denn wenn man diesen dieselbe DosU
des Mittels (O'Ol Com.) injieirt, dann tritt sowohl eine starke allgemeine« aU
auch eine örtliche Reaction ein.
Noch anders gestalten sieh die Verhältnisse bei den Phthisikern. Kranke,
mit ausgesprochener Lungentuberkulose sind nämlich gegen das Mittel weit
empfindlicher, als die mit chirurgischen , tuberkulösen Affectiouen behafteten und
reagiren schon bei 0*001 — 0*002 sehr stark.
Die allgemeine Reaction besteht in einem Fieberanfall, welcher meistens,
mit einem Schüttelfrost beginnend, die Körpertemperatur über 39°, oft bis 40
und selbst bis 41° steigert; daneben bestehen Gliedern hmerze n , Hustenreiz,
grosse Mattigkeit, öfters Uebelkeit und Erbrechen. Einige Male wurde eine leichte,
icterische Färbung, in einigen Fällen auch das Auftreten eines masernartigen
Exanthems an Brust und Hals beobachtet. Der Anfall beginnt in der Hegel 4 bis
5 Stunden nach der Injection und dauert 12 — 16 Stnnden. Ausnahmsweise kann
er auch später auftreten und verläuft dann mit geringerer Intensität. Die
Kranken werden von dem Anfall auffallend wenig angegriffen und fühlen sich«
sobald er vorüber ist, verhältnismässig wohl, gewöhnlich sogar besser wie vor
demselben.
Die örtliche Reaction kann am besten an solchen Kranken beobachtet
werden, deren tuberkulöse Affection sichtbar zu Tage liegt, also z B. bei Lupus-
kranken* Bei diesen treten Veränderungen ein, welche die speeifisch antituber-
kulöse Wirkung des Mittels in einer ganz überraschenden Weise erkennen lassen.
Einige Stnnden, nachdem die Injection unter die Rückenhaut, also an einem vnn
den erkrankten Hauttheilen im Gesicht u. s. w. ganz entfernten Punkte gemacht
ist, fangen die lupöseu Stellen, und zwar gewöhnlich schon vor Beginn des Front-
unf alles, an zu schwellen und sieh zu röthen. Während des Fiebers nimmt
Schwellung und Röthung immer mehr zu und kann schliesslich einen ganz bedeu
tenden Grad erreichen, so dass das Lnpusgewebe stellenweise braunrot!* und
neerotiseh wird. An schärfer abgegrenzten Lupusherden war öfters die stark
geschwollene und braunroth gefärbte Stelle von einem weisslichen , fast 1 Cni.
breiten Saum eingefasst, der seinerseits wieder \on einem breiten, lebhaft gerotteten
Hof umgeben war. Nach Abfall des Fiebers nimmt die Anschwellung der lupösen
Stellen allmälig wieder ab, so dass sie nach 2 — 3 Tagen wieder verschwunden
«ein kann. Die Lupusherde haben sich mit Krusten von aussickerndem und an
der Luft vertrocknendem Serum bedeckt, sie verwandeln sich in Borken, welche
nach 2 — 3 Wochen abfallen und mitunter schon nach einmaliger Injection des
Mittels eine glatte rothe Narbe hinterlassen. Gewöhnlich bedarf es aber mehrerer
Injeetionen zur vollständigen Beseitigung des lupösen Gewebes, doch davon später*
Als besonders wichtig bei diesem Vorgange muss noch hervorgehoben werden,
dass die geschilderten Veränderungen sich dnrehaus auf die lupös erkrankten
Hautstellen beschränken; selbst die kleinsten und unscheinbarsten, im Narben-
gewebe versteckten Knötchen machen den Process durch und werden in Folge
der Anschwellung und Farbenveränderung sichtbar, während das eigentliche«
Narbengewebe, in welchem die lupösen Veränderungen gänzlich abgelaufen sind,
unverändert bleibt.
KOCH'sches VERFAHREN.
387
Weniger frappant, aber immer noch für Auge und Gefühl wahrnehmbar,
sind die örtlichen Reactionen bei Tuberkulose der Lymphdrüsen, der Knochen
und Gelenke n. s. w. , bei welchen Anschwellung, vermehrte Schmerzhaftigkeit,
an oberflächlichen Theilen auch Röthnng sieh bemerklich machen.
Die Reaction in den inneren Organen, namentlich in den Lungen,
entsieht sieh dagegen der Beobachtung, wenn man nicht etwa vermehrten Husten
nnd Auswurf der Lungenkranken nach den ersten Injectionen auf eine örtliche
Reaction beziehen will. In derartigen Fällen dominirt die allgemeine Reaction.
Gleichwohl muss man annehmen, dass auch hier sich gleiche Veränderungen voll-
ziehen, wie sie beim Lupus direct beobachtet werden.
Da die geschilderten Reactionserscheinungen, wenn irgend ein tuberkulöser
Process im Körper vorhanden war, auf die Dosis von 0*01 Gem. in den bisherigen Ver-
suchen ausnahmslos eingetreten sind, so glaubt Koch deswegen nicht zu weit zu
gehen, wenn er annimmt, dass das Mittel in Zukunft ein unentbehr-
liches diagnostisches Hilfsmittel bilden wird. Man wird damit
im Stande sein, zweifelhafte Fälle von beginnender Phthisis
selbst dann noch zu diagnostic iren, wenn es nicht gelingt,
durch den Befund von Bacillen oder elastischen Fasern im
Sputum oder durch physikalische Untersuchung eine sichere
Auskunft Aber die Natur des Leidens zu erhalten. Drüsenaffec-
tionen, versteckte Knochentuberkulose, zweifelhafte Haut-
tuberkulose und dergleichen werden leicht und sicher als
solche zu erkennen sein. In scheinbar abgelaufenen Fällen von Lungen-
and Gelenktuberkulose wird sich feststellen lassen, ob der Kran kh ei ts process
in Wirklichkeit schon seinen Abschluss gefunden hat und ob
nicht doch noch einzelne Herde vorhanden sind , von denen aus die Krankheit,
wie von einem unter der Asche glimmenden Funken, später von Neuem um sich
greifen könnte. In zweifelhaften Fällen, bei fehlendem Nachweis
der Tuberkel bacillen , sollte sich der Arzt durch eine Probe-
injection die Gewissheit über das Vorhandensein oder Fehlen
der Tuberkulose verschaffen.
VII. Verfahren bei Anwendung des Mittels am Menschen.
Das Mittel besteht aus einer bräunlichen, klaren Flüssigkeit, welche an
und für sich, also ohne besondere Vorsichtsmassregeln, haltbar ist. Für den Ge-
brauch muss diese Flüssigkeit aber mehr oder weniger verdünnt werden, und die
Verdünnungen sind, wenn sie mit destillirtem Wasser hergestellt werden, zer-
setzlich. Es entwickeln sich darin sehr bald Bacterien Vegetationen , sie werden
trübe und sind dann nicht mehr zu gebrauchen. Um dies zu verhüten, müssen
die Verdünnungen durch Hitze sterilisirt und unter Watteverschluss aufbewahrt
oder, was bequemer ist, mit 0'5%iger Phenollösung hergestellt werden. Durch
öfteres Erhitzen sowohl, als durch die Mischung mit Phenollösung scheint aber
die Wirkung nach einiger Zeit, namentlich in stark verdünnten Lösungen, beein-
trächtigt zu werden, und 6s ist deshalb vortheilhaft, sich immer frisch hergestellter
Lösungen zu bedienen.
Vom Magen aus wirkt das Mittel nicht, ebensowenig vom Rectum aus per
Clysma mit Oidtmann's Spritze applicirt (Rosenbach) ; Prior dagegen fand es noch
bei letzterer Applicationsform wirksam) ; um eine zuverlässige Wirkung zu erzielen,
muss es subcutan beigebracht werden. Koch hat bei seinen Versuchen zu diesem
Zwecke ausschliesslich die von ihm für bacteriologische Arbeiten angegebene
Spritze benutzt, welche mit einem kleinen Gummiballon versehen ist und keinen
Stempel hat. Eine solche Spritze lässt sich leicht und sicher durch Ausspülen mit
absolutem Alkohol aseptisch erhalten und Koch schreibt es diesem Umstände zu,
dass bei mehr als 1000 subcutanen Injectionen nicht ein einziger Abscess ent-
standen ist.
388
KOCH'schea VERFAHREN.
Als Applicationsstelle wählte Koch, nach einigen Versuchen ad anderen
Stellen, die Rückenhaut zwischen den Schulterblättern und in der Lendengegend,
weil die Injeetion an diesen Stellen am wenigsten, in der Regel sogar überhaupt
keine, Ortliche Reaction zeigt und fast schmerzlos ist.
Bezüglich des Modus der Injeetion wäre noch zu bemerken, dass
Verf. eine PRAVAz'sche Spritze, die genau 1 Com. fasst, vorzieht, dass er die-
selbe mit 0'5°/0iger Carbolsäurelösung bis zur Hälfte füllt, dann einen Theil-
strich von der Originalflüssigkeit auffangt und hierauf die Spritze mit der
Carbollösung vollends füllt. Den Spritzeninhalt vermischen wir dann mit 9 Spritzen
Carbollösung und es enthält dann jede volle Spritze 0*01 der Injectionsfiflssigkeit,
der Theilstrich 0*001. Hat man mehr als 0*01 zu injiciren, so saugt man gleich
2 Theilstriche der Originalflüssigkeit auf und hat dann bei den angegebenen
Maas8en die doppelte Dosis applicirt. Als Injectionsstelle scheint die Bauch-
gegend geeigneter, da nach wiederholten Injectionen in den Rücken, trotz fehlender
Entzündung der Stichstelle, die Hantempfindlichkeit so gross ist, dass die Rücken-
lage schmerzhaft ist. Von Injectionen in die Bauchhaut ist nur dann abzurathen,
wenn Patienten an starkem Husten leiden, weil dann die Contractionen der Bauch
muskeln jedesmal starken Schmerz an der Stichstelle hervorrufen.
Man injicirt am besten Früh zwischen 8 — 10 Uhr Morgens, da spätere
Einspritzungen geringere Wirkung haben und lässt nach jeder Injeetion noch den
nächsten Kalendertag verstreichen, bevor man eine neue Dosis verabreicht. Würde
man diese Vorsichtsmassregel nicht beobachten, so würde man einerseits häufig
eine cumulative Wirkung erzielen , andererseits die oft erst am Tage nach der
Einspritzung auftretende fieberhafte Spätreaction nicht bewirken und damit nicht
nur auf ein wichtiges Mittel zur Beurtheilung der Disposition der Injicirten ver-
zichten müssen, sondern auch leicht in den Fall kommen, Dosen anzuwenden, die
stärkeres Fieber erregen, als man beabsichtigt (Rosenbach).
Als Anfangsdosis müssen wir rathen, nie 0*001 zu überschreiten,
da auch diese Menge noch starke Reaction geben kann. Die Dosis darf erst
dann gesteigert werden , wenn jede fieberhafte Reaction fehlt und andere unan-
genehme, auf die Injeetion zurückzuführende Erscheinungen (Uebelkeit, Kopf-
schmerz, Muskelschmerz etc.) ausbleiben. Auch dann darf die Steigerung nur um
Milligramme vorgenommen werden, und erst wenn 6 — 8 Mgrm., ohne Erscheinungen
hervorzurufen, zur Anwendung gelangt sind, kann man die Dosis um 2 bis
4 Mgrm. erhöhen.
Fiebernde oder geschwächte Kranke müssen, wie wir be-
reits im Anfang der Behandlung nach Koch hervorgehoben
haben, von der Behandlung absolut ausgeschlossen werden;
man muss streng individualisiren und nur Kranke der Behand-
lung unterwerfen, die geringe Localerscheinungen bieten und
sich in guten Ernähr uugs Verhältnissen befinden (Deutseh. med.
Woch. 1890, Nr. 49).
VII a. Vorbemerkungen in Betreff der Beurtheilung der Resultate
des Verfahrens.
Von den oben dargelegten Ansichten und Sätzen Koch's betreffs der Reaction
haben alle eine beträchtliche Modificatiou erfahren, und wir werden die bestätigenden
und entgegenstehenden Beobachtungen unter den einzelnen Rubriken vorführen.
Dabei mochten wir aber betonen, dass die causale Deutung der während der Be-
handlung auftretenden Symptome nicht immer leicht ist , denn es gehört doppelte
Vorsicht dazu, bei einer Krankheit, deren Erscheinungen so regellos sind wie die
der Phthise, bei der körperliches Befinden, Fieber, Lungenerscheinungen, Naeht-
schweisse, Husten in ganz unerwarteter und niemals vorauszubestimmender Weise
variiren, eine bestimmte Erscheinung als den Effect einer bestimmten Einwirkung
zu bezeichnen, und wenn man sich die Mühe nicht verdriessen lässt, indifferent
KOCH'sches VERFAHREN.
389
behandelte Phthisiker zur Controle mit derselben Genauigkeit zu untersuchen, wie
behandelte, so wird man nicht lange im Unklaren darüber bleiben, wie schwer es
ist, unter gewissen complicirten Verhältnissen den Causalnexus zwischen einem im
Verlaufe der Beobachtung auftretenden Symptom und der. Behandlung mit Sicherheit
zu con8truiren und die neue Erscheinung als sichere Wirkung der eingeschlagenen
Medication, also als „Reaction11 im Sinne der Behandlungsmethode nach Koch, hin-
zustellen. So haben wir, um nur ein Beispiel anzuführen, bei den von uns mit
Injectionen behandelten Lungenkranken einigemale Lungenblutung auftreten
sehen, sind aber nicht geneigt, dieselbe als Wirkung der Einspritzungen zu
betrachten , da bei den Kranken die Reaction bezüglich der Temperatur und der
localen Erscheinungen minimal war, und da unter den indifferent behandelten
Kranken Lungenblutungen während derselben Zeit in demselben Verhältniss
vorkamen.
VIII. Reaction serscheinungen bei Anwendung des Tuberkulin.
A. Veränderungen des Allgemeinbefindens (allgemeine Reaction).
1. Veränderungen der Temperatur.
Hier sind die meisten und grössten Abweichungen vom Schema Koch's
zu beobachten, wie Bosenbach in einer ausführlichen Arbeit (Deutsche med. Woch.
1890, Nr. 2 u. 3) gezeigt hat. Wenn man als den Typus der nach der Injection
auftretenden Reaction die Angabe Koch's ansieht, dass etwa 4 — 5 Stunden nach
der Injection der fieberhafte Anfall beginnt, um ungefähr 12 — 15 Stunden zu
dauern , «o sind folgende Abweichungen von der Regel zu verzeichnen : 1. die
verspätete Reaction, 2. die Reaction nach abendlicher Injection, 3. die protrahirte
Reaction, die Reaction mit abnorm langer Dauer der fiebererregenden Wirkung
des Tuberkulins, 4. das Nachfieber, 5. der Typus inversus. Rosenbach hält es
für noth wendig, der Temperaturbeobachtung grosse Aufmerksamkeit zu widmen,
da gewisse sehr interessante Veränderungen des Temperaturganges sonst dem
Nachweise sich entziehen.
So muss namentlich im Anfange der Injectionen, da die Spätreactionen
am häufigsten bei den ersten Injectionen innerhalb des ersten Centigramms zur
Beobachtung kommen, dem Studium der Curve des Kalendertages, der auf den
Injectionstag folgt, ein besonderes Augenmerk geschenkt werden; auch muss,
Reibst wenn nach einer Einspritzung scheinbar kein prägnantes Resultat hervor-
trat, die folgende Injection nie vor dem dritten Tage vorgenommen werden, da
sich , wenn stets ein Tag von Injectionen freibleibt , oft erst nach mehreren
Tagen eine auffallend steigende Tendenz der Temperatur am Nachmittag der auf
den Injectionstag folgenden Kalendertage dadurch documentirt, dass Erhebungen
der sonst normalen Curve bis zu 38*0 und darüber auftreten. Man sollte es des-
halb auch nie unterlassen, Personen, die anscheinend refractär gegen die Injec-
tionen sind, zweistündlich während des Tages und der Nacht, und besonders
sorgfältig in der Nacht nach der Injection und an dem folgenden Kalendertage,
also während etwa 36 Stunden, messen zu lassen, da dann auch eine kleine
Erhebung der Curve um so eher eine Reaction anzeigt, je mehr Beobachtungs-
tage vor Beginn der Injection zur Feststellung der Normalen rve zur Verfügung
stehen, und da bei 3- oder gar 4 stündlicher Messung diese kleinen Erhebungen
allzu leicht der Beobachtung entgehen. Wir möchten es nicht versäumen, darauf
hinzuweisen , dass man nur bei Personen , die nicht fiebern oder deren Fieber-
curve keine beträchtliche Höhe und eine gewisse Constauz zeigt, sichere Schlüsse
in Betreff der Reaction machen kann, und man sollte, schon um eine Täuschung
zu vermeiden, nie verabsäumen, auch wenn die Reaction scheinbar deutlich ist,
stets nach einigen Injectionen einige injectionsfreie Tage der erneuten Prüfung
der Curve zu widmen , denn nur dieser Vorsicht hat man es zu danken , wenn
man vor gröberen Fehlschlüssen bewahrt worden ist. Es schieben sich ja, was
wohl für den, der genauere Messungen bei Lungenphthise gemacht hat, keiner
390
KOCH'&ches VERFAHREN.
Erläuterung bedarf, nicht selten unregelmäßige (atypische) Steigerungen der
Temperatur ein ; Patienten , die vorher nie fieberten , beginnen zn fiebern , oder
ftolcbe, die geringes Fieber haben T bekommen intennittirendea Fieber von 40
regelmässigem Charakter, daas man geneigt wäre, wenn die Injectiou am Beber-
freien Tage erfolgt wäre, die spontane Steigerung der Fiebertemperatur ab
Wirkung des Mittels anzusehen«
a) Die verspätete Reaction.1) Hierher rechnen wir alle Falle, in
denen die Temperaturerhöhung mindestens 10 Stunden ausbleibt , in denen also
die normale, nach 6 Stunden zu erwartende Reaction, erst zn einem späteren
Termin sieb einstellt. Man muss hier wieder mehrere Unterabteilungen unter-
scheiden T nämlich 1* die alleinige Verspätung der Anfangsreaetion , während das
Temperaturmaximum innerhalb der normalen Verhältnisse T d. b. innerhalb 6 bu
8 Stunden nach dem Beginn der Fi ebersteige rang eintritt; 2. der häufige Fall,
dass auch die Zeitdifferenz zwischen Beginn der Reactiou nnd Maximum eine
auBsergewöhnlich lange wird, d. b. sich Über 8 — 10 Stunden ausdehnt;
3. wenn auch die Entfieberung sehr lange, also länger als etwa 18 Stunden
auf sich warten läast. Dieses letzterwähnte Ereigniss nähert die Spätreaction der
gleioh zu beschreibenden, protrahirten Reactiou. Die Spätreaction zeichnet sich
dadurch aus, dass oft auf eine ganz kurze, nicht beträchtliche Steigerung ein
Sinken und dann erst ein plötzliches oder allmäliges continuirtiches Steigen,
welches zum Maximum führt, folgt, ferner dadurch, dass die absolute Temperatur-
erhöhung in der Mehrzahl der Fälle geringer ausfällt als bei der typischen
Reaction ; oft wird 38 "6° nicht überschritten. Dagegen ist die absolute Fieber-
dauer, vom Beginn der Steigerung au, bis zur Entfieberung gerechnet, oft eine
verhältnismässig lange. Auch mag hervorgehoben werden, dass die Fälle mit
Spätreaction sehr häufig bezüglich ihrer Diagnose dubiös sind und zweifelhaft
bleiben . indem das Vorbandensein tuberkulöser Erkrankung entweder gar nicht
oder mit sehr fraglicher Beweiskraft zu erschliessen ist. Kranke mit bereits
bestehendem Fieber zeigen auffallender weise nur höchst selten eine als Spät-
reaction tl&ufa> sende "IVmjM.TJiiurerlifÜJiiiig , wie die* ja bei der Schwierigkeit»
Veränderungen der Curve von Leuten mit höheren Fiebergraden auf einen
bestimmten Typus zurückzuführen und relativ geringe Steigerungen überhaupt an
erkennen , erklärlich ist* Abgesehen von der Art der Erkrankung und von einer
bestimmten Disposition des Patienten, scheint für das Auftreten der Spätreaction
die Zeit der In jection von gewisser Wichtigkeit zu sein. Wenn man als die
günstigste Zeit der Einspritzung für das Eintreten der Normalreaction Früh £ I hr
bezeichnen kann, so ändert sieh die Beschaffenheit der Reactiou bei den sonst
eine Normalreaction zeigenden Individuen sofort und nähert sich dem Typus der
Spätreaction um so mehr, je später nach 11 oder 12 Uhr Früh die Einspritzung
erfolgt. Sie wird dann einem anderen Typus, den wir ah den Typus der
A bendin jection bezeichnen möchten, um so ähnlicher, ohne ihm ganz gleich
zu kommen.
h) Reactiou nach Abendin jection ( Abeudreaction). Am ge-
eignetsten sie hervorzurufen siod die Stunden von 7- 9 I'br Abends; sie ist also die
auf eine Abendin jection folgende Reaction und bat gegenüber der Morgen in jection
folgende charakteristische Merkmale: 1. Sie beginnt sehr spät; 2. sie erreicht
verhältnismässig schnell die Acme; 3. das Fieber ist oft sehr kurzdauernd,
jedenfalls aber von kürzerer Dauer als das der Reaction ? die auf eine gleich
grosse Früheinspritzung folgt; 4. sie zeichnet sich durch relativ niedriges
Maximum aus. Am wenigsten constant ist das Auftreten der schnellen Acme;
die anderen angegebenen Merkmale aber sind für die überwiegende Mehrzahl der
Fälle charakteristisch. Die Abendreaction unterscheidet sich also von der Spät-
'} Wir bezeichnen als Reaction jede bei sieht fiebernden Kranken auftrete» de
Steigerung der Temperatur auf und über 38", während wir bei Fiebernden eine Steigerung
des Fiebers um etwa einen Grad liber da? sonstige Tages maximum zur „Reaction* rechnen.
K(X?H'8cheB VERFAHREN.
391
reaction dadurch, dass ihre Acme oft schneller erscheint, namentlich aber durch
die Eigenschaft , dass der Fieberverlauf mehr der Continna ähnelt , d. h. nicht
so oft von Remissionen oder beträchtlichen Intermissionen unterbrochen wird,
wie bei der Spätreaction , dass in der Mehrzahl der Fälle das Maximum ein
' höheres ist, und dass isolirte, vorübergehende Temperatursteigerungen, wie bei
der reinen Spätreaction, nicht vorkommen.
e) ProtrahirteReaction (verlängerte Reactionsdauer). Die dritte
Form, die von dem Normaltypus der Reaction abweicht, haben wir dann vor
uns, wenn der Abfall der Temperatur länger als normal auf sich warten lässt,
d. h. wenn das Fieber länger als 18 bis 20 Stunden währt. Hier haben wir
zwei Kategorien zu unterscheiden, je nachdem 1. auf eine normale, d. h. nach
6 bis 8 Stunden auftretende, AnfangBreaotion ein protrahirter Fieberverlauf folgt,
oder wenn sich 2; Fieber von längerer Dauer an eine Spätreaction anschliesst.
Zu dieser letzten Gruppe gehört ein Theil der Fälle, die wir schon vorher als
die mit protrahirtem Maximum einhergehenden erwähnt haben. Die Fälle mit
Frflhreaction haben gewöhnlich auch eine schnelle Acme und daran anschliessend
eine Fehns continua von längerer Dauer, während die Fälle von Spätreaction
meist eine verhältnissmässig lange Fiebersteigerung, aber relativ geringere
Fieberhöhe und zahlreiche Remissionen und Intermissionen während des Reactions-
fiebers aufweisen, so dass man zwei- und dreigipflige Curven (wenn das Fieber
um mehr als einen Grad remittirt, oder eine Intermission von nicht mehr als
2 Stunden auftritt) und ein- oder mehrmaliges Nachfieber (wenn zwischen den
einzelnen Steigerungen ein längeres fieberfreies Intervall liegt) unterscheiden
kann. Sehr merkwürdig sind die zur letzterwähnten Gruppe gehörenden Formen
des protrahirten Fiebers, bei denen nach einer, bisweilen sehr lange dauernden,
Intermission noch eine einzelne erratische Fiebersteigerung, gewissermassen ein
Nachschlag, kommt. So eigentümlich diese Erscheinung ist, so kann es sich
hier doch nicht etwa um einen Zufall handeln , da wir dieses Vorkommniss zu
oft beobachtet haben. Es soll zur Erklärung nur bemerkt werden, dass es sich
um isolirte Nachwirkung des noch nicht ganz zur Ausscheidung gelangten Mittels
handeln muss.
Wir haben noch zwei Thatsachen zu erwähnen, die, obwohl seltener
vorkommend als die eben geschilderten, doch für die Erklärung der Wirkungs-
weise des Tuberkulin nicht ohne Bedeutung sind, uod von denen namentlich die
eine noch eines genaueren Studiums bedarf, da sie nur bei einstündiger Messung
oft und scharf ausgesprochen zu Tage tritt. Es handelt sich in den eben
erwähnten Fällen um eine eigen thflmliche Temperaturdepression, die dem Beginne
der Steigerung der Temperatur unmittelbar vorangeht und zu einer Zeit einsetzt,
die 80D8t nicht dem normalen Temperaturmiuimum des Betreffenden , das oft sehr
weit von diesem Punkt entfernt ist, entspricht. Es folgt also das Steigen der
Temperatur direct auf die niedrigste oder dem Minimum sehr nahe stehende
Tagestemperatur, obwohl nach der, innerhalb der vorhergehenden Zeit fest-
gestellten, Normalcurve des betreffenden Individuums eine bei weitem höhere
Temperatur erwartet werden sollte. Besonders auffallend erscheint dieser uner-
wartete Abfall , wenn er in die Periode des normalen Ansteigens der Temperatur
fällt. Es muss also, da sich an die Depression das als Folge der Injection ein-
tretende, oft sehr schnelle Steigen der Körperwärme direct anschließt, diese
Depression als nicht nur zeitlich in den Bereich der Reaction fallend, sondern
als directes Symptom derselben angesehen werden, und wir hatten, wenn sich
durch genaue Beobachtungen dieses Verhalten als ein häufiges herausstellen sollte,
darin einen Anhaltspunkt für die Art und Weise , in welcher das Mittel die
Temperatursteigerung bewirkt.
Ein zweiter erwähnenswerther Punkt betrifft die cumulative Wirkung
des Mittels , die manchmal sehr frappant zu Tage tritt und zur Vorsicht beim
Injiciren in zu kurzen Intervallen auffordert. Es kann nach einer Reihe von
K0CH'8*;hes VERFAHREN.
Beobachtungen keinem Zweifel unterliegen, dass, wenn eine neue Injection
gemacht wird, bevor vollständige Entfieberung:, d. h. dauernder Herabgang der
Temperatur unter M8Ü wülsrvnii eimr mindestens lfi stund igen Periode eingetreten
ist t eine Injection , deren Wirkung noch in die Zeit einer Fiebersteigerung oder
der Tendenz eu einer solchen fallt, einen ganz beträchtlich grösseren Effect aus-
übt, als sie sonst zur Folge haben würde. Auch dieser Umstand veranlasste
uns zur Einschiebung injection «frei er Tage , und wir verschieben jetzt in jedem
Falle, in dem nicht mindestens löstündige absolute Apyrexie nach Ablauf der
Heaction besteht, die Erneuerung der Injection.
Ebenso sicher wie diese Cumulation der Wirkung ist die Absen wftebnng
des Effectes, wenn nach beendigtem, protrahirtem Fieber alsbald in der Apyrexie
eine neue Injection folgt* Dieselbe pflegt um vieles schwächer auszufallen al«
die auf eine normale Reaction folgende Einspritzung mit derselben Dosis» und
zwar um so geringer, je protrabirter das Fieber war, und je energischer die
Heaction des Organismus ausfiel.
Besonders hervorzuheben ist noch, dass f, verzettelte u Dosen Überhaupt
keinen Effect ausüben, und dass, ebenso wie bei den Antipyreticis der temperatur-
li erabsetzende Einfiuss nur bei voller Dosis eintritt , auch das Kochin nur dann
voll wirkt, wenn die Geeammtdosis auf einmal gegeben wird. Wenn man z. B.
bei einem Patienten mit 3 Mgrm. einen bedeutenden Effect erzielt t s<» bleiben,
wie wir beobachtet haben, 4 Mgrm., die im Verlaufe mehrerer Stunden io jicirt
werden , ohne Wirkung,
Von hervorragender Wichtigkeit für die Theorie der Wirkung ist auch
wohl der Umstand , dass die so auffallende Gewöhnung der Patienten an daa
Mittel bei schnell auf einander folgenden Injectionen eigentlich keine dauernde
ist, sondern dass nach längerer Pause in der Behandlung schon relativ kleine
Dosen des Mittels wieder recht beträchtliche Wirkungen hervorrufen.
So sahen wir, um nur einige prägnante Falle herauszugreifen, bei eiuf m Patienten
Sa,, der bei 15 Mgrm gar nicht mehr, bei 21 Mgrm. nur kurzdauernd bis 39 reagirte, nach
achttägiger Inject i od npause bei einer Injection von nur 10 MgTtu. die Temperatur uni 4< 1 "4,
den höchsten, bis dahin erreichten, Grad , steigen ; so sahen wir bei der Patientin Ha., iHe
bei 10 Mgrm, fast gar keine Einwirkung mehr (38*B) aeigte, nach neun lägiger Pausa bei
einer Einspritzung von 4 Mgrm. ein achtstündiges Fieber voo 39 0 eintreten, so zeigte ain
Patient, der am 10- auf eine Fruhinjection von 15 Mgrm. bis 39*5 rcagirte, nach awdlf-
lä giger Pause bei einer Dosis von nur 10 Mgrm., die noch dasu zur ungünstigsten Zeit —
nämlich des Abends — injicirt wurde, bereits nach 5 Stunden eine Temperatur von über i< ■
So fand sich bei einer Patientin, die bei 5 Mgrm. am Abend gar nicht reagirte und bei einer
nach einigen Tagen erfolgten Fruhinjection derselben Gabe nur eine gans kurze Steigerung
Uber 39 aufwies, nach achttägiger Pause bei Injection derselben Quantität — fast 41' and lang«
dauernde Erhebung über 40°,
Hierher geboren noch folgende Falle : Z. i bacillare Phthise) zeigt bei Injection v**n
82 Mgrm. 3S'7* bet 34 Mgrm. keine Reaction, aber nach einer Pause von 14 Tagen bei
Injection von nur 20 Mgrm. eine langdauernde Temperaturerhöhung bis 40 l.
G. (Spondyl&rthrocace) hat bei 6 Mgrm. nur ö8 3, nach vierwöchentlicher Pause
aber schon bei 0 001 Heaction von 39*7»
Am interessantesten bezüglich des Einflusses der Jnjectionspau&en ist der Fall 6.
(bacillsre Phthise). Hier war bei allmaliger Steigerung der Dosis bis 35 Mgrm. Oberhaupt
keine Reactiou erfolgt • als aber nach Htägigem Intervalle die Injectionen wieder aufgenommen
worden , trat bei der Anfangsdosts von 15 Mgrm. sofort eine Reaction bis 39 2 auf.
Eine Beziehung1 des Fiebers zu dem, immerhin nicht hilufig auftretenden
Mrhtumor haben wir nicht constatiren können, ebensowenig einen Einfiuss der
Heaction auf die Beschaffenheit der Bacillen. Das Verhalten derselben verdient
eine besondere Besprechung, doch wollen wir hier nnr hervorheben, dass wir
im Ganzen sechsmal das Vorkommen von auffallenden Veränderungen in Zahl,
Lagerung und Aussehen der Bacillen beobachteten. Iu allen diesen Falleu handelte
es sich um jene eigentümlichen, schon mehrfach als charakteristisch beschriebenen
Haufchenbildnogen, am Zerfall der in Häufehen liegenden Bacillen in kleinere
und kleinste Partikel, um auffaltende Schmalheit und Kürze der Stäbchen oder
um besonders häufiges Auftreten der auch sonst nicht seltenen Einschnürungen,
KOCH'sches VERFAHREN.
393
durch die die Bacillen in aneinander gereihte, sporenähnliche Körper verwandelt
werden. Von diesen 6 Fällen sind 3 Oberhaupt nicht mit Einspritzungen behandelt
worden, bei 2 anderen zeigten sich die Häufchen schon in der Beobachtung^-
periode vor den Einspritzungen und erfuhren während der Injectionen keine
wesentliche Veränderung. In einem einzigen Falle, der ein sehr spärliches, zähes
Sputum mit spärlichen Bacillen hatte, fehlten die Häufchen vor den Injectionen
und fanden sich erst nach denselben ein, wobei zugleich die Zahl der Bacillen
sich beträchtlich vermehrte. Es scheint uns aus diesen und anderen Beobachtungen
hervorzugehen, dass die Zahl der Häufchen und ihr Zerfall mehr mit dem
Reichthum an Bacillen Oberhaupt , als mit der Einwirkung des Kochin zusammen-
hängt. Dass der Zerfall überhaupt zur Höhe des Fiebers oder zur Heilung des
Processes in Beziehung steht, erscheint uns fraglich, da unter den 6 erwähnten
Fällen sich solche , die eine günstige , und solche , die eine ungünstige Prognose
boten, in gleicher Zahl befanden.
a) Einwirkungen der Antipyretica auf das durch Tuber-
kulin bedingte Fieber. Bei unseren Untersuchungen (Deutsche med. Worh.
1891, Nr. 8) hat sich Folgendes herausgestellt: 1. Es gelingt in einer Reihe
von Fällen, durch entsprechende Gaben von Antipyrin den fieberhaften Effect
der Injection mit Tuberkulin völlig aufzuheben, während die Oontrolinjection zeigt,
dass die Disposition des Organismus, auf eine Gabe von der erwähnten Grösse
zu reagiren, unverändert ist. 2. Der antipyretische Effect hängt ab: von der
Grösse der Antipyringabe und vor Allem von dem Zeitmomente der Einver-
leibung. 3. Er erfolgt fast sicher bei Normalreaction (iu dem Sinne, den wir
dieser Bezeichnung in unseren früheren Abhandlungen gaben), wenn das Anti-
pyreticum in der Initial periode der Einwirkung des fiebererzeugenden Mittels,
also nicht später als 2 — 3 Stunden nach der Injection , gegeben wird , und
wenn die Dosis des Kocbin wenige Milligramm beträgt. 4. Der Effect bleibt
aus oder ist um so geringer, je später das Antipyreticum nach der Injection
gegeben wird, und je mehr sich die Zeit der Darreichung dem Anstieg der
Temperatur nähert. 5. Im Falle, dass die Temperatur bereits im Anstiege be-
griffen ist, müssen unverhältnissmässig höhere Dosen gegeben werden, um auch
nur eine geringe Einwirkung auszuüben. 6. Bei Spätreaction ist die Bekämpfung
des thermischen Effectes der Injection eine viel schwerere, vielleicht überhaupt
nicht mit Sicherheit zu erreichende, wahrscheinlich weil das Antipyreticum
schneller ausgeschieden wird, als es zur Geltung kommen kann. 7. Bei sehr
starker Normalreaction mit protrahirter Wirkung ist die Vereitelung der fieber-
haften Wirkung gar nicht oder vielleicht nur durch sehr hohe Dosen zu er-
reichen ; im günstigsten Falle tritt nach unserer Beobachtung dabei doch noch eine
Spätreaction ein. 8. Sehr häufig zeigt sich die Wirkung des Antipyreticums über-
haupt nur darin, dass aus der Normalreaction eine Spätreaction wird, deren
Höhe nur wenig geringer ist als die entsprechende, durch die Oontrolinjection
zur Anschauung gebrachte Normalreaction; in einigen Fällen schien es, als ob
nach einer unwirksamen Gabe des antipyretischen Mittels die Wirkung der be-
treffenden Dosis des Kochin eine beträchtlich grössere sei als sonst, gerade als
wenn durch das Antipyreticum der Einfluss der Gewöhnung an das Mittel bis zu
einem gewissen Grade paralysirt würde ; doch bedarf diese paradoxe Erscheinung
noch genaueren Studiums. 9. Die Einwirkung des Antipyreticums erfolgt sicher,
wenn, bevor die Wirkung des Tuberkulin sich an der Temperaturcurve zeigt, Schweiss
ausbricht; doch wird der antipyretische Effect auch oft ohne Schweissausbruch
erzielt. 10. Die meisten Kranken geben an, dass das Antipyrin die unangenehmen
Folgeerscheinungen der Injection, nämlich den lästigen Kopfschmerz, mildere;
diese Angabe hört man auch dann, wenn keine Apyrexie, sondern nur eine
wesentliche Verminderung des Fiebers erzielt wird.
Durch dieses Verhalten ist, beiläufig gesagt, wohl bewiesen, dass der Kopfschmers
bei fieberhaften Zuständen wesentlich eine Folge der Temperatur-Steigerung und nicht der das
394
KOCH^chea VERFAHREN.
Fieber verursachenden Processe ist, denn es ist in unseren Fällen doch nicht anzunehmen,
dass das Tuberkulin durch das Antipyrin gewis^emjassen — man verzeihe den Ausdruck —
nentralisirt wurde ; wir ■ müssen, da das Mittel, wie wir gleich zeigen werden, auch noch
weiter im Körper circolirt, vorläufig annehmen, dass es sich hier nur am eine Abschwächte
einer seiner Wirkungen, der Temporal urerhülitinp, )i nadle, Ja der Beweis, dass dem Kochiu
sonst keine Wirkungen, als die eines ti ebererregenden Agens zukämen, erst auf dem oben
▼on uns angedeuteten Wege erbracht werden muss. — Dass das Antipyrin, wie erwähnt, die
Kopfschmerzen nur durch seine amithermischen Wirkungen zum Verschwinden bringt, be^
weisen vor Allem die Fälle von Sp Üt reaction. in denen trotz der Antipyrin sfabe das Ansteigen
der Temperatur stete, wie sonst, von Kopfschmerzen begleitet ist.
11. Unangenehme Erscheinungen, subjective und objoctive, aind nach
Anwendung der Antipyretiea von keinem Patteuten angegeben worden; im Gegen-
theil haben manche Patienten direct gebeten, bei ihnen doch die Injection stets
mit Darreichung des (Antipyrin-) Pulvers zu combinireu.
b) Bedingungen für das Zustandekommen der fieberhaften
R e a c t i o n. Nach der genauen Analyse von mehr als 200 Fällen bangt die fieber-
hafte Reaction etwa von folgenden Puukten ab: 1, Von der individuellen Dis-
position, die nicht identisch ist mit der Erkrankung an Tuberkulose, obwohl sich
nicht leugnen liisst, dass die Tendenz zu starker Reaotiou bei Anwendung
geringer Dösen relativ hautig bei Tuberkulosen vorhanden ist. 2. Von der Starke
der angewendeten Dosis, da ctterts paribu» eine hohe Gabe des Mittels bei der
ersten Anwendung einen unverhaltnissmassig stärkeren Effect hat als die An-
wendung derselben Dosis in allmäliger Steigerung. Wer z. B. bei einer directen
Steigerung der Dosis von 3 auf ÖMgrni. bei letzterer Gabe stark fiebert, ja viel-
leicht ein protrahirtes Fieber hat, kann nach eingeschobenen genugenden Pausen
bei langsamer Steigerung die zweite erwähnte Dosis ohne Reaction vertragen
oder zeigt doch eiue viel geringere Reaction. Und umgekehrt fiebern Patienten,
die bei einer bestimmten Dosis keine Reaction mehr zeigen, fast ausnahmslos
wieder, wenn eine viel kleinere Dosis nach längerem Pausiren mit der Behandlung
zur Einverleibung gelangt. Auch haben relativ kleine Dosen (2 Mgrm.), als Anfangs-
dosen gegeben, eine unverhältnissmftssig stärkere Wirkung, als wenn sie nach
vorhergegangener Injection von 1 Mgrm. injictrt werden, 3. Die Reaction hängt
drittens ab von der Gewöhnung an das Mittel, also eigentlich wieder von einer
zur Kategorie der Disposition gehörigen Eigenschaft der Versuchsperson ; die
Gewöhnung aber steht durchaus in keinem directen erkennbaren Verhältnisse zur
Anfangsreaction, denn Personen, die Anfangs sehr stark reagiren, reagiren plötz-
lieh von einer bestimmten Dosis ab gar nicht mehr, obwohl die Injektionen
beträchtlich verstärkt werden. 4. Die Reaction ist abhängig von der Zeit der Ein-
spritzung. Das Mittel steigert — oft nach einer kurzen Temperatnrerniedrigung
— die Körperwärme dann am meisten, wenn seine Wirkung mit der normalen
Tendenz des Organismus zur Steigerung seiner Körperwärme zusammenfallt, und
die Temperaturstetgerung tritt auch umso sichererund prompter auf, je mehr diese
Congruenz vorhanden ist; sie wird für den betreffenden Tag um so geringer, je
deutlicher die Spontansteigerung schon eingeleitet, oder wenn sie schon vorüber
ist. Da die Wirkung des Mittels etwa nach 5 bis 6 Stunden beginnt und circa
5 Stunden bis zur volteu Entfaltung braucht, so ist es klar, wenn unsere An-
schauungen richtig sind, dass das Resultat um so geringer sein wird, je später
im Laufe des Tages die Injection gegeben wird; denn da die höchste Tempe-
ratur des Tages schon um 5 bis 6 erreicht wird, so kann die Wirkung der
regulatorischen Apparate des Körpers mit der wärmesteigernden des Mittels nicht
mehr zusammenfallen, wenn es später als 12 Uhr angewandt wird. In der That
bestätigt die Erfahrung in der weitaus gröasten Mehrzahl der Fälle diese Erwägung.
Die relativ höchsten Ergebnisse der Reaction erhält man bei lnjectionen, die zwischen
8 bis 9 früh stattfinden; auch lnjectionen, die bis 11 stattfinden, haben oft noch
eine prompte Reaction; von diesem Zeitpunkte ab aber verzögert sieh die
Wirkung; wir erhalten Spätreaetion mit niedrigen Temperaturcurven« Je später
aber die Einspritzung erfolgt, desto unsicherer wird das Resultat. Wird du
KOCH schca VERFAHREN.
Mittel nach Ablauf der spontanen Temperaturerhöhung gegeben» also des Abend*
gegen 7 oder 8, so erhalten wir den Typus des Fieberganges, den wir als den
der Abendinjeetion, bezeichnet haben : Spätreaction mit schneller Acme, relativ
niedrigerer Temperatur» als der Tagedi njection mit gleicher Menge entspricht,
und verbal tnissmässig kürzerer Fieberdauer. Es wirkt so, als ob eine schwächere
Fig. tt
Dosis zur geeigneten Zeit zur Anwendung gekommen wäre, d. h. als ob man
zur besten Zeit des nächsten Tages eine entsprechend geringere Dosis in-
jicirt hätte.
Ob unter diesen Bedingungen ein Theil des Mittels überhaupt nicht zur Wirkung
kommt, imkm er schon wahrenü der In jeetionsateit ausgeschieden wird oder ob durch die
Einwirkong des Mittels auf einen zur Zeit der Reaction nicht geeigneten Organismus —
Fig. 52.
dessen Wärmeprjdnction schon stärker in Ansprach genommen war — eine Abschwächuag
der Wirkung, also gewisseraassen eine leichte Schutsimpfang (Anpassung) stattfindet, das
müssen neue Versuche lehren. Jedenfalls haben wir hier ein Analogon zu der bereite oben
erwähnten Beobachtung, dass nach abnorm starker Reaction die nächste lujection eine ent-
sprechend geringere Wirkung hat, weil die Reaktionsfähigkeit des Organismus in Folge der Mehr*
leistung in einer bestimmten, der Wirkungsweise des Mittels entsprechenden Richtung eine ge*
ringere geworden ist. Hierauf beruht ja wohl auch die bei einzelnen Patienten zu beobachtende,
auffallend schnelle Gewöhnung au die Wirkung des Mittels und die so autfallend stärkere
KOCHscbes VERFAHREN
Wirkung der ersten, doch verbal tmsstn assig kleinen Injection. Die äp&treactionen bembtn
%*or Allem auf einer verringerten Disposition des Individuums. Sie zeigen ja gewöhnlich ein
langes Incubationagtadinm nnd euch
eine langdanernde fieberhafte Reiic-
Hon , wenn auch nicht so hohen
Grades, — alles Verbal t n isse , die
sich unschwer — wenn man den
Satz: wsi parva licet toroponere mag-
nis" auf die Zeit anwendet — mit
dem Verhalten der fieberhaften He*
action bei lnfec tions krack hei ten
jiarallelisiren lassen. Die lifrmi
thümiichen I ntermissioneu des Fie-
bers , die am Ende der Wirkung
auftretenden Remissionen, die An-
fälle des Nachfiebers xeigen den
Kampf des Organismus mit dem
flebererregeuden Agens iu einer
sehr lehrreichen Weise ; ebenso
spricht die Thntsacbe , dass sich
die Form der Spätreuet iou in die
normale Form überfuhren lasst,
wenn mau die Dose des Mittels sebr
steigert, dafür , das* durch ver-
mehrte Starke des Reizes die, re-
ff acta r machende, individuelle Dis-
position überwunden wird» und dass
schliesslich jeder — tso konnte man
weiter folgern, wenn es nicht schon
bewiesen wäre — , auch der Gesunde,
bei Anwendung geeigneter Dosen
des Mittels Reaction zeigen mu*s.
Damit ist die Grenze für die diag-
nostische Bedeutung des Mittels
gezogen. 3
c) Diagnostische «
Bedeutung der fieber-
haften Reaction. Bis jetzt
lassen sieb auf Grund unserer
bisherigen zahlreichen Beob-
achtungen die diagnostischen,
blos aus der Analyse der
lieberhaften Reaction zu ziehen-
den Sätze , namentlich für
iias (Jebiet der inneren Tuber-
kulose , etwa folgendermaßen
formuliren : 1. Wenn bei fieber-
losen oder nur schwach fiebern-
den Individuen nach lnjeetion
relativ kleiner Dosen , (von
O'OOl bis 0'005 in zweitägi-
gen Intervallen steigend), gleich-
mäßig starke Normalreacti^n
auftritt, so ist die Annahme
einer Tuberkulose bei Vorhan-
densein sonstiger Symptome
recht wahrscheinlich. Nament-
lich bei tuberkulösen Erkran-
kungen der Harnwege zeigt
sieb diese Form der Reaction
oft auffallend stark« 2# Wenn die fieberhafte Reaction sieh sehr bald abschwächt,
namentlich aber, wenn sich au die erste lnjeetion sehr protrahirtes Fieber oder
t k
gar Spätreaetion aoscbliesst, so kann man nicht mit Sicherheit auf Tuberkulose
schliefen, 3. Ausbleiben jeder Reaction kann bei schwerer bacillärer Phthise
nicht selten constatirt werden, namentlich wenn man die Dosis recht vorsichtig
steigert. 4 Spätreaetion (bei Morgenin ieetion und Anwendung nicht zu hoher
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Jose») kommt auch oft, unter beträchtlicher Fiebersteigerung , bei anderen als
tuberkulösen Erkrankungen, bei Entzündungen, bei Eiterungen, bei Herzkranken etc,
vor. Jedenfalls hat sich in unseren Beobachtungen die Spätreaction auffallend
oft dort gezeigt, wo keine Anhaltspunkte für die Diagnose der Tuberkulose da
waren, und wo sich auch nach längerer genauer Beobachtung keinerlei Zeichen
Fi*. 55.
für das Bestehen eines tuberkulösen Processes ergaben, 5. Pleuritis serosa giebt,
Gilbst wenn alle Anhaitapunkte für tuberkulöse Entstehung fehlen, und wenn
spjiter völlige Resorption erfolgt, auffallend häufig schon bei geringe» Dosen eine
«tarke, aber »ich bei weiteren lnjectfanen schnell abschwächende N or mal reaction .
KOCHscfcea VERFAHREN
Es mag hier auch darauf hingewiesen werden, das* bei zwei Sectionen
von Kranken, die eine starke fieberhafte He&etiou gegeben hatten, tmtz genauer
Untersuchung' ein tuberkulöser Proeess nicht aufzuliuden war; in einem Falle
Amyloid der Nieren und der Milz, im anderen eiue sehr ausgedehnte JSnteriti*
follicularis vor. Die voranstellenden Curveu illustrireu die einzelnen Typen der
fieberhaften Reaction.
$r Verüti'Untni/e» der h\ 'atht-svlntßtnhetl,
Veränderungen des Häiuogtobingchalteä sind vorhanden, doch sind sie
weder mit der fieberhaften Reaction, noch mit der Höhe der Dosig in directe
Beziehungen zu bringen ; nach längerem Gebrauch stärkerer Dosen findet eine
beträchtliche Abnahme des H&moglobingehaltes statt, die Patienten werden blas*
und zeigen eine starke Abnahme des Körpergewichts (Mikulicz, Phibram u. A,i.
Eine Einwirkung stärkerer Dosen des Mittels auf das gesunde Blnt ist
auch sicher vorhanden , da in einzelnen Füllen mehr oder weniger starker
Icterus, Hämoglobinurie, (jrobilinurie und starker Farbstoffgehalt des Urin« in
Folge von Indolderivaten auftrat: auch reine Nierenblutungen sind beobachtet
worden» Da bei den Beobachtungen von Icterus erhebliche Erscheinungen von
Seiten der Leber und der Nieren fehlen, da die Leber nicht vergrösaert ist
und die Fäces gefärbt bleiben, da ferner der Icterus nur seh wach ausgebildet
ist und da endlich der Urin wohl nie reines Bilirubin, sondern Oobilin und
vermehrten braunen _ sich bei Salpetersflurezusatz bildenden Farbstoff enthält,
so ist anzunehmen, das** es sich nur um hämatogenen Icterus handelt, um
Zerfall von Blut im Körper unter dem directen Einflusa des Tuberkulin oder
als Folge der durch das Mittel bedingten plötzlichen Fiebersteigerung. Es handelt
sich um ähnliehe Vorgänge, wie bei der paroxysmalen Hämoglobinurie, bei der
das im Körper zerfallende Blut durch die Thätigkeit der Leber theil weise in
GatlenfarbstofT umgewandelt, theilweise aber im reinen oder im Zustande inter-
mediärer Producte durch die Nieren zur Ausscheidung gelangt. Jedenfalls ist der
ganze Symptomencomplex bei beiden Vorgängen ein äusserst ähnlicher* Für diese
Annahme spricht auch das Vorhandensein der braunen Farbstoffe, die zum Theil
die von Bosenbach beschriebene burgunderrothe Reaction bedingen und wohl stets
als Zeichen stärkeren Zerfalles von Ei weiss im Blute aufzufassen sind. Auch die
Ausscheidung von Ei weiss durch die Nieren nach Injection von Tuberkulin - —
bei Nierenkranken und bei gesunden Nieren — ist als Zeichen eines Zerfalles von
Ei weiss im Blut und nicht als Zeichen einer Nierenerkranknng anzusehen, da die
bisher beobachtete Albuminurie nur sehr kurze Zeit dauert und morphotische
Bestandtheile im Urin fehlen — nur Blut ist mauchmal vorhanden — , und da
die Urinsecretion nach einer kurzen Pause enorm steigt, was doch nicht fDr eine
Läsion der Niere spricht Man kann diese Fälle ohne Zwang in die Kategorie
der von Rosenbach beschriebenen regulatorischen Albuminurie einreihen, bei der
durch erhöhte active Thätigkeit der nicht erkrankten Nieren das für deu
Körper unbrauchbare, nicht gebundene, im Blut circulirende Eiweiss, sehnell zur
Ausscheidung gelangt. Auch die hiiutig nach Anwendung des Kocü'schen Mittels
auftretende Polyurie ist ein Zeichen dafür, das* Stoffe im Blut gebildet werden,
welche die Nieren reizen, aber ihre Thätigkeit nicht lähmen. Natürlich ist voraus-
zusetzen, dass, wenn diese Reizzustände längere Zeit anhalten, mit der Zeit die
Nieren geschädigt werden, aber die bisherigen Erfahrungen mit dem Kocü'schen
Mittel lehren, dass man alle derartigen Zu lalle vermeiden kann, wenn man in der
oben angegebenen Weise vorsichtig vorgeht und dem Organismus plötzliche, sehr
extensive und intensive Eingriffe erspart.
Von sonstigen Veränderungen ist noch Leukozytose hervorzuheben, wie sie
ja bei fieberhaften Zuständen nicht selten ist. Der Befund von TuberkelbaeilJen iiu
Blute beruht wohl auf einer zufälligen Verunreinigung der Präparate,
XOCR'sches VERFAHREN. 399
3. Veränderungen des Gesammtnervensystemes.
Wir führen dieselben unter den Allgemeinerscheinungen an, weil sie
nicht der Ausdruck einer localen Einwirkung des Mittels, sondern nur der
Ausdruck der allgemeinen Beeinflussung des Organismus sind, weil sich
auch in ihnen die Reaction des Gesammtorganismus , welche in dem Zerfall von
Eiweiss, in der erhöhten Thätigkeit der tempetaturbiUtonden' Apparate ihren
Ausdruck findet, reflectirt. Wir sehen auch in der Tbat, dass bei Personen, die
nicht fiebern, bei denen also jene Summation localer Reactionen des Körpers
nicht stattfindet, das Mittel auch in grösseren Dosen fast spurlos zu circuliren
scheint, und es ist aus dieser Thatsache zu folgern, dass die starke Beein-
flussung des Gesammtorganismus nur der Ausdruck einer starken localen Ein-
wirkung ist, die ja wiederum in dem Bilde der Gesammtreaction eine hervor-
ragende Rolle spielen und der Reaction des einzelnen Individuums einen besondern
Charakter ertbeilen kann. Ob diese starke locale Einwirkung nur an einer be-
stimmten, besonders disponirten Stelle des Körpers stattfindet, wie z. B. in dem
pathologischen Falle des Lupus , wo vielleicht nur die streng localisirte Reaction
an der lupösen Stelle den ganzen Organismus in Mitleidenschaft zieht, oder ob
alle Theile eines besonders disponirten Organismus durch ihren, wenn auch
kleinen Antheil zu der starken Gesammtreaction beitragen , das soll hier nicht
entschieden werden; wir halten es aber für wahrscheinlich, dass die Er-
scheinungen beim Lupus nur den besondern Typus der stärksten Localreaction
reprasentiren und dass bei ihm die anderen Symptome nicht subordinirt, sondern
coordinirt sind. Die oft vorhandenen Kopfschmerzen, die Symptome von Seiten
des Magens, das Erbrechen, welches ein Warnungssignal ist, da es auch ohne
vorhandene Temperaturerhöhung eine starke Einwirkung auf den Organismus
anzeigt , ebenso wie Diarrhöe , Muskelzittern , Muskelschwache sind als Zeichen
der durch die localen Erregungen bedingten Allgemeinreaction aufzufassen, indem
das Mittel durch das Bindeglied des Stoffwechsels eine Veränderung im Blute, das
ja das getreueste Bild des Stoffwechsels ist, oder in den blutbildenden Organen,
vielleicht in allen Geweben, hervorruft und somit die Function aller Organe, auf
die die beschriebenen Symptome zurückzufahren sind, mehr oder weniger eingreifend
beeinflus8t. Das Erbrechen wird durch ganz analoge Vorgänge ausgelöst, wie die
Intoxication bei der Urämie, dem diabetischen Coma etc., Zustände, bei denen es
ja auch (so nahe es liegt, einzelne Symptome auf locale Affection z. B. des Ge-
hirns zurückzuführen) durchaus nicht erwiesen ist, dass gerade die Störung der
Gehirnthätigkeit allein die Ursache der beobachteten Erscheinungen ist, da die
Störungen der Gehirn- und der Magentbätigkeit coordinirte Erscheinungen,
Wirkung der Intoxication des Gesammtblutes sind, die in einer functionellen
Erregung der von dem veränderten Blute durchströmten Organe und somit in
ihrem Einfluss auf den Gesammtorganismus zu Tage treten. Die Kopfschmerzen
stehen, wie Rosbnbach's Versuche über den Einfluss der Antipyretica auf das
durch Tuberkulin bedingte Fieber gelehrt haben, mit dem Fieber in directer
Verbindung, denn sie werden durch Antipyringaben nur dann beeinflusst, wenn
das Antipyrin im Stande ist, das Auftreten des Fiebers zu hemmen. Ob es sich
hier um antitbermiscbe Effecte handelt , d. b. ob die Kopfschmerzen Folge der
Erhöhung der Körpertemperatur sind , ist fraglich , da ja die Erhöbung der
Körpertemperatur eine Reihe von Stoffwechsel Veränderungen bewirken muss,
welche ihrerseits wieder im Gehirn die Veränderungen, die wir als Kopfschmerzen
empfinden, hervorrufen können. Diese Frage ist noch nicht zu lösen, da es
eben noch nicht möglich ist, die thermische Steigerung von den anderen Sym-
ptomen des Fiebers zu trennen und somit die Wirkungen der einzelnen, den
Symptomencomplex des Fiebers zusammensetzenden Factoren isolirt zu studiren;
unsere Versuche sprechen, wie die vorstehenden Darlegungen lehren, mehr für die
antitbermiscbe Wirkung des Antipyrin.
400
KOCH"«chea VERFAHREN.
Von abnormen Erscheinungen am Nerven- und Muskelsystem sind beo
achtet worden: Kopfschmerzen , Delirien, Ohnmächten/ Ooma , Muskelzitteni.
Muakeischmerzen , leichte Paresen , Doppeltsehen, Caeyne-Stokes sebea Atbmen,
acute Psychogen.
B. Locale Reactionen.
a) An der Haut. Koch giebt von den Veränderungen der Gesichts*
baut bei Lupus, die nach Injectionen auftreten, folgende durchaus zutreffende
Beschreibung :
„Einige Stunden nach der Injection fangen die lupösen Stellen, und zwar
gewöhnlich schon vor Beginn des Frostanfalls, an zu Sehweiten und sich zu röthen.
Während des Fiebers nimmt Schwellung und Rothung immer mehr zu nnd kann
schliesslich einen ganz bedeutenden Grad erreichen, so dass das Lupusgewebc
stellenweise braunroth und nekrotisch wird. An schärfer abgegrenzten Lupusberden
war öfters die stark geschwollene und braunroth gefärbte Stelle von einem weiss*
Heben, fast 1 Cm. breiten Saum eingefasst, der seinerseits wieder von einem
breiten , lebhaft gerötbeten Hof umgeben war. Nach Abfall des Fiebers nimmt
die Anschwellung der Inpösen Stellen allmälig wieder abt so dass sie nach 2 — H
Tagen verschwunden sein kann. Die Lupusberde selbst haben sich mit Krusten von
aussickerndem und an der Luft vertrocknendem Secret bedeckt sie verwandeln sich
in Borken, welche nach 2 — 3 Wochen abfallen und mitunter schon nach ein
maliger Injection des Mittels eine glatte rothe Narbe hinterlassen/1
Diese Besehreibung entspricht den späteren Beobachtungen ; nur varurt
die Stärke der Erscheinungen je nach der Stärke der Dosis, und da man jetzt
mit kleineren Dosen beginnt, so ist das von Koch gegebene Bild oft nicht s<»
ausgeprägt. Je mehr sich der Kranke an die Injection gewöhnt, desto geringer
wird die seröse oder eiterige Secretion ; zuletzt tritt Überhaupt nur leichte circum-
scripte Rothung und geringe Schwellung an einzelnen Partien auf. Viele Autoren
macheu darauf aufmerksam, dass nicht nur frische, makroskopisch nicht erkenn*
bare Lupusknötchen in Folge der Injection deutlich werden, sondern dass auch
Narben und ältere Processe eine starke Rothung, bisweilen Neigung zum Zer-
fall zeigen. Ueber die Reaction der in Narben sitzenden Knoteben sind die Mei-
nungen getheilt, da einige Autoreu Reaction dieser Knötchen gesehen haben,
wfihrend andere sie bestreiten und der Ansicht zuneigen, dass der acute entzünd-
liche Process, den das Tuberkulin hervorruft, nur dort eintrete, wo eine starke
Vascularisirung des Knötchens, respective seiner Umgebung einen günstigen Boden
geschaffen habe. Mehrere Beobachter haben gefunden, dass gerade die frischesten
Formen der Lupusknötchen relativ unbeeinflusst bleiben und dass demgemäss auch
die während der Behandlung aufschiessenden Knötchen keine Reaction zeigen.
Dass Lupöse gar nicht reagiren, ist ebenfalls, wenu auch nur in einer verschwin-
denden Zahl von Fällen, beobachtet worden.
Bemerkenswerth ist das Auftreten verschiedener Affectionen der gesunden
Haut, welche ein Beweis für die generelle, energische Reaction, die durch Tnber*
kul in bewirkt wird, sind.
Ausser Herpes labialis beobachtete man: macnlöse und papulöse, roseola-
und masernartige Exantheme, scarlatinaartige Erytheme mit Abschuppung, ja im!
blasen förmiger Abhebung der Haut. Auch vesiculöse und pustutöse Effloreseenzcn,
sowie Urticaria sind nicht selten gesehen worden.
b) Reaction der Schleimhäute. Durch den Einfluss des Tuberkulin
soll unter allgemeiner Zunahme der Secretion Rothung, Ödematöse Schwellung und
stärkere Empfindlichkeit in den Krankheitsherden und deren Umgebung auftreten ;
es erfolgen kleine Blutungen; die ulcerirenden Partien markiren sich durch einen
grauweisseu Saum; an manchen Stellen sind iltzschorfäbuliohe Beläge, ja Zerfall
des Gewebes beobachtet worden, Die Heilung soll unter Granulationsbild ungh er-
folgen oder es sollen schon nach Abfall des Schorfes normal gerötbeto Schleimhäute
KOCH'sches VERFAHREN.
401
zu Tage treten. Von einigen Autoren ist eine Neubildung graner Knötchen in der Um-
gebung der durch Injection beeinflussten tuberkulösen Hautpartien beobachtet worden.
c) Am Kehlkopf sind von einer Reihe von Autoren vielfache Ver-
änderungen beschrieben worden, die den geschilderten, an der Mund- und Rachen-
schleimhaut zu beobachtenden, analog sind; namentlich häufig ist ödematöse An-
schwellung einzelner Partien der Stimmbänder, der Aryknorpel etc. gesehen worden.
In einzelnen Fällen soll es zu Olottisödem gekommen sein. Viele Autoren
haben nach Rückbildung der acuten Schwellungen und Abfall der die Geschwüre
bedeckenden Beläge Heilung der Ulcerationen beobachtet, andere haben nur eine
Steigerung der Ulceration und Eiterung als Folge der Injection angesprochen. Wir
selbst haben in einer grossen Reihe von Fällen von Larynxphthise der verschie-
densten Grade, von den leichtesten Schwellungen und Ulcerationen an bis zu den
ausgedehntesten Zerstörungen, mit Ausnahme eines Falles, keine Reaction gesehen.
In dem eben erwähnten Falle, bei einer schweren ulcerösen Laryngitis, fand sich
bei dem hochfiebernden Kranken, dessen Temperatur von der Injection nicht
wesentlich beeinflusst wurde, etwa 8 Stunden nach der Injection eine starke
Röthung der Taschenbänder. Unserer Auffassung nach ist die Frage von der
Reaction des Larynx sehr schwer zu entscheiden, da der Zustand der Kehlkopf-
schleimhaut, namentlich ihre Färbung und Succulenz von dem Verhalten des Kranken
in anderer Beziehung, namentlich bezüglich der Körpertemperatur, sehr beeinflusst
wird. Bei hohem Fieber, bei starkem Husten zeigt sich stets stärkere Injection und
scheinbar vermehrte Schwellung, namentlich bei schwereren Fällen und am Abend,
wo die Secretion der Schleimhäute ohnehin vermehrt ist und die Exacerbation des
Fiebers und der Hustenparoxysmen die am Tage zu beobachtenden Erscheinungen
wesentlich modificirt.
d) Erscheinungen am Respirationsapparate. Sie treten bis-
weilen sehr in den Vordergrund und sind meistens direct vom Fieber bedingt
oder doch wenigstens eine der Temperaturerhöhung coordinirte Folge eines uns
unbekannten Einflusses des Tuberkulin. Man beobachtet Hustenreiz, stärkere
Expectoration , starke Vermehrung der Athmungsfrequenz , hochgradige Dyspnoe,
die theilweise durch Schmerz- und Druckgefähl in den Thorax- und Bauchmuskeln
bedingt ist, theilweise von directer Beeinflussung der einzelnen Factoren der
Respiration herrührt, theilweise als Folge gewisser circulatorischer Einwirkungen
zu betrachten ist. — Von nicht wenigen Autoren sind Veränderungen des physi-
kalischen Befundes über den Lungen, Auftreten von Rasselgeräuschen und
Veränderungen der Athmungsgeräusche an Stellen, an denen vorher normaler
Befund war, Aufhellung und Entstehung von Dämpfungen und Ausbildung eines
tympanitischen Percussionsschalles beobachtet worden; Andere, wie der Verfasser
dieses Berichtes, sind nicht so glücklich gewesen, mehr und wesentlichere Verände-
rungen des Lungenbefundes aufzufinden, als sie auch sonst bei einem so
wechselnden Bilde, als es die Phthise bietet, zu Tage treten. Jedenfalls ist die Zahl
der Fälle mit sicheren, durch die Auscultation und Percussion wahrnehmbaren
Veränderungen, die sich unzweifelhaft nur als Folge der Einspritzung
betrachten lassen, verhältni9smässig sehr gering und lä9st sich nicht annähernd
mit der Regelmässigkeit des Befundes und der Steigerung der Erscheinungen an
lupösen Stellen der äusseren Haut oder der Schleimhäute in Parallele bringen. Das
Auftreten von CflEYNE-STOKRS'schem Athmungstypus haben- wir schon oben berührt.
e) Am Cir culation sapparate. Sehr häufig ist eine Vermehrung der
Pulsfrequenz beobachtet worden ; doch geht die Pulszahl verhältnissmässig selten
der Höhe der Temperatur parallel. Dass die Spannung der Arterien während des
fieberhaften Anfalles abnimmt, während bei dem der Steigerung oft vorausgehenden,
Schüttelfrost erhöhte Spannung zu beobachten ist, erscheint a priori klar. Die
Auscultation des Herzens ergiebt nur die dem Fieber zukommenden Veränderungen.
In einzelnen Fällen ist Collaps beobachtet worden, der aber wohl eher eine Folge
allgemeinen Chocs, als eine directe Schwächung der Herzthätigkeit zu sein scheint.
Encyclop. Jahrbücher. I. 26
402
KOCH'sche« VERFAHREN,
Uo regelmässige Pulsactton und Anfälle nach Art der Angina pectoris sind siebt
sehen zu verzeichnen gewesen , ebenso Reiz- und Lähtnungserscbcinungen von
Seiten der Vasomotoren.
f) Veränderungen des Urins. Wir haben bereits oben die Polyurie
(Hosenbach. Martins, Meschede), Peptonurie (Kahler u. A.j, Albuminurie,
Urobilinurie und vermehrte Farbstoffausscbeidung erwähnt, die wir nicht als Folge
der Niere-nerkrankung, sondern als Folge einer Einwirkung auf das Blut oder den
Gesamnit Stoffwechsel auseheu. Von einigen Beobachtern (Pribrau) ist Diazoreaetion
beobachtet worden, in unseren Fällen fehlte sie. Hämorrhagische, durch Autopsie
constatirte Nephritis* die Übrigeos bei Phthhikeru nicht sehen ist, wurde von
einigen Beobachtern mit der Injection von Tuberkulin in Beziehung gebracht,
ebenso Hämaturie, die im Verlaufe der Behandlung auftrat,
g) Digest i o nst r actus. Die am Digesttonsapparat zur Beobachtung
kommenden Erscheinungen, wie Uebelkeit, Erbrechen, Schmerzen in der Magen-
gegend, Appetitlosigkeit, sind Folgen der Allgemein Wirkung des Mittels, ebenso, wie
oben erwähnt, wohl auch der Icterus; die einige Male erwähnten Diarrhöen
traten auch bei Patienten auf, bei deneo Darmtuberkulose nicht angenommen wurde. —
Dass bei protrahirter , oft wiederholter h'eberhafter Reaction das Körpergewicht
beträchtlich abnimmt, ist allseitig festgestellt worden; ebenso ist nachgewiesen
worden, dass die StiekatoffausBcheidung unter diesen Umständen zunimmt. In
späteren Perioden kann sie allerdings trotz Fortsetzung der Behandlung wieder
abnehmen (Klewperer) und das Körpergewicht kann ansteigen. — Milz-
schwel hing, durch Percussion und Palpation nachweisbar, kommt zweifellos bei
einem kleinen Theile der Fälle vor.
IX. Reaction der einzelnen Individuen und Kr ank h e i t s f o r m en
bei Jnjectioncn mit Tuberkulin.
Der Satz Koch's, das* der Gesunde auf O'Ol gar nicht oder nur in
unbedeutender Weise reagirt , hat sich bei weiterer Prüfung als nicht richtig
herausgestellt, denn es giebt viele Gesunde, oder sagen wir solche, bei denen wir
mit Hille der bisherigen Untersuchungsmethoden, die doch immerhin noch den Maa?s-
stab für die Richtigkeit und Tragweite der neuen Methode in rein diagnostischer
Beziehung abgeben müssen, in ihren sonstigen und hereditären Verhältnissen nichts
entdecken können, was uns die Berechtigung zur Annahme einer tuberkulösen Er-
krankung gäbe. Namentlich wenn man die erwähnte, schon ziemlich beträchtliche,
Dosis als die erste wählt und damit die allmätige Gewöhnung an das Mittel welche
die Stärke der Reaction wesentlich verändert, nicht zur Geltung kommen lägst, wird
man bei einer ganzen Reihe Gesunder sicher eine deutliche Reaction sehen, wobei
nicht zu vergessen ist, dasa Gesunde auch schon hei kleinen Aufangado&en sofort
reagiren können. Auch der Satz, dass Lungenkranke immer auf kleine und kleinste
Dosen reagiren, bedarf sehr der Einschränkung, denn wir haben eine grosse Anzahl
von Fällen gesehen, wo (Bacilleu zeigende) Phthisiker mit grossen Zerstö-
rungen in den Lungen oder im Darm, selbst bei sehr hoben Dosen überhaupt nicht
reagirten. Wenn es ja vom theoretischen Standpunkte aus schwer ist, den Beweis zu
führen , dass Jemand, der aof Einspritzungen nicht reagirt, auch wirklich gesund
ist und nicht irgendwo doch eine, auch noch so kleine Ansiedlung von Tuberkel-
bacillen hat, so liefert doch der Umstand, dass so Viele, denen man vom Stand-
punkte der heute allgemein geltenden rntersuchungsprinetpien das Prädicat „gesund"
ohne Weiteres ertheilen muss, doch deutlich reagiren, den Beweis dafür, dass ein
direeter Schluss von der Reaction auf die Erkrankung durchaus nicht Über allen
Zweifel erhaben ist. Ein solcher Standpunkt würde auch eine unbegründete Ueber-
sehätzung unseres bisherigen diagnostischen Besitzstandes verrathen, ganz abgesehen
davon, dass doch irgend ein proportionales Verhältnis* zwischen Erkrankung und
Reaction bestehen müsste, dergestalt, dass die geringere Affection auch eine geringere
Reaction geben müsste und umgekehrt. Aber davon kann nach allen Beobachttingen
KOCH'sches VERFAHREN.
403
keine Rede sein ; die Reaction steht in keinem ersichtlichen Verhältnisse zur Ver-
schiedenheit der Grösse der Erkrankung, und die Erklärung, die man diesem
befremdlichen Factum giebt, indem man supponirt, dass die Herde dann eben
wegen starker Abkapselung dem Tuberkulin keinen Zutritt gestatten, ist unhalt-
bar, denn es reagiren nach vielfachen Beobachtungen abgekapselte Herde sofort
sehr deutlich, und schwere Phthisen wiederum, bei denen Abkapselungen nie fehlen,
reagiren vielfach stärker als ganz leichte, sicher aber tuberkulöse Lungen-
catarrhe. Ausserdem ist doch kein Grund zur Annahme vorhanden, dass, mit
Ausnahme des Centrums von grösseren käsigen Herden, irgend eine Partie der
Lungen von der Circulation ausgeschlossen ist ; es muss zur Peripherie doch immer
die Ernährungsflüssigkeit einen Zutritt haben, wenn nicht völlige spontane
Necrose eintreten soll.
Während man also einerseits durch die Erfahrung darüber belehrt wird,
dass auch ganz Gesunde reagiren und dass Tuberkulöse in allen Stadien
keine Reaction zeigen, so giebt es andererseits wiederum auch eine Reihe
von Kranken, bei denen Tuberkulose mit grössterWahrscheinlich-
keit auszuschliessen ist und die doch so stark reagiren, wie Tuber-
kulöse, z. B. gewisse Formen der Herzfehler, des Rheum. art. acut, im subfebrilen
oder afebrilen Stadium , namentlich aber Erkrankungen der Pleura und eitrige
Bronchitiden. Auch scrophulöse Hautaffectionen , Lepra und andere Zustände
zeigen Reaction.
Auffallend ist die Beobachtung Schreiber's, dass Neugeborene auf die
stärksten Dosen Tuberkulins nicht reagiren.
Was die locale Reaction anbetrifft, so steht sie, mit Ausnahme
der lupösen Gesichtserkrankung, an Stärke und Häufigkeit des Vorkommens hinter
der fieberhaften allgemeinen Reaction zurück, und man kann, soviel sich aus den
Verhältnissen der Haut und Schleimhaut abstrabiren lässt, nur im Allgemeinen
sagen , dass nach Tuberkulinapplication in einer Reihe tuberkulöser Affectionen
der Haut, der Schleimhäute, der Gelenke sich eine gewisse Reizung der kranken
Theile zeigt, die sich in Röthung, Anschwellung, stärkerer Secretion, Blutungen
und Schwellung der Granulationen documentirt, aber auch das. trifft durchaus nicht
in allen Fällen, ja nicht einmal in einer beträchtlichen Zahl, zu und es giebt sehr
schwere tuberkulöse, durchaus noch nicht käsige, Gelenkaffectionen und sehr
schwere analoge Hautaffectionen, bei denen sich trotz fieberhafter Temperatur-
steigerung keine Erscheinungen, die als locale Reaction zu deuten wären, zeigen,
ganz abgesehen von den Keblkopferkrankungen tuberkulöser Natur, bei denen
es vielen Beobachtern nicht gelungen ist, sichere Reactionserscheinungen nachzu-
weisen. Auch die Reactionen an Lymphdrüsen sind noch recht fraglich ; jedenfalls
ftind sie, wenn die Lymphdrüsen nicht mit einem durch stärkere Entzündung
reagiren den Herde in Verbindung stehen, relativ selten (Rosenbach).
X. Natur der Gewebsveränderungen bei Anwendung des
KocH'schen Verfahrens.
Die dem Auge sichtbaren Veränderungen an der Haut und an den
Gelenken sind bereits oben geschildert worden; der Process, der sich an den
local reagirenden Theilen abspielt, ist, wie die mikroskopische Untersuchung
lehrt, in erster Linie ein acutester, entzündlicher Process, der mit seröser Aus-
schwitzung, massenhafter Auswanderung von weissen Blutkörperchen und Pro-
liferation von Zellen im Gewebe einbergebt. In den entzündeten Gebieten kommt
es äu8serlich zur Schorfbildung und innerhalb der Gewebe zu jener Form der
Necrose, die Weigert als Coagulationsnecrose bezeichnet. So kann es kommen,
dass ganze, oberflächlich gelegene Partien absterben und exfoliirt werden;
dies ist namentlich der Fall an der Epidermis, deren oberste Schichten blasig oder
in Form eines Schorfes abgehoben und abgestossen werden, so dass ulcerirende
Flächen vorliegen, die sich dann wieder reinigen und mit oder ohne narbige
404
KOCH'sches VERFAHREN.
Schrumpfung zuzuheilen vermögen. Dass auch wirkliche nekrotische Au&stossung
tiefer gelegener Partien unterhalb des Bete Malpighi vorkommt, ist nicht erwiesen,
noch weniger aber die Necrose und Exfoliation an inneren Organen, Kehlkopf,
Lunge, Darm. Wir halten sie für durchaus unmöglich, wenigstens bei Dosen, wie
sie bei dem Verfahren gebräuchlich sind. An anderen Stellen bildet sich, nament-
lich wenn die locale Reactionsf&higkeit abnimmt und die entzündliche Reizung
überhaupt nicht gross war, ohne Necrose des Gewebes das Exsudat zurück und
es tritt eine blasse, derbe, aber anscheinend normale Haut zu Tage, während an
anderen Stellen trotz der Zurfickbildung der frischen Entzündung die Knötchen
nicht ganz verschwinden. Die bei Sectionen gefundenen Veränderungen, welche
auf die Einwirkung der Injection zurückgeführt werden, wollen wir hier nicht
aufführen, da sie unseres Erachtens nicht einwurfsfrei sind. Sie würden es nur dann
sein, wenn durch zahlreiche, ebenso genaue, Untersuchungen an nicht Injicirten
der Nachweis erbracht wäre, dass die als typisch gedeuteten Veränderungen hier
nicht vorkommen, dass sie also specifische Folgen des KoCH'schen Verfahreng sind.
Derjenige, der weiss, dass das Oewebe in der Nähe tuberkulöser Processe in
einem beständigen Reizungs- und Reactionsstadium sich befindet, und dass spontane
Heilungsvorgänge relativ häufig sind, wird die bei der Section erhaltenen Befunde
von Zellenproliferation, Narbenbildung, Necrotisirung, ödematöser Durchtränkung auf
ihren wahren Werth zurückzuführen geneigt sein. Ein Befund scheint bei Injection
nach Koch allerdings häufiger gemacht zu werden, als bei der Section der unter
anderer Behandlung gestorbenen Kranken, nämlich Hämorrhagica in den Nieren.
Diese sind aber auch keine specifische Folge des KoCH'schen Verfahrens, sondern
Zeichen der Blut- oder Gewebsalteration bei Anwendung zu hoher Dosen des Mittels ;
bei kleineren und mittleren Dosen kommen sie nicht zur Beobachtung, es sei denn
bei besonders Disponirten, für die ja schon eine relativ kleine Gabe eine ganz
andere Bedeutung hat, wie ja auch die tägliche Erfahrung bei anderen Mitteln,
die man nicht als deletär zu betrachten gewöhnt ist, lehrt.
XI. Theorie der Wirkung nach Koch.
Koch stellt sich, ohne seine Ansicht als beste Erklärung hinstellen zu wollen,
den Vorgang folgendermassen vor : Die Tuberkelbacillen produciren bei ihrem Wachs-
thum in Culturen oder Geweben Stoffe, welche die Zellen ihrer Umgebung verschieden,
aber nachtheilig beeinflussen ; namentlich ist eine solche Substanz im Stande in ge-
wisser Concentration lebendes Protoplasma in den Zustand der Coagulationsneerose
überzuführen. In diesem necrotischen Gewebe findet der Bacillus dann so ungünstige
Ernährungsbedingungen , dass er abstirbt, ein Vorgang, für den auch die Beob-
achtung an Thieren sprechen würde, welche stets in den von grauen Knötchen
durchsetzten Organen zahlreiche Bacillen, in den von Coagulationsneerose befallenen
Theilen aber nie Bacillen aufweisen. Zwischen Gewebs- und Bacillentbätigkeit
besteht eine Art von Compensation ; der Bacillus bewirkt nur auf gewisse Eut-
fernung Necrose; sobald aber die Necrose eine grössere Ausdehnung erreicht
hat, nimmt das Wachsthum des Bacillus und die Production necrotisirender Sub-
stanz ab. Dies zeigt sich namentlich bei Lupus, bei scrophulösen Drüsen, bei
denen die Vegetation der vereinzelten Bacillen eine auffallend beschränkte bleibt,
und bei denen die Necrose nur einen Theil der Zelle betrifft, welche bei ihrem
weiteren Wachsthum die Form der Riesenzelle annimmt. Würde man künstlich
in der Umgebung der Bacillen den Gehalt an necrotisirender Substanz steigern,
dann würde sich die Necrose auf grössere Entfernung ausdehnen, und es würden
sich damit die Ernährungsverhältnisse für den Bacillus viel ungünstiger als sonst
gestalten, weil die necrotischen Gewebe bei ihrer wahrscheinlichen Exfoliation
nicht nur die eingeschlossenen Bacillen mit sich reissen und nach aussen befördern,
sondern weil der necrotische Process auch direct die Bacillen in ihrer Vegetation
stören würde.
KOCH'sches VERFAHREN.
405
Die Wirkung des Mittels (des Tuberkulins) besteht nun nach Koch darin,
dass es durch eine grosse Dosis von necrotisirender Substanz bei Oesunden und
bestimmte Reizungsvorgange (Schädigungen) der weissen Blutkörperchen oder ihnen
nahestehender Zellen bedingt und somit den eigentümlichen fieberhaften Symptomen-
complex hervorruft, während es bei Tuberkulösen bereits in kleiner Menge an
bestimmten Stellen, nämlich dort, wo Tuberkelbacillen vegetiren und ihre Umgebung
mit dem homologen Stoffe imprägnirt haben, mehr oder weniger ausgedehnte
Necrose von Zellen und beträchtliche, damit verbundene Reactionserscheinungen
im Organismus hervorruft. Auf solche Weise erklärt sich nach Koch der speci-
fische Einfluss, den das Mittel in bestimmten Dosen auf tuberkulöse Gewebe ausübt,
ebenso wie die Möglichkeit, mit den Dosen auffallend schnell zu steigen und die
unverkennbare Heilwirkung des Mittels unter gewissen günstigen Verhältnissen.
XII. Kritik der KocH'schen Theorie.
Obwohl das bis jetzt gesammelte Material von Beobachtungen über das
KoCH'sche Verfahren bereits umfangreich genug ist, um ein abschliessendes Urtheil
zu füllen, so kann die einfache statistische Abwägung der Resultate doch nicht
allein ausschlaggebend sein, denn, wie dies in der Natur derartiger Beweisführungen
liegt, kann für jede Thatsache, die man für einen bestimmten Satz in's Feld führt,
ebenso leicht eine Thatsache angeführt werden, die das Entgegengesetzte beweist,
und die Geschichte der Medicin liefert ja Beispiele genug, dass auf Grund solcher
contradic torischer Resultate die widersprechendsten Ansichten auf dem Boden der
Statistik von Freunden und Gegnern eines Dogmas mit gleicher Hartnäckigkeit und
gleicher Sicherheit verfochten worden sind. Wenn diese unbeschränkte Verwend-
barkeit der Statistik schon die Feststellung reiner Facta der uncomplicirten Beob-
achtung , z. B. ätiologischer Probleme , sehr erschwert , so macht sie die Lösung
praktisch-medicinischer Aufgaben noch schwieriger und es kann wohl erst nach
langjähriger Beobachtung, wenn sich der Eifer der Kämpfer gelegt hat und alle
zufalligen und zeitlichen Einflüsse auf das Endresultat ausgeschlossen sind, ein
unanfechtbares Facit gezogen werden.
Wenn wir nun auch der Ansicht sind, dass die empirische For-
schung schon jetzt für den Unbefangenen in schlagender
Weise gezeigt hat, dass die diagnostische Bedeutung des Ver-
fahrens eine sehr beschränkteist, da nicht eigentlich der tuber-
kulöse Process, sondern gewisse, mit ihm oft, aber nicht immer,
und principiell, verbundene Factoren die scheinbare Prä valenz
der Reaction bei Tuberkulösen bedingen,, wenn wir auch ferner
der Ueberzeugung huldigen, d ass die therapeutische Bedeutun g
des Verfahrens in der zuerst von Koch angegebenen Form und
wohl auch in den nun angewandten Modificationen nicht e r-
weisbar ist, so ist das nach dem eben Gesagten doch ebenfalls eine subjective
Anschauung, die trotz unseres grossen Beobacbtungsmaterials in den Augen
Vieler keinen grösseren Werth beanspruchen kann, wie die jedes anderen wissen-
schaftlichen Beobachters, der die entgegengesetzte Ansicht verficht, und wir müssen
deshalb, da wir das Verdict einer langjährigen Statistik nicht abwarten können,
versuchen, auf anderem Wege zum Ziele, d. h. zu einer kritischen, wissen-
schaftlichen, objectiven Würdigung des Verfahrens zu kommen.
Das kann aber nur auf dem einwurfsfreien Wege naturwissenschaftlicher Beweis-
führung geschehen. Es müssen die Grundprincipien des Verfahrens klarer gelegt
werden als bisher, es müssen die allgemeinen Gesetze, nach denen die
Reaction und Heilung im Organismus erfolgen kann, in nüchterner
Weise beleuchtet werden, es darf nicht eher ein neues Gesetz procla-
mirt werden, bevor nicht seine Berechtigung und die N oth wendigkeit , es
zu schaffen, da die bisher bekannten zur Erklärung nicht genügen oder falsch
sind, erwiesen ist. Es muss ferner auf dem Wege des klinischen Versuches mit
406
KOCH'sches VERFAHREN.
allen Cautelen des Experiments ergründet werden, ob das KocH'sehe Mittel wirk-
lich die ihm zugeschriebene specifische Wirkung hat, ob es nur in seiner
jetzigen Beschaffenheit, d. h. als Product der Tuberkelbaeillen, wirksam
ist und ob es nnr vermöge dieser specifischen homologen (Rosenbach)
Attraction zn tuberkulösem oder nur wegen einer gewissen
Affinität zu dem benachbarten gesunden Gewebe seinen Ein-
fluss ausübt. So lange diese Fragen nicht beantwortet sind, wird man
immer noch behaupten dürfen, dass der anscheinend Gesunde, der auf das Mittel
nicht reagirt, doch eine verborgene Tuberkulose habe, da es nicht leicht ist, wenig-
stens im Gebiete der menschlichen Pathologie, den einzig schlagenden Gegenbeweis
durch Autopsie zu erbringen und man den Beweis im Gebiete der thierischen
Pathologie noch nicht erbracht und nicht in aller Gründlichkeit zu er-
bringen gesucht hat. Der dann immerhin noch mögliche Einwand, dass die Ab-
wesenheit tuberkulöser Processe bei der Section eines Menschen, der deutliehe
Reaction bei Einspritzungen von Tuberkulin gezeigt hat, als Folge der durch das
Mittel beförderten Resorption tuberkulösen Gewebes anzusehen sei, wird wohl
nicht im Ernste als der Berücksichtigung werth angesehen werden dürfen.
Vor Allem müssen dieBeziehungen des Tuberkulin zum fieber-
haften Process nach jeder Richtung aufgeklärt werden, und es
harren in dieser Hinsicht noch etwa folgende Fragen der Erledigung: 1. Steht
der temperaturerhöhende Effect des Präparates in Beziehung zu seiner specifischen
Natur oder ist er ohne solche denkbar, d. h. würde ein Product anderer Bacterien-
arten als der den tuberkulösen Krankheitsprocess verursachenden, bei Tuberkulösen
kein Fieber hervorrufen? 2. Können locale Erscheinungen ohne Steigerung der
Körperwärme ausgelöst werden oder sind beide Wirkungen untrennbar verbunden?
3. Stehen beide Wirkungen in einem Causal Verhältnisse und muss die eine der
andern vorausgehen? 4. In welchem Causalverhältnisse stehen sie? Wirkt z. B.
beim Lupus die Veränderung des lupösen Gewebes fiebererregend, geht sie also
dem Fieber voraus oder ist sie erst Folge des Fiebers, resp. treten beide Symptome
annähernd gleichzeitig als Folge einer dritten Veränderung in die Erscheinung?
Dabei muss berücksichtigt werden, dass das Auftreten localer Veränderungen,
bevor das Thermometer eine Temperatursteigerung anzeigt, noch nicht beweisend
dafür ist, dass die Gewebsstörung das Primäre und die thermische Wirkung das
Secundäre ist; denn es ist wohl denkbar, dass das locale, dem Gesichtssinn zu-
gängliche, Phänomen nur deshalb eher zu unserer Kenntniss gelangt, weil die ihm
gleichwertigen Veränderungen der Temperatur durch unsere Methode der Wärme-
messung nicht in gleich scharfer Weise angezeigt werden. Nach den vorher mit-
geteilten Versuchen über den Einfluss der Antipyretica kann es kaum zweifelhaft
sein, dass der Einfluss des Mittels auf die Körperwärme schon sehr frühzeitig
beginnt. Alle diese Fragen harren noch der Erledigung, und erst wenn fest-
gestellt ist, dass das Kochin auch ohne das Bindeglied des Fiebers die Gewebe
beeinflnsst oder dass Temperatursteigerung und locale Reaction coordinirte Effecte
des Mitteis sind, erst wenn ausser allem Zweifel steht, dass die aus anderen
Mikroorganismen gewonnenen Toxine zwar Fieber erregen, aber nur bei Individuen,
die von Bacterien dernelben Art befallen sind und wenn ferner bewiesen ist, dass
sie eine specifische Reaction nur in den homolog bedingten Gewebsstörungen hervor-
rufen, bei anderen aber wirkungslos bleiben, ist die Frage von der Möglich-
keit einer specifischen Wirksamkeit des jetzt angewandten Präparates bei Tuberkulose
(die wir übrigens leugnen), sei es in diagnostischer, sei es in therapeutischer Hin-
sicht, im positiven Sinne erledigt oder doch wenigstens ein sicherer Boden gewonnen.
Die zweite Erörterung von Wichtigkeit bezieht sich auf den Umstand,
dass unzweifelhaft Individuen mit tuberkulösen Affectionen bei Anwendung des
KocH'schen Verfahrens ceteris paribus häufiger und schon bei kleineren Dosen eine
Normalreaction zeigen als Leute , bei denen tuberkulöse Affectionen mit aller
Sicherheit auszuschliessen sind.
KOCH'sches VERFAHREN.
407
Unserer Auffassung nach sind hier folgende Erwägungen der Berück-
sichtigung werth:
Die Disposition, tuberkulös zu werden, besteht in einer Summe von
Eigenschaften, die wir kennen, wie z.B. Heredität, schwache Entwicklung des
Brustkorbs , Neigung zn Verdauungsstörungen , Erregbarkeit und Schwäche der
Herztbätigkeit und in einigen anderen Qualitäten, die wir noch nicht kennen,
unter denen aber gewisse chemische Zusammensetzungen und eine gewisse Träg-
heit und Schwäche der Schutzapparate des Körpers sicher eine Rolle spielen. Da
man annehmen muss, dass Tuberkelbacillen überall vorhanden sind, da sie aber
erfahrungsgemäss nur bei besonders Disponirten eine vorzugsweise günstige Ent-
wicklung finden , so kann die klinische Beurtbeilung bei allen Fortschritten, die
die Aetiologie der Krankheiten gemacht hat, von dem Begriff der Disposition
nicht Abstand nehmen, denn die Bedeutung dieses wichtigen Factors drängt sich
jedem Beobachter nicht nur der Tuberkulose gegenüber, sondern bei jeder
Epidemie von Neuem auf, wo trotz gleicher Möglichkeiten, inficirt zu werden,
doch nur vereinzelte Individuen, oft genug nur eins in einer zahlreichen Familie,
inficirt werden. Hätte man den Begriff der Disposition noch nicht gekannt, so
hätte man ihn aus dem Verhalten der Temperatur nach Injectionen von Kochin,
aus der verschiedenen Art der Reaction nach derselben Dosis erschliessen müssen.
Die eine der zwei Unbekannten in der Gleichung der Erkrankung durch eine
Infection , der Infectionsträger , ist jetzt seiner Natur nach bekannt , leider aber nicht nach
seinen quantitativen Verhältnissen. Wäre er es im einzelnen Falle, so könnte aas dem
Resultate die Giösse der Disposition erschlossen werden; für die fieberhafte Reaction können
wir dies jetzt, Dank den Koch'schen Untersuchungen, thun, da wir die Grösse des
Reizes, die injicirte Dosis, genau kennen. Das Experiment, die künstliche Erzeugung von
Infectionskrankheiten , kann diese Frage nicht lösen, da dabei ein wichtiger, vielleicht der
wichtigste Theil der die Disposition bildenden Facto ren sofort ausgeschaltet wird, indem wegen
directer Injection in das Blut alle Schutzapparate des Körpers, die sonst die Infection ver-
hindern oder erschweren, sofort überwunden sind. Berücksichtigt man nun noch, dass bei
den Injectionen verhältnissmässig riesige Mengen zur Verwendung gelangen — es handelt
sich ja um bedeutende Quantitäten von Mikrobien in Reinculturen — , so wird man die Unter-
schiede zwischen der klinisch zur Beobachtung kommenden und der experimentell erzeugten
Krankheit besser würdigen. Da Tuberkulin vom Magen und, nach nnseren eigenen Untersuchungen,
vom Rectum aus gar nicht wirkt, da es wahrscheinlich als Eiweisskörper durch den Ver-
damm gsprocess zerstört wird, so sehen wir auch hier, wie wenig sich der Infectionsmodus
bei der directen Einführung von giftigen Substanzen in's Blut mit den klinischen Verhält-
nissen in Analogie bringen lässt , und wir haben auch hier ein Hindernis* der vollkommenen
Erkennung dessen, was Disposition ist, denn wir können auch jetzt nur denjenigen Theil
der Disposition messen, den ich als innere bezeichnen möchte, im Gegensatze zur äusseren,
die den Körper vor der Aufnahme von Schädlichkeiten in's Blut und in die Gewebe schützt,
während die inneren Schutzmassregeln, die die Ansiedlung und Entwicklung im Blut und
den Geweben verhindern, auf oxydativen Processen und zum Theil auch auf Veränderungen
des Nährbodens beruhen.
Wir sehen nun oft , dass Menschen , die tuberkulös geworden sind, eine
Reibe auffälliger Aebnlichkeiten ihrer körperlichen Eigenschaften besitzen, und
schliessen daraus, dass der Besitz dieser £igenthfimlichkeiten um so mehr zur
Erkrankung an Tuberkulose disponire , je mehr sie ausgeprägt und je zahlreicher
sie bei einem und demselben Individuum vorhanden sind. Wer z. B. einen para-
lytischen Thorax hat, ist, wie wir annehmen, zur Tuberkulose disponirt; dass
er daran wirklich erkrankt , ist unsicher , und ihm mit Bestimmtheit die Prognose
nach dieser Richtung zu stellen , wäre mehr als vermessen. Zu den Eigenschaften
Tuberkulöser scheint nun nach den Erfahrungen, die man im Laufe der Jahr-
hunderte genauer ärztlicher Beobachtung gemacht hat, auch die Eigenschaft zu
gehören , leicht zu fiebern , denn die grosse Mehrzahl der Tuberkulösen zeigt,
selbst in wenig ausgeprägten Fällen, intercurrente grössere oder kleinere Fieber-
steigerungen ; diese Fiebersteigerungen aber wieder als sicheres Zeichen der
Tuberkulose anzusehen und bei jedem, der unter dem Verdachte der Tuberkulose
steht, aus Fieberbewegungen einen sicheren Schluss darauf zu machen, dass der
zu Grunde liegende Erankheitsprocess nun auch wirklich Tuberkulose und nichts
408
KOCH'sches VERFAHREN.
Anderes sei, ist (selbst wenn man ihn in manchen Fällen mit Recht macht) in
noch mehr Fällen gewagt , denn wir wissen, dass auch eine verborgene Eiterung
nnd andere Krankheiten das bestehende Fieber hervorgerufen haben können.
Nun ist es ein wohl von Niemandem bestrittener Satz , dass das Fieber von dem
Eindringen von Ptomainen des Fiebererregers, oder von Toxinen Oberhaupt, in
die Blutbahn herrührt, und wir können mit Sicherheit folgern, dass, wenn in
Folge eines bacteriell erregten Krankheitsprocesses gefiebert wird, dies von der
Invasion der Mikrobienproducte in die blutbahn herrührt. Wenn Jemand beim
Bestehen localer Bacterienherde nicht fiebert, so müssen wir annehmen , dass die
Menge der Producta noch relativ zu klein ist, dass die Producte durch Abkapse-
lung überhaupt nicht in die Blutbahn gelangen oder dass das betreffende Indivi-
duum eine sehr verminderte Disposition, fieberhaft zu reagiren, hat.
Wenn nun Jemand nach Einspritzung von Kochin in kleinen Dosen schon
starke Reaction zeigt, so ist, so lange nicht erwiesen ist, dass ein solcher
Kranker bei Injection anderer Toxine nie fiebert, nur der Schluss erlaubt, dass
er zu der oben erwähnten Kategorie von Individuen gehöre, deren wärmebildende
Apparate besonders erregbar sind, und da wir wissen, dass gerade Tuberkulöse
diese Eigenschaft in besonderem Grade zeigen, so ist mithin der Schluss gerecht-
fertigt, da 88 der so leicht und hoch Fiebernde auch vielleicht znr Tuberkulose
disponirt, also bereits erkrankt sei oder doch früher oder später daran erkranken
werde. Der Schluss jedoch, dass er nun sicher tuberkulös sei oder werden mtkse,
ist ein logischer Fehlschluss, denn sonst müsste man auch umgekehrt scb Hessen,
dass, wer nicht fiebert, nicht tuberkulös oder zur Tuberkulose disponirt ist, und
das ist ein, nicht nur vom logischen Standpunkt, sondern durch die Erfahrung
und Beobachtung augenblicklich zu widerlegender Irrthum , da wir genug Tuber-
kulöse kennen, die lange Zeit hindurch nie fiebern, und da nach den KoCH'scben
Einspritzungen, selbst bei schwerer bacillärer Phthise, Fieber oft entweder gar nicht
oder erst bei hohen Dosen auftritt (die auch jeden Gesunden, wenn sie als Anfangs -
dosis gegeben würden, zum Fiebern brächten). Um das Gewicht dieser Erfahrungs-
sätze zu verringern , greifen die Vertreter der Ansichten der speci fischen Ein-
wirkung des Tuberkulin auf tuberkulöse (homologe) Processe, zu der Erklärung, dass
diejenigen, die nicht fiebern, abgekapselte Herde haben, zu denen das Kochin
deshalb keinen Zutritt erhalten könne, eine Erklärung, die einen noch viel
unhaltbareren Standpunkt documentirt; denn hier liegen wieder logische und
thatsächliche Irrthümer vor. Der Kranke fiebert, weil die local producirten
Toxine in den Kreislauf gelangen , er fiebert nicht , weil seine Herde abgekapselt
sind ; er muss aber fiebern , sobald sie dahin gelangen , vorausgesetzt , dass die
Dosis derselben genügend ist, seine wärmeregulirenden Apparate zu beeinflussen.
Was geschieht nun bei Einspritzungen von Kochin? Warum fiebert der tuber-
kulöse Kranke nicht, obwohl doch Ptomaine in der gehörigen Menge in's Blut
gelangen und somit alle Bedingungen zum Fiebern erfüllt sind? Darauf kann
die Antwort nur lauten : Weil die Dosis relativ zu gering ist , und in der That
erzielt die Steigerung der Dosis unweigerlich Fieber. Der betreffende Kranke
hat vor den Injectionen nicht gefiebert , weil die Quantität der Toxine zu gering
war, oder weil seine Herde so gut gegen den Kreislauf abgeschlossen waren,
dass nur geringe oder wenigstens relativ geringe Mengen von Toxinen in's Blut
gelangten; er fiebert sofort, wenn man seine Toleranzgrenze für das Toxin fest-
gestellt hat und danach die Dosis beraisst; er braucht nur, da er einmal die
Disposition bat , schwerer zu fiebern , also weniger erregbar zu sein , höhere
Dosen. Um die Lehre von der specifischen Wirkung des Mittels zu retten , wird
nicht der allein beweisende Versuch einer Verteidigung die?er Ansicht durch
Demonstration der Unwirksamkeit aller anderen Toxine gewählt, sondern eine
besondere Hypothese construirt, die einen bisher neuen oder doch nur in der
Homöopathie annähernd geltenden Grundsatz einführt : nämlich eine speeifische
Einwirkuug der Toxine auf das von ihnen homolog beeinflusste Gewebe (Similia
KOOH'sches VERFAHREN.
409
similibus). Gestützt wird diese Auffassung bis jetzt eigentlich nur durch die Er-
scheinungen am Gesioht8lnpu8 ; alle anderen theoretischen Erwägungen und die
der Beobachtung am Krankenbette entnommenen Thatsachen stehen ihr entgegen,
ganz abgesehen von den Einwendungen der Logik. Die Verhältnisse beim Lupus
völlig erklären zu wollen, ist heute noch nicht an der Zeit; ich will auch durch-
aus nicht leugnen, dass ein unter dem Einflüsse eines qualitativ und quantitativ
bestimmten Reizes stehendes Gewebe gerade auf eine Vermehrung dieses Reizes mit
stärkerer Reaction antwortet als gesundes Gewebe , das aber möchte ich betonen,
dass das in der Nachbarschaft eines lupösen Herdes befindliche Gewebe, streng
genommen, so gesund es äusserlich erscheint, kein normales ist ; es befindet sich
in einem Reizzustande, in einer erhöhten Activität, bis auf weite Entfernung von
dem eigentlichen lupösen Herde, dessen Ausbreitung wir ja eigentlich nicht
kennen, und die jedenfalls grösser ist, als sie sich durch den Gefühls- und Ge-
sichtseindruck abschätzen lässt. Das Gewebe ist f emotionell verändert, sowie die
Hirnsubstanz in der Umgebung eines Erweichungs- oder Entzündungsherdes sich
in functioneller Reizung befindet, die sogenannte Fernwirkung des Herdes. Die Vor-
gänge beim Lupus würden also mit aller Reserve so zu erklären sein, dass zu einem,
wegen gewisser localer Gefässan Ordnung besonders gearteten, noch dazu in einem
Verteidigungszustände, d. h. in erhöhter Reizbarkeit befindlichen, Gewebe plötzlich
eine beträchtliche Menge eines gewissen — ich sage nicht des speeifischen — Reizes
gelangt, und dass in Folge dieses neuen starken Reizes eine beträchtliche Steige-
rung der localen Entzündung, die natürlich das functionell gereizte Gewebe in
weitem Umfange betrifft, entsteht. Das zugleich entstehende Fieber kann ein
coordinirtes Ereigniss sein, welches die starke Entzündung begleitet, es kann
aber auch — und das ist wahrscheinlicher — nur der Ausdruck der allgemeinen
Erregung der Summirung kleinster localer Entzündungen, resp. Reizungen sein,
welche naturgemäss bei dazu Disponirten das Eindringen einer grösseren Menge
fiebererregender Stoffe in den Kreislauf begleiten müssen. Der schliessliche Effect
einer so starken localen (und allgemeinen) entzündlichen Reizung muss sich in der
Necrose der entzündeten Gewebe kundgeben ; sieht man doch z. B. bei allen starken
Entzündungen, dass die Eiterkörperchen eine Art von Coagulationsnecrose zeigen.
Ein Beweis dafür, dass das Tuberkulin eine speeifische Wirkung ausübt, für
deren Charakterisirung der Ausdruck „homolog" wohl am Platze ist — ist aber
durch die bisherigen Beobachtungen nicht erbracht; er würde erst erbracht sein,
wenn nachgewiesen wäre, dass andere Toxine und andere entzündungserregende
Substanzen keine solche Wirkung haben.*)
Dass ferner locale Reaction und Allgera ei nreactiou etwas Verschie-
denes seien, dafür spricht nichts; die locale Reaction ist nach den bisherigen
Erfahrungen nur ein specieller Fall der Allgemeinreaction , der Ausdruck
einer besonders erhöhten Reizbarkeit an bestimmten, in einen Krankheitsprocess
einbezogenen Theilen. Sie ist von der allgemeinen Disposition abhängig und von
den mehr oder weniger günstigen Bedingungen, unter welchen das Mittel gerade
besonders erregbaren Stellen zugeführt wird. Ob die functionelle Steigerung der
bereits vor der Injection bestehenden Entzündungsvorgänge auch durch gewisse Ein-
flüsse auf den Gesammtorgan ismus eine vielleicht auch schon vorher vorhandene fieber-
hafte Erregung des gesammten Körpergewebes steigert, muss dahingestellt bleiben.
Die eben vorgeführte Ansicht wird durch das Verhalten tuberkulöser
Affectionen der Haut bei Anwendung des LiEBREica'schen Verfahrens — Injec-
tion von cantharidinsauren Salzen — bestätigt; auch hier findet locale Reaction
beim Lupus und nach einigen Beobachtern auch im Kehlkopfe statt, auch hier
entsteht bei verhältnissmässiger Stärke der Dosis und bei besonders Disponirten
*) Durch Thierexperimente und Injectionen bei Menschen haben wir bereits fest-
gestellt, dass gewisse ans Culturen von Staphylococcus pyogencs aureus gewonnene Sab*
stanzen ebenfalls im Stande sind, Fieber zn erregen , dass aber ihre Wirkung sich erst bei
relativ höheren Dosen als bei denen des Tuberkulin zeigt.
410
KÜCfl'aches VERFAHREN,
nicht unbeträchtliches Fieber als Zeichen der localen und allgemeinen Reizung
(0. BOSENBACH, Deutsehe med. Wochenschr. 1891, Nr. 15.) Dsss gerade im Geaichie
die Reaction am stärksten ist , und dass am Kehlkopte eine geringere Wirkung
— nach unserer Beobachtung gar keine — zu coustatiren ist, hängt, wie schon oben
erwähnt, davon ab, dass die Haut der Wangen (KieberrÖthe), sowie der Schleimhaut
der Nase und des Muuiles weiren issrr loealor Kigenthümlichkeiten bei Einwirkung
irgend eines Fiebererregers auf den Körper stets besonders beeinflusst wird, ein
Umstaud, der nicht wunderbar erscheint, wenn man bedenkt, dass die Haut da«
hauprsilehliobste Wiirnieregiilationsorgan ist und dass die Wasser exhalirondeu
Schleimhäute ebenfalls eine wichtige Rolle beim fieberhaften Process spielen. Findet
sieh doch auch bei Iufectionskrankheiten die hauptsächlichste Legalisation der Krank-
heit in der Haut, sowie namentlich in der Mund- und Rachen schleim baut.
Somit kommen wir zu folgender Ansicht über die Einwirkung de«
KüCH'schen Mittels:
Das Mittel ist ein en tzü nd ung serregendes und nicht verschieden
von anderen entzündlich wirkenden Substanzen, d. h, es bewirkt in verhultuuft
»lässig kleiner Dose (die Grösse der Dosis ist ja ein relativer Begriff, da sie
von der Disposition abhängt) eine Reizung im Körper des Injicirten , die, je
höhere Grade sie erreicht, um so mehr io typischer Entzündung, ja Eiterung
sich äussert ; diese Reizung muss alle Theile des Körpers treffen, da sie bei
ganz Gesunden eintritt und da sie bei Tuberkulösen, wo sie besonders stark ist,
doch nicht von dem Sitze der Erkrankung abhängt. Ist die Ex- und Intensität
der localen Reaetion (wir meinen hier nicht blos die Reaction des kranken
Gewebes, sondern sämmtticher, von der Einwirkung des Mittels betroffener
Stellen) besonders gross, so entsteht zugleich mit der disseminirten, localen, oft
für unsere Methoden nicht wahrnehmbaren, Reaction die allgemeine Reaction, die
fieberhafte Temperaturstetgerung, d. h. eine Surnmation der Erregungs vorging*
bewirkt eine messbare Erhöhung der Körperwärme, wobei unter dem Einfluß
des Mittels Blut in grösserer Menge zu Grunde geht, sei es durch directe Ein-
wirkung des Mittels, was unwahrscheinlich ist, sei es durch die reactive Thätig-
keit der Zellen, die mehr Blut zu ihrer gesteigerten Thätigkeit brauchen.
Da wir nun wissen , dass die Reaction abhängig ist von einer bestimmten
Disposition *) , so ist es klar, dass Reaction, und zwar fieberhafte Reaction
*) Können wir denn dem vagen Begriffe „Disposition für Temperatnrsteigerong-
naher treten nnd die Bedingungen, durch die er repräsentirt wird, analyairen? Durch die
Thatsache, daaa auch Gesunde, wenn auch anf habe bösen, reagiren, ist der Beweis erbracht,
daaa die fieberhafte Reaction eine Eigenschaft jedes Organismus ist, anf einen bestimmten
Reiz (hier das Kochin) hin seine Wärmeregulation zu modifleiren, seine Prodnction ku erhöhen
oder die Abgaben zu vermindern« oder endlich zu gleicher Zeit die beiden Zwecken dienenden
Mechanismen in erhöhte Thätigkeit zu setzen, Dass es sich hier nicht um eise specjfUch*
Wirkung des Koch1schen Präparates handelt, beweist ja die empirische Thatsache, daaa bei
den von den verschiedensten Bacterien erzeugten Krankheitsfarmen eine der erheblichsten und
sichersten Folgen das Fieber ist; dieser Erfolg ist allen Toxinen gemeinsam, ganz gleichgÜtag,
ob stärkere locale Veränderungen da sind oder nicht- er steht auch nie in dürectem VerhäU-
niss zur Giösse der letzteren, sondern man könnte vielfach das Umgekehrte behaupten. Diese
Eigenschaft, die Wärme regulatoren in Thätigkeit zu setzen, ist aber bei den verschiedenen
Individuen verschieden, wie die klinische Erfahrung lehrt.
Es besteht bei den anscheinend nicht reagirenden Individuen nur eine TrlgkeH
der Reaction, der Beiz muss länger einwirken, ehe er einen Effect ausübt- es gehen alle
Stoffwechsel- und Gewebsveränderungen nur langsam vor sich. Das ist nicht etwa eine Cm*
Schreibung der Vorgänge , sondern sie trifft, soweit man das heute thun kann, das Wesen der
Vorgänge seihst und führt den Vorgang auf eine geringere Reizbarkeit der wärmebildenden
Apparate des Körpers zurück,
Somit können wir den Fehluss ziehen, da? s die Disposition za liebem nur auf dem Miss-
verhäUaiss zwischen dem einwirkenden Beiz und der Erregbarkeit der mit der Ausscheidung und
Zerstörung des fremden Agens betrauten Apparate beruht: sie rührt nicht etwa davon her, dass
ein Organismus refractar ist, also das Mittel als indifferentes durch den Körper hindurch*
passiren oder gar als unschädliches Agens längere Zeit ctrcnliren lasst ; dagegen spricht das
späte Kachfieber, welches die längere Anwesenheit der Substanz dotumentirt, dagegen sprechen
KOCH'sches VERFAHREN.
411
überall dort erfolgen muss , wo die Einwirkung des Tuberkulin einen genügenden
Grad erreicht, nnd das muss, wie a priori klar ist, bei Gesunden ebenfalls der
Fall sein. Wir haben aber aus unseren Beobachtungen ersehen, dass die Disposition
keine bestimmte Grösse ist, dass sie sich ändern kann, dass sie sich durch Gewöhnung
verringern und dass sie unter bestimmten Umständen gesteigert werden kann.
Daraus folgt , dass es nicht nur Individuen giebt, die zu Zeiten stärker reagiren,
sondern dass es auch Krankheitsprocesse und andere Veränderungen der Lebens-
bedingungen des Orgauiemus geben muss, welche die Erregbarkeit und somit
die Disposition für Tuberkulin noch steigern. Das sind alle Einflüsse, welche an
und für sich erregend einwirken und entweder local oder allgemein eine erhöhte
functionelle Reizbarkeit herbeiführen, also alle Bedingungen, die schon an und
für sich entzündliche Processe hervorrufen. Bei der Pleuritis, bei allen Ent-
zündungsformen, die etwas stärkere Grade erreichen und dadurch, dass sie selbst
Fieber erregen, anzeigen, dass der Patient auf gewisse Reize hin einer fieberhaften
Temperatursteigerung fähig ist , muss die Einführung eines so beträchtlichen neuen
Reizes erhöhte Reaction und somit besondere Fiebersteigerung hervorrufen. Dabei
ist die Frage allerdings noch nicht entschieden, ob die stärkere locale Reaction,
wie z. B. bei Lupus, die Ursache des Fiebers ist. Wir glauben die Frage in
dieser Richtung verneinen zu dürfen, denn das Verhalten Gesunder beweist ja,
dass kein Krankheitsherd da zu sein braucht, dessen erhöhte locale Reizung durch
Tuberkulin Fieber hervorrufen könnte; es genügt die Summirung der kleinen
localen Reactionen gesunder Theile. Vergrössert muss dies Resultat aber natürlich
werden , wenn neben allgemeiner Reactionsfähigkeit in einem beschriebenen Be-
zirke schon eine Erhöhung der localen Disposition zur Reaction besteht, wie dies
bei entzündlichen Processen der Fall ist.
Bei einer kritischen Abwägung dessen, was das KocH'sche Verfahren
leisten soll und was es leisten kann, kommen noch folgende Erwägungen in
Betracht, die Mancher vielleicht für rein aprioristische halten mag, die aber doch
erst entschieden sein müssen , ehe der neue Lehrsatz von der homologen Reaction
aeeeptirt werden kann. Er ist zwar nicht direct ausgesprochen, aber doch die
logische Consequenz der Annahme einer diagnostischen Bedeutung des Mittels für
die tuberkulösen Erkrankungen, denn wenn die nach Anwendung des Tuberkulin
auftretende Reaction ein Zeichen von Tuberkulose und nicht ein blosses Zeichen
vou stärkeren Reizungszuständen überhaupt sein soll, so muss eben das KoCH'sche
Mittel eine Art von speeifischem Reagens auf tuberkulöse Producte sein.
Bedenken wir ferner, dass die Krankheit als solche doch keine be-
stimmte Grösse repräsentirt, sondern dass es sich nur um eine F unetions-
8törung handelt, die in einer grösseren oder geringeren Veränderung aller
Lebensei scheinungen zum Ausdruck kommt, so ist klar, dass die Art der Störung,
mag sie auch welche ge web liehen Formen immer angenommen haben, nur der
Ausdruck der Stärke des einwirkenden Reize» und der Reaction des Organismus
ist. Die Grösse jeder neuen Einwirkung auf den Organismus wird also nicht allein von
der Art und Grösse des schon bestehenden Krankheitserregers und den geweblichen
Herderscheinungen, sondern von der Functionsstörung und vor Allem von der
Fähigkeit des Organismus, eine vermehrte oder ve rmin derte Leist ung
hervorzubringen, bestimmt werden. So kann oft z. B. ein schwer an Tuber-
kulose Leidender, dessen Fieber schon sehr hoch ist, bei einem neuen fieber-
haften Reize keine Fiebersteigerung mehr hervorbringen, er wird also scheinbar
nicht mehr reagiren ; jedenfalls ist er zu Versuchen über fieberhafte Reaction nicht
brauchbar. So wird ein ebenso schwer Erkrankter, der nie Fieber gezeigt hat, auch oft
bei einem neuen Reize nicht fiebern, er überschritte denn die Höhe der bisherigen
auch andere Erscheinungen, die die Einverleibung regelmässig begleiten; denn wir haben nicht
einen Patienten, auch unter denen, die erst später mit Fieber reagirten, gefunden, welcher
nicht, namentlich nach einer grösseren Dosis, beträchtliche Beschwerden empfanden hätte:
Abgeschlagenheit , Müdigkeit nnd Muskelschmerzen.
412
KOCH'sches VERFAHREN.
Reize um ein Bedeutendes, so wie ein Gesunder, je nach seiner Anspruchsfahig-
keit, Fieber oder nicht Fieber zeigen wird, je nachdem er dem ersten oder dem
zuletzt erwähnten Individuum bezüglich seiner Erregbarkeit ähnlich ist. Sollte
erwiesen sein, dass gewisse Krankheitsprocesse die Disposition, auf fieberhafte
Reize zu reagiren, verstärken, so wäre ein fiebererregender Reiz nur dann als
diagnostisches Hilfsmittel zu verwerthen, wenn diese bestimmten Procease vor-
liegen , aber es ist klar , dass damit nicht viel gewonnen ist , denn es muss viele
solcher, die Erregbarkeit der temperaturbildenden Apparate steigernder Krank-
heiten und Krankheitserreger geben,' da wir sehen, dass in einer grossen Reihe
von Erkrankungen Fieber das Hauptsymptom des Processes ist.
Endlich spricht gegen die 8peeifität noch folgende Erwägung: Wenn es
sich um ein diagnostisches Specificum handelt, dann müsste ja eine gewisse Relation
zwischen der Dosis des Mittels und der Menge der tuberkulösen Produete bestehen ;
man müsste sicher erwarten, dass innerhalb gewisser Grenzen die Wirkung
proportional zu der Grösse der Erkrankung ist. Das hat aber die Erfahrung
direct widerlegt, denn fast unmerkbare Erkrankungen zeigen starke Reaction,
sehr ausgebreitete, keine oder minimale. Damit ist erwiesen, dass nieht
die angenommene Beziehung zwischen Tuberkulin und Tuber-
kulose existirt, sondern dass ein anderer Factor den Aussehlag
giebt und dieser ist die Disposition. (8iehe oben.)
Wohin wir auch blicken, sehen wir Widersprüche und unbewiesene An-
nahmen , und diese Widersprüche werden durch die praktische Erfahrung nicht
ausgeglichen , denn sie zeigen sich hier nur um so prägnanter.
Die Wirkung des KoCR'schen Mittels ist also keine spezifische, homologe,
nur bei Producten der Tuberkelbacillen wirksame, sondern jedes Mittel, welches
local starke entzündliche Reizung hervorruft, muss 1. Fieber
erregen bei dazu disponirten Individuen, oder sagen wir lieber, muss in einer zur
Disposition des Individuums in bestimmter Beziehung stehenden, also sehr variablen
und erst auf dem Wege der Empirie zu findenden Dosis, Fieber erregen; 2. bei
Disponirten schon in kleinster Dosis diese Wirkung erzielen ; 3. in bereits ent-
zündeten Herden oder in ihrer Umgebung um so stärkere Reaction hervorrufen,
je mehr gereizt die betreffenden Gebiete bereits zur Zeit der Anwendung des
Fiebererregers sind. Die Reaction wird um so stärker ausfallen, wenn die be-
treffenden Theile noch einer besonderen Action fähig und nicht schon durch die
bisher geleistete Arbeit erschöpft sind. Die Erfahrung bestätigt diese Folgerungen,
denn auch die eantharidinsauren Salze und die Proteine der eitererregenden Bac-
terien rufen in bestimmten Dosen bei disponirten Individuen Fieber hervor und
bewirken in local entzündeten Partien stärkere Schwellung und Röthung. Damit ist
der Standpunkt charakterisirt, den wir gegenüber den diagnostischen und therapeu-
tischen Erörterungen, die an das KocH'sche Mittel angeknüpft wurden, einnehmen.
Das Mittel kann als diagnostisches Hilfsmittel nur insoweit
verwerthet werden, als es anzeigt, dass ein Individuum eine
auffallende Reizbarkeit gegen die aus Tuberkelbacillen ge-
wonnenen entztindungerregenden Stoffe hat, und diese Reiz-
barkeit findet sich gerade bei Tuberkulösen oft, aber nicht
ausschliesslich. Reaction bedeutet also nicht, dass die Be-
treffenden, bei denen sie erzielt wird, tuberkulös sind, sondern
einzig und allein, dass sie leichter fiebern als manche andere.
Diese fiebererregende Eigenschaft kommt aber dem KocH'schen Präparat
nicht wegen seiner specifischen, nur bei tuberkulösen Processen
zur Geltung gelangenden Eigenschaft zu, sondern wahrschein-
lich wegen der enormen irritirenden und Eiterung erregenden
Wirkung des Mittels in grösseren Dosen. Es reizt die Zellen, bringt die
Wirkungen der Entzündung uud in grossen Dosen, namentlich bei Thieren,
Eiterung und dann natürlicherweise auch Necrose hervor.
KOCH'sches VERFAHREN.
413
Auch für die Therapie ist damit das Urtheil gesprochen : Wenn wir auch nicht
auf dem Standpunkte stehen, dass wir mit aprioristischen Gründen die Bedeutung
eines Verfahrens festlegen können, so ist doch kein Zweifel, dass kritische Erwägungen,
namentlich wenn sie, wie im vorliegenden Falle, nach Monatlicher Prüfung der
neuen Methode sich auf tatsächliche Erfahrungen stützen, nicht ganz belanglos
sind und stehen deshalb nicht an, auch diesen Weg der Beurtheilung zu betreten.
XIII. Bedeutung des KoCH'schen Verfahrens für die Therapie.
Zur Beurtheilung des Werthes des Koch 'sehen Verfahrens für die
Therapie stehen uns zwei Wege offen : der eine ist der der Erfahrung, der zweite
der der kritischen Sichtung der Principien des Verfahrens. Der letztere muss
unbedingt zu einer Negirung der Specifltät des Verfahrens und zur Auffassung
führen, dass die Grundlage des KoCH'schen Verfahrens, sowie die Erklärung, die
Koch für die Richtung der Wirkungsweise gab, völlig ungenügend sind, die
Anforderungen, die man an eine neue Heilmethode stellen darf, zu erfüllen. Ob-
wohl, wie wir oben ausführten, noch manche Fragen der Erledigung harren und
der Zusammenhang der Erscheinungen, die bei Injection von Tuberkulin zu Tage
treten, noch nicht mit aller wissenschaftlichen Schärfe beleuchtet und durchforscht ist,
so genügen doch die bisherigen Erfahrungen und die darauf begründeten kritischen
Bedenken vollkommen, um zu zeigen, dass das Tuberkulin kein eigentliches Heil-
mittel sein kann. Es erregt zwar das Protoplasma und namentlich das in einer
bestimmten Weise functionell gereizte Gewebe, aber der Nachweis, dass diese
Reizung von Vortheii ist, ist nicht erbracht, ebensowenig wie der Beweis geliefert
ist, dass eine Necrose des erkrankten Gewebes unter dem Einflüsse des Mittels
erfolgt. Das, was wir bei Lupus als Necrose bezeichnen, ist nur die Folge einer
sehr starken Entzündung und Exsudation; es wird nicht eigentlich das Gewebe
necrotisch, sondern günstigsten Falls die oberflächlichsten Schichten der Haut,
ähnlich wie bei Anwendung eines Cantharidenpflasters. Dass die Gewebe durch
das Mittel als solches necrotisch, d. h. direct getödtet werden, ist unwahrschein-
lich ; die Necrose ist nicht eine directe Coagulationsnecrose, wie bei Einverleibung
von Chronisäure oder chromsauren Salzen, wo die Epithelien der Niere mit dem
Gifte eine Verbindung eingehen und dabei natürlich eine Zerstörung des Proto-
plasma erfahren, sondern sie ist eine secundäre Folge der entzündlichen Exsudation.
Die stark reagirenden und mit Serum durchtränkten Zellen sterben in Folge zu
starker Arbeit und Durchsetzung der Gewebe mit Rundzellen (Eiterung), aber
nicht in Folge einer Vergiftung ab. Die diesen Vorgang scheinbar bestätigenden
Thierexperimente sind nicht eindeutig, sie zeigen nur die stark reizende Wirkung
des Tuberkulins oder der Aufschwemmung der Cuituren von Tuberkelbacillen, die
starke Eiterung hervorrufen. Wir sagten eben, das* es zweifelhaft sei, ob die
selbst in minimalster Dose durch Tuberkulin hervorgerufene Reizung der gesunden
oder bereits kranken Gewebe für den Kranken vorteilhaft sei. Wir möchten
sogar sicher darin einen Nachtheil sehen ; denn wenn es auch richtig ist , dass
ein sich verteidigendes Gewebe functionelle Reizung und verschiedene Grade der
Entzündung zeigt, so ist doch nicht erwiesen, dass eine erhöhte Reizung und
Arbeit auch ein Heilungs bestreben darstelle, umsoweniger, als ja
der Reiz, der die Zellen zu erhöhter Thätigkeit anregt, ein
neuer ist. Nicht die entzündliche Reaction ist das Heilbestreben,
sondern gewisse Vorgänge in der Zelle, die oft unter Erschei
nungen der Entzündung sich abspielen. Die Entzündung ist nur
ein seenndärer Vorgang; eine solche zu erregen kann ebenso-
wenig die Heilbestrebungen fördern, als die Erzeugung von
Rauch den Bestrebungen Desjenigen entspricht, der Feuer
braucht, obwohl es ja bekannt ist, dass beim Feuer meist auch
Rauch entwickelt wird. Wäre stärkste functionelle Reizung Heilbestreben,
dann brauchten wir ja in allen Fällen nur zu der bestehenden noch eine stärkere
Entzündung zu erregen ; doch sehen wir, bei allen Arten von Entzündung, dass nichts
414
KOCH'sches VERFAHREN.
falscher ist als dieses Bestreben ; besonders eclatant tritt dieser Irrthum z. B. bei
Behandlung der Gonorrhoe zu Tage, wo die Anwendung zu stark reizender
Substanzen gewöhnlich nicht Heilung, sondern Verstärkung des ursprünglichen
Leidens bringt. Heilung anbahnen heisst in solchen Fallen gerade jeden neuen
Reiz vermeiden und den das ätiologische Substrat bildenden Reis
abschwächen.
Das KoCH'sche Verfahren ist auf der falschen Anwendung des Princips der
Impfung erwachsen, bei der ja bekanntlich geringe Mengen eines homologen 8toffes
die gesunde Zelle derart beeinflussen, dass die Invasion bestimmter, ähnliche Substanzen
liefernder Mikroorganismen unschädlich wird, weil sie in dem befallenen Organismus
keinen geeigneten Nährboden mehr finden, sei es, dass sich nun Verbindungen vor-
finden, die sie beim Ablauf ihres Lebensprocesses erst bilden sollen und deren Bildung
aus der thierischen Zelle untrennbar mit ihrer eigenen Entwicklung verbunden
ist , sei es , dass die durch den Impfstoff gereizten Zellen sich in Folge ihrer
Reizung in einem besseren Verteidigungszustände , dessen Natur wir noch nicht
kennen, befinden (Reaction). Wenn es gelänge, mit Dosen von Tuberkulin einen
solchen Effect zu erreichen, dann wäre natürlich dem weiteren Vordringen der
Tuberkelbacillen ein Ziel gesetzt und das Verfahren wissenschaftlich gerecht-
fertigt. Gegenüber dieser Dednction muss folgende Erwägung platzgreifen:
1. Das KoCH'sche Präparat ist gar kein specifischer Stoff, denn
wahrscheinlich befindet sich in dem, Tuberkulin, genannten Stoffe, der ja durch
Sterilisation in der Hitze gewonnen wird, nur ein kleiner Theil der als Toxine
im weitesten Sinne zu bezeichnenden Producte. 2. Fehlt sicher eine Reihe
von Toxalb uminen, so dass vielleicht nur ein in stärkerer Concentration
als Eiterung erregend anzusehender Stoff zur Verwendung gelangt. 3. Die
starke fieberhafte Reaction ist jedenfalls kein Vortheil; sie muss des-
halb vermieden und die Dosis auf das Minimum beschränkt werden, denn durch
den hohen Grad der hervorgerufenen Reizung, resp. Entzündung, wird der eigent-
liche Zweck, den Organismus zu stärken, nicht erreicht. — Die Er-
regung einer starken Entzündung kann nur dann für vortheilhaft angesehen
werden, wenn man das Princip der Impfung bei Seite setzt und a tout
prix eine Necrose herbeiführen will, um das von Bacillen durchsetzte
Gewebe zur Abstossung zu bringen. Diese Richtung der Therapie muss aber
bekämpft werden, denn durch dieLosstossung gesunden Gewebes wird
nicht, wie Roch meint, eine Heilung angebahnt, sondern ein für die
Bacillencolonien günstigerer Weg für die Weiterverbreitung geschaffen;
nur lebensfähiges, recht gesundes Gewebe vermag einen Wall
gegen die Propagation der Infection zu liefern. Dass dort, wo ausgedehnte
Necrose der Gewebe besteht, auch keine Bacillen mehr auffindbar sind, beweist
nicht, dass es zweckmässig ist, diese Necrose künstlich herbeizuführen. Das wäre
eben nnr zweckmässig, wenn es gelänge, mit dem abgetödteten Gewebe auch alles
Kranke zur Ausstossung zu bringen. Ein solcher Vorgang ist aber auf dem
Wege der inneren Darreichung eines Mittels gar nicht oder nicht ohne tiefste
Schädigung des Organismus zu erreichen, wenigstens nicht, so lange die
medicamentösen Substanzen nicht eine eletive Wirkung haben und nur das
kranke Gewebe tödten. Der Satz: „quod medicina non sanat, ferrum vel
ignis sanat" hat nur Geltung für locale Application an nicht lebenswichtigen
Tb eilen. Haben wir doch in den Anfängen der Antisepsis gesehen, dass A e t z n n g
des Gewebes bei zu starker Concentration der Antiseptica (Carboisäure) gerade
recht begünstigend auf das Fortschreiten der Mikrobien durch das zerstörte Ge-
webe wirkt. So günstig ja eine spontane Exfoliation einer eingedrungenen Schäd-
lichkeit ist, so schädlich ist immer die künstlich bewirkte, denn die erstere kommt
ja dadurch zu Stande, dass das gesunde Gewebe sich durch einen vitalen Proccss
von dem kranken trennt, aber dergestalt, dass die Grenze zwischen necrotischem
Gebiete und gesundem scharf gezogen und dass die Sequestration anfangs durch
KOCH'sches VERFAHREN.
415
Einschmelzung des erkrankten Gewebes, also mit möglichster Schonung des ge-
sunden, an der Grenze beider erfolgt, während nach Roch gerade das gesunde
Gewebe sich exfoliiren soll.
Dass ein Mittel die Bacillen nicht tödtet, spricht nicht a priori gegen
seine Wirksamkeit; wir glauben im Gegentheil annehmen zu können, dass ein
direct Bacillen tödtendes Mittel ein nicht nur unwirksames, sondern direct schäd-
liches Princip zur Geltung bringen würde. Ist doch anzunehmen, dass das die
Mikrobien vernichtende Agens (Antiseptioum) die viel empfindlicheren Gewebe des
Körpers höchst deletär beeinflussen muss; ja wir zweifeln auf Grund vorlie-
gender Thatsachen nicht daran, dass es Zerstörungen im Organismus anrichten
und der Schädigung der Mikrobien geradezu Vorschub leisten würde. Auch ist nicht
zu vergessen, dass ein wirksames Mittel nur die Lebensbedingungen für die
Fortentwicklung der kleinsten Lebewesen ungünstig zu gestalten braucht, indem
es gewissermassen den Nährboden verändert, und dazu genügen sehr geringe Con-
centrationen. So haben wir nachgewiesen, dass Cbinin, doch unstreitig ein wirklich
specifisches Mittel gegen Malariamikrobien, nicht direct eine Abtödtung der Para-
siten bewirkt, denn die Plasmodien bewegen sich unter dem Mikroskope trotz des
Zusatzes einer concentrirten Chininlösung lebhaft weiter.
Wenn so die kritische Betrachtung lehrt, dass die Principien der Koch-
schen Behandlung keine richtigen sind, dass auch die Beschaffenheit des Mittels
keine Garantie iür die Erfüllung der theoretischen Postulate liefert, so hat die
Erfahrung am Krankenbette bereits jetzt gezeigt, dass bei Lungenerkrankungen
eigentliche Heilerfolge , die allein der neuen Methode zuzuschreiben wären , mit
dem Koch 'sehen Verfahren nicht erreicht worden sind. Man wende nicht ein,
dass Kranke gebessert sind, dass Dämpfungen und Rasselgeräusche verschwinden,
dass normales Atbemgeräusch an Stelle der Infiltrationserscbeinungen getreten ist,
dass das Sputum sich verringert oder ganz cessirt hat, nachdem bereit* vorher
die Tuberkelbacillcn unter verschiedenartigen Degenerationsformationen zum Ver-
schwinden gebracht waren, man führe diese scheinbaren Erfolge nicht in's Feld,
denn man kann sie bei jedem Verfahren und bei ganz indifferenter Behandlung
nicht allzu selten beobachten; ja schon der blosse Hospitalaufenthalt oder Ruhe
und Schonung, Enthaltung von anstrengenden Berufsgeschäften, kann derartige
Erfolge herbeiführen. Namentlich wenn man nur Kranke mit gutem Ernährungs-
zustande und geringem Spitzencatarrh zu Objecten der Behandlung nimmt, wird
man Gelegenheit haben, in einer Reihe von Fällen eclatante Erfolge zu verzeichnen.
Wissen wir ja doch bereits seit längerer Zeit, dass die, früher als unheilbar
geltende Tuberkulose in einem durchaus nicht geringen Procentsatz zur Besserung,
zum völligen Stillstande, ja zur Heilung kommt. Warum also das, was man unter
anderen Bedingungen auch, und nicht gerade selten, eintreten sieht, dem KOCH-
schen Verfahren zuschreiben?
Wenn wir von unserem Standpunkte aus den Beweis nicht für erbracht
ansehen, dass die Heilresultate bei Lungentuberkulose auf Rechnung des Koch-
seben Verfahrens zu setzen sind, so können wir leider auch den Berichten anderer
Beobachter über Heilung von Larynxer krankungen tuberkulöser Natur oder von
Heilung tuberkulöser Affectionen anderer Schleimhäute nach unseren Beobachtungen
nichts Positives beifügen. Weder an Darmfisteln, noch an Darmgeschwüren, noch
an Affectionen der Nasenschleimhaut hatten wir unzweifelhafte Erfolge von der
Injection von Tuberkulin zu verzeichnen, und auch in einer Reihe von Knochen-
und Gelenkerkrankungen haben wir durchaus keine Erfahrungen gemacht, die
uns die Anwendung der KocH'schen Methode besonders empfohlen und das Ver-
fahren als den anderen Methoden überlegen hätten erscheinen lassen.
Nur beim Gesichtslupus scheinen die Resultate etwas besser gewesen zu
sein, ich sage ausdrücklich scheinen , da von definitiven Heilungen bis jetzt nur
selten die Rede war und der Erfolg des Mittels zumeist nur in einer mehr oder
weniger deutlichen Besserung der Infiltrationserscheinungen zu Tage trat. Blase-
416
KOCH'sches VERFAHREN.
werden der vorher gerötheten Hautpartien, Abstossung der Prominenzen, Glatt-
werden der verdickten und abschuppenden Haut Bind die hauptsächlichsten Kriterien,
die man als Zeichen der günstigen Einwirkung des Mittels and der deutlichen
Besserung des Leidens anzusehen geneigt ist. Und bei diesen spärlichen Resultaten
ist bereits jetzt in einer ganzen Reihe von Fällen ein Recidiv constatirt worden,
bei dem man, da die Kranken auf grosse Dosen nicht mehr so wie früher loeal
reagiren, auch nicht mehr die Hoffnung auf dieselbe energische topische Wirkung
wie im ersten Stadium der Behandlung haben kann
Erwägt man nun noch, dass selbst die enthusiastischesten Vertreter der
Heilwirkung des Tuberkulins bereits die Injection mit localen Massnahmen, mit
chirurgischen Eingriffen und med icam entÖsen Applicationen (Jodoform, Pyrogallus-
säure etc.) combiniren, also mit Massregeln, die auch öfters schon allein als
beachtenswerte Heilungsmethoden betrachtet worden sind — ieh erwähne nur
das Jodoform, das eine Zeit lang als Specificum gegen Tuberkulose der Knochon,
Drüsen etc. applicirt wurde — , berücksichtigt man diese Vorschläge zur Summation
von therapeutischen Eingriffen und chirurgischen Encheiresen und Injectionen, dann
wird man wohl zu der Ueberzeugung kommen, dass es auch mit der spezifischen
Heilwirkung des Tuberkulins sehr schlecht bestellt sein muss.
XIV. Schädliche Wirkungen.
So wenig sich also die im Verlaufe der Behandlung nach Koch auftretenden
günstigen Erscheinungen im Symptomencomplexe der Krankheit als unzweifelhafte
Wirkungen des Mittels betrachten lassen , so wenig darf man auch alle un-
günstigen Veränderungen als Folge des Verfahrens betrachten, und wir haben
bereits vielfach auf die Irrthümer hingewiesen, die durch den Versuch, dort einen
Causalzusammenhang zu construiren, wo nur ein zeitliches Zusammen-
treffen von, nicht mit einander verbundenen Ereignissen besteht, hervorgerufen werden.
Da 88 das Mittel schädliche Wirkungen haben kann, ist nicht zu leugnen ; sie sind mit
möglichster kritischer Sichtung bei Aufzahlung der Reactionserscheinungen aufgeführt
worden, denn auch hier ist eine nüchterne Auffassung der Vorgänge unentbehrlich.
Wir haben bereits früher besonders darauf aufmerksam gemacht, dass
z. B. die nach Einspritzungen auftretende Albuminurie, Hämoglobinurie, Urobilinurie
und Ausscheidung brauner Farbstoffe nicht von einer Nierenreizung, sondern
von der Einwirkung zu grosser Dosen des Mittels auf das Blut oder die blutberei-
tenden Organe herrührt und dass sich solche Zufalle, die ja auch bei der Darrei-
chung zu grosser Gaben anderer, wirklich h ilsamer Medicamente auftreten — Salicyl,
Antipyrin, Pyrogallussäure etc. — , sicher vermeiden lassen, wenn man erst die
individuelle Disposition prüft, mit kleinsten Dosen beginnend, langsam steigt und
nach jeder Injection mindestens zwei Tage zur genauen Prüfung der fieberhaften
Reaction — es könnte sich ja um eine erst am Tage nach der Einspritzung auf-
tretende Spätreaction handeln — verwendet , wobei der Kranke sich von den
Einwirkungen der Injection stets völlig erholen kann. Eine der wesentlichsten
Vorsichtsmassregeln besteht auch darin, dass jede Klage des Patienten nach Dar-
reichung des Mittels, wenn sie nur irgend begründet erscheint, stets als genügender
Grund betrachtet wird, die nächste Dosis, auch wenn keine fieberhafte Reaction
erfolgt ist, nicht zu erhöhen. Namentlich Uebelkeit und Brechneigung sind ein
Zeichen dafür, dass der Patient das Mittel nicht verträgt. Unter solchen Vorsichts-
massregeln wird es gelingen, den Kranken ganz fieberfrei zu erhalten und dadurch
auch die Abmagerung der Kranken, eine der unangenehmsten Folgen des Verfahrens,
die aus der unbegründeten Forderung Koch's , stets eine fieberhafte Reaction
hervorzurufen, entsprang, sicher zu vermeiden. So stark die Abnahme des Körper
gewichts bei denjenigen war, die genau nach den ersten Angaben Koch's behandelt
wurden, so wenig schädlichen Ein flu ss hatte die Behandlung auf das Allgemeinbefinden
der Kranken, als nur kleine Dosen in Anwendung gezogen und dann erst mässige
Steigerungen versucht wurden, wenn die Betreffenden keine fieberhafte Tempe-
ratursteigerung mehr aufwiesen.
KOCH'sches VERFAHREN. — KOHLENOXYD.
417
Ueber die sonstigen, fälschlicherweise als Folgen des Koch-
schen Verfahrens angesehenen Ereignisse, wie z. B. Lungenblutungen, Meningitis,
Pneumothorax, Darm Perforation, miliare Eruptionen, haben wir uns bereits in der
Einleitung ausführlich geäussert und verweisen auf die Erörterung an dieser
Stelle und bei Gelegenheit der Aufzählung der Reactionserscheinungen.
Resumiren wir also, so sind die üblen Folgen, die man nach KocH'sohen
Injectionen gesehen hat, nicht eigentliche Folgen des Mittels, sondern
Wirkungen der falschen Anwendung desselben, die wir ja auch
bei anderen wirklich werthvollen Mitteln unseres Arzneischatzes in allzu kühnen
Händen nicht selten beobachten und besonders häufig dann zu sehen Gelegenheit
haben, wenn ein neu empfohlenes Mittel in seinen Eigenschaften noch nicht
gehörig geprüft ist. Gewöhnlich pflegt man zu vergessen, welche Rolle die
Disposition bei der Zumessung der Dosis spielen muss, und operirt so lange
mit allergrössten Dosen, bis die üblen Folgen den Werth der individualisirenden
Therapie recht ausdrücklich illustriren.
Selten auf dem Gebiete der Medicin vermochte die theoretische Erwägung,
auch bevor sie Hand in Hand mit der Empirie gehen durfte, einen sichereren
Boden für die Beurtheilung aller Verhältnisse zu schaffen, als bei Prüfung des
KoCH'schen Verfahrens. Es genügte die nüchterne Erwägung der theoretischen
Grundlagen der Koch' sehen Metbode, die schon a priori möglichen Leistungen
nach allen Seilen hin zu beleuchten, und die zeitig genug angewandte kritische
Abwägung musste zeigen, nach welcher Richtung hin man noth wendigerweise
Täuschungen zu erwarten hatte. Die weitere Prüfung wird jetzt auf dem sicheren
Hoden des empirisch gewonnenen und kritisch gesicherten reichhaltigen Beobachtungs-
materials auch die Gesichtspunkte feststellen können, nach welchen vielleicht wirk-
liche Fortschritte für die Therapie zu erreichen sind, denn es kann nicht geleugnet
werden, dass im Principe in der Schutzimpfung eine Methode gegeben ist, welche
mit gewissen Einschränkungen des Gebietes, auf dem sie zur Anwendung gelangen
soll, unsere Therapie wirklich zu bereichern im Stande ist. Um aber zu diesem
Ziele zu gelangen, müssen wir erst im Stande sein, die Bacterienproducte zu iso-
liren und in aller Reinheit darzustellen, ganz abgesehen davon, dass es nothwendig
ist, sie in toto in die Lösungsmittel zu bringen. Leider ist ein solches Verfahren
bei allen Albuminatverbindungen wegen der Coagulation der Eiweisskörper bei
der durchaus nothwendigen Sterilisation bis jetzt noch nicht gefunden. Dass wir
dann aber auch zu einer Methode kommen werden, die mit deu minimalsten Dosen
operirt, ist wohl unzweifelhaft.
Es ist unmöglich, eine umfassende Zusammenstellung der massenhaften,
sich mit dem KoCH'schen Verfahren beschäftigenden Literatur selbst nur bis zum
Momente des Abschlusses dieser Arbeit — März 1891 — zu geben. Die erste
Mittheilung Koch's befindet sich Deutsch, med. Wochenschr. 1890, Nr. 46 a,
die zweite ebendaselbst, 1891, Nr. 3.
Die hauptsächlichsten deutschen Arbeiten sind in der Deutsch, med.
Wochenschr. (vom December ab) enthalten, ebenso in einer besonderen, in Heften
erscheinenden Sammlung aus dieser Zeitschrift, ferner in der Berl. klin. Wochen-
schrift, der Wiener med. Wochenschr., der Wien. Med. Presse, der Münchener
med. Wochenschr., der Wiener klin. Wochenschr. etc. niedergelegt.
Rosen b ach.
KohlenOXyd (vergl. Reai-Encyclopädie, II. Aufl., Bd. VI, pag. 480). Die
Giftigkeit des besonders durch Gemenge mit anderen Gasen, als Kohlendunst,
Leuchtgas (s.d.) u. s. w. für die Toxikologie wichtigen Kohlenoxyds hängt
nach Gruber l) nicht von der absoluten Menge des eingeathmeten Gases, sondern
wesentlich von der Concentration ab. Diese ist unschädlich, so lange die Zersetzung
des im Blute gebildeten Kohlenoxydhämoglobins durch Dissociation der Bildung
Sncyclop. Jahrbücher. I. 27
418
KOHLENOXYD.
der Verbindung annähernd gleich bleibt. Indessen liegt der toxisch wirkende
Ooncentrationsgrad kaum unter 0'05°/0. In einer Atmosphäre von 0*021 — 0*024° 0
atbmete Oküber in 3 Stunden 300 Com. CO, nahezu 1 8 der Menge, die das Blut
eines Erwachsenen auf eiomal zu binden vermag, ohne Beschwerden. Wenn schon
diese Beobachtung auch in verschiedenen Thierversuchen ihre Stütze findet, ist
es doch nicht zu bezweifeln, dass die wiederholte Einführung des Gases in nicht
acut giftiger Meuge und Concentration dennoch Krankheitserscheinungen chro-
nischer Kohlenoxydvergiftung erzeugen kann, bei denen vorwaltend da*
Blut, aber auch das Nervensystem afficirt ist. Auf der schädlichen Einwirkung
des CO, in Concurrenz mit anderen Schädlichkeiten, insbesondere des anhaltenden
Aufenthaltes in höheren Temperaturen , beruhen offenbar manche Fälle der nicht
seltenen Anämien, welche bei Köchen angetroffen werden. Eine dieselbe von anderen
Anämien unterscheidende charakteristische Symptomatologie lässt sich allerdings
für die se Anämie des cuisinier s nicht aufstellen, wenn nicht andere
nervöse Erscheinungen hinzutreten. Letztere können mitunter von grosser Inten-
sität werden und es kann selbst zu der von Morson und von MüSSO 2) beschrie-
benen, das Gepräge der allgemeinen Paralyse tragenden Form geistiger Störung
kommen. Diese Pseudoparalyse, wie sie Musso nennt, zeigt von der allgemeinen
Paralyse wesentliche Unterschiede in ihren Prodromen und in ihrem Ausgange.
Die Vorläufer bestehen namentlich in Kopfweh, das sich Anfangs in der Stirn,
später in den Schläfen fixirt und in Parästhesien im Gebiete des Trigeminus
(Ameisenkriechen oder Brennen im Gesichte), womit sich mituuter congestive Zu.
stände verbinden. Nach eiuigcn Wochen kommt es zu Erscheinungen von Reizung
der Gefühls- und Sinnesnerven , die sieh als Funkensehen , Lichterseh ein ungen,
Ohrensausen und Gefühl von Formication der Extremitäten kundgiebt; damit
gleichzeitig oder etwas später tritt Prücordialangst , Cardiopalmus , Schwindel,
Schlaflosigkeit und allgemeine Mattigkeit ein und endlich kommt es zu progressiver
Schwäche der geistigen Functionen. Muskelschwäche und Ataxie der Bewegungen,
mitunter auch zu epileptiformen oder schlagflussähnlichen Anfallen. Anämie und
Abmagerung begleiten diese Krankheitsform constant, ebenso beträchtliche Ah-
nahme, mitunter Verschwinden des Patellar- und Pupillarreflexes , während die
Hautreflexe sich normal verhalten. Während bei ungünstigem Verlauf sich voll-
ständige Demenz entwickelt, ist selbst in hochgradigen Fällen complcte Heilung
möglich, die in 8 — 9 Monaten erfolgt. Von der allgeme:nen Paralyse unter-
scheidet sich diese Form der chronischen Kohlenoxydvergiftung durch das Fehlen
des Grössenwahnes und des Optimismus der Paralytiker, an deren Stelle Depression
und Verfolgungswahn treten.
Die Existenz einer derartigen nervösen Form des Garboxysmiut chro-
nicus hat umsomebr Wahrscheinlichkeit für sieh , als das Vorkommen schwerer
Nerveuaffectionen und namentlich schwerer Hirnaffectionen nach acuter Kohlenoxyd-
vergiftung durch die neuere Casuistik absolut sichergestellt ist. Längere Fort-
dauer der Anästhesien oder des Verlustes der Sprache nach Rückkehr des
Bewusstseins , motorische Paralysen sind verschiedentlich berichtet worden •'*) und
selbst eigentümliche Neurosen können sieh als Nachkrankheiten entwickeln. So
kommt nach Becker 4j ein der multiplen Seierose (mit Ausnahme des fehlenden
Nystagmus) völlig entsprechendes Krankheitsbild mit ausgeprägtem Inten tionstremor
und scandirender Sprache vor. Die schweren Fälle dieser Art stehen entschieden
mit groben anatomischen Veränderungen des Gehirns in Verbindung. Am häufig-
sten scheint Erweichung zu sein , die offenbar auf Veränderung der Gefesse
beruht, welche man atheroniatös oder fettig degenerirt antrifft; auch hat die Er-
weichung und die dieselbe herbeiführende Gefässveränderung bestimmte Prädilections-
stellen, z. B. den Linsenkern und die zwischen Thalamus opticus und Linsenkern
liegende Gegend, wahrscheinlich im Zusammenhange mit dem engen Kaliber der
dort ohne Anastomosirung verlaufenden Zweige der Arteria foasae Sylvnb\
Grössere Blutungen und multiple kleine Blutungen, auch Encephalitis acuta und
KOHLENOXYD.
419
Oedom der Pia mater , in einzelnen Fällen colossale Hirnanämie werden beob-
achtet. 6) Mit der Wirkung auf die Gefässe und das Gehirn steht das häufige
Vorkommen brandigen Absterbens Ton Hautpartien in Folge von fortwährendem
Drucke auf dieselben während des Rohlenoxydeoma in Zusammenhang ; in einzelnen
Fällen ist der Decubitus geradezu colossal. 7) Möglicherweise von Beeinträchtigung
bestimmter Gehirnpartien abhängig ist der keineswegs constante Diabetes im Rohlen-
oxydeoma. Dass neben dem Gehirn auch das Rückenmark und die peripheren
Nerven bei Kohlenoxydvergiftung pathologisch verändert sein können, lehrt ein
Fall von Rokitansky7), in welchem neben Hyperämie und Oedem des Gehirns
auch Poliomyelitis acuta, besonders der Cornua anteriora und gleichzeitig
Hyperämie und Oedem des Perineuriums beider Ischiadici und ihrer Zweige
constatirt wurde.
In therapeutischer Beziehung ist hervorzuheben, dass der Aderlass mit
nachfolgender Transfusion (Leyden), ebenso die Infusion von Kochsalzlösung
(Schreiber, Huber) und von Milch (Cleaveland) in einzelnen schweren Fällen
günstige Dienste geleistet haben. 8) Die Einathmung von Sauerstoff erscheint inso-
fern rationell, als nach Lüssem 9) Sauerstoff rascher als atmosphärische Luft das
CO, soweit es nur locker an Hämoglobin gebunden ist, frei macht. Eine Oxy-
dation des CO findet dabei sicherlich nicht statt, da Gaolio 10) den unzweideutigen
Nachweis geliefert hat, dass CO im Blute nicht oxydirt wird.
Wesentliche Verbesserungen haben die Methoden zum Nachweise des
Kohlenoxyds im Blute durch Auffinden neuer Reaction erfahren. Gewöhn-
liches Blut und CO- Blut geben mit verschiedenen Reagentien Niederschläge, die
sich durch ihre abweichende Färbung leicht von einander unterscheiden lassen
und dadurch den Nachweis selbst geringerer CO-Mengen ermöglichen, als bisher
spectroskopisch nachweisbar sind. Der eigenthttmliche Ton der Fällungen im CO-
Blut tritt weder in dem braune Fällungen gebenden gewöhnlichen Blute, noch
in dem Blute mit Stickoxydul oder Blausäure vergifteter Thiere ein. Nachdem
zuerst Zalkski n) auf das Verhalten der Eupfersalze hingewiesen und diese zum
Nachweise von CO empfohlen hatte, zeigte Kunkel12), dass Ferrocyankalium
mit Essigsäure und besonders Tannin bessere und empfindlichere Reagentien sind,
nach welchen die sofort eintretende und nach einigen Stunden deutlicher werdende,
charakteristische, helicarmoisinrotbe Färbung selbst wochenlang sich hält. Die
Tanninprobe ist schon bei einem Gehalte des Blutes von 20% CO-Hämoglobin
anwendbar und wird auch durch Fäulniss des Blutes nicht alterirt. Man fuhrt
sie in der Weise aus, dass man zu dem mit 4 Theilen Wasser verdünnten Blute
das Dreifache von l°/0iger Tanninlösung setzt.
Eine sehr brauchbare, an die früher von Salkowski angegebene Reaction
von Schwefelwasserstoffwasser sich anschliessende Reaction von Katayama18) be-
steht darin, dass CO- Blut nach Zusatz von orangefarbenem Schwefelammon und
Essigsäure Zinnober- bis rosarothe Färbung zeigt, während normales Blut davon
grünlichgrau oder röthiioh-grüngrau wird. Man kann die Unterschiede noch deut-
lich an Mischungen voo 1 CO-Blut mit 5 (mitunter auch 7) gemeinem Blut
erkennen. Man führt die Reaction am besten so aus, dass man zu 10 Ccm. mit
5 Theilen Wasser verdünntem Blute 0*2 Ccm. orangefarbenes Schwefelammon und
dann 0*2 — 0*3 verdünnte Essigsäure setzt. Die dabei resultirende Flüssigkeit
reagirt sauer und zeigt bei CO-Blut ein gedoppeltes Spectrum von CO-Hämoglobin
und Schwefelhämoglobin, bei nicht CO-haltigem Blute gleichzeitig ein Spectrum
von reducirtem, beziehungsweise 0- Hämoglobin mit Schwefeimethämoglobin. Starkes
Schütteln ist zu vermeiden.
Salkowski u) hat auch die ältere Natronprobe von Hoppb-Seyleb dahin
verbessert, dass er das Blut auf das Zwanzigfache verdünnt und ein gleiches
Volumen Natronlauge von 1*34 spec. Gew. zusetzt. Die anfangs weisslich trübe
Mischung wird später lebhaft roth und beim Stehen scheiden sich hellrothe
Flocken unter einem rosa gefärbten Liquidum aus.
27*
420
KOHLENOXYD. — KREOSOT.
Zum quantitativen Nachweise von CO im Blute läset sich das spectro-
skopißche Verhalten des durch Schwefelammonium reducirten Blutes benutzen, das
bei 28% CO-H&moglobin die CO-Streifen nicht mehr getrennt erscheinen lftsst,
während dieselben bei 30°/0 sehr deutlich sind (Kunkel).
Zur Bestimmung des Eindringens von Kohlenoxyd in Wohnräume kann
auch der Thierversuch zweckmässig dienen. Nach Gr&hant sterben Sperlinge
in einer Atmosphäre, welche 1/460 CO enthält; für Hunde ist Vi«©» für Kaninchen
1/70 nothwendig. 16) Das CO ist dann spectroskopisch oder mittelst des Kunkbl-
schen Verfahrens im Blute nachweisbar.
Der speotroskopische Nachweis im Blute kann nicht nur in 8 Tage alten
Leichen mit Sicherheit geliefert werden (Kunkel), sondern gelingt auch nach
Jäderholm") an 5 — 10 Jahre in wohlverkorkten Flaschen aufbewahrtem Blute
mit CO vergifteter Personen. Selbst im Fötalblute mit CO vergifteter trächtiger
Hündinnen ist CO nachgewiesen l7) , während es im Fötus beim Menschen nicht
nachweisbar ist. Auch in den während der Vergiftung erzeugten Sngillationen
findet sich CO, nicht aber in den unmittelbar vor oder nach der Intoxication
entstandenen. 18)
Literatur: *) Gruber, Archiv für Hyg. 1883, I, pag. 145. — *) Musso, Rivista
clin. 1885, Nr. 8, pag. 577. — 8) Vergl. Sokolowski, Pragl. lek. 1837, Nr. 1. Morton,
St. Bartholom. Hosp. Rep. 1885, IX, pag. 325. Litten, Deutsche Wochenschr. 1889, Nr. 5.
Peter, Gaz. des Höp. 1889, Nr. 13, pag. 389, 416. — 4) Becker, Deutsche Wochenschr.
1889, Nr. 26—28. — *)Poelchen, Virchow's Archiv. 1888, CXII, pag. 26. — •) Gross,
Beitrag zur Casuistik der Kohlenoxyd vergiftangen. Berlin 1886. — 7) Vergl. Litten, a.a.O.
G r o s 8 , a. a. 0. Rokitansky, Wiener Med. Presse. 1889, Nr. 52. — •) Leyden, Deutsche
Wochenschr. 1888, Nr. 51. Huber, Zeit sehr, für klin. Med. 1888, XIV, pag. 172. Cleave-
land. Boston med. Journ. 1. July 1889. — p) Lüssem, Zeitschr. für klin. Med. 1885, IX,
pag. 597. — lü) Gaglio, Archiv für experim. Pathol. 1887, XXII, pag. 233. — ") Z al eskif
Zeitschr. für physiol. Chem. 1885, IX, pag. 125. — lf) Kunkel, Würzburger Sitzungsber.
1889, Nr. 6, pag. 81. — 1S) Katayama, Virchow's Archiv. 1888, CXIV, pag. 53. — 14)Sal.
kowsky, Zeitschr. für physiol. Chem. Dec. 1888. — ,6) Grehant, Compt. rend. 1888,
CVI, Nr. 4. — 16) Jäderholm, Svenska läk. Förhandl. 188), Nr. 2. — 17) Grehant und
Quinquaud, Compt. rend. 1883, Jahrg. CXVII, pag. 330. — l8) Falk, Vierteljahrsschr.
für gerichtl. Med. 1884, pag. 279. ^
Husemann.
Krebs, 8. Ca rein om, pag. 130.
KreOSOt, neuerdings als sehr wirksam, in den Frühstadien der Tuber-
kulose und gegen atonisch-catarrhalische Affectionen der Luftwege, empfohlen. Es
soll möglichst viel und lange gegeben werden, zu 1*0 pro die Monate hindurch
(Sommerbrodt). Es darf nicht auf den leeren Magen genommen werden; auch
muss man ein chemisch reines Präparat anwenden. Das Kreosot ist ein Gemisch
von Guajacol , C„ H4 0 , CH3 . OH (Brenzkatechinmonomethyläther) , Phlorol,
C6 H3 (CH8)2 . OH und Kreosol , C6 H3 (CH3) OCH3 . OH (Homobrenzkatechinmono-
methyläther). Das neuerdings als englisches Kreosot (Fichten holz theerkreosot) in
den Handel kommende Präparat enthält sehr wenig des wirksamen Guajacol,
steht demnach im Wertbe dem Buchen holztheerkreosot bedeutend nach. Im
Arzneibuche III. ist die maximale Einzelgabe O'S und maximale Tagesgabe 1 0
gegenüber der Pharm. Germ., edit. III. verdoppelt. Es wird in Kapseln in einer
Mixtur mit Wein, in Wasser mit Leberthran (Seitz) in Form der jASPER'schen
Pillen gegeben. Jede JASPER'sche Pille euthält 0*05 Kreosot. Engel beginnt
mit 8 — 10 Pillen pro Tag , steigt dann von 5 zu 5 Stück pro halbe Woche,
wobei er sogar auf 80 Stück pro Tag kam, ohne Nachtheile zu sehen. Auch eiue
Mischung von TO Kreosot und 4*0 Cognac auf 1 Liter Milch fand er vortheilhaft.
ROSSOW GerON AT empfiehlt neben den Kapseln Kreosotinhalationen
2 : 10 Weingeist : 590 Wasser. Die Wirkung der parenchymatösen Injectionen
nach Andreesen, auch der subcutanen nach Schetelig in 20 — 30°/0iger öliger
Lösung (Mandelöl) ist noch nicht genügend erprobt. Nach Schetelig soll die
Injection insbesondere antipyretisch wirken. Lesquillon stellt in den Kranken-
KREOSOT. — KUPFERVITRIOL.
421
sälen durch Zerstäuben einer 1/3 — 2°/0igen Kreosotlösung eine kreosothaltige
Luft dar.
Klehperer schreibt dem Kreosot (auch dem Alkohol) die Fähigkeit zu,
den Appetit anzuregen, die Secretion des Magensaftes zu steigern und dessen
motorische Tbätigkeit anzuregen.
Zu merken ist, dass es immerhin Individuen giebt, die die Kreosot-
behandlung absolut nicht vertragen (Holm u. A.).
Literatur: P. Guttmann, Zeitschr. far kliu. Med. XII, Nr. 5. — Sommer-
brodt, Berliner klin. Wochenschr. 1887, 15 und 48. — Seitz (Heidelberg), Ther. Monatsh.
1889, pag. 48. — Bourget (Genf), Correspondenzbl. für Schweiz. Aerzte. 15. Mai 188J. —
Sommerbrodt, Ther. Monatsh. 1889, pag. 298. — A. Andreesen (Jalta), St. Petersburger
med. Wochenschr. 1889, 25. — Holm (Mosler's Klinik), Ther. Monatsh. Mai 1889. — Engel,
Ebenda. 1889, pag. 501. — L. Polyak, Orvos. hetil. 1889 , 40 (ungar.); Ther. Monatsh.
1689. pag. 574. — 6. Klemperer, Zeitschr. für klin. Med. 1889, Suppl. zum XVII Band.
Loebisch.
Krim, s. klimatische Curen und Curorte, pag. 374.
KrÖtengift, s. Augenheilmittel, pag. 67.
Kugelthromben (des Endocards), s. Herzkrankheiten, pag. 326.
Kunstbutter, s. Butter, pag. 127.
Kupfervitriol als Desinficiens, s. Desinfection, pag. 188, 189.
420
KOHLEN
Zum quantitativen Xaehwt
skopische Verhalten des durch Srh-«
bei 28% CO-Hämoglobin die (/f
während dieselben bei 30% sei.'
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clin. 1885, Nr. N jmp. 07 i .
St. Bartholom. Hosp. Rep. 1cc - - — —
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1889, Nr. 26- - ) lJ-
Beitrag aar Casuistik di-r kui>>-
Gross, a. a, 0. Rokii..
Wochenachr. 1888, Nr. ?M
land, Boston med. Jouru
pag. 597. — 11 ) Gagiiu
Zeitschr. für phy&ii-l. «.".
1889, Nr. 6. pap. 81
kowskv, Zeitschr. Iii
CM, Nr. 4. — l") J*n- '
Quinqnaud. Onipi
für gerichtl. Med. ] ..
:ag. pag. 114.
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Injec
^-^»yuiopadie, II. Aufl., Bd. XI, pag. 464 .
hat durch die Bestrebungen Killiax "s
5«rttek3ichtigung verdient. Mit Hilfe der
ist es äusserst schwierig, die vordere
Auge zugänglich zu machen: dieselbe
erkürzt. Durch das von Killiax neuer-
. *uiuehr möglich, die in Frage stehende
Ms** Jaxin, dass die Untersuchung bei Vor-
» -totführt wird. Der Patient beugt seinen
ias Kinn bei geöffnetem Munde auf dem
^ <ark hervorgezogen und Patient muss tief
«ferti. steht, der Arzt kniet und nun wird der
^»i aau grosse Spiegel — in die Mundraehen-
^ her vorgedrängt. Da bei der Stellung des
Auges von der hinteren Larynxwand
_ ^ ^ lemecoren von 25 Cm. Brennweite zu benutzen
«£tft.kass intensive Lichtquelle zu sorgen. Ausser-
^ «,4r vor dem Velum als bei der gewöhnlichen
fcr vorliegenden Erfahrungen ist mit dieser
nicht sehr angenehm ist, in den meisten
r xu übersehen, als bei gerader oder nach
kommt dabei doch in Betracht, dass auch
)«C schon angegeben hat. im Stiche lässt.
4vr hinteren Larynxwand Schwellungen und
uud Neubildungen vorhanden sind, welche
ku lassen, wie die anderen Methoden.
Itst auzu führen, dass A. J. Hartmaxx nun-
lieh wirklich vollkommen desinticiren lassen,
tet, dass. indem die Hülse sich leicht öffnen
—.^jy^iA «lb*t leicht herausgenommen, wieder hinein-
^W**1* durch ein ueues ersetzt werden kann. Man
<^^Bfcge«tell für sich desinticiren zu können. Auch
t* iMüige Augenblicke in Carbolsäurelösung tauchen
man es auf reines Fliesspapier legt.
5^. '-dtt. ra^seM. tier Natur f.- Versa mnil Heidelberg 1*^9 :
* ^wk^aml. Mit ^ Abbildungen. Jena lSl»J. — A. J. Hart-
^^,««1. IVuwche m-J. Voeheiischr. l^vK». 96.
*> * B. Bagi*sky.
* *****
LARYNX.
423
Larynx (a n a t o m i s c h) (vergl. Real - Encyclopädie , II. Aufl. , Bd. XI,
pag. 478). Auf die feineren histologischen Verhältnisse des Larynx ist durch
neuere Untersuchungen die Aufmerksamkeit wieder gelenkt worden, namentlich
mit Rücksicht auf die Anordnung der Epithelien und Drüsen im Kehlkopf. Be-
sonders erwähnenswerth sind die Arbeiten von Rudolf Heymann und Kanthack.
Bekanntlich sind die ersten umfassenderen Untersuchungen im Jahre 1852 von
Rheiner pubiicirt; es schlössen sich daran die Untersuchungen von Henle,
Verson, Luschka u. A. Rheiner fand, übereinstimmend mit Naumann, dass
nicht der ganze Kehlkopf mit Flimmerepithel ausgekleidet sei, sondern dass ent-
lang dem Rande der wahren Stimmbänder ein Streifen Plattenepithels sich findet.
Dieser Streifen ist ein Ausläufer des Scblundepithels und mit diesem dureh das
sattelförmige Iuterstitium zwischen den Aryknorpeln in Verbindung. Auch über-
schreitet nach Rheiner das Plattenepithel die durch den freien Rand des Kehl-
deckel*, die aryepiglottischen Falten und die beiden Giessbeckenknorpel gebildete
obere Grenze der Kehlkopf höhle an allen Punkten durchschnittlich in der Breite
von 2 — 3 Linien; unterhalb dieses Saumes, mit Ausnahme des freien Stimmband-
randes und der Regio interarytaenoidea, die vom Pflasterepithel bedeckt sind, befindet
sich ein flimmerndes Cylind erepithel. Eine Modification dieser Anschauung wurde
dann spater durch Davis erbracht, welcher behauptete, dass an der hinteren
Fläche der Epiglottis, unterhalb des Plattenepitheisaumes , sich eine Zone vor-
findet, in welcher das Flimmerepithel von Plattenepithelinseln unterbrochen sei.
Heymann fand nun, dass in der That an der hinteren Fläche des Kehldeckels
an den oberen Saum von Plattenepithel ein Bezirk sich auschliesst, in dem das
flimmernde Cyliuderepithel von zahlreichen Inseln von Plattenepithel unterbrochen ist.
Weiterhin constatirte Heymann am oberen Rande der Kehlkopfhöhle einen Saum
von Pflasterzellen, der mit dem Pflasterepithel der Mund- und Schlundhöhle un-
mittelbar zusammenhängt, ferner Platten epithel iu der ganzen Regio interary-
taenoidea, ausserdem einen schmalen Streifen von Pflasterzellen am freien Rande
der wahren Stimmbänder, öfters auch am freien Rande der Taschenbänder. An
allen übrigen Stellen findet sich Flimmerepithel, das nur vorwiegend kleine Inseln
von Plattenzellen einscbltessst. Ferner fand Heymanx, dass solitäre Follikel im
Kehlkopfe unter normalen Verhältnissen vorkommen, aber im Ganzen selten sind;
dagegen ist eine mehr diffuse, lymphoide Infiltration der Schleimhaut constant
nachweisbar. Die sehr zahlreichen acinösen Drüsen sind sämmtlich Schleimdrüsen
und zeigen nahe der Mündung eine ampullenförmige Erweiterung. Die von IIey-
mann gegebene Darstellung der Anordnung des Epithels erfahrt dureh Kanthack
keine Bestätigung, vielmehr hält dieser auf Grund seiner Untersuch ungeu an dem
von Rheiner gegebenen Schema der Epithelvertheilung fest und ist der Meinung,
dass Heymann pathologische Kehlköpfe zur Untersuchung verwendet hat, bei
denen es sich um pathologische Metaplasien des Epithels gehandelt hat, wobei
in Folge chronischer Reizzustände Uebergänge von Flimmerepithel in Pflaster-
epithel leicht vorkommen (pathologische Metaplasien), wie auch bereits während
der Entwicklung des Pharynx und Larynx normaler Weise Veränderungen im
Epithel stattfinden, die den Uebergang des fötalen zum adulten Typus kenn-
zeichnen (physiologische Metaplasie). Diese Veränderungen zeigen sich darin, dass
1. das Flimmerepithel, wie wir es am Fötus an der pharyngealen Schleimhaut
finden, verschwindet, um dem Pflasterepithel Platz zu machen ; 2. dass das Spatium
intipranjtaehoidale das flimmernde Epithel verliert und 3. dass das Pflasterepithel
nur vom Pharynx an den Lig. aryepiglottica und der Hinterfläche der Epiglottis
in das Larynxlumen hineingreift.
Auch über die Innervationsverbaltnisse des Larynx liegen neuere Arbeiten
vor, welche nach mancher Richtung hin, ihre Bestätigung vorausgesetzt, unsere
früheren Anschauungen erheblich ändern. Ganz besonders trifft dies zu für die
von Grabower durch Versuche erhärtete Behauptung, dass der motorische Nerv
des Larynx nicht der Nervus accessorius ist, wie Bischof, Longkt, Heiden-
424
LABYNX. — LARYNXCATABRH.
hain u. A. erwiesen zu haben glauben, sondern dass das motorische Wurzelgebiet
für die motorischen Kehlkopfnerven gelegen ist in bestimmten Vaguswurzeln, und
zwar in den das unterste Drittel des ganzen Wurzelbündels einnehmenden, von
den oberen oft durch eine Lücke getrennten, untersten, dünneren 4 — 5 Vagus-
wurzeln. Dies Resultat wurde gewonnen aus den laryngoskopischen Befanden and
den Sectionsergebnissen, sowohl nach Ausreissung des gesammten Accessorius aus
dem Foramen jugulare, als nach Zerstörung des Hirnaccessorius , wobei keine
functionelle Störung an den Stimmbändern eintrat, und aus denjenigen Versuchen,
in denen bei völligem Intactsein des Accessorius und seiner Aeste nach Zerstörung
der oben angegebenen Vaguswurzeln ein Functionsausfall an den Stimmbändern
sich zeigte.
Erwähnenswerth sind noch die neueren Untersuchungen von Horsley
und Semon über die centrale motorische Innervation des Larynx, welche anschliessen
an die MüNK-KRAUSE'sche Untersuchung über die corticale Innervation des Larynx.
Wie die letzteren Untersucher, welche am Hunde experimentirten , das Centrum
der willkürlichen Bewegungen des Kehlkopfes an der steil nach unten abfallenden
Fläche des Gyrus praefrontalis zwischen Stirnlappen und Sulcus cruciatus
fanden, constatirten Horsley und Semon beim Affen die nämliche wirkungsvolle
Stelle dicht hinter dem unteren Ende des Sulcus praecentralis an der Basis der
dritten Stirnwindung. Sie kommen zu dem Resultate, dass die dem Willens-
einfluss unterworfenen Kehlkopfbewegungen, die willkürliche Phonation, von der
Hirnrinde aus, beherrscht werden, dass dagegen die Auswärtsbewegungen der Stimm-
bänder bei der Inspiration durch die bulbäre Innervation besorgt werden.
Literatur: Kanthack, Beiträge zur Histologie des Stimmbandes. Virchow 's
Archiv. CXVII; Stadien über die Histologie der Larynxschleimhant des halb ausgetragenen
Fötus und des Neugeborenen. Ebenda. CXV1II, CXIX u. CXX. — Heymann, Beitrag zur
Kenntniss des Epithels und der Drüsen des menschlichen Kehlkopfes. Ebenda. CXVIII. —
Grabower, Das Wurzelgebiet der motorischen Kehlkopfnerven. Central bl. für Physiologie.
1889, 20- — Felix Semon und Victor Horsley, Ueber die centrale motorische Inner-
vation des Larynx. Tbe British med. Journ. 21. December 1889- — Dieselben, Ueber die
Beziehungen des Kehlkopfes zum motorischen Nervensystem. Deutsche med. Wochenschr. 1890,
31. — H. Krause, Ueber die centrale motorische Innervation des Kehlkopfes. Berliner klin.
Wochenschr. 1890 , 4. — Derselbe, Ebenda. 1890, 5. — F. Semon und Horsley,
Ebenda. 1890,4. B. Baginsky.
LarynXCatarrh (vergl. Rcal-Encyclopädie, II. Aufl., Bd. XI, pag. 491).
Im Anschluss an die Laryngitis chronica ist zu erwShnen die von Virchow
unter dem Namen „Pachydermia laryngis" zuerst beschriebene Krankheitsform.
Sie zeigt sich in Form von schalenförmigen Gebilden an den hinteren Enden
der Stimmbänder, da, wo der langgestreckte Processus vocalis des Gieasbecken-
knorpels sich dicht unter der Schleimhaut befindet, und zwar meist symmetrisch
auf beiden Seiten. In der Mitte dieser wulstförmigen Anschwellungen liegt eine
längliche Grube oder Tasche, meist von geriuger Tiefe. Die vertiefte Stelle ent-
spricht der Stelle, wo die Schleimhaut mit dem darunter liegenden Knorpel
zusammenhängt und wo sie sich deswegen nicht erheben kann. Der gewulstete
Theii in der Umgebung der Grube besteht aus verdickten und epidermoidal
veränderten Epithelien , welche sowohl auf die Stimmbänder selbst , wie auf
die Incüura interarytaenoidea sich erstrecken. Hier findet man dann zuweilen
schon mit blossem Auge dicke Auswüchse und Falten mit epidermoidalen Ueber-
zttgen. Diese sehr dicken und harten Epidermislageu erleiden leicht Einrisse
und es können auf diese Weise leicht Rhagaden entstehen , welche bis in das
Bindegewebe hinein reichen und so sehr leicht ein täuschendes Bild eines be-
ginnenden Cancroidgeschwttres darstellen. Diese Vermehrung des Plattenepithels
vollzieht sich wahrscheinlich unter chronisch - entzündlichem Einfluss, das eine
Mal in mehr diffuser Weise (Pachydermia diffusa) , das andere Mal in circuin-
scripter Form (Pachydermia verrucosa) : letztere tritt nach den Erfahrungen
von Virchow am vorderen Theile, erstere am hinteren Abschnitt der wahren
L ARTNXC AT A RRH. — LARYNXFRACTUR.
425
Stimmbänder auf. — Nach der von Virchow zuerst gegebenen pathologisch-
anatomischen Darstellung wurde der Paohydermie auch klinischerseits mehr
Beachtung zu Theil. Unzweifelhaft sind, wie dies Gottstein hervorhebt, Kehl-
kopfbilder, welche den beschriebenen Veränderungen entsprechen, bereits vorher
beobachtet und als Folgezustände des chronischen Kehlkopfcatarrhs betrachtet
worden. Hierbei kommt es neben der entzündlichen Schwellung entweder zu ein-
fachen epithelialen Hyperplasien oder zu mehr oder weniger hochgradigen epi-
dermoidalen Veränderungen , also zu jenen schweren , von Virchow zuerst be-
schriebenen Formen.
Im laryngoskopiscben Bilde lässt sich die ausgebildete Paohydermie leicht
erkennen ; die eigentümliche Veränderung in der Gegend des Processus vocalis,
das Bild der schalenförmigen Mulden auf der einen Seite und der bei der
Phonation sich in diese hineinlegenden Wülste findet man sonst bei keiner anderen
Kehlkopferkrankung. Schwierig ist die Erkennung der Frühformen und es ist
häufig ganz unmöglich, eine beginnende Paohydermie vom chronischen Catarrh zu
unterscheiden. Ebenso ist in manchen Fällen nicht leicht, Pachydermie und
Carcinom zu differenziren. Diese Aebnlichkeit ist, wie B. Fraenkel nachweist,
namentlich dann vorhanden, wenn neben makroskopisch sichtbaren Papillen noch dazu
Risse und Furchen in der Umgebung der Anschwellung sich bemerkbar machen.
Die genaue Berücksichtigung aller hier in Frage kommenden Punkte,
die Localisation der Pachydermie , die äusserst geringe Ausdehnung derselben in
die Fläche u. 8. w. werden vor Irrtbümern am besten schützen. Die Prognose
ist als günstig zu bezeichnen. Die Pachydermie kann lange besteben, ohne irgend
welche weitere Alterationen, und mit Recht ergiebt sich die relative Leichtigkeit
der Erkrankung aus der Thatsache, dass gerade der pathologische Anatom die
Atifection zumeist auf dem Leiohentiscbe gefunden bat. Die Therapie hat bisher
gegen diese Zustände nichts zu leisten vermocht; alle Mittel, welche bisher ver-
sucht wurden, haben sich nicht bewährt. Der mit der Pachydermie verbundene
Larynxcatarrh wird in passender Weise behandelt und bestätigt sich die Annahme
von Somm ebbrodt , dass gerade feuchte Wohnungsverhältnisse als ätiologische
Momente herangezogen werden müssen, so wird diesem Punkte besondere Auf-
merksamkeit geschenkt werden müssen.
Literatur: Virchow, Ueber Pachydermia laryngis. Berliner klin. Wochenschr.
1887, 32. — flünermann, Ueber Pachydermie und Geschwürebildung auf den Stimmbändern.
Dissert Berlin 1881. — Rethi, Ueber Pachydermia laryngis. Wiener klin. Wochenschrift.
1889, 27. — Julius Sommerbrodt, Ueber typische Pachydermie des Kehlkopfes. Berliner
klin. Wochenschr. 18Q0, 19. — Kanthack, Studien über die Histologie der Larynxschleim-
haut. Virchow'n Archiv. CXX, pag. 277. — Edm. Meyer, Ueber Pachydermia laryngis.
Internat. Centraibl. für Laryngologie etc. 1890, pag. 536. — B. Fraenkel, Der Kehlkopf-
krebs, seine Diagnose nnd Behandlung. Deutsche med. Wochenschr. 1889, 1—6, pag. 20- —
Gottstein, Die Krankheiten des Kehlkopfes. 1890, pag. HO. — 0. Chiari, Ueber Pachy-
dermia laryngis mit besonderer Berücksichtigung der Plica interarytaenoidea. Wien 1891.
B. Baginsky.
LarynxfniCtUr. Dieselbe gehört immerhin zn den Seltenheiten nnd
entsteht entweder durch directe oder indirecto Gewalt; im ersteren Falle durch
Schlag gegen den Kehlkopf, durch gewaltsame Compression desselben, in letzterem
durch Fall von einer Höhe, und besonders prädisponirend wirkt die bei älteren
Leuten bestehende Verknöcberung der Kehlkopfknorpel. Am seltensten bricht die
Cartilago arytaenoidea, am häufigsten die Cartilngo thyreotden. Die Brüche
können natürlich verschieden sein , je nach der Art der Gewalt, Längs-, Schräg-
brtlche u. 8. w.
Die Symptomatologie gestaltet sich verschieden ; meist zeigt sich sofort
ein heftiger Schmerz in der Kehlkopfgegend, hinzu gesellen sich Bluthusten und
Athemnoth, mehr oder weniger diffuse Schwellung und Hautemphysem; letzteres
kann natürlich einen hohen Grad erreichen. Bei der objectiven Untersuchung des
äusseren Halses fühlt man vielfach deutliches Crepitiren und bei genauer Ab-
426
LARYKXFRACTCB. — LARYNXGESCHWCLSTE.
tastung ein Verschobensein der Fragmente. Zuweilen lägst sieh durch die laryngo-
skopische Untersuchung ein weiterer Befund sogleich nach der Verletzung fest-
stellen. Die Prognose ist stets zweifelhaft, die Gefahr der Erstickung naheliegend,
zumal die Störungen der Athraung allmälig durch secundäre Processe erheblich
zunehmen können.
Therapeutisch ist durch frühzeitige Tracheotomie zunächst der lndicatio
Vitalis zu genügen. Späterhin ist der Versuch zu machen , die Fragmente zu
reponiren , was in den seltensten Fällen gelingt ; meist sind die Patienten ge-
zwungen, die Canüle dauernd zu tragen.
Literatur: A. B. At nerton, Ein Fall von Larynxfractnr. Canadian practitioner.
November 1887. — Landgraf, Ein Fall von Brach des Kehlkopfes als Folge einer Körper-
verletzung. Friedreich's Blätter für gerichtliche Medicin. 1888, XXXIX, I. — F. A.
Barend t, Fractur des Larynx. Emphysem des Halses, Laryngotomie, Tod. Lancet. 1888. —
M. Howard Fussel, Fractur des Larynx. Philad. med.news. 1888. ß. Baginsky.
LarynXgeSChWÜlste (vergi. Real - Encyclopädie, II. Aufl., Bd. XI,
pag. 495). Nach der Zusammenstellung von Semon auf Grund einer von ihm
neuerdings angeregten Sammelforcobung sind in dem Zeitraum von 1862 bis
1888 von 107 Laryngologen 10.747 Kehlkopfgeschwülste beobachtet und von
diesen 8216 operirt worden. Da sich bei der Sammelforschung nicht alle Aerzte
betheiligt haben, so ist die Zahl der wirklich beobachteten und operirten Fälle
eine noch erheblich grössere. Bezüglich der Aetiologie der gutartigen Tumoren
scheinen die chronischen Catarrhe in erster Reihe in Betracht zu kommen, ob
schon ausdrücklich hervorgehoben werden muss, dass auch ohne diese die Bildung
von Tumoren beobachtet ist und dass alsdann die Catarrhe als secundäre Er-
scheinungen aufzufassen sein dürften. Was auch für diese Auflassung zu sprechen
scheint, sind die congenitalen Larynxtumoren, welche gerade uicht zu den Selten
heiten gehören. Besonders disponirt für die Bildung von Larynxtumoren erweist
sich das Alter von 20 — 55 Jahre; darüber hinaus sind die gutartigen Tumoreu
selten. Von diesen haben wir als am häufigsten vorkommend zunächst die
Papillome zu berücksichtigen. Unter den oben erwähnten 10.747 Fällen befanden
sich 4190 Papillome, also 39°/o- Bekanntlich verwirft Vi rchow den Namen
Papillom ganz und gar, weil es sich nach ihm hierbei nicht um papilläre Bil
düngen , sondern um epitheliale Wucherungen und Verhornungen des Epithels
handelt, um jene Formen, für welche er den Namen der Pachydermia verrucosa
gebraucht. Nach ihm besteht jene Hervorragung der Papillome besonders aus
Epithel, welches zuweilen verhornt, und die Entwicklung der Papillen, welche
selbst einen verhältnissmässig kleinen Kaum einnehmen , kommt erst in zweiter
Reihe in Betracht. Besonders aufklärend sind die von Jürasz und Bebgbngrüx
beobachteten und untersuchten Fälle von verhorntem Papillom des Kehlkopfe*,
bezw. Verruca dura laryngis.
In zweiter Reihe haben wir die Fibrome zu betrachten; sie stellen
kugelige, kleinere oder grössere Geschwülste dar und kommen nicht so häutig
als die Papillome vor. Ihre Gestalt, Grösse, Form und ihr Aussehen sind wech-
selnd; meist sitzen sie an den Stimmbändern und werden, wenn sie in Form
kleiner Knötchen häufig symmetrisch sitzen , als sogenannte Silngerknötchen von
Störk bezeichnet. Dass der Name gerade glücklich gewählt ist, können wir nicht
behaupten , da diese Knötchen ebenso häufig bei Nichtstörern vorkommen. Die
mikroskopische Untersuchung dieser Fibrome ergiebt, dass sie aus einem faserigen
Bindegewebe bestehen , welches mit elastischen Fasern durchsetzt ist. Von gut-
artigen Tumoren erwähnen wir noch die Cysten, Lipome, Myxome, Ecchondrome
und Schilddrüsengewebsgeschwülste.
Die sogenannten Papillome haben grosse Neigung zu Recidivirungen,
und zwar nicht blos an dem ersten Sitze , sondern auch an anderen Stellen des
Larynx , weshalb auch französische Laryngologen von einer polypösen Diathese
sprechen. Die übrigen Tumoren zeigen geringe Tendenz zu Rezidiven.
LARYNXGESCHW ÜLSTE.
427
Es Bei besonders noch hervorgehoben , dass bei Tumoren an den Stimm-
bändern leicht Hämorrhagien entstehen, welche zuweilen das ganze Stimmband
durchsetzen, wahrscheinlich in Folge Übermässiger Stimmanstrengung oder eines
starken Hustenreizes.
In jener bereits citirten Zusammenstellung Semon's ist die Frage zur
Discnssion gestellt, ob ursprünglich gutartige Neubildungen des Kehlkopfes in
bösartige übergehen können und namentlich auch, ob dieser Cebergaug durch
operative endolaryngeale Eingriffe befördert wird. Diese Fragen waren angeregt
durch eine Behauptung Lknox Browne's, dass gutartige Geschwülste nicht selten
einen bösartigen Charakter annehmen in Folge des durch Operationsversuche
gesetzten Reizes. In letzter Linie sollte diese Meinung massgebend sein für die
Indication und Ausführung endolaryngealer Operationen; letztere sollten demnach
nur zur Erfüllung einer Indicatio Vitalis ausgeführt werden. Die Resultate der
Sammelforscbung waren, dass zwar auch im Kehlkopf unter dem Einflüsse uns
noch unbekannter Verhältnisse ohne endolaryngeale Operationsversuche gutartige
Geschwülste spontan in bösartige übergehen können , aber dies Ereigniss ist
äusserst selten. 12 Fälle unter 10.747 werden aufgeführt, in denen ein derartiger
Uebergang spontan stattgefunden haben soll. Davon war nur ein einziger ein-
wandfrei, die anderen Fälle Hessen betreffs der Deutung manchen Zweifel zu.
Auch was den zweiten in Frage stehenden Punkt betrifft, ob durch endolaryn-
geale Operationen benigne Geschwülste des Larynx leicht in maligne verwandelt
werden, hat die Sammelforscbung den Beweis erbracht, dass dies nur in den
allerseltensten Fällen vorkommt und dass demnach die BROWNE'sche Anschauung
keineswegs den Verhältnissen entspricht. — Für unser praktisches Handeln und
Operiren sind deshalb die bereits allgemein adoptirten Anschauungen die nämlichen
geblieben, und wir werden überall da, wo die Möglichkeit vorliegt, auf endo-
laryngealem Wege Neubildungen radical beseitigen zu können , diesen Weg ein-
schlagen , zumal , wie dies Brüns auf Grund seiner sorgfaltigen , statistischen
Untersuchung nachweist, die Tbyreotomie ausserordentlich schlechte Resultate,
.soweit die Erhaltung der Stimme in Frage kommt, hinterlässt.
Von malignen Tumoren kommen in Betracht die Carcinoroe und Sarcome,
deren Aetiologie nach wie vor dunkel ist. Inwieweit chronische Reize ätiologisch
zu berücksichtigen sind, ist hier ebenso unklar, wie an anderen Körperstellen.
Sicher ist , dass das höhere Alter am häufigsten vom Carcinom befallen wird
und das männliche Geschlecht besonders belastet erscheint. Die Carcinome treten
häufig primär im Larynx auf und erscheinen in ihren Frübformen, wie z. B.
Fraenkel dies ausführt, entweder unter dem Bilde einer circumscripten Ge-
schwulst als Carcinoma jwlypoides oder , sich in die Fläche ausbreitend , als
Carcinoma diffusum. Im ersteren Falle haben wir es zu thun mit einer
flachen, dem Stimmbande breit aufsitzenden Erhabenheit, welche die Form einer
Warze hat, von entweder halbkugeliger oder runder Gestalt. Die Oberfläche
erseheint meist höckerig, von weisslich - grauer Farbe, manchmal auch opak,
kreideartig.
Das Carcinoma diffusum stellt einen sich in die Fläche ausdehnenden
Tumor dar, dessen Oberfläche ungleichmassig verdickt erscheint, welcher ohne
scharfe Grenze in die noch gesunde Umgebung übergeht. Die Farbe der ver-
dickten Partie erscheint nicht gleichmässig , an einzelnen Stellen ist sie von
speckigem, an anderen von weissem, opakem Aussehen. Die nämlichen Carcinom
formen kommen auch an anderen Stellen des Kehlkopfes vor, an den Taschen-
bändern und den aryepiglottischen Falten und bieten hier vielfach das Aussehen
von Blumenkohlgewäcbseu , erscheinen auf der Oberfläche roth und gesättigter,
als die normale Schleimhaut. Die Sarcome sind im Allgemeinen seltener im
Larynx , als die Carcinome. Sie erscheinen in der Form kleinerer oder grösserer
Geschwülste, mehr oder weniger vascularisirt , demnach von dunkelblaurothem
bis gelblichem Aussehen, an der Oberfläche glatt oder warzenartig, meist breit-
Ali*
LAinS\<;E*CH\VrLSTE. - LARNXÖÜEM,
basig aufsitzend. Histologisch lassen sie sich in Rundzelteu- und SpindeLzellen-
sarcome classificiren.
Die Diagnose der Frühfornien der malignen Tumoren ist äusserst schwer,
zumal dieselben in diesem Stadium gleiche oder ähnliche laryngoskopische Bilder
geben, wie gutartige Tumoren, und weiterhin die Symptome in beiden Fallen
die gleichen sein können. Allerdinga werden dem geübten Auge manche Eigen
thUmlichkeiten der malignen Tumoren bald auffallen, aber bestimmtere Anhalts-
punkte werden sich erst ergeben aus der Berücksichtigung aller hier in Frage
kommenden Momente, des Alters des Kranken, des Sitzes der Geschwulst, der
Art der Entwicklung, des Aussehens des Tumors, seines Verhaltens zur Nach-
barschaft u. s, w. Namentlich können Verwechslungen vorkommen mit Papillomen,
mit syphilitischen, tuberkulösen 1 lupösen und leprosen Processen, und es ist fest-
zuhalten p dass selbst die mikroskopische Untersuchung von kleinen 7 dem Tumor
entnommenen Fragmenten, welche durch endolaryngeale Operation entfernt worden
sind, keineswegs absolut sichere Resultate giebt. wie dies aus der Zusammen*
Stellung der Resultate der Semos 'sehen Samrael forsch ung sich kundgiebt. Nichtsdesto-
weniger wird man in allen Fällen zweifelhafter Kehlkopfneubildungen immerhin
die mikroskopische Untersuchung excidirter Fragmente zur Mitverwertlmog für
die Diagnostik heranziehen müssen.
Therapeutisch kann bei allen Tumoren nur die Operation in Fr
kommen. B* Fra ENKEL plaidirt dafür, auch in Fällen , in denen die Diagn
auf Carcinoni gestellt ist , den Versuch der endolary ngealen Entfernung zu mach
sofern der Sitz der Geschwulst es ertaubt. Dass auch auf diese Weise Heil un gen
eintreten können, ergeben einzelne, von ihm mitgetheilte glückliche Heilresultate,
Von 5 Fallen , welche von ihm so operirt wurden , ist ein Fall 2 Jahre ohne
Recidiv geblieben , zwei andere F&lle sind geheilt geblieben ; in einem Falle ver-
sagte das Verfahren, in dem letzten Falle ist der Ausgang unbekannt. Bezüglich
der endolary ngealen Operation der caroinoniatösen Erkrankungen des Larynx
möchten wir uns denjenigen Autoron anseh Hessen , welche hier vor zn Hangui oi
sehen Hoffnungen warnen, zumal gerade die Carciuome die Eigentümlichkeit dar
bieten t tief in das gesunde Gewebe hineinzugreifen, und es deshalb Äusserst
schwierig erscheint, alles Krankhafte zu entfernen. In den meisten Fällen von
Larynxcarcinomen werden deshalb die extralary ngealen Exstirpationen in Frage
kommen, sei es, dass es sich um partielle oder totale Exstirpationen bandelt,
welch letztere allerdings äusserst sohlechte Resultate ergeben.
Literatur: Sem od, Die Frage des Uebergange* gutartiger Kehl köpf <e*chw&U
in bösartige, speciell nach intralaryngealen Operationen. Internationales Ceatralblitt fir
lt»ryogologie etc. 1868, Nr, 3 n. fl\ — B. F r n e n k e 1 , Der Kehlkopfkrebs, seine Diagnose
und Behandlung. Leipzig und Berlin. 1889. (Separatabdrnck ans der Deutsch, med. Wochen-
schrift) — Derselbe. La ngenbeck 's Archiv. Bd. XXXIV, Heft 2. — Gottstein, Lehrbuch
der Kehlkopfkrankheiten. 1890, p*g. 166 ff< B. Baginak/.
LarynXÖdem (vergl. Real - Encyelopftdie, II, A nil., Hrl. W, jjfiLr. "j< > |
Die Pathogenese des Larynxfidenis ist nach manchen Richtungen hin durch eine
Reihe von Beobachtungen genauer erforscht worden. In erster Linie ist zu er*
wiihnen das sogenannte angioneuro tische LarynxÖdem, welches von BteÜbipcg
besehrieben worden ist. Man versteht darunter eine seröse Infiltration des Kehl-
kopfes, welche einzig und allein auf eine Alteration der Gefassnerven , ihie
Neurose derselben zurückzuführen ist ; demnach handelt es sich dabei weder um
Stauungsfl deine , noch um irgend welche entzündliche Procosse des Larynx, son-
dern es entwickelt sich die Atfectiou, welche dem „acuten umschriebenen Haut
ödem Qcinckk's" analog ist, nach Erkaltungen oder Traumen, ohne irgend welche
fieberhafte Erscheinungen. Die Odematoseu Erscheinungen können schon nach
kurzer Zfit jranz verschwinden, und ihnen tnj^t rtl-ihnn ein i >edem der Maut im
Gesicht und am Thorax, Wie man sich die Entstehung dieser Affection an er-
klären hat, ist noch fraglich : Ströbing ist der Meinung, dass durch einen Heiz,
LARYHXÖDEM. — L ARYNXTUBERK ÜLOSE.
429
der die Schleimhaut des Rachens und Kehlkopfes betrifft, eine Erweiterung der
Gefasse und Oedem folgen, während Riehl eine vom Centrainervensystem aus-
gehende Alteration der Vasomotoren ursächlich gelten lässt. Welche von beiden
Anschauungen die richtigere ist, ist bisher nicht mit Sicherheit zu entscheiden;
weitere Beobachtungen müssen hier noch Aufklärung erbringen.
Weiterhin ist das Larynxödem, welches nach Gebrauch von Jodkalium
entsteht, hier anzufahren. Der erste hierher gehörige Fall ist bereits 1875 von
Fenwick beschrieben; es bandelte sich um einen Kranken, der in Folge von
Jodkaligebrauch so hochgradige Dyspnoe bekam, dass Patient tracheotomirt
werden musste. Seit dieser Zeit weist die Literatur mehrere derartige Fälle auf,
und namentlich machte Foubnier darauf aufmerksam, dass zu den schwersten
Zufallen, die bei dem Gebrauch des Jodkali auftreten können, das Oedem des
Kehlkopfes gehört. Alsdann haben Huchard, Gottstein, Peltesohn, Rosbn-
berg, Groenquw u. A. noch weitere Fälle mitgetheill. Eigentümlich ist allen
diesen Fällen, dass die Erstickungsgefahr plötzlich eintritt, in gleicher Weise, wie
ja bekanntlich die Jodintoxicationserscheinungen ebenfalls einen acuten Verlauf
haben; auffallend ist allerdings hierbei, dass meistens andere Erscheinungen des
Jodismus dabei fehlen , so dass es sich also nicht um eine Theilerscheinung eines
allgemeinen Oedems , sondern um eine localisirende Wirkung des Jodkaliums auf
den Respirationsapparat handelt. Endlich bat noch Nobris Wolffenden auf das
Vorkommen von Larynxödem als Folge von Influenza aufmerksam gemacht.
Literatur: Strübing, Ueber acutes angioneurotisebes Oedem. Zeitschrift für
klin. Ifedicio. IX. — Felix Peltesohn, Ueber Larynxödem. Berl. kl. Wochenschrift 1889,
43 n. 44. — A. Groenouw, Acutes Glottisödem nach Jodkalium gebrauch. Therapeutische
Monatshefte. 1890, III. — A. Rosenberg, Larynxödem nach Jodkaliumgebrauch. Deutsche
med. Wochenschrift. 1890, 37. — Gottstein, Krankheiten des Kehlkopfes. 1890, III. Aufl.,
pag. 144u. ff. — Norris Wolf fenden, British med. Journal. 1890. B. Baginsky.
LarynxtuberkulOSe (vergl. Real-Encyclopädie, II. Aufl., Bd. XI,
pag. 517). Mit der weitereu Erforschung der biologischen Verhältnisse des
Tuberkelbacillus und seiner weiteren Verbreitung verknttpft sich innig die Unter-
suchung über die Invasion desselben in den Larynx und nach dieser Richtung
ist hier mancher weiteren Erkenntniss über die Larynxtuberkulose selbst Er-
wähnung zu tbun. Zu den bertits l ekannten Formen der Larynxtuberkulose, der
tuberkulösen Infiltration, des tuberkulösen Geschwürs und der acuten Miliartuber-
kulose gesellt sich hinzu eine Form der Erkrankung, welche bisher im Larynx
relativ selten beschrieben worden ist, die tuberkulösen Keblkopfgeschwülste. Sie
stellen rundliche, verschieden grosse, meist glatte Tumoren dar, entweder solitHr
oder multipel auftretend und können an den Stimmbändern oder an anderen
Stellen des Larynx zur Beobachtung kommen. Solche Tumoren sind beobachtet
und beschrieben von Dehio, Schaffen, Schnitzler, Mackenzie u. A. Mikro-
skopisch bestehen sie aus einem Oonglomerat von Tuberkeln, welche durch festes,
fibröses Bindegewebe zusammengehalten werden und Tuberkelbacillen in wechseln-
der Zahl enthalten. Besonders bemerkenswert)) ist ein von Dehio beschriebener
Fall, in dem eine vom linken Taschenbande ausgehende, breitbasig aufsitzende
Geschwulst bei einem sonst ganz gesunden Patienten eine langsam zunehmende
Heiserkeit bewirkte. Die mikroskopische Untersuchung des durch extralaryngeale
Operation entfernten Tumors ergab die tuberkulöse Beschaffenheit desselben.
Nach der Operation entwickelte sich eine tuberkulöse Lungenaffection, an welcher
der Patient 8 Wochen nach der Operation zu Gründe ging. Es handelte sich
demnach hier um eine primäre tuberkulöse Neubildung des Larynx. Dieser Fall
ist gleichzeitig geeignet, die Frage betreffs der Existenz einer primären Larynx-
tuberkulose im bejahenden Sinne zu beantworten. Dass die Lungentuberkulose von
der Tuberkulose des Larynx vielfach begleitet wird, ist allgemein bekannt;
dagegen bestehen immer noch controverse Anschauungen über die zeitliche Auf-
einanderfolge beider Affectionen und für beide Ansichten treten gewichtig«
LARYNXTÜBERKÜLOSE.
Autoritäten ein. Wie der obige, genauer angegebene Fall beweist, kann der
Larynx tuberkulös sein zu einer Zeit, in der die Untersuchung der Lunge ganz
negative Resultate ergiebt. Andererseits ist indess festzuhalten, dass selbst bei
genauester Untersuchung kleine circnmscripte Herde in der Lunge der Erkenntnis»
sich entziehen können. Deshalb ist in den meisten Fällen die Frage der primären
Larynxtuberkulo8e klinisch überhaupt nicht zu entscheiden, wie dies Gottsteix
mit Recht bereits betont. Weiterhiu ist bei der modernen Auffassung der
bacillären Natur der Tuberkulose und der Art der Verbreitung des Tuberkelbacillus
eine Primärinfection des Kehlkopfes ausserordentlich leicht möglich und von diesem
Gesichtspunkte aus die Existenz einer primären Larynxtuberkulose aufrecht zu
halten; überdies sind ja von Okth, E. Fraenkel, Pogrebinsky u. A. durch die
Obduction erhärtete Beobachtungen mitgetheilt worden.
Eine andere Frage ist es, wie wir uns die Einwanderung des Tuberkel-
bacillus in den Larynx vorzustellen haben. Insoweit es sich um eine primäre
Larynxtuberkulose handelt, dürfte wohl kaum eine weitere Möglichkeit in Frage
kommen, als dass die Invasion des Bacillus von der Oberfläche aus erfolgt. Ob
dies nun bei absoluter Intactheit des Oberflächenepithels geschieht oder ob gewisse
Veränderungen desselben vorangehen, bleibt vorläufig noch dahingestellt. Koch
vermuthet, dass bei etwaigen Excoriationen die Bacillen in die Gewebe eindringen
können, und da solche geringe Veränderungen leicht heilen, so sind die Wege
der ßacilleninvasion in den späteren Stadien schwer zu ermitteln. Anders bei der
secundären Larynxtuberkulose. Hier kann die Invasion der Bacillen von der
Oberfläche aus erfolgen oder auch auf dem Wege der Lymphbahnen von Innen
heraus oder endlich könnten beide Wege in Frage kommen. Für alle drei An-
schauungen haben sich Fürsprecher gefunden und lange, bevor der Tuberkel-
bacillus bekannt war, hatten namentlich Louis und Klebs die Ansicht vertreten,
dass die Larynxtuberkulose erzeugt wird durch Cavernensecrete , welche aas drr
Lunge in den Kehlkopf gelangen, und zwar durch eine Oberflachen infection.
Gegen diese Möglichkeit ist allerdings geltend gemacht worden, dass viele schwere
Lungenaft'ectionen mit grossen Cavernen bestehen und verlaufen können ohne
irgend welche tuberkulöse Larynxaffectionen ; weiterhin hat Heinz B auch vom
pathologisch - anatomischen Standpunkte aus besonders urgirt, dass, da bei der
Tuberkulose des Larynx die anatomischen Veränderungen in der subepithelialen
Schichte beginnen, das krankhafte Agens auch da zuerst zur Geltung kommen
mus8, demnach also nicht von der Oberfläche in die Tiefe einwandern kann. Mit
der Entdeckung des Tuberkelbacillus wird naturgemäss für die vorliegende Frage
ein besseres Verständniss gewonnen. Nächst Koch war es namentlich Orth,
welcher für die Invasion des Tuberkelbacillus von der Oberfläche eintrat und ihm
schloss sich neuerdings E. Fraenkel an, welcher an der Hand von Schnitt-
präparaten tuberkulöser Kehlköpfe den Nachweis erbrachte, dass die Invasion der
Tuberkelbacillen von der Oberfläche her als das Primäre und Wesentliche bei
der Entstehung der tuberkulösen Veränderungen des Kehlkopfes aufzufassen ist.
Die Bacillen gelangeu dabei durch die völlig intacten oder durch die ihrer Qualität
nach alterirten Epithelzellen in die tieferen Gewebsschichten. Der entgegengesetzte
\Veg, das Eindringen der KocH'schen Bacillen von Innen her durch Einschleppung
von der Blut- oder Lymphbahn, wie es Korkunoff will auf Grund seiner Unter-
suchungen, ist zwar denkbar, aber jedenfalls derjenige, welcher die Ausnahme
bildet. Ebenso muss nach den Untersuchungen von E. Fraenkel besonders betont
werden, dass eine Mitbetheiligung der an verschiedenen Stellen der Kehlkopf-
schleimhaut vorhandenen acinösen Schleimdrüsen bei den tuberkulösen Larynx -
nflectionen nicht nachweisbar ist oder mindestens zu den grössten Seltenheiten gehört.
In der Therapie der Larynxtuberkulose ist besonders die in den letzten
.laliren von Heryng ausgebildete endolaryngeäle , chirurgische Behandlung, das
sogenannte Curettement, erwähnenswerth. Nachdem, bereits längere Zeit vorher
M. Schmidt bei tuberkulösen Infiltrationen der Epiglottis und der aryepiglottischen
LARYNXTUBERKULOSE.
4U
Falten durch tiefe Incisionen in das infiltrirte Gewebe in einzelnen Fällen Heilung
hatte eintreten sehen, suchte dann später Heryng nach diesem Vorgange sein
1 leilverfahren auszubilden , so dass er mittelst besonderen , von ihm angegebenen
Curetten die tuberkulös erkrankten Stellen auskratzt und ausschabt und durch
Hinpinselungen von Milchsäure zur Heilung zu bringen sucht. Es haben dann
noch andere Laryngologen das Verfahren vielfach geübt. Die Ansichten Uber
dasselbe sind sehr getbeilt. Zunächst muss als feststehend betrachtet werden,
<!ass diese Behandlungsmethode sich nicht für alle tuberkulösen Erkrankungen des
Larynx eignet. Insoweit es sich um ganz circumsoripte , für das Operations-
instrument erreichbare Erkrankungen handelt, ist die Metbode gewiss indicirt, da
auf diese Weise ein Infectionsherd aus dem Körper entfernt wird und der Eingriff
als solcher unter Anwendung von Cocain von Patienten relativ gut vertragen
wird. Anders in der grossen Summe von tuberkulösen Erkrankungen des Larynx,
in denen es sich um mehr diffuse Infiltrationen handelt, um Processe, welche
eine ganze Larynxseite einnehmen oder den ganzen Larynx befallen haben ; hier
kann das Curettcment nicht als ein Heilverfahren gelten; mit der scharfen Curctte
herumzukratzen und herumzuschaben, wäre zwecklos, der kranke Herd kann nur
partiell erreicht werden; ausserdem werden durch neue Verletzungen neue Wege
und Bahnen für erneute Invasionen von Bacillen geöffnet und deshalb ist bei
solch ausgedehnten Processen die Anwendung der Cu rette nicht zu empfehlen.
Dasselbe gilt bei allen jenen Complicationen , welche wir bei der Larynx tuber-
kulöse zeitweilig finden, der Perichondritis; hier ist die Curette verwerflich. Kaum
sollte die* einer besonderen Erwähnung werth erscheinen. Indess halte ich in
Anbetracht der gemachten Erfahrungen diese Bemerkung für nothwendig; ich
habe Fälle gesehen, in denen bei bereits bestehender Perichondritis arylaenoidea
mit Ulcerationen in der Tnctsura interarytaenoidea schwere Läsionen au der
hinteren Lnrynxwand mit der Curette gemacht worden sind, zum grossen Schaden
der Patienten.
Weiterhin frägt es sich, ob durch das Curettement Heilungen erzielt
werden und, worauf der Nachdruck gelegt werden muss, ob dieselben von Dauer
sind. Es ist unleugbar, dass unter Umständen durch jede Behandlungsmethode
Heilungen tuberkulöser Larynx ulcerationen herbeigeführt werden können und dass
:iucb durch den operativen Eingriff dasselbe erreicht wird, in einzelnen Fällen
durch ihn schneller als ohne ihn. Aber die Dauer der Heilungen ist hier wie
dort eine absolut unsichere; wenn an einzelnen Stellen eine Vernarbung einge-
treten zu sein scheint, finden sich an anderen Stellen uubenarbte Geschwüre, was
ja auch nicht Wunder nehmen kann, wenn wir berücksichtigen, dass der tuber-
kulöse Process in den Lungen durch diese Behandlung in keiner Weise beein-
flus8t wird und dass wir es mit secundären Larynxtuberkulosen zu thun haben.
Unter diesen Verhältnissen werden wir vielfach unsere Zuflucht nehmen müssen
zu medicamentöser Behandlung und nach dieser Richtung ist die Zahl der neuer-
dings gegen die Larynxtuberkulose empfohlenen Mittel Legion. Wir erwähnen
eine 10°/0ige Carbolglycerinlösung, Jodol, Kreosotalkohol, Balsamum Peruvianuin,
Menthol, Pyoktanin u. A., Mittel, welche sich zeitweilig auch, wenn auch nur
palliativ, bewähren.
Mit dem grössten Enthusiasmus begrüssten wir das von Koch gegen die
Tuberkulose empfohlene Mittel, welches gegen die Tuberkulose des Larynx schon
deswegen von grossem Nutzen schien, da der Process draussen gelegen ist und
das necrotische Gewebe abgestossen und exfoliirt werden kann. Die Discussion
über die Wirkung des Mittels steht vorläufig auf der Tagesordnung und so lässt
Hch in Anbetracht der Neuheit der Thatsachen ein bestimmtes und sicheres
Urtheil noch nicht fallen. Eine beträchtliche Einwirkung des Mittels auf den
tuberkulösen Larynx findet nach der Ansicht Aller, welche das Mittel gegen
Larynxtuberkulose angewandt haben, statt; in einigen Fällen ist eine Ausheilung
tuberkulöser Ulcerationen eingetreten, in anderen Fällen hat sich dieselbe einge-
432
LARYNXTUBERKULOSE. — LATHYRISMCS.
leitet, vielfach anter Bildung neuer Infiltrate und mit gleichzeitiger Eruption
neuer submiliarer und miliarer Tuberkelknötchen in der Nachbarschaft. Ob im
ersteren Falle die Heilung von Bestand bleiben wird, im letzteren die neu ent-
standenen Infiltrate unter Fortsetzung der Behandlung schwinden und ebenfalls
zur Heilung gelangen werden, das sind Fragen, welche sich erst später an der
Hand grösserer Erfahrung werden beantworten lassen.
Literatur: Korkunoff, Ueber die Entstehung der tuberkulösen Kehlkopf-
geschwüre und die Rolle der Tuberkel bacillen bei diesem Processe. Archiv für klin. Med. XLV,
Heft 1 u. 2, pag. 43. — E. Fraenkel, Untersuchungen über die Aetiologie der Kehlkopf-
tuberkulose. Virchow's Archiv. CXXI, pag. 523. — Dehio, Primäre tuberkulöse Neubildung
des Larynx. Petersburger med. Wochenschr. 1888, 16. — Gouguenheim und Tiaaier,
Phthisie laryngee. Paris 1889. — Heryng, Die Heilbarkeit der Larynxphthise und ihre
chirurgische Behandlung. Stuttgart 1887. — Beschorner, Die locale Behandlung der
Laryngophthüü tuber culosa. Vortrag, gehalten in Dresden, 3. November 1888. — R. Koch,
Weitere Mitteilungen über ein Heilmittel gegen Tuberkulose. Deutsche med. Wochenachr.
1890, 46a, Extraausgabe. — Derselbe, Fortsetzung der Mittheilungen über ein Heilmittel
gegen Tuberkulose. Ebenda. 1891, 3. — Virchow, Ueber die Wirkung des Koch'schen
Mittels auf innere Organe Tuberkulöser. Berliner klin. Wochenschr. 1891, 2. — B. Fraenkel,
Ueber die Anwendung des Koch'pchen Mittels bei Tuberkulose. Ebenda. 1890, 54 und die
sich daran knüpfende Discussion. Vergl. die folgenden Nummern der Berliner klin. Wochenschr.
und der Deutschen med. Wochenschr. 1881. — D. Hansemann, Pathologisch-anatomische
und histologische Erfahrungen über die Koch 'sehe Injectionsmethode. Therap. Monaten. Sonder-
heft. Jan. 1891. — Lublinski, Einige vorläufige Bemerkungen über die Behandlung der
Kehlkopftuberkulose nach dem Koch 'sehen Verfahren. Deutsche med. Wochenschr. 1890, 48. —
Derselbe, Weitere Erfahrungen über die Behandlung der Kehlkopftuberkulose nach Kocb.
Therap. Monatsh. Jan. 1891. t> -d ».
r>. Uaginsky.
LathyriSmUS. Man bezeichnet mit diesem von Ca NT an i eingeführten
Namen eine vorwaltend durch Lähmungse+scheinungen charakterisirte chronische Ver-
giftung durch den Genuss der Samen verschiedener Arten der Papilionaceen-
gattung Lathyrus (Platterbse). Die Krankheit ist wahrscheinlich schon im Alter-
thum bekannt gewesen, da in einer pseudohippokratischen Schrift bereits von
epidemisch in Ainos aufgetretener Schwäche in den Schenkeln nach dem an-
haltenden Gebrauche von Hülsenfrüchten als Nahrungsmittel die Rede ist.1) Mit
Bestimmtheit wird sie im 17. und 18. Jahrhundert nach Vorkommnissen in Modena2},
Toscana *) und Mtimpelgard 4) beschrieben. Mehrfache Massenerkrankungen sind
in diesem Jahrhundert in Frankreich in verschiedenen Departements, z. B.
1819 in den Dep. Indre - et - Loire und Sarthe6), 1829 in Loire - et - Chere 6),
einzelne Fälle im mittleren und südlichen Italien, z. B. 1847 in den Abruzzen 7),
1873 bis 1876 bei Neapel«), 1880 bei Rom«) und 1882 bei Parma"),
die ausgedehntesten Erkrankungen dieser Art jedoch ausserhalb Europas, und
zwar in Ostindien, von 1829 — 1835 im Territorium Sangor11) und 1856 — 58
in Allahabad 1S) , wo Tausende von Erkrankungen (in einem einzigen Orte,
Pergenna Barra, 1857 bei ttber 2000 Personen) constatirt wurden, beobachtet.
Mehrere, ebenfalls nicht selten in ganzen Familien und Dörfern ausgebreitete
und mehr als 1000 Personen umfassende Erkrankungen sind auch seit 1883 von
verschiedenen französischen Militärärzten aus Algier mitgetheilt worden.18) Die
Krankheit knüpft sich überall, wo sie erschienen ist, an Missernten von Getreide
und tbeilweisen Ersatz desselben durch die Samen der traglichen Wickenart, die
z. B. in Algier von den Kabylen nicht nur mit der doppelten Menge Gerstea-
mehl zu Brod verbacken, sondern auch noch ausserdem geröstet oder in Salz-
wasser aufgeweicht in Form von Klössen zur Nahrung dienen. Sie beschränkt
sich daher auf die ärmere Bevölkerung, in Algier und Indien ausschliesslich auf
Einheimische, während Europäer, welche diese Nahrung nicht gemessen, ver-
schont bleiben.
Die Species , welche giftige Samen liefern, sind hauptsächlich Lathyrus
Cicera L. und Lathyrus clymenum L.y alles Arten, welche man in europäischen
Ländern meist mit einem von dem lateinischen Cicer abgeleiteten Namen (in
Deutschland Richer oder Zieser, Kichererbse oder Ziesererbse , in Holland Sisser,
LATHYBISMÜS.
433
in Frankreich chiche, grosse chiche, gesse, in Italien cicerchia, cicercina, in
England Chich, Chich pea, Cbich vetch) belegt, die aber nicht mit der völlig
ungiftigen Kichererbse, Cicer arietinum L., zu verwechseln sind. Für die
indischen Epidemien wird Lathyrus sativusy die sog. deutsche Richer , verant-
wortlich gemacht, doch fragt es sich, ob die „Kissarae", wie die Pflanze benannt
ist , nicht auch Lathyrus cicera u. a. Platterbsen einsohliesst. Auffällig ist dabei
die Beobachtung, dass die auf sumpfigem Terrain gewachsene Pflanze giftigere
Samen liefert. Für die französischen Fälle wird Lathyrus Cicera (meist als
charosse oder jarosse bezeichnet), für die italienischen L. Clymenum verantwortlich
gemacht, und für die von Algier, wo die Affection von den als D j i 1 b e n bezeich-
neten Platterbsen Djilbenkrankheit heisst, soll ausser Lathyrus Cicera (Djilben
burgeru) und L. Clymenum (Djilben-el Hanech) auch eine einem anderen
Genus angehörige Wickenart, die Erve oder Ervenwicke, Ervum Ervilia i.,
dort Djilben Kercella genannt , an der Vergiftung betheiligt sein , was übrigens
auch bei den französischen Fällen wohl zutreffen kann; da der Name charosse
(jarosse) auch auf diese angewendet wird und die Samen von Ervum Ervilia
bereits von italienischen Autoren des vorigen Jahrhunderts als giftig für Menschen
und Vieh bezeichnet wurden.
Es kann durchaus keinem Zweifel unterliegen, dass die nach dem Genüsse
von Brod mit reichlichem Platterbsenzusatze oder anderweitiger Ernährung mit der-
selben auftretenden Erkrankungen auf die Giftigkeit der fraglichen Leguminosensamen
zurückzuführen sind, und zwar handelt es sich um die gesunden Körner, nicht um
kranke, noch weniger um beigemengten Taumellolch oder Kornrade. Eher könnte in
denjenigen Erkrankungen, welche durch Brod bedingt wurden, an Beimengungen
von mutterkornhaltigem Getreide gedacht werden, indessen ist dies bei den Fällen
aus Indien und Algier ausgeschlossen ; denn in Indien war zur Zeit der Epidemien
überhaupt kein Getreide gewachsen und die Kabylenstämme , bei denen die
Djilbenkrankheit vorkommt, bauen keinen Roggen; das mitverbackone Getreide
ist Hafer oder Gerste, worauf Mutterkorn sich stets nur in sehr geringer Menge
findet , während die darauf reichlicher vorkommenden Brandpilze nicht giftig sind.
Der Beweis für die Giftigkeit normaler Lathyrussamen ist durch Thierversuche
mit Extracten aus völlig gesunden, von fremden Beimengungen freien Samen
erwiesen, die das Vorhandensein von giftigen Principien wahrscheinlich machen,
welche durch Einwirkung auf die Nervencentren Zittern, Krämpfe und Lähmung,
besonders am Hintertheile , bemerklich, hervorrufen. Nach Marie 16) enthalten sie
mehrere giftige , noch genauer Untersuchung bedürftiger Alkaloide. Ein in Wasser
unlösliches, in Aether wenig, in Chloroform leicht lösliches, flüchtiges Alkaloid,
welches in den Samen zu mehreren Procenten enthalten sein soll, hat auch Abtier 15J
gefunden. Die Giftigkeit der Samen ist durch wiederholte Beobachtungen an ver-
schiedenen Thieren, besonders häufig an Pferden und Schweinen14), constatirt;
auch Gänse (nicht aber Tauben) sterben daran.
Der Lathyrismus tritt mitunter schon nach sechswöchentlichem Gebrauche
der Samen auf, bisweilen erst nach mehreren Monaten. Jugendliche Individuen
werden mehr als ältere afficirt; die Zahl der ergriffenen Männer Überwiegt die-
jenige der Frauen. Kalte und feuchte Witterung prädisponirt zum Ausbruche der
Erkrankung, die häufig mit mehrstündigem und selbst mehrtägigem, jedoch
mässigem Fieber und Lumbarschmerzen beginnt , woran sich unmittelbar das Bild
der spastischen Spinalparalyse (Bd. XVIII, pag. 475) mit starker Steigerung der
Sehnenphänomene und normaler Hautsensibilität, aber in einzelneu Fällen mit
Urinincontinenz, Paralyse des Sphincter ani und Impotenz verbunden, anschliesst.
Incontinenz und Impotenz verschwinden nach einiger Zeit und die Lähmung
bleibt auf die untere Extremität beschränkt, kann aber viele Jahre anhalten und in
älteren Fällen scheint auch Muskelatrophie sich ausbilden zu können. Die beson-
ders bei Pferden beobachteten Erscheinungen von Engbrüstigkeit (Dumpf) und
die bei diesen vorkommenden plötzlichen Todesfalle nach Anstrengungen ") sind
Encyclop. Jahrbücher. I. 28
434
LATHYRISMÜS. — LEUCHTGAS VERGIFTUNG.
beim Menschen nicht constatirt. Auffällig ist das an den Ergotismus gangraenosum
erinnernde gangränöse Absterben von Gliedmassen, das in Indien und von ver-
schiedenen französischen Militärärzten 18) in Algier nach längerem ausschliesslichen
Platterbsengenusse beobachtet wurde. Ueber den Sectionsbefund liegen bisher
nicht ausreichende Beobachtungen vor; in einem Falle wurde Erweichung ober-
halb der Lumbaranschwellung in 6 Cm. Ausdehnung constatirt.
Von günstiger Wirkung erscheinen Exutorien (Thermocauter , Crotonöl,
Jodtinctur) längs der Wirbelsäule 13) , die nach 6 Wochen wesentliche Besserung
herbeiführen können.
Literatur: *) Vergl. Huber, Friedreich's Bl. 1886, 1. n. 2, pag. 34. — ^Barna*-
zini, Coti8titutio epidem. anni 1691. Mutin 1691. — "JDuvernoy, Diss. de Lathyri quadam
venenata specie in comitatu Montbelgardensi culta. Basel 1770. — *)To*setti bei
Schuchardt, Deutsch. Arch. f. klin. Med. XL, pag. 320. — *) Vilmorin, Ann. d'hyg. T.
XXXVII, pag. 467. — 8) Despara nches. bei Schuchardt a.a.O. — *) Pelliciotti, bei
Schuchardt a. a. 0. — 8) Cantani, II Morgagni. 1873; Gaz. hebdom. 1874, XI, Nr. 11,
pag. 170 ; Czarda, Med. Wochenschr. 1876, I, Nr. 23, 24. — 9) Bruneiii, Bul). Accad.
Rom 1880, VI, Nr. 8, pag. 3. — i0) Giorgeri, Ibid, VIH, pag. 1666; Annal. univera. Avr. 1853,
pag. 353. — u) Slee mann, bei Schuchardt a. a. O. — ") Irving, Indian Annala. VI,
pag. 424, VII, pag. 1*7. — ") Bourlier, Alger. med. Sept. 1882; Proust, Bull, de TAcad.
de med. 1833, 2. Se>. XII, pag. 829; Grandjean, Arch. de med. mil. 1883, T. I, pag. 95.
— u) Vergl. Schuchardt, a a. 0. pag. 316. — 1S) Bourlier, a. a. 0.; A stier,
Contribution a T etude du lathyrisme. Lyon 1883. — ie) Marie, Progres med. 1883, Nr. 4, 5.
— 17) Dufour, Ree. de med. milit. 1860, 3. ser. III; Luc, ebend. 1862, Vm, pag. 52:
Bertrand, ebend., 1867, XVIII, pag. 330; Hattute, ebend., 1868, XXI, pag. 518.
Huaemann.
LaiigenVergiftUng (Bd. IV, pag. 80; Bd. X, pag. 607). Der früher
vielfach gehegten Annahme, dass Aetzalkalien im Magen zur Bildung von weichen
Schorfen Anlass gäben und die anatomische Differentialdiagnose den Säurever-
giftungen gegenüber sich dadurch begründen lasse, stehen neuere Beobachtungen
gegenüber, wonach sich bei langsamem Verlaufe starke Verdickung der Magen-
wand , besonders im Umfange bestehender Geschwüre, finden kann. !) Von beson-
derem Interesse ist das Verhalten der Speiseröhre, indem hier neben CoaguJations-
necrose mit Abstossung der oberen Schichten nicht selten Verschwärung in den
tieferen Schichten und Abscedirung im retroösophagealen Bindegewebe auftritt,
die schliesslich zur Perforation, sei es spontan, sei es in Folge von ßougirung
der nach der Vergiftung entstandenen Stricturen der Speiseröhre führen kann.
Die hinter dem Oesophagus liegenden, oft sehr ansehnlichen A bscesse können
sich ausserdem durch das Mediastinum posticum in die Pleurahöhle ergiessen
und unter Erstickungserscheinungen (Cyanose, Dyspnoe) den Tod mebrere Wochen
nach dem Ueberstehen der acuten Vergiftung herbeiführen.3) Die Zahl der Ver-
giftungen hat sich in Folge der Zunahme der Verwendung der Natronlauge (Laugen-
essenz) im Haushalte neuerdings in einzelnen Städten (Wien, München) sehr
vermehrt.
Literatur: *) Rosen feld, Vergiftung* mit Laugenstein. 1889, Mtinchener Diss.
— *) E.Hof mann, Zeitschr. für Medicinalb. 1888, pag. 353. — Schuberg, Friedr. Bl.
1888, pag. 199. Husemann.
LaVcltUr (Auswaschung), s. Antidota, pag. 49.
LeUChtgaSVergiftUng. Als Leuchtgas werden die mit leuchtender
Flamme brennenden und deshalb zu Beleuchtungszwecken dienenden Gasgemenge
bezeichnet, die bei der trockenen Destillation kohlenstoffreichcr Substanzen ent-
stehen. Das meiste Leuchtgas wird aus Steinkohlen dargestellt. Holzgas, Torf
gas und Oelgas, welche ihren Namen von dem zu ihrer Darstellung dienenden
Material haben, sind demselben zwar an Leuchtkraft gleich oder selbst überlegen,
finden aber verhältnissmässig wenig praktische Anwendung. Alle diese Gase ver-
danken ihre Leuchtkraft den darin enthaltenen schweren Kohlenwasserstoffen, die
zum Theil, wie Aethylen und Acetylen, bei gewöhnlicher Temperatur flüchtig sind,
zum Theil, wie Benzol, Naphthalin, als Dämpfe mitgerissen werden. Sie enthalten
LEUCHTGASVERGIFTUNG.
435
ausserdem Wasserstoff, Methan, Elayl, Stickstoff, Sauerstoff, Kohlensäure und Kohlen-
oxyd und werden durch den Gehalt an letzterem die Quelle von Intoxicationen,
welche, obschon als Leuohtgasvergiftung bezeichnet und häufig als selbständige
Intoxication beschrieben, doeh von dem andere Kohlenoxyde enthaltenden Oas-
gemenge, insbesondere dem Koblendunst, sich nicht wesentlich unterscheiden.
Der procentigen Zusammensetzung entsprechend, ist die Kohlensäure in dem ans
Kohlen dargestellten Leuchtgase von keiner Bedeutung, da der Gehalt l,22°/0
nicht übersteigt, während der Kohlen oxydgeh alt 4 — 5% ausmacht. Reicher an
beiden ist das Holzgas; auch das Oelgas enthält gegen 3% Kohlenoxyd und ist
somit giftiger als das aus Kohlen dargestellte Gas. Dieses letztere fibertrifft
seinerseits das neben ihm am häufigsten zu Vergiftungen führende CO-haltige
Gaggemenge, den Kohlendunst, an CO-Reichthum und an Giftigkeit (vergl.
Real-Encyclopädie, Bd. VII, pag. 484). Die gasförmigen Kohlenwasserstoffe des
Leuchtgases wirken hauptsächlich als irrespirable Gase nicht giftig und nur dann
betäubend , wenn sie in grösseren Mengen (z. B. Aethylen zu 75°/0 der Atmo-
sphäre), als sie im Leuchtgase jemals vorkommen, vorhanden sind.
Die angegebenen Zahlen beziehen sich auf die in Deutschland zum Brennen
benutzten gereinigten Gase. Diese sind von weit geringerem Kohlenoxydgehalte
als das Gas in den verschiedenen Phasen der Reinigung, welche es vor seiner
Verwendung dadurch durchzumachen bat, dass es durch verschiedene Kammern
geleitet wird, in denen auf Platten Kalk oder die sogenannte Lam in Gosche Masse
(Eisenchlorttr und Kalk) ausgebreitet liegen, ehe es in die grossen Sammelgefässe
(Gasometer) tritt, aus denen es durch Röhrensysteme den Wohnräumen u. s.w.
zugeführt wird. Das in die fraglichen Kammern tretende Gas verliert dort nicht
allein den Schwefelwasserstoff, das Ammoniak und das Oyanammonium, welche es
ursprünglich enthält, es ändert sich auch die Kohlenoxydmenge erbeblich, so dass
sie von 7*91% auf 3*97 herabgemindert werden kann. Es erklärt sich daraus,
dass derartiges, nur schlecht gereinigtes Gas, wenn es entweicht, bei den Arbeitern
häufig sehr schwere Intoxicationen herbeiführt. Weit mehr CO als das ungereinigte
Kohlengas enthält das rohe Holzgas, in welchem 22*3 — 61*8% CO nachgewiesen
worden sind. *) Das zur Beleuchtung in anderen Ländern gebrauchte Leuchtgas ist
häufig weniger gereinigt und CO-reicher ; so enthält das Gas in Paris 5 — 6, das
in Bordeaux selbst 10°/0.
Ein dem ungereinigten Gase nahestehendes Gasgemenge ist das in neuerer
Zeit wegen seiner Billigkeit vielgebrauchte und namentlich in Amerika zu Be-
leuchtungszwecken verwendete Wassergas. Man gewinnt es durch Ein blasen
von Wasserdampf auf glühende Cokes. Es besteht aus Wasserstoff, Grubengas,
Kohlenoxyd und Kohlensäure und muss, um mit leuchtender Flamme zu ver-
brennen, entweder an der Verbrauchsstelle mit Naphthalin (Albocarbou) gesättigt
oder mit Intensivbrennern gebrannt werden. In Amerika wird es während der
Fabrication mit niedrig siedenden Antheilen des Petroleums (Naphtha) gemischt
und dadurch leuchtend gemacht. Der Kohlen oxydgehalt des Wassergases beträgt
in einzelnen amerikanischen Städten 30% 3)» mitunter selbst über 40% 3), woraus
die grosse Gefährlichkeit sich leicht erklärt. Diese ist so gross, dass Nicholls
und Sedgwick bereits durch einen Aufenthalt von 110 Secunden in einem Räume,
weicher 21/9% Wassergas enthielt, heftige Intoxicationserscheinungen bekamen.
Die Einführung als Beleuchtungsmaterial hat die Folge gehabt, dass in New- York
im Monat Januar ebensoviele Todesfälle in Folge von Wassergasvergiftung vor-
kamen, wie in Boston während 55 Jahre die Zahl der Leuchtgasvergiftungen
betrug. Diese horrende Zunahme der Vergiftungen, veranlasst durch die aus den
Röhrenleitungen entweichenden Gase, hat zum Theil allerdings seinen Grund
darin, dass das fragliche Gasgemenge keinen penetranten Geruch wie unser
Leuchtgas besitzt und das Entströmen aus Undichtigkeiten in Folge davon
schwieriger bemerkt wird. Die Anwendung zur Beleuchtung von Wohnräumen
ist daher zu widerrathen und kann nur unter Beobachtung besonderer Vorsichtsmaas-
28*
436
LETTHTGASYERGTFTrNfi. - LEUKÄMIE.
regeln gestattet werden. Vor Allem ist ee noth wendig, dem Gase einen penetranten
Geruch durch Zumischen von Mercaptan u. A. zu geben* Ferner empfiehlt eich die
Verlegung der Röhren netze an die Oberfläche des Bodens, um sofortige Ver
durmung des Gages zu bewirken, und die Einschaltung einer Vorrichtung, weicht;
das Durchströmen des Gases durch die Köhren mittelst Geräusche« oder gefärbter
Flüssigkeit markirt. Zweckmässiger bleibt immer die Verordnung von Massa-
chusetts*), zu Leuchtzwecken kein Gas zu gestatten, das mehr als lo> „ < n
enthalt. Dass auch die Verwendung des Wassergases zu Heizzwecken in Fabriken
nicht ohne Gefahren ist, zeigt die Erkrankung der mit dem Formen von Hüten
beschäftigten Arbeiter in einer Züricher Hutfabrik an Kopfweh, Schwindel Er-
brechen und Ohnmachtsanwandlung. In der Fabrik geschah das Erhitzen der
Hütformen durch eine grosse Anzahl kleiner Flämmchen, die von einem 39 — 42 CO
enthaltenden Wagsergas (DAWSON-Gas) versorgt wurden und von denen einzelne
von Zeit zu Zeit erloschen , so dass daa giftige Gas unverbrannt der Luft der
Arbeitsräume sieh beimischte. *)
In dieser Verwendung des Wassergases in Fabriken ist ein neues ätiologisches
Moment für Leuchtgasvergiftungen gegeben. Die weitaus grösate Menge derselben
wird, wie von jeher, von solchen gebildet, die durch Eindringen des zu Leacbt
zwecken dienenden Gases aus undichten oder nicht sorgfältig geschlossenen Höhren
in Schlafzimmer zu Stande kommen. Von besonderem Interesse sind die in der
neuesten Zeit wieder vielfach vor^ekuimneneu Fülle, bei denen das Gas von der
Strassenleitung aus defect gewordenem Rohre in mehrere Meter entfernte Häuser,
und zwar mitunter in solche , in denen kein Gas gebrannt wurde, eingedrungen
war. Die Existenz einer in dieser Weise zu Stande kommenden Vergiftung wurde
schon 1862 in Salzburg constatirt. fi) Sie scheint besonders häutig in nordischen
Städten zu sein, vermutlich wegen des intensiven Gefrierens des Bodens, in Folge
wovon die mit Gas gesättigte Grundluft in die erwärmten Wohnräume, wo der Wider-
stand wegen der höheren Temperatur am geringsten ist, mit Notwendigkeit ihren
Weg findet. c) Mitunter sind derartige Fälle , z« B. in Bonn 7), aneh in wärmerer
Jahreszeit beobachtet. Die Gefahr einer solchen Vergiftung ist umso grösser
und die Diagnose umso schwieriger, wenn das Gas durch lockeres Erdreich passirt
und in Folge davon sich der riechenden Bestandtheile entledigt. Ungeachtet die
Giftigkeit des Leuchtgases jetzt ziemlieh allgemein bekannt geworden , scheinen
bis jetzt Giftmorde durch dasselbe gar nicht und Selbstvergiftungen nur sehr
vereinzelt vorgekommen zu sein; ausserdem liegt ein zu den MediciiiaU-ergiftuii^etj
gehöriger Fall vor, in welchem ein Kranker wegen heftiger Schmerzen mittels* t
eines Schlauches Leuchtgas inhalirte und dadurch schwer vergiftet wurde. *)
Bezüglich der Symptomatologie, des Leichenbefundes, der Behandlung
nnd des gerichtlichen Nachweises der Leuchtgasvergiftung vergL unter Kohlen
oxydvergiftung.
Literatur: *) VergL über die einzelnen Gase und das Nähere der ßasbereitung
Ehren her * in Real-Encyclopadie für Pharm. 1889, VI, pag. 27rt. — *) A prot&rt againtt
tlte um of water gas etc. in Massachusetts. Boston 1S88. — *) Schiller, Zeitschr. für
Hyg. 1888, IV, pag. 440 — *) Cleaveland, Boaton med. Jouro. 1. Juli 1889 — *) Schu-
macher, H*nke*s Zeitnehr. 1865t Heft 1, pag. 1. — *} VergL Beatmen, Nord. med. Ark.
1884, XVL Nr. 3< Linroth, Svetiska Uk. Sällak. Förhaudl. 1887, pag. 106. — T) Losa em,
Zeitscbr für kirn. Med. 1885, IX, U. 5, pag. 497. — *) Pollak, Tberaprtitiacbe Monatshefte.
1890, pag, 256. Hm«««.
Leukämie (vergl. Real-Encyclopädie, iL Aufl., Bd. XII, pag. 59 und
Bd. XXII, pag. 50). Aus letzter Zeit sind einige mikroskopische Untersuch nagen
des leukämischen Blutes nachzutragen , welche sich namentlich mit den
Charakteren der verschiedenen Formen der bei der Krankheit auftretenden weissen
Blutkörperchen beschäftigen. So fasst BlONDl l) nach Untersuchung eines Falles
die verschiedenen Formen der weissen Blutkörperchen (von denen er 5 unter-
scheidet) als Entwicklungsstufen derselben Art auf und siebt die Veränderungen
als einen eigen thti milchen Theilungsvorgangan. — Weiter hebt Roux*)
LEUKÄMIE.
437
als besonders auffallend im leukämischen Blute die grosse Armuth an Chro-
mati n hervor, welche ein grosser Theil der Leukocytenkerne zeigt. Derselbe
betont die Seltenheit wahrer Karyokinese an diesen Elementen (unter circa
100 Präparaten sah er sie nur 2 Mal). — Mit letzterer Angabe in Widerspruch
stehen die Befunde von 8pronck 8), der in grosser Menge mitotische Kernthei-
lungen an den Leukocyten des leukämischen Blutes sah. — Daneben bestätigen
die meisten neuen Beobachter die wesentlichen Angaben Ehrlich's über die
Elemente des leukämischen Blutes, namentlich auch die Wichtigkeit einer Zunahme
der eosinophilen Zellen für die Diagnose der Leukämie, wogegen die specielle
Bedeutung einzelner Elemente für die Annahme der medullären Form der Krank-
heit zweifelhaft erscheint. Letzteres wird in einer neuen Mittheilung *) namentlich
für die kernhaltigen rothen Blutkörperchen und die verfetteten weissen Blut-
körperchen betont, welche beide nicht als charakteristisch für die myelogene
Leukämie angesehen werden dürfen ; in derselben Mittheilung wird weiter ausge-
führt, dass es für diese Form der Erkrankung auch kein specifisehes klinisches
Symptom giebt, dass namentlich auch die Knochenschmerzen nicht als solches
anerkannt werden können.
In Bezug auf das Knochenmark sei eine Angabe von Neumann8)
erwähnt, wonach bei der „lymphoiden Hyperplasie" des Knochenmarkes, welche
in einem Theile der Fälle von Leukämie gefunden wird, die CHARCOT'schen Kry-
stalle in demselben fehlen.
Das Symptom der Peptonurie, welches bei dem öfter constatirten
hohen Peptongehalt des leukämischen Blutes zwar beinahe als Postulat anzusehen
ist, aber bisher niemals in der Krankheit beschrieben wurde , fand Koettnitz 6)
bei einem Falle von lienaler Leukämie ausgesprochen. Er knüpft hieran zur Er-
klärung dieser Erscheinung, wie der Vermehrung der weissen Blutkörperchen eine
Hypothese, wonach bei der Leukämie der Verdauungsapparat die Fähigkeit ver-
loren haben soll, in der Mucosa das Pepton in andere Eiweissstoffe überzuführen,
und das in Folge hiervon abnorm circulirende Pepton die lymphösen Apparate
des Darmes zu vermehrter Bildung von Lymphzellen, sowie auch die Leber und
die sogenannten blutbildenden Organe zu gesteigerter Thätigkeit reizen soll.
Die casuistiBchen Mittheilungen beschäftigen sich, im Anschluss an die
EßSTElN'sche Zusammenstellung (s. Real-Encyclopädie , Bd. XXII , pag. 50) , in
letzter Zeit vorwiegend mit den Fällen von acuter Leukämie. In einem
dieser Beispiele entwickelte sich die Leukämie in circa 9 Tagen 7) ; in anderen
betrug die Krankheitsdauer 16 Tage8), 4 Wochen9), 43 Tage. ,0) Verschiedentlich
wird auf die Aehnlichkeit des Verlaufes dieser Fälle mit demjenigen acuter
Infectionskrankbeiten hingewiesen. Auf der anderen Seite wurden theils in diesen,
theils in einer Reihe anderer Fälle bacteriologische Untersuchungen mit dem Blut,
resp. dem Milzsaft ohne jeden positiven Erfolg angestellt.
Das bei der Krankheit nicht ganz seltene Symptom des Priapismus wird
in einem neuen Fall mit Wahrscheinlichkeit auf eine Blutstauung in Folge von
Compression der Unterleibsorgane durch den Milztumor zurückgeführt. n)
Der schon früher oft betonte ätiologische Zusammenbang der Erkrankung
mit Störungen der weiblichen Geschlechtsfunctionen, namentlich auch der Gravi-
dität und Lactation, erhält eine neue Stütze durch das Beispiel einer Frau,
bei welcher die Leukämie sich in directem Anschluss an ein Puerperium ent-
wickelte, nachdem die ganze Gravidität hindurch das vorige Kind genährt war. ia)
Hier seien auch die Mittheilungen von Sänger 1S) über das Verhältniss von Leu-
kämie und Schwangerschaft erwähnt, wonach eine Uebertragung der Leukämie
von Mutter auf die Frucht und auch umgekehrt nicht stattfindet.
In Bezug auf die Therapie treten wieder einige neue Mittheilungen für
die günstige Einwirkung der Sauerstoffinhalationen auf den Verlauf der
Krankheit ein während eine Reihe anderer Beobachter dieselben ohne sicht-
lichen Nutzen anwendete.
438
LEUKÄMIE. — LOLCH.
Literatur-Nachtrag: ') Biondi, Arch. med. 18^9, XIH, pag. 13. — *) Roux,
Lyon m6d. 1890, Nr. 26. — 8) Spronck, Weekbl. v. h. Nederl. Tijdschr. 1889, Kr. 20. -
4) Vehsemeyer, Dissert. Berlin 1890. — 8) Neumann, Virchow'a Archiv. 1889, CXTI,
pag. 318. — 6) Koettnitz, Berliner kl in. Wochen sehr. 1890, Nr. 35. — *) Senator,
Ebenda. 1890, Nr. 4. — 8) Westphal, Münchener med. Wochenschr. 1890, Nr. 1. —
•) Müller, DUsert. Göttingen 18S9. — ,0) H. Leyden , Diasert. Berlin 1890. — !1) Stenber,
Dissert. Berlin 1889. — ") Jaggard, Amer. med. News. 19. July 1890. — ") Sanger,
Archiv für Gynakol. 1888, XXXIII, Heft 2. — u) Da Costa nnd Hershey, Amer. med.
Jonrn. Nov. 1889. Eickenbusch, Dissert. Bonn 1889.
n 1 e B s.
Lipacidurie, s. Harn, P»g. 291.
Liquor ferri albuminati, ferri jodati, s. Eisenpräparate, Pag. 220.
Liquor ferri peptonati, ein leicht resorbirbares Eisenmittel, wird von
Dieterich nach Pizzala in folgender Weise bereitet: 1 Grm. Eiweiss wird io
19 Grm. destillirtcm Wasser gelöst, mit 0 05 Pepsin versetzt und 4 Stunden lang
bei 40° C. digerirt, hierauf mit einer Mischung von 12 Grm. Liquor ferri oxy-
ehlorati, 55 Grm. destillirtera Wasser und 3 Grm. Zuckersyrup versetzt und auf
90 — 95° C. erhitzt. Nach dem Erkalten werden 10 Grm. Oognac zugesetzt und
mit destillirtcm Wasser auf 100 Grm. ergänzt. Nach 8tägigem Stehen wird die
Flüssigkeit vom Bodensatz abgegossen. Enthält 0*42 Eisen. Theelöffel weise zu nehmen.
Loebisch.
Listerine, eine in England und Amerika gebräuchliche antiseptische
Lösung von folgender Zusammensetzung: Acid. benz. , Boracis aa. 8*0, Acidi
borici 16 0, Thymoli 2 4, Eucalyptoli O l, Ol. Gaulther. gutt. X, OL Menth, piper.
gutt. VI, Ol. Thymi gutt. II, Spir. vini concentr. 180 0, Aq. dest. ad 1000.
Loebisch.
Lolch (LollUm). Die Familie der Gräser (Gramineae) enthält nur
sehr wenig giftige Gewächse , die meistens , wie die narcotisch wirkende Cara-
poncha oder Carapulla von Lima und Quito (Festuca quadr identata Kth.)
und verschiedene als drastisch bezeichnete Bromusarten, wie Bromus cathar-
ticus Vahl (Peru, Chile) und Bromus pur g ans (Oanada), exotisch sind. In
Europa ist Lolium temulentum L. , der Taumellolch (Tollkorn, Schwindel-
hafer, Twalch, Spitzgras, Hafergras, Vivraie der Franzosen, darnel der Engländer),
seit dem Alterthume als eine Grasart bekannt, deren Samen, dem Getreide bei-
gemengt und mit diesem zu Brod verbacken, letzterem giftige Wirkung mittheilen
können. Auf die Beimengung dos Samens zur Gerste, unter welcher sich der
Taumellolch in nassen Jahren ausserordentlich häufig finden kann, hat man häufig
die stark narcotischen Eigenschaften mancher Bierarten zurückgeführt, ja vielfach
die Anschuldigung gegründet, dass Bierbrauer absichtlich Gerste mit Lolch ver-
setzen. Hierfür liegt indess ein beweiskräftiger Beleg nicht vor, während die
Vergiftung durch lolchhaltiges Brod von einer Reihe älterer Fälle erwiesen wird,
die zum Theil Massenvergiftungen sind und der Symptomatologie nach auf keine
anderen Verunreinigungen , insbesondere nicht auf Mutterkorn, bezogen werden
können, und denen auch verschiedene Versuche an Menschen und Thieren, welche
die Giftigkeit des Taumellolchs darthun, zur Seite stehen. Es scheint auf den
ersten Blick auffallend, dass in den letzten 25 Jahren kein Fall von authentischer
Lolch Vergiftung veröffentlicht wurde ; doch erklärt sich dies einerseits daraus, dass
der Genuss von Roggenbrod die aus später reif werdenden Getreidearten bereiteten
Brodsorten, besonders das Haferbrod, verdrängt hat, denn das Lolchkorn wächst
besonders häufig unter Hafer und Gerste und wird mit diesen eingeerntet ; anderer-
seits daraus, dass das Getreide jetzt weit besser gereinigt wird. Dass die Samen
von Lolium temulentum an sich giftig sind und es nicht erst durch den Process
des Backens werden , beweist , von Versuchen mit solchen abgesehen , die aller-
dings schon vor V2 Jahrhundert vorgekommene Vergiftung von 74 Insassen des
Landarmen' und Arbeitshauses zu Beu\ng\i&\Y&«!i V& «äw aus Hafer mit
LOLCH. — LÜFTUNTEBSÜCHÜNGEN.
439
viel Taumellolch bereiteten Suppe. *) Die giftige Dosis des Taumellolchs liegt für
den Mensehen ziemlich hoch (ll/2 — 3 Unzen). Sehr wenig scheinen Vögel davon
afficirt zn werden. Die Störungen bestehen in Trübung des Denkvermögens,
geistiger Verwirrung, Gesichtstrübung (mitunter Gelbsehen), allgemeiner 8chwäche
und Unsicherheit der Musculatur, Gliederzittern, Schlafsucht; daneben kommen
Brechen und Durchfall vor. In der Regel ist der Ausgang günstig, meist erfolgt
in 24 — 36 Stunden Genesung.
Ueber die toxischen Principien des Taumellolchs liegt eine Studie von
Antze3) vor, wonach die Samen kleine Mengen einer flüchtigen Base und eine
eigenthümliche stickstoffhaltige Säure enthalten. Die flüchtige Base, von Antze
Loliin genannt, bildet eine amorphe, widerlich riechende, in Wasser, Alkohol,
Aether und Chloroform lösliche Masse, die mit Schwefelsäure, Salzsäure und Oxal-
säure krystallisirbare Salze bildet. Die Säure, Temulen tinsäure, C12H4aN019,
ist im Lo!ci)8&men zu l*25°/0 vorhanden und zerfällt beim Erhitzen mit CaO in
ein fixes, schwer in Wasser lösliches, mit Säuren krystallisirende Salze bildendes
Alkaloid, Temulentin, und stark riechende Dämpfe. Loliin ist weit weniger giftig
als Temulentinsäure und das aus dieser abgespaltene Temulentin. Nach Versuchen
Antze's mit Lolchextracten setzen diese in grösseren Dosen bei Thieren Herz-
und Athemzahl, sowie die Körpertemperatur herab und führen Somnolenz, Taumeln
und rauschähnlichen Zustand herbei, während nach wiederholten kleineren Gaben
bedeutende Abmagerung eintritt und nach dem Tode Ecchymosen im Magen und
Gastromalacie sich finden. Aeltere Leichenbefunde bei Menschen melden Gastro-
enteritis. Nach Antze's Selbstversuchen mit wässerig-weingeistigem Auszuge in
steigenden Dosen (bis 5*0), welche Benommenheit im Kopfe, Schwindel, Taumeln
beim Stehen mit geschlossenen Augen, neben localer Irritation des Tractus, bei
grösseren Dosen auch Sinken der Temperatur ergaben, findet allmälige Gewöhnung
an das Lolchgift statt.
Literatur: l) Vergl. über ältere Fälle Husemann, Toxikologie, pag. 398. —
*) P. Antze, Archiv für exper. Pathol. XXVIII, Heft 1 und 2, pag. 126. Husemann.
Lorchelgift, 8. Pilzvergiftung.
LuftunterSUChungen (zu hygienischen Zwecken). Seit der Abfassung
des Artikels von Soyka im X. Bande, pag. 124, der Real-Encyclopädie (1887) hat
das Studium der Luftverunreinigungen manche Förderung erfahren. — Zur Be-
urtheilung der Qualität eines Luftgemenges hat Uffelmann folgende
Kriterien in Vorschlag gebracht:
1. Eine Luft, welche den Anforderungen der Hygiene genügen soll,
darf keinen unangenehmen Geruch haben.
2. Sie darf nicht mehr Kohlensäure als auf 10.000 Volumtheile 7 bis
8 Volumtheile enthalten.
3. Sie darf nicht mehr als 75°/0 , nicht weniger als 40% relative
Feuchtigkeit, nicht mehr als 5 Mm. Sättig ungsdeficit haben.
4. An organischer Substanz darf sie nicht mehr enthalten als soviel,
dass auf 1 Million Volumtheile nur 7—8, höchstens 11— 12 Volumtheile Sauer-
stoff verbraucht werden.
Zur Ausführung der bezüglichen Untersuchung hat Uffelmann neuer-
dings einen Aspirator construirt, weicher 60 — 100 Liter der zu prüfenden Luft
in etwa ll/2 Stunden durch eine Vorlage von destillirtem Wasser hindurchsaugt,
dessen Gehalt an organischer Materie bestimmt ist. Nach dem Durchtritt jener
bestimmten Luftmenge wurde alsdann unter Verwendung einer 0*395 : 1000 Kali-
permangan- und einer 0*78 : 1000 Oxalsäurelösung der Gehalt des Wassers an
organischer Materie bestimmt. Bei grosser Geringfügigkeit des Gehaltes an organi-
scher Substanz (vue sie in der Aussenluft nach längerem Regen, auch an den
Seeküsten zuweilen auftritt) muss man entweder die Kalipermanganatlösung ver-
dünnen oder grössere Mengen der Luft aspiriren. Jed*\rft\\& mtafota \^w&\aLK&&
440
LÜF1' UNTERSUCHUNGEN.
die Untersuchung auf organische Substanz der auf den Kohlensäuregehalt
an Wichtigkeit voranstellen.
Aber auch für diesen letzteren Zweck bediente er sich gelegentlieh seiner
systematischen Luftuntersuchungen (innerhalb der Stadt Rostock und vor deren
Thoren) eines eigenen Verfahrens, welches in einer Modification der Pbtten-
KOFER'schen Metbode bestand. Flaschen von 2*5 — 4B0 Liter Gehalt wurden mit
Wasser gefüllt, durch Ausgiessen in der zu prüfenden Luft entleert und, der
letzteren zugänglich, so aufgestellt, dass der Rest des Wassers abträufeln konnte.
Noch in der nämlichen Luft lässt Uffelmann alsdann in die Flaschen 50 Ccm.
eines mit Phenolphthalein gefärbten Barytwassers (7*0 : 1000*0) einflieasen, ver-
schliesst mit gut passendem, paraffinirtem Kork und Gummikappe, schüttelt eine
Minute lang und lässt die Flaschen hierauf ruhig stehen. Nach 20 — 24 Stunden
Ersatz des bisherigen Verschlusses durch doppelt perforirten Gummipropfen, mittelst
dessen einerseits 60 Ccm. frisch gekochten, destillirten Wassers eingelassen werden,
so dass dieses an den Wandungen hinabläuft , — andererseits die hinreichend
lang ausgezogene Spitze einer Bürette eingeschoben und eine Titrirung mittelst
Oxalsäurelösung (2*8636: 1000*0) direct in das trübe Barytwasser hinein, aus-
geführt wird. Dieses directe Hineintitriren in die trübe Flüssigkeit thut der
Genauigkeit des Verfahrens keinen Eintrag, — bestimmt dann nicht, wenn
der C02- Gehalt sich unter 15 Promille hält. Das längere Ruhigstehenlassen
(20 Stunden oder mehr) ist allerdings Bedingung; der auf diese Weise sich bil-
dende krystalliniscbe kohlensaure Baryt ist so gut wie unlöslich, wirkt kaum noch
auf das Phenolphthalein, jedenfalls aber viel langsamer als der frisch gebildete.
Somit treten die sonst so störend wirkenden Nachfarbungen bei dieser Methode
derart verspätet und schwach ein, dass man die erste vollständige Entfärbung
als solche sehr bestimmt und zweifellos erkennen kann.
An der Vervollkommnung der Methoden zur Bestimmung des Keim-
gehaltes in der Luft betheiligten sich: Miqüel, Strauss und Wübtzt
Kiexer und Aldiber, Hüppe, Hesse und Uffelmann. Von diesen Arbeiten
beziehen sich die im „Laboratorium für Mikrographie" des Observatoriums von
Montsouris ausgeführten Untersuchungen dieser Serie hauptsächlich auf die Er-
mittlung derjenigen Gesetze, welche die in bestimmten Zeiträumen ein-
tretenden Veränderungen der in der Luft vorhaudenen Bacterien bedingen. Das
angewandte Aufsammlungsverfahren (Luftwaschung in flaschenförmigen Vorlagen)
ist angreifbar; doch werden durch dasselbe alle Staubtheilchen der passirenden
Luft in Contact mit einer Nährflüssigkeit gebracht (sterilisirte Bouillonproben),
welche im Stande ist , die darin enthaltenen lebenden Keime zur Entwicklung zu
bringen. Gegenüber den Methoden früherer und jüngerer Untersucher sieht Miqüel
in der seinigen vor Allem den Vortheil, dass sie sich nicht nur bequem zu einer
quantitativen Analyse verwenden lasse, sondern auch zur gen au es ten Zählung
der atmosphärischen Keime. Die Resultate dieser Zählungen fallen jedoch zunächst
durch eine grosse Unregelmässigkeit und Ungleichheit auf. Zwar Hess sich eon-
stant ein Minimum der Bacterienkeime in der Luft des Montsouris - Parkes für
den Monat Februar nachweisen. Im Gegensatz dazu prägten sich sehr klar gegen
Mitte des Sommers die hohen Maxima aus. „Hitze und Regen erzeugen eine
bemerkenswerthe Abnahme , dann wieder führt gemässigte Wärme im Verein mit
«inem gewissen Grad von Feuchtigkeit eine auffallende Anschwellung herbei.
Wieder ein anderes Mal kann das Anhalten der Winde von entgegengesetzten
Richtungen Zu- und Abnahme der Pilze in der atmosphärischen Luft herbeiführen".
Ein sehr ausgesprochenes Minimum an Pilzen zeigte sich Ende October 1884;
im November folgte ein Anwachsen in dem Augenblick , „wo die Choleraepidemie
in Paris ausbricht".
Wenig zu Gunsten der von ihnen bevorzugten (beziehungsweise erfundenen)
Methode spricht das summarische Resultat der Versuche von Kiener und Aldiber,
wenn dieselben in der Luft eines freien Wofe& uskwai &ä xi^mUd^ Menge
LUFTUNTEBSUCHUNGEN.
441
an Keimen zu constatiren hatten, wie in einem Kasernenschlafzimmer. Die Me-
thode aber war folgende : Ein bestimmtes (beiläufig schon viel zu kleines , 1 Liter
oder Brnchtheile umfassendes) Quantum Luft wurde yon oben her durch sterili-
sirtes Wasser aspirirt. Dann Schütteln , Umgiessen in ein steriles Geföss , Aus-
spülen des ersten kleinen Ballons mit sterilisirtem Wasser, Mischung dieses Wassers
mit demjenigen, welches ursprünglich zur Durchleitung der Luft vorgelegt gewesen
war. Mittelst eines Tropfenzählers werden dann kleine abgemessene Mengen der
Flüssigkeit auf schräg erstarrtem, in einem Reagensglase eingeschlossenen
Agar-Boden gebracht, jedoch so, dass die Flüssigkeit nur die Agar-Masse, niemals
aber die Wandungen des Gläschens berührte. — Straüss und Würtz ihrerseits
brachten in ein cylindriges, oben mit zwei Oefihungen versehenes Glasgef&ss
10 Ccm. verflüssigter Nährgelatine, fügten (zwecks Verhinderung des Aufschäumens)
dazu einen Tropfen Oel und sterilisirten das Ganze. Indem der Untersuchende
das Gefäss mit der warmen Hand umfasst und so das Gerinnen des Inhalts hintan-
hält, wird durch diesen ein bestimmtes Volumen Luft gesogen, dann geschüttelt,
auf eine Platte ausgegossen oder an der inneren Wand des cylindrischen Gefässes
erstarren •gelassen. — Hessb's Forschungen erstreckten sich besonders auf die
Vervollkommnung seiner Nährgelatine-Röhren, wie sie sich bereits in Bd. II der
„Mittbeilungen des Kaiserlichen Gesundheitsamtes" beschrieben finden (s. auch
weiter unten).
Hdeppe empfahl zur Ermittlung der Luftkeime nach Zahl und
Art, die Luft durch Glasstaub, bezw. Glaswolle zu aspiriren, dieses Filtrirmaterial
in Wasser zu schütteln und letzteres in mit Gelatine beschickte Kölbchen einzu-
tragen. Zum Nachweis pathogener Keime soll der Staub mit Wasser aufgeschwemmt
und dann aufThiere verimpft werden. — Uffelmann's Verfahren ist ähnlich
und stellt gleichzeitig eine Vervollkommnung der früher von Petri angegebenen
Methode dar. Ein bestimmtes Quantum Luft wird durch zerkleinerte, sorgfältig
sterilisirte Glaswolle aspirirt, letztere alsdann in sterilisirtes Wasser gebracht, mit
diesem stark durchgeschüttelt, unter den üblichen Cautelen hierzu direct die
sterilisirte Nährgelatine gethan, diese Mischung nochmals gehörig agitirt und
nunmehr an den Wandungen des Gefässes erstarren gelassen. Die Glaswolleschicht
muss eine Tiefe von 2*5 Cm. haben.
Die Ergebnisse, welche (in Rostock und Umgegend — wie bereits
erwähnt) mittelst dieser Methode erhalten wurden, waren jedenfalls durchsichtigere
als die oben an die Darlegung Miqurl's angeschlossenen. Aber auch ihnen zufolge
waren die Schwankungen des Mikrobengehaltes — wie ihn die Sommer-
monate Mai bis August 1887 aufweisen — sehr erhebliche, so z. B.
in der Luft des Seestrandes 50 bis 300 Mikroben im Cbm. Luft
„ „ „ „ freien Feldes 150 „ 750 „ „ „ „
„ „ „ „ Hofes d. Univers. 150 „ 1300 „ „ „ „
Bei erheblicherer Luftbewegung zeichneten sich
durch niedrigen Keimgehalt aus: die N-, NNO-, NW- Winde,
„hohen „ „ die 0-, OSO-, SSO-, auch die W- Winde.
Bei Nebel und Windstille waren die Keime besonders zahlreich; an-
haltender Regen verminderte ihre Häufigkeit, ohne sie jedoch jemals gänzlich
zu eiiminiren. Von pathogenen Arten wurden bestimmt nur Staphylococcen
festgestellt (selten); im Uebrigen verschiedene Spross-, Schimmel- und Spaltpilze.
Von Hesse rühren in grösserer Zahl Versuche her, das zweckentsprechendste
Material für Respiratoren und keimdichte Ventilationsfilter zu ermittein.
Um diese durch Watte herzustellen, müsste solche enorm gepresst werden. Ein-
faches, gewöhnlich benutztes Filterpapier ist keimdicht erst in zehn • bis
zwanzigfacher, bacteriendicht in sieben- bis zehnfacher Lage; doppeltgeschöpftes
Filtrirpapier ist in zweifacher Lage keimdicht, in einfacher bacteriendicht, und
dreifachgeschöpftes Filtrirpapier besitzt die erstere Eigenschaft bereits in einfacher
Lage. Cellulose erweist sich keimdicht in 3-4Mm. ^ \i%fc\ft^\^v^\^
442
LUFTUNTERSUCHUNGEN. — LUNGENKRANKHEITEN.
1 — 2 Mm. dicker Schicht Von allen Mikroorganismen lassen sich die Schimmel-
sporen am schwierigsten vor dem Durchschlüpfen zurückhalten. —
Wenig praktische Folgen haben bis jetzt die Bemühungen yon Brown-
Sequard, d'ÄRSONVAL und Wurtz gehabt, die Nachweise eines in der Aus-
athmungsluft desMenschen vorfindlichen organischen Giftes zu erbringen.
Als vorgeschrittenstes Verfahren bedarf der Anführung das von Wurtz , welcher
die Exspirationsluft durch schwache Oxalsfturelösung leitete, diese durch Kalk-
carbonat sättigte und mit Aq. Calcariae alkalisch machte. Alsdann neutralisirte er
mit Salzsäure, dampfte im Vacuum ein und fand nun — neben Salmiak und
sonstigen Chlorverbindungen — das ChlorhydrateinerBase, welche mittelst
Jodquecksilberkalium ausführbar war, und mit welcher er eine Platin- und
Goldchloridverbindung herstellen konnte.
Literatur: Uffelmann, Arch. f Hygiene Bd. 8. — Haeppe, Die Methoden
der Bacterienforschnng. Wiesbaden 1888, 4. Aufl. — Kiener u. Aldiber, Revue d'hygiene.
Bd. X. — Ötrauss u. Wurtz, Annales de T institut Pasten r. 1888. — Miquel, Annuaire
de l'observatoire de Monteouris. 1886. (Auch als Uebers. in „Hygienische Tagesfragen IV,
von Emmerich). — Hesse, Deutsche med. Wochenschr. 1884, Nr. Jd u. 51. — Brown-
Sequard u. d'Arsonval, Compt. redus. CVI. — Wurtz, ebend. — U ff elm an n, Hand-
buch der Hygiene. 1889. — N. Grehant, Les poisans de Vair; Vacide carbonique et
Voxide de carbone; Asphyxie et empoisonnement par les puits, le gaz de Viclairage, le
tabac ä fumer, les poSles, les voitures chauffies etc Avec 21 figures intercdUes dans le texte,
Paris 1890, Bailliero et Als. — Nekäm, Ueber die Untersuchung der organischen Substanzen
der Luft. Arch. f. Hygiene. Bd. XI, H. 4. Wem ich.
Lungenkrankheiten. Der Schluss des Jahres 1890 bildet naeh Be-
kanntwerden des Koc Hachen Verfahrens den Beginn einer ganz besonderen
Richtung in den Arbeiten und Untersuchungen auf dem Gebiete der L un gen-
er krank ud gen. Die neuen Gesichtspunkte und das veränderte therapeutische Ver-
fahren hat dermassen die Arbeitskraft aller Autoren in Anspruch genommen, dass
seither selbst im Auslande nur eine verschwindend kleine Zahl anderweitiger
Arbeiten über Lungenpathologie zu verzeichnen sind. Da nun das KoCH'sche
Verfahren bereits eine besondere Bearbeitung in diesem Bande gefunden hat
(s. d.), so möge der Grenzpunkt, den dasselbe in der Literatur gesetzt hat, auch
den Abschlus9 bilden für die gedrängte Cebersicht über die Fortschritte der letzten
Jahre auf dem Gebiete der Lungenkrankheiten, die im Nachfolgenden gegeben
werden soll.
Die verschiedenen Capitel der Lungenkrankheiten haben das Interesse in
der neuesten Zeit keineswegs gleichmassig in Anspruch genommen, wir müssen
sogar für die Mehrzahl derselben eine erhebliche Abnahme der klinischen Arbeiten
constatiren. Abstrahirt man von der allerdings reichen Casuistik , welche wohl
auf allen Gebieten alljährlich, entsprechend der zunehmenden Zahl der Bearbeiter,
wie der Zeitschriften, im Wachsen begriffen ist, so ergiebt sich, dass eigentlich
nur die Pneumonie und die Lungentuberkulose unter den Lungen-
erkrankungen eine erhebliche Berücksichtigung gefunden haben. Aber
auch hier sind die Arbeiten , die Neues bieten , nicht so überaus zahlreich und
es sind wieder nur gewisse Punkte, welche besonders hervorgehoben werden.
Insbesondere fehlt fast vollständig die früher so bedeutende Zahl von Arbeiten,
welche die klinischen Untersuchungsmethoden, die Ergebnisse der Percussion und
Auscultation etc. eingehend und mannigfaltig berücksichtigten und sich bemühten,
sowohl die Symptomatologie als die Therapie damit zu bereichern, wie wir es an
anderer Stelle auch für die Arbeiten auf dem Gebiete der Herzpathologie con-
statiren konnten. Geradeso wie hier tritt dagegen auch bei den Lungenerkran-
kungen das ätiologische Moment in den Vordergrund, eine Folge der Be-
deutung, welche die Lehre von der Infection immer mehr gewinnt und eine
Frucht der bacteriologischen Forschung, welche gerade für die Lungentuberkulose
durch die Entdeckung des Tuberkelbacillus von einschneidenderer Bedeutung war,
als auf irgend einem anderen Gebiete. So beschäftigt sich denn eine bedeutende
LUNGENKRANKHEITEN.
443
Zahl von Untersuchungen, sowohl bezüglich der Lungenentzündung, als auch der
Lungentuberkulose mit der genaueren Erforschung der Ursachen, ihren Eingangs-
pforten und ihrer Verbreitung.
Neben diesen ätiologischen Untersuchungen und im Zusammenhang mit
denselben ist die Therapie reichhaltig bedacht mit neuen und mannigfaltigen
Vorschlägen, welche auf einer Fülle von Beobachtungen der verschiedensten
Autoren beruhen. Sie allen streben nach dem einen Ziele, die einmal erkannten
Ursachen, den Infectionserreger, besonders bei der Tuberkulose der Lungen, wirk-
sam zu bekämpfen, die Invasion in den Organismus zu verhüten oder den einmal
eingetretenen zu ertödten oder ihm die geeigneten Ernährungsbedingungen zu rauben.
Auf diese Punkte ist die überwiegende Menge der eingehender bearbeiteten Fragen,
wie überhaupt der näher berücksichtigten Capitel der Lungenerkrankungen beschränkt.
Was die einzelnen Lungenkrankheiten betrifft, so ist, wie hervorgehoben,
die Zahl der Arbeiten über klinische Untersuchungsmethoden eine
spärliche. Erwähnt seien die Experimente Dbhio's 2) über die Entstehung
des vesiculärenAthmungsgeräusches, die zu neuen, bemerkenswerthen
Resultaten geführt haben. Dehio ging aus von jenem bekannten Experimente
Penzoldt's, welcher durch eine aufgeblasene Lunge hindurch die Trachea eines
Gesunden auscultirte und dabei fand, dass das bronchiale Athmungsgeräusch der
Trachea sich in vesiculäres Athmen verwandelte. Hieraus hatte Penzoldt ge-
folgert, dass das vesiculäre Athmungsgeräusch der Lungen, welches wir aus-
cultiren , nichts Anderes sei, als das Athmungsgeräusch der Trachea, welches
durch das Lungengewebe modificirt wird, ohne aber in der Lunge selbst entstanden
zu sein. Wichtige Bedenken hiergegen veranlassten Dehio, eine Prüfung des
Penzoldt' sehen Experiments und eine anderweitige Versuchsanordnung vorzu-
nehmen. Nachdem er eine Lunge nach Stieda durch Injection mit Glycerin von
der Pulmonalarterie aus entwässert und hierdurch einmal die beim Aufblasen der
todten, ausgeschnittenen Lunge so störenden Rasselgeräusche aufgehoben und
ferner das Organ für längere Zeit haltbar gemacht hatte, verschloss er die Trachea
derselben mit einem lockeren Wattebausch und setzte sie dann mit einem Blase-
balg in Verbindung. Bei der Auscultation ergab sich , dass das Bronchialasthma
der Trachea durch den Wattebausch aufgehoben war, dass dagegen die Lunge
lautes und typisches Vesiculärathmen zeigte. Damit war die Entstehung dieses
Geräusches in der Lunge erwiesen. Auf welche Weise es daselbst entsteht, wurde
nun ebenfalls von dem Autor auf sinnreiche Weise geprüft und bewiesen, dass
es nicht eine Folge der Anspannung der Wandungen der Alveolen und Bronchiolen
sei, sondern ein Reibegeräusch der bewegten Luft, welches entsteht, wenn Luft
in Röhren von ungleichem Caliber strömt. Dieses vesiculäre Geräusch entsteht
in den feinsten Verzweigungen der Bronchien. In den grösseren Bronchien hin-
gegen entsteht, ebenfalls durch Luftbewegung, Bronchialathmen, welches im Leben
das reine Vesiculärathmen etwas modificirt, da es ebenfalls bis zur Brustwand
fortgeleitet wird.
Sodann sei hier eine Arbeit Palombiert's 2) genannt, welcher die Be-
hauptung Bacelli's über die Verschiedenartigkeit der Flüsterstimme
bei serösem und eiterigem Exsudat bekämpft. Er stellt die Qualität der Flüster-
stimme nur von der Leitungsfähigkeit des Lungengewebes und der Brust-
wand in Abhängigkeit und empfiehlt als einzig sichere diagnostische Methode zur
Erkennung der Beschaffenheit des Exsudats die Probepunction, welche bei einiger-
massen genügender Antisepsis ein völlig indifferenter Eingriff ist.
Ferner verdient Kroenig's 8) Empfehlung Beachtung, an den Lungen-
spitzen die obere Lungengrenze nicht nur nach oben, sondern auch seitlich
genau zu verfolgen und so etwaige vorhandene Dämpfungen und Infiltrationen
der Spitzen besser zu erkennen.
Sehrwald4) endlich empfiehlt, anstatt der oft nicht möglichen Prüfung
des Stimmfremitus den Kehlkopf zu percutiren und die dadurch
444
LUNGENKRANKHETTBN.
gebildete Bronchopbonie zu prüfen, welche im normalen Zustande sich
anders verhält als in pathologischen Fällen.
Das Asthma hat durch v* Bäsch und seine Schüler eine nach ver-
schiedenen Seiten hin neue Bearbeitung gefunden. Die Beobachtungen sind meist
nicht klinische, sondern experimentelle und betreffen das cardiale Asthma.
IVhrr nie ist bereit* eingehender in diesem Bande unter Herzkrankheiten,
s, d.) berichtet worden. Für das Asthma nervosum bemüht sich Schmidt -
BORN0) eine neue Theorie geltend zu machen; er glaubt dasselbe auf einen
Krampf der Lungenarterien zurückführen zu müssen und hierin eine
bessere Erklärung zu finden , als in der sonst üblichen Annahme des Muskel-
krampfes der Bronchiolen.
Die besonders von Hack betonte Bedeutung der adenoiden und poly-
pösen Erkrankungen der Nase (des N, olfactorim nnd trujeminus) für
die Entstehung von Asthma erhält wiederum eine ganz besonders eelaUnte
Bestätigung durch einen von Aronsohn**) veröffentlichten Fall, in welchem ein
vorhandener Nasenpolyp jedesmal dann die Ursache für einen Asthmaanfall geradem
im Sinne eines Experimentes bildete, wenn die geringste Operation an ihm vor-
genommen wurde, während nach gänzlicher Entfernung der Geschwulst der Zustand
sofort aufhörte.
Das« übrigens auch auf refleetorisehem Wege durch Störungen in
der Verdauung typische Asthmaau fälle ausgelöst werden können,
dafür haben wiederum interessante Beispiele Fräntzbl 7) nnd V, V alz ah und
Cäandall0) beigebracht, welche sehr eelaUnte Falle von Astma dysptp*
ticum schildern.
Williams 9) nimmt an , dass Asthma zuweilen durch Druck ge-
schwollener Bronchialdrüsen auf die Luftwege entstehen kann. Er
sehreibt diesen Umstand der von ihm und Anderen wahrgenommenen vorzüglichen
Wirkung des Jodkali zu.
Endlieh besehreibt ROBtNscw l0) asthmatische Zustände in Fol^e
von Malaria, gegen welche er Chinin von guter Wirkung gefunden hat.
Die Neigung, bronchtectatische Cavernen mit Rippenreseetion
wie ein Empyem von der Brustwand aus zu eröffnen , hat In der letzten Zeit
zugenommen, entsprechend den Fortsehritten der Chirurgie. Dennoch ergaben die
über derartige Operationen geführten Statistiken von Hartwich Mackey ia) n. A,T
dnss die Prognose der Operation eine keineswegs günstige ist und dass die
Patienten , die vielleicht ohne der Operation noch ein längeres Leben gefristet
hätten , durch die Propagation des putriden Proeesses auf die durchschnittenen,
gesunden Lungenabschnitte, durch Gangrän und septische Metastasen rasch zu
Grunde gingen. Man Rollte sich also, trotzdem auch Mancher gute chirurgische
Erfolge verzeichnen dürfte, nur in den äusserst en Fällen zur operativen Behand-
lung der bronchiectatischeu Cavernen entschliessen.
Unter den therapeutischen Massnahmen gegen die Bronohiectasie
haben die Balsamica seit Längerem eine bedeutende Rolle gespielt. Eichhorst u)
und Andere haben neuerdings das Myrthol , dem Eucalyptol nahe verwandt, als
sehr günstig wirkendes Balsaraicum empfohlen.
Auf dem Gebiete des Emphysems sind neuere wichtige , klinische
Arbeiten kaum zu verzeichnen. Erwähnt sei nur eine Arbeit Cantani's1*) z
Therapie des chronischen Bronchialcatarrba im Gefolge von Emphysem ^ wele
die hiergegen empfohlenen Medicamente gruppirt und eingehender bespricht«
F. Müller beschreibt eine bisher wenig beobachtete ArTection, das Emphysem
des Mediastinums. Dasselbe, eine Folge sehr heftigen Hustens, besteht in
einer Luftin fi Itratiou des Mediastinalranmes und der Haut der Brust nnd des
Halses. Die Symptome dieses Emphysems besteben in einer Verengerung der
Herzdämpfung von rechts her, Knistern Über dem Sternurn, welches synchron
mit dem Herzen ist und dem eigenartigen Gefühle des Hauteruphysems , welches
LUNGENKRANK HEFTEN.
445
aus der Commnnication des subcutanen Bindegewebes der Hals- und Brusthaut
mit dem Zellgewebe des Mediastinums sich leicht erklärt. Das Emphysem des
Mediastinums bereitet an sich keine erheblichen Beschwerden und hat auf die
Prognose der Grunderkrankung keinen Einfluss.
Zahlreicher als auf den genannten Gebieten sind die Arbeiten, welche
sich mit der croupösen Pneumonie beschäftigen. Ganz besonders wird hier,
wie erwähnt, die Ursache der Erkrankung berücksichtigt und bildet das Thema
der meisten Arbeiten. Die acute croupöse Pneumonie ist nach den Ergebnissen
fast aller dieser Untersuchungen eine Infectionskrankheit. Als Ursache
derselben wird von Vielen der A. Franke l's che Diplococcus l an Ceo-
lat ua als Krankheitserreger angesehen. Die Arbeiten von Barbier 16), Bozzolo 17),
Netter18), Osthoff19), Gamaleia20) heben sein häufiges Vorkommen im 8putum
und Parenehymsaft der Pneumoniker hervor, während alle anderen von ihnen
beobachteten Mikroorganismen weit weniger constant vorhanden waren und übrigens
beim Thierversuche nicht zu gleich gesicherten Resultaten führten. Eine weitere,
sehr wichtige Bestätigung der infectiösen Natur dieses Spaltpilzes sind ferner die
Fälle, in denen die Pneumonie der Mutter gleichzeitig eine Pneumonie
des Fötus bedingte. In einem solchen Falle konnte E. Lewy21) den Fränkel-
schen Diplococcus beiderseits nachweisen. Einen analogen Fall beschreibt ferner
Netter32), auch er konnte denselben Mikroorganismus bei Mutter und Rind
constatiren. Dabei kann der Diplococcus lanceolatus nicht als Krankheitserreger
der Pneumonie speciell aufgefasst werden, sondern ähnlich wie die Eitercoccen
erzeugt er eine Allgemeinerkrankung mit besonderer Vorliebe für die Localisation
in der Lunge, häufig genug auch unter gleichzeitiger Betheiligung anderer Organe.
Für diese Auffassung spricht auch eine Untersuchung von Orthenberger23),
der im Blute von Pneumonikern sehr häufig den Diplococcus gefunden hat,
besonders aber diejenige von Pernice und Alessi2*), welche bei zwei an
croupöper Pneumonie Verstorbenen in fast allen Leichentheilen den Diplococcus
Frankbl's fanden.
Von mancher Seite aber wird noch anderen Mikroorganismen
eine ätiologische Bedeutung beigemessen. Einmal gilt noch immer im
Auslande der Fried laek de r's che Bacillus als der specifische Krankheits-
erreger (z. B. Sternberg *2), besonders die „asthenischen" und „biliösen" , d. h.
mit Icterus einhergehenden Formen der Pneumonie sollen von ihm verursacht
werden (Seibert26). Selbst der Staphylococcus aureus soll in einem tödtiichen
Fall von Pneumonie, welcher mit Milzvergrösserung verlief und anatomisch in
einer Infiltration der Alveole mit Hämoglobinschollen , rothen und weissen Blut-
körperchen bestand, die Krankheit bediogt und beim Thierexperiment sogar ganz
ähnliche Krankheitserscheinungen erzeugt haben (Ferraro 26). Mosler 27) wiederum
beschreibt eine kleine Pneumonieepidemie in einer Familie, in welcher ein Bacillus
als Infektionserreger gefunden wurde, welcher dem der Kaninchensepticämie
vollständig glich. Cantani 28) beschreibt mehrere Fälle einer wahrscheinlich durch
Streptococcen erzeugten Pneumonie. Ebenso hat Finklkr29) die Aufmerk-
samkeit auf die Streptococcuspneumonie gelenkt. Sie bildet nach seiner
Ansicht eine Krankheit 8ui generis, ist lobulär und interstitiell, findet nicht einen
kritischen Abschluss, sondern kriecht weiter, ist contagiös und von malignem
Charakter; vielleicht handelt es sich um ein Erysipel der Lunge. Diese
seine Annahme wird noch besonders bestätigt durch einen Fall, den Mesny80)
veröffentlicht, in welchem eine Pflegerin einer Erysipelkranken an einer tödt-
lich verlaufenden Pneumonie erkrankte, die durch Streptococcen verursacht
war. Auch Lipari 81) ist der Ansicht , dass die Pneumonie nicht von Mikro-
organismen ein und derselben Species erzeugt, sondern dass sie, wie die sie häufig
complicirenden Erkrankungen anderer Organe (Endocarditis , Meningitis), von den
verschiedensten Arten Mikroorganismen (die Complicationen stets
von derselben Species) erregt werden könne.
446
LUNGENKRANKHEITEN.
Während nun allen diesen Ansichten der Autoren jedenfalls der eine
Punkt gemeinsam ist, dass die Pneumonie stets durch Infection mit Mikroorganismen
entsteht, sind im Gegensatz hierzu gerade wieder in der neuesten Zeit Stimmen
laut geworden, welche selbst ein epidemisches Auftreten von croupösen Pneumonien
durch Inhalation gewisser reizender Stoffe annehmen. So beschreibt
Darlington *a) typische Pneumoniefölle , in denen feiner Quarzsand (bei Tunnel-
arbeitern) die Ursache bilden sollte. Interessant sind ferner die Pueumonieepidemien,
weiche Ehrhardt 8S) bei Arbeitern einer Thomasphosphatmehlfabrik beschreibt,
jenes feinen Staubes, der durch Zerreiben der Thomasschlacke entsteht, die ihrer-
seits einen sehr phosphor- und kalkreichen Abfall des Eisens bildet. Ehrhardt
sieht den in der Schlacke enthaltenen Aetzkali als direete Ursache an. Auch
Ullmann'4) und Ballard86) berichten über Pneumonieepidemien bei Arbeitern
in Thomasschlackefabriken. Dennoch ist trotz dieser Thatsachen noch nicht der
Beweis erbracht, dass die mechanische Läsion von Seiten des feinen ätzenden
Staubes auch die alleinige und direete Ursache der Entzündung gewesen ist. Es
ist vielmehr wahrscheinlich, dass auf den durch die mechanische Reizung schon
geschwächten und weniger widerstandsfähigen Boden die Mikroorganismen besser
Wurzel fassen konnten. In der von Ballard beobachteten Epidemie wurde von
demselben überdies ein eigenartiger Bacillus gefunden. .Nun hat allerdings Cox ,b)
durch Injectionen von Crotonölemulsionen in die Lungen bei Thieren experi-
mentelle Entzündungen der Lunge erzeugt, die wohl jedesmal nicht
auf bacteriologischer Basis entstanden sind ; aber diese entzündlichen Veränderungen,
deren Entstehungsmöglichkeit durch reizende Stoffe keineswegs in Abrede gestellt
werden soll, entsprachen nicht dem Bilde einer typischen croupösen Pneumonie,
sondern dem der catarrhalischen ; sie bestanden in herdförmigen Necrosen, Extra-
vasaten, Exsudaten und Zellproliferationen, entsprechend dem Bilde einer heftigen
lobulären Entzündung, während die von den obengenannten Autoren nach Staub-
inhalationen beschriebenen Lungenaffectionen typische croupöse Pneumonien dar-
stellen. Den experimentellen Pneumonien , welche Cox erzielte , sind diejenigen
gleichzustellen , welche Zweifel 37) nach Operationen , und zwar nach Chloro-
formirung bei Gaslicht, beobachtet hat; sie sind ebenfalls catarrhalische Pneu-
monien , erzeugt durch die irritirenden Stoffe des zersetzten Chloroforms ; dem
Bilde der croupösen Pneumonie entsprechen sie natürlich nicht.
Die ätiologische Stellung, welche das Trauma gegenüber der croupösen
Pneumonie einnimmt, muss man sich ähnlich wie die der reizenden Substanzen
erklären. Es ist bis vor Kurzem von Vielen überhaupt bestritten worden, dass
auf traumatischer Basis durch Contusionen etc. typische Pneumonien entstehen
können , aber die Zahl der veröffentlichten , einwandsfreien Fälle mehrt sich all-
jährlich, so dass an der Thatsache nicht mehr gezweifelt werden kann und ein
inniger Connex zwischen Trauma und Pneumonie angenommen werden muss, doch
nur insoweit, als das Trauma den Locus minor is resistentiae bildet und die
Invasion der Mikroorganismen erleichtert. So konnte Litten 4°/0 , Demdth 88)
l-660/0 der Fälle von croupöser Pneumonie auf ein Trauma zurückführen. Jolly *•),
Wagner40) und Ullmann84) bringen ebenfalls casuistische Beweise für das Vor-
kommen dieser Gattung von Pneumonie.
Häufiger noch als das Trauma, bildet die Erkältung das prädisponirende
Moment der croupösen Pneumonie. Auch neuere statistische Ergebnisse, welche
zahlreich erschienen sind, beweisen dies. Darlington 32), Waibel 41), Hofmann 4S),
Ullmann S4), Schröder "), Jaccoüd Ab) weisen auf den Einfluss der Jahreszeiten,
des Wetters und andere klimatische Einflüsse hin. Lipari vermochte sogar
experimentell die Bedeutung der Erkältung für die croupöse Pneu-
monie zu beweisen, indem er erhitzte Thiere plötzlich abkühlte und dann durch
Inhalation mit Pneumococcen inficirte. Während gesunde Thiere nicht erkrankten,
wurden solche erkältete von fibrinöser Pneumonie befallen.
LUNGENKRANKHEITEN.
447
Die Frage, ob die Pneumonie eine contagiöse Krankheit und von
Person zu Person tibertragbar ist, wird von verschiedenen Autoren neuerdings
berührt. Die Zahl derjenigen, welche eine solche Contagiosität behaupten, ist
nicht so ganz gering. Moslee27), Probt46), Molony47), Osthoff 19), Agostini48),
Netter18), Chekon40), Finkler20) beschreiben Endemien von Pneumonie, die
einen Uebergang von Person zu Person wahrscheinlich machen. Nun lässt sich
aber in allen diesen Fällen nicht mit Sicherheit ausschliessen, dass die scheinbar
angesteckten Individuen unter denselben Bedingungen standen und von derselben
Noxe ohngefthr gleichzeitig befallen worden sind. Allerdings scheinen die von
Mosler und Finkler beschriebenen Fälle Formen einer besonderen contagiösen,
unter dem Bilde einer Pneumonie verlaufenden Lungenerkrankung zu sein. Da-
gegen wird man die gewöhnliche croupöse Pneumonie nicht ohne Weiteres zu
den ansteckenden Krankheiten rechnen können ; hiergegen spricht die Erfahrung
besonders auch in Krankenhäusern, in welchen wohl noch nirgends eine Infection
von Bett zu Bett bei croupöser Pneumonie beobachtet und beschrieben worden ist.
Mit gewissen Infection skrankheiten theilt die Pneumonie die Neigung, zu
recidiviren. Wir wissen es durch ältere Arbeiten, neuerdings auch durch die
Arbeit von Netter18), dass die einmalige Ueberstehung der Pneumonie nicht
nur nicht immun macht, sondern sogar zu Recidiven disponirt macht ; aber selten
sind Beobachtungen über Recidive, wie sie Wagner40), Fabre60), Tordens61)
beschreiben , welche als vollständige neue Pneumonie (nicht als einfacher Relaps
des Fiebers) bereits wenige Tage bis mehrere Wochen nach Ablauf der ersten
Erkrankung sich einstellten.
Grössere statistische Arbeiten (Smith ßa), Hartshornr ™), Townsbnd 64),
Coolidge 64) zeigen bedauerlicher Weise, dass dieFrequenzderPneumonie-
erkrankungen nicht allein von Jahr zu Jahr sich vermehrt, sondern
auch die Bösartigkeit des Charakters der Erkrankung zunimmt. Hier-
gegen hat offenbar auch die neuere Richtung nichts vermocht, welche die Therapie
der Pneumonie seit Traube's Zeiten betreten hat.
In der neuesten Zeit ist in der Productiou therapeutischer Mass-
nahmen gegen die Erkrankung übrigens wieder ein Stillstand eingetreten und
die einschlägigen Arbeiten bestehen in den Wiederholungen der Empfehlung bereits
eingeführter Medicamente, der Digitalis (Petresco m) , derselbe empfiehlt Tages-
dosen von 4 — 8 Grm. als Infus!) oder des Coffein (P. C. Gempt56), des Chinin
und des Alkohol. Lbes67) räth zur Eisbehandlung der Pneumonie, Kreider68)
zur Behandlung mit warmen, Herz59) und Barth60) zu kalten Bädern. Pen-
zoldt 61) rfith zur Unterstützung der Therapie die Anwendung von Antipyreticis.
Neu ist die Empfehlung von Chloroforminhalationen von Clemens 62) und Philipp
gegen Pneumonie. Von mancher Seite (Hartshorne ß8), Levierato 6*), Güida 64)
wird sogar angerathen, zum Aderlass, verbunden mit Derivantien, Diureticis und
Diaphoreticis, zurückzukehren, da sich in Bezug auf die Sterblichkeit die neueren
Behandlungsmethoden keineswegs bewährt hätten.
Die Behandlung der Lungenabscesse, besonders der metapneumo-
nischen, befindet sich im Fortschreiten, insofern die operative Behandlung durch
Eröffnung der Höhle mit Glück ausgeführt wird (Jones61'), v. Openchowsky 60),
Delprat67), Sqüirr68), Smith69), Hoffmann70).
Während die Arbeiten über Pneumonie vorwiegend sich mit ätiologischen
Gesichtspunkten neuerdings beschäftigt haben, hat die umfangreiche Literatur
über die Lungentuberkulose eine grössere Mannigfaltigkeit aufzuweisen.
Allerdings tritt auch hier die Aetiologie besonders hervor. Die Entdeckung
des Tuberkelbacillus ata Erreger der Erkrankung hat sich, wie schon erwähnt,
seit mehr als einem Decennium als ein fast noch in Zunahme begriffener Impuls
für eingehende Forschungen erwiesen über die Art seiner Wirkung, seines Ein-
tritts in den Organismus, sein Verhalten zur Heredität und Disposition und den
Grad seiner Contagiosität. Zunächst betonen eine Reihe von Untersuchungen die
448
LÜNGENKBANKHEITEN.
relative Häufigkeit einer Invasion der Tuberkulose durch Wunden der Haut, eine
Impftuberkulose, welche sich durch ihre sichtbare Eingangspforte in Verbindung
mit dem Nachweis der Bacillen in den beschriebenen Fällen als nicht so selten
vorkommende Erkrankung herausgestellt hat (Pariser Tuberkulose-Congress 71),
Gerber72), Merelen73). Dagegen scheint es unwahrscheinlich, dass durch die
Schutzpockenimpfung Tuberkulose übertragen wird.
Ganz besonders zahlreich sind aber die Forschungen und Beobachtungen
der mehr latenten Uebertragung der Tuberkulose von Mensch auf Mensch ohne
äusserlich sichtbare Eingangspforte.
Was zunächst die inneren Organe betrifft, in welche sich der Tuberkel-
bacillus primär einnisten kann, so sind es keineswegs die Lungen allein, sondern
auch der Verdauungstractus (Woodhead 74), Squirr76) und die Genitalien,
Ulcerationen im Rachen, selbst cariöse Zähne (Grawitz7«).
Besonders hat Ponfick 77) diese Verhältnisse der Invasion der Bacillen,
ihren Weg und ihre Eingangspforten in zusammenhängender Form auseinander-
gesetzt. Er weist nach, dass die Tuberkulose eine zunächst örtliche ist, die ihren
ersten, oft verborgen bleibenden Sitz in denjenigen Organsystemen aufschlägt,
welche mit der Aussenwelt in unmittelbarer Verbindung stehen, und zwar (in
der Reihe der Häufigkeit) in dem Respirations- , Digestions-, Urogenital- Apparat
und den äusseren Hautdecken. Von hier aus erst wird die Tuberkulose durch
die Lymphbahn (gleichmässig) oder den Blutstrom (schubweise) durch Selbst-
infection verallgemeinert und führt zur acuten, oder in gewissen, noch nicht
ganz aufgeklärten Verhältnissen im verlangsamten Laufe zur chronischen Miliar-
tuberkulose.
Die Uebertragung der Tuberkulose in den Organismus geschieht in
erster Reihe durch das Sputum. Cornbt's78) wichtige Untersuchungen
haben zur Evidenz erwiesen, dass das Sputum Tuberkulöser ein ganz
besonders gefährlicher Ueberträger der Tuberkulose ist, und
zwar in ausgetrocknetem Zustande. Kr fand Tuberkeibacillen im Staube von
Zimmern und Aufenthaltsorten von Phthisikern, welche, da die Athmungsluft
der Phthisiker sich ihm bacillenfrei erwiesen hat, nur durch getrock-
netes Sputum dorthin gelangen konnten.
Einen negativen Beweis hierfür brachte er auch durch die Constatirung
der Abwesenheit von Bacillen an Orten, wo Tuberkulöse sich nicht befanden. Auf
Grund dieser Beobachtungen Cornet's und zur Verhütung der Verbreitung der
Tuberkulose durch eingetrocknetes Sputum hat Dettweiler 79) ein von ihm con-
struirtes Taschenspuckfläschchen empfohlen.
Aber nicht nur der Staub der Möbel, Fussböden, Wände etc. in Auf-
enthaltsräumen Tuberkulöser enthält die Bacillen , wie Cornet angiebt , sondern
auch die Zimmerluft selbst, wie Rembold80) nachwies, namentlich auch die
Wäsche und der Körper, was in einer Beobachtung von Mattei 81) seine
Bestätigung gefunden hat, welcher ursprünglich im Schweisse der Phthisiker
Bacillen gefunden zu haben glaubte, bald aber durch geeignete Massnahmen sich
tiberzeugte, dass die Bacillen sich nur auf der Haut befunden hatten und offenbar
mit dem Sputum dorthin gelangt waren.
Aber nicht nur das eingetrocknete Sputum, sondern auch der Speichel
ist bacillenhaltig und infectös, wie dies B. Fraenkel82) hervorhebt und muss
ebenfalls als Uebertragungsmittel der Tuberkulose gelten. Schliesslich können mit
Bacillen bedeckte Speisen durch Vermittlung des Verdauungscanais die Ueber-
tragung ermöglichen (Rolltnger 8S).
Endlich ist auch die Milch (weniger das Fleisch) perlsüchtiger
Kühe infectiös (Pariser Congress71), Bollinger83), Hirschberger84), auch bei
nicht vorhandener Eutertuberkulose (Troup).
Demgemäss kann das Sputum nicht als einziger Vermitt-
ler gelten.
LUNGENKRANKHEITEN.
449
Ausserdem ist diese Lehre von der Heredität und Disposition
trotz des Nachweises der Bedeutung der Bacillen durchaus noch allgemein giltig
und anerkannt, Dies haben auch viele Forscher neuerdings betont durch weitere
Beiträge (Bollinger 86) , Römpler 86), Haupt u. A.), wobei sie die 8tellung des
Tuberkelbacillus als direoten und unmittelbaren Erreger nicht unterschätzten. Unter
Berücksichtigung beider Momente , der bacillären Ursache einerseits und der Dis-
position und Heredität andererseits, unterscheidet Bolltngeb 4 verschiedene
Arten der Infection: 1. Infection eines gesunden, nicht disponirten Organismus.
2. Infection bei hereditärer Belastung. 3. Infection bei erworbener Disposition.
4. Infection bei hereditärer Belastung und erworbener Disposition. Die Gelegen-
heit zur Infection ist nach seiner Ansicht fortwährend gegeben, da er annimmt,
dass die Bacillen eine allgemeine Verbreitung (in der Luft etc.) besitzen,
und dass sie thatsächlich unausgesetzt in die Körper aller Menschen gelangen,
hier aber gewöhnlich abgetödtet werden, während in gewissen Fällen aus noch
unbekannten Gründen die Infection erfolgt.
Gegenüber diesen Anschauungen, welche die Bedeutung der Tuberkel-
bacillen vollauf anerkennen, dürfte die Ansicht von Mays 87), dass Vaguserkrankung
die Ursache der Tuberkulose sei, trotz experimenteller Versuche keines besonderen
Anklangs sich erfreuen, ebensowenig diejenige, weiche den Eitercoccen allein
die Infection vindicirt. Allerdings haben Beobachtungen gerade in der neuesten
Zeit gelehrt, dass die Eitercoccen und vielleicht auch andere Mikroorganismen
durch eine Art Symbiose die Tuberkelbacillen in ihrer zerstörenden Arbeit
sehr wohl zu unterstützen vermögen, vielleicht auch die Einschmelzung des
Lungengewebes und Cavernenbildung befördern (Neelsen89), Thomson ••), 0.
Rosenbach 91 ) u. A.). Die Invasion dieser Mikroorganismen aber muss als secundär
aufgefasst werden und würde nie zustande gekommen sein, wenn der Tuberkel-
bacillus nicht zuvor die Bahn geschaffen hätte.
Von pathologisch-anatomischen Untersuchungen sei hier nur die
im Institute von Bollinger angefertigte Arbeit über die Heilbarkeit der Lungen-
tuberkulose erwähnt, die Kürlow 91) angestellt hat. Die Resultate derselben, durch
Thierexperimente gestützt, ergaben, dass nur die rein narb igen und vol 1-
ständig verkalkten Knötchen und Knoten nach tuberkulösen
Processen eine vollständige Heilung der Er krankun g bedeuten,
dass dagegen jeder auch noch so kleine und abgekapselte käsige Herd virulente
Bacillen enthält, die jederzeit eine neue Infection erzeugen können.
Was die Symptomatologie und Diagnostik der Phthise anbe-
langt , so beschränken sich die Arbeiten hierüber meist auf die Bestätigung schon
bekannter Thatsachen, insbesondere wird immer wieder auch vom klinischen
Standpunkte aus die diagnostische Bedeutung des Tuberkelbacillus
hervorgehoben und die Nothwendigkeit auch für den praktischen Arzt, in zweifel-
haften Fällen nach ihm zu suchen. Verschiedene Autoren (Kidd u. Taylor98),
Rosevelt9*), Mackenzie") machen dabei mit Recht darauf aufmerksam, dass
das Vorhandensein des Bacillus nur in qualitativem, nicht aber in quanti-
tativem Sinne für die Diagnostik verwerthbar ist, d.h. dass die Menge der
Bacillen im Sputum, selbst wenn sie andauernd hochgradig ist, keinen Schluss
auf den Grad der Erkrankung und auf die Prognose zulässt.
Cnopf 9A) hat eine nochmalige Revision des Vorkommens der Ehrlich-
schen Diazoreaction bei Phthisikern vorgenommen und die Angaben des Ent-
deckers derselben bestätigt. Die Reaction ist nach ihm ein Signum malt
o mini 8, insoferne sie ein Fortschreiten des phthisischen Processes bedeutet.
Im Anschlags an Federicq und Thompson macht Stick br auf die dia-
gnostische Bedeutung eines in acuten Fällen von Phthise roth, in
chronischen bläulichroth gefärbten Saumes am Zahnfleisch-
rande aufmerksam. Derselbe findet sich sehr häufig bei Phthisikern und vor-
wiegend bei Männern.
Encyclop. Jahrbücher. I.
450
LUNGENKßANKHEITEK.
Interessant und im Hinblick auf die K0CHfsehe Entdeckung- de* Tuberke
bacillus nicht unwichtige ist eine Mittheilung; Philippts 97), nach der es ihm g
lang, aus baeitlenhal tigern Sputum mittelst Alkohol eine Substanz zu extrahiren, welche,
Frischen, Mäusen uud Kaniucbeu injicirt, auf das Her« und die Nervencentren den-
selben lähmend wirkte, während diese Wirkung durch Atropin abgeschwächt, reep.
neutralisirt werden konnte. Ob dieser Giftstoff thatsäcblieh als ein Product der Bacillen
aufzufassen ist . oder ob er nur als ein toxisch wirkender Bestandteil des Sputums
überhaupt gelten muas, ist dabei allerdings nicht klargestellt worden.
Da bekanntlich in jedem Stadium der Phthise Magenbeschwerden
häufig sind und da die Klinik der Magenpathologic in der letzten Zeit einen gauz
besonderen Werth auf die Untersuchung des Chemismus des Magensaftes gelegt hat.
ao ist es nicht befremdend , dass eine grosse Zahl von Arbeiten sich allein mit
der Beschaffenheit der Magenseeret iou bei Phthisikern beschäftigte. Allerdings haben
einige wenige Forscher sich auch der mtlhevollen Aufgabe unterzogen, die anatomi-
schen Verhältnisse im Vergleich zu den klinischen einer gründlichen Revision
zu unterziehen. So kam Marfan m) im Allgemeinen zn dem Resultate, dass die
anatomischen Magen Veränderungen , welche er im vorgerückten Stadium der
Phthise gefunden hat , sehr erhebliche seien , das« die Magenschleimhaut sieh im
Zustande des Etat mninettvn*: belindet und die Drüsen weitgehende Veränderungen
aufweisen. Schwalbe *") hinwiederum fand, dass die anatomischen Veränderungen
sich keineswegs mit den Verdauungsbeschwerden und dem tuberkulösen Proeess
decken und in den seltensten Füllen von der Ausdehnung sind, um eine Störung
der Magen secretion hervorzurufen. Er bat daher die Verdauungsstörungen ausser-
halb des Magens im phthisischen Process begründet und macht das Eiterfieber
dafür verantwortlich.
Die meisten Arbeiten beschäftigen sich mit der Beschaffenheit der pep*
tischen Kraft des Magensaftes. Als Erster sei Immerhann100) genannt, welcher
im Allgemeinen auch bei Phthisikern normale Verhältnisse des Magensaftes fand,
respective etwaige Veränderungen auf eine besondere, von der Tuberkulose unab-
hängige Magenerkraukung beziehen zu müssen glaubte. Klempeuer 101 \ hingegen
unterschied dyspeptische Zustände im Anschluss an Phthise, und iwar zwei (in-
einander Ubergehende) Grade derselben, die Initialdyspepsie, welche bei normaler
oder gesteigerter Acidität sieh in einer motorischen Schwäche des Magens kund-
giebt, also dem Bilde der nerv5sen Dyspepsie sehr ähnelt, und die terminale Dys-
pepsie, welche in einem völligen Versiegen der Salzsäure sich kund giebt. ver-
bunden mit Magendilatation und einem functionellen Zustande gleicht, der dem
des atrophischen Catarrhes oder Carcinoma ähnelt. Hildebrand 1üS) stellt die Mengt«
der freien Säure in Abhängigkeil vom Fieber; sie ist gering oder fehlt gänzlich
zur Zeit der Temperaturerhöhungen , oder überhaupt bei Phthisikern. ROSEX-
TflAL Ioa) fand stets bei Phthise eine Verminderung der freien Säure, SCHKTTio »•*)
dagegen normale Verhältnisse der Salzsäureseeretion. 0. Beieger t0Ä) konnte zwar
viele Störungen des Chemismus bei Phthisikern eonstatiren, aber keine Abhängig
keit vom Fieber, auch fand er öfters eine ganz normale Verdauung. Als Ursache
der Störung nimmt er die venöse Stauung in den Gewissen der Magen wand uns
bei Phthisikern an.
Diese einander zum Theil widersprechenden Resultate zeigen aufs Deut*
liebste, dass auf dem Wege des chemischen Verhaltens des Magensaftes ein posi-
tives Ergebnis« über die Ursache der Verdauungsstörungen der Phthisiker sieh
nicht erzielen lässt. Die Frage bleibt nach wie vor eine offene.
Die Therapie der Phthise hat eine sehr ausgedehnte Bearbeiru
gefunden , wobei nicht allein schon bekannte therapeutische Massnahmen und
Medicamente weiteren Prüfungen unterzogen, sondern auch neuere Heilmethoden
eingeführt und empfohlen werden. Besonders zahlreich siud die Empfehlungen
von Behandlungsmethoden, welche auf dem Wege der Inhalation auf
die Lungen wirken sollen. Hierher gehört vor Allem die auf theoretische*
LUNGENKRANKHEITEN.
451
Erwägungen, weniger auf praktischen Erfolgen gestützte Empfehlung der Ein-
athmung von Luft, die dureh besonders dazu hergestellte Apparate eine gewisse
Temperatur unmittelbar vor der Inhalation erhält. Die Behandlung der Phthise
mit kalter Luft , welche Worms 106) empfiehlt, ist allerdings nicht weiter acceptirt
worden. Dagegen haben die Inhalationen warmer Luft Beachtung gefunden.
Hier haben sich zwei Richtungen geltend gemacht. Inhalationen feucht-
warmer Luft empfiehlt Krull107) von einer Temperatur von 36 — 37° C.
täglich einmal 15 — 20 Minuten lang in der Absicht, die Blutcircuiation und
Körperwärme und damit auch den Stoffwechsel und die Ernährung der Lungen
zu heben. Sehr günstige Ergebnisse hat er damit im Anfangsstadium der Phthise
erreicht und beim Fehlen erblicher Belastung und kurzer Erkrankungsdauer sogar
auch in fortgeschrittenen Fällen. Oleich anfangs oder nach einigen Tagen tritt
bei den betreffenden Patienten eine kleine Erhöhung der Körpertemperatur ein,
die aber dann bald wieder schwindet. Auch der Auswurf zeigt anfangs eine Zu-
nahme , bald aber eine Abnahme der Menge, und das Körpergewicht nimmt rasch
zu. Tritt das letzte dagegen nicht ein und hält Fieber und Gewichtsabnahme an,
so muss die Behandlang als gefährlich ausgesetzt werden , während Hämoptoe'
keine Contraindication bildet. Günstige Erfolge von dem KRULL'schen Ver-
fahren hat auch Lahusen108) und Leubüscher 109) gesehen, dagegen konnte
Skhrwald uo) sich trotz eingehender Experimente von einer günstigen Wirkung
nicht überzeugen.
Eine zweite Methode beruht auf der Einathmung trockener, heisser
Luft. Halter 1U) und Weigert haben im Anschluss an die von Ersterem
hervorgehobene Thatsache, dass die in sehr heisser Luft beschäftigten Kalkofen-
arbeiter stets frei von Tuberkulose seien, die Inhalation trockener, heisser Luft
mittelst eigens dazu angefertigter Apparate empfohlen, um die Bacillen zu tödten,
respective ihre Entwicklung zu hemmen. Die Luft muss ungefähr auf 200°
erwärmt werden , um bei der raschen Abkühlung , die sie schon in dem mit
Flüssigkeiten gesättigten Mund und in der Nase erfährt, eine noch genügend
hohe Temperatur (circa 60°) der Ausathmungsluft zu erzielen. Günstige JResultate
nach der WEiGERT'schen Methode und mit dem WEiGERT'schen Apparate konnte
in einem Falle Kohlschütter112) verzeichnen, obwohl er nicht ganz sicher
war, dass die heisse Luft in der That bis in die Lunge hinab ihre wirk-
same Temperatur behalte. Dagegen haben viele andere keine Erfolge von dieser
Behandlung gesehen, besonders A. Gottstein, Möser115), Sehrwald 114),
Nycamp116), Schmid ,16) u. A., welche fanden, dass die eingeathmete heisse
Luft sich schon oberhalb des Larynx bis zur Unwirksamkeit abkühlte.
Mosso und Rondelli117) schliesslich haben durch ein sinnreiches Ex-
periment überzeugend nachgewiesen , dass heisse Luft von 180° C. sich beim
Durchgang durch mit Feuchtigkeit gesättigte Gaze auf einem Wege von wenigen
Ocntimetern bis zur Unwirksamkeit abkühlt, und so ist besonders auch durch
ihre einfachen Experimente die Weige Rosche Methode in der Praxis
als nutzlos hingestellt worden.
Nicht viel zuverlässiger haben sich die neuerdings empfohlenen Inha-
lationen von Fluorwasserstoffsäure bewährt, welche besonders in
Frankreich versucht worden sind. Die Meinungen darüber sind äusserst getheilt
und widersprechend. Auf der einen Seite stehen Gager118), Götz ll9), Trideaü m),
Mongardi 121), Ampügnani m), Gilbert128) u. A., welche wesentliche Besserungen
in den Anfangsstadien der Phthise beobachtet haben; Andere, wie Jaccoud 124),
Grancher 126j , Chantard 12<j) , Polyak 127) , Brünet 128), sind entgegengesetzter
Ansicht und halten die Inhalation für nutzlos und gefährlich.
Inhalationen von fein zerstäubtem C a 1 o m e 1 empfiehlt nach theoretischen
Erwägungen von Neuem Martell129) und er bat auch praktisch gute Resultate
erzielt. Cheron130) und Dochmann181) schliessen sich seinen Ausführungen an,
im Uebrigen bat aber diese Medication, wie es scheint, keine Anhänger gefunden.
452
LÜNGENERANKHEITEN,
Ferner seien noch erwähnt die Inhalationen von Terpentin,
welche JacübäSCh ua) anräth. Er gewinnt das Terpentin frisch durch Extraction
von Fichtennadeln mittelst Wasserdampfeo in einem besonderen Inhalationsraum
Endlich räth Darier m) Inhalationen von schwefliger Säure.
Im Allgemeinen lässt sich von keiner dieser Inhalationsmethoden sagen,
dass selbst die positiven Resultate T von denen nach ihrer Verabfolgung gemeldet
wurde, einwandfrei und überzeugend auf ihren Einfluss zurückzuführen waren.
Kine allgemeine Verbreitung und Einführung in die Praxis hat
keine erzielt.
Auch die Bergok' scheu Kohlensäure - Schwefel Wasserstoff- Eingiessuugeti,
von Puvai -Vagxa ,34) nochmals empfohlen, haben sich nicht eingebürgert.
Von intern zu verabfolgenden Medicamenten sind wiederum eine grossere
Anzahl gegen Phthise empfohlen wurden. Einige derselben mögen hier wenigsten*
erwähnt werden, so daB C er tum oxalicum (dreimal täglich 0*6 — 1*2^
welches Chebsmann m) empfiehlt; das Arsen nach Büchner (Plekkoh **%
Chinin (Thomas1*7), Noüille 1S8), Jod (de Renzi159), Stricker) , Jodkali
mit Sublimat (Hall140), Kohlschüttrr), Kohlensäure, d. h. Natt,
bicarbonic. mit Äcidum muriat, (Weber U1). Sie alle haben bis jetzt in
die Praxis als Speeifica gegen die Tuberkulose nicht eindringen können,
Nur ein Medicament scheint eine rasche , allgemeine Aufnahme in der
Therapie der Phthise gefunden zu haben und scheint dieselbe dauernd zu be
banpten. Es ist das Oreosot. Schon früher, zuerst 1830 von Reicbexbach,
dann von französischer Seite 1877 ist das Creosot innerlich gegen Phthise gejreheij
worden ; aber erst die Empfehlungen Sommerbrodt's, dann Fräntzrl's haben ihm
eine allgemeine Verbreitung verschafft. Die neueren Berichte dsrQber lauten fort-
dauernd günstig. Abgesehen von vorzüglichen Resultaten, über welche SOMJOEB
brodt m) wiederum berichtet, findet sich auch noch sonst eine grosse Zahl durchaus
günstiger Veröffentlichungen (Moöler, Engel 144)? v. d, Vloet U4), deRrnzi1*1),
Kossow - Geronat *4«) , Rodais li7) , Bevebley **8) , Holm , PoltAk
v, Brunn* lßl) u. A.). Das Creosot wird nach Somm erb ro dt' s Vorschrift in Kapseln zu
0*1 mit ßala. tolut. oder mit Ol.jecor. aselL verabfolgt. Man beginnt mit circa 0 3
täglich, steigt aber allmälig bis 1*5. Nur in sehr seltenen Fällen wird der M
davon belästigt, häufig, auch bei den höchsten Dosen , nimmt der Appetit auffallend z
Vorgeschrittene und beständig fiebernde Kranke von schlechtem Ernäh-
rungszustände werden von der Cur allerdings nichts profitiren, aber die erhebliche
Besserung, welche Phthisiker in den Anfangsstadien unter dem Gebrauohe von
Creosot erfahren, ist nach der Ansicht der genannten Autoren nicht nur als von
der mit der Behandlung verbundenen Veränderung und Verbesserung der Lebens-
weise abhängig aufzufassen, wie dies z, B. Detter m) und Riklin 1M) annehmen ,
sondern eine Folge der Wirkung des Creosot.
Soltmann1**) empfiehlt das Creosot zu Ö'08 — 0*26 pro die auch für
die Kinderpraxis,
R03RNBC3CH 1Ä6) hat parenchymatöse Injectionen von Creosot in die Lungen
gemacht (1 — 5% Lösung in Mandelmilch) und günstige Erfahrungen, namentlich
im Anfangsstadium , gewonnen ; weniger günstig lautet Andreesen's Ufl) Bericht
hierüber, wiewohl er die Injeotion an und für sich für ungefährlich hält. Selbst-
verständlich wird Creosot auch zu Inhalationen verwendet.
Auch dasGnajacol scheint sich einer nicht ungünstigen Aufnahme zu
erfreuen. Alsdorff J67), Horner10*), Bourgrt16») und Bücring1'») empfehlen
dessen Darreichung mit oder sogar an Stelle des Creosot.
Besonders günstig lauten auch die Berichte von Opitz161) über den
Perubalsam, den er nach dem Muster Landerer's gegen die Phthise in
Emulsion subcutan angewendet hat. Land kr er *••) selbst empfiehlt sogar intra-
venöse Injectionen dieses Mittels in Emulsion , die er als völlig unschädlich und
wirksam in manchen Fällen von Phthise gefunden hat.
LUNGENKRANKHEITEN.
453
Selbstverständlich treten viele Autoren noch nach wie vor für die thera-
peutische Bedeutung der klimatischen Curorte ein, dieselben werden jetzt
von dem etwas veränderten hygienischen Standpunkte aus, welche die Erkenntnis*
der Bedeutung des Tuberkelbacillus erfordert, als ein wirksames und geeignetes
Kampfmittel gegen denselben empfohlen. Das interessante Werk Bbehmer's 163\
die eingehenden Beobachtungen Volland's 164), sowie die Arbeiten von Williams 166\
Königer186), Niles167), Bowditsch 168) und Lowe169) u. A. treten besonders für
die Bedeutung des Höhenklimas ein , jener bacillenarmen Region, von der sie er-
hoffen, dass sie auch den im Organismus vorhandenen Keimen die Lebenskraft
rauben könnten.
Au 88er diesen therapeutischen Massnahmen gegen die Phthise überhaupt
sind auch gegen gewisse Symptome derselben neue Mittel empfohlen worden. Er-
wähnt sei hier das „Binden der Glieder" gegen Hämoptoe, d. i. das Abbinden
der Extremitäten an ihren Wurzeln, und zwar in der Weise , dass der arterielle
Zufluss frei bleibt, während der venöse Rückfluss gehemmt wird, wodurch eine
Menge Blut in den Extremitäten zurückgehalten wird und die Lunge entlastet.
Beetz l7°), Ernst 171) und Seitz 172) haben gute momentane Resultate durch diese
Art Autotransfusion gesehen.
Ferner sind neuere Mittel gegen die Nachtschweisse der Phthisiker
empfohlen worden, welche die bisherigen übertreffen sollen, und zwar empfiehlt
als solche Leu173) und Combemale 174) die bereits von Fürbrixger eingeführte
Camphersäure (20 Abends), Letzterer ausserdem das Natrium telluricum
(002 Abends).
Wenn hiermit auch nicht die Zahl der Mittel, welche für die Phthiseo-
therapie neuerdings empfohlen sind, erschöpft ist, so sind doch die wichtigeren
erwähnt. Doch lässt sich von keinem derselben, nicht einmal vom Creosot , mit
Sicherheit behaupten , dass durch dasselbe eine specifische und die Bacillen ab-
tödtende Wirkung erzielt werde. Bei einigen dieser Mittel, bei denen eine anti-
septische Wirkung constatirt ist, kommt dieselbe im Körper nicht zu Stande, weil
die Verdünnung eine zu bedeutende ist, in welcher sie im Körper circuliren, als
dass der Organismus im Kampfe gegen die Bacterien durch sie auch nur unter-
stützt werden könnte. Wir werden daher fernerhin jedem neuen, nach ähnlichen
theoretischen , wenn auch auf Antisepsis gegründeten Principien empfohlenem
Medioament mit grosser Skepsis entgegentreten müssen.
Aber ein neuer Weg, welcher sich in letzter Zeit vor uns aufzuthuu
beginnt, bietet uns eine zu\ erlässigere Aussicht. Die Bedeutung der Stoffwechsel-
produote der Bacterien für deren eigene Bekämpfung und für die Erreichung
einer Immunität gewinnt immer festere Grenzen. Die Einführung einer hierauf
begründeten Therapie in die Praxis ist auch das Wesen der Koch 'sehen Ent-
deckung. Hoffen wir, dass die eingeschlagenen neuen Bahnen im Allgemeinen
und speciell auf dem Gebiete der Lungenerkrankungen zu dem ersehnten Ziele
führen werden.
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Lussin, s. ki imatische Curen, pag. 375.
LySOl, ein als Antisepticum und Desinficiens statt des Creolins empfohlenes
Präparat, welches vor diesem den Vorzug der Löslichkeit in Wasser besitzt. Es
wird durch Erhitzen eiues Gemenges von Fett, Theerölen, Harzen mit einer ent-
LYSOL.
457
sprechenden Menge von Alkali im geschlossenen Geftsse dargestellt und bildet eine
braungelbe, nach Theerölen riechende, alkalisch reagirende, ölartige Flüssigkeit,
welche mit Wasser vollkommen klare Lösungen giebt. Nach Engler enthält das
Lysol keine Spur von freiem Alkali und ist als eine Lösung von Theerölen in
neutraler Seife zu betrachten. Die im Lysol enthalteneu Phenole bestehen nicht
aus Carbolsäure, sondern fast ausschliesslich aus Kresolen. In seiner Zusammen-
setzung steht es demnach dem Desinfeotol nahe, von dem es sich ebenfalls
durch die Eigenschaft, mit Wasser klare Lösungen zu geben, unterscheidet. Nach
den Untersuchungen von Gerlach und Schottelius übertrifft es an anti-
bacterieller Wirkung sowohl die Carbolsäure, als das Creolin. Eine O'3°/0ige
Lfösung tödtet in 20 — 30 Secunden alle Mikroorganismen, die bei der Wund-
behandlung in Frage kommen. In 1 — 2°/0iger Lösung erzeugt es auf Schleim-
häuten leichtes Brennen. Zur Wundbehandlung wird eine l°/0ige, zu Ausspülungen
von Körperhöhlen eine VaVofe6? zum Desinficiren der Instrumente und Waschen
der Hände eine 2 — 3%ige Lösung empfohlen. Das Präparat scheint wenig giftig
zu sein, Kaninchen ertrugen 14 Tage lang tägliche Injectionen von 2 Grm.
Literatur: Engler, Zusammensetzung des Lysol. Pharm. Centralhalle. 1890,
pag. 453. — L. v. 6 er lach, Ein neues Desinfectionsmittel. Wiener med. Pr. 1890, Nr. 21. —
Schottelius, Vergleichende Untersuchungen über die Wirkung einiger Theerprodncte.
Münchener med. Wochenschr. 1890. Nr. 19 und 20. T v u
M.
Madeira, s. Klimatische Curen, pag. 375.
MagenaUSSpÜlung bei Darmstenose, pag. 178.
Maschinelle Gymnastik, s. Heilgymnastik, pag. 308.
Masern. Was seit Abschluss unserer Abhandlung über die M a s e r n (vergl.
Real-Encyclopädie, II. Aufl. Bd. XII, pag. 550) im Jahre 1887 die in- und ausländische
Publicistik an Fortschritten bleibenden Werthes gefördert , steht in entschiedenem
Mis 8 verhält nies mit der Länge des verflossenen — vierjährigen — Zeitraumes. Neue
Gesichtspunkte sind so gut wie gar nicht gewonnen. Insbesondere ist die Ursache
der Krankheit ungeachtet der wachsenden Vervollkommnung der bacteriologischen
CntersuchuDgsmethoden unbekannt geblieben, und wir haben keinen Anlass, das,
was wir bezüglich der Aetiologie gesagt, mit irgendwelcher Aenderung zu be-
denken. Weitere Belege für die Möglichkeit einer Uebertragung der Krankheit
durch Impfungen mit dem Blute Magernder bringt Thomson. Hingegen vermögen
wir die von Michael berichtete Beobachtung einer durch Eröffnung einer Pustel
mit einer Nadel veranlasste „zufällige Inoculation" mit hervorragender Betheiligung
des inficirten Armes als eindeutig nicht gelten zu lassen.
In der letzten Arbeit seines Lebens hat Bohn uns mitgetheilt, dass
von 800 von ihm beobachteten Masernkranken 34 das 15. Lebensjahr über-
schritten hatten. Embden berechnet für seine Casuistik 15°/0 auf das erste
Lebensjahr, eine ungewöhnlich hohe Ziffer.
Die permanente Verbreitung der Morbillen in Paris wird Ollivier nicht
müde drastisch zu illustriren und nach wie vor als grösste Gefahr für die Krank-
heitsübertragung die Polikliniken hinzustellen, sicher nicht ganz mit Unrecht.
Die pathologische Anatomie anlangend liegen von Tobritz
nähere Aufschlüsse über die „bronchogene" Masernpneumonie vor. Das Exsudat
traf er als vorwiegend zelliges, zum necrotischen Zerfall sehr geeignetes au.
Dass die nachweisbaren Mikrococcen nichts dem Masernprocess Eigenthflmliches
darstellen , wird besonders hervorgehoben. Desgleichen erachtet Guarneri den in
den infiltrirten Partien gefundenen Streptococcus pyogenes nur für einen secundär
eingewanderten Mikroorganismus.
Klinik. Das Bild der früher so oft beschriebenen „malignen"
Masern hat Hekoch in den letzten Jahren nicht mehr beobachtet. Unsere Erfahrungen
sind die gleichen , allenfalls vou einem einzigen Falle abgesehen. Mit Recht macht
der erstgenannte Autor auf die Häufigkeit unerklärlicher Fieberstürme
nach bereits eingetretener Apyrexie aufmerksam. Offenbar bestehen hier Anklänge
an das „Nachfieber", das wir im Artikel Scharlach (vergl. Real-Encyclopädie,
MASERN.
459
II. Aufl., Bd. XVII, pag. 457) näher charakterisirt and inzwischen bei Masernkranken
einige Male, aber nicht entfernt mit der beim Scharlach notirten Häufigkeit ange-
troffen haben. Auch Henoch erwähnt einen entsprechenden Fall.
Zur Zeit der eintretenden Entfieberung beobachtete Loeb die Diazo-
reaction im Harne seiner meisten Morbillenkranken und ist geneigt, die Gegen-
wart von Propepton dafür verantwortlich zu machen. Der Praktiker vermag
von derlei an sich ganz interessanten Befunden einstweilen ebenso wenig Nutzen
zu ziehen, wie von der Entdeckung von Aceton im Urin Masernkranker.
Nicht weniger als zwanzigmal hat Embden unter 461 Fällen echter
Masern das Exanthem ganz vermisst.
Von Complicationen und Nachkrankheiten erwähnen wir
Osteomyelitis, wie sie Dehme einige Male im Bereiche der Tibia constatirt,
Cowperitis, wie sie Röna im Anschluss an hämorrhagische Masern beobachtet
hat, sowie eine eigenartige Affection des Nerven System s '(Meningitis? Neu-
ritis?;, welche Henoch bei einem 3jährigen Knaben in der Periode der Des-
quamation eintreten sah : Zuckungen in dem Gesicht und den rechtsseitigen Extremi-
täten, Zusammenbrechen bei Steh- und Sitzversuchen, weiterhin Apathie bis
Somnolenz, zunehmende Lähmung; dabei Patellarreflexe und Sensibilität erhalten.
Erbrechen und Schreien ; hingegen Sprechen nicht möglich. Verlauf meist fieberlos.
Allmälige, aber complete Heilung in einigen Monaten. Endlich hat Moos beach-
tenswerthe Aufschlüsse über Pilzinvasion des Labyrinths gegeben. Auch hier
handelt es sich um Secundärinfection mit dem Streptococcus. Von 2560 Fällen
von Ohrkrankheiten überhaupt berechnet Blau nicht weniger als 65 in den
Masern wurzelnde.
Fünf Fälle wiederholter („zweitmaliger") Masernerkrankung theilt
Senator mit. Die Intervalle betrugen 3 — 9 Wochen, einmal 10 Jahre.
Von bezeichnenden Combinationen unserer Krankheit mit Scharlach
berichtet Seifert. Es schien, als ob der letztere durch die früheren Masern
eine Abschwächung erfahren hätte. Bei drei Kindern sah v. Gexser Morbillen
den Röthein unmittelbar folgen, was mit Recht für die Selbständigkeit der
letzteren verwerthet wird.
Die Ausführungen des letztgenannten Autors über die Diagnose der
Masern gegenüber den Röthein stimmen in allen wesentlichen Punkten mit den
von uns aufgestellten Sätzen (vergl. Masern und Röthein) überein.
Rücksiohtlich der Vorhersage unserer Krankheit verficht Tobbitz,
was schon früher mehr weniger hervorgehoben , die Anschauung , dass weder
Form, noch Ausdehnung, noch Intensität des Exanthems zu prognostischen
Schlüssen berechtige. Ein langsamer Puls hat als günstiges Zeichen zu gelten, da
er niemals bei letalen Fällen von Tobeitz gefunden worden.
Die hohe Masern Sterblichkeit unter den von uns mehrfach hervor-
gehobenen ungünstigen Bedingungen der krankhaften Anlage, miserablen Ernäh-
rung etc. wird aufs Neue durch Hexoch's und unsere eigene Statistik der
letzten Jahre iliustrirt. Es schwankte die Jahressterblichkeit im Krankenhanse
Friedrichshain 1886 — 90 bei 453 Masernkranken zwischen 13*2 und 30'40/0
(Durchschnitt: 22*6%). Henoch verlor von circa 300 Fällen 30°/0 , innerhalb der
beiden ersten Lebensjahre 55, in den höheren Altersclassen nur 9° 0. Dass die
Morbilli adultorum keineswegs durch besondere Gefahren bedenklich seien, eine
Meinung, die sich mit erstaunlicher Zähigkeit im ärztlichen und Laienpublicum erhält,
widerlegt aufs Neue die Statistik von Bohn, welcher von 34 Erwachsenen nur
einen sterben sah, während 26 einen relativ leichten Verlauf der Krankheit dargeboten,
und von Glück, dessen sämmtliche 33 erwachsene Vertreter der Krankheit genasen.
Wir selbst, die wir in den letzten 4 Jahren den Tod nur eines einzigen dem Kindes -
alter Entwachsenen zu beklagen gehabt, haben ebensowenig Veranlassung ge-
funden, die späteren — freilich nicht durchwegs harmlosen — Masern besonders
zu fürchten. Welch ernste Prognose die Ohrencomplicationen bei Vernach-
460
MASERN. — MEC H ANOTHER APIE.
lässigung gewinnen, hat Blau an der Hand einer eigenen Statistik (die 28 acuten
Fälle von 65 insgesammt heilten durchweg) gezeigt.
Therapie. Rückßichtlich der Prophylaxe wird die Notwendigkeit
einer Isolirung der masernden Kinder schon in der Invasionsperiode und einer
besseren Ueberwachung der Schule mit gleichem Nachdruck wie Recht von
Ollivier betont.
Um mitigirte Formen der Krankheit zu erzielen, hat neuerdings Thom-
son die Präventivimpfung mit dem Blute der Kranken warm empfohlen.
Seine Versuche an Kindern thnn dar, dass die Uebertragung auf dem genannten
Wege erfolgen kann, nicht aber, dass die danach beobachteten milden Formen eine
Folge des Verfahrens darstellen , noch weniger, dass das letztere ein Schutzmittel
für später abgiebt.
In erfreulicher Ueberein Stimmung mit dem Inhalt unserer früheren Aus-
führungen über di& Entbehrlichkeit und Bedenken einer systematischen antipyre-
tischen Behandlung Masernkranker steht die neueste Haltung von Baginsky,
welcher vor der Antipyrese, namentlich vor intensiver Abkühlung gerade bei
unserer Krankheit im Allgemeinen zu warnen nicht ansteht. Nichtsdestoweniger
dürfen wir nicht verschweigen, dass Penzoldt aus einer grösseren eigenen
Statistik für die Pneumonie der Kinder einen Nutzen von der antifebrilen Behand-
lung ableitet.
Im Uebrigen ist Belangvolles nicht zu verzeichnen. Insbesondere müssen
wir die emphatische Empfehlung des salicylsauren Natrons als eines anti-
morbillösen Specificums durch Laggio, sowie des Chlorais als eines neben
Husten, Unruhe, Delirien auch den Krankheitsprocess beeinflussenden Mittels als
ein wenig kritikvolles Unternehmen ansprechen. Zufällige Häufungen günstiger
Fälle haben offenbar zu Täuschungen Anlass gegeben.
Weit übertrotfen aber werden diese Anschauungen durch die Art, mit
welcher Wachsmuth in neuester Zeit die angeblich abortive Gestaltung der
Masern durch den Gebrauch der Mixtura solvens biologisch und bacterio-
logisch begründet, und die Vorstellungen, welche Heer von der „Gegen in feetion"
der untergährigen Bierhefe bei den Masern — „Erfolg überall vorzüg-
lich" — hegt.
Der Leser wird nach dieser Probe dem medicinischen Publicum gebotener
Zumuthungen darauf verzichten, weitere Blasen springen zu sehen, welche der
Strom des ärztlichen Lebens in Bezug auf die Therapie der acuten Exantheme
getrieben.
Literatur: ßohn, Deutsche med. Wochenschr. 1888, Nr. 18. — D e m m e,
24. Jahresbericht des Jenner'schen Kinderspitals. — Embden, Arch. f. Kindhlk. 1889, XI. —
Guarnieri, Boll. d. r. accad. med. di Roma. 1886 87, VI. — He noch, Deutsche med
Wochenschr. 1890, Nr. 50. — Loeb, Arch. f. Kindhlk. 18S7, IXt u. Centralbl. f. klin.
Med. 1889, Nr. 15. — Moos, Untersuchung über Pilzinvasion des Labyrinths bei Masern.
Wiesbaden 1888. — Olli vi er, L'ünion med. 1887, XI. — Pina, L'osservatore. 1888,
5—7. — Seifert, Verhdlgn. d. 7. Congr. f. innere Med. 1888. — Senator, Charit*-
Annalen. 1889, XIV. — Thomson, Glasgow med. journ. Juni 1890. — T o b e i t s, Arch.
f. Kindhlk. 1887, VIII. — Die in der 2. Auflage dtr Real-Encyclopädie von uns erwähnten
Lehrwerke sind zum Theile in neueren Auflagen herausgekommen. Fürbringe r.
Massage, 8. Mechanother apie. — Bei Frakturen, pag. 272.
MaturatiOII der Cataracta, pag. 145.
MechanOtherapie (vergl. Real-Encyclopädie, II. Aufl., Bd. XII, pag. 565
u. ff. und Bd. XXII, pag. 52 u. ff.).
A. Massage.
Die neueren Arbeiten auf dem Gebiete der Massage bezwecken einerseits,
die physiologischen Wirkungen dieser Heilmethode auf den gesunden
und kranken Organismus und damit die Anzeigen und Gegenanzeigen derselben
zu prfteisiren, andererseits dienen sie der Absicht, die genaue Kenntniss der
MECHANOTHERAPIE.
461
Methode, vor Allem ihrer Technik, weitesten ärztlichen Kreisen zugänglich zu
machen. Letztgenanntem Zwecke huldigt namentlich die relativ grosse Zahl der
in jüngster Zeit erschienenen Lehrbücher der Mechanotherapie.
I. Physiologische Wirkung und Indication en.
Eine zusammenfassende Darstellung des derzeitigen, zum Theil auf experi-
menteller Grundlage basirenden Standes dieser Frage giebt Büm in folgenden Sätzen :
1. Massage beschleunigt den Lymph- und Blutstrom. Den
experimentellen Beweis für diese Wirkung der Massage auf den Lymphstrom haben
die bekannten Versuche von Lassar und Mosengeil erbracht Wagner erblickt
in dem Drucke der in centripetaler Richtung (nach dem Herzen zu) streichenden
Hand eine neue Triebkraft für den Blutstrom in den Hautvenen, die auch dem
Strome in den Capillaren und Arterien zu Gute kommt, wobei überdies die Haut-
und Gefassnerven betheiligt sind , deren gelinde Reizung (s. snb 4) Verengerung
der Arterienlumina und damit Vergrößerung der Stromgeschwindigkeit bedingt.
Bei Steigerung dieses Reizes erfolgt wohl Erschlaffung der Arterienmusculatur,
doch behindern die fortdauernden Manipulationen der Massage die Verlangsamung
des Blutstromes. Wir haben daher die für die Resorption günstigsten Ver-
hältnisse: Erweiterte Gefasse bei erhöhter Stromgeschwindigkeit, vor uns. —
Indication: Allgemeine Körpermassage bei torpiden, anämischen und fetten
Individuen behufs Verbesserung der Stickstoffassimilation (Keller's Versuche am
eigenen Körper ergaben neben Steigerung der Chloride und Vermehrung der
Phosphorsäureausscheidung eine durch Anregung der Blut- und Lymphcirculation
bewirkte Ausspülung des Stickstoffes aus den Geweben und gesteigerte
Resorption im Verdauungsapparate [s. sub6], also Steigerung des Stoff-
wechsels), local bei Blutextravasaten, Exsudaten und Transsudaten, wie über-
haupt bei Stauungserscheinungen (Gicht), so bei passiven Hyperämien
(Halsmassage bei venöser Hyperämie im Bereiche der Sohädelhöhle).
2. Muskelmassage wirkt gleich vollständiger Muskel-
perfusion und passiver Muskelgymnastik. Versuche von Zabludowski
und Büm. Indication: Ermttdungszustände und Erkrankungen der Muskeln.
Kräftigung einzelner Muskelgruppen bei Verkrümmungen der Wirbelsäule, bei
Lähmungen, Chorea, Beschäftigungskrämpfen, bei Prolapsus ani, vaginae et uteri,
prophylactisch bei Immobiiisirung von Extremitäten durch starre (leicht abnehm-
bare) Verbände, bei Fracturen und Luxationen, bei längerer Bettlage, ferner
curativ bei Muskelrheumatismus und Myositis, sowie bei der myopathisohen Form
der Hemicranie (Eülenbübg).
3. Massage löst Adhäsionen, glättet rauhe Knorpel-
flächen, verkürzt schlaf fe Ligamente , zerdrückt Wuch eru ngen
und Granulationen und zerstört ihre Gefässe. Der Widerspruch,
welcher in der Behauptung zu liegen scheint, Massage vermöge einerseits ver-
kürztes Gewebe zu dehnen, andererseits aber verlängertes Bindegewebe zur
Schrumpfung zu bringen, wird wohl durch die Annahme widerlegt, dass durch
energischere Massage eine entzündliche Reaction des Bindegewebes hervorgerufen
werde, deren Ausgang Schrumpfung, Verkürzung ist. — Indication: Syndes-
mose der Gelenke, Muskelcontracturen , Adhäsionen der Sehnen, der einzelnen
Beckenorgane nach Peri- und Parametritis, habituelle Distorsionen und Luxationen,
angewachsene Hernien, Teleangiectasien etc.
4. Nervenmassage wirkt als Nervenreiz. Durch mechanische
Eingriffe wird der Nerv in einen Erregungszustand versetzt, welcher sich bei
sensiblen Nerven durch eine Schmerzempfindung, bei motorischen Nerven dureh
eine Zuckung äussert (du Boys-Reymond und Heibenhain). Massiger Druck
steigert, starker Druck hebt diesen Erregungszustand auf (Heidenhain und Gran-
ville), ein Gesetz, welches durch die Untersuchungen Zederbattm's über die von
ihm dem Nervendruck gleichgestellte Nervendehnung erhärtet wird. ; Wir sind
462
MECHANOTBERAPIE.
daher in der Lage, leistungsunfähige, unserer Hand zugängliche Nerven, und
zwar Anästhesien erzeugende sensitive und Lähmungen bewirkende motorische
Nerven, zu erregen und im Zustande der Erregung befindliche sensitive, Neuralgien
hervorrufende und motorische, Krämpfe bedingende Nerven durch Massage zu
beruhigen, indem wir im ersten Falle schwache, im anderen kräftige Reize setzen.
Indication: Neuralgien, Anästhesien, Lähmungen und Krämpfe oberflächlich
verlaufender Nerven.
5. Erschütterung (Vibration) undKlopfung (Tapotement)
scheinen einen den anderen Handgriffen der Massage adäquaten
Einfluss auf quergestreifte und glatte Muskelfasern, sowie auf
Nerven auszuüben und beeinflussen die Function der Circula-
tionsorgane direct und reflectorisch, sowie die Respiration.
Versuche über den Einfluss der Erschütterungen und Klopfungen, welche Hase-
brök in jüngster Zeit angestellt hat, bestätigten die empirisch gefundene Thatsaehe
des den anderen mechanischen Eingriffen adäquaten Einflusses dieser Handgriffe
auf Musculatur und peripheres Nervensystem. Hasebrök wies ferner an der Hand
sphygmographischer Aufnahmen die Abnahme der Pulsfrequenz, die vasomotorische
Erhöhung der Arterienspannung (vielleicht auch des Tonus der Herzmusculatur),
sowie die Blutdrucksteigerung nach und konnte bei Thoraxerschütterung eine
Zunahme der vitalen Capacität der Lunge im Verein mit Abnahme der Kohlen-
säureausscheidung feststellen, welcher der Einfluss der Erschütterungen auf das
Circulationssystem zuzuschreiben ist. Die Indication der von Hasebrök mit
ZANDER'schen Apparaten (s. Heilgymnastik, mechanische) angestellten Manipula-
tionen wäre ausser den allgemeinen Heilanzeigen der Massage bei compensirteo
Herzfehlern (als Prophylacticum) , bei Herzneurosen und bei Lungenkrankheiteo
mit Abnahme der Vitalcapacität der Lunge (Emphysem, chronischer Bronchial-
catarrh etc.) zu suchen.
6. Bauchmassage unterstützt die Functionen des Ver-
dauungstractus. Die bei Atonie des Verdauungstractus vorhandene passive
Hyperämie ist theils als venöse Stase, theils als Innervationsstörung zu erklären,
in Folge welcher die Muskelfasern der Arterien und Venen ihre Energie ein-
büssen und die elastischen Fasern das Ueberge wicht erlangen. Durch Kräftigung
der willkürlichen Muskeln werden , dem Gesetze der Mitbewegung folgend . auch
die organischen Muskelfasern, also auch die Darmmusculatur gestärkt (Joh. Müller).
Durch allgemeine Körpermassage und Gymnastik wird daher auch eine Kräftigung
der Darmmusculatur, ferner (s. 2.) der Bauchmuskeln und hierdurch Anregung
der trägen Peristaltik des Darmes erzielt werden, wozu bei correcter Anwendung
der Bauchmassage die mechanische Fortschaffung der Scybala aus dem Dickdarm
kommt, welch letzterer die Hauptursache der Darmatonie abgiebt (Ozyrniansky .
Hieraus ist auch die günstige Wirkung der Bauchmassage auf atonische Zustände
des Magens zu erklären. Gopadse konnte eine merkliche Zunahme des Salzsäure-
gehaltes des Magens während der Bauchmassage nachweisen, während der allge-
meine Säuregehalt geringer wurde. Damit ging eine Zunahme der Verdauungskraft
einher. — Indication: Atonie des Verdauungstractus , habituelle Obstipation,
Hyperämie der Bauchorgane.
II. Contraindicationen.
1. Absolute Gegenanzeige. Aus den sub 1 der physiologischen
Wirkung der Massage verzeichneten Leistungen dieser Methode resultirten die
wichtigsten Gegenanzeigen derselben. Sie lassen sich in den Satz zusammenfassen:
Contraindicirt ist die mechanische Behandlung von Krankheitsprocessen , deren
Producte, in den allgemeinen Kreislauf gebracht, den Organismus schädigen würden
oder — nach dem gegenwärtigen Stande unseres Wissens — schädigen könnten.
Hierher gehören alle mit Eiterung einhergehenden , sowie septische Localerkran-
kungen, Venenthrombose , acute Entzündungen der Organe (Metritis, Pelveoperi-
MECHANOTHERAPIE.
463
tonitis etc.), locale Störungen, welche im Gefolge von Infectionskrankheiten (acuter
Gelenkrheumatismus, Tuberkulose, Lues, ferner Gonorrhoe) auftreten. — Wohl
hat in jüngster Zeit Kappeler an Thieren nachgewiesen, dass Staphylococcen
dem Versuche, sie durch Massage in die Lymphbahnen zu treiben, erfolgreich
widerstehen, da es zu einem Verschlusse der Lymphwege und damit zur Ver-
hinderung des Weiterschreiten 8 der Infection kommt. Die bisher nur am Knie-
gelenke des Kaninchens mit dem Staphylococcus pyogenes aureus unternommenen
Versuche erklären wohl, warum es in einzelnen Fällen trotz der Massage nicht
zu secundären Infectionen gekommen ist, berechtigen jedoch keineswegs zur Er-
weiterung der Massageindicationen.
2. Relative Gegenanzeigen. Dieselben ergeben sich einerseits
aus den physikalischen Grenzen, welche der Methode gezogen sind, andererseits
aus dem Wesen der Erkrankung. In die erste Gruppe gehören Krankheitsherde
und Organe, welche der Hand des Mechanotherapeuten nur schwer oder gar
nicht zugänglich sind, Complicationen mit Verletzungen und Erkrankungen der
äusseren Decke, welche die Massagemanipulationen erschweren oder unmöglich
machen können, Unwegsamkeit jener Strassen und Wege, welche die zur Resorption
zu bringenden Stoffe zu passiren haben, um in den Kreislauf zu gelangen, also
Gefässverschluss in Folge Tumoren druck, Erkrankungen und senile Veränderungen
der Geftsse etc., zur zweiten Gruppe Erkrankungen, welche durch die immerhin
zarten und vorsichtigen Manipulationen des Mechanotherapeuten nicht beeinflusst
werden können (z. B. wahre Ankylosen). Eine weitere relative Gegenanzeige der
Massage bietet Diabetes mellitus mit Rücksicht auf die hier erhöhte Vulnerabilität
der Gewebe, die Neigung, zumal der peripheren Partien des Körpers, zu schweren
Circulationsstörungen und die grosse Empfindlichkeit der Haut, ferner Gravidität
und Menstruation bezüglich der Bauch- und gynäkologischen Massage, endlich
schwere Allgemeinerkrankungen. Das Fieber selbst kann nicht zu den Gegen-
anzeigen der Massage gezählt werden, falls das Vorhandensein septischer oder
purulenter Stoffe mit Sicherheit auszuschliessen ist, da gerade durch das Fieber
Resorption und Verbrennung befördert werden , ohne dass eine Schädigung des
Gesammtorganismus resultirt.
III. Technik der Massage.
Einige recht bemerkenswerthe Mittheilungen über die Technik der von
ihm geübten Bauchmassage bei Kindern macht Karnitzky. In den ersten
Lebensjahren ist auf die anatomischen Verhältnisse der Bauchorgane (Grösse der
Leber, mehr cylindrische Gestalt des tiefstehenden Magens, Verschiebung des
grössten Theiles des Dünndarmes gegen die linke Bauchseite) zu achten und die
Manipulationen daher auf die unterhalb des Nabels und auf der linken Bauch-
seite gelegenen Partien zu beschränken (Baginsky). Es würde sich, wie bei
älteren Kindern, auch bei Säuglingen empfehlen, die Massage vor einer Mahlzeit
auszuführen ; um jedoch ein starkes Schreien und Pressen zu vermeiden , nimmt
Karnitzky dieselbe an dem saugenden Kinde vor. Die sitzende Mutter legt das
Kind an ihre rechte Brust, der Arzt steht zur Rechten des Kindes. Bei älteren
Kindern können die Schwierigkeiten, welche durch Anspannung der Bauchpresse
entstehen, durch allmälige Steigerung des Druckes zumeist überwunden werdeu.
Bei ungewöhnlich starker Spannung, ein Symptom der Schmerzhaftigkeit des Ein-
griffes, ist die Massage , welche höchstens 10 Minuten in Anspruch nehmen und
nicht öfter als 2mal täglich ausgeführt werden soll, zu unterbrechen. Man beginnt
mit leichten, mit Zeige- und Mittelfinger ausgeführten Reibungen an der linken
Bauchseite, reibt und knetet hierauf mit dem flach aufgelegten Daumen die
Gegend des Colon descendens und beschliesst die Massage mit leichtem Tapote-
ment des Unterleibes mittelst der clavierspielartig sich bewegenden Fingerspitzen.
Bei der grossen Verbreitung, welcher sich die vom schwedischen Gym-
nasten Thürs Brandt empfohlene mechanische Behandlung der Frauenkrank-
betten erfreut, dürfte eine zusammen fassende Schilderung der Technik der
wichtigsten Handgriffe der BRANDTschen Metbode angezeigt erscheinen, welche
1. in Massage in Farm zarter Cirkelreibungen , 2. in Dehnung abnormer Adhä-
sionen und Fixationen, 3. in Hebungen (Lüftungen) des Uterus besteht and
welchen sieh gymnastische Bewegungen anschließen. Die Patientin liegt in Stein
schnittlage („ krumm- halbliegeod") mit angezogenen Schenkeln auf einem kurzen
Sopha oder einer gymnastischen Bank. Der Arzt sitzt zu Füssen der Kranken,
und zwar an der linken Seite derselben , so dass der linke Fuss der Patientin
sich auf den linken Oberschenkel des Arztes stützt, und führt den gut befetteten
linken Zeigefinger unterhalb des linken Knies der Patientin in die Vagina, eventuell
in das Rectum ein. Der Daumen der linken (inneren) Hand steht nach oben
oder liegt, falls der Zeigefinger in das Rectum eingeführt worden, in der Vagina,
die drei übrigen Finger liegen in der Analfalte, die linke Hinterbacke umgreifend,
wobei der Ellenbogen des Arztes auf dessen linken Oberschenkel gestützt werden
kann. Die andere (äussere) Hand liegt flach auf den entblössten, mit den gclöetai
Kleidern wieder bedeckten Bauchdecken und beschreibt, zumal mit den Spitzen
und der Volartiäcbe der Fingert theils oberflächliche, theils tiefer eindringende
Cirkelreibungen , welche mit der in den Finger-, im Hand- und Eübogengelenke
steif gehaltenen Extremität ans dem Schultergelenke vorgenommen werden. Die
innere Hand drängt hierbei die zu ma&airendcn Theile der äusseren Hand gerade
m , wie bei der combinirten gynäkologischen Untersuchung , entgegen. Behufs
Vermeidung geschlechtlicher Reizung bleibe der linke Zeigefinger stets an der
hinteren Vaginalwand. Während der Cirkelreibungen überwindet die äussere Hand
die Spannung der Bauchdecken immer mehr und dringt langsam, die Darm-
schlingen vorschiebend, der inneren Ha od zu , in die Tiefe. Bei Exsudaten wird
zunächst deren periphere Partie in Augriff genommen, um die Geftisse zu ent^
leeren und Platz für Aufnahme neuer Entzündungsproducte aus der Mitte in
schaffen (Ziegenspeck). Der Uterus wird womöglich nur an seiner Rückseite
gerieben, und zwar geht die Richtung der Reibung beim Cervix nach oben, beim
Fundus nach unten. Die Ovarien und Tuben massirt man von der Seite her gegen
den Uterus zu. Die einzelnen Massagebewegungen müssen , der Empfindlichkeit
der Organe entsprechend, äusserst zart und gelenkig ausgeführt werden, so da*a
sie den Kranken nur leichtes Unbehagen, nicht Schmerz verursachen. Sie werden
durch 5 — 10 Minuten, welche durch kurze Pausen unterbrochen werden können,
vorgenommen, Dehnung von Adhäsionen wird in Verbindung mit leichten Cirkel-
reibungen vorgenommen, indem die an der Seite des zu dehnenden Bandes ange-
setzten Finger beider Hände den Uteras langsam in die entgegengesetzte Richtung
ziehen. Fig. 56 illustrirt die Stellung der Hände des Arztes bei Dehnung einer
rechten hinteren Fixation« Nach ausgeführter Dehnung erfolgen abermals Cirkel-
reibungen der Theile, Auch die Dehnungen müssen überaus zart und allinalig
vorgenommen werden. Jeder Versuch, rasch zum Ziele zu gelangen, rückt dasselbe
weiter hinaus.
Zur Reposition des retrofleetirteu Uterus giebt Brandt folgende Methoden
an : a) Die nUmwerfuugu f welche nur bei starrem , aber nicht tixirtem Uterus
gelingt: Durch Bewegung der Portio vaginalis uteri mittelst des linken Zeige
fingers nach hinten und unten wird der Fundus nach vorn und obeu bewegt,
worauf die rechte Hand den Fundus vollständig nach vorn über legt. b) Die
„Kiemmuug" wird ausgeführt, indem die Fingerspitzen der rechten Hand mit dem
Handrücken nach vorn Uber und hinter dem Fundus y der linke Zeigefinger im
vorderen Scheidengewölbe eingesetzt und der Uterus vor der Rückenflacbe der
Äusseren Hand emporgeschoben wird, c) Die „Einhakung", bei weicher und bieg-
samer Gebärmutter angezeigt, wird vorgenommen, indem die Fingerspitzen der
äusseren Hand hinter die rechte Tubenecke zu gelangen trachten und der innen
Finger, im hinteren Scheidengewölbe angesetzt, den Uteruskörper empordringt
So wird zuerst die rechte, dann die linke Tubenecke nach vorn umgelegt, d) Der
MECHANOTHERAPIE.
465
„Redressionsdruck", bei sehr biegsamem Uterus und tief liegendem Fundus geboten,
wird folgendennassen ausgeführt: Während der innere Finger den Fundus im
hinteren Scheidengewölbe emporhebt, werden die Fingerspitzen der äusseren Hand
yon den Bauchdecken aus von vorn nach hinten gegen den Knickungswinkel
angesetzt und nach hinten bewegt, hierauf diese Stelle gegen das Kreuzbein
angedrückt und so lange in dieser Lage gehalten, bis der innere Finger aus dem
hinteren in das vordere Scheidengewölbe gewandert und gleichfalls vorn angesetzt
ist. Nun bewegen beide Hände den an die vordere Kreuzbeinfläche angedrückten
Uterus nach oben, bis sein Fundus über den Beckeneingang hervorragt. Nunmehr
wird die äussere Hand oberhalb des Uterus aufgesetzt und der Fundus durch
Massagebewegungen nach vorn gebracht, e) Bei der „Ventrovaginal-rectal-Redres-
sirung", welche bei hoch oben und hinten liegendem Uterus angewendet wird,
führt man den linken Zeigefinger hoch hinauf in das Rectum, den Daumen in
die Vagina und drückt die Portio nach rückwärts. Der linke Zeigefinger schiebt
den Fundus nach vorn, die äussere Hand bewegt ihn unter Cirkelreibungen und
Zitterbewegungen nach vorn über. Gelingt die Redressirung nicht in Rückenlage
der Kranken, so ist sie im Stehen derselben zu versuchen. Ist der Uterus in
Retroflexion fixirt, so muss der Reposition die Dehnung der Fixation vorhergehen.
Die Hebung („Lüftung") des Uterus wird von einem Assistenten ausge-
führt, während der Arzt die Controle übt. Stellung der Patientin und des Arztes
wie bei der Massage (s. o.). Letzterer schiebt mit dem im vorderen Scheiden-
gewölbe angesetzten linken Zeigefinger die Portio kräftig nach hinten und oben,
die rechte Hand über dem Hemde auf die Baachdecken legend. Die Fingerspitzen
der äusseren Hand, welche dem Assistenten als Führer dienen sollen, damit dieser
seine Hände gewiss unterhalb des Uterus ansetze, liegen in der Excavatio vesico-
uterina und tasten der inneren Hand entgegen. Der Assistent stellt sich nun zu
Füssen der Patientin, sein Oesicbt dem ihren zugewendet. Während der rechte
Fuss des Assistenten hart neben dem Lager auf dem Boden steht, wird sein
linkes Knie möglichst nahe dem Becken der Kranken nach aussen von deren
rechtem Fusse auf das Lager aufgesetzt. Hierauf setzt der Assistent seine beiden
Kncyclop. Jahrbücher. I. 30
Fig. 56.
(Nach Ziegenspeck.)
ME< HA \i >THER APiE.
Hände dicht unterhalb der rechten Hand des Arztes so auf das Abdomen
Kranken auf, dass die Ulnarränder sich berühren und die Yoiarfläehen dem Ge-
sichte der Patientin zugekehrt sind, und beugt sich mit seinem Oberkörper so
weit über die Patientin , dass sein Kopf ihr Gesicht beinahe berührt. Wahrend
nun der Arzt seine fechte Hand entfernt, liegen die Hände dea Assistenten, dessen
Ellbogengelenke gestreckt bleiben , den Bauchdecken glatt auf T die Ballen nach
oben , die Fingerspitzen gegen die Symphyse gewendet. (Fig. 57 illustrirt das
Ergreifen des Uterus durch die Hände des Assistenten. Die laugen Pfeile
deuten die Stellen an, wo die Hände des Arztes sich befinden.) Je weiter
sich der Assistent Uber die Patientin beugt, desto weiter biegt er die an
seinen Unterleib angelehnten Sehenkel derselben und begünstigt hierdurch die
Erschlaffung der Bauehdeoken. Während die Patientin mit offenem Munde ruhi^
athmet, drückt der Assistent die Finger beider Hände tiefer und tiefer gegen
den Beekeneingang, wobei der controlirende Arzt im vorderen Sc h eidenge wölb«
die Finger des Assistenten tiefer und tiefer eindringen fühlt, Ist dies ad niaximutu
erfolgt, so richtet sieh der Assistent langsam aufT krümint gleichzeitig seine
Finger- und Ellbogengelenke nach aufwärts und hebt dadurch den Uterus nach
Brandt die Hebung nur so weit fortsetzen, bis die Theile sich anspannen,
welche vom Ostium internum nach beiden Seiten und gegen das Schambein
nach vorn ziehen, gebietet dem Assistenten Halt und lässt nach einer Pau>e
von 1 — 2 Secunden diesen auf ein zweites Commando die Hände rasch in
der Riobtung nach oben (vorn) entfernen. Hierbei schwankt der Fundus und
berührt die tastenden Finger. Bei Prolaps wird die Uterushebung ohne Rück-
sicht auf die Ligamente möglichst weit fortgesetzt und der Uterus, stets n&fh
vorn und oben andrängend, langsam losgelassen. Bei seitlicher Abweichung dea
Uterus in us s mit der auf der Seite der Deviation befindliehen Hand stärker
gehoben werden.
Schliesslich verwendet Brandt „Nervendrückungen" und „Kreuzbein*
klopfungen u. Bei Drückung des X. pudendus setzt der Arzt die Spitzen zweier
Finger hinter dem Anus auf und drückt so kräftig nach oben, dass leichte»
Sehmerzgefühl hervorgerufen wird. Bei der Hypogastricusdrückung dringt der
Arzt mit beiden , eventuell über einander gesetzten , mit der Handfläche lateral
gestellten Händen tief in den Abschnitt des kleinen Beckens ein und drückt, die
MECHANOTHERAPIE
467
Finger paimarwärts krümmend, stark gegen die seitliche hintere Beckenwand. —
Die „Kreuzbeinklopfung" hat folgende Technik: Die Patientin steht mit ge-
schlossenen Fussspitzen nnd von einander entfernten Fersen dicht nach vorn
gebeugt („sturzfallend"), mit den Händen an die Wand gestützt. Der zur linken
Seite stehende Arzt applicirt nun mit der halbgeschlossenen rechten Faust je 5 bis
6 Schlage zu beiden Seiten der Kreuzwirbel, die Patientin mit seiner Linken
umfassend.
Die wichtigsten gymnastischen Bewegungen, welchen Brandt
grosse Bedeutung bei der gynäkologischen Massage beilegt, sind, neben „ablei-
tenden" und „zuleitenden" (s. u.), jene Uebungen, welche die Kräftigung der
Addnctoren und Abductoren der Oberschenkel und damit (nach Preüschkn) des
Beckenbodens bezwecken, die Knieschliessung und Knietheilung.
a) Knietheilung. Patientin, in krummhalbliegender Stellung wie
bei der Massage (s. o.), erhebt das Kreuzbein, sich auf die Ellbogen stützend.
Arzt an der unteren linken Ecke des Lagers. Ausgangsstellung : Kuiee geschlossen.
Der Arzt setzt den Ballen der linken Hand auf die Innenseite des rechten Knies,
umfasst mit den Fingern der Rechten die Innenseite des linken Knies und ent-
Fig. 58.
(Nach Ziegenspeck.)
fernt, indem die Patientin Widerstand leistet, die Kniee der Kranken in der
Weise von einander, dass er mit dem linken Arm das rechte Knie nach rechts,
mit dem rechten das linke Knie nach links drängt. Hierauf nähert die Patientin
ihre Kniee einander unter Widerstand des Arztes (Adiuctorenübung).
b) Knieschliessung. Dieselbe Stellung beider Theile. Ausgangs-
Stellung: Kniee geöffnet. Der Arzt legt seine rechte Hand an die Aussenseite
des rechten, seine Linke an die Aussenseite des linken Knies und drückt, während
die Patientin mit erhobenem Kreuzbein Widerstand leistet, die Kniee zusammen.
Hierauf öffnet die Patientin unter Widerstand des Arztes die Kniee (Abductorenübung).
Zu den activen, muskelkräftigen Uebungen gehört die Anweisung, mit
überschlagenen Beinen, das Kreuz gegen eineu Tischrand gelehnt, stehend, den
Levator am zu innerviren, als ob man den Stuhl zurückhalten wollte.
Als Beispiel einer „zuleitenden" Bewegung (z.B. bei Dysmenorrhoe
in Folge von ungenügendem Füllungsgrade der Gefasse der Genitalien) führt
V. PbbüSCHBN folgende Hebung an : „Patientin liegt in Steinschnittlage mit stark
angezogenen Knieen auf einem Ruhebett. Der Arzt tritt zur rechten Seite, mit
seinem Gesieht dem Kopfende der Patientin zugewendet. Hierauf fasst er mit
30*
4iS
M E CHA NOTHER APIE. — MELANURIE.
der rechten Hand einen Fuss derselben, entweder, indem er die Hand nm die
Knöchel herumlegt oder die Fasssohle von unten her umgreift. Die andere Hand
umfasst von unten die Kniekehle. Indem nun die Patientin jede Con-
traction der Muskeln sorgfältigst vermeidet, werden mit dem
kräftig gefassten Bein Rotationsbewegungen, bei welchen das Knie einen Bogen
in der Richtung nach oben und aussen (nicht nach innen) beschreibt, rasch
hintereinander ausgeführt. Im Anschluss an die Rotationsbewegungen (15 — 20mal)
wurden alsdann schnell auf einander folgende Streck- und Beugebewegangen des
Knies vom Arzte vorgenommen. Hierauf wird dieselbe Bewegung mit dem
anderen Bein ausgeführt."
Entgegengesetzten Effect haben die „ableitenden" Bewegungen (bei
Blutungen etc.), als deren Paradigma folgende Uebung beschrieben werden mag:
„Patientin steht mit dem Rücken gegen eine Wand gelehnt. Der Arzt
steht vor derselben und ergreift mit seiner rechten Hand die Ferse des linken
Fusses der Patientin, während sich seine linke Hand leicht auf die Hüfte der
Patientin stützt. Das ergriffene Bein wird nun langsam unter Widerstand
der Kranken in gestreckter Stellung so lange nach vorn und oben (in der
Sagittalebeue) geführt, bis es nahezu parallel dem Fussboden und somit fast
rechtwinklig zur Körperaxe der Patientin steht. Ist dieser Punkt erreicht, so
werden die Rollen getauscht. Die Patientin führt nun unter Widerstand
des Arztes das Bein genau in derselben Weise wieder in die Ausgangs-
stellung zurück. Hiernach findet die Uebung mit dem anderen Bein statt. Diese
Bewegung wird 5 — 6mal wiederholt. Die Grösse des Widerstandes richtet sich
nach dem Kräftezustand der Patientin; mit der zunehmenden Kräftigung der
Musculatur wird derselbe verstärkt. Während der Bewegung muss die Patientin
eine gleichmässige, ruhige Athmung unterhalten. u
B. Gymnastik.
Die Fortschritte auf dem Gebiete der Gymnastik gipfeln in der zumal
in grösseren Städten immer breiteren Boden gewinnenden Benützung der von
Zander construirten Apparate für active und passive Gymnastik, deren Werth
und Indicationen im Artikel Heilgymnastik der „Encyclopädischen Jahrbücher"
besprochen wurden. Wir begnügen uns an dieser Stelle, auf die diagnostische
Bedeutung dieser Apparate bei Beurtheilung von Bewegungsstörungen nach Unfällen
und Verletzungen hinzuweisen, welche mit Rücksicht auf das Unfallversicherungs-
gesetz erhöhte Wichtigkeit erhält.
Literatur: A. Bum, Der gegenwärtige wissenschaftliche Standpunkt der Mechano-
therapie. Vortrag im „Wiener med. Doctoren Collegium". Wiener med. Presse. 1839, Nr. 44 u. ff. —
Derselbe, Artikel „Mechanotherapie" im „Therap. Lexikon". Wien nnd Leipzig 1891. —
Wagner, Die Massage und ihr Werth für den praktischen Arzt. Berliner kliu. Wochenschr.
1876, Nr. 45 u. f. — Keller, Ueber den Einfluss der Massage auf den Stoffwechsel des
gesunden Menschen. Correspondenzbl. f. Schweiz. Aerzte. 1890. — Bum, Ueber den Ein-
fluss der Massage auf die Harnsecretion. Zeitschr. für klin. Med. XV, 3. — Hasebrök,
Erschütterungen in der Zander'schen Gymnastik. Hamburg 1890. — Kappeler, Beitrag
zur Kenntniss der Massagewirkung. Fortschr. der Med. 1890, Nr. 7. — Karnitzky, Bauch-
massage an Kindern bei Stuhlverstopfung. Archiv für Kinderheilk. XII, 1, 2. — Th. Brandt,
Behandlung weiblicher Geschlechtskrankheiten. Berlin 1891. — Ziegenspeck, Ueber T hure
Brand t's Verfahren der Behandlung von Frauenleiden. Volkmann's Samml. klin. Vorträge.
Nr. 353/4. — v. Preuschen, Die schwedische Heilmethode in der Gynäkologie. Berliner
klin. Wochenschr. 1891, Nr. 5. — Von neueren Lehr- und Handbüchern der Masssage verdienen
Erwähnung: Dollinger, Die Massage für Aerzte und Studirende. Stuttgart 1890. —
Woltzendorff, Die Massage in ihrer Bedeutung für den praktischen Arzt. Hamburg 1890. —
Kleen, Handbuch der Massage. Autor. Uebersetzung von G. Schütz. Berlin 1890.
Bum.
Melanurie. in zwei Fällen von melano tischen Tumoren, welche V. Jaksch
beobachtete , gab der etwas dunkelgefarbte Harn mit 5°/0iger Chroms&ure-
lösung einen schwarzen Niederschlag, mit Zeller's Reagens (3°/0 ßromwasser)
erst allmälig eintretende Dunkelfärbung ; wie letzteres verhielten sich Chlorwasser
MELANURIE. — METHYLENBLAU.
469
und unterchlorigsaures Natron. Als empfindlichstes Reagens wirkte Eisenchlorid,
welches noch in sehr verdünnten Lösungen einen schwarzen Niederschlag bewirkte.
Der in solchen und ähnlichen Harnen mit Nitroprussidnatrium, Laugen und Säuren
entstehende Farbstoff (Reaction von Thormälen und H. Lorenz) ist Berliner-
blau, hängt jedoch mit der Ausscheidung von Melanogen und Melanin nicht
zusammen und findet sich auch in anderen, vor Allem an indigoliefernder Substanz
reichen Harnen. Siegfried Pollak, der in einem von Stiller beschriebenen
Falle von Melanurie den Harn untersuchte, fällte den schwarzen Farbstoff des
Harnes beinahe vollständig mit einer Mischung von gleichen Theilen Bleizucker
und Bleiessig. Der mit Schwefelwasserstoff zersetzte Niederschlag gab ein beinahe
farbloses Filtrat, welches sich beim Stehen an der Luft grauschwarz färbte. Der
nach dem Verdampfen des Filtrates bleibende Rückstand war eine braunschwarze
Masse, die sich in Wasser, concentrirter Essig-, Salpeter-, Salz- und Schwefel-
säure mit schwarzer Farbe löste. Die Asche des Farbstoffes zeigte reichlichen
Gehalt an Eisen, Stickstoff und Schwefel. Aus dem Vorhandensein der Melanurie
lässt sich nicht mit Sicherheit folgern, dass der an einem Organe sichtbare
melanotische Process auch bereits in inneren Organen Metastasen erzeugt hat,
tritt jedoch nach der Exstirpation von melanotischen Geschwülsten der Haut
oder des Augapfels Melanurie auf, bevor noch die physikalische Untersuchung
eine Vergrösserung innerer Organe nachweisen kann, so kann man aus dem Auf-
treten des Melanogens oder Melanins im Harne den Schluss ziehen, dass sich
.metastatische Herde in den inneren Organen gebildet haben. Mörner stellte aus
den Geschwülsten und dem Harne eines an Melanose leidenden Patienten das
Phymatorhusin als einen amorphen, schwarzbraunen, in Alkalien oder Alkali-
carbonaten löslichen, in warmer Essigsäure von 70 — 75°(0 unlöslichen Farbstoff
dar, der in alkalischer Lösung keinen Absorptionsstreifen zeigte und gegenüber
Nencki und Sieber eisenhaltig gefunden wurde. Die auf aschenfreie Substanz
bezogene Zusammensetzung desselben war C 55*76, H 5 95, N 12*27, S 9*01 und
Fe 0*20 in 100 Theilen. Auch der zweite im melanotischen Harne vorkommende
schwarze Farbstoff, der in Essigsäure löslich war, enthielt Eisen.
Literatur: R. v Jaksch, Beitrag zur Kenntniss des Verhaltens des Harnes
bei der Melanurie. Zeitschr. für physiol. Chem. XIII, pag. 394. — B. Stiller, üeber Melanurie.
Budapesti orvosegyesület 1889; Intern. Centralbl. für die Phys. und Pathol. der Harn- und
Sexualorgane. 1890, pag. 302. — Siegfr. Pollak, Untersuchungen über Melanurie. Orvosi
fcetilap. 1889, Nr. 38— 40. — K. A. H. Mörner, Zur Kennt oiss von den Farbstoffen der
melanotischen Geschwülste. Zeitschr. für phys. Chem. XI, pag. 66. Loe bisch,
Melkerkrampf, s. Beschäftigungsneurosen, pag. 93.
Meningitis bei Abdominaltyphus, pag. 8.
Menthol. Im Arzneibuch für das deutsche Reich, 3. Ausgabe, neu
aufgenommen.
MerCUrialisation bei Abdominaltyphus, pag. 13.
Methylenblau, C16 Hl8 SCIN, von Ehrlich und Lrppmann als Analgeti-
cum in Form von subcutanen Injectionen und innerlich empfohlen. In der Thatsache,
dass gewisse Farbkörper zu bestimmten Organtheilen besondere Affinitäten besitzen,
liegt eine Anregung, bestimmte Stoffe im Sinne einer localisirenden Organtherapie
zu verwerthen. Nachdem nun Methylenblau eine auffallende Verwandtschaft zum
Nervensystem , vor Allem zu den Achsencylindern der sensiblen und sensorischen
Nerven, zeigt , prüften die obgenannten Autoren zunächst die schmerzbeeinflussende
Wirkung dieses Körpers. Sie fanden, dass Methylenblau thatsächlich bei bestimmten
Formen schmerzhafter Localaffectionen , d. h. bei allen neuritischen Processen und
bei rheumatischen Affectionen der Muskeln, Gelenke und Sehnenscheiden, schmerz-
stillend wirkt, und zwar ist die Wirkung eine eigenartige ; sie beginnt ausnahms-
los erst einige Stunden nach der Einverleibung und steigert sich bei gehöriger
Dosirung allmälig bis zum völligen Nachlass der Schmerzen.
470
METHYLENBLAU. — MIGRAINE.
Diese Form der Wirkung wird durch die von Ebblich festgestellte
That sache erklärt, dass nach Injection von Methylenblau in das lebende Thier
die sofort eintretende Färbung der Nerven im Laufe der ersten Stunden eine
Aendemng dadurch erfahrt, dass die zunächst diffuse Bläuung verschwindet und
dafür unregelmässige, intensiv blaue Körnchen in den Achsencylindern der Nerven -
stämmchen auftreten, die schliesslich aus den Nerven eliminirt werden. Es scheint
sich also eine unlösliche Verbindung zwischen Farbstoff und gewissen Bestand-
teilen der NervensubBtanz zu bilden, welche den chemischen Zustand der Nerven
ändert und dadurch zeitweise schmerzlindernd wirkt.
Das Mittel geht rasch in die Blutbahn über; lji — 1 Stunde nach der
innerlichen Darreichung oder Injection wird der Urin hellgrün, nach 4 Stunden
dunkelblau. Bisweilen tritt die Färbung erst nach dem Erhitzen oder nach einigem
Stehen ein (wegen Bildung von Leucomethylenblau) , auch Speichel und Fäees
zeigen bläuliche Färbung, Haut, Schleimhäute und Sclera dagegen nicht. Der
Urin enthielt nie pathologische Bestandteile. Appetit, Verdauung ändern sieh
nicht , unter 40 Fällen trat nur zweimal unter besonderen Umständen (anämischer
Herzkranke und schon bestehender acuter Magencatarrh) Erbrechen auf.
Subcutan zu 0*02 — 0*08 (es lassen sich concentrirtere Lösungen als
2%ige nicht herstellen) oder innerlich zu 0*1 — 0*5 in Gelatinekapseln. Die
höchste Tagesdosis beträgt 1*0. Die Injectionen sind schmerzlos und bis auf eine
nach einigen Tagen verschwindende teigige Geschwulst auch reactionslos.
Gegen Knochenschmerzen Luetischer, Schmerzhaftigkeit eines Magen-
geschwüres, psychische Erregungszustände war das Mittel wirkungslos. In zwei
Fällen von spastischer Migräne wirkte es günstig. Combemale und Fbancois
bestätigen die analgetische Wirkung des Methylenblau bei einfachen Neuralgien,
auch beim acuten Gelenksrheumatismus. Doch beobachteten sie am Hunde inten-
sive Störungen der Magen- und Darmfunction. Beim Meerschweinchen zeigten sieh
bei toxischen Dosen Muskelsymptome, Blaufärbung sämmtlicher Organe mit Aus-
nahme von Leber und Niere. Der Urin blieb beim Menschen 4 Tage nach ein-
maliger Aufnahme des Mittels noch blau gefärbt.
Literatur: P. Ehrlich und A. Leppmann, Ueber schmerzstillende Wirkung
des Methylenblau. Deutsche med. Wochenschr. 1890, Nr. 23. — Combemale u. Francois,
Physiologische und therapeutische Eigenschaften des Methylenblau. *La semaine med.
1890, Nr. 31. Loebisch.
Methylviolett, s. Anilinfarbstoffe, pag. 47.
Migraine (vergl. Real Encyclopädie , IL Aufl., Bd. VIII, pag. 80). In-
teressante Mittheilungen sind in neuester Zeit von Blocq (Publicat. da progrta
m^dical; Archiv, de neurologie. 1889, Nr. 54) und von Babinski (Publicat da
progres m^dieal. 1891 ; Archiv, de neurol. Nr. 60) über die sogenannte Migraine
Ophthal mique , deren Zusammenhang mit allgemeiner Paralyse , Tabes,
Hysterie, Epilepsie u. s. w. gemacht worden. Als Migraine ophthalmique wird
der von Sehstörungen, besonders eigentümlichen Skotomen begleitete anfallsweise
Kopfschmerz bezeichnet, der sowohl ohne sonstige Complicationen , wie auch in
Verbindung mit Sprachstörungen (transitorischer Mntismus) und anderweitigen
motorischen und sensiblen Störungen vorkommen kann und von anderen Migraine-
formen zu trennen ist. Sie ist besonders häufig bei Arthritikern und bei Neuro-
pathischen; speciell kann sie als Prodrom sowohl wie als Begleiterscheinung
von Hysterie und von allgemeiner Paralyse vorkommen. Auf das prodromale
Auftreten bei letzterer Krankheit hat zuerst Charcot, dann Parinaud aufmerk-
sam gemacht; Blocq theilt einen Fall eigener Beobachtung mit, wobei jedoch
die Anfalle der Hemicrania ophthalmica und gleichzeitiger Hemiparästhesie nicht
der allgemeinen Paralyse voraufgingen, sondern erst im Verlaufe der letzteren
hinzutraten. BLOCQ betrachtet sie als abhängig von der diffusen Meningo-Ence-
phalitis, als dem pathologisch-anatomischen Substrat der allgemeinen Paralyse,
MIGRAINE. — MIKROBEN.
471
and zwar entsprechend einer besonderen Localisation des Krankheitsprocesses ; die
„sensible Epilepsie" — wie er Anfälle dieser Art bezeichnen will — steht
auf gleichem Boden mit der partiellen motorischen Epilepsie, wovon ja ebenfalls
im Verlaufe dieser Krankheit vielfach Anfälle vorkommen. Bei der mit Sprach-
störung (Aphasie) einhergehenden Migraine ophthalmique scheint es sich am einen
arteriellen Geffesskrampf im Bereiche der Sylvisohen Grabe and dadurch bedingte
transitorische Anämie der Sprachwindungen zu handeln (Fjsre). Die motorisch-
sensiblen Störungen in Form von Hemiopie, Aphasie, Hemiplegie u. s. w. können
jedoch bald von rasch vorübergehender, bald von mehr andauernder Natur sein.
Diagnostisch ist es daher anter Umständen schwer zu entscheiden, ob z. B. eine
Sprachstörung, die nach einem derartigen Bügraineanfall zurückbleibt, nur ein
Residuum der letzteren oder den Beginn einer diffusen Meningo-Encephalitis dar-
stellt. Im ersteren Falle wäre, wie Blocq meint, unter Bromidbehandlung Heilung
zu erwarten, während im letzteren Falle die Prognose ganz ungünstig wäre.
Besonders schwierig ist die Unterscheidung bei der sogenannten congestiven Form
(Falret) der allgemeinen Paralyse, wobei Wahnideen Anfangs vollständig fehlen.
Bei hysterischer Hemicrania ophthalmica sind übrigens bleibende Störungen der
geschilderten Art nach Babixski bisher nicht mit Sicherheit beobachtet worden. —
Neuerdings wurde von Oppenheim ein Fall von Hemikranie mit anfangs vorüber-
gehenden, später dauernden aphatischen Störungen publicirt, in welchen bei der
Section eine Thrombose der linken Carotis interna nachgewiesen wurde
(Charite-Annalen, 15. Jahrgang, 1890).
MikrObSII. Man versteht darunter mikroskopische Organismen, die eine
Uebergangsstufe zwischen Pflanzen und Thieren einnehmen. Wir wollen hier nur
die den Arzt am meisten interessirende Gruppe der B a o t e r i e n besprechen und
zwar müssen wir in Ermangelung einer systematischen Darstellung dieses Gegenstandes
in der Real-Encyclopädie eine zusammenhängende Besprechung der allgemeinen
Morphologie und Biologie der Bacterien, sowie der Methodik der Bacterienforschung
mit vorwiegender Berücksichtigung der neueren Literatur geben. Bacterien sind
einzellige, auf der tiefsten Stufe des Pflanzenreiches stehende organische Wesen.
Die Bacterienzelle besteht ihrer Hauptmasse nach aus einem, mit dem gewöhnlichen
Zellei weiss identischen Protoplasma und einer dasselbe umgebenden Membran.
Ersteres ist bei den meisten Bacterienarten chlorophyllfrei und farblos, doch
giebt es manche Bacterienarten, deren Protoplasma Chlorophyll enthält. Manche
Bacterien zeigen in ihren Culturen verschiedene Farben (roth, blau, grün), doch
ist mit grosser Wahr scheinlichkeit anzunehmen, dass dieser Farbstoff nicht der
Bacterienzelle als solcher angehört, sondern als Lebensäusserung der Bacterien,
als im Nährsubstrate erzeugte Stoffwechselproducte derselben anzusehen sind. Dafür
spricht die Anhäufung des Farbstoffes in Form von Körnchen beim Bac. prodigiosus,
ferner die von mir wiederholt gemachte Erfahrung, dass bei Filtration von
Culturen des Bac. prodigiosus oder des Bac. pyoeyaneus durch BREYER'sche
Mikromembranfilter der rothe, beziehungsweise der grünlich fluorescirende Farb-
stoff in das absolut sterile Nährsubstrat übergeht. Für manche relativ gröbere
Arten, wie z. B. die Beggiatoa reoseo-persicina, ist jedoch der Beweis erbracht
worden, dass das Protoplasma selbst rosaroth gefärbt ist. Bei einigen Bacterienarten
lässt sich durch Prüfen mit Jod die Gegenwart von Stärke im Protoplasmainhalt
nachweisen. In der allerjüngsten Zeit ist es Büchner gelungen, Bestandteile des
plasmatischen Inhaltes des Bacterienkörpers, sog. Bacterienprotefne, darzu-
stellen , die beim Thier und Menschen eine intensive, Entzündung erregende
Wirkung ausüben. Solche Proteine wurden bis nun von 7 Bacterienarten dar-
gestellt: Bac. pyoeyaneus , Staphylococcus pyogenes aureus, Typhusbacillus,
Bac. subtüxs, Milchsäurebacillus, Pneumoniebacillus, rother Kartoffelbacillus.
Die Membran der Bacterienzelle besteht aus einem celluloseähnlichen
Kohlehydrat, und bildet nach de Baby nur die innerste dichteste Schichte einer
470
METHYLENBLAU. — MIGL.
Diese Form der Wirkung wird durch
Thafsache erklärt, dass nach Injeetion von Meth
die sofort eintretende Färbung der Nerven im I
Aenderung dadurch erfahrt, dass die zunächst di
dafür unregelmässige, intensiv blaue Körnchen in
stämmchen auftreten, die schliesslich aus den Ne
sich also eine unlösliche Verbindung zwischen I
theilen der Nervensubstanz zu bilden, welche der
ändert und dadurch zeitweise schmerzlindernd v.
Das Mittel geht rasch in die Blutbahn
innerlichen Darreichung oder Injection wird de;
dunkelblau. Bisweilen tritt die Färbung erst n.v
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zeigen bläuliche Färbung, Haut, Schleimhäute
Urin enthielt nie pathologische Bestandteile,
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Literatur: P. Ehrlich und A. 1.
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1890, Nr. 31.
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Auftreten bei letzterer Krankheit
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die Anfalle der Hemicrania ophV
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hinzutraten. Blocq betrachtet
phalitu, als dem pathologisc
nur bei Bacillen und bei
:>m1 aus dem Körper der
* dienende Zellen, die unter
Individuen derselben Art
-ind. Je nach der Art ihrer
und Arthrosporen. Die
- das Protoplasma der Baeterien-
;«obeu bekommt, diese dunkleren,
oonfluiren oder grösser werden
rienprotoplasma absohliessen. Die
tn*s, hell glänzendes, stark licht-
1 1 •i'c fertig gebildet ist, beginnt die Sub-
Mcmbran der Mutterselle löst sich auf und
..i;.^* Zeit unverändert, bis sie auf einen
L'c!;insreuT woselbst sie zu einem Bacillus
dass die Spore ihren Glanz und ihre
MIKROBEN.
473
»ich immer mehr nach der Richtung ihrer Längsaxe
'ilt der Mutterzelle besitzt. Bei manchen Bacterien-
'rengt und der Bacillus wird frei, bei anderen
et in die Bacillenmembran. Der Sitz der
■i manchen Bacterien tritt die Spore in der
oren an einem Ende, daher die Bezeichnung
.re Sporen. Während der Sporulation nehmen
.n. So entstehen bei der endständigen Sporen -
•hens an dem die Spore bergenden Ende, die
Köpfchenbacterien, während bei den
wellung nach beiden Seiten in spitze Endstücke
s'»g. Clostridien, entstehen,
iue ausserordentlich feste und dichte Membran,
• rr Resistenzfähigkeit gegen äussere Einflüsse ver-
ton sehr widerstandsfähig gegen die den Bacterien
ilitze, Kälte. Austrocknung, chemische Agentien etc.
ren Resistenz der Sporen, namentlich gegen die
img der Hitze betrifft, so ist dieselbe, nach einer
=ts ausgeführten Arbeit von Lewith, darin zu suchen,
i wesentlich wasserärmer ist, also das sonstige Zellen-
weiss aber hohe Temperatur aushält, ohne zu coaguliren. —
\ innen die Sporen nicht nur in biologischer Hinsieht eine
.. iem sie als „Dauersporen" vielmehr zur Erhaltung
.> „vegetativen Formen1*, sondern auch in praktischer
iiintniss für die Aetiologie und Pathogenese, ja sogar für
iierapie mancher Infectionskrankheiten von Bedeutung sein
t r den Farbstoffen verhalten sich die Sporen anders als die
: rend das Protoplasma der letzteren eine grosse Affinität zu
— eine Eigenschaft, die für die mikroskopische Untersuchung
. ! >sser Bedeutung ist — hält die Sporenmembran die Farblösungen
'lie Sporen innerhalb des gefärbten Bacterienleibes ungefärbt
xlere Methoden zu ihrer tinctoricllen Darstellung noth wendig sind,
tili die Bedingungen betrifft, unter welchen die Sporenbildung
ind dieselben noch sehr wenig ergründet. Die Angabe, dass die
■•Ijrt , wenn der Nährboden erschöpft ist, oder wenn eine weitere
u Folge der Anhäufung der eigenen Stoffwecbselproducte unmöglich
uicht für alle Bacterienarten zu. Bei den Milzbrandbacillen z. B.,
<• Sporenbildung am besten und meisteu studirt worden ist, findet
statt zu einer Zeit, wo noch der Nährboden zur Vegetation der
.u reicht. Man kann sich davon leicht durch einen Versuch überzeugen,
•ederholt zu anderen Zwecken ausgeführt habe: Sterilisirt man eine
iiiu-illencultur, in der schon Sporen vorhanden sind, entweder durch
: uler durch Filtration, lässt den Nährboden einige Tage bei Brut-
.'Uir stehen, um sich zu überzeugen, dass er wirklich steril ist, und bringt
Milzbrandbacillen hinein, so entwickeln sich dieselben ganz gut, ein Beweis
. dass noch hinreichend Nährmaterial vorhanden ist. Da bei manchen
rienarten (Milzbrand) die Sporenbildung unter denselben Bedingungen statt-
die auch für die Entwicklung der vegetativen Formen die günstigsten
Bruttemperatur, Zutritt von Sauerstoff), so ist die Annahme nicht unbe-
iiti<rt, dass die Sporulation gerade auf der Höhe der Entwicklung der Bacterien
rmlgt. Andererseits verlieren die Milzbrandbacillen, nach neueren Untersuchungen
ükhring , K. B. Lehmann, Büchner etc.), unter schädigenden Einflüssen für
nirner die Fähigkeit , Sporen zu bilden. Auch die Keimfähigkeit der Sporen kann,
n.ich Untersuchungen von Arloing , Roux und Strauss , unter dem Einflüsse des
Sonnenlichtes und des Sauerstoffes verloren gehen.
474
MIKROBEN.
Die Arthrosporenbildung findet in der Weise statt, dass sich einzelne
Glieder vom Zellenverbande loslösen und, ohne ihre Gestalt wesentlich zu ver-
ändern, zu neuen Bacterienvegetationen sich entwickeln. Diese Art von Sporen-
bildung wird von manchen Autoren (Päazmowski) bestritten. Mbtschkikoff hat
in neuerer Zeit unter dem Namen Pasteuria ramosa eine im Körper der Daph-
nien parasitisch lebende Bacterienart beschrieben , bei der die Theilung in der
Längsrichtung erfolgt. Die Theile sind eine Zeit lang in Zusammenhang und bilden
fächerförmige Figuren.
In neuerer Zeit hat sich eine Reihe von Autoren dem eingehenden Stadium
der Structur der Bacterienzelle zugewendet und muss als Resultat derselben die
immer mehr sich geltend machende Neigung hervorgehoben werden, in der
Bacterienzelle nicht nur Protoplasma und Zellmembran, sondern auch einen
Kern anzunehmen. Babes hat auf die Thatsache aufmerksam gemacht, dass,
wenn man manche Bacterienarten (Cholera-, Typhus-, Diphtheriebacillen) in
lebendem Zustande mit alkalischem Methylenblau (s. später) färbt, sich im
Inneren der blau gefärbten Zelle rothe oder violette Kügelchen zeigen, von welchen
er behauptet , dass die Umstände , unter welchen sie gefunden werden , sowie
die directe Beobachtung es wahrscheinlich machen, dass sie zum Theilungsprocesse
der Bacterien in Beziehung stehen. Ihr Verhalten zu den wahren Sporen lässt
es andererseits wahrscheinlich erscheinen, dass ihnen auch bei der Sporenbildung
irgend eine Rolle zukommt. Ernst hat mittelst einer eigenen Färbungsmethode
in einer Anzahl von Bacterien eigentümliche Körner nachweisen können, die sich
mit Hämatoxylin und Kernschwarz färben, einen gewissen Widerstand gegen Ver-
dauungssttfte zeigen, Theilungserscheinungen aufweisen und denen er deshalb die
Natur von Zellkernen zuerkennt. Da es ihm bei einigen Bacterien gelangen ist,
den directen Uebergang dieser Körner in Sporen nachzuweisen, so nennt er sie
„sporogene Körner". Bütschli hat bei einer Anzahl von Bacterienzellen eine
Rindenschicht und einen Centraikörper nachweisen können. Der letztere repräsentirt
nach ihm den Zellkern, die erstere das Protoplasma. In der Substanz des Centrai-
körpers fand Bütschli stets die sporogenen Körner Ernst's.
Das Leben und die Entwicklung der Bacterien sind an eine Reihe
von Bedingungen geknüpft. Zunächst bedürfen sie eines bestimmten Nähr-
bodens, der, ausser dem jedem organischen Leben unentbehrlichen Wasser, höhere
Kohlenstoffverbindungen und einen gewissen Stickstoffgehalt aufweisen mnss. Als
Stickstoffquelle sind die Eiweissstoffe wohl die geeignetsten, es genügen aber auch
für manche Arten einfache Stickstoffverbindungen, wie Salpetersäure und Ammoniak
als Stickstoffquelle. Für die meisten Bacterien muss der Nährboden alkalisch oder
mindestens neutral reagiren, da die Bacterien gegen Säuren äusserst empfindlich
sind. Je nach dem Nährsubstrat, auf welchem die Bacterien leben, unterscheidet
man parasitische und sa prophy ti sehe Bacterien. Die ersteren wachsen
nur im lebenden Thierkörper auf Kosten desselben, die letzteren wuchern auf
todtem Näbrmaterial. Von den Parasiten vermögen manche auch ausserhalb des
thierischen Organismus zu leben, man nennt sie facultative Parasiten,
während andere auf todtem Nährboden zu Grunde gehen und ausschliesslich im
lebenden Thierkörper die nothwendigen Bedingungen für ihre Existenz finden
(obligate Parasiten). Die Bacterien bedürfen ferner für ihre Entwicklung einer
gewissen Temperatur, die bei den verschiedenen Bacterienarten verschieden ist.
Die günstigste Temperatur für die Entwicklung einer Art bezeichnet man als
Temperaturoptimum. Die Grenzen, innerhalb welcher Wachsthum noch statt-
findet, bewegen sich zwischen 10 und 40°. Die Saprophyten vermögen im Allgemeinen
bei niederer Temperatur zu wachsen als die Parasiten, welche entsprechend
ihrem natürlichen Aufenthalte am besten bei Körpertemperatur, d. i. zwischen
35 und 40° C, gedeihen. Ein Ueberschreiten der Grenze nach oben und nach
unten bewirkt zunächst eine Hemmung in der Entwicklung und schliesslich den
Tod der Bacterien. Bei Temperaturen von über 60° gehen die meisten Bacterien
MIKROBEN.
475
zu Grunde. Eine Ausnahme bilden die Sporen, welche bedeutend höhere Wärme-
grade vertragen. Auch durch Erfrieren gehen viele Bacillen zu Grunde, nament-
lich durch wiederholtes Einfrieren und Anfthauen. Von Interesse sind einzelne erat
in neuerer Zeit bekannt gewordene Ausnahmen von dieser allgemein giltigen
Regel. So haben Globig und Miqüel Bacterien entdeckt, die sich bei 60 — 70°
entwickeln können. Als Gegensatz hierzu sei der von Fischer und Förster
gefundenen Bacterien gedacht , die bei 0° C. sich noch zu vermehren vermögen.
Eine grosse Rolle im Leben der Bacterien spielt der Sauerstoff. Die
meisten Bacterien bedürfen unbedingt der Gegenwart von Sauerstoff zu ihrer Ent-
wicklung und zeigen schon bei behinderter Sauerstoffzufuhr Störungen in deren
Wachsthum (obligate Agroben); andere gedeihen zwar am besten in sauerstoff-
reicher Umgebung, stellen aber ihre Entwickung nicht ein, selbst wenn der Sauerstoff
ihnen gänzlich entzogen wird (f acul tati ve A groben oder Anagroben). Hierher
gehören die meisten pathogenen Bacterien. Hingegen giebt es eine Reihe von
Mikroorganismen, die nur bei Abwesenheit von Sauerstoff gedeihen können. Es
sind dies die obligaten Anagroben. Pasteur, dem wir die Kenntniss der
Anaeroben verdanken, war der Ansicht, dass die Entwicklung der Bacterien bei
Lnftabschluss mit ihrer Gährthätigkeit im Zusammenhang stehe; neuere Arbeiten
von Liborius u. A. haben aber gelehrt, dass anaerobe Arten gedeihen können,
auch ohne Gährung zu erregen.
Das Licht ist für die Entwicklung der Bacterien ungünstig. Aus den
Untersuchungen der letzten Jahre von Arloing, Duclaüx, Straüss, Roüx u. A.
wissen wir, dass Bacterien und namentlich mehrere pathogene Arten unter dem
Einflüsse der Sonnenstrahlen die Fähigkeit zur Weiterentwicklung ziemlich rasch
einbüssen. Ja selbst die Sporen können unter dem Einflüsse der Sonnenstrahlen
abgetödtet werden. Arloikg fand, dass die Sommersonne die Wachsthumsfähigkeit
der Milzbrandbacillen stufenweise verringert und ebenso sicher wie die Wärme
die Culturen in Vaccins umwandeln kann. Nach Pansixi kann der durch Licht-
einwirkung abgeschwächte Milzbrandbacillus durch Weiterzüchtung seine Virulenz
wieder erlangen. Santori hat die Rolle der Temperatur bei der Lichteinwirkung
studirt. Er fand, dass das Sonnenlicht auch bei nicht hoher Temperatur bacterien-
tödtende Eigenschaften hat, dass aber die Wirkung des Sonnen-, sowie des elek-
trischen Lichtes durch die gleichzeitige höhere Temperatur gesteigert wird. Das
Sonnenlicht wirkt energischer als das elektrische. Im trockenen Zustande sind die
Bacterien resistenter gegen Lichteinwirkung, als im feuchten. Noch bedeutungs-
voller ist die von Koch auf dem X. internationalen medicinischen Congreese zu
Berlin mitgetbeilte Thatsache, dass Tnberkelbacillen, je nach der Dicke der Schichte,
in welcher sie dem Sonnenlichte ausgesetzt werden, in wenigen Minuten bis
einigen Stunden getödtet werden. Besonders bemerkenswerth ist aber die Ent-
deckung Koch ?s, dass auch das zerstreute Tageslicht, wenn aueh entsprechend
langsamer, dieselbe Wirkung ausübt; denn die Culturen der TuberkelbaciUen
st erben, wenn sie dicht am Fenster aufgestellt sind, in 5 — 7 Tagen ab.
Nach übereinstimmenden, in neuerer Zeit veröffentlichten Untersuchungen
von Afostoli und Laquerri&re, sowie von Prochowkick und Späth übt der
galvanische 8trom eine recht bemerk enswerthe Wirkung auf Bacterien aus, eine
Wirkung, die geeignet ist, auch in der Therapie Verwendung zu finden. Die Ein-
wirkung des galvanischen Stromes steht in directem Verhältniss zur Intensität
des Stromes nach Milliamperes gerechnet; ein Strom von 300 Milliamperes ver-
nichtet Milzbrandbacillen in 5 Minuten. Aueh auf Sta phylococcus pyo genes
aureus und den Streptococcus py o g enes äussert der galvanische 8trom
eine kräftige Wirkung. Diese ist nicht etwa auf den Einfluss der Wärme zurück-
zuführen, da sie auch bei Ausschaltung der letzteren eintritt. Sie ist vielmehr
dem positiven Pole allein zuzuschreiben und erklärt sich nach Prochowxick nnd
Späth durch die am positiven Pole stattfindende Bildung von Chlor aus der Chlor-
natriumlösung, welches in statu nascenti ein sehr kräftiges Antisepticum ist.
476
MIKROBEN.
Untersuchungen, die Spilker und Gottstein in der allerjüngsten Zeit
veröffentlicht haben, erweisen einwandsfrei die Möglichkeit, Mikroorganismen
in wässerigen Aufschwemmungen durch Inductionselektricität zu ver-
nichten. Die Einwirkung des Inductionsstromes hängt von der Stromstärke, der
Dauer der Behandlung und dem Zustande der Flüssigkeit mit Bezug auf Ruhe
und Bewegung ab. Was die Stromstärke betrifft, so haben die Untersuchungen
der Verfasser ergeben, dass eine solche von 10 — 12 Milliamperes für den Quer-
schnitt der angewendeten Röhrchen (3*5 Cm.) nothwendig sind. Bezüglich der
Zeitdauer hat sich gezeigt, dass bei Behandlung unterhalb einer Stunde niemals
eine Sterilisirung des Wassers, sondern nur eine Verzögerung der Entwicklung
der Bacterien und eine Verminderung ihrer Menge erzielt wurde. Es ergab sich
ferner, dass die Verminderung der Zahl der Keime eine grössere wurde, wenn die
Flüssigkeit nicht in der Ruhe sich befand, sondern fliessend erhalten wurde. Von
hohem Interesse ist ferner die Thataache, dass im Blute suspendirte Mikroorganismen
schon in relativ kurzer Zeit durch die Inductionselektricität unschädlich gemacht
werden. Dieses merkwürdige Verhalten der Bacterien im Blute hängt, wie die
Versuche zweifellos beweisen, mit dem Eisengehalte desselben zusammen.
Die Lebensäusserungen der Bacterien sind mannigfache. Als solche
sind zu nennen: Die Eigenbewegung, die Pigmentbildung, die Gas-
entwicklung, die Erzeugung chemischer Stoffe, die Gährung,
die Fäulniss und die pathogene Wirkung.
Die Eigenbewegungen der Bacterien bestehen in der Fähigkeit
derselben, selbständig ihren Ort zu wechseln. Diese Bewegungen werden mit
Hilfe von Geissein ausgeführt, deren Beobachtung in neuerer Zeit durch eine von
Löffler angegebene, später zu besprechende Färbungsmethode erheblich erleichtert
wurde. Mit Hilfe dieses Verfahrens konnte Löffleb diese Bewegungsorgane an
einer Reihe von Mikroorganismen entdecken, bei denen bis dahin solche Geissein
nicht bekannt waren (Typhus-, Cholera-, Rauschbrandbacillen , Spirillum
undula etc.). Es sind dies fadenartige , putsohenförmige Anhänge , die einzeln
oder in ganzen Büscheln an den Enden der Bacterienzelle angeordnet sind. Nach
Zopf handelt es sich um protoplasmatische Fortsätze. Nach der immer mehr Ver-
breitung findenden Ansicht von van Txeghem sind es Appendices der Bacterieu-
membran. Bei manchen Arten befinden sich die Geissein nicht am Ende, sondern
haften der Seitenwand der Bacterienzelle an. Eigenbewegungen waren früher nur
bei Spirillen und Bacillen bekannt. Erst Ali • Cohen und Mbndozza haben in
neuerer Zeit auch Mikrococcen beschrieben, welche selbständige Bewegungen zeigen,
und zwar züchtete Ersterer einen solchen aus dem Trinkwasser, Letzterer beseht ieb
einen solchen als Mikrococcus tetragenus mobilis ventriculi. Bei den von Ali-
Cohen entdeckten, als Mikrococcus a gilt's bezeichneten, beweglichen Coccen konnte
Löffler mit Hilfe seines Färbungsverfahrens sehr lange, den Durchmesser um
4 — 5 Mal an Länge übertreffende, langgestreckte, äusserst feine Geissein
nachweisen.
Von der Pigmentbildung ist bereits Eingangs angedeutet worden,
dass sie höchst wahrscheinlich das Product der gegenseitigen Einwirkung der
Bacterien auf den Nährboden ist. Dadurch erklärt sich auch der Einfluss des Nähr-
substrates auf die Farbstofferzeugung. So hat Gessard nachgewiesen, dass der
Bacillus p y o c y ane us auf eiweissfreiem Pepton ganz reines , schönes,
blaues Pyocyanin erzeugt , während er auf Eiweiss grüne Fluorescenz hervorruft
und auf einem Gemenge von Bouillon und Pepton ein Gemisch dieser beiden
Farben bildet. Nach Wasserzcg ist die Farbstoffbildung beim Bacillus des blauen
Eiters viel ausgesprochener, wenn er in sauren Substraten gezüchtet wird. Das-
selbe gilt vom Bacillus der blauen Milch. Der Bacillus p r odi g iosus , der
auf festen Nährböden gewöhnlich eineu schönen rothen Farbstoff erzeugt, verliert
nach Wasserzug diese Eigenschaft, wenn er in ueutralen oder alkalischen Flüssig-
keiten gezüchtet wird und Schottelics konnte sogar durch Züchtung auf Kar-
MIKROBEN.
477
toffeln bei Bruttemperatur ganz farblose Culturen des Prodigiosus erzeugen. Nach
Untersuchungen von Eüblbr im Berliner hygienischen Institut erleidet der
Bacillus prodigiosus in flüssigen , besonders in sauren flüssigen Nährmedien eine
Entwicklungshemmung , die sieh auf die Form und die Farbstoffbildung erstreckt ;
er bedarf jedoch nur weniger Umzflchtungen auf festen Nährböden, um seine alten
Fähigkeiten wieder zu erlangen.
Im Anschluss an die Farbstoffbildung muss die Lichtentwicklung
mancher Bacterienarten erwähnt werden. Es besitzt nämlich eine Reihe von (ins-
besondere durch Fischer, Lehmann und Tollhausen, Katz u. A. studirten)
Bacterienarten die Eigenschaft, im Dunkeln zu leuchten, und zwar derart, dass
eine geringe Menge von gut leuchtenden Culturen solcher Bacterien genügt, um eine
verhältnis8mässig colossale Menge Seewassers in den Zustand eines prächtigen
Leuchtens zu versetzen. Die meisten dieser Bacterien wurden im Wasser gefunden ;
die häufig beobachtete Phosphoresoenz von Schweiss, Eiter, Auswurf, Urin hängt
zweifellos mit der Gegenwart dieser Bacterien zusammen. Nach Katz sind vor-
nehmlich die Anwesenheit gewisser Salze, hauptsächlich Kochsalz, in einem sonst
geeigneten Medium und die Gegenwart von freiem Sauerstoff die notwendigen
Bedingungen für das Zustandekommen des Leuchtens. Seitdem mittelst Reinculturen
eine3 aus dem Meere stammenden Mikroorganismus die Nachahmung des Meer-
leuchtens gelang, lässt sich an einem ursächlichen Zusammenhang der verschie-
denen Arten von Leuchtbacterien (Photobacterien) mit gewissen Arten jenes
Phänomens nicht mehr zweifeln. Was das Wesen dieser hochinteressanten Erschei-
nung betrifft, so sprechen die meisten Thatsachen für die Ansicht von Lehmann
und Tollhausen, dass das Leuchten als ein intracellulärer oder doch wenigstens
als ein an das lebende Protoplasma der Individuen unmittelbar gebundener Vor-
gang anzusehen ist, nach Analogie des Vorganges des Leuchtens der Leuchtorgane
gewisser Thiere.
Manche Mikroorganismen (namentlich anärobe Arten) erzeugen im Nähr-
substrate, in welchem sie sich entwickeln, verschiedene Gase, die sich nicht selten
durch den Geruch kundgeben. Als Beispiel sei angeführt, dass in den Culturen
des Bacillus prodigiosus Trimethylamin direct nachgewiesen werden konnte. Mit
der Gasbildung steht zum Theil auch die Gährung und die Fäulniss in Zu-
sammenhang (siehe die Artikel Gährung, Fermente, Fäulniss, in der Real -
Encyclopädie, II.Aufl.,Bd. VII, pag. 68, 408, 419). Als zur Fermentbildung
gehörig muss hier der in der Bacteriologie eine so grosse Rolle spielenden Eigen-
schaft mancher Bacterienarten erwähnt werden , die Gelatine zu verflüssigen. Diese
Eigenschaft, die Gelatine zu zersetzen oder zu peptonisiren, beruht zweifellos auf
der Wirkung eines von den Mikroorganismen erzeugten Fermentes. Als Beweis
hierfür mögen die Untersuchungen von Bitter, Claudio Fermi, Laüder Brunton
und Mac Fadyex und mir angeführt werden. Bitter hat gezeigt, dass Fleisch -
wasserpeptonlösungen , in welchem Cholerabacillen gelebt haben, auch nach der
Abtödtung der letzteren durch Erhitzen auf 60° peptonisirende Eigenschaften be-
sitzen. Sie vermochten geronnenes Eiweiss aufzulösen, in flüssige Gelatine gebracht,
verhinderte eine solche Flüssigkeit das sonst leicht eintretende Erstarren der
ersteren selbst bei 0°, ein Beweis, dass der Leim vollständig in Leimpepton
übergeführt wurde. Weitere Versuche ergaben , dass diese Flüssigkeit die für ein
Ferment charakteristischen Eigenschaften besitzt. Ich kann diese Angaben Bittbr's
vollkommen bestätigen. Mir ist es (und wie ich glaube zuerst)*) gelungen, den
natürlichen Vorgang der Verflüssigung der Gelatine durch Bacterien mittelst bao-
terienfreier Flüssigkeiten hervorzurufen. Um nachzusehen, ob durch BßEYER'sche
Mikromembranfilter durchfiltrirte Milzbrand-, Cholera-, Prodigiosus- und Pyocyaneus-
*) Ich habe schon im Sommer 1888 diese Thatsache Herrn Prof. Wei ch sei bau m,
Dr. James Eisenberg und anderen Besuchern des Laboratoriums demonstrirt; die Arbeiten
von Lander Brun ton, Mac Fadyen nod Fermi sind erst im Jahre 1889, resp. J 890
erschienen.
478
MIKROBEN.
culturen wirklich steril tiod, stellte ich im Laboratorium des Professor Weichs elbauh
nebst anderen Controiversiicben auch den an, dass ich einige Tropfen des Filtrates auf
feste Fleisch peptongelatine übertrug1. Es stellte sich regelmässig eine allmaÜg fort-
schreitende Verflüssigung der Gelatine ein, wobei letztere aber vollständig klar
blieb* Die zur Controle bei derselben Temperatur unter denselben Verbuüuisstn
gehaltenen Gelatine - Eprouvetten oder solche, die mit einigen Tropfen reiner,
nicht von Culturen herrührender Bouillon beschickt wurden • blieben unverändert.
Uebertragungen einiger Tropfen aus der verflüssigten Gelatine auf andere Gelatine
erzeugte wieder totale Verflüssigung und so fort in mehreren Serien, Dassell*
Resultat erzielte ich mit dem Bac, prodigiosus, dem Bac. pyoeyaneus und den
Koch' sehen Cboleraspirilleu. Laüder Brunton und Mac Fadtex haben ver-
flüssigte Gelatineculturen von Koca'scben und FJXKLERschen Spirillen und zweier
von Klein isolirter Bacillen arten nach Erhitzen auf 60° mit der zweifachen
Menge 10* 0 Gelatine vermischt und zwei Tage im Brutofeu stehen gelassen. Ee
zeigte sich nach der Abkühlung, das* die Bacillen eine vollständige, die Spirillen
eine theilweise Verflüssigung der Gelatine bewirkt hatten. Es gelang auch von
den Bacillencultureu ein peptisebes Ferment zu isolireo. Ferner konnten Lacder
BrüOTOX und Mac Fadyen von den Reiben Bacterien ein dia statische Ferment
isolireu. — Ferui hat im Mtlnchener pathologischen Institute für 12 Pilzarten
ein Lfim und Fibrin lösendes Ferment nachgewiesen und dasselbe von 9 ( worunter
du Knnr 'sehni und F: N Kl.i:!;-I'JM< »Eschen Spirillen, tlae. prodii/tosus Dlld /"/"-
eyaneus. der ileubacillns) isolirt. Auch ein diastatiaches Ferment konnte er bei
vielen Pilzarten nachweisen und von 7 (Milzbrandbacillen , Vibrio Koch und
Finkler-Prior, Heubaeillus, Kasespirillen) isolireu. Das peptisehe und diastatische
Ferment sind nach ihm als zwei verschiedene Körper aufzufassen. Das diastatisebe
Ferment ist mehr verbreitet als das peptisehe. Für die Fermentbildung scheint
das Ei weiss unentbehrlich zu sein , denn auf eiweissfreien Nährböden bilden die
Pilze kein peptisehes Ferment. Nach Permi bildet jeder Pilz sein besonderes
peptisches und diastatisches Ferment,
Das grösste Interesse bietet für den Arzt die Fähigkeit der Bacterien,
chemische Substanzen zu erzeugen, welche sowohl für die Pathogenese, als mich
für die Heilung oder Verhütung von Infectionskrankheiten von der gross ten Be-
deutung sind. Es sind dies die als Ptomaine, Toxine, Tosalbumine
bezeichneten und in neuerer Zeit vielfach studirten 8toifwechsel producta der
Bacterien (siehe diese Artikel)* So erzeugen manche Bacterien in den Cultureu
chemische Stoffe, die ihrer eigenen Existenz schädlich sind und die nach Art der
Antiseptica wirken, Andererseits bilden manche Bacterien für ihre Entwicklung
nützliche Stoffe, indem sie durch die von ihn erzeugten Diastasen den Nähr-
boden ihren Bedürfnissen anpassen. Einzelne Mikroorganismen begünstigen durch
ihre Stoffwechsel produete die Entwicklung anderer Bacterien, So konnte z. B.
ROGER bei Kani neben nach vorheriger Injection von Bac, prodigiasiut Rausch -
brand mittelst Hauschbrandbacillen hervorrufen, während es mit den letzteren allein
nicht gelingt, die Krankheit zu erzeugen. Im Gegensatz hierzu vermögen manche
Mikroben die Entwicklung anderer zu verhindern. So vermochte z, B. Emmerich
die Milzbrandinfeetion durch Einimpfung von Eryaipelcoccen zu verhindern, Paw-
lowsky erreichte dasselbe Ziel durch Injection des FRiEHLÄNDER sehen Pneuino-
eoceus, des Staphylococcus aureus und des Prodigiosns, Boüchard, Charblv und
GülONARD bekämpften den Milzbrandbacillua durch den Bac. pyocyaneu$*
Nach Boüchard kennt man heute 8 physiologische Eigenschaften bto*
terieller Stoffwechsel produete , mittelst welcher die Mikroben den Körper beein*
Hussen» So erzeugen manche Bacterien Stoftwechselproducte , welche eine Reizung
der Gewebe hervorrufen . die sich durch Schwellung der Zellen, Karyokineee,
verschiedene Degeneration« zustünde , von Seiten der Gelasse durch Exsudatinn
und Diapedesis kundgeben; andere bacterielle Stoffwechsclproducte vermögen die
Diapedesis durch Lähmung des vasodilatatorischen Centrums zu verhindern, eine
MIKROBEN.
479
dritte Reihe von Bacterienproducten besitzt direct vaccinirende Eigenschaften, andere
wieder sind starke Gifte (siehe über diesen Gegenstand die Artikel Infection,
Immunität). Die Renntniss der Stoffwechselproducte der Mikroben hat eine eminent
praktische Wichtigkeit. So führte das Studium des sogenannten Antagonismus
unter den Bacterien zu vielversprechenden Versuchen über die Heilung
von Infectionskrankheiten. Doch ist wohl in den meisten Fällen dieser Antagonis-
mus nicht als wirklicher Gegensatz der Bacterien aufzufassen. Die Sache verhält
sich vielmehr so, dass die sogenannten antagonistischen Bacterien Stoffwechsel-
producte erzeugen, welche in dem Thierkörper Veränderungen hervorrufen, die
ein Gedeihen der schädlichen Bacterien nicht zulassen. Die bereits erwähnte
Begünstigung der Entwicklung mancher pathogener Mikroben durch andere wirft ein
wohlthuendes Licht auf die Pathogenese vieler Infectionskrankheiten und hat die Patho-
logie durch das Studium der sogenannten Bacterienassociationen manchen
werthvollen Aufschluss erhalten. Wir verdanken Babes eingehende und interessante
Untersuchungen über diesen Gegenstand. Babes und Coenxl haben es auf dem
X. internationalen medicinischen Congresse versucht, die Bacterienassociationen,
die eine gewisse Gesetzmässigkeit aufweisen, zu classificiren und stellten zehn
Gruppen auf: 1. Association von sehr nahestehenden Bacterien (Varietäten), so
beim Abdominaltyphus (Babes), Pneumonie (Babes), Influenza. 2. Fast eonstante
Association gewisser ferner stehender Bacterien zu den specifischen Bacterien , so
die Association eines Streptococcus zum Diphtheriebacillus (Löfflee) oder eines
septischen Bacteriums (ähnlich jenem der Eaninchensepticämie) zum Bacterium
der Pferde-Influenza, bei Pferde- Typhus in Rumänien (Babes). 3. Association von
in ihrer pathogenen Wirkung oft äquivalenten Bacterien, so jene verschiedener
Streptococcen zu verschiedenen Staphylococcen in den meisten Wundinfectionskrank-
heiten (Rosenbach), bei Endocarditis (Babes) etc. 4. Combination der specifischen
Bacterien mit den Bacterien der accidenteilen Wundinfection, so bei Tuberkulose,
Abdomin altyphus , Dysenterie, Cholera etc. Der grösste Theil der Bacterien-
associationen gehört wohl in diese Gruppe, da bei den meisten Infectionskrank-
heiten , namentlich bei jenen , welche zum Tode führen , derartige Associationen
angetroffen werden. Da aber die Invasionspforte der secundären Bacterien oft nicht
gefunden wird, kann man dieselben nicht einfach als Wundinfection ausprechen.
5. Was die Rolle der associirten Bacterien betrinkt, so kann man zunächst Associationen
unterscheiden, in welchen das zweite Bacterium localisirt bleibt. 6. Ferner solche,
in welchen das zweite Bacterium das Krankheitsbild beherrscht und oft den Tod
verursacht. So bei septischen Pneumonien (Babes), Bronchopneumonien, bei
latenter Tuberkulose oder Miliartuberkulose nach Keuchhusten etc. 7. Was die
Art der associirten Bacterien betrifft, so kann man die Association pathogener
Bacterien mit solchen, welche gewöhnlich nicht pathogen wirken, beobachten,
wodurch oft eine eigenthümliche Erkrankung entsteht, so bei Gangrän, besonders
bei Lungengangrän (Babes, Bonome). 8. Association von Bacterien mit anderen
parasitären, aber nicht bacteriellen Erkrankungen, Protozoen und Bacterien bei
Variola und Vaccine, Tuberkulose und Aspergillus fumigatus bei Lungenmycosen
(Cornil); Association septischer Bacillen zu den Parasiten der Hämoglobinurie
der Rinder (Babes). Hierher gehört wahrscheinlich die Association der Strepto-
coccen zu dem Virus des Scharlachs. 9. Association von Parasiten, welche nicht
bacterieller Natur sind, zu bacteriellen Erkrankungen, so jene der Flagellaten zu
den Diphtheriebacillen der Tauben (Babes). 10. Association gewisser Bacterien zu
Geschwülsten (Verneüil).
Auf der Erzeugung giftiger Stoffe beruht zweifellos die krankmachende
oder pathogene Wirkung der meisten sogenannten pathogenen Bacterien-
arten. Diese Wirkung ist eine so eminent wichtige, dass sie zur Grundlage einer
EintheiluDg der Bacterien in zwei grosse Gruppen gemacht wurde: pathogene
und nicht pathogene Mikroben. Doch ist, wie neuere Untersuchungen gelehrt
haben, diese Unterscheidung nicht strenge durchführbar, da manche Mikroorga-
480
MIKROBEN.
nismen, die gewöhnlich keine krankmachenden Eigenschaften besitzen, unter
Umstünden pathogen werden können, andererseits exquisit pathogene Bacterien
unter gewissen Bedingungen ihre Virulenz theilweise oder gänzlich einbüssen können.
Mehrere Factoren können die pathogene Wirkung der Bacterien beeinflussen:
Einerseits sind es die Menge der eingeführten Infectionserreger, die Eintrittspforte
und der Nährboden, welche die Wirkung beeinflussen. Schon vor mehreren Jahren
hat Chaüveau nachgewiesen, dass die Intensität der Wirkung der Milzbrand-
bacillen von der Menge der eingeführten Mikroben abhängt und in der jüngsten
Zeit hat Wyssokowicz gefunden, dass, je weniger Tuberkelbacillen Meerschweinchen
verimpft werden, desto langsamer die Tuberkulose verläuft. Kaninchen zeigten
nach intravenöser oder subcutaner Injection weniger (8 — 40) Tuberkelbacillen
selbst nach 92 — 145 Tagen keinerlei tuberkulöse Veränderungen der inneren
Organe oder der Lymphdrüsen. Um die Bedeutung der Eintrittspforte für
die pathogene Wirkung der Mikroben zu illustriren, sei nur erwähnt, dass nach
Untersuchungen von Charrin der Bac. pyocyaneus bei Einführung in die Blut-
bahn am stärksten wirkt; subcutane Injectionen hingegen werden nicht nur gut
vertragen, sondern verleihen sogar Immunität gegen die nachträgliche intravenöse
Injection. Nimmt man an, dass die pathogene Wirkung vorwiegend dureh
chemische Substanzen bedingt wird und dass diese Stoffwechselprod ucte aus
dem Nährboden, auf welchem die Bacterien vegetiren, abgespalten werden, so
wird man die Rolle des Nährbodens in der Pathogenese der Infeotions-
krankheiten leicht begreifen. Andererseits können aber, wie erwähnt, die Bac-
terien selbst in ihrer Virulenz verändert werden. Eine solche Abschwächung der
Virulenz kann auf natürlichem Wege — längeres Verweilen unter ungünstigen
oder ungewohnten Bedingungen — entstehen , sie kann aber auch auf künstlichem
Wege hervorgerufen werden (höhere Temperatur, Licht, Sauerstoff, Trock-
nung, antiseptische Substanzen, mehrfacher Durchgang durch den Körper un-
empfänglicher oder wenig empfänglicher Thiere etc.) und darauf beruhen die.
Schutzimpfungen (siehe Infection, Immunität). Die Ursache der abnehmen-
den Virulenz liegt, nach Chaüveau, in der verringerten Production einer patholo-
gischen Substanz, des eigentlichen specifischen Agens des betreffenden Mikro-
organismus. Nach Smirnow führen alle Methoden der Abschwächung der Virulenz
zu einem gewissen Grade von Degeneration der Bacterien, die nicht nur die
Virulenz, sondern auch die Energie der gesammten Lebensfunctionen abschwächt.
Abgeschwächte Bacterien entwickeln sich langsamer und zeigen eine geringere
Widerstandsfähigkeit gegen schlechte Lebensbedingungen. Von Wichtigkeit ist die
That8aehe, dass abgeschwächte Bacterien durch Züchtung in günstigen Bedin-
gungen ihre Virulenz wieder erlangen können.
Um eine Bacterienart als pathogen oder richtiger als Urheber einer be-
stimmten Infectionskrankheit anzusprechen , müssen nach Koch folgende Postulate
erfüllt werden : 1. Muss der Parasit in jedem einzelnen Falle der betreffenden Krank-
heit angetroffen werden, und zwar unter Verhältnissen, welche den pathologischen
Veränderungen und dem klinischen Verlauf der Krankheit entsprechen; 2. dass
er bei keiner anderen Krankheit als zufälliger und nicht pathogener Schmarotzer
vorkommt; 3. dass er vom Körper vollkommen isolirfc und in Reinculturen
ziemlich oft umgezüchtet im Stande sei, die Krankheit von Neuem zu erzeugen.
Diese letztere Bedingung ist jedoch nicht immer erfüllbar, und da in allen den
Fällen, in welchen es gelungen ist, das regelmässige und ausschliessliche Vor-
kommen von Bacterien nachzuweisen, letztere sich niemals wie zufällige Schmarotzer*
sondern wie die bereits als sicher pathogen erkannten Bacterien verhielten, so
sieht Koch in der Erfüllung der beiden ersten Postulate den Beweis für den
ursächlichen Zusammenhang zwischen Parasit und Krankheit für erbracht. Um
Mi ss Verständnissen vorzubeugen, ist es vielleicht nicht un zweckmässig , diesen
letzteren Satz nur für jene Krankheiten zu beschränken, welche bei Thieren nicht
vorkommen. Handelt es sich aber um eine bei Menschen und Thieren vorkommende
MIKROBEN.
481
Infectionskrankheit, so wird man gut thun, auch fflrderhin zur Anerkennung der
Pathogenität eines Mikroorganismus die 3 ursprünglich von Koch aufgestellten
Postulate zu fordern.
Bei der Untersuchung eines Objectes auf Baeterien haben wir drei Auf-
gaben zu erfüllen: 1. Die mikroskopische Untersuchung des Objectes und die
Feststellung der morphologischen Eigenschaften der eventuell gefundenen Baeterien ;
2. die Züchtung derselben auf künstliche Nährböden und 3. die Uebertragung der
Reinculturen auf Thiere. Die Baeterien können in ungefärbtem (natürlichen)
und in gefärbtem Zustande untersucht werden. Zu ersterem Behufs wird ein
Tröpfchen der zu untersuchenden Flüssigkeit oder ein in sterilisirtem Wasser ver-
riebenes Partikelchen der zu untersuchenden festen Substanz auf ein Deckglas
gebracht , dieses mit der Präparatenseite nach unten auf einen Objectträger gelegt
und unter das Mikroskop gebracht. Da bei dieser Untersuchungsweise die Baeterien
durch den Druck, den sie erleiden, leicht in BROWN'sche Molecularbewegungen
gerathen, so empfiehlt es sich, die Untersuchung im „hängenden Tropfe nu
vorzunehmen. Dieselbe besteht darin, dass ein mit einem Tropfen der zu unter-
suchenden Flüssigkeit beschicktes Deckglas mit der den Tropfen enthaltenden Seite
nach unten auf die Höhlung eines hohlen Objectträgers gelegt wird, nachdem
zuvor der Band der Höhlung mit Vaseline umgeben worden ist, um die Verdunstung
der Flüssigkeit während der Untersuchung zu verhüten. Man kann auf diese Weise
die Baeterien in unverändertem Zustande lange Zeit, selbst Tage hindurch
beobachten. Dem Vortheile der Beobachtung in natürlichem Zustande steht aber bei
ungefärbten Präparaten eine Reihe von Nachtheilen gegenüber. So entgehen uns
dadurch eine Menge interessante, für die Differenzirung der Baeterien unterein-
ander wichtige Details, die nur durch bestimmte Färbungsmethoden anschaulich
gemacht werden können , ferner besitzt die Färbung der Baeterien den Vortheil,
dass sie uns ermöglicht, Dauerpräparate anzufertigen, die für das vergleichende
Studium der Mikroben von grossem Nutzen sind.
Obgleich die Baeterien auch andere Farbstoffe, wie Carolin, Hämatoxylin
etc., annehmen, so verwendet man doch vorwiegend zur Bacterienfärbung die
aus dem Steinkohlentheer gewonnenen Anilin farbstoffe wegen ihrer inten-
siveren Färbekraft. Je nachdem das färbende Princip saurer oder basischer Natur
ist, unterscheidet man saure und basische Anilinfarben. Die sauren (Eosin,
Pikrinsäure) werden wegen ihrer diffus färbenden Eigenschaft nur wenig verwendet.
Im Allgemeinen werden die basischen Anilinfarben gebraucht. Diese haben
gegenüber den anderen Farbstoffen den grossen Vortheil, dass sie eine isolirte
Kern- und Bacterienfärbung ermöglichen , wodurch die Beobachtung der Baeterien
mitten im übrigen Gewebe erleichtert wird und dass sie, Dank der besonderen
Affinität mancher Baeterien, zu gewissen Farbstoffen gewissennassen ein chemisches
Reagens ftir die Differenzirung der Arten abgeben. Von den basischen Anilin-
farben werden folgende in der Reihenfolge ihrer Färbekraft (von den stärkeren
zu den schwächeren) angeführten am meisten angewendet : Fuehsin, Gentiana-
violett, Methyl violett, Methylenblau und Bismarckbraun. Die-
selben kommen in alkoholischen und wässerigen Lösungen zur Anwendung. Um
eine ooncentrirte alkoholische Lösung zu bereiten, wird der pulver-
förmige Farbstoff in absolutem Alkohol im Ueberschuss gelöst. In der Regel genügen
etwa 20 — 25 Grm. Farbstoff auf 100 Grm. Alkohol. In dieser Form werden die
Farbstoffe aber selten angewendet, man gebraucht vielmehr verdünnte alko-
holische oder wässerigeLösungen. Behufs Bereitung der ersteren setzt
man von der concentrirten alkoholischen Lösung so viel zu destillirtem Wasser
hinzu, dass die Flüssigkeit in dünner Schicht noch eben durchscheinend ist. Gewöhn-
lich genügen 5 — 6 Tropfen für ein mit destillirtem Wasser gefülltes Uhrglas.
Die wässerigen Lösungen werden durch Auflösen der genannten Farbstoffe
im Ueberschuss in destillirtem Wasser bereitet. Die meisten Baeterien färben sieh
mit den beschriebenen Lösungen in wenigen Minuten; zuweilen wird es aber
Encyclop. Jahrbücher. I. 31
482
MIKROBEN.
nothwendig — entweder um die Dauer der Färbung abzukürzen oder um Mikroben
zu färben, welche die erwähnten Lösungen nicht leicht aufnehmen — die Färbekraft
der Anilinfarben zu erhöhen. Dies erreicht man durch Erhitzen der Farblösung durch
Zusatz gewisser chemischer Substanzen oder durch Verbindung beider Hilfsmittel.
Als solche sind zu nennen : Kali, Ammoniumcarbonat , Anilinöl , Carbolsäure und
die Beizen (namentlich Alaun und Tannin). Das Kali wird gewöhnlich nur
dem Methylenblau zugesetzt. Zwei alkalische Methylenblaulösungen
werden gebraucht: die schwache nach Koch und die starke nach Löfflbr.
Die erstere besteht aus : 1 Ccm. concentrirter alkoholischer Lösung von Methylen-
blau, 200 Ccm. de8tillirten Wassers und 0*2 Ccm. einer 10% igen Kalilauge.
Zur Bereitung der starken dienen: 30 Ccm. concentrirter alkoholischer Methylen-
blaulösung und 100 Ccm. einer Lösung von Kalilauge (0*01 °/o). Letztere flrbt
selbst sehr schwer tingirbare Bacterien und trägt den Namen Universalfarblösung.
An Stelle des Kali wendet Kühne Ammonium carbonicum in l°/0iger Lösung
zur Färbung von Bacterien in Schnitten an.
Ausgedehnte Anwendung findet in der bacteriologischen Technik der Zusatz
von Anilinöl zu den Farbstoffen, und zwar gebraucht man dazu eine gesättigte
wässerige Anilinlösung. Diese — das sogenannte EHRLiCH'sche Anilinwasser —
wird in der Weise hergestellt , dass man 5 Ccm. Anilinöl mit 100 Ccm. Wasser
schüttelt und durch ein vorher mit Wasser angefeuchtetes Filter filtrirt. Das
Filtrat muss wasserklar sein. Zu dem so dargestellten Anilin wasser wird so viel
von einer concentrirten alkoholischen Lösung von Fuchsin, Methyl- oder Gentiana-
violett zugesetzt, dass deutliche Opalescenz entsteht. Da sich das Anilinwasser
leicht zersetzt , so empfiehlt es sich , dasselbe jedesmal vor dem Gebrauche frisch
zu bereiten. Durch Zusatz von 10° 0 absolutem Alkohol kann man den Lösungen
eine mehrtägige Haltbarkeit verleihen. Eine sehr hohe Färbekraft besitzt eine von
Löffler empfohlene Lösung., die in einer Combination von Anilin wasser und
einem Alkali als Zusatz zum Farbstoff besteht. 100 Ccm. EHRUCH'soheu Anilin-
wassers werden mit 1 Ccm. einer l%igen Natriumhydratlösung versetzt, dazu
werden 4 — 5 Grm. reinen Farbstoffs hinzugefügt. Diese concentrirten schwach alko-
holischen Anilin wasser-Anilinfarblösungen halten sich wochenlang.
Der Zusatz von Carbolsäure wird von Kühne zur Darstellung einer
Farblösung bereitet, die er mit Recht als Universalfärbemittel für sämmtliche in
Geweben befindlichen Bacterien bezeichnet. Kühne bereitet seine Lösung aus
1*5 Grm. Methylenblau, 10 Grm. absolutem Alkohol und 100 Ccm. 5 %ig©r Carbol-
säure. Eine weitere Verwendung findet die Carbolsäure bei Darstellung der Ziehl-
schen Lösung zur Färbung von Tuberkelbacillen. Die Anwendung der Beizen
wird weiter unten besprochen werden.
Um nun Bacterien in Flüssigkeiten zu färben, entnimmt man einen Tropfen
der zu untersuchenden Flüssigkeit mit einer ausgeglühten Platinnadel und breitet
ihn auf einem Deckgläschen aus oder man drückt den zu untersuchenden Tropfen
zwischen zwei Deckgläser, die man mit Pincetten in paralleler Richtung flach
auseinander zieht, lässt das Deckglas an der Luft trocknen, zieht es mittelst
einer Pincette mit der angetrockneten Schichte nach oben dreimal durch eine Gas-
oder Spiritusflamme, wodurch die angetrocknete Schicht an das Deckglas fixirt
wird. Um dieses Deckglastrockenpräparat zu färben, legt man das Deckglas mit
nach unten gekehrter Präparatenseite auf die in einem Uhrschälchen enthaltene
Farblösung oder bringt mittelst einer Pipette einige Tropfen einer Anilinfarb-
lösung auf das Deckglas. Nach einigen Minuten wird der überschüssige Farbstoff
durch Abspülen im Wasser entfernt , das Deckglas mit Fliesspapier getrocknet und
im Wasser untersucht. Da sich bei dieser Färbung auch andere Bestandteile des
Präparates färben , bringt man die Präparate in sogenannte Entfärbungsmittel, in
welchen die übrigen Gewebsbe9tandtheile den Farbstoff rascher und leichter ab-
geben als die Bacterien. Als solche Entfärbungsmittel sind zu nennen: Wasser,
Alkohol, Essigsäure (l°/0), Salz-, Schwefel- und Salpetersäure, Kali carbonicum }
MIKROBEN.
483
unterchlorigsaures Natron, Kaliumpermanganat, Eisenchlorid, Alaun, Magnesia-
salz, schwefelsaures und kohlensaures Natron und Jod in folgender Form: Jod 1*0,
Jodkalium 2*0, Wasser 300*0.
Um die Bacterien in Geweben nachzuweisen, werden die Schnitte
5 — 30 Minuten , zuweilen sogar bis 24 Stunden in verdünnter alkoholischer Anilin-
farblösung gelassen, zur Entfernung des überschüssigen Farbstoffes in Wasser
abgespült, in Alkohol entwässert, in Cedernöl aufgehellt und in Canadabaisam
eingeschlossen. Sehr gut eignet sich zur Färbung von Bacterien in Schnitten die
LöFFLER'sche Methylenblaulösung , in welcher die Schnitte einige Minuten belassen
werden, worauf sie einige Secunden in 1/2 — l°'0iger Essigsäure entfärbt, in
Alkohol entwässert, in Cedernöl aufgehellt und in Canadabaisam eingeschlossen
werden. Die KüHNE'sche Färbungsmethode für Schnitte hat den Vorzug einer
gewissen Universalität und grösseren Sicherheit , mit der sie alle im Gewebe befind-
lichen Bacterien (mit Ausnahme der Leprabacillen) sichtbar macht. Der Gang der
Methode ist folgender: 1. Färbung der Schnitte in Carbolmetbylenbiau 1/2 bis
2 Stunden. 2. Abspülen im Wasser. 3. Ausziehen in angesäuertem Wasser
(10 Tropfen Salzsäure auf 500 Tropfen Wasser) bis zur blassblauen Färbung.
4. Abspülen in einer schwachen wässerigen Lösung von kohlensaurem Lithion
(10 Tropfen Wasser und 6 — 8 Tropfen einer concentrirten wässerigen Lösung von
kohlensaurem Lithion). 5. Abspülen in Wasser. 6. Eintauchen in absolutem, eventuell
mit etwas Methylenblau gefärbtem Alkohol für einige Minuten. 7. Einbringen in
Methylenblau- Anilinöl für einige Minuten. 8. Abspülen in reinem Anilinöl. 9. Ueber-
führen in ein ätherisches Oel (Thymen, Tereben) für 2 Minuten. 10. EntÖlung in
Xylol, Einschiuss in Balsam.
Die Anilinfarben färben, wie schon erwähnt, die Bacterien und die Zellkerne.
Will man nun eine isolirte Bacterien färbung erzielen, so muss man die
Kerne entfärben. Zu diesem Behufe eignet sich am besten ein Verfahren , durch
weiches die Gewebskerne entfärbt werden , ohne dass die Bacterien färbung irgend
eine Veränderung erleidet. Es ist dies die GftAM'sche Methode. Um eine absolute
Bacterienfärbung auf Deckgläser zu erzielen, färbt man die Deckglas - Trocken-
präparate einige Minuten in Anilinwasser - Gentianaviolett , bringt sie für
1 Minute in einer Jodjodkaliumlösung (Jod 1*0, Jodkalium 2*0, Wasser 300*0),
welche die Kerne entfärbt, lässt sie dann in absolutem Alkohol, bis das Präparat
ganz entfärbt ist und untersucht in Wasser oder Canadabaisam. Um Schnitte
nach Gram zu färben, lässt man dieselben, je nach der Färbbarkeit der in
ihnen enthaltenen Bacterien, 5 — 30 Minuten in Anilin wasser - Gentianaviolett und
bringt sie dann für 2 — 3 Minuten in die Jodjodkaliumlösung; in dieser werden
die Schnitte dunkelbraun bis schwarz, hierauf bringt man den Schnitt in Alkohol,
woselbst er so lange verweilt, als er noch Farbstoff abgiebt, schliesslich wird er
in Nelkenöl aufgehellt und in Balsam eingeschlossen.
Durch dieses Verfahren werden aber manchmal die Kerne nicht genügend
entfärbt, es wurden daher von Kühne und Günther Modifikationen des Gram-
schen Verfahrens vorgeschlagen, von denen die letztere sehr schöne Präparate
liefert. Der Gang der Gram - GüNTHER'schen Methode ist folgender : Färbung der
Schnitte in Anilin-Gentiana- oder Metbylviolett 1 — 2 Minuten, Abtupfen auf Fliess-
papier, Einbringen in Jodjodkaliumlösung 2 Minuten, in Alkohol auf 1 a Minute,
in 3°/0iges Salzsäurealkohol auf genau 10 Secunden, Uebertragung in reinen
Alkohol auf mehrere Minuten, Abwaschen in Alkohol bis zur maximalen Ent-
färbung, Einlegen in Xylol, Einschliessen in Xylolbalsam.
Man kann nach der Entfärbung der Schnitte in Alkohol eine Contrast-
grundfärbung erzielen, indem man die Schnitte in wässerige Vesuvinlösung bringt
oder indem man die Grundfärbung mittelst Pikrocarmin vor der Bacterienfärbung
vornimmt.
Von den pathogenen Bacterien färben sich nach Gram : Die Bacillen des
Milzbrandes, der Lepra, Tuberkulose, des Tetanus, der Mäusesepticämie , der
464
MIKROBEN.
Diplococcus pneumoniae ( Fba ENKEL -Weichselbaum) , der Stapft ytococcu* pyo-
i jenes aureus, der Streptococcus erysipelatis und pyogenes^ der MikrococtMi
tetragenus. Hingregen entfärbten sich bei Anwendung des GRAMschen Verfahren« :
Der Bacillus der Diphtherie, des malignen Oedems. der Cholera, des Raaseh
braudes, des Rotzes, des Typhus , der Hübnercholera, der Pneumoniebaciltas
FriedläNDER's, der Gonoeoccus und die Recurrensspirillen.
Um Bestandteile der Mikroorganismen sichtbar zu machen, welche mit
den gewöhn lieben Methoden nicht farbbar sind, hat Löffler die für die Färbu-
der Pflanzenfasern in der Färberei seit langer Zeit gebrauchten Beizen heran-
gezogen. Der Gebrauch dieser Beizen leistet nach Löffler und Treskmaxn vor-
zügliche Dienste zur Färbung der Geis sein. Die besten Resultate erhalt
man nach Löffler mit folgender Beize: Zu lOCcm. Tanuinlösnng (20 ~f 80 Wasser!
werden 5 Ccm, kalt gesättigter Ferrosulfatlösung und 1 Ccm. wässeriger oder
alkoholischer Fuchsin-Methyl violett- oder Wollschwarzlösnng hinzugesetzt. Zu dieser
Lösung muss eine flir jeden Mikroben durch den Versuch festzustellende Anzahl
von Tropfen einer l°/0igen Natronlösnng oder einer auf eine solche eingestellten
Schwefelsäure hinzugefügt werden. So bedarf die Färbung der Geissei □ der Cholera-
bacterien eines Zusatzes von I a — 1 Tropfen der Schwefelsäure, jene der Typhus-
haeiilen eines solchen von 1 Ccm* der llk 0i&en Natronlösung u. s, w. Der Vorgang
der Färbung der Geissein nach Löffler ist folgender:
Geringe Mengen der Reinculturen werden in einem Tröpfchen destillirten
Wassers suspendirt. Von diesem ersten Tröpfchen werden eine Anzahl Wasser
tröpfeben , welche auf Deckgiftscben mit der Platinöse aufgetupft sind , besät.
Nachdem die Deckgläschen (welche sehr rein sein müssen) lufttrocken geworden
sind , werden sie durch die Flamme gezogen , um wie üblich die Bacterien fest
zu fixiren. Dieser Act ist von besonderer Wichtigkeit* Erwärmt man die
Präparate ein wenig zu stark, so ist die Beizbarkeit vieler Geissein vernichtet.
Wie bekannt, wird durch zu starkes Erhitzen auch die Färbbarkeit der Bacterien-
körper aufgehoben. Die Geissein sind aber noch empfindlicher als die Bacterien*
körper. Wenn man das Deckgläschen zwischen Daumen und Zeigefinger und nicht
in einer Pincette hält , während man es durch die Flamme zieht , so wird man die
Erwärmung nie zu hoch treiben. So lange die Hitze noch für die Finger erträg-
lich ist, so lange werden auch die Geissein in ihrer Beiz* und Färbbarkeit
nicht geschädigt Auf daB erwärmte Deekglflseben wird nunmehr die Beize aufge-
tragen , so dass dieselbe das ganze Deckglas als gewölbter Tropfen bedeckt. Das
Deckglas mit der Beize wird über einer Flamme erwärmt , bis Dampfbildung eintritt
Unter leichtem Hin- und Herbewegen lässt man die erwärmte Beize 1 3 — 1 Minute mit
dem Deckglase in Berührung. Darauf wird mit einem krittligen Strahle destillirtcn
Wassers abgespült. Es sind jetzt meist noch Reste der Beize, namentlich am Rande des
Deckglases, vorhanden* Diese geben mit der Farblösung Niederschläge. Deshalb wird
das Deckglas nach dein Abspülen mit Wasser in absolutem Alkohol abgespült, bis es
vollkommen klar erscheint und nur die Stellen, an welchen die bacterien haJugcn
Wassertröpfchen eingetrocknet sind, gebeizt erscheinen. Nunmehr wird die Färb-
rlüssigkeit auf getropft in einer solchen Menge, dass das Deckglas ganz davon
bedeckt ist. wiederum 1 Minute bis zur Dampfbildung erwärmt und endlich mit
dem Wasserstrahle abgespült.
Die bis nun erwähnten Färbungsmethoden reichen nicht aus zur Färbung
der Sporen. Die feste , widerstandsfähige Hülle , welche die Sporen umgiebt,
erschwert auch das Eindringen von Farbstoffen. Es sind daher besondere Tinctions-
niethodeu nothwendig. So kann man die Sporen färben, wenn man die Deck*
glastrocken praparate statt 3 Mal 6 — 10 Mal durch die Flamme zieht oder sie
J 4 — */« einer trockenen Hitze von ISO — 200* aussetzt, worauf sie die Anilin-
farben annehmen ; oder aber man fHrbt das Präparat 40 — 60 Minuten in einer
heissen gesättigten Anilinwasser- Fuchsinlösung T wäscht es in salzsaurem Alkohol
ab, worauf die Sporen roth gefärbt bleiben, während die Bacillen und alles
MIKROBEN.
485
Uebrige sich entfärbt. Will man die Sporen nocb besser zur Ansiebt bringen, so
kann man noch das Präparat in einer verdünnten alkoholischen Methylenblau-
lösung nachfärben, es erscheinen dann die Sporen roth auf blauem Grunde.
Rascher lassen sich die Sporen nach Häuser färben: Man bedeckt das 3 Mal
durch die Flamme gezogene Deckglaspräparat mit concentrirter , wässeriger
Fuchsinlösung, zieht es 30 — 40 Mal langsam durch die Flamme, bis Dampfbildung
erfolgt, taucht es für einige Secunden in 25°'0ige Schwefelsäure, wäscht es mit
Wasser ab und färbt mit schwacher Methylenblaulösung nach. Schöne Doppel-
färbungen von Sporen lassen sich nach folgender von Neisser empfohlenen
Methode erzielen: Färben in erwärmtem Carbolfuchsin, kurzes Abspülen in l°/0iger
wässeriger Schwefelsäure, Nachfärben in wässerigem oder LöFFLER'schen Methylen •
blau, oder Färben in erwärmter EHRLiCH'scher Anilin waaser- Methyl violettlösung,
kurzes Abspülen in l°/0iger wässeriger Schwefelsäure, Nachfärben in Säurebraun.
Im ersten Falle sind die Sporen roth, die übrigen Theile blau, im letzteren sind
die Sporen schwarzbraun, die Bacillen gelblichbraun.
Um die Bacterien rein zu züchten, ist es nothwendig, sie unter
möglichst günstige , i. e. den natürlichen nächststehende Verhältnisse zu bringen.
Ein den Körpersäften am meisten analoger Nährboden für Bacterien ist die soge-
nannte Nährbouillon. Dieselbe wird in folgender Weise bereitet: 500 Grm.
fettfreies gehacktes Rindfleisch werden mit 1 Liter destillirten Wassers Übergossen
und 24 Stunden an einem kühlen Orte stehen gelassen. Hierauf wird das Gemisch
durch ein reines Tuch filtrirt. Zu diesem Fleischwasser setzt man 10 Grm.
Pepton (1%) und 5 Grm. (VaVo) Kochsalz zu und macht die saure Flüssigkeit
durch allmäligen Zusatz concentrirter Natriumcarbonatlösuog schwach alkalisch,
da die Bacterien gegen Säuren sehr empfindlich sind. Nun wird die Flüssigkeit
1 — 2 Stunden im Dampftopf gekocht, filtrirt und das Filtrat in Quantitäten von
je 10 Ccm. in vorher sterilisirte und mit Watterverschluss versehene Reagensgläser
gefüllt, die man dann an 3 aufeinander folgenden Tagen l/2 Stunde lang auf
60° erwärmt. Die Verwendung der Nährbouillon geschieht in der Weise, dass ein
Tropfen der die zu züchtenden Bacterien enthaltenden Flüssigkeit mittelst eines
ausgeglühten Platindrahtes in die Bouillon gebracht wird; in derselben findet
eine gleichmässige Entwicklung der Bacterien statt. Die Bouillon lässt sich auch
sehr gut zur Anlegung von Culturen im hohlen Objectträger verwenden. Die
Procedur ist dieselbe, wie die bei der Untersuchung der Bacterien im hängenden
Tropfen. Diese Art der Züchtung hat den Vortheil , dass man das Wachsthum,
die Theilung , die Sporenbildung etc. unter dem Mikroskop beobachten kann.
Viel wichtiger für die Bacteriologie als die flüssigen sind die festen
Nährböden, weil in diesen ein Vermengen der Keime untereinander unmöglich
demnach eine Isolirung der einzelnen Keime möglich ist. Ausserdem lässt der
feste durchsichtige Nährboden eine Reihe von Eigenschaften wahrnehmen, die im
flüssigen Nährboden nicht sichtbar sind und zur Differenzirung der Bacterien-
arten beitragen. Die gebräuchlichsten festen Nährböden sind: die Kartoffeln, die
Nährgelatine, das Nähragar und das Blutserum.
Die Kartoffel wird mit einem gewöhnlichen Küchenmesser geschält,
dann unter der Wasserleitung abgespült und in 1 Cm. dicken Scheiben zerlegt.
Letztere werden entsprechend abgerundet, in vorher sterilisirte Doppelschälchen
aus Glas gelegt, 3 4 — 1 Stunde lang im Dampfkochtopf gekocht und somit steri-
lisirt, worauf sie zum Gebrauch fertig sind. An Stelle der Kartoffelscheiben, die
bei längerem Aufbewahren bei Bruttemperatur vertrocknen und einschrumpfen,
kann man einen Kartoffelbrei anwenden, der mittelst Spatels in die Glasdosen
fest eingepresst und im Dampf kochtopf sterilisirt wird. Die Nährgelatine wird
so bereitet, dass man zu dem wie bei Darstellung der Bouillon angegebenen
Fleischwasser 10 Grm. Pepton, 5 Grm. Kochsalz und 10% = 100 Grm. reine Gelatine
zusetzt, die Mischung gut umrührt und im Wasserbade so lange erwärmt, bis die
Gelatine vollkommen gelöst ist, was in 1 2 — % Stunde geschehen ist. Nun wird
durch allmäligen Zusatz einer Sodalösung so lange neutralisirt , bis rothea
Lackmuspspier schwach blau gefärbt wird , behufs Ausscheidung der unlöslichen
Eiweisskörper 1 Stunde gekocht und durch ein Faltenfilter beiss filtrirt. Da di
Gelatine beim Abkühlen fest, demnach die Filtration unmöglich wird, gebraucht
man zu diesem Bebufe den sogenannten „Heiss wasserdichter", bei dem zwischen
Gl&Btrichter nud den ihn umgebenden Kupfermantel Wasser gegossen wird, welche*
durch eine Reihe von circulär angeordneten Gasflämmchen heiss gemacht wird.
Will man sich den Heisswassertrichter ersparen , dann kann man den Tri
ssmmt der Flasche, in die das Fi 1 trat abflies Ben soll, in den Dampfkochtopf hinei
stellen. Die filtrirte Gelatine stellt eine vollkommen klare und durchsichtige,
schwach alkalisch reagirende Flüssigkeit dar, die beim Erkalten erstarrt und eine
gallertige, durchsichtige, leicht gelb gefärbte MasBe bildet. Die filtrirte, noch
flüssige Gelatine wird mittelst sterilisirter Glaspipetten in Quantitäten von je
10 Ccm, in sorgfältig sterilisirte, mit Wattepfropfen versehene Reagensgläser gefüllt,
welche vor dem Gebrauche an drei aufeinanderfolgenden Tagen je 15 Minuten dem
stromenden Dampfe ausgesetzt werden* — Da manche Bacterien bei gewöhnlicher
Zimmertemperatur nicht gedeihen, sondern der Bruttemperatur zu ihrer Eotwick
lung bedürfen, und da die Nährgelatine bei 25° schon flüssig, somit die Eigenschaft
eines festen Nährbodens verliert, so wird die Agar* Agar genannte Gallerte der
Bouillon zugesetzt, und zwar werden zu 1000 Grm, in oben angegebener Wete-
dargestellten Fleischwassers 10 Grm. Pepton, 5 Grm. Kochsalz und 10 bis höchstens
20 Grm. (1 — 2<%) kleingeschnittenes Agar-Agar zugesetzt. Da das Agar sehr
schwer löslich ist, so wird zunächst eine Stunde auf dem Wasserbade gekocht,
dann neutralisirt, zwei Stunden lang im Dampfkochtopf gekocht und filtrirt. Das
Filtrat ist klar und durchsichtig, erstarrt sehr rasch, wobei es sich etwas trüb
Um die Löslichke it des Agar zu erleichtern und damit die Bereitung d
Fleischpepton Agar zu vereinfachen, legt Tischutkin die zuzusetzende Agannen
vorerst in eine 5° 0ige Essigsäurelösung für 15 Minuten , wäscht sie in Wasser
ab und kocht sie dann mit der Bouillon auf. Binnen 5 Minuten ist das Agar
vollständig gelöst. Nach der Neutralisirung und Abkühlung setzt man das Eiwei&s
von 2 Hühnereiern zu, kocht die Mischung xf% — 1 4 Stunden und filtrirt (wms sehr
leicht geschieht).
Das Blutserum wird so präparirt, dass das beim Schlachten der Thiere
ausfliessende Blut in sterilisirten Glascylindern aufgefangen, 24 — 48 Stunden im
Eiskasten stehen gelassen wird, damit sich das Serum vom Blutkuchen abscheide.
Das klare durchsichtige Blutserum wird mit sterilisirten Pipetten abgehoben und
in sterilisirte Reagensgläser gefüllt. Um das Blutserum zu sterilisiren, muss man
dasselbe, da es bei einer Temperatur von Uber 70° gerinnt und undurchsichtig
wird, mehrere Tage hindurch für 1~*2 Stunden einer Temperatur von circa 58°
aussetzen. Man kann auch das Blutserum, ohne es zu sterilisiren, erstarren lassen.
Ist man bei der Entnahme des Blutes und bei der Einfüll ung vorsichtig vor-
gegangen, so gelingt es, einen grossen Theil der Reagensgläser keimfrei zu
erhalten, was man aus 3 — 4tägigem Verweilen des Serums im Brutofen erkennt.
Die für das Studium der Bacterien so wichtige Isolirung der Mikroben-
arten wird dadurch herbeigeführt, dass man ein Partikelchen aus dem zu unter-
suchenden Baeteri engemenge immer mehr verdünnt , bis die in dem Nährboden
enthaltenen Keime so zerstreut sind, dass sie getrennt von einander, und dadurc
leichter zu beobachten und zu übertragen sind.
Das zur Isolirung der Bacterien allgemein geübte Verfahren ist das KoCH'sch
Pia tten v erfahr en. Will man z. B. eine Flüssigkeit auf ihren Bacteriengehalt
untersuchen, so bringt man mittelst einer ausgeglühten und erkalteten Platinnadel ein
Tröpfchen des zu untersuchenden Materials in ein mit hei 35° (im Wasserbade)
verflüssigter Gelatine gefülltes Reageusglas, (Ist das zu untersuchende Material
fest, so wird ein Partikelchen desselben in der Nährgelatine möglichst fein ver-
rieben.) Durch Hin und Herbewegen der flüssigen Gelatine wird das Übertrag«!!*
MIKROBEN.
487
Material möglichst gleichmässig vertheilt. Ans diesem ersten Reagensglase, dem
sogenannten „Original", werden mit der Platinöse drei Tröpfchen in ein zweites,
ebenfalls mit flüssiger Gelatine gefülltes Olas übertragen und durch wiederholtes
Hin- und Herbewegen des Gläschens gleichmässig vertheilt. Aus dieser „ersten
Verdünnung" werden drei Tröpfchen in ein drittes Gelatineglas („zweite Ver-
dünnung"), von diesem in ein viertes („dritte Verdünnung") und eventuell in ein
fünftes („vierte Verdünnung") übertragen.
Nun handelt es sich darum, die möglichst von einander getrennten Bacterien-
arten zu fixiren und eine Vermischung derselben unmöglich zu machen. Zu diesem
Behufs wird die Gelatine aus dem Röhrchen auf eine möglichst grosse Fläche
ausgebreitet und zum Erstarren gebracht. Dies erreicht man dadurch, dass man
dieselbe auf vorher in der Hitze sterilisirte viereckige Glasplatten in gleichmässig
dünner Schicht ausgiesst und auf Eis erstarren läset. Man hat zu diesem Zwecke
eigene sogenannte Plattengiessapparate ; dieselben bestehen aus einer grossen, mit
Eis und Wasser vollgefüllten, mit einer Glasscheibe bedeckten Schale, die auf
einem Niveilirstativ mit Stellschraube steht und leicht in völlig horizontale Lage
gebracht werden kann. Auf die Glasscheibe wird die Glasplatte gelegt, auf welcher
die flüssige, mit dem zu untersuchenden Materiale versetzte Gelatine ausgegossen
wird und welche dann sofort mit einer Glasglocke bedeckt wird, um jede Ver-
unreinigung aus der Luft zu vermeiden. Hat man auf diese Weise den Inhalt
aller 3 bis 4 Verdünnungen auf Platten gegossen, so wartet man, bis die Gelatine
auf den Platten erstarrt ist, was auf dem Eis ja rasch geschieht, bringt die
Platten behutsam in eine Glasglocke, auf deren Boden ein mit Sublimat befeuchtetes
Fliesspapier liegt, und setzt dieselben auf etagenförmig überein and ergestellte
Glasbänkchen.
Diese ursprüngliche, aber noch vielfach in Gebrauch stehende KocH'scbe
Methode hat mehrfache Modifikationen erlitten. Esmarch hat die Methode dadurch
vereinfacht, dass die, wie oben beschrieben, mit der zu untersuchenden Substanz
versehene Gelatine nicht erst auf Platten ausgegossen wird, sondern im Reagens-
glase selbst ge wissermassen als aufgerollte Gelatineplatte zum Erstarren gebracht
wird» Man bedient sich dazu weiter mit Gummikappen verschlossener Reagens-
gläser, die man in horizontaler Lage auf kaltem, am besten Eiswasser, so lange
rotirt, bis die Gelatine an den Wänden des Röhrchens erstarrt ist. Man hat auf
diese Weise die Gelatine in ziemlich dünner und gleichmässiger Schicht auf einer
durchsichtigen Unterlage ausgebreitet und kann, wie bei den Platten, die aus-
keimenden Bacterienarten beobachten, eventuell die einzelnen Colonien mit der
Platinnadel herausfischen. Das Esmarch 'sehe Verfahren ist einfach und leichter
ausführbar als das Plattenverfahren. Es hat nur den Nachtheil, dass bei Anwesen-
heit von vielen, raßch wachsenden, die Gelatine verflüssigenden Bacterienarten
eine längere Beobachtung der Rollplatten nicht gut möglich ist, weil die verflüssigte
Gelatine die anderen Colonien überschwemmt. Petri giesst die mit dem zu unter-
suchenden Material versehene Gelatine in sterilisirte flache Doppelschaien oder
nimmt die Vertheilung und Verdünnung des Materials erst in den Schalen selbst
vor, wodurch die ganze Procedur vereinfacht wird. Viel praktischer als die Platten
sind die jetzt vielfach gebrauchten Culturfläschchen. Es sind dies ganz flache Fläsch-
chen mit einem breiteren, etwas nach oben gebogenen runden Hals. In den flachen
Theil wird die Gelatine gebracht, der runde Hals wird mit Watte verschlossen.
Das zu untersuchende Material wird nun in der verflüssigten Gelatine vertheilt.
Man macht die früher angegebenen Verdünnungen und stellt behufs Erstarrung der
Gelatine einfach die Fiäschchen horizontal.
Die auftretenden Colonien sind dauernd vor Verunreinigung geschützt,
lassen sich ganz bequem auch mikroskopisch untersuchen und mit der Platin-
nadel herausfischen. Um den dem Esmarch 'sehen Rollplatten verfahren anhaftenden
Uebelstand der Benetzung der Wattepfropfen mit der verflüssigten Gelatine zu
vermeiden , benützt Schill statt der Reagensgläser gewöhnliche Medicinflaschen
zur Bereitung von Rollplatten. Ein anderer Ucbelstand der EsMARCHscheu Roll-
platten besteht darin, dass sieh die Innenfläche der Gelatine nicht ganz glatt
herstellen lässt. Um dies zu erreichen, empfiehlt Schill in das mit der ver-
flüssigten Gelatine gefüllte Reagensglas nach der Vertheil ung des Impfmaterial*
durch Schütteln, ein im Durchmesser mehrere Millimeter dünneres, steriliairtes,
mit Wattepfropf versehenes Reagensglas einzuführen. Nachdem die zwischen den
Wandungen der beiden Gläser befindliche Gelatinschicht fest erstarrt ist, wird,
wenn man es mit aeroben Batterien zu thun hat, das innere Röhrchen durch
Eingiessen von warmem Wasser gelockert und herausgezogen ; handelt es sich
um anaerobe Arten, so verbleibt das innere Röhrchen dauernd in dem äusseren,
wodurch der Luftzutritt verhindert wird.
Auch aus Agar lassen sich Platten verfertigen. Das bei 90° verflüssigt
Agar wird in einem Wasserbade auf 40° flüssig erhalten* Bei dieser Temperatur bleib
es flüssig und ist für die eingeführten Bacterien unschädlich. In dieses so gehalten
Agarröhrchen wird das zu untersuchende Material gebracht. Man verdünnt, vr
t rüber angegeben, giesst aber die Agarplatte nieht auf Eis, sondern füllt den Giess-
apparat mit lauem Wasser, um ein zu rasches Erstarren zu verhüten. Schwieriger
gestaltet sich die Züchtung der anaeroben Bacterien. Man kann die
Luft aus den Reagensgläsern mit der Luftpumpe aussaugen (Gruber tj oder durch
Durchleiten von Wasserstoff heraustreiben (Roux, Liborius, Hueppe, Fraexkkl).
Koch bedeckt die Gelatineplatte mit einem Glimmerplättchen, um den Zutritt der
Luft abzuhalten. Will man das Esma RCB'sche Roll verfahren zur Züchtung anaerober
Bacterien verwenden, so füllt man, nach Erstarren der Gelatine, den Übrig ge-
bliebenen Raum des Gläschens mit verflüssigter Gelatine aus, während das Röhrchen
noch im Eis steht. Hueppe empfiehlt anserobe Bacterien in frischen Eiern zu
züchten. Die Infeetion geschieht durch eine an der Spitze des Eies gemachte
feine ÜefTnung, die nachher mit Collodinm geschlossen wird. Kitasato und Weil
setzen zum festen Nährboden eine stark reducirende Substanz (ameisensaure«
Natrium) zu. Eine sehr einfache und brauchbare Methode ist die von Büchner,
die in der Absorption des Sauerstoffes durch alkalisches Pyrogallol besteht. Mau
bringt die angelegte Cultur in ein weites Reageusglas, auf dessen Boden X Gnu.
trockene Pyrogallussäure sich befindet, zu der 10 Ccm. einer l°/0igen Kalilauge
zugesetzt werden und schtiesst das äussere Rohr mit einem Kautschuk pfropf. —
Auch das gewöhnliche Plattenverfahren lässt sich dazu benutzen, wenn man ar
Grunde der Glocke, in der die Platten aufbewahrt werden, alkalische Pyrogallol
lösung einbringt. Niklforoff bat anaerobe Bacterien im hängenden Tropfe
dadurch gezüchtet, dass er in den hohlen Objectträger einen Tropfen der Bucönek-
schen Pyrogallol lösung einbrachte und Braatz hat das Verfahren dahin modificirt,
das* er eine grössere Quantität Pyrogallollösung in einen in den Hohlraum ein
hohlen Objeettiägers mündenden Behälter bringt.
Hat man nun die Bacterien isolirt und will man die isulirten Arten
weiter züchten, so werden sie von den Platten auf andere Nährböden übertrage"
Man berührt die zu übertragende Colonie mit einer ausgeglühten Platinnadel, die
man dann, je nachdem man eine Stich- oder Strichcultur anlegen will, In
ein mit Gelatine, Agar oder Serum gefülltes Glas tief einsticht oder auf der
schräg erstarrten Fläche des Nährbodens streichend durchzieht. Die Cultur ent-
wickelt sich entlang des Stiches oder des Striches
Was schliesslich die experimentelle Uebertragung der Bacterien
auf Thiere betrifft, so muss der Versuch womöglich an Thieren vorgenommen
werden, bei denen die iu Frage stehende Krankheit auch unter natürlichen Verhält-
nissen vorkommt. Ein zweites, sehr beherzigendes Moment besteht darin, bei der
Uebertragung den natürlichen Infectionsmodus möglichst genau nachzuahmen, also von
den verschiedenen Eintrittspforten für die Infeetion serreger (Haut, Darmcanal.
Respiration&tract, Blutbahn) diejenige zu wählen, die dem natürlichen Wege am
nächsten steht, Eine Abweichung von dieser Regel führt zu Trugschlüssen. So
MIKROBEN.
489
z. B. vermochte ich mittelst einer mir von Affanasieff zugekommenen Cultur
des von ihm entdeckten und als Erreger des Keuchhustens angesehenen Bacillus
auf dem Wege der Inhalation bei jungen Kaninchen keinerlei krankhafte Er-
scheinungen hervorzurufen, obgleich Affanasieff durch intrapulmonale und intratra-
cheale Injectionen dieser Reinculturen fieberhafte Bronchopneumonie mit Keuchhusten
ähnlichen Anfallen erzeugen konnte. Und doch sollte man billig verlangen, dass eine
Krankheit, die sicherlich nur auf dem Wege der Inhalation entsteht, auf diesem
Wege auch experimentell erzeugt werde.
Zum 8chlusse seien noch einige interessante chemische Eigenschaften
von Bacterien erwähnt, die zur Differenzirung der Arten beitragen können. So
fand Petruschky in vollständig neutralem, mit Lackmus gefärbtem Milchserum
einen für die Differenzirung von Bacterienarten sehr geeigneten Nährboden. Da
die meisten Bacterien in diesem Substrat eine Aenderung der neutralen Reaction
hervorrufen (Röthung oder Bläuung), die bei einer bestimmten Baoterienart stets
eine bestimmte Höhe erreicht, bei der die weitere Umsetzung aufhört, so lassen
sich durch Titriren mit Zehntei-Normal-Na OH , resp. HCl die Resultate quan-
titativ feststellen, so dass jede Bacterienart durch die Qualität und Quantität der
Reactionsveränderung charakterisirt ist. Bei Untersuchung mancher Ana£roben fand
Nencki, dass die von den meisten dieser Bacterien gebildete Milchsäure nicht immer
dieselbe ist, sondern bei manchen die optisch inactive, bei anderen die rechts-,
bei wieder anderen die linksdrehende ist und darin ein Unterscheidungsmerkmal
für manche Arten gefunden. Pfeffer hat schon vor einigen Jahren nachgewiesen,
dass viele mit Eigenbewegungen ausgerüstete Mikroben durch verschiedene organische
und anorganische Substanzen in der Weise gereizt werden, dass sie durch die-
selben angezogen oder abgestossen werden. Werden einseitig zugeschmolzene
Capillarröhrchen mit den zu prüfenden Stoffen gefüllt, in die auf einem Object-
träger befindliche bacterienhaltige Wasserschicht eingeschoben, so bemerkt man,
je nachdem die Reizung eine attractive oder repulsive ist, positive oder negative
Chemotaxis, d.h. die Mikroben bewegen sich nach der Capillaröffnung hin und
dringen in die Röhrchen ein oder fliehen von der Capillaröffnung weg. Ali-Cohen,
der die Versuche Pfeffer's wiederholte und dessen Angaben bestätigt, fand im
Kartoffelsaft eine stark anlockende Substanz , welche z. B. Cholera- und T yphus-
bacterien leicht anlocken, wodurch die Möglichkeit gegeben ist, diese Mikroben
von anderen unbeweglichen und nicht anlockbaren Arten zu trennen und auf einen
kleinen Raum behufs weiterer Untersuchung zusammenzubringen.
Literatur Es kann hier natürlich nur die zu diesem Artikel benützte neuere
Literatur berücksichtigt werden: Carl Fraenkel, Grundriss der Bacterienkunde. III. Aufl.,
Berlin 1891. — P. Baumgarten. Lehrbuch der pathologischen Mykolozie. Braunschweig
1890. — Cornil et Babes, Les hacteries. III. Aufl., Paris 1890. — Carl Günther,
Einführung in das Studium der Bacteriologie. Berlin 1890. — F. Hueppe, Die Methoden der
Bacterienforschung. Handb. der ges. Methoden der Mikrobiol. 5. Aufl. Wiesbaden 1891. —
James Eisenberg, Bacteriologiache Diagnostik. III. Aufl., Hamburg 1891. — H. Buchner,
lieber eiterungerregende Stoffe in der Bacterienzelle (Centralbl. für Bacteriol. 1890, VIII,
Kr. 11). — P. Ernst, Ueber den Bacillus Xerosis und seine Sporenbildung (Zeitschr. für
Hyg. 1888, IV, pag. 25— 46). — Derselbe, Ueber Kern- und Sporenbildung in Bacterien
(Ebenda. 1889 , V, pag. 428— 486). — V. Babes, Ueber isolirt färbbare Antheile von
Bacterien (Ebenda. 1889, V, pag. 173—190). — O. Bütschli, Ueber den Bau der
Bacterien und verwandter Organismen. Leipzig 1890. — Arloing, Les spores du bacillus
anthraeis sont riellement tuies par la lumiere solaire (Compt. rend. de l'Acad. des sciences.
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1887, Nr. 9, pag. 445). — Pansini, DelV azione della luce solare sui microorganismi
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Laquerriere, De Vaction polaire positive du courant galvanique constant sur les microbes,
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Forschung (Yerhandl. des X. internat. med. Congresses. I). — F. Löffler, üeber eine neue
Methode zum Färben von Mikroorganismen, im Besonderen ihrer Wimperhaare und Geisseiii
(Centralbl. für Bacteriol. VI, Nr. 8—9). — Derselbe, Weitere Mitteilungen Uber die Beizung
und Färbung der Geissein bei den Bacterien (Ebenda. VII, Nr. 20). — Ch. Ali-Cohen,
Eigenbewegungen bei Mikrococcen (Ebenda. VI, Nr. 2). — Mendozza, Zur Eigenbewegung
der Mikrococcen (Ebenda. VI, pag. 56b). — Gessard, Sur les pigments divers produiis
pas le microbe pgoeganique (Semaine med. 1890, Nr. 9). — E. Wasserzug, Sur la fbr~
mation de la matiere colorante chez le bacille pyoeyanique (Annal. de l'Institnt Pasteur.
1887, Nr. 12). — Derselbe, Variations deforme chez le» bacteries (Ibid. 1888, pag. 75). —
Derselbe, Variations durables de la forme ei de la fonetion chez les bacteries (Ibid.
1888, pag. 153). — P. K übler, Ueber das Verhalten des Micrococcus prodigiosus in saurer
Fleischbrühe (Centralbl. für Bacteriol. V, Nr. 10). — Schottelius, Biologische Unter-
suchungen über den Micrococcus prodigiosus. Leipzig 1887. — Fischer, Bacteriologische
Untersuchungen auf einer Reise nach Westindien. II. Ueber einen Licht entwickelnden, im
Meerwasser gefundenen Spaltpilz (Zeitschr. für Hyg. 1887, II). — Forster, Ueber einige
Eigenschaften leuchtender Bacterien (Centralbl. für Bacteriol. 1887« II). — K.B.Lehmann,
Studien über Bacterium phosphorescens -Fischer (Ebenda. V, Nr. 24). — Oscar Kats,
Zur Kenntniss der Leuchtbacterien (Ebenda. IX, Nr. 5 — 10). — Heinrich Bitter, Ueber
die Fermentausscheidung des Koch'schen Vibrio der Cholera asiatica (Archiv für Hyg. V,
pag. 241 — ?65). — Claudio Fermi, Die Leim und Fibrin lösenden und die diastatischen
Fermente der Mikroorganismen (Centralbl. für Bacteriol. 1890, VII, Nr. 15). — Lander
Brunton und Mac Fadyen, The ferment-action of Bacteria (Proceed. of the Boy. Soc.
London 1889, XLVI, Nr. 285). — Bouchard, Theorie de Vinfection (Verhandl. des X. internst,
med. Congresses. I). — Derselbe, Action des produits secr&es par les microbes patho-
genes (Rev. de med. 1890, Nr. 7). — Duclaux, Sur les phenomines geniraux de la vie
des microbes (Annal. de Tlnstitut Pasteur. 1887, Nr. 5). — W. Wyssokowicz, Ueber den
Einfluss der Quantität der verimpften Tuberkelbacillen auf den Verlauf der Tuberkulose bei
Kaninchen und Meerschweinchen (Münchener med. Wochenschr. 1890, Nr. 41). — C harr in,
Sur la resistance de Vorganisme ä V action des microbes (Acad. des scienc. de Paris. 24. Oct
1887). — A. Chauveau, Recherches sur le transformisme en microbiologie pathogene.
Des limites y des conditions et des consiquences de la variabiliti du bacillus anthracis
(Arch. de med. experim. et d'anat. pathol. 1889, Nr. 6). — Derselbe, Les microbes ci-
devant pathogenes , n'agant conserve', en apparence, que la propriiti de vigiter en dehon
des milieux vivants, peuvent-ils ricupirer leurs propriitis infectieuses primitives (Compt.
rend. de l'Acad. des scienc. de Paris. 1889, CVIII, pag. 379). — G. Smirnow, Ueber das
Wesen der Abschwächung pathogener Bacterien (Zeitschr. für Hyg. 1888, IV, pag. 231). —
Achille Monti, Influenza dei prodotti Tossici dei saprofiti sulla restituzione della viru-
lenza ai microparassiti attenuati (Atti della B. Accad. dei Lincei. 1889, II, Nr. 7). — Roger,
Effets des associations microbiennes (Soc. de biol. de Paris. 1889, 19. Jan). — Hericourt,
Les associations microbiennes (Rev. de med. 1887, pag. 995). — Babes undCornil, Ueber
Bacterienassociationen in Krankheiten (X. internat med. Congr. ; Centralbl. für Bact. 1891,
IX, Nr. 23). — H. Kühne, Ueber ein combinirtes Universalverfahren, Spalpilze im thierischen
Gewebe nachzuweisen (Dermat. Studien. Hamburg 1687, Heft ö). — H. Kühne, Praktische
Anleitung zum mikroskopischen Nachweis von Bacterien im thierischen Gewebe. Leipzig 1888. —
Alb. NeiBser, Versuche über die Sporenbildung bei Xerosebacillen , Streptococcen und
Choleraspirillen (Zeitschr. für Hyg.). — Schill, Kleine Beiträge zur bacteriologischen Technik
(Centralbl. für Bact. 1889, V, Nr. 10). — N. Tischutkin, Eine vereinfachte Methode zur
Bereitung von Fleischpepton-Agar (Wratsch. 1890, Nr. 8). — E. Roux, Sur la cuUure des
microbes anaer obies (Annal. de llnstit. Pasteur. 1887, Nr. 2). — S. Kitas ato und Th.
Weyl, Zur Kenntniss der Anaeroben (Zeitschr. für Hyg. VIII, pag. 41 — 48 und 404 — 411;
IX, pag. 97 — 103). — M. Nikiforoff, Ein Beitrag zu den Culturmethoden der Anaeroben
(Ebenda. VIII, pag. 489— 499). — Egbert Braatz, Eine neue Vorrichtung zur Cultur von
Anaeroben im hängenden Tropfen (Centralbl. für Bact. 1890, VIII, Nr. 17). — H. Blücher,
Eine Methode zur Plattencultur anagrober Bacterien (Ebenda. VIII, pag. 499 bis 507). —
S. B o t k i n , Eine einfache Methode zur Isolirung anagrober Bacterien (Ebenda. IX, pag. 383). —
H. Buchner, Eine neue Methode zur Cultur anaerober Mikroorganismen (Centralbl. für Bact.
1888, IV, Nr. 5). — C. Fraenkel, üeber die Cultur anaerober Mikroorganismen (Ebenda.
1888, III, Nr. 23-24). — J. Petruschky, Bacterio-chemische Untersuchungen (Ebenda.
1889, VI, Nr. 28—24). — Ch. H. Ali-Cohen, Die Chemotaxis als Hilfsmittel der bacterio-
logischen Forschung (Ebenda. 181*0, VIII, Nr. 6). — M. Nencki , Die isomeren Milchsäuren als
Erkennungsmittel einzelner Spaltpilzarten (Ebenda. 1891, IX, Nr. 9). M. T. Schnirer.
Mikroben (Mikroorganismen), bei Beri-Beri, pag. 90 ff.; bei
Beulen, pag. 97 ff.; bei Blutfleckenkrankheit, pag. 106 ff.; bei Con-
junctivitis, pag. 151; bei Carcinom, pag. 135; bei spitzen Condy-
lomen, pag. 165; bei Conjunctivitis, pag. 160; bei Diphtheritis,
PI« 1 " Hei Endocarditis, pag. 326; bei Pneumonie, pag. 445.
ftj 8r T A »tersuchung, pag. 441.
MILCHZUCKER. — MILITÄB-KRANKENDIENST.
491
MilChZUCk6r, bei Herzkrankheiten, pag. 335.
Militär-Krailkendien8t ist der Inbegriff dessen, was sich auf die Heeres-
krankheiten, auf die Militärkrankenbeförderung, die Militär - Kranken Verpflegung,
die militärmedicini8chen Heilmittel und die freiwillige Krankenpflege bezieht.
Aua fast allen diesen Zweigen des Krankendienstes hat die vorliegende
Encyclopädie Darstellungen gebracht; nur die Grundsätze, welche die Wahl der
militärmedicinischen Heilmittel beherrschen , bedürfen noch der Betrachtung.
Unter militärmedicinischen Heilmitteln versteht man solche, welche sich
am Soldaten im Krieg und Frieden als die zweckmässigsten des ärztlichen Heil-
mittelschatzes bewährt haben und darum im Gebrauche der Heere stehen.
Die Heilmittel sind gewiss nahezu so alt wie die Menschheit und daher
bei den ältesten Völkern anzutreffen. Nur beiläufig will ich zum Belege hierfür
»an jene im Berliner königlichen Museum verwahrte Hausapotheke aus Theben
erinnern, welche von einer Königin aus der XI. Dynastie, also aus dem 25. oder
24. Jahrhunderte vor Christus , stammt.
Ueber das älteste Beispiel der Benützung eines militärischen Heil-
mittels berichtet, soweit bekannt, Homer, welcher (Ilias, XI, 846, 847) die bittere
Wurzel einer Pflanze in den Händen zerreiben und zur Schmerzstillung auf die
Geschoss- Wunden streuen lässt.
Hippokrates hat nach gelegentlichen Hinweisen in überlieferten Schriften
Einiges über Verletzung durch Kriegswaffen in seinem leider verloren gegangenen
Buche de medico geschrieben, und kann deshalb sein Heilverfahren gegenüber
Geschosswunden nicht genügend festgestellt werden. Nach Sonstigem aber zu
urth eilen, hat er Umschläge um die Geschosswunden und mehrere Wundpflaster,
gegen Blutungen Kälte, Druck und stillende Heilmittel angewendet.
Ueber die römische Kriegschirurgie zu Zeiten Christi giebt zwar Celsus
im 5. Capitel des 7. Buches seiner artes willkommenen Aufschluss ; es beschäftigt
sich derselbe jedoch daselbst lediglich mit dem operativen Verfahren gegenüber
festhaftenden Geschossen , ohne der Heilmittel engeren Sinnes , welche allein der
vorliegenden Betrachtung unterworfen werden, zu gedenken.
Bei den Germanen waren es heilsame Kräuter und Zaubersprüche, mit
welchen die Mütter und Gattinen die verwundeten Angehörigen zu behandeln sich
bemühten.
Im Mittelalter pflegten die Araber durch Feldapotheken auf ihren Feld-
zügen sich begleiten zu lassen, und ihre Schriften beweisen, dass sie für das
Feld über einen grossen Vorrath von Heilmitteln verfügten. Eine besondere und
unverdiente Rolle spielten auf dem kriegschirurgischen Gebiete die zur Heraus-
beförderung der Geschosse aus dem Körper dienenden „Extractivmittcl". Rhäzes
im 9. Jahrhundert benützte als solche: Pflaster aus Ammoniak und Honig, aus
Narcissenzwiebeln oder Schilfwurzeln mit Honig, oder Pflaster aus diesen ver-
einigten Mitteln.
Während Abul-Kasem sich wenig auf Extractivmittel medicamentöser
Art einlässt, legt der in demselben (10.) Jahrhunderte geborene Avicenna noch
besonderes Gewicht auf derartige Mittel und nennt von ihnen wieder das
Ammoniak, die Schilfwurzel, ferner den schwarzen Mohn, Feigenblätter, Bilsen-
kraut, Aristolochia, Meerzwiebel, aber auch enthäutete Frösche, zerriebene Krebse,
gespaltene Eidechsen, frisch abgerissene Eidechsenköpfe u. v. a.
Ungefähr zu derselben Zeit wird es gewesen sein, wo nach dem Nibe-
lungenliede der heilkundige Gudrun den Verwundeten mit einem „heilkräftigen
Kräutlein" und einer Pflasterbüchse zu Hilfe eilte.
Während dieses einfache und laienhafte Verfahren unserer Altvordern
noch an das 2000 Jahre vorher geübte der Homerischen Zeit erinnert, begegnen
wir im 12. Jahrhunderte endlich dem wissenschaftlichen Erstlingswerke des
Abendlandes, der Practica chirurgiae des Roger Salernitanus. Derselbe führt
MILITÄR-K RAN KEN DIENST.
nach der Ausziehung eines Geschosses Speckstabeben oder iSpeckmeiasel in den
Wundcanal, oder an Stelle von Speck gesalbte Wieken und legt Bauschchen von
Zupt !< 'inwand auf die AusBonderungsatelle der Gescbosswundo. Hier finde ich,
soweit ich die mittelalterliche Literatur der Kriegschirnrgie beherrschen kann»
das erste Mal die Zupfleinwand erwähnt, die somit 7 Jahrhunderte hindurch da«
Feld behauptet hat. Welche Heilmittel Roger bei der Blutstillung verwendet, gebt
aus seiner Darstellung der Halsgeschoss wunden (IL 3) hervor. Er B> hierüber:
„Wenn ein Geschoss im Halse festsitzt und eine Blutader durchbohrt
oder eine Schlagader und die Wunde stark blutet, so ist nach sofortiger Aus
ziehung des Pfeiies die Blutader zu nähen, wie erwähnt; oder es ist auf die
Wunde das rothe Pulver zu streuen T oder trockener Eselskoth aufzulegen; hat
man keinen trockenen, so packt man frischen in einen Lappen, drückt aus und
legt ihn auf. *) Auch verreibt man Weihrauch und Aloe mit Ei weiss und Hasen-
baaren und legt dies überreichlich auf die abgeschnittenen Schlagadern und l&sst
es liegen, bis es von selbst aus der Wuude fallt« Demselben Zwecke dient Oyps
mit zerriebenen Weinbeerkernen, ferner LorbeerblQthen mit Eburnusblättern ; auch
stillen gekaute Getreidekömer das Blut und heilen; auch Kreide fcalx) mit
Capitellum gemischt ist brauchbar. Die auf die Blutstillung folgende Behandlung
ist bereits dargelegt worden."
Die Zusätze, welche der ROGEfi'schen Darstellung hinzugefügt sind*
stammen von Rolando Oapelluti, also aus der Mitte des 13. Jahrhundert*.
Betreffs der Blutstillung sind folgende Zusätze bemerkenswert!! : 1. Die blut-
stillenden Mittel dürfen vor Ablauf des dritten Tages nicht entfernt werden.
2. Auch Laudanumharz, mit Regenwürmern und Eiweiss verrieben, stillt das
Blut und heilt. Endlich soll man nach Capelluti, um Nerven zu heilen, warme
Eselsmilch 9 Tage lang in öfter Wiederholung einreiben ; doch erfüllen nach
seiner Meinung Salben und Oele denselben Zweck.
Im 13. Jahrhunderte empfiehlt Teodorico Bohgognoni, welcher durch
seine Lehre der prima und secunda intentio, durch seine Meinung, dass die
früher emsig erstrebte Ettererzeugung unnothig sei, und durch das lange Liegeu-
lassen der ersten Verbände die jetzigen Feldärzte besonders anheimeln mag, ab
Wundbedeck ungamittel Werg, indem er schreibt : „Die Wundränder sind nach etwa
nöthiger Reposition durch blutige Naht zu vereinigen ; der Verband ist der sonst
gebräuchliche: Plumaceaux aus gutem Werge mit Wein getränkt, darüber noch
sehr viel Werg mit Bänder befestigt zur Warmhaltung ; der erste Verband, ebenso
der zweite bleibt 5 oder 7 Tage liegen, falls sich kein Schmerz einstellt."
Einen verständigeren Deck verband habe ich bei den vorhergehenden
Schriftstellern nicht gefunden. Gegenüber der «TischiHsaiiaziehußg Ist er freilich
noch in den abergläubischen Meinungen seiner Zeit befangen. Denn er meint:
Ich will nun, am Ende angelangt , Uber gewisse Erfahrungen schreiben,
welche von mir zwar nicht erprobt sind, welche aber, wie ich bestimmt weiss,
von erfahrenen Männern bestätigt werden. Man soll nämlich bei der Pfei lau »Ziehung
dreimal mit gebeugten Knieen das Vaterunser beten. Darauf soll der Pfeil mittelst
Anlegung beider Hände gefasst und gesagt werden: „Nicodeiuus hat Nägel au*
den Händen und Füssen des Herrn gezogen!" Dann zieht man und der Pfeil
wird alsbald herausgehen.
Auch kann man Geschosse aus den Wunden entfernen, wenn man Bleu
blätter mit Di p t am us Müttern **) zusammengerieben auf die Wunde legt Macer***]
*) Die Angelsachsen beschmierten mit der Brühe frischen Eselskothee st aark renke
Augen. — H, Frt
"♦i Vielleicht sind die zu den Orchidaceen gehörige Bletia und der zu den Terebin-
thineen »äblenile Die Uranus albus gemeint, — H. Fr,
**♦) „Mneer*4 ist der Titel eines fiedichtes über Heilkräuter, welches von Odo rem
Menne an der Loire (f 1161) verfasst ist Dieser Titel ist dem Kamen des Dichters Aemiüna Ilaoer
des Aelterea aus Verona {+ 15 n. Chr.), dea Freundes von Ovid und Virgil, entlehnt, welcher
ebenfalls ein Gedicht über Heilmittel verfasst hat, — H. Fr.
MILITÄR-KRAN KENDIENST.
493
sagt, dass die Stalwurz (abrothanus) allein oder mit Fett als Pflaster Stachel,
Schwäre und andere innen haftende Dinge auszieht. Auch behauptete Maxier,
dass die geriebene Osterluzei jeden festhaftenden Fremdkörper wegzieht, und die
gekochte Wurzel der Eruca sogar Knochensplitter herauswirft.
Gleichfalls im 13. Jahrhunderte macht uns Guilielmo Salicetti mit
einigen Heilmitteln der Kriegschirurgie bekannt. Nach ihm soll man, wenn die
Pfeilausziehung besondere Schwierigkeit bereitet, mit warmem Rosenöl, welches
zwischen Pfeil und Wundränder eingeträufelt wird , erweichen , bis ihn die Kraft
der Natur austreibt. Die Wundöffnung wird erweitert mit Unguentum apostolorum
oder Unguentum viride oder mit Sonde oder dem Rasorium, auch mit getrocknetem
und zusammengepres8tem Schwamm oder Mark der Milica oder des Sambuous.
Bei Schädelwunden wird vor der Trepanation ein dreieckiger oder kreuzförmiger
Schnitt gemacht und dann mit Zangen oder mit „Pizacariolis" (auch „Picicarolis")
das Geschoss ausgezogen. Die Widerhaken umgiebt auch er mit Metallröhrohen
oder mit Gänsekielen/) Nach Beendigung der Ausziehung fallt er die Wunden
mit Wieken aus Werg oder Lein aus. Diese Wieken sind mit Rosenöl und Eigelb
— im Winter warm und im Sommer kalt — getränkt und liegen 3 oder 4 Tage,
bis sich Eiter bildet. Daun wird ein reinigendes Pflaster, aus Rosenhonig, Ter-
pentin , Myrrhe und verschiedenen Mehlen zubereitet , aufgelegt.
Gegen vergiftete Geschoss wunden verwendet Lanfranchi in der zweiten
Hälfte des 13. Jahrhunderts Schröpfköpfe und dann Aetzmittel; gegen Blutungen
aus Geschosswunden Druck , styptische Arzneimittel , endlich Unterbindung. Sein
styptisches Pulver besteht aus den von Roger angegebenen Bestandteilen.
Während Ypermann, Mondeville und Guy von Chauliac im 14. Jahr-
hunderte mit neuen Feldarzneimitteln nicht bekannt machen, fflgt Leonardo
Bertapaglia den alten Extractivmitteln arzneilicher und mystischer Art, die bis
dahin zum Theil schon 5 Jahrhunderte sich erhalten haben, wenige andere hinzu.
Die von ihm aufgeführten sind: Lolium, Radix arundo, Radix narcissi, Mel
crudum, Resina pini, Terpentin, Ammoniak, Galbanum etc. , also meist terpentin-
hältige Mittel; auch setzt er gepulverten Magneteisenstein zum Pflaster; endlich
vergießt er nicht, einige thierische Mittel anzuwenden, als da sind: frisch abge-
schnittener Eidechsenkopf, enthäuteter Frosch und — was selbst Avicrnna nicht
angiebt — warme Fuchszunge.
Der Deutsche von Pfolspeündt im 15. Jahrhunderte, welcher nach
meinen Untersuchungen (Deutsche mii. Zeitschr. 1874, H. 11) der Erste ist, der
neben den Pfeilwunden auch der durch Bttchsengeschosse verursachten Schuss-
wunden gedenkt, wählt zur Erweiterung der Pfeilwunden zusammengeschnürten
Badeschwamm als Quellmeissel, auch getrockneten und eingeölten Enzian, gedörrtes
Hollundermark oder dürre Rüben. Gegen Blutungen gebraucht er styptische
Baumwollen-Tampons und mehrere andere auch wieder abenteuerliche Mittel, unter
denen der Eselskoth von Neuem auftaucht. Auch die Wundtränke (aus Beifuss,
Schwarzwurz etc.) verschmäht Pfolspeündt nicht. Zur Entfernung des Büchsen-
pulvers aus Schusswunden endlich empfiehlt Pfolspeündt folgendes Verfahren :
Man nimmt Frauen- oder Ziegenmilch oder Beides, ferner Hauswurzkraut
und fettes Steinkraut oder eines von Beiden, endlich Rosenöl oder Baumöl, oder
Leinöl und Beifuss , stösst Alles zusammen, presst es durch ein Tuch und spritzt
es in die Wunde, oder, falls die Wunde weit genug ist, tränkt damit einen
Bausch von Zupfleinwand , welchen man in die Wunde stopft. Dann bedeckt man
die Wunde mit einem Pflaster und giebt einen Wundtrank aus Beifuss oder Buch-
spitz (das ist Hieracium murorum), welcher Trank schon allein die Austreibung
des Pulvers herbeiführt, falls die übrigen Mittel nicht zur Hand sein sollten.
Der Deutsche Braünscbweig am Ende des 15. Jahrhunderts wäscht die
Schusswunden mit Milch, reinigt sie mit Haarseil und bedeckt sie mit Pflaster
*) Celsus empfiehlt Schilfrohre. — H. Fr.
494
MILITÄR-K RAN KENDIBJTST.
aus Rosenöl , Terpentin und Kampfer» Blutungen stillt er mit Ei weiss in Wer^
Pulver aus Weihrauch, Drachenblut und Eierscbalenkalk , Aetzung mit Vitriol,
Kalk, mit Glüheisen, Wundnabt und Verapreehungsformeln. Weiter bespricht
BRAUNSCHWEm die Erweiterung- enger Wunden mittelst Meisseta, oder Wieken au*
Euzianwurzel , Holder- (wohl Hotlunder- . Sambucus- j Mark , Binsen , gebundenen
und gedörrten Badeschwammes , Lauchers. Vor der blutigen Erweiterung mittelst
Seheere oder Scheermesser giebt Braüxschweig eineu Schlaftrank, in welchem
natürlich Papaver. alb. und nigr. nicht fehlt.
Wenn gegenüber den Geschossen die instrumenteile Ausziehung untbun-
lieh ist, so rftth er, auf die durch Quellmeissel erweiterte Wunde Abends gestoaseoen
Ehrenpreis mit Massliebchen zu binden — „so findest du den Klotz (die Kugel)
sicherlich Morgens vor der wunden liegen",
Gersdühff im Anfange des 16. Jahrhunderts versieht sieh mit heissem
oder warmem Haufsamenöl , welches er in die frischen Sehuaswunden hinein
giesst , worauf er dieselben mit Ölgetränkter Baumwolle bedeckt. Nach Entfernung
des Schiesspulvers aus der Wunde wendet er Wasaerüberschlftge an. Gegen ver-
giftete Wunden genügt ihm in heisses Baum- oder Rosenöl getauchte Roggenbrod
rinde. Nötigenfalls lässt er den Verwundeten an einem Schlaftrank aus Nacht*
schatten, Bilsenkraut, Opium etc. „schmecken". Gegen Blutungen wendet er die
bisherigen Mittel an; neu ist nur, dass er bei kleinen blutenden Wunden eine
Nussschale mit flüssigem Pech füllt und auf die Wunde umstürzt.
Tagaült im 16. Jahrhunderte bereichert den Feldarzneischatz nicht
wesentlich; in kindlicher Einfalt scheint er noch an die abenteuerlichen Extractir
mittel Avicenna's zu glauben. Maggius dagegen, zu derselben Zeit lebend, ist
frei von dieser Glaubensseligkeit. Er reinigt die Wunde mit Zupflein wand oder
Baumwolle und träufelt einen heissen Tropfen Oel in die Wundöffnung. Zur Blut
Stillung giebt er Posca (Wasser mit Essig) als Getränk , in die Wunde stopft er
Zupfleinwand und sucht auch mit kaltem Wasser, Eiweiss, Bolus, Thus, Aloe etc.
der Blutung Herr zu werden. Die Unterbindung war zwar längst bekannt, aber
immer noch nicht beliebt Von arzneilichen Extractivmitteln habe ich bei Maggie
nichts gelesen.
Sein berühmter Zeitgenosse Parü brachte zunächst für die Amputationen
die Adernuterbindung zu vollem Ansehen und wurde überhaupt bahnbrechend für
eine von den Schlacken des Mittelalters erlöste Kriegschirurgie.
Rota im 16. Jahrhunderte betropft die Schusswunden mit Terpentin to
Eidotter, welcher Mischung ein wenig Safran zugesetzt wird. Die arzneüichea
Ausziehmittel läset auch er vermissen; dagegen ist er mit der Aderunterbinduag
nicht einverstanden,
Sein Zeitgenosse Botallo bringt nichts Neues für die MilitärmediciD j
ebenso nicht Wüs/rz, Joübert und dcChesne, so werthvoll ihre (besonders
Würtz'1 Lehren für die allgemeine Wundheilkunde der damaligen Zeit auch
gewesen sein mögen.
Vom Ende des 16. Jahrhunderts spätestens an beschäftigten sieb Aencte
mit der literarischen Zusammenstellung der für Kriege zweckmässigen Heilmitlei*
Die älteste deutsche Abhandlung, welche zu dieser Zeit bearbeitet worden und
1 602 in Buchform erschienen ist, ist die Reise- und Kriegsapotheke von A. ELLIN&BR
(Zerbst), einem Jenenser Professor, welcher 1582 verstorben ist.
Den meines Wissens ersten Vorschlag für die Organisation de* Heilmittel-
weseos im Kriege machte Abb. a Gehema in seinem „Wohl versehenen Feld-
Medicus" (Hamburg 1684). Hier führt dieser aus. dass die Feldmedici je eine
compendiöse (innerliche und flusserliche Heilmittel enthaltende) Feldapotheke, die
Feldscherer nur einen chirurgischen Feldkasten führen sollen. Als Inhalt der
Feldapotheke schlägt er 117 Mittel vor, und zwar: 10 Aquae, 7 Baisami,
4 Cinerea, 6 Essentiae, 5 Eliiiria, 2 Emplastra , 3 Flores, 2 Liquores , 1 Mof-
sulus, 21 Oiea, 6 Pilulae, 23 Pulveres, 7 Salia, 11 Spiritus, 9 Tincturae,
MILITÄR-KRANKENDIENST.
495
Laxantia lässt er weg, weil sie seinen Principien und seiner Erfahrung gemäss
mehr schädlich als nützlich sind. Mit dieser Aufzählung will Gehema den freien
Spielraum in der Krankenbehandlung durchaus nicht begrenzen , sondern es möge
Jeder sehen, fügt er hinzu, „wie er sich aufs kürzeste, sicherste und ange-
nehmste seine Patienten zu curiren unterstehet". Auch giebt er die Anschaffung
yon Utensilien (Gläsern, Mörsern, Waagschalen, Gewichten) frei. Solche Apotheken,
von denen freilich besser eine bei einem jeden Regimente eingeführt wäre, seien
von je einem tüchtigen Apotheker-Gesellen zu verwalten.
Als Inhalt eines Feldkastens wird Folgendes empfohlen : Allerhand not-
wendige Instrumente und reine Leinwand zum Verbinden , Compressen etc. ; hier-
nach 5 verschiedene Aquae, 2 verschiedene Baccae, 8 Baisami, 1 Bulbus,
Canthariden, Moxae, 4 Cerata, 8 Emplastra, 2 Farinae, 4 Flores, 15 Folia,
12 Gummata et Succi, 7 Olea, Panis biscoctus (vulgo biscuit oder Zwiebäcken
Brot), eine grosse Quantität zu Kataplasmen, 6 Pulveres, 6 Salia, 7 Radiees,
7 Semina, 9 Spiritus, 3 Tincturae, 11 Unguenta, endlich „eine Quantität Sprützen
zu den Clystiren in der rothen Ruhr zu gebrauchen, wiewohl wir sonsten in
anderen Fällen die Clysterien eines geringen. Nutzens halten".
Welche therapeutische Missgriffe zu dieser Zeit noch möglich waren,
davon ein Beispiel. In einem Buche von Samuel Müller aus dem Jahre 1687
wird, nachdem die Geschossansziehung besprochen ist, zur Herbeiführung der
Eiterung folgendes Oel empfohlen:
„Rp. Olei Violac. Pfd. IV. darinnen siede zwo junge Katzen, so nur
neulich geworffen worden, biss sich die Beine ablösen, darzu setze Regen-Würmer,
gebührend präpariret, Pfd. I. lass es wiederum bey einem gelinden Feuer sieden,
als-dann thue hinzu : Venedischen Terpenthin und Scheide-Wasser ää Un. III. ver-
wahre es wohl in einem Glase, biss zu gelegenen Gebrauch.
So aber wegen des kalten Brandes einige Gefahr vorhanden, so ge-
brauchen wir mit Nutz das Aegyptiacum io Wein zerlassen etc.
Wenn die Wunde zur Eyterung bracht worden, so müssen detergirende
Medioamente gebrauchet werden, dergleichen folgendes eins ist:
Rp. Aqvae in qua Hordeum bullivit.
succi Plantagin.
Petrosilin.
Agrimon.
Centaurii minor,
ää Unciam. I.
bulliant simul, qvo facto add.
Therebinth. Venet. ün. III.
Meli, rosar. Unc. II.
farin. hord. Uncias III.
Croci 9 I.
Mise. etc. f. Unguent. detersivum.
Endlich, so traget Sorge andern Zufällen der Kunst nach, vorzukommen,
so wird die Wunde zur vollkommenen Heilung gebracht werden.44
In gleicher Linie hiermit steht die Empfehlung Daniel Ludwio's aus
dem 17. Jahrhundert, über die Schusswunden im eigenen Harn getränkte Tüch-
lein zu legen.
Nicht nur die Aerzte, sondern auch die Staaten Hessen in ihrer prak-
tischen Fürsorge viel zu wünschen übrig. Aus den Feldzügen des Prinzen
Eugen von Savoyen wird berichtet (Militärwochenblatt. Berlin 1877, Nr. 26):
Für das gesammte kaiserliche Heer in Italien von 46.800 Mann Sollstärke war
im Jahre 1701 eine halbe, auf zwei Wagen verladene Feldapotheke bestimmt.
Die Hofkammer verweigerte alle Heilmittel gegen Syphilis und ordnete an, dass
von theuren Arzneien möglichst Umgang genommen werden sollte, da „ein ganz
496
MILITÄR-KRANKENDIENST.
geringes, fast nichts kostendes, simples Mittel einen aufgegebenen Patienten
vermittelst göttlichen Segens wieder zurechtgebracht habe".
Diese Sparsamkeit, welche wohl nicht ganz unbegründet gewesen sein
mag, konnte für eine einzelne Person, also für den Fürsten und Feldherrn, frei-
lich nicht in Frage kommen, besonders dann nioht, wenn der Körperzustand
dieser hohen Person arzneilicher Unterstützung thatsächlich und dauernd bedurfte.
Ein Beispiel für die reiche Ausstattung einer fürstlichen Feldapotheke besitzen
wir in einer solchen Apotheke Fried rieh's des Grossen. Da diese Feldapotheke
zugleich einen Blick in das Körperleben des kriegsgewaltigen Fürsten zu thun
gestattet, so sei es mir vergönnt, näher auf den Inhalt derselben einzugehen.
Die Feldapotheke Friedrich^ des Grossen, welche ich meine, ist auf dem
Schlachtfelde von Hochkirch 1758 aufgefunden worden und dann in den Besitz der
Familie Bouffee übergegangen. Als 1875 in Dresden eine Ausstellung alter kunst-
gewerblicher Arbeiten im dortigen kurländischen Palais stattfand, kam auch
diese Feldapotheke zu Gesicht und zog als umfangreicher (65 Cm. hoher und
42 Cm. breiter), schwerer und mit kunstvoller Einlegung reich verzierter Schrank
die Aufmerksamkeit der Künstler und Aerzte, unter Anderen auch diejenige des
bekannten Prof. Dr. H. E. Richter , welcher dieselbe kurz darauf in Schmidt's
Jahrbüchern, 1875, Bd. CLXVII, Nr. 7, beschrieb, auf sich. Nach dieser Be-
schreibung Richter's waren in dieser Apotheke, soweit sie mit Arzneibehältern
noch versehen war — die Hälfte der gefächerten Schubkästen stand leider leer — ,
folgende Arzneimittel vorhanden:
Abführmittel: Bestes Rhabarberpulver in zwei grossen Büchsen, Jalapa
in Pulver- und in Harzform, Scammonium in Substanz und als Pulver, Aloe
(westindische Leber-Aloe), das Extractum panehymagogum Crollii (ein Aloe'präparat
mit mehreren anderen, stark wirkenden Abführmitteln) und die balsamischen
Pillen, einfache und zusammengesetzte, deren eine Form wahrscheinlich nach der
Vorschrift von Selle (1748 bis 1800), dem Leibarzte Friedrich's IL, aus
Aloe' und Nieswurz zusammengesetzt war ; Bittersalz, Seigoettesalz, schwefelsaures
Kali, Salmiak und ein sogenanntes Digestivpulver. Die Mannigfaltigkeit dieser
Abführmittel deutet die Richtung an, in welcher die Leibärzte vornehmlich ein-
zuschreiten hatten.
Brechmittel: Brechwurz und Brechweinstein in Pulver, zwei grössere
Büchsen einnehmend, und Kupfervitriol. Die Menge entspricht dem damals häufigeren
Gebrauche der Brechmittel nach Aergernissen , dem Bestreben, das verbreitete
Wechselfieber — Chinin hatte man noch nicht — durch Brechmittel abzuschneiden
und, was das Kupfer betrifft, der Furcht vor (narcotischen) Vergiftungen.
Krampfmittel : Hirschhornsalz, Bibergeil, Kampher, Moschus, Ambra, ein
baldrianhaltiges Pulver , Zinkblumen , Wismutweiss , Kümmelthee , Täschelkraut-
samenthee und die Essentia aromatica. Die aromatischen Alkermes-Plätzchen aber
haben wohl nur als geruch widriges Kaumittel gedient.
Spiessglanzmittel : Mineralkermes, Metallsafran und das Antihecticum des
Poteriüs. Diese Mittel lassen auf bisweilen bedenklichen Husten schliessen.
Eisen mittel : Eisensafran und Blutstein ; letzterer ersetzte den alten Wund-
ärzten das jetzige Eisenchlorid für Blutstillungen.
Pflanzenpulver von Poley, Tausenguldenkraut, Erdrauch, Gamander, Erd-
cypresse , Lavendel und Levkoyblüthen , Lorbeeren , Wurzeln von Zedoaria nnd
Cassumumiar — wohl nur zur Geschmacksabwechslung in den Arzneien. Die
Salepwurzel in Substanz und in Pulver.
Opiate : Opiumeztract und Philonium romanum, letzteres vornehmlich aus
Opium und Bilsenkraut bestehend und als Schlafmittel dienend.
Diaphoretisches Pulver, vielleicht unser DovER'sches Pulver; kalkhaltige
Mittel: Krebssteine, rothe Korallen, Perlenpulver, geraspeltes Hirschhorn, gepul-
verter Flusspferd- und Elephantenzahn und drei Arten von Fisch- (vielleicht
Hecht-) Kiefern.
MILITÄR-KRANKENDIENST.
497
Gepulverter Smaragd, Hyazinth und Granat, ehemalige Gegengifte.
Balsamische Mittel: Balsam von Spanien, Peru nnd Mekka, das Opo-
balsamum, weisser Bernstein, Sagapen- und Ammoniakgummi.
Endlich Bleizncker nnd Quecksilbersublimat. —
Im jetzigen Jahrhundert hat sich die weitere Entwicklung der Feldapo-
theken in der Weise vollzogen, dass die Kriegsheere nunmehr mit zwar nicht
allen gebräuchlichen, aber mit den erfahrungsgemäss wirksamsten Heilmitteln aus-
gestattet werden, und dass in Folge dessen die Feldapotheken der Einzelpersonen
theils überflüssig geworden, theils inhaltlich auf weniges Unentbehrliche zusammen-
geschrumpft sind.
Gegenwärtig wird die Wahl der militärischen Heilmittel durch folgende
Gesichtspunkte beherrscht :
Die Heilung des erkrankten Soldaten hat das Ziel, Gesundheit und
Dienstfchigkeit so gründlich und so schnell als möglich wieder herzustellen. Die
hierzu verfüglichen Heilmittel müssen möglichst wirksam, einfach, verbreitet,
portativ, leicht herstellbar nnd ergänzbar, vielseitig besonders im Kriege anwend-
bar und billig sein. Die an letzter Stelle genannte Eigenschaft ist zwar keine
technische, denn „les conseillers ne sont pas les payeurs" ; nichtsdestoweniger
bleibt es Pflicht öffentlicher Beamter, wie es Militärärzte sind , die Ausgaben des
Staates nicht mehr zu beanspruchen, als es nothwendig ist.
Unter den militärmedicinischen Heilmitteln ist der blossen, aber überall
verfüglichen und vielseitig anwendbaren Hand des Arztes und dessen Gehilfen,
der Handfertigkeit, die grösste Bedeutung zuzuerkennen. Der Druck des
blossen Fingers bei Blutungen hat auf dem Schlachtfelde nicht selten den Werth
einer Lebensrettung. Das Enetverfahren hat mit seinen vortrefflichen Erfolgen
eine grosse Zahl von Einreibungen und Pflastern dem Schicksale der Veraltung
überliefert. Immer mehr gewinnt es auch im Militär an Boden ; im Nicolai-Militär-
Hospital zu Petersburg ist eine besondere Abtheilung für dieses Heilverfahren
eingerichtet worden, in welcher zugleich Knetcurse für Sanitäts - Unterofficiere
abgehalten werden — ein nachahmenswertes Vorgehen.
Ein hochschätzbares Mittel besitzen wir im Wasser. Sine aqua nollem
esse medtcus! Jeder Militärarzt sollte, wenn auch nicht ausschliesslich, Hydro-
therapeut sein und die Formen der Wasseranwendung viel besser beherrschen als
die Regeln des Receptschreibens.
Was die eigentlichen Arzneimittel betrifft, so ist die freie Wahl in
zweckmässiger Weise beschränkt. In fast allen Heeren begnügt man sieh lediglich
mit den anerkannt wirksamsten Arzneimitteln. Die antiseptischen und die gegen
einzelne Krankheiten specifisch wirkenden Mittel stehen mit Recht obenan. Ans
Rücksicht auf Sparsamkeit verordnet man, wenn möglich, meist solche Arznei-
mittel, welche für längere Zeit (1 — 2 Wochen) reichen, z.B. Tropfen, Thee,
Pulver — wie sie bei chronischen und unheilbaren Krankheiten zu empfehlen
sind. Dagegen sind Pillen, Mixturen, Aufgüsse, Abkochungen und Emulsionen —
zum Theil auch der Herstellungsmühe und des Zeitverlustes wegen — thunlichst
zu vermeiden. Destillirtes Wasser werde bei Substanzen, welche sich nicht leicht
zersetzen , durch gewöhnliches oder abgekochtes Wasser ersetzt. Von Tropfen
verschreibe man nicht mehr auf einmal als 15 Grm. Syrup ist nur für sehr
widerlich schmeckende Arzneien und nur etwa 10 Grm. auf 200 Grm. angezeigt.
Den Geschmack mancher Arzneien verbessert er überhaupt nicht und wird, z. B.
bei Chinin, vortheil haft durch aromatische Wässer ersetzt. Ebenso lasse man
Syrup bei gleichgiltig schmeckenden nnd leicht zersetzliohen Körpern, z. B. bei
Jodkalium, Höllenstein, Brech Weinstein , übermangansaurem Kali, auch bei
Emulsionen, weg. Lakrizensaft ist als Gesehmacksverbesserungsmittel nur für
Salzlösungen (Salmiak, Nitrum etc.) angezeigt und nur etwa im Verhältniss
von 1 : 50.
Encyclop. Jahrbücher. I. 32
Auch auf die Gefaase und Hüllen der zu verabreichenden Heilmittel
erstreckt sich eine sparsame Arznei wirthschaft. So wird man , S» B. für Höllen
steinlösungen t die theuren schwarzen Gläser umgehen können, wenn man die
farblosen Gläser in einem Schranke aufbewahrt und sie mit Papier oder Holl-
kapseln unigiebt, wobei das farblose Glas den Vortheil bietet, dass der Inhalt
geprüft werden kann. Für Pulver und Pillen verschreibt man nicht die kost-
spieligeren Pappschachteln, sondern graue Töpfehen (ad ollam griseam).
In fast allen Heeren ist als erstes Heilmittel bei Schussverletzungen ein
Verbandpäckchen gebrauchlich, welches jedem Soldaten mit in s Feld gegeben
wird. Im Deutschen Heere besteht dasselbe aus 2 antiseptischen Mullcotn pressen
von 40 Cm. Länge und 20 Gm. Breite, I Cambricbinde von 3 Meter Lange und
5 Cm. Breite, 1 Sicherheitsnadel und einer Umhüllung von wasserdichtem Verband-
stoff von 28 Cm. Länge und 18 Cm. Breite, Das Päckchen selbst ist 1CT , Cm.
lang, ö1/« Cm. breit, 2 Cm. dick und wiegt 38 Grm. Die Mannschaften tragen
es in dem linken Vorderschooss des Waffenrocks, des Attila und der l'lanka.
zwischen Futter und Tuch eingenäht (A.-Vr.-Bl. 1887, Nr. 8). Die zur Zeit bi*
zum Jahre 1778 von mir zurück verfolgte Geschichte des heutigen Verbandpäckchens
und die in ausser deutschen Heeren gebräuchlichen Verbandpäckchen , auch eine
Werthbeurtheilung dieser Päckchen habe ich in meiner Militärmediein (Braun-
schweig 1887), pag, 501 u, ff. abgehandelt , weshalb ich mich hier mit einigen
wenigen Ergänzungen begnügen darf. Das in Italien seit 1875 gebräuchliche
besteht aus einem dreieckigen Tuche, einem Stück entfetteter Watte und Steck-
nadeln, in Pergamentpapier eingeschlagen. Im Französischen Heere, wenigstens
beim 1. französischen Corps, hatte während des Feldzuges 1812 in Russland der
Soldat eine Binde und Charpie im Tornister. Jetzt besteht Aaa französische Ver-
bandpäckchen aus einer Gazecompresse , einem Wergkiasen , einer 4 M. langen
Leiuwandbinde , all welche mit 1%0 Sublimat imprägnirt sind. Gaze und Warf
sind in undurchlässigem Kautsehukstoff eingehüllt. Das Ganze ruht in einem
kleinen, innen gummirten Sack, welcher die Unduxcblässigkeit sichert. Ausser-
halb der Sublimatstoffe befinden sieh zwei vernickelte Sicherheitsnadeln. Da*
Ganze wiegt 50 Grm. — Oesterreichs Verbandpäckchen vergh in Mil.-Wocb. -Blatt
1890, Nr. 12.
Sehr beachten sw er the Vorschläge für die zweck massigste Zusammensetzung
des Verbandpäckchens hat übrigens Alexander Frankel 1887 in der Wiener
Klinik niedergelegt. — Da man den gebildeten Elementen der bewaffneten Macht
eine verständigere Selbsthilfe zutrauen darf, als sie der schlichte Soldat üben kann,
so hat man vielfach versucht, dem Officiere etwas Vollkommeneres, als ein Ver-
bandpäckchen es ist, in die Hand zu geben. Zu dem Zwecke sind zahlreiche
Verbandzeuge vorgeschlagen , für und gegen welche viel verhandelt worden ist.
Als eines der zweck massigsten ist mir das von Stabsarzt Körner angegebene
(und von Mensel & Comp, in Chemnitz gefertigte) vorgekommen. Dasselbe
enthält die Bestandteile des Verbandpäckchens und ausserdem besonders Jodo-
form, Opiumtinctur , Aether, Seidenpdaster und Watte etc. in einer Ledertasche,
die 12 Cm. hoch, 7l/i Gn*i breit und 3 Cm. dick ist Zwölf Stück solcher Ta»ehen
kosten 54 Mk,
Sehr nützlich auch erscheint mir zumal für filtere Officiere im Felde
eine kleine, portative Feldapotheke, welche zugleich der ersten Hilfe dienen soll.
Für eine solche würden, wie ich 1889 im „Militärarzt" ausgeführt habe, folgende
Heilmittel ins Auge zu fassen sein:
Ausser einer Scheere, einer Schnalleuaderpresse und einem Nadelkästchen
mit 10 Nahnadeln, 10 Sicherheitsnadeln und 5 Grm. Stecknadeln, sind von Verband-
mitteln zu empfehlen: 3 Verbandpäckchen, jedes derselben 10*5 Cm. lang, 5*5 Cm.
breit und 2 Cm. dick, 38 Grm. wiegend und enthaltend 1 Cambricbinde. 3 M. lang
und 5 Cm. breit, 2 Compressen aus entfettetem und antiseptisch inprägnirtem
MILITAR-KRANKENDIENST. — MILZBRAND.
499
Mall, 40 Cm. lang und 20 Cm. breit, und endlich 1 Sicherheitsnadel ; von anderen
Verbandmitteln genügen für die Feldapotheke 4 M. leinenes Band , 100 Orm.
Wundwatte als Pressstück , 5 Grm. weisser Zwirn , amerikanisches (seine Kleb-
kraft nicht verlierendes) Kautschukheftpflaster , 8 Cm. breit und 40 Cm. lang,
Senfpapier, 10 Stück in Blechhülse, endlich Jodoformcollodium , 15 Grm. mit
Pinsel in Flasche.
Was die (inneren) Arzneimittel dieser Feldapotheke betrifft, so sind auch
für deren Auswahl die angeführten Eigenschaften massgebend ; nur ist ausserdem zn
wünschen, dass sie nicht leicht verderben, dass sie in trockenem, dosirtem und
verbrauchsbereitem Zustande sich mitnehmen lassen und dass sie dementsprechend
die Form von comprimirten Tabletten oder von nicht zu harten, in Wasser leicht
zerfallenden Pastillen haben (vergl. Aerztl. Centraianzeiger. 1887, Nr. 17), so
sich dies mit dem Wesen des Heilmittels verträgt. Zu den hier in Betracht
kommenden Arzneimitteln gehören: Einfache Opiumtinctur 15 Grm. , Hofmanns-
Tropfen 20 Grm. , Salmiakgeist 10 Grm., Olivenöl 30 Grm. , Salicylsäurelösung
(aus 1 Theil Säure und 3 Theilen Spiritus) 30 Grm. , Jodoform praec. 50 Grm.
in einem Glase, dessen zinnerne Kappe mit Stecknadeln durchbohrt ist, essig-
saures Blei 50 Grm., doppeltkohlensaures Natron 30 Grm., Chininpulver 10 Stück
je 0*3 Grm., Brausepulver 6 Stück je aus 2 Grm. doppeltkohlensauren Natrons nnd
1*5 Grm. gepulverten Weinsteins, Dover' sehe Pulver 10 Stück je 0*6 Grm., Brech-
pulver 5 Stück je 1*3 Grm. und endlich ein Thee, z. B. Pfefferminzthee 30 Grm.
Einreibungen sind nicht mitaufzunehmen, weil sie ausserhalb der ersten Hilfe stehen
und in sonstigen Bedarfsfällen aus vorhandenen Mitteln (z. B. Linimentum ammoniatum
aus Salmiakgeist und Olivenöl 1 : 3) in einem Reserveglase leicht hergestellt
werden können. Noch andere meistgebräuchliche Heilmittel, wie Höllenstein,
gebrannte Magnesia, Morphium, Liquor ferri sesquichlorati , Antidotum Arsen ici,
Chloroform u. A. m. , werden von dem einen Arzte verlangt, von dem anderen
abgelehnt. Und so werden die Grenzen des Inhaltes einer solchen Feldapotheke,
so lange wie die ärztlichen Ansichten selbst, schwanken.
Die wichtigsten Eigenschaften der diese Heilmittel bergenden Behälter
sind Festigkeit, Undurchlässigkeit, Verschliessbarkeit und Kleinheit. Am meisten
wohl empfiehlt sich ein Kasten aus Weissblech (oder allenfalls aus Pappe), der
mit starkem, steifem Kalbleder überzogen ist. Der Umfang betrage in der Höhe
etwa 10 Cm. , in der Breite 30 Cm. und in der Tiefe (von vorn nach hinten)
25 Cm. Ein wagerechtes Zinkblech mit Ausschnitten für mehrere Reihen Gläser
trenne abwärts einen Hohlboden ab, in welchem, vorn durch Pappscheidewände
getrennt, die verschiedenen Verbandmittel ruhen. In der Innenfläche des Deckels sei
die Scheere und die Aderpresse untergebracht, während ein zweiter innerer Deckel
zur Feststellung der unter ihm befindlichen Gegenstände durch einen Schieber in
seiner Lage zu erhalten ist. Dem ganzen gefüllten Kasten, dessen Preis etwa
40 Mark beträgt, eine gemeinverständliche Gebrauchsanweisung beizulegen ist
jedenfalls wünschenswerth.
Literatur: H. Frölich, Altegyptische Militärmedicin. (Militärarzt. 1885, Nr. 11. —
Derselbe, Militärmedicin des morgenländischen Alterthum 3. (Deutsches Archiv für Gesch.
der Med. 1878, Heft 1.) — Derselbe, Die Militärmedicin Homers. Stattgart 1879. — Der-
selbe, Kriegschirurgie des Oelsas. (Deutsche milit. Ztg. 1S72, Heft 11) — Derselbe,
Kriegsverletzungen im Mittelalter. (Oesterr. milit. Zeitschr. 1886, IV.) — Derselbe, Pfol-
speandt's Chirurgie. (Deutsche milit. Ztg. 1874, H. 11.) — Nothapotheken. (Aerztl. Centralanz.
1887, Nr. 17 ) — Ersatz künstlicher Glieder. (Armee- Verordn.-Bl. 1887, Nr. aO.) — Knetcuree
in Russland (Wiener med. Wochenschr. 1886, pag. 1390). — Blutegelconservirung. (Deutsche
milit. Zeitschr. 1878, Heft 3) — H.Frölich, Militärmedicin. Braunschweig 1887. — Fran-
zösische Verbandpäckchen. (Militärarzt. 1890, pag. 102.) — AI. Fränkel, Verbandpäckchen.
(Wiener Klinik. 1887, 11. 12. Heft, pag. 378.) — H. Frölich, Feldapotheke für Offleiere.
H. Frölich.
Milzbrand, Impfung, s. Immunität, pag. 345.
32*
600
MITRALSTENOSE. — M I TTEL OH R A FFECTI ONEN ,
Mitralstenose, s, Herzkrankheiten, pag. 332.
MittelohrafFeCtiOnen (vergl. Real-Encyclopädie, II. Aufl., Bd. XIII,
pag, 314). In der Pathogenese der Ob rerk ran k im gen und speciell der entzünd-
liehen Mittelobraffectionen ist auf Grund der neuesten Untersuchungen die Beden
tuug der verschiedenen Mikroorganismen als Entzündungserreger zu betonen. Die
ausgiebigsten Untersuchungen nach dieser Richtung hin hat Zacfal angestellt.
Er macht darauf aufmerksam , dass für die Inanspruchnahme eines Mikroorga
nismus als Erreger der acuten Mittelohrentzündung die drei von Koch aufg
stellten Bedingungen erfüllt sein müssen: 1. häufiges Vorkommen und specieü i
Anfaoge des Processes, 2. Nachweis im entzündeten Gewebe und 3. künstlich
Erzeugung der Entzündung durch Impfung mittelst der Reincultur, Diese Anfor
derungen lassen sich nur für den Bacillus Friedländer erfüllen ; Zaifal fand im
Secrete der von acuter Entzündung befallenen Paukenhöhle den Bacillus Fried-
la'nder und konnte denselben mit Erfolg auf die Paukenhöhle vom Meerschweinchen
überimpfen. Weiterbin sind nach Zaufal Entzündungserreger im Mttteluhr
Streptococcus pyogenes, Staphylococcus pyogenes albus und aureus, Diplococca
pneumoniae Fraenkel -Weich seibau m. Die anderen Mikroorganismen, welche im
Mittelohr bei Eiterungen gefunden sind : Staphylococcus cereus a?bus, Staphylo-
coccus tenuüy Bacillus tenuis } Mikrococcus tetragenus Gaffky*sp Bacillus
pyoeyaneus, sind nicht mit Sicherheit pathogen.
Bei der acuten Mittelohrentzündung können verschiedene Mikroorganismen
gefunden werden, es stellt deshalb dieselbe keinen ätiologisch einheitlichen Krank
heitsprocess dar.
Aus den Beobachtungen Zaufal's ergiebt sich , dass bei den Ohr
entzüuduugen nach Erkaltung meist der Diplococcus pneumoniae , bei den Mittel*
ohrentzündungen durch Fremdkörper, nach Operationen im Nasenrachenraum, der
Streptococcus pyogenes sich vorfindet. Die Comptieationen, welche sieb zeit-
weilig an die acuten Mittelohrentzündungen anschliessend können entweder auf
die Wirkung des ersten Entzündnngserregers zurückgeführt werden, oder es können
anch secundär durch Einwanderung anderer pathogener Mikroorganismen die-
selben entstehen. Im Allgemeinen kann jede der hier in Frage kommenden
Mikroben Comptieationen, Facialislähmung, Eiterungen des Processus mastoideu*,
Gehirnabscesse u. s. w. erzeugen. Die Hauptursache für das sogenannte „Chronisch-
werden" der acuten Entzündungen des Mittelohres lie^t in weiteren Infectionen
des primären Entzündungsherdes und lassen sich die Verhältnisse am besten er-
klären durch die Annahme, dass der ursprüngliche Entzündungserreger den
Weg für die Invasion neuer bahnte. Weitere Untersuchungen sind angestellt von
Rohrer, Weichselbaum, Habehmann, Bordoni Uffredüzzi, Gbadexigo,
Kuhn u. A. Weichselbaum betrachtet den Diplococcus pneumoniae als den
gefahrlichsten Krankheitserreger; er fand denselben fünfmal bei der Mittelohr-
entzündung ohne Perforation des Trommelfelles, in zwei Fällen auch den
Staphylococcus pyogenes aureus und in einem Falle den Streptococcus
pyogenes.
Die Infection des Mittelohres erfolgt augenscheinlich am häutigsten durch
das Eindringen pathogener Keime durch die Tuba Eustachii und ganz beson-
ders bei Anwendung des Katheters, des POLiTZER'seben Verfahrens u. a. w.;
möglich ist es auch , dass die Mikroorganismen in den Lymphbahnen bei Ent-
zündungen der Nasen- und Nasenrachenhöhle weiter sich verbreiten und so in die
Paukenhöhle gelangen, ganz abgesehen davon, dass die Anwesenheit pathogener Keime
in der normalen Paukenhöhle nicht ausgeschlossen erscheint. Vom äusseren Gehör
gange aus können Mikroorganismen in die Paukenhöhle nur einwandern bei Läsionen
und Continuitfitst rennungen des Trommelfells und es linden sich alsdann auch
vielfach Fünlnissbaeterien dem Secrete beigemischt.
MITTELOHRAFFKCTIONEN. — MORVAN'SCHE KBANKHEIT. 501
Die Erkenntniss dieser für die Aetiologie der Ohreiterungen so wich-
tigen Thatsachen wird hoffentlich auch für die Therapie baldigst Früchte tragen.
Literatur: Zaufal, Prager med. Woche nachr. 1887, 1888, 1889; Monatsschr.
f. Ohrenheilkunde. 1890, IX, pag. 262. — Netter, Annal. des malad, de l'oreille. 1888. —
Bohrer, Naturf.-Vers. 1887,1888; Zur Morphologie d. Baden en. Zürich 1889. — Weichsel-
ba am, Wiener klin. Wochenscbr. 1888; Monatsschr. f. Ohrenheilkunde. 1888. — Haber-
mann, Arch. f. Ohrenheilkunde. XXVIII, pag. 219. — Knhn, Naturforscherversammlung.
1889; Zeitschr. f. Ohrenheilkunde. XX, pag. 121. — Urbantschitsch, Lehrbuch der
Ohrenheilkunde. 1690. III. Aufl., pag. 257,58. B. Baginsky.
MorVcUl'SChO Kl°<Ulkh6it. Mit diesem Namen bezeichnen Einige den
von Moevan1) (1886) beschriebenen Symptomencomplex, die sogenannte Pare'so-
Analgesie des extr Smite's supe*rieur es. Das Leiden beginnt stets an
Hand nnd Fingern einer Seite, geht später auf die andere Hand, selten auf die
unteren Gliedmassen über ; die befallenen Oberextremitäten werden dabei paretisch und
empfindungslos, zugleich der Sitz mannigfaltiger nutritiver Störungen in Form
von Hautschrunden, Geschwüren, Panaritienbiidung, abnormer Knochenbrüchigkeit,
Hyperidrosis. Die Sensibilitätsstörung (Analgesie und Thermanästhesie) ist stets in
höherem Grade ausgesprochen als die Parese. Wahrscheinlich ist das Leiden nach
Morvan's Annahme auf eine Rückenmarkserkrankung im Bereiche des unteren
Halsmarkes zurückzuführen, vielleicht (Roth 2) , Bernhardt s) identisch mit der
partiellen Empfindungslähmung, als deren anatomische Grundlage eine Rücken-
mark8gliomatose (Syringomyelie) angesehen wird. Mobvax4) wendet
allerdings gegen die Identität des von ihm beschriebenen Symptomencomplexes
mit der Syringomyelie ein, dass bei letzterer die Berührungsempfindlichkeit im
Gegensatz zu ersterer Affection sich normal verhalte, auch die nutritive Störung
dabei weniger hervortrete, was jedoch den Thatsachen schwerlich entsprechen
dürfte (vergl. auch Syringomyelie unter Rückenmarkskrankheiten in Real-
Encyclopädie, II. Aun\, XVII, pag. 63). In einem zur Section gekommenen
Falle von Monod und Reboül 6) (bei einem 58jährigen Manne mit gangränösen
und necrotisch abgestossenen Fingern) fanden sich die peripherischen Nerven
vollständig degenerirt , das Centrainervensystem wurde nicht untersucht. In einem
zweiten Sectionsfalle von Proüff , Gomboult und Reboül 6) erschien ausser
schwerer Degeneration der peripherischen Nerven auch das nur mangelhaft unter-
suchte Rückenmark nicht intact, reichliche Bindegew ebsentwicklung in den Hinter-
strängen , Hinterhörnern und wahrscheinlich auch in der Umgebung des erweiterten
Centralcanals , besonders im Cervicaltheil. In einem dritten genauer untersuchten
Falle von Joffroy und Achard7) (75jährige Frau mit schmerzhaften Panaritien
fast aller Finger, herabgesetzte Empfindlichkeit für Schmerz, Temperatur und
auch für tactile Berührung, Kyphose; Tod durch Bronchopneumonie) ergab sich
ausser einer peripherischen Neuritis im Medianus- und Ulnarisgebiete Glioma*
tose des Dorsalmarkes nnd Syringomyelie des Cervicalmarkes
mit consecutiven Veränderungen bis zur Med. oblongata aufwärts. — Jedenfalls ist
hiernach der MORVAN'sche Symptomencomplex als in naher Beziehung zu chroni-
schen Processen, besonders Syringomyelie des Halsmarks, stehend zu betrachten,
während ausserdem die degenerative Mitbetheiligung der peripherischen Nerven
dabei einen, wie es scheint, ziemlich oonstanten Befund bildet.
In einem neuerdings von Bernhardt8) vorgestellten Falle (48jähriger
Mann) war ausser der motorischen und sensiblen Absohwächung des rechten
Armes und eines Theiles der rechten Rumpf- und Gesichtshälfte auch eine an
Akromegalie erinnernde eigentümliche Tatzenbildung der rechten Hand und eine
Scoliose mit im Dorsaltheil nach rechts gerichteter Convexität vorhanden; die
gefühllosen Partien der rechten Seite erschienen trocken und functionslos , wäh-
rend die symmetrischen Theile der gesunden linken Seite eine profuse Schweiss-
secretion darboten.
502 MORVAN* 3CHE KRANKHEIT. — MYDRIATICA.
Literatur: *) Morvan, Gaz. hebdomad. 1886, Kr. 32. — *) Roth, Archiv*
de nenrologie. 1887, Nr. 14. — *) Bernhardt, Centralbl. f. Nervenheilkunde etc. 1889,
Nr. 2. — 4) Morvan, Ga*. hebdomad. 1889, Nr. 35, 36. — •) Monod und Reboul, Arch.
gen.de med. Juli 1888. — 0) Prouff, Gomboult und Reboul, Gax. hebdomad. 1889,
Nr. 19. — ') Joffroy und Achard, Arch. de med. experimentale etc. 1890, Nr. 4. —
*) Bernhardt, Deutsche med. Wochenschr. 1891, Nr. 8. Eulenburg.
MUSCarin (vergl. Real-Encyclopädie, II. Aufl., Bd. XIII, pag. 514). Das
aus trockenen Fliegenpilzen dargestellte Muscarin ist in seiner physiologischen Wirkung
nicht völlig identisch mit dem durch Oxydation von Cholin gewonnenen. Letzteres
besitzt neben der Muscarinwirkung auf das Froschherz und die Darmganglien noch
eine ausgesprochene lähmende Wirkung auf die peripherischen Nervenendigungen,
wirkt aber weit weniger pupillenverengend. Quantitativ wirken beide gleich.
Literatur: Böhm, Archiv f. exper. Pathol. 1885, Bd. XIX, pag. 87. — Vergl. auch
Pilzvergiftung. Huseman*.
Muskelabscesse bei Ab d ominal ty phus, pag. 8.
Musquitos, 8. Filariakrankheiten, pag. 262.
Mydriatica, s. Augenheilmittel, pag. 67.
N,
Nährboden, s. Mikroben, pag. 480, 485. — Nährbouillon
ibid. pag. 485.
NährdyStiere. Auf Anregung von Eichhorst prüfte Armin Huber
den Nährwerth verschiedener Formen von Eiercly stieren. Während nach Ewald
schon einfach emnlgirte Eier von der Mastdarmschleimhaut aus prompt resorbirt
werden sollten , betonten Voit und Bauer , sowie Eichhorst die Notwendigkeit
eines Zusatzes von Kochsalz hierfür. Huber fand nun durch Versuche , dass in
der That auch das emulgirte Hühnerei vom menschlichen Dickdarm resorbirt
werde, jedoch in viel geringerem Masse als Eieremulsionen nach Zusatz von
Kochsalz oder namentlich peptonisirte Eier. Die Peptonisirung der Eier geschah
in der Weise, dass 4 — 6 Eier mit 200 Ccm. 8alzsäure von 0'15% und 3 — 5 6rm.
Pepsin versetzt, 10 Stunden im Wärmeschrank bei 40° C. und weitere 6 Stunden
an einem nicht zu warmen Orte gehalten wurden. Die so bereitete Flüssigkeit
wurde täglich (6 Eier) in 2 Portionen mit HEGAR'schem Trichter bei möglichst
hoch in den Darm eingeführtem, weichem Ansatzrohr langsam infundirt. Eine
Stunde vor dem ersten Nährclystier ist ein Reinigungsclystier zu geben. Der
Kochsalzzusatz zum Ei soll 1 Grm. pro Ei nicht überschreiten , grössere Mengen
Kochsalz , wie sie Voit und Bauer wählten, reizen bald den Mastdarm.
Literatur: Armin Huber, Ueber den Nährwerth der Eierclygtiere.
Archiv für klin. Medicin. Bd. XLVII , Heft 5 und 6. Correspondenzbl. für Schweiz. Aerzte.
15. November J890. Loebisch.
Näht. Auf keinem Gebiete der Chirurgie ist während der letzten Jahre
emsiger gearbeitet worden, als auf dem der Naht. Bezüglich der Zubereitung und
Aufbewahrung der Nahtstoffe und der Nadeln, bezüglich der Naht und Nadelhalter
sind theiU vielfache Aenderungen des bisher Gebräuchlichen, theils eine ganze
Reihe von neuen Erfindungen zu verzeichnen. Die Menge des Gebotenen macht
die Besprechung jedes Einzelnen hier unmöglich, verlangt vielmehr zwingend eine
Auswahl; ich verwahre mich jedoch ausdrücklich dagegen, als ob ich das Nicht-
erwähnte unter allen Umständen für minder gut hielt als das Erwähnte.
Das Catgut, der auf besondere Weise zubereitete Dünndarm des Hammels
(früher der Katze), war allerdings schon vor Lister bekannt, aber seine jetzige
Bedeutung in der operativen Chirurgie verdankt es doch nur dem grossen Briten.
Die Vorzüge des Catgut, welche in erster Linie auf seiner Resorbirbarkeit , be-
ziehungsweise der Fähigkeit, innerhalb des lebenden Gewebes zu verschwinden,
beruht, sind allseitig anerkannt und auch in diesem Werke wiederholt kurz
gewürdigt worden. Allein neben den Vorzügen stand immer die drohende Gefahr
einer Infectiön durch den Stoff selbst, und die Chirurgen waren daher unablässig
bemüht, Desinfectionsverfahren zu ersinnen, welche das Catgut mit Sicherheit
unschädlich, d. h. keimfrei machen, ohne seine Gebrauchsfähigkeit zu beein-
trächtigen. Sie schlugen zu diesem Behufs zwei Wege ein, indem sie das Roh-
catgut theils mit chemischen Mitteln, theils mit trockener Hitze behandelten.
Etwa ein Jahrzehnt hindurch war das Carbolölcatgut Lister's fast aus-
504
NAHT.
schliesslich im Gebrauch und trotz der sehr langwierigen Herstellungs weise und
mancherlei Unvollkommenheiten waren die Chirurgen mit demselben wohl zufrieden.
Allmälig aber wurden doch hier und da üble Erfahrungen mit dem Carbolöl-
catgut gemacht, und als schliesslich Koch nachwies, dass das Carbolöl Oberhaupt nicht
desinficirend wirke, da gerieth das Präparat mit Recht in Misscredit und kann jetzt
als völlig verlassen angesehen werden. Dasselbe gilt vom Chromsftureeatgut.
Wie verhält es sich denn nun aber mit den zahlreichen anderen Catgntarten,
dem Sublimat-, Juniperusöl-, Terpentinöl- , Lysolcatgut u. Aehnl. ? Sind dieselben
keimfrei oder nicht? Zur Entscheidung dieser überaus wichtigen Frage reichen
praktische Erfahrungen allein nicht aus, sondern es bedarf der bacteriellen Prüfung,
wie solche denn auch vielfach angestellt worden sind. Allein diese Untersuchungen
beschränkten sich zunächst nur auf das Gemisch verschiedenartiger Bacterien, wie
solches von vornherein im Rohcatgut vorhanden ist. Da aber „die Widerstands-
kraft dieser in buntem Zufall wechselnden Rohcatgutbacillen nichts Constantes
darstellen kann , so können wir aus ihrer Tödtung auch keinen Schluss ziehen,
ob das angewandte Verfahren stark oder schwach ist" (Braatz). *)
Ganz abgesehen von den sonstigen Schwierigkeiten, welche einschlägigen
Untersuchungen sich entgegenstellen, sei hier nur auf eine bereits von Koch und
später besonders von Geppert s) betonte Fehlerquelle hingewiesen, welche in dem
Ausserachtlassen der Thatsache bestand, dass mit dem desinfioirten Faden immer
noch eine genügende Menge des desinficirenden Mittels auf den Nährboden über-
tragen werde, um dadurch die Entwicklung der Sporen zu beeinträchtigen oder
zu hemmen. Das bezieht sich in erster Linie auf den Sublimat, der ja nach
Koch schon bei 1 : 1,000.000 hemmend, bei 1 : 400.000 aufhebend auf die Ent-
wicklung wirkt. Wie sinnfällig dieser Fehler ist, zeigt Braatz am folgenden
Beispiele: Er Hess Catgutftden, die 24 Stunden in Sublimatwasser (l%o) gelegen
hatten, 6 Wochen hindurch in immer wieder erneutem destillirten Wasser liegen
und von Zeit zu Zeit einen dieser Fäden in Schwefelammoniumwasser bringen.
Die Fäden hatten nichts von der Fähigkeit und dem Grade ihrer Quecksilber-
reaction eingebttsst, sie wurden alle schwarz. Das Quecksilber lässt sich eben
durch Aus waschen nicht entfernen, es hat sich mit dem Catgut chemisch verbunden.
Entscheidend wurden die bacteriologischen Untersuchungen erst dann, als
man einerseits gelernt hatte, die genannten Fehlerquellen zu vermeiden und als
man andererseits die von Koch angegebenen Vorschriften zur Richtschnur nahm,
d. h. als man bei diesen Prüfungen sich der Milzbrandsporen bediente. Diese
allein können nach dem jetzigen Stande unseres Wissens als ein zuverlässiges
Reagens gelten ; ein Desinfectionsverfahren, welches Milzbrandsporen tödtet, tödtet
auch alle übrigen Bacterien.
Brunner3) vergiftete Kaninchen mit Milzbrand, bereitete sich aus dem
Darm dieser Thiere Catgut und prüfte dasselbe; die Ueberimpfung desselben
erzeugte ausnahmslos tödtliche Milzbrandin fection; aber da es sich bei diesem Ver-
fahren nur um Bacillen ohne Sporen handelt, so kann durch dasselbe die erforder-
liche Sicherheit des Urtheils nicht geliefert werden (Braatz).
Kammeyer*), der erst durch Geppert auf den oben erwähnten Fehler
aufmerksam gemacht wurde, verfuhr bei seinen späteren Versuchen in der Weise,
dass er zunächst das Rohcatgut sterilisirte (trockene Hitze 140°, 2 Stunden) und
dann dasselbe in eine nur Sporen enthaltende Aufschwemmung von sterilem
Wasser auf Milzbrand- Kartoffelculturen während einer Stunde legte.
Braatz, dem die Arbeit Kammeyer's unbekannt geblieben ist, ent-
fettete die Catgutfäden, sterilisirte sie durch trockene Hitze (140°, 3 Stunden)
und versah sie dann mit frisch bereiteten Milzbrandsporen. Er brachte einer
weissen Maus einen Seidenfaden mit angetrockneten Milzbrandsporen unter die
Haut. Nach circa 30 Stunden starb das Thier. „Nachdem ich darauf unter allen
Cautelen in Blutproben aus der Leber eine grosse Menge von Milzbrandbacilleu
mikroskopisch nachgewiesen, legte ich aus dem Leberblut mehrere Agarcultur-
NAHT.
505
schalen und einige Culturen im hängenden Tropfen an. Nach einigen Tagen
bestand der Bacterieninhalt der am stärksten beschickten Schale ganz aus Sporen.
Nun stellte ich mit sterilem, destillirtem Wasser zunächst eine Sporenanschwemmung
her, welche ich nach den GEPPERT'schen Vorschriften hintereinander durch zwei
sterilisirte Glaswollfilter filtrirte, wobei die gröberen Bröckel der Aufschwemmung^
die das Untersuohungsresultat durch ihre schwerere Desinficirbarkeit stören können,
auf dem Filter zurückblieben. In das Filtrat wurden nun die sterilisirten Catgut-
fäden gebracht, darin gut durchgerührt, worauf letztere in einem Schwefelsäure-
Exsiccator vollständig getrocknet wurden. Von hier kamen sie zur Aufbewahrung
für den Gebrauch in eine sterilisirte Flasche, welche mit eingeschliffenem Glas-
stöpsel verschlossen war."
Unter der Herrschaft des Sublimat als Antisepticum fand das mit dem-
selben behandelte Catgut naturgemäss die weiteste Verbreitung, und die mit
demselben gemachten Erfahrungen in der Praxis sind durchwegs günstig gewesen.
Von den vielen, mehr oder weniger von einander abweichenden Bereitungswelsen
erwähne ich nur 1. das von Kümmel6): I2stündiges Einlegen des Rohcatgut in
l°/o Sublimatwasser und Aufbewahren in 0*5°, 0 Sublimatalkohol mit 10% Gly-
cerinzusatz; ein Verfahren, welches Kümmel selbst später verwarf und dafür
68tündiges Einlegen in 1%0 Sublimatwasser empfahl. 2. Das SCHEDB'sche 6) Ver-
fahren: Einlegen des Catgut auf Glasrollen in l°/00 Sublimatwasser, und zwar
nach der Dicke der Fäden 6 — 12 Stunden; Aufbewahren in 95% Alkohol.
3. v. Bergmann7) : 10 — 14 tagiges Einlegen in einer Lösung von 4 Sublimat,
800 Spiritus und 200 Wasser ; Aufbewahren in 1 Sublimat , 800 Spiritus und
200 Wasser. Nach einer neueren Mittheilung 8) werden die in einfacher Schicht
auf Glasplatten gewickelten Darmsaiten in 5°/0 Sublimatalkohol gelegt, welcher
mehrmals erneuert wird, bis er klar bleibt. Nach der Kriegs-Sanität s-
ordnung wird das Rohcatgut. je nach der Stärke, 8 — 12 Stunden in 5°/00
Sublimatwasser gelegt und in Alkohol aufbewahrt. 5. Nach Esmarch 9) wird das
Rohcatgut abgeseift, in reinem Wasser gespült, auf Glasrollen gewickelt, zuerst
12 Stunden in l°/00 Sublimatwasser, dann 12 Stunden in 0*5% Sublimatalkohol
gelegt und trocken in verschlossenen Gläsern aufbewahrt 6. Brunner bürstet
das Rohcatgut erst mit Kaliseife ab, lässt es dann sofort (oder erst nach \ 2stün-
digem Aufenthalt in Aether) in l°/00 Sublimatwasseriegen und in Sublimatalkohol
(1 : 900 Alkohol und 200 Wasser) aufbewahren.
Mit Ausnahme der beiden letzten haben diese Verfahren alle das gemein,
dass das Rohcatgut vor der Behandlung mit Sublimat nicht entfettet wird.
Dieses Nichtentfetten hebt nun zwar die Wirkung des Sublimat nicht auf, aber
es beeinträchtigt dieselben. Milzbrandsporen und Catgutfäden bleiben nach Braatz,
in Sublimatwasser (1/00) gebracht, in einer Versuchsreihe nach 3, 5, 12 Minuten
langem Aufenthalte in demselben steril, in einer anderen Versuchsreihe waren sie
nach 3 Minuten noch gewachsen. Brachte er nun die Catgutfäden vor der Des-
infektion zuerst in destillirtes Olivenöl und dann abgespült auf den Nährboden,
80 erhielt er noch nach ya, 1 und 2 Stunden regelmässig üppiges Wachsthum in
den Culturen. Nach 151 4 Stunden nicht mehr. Die Entfettung ist also not-
wendig, und Esmarch empfiehlt daher, wie Brünner, das Abbürsten des Roh-
catguts mit Kaliseife. Braatz verwirft jedoch dieses Verfahren, weil damit
höchstens nur die Oberfläche von Fett befreit und weil durch eine auch nur
mässige Einwirkung der Bürste das erweichte Catgut oberflächlich bald zerrissen
werde. Braatz bewirkt die Entfettung durch Einlegen in Aether, welchen '
man von Zeit zu Zeit erneuert und den Rückstand prüft, indem man etwas
Aether in ein Uhrgläschen giesst und verdampfen lässt. Man thut gut, den zu
verwendenden Aether schon vor dem Einlegen des Catgut auf seinen Rückstand
zu prüfen. Das Einlegen selbst kann mehrere Tage dauern, mindestens aber
12 Stunden; eine bestimmte Zeit giebt Braatz nicht an, weil die Entfettungszeit
je nach dem Fettgehalte verschieden ist.
506*
NAHT.
Die oben angeführten Herstellungsarten des Sublimateatgnt haben ferner
die Aufbewahrung desselben im Sublimatalkohol, beziehungsweise blossem
Alkohol gemeinsam, nnd es ist daher noth wendig, die desinfieirende Kraft dieser
Mittel einer kurzen Besprechung zu unterziehen. Braatz brachte kurze Seiden-
fäden mit angetrockneten Milzbrandsporen in 5° 0 Sublimatalkohol ; Culturen von
2 nnd 5 Minuten Aufenthalt wuchsen, die von 2 9 Minuten wuchsen nicht. Ein
anderes Mal liess er von der Maus frisch cultivirte Sporen 5, 10 und 20 Minuten
in 5% Sublimatalkohol ; alle Proben waren gut gewachsen. In einer dritten
Versuchsreihe wuchsen sogar reichlich Culturen nach 32 und 47 Minuten langem
Aufenthalte. Die Vergleiche mit Sublimatwasser ergaben, „dass der Sublimat-
alkohol, auf Milzbrandsporen bezogen, über lOOmal schwächer desinfieirende
Kraft besitzt als das Sublimatwasser Besitzt mithin der Sublimatalkohol schon
als Aufbewabrungstiussigkeit geringen Werth, so besitzt er noch viel weniger als
desinfieirendes Mittel. Alles dieses gilt in erhöhtem Masse für den Alkohol ohne
Sublimatzusatz. Koch sah, wie Milzbrandsporen ihre Lebensfähigkeit noch nach
3monatigem Aufenthalte in Alkohol besassen, und Bbaatz beobachtete bei zahl-
reichen Versuchen, dass Alkohol weder die Milzbrandsporen, noch die Bacterien
des Hohcatgut in irgendwie deutlicher Weise beeinträchtigte.
Sehr viele Anhänger fand das KocHER^che 10) Juniperus <>lcatgut —
die Darmsaiten liegen 24 Stunden in Waehholderöl, dann 12 Stunden in Glycerin
und werden , stark gespannt, in 95% Alkohol aufbewahrt — , allein die von
Kämmeyer angestellten bacteriellen Prüfungen ergaben, dass eine 2 4 stündige Ein*
Wirkung des Juniperusöles die Entwicklung der Milzbrandbacillen wohl etwa?
verzögert, aber keineswegs hindert, dass mithin die Kocher' sehe Zubereitungs-
weise eine sichere Desinfection nicht liefert. Kammeyee konnte nach 48stündiger
Einwirkung des Jnniperasöles niemals ein Auswachsen der Milzbrandsporen beob-
achten und empfiehlt daher eine länger dauernde Einwirkung des Oeles, voraus-
gesetzt, dass die sonstige GebrauchsfHhigkeit des Catgut nicht leidet.
Dem Juniperuscatgut am nächsten steht das Terpentinöles t gut;
beide Oele verdanken ihre Wirksamkeit dem Ozon. Die Bereitungsweise des
Terpentinolcatguts ist nach Bora11) folgende: Das Rohcatgut liegt 8 Tage ja 0t,
tereb. rectißcatiss., wird dann 1 4 Stunde in Aether von dem Oel befreit und in
absolutem Alkohol aufbewahrt. Das Präparat erwies sich nach Kammeyer's Ver-
suchen mit Milzbrandsporen steril ; er empfiehlt jedoch eine längere Einwirkung
des ÜeleB, da feuchte Sporen, nach Koch, auch durch lötägige Behandlung mit
Terpentinöl nicht ihre Entwicklungsfähigkeit verlieren.
Was das L y s o 1 c a t g u t ia) betrifft, so lauten die bisherigen Berichte
darüber günstig; indessen das Präparat ist bisher nicht genügend geprüft, und
daher Vorsicht geboten.
Das Verdienst , die trockene Hitze zur Desinfection des Catgut
zuerst, und zwar im December 1880, verwandt zu haben, gebührt unstreitig
A. Reverdik der übrigens zur Herstellung des Sublimatcatgut schon vorher
nichtgefettete Darmsaiten benutzt hatte. Beim ersten Versuche hielt er das
mebteutfettete Catgut 5 Stunden in einer Temperatur von 150% aber der so
behandelte Stoff zeigte sich plus voism rf'tm usage comestibte que d*une desti-
nation chirurgical*. Er liesa daher die Darmsaiten entfetten (h Vaide de le&sivts
savantes) , sie allmälig auf nur 140° erwärmen und 4 Stunden in dieser Tempe-
ratur. Auf diese Weise erhielt er ein steriles, festes, nicht zu leicht resorbLrbaree,
mithin allen klinischen Anforderungen vollkommen genügendes Präparat. Re Verden
legt grossen Werth auf die Entfettung, weil sonst das Catgut im Trockenschrankö
geröstet und dadurch brüchig werde. Nach Dödsbleix 14J kommt es mehr darauf
an, durch allmäligea Erwärmen eine Entweichung des hygroskopischen Wi
zu bewirken und Leimbitduug zu verhüten. Auch Braatz erblickt den Naehthe
des Fettgebaltes darin, dass dadurch die Austrocknung verhindert und das Catgut
durch den Wassergebalt verdorben werde.
NAHT.
507
Unabhängig von Revkrdin haben Döderlein und Benckisser 15) das Cat-
gut mit trockener Hitze behandelt, and später haben Brünner, v. Eiselsberg und
Kammeter einschlägige Versuche unternommen. Nach Koch bewirkt die ein-
stflndige Einwirkung einer Temperatur von 140 nicht Aufhebung, sondern nur Ver-
zögerung des Wachsthums der Milzbrandsporen, und demnach mflsste eine längere
Einwirkung dieses Hitzegrades oder eine Steigerung desselben erforderlich sein. Das
aber stiess auf mancherlei technische Schwierigkeiten. Kammeter erhielt bei seinen
Versuchen mit dem Rohrbeck 'sehen Ofen das Catgut „manchmal ziemlich unversehrt,
manchmal etwas braun und geschrumpft". Brunner's Catgut war nahezu ver-
kohlt. Auch Braatz empfand die Unzulänglichkeit der gewöhnlich gebrauchten
Sterilisirungskasten, weil sich mit denselben starke Temperaturschwankungen
nicht verhindern lassen. Er benutzte daher das LiBBio'scheOelbad, d.h.
ein Schränkchen aus Kupferblech, in dessen doppelten Wänden statt wie beim
Sterilisirungskasten Luft, Oel enthalten ist. Durch einen doppelt durchbohrten
Stopfen ragen in den Luftraum ein RsiCHERT'scher Thermoregulator und ein
Thermometer hinein. Braatz nahm gewöhnliches Baumöl, welches, auf die ge-
wünschte Höhe von 140° erhitzt, sich leicht, sicher und beliebig lange in gleicher
Temperatur erhalten lässt. Nur beim erstmaligen Erhitzen sei man vorsichtig,
weil das Oel in geringeren Sorten noch genug Wasser enthält, welches „das
Erhitzen der Flüssigkeit ziemlich tumultuarisch gestalten kann".
Was die bacteriellen Untersuchungen dieses mit trockener Hitze behan-
delten Catguts betrifft, so beziehen sich die in Reverdin's Laboratorium und die
anf Reverdin's Veranlassung von V. Bovbt vorgenommenen auf die im Rohcatgut
befindlichen Bacterien ; Benckisser arbeitete mit Reinculturen von Staphylococcus
aureus und citreus, Brunner in der oben beschriebenen Weise; alle diese Prü-
fungen ergaben Keimfreiheit des Präparates. Kammeyer bediente sich der Milz-
brandsporen , und in einer Reihe von Versuchen gelang es stets nach 2 , aber
auch schon nach 1 1/a Stunden, die Sporen zu vernichten. Braatz begnügte sich
nicht mit dem Nachweise, dass alle Culturen, welche er mit dem 37a nnd 4 Stunden
bei 140° sterilisirten Milzbrandcatgut anlegte, steril blieben, „sondern impfte damit
zweimal auf eine weisse Maus , welche aber ganz munter am Leben geblieben ist".
Dann erst sah er die Keimfreiheit als sicher bewiesen an, da die betreffenden
Fäden sonst höchst infectiös waren. Er empfiehlt folgende zwei Bereitungsweisen :
1. Rohcatgut wird, fest auf Gl ascy linder oder dergleichen gewickelt,
1 — 2 Tage in Aether (Aethyl) entfettet. Der Aether ist 1 — 2mal zu erneuern.
Sollte eine mechanische Reinigung nothwendig erscheinen, so geschieht dieselbe
durch Abbürsten mit Alkohol. Aus dem Aether kommt das Catgut 24 Standen
in Sublimatwasser (1 : 1000) und wird dann in absolutem Alkohol aufbewahrt.
2. Entfetten des Rohcatgut durch Aether (wie in 1.), Einhüllen in Fliess-
papier, 4stündiger Aufenthalt bei 140,0 in dem Lufträume eines Oelbades, Auf-
bewahrung in absolutem Alkohol.
DRONKS-Berlin hält, nach brieflicher Mittheilung, das Rohcatgut in einem
Thermokasten mit Regulatorflamme Anfangs 2 — 3 Stunden in einer Temperatur
von 80° C, steigert die Hitze dann auf 120°, lässt diese Hitzegrade 2 — 3 Stunden
einwirken und bewahrt das Catgut auf in sterilisirten Glasgeffessen. Beim Ge-
brauche werden die nöthigen Stücke durch sterilisirtes Wasser oder durch Sublimat-
wasser (1 : 5000) gezogen. Alle Keime werden auf diese Weise zerstört.
Zur Vereinigung von Hautwunden mit irgend erheblicher Spannung,
sowie zum Nähen in sehr gefässreichen , starren Geweben wird im Allgemeinen
die Seide dem Catgut vorgezogen. Die Zubereitung derselben geschieht von
den Chirurgen in sehr verschiedener Weise.
Carbolseide: Nach Czerny wird die Seide in 5°/0igem Carbolwasser
10 M. bis 1 V2 Stunden, je nach der Stärke des Fadens, gekocht und das Carbol-
wasser während des Kochens jede \ 2 Stunde erneut. Die Aufbewahrung geschieht
in 2°/0igem Carbolwasser.
508
NAHT.
Die Terpentinseide wird nach Roux 8 Tage in Terpentinöl
dann in Aether ausgewaschen und in Alkohol aufbewahrt. Jodoformseide wild
in Jodoformäther (1 ; 12) desinficirt und trocken aufbewahrt (aber im Dunkeln);
v. Mos et ig 17) lässt die auf Spulen gewickelte Jodoformseide in Staniol einschlagen,
Sublimatseide: Kochen in 2%ft Sublimatlösung und Aufbewahren
in absolutem Alkohol (Roüx). v. Bergmann Hess die Seide eine Stunde in 1° 0iger
Sublimatlösung kochen und aufbewahren in 1°/**- Neuerdings läsat er die Seide
mit Wasserdampf sterilisiren und in geschlossenen Metallkästen aufbewahren.
Chamer und Wehmer fanden das Nähmaterial nach lstüudigem Kochen in 2%iger
Lysollösung stets steril; die Seide bewahrt auch nach wocbenlangem Aufbe-
wahren in Lysol ihre Haltbarkeit und wird nicht, wie in Sublimatlösung, brüchig.
Neue Nadeln und Nabtmetboden. Der Vorzug der Hagedorx-
schen Nadeln gegenüber den vorher allein gebräuchlichen besteht wesentlich darin,
dass die Stichwunde nicht parallel, sondern senkrecht zu der zunähenden
Wunde läuft und dass der Sticbcaual beim Schüesseu der Naht nicht zum KJafleu
gebracht wird, de Mooij 1ö) tadelt aber an der Hage dorn 5 sehen Nadel, dass Rücken
und Bauchseite derselben stumpf sei, dass sie daher nicht glatte Schnittwunden,
sondern zerrissene oder gequetschte Wunden hervorbringe* Bei beiden Nadeln
(der gewöhnlichen und der Hagedorn' sehen) geschieht das Nähen mit ein fächern
Faden, und beim Knüpfen desselben legen sieh die Wundrftnder nicht immer genau
aneinander, biegen sich um etc., so dass ein Nachhelfen mit der Pincette erforder-
lich ist. DE Moou bringt daher von Neuem die von ihm erfundene und seit
24 Jahren benutzte Nadel in Erinnerung* Dieselbe vermindert die erwähnte
Uebelstande, macht Pincetten und Nadelhalter, sowie den Fingerdruck eines Ge-
hilfen beim Knoten des Fadens überflüssig. Die Nadel lässt sich vollständig de*-
intioiren, während der Operation aseptisch hakten und braucht beim Schüesseu des
Knotens nicht aus der Hand gelegt zu werden. Man kann ebenso gut mit
doppeltem , wie mit einfachem Faden nähen. Sind die Rander der Nadel gut
geschärft f was natürlich der Fall sein muss. dann durchsticht die Nadel mit
Leichtigkeit die dickste Haut. Der verschiedenen Stärke der Seidenfaden ent-
sprechend, sind die Nadeln in 4 verschiedene Nummern angefertigt; die betden
letzten Nummern haben etwas längere Stiele und so grosse Hinge, dass sie heia
Schliefen des Knotens an den kleinen Finger der linken Hand gesteckt werden
können. Die Nadeln sollen gut polirtf aber nicht vernickelt sein.
Fl*. 59 o.
Dtar Gebrauch der Nadel mit doppeltem Faden ist sehr einfach; mw
m gewohnter Weise beide Wundränder, bringt den Faden in das Oebft
Solei mrflek < Fig. 59 ö), entfernt sie, steckt das innere Ende des Fadens «
Afe a^hft 6 (Fig. 59 zieht mit der linken Hand an beiden Faden
Hfc aber den Binstichspuukt zurück (Fig. 59 c) und verbindet, ufttpr
g der Wundränder, die beiden Fadenenden (Fig. öS«)»
, einen Wuudcanal mit glatten Flächen und Rändern w
beim Zurückziehen der Nadel ein wenig nach der detß
•MMMMBtlteit Seite zu drücken. Bei Schliessung des Knotens, der
tittttar ecfofdcrlicb ist , muss man von vornherein auf etwaige
Hugbüulvr RtcWeht nehmen und daher die Sehlinge nicht zu
NAHT.
509
fest anziehen. Will man sich de* doppelten Fadens nnd der Schlinge nicht
bedienen, so zieht man nach Entfernung der Nadel das eine Fadenende ganz
dnrch die Wunde hindurch und knotet die Faden wie bei der geknöpften Naht.
Fig. 59 b. Fig. 59 c.
Die Nadeln können in mannigfacher Weise geändert und den Anforderungen
besonderer Fälle angepasst werden: man kann Nadeln ohne Griff benutzen, man
kann sie an einer Handhabe befestigen (Fig. 60), man kann sie rechtwinklig
gebogen am Stiel anbringen u. s. f.
Die neue Nadel A.Reverdin's 19) setzt sich zusammen aus zwei Stahlarmen
(Fig. 61), welche durch eine Feder auseinander gehalten werden. Die Feder ist
befestigt an dem der Hohlhand entsprechenden Arme, welcher rechtwinkelig
gebogen ist und die eigentliche Nadel
bildet. Der andere Arm, mit dem
ersten durch eine Kopfsehraube ver-
bunden, nähert sich jenem, wenn der
Widerstand der Feder durch den Druck
der Hand überwunden ist. Dieser Arm
ist dazu bestimmt, einen kleinen Stab
zu schieben, welcher den Ausschnitt
in ein Loch verwandelt und so das
Oehr bildet. Lässt der Druck nach,
so stellt sich das alte Verhältniss
wieder her. Die Nadel ist ohne Rauhig-
keiten, glatt polirt und leicht zu
reinigen. Durch Entfernen der Kopf-
schraube lässt sich das Ganze in einem
Augenblicke in seine Theile zerlegen.
Das Instrument ist dauerhaft und
Hegt gut in der Hand ; um es zu öffnen, macht man die Bewegung wie beim Ge
brauch eines Dynamometers.
Die von A. Lutz 80) angegebene neue Nahtmethode ist eine Variante
der geknöpften Naht und besteht darin, dass er an Stelle des Fadens aus Seide,
Zwirn , Draht , elastische Stoffe benfltzt , d. h. Kautschukringe oder Kautschuk-
Streifen. Die Ringe stellt man sich durch quere oder schräge Abschnitte gut
elastischer Schläuche entsprechenden Calibers her, und zwar muss der Durch-
meseer des zu verwendenden Ringes die Hälfte bis. Zwei drittel der Entfernung:
zwischen Eid- und Ausstich der Nadel betragen. Die geknöpfte Nadel wird in
gewohnter Weise durch die Wundränder gefuhrt, so dass die Spitze zunächst nur
etwas hervorragt; dann stülpt man den Kautschukring über das geknöpfte Eode
der Nadel, schiebt ihn bis zur Einstichöftnung vor und bringt ihn nun unter
entsprechender Dehnung über das Spitzenende der Nadel, Durch Drehung des
Ringes beim Anlegen entsteht eine Aehtertour, Will man statt des Ringes einea
einfachen Kautsebukstreifen verwenden, dann durchbohrt man das eine Ende
Streifens beim Einstechen der Nadel und unter der erforderlichen Dehnung
andere Ende beim Austritt der Nadel,
Ob das Verfahren von grossem praktischen Werthe ist, weiss ich nicht ;
jedenfalls aber ist es nicht neu. Die Franzosen und Belgier bedienen sich seit Ungar
Zeit der „Sutures Uastiques" in mannigfachen Formen, So ersetzen sie sowohl
bei der umschlungenen Naht (Suture entortilt4e)t als bei der Agraftennabt (Sattire
h agrafea) den Seidenfaden durch ein Kautschukband. Bei der Vog el' sehen fl)
Naht (Suture h bandelettes) legt man zu beiden Seiten der Wunde einen mit
Knopflöchern versehenen Diachylonstreifeu , bringt in die Knopflöcher doppelte
Hemdenknöpfe und verbindet diese über die Wunde fort mit elastischen Fäden.
Bei der Methode von Degive ss) nimmt man 2 Heftpflasterstreifeu, faltet
jeden derselben zusammen und klebt je eine an jeder Seite der Wunde. In den
der Wunde zugekehrten Rand bringt man Einschnitte an, durch welche Gummi*
ringe gesteckt werden. Die Befestigung derselben geschieht durch kleine Holl-
stäbe, welche beiderseits durch die Ringe gesteckt werden und auf der äusseren
Flache der Heftpflasterstreifen zu liegen kommen. Um dem Rande dieser einen
Halt zu geben, führt man in die Falte der Streifen ebenfalls eine kleine Holzrollc
ein. Streifen und Ringe werden zuerst miteinander verbunden, dann klebt man
den Heftpflasterstreifen der einen Seite fest, und nachdem dies geschehen, unter
genügendem Zuge den der anderen Seite, — Das Verfahren , welches an Um-
sLäodliehkeit nichts zu wünschen übrig Iftsst, stellt eine Modifikation der Zapfen -
naht dar, indem es die Anwendung elastischer Stoße auf dieselbe überträgt.
Fig. «».
Die von Powell **) veröffentlichte Verbesserung der Entspannung s-
( Platten-) Naht besteht in der Anwendung kleiner Zinn platten von etwa 2*0 Cm.
Länge und 1 Cm. Breite Fig. 62), welche in der Mitte einen Knopf trage».
Beide, Platte und Knopf, sind central durchbohrt, letzterer ausserdem in der
Breitenrichtung der Platte geschlitzt. Die Anwendung der Platten ist die gewöhn-
liche; der geschlitzte Knopf dient zur Befestigung des Fadens, indem man den*
selben abwechselnd in den Schlitz legt und um den Hals des Knopfes herum-
fuhrt. Es handelt sich also um eine anscheinend ganz zweckmässige Anwendung
der von Ogilvie Will angegebenen und in der Real-Eneyclopadie , Bd. XIIlt
pag, 694 abgebildeten Platte.
Aufbewahrung des Nähmaterials und der Nadeln. Die
zweckmässige Aufbewahrung des Nähmaterials ist eine so wichtige Aufgabe, daas
die Lösung derselben eine eigene, gar nicht unbedeutende Industrie hervorgerufen
hat* Im Ganzen und Grossen laufen fast alle zu diesem Zwecke erfundenen Ver-
richtungen darauf hinaus, dass der auf eine Spule, beziehungsweise Haspel ge-
wickelte oder auch einfach ansammengeroljte Faden sich in einem mit antiseptischer
Flüssigkeit gefüllten Glasgeftsse befindet und derartig nach aussen geleitet wird,
NAHT
Sil
Fig. 64>
Fi«. «5,
das» eine Herausnahme der Rolle aus der Flüssigkeit nicht erforderlich ist. Das
geschiebt in der Weise, dass die Fadenenden durch Öeffnungen de* Stopfens,
beziehungs weise Deckels oder auch der Wand des Gefässes nach aussen treten.
Für den grossen Bedarf der Kliniken und Krankenhäuser dienen Glas-
kasten, die sich gar nicht oder doch nur schwer transportiren lassen und
je nach der Grösse der Spulen , deren
eine oder mehrere enthalten. Jedes Ulu-
strirte Preisverzeichnis chirurgischer In*
strumente bringt eine ganze Reihe von
Abbildungen derartiger Apparate. Be-
sonders empfehlenswert!) erscheint die
von Kummer *4) construirte Vorrichtung
f'Fig. 63 1 : Der Glaskasten bat eine Länge
und Höhe von 18 , eine Breite von
12 Cm, und die gläserne Haspel ist so
gross, das* die einzelnen Umwicklungen
des Fadeus nicht aufeinander, sondern
nur neben einander laufen und somit
frei von der antiseptischen Flüssigkeit
umspult werden; eben diese Grösse der
Haspel verhindert auch, dass das Ab-
geschnittene des Fadens sieb aufrollt,
wie das sonst beim längeren Liegen auf kleinen Spulen meist geschieht. Das
Aufwickeln ist sehr leicht; man stellt die Happel in den Kasten, füllt denselben
so mit l°/00 Sublimatlösung, dass die Haspel sich ganz in derselben befindet und
windet die Seide so auf, dass immer ein
Faden locker nebeu dem anderen liegt.
Nach 12 Stunden ist die Seide mittlerer
Stärke desinficirt. Vor dem jedesmaligen
<iebrauche wird der Kasten mit 1%0 Su-
blimatlösung abgewaschen, der Deekel etwas
zurückgeschoben und der Faden aus der
so entstandenen Lücke herausgezogen Die
in der Wand befindliche < letfuung ist schwer
I i rein zu halten und wird besser nicht benützt.
flHffy«' Die kleineren, zum Mitführen be*
llnlli stimmten Apparate sind sammt und sonders
IPfHBfii Jegliche oder ovale Flaschen von gar
mannigfacher Form und Einrichtung, Es
genügt, zwei derselben, welche die gang-
barsten Typen vertreten, anzuführen.
Bei dem Ligaturenbehälter von
Wake Sfl) (Tiemann & Comp,; stehen
3 Hartgummispulen übereinander in einem
etwa 2 Cm. breiten und 8 Cm, langen Glas-
tttlschchen (Fig. 64). Der die Spulen tra-
gende Rahmen ist an dem Gummistöpsel
befestigt, welcher die Fäden durch 3 OetT-
nungeu nach aussen treten lässt und durch
eine Drahtklemme festgehalten wird.
In Deutschland hat neuerdings
„VömEl's aseptischer Nähmaterialträger"
grosse Verbreitung gefunden ; derselbe erfreute 3ich auch bei der Ausstellung den
X, Congresses für innere Medicin allseitigen Beifalls (Fig. 65). Das Flftsohcheu
hat etwa die Grösse eines kleinen Fingers und lässt sich in Folge dessen sehr
512
NAHT.
leicht unterbringen. Beim Gebrauche entfernt man den Zinndeckel, fasst den Faden
mit der Pincette und nebt so viel heraus als nöthig ist. Die Seide ist aufgerollt in dm
Bebälter gebracht, 1 Stunde in 5%igem Carbolwas*er gekocht; Catgut wird, mecha-
nisch gereinigt, aufgerollt in den Cylinder gebracht, 24 Stunden in 4%o Sublimtt-
wasser (welches ao oft erneuert wird, bis es klar bleibt i und dann in 1Ö,0Ü aufbewahrt.
Zur Aufbewahrung der Nadeln bringen Walter und Biosdetti
in Basel gläserne Nadelbuchsen in den Handel, welche je nach Grftsse und Form
der Nadeln entsprechend gestaltet sind. Der Verschluss geschieht durch Gummi-
Stopfen. Der von Stknzel1*} angegebene Nadelkasten ist ausgegossen mit
sterilisirtem Para ft] liqu* und soltdum aa., und darin stecken die Nadeln. Diese
Tröge befinden sich in einem Kasten, der derartig mit einer thymolhaltigen Glyceriu-
Alkohoilösung angefüllt ist, dass sie bei geschlossenem Deekel in die Flüssigkeit
eingetaucht sind und beim Oeffnen und Zurückschlagen des Deckels aus demselben
herausgehoben werden.
Nadelhalten Die grosse Zahl der in den letzten Jahren erfundenen,
beziehungsweise neu construirteu Nadelhalter spricht dafür, dass die Chirurgen
von den bisher gebäuchlichen Haltern nicht befriedigt wurden. Die weitaus grösstc
Zahl dieser neueren Instrumente sind mehr oder weniger
zweckmässige Aenderungen des Hagedorn' scheu Halters.
Das von Hagedorn selbst herrührende neueste Muster
zeigt im Wesentlichen folgende Eigenschaften (Fig. 66) :
Die beiden Arme des Instrumentes werden nicht durch
eine Schraube, sondern durch einen Kreuzknopf (a)
zusammengehalten. Die Oefl'nung wird durch eine
Spannfeder (h) bewirkt, welche mit einem Haken in
eine entsprechende Leiste eingreift und zum Zwecke der
Auseinandernähme des Instrumentes entfernt werden
muss. Der Kupferbelag des Gebisses ist fortgelassen.
Die Führung durch Stift und Spalt ist aufgegeben und
geschieht nunmehr in der Weise, dass der unbewegliche
Schaft (c) von dem beweglichen durch 2 übet greifende
Stücke (ä, e) von beiden Seiten her um fasst wird.
Das vordere d leser Stücke stellt die eine Hälfte des
Maules dar. Dieser Halter ist fest, hat eine sehr sichere
Führung, ist leicht auseinander zu nehmen und leiebt
zu reinigen*
Der gerade Halter, d* h+ der mit rechtwinke-
ligem Maul versehene, wird in 3 verschiedenen Grössen
angefertigt; der für alle gewöhnlichen Nahte aus*
reichende Halter ist 15 — 16 Cm. lang. Der mit dem
Schiefmaul versehene Halter ist 18 — 20 Cm, lang.
(Centralblatt für Chirurgie, Nr. 10, 1890.)
Da eine eingehende Beschreibung aller Inatru
mente zu einer umfangreichen Monographie anwachsen
würde, so muss ich mich auf die Besprechung einiger
beschränken. Ich erwähne nur die Halter von Meisenbach, Ady, van Arsdale,
Fowleb, Levisseur, Pozzi, Braatz, Weber, Sanp u. A. Der „antiseptieebe Nadel*
halter" von Ady ist zerlegbar und die einzelnen Tbeile werden durch eine Ntwa—
schraube zusammengehalten. Das eine Modell von Pozzi bewirkt den Schluss durck
Schiebung, das zweite Modell hat gekreuzte Arme, nach Art der Zahnzangen ; die»
Arme sind sehr lang und ohne Klemmvorrichtung, Die Vereinigung der Arme geschieht
durch die von Collis in Paris und Nöstel in Breslau erfundene Vorrichtung,
welche bei allen scheerenförmigen Instrumenten zur Anwendung kommt. Diese
Art des Verschlusses gestattet ein leichtes Auseinandernehmen und sicheres
Beinigen des Instrumentes. Aber beim Oeffnen laufen die Gebisse auseinander;
NAHT.
513
sie fassen die HAGEDORN'sche Nadel vielmehr an den oberen Kanten als an den
Seitenflächen. Das Bra atz 'sehe27) Instrument besteht aas 3 Theilen (Fig. 67); der
Schlass geschieht nicht durch Stoss, sondern durch Zng nnd dadurch ist es statt-
haft, den III. Theil so leicht zu gestalten , dass er in seinem mittleren Theile
Fig. 67.
federt. Eine Drehung des Theiles II in Theil I ist dadurch vollkommen ver-
hindert, dass eine vorspringende Leiste von III in einen entsprechenden Spalt
von I läuft. Der Halter ist leicht auseinander zu nehmen und zu reinigen. Er
ist in verschiedenen Grössen zu beziehen von Marggraf in Riga zum Preise
von circa 8 — 10 Mk.
Fi*. 68 a.
Der „antiseptische Nadelhalter" von Weber28) (Fig. 68 a) hat die gewöhn-
liche Zangenform, aber die Verbindung der Arme ist durchaus eigentümlich, indem
ein schräg ansteigender Keil des einen Armes in eine entsprechende Nute des
anderen Armes läuft. Der eine, die Feder nicht tragende Griff endet an der Ueber-
gangsstelle in den Schaft mit einem Einschnitte, in welchen die mit einem Haken
versehene Feder eingreift, sobald die Führungen nahezu ihre äusserste Excursion
erreicht haben. Ein Druck auf die Feder und die beiden Arme lassen sich von
einander nehmen. Auch die an dem Ende des federtragenden Armes angebrachte
Sperrvorrichtung lässt sich leicht entfernen. Der Halter kann auch ohne Feder
und Sperrhaken gebraucht werden. Fig. 68 b zeigt den Halter mit kornzangen-
fthnlichen Gebissen zum Fassen gewöhnlicher Nadeln.
Fig. 68 6.
Bei dem Nadelhalter von Fr. Levtsseür *9) wird die Nadel nicht durch
Schliessen eines Gebisses, sondern durch eine Schraube festgehalten. Der einfache
Handgriff trägt den Stiel des Instrumentes, dessen Endtheil ein Schraubengewinde
Encyclop. Jahrbücher. I. 33
514
NAHT. — NATRIUMSULFIT.
darstellt. Dasselbe greift ein in die Schraubenmutter eines kleinen, in seiner
Längsachse central durchbohrten Cylinders, weleher einen sehrigen Ausschnitt zur
Aufnahme der Nadel trägt. Die Einrichtung dieses Halters ist ungemein einfach,
auch scheint das Festhalten der Nadel sehr sicher zu sein; es fragt seh nur,
ob die Reinigung leicht und sicher möglieh ist.
Literatur: *) Braatz, Bacteriologische und kritische Untersuchugen über die
Zubereitung des Catgut. Beiträge zur klinischen Chirurgie. Red. von P. Broms. 1891.
H. I. — *) Geppert, Zur Lehre von den Antisepticis. Berlin, klin. Wochenschr. Sept. 1889. —
•) Brunner, Ueber Catgutinfection. Beiträge zur klin. Chirurgie. Red. von P. Broms. TL —
4) Kammeyer, Ueber Sterilisation von Catgut. Inaug.-Diwert. Berlin 1890. — x.)Kt»ael.
Neue Verbandmethode und Anwendung des 8ublimat in der Chirurgie. Archiv ftr klim.Ckir.
1883, pag. 673. — *) Schede, Die antiseptische Wundbehandlung mit Sublimat. Yolkuann'*
Sammlung. Kr. 251. — 7)v. Bramann, Ueber Wundbehandlung mit JodoformtaaponadV.
Ebenda. 1887, pag. 72. — 8)v Bergmann, Deutsche med. Wochenschr. 1890, Xr. 32. —
') Esmarch, Kriegschirurgische Technik. 1895. — 10) Kocher, Zubereitung tob autifwpt.
Catgut Centralbl. fftr Chir. 1881, Nr. 23. — ") Roux , NoU aur la priparation du catgut et de
la voie antiseptique. Revue med. de la suisserom. 4. Marz 1884. — lf) Cr am er undWehmer.
Ueber Anwendung des Lysol in der Praxis. Berliner klin. Woch. 1890, Nr. 52. — 1B) Auguste
Reverdin, Recherches sur la Sterilisation du catgut et d'autrcs substances emptoyk*
en Chirurgie. Ibid. 1888, Kr. 6, 7, 8. — l4) Döderlein, Experimentelle Untersuchungen
über Desinfection des Catgut. Münchener med. Wochenschr. 1890, Nr. 4, cit. nach Kammever. —
lä) Benckisser, Centralbl. für Gynäk. 3189. — ,6) Rundschau für Pharmacie. 5 91. -
,7) v. Mo setig, Handbuch der Chirurg. Technik. 1887, I. — lf) C. de Mooij, Weekblad
van het nederlandsch Tijdskrift voor Geneeskunde. 8. März 1890. — 19) Reverdin, Instruments
nouveaux. Prisentis au 3. congrea francais de Chirurgie. Extrait du congres. Paris 1888. —
r) Lutz, Eine neue Nahtmethode. Monatsh. für prakt. Dermat. 1890, 1, X. — ") Vogel,
Archiv, de med. milit. beige. 1879, pag. 237. — ") Degive, Academie royale de Belgiqne.
1884, XVIII, pag. 543. cit. nach Chavasse, Nouveaux Clements depetite Chirurgie. Paris 1857. —
") Powell. Laocet. 22. Febr. 1890. — **) Ernst Kummer, Illustr. Monatsschr. für
ärztl. Polytechnik. 1888, Heft 2. — ") Ware, Med. Record. 20. Jan. 1888; Illustr.
Monatsschr. 1889, Heft 7. — **) Stenzel, Med. Verein zu Kottbus. Deutsche Med.-Ztg. 1889.
12. — *7) Braatz, Ein neuer Nadelhalter für Hagedorn 'sehe Nadeln. Illustr. Monatsschr.
1889, H. 5. — ") Weber, Antiseptischer Nadelhalter. Ebenda. 1890, H. 1. — tJ) Levisseur.
New- York med. Journ. 1890, 1; Illustr. Monatshefte. 1890, Heft 9. Wolzendorff.
Naphthalin bei A bdomin altyphus, pag. 14. — Im Arzneibuch för
das deutsche Reich (3. Ausgabe) neu aufgenommen.
Naphthol bei Darmcatarrh. pag. 173. — Im Arzneibuch für das
deutsche Reich (3. Ausgabe) neu aufgenommen (ß-NaphthoI).
Naregamia aleata (ipecacuanha aus Goa, weisse Ipecacuanha), eine
strauchartige Meliacee Ostindiens. Der wirksame Theil der Drogue ist in der
Rinde der Bltithenstiele enthalten; die Drogue selbst besteht aus dünnen ver-
ästelten , gelbbraunen , hellstreifigen , kleinwarzigen Stüeken , die zerrieb«! ein
lichtbraunes , scharf aromatisch riechendes Pulver von ekelerregendem Geschmack,
geben. Als wirksames Princip der Naregamia aleata gilt ein Alkaloid, da^
Naregamin (Hooper, 1887). Das Mittel wurde in Form des Fluidextrakts odeK
der Tinctur bei Dysenterie und als Expectorans, auch als Emeticum empfohlen-
Schöngt:t fand die Tinctura Naregamiae 10, Aq. laurocerasi 10*0, 10 Tropfe
1 — 3 Mal des Tages als Expectorans bei Bronchialcatarrh mit zähem, klebriger^
Schleime, wirksam , so dass er dem Mittel eine secretverdflnnende Wirkung icr-
schreibt. Auf die Digestionsorgane übt das Mittel in obiger Dosis keinen sich —
liehen Einfluss aus, 1*0 — 2*0 wirken emetisch.
Literatur: Stefan Schöngut, Tinct. Naregamiae, ein neues Expectorans. A^*
der Abtbeilnng des Prof. Dräsche in Wien. Centralbl. f. d. ges. Therap. 1890, pag.
Loebisch.
Nasenbluten, s. Blutstillung, pag. 115.
Natrium fluoratum, s. Fi uornatrium.
Natriumsulfit, s. Antidota, pag. 50.
NEBENHODEN. — NERVENEXTRA CTION.
515
Nebenhoden, Entzündung, s. Epididymitis, pag. 246.
NephrOtypIlUS, s. Abdominal typhus, pag. 9.
NerVenextrdCtiOn nennt man ein operatives Verfahren , welches
Thiebsch (Verhandl. d. Deutschen Ges. f. Chirurgie, 18. Congr. 1889, pag. 44
bis 52) an Stelle der Neurectomie bei Neuralgien empfiehlt. Dasselbe besteht
darin, dass man beispielsweise bei Neuralgie im Bereiche des Nervus infraorbi-
talis zunächst den Nerven am Foramen infraorbitale freilegt, die peripheren
Nervenfasern an der Austrittsstelle mit der Knopfsonde auf eine kurze Strecke
vom umgebenden Bindegewebe befreit, dann mit einer eigens angegebenen Korn-
zange die sämmtlichen Fasern vor dem Foramen der Quere nach fasst und nun
durch eine langsam fortlaufende Drehbewegung um die Längsachse des Instru-
ments den Nerven gleichsam aufwickelt. Diese Drehbewegung muss so erfolgen,
dass der Nerv nicht am Rande des Foramen durchgequetscht wird, am linken
Nerven von links nach rechts, am rechten nach links. Hierbei reisst sehr bald
der centrale Theil des Nerven so tief ab , wie es durch eine Resection des Nerven
selten oder gar nicht möglich ist, während die peripheren Fasern bis in ihre
feinsten Verzweigungen aufgelöst werden. Es gelingt auf diese Weise, den ganzen
Nerven mit allen seinen, von der gefassten Stelle ab peripher liegenden Aesten
in grösster Ausdehnung zu extrabiren. Da die gewöhnlichen Kornzangen die
Nerven beim Aufdrehen leicht durchquetschten, hat Thiebsch eine besondere
Zange für diesen Zweck angegeben. Dieselbe „hat beiläufig die Form einer
Listerzange; von beiden Armen ist der eine concav, der andere convex, beide
sind quer und glatt gerieft. Die Riefen passen ineinander, jeder scharfe Rand
ist vermieden, die Spitze schwillt etwas knopfförmig an, um das Abgleiten des
Nerven beim Aufwickeln zu verboten. Das Instrument ist etwas stärker gearbeitet
als die Liste rzange und besitzt einen festen Verschluss" (l. c. pag. 44). Doch
habe ich mir in einem eigenen Falle das neue Instrument ganz gut durch eine
schlanke feine Kornzange ersetzt, deren dünne Branchenenden ich mit sterilisirtem
Seidenfaden umwickelte. Man vermeidet so auf die einfachste Weise die Gefahr
des Darchquetschens. Thiersch hatte zur Zeit seiner Mittheilung die Nerven-
extraction 28 Mal an 17 Patienten ausgeführt, nämlich elfmal am Infraorbitalis,
fünfmal am Supraorbitalis , viermal am Inframaxillaris , dreimal am Lingualis,
einmal am Mentalis, einmal am Auricularis major, einmal an einem Inter-
eostalis , einmal an einem Hautaste des Nervus tibialis anterior , einmal an einem
Hautaste des Nervus tibialis posterior.
Die Nerven werden meist von relativ kleinen Hautschnitten aus an ihren
Austrittsstellen durch Knocbenforamina oder Fascienlücken aufgesucht, auf kurze
Strecke isolirt und dann in der oben beschriebenen Weise ausgedreht. Das Nähere
wolle man im Originale nachsehen. — Der Unterzeichnete hatte Gelegenheit,
sich von den unleugbaren Vorzügen des Verfahrens bei einem, von ihm selber
nach Thiersch's Vorschriften operirten Falle von (seit 30 Jahren bestehender)
Supraorbitalneuralgie zu überzeugen. Er wendete nur — wie oben angegeben —
statt des von Thiersch construirten Instrumentes eine feine, an den Armen mit
sterilisirtem Seidenfaden umwickelte Kornzange zur Extraction an. Es wurde in
üblicher Weise durch einen Schnitt längs des Orbitalrandes die Austrittsstelle der
Nerven blossgelegt, die Nerven dann auf kurze Strecke isolirt und zunächst zwei
feine Supratroehlearzweige gefasst, aufgewickelt und ausgedreht, dann der ziemlich
starke Supraorbitalis nach vorheriger, auf die unmittelbare Umgebung des Nerven
beschränkter Ablösung der Membrana tarsi gefasst und in leichtester Weise auf-
gewickelt und ausgedehnt. Der letztere Nerv ist mit seinen peripheren Zweigen
in einer Gesammtlänge von 9*5 Cm. extrahirt worden. Das orbitale Stück ist
5*5 Cm. lang. Nachher Naht , Heilung per primam.
33*
516
NERVENEXTBACTION. — NIERENENTZÜNDUNG.
Die TmERSCH'ßche Nervenextraction ist durchaus geeignet, die bekanntlich
zuweilen recht eingreifenden und schwierigen Operationen der Resection des
Nerven, resp. der Neureotomie nicht nur zu ersetzen, sondern auch in Rücksicht
des zu entfernenden Stückes zu fibertreffen. Ueble Folgeerscheinungen sind bislang
nicht beobachtet worden. Schüller.
Neuropathische Gelenkentzündungen (vergi. Reai-Encyciopadie,
Dd. VIII, 2. Aufl., in Artikel Gelenkentzündungen, pag. 244, „Die
neuropathischen Gelenkentzündungen".) Wir geben nur die seitdem veröffent-
lichte Literatur.
Literatur: Rotter, Arthropathie tabica. Berliner med. Wochenschr. 1886, Nr. 48
bis 50, sowie Discussion in den Verhandlungen der Berliner med. Ges. 1^86 ; 8. a. „Die
Arthropathien bei Tabiden" in den Arbeiten ans der chirurgischen Klinik der kön. Univer-
sität Berlin. Berlin 1887. — Bensch, Berliner klin. Wochenschr. 1886, Nr. 50. — Sonnen-
burg, Die Arthropathia tabidorum. Verhandlungen der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie.
16. Congress. 1887, pag. 1. — Discussion ebend., pag. 77. — Weizsäcker, Die Arthro-
pathien bei Tabes. Bruns' Beitrage aur klin. Chirurgie. Bd. III, Heft I. — Morvan, De»
urthropathies dans la parteo-analgisie. Gas. hebd. 1887, 34. — W. Böser, im Centralbl.
für Chirurgie. 1888, p*g. 242. — Der Sanitätsdienst bei den deutschen Heeren im Kriege
gegen Frankreich 1870/71. Heransgeg. von der Militär-Medicinal- Abtheilung des kön. preuss.
Kriegsministeriums etc. Berlin 1884, Bd. VII, Cap. 9. — L. Kredel, Die Arthropathien u,
Spontan fracturen bei Tabes. Volkmann's klin. Vorträge. Nr. 309. — J. Wolff, üeber einen
Fall von Arthrectomie des Kniegelenks wegen nenropathischer Gelenkaffection. Berliner klin.
Wochenschrift. 1889, Nr. 6. — Karg, Zwei Fälle von ausgedehnten neuropathischen Knochen-
und Gelenkzerstörungen. Verhandl. d. Deutschen Gesellschaft für Chirurgie. 19. Congress 18&J,
pag. 224; Discussion ebend. pag. 61. Schüller.
Nierenentzündung (vergleiche Real-Encvclopädie, 2. Aufl., Bd. XV,
pag. 376 — 408). Seit dem Zeitpunkt (1888), wo die Nierenentzündung in diesem
Werke behandelt wurde, ist die Literatur der Nierenerkrankungen wesentlich
bereichert worden durch eine ganze Reihe von neuen Beobachtungen, von welchen
jene für uns das meiste Interesse haben, welche uns neue Kenntnisse Ober die
Aetiologie der acuten Nierenerkrankungen bringen: desgleichen sind vorwiegend
durch klinische und bacteriologische Forschungen die verschiedenen Formen der
acuten Nierenerkrankungen etwas näher differenzirt und zum Theil aus dem alten
Sammelbegriffe der „Erkältungsnephritis" ausgeschieden worden.
Mit diesen Thatsachen soll sieh vorwiegend das vorliegende Referat be-
schäftigen, wobei der Referent bemerkt, dass es weder möglich, noch Zweck des
vorliegenden Berichtes war, aller Arbeiten zu gedenken, sondern es sollen nur
jene Arbeiten in erster Linie berücksichtigt werden, welche unsere Kenntnisse
über den Verlauf der Nierenerkrankungen in dem oben angedeuteten Sinne ver-
tieft haben.
Hexoch l) hat das Verdienst , zuerst die Beobachtung gemacht zu haben,
dass eine bisher als relativ ungefährlich geltende Infektionskrankheit, die Vari-
cellen, gar nicht selten zu acuter Nephritis fuhrt. In seinen vier von ihm beschrie-
benen Fällen traten 8 — 14 Tage nach Ausbruch des Exanthems Oedem nid
„nephritischer Harn" auf. A. Hoffmaxn2; , Claussex3), Janssex 4), Rasch5),
HöGYES *) , Uxger 7) haben ähnliche Beobachtungen publicirt. Nicht mit Unrecht
hebt Rille *) aber hervor, dass nicht ohne weiteres alle so von Uxger beschrie-
benen Fälle als Nephritis varicellosa angesehen werden dürfen und theilt ein-
schlägige Beobachtungen mit , aus denen sich ergiebt , dass häufig nach Varicellen
Veränderungen in den Nierenepithelien ^Degenerationszustände leichteren Grades
der Epithelien) vorkommen, ohne dass jedoch immer das typische Büd der
acuten Nephritis vorliegt. Im Anschluss daran theilt er einen neuen Fall mit, wo
es sehr wahrscheinlich nach Varicellen zu einer aenten Nephritis kam.
Seitz'1 berichtet Ober zwei sehr bemerkenswerthe Fälle von acuter
Nephritis, die sich an eine Stomatitis aphthosa anschlössen; sie betrafen zwei
NIERENENTZÜNDUNG.
517
Schwestern im Alter von 8 — 10 Jahren. Der Autor spricht die Vermuthung
ans, dass die Nephritis und Stomatitis durch denselben Mikroorganismus be-
dingt seien.
Im Anschluss daran sei einer Beobachtung von Schmorl10) gedacht,
welcher bei einem 10jährigen Mädchen, das einem schweren Typhus erlag, welcher
mit acuter hämorrhagischer Nephritis complicirt war, in der Niere durch die
Cultur und den mikroskopischen Befund Soorpilzwucherungen nachweisen konnte,
welche Metastasen von einer im Mund, dem Rachen und der Speiseröhre nach-
gewiesenen Soorwucherung darstellten.
Mircoli11) berichtet Aber eine Epidemie von primärer Nephritis bei
Kindern , bei der in den Nieren den Pneumoniecoccen ähnliche Gebilde gefunden
wurden. Einzelne der in diesem Aufsatze mitgetheilten Fälle gleichen in ihrem
klinischen Bilde ungemein jenen Fällen , welche von v. Jaesch 1?) und Loos 18)
als primäre Nephritis der Kinder beschrieben wurden.
Letzebich14) beobachtete bei 16 Knaben und 9 Mädchen im Alter von
1 a/2 — 13 Jahren und 3 jungen Frauen eine eigentümliche Form von acuter
Nephritis, bei welcher durch die mikroskopische Untersuchung in dem allerdings
ohne alle Cutelen — wie es scheint — aufgefangenen Harne Bacillen nachgewiesen
wurden, welche durch Verwendung der Hausenblasengallerte und KoCH'scher
Gultur gezüchtet wurden. Mit diesen Reinculturen (?) wurden Uebertragungs ver-
suche auf Thiere (Kaninchen) ausgeführt. In den den Affectionen erlogenen
Kindesleichen, sowie in den mit diesen Culturen inficirten Thieren konnten in
den Nieren dieselben (?) Bacillen nachgewiesen werden.
v. Jaksch18) hat einige Fälle von acuter Nephritis bei Kindern beschrieben,
welche mit keiner Infectionskrankheit im Zusammenhange standen, die mit Fieber
verliefen und von denen ein Fall rasch zum Tode führte. In allen diesen Fällen
war der Urin reich an Mikroorganismen, doch konnte nicht der sichere Beweis
erbracht werden, dass die beobachteten und zum Tbeil durch die bekannten
Methoden isolirten Pilze wirklich die Krankheitserreger waren. Weitere ein-
schlägige Beobachtungen wurden von Loos13) mitgetheilt.
Mannaberg 15) fand in dem an acuter Nephritis Leidenden entstammenden
Harn grosse Mengen von Streptococcen, deren Zahl abhängig war von der Schwere
des Processes: je schwerer dieser, desto grösser die Zahl der Coccen. Dieselben
waren morphologisch den Eitercoccen ähnlich , färbten sich nicht nach der Gram-
schen Metbode und es gelang dem Autor, bei Thieren durch die Coccen künstlich
Nephritis zu erzeugen.
v. Engel16) hat aus der Klinik von v. Jaksch zwei Fälle von Nephritis
beschrieben, welche mit tagelange andauerndem atypischen Fieber einhergingen;
es handelte sich um das Bild der Nephritis. Beide Fälle liefen günstig ab. Der
Autor glaubt , dass diese Fälle den primären acuten Nephritisfollen analog sind,
welche v. Jaksch und Loos 17) bei Kindern gesehen und beschrieben haben.
Ganz bemerkenswerth scheinen mir auch einige von verschiedenen Autoren
stammende Beobachtungen, welche übereinstimmend zeigen, dass in manchen
Familien geradezu eine Prädisposition zum Auftreten von Nierenaffectionen besteht.
Tuch18) beobachtete häufiges Auftreten von Nephritis nach Scharlach bei
einer Familie und ist geneigt, bei solchen Familien eine gewisse individuelle
Disposition für diese Erkrankung anzunehmen. Für die Ansicht sprechende Beob-
achtungen hat auch Sympson 19) mitgetheilt.
Von interessanten klinischen Beobachtungen, welche in dieses Capitel
der inneren Medicin gehören, seien folgende hervorgehoben:
Jühel - RfeNOY 20) berichtet über einen Fall von Scharlach, in dessen
Verlauf totale Anurie eintrat, die Autopsie ergab als Ursache dieses Symptoms
eine Verstopfung der zu den Glomerulis führenden Arterien mit einer körni-
gen Masse.
518
NIERENENTZÜNDUNG. — NYLANDER'S REAGENS.
Leydex*1) theilt einen Fall mit, in dem im Ansehluss an einen Scharlach
Nephritis entstand , welche im Verlaufe von Jahren aar Schrumpfliiere führte,
welchem Leiden der Kranke erlag.
Sehr bemerkenswerth sind noch die Beobachtungen von Ladritzen19)
über die Carbolnepbritis bei Wöchnerinnen ; obwohl nach dem klinischen Verlaufe
es sehr wahrscheinlich ist, dass diese Fälle, reepective die Nephritis, durch die
Ausspülungen des Genitale mit 3°/0iger Carbollösung hervorgerufen wurden, ist
es zu bedauern , dass diese Diagnose nicht durch Bestimmung der gepaarten und
ungepaarten Schwefelsäure erhärtet wurde.
Honigmann23) beschreibt einen sehr interessanten Fall von Nephritis
nach Strychn in Vergiftung (im Original nachzulesen).
GfifiSON") beobachtete nach Darreichung von 2 Grm. Jodkalium bei
einem Nephritiker schwere Vergiftungserscheinungen. Der Referent glaubt , dass
in diesem Falle eine Idiosynkrasie gegen Jod bestanden hat, da Referent wieder-
holt Nephritikern Jodpräparate , also Jodkalium in Tagesdosen von 3 — 4 Grm.
verabreichte, ohne dass Intoxieationserscheinungen aufgetreten wären.
Dolega 2Ö) berichtet über einen Fall von acuter Nephritis bei Pem*
jMgus acutus.
Bezüglich der Symptomatologie der Nephritis sei einer sehr bemerkend
werthen Beobachtung von Sehrwald26) gedacht, dass auch bei typischer Nephritis
Cy linder zeitweise im Harne fehlen können.
Schreiber27), Senator ad), v. Ziemssen89), Lepine80) haben sich in
erschöpfender Weise über die Behandlung der Nierenaffectionen ausgesprochen.
Nach Schreiber ist dem Nephritiker jede reizlose Kost erlaubt. Die sehr
eingehenden Auseinandersetzungen von Senator und Ziemssen eignen sich
wenig für ein Referat und müssen im Originale studirt werden.
Literatur: J) He noch, Berliner klin. Wochenschr. 1884, Nr. 21, pag. 17.
Charite-Annalen. 1887, XII, pag. 639. — ') A. Ho ff mann, Berliner klin. Wochenschr.
1884, Nr. 21, pag. 612. — a) Claus sen, vergl. Henocb, Vorlesungen über Kinderkrank-
heiten. 1889, 4. Anfl.t Y, pag. 160. — *) Janssen, Berliner klin. Wochenschr. 1887,
Nr. 24, pag. 911. — b) Rasch, Jahrbuch fttr Kinderhei künde. 1882, XXII, pag. 48- -
*) Högyes, Jahrbuch für Kinderheilkunde. 1885, XXIII, pag. 337. — T) ünger, Wiener
med. Presse. 1888, Nr. 29, pag. 41. — b)Rillet Wiener klin. Wochenschr. 1889. Nr. pag. 733.
Daselbst auch ausführliche Literaturangaben. — *) Seitz, Jahrbuch für Kinderheilkunde.
1889, XXIX, pag. 176. — 10) Schmorl, Centralbl. f. Bacteriologie u. Parasitenkunde. 1890,
Nr. 7, pag. 329. — u) Mir coli, Beiträge zur pathologischen Anatomie und allgemeinen Patho-
logie. 1888, IV, pag. 93. — ") v. Jaksch, Deutsche med. Wochenschr. 1888, Nr. 40, 4L
— IS) Loos, Jahrbuch für Kinderheilkunde. 1SÖ0, XXX, 4. Heft. — u) Letzerich, Zeit-
schrift für klin. Medicin. 1687, Nr. 13, pag. 32. — 16) Mannaberg, Centralbl. f. klin.
Medicin. 1888, Nr. 30. — ,6) v. Engel, Prager med. Wochenschr. 1890, Nr. 50. — 17)Loos,
1. c. — lb)Tuch, Jahrbuch für Kinderheilkunde. 1888, XXVIII, pag. 74. — ,9) Sympson,
Lancet. 1890, Nr. 2. — ao) Juhel-Renoy, Referat in Schmidfs Jahrbuch. 1836, CCXI,
pag. 258. — 21) Leyden, Deutsche med. Wochenschr. 1887, Nr. 13, pag. 27. — u) Lauritzen,
citirt nach einem Referat in Schmidfs Jahrbuch, CCX1X, pag. 261. — ") Honigmann,
Deutsche klin. Wochenschr. 1889, Nr. 15, pag. 22. — ") Gerson, Münch, med. Wochenschr.
1889, Nr. 36, pag. 25. — tb) Dolega, Deutsches Archiv f. klin. Medicin. 1889, Nr. 14,
pag. 101. — Sehrwald, Deutsche med. Wochenschr. 1890, Nr. 16, pag. 24. —
*7) Schreiber, Berliner med. Wochenschr. 1890, Nr. 16, pag. 24. — M) Senator, 9. Con-
gress für innere Medicin. Wien 1890. — sp) v. Ziemssen, ibidem, 1690. — s0) Lepine,
Berliner klin. Wochenschr. 1890, Nr. 32. R. v. Jaksch.
NitrOprUSSidnatrium, s. Blausäure, pag. 99.
Norwegen, s. klimatische Curen und Curorte, pag. 374.
Nylander's Reagens, 8. Ha™, pag. 296.
o.
Oertel-Cui», s. Fettsacht, pag. 259.
Oleum CamphOratlim (siehe Real-Encyclopädie, Bd. X, pag. 622).
Ueber die Wirkung der subcutanen Injection von Ol. campk. Ph. 6. II. berichtet
Bruns Alexander (Deutsche Medic.-Zeitung. 1891, Nr. 31). Die Campher-
injectionen werden von Phthisikern gewöhnlich längere Zeit vertragen, immerhin
wirken sie cumulativ. Injicirt man früher als in Zwischenräumen von mindestens
acht Tagen , so treten schon bei der zweiten Injection Kopfschmerzen auf.
Angina follicularis, acuter Schnupfen sollen schon durch eine Campherinjection
coupirt werden; bei Bronchitiden, mit Ausnahme jener der Emphysematiker,
wird die Secretion bald vermindert; ausserdem sollen die Campherinjectionen
antipyretisch wirken und das Allgemeinbefinden namentlich bei Brustkranken
bedeutend bessern. Kinder vertragen dieselben bis zur Dentition nur in minimalen
Dosen. Auf das Befinden der Brustkinder schienen die wegen Pneumonia catar-
rhalis den Müttern gemachten Campherinjectionen keinen irgendwie ungünstigen
Einfluss zu üben. Loebisch.
Oleum choenocoeti, s. Dögiugöi.
Oligämie, Oligocythämie, s. Anämie, pag. 40.
OligOChrOmämie, s. Chlorose, pag. 135.
0smium8älire. Diese Säure — richtiger Ueberosmiumsäure,
Os04 — hat bekanntlich seit 1883 als Antineuralgicum und Antiepilepticum
mehrfache Empfehlung gefunden (vergl. Real - Encyclopädie, II. Aufl., Bd. XV,
pag. 57). Den im Allgemeinen günstigen älteren Mittheilungen über Osmium-
säure-Injectionen bei Neuralgie von Neuber, Eülenbürg, Geo. W. Jacoby,
Wölfler - Billroth, James Merces und Anderen reiht sich eine Arbeit aus
neuester Zeit von Warren Little (osmic acid in the treatment ofm neural gia,
Northwestern Lancet, 1. Februar 1891, pag. 40) an. Der Verfasser behandelte
5 Fälle, worunter 3 geheilt wurden (2 an Ischias, 1 an doppelseitiger Cervico-
Occipital-Neuralgie) 5 im vierten Falle (Cervico-Occipital-Neuralgie) wurde das Ver-
fahren nach kurzer Zeit ausgesetzt, im fünften (bilaterale Ischias) wurde wegen
constatirter Melliturie zu einer anderen Behandlung übergegangen. Die Zahl der
Injectionen betrug in den geheilten Fällen 5 — 16. Im Ganzen, meint Verfasser,
sei die Osmiumsäure zwar kein Speciflcum, aber ein höchst werthvolles und
grössere Beachtung verdienendes Hilfsmittel bei Neuralgien.
520
OVARIEN.
Ovarien (Eierstöcke). Innerhalb der 5—6 Jahre, die seit Abfassung
des Artikels Eierstock (vergl. Real-Encyclopädie, Bd. V, pag. 660) verflossen,
sind nicht wenige Arbeiten Aber dieses Thema erschienen, von denen jene, die
einen Fortschritt bedeuten, hier Erwähnung finden sollen.
Die in das Gebiet der Entwicklungsgeschichte des Ovarinm
fallenden Publicationen können nur insoweit zur Besprechung herangezogen
werden, als sie den Artikel Ei nicht berühren. Hier sind nur zwei Namen zn
nennen, nämlich jene JanoSik's1) und Nagel's. 2)
Die Ergebnisse der Forschungen dieser Beiden laufen im Wesentlichen
auf Folgendes hinaus: Das Ovarium kennzeichnet sich seiner ersten Anlage nach
als ein Keimepithelwulst, in den, vom Stroma der WOLFF'schen Körper aus, ohne Be-
theiligung der WOLFF'schen Canäle Bindegewebszellen hineinwuchern und den
sie durch Bildung von Bindegewebe in seinen tieferen Schichten in die Ei&cher
oder Eiballen zerlegen. Zur Bildung einer Albuginea kommt es nicht. Das Ei,
sowie die Follikelepithelien nehmen ihren Ursprung lediglich vom Flächenepithel
des Ovarium. Durch starke Vermehrung der Keimepithelzellen in den oberen
Schichten und Umwandlung eines grossen Theiles derselben in Ureier baut sich
das Ovarium auf. Gleichzeitig hiermit wächst das junge Bindegewebe ans der
Tiefe empor und zerlegt die neugebildeten Epithelmassen nach nnd nach in Ei-
ballen. In den ersten Lebensjahren schon geht eine grosse Anzahl von Eianlagen
zu Grunde. Das Ovarium der Neugeborenen zeigt neben Primordialfollikeln sehr
häufig gleichzeitig GRAAF'sche Follikel bis zu Erbsengrösse , ebenso wie bei den
Erwachsenen, ja sogar sprungreife Follikel mit reifen Eiern, aber nie Cysten.
Die Nerven treten nur als Geftss- und Muskelnerven auf. Besondere
Follikelnerven giebt es nicht. Vedblrr. 8)
Ueber die in dem Ovarium vorkommend en Muskelelemente
liegt die Arbeit Ostrogradzky's *) vor. Verfasserin, die behufs Schlichtung des
Streites, ob sich im Ovarium normaliter Muskelelemente befinden, Ovarien von
Individuen verschiedener Altersstufen untersuchte, fand bei Kindern nur wenig
Muskelfasern, bei Erwachsenen mehr, am meisten aber bei einer Schwangeren.
Die Abstammung dieser Muskelfasern bezieht sie auf das Ligamentum ovarii
wegen starker Uebergänge der Muskelfasern an der inneren Wand des Ovarinm.
Die glatten Muskelfasern , die vorwiegend an der inneren Kante des Organe«
vertreten sind, sollen zu den physiologischen Bestandteilen des Eierstockes zählen.
Die neuesten Forschungen Aber die normale Lage der Ovarien —
Bardelebex *), Waldeyer 6) — widersprechen den bisherigen Anschauungen nach
keiner Richtung hin.
Wenn auch wohl bisher von manchen Seiten aus angenommen wurde,
dass die Function der Ovarien unabhängig von dem Uterus vor
sich gehe, so lieferte doch erst kürzlich Grammatikati7) den Beweis für die
Richtigkeit dieser Annahme. Er fand nämlich in den Ovarien einer Verstorbenen,
welcher 4 Jahre früher der Uterus wegen Carcinom exstirpirt worden war, Follikel
in allen Entwicklungsstadien, sowie eine grosse Anzahl gelber Körper in allen
Phasen der Entwicklung und bewies damit, dass die Reifung, sowie Berstung der
GRAAF'schen Follikel während der ganzen Zeit nach Entfernung des Uteras
ungestört vor sich ging.
In Bezug auf die U eberzahl der Ovarien liegen seit den letzten
Jahren zwei einschlägige Beobachtungen vor. Sippel s) sah bei einer Laparotomie
rechterseits zwei nebeneinander liegende, dermoid degenerirte Ovarien, die er ent-
fernte und ausserdem linkerseits an seiner normaler Stelle ein gesundes Ovarinm.
Mit Recht meint er, es entspreche gerade der Umstand, dass beide rechtsseitigen
Ovarien Dermoide wurden, für eine ursprüngliche einfache Anlage des Ovarinm.
die durch eine Entwicklungsstörung in zwei Theile geschieden wurde, ganz abge-
sehen von den Thatsachen der normalen Entwicklung. Viel wahrscheinlicher
OVARIEN.
521
handelte es sich im Falle Bassini's9) um eine wirkliche Ueberzahl der Ovarien,
da das dritte vereinte Gebilde nicht hinter dem Uterus und in der Mitte zwischen
den beiden Ovarien lag, sondern weit von den letzteren beiden entfernt. Er schälte
aus dem Mesocolon ein 1100 Grm. schweres Ovarialkystom aus, welches sich
auch bei mikroskopischer Untersuchung als ein solches erwies. Die beiden gesunden
Ovarien lagen an ihren normalen Stellen. Ohne anatomisches Substrat, daher
haltlos ist die Annahme John Homan's. 10) Da bekanntlich bei Frauen , denen
beide Ovarien entfernt wurden , manchmal die Menstruation allmälig wieder zurück-
kehrt, so meint er, es existire zuweilen ein aocessorisches Ovarium, welches
sich unter diesen Umständen vicariirend vergrössere und nun die Function der
beiden früher entfernten übernehme.
Ueber die Verlagerung der Ovarien in herniösen Säcken
schreibt Thomas More Madden11) , ohne aber wesentlich Neues über dieses
Thema zu bringen. Diese Verlagerungen sind nach ihm nicht so selten, als man
gemeinhin annimmt. Sie sind congenital oder erworben, im letzteren Falle nament-
lich bei Weibern, die mehrmals geboren haben und schlaffe Bauchdecken besitzen.
Die Reposition gelingt nicht immer. Man trachte, die begleitenden entzündlichen
Erscheinungen zu bekämpfen und lege dann ein Bruchband mit Hohlpelotte an.
Ausnahmsweise nur, bei bedeutender Schwere der Symptome, entschliesse man
sich zu einem operativen Einschreiten. Erworbene Ovarialbernien , in denen
letzteres geschah, theilen Holst und Tilling ia), sowie Otte **) mit. Fälle von '
angeborenen Ovarialhernien, bei denen auch der Uterus mit an der
Verlagerung participirte und operativ intervenirt wurde, publicirten Eisenhart-
Winckel1*) und Krug.16)
Der Descensus und Prolaps der Ovarien kommt nach Thomas
More Madden l6) und Hartigan 17), wie ich dies nach meinen Erfahrungen
gleichfalls bestätigen kann, links häufiger vor, als rechts. Noch heute legren die
Amerikaner diesen Lageveränderungen des Ovarium eine viel grössere Bedeutung
bei — Mc. Kee 18) — , als es bei uns der Fall ist.
Anderweitige Lageveränderungen des Ovarium sind nahezu
ausschliesslich angeborenen Ursprunges und wohl Folgen bestandener Entzündungs-
vorgänge im fötalen Leben. Sutton19) berichtet von einem Fötus mit Spina
bifida, bei dem in Folge einer Peritonitis das rechte Ovarium mit seiner Tuba
durch feste Adhäsionen unter der Grista ilei fixirt war, wobei der Uterus nach-
gezogen war. Interessanter und praktisch wichtiger ist die Mittheilung Ashbt's. 30)
In diesem Falle lag das eine Ovarium vollständig intraligamentär , wodurch die
physiologische Berstung der Follikel unmöglich gemacht war und die Frau in
Folge dessen vom Eintritte der ersten Menstruation an, durch 16 Jahre hindurch,
an den heftigsten dysmenorrhoischen und continuirlichen ovariellen Schmerzen litt,
Die Ovarien waren mit auffallend grossen (angeblichen) Corporibus luteis bedeckt.
Solche abnorm gelagerte Ovarien können auch cystisch degeneriren. Roütier21)
sah einen solchen Fall. Es handelte sich um eine Hernia ischiadica ovarii. Der
Tumor sass am Gesässe. Die Diagnose schwankte zwischen Lipom und Hernie,
erst der Befund bei der Laparotomie klärte den Charakter des Tumors auf.
Der angeborene totale Defect derOvarien kommt in klinischer,
resp. in praktischer Beziehung nicht in Betracht, da er kein Object therapeuti-
schen Einschreitens bildet. Er ist eine Theilerscheinung weitgehender Bildungs-
hemmungen der Genitalien, sowie anderer Organe bei lebensunfähigen, missge-
bildeten Früchten. Zuweilen findet man ihn aber auch bei sonst wohlgebildeten
und scheinbar normal aussehenden Weibern. Gleichzeitig fehlt aber in solchen
Fällen nicht ein Defect der anderen inneren Genitalorgane, der Tuben, des
Uterus und der Vagina. Die Fälle, in denen ein gänzlicher Mangel beider Ovarien
bei normalen oder doch wenig veränderten inneren Genitalien angetroffen wurde,
sind enorm selten. Aber auch diese Fälle, welche meist der älteren Literatur
522
OVARIEN.
angehören, dürfen nur mit grosser Vorsicht verwerthet werden, weil man berechtigt
ist, Zweifel in die Genauigkeit dieser Mittheilungen zu setzen, da rudimentäre
Bildungen leicht für gänzlichen Mangel angesehen werden können. Peter
Müller «)
Aehnliches gilt in Bezug auf die rudimentäre Bildung der
Ovarien. Auch sie kommt bei noch in anderweitiger Weise missgebildeten,
lebensunfähigen Früchten oder auch bei Erwachsenen vor und ist bei letzteren
gleichfalls meist mit anderen Missbildungen und Fehlern — Anomalieen des Herzens,
der Aorta, Idiotie, Cretinismus etc. — vergesellschaftet. Finden sich keine solchen
Complicationen , so ist stets auch der anderweitige Tract des Genitalsystems in
der Entwicklung zurückgeblieben. Ob es Fälle giebt, in denen nur die Ovarien
allein in der Entwicklung zurückgeblieben sind, ist nahezu fraglich. Die Klein-
heit und fötale Gestalt der Ovarien ist in solchen Fällen nicht das entscheidend
Massgebende, sondern die Anwesenheit, sowie die geringere oder bedeutendere
Ausbildung des Follikelapparates , Momente, die sich nach der Amenorrhoe oder
dem Verhalten der sparsamen, unregelmässigen Menstruation nur vermuthen lassen.
Peter Müller. «)
Mit Ausnahme einer meiner Pnblicationen 2*), die dieses Thema berührt,
fand die Atrophie der Ovarien bisher keine Beachtung. Dieselbe ist eine
nur vorübergehende oder eine dauernde. Erstere trifft man bei lange
andauernden, den Gesammtorganismus tief untergrabenden, chronischen Krank-
heitsprocessen, so bei schweren Formen von Morbus Basedowii und Chlorose, bei
Tuberkulose, Diabetes u. s. w. Sie ist stets mit einer Atrophie des Uterus com-
plicirt. Die Diagnose ist nicht schwierig. Bei fehlender Menstruation findet min
den Uterus, sowie die Ovarien verkleinert, schlaff und matscher. Tritt Genesung
ein oder erfährt der Krankheitsprocess einen Stillstand, so dass sich der Gesammt-
organismus wieder erholt, so schwindet damit auch die Atrophie der Ovarien,
sowie jene des Uterus. Eine dauernde Atrophie der Ovarien dagegen,
mit einer solchen des Uterus gleichzeitig, schliesst sich in Ausnahmsfällen an ein
Puerperium an, ohne irgend eine intereurrirende Krankheit, die vielleicht hierzu
den Anlass geben würde. Es kommt dies namentlich bei Frauen vor, die rasch
nacheinander eine grössere Anzahl von Kindern in die Welt setzen und dabei
gleichzeitig dem Stillungsgeschäfte länger obliegen. Kiwisch 2 6), J. G. Simpson"),
A. R. Simpson. 27) Zuweilen giebt eine intra oder sofort post partum einge-
tretene heftige Blutung den Anstoss, dass das Puerperium in eine dauernde Atrophie
der Ovarien und des Uterus auslauft. A. R. Simpson28), Walter Weit-
he ad. *29) Sehr selten nur ist die Atrophie der Ovarien darauf zurückzuführen,
dass diese Organe durch eine septische Erkrankung im Puerperium zerstört wurden,
da so schwere Krankheitsprocesse nur ausnahmsweise überstanden werden, abge-
sehen davon, dass unter solchen Umständen nicht das ganze Ovarialgewebe ver-
nichtet werden muss.
Das Capitel „Hyperämie und Hämorrhagie der Ovarien" erfuhr
in den letzten Jahren nur relativ wenige Fortschritte. Rollin's so) umfangreiches-"1
Publication über Ovarialblutungen behandelt dieses Thema systematisch, bringag
aber kaum bisher Unbekanntes. Die Blutungen in das Corpus lute
rhagies dans les corps jaunes" , hält er für weitaus die gefährlichsten, sowo -
wegen der Menge des ergossenen Blutes, die so bedeutend sein kann, dass Vc
blutungstod erfolgen kann , als wegen der eventuellen Folgezustände , der relr — a
uterinen Hämatokele und Peritonitis. Vom klinischen Standpunkte aus unterscheidi^E
er latente oder beinahe latente Ovarialblutungen und foudroyante, von stttrinimh ^
Erscheinungen begleitete Blutergüsse, die einen Ovarialtumor vorzutäuschen
mögen. Die ersteren Blutergüsse verdienen kein klinisches Interesse, die letzteren zäht^M
dagegen angeblich zu den gefährlichsten, oft letal endenden Erkrankungen. W-ä>2
meist, aber nicht immer, stellen sie sich zur Zeit der Menstruation ein. Blutoyst. «ff,
OVARIEN.
grössere Blutergüsse in den nicht geborstenen Follikel können durch plötzliche
heftige Blutungen entstehen, häufiger aber sind sie auf langsame, schleichende
Blutungen rückzufflhren. Charakteristisch für Ovarialbluteysten ist das jedesmalige
Anschwellen derselben während der Menstruation. Eine solche kindskopfgrosse
Blutcyste, entstanden durch periodische Blutergüsse in einen central gelegenen,
der Berstung widerstehenden GRAAF'schen Follikel , entfernte Saengee 31) glück-
lieh auf operativem Wege. Einen ähnlichen Fall erwähnt Doban. mj Auch
P. Münde") operirte einen solchen Fall, der sich dadurch auszeichnete, dass
beide Ovarien in Hämatome, umgewandelt werden. Zwei Corpora lutea- Cysten
eines Ovariums, von denen eine orangengross und die andere kleinapfelgross war
und die intraligamentär sassen , enucleirte Gottschalk. 8*) Dieser eine Nullipara
betreffende Fall ist insoferne ein wichtiger, als er die Unrichtigkeit der Roki-
TAVSKY'schen Ansicht erweist, der zu Folge sich solche Cysten nur aus Corporibus
luteis bilden, die auf eine Cooception zu beziehen sind. Gleichzeitig zeigt er
auch, dass Corpus luteum- Cysten die Grösse einer Orange erreichen können.
Einen von Mabtin operirten Fall von doppelseitigem vereiterten Hämatome des
Ovarium publicirte Czempin. ") Zwei Fälle von tödtlicher Blutung in Folge von
Ovarialblutung während der Menstruation sah Fordtce. 36) Ein in Bezug auf
seine Entstehung einzig in seiner Art dastehendes Hämatom des Ovarium beob-
achtete Chiaeella. zr) Das rechte Ovarium mit seiner Tuba lag im Leisten-
eanale und war am Ostium inguinale angewachsen. Das auf dem Wege der
Herniotomie entfernte Ovarium war zu zwei Dritteln in eine Blutcyste umge-
wandelt, in der man noch Beste eines Corpus luteum vorfand.
Eine neue, bisher noch nicht beobachtete Erkrankungsform, das caver-
nöse Hämatom des Ovarium beschreibt Gottschalk. S8) Er constatirte
diese Erkrankung an den Ovarien einer Frau, der wegen profuser, nicht zu
stillender Metrorrhagien der Uterus mit den Ovarien exstirpirt worden war. Die
Ovarien waren von kleinen, unregelmässigen, mit Blut gefüllten Cysten durch-
setzt, die nichts Anderes als unregelmässig begrenzte, wandungslose Räume waren,
welche mit dem Gefässsysteme in unmittelbarer Communication standen. Gleich-
zeitig fanden sich eben solche mikroskopisch kleine, mit Blut gefüllte Maschen-
räume. Durch diese Veränderungen erhielten die Ovarien ein ausgesprochen
schwammartiges, cavernöses Gepräge. Das Wesen dieser pathologischen Ver-
änderungen liegt in Folgendem: Ausgewanderte Blutkörperchen wandeln sich in
Bindegewebe um und diese sich längs der Gefässwandungen abspielende Binde-
gewebsneubildung führt durch nachherige Retraction zu einer unregelmässigen
Erweiterung des Gefös9rohres. Durch diese Blutreservoirs in den Ovarien und die
zwischen den Arteriis spermaticis und Arteriis uterinis bestehende Anastomose
wurde eine abnorm starke Blutzufuhr zum Uterus dauernd unterhalten, wodurch
es in letzterem zu massenhafter Gefössneubildung in seiner Mucosa, zu hoch-
gradiger Hyperämie und zu einer jeder Therapie trotzenden Hämorrhagie kam.
Das Capitel der Entzündungen der Ovarien erfuhr angeblich
eine Bereicherung durch Mary A. Dixon Jones 89), welche eine neue Entzündungs-
form dieser Organe mittheilt. In den Faltungen des gelben Körpers — die als
Fortsätze der Tunica intima in die von der Granulosa stammenden Zellen ange-
sehen werden und normaler Weise reichliche Gefässe besitzen — beginnt eine
Entzündung, die Anfangs beschränkt ist, sich aber weiterhin über diese Faltungen
und Fortsätze ausbreitet. Letztere verdicken sich und verwandelt sich das in
den Körper gesetzte Exsudat in dichtes Bindegewebe. Des Weiteren wird eine
wachsartige colloide Masse im Innern abgelagert und kommt es angeblich zur
Bildung eines grösseren knotigen Fibromes. Aehnliche Entzündungserscheinungen
treten an anderen Steilen in den Follikeln auf und schliesslich geht das normale
Gewebe zwischen den Follikeln zu Grunde. Sie giebt diesem Krankheitsprocesse
den Namen „Gyroma".
524
OVARIEN.
Eine eingehende Beschreibung der Oophoritis liefert 8lavjaxsky. *•)
Er nimmt anatomisch zwei Hauptformen der Entzündung an, die parenchy-
matöse und die interstitielle und daneben noch eine Mischform, die folli-
culäre. Die Veränderungen des Organes sind bei den parenchymatösen
je nach der Intensität des Processes verschieden. Bei den leichteren Formen
sind nur die Primordialfollikel der Rindenzone ergriffen, bei intensiverer Ent-
zündung dagegen auch die entwickelten Follikel, sowie die Graaf' sehen
Bläschen. Das Parenchym der letzteren geht zu Grunde, das Ei widersteht aber
am längsten. Schliesslich wird auch das Zwischengewebe hyperämisch und treten
zahlreiche Blutextravasate auf. Die in terstiti eile Oophoritis ist eine diffuse
oder circumscripte. Die diffuse tritt bei septischen Processen als hämor-
rhagische, eiterige oder nekrotische Oophoritis auf. Stets findet man in der das
Ovarium durchtränkenden Flüssigkeit Mikroorganismen. Secundär können auch
die Follikel verändert werden. Bei der circumscripten Form, der folli-
culärenOophoritis, äussert sich der Process um die entwickelten Follikel.
Es kommt dabei in Folge der Hyperämie zu einer gesteigerten Flüssigkeits-
absonderung seitens der Granulosazellen. Diese kleincystische Follikel-
degeneration ist nur ein Zeichen der Hyperactivität des Ovariums. Die
cystischen Follikel können wieder zur Norm zurückkehren. Bei höheren Graden
der Entzündung kann auch der Follikel durch Blutungen in die Membrana
granulosa zu Grunde gehen. Bei chronischer Entzündung bildet sich eine Sclerose
der Follikel wand aus. Narbenbildung tritt nur nach septischen Eiterungen ein
(Cirrhose des Ovariums), während es sonst im Gegen theile zu einer Vermehrung
des Zwischengewebes kommt. Gefäss Veränderungen (Periarteritis , Endarteritis
obliterans, hyaline Degeneration der Wand) sind nicht selten. Aseptische Ent-
zündungen hinterlassen häufig trennbare Verwachsungen, infectiöse dagegen feste.
Betreffs der Aetiologie kommen für die parenchymatöse Entzündung Infections-
krankheiten (acute Exantheme, Typbus etc.) and Vergiftungen (namentlich Phosphor-
vergiftung) in Betracht. Die diffuse interstitielle Entzündung findet sich bei
septischer puerperaler, die circumscripte bei gonorrhoischer Infection, beilnfection nach
intrauterinen Eingriffen und bei Pelveoperitonitis. Primär entsteht die localisirte
Entzündung durch schädigende Einflüsse während der Menses, durch sexuelle Ex-
cesse, Maschinennähen u. dergl. m. , ferner durch Rheumatismus, Ohreiterungen,
Anginen, endlich im Zusammenhange mit Parotitis. Secundär kann das Ovarium
tuberkulös erkranken von einer tuberkulösen Salpingitis ans. Die Symptome
hängen hauptsächlichst von dem Ergriffensein des Peritoneum ab. Auf das Ovarium
selbst zu beziehen ist ein bisweilen dumpfer, manchmal lancinirender, localisirter
Schmerz, der bei der chronischen folliculären Entzündung bei Druck zunimmt,
bei der Cirrhose dagegen nicht, ferner Dysmenorrhoe und Dyspareunie, sowie
Schmerzen bei der Defäcation, bei entzündetem linken und Schmerzen im rechten
Ovarium bei Kothanhäufung im Coecum. Ferner finden sich irradiirte Schmerzen,
Menstruationsstörungen und zwar gewöhnliche Menorrhagien, sowie allgemeine
nervöse Störungen. Sterilität wird in drr Regel nur nach parenchymatösen Ent-
zündungen im Verlaufe von acuten Infectionskrankheiten beobachtet. Zur Diagnose
empfiehlt sich stets die combinirte Untersuchung in der Narkose. In differentiell-
di amnestischer Beziehung ist es zu wissen wichtig, dass sich das entzündete Ovarium
während der Menstruation vergrössert, was bei einer Neubildung nicht der Fall ist
Pbochownick41) scheidet die chronische Oophoritis in zwei Gruppen,
deren jede ihr eigenes Krankheitsbild besitzt. Die gewöhnliche, aus der acuten ent-
standene (durch von aussen eingedrungene Entzündungserreger hervorgerufene)
Oophoritis zeichnet sich klinisch durch constante Schmerzen aus und ergiebt patho-
logisch-anatomisch eine kleine cystische Degeneration mit gefilssreichera, jungen Binde-
gewebe. Die seltenere genuine Form ist in ihren Symptomen an die Menstruation
gebunden, die Ovarien sind nicht verwachsen und nur zur Menstruationszeit ver-
OVARIEN.
525
grössert. Anatomisch findet man geftssarmes Bindegewebe nnd centrale Lagerang
grosser Follikel.
Den Einfluss, den die Entzündung der Tuba, namentlich die gonorrhoische,
auf das Ovarium ausübt, suchen Cornil und Tebillon*2) zu erforschen. Sie
finden, dass das Ovarium an der Tubenerkrankung participirt, sobald letztere den
Tabentrichter überschritten hat. Zumeist ist nur die Oberfläche des Ovariums ver-
ändert. Sie ist mehr oder weniger mit peritonitischen Schwarten bedeckt. Das
Ovarium verlässt seine normale Lage und findet sich im Douglas oder ist es
durch Adhäsionen im Beckeneingange hinter den Schambeinen oder am Uterus
fixirt Zumeist bleibt das Parencbym intact. Die Follikel entwickeln sich weiter,
aber die Ovulation ist durch Exsudatmassen auf der Oberfläche gestört. Die Zahl
der mit seröser Flüssigkeit oder Blut gefüllten und im Zustande der Involution
befindlichen Follikel ist deshalb grösser, als in der Norm. Daraus kann sich nach
längerer Zeit eine cirrhotische Schrumpfung des Organes entwickeln. Das Ovarial-
parenchym kann aber auch an der Entzündung activ theilnehmen. Die Follikel
werden dann zum Sitze oft sehr beträchtlicher Blutherde und entwickeln sich
multiple, oft sehr ausgedehnte Abscesse.
In den letzten Jahren wandten Schaeffer und Rh ein stein ihre Auf-
merksamkeit den nicht puerperalen 0 varialab scessen zu. Nach
Schaeffer42) ist es in differentiell - diagnostischer Beziehung, namentlich para-
metritischen Entzündungen gegenüber, wichtig, die circumscripte Begrenzung des
vereiterten Ovarium und die relativ geringe der Nachbarschaft (insbesondere der
Vagina) zu constatiren und das Ligamentum ovarii abzutasten, sowie dessen
Uebergang auf das Ovarium nachzuweisen. Das parametritische Exsudat hat nach
unten, nach der Beckenwand hin, keine scharfen Grenzen und übergeht diffus in
das umgebende Bindegewebe , gleichzeitig erscheinen hierbei die Vaginalwände
infiltrirt , sie sind mehr oder weniger starr. Ovarialabscesse werden nur hühnerei-,
höchstens faustgross. Beide stimmen überein, dass der Ovarialabscess nur dann
mit möglichster Wahrscheinlichkeit diagnosticirt werden kann, wenn man den
Krankheitsfall von Beginn an zu verfolgen in der Lage ist. Nach Rhkinstein **)
muss man während des Krankheitsverlaufes die allmäligen Veränderungen, die das
Ovarium erleidet, direct nachweisen. Im Beginne muss man das schmerzhafte
Ovarium deutlich fühlen, jede andere Entzündung der Umgebung ausschliessen
und allmälig die Autlockerung, sowie Vergrösser ung des Ovarium bei gleichzeitigen
Schmerzen und Fieber constatiren. Schliesslich muss man den Abscess direct
finden, namentlich das Schwappen und Klopfen desselben. Von vereiterten Ovarial-
cysten unterscheidet sich der Ovarialabscess nur durch seine relative Kleinheit,
daher eine differentielle Diagnose bei vereiterter kleiner Ovarialcyste , wenn man
nicht Gelegenheit hatte, die Krankheit vom Anbeginn an zu beobachten, unter
Umständen ganz unmöglich wird. Die Gonorrhoe spielt hier als ätiologisches
Moment eine wichtige Rolle. Bis vor Kurzem lüelt man sich der operativen Ent-
fernung des Ovarialabscesses gegenüber im Allgemeinen ablehnend, einestheils
deshalb, weil man mit der Stellung der Diagnose nicht ganz im Klaren war
und andererseits wegen der Gefahr einer septischen Nacherkrankung. Nach
Schaeffeb ist diese Sorge berechtigt, da der Eiter hier die gefährlichsten
Mikroben — den Streptococcus pyogenes — enthält. In der Tuba verlieren die-
selben bald ihre Lebensfähigkeit, während sie im Ovarialgewebe einen besseren
Nährboden, wie im Bindegewebe überhaupt, finden. In den letzten Jahren wurde
in ziemlich vielen Fällen das vereiterte Ovarium operativ entfernt, so in den
Fällen von Fischer*6), Macan 46), P. Münde *7) , Price *8), Czempin *•), Dudley 60),
Doleris61), Schramm62), Baer68), Goodell6*), Kynett66), Veit66), Rhein-
stein67) (2 Fälle), Schaeffer68) (2 Fälle). Der Erfolg war ein relativ sehr
günstiger, da nur zwei Operirte — eine der RHEiNSTEiN'schen Kranken und
jene Macan's — starben. (Doch macht es den Eindruck, als ob es sich in
526
OVARIEN.
eitrigen Fällen nur um vereitert« Ovarialcysteu gebandelt haben dürfte , wie in
den Fällen von Dudlet, PfitCE, Czempjn und Baeb.)
Was die Neubildungen des Ovarium« anbelangt, so liegen
mehrere neue Arbeiten Uber dieselben vorT in denen Ansichten vertreten werden
die von den bisherigen wesentlich abweichen.
Nach Nagel6*) darf man die chronische Oophoritis nicht in eine
chronische folliculäre und in eine chronische interstitielle eintheüen. Die eigent-
liche chronische Oophoritis ist die sogenannte chronische interstitielle Entzündung
Eine genuine Erkrankung, wie sie vou Einigen angenommen wird, existirt kaum.
Sämmtlicbe Formen der interstitiellen Oophoritis sind als fortgeteitete Entsendung«-
vorgänge 211 betrachten. Eine eircumscripte Peritonitis ist am häutigsten die
Ursache der Erkrankung, obwohl dies nicht immer der Fall sein niuss, wenn
auch bei längerem Bestehen der Erkrankung die Peritonitis nie fehlen wird. Die
Krankheit kann auch als acute interstitielle Oophoritis beginnen , fortgeleitet z. B.
von einer puerperalen Metritis. Da, wo eine ei reu tu Scripte Peritonitis da« Primi ri?
gewesen, erkennt man dies deutlich an den Ovarien, wenn der Prooeii letfc
relativ ein frischer ist. Da ist die Obei flache des Ovarium mit dicken peritotti-
tiseheu Schwarten bedeckt , die theil weise in Organisation begriffen sind. Die
Albuginea ist stark gewuchert und verdickt, so dass man mehrere Concentrin
Lagen erkennen kann. Die Parenchymzone kann noch unverändert sein, die Priuiif-
fullikel, sowie die GRAAF'sehen Follikel können noch ein normales Verhalten
zeigen. In allen Fällen , in denen die Parenchymzone mitergriffen ist , behalt
diese aber die auch im gesunden Ovarium charakteristische Structur von welligen,
ineinander unentwirrbar verflochtenen Bindegewebszügen, Als eine Umwandlung
der Parenchymzone in welliges Bindegewebe unter Etnbüssung der eharakteristi-
achen structur, wie Prochownick e* auffasst, darf der Proeess nicht betrachtet
werden. Vielmehr ist derselbe wohl mit der von Kt wisch und Klob beschriebenen
diffusen Bindegewebswucberung oder einfachen Hypertrophie mit Gewebs Verdich-
tung zu identiticiren. Seltener beginnt die Erkrankung als acute interstitielle
Oophoritis.
Die s. g. chronische folliculäre Oophoritis oder klein
cystische Folliculärdegeneration des Ovarium, oder klein-
cystische Degeneration des Ovarium ist nach Nagel ein physiolo-
gischer Zustand, aber kein pathologischer. Die Follikel behalten hier ihre normale
Btmctnr, das Ei zeigt sich intact und ebenso die Follikelwand. Sind aber die
Follikelwandungen normal und sind die darin enthaltenen Ovula normal, dann liegt
keine Berechtigung vor , einen pathologischen Zustand anzunehmen , wenn die
Follikel auch noch so gross sind und noch so zahlreich vorkommen. Wie gross
die reifen Follikel werden können, ist Oberhaupt noch nicht festgestellt. Die
fache Vermehrung der sichtbaren ORAAF'schen Follikel aber ist ein physiologischer
Zustand , der auf Individualität beruht und niemals als Resultat einer Erkranknag
des Ovarialgewebes vorkommt.
Der Hydropa folliculi hat nur als secundäre Erscheinung patho-
logische Bedeutung. Hydropische Follikel (wobei degenerirte Eier, respecrive ver-
änderte Follikelwandungen unbedingt nachgewiesen werden müssen) kommen nur
bei sonstigen Erkrankungen des Ovarialgewebes vor und erreichen nie eine be-
deutende Grösse, da mit der pathologischen Ansammlung von Flüssigkeit und der
Degeneration des Eies eine Atrophie der Follikelwand Hand in Hand geht, welche
die Resorption der angesammelten Flüssigkeit ermöglicht Die in der Literatur
beschriebenen einkammerigen, glattwandigen Cysten mit serösem Inhalt von mehr
als Walnussgrösse sind möglicher Weise CyBten des Corpus luteum ge-
wesen* Im Gegensatze zu dem Hydrops folliculi ist diese Art von Cystenbildnog
als Erkrankung sui generis aufzufassen. Wahrscheinlich kommt diese Art von
Cystenbildung viel häufiger vort als man bisher annimmt. Es ist einleuchtend,
OVARIEN.
527
dass ein so gefässreiches, mächtig wucherndes Gebilde, wie das Corpus luteum,
vielmehr zur Cystenbildung Veranlassung geben kann, als der GRAAF'sohe Follikel.
Nagbl's Anschauungen finden aber durchaus nicht allgemeine Anerkennung.
Steffkck 60) hält die kleincystische Degeneration für einen pathologischen
Zustand und glaubt, dass derselbe nicht als etwas Verschiedenes von dem
Hydrops folliculi aufzufassen sei.
Pjbtitpibrre 61) entnimmt aus einer Reihe von Ovarien, welche die
kleincystische Degeneration zeigten, dass die Tunica albuginea verdickt, das
Stroma der Rindenschichte hypertrophisch, die Zahl der Primordialeier in dem-
selben gewöhnlich eine spärliche, in wenigen Fällen eine normale, die Zahl der
wachsenden und ausgebildeten Follikel, sowie der im Zugrundegehen begriffenen
dagegen eine verhältnissmässig grosse ist. Die kleincystische Degeneration der
Ovarien stellt daher nach ihm eine Hyperplasie dar mit, wie es scheint, un ver-
hältnissmässig starkem und raschem Verbrauche der drüsigen Bestandtheile. Er ist
daher geneigt, diesen Zustand für einen pathologischen zu halten.
Nach Büliusm) ist die kleincystische Degeneration der Ovarien Folge
einer Perioophoritis oder kommt sie ohne eine solche bei Irritationszust&nden ver-
schiedener Art vor, so bei Ovarialgeschwülsten der einen Seite, bei Salpingitiden
und Uterusfibromen. Im ersteren Falle bedingt die Perioophoritis die Erkrankung,
da die Pseudomembranen und Schwarten die Berstung der Follikel hindern. Im
zweiten Falle muss die Krankheitsursache im Ovarium, respective im Follikel
selbst gesucht werden. Zu diesen Ursachen dürften die sexuelle Ueberreizung, der
Coltus reservatus, die Impotenz des Mannes u. d. m. zählen. Die normal
grossen oder vergrösserten Ovarien zeigen auf der theilweise mit Pseudomembranen
bedeckten Oberfläche zahlreiche linsen- bis erbsengrosse, etwas prominirende Bläs-
chen oder einige grössere durchschimmernde Cysten. Bei hochgradiger Erkrankung
ist das ganze Ovarium von Cystchen durchsetzt und das Interstitialgewebe ge-
schwunden. Die Albuginea ist meist verdickt. Mikroskopisch zeigt es sich, dass
die Primordialfollikel zunächst in Zahl und Form keine Veränderung erleiden,
während die grösseren Follikel in Epithel und Ei Degenerationsvorgänge zeigen.
Mit dem Vorschreiten der Erkrankung schwinden die Primordialfollikel , während
die erbsen- bis bohnengrossen Follikel erheblich gegen die Norm an Zahl ver-
mehrt und im Vergleiche zu dieser Entwicklung wenig Corpora lutea vorhanden
sind. Daraus lässt sich entnehmen, dass sich die Follikel wohl zur normalen
Grösse entwickeln, aber nicht bersten. Das Stromagewebe zeigt ausser Schwund
wenig charakteristische Veränderung. Es handelt sieh demnach um einen patho-
logischen Process und gehen thatsächlich pathologisch - anatomische Veränderungen
im Follikel vor sich, trotz der gegenteiligen Behauptung Nagel's. Was die von
Nagel als häufig vorkommenden Corpus luteum- Cysten anbelangt, so fand
BüLlüS, dass es sich hier stets um Follicularcysten handelte, in deren Innern
und Wandung Blutungen stattgefunden haben. Ebenso wendet sich Bülios es)
gegen die NAGEL'sche Behauptung, dass die einfächerigen, nicht epithelialen
Cysten zumeist, vielleicht ausschliesslich, aus einer cystischen Entartung des
Corpus luteum entstehen. Er spricht sich für die bisherige Ansicht aus, dass sich
aus dem GRAAF'schen Follikel eine bis mannskopfgrosse uniloculäre Cyste bilden
kann und glaubt dies mikroskopisch nachgewiesen zu haben.
Auch in Bezug auf die Entstehung und Bildung des Ky Stoma
proliferum glanduläre haben sich gegen die früheren Jahre neue An-
schauungen geltend gemacht.
Nach Nagel •*) kommt der von Güsseäow zuerst ausgesprochenen An-
sicht, dass die chronische Entzündung der Ovarien unter Um-
ständen Anlass zur Cystenbildung geben könne, eine grosse Tragweite
zu. In Folge einer chronischen interstitiellen Entzündung des Ovarium finden durch
die ungleichmässige Vergrösserung des Organes Einziehungen an der Oberfläche
528
OVARIEN.
desselben statt, wodurch das Ober du-chen epithel eingezogen und eingestülpt wird.
Diese Einziehungen und Einstülpungen des Oberfläohenepitheles bilden das Anfang
Stadium epithelialer Neubildungen T insbesondere der Cyetome. So Lange sie noch
frei nach aussen munden , fliesst das Seeret der EpithelzelJen nach aussen, d. h.
in die Peritonealhöhle ab. Schliesseu sich aber fernerhin die Einziehungen und
Einbuchtungen an der Oberfläche gegen aussen ab, so liegen nun Hohlräume vor,
die mit Keimepithel ausgebildet sind, d. h. Cysten* Von Follikeln unterscheiden
sich dieBe neugebildeten Cysten durch das Keimepithel ihrer Wandungen , durch
ihre un regelmässige Form, sowie durch das Fehlen einer Tkeka folliculi. Da das
Keimepithel als echtes Schlcimhautepithel Secret secernirt, so ist damit die
Neigung zum Wachsen der neugebildeten Cyste eo ipso gegeben.
Noch wichtiger sind die Ergebnisse der Forschungen Stkffeck's 8&> über
die verschiedenartige Entstehung des K y stoma proliferum
glanduläre. Gestützt auf seine mikroskopischen Befunde, nimmt er an, das 8
die Kystorabi Id ung ihren Ausgang auch von den Follikeln aus
nehmen kann, und zwar von intacten oder von geplatzten aus. Dabei entartet
das Follikelepithel und verwandelt sich dasselbe in CylinderepitheL Der in eine
Cyste sich verwandelnde Follikel treibt Sprossen und zeigt den gleichen Proli-
ferationsvorgang, wie eine aus Keimepithel entstandene Cyste. Ohuo Zweifel findet
bei den aus Follikeln entstandenen Cysten ebenso ein Abschnttrungsproceas stau,
wie bei jenen, die aus Keimepitbel entstanden. Den Beweis für die Richtigkeit
seiner Ansieht findet er darin , dass er im Anfangsstadium der Follikelcysten,
die bereits Sprossungen darboten, noch das Ei antraf. Die grösseren Follikel
Cysten enthalten ebenso wie die grösseren Keimepitheb'ysten riue bindegewebige
Wandung. Auch das Flimmer- Papillär- Kystom kann seinen Ursprung vom Follikel -
epithel her nehmen und glaubt er, dass das Keimepithel erst später in gleicher
Weise ergriffen werde, weil bei maligner Degeneration des Kystome» die
Oberfläche des Tumors gewöhnlich zuletzt ergriffen wird. Soll sieh ein Kystom
bilden, so muss nicht nur das Epithel proliferiren, sondern auch eine Wucherung
des Bindegewebes stattfinden. Proliferirt dagegen nur das Epithel, so kommt es
nur zur Bildung einer uniloculären Cyste. Zur Bildung eineB Kystome» genta
daher eine Oophoritis parenehymatosa et inierstiiialüt^ zur Bildung einer unilocu-
laren Cyste dagegen nur eine Oophoritis parenchymatöse», Die Einseukungen des
Keimepithels an der Oberfläche des Ovariums, wie sie Nagel beschreibt , sind
nichts Anderes als Einziehungen der Rindenschichte des Övariums, bedingt durch
chronisch - entzündliche Vorgänge. Hat das eingezogene Keimepithel Kraft zur
Wucherung, so wird eine solche eintreten, wahrscheinlich aber nimmt die drtisenartige
Durchsetzung des Ovarium ihren Ursprung nur vom Epithel des Follikels*
Herrscht bei dieser Drüsenneubildung die Wucherung des Bindegewebes vory 80
entstehen papilläre Kystome , trifft aber der Heiz vornehralichst die epithelialen
Bestandteile t so kommt es zur Bildung eines Carctnomes. Die Hauptrolle bei der
Entstehung des Kystome« bilden die PrimärfollikeL Ihr Epithel wird zuerst ver-
ändert und giebt durch Sprossung den ersten Anstoss zur Entstehung eines
Kystom es. Die reifen Follikel werden erst viel später von der Veränderung ihm
Epithels befallen. Die hy dropischen Follikel bewahren ihr normales Aussehen am
längsten, sie können sich schliesslich in uniloculäre Cysten umwandeln, wohl
aber kaum in Kystome. Epitheliale Ovarialgeschwülste (Kystome, Flimmer - Epithel-
Kystome, earcinomatös degenerirende Kystome) können sich demnach sowohl
aus Follikelepithel wie aus Keimepithel bilden, wenn sieh letzteres in Epithcl-
schläuobe (in Folge Einziehung der Rindensubstanz) umgewandelt bat.
Die Ansieht der Entstehung der Kystome aus Follikelepithel vertrat schon
einige Jahre vor Stkffkck Lawsox Tait«6), wenn auch mit der modifieirten
{ und wahrscheinlich unrichtigen) Annahme , dass dies nur dann geschehe , wenn
der Follikel kein Ei enthalte.
OVARIEN.
529
D. v. Yelitz 67) scheidet von den papillären Kystomen eine eigene Gruppe
ab, nämlich das Flimmer-Papillär-Kystom (das Flaischlen-Olshausbn -
sehe maltilocnläre Flimmer-E pi thel-Ky stom). Die papillären Kystome
unterscheiden sich von den Flimmer-Papillär-Kystomen weniger durch den makro-
skopischen, als durch den mikroskopischen Bau. In letzterem aber so ausgesprochen,
daas die Sonderstellung der Flimmer -Papillär -Kystome dadurch zur berechtigten
wird. Die papillären Kystome tragen regelmässig angeordnetes Cylinderepithel mit
kleinen, rundlichen, an der Basis der Zelle liegenden Kernen. Das Epithel des
Flimmer- Papillär -Kystomes dagegen ist unregelmässig angeordnet, der relativ
grosse Kern der Zelle hat eine verschiedene Lage und die Zellen tragen Flimmer-
haare. Charakteristisch ist für papilläre Kystome das Fehlen von Psammom-
körperchen. Das papilläre Kystom zeigt Mischformen mit dem glandulären Kystome,
Mischformen dagegen zwischen dem Flimmer - Papillär - Kystome und dem glandu-
lären Kystome kommen nicht vor. Das Flimmer - Papillär - Kystom nimmt seinen
Ursprung aus dem GRAAF'schen Follikel. Velitz stimmt demnach nach dieser
Richtung hin mit Steffeck überein. Die Reihe der Vorgänge ist nach ihm hier
folgende : Zuerst nimmt die äusserst© Schichte der Granulosazellen im Follikel
Cylinderform an und das Ei geht zu Grunde. Sein Zellenplasma zerfällt körnig,
das Keimbläschen schrumpft und verschwindet endlich. Der Untergang des Eies
wird dadurch bedingt, dass die Granulosazellen den Charakter von Drüsenepithelien
annehmen und das Product der letzteren den Follikelinhalt zerstört. Die Basis
für die Papillenbildung im Flimmer -Papillär -Kystome bilden jene Gef&sssprossen,
welche aus den unter der Epitheldecke gelegenen dichten Blut- und Lymph-
gefässen etc. hervorspriessen. Sie dringen zwischen die Epithelzellen und regen
letztere zur lebhafteren Wucherung an. Die Flimmer -Papillär -Kystome bringen
als solche Metastasen hervor und treten als Cystoadenomherde in den verschie-
densten Organen auf. Auch das carcinomatös degenerirte Flimmer-Papillär-Kystom
kann Kystoadenom-Metastasen hervorrufen, die jedoch in Folge der in ihnen
steckenden Anlage alsbald carcinomatös degeneriren. Dabei ist aber nicht die
Möglichkeit aasgeschlossen, dass die Kystoadenom-Metastasen des einen Flimmer-
Papillär - Kystomes und die Muttergeschwülste unabhängig von einander carcino-
matös degeneriren können. Das Flimmer-Papillär-Kystom ist zuweilen mit Dermoid
complicirt. Ausser dem Flimmer-Papillär-Kystom giebt es noch eine andere von
ihm unabhängige papilläre Kyst engeschwulst, das bekannte papilläre Kystom
( Ky Stoma proliferum papilläre) , dem , nachdem es in seinen Eigenschaften mit
dem gewöhnlichen glandulären Kystome tibereinstimmt, in Gemeinschaft mit dem
letzteren der gemeinsame Name „ColloTdkystomu gebührt. Nur diese zwei unter
dem gemeinsamen Namen „Colloldcysten" zusammengefassten Mischgeschwülste, das
„glanduläre Kystom" und das „papilläre Kystom", bilden unter einander die 8. g.
Mischform, nie aber eine solche mit dem Flimmer - Papillär - Kystome.
Bezüglich der Entwicklungsgeschichte der Cysten vertritt
Steffeck t8) den entgegengesetzten Standpunkt, den Martin noch in dem Artikel
Eierstock einnimmt. Er glaubt nicht, dass die Anlage der epithelialen Ovarial-
geschwülste aus dem fötalen Leben herstammt, da gegen diese Annahme alle
klinischen Erfahrungen sprechen. Wenn auch in früher Jugend öfters Kystome
beobachtet wurden und wenn man auch an fötalen Ovarien relativ häufig Cysten-
bildung sah, so ist die Zahl dieser frühen Geschwulstbildungen doch verschwindend
klein gegenüber den so ausserordentlich häufigen Ovarialtumoren des vorgerückteren
Alters. Bedenkt man ferner das schnelle Wachsthum der Mehrzahl dieser Tumoren,
so wird es wohl sehr schwierig, die Anlage derselben in das Fötalleben rückzu-
verlegen. Vergebens würde man nach einer Erklärung suchen, warum kleine,
jahrelang im Ovarium unverändert gebliebene Cysten sich plötzlich zu enormen
Tumoren entwickeln sollten. Ueberdies fand man in den Ovarien bisher noch nie
Cysten, deren Ursprung aus dem Keimepithel nachgewiesen werden konnte, wohl
Encyclop. Jahrbücher. I. 34
HO
OVARIEN
aber kann man die Mehrzahl solcher Cystchen aU Fol liculär cystchen, zum Tbeile
noch mit erhaltenem £iT erkennen« Auch jene Annahme« dass von der embryo-
nalen Bildung der Ovarien her Reste derselben (nämlich solche Epithelschlänche,
die nicht zu Graaf sehen Follikeln werden) zurückbleiben, die sich spater in
Kystome umwandeln, ist nicht stich hakig. Wenn auch Waldeyeb and Flaischlex
bei Gegenwart von Ovarialtumoren solche Epithelschläuche und embryonales
Ovarialgewebe gefunden haben wollen — Befände, die sich ungezwungen auch
anders erklären lassen — , so bleibt es doch sehr auffallend, dass solche übrig
gebliebene Epithelschläuebe nicht auch in Ovarien gefunden wurden , die keine
Cysten trugen und in ganz gesunden Ovarien bisher noch keine Reste der embryo-
nalen Bildung in Gestalt von Epithelschläuchen gesehen wurden, Epithelschläuche,
die man in Kystomen findet, braucht man durchaus nicht in gezwungener Weise
für embryonale Beste zu halten, viel einfacher und natürlicher ist die Erklärung,
dass sie Neubildungen sind , die ihren Ursprung aus dem Keim- oder Follikel -
epithel nehmen.
Von den so seltenen trauben förmigen Ovarialkystomen, denea
die Hauptcystenwand fehlt und bei denen die einzelnen, verschieden grossen Cyste«
nur in losem Zusammenhange mit einander stehen oder zum Theile ganz gestielt
aneinander sitzen und äusserst dünne , durchsichtige Wandungen , sowie einen
dun nwä gierigen Inhalt besitzen, wodurch der ganze Tumor einer vergrösasrteü
Mola hydatica gleicht, sind in den letzten Jahren nur 4 Fälle bekannt geworden,
nämlich jene von Cohn**), Hofmeikk70) und PooprxEL71) (2 Fälle). Im erst*
erwähnten Falle war der zwei niannskopfgrosse Tumor ein gutartiges, multiloku-
lares Kystom, in den drei anderen Fällen dagegen zeigte der Tumor eine partielle
Carcinoma tose Degeneration.
Uie schon früher theil weise gewonnene Anschauung, dass alle papillären
Kystome klinisch als maligne aufzufassen sind , gewinnt in den letzten Jahren
an Verbreitung. Immer mehr drängt sich die Ueberzeugung auf, dass sie die
Neigung besitzen , carcinomatös zu degeneriren und bösartige Metastasen nach
sich zu ziehen. Cohn 7*), Szabo. "**)
In den letzten Jahren wurde eine hier in dieses Capitel einschlagende
Entdeckung gemacht, welche die höchste Beachtung verdient. Es zeigte sieh
nämlich, dass die vollständige Entfernung der papillären Kystome und eine mög-
lichst solche der hauptsächlichsten der in der Abdominalhöhte vorhandenen meU-
statischen Papillome zur Atrophie der letzteren und zur vollständigen Herstellung
der Kranken führen könne. Ja selbst die nur partielle Entfernung dieser meta-
statischen Papillome und der Cyste begründet die Hoffnung auf Stillstand der
Lussemination dieser Peritonealpapillome, sowie auf Genesung der Kranken.
Cohn 74) , Leopold 7 ß) , Freünd jnn. 7«) t Lohn kr 7 7) , Stäatz f Sutdoin
Flaischlen. m) Es macht den Eindruck , als ob schon die Laparotomie an
Bich auf die papULomatösen Wucherungen eine proliferationherabsetzende Wirkung
ausüben würde, ähnlich der günstigen Wirkung, welche die Eröffnung der Bauch
höhle bei tuberkulöser Afiection des Peritoneum auf den Kraukbeitsverlauf ausübt,
Fheünd jun. BI) nimmt bei den Adenopapillomen eint Metastase zweierlei
Art an. Eine solche, die auf den Wegen der Blut- und Lymphgefäße entsteht
und eine implantirte Art, eine Implantationsmetastase. Letztere, eine Ali Inoeft*
lation, kommt durch abgebröckelte Partieen der Huttergeschwulst zu Stande, Die
abgebröckelten Stücke setzen sich auf dem Peritoneum fest. Die Implan utu>n>-
metastasen sollen ganz ungefährlich sein , nicht zur Weiterentwicklung , dagegen
zur Atrophie neigen und eine vollständige Wiederherstellung der Kranken bei
Radicalentfernung des primären Tumors nicht aussch Ii essen.
Nach den einschlägigen Beobachtungen der letzten Jahre macht es den
Eindruck, dass sogar das bisher als gutartig angesehene Kystoma glandu-
läre prol iferum (abgesehen von einer allfalligen primären malignen Degenc
OVARIEN.
531
ration desselben mit consecutiven Metastasen) Metastasen verdächtigen Charakters
zn setzen im Stande ist, so dass selbst diese Ovarialtumoren von nun an kaum
mehr unbedingt zu den gutartigen gezählt werden dürften.
Es wurde mehrfach bei Ovariotomieen die Beobachtung gemacht, dass
glanduläre Kystome mit gallertigem Inhalt spontan geborsten waren und dieser
gallertige Inhalt sich innig an das Peritoneum und die verschiedensten Bauch-
eingeweide angelagert hatte. Die steife Gallerte, die vom Peritoneum nicht
resorbirt zu werden vermag, reizt dasselbe. £9 wachsen bald zarte Bindegewebs-
züge und Blutgefässe in diese Massen hinein, so dass dieselben wie aus kleinen
Hohlräumen zu bestehen scheinen. Zuweilen bildet diese gelatinöse Masse, in eine
zarte Bindegewebshaut eingeschlossen, polypöse Anhänge. Werth82) fasat den
ganzen Process als eine Fremdkörperperitonitis auf, hervorgerufen durch den Reiz,
den der ausgetretene Inhalt der geborstenen Cyste auf das Peritoneum ausübt,
und giebt dem Endbefunde desselben den Namen „Pseudomyxoma peri-
toneiu. Nach ihm sahen in den letzten Jahren gleiche Fälle Korn83), Donat84),
Runge8*;, Angüs Macdonald88), Bantock37), Westbrmark und Anbll88),
sowie Terillox. 89) Da aber Netzel*0) und Andere bei gleichen Fällen keine
Ruptur des Kystomes antrafen , Olshaüsen 91) und Terillon 9a) die gleichen
Massen nach früher vorgenommener Ovariotomie (wegen bestandener glandulärer
Kystome) sahen, da ferner Runge95) in einem Falle glandulärer Kystome mit
gelatinösem Inhalte auch am Uterus, dem Netze, der Blase und am Peritoneum
gleiche solche Cysten (die mit Cyliuderepithel und vielen Becherzellen ausge-
kleidet waren und denselben Inhalt zeigten) fand, so ist wohl nicht daran zu
zweifeln, dass dieser Befund, das s. g. „Pseudomyxoma peritonei", in vielen,
wenn nicht gar in den meisten Fällen als Metastase von scheinbar gutartigen,
glandulären Kystomen aufzufassen ist. Netz EL "), der 7 solche Fälle sah und 6
davon operirte, meint, gestützt auf seine Literaturzusammenstellungen, dass diese
Erkrankung hauptsächlich bei über 40 Jahre alten Frauen vorkomme. Im Beginne
rufe sie die bei Ovarialcysten gewöhnlichen Beschwerden hervor. Die Entwick-
lung sei aber eine sehr rasche und verursache frühzeitig eine bedeutende allge-
meine Schwäche. In ihrem Baue komme die Geschwulst, der er den Namen
„Ovarialmyxom" beilegt, den glandulären Kystomen am nächsten, zeige aber
folgende Sonderheiten. Die Aussen-, sowie die Scheidewände seien äusserst dünn
und gefossarm. Die klebrige, gelbliche, gelatinöse Masse nähere sich ihrer chemi-
schen Beschaffenheit nach mehr dem Mucin , als dem gewöhnlichen coiloiden
Cysteninhalte. Das Cbarakteristikon sei das frühzeitige Auftreten myxomatöser
Producte in den verschiedensten Theilen der Bauchhöhle. Die ursprüngliche
ovarielle Geschwulst verschwinde nach und nach mehr oder weniger vollständig
und werde die ganze Bauchhöhle von den myxomatösen Massen ausgefüllt. Auf
Berstung der Cyste sei, wie Werth meine, die Erkrankung nicht rückzuleiten,
da in der Mehrzahl der Fälle keine solche da sei und der Cysteninhalt gewöhn-
licher Colloidcysten, wenn er die Bauchhöhle austrete, keine solchen Veränderungen
herbeiführe. Auch sei es wichtig , dass das Auftreten der myxomatösen Massen
in der Bauchhöhle ziemlich genau der gewöhnlichen Localisation der Metastasen
der papillomatösen Cysten entspreche. Schlegtendal 95), der ebenfalls einen ein-
schlägigen Fall sah, ist geneigt, keine wahre Metastase anzunehmen, sondern
nur zufällige Inoculationen der Bauchhöhle, eine Anschauung, der sieb auch Ols-
haüsen 98) nähert. Gleiche Fälle sahen ferner Swiecicky 97) , Uspensky98) und
Veit. ") Vielleicht zählen auch die Fälle, die Bürger l0°), Beatson und Coats 101)
und Tüttle 10 a) sahen, hierher.
Dass das Äy Stoma proliferum glanduläre ein Vorläufer des Kystoma
proliferum papilläre sein kann, beobachtete Dawson108), der in einem Falle
worauf er 3 Monate später abermals die Ovariotomie vornehmen musste, da das
34*
632
OVARIEN.
zurückgebliebene, früher gesunde andere Ovarium sich in ein Kysioma proli
ferum papilläre umgewandelt hatte.
Von den Tuboovarialcy aten will v. Tischexdorf 104J die Pseudo
tuboovarial Cysten abgetrennt wissen. Unter letzteren will er die Verbindung,
resp. die Verwachsung zweier Sacke — Ovariatcyste und Hydrosalpinx — ohne
gegenseitige Conimunication derselben verstanden wissen. Düran 10 h) gelang e*
nie, die Entwicklung einer Tuboovarialcyste bei Bildung eines gewöhnHdm
Ovaria! cystomes nachzuweisen. Er ist daher der Meinung, daas sieh die Tubo-
ovarialcyste n fast stets ans entzündlichen Processen der Uterusanhänge heraus
entwickeln. Bezüglieb der Diagnose heben Sc hra&th~Ne ELSEN* ,06) als wichtig
hervor, dass man die atrangförmige Verbindung zwischen Cterus und Tumor fubie.
Ueber die ehe mische Beschaffenheit des Ovarialcysten-
i n h a 1 1 e s liegt eine Arbeit Pfaxsenstiel's l07) vor, welche die bisherige Lehre
vom Paraalbumine vollkommen umstosst. Das s. g. Paralbumin ist ein Gemisch
von Eiweisskörpern — meist Serumalbumin, seltener Serumglobulin — und einer
im Waaser zu einem zähen Schleim sich lösenden Substanz , dem Scherer scheu
Metalburain. Dieses Metalbumin wird — - wegen seiner grossen Verwandtschaft
mit dem Mucin und wegen seiner geringen Verwandtschaft mit dem Eiweiss —
besser als Pseudomucin bezeichnet. Das Pseudomucin, ein Glykoproteid,
findet sich nie in gesunden Ovarien, auch nicht in der Flüssigkeit bei ßyrfrop*
folliculi, dagegen wohl in jener glandulärer proLiferirender Kystome. Der zäh-
flüssige Inhalt solcher Kystome enthält am meisten Pseudomucin, der conatstent
zähe Inhalt solcher Tumoren einen dem Pseudomucin nahe verwandten Körper,
das Pseudomucin ß. Dieser chemische Körper zeigt grosse Aehulichkeit mit der
ColloYdsubstanz , die WÜfiTZ im CoiloYdkrebs einer Mamma fand. Die prell*
ferirenden glandulären Kystome mit dünnflüssigem Inhalt enthalten gleichfalls
Pseudomucin. Gemeinsam ist allen diesen drei Formen (dem zähflüssigen , dem
consistent zähen und dem dünnflüssigen Inhalte) ein sehr herabgesetzter Stick*
stoffgehalt, d. h. sie enthalten kein Eiweiss. Papilläre Kystome enthalten Pseudo-
mucin, aber kein Mucin. Der Pseudomucin gehalt ist aber ein geringerer, als bei
den glandulären Kystomen. Der Stickstoffgehalt ist herabgesetzt. In den typischen
proliferirenden Kystomen ist das Pseudomucin das Product einer wahren Zoll-
secretion, nicht etwa einer Degeneration. Bei den papillären Kystomen dagegen
kommt es zuweilen zur Degeneration der Epithelien und wird dann ein Pseudo-
mucin etwas verschiedener Art secernirt.
Den Wanderungsmechanismus, den die wachsenden
Ovarialtumoren durchmachen, beschreibt Freund jun. *°ö) Der Wand er
meehanismus der wachsenden Ovarialtumoren zeigt zwei Stadien. Im ersten hat
der Tumor im Douglas Kaum. Die Tuba verlauft vorn quer über das Ovarium.
Der betreffende Seitenabschnitt der Blase wird oomprirairt, wodurch Harndrang
eintritt. Im zweiten Stadium verlässt der Tumor, wenn er grösser wird, das
Becken und fallt nach vorn an die Bauchwand, wobei sich als Ausdruck der
Drehung des Tumors am uterinen Drittel des Stieles eine Torsion mit einer
Schrauben Windung ausbildet» Der Uterus liegt also jetzt hinter dem Tumor, die
Stielgebilde finden sich an der hinteren Tumorfläche. Der Tumor liegt dem
Blasengrunde auf. Katheterisirt man, so rouss man das Instrument, entsprechend
den stark ausgebildeten Seitengipfeln am Fundus vesicae, bogenförmig einführen.
Diese Blasenconliguration ist differentiell-diagnostisch sehr wichtig. Der normale
Wanderuugsmcchanismus ist von folgenden Momenten abhängig: von der Beweg
Hcbkeit des Tumors und Uterus, vom genügenden Räume in der Bauchhöhle und
von der Nachgiebigkeit der vorderen Bauchwand. Da diese Momente bei intra-
Hgamentären Tumoren zum Theile entfallen, so wird der Wanderungsmeehaniamus
hier ein anderer. Durch den wachsenden Tumor wird der Uterus hinauf gehebelt
und zieht er gleichzeitig die Blase mit hoch hinauf. Analog verhält es sieb,
OVARIEN.
533
wenn der Tumor im Beginne seines Entstehens durch zahlreiche Adhäsionen mit
dem Beckenperitoneum verbunden ist. Letzteres findet sieh namentlich bei dermoiden,
malignen und vereiterten Tumoren. Die Stieltorsion fehlt hier. Bei Gravidität
liegt der Uterus neben dem Tumor. Geschwülste des Uterus können ihn so
immobilisiren , dass er seine anfangliche Stellung vor dem Tumor nicht ändert.
Bei doppelseitigen Ovarialtumoren kommen abnorme und normale Wanderungen
vor. Beobaehtet wird der abnorme Modus bei enorm straffen Bauchdecken von
Nulliparen und ferner bei Personen, die auf einer infantilen Stufe der Entwick-
lung stehen geblieben sind.
Die Stieltorsion. Aus der Beschreibung des Wandermechanismus
wachsender Ovarialtumoren, wie sie Freund jun. liefert, ergiebt sich, dass durch
das Uebersinken des Tumors nach vorn, wenn er aus der Beckenhöhle in die
Bauchhöhle hinaufgestiegen ist, der Beginn einer Torsion des Stieles eingeleitet
wird. Den Hauptbestandtheil an dem Zustandekommen der eigentlichen Torsion
giebt weiterhin die Kraft der Darmbewegungen, deren Peristaltik, wechselnde
Füllung u. d. m. Die Stiele der linksseitigen Tumoren pflegen gewöhnlich
eine rechtsgewundene und die rechtsseitigen eine linksgewundene Spirale zu
zeigen — Küstner. 109) — Küstner beziffert die Frequenz der Stieltorsion auf
38-8%, während Howitz110), Rokitansky111), Knowsley Taornton112) und
Olshaüsbn 11S) dieselbe auf 23-2, 13, 9-5 und 6-3°,o beziffern. Relativ häufig
ist die Stieltorsion bei Gravidität. 114) Terillon ll6) Iheilt die Stieltorsionen klinisch
in vier Gruppen : 1. Fälle, in denen die Torsion langsam und ohne Erscheinung
eintritt, wobei sich Adhäsionen bilden; 2. Fälle, die sich durch Schmerzen und
Meteorismus kundgeben, hierbei kommt es oft zur Verkleinerung der Cyste, die-
selbe kann unter Umständen ganz verschwinden ; 3. acute Fälle , die sich durch
schwere Symptome, jedoch von kurzer Dauer, kundgeben ; 4. Fälle, die von den
schwersten peritonitischen Erscheinungen begleitet sind und oft durch Ruptur und
Blutung in die Cyste letal enden. Goodell 116) sah einen Fall, in dem in Folge
der Stieltorsion die Blutzufuhr zum Tumor aufgehoben war und letzterer durch
zu den Eingeweiden, dem Netze und der Bauchwand hinziehende gt fässtragende
Adhäsionen vermittelt wurde.
Fälle, in denen der Stiel des Ovarialtumors vollständig
zerrissen war und der letztere durch gefäss enthaltende Adhä-
sionen vom Mesenterium oderNetze her ernährt wurde, sahen in
den letzten Jahren Heübtaüx 11 7), Chalot118) und Veit. 11 9) Im HEüRTAüx'schen
Falle war das Ligamentum ovarii mit der Tuba dicht am Uterus abgerissen.
Chalot fand in der Literatur 27 solche Fälle. Unter diesen überwiegen ein-
kammerige Cysten. Die Abtrennung der Cysten erfolgt am häufigsten durch
Stieltorsion, kann aber nach allmäliger Verlängerung und Ausziehung des Stieles,
vielleicht auch durch Constriction des Stieles von Seite falscher Bänder zu Stande
kommen. Vielleicht stammen diese abgetrennten Cysten zuweilen von Ovarien
her, die in Folge von Entwicklungsanomalien vom Anfange an keine Verbindung
mit den Tuben , dem Uterus u. d. m. hatten. In fast allen Fällen hatte die
losgelöstB Cyste nachträglich secundäre Verbindungen mit benachbarten Organen
eingegangen, und zwar am häufigsten mit dem Netze (in 15 Fällen), dann mit
dem Mesenterium (in 5 Fällen), mit dem Dünndärme (in 4 Fällen), mit der vorderen
Baucbwand (in 3 Fällen) und mit dem Ligamentum latum der anderen Seite (in
2 Fällen). Zweimal nur war das losgelöste Ovarium ganz frei und lag im
Douglas. Sind die neugebildeten Verbindungen zahlreich, dick und gefassroich,
so kann sich die Cyste weiterhin vergrössern. Ist die Ernährung dagegen unge-
nügend, so bleibt der Tumor stationär oder er verkleinert sich. Der flüssige
Inhalt verdichtet sieb, die Wandungen schrumpfen und kann es zur Ablagerung
von Kalksalzen kommen. Im CHALOT'schen Falle zeigte das multiloculäre Kystom
fettige und cirrhöse Rückbildung.
534
OVARIEN.
Die so selten vorkommen den Kalkablagerungen in der Cysten-
wand sahen Schmid 120) und 8chbamm. m) Im SCHMiD'gchen Falle war die
Cystenwand im Umfange eines kindliehen Handtellers verkalkt und daselbst
spontan eingerissen.
Fälle, in denen 0 varialcy sten kleiner wurden oder gar ganz
verschwanden, theilen Meij122) und Czempin128) mit. Im MEij'schen Falle
verkleinerte sich ein kindskopfgrosser Tumor im Verlaufe von l!/a Jahren bis
auf Eigrösse. Czempin beobachtete zwei Fälle, bei denen die über faustgroßen
Tumoren innerhalb einiger Wochen gänzlich verschwanden.
Ueber Berstungen der Cysten wurde in den letzten Jahren Vieles
publicirt. Rupturen sahen Rosner 12*) und Rcge l26) nach ärztlicher Untersuch*^
eintreten. Nach starken körperlichen Anstrengungen sahen solche eintreten
Peck 13»), Rokitansky 127), Saenger 128), Protopopow 129), Polaillon. «•) Noch
zahlreicher sind die Mittheilungen Uber Ruptur in Folge von Vereiterung der
Cyste. 131)
Perforationen der Cyste in benachbarte Hohlorgane —
Darm, Vagina — theilen Janvrin 132), Carpenter 18S) und Laidley «*) mit.
Ueber Adhäsionen seltener Art liegen einige interessante Mittei-
lungen vor. Keller186) sah einen Fall, in dem der vom linken Ovarium aas-
gehende Tumor am Körper des vierten Lendenwirbels angewachsen war. Jentzer
fand, als er eine linksseitige Ovarialcyste operativ entfernte, diese mit dem Colon
ascendens und dem Processus vermicularvt verwachsen. Einen analogen sth
bisher, wie er angiebt, nur noch Schroedeb. 137) Cameron 188) stiess auf folgende,
bisher einzig in ihrer Art dastehende Adhäsion. Von einer Dünndarmschlinge
zog ein 21 2 Zoll langer und etwa 8/4 Zoll dicker, allmälig sich zuspitzender
Strang zur Cystenwand. Dieser hohle Strang war nichts Anderes, als ein lang
ausgezogener, hohler, mit dem Darme communicirender Darmdivertikel.
In Beziehung auf die Diagnose sind in den letzten Jahren nur geringe
Fortschritte zu verzeichnen. Nicht uninteressant ist eine Mittheilung Selig-
sohn's. 139) Es wurde in einem Falle Ascites diagnosticirt und fand diese Diagnose
ihre Stütze in dem Untersuchungsbefunde der durch eine Punction gewonnenen
Flüssigkeit. Die falsche Diagnose war dadurch veranlasst worden, dass eine
Ovarialcyste geborsten war und der in die Bauchhöhle ausgetretene Cysteninhalt
den Ascites vorgetäuscht hatte. Nach Qcenü 140) ist Ascites bei Uterustumoren
selten, häufiger dagegen bei festen Tumoren des Ovariums. Bei multiplen Kystomen,
besonders wenn ihre Oberfläche mit Vegetationen bedeckt ist, kann er vorkommen,
bei Papillomen des Ovarium aber gehört er zur Regel. In den letzten Fällen
ist der Gehalt der Ascitesflüssigkeit an festen Bestandtheilen 75 — 100 pro Mille.
Dieser sehr hohe Gehalt an festen Stoffen rührt davon her, dass Cystenflüssig-
keit nach Ruptur oder Punction der Cyste in die Bauchhöhle tritt oder davo**,
dass die Ascitesflüssigkeit direct von den papiliomatösen Vegetationen secerni**
wird. Ein Gehalt an festen Bestandtheilen einer Ascitesflüssigkeit, der pro \At&
grösser ist, als 75 Grm., spricht mit Wahrscheinlichkeit für ein Papillom oder fÖf
einen multiloculären Tumor, bei dem einige kleine Cysten geborsten sind. Schu^1"
N0FF 14 1) erwähnt die diagnostische Bedeutung des Ascites bei Ovarialtumor«*1
für Stieltorsionen. Er stützt sich hierbei auf einen Fall, in dem hochgradig^*
Ascites bei flächenhafter verwachsener, multiloculärer , mit colloider, zum Theü^
chocoladeartiger Flüssigkeit gefüllter Ovarialcyste und halbmalige Torsion da war*
Da die Cyste aber nicht mikroskopisch untersucht wurde, so ist der Verdacht
nicht ausgeschlossen, dass der Ascites durch die Malignität des Tumors bedingt
war. Engelhardt142) und Jacobi143) heben den Werth des B. S. SCHULTZE'scben
Handgriffes für die Diagnose der Ovarialtumoren hervor. Man kann mittelst des-
selben meist den Stiel abtasten, ja sogar Veränderungen an demselben diagnosti-
ciren, wie z. B. Torsionen. Hennig144) vernahm bei einem doppelseitigen Ovarial-
OVARIEN.
535
tumor ein mit dem zweiten Herztone synchronisches Geräusch Aber dem Tumor.
Nach der Exstirpation des letzteren zeigte es sich, dass eine kleinere Cyste durch
eine 2 Cm. grosse Oeffhung mit der grossen commnnicirte und sich an dieser
Stelle eine dünne, horizontal gestellte, klappenförmige Membran befand. Bei der
jedem Herzsehlage folgenden Druckschwankung im Abdomen soll diese Klappe
in schwingende Bewegungen versetzt worden sein, indem der Cysteninhalt aus
der kleinen Cyste in die grössere zurücktrat. Wincebl 146) halt dieses Geräusch
wohl richtiger für ein Venengeräusch. Diagnostische Bedeutung dürfte wohl diese
einzig in ihrer Art dastehende Erscheinung kaum verdienen. Nach Parkes146)
finden sich, wenn das Allgemeinbefinden der Kranken durch die Gegenwart der
Cyste nicht alterirt ist, keine Adhäsionen der letzteren. Im entgegengesetzten
Falle dagegen sind sie da, namentlich bei starker Erschöpfung der Kranken.
Gersuny1*7) meint, dass eine allseitig fortgeleitete Pulsation des Tumors viel-
leicht charakteristisch für retroperitoneale Cysten sei. Er fand nämlich in einem
Falle von Cystoovarium an der ganzen Oberfläche des Tumors und auch per
vaginam eine tastbare Pulsation, die auch zu sehen war. Entsprechend derselben
vernahm man einen lauten Ton, dem ein zweiter schwächerer folgte. Die Operation
ergab, dass der Tumor, vom rechten Ovariom ausgehend, zwischen die Blätter
des rechten Ligamentum latum hineinwachsend, das rechte Uterushorn über seine
vordere Fläche emporgezogen und bei seinem weiteren Wachsen auch das Meso-
coeeum und das Mesenterium des S romanum über seine Oberfläche gezogen
hatte. Es lag somit beinahe der ganze Tumor hinter den genannten Tbeilen
des Peritoneums, welches sich zeltartig über ihn spannte und ihn gegen die
hintere Wand des Beckens, sowie der Bauchhöhle anpresste. Durch diese retro-
peritoneale Lage des Tumors unter ziemlich grosser Spannung findet die Pulsation
ihre Erklärung, indem die Cyste durch ihre Hülle fest gegen das Gefässsystem
angedrückt gehalten wurde, so dass bei der Dtinnfltissigkeit des Inhaltes die
günstigsten Bedingungen für die Fortleitung des Aortapulses gegeben waren.
Freund jun. 148) macht auf ein wichtiges diagnostisches Zeichen aufmerksam, aus
dem wahrscheinlich die Malignität des Ovarialtumors zu entnehmen sein dürfte.
Unter 12 einschlägigen Fällen fand er lOmal einen mehr oder weniger ausge-
dehnten Pleuraerguss. Er fasst denselben nicht als Pleuritis auf, wie dies
HAckel1*9) thut, weil die Fiebererscheinungen fehlen, sondern nur als Hydro-
thorax, entstanden durch Weiterverbreitung des Transsudates vom Bauche her
durch die Saftcanälchen des Zwerchfelles hindurch in die Pleurahöhle. Dieser
Hydrothorax stellt sich erst dann ein, wenn der Bauch schon grössere Dimen-
sionen angenommen hat und bildet daher kein frühzeitiges Symptom. Nach
Spencer Wells160) können Fetttumoren der Appendtces epiploicae, sowie Ge-
schwülste des Zellgewebes grosse diagnostische Schwierigkeiten bereiten. Hydatiden
des Peritoneum pflegen rascher zu wachsen als Ovariencystome und kann man
hier meist einzelne grosse Cysten fühlen. Fälle, in denen die Ovarialcyste für
ein anderweitiges erkrankte Baucheingeweide gehalten wurde und erst die Operation
den diagnostischen Fehler aufdeckte, berichten Le Bec 161) und Münde. 162) Der
Erstere diagnosticirte in einem Falle einen linksseitigen Ovarialtumor und einen
rechtsseitigen Nierentumor. Bei der Operation, die behufs Entfernung des links-
seitigen Ovarialtumors vorgenommen wurde, hielt man die gestellte Diagnose auf-
recht. Als einige Wochen später der angenommene Nierentumor auf dem Wege
des lumbalen Nephrektomiescbnittes entfernt werden sollte, fand man die normale
rechte Niere und musste das erkrankte rechte Ovarium auf diesem Wege unter
grossen Schwierigkeiten eliminirt werden. Im zweiten Falle wurde der Ovarial-
tumor, ein multiloculäres Cystom, für die vergrößerte Milz gehalten.
Das Oberflächenpapillom des Ovariums machte Frommel168)
zum Gegenstande seines Studiums. Die Entstehung dieser so seltenen Neubildung
findet nach ihm in der Weise statt, dass sich das Keimepithel des Ovariums
grubenartig eindeckt. Diese Einsenkungen produciren neue seitliche Ausbachtungen.
so dass auf Schnitten Bilder entstehen, die verzweigten Drüsen ähneln, tm Bereiche
dieser Ein Senkungen wandelt sich das Oberflächen epithel in Cyiinderepithel mit
Wimperbesatz um. Das Ovariatstroma bleibt zwischen diesen Einsenkungfen
papillenartig stehen. Der Bildungsmodus dieses Neoplasma steht daher jenem
des Ky stoma proliferum glanduläre, wie ihn NAGEL beschreibt, sehr nahe.
In Dermoidcysten fanden einen Inhalt sehr seltener Art
Munde16*), Florschütz 16ä) , Engström16*) und Fenger. 1ä7) Ersterer traf io
einer Dermoidcyste, die 12 Pfd. aebumartige Masse und Flüssigkeiten enthielt,
zahlreiche, aus Fett bestehende, kugelförmige Körper von einem Durchmesser vud
1 Cm. Sie hatten eine glatte Oberfläche und schwammen in der Flüssigkeit, die
ausserdem noch Haare aufwies. Mikroskopisch bestanden diese Kugeln aus Fett-
tröpfchen j Haaren , Epidermisschollen . einigen Chol estearinkry stallen und etwis
^elMieheiu Pigment. Ein Kerngebilde im Inneren der Kugeln fehlte. Das Centrun
hatte genau dieselbe Beschaffenheit wie die Oberfläche. Die Entstehung dieser
Gebilde ist unklar. Aehnliche Kugeln fand Florschütz in einer multilocuiiren
und Eng ström, sowie Fexger in einer einkammerigen Dermoidcyste,
Baumgarten uä) fand in einer Dermoidcyste einer Virgo eine Reihe
mehr oder weniger entwickelter Orsrauo , rudimentäre Au^en , ein der Trache*
eines Kindes gleichendes Gebilde, darmgleiche Bildungen u. d. m. Er glaubt,
dass die Erklärung davon am ehesten durch die Aberrationstheorie gegeben werde,
wodurch dann allerdings die scharfe Grenze, die man bisher zwischen der Theorie
des Foetva in foetu und der Aberrationstheorie ziehe, sehwinde und sich dar
Unterschied zwischen Foetu» in foetu und der Teratom bildung nur auf zeitliche
und graduelle Differenzen desselben Geschehens beschränke. D. VON Velitz1**)
exstirpirte eine Dermoidcyste, in deren Wand ein Gebilde lag, welches anatomisch
vollkommen einer Mamma glich, die Colostrum enthielt
Eine frei in der Bauchhöhle liegende Dermoidcystc sah
Rüge160) und Veit161) eine Dermoidcyste, die nur mit dem Netze zusammenhing.
Ein pathognomi so hes Zeichen zur Diagnose will Kocher1*5?
in der Formbarkeit des Tumors finden. Durch langsamen, länger andauernden
Druck soll man eine deutliche, längere Zeit anhaltende Delle erzeugen, was ans
der Beschaffenheit des Cystcninhaltes, die häufig eine glaserkittähnliche ist, erklärt
wird. Zuweilen soll man bei festem Drucke eine Art Haarknistern fühlen , und
zwar danu, wenn der Cysteninhalt aus Epithel, Fettmassen und grösseren Haar*
mengen, sowie einer entsprechenden Flüssigkeitsmenge besteht.
Den Durchbruch einer Dermoidcyste in das Rectum, mit
dem die Cyste verwachsen war, beobachtete Janvrin1"*), einen solchen in die^-
Vagina bei einer Schwangeren Cüllwgworth, ie*) Burger m) sah einen FalU
in dem beide in Dermoide umgewandelte Ovarien dicht aneinander gelagerC^-
w&ren und die Zwischenwand zwischen den Tumoren usurirt war.
Fälle von Stieltorsion theilen Heibrunn 106) , Wettergren W ^
Lazarus und Nelson m) mit. tm WETTERGREN'sehen Falle starb die Kranken
an Ileus.
Fälle von Dermoide ysten bei gleichzeitiger Gravidität
erwähnen KNOVSLEY Thürnton 170), Münde m), Staude1™), v. TlSCHHNDORF
und Muray. IT1) Im erateren Falle waren beide Ovarien dermoid degenerirt.
Zu den grossen Seltenheiten zählt es, wenn die Dermoidcystc?
ein Geburtshinderniss bildet. Solche Fälle sahen Aleksenko m) und
Don AT. KB) Ersterer legte die Zange an, worauf der Tumor aus dem Anns vor-
fiel» Der Tumor wurde post partum vom Rectum aus entfernt. Im DotfAT1 sehen
Falle wurde die Cyste, die das Geburtshinderniss bereitete, punetirt, wodurch
etwas Raum geschaffen wurde und die abgestorbene Frucht extrahirt werden
konnte Die Eutbnndene starb an Sepsis und fand sich bei der SecÜon ewt
OVARIEN.
537
Dermoidcyste des linken Ovarium. Gelström177) entfernte bei einer frisch Ent-
bundenen, die einen recto-vaginalen Riss zeigte, eine aus dem Rectum in die
Vagina hervorgetretene Dermoidoyste.
Die Vereiterung der Dermoidcysten machte Herman 178) zum Gegen-
stande einer eigenen Arbeit, deren Inhalt sich in folgende kurze Sätze zusammen-
fassen lässt. Eiterung begünstigt zuweilen die Heilung. Dies gilt namentlich von
unilocul&ren Cysten mit Eröffnung in die Vagina. Kleine Cysten 'wachsen bei
Eiterung oft sehr rapide. Polypös sich aus der Perforationsöffnung vorstülpende
Cystentheile stossen sich von selbst ab und können leicht activ entfernt werden.
Dieses Naturverfahren ist nur dann nachzuahmen, wenn es leicht ausführbar ist.
Hat sich die vereiterte Cyste entleert, so zieht sich deren Wand zusammen. Sie
heilt aus oder hinterlä&st einen bedeutungslosen Sinus. Die Perforationsöffnung
soll vorsichtig erweitert werden und hat man die festen Tumorbestandtheile vor-
sichtig zu entfernen. Nach Perforation in die Blase ist die Cystotomie vorzu-
nehmen und nicht die forcirte Dilatation der Urethra. Bei multiloculärer Cyste
ist es wegen der zu befürchtenden, lange andauernden Eiterung zweckmässiger,
zu laparotomiren.
Bei Complication von Dermoidoyste und Carcinom hat
man nach Krüxenberg 179) zu unterscheiden, ob sich das Carcinom aus den
charakteristischen Bestandteilen des Dermoides selbst entwickelt oder ob es sich
aus einem Theile des neben der Dermoidoyste erhalten gebliebenen Ovarial-
gewebes bildet oder endlich, ob es sich um eine Cyste handelt, welche vom Anfang
an' nur in einem Theile ihrer Innenfläche den Charakter der Cutis zeigte , zum
Theile aber Anfänge glandulärer Bildung, welche später carcinomatös entarteten.
Im ersteren Falle handelt es sich daher um eine Carcinoma töse Degeneration einer
typischen Dermoidcyste, im letzteren aber um eine Combination von Carcinom
und Dermoid.
Die bindegewebigen und muskelhal tigen Neubildungen
des Ovariums gelten als selten. Die grosse Reihe einschlägiger, in den
letzten Jahren publicirter Fälle spricht aber gegen diese bisherige Annahme. Die
in den letzten Jahren bekannt gewordenen Fälle sind folgende : Mann 18°),
Carter 181), Terrier 18a) (eine 77jährige Frau betreffend), Seeger 188), Warden 184),
Münde186), Pomorski186) (gleichzeitig mit Stieltorsion), Ostrogradzky 187) (drei
Fälle) und Coe. 188) Sims ,89) sah ein verkalktes Fibrom, Obthmann 190) ein Myxo-
fibrom beider Ovarien, C.Braun191) ein Myom bei gleichzeitigem, myomatösem
Uterus und Landau 19a) ein beiderseitiges Ovarialfibrom bei fibromyomatöser
Degeneration des Uterus. Peters 19S) operirte ein 37 Kilo schweres Fibrocystom
des Ovariums und Byford 194) einen gleichen Fall. Ein Unicum in seiner Art
theilt Vignard196) mit, einen myomatösen Ovarialtumor bei einem 17jährigen
Mädchen, der angeblich gestreifte Muskelfasern enthielt. Die meisten dieser Beobachter
heben hervor, dass gleichzeitig Ascites bestand.
Erst in den letzten Jahren wurde das Endothelium des Ovariums
einem genauen Studium unterzogen und demselben eine selbständige Stellung
unter den malignen Neoplasmen eingeräumt. Man unterscheidet das Endo-
thelioma intr avasculare und das Endothelioma lymphaticum.
Ersteres stammt von den Endothelien der Blutgefässe her, letzteres von jenen
der Lymphge&sse, beziehungsweise ausgehend von den gleich werth igen endo-
thelialen Zellen des Bindegewebes und sich entwickelnd innerhalb der Lymph-
spalten und grösseren Lymphgefässe. Das Endothelioma vasculare scheint in
manchen Fällen eine Vorstufe in dem cavernösen Hämatome — Gottschalk 196j —
zu haben, indem sich dann erst secundär die endothelialen Wucherungen in jene
präformirten Bluträume einstülpen. Die Endotheliome können sehr gross werden.
Sie besitzen eine glatte Oberfläche mit knolligen Hervorragungen. Letztere ent-
halten in ihrem Inneren gehirnähnliche oder zottige , schwammige Wucherungen,
538
OVARIEN.
die weich, morsch, brüchig Bind. An anderen Stellen findet sich festes, derbes
Bindegewebe. Die Endotheliome gleichen derben Cystocarcinomen oder Cysto-
sarkomen. Ihre Hohlräume sind oft noch mit flüssigem dunklen Blute gefüllt.
Die mikroskopische Untersuchung ergiebt drüsige, kolbige und runde alveoläre
Hohlräume, mit Zellen erfüllt und ein beinahe reticuläres Stroma, welches aus
Capillaren oder Bluträumen besteht, in denen noch erhaltene oder zertrümmerte
Blutzellen oder Fibringerinnsel gefunden werden. An den Epithelien der Capillaren
treten nach aussen und nach dem Lumen zu Wucherungsvorgänge auf, welche
die Lumina kolbig oder trichterförmig zu Bluträumen erweitern und dann einen
mit Blutkörperchen gefüllten Achsenstrang eines s. g. drüsenartigen Zellenschlauches
bilden. Das Grundgewebe zeigt eine meist theilweise oder ganz myxomatftee
Beschaffenheit und fast überall findet man hyaline Degeneration der Endothel-
zellen. Diese Tumoren sind entschieden maligner Natur. Bisher sind erst sehn
Fälle von Endothelioma ovarii bekannt, und zwar die Fälle von Leopold197),
Marchand 198) (2 Fälle), Flaischlen 199), Olshausen ao°), Mary Dixon Jones *01),
Eckhardt 2oa), Pomorski 2°8), D. v. Velitz 20') und Boldt. a«ß)
Bezüglich des Carcinoma ovarii wäre, wie bereits theilweise er-
wähnt wurde, hervorzuheben, dass Freund jun. 206) selbst bei anscheinend
ungünstigen Fällen, bei denen eine radicale Operation nicht mehr möglich ist,
weil bereits Metastasen da sind oder die Umgebung schon ergriffen ist, eine
Resection oder nur theilweise Exstirpation des erkrankten Ovariums anempfiehlt,
da der Kranken durch einen solchen operativen Eingriff für eine kürzere oder
längere Zeit Besserung verschafft wird, ja selbst ein längerer Stillstand des
Leidens herbeigeführt wird. Namentlich hebt er hervor, dass durch den opera-
tiven Eingriff regelmässig der mit dem Ascites vergesellschaftete Hydrothorax
zum Schwinden gebracht wird. Freund steht demnach in dieser Richtung hin
im Gegensatze zu den bisher herrschenden Ansichten, denen zu Folge das Carcinom,
wenn es bereits vorgeschrittener, als ein ,jNoli me langer eu angesehen wird.
C. Braun. 2*7)
In neuester Zeit wurde auch das Wechsel verhältniss, welches
zwischen dem Carcinome des Corpus uteri und jenem des Ovarium
besteht , erwähnt. Reichel so8) stellt , gestützt auf mehrere einschlägige Fälle,
drei Möglichkeiten auf, die bei derartigen Complicationen vorkommen können.
Bei einem primären Dteruscarcinom ist das Ovarium secundär metastatisch erkrankt
oder umgekehrt. Ein primäres Ovarialcarcinom hat secundär die Corpusmuoost
ergriffen. Beide Organe erkranken, unabhängig von einander, gleichzeitig. Bei
secundärer Affection der Uteruscorpusmucosa glaubt er, eine Verschleppung
des Carcinomvirus vom Ovarium her auf die Uterusmucosa nach dem Modul
des Transportes des befruchteten Eies annehmen zu müssen. Am wenigsten Be-
weise findet er für die Annahme einer gleichzeitigen Erkrankung von Uterus und
Ovarien. Die Schlussfolgerungen, die er für die Praxis zieht, gehen darauf hinaus,
bei jeder Uterusexstirpation wegen Corpuscarcinom auch die Ovarien zu entfernen
und umgekehrt bei Exstirpation carcinomatöser Ovarien die Uterusmucosa auf
Carcinom zu prüfen. Litt auer 20 9) wendet sich gegen die Annahme, dass das
Carcinom des Ovariums nach dem Modus der Wanderung des befruchteten Eies
auf den Uterus übertragen werden könne, wenn auch ein Zusammenhang zwischen
CorpusmucoBa - Carcinom und Ovarialcarcinom anzunehmen sei. Er glaubt nicht,
dass die Affection der Ovarien, resp. der Uterusmucosa als Metastase aufzu
fassen sei, sondern dass, ebenso wie gutartige Erkrankungen des Ovariums, gut-
artige Wucherungen der Uterusmucosa hervorzurufen im Stande seien, das Gleiche
auch bei maligner Affection des Ovarium geschehen könne. Ebenso können bös-
artige Erkrankungen der Uterusschleimhaut solche der Ovarien nach sich ziehen.
Bezüglich des seltenen Sa r koma ovarii liegt die interessante Mit-
theilung Münchmeyer's210) vor. Ein Sarkom, welches ein Geburtshinderniss bildete,
OVARIEN.
539
wurde vergeblich zu reponiren versucht. Schliesslich musste perforirt werden.
Vier Wochen nach der Entbindung wurde das Gebilde, ein Spindelzellensarcom,
operativ entfernt. Abgesehen von einer Reihe operirter Fälle311) wurde über
dieses Neoplasma des Ovarium im Verlaufe der letzten Jahre nichts Neues publicirt.
Tuberkulose des Ovariums. Tuberkulöse Erkrankung der Cysten-
wand sahen Dohrn212) und Saenger. 2l8) Eine angebliche primäre Tuberkulose
des Ovariums sah Tuttle. 2u)
Die Veränderungen, welche die Ovarien bei Fibromyoma
uteri erleiden, erforschte Popow.215) Seiner Arbeit liegen die Ovarien von
20 Kranken zu Grunde. Er fand in mehr als der Hälfte der Fälle die Ovarien
vergrößert, trotzdem ihrer nicht wenige von Frauen herstammten, die sich bereits
der Climax näherten. Die Ergebnisse seiner Forschungen sind in mikroskopischer
Beziehung folgende: Die Ovarien erleiden fast immer Veränderungen, die mehr
oder weniger ausgesprochen sind und bald die Oberfläche (Albuginea), bald das
Parenchym, d. h. die Follikel betreffen. Am meisten sind Veränderungen des
interstitiellen Gewebes zu beobachten, wobei, wie eine beständige Erscheinung,
die Vorwucherung des Bindegewebsstromas mit Vergrösserung der Masse des
Ovariums angetroffen wird. Dieser interstitielle Process erscheint bald längs der
ganzen Corticalschichte gleichmässig verbreitet oder trifft er das Gewebe örtlich
in Form kleiner Nester oder ist er endlich zugleich auch in der Peripherie der
Gefäsae und Nervenfasern bemerkbar und obarakterisirt er sich durch Verdickung
der GefSsswand mit successiver Verengerung der Lumina und durch Verdickung
des Perineuriums der Nervenfasern mit Atrophie der einzelnen Fasern. Es nehmen
dabei die Follikel des Eierstockes einen zweifachen Antheil; entweder a) beob-
achtet man einen verstärkten Wuchs der Follikel, wobei jeder Eierstock aus
mehreren kleinen Höhlungen zu bestehen scheint (kleincystische Degeneration),
histologisch die GRAAF'schen Follikel in verschiedenen Stadien ihrer Entwicklung
darstellend; oder b) die Follikel gehen zu Grunde, atresiren. Dieser Atresie sind
die primären und die GRAAF'schen Follikel unterworfen. Dieselbe Atresie findet
auch bei der s. g. kleincystischen Degeneration statt, wobei der Grösse der aus-
gedehnten Follikel entsprechend Corpora albicantia entstehen. Diese Verödung
der hyperplastischen GRAAF'schen Follikel ist der häußgste Ausgang der Oopho-
ritis follicularis. Die Corpora albicantia, die dann statt der verödeten Graaf-
schen Follikel da sind, charakterisiren sich durch die Abwesenheit der Dotter -
zellen. Zuweilen findet man im Centrnm oder in der Peripherie Pigmenthäufchen,
Reste einer vorausgegangenen Blutung in die Höhle des Follikels. Die Mark-
Substanz einiger Ovarien ist sehr geftssreich.
Die Therapie der Ovarialtumoren. Ganz vereinzelt nur tauchen
noch hier und da Mittheilungen auf, die darauf hinweisen, dass man die Ovarial-
cysten auch mittelst der Punction zum Schwunde bringen könne. Eine solche
Mittheilung, eine einkammerige Cyste betreffend, bringt Rosner.216) Der jetzigen
Zeitströmung zu Gute zu halten ist der neuerdings wieder auftauchende Vorschlag,
die Ovarialcysten mittelst des elektrischen Stromes zur Schrumpfung zu
führen. Noeggerath 217 ) will dies in sechs Fällen mittelst des unterbrochenen
Stromes erzielt haben.
Die Ovariotomie. Die Indicationen zur Vornahme der Ovariotomie
sind bei maligner Erkrankung des Ovariums, wie bereits oben erwähnt wurde,
durch Freund jun. 218) wesentlich erweitert worden.
Bantock219), Lawson Tait 2ao) , Barnes221) und Mansell Moüllin222)
heben als Indication bei kleinen htthnereigrossen Dermoidcysten die unverhältniss-
mä8sig heftigen Schmerzen, welche diese kleinen Tumoren erzeugen, hervor.
Coe 228) macht auf einige Contraindicationen der Ovariotomie,
respective auf die Gefahren aufmerksam, welche Erkrankungen anderer Organe
bei der Ovariotomie mit sich bringen. Er hebt insbesondere Herzerkrankungen,
540
OVARIEN.
Fettdegeneration, Erweiterung und Mitralfehler des Herzens hervor, die bei Ver-
abreichung von Opium gegen die Schmerzen nach vorgenommener Operation einen
üblen Ausgang nach sich ziehen können. Auch Lungenkrankheiten, deren Gegen-
wart vor Vornahme der Ovariotomie sicherzustellen unterlassen wurde , weil sie
keine hervorstechenden Erscheinungen verursachten , geben nicht selten die Todes-
ursache der vorgenommenen Ovariotomie ab. Das Oleiche gilt von Nierenerkran-
kungen. Vor der Operation ist daher eine genaue Untersuchung der Brust- und
Bauchorgane vorzunehmen.
Douglas 324) hebt die Complioationen bei Ovarialkystomen hervor, die
wohl durch dieselben bedingt sind, nicht aber direct mit dem Waohsthume der-
selben zusammenhängen. Hierher zählt er den Ascites, die Albuminurie, den
Marasmus, sowie die Darmobstruction. Auffallender Weise bezeichnet er die Albu-
minurie als eine häufige Complication und erklärt sie, ebenso wie die Schwanger-
schaftsalbuminurie , durch den Druck des Tumors. Diese Albuminurie spricht
angeblich nur bei geringem specifischen Gewichte für Nierenerkrankung.
Trotz der bekannten Gefahren operirte Kireef"8) bei Gegenwart eines
Aneurysma aortae und Rein826) bei Gegenwart eines Vitium cordis. (Die Diagnose
schwankte zwischen Insuffizienz der Aorta und Stenosis ostii venosi sinistri.) Beide
Kranke überstanden den Eingriff.
Bezüglich des Zeitpunktes derVornahme der Ovariotomie
sind jetzt alle Fachmänner darüber einig , möglichst frühe einzugreifen. Die Be-
weggründe dazu sind folgende: Die Operationstechnik ist bei kleinen Tumoren
eine leichtere, als bei grossen, nicht selten sind kleine Tumoren maligne, doch ist
dies sehr schwer zu diagnosticiren ; jeder Zeit können schwere Complioationen
hinzutreten, wie Ruptur, Vereiterung der Cyste, Schwangerschaft u. d. m.,
wodurch die Prognose wesentlich getrübt wird. — Küstner 227), Brehm288),
Leopold220), Chuzan 280), Löhlein331), Sandberg. as2) — Terillon 2 »») vertritt
den gleichen Standpunkt, falls Torsion des Stieles eingetreten ist. Je früher man
hier operirt, bevor noch Ruptur der Cyste und Gangrän eingetreten ist, desto
günstiger wird die Prognose. Die Verhältnisse sind die gleichen, wie bei einer
gewöhnliehen Ovariotomie. Ist aber die Ruptur bereits eingetreten und schon eine
ausgesprochene Peritonitis da, so ist die Diagnose ungünstiger geworden. Trotz-
dem muss man auch unter solchen Verhältnissen operiren , da bei Unterlassung
eines operativen Eingriffes die KrAnke zu Grunde geht und man hoffen kann,
die Kranke mittelst der Operation zu retten. Der gleichen Ansicht ist Munde. iu)
Die hinzutretende Peritonitis , ob acut oder chronisch , ist ihm geradezu eine
Indication zur Operation.
Das Gleiche gilt, wenn als Complication Gravidität hinzutritt
Löhlein236) aber und Andere sind hier für gewisse Einschränkungen. Er rathet
an , zu individualisiren und nur bei raschem Wachsthume , sowie bei Entzündungs-
crscheinuugen kleiner Tumoren zu operiren, weiterhin bei grossen Tumoren und
auch bei nur wahrscheinlich zu erwartender mechanischer Behinderung der Geburt.
Nach Lee288) soll man operiren, wenn der Tumor im Becken liegt, dagegen
abwarten, wenn derselbe hoch oben steht und der Stiel ein langer ist. Terillon237]
behauptet, dass die Operation im dritten bis fünften Graviditätsmonate die
besten Resultate ergebe. In den letzten Monaten dagegen solle man die Operation
womöglich bis nach der Geburt verschieben. Auch Münde 238) meint, die Gravidität
werde desto sicherer nieht unterbrochen, je früher man operire. Man könne einen
beginnenden Abort in Folge des Druckes von Seite des Tumors durch die
Operation aufhalten. Warm befürworten die Ovariotomie bei Gravidität Feh-
ling239) und Veit240), sowie Martin.241) Spencer Wells 242) sagt, ea scheine
ihm , dass der Verlauf der Gravidität durch ein Ovarialkystom abgekürzt werde.
Bei Erreichung des normalen Schwangerschaftsende» aber pflege Todtgeburt unter
grosser Erschwerung der Geburt und nicht selten mit Tod der Mutter einzutreten.
OVARIEN.
541
Er empfiehlt im Gegensätze zu Anderen vor Allem die Punotion, der dann später
erst die Ovariotomie zu folgen habe.
Olshausen 84S) macht auf den wichtigen, bisher übersehenen Umstand
aufmerksam, dass die Unterbrechung der Schwangerschaft zuweilen erst Monate
lange nach gelungener Ovariotomie eintrete. Bedingt sei dies wahrscheinlich durch
zu Stande gekommene Adhäsionen des Uterus , die denselben zerren oder dadurch,
dass die Unterbindung von Gefässen während der Operation nachträglich zu
Circulationsstörungen in den Uteruswänden und an der Placentarstelle führe.
Bezüglich der Wahl des Zeitpunktes der Vornahme der
Ovariotomie meint Wilson 2 44) , es sei am besten, während der Menstruation
zu operiren, da der menstruale Blutfluss der Entstehung einer Entzündung
vorbeuge. (!)
Was das zweite Ovarium anbetrifft, so verhält man sich jetzt
möglichst exspectativ bezüglich desselben. Olshausen245) sagt, dort, wo das
eine Ovarium evident maligne erkrankt ist und sich die Patientin im Climak-
terium befindet oder demselben nahesteht , wird man bei dem geringsten Ver-
dachte der Erkrankung auch das zweite Ovarium mit wegnehmen, ja man thut
bei älteren Frauen , wenn es sich um Carcinom oder Papillom des einen Ovarium
handelt, gut, das zweite Ovarium auch dann zu exstirpiren, wenn es noch ganz
gesund ist. Ist aber das Individuum noch jung, so ist zuweilen die Entscheidung
schwierig, wenn das zweite Ovarium vergrössert ist und eine Anzahl erheblich
vergrösserter Follikel aufweist. Bei beschränkter Zahl solcher letzteren begnügt
er sich mit dem Aufschlitzen derselben, allenfalls umsäumt er noch die Schlitz-
öffnung mit Catgut. Unter Umständen resecirt er dieses Ovarium. Martin240)
trachtet auch unter solchen Verhältnissen mit der Reseotion auszukommen und ist
insoferne mit dem Erfolge seines Vorgehens zufrieden , als er in einigen Fällen
nach der Resection bei gleichzeitiger Entfernung des kystomatösen anderen
Ovariums nachträglich Schwangerschaft eintreten sah. Er hat hierbei, abgesehen
von der Sterilisation, die der plötzlich herbeigeführten Climax nicht selten folgenden,
nicht unerheblichen Beschwerden im Auge. Nicht viel anders spricht sich Spencrr
Wells 247) aus, sich darauf stützend, dass 117 seiner 1000 Operirten, die
heirateten, nachträglich 228 Kinder gebaren. — Macauley848) — Jentzer 249)
schliesst sich diesen Anschauungen an, dabei hervorhebend, dass eine zweite nach-
trägliche Ovariotomie wohl nicht direct gefährlicher, aber technisch bedeutend
schwieriger vorzunehmen sei. Radicaler will D. v. Velitz 260) vorgehen. Bei bös-
artigen Geschwülsten des einen Ovarium (bei soliden bösartigen oder Flimmer-
Papillär- Geschwülsten) soll das andere immer mit entfernt werden, auch wenn
es ganz gesund erscheint, und zwar deshalb, weil nahezu mit Oewissheit zu
erwarten steht , dass dasselbe binnen Kurzem in gleicher Weise erkranken werde.
Die Resection des partiell erkrankten Ovariums will er Martin gegenüber mehr
eingeschränkt wissen. Dieselbe darf nur dann vorgenommen werden, wenn bei-
spielsweise einerseits ein vollständig gutartiges, glanduläres Kystom und auf der
anderen Seite ein Hydrops follicularum da ist. Er begründet seine Ansichten
damit , dass durch das allzu expcetative Verfahren bei der ersten Ovariotomie das
Mortalitätsprocent der zweiten auf 26*15 ansteige, eine hohe Ziffer, die durch
die nachträgliche Erkrankung des zweiten Ovarium bedingt werde.
Fälle zweimaligerOvariotomie bei ein und derselben Per-
son wurden in den letzten Jahren mehrfach publicirt. Beispielsweise mögen
die einschlägigen Fälle von Nilsen261), Kinloch 262), Scharfe268), Düdley264)
und Gersuny 266) angeführt werden. Nach Jentzer266) soll bei der zweiten Ovario-
tomie die Incision neben der alten Narbe gemacht werden, und zwar immer auf
der der ersten Cyste entgegengesetzten Seite. Die Mortalität der zweiten Ovario-
tomie berechnet er aus 77 Fällen auf 10*52% , so dass dieselbe nach ihm also
nicht schlechter, vielleicht gar noch besser ist, als die der ersten Operation. Das
542
OVARIEN.
Hänßgkeitsprocent der zweiten Operation berechnet er auf 16%, Noth wendig
wird nach ihm die zweite Operation zumeist innerhalb der ersten 5 Jahre nao'
der ersten.
Fälle j in denen die Ovariotomie bei ein und derselben Per-
son dreimal nach einander vorgenommen wurde , theilen MONDE und
Byford"3) mit.
Ueber aussergewöhnlicbe Compticationen und unange-
nehme Zwischenfälle während der Ovariotomie wird in den letzteu
Jahren mehrfach berichtet. Wasskige**0) machte die Laparotomie wegen ver-
eiterten extrauterinalen Fruchtsackes und fand nebenbei eine ebenfalls vereiterte
Dermoidcyste. Theves -b0) exstipirte einen Hydronephroseutumor und fand neben-
bei beide Ovarien eystheh degenerirt. Die Kranke genas < Jhristowitsch sn) ent*
fernte unter grossen Mühen ein grosses Ovarialkystom, konnte aber eine gleich
zeitig hydronephrotisch degenerirte Niere nicht mitentfernen. Die Kranke starb.
Potter aöa) operirte wegen eines Ovarialkystome« und fand ausser diesem noch
eine Paraovarialcyste, Taylor **3) entfernte eine grosse, nicht verwachsen«,
rechtsseitige Ovarialcyste. Nach Durchtreu nung des Stieles platzten unterhalb des-
selben einige cktatisebe Venen. Wahrend der Unterbindung derselben füllte Ak
die Vena itiaca communis ganz auffallend. Als er dieselbe sanft berührte, barst
sie, Sie wurde unterbunden und die Kranke genas. Blasen Verletzungen bei der
Ovariotomie theilen Boeckkl**4), Jackson***), sowie Westbrmabk und Asnbl'1')
mit. Nach Jackson betragt die Mortalität nach aolchen Blasenverletzungen 30%.
Ureterenv erletz un gen ereigneten sich in den Fällen Rein's a*7) und SCHOPF 's. ■•*)
Krsterer nähte das obere Ende des durchschnittenen Ureters in die Bauch wunde
ein und genas die Kranke* Letzterer durchschnitt deu rechten Ureter bei Exatir*
pation einer intraligamcntären Cyste. Er nähte die beiden Ureterenenden zu-
sammen und die Kranke genas ebenfalls. 7 Wochen später starb die Kranke an
einem anderen Leiden und fand sich bei der Section der verletzte Ureter wieder
vollkommen intact. Gezwungen wurden, ebenfalls bei Exstirpation iutraligamen-
tärer Cysten, den Uterus mitzuentfernen Martin , Chiara -70) , Ba^toCK*11)
und Hagre.31«}
Geradezu als Rückschritt musa man es bezeichnen, wenn sich Stimmen
dafür erheben, den Stiel extraperitoneal zu versorgen, wie dies Maeduel *71) f«t»
langt. Auch der Neuerungsvorschlag Kocks 274) 7 den Stiel nicht zu unterbinden,
sondern mit einer Klemme zu fassen und diese zu versenken , ist , wie die*
Zweifel 27j>) ganz richtig hervorhebt , nichts Andere« als eine Rückkehr anr alten
extraperitonealen Stielbehandlung*
Abbüt*7®) plaidirt dafür, bei sehr grossen Ovarialtumoren in zwei
Sitzungen zu operiren, und zwar zuerst den Tumor mittelst der Punetion tbeil-
wetBd zu entleeren und dann einige Tage darauf die Ovariotomie vorzunehmen.
Kr meint, dass Weiber, die einen exeessiv grossen Ovarialtumor besitzen und im
Folge dessen stark herabgekommen sind, die plötzliche Entfernung eines so
grossen Tumors aus ihrem Organismus nicht ertragen, Ihr geschwächtes Herz ist
nicht im Stande, die sich plötzlieh einstellenden starken ßlutdr uckseh wankungen,
die bei Elimination des Tumors eintreten, zu überwinden, so dass in der Narkose
leicht der Tod an Herzschwäche erfolgt.
Die Technik der Operation wurde in den letzten Jahren kaum
geändert. Von manchen Seiten werden die Vortheile der Beckenhocblageruug der
Kranken bei der Operation hervorgehoben. Neue Instrumente wurden von Ascfl nt),
FftnrsCH*7*) und WiLEi7B) construirt. Ersterer construirte eine Cyste nzauge, die
das Anstechen der Cyste und sofortige Fassen der Wandung zu einem Acte macht
wodurch die Bauchhöhle vor Verunreinigung mit dem Cysteninhalte geechuüt
werden soll. Fritsch giebt eine Pincette zur Unterbindung des Stieles undWiLE
einen neuen Ovarialtroicar an.
OVARIEN.
543
Ueber 0 var iotomieen bei Kindern im Alter von 21/, bis
1 6 Jahren berichten Hooks 280), Hamaker 281), Mackenzie 88a), Polotebnoff288),
Darey284), Bell 286), Dobrzynski *86) , sowie Schatz2*7) und über Ovar io-
tomieen bei alten Frauen im Alter von 55 bis 82 Jahren Andry 288),
Davis289), Pinnock a»°), Barnes291), Josephson 292), Terribr 808), Homans.29*)
Nach Barnes *••) liegt die Hauptgefahr bei alten Ovariotomirten in dem leichten
Eintritte eines Decubitus und müssen diese Operirten aus dem Grunde häufig
umgelegt werden.
Eine Ovariotomie bei einer Osteomalacischen nahm Breisky 296) vor.
Von der Vagina aus operirten bei kleinen Ovarialtumoren Leopolo 997)
und Bouilly. 298)
Szabo 299), sowie Sandmann und Neuner 800) sahen Vergiftung s-
erscheinungen nach Ovariotomieen, bei denen als desinficirende Flüssig-
keit eine Sublimatsolution benützt wurde, doch genasen die Kranken. Wetter-
gren S01) dagegen verlor eine Kranke an Jodoformvergiftung , bei der 10 Cgrm.
auf die verkohlte Schnittfläche des Stieles und 20 Cgrm. auf den anderen Eier-
stock, bei dem einige kleine Cysten punctirt wurden, gestreut worden waren.
Im Verlanfe der letzteu Jahre wurde den in der Reconvalescenz
nach der Ovariotomie auftretenden Complicationen eine besondere
Aufmerksamkeit zugewendet.
In erster Linie kommt hier die Undurchgängigkeit des Darm-
c anal es in Betracht.
In den meisten Fällen ist dieselbe auf einen fehlenden Motus
peri8talticu8 zurückzuführen. Zuweilen kann das Bild einer wahren Darm-
paralyse vorliegen. Olshausen s02) will diese Paralyse davon herleiten, dass der
Darm bei der Operation zu lange der äusseren Luft ausgesetzt war. Terillox. 30 8)
Eine grössere Bedeutung gebührt der nach der Ovariotomie sich
zuweilen einstellenden Darmocclusion. Nach Hirsch304) kann dieselbe auf
drei verschiedene Weisen zu Stande kommen. Der Darm verwächst mit der Bauch-
oder Stielwunde und wird durch Narbenzug abgeknickt, sowie undurchgängig.
Es entsteht nach der Operation , vielleicht in Folge eines durch die desinficirende
Flüssigkeit gesetzten Reizes, eine aseptische Peritonitis, die zur Bildung fibröser
Bindegewebsstränge führt. Letztere fixiren den Darm an das Netz und veranlassen
weiterhin Zerrung und Verlagerung desselben. In manchen Fällen endlich ist der
Verschluss ein rein mechanischer, eine einfache Einklemmung des Darmes, eine
Knickung, veranlasst durch Verlagerung der Därme. In die beiden ersten Kategorien
fallen jene Fälle, in denen der Darm verschluss erst lange nach vorgenommener
Operation entsteht, in die letzte diese Fälle, in denen der Darmverschluss bald
nach der Operation eintritt. Bezüglich der Prophylaxis meint Olshausen m), dass
es angezeigt sein dürfte, die Peristaltik der Därme nach der Operation früher
anzuregen , als es bisher geschehe , um etwaigen eintretenden Undurchgängig-
keiten des Darmes bei Zeiten vorzubeugen. Damit übereinstimmend hebt Morris806)
hervor, dass Lawson Tait deshalb so gute Operationsresultate bei der Ovario-
tomie erziele, weil er nach der Operation Purgantien darreiche. Durch die ein-
geleiteten Diarrhöen werde eine Exsudation im Peritonealsacke behindert und
ebenso eine Ansammlung von Flüssigkeiten daselbst, welche Mikroorganismen als
iNährflttssigkeiten dienen könnte. Ist die Occlusion bereits eingetreten, so ist die
einzige richtige Therapie die Laparotomie , eventuell die Entero-, beziehungsweise
Colotomie , doch darf nicht zu spät eingegriffen werden und ist es dem Umstände,
dass letzteres gewöhnlich der Fall ist, zuzuschreiben, dass diese secundäre Laparo-
tomie bisher so ungünstige Resultate ergiebt. — Olshausen807), Skutsch 808),
Lb Bbc800), Münde810), Runge811), Hirsch818), Salin818), Dobrzynski8**),
Dohrn ,16) , Kümmel. 816) — Seltener nur dürfte die Occlusion des Darmes da-
durch bedingt sein, dass das Netz zu kurz ist, so dass es nicht in ganzer Länge
544
OVARIEN.
der Wunde über die Darmschlingen gelegt werden kann und conseeutiv sieh ein«
Darmschlinge an die Bauch wunde anlöthet, wie dies NlBBERDlNG Iiy) sah,
Ueber den so selten der Ovariotomie folgenden T e t a n n s liegen einige
Mittheilungen vor. Spekceb Wells816) sah ihn unter 1139 Üvariotomieen 4 Haie,
nur eine Ergriffene genas. Zwei Falle erwähnt TßftiLLON m) , einen bei einer
Sechzig] ahnten , bei der die Erkrankung den dritten Tag post operationem aus-
brach , sah Johnson. 8ä0)
Eine sehr seltene Todesursache nach gelungener Ovariotomie beobachtete
Landsberg.331) Die von früher her allseitig mit der Costalpleura verwachsenen
Lungen, bei einem Hochstande des Zwerchfelle« im zweiten, respective im dritten
Intercostalraume , konnten sich nach Entfernung des Ovarialtumors nicht aus-
dehnen und nach abwärts steigen, so daas die Bauchhöhle theilweise mit Luit
von der Operation her gefüllt blieb und die Oberfläche der Leber, sowie de«
Magens vertrocknete. Unter Einwirkung von Fäulniss * Mikroorganismen der Luft
war septische Erkrankung eingetreten , der die Kranke erlag.
Verblutung als Todesursache nach gelungener Ovariotomie wird drei
mal erwähnt. Skutsch aa*) verlor eine Kranke, bei der eine Nachblutung «tu
einem Peritonealrifse eintrat. Im Rüdkl 'sehen 8") Falle fand die Verblutung vom
Stiele aus statt bei gleichzeitiger Degeneration des Myocardes. Cleveland's*14) Krank*
verblutete, weil eine um eine Partie des Netzes gelegte Ligatur durchschnitt.
Eine sehr heftige Nachblutung trat in einem Falle ein, den Feks-
mann m) mittheilt. Dieselbe fand statt aus einem Risse des Ligamentum lahm
zwischen Uterus und Stumpf. Die Bauchhöhle wurde wieder eröffnet und die blutende
Stelle umstochen, sowie abgebunden. Die Kranke genas. Von einer Nachblutung
die eine sehr bedeutende Hümatokele erzeugte, macht ZrELlEWiTZ **■) Erwihnnag.
Späterhin wurde dieser Bluterguss auf dem Wege der Elytrotomie entfernt.
Wenig beachtet wurden bisher die gegenseitigen Wechselbeziehun-
gen zwischen Ovarialtumoren, eventuell Ovariotomieen und
Psychosen.
In den letzten Jahren werden vereinzelte Fälle mitgetheilt , in denen der
Ovariotomie psychische Erkrankungen folgten. Ahlfeld nr) meint, dass nicht die
Ovariotomie als solche und auch nicht die Laparotomie als solche als Ursache
der Psychose angesehen werden dürfe . es sei vielmehr wahrscheinlich , dass die
betreffenden Franen schon mehr oder weniger eine Disposition zur psychischen
Erkrankung in sich tragen . Vielleicht haben sich die Einwirkungen schon zu
summiren begonnen und fehle nur eine Gelegenheitsursache zum Ausbruche de»
Leidens. Diese Gelegenheitsursacbe gebe die eingreifende Operation ab , ebenso
wie ja auch die Geburt und das Wochenbett den Anstoss zur Erkrankung geben
können. Gleichzeitig theilt er einen Fall mit, in dem das Leiden den vierten Ta?
post operationem ausbrach. Von anderen Seiten aberT wie von Thomas Gaillarc
Thomas3-*) und Kreutzmann m), liegen Mittheilungen vor, die dafür zu
sprechen scheinen, dass auch nicht hereditär belastete Frauen nach der Ovario-
tomie psychisch — und zwar an Melancholie und acuter Manie — erkranken
kennen, ßei soleben Frauen soll zuweilen die Bildung des Ovarialtumors dieVtr*
anlassung des Leidens sein und letzterer nach der Ovariotomie wieder ach winden,
wie die« Terillon**0) in einem Falle beobachtete. Die Ovariotomie kann ferner,
wie es Manton*81) beobachtete, ein vorübergehendes Verschwinden der psychi-
schen Störungen nach sich ziehen. Einen Fall , in dem am dritten Tage nach
gelungener Ovariotomie Delirien auftraten, die bis zum neunten Tage anhielten,
nah Montfort. m) Er vermnthet , dass dieselben durch eine au reichliche Dar
reichung von Alkohol , an den die Kranke nicht gewöhnt war , hervorgerufen
wurden. Fälle von Spencer Wells Roses Lossen"*) und PÄAir**1),
in denen der Ovariotomie ganz ausgesprochene Psychosen — Melaneholto «nd
acute Melancholie — folgten , erwähnt Ahlfkld, ur)
OVARIEN.
545
Eine gleichfalls sehr selten sich in der Reconvalescenz nach der Ovario-
tomie einstellende Complication ist die Parotitis. Dieselbe pflegt sich zwischen
dem fünften und siebenten Tage post operationein einzustellen. Sie kann von ver-
schiedener Art und Bedeutung sein. Bildet sie eine metastatische Entzündung —
Goodell 88S) — so stellt sie schwere Theilerscheinung der septischen Erkrankung
dar. Sie kann aber auch eine nur einfache Entzündung sein, die Bümm389) aus
der Annahme, dass zwischen den Genitaldrüsen und der Parotis Nervenbahnen
bestehen, welche eine gegenseitige Uebertragung von Reizen gestatten —
Slavjansky 8*°) — erklärt. Die Reize, welche das Ovarium treffen, vermögen eine
vasomotorische Störung in der Parotis hervorzurufen, die bis zu den Erschei-
nungen einer einfachen Entzündung fortschreitet. Kommt weiter nichts hinzu, so
bleibt es bei jener Form der Parotitis, die sieh nach kurzem Bestände wieder
spontan zurückbildet. Solche Fälle erwähnen Matweff841), Olshaüsen 8"),
Goodell 848) , Ahlfeld 8**) , Winckel. 846) Gelangen aber pyogene Mikroorga-
nismen in die Mundhöhle und wandern sie von da aus in die Drüse ein, so über-
geht die Entzündung in Eiterung. Bümm 84 •) konnte in einem Falle sowohl in dem
Entzündungsproducte , sowie in der Flüssigkeit der Mundhöhle die Gegenwart des
Staphylococcus aureus nachweisen. Fälle von Vereiterung der Drüse theilen
Matweff 847), Preuschen 848) und Skene Reith849) mit. Eine auffallende Er-
scheinung nach der Ovariotomie ist die zuweilen sich einstellende Trockenheit der
Mundhöhle. Sie spricht für eine eingetretene Verminderung oder zeitweilige
Sistirung der Function der Parotis als Folge der vorangegangenen Ovariotomie.
Sie stimmt mit der gleichen Erscheinung überein, die bei einschlägigen Thier-
experimenten beobachtet wurde. Wahrscheinlich dürfte dieser Umstand, sowie die
absolute Ruhe der Mundflüssigkeit innerhalb der ersten Tage nach der Operation
in Folge der Nahrungsenthaltung die Einwanderung von Entzündungserregern
von der Mundhöhle aus in die Drüse begünstigen. Ahlfeld 850) meint, dass in
der Regel die Fälle, die sich mit Parotitis compliciren, auch noch nach anderen
Beziehungen hin als weniger günstig anzusehen sind. In Ahlfeld's Fall wurde
die Kranke psychopathisch und Olshausen's Kranke litt an einem schweren
Decubitus. Fälle von Auftreten einer Parotitis nach vorausgegangener Ovario-
tomie beobachteten fernerhin Möeicke851) (fünf Fälle), Küstner868), Her-
hann Schröder 868), Paul Barth864), Bümm 866) und Mann.166)
Literatur: ') Janogik, „Zar Hist. des Ovar. u Wien 1886 und Sitznngsber. der
kaiserl. Akad. der Wissensch. zu Wien. Mathem. - naturw. CJ. 1887, XCVI, Hft. I.— IV. —
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1889, Nr. 16; Sitznngsber. der königl. Akad. der Wissensch, zu Berlin. 1888 und 1889. —
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N. F. VI. Lit. Uebers. 11. — b) Bardeleben, Verhandl. der anat. Gesellsch. auf der zweiten
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Boldt, A.J. o.O. 1888, pag. 125 und Leopold, C. f. G, 1891, pag. 96. Bezüglich der
Oophoritis vergl. femer noch: Lawson Tait, „Die Behandlung der Erkrankungen der
Ovarien etc.w Kranz. Uebers. von Oliver Pain. Paris 1896, Gallard, „Klüt. Vorlesungen
über die Erkrankungen der Ovarien etc.*4 (Fransoa.) Paria 1886. Po the rat, Bull, da U
Soct. anat. de Paria. Mira 1890. — Sf) Nagel, C. t G. 1887, pag. 409 und A. £ G, 1&7.
XXXI, pag. 327. — t0) Steffeck, Z. f. G. u. G, 1890, XIX. pag. 252. — *l) Petitpierr e,
A. f. G. 1889, XXXV, pag. 460. — 61) Bulius, rVerhandl. der Deutschen gynakol. Ge*eü»cfa,
Dritter Congress etc.* Leipzig 1890, pag, 337 und „Beitr. zur Geb. und Gyn. Herrn Alfred
Hegar zum 25. Gedenktage seiner Ernennung zum ordentl. Professor etc.* Stuttgart b.y
pag, 187. — **) Bnliua, Z, f, G. u. G. 1883, XV, pag. 365 — •*) Nagel, A. t G. 1888,
XXXIII, pag, 1. — •*) Steffeck. Z. f. G. n. G. 1890, XIX, pag. 236, — ") Lawson Tm
„Die Behandlung der Erkrankungen der Ovarien etc.Ä Franz. Hebers, von 0. Pain, Paria
1886, — 4T) D. v. Veütz, Z. f. G, u. G. 1889, pag. 232. — M) Steffeck, Z, £ G.
1890, XIX, pag. 237. — ••) Cohn, C. f. G. 1887, pag. 179. — 1Q) Hofmeier. C. f. G. 1887,
pag. 179. — 71) Poupinel, Arch. de pbvs, norm, et path. 1887, IX, pag. 394 und Anaii
de Gyn. Jan. 1890. — u) Cohnt 0. t G. 1885. pag. 796 and Z, f. G, u. G, 1886, XII.
pag. 14. — u) Szabo, A. f. G. 1886, XXVIII, pag. 193* Bezüglich der im Verlauf*
der leisten Jahre operirten Fälle von Ky Stoma protiferutn papilläre ver-
gleiche folgende Falle: Leopold, Deutsche med. Wochenschr. 1887, Nr, 4. Fried-
rich, Dissert. inaug. Kiel 1888. Bokelmann, C. f. G. 1890, pag. 243. Parkes, Bnt.
Gyn, Journ. 1890, VI, pag. 49. Luzet Arch. *en. ^le .Me,l April H+o C f. h —
pag. 184. — ") Cohn, Z. f. G. u. G. 1886. XII, pag. 14. — '*) Leopold, Deutsche m*A
Wochenschr, 1887, Nr. 14. — M) Freund juu.p Z, f. G. n. G. 1889, XVII, pag. 140. —
TT) LohmerT C. f. G. 1889, pag. 905. — ") Strati, Gen. T^dschrift voor Ned. Ind. 1BS9^
XXIX, I, Abth., 127; Frommei's Jahresber. III, pag. 595. — 7S) Sutugin, C. f. G. lWj
pag. 409. — <0) Flaischlen, C. f. G. 1890, pafi. 13 u, 98. Vergl. auch P. Munde. A. J. o, ^
1887, pig. 1187. — öl) Freund jun., Z. f. G. u. G. 1889. XVII, pag. 140. Vergl. at**b
Parkes, Brit. Gyn. Journ, 1890, VI, pag. 91, — ") Werth, A. f. G. 1884, XXIV, pag. 308.
M) Korn, C, f. G. 1885, pag. 817. — ■*) Donat, A. f. G. 1885, XXVI, pae;. 478, ~Z
%%) Eungef St. Peterab. med. Wochenachr. 1885, Nr. 51; C. f. G. 1886, pag. 287 and 18^^
psg, 233. — **) Angua Macdonald, Edinb. Med. Journ. Juni und Juli 1886; G. t G, 18^^
pag. 351. — 8T) Bantock, Brit. Med, Journ. 1887, I, 1164. — M) Westermark » »d
Anell, Hvgiea. Festschr. 1889, Nr. 16; Fro mmeTa Jahresber. III, pag. 612. — w) T er illt> *
Arch. de Tocol. Jan. 1886; C. f. G, 1836i pag. 523 und Bull. gen. de Therap. 1890, 1. He?'^
pag, 155; C. f. G. 1890, pag. 671. — Net sei, Norsk. med. Ar k. XVII, 4, Nr. 28; C, f.
1888, pag, 582. — 91 ) Glshausen, Deutsche Chir. Lief. 58, „Die Krankh, der Ovariesa^
II. Aufl., Stuttgart 1886, pag. 125. — Terillon, loc. nlt. cit. — ♦*) Bunge, C. f.
1667, pag. 235, — ") Netzel, loc. ult. cit — "} Schlegtendal , Berliner klin. Wochen-
schrift. 1886, Nr. 2— 3 und C. f. G. 1885, pag. 593. — ") Olshausen, loc. ult. cit. —
»0 Swiecicky, C. f. G. 1885, pag. 691. — ") üspensky, Z. f. G. u. G. (Buss.) 18^7,
Nr. 10; C. f, G. 1888, pag. 380. — ") Veit, C> f. G. 1889, pag. 224. — loe) Burger,
Diasert. inaug. München 1887 ; C. t G. 1888, pag. 573. — Beatson umd Coata,
Glasgow, Med. Joarn. Jan. 1888; CTG, 1888, pag. 381. — 10t) Tuttl«, A. J. o. 0. 1
pag 322, — Dawsou, A. J. o. 0. 1887, pag. 734. Vergl. auch Ter rier, Arch.
OVARIEN.
547
Tocol. 15. Jan. 1886. — l04) v. Tischendorf, C. f. G. 1891, pag. 50. — ,0ä) Do ran, Brit.
Med. Jonrn. 1887, I, pag. 781. — lci) Schramm-Neelsen, A. f. G. 1891, XXXIX, pag. 16.
Bezüglich der Tuboo va rialcysten vergl. ferner: Bnnge und Thomas, A.f. G. 18?5,
XXVI, pag. 72. Griffith, Brit, Med. Jonrn, 1887, pag. 1*77. Elliot. A. J. o. 0. 1887,
pag. 141. — 10T) Pfannenstiel, A. f. G. 1890, XXXVin, pag. 407. — 108) Freund jun.,
Volkmann's Samml. klin. Vorträge. 1890, Nr. 361— 362. — "•) Ktlstner, C. f. G. 1891,
pag. 209. Vergl. auch T ho rn, Disiert. inaug. Halle 1881— 1,0)Howitz, Gyn. og Obstetr.
Möddel. V, Heft 3, pag. 233-248; C. f. G. 1885, pag. 281. — m) Rokitansky, Wiener
med. Presse. 1884, Nr. 25— 30. — ni) Knowsley Thornton, Amer. Jonrn. of Med. Sc.
Oct. 1888, pag. 357; C. f. G. 1889, pag. 487. — nt) Ols hausen, Deutsche Chir. Lief. 58.
„Die Krankheiten der Ovarien.*4 II. Aufl., Stuttgart 1886, pag 106. — ,u) Bezüglich der
Stieltorsion bei Gravidität vergl. Sippel, C. f. G. 1888 , pag. 217. Terillon,
Arch. de Tocol. 1888, XV, pag. 207. Stieglitz, Dissert. inaug. Erlangen 1889. —
lls) Terillon, C. f. G. 1887, pag. 135. Bezüglich der Stieltorsion vergl. ferner: Runge,
Petersb. med. Wochenschr. 1885, Nr. 51 ; C. f. G. 1886, pag. 286. Münster, C. f. G. 1836,
pag. 619. Heurtaux, Rev. de Chir. 13. Oct. 1886; C. f. G. 1887, pag. 132. Monod, Rev.
de Chir. 1887, pag. 311. Fromm el's Jahresber. I, pag. 446. Truzzi, Gaz. med. ital. lomb.
1887, pag. 151. Frommel's Jahresber. I, pag. 446. Kaarberg, Nord. Med. Ark. 1837,
XIX, Heftl; C. f. G. 1888, pag. 693. Parker, Maryland. Med. Jonrn. Baltimore. 1887,
XVII, pag. 245. Frommel's Jahresber. I, pag. 446. Soloweff, Z. f. G. u. G. (Russ.) 1887,
pag. 907. Fromme Ts Jahresber. I, pag. 245. Schürmeyer, Dissert. inaug. Jena 1887.
Hanks, A. J. o. O. 1887, pag. 175. Sandner und Neuner, Münchener med. Wochenschr.
1888, Nr. 21—24. Wettergren, Eira. 1888, Nr. 2; C. f. G. 183a pag. 478. Veit, C. f. G.
1888, pag. bl. Anderson, Pacif. Med. and Snrg. Journ. Ang. 1888, pag. 449. Paris h,
Jonrn. of the Amer. Assoc. 19. Mai 1888, pag. 627; C. f G. 1389, pag. 45. P. Munde,
A. J. o. 0. 1889, pag. 958. Bruttan, Petereb. med. Wochenschr. 1889, Nr. 35. Frommel's
Jahresber. III, pag. 614. Terillon, Bull. g6n. de Therap. 1890, Heft 8, pag. 155; C. f. G.
1890, pag. 671 und Rev. de Chir. 1889, Nr. 10; C f. G. 1890, pag. 421. Tu ttle , A. J. o. 0.
1890, pag. 69. Olshausen, Z. f. G. u. G. 1890, XX, pag. 228. — llÄ) Goodell, Med.
*nd Snrg. Rep. Philad. 1889, LXI, 29; Frommel's Jahresber. III, pag. 592. — 117) Heur-
taux, Rev. de Chir. 13. Oct. 1686 ; C. f. G. 1887, pag. 133. — "•) Chalot, Annal. de Gyn.
März 1887, pag. I, Juli, pag. 31 ; Frommel's Jahresber. I, pag. 445. — ll9) Veit, C. f. G.
1890, pag. 285. Vergl. auch Alban Doran, Lancet. 2. Mai 1885; C. f. G. 1885, p*g. 653. —
Schmid, C. f. G. 1887, pag. 772. — Schramm, C. f. G. 1891, pag. 44. —
1M) Meij, Nederl. Tijdschr. voor Verlosk. en Gyn I. Jahrg., 1. Heft, pag. 67; C. f. G. 1839,
pag. 758. — 11 )Czempin, C. f. G. 1690, pag. 541. — "*) Rosner, Przeglad lek. (Poln.)
J8e6, Nr. 27; C. f. G. 1887, pag. 62. — "*) Rüge , C. f. G. 1890, pag. 541. — "•) Peck,
Med. Ree. 9. Mai 1685; C f. G. 1885, pag. t?22. — lfT) Rokitansky, Allgem. Wiener med.
Zeitg. 1886, Nr. 28; C. f. G. 1887, pag. 356. — ,,b) Saenger, C. f. G. 1887, pag. 147. —
w)Protopopow, C. f. G. 18:8, pag. 797. — li0) Polaillon, L'abeille med. 1839; C. f. G.
1890, pag. 374. — ,SI) Ruptur der Cyste in Folge von Vereiterung derselben:
Demons, Rev. de Chir. 1839, Nr. I, pag. 895; C. f. G. 1890, pag. 309. Reed, A.J.o. 0.
1890, pag. 330. Vergl. ferner noch in Betreff der Cyste nrup tun Zagorski, C. f. G.
1887, pag.373. Schmidt, C. f. G. 1887, pag. 772. Stellmacho w it sc h, Z f. G. u. G.
(Russ.) 1887, I, pag. 366. Frommel's Jahresber. I, pag. 447. Beatson etCoats, Glasgow
Med. Journ. Jan. 1888; C. f. G. 1889, pag. 380. 0 tt , C. f. G. 1839, pag. 833. Heitz-
mann, Allgem. Wiener med. Zeitg. 1839, Nr. 5 ; C. f. G. 1889, pag. 710. — lM) J a n v r i n,
A. J. o. 0. 1889, pag. 271. — ,M) Carpenter, Med. Ree. 13. Juni 1885, pa*. 672; C. f. G.
1885, pag. 783. — UA) L a i d 1 e y , Journ. of the Amer. Med. Assoc. 31. März 1888, pag. 303 ;
€. f. G. 1889, pag. 45. — ,S5) Keller, Journ. of the Amer. Med. Assoc. 7. Mai 1887, pag. 525;
C. f. G. 1887, pag. 768. — Jentzer, Arch. de Tocol. Marz 1889; C. f. G. 1890, pag. 31. —
laT) Schroeder, Berliner klin. Wochenschr. 1884, Nr. 16. — 1M) Camer on, Brit. Med.
Jonrn. 1887, II, pag. 20; Frommel's Jahresber. I, pag. 461. — IW) Seligsohn, Dissert.
inaug. Greifswald 1888; C. f. G. 1889, pag. 447. — uo) Quenu, Rev. de Chir. 188) und
1887, VII, pag. 543. — U1) Schurinoff , C. f. G. 1888, pag. 238. Vergl. ferner: Parizot,
w2>« la torsion du pidicule des kystes de Vovaire*. These de Paris. 1886. — 14f) Engel-
hardt, Dissert. inaug. Jena 1888. — l4S) Jacobi, Dissert. inaug. Jena 1888. — iU) Hennig,
Sitzungsber. der naturf. Gesellsch. zu Leipzig. XIII und XIV, 2. — Winckel, „Lehrb.
der Frauenkrankh.a II. Aufl. , Leipzig 1890, pag. 653. — "*) Parkes, Brit Gyn. Journ.
1890, VI, pag. 491. — u7) Gersuny, C. f. G. 1890, pag. 308. — 14e) F r e n n d junior,
Z. f. G. u. G. 1889, XVII, pag. 160. — 149) Haeckel, „Ueber Affectionen der Pleura bei Er-
krankungen der weiblichen Sexualorgane". Strasburg 1883. — "°) Spencer Wells,
„Diagnose und chirurgische Behandlung der Abdominaltumoren". (Englisch.) London 1885. —
Le Bec, Gaz. des höp. 1887, Nr. 31; C. f. G., pag. 32. — IM) P. Munde, A. J. o. 0.
1890, pag. 636. Bezüglich der Differentialdiagnose vergl. noch: Börner, Wiener
med. Presse. 1887, Nr. 4. — ,58) Fromm el, Z. f. G. u. G. 1890, XIX, pag. 44. Vergl. auch
Olshausen, Deutsche Chir. Lief. 5a „ Die Krankheiten der Ovarien." II. Aufl. , Stuttgart
1886, pag. 73 nnd Birch- Hirsch feld, „Lehrb. der pathol. Anat." II. Aufl., II, pag. 758. —
35*
548
OVARIEN.
n4) Munde, A. J. o. 0. 1887, pag. 621. — m) Florschütz, Deutsche med. Wochenschr.
1887, pag. HO. - ,M) Engström, C. f. G. 1887, pag. 68. - l*7) Penger, A. J. o. 0.
1887, pag. 645. — m) Baumgarten, V irc ho w's Archiv. 1887, CVII, pag. 515 und CVIII,
pag. 216. — 1W) D. v. Velitz, Ibid. CVII, pag. 505. — l60) Buge, C. f. G. 1891, pag. 19. —
1M)Veit, C. f. G. 1890, pag. 285. — 1M) Kocher, C. f. Chir. 1887, pag. 44. — 1M) Janvrin,
A.J. o. 0. 1886, pag. 55. — l64) Cullingworth, St Thomas Hosp. Rep. XVII; C. f. G.
1890, pag. 18. — IM) Burg es, Pacif. Med. and Surg. Journ. Febr. 1888; C. f. G. 1888,
pag. 573. — 1Ät) Heibrunn, Münchener med. Wochenschr. 1887, pag. 278. — 1W) Wetter-
gren, Eira. 1888, Nr. 2; C. f. G. 1888, pag. 478. — l6H) Lazarus, Dissert. inaug. Giesaen
1888, — IW) Nelson, A. J. o. 0. 1890, pag. 657. — 17ü) Knowsley Thornton, Lancet.
Febr. 1886; C f. G. 1887, pag. 92. — m) Munde, A. J. o. 0. 1887, pag. 730. — m) Staude,
C. f. G. 1888, pag. 247. — m) v. Tischendorf, C. f. G. 1889, pag. 211. — "*) Muray,
A. J. o. 0. 1890, pag. 55. — m) Aleksenko, Z. f. G. u. F. (Russ.) 1889, Nr. 10; C. f. G.
1890, pag. 392. — ,76) Donat, C. f. G. 1890, pag. 131. — m) Gelström, C. f. G. 1889,
pag. 761. — I7*) Hermann, Lancet. 21. Nov. 1885; C. f. G. 188^, pag. 407. Vergl. auch
Kümmel, C. f. G. 1890, pag. 81. — 17e) Krukenberg, A. f. G. 1887, XXX, pag. 241.
Vergl. ausserdem: Himmel färb, C. f. G. 1886, pag. 569. Pottion, Dissert. inaug. Jena
1887. Beatson und Coats. Glasgow Med. Journ. Jan. 1888; C. f. G. 1880, pag. 380.
Pomornik, Z. f. G. u. G. 1689, XVI, pag. 413. Veit, C. f. G. 1890, pag. 285. — 18°) Mann,
A. J. o. 0. 1887, pag. 451. — 181) Carter, Transact. of the Obstetr. Soct of London. 1888,
XXIX, pag. 190. — 1W) Terrier, Progr. med. 1688, Nr. 24; C. f. G. 1889. pag. 301. -
,M) Seeg er, Dissert. inaug. München 1888. — 1M) Warden, A. J. o. 0. 1888, pag. 323. —
lfi») Munde, A. J. o. 0. 1889, pag. 323. — 1M) Pomorski, Z. f. G. u. G. 1889, XVI,
pag. 213 — 18T) Ostrogra dzky , Petersb. med. Wochenschr. N. F. VI. — 1M) Coe, A. J. o. 0.
1890. pag. 412. — l89) Sims, A. J. o. 0. 1889, pag. 77. — 190) Orthmann, C. f. G. 1886,
pag 756. — ,91) C. Braun, Wiener med. Blätter. 1888, X, 30, 1. — 1M) Landau, C. f. G.
1887, pag. 781. — 19s) Peters, Med. Tijdschr. voor Geneesk. 1890, Nr. 2; C. f. G. 1891,
pag. 56. - m) Byford. A. J. o. 0. 1889, pag. 187. — m) Vignard, Bull, de la Soc. anat
de Paris. Jan. 1689, 5. S6r., HI, pag. 33. Frommel's Jahresber. III. pag. 592. — 1M) Gott-
schalk, C. f. G. 1887, pag. 498 und 1889, pag. 14; Z. f. G. n. G. 18s8, XIV. pag. 562 und
A. f. G. 1888, XXXII, pag. 234. — 19f) Leopold, A. f. G. 1874, VI, pag. 189 und 249. —
m) Marchand, „Beiträge zur Kenntniss der Ovarialtumoren" . Halle 1879. — m) F 1 a i s c h 1 e d,
Z. f. G. u. G. 1882. VII, pag. 449. — iB°)01shau8en, Deutsche Chir. 57. „Die Krankheiten
der Ovarien.«* II. Aufl.. Stuttgart 1886, pag. 78- — Mary Dixon Jones. New-York
Med. Journ. 28. Sept. 1889, pag. 337 ; C. f. G. 1890, pag. 611. — ÄM) E ck ard t , Z. f. G. u. G.
1889, XVI, pag. 344. — M) Pomorski, Z. f. G. u. G. 1890, XVIII, pag. 92. — *») D.
v. Velitz, Z. f. G. u. G. 1890, XVIII, pag. 166. — m) Boldt, C. f. G. 1890. «Bericht über
die Verhandlungen der 8. Abtheilung des X. internationalen Congresses zu Berlin vom 4. bis
9. Aug. 1890", pag. 149. — m) Freund jnn., Z. f. G. u. G. 1889, XVII, pag. 140. -
*07) C. Braun, Wiener klin. Wochenschr. I, Nr. 4; Wiener med. Blätter. XI. pag. 587. Be-
züglich der Exstirpation carcinomatöser Ovarien vergl. Leopo ld , 0. f. G. 1856,
pag. 234. Winter, C. f. G. 1887, pag. 497. Lerch, A. f. G. 1889, XXXIV, pag. 449.
Bruttan, St. Petersb. med. Wochenschr. 1889, N. F. VI, 35. Boldt, A. J. o. 0. 189a
pag. 639. Poupinel, Annal de Gyn. Jan. 1890; C. f. G. 1890, pag. 559. Carsten, C. f. G.
1891, pag. 20. Vergl. auch Seeg er, Dissert. inaug. München 1888. (Anatomische Unter-
suchung nicht operirter carcinomatöser Ovarien.) — ,08) Reichel, Z. f. G. u. G. 1888, XV,
pag. 354. — i09) Littauer, C. f. G. 1891, pag. 68. Vergl. auch Saen*er, C. f. G. 1890,
pag. 558. — ,10) Mtinchmeyer, C. f. G. 1890, pag. 187. Vergl. bezüglich des Sarkoma
ovarii: Schroeder, C. f G. 1886. pag. 13. Cohn, Z. f. G. u. G. 1886, XII, pag. 14. —
Ätl) Bezüglich operirter Fälle von Sarkoma ovarii vergl. Polaillon, Annal. de
Gyn. März 1885; C. f. G. 1886, pag. 13. Angus Macdonald, Edinb. Med. Journ. Mai,
Juni 1885; C. f. G. 1686, pag. 351. Fränkel, C. f. G. 1886, pag. 219. Terillon, Bev.
de Chir. 1886, Nr. 6; C. f. G. 1886, pag. 837. Leopold , C. f. G. 1887, pag. 128. Mann,
A. J. o 0. 1887, pag. 449. Coe, A. J. o. 0. 1887. pag. 173. Schramm, C. f. G. 1887,
pag. 435. Nicoladoni, Wiener med. Presse. 1887, pag. 680. Weinlechner, C. t G.
1889, pag. 635. M e r e d i t h , Transact. of the Obstetr. Soct. of London. 1890, XXXI, pag. 225.
Krug, A. J. o. 0. 1891, pag. 28. Vergl. ferner: Bradbury, Lancet. 30. Mai 1885; C. f.G.
1886, pag. 46. Seeger, Dissert. inaug. München 1888. Alban Doran, Transact of the
Pathol. Soct. of London 1889; C. f. G. 1890, pag. 876. Bieder, Münchener med. Woche»-
schrift. 1889, XXXVI, 5—7. — m) Dohm, C. f. G. 1890, pag. 138. Vergl. auchDobczynski,
Dissert. inaug. Königsberg 18S9. — m) Sa enger, C. f. G. 1890, pag. 522. — ÄW) Tuttle,
A. J. o. 0. 1890, pag. 68- — m) Popow, Dissert. inaug. Petersburg 1890 (Russ.); C. f. ö.
1890, pag. 881. — ilÄ) Rosner, Przeglad lek. 1886, Nr. 27; C. f. G. 1887, pag. 62. -
117) Noeggerath, „Bericht über die Verhandlungen der 8. Abtheilung des X. internationalen
Congresses zu Berlin vom 4.-9. Aug. 1690." Beil. zu C. f. G. 1890, pag. 86. — m) Freund jun.,
Z. f. G. u. G. 1889, XVII, pag. 140. — ,19) Bantock, Brit. Gyn. Journ. 1889, V, pag. 202. -
M0) Lawson Tait, Ibid. 1889, V, pag. 202. — Barnes, Ibid. 1889, V, pag. 203. -
tu) Mansell Moullin, Ibid. 1889, V, pag. 203. - Coe, A. J. o. 0. 1889, pag. 1060.-
OVARIEN.
549
••*) Douglas, New-York Med. Jonrn. 1889, 1, pag. 685. Frommel's Jahresber. III. pag. 640. —
Kireef, C. f. G. 1887, pag. 400. — Wfl) Hein, C. f. G. 1838, pag. 62. — Si7) Kästner,
Gom8pondenzbl. des ärztl. Yereins in Thüringen. 1887, 1. — *") Brehm, Dissert. inang.
Jena 1887. — m) Leopold, Dentsche med. Wochenschr. 1887, Nr. 4. — *M) Chazan,
0.f.G. 1887, pag. 454. — ,st) Löhlein, Berliner klin. Wochenschr. 1888, Nr. 2. —
•■*) Sandberg, A. J. o. 0. 1890, pag. 537. Daselbst findet sich die gesammte einschlägige
Literatur der letzten 8—10 Jahre verzeichnet. — ,M) Terillon, Rev. de Chir. 1887,
pag. 345. Frommel's Jahresber. I, pag. 445. — **) Munde, New-York Med. Jonrn. 27. März
1886, pag. 362. Bezflglich der Ovariotomie bei eingetretener Ruptur der Cyste
Tergl. Lentz, Gaz. med. de Strasb. 1835, Nr. 7; C. f. G. 1866, pag. 63. Beatson und
Ooats, Glasgow Med. Jonrn. 1888; C. f. G. 1888, pag. 380. — m) Löhlein, Berliner klin,
Tfochenschr. 1888. Nr. 2. — m) Lee, A. J. o. 0. 1837, pag. 731. - ,aT) Terillon, Arch.
de Tocol. 1888, XV. pag. 207. — m) Munde, A. J. o. 0. 1887, pag. 730. - "») Fehling,
Handb. der Geb. Herausgeg. von P. Müller. III, Abschn. X, pag. 213. — ,4°) Veit, C. f. G.
1890, pag. 542. — *41) Martin, C. f. G. 1890, pag. 542. — ,4Ä) Spencer Wells. „Diagnose
wnd chirurgische Behandlung der Ovarialtumoren." (Engl.) London 1885. — "*) Olshausen,
S.1G.U. G. XX, 1890, paff. 227. Bezüglich der bei bestehender Gravidität vorge-
kommenen Ovariotomie vergl. Barsony, C. f. G. 1867, pag. 139. Baily, Lancet.
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Nr. 106; C. f. G. 1888, pag. 509. — fM) Andry , Lyon med. 1889, LXI, pag. 164. Frommel's
Jahresber. III, pag. 59»). — ,89) Davis, Brit. Gyn. Jonrn. 1888, III, pag. 413. — m) Pinnock,
Austral. Med. Gaz. Sydney 1887, Nr. 158. Fromme l's Jahresber. I, pag. 444. — m) Bar nes,
Prov. Med. Jonrn. 1888, pag. 153; C. f. G. 1888, pag. 744. — aM) Josephson, Hyg. 1839,
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C. f. G. 1889, pag. 301. — ^Homans, Med. Ree. 5. Mai 1888, pag. 496; C. f. G. 1889,
550
OVARIEN. — OXYD1COLCHICIN.
pag. 61. — m) Barnes, Frommer« Jahresber. I, pag. 444. — S86) Breisky, C. f. 6.
1889, pag. 165. — ,97) Leopold, C. f. G. 1886, pag. 509. — w) Bouilly, Gaz. des höp.
1886, Nr. 91; C. f. G. 1687, pag. 264. Vergl. auch T rczebicky, Wiener med. Wochenschr.
1885, Nr. 13 n. 14 ; C f. G. 1885, pag. 654. — *») S z a b o , A. f. G. 1888, XXXII, pag. 193. —
*°°) Sandmann und Nenner, Münchener med. Wochenschr. 1888 , Nr. 21—24. —
801) Wettergren, Eira. 1888, Nr. 2— 5; C. f. G. 1888 , pag. 478. — 80t) Ol s h a usen,
C. f. G. 1890. — 808) Terillon, Rev. de Chir. 1889, Nr. 10; C. f. G. 1890, pag. 422. —
8J4) Hirsch, A. f. G. 1868, XXXII, pag. 247. — 80fi) Olshansen, Z. f. G. n. G. 1890, XX,
pag. 223. — 8oe) Morris, New -York Med. Ree. 1837. Frommel's Jahresbericht. I,
pag. 471. — 8CT) Olshansen, Deutsche Chir. Lief. 58. „Die Krankheiten der Ovarien."
II. Aufl., 1886, pag. 366. — 8VS) Skutsch, Correspondenzbl. des allgem. ärztl. Vereins von
Thüringen. 1886, Nr. 9. — 8M>) Le Bec, Ga*. med. 1886. Nr. 35; C. f. G. 1887, pa?. 248. -
Munde, A. J. o. O. 1887. Frommel's Jahresber. I, pag. 465. — 8l1) Bunge,
St. Peterb. med. Wochenschr. 1887, XII, Nr. 19. Frommel's Jahresber. I, pag. 465. -
«•) Hirsch, A. f. G. 1888, XXXII, pag. 247. — 81S) S a 1 i n Hygiea. 1889, I, Nr. 12;
C.f. G. 1889, pag. 823. — 8M) Dobczinsky, Dissert. inang. Königsberg 1888. — 9iS) Dohm,
C. f. G. 1890, pag. 138. — 818) Kümmel, C. f. G. 1890, pag. 734. — 817) Nieberding,
C. f. G. 1888, pag. 983. — 88) Spencer Wells, Diagnose und chirurgische Behandlang
der Abdominaltumoren. (Engl.) London 1885; C. f. G. 1885, pag. 713. — 819) Terillon,
Rev. de Chir. 1887, pag. 245. Frommel's Jahresber. I, pag. 445. — 8,t) Johnson,
Journ. of the Amer. Assoc. 13. Juli 1889, pag. 63; C. f. G. 1890, pag. 18. — M1) Lands-
berg, Dissert. inaug. Breslau 1887; C. f. G. 1888, pag. 255. — ÄM) Skutsch, Corie-
spondenzblatt de* allgem. ärztl. Vereins in Thüringen. 1887, Nr. 9. — "') Rädel, Dissert
inaug. Marburg 1888. — 8M) Cleveland, A. J. o. 0. 1889, pag. 296. — 8,s) Freemann,
Lancet. 1887, 1, pag. 1129. F r o m m e l's Jahresber. I, pag. 461. — "*) Z i e 1 e wie*,
Archiv für klin. Chir. XXXV1N, pag. 329. — 8i7) Ahlfeld, „berichte und Arbeiten etc.-
Leipzig 1887, III, pag. 172. — M8) Thomas Gaillard Thomas, New- York Med. Jonrn.
25. Mai 1889, pag. 580; C. f. G. 1890, pag. 190. — bi9) Kreutzmann, New- Yorker med.
Monatsschr. Febr. 1689, I, Nr. 2, rag. 87; C. f. G. 1890, pag. 190. — 880) Terillon, Anntl.
de Gyn. Sept. 1687. XXVIII; C.f. G. 1888, pag. 127. — *sl) Man ton. Brit. Gyn. Jouro.
1890, VI, pag. 257. — *>*) Montfort, Arch. de Tocol. 15. Aug. 1886; C. f. G. 1887,
pag. 421. — 8'8) Spencer Wells, Ahlfeld, loc. ult. cit., pag. 172. — 881) Roser, Ahl-
feld, loc. ult. cit., pag. 172. — m) Lossen, Ahlfeld, loc. ult. cit., pag. 172. — "*) Pean,
Ahlfeld, loc. ult. cit. , pag. 172. — 887) Ahl feld, loc. ult. cit., pag. 172. Vergl. ferner
bezüglich nach Ovariotomieen auftretenden Psychosen C. T. Dent, Jonrn. ofMenL
Science. April 1689, pag. 1. — 888) Goodell, New- York Med. Journ. 3. Oct. 1885; C. f. 0.
1885, pag. 832. -t,9)Bumm, Deulsche med. Wochenschr. 1885, Nr. 1. — M") Slavjansky,
Z.f. G. u. G. (Russ.) Petersburg 1689, pag. 719 und Annal. de Gyn. Mai-Juni 1890. Schmidt's
Jahrbücher. 1891, I, pag. 164. — M1) Matweff, Annal. de Gyn. Aug. 1885; C. f. G. 1866,
pag. 124. — Olshansen, Deutsche Chir. Lief. 58. „Die Krankheiten der Ovarien."
II. Aufl., 1836, pag. 342. — 848) Goodell, New- York Med. Journ. 3. Oct. 1885»; C. f. G.
Iir85, pag. &32. — 8") Ahlfeld, „Berichte und Arbeiten etc.a Leipzig 1887, IH, pag. 170.
Vergl. auch Gödde, Dissert. inaug. Marburg 1887. — 848) Win ekel, „Lehrb. der Frauen-
krankheiten.u II. Aufl., Leipzig 1890, pag. t>§2. — M*) Bumm, Deutsche med. Wochenschr.
1885, Nr. 1. — M7) Matweff, Annal. de Gyn. Aug. 1835; C. f. G. 1886, pag. 134. -
*44) Preu sehen, Deutsche med. Woch-nschr. 1885, Nr. 51. — 849) Skene Keith, Edinb.
Med. Jonrn. 1886; C. f. G. 1837, pag. 312. — 8S0) Ahlfeld, „Berichte und Arbeiten etc.8
Leipzig 1887, III , pag. 171 — 8M) Möricke, Z. f. G. u. G. 18-0, V, pag. 348. -
85a) Küster, C. f. G. 1884, pag. 745. — 8M) Hermann Schröder, Dissert. inaug. Greifs-
wald 1885. — -M) Paul Barth, Dissert. inaug. Greifswald 1886. — *i6) Bumm, Münchener
med. Wochenschr. 1687, Nr. 10. — 8M) Mann, New- York Med. Journ. XXXVIII, Nr. 1. Vergl.
lerner noch bezüglich des Eintrittes der Parotitis nach Verletzungen oder
Erkrankungen des Abdomens oder Beckens Paget, Brit. Med. Journ. 1887,
I, pag. 613. — Kock b, „Ueber intraperitoneale Stielbehandlung mit verrenkten Klemmen und
die Klemmenbehandlung im Allgemeinen" (Volkmann's Sammlung klin. Vortiäge. Nr. 21,
1891; war bei Abfassung dieses Aitikels noch nicht erschienen). v. . .. _
' 7 KleinwacDter.
Oxybuttersäure bei Diabetes mellitus, pag. 201.
Oxydicol chicin, s. Coichicin, pag-. 162.
p.
Palmella, s. Mikroben, pag. 472.
Pancreatischer Diabetes, s. Diabetes mellitus, pag. 199.
Paraldehyd. Im Arzneibuch für das deutsche Reich neu aufgenommen.
Grösste Einzelgabe 5*0 Grm. ; grösste Tagesgabe 10*0 Grm.
ParalySiS agitailS (vergl. Real-Encyclopädie, II. Aufl., Bd. XV, pag. 175).
Die so wenig dankbare Therapie dieser Krankheit hat durch eine Arbeit von
MORETTI (Note sulla malattia dt Parkinson e l'atropina. Bolletino della societa
Lancisiana degli ospedali di Roma. 1890, 1, pag. 4) eine Bereicherung erfahren.
Moretti empfiehlt den Gebrauch von Atropin in Form subcutaner Injectionen
(0*001 — 0*002), womit in 3 Fällen von ihm verhältnissmässig sehr glinstige
Resultate erzielt wurden. Die Injectionen hatten fast immer rasches Verschwinden
des Zitterns auf mehrere Stunden, gesteigerte Beweglichkeit und allgemeine
Beruhigung zur Folge ; die gewöhnlichen Nebenerscheinungen des Atropins traten
nur in der allerersten Zeit ein. Besonders bemerkenswerth ist der erste Fall,
in welchem gegen 1000 Atropin-Injectionen (schliesslich nur noch 0*0005 in
24 Stunden mit gleicher Wirkung) gemacht wurden; hier wurde zeitweise das
Atropin durch Hyoscin ersetzt, welches jedoch viel schlechtere Wirkungen lieferte
und auf die Dauer nicht vertragen wurde. — Die palliativ günstigen Wir-
kungen des Atropins wurden auch von anderer Seite (Battianelli, Akcakgeli)
bestätigt, während Pensuti auch Intoleranzerscheinungen beobachtete. Sclamonna
sah von Solanin und Gelsemin ähnlichen vorübergehenden Nutzen.
Die Suspensionsbehandlung (vgl. Tabes dorsalis) ist in den
beiden letzten Jahren von verschiedenen Seiten, auch von mir, bei Paralysis
agitans versuchsweise angewandt worden. Irgendwie nennenswerthe Erfolge wurden
dadurch nicht erzielt; ich selbst habe das für derartige Kranke ziemlich beschwer«
liehe, öfters beängstigende Verfahren hier ganz aufgegeben.
Petersox (New-York med. journal, 1890) veröffentlichte eine klinische Studie
über 47 Fälle von Paralysis agitans, wovon 29 bei Männern, 18 bei Weibern;
die Mehrzahl im Alter zwischen 50 und 60 Jahre. Hereditäre Belastung war nur
in 2 Fällen (Bruder und Schwester) anzunehmen ; atmosphärische Einflüsse, Kälte
und Nässe, bildeten achtmal die unmittelbare Veranlassung; in einzelnen Fällen
auch Gemüthsbewegungen und Traumen. Das Zittern begann 18mal in der rechten,
20mal in der linken Hand, 5mal im linken Fuss, 3mal in beiden (?) Händen, lmal
in beiden (?) Füssen. Die CflARCOT'eche Behauptung, dass der Kopf am Zittern
nicht theilnehme, wird als unbegründet zurückgewiesen. Die Zahl der Zitterstösse
schwankte zwischen 3*7 und 5*6 in der Secuode. Rigiditäten bestanden in 41 Fällen ;
552
PABALYSIS AGITANS. — PERCÜSSION.
hemiplegische Form des Auftretens 2mal; Contracturen in mehr als 80° 0 der
Fälle ; Muskelschwund war lmal am linken Arm und Bein sehr deutlieh entwickelt.
Propulsion allein war 12mal, Retropulsion 3mal, beide zusammen 9mal, Latero-
pulsion nur einmal nachweisbar. Sehnenreflexe 9mal gesteigert, 6 mal „hypertypisch",
sonst normal. Die elektrische Reaction nur einmal (in dem Falle mit linkseitigem
Muskelschwund) vermindert. Thermale Parästhesie bestand 7mal, subjective
Eälteempfindung 6 mal ; Hyperidrosis 2 mal ; allgemeine Muskelunruhe 7mal ; Tachy-
cardie lmal, geistige Störung (in melancholischer Form) lmal. — Therapeutisch
bewährte sich in einzelnen Fällen das Hyoscinum hydrobromicum, theils allein, theilg
auch mit Codein zusammen (in Pillenform innerlich), zur Herabsetzung des Tremor.
Eulenburg.
Paraphasie, s. Aphasie, pag. 56.
Paraxanthifl, s. Harn, pag. 289.
PaSteuria ramOSa, s. Mikroben, pag. 474.
PeCtOrÜOquie, s. Auscultation, pag. 69.
Penghawar Djambi, s. Blutstillung, pag. 115.
Pentamethylendiamin, s. Harn, pag. 292.
PeptOnurie. Angeregt durch die Angabe v. Swiecicki's , der in allen
untersuchten Fällen in den Lochien Pepton auffand, nahm W. Fische l diese
Frage von Neuem auf und constatirte hierbei das Vorkommen einer puerperalen
Peptonurie (bei zwei Wöchnerinnen vom 2. Tage, bei fünf Wöchnerinnen vom
3. Tage und bei 4 Wöchnerinnen vom 4. Wochenbettstage beginnend); wohl
können bei normalem Wochenbette die Lochien vom 2. bis 10. Tage Pepton ent-
halten, doch ergiebt sich, dass die puerperale Peptonurie weder von dem positiven,
noch von dem negativen Peptongehalt der Lochien beeinflusst ist. Kobttnitz kam
zum Schlüsse, dass die Peptonurie in der Schwangerschaft nur bei dem Tode und
der Maceration der Frucht aufzutreten und für diesen Zustand charakteristisch
zu sein scheint, eine Angabe, die er gleichzeitig mit der Widerlegung derselben
durch Thomson auf Grund neuer Erfahrungen zurückzog. Kokttnitz fand auch
bei gesunden Schwangeren mit lebender Frucht in zwei Fällen Peptonurie. Bei
dieser physiologischen Schwangerschaf tspeptonurie handelt es sieh um einen Re-
sorptions- und Diffusionsvorgang, wie er sich bei der Bildung und Erhaltung des
Fruchtwassers abspielt. Denn das Fruchtwasser enthält Propepton und Pepton
zum Theil in der frühesten Embryonalzeit, so dass das Eintreten der Peptonurie
hierdurch ermöglicht wird. In den Versuchen von Thomson wurde das Pepton
durch die Biuretprobe nachgewiesen. Der 24stündige Harn wurde bei 40° C. auf
Vio des ursprünglichen Volumens eingedampft, hierauf mit neutralem schwefel-
saurem Ammon übersättigt, um die Albumosen abzuscheiden und das Filtrat mittelst
Kupferoxydkali geprüft. Zur Entfärbung des stark tingirten Harnes diente Thier-
kohle, worauf die Biuretreaction gewöhnlich viel deutlicher auftrat.
Literatur: W. Fischöl, Peptongehalt der Lochien nebst Bemerkungen über die
Urea c he n der puerperalen Peptonurie. Arch. f. Gynäk. XXV, pag. 120. — A. Koettnitx,
Peptonurie in der Schwangerschaft. Deutsch, med. Wochenschr. 1888. — H. Thomson, Peptonurie
in der Schwangerschaft und im Wochenbette Ibid. 1889. — Koettnitz, Beitr. aur Phys. n.
Patholog. der Schwangerschaft. 18S9. Loe bisch.
PerCUSSiOfl. Smolexski giebt an, dass der WiNTRiCH'sche Schall-
wechsel bei Lungenhöhlen in der Weise am deutlichsten hörbar werde, wenn
der Kranke bei geöffnetem Munde ruhig und tief in- und exspirire. (Referent lehrt ent-
sprechend alter Erfahrung, dass der Schallwechsel am deutlichsten dann entstehe,
PERCUSSION. — PKRNICIÖSE ANÄMIE.
553
wenn 1>ei gewöhnlicher ruhiger Respiration der geschlossene Mund plötzlich weit
geöffnet werde, der vorher tiefe Schall wird dann bekanntlich hoch, und wenn
der Mund nun plötzlich wieder geschlossen wird, tief.)
Pacanowski bespricht die percutorische Bestimmung der Mage n-
grenzen. Dieselben lassen sich feststellen durch Anfüllung des Magens mit
Wasser, es giebt dann die ganze Magengegend im Stehen gedämpften Schall, die
unterste Magenpartie dumpfen Schall, und wo letzterer in den tympanitischen
Schall übergeht, dort ist die untere Magengrenze. Die percutorische Bestimmung
der oberen Magengrenze (unterhalb der Herzdämpfung), der Grenze nach links
(Nachbarschaft der Milz) und nach rechts (Nachbarschaft der Leber) bietet keine
Schwierigkeiten.
Taube bespricht ebenfalls die Percussion des Magens und empfiehlt
die AnfÜllung desselben mit Wasser auch zur Erkennung der Dilatationen.
Kernig findet, dass die Percussions Verhältnisse am Magen bei
Erweiterungen desselben sich ändern, je nach der Körperlage während des Percu-
tirens, also in aufrechter Haltung, Rücken- und rechte Seitenlage, während solche
Schalldifferenzen nicht vorkommen bei normalem Magen.
Rebss behandelt die percutorische Bestimmung der Herz-
grenzen. Den Nachweis der relativen Herzdämpfung hält er nicht für so
schwierig. Sie beginnt auf dem Steinum meist in der Höhe des 2. Intercostal-
raumes oder der 3. Rippe und zieht von hier nach links in einer nach aussen
convexen Linie zur Stelle der Herzspitze herab; nach rechts überragt sie das
Sternum in Form einer Bogenlinie, die vom rechten Sternalrand im 3. Intercostal-
raume wenig, im 4. am meisten und im 5. wieder weniger weit entfernt ist ; die
Entfernung vom rechten Sternalrand beträgt V/% — 2 Cm.
Krönig sucht die percutorische Bestimmung der oberen Lungenspitze n-
Orenze noch dadurch zu vervollkommnen, dass er hauptsächlich bei schwacher Per-
cussion, sowohl hinten als vorn, auch die seitliche Ausdehnung zu bestimmen empfiehlt.
Keller giebt an, dass dieStäbchenplessimeterpercussion auch
bei Lungenhöhlen Metallklang ergebe (vom Referenten schon in seinem Lehrbuch
erwähnt), doch werde die Bedeutung dieses Phänomens dadurch eingeschränkt, dass
auch bei Gesunden über der 2. Rippe dadurch Metallklang erzeugt werden
kann. (? Ref.)
Livierato hebt hervor, dass bei Aortenerweiterung Dämpfung
auf dem oberen Theildes Stern um bestehe, deshalb finde man sie oft bei
alten Leuten, die an Atherom mit Aortenerweiterung leiden, während sie normal
nie vorkommt.
Riess bespricht die Percussion der Nieren, die er bei Nieren-
tumoren und beweglicher Niere für werthvoll hält.
Literatur: Smolenski, üeber Wintrichs Percnssions-Phänomen. Przeglad
lekaraki. 1886, Nr. 11. — Pacanowski, Beitrag zur percntorischen Bestimmung der Magen -
grenzen. Deutsches Archiv für klin. Med. 1887, XL. — Taube, Beitrag znr Percus-
sion des Magens. Dissertation. Dorpat 1887. — Riess, Ueber die percutorische Bestimmung
der Herzgrenzen. Ztschr. f. klin. Med. 1888, 14. — Kernig, Znr Percussion des Magens.
Petersb. Wochenschr. 1889, Nr. 48. — Krönig, Znr Topographie der Lungenspitzen und
ihrer Percussion. Berl klin. Wochenschr. 1889, Nr. 37. — Keller, Ueber Stabchenplessi-
meterpercussion. Dissertation. Würzburg 1889. — Livierato, La plessimetria dello sterno in
rapparto alla semiotica delV aorta. Riv. clin. lt?89, Nr. 2. — Riess, Ueber percutorische
Bestimmung der Niere. Ztscbr. f. klin. Med. 1889, 16. p Guttmann (Berlin).
Pericardiales Sehnenpfeifen, s. Ausouitation, pag. 70.
PericarditiS, s. Herzkrankheiten, pag. 329.
PerniCiÖSe Anämie, Blutarm uth (vergl. Real-Encyclopädie, II. Aufl.,
Bd. XV, pag. 432). Für dieses jetzt allgemein bekannte Krankheitsbild (dessen erste
genaue Besehreibung übrigens neuerdings von einer amerikanischen Mittheilung1)
auf Chasüikg 1842 zurückgeführt wird) ist der hier gebrauchte Name „perni-
ciöse Anämie" wohl am meisten eingebürgert, und zwar mit Recht, da er das
hervorstechendste Moment der hierher £"ebftrigen Erkrankungaformen, ihren lebens-
gefährlichen Verlauf gut hervorhebt, ohne, wie manche der sonst gewählten Bezeich-
nungen, namentlich „essentielle" oder „idiopathische Anämie", eine Verwechslung mit
«nderen primären Formen von Blutstfirung zuzulassen.
Für die geographische Verbreitung der Krankheit hat die neuere Erfahrung
weitere Grenzen ergeben, als anfangs angenommen wurden. Zeigt dieselbe auch
grosse Vorliebe für gewisse Gegenden, z. B. die Schweiz (wo übrigens die Frequenz
nach den Jahrgängen auch sehr wechselt), so ist sie doch in den meisten anderen
Ländern Europas (zum Theil auch anderer Wetttheile), namentlich in den ver-
schiedenen Theilen Deutschlands beobachtet und z. B. in Berlin dauernd keine
Seltenheit.
Data die perniciöse Anämie keine ätiologische Einheit darstellt,
gestehen jetzt fast alle Beobachter zu. Trotzdem ist bei der Ausgesprochenldt
und Consfanz des Symptomenbildes kein Grund vorhanden, den Begriff als
klinische Einheit fallen zn lassen , wie einzelne Autoren wünschen ; umso
weniger, als die Zahl der Fälle, in welchen wir irgend eine Ursache für die
Entstehung der Krankheit anzunehmen berechtigt sind, weit gegen diejenigen
zurücksteht, bei denen die Aetiologie vollkommen dunkel ist. Man denke an
andere Krankheitsbilder aus dem Gebiet der Constitution eilen Leiden (s. B*
Diabetes etc.), bei welchen wir uns ebenfalls bewusst sind, Zustände von sehr
verschiedenartiger Aetiologie zusammen zu gruppireu, und dies nach wie vor mit Recht
uud Vortheil durchführen. — Will man die Formen der Krankheit, welche wir
Grund haben als Folge anderer Erkrankungen oder bestimmter Gelegenheit*-
Ursachen anzusehen, von den ihrer Entstehung nach dunklen Formen trennen, so
kann man , wie dies eine Reibe von Beobachtern thut , eine primäre (idio-
pathische) und eine secundäre perniciöse Anämie unterscheiden. Nur muss man
im Auge behalten, dass wir auch für die erste Gruppe keine Gleichartigkeit der
Aetiologie behaupten dürfen, und voraussichtlich weitere Erfahrungen dazu führen
werden, viele Fälle aus dieser in die zweite Gruppe umzustellen.
Von den nicht zahlreichen Momenten, welche wir nach der bisherigen
Erfahrung als ätiologisch wichtig für die Entwicklung des Symptomenbildes
der pernio ifaen Anämie anzusehen haben, ist in den letzten Jahren besonders die
Anwesenheit gewisser Entozoen im Darin beachtet worden.
Zunächst sind die Erfahrungen über Vorkommen des Doch m tu i
(Anchy lost,) duodenal, bei schweren Anämien vermehrt worden* Früher
vorzugsweise bei gewissen „tropischen Anämien" (besonders in Mittel- und Süd-
amerika), ferner bei anämischen Erkrankungen in Oberitalien, sowie ausnahmsweise
und vorübergehend in anderen Gegenden hei Erdarbeitern (Gotthard-Tunnel)
bekannt, ist dieses Entozoon neuerdings in Westdeutschland, Belgien etc. bei ver-
schiedenen Arten von Erdarbeitern (Ziegelbrennern, Bergwerksleuten) als Ursache
einer Anämie , die in ihren schweren Formen der pernieiösen Anämie durchaus
analog ist, dauernd nachgewiesen worden. Ueber eine solche, in der Umgebung
Colna endemische „Ziegelbrenneranämie" , auf welche zuerst Rühle aufmerksam
gemacht hatte, berichtet neuerdings Leichtexsterx 3); über ähnliche Erkrankungen
bei den Bergwerksarbeitern in der Umgebung Lüttichs Masitjs und FbakootW *),
u, dergL mehr; dass derartige „Ancylostomiasis" (oder „Dochmiosis") den
tropischen Anämien ganz nahe steht, hebt Lütz4) in ausführlicher Besprechung
des Anckylosi, duodenal, und der durch dasselbe herbeigeführten Erkrankungen hervor.
Dem schliessen sich Beobachtungen an, nach welchen bei schweren, der
pemieiösen Anämie im Bilde gleichen anämischen Erkrankungen Botriocephal an
latus im Darm gefunden wurde. Hierüber liegen Mittheilungen aus den di* Ostsee
umgebenden Ländern und der Schweiz vor. So konnte Rentier f,j bei 13 Fällen
PERNICIÖSE ANÄMIE.
555
von perniciöser Anämie in Dorpat, Rünkberg 6) in Helsingfors (Finnland) unter
19 Fällen der Krankheit 12 Mal, Schapiro7) bei einem Fall in Petersburg,
Fr. MOller 8) in einem Fall ans Ostprenssen die Anwesenheit von Botrioeephalen
im Darm nachweisen n. dergl. m. ; ein grosser Theil dieser Fälle heilte nach
Abtreibung der Entozoen. — Zwar wird die Beweiskraft solcher Erfahrungen von
einzelnen Seiten angezweifelt; so hält v. Holst9) die Identität ähnlicher Fälle
mit der perniciösen Anämie für nicht erwiesen. Und Lichtheim 10) konnte in Bern
unter 11 Fällen der Krankheit nur 2 Mal Botriocephalus finden. — Immerhin
aber steht nach den bisherigen Erfahrungen fest, dass in einem gewissen (wenn
auch nicht allzu grossen) Theil der Fälle das Bild der perniciösen Anämie durch
die Anwesenheit von Botrioeephalen im Darm zur Entwicklung gebracht werden kann.
Dass auch andere Bandwürmer unter Umständen dieselben Krankheits-
symptome hervorrufen können, ist wahrscheinlich. Zum Beleg hierfür möchte ich
aus eigener Erfahrung 2 Beobachtungen mittheilen, in welchen bei jungen Mädchen
Erscheinungen schwerer Anämie, die der perniciösen Form nahe standen, nach der
Abtreibung einer Tatnta solium schnell zurückgingen. Besonders beweisend war
der eine ganz kürzlich beobachtete Fall, bei welchem die schweren anämischen
Symptome seit ungefähr Vs J&Dr bestanden, das Blut die charakteristischen
Veränderungen der perniciösen Anämie sehr ausgesprochen zeigte, und nach zwei-
maliger Verabreichung grosser Kosodosen, welche reichliche Mengen einer Tänie
entfernten, innerhalb von 8 — 14 Tagen fast völlige Herstellung erfolgte. — Hieran
schliesst sich die Beobachtung von Jürgensen ") , nach welcher ein Fall von
perniciöser Anämie sich besserte, nachdem durch Extract. flic. zwar kein Band-
wurm, aber eine grosse Menge von Bacterium termo aus dem Darm vertrieben war.
Die Erklärung für die Entstehung der Anämie in solchen Fällen beruht
bei dem Anckylost. duodenal, wohl auf der durch das Entozoon dauernd bewerk-
stelligten Blutentziehung ; bei dem Bandwurm wird von einem Theil der Beobachter
an Darmreizung, von Anderen an eine durch das Entozoon gelieferte toxische
Substanz, welche in das Blut übertritt, gedacht.
Von sonstigen ätiologisch verwerthbaren Momenten finde ich neben wieder-
holten Blutungen aus den letzten Jahren folgende bestätigt : Psychische Emotionen
(„Nerven-Shock") werden von mehreren Seiten als der Erkrankung vorausgehend
erwähnt. 12) — Fälle von Uebergang einer Chlorose in pernieiöse Anämie heben
Henry 18) und Trechsel 14) hervor. — Manche Fälle werden auf oonstitutionelle
Syphilis zurückgeführt. 8) — Unter Umständen werden Magenstörungen mit
abnormer Zersetzung des Mageninhaltes („Anaemia dyspeptica" 16), noch häufiger
allgemeinere Verdauungsstörungen16) als Ausgangspunkt des Krankheitsbildes an-
genommen.
Von pathologisch-anatomischer Seite ist der früher von Fenwick u. A.
gemachte Befund einer Atrophie der Magenschleimhaut bei perniciöser
Anämie neuerdings von Henry und Osler 17j, Kinnicutt 18) etc. wiederholt worden.
Ein von Mosler und Gast19) beobachteter Fall zeigte multiple Osteosarcome,
wie sie früher Grawitz bei der Krankheit beschrieben hat.
In Bezug auf das Wesen des Processes findet man der allgemein
gebräuchlichen Ansicht, wonach dasselbe in einer mangelhaften, auf abnorm früher
Stufe stehen bleibenden Blutbildung besteht, neuerdings wiederholt die Auffassung
gegenübergestellt, dass es sich dabei hauptsächlich um eine Steigerung des
Blutkörperchenunterganges handle. Diese Anschauung stützt sich besonders
auf den bei der Krankheit schon früher (von Quincke u. A.) gemachten und in
den letzten Jahren öfters wiederholten Befund einer reichlichen Ablagerung von
Eisen, vorzugsweise in der Leber, daneben auch in Milz und Nieren. Am
bestimmtesten spricht dies Hunter20) aus, welcher bei 9 Fällen von perniciöser
Anämie mikrochemisch eine starke Eisenanhäufung in den Pfortaderzonen der
Leberacini nachwies und diesen Zustand durch Einführung von Tolaylendiamin bei
556
PERNICIÖSE ANÄMIE.
Thieren nachahmen konnte. Er führt hiernach die Krankheit, deren Unterscheidung
als bestimmter Form idiopathischer Anämie er sowohl vom klinischen, wie vom
pathologischen Standpunkt aus betont, auf eine Zunahme des Processes der Blut-
körperchenzerstörung im portalen Kreislauf zurück. Einige ähnliche Befunde und
Ausführungen 21) unterstützen die Ansicht. — Die einigermassen verwandte Annahme
Silbermann 's 2S), wonach das Wesen der Krankheit in einem durch Blutkörperchen-
zerfall entstandenen abnormen Reichthum des Blutes an Fibrinferment bestehen
soll, hat bisher keine Bestätigung erfahren.
Dem gegenüber wird auch neuerdings die gebräuchlichere und näher
liegende Anschauung von der unvollständigen Bildung der Blut-
elemente bei perniciöser Anämie weiter hervorgehoben. Dies thut namentlich
Henry as), welcher darauf hin das Leiden auch nicht als unabhängige Erkrankungs-
form anerkennen will. Er bringt dasselbe übrigens in besonders engen Zusammen-
hang mit der Chlorose, namentlich im Hinblick auf die oben erwähnten Fälle
von Uebergang beider Krankheitsformen in einander , und sieht ihren Unterschied
hauptsächlich in dem Hämoglobingebalt der rothen Blutkörperchen, der bei der
Chlorose verringert ist, bei der perniciösen Anämie nach seinen Beobachtungen normal
oder erhöht sein soll. Doch ist (abgesehen von der Inconstanz des letztgenannten
Verhaltens) nach den Erfahrungen der meisten anderen Beobachter eine solche
Zusammengehörigkeit beider Krankheitszustände nicht zuzugestehen.
Für die Mangelhaftigkeit der Blutbildung sprechen auch zum Theil die
pathologisch-anatomischen Befunde, welche das Knochenmark betreffen; so
namentlich eine kürzlich von Rindfleisch 24) gemachte Mittheilung : derselbe fand
bei einem Fall von perniciöser Anämie im Wirbelmark fast ausschliesslich kern-
haltige rothe Blutkörperchen, zum Theil von enormer Grösse (den von Ehrlich
im Blut der Krankheit gefundenen „Megaloblasten" gleich) und daneben nur
eine kleine Zahl farbloser Elemente. Er deutet den Befund, unseren Kenntnissen
von der Entwicklung der Blutkörperchen entsprechend, als Stehenbleiben dieses
Processes auf einer trotz ihrer Grösse für die Ernährung werthlosen Vorstufe.
Für die Annahme einer von gewissen Seiten vermutheten infectiösen
Natur der perniciösen Anämie hat sich in den letzten Jahren keine Stütze ergeben ;
im Gegentheil blieben Culturen, welche Hanot und Legry 2s) mit dem Blut eines
Kranken anstellten, ohne Erfolg.
Es sei hier noch erwähnt, dass der perniciösen Anämie analoge Erkrankungen
auch bei Thieren (Pferd, Rind, Dammwild) wiederholt beobachtet sind.26)
Der Kenntniss vom Symptomenbild der Erkrankung ist durch die
Erfahrungen der letzten Jahre nicht viel hinzugefügt worden ; nur wird der früher
als seltene Begleiterscheinung geltende Icterus neuerdings recht häufig erwähnt.27)
Derselbe wird von den meisten Beobachtern hier mit Bestimmtheit als hämatogen
(von dem aus den Blutkörperchen in der Blutbahn frei werdenden Hämoglobin
abstammend) angesehen, und eine tiefere Leberveränderung mit Gallenstauung (wie
sie in einem FaH nachweisbar war) zu seiner Entstehung für unnöthig erklärt.
Zu den bekannten mikroskopischen Charakteristiken des perniciös-anämischen
Blutes fügte Copeman28) nach Erfahrungen an einigen Fällen noch das Auf-
treten amorpher Massen von Blutpigment im Serum und die reichliche Bildung
rhombischer Hämoglobinkrystalle bei schnellem Trocknen des Blutpräparates hinzu.
Dass in seltenen Fällen kurz vor dem Tode eine leukämische Blut Veränderung
hinzutreten kann (früher von Litten beobachtet), wurde in einem neueren Fall
bestätigt. 29)
Nach einigen Erfahrungen 10 u u) kann eine tabesähnliche Rückenmarks-
Affection das Krankheitsbild compliciren.
In Bezug auf die Prognose ist hervorzuheben, dass in letzter Zeit häufiger
als früher Fälle mit anscheinender Heilung, zum Theil von mehrjähriger
Dauer so) , beobachtet sind. — Trotzdem wird man daran festhalten müssen , die
PERNIC1ÖSE ANÄMIE. — PHENOCOLLUM HYDROCHLOBICUM. 557
Prognose im Allgemeinen höchst ungünstig zu stellen und im Einzelfall mit der
Annahme einer definitiven Heilung trotz auffallendster Besserung aller Symptome
möglichst vorsichtig zu warten. Ich seihst sah mehrere Fälle nach etwa V2 jähriger,
einen Fall nach «/Jähriger Pause mit scheinbar blühender Gesundheit und fast
normalem Blutbefund an rapid verlaufenden Recidiven zu Grunde gehen.
Die Therapie hat sich durch die letzten Erfahrungen nicht hoffnungs-
voller als früher gestaltet. — Unter den inneren Roborantien scheint nach
allgemeinem Urtheil hier das Arsenik über den Eisenpräparaten zu stehen; fast
s&mmtliche anscheinende Heilungen, abgesehen von den mit Entozoen zusammen-
hängenden Fällen, erfolgten nnter der Anwendung ersteren Mittels.
Die Transfusion ist beinahe als aufgegeben zu betrachten; zuverlässige
Angaben über nachhaltige Besserung der Krankheit durch dieselbe liegen wenig
vor. Von 3 Transfusionen, die ich in früheren Jahren bei dem Leiden ausführte,
hatte keine günstigen Erfolg, 2 sogar ungünstigen Einfluss auf das Befinden. —
Vor den Kochsalzinfusionen (von denen a priori hier auch nicht viel zu erwarten
ist) wird nach einigen üblen Erfahrungen direct gewarnt. 10) — Ob die neuerdings
von v. Zikmssen empfohlenen subcutanen Blatinjectionen diese Form der Anämie
tiefer zu beeinflussen vermögen, bedarf weiterer Prüfung.
Bei gewissen Fällen mit vorwiegenden Magen Symptomen (Anaemta dys-
peptica) war die Behandlung mit Magenausspülungen von guter Wirkung.16)
Wo Entozoen nachzuweisen sind, ist natürlich eine energische anthel-
minthischeBehandlung geboten. Gegen Anchylost. duod. ist nach bisheriger
Erfahrung in erster Linie das Extract. filic, in zweiter das Thymol wirksam. —
Auch wo Eingeweidewürmer nur vermuthet werden, erscheint es durchaus rationell,
versuchsweise Anthelminthica zu reichen.
Nene Literatur: ') Satterth waite, New York med. Record. 31. March 1888. —
»i Leichtenstern, Deutsche med. Wochenschr. 1885, Nr. 28— 30 und 1886, Nr. 11— 14.—
*) Marius und Francotte, Bull, de l'Acad. Beige. 1885, Nr. 4. — *) Lutz, Volkmann 's
klin. Vortr. Nr. 255—256 und 265. — 6) Beyher, Deutsches Archiv f. klin. Med. 1886, XXXIX,
pag. 31. — *) Runeberg, Ebenda. 1887, XLI, pag. 304. — 0 Schapiro, Zeitschr. f. klin.
Med. 1887, XIII, pag. 416. — 8)Fr. Müller, Charite-Annal. 1889, XIV, pag. 225. —
9) v. Holst, Petersburger med. Wochenschr. 1886, Nr. 41 und 42. — 10) Licht heim,
Verhandl. d. VI. Congr. f. innere Med. 1887, pag. 84. — ") Jürgensen, Ebenda, pag. 97.—
1S) Curtin, Philadelph. med. Times. 4. April 1885; Musser, Ibid. 16. Mai. — ") Henry,
Americ. med. News. 3. Juli 1886. — ") Trechsel, Revue med. de la Suisse rom. 1888,
Nr. 6. — lß) Sandoz, Schweiz. Correspondenzbl. 1887, Nr. 18. — 16) Roosevelt, New
York. med. Record. 14. April 1888. — n) Henry und Osler, Americ. Journ. of med. Scienc.
April 1886. — ") Kinnicutt, Ibid. October 1887. — 19) Mosler und Gast, Deutsche
med. Wochenschr. 1885, Nr. 26. — *) Hunter, Lancet. 22. und 29. Sept, 6. Oct. 1888. —
") Russell, Brit. med. Journ. 12. Januar 1889; Mott, Lancet. 6. March 1889. —
") Silbermann, Berliner klin. Wochenschr. 1886, Nr. 29 und 30. — ") Henry, Americ.
med. News. 5. Oct. 1889. — u) Rindfleisch, Virchow's Archiv. 1890, CXXI, pag. 176. —
") Ha not und Legry, Archiv, gener. Janvr. 1889. — *Ä) Fröhner, Archiv f. Thierheilk.
1886, XII, pa*. 383; Lindqvist, Schwed. Zeitachr. f. Thierheilk. 1888, pag. 39. —
*7) Georgi, Berliner klin. Wochenschr. 1887, Nr. 44 und 45; Ewald. Ebenda. Nr. 45;
Bartels, Ebenda. 1888, Nr. 3 und 1889, Nr. 43. — ") Copeman, Lancet. 28. Mai 1887.—
Gottlieb, Wiener med. Blätter. 1886, Nr. 17 und 19. — ,0) Finlay, Lancet.
28. Febr. 1885; Hinsdale, Amer. Journ. April 1885; Broadbent, Lancet. 12. Jan. 1889 ;
Kaufmann, Berliner klin. Wochenschr. 1890, Nr. 10 und 11. D.Äe.»
A 1 e 8 8.
Phenacetinum (vergl. Real-Encyciopädie, Bd. XV, pag. 519 und
Bd. XXI, pag. 627) zählt zu den in das Arzneibuch III. neu aufgenommenen
Arzneikörpern. Maxim. Einzelgabe 1*0; maxim. Tagesgabe 5*0. — ch.
PhenOCOllum hydrOChlOriCUm. Von der SCHBÄiNG'schen Fabrik neuer-
dings als weisses mikrokrystallinisches Pulver dargestellt. Das salzsaure Salz des
Amidoacetparaphenetidin, einer Base, welche aus Glycocoll (Amidoessigsäure) und
Phenetidin unter Wasserabspaltung entsteht. Es löst sich in etwa 16 Theilen Wasser
558
FHENOCOLLUM H VTDROC Ii LO R IC UM. — PHOSPHATURIE.
voo 17° und giebt gelöst eine wasserklare Flüssigkeit von salzigbitterem Geschmack.
Das Mittet wurde neuerdings als Antipyreticnm und Antirheumaticum auf der
GKEHABDT'schen Klinik durch Hertel Versuchen unterzogen. Derselbe ("Deutsche
med. Wochen sehr, 189 1, Nr* 15} konnte in vier Fallen fieberhafter Phthise durch
Einzelgaben von O'öOGrm, die Temperatur bin und wieder um etwa Va Grad ernie
drigen. Einzelgaben von 0'50 Gm. stündlich bis zu 15 Grm. gegeben vermögen, jedoch
gleichfalls nicht conatant, eine Herabsetzung der Temperatur um etwa 1 Grad
hervorzurufen , welche jedoch nur kurze Zeit wäbrt. Einzelgaben von 1*0 Grm. bewirken
meist eine Temperatur-Erniedrigung um 1 — lL f Grad binnen weniger Standen
und in der Dauer von etwa zwei Stunden* 5*0 Grm. Tages über verabreicht vermögen
ab und zu eine vollständige Apyrexie zu erzeugen. Bei schwerem acuten Gelenk-
Rheumatismus zeigte sich das Phenocollum kydrochloricum in Tagesgaben von
5*0 Grm» wirksam, d. b. schmerzstillend in Fällen, in wetchen Antipyrin, Autifebrin,
salicylsaures Natron und Phenacettn versagt hatten. Dabei konnte jedoch keinerlei
Einfiuss auf die Temperatur beobachtet werden, da diese erst zur Norm absank,
wenn auch die Gelenkerkrankung, resp. die begleitenden Nacherkrankungen sich
besserten. Diese Tagesmenge von 5*0 Grm. äusserte keinerlei schädigende Einwirkung,
nur wurde in allen Fällen eine dureb das anscheinend schnell ausgeschiedene
Mittel veranlasste braunrothe Dunkelfärbung des Urins Stires teilt. — Neueren
Angaben zufolge soll sich das Ph. hydr. in Dosen von 0*5 — 1*0 Grm. auch als
Nerviuum und Antinenralgicum bewährt haben .
Phenol-QueCkSÜber, s, Quecksilberpräparate.
Phenylhydrazin (vergl. auch Harn, pag. 2m. Das zur Darstellung
des Antipyrins dienende Phenylhydrazin, HjN-NH.C^Ha, welches eine farblose,
ölige, schwach aromatisch riechende Flüssigkeit bildet, ist nach G. Hoppe-Seyleb
ein Blutgift, welches ebenso wie seine salzsaure Verbindung zu 0*05 subcutan
und zu 0 5 intern Kaninchen unter Erscheinungen weitgehender Blutzersetzung
mit folgender Hämaturie tödtet. Im Blute entsteht dabei ein bisher nicht bekannter
brauner Farbstoff, der in einen grünen Ubergeht. Beim Contact mit der Haut
ruft essigsaures Phenylhydrazin heftiges Jucken, Schwellang und Abhebung der
Oberhaut durch seröse Flüssigkeit hervor, die HautarTection schwindet erst nsrb
einigen Wochen. Aehnliche Wirkuug auf das Blut besitzen auch verschiedene
Phenylhydrazinderivate, insbesondere das als P y r o d i n zu antipyretischen Zwecken
empfohlene Acetylphenylbydrazin. Diese Verbindungen sind um so weniger
giftig, je mehr Atome H durch organische Radicale ersetzt sind, aber auch
Verbindungen, die keiu freies H mehr enthalten, sind Blutgifte und eignen sich daher
zur therapeutischen Verwendung nicht. Die reducirende Wirkung, die einzelnen
dieser Verbindungen, namentlich dem deshalb bei Psoriasis äusserlich empfohlenen
Pyrodin, zukommt, ist bei der Wirkung auf das Blut nicht massgebend. :\
Hydrazin%*erbindungen , in denen der Phenylcomples durch einen ungiftigeren
ersetzt ist, z. B. Hydrazinsalicylsäare und Hydrazinoxybenzoesäure (Orthin) sind
keine Blutgifte und überhaupt von geringer Toxicitär.*)
Literatur: ') H. H oppe-Ser lar, Zeitachr. f. physiol CUem. 1884t IX, pag. 34.—
r| Toll* ns, Annal. Cham. 1889, CLV, pag. 217. — %) Heinz, Berl. klin. Wochenachr I890t
Nr. 3. — *) Kobert, Den fache med. Wochenachr. 1890. Nr. 2. Hnsemann.
Phenylurethan, i. EnphoHn.
Phloridzin, s. Diabetes mellitus, pag. 198.
Phosphaturie. Als solche bezeichnet Alex. Peter die Absonderung
eines Urins, welcher, unabhängig von der Reaetion, meist schon weissltch- trübe
aus der Blase entleert wird und aus dem sich beim Stehen bald ein zum grössten
Theil aus Erdphosphaten bestehendes Sediment abscheidet. Sowohl bei leicht sauer,
neutral, leicht alkalisch oder amphoter reagirendem Harn findet man im Sedimente
PHOSPHATURIE. — PILZVEBGIPTUNG.
559
amorphe Erdphosphate, Tripelphosphat (was Ultzmann leugnet), neutrales und
saueres Caleiumphosphat , zuweilen auch Calciumcarbonat. In den von Pkykr
beobachteten 14 Fällen trat die Phosphaturie (hier und da auch abwechselnd mit
Oxalurie) in Folge von Neurasthema sexualü , von Masturbation, von Gonorrhoe,
von starker psychischer Depression, nach chronischem Tripper, bei hochgradiger
Neuralgie der Blase und der Harnröhre, übrigens auch bei einem Mädchen von
l8/i Jahren auf. Die Phosphaturie ist an keine bestimmte Tageszeit gebunden;
sie kann jeden Tag 1 — 2mal oder wöchentlich an 1 — 2 Tagen auftreten oder
sie erscheint nach monatelaogem Aussetzen auf bestimmte Gelegenheitsursachen.
Auch ist nicht stets der ganze Harn getrübt, sondern nur die ersteren oder
letzteren beim Uriniren entleerten Portionen desselben. Häufig ist die Phospha-
turie von einem Complex nervöser Erscheinungen (Hegab's Lendenmarksymptome)
begleitet. Entgegen Finger, der die Phosphaturie von einem ungenügenden Säure-
gehalt des Harns herleitet, und gegenüber Sendtner, der die Affection für ver-
mehrte Kalkausscheidung ansieht, hält Päyer dieselbe in den meisten Fällen für
eine Secretionsneurose der Niere, auf refiectorischem Wege entstehend,
welcher eine geringfügig scheinende Affection des sexuellen Systems als anatomisches
Substrat zu Grunde liegt; in seltenen Fällen ist sie einfaches neurasthenisches
oder hysterisches Symptom ; immerhin könnten einzelne Fälle auch auf vermehrter
Kalkausscheidung beruhen. Um das Leiden zu heben, muss man die Grundursache des-
selben aufsuchen und gegen diese vorgehen. In einem Falle haben innerlich China
und Eisenpräparate, äusserlich warme Bäder und Einreibungen mit Leberthran
gut gewirkt; auch die Lebensweise des Patienten — Alkohol, sexuelle Functionen —
ist zu reguliren.
Literatur: Alexander Peyer, Volkmann's Sammlang klin. Vortrage. 1889,
Nr. 336. — Finger, Die Blennorrhoe der Sexualorgane. Wien 1888. — Ultzmann, Vorlesungen
über d. Krankh. d. Harnorg. 1. Hft. Wien 1889. — Sendtner, Münchn. med. Wochenschr.
1888, 40. Loebisch.
Physostigmin. Phys ostig min um su Ifu ricum ist in dem Arznei-
buch für das deutsche Reich neu aufgenommen, soll jedoch einer Anmerkung
zufolge nur in der Thierheilkunde Verwendung finden.
PilOCarpinum hydrOChlOriCUm. Es sind sowohl die maximale Einzel-,
als Tagesgabe der Pharmac. germ. Ed. II., welche bisher 0*03, bezw. 0*06 be-
trugen, im Arzneibuch III auf 0*02 und 0*05 herabgesetzt. —eh.
Pilzvergiftung. Man fasst unter dieser Bezeichnung die üblen Zufalle
zusammen, welche durch den Genuas als Speise verwendeter, meist als selbst-
ständiges Gewächs betrachteter Fruchtstände (Sporocarpien oder Encarpien) gewisser
kryptogamischer Gewächse, die man als Schwämme, Pilze, Fungi s. Mycetes
bezeichnet, hervorgebracht werden. Verhältnissmässig wenige Pilze sind wirkliche
Giftpilze, die in sich eigentümlich wirkende Giftstoffe entwickeln, während eine
weit grössere Anzahl Pilze existirt, die ohne jeden Umstand als Speise genossen
werden können, wenn sie in frischem Zustande zubereitet werden, welche aber
vermöge ihres reichen Eiweiss- und Wassergehaltes zu Zersetzung neigen und, sei
es, dass man sie abgestorben in bereits zersetztem Zustande einsammelte, sei es,
dass man sie zwar frisch und unzersetzt einsammelte, aber längere Zeit unter
Umständen, welche die Zersetzung begünstigen, vor der Zubereitung stehen Hess,
sei es endlich, dass man die zubereiteten Pilze oder gewöhnlich einen Theil der-
selben aufbewahrte und aufs Neue gewärmt verspeiste, Krankheitserscheinungen
hervorrufen können. Diese letzteren stellen sich unter der Form eines acuten
Magendarmcatarrhs oder der Cholera nostras (selbst mit ausgesprochenen Waden-
krämpfen) ein und bilden ein Pendant zu manchen Formen der Vergiftung durch
andere zersetzte eiweissreiche Nahrungsmittel (Fleischvergiftung, Käsevergiftung), als
PILZVERGIFTUNG.
Bgc-
iere
ota
deren Ursache die Entstehung von PtomaYnen (Bd. VIII, pag. 167) anzusehen i§!
Bei dem grossen Eiweissreichtbum der Filze kommt auch durch Ueberladung d&
Magens mit vollständig frischen und ganz unverdächtigen Speisepilzen (z. h.
Eierschwämmen, Clavarien) manchmal heftige Cholerine zu Stande, die in der
Regel in 2- — 3 Tagen unter dem Gebrauche eigener Mittel verschwindet. Solche
Zufälle können auch nach einzelnen Pilzen, z. B, Fistulina, einzelnen Polypori,
dadurch eintreten, dass diese im Alter eine sehr derbe und zähe Consistenz bekommen,
so dass sie unverdaut wieder abgehen und auf Magen und Dann irritirend wirken,
woraus ebenfalls Magendanueatarrh resultirt. Da eine grössere Anzahl wirklicher
Giftpilze entsprechende gastrische Zustände erzeugt, hat man in Folge der flblsi
Zufälle durch verdorbene oder zu massenhaft consumirte esabare Pilze verschiedenen
an sich ganz unschädlichen Schwämmen giftige Eigenschaften zugeschrieben, oder
selbst den essbaren Arten naheverwandte Species, die möglicherweise mit einge-
sammelt sein konnten, als giftig bezeichnet, oder selbst zersetzte Pilze als beaond<
giftige Pilzarteu beschrieben, In Rom und in einem grossen Theile Italiens
man den gewöhnlichen Champignon, Agaricus campester L. (PsalHota
vampestris Fr>), für giftig und lässt ihn nicht auf dem Markte zu, offenbar in
Folge von Vergiftungen mit einer naheverwandten giftigen Pilzart (Amanitu
phalloides Fr.), die man dort mit demselben Namen (pratiola) belegt. In
gleicher Weise hat man in einzelnen Gegenden von Frankreich den wohl-
schmeckenden Parasolpilz, Agaricus procerus Seopoli (Lepiota
procera Fr,) und bei uns den Eier seh w am m, Ganthar ellus eibariux
Fr. und den ihm verwandten Orangerothen oder falschen Eierschwamm,
Cantharellus aurantiaens, verdächtigt. Auch der Hallimasch, Ar mit*
larta mellea Fr., der Elfenbeinsehwamm, Hyg rophorus eburntu«
Fr* und verschiedene essbare Pilze haben solche Verdächtigungen von einzelnen
Toxikologen erfahren. Als eine besondere giftige Species der Gattung Helvella ist
Belvella suspecta Krombh. beschrieben worden, die nach Ansicht der xnei
Mykologen nichts als eine unter dem Einflüsse lang anhaltender warmer Ri
auf dem Stamme in Zersetzung übergegangene echte essbare Lorchel aufgefaßt
werden muss.
Die Zahl der eigentlichen Giftschwämme ist nicht sehr bedeutend. Sie
gehören zum grössten Theile zu den Blätterpilzen (Agaricini j , und zwar
vorwaltend zu der Abtbeilung der Wulstblätterpilze (Amanitae); ausserdem finden
sieh giftige Arten unter den Röhrenpilzen (Boletus) und den Lorchelu (Helvellaj,
Die Amaniten sind weisssporige Hutpilze, die an ihrer l nterrläche Blätter tragen,
welche mit der sporentragenden Schicht tiberzogen sind, und charakterisiren sich
dadurch, dass sie in ihrer Jugend von einer wulstartigen Scheide umschlossen
sind . deren Reste an dem entwickelten Pilze in Gestalt von weisslichen Fetzen
oder Warzen auf dem Hute und am Untertheile des Stieles zurückbleiben. Der
Stiel trägt eine häutige, abw.lrts hängende Manschette. Die bekannteste Art ist
der Bd. XIII, pag. 514 erwähnte Fliegenpilz, Amanita muscaria L.y
Fausse oronge, mit rothen oder gelbrothen, von weissen achuppenartigen Warzen
bedeckten, am Rande gestreiften Hute, weissen Lamellen und weissen, am
knollig verdickten Grunde die angewachsene schuppige Wulst und in der Mitte
einen schlaffen weissen Ring tragenden Stiele. Das weisse Fleisch ist unter der
Oberhaut des Hutes von einem rothgelben Saume eingefasst. Die giftigste und weit-
aus die meisten Pilzvergiftungen verursachende Art ist Amanita phalloide*
Fr* (Amanita hulbom BullJ, die nach der Farbe des Hutes iL a. Verhältnissen
von einzelnen Mykologen in verschiedene Species (Amanita citrina, Am viridis*
A. viromi A. verna, A. Mappa^ Am virescens u. a. m.) getheilt ist. Dieser Giftpilz,
der in lichten Waldungen in Mitteleuropa während des ganzen Sommers vorkommt,
hat einen weissen, gelblich weissen oder grflnweissen, einzelne Fetzen auf der
Mitte der Hutoberfläche tragenden, trockenen Hut mit weissem, nicht gefurchtem
a m
i>ten
legen
PILZVERGIFTUNG.
561
Rande und weissen Lamellen und einen am Grunde knolligen und von der
schlaffen, tbeilweise verwachsenen Scheide umgebenen, hohlen Stiel mit häutigem,
schlaffen, blassen Ringe. Zwischen diesem in Frankreich als Oronge eigne be-
zeichneten Pilze und dem Fliegenpilze steht der Pantherschwamm oder
Kröten schwamm, Amanita pantherina Secr. (Amanita umbrinaPers.),
Oronge dartreuse oder Golmelle fausse der Franzosen, in der Mitte. Er hat einen
dunkelgelben oder bräunlichen Hut, auf welchem kleine, fast concentrisch gruppirte
weisse, anfangs mehlige Warzen sich finden und der am Rande gestreift erscheint,
weisses Fleisch, weisse, bauchige Lamellen und einen knolligen Stiel mit einer
dickhäutigen weisslichen, später braunen, dicht anliegenden und nur am stumpfen
Rande freien Wulst. Die Manschette am Stiele ist unregelmässig, vergänglich, oft
schief stehend. Wahrscheinlich sind noch einzelne andere Amaniten giftig, doch
ist dies nicht sicher erwiesen.
Mehrere giftige Pilze enthält die durch steife, saftlose, zerbrechliche Lamellen
mit scharfer Schneide und grosse, runde und warzige Sporen charakterisirte Ab-
theilung der Täublinge. Die wichtigste Art ist der Speiteufel, Russula
emetica Fr., ein in der verschiedensten Färbung (roth , braun , gelb , weiss) auf-
tretender, im Spätsommer in Wäldern vorkommender Pilz mit ziemlich weitläufigen,
freien, gleichlangen, nicht gegabelten, rein weissen Lamellen, und weissem, unter
der Haut röthlichem Fleische. Auch der sehr gemeine, übelriechende Schmierling,
Russula f ottens Fr., ist giftig.
Sehr giftig sind auch mehrere, in Waldungen und auf Grasplätzen
häufige Pilze, der Ekelschwamm, Hebeloma fastibile Fr., der Riss-
pilz, Hebeloma rimosum Fr. und andere Hebelomaarten, wie H. crustu-
liniforme Fr., die jedoch in Folge ihres höchst unangenehmen Geruches selten
eingesammelt werden.
Im südlichen Europa gilt auch ein auf Wurzeln der Olivenbäume vor-
kommender Pilz, Pleurotus olearius Fr., allgemein für giftig. Bei diesem
Pilze ist, wie bei allen Pleurotusarten, der Stiel an der Seite des Hutes angesetzt
oder fehlt ganz, der Hut ist lebhaft roth, hat herablaufende Lamellen und die
auch einzelnen anderen Pilzen zukommende Eigenschaft zu phosphoresciren. Einen
ganz ähnlichen oder identischen Pilz hat INOKO2) aus Japan als giftige Speeles
beschrieben und untersucht. Wahrscheinlich sind noch verschiedene europäische
Pleurotusarten giftig.
Unter den an der Unterfläche des Hutes Röhren, die mit dem Hymenium
überzogen sind, tragenden Pilzen ist Boletus luridus Schaeffer, der Sohuster-
pilz, auch Hexenpilz, Donnerpilz, Feuerpilz, Blutpilz oder Schweinepilz, in
Frankreich Faux ceps oder Oignon de loups genannt, der hauptsächlichste Giftpilz.
Er variirt sehr in Bezug auf die Farbe des Hutes und Stieles und die Grösse
und Gestalt des letzteren. Er charakterisirt sich besonders durch die rothen
Mündungen der gelben Röhren, in denen die rostfarbenen Sporen sich entwickeln.
Besonders giftig scheint die &\qB oletus Satanas Lenz, Satanspilz, beschriebene
Varietät zu sein, bei welcher der Hut polsterförmig, glatt, leicht klebrig, lohbraun,
später fast weiss, der Stiel dunkelroth, dessen oberes Ende bleichgelb oder rost-
roth, später weisslich gegittert, kahl und solid, die Farbe der Röhrchen blassgelb,
ihre Mündung aber dunkelziegelroth ist. Die Bruchfläche läuft bei allen Varietäten
von Boletus luridus blau an.
Ein eigentümliches Gift entwickelt sich endlich noch in der Gattung
der Lorchel oder Faltenmorchel, He Ivel lä. Dieselbe enthält Pilze mit münzen-
förmigem Hute, der in der Mitte von einem Stiele unterstützt, faltig, lappig
und grubig ist und herabgeschlagene Ränder zeigt. Auf der Oberfläche und am
Rande der Mütze sitzen die Sporen, welche nicht, wie bei den früher genannten
Species, zu vier an der Spitze der Zellen der fruchttragenden Schicht, sondern
zu 8 in Schläuchen sieh entwickeln. Man hat hier eine besondere Species als
Eneyclop. Jahrbücher. I. 36
giftige von den übrigen essbaren Lorcheln als Helvella suspecta Kromhh* tb.
gegrenzt doch ist dieses nichts als eine bei grosser Nässe und warmer Witterung
sich bildende Varietät der in vielen Gegenden gegessenen Speiselorchel,
Helvella esculenta und neuere Forschungen haben erwiesen, da** auch
die typische Helvella esculenta ein giftiges Princip enthält.
Die Verhältnisse der Lorcheln und des Boletus luridua scheinen zu zeigen,
dass, wie bei phanerogamisehen Gewächsen, äussere Umstände wesentlichen Ein-
Aus» auf die Erzeugung grösserer oder geringerer Mengen der giftigen Principicu
äussern. Es ist thatsäebltch erwiesen, dass Helvella esrulenta tn Böhmen, Gatiiitti,
Ungarn, Schlesien ein Volksnahrungsmittel bildet, das jahrelang genossen wird, ohn«
dass Uber Vergiftungen etwas verlautbart, dann kommen, anscheinend in Folg«
nasser Witterung, möglicherweise aber auch durch die reichhaltige Producta»,
welche zu dem Genüsse grösserer Mengen Anlass giebt, Jahrgänge, wo die Lorcbei
Anlass zur Vergiftung an verschiedenen Stellen bei einer grossen Anzahl Personen
führt. So kamen im Mai 1855 gegen 80 — 100 Erkrankungen und 46 Todesfälle
bei Broinberg, im Zazover Kreise und im Trencsiner Comitate vor. Aehnliche
Jahrgänge sind: 1846, 1853 und 1879. Boletus luridua wird in Prag, Wies,
Olmütz. Brünn und in Italien vielfach zu Markte gebracht und gegessen , doch
haben schon die alten Rftmer die von ihnen als Suilli bezeichneten, heute noch
in Italien porcino genannten Pilze als eine zweifelhafte Speise bezeichnet und in
der französischen und italienischen Literatur finden sich diverse Todesfälle, die
nicht immer auf die als B. Satanas charakterisirte Varietät f welche bei verschiedenen
deutsehen Naturforschern (Kroxlbholz, Bocbdalkk, Lenz, Paobbos) schwere Ver*
giftungserscheinungen bedingte, zurückgeführt werden können. Vielfach wird auch
behauptet, dass der Fliegenpilz in einzelneu Gegenden ungiftig sei, doch sind die
Angaben darüber wenig zuverlässig. Dagegen hat der Fliegenpilz die eigentümlich*
toxische Wirkung auf Fliegen, welche ihm den Namen gegeben hat, in Japan
kaum, während dieselbe dort in hohem Grade dem Pantherschwamme zukommt,1!
Man bat seit der Entdeckung des Muscarins im Fliegenpilze (1869) dt*
letztere für das giftige Princip der Giftpilze überhaupt angesehen und darauf gestfitrt
z. B, das A tropin als die Mnscar in Wirkungen aufhebendes Gegengift aller Schwamm
Vergiftungen hingestellt. Dies ist irrig, denn einzelne Giftpilze enthalten gir
kein Muscarin, z. B. der giftige japanische Pleurotus, wahrscheinlich auch nicht
Amanita pha Haides, in welcher Boodier ein allerdings noch des genaueren Studioma
bedürftiges Alkaloid , Balbosin, auffand, das, wie auch der Pilz selbst, ganz
andere Krankheitserscheinungen hervorruft wie Muscarin und Amanita muscario.
Selbst die Fliegenpilzvergiftung entspricht nicht der Wirkung des Muscarins, neben
welchem übrigens auch schon andere Basen im Fliegenpilze ermittelt sind, während
das die eigen thtimliche transitoriacbe Manie, als welche sich die Fliegen Pilzvergiftung
in mehreren authentischen Krankheitsgeschichten 4) darstellt, und die Mydriasis
bei der durch viele ältere, aber auch durch neuere Erfahrungen von K&XNABt1)
festgestellten Verwendung des Fliegenpilzes als Berauschungsmittel bei sibirischen
Völkerschaften bewirkende Princip noch nicht mit Sicherheit aufgefunden ist, Ini
Fliegenpilze verschiedener Länder istCholin aufgefunden, das in deutschen (Marburger
Fliegenpilzen relativ reichlicher als in russischen (Dorpater) Fliegenpilzen vorhanden
zu sein scheint und auch im Boletus luridua und Amanita pantherina* in letzterem
sogar zu 0*1% der Trockensubstanz, vorkommt.0) Aber auch das Pilzeholin,
dessen Oxydatiousproduct das Muscarin darzustellen scheint, kann nicht die L'rsaebe
der Pilzvergiftungen sein, denn seine Giftigkeit ist ausserordentlich gering« so dass
0*6 erst eine Katze und 0*7 ein Kaninchen tödten, und ausserdem weicht die Er-
scheinungsreihe ab, denn Pilzcholin ist ein ausgesprochenes curareartig llbm—fa
Gift, das auf den Darm fast gar nicht einwirkt und somit für die choleriformen
Erscheinungen bei den meisten Pilzvergiftungen nicht verantwortlich gemacht
werden kann. Cholin findet sich auch in Hehelta esculenta f als deren giftige*
PILZVERGIFTUNG.
563
Princip nach Böhm und Külz7) keine Base, sondern eine eigentümliche Säure,
Helvell asäure, C13H2o07, die auch auf Kaninchen und Hunde giftig wirkt
und bei diesen die charakteristischeste Erscheinung der Lorchelvergiftung hervor-
ruft. 8) Dieses Gift, das subcutan schwächer wirkt als intern, wird aus wässeriger
Lösung durch neutrales und basisches Bleiacetat nicht gefällt, lässt sich aber den
sehr activen Extracten, die alkoholische Macerationstincturen liefern, durch Aether
entziehen. Im Boletus luridus und Amanxta phalloides existiren ebenfalls eigen-
tümliche Säuren, die aber nicht giftig sind. Ob Cholin und Muscarin als freie
Verbindungen in den frischen Giftpilzen existiren, ist übrigens sehr zweifelhaft;
die Ansicht Giacosa's, dass der frische Pilz Lecithin enthalte, und dass durch
Oxydation der darin enthaltenen Gruppe Ca H5 0 (Hydroxyäthylen) dasselbe in BetaTn
oder Muscarin oder in andere Basen beim Trocknen oder bei der chemischen Be-
handlung übergehe, hat viel für sich. Es ist auch nicht ausgeschlossen, dass im
Darm oder im Blute, namentlich bei Amanxta phalloides, nach welcher die Erschei-
nungen viele Stunden und selbst länger als einen Tag auf sich warten lassen, erst
die Bildung der eigenthümlichen Gifte aus jenen Basen stattfindet, wie auch die
Möglichkeit vorliegt, dass einzelne Pilze Proteotoxine einschliessen.
Man unterschied in früherer Zeit zwei Formen der Pilzvergiftung, eine
gastrische und eine narcotische, doch kommen gastrische und neurotische Symptome
gemischt ausserordentlich häufig vor, und ausserdem werden auch bei vielen Ver-
giftungen Veränderungen des Blutes und der Gewebe constatirt. Rein gastrische
Symptome haben wir bei einzelnen, von den eigentlichen Giftpilzen abzutrennenden
Pilzen, die in rohem Zustande einen scharfen, brennenden Geschmack besitzen und
Harze einschliessen, die auf der Darmschleimhaut heftige Irritation mit Leibschneiden
und Diarrhoen hervorrufen. Solche Harze finden sich namentlich in fein emulgirtem
Zustande in Blätterpilzen, die beim Zerbrechen eine weisse Milch abgeben, z. B.
im Pfefferschwamm, Lactarius piperatus Fr., in der Giftrietsche (Birkenreizker),
Lactarius torminosus Fr., im Mordschwamm, Lactarius necator. Durch
die Einwirkung der Hitze bei der Zubereitung dieser Pilze verschmilzt das fein ver-
theilte Harz zu grösseren . Klumpen, die von den Darmsäften nicht gelöst werden
und abgehen, ohne die von den rohen Pilzen verursachte Darmirritation zu
bedingen. 9) Es ist deshalb der Gebrauch der gekochten Lactarier unschädlich und
nur schlechtgekochte Milchblätterpilze haben hier und da zu Koliken geführt.
Tödtliche Vergiftung durch diese Pilze kommt nicht vor. In ähnlicher Weise
verhält sich wahrscheinlich auch der obenerwähnte giftige Pleurotus aus Japan,
der nach Inoko's Versuchen Gastroenteritis acuta catarrhalis mit nachfolgender
Schwäche bei Hunden erzeugt, doch ist das Gift desselben nicht blos in Alkohol,
sondern auch in Wasser löslich.
Der gefährlichste und wichtigste Giftpilz ist Amanita phalloides
Fr., von welchem der Genuss von 1 — 2 Stück nachweislich den Tod verschiedener
Erwachsener herbeigeführt hat. Die Symptome bestehen zunächst in Uebelkeit,
Erbrechen, Koliken und Durchfällen, welche sich ausserordentlich häufig wieder-
holen und mit intensivem Durstgefühl, grosser Mattigkeit und Abgeschlagenheit
sich verbinden. In hohem Grade auffällig ist das späte Auftreten dieser Er-
scheinungen, die meist erst in 7 — 12 Stunden, nicht selten aber auch erst nach
24 — 30 Stunden sich geltend machen. An diese Erscheinungen schliesst sich
entweder Genesung oder in mehr als ein Drittel der Fälle tödtlicher Ausgang, letzterer
entweder unmittelbar in Folge von Erschöpfung bei Fortdauer des Bewusstseins
bis zum Tode oder später nach einem meist erst am 3. oder 4. Tage auftretenden
Stadium, in welchem cerebrale Erscheinungen, namentlich Coma mit hydrocephali-
schen Schreien, mitunter Delirien, daneben auch Contracturen der Extremitäten,
Trismus und oonvulsivische Bewegungen, vorwalten. Der Tod tritt mitunter in
7 — 12 Stunden ein, häufiger in 20 — 30 Stunden, in protrahirten Fällen selbst
erst nach 6 Tagen. Urinentleerungen sind gewöhnlich selten oder cessiren ganz,
36*
PILZVERGIFTUNG,
wobei sich die Blase prall gefüllt finden kann. In einzelnen Fallen bildet s
icterisebe Färbung der Hant und Bindehaut aus, auch kommt es zu Schwell u
der Leber. Sehr vereinzelt findet sich Epist&xia oder ein urticariaähnliches Exan-
them, Die Pupille ist in der Regel erweitert
Von ganz besonderem Interesse ist der Sectionsbefund , insofern derselbe
eine Analogie der Vergiftung mit den durch Phosphor und Arsenik bewirkten
ersieht. Man findet wie bei diesen iVttige Degeneration der Leber, der Rindeo
Substanz der Nieren und des Herzmuskels, mitunter auch trübe Schwellung der
Magenschleimhaut und Fettdegeneratiou verschiedener Körpermuskeln, der Zunge,
des Zwerchfell», ausserdem subpleurale und intrapulmonale Ecchymosen, mitunter
auch capilläre Hämorrhagien im Magen und Darm. Das Blut ist flüssig, dunkel
kirschbraun, die Pupillen sind erweitert, die Todtenstarre ist wenig ausgesprochen
oder fehlt.
Sehr abweichend ist der Verlauf der Vergiftung mit Amanita mun-
catia* Hier sind die gastrischen Symptome nicht so ausgesprochen oder fehlen
ganz, oft auf tympanische Spannung des Unterleibes, der keine Diarrhoe folgt,
oder auf einmaliges Erbrechen beschränkt, das Bild einer Cholera nostras wie
bei A. phalloides ist nicht vorhanden ; dagegen entwickelt sich rasch entweder
ein soporöser Zustand oder furibunde Delirien oder ein Zustand oompleter
Marita transitoria^ nach dessen Vorübergehen die Kranken sich keiner der von
ihnen verübten Gewalttätigkeiten erinnern. Zittern der Glieder, Zuckungen der
Gesichtsmuskeln, leichte Convulsionen sind meist vorhanden , die Pupille ist er
weitert. Die Symptome treten meist in 1 — 2 Stunden ein. Die Dauer der Ver*
giftuog ist 14 — 24 Stunden. Die Prognose ist weit günstiger; fast Alle, auch
Sc h wer er k rankte , genesen. Die Mydriasis, die in einzelnen Fällen intensive
Dysphagie und die Delirien lassen die Fliegenpilzvergiftung der Intoxication mit
belladonna, Stramonium und Hyoscyamns nahe verwandt erscheinen.
Die bei uns seltene Vergiftung mit Aman ita pantherina entspricht
der Fliegenpilzvergiftung und verläuft mit Schwindel, H&llucinationen, Mydriasis,
Schlafsucht und furibunden Delirien11), dagegen erzeugen Hussa la emetica
und Boletus Satanas heftige Unterleibsschmerzen, Entleerungen nach oben und
unten, selbst Blutbrechen und blutige Diarrhoe mit Waden krampten und Colkip.^
Die Erscheinungen treten in 1 — 2 Stunden auf, Aehnlich verhalten sich dm
giftigen Hebelomen.
Die Lorchelvergiftung erscheint nach demjenigen, was wir Uber
Helvella suspecta gesagt haben, als eine von den Übrigen Pilzvergiftungen ab-
weichende, insofern es sich um den Genuas eines zersetzten Pilzes handelt, der
auch im normalen Zustande eine giftige Substanz enthält. Bei der Zersetzung
bildet sich offenbar eine von dem eigentlichen Loreheigifte verschiedene Substanz,
was daraus hervorgeht, dass normale Lorcheln beim Trocknen ihre Giftigkeit
verlieren l9), während auch getrocknete zersetzte Lorcheln, wie sie der Helvella
suspecta (mit blauviolettem Stiele) entsprechen, Vergiftungserscheinungen erzeugen
können. u) Ob in den giftigen Lorcheln zugleich das eigentliche Lorchelgift io
vermehrter Menge vorhanden ist, ist bisher nicht sicher erwiesen. Dasselbe bringt
nach Boström Vi)t bei Hunden zuerst Schwäche und Mattigkeit hervor, in 1 bis
2 Stunden Erbrechen, nach 12 Stunden Icterus, nach 12 — 15 Stunden Hämo-
globinurie, die 2 — 3 Tage anhält und welcher in 4 — 5 Tagen Albuminurie folgt;
bei schwerer Vergiftung tritt zu der hochgradigen Hämoglobinurie auch intensiver
Icterus, und später kommt es zu tonischen Krämpfen, Anurie, starker Temperatur*
abnähme und Tod am 4« Tage. Bei der Section findet sich ausgesprochene
Todtenstarre, allgemeiner Icterus und Infarct der geraden und gewundenen Harc
canälchen mit Hämoglobinmassen. Die beim Menschen vorgekommenen Lorchel-
vergiftungen sind früher sämratlich als unter dem Bilde der Cholera nostras
verlaufen beschrieben. Nach neueren Beobachtungen11) kommt es in leichteren
PILZVERGIFTUNG. — PNEUMATISCHE THERAPIE.
565
Fällen nur zu massigem Erbrechen, Pupillenerweiterung, leichtem Icterus und zur
raschen Genesung. In schwereren Fällen ist das Erbrechen sehr heftig, später
kommt es zu completer Bewußtlosigkeit, der mitunter Delirien und Jactation
voraufgehen, tetanischer Steifigkeit, Trismus, Schäumen des Mundes, starker
Mydriasis, intensivem Icterus, und der Tod erfolgt in 10 — 18 Stunden. Die
Symptome treten in 4 — 8 Stunden ein. Die Section ergiebt ausser Icterus und
Mydriasis dunkles, flüssiges, fibrinarmes Blut, Hyperämie und Lockerung der
Magenschleimhaut, Ecchymosen in der Cutis und Fettleber. Die Todtenstarre
ist vorhanden.
Die Behandlung der Pilzvergiftung erfordert schleunige Fortschaffung
der Ingesta durch Brechmittel und Purganzen. Selbst nach mehreren (10 — 16)
Stunden kommen noch Pilzreste im Magen vor. Tannin ist als chemisches Antidot
brauchbar. Die Empfehlung des Atropins als allgemeines Antidot bei Pilzen ist
illusorisch, da es sich nicht um Neutralisation der Muscarinwirkung handelt, doch
kann es bei Erbrechen günstig wirken. Aether und andere Excitantien sind bei
Gollaps und zu dessen Verhütung indicirt.
Zur Verhütung der Lorchelvergiftung ist es angezeigt, das zum Kochen
derselben verwendete Wasser fortzu schütten, da das giftige Princip in dieses voll-
ständig übergeht.
Literatur: l) Boud ier-Husemann , Die Pilze in ökonomischer, chemischer
nnd toxikologischer Hinsicht. Berlin 1867, pag. 134. — *) Inoko, Mittheilnngen der Uni-
versität Tokio. 1889, I, pag. 277. — ») Inoko, Archiv f. exper. Pathol. 1890, XXVU,
pag. 297. — 4) Vergl. Bondier-Hnsemann, pag. 127; Wutscher, Wiener med. Presse.
1872. — 6) Kennan, Tent life in Siberia. 1871. — 6) Böhm, Archiv f. exper. Pathol.
1885, XIX, pag. 60. — *) Böhm und Külz, Ebenda, pag. 403. — *) Giacosa, Riv. di Chim.
med. 1883, pag. 3b9. — *) Bondi er-Hnsemann, a. a. O. pag. 139. — 10) Vergl. über den
Leichenbefund der Vergiftung mit A. phalloides H. Sah Ii, Mittheil, der Berner Naturf.-Gesellsch.
1885, H. 1. — ") Giacosa, a. a. 0. pag. 136. — l>) Boström, Deutsches Archiv f. klin.
Med. 1883, XXXII, pag. 209. — 1S) Jonqniere, B. Stnder, R. Demme nnd Berliner-
blau, Mittheilungen der Berner Naturf.-Gesellsch. 1888, pag. 104. — ") Maurer, Bayr. ärztl.
Intelligenz-Bl. 1881. Nr. 1, 2. Husemann.
Piperazidifl. Dieses Präparat, welches nach A. W. v. Hofmann iden-
NH
tisch mit Diäthylendiamin , Ca H,<(^g^>C, H4 , ist, wurde statt des Spermin 8
(s. d.) als erregendes Mittel empfohlen. Doch ergaben Versuche bald, dass diesem
von den erregenden Eigenschaften, die Brown - Sequard dem Hodensafte zuer-
kennt, keine zukommen. Hingegen soll das Piperazidin, in wässeriger Lösung
mit Harnsäure zusammengebracht, zwölfmal so viel davon lösen als kohlensaures
Lithion, in gleicher Weise damit behandelt. Das von der Actienfabrik vormals
E.Schering nach einem unbekannten Verfahren dargestellte Präparat stellt
farblose, in Wasser leicht lösliche Krystalle dar, die mit Salzsäure ein gleichfalls
leicht lösliches , gut krystallisirendes Salz geben.
Literatur: W. Majert und Albrecht-Schmidt, Zur Kenntniss des Spermin,
dessen Nichtidentität mit Piperazidin. Bericht d. Deutschen ehem. Gesellsch. XXIV, pag. 241.
„Spermin und Piperazidin.** Th«?rap. Monatsh. 1891, pag. 38. — E. Schnitze, Piperazidin
bei Geisteskranken. Ebenda. 1891, pag. 244. — Umpfenbach, Versuche mit Piperazidin.
Ebenda. 1891 , pag. 248. Loeb isch.
PlattenCUlturen, s. Mikroben, pag. 486.
PlatzanQSt, s. Agoraphobie, pag. 33.
Pleuritis, s. Brustfellentzündung, pag. 120.
Pneumatische Therapie. Bd. XV, pag. 626 ff. dieser Encyclopädie,
II. Aufl., ist der betreffende Gegenstand, soweit er die pneumatischen Kammern
betrifft, durchaus erschöpfend besprochen, so dass eine Vervollständigung jener
Arbeit heute in keiner Weise angezeigt erscheint, um so weniger, als weder
566
PNEUMATISCHE THERAPIE,
in Bezug auf Theorie, noch auf praktische Verwendung der Methode seither
wesentlich neue Gesichtspunkte aufgetaucht sind. Dagegen dürfte eine Umarbeitung
des zweiten Tbeiles jenes Artikels, der von den transportablen pneumati*
Beben Apparaten handelt, nach der praktischen Seite hin um so eher
gerechtfertigt erscheinen , als gerade auf diesem Gebiete im Laufe der letzten
Jahre manche neue Beobachtnagen gemacht wurden, welche deren Bedeutung in
ein besseres Licht zu stellen geeignet sind.
leb selbst habe die pneumatische Therapie nunmehr seit 1 2 Jahren
in ausgiebigster Weise verwendet, darunter 6 Jabre hindurch mit Hilfe der pneu-
matischen Kammer sowohl wie des Schöpfradgebläses von Geigel
& Mayer, späterhin mit Hilfe des letzteren allein, und habe dabei reichlich Ge-
legenheit gehabt, vergleichende Studien zu machen, welche mir vor Allem die
Ueberzeugnng aufgedrängt haben, das& es durchaus nicht richtig sei , beide Be-
handlungsmethoden in einen Gegensatz zu einander zu stellen. Es handelt »ich
freilich bei beiden um Einathmung der verdichteten bei der letzteren auch tun
Ausathmung in verdünnte Luft t welche Methoden allein praktisch in Betracht
kommen. Da jedoch in dem einen Falle der ganze Körper nnter erhöhtem
Drucke, und zwar für die Zeit von 1 — 2 Stunden, erhalten wird, in dem anderen
Falle der erhöhte Druck sowohl wie der verminderte auf daa Athmungsorgin
allein , in zweiter Reihe erst auf die Cireulationsorgane ihren Einfluss gelt« ad
machen, und das nur für die kurze Dauer von 50 — 100 Athemzügen T so liegt
es auf der Hand, dass wir in mannigfacher Weise verschiedene Resultate erzielen
müssen. Wir werden selbstverständlich bei dem Gebrauche der Kammer in erster
Reihe A 1 1 g e im e i n w i r k ti n u r c u . pxn l besonders auch ein Hervortreten der
chemischen Wirkung in unsere Berechnung ziehen, während wir anderer
seits bei den transportablen Apparaten wieder mehr von der mechanischen
Wirkung erwarten. Dem entsprechen auch unsere Indicationen für den Gebrauch
des einen oder anderen, und es lehrt auch die vergleichende Beobachtung, daa
beide Methoden vielfach andere Wirkungsgebiete haben, wenn es auch wieder in
manchen Fallen schwierig sein dürfte, dem einen den Vorzug zu geben, trod
man sich mehr von äusseren Umständen wird leiten lassen müssen. So glaube
ich z. B. nach ziemlich ausgedehnten vergleichenden Beobachtungen, dass die
Kammer bei Stoffwechselerkrankungen, bei Keuchhusten (Schlief,
LtEBlüJ, bei gewissen Formen von Catarrh (besonders den mit geringer«
Secretion einhergehenden), bei Asthma ner v, ohne stärkeren Catarrh uod
Emphysem, vor Allem endlich bei Kreislaufstörungen unbedingt vorzu-
ziehen, ja zum Theil allein anzuwenden sei, während ich wiederum, wie später gezeigt
werden wird, bei Emphysem, hei stark secernirendem Catarrh, beiden
Folgen des pleuritischen Exsudates die transportablen Apparate
ohne Frage in erster Reihe stellen zu müssen glaube. Mit solcher Einschränkung
möchte ich Alles in jener Arbeit von Knauthe Gesagte unterschreiben.
Wenn die Erfahrungen Anderer über die transportablen Apparate weniger
günstig lauten, so dürfte das auf den Umstand zurückzuführen sein, dass zunächst
nicht Alle mit dem zweckmäßigsten Apparate gearbeitet haben, dann aber auch
darauf, dass die Hebungen nicht überall mit der nöthigen Vorsicht, der ständigen
Controle vorgenommen worden sind, wie das doch bei einem so eingreifenden Ver-
fahren durchaus nothwendig ist und bei Anwendung der Kammer als selbstver-
ständlich vorausgesetzt wird.
Als einzig allen Anforderungen entsprechenden Apparat kann ich aber
nur das grosse doppelte Schöpfradgebläse von Geigel & Mayer bezeichnen,
weil bei diesem altein ein langsames Ein- und Ausschleichen möglich ist,
und man damit der Lunge und dem Herzen Zeit gewähren kann , sieh den ver-
änderten Druck Verhältnissen anzupassen. Warum sollte denn die Befolgung einer
solchen Vorsicbtsiuassregcl hier nicht mindestens von gleicher Bedeutung sein wie
PNEUMATISCHE THERAPIE.
567
bei der pneumatischen Kammer, wo das doch als absolut nothwendig
erkannt ist, und wo die Wirkung der Druckdifferenzen, wenn es sich auch um
viel geringere Werthe handelt, doch aus dem Grunde eine sehr erhebliche sein
muss, weil hauptsächlich die Lunge allein dieselben auszuhalten hat. In keiner
Weise massgebend erscheinen mir endlich alle Versuche, welche mit Benützung
einer Mun dspitze statt mit der Mund-Nasenmaske angestellt wurden,
weil bei jener niemals ein regelrechtes Ein- und Ausathmen, sondern fast aus-
nahmslos nur ein Saugen und Blasen stattfindet.
Das Schöpfradgebläse hat freilich den grossen Nachtheil, dass es recht
theuer ist (980 Mark), und dass bei demselben von einer Transportabilität im wahren
Sinne des Wortes seines bedeutenden Gewichtes wegen wohl kaum die Rede sein
kann. Will man jedoch vergleichende Versuche zwischen pneumatischen Kammern
und sogenannten transportablen Apparaten anstellen , so darf man sich jedenfalls
nur des letzteren als des zur Zeit vollkommensten dieser Apparate bedienen. Bei
Besprechung der einzelnen Indicationen und Gebrauchs-Vorschriften werde ich
manchen der erwähnten Punkte noch ausführlicher zu besprechen haben; ich
möchte nur an dieser Stelle nochmals betonen , dass eine genaue Controle der
Uebung durchaas nötbig ist, da ohne eine solche die unglaublichsten Verstösse
gegen die Vorschriften von Seiten der Patienten sowohl wie der Bedienung gemacht
werden, für welche man doch gewiss nicht die Methode an sich verantwortlich
machen kann. Den Gebrauch anderer Apparate kann ich nur für einen Nothbehelf
ansehen und kann nicht zugeben, dass für etwa auftretende nachtheilige Wirkungen
oder Misserfolge die Methode als solche verantwortlich gemacht werde.
Unter den mit Vortheil der pneumatischen Behandlung an dem Schöpf-
radgebläse zuzuweisenden Krankheiten stehen in erster Reihe die Bronchial-
catarrhe aller Art. Acute Formen kommen nur ausnahmsweise in Behand-
lung; wo das aber geschiebt, da tritt gewöhnlich die reizmildernde Wirkung der
comprimirten Luft in die Erscheinung, und zwar nicht nur während der Inhalation
selbst, und damit zugleich meist auch eine Abkürzung des Verlaufes. Ganz besonders
auffällig tritt jedoch der Nutzen pneumatischer Behandlung bei Bronchitis
chronica zu Tage. Zunächst wird die Expectoration ausserordentlich befördert,
und macht sich diese Wirkung schon bei der Einathmung comprimirter Luft
geltend, um schliesslich oft gerade erstaunliche Resulate zu erzielen, sobald man
diese mit Exspiration in verdünnte Luft combinirt. Zu Anfang der Cur wirkt
diese Metbode etwas reizend, bald gewöhnt sich der Patient jedoch an diesen
Reiz des combinirten Verfahrens, bei welchem selbstverständlich in Rücksicht
auf die grössere Druckdifferenz keine so hohen Werthe zu verwenden sind; es
wird gut vertragen, ja, man kann nach Bedürfniss sogar mit Ausathmung in
verdünnte Luft allein sch Hessen. Macht man es sich zur Regel, die Wirkungen
der pneumatischen Cur mit dem Ohre an der Brust des Patienten zu verfolgen,
so wird man sich jedesmal von dem günstigen Einflüsse überzeugen können,
zugleich aber auch im Stande sein, Modificationen in der Behandlungs weise recht-
zeitig eintreten zu lassen. In einer ganzen Reihe von Fällen konnte ich mich
überzeugen , dass selbst nachweisbar bronchiectatische Erscheinungen mehr oder
weniger vollständig verschwinden können. Sind die Bronchien gehörig ausgeräumt,
kann die Luft wieder überall , bis in die feinsten Alveolen, eindringen , werden
mit einem Worte die Lungen besser ventilirt, so muss selbstverständlich auch die
Circulation daselbst freier, die Stauung in den Venen geringer werden, der Gas-
austausch ungehinderter von Statten gehen und endlich auch die chemische Wirkung
zu Tage treten, während andererseits Schwellung und Secretion der Schleimhaut
abnehmen und damit die Dyspnoe beseitigt wird, der Catarrh verschwindet. Zur
Beförderung letzterer Vorgänge verwende ich mit Vorliebe ein Imprägniren der
eingeathmeten Luft mit Ol. Terebintktn. oder in letzter Zeit häufiger mit OL
Eucalypti entweder mit Hilfe der WüLFF'schen Flasche oder noch einfacher,
568
PN E TM ATISCHE THERAPIE.
indem ich das untere Ende de» Ventiles mit einem Gasläppchen , welches mit
einigen Tropfen obiger Mittel befeuchtet ist, armire.
Dieses einfache Verfahren erweist sich , zur rechten Zeit angewend-
meist sehr wirksam und kann nicht genug empfohlen werden r um so mehr, i
wir das tiefe Eindringen der mit den Medicamenten geschwängerten Luft aus-
cu Itator iseh verfolgen können , im Gegensatze zu dem gewöhnlichen, nicht tief
eindringenden Inhalationsverfahren.
Von den früher bei Catarrhen gebrauchten Salmiaklösungen ♦ wie sie
Crox so warm empfiehlt, bin ich in letzter Zeit immer mehr zurückgekommen t
weil ich Anfangs genügende Wirkung von der comprimirten Luft allein erhielt
tiud in spateren Stadien einen ganz auffallend besseren Erfolg iu Bezug auf
Verminderung der Secretion durch Verwendung von Eucalyptus oder Terpentin
beobachtete.
Das« man auf diese Weise auch auf hartnackige Spitzencatarrbe, sei
es bei sogenanntem paralytischen Thorax oder bei Leuten, welche in Folge atändi?
vorgebeugter Haltung bei der Arbeit in schlecht ventilirten Räumen die Spitzen-
athmung fast ganz vernachlässigen, günstig einwirken wird, ist einleuchtend,
und habe ich derartige Erfolge vielfach beobachtet.
Das Schöpf radgeblflse behauptet in solchen Fällen entschieden seine
Snperiorität , weil mittelst desselben zugleich eine denkbar vollkommene Lungen-
Gymnastik ausgeübt wird, und die Patienten durch bald erlerntes Vollatbmen auch
auf die Dauer ihre bisher so sehr vernachlässigten Lungenspitzen zu ventilim
gewöhnt werden. (Von den Verdichtungen des Lungengewebes weiter unten.)
Einer der am häufigsten zur pneumatischen Behandlung gelangenden
Krankheitszustände ist das Emphysem, und gerade über diesen Punkt, d. h.
darüber, ob die pneumatische Kammer oder der transportable Apparat bei Be-
handlung desselben vorzuziehen sei, machen sich die verschiedensten Auffassungen
geltend. Von irgendwie nennenswerthem Erfolge bei Emphj-sem im pathologisch»
anatomischen Sinne, wo mehr oder weniger alveolares Gewebe zu Grunde gegangen,
Rarefication eingetreten ist. kann selbstverständlich keine Hede sein, sondern nur
von sogenannter Lungenblähung, wo die Elasticität des Lungengewebes theil-
weise ausser Thatigkeit gesetzt ist (Vol. pulm, attct,)* Wer wäre aber wohl im
Stande, gegebenen Falles zu diagnoeticiren, wie viele elastische Fasern zu Grunde
gegangen oder nur zunächst ausser Function gesetzt seien ? Wir sind gezwungen,
ein Uebergangsstadium anzunehmen, in welchem die acute Lungenblähung,
die sich, je öfter sie eintritt und je länger sie andauert, um so unvollkommener
zurtickbildet und jedesmal wieder eine Anzahl elastischer Fasern gelähmt zurück -
lässt, bis diese all mal ig ganz verschwinden , und sich Rarefication des Gewebes
der Lunge immer weiter ausbildet , in Emphysem verwandelt. In dem ersteo
Stadium ist dagegen noch eine mehr oder weniger vollständige Restitutio ad
integrum möglich.
In diesem Uebergangsstadium müssen wir eingreifen und hier werden
wir Grosses leisten. Es ist unzweifelhaft, dass in solchen Fällen, besonders in der
ersten Zeit, auch die pneumatische Kammer sehr schöne und nicht nur palliative
Erfolge erzielt. Diese Erfahrung schien längere Zeit hindurch der Beobachtung
Lirbig s. dass die in der Kammer erreichte erweiterte Lungenstellung nie mehr
auf das frühere Maass zurückgehe , zu widersprechen, bis Knacthe durch Auf-
stellung seiner Theorie auch die Erklärung hierfür brachte.
Derselbe zeigte, dass die Annahme, es herrsche im pneumatischen Cabinet
allseitig ein gleichmäßiger Druck, eine irrige sei, indem für die Zeit, innerhalb
welcher der veränderte Druck sich auf jede Zelle des Körpers geltend gemacht
hat, ein einseitiger Druck bestehe. Er stellt die mechanische Wirkung dieses ein-
seitigen Luftdruckes als Ausgleichung^wirkung auf die Lunge in folgender Weis*
dar: 1. Der ansteigende und der im Cabinet die übliche Zeit andauernde eonstant*
PNEUMATISCHE THERAPIE.
569
Druck bedingt eine mechanische Erweiterung der Longe. 2. Der absteigende eine
mechanische Retraction derselben.
Bei alten, decrepiden Leuten, denen der Gebrauch des transportablen
Apparates häufig schwierig wird, dürfte die Kammer vorteilhafter sein, doch habe
ich bei zahlreichen vergleichenden Versuchen gefunden, dass die betreffenden
Patienten sich an dem Schöpfradgebläse nicht selten noch besser befanden, und
in kürzerer Zeit das Zurückkehren der Lungengrenzen physikalisch nachweisbar
wurde. Wenige, sorgfältig beobachtete und controlirte Fälle genügen, um die
ärgsten Zweifler an der Wirksamkeit der pneumatischen Cur zu bekehren.
Lazarus glaubte nachgewiesen zu haben, dass die Annahme, es würde
bei Ausathmung in verdünnte Luft mehr Residualluft entleert, eine irrige sei,
und erklärt diese den physikalischen Gesetzen widersprechende Erscheinung damit,
dass ein jedesmal eintretender Glottiskrampf der Aspiration in den Apparat ent-
gegenwirke. Ich habe einen solchen Glottiskrampf bei vielen Tausenden von
Athmungen niemals gesehen, constatirte weiter jedesmal ein vergrössertes Quantum
von ausgeathmeter Luft — wie das auch den physikalischen Gesetzen zu Folge
sein muss, und konnte mich endlich durch Auscultation davon überzeugen, dass
immer noch Luft ausströmte, nachdem bereits jede Eigenthätigkeit von Seiten des
Patienten aufgehört hatte. Zudem beweisen zahlreiche Controlversuche (Wunderlich,
Grummacher, Cobval), dass die Behauptung von Lazarus durchaus auf unrich-
tiger Beobachtung beruhen müsse ; auch widerspricht endlich des Letzteren Einge-
ständnis^ dass die transportablen Apparate ihre Wirkung einzig durch energische
Lungengymnastik zu entfalten vermöchten, jener Annahme.
Zugeben muss ich aber, dass Waldenburg viel zu hohe Werthe ange-
nommen hatte ; solche werden erst erreicht, wenn dieses Plus der ausgeathmeten
Luft sich bei länger fortgesetzten Sitzungen cumulirt. Wir werden also wohl am
Besten thun, daran festzuhalten, dass sowohl die Kammer, wie der pneumatische
Apparat bei Emphysem günstige Resultate entfalten könne und die Wahl der
Metbode mehr von specieller persönlicher Erfahrung und äusseren Umständen
abhängen lassen.
Etwas Anderes ist es mit der Behandlung des Asthma, bei welchem ich
im Allgemeinen auch nach zahlreichen vergleichenden Beobachtungen an den
gleichen Patienten, der pneumatischen Kammer den Vorzug gebe und den trans-
portablen Apparat nur dann anwende, wenn es sich um gleichzeitig bestehenden
Catarrh mit reichlicher Secretion oder um deutlich entwickelte Lungenblähung
handelt. Der Versuch der Anwendung der Kammer während des Anfalles ist mir
ebenfalls niemals geglückt, wohl aber ist es mir gelungen, solche Anfälle gelegent-
lich an dem transportablen Apparate zu coupiren, wenn ich durch sorgfältige
Unterstützung der Ausathmung (vorsichtig verstärkte Compression des Thorax
mittelst eines breiten Gürtels) und Regulirung der Einathmung unter unausgesetzter
Oontrole allmälig das Ein-, resp. das Ausathmungshinderniss , den Krampf der
Bronchien und des Zwerchfelles, zu beseitigen vermochte.
Von einer Behandlung oder gar Heilung des tuberkulösen Processes
kann selbstverständlich nur in dem Sinne die Rede sein, dass man durch Be-
seitigung von Schwellung der Schleimhaut, durch Ausräumung von Caveruen, durch
bessere Ventilation günstigere Verhältnisse schaffen, endlich durch Herstellung
freierer Circulation in den erkrankten Lungentheilen die Heilungsempfindungen
besser gestalten kann.
Ich verfüge selbst über einige sehr günstige Heilungsresultate, welche
freilich aus der Zeit vor der KoCH'schen Entdeckung datiren, jedoch durch jahre-
lange Beobachtung mit Sicherheit festgestellt werden konnten. Bei Neigung zu
activen Blutungen muss man selbstverständlich mit grosser Vorsicht zu Werke
gehen, wenn ich persönlich auch niemals irgend welche unangenehme Erfahrung
gemacht habe. Welch grossen Nutzen wir bei tuberkulösen Processen mit unserer
570
PNEUMATISCHE THERAPIE.
Methode schaffen können, indem wir nach Vernichtung der Bacillen die Ausräumung,
die Beseitigung' des erkrankten Gewebes befördern, bedarf kaum mehr besonderen
Hinweises. Die Heilwirkung' der epochemachenden Koch 'sehen Injectionen werden
wir damit wesentlich unterstützen könucn,
Auf keinem anderen Gebiete dürfte jedoch die hervorragende Bedeutung
der transportablen Apparate so klar zu Tage treten wie bei Behandlung der
Folgen des pleuritischen Exsudates. Kommt man auch heute, wo bei
pleuritisebem Exsudate die Pimction, eventuell die Entleerung durch Schnitt immer
mehr zur Regel wird, nicht mehr so häufig in die Lage, Verödung des
Lungengeweb es und Retraction des Thorax zu beobachten, so bleiben
Immer «och derartige Fttlle übrig, und gerade diese stellen mit die dankbarsten Objecte
zur Behandlung mit dem transportablen Apparate dar. Vor Einführung der mechani-
schen Lungen therapie standen wir diesen Zustünden ziemlich ohnmächtig gegenüber;
trotzdem hören wir auch heute noch Bergsteigen, forcirtes Athmen bei auf dem
Kopfe gelegtem Arme der kranken Seite dringend empfehlen, während wir uns
doch in jedem einigermaasen ernsten Falle durch Auscultiren tiberzeugen können»
dass wir mit solchen Massregeln sehr wenig erreichen, dass selbst die pneumatische
Kammer, weil auf beide Seiten des Thorax und der Lunge gleichmäßig wirkend,
kaum mehr wie palliativen Nutzen zu bringen vermag* Die comprimirt gewesenen
Lunken abschnitte mit ihren verklebten oder gar schon zum Theii obliterirten
Alveolen, mit erlahmtem elastischen Gewebe, lassen sich eben mit so geringen
Mitteln nicht wieder zur Entfaltnag und Leistungsfähigkeit bringen.
Ein jeder Fall wird sich selbstverständlich nicht für die mechanische Be-
handlung eignen; wir werden dieselbe mit einigermaasen sicherer Aussicht auf
Erfolg überhaupt nur dort anwenden können, wo es sich wahrscheinlich nicht um
zahlreiche, weit ausgedehnte Verwachsungen handelt, wenn auch verschiedene Be-
obachtungen sich sehr günstig ftir derartige Behandlung sogar bei eitrigem Exsudate
nach Eröffnung der Pleurahöhle aussprechen, und theoretische Erwägungen die
Anwendung einer solchen Methode befürworten würden. Bei dem immerhin in dieser
Beziehung meist unsicheren Ergebnisse der Untersuchung werden wir in jeden
Falle zunächst mit ganz geringem Drucke (1/1oo — Nu) Versuche anstellen müssen
und erst allmfllig, schrittweise vorwärts geheu. Sobald Reizerscheinungen oder
vermehrte Dyspnoe eintreten, gehen wir auf niedrigen- Werthe zurück, um später
wieder eine Steigerung zu versuchen. Ein solches Verfahren ist zwar sehr mühsam
und zeitraubend, ist aber hier geradezu unerläsalich ; wer diese Mühe und Zeit
nicht aufwenden kann oder mag, der sollte ganz besonders in solchen Fällen
niemals Versuche mit pneumatischer Behandlung anstellen, sieb aber auch hüten,
etwaige ungünstige Resultate der Methode selbst zur Last zu legen.
Mit vollem Rechte hat man die Befürchtung ausgesprochen, dass die Ein*
athmung comprimirter Luft die gesunde Lunge aufblähe, das ohnedies im Laufe
der Krankheit entstandene Emphysem steigere und auf diese Weise mehr geschadet
wie genützt werden könne. Derartigen unliebsamen Ereignissen, dem künstlichen
Emphysem, muss und kann jedoch mit Leichtigkeit vorgebeugt werden, wenn die
gesunde Seite mittelst beider Hände oder noch viel besser durch Einhängen
in einen breiten Gürtel zu mehr oder weniger vollständiger Untätigkeit
gezwungen wird. Da bekanntlich das pleuritische Exsudat meist nur eine Seite
oder doch vorwiegend nur die eine Seite befallt, so ist man in der günstigen
Lage, von diesem wichtigen Unterstützungsmittel in den meisten Fällen Gebrauch
machen zu können*
Dass man nur mit kleinen Druck werthen anfangen müsse, ist ebenso
selbstverständlich , als dass man jeden unvermittelten Uebergang zu vermeiden
habe. Leider aber kann man dieser letzten Forderung bei den am meisten ver-
breiteten Apparaten nicht gerecht werden, und habe ich darum auch nur mit
dem Sc h <">p f rad gebläse von Geigel & Mayer gearbeitet, weil mir selbst
PNEUMATISCHE THERAPIE.
571
ein Sprung bis zu 1 100 Atmosphäre zu gewagt erschien. Ieh gebe gern zu, dass
auch mit den nach Gasometer-Art construirten Apparaten unter günstigen Um-
ständen, bei leichten Fällen gunstige Erfolge erzielt werden können, halte aber
deren Anwendung trotzdem bei einigermassen erheblichen Folgen des pleuritischen
Exsudates für geradezu bedenklich. Das sorgfältige Ein- und Ausschleichen darf
nicht vernachlässigt werden, um so weniger, als auch das ohnehin schon mehr
belastete Herz sich keineswegs gleichgiltig gegen derartige unvermittelte Ueber-
gänge, gegen solche Druckschwankungen, zu verhalten pflegt.
Sobald man im Verlaufe der Behandlung durch Auscultation nachweisen
kann, dass die seither luftleeren Partien wieder Luft eindringen lassen, ist es
Zeit, vorsichtig die gleichzeitige Ausathmung in verdünnte Luft zu versuchen, um
die Elasticität des Lungengewebes wieder herzustellen und zu starkes Aufblähen
zu verhindern. Gelingt der Versuch, treten keine Reizerscheinungen ein, so schreitet
nun die Besserung meist in ungleich rascherem Tempo vorwärts, und kann man
dann bald + und — gleichstellen, ja zuletzt mehr Unter- wie Ueberdruck nehmen,
und wird dann auf diese Weise auch das vicariirende Emphysem deutlicher zurück-
gehen sehen. Ich habe fast ausnahmslos die Beobachtung gemacht, dass das subjective
Befinden der Patienten schon ein wesentlich besseres wurde, die Dyspnoe sich
wesentlich verminderte, wenn wir auch durch Auscultation und Messung erst einen
relativ geringen Fortschritt constatiren konnten, und werden wir hierin wohl den
Beweis dafür sehen dürfen, von welcher Bedeutung der Ausfall eines relativ kleinen
Theiles des Lungenparenchyms, resp. eine geringe Zunahme der Luugencapacität
ist, nicht minder aber auch die theilweise Wiederherstellung des gestörten Capiilar-
kreislaufes und die gebesserte Ernährung des Gewebes. Diese relativ bald eintretende
Besserung ist dann freilich wieder nur zu oft Schuld daran, dass die Patienten
die Cur zu früh unterbrechen, und damit das Resultat der Behandlung nur ein
halbes bleibt, ja in Kürze wieder ganz verschwindet.
Ich habe mich bemüht, durch eine kleine Auswahl kyrtometrischer Mes-
sungen aus einer früheren Arbeit (Archiv für klinische Medicin) die günstige
Wirkung der pneumatischen Cur ersichtlich zu machen und habe den Fortschritt
durch Eintragen der allmälig erreichten Resultate dargestellt:
Fig. 60.
Zu Figur 69: Herr L., 28 Jahre. Vor 7 Monaten Pleuritis, sehr
geschwächt, stark dyspnoisch. Die Curve zeigt das Resultat nach 16 Tagen. Dabei
sehr erholt, Dyspnoe viel geringer. Patient setzt die Cur an einem anderen Ort
fort, und soll die Besserung noch erheblich fortgeschritten sein.
Figur 70. Herr v. M., 32 Jahre. Vor 14 Jahren Pleuritis serosa. Trotz
ziemlich starker Einziehung und abgeschwächtem Athem Dyspnoe nur bei rascherem
Gehen und Steigen, hochgradige Neurasthenie. Das verzeichnete Resultat mit fast
völligem Schwinden jeder Athmungsbebinderung wurde in 24 Tagen erreicht.
572
PNEUMATISCHE THERAPIE.
Figur 71. Herr B., 31 Jahre. Seit 1 Jahre stets Catarrh, vor 6 Monaten
pieuritisches Exsudat nachgewiesen. Linke Seite fast unbeweglich, starke Ein-
ziehung, Athmung8geräu8ch nur hie und da schwach hörbar, starke Dyspnoe, so
dass Treppensteigen kaum möglich. Nach 4 Wochen Patient sehr frisch, geht mit
Leichtigkeit 6 Kilometer, davon 3 anhaltend bergauf; keine Spur von Catarrh.
Fig. 70.
Will man aber so günstige Resultate erreichen, so scheint es mir durch-
aus nothwendig, dass man keine der eben angefahrten Cautelen vernachlässigt und
sich vor Allem Zeit und Mühe nicht verdriessen lässt.
Fig. 71.
Zum Schlüsse kann ich nur wiederholen, dass es mir nach oben darge-
legten Beobachtungen durchaus ungerechtfertigt erscheint, der einen oder anderen
Methode der pneumatischen Therapie von vorneherein den Vorrang bei Behand-
lung von Lungenleiden zuzusprechen. Beide Methoden haben manche Wirkung
gemein, zugleich hat aber auch eine jede ihre ganz besonderen Indurationen.
Wenn nun sogar den transportablen Apparaten, mit Ausnahme der an denselben
zu erreichenden kräftigen Lungengymnastik , jede reelle Leistungsfähigkeit abge-
sprochen werden soll, so muss ich und mit mir eine nicht geringe Zahl von
beschäftigten Aerzten einer solchen Behauptung ganz entschieden widersprechen,
und glaube ich auch die Berechtigung für meine Auffassung in Vorstehendem
vollständig erwiesen zu haben. Daher verlange ich aber auch, will man anders in
irgend schwierigen Fällen wahrhaft gute Erfolge sehen, die Verwendung des zur
Zeit brauchbarsten transportabel Apparates, d. h. des doppelten Schöpf-
radgebläses von Geigel & Mayer, gut schliessende Masken mit breitem
Gummiringe, unausgesetzte Controle durch den Arzt selbst mit häufig wiederholter
Auscultation während der Sitzung, langsames Ein- und Ausschleichen und genügend
lange Fortsetzung der Our. In Bezug auf die Druckwerthe möchte ich endlich
PNEUMATISCHE THERAPIE. — PSEUDOBULBÄRPARALYSE. 573
den Grundsatz aufstellen, dass man, oben angeführte Ausnahme abgerechnet, im
Allgemeinen mit Vioo Atmosphäre anfangen und nicht über 1/l0 Atmosphäre steigen
sollte; nur ausnahmsweise dürfte man bis auf Vso gehen, und das nur bei dem
Versuche der Coupirung eines asthmatischen Anfalles.
Literatur: v. Corval: Beitrag zur Beurtheilung der Hydro- und Pneumatotherapie.
Berlin, klin. Wochenschr. 1881, Nr. 30. — v. Corval und Wanderlich, Beobachtungen
aus der curarztlichen Praxis. Deutsche med. Wochenschr. 1684, Nr. 29—21. — v. Corval,
Pneumatotherapie nach pleuritischem Exsudat. Archiv f. klin. Med. 1886. — v. Corval, Die
pneumatische Therapie vor dem Verein für innere Medicin zu Berlin. Deutsche med. Wochenschr.
1883, Nr. 15, 16. — v. L ieb i g , Wirkung des erhöhten Luftdruckes in der pneumatischen Kammer
bei Asthma. Verhandlungen des IV. Coogresses für innere Medicin; desgl. V. Congress. An-
wendung der pneumatischen Kammer bei Herzleiden. Corval
Pneumaturie. In einem von Friedrich Müller beobachteten Falle
(60jähriger an Blasencatarrh leidender Mann) entwickelte der in der Blase- befind-
liche Harn ein Gas, welches, in den Eudiometer aufgefangen, hohen Gehalt an
Wasserstoffgas und Kohlensäureanhydrid zeigte. Der betreffende Urin reagirte
sauer, war trübe, enthielt sehr geringe Mengen Eiweiss, im lange aufbewahrten
Harn konnte Zucker nicht nachgewiesen werden, der frische Harn enthielt
0*6 — 2*5% Zucker. Auch der vom Patienten entleerte Harn zeigte, in Gährungs-
röhrchen gebracht, Gasentwicklung. In diesem Falle war also das Gas durch eine
im Harn selbst verlaufende Gährung bedingt, u. zw. war es der Zucker, der dabei
gährte, denn es gelang nur im frischen, nicht im vergohrenen Harn Zucker
nachzuweisen.
Literatur: Friedrich Müller, Ueber Pneumaturie. Berl. klin. Wochenschr.
1889' «• Loebisch.
Pneumonie, Aderlassbehandlung, pag. 27. — PneilltlonieCOCCUS,
s. Brustfellentzündung, pag. 121 ff.
Polydipsie, s. Diabetes insipidus, pag. 198. — Polyurie, Ibid.
pag. 197.
Propeptonurie wies Loeb unter 12 Fällen von Masern 9 mal nach.
Salpetersäure, dem Harn tropfenweise zugesetzt, gab einen weissen Niederschlag,
der sich beim Erwärmen auflöste und beim Erkalten wieder erschien. Die Er-
scheinung trat zumeist im Beginn oder im Verlauf der Defervescenz auf. Aetio-
logisoh wird auf eiue Vergrösserung der Leber hingewiesen, die sich bei masern-
kranken Kindern häufig findet; doch auch das Exanthem kommt in Betracht, da
Propepton im Urin noch bei Scharlach, Urticaria, diffuser Dermatitis, bei Thieren
nach Petroleumeinreibungen vorkommt. In einem von Kahler beschriebenen
Falle von multiplen Myelomen (Prager med. Wochenschr. 1889, 4 und 5)
fand Huppert Alb um ose im Harn. Wurde der Harn mit dem Kochsalz nur
kurze Zeit stehen gelassen, so entstand durch Essigsäure noch ein Niederschlag,
nieht aber wenn die Zeit für das Sättigen mit Salz bis zu drei Tagen ausgedehnt
wurde. Demnach scheint nur Heteroalbumose vorhanden gewesen zu sein.
Literatur: M. Loeb, Propeptonurie, ein häufiger Befund bei Masern. Centralbl.
für klin. Med. 1889, Nr. 15. — Huppert, Ein Fall von Albumosurie. Prager med. Wochen-
schrift. 1889, 4. Loebisch.
PseildarthrOSiS, s. Fraktur, pag. 273.
Pseudobulbärparalyse (vergl. Bulbärparalyse, Real-Encyclopädie,
II. Aufl., Bd. III, pag. 576). In einer neuerdings veröffentlichten Monographie von
Leresche (fitude sur la paralysie glosso - labtee cebrale ä forme pseudobulbäre,
Paris 1890) werden 21 ältere Fälle — 2 vonOüLMONT, 1 von Magnus, 1 von
Barlow, 1 von Eisenlohr, l von Nothnagel, 1 von Hahn, 1 von Kirchhoff.
574
PSEUDOBULBÄRPARALYSE — PSEUD OLE CK Ä M I E
1 vouWernicke, 3 von Boss, 1 von Febe, 1 von Raymond und Abtatjd.
2 von Bebgeb, 1 von Füller undBaowNiNG, 1 von Ochs, 2 von Drumhoxd
— und 6 neue Beobachtungen zusammengestellt. Die Ergebnisse, zu denen
Leresche auf Grund dessen gelangt, sind folgende: Der Symptomencomplex der
Glossolabialparalyse kann ohne jedwede bulbäre Läsion vorhanden sein» Die*c
„centrale" Glossolabialparalyse unterscheidet sich durch deutliche Kriterien von
der bulbären (Doch SN NE1 sehen) Krankheitaform ; besonders wichtig ist das
Fehlen von Atrophie der gelähmten Muskeln, Die Autopsie ergieht
am häufigsten bilaterale Läsionen in den äusseren Abschnitten des Linsenkcrnet ;
seltener ausschliesslich auf die Grossbirnrinde beschränkte Veränderungen im
unteren Abschnitte der vorderen Centraiwindung und im Fusse der dritten Stirn-
windung. Falls nur der Linsenkern betroffen ist, zeigen die Kranken keine Er-
acheinunfren typischer Hemiplegie, da die zu den Extremitäten verlaufenden
corticomusculären Leitungsbahnen in diesem Falle keine Störung erleiden.
K,
Pseildoephedrin als Mydriaticum, s. Augenheil mittel* pag,67.
PseudOleukämie Hodgkin sehe Krankheit, maligne« Lym-
phom (vergl. Real-Encyclopädie , II. Aufl., Bd, XVI, pag. 105 und B<L XXIJ,
pag. 80)* Von den im Hauptartikel ( Real * Encyclopädie , Bd. XVI, pag. 109)
bereits kurz erwähnten Fällen , welche der Pseudoleukämie anzugehören scheinen
und sieh durch ein eigen th Uml ic h v e rl a u f en d es Fi eb e r auszeichnen, Firi
welchem län gere Fieber peri oden mit ähnlich langen fieberfreien
Intervallen in einigermaßen regelmässigem Typus abwechseln, sind iu letzter
Zeit einige neue Beispiele beobachtet worden, so da&s dieser Punkt eine etwas
eingehendere Beachtung verdient.
Schon früher war auf das Vorkommen intermittirender Fieberzustände im
Verlauf der Pseudoleukämie von englischen Beobachtern aufmerksam gemacht
worden , namentlich von MürChisüN und Gowebs , von denen der letztere eine
„alternating pyrexia" als einen bei HODGKix'scber Krankheit nicht seltenen Typ«
angab. — 1885 theilte PEL x) in Amsterdam einen Fall mit, weicher klinisch
mit Milztumor, Diarrhöen, schliesslichem Icterus etc. unter dem Bilde eines lange
dauernden recidivirenden Abdominaltyphus (in 4 Monaten 4 Fieberrecidive) v*r*
lief und bei der Section eine allgemeine Hyperplasie der inneren Lymphdrüsen
ergab. Derselbe Autor konnte in den nächsten 2 Jahren Über 3 andere, diesem
analoge Fälle berichten; in allen diesen war das auffallendste Symptom das Auf-
treten von 8 — 14 Tage dauernden Fieberperioden , welche durch ähnlich lange lieber
freie Intervalle getrennt wurden; in allen fanden sich bei der Section die für
Pseudoleukämie charakteristischen Zeichen, namentlich Hyperplasien der internen
Lymphdrüsen , der Milz , Leber etc. Er betrachtet die Fälle als „einer g a n i
bestimmten infeetiösenForm von Pseudoleukämie" angehörend* —
Einen sehr ähnlichen Fall beschrieb Ebstein4) unt«*r der Hezeirbimng „chroni-
sches Rück fa II fi eher", wobei er jedoch die Erkrankung dem Wesen nach
ebenfalls als eigen thümliche Verlaufs weise des malignen Lymphoms auffasst und
die Wahrscheinlichkeit einer infectiösen Aetiologie betont. — Der nächste analoge
Fall wurde von Rexvers *) beobachtet , welcher den Symptomencomplex ab
„Lymphosarcomatoae mit reourrirendem Fieberverlauf4* oder „reenrrirendes
Lymphosarco m" zn bezeichnen vorsehlägt. — Drei weitere einschlägig« Fälle
sind von VöLCKKRa*), Barbrock6) und Klein «) mitgetheilt; sie stimmen im
Krankheitsverlauf mit den vorher genannten genau überein und weichen nur in
pathologisch - anatomischer Beziehung etwas von jenen ab < indem bei dem erstes
von ihnen der Hauptbefund ein von den retroperitoneaten Drüsen oder der Wirbel*
säule ausgehendes Sareom war, bei dem zweiten keine Lymphdrüsen schwel langen,
sondern nur ein pigmenti rter Milztumor mit keilförmigen Infarcten nnd Pigment-
PSEUDOLEUKÄMIE.
575
leber gefunden wurden, und in dem dritten zu den Drüsenhyperplasien als
Complication Lebercirrhose hinzutrat. — Ein von Hanser7) mitgetheilter Fall,
bei dem der Fieberverlauf der gleiche war und ein Sarcom der Mesenterialdrüsen
vennuthet wurde , der jedoch ohne Section blieb, ist zweifelhafter Natur.
Hiernach sind, soweit Referent sich orientiren konnte, bisher 9 Fälle
des geschilderten Krankheit sbildes bekannt geworden, welches in seinem klini-
schen Verlauf durch die in bestimmtem Typus abwechselnden Fieberperioden und
Apyrexien beherrscht wird und in seinen übrigen Symptomen und pathologisch-
anatomischen Veränderungen entweder die für Pseudoleukämie direct charakteri-
stischen oder wenigstens in deren Gebiet fallende Momente zeigt — Fast sämmt-
liche Fälle betrafen Männer. Die Krankheitsdauer schwankte von 4 bis zu
14 Monaten und betrug durchschnittlich etwa 1 Jahr. Die Dauer der Fieber-
anfeile wird zu 7 bis 14 Tagen angegeben, die Pausen waren zum Theil ähnlich,
zum Theil etwas länger (2 — 3 Wochen). Das Ansteigen und Abfallen der Fieber-
temperaturen geschah meist staffeiförmig, auf der Höhe des Anfalles war die
Temperatur in der Regel leicht remittirend und tiberstieg oft 40, bisweilen auch
41°. Gegen Ende des Lebens verwischte sich der Fiebertypus meisten theils.
Im Uebrigen zeigte der Krankheitsverlauf das Bild zunehmender Anämie
(ohne leukämische Blutveränderung); der Tod erfolgte immer kachectisch. In
4 Fällen bestand Diarrhoe , einmal kolikartige Schmerzen , wenigstens dreimal
allgemeiner Hydrops, sechsmal Icterus. Für letzteres Symptom fand sich als
Grundlage bei der Section meist nur hyperplastische Leberschwellung, einmal
Cirrhose. Die übrigen Leichenbefunde bezogen sich in erster Linie (mit Ausnahme
des oben genannten Falles) auf hyperplastische Veränderung der inneren Lymph-
drüsen , namentlich der Mesenterial- , Retroperitoneal- und Mediastinaldrfisen,
während die äusseren Lymphdrüsen gar nicht oder nur wenig verändert waren.
Daneben fand sich meist (ausser der Leber) auch die Milz hyperplastisch, zum
Theil auch Herz, Niere, Lunge, Pleura etc. lymphomatös verändert; Milz und
Niere zeigten mehrfach keilförmige Infarcte.
Bei einigen der Fälle war Syphilis, bei anderen Malaria der Erkrankung
vorausgegangen; inwieweit hier ein ätiologischer Zusammenhang anzunehmen
ist, bleibt zweifelhaft. — Die Mehrzahl der Beobachter setzt, schon auf den
eigentümlichen Fieberverlauf hin, die infectiöse Natur der Erkrankung
voraus. Doch haben die verschiedentlich angestellten bacteriologischen Unter-
suchungen bisher fast ganz negativen Erfolg gehabt. Der einzige positive Befund,
der in einem der Falle 6) angegeben wird , nämlich das Vorhandensein von
Goccen, welche dem Streptococcus pyogenes glichen, in der Corticalsubstanz der
hyperplastischen Lymphdrüsen, ist von zweifelhafter Bedeutung.
Die ganze Deutung der beschriebenen Krankheitsgruppe bleibt nach den
bisherigen spärlichen Beobachtungen noch schwierig. Weitere Erfahrungen werden
zu lehren haben : 1 . ob alle den geschilderten Fieberverlauf zeigenden Fälle zu einer
und derselben Krankheitsform gehören und sämmtlich zur Pseudoleukämie zu
rechnen sind; 2. ob dieselben (oder ein Theil von ihnen) innerhalb der pseudo-
leukämischen Erkrankungen eine besondere Gruppe bilden, welche dem Wesen
und vielleicht auch der Aetiologie nach von den übrigen Krankheitsfällen scharf
getrennt werden kann und muss.
Aus den sonstigen, die Pseudoleukämie betreffenden Mittheilungen der
letzten Zeit sei ein von Buchanan8) beobachteter Fall erwähnt (einen 15jährigen
jungen Mann betreffend, bei dem nur die tiefliegenden Lymphdrüsen erkrankt
waren), welcher sich durch die anscheinend sehr seltene Complication mit
amyloider Degeneration von Milz, Leber, Nieren und Darm auszeichnete,
ohne dass ein ätiologischer Zusammenhang beider Zustände bestimmt angenommen
werden kann.
576
PSEUDOLEUKÄMIE. — PYRROL.
Endlich gehört ein Fall hierher, welchen Kahler 9) als aasgesprochenes
Beispiel des von Zahn als „multiples Myelom" beschriebenen Symptomen-
complexes mittheilt, d. h. eines multiplen primären Lymphosarcoms des Knochen-
markes , welches sich besonders durch Fragilität gewisser Skelettheile (namentlich
der Rumpfknochen) auszeichnen soll, wodurch eine Aehnliohkeit mit Osteomalaeie
entsteht. Der vorliegende Fall, der einen 46jährigen Mann betraf, zeigte eine
Krankheitsdauer von 8 Jahren ; mannigfache Knochenschmerzen und ausstrahlende
Neuralgien, flache Auftreibungen der Oberfläche gewisser Knochen, besonders
der Rippen, Ausbildung einer Kyphose, schliessliohe Spontan-Fractur von Rippen,
Anschwellung der Leistendrüsen etc. bildeten die hauptsächlichen Symptome. Die
Section ergab sarcomatöse Wucherungen im Marke der Rippen und anderer Knochen
mit Osteoporose , Milztumor etc. — Uebrigens war der Fall ausgezeichnet durch
eine „Albumosurie" (oontinuirliche Ausscheidung von Albumose durch den Urin).
Ob letztere Erscheinung mit der Pseudoleukämie in einem Zusammenhange steht,
müssen weitere Beobachtungen zeigen.
NeueLiteraturi^Pel, Berliner klin. Wochenschr. 1885, Nr. 1 ; WeekbL van
het Nederl. Tijdschr. v. Geneesk. 1886, Nr. 40; Berliner klin. Wochenschr. 1887, Nr. 35. —
*) Ebstein, Berliner klin. Wochenschr. J887, Nr. 31 n. 45. — *) Renvers, Deutsche med.
Wochenschr. 1888, Nr. 37. — 4) Vj> Ickers, Berliner klin. Wochenschr. 1889, Nr. 36. -
*)ßarbrock, Inang.-Dissert. Kiel 1890. — *) Klein, Berliner klin. Wochenschr. 1890, Nr. 31.
— T) Hanser, Ebendas. 1889, Nr. 31. — 8) Buchanan, Glasgow med. Jonrn. August
1889. — e) Kahler, Prager med. Wochenschr. 1889, Nr. 4 n. 5. Kiess.
PseildOmUCin, s. Ovarialoysten, pag. 532.
Pseudomyxoma peritonei, 8. Ovarium, pag. 531.
Pseudotubovarialcysten, ibid., Pag. 532.
Romaine, s. Mikroben, pag. 478.
Purpura haemOrrhagiCa, s. Blutfleckenkrankheit, pag. 107.
PyOktanin, s. Anilinfarbstoffe, pag. 47.
Pyrrol. Das im Steinkohlentheer und Theeröl vorhandene Pyrrol, C4H,N
(naeh der modernen chemischen Auffassung Benzol, in welchem 2CH durch
N H ersetzt sind), aus welcher durch Einwirkung von Jod das als Heilmittel ver-
wendete Jod ol (Real-Encyclopädie, II. Aufl., Bd. X, pag. 488) entsteht, ist nach
Jaffe und Hinzberg eine intensiv giftige Substanz, die Lähmung des Gehirns
und Rückenmarks bei Warmblütern nach voraufgehenden tetanisehen Krämpfen,
und in grossen Dosen Hämoglobinurie erzeugt. In dem Harn geht es theils als
solches, theils als Aetherschwefelsäure über.
Literatur: Ginzberg, Ueber das Verhalten des Pyrrols im thierischen Orga-
nismus. Königsberg. 1890. Hnsemann.
Q.
Qll6Cksilb6r. Die chemisch-pharmaceutische Industrie stellte eine sehr
grosse Anzahl von Quecksilberpräparaten dar, welche dem Wunsohe nach leicht
löslichen, für die subcutane Injection tauglichen Salzen mit möglicLst geringer
localer Einwirkung, auch nach Salzen, welche Magen- und Darmschleimhaut wenig
reizen oder dem Postnlate nach weniger flüchtigen Salzen für Verbandzwecke,
auch nach Verbindungen des Quecksilbers mit den antiseptischen Mitteln aus der
aromatischen Reihe entsprechen sollen. Wir wollen uns hier immerhin auf jene
Präparate beschränken, deren Eigenschaften den Versuch derselben für thera-
peutische Zwecke rechtfertigen, denn über die meisten derselben liegen genügende
klinische Erfahrungen noch keineswegs vor.
1. Hydrargyrum alaninicum sive amidopr opionicum,
Alanin-Quecksilber, wird durch Auflösen von Quecksilberoxyd in einer wässerigen
Alaninlösung erhalten. Mattweisse, in kaltem Wasser leicht (1 : 3) lösliche Kry-
stalle. Wurde von de Luca wegen seiner Reizlosigkeit zu subcutanen Injectionen
bei Syphilis empfohlen. 4 — 8 — 10 Milligrm. in 1 Ccm. Wasser gelöst, zu sub-
cutaner Injection, innerlich 010 pro die (Maximaldose).
2. Hydrargyrum ammonio chloratum, Sal Alembr othi,
das Doppelsalz von Quecksilberchlorid und Ammoniumchlorid, Hg Cla . (NH4 Cl)9 +
+ 2 Ha 0, wird durch Auskrystallisiren einer wässerigen Lösung von 1 Gewichts-
theile Ammoniumchlorid und 2 Gewichtstheilen Quecksilberchlorid dargestellt. Ein
schon früher gebräuchliches Präparat, welches neuerlich von Lister zu Verband-
zwecken statt des Quecksilberchlorids wegen seiner grösseren Löslichkeit und
geringeren Flüchtigkeit empfohlen wurde.
3. Hydrargyrum benzoicum oxydatum , Mercuribenzoat,
(C6HöC09)aHg + H20. Es werden 125 Grm. Quecksilberoxyd bei massiger
Wärme in 250 Grm. concentrirter Salpetersäure gelöst , die Lösung mit 4 Liter
Aq. destill, verdünnt und hierauf filtrirt; in das Filtrat wird eine Lösung von
188 Grm. Natriumbenzoat in 4 Liter Aq. destill, gegossen , hierauf mischt man
und trocknet den Niederschlag. Weisse, kleine, geschmack- und geruchlose Kry-
stalle, in kaltem Wasser nur schwer, leichter in heissem Wasser und Alkohol
löslich. Wurde von Stukowenkoff (Wratsch. 1889 , Nr. 4) gegen Syphilis in
gleicher Weise wie das Quecksilbersalicylat empfohlen. 1. Zu subcutanen Injek-
tionen: Hydrarg. benz. oxyd. 0*3, Aq. destill. 40*0, Natr. chlorat. 8*01, Cocain,
hydrochlor. 0"15, wöchentlich eine Injection, enthaltend 0*04 Mercuribenzoat;
2. per 08 in Pillenform zu 0*006 — 0*012 Grm. pro dosi; zu Umschlägen Mercuri-
benzoatlösung (0*86 : 30*0 Grm. Wasser) bei syphilitischen Geschwüren; 4. bei
Gonorrhoe' 0*06 Mercuribenzoat in 400*0 Wasser, täglich 3malige Einspritzung.
Encyclop. Jahrbücher. I. 37
578
QUECKSILBER.
4. Hydrargyrum bichloratum carb amidatum solutum,
Quecksilberchlorid, Harnstoff. Zur Darstellung wird 10 Sublimat in 100 Ccm.
heissem Wasser gelöst und in die erkaltete Lösung 0*5 Harnstoff eingetragen und
filtrirt. Das Präparat bildet eine färb- und geruchlose Flüssigkeit von schwach
metallischem Geschmack und schwach saurer Reaction ; es zersetzt sich sehr leicht
unter dem Einflüsse des Lichtes, daher soll dies Mittel vor der Dispensation
frisch bereitet werden. Wurde als mildes Präparat zu subcutanen Injectionen von
Schutz und Doutrelepont empfohlen. 1 Ccm. enthält die 0*01 Grm. Sublimat
entsprechende Quecksilbermenge.
5. Hydrargyrum carbolicum , Hydrarg. phenolicum, anch
phenylicum (Szadek), Phenol-Quecksilber, (Cfl H6 . 0)a Hg + H2 0. Das Quecksilbcr-
salz der Carbolsäure wird von Gamberjni als Antisyphiliticum empfohlen. Nicht
zu verwechseln mit dem Hydrargyrum diphenylatum (s. d.). Es wird durch
Fällung von Sublimat mit Natriumphenylat erhalten. Je nach den Bedingungen,
unter welchen die Fällung geschieht, bilden sich mehr weniger basische Salxc;
demnach ist das Präparat von wechselndem Quecksilbergehalt und eine genaue
Dosirung desselben kaum möglich. Ein neues Phenol-Quecksilber der Formel
(C6 Hß 0), Hg erhält man nach folgender Methode : Zu 188 Th. Phenol nnd 56 KOH
in der geringst möglichen Menge Alkohol wird eine alkoholische Lösung von
135 Th. Quecksilberchlorid hinzugesetzt, eingedampft, etwas kochendes Wasser
hinzugefügt, auf einem Filter gesammelt, mit reinem, dann mit essigsäurehaltigem
Wasser gewaschen und aus Alkohol umkrystallisirt. Es bildet farblose Nadeln,
die in Wasser fast unlöslich, in Alkohol wenig löslich sind, sich in 20 Th. .kochendem
Alkohol lösen ; ebenso in Aether und Eisessig. In Pillen zu 0*02 Grm., Anfangs
täglich 2, allmälig bis zu täglich 6 Stück steigend. (Pharm. Ztg. 1887, Nr. 5.)
6. Hydrargyrum dijodsalicylicam \C6 Ha •V\qqqjjJi Hg.
amorphes, gelbes, in Wasser, Weingeist und Aether unlösliches Pulver, in welchem
das Quecksilber erst auf Zusatz von Säuren nachgewiesen werden kann. Gehalt
an Hg = 20-5°/0, an Jod = 52% (E. Merck).
C H
7. Hydrargyrum diphenylatum, Diphenyl Quecksilber, nÄ *) Hg,
in diesem Präparat ist das Hg direct an den Benzolkern gebunden, daher auch
die viel grössere Beständigkeit im Organismus, zugleich auch die Gefahr, das*
erst nach längerer Einverleibung plötzlich Cumulativwirkung auftritt. Das Präparat
soll zu intramusculären Injectionen keineswegs verwendet werden. Verwechslungen
mit Hydrargyrum phenolicum s. carbolicum sind zu meiden. Es bildet grosse,
farblose Krystalle, welche, im Röhrchen erhitzt, unzersetzt sublimiren.
8. Hydrargyrum form amidatum solutum, Quecksilher-
formamidlösung. Von Liebreich (1883) als mildes Quecksilberpräparat zur hypo-
dermatischen Verwendung empfohlen. In je einem Wasserstoffatom zweier NHS-
HCO NH
Gruppen des Formamids tritt ein zweiwerthiges Hg- Atom ein, j^qq j^H^^"
erhält die Lösung, indem man 10 Grm. Sublimat in 500 Th. Wasser löst nnd
mit einem Ueberschuss von Natronlauge fallt. Der gut ausgewaschene Nieder-
schlag wird unter Zusatz von etwas Wasser unter Erwärmen auf 30 — 40° C. in
einer eben hinreichenden Menge Form am id gelöst, die Lösung auf 1000 Ccm. mit
Wasser aufgefüllt und filtrirt. Sie enthält in 1 Cm. soviel Quecksilberformamid, als
1 Cgrm. Quecksilberchlorid entspricht. Die Quecksilberformamidlösung bildet eine
schwach alkalisch reagirende Flüssigkeit , welche durch ätzende Alkalien in der
Kälte nicht verändert wird, auch durch Eiweisslösung nicht gefallt wird. Da*
Präparat zersetzt sich in directem Sonnenlicht sehr bald unter Abscheidung von
metallischem Quecksilber. Die Injectionen mit dem unzersetzten Präparate sind
schmerzlos, fuhren auch nicht zur Bildung von Abscessen oder Verhärtungen.
QUECKSILBER.
579
9. Hy drar g yrum glutinopeptonatum hy dro chlor atum,
Hydrarg. peptonatum, Paal, Glutinpepton-Quecksilberoxyd. Salzsaares Glutin -
pepton mit circa 12% Salzsäuregehalt vereinigt sich mit Sublimat zu Doppel*
salzen, von denen eines mit 50% Sublimatgehalt in Alkohol unlöslich, das andere
mit geringerem Gehalt an Hg Gl, darin löslich. Hingegen sind die beiden Salze
wasserlöslich. Für die therapeutische Anwendung dient ein Präparat, 25% HgCla
enthaltend. Weisses, hygroskopisches Pulver, das weder durch Alkalien, noch
durch Biweiss oder Blutlösungen gefällt wird. Wegen der Hygroskopicität ist es
vorteilhaft , das Präparat in 10%iger wässeriger Lösung vorräthig zu halten.
Hüflkr (Therap. Monatsh. 1890, 437) empfiehlt nach Versuchen auf Strümpells
Klinik Mercurglutin pepton at zu subcutanen Injektionen als wirksamstes Antiluetioum
wegen seiner raschen und sicheren Wirkung und weil es an der Injectionsstelle
nur sehr wenig reizt. Die Injectionsflüssigkeit wird in ihrer Concentration so
gewählt, dass eine Spritze von 1 Gem. Rauminhalt 4 Cgrm. des Präparates gleich
1 Cgrm. Sublimat enthält. Zu diesem Zwecke werden 4 Grm. des Glutinpeptonats
in deetillirtem Wasser gelöst, die Lösung auf 100 Gern, aufgefüllt und, wenn
nöthig, filtrirt. Die lnjectionen werden subcutan oder auch intramusculär in den
Glutäen ausgeführt.
10. Hydrargyrum oleinicum, ölsaures Quecksilberoxyd, durch
Auflösen von Quecksilberoxyd in Oelsäure erhalten; eine klare, dickliche, gelbe
Flüssigkeit, welche 1 Th. auf 2 — 5 Th. Fett oder V aselin statt der grauen Salbe
zur Anwendung empfohlen wurde, wirkt auf die Haut reizend und erzeugt
brennenden Schmerz.
11. Hydrargyrum oxyeyanatum, Quecksilberoxycyanid,
CN . Hg . 0 . Hg . GN. Man erhält die Verbindung durch Zusatz von frisch gefälltem
Quecksilberoxyd zum Quecksilbercyanid. Eine wässerige Lösung des letzteren
löst in der Wärme erhebliche Mengen des Quecksilberoxyds. Beim Erkalten
krystallisirt das Oxycyanid in schwer löslichen, in der Hitze explodirenden, kleineren
Nadeln. Boer hat auch eine leichter lösliche Verbindung, HgO(HgCNa)2, ver-
sucht (Ther. Monatsh. 1890, pag. 333). Nachdem das Mittel zuerst in Amerika
empfohlen wurde (Journ. of Amer. med. Assoc. 1888) theilte Chibret in den
Gompt. rend. und auf dem VII. internationalen ophthalmologischen Gongress in
Wiesbaden, 1888 seine Beobachtungen über dasselbe mit, wobei er die grössere
antiseptische Wirkung dem Sublimat gegenüber und gleichzeitig die geringere
Giftigkeit betonte. Auf Lewin's Klinik in der Charite versuchte Boer das Queck-
silberoxyeyamid in grösserem Maassstabe. Er fand als Vorzüge desselben gegen-
über dem Sublimat: 1. Das Mittel coagulirt nicht Ei weiss; 2. die Reaclion der
Lösung ist neutral oder alkalisch ; 3. das Präparat ist weniger giftig und weniger
ätzend; 4. es zersetzt sich nicht am Licht; 5. das Mittel greift die chirurgischen
Instrumente weniger als das Sublimat an, ist daher zur Desinfektion mehr geeignet.
Die Schmerzhaftigkeit der lnjectionen ist allerdings eine gleiche wie bei Sublimat.
Nach Boer ist es wichtig, solche Quecksilberpräparate zu reichen, welche im
Blute nicht gefällt werden, demgemäss im circulirenden Blute gelöst bleiben und
umso rascher wirken. Das Sublimat wird im Blut des lebenden Organismus durch
kohlensaure Alkalien in Quecksilberoxyd umgewandelt, dieses ist aber erst in
grösseren Mengen Blut und Serum löslich ; bringt man dagegen ein schon gelöstes
Quecksilberoxyd , wie das Quecksilberformamid , das Quecksilberpepton oder das
Hg-Oxycyanid in den Körper, so findet keine Fällung statt (s. auch Behring,
Centralbl. für Bact. und Parasitenk. 1888). Man wendet das Mittel, täglich
eine PRAVAz'scbe Spritze voll (1 Ccm. Inhalt) von einer la25°/0igen Lösung in
die Glutäen oder in die untere Rückenhaut injicirt, an.
12. Hydrargyrum peptonatum. Nach 0. Kasper wird 1 Grm.
Sublimat in 20 Grm. Wasser gelöst und mit einer Lösung von 3 Grm. trockenen
Peptons, in 10 Grm. destillirtem Wasser gelöst, vermischt. Der im Verlaufe
37*
680
iii'K' K SILBER
einer Stunde sich abscheidende Niederschlag wird auf einem Filter gesammelt,
nach dem Abtropfen in 50 Grm. einer Lösung von 3 Gnu. reinem NatriumcbJorid
in 47 Grm. destillirtem Wasser unter Schütteln gelöst , die Lösung mit Wasr-er
auf 100 Ccm. aufgefüllt und filtrirt. Je 1 Ccm. enthält die 1 Cgrm. Sublimat
(HgClg) entsprechende Menge Quecksilberpeptonat. Gelbliche Flüssigkeit von
schwach saurer Reaction, welche weder durch Zusatz von Salzsäure, noch durch
Natronlauge verändert wird. Ist vor Licht geschützt aufzubewahren. Wurde als mildes
Quecksilberpraparat zu subcutanen Injectionen von Bamberg eu u. A. empfohlen.
13. Hydraryyrum s a l ic y l i cum , Quecksilbersalicylat,
CeH4^^jQ^Hg (mit einem Quecksilbergehalt von 5*/ö). Wird durch ZersetEtug
einer Lösung von Quecksilbernitrat mit einer alkalischen Losung von Kalium
salicylat erhalten. Bildet ein amorphes f weisses Pulver , in Alkohol und W««r
kaum löslich, von neutraler Reaction. In Natronlauge, aueh in Kochsalalöstnv
ist das Quecksilbersalicylat löslich , wegen Bildung von löslichen Additionspf*
dueten mit Na OH und mit NaCl. Das Quecksilber wird aus dieser Verbindlich
weder durch Schwefelwasserstoff j noch durch Schwefelammonium abgeschieden.
In Folge seiner Löslichkeit in Kochsalzlösungen wird es auch vom Organismui
leicht resorbirt; in dieser Beziehung besitzt es vor dem Quecksilber albtrointt
den Vorzug, dass die Bindung mit der Salicylsäure bestehen bleibt, wahrend
sich ans dem Albuminat Quecksilberchlorid regenerirt. Das 1887 von Silva
Akanjo empfohlene Präparat wird von zahlreichen Syphilidolo^en als ein müde*
und doch energisch wirkendes Quecksilbersalz, sowohl zur innerlichen, als zur
subcutanen und äusseren Anwendung tauglich, anerkannt. JadassOHN und Zeisisg
(Vierteljabrsschr. für Dermat. und Syphil. 1888, pag. 78) machten intramuacul&re
Einspritzungen mit 10°/0igen Suspensionen von Quecksilbersalicylat in Irarafinum
liquidum. Die Einspritzungen waren weniger schmerzhaft und bewirkten geringere
Infiltrate als die mit anderen unlöslichen Quecksilberpräparaten und brachten die
verschiedenen Erscheinungen der Syphilis in energischer Weise zum Schwinden.
Plühert (Vierteljahrsschr. für Dermat. und Syphil. 1888 y pag. £63) injicirte bei
Blennorrhoe der männlichen Harnröhre Lösungen von 1 — 3:1000, Hydratt.
salicyL l'O— 3 0, Kali carbon. 1*0—3*0, Aq. destill. lOOn-ü, doch wurde kein«
Abkürzung des Processes damit bewirkt. Bei syphilitischen Geschwüren wirkte
das Präparat in Form von Verband waaser , Streupulver günstig. Zu subcutanen
Injectionen bei Syphilis verwandte er O'l pro dosi: Hydrarg. salicyl., Kali carbara.
aa. 0*1, Aq« destill, 10 0; innerlich Pillen mit 0*025 pro dosi, 2 — 4 Stück pro die.
Der Erfolg war ein befriedigender, Erscheinungen von Seite dea Magens und
Darms traten nicht auf, jedoch leichte Stomatitis. G. Müller (Monatsh. für prakt.
Dermat. 1889) hält nach Thier versuchen das Präparat in allen Anwendungsforroni
weniger giftig als die übrigen Quecksilberverbindungen; dasselbe wird sowohl
vom Verdauungstractus , als von der Subcutia aus , von letzterer in gelöstem Zu-
stande leichter wie in ungelöstem aufgenommen. Szadbk (Wiener klin. Wochen-
schrift. 1890, 13} injicirte das Quecksilbersalicylat in 10%iger Emulsion; Hydranr.
salicyl. TO — 1*5, Mucil. gum. arab. 0"5, Aq. destill. 20*0 und erzielte in den m
schieden en Stadien der Syphilis durch intramusculjire Injectionen sehr günstige
Wirkung, die locale Reaction war sehr gering, niemals kam es zur Absc**v
bildung. Hingegen beobachtete Wellander (Archiv für Dermat. und Syphil. 188? i
bei Injection der 10%igen Paraffinsuspension Infiltrationen und Schmerzen.
SCHWIMMER (Wiener med. Wochenschr. 1889) reicht es innerlich, täglich 2 PSHea
zu 0*05 mit 0*01 Laudani, ausserüch 5 — 10% ige Salben.
14. Hydrargyrum au cc inimid aturn t Suecioimid - Quecksilber,
CO C0%
imidobemsteinsaures Quecksilber, Ca H4<^Q^NHgN<^gpCaH4# Man erhalt es
durch Erhitzen von 1 Th. frisch gefälltem Quecksilberoxyd mit 1 Th. Suecinimid
QUECKSILBER.
581
and der nöthigen Menge Wasser, bis das Quecksilberoxyd gelöst ist; es bildet
ein weisses, in Wasser leicht lösliches Pulver, welches eiweisshältige Flüssig-
keiten nicht verändert. Wurde wegen seiner leichten Löslichkeit und der Halt-
barkeit seiner Lösungen von Vollert (Therap. Monatsh. 1890) zu subcutanen
Injectionen bei Lues empfohlen. Abscesse und Darmerscheinung hat Vollert
nicht beobachtet. Er verordnet Hydrarg. succinimidati (Kahlbaum) 2*0, Cocain,
hydrochlor. 1*0, Aq. destill. 100*0 M. f. d. s. täglich eine PRAVAz'sche Spritze zu
injiciren. Die wegen der leichten Zersetzlichkeit des Cocain etwa getrübten
Lösungen sind durch Filtration wieder brauchbar zu machen.
15. Hydrar gyrum tannicum oxydulatum , gelbsaures Queck-
silberoxydul, Hga (C14 H9 09)a. Ein feines, dunkelgrünes, geschmackloses, in Wasser
unlösliches Pulver, welches 50°/0 Hg enthält. Zur Darstellung werden 50 Th.
Mercuronitrat, 30 Th. Tannin und 50 Th. destillirtes Wasser zugesetzt und das
Ganze zu einer breiigen Masse verrieben. Allmälig werden grössere Mengen
Wasser zugefügt, der Niederschlag mit Wasser gewaschen, bis im Filtrate keine
Salpetersäure mehr nachweisbar ist ; schliesslich wird der Niederschlag auf poröser
Unterlage ausgebreitet und bei 30 — 40° C. getrocknet. Das Präparat wird schon
von verdünnten Alkalien leicht in der Weise zersetzt, dass sich metallisches
Quecksilber abscheidet. Das Präparat soll gut getrocknet, vor Licht geschützt
aufbewahrt werden. Das von Lustgarten in E. Ludwig's Laboratorium darge-
stellte Präparat soll sehr milde und doch sicher wirken; indem es unter dem
Einflüsse der alkalischen Darmverdauung in metallisches Quecksilber übergeführt
wird, wurde die Wirkung als innere Inunctionscur gedeutet, dreimal täg-
lich zu 0*05 — 0*1 Grm. in Pillenform, eine halbe bis eine Stunde nach den Mahl-
zeiten. Tritt Diarrhoe ein, so wird Acid. tannicum oder Opium den Pillen zugesetzt.
16. Hydrargyrum thymolicum, auch thymicum, Thymol-
Quecksilber, Cl0 H18 Hg OH, entsteht durch Fällen von Thymolnatrium mit Mercuri-
nitrat als violettgrüner Niederschlag. Das reine Präparat bildet ein graulich-
weisses, in Wasser nur wenig lösliches Pulver. Dieses basische, leicht zersetzbare,
von Lallbmand zuerst dargestellte Salz wurde in 10% Suspension in flüssigem
Paraffin zu subcutanen Injectionen empfohlen. Es ist durch das
17. Hydrargyrum thymolo-aceticum, Thymol - Quecksilber-
acetat (Merck), C10 H1S OHg + HgCHs COO, welches ein krystallinisches Doppel-
salz von gleichbleibender Zusammensetzung ist, verdrängt worden. Well ander
(Archiv för Dermat. und Syphil. 1889), Löwenthal (Deutsche med. Wochenschr.
1890) und K. Szadek (Wiener med. Wochenschr. 1890), ebenso Schwimmer rühmen
die antiluetische Wirkung des Präparates. Dasselbe ist in Wasser und Säuren
unlöslich, löst sich aber leicht in verdünnten Alkalien. Der Quecksilbergehalt
beträgt 56-94%. In Pillen zu 0-005— 0*01 bis zu 012 pro die. Zu Injectionen
eine Suspension von 0*1 : 1*0 Paraffinum liquidum. Die intramusculären Injec-
tionen werden in 3 — 5tägigen Zwischenräumen in der Glutäalgegend gemacht.
Da die Injectionen mit der Parafnnsuspensiou schmerzhaft waren, verwendete
Löwenthal folgende Mischung: Hydrarg. thymolo - acetici 1*0 , Giycerin 10*0,
Cocain i muriatic. 0*1. D. S. Zu Injectionen (wöchentlich lmal) l PRAVAZ-Spritze.
Analoge Präparate sind: Thymol -Quecksilbersul fat , Thymol Quecksilber-
nitrat, ferner Phenol- Quecksilbersul fat, Resorcin- Quecksilbernitrat u. s. w.
18. Hydrar gyrum- Zincum cy anatum. Von Listee als Anti-
septikum zum Imprägniren von Verbandstoffen empfohlen. Wird durch Fällen
einer kalt gesättigten Lösung von Kalium-Quecksilbercyanid mit einer ebensolchen
Zinksulfatlösnng in äquivalenten Mengen dargestellt. Weisses, krystallinisches, in
Wasser vollkommen unlösliches Pulver. Es greift die Haut nicht an, da es keine
bacterientödteude Kraft besitzt, so wird es mit Sublimat combinirt, indem der
mit Quecksilberzinkcyanid imprägnirte und getrocknete Verbandstoff dann auch
in eine Sublimatlösung 1 : 400 gebracht wird.
582
QUECKSILBER.
Bezüglich der Resorption des Quecksilbers bei der Inunctiontcar
kommt Pinner (Therap. Monatsh. 1889 , pag. 320) auf Grund neuer Versuche
zum Schluss, dass das mit der grauen Salbe auf der Haut verriebene Quecksilber
durch die Haut allein aufgenommen wird, wenn die eingeriebenen Hautstellen
luftdicht bedeckt werden. Das Quecksilber dringt in Form feinster Kügelchen in
die Haarbälge und Drüsen und gelangt von diesen Stellen aus in die Blutbahn;
schon 24 Stunden nach der Inunction kann es im Harn und in den Fäces chemisch
nachgewiesen werden. Nach den Untersuchungen von R. Winternitz (Archiv für
exper. Pathol. und Pharmak. XXV) hält sich die mittlere Ausscheidung von Queck-
silber durch die Nieren stets innerhalb sehr enger Grenzen, sie muss beim
Menschen, wenn keine Intoxication vorhanden, auf höchstens 2 — 3 Milligrm. ge-
schätzt werden. Die subcutane und zum Theil auch die innerliche Verabreichung
von Quecksilberpräparaten veranlassen mit grösserer Sicherheit ein Uebertreten
wägbarer Quecksilbermengen in den Harn, als die Inunction und die Irrigation
von Wundflächen. Ueber den Werth der verschiedenen Methoden der Quecksilber-
einverleibung enthalten die Vorträge und Discussionen der Syphilidologen tm
X. internationalen medicinischen Congress zu Berlin reiches Material. Die bezüg-
lichen Untersuchungen von Kronfeld und Stein (Wiener med. Wochenschr. 1890)
ergaben, dass die Ausscheidung des Quecksilbers bei allen Arten der Verab-
reichung nicht schubweise, sondern gleichmässig, im Allgemeinen parallel mit der
Verabreichung und abhängig von der Grösse der angewandten Gabe stattfindet.
Sehr beachtenswerth sind die Einwendungen von J. Vollert (Therap. Monaten.
Nov. 1890) gegen die Benützung unlöslicher Quecksilberpräparate zu
Injectionen. Er betont, dass in neuerer Zeit viele schwere Intoxicationen und
mehrere Todesfalle durch dieselben hervorgerufen wurden. Schon die Injection
selbst, die gewöhnlich in die Glutäalmuskeln , seltener subcutan in den Rücken
gemacht wird, ist gefahrvoll. Es kann vorkommen, dass zufällig eine Vene ange-
stochen und nun dadurch die Injection direct in' 8 Blut gemacht wird und Lungen-
embolie hervorruft. Abscesse sind ein häufiges Vorkommen; da die Resorption
der Depots ganz allmälig vor sich geht, können Wochen, selbst Monate lang
nach der Cur Vergiftungserscheinungen auftreten. Auch kann keine ganz genaue
Dosirung dieser Mittel stattfinden, da in den Suspensionen (Oel, Paraffinum
liquid., Lanolin) die speeifisch schwereren Qnecksilbertheilchen bald zu Boden
sinken. Es kommt besonders bei den unlöslichen Quecksilber Verbindungen in
schwereren Formen von Darmcatarrhen und mercuriellen Euteritiden. Die lös-
lichen Quecksilberverbindungen leisten dasselbe wie die unlöslichen ; wohl ist ihre
Wirkung etwas langsamer, jedoch sind Vergiftungen mit demselben (es werden
hier die Verbindungen des Quecksilbers mit Formamid, Carbamid, Glyeocoll,
Suceinimid, Pepton etc. gemeint) bisher noch nicht vorgekommen. Loebisch.
R.
Rachenerkrankung bei Abdominaltyphus, pag. 6; bei Schar-
lach, pag. 604.
RaUSChbrand (der Schafe), s. Immunität, pag. 345.
ReCnitirung (vergl. Real-Encyclopädie II. Aufl., Bö*. XVI, pag. 434 ff.)
ist derjenige Vorgang, mittelst dessen die, namentlich in Folge der Dienstpflicht*
Erfüllung, eintretenden Abgänge der bewaffneten Macht wieder ersetzt werden.
Die amtlichen Bestimmungen, welche diesen Vorgang regeln, haben in den
letzten Jahren hie und da Aenderungen erfahren, deren Besprechung angemessen
erscheint.
Die gegen wartigen Bestimmungen für dieErgänzung der
bewaffneten Macht sind bei den Grossmächten folgende:
Im Deutschen Reiche geschieht die Ergänzung der bewaffneten Macht
nach Massgabe der allgemeinen persönlichen Wehrpf Ii cht, welche mit dem voll-
endeten 17. Lebensjahre beginnt und bis zum vollendeten 45. Lebensjahre dauert.
Während der Wehrpflicht ist jeder Deutsche vom vollendeten 20. Lebensjahre
bis zum 31. März desjenigen Kalenderjahres, in dem er das 39. Lebensjahr
vollendet, dienstpflichtig. Daneben besteht eine Landsturmpflicht zur
Verteidigung des Vaterlandes im Kriegsfalle, welche aus allen den Wehrpflich-
tigen vom vollendeten 17. bis zum vollendeten 45. Jahre besteht, die weder dem
Heere, noch der Marine angehören.
Die Dienstpflicht zerfallt in die Dienstpflicht im stehenden Heere oder
in der stehenden Marine, in die Land-, beziehungsweise See- Wehrpflicht und in
die Ersatz-, beziehungsweise Marineersatz-Pflicht. Die Dienstpflicht im stehenden
Heere, beziehungsweise der Marine umfasst die 3jährige active Dienstpflicht , und
die 4jährige Reserve-, beziehungsweise Marinereserve-Pflicht. Die Landwehrpflioht
schliesst den 5jährigen Dienst im 1. Aufgebot und den (bis zum 31. März de»
39. Lebensjahres dauernden, also gegen) 6jährigen Dienst im 2. Aufgebote ein.
Die Ersatzreservepflioht endlich dauert 12 Jahre und rechnet — zunächst ausserhalb
der genannten Arten der Dienstpflicht — vom 1. October des Kalenderjahres, in
dem das 20. Lebensjahr vollendet wird; nach Ablauf dieser Ersatzreservepflicht
treten die Ersatzreservisten, welche geübt haben, zur Landwehr 2. Aufgebots,
die übrigen zum Landsturm 1. Aufgebotes. Im Frieden sind die Ersatz-Reservisten
nur zu 3 Uebungen von 10, 6 und 4 Wochen verpflichtet.
Die verschiedenen Kategorien der Wehrpflicht werden vielleicht durch
die folgende Uebersicht deutlicher. Die zu den Begriffen gesetzten Ziffern bedeuten
die Lebensjahre.
584 RECKUTIRUNG.
Wehrpflicht 17 bis 45
Lai87^P4fl5Cht| »»"stpfl^ - 20 bis gegen 39 ( (Marine-) Ejsater^rTapflicIit
im steh. Heer od. steh. Marine . . 20 bis 27
active Dienstpfl 20 bis 23
(Marine-) Reservepfl 23 bis 27
Land- (bezw. See-) Wehrpfl. 27 bis gegen 39
1. Aufgebot 27 bis 32
1. Aufgebot \ 0 Aw#5m. f oo u;a MMn oo ( im Landst. od. Land- (bew.
17 big 39 1 2- Apfgebot ■ ■ - ■ ■ 32 bn gegen 39 { ^ Wehrpfl 32 bis 39
im Landsturm 2. Aufgebotes 39 bis 45.
Noch bedarf der gesetzliche Begriff „Militärpflicht" einer Erläuterung,
da man diesen Sonderbegriff ans dem Worte allein nicht ableiten kann. Die
Militärpflicht nämlich ist die Pflicht, sich der Aushebung für die bewaffnete Macht
zu unterwerfen; sie beginnt mit dem 1. Januar des Kalenderjahres, in dem der
Wehrpflichtige das 20. Lebensjahr vollendet, und dauert so lange, bis Uber die
Dienstpflicht entschieden ist.
Die Heeresmacht des Deutschen Reiches besteht nach Gesetz vom 27. Januar
1890 aus 20 Armeecorps mit einem Mannsohaftsstand (ausschliesslich der Ein-
jährig-Freiwilligen), welcher durch Gesetz vom 11. März 1887 bis zum 31. Marz
1894 auf 468.409 Mann festgestellt ist. Aus dieser Friedenspräsenzstärke, welche
3 active Jahrgänge nmfasst, ergiebt sich der Umfang , in welchem sich die jähr-
liche Ergänzung des Heeres vollzieht.
Die Eintheilung des deutschen Ergänzungs-Gebietes erfolgt nach 19 Armee-
corpsbezirken ; diese werden zum Zwecke der Heeresergänzung in Divisions- und
Brigade-Bezirke und diese in Landwehr- und Control-Bezirke eingetheilt.
Das jährliche Ersatzgeschäft zerfällt in 3 Hauptabschnitte: Das Vorbe-
reitungsgeschäft, das die im laufenden Jahre zur Gestellung verpflichteten Wehr-
pflichtigen ermittelt , das Musterungsgeschäft der Ersatzcommission , welches die
zur Gestellung Verpflichteten mustert und rangirt, und in das Aushebungsgeschäft,
welches die Entscheidungen der Ober-Ersatzcommission und die Aushebung der
für das laufende Jahr erforderlichen Recruten umfasst.
Der militärärztliche Dienst ist nur am Muster ungs- und am Aushebungs-
geschäfte betheiligt, weshalb nur betreffs dieser Geschäfte einiges Näheres mit-
getheilt werden darf.
Im Musterungsgeschäfte darf die Zahl der an einem Tage zu mustern-
den Militärpflichtigen 200 nur ausnahmsweise übersteigen (§ 60 der W. 0.). Als
Räumlichkeiten sind in den Musterungsorten 2 helle geräumige Zimmer zur Abhaltung
des Geschäftes und ein bedeckter Raum als Versammlungsort der Militärpflichtigen
erforderlich. Zum Musterungspersonal gehört (§ 61 der W. 0.) ein Militärarzt
Ist ein solcher nicht vorhanden und ein Stellvertreter nicht zu beschaffen, so ist
der Bezirksarzt zur Theilnahme heranzuziehen. Bei der körperlichen Untersuchung"
muss auf Verlangen des Arztes völlige Entblössung des ganzen Körpers unter —
möglichster Berücksichtigung des Schamgefühls stattfinden; sie beginnt mit der~
Feststellung der Körperlänge (§63 der W. 0.). Der Militärvorsitzende ist für-
die Gründlichkeit der ärztlichen Untersuchung und der Messung verantwortlioim
(§ 64 der W. 0.).
Zum Au sh ebungs -Personal gehört ein oberer Militärarzt (§ 70 der*
W. 0.). Ob eine Entkleidung der Militärpflichtigen nöthig, bestimmt der Militär-
Vorsitzende. Der Arzt stellt auf Grund der Vorstellungslisten im Aushebungstermin
eine Uebersicht der Ergebnisse der ärztlichen Untersuchung nach gegebenem
Muster zusammen . zu welchem Zwecke ihm ein Schreiber oder Lazarethgehilfe
beigegeben wird ^§10 der Heerordnung).
RECRUTIRUNG.
585
Im Allgemeinen gilt für beide Geschäfte Folgendes : Die Untersuchung muss
mit der grössten Gewissenhaftigkeit und unter Benutzung aller Hilfsmittel, welche die
Wissenschaft darbietet, vorgenommen werden. Der Militärvorsitzende ist an den ärzt-
lichen Ausspruch nicht gebunden, sondern entscheidet unter eigner Verantwortung.
Es sind jedoch die vom Arzte vorgefundenen körperlichen Fehler nach seiner Angabe
in die Listen einzutragen. Ebendaselbst ist auch das Brustmaass , sofern es der
Körperbeschaffenheit wegen festzustellen angezeigt erschien , zu vermerken (§ 3
der Heerordnung). Eine Anmerkung pag. 228 der Heerordnung erläutert diesen
letzteren Punkt mit folgenden Worten : „Der Brustumfang allein darf niemals die
entscheidende Grundlage für die Beurtheilung der Tauglichkeit zum Militärdienst
bilden. Wird jedoch ein Mann, dessen Brustumfang in der Athempause (nach
tiefster Ausathmung) die halbe Körperlänge nicht erreicht, mit Rücksicht auf seine
sonstigen Körperverhältnisse , insbesondere auf genügende — nicht unter 5 Cm.
betragende — Erweiterungsfkhigkeit der Brust für tauglich zum Dienste im
stehenden Heere oder in der Ersatzreserve erklärt, so ist das Messungsergebniss
in den Listen zu vermerken/1
Ein Urtheil über Tauglichkeit oder Untauglichkeit hat der recmtirende
Arzt nur nach eigener Untersuchung und eigener Ueberzeugung abzugeben ; wenn
unaufgefordert Zeugnisse beigebracht werden , sind sie an den Vorsitzenden zu
verweisen; jedenfalls aber ist denselben nur insoweit Bedeutung beizulegen, als
sie die Aufmerksamkeit für eine sorgfältige Untersuchung veranlassen (§ 3 der
Dienstanweisung vom 8. April 1877). Ein ärztliches Zeugniss ist von den durch
Krankheit am Erscheinen im Musterungstermin Verbinderten einzureichen; auch
dürfen auf Grund eines solchen Zeugnisses Gemüthskranke, Blödsinnige, Krüppel etc.
von der Gestellung überhaupt befreit werden (§ 62 und 72 der Wehrordnung).
Nur muss ein solches Zeugniss durch die Polizeibehörde beglaubigt sein, sofern
der ausstellende Arzt nicht amtlich angestellt ist.
Das militärärztliche Urtheil lautet auf: a) tauglich oder h) bedingt
tauglich, c) zeitig untauglich, d) zum Dienst im stehenden Heere und in der
Ersatzreserve zwar untauglich, aber noch im Landsturm verwendungsf&big, oder
e) dauernd untauglich (§ 3 der H. 0.).
Die Tauglichkeit ist vollständig, wenn sie für jedweden Waffen-
dienst vorhanden ist. Die Tauglichkeit kann indess auch ausgesprochen werden,
wenn sie nur für besondere Waffengattungen besteht und von anderen ausschliesst,
wie es z. B. bei Verunstaltungen des 8chlü89elbeins , X- oder O-Beinen, platten
Füssen, verkrümmten Zehen, bei Farbenblindheit, bei zu geringer oder zu beträcht-
licher Körperlän?e, bei zu hohem Körpergewicht der Fall ist (vergl. Anlage 1,
w bis z und § 5 der H. 0.). Die Tauglichkeit zum Dienst ohne Waffe besteht,
wenn sie nur für den Dienst in der Krankenpflege oder im Handwerk vorhanden
ist (§§ 4 und 6 der H. 0.).
Bedingte Tauglichkeit wird durch solche bleibende Fehler und
Gebrechen veranlasst , welche zwar die Gesundheit nicht beeinträchtigen , die
Leistungsfähigkeit jedoch beschränken. Nur wenn diese bleibenden Gebrechen die
Leistungsfähigkeit in erheblichem Grade beschränken, schliessen sie die Aushebung
zum activen Dienste aus und veranlassen dann die Zutheilung zur Ersatzreserve
2. öasse (Anlage 2 und § 7 der H. 0.), während jene geringeren Fehler für
den activen Dienst unbeachtet bleiben oder die Einstellung in die Ersatzreserve
1. Classe veranlassen (Anlage 1 und § 7 der H. 0.)- So sind es im 3. Militär-
pflichtjahre noch mindermässig (unter 1*57 M.) Gebliebene, welche der Ersatzreserve
zugetheilt werden; beispielsweise auch Leute von massiger chronischer Schwerhörig-
keit auf beiden Ohren (Anlage 2 der H. 0.), deren Hörfohigkeit für Flüster-
sprache in geschlossenem Räume etwa 4 M. abwärts bis 1 M. beträgt (§ 9 der
Dienstanweisung von 1877).
586
RECRÜTIRUNG.
Zeitige Untauglichkeit ist mit einer vorläufigen Zurückstellung
des Militärpflichtigen verbunden. Sie ist dann vorhanden, wenn der letztere noch
zu schwach oder zu klein für den Dienst ist, oder mit heilbarer Krankheit von
längerer Dauer behaftet ist, und mit Wahrscheinlichkeit erwartet werden darf,
dass noch vollkommene oder bedingte Tauglichkeit eintreten wird (§31 der
W. 0., § 8 und Anlage 3 der H. 0. , § 10 der Dienstanweisung von 1877).
Zu den hier in Betracht kommenden Krankheiten gehört z. B. heilbare Ent-
zündung des Gehörorgans, um nur dieser vergleichsweise zu gedenken.
Dauernde Untauglichkeit wird durch solche bedeutende und
unheilbare Krankheiten verursacht, welche die Heranziehung zum Dienst im
stehenden Heere und in der Ersatzreserve ausschliessen und bei hochgradigem
Vorhandensein dieser Krankheiten auch zur Verwendung im Landsturm untaug-
lich machen (§ 9 und Anlage 4 der H. 0.). So sind z. B. im Allgemeinen mit
erheblichen, schwer heilbaren Krankheitszuständen des Gehörs Behaftete noch im
Landsturm verwendbar, nicht aber Taube oder auf beiden Ohren so erheblich
Schwerhörige, dass ihre Hörweite erst bei etwa 1 M. beginnt (§11 der Dienst-
anweisung von 1877).
In Fällen, in denen der Arzt zu einem sicheren Urtheil nieht gelangen
kann, aber letzteres für erreichbar durch längere Beobachtung hält, wie es z. B.
gegenüber behaupteter Schwerhörigkeit, Fallsucht, geistiger Beschränktheit etc.
wohl möglich ist, kann versuchsweise die Einstellung bei einem Truppentheile
erfolgen. Auch Sehfehler erschweren die Recrutirungsaufgabe des Arztes oft
beträchtlich : namentlich ist es u. A. Astigmatismus, welcher insofern einer sicheren
Beurtheilung nicht selten widersteht, als er an sich die Tauglichkeit nicht aufhebt
und nur nach dem Grade, in welchem er die Sehschärfe, die möglichst weit zu
corrigiren ist, herabsetzt, in Betracht zu ziehen ist (V. v. 21. April 1888 in
Deutsche mil. Zeitschr. 1888, Heft 6).
Für die Ergänzung der Marine gestaltet sich die ärztliche Untersuchung
und Begutachtung fast ganz übereinstimmend, und zwar nach der Marineordnung
vom 19. November 1889 und nach dem Reglement über den Sanitätsdienst an
Bord etc. von 1863. Als bemerkens werther Unterschied verdient hervorgehoben
zu werden, dass die Sehleistung ohne Correction etwaiger Brechungsfehler berechnet
wird, da in der Marine Brillen nicht getragen werden. —
Alle bei dem Heere und der Marine eintreffenden Recruten werden vor
ihrem Dienstantritt noch einmal ärztlich untersucht, wobei die für die Recrutirnng
zu zeitraubenden Untersuchungen (beklagter Augen- , Ohren- etc. Krankheiten)
gründlich vollführt werden können. Hierzu werden die Assistenzärzte behufs ihrer
Belehrung, falls dadurch Kosten nicht entstehen, mit herangezogen (Deutsche mil.
Zeitschr. 1885, Heft 3).
Bei der Truppe auch werden die Freiwilligen untersucht, die schon mit
vollendetem 17. Lebensjahre zum activen Dienste zugelassen werden. Es sind
dies die Officiersaspiranten , die Einjährig, die Dreijährig-Freiwilligen, auch die
Capitulanten, die sich nach beendeter aotiver Dienstleistung freiwillig zum Weiter-
dienen verpflichten (A.-V.-Bl. 1876, Nr. 14).
Bei den Landwehrbehörden, auch gelegentlich des Ersatzgeschäftes, werden
endlich die Anwärter für militärische Erziehungsanstalten, „Schulfreiwillige", wie
sie zu nennen ich vorgeschlagen habe, dem Arzte vorgestellt. Es sind dies die
Anwärter für die Schiffsjungenabtheilung (A.-V.-Bl. 1874, Nr. 23; §13 und
§ 35 der Marineordnung), für die Unterofficiers- Vorschulen (Dienstanweisung vom
8. April 1877, 3. Nachtrag, pag. 5), für die Unterofficiers-Schulen (A.-V.-Bl. 1875,
Nr. 26, Dienstanweisung, 3. Nachtrag, pag. G ; Deutsche mil. Zeitschr. 1881,
Heft 6), und für die Forstlehre f A.-V.-Bl. 1885, Nr. 11; Deutsche mil. Zeitschr,
1885, Heft 7 und 8).
RECRUTIRUNG.
587
Auch in Oesterreich ist die Wehrpflicht eine allgemeine und muss
von jedem wehrfähigen Staatsbürger persönlich erfüllt werden. Insofern haben die
bisherigen Ergftnzungsbestimmnngen , welche in der 2. Auflage der Real-Encyclo-
pädie, Bd. XVI, pag. 443, dargelegt worden sind, auch in dem seitdem erlassenen
Wehrgesetze Aufnahme gefunden. Die für den Militärarzt wissenswertesten Neue-
rungen bestehen in Folgendem : Die Stellungspflicht ist vom 20. auf das 21. Lebens-
jahr hinausgeschoben worden , das Mindest-Körpermaass ist von 155*4 Cm» auf
155 Cm. herabgesetzt worden, und die „Mindertauglichen" werden der Ersatz-
reserve zugetheilt. Man unterscheidet nun zwischen 5 verschiedenen ärztlichen
Urtheilen : tauglich, bedingt tauglich , d. h. nur zu bestimmten Waffengattungen
oder Heeresanstalten tauglich, mindertauglich, d. h. mit geringen bleibenden Ge-
brechen noch zur Waffe im Allgemeinen tauglich, derzeit untauglich (nur bei den
Leuten der 1. und 2. Altersclasse möglich), und endlich untauglich (für immer
nur zum Waffendienste oder zu jedem Dienste).
In Grossbr itannien hat sich in der Heeresergänzung — in der
Werbung — nichts von Bedeutung geändert. Ebenso bieten die Neuerungen in
der Heeresergänzung Frankreichs und Italiens nichts von Belang für den
Militärarzt.
R us s l and ist immer noch im Ausbau seiner Heeresergänzung begriffen.
Die Landwehr erstreckt sich dem Vernehmen nach — sichere Nachrichten gelangen
nur spärlich zu allgemeiner Kenntniss — bis zum 43. (bisher 40.) Lebensjahre
und wird in 2 Classen eingetheilt. Dagegen scheint man damit umzugehen, die
bisher 5jährige Dienstzeit bei der Fahne abkürzen zu wollen. Schon jetzt dient
der eine Theil der dienstfähigen Jahresclasse thatsächlioh nur 9 bis 10 Monate
bei der Fahne und der andere 3 bis 4 Jahre. Diese seit 1882 bestehende Ein-
teilung schafft eine Anzahl (1882 betrug sie 22.000, 1886 aber 45.000) minder
ausgebildete, den deutschen Ersatzreservisten hierin ähnelnde Leute.
Die Werbung in den Nordamerikanischen Freistaaten geschieht
unter der Oberaufsicht des Adjutant General. Für die Vereinigung der Geworbenen
sind Sammelstellen errichtet, welche je unter einem Subalternofficier stehen. Jeder
Geworbene erhält zunächst 5 Dollars Handgeld und verpflichtet sich zu fünfjähriger
Dienstzeit. Er muss über 16 und unter 35 Jahre alt sein ; jedoch dürfen farbige
Anwärter nicht über 25 Jahre alt sein, weil sie älter weniger gelenkig und ver-
ständig sind. Das Höchstalter beläuft sich für die in die Cavallerie Einzustellenden
auf 30 Jahre. Ueberdies muss jeder Anzuwerbende ausreichende Kenntniss der
englischen Sprache besitzen. Die Prüfung der Anwärter geschieht durch einen Werbe-
officier und einen Sanitätsoffleier nach Massgabe der Army regulations of 1881.
Ein vergleichender Rückblick auf die Heeresergänzungs-Einrichtungen
der Grossstaaten lässt in der Hauptsache folgende Thataachen und Bedürfnisse
erkennen :
Die Ergänzung der bewaffneten Macht vollzieht sich entweder auf
Grundlage der allgemeinen persönlichen Wehrpflicht, oder, in England und Nord-
Amerika, durch Werbung. Mit jener Grundlage ist man in den einfach-natürlichen
Zustand zurückgetreten, welchen vor Jahrtausenden das blosse Sittengesetz geschaffen
hat. Natürlicher und wirksamer ist es, sich an die Pflicht als an den freien Willen zu
wenden, wenn es gilt, das Vaterland zu schützen.
Die Militär-Dienstpflicht beginnt meist im 20. Lebensjahre und zu Kriegs-
zeiten greift man auf noch jüngere Jahrgänge zurück. Es ist nun oft schon die
Frage aufgeworien worden, ob nicht die 20jährigen Leute zu unreif für das
Waffenhandwerk seien, da doch das Wachsthum des Menschen erst etwa mit
dem 24. Lebensjahre ende. Diese Frage ist physiologisch berechtigt, kann aber
militärärztlich nicht in dem Sinne bejaht werden, dass der Dienstpflichtbeginn in
das 24. Lebensjahr verlegt werden möchte. Die Physiologie ist nicht im Stande,
588
RECRUTTRUNG.
der militärischen Erfahrung zu widersprechen, nach welcher der Mensen schon
vor Beendigung seines Knochenwachsthums kriegsdiensttangiieh ist. Freilich ist
der Gang des Wachsthums bei den verschiedenen Völkern ein deutlich verschiedener,
wie namentlich Oesterreich-Ungarn zeigt, und andererseits haben Sick, wie die
Kriegsgeschichte lehrt, zu junge Leute, also solche vor dem 20. Lebensjahre,
im Kriegsdienste nieht bewährt. Man möge derart junge Leute im Kriege an-
ziehen und militärisch ausbilden, aber nur im Garnisondienste verwenden.
Das Ergänzungsgeschäft wird von Aushebungs- und MustmiigB^kMiimis-
sionen besorgt, in denen für die in Betracht kommenden Interessen des Staates,
des Heeres und des Wehrpflichtigen Vertreter sitzen. Dies ist zweifellos eise
wohlbewährte Einrichtung.
Dass der den Commissionen als Sachverständiger beigegebene Arzt keines-
falls ein Civilarzt sein darf, ist für Denjenigen, welcher die ärztliche Reenrärungs-
Wissenschaft im vollen Umfange beherrscht, ein selbstverständliches Krforderniss:
Ferner ist es zur Zeit, wo der Arzt fast auf allen Gebieten ämtlicheu Wirkens
keine entscheidende, sondern nur eine begutachtende Sprache fuhren darf, ange-
messen, dass er für die Commission, ausserhalb derselben stehend, lediglieh Be-
gutachter ist. Nothwendig aber ist es, dass sein Gutachten wenn ihm die Ent-
scheidung widerspricht, nieht ohne weiteres in letzterer aufgeht und annullirt
wird, sondern bestätigt durch die ärztliche Unterschrift in die Listen mit der
Wirkung eingetragen wird, dass die Entscheidung aufgeschoben wird, und der
zweifelhafte Mann wie ein Reclamant behandelt wird.
Der Hauptzweck des ganzen Recrntirungsgeschäftes ist der, die Tauglich-
keit und Untauglichkeit der Gestellpflichtigen festzustellen. Von dieser Aufgabe
fallt der Löwenantheil dem Arzte zu. Aus diesem Grunde muss der recrutire&de
Arzt ein sein Fach völlig beherrschender, erfahrungsreicher Militärarzt nicht
nur sein, sondern es muss ihm auch zur Bewältigung seiner mühevollen Aufgabe
Sanitätspersonal beigegeben sein. Ich habe im „ Militärarzt u, 1878, Nr. 2 und 3.
die erheblichen Vortheile der etatsmässigen Einfuhrung von Brigade-Aerzten
für das Heer und das Recrutirungswesen ausführlich dargelegt, und brauche ich
deshalb hier nicht weiter darauf zurückzukommen. England und Bulgarien z. B.
haben seitdem die Brigadeärzte zu allseitiger Befriedigung angenommen; ander-
wärts besitzt man sie unter anderen Namen, und bald werden andere Heere
folgen , zumal da nach meinen Organisationsvorschlägen ein Kostenaufwand mit
der Anstellung von Brigadeärzten in Folge von Etats-Ausgleichungen nieht ver-
bunden sein muss.
Zuzutheilen sind diesen aushebenden Sanitätsmajors zur Unterstützung
und Vertretung, sowie zur Heranbildung : Sanitäts Adjutanten und Sanitäts-Unter-
offlciere, letztere zur Verrichtung der mechanischen Arbeiten. Diese Zutheilung
erhöbt den Kostenaufwand ebenfalls nicht, weil sie bewirkt, dass die Unter-
suchungen grundlicher und schneller ausgeführt werden und so für eine wieder-
holte Gestellung der Militärpflichtigen (zur Musterung und zur Aushebung) eine
nur einmalige angesetzt werden kann.
Dort, wo dem Reerutirungsarzte kein Assistenzarzt zugebilligt werden
kann, ist wenigstens ein Sanitäts unterofficier ganz unentbehrlich. Er kann zwar
in der Listen- oder Rapport-Führung, die ihn beiweitem nicht ausreichend be-
schäftigt, durch einen Unterofficier der Waffe leicht ersetzt werden, nicht aber
in den übrigen Verrichtungen. Zu seinen Aufgaben zähle ich in der Hauptsache
folgende: 1. Schreibgeschäfte, und zwar neben der statistischen Zusammenstellung
die Reinschriften der ärztlichen Zeugnisse; 2. Unterstützung des untersuchenden
Arztes durch zweckmässige Hinstellung des Militärpflichtigen und Handreichungen
während der Untersuchung; 3. Erneuerung von Verbänden an Militärpflichtigen,
wozu er seine Heilmitteltasche etc. regelmässig mit zur Stelle bringt; 4. Leistung
RECRUTIRUNG.
589
der ersten Hilfe bei Ohnmächtigen, wie sie bisweilen schon vor Ankunft des
Arztes in den dicht besetzten Versammlungssälen eintreten ; 5. Putzen und Trans-
portiren der ärztlichen Instrumente, und endlich 6. aushilfsweise Gewichts- und
Längenbestimmungen.
Das Outachten des Arztes erstreckt sich darauf, auf Orund seiner Unter-
suchung zu bekunden, ob ein Mann tauglich oder untauglich ist. Die Untauglichkeit
ist je nach dem Wesen des vorgefundenen Gebrechens oder Mangels entweder eine
dauernde oder zeitige. Nach dem Grade des Gebrechens und seinem Einflüsse auf die
Leistungsfähigkeit des Menschen ist die Untauglichkeit ferner eine völlige oder
theilige. Die theilige Untauglichkeit, welche wie die gänzliche eine dauernde
oder zeitige sein kann, betrifft die Feld- oder Garnison-Dienstfähigkeit, oder
überhaupt den Waffendienst, oder sie schliesst nur von einzelnen Waffen-
gattungen aus. Diese logischen Möglichkeiten lassen sich wie folgt schematisch
zusammenfassen :
Dies ergiebt 10 verschiedene Untauglichkeitograde, welche, da sie logisch
denkbar und dem Bedürfnisse der Heeresverfassung entlehnt sind, in allen Staaten
wiederkehren, obschon sie in den meisten nur wenig scharf bezeichnete Begriffe
bilden, oder sich nur in den Entscheidungen der Commissionen entdecken lassen,
ohne rein gutachtliche Begriffe zu sein. Es ist sehr zu empfehlen, dass jedes
Outachten des Aushebungsarztes über die Tauglichkeit eines untersuchten Militär-
pflichtigen mit einem jener zehn Begriffe wiedergegeben wird, soweit dies gegen-
über amtlichen Bestimmungen möglich ist. Ein weiteres Eingehen in den wissen-
schaftlichen Theil der ärztlichen Recrutirungsarbeit ist hier, wo von den bestehenden
Einrichtungen der Heeresergänzung die Rede ist, nicht am Platze. Die Vor-
kehrungen, welche zweckmässig für die wiederholte Untersuchung der bei der
Truppe zum Dienstantritte eintreffenden Recruten zu vollführen sind, habe ich
in dieser Real-Encyclopädie, II. Aufl., Bd. XVI, pag. 446 und 447 Vorschlags weise
dargelegt. —
Im Deutschen Reiche gab es vor der Umwandlung desselben aus
dem deutschen Bunde so viele Recrutirungsstatistiken wie es Staaten gab. Be
achtenswerth blieben indess nur diejenigen der Königreiche — hier abgesehen von
Deutsch-Oesterreich. Prof. Bischoff (München) hat in seinem hierauf bezüglichen
bekannten Buche eine Uebersicht über die allgemeinen Recrutirungsergebnisse
auch dieser Deutschen Mittelstaaten veröffentlicht. Für Sachsen sind die älteren
Recrutirungsergebnisse in meiner „Geschichte des königl.-sächs. Sanitätscorps u
(Leipzig 1888) niedergelegt (pag. 81, 106 und 115).
Was Preussen anlangt, so wurden hier von 1831 bis 1854 zusammen
3,248.561 Mann untersucht; von diesen waren 1,029.591 untermässig, 1,296.841
litten an Körperschwäche oder Krankheiten, und somit waren 2,326.432 = 716°/0a
der Untersuchten untauglich und 922.129 = 284°/00 der Untersuchten tauglich.
Nach Bischoff wurden in Preussen von 1837 bis 1859 22*90°/o Untermässige
und 37-80°/0 Gebrechliche, mithin 60-70°/o Untaugliche, von 1844 bis 1864
3*20% Untermässige, 41° 0 Gebrechliche und somit 44*50°/0 Untaugliche gezählt.
Die Hauptergebnisse der Aushebungen im Deutschen Reiche aus den
Jahren 1875, 1876, 1879 und 1881 habe ich im „Militärarzt", 1883, Nr. 4
Dauernd
Zeitig
Dauernd
Zeitig
Recrutirungsstatistik.
590
RECRUTIRUNG.
abdrucken lassen; diejenigen aas den Jahren 1885, 1887 und 1889 mögen hier
Platz finden:
1885
In den Listen wurden geführt 1,363.167
Unermittelt 40.4-J9
Ohne Entschuldigung weggeblieben 112.772
Anderwärts gestellpiiichtig geworden 297.883
Zurückgestellt 488.383
1.225
66.893
106.922
56.834
1887
1,394.566
491.118
1.260
62.901
96.7411
64.337/
2.440
161.193
1,447.479
42.127
110-522
348.552
510.741
1.189
31.569
109.939
102.013
zur Mar.- } Q1,
Ersatares.) 5,10
159.270
17313
12.829
Ausgeschlossen
Ausgemustert
Zum Landsturm 1. Aufg
Der Ersatzreserve 1. Classe überwiesen
r> n 2. „ „
„ Seewehr 2. „ „ .... 483
Ausgehoben 142.776
Ueberzählig geblieben 19.997
Freiwillig eingetreten 20.561
Die Ansgehobenen waren solche:
1885 1887 1889
Für den Heerdienst mit Waffe 136.205 153.812 152.971
„ „ „ ohne „ 3.945 4.923 3451
„ die Flotte, und zwar:
Aus der Landbevölkerung 1.058 1.405 1.143
„ „ seemännischen Bevölkerung 1.568 1.683 1.705
Diese summarischen Grössen werden, obschon sie für 1887 voller innerer
Uebereinstimmung ermangeln, genügen, ein Bild von dem Umfange zn geben,
in welchem sich die Entscheidungen der Ersatzbehörden vollziehen.
Ueber Umfang und Ergebniss der Heeresergäoznng Oesterreich
Ungarns ist den militärstatistischen Jahrbüchern Folgendes aus den letzten
Jahren zu entlehnen:
1885 1887 1899
Zur Stellung in den 3 ersten Altersclassen berufen . . 866.696 857.623 734.191
Von diesen zeitlich befreit 45.921 19.080 —
Bei der Stellung nicht erschienen 40.664 37.768 63.581
Wegen körperlicher Gebrechen zurückgestellt oder ge-
löscht 668.865 646.411 514.978
Tauglich, beziehungsweise bedingt tauglich 110.591 153.474 154.146
In Orossbritannien wurden:
In den Jahren
untersucht
1842 bis 1852 171.276
1873 24.805
1874 30.557
1875 25.878
1880 46.108
1881 42.668
1882 45.423
1885 68.536
1886 —
1887 —
1888 -
1890 —
als untauglich
zurückgewiesen
57.381 = 335-0° 0Ü
7.559 = 303'6°/OÜ
8.471 = 277-2°/^
6.662 - 257-4°/00
18.794 = 407b°/00
15.477 = 3630°/oo
19.294 = 4250°/OÜ
19.864 —
eingestellt als
Recruten tauglich
113.895 = 665%
39.552
39.971
31.225
25.153
31.407
Die hier und da sehr verschiedenen Ergebnisse der Recrutirung erklären
sich zum Theil aus der Abhängigkeit der Rekrutirung vom Stande des Arbeits-
marktes, der z. B. im Jahre 1888 sehr günstig gewesen ist. Die Eingestellten
pflegen zur Hälfte noch nicht 20 Jahre alt zu sein.
RECRUTIRÜNG.
In Frankreich betrag die Zahl der
Untersuchten
1831—1843 2,097.876
1837-1845 1,591.193
1850-1858 1,959.302
1856-1860 —
1873
1881
1882
1885
303.810
306.833
Musterungs-
pfiichtig
309.097
rnf.m2..{Mn Schwachen und
Übermässigen Kranken
116.435
124.806
61-3°/00
680.560
498.289
514.588
267-7%, m
Mindermässig und schwach
21.022
Auf Zeit zurückgestellt
30.927
37.754
Untauglichen
680.560 = 324°/00
614.724 = 386°/00
639.394 = 326%o
329"00
Nicht er-
schienen
6.675
38.318
30 433
34.659= 112-97*
40.262
37.728
591
Tauglichen
1,417.316 = 676°, co
976.469 = 6147«,
1,309.908 = 674700
179.415
152.852
Ausgehoben für
1. Portion 2. Portion
135.779 38.112
In Italien zeigt die Recrutirung folgenden Umfang:
Jahr
1877
1884
In den
Listen
GesteUt
Vorläufig zurückgestellt
wegen
Minder- Heilbarer
Krankheit
Nieht ein-
gestellt
Ausgehoben für
1. I 2. ! S.
Kategorie
285.762
270.955
337.187
9.487
20.482
69.992
«6-667.
68.010
78.221| 25.537' 83.438
In Russland erstreckt sich die Recrutirung vermöge der ungeheuren
Bevölkerung auf ein viel grösseres Menschenmaterial als in den übrigen Gross-
staaten. Die folgenden Zahlen mögen ein Bild hiervon geben.
Jahr
Es hatten Davon als
1 sich zu Ernährer etc.
stellen nach nicht gestell-
i den Listen , pflichtig
: 1
Nicht zur
Stellung
erschienen
Von den hiernach Verbleibenden
Als Dienst-
tnchtig j
eingestellt
Ganz untaug-
lich
I Den Laza-
~ _.. . t : reth en zur
Beobach-
gestellt jtnn^ü5er.
| wiesen
1869
1876
1877
1881
1885
1890
; — I —
670.711 332.339
; 677.409 . 352.982
: 779.000 —
! 847.589 -
1
878.011 420.757
1 i
22.460
einschl.
4.972
Juden
44.391 =
24-870
der Gestellten
84.060 = ' '
46-970
der Gestellten
144.934
189.594 ;
225.879 =
M7o 1
259.268
einschl. !
73.8o9
Verheirateten
V« der 327.180 ärzüich —
Untersuchten
— 122.083 8090
65.076 84.422 12.969
! i
i
Wie sich das durch jährlichen Ukas des Kaisers zur Einstellung fest-
gesetzte Recrutencontingent seit 1874 vermehrt hat, zeigt folgende Zusammen-
stellung :
1874 : 140.000 Recruten 1879 : 218.000 Recruten 1885 : 224.000 Recruten
1875 : 145.000 „ 1880 : 235.000 „ 1886 : 235.000
1876:180.000 „ 1881:220.000 „ 1887:235.000
1877:195.000 „ 1882 : 210.000 „ 1888:250.000
1878 : 218.000 „ 1884 : 218.000
Nicht eingerechnet sind die im Kaukasus nach Einführung der allge- .
meinen Wehrpflicht ausgehobenen Reeruten, welche 1887, im ersten Aushebungß-
jahr, 2400 Mann betrugen.
592
RECKTJTIKÜNG.
In Nordamerika hat das werbende Recrutirungsgeschäft von jeher
einen nur geringen Umfang gehabt, da es gilt, ein Heer so klein wie etwa ein
Deutsches Armeecorps zu ergänzen. Nur in Kriegszeiten erhob sich die Zahl der
eingestellten Recruten hoch über die gewöhnliche Zahl. So wurden z. B. 1852
nur 16.064 Leute untersucht, von denen 13.338 untauglich und 2726 tauglich
befunden wurden. Dagegen wurden für den Bürgerkrieg 1863 von 316.445 Unter-
suchten 95.868 = 285°/00 untauglich und 220.577 = 715%0 tauglich befunden.
Wie Viele Oberhaupt für den Krieg angeworben worden sind, geht daraus her-
vor, dass in dem Heere der Nordstaaten 2 1/2 Millionen Officiere und Mannschaften
den Krieg mitgemacht haben, nachdem 4 Aushebungen stattgefunden hatten. Die
Aushebung von 1863 erstreckte sich auf Leute im Alter von 18 — 45 Jahren,
und zwar wurden von 1000 untersuchten Blonden durchschnittlich 385 als un-
tauglich und von 1000 Brünetten 332 als untauglich erkannt. —
Ein vergleichender Rückblick auf die angeführten statistischen Ergebnisse
der Recrutirungen gibt folgende allgemeine Gesichtspunkte an die Hand:
Seitdem in fast allen Heeren die allgemeine persönliche Wehrpflicht ein-
geführt ist , ist der Umfang der bewaffneten Macht und derjenige ihrer Ergänzung
in ein nahezu gerades Verhältniss zum Umfange der Bevölkerung getreten, so
dass die höchsten Bevölkerungszahlen ceteris paribus die grössten Heere und die
grösste Zahl der Recruten folgerichtig ergeben. Eine Einschränkung erhält dieser
Satz durch die Erfahrung , dass die Lebensaltersstufen der militärpflichtigen Leute
des einen Staates numerisch anders vertreten sein können, als die eines anderen
Staates mit einer gleich starken Bevölkerung.
Wenn z. B. ein Staat eine geringe Rindersterblichkeit hat, so kann er
trotz einer geringeren Bevölkerung mehr Gestellungspflichtige erzeugen, als ein
Staat mit zwar grösserer Bevölkerung, aber auch ungleich grösserer Kinder-
sterblichkeit. Ein mathematisch genauer Schluss von der Grösse eines Volkes auf
die Grösse seines Heeres ist demnach un thunlich.
Der Begriff „Grösse eines Heeres" ist obendrein nicht gleichbedeutend
mit „Grösse der Kriegsstärke14. Jene ist nur ein numerischer Begriff, diese aber
schliesst ausserdem die inneren militärischen Eigenschaften des Heeres ein, wie
sie durch die militärische Erziehung gewonnen werden, deren Erfolg vom Volks-
geiste, von den gesetzlichen Erziehungsbestimmungen, und so von den Mitteln
und der Mühe der Erzieher abhängig bleibt. Die Siegesprognose hat sich daher
nicht allein auf die Summen , sondern auch auf das Gewicht der Addenden
zu stützen ! Aus diesem Grunde ist das Wort Napoleons III. : „La pnissanee
d'une nation depend du nombre d'hommes, qu'elle peut mettre sous les
armes" anfechtbar.
In Folge der im Laufe der Zeit sich ändernden Gesetzgebung und des
wechselnden Ergänzungsbedarfs haben die Recrutirungsergebnisse und insbesondere
die Zahlenergebnisse der ärztlichen Untersuchung, weich letzterer nur eine sehr
beschränkte Zeit gestattet ist, einen lediglich bedingten Werth. Die Wehrgesetze
sind in allen grösseren Staaten seit den letzten 20 Jahren auf Grundlagen gestellt,
welche einen Vergleich mit der weiter zurückgelegenen Vergangenheit nur vom
geschichtlichen Standpunkte aus rechtfertigen lassen, und so haben auch die
Recrutirungsergebnisse jener Zeit nur wenig mit derjenigen der letzten
Jahre gemein.
Gilt diese Vergleichsschwierigkeit schon für die engen Grenzen eines und
desselben Staatswesens nach Massgabe der Zeit , so steigert sich dieselbe beträcht-
lich , wenn der Vergleich im Räume , also international zwischen den verschiedenen
Ländern , selbst für zusammenfallende Zeiträume , versucht wird , weil hierbei die
Verschieden!*5* ~ '^otzgebung von der gesuchten Verschiedenheit der Bevölke-
rungen i i muas, um vor Trugschlüssen zu bewahren.
RECRUTIRUNG. — RICIN.
593
Am wenigsten wissenschaftlich brauchbar sind die allgemeinen Ergebniss-
begriffe, wie tauglich, untauglich etc. Zwar werden die Tauglichen etc. berechnet,
sie bilden eine bestimmte Zahl; allein aus dieser Zahl einen Schluss auf die
wissenswerthen Schwankungen der militärischen Körpertüchtigkeit eines Volkes
ziehen zu wollen , bleibt ein gewagter Versuch , weil Gutachten und Entscheidung
subjectiv sind und vom jeweiligen Bedarf e beeinflusst werden. Werth voller sind
alle statistischen Erhebungen von Thatsachen , welche nicht der blossen Schätzung
entlehnt , sondern mathematisch gekennzeichnet sind , wie Körpergewicht, Körper-
länge, Brustumfang etc. Die meisten Staaten sind jedoch in der Veröffentlichung
dieser Werthe so vorsichtig zurückhaltend , dass für die Vergleichung die Unter-
lagen fehlen. Nichtsdestoweniger verspricht auf diesem Gebiete die grösste Offen-
heit die grössten Erfolge. Schon wenige, aber sichere, durch sorgfältige Er-
hebungen gewonnene Ergebnisse befähigen zu einem tiefen Einblicke in die
körperlichen Eigentümlichkeiten eines Volkes. Insbesondere lenken sie die Auf-
merksamkeit auf hie und da immer wiederkehrende, ungünstige Erscheinungen im
physischen Dasein eines Volkes und veranlassen die öffentliche Gesundheitspflege,
die Ursachen zu erforschen und wegzuräumen , um so mittelbar der Volks- und
Wehrkraft Vorschub zu leisten.
Literatur: Vergl. unter den Beiträgen „Körpergewicht", „Körpergrösse", „Recru-
tirung" der II. Auflage der Encyclopädie. — Vergl. Schluss des Abschnitts „Recrutirung"
in H. Frölich's Militärmedicin. Braunschweig 1887. — Die Instruction über die sanitäre
Beurtheilung der Wehrpflichtigen. Bern 1887, 8°, 112 S. — Die Statistik des Militärersatz-
Geschäftes im Deutschen Reiche. Carl Michael, Herzog von Mecklenburg - Strelitz. Leipzig
1887, 8°, 116 S. — An epitome of Triplers tnanual and other publications of the
examination of recrute by Chas. B. Greenl eaf, major etc., Washington 1890 (amtl.). —
Deutsche Wehr- und Heerordnung vom 22. November 1888. — Neuestes Wehrgesetz Oester-
reichs von 1889. Militärarzt. 1888, Nr. 22, 1889, Nr. 2 ff. — Vorschrift für die ärztliche
Untersuchung der (österreichischen) Wehrpflichtigen. Militärarzt. 1889, Nr. 10, 1891, Nr. 7. —
H. Frölich, Bedingungen physischer Kriegsstärke. Militärarzt. 1883, Nr. 4 ff. — Militär-
statistische Bücher Oesterreichs. — Recrutirung in Oesterreich 1889. Allgemeine militärärztl.
Zeitung. 1872, Nr. 48/49. — Real-Encyclopädie der ges. Heilkunde. I. Aufl., Bd. XI, Beitrag
„Recrutirung". — Deutsche Militär-Zeitschrift (Recrutirung in England). 1878, pag. 65. —
Reform der Recrutirungsstatistik , Militärarzt 1891, Nr. 2. — H. Frölich, üeber die
ärztliche Instanz im deutschen Aushebungsgeschäfte. Militärarzt. 1878, Nr. 13. — Der-
selbe, Geschichtliches über die Heeresergänzung. Militär. Wochenblatt. 1881, Nr. 79.
H. Frölich.
Recurrirendes Lymphosarkom, s. Pseudoieukämie, pag. 574.
Rheostat, s. Elektrodiagno8tik und Elektrotherapie,
pag. 225. — Rheostat-Eiektrode, ibid., pag. 227.
RiCill (Real-Encyclopädie, II. Aufl., Bd. XVI, pag. 629). Das von Kobert
und Stillmark aus den vom Ricinusöle befreiten Samen von Ricinus communis
isolirte Toxalburain Ricin, auf dessen Einwirkung die nicht selten in Frankreich
nach Fütterung mit Ricinuspresskuchen vorgekommenen Todesfalle bei Kühen
u. 8. w. zurückzuführen sind, ist in seiner Wirkung dem Abrin (vergl. Abrus-
8 1 o f f e) ausserordentlich ähnlich und ruft auch auf der Augenbindehaut die Jequirity-
ophthalmie hervor. Es erträgt trockene Hitze über 100°, wird dagegen beim
Kochen mit Wasser unwirksam. Bei Warmblütern ist es schon intravenös zu
0*1 Mgrm. pro. Kilo letal. In defibrinirtem serumhaltigen Blute bewirkt es Zu-
sammenballen der Blutkörperchen unter Bildung einer fibrinähnlichen Substanz ; in
grösseren Mengen verzögert es die Gerinnung des Aderlassblutes und macht
schon bei sehr starker Verdünnung (1 : 60.000) defibrinirtes Blut filtrationsfahig.
Auf Blutdruck, Nerven und Muskeln ist es ohne Einfluss; dagegen bewirkt es,
intern, subcutan oder intravenös applicirt, hämorrhagische Gastroenteritis, rapiden
Kräfteverfall, Somnolenz und Convulsionen mit tödtlichem Ausgange, möglicher-
weise in Folge von Gerinnungsthrombosen. Das Ricin oder ein ähnliches Toxalbumin
Eacyclop. Jahrbücher. I. 38
594
RICIN. — ROSENBACH'SCHE REACTION.
findet sich auch in dem Samen anderer Euphorbiaceen, besonders Jatropha Curcas
und Croton Tiglium.
Literatur: Robert und Stillmark, Dorpater pharm. Unters. 1889, H. 3,
pag. 104. — Robert, Dorpater Naturf. Verhdl. 1890, Bd. IX. Husemann.
RÖtilBln. Die äusserst spärlichen, einschlägigen Arbeiten, welche die
beiden letzten Jahre geliefert, sind nicht dazu angethan, an den wichtigeren
Zögen unserer Bearbeitung (Real-Eneyelopädie, II. Aufl., Bd. XVI, pag. 641) irgend
etwas zu Indern. Im Gegentheil kommen so ziemlieh alle Autoren (Rehx,
F. Seitz, Chaxtemesse u. A.) in der schärfsten Formnlirung der Speeifität
der Rubeolen flberein; der Kern der Mittheilungen liegt in dem Bemühen, aus
der Klinik der Krankheit differential-diagnostische Momente gegen die Masern und
den Scharlach zu sondern. Dieselben bleiben der Hauptsache nach die von uns
bereits angefahrten.
Im Speeiellen wird der leiehte fieberlose Verlauf selbst innerhalb
stattlicher Epidemien, die fehlende oder nach Stunden zählende Prodromalphase
und der Mangel von Complicationen und Nachkrankheiten (Rrhn) hervor-
gehoben. Immerhin sind nach F. Seitz die schweren und selbst tödtliehen,
ganz ähnlich wie die Morbilli graves verlaufenden Formen nicht zu leugnen.
Derselbe Autor hebt gleich Talamon das nicht seltene Vorkommen von Nach-
schüben des Exanthems, etwa in Wochenfrist nach dem Abblassen des primären
Ausschlages, hervor. Solchen Recidiven sei grössere Bedeutung als bisher
beizulegen.
Recht allgemein wird die Beobachtung der geradezu gesetzmäßigen
Schwellung der Cervicaldrflsen (Rehx, JuhelRenoy, Talamon u. A.) ver-
treten. Sie mit diagnostischer Bedeutung auszustatten, erscheint uns nach wie
vor gewagt.
Die angeführte differential-diagnostische Bedeutung des Fieberver-
laufes (Zusammenfallen der ersten Acme mit dem Auftreten des Exanthems)
gegenüber jenem der Masern wird wieder von Rexdu vertreten. Doch wider-
spricht diesem Beobachter Cadkt de Gassicourt, insofern das genannte Ver-
halten bisweilen auch den Morbillen zukäme, eine Annahme, der wir auf Grund
jüngster Beobachtungen beitreten müssen.
Im Uebrigen erscheint bemerk enswerth , dass die Dauer der Incuba-
tion von Rrhn mit 17, von Juhel-Rexoy mit 14 Tagen berechnet wird.
Endlich theilt uns Tschamrr eigentümliche Beobachtungen eines conta-
giösen, ohne Allgemeinerscheinungen einhergehenden, auf Gesicht und Extremi-
täten beschränkton Exanthems mit, das er, obwohl es sich um 8 — 9 Tage per-
sistirende, „sehr heisse" und erhabene Flecke gehandelt, als „örtliche Röthein"
aufgefasst wissen will.
Literatur: Rehn, Jahrb. ttr Rinderheilkunde. 1890, Bd. XXIX (Epidemie von
40 Fällen). — F. Seitz, Corr.-Bl. d. Schweiber Aerzte. 1890, Nr. 12 ff. (Züricher, n. Hunderten
sählende Epidemie a. d. J. 1888). — Tschamer, Jahrb. für Rinderheilkunde. 1890,
Bd. XXIX. — Die französische Discussion über Röthein, an welcher Cadet de Gassi-
court, Chant emease, Juhel-Renoy, Rendü und Talamon theilgenommen, findet
sich in den Verhandlungen der März-Sitzungen des Jahres 1890 der Pariser Gesellschaft
der Hospitäler. Fürbringer.
ROSenbaCh'SChe ReaCtiOII wird die burgunderrothe Verfärbung mit
violettem Schttttelschaum genannt, welche O. Bosenbach in gewissen pathologi-
schen Harnen aufgefunden hat. Die Reaction wird in folgender Weise vor-
genommen : Dem Harn wird im Reagensglase unter beständigem Kochen allmälig,
d.h. tropfenweise, so lange Salpetersäure (10—20 Tropfen) zugesetzt, bis er
eine tief burgunderrothe, im durchfallenden Lichte manchmal Manroth erschei-
nende Färbung annimmt und beim Schütteln einen violetten Schaum zeigt Bei
BOSENBACH'SCHE REACTION.
595
weiterem Zusatz der Säure wird der Harn Anfangs nicht mehr verändert, bald
jedoch, zuweilen nach wenigen Tropfen, wechselt er ziemlich plötzlich seine
Färbung, indem unter leichtem Aufbrausen die Burgunderfarbe eine Verände-
rung in Gelb, Orange bis Hellgelb erfährt. Wenn man jetzt vorsichtig den
gelbgewordenen Harn durch Ammoniak oder Natron carbon. — Kalilauge ist
nicht so geeignet — neutralisirt, so tritt eine dunkle, gelbbraune bis braunrothe
Färbung auf.
Die Reaotion kommt bei drei Gruppen von Erkrankungen vor: a) bei
schweren Darmleiden, die zu einer Insuffizienz des Darmes (Rosenbach) fahren, sei es,
dass es zur Stenosirung oder zum Verschluss des Darmlumens kommt, sei es, dass
nur eine Unwegsamkeit des Darmes durch Ausfall bewegender Kräfte, wie bei
loealen, peritonealen Verwachsungen, bei Verwachsung von DarmgefÄssen vorliegt,
sei es, dass die chemischen Functionen allein leiden. Die Keaction wird also in
keinem Falle von Ileus, sowohl bei Brucheinklemmung, als aus anderen Ursachen,
vermisst; b) bei den Formen intensiver Diarrhoe, sei es, dass sie durch eine
acute Indigestion oder durch eines der causalen Momente acutesten Darmcatarrhes her-
vorgerufen wird; c) bei Patienten mit chronischem Leiden, die sich im Zustande
schwerer Ernährungsstörung befinden (bei manchen Formen der Phthise, der
Krebscachexie) , ferner sab finem vitae bei Individuen, bei denen keine besondere
Organerkrankung ausser dem Darniederliegen aller vitalen Functionen, also nur
das Bild des Marasmus, zur Beobachtung kommt.
Eine infauste Bedeutung hat nur die Constanz derReaction; man
kann annehmen, dass 1., so lange sie deutlich vorhanden ist, eine beträchtliche
Ernährungsstörung im Organismus fortbesteht , dass 2. bei Vorhandensein einer
Stenose des Darms die Occlusion nicht vermindert ist, dass 3. nach Operationen
zur Hebung einer Enterostenose das anhaltende Vorkommen der Reaotion das
Misslingen der Operation, d. h. das Fortbestehen der Darminsufficienz, anzeigt ; denn
es mus8 nach Beseitigung des Hindernisses beim Eintritt normaler Verhältnisse
«ach 24 Stunden eine Abnahme oder ein Verschwinden der Färbung con-
statirt werden.
Obwohl die Reaction leicht auszuführen ist, und zwar mit denselben
Mitteln, wie die gewöhnliche Eiweissprobe, und obwohl sie Jedem, der sie einmal
wirklich gesehen hat, äusserst charakteristisch erscheinen muss, so ist sie doch häufig
genug verwechselt worden mit jenen mehr oder minder intensiven Rothfärbungen,
welche fast alle Harne beim Kochen mit Säuren, insbesondere mit Salpetersäure,
ergeben (Salkowski). Es muss daher nochmals darauf hingewiesen werden, die
Reaction in genau vorschriftsmässiger Weise vorzunehmen und nur dann ein posi-
tives Ergebnias anzunehmen , wenn sie die beschriebenen charakteristischen Eigen-
schaften auch sämmtlich hat.
Die bei der Reaction sich bildenden Farbstoffe sind sehr mannig-
faltig. Ein Theil leitet sich von Indolverbindungen her, andere sind vielleicht
Phenolfarbstoffe (Rosenbach). Unter den Farbstoffen tritt besonders einer eclatant
hervor, und zwar ein rother. Dieser ist seit dem Bekanntwerden der Reaction
von Rosin genauer untersucht, chemisch rein und krystallisirt dargestellt und ist
als Indigoroth cbarakterisirt worden, nachdem auch schon Ewald in diesem
Farbstoff ein Indolderivat vermuthet hatte. Aber das Indigoroth, welches nach
der Anstellung der Reaction durch Ausschütteln des Harns mit Aether (nach
vorheriger Neutralisirung) leicht und ziemlich rein schon im Reagensglase als
purpurner Farbstoff isolirt werden kann (Rosin), ist nur ein kleiner Theil der
die R08ENBACHYsche Reaction bildenden Farbstoffe, auch lässt sich Indigoroth
in Harnen nachweisen, welche keine RosENBACH'sche Reaction ergeben (Rosin).
Nun ist von mancher Seite das Auftreten des Indigorothes (kenntlich durch
die Purpurfärbung der Aetherausschflttelung) mit dem Vorbandensein der bur-
38*
596 ROSENBACH'SCHE REACTION. — RUBI DIUM-AMMON1UM-BROMID.
gunderrothen Reaction identificirt worden. In Folge dessen ist die Reaction
(durch alleinige Prüfung der Harne auf Indigoroth) auf eine viel grössere Anzahl
pathologischer Harne ausgedehnt worden, als dies Rosenbach ursprünglich
beschrieben hat.
Bezüglich der übrigen Farbstoffe der Rosen BACH'schen Reaction sei
erwähnt, dass stets geringe Mengen von Indigoblau sich bilden, die grössere
Hälfte der Farbstoffe jedoch von braunrother Farbe ist (braune Componente,
Rosenbach). Rosin, welcher diese Farbstoffe ebenfalls in Untersuchung ge-
nommen hat und auch ihr anderweitiges Vorkommen in normalen und patho-
logischen Harnen, wie auch bezüglich des Indigoroth zu berücksichtigen beab-
sichtigt, hat bereits mehrere Farbstoffe, wenn auch noch nicht analysen-
rein isolirt und braunrothe und braune Substanzen, sowie eine farblose Sub-
stanz gefunden.
Die Rosenbach' sehe Reaction besitzt, wenn vorschriftsmässig angestellt,
nicht allein den ihr vom Autor vindicirten diagnostischen Werth , sondern sie
bietet auch ein allgemein biologisches Interesse, insofern sie zeigt, dass das
Auftreten gewisser Harnfarbstoffe und deren Ghromogene
einen, wenn auch noch nicht vollständig aufgeklärten Zusammenhang mit
Störungen des normalen Stoffwechsels besitzt. Es steht zu erwarten,
dass nach genauer Renntniss aller dieser und verwandter Harnfarbstoffe, ans
ihrem Fehlen oder vereinzeltem, wie gemeinsamen Vorkommen ein allgemeiner
Rückschluss auf die Verhältnisse des Stoffwechsels zu machen ist. Jedenfalls ist
die burgunderfarbene Reaction erst in zweiter Linie als Symptom einer bestimmten
Organerkrankung (vorzugsweise des Darmcanals) aufzufassen, in erster Linie ist sie
ein Zeichen des allgemein gestörten Stoffwechsels, und zwar einer hochgradigen
Störung der Resorption, der Secretion und der daraus resultirenden Form des
Eiweisszerfalles.
Es ist das Verdienst Rosenbach's, gelegentlich der Beschreibung seiner
Reaction als der Erste hierauf hingewiesen , die Bedeutung der Harnfarbstoffe
mehr, als es bisher geschehen ist, hervorgehoben und zu weiteren Untersuchungen
angeregt zu haben.
Literatur: 0. Rosenbach, Ueber eine eigentümliche Farbstort'bildung bei
schweren Darmleiden. Berl. klin. Wochenschr. 1889, Nr. 1. — Derselbe, Zur Sympto-
matologie und Therapie der Darminsufficienz. Berl. klin. Wochenschr. 1889 , Nr. 13. —
Derselbe, Die pathogenetische Bedeutung der burgunderrothen Urinfärbung. Berl. klin.
Wochenschrift. 1889, Nr. 22. — H. Rosin, Ueber das Indigoroth (Indirubin). Berl.
klin. Wochenschr. 1890, Nr. 53 und Virchow's Archiv. 1891, Bd. CXXI1I. — Ewald,
Die pathogenetische Bedeutung der Rosenbach'schen Reaction. Berl. klin. Wochenschr.
1889' N' **■ H. Rosin.
Rothlailf (der Schweine), s. Immunität, pag. 345.
Rubidium - Ammonium - Bromid, Rubidium ammonio - bromatum.
Rb Br . 3 (Nil* Br). Bei der Empfehlung des obigen Doppelsalzes, in welchem 1 Molectil
Rubidiumbromid mit 3 Molectilen Ammoniumbromid gemengt ist, ging Laufenaükr voq
der Ansicht aus, dass die Alkalibromide desto wirksamer sind, je höher das Atom-
gewicht des mit Brom verbundenen Alkalimetalles ist. Kaliumbromid sei wirk-
samer wie Natrium-, beziehungsweise Lithiumbromid, weil sich die Atomgewichte
der bezüglichen Alkalimetalle wie 39 : 23 : 7 verhalten. Nach diesem Gedanken-
gange sollte das Rubidium, da das Atomgewicht des Rubidiums 85*2 beträgt,
noch wirksamer als das Kaliumbromid sein. Da aber das Rubidium sehr theuer,
so wuide es mit Ammoniumbromid im oben angegebenen Yerhältniss combinirt.
Das Doppelsalz bildet ein weisses, krystallinisches, in Wasser leicht lösliches Pulver
von Anfangs kühlendem, dann salzigem Geschmack. Die Wirkung desselben in
Tagesgaben von 4— 7 Grm. entsprach im Ganzen der Bromkaliwirkung , doch
RUBIDIUM-AMMONIUM-BROMID. — RUPTURANEURYSMEN. 597
hat es in einigen Fallen von Epilepsie eine bedeutendere anfallstillende Wirkung
entfaltet als die verwandten Brompräparate. Zu 4 — 5 Orm. Abends gegeben,
erzeugte es bei schlaflosen Patienten 4 — 6stftndigen Schlaf. In dieser Oabe
bewirkt das Mittel eine Herabminderung der Temperatur um 0 2° C. und
des Pulses um 4 Schläge. Verabreichung in Lösung mit Syr. Citri oder als
Pulver in einem Citronat. Die wirksame Dosis beginnt bei 2'0 pro dosi>
5-0 (!) pro die 7—8 Grm. (!) Rottenbiller findet das 6 Grm. Rubidium-
Ammonbromid energischer wirken, wie gleiche Dosen Kaliumbromid , doch
kehren die Anfälle in ihrer gewohnten Weise nach dem Aussetzen des Mittels wieder.
Literatur: K. Laufenauer, Ueber die therap. Wirkung des Rubidiam-Ammonium-
bromid. Therap. Monatsh. 1889, pag. 348. — J. Rottenbiller, Zum Heil wert he des
Rubidium-Ammoniumbromid. Gyögyäszat. 1889, Nr. 43. Therap. Monatsh. 1890, pag. 45.
Loebisch.
RÜCkfallfieber, chronisches, 8. Pseudolenkämie, pag. 574.
Rupturaneurysmen, 8. Endarteritis, pag. 241 ff.
s
Saccharin, s. Diabetes mellitus, pag. 203.
Safransurrogate, s. Dinitrocresol, pag. 207.
Salicylpräparate, s. Bauchfellentzündung, pag. 125.
Samen8trangt Entzündung, s. Funieulitis, pag. 277.
Sarcina, s. Mikroben, pag. 472.
SchädelreSeCtiOn, temporäre, s. Gehirnkrankheiten, pag. 283.
SchafpOCken, (Ovinisation), s. Immunität, pag. 346.
Schanker (weicher Schanker, venerisches Geschwür etc.). Wenn auch
kein Arzt daran zweifelt, dass der Schanker sich von einem Individuum auf das
andere übertragen lässt, so sind doch die Anschauungen darüber, ob dem Schanker
ein eigenes Contagium sui generis zu Grunde liege, getheilt. Zu den Autoren,
welche glauben, dass dem Schanker kein ihm eigentümliches Contagium zu Grunde
liege, gehören namentlich Otis, Hutchinson, Bumstead und Finger. Hutchinson
meint, „dass der Schanker kein Abkömmling eines specifischen Virus sei, sondern
er komme als eine Art Nebenproduct von der Entzündung, die durch die Syphilis
erzeugt werde. Und so, wenn wir heute in der Lage wären, alle jene Secrete zu
zerstören, die durch Contact weichen Schanker bilden, müssten wir erwarten, dass
er sich in einigen Wochen wieder bildet u. Bumstead führt aus, „dass es sieh nicht
mehr darum handelt, ob es zwei verschiedene Gifte, jenes der Syphilis und jenes des
Schankers, sondern vielmehr darum, ob es neben dem Syphilisgifte überhaupt noch
ein specifisches Gift gebe, welches venerische Geschwüre hervorrufe, d. h. ob der
sogenannte weiche Schanker nicht blos als Erzeugniss von einfachen Entzündung»-
producten anzusehen sei". Bumstead behauptet, venerische Geschwüre könnten
sowohl durch das syphilitische Gift als auch durch Ueberimpfung von Entzündungs-
producten, als auch durch gleichzeitige Uebertragung beider entstehen. Finger
huldigt einer gleichen Anschauung wie Otis und glaubt auf Grundlage von Ex-
perimenten den weichen Schanker einfach als Product der Uebertragung irritirenden
Eiters auf genügend irritable Haut- und Schleimhautstellen definiren zu sollen.
Diesen Anschauungen stehen aber solche gegenüber, welche für den Schanker
ein eigenes Virus postuliren, und diesen schliesse auch ich mich nach dem bisherigen
Stande des Wissens an. So hält z. B. Neisser eben für die von Finger postu-
lirte „genügende Reizursache" ein specifisches, dem Ulcus molle eigens zukommendes
Virus für erforderlich, die Incubation sei kurz, aber entspreche der kurzen Zeit,*
in der z. B. Staphylococcen sich wirksam erwiesen. E. Lang gesteht zwar die
SCHANKER.
599
Annahme eines eigenen Contagiums des Schankers zu, lässt dabei aber der Mög-
lichkeit Raum, dass ausser dem eigentlichen Geschwürseontagium gelegentlich sehr
wohl auch andere Entzündungserreger, mitunter auch solche, die aocidentell in
Syphilisprodueten sich vorfinden, ähnliche Ulcerationsvorgänge hervorzurufen im
Stande seien. Bäumler meint, dass das Contagium des weichen Schankers unter
Umständen scheinbar de novo auftreten kann, indem es an einen oder mehrere
weit verbreitete saprophytisohe Mikroorganismen , die in den Eiter gelangen,
gebunden ist. Einzelne Autoren geben an, im Secrete des Schankers für diesen
pathogene Mikroorganismen gefunden zu haben. Nach Primo Ferrari ist der
specifische Mikroorganismus des weichen Schankers ein Bacillus, welcher kleiner
ist, als der der Tuberkulose und der Lepra. Man findet ihn nach Primo Ferrari
in den Eiterkörperohen und Epithelialzellen, in welchen er zuweilen Anhäufungen
von 10 — 20 Individuen bildet, welche allmälig das Protoplasma zerstören und
bis in den Zellkern eindringen. Der Nachweis der Bacillen gelang in allen Fällen
von einfachen Sehankern, ebenso in den Bubonen, auf deren Grunde sie sich
am häufigsten vorfinden, von der 48. Stunde angefangen. Culturversuohe fehlen.
Manxio fand im Schankereiter in und ausser den Eiterzellen kurze,
gerade oder krumme Bacillen in grosser Menge vor ; ausserdem fanden sich auch
Zoogloön, Mikrococcen zerstreut oder in Ketten vereinigt. Die Zellen des Schanker-
eiters fand Mannio um die Hälfte oder zwei Drittel kleiner als jene des Bubonen-
eitere. In letzterem fand Mannio nur Coccen von verschiedener Grösse, aber nie
Bacillen. De Lüca stellte Versuche mit dem Secrete eines noch nicht behandelten
Geschwüres an. Nach einem positiven Impfversuche auf die Trägerin des Ulcus
molle wurde sowohl das Secret des ersten Geschwürs, als auch der Inhalt der
Impfpustel auf sterilisirte Fleischinfusgelatine gebracht. Aus der ersten Cultur ent-
wickelten sich verschiedene Arten von Colonien , graue , grünlichgelbe , gelbrothe,
8chm utzigweisse und weisse; aus der zweiten gingen nur weisse und schmutzig-
weisse Colonien hervor ; die mikroskopische Untersuchung dieser Varietäten ergab
stets die Anwesenheit von Mikroparasiten. Jedoch nur die schmutzigweissen
Colonien ergaben ein positives Impfresultat beim Menschen. Diese letzteren bestanden
aus kleinsten Coccen von 0*5 — 06 Mm. Durchmesser, welche sich in nicht
verdünnten Präparaten in Zooglöenhaufen gruppirt vorfinden. Zwischen diesen
Elementen fanden sich aber auch zerstreut Diplocoocen und Kettencoccen (!!). Eine
von Luca an sich selbst vorgenommene Impfung mit der schmutzigweissen Cultur
ergab ein typisches, auf eine zweite Person weiter impfbares Ulcus molle Von
diesen experimentell erzeugten Geschwüren ab wurden neuerdings schmutzigweisse
Culturen gewonnen ; Impfungen mit diesen letzteren Culturen ergeben wieder posi-
tive Resultate. Für Luca folgt daraus, dass im Secrete des Schankers gleichzeitig
mit einer Menge anderer Mikroorganismen ein Mikrococcus von speoifischen Eigen-
schaften existirt, welcher nach den oben erwähnten Versuchen als für das Ulcus
molle pathogen bezeichnet werden kann. Es wächst auf Fleischinfusgelatine, besser
noch auf Blutserumgelatine, aber auch auf Kartoffeln. Er gehört zu den Aerobien
und entwickelt sich bei gewöhnlicher Zimmertemperatur besser als zwischen 28 — 30°.
Die Entstehung einfacher oder ulceröser Bubonen ist nach Luca abhängig von
dem Uebergange der verschiedenen im Ulcus molle vorfindlichen Mikroorganismen
in die Lymphbahnen. So lange nur pyogene Mikroorganismen überwandern, ent-
steht der einfache Bubo; tritt aber der pathogene Mikrococcus des Ulcus moll*
in die Lymphdrüsen über, so entsteht, und zwar wegen der Aerobieneigenschaft
desselben nur nach Eröffnung des Lymphdrüsenabscesses der ulceröse Bubo. Ducrey
sagt, dass der Schanker sein Gift einem belebten und spezifischen Elemente verdankt.
Dieses Virus ist noch nicht cultivirt worden , weil, wenn es bei dem Menschen rein
gezüchtet ist, ihm nachweislich ein Mikroorganismus, nämlich ein ausnehmend kleiner
Diplococcus entspricht, welcher sich auf den gewöhnlichen Nährböden nicht entwickelt.
Die leicht zu cultivirenden Mikroorganismen, welche bisher als Ursache des Schankers
beschrieben wurden, haben mit demselben nichts zu thun. Nach DrrRBY steht
dem Schanker nur eine einfache entzündliche Form der Drüsenentzündung in Zo-
eamniennang, der sebankröse Bubo kommt nach DüCREY nur durch zufüh^s
Ueberimpfung nach Incisicn der entzündet tu Lymphdrüsen zu Stande. Der Eiter
der Bubonen und Bubonuli enthält nach DüCREy keinen mit den heutigen Unter-
suchungsmitteln nachweisbaren Mikroorganismus. Dieselben sind, wie Dccret tk
wahrscheinlich annimmt, als das Resultat der Reaction der Gewebe gegen die
besonderen Producte der vitalen Flüssigkeit des Mikroorganismus des Sehankers,
aufzufassen. Schon 4 Jahre vor Ducket hatte Straess sich an die Bearbeitung
dieser Frage gemacht, Um der Täuschung durch beigemengte MikroorganismeD
durch Unredlichkeit zu entgehen, untersuchte Steacss den Eiter nicht geöffneter
Bubonen. Seine Untersuchungen erstreckten sich auf 42 Fälle von Bubonen nach
weich em Schanker , und zwar auf Bubonen verschiedener Stadien , nämlich auf
Bubonen, welche im Entstehen begriffen waren T auf vorgeschrittene , und solche,
die Im Begriffe waren, sich spontan zu eröffnen. In keinem einzigen Falle knote
er Mikroorganismen durch die Färbung oder Culturversnche darstellen» Er tnaebtr
daher mit dem Buboneneiter Impfversuche, welche alle negativ ausfielen.
In den Versuchen, welche Ricobd 1831 — 1837 machte, hatte er not
der Impfung des Buboneneiters 271 Erfolge verzeichnet. Am Tage der Bubonen
erötfnung hatte sich der Eiter nur 42mal als tnfectiös erwiesen; die anderen
229 positiven Resultate wurden mit Eiter erzielt, welcher ein oder mehrere Tage
nach der Inciston gewonnen wurde. In 229 Fallen blieb die Impfung am Tage
der Eröffnung erfolglos. Rjcord zog den Scbluss, dass Eiter des Schankerinte
oft virulent ist; dass er es niebt immer ist am Tage der Eröffnung, aber &s in
der Folge werde. RicORD fand dafür die Erklärung darin , dass er behauptete,
dass eigentlich virulent nur der tiefe intraganglionäre Eiter wäre, hingegen der
oberflächliche perigangliouäre der Virulenz entbehre. Stbaüss glaubte die Halt
losigkeit dieser Anschauung durch seine Experimente erwiesen zu haben und meinte,
das?, wenn die Virulenz des Eiters bei Eröffnung des Bubo ausnahmsweise* auftritt,
dies daher rühre, dass der Buboeiter nicht immer durch die Secretion des Schankers
veruu reinigt wurde. Wenn der Eiter in der Folge virulent erscheint, so wurde
er es durch die Uebertragung von virulenten Massen vom 8cbanker in die Wunde.
Es sei bekannt, wie leicht eine Wunde, die man an einem mit einem Schanker
behafteten Individuum sieht, den Charakter des Schankergeschwilres annimmt.
Schützt man die Impfstelle vor Scbankersaft, so wird sie nicht sehankrös, SteABBB
zog demnach aus seinen Versuchen den Schluss : Es giebt nur eine Art von Nu
nach einem weichen Geschwüre, den Bubo des weichen Schankers. Dieser ist von
Natur niemals virulent ; er wird virulent und sehankrös durch SecundärinoeulaticHi
nach seiner Eröffnung.
Aehaliehc Ansichten hatte schon früher G. Trägardh geäussert, welcher
behaupteteT d** Schankervirus käme nicht ursprünglich in den Bubonen vor, sondern
würde immer erst naeh Eröffnung derselben von den Genitalien in die geöffnete
Drüse hineingebracht. Aehnlicb äusserte sich Funk. Den oben angegebenen Be-
hauptungen traten alsbald Diday und Hobtelouf entgegen*
Die Versuche Hobteloüp'h widerlegten die Angaben von 8trau$3 voll-
ständig. Diese Versuche Hobteloup's fanden eine sehr starke Stütze in der klinischen
Erfahrung. Diese lehrte nämlich viele Beobachter, mich selbst, so Ricord, V. Jaxo\ sky,
L. Mann io u. A., dass Bubonen selbst dann sehankrös werden , wenn Schanker-
geschwüre fast ganz ausgebeilt oder gar schon längere Zeit vernarbt waren. Es
geht sowohl aus den Impfversuehen Hortrloup's, als auch aus der klinischen
Beobachtung hervor, dass das Schankergift in die Lymphbabnen bineingelangen
und sowohl in den LymphgefJssen des Penis, als auch in den Lymphknoten (Lymph-
drüsen) ulceröse Procease hervorrufen kann. In der Kegel ruft der Buboneneiter,
wenn die Einimpfung erst 24 — 48 Stunden nach der Spaltung des Bubo erfolgt,
SCHANKEBJ — SCHARLACH.
601
charakteristische Geschwüre hervor, während zuweilen anmittelbar nach der Spaltung
des Drüsenabscesses vorgenommene Impfungen resultatlos bleiben. Aübkrt glaubt,
diesen Umstand dadurch erklären zu sollen, dass er sagt, dass die Temperatur
des nicht eröffneten Bubo die Wirksamkeit des Contagiums aufhebt. Nach der
Spaltung des Bubo stelle sich die Wirksamkeit des Schankergiftes in Folge der
Abkühlung wieder her. E. Ullmann kommt nach den Erfahrungen, welche er
an E. Längs Abtheilung und bei seinen baoteriologischen Arbeiten machte, zur
Anschauung, dass es zweierlei Stoffe seien, welche die Entstehung und den Charakter
des Bubo bestimmen, nämlich die Stoffwecbselproducte der im peripheren Krank-
heitsgebiete vorhandenen Mikroorganismen, dann aber auch diese selbst. Ullmann
tritt dann gleich mir und den früher genannten Autoren für das Vorkommen
primär ulceröser Bubonen des venerischen Geschwüres ein, welche Bubonen ihr
reproductive8 Virus auf dem Wege des Lympbgefässsystemes erhalten. Was die
Behandlung des Schankers anlangt, übergehen wir hier die genügend bekannte
abortive Behandlung desselben vollständig. Was die curative Schankerbehandlung
betrifft, so hat sich mir das Jodoform in Pulverform , als Jodoformätherspray und
als Jodoformstift (Unna) als bestes Mittel erwiesen. Weniger wirksam fand ich
das von Pick mit grossem Vortheil angewendete Jodol. H. v. Hebra hat, wie
genügend bekannt, die Salicylsäure in Pulverform empfohlen und rühmt V. Janovsky
seine mit diesem Mittel erzielten Heilerfolge. Ich fand die Salicylsäure aller-
dings sehr wirksam, nur macht sich nach meiner Erfahrung die Eigenschaft
derselben, auch die gesunde umgebende Haut anzugreifen, unangenehm bemerk-
bar. Szadek findet , dass die Salicylsäure anderen gegen den Schanker gebrauchten
Mitteln nachsteht. Szadek wendet das Sozojodolkali als Streupulver oder mit
lu/0 Creolin oder mit Vaselin als 10 — 15% ige Salbe mit Vertheil an. Ehrmann
empfiehlt das Jodoformum bituminatum. Dasselbe ist ein glimmerähnliches, geruch-
loses und nur in grossen Massen einen schwachen Theergeruch zeigendes Pulver ,
das weder Erythem noch Eczeme erzeugt und die Granulationsbildung, sowie die
Ueberhäufhng schneller als das reine Jodoform herbeiführen soll.
Literatur: Otis, Tretet, clinic. lessons an syph. etc. New- York 1883, pag. 207 bis
pag. 228. — Hutchinson, On soft chancres in their relation to Syphilis. The Lancet. 1875,
II. — Bumstead, The virus of venereal saret u.s.w. Transact. of the internat. medical
congress. Philadephia 1876. — Finger, Ueber die Natur des weichen Schankers. Viertel-
jahrschrift f. Dennat. u. Syph. 1885. pag. 671, n. AH*. Wiener med. Zeitg. 1887, Nr. 9 bis 11
und 13 — 15. — Neisser, Vierteljahrschr. für Dermat. und Syph. 1885, pag. 675. —
E. Lang, Das venerische Geschwür, pag. 3 und Vorlesungen über Syphilis, pag. 41. —
Bäumler, Ziemssen's specielle Pathologie und Therapie. Leipzig 1886. III, 3. Aufl. —
Ferrari, Mittheilung an die Akademie Gioenia am 26. Jali 1885. — Mannio, Communi-
cation faite ä VAcadimie royaXe dt sciences mid. de Palermo. Sitzung vom 19. Jali 1885. —
Lucca, Giornale ital. delle mal. ven. e della pelle. Nr. 4. — Ducrey, Ricerehe sperimentale
sulla natura intima del contagio dell uleera venerea. Monatsh. f. prakt. Dermat 1889, Nr. 9
und II Virus dell* uleera venerea tum l stato ancora cultivato. Giornal. internat. dei sc.
med. 1891, Nr. 1. — Stranss, Sur la virulence du bubon chancreux. Annales de denn, et
syph. 1885, Nr. 1 und 9. — G. Trägardh, Hosp. Tid. 1879, 2 R., VI., 52, nnd Bergh's
Referat in Virchow-Birsch1 Jahresber. 1879, pag. 523. — Funk, Monatsh. f. Denn. 1885,
pag. 105. — Diday. Annales de dermat. et syph. 1885, pag. 18. — Hortelonp, Annales
de denn, et syph. 1885, pag. 18. — Aubert, La chaleur et le chancre simple. Lyon med.
Nr. 32, pag. 479. — KarlUllmann, Wiener med. Wochenschr. 1891. — Janovsky, Monatsh.
vf. prakt. Denn. 1887, Nr. 17. — Szadek, Internationale klin. Rundschau. 1889, Nr. 94 und
Wiener med. Blätter. 1889, Nr. 24. — Ehrmann , Centralbl. f. d. ges. Therapie. 1888, H. 7. —
Maximilian v. Zeissl, In H. v. Zeissl's Lehrb. d. Syph. 5. Aufl., 1888. _ 7A;00i
v. mj e 1 8 s i.
Scharlach. Eine unbefangene Eenntnissnahme von dem Inhalte der
einschlägigen Literatur, welche die 3 letzten Jahre geliefert, läset keinerlei Fort-
schritte erkennen, welche geeignet wären, den in der 2. Auflage der Real Ency-
clopädie (Bd. XVII, pag. 457 — 482) von uns gezeichneten grossen Zögen unseres
Wissens vom Scharlach ein anderes Colorit im Princip zu verleihen. Nichts-
destoweniger fehlt es nicht an relativ zahlreichen, zum Theil sehr schätzens-
602
SCHARLACH.
wertben Ergänzungen im Detail, von denen wir hiermit einen gedrängten Über-
blick bringen.
Aetiologie. Nach wie vor beharrt Klein mit Zähigkeit auf seiner
Anschauung von den Beziehungen gewisser acuter Exantheme der Kühe mit der
Scarlatina hominis. Doch prägt sich bislang im mehr weniger tiefen Schweigen
der Literatur eine Bestätigung dieser Ansicht, die wir bereits mit dem nöthigen
Commentar versehen, wenig aus.
Beachtenswert!) scheint uns der von Pfeiffee erhobene Befund von
MARCHLAFAVA'Bohen „Plasmodien" im Blute von Soharlaohkranken (und Vacci-
nirten). Mit Recht enthält sich der Entdecker einstweilen jeder Deutung dieser
Thatsache.
Ist somit die Ursache des Scharlachs heuzutage ebensowenig mit Sicher-
heit bekannt, wie im vorigen Jahrhundert, so verfügen wir doch über einige
bemerkenswerte engere, bacteriologische Befunde im Körper der Infioirten. So
fand Lekhartz Streptococcen in den inneren Organen eines zugleich an Diphtherie
und Arthritis leidenden Scharlaehkranken. Der Autor hält eine Identität mit dem
FEHLEiSEN'schen Erysipelpilz für umso wahrscheinlicher, als Hbübner von dem
Anspritzen seiner Nase Seitens eines scharlaehkranken Kindes eine Gesichtsrose
davontrug. Auch Raskina gelangt an der Hand eigener Untersuchungen zu der
Ueberzeugung , dass die malignen Complicationen unserer Krankheit durch eine
secundäre Infection mit dem Streptococcus veranlasst werden, beziehungsweise die
Verbreitung vom Rachen aus durch die Lymphbahnen stattfinde.
Oleich Olshausen theilt L.Meter eindeutige Fälle von Puerperal-
Scharlach bei Gelegenheit einer Epidemie in der Kopenhagener Entbindungs-
anstalt mit. Hier war in allen Fällen die Diagnose klar, der Symptomencomplex
charakteristisch. Dass solche Formen Sepsis zu erzeugen vermögen, lehnt der
Beobachter ab. Andererseits bringt Renvers einige bemerkenswerthe Fälle von
sogenannter „Scarlatina puerperal™" zu unserer Kenntniss, welche lediglich der
Ausdruck einer septischen Erkrankung waren. v
Unter 2873 Scharlachfallen beobachtete Geil 25 wahrscheinliche, darunter
3 sichere Fälle einer zweitmaligen Erkrankung an unserem Exanthem.
Klinik. Hier begegnen wir zunächst einigen, die Dauer der Inen
bation betreffenden Angaben. Nach den Beobachtungen der Lazarethe Berlin,
Stettin und Spandau beträgt sie laut Sanitätsbericht 2 — 10 Tage, während SöRKNSES
eine Dauer von 1 — 4 (meist 2 — 3) Tagen statuirt. Der letztgenannte Autor will
ein „echte8u Incubationsstadium nicht recht zugeben und erachtet die Annahme
einer längeren, 2 — 4 wöchentlichen Dauer von Jörgensen und Seitz als unberechtigt.
Nach der Höhe der Fiebercurve will Reiner leichte und schwere
Formen unserer Krankheit unterschieden wissen und giebt eine sehr rigoröse
Eintheilung des uncomplicirten Scharlachs in kurze, mittelleichte und mittelsohwere,
in mittellange leichte und schwere, protrahirte leichte und schwere Formen etc.
Ueber zwei fast fieberlose Scharlachfalle mit relativ hoher — diagnostisch
wichtiger — Pulsfrequenz berichtet Werth eimber.
Nicht uninteressante Beiträge liegen zur Kenntniss des von uns ein-
gehender charakterisirten Nachfiebers*) vor. Letzteres kann , wie Laachs
an der Hand eines ungewöhnlichen, mit Heilung endenden Falles zeigt, gelegent-
lich einmal das vollentwickelte klinische Bild der Pyämie zeigen. Nach einer
„Scharlach-Nachfieber oder -Recidiv?" betitelten Mittheilung Dolega's wurde in
einem Falle am 6. Krankheitstage, nachdem die Temperatur bereits auf 38*
herabgesunken, schnell die ungewöhnliche Höhe von 42*2° erreicht, welche eine
*) Wir benützen die Gelegenheit, hier drei leidige Druckfehler zu berichtigen, welche
sich in unsere Darstellung des Nachfiebers (Real-Encyclopädie, II. Aull.. Bd. XVII, pag. 472) ein-
geschlichen. Es uitLss heissen: Zeile 3 von unten Matter hornspitzen; Zeile 9 von unten
Scharlach typhusartigen Verlaufs; Zeile 12 von unten pyrogenen.
SCHARLACH.
603
hohe Continus von 8tägiger Dauer einleitete. Am 10. Krankheitstage von Neuem
Schlingbeschwerden, Rachenschleimhaut wieder stärker geröthet und auf einer
Tonsille, in der Tiefe einer Lacune, ein kaum linsengrosser , graugelber Pfropf;
die ganze Affection war nach 3 Tagen vorüber; Drüsenanschwellungen traten
nicht ein. Erscheint es schon etwas gewagt, auf dieses flüchtige Intermezzo hin
den Verdacht auf ein „schweres Recidiv" auszusprechen, so müssen wir die,
wenn auch nicht starke Neigung des Verfassers, selbst in den Gumpr echt 'sehen
Fällen Rückfälle zu muthmassen, auf Grund eigenster Controle als unzulässig
bezeichnen. Bemerkenswerth bleibt aber die Beobachtung jedenfalls.
Im Bereiche des Nervensystems abspielende Complicationen unserer
Krankheit sind diesmal besonders hervorgehoben. So beschreibt Schotten einen
Fall von Tetanie nach Scharlach, welche, wie gelegentlich auch die Amaurose,
nicht von einer complicirenden Nephritis, sondern vom Grundleiden selbst abhing.
Desgleichen wies ein Mädchen nach der Beobachtung von Loeb Tetanie neben
Ataxie und Aphasie auf. Heilung. Weiter schildert E. Schaeffeb eingehend
einen Fall von traumatischem Tetanus (Fingerwunde), der mit recidivirendem
„chirurgischen" Scharlach combinirt war („Misohinfection"). Auch hier trat Heilung
ein. Endlich verbreitet sich Joachim über die Psychosen nach unserer Krankheit.
Nach 14 fremden und einer eigenen Beobachtung handelt es sich meist um
Exaltationszustände, seltener Depressionen. Prognose dieser Nachkrankheiten fast
immer günstig.
Im Uebrigen erwähnen wir, von dem Capitel „Scharlachnephritis" abge-
sehen, kurz den Befund einer von Nephritis unabhängigen Propeptonurie
bei 8charlach durch Heller, die Beobachtung einer mit Cervicaladenitis einher-
gehenden Myositis im Bereiche des Sternocleidomastoideus durch Hebtzka,
das Auftreten von Polyarthritis als echter Complication der Krankheit (nBheu-
matisme scarlatineux" ) , beziehungsweise einer durch das Scharlachgift hervor-
gerufenen Synovitis (Ollivier), endlich die Aeusserung des Scbarlachprocesses
unter der Form von Labyrinthentzündung, wie sie L. Katz mit werth-
voller Vollständigkeit und Präcision in verschiedenen Repräsentanten beschrieben.
Die Nephritis anlangend, glaubt Tuch auf Grund eigener Erfahrungen
an eine richtige Familiendisposition und setzt mit derselben gewisse Eigentüm-
lichkeiten des Verlaufes der Nierenentzündung (frühes Einsetzen und Zeichen
urämischer Vergiftung) in Beziehung.
Fälle von initialer Nephritis (nN. pr4coceu), die wir indess als ein-
deutige unmöglich gelten lassen können, theilt Perret mit. Dass aber in der
That die anatomische Grundlage früher zurückdatirt , als die klinischen Zeichen
der Scharlachnephritis , hat Sörexsen an der Hand eigener sorglicher Unter-
suchungen gezeigt. Er betrachtet in Folge dessen die Nierenentzündung nur in
klinischem Sinne als eine postscarlatinöse. Erst wenn der zu frühem Termin ein-
setzende Process eine grössere Zahl von Glomerulis ergriffen, kommt es zur
Oligurie und sonstigen klinischen Consequenzen. Auf die von diesem Autor (und
Litten) bekannt gegebenen, beaehtenswerthen histologischen Details der
Scharlachnephritis ist hier nicht der Ort, näher einzugehen. Nicht unterlassen
wollen wir, zu erwähnen, dass Aufrecht den Ausgang einer Scharlachnephritis
nach 20jährigem Bestände in eine weisse Schrumpfniere beobachtet hat.
Etwas gewagt scheint uns die Behauptung Willey's , dass die Albu-
minurie der Scharlachkranken in der Mehrzahl der Fälle mehr ein nervöses oder
vasomotorisches, als ein Nierensymptom darstelle, wenn wir auch keineswegs der
Ansicht sind, dass der Eiweissausscheidung der Scarlatinösen überhaupt jedesmal
eine anatomisch erkennbare Niereuläsion zu Grunde liegt.
Dass es Formen von Otitis media giebt, welche direct von der Scharlach-
nephritis, nicht unmittelbar von der Grundkrankheit abhängig sind, hat Voss
wahrscheinlich gemacht. Nach diesem Autor soll sogar zwischen Harnbild und
SCHARLACH. — SCHIFFSHYGIENE.
Ohren secretion ein bestimmtes, einen Schluss auf den Verlauf der Nephritis ge-
stattendes Verhältniss bestehen.
Die Prognose unserer Krankheit soll sich nach Reiher umso günstiger
gestalten, je schneller und stetiger sich der Temperaturabfall vollzieht.
Die Sterblichkeit auf unserer Isolirabtheilung des Krankenhauses Friedrichs-
hain hat in den Jahren 1888 — 1890 eine bemerken swerthe Aenderung nicht
erfahren. Sie schwankte (bei einer Summe von 512 Fällen) zwischen 13*2 und
17"3°/0 (Mittel 15#3°/o)- Unser Votum zu einer solchen Zahl unter bestimmten
Verhältnissen haben wir bereits abgegeben.
Therapie. Es würde Nichts verschlagen, wollten wir hier Nachtrags-
bemerkungen .überhaupt nicht Raum geben. Wir wflssten keine Angabe zu bringen,
welche dazu angethan wäre, unsere in der 2. Auflage der Real-Encyclopadie
(Bd. XVII, pag. 480) ausgesprochene Ueberzeugung in andere Bahnen zu lenken.
Im Gegentheil fehlt es nicht an mancherlei Bestätigung unserer Anschauungen.
So bezeichnet Reimeii die Scharlachbehandlung mit Chinin als erfolglos, mit
Salicylsäure als schädlich, mit Thaliin als noch schädlicher, und räth selbst Anti-
pyrin, sowie Antifebrin der Gefahr der Herzschwächung halber nur mit grosser
Vorsicht anzuwenden. Auf den Gewichtsverlust der Scharlachkranken hat diese
Antipyrese nach seinen Erfahrungen keinen Einfluss. Ein grösserer Freund ist er,
unter Meidung des warmen , ungünstig wirkenden Wassers , der kühlen Bäder,
welchen auch Pfuhl das Wort redet. Kalte Immersionen in Verbindung mit
Stimulantien (Campher, Aether, Moschus) und Narcoticis räth Ria mit besonderer
Wärme bei den adynamischen Formen an.
Wenn hingegen prophylactisohe , beziehungsweise antifebrile und anti-
septische oder gar specifische Wirkungen von der Darreichung des Jodqueck-
silbers (Illingworth und Pürdy), des Aconits (Früitnight), des Chloralhydrats
(Wilson, während Pina das Mittel bei den Masern als nützliches Sedativum,
nicht als Antisepticum reicht), des Eucalyptus in Dampfform (Cargenven) , des
schwefligsauren Natrons (Elder), des Salols (Holmes) noch in neuester Zeit be-
hauptet werden, so bedauern wir schon den Glauben an die Möglichkeit ersprieß-
licher Resultate der gedachten Richtung als unvereinbar mit unseren Ansichten
von der Vernichtung der patbogenen Mikroorganismen in den lebenden Geweben
unseres Körpers ansprechen zu müssen.
Durch seine Localbehandlung des Rachens mit parenchymatösen Carbol-
injectionen bei der gefahrvollen septischen Scharlachdiphtherie ist es nunmehr
Heubner gelungen, die Mortalität von 35 auf 10°/0 herabzumindern. Wir waren
leider nicht so glücklich, sind aber dem Autor schuldig, hier zu registriren, dass
Heusinger auf Grund eigener Beobachtungen die HEUBXER'sche Methode augen-
blicklich mehr leisten lässt, als alle sonstigen Massnahmen. Endlich sieht Graff
vom Cyanquecksilber sehr günstige Erfolge bei den brandigen Anginen ssarla-
tinösen Ursprungs.
Literatur (1888—1890): Aufrecht, Deutsches Archiv für klin. Med. XLI. -
Dolega, Ebenda. XLV. — Geil, Hosp. Tidende. 1889, Nr. 34 '36. — Heubner, Volk-
mann's Klin. Vorträge. 1888, Nr. 322. — Heusinger, Deutsche med. Wochenschr. 1889,
Kr. 43. — Joachim, Jahrb. für Kinderheilk. 1889, XXIX. — L. K atz, Deutsche med.
Wochenschr. 1889, Nr. 41. — Laache, Ebenda. 1888, Nr. 46. — Lenhartz, Jahrb. für
Kinderheilk. 1888, XXVIII. — L. Meyer, Zeilschr. für Geburtsh. und Gynakol. XIV. -
Ollivier, La sem. med. 1889, Nr. 43. — Perret, Lyon med. 1888. Nr. 21 und 22. -
L. Pfeiffer, Zeitschr. für Hyg. 1887, II. — Raskina, Brit. med. Journ. Febr. 1889. —
Reimer, Jahrb. für Kinderheilk. 1889, XXX. — Renvers, Zeitschr. für klin. Med. 18%,
XVII, Suppl. — Sörensen, Nord. med. Ark. XXI, 5 und Zeitschr. für klin. Med. 1890.
XVm. — Tuch, Jahrb. für Kinderheilk. 18S8, XXVIII. — Wertheimber, Münchener
med. Wochenschr. 1890, Nr. 26. — Willey, Lancet. Dec. 1889. Fürbringer
SchiffchyQiSnS. Eine zusammenhängende Darstellung, an welcher sich
drei Referenten betheiligten (M. Schmidt, Bambos und Linhart), erfuhr der
SCHIFFSHYGIENE.
605
Gegenstand auf dem VI. Internationalen Congress für Hygiene und Demographie.
Die beiden ersten Referate verbreiteten sich über Trockenhaltung und Reinhaltung
des Schiffes, die Einrichtung des Zwischendecks zu Wohnräumen, die Ernährung
und die staatliche Fürsorge für die Verhinderung von Krankheitsausbrüchen auf
Schiffen. An Erfordernissen wurden in den Schlusssätzen die nachstehenden als
besonders dringlich bezeichnet. Es müssten — nach Massgabe eines besonders
approbirten allgemeineren Planes — alle für den Personentransport bestimmten
Schiffe separirte Räumlichkeiten für kranke Passagiere wie für er-
krankte Schiffsmannschaften enthalten. Durchaus nöthig sei ein Baderaum und
ein Desinfectionsofen auf all diesen Fahrzeugen. Unter allen Umständen
gehöre ein Arzt an Bord, und zwar ein durch Specialcurse in dqr Hygiene ge-
schulter Arzt. Diesem falle die Verantwortlichkeit dafür zu, dass jeder
auf der Reise vorgekommene Fall bei der Sanitätsbehörde eines von dem Schiffe
berührten Hafens zur Anzeige gelange. Die Schiffsagenten dürften nur den mit
einem Gesundheitszeugniss versehenen Personen Fahrbillets ausfolgen. Jedem
Consulät sei ein Arzt beizugeben, der seiner Regierung gediegene Berichte über den
Gesundheitszustand des betreffenden Auslandes erstatten könne. — Linhart's
Referat nahm „Wasser und Luft an Bord" zum Gegenstande und ging auf
die Wasserversorgung, auf die Aufbewahrung des Genusswassers, auf die
Ursachen der Luftverderbniss und deren Verhütung näher ein. Unter den Mitteln
hierzu stehen fleissige Desinfektionen obenan. Beim Einschöpfen von Wasser
muss die Reinlichkeit bedeutend gesteigert werden, zur Aufbewahrung seien Eisten
innen mit Cementverputz versehen, am meisten zu empfehlen. —
Eine Anleitung zur Gesundheitspflege auf Kauffarteischiffen
Hess das Kaiserliche Gesundheitsamt erscheinen (Verfasser: Gaertner, Jena). Im
ersten Theil wird darin die Verhütung der Krankheiten abgehandelt und
hinsichtlich der Untersuchung der anzumusternden Leute, der Beschaffenheit von
Schiff und Ladung, ferner der Kleidung, Wäsche, Hautpflege, besonders auch
der Ernährung die nöthigen Vorsichtsmassregeln auseinandergesetzt. Es folgen
die Weisungen zur Abwehr und Unterdrückung der contagiösen Krankheiten. —
Der zweite Theil hat die Pflege der Kranken zum Gegenstande (unter Hin-
blick auf deren Unterscheidung), bei den Verletzungen auch die Transport Vorkehrungen,
ferner Scheintod und Vergiftungen. In den Anlagen werden Aufzählungen der
Arznei- und Desinfectionsmittei , der Verbandgegenstände und
tabellarische Uebersichten sonstiger Hilfen mitgetheilt.
Seiner Anleitung für S chif f sc apitäne (sie ist für Hamburger
Schiffsführer obligatorisch) hat M. Schmidt gelegentlich der 1888 erschienenen
zweiten Auflage einen Abschnitt betreffend die „Gesundheitspflege an Bord" eingefügt.
Das Hamburgische Gesetz, betreffend das Auswandererwesen (14. Januar
1887) hat Reincke commentirt. Speciell auf hygienische Aufgaben be-
ziehen sich die Vorschriften hinsichtlich der Ausschliessung ansteckender Kranker
von der Fahrt, die Raum- und Ernährungsbestimmungen, der Erweiterung der
schiffsärztlichen Competenzen , der Krankenabwartung und -Isolirung (§§. 25, 35,
55—58, 69).
Endlich bedarf von den zusammenfassenden Arbeiten auf diesem Gebiete
besonderer Erwähnung die Auseinandersetzung über hygienische Einrich-
tungen auf Schiffen, von R. Haack, ehemaligem Director der Stettiner
MascbinenbauActienGesellschaft „Vulcan". Mit grosser Kenntniss erörtert der
Artikel die so interessanten, aber zum Theil fehlgeschlagenen Versuche, welche
durch besondere Bauarten und Baukunststücke zur Verhütung der See-
krankheit unternommen wurden (u. A. Bessemeb's Schwingsaion, Beauchamp
Tower's sehwebende Plattform, die zwischen Calais und Dover fahrenden Doppel -
dampfer, die „Wasserkammern" der englischen Panzerschiffe und die „Seitenkiele44).
Die Seitenkiele haben sich gegen das „Schlingern" am besten bewährt, das aber
606
SCHIFFSHYGIENE. — SEEREISEN.
hauptsächlich durch eine richtige Lagerung des Schwerpunktes — bei Construction
und bei der Beladung — am ehesten gemildert werden kann. — Bei Bemessung des
freien Raumes ist, bei einer Zugrundelegung der Deckhöhe von 2*40 M. und
Nichtbeeinträehtigung des freien Raumes durch Ladung, Proviant oder Gepäck
das von den Hamburger (und Bremer) Gesetzen zugestandene Maass von 2*85 Cbm.
als genügend anzusehen. Lehrreich sind noch die Abschnitte über Wasch- und
Baderäume und über C loset s, hinsichtlich deren von unverkennbaren Fort-
schritten bei allen neueren Constructionen berichtet werden kann.
Kürzer sind die Abschnitte über Spitäler und Krankenpflege,
über Aufbewahrung von Proviant und Wasser, Kuchen und Bäckereien
ausgefallen, während der Haupttheil III sich mit Specialien der Ventilation,
Erleuchtung und Heizung eingehender beschäftigt.
An Einzelheiten sind besonders die Gegenstände folgender Schriften
noch von Belang:
Hinsichtlich der Luft auf Schiffen ein Aufsatz von Seydel welcher
den Tod dreier Matrosen in Folge der Einathmung schlechter Schiffsluft znm
Gegenstande hat. Das Fahrzeug war mit feuchten Papierballen beladen; beim
Herabsteigen in den damit angefüllten Raum erstickten die drei Leute (naeh
Setdel's Ansicht an der Verunreinigung der Luft durch Methan und C03 aus dem
cellulo8ehaltigen Material). Alle stark cellulosehaltigen Ladungen sollten nur im
trockenen Zustande zugelassen werden. Für die Wasserversorgung sind die Erläute-
rungen Degeuze's zu dem Apparat für die Herstellung destillirten Wassers an Bord der
Seeschiffe, wie ihn Perroy angegeben hat, von hohem Interesse. — Neue Speise-
ordnungen für Schiffe wurden in Bremen, Hamburg, Lübeck, Oldenburg und
Schweden erlassen.
Auch das Capitel der Desinfection auf Schiffen hat nicht un-
wesentliche Bereicherungen erfahren. So stellte die Societe de med. publ. et d'hyg.
professionelle die These auf: es müsse bei Schiffen aus Cholera- und Gelbfieber-
gegenden die Anwendung heisser Dämpfe im unteren Schiffsraum obligatorisch
gemacht werden. Nur wo diese unmöglich, sei Carbolsäure und Chlorkalk
subsidiarisch anzuwenden oder Sublimatlösung (1:5000). — Hinsichtlich
dieses letzteren Mittels — aber stärker : 1 : 1000 — berichtet gute Erfolge V allin,
der solche Sublimatlösungen fein zerstäubt gegen die Binnenwände der in den
Quarantänestationen von Louisiana festgelegten Schiffe blasen, gleichzeitig aller-
dings die Betten, Kleider, Teppiche etc. durch feuchte Hitze desinficiren
liess. — Ehrhardt, der die Sublimatlösung hintanstellt, meint die grössten
Desinfectionserfolge erwarten zu sollen von der Flammenhitze, heissen
Dämpfen, starker anhaltender Lüftung, schwefliger Säurein Gasformund
Waschungen der Holztheile etc. mit Carbol- und Chlorkalklösungen.
Literatur: Verhdlg. d. VI. Internationalen Congresses f. Hygienie n. Demographie
Heft 19; Ann. d'hyg. pnbl. XVII. Degeuze, La 8 an. ä bord. Montpellier 1887. — Uhlik,
Anleitung für die erste Hilfe etc. 1887. — Anleitung zur Gesundheitspflege an Bord von
Kauffarteischiffen. Berlin 1888. — Meinhard Schmidt. A ertlicher Rathgeber für Schiffe-
führer. 2. Aufl., 1888. — Reincke, Deutsche Wochenschrift f. öffentliche Gesundheitspflege.
XX. — R. Haack, Ueber hygienische Einrichtungen auf Schiffen. Hyg. Rundschau. l&K),
Nr. 8 und 9. — Seydel, Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. etc. Bd. L, Suppl.-Heft. —
Valiin, Ann. d'hyg. publ. XIX. — Ehrhardt, Desinfection et assainissement des Navirea.
These. Montpellier 1888. Wem ich.
Schlachtanlagen, Schlachthäuser, 8. Fleischschau, pag. 265.
Schöpfradgebläse , s. pneumatische Therapie, pag. 566 ff.
Schraubenbacterien (Spirillen), s. Mikroben, pag. 472.
Schwindel im Climacterium, pag. 145.
S66r6i86n, s. klimatische Curen, pag. 376.
SEHNENPFEIFEN. — SEXUAL VERHÄLTNIS.
607
Sehnenpfeifen (pericardiales), 8. Auscultation, pag. 70.
Separationssystem, 8. Abfaiutoffe, pag. 19.
SeXlialverhältniSS. Zur Erklärung des Eoabenflber8cha8ses unter den
Geborenen, welcher sieh als feststehende Thatsaehe betrachten läset, können
mancherlei Ursachen angenommen werden; doch ist stets das Alter der Eltern
als hauptsächlich fassbarer Factor betrachtet worden. Nach den von Goehlert
wieder jüngstens zusammengestellten grossen Zahlenreihen Iftsst sich nach diesem
Autor der Satz aufstellen, dass die Sexualproportion der Kinder mit dem abso-
luten Alter der Eltern bis zu einer gewissen Grenze in einem causalen
Zusammenhange steht und dass das relative Alter derselben hierbei nur insoweit
in Betracht kommen kann, als es sich innerhalb jener Grenzen bewegt, welche
für die Höhe der Reproductionskraft entscheidend sind. (Kisch hat diesbezüglich
die These aufgestellt: „Wenn der Mann mindestens um 10 Jahre älter ist als
die Frau und diese sich in den Jahren der höchsten Reproductionskraft befindet,
d. i. 20 — 25 Jahre alt ist, so entstehen ganz bedeutend mehr Knaben als Mädchen.44
Ceber den gegenwärtigen Standpunkt der Lehre von der Entstehung des Ge-
schlechtes beim Menschen. Wien 1887.) Die Frage, welcher Einfluss, ob jener
des Vaters oder jener der Mutter als überwiegend angesehen werden kann,
beantwortet Goehlert dahin, dass der v äter liehe Einfluss bei der Geschlechts-
bestimmung ein stärkerer ist. Er führt, um zu zeigen, inwieweit sich dieser
Einfluss von beiden Seiten geltend macht, folgende Zahlen über das Sexual Ver-
hältnis* (welches im Allgemeinen 105 beträgt), an:
Alterder Mutter
Alter des Vaters äö^m I äo^M ! Ueber nÄberhaut>ti
Jahre ! Jahre j 40 Jahre Ueberhaupt,
Von 25-34 Jahren 105'76 ' 107 87 \ 109* 14 106*6 -
„ 85-44 „ 10*8 j 1051 105 3 i 1047 ;
Ueber 45 Jahr« — 1 104 3 ! 103*9 i 104* 1 ;
Ueberhaupt 105*25 i 105*97 ! 104*9 | 105*5 !
I ' ! i
Wenn sich unter den Fehl- und Todtgeburten ein bedeutender höherer
Knabenüber8chuss zeigt als unter den Lebendgeborenen, so fallt es schwer, irgend
eine genügende Erklärung hierüber zu finden.
Geissler entnimmt den Ergebnissen der in Sachsen vorgenommenen,
einen zehnjährigen Zeitraum umfassenden Erhebungen über das Geschlechtsver-
hältniss der Kinder Folgendes : Unter den Familien, welche zwei und mehr Kinder
besitzen, findet eine ganz bestimmte Vertheilung der verschiedenen möglichen
Geschleohtscombinationen statt. Ist die Anzahl der Kinder eine gerade Zahl, so
sind auch diejenigen Familien am häufigsten, welche Knaben und Mädchen in
gleicher Anzahl haben. Ist die Anzahl der Kinder eine ungerade, so kommt die-
jenige Geschlechtscombination am häufigsten vor, bei welcher die Zahl der Knaben
um Eins grösser ist als die der Mädchen, darauf folgt diejenige Combination, bei
welcher die Zahl der Mädchen die der Knaben um Eins übersteigt. Alle übrigen
Combinationen werden um so seltener, je grösser der Unterschied in der Anzahl der
Kinder beider Geschlechter wird. Aber auch hier bleiben die Elternpaare häufiger,
welche mehr Knaben, als die, welche mehr Mädehen besitzen. Am seltensten sind
die Familien, die nur Kinder eines Geschlechtes erzeugen; unter diesen über-
wiegen wieder diejenigen, welche nur Knaben hervorbringen.
Diese Vertheilung der Geschlechtscombinationen ist dadurch bedingt, dass
bei der Erstgeburt und bei allen folgenden Geburten im Allgemeinen das männ-
liche Geschlecht in einem gewissen, wenn auch geringen Vortheil sich befindet.
Dass das Geschlecht des Erstgeborenen auch für die Häufigkeit des Geschlechtes
608
SEXUAL VERHALTNISS. — SPERMEN.
bei den folgenden Kindern Ausschlag gebe, hat sich nicht nachweisen lassen.
Wohl aber scheinen bei einer Anzahl von Eltern, denen mehrere Kinder gleichen
Geschlechtes hintereinander geboren wurden, besondere Hemmnisse zur Erzeugung
des anderen Geschlechtes vorhanden zu sein. Abgesehen von diesen Ausnahmen
ist das Bestreben vorhanden, dass das bisher unter den Kindern nicht oder nur
wenig vertretene Geschlecht bei der fortdauernden Fruchtbarkeit der Ehe zur
Geltung komme. Die Kraft der Ausgleichstendenz steigt, wenn sie sich einmal
geltend gemacht hat. Sie ist stets grösser, wenn das bisher in der Minderheit
befindliche Geschlecht das männliche war. Doch kann die Wahrscheinlichkeit
einer Mädchengeburt grösser als die entgegengesetzte werden, wenn bisher zwei,
drei oder vier Knaben mehr als Mädchen vorhanden waren. Ehen mit Pärchen
haben auch ferner die Aussicht, der Gleichgewichtslage am nächsten zu bleiben:
wiewohl bei der nächsten Geburt das eine Geschlecht hinter dem des anderen
um Eins zurückbleibt, besteht doch für diese neue Vertheilung die Aussicht, bei
einem weiteren Aufsteigen von ungerader zur geraden Kinderzahl in die Gleich-
gewichtslage zurückzukehren.
Literatur: V. Goehlert, Die menschliche Reproductionskraft. Wiener Klinik
1890. — A. Geissler, Beitrage zur Frage des GeschlechtsverhältnUbes der Geborenen.
Separatabdmck ans Jahrgang 1889 der Zeitschr. des königl. sächa. Statist. Bureaus.
Kisch.
Somnambulismus, s. Suggestiv-Therapie, pag. 626.
Sp artein, bei Herzkrankheiten, pag. 335.
SpeCieS diureticae im Arzneibuch für das deutsche Reich neu auf
genommen : Mischung aus gleichen Theilen Rad. Levistia', Liquirüiae, Ononidit
und Fructus Juniperi.
Spermin. Bekanntlich wurde die allgemeioe stimulirende Wirkung,
welche Brown-Seqüard dem Hodensafte junger Thiere zuerkannte, von zahl-
reichen französischen und russischen Aerzten bestätigt. Doch traten beim Ein-
spritzen dieses Saftes an den Injectionsstellen Reactionserscheinungen auf, welche
es wtinschenswerth erscheinen Hessen, an Steile des Hodensaftes das als wirksames
Princip desselben angenommene Spermin zu benützen. Das Spermin ist eine Base,
deren phosphorsaures Salz identisch ist mit den CHARCOT-NEüMANNschen Erystalleo
und welcher Base nach Schreiner die Formel C2 H5 N zukommt (s. Schreinbr's che
Basis, Real-Encyclopädie, IL Aufl., Bd. XVIH, pag. 435). Ladexbürg und Abel
erhielten beim Erhitzen von salzsaurem Aethylendiamin eine geringe Menge von
Aethylenimin, C3H4NH, welches sie für wahrscheinlich identisch mit der
ScHREiNER'schen Base erklärten. Die von Poehl in St. Petersburg aus Testikeln
und Prostatadrüsen junger Stiere und Hengste dargestellten Sperminpräparate
wurden verboten, als in einigen derselben Spermin gar nicht nachweisbar war.
Robert fand das Spermin ungiftig und spricht demselben jede, das Nervensystem
oder die Geschlechtssphäre erregende Wirkung ab, indem er darauf hinweist,
dass in Krankheiten, wo das Spermin in bedeutend vermehrtem Grade vorhanden
ist, die specifischen Sperminwirkungen bisher nicht beobachtet wurden.
Man erhält das S p e r m i n ans der Samenflüssigkeit in folgender Weise : Frischer
animalischer Samen wird auf Leinwand mit etwas Wasser gewaschen, znm Trocknen einge-
dampft nnd mit Alkohol gekocht, den unlöslichen Theil lässt man während mehrerer Standen
in Rabe absetzen ; der Niederschlag wird abfiltrirt, wieder gewaschen nnd bei 100° C. getrocknet.
Dieser, das phosphorsanre Spermin enthaltende Rückstand wird zuerst verrieben und dann
mit warmem ammoniakalischen Wasser aasgezogen. Darch langsames Abdampfen dieser
Lösung erhält man das krystallisirende phosphorsaure Salz. Durch Behandeln dieses mit Baryt
erhält man das freie Spermin, welches aus alkoholischer Lösung in wawellitartigen Kry-
stallen auskrystallisirt. Diese Krystalle ziehen an der Luft Wasser und Kohlensäure an, lösen
sich leicht in Wasser und absolutem Alkohol, sind in Aether unlöslich. Mit Goldchlorid
bildet das Spermin ein Doppelsalz der Zusammensetzung Cs H- N . HCl . AuCl3 , welches, frisch
gefällt, in Wasser, Alkohol nnd Aether leicht löslich ist; getrocknet löst es sich schwer. Die
wässerige Lösung entwickelt, mit Magnesia behandelt, einen charakteristischen, an Samen
SPERMIN. — SPUTA.
609
erinnernden Gerach.- Das salzsaure Salz, C, H5N.HCl, krystallisirt in sechsseitigen
Prismen , die in Büscheln zusammenlaufen , sehr löslich in Wasser , beinahe unlöslich in
Alkohol nnd Aether.
Anwendung. Die Solutio sterilisata spermini hydrochlorici in 1- bis
2°/0iger Lösung als Aphrodisiacum. Die gerühmte Wirkung begegnet starkem Zweifel.
Nach neueren Untersuchungen von Pobhl würde dem nach Schreiner
aus Samen dargestellten Spermin die Formel Cl0 HS6 N4 zukommen ; dasselbe wäre
daher weder mit dem Aethylenimin, noch mit dem Piperazidin (s. d.) isomer.
Literatur: Brown- Sequard, Du röle physiologique et thtrapeutique d'un
9uc extrait de testicules (Tanimaux. Arch. de Physiol. 1889, pag. 651 nnd 737. — P o e h 1,
Spermin, ein neues Stimulans. St. Petersburger med. Wochenschr. 1890 , 31. — Mairet,
Bull. med. 1890, 13 und Deutsche med. Zeitg. 1890, pag. 344. — Poehl, üeber Spermin.
Bericht der Deutschen ehem. Gesellsch. XXIV. pag. 359. T ää1v . •
T r Loebiscn.
Sporen, s. Mikroben, pag. 472 ff.
Sputa. Philip empfiehlt behufs Nachweises geringer Anzahl von
Tuberkelbaeillen ein 24stündiges Stehenlassen des Sputum im Brütschrank,
wodurch ein sich Niedersenken der zelligen Bestandteile und der Tuberkel-
baeillen erfolgt. (Im Laboratorium des Referenten bedient man sich behufs Nach-
weises sehr spärlicher Tuberkelbaeillen des Aufkochens des Sputum mit Kali-
lauge und dann 24stündiges Stehenlassen der Mischung ; das Sediment wird dann
auf Tuberkelbaeillen untersucht.)
May bestätigt die Erfahrungen , dass man aus einer Zunahme der
Tuberkelbaeillen im Sputum nicht auf eine Verschlimmerung, aus einer
Abnahme der Bacillen nicht auf eine Besserung unbedingt schliessen dürfe. Nur
eine Fortdauer der Abnahme in Monate lang dauernder Beobachtung bei
gleichzeitiger stetiger Zunahme des Körpergewichtes und Besserung des Allgemein-
befindens spricht für die verminderte Fortpflanzung der Tuberkelbaeillen.
H. Rossel verflüssigte die Sputa durch Erwärmen auf 60° C. und
bestimmte dann ihr speeifisches Gewicht. Das niedrigste, im Mittel 1006,
zeigten schleimige Sputa, während schleimig-eitrige 1011, rein-eitrige 1020 hatten.
Die Consistenz ist vom Schleimgehalt abhängig, nicht von der Menge der
anderen festen Stoffe. In den eiterhaltigen Sp litis fand sich Pepton, in den
rein schleimigen nicht. Ferner konnte aus den eiterhaltigen Sputis durch Glycerin
ein Ferment extrahirt werden , welches Fibrin und geronnenes Eiweiss bei schwach
alkalischer Reaction unter Peptonbildung löste. Nu dein fand sich der Berech-
nung nach im Sputum zu 0*1 — 0*3.
Pfühl (Hamburg) fand Asthmakrystalle (Charcot - LEYDEN'sche
Krystalle) im Sputum eines acuten Bronchialcatarrhes stets in grossen Mengen,
ohne dass in diesem Falle auch nur eine Spur von Dyspnoe bestand.
Philipp hat aus tuberkelbaeillen haltigem Sputu m einen toxi-
schen Stoff durch Alkohol extrahirt, welcher auf Herz und Centrainerven-
system von Thieren lähmend wirkte.
Pillion und G. Roux geben folgende Methode zur Schnellfärbung
der Tuberkelbaeillen an: Zu 10 Ccm. einer Lösung von 10 Grm. Diamant-
fuchsin in 100 Ccm. Alkohol wird 1 Ccm. einer Lösung von 3 Grm. Amm.
caust. in Wasser zugesetzt und die Flüssigkeit bis zu Beginn des Siedens erhitzt
Darauf kommt das zu färbende Deckglasobject hinein und bleibt 1 Minute liegen.
Alsdann Abspülung desselben in »Wasser. Darauf werden auf das Objeot einige
Tropfen einer Flüssigkeit geträufelt , welche besteht aus : 50 Grm. Alkohol,
30 Wasser , 20 Salpetersäure und Anilingrün bis zur Sättigung. Nach 45 Secunden
dauernder Einwirkung wird das Object in Wasser abgespült und in Canadabalsam
gelegt, ist also zur Untersuchung fertig.
Stadelmann hat mit dem Filterrtickstand von Sputis von Lungen-
brand und Lungentuberkulose, aus denen die Eiweisskörper und das
Encyclop. Jahrbücher. I. 39
610
SPUTA. — STERILITÄT DES WEIBES.
tryptiache Ferment nach Verreibung mit schwefelsaurem Ammoniak auagefallt
waren , Verdauungsversuche angestellt. Das gangränöse Sputuni batte eine starke,
das phthisische eine schwächere Wirkung auf Fibrin und elastisches Gewehe.
Diese Wirkung beruht aber nicht auf einem Ferment in den Sputis, sondern
auf der Anwesenheit vnn Bacterien in dem Gemisch. Kochen der Sputa ver-
nichtet ihre verdauende Wirkung.
Bück fand, dass der Fettgehalt der phthisiseheu Sputa zu-
nimmt mit der Ausbreitung der Tuberkulose, daher bei Anwesenheit von Cavernen
grösser sei.
Nach Jacohsohn ißt der Fettgehalt des Sputums an die Anwesen-
heit der Eiter kör per che n geknüpft und nimmt mit der Anzahl und dem Alter
derselben zu.
Frick fand in gewissen Fällen grüner Sputa als Ursache der Farb-
stoffbildung einen bestimmten Bacillus, den er „vireseens" nennt.
Literatur: Philip, On a tmproved method for fhe detection of the tubträt
bactilus in Sputum, Edinb. med. Journ. November 1886. — May, Beitrag zum quantitativen
Vorkommen der TubertalhaciUen and dessen Bedeutung für die Prognose. Münchens med.
Wochenschr. 1886, Nr. 25. — H. Kossei, Beitrage zur Lehre vom ßronchi&Uecret. Zeitschr.
für kliti. Mediciu. 1887, Bd. XIII. — Pfuhl (Hamburg), Asthmakrystalle ohne Aflthtna
Deutsche militarärztl. Zeitschr. 1887, Nr. S. — Philipp, A cotitribut. toioard* the eiiolcgy
of phthi&is, Brit. med. Jouro, Januar 1688. — - Pillion et 6, Rom, La nouvrlle m^thorf*
rapide de cotoration des hacülts tubtrculeMX* Gaa. de Paris. 1888, Nr. 21. — Stadelmann,
Untersuchungen über den Fermentgehalt der Sputa. Zeitschr. für klin, Medicin. l&^'J,
Bd. XVL — Biick, Deber den Fettgehalt des tuberkulösen Spntums. Dissertation, Warabarg
1889. — Jacobsohn, Beitrage zur Chemie des Sputums und des Eiters. Dissertation,
Berlin 1889. — Frick, Bacteriologische Mittheilungen über das grüne Sputum und über
grünen Farbstoff prodocirenden Bacillen, p, Guttmaun (Berlin)
Staar, s. Cataracta, pag, 141.
Stäbchenbactenen, &. Mikroben, pag. 472.
StaphylOCOCCen, 9, Mikroben, pag. 472.
Steigeapparate, h eilgymnastik , pag. 315.
Sterilität des WeibeS. Es ist noch nicht lauge her, dass filr die
ikerilitas matrimonii nahezu ausschliesslich das Weib verantwortlich gemacht
und dciDgemftss bei unfruchtbarer Ehe fast immer nur der weibliche Theil einer
Behandlung unterzogen wurde. Hat doch vor zwei Deccnnien Marion SrMS den
Ausspruch gethan, dass die Heilung der Sterilität ausschliesslich auf dem Wege
der Chirurgie gesucht werden müsse und in seinem Gefolge beeilten sich die
Gynäkologen, mit chirurgischen Eingriffen im Genitale des Weibes die mechanische
Heilung der Sterilität zu erzielen. Die gehegten Hoffnungen sind nicht in gl*
wünschtem Maasse in Erfüllung gegangen, und selbst jene Gynäkologen, denen
wahrlich nicht Messer scheu zum Vorwurf gemacht werden kann, sahen sich
genöthigt, den Kreis der Indicationen für Vornahme von Operationen zur Erzie-
lung der Conception einzuengen.
Die pathologisch - anatomischen Untersuchungen und namentlich die
mikroskopische und bacteriologi&che Forschung der Gegenwart hat die Actio*
logie der Sterilität in neue Bahnen gelenkt nnd mehr denn sonst auch den
Mann als schuldtragenden Theil zur Verantwortung herangezogen. Es herrscht
auf diesem Gebiete jetzt eine bedeutungsvoll wichtige, wenngleich noch keines*
wegs geklärte Iiewegimg, welche no *eir wht , für die Mehrzahl der Sterilität*-
falle nicht das weibliche, sondern das männliche Genitale ursprünglich zn belasten.
Es war im Jahre 1872, dass Emil Nokogeeath seine in flammendem
Feuereifer geschriebene Arbeit : „Die latente Gonorrhoe im weiblichen Geschlechts"
veröffentlichte und in grellster Beleuchtung all das Elend und den Jammer
STERILITÄT DES WEIBES.
611
schilderte, welche der tripperbehaftete Gatte in die Ehe mitbringt, wie er durch
seine Jugendsünden das Glück der jungen Frau vernichtet, ihre Gesundheit zer-
stört, ihr Leben bedroht und ihre Hoffnungen auf Nachkommenschaft vereitelt.
Wenn man Noeggerath's von edelsten Motiven geleiteten Ausführungen folgt,
so müsste man eigentlich sich wundern, dass die Schlechtigkeit des männlichen
Geschlechtes noch nicht den Untergang der Menschheit, das Ende Sodoms herbei-
geführt hat. Nach Noeggerath's Erfahrungen bleiben 90% der männlichen
Tripper nngeheilt und von allen Frauen, welche tripperkranke Männer geheiratet
haben, blieben kaum 10° 0 gesund. Die gonorrhoische Infection des Weibes, von
welcher Noeggerath ein düster gehaltenes Bild entwirft, giebt nach diesem Autor
auch den häufigsten Anlass zur Sterilität. Nach seinen Beobachtungen waren von
81 derartig inficirten Frauen 49 absolut steril, nur 31 wurden schwanger, 23
entbanden zu Ende des 9. Monates, 3 hatten Frühgeburten und 5 abortirten.
Mithin hatte nicht einmal jede dritte solche Frau ein ausgetragenes Kind. Von
den 23 derartigen Frauen, welche ihre Kinder austrugen, hatten 12 Frauen ein
Band, 7 Frauen zwei Kinder , 3 Frauen drei Kinder, nur 1 Frau vier Kinder, die
normale Durchschnittszahl der Kinder einer Ehe unter gesunden Verhältnissen.
Die Noeggerath' sehen Ausführungen über den Einfluss der gonorrhoischen
Infection auf die Sterilität fanden vielleicht deshalb, weil sie allzu schroffe Fol-
gerungen zogen, nicht die gebührende allgemeine Beachtung — der ruhig erwägende
Schroeder hatte die Behauptungen Noeggerath's geradezu als extravagant
bezeichnet — , allein die Beschuldigung des Mannes als Ursache der ehelichen
Unfruchtbarkeit verschwand nicht mehr von der Tagesordnung der fachwissen-
schaftlichen Discussion. Die Entrüstung, welche die unzweifelhaft allzuweit gehen-
den Behauptungen Noeggerath's in gynäkologischen Kreisen erregten, legte sich
immer mehr, je mehr jeder Frauenarzt in seinem Beobachtungsgebiete nach Be-
stätigung oder Widerlegung der NOEGGERATH'schen Anschauungen forschte. Es
zeigte sich, dass jedenfalls die gonorrhoische Infection in der Aetiologie
der Sterilität des Weibes eine beachtenswerthe Rolle spielt.
So objectiv urtheilt der vielerfahrene Olshaüsen, welcher hervorhebt,
dass Noeggerath's Schrift trotz vieler Uebertreibungen „in der Hauptsache doch
wahre Angaben und Schlussfolgerungen bringt; Wahrheiten, die wohl Mancher
geahnt, Niemand sich hat in vollem Maasse eingestehen mögen". So hoben die
Bedeutung der NOEGGERATH'schen Arbeit die Gynäkologen E. Schwarz, Bandl,
A. Martin, Hofmeier hervor ; der Letztere mit der beachtenswerten Einschränkung,
dass nach seiner Erfahrung der männliche Tripper diese üblen Folgen wohl haben
kann, aber durchaus nicht regelmässig hat. Andere Gynäkologen verhalten sich
mehr ablehnend, so P. Müller, Winkel, Fritsch. Der letztgenannte Autor
meint, dass man ein Causalitätsverhältniss construire, während häufig nur eine
Parallelität existire. Sterilität und geringe Perimetritis, sagt er, sind häufig bei
Frauen, Tripper bei Männern. Damit ist aber noch nicht bewiesen, dass der
häufige Tripper der Männer die alleinige Schuld an der häufigen Sterilität und
an der Perimetritis hat. „Ich habe seit mehreren Jahren alle Ehemänner, deren
ieh habhaft werden konnte, betreffs des Trippers examinirt. Zu meinem Erstaunen
entdeckte ich, dass die Väter vieler Kinder, deren Frauen wegen ganz anderer
Leiden zu mir kamen, eben so häufig Tripper gehabt hatten, als die mit sterilen
Frauen verheirateten."
Die gonorrhoische Infection des Weibes kann aber zweifellos dieses durch
Veränderungen des weiblichen Genitale steril machen. Der Grund liegt darin,
dass der gonorrhoische Cervicalcatarrh dem Eindringen der Spermatozoon hinder-
lich ist oder dass ein solches Hinderniss durch die mit der gonorrhoischen Infection
so häufig einhergehenden entzündlichen Erscheinungen im Peritoneum, Perimetrium
und parametrane Gewebe geschaffen wird; ferner in den durch den Catarrl.
gesetzten Veränderungen in der Tuba (Salpingitis, Hydro- oder Pyosalpinx),
39*
612
STERILITÄT DES WEIBES.
welche den Contact zwischen Ovulum and Sperma hemmen oder durch patho-
logische Umgestaltungen der Wandungen und des Canales der Tuben zu dauernden
mechanischen Störungen der Conception fahren. Oder das Endometrium ist in
Folge der durch die Cohabitation verpflanzten Gonorrhoe derart pathologisch ver-
ändert (Endometritis ckron.J , dass eine dauernde Implantation des befruchteten
Eies daselbst nicht mehr stattfinden kann und dieses innerhalb der ersten Tage
oder Wochen nach der Empfängnies wieder zu Grunde geht oder in den ersten
Monaten der dennoch weiter gediehenen Gravidität dnrch Endometritis decidualis
Abortus eintritt. Es kann endlich in Folge doppelseitiger gonorrhoischer Oopho-
ritis glandularis dazu kommen, dass überhaupt die Bildung eines fruchtbaren
Ovulums nicht mehr zu Stande gebracht wird und ein der Azoospermie des
Mannes entsprechender Anlass absoluter Sterilität gegeben ist, während die vorher
gegebenen Ursachen der gonorrhoischen Sterilität nur relative sind, unter günstigen
Verhältnissen zu beheben sein können.
Jung verheiratete Frauen, deren Gatten mit noch nicht vollkommen
geheilter Gonorrhoe in die Ehe traten und welche bald darauf an Cervicalcatarrh
erkranken, wo nicht selten die Absonderung jene suspecte grünliche Farbe, ähn-
lich dem Secrete der frischen männlichen Gonorrhoe, aufweist, bleiben in Folge
solcher gonorrhoischer Cervicalcatarrhe , Endometritiden und Tubencatarrhe oft
längere Zeit steril. Zur Feststellung der Diagnose, ob man es in solchen Fällen
mit Gonorrhoe zu thun hat, wird nebst Beachtung der virulenten Erscheinungen an
der Vulva, Urethra und Vagina, besonders die mikroskopische Untersuchung des
Cervixsecretes auf Gonococcen nothwendig sein. Denn die Arbeiten Bum's,
Lomer's u. A. haben nachgewiesen, dass der häufigste Sitz des Gonococcus beim
Weibe nicht wie beim Manne die Urethra, auch nicht die Vagina, sondern der
Cervix uteri ist, indem der Gonococcus auch nach Schwinden der acut entzünd-
lichen Erscheinungen im Schleime des Uteruscavum nachweisbar bleibt. Aber in
einer grossen Zahl der Fälle ist die gonorrhoische Infection der Frau sehr schwer,
zuweilen gar nicht mit Sicherheit festzustellen, und darum mag in der That die
Gonorrhoe eine bedeutend häufigere Sterilitätsursache bilden, als man noch bis
vor Kurzem glaubte.
Ein sehr energischer Vertheidiger der NOEGGERATH'schen Lehren ist
jüngstens in Deutschland in M. Saenger erstanden, welcher betont, dass (mit
Ausschluss der Puellae publicae) 12% sämmtlicher gynäkologischer Leiden auf
Processen beruht, deren Aetiologie sich auf gonorrhoische Infection der
weiblichen Genitale zurückführen liess. Zur Sicherstellung dieser Tharsache
sei der Nachweis der NEissER'schen Gonococcen nicht als erforderlich zu betrachten :
die Diagnose müsse sich vorläufig noch aus klinischen Gesichtspunkten aufbauen,
da es keine sicheren Merkmale gebe, den Gonococcus beispielsweise von den
Pseudogonococcen zu unterscheiden; ausserdem könne der Gonococcus im Tuben-
eiter bestehen, ohne aus dem Os uterinum auszufliegen. Die chronische Vaginitifl
und Urethritis, die Entzündung der Schleimhaut des Uterus, die Tubeneiterungen,
die Oophoritis und die periraetritischen Verwachsungen, besonders die feineren,
bei welchen die sämmtlichen seitlichen Organe in fast unentwirrbare Knoten ver-
einigt sind, seien vollständig charakteristisch für die Gonorrhoe.
Grkchen giebt folgende tabellarische Uebersicht der bei chronischer
Gonorrhoe die Sterilität der Ehe bedingenden Momente:
A. Absolute Sterilität.
a) Durch Unmöglichkeit der Befruchtung in Folge mangelhafter
Bildung von Sperma oder Ei:
I. Beim Hamme.
1. Aspermatismui.
2, Asooepor
II. Beim Weibe.
Oophoritis glandularis.
STERILITÄT DES WEIBES.
613
b) Durch Unmöglichkeit der Schwangerschaft bei vorhandenem Ei
und Sperma und möglicher Befruchtung:
Gonorrhoische Endometritis mit
atrophisirendem Charakter.
B. Relative Sterilität.
a) Durch mechanische Behinderung der Copulation von Ei und Sperma:
II. Beim Weibe.
L. Perioophoritis und Pelveoperi-
metritis, sowie ihre Folgezu-
stände : Verwachsungen und
I. Be im Manne.
1. Epididymis duplex.
2. Strictura impermeabilis urethr.
Verlagerungen der Geschlechts-
' organe.
2. Tubencatarrh, Pyosalpinx, Ab-
knickungen und Obstruction
der Tuben.
b) Durch Uebergreifen des gonorrhoischen Processes auf die Decidua und Abortus
in der ersten Zeit der Schwangerschaft:
Endometritis gonorrhoica chronica
und Endometritis decidualis.
Die pessimistischen Anschauungen Saexger's haben ihre Bestätigung
durch Prochownick gefunden, dessen Beobachtungsraateriale von H. Lier und
S. Ascher auf die Frage der Beeinflussung der Sterilität durch den Mann bear-
beitet wurde. Das Material umfasst 227 völlig unfruchtbare Frauen und 197 Frauen
mit erworbener Unfruchtbarkeit. Bezüglich der ersteren Fälle ergab sich bei Be-
trachtung der 132 Fälle, in denen beide Ehegatten der Untersuchung und
Behandlung zugänglich waren, Folgendes:
Von 132 Ehemännern
lag die Schuld der Unfruchtbarkeit allein und heilbar bei .... 42 = 31*8°/ 0
lag die Schuld der Unfruchtbarkeit allein, aber heilbar bei .... 11 = 8*3°/0
hatten ihre Frau durch Tripper sterilisirt, heilbar 41 = 31*1 °/0
waren völlig gesund und ohne Schuld der Sterilität 38 = 28'8°/0
Von 132 Ehefrauen
hatten sichere, jede Empfangniss abschliessende Erkrankungen . . 8=6 °/0
hatten wahrscheinliche, die Conception hindernde Erkrankungen,
theilweise heilbar 31 = 25*5%
zeigten zweifellose Tripperansteckung 54 = 41 °/0
hatten Erkrankungen, die nur sehr unwahrscheinlich die Conception
hinderten 31 = 23'5° 0
waren völlig gesund und sicher nicht Schuld an der Sterilität . . 8 = 6 °/0
Die sicheren Gesammthindernisse von Seiten der Frau waren also 39 =
29*5%, eine Zahl, welche mit derjenigen der ganz gesunden Männer sich nahezu
deckt. Die Gesammtschuld des Mannes, einschliesslich Trippers, beträgt 71*2°/0,
entsprechend 70*5 Erkrankungen, beziehungsweise Normalbefunden bei den Frauen,
welche entweder nicht als Hindernisse der Empfangniss angesehen oder in ihrer
Entstehung sicher ehemännlioher Schuld beigemessen werden konnten.
Diese Untersuchungsreihe führte also Prochownick zu folgenden Resul-
taten: Die weitaus grössere Schuld an der absoluten Sterilität
der Ehe trifft den Ehemann. Sie liegt in erster Linie in der
Tripperansteckung, welche einen grossen Procentsatz der Männer über-
haupt zeugungsunfähig macht; die geschlechtstüchtig bleibenden haben in so
grosser Zahl ihre Frauen inficirt und dadurch fortpflanzungsunfahig gemacht, das*
614 STERILITÄT DES WEIBES. — STIMMBANDLÄHMUNGEN.
der bei der Frau noch schwerer als beim Manne heilbare chronische Trippeiy
beziehungsweise seine Folgen als Erbfeind der Fruchtbarkeit bezeichnet werden
muss. Der kleinere ursprüngliche Theil an der Unfruchtbarkeit trifft die Frau,
und ausserdem erweisen sich die zu Sterilität führenden Erkrankungen derselben
aussichtsvoller für Erzielung einer Empfangniss, als diejenigen des Mannes und die ■
von diesem auf die Frau übertragenen.
In den 197 Fällen von erworbener Unfruchtbarkeit ergab sich, dass im-
Ganzen die Schuld für die erworbene Sterilität lag:
85mai beim Mann = 43,7°/0
(Darunter 2mal Azoospermie und 3 5 mal gonorrhoische Ansteckung.)
27mal beim Puerperium = 13*7° 0
85mal bei sonstiger Genitalerkrankung. . . . = 41'l°/0
Bei dieser Aufstellung die Fälle von Coitus reservatus nicht in Rück-
sicht gezogen, ergäbe:
37mal Schuld des Ehemannes (Azoospermie und Gonorrhoe) = 24*8%
2 7 mal Wocheubetterkranknng = 18*2%
85mal andere Erkrankungen in den Geschlechtsteilen . = 57*0°/0
Den An theil des Mannes an der Sterilität des Weibes durch Erkran-
kungen des Ersteren, besonders durch Azoospermie, in gebührender Weise
hervorgehoben zu haben ist das Verdienst zweier deutscher Forscher: Kehrer
und Fürbrinoer. Dieses Moment wird bei den Artikeln Azoospermie und
Sterilität des Mannes (Real-Encyclopädie , II. Aufl., Bd. II, pag. 301 und
Bd. XIX, pag. 57) erörtert.
Literatur: Noeggerath, Ueber Catarrhe und chronische Gonorrhoe beim weib-
lichen Geschlechte. 1887. Sechzigste Vereamml. der Deutschen Naturforscher und Aerzte. —
S aenger , Ueber die Beziehungen der gonorrhoischen Erkrankungen zu Puerperale rkrankungen.
Verhandl. der Deutschen Gesellsch. für Gynäkol. Leipzig 1886; ferner Ueber gonorrhoische
Erkrankung der Uterusadnexe. Archiv für Gynäkol. XXV. — E.Schwarz, Die gonorrhoische
Infection beim Weibe. Volkmann's Samml. Nr. 279. — Steinschneider, Ueber den Sitz
der gonorrhoischen Infection beim Weibe. Berliner klin. Wochenschr. 1887. — J. Stein-
bach, Die Sterilität der Ehe. Wien 1888. — Math. Grechen, Gynäkologische Studien
und Erfahrungen. 2. Heft ; Beiträge zur Pathol. und Therap. der chronischen Endometritis.
Berlin 1890. — H. Lier und S. Ascher, Beiträge zur Sterilitätsfrage. Separatabdruck aus
Zeitschr. für Geburtsh. und Gynäkol. 1890, XVIII. v . .
K l s c n.
StichCUltUren, StrichCUlturen, s. Mikroben, pag. 488.
Stieltorsion, bei Ovarialtumoren, pag. 533, 536.
StreptOCOCCen, s. Mikroben, pag. 472.
Stimmbandlähmungen (vergl. RealEncyclopädie, II. Aufl., Bd. XIX,
pag. 120). Unsere Kenntnisse Uber die Stimmbandlähmungen sind nach mancher
Richtung hin durch Beobachtungen an Lebenden, durch Mittheilungen von Kranken-
geschichten und Obductionsbefunden erweitert worden. Namentlich trifft dies zu
für die bei Erkrankungen des Centrainervensystems und durch dieselben bedingten
Lähmungen des Larynx, welche in letzterer Zeit vielfach zum Gegenstande
wissenschaftlicher Bearbeitung geworden sind; wir bezeichnen sie kurzweg als
centrale Lähmungen und berücksichtigen besonders diejenigen, deren Zusammen-
hang mit ceutralen Erkrankungen sich sicher nachweisen lässt. In dieser Beziehung
ist in erster Linie darauf hinzuweisen, dass alle Affectionen des Gehirns und
Rückenmarks, welche sich combiniren mit bulbären Erkrankungen, mit Er-
weichungen, entzündlichen Processen u. s. w. der im Bulbus medullae oblongatae
gelegenen Nerven kerne ( Vagus-Accessorius) von Lähmungen des Larynx gefolgt
sein können. Wir rechnen hierher auch ganz besonders die Bulbärparalyse und
STIMMBANDLÄHMUNGEN.
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die Tabes dorsualis. Inwieweit Affectionen des Grosshirns allein den Larynx
beeinflussen können, so dass nach Grosshirnaffectionen Lähmungen des Larynx
folgen, ist bis jetzt noch ziemlich unbekannt. Nach den Untersuchungen von
H. Münk und H. Krausb, deren Resultate von Horsley und Semon neuerdings
bestätigt und erweitert wurden . wonach beim Hunde das Rindencentrum für die
Kehlkopfbewegungen gelegen ist in der Gegend des Gyrus praefrontalis , zwischen
Sulcus cruciatus und Stirnlappen, hätte man erwarten können, dass auch Beob-
achtungen am Menschen mitgetheilt werden würden, welche zweifelsohne eine
Deutung im Sinne des physiologischen Thierexperiments zulassen würden. Die
bisher nach dieser Richtung hin mitgetheilten Krankengeschichten indess liefern
bis jetzt keine absolut sicheren Beweise für die Localisation des Rindencentrums
des Larynx beim Menschen. Allerdings liegen einzelne klinische Beobachtungen
vor, in denen nach Läsionen und Erkrankungen des Gro9shirns Innervatioos-
störungen des Kehlkopfes, totale oder partielle Stimmbandlähmungen durch die
laryngoskopische Untersuchung nachweisbar waren. Gottstein hat den Versuch
gemacht, alle diese Fälle zusammenzustellen und ebenso finden wir neuerdings
eine speciell diese Frage besonders behandelnde Bearbeitung von Lehne. Aber
bei genauerer Kritik ist es doch immerhin noch fraglich , ob nicht in der grösseren
Mehrzahl der mitgetheilten Fälle von Grosshirnerkrankungen, beispielsweise bei
Blutungen daselbst u. s. w., die Laryuxparalysen nur als Fernwirkungen in Folge
der grossen Ausdehnung der pathologischen Processe aufgefasst werden müssen.
Hier bedarf es sehr genauer klinischer Analysen und noch genauerer pathologisch-
anatomischer Untersuchungen , um Ursache und Wirkung mit aller Genauigkeit
feststellen zu können. Immerhin werden die physiologischen Erfahrungen für die
Kliniker eine Mahnung sein, in allen Fällen von Stimmbandlähmungen im Gefolge oder
im Verlaufe von Gehirnerkrankungen daran zu denken, dass dieselben ihre Ursache
haben können in Erkrankungen der Hirnrinde, weiterhin in Erkrankungen der
im Bulbus medullae oblongatae gelegenen Kerne und endlich in Erkrankungen
der hier in Frage kommenden Leitungsbahnen, welche allerdings zum grössten
Tbeile noch unbekannt sind. Bei den Affectionen letzterer Art dürften sich wohl
immer noch weitere Complicationen nachweisen lassen, namentlich andere Herd-
erkrankungen , da eine Beschränkung des krankhaften Processes auf eine einzige
Leitungsbahn nicht recht annehmbar erscheint.
Was nun die buibären Erkrankungen anlangt, so finden wir diese
vielfach complicirt durch Lähmungen des Larynx. Die Hauptaffection , welche
hier in Betracht kommt, ist die Bulbärparalyse , jene Affection, welche ganz
bestimmte typische Erscheinungen setzt. Die Kehlkopfstörungen treten hier bei
den verschiedenen Fällen zu verschiedenen Zeiten auf, je nachdem der Vagus-
Jccessorius-Kem in grösserer oder geringerer Ausdehnung, in schnellerer oder
kürzerer Zeit in Mitleidenschaft gezogen wird. Je nach der Grösse der Affection
sind naturgemäss die Befunde wechselnd; es kann zur partiellen Lähmung der
Kehlkopfmusculatur auf beiden Seiten kommen mit verschiedenen Variationen der
Intensität der Erkrankungen, so dass selbst diese partiellen Lähmungen beiderseits
ungleich sind, wobei die Stimmbänder in adductorischer und abductorischer Thätigkeit
gestört sein können ; oder es kann ein- und doppelseitig vollkommene Stimmband-
lähmung vorhanden sein und dementsprechend können die Stimmbänder in Cadaver-
oder Medianstellung verharren. Hierzu können sich noch Sensibilitätsstörungen
im Larynx hinzugesellen, welche sich ebenso wie die ersteren Störungen durch
den centralen pathologischen Process erklären lassen. Es bedarf vielleicht noch
des Hinweises, dass bei den etwaigen Obductionen und histologischen Unter
suchungen des Gehirns in Anbetracht der verschiedenen Larynxbefunde eine
genauere Localisation der Erkrankung wünschenswerth ist und dass namentlich
auch der Ausdehnungsbezirk der pathologischen Veränderungen im Vagus-
Accessoriu 9-Kern genauer angegeben wird. Nicht minder wichtig ist aber auch
616
STIMMBANDLÄHMUNGEN.
die Untersuchung der Kehlkopfmusculatur und die Berücksichtigung der einzelnen
Kehlkopfmuskeln selbst
In gleicher Weise wie bei der Bulbärparalyse finden wir Kehlkopf-
lähmungen bei der Tabes dorsualis. Wir sehen hier ab von den sogenannten
Reizerscheinungen , welche wir im Verlaufe der Tabes vielfach zu beobachten
Gelegenheit haben und beschränken uns nur auf die Lfthmungen des Larynx.
Es ist eine erfreuliche Thatsache, dass die Neurologen auf diese Verhältnisse
neuerdings ihr Augenmerk richten und somit ihr Material den Laryngologen
zugänglich machen. Die Ansichten über die Häufigkeit der bei Tabes dorsualü
auftretenden Kehlkopfstörungen sind getheilt; während einzelne Laryngologen die
Zahl der bei der Rückenmarksschwindsucht auftretenden Lähmungen für eine
beträchtliche halten, sind Andere der Meinung, dass dies nicht der Fall ist
Eine sorgfältige und kritische Bearbeitung verdanken wir in neuerer Zeit Drey-
fuss , welcher an der Hand eines immerhin stattlichen Materials zu dem Resultate
kommt, dass die Affectionen des Larynx bei Tabes nicht gerade sehr häufig
sind und sich somit mit Fano und Krause bezüglich des Zahlenverhältnisaes der
Erkrankungen in Widerspruch setzt. Wir können auf Grund unserer eigenen
Erfahrungen uns D KEY FUSS nur anschliessen und müssen den Glanben vertreten,
dass beide obengenannten Laryngologen gewisse leichte Störungen vorübergehender
Natur mit der Tabes in Verbindung gebracht haben, ohne dass zwingende
Gründe vorliegen , dieselben für tabische zu halten. Wir finden vollkommene und
unvollkommene, ein- und doppelseitige Lähmungen; dieselben befallen entweder
alle vom Laryngeus inferior versorgten Muskeln oder besonders die Musculi
crico-arytaenoidei postici. Insoweit wir es zu thun haben mit einseitigen completen
Lähmungen des Nervus laryngeus inferior , wobei das betreffende Stimmband in
Cadaverstellung steht, oder mit incompleten einseitigen oder doppelseitigen
Recurrenslähmungen , wobei die Adductoren und Abductoren zugleich in ihrer
Function partiell gehemmt sind, unterscheiden sich die hier in Betracht kommenden
Lähmungen in Nichts von anderen Stimmbandlähmungen. Auffallend ist bei der
Tabes der von den meisten Beobachtern festgestellte Befund der sogenannten
doppelseitigen Posticuslähmung , wobei beide Stimmbänder in der Mittellinie fixirt
erscheinen. Diese Lähmungsform ist von Allen bei der Tabes am häufigsten beob-
achtet und insofern nimmt die Tabes dorsualis dem Kehlkopfe gegenüber eine
gewisse Sonderstellung ein ; Dbeyfuss konnte 20 Beobachtungen von doppelseitiger
und 4 von einseitiger Posticuslähmung zusammenstellen. Ich habe ganz neuer-
dings wieder 3 Fälle von je 2 einseitigen und 1 doppelseitigen Posticuslähmung
gesehen. Konnte man auf Grund der bereits eingetretenen Medianstellung der
Stimmbänder auf die Entstehung derselben keinen bestimmten Rückschluss
machen und konnten deshalb mannigfache unhaltbare Erklärungsgründe längere
Zeit die Literatur beherrschen, so sind jetzt alle Laryngologen darüber einig, dass die
im Verlaufe von Centraierkrankungen und speciell bei Tabes auftretende und zur
Beobachtung gelangende Medianstellung der Stimmbänder als das Resultat ein-
oder doppelseitiger Posticuslähmung aufzufassen ist, und stricte beweisend für die
Richtigkeit dieser Auffassung sind diejenigen Fälle von beginnender ein-
seitiger oder doppelseitiger Posticuslähmung, in denen demnach die Art der
Entstehung deutlich zu beobachten ist. Es geht aus diesen Beobachtungen un-
zweifelhaft hervor, dass die Abductoren in der That diejenigen Muskeln sind,
welche bei centralen Erkrankungen meist zuerst der Atrophie verfallen. Diese
Atrophie kann nach den vorliegenden Befunden erzeugt sein durch die Degenera-
tion der Vagus- Accessorius-Kerne, aber auch höchst wahrscheinlich durch directe
periphere Erkrankungen , wie sich dies besonders aus dem von Oppenheim
beschriebenen Falle zu ergeben scheint. Hier bestand bei Tabes eine doppelseitige
Posticuslähmung und post mortem wurden weder der Vagus- Accessorius-Kom noch
die Vagi und Recurrentes pathologisch verändert gefunden ; dagegen waren die
STIMMBANDLÄHMUNGEN. — STROPHANTÜS.
617
Musculi crico-arytaenoidei beiderseits im Zustande der Degeneration. Die Richtig-
keit der Beobachtungsresultate vorausgesetzt, würde dieser Befund darauf hin-
deuten , dass der pathologische Process auch an der Peripherie beginnen kann,
sei es, dass es sich um neuritische Processe oder periphere muaculäre Erkran-
kungen handelt. — Lähmungen des Nervus laryngeus superior sind bei Tabes
bisher in nur spärlicher Zahl mitgetheilt; Eisenlohr fand in einem Falle neben
Parese der Musculi crico-arytaenoidei ' postici mangelhaften Schloss des Aditus
ad laryngem und Störungen in der Function der Stimmbandspanner. Hierzu
wllrden sich hinzugesellen in ausgesprochenen Lähmungsformen Anästhesie des
oberen Larynxabschnittes , geringe Beweglichkeit des Kehldeckels und Aufrichtung
desselben gegen die Zungenbasis.
Aehnliche Erscheinungen lassen sich auch im Verlaufe der amyotrophi-
schen Lateralsclerose nachweisen. Auch bei dieser handelt es sich um bulbäre
Symptome; von der Grösse und Ausdehnung der Degenerationen im Bulbus
medullae oblongatae und der daselbst gelegenen Nervenkerne ist die Grösse der
im Larynx nachweisbaren Störungen abhängig, so dass in den bisher allerdings
nur spärlich untersuchten Fällen complete und incomplete Lähmungen der Muscu-
latur nachweisbar waren.
Bezüglich der peripheren Lähmungen sind wesentlich neue Momente kaum
anzuführen. Die Controverse, ob die bei Druck auf den Recurrens eintretende
Mediaustellung des betreffenden Stimmbandes als primäre Reizcontractur oder
primäre Posticuslähmung mit secundärer Contractur der Antagonisten aufzufassen
ist, hat, wie es scheint, jetzt ihre Erledigung gefunden, indem die meisten
Laryngologen auf Grund der klinischen Erfahrung und der Obductionsbefunde
sich der letzteren Anschauung anschliessen.
Literatur: Marina und Fano, Archiv für Psychiatrie. 1889. — Dreyfuss,
Die Lähmungen der Keblkopfmusculatur im Verlaufe der Tabes dorsualis. Virchow's Archiv.
1890, CXX, pag. 154. — R. Lepine, Meentes publications sur la paralysie glosso-labiie
cerebrale (pseudo-bulbaire) et sur les centres c&r&braux, laryngi et respiratoire. Arch. de
med. experim. 1. März 1891, Nr. 2. — J. Garel, Du centre cortieal moteur laryngi et du
trajet intra - ciribral des fibres , gut en imanent. Annales des maladies de l'oreiile et du
larynx. 1890, Nr. 4. — Rossbach, Beitrag zur Legalisation des corticalen Stimmcentrums
beim Menschen. Deutsches Archiv für klin. Medicin. 1890, XL VI. — Gottstein, Die
Krankheiten des Kehlkopfes. 1890, III. Aufl., pag. 843 u. ff. — R. Wagner, Die Median-
stellung des Stimmbandes bei Recurrenslähmung. Virchow's Archiv. 1890. CXX, pag. 437;
1891, CXXIV, pag. 217. B. Baginsky.
StOttem (vergl. Real-Encyclopädie, II. Aufl., Bd. XIX, pag. 172). Von
acutem Stottern bat H. Schmidt (Deutsche milit. Zeitsohr. 1889, Nr. 6) einen
Fall mitgetheilt, in welchem das Stottern einen Husaren befiel, der einen Huf-
schlag auf die linke Stirngegend erhalten hatte; die ersten Tage Aphasie, Taub-
heit auf dem linken Ohr und Lähmung des rechten Armes; nach 4 Wochen konnte
der Patient wieder alle Worte sprechen, aber das Stottern blieb bestehen. Treitel
(Berliner klin. Wochenschr. 1890 , Nr. 45) beobachtete zwei Fälle von acutem
Stottern, den ersten bei einem 23/Jährigen Knaben nach einem Trauma (Fall in
einen grossen Wasserbottich), den anderen bei einem 7jährigen Knaben im An-
schlüsse an eine fieberhafte Krankheit (Influenza?). Bei beiden Knaben war eine
neuro panische Disposition vorhanden. Der erste Fall, in welchem das Stottern
aus einer anfänglichen Aphasie hervorging („aphatisches Stottern" , Kussmaul),
wurde in kurzer Zeit geheilt, der zweite blieb unverändert. — Ueber Behandlung
des Stotterns durch Suggestiv- Therapie, vergl. pag. 634.
StrOmwage, s. Elektrodiagnostik und Elektrotherapie,
pag. 224.
StrOphantUS, bei Herzkrankheiten, pag. 335. — Das Arznei-
buch für das deutsche Reich hat neu aufgenommen : Tinctura Strophanti (aus
durch Pressen entöltem Semen Strophanti 1 : 10 bereitet) ; grösste Einzelgabe
0*5 Grm., grösste Tagesgabe 2*0 Grm.
618
STYLI CAÜSTICI. — SÜCCÜS ENTEBICUS.
Styli CaiJStici, Aetzstifte. Im Arzneibuch für das deutsche Reich neu;
falls Aetzstifte ohne Angabe von Grösse und Form verordnet werden, sollen die-
selben walzenförmig, 4 — 5 Cm. lang und 4 — 5 Mm. dick abgegeben werden.
Subclaviageräusch, &. Auscuitation, pag. 70.
Sublimat, als Ursache von Darmblutungen, pag. 158, Darm-
entzündung, pag. 159. — Als Desinficiens, s. Desinfection,
pag. 188, 189, Schiffshygiene, pag. 606. — Sublimatbäder, s. hydro-
elektrische Bäder, pag. 338.
SUCCUS enteriCUS, Darmsaft Die früher gegebene Darstellung (vergl.
Real-Encyclopädie, II. Aufl., V, pag. 98) schloss sich der Autorität Hoppr-Sbyler's
an, dem zu Folge „ein besonderer Darrosaft als Secrect der Lieberkühn 'sehen Drosen
wahrscheinlich nicht existirt, dass jedenfalls bis jetzt ein Beweis seiner Existenz fehlt*.
Die Übereinstimmung der qualitativen Zusammensetzung des vermeintlichen Darm-
saftes mit der des Blutplasmas und der Lymphe spreche dafür, dass jene Flüssig-
keit, welche aus der „Darmfistel" erhalten werde, nichts Anderes sei als ein durch
die abnorme Reizung hervorgebrachtes Transsudat. Bei genauer Abwägung des
Für und Wider scheint uns indess an der Thatsächlichkeit des Darmsaftes als
normalen Secretes der LiEBERKüHN'schen Drüsen kein Zweifel mehr obwalten zu
können, denn einmal haben Thiry und vollends H. Quincke selbst nach
9 monatlichem Bestehen einer Darmfistel keine Veränderung im histologischen Bau
der Darmfistelschleimhaut und insbesondere der LiEBERKüHN'schen Drüsen finden
können, sodann konnte Demant zeigen, dass auch ohne einen die Fistel treffen-
den Reiz im Anschluss an die Futteraufnahme aus der Fistelöffnung Flüssigkeit
abtropfte; die Abscheidung erfolgte somit ohne jeden mechanischen oder chemi-
schen Reiz einzig und allein durch die Bewegung, welche von den oberen Darm-
abschnitten (Mund- und Magenhöhle) ausging, endlich wäre es nicht zu verstehen,
dass der Gehalt an kohlensaurem Salz in der Darmflüssigkeit nach Gumilewski
und Röhmann 0*43 °/0, also etwa doppelt so viel als im Blut beträgt, während
doch sonst bei Transsudaten ziemlich auch quantitative Uebereinstimmung der
anorganischen Salze mit der Mutterflüssigkeit (Blut), aus der die Transsudaten
erfolgt, besteht.
Gegen die Anschauung von Hoppe-Seyler, dass die als Lieb erküh Nische
Drüsen bezeichneten Einstülpungen des Darmes nur zur Vergrösserung der resor-
birenden Oberfläche dienten, und dass das vermeintliche Drüsenepithel nur eine
Fortsetzung des resorbir enden Zottenepithels wäre, macht Heidenhain mit Recht
geltend, dass das Epithel der LiEBERKüHN'schen Drüsen vom Zottenepithel
morphologisch sehr verschieden ist, und dass der Darminhalt niemals in die
LiEBERKüHN'schen Drüsen eindringt, die letzteren somit nicht der Resorption
dienen können.
Dass die Darmfistelflüssigkeit als Drüsensecret, als eigentlicher Darmsaft
(Succus entericus) aufzufassen ist, dafür sprechen auch eine Reihe von Erfah-
rungen über die Abscheidungsbedingungen des Saftes. Wie bei anderen Verdau-
ungssäften , ist auch beim Fistelsaft nach Thiry und Masloff im nüchternen
Zustande die Absonderung sehr gering oder fehlt zumeist ganz, solange kein be-
sonderer Reiz die Schleimhaut trifft. Dagegen tritt nach Nahrungsaufnahme Ab-
sonderung ein, wenn sie vorher fehlte, oder verstärkt sich, wenn sie vorher in
geringem Grade bemerklich war. Und zwar scheint nach Heidenhain's Deutung
der THiRY'schen Beobachtung die Absonderung erst einige Zeit nach der Nah-
rungsaufnahme zu steigen und bis zur 6. — 7. Verdauungsstunde stetig zu
wachsen. Im Uebrigen schwankt die Absonderung je nach Quantität und Qualität
der eingeführten Nahrung.
Abgesehen von dieser durch Reizung der oberen Verdauungswege reflectorisch
hervorgerufenen Secretion kann Absonderung von Darmsaft durch directe Reizungen
SüCCüS ENTERICUS.
619
verschiedenster Art erzielt werden. Mechanische Reizung (Einführung eines Feder-
bartes, Olasstabes oder Catheter) in die Darmfistel erweist sich als wirksam ; mit
der Stärke des Reizes ändert sich nicht blos die Menge, sondern auch die Be-
schaffenheit des Secretes; dasselbe wird nach Dobroslawin schleimiger, reicher
an Mucin (Schleimstoff). Von den chemischen Reizen ist besonders bemerkenswerth,
dass nach Thiry Injection sehr verdünnter, 0*l°/0iger Salzsäure, also einer solchen,
wie sie sich in dem aus dem Magen in die Darmhöhle geworfenen Chymus findet,
eine beträchtliche Vermehrung der Secretion hervorruft. Endlich ruft nach Mas-
LOFF Injection von Pilocarpin in's Blut, wie an anderen Drüsen, so auch an denen
des Darmes sehr reichliche Absonderung von Darmsaft hervor. Noch energischer
als mechanische, wirkt elektrische Reizung der Fistelschleimhaut.
Der Darmsaft reagirt stark alkalisch, auf Zusatz von Säure braust
er auf (Entwicklung von Kohlensäure); er enthält 1*2 — 2 •4% fester Stoffe, dar-
unter etwa 0*8° 0 Eiweiss, dessen Menge mit der Dauer der Absonderung ab-
nehmen soll, ferner ziemlich reichlich Mucin (Schleimstoff). Beim Hunde enthält
er nach Gümilewski und Röhmann eine fast constante Menge von kohlensaurem
Natron und Kochsalz, und zwar etwa 0*43° 0 NajC03 und rund 0'5°/0 NaCl.
Im oberen Theil des Dünndarmes ist nach Röhmann das Secret beim Hunde
spärlicher, schleimig oder gallertähnlich, im unteren dagegen ziemlich dünnflüssig,
mit gallertähnlichen Klümpchen oder Flöckchen durchsetzt.
Während kaum noch ein Zweifel darüber besteht, dass der Darmsaft,
wofern durch antiseptische Cautelon oder Zusatz von Salicylsäure, beziehungsweise
Thymol das Auftreten von Fäulnissprocessen verhindert wird, weder Eiweisskörper,
noch Fette chemisch verändert, scheint seine Einwirkung auf gekochte Stärke,
Stärkekleister, allen neueren Beobachtungen zu Folge sicher. Stärke wird in
Dextrin und Zucker übergeführt, und zwar ist ausserhalb des Körpers schon nach
1 Stunde, bei in die Fistel eingebrachtem Stärkekleister nach Bastian EL Li sogar
schon nach 30 Minuten die Verzuckerung nachweisbar.
Ferner wirkt der Darmsaft nach Paschütin , Röhmann, Bastianelli
auf Rohrzuckerlösungen i n v e r t i r e n d, d.h. er wandelt den (an sich Kupferoxyd
nicht reducirenden) Rohrzucker in sogenannten Invertzucker um, ein Gemenge von
rechtsdrehendem Traubenzucker und linksdrehendem Fruchtzucker, welch beide
schon in der Kälte oder bei gelinder Wärme Kupferoxyd reduciren (vergl. Zucker,
Real-Encyclopädie, II. Aufl., Bd. XXI, pag. 528).
In Folge der genaueren Kenntniss der Zusammensetzung und Eigenschaften
haben sich auch unsere Anschauungen über die Bedeutung des Darmsaftes
geändert. Früher sah man mit Hoppe Seyler die einzige Bedeutung derselben in
der Abscheidung von Mucin auf die Oberfläche der Darmschleimhaut; da das
Mucin durch die Darmfäulniss kaum angegriffen wird, bildet es eine schützende
Decke für die Epithelien des Darmes, ermöglicht, beziehungsweise fördert das
Gleiten der festen Massen im Darm und die leichte Fortbewegung derselben durch
die Peristaltik.
Sodann ist er im Stande, den Bauchspeichel in seiner stärkeverzuckern-
den Function zu unterstützen und den Rohrzucker der Nahrung zu invertiren.
Seine wesentliche Bedeutung bertiht auf seinem hohen Gehalt an kohlen-
saurem Natron, wodurch er hauptsächlich dazu beiträgt, die saure Reaction des
Chymus, mit welcher derselbe in den Dünndarm kommt, zu neutralisiren. Während
im oberen Theil des Dünndarmes (Duodenum, Jejunum) ungeachtet der Zumischung
des alkalischen Bauchspeichels und der alkalischen Galle der Chymus noch sauer
reagirt, findet sich im unteren Theile des Dünndarmes (Ileum) neutrale, häufig
schon alkalische Reaction. Da, wie wir wissen, der Bauchspeichel nur in sehr
geringer Menge abgeschieden wird , andererseits die allerdings reichlicher abge-
sonderte Galle nur wenig freies Alkali enthält, muss der Löwenantheil an der
Neutralisirung des Chymus dem Darmsaft zukommen, und es ist deshalb, worauf
620
SÜCCÜS ENTEKICUS. — SÜGGESTIV-THERAPIE.
Bunge hinweist, nicht wenig bedeutungsvoll, dass nach Thiry's oben angefahrter
Beobachtung Berührung der Darmschleimhaut mit einer 0*lA/0igen Salzsäure die
Secretion von Darmsaft beträchtlich steigert ; je reichlicher also der in den Darm
geworfene Chymus ist, je mehr verdünnte Salzsäure mittelst des Chymns die
Darmschleimhaut berieselt, desto reichlicher wird die Secretion stark alkalisehen
Darmsaftes. Wie gross dieselbe unter gewissen Umständen werden kann, geht
daraus hervor, dass dadurch nicht nur die saure Reaction des Chymus, sondern
zuweilen auch noch die Säuren neutralisirt werden, welche im unteren Theil des
Dünndarmes und im Dickdarm durch die milchsaure und buttersaure Gährung
der Kohlehydrate frei werden. Sobald der Chymus neutralisirt ist, kann der Darm-
saft mittelst des nunmehr überschüssigen kohlensauren Natrons die Fette, zumal
wenn durch den Bauchspeichel oder durch die Fäulniss freie Fettsäuren daraus
abgespalten worden sind, in eine feine Emulsion überführen.
Bunget scheint das kohlensaure Natron des Darmsaftes noch eine andere
Bedeutung zu haben. Wenn im Darm die Lösung des kohlensauren Natrons in
den mit Salzsäure allseitig durchtränkten Chymus hineindiffundirt und es so
zwischen den kleinsten Theilchen zur Bildung von Kochsalz unter Freiwerden von
Kohlensäure kommt, muss die freiwerdende Kohlensäure die kleinsten Theile der
organischen Nahrungsstoffe auseinandersprengen. Es muss so zu einer Auflockerung
des gesammten Speisebreies kommen und die Verdauungsfermente zu allen Theilen
Zutritt gewinnen. So wird die rasche Auflösung der Nahrungsstoffe im Darm
befördert.
Literatur: F. Hoppe-Sey ler, Physiol. Chemie. 1877—81, pag. 274. — Thiry,
Wien. akad. Sitzungsber. 1864, L, Nr. 6. — H. Quincke, Archiv für Anat. u. Physiol. 1868,
pag. 155. — Demant, Virchow's Archiv. LXXV, pag. 419. — Gumilewski, Archiv för
d. ges. Physiol. XXXIX, pag. 556. — Röhmann, Ebenda. XLT, p^g. 411. — Heidenhaia,
Ebenda. XLI. Supplem., pag. 25 und in (L. Hermann's) Handb. d. Physiol. V, 1. TIl,
pag. 170. — Masloff, Untersuchung d. physiol. Inst, in Heidelberg. 1878, II, pag. 300. —
Dobro Slawin, Untersuchungen aus dem Gräser physiol. Inst. 1870, I, pag. 73. — Bastia-
ne Iii, Moleschott's Unters. XIV, pag. 138. — G.Bunge, Lehrb. d. physiol. u. path. Chemie.
1889, II. Aufl., pag. 185. j. Münk.
SuggeStiV-Therapie. Nachdem in dem betreffenden Artikel der Real-
Encyclopädie, II. Aufl. die theoretische Seite desHypnotismus in seinem Wesen
sowohl wie in seiner Bedeutung nach jeder Richtung einer eingehenden Besprechung
unterzogen worden ist, bleibt uns nur die Aufgabe, die Verwendung desselben bei
der Behandlung von krankhaften Zuständen zu betrachten. Indem wir den Titel
Suggestiv-Therapie für vorliegende Arbeit gewählt, haben wir zugleich aus-
gesprochen, dass wir uns in Bezug auf die Theorie durchaus der Schule von
Nancy anschliessen und somit annehmen, dass sämmtiicheErscheinungen
der Hypnose durch Erweckung entsprechender Vorstellungen, besonders Phantasie-
vorstellungen, erzeugt werden. Wir halten im Anschlüsse an diese Schule, und wohl auch
im Einverständniss mit der überwiegenden Mehrzahl der Aerzte, welche sich praktisch
mit der Frage beschäftigen, alle hier beobachteten Erscheinungen als durch
Suggestion (Eingebung) bedingt, sei es, dass dieselbe beabsichtigt, also be-
wusst, von einem Fremden (Fremdsuggestion) geschehe, sei es unbewusst
oder gar von dem Patienten selbst, Autosuggestion, ausgehend. Am leichtesten
wird der Zweck dadurch erreicht, dass der Hypnotiseur mittelst der Sprache mit
Bestimmtheit erklärt, dass der zu erzeugende Zustand in demselben Augenblicke,
wo diese Erklärung abgegeben wird, vorhanden sei oder sogleich eintreten werde
(Verbalsuggestion, Einreden). Redet sich dagegen Jemand selbst etwas ein,
so nennen wir das Autosuggestion.
Eine Suggestion kann aber, wie bereits gesagt, auch unbewusst
geschehen, oder es kann die entsprechende Vorstellung so schwach oder so kurz
im Bewusstsein erscheinen, dass sie sofort wieder aus demselben für immer
schwindet, während die Suggestion trotzdem mächtig bleibt. Hierin liegt die
SUGGESTI V-T H ERA PIE.
621
Erklärung einer Anzahl von Selbsttäuschungen und unrichtigen Beurteilungen,
und ist es ganz besonders Bernheim's scharfer Logik gelungen, für fast alle
derartigen, bisher räthselhaften und daher der Wirkung geheimer Kräfte zuge-
schriebenen Erscheinungen die Erklärung zu finden, vor Allem aber auch zu zeigen,
dass alle in der Schule von Charcot demonstrirten Erscheinungen des „grand
hypnotisme" nur auf bewusster oder unbewusster Suggestion beruhen.
Mit Recht haben daher verschiedene Forscher, wie Hack Toke, van
B enterg hem und van Eden vorgeschlagen , den unbestimmten Ausdruck Hypno-
tismus fallen zu lassen und wenigstens soweit es sich um Beeinflussen von
Krankheiten handelt , nur mehr von Psychotherapie oder höchstens Psycho-
therapeutique suggestive zu sprechen. Auf diese Weise wird von vorn-
herein jedem Missverständnisse vorgebeugt und zugleich bestimmt erklärt, dass
es sich nur um eine Einwirkung auf die Psyche und vermittelst dieser auf die
rein körperlichen Functionen handle , dass man , um die beabsichtigten Wirkungen
zu erzielen , suchen müsse, eine genügend entschiedene Einwirkung auf die Psyche
zu erlangen , und dass es schliesslich gleichgiltig sei , auf welchem Wege man zu
einer solchen Macht gelange, vorausgesetzt, dass der Patient in keiner Weise
irgend einen Schaden erleide. Wir glauben hiermit den Standpunkt präcisiren
zu können, welchen wir bei allen unseren therapeutischen Bestrebungen ein-
nehmen sollten.
Ohne uns in ausführliche theoretische Erörterungen einzulassen, heben
wir doch hervor, dass wir zu bezüglichen kürzeren Betrachtungen im Verlaufe
unserer Arbeit noch wiederholt Veranlassung haben werden. Wohl angebracht
aber dürfte zunächst an dieser Stelle ein kurzer geschichtlicher Rückblick sein,
der uns vor Allem zeigen soll, dass die Suggestion so alt wie die Menschheit
selbst ist, dass dieselbe überhaupt, sei es bewusst oder unbewusst, eine sehr
grosse Rolle gespielt hat und vielfach zu guten, aber ebenso häufig auch zu un-
lauteren Zwecken benutzt worden ist. Die Thatsache, dass man durch gewisse
Manipulationen besondere psychische Zustände beim Menschen herbeiführen könne,
war im Orient seit ältester Zeit bekannt und wurde mit oder ohne Absicht zu
religiösen Zwecken verwendet. Wahrsagen und Krankenheilungen , Wunderenren
aller Art waren umsomehr im allgemeinen Gebrauche, als die alte Medicin sich
stets in den Händen der Priesterkaste befand: Anstarren der Amulets an dem
Gürtel und der Kopfbedeckung der hohen Pritster, Heilung durch Handauflegen,
Tempelschlaf bei Griechen und Aegyptern, Berührung von Heiligthümern,
Reliquien, Gebrauch von wunderthätigen Quellen (Lourdes) sympathetische Curen,
Gebetsheilungen, sogar in besonderen Anstalten u. dergl.
Ueberall bedurfte es des Glaubens, der festen Ueberzeugung , dass man
auf diese Weise gesund werden würde, überall war es nothwendig, dass die
Idee der Heilung in die Psyche des Kranken eindringe und feste
Wurzelsch läge. Haben wir es nicht bei der Wirkung der homöopathischen
Streukügelchen, des KNEiPP'schen Wasserheilverfahrens u. dergl. auch
grösstenteils mit psychischen Wirkungen zu thun, und wer vermag es zu be-
stimmen, ob nicht so manche der viel gebrauchten Arzneimittel ihre unzweifel-
hafte Wirkung oft gleichfalls durch Vermittlung der Psyche (Suggestion) er-
reichen, und dass sich dadurch nicht selten die verschiedenartige Wirkung des
gleichen Mittels in den Händen verschiedener Aerzte erklären lasse, ob wir es
z. B. bei Anwendung der Elektricität nicht selten auch nur mit Suggestivwirkung
zu thun haben? Wäre es sonst möglich, dass bei der gleichen Krankheitsform die
verschiedenen Beobachter mit den verschiedensten Strömen und den verschiedensten
Applicationsweisen häufig genau die gleich günstigen Resultate erzielen konnten ?
Wodurch anders wie durch Autosuggestion erreichen die Fakire die vollständige
Anästhesie, die Fähigkeit, in den unnatürlichsten Stellungen tagelang verharren
zu können? Sollte es denn so wunderbar und unerklärlich sein, dass es bei
besonders empfindlichen Personen gelingt, durch Suggestion vollständige Us*
einphmlliehkeit gegen Äussere hin griffe hervorzurufen, st» dass gelegentlieh chirur-
gische und geburtshi Ifliche Operationen gemacht werden können , ohne dass dir
Betreffenden irgend welchen Schmerz empfinden.
Aus vorstehenden Andeutungen dürfte unzweifelhaft hervorgehen , das«
die Suggestion seit undenklichen Zeiten mehr oder weniger bewusst in Verwendung
gewesen, ja dass wir uns derselben auch beute noch vielfach bedienen, oft ohne
uns Rechenschft über das eigentliche Wesen und die Art der Wirkung unseres
Vorgehens zu geben , sowie das» wir zu mancherlei unrichtigen Vorstellung»,
zu einem Verkennen der wahren Natur unseres Verfahrens in erster Reihe dadurch
verleitet werden, dass wir an der Vorstellung festhalten, es bedürfe zur Wirkern?
einer Suggestion unbedingt des hypnotischen Schlafes, wahrend es doch
unzweifelhaft feststeht, dass nicht wenige Personen eine Suggestion in wachem
Znstande leicht aufnehmen und dieselbe zu voller Wirkung gelangen lassen. Zur
Klarung der Anschauungen Uber diese für die ganze Therapie höchst wichtige
Frage ist unserer Ansicht nach ganz besonders eine vor Kurzem erschienene
Arbeit von Rosenbach geeignet; die hohe Bedeutung derselben in dieser Be-
ziehung dürfte es rechtfertigen , dass wir etwas ausfuhrlicher auf die betreffend**
Arbeit eingehen.
RöSEN BACH macht den Versuch, die verschiedenen Formen der psychischen
Therapie abzugrenzen , ihre gemeinsame Wurzel im Gebiete der Vorstellung der-
jenigen, bei denen sie zur Anwendung gelangt, scharf darzulegen und den Nach-
weis zu liefern, dass die durch die reine Form der Suggestion wirkende
Therapie streng geschieden werden müsse von der mehr erziehlich wirkende»
Behandlung , welche unter Berücksichtigung der Individualität der Kranken di«
stets vorhandene fehlerhafte, auf nu richtigen Vorstellungen beruheude Innervation
durch methodische Beleb rungt durch Uebung pervers reagirender Muskeln, dureJi
Kräftigung des Willens und der Widerstandskraft in richtige Bahnen zu lenken
versucht (z. B. Behandlung des Stotterns). Hypnotische Behandlung sei also die
auf physiologische Vorgänge, auf Erregung bestimmter Vorstellungen begründete
Therapie, und zeige sieh dieselbe bei denjenigen Krankheiten, respective A qqiqo
rungen des Krankheitsprocesses wirksam, wo die zu beobachtenden Symptome
unter dem Einflüsse der Psyche stehen, während sie bei den auf organischen, auf
materiellen Veränderungen beruhenden Krankheitsvorgängen höchstens sympto-
matische Erfolge erzielen könne. Es gäbe eben ausser diesen organischem Er-
krankungen, welche nur beseitigt werden können, wenn die Ursache der Function*-
Störung behoben wird , eine grosse Reihe anderer , bei denen diese Störung
wesentlich auf einer Beeinflussung und Erregung gewisser Vorstellungen beruht,
und wo durch Einwirkung auf die Psyche gewisse Empfindungen ausgelöst und
gewisse Vorstellungen hervorgerufen werden, die dauernd bleiben können und
bewusst oder auch uu bewusst zu Aeusserungen in der motorischen Sphäre führen,
welche dann oft als wirkliche Krankheitserscheinungen gedeutet werden.
Wie oft käme es vor, dass nach Ablauf einer gewissen Organerkrankung
bestimmte unangenehme Empfindungen, die entweder von den Residuen der Er-
krankung, noch häufiger aber von dem Nichtgebrauche des betreffenden Organe«
herrühren , zurückbleiben. Bei gesteigerten Ansprüchen können dann Ermüdungs-
erscheinungen oder abnorme Sensationen würden auf das Fortbeetehen der Er-
krankung bezogen; die perversen Empfindungen steigern sich mehr und mehr,
die Leistungsfähigkeit nehme ab, es stellte sich Hyperästhesie in <3cn das Organ
mit dem Centrum verbindenden Bahnen und zuletzt im Centraiorgane selbst ein,
die unter den Erscheinungen einer wirklichen Erkrankung die Leistungsfähigkeit
und die Ernährung des Organismus herabsetzte.
In einer anderen Form wieder blieben gewisse Reil ex meehan lernen nach
dem Verschwinden des Krankheitsprocesses fortbestehen, da sie zur zweiten Natur
SU 6GESTIV-THEB APIE.
623
geworden sind, und dem Kranken Kraft oder Willen fehlt, dieselben zu
unterdrücken.
Eine dritte Form hierhergehöriger Erkrankungen könne man auch als
Vorsteilungskrankheiten bezeichnen; dieselbe liegt vielen Fällen von
Hypochondrie und Pathophobie zu Grunde. Hierbei setze sich in Folge von
Leetüre, von Erkrankung eines Nahestehenden oder von wirklichen abnormen
Gefühlen der Gedanke an eine bestimmte Organerkrankung fest; die Richtung
der Vorstellung auf diesen Punkt des Körpers mache nach dem Gesetze der
üebung die Centraiorgane so empfindlich, dass von der Peripherie kommende
Reize jeder Art , die das bestimmte Organgebiet treffen, stärker und unangenehm
empfunden werden. Diese Ueberempfindlichkeit im Gebiete der betreffenden Nerven
und ihrer Centraiorgane ruft gesteigerte motorische Erscheinungen hervor, und
damit ist das bisher nur subjective Leiden auch objectiv geworden. Endlich ge-
hört hierher noch die abnorm gesteigerte Feinheit aller Sensationen, bei welcher
alle von der Peripherie kommenden Impulse besonders unangenehm empfunden
werden und schnell das Gefühl der Ermüdung in den entsprechenden Organen
hervorrufen. Hier liegt das Gebiet der Neurasthenie. Dass auch die H y s t e r i e
hierher gehöre, braucht nicht besonders ausgeführt zu werden, und hätten auch
deren Haupterscheinungen in typischen Fällen eine auffallende Aehnlichkeit mit
der Hypnose. In allen diesen Zuständen, sagt Rosenbach weiter, sind die be-
treffenden Individuen krank , weil ihre Vorstellung und ihr Wille nach gewisser
Richtung beeinflußt ist ; sie wären nicht krank, wenn ihre Vorstellungen in andere
Bahnen gelenkt oder ihrem Denken und Empfinden ein anderer Inhalt gegeben
werden könnte. Sie sind gesund, so lange sie ihre Gedanken ablenken können,
sobald sie an die Heilwirkung einer ärztlichen Vorschrift oder eines Verfahrens
glauben, im Gegensatz zu wirklich Kranken, deren Leistungsfähigkeit in der be-
schränkten Leistung ihrer kranken und darum insufücienten Organe, trotz aller
hoffnungsreichen Vorstellungen, die enge und trotz aller Willenskraft unüber-
schreitbare Grenze findet .... Krankheiten , die in der Vorstellung bestehen,
oder durch Vorstellungen wesentlich beeinflusst werden , sind aber nur durch
psychische Beeinflussung zu heilen; die Waffe, die die Wunde schlug,
hilft zur Genesung. Die in den Stoffwechsel gelangenden Mittel aber, die
durch körperliche Beeinflussung heilen, indem sie wirkliche, directe, chemische
Einwirkung üben, unterscheiden sich dadurch, dass sie wirksam sind, ohne dass
der Patient von ihrer Einverleibung Kenntniss zu haben braucht, und dass sie
ihre Wirkung trotz gegen theiligen Willens der Patienten erfüllen müssen. Vor-
stellungskrankheiten dagegen können nur geheilt werden, wenn der Kranke einen
activen Antheil an der Heilung nimmt, wenn er entweder aus eigener Ini-
tiative , dem eigenen Wunsche folgend , oder scheinbar passiv , in Wirklichkeit
doch activ, seinen Vorstellungsinhalt im Sinne dieses Bestrebens
ändert, und so anscheinend durch den Willen einer anderen Person, in Wirk-
lichkeit natürlich durch seinen eigenen, zu bestimmten Gedanken und Handlungen
Veranlassung erhält ....
Wir haben uns nicht versagen können, die Grundzüge der Rosbnbach-
schen Beobachtungen über psychische Therapie zum Theil sogar wortgetreu wieder-
zugeben, weil wir der Ueberzeugung sind, dass wir auf diesem Wege die Wirkung
der psychischen Therapie am besten erklären können. Müssen wir auch zugestehen,
dass diese Erklärung uns nicht eine völlig erschöpfende zu sein scheint,
dass noch manche Erfahrung der Suggestiv-Therapie damit nicht
vollständig aufgeklärt ist, so glauben wir doch, dass der hartnäckigste Gegner
unseres Verfahrens sich nunmehr zu dem Geständniss herbeilassen werde, dass
dasselbe in Wahrheit Krankheiten und Krankheitserscheinungen heilen könne,
um so eher vielleicht, als er zugeben wird, dass er selbst vielfach Psycho-
Therapie getrieben habe und treiben müsse. Der Unterschied liegt meist
624
SUGGESTI V-THER A PIE.
nur darin, dass wir durch Suggestion (Eingebung) zunächst bei unseren
Patienten einen Zustand hervorzurufen suchen, bei welchem die Suggestibilität.
die Empfänglichkeit zur Aufnahme der Befehle, der Eingebungen oder Vorstellungen,
erhöht ist, während man sonst durch Aufklärung, Vorstellungen und Zuspruch
den gleichen Effecct zu erzielen sucht.
Um nun die Suggestibilität zu erhöhen, suchen wir die Thätigkeit der
Grosshirnrindenzellen herabzusetzen und wir merken , dass wir unsere
Absicht erreicht haben, zunächst daran, dass ein allgemeines Ermüdungsgefühl
den Patienten überkommt, und er auf äussere Reize nicht reagirt, wenn dieselben
nicht zu intensiv sind. Er scheint zu schlafen, schläft aber nicht, indem
er Alles hört und auf Fragen richtige Antworten giebt, wenn auch meist in träger
Weise , während es häufig schon in diesem leichten Grade der Hypnose gelingt,
auf umschriebene Rindengebiete, motorische sowohl wie sensible, einzuwirken. Wir
vermögen die Bewegung von Armen und Beinen, das Oeffnen der Augen un-
möglich, gewisse Körpertheile anästhetisch zu machen, oder besser gesagt in dem
Patienten den Glauben zu wecken, dass er nichts fühle, so dass öfter sogar die
Extraction der Zähne nicht bemerkt wird. Ob wir diesen Zustand als einen mit
dem Schlafe identischen, mit dem Ausdrucke Hypnose bezeichnen (Liebault,
Bernheim, Forel), vielleicht nur einen Unterschied darin finden, dass die Per-
sönlichkeit des Hypnotiseurs dabei die Hauptrolle spielt, dass dabei ein Rapport
zwischen dem Kranken und dem Hypnotiseur besteht , oder das Vorhandensein eine«
durchaus verschiedenen Gehirnzustandes annehmen sollen (Hirt), das ist zur Zeit
noch eine unentschiedene Frage. Dieselbe hat jedoch praktisch wenig Bedeutung;
es kommt nur darauf an, ob wir durch Suggestion einen kr an k h af ten Zustand
erzeugen oder nicht, denn von der Entscheidung nach der einen oder anderen
Richtung hängt es ab, ob wir die Suggestiv- Th e rapie für berechtigt
für zulässig halten dürfen. Wollten wir die verschiedenen Ansichten hierüber
alle Gründe pro und contra von dieser Stelle aufführen , so würde uns das
zu weit von unserem eigentlichen Thema ablenken ; nachstehende kurze Betrachtungen
dürften völlig genügen, um zu zeigen, dass der hypnotische Schlaf, in richtiger Weise
und nur zu therapeutischen Zwecken hervorgerufen und verwendet, keinerlei
Gefahren mit sich bringe, und darauf kommt es doch in erster Reihe an.
Nehmen wir an, dass die weit überwiegende Mehrzahl der geistig
gesunden Menschen der Suggestion zugänglich sei, vorausgesetzt, dass dieselben
nicht absichtlich widerstreben, so werden wir auch zugeben müssen, dass die
Meisten in einen mehr oder weniger tiefen hypnotischen Schlaf versetzt, des-
gleichen auch wieder nur durch einfache verbale Suggestion aus demselben
erweckt werden können, ohne nachher irgend welche abnorme Erscheinung zu
zeigen oder abnorme Gefühle anzugeben.
In dieser Beziehung giebt es unter den zahlreichen Beobachtern mit dem
denkbar gröbsten Beobachtungsmater iale keine divergirenden Anschauungen (Berk-
heim, Liebault Wetterstrand u. s. f.), und fast ausnahmslos lassen sich
dort, wo gegentheilige Erfahrungen gemacht worden sind, Fehler nach irgend
einer Richtung nachweisen. Vor Allem wollen wir hervorheben, dass wir uns hüten
müssen, jeden Menschen ohne Rücksicht auf die Verhältnisse, auf den jeweiligen
Zustand seines Gemüthes und seines Geistes zu hypnotisiren. Es gelingt ja nicht
selten, auch sehr aufgeregte, ängstliche Leute in hypnotischen Schlaf zu bringen,
doch wird man sich dann nicht wundern dürfen , dass solche nach dem Erwachen
statt des behaglichen Zustandes mehr oder minder hochgradige Erregung oder
Depression erkennen lassen , sich mehr oder weniger unbehaglich fühlen , trotz
aller Suggestionen. Gelingt es daher nicht, die Patienten dadurch zu beruhigen,
dass man ihnen die völlige Gefahrlosigkeit der Sache erklärlich macht, ihnen
die Furcht benimmt, als handle es sich um einen wunderbaren Vorgang, dass
man sie endlich einer hypnotischen Sitzung beiwohnen lässt, so wird man gewiss
SUGGESTIV-THERAPIE.
625
besser thun, zunächst von jedem Versuche abzustehen und einen günstigen Moment
abzuwarten. Bei Hysterischen werden wir uns nicht selten vergeblich bemühen,
weil wir in vielen Fällen doch sicherlich eine gewisse psychische Abnormität
annehmen müssen. Wir werden bei denselben in Folge von Autosuggestionen
entweder keinen Schlaf erzielen, so wenig wie Heilwirkungen, werden vielmehr
in Folge des Widerstandes ganz verkehrte, entgegengesetzte Erscheinungen auf-
treten sehen, anderseits aber freilich gerade bei dieser Kategorie von Kranken
zauberhafte Wirkungen beobachten. Gelingt es hier nicht durch sicheres, im-
ponirendes Auftreten sofort jeder perversen Reaction entgegen zu treten, so
wird man eben zunächst nicht weiter gehen dürfen, wenn man nicht die allar-
mirendsten, zum Glücke freilich meist unschädlich verlaufenden Anfälle folgen
sehen will.
Wirklich Geisteskranke mit starken und anhaltenden Hallucinationen,
mit maniakalischen Erregungszuständen und dergleichen setzen meist allen Sugge-
stions-Versuchen unüberwindlichen Widerstand entgegen und können bei
fortgesetzten Versuchen leicht in vermehrte Aufregung versetzt werden ; doch zeigen die
Versuche von Voisin z. B. , dass man bei genügender Geduld und Consequenz
auch hier mancherlei erreichen kann. Von grösster Bedeutung ist es
aber in jedem einzelnen Falle, dass der Arzt alle Versuche un-
angenehmer, unnatürlicher Suggestion unterlässt, wenn er thera-
peutischen Erfolg und keinen Nachtheil sehen will. Der Gedanke,
es könnte Jemand durch das Hypnotisiren irgend welchen Schaden erleiden, ist
vielfach durch Verwechslung der verschiedenen Formen der Hypnose entstanden.
Wer der Meinung ist, jener in der Salpßtriere erzeugte, bei Schwerhysterischen
durch mehr oder weniger starke Sinnenreize und Dressur entstandene, nur
zu Experimenten und nicht zu therapeutischen Zwecken verwendete Zustand (viel-
fach „Grand-Hypno tisme" genannt) sei identisch mit dem nach der Schule
von Nancy durch Suggestion hervorgebrachten Schlafzustande (auch „Petit-
Hypnotisme" genannt) , der muss freilich annehmen , dass das Hypnotisiren
verwerflich sei ; und so sehen wir denn auch, dass so hochbedeutende Männer, wie
Ziemssen, Ewald und Andere, zu durchaus unrichtigen Schlüssen gelangen. Durch
richtige Auswahl der Fälle, durch richtige Technik werden wir also, wie die Er-
fahrung in vielen Tausenden von Fällen zweifellos erwiesen hat, mit der Suggestion
niemals Schaden stiften. Und selbst jene wirklich möglichen und zuweilen auf-
tretenden unangenehmen Folgen häufig wiederholter Suggestion, wie die abnorm
erhöhte Suggestibilität , das Eintreten der Hypnose gegen den
Willen des Betreffenden, die leichte Empfindlichkeit gegen
fremde Einflüsse ohne Hypnose lassen sich durch entsprechende, recht-
zeitig gegebene vorbauende Suggestion (eigene Erfahrung) verhüten. Aus all
diesem geht aber nicht minder deutlich hervor , dass die Suggestiv-Therapie keine
gar so einfache Sache, daher auch nicht den Schäfern und Aehnlichen zu über-
lassen (Ewald), dass sie aber in den Händen des erfahrenen Arztes
ein gefahrloses Mittel sei, und die Anwendung derselben somit unbedingt
auch nur dem Arzte gestattet werden dürfe. In den Händen des ge-
wissenhaften und erfahrenen Arztes werden wir, wenn überhaupt, so doch niemals
nennenswerthe Nachtheile auftreten sehen, jedenfalls viel seltener und viel weniger
schwere Erscheinungen bei oder nach derselben beobachten, wie bei vielen
der gebräuchlichsten unserer Arzneimittel.
Wenn wir oben hervorgehoben, dass die Suggestiv-Therapie nur eine be-
sondere Form der Psycho-Therapie darstelle, wenn wir dann weiter bemerkt
haben, dass eine wirksame Suggestion, selbst mit sofortigem Erfolge, zuweilen im
Wachen gegeben werden könne, so wollen wir uns an dieser Stelle doch vor-
wiegend nur mit jener Form der Psycho-Therapie beschäftigen, welche in neuester
Zeit immer mehr zur Anwendung gelangt, besonders in solchen Krankheitszuständen,
Encyclop. Jahrbücher. I. 40
SCGGESHT-THERAPIE.
die seither vergeblieh mit den sonst üblichen Mitteln behandelt wurden, d. b. mit
der Soggestiv-Tnerapie im gewöhnlichen Sinne des Wortes, bei welcher wir durch
Hervorrufen eines mehr oder weniger tiefen schlaflhnlichen Zustande» die Empfäng-
lichkeit des Patienten zur Aufnahme unserer, auf Beseitigung der krankhaften
Erscheinungen gerichteten Eingebungen zu erhöhen bestrebt sind.
In Bezug auf den Grad der Suggestibilitit hat man die ver-
schiedensten Aufstellungen gemacht, nach Temperament 7 Charakter, Alter. Ge-
schlecht, ja sogar nach Nationen unterscheiden wollen, doch seheinen uns bis
heute die Zahlen noch nicht genügend, um absolut sichere Schlüsse zu gestatten.
So viel steht jedoch fest, dass es schwer möglich ist r auf Leute einzuwirken,
welche eine fast krankhafte Einbildungskraft besitzen, oder sich durch ein
ungewöhnliches Reflexionsvermögen auszeichnen, oder welche überhaupt nicht
im Stande sind, ihre Gedanken wahrend einer gewissen Zeit auf einen und den-
selben Gegenstand zu concentriren. Auf sehr erregbare Menschen, die nicht ge-
wöhnt sind, sich selbst zu beherrschen, oder verzärtelte Naturen, die gewisser-
massen an ihren eingebildeten Leiden eine Freude haben, ist es schwer, Einfluas
zu gewinnen, desgleichen auf Leute mit grosser Neigung zu Skepsis und Kritik.
Sehr schwer der Suggestion zuginglieh sind aueh kleinere Kinder, welche noch
nicht verstehen, was man von ihnen will, während etwa vom fünften Jahre ab der
hypnotische Schlaf bei denselben sehr leicht eintritt. Am besten zugänglich findet man
dagegen solche Personen, welche mit vollem Glauben und Vertrauen an die Sache
herantreten, und Solehe, welche an passiven Gehorsam gewöhnt sind, z. B. Soldaten,
v. Schrenck berechnet nach seinen vorläufigen Zusammenstellungen Aber die
Hypnotisirbarkeit von 8705 Personen : L G r ad der Hypnose 2557, IL G r a d 4316,
III. Grad 1313, Refractär 519; auf 100 kommen somit annähernd: I. Grad 29,
II. Grad 49, III. Grad 15, Refractär 6.
Man hat sich endlich bemüht, verschiedene Grade der Hypnose, dieses
schlafähnlichen, durch Suggestion hervorgerufenen Zustande« aufzustellen, doch
neigt man in neuerer Zeit immer mehr zu der Ansicht, dass eine scharfe Trennung
4erselben nicht möglich, und dass es einzig aus praktischen Granden zweckmässig
sei, drei Grade der Hypnose anzunehmen:
l.Somnolenz: Der nur leicht beeinflusste Patient kann noch mit Anwen-
dung seiner Energie der Suggestion widerstehen und die Augen öffnen. 2. Leichter
8chlaf, Hypnotaxie oder Charme: Der Beeinflusste kann die Augen nicht
mehr öffnen und gehorcht im Allgemeinen fast allen Eingebungen, mit Ausnahme
der Amnesie. 3. Tiefer Schlaf oder Somnambulismus, charakterisirt
durch Amnesie und posthypnotische Erscheinungen. Dabei ist jedoch festzuhalten,
dass auch im leichten Schlafe posthypnotische Erscheinungen eintreten, die Sug-
gestibilität dagegen bei tiefem Schlafe ganz gering sein kann, dass mit einem
Worte Uebergänge sehr häufig bemerkt werden.
Haben wir oben bereits betont, dass durchaus nicht alle Menschen
sich gleich gut zur Suggestiv - Therapie eignen, so müssen wir andererseits auch
bemerken, dass nicht jeder Arzt gleich gut zum Hypnotisiren geeignet sei,
dass vielmehr gewisse persönliche und Charaktereigenschaften in dieser Beziehung
eine grosse Rolle spielen. Wir dürfen niemals vergessen, dass die Patienten ein
sehr feines Gefühl haben, dass sie, wenn auch oft unbewusst, sehr gut merken,
ob der Arzt selbst Vertrauen zu der Sache habe , ob er die nöthige Erfahrung,
die nöthigen Kenntnisse besitze, ob er den Kranken Vertrauen nach dieser
Richtung einflösst, ihnen sympathisch ist. Von diesen Eigenschaften hängt ja, wie
wir alle wissen, in unzähligen Fällen auch sonst der ganze Erfolg unserer ärzt-
lichen Thätigkeit überhaupt ab. Durch eine psychische Einwirkung erreichen wir
oft unendlich viel mehr als durch noch so geistreich componirte Arzneien, und
alle die Charlatane, die ausschliesslich mit Wasser oder sonstigen sogenannten
SUGGESTTV-THERAPIfi.
627
Naturheilmitteln Alles heilenden Nichtärzte wissen nur zu gut , dass sie durch
psychische Einwirkung mehr erreichen, als durch ihre Verordnungen. Darum
mtlssen auch wir jede falsche Vorspiegelung vermeiden, unseren Patienten klar
zu machen suchen, dass es sich bei unserem Verfahren nicht um geheimniss-
volle Naturkräfte, sondern um einen durch Zusammenwirken von Arzt und
Patienten hervorgerufenen, durchaus natürlichen seelischen Vorgang handle,
wobei wir andererseits freilich nicht darauf bestehen dürfen, einfachen Menschen
mit Aufbietung aller Dialektik begreiflich zu machen, dass wir es z. B. bei den
sogenannten „passes" nur mit der einschläfernden Wirkung des leichten tactilen
Reizes, oder vielleicht auch nur mit einer rein psychischen Wirkung, einer Form
der Suggestion, zu thun haben. Nicht minder feinfühlig pflegen aber weiter
intelligentere Patienten nach jener Richtung zu sein, dass sie es sofort bemerken,
ob wir selbst ganz bei der Sache sind oder nicht, ob wir bei verbaler Suggestion
etwa nur mechanisch eine bestimmte Formel aussprechen; dieselben verlieren
durch Zweifel in dieser Beziehung das Vertrauen, oder werden dadurch so unauf-
merksam, dass ein Erfolg unserer Suggestion unmöglich wird. Vor allen Dingen
aber müssen wir nicht nur Sicherheit im Auftreten zeigen, sondern auch wirklich
durch ernstes, theoretisches und praktisches Studium die nöthige Sicherheit erworben
haben, eine Forderung, welche hier mindestens ebenso berechtigt ist, wie bei
jedem anderen therapeutischen Vorgehen, wenn wir nicht unter Umständen durch
unsere Ungeschicklichkeit Schaden anrichten, oder durch zu häufig eintretenden
Nichterfolg die ganze Methode discreditiren wollen.
Bevor wir an die Beschreibung des Suggestionsverfahrens selbst gehen,
müssen wir noch hervorheben, dass wir unsere Patienten auch äusserlich unter
solche Bedingungen versetzen sollen, welche das Gelingen der Suggestion erleichtern.
Wir müssen vor Allem dafür sorgen, dass möglichst wenig intensive Sinnesreize
auf dieselben einwirken, also Ruhe, mässig verdunkeltes Zimmer, Anwesen-
heit nur einer vertrauten Person, bequemes Lager oder wenigstens
bequemer Sitz, nicht beengende Kleidungsstücke ; das sind alles Erfordernisse, welche
die Concentrirung der Gedanken auf den einen Punkt, das Ruhen, erleichtern.
Und weil diese äusseren Bedingungen ganz besonders leicht in Kliniken herzu-
stellen sind, so werden wir auch in solchen die besten Erfolge sehen, ganz ab-
gesehen davon, dass, wie Bernheim ganz richtig sagt, an solchen Orten schon
eine hypnotische Atmosphäre herrscht, dass die Patienten mit dem Ge-
danken: „hier werde ich schlafen, hier werde ich durch den Schlaf geheilt werden*4
die Anstalt betreten, eventuell auch Andere schlafen sehen. Die idealste Ein-
richtung in dieser Beziehung dürfte, soweit unsere Erfahrung reicht, die
Olinique de Psycho-Therapie-suggestive in Amsterdam von van
Renterghem und van Eeden sein, in welcher dem Namen entsprechend einzig
nur Psycho-Therapie, diese aber freilich in voller Ausdehnung (Rosenbach), ge-
trieben wird.
Wenn wir nun dazu schreiten, die Suggestion anzuwenden, müssen wir,
wie schon gesagt, vor allen Dingen unseren, in möglichst bequeme Position
gebrachten Patienten in eine ruhige, behagliche Stimmung zu versetzen suchen.
Wir sagen ihm, dass jeder Mensch bei gutem Willen schlafen könne, und dass
dieser Schlaf seine Krankheit heilen oder wenigstens erheblich bessern werde,
ohne dass er irgend welche Unannehmlichkeit dabei habe, dass er sich nach dem-
selben sehr erquickt und behaglich fühlen müsse. Wir geben ihm die Versicherung,
dass seine Unterwerfung unter unseren Willen nur vorübergehend wäre, sowie,
dass er nur mit seinem vollen Einverständniss einschlafen könne, und der geringste
Widerstand von seiner Seite unseren Einfluss vollständig aufheben werde. Er
möge seine Gedanken einzig nur auf das Einschlafen concentriren , von allem
Anderen abzulenken suchen, das Auge des Arztes fixiren, seine Augen jedoch
sofort schliessen, sobald er ein Gefühl von Druck in der Stirne fühle. Ein solches
40*
628
SÜGGESTIV-THERAPIE.
, Fixiren, welches aber nicht in ein Anstarren ausarten darf, erleichtert die Con-
, centration der Gedanken ausserordentlich. Indem wir selbst wieder die Augen des
Patienten fixiren, suggeriren wir der Reihe nach die Erscheinungen des eintretenden
Schlafes mit ruhiger, monotoner Stimme : „Sie fühlen schon eine gewisse Schwere
in den Gliedern, es macht Ihnen Mühe, die Augen offen zu halten, der Blick
trübt sich, Sie sehen mein Gesicht doppelt, dasselbe wird immer undeutlicher, die
Schwere der Glieder wird immer stärker, Sie können nicht mehr widerstehen,
Sie können die Augen nicht mehr offen halten, schliessen Sie die Augen, schlafen
Sie!" Mit diesen oder ähnlichen Worten gelingt es in den meisten Fällen, den
hypnotischen Schlaf hervorzurufen. In anderen, bei sehr suggestiblen Personen
und bei häufiger Wiederholung der Sitzungen, genügt schon der einfache Befehl:
„Schlafen Sie!" um sofort tiefen Schlaf, Somnambulismus, zu erzeugen. Zuweilen
ist es dagegen nothwendig, ein kurzes Verfahren anzuwenden, die Patienten
gleichsam zu überrumpeln, ihnen keine Zeit zu Reflexionen und an diese sich
anschliessende Autosuggestionen („bei mir wirkt das Zureden nichts, ich bin nicht
empfänglich, ich will nicht einschlafen" u. dgl.) zu lassen. In anderen Fällen
wieder dauert es, selbst bei dem besten Willen der Kranken, sehr lange, bis sie
die nöthige Ruhe gewinnen, zq der Concentration ihrer Gedanken auf den einen
Punkt des „Schlafens" gelangen, und muss man sich hüten, hierbei die Suggestions-
Versuche zu lange fortzusetzen. Man wiederholt dieselben lieber den nächsten Tag
und erreicht dann nach 3 — 4 Versuchen vollständig sein Ziel. Ganz zweckmässig
ist es zuweilen, besonders um den Schlaf zu vertiefen und zugleich dem Patienten
seine Macht zu zeigen, Unbeweglichkeit eines Armes zu suggeriren, denselben in
die Höhe zu heben, zu erklären, dass er nicht gesenkt werden könne u. s. f. Es
empfiehlt sich jedoch, diese Suggestion nicht unnötigerweise zu machen, besonders
aber nicht bei ausgesprochen Hysterischen, weil bei denselben kataleptische Zustände
gelegentlich unerwünscht lange anhalten.
Als praktisch bewährt können wir für jene Fälle, wo tiefer Schlaf sehr
erwünscht ist, aber nicht erreicht werden kann, empfehlen, den Patienten zu er-
wecken, nach wenigen Minuten aber wieder einzuschläfern, worauf jedes Mal tieferer
Schlaf eintritt. Bei häufiger Wiederholung gelingt es dann nicht selten, den Schlaf
nach Wunsch zu vertiefen (Wetterstrand, Forel).
Dass man seine Worte jedem einzelnen Falle anpassen, die Patienten
förmlich studiren muss, um die richtigen Worte, die richtige Art der Eingebung
zu treffen , ist begreiflich , und müssen wir uns sehr davor hüten, jedes Mal ge-
wissermassen einen eingelernten Spruch herzusagen. Damit würden wir in einem
Falle uns geradezu lächerlich machen, in einem anderen nicht verstanden werden,
kurz niemals auf regelmässigen Erfolg rechnen dürfen, weder in Bezug auf das
Einschlafen, noch auf die Heil- Suggestion.
Kann man es so einrichten, dass unser Patient vorher einer Sitzung
beiwohnt, so wird damit die Suggestibilität entschieden vermehrt, also auch die
Wirkung unserer Suggestion wesentlich erhöht. In neuerer Zeit hat man, durch
Rifat, Herero, Voisin angeregt, den Versuch gemacht, vor Beginn der Sugge-
stion wenige Tropfen Chloroform einathmen zu lassen, und scheint dadurch die
Empfänglichkeit wesentlich verstärkt zu werden, so dass wir hiermit wahrscheinlich
ein weiteres Mittel gefunden haben, um hartnäckigen Widerstand zu brechen.
Dass wir auch hierbei nichts Anderes wie eine psychische Wirkung erzielen, ist
wohl zweifellos, geradeso, wie es der Fall ist bei den schmerzlosen Zahnextrac-
tionen nach 5 0 Chloroform, der einschläfernden Wirkung von Brodpillen, welche
man als schlafmachend unter anderem Namen verschrieben hat, u.dgl.
Fixiren des Auges oder vorgehaltenen Fingers, trotz eingetretenem Span-
nungsgefühle im Auge oder in der Stirne halten wir nicht für rathsam, weil
diese unangenehmen Erscheinungen zuweilen noch Stunden lang nach der Sitzung
andauern können, und trotzdem <tet T/w^V xuaht immer erreicht wird.
SUGGESTIV-THEEAPIE.
629
Aus gleichem Grunde noch weniger geeignet scheint das Fixiren glänzender
Gegenstände ober- oder unterhalb der Augen, während dagegen die Wirksamkeit
der sogenannten „passes" sich uns und vielen Anderen (Wettkrstrand,
v. Renterg hrm , v. Eden) als ganz bedeutend erwiesen hat. Ob wir
es hierbei nur mit Suggestion zu thun haben, oder steh nicht vielmehr
dabei die einschläfernde Wirkung des leichten tactilen Reizes geltend macht,
wagen wir nicht zu entscheiden, müssen aber feststellen, dass die passes von den
Kranken meist angenehm und wohlthuend empfunden, Schmerzen unter dem
Streichen wesentlich verringert werden, bevor noch Schlaf eingetreten ist. Als
sehr wirksam möchten wir endlich noch das Fixiren des vorgehaltenen und immer
mehr gesenkten Fingers bezeichnen. Dabei senkt sich das obere Augenlid gleich-
falls immer mehr Aber den Bulbus, und es wird durch diese, dem Vorgange des
Einschlafens nachgeahmte Bewegung letzteres wesentlich beschleunigt.
Aus einer soeben erschienenen Studie des Dr. v. Schrenck („Die Bedeutung
der Narcotica für die Hypnose mit besonderer Berücksichtigung des indischen Hanf")
heben wir zum Schlüsse dieses Abschnittes noch einzelne sehr wichtige Punkte hervor :
„1. Die Hypnose unterscheidet sich von allen analogen Zuständen durch das
cerebrale Abhängigkeitsverhältniss des Percipienten von den ihm aufgedrängten
Suggestionen. Die kritiklose Aufnahme aufgezwungener Ideen durch das Gehirn
zeigt die Existenz einer Hypnose an, gleichmütig ob wacher Zustand, ob Schlaf,
ob Narcose oder irgend etwas Aehnliches besteht. 2. Narcotische Mittel, wie
Alkohol, Aether, Chloroform, Morphium, etc., schwächen die controürenden Func-
tionen des Gehirns, den bewussten Intellect, den Eigenwillen ab und erzeugen
durch Hervorrufung von Müdigkeitsempfindungen, Betäubungszuständen etc. eine
günstige Prädisposition zur Aufnahme von Suggestionen, d. h. für den Eintritt
des hypnotischen Zustandes. 3. Die aus Narcose etc. transformirten Hypnosen
sind in der Regel tiefer, als die bei demselben Individuum im wachen Zustande
dnreh alleinige Anwendung psychischer Mittel erzeugten Grade der Hypnose."
Aus Schrbnck's Ausführungen scheint zunächst hervorzugehen, dass die
Erklärung der hypnotischen Erscheinungen durch Suggestion nicht für alle
Fälle richtig sein könne, weiter, dass es um so leichter sei, Hypnose herbeizu-
führen, je mehr der Patient ermüdet ist, d. h. je mehr die Bedingungen für den
physiologischen Schlaf vorhanden sind (Abends). Diese Bedingungen können
zum Theil durch schlafmachende Mittel ersetzt werden, so dass es bei durchaus
refraetären Fällen z.B. durch Alkohol, Chloroform, Morphium gelingen
kann, sehr tiefe Hypnose hervorzurufen ; doch wird man zu diesem Zwecke nie-
mals zu hohe Gaben (nicht bis zur Besinnungslosigkeit) verwenden dürfen (Pierre
Janet) und überhaupt nur in den äussersten Fällen dazu schreiten. Ganz geringe
Dosen von Morphium oder Chloroform wirken jedenfalls als die Hypnose beför-
dernde Mittel und suggestiv. Von grösstem Interesse sind die über die Suggesti-
bilität in dem Haschisch-Rausche gemachten Mittheilungen, bei welchem,
wie der Orden der Assaini zeigt, die der Aufnahme vorangehenden, in dem Zu-
stande des Rausches gegebenen Suggestionen so tief und fest wurzelten, dass sie
meist von lebenslänglicher Dauer waren. Wir können an dieser Stelle nicht
weiter auf die hochinteressanten Ausführungen eingehen, glauben aber, dass die
betreffenden Studien noch manche weitere praktische Folgen für die Suggestiv-
Therapie haben werden.
Ist der Patient eingeschlafen, was wir an einem leichten Vibriren des
oberen Augenlides, den erschlafften Gesichtszügen, dem behaglichen Gesichtsaus-
drucke, dem ruhigen Athmen erkennen, so fahren wir noch kurze Zeit mit der
gleichen Suggestion fort. Es giebt kein bestimmtes Zeichen, welches uns andeutete,
dass die Hypnose nun tief genug sei, um weiter gehen zu können, besonders bei
Patienten, deren Verhalten in dieser Beziehung wir noch nicht kennen. Reagirt
der Patient nicht mehr auf leichte Nadelstiche, gelingt es den Arm in beliebiger
630
SUGGEST1V-THEBAPIE.
Stellung, z. B. über den Kopf erhoben, zu erhalten, Drehen der Hände um ein-
ander (automatische Bewegungen) zu erzielen, dann können wir ruhig
mit der Suggestion weiter gehen und abwarten, ob nach dem Erwachen Amnesie
zu bemerken, ob unsere Eingebungen mehr oder weniger befolgt sind n. 8. f. Wir
dürfen aber andererseits nicht vergessen , dass nicht selten schon genügende
Resultate bei einfacher Somnolenz, ganz zufriedenstellende aber meist bei dem von
uns als II. Grad bezeichneten Zustande beobachtet werden, während wir freilich
bei anderen Patienten uns möglichst bemühen müssen, den III. Grad zu erreichen.
Endlich dürfen wir nicht versäumen, unsere Patienten während des
Schlafes zu beobachten. Dies ist ganz besonders bei Hysterischen
durchaus nothwendig, um bei den ersten Zeichen abnormer Reaotion
(Unruhe, Aufstossen , Zuckungen , Weinen u. dgl.) sofort mit energischen Worten
Ruhe und Wohlbehagen zu befehlen oder die Hypnose aufzuheben, und mnss das
Gleiche geschehen, wenn, wie Hirt sehr richtig bemerkt, Zeichen von subjectivem
Unbehagen, wahrscheinlich durch Hirnanämie hervorgerufen, auftreten, das Gesicht
blass, Athmung und Puls unregelmässig werden. Alle diese Erscheinungen treten
nur äusserst selten auf, das Vernachlässigen derselben hat aber, wenn auch keine
diiecten Gefahren gebracht, so doch ohne Zweifel schon mancherlei unangenehme
Erfahrungen bereitet, zum Mindesten verschuldet, dass peinliche Gefühle, statt
des absolut behagliehen Zustandes, den Betreffenden selbst auf Tage verfolgt und
ihm die Lust zu weiteren Versuchen benommen haben. Die beste und ausführ-
lichste Schilderung des Suggestiv - Verfahrens finden wir in dem betreffenden
Werke von Bern heim, dem wir auch den bekannten Ausspruch verdanken:
„Alles liegt in der Eingebung ; man muss nur die Feder auffinden (il fant trouver
le joint), um jede individuelle Suggestibilität in Thätigkeit zu versetzen, resp.
zu erwecken."
Glauben wir nun annehmen zu dürfen, dass der Kranke tief genug
schlafe, um genügend suggestibel zu sein, so beginnen wir mit den Heil-
Suggestionen, d.h. wir suchen auf die einzelnen Krankheitserscheinungen,
resp. auf deren Verschwinden einzuwirken. Wir haben oben bereits kurz skizzirt,
wie wir uns den Vorgang hierbei zu denken haben, und dabei betont, dass es
sich in keiner Weise um einen wunderbaren, d. h. unerklärbaren Vorgang handle.
An dieser Stelle möchten wir nun für Jene, welche noch immer an der An-
schauung festhalten, dass wir bewusst oder unbewusst unser Verfahren mit einem
Nimbus des Mystischen umgeben und dadurch besondere Wirkung zu erzielen
suchen, bemerken, dass es sich nur um einfach natürliche, bekannte Vorgänge in
unserem Seelenleben und um deren Einwirkung auf die körperlichen Vorgänge
handle. Auch dürfte es durchaus angebracht sein , daran zu erinnern , dass eine
solche Wechselwirkung zwischen Körper und Seele, wenn man so sagen darf,
sich täglich und stündlich deutlich bemerkbar macht, ohne dass wir uns bemühten,
uns über solche Beobachtungen Rechenschaft zu geben. Wir erinnern nur an das
plötzliche Erröthen oder Erblassen bei Scham, Verlegenheit und bei Erschrecken
(Wirkung auf das vasomotorische Centrum), die plötzlich auftretenden Diarrhöen
bei Aufregungen, die oft eolossale Vermehrung der Harnsecretion aus psychischen
Ursachen (z. B. bei dem Gedanken an die Unmöglichkeit der Entleerung des
Urins auf Fahrten in der Eisenbahn oder in Gesellschaft, an die plötzliche Unter-
drückung der Menses bei grossem Schreck u. 8. f.). So werden wir es also auch
durchaus nicht unerklärlich oder gar unmöglich finden, dass wir im Zustande ver-
mehrter Empfindlichkeit durch unsere Worte Vorstellungen erregen, welche auf
unsere Phantasie, und vermittelst dieser auf die verschiedensten körperlichen Vor-
gänge einzuwirken vermögen.
Indem wir die Besprechung der Art der Eingebungen zu diesem Zwecke
auf die Beobachtung der einzelnen Krankheitsformen verschieben, haben wir uns
zunächst noch mit der Dauer des hypnotischen Schlafes zu beschäftigen.
SUGGESTI V-TH ERA PIE.
631
Es ist bekannt, dass oft ein ganz kurzer Schlaf gentigt, um hinreichende Wirk-
samkeit unserer Saggestion zu erzielen, dass wir oft nur wenige Minuten dazu
nöthig haben; ebenso bekannt ist es, dass dagegen sehr häufig die Entschieden-
heit und Dauer der Wirkung von einer längeren Dauer des Schlafes abhängig sind,
dass man z. B. bei hartnäckiger Schlaflosigkeit die Patienten bis zu 3 Stunden
im Schlafe erhalten muss. Bestimmte Regeln lassen sich nicht angeben, und wird
es Sache des Arztes sein, die Zeit nach seinen Erfahrungen, nicht minder aber
auch nach seinen Beobachtungen an den jeweiligen Patienten zu bestimmen. Da
jedoch der Einfluss sich allmälig abzuschwächen pflegt, so ist es nothwendig,
yon Zeit zu Zeit in einer Sitzung die Suggestion zu wiederholen, geradeso wie
man bei einzelnen krankhaften Zuständen, bei denen eine Uebung gemacht werden
muss (Sprechübungen bei Stottern z. B.), diese Uebung öfter in einer Sitzung
vornehmen soll.
Von besonderer Wichtigkeit ist es weiter, dass man die richtigen Worte
wählt, dass man sich nicht damit begnügt zu sagen : „Sie fühlen keinen Schmerz
mehr und werden keinen mehr fühlen ,u sondern dass man sich auch in dieser
Richtung genau dem jeweiligen Bildungsgrade, dem Fassungsvermögen des Ein-
zelnen möglichst anzupassen sucht, dem Einen kürzere Befehle ertheilt, dem
Anderen eine Art von Schilderung des Heilungsvorganges zu geben sich bemüht u. s. f.
Hier zeigt sich der Scharfblick, die Erfindungsgabe und Erfahrung des Arztes,
und hierin nicht minder wie in so manchen anderen bereits erwähnten Dingen,
wie in dem ganzen Wesen und Auftreten des Arztes liegt die Erklärung dafür,
dass der Eine glänzende Erfolge mit der Suggestiv-Therapie erzielt, während der
Andere nichts erreicht.
Nach kürzerer oder längerer Zeit erschöpft sich die Wirkung der
Suggestion , der Kranke wacht auf. Wir werden aber gut daran thun , dieses
spontane Aufwachen nicht abzuwarten, sondern zu geeigneter Zeit den Kranken
wieder durch Suggestion aufwecken, wozu dann der in mehr oder weniger festem
Tone ausgesprochene Befehl: „Wachen Sie auf !" genügt. Würden wir uns jedoch
damit allein begnügen, so würden wir nur zu oft beim Erwachen allerlei unange-
nehme Erscheinungen beobachten, wie dieselben auch häufig bei plötzlichem Er-
wecken aus tiefem Schlafe vorzukommen pflegen. Wir dürfen es niemals ver-
säumen, vor dem Erwecken zudesuggestioniren, d. h. den Patienten zu be-
fehlen, dass sie beim Erwachen sich durchaus frisch und behaglich nach jeder
Richtung fühlen, dass Appetit und Schlaf gut sein müsse , dass etwa vorhandener
schwacher Wille, schwache Widerstandsfähigkeit sich kräftigen, dass keine Auto-
suggestionen vorkommen dürfen, dass die Kranken keinen Schwindel haben, kein
Kopfweh, keine Betäubung spüren sollen, dass sich kein Zittern zeigen dürfe.
Treten trotzdem beim Erwachen derartige Erscheinungen auf, so darf man selbst
keine Aengstlichkeit zeigen , sondern zuversichtlich erklären , dass Derartiges nur
zuweilen nach der ersten Sitzung vorkäme und künftig nie mehr auftreten werde,
sofort wieder hypnotisiren und dahin gerichtete Suggestionen geben. Forel legt
mit vollem Rechte auf das Desuggestioniren den grössten Werth und glaubt,
dass der Unkenntniss oder Nichtbeachtung desselben alle unabsichtlichen Schä-
digungen durch den Hypnotismus, über welche die Literatur berichtet, zu ver-
danken seien.
Auf gleiche Weise, d. h. durch Gegensuggestionen, muss und kann man,
wie bereits gesagt, auch das Verfallen in Selbsthypnose, die Schwächung
der Willenskraft und andere Dinge verhindern, welche Gefahr immer wieder der
Suggestiv-Therapie entgegengehalten wird. Ungefährlich ist dagegen eine mittelst
Amulet, Bild, Brief u. dgl. suggerirte Selbsthypnose (posthypnotische Erscheinung),
doch muss man letztere nur auf kurze Zeit ausdehnen und ihr Zustandekommen
nur durch den betreffenden Brief u. dergl., vom Arzte ausgehend, gestatten (Forel,
Coeval u. A.).
632
SÜGGESTIV-THERAPIE.
Vielfach hat man empfohlen, das Erwecken durch einen leichten Reiz,
z. B. durch Anblasen des Gesichtes, hervorzurufen oder kräftigere Reize, z. B.
Elektricität, anzuwenden, wenn der Patient auf einfachen Befehl nicht erwacht.
Das Erstere erscheint uns mindestens überflüssig, und auch stärkere Reize dürften
kaum nothwendig werden, wenn man gegebenen Falles mit dem nöthigen Ernste,
der nöthigen Energie vorgeht, dem Kranken befiehlt, er müsse aufwachen, sein
Widerstand nütze nichts u. dergl. Durchaus unschädlich und nicht selten als ganz
zweckmässig bei tiefem Schlafe hat es sich bewährt, dass man den Kranken gleich-
sam zum Erwachen vorbereite, indem man vorher folgende Suggestion giebt:
„Ich werde laut zählen, und sobald ich fünf zähle, wachen Sie auf." Noch besser,
ist es, wenn man dem Kranken befiehlt, selbst laut zu zählen und mit fünf etwa
ganz frisch und munter aufzuwachen.
Es ist eben hier, wie bei dem Suggestiv- Verfahren überhaupt, unmöglich,
bestimmte Regeln für jeden einzelnen Fall aufzustellen, und muss es dem Arzte
überlassen bleiben, durch Beobachtung das jeweils Richtige zu finden. Damit ist
aber zugleich gesagt, dass nicht Jeder sofort mit vollem Erfolge die Methode anzu-
wenden im Stande sei, dass ausser gewissen persönlichen Eigenschaften eine gewisse
Uebung, vor Allem ein genügendes praktisches Studium, ein Anschauen
vieler Sitzungen nothwendig sei, ehe man an die Sache herantritt. Es muss eben
die Suggestiv- Therapie praktisch und theor et isch studirt werden,
wie jede andere Behandlungsmethode, und liegt in diesem Umstände zugleich *
die beste Widerlegung jener Behauptung, welche dieselbe als des Arztes
unwürdig, den Schäferknechten und ähnlichen Leuten zu überlassen empfahl.
Hypnotisiren wird schliesslich unter Umständen so Mancher können ; die Suggesti?-
Therapie in wirklich segensreicher, durchaus unschädlicher Weise bei Kranken
anzuwenden, das wird und muss immer einzig Aufgabe des tüchtige d,
seiner Verantwortlichkeit sich voll bewussten Arztes bleiben.
Da wir theoretische Beobachtungen möglichst vermeiden wollen, so werden wir
auch auf die posthypnotischen Erscheinungen nicht näher einzugehen
haben; bemerken wollen wir nur, dass wir die posthypnotischen Wirkungen zu
therapeutischen Zwecken vielfach verwerthen müssen, ja, dass in der richtigen
Verwerthung derselben der grösste Theil unserer wirklich heilenden Thätigkeit
begründet liegt.
Als praktische Regel dürfte noch gelten, dass man die Suggestions-
versuche nicht in's Unendliche ausdehnen, sondern nach 4 — 5 Sitzungen unter-
brechen, eventuell nach einigen Wochen wieder aufnehmen soll, wenn man An-
fangs keinen Erfolg gesehen hat. Die anfänglich täglichen Sitzungen reducirt
man allmälig und unterbricht die Cur, wenn man keine Fortschritte mehr be-
merkt, um dann nach einiger Zeit wieder anzufangen. Sehr wichtig ist es endlich,
darauf zu achten, dass die Wirkung der Suggestion nicht durch Einflüsterungen
Anderer, durch Leetüre u. s. f. paralysirt werde ; mit Vorsicht, Klugheit und
Energie wird man in den meisten Fällen derartigen nachtheiligen Einflüssen ent-
gegentreten können.
Ehe wir nun an die Besprechung der Indicationen für die Suggestiv-
Therapie gehen, müssen wir noch hervorheben, dass unser Verfahren häufig mit
grossem Vortheile in Verbindung mit anderen Heilmitteln verwendet
werden kann.
Letztere können an sich suggestiv wirken, und hat speciell Bosenbach
(doch vorher schon Wetterstrand, Bernheim, Ladame u. A.) auf die psychische
Wirkung verschiedener Mittel hingewiesen. Wir werden wohl kaum irregehen,
wenn wir uns auch die oft unleugbare Wirkung homöopathischer Kügelchen,
sowie mancher anderer Mittel, ja sogar der Elektricität in vielen Fällen (fara-
discher Pinsel z. B.) gleichfalls als rein auf psychischem Wege hervorge-
bracht denken.
SüGGESTIV-THEBAPIE.
633
In Bezug auf die Heil-Saggestion selbst möchten wir im Allgemeinen den
Rath geben, nicht zu viel auf einmal zu verlangen, sondern in jeder Sitzung
nur gegen eine oder zwei Haupterscheinungen vorzugehen. Wer zu viel auf ein-
mal verlangt, erreicht oft gar nichts.
Trotz unzweifelhafter Erfolge der Suggestiv-Therapie , wie solche seit
Liebe aült aus Frankreich, England, Schweden und anderen Ländern gemeldet
wurden, wollte es doch nur schwer gelingen, dieselbe auch in Deutschland und
Oesterreich zur Geltung zu bringen. Vorurtheile und Missverstäudnisse aller
Art stellten sich dem in den Weg, und erst im Laufe der letzten Jahre bricht
sich die Ueberzeugung, dass die Bedeutung der Suggestion als Heilmittel nicht
mehr zu ignoriren sei, auch hier immer mehr Bahn. Eine Hauptschuld hieran
dürfen wir freilich der zu weitgehenden Begeisterung der Anhänger der Hypnose
beimessen , von denen so Manche Alles durch Suggestion heilen , jede andere
Behandlungsart als unnütz verwerfen wollten. Es musste also Hauptaufgabe sein,
durch sorgfältige Beobachtungen zunächst die Ungefahrlichkeit des Verfahrens,
sowie die Grenzen seiner Wirksamkeit festzustellen, und können wir heute wohl
behaupten, dass in Bezug auf den ersten Punkt kaum mehr Zweifel bestehen können,
während auch die Indicationen im Allgemeinen ziemlich feststehen, mindestens in
ebenso sicherer Weise, wie das bei der grossen Mehrzahl der übrigen in der
Medicin gebrauchten Mittel der Fall ist. Selbstverständlich werden sich auch hier
nicht sobald fest abgeschlossene Grenzen ziehen lassen, wir wissen aber doch
bereits, wo wir mit mehr oder weniger sicherer Aussicht auf Erfolg von der
Suggestiv-Therapie werden Gebrauch machen können und wo wir dieselbe in
erster Reihe anzuwenden berechtigt sind.
v. Schrenck hat eine grosse Sammelforschung in's Werk gesetzt, welche
sich über nahezu 9000 Fälle aus der Praxis zuverlässiger, nüchterner Beob-
achter erstreckt und nach deren Vollendung wir ein durchaus einwandfreies Beweis-
material besitzen werden. Wegen der Grösse der Aufgabe hat dieselbe leider bis
heute nicht ganz vollendet werden können ; doch sind wir in die glückliche Lage
versetzt, manche Resultate jener Forschung für unsere Arbeit verwerthen und damit
unseren Aufstellungen eine möglichst sichere Basis geben zu können.
Bei der Besprechung der Indicationen stossen wir zunächst auf die
Schwierigkeit der Eintheilung der Krankheiten. Selbstverständlich werden wir es
hier, wo es sich um eine Behandlungsmethode handelt, welche direct oder indirect
die Centraiorgane des Nervensystems, speciell des Gehirns als ihr Angriffsobject
betrachtet, es in erster Reihe mit krankhaften Erscheinungen im
Gebiete des Nervensystems zu thun haben ; wir werden aber auch Krank-
heiten anderer Organe, bei welchen wir gleichfalls günstige Erfolge erzielen
können, nicht ausser Acht lassen dürfen. Dass wir keine Pneumonie, keinen
Scharlach suggestiv behandeln, keinen Gehirntumor beseitigen, keine etwa durch
Narben oder Vererbungsprocesse ausgeschalteten Gehirntheile wieder leistungs-
fähig machen wollen, versteht sich von selbst; wir werden aber auch in vielen
derartigen acuten und chronischen Krankheitszuständen nicht selten Gelegenheit
haben, symptomatisch günstig zu wirken und damit immerhin auf den Verlauf
derselben einen nicht unerheblichen Einfluss zu gewinnen.
Das eigentliche Gebiet der Suggestiv-Therapie stellen die funotionellen
Neurosen dar, diese aber in weitester Ausdehnung. Wie bekannt, repräsentiren
nun die functioneilen Neurosen einen sehr grossen Theil der in der täglichen
Praxis vorkommenden Erkrankungen, und findet die Suggestiv-Therapie bei vielen
derselben ein um so dankbareres Feld der Thätigkeit, als die sonst üblichen
Methoden uns gerade hier nur zu oft im Stiche lassen. In erster Reihe möchten
wir hier der traumatischen Neurosen — nach der häufigsten Ursache
auch Railway-spine genannt — erwähnen. Bei der grossen Schwierigkeit
der Diagnose , der sicherlich auch nicht selten vorkommenden Simulation , der
634
SUGGESTIV-THERAPIE.
Hartnäckigkeit des Uebels unseren gewöhnlichen Mitteln gegenüber dürfen vir
es als eine grosse Errungenschaft bezeichnen, dass die Suggestiv-Therapie. vie
die Beobachtungen verschiedener Aerzte (Hirt, Ladamb, Berkheim, Cobtal jl L:,
ergeben, nicht selten gute Resultate, zuweilen sogar vollständige Heilung in retor
kurzer Zeit zu erzielen vermag. Es wird insbesondere Sache der Eisenbahn- ud
Cassenärzte sein, diese Krankheitszustande an ihrem reichen Material zu verfolgen ni
die Beochtungen zu vervollständigen. Dass gelegentlich durch S c h r e e k bei besonden
empfindlichen Personen Sprac hstörungen , paretische, ja zuweilen pari-
ly tische Erscheinungen auftreten und Jahre hindurch anhalten können, rad
zwar bei Leuten, welche sonst keinerlei hysterische Symptome erkennen lassen,
ist bekannt; weniger bekannt durfte aber sein, dass auch bei diesen sogenannte
Schreckneurosen nicht selten sogar in wenigen Sitzungen durch Suggeeik«
vollständige Heilung erzielt werden kann. Unter Anderen führt Hirt verschiedene
sehr interessante bezügliche Beobachtungen an; desgleichen Wettesstrasd.
Beschäf tigungsneurosen werden nach allgemeinem Crtbeile nickt
selten in relativ kurzer Zeit dauernd beseitigt oder mindestens sehr günstig beeb-
flusst, wie wir, neben einigen leichteren Fällen eigener Praxis, in ganz exquisiter
Weise bei Wetterstrand zu beobachten Gelegenheit hatten, unter Anderem auek
besonders einen sehr schweren Fall von Clavierspielerkrampf bei eber
Musiklehrerin, welche, sonst gesund, in der ersten Sitzung eine ganz ausgezeichnete
Somnambule wurde und nach etwa 10 Sitzungen ihren Beruf wieder ungestört aef
nehmen konnte.
Weniger günstig lauten die Urtheile in Bezug auf Chorea, doch gehaft
es nicht selten, von Anfang an die Erscheinungen zu mildern, wohl auch des
Anfall überhaupt abzukürzen ; rasche Heilung wird aber nicht erzielt. Viel deut-
licher tritt die günstige Wirkung bei Recidiven hervor, besonders aber bei H c mi-
ch orea, bei Unruhe einzelner Muskelgruppen, wofür zahlreiche Beobaehmnra
vorliegen (Bfrxheim, Wetterstraxd , Hirt u. A.). Bei Epilepsie bat die
Suggestiv-Therapie noch keine besonderen Triumphe zu verzeichnen, weoi
auch einzelne Beobachter (z. B. Wetterstrand, Braid) erhebliche Vexinindeniii?
der Zahl der Anfalle , ja Cessiren derselben für Jahre ergeben. Da wir jedock
ohne Zweifel berechtigt sind anzunehmen, dass die Epilepsie nicht selten darefe
heftige psychische Eindrücke ^Schreck) hervorgerufen wird, so sind wir jeden&Il*
vollauf berechtigt, auch bei diesem Leiden die Psychotherapie um-
wenden und dürfen nns Erfolg versprechen (Schreckneurose), w?u
wir directe materielle Veränderungen im Gehirn (Trauma, Heredität) als Ursaeke
ausschliesseu können. Wir sollten jedenfalls überall den Versuch machen, wo die
übliche Brombehandlung vergeblich versucht worden ist.
Bei Paralysis agitans scheint die Suggestion wohl nur eine
palliative Wirkung zu haben, Ruhe für die Nacht, etwas verbessertes Gehen, Ver-
minderung des Zitterns der Hände, verminderte Muskelspannungen bewirken n
können. Immerhin dürfte sich die psychische Therapie wenigstens vexsnehsweue
auch bei diesem Leiden empfehlen in Anbetracht der Unwirksamkeit jedes
anderen Verfahrens.
Von grösster Bedeutung jedoch ist die psychische Behandlung de?
Stotterns, dieser so sehr verbreiteten ' 1 auf 1 000) spastischen C o o r «I
nationsneurose, welche meist sehr hartnäckig allen Heilversuchen trotzt uni
im Dünstigsten Falle sehr langwierige und kostspielige Curen erfordert. Es werd«
bereits eine grössere Zahl glücklicher, zum Theil überraschend schneller Heflmngn
berichtet (Hirt, Rixgier, Ladame, Wetterstraxd, Corval U.A.). Von d*a
zwei eigenen Fällen wurde der eine nach 40 Sitzungen fast geheilt (nach 2 Jahra
das Resultat erhalten , der andere in 25 Sitzungen vollständig geheilt nadi
s 4 Jahren keine Reeidivc. Beide, der Eine 20 Jahre alt, von jeher stottennL
der Andere 24 Jahre alt, vom 1<>. Jahre ab in Folge eines Schreckens gini
SÜGGESTIV-THERAPIE.
635
hochgradig stotternd, sehliefen freilich sehr tief, waren aber im Stande, von der
dritten Sitzung an in der Hypnose jeden vorgesagten, noch so schwierigen Satz
tadellos nachzusprechen. Wir halten es in Uebereinstimmung mit anderen Beob-
achtern für höchst wichtig, beim Stottern sowohl wie bei anderen functionellen
Störungen die betreffenden Muskeln in der Hypnose zu üben, wozu es
freilich eines tiefen Schlafes bedarf und müssen wir ganz besonders hervorheben,
dass es prognostisch von grosser Bedeutung zu sein scheint, ob dabei in kurzer
Zeit wesentliche Besserung der Function für die Dauer der Hypnose zu erzielen
ist. Wir möchten sogar Sprech Störungen, welche auf Hirnläsionen beruhen , nicht
von vorneherein als aussichtslos betrachten, wissen wir doch, dass nicht selten
eine Partie des Gehirns durch entsprechende Uebung für die andere correspon-
dirende einzutreten vermag; ein Versuch dürfte immerhin gerechtfertigt sein.
In Bezug auf die Behandlung von Hysterie und Neurasthenie
durch Suggestiv-Therapie gehen die Ansichten ziemlich auseinander. Wahrend die
Einen behaupten, gerade bei diesen so weit verbreiteten Neurosen wegen der
meist vorhandenen Schwierigkeit , die Gedanken zu concentriren , bei der über-
grossen Empfindlichkeit, der Neigung zu Autosuggestionen und dadurch verkehrter
Reaction auf die betreffenden Eingebungen (speciell bei Hysterischen), haben Andere,
insbesondere auch französische Autoren (Bernheim, Berillon u. A., dann Wetter-
strand , Krafft - Ebing , van Renterghem und van Eeden , Forel , Ladame,
Lloyd Tückey, Hack-Tüke, Eulenburg u. A.) sehr gute Erfolge erzielt, ja Einzelne
(z. B. Mendel), sonst durchaus Gegner der Hypnose als therapeutisches Agens, wollen
die Anwendung derselben einzig auf diese Krankheitsform beschränkt wissen, was
wohl nur auf einer unrichtigen Identificirung der Methoden der Salpetrige und
der Schule von Nancy beruhen kann. Wir selbst haben früher gleichfalls die
erstere Ansicht vertreten und speciell die Hysterischen nach Möglichkeit von der
Suggestiv-Behandlung auszuschliessen gesucht, weil wir keine besonders erfreu-
lichen Resultate gesehen, wenn auch niemals unangenehme Erfahrungen gemacht
haben ; Studien an anderen Orten, ganz besonders die in der Klinik van Renter-
ghem und van Eeden gemachten Erfahrungen, haben uns jedoch vielfach eines
Besseren belehrt. Wir möchten unsere Ansicht heute dahin zusammenfassen, dass
Hysterische sowohl wie Neurasthenische zum grössten Theil mit Aussicht auf
mehr oder weniger günstigen und dauernden Erfolg der psychischenTherapie
unterzogen werden können, sobald es gelingt, dieselben in die fttrjedenFall
passenden Bedingungen zu versetzen, und dass alle Beobachter, welche diese
erste Bedingung nicht erfüllen konnten, eben deshalb keine guten Resultate
erzielt haben.
Beide Formen von Neurosen bieten bekanntlich mehr oder weniger die
Erscheinungen psychischer Schwache und Perversität ohne direct nachweisbare
materielle Erkrankung dar und sollten sich daher auch besonders gut für psy-
chische Behandlung eignen; wir wissen zudem, dass von jeher die richtige
psychische Behandlung bei beiden, ganz speciell freilich bei Hysterie, eine
viel grössere Rolle gespielt hat, wie irgend ein anderes Verfahren, dass
selbst schwere Krankheitserscheinungen, wie jahrelang bestehende Lähmung
einzelner Gliedmassen, der Stimmbänder u. dergl. durch heftige psychische
Eindrücke plötzlich verschwinden können, und sollten also von vorneherein auch
die Suggestiv-Therapie als für solche Fälle ganz besonders geeignet ansehen. Dass
die Erfahrung vieler Aerzte gegen diese Annahme spricht, mttsste also jedesmal
darauf hindeuten, dass gerade bei derartigen Kranken die Behandlung in etwas
anderer Weise angewendet werden müsse, nicht dass dieselbe sich überhaupt an
dieser Stelle nicht eigne. Hat auch ein hysterischer Anfall an und für sich nicht
viel zu bedeuten, so muss ein solcher doch möglichst vermieden werden und
kann das auch fast ausnahmslos geschehen, wenn der Arzt mit der nöthigen
Aufmerksamkeit und Energie verfährt (s. oben). Gegen die Autosuggestion ver-
636
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wiener nait r»r<jr?ieiHa miL -rmsw-m drrinira i«r wüimn "jw HÄ^terhchtsi «üe Wairii-
.ii^»e*::-i3 ynrwfsaÜBV. Er innaupiBr in» zarade 1« ißn «t so sehwwr zu
hypnutrarnntien H^usnaehen iie ± 1 r;i r In -rochon Zustande hoch-
^rmiig ^tco^rt m. ihniieh *rie 1« Slndunu md iatifi- >änt> ^rosge Zahl von
hytternrnhen Hracheinim^m inmh T.whHUgposrion :ies«itizr iiahe. Lernen iinsaerre
ihm Wirksamkeit Ttjsondera iann -«ihr ^ts*rhiijden . ^©nn >ie in der F«>iie
«ine» •chemischen »der ihy?8kaiis<*hen Mittet* zwcebtsi -rnnie . B. raradisehK*
Prnäei tui* den Kdhikopi zöstru nautunsehe Aphasie, ^ur sofortigen Qeseiti^nm:
hysterischer Amalie auf da» Hpissistnum l. igi. tn^ewemiet ^«erde. Iiis dürfte sieh
somit tämptehien. in .-dien Fullen, to mm ius iiesem «»der j«iem Grunde *emt>
Patienten nicht in oben ^eaehilderrer T^ise in iie richtupen Bedinjpin^en versetzen
kann, ernste and 'wnsetjnente V^rwcae .nit der W i'?haa^.^esti •►a zn machen
und dabei auch nicht ^iner Tluj^hunir :n F«>nn -änee tn»nunea Betnuces der
Patienten zurnekzuschrwkeu.
Wiäter 'inten ■▼«Knien *vir -une Aiizani **(»n iaruikiiai'ten Iilrscheiniinjwn
zu Tespreehen iiaoeu, ^ieut; vir "iei faen tueu mi neumätheniicher oder liysterwcner
Basis ''jernhend uucuntrhuieu :>tn-«-mis?r ^md. iie indererseits aber auch ohne eine
soiciic. ;a >iinc ias» vir -iberhaupt Tj^nd -mc direkte Ursache autzntrnden ver-
X'^u. iui traten, durch Jahre hindurch :»e»tenen ind nur zn «>ft 'iie LeiatiUBCS-
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der -u^jr^tix en Behandlung der P^yrho-sen zu zw lenken. Mit ^roseem l"nrrcht
hat man HMouder?« oinzeinen tranzosiachen Autoren Bernheim, Fontää :ind
SUGGESTI V-THERA PIE.
637
Segabd) vorgeworfen, dass sie Fälle ersterer Art geheilt, resp. die materielle
Erkrankung des Centrainervensystems durch Suggestion beseitigt zu haben be-
hauptet hätten. Wir wollen gern zugeben, dass hier und da wie überall auch
diagnostische Fehler gemacht worden seien — , in welcher Weise jene Autoren
jedoch ihre Behauptungen aufgefasst wissen wollen, dafür spricht* wohl am deut-
lichsten folgende Stelle aus Bebnheim's Werke: „Die functionelle Störung in den
Krankheiten des Centrainervensystems überschreitet das Gebiet der anatomischen
Läsion, d. h. strahlt oft durch Choc, dynamischen Reiz auf die benachbarten Zonen
aus. Und gegen diesen veränderten Dynamismus, welcher unabhängig ist von
einer directen materiellen Veränderung, ist die Psychotherapie vielleicht allmächtig."
Bedürfen wir nicht einer ähnlichen Erklärung, um uns die unzweifelhaft oft
günstigen Erfolge der Hydrotherapie, der Elektrotherapie u. 8. f. begreiflich zu
machen? Ganz besonders deutlich für die symptomatische, oft sehr günstige
Wirkung der Suggestiv-Therapie bei materiellen Erkrankungen des Centrainerven-
systems scheint uns ihr Einfluss auf verschiedene Erscheinungen der Tabes zu
sprechen: Fast alle Beobachter berichten über mehr oder weniger entschiedene
Linderung oder Beseitigung der lancinirenden Schmerzen, Verminderung der Ataxie,
Kräftigung der Mastdarm- und Blasenschliessmuskel und haben wir selbst unter
Anderem in einem sehr schweren, durch Jahre bestehenden Falle, wo bereits
Gelenkaffection vorhanden war, nicht nur die Schmerzen sehr gelindert, die Geh-
fähigkeit erheblich gebessert, die Incontinentia urinae fast verschwinden sehen,
sondern es gelang uns auch in wenigen Sitzungen , die ständige Neigung zu
plötzlich auftretenden Diarrhoen völlig zu beseitigen und durch Suggestion jeden
Morgen vor und nach dem Frühstück eine normale gebundene Ausleerung mit
grossem Erfolge zu erreichen, welche Erfolge noch 2 Jahre später fast voll-
ständig erhalten waren. Derartige Resultate, wie sie vielfacft gemeldet werden,
sollten uns doch wahrlich veranlassen, bei ähnlichen Leiden vor Allem die Suggestion
anzuwenden, ehe man zu den immerhin bei solchen Krankheiten nicht ganz unbe-
denklichen Mitteln, wie Antifebrin, Phenacetin, zu Morphiuminjectionen oder gar
zu den mehr als zweifelhaften Suspensionen tibergeht, umsomehr, als die betreffen-
den Kranken meist rasch und tief einschlafen und man ihnen zugleich mit Erfolg
bessere Stimmung and frischen Math suggeriren kann. Man wird das umsomehr
thun dürfen, als durchaus Nichts dem im Wege steht, dass man zugleich von
anleren bewährten Methoden, wie Galvanisation, Halbbädern, Abreibungen u. dergl.,
Gebrauch macht.
Psychische Erkrankungen ernster Art werden sich wohl kaum
zur Suggestiv-Behandlung eignen, schon weil es bei irgend erheblichem Grade
von Erregung, bei lebhaften Hallucinationen kaum gelingen dürfte, den Kranken
irgend welcher Eingebung zugänglich zu machen; immerhin aber zeigen die
Beobachtungen von Luys und Vojsin, dass man selbst hier bei genügender Con-
sequenz zuweilen überraschende Wirkungen zu erzielen, Ruhe und Schlaf zu
erreichen vermag.
Dagegen haben viele Forscher bei leichten Formen von Psy-
chosen nicht selten günstige Resultalte durch Psychotherapie erreicht. Hirt
sagt darüber, nachdem er die rasche Heilung eines Falles von Schreckneurose
durch Suggestion geschildert hat, Folgendes: „In ähnlicher, wenn auch selten so
eclatanter Weise sind p s y c h i s c h e Verstimmungen, sowohl Depr es sions-
zustände, wie z. B. leichte Fälle von Melancholia simpl., als auch die reiz-
bare Schwäche des Nervensystems, wo gewisse unwiderstehlich auftretende
Vorstellungen die psychische Persönlichkeit tiberwältigen (Zwangsvorstel-
lungen, Grtibel8ucht), durch Suggestion zu behandeln, und sind namentlich
in vielen Fällen, wo die allgemeine Richtung des Gedankenganges durch krank-
haften Zwang beeinflusst worden war, schöne Erfolge zu verzeichnen : die Patienten
fühlten sich meist schon nach der zweiten und dritten Beeinflussung wesentlich
638
SUGGESTIV-THERAPIE.
erleichtert und konnten nach 6 — lOmaliger Wiederholung derselben gebessert rap.
geheilt entlassen werden." Auch Bernheim, Lieb fault, Voisin, Hack-Tüke, v.
Renterg b em, v. Eden, de Young, sowie Wetterstrand n. A. haben in dieser
Richtung sehr gute Erfolge gehabt.
Von ganz besonderem Interesse schienen uns die Beobachtungen tob
van Rrnterghem, van Eedrn, Krafft-Ebing und v. Schbenck in Bezug auf
Heilung conträrer Sexual- Empfindun g, von denen besonders der Fall
des Letzteren auch insoweit von Bedeutung ist, als die Heilung nach Verlauf
von 2 Jahren , innerhalb welcher die Verheiratung des Patienten stattgefunden,
völlig Stand gehalten hat, und damit wohl radicale Heilung anzunehmen sein
dürfte. Nach der Zusammenstellung v. Schrenck's wurden unter 13 Fällen 4
geheilt, 5 entschieden gebessert, 3 vorübergehend gebessert, während die Behand-
lung bei 1 ohne Einfluss blieb (Forel, Kb afft-Ebing , Ladame, Schrbnck):
immerhin ein Resultat, welches dringend zu weiteren Versuchen ermuntern sollte.
Dass auch der Alkoholismus mit Erfolg suggestiv behandelt werden
könne, hatte u. A. Forel hervorgehoben ; gleich günstigen Erfolg erzielten Berk-
heim, Wetterstrand, Ladame, Ringier, und haben wir Gelegenheit gehabt, in
Stockholm der Heilung einer Reihe von Fällen beizuwohnen, wobei uns besonders
auffallend erschien, dass das Verbot des Alkoholgenusses von der ersten Suggestion
an pünktlich befolgt wurde. Um so bemerkenswerther war es, dass durchaus
keine Abstinenzerscheinungen auftraten, und können wir dieses nur darauf zurück-
führen, dass sofort guter Schlaf und reichliche Nahrungsaufnahme mit Erfolg
suggerirt wurde. Wir selbst haben bisher nur Gelegenheit gehabt, einen Collegen
mit periodischer Dipsomanie zu behandeln, während derselbe sich gerade im
Vorläuferstadium (Unlust zur Arbeit, höchst reizbare Stimmung u. 8. f.) befand.
Die Wirkung der Suggestion war durchaus günstig, gute Stimmung, Arbeitslust
stellten sich nach Wunsch ein, Verlangen nach alkoholischen Getränken, welche
ganz verboten wurden, verschwand vollständig, und war Patient damit zunächst
wenigstens über eine Periode hinweg gebracht.
Gleich günstige Resultate werden von zahlreichen Beobachtern gemeldet,
z. B. Lloyd-Tgckey 25 Heilungen, so dass sich wohl in jedem derartigen Falle
zunächst die Anwendung unserer für Kranke und Arzt gleich bequemen Behand-
lungsmethode empfiehlt. Selbstverständlich fehlen Recidive auch hier nicht, treten
jedoch keineswegs häufiger auf wie nach den üblichen Entziehungsmethoden und
werden fast ausnahmslos durch wenige Suggestionen wieder beseitigt.
Nicht ganz so günstig spricht sich Ladame aus, doch hat auch er einzelne
vollständige Erfolge neben nicht wenigen vorübergehenden und befürwortet ganz
entschieden, wo irgend möglich die Suggestion anzuwenden, um so mehr, als seit
Esuuirol alle Aerzte die Prognose der Trunksucht als düster, ja als hoffnungslos
hinstellten. Die Recidiveu werden gerade bei diesen Leiden durch die reichliche
Gelegenheit, durch Verführung begünstigt , daher ist Eintritt in Mässigkeitsvereine
sehr zu empfehlen (Forel).
Weniger günstig lauten die Berichte in Bezug auf Heilung des Morphinismus,
obgleich gerade dabei Verschiedene, besonders Bernheim und Wetterstrand,
Gutes gesehen haben. Bei der hohen Bedeutung der Sache und der Schwierigkeit,
auf anderem Wege zu dauerndem Erfolge zu gelangen, erscheint uns ein etwas
näheres Eingehen auf die Beobachtungen dieses Forschers angezeigt: Wetter-
strand hat von 22 Fällen 19 geheilt, giebt aber zu, dass es oft sehr schwierig
sei, den nötbigen Einfluss auf solche Kranke zu gewinnen und räth dringend,
die von ihm gebrauchte Methode anzuwenden. Dieselbe besteht der Hauptsache
nach darin, dass der Patient in einem einige Wochen hindurch währenden, nur
durch kurze, zur Aufnahme von Nahrung und Befriedigung der natürlichen Be-
dürfnisse nothwendigen Pausen unterbrochenen Schlafe erhalten werde. Die
Suggestion betont jedesmal : „Hass und Widerwillen gegen Morphium, das Wieder-
SÜGGESTIV-THERAPIE.
639
erwachen der Kräfte, des guten Appetites und des guten Schlafes. w (Näheres in
dem unten verzeichneten Aufsatze in der „Revue de rHypnotisme" und in Wetter-
strand's neuesten Veröffentlichungen.) Missbrauch des Chloral und damit
auch wohl anderer Schlafmittel lässt sich dagegen unschwer durch Suggestion
beseitigen.
Nach Hl kt scheinen die Hirnorgane nicht alle in gleicher Weise und
gleichem Maasse der Suggestiv-Therapie zugänglich zu sein, doch dürfte das wohl
davon abhängen, ob es sich um functionelle Störung, um vorübergehende Beeinflussung
des oorticalen Centrums oder um eine peripherische Neuritis handelt. So ist z. B.
Facialisparese, etwa nach Hemiplegie, oft sehr gut zu beeinflussen, während
das bei peripherer Facialisparese nicht der Fall ist. Desgleichen ist der
Tic convulsif, weil er meist centralen Ursprunges und rein functionell ist,
mit sehr günstigem Erfolge suggestiv zu behandeln, selbst wenn andere Massregeln
(Elektrotherapie) sich ganz wirkungslos gezeigt haben. In jedem Falle dürften bei
Erkrankungen dieser Nerven Versuche psychischer Therapie durchaus berechtigt
sein, nicht minder bei Erkrankungen einzelner Sinnesnerven, bei Amblyopien
ohne nachweisbar anatomische Grundlage, bei Acusticu slähmungen rein nervöser
Natur, Ohrensausen u. dergl. In Bezug auf erstere hat Delboeüf in jüngster
Zeit höchst interessante Beobachtungen gemacht, bei welchen die Fortschritte in
der Cur durch genaue Gesichtsfeldmessungen controlirt und der durchaus regel-
mässige Fortschritt nachgewiesen wurde. Gehörverbesserungen wurden von
vielen Autoren beobachtet, und haben wir solche selbst in Fällen constatiren können,
wo anatomische Läsionen (Perforation des Trommelfells, Sclerose und starke Ein-
ziehung desselben) nachzuweisen waren. Wir haben dieses günstige Resultat damit
erklären zu müssen geglaubt, dass eine Verschärfung des Gehöres während der
Hypnose sehr oft zu beobachten ist, freilich nicht selten nur für die Stimme des
Arztes — Rapport — , und dass durch Uebung der Gehörnerv wieder leistungs-
fähiger gemacht werden kann.
Sehr günstige Berichte geben die meisten Beobachter über Wirkung der
Suggestion bei Vagus- und Larynxneurose: man erzielt bei denselben oft
so grosse Erfolge, dass jede anderweitige Behandlung dieser quälenden Leiden in
den Schatten gestellt wird, und möchten wir an dieser Stelle vor Allem die oft
höchst überraschende, prompte Wirkung bei gewissen Formen von Asthma und
bei sogenanntem nervösen Husten hervorheben. Bei ersterem gelingt es oft
(Wetterstrand , Corval u. A.), die heftigsten Anfälle in wenig Minuten zu
coupiren, nicht selten in mehreren Sitzungen ganz zu beseitigen.
Zu den am häufigsten zur Suggestiv-Behandlung gelangenden
Krankheitsformen dürften wohl die Neuralgien aller Art zu rechnen sein.
Wir erreichen bei diesen Leiden mit Hilfe der Psychotherapie auch oft die
glänzendsten Resultate, erleben aber andererseits auch zuweilen herbe Enttäu-
schungen. Zum Theil mag das darauf beruhen, dass die Ursache des Schmerzes eine
so verschiedenartige, durchaus nicht immer mit Sicherheit zu diagnosticirende ist,
dass Neuralgie oft nur Ausdruck eines Allgemeinleidens oder wieder Folge peri-
pherischer Erkrankung eines Nerven ist. Da jedoch die Erfahrung lehrt, dass die
Schmerzen bei Tabes, die auf cariöse Zähne zurückzuführende Trige-
minusneuralgie und dergl. nicht selten durch Suggestion sehr günstig beeinflusst
werden können , so werden wir bis auf Weiteres am besten thun, es bei jedem
Falle zuerst mit unserer Behandlungsmethode zu versuchen, jedenfalls vorher ehe
wir zu den in ihren Folgen oft so bedenklichen Morphium-Injectionen schreiten.
Es wllrde zu weit führen, wollten wir an dieser Stelle die einzelnen Formen von
Neuralgien gesondert besprechen ; es genüge darauf hinzuweisen, dass wir gerade
bei verschiedenen, als besonders hartnäckig berüchtigten Formen sehr häufig
in der Lage sind, überraschend günstige Erfolge zu erzielen. Wetterstrand
u. A. gelang es z. B. bei schweren Formen von Intercostalneuralgie
640
SUGGESTTV-THERAPIE.
im Verlaufe von Herpes Zoster in wenigen Sitzungen dauernde Heilung
zu erreichen.
Trigeminusneuralgie, selbst in verzweifelten Fällen, verschwindet
oft nach wenigen Sitzungen; ja wir haben selbst in einem ungewöhnlich hart-
näckigen, seit 7 Monaten bestehenden solchen Falle in der ersten Sitzung den
wüthenden Schmerz verschwinden, zugleich den seither nur auf 3 — 4 0 Sulfonal
und Morphium zu erzielenden Schlaf auf die bestimmte Stunde eintreten und
den Erfolg mit Ausnahme einer durch Schwangerschaft bedingten kurzen Recidive
von wenig Wochen nach 2 Jahren erhalten gesehen ; desgleichen einen Fall von
Neuralgie des Auriculotemporalis und des Occipitalis in günstigster Weise
beeinflusst. Weniger gleichartig lauten die Berichte über Ischias: während Einzelne
sehr Günstiges melden, wollen wieder Andere weniger Erfolg gehabt haben. Das
kann zunächst auf Zufall beruhen, doch möchten wir besonderes Gewicht darauf
legen, dass man bei Neuralgien im Allgemeinen, wenn irgend möglich, tiefsten
Schlaf zu erreichen suchen muss ; gelingt dies, dann dürfte der Erfolg auch nicht
ausbleiben, und werden wir zu der Ueberzeugung kommen, dass gerade bei dieser
Krankheitsform die Suggestiv-Therapie ihre höchsten Triumphe feiert; jedenfalls
wirkt sie oft unvergleichlich sicherer und gefahrloser als die gebräuchlichen anderen
Curmethoden.
Wiederholt schon haben wir darauf hingewiesen, dass die Suggestion
als rein symptomatisches Mittel bei den verschiedensten Krankheiten mit grossem
Vortheil angewendet werden kann. Wir haben durchaus keine Veranlassung, uns
gegen die Verwendung derselben zu diesem Zwecke zu sträuben , da unsere ganze
Therapie in den meisten Fällen doch auch nur dahin gerichtet ist , zunächst ein-
zelne Krankheitserscheinungen zu mildern, womit wir zugleich sehr häufig auf
den ganzen Krankheitsverlauf günstig einzuwirken im Stande sind. Andererseits
wird aber auch unsere Hilfe sehr oft einzig wegen gewisser quälender Symptome
in Anspruch genommen, welche wir trotz Aufbietung aller diagnostischen Hilfs-
mittel nicht mit Sicherheit auf ein bestimmtes Leiden zurückzuführen vermögen.
Wenn wir z.B. bei anhaltender Schlaflosigkeit, bei habituellem Kopf-
weh von Anämie und Hyperämie des Gehirns, von nervöser Ursache sprechen,
so thun wir das nur zu oft in Folge von Wahrscheinlichkeitsberechnung, oder
auch, um dem gequälten Patienten eine gewisse Beruhigung zu verschaffen. Wir
dürfen uns also für vollberechtigt halten, es zunächst mit der zum Mindesten
unschuldigen Psychotherapie zu versuchen und werden dann zu unserer und
unserer Patienten Freude finden, dass wir in sehr vielen Fällen, selbst dort, wo
die üblichen Methoden keine Erleichterung verschafft haben, wo wir die schlaf-
machenden Mittel in immer steigender Dosis anzuwenden genöthigt gewesen, nur
um einigermassen Hilfe und Trost zu bringen, meist in kurzer Zeit zum Ziele
kommen und hier , wie bei Schmerzen aller Art, uns ruhig darüber hinwegsetzen
dürfen, dass man uns den Vorwurf machen könnte , wir trieben nur symptoma-
tische Therapie. Und dass gegen diese weit verbreiteten Leiden, gegen Schlaf-
losigkeit und habituellen Kopfschmerz sich die Psychotherapie sehr hilf-
reich und in den seltensten Fällen nur ganz ohnmächtig erweist, dass insbeson-
dere bei Schlaflosigkeit aus psychischer Ursache (Kummer, Sorgen,
Aufregung u. dergl.) die Suggestion in relativ kurzer Zeit das Leiden definitiv
zu beseitigen vermag, bezeugen alle Beobachter einstimmig. Desgleichen gelingt
es auch nicht selten, den Kopfschmerz vollständig zu bannen und selbst bei
Migraine, wenn nicht bestimmte anatomische Ursachen zu Grunde liegen , ver-
mag man häufig sofortige Linderung zu bringen, ja in nicht wenigen Fällen in
einigen Sitzungen den heftigen Schmerz völlig zu beseitigen und die Anfälle
auf viele Monate hinauszuschieben, wie Wetterstrand, v. Schrenck, van
Renterghem, van Eeden, Bernmeim, Berillon, Corval, Ringier u. A.
bezeugen.
SUGGESTIV-THERAPIE.
641
Wir werden selbstverständlich unsere Suggestionen dem einzelnen Falle
genau anzupassen haben und uns nicht mit dem einfachen Befehle: „Der Schmerz
lässt nach, der Kopf ist ganz frei" und Aehnlichem begnügen dürfen. Wir
müssen z. B. bei nachweisbarer Anämie oder Chlorose uns direct gegen
diese wenden , Appetitlosigkeit , hartnäckige Verstopfung , Magenbeschwerden
günstig zu beeinflussen und dadurch die Ernährung und Blutbildung zu heben suchen
und auf diesem Unwege die vom Gehirn ausgehenden quälenden Erscheinungen
beseitigen. Bei dieser Gelegenheit sei ganz besonders betont, dass gerade die
Behandlung von Anämie und Chlorose mit zu den dankbarsten Aufgaben der
Psychotherapie gehört , wohl auch deshalb , weil die betreffenden Patienten meist
sehr leicht und tief zu schlafen pflegen; nicht minder auch die nervöse Dys-
pepsie, die cardialgischen Beschwerden, wobei vielseitig dauernde
Erfolge beobachtet worden sind. Dass wir die perist altische Bewegung mit seltenen
Ausnahmen rasch und günstig zu beeinflussen, Diarrhöen zu stillen, Ver-
stopfung, selbst nach jahrelanger Dauer, durch Suggestion zu beseitigen ver-
mögen, ist allgemein anerkannt und dürfte vielleicht noch leichter wie andere
Wirkungen der Suggestion zu erklären sein, wenn wir berücksichtigen, dass
psychische Einflüsse sehr oft Diarrhöen hervorzubringen pflegen. Weniger leicht
freilich dürfte das Verständniss dafür sein , dass man selbst bei Erkrankungen
des Centrainervensystems nach dieser Richtung hin Einfluss gewinnt, wie wir
dies selbst bei einem alten Tabesfalle gesehen, wo der Erfolg nach 2 Jahren
vollständig erhalten war (siehe oben). Wir sind eben hier anzunehmen gezwungen,
dass es sich bei bestehender Sklerose der betreffenden Stränge zugleich um
functionelle und fortgeleitete Störungen in den Bahnen dieser vom Lendenmark aua-
gehenden Nerven gehandelt habe, gerade wie wir das nach Verschwinden ver-
schiedener , einer Gehirnblutung folgenden Lähmungserscheinungen zu thun
genöthigt sind.
Mit zu den interessantesten Beobachtungen gehören die Erfolge bei
Menstruationsstörungen der verschiedensten Art. Es giebt kaum Einen
der Forscher auf unserem Gebiete, welcher nicht gerade diese oft sehr qual-
vollen Leiden als äusserst günstiges Behandlungsobject bezeichnet, und dürfen wir
das vielleicht um so begreiflicher finden, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass
plötzliches Cessiren der Menses, das Auftreten profuser Blutungen, selbst ohne
nachweisbare anatomische Ursache , in Folge grosser psychischer Erregung durch-
aus nicht zu den Seltenheiten gehören. Wir können selbstverständlich nicht
erwarten, intensive Metrorrhagien in Folge von Fibromen oder Polypen dauernd
zum Stillstande zu bringen, während das vorübergehend auch gelungen sein soll;
ebenso wenig werden wir, insbesondere wenn es nicht bald gelingt, tiefen
Schlaf zu erzielen , jede profuse Blutung sofort sistiren — ein Versuch dürfte
jedoch in jedem Falle gerechtfertigt sein, mindestens für so lange, bis es ge-
lungen ist, Anderes vorzubereiten. Uebereinstimmend wird jedoch gemeldet, dass
es durch Suggestion nicht nur sehr häufig gelingt, profuse Menstrual-
biutung zu mässigen, übermässig lange Dauer der Periode abzukürzen, regel-
mässigen Eintritt derselben zu rechter Zeit zu erzielen, die Schmerzen zu
mildern oder ganz aufzuheben , und das Alles ohne irgend welchen Nachtheil für
die Patienten. Dass man auch in solchen Fällen nicht schablonenmässig vor-
gehen , sich nicht mit dem einfachen Befehle begnügen dürfe, dass man vielmehr
sorgfältig alle Nebenumstände berücksichtigen, z. B. bei Anämie, fehlerhafter
Ernährung u. dergl. speciell seine Suggestionen auch nach dieser Richtung hin
richten müsse, bedarf kaum der Erwähnung, wohl aber, dass man hier wie
bei Neuralgien , bei Kopfschmerzen u. s. f. sehr gut thue , durch Auflegen der
Hand , durch mehr oder weniger starken Druck oder Streichen die Aufmerksam-
keit der Kranken auf den betreffenden Punkt zu lenken. Cohen theilt neuer-
dings eine Beobachtung von grösster Tragweite mit : Es gelang ihm , in einem
Ed cyclop. Jahrbücher. I. 41
642
8UGGESTTY-THERAPIE .
hartnäckigen, durch viele Jahre bestehenden Falle von Hämophilie die er-
schöpfenden Menstrualblutungen derart zu beschränken , dass die dem
Tode nahe Patientin sich allmälig wieder erholen konnte, nachdem vorher Alles
vergeblich versucht worden war. Doch hielt die Wirkung der Suggestion leider
niemals auf die Dauer an und war man daher genöthigt, dieselbe in kurzen
Intervallen immer zu wiederholen.
Als praktisch sehr bedeutsam müssen wir endlich noch der verschiedenen
rheumatischen Affectionen in Bezug auf ihre Zugänglichkeit für Suggestiv-
behandlung gedenken. Im Allgemeinen erreicht man Schmerzlosigkeit und freie
Bewegung sehr rasch , oft auf die Dauer , und macht es auf Unerfahrene geradezu
einen verblüffenden Eindruck, wenn ein an heftigem Lumbago Leidender,
welcher sich nur mit Mühe bewegen, sich nur unter den heftigsten Schmerzen
hinsetzen konnte, nach einer Sitzung von 10 — 15 Minuten völlig von seinen
Schmerzen befreit, aufzustehen, sich zu bücken, ohne Hinderniss zu gehen ver-
mag. Wiederholt haben wir selbst bei geschwollenen Gelenken die Schmerzen
völlig schwinden und durch nunmehr ermöglichte mechanische Behandlung auch
Schwellung und Steifigkeit beseitigt gesehen.
Bei verschiedenen Gelegenheiten haben wir bereits darauf hingewiesen,
dass es bei Somnambulismus , ja schon bei dem zweiten Grade oft gelingt, voll-
ständige Gefühllosigkeit an einer bestimmten Stelle oder des ganzen
Körpers zu suggeriren. Diese locale Anästhesie ist daher auch schon vielfach bei
kleineren Operationen mit Erfolg benützt worden, z.B. bei Eröffnung
von Abscessen, Zahnextractionen u. dergi. (Wir haben selbst 3 Zähne
nach einander ausziehen lassen, ohne dass die Patientin das Geringste davon
bemerkt hätte.) Anderen (Velander) ist es gelungen, Iridectomien schmerzlos
auszuführen, ja sogar Gebur ten ohne Schmerzempfindung in der Hypnose verlaufen
zu machen , zum Theil unter Beihilfe kleiner Gaben von Chloroform, worüber in
neuester Zeit verschiedene Mittheilungen in der „Revue de Thypnot." gemacht
worden sind. Während letzteres wohl nur selten gelingen dürfte, so empfiehlt es
sich dagegen ohne Zweifel , in allen derartigen Fällen , wo man aus Erfahrung
weiss, dass man tiefen Schlaf hervorzubringen im Stande ist, den Versuch mit
der Suggestion, eventuell unter Beihilfe einer kleinen Gabe von Chloroform (5*0)
zu machen, nur darf man dabei nicht vergessen, dass der Patient sich vorher
nicht im Zustande ängstlicher Aufregung befinden dürfe , dass man ihn also stets
vorher zu beruhigen suchen müsse, z. B. durch die Versicherung, er werde
nichts fühlen. Ja , es würde sich sogar rechtfertigen lassen . ihn mit der Operation
zu überraschen, selbstverständlich aber nur, nachdem man vorher seine Ein-
willigung zu derselben eingeholt hätte. (Dass der bei den Hexenverbrennungen
vielfach beobachtete sogenannte „Hexenschlaf" gleichfalls auf Autosuggestion
zurückzuführen sei, dürfte keinem Zweifel unterliegen.)
Was nun die Frage betrifft , ob man von der Suggestivbehandlung auch
bei kranken Kindern Gebrauch machen solle und dürfe , so kann die Bejahung
derselben kaum mehr zweifelhaft sein , nachdem wir oben bereits gesehen haben,
dass Kinder vom füDften Jahre etwa ab sehr leicht zu beeinflussen sind und
daher auch bei vernünftigem Vorgehen durchaus ohne Nachtheil hypnotisirt werden
können. Nur wird man sich hier erst recht stets vor Augen halten müssen, dass
man seine Versuche nicht in das Endlose fortsetzen , ebenso wenig aber irgend
eine schädliche oder unnatürliche Suggestion geben dürfe. Durch ruhiges, dem
jeweiligen Fassungsvermögen des Kindes angepasstes Zusprechen erreicht man
meist sein Ziel, die Kinder schlafen io kürzester Zeit genügend tief und voll-
ziehen die Befehle pünktlich. Interessant ist dabei, dass noch so nngeberdige,
scheue Kinder nach wenigen Sitzungen dem Arzte gegenüber jede Scheu ablegen,
ja die zärtlichste Zuneigung zu demselben gewinnen. Symptomatisch können wir
hier die Psychotherapie sehr häufig bei den allerversehiedensten Krankheits-
SUGGESTIV-THERAPIE.
643
formen anwenden, Schmerzen aller Art lindern, Schlaflosigkeit beseitigen u. s. f.
Wir bringen die kleinen Patienten dazu, dass sie sich ruhig untersuchen lassen,
die Arznei willig nehmen , ja es gelingt sogar nicht selten , durch Wach-
Suggestionen ganz entschiedene Wirkung zu erzielen. Wir sahen z.B. bei
Wetterstrand Stottern auf diese Weise geheilt (Schreckneurose).
Zahlreich sind auch die Beobachtungen darüber , dass man durch Psycho-
therapie schlechte Gewohnheiten beseitigt hat, ja es scheint durchaus
erwiesen, dass sogar Incontinentia urinae (Enuresis noct.) durch
Suggestiv-Therapie mindestens ebenso sicher zu bekämpfen sei, wie durch irgend
eine andere Methode. Unter 127 Fällen wurden nach Schrenck 67 völlig geheilt,
13 wesentlich gebessert, 21 vorübergehend oder leicht gebessert, 21 ohne
Erfolg behandelt.
Liebeault erzielte unter 77 Fällen 56 mal radicale Heilung. Derartige
Resultate bedürfen keines Commentares.
Man wird auch in solchen Fällen ebenso wenig schabionenmässig vor-
gehen dürfen wie anderwärts, man wird die Nahrungs- und Getränkaufnahme
reguliren u. s. f. In hartnäckigen Fällen möchten wir nach eigener Erfahrung
dringend empfehlen, den Mastdarm-Rheophor zu Hilfe zu nehmen, jedoch nur
kaum fühlbare Ströme anzuwenden. Die psychische Wirkung dieses schwachen
Stromes hat sich uns und auch Anderen wiederholt hierbei bewährt, gerade wie
die der Brodpille bei hartnäckiger Verstopfung. Die in erster Zeit leicht ein-
tretenden Recidive wird man freilich sehr beachten müssen.
Wenn wir auch nicht so weit gehen wollen, dass wir die Verbal-
Suggestion allgemein als pädagogisches Mittel einzuführen empfehlen, so
giebt es doch ohne Zweifei eine ganze Reihe von Zuständen, wo wir gerade bei
Kindern auf psychotherapeutischem Wege Grosses zu erreichen vermögen, und
sind wir vollauf berechtigt , ja verpflichtet , in allen Fällen schwerer
Oharakterfehler, hässlicher Angewohnheiten u. dergl., wo andere
Versuche nicht zum Ziele geführt haben, auch noch den Versuch mit der
Suggestiv-Therapie zu machen (Wetterstrand, Hirt, Berillon, Bernheim,
Liebeault , Forel u. A.) , welche nicht selten doch noch von Erfolg wird.
Entsprechend dem Zwecke vorliegender Abhandlung konnten wir selbst-
verständlich keine erschöpfende Besprechung aller durch Suggestiv-Therapie behan-
delter oder etwa zu behandelnder Erkrankungsformen bringen, kein Handbuch
der Psychotherapie schreiben, welches bei der täglich und stündlich sich mehrenden
Erfahrung eine zu weite Ausdehnung gewonnen hätte. Es schien vielmehr unsere
Aufgabe zu sein, an einer grösseren Zahl praktischer Beispiele zu zeigen, dass
die Suggestion, wenn auch kein Universal-Heilmittel, so doch in zahlreichen Fällen
der verschiedensten Art mit grossem Vortheil zu verwenden sei, dass sie oft dort
noch Heilung oder wenigstens Besserung bringe, wo die gebräuchlichen anderen
Methoden nicht zum Ziele geführt haben. Wir wollten der Suggestiv-Therapie
nur den wohlverdienten Platz unter den Curmethoden anweisen und hoffen durch
die beigebrachten Belege, zum Theil gestützt auf eine Zusammenstellung von
nahezu 9000 sorgfältig und durch längere Zeit beobachteten Fällen (v. Schrenck),
bewiesen zu haben, dass wir Aerzte nicht nur berechtigt, sondern vielmehr geradezu
verpflichtet seien, eine so entschieden wirksame Behandlungsmethode unseren1
Patienten nicht vorzuenthalten.
Nachdem wir im Verlaufe unserer Arbeit wiederholt Gelegenheit genommen
haben, das Unhaltbare der gegen die Suggestiv-Therapie in's Feld geführten Be-
denken darzulegen, hätten wir noch in letzter Reihe die Frage zu besprechen, ob
der Vorwurf unserer Gegner in Bezug auf die behauptete einzig nur vorüber-
gehende, palliative Wirkung der Psychotherapie ein berechtigter sei. Hierbei dürfte
zunächst in Betracht kommen, daas selbst, wenn dem so wäre, hieraus ein Vor-
wurf für uns nicht abgeleitet werden könnte , denn welche Behandlungsmethode
41*
644
SUGGESTTV-THERAPIE.
dürfte überhaupt von vornherein den Anspruch erheben, stets redicale Heilung
zu erzielen. Derartige Ansprüche müssten uns einfach in den meisten Fällen zur
Unthätigkeit verdammen. Dann aber werden doch allseitig bei den verschiedensten
Erkrankungsformen eine so stattliche Reihe radicaler Heilungen durch Psychotherapie
angeführt, dass Zweifel an der Richtigkeit der Beobachtungen völlig ausgeschlossen
sein sollten, man müsste denn Männer wie Liebeaült, Bernheim, Braid, Forel,
V. SCHRENCK, LLOYD-TüKEY, VAN RENTERGHEM, VAN EDEN, HlRT, WETTERSTRAND
und zählreiche Andere des sträflichsten Leichtsinnes anschuldigen wollen. Und wenn
wir schliesslich unter Anderem hören, dass selbst bei notorisch der Heilung schwer
zugänglichen Krankheitsformen, wie Neurasthenie, in 36 Fällen von 146 vollständige
Heilung und 53 wesentliche, dauernde Besserung erzielt werden konnte, so werden
wir hieraus nicht nur die Berechtigung, sondern sogar die Verpflichtung zur
Anwendung der Suggestiv-Therapie ableiten müssen.
Dem entsprechend können wir auch mit voller Befriedigung constatiren,
dass die Zahl der Anhänger unserer Methode von Jahr zu Jahr grösser, die der
Gegner immer kleiner wird, so dass die Zeit nicht mehr gar zu fern sein dürfte,
wo dieselbe sich gerade so Bahn gebrochen haben wird wie die Hydrotherapie,
Elektrotherapie, Massage und Gymnastik, und wo man dann nicht mehr verstehen
wird, dass der Einführung derselben ein so hartnäckiger Widerstand entgegen-
gesetzt werden konnte. Es wird eben der heutigen Medicin schwer, anzuerkennen,
dass unser Denken, wenn der Wille bis zu einem gewissen Grade beschränkt und
unthätig ist, eine grosse Gewalt über unseren Körper besitzt ; sie glaubt alle Ge-
heimnisse des Lebens durch mechanische, physische und chemisohe Gesetze erklären
zu können und bedenkt nicht, wie Bernheim sagt, dass der Geist auch etwas im
menschlichen Organismus zu bedeuten habe.
Zum Schlüsse sei noch ausdrücklich betont , dass wir bei unseren Aus-
führungen stets nur die Verwendung der Suggestiv-Therapie in rein therapeu-
tischer Absicht im Auge gehabt haben ; die bezüglichen Experimente zum Zwecke
theoretischer Studien sind durchaus nicht Sache des praktischen Arztes, sondern
des Forschers auf diesem Gebiete, der allein im Stande ist, jede etwaige Gefahr
nach Möglichkeit auszuschliessen , wie das ja auch auf anderen Gebieten mass-
gebend ist oder mindestens sein sollte.
Literatur: Berillon, Les indications formelles de la Suggestion hypn. ect.
Revue de l'hypnotisme. Oct. 1890. — Bernheim, De la Suggestion. 1888. — Derselbe,
Revue de l'hypnotisme. Oct. 1889. — Derselbe, Hypnotismus, Suggestion, Psychotherapie.
Etud. nouv. 1891. — Corval, Zur Suggestiv-Therapie Therap. Monatsh. Sept. 1889. — Cohen,
Zeitschr. f. klin. Medic. Bd. XVII. Suppl. — Delboeuf, L'hypnotisme appliqui sur les
alterations de Vorgane visuel. 1890- — Van Eden, Quelques publications recantes sur
l'hypnotisme. 1890. — Forel, Hypnotismus und seine strafrechtliche Bedeutung. Separat- Abdruck
der Zeitschrift für die gesammte Strafrechtswissenschaft. IX. — Derselbe, Zu den Gefahren
und Nutzen des Hypnotismus. Münchn.med. Wochenschr. 1889, Nr. 38. — Derselbe, Der Hypno-
tismus und seine Bedeutung II. Aufl., 1891- — Hirt, Bedeutung der Suggestiv-Therapie.
Wiener med. Wochenschr. 1890, Nr. 27 — 30. — Ladame, Hypnotismus und Suggestion in der Be-
handlung der Trunksucht und Dipsomanie. Int. klin. Kundschau. IV. Jahrg., 21 — 22. —
Liebeaült, Sommeil provoque. 1889. — Moll, Der Hypnotismus. 1890. — Müller, Ueber
Hypnotismus und Suggestion. Wien 1889. — Obersteiner, Der Hypnotismus. Klin. Zeit-
und Streitfragen. 1887. — Pauly, Neue Publicationen auf dem Gebiete des Hypnotismus. Wiener
klin. Wochenschr. 1889. — VanRenterghem und van Eden, Clinique de Psycho-TheVapie
suggestive. Compt. rendu. 1889. — Ringier, 3 Fälle von Stottern durch Hypnotismus
behandelt. Correspondenzblatt für Schweizer Aerzte. 1888, Beilage 11 — 12. — Derselbe,
Ei folge des therapeutischen Hypnotismus in der Landpraxis. 1891. — Rosenbach, Psycho-
Therapie innerer Krankheiten. Berliner Klinik. Heft 25, 1890. — v. Schrenck, Praktische Be-
deutung der Narcotica für den Hypnotismus mit besonderer Berücksichtigung des indischen Hanf.
1881. — Derselbe, Beitrag zur Verwerthung des Hypnotismus. 1803. — Wetterstrand,
Traitement de la Morphiomanie par Suggestion. Revue de l'Hypnotisme. 1890, Nr. 5. —
Derselbe, Der Hypnotismus und seine Anwendung. 1891. — Bei der grossen Reichhaltig-
keit der betreffenden Literatur haben wir nur jene Arbeiten aufführen können, welche wir bei
vorliegender Arbeit hauptsächlich benutzt haben , ohne damit die übrigen als minderwerthig
bezeichnen *» v CorvaL
SULFAMINOL. — SYPHILIS.
645
Sulfaminol, Thiooxydiphenylamin, C10 H6 OSN. Ein von E. Merck
in den Handel gebrachtes Antisepticum, welches in gleicher Weise wie das Jodo-
form verwendbar sein soll. Stellt ein hellgelbes, geruch- und geschmackloses
Pulver dar, leicht löslich in Alkalien, schwerer in Alkalicarbonaten. Die Lösungen
desselben in Eisessig oder Alkohol sind hellgelb gefärbt. Bei innerlicher Dar-
reichung tritt das Sulfaminol im Harne als Oxydiphenylamin auf, zugleich wird
die Menge der Schwefelsäure im Harne vermehrt. Rabow (Therap. Monatsh.
1890, pag. 295) fand es als Streupulver bei Wunden, Decubitus sehr rasch
günstig wirkend. Innerlich in Einzeldosen von 0*25 und Tagesdosen von 10
wirkte es bei Cystitis günstig, auch ohne unangenehme Nebenerscheinungen.
Robert fand das Präparat für Menschen und Thiere unschädlich. M. Schmidt
versuchte es zu Insufflationen bei Eehlkopftuberkulose ; bei Eiterungen in der
Kieferhöhle schwand nach Gebrauch derselben der starke Geruch. Loebisch.
Sulfanilsälire, bei Bromverätzung, pag. 49.
SulfOCyanwaSSerStoflFsälire, s. Cyanverbindungen, pag. 157.
Slllfonal. Im Arzneibuch für das deutsche Reich neu aufgenommen.
Grösste Einzelgabe 4*0 Grm., grösste Tagesgabe 8*0 Grm.
SlippOSitoria. Im Arzneibuch für das deutsche Reich neu. Als Grand-
masse soll, falls nichts Anderes vorgeschrieben ist, Cacaobutter benützt werden.
Stuhlzäpfchen sollen in der Regel 2 — 3 Grm., Vaginalkugeln doppelt so schwer sein.
SU8pen8i0n8behandlung9 vergl. Tabes dorsalis, pag. 649.
SympathiCUS-Erkrankung, bei Morbus Ad diso nii, pag. 26.
Syphilis. Was die Pathologie und Aetiologie der Syphilis anlangt, haben
die letzten Jahre keinerlei hervorragende neuere einschlägige Arbeiten gebracht.
Die Entdeckung des Mikroorganismus der Syphilis ist noch immer ausständig.
Das Interesse der Syphilidologen beschäftigt gegenwärtig die Frage etwas leb-
hafter, ob die Producte der tertiären Periode der Syphilis, d. h. wissenschaftlich
gesprochen der gummösen Periode der Lues von einem Individuum auf das andere
übertragbar seien und ob Luetische, welche mit Gummen behaftet sind, luetische
Kinder erzeugen können oder nicht? Bisher hielt die Mehrzahl der Syphilidologen
die gummösen Erscheinungen der Syphilis für nicht infectiös. In dieser Beziehung
wurde schon seit langer Zeit eine Aeusserung Vigo's citirt, welche folgender-
massen lautet : Et nota quod praefatus morbus gallicus, ut in copiosa nostra diximus,
est contagiosus, et ut plurimum accipitur in coitu, tarnen ista contagio non exten-
ditur, nisi in principio morbi, videlicet , dum morbus existit in forma scabiei.
Quando vero est antiquatus, videlicet cum doloribus et tuberositatibus chiroticis
et ulceribus formicosis et corrosivis, tunc morbus non est amplius contagiosus, ut
experientia nobis saepenumero demonstravit (D. C. G. Grüner, Aphrodisiacus,
pag. 128). Ein anderer Autor über die Lustseuche, Joannes Benedictüs,
äussert sich in folgender Weise (Aphrodis. des Luismus, pag. 172, Capitel III)
„Tertium haec passio est contagiosa, transiens de homine in hominem: est enim
species scabiei, quae est contagiosa ut 2. primi, doc. j. cap. VIII de dispositione
aegritudinum et problemate 7. dicitur scabiem causariper modum leprae. Et ideo
refert, quod fumi putridi corrupti (sicut in phthisi et febre pestilentiali) ex scabie
elevantur, et ex eadem mittitur humor grossus adherens superficies, cito evaporans,
ideo maxime inficit ejus contactu, quare sicut videmus per experientiam, non modo
per coitum contrahitur sed et per vestem infecti, si quis eam suo applicuerit cor-
pori. Et hinc erravit ille bonus magister, dicens, hunc morbum solummodo esse
contagiosum in priucipio, sed cum aotiquatur tunc non esse amplius contagiosum,
nec mihi id proposui ratione comprobare, cum experientia notum. sit: dimittere
enim sensum et sequi rationem et debilitas intellectus. Possibile tarnen est
646
SYPHILIS.
aliquod corpus etiam melancholicum inordinati regiminis vivens cum infectia non
infici, aut propter suae compositionis densitatem, aut propter individualem pro-
prietatem aut propter scabiei diversitatem. Reperitur enim monstruoaitas in morbis,
sicut in naturis ex 7. Colliget."
1887 habe ich in einer Reihe von Artikeln diese Frage kritisch durchgespro-
chen. Ich wies aus der Literatur nach, dass diejenigen Fälle, welche gegen die
Infectiosität der Gummen als beweisend angefahrt werden, einer strengen Kritik
nicht Stand halten können und dass dies namentlich von einem oft citirten Fall
Merkel's gelte. Ich kam zu dem Schluss, dass man aus den bisher vorliegenden
Thatsachen nicht in der Lage ist, solche Beweise abzuleiten, welche eine voll-
ständige Ueberzeugung erwecken können, und dass man noch immer nicht in der
La^e sei, mit apodictischer Gewissheit zu beurtheilen, ob das Gumma infectiös ist
oder nicht. Um diese Frage zu einer Entscheidung zu bringen, verlangte ich die
Beantwortung folgender Punkte.
1 . Giebt es unanfechtbare Fälle, welche lehren, dass tertiär syphilitische
Eltern luetische Kinder gezeugt haben?
2. Lässt sich durch Ueberimpfung des Secretes von Gummen auf Gesunde
an diesen gesunden Menschen Lues erzeugen?
3. Kann man an Individuen, welche an gummösen Formen der Syphilis
leiden , gleichzeitig mit dem Bestände der Gummen eine neue zweite Syphilis-
infection, die einen luetischen Primäraffect und ein dem papulösen Stadium der
Syphilis angehöriges Exanthem hervorruft, durch Impfung erzeugen oder klinisch
beobachten ?
4. Können, wenn mit Gummen behaftete Individuen luetische Kinder
erzeugen und an jenen Individuen Eiter von syphilitischen Primäraffecten und
secundären Producten der Lues nicht haftet, diese Thatsachen nicht dadurch
bedingt werden, dass solche mit Gummen behaftete Individuen latent syphilitisch
sind, während die Gummen selbst aber weder infectiös, noch eine Aeusserung des
ursprünglich eingedrungenen Syphilisgiftes sind?
Im Jahre 1889 hat Landouzy einen für diese Frage wichtigen Fall
mitgetheilt. Ein beiläufig 50 Jahre alter Mann, der von Ricobd in seinem 30. Lebens-
jahre an einem syphilitischen Primäraffect behandelt worden war, suchte Landoczy's
Rath wegen eines Gumma am Penis. Dieses Gumma soll sich nach Aussage
des Kranken langsam in Folge der häufigen und stürmischen mit seiner jungen
Frau vollzogenen Cohabitationen entwickelt haben. Die junge Frau wurde —
48 Stunden nachdem -der Mann untersucht worden war — mit folgenden Erscheinungen
behaftet gefunden. In den Leistenbeugen multiple, indolente Lymphknotenschwel-
lungen , welche besonders rechts stark entwickelt waren. Sehr schöne Roseola
syphilitica. Die Frau gab an, am rechten grossen Labium einen Knoten gehabt
zu haben, von demselben Hess sich aber keinerlei Spur nachweisen. Nur an der
rechten Vulvaseite fand sich eine kleine Erosion. Die Eintrittspforte des Syphilis-
giftes konnte an der jungen Frau nicht mit Sicherheit nachgewiesen werden.
Einige Monate später zeigten sich Papeln an der Vulva, um den Anus, im Rachen
und auf der Zunge. Das Gumma am Penis des Gatten schwand unter Empl. de
Vigo und dem innerlichen Gebrauch von Syrup Gibert und Jodkalium, ohne dass
später bei dem • Manne irgend ein Zeichen der Syphilis auftrat.
Hardy, Leloir und Fournier sprachen sich bei der Discussion, welche
sich an diese Mittheilung Landouzy's knüpfte, über die Virulenz der Spätformen
der Syphilis dahin aus, dass sie dieselbe für ziemlich wahrscheinlich halten.
In ähnlicher Weise äussert sich Mauriac. Derselbe sagt nämlich (im II. Bande
seines Werkes über Syphilis, pag. 15), dass er Gummata, die sich in den ersten
Jahren der Syphilis evolution zeigen, für verdächtig in Bezug auf die Infectiosität
halte , er glaube , dass dieselben im gleichen Masse mit Gift imprägnirt seien
wie die oberflächlichen papulösen und erytbematösen Efflorescenzen. An der
SYPHILIS.
647
angezogenen Stelle heisst es: „Croit-on par exemple, qu 'un sujet atteint de
Syphilis maligne, n'offrirait aucun danger comme agent de contagion et comme
gön&ateur, parce que chez lui toutes les däterminations s'effectuent sous le
mode tertiaire ? Qni oserait soutnir un pareil paradoxe." Die ganze Frage dürfte
vielleicht ihre Lösung in der Richtung finden, dass die Contagiosität der Syphilis*
producte nicht von der jeweiligen Form derselben abhängt, sondern von der Zeit,
welche seit der Infection mit Syphilis verflossen ist. Papeln, die sehr lange Zeit
nach der Infection mit Syphilisvirus auftreten, könnten möglicherweise die Ansteckung
nicht vermitteln, während Gummata, die kurze Zeit (wenige Monate) nach der erfolgten
Infection auftreten, auf gesunde Individuen übertragen Syphilis erzeugen können.
Was die T h e r a p i e der Syphilis anlangt, so scheint sich eine rückläufige
Bewegung im doppelten Sinne zu vollziehen. Es macht sich nämlich eine energische
Gegenströmung gegen die zunächst yon Foürnier und dann von Neisser propa-
girte „chronische" Syphilisbehandlung und ausserdem auch eine Bewegung gegen
die Injection unlöslicher Queck Silberpräparate geltend. Wenn es auch immer noch
nicht zu allgemein giltigen Regeln der Syphilisbehandlung und einer vollständigen
Uebereinstimmung der Anschauungen gekommen ist, so machte es doch auf dem
internationalen Congresse in Berlin 1890 den Eindruck, als wenn die von der
Wiener Schule (namentlich H. Zeissl) vertretene Anschauung der symptomatischen
Syphilisbehandlung und der vorsichtigen und mässigen Anwendung der Mercurpräparate
allmälig zum Siege gelangen sollten. Gegen die Injectionstherapie mit unlöslichen
Mercurpräparaten wenden sich besonders Kaposi und Leloib. Wenn der gegen die
Frictionscur erhobene Vorwurf, dass wir keine Ahnung haben, wie viel von dem
in der grauen Salbe enthaltenen Quecksilber thatsächlich nach erfolgter Einreibung
resorbirt wird, auch zutrifft, so trifft derselbe Vorwurf mit gleichem Rechte die
Methode der Einspritzung unlöslicher Quecksilberpräparate. Die genaue Dosirung
derselben lässt sich nicht präcise durchführen und wissen wir eigentlich nur, wie
viel wir an einer Körperstelle von einem unlöslichen Mercurpräparate deponirt
haben, wir wissen aber nicht, in welcher Zeit und noch weniger wie viel von
dem angelegten Quecksilberdepöt in einer bestimmten Zeit resorbirt wird. Da die
Resorption der unlöslichen Quecksilbersalze nicht gleichmässig, sondern schubweise
erfolgt, so kann sich bei ihrer Anwendung so manche unliebsame, sogar das
Leben der Kranken bedrohende Consequenz ergeben. So erinnere ich mich eines
Falles, bei dem bei vorsichtiger Injection einer Calomelemulsion (ich spritzte
jedesmal 0*10 Calomel in der ursprünglichen Formel Scarenzio's ein) nach jeder
Injection Schwindel, Ueblichkeit, Brechreiz, Diarrhoe auftrat und während des
Verlaufes der Behandlung der Kranke wesentlich abmagerte. Der betreffende Mann
hatte im Verlauf von 6 Wochen 4 Injectionen, im Ganzen 0*4 0 Calomel erhalten.
Die Injectionen waren am ersten und siebenten Tag der ersten Woche, am ersten Tag
der vierten und am ersten Tag der sechsten Woche unter antiseptischen Cautelen mit frisch
bereiteter Emulsion in die Glutaeaimusculatur gemacht worden. Da die oben geschil-
derten Symptome nach jeder der 4 Injectionen auftraten, so ist man doch sicher berechtigt,
zu sagen, dass dieselben durch die Injectionen veranlasst wurden. Bei dem Kranken
wurde wegen einer 14 Tage nach Abschluss der Injectionen aufgetretenen Iritis
eine Schmiercur ausgeführt, welche er anstandslos vertrug. Derartige Beobachtungen
werden uns allen unlöslichen Quecksilberpräparaten gegenüber, wenn wir dieselben
zu Injectionen verwenden, zu grosser Vorsicht mahnen. Wenn auch thatsächlich durch
die Emulsion der unlöslichen Präparate in Oel die Application derselben in Bezug
auf die locale Reizung wesentlich günstiger gestaltet wurde, so werden dieselben
wegen der Möglichkeit einer tödtlich endenden Quecksilbervergiftung doch die
anderen Behandlungsmethoden nicht zu ersetzen in der Lage sein , so bequem sie
namentlich für die Privatpraxis wären, weil ihr hoher Procentgehalt an Mercur
eine nur geringe Anzahl von Einspritzungen nöthig macht. Da man von Haus
aus nicht wissen kann, wie empfindlich ein Individuum gegen Quecksilber ist, so
648
SYPHILIS. — SY3TOLL3L ALTEBXAJTS.
musste man. um vor Qn eekgübervergxffcung ganz sicher za sein, so geringe Qnaaä-
täten der unlöslichen Mercurverbmdungen in Anwendung bringen, das* ***h die
Anzahl der zur Tileung der Syphilisersehemungen nothwendigen Injeetionen eben
so gross gestalten würde wie die der unlöslichen Präparate. Die Dosiruiig der
unlöslichen Salze Ist ebensowenig zenan wie die der Sehnuerenr. sie wirken. da
von der Injection bis zum Eintritt der Resorption eine längere Zeit vergeh:,
langsamer als die löslichen Mercurpräparate and als die Einreibungseiir. Hinter
der Einreibnngsenr stehen iie gleich den lösiiehen Salzen dadurch zurück, da.«
sie nicht gleichzeitig auch als örtliches Mittel wirken i wenn aneh die Erscheinungen
ia der Nahe der Einstiehsteile raseher schwinden als an von dieser entfernteren
Stellend Machen sieh in Folge der Emreibungen oder der Injection täglicher
^ueeksilberprSnarate Saiivation. iluinaliiis. Diarrhoe etc. bemerkbar, so genagt ein
Aussetzen der Cur. um diese Erscheinungen der Mercurmtoxieation zum Seh wund zu
bringen. Treten derartige Symptome nach der Injection eines unlöslichen Salzes auf, dann
kftnnen wir der eingetretenen Vergiftung nur dann Herr werden« wenn wir durch
Rzeision des Injectionsherdes diesen entfernen. Ob der Möglichkeit dieser Even-
tualität zesrenüber die geringen Vortheile, welche die unlöslichen Salze darbieten.
ah ihren Grauten entscheidend in die Wagsehale tailen können, möchte ich ent-
schieden verneinen. V*m den 'miösiiehen ' ^necksilberprlpa raten machen nach meinen
Rrfahrnmren die Iniectionen mit zrauem «jei die geringsten Besrtionserscheinnngen.
Aber keines der zahlreichen Präparate, weiche in «ien letzten Jahren in Anwendung
gebracht wurden, wird m Stande sein, iie Emreibunzseur danernd zn verdrängen.
Ks ist nur schwer einzusehen, warum wir wegen theoretischer oder ästhetischer
Erwftiraneen eine Behandlnngsmethode iinzüeh verlassen oder in den Hintergrund
drangen ..insen stylen, weiche nach Aussage reibst der enragxrtesten Anhänger
der In jernonsbehandlun^, ebenso zutes. oder wie Manche sogar zugestehen, besseres
.il* die letzteren leistet. Zur Beurmetiung -Lea Werthes einer Therapie kann nur
der Erfoi? derselben einen Maassstab reben. theoretische Erwägungen mit den
-ehön^ten .oeischen Schlüssen werden diese nicht aus der *Y"eit schaden. Keiner
vm tllen ms her bekannten Behandlungsmethoden der Syphilis kommen die 3 Ton
ifRi'W.T" riir eine rufe < ^uecksüberbehanulung mir Recht begehrten Eigenschaften
-.11 : 1 inirewendete Präparat n> rasen ais möglich in ■ärcuiirendea Queck-
Mlherni weiss Hmzut^h reu . J. üewewebe ad maxunum damit zu wattigen und 3. alle
<V«rane damit -u speisen. Auf üescr rhatsache beruht es eben, das« sich keine
ler bisher »»kannten Behanolungsmethodien *iuer aussciiiiessiichen Anerkennung
iU «jom \>»rflne riieranie zw err reiten iiar. Fftr leichtere Fälle wird man die löblichen
^»Iz* :ur injection benutzen, wenn iranke nur *hr -weiten zum Arzt kommen
A*ünm»n . t*nt> brechender ^ .»rächt üe Jiii«".»»iieheu Präparate, und tur alle
;i»hu-.»r»*n / ille. rasch «ttosöc D»»seu incorpt»rirt werdeu -?oiIen. wird man die
Friftii-n'sesir mt>n . vei«»her ich nach meinen per^niiehen Enahrungen vor allen
md^r^T iVhsndliin^nieTh^len ^tsehieden .n euer Beziehung ien Vorzug gebe.
!Vi iii»er"»*«»Ti inii insniliwen ^vDhiiideu werden mir zntem. ^■•rtheü die Sublimat-
■rlder lanwiteh iur 'iihilrenaiime ic* ^iekTTüjcden 3aiitk» G.uCTNBR and Ehr-
:-f.\N\ hr***\ :n,i»>n +rz'. ?air. ;."*> . - Z*:**:.
Systoiia altemans, ^-^ni^.-i. ?ag.
%
T.
TabeS dOrsaÜS (vergl. Real-Encyclopädie, II. Aufl., XIX, pag. 421 bis
pag. 473). Zur Therapie der Tabes sind in den beiden letzten Jahren eine grosse
Reihe von Beitragen erschienen, welche sich wesentlich auf die (1. o. pag. 460 nur
kurz erwähnte) Suspensionsbehandlung nach Motschutkowski-Charcot
beziehen. Es seien nur die Mittheilungen von Chahcot selbst l), Watteville 2),
Eulenburg und Mendel 8), Bernhardt *), Short 6), Lewis Hickey 6), Charton
Althaus 8), Michell Clarke 9), Simpson 10), Abadie n), Raoult 12), Hammond l8),
Dana14), Ranzi16), Ladame16), Haushalter und Adam17), Wartzfelder 18),
Booth 19) , Balaban 20) , Rosenbaum 31) , Lumbroso m) namhaft gemacht. Hin-
sichtlich der erzielten Erfolge gehen die Meinungen zwar ziemlich auseinander,
doch scheint ein wirklicher Heilerfolg nirgends beobachtet worden zu sein ; überall
handelt es sich nur um palliative, besonders symptomatische Besserungen. In der
EüLENBURG-MENDEL'schen Poliklinik wurden vom Februar 1889 bis Februar 1890
im Ganzen 85 Kranke mit 2207 Suspensionen behandelt. Längere Zeit fortge-
setzt wurde die Behandlung bei 61 Tabesfällen mit 2075 Suspensionen, darunter
waren 25 Besserungen, wovon 5 mit ganz besonders evidentem und nachhaltigem
Ergebniss; ausserdem noch 9 Fälle mit etwas zweifelhafterem, aber immerhin
günstigem Verhalten. Bei allen überhaupt vortheilhaft beeinflus9ten Patienten trat
namentlich die Einwirkung auf das Allgemeinbefinden hervor, besonders Besserung
des Schlafes ; in einzelnen Fällen wurde ein fast schlafähnlicher Zustand beobachtet.
Diese Besserung des Schlafes ist nicht allein vom Nachlass der Schmerzen ab-
hängig, doch wurden auch diese in der Regel gelinder und seltener. Zu den am
häufigsten gebesserten Krankheitserscheinungen gehören Romberg' sches Symptom
und Ataxie, auch die Blasensymptome, bei denen jedoch die Besserung, nament-
lich wenn es sich um Incontinenz handelt, meist nur temporär ist. Erhebliche
Besserung der Blasenstörungen wurde in 15 Fällen, der Mastdarmreflexe fast
ebenso oft, der Potenz nur in 4 Fällen beobachtet. Magenkrisen und Erbrechen
wurden in mehreren Fällen, zweimal sogar in sehr ausgesprochener Weise beeinflusst.
Besserung des Gefühls wurde mehrmals, auch der verlangsamten Schmerzleitung
einmal constatirt. Uebrigens verhielten sich die Parästhesien meist sehr hart-
näckig. Zweifelhaft war das Verhalten der Augensymptome (Augenmuskellähmungen,
Amblyopie in Folge von Opticusatrophie) ; unzweideutige Erfolge wurden hier
nicht beobachtet (französische Autoren, wie Abadie11), Desnos, Ratmond und
Moutard-Matin wollen dagegen solche ebenfalls constatirt haben). — Unangenehme
Folgen der Behandlung kamen nicht zur Wahrnehmnng, nur einmal entwickelte
650
TABES DORSALIS.
sich im Laufe der Behandlung bei einem schon an typischer Atrophie des Daumen-
baliens, der Interossei u. s. w. leidenden Manne eine auffallend starke Lähmung
des rechten Armes (jedoch nicht mit dem Charakter der Compressionsiähmung).
Im Grossen und Ganzen waren die erzielten Erfolge solcher Art, wie sie auch
durch anderweitige Verfahren, geeignete Medicamente, Bäder, Elektricität u. s. w.
nicht selten erreicht werden; doch befanden sich unter den Gebesserten auch
Patienten, welche bereits vorher andere Behandlungsmethoden ohne Nutzen
durchgebraucht hatten, während umgekehrt Einzelne mit Vorliebe zu der früheren,
namentlich elektrischen Behandlung zurückkehrten.
Was das Zustandekommen der Wirkung betrifft, so kann es als ausgeschlossen
gelten, diese (mit Haushalter und Adam17) auf Suggestion zurückführen zu
wollen. Dagegen spielt die bei dem Verfahren geübte Dehnung des Körpers
und speciell der Wirbelsäule wahrscheinlich eine wichtige Rolle. Thierversuche
über den Mechanismus der Suspensionswirkung sind neuerdings von G. Lumbroso S3)
(an Kaninchen) angestellt worden ; sie sollen, nach Lumbroso's Meinung, den Be-
weis erbringen, dass, wie schon Motschutkowski und Bonuzzi angenommen
hatten, in der Tbat eine Verlängerung der Wirbelsäule, des Rückenmarks und
der Wurzeln bei der Suspension stattfindet (bei Kaninchen um 2 — 5 Mm. , dem
Körpergewicht der Thiere entsprechend). Lumbroso steigerte bei einem Theile
der Versuchsthiere die Wirkung der Suspension durch stärkere Belastung (ange-
hängte Gewichte) und gelangte dabei zu beachtenswerthen klinischen und pathologisch-
anatomischen Ergebnissen. Die ohne Gewichtszusatz suspendirten Thiere zeigten
nur leichte Puls- und Respirationszunahme und eine vorübergehende Torpidität,
gewöhnten sich aber bald an die Suspension; das Rückenmark und seine Häute,
sowie andere Theile des Nervensystems Hessen nach Tödtung dieser Thiere keine
Veränderung erkennen. Bei den mit Gewichtszusatz (bis zu 2 Kilo) suspendirten
Kanineben traten dagegen schwere Erscheinungen von Zuckungen in den oberen,
Parese in den unteren Gliedmassen ein und nach 8 — 12 Minuten fortgesetzter
Suspension Tod unter paralytischen Symptomen; die Section ergab in diesen
Fällen ausser starker Geftlssinjection des Rückenmarks und seiner Häute auch
capilläre Blutergüsse in der Nähe des Centralcanals und in einem Falle einen
kleinen Bluterguss im verlängerten Marke. Die beobachteten Symptome will
Lumbroso grösstenteils auf die stattfindende Dehnung der Nervenwurzeln
zurückführen.
Uebrigens sind im Anschlüsse an die Ergebnisse der Suspensionsbehand-
lung auch einzelne Mittheilungen erschienen, welche sich auf eine mechanisch-
orthopädische Behandlung der Tabes und anderer Rückenmarks-
krankheiten beziehen. Schon Motschutkowski hatte vom SAYRE'schen Gyps-
jacket Anwendung gemacht, dann de Garmo23) eine mechanische Behandlung
der Spinalirritation mit Stützapparat empfohlen, wodurch besonders der
Wirbelschmerz sehr vermindert werden sollte. Jübgensbn **) empfahl bei Tabes
die Anwendung von Apparaten nach dem System Hessing (genau nach den
Körperformen gearbeitete, Tag und Nacht getragene Stoffcorsetts), deren Wirkung
ebenfalls auf die hierbei anhaltend geübte Dehnung der Wirbelsäule zurückzu-
führen ist. Es sollen sich bei dieser Behandlung zunächst die Blasen- und Dann-
störungen bessern, dann die ausstrahlenden Schmerzen, Parästhesien u. s. w. ; am
langsamsten, erst in Zeit von vielen Monaten soll sich das Gehvermögen wieder ein-
stellen. Zu einer merklichen Besserung gehört in vorgeschrittenen Fällen etwa
ein Jahr, in leichteren Fällen weniger; diese Zeit muss aber in der Hessing-
schen Anstalt (in Göggingen) zugebracht werden! — Neuerdings empfahl auch
Max Weiss26) in Wien eine mechanische Behandlungsmethode, die ebenfalls in
Extension und Distraction der Wirbelsäule bei horizontaler Rückenlage mit Hilfe eine9
entsprechend construirten Extensionsapparates (Streckbett) bestehen solle. Die mit-
getheilten Erfahrungen beziehen sich auf 2 Fälle von Spondylitis lumbodorsalis, 1 von
TABES DORSALIS.
651
absteigender Degeneration bei cerebraler Herderkrankung, 8 von Tabes dor-
salis, 1 von Paralysis agitans, 1 von spastischer Spinalparalyse, 6 von „spinaler u
und 5 von „sexueller" Neurasthenie. Besserungen wurden in sämmtlichen Fällen
(namentlich jedoch bei den Neurasthenikern) beobachtet.
Ueber die Resultate der in Aachen geübten antisyphilitischen
Behandlung der Tabes hat G.Mayer96) eine interessante Zusammenstellung
veröffentlicht, auf Grund von 71 Tabesfällen mit voraufgegangener Syphilis. Von
diesen 71 Fällen ergaben 35 ein gunstiges Resultat; in 19 Fällen wurde eine
hochgradige Besserung, in 4 Fällen nahezu Heilung erzielt. Wenn auch bei
früherem Auftreten der Tabes nach der Infection die Prognose etwas günstiger
erscheint, so ist doch selbst bei sehr spätem Auftreten der Tabes am Erfolg einer
antisyphilitischen Behandlung nicht zu verzweifeln. Sehr wesentlich richtet sich
der Erfolg nach der Energie und Consequenz der angewandten Antiluese. Zu
einer glücklichen Behandlung der Tabes sind wiederholte Curen erforderlich (in
einzelnen Fällen bis zu 6 Malen). Das gleichzeitige Vorhandensein anderer syphi-
litischer Symptome ist, wie Mayer in Uebereinstimmung mit Reumont annimmt,
als ein prognostisch günstiger Befund anzusehen. Was die Beziehungen zu ein-
zelnen Tabessymptomen betrifft, so wird der Procentsatz der Besserungen durch
Augenstörungen nicht verändert (relativ beste Erfolge bei Complication mit
Myosis) ; Complication mit allgemeiner Paralyse macht die Prognose natürlich sehr
ungünstig, während dies bei anderweitigen Erscheinungen cerebraler Syphilis weit
weniger der Fall ist. Die Zahl der Einreibungen muss mindestens 40 — 50 sein,
öfters selbst das Doppelte; im Anfange der Cur wird nicht selten eine Ver-
schlimmerung beobachtet. Gewöhnlich dient zu den Einreibungen graue Salbe,
zuweilen auch Quecksilberseife. Daneben werden einfache Schwefelbäder (von
27 — 26° R., 20 Minuten) gegeben; auch Trinkcuren mit Thermalwasser (bis zu
8/4 Liter täglich) kommen in Anwendung. Als Unterstützungsmittel dienen Elek-
tricität, Jodkalium, Arg. nitricum, auch Strychnin subcutan bei Blasenschwäche.
Nachcuren in Oeynhausen und Nauheim.
Rosenbaum a7) hat neuerdings die von Eülknbürg 28) angeregte Behand-
lung der Tabes mit subcutanea Injection von Silbersalzen wieder auf-
genommen. Er bediente sich der von Jacoby und Eülenbubg empfohlenen Lösung
von uuterschwefligsaurem Silberoxydnatron (Rp. Argenti chlorati recens praeeipi-
tati et bene loti 0*05, Natrii subsulfurosi 0*3, Aq. dest. ICH) ; Misce et filtra sub-
tilissime; d. in vitro nigro). Im Ganzen wurden 144 Injectionen in 11, meist sehr
vorgeschrittenen Tabesfällen gemacht. In einem dieser Fälle war die Besserung
ausserordentlich überraschend, Ataxie und ROMBERG'sches Symptom verschwanden
fast gänzlich, Blasen- und Mastdarmfunctionen besserten sich, die Schmerzen
Hessen nach ; der erzielte Erfolg war ein nachhaltiger. Auch in einem zweiten
Falle war das Resultat ebenso günstig. Die meisten Patienten klagten jedoch
über heftigen, 12 — 24 Stunden nach der Injection anhaltenden Schmerz; einzelne
entzogen sich der (poliklinischen) Behandlung. Das Verfahren dürfte daher nicht
bei empfindlichen Personen, namentlich Frauen, und bei bestehender Hyperästhesie
anzuwenden sein; dagegen ist es bei ausgesprochener Analgesie zu empfehlen.
Ueber Suggesti v-T herapie bei Tabes vergl. pag. 637.
Literatur: *) Cbarcot, Progr. med. 1889 (Vorträge vom 15. Januar und
8. März), pag. 50, 135. — *) Watte ville, On the treatment by Suspension of locomotor
ataxy and some other spinal affections. London 1889. — *) Ealenbnrg nnd Mendel,
Neurolog. Centralbl. 188y, Nr. 11. — *) Bernhardt, Ibid., pag. 343. — 6) Short, British
med. Journ. 1889, pag. 692. — 6) Hickey, Ibid., pag. 765. — 7) Charton, Ibid., pag.818. —
*) Althaas, Ibid., pag. 872. — 9) Michell Clarke, Practitioner. 1889, pag. 339. —
1C) Simpson, Canad. Practitioner. 1889, pag. 213. — u) Abadie, Progr. med. 22. Juni
1889. — ia) Raoul t, Ibid., pag. 469 nnd Arch. de Neurolog. 1889, Nr. 52. — 1S) Hammond,
New- York med. Joum. 12- Mai 1889. — 14) Dana, New- York med. Record. 15. April 1889. —
15) Ranzi, Rivista clin. terap. März 1889. — 1Ä) Ladame, Revue med. de la Suisse
652
TABES BOBSALIS. — THYMOL-QU ECKSILBER.
Bomande. 1889. — 1T) Haushalter und Adam, Progr. med. 1889, Nr. 44, 47, 48. —
18) Wartzfelder, New-York med. Becord. 1889, pag. 629. — lp) Booth, Internat Journ.
of Surgery. 1889. pag. 106. — ,ü) Balaban, These de Paris. 1889. — ") Bosenbaum,
Deutsche med. Wochenschr. 1890, Nr. 37. — ") 6. Lumbroso, Rivista Clin. , archivio ital.
di clinica medica. 1890. — ") de Garmo, Med. Bec. 24. Dec. 1887. — u) Jürgensen,
Deutsche med. Wochenschr. 1889, Nr. 40. — ") M. Weiss, Allgem. Wiener med. Zeitung.
1889. — ,ö) G. Mayer, Tabes dorsalis und ihre Behandlung an den Thermen zu Aachen,
aus dem Sammelwerk „Aachen als Curort". Aachen 1889. — ,T) Rosenbaum, Therap.
Monatsh. Mai 1889. — >s) Verhandl. des Congresses für innere Med. 1882.
Eulenburg.
T&Chy Cardio im Clymacterium, pag« 146; paroxysmale, s. Herz-
krankheiten, pag. 334.
TafelCOCCen (Tetragenus), s. Mikroben, pag. 472.
TapOtement, s. Massage, pag. 462.
Temulentinsäure, s. Lolch, pag. 439.
Terpentin (Inhalation), s. Lungenkrankheiten, pag. 452.
Tetanus, nach Ovariotomien, pag. 544 ; mit Scharlach, pag. 603.
Tetramethylendiamin, s. Harn, pag. 292.
ThalNnUm SUlfuriCUm (ra-gl. Real-Encyciopädie, II. Aufl., Bd. XIX,
pag. 579). Im Arzneibuch für das Deutsche Reich, 3. A., neu aufgenommen.
Maximaldose 0*5, pro die 1*5.
Thuja (vergl. Real-Encyclopädie, II. Aufl., Bd. XVII, pag. 169). Die immer-
grünen Zweige von Thuja occidentalis, welche in ähnlicher Weise wie die ver-
wandte Sabina in einzelnen Gegenden als abortives Mittel gemissbraucht werden,
verdanken ihre Wirksamkeit dem darin enthaltenen ätherischen Oele, das aus
einem Kohlenwasserstoffe (Thujo terpen) und zwei sauerstoffhaltigen Oelen
(rechtsdrehendes und linksdrehendes Thujol) besteht. Das Thujol wirkt örtlich
stark entzünduogserregeud und ist darin nicht nur dem Thujoterpen, sondern auch
dem Sadebaumöle überlegen, erzeugt ausserdem wie Campher bei Warmblütern
heftige Aufregungserscheinungen und von den Krampfcentren im Gehirne und im
verlängerten Marke ausgebende Krämpfe , sowie starke Steigerung des Blutdruckes
durch Wirkung auf das vasomotorische Centrum. Thujoterpen wirkt wie Sade-
baumöl wenig erregend auf die Krampfcentren und setzt dieselben in grossen
Dosen herab ; auf die Herzaction wirkt es beschleunigend. *) Bei der Vergiftung
beim Menschen durch Thujathee sind Vomituritionen, Betäubung und Anästhesie bei
Lebzeiten und starke Hyperämie der Unterleibsorgane, sowie hochgradige, zum
Theil hämorrhagische Entzündung des Magens und der Eingeweide, sowie Hyperämie
und Exsudation im Hirn und Hirnhäuten constatirt. 2) Auch bei Thieren findet
man bei interner Vergiftung die Befunde der Gastroenteritis und Peritonitis. Die
früher officineile Trondes Thujae oder besser das Thujol erscheinen ihrer Wirkung
nach sehr zu Versuchen behufs der Einleitung substitutiver Entzündungen an
entfernten Körperstelltn nach Art des cantharidinsauren Natriums geeignet,
wodurch sich auch die Lobpreisungen der homöopathischen Aerzte über die
Wirksamkeit einer Thujatinctur gegen Neubildungen erklären.
Literatur: x) Hofmeister, Ueber die Wirkung der Herba Thuja oceidentalis
und der Herbat Juniperi Sabinae. Göttingen 1889. — *) Vergl. Hasemann, Sappl, zum
Handbuch der Toxikologie, pag. 143. rr
b , r b Husemann.
Thure Brandt'sche Methode, s. Mechanothe rapie, pag. 463.
Thymol-QueCks'llber, s. Quecksilber, pag. 581.
THYMUSDRÜSE. — TRAUMATISCHE NEUROSE.
ThymUSdrÜSe, Schwellung beim Ertrinkungstode, pag. 251.
TinCtUrd. ColChiCi. Im Arzneibuch für das Deutsche Reich pro die
veränderte Maximaldosis (5'0 gegen früher 6'0).
TinCtlira ColOCynthidiS. Im Arzneibuch für das Deutsche Reich pro
die veränderte Maximaldosis (5*0 gegen früher 3*0).
TinCtlira Digitalis. Nach dem Arzneibuch für das Deutsche Reich
(wie in Ph. Germ. I., nicht II.) aus frischen Digitalisblättern zu bereiten.
Tinctura Strophantin s. strophantus, pag. 617.
Topoalgie. Von Paul Blocq herrührende Bezeichnung für ein wesent-
lich der Neurasthenie zugehöriges Krankheitssymptom , welches öfters auch
als einziges Krankheitssymptom (monosymptomatische, locale, dissociirte Neur-
asthenie) vorkommen kann. Man versteht unter Topoalgie (t6~o; Ort und aXyo;
Schmerz) einen Schmerz, der auf eine beliebige Körperstelle localisirt ist, die
aber keinem anatomisch oder physiologisch abgegrenzten Territorium entspricht.
Meist sind neurasthenische Stigmata daneben vorhanden. Die Ursachen sind im
Allgemeinen die der Neurasthenie, doch kommen auch örtliche, traumatische und
sonstige Einflüsse dabei in Betracht. Der Verlauf ist sehr langsam, die Dauer oft
auf Monate und Jahre hinaus , der Ausgang häu6g in Heilung. Nach BLOCQ
handelt es sich bei der Topoalgie um ein fix gewordenes Bild in der sensiblen
oder Sinnessphäre , analog den fixen Ideen in der Sphäre der Intelligenz, aber
verschieden von den durch Autosuggestion erzeugten Algien der Hysterischen und
den Zwangsempfindungen der Hypochonder. Die Behandlung ist daher auch eine
vorwiegend psychische ; zur „Mobilisirungu der fixen Schmerzempfindung leistet ein
starker örtlicher Reiz (faradische Pinselung) oft gute Dienste.
Literatur: Blocq, Sur un Syndrome caractirisi par de la topoalgie. Gaz.
hebdomad. de m6d. et de Chirurgie. Mai 1891. £.
Toxalbumine, Toxine, s. Mikroben, pag. 478.
Trachom, s. Conjunctivitis, pag. 152.
TraCtiOllSaneurySmen, e. Endarteriitis etc., pag. 244.
Traubenzucker im Harn, pag. 290.
Traumatische Neurose, Unfallsneurose (s. Railway-spine,
Real-Encyclopädie , II. Aufl., Bd. XVI, pag. 384). Aus der stark angewachsenen
casuistischen Literatur sind die Mittheilungen über zwei sehr genaue S e c t i o n s-
befunde bei traumatischer Neurose hervorzuheben, beide umso wichtiger, als
sie in einzelnen wesentlichen Punkten durchaus übereinstimmen. Der erste
Fall wurde in der EuLENBURG-MENDEL'schen Poliklinik in Berlin beobachtet und
von Sperling und Kronthal1) mitgetheilt; der zweite ebenfalls in Berlin von
Bernhardt und Kronthal. a) Der erste (bei einem 42jährigen Bremser, Tod
im 5. Jahre nach der Verletzung) ergab als wesentlichen pathologisch-anatomischen
Befund eine hochgradige Sclerose mit stellen wei ser hyaliner und
fettiger Degeneration des gesammten Arteriensystems, mit
besonders starker Betheiligung der Hirn- und Rückenmarks-
g e f ä s s e ; eigenthümliche Entartung des Sympathicusstammes, imRückenmark
fleckweise Degeneration leichteren Grades in allen Gebieten
der weissenSubstanz, Entartung der Ganglienzellen in einer kurzen, abnorm
TRAUMATISCHE SEÜBÜ&EL
eonfigurirten Partie des unteren Dorsalmarks, kleine HamurAagie in mnzlerei
Dorsalmark. Diese letzteren Degenerationen sind als Folgen 4er starkes Gefäß-
erkrankung und damit verbundenen ErnaJirungntfrvag im ITlrkfSTV anzu-
sprechen. Ein Zusammenhang der Getaaserkrankung mix den TafaH k 11»
vabneheinlieher. all der Patient in einem Alter stand, in dem eine *o bedenkende
Veränderung der Ge&ase nicht gewöhnlieh ist, aneh weder Potator. n*eh iuerisei
gewesen war : fraglieh bleibt allerdings immer, ob der Unfall die Geflaweikiaaknng
geradezu benorgerufen oder nur gesteigert habe, eine Frage, deren Entteaadmmg
aueh foreasiseh von Wichtigkeit wäre. — Im zweiten Falle (3<$iariger PoftiQoa,
Tod 3 Jahre nach der Verletzung durch Erhangen) zeigte das erhärtete und ge-
färbte Racken mark makroskopisch wiederum ein fleckiges Aussehen, indem in
der weissen Substanz hellere und dunklere Partien zu unterscheiden waren,
wahrend die graue Substanz nichts Bemerkenswerthes darbot. Die Flecke waren
fast überall vorhanden, planlos, keinem System sieh anschliessend, ohne bestimmte
Formen. Mikroskopisch Vermehrung der Glia, die Markscheiden zum Thefl ge-
färbt, in einigen Fasern keine Axeneylinder mehr aufzunnden, die Veränderungen
nirgends sehr hochgradig. Graue Substanz fiberall normal, die Zellen tadellos
erhalten; die Wandungen der Gefässe verdickt, zum Thefl starker als
das Gefasslumen (der Sympathieiis wurde nicht untersucht). Gemeinsam bleibt
beiden Seetionsbefundeu för das Rflckenmark demnach: Arterioselerose
und fleckweise Degeneration leichten Grades in al len Gebieten
der weissen Substanz, während im Falle 1, mit Oberhaupt hochgradigeren
Veränderungen, noch die eireumscripte Entartung der grauen Substanz und die
Blutung hinzukam.
Unter den zahlreich mitgetheilten klinischen Beobachtungen mehren sich
neuerdings insbesondere solche ifelle, die nicht das pathognomonisehe Bild der
schweren Formen der Unfallsneurose, den hypochondrischen Habitus u. s. w.
darbieten, sondern nur bestimmte locale oder allgemeine oder lediglieh
subjective Erscheinungen und Klagen ; Fälle , bei denen aueh die Schwierigkeit
der Abscheidung von Simulation und die Notwendigkeit einer strengen Kritik
sich ganz besonders geltend zu machen pflegt. Eisenlohr *), welcher betont,
„dass bei solchen Individuen die traumatische Neurose selbst durch den Kranken-
hausaufenthalt eigentlich gezüchtet wird", will die traumatischen Neurosen
scheiden in Erkrankungen des Centrainervensystems mit sicher organischer
Grundlage, solche mit wesentlich psychischen Symptomen, an der Grenze
der Psychose stehende neurasthenische Zustände, endlich Fälle mit localen
oder allgemeinen hysteriformen Erscheinungen und Defecten. Fälle der letzteren
Art, welche mehr dem Bilde der local traumatischen Neurose (Strümpell)
oder traumatischen H y s t e r i e (Chabcot) entsprechen, sind auch von BfiRX-
hakdt4;, Bruns6;, Eulenburg6) u. A. mitgetheilt worden. Eine zum Theil mit
grosser Schärfe gehaltene Discussion über die Frage der Simulation ist in
letzter Zeit zwischen Schultz e 7), H. Oppenheim 8), Seeligmüller »), Mendel ")
geführt worden , auf deren Einzelheiten hier jedoch nicht eingegangen werden
kann. Neuerdings hat Seeligmüller wegen der nach seiner Meinung sehr häufigen
Simulation auf diesem Gebiete die Errichtung von besonderen Provinzial-
UnfallskrankenhäuBern vorgeschlagen, in welche auf Verlangen der Berufs-
genossenschaft jeder Unfallverletzte, wenn er nicht auf Entschädigung von vorn-
herein verzichtet, gebracht werden muss. Hier ist der jeweilige Zustand und Grad
der Erwerbrfäbigkeit ärztlich festzustellen; auch wird bei der Entlassung dem
Verletzten aufgegeben, sich von Zeit zu Zeit wieder zur Untersuchung und Beob-
achtung einzufinden. Den Aerzten des Krankenhauses soll eine Commission von
Berufsgenosien behufs technischer Berathung zur Seite stehen. Angeblich Ver-
letzte, welche der Simulation mit Sicherheit überführt werden, sind zu bestrafen;
Verletzte, die irrthttmiieh für Simulanten gehalten worden sind, haben dagegen
TRAUMATISCHE NEUROSE. — TRIPPER.
655
Ansprach auf entsprechende Genngthunng und Entschädigung. — Moebiüs n) hat
gegen diese Vorschläge eingewandt, dass, von ökonomischen Bedenken abgesehen,
die geforderten Krankenhäuser nur „Einrichtungen zur Verschlimmerung uud
Ausbreitung der Hysterie" sein würden; die Leichtkranken würden dort zu
Schwerkranken werden. Moebiüs betont dagegen, um der Simulation vorzubeugen,
die Nothwendigkeit, dass „die Aerzte sich eine gründliche Kenntniss der Hysterie
erwerben", dann werde die Nothwendigkeit, mehrfache Outachten einzuholen,
seltener werden; die klaren Fälle würden leichter erledigt werden, die wenigen
zweifelhaften rasch in die richtigen Hände gelangen. Referent seinerseits kann
nicht in Abrede stellen, dass es für manche Fälle doch recht erwünscht wäre,
wenn Institute nach Art der von Seeligmüller beantragten zur Verfügung
ständen. Die immer so sehr gefürchtete hysterische „Ansteckung" dürfte durch
eine zweckmässige Isolirung und lieber wach UDg wohl grösstenteils zu vermeiden
sein. Die jetzige meist ambulatorische Beobachtung und Begutachtung derartiger
Fälle ist nicht blos oft mit fast unüberwindlichen Schwierigkeiten verknüpft,
sondern kann auch, wie Vorkommnisse der letzten Jahre beweisen, bei den sich
vielfach widersprechenden ärztlichen Aeusserungen für die Kranken
und unter Umständen auch für den Arzt recht bedenkliche Folgen
herbeiführen!
Literatur: ') Sperling und Kronthal (aus der Poliklinik von Eulenburg und
Mendel), Neurolog. Centralbl. 1889, Nr. 11 und 12. — *) Bernhardt, Deutsche med. Wochen-
schrift. 1888, Nr. 13. Derselbe und Kronthal, Neurolog. Centralbl. 1890, Nr. 4. —
*) Eisenlohr, Berliner klin. Wochenschr. 1889, Nr. 52. — 4) Bernhardt, Ibid. Nr. 18. —
•) L. Bruns, Neurolog. Centralbl. 1889, Nr. 5 und 6. — 6) Eulenburg, Ibid. Nr. 7,
pag. 208. — 7) Schnitze, Ibid. Nr. 13, pag. 402. — 8) Oppenheim, Ibid. Nr. 16, pag.471;
Nr. 21, pag. 612; „Weitere Mittheilungen in Bezug auf die traumatischen Neurosen, mit be-
sonderer Berücksichtigung der Simulationsfrage. u Berlin 1891. — e) Mendel, Yerhandl. des
intern at. ärztl. Congresses. Berlin 1890. — 10) Seeligmüller, Ibid.; Deutsche med. Wochen-
schrift. 1890, Nr. 30. — ") Moebiüs, Münchener klin. Wochenschr. 1890, Nr. 50. — Vergl.
auch den Artikel Suggesti v-Therapie, pag. 633. - ,
üiUienDurg.
Trichterdrainage, s. Drainage, pag. 218.
Tripper. 1879 publicirte Neissee x) seine Arbeit über eine der Gonorrhoe
eigentümliche Mikrococcenform. Der wesentliche Inhalt dieser Arbeit war der Folgende:
„Lässt man nach KoCH'scher Methode Gonorrhoeeiter in möglichst dünner Schicht
auf dem Objectträger ausgebreitet eintrocknen , färbt das Präparat durch Ueber-
giessen mit einer wässerigen Methylviolettlösung, trocknet wieder ein, besichtigt
dann das Präparat mit starker Yergrösserung und möglichst wenig abgeblendetem
Licht, so fallen nach Neisser auf den ersten Blick, ausser den dunkel violett-
blauen, in den wechselndsten Formen erscheinenden Kernen der Eiterkörperchen,
deren Protoplasma nur ganz matt gefärbt eben sichtbar ist, eine Anzahl mehr
oder weniger Mikrococcenhaufen auf. Die einzelnen Individuen sind kreisrund und
auffallend gross, haben ein starkes Tinctions vermögen für Methyl violett und Dalia.
In starken Eosinlösungen sind sie gleichfalls färbbar, doch fallen sie unter den
vielen Körnungen der Eiterkörperchen selbst nicht so auf, als dies bei Methyl-
violettfärbung der Fall ist. In Methylgrün und Indnlin bleiben sie ungefärbt. Mit
minder vollkommenen Objectiven betrachtet, zeigen sie sich von einem Lichtsaum
rings umgeben, der wahrscheinlich einer Schleimhülle entspricht. Als solche Einzel*
individuen kommen sie jedoch selten vor ; fast immer sieht man zwei Mikrococcen
dicht aneinander gelagert , so dicht , dass sie dem Beschauer den Eindruck eines
Organismus hervorrufen, der einer 8 ähnlich, semmel- und bisquitförmig ist. Die
scheinbare Verschiedenheit und Mannigfaltigkeit in der Anordnung dieser Doppel-
gebilde ergiebt sich am besten aus dem mit Leichtigkeit zu construirenden Ent-
wicklungsgänge der Mikrococcusform. a) Der isolirte Mikrococcus ist rund ; b) wächst
sehr bald aus zu einem länglich ovalen , ganz kurzen Körperchen ; c) sehr rasch
656
TRIPPER.
beginnt eine Abschnürung in der Mitte und somit die Entstehung zweier neuer
Mikrococcen. Es läset sich bisher noch nicht entscheiden, ob die so überwiegende
Mehrzahl von gerade in diesem Stadium der Semmelform zur Beobachtung gelangen-
den Mikrococcen auf einer auffällig langen Cohärenz der beiden Einzelmikrococcen
aneinander beruht, oder ob die Vermehrung durch Zweitheilung so rapid von statten
geht, dass das Einzelindividuum in seiner isolirten Form selten zu Gesieht kommt;
d) endlich trennen sich die Einzelmikrococcen und bleiben in einem kleinen Zwischen-
raum, der etwa der Grösse eines Mikrococcus entspricht, von einander liegen;
e) sehr bald wächst jeder einzelne Mikrococcus wieder aus, diesmal aber in einer
auf der ersten Theilungsebene senkrechten Richtung. Auf diese Weise, indem sich
jedes Körperchen wieder in zwei Mikrococcen theilt , entstehen sehr häufig kleine
Gruppen zu Vieren. Meistens bilden diese Mikrococcen Colonien von 10, 20 und
mehr Individuen, die von einer Schleimhülle umschlossen sind, welche besonders
bei weniger greller Beleuchtung des Gesichtsfeldes, also bei Einschiebnng von
Blenden, deutlich erkennbar wird. In diesen Colonien liegen die Mikrococcen
niemals hart aneinander, sondern stets durch grössere Zwischenräume von ein-
ander getrennt.
Neisseb meinte ursprünglich, dass die Coccen auf der Oberfläche der
Zellen sitzen, und diesen blos äusserlich anhaften. Haab und Leistikow fanden
es jedoch für wahrscheinlicher, dass sie sich in den Kernen, respeetive den Eiter-
zellen befänden. Leistikow2) schildert dieses Verhalten in folgender Weise:
„Untersucht man ein mikroskopisches Präparat von Trippereiter, so springen zunächst
zahlreiche Eiterkörperchen in's Auge, deren Kerne dunkel gefärbt sind, während
das Protoplasma eine ganz sehwache Färbung angenommen hat, aber doch stets scharf
gegen die Umgebung abgegrenzt ist. Zwischen diesen sozusagen normalen Eiter-
körperchen findet man bald mehr, bald weniger zahlreiche Zellen, deren Proto-
plasma durchsetzt ist mit kleinen runden, zuweilen ovalen, dann bisquit semmel-
oder 8 förmig gestalteten Körnchen, die, besonders mit Methylenblau oder Fuchsin
gefärbt , scharf hervortreten. Sie überschreiten die Grenze des Protoplasma nicht,
zuweilen verdecken sie die Zellenkerne, scheinen aber nicht in dieselben einzu-
wandern, oder sie in ihrer Ernährung besonders zu schädigen. Die Eiterzelle ist
bisweilen so stark von diesen Körperchen angefüllt, dass sie kreisrund, wie gequollen
aussieht, und etwas grösser ist, als die daneben liegenden normalen Zellen. Andere
Eiterkörperchen enthalten nur kleine Haufen von Bacterien, die man noch zählen
kann, zuweilen nur zwei Körner, oder ein Korn. Die Zahl der Mikrococcen, die
die Zellen zum Bersten anfüllen, kann nur geschätzt werden, es mögen 2 — 300
sein. Sind die Eiterkörperchen so stark mit Bacterien gefüllt, dass das Protoplasma
der dasselbe ausdehnenden Gewalt nicht mehr Widerstand leisten kann, so fallen
die Zellen auseinander. Die Gruppirung der Bacterien wird nun eine andere. Zwei
bis drei Zellkerne, deren Zusammengehörigkeit aus einer Zelle her noch deutlieh
erkennbar ist, sind umgeben von Mikrococcen , die jedoch nicht mehr durch eine
scharfe Grenze sich von der Umgebung abheben, sondern in der Peripherie aus-
einanderfallen und hier nicht mehr so eng zusammenliegen, wie im Centrum der
Gruppe. Allmälig lockert sich der Haufen mehr und mehr, der Raum, den derselbe
einnimmt, wird grösser, oft 4 — 5mal so gross wie der, den die Zelle einnahm,
dem entsprechend die Entfernung der einzelnen Mikrococcen von einander eine
grössere. u E. Bümm s) hat in überzeugender Weise nachgewiesen, dass die Cocoen
tbat8ächlich im Protoplasmakörper der Eiterzellen eingebettet sind. In den Kernen
der weissen Blutzellen selbst liegen sie aber niemals. Was das Verhältniss zwischen
der Menge der in der Absonderung vorhandenen Menge Gonococcen und der Intensität
der Entzündungserscheinungen an der erkrankten Schleimhaut anlangt, so besteht,
wie ich nach den Untersuchungen nach Bumm, Leistikow und Bokhabt und
meinen eigenen Wahrnehmungen aussagen kann, keine „Proportionalität" zwischen
diesen beiden Factoren. In der Regel sind während des acutesten Stadiums des
TRIPPER.
657
Trippers die Coccen in relativ geringer Quantität nachzuweisen und können erst,
wenn der Eiter mehr gelblich und flüssig wird, am zahlreichsten werden. Bümm
schreibt (I. c. pag. 42): „Wie wenig der Grad der Entzündungen und auch die
Qualität des Schleimhautsecretes mit der Anzahl der darin enthaltenen Gonococcen
übereinzustimmen braucht, zeigt sich bei chronischen Urethral- und insbesondere
Cervioalgonorrhoen. Es ist mir zu wiederholten Malen passirt, dass ich bei anderer
Zwecke halber ausgeführten Untersuchungen des Cervicalsecretes auf Fälle stiess,
in welchen dasselbe durchscheinend glasig war, der absolute Mangel von Ent-
zündungserscheinungen am Uterus und Cervix den Gedanken an eine Gonorrhoe
gar nicht aufkommen Hess, und das Mikroskop dennoch eine ganz erstaunliche
Menge wohlausgebildeter Gonococcen unzweifelhaft nachwies. Aehnliches findet sich
auch bei chronischen Urethralblennorrhoen, wo allerdings gewöhnlich die Tripper-
bacterien an Zahl gering sind, aber auch in solchen Massen auftreten können,
dass man eine Reincultur vor sich zu haben glaubt.41
Was die Diplococcengestalt anlangt, so ist dieselbe nicht für den Gono-
coccus charakteristisch, sondern es giebt auch andere pathogene und nicht pathogene
Diplococcen, welche weder in ihrer Form, noch in ihrer Grösse sich von den bei
Tripper vorkommenden Diplococcen unterscheiden lassen. Auch gegen Farbstoffe
verhalten sich die meisten Diplococcenarten gleich dem NEisSER'schen Gonococcus.
Eine Ausnahme davon macht nach Bümm nur der gelbweisse Diplococcus. Dieser
unterscheidet sich von dem NEisSER'schen Gonococcus dadurch, dass er, wenn man
ihn nach der GRAM'schen Methode mit Jodjodkalilösung behandelt, den Farbstoff
festhält, während der Gonococcus ihn abgiebt. Hingegen wollte man in einem
anderen Umstände ein wesentliches Merkmal für den Diplococcus Neisser's gefunden
haben. Desselben gedenkt Bümm mit folgenden Worten:
„Dagegen sind die Tripperbacterien durch eine Fähigkeit ausgezeichnet,
welche allen formähnlichen Arten abgeht ; sie vermögen in das lebende Zellproto-
plasma einzudringen, sich daselbst zu vermehren und jene rundlichen Anhäufungen
um die Kerne zu bilden, wie sie sich bei anderen Diplococcen in dieser Weise
niemals vorfinden. Solche Häufchen sind, wenn man wirklich Gonococcen vor sich
hat, immer anzutreffen , auch wenn nicht in jedem Falle gleich zahlreich und
manchmal so spärlich, dass man in einem oder zwei Präparaten längere Zeit nach
ihnen suchen muss.u
Bümm ist es gelungen, Reinculturen des NEisSER'schen Diplococcus auf
menschlichem Blutserum herzustellen und durch Ueberimpfnng dieser Culturen auf
die Harnröhre zweier Weiber Tripper zu erzeugen. Ueber seine Züchtungen giebt
Bümm im Wesentlichen das Folgende an.
Zur Züchtung eignet sich ein Secret, das reich an Diplococcen ist; das
Stadium, in welchem sich der gonorrhoische Process zur Zeit der Abimpfung befindet,
hat sonst aber keinen Einfluss auf die Entwicklung der Cultur.
Am besten ist es, den blennorrhoischen Eiter in Form kleiner Tröpfeben
oder Elümpehen auf die Oberfläche des Blutserums zu setzen, dasselbe soll eher
etwas zu stark als zu wenig erstarrt sein, weil im Bereiche der Impfmasse ohne-
dies bald eine Veiflüssigung eintritt. Die Culturen werden dann im Brustkasten
bei einer Temperatur von 33 — 37° C. gehalten. Die Form des Pilzrasens variirt
natürlich nach der Art, wie die Uebertragung stattfindet, erhält jedoch dadurch
etwas Charakteristisches, dass sich überall die Neigung geltend macht, zackige
Vorsprünge oder Auswüchse zu bilden, welche der Cultur im Verein mit den
scharfgeschnittenen Rändern das Aussehen eines plateauartigen Gebirgsstockes oder
einer Insel mit allseitig steil abfallenden Ufern verleiht. Die Oberfläche der Cultur
ist spiegelnd glatt, feucht glänzend, von einer Farbe lässt sich kaum sprechen. Bei auf-
fallendem Lichte macht es den Eindruck, als ob auf dem Nährboden eine Vi — Va Mm.
dicke Glanzlackschicht aufgetragen wäre. Das Wachsthum der Cultur ist auck
Sncyclop. Jahrbücher. I. 42
658
TRIPPER.
bei günstigen Bedingungen ein langsames und schreitet in 24 Standen höchstens
am 1 — lVaMm. fort. Stichimpfungen gehen nicht, Strichimpfangen nar bei nicht
za dünnem Auftragen des Impfmateriales an. Das mikroskopische Aassehen der
Galtaren gleicht dem anderer in Traabenform wachsenden Diplococcusformen. Das
Temperaturoptimum liegt zwischen 33 and 37° C. Auf anderen Nährböden wachsen
nach Bümm die Oonococcen nicht. Auch Bockhart 4) gelang es , Reinculturen
herzustellen. Als besten Nährboden erklärt auch er das menschliche Blutserum.
Die Diplococcen wachsen zwar auch auf thierischem Blutserum, aber weitaus lang-
samer und unsicherer.
Hermann v. Schrötter und Winkler wählten als Nährboden für
Züchtungen der Gonococoen Kibitzeiweiss , von dem bekannt wurde, dass es dem
Ei entnommen vollständig keimfrei ist und ein ganz treffliches Nährmaterial für
die verschiedensten Mikroorganismen ist. Behufs Züchtung von NEissER'schen
Coccen nahmen Schrötter und Winkler Trippereiter von Kranken, deren Gonorrhoe
erst seit einigen Tagen bestand und unbehandelt war.
Nachdem das in einer Eprouvette erstarrte Kibitzeiweiss mit Tripper-
secret geimpft worden war, wurde erstere unter Baumwoll- und Guttaperchapapier-
verschluss gebracht und im Brutofen einer Temperatur von 38° C. ausgesetzt.
Schon nach 6 Stunden zeigte sich auf der Oberfläche des Eiweisses ein dünner
weisser transparenter Belag, der sich um die Eiterflocke herum rasch aasbreitete.
Dasselbe geschah, wenn auch minder lebhaft, bei gewöhnlicher Zimmertemperatur.
Unter dem Mikroskope Hessen sich NEissER'sehe Gonococcen in Häufchen und Gruppen
nachweisen. Die Coccen verhielten sich den Farbstoffen und der GRAM'schen Methode
gegenüber wie die NsissER'schen Gonococcen. Am zweiten, noch mehr aber am
dritten Tage war die Menge der Coccen unter dem Mikroskope auffällig geringer.
Nach weiteren 2 Tagen waren keine Coccen mehr nachweisbar. (Jeberimpfungen
auf Kibitzeiweiss gelangen in den ersten 2 Tagen und konnten bis in die sechste
Generation fortgeführt werden. Züchtungen auf flüssigem Kibitzeiweiss bei Zimmer-
temperatur gelangen ebenfalls.
Uebertragungen von solchen Culturen auf die Conjunctiva von Kaninchen
blieben erfolglos. Auf die menschliche Harnröhre die Culturen zu verpflanzen
wurde nicht versucht, da die Versuche nicht beabsichtigt hatten, die Frage
zu studiren , ob der NEissER'sehe Coccus im Stande wäre , den Tripperprocess
zu erregen.
Ich bin nach meinen eigenen Untersuchungen und nach den Mittheilungen
in der Literatur zu folgenden Anschauungen in Betreff des NEissER'schen Diplo-
coccus gelangt: 1. Was die Constanz des Diplococcus Neisser anlangt, so
wurde derselbe bei Trippern der Harnröhre bisher mit Ausnahme eines Falles
von A. v. Frisch constant gefunden. Im Secrete der Ophthalmoblennorrhoe
findet er sich aber nicht constant, denn Kroner fand unter 92 Fällen von
Ophthalmoblennorrhoe* neonatorum 2 9 mal das Conjunctivalsecret frei von Diplococcen.
2. Sowohl bei acutem als chronischem Tripper findet man, wenn man das Secret nach
exacter Reinigung der Eichel und der Harnröhrenmündung oder der äusseren
Genitalien des Weibes mit Sublimatwasser aus den hinteren Partien der Harnröhre
mittelst des ausgeglühten Platindrahtes entnimmt, zuweilen stäbchenförmige Mikro-
organismen verschiedener Art und in verschiedener Menge. Die stäbchenförmigen
Mikroorganismen sind theils längere Stäbchen, wie man sie im faulenden Harne
findet , theils kurze plumpe Doppelstäbcben , welche an ihren Enden abgerundet
erscheinen. Sporenbildung konnte ich an diesen kurzen Doppelstäbchen nicht nach-
weisen, ebensowenig ein constantes Verhalten gegenüber den tobenden Substanzen.
Sie färben sich bald stärker, bald weniger stark als die mit ihnen gleichzeitig
vorkommenden Neisseä sehen Diplococcen und unterscheiden sich morphologisch
leicht und wesentlich von NEissER'schen Diplococcen dadurch, dass ihr Längen-
TRIPPER.
659
durchmesser den Breitedurchmesser um das Doppelte übertraf. 3. In sieben Fällen
konnte ieh (leider sind die früher meiner Arbeit beigegebenen Holzschnitte
nicht so deutlich wie die von Hennig angefertigten Bleistiftzeichnungen und colo-
rirten Darstellungen ausgefallen) im Secrete chemisch oder mechanisch gereizter
und in durch Syphilis erkrankten Harnröhren, ferner in einem Furunkel dem
NEissER'schen Diplococcus morphologisch ganz gleiche Mikroorganismen nach-
weisen. Dieselben zeigten die Eigenschaft, in das lebende Zellprotoplasma einzu-
dringen und verhielten sich den Färbemitteln und der GRAH'schen Methode gegen-
über so wie die NEissER'schen Diplococcen. Meine Züchtungsversuche fielen alle
negativ aus und bin ich daher nicht in der Lage, diese Mikroorganismen mit dem
NEissER'schen Diplococcus zu identificiren. 4. Es scheint möglich zu sein, auch
mit Reinculturen anderer Mikroorganismen als mit in Reinculturen gewonnenen
NEissER'schen Diplococcen einen dem acuten Harnröhrentripper klinisch ganz
gleichen Process zu erzeugen. Bockhardt 6) beschreibt Fälle von Pseudogonorrhoe,
welche er klinisch vom Tripper zu trennen versucht und erwähnt ausdrücklich,
dass diese Fälle von Urethritis, welche er unter dem Titel „Ueber die pseudo-
gonorrhoische Entzündung der Harnröhre und des Nährbodens41 veröffentlichte,
durch nicht gonococcenhaltiges Scheidensecret entstanden sind. Das Ergebniss der
Untersuchungen von Bockhardt war folgendes:
1. Es giebt eine pseudogonorrhoiscbe acute gutartige Harnröhrenentzündung,
die in Folge einer Infection durch Spaltpilze des Scheidensecretes entsteht. Derartige
pathogene Spaltpilze sind unter anderen noch unbekannten die (von Bockhardt)
beschriebenen kleinen Staphylococcen und wahrscheinlich auch die ovoiden Strepto-
coccen. 2. Es giebt eine pseudogonorrhoische Nebenhodenentzündung, die sich im
Anschlüsse an eine solche pseudogonorrboische Urethritis entwickeln kann. 3. Diese
gutartige, aber durch Infection entstandene Urethritis kann mit beginnender Harn-
röhrengonorrhoe verwechselt werden. Es ist daher bei der Beurtheilung der Natur
und Entstehungsweise einer acuten Harnröhrenentzündung, sowie auch einer Neben-
hodenentzündung auf diesen Umstand Rücksicht zu nehmen.
Was die kleinen Streptococcen anlangt, so hebt Bockhardt für dieselben
hervor, dass er sie immer in grosser Menge nachweisen konnte, wenn er
die Methyl violettlösung vorher sehr stark erwärmt hatte. Als Längenmaass für
diese Diplococcen giebt Bockhardt 0*5— 0*7 M., als Breite eines halben Diplo-
coccen ungefähr die Hälfte der Länge des ganzen Diplococcus an. Der halbe
Diplococcus war von Rugelform, Concavitäten wie bei den Gonococcen will BoCK-
hardt nicht beobachtet haben, die Theilung ging wie bei Neisser's Gono-
coccen vor sich.
Diese kleinen Diplococcen fand Bockhardt theils isolirt, theils frei im
Secret in Gruppen von 2 — 8 Diplococcen beisammen. In so grossen Haufen wie
die Gonococcen fand sie Bockhardt nur auf Ephithelzellen, aber auch hier bildeten
sich nur so grosse Rasen wie sie die Gonococcen auf Epithelzellen bilden können.
Am häufigsten fand Bockhardt diese Coccen im Protoplasma der Eiterzellen, wenn
das Secret während der Zeit entnommen worden war, in welcher die Krankheit
ihren Höhepunkt erreioht hatte. Die Zahl der in den Eiterzellen eingeschlossenen
Diplococcen betrug 2 — 8. Bockhardt glaubt, dass die Coccen dem Gewebe der
Urethra gegenüber nur eine geringe Lebensenergie besitzen. Farbstoffe sollen von
diesen Coccen nicht leicht aufgenommen werden, kalte Lösungen von Anilinfarb-
stoffen färben sie nach einer kurz dauernden Einwirkung nicht. Die schönsten
Bilder erhielt Bockhardt, wenn er die Deckglaspräparate auf sehr heisser, kurz
vorher zum Kochen erwärmter, starker Methylviolett- oder Fuchsiolösnng
schwimmen Hess, oder wenn Bockhardt sie 24 Stunden lang in kalte starke Methyl-
blanlösung einlegte.
Diese Coccen geben, selbst im Dunkeln aufbewahrt, ihren Farbstoff in 4 bis
8 Wochen wieder ab. Alkohol und Säure entfärben sie sofort. Im frischen ungefärbten
42*
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ziehtet worden. Der Maas hatte seine Urethritis tob seiner Fna,
Monate abortirte, aequirirt. Das Seeret aas der miaalicaeu Harnröhre zeigte nur
kleine Coeeen, keine NEissER'acheu Gonoeoeeen. Ebesao sengte das •belrieehende
Seheiden- aad Cerviealseeret der Fraa die kleiaea Ooeeea maawhsft, aber keine
XEUSER'sehea Coeeen. Um die Harnröhre für das Waesstham der Mikroorganismen
günstig zu durponiren, wurden 3 Cent, einer 0*1* «igen steribsirten Lösung von
pnospborsanrem Natron in die Harnröhre eingespritzt und hier fünf Minuten zurück-
gehalten. Fünf Minuten spater wurde die Impfung ausgeführt. Das Impfmaterial
wurde dem Rande einer fünf Tage alten Reincnltur vierter Generation mit dem
Piatindraht entnommen. Das kleine Theilchen der Reinealtar kam sodann in einen
1 Cem. sterilisirter O'IO* 0iger Lösung von phosphorsaareai Natron, in der es
gut vertbeilt wurde. Von dieser Mischung wurde ein Tropfen mit einem sterilisirten
Ciasstabe zwischen die auseinandergebreiteten Lippen der Harnröfarenmfindung und so
in den Anfangstheil der Fossa navicularU gebracht. Bis cum nächsten Morgen liess
der Geimpfte keinen Urin. Die Impfung war am 12. December 1885, 9 Uhr
Abends, vorgenommen worden.
Am 14. December war die HarDröhrenmttndung geröthet und von ein-
getrocknetem Secrete verklebt Im Verlauf des Tages konnten 3 Tropfen eiterigen
Sehleimes aus der Harnröhre herausgedrückt werden, dabei bestand Juckgefuhl
und nahmen bis incl. 17. December die Erscheinungen der Entzündung und der
Eiterabsonderung zu. Das im Verlaufe eines Tages seeernirte Seeret betrug
beiläufig einen Theelöffel. Am 22. December war die Entzündung ohne jegliche
Behandlung geheilt. Im Secrete konnten vom 14. bis 20. December die Coeeen
nachgewiesen werden; am 19. December war die Anzahl der Coeeen in den
Präparaten gering, am 21. December waren sie ganz aus dem nur spärlichen
Secrete verschwunden. Vom 16. bis 19. fanden sich auch grössere Coeeen in sehr
geringer Anzahl vor.
Am 27. December 1885 impfte sich derselbe Arzt zum zweiten Male mit
einer fünf Tage alten Reincultur siebenter Generation der kleinen Coeeen, welche
aus dem Scheidensecret des Weibes, welches abortirt hatte, auf Blntserum gezüchtet
worden war. Die Impfung wurde wie das erstemal ausgeführt Vierundzwanzig
Stunden später wurde Jucken in der Harnröhre verspürt. Am 29. December war
die Harnröhrenmttndung geröthet und durch eingetrocknetes Secret verklebt. Im Ver-
laufe des Tages wurden, bei lebhaftem Brennen im vorderen Theile der Harnröhre,
circa 8 bis 10 Tropfen schleimigen Eiters aus dieser entleert. In der Nacht vom 29. zum
#0. stellten sich schmerzhafte Erectionen ein. Am 30. December Morgens hatte die
Entzündung plötzlich einen heftigen Charakter angenommen. Es entstand namentlich
beim Uriniren lebhafter Schmerz, die Eichel war stark geschwollen, dunkelroth,
auf Druck schmerzhaft, es wurde reichlich ziemlich dickflüssiger Eiter entleert
TRIPPER.
661
Am 31. hatte die Entzündung noch mehr zugenommen, es bestand Oedem der Vor-
haut, die ganze Harnröhre war bis zum Möns veneria auf Druck schmerzhaft;, die
Eiterseeretion profus. Es wurde halbstündlich, später stündlich Sublimatlösung in-
jicirt, örtlich Kälte applicirt. Unter dieser Behandlung war die Entzündung bis zum
7. Januar 1886 geheilt. Die kleinen Coccen waren vom 29. December 1885 bis
zum 7. Januar 1886 im H*rnröhrensecret enthalten« Vom 30. December bis 1. Januar
aber in grösserer Anzahl, als sie Bockhardt je in einem Harnröhrenausfluss gesehen
hatte, etwa so zahlreich wie die Gonococcen bei einer intensiven acuten Gonorrhoe ;
namentlich fanden sich viele coccenhaltige Eiterzellen in den Präparaten vor. Vom
1. Januar an, nachdem die Sublimatbehandlung eingeleitet war, nahm die Menge
der coccenhaltigen Eiterzellen in den Präparaten ab ; die Zahl der frei im Secret
liegenden Coccenhäufchen blieb jedoch noch beträchtlich gross bis zum 3. Januar.
Von da ab nahm die Zahl der kleinen Coccen im Secrete fortwährend ab und am
6. Januar sah sie Bockhab dt in den Präparaten des damals allerdings spärlichen
Harnröhrenflusses nicht mehr. Ausser den kleinen Coccen waren auch grössere
Coccen und Stäbchenbacterien in sehr geringer Anzahl in manchen Präparaten
enthalten.
Das Secret beider Impfurethritiden wurde möglichst oft, mindestens aber
dreimal täglich, mikroskopisch untersucht.
Diese beiden gelungenen Impfversuche lieferten den Beweis, dass die
kleinen Coccen in der That die Ursache einer Urethritis sein konnten. Die beiden
künstlich erzeugten Harnröhrenentzündungen waren indess ungleich heftiger, als
die bei den vier Kranken beobachteten; namentlich hatte die auf Blutserum
gewachsene Reincultur der aus der Scheide stammenden Coccen eine sehr inten-
sive Entzündung verursacht. Wahrscheinlich waren beide Male mehr Coccen in die
Harnröhre gelangt, als beim Beischlaf hineingelangen. Dass die künstlich ge-
züchteten Coccen einen höheren Grad der Viculenz besessen hätten, ist wohl kaum
anzunehmen.
Hier muss man Folgendes bedenken:
Bockhardt ist es gelungen, mit einer Reincultur, welche er von einem
Weibe, das nicht an Tripper litt, gewonnen hatte, einen Zustand zu erzeugen, der,
wie jeder Unbefangene zugeben muss, einem acuten Tripper gleicht wie ein Ei
dem andern. Nach diesem einen Impfergebniss müsste man sagen, man kann auch
mit anderen Mikroorganismen als mit NEisSER'schen Gonococcen, die in Reincultur
in die Harnröhre gebracht werden, einen dem acuten Tripper ganz gleichen klinischen
Process erzeugen. Dieser Einwand würde nur dann hinfällig werden, wenn die
von Bockhardt beschriebenen „kleinen Coccen" sich als identisch mit den
NEisSER'schen Diplococcen erweisen sollten. Man muss also, so sehr auch die
ätiologische Beziehung des Diplococcua Neuser zum Tripper durch die gelungenen
Impfversuche Bumm's gesichert erscheint, doch eingestehen, dass bisher die Wesen-
heit des Trippercontagium8 noch nicht endgiltig klargelegt ist.
5. Meine eigenen und die Untersuchungen Anderer haben ergeben, dass
die Eigenschaft, in das lebende Zellprotoplasma einzudringen, sich daselbst zu
vermehren nnd Häufchen zu bilden, auch anderen als dem NEisSER'schen Diplo-
coccu8 zukommt. Bei dem Umstände, dass man auch in nicht tripperkranken Harn-
röhren dem NEisSER'schen Diplococcus morphologisch gleiche Mikroorganismen findet,
ist der NsissER'sche Diplococcus in differential-diagnostischer Beziehung nicht zu
verwerthen. Diese von mir auf Grundlage meiner Untersuchungen aufgestellte
Behauptung hat eine Stütze in einer Arbeit von Lüstgarten und Mannaberg7)
gefunden.
Diese beiden Autoren sahen in gesunden Harnröhren „von Gewebseiemen ten
die grossen, mit dunkel gefärbtem Kern versehenen Plattenzellen der Fossa navi-
culart8, welche oft zu mehreren aneinander festhaften ; ferner in dem aus tieferen
662
TRIPPER.
8tellen der Harnröhre herausgeholten Secrete runde Zellen, welche wegen ihres
gelappten Kernes manchmal von Leucocyten schwer zu unterscheiden sind".
Ausser diesen Zellen bieten sich ferner die verschiedensten Bacterien im
Gesichtsfelde dar; sie liegen zum Theile frei hemm, zum grossen Theile aber,
was von besonderem Interesse ist, in den Zellen. Lustgarten und Mannaberg
konnten zehn Formen von Mikroorganismen unterscheiden. Unter diesen fanden sich
Diplococcen, die mit einem dünnen Spalt versehen sind, und welche an der ein-
ander zugekehrten Seite oft eine Einziehung erkennen lassen, welche ihnen die
grösste Aehnlichkeit mit den Gonococcen verleiht. Was diese gonococcenähnlichen
Diplococcen betrifft, konnten von Lustgarten und Mannaberg in den untersuchten
8 Fällen, von welchem blos einer ein Individuum betraf, welches vor 5 Jahren
eine gonorrhoische Infection erlitten hatte, während die anderen sieben stets gesunde
Urethra gehabt hatten, in jedem entnommenen Präparate manchmal blos sehr
wenige, manchmal aber in alle Gesichtsfelder zerstreute Diplococcen oder Häufchen
solcher aufgefunden worden, welche von den Gonococcen schlechterdings nicht zu
unterscheiden waren. Lustgarten und Mannaberg bedienten sich dabei der
fleissigsten Vergleichung, sowohl mit freiem Augenmaass, als mit Mikrometer, konnten
aber weder in der Grösse, noch in der Form, noch in ihrem tinctoriellen Verhalten
einen durchgreifenden praktisch verwerthbaren Unterschied bemerken. Sowohl die
Spaltbildung als die von Bümm als für Gonococcen besonders charakteristisch her-
vorgehobene Einkerbung an der Breitseite konnte an diesen Coccen ebenso gesehen
werden, wie an acuten Trippercoccen. Was aber ganz besonders hervorgehoben
ist, sie waren auch in Zellen zu finden. Einer der eclatantesten dieser Befunde
stammt aus der Urethra eines sehr verlässlichen Collegen, Herrn Dr. Sch., welcher
auf Ehrenwort versicherte, nie an irgend welcher Urethralaffection gelitten zu
haben. Da Lustgarten und Mannaberg übrigens ganz ähnliche Befunde bei
drei Knaben im respectiven Alter von 9, 11 und 13 Jahren hatten, fällt jeder
Zweifel über das Vorbandensein von diesen Pseudogonococcen in der gesunden
Urethra fort. Ihr Nachweis ist bei der angegebenen Ueberzahl der anderen Formen
nicht ganz leicht, wird aber durch ihre sattere Färbung weniger mühsam.
So sehr Lustgarten und Mannaberg die ätiologische Rolle der Gono-
coccen nach den Arbeiten von Neisser, Bümm und Anderen für plausibel erachten,
so halten sie es doch andererseits auf Grund ihrer Untersuchungen für unzulässig,
aus dem mikroskopischen Nachweise einiger gonococcenähnlichen Mikroorganismen
in dem vermehrten Secrete einer früher an Gonorrhoe erkrankten Urethra eine
noch bestehende Virulenz anzunehmen. Diese Bemerkung betrifft weniger die acuten
Formen, über deren Ansteckungsfähigkeit kein Zweifel bestehen kann, als besonders
die chronischen, torpiden Urethritiden, für welche die Entscheidung der Ansteckungs-
fähigkeit in der Praxis aber eben die grösste Wichtigkeit hat. Es sind dies
Formen, bei denen einerseits der Nachweis von Gonococcen mitunter nur schwer
gelingt, bei denen andererseits eine Infectiosität von erfahrenen Klinikern be-
stritten wird.
„Wir verweisen übrigens hier," fahren die beiden Autoren fort, „auch auf
die ähnlichen Beobachtungen Zeissl's bei artificiellen Urethritiden. Unsere in der
normalen Urethra gemachten Befunde dürften in dieser Streitfrage entscheidend
eingreifen."
Aus dem bisher Mitgetheilten resultirt also, dass man nicht in der Lage
ist, aus dem mikroskopischen Befunde von Diplococcen die Diagnose zu stellen,
ob ein Tripper vorliegt oder nicht. Um die Art eines in einem Secrete vorgefundenen
Diplococcus festzustellen, wird immer noch nothwendig sein, von demselben Rein-
culturen anzulegen, weil das verschiedene Aussehen der Reinculturen sicher unter-
scheiden 1o Momente abgeben könnte. Im fünften Punkt des Resumöa ihrer Arbeit
sagen diesbezüglich Lustgarten und Mannaberg : „Der morphologische Nachweis
TRIPPER.
663
▼od Gonococcen im Urethralsecret, speciell bei chronischer Blennorrhoe, ist nicht
pathognomisch, wobei wir aber zur Vermeidung jedes Missverständnisses bemerken
müssen, dass wir der ätiologischen Bedeutung der echten Gonococcen nicht nahe
treten wollen."
Im Jahre 1890 erschien eine Arbeit Steinschneider^ 8) zur Differenzirung
der Gonococcen.
Steinschneider untersuchte bei 86 männlichen Individuen das Secret
der Harnröhre und waren von diesen 13 Individuen solche, die eine gesunde,
niemals vorher erkrankte Urethra hatten, 3, die vor Jahren eine Gonorrhoe durch-
gemacht hatten, 15 mit chronischem Tripper, 33 noch mit frischem unbehandelten,
23 mit frischem bereits behandelten Tripper. Es stellte sich heraus, dass in der
männlichen Urethra ausser den Gonococcen 4 Arten von Diplococcen wohnen : der
milchweisse, der orangegelbe, der grauweisse, der citrongelbe Diplococcus, ferner
die bereits von Lustgarten, Mannaberg, Bümm beschrieben wurden. In der
gesunden Harnröhre fand er keine Gonococcen, wohl aber die drei erstgenannten
Diplococcen. Die Gonococcen und die zwei erstgenannten Arten entfärbten sich
nach Gram, die zwei anderen nicht. Mit der GRAM'schen Methode ist man fast
immer im Stande, Gonococcen von auderen Diplococcen zu differenziren. Diese
Differenzirung im Präparate und die anderwärtigen Charakteristika der Gonococcen,
besonders ihre eigentümliche Anordnung, haufenweise Lagerung, im Innern der
Eiterzellen um den Kern herum, sind nahezu absolut sichere Merkmale.
Um die Gonococcen, die nach Gram gefärbt waren, aber im Präparate
ihre Färbung eingebüsst haben, daher nicht mehr zur Ansicht kommen können,
wieder sichtbar zu machen, empfiehlt Steinschneider zur Ueberforbung, d. h. Nach-
färbung das Bismarckbraun oder das verdünnte Methylenblau Löffler's. Erst-
genannter Farbetoff lässt zwar keine Ueberf&rbung befürchten, wenn er zu lange
einwirkt, giebt aber nicht immer klare Bilder, und ermüdet leicht das Auge. Das
LöFFLER sche Methylenblau erheischt grosse Vorsicht. Steinschneider hat den
diesbezüglichen Farbstoff mit der vierfachen Menge Wasser verdünnt und die Lösung
höchstens 5 Secunden einwirken lassen. Stärkere Lösung oder längere Einwirkung
lassen eine genaue Unterscheidung der gefärbten oder entfärbten Diplococcen
nicht mehr zu.
Wenn auch die Wahrscheinlichkeit eine grosse, dass Neisser's Diplo-
coccus die Ursache des Trippers ist, so wurde dies doch durch die bisher vor-
liegenden Thatsachen nicht zur Gewissheit gemacht.
So sehr auch durch die gelungenen Impfversuche Bumm's mit Rein-
culturen der NEissER'schen Gonococcen der Zusammenhang zwischen diesen und
dem Tripper gesichert erscheint, so überzeugend auch Neisser's Auseinander-
setzungen auf dem ersten Congress der deutschen dermatologischen Gesellschaft
waren, so bedarf es doch, wie schon erwähnt, einer Aufklärung, wieso es
kommt, dass, wenn aus dem Secrete, welches ein von Tripper klinisch ver-
schiedener Erkrankungsprocess liefert, vom NEissER'schen Gonococcus differente
Mikroorganismen gezüchtet werden, diese in Reincultur in die männliche Harn-
röhre verimpft, einen mit dem acuten Tripper klinisch identischen Krankbeits-
process erzeugen.
Schliesslich wollen wir noch einiger anderer Arbeiten gedenken. Die von
Sebastian9) lässt sich folgendermassen zusammenfassen: 1. In dem Schleimeiter
der Blennorrhagie der männlichen Harnröhre kann man fünf Arten von Mikro-
parasiten unterscheiden, die von einander durch morphologische Eigenschaften und
besonders durch die Art und Weise der Züchtung getrennt werden können. 2. Von
diesen Mikroorganismen sind zwei Arten mit denjenigen identisch, welche man in
der normalen und vollkommen gesunden Harnröhre des Mannes findet. 3. Keiner
von diesen Parasiten gehört den Arten an, welche die Ammoniakfermentation de3
Urins verursachen. 4. Keiner von ihnen, Kaninchen unter die Haut und in das
Vafomvm Amfimpfl, wtrftik mA wfc Mitrwwnu py^jf*- * binar ins.
mi 4*r mimiikbtw UnetW* im XuMmiamg getanen*,, im fiing* naanThsT &
k*fr»ikjVm, Kmihek #Am& e* wUkt mal den m ef"hnisinszi feum 3fc*nr-
wii$4toif 4smf nMnaftfcffcdbe IffnffHTi'ni h^ejgnCns, einen Mikronnansintsi sc ■
4*r 4k f«flti£<e*^ ?A%*Mmb%tOm bitte, wefcfce hu» des* Cmumn nwirik:
4*f*#* folgt *n*w*l*rf das* e» gar keinem speeistseben Mikraynaan «er
l'AwMrritMfk tf*bt's *4*r, im wsknekaatieber ist, dm» ter Farnas ms*
**g*f#t*»«n yahrboda* nicht znebtbar ist oder aaf rtrznulbrn ose lastne A*-
KkAi:t> *') im hy<m giebt als Benno* seiner Arbeit folgende £*»:
1, In &*f Hernrttbre im Mannet ezietirt in gesandem Zustande mm Mikrv-
'/rjpMfsintt*, der HtaphyUwwu* urethralts, der im Stande ist, OrdätH ker-
2, Dieser Mikroorganismus mit den gleichen Eigenschaften in Besag aaf
M/fffttaitogf* und fteaetion findet sich immer, sowohl bei Erwachsenen als aneh bei
Kindern und Neugeborenen«
H, Dieser Mikroorganismus bietet dieselben Eigentümlichkeiten, wie der
t/st der fflftnnorrboe gefundene Mikroorganismus, d. h. wie der Gonococcus selbst
und Ist wie dieser zttcbtbsr.
4. Man kann vermuthen, dass alle diese Mikroben ein und derselbe Mikro-
organismus sind, welche sapropliytisch in der normalen Harnröhre leben und im
Hand* sind , unter uns noch unbekannten Lebensbedingungen die Veranlassung
nur Illamiorrhoe zu geben. Vibert und Bordas11) haben vergleichende Studien
flbar den Ausflus» der typischen Blennorrhoe und Uber den Ausfluss der Vulvitis
snctis kleiner Mädchen, welche von Individuen geschändet worden waren, welche
keine Hpur eines Ausflusses zeigten, angestellt. Diese vergleichenden Unter-
suchungen zeigten Im Kiter der nicht blennorrhoischen Vulvitis und im Eiter der
lllennorrhoe den gleichen Mikroorganismus, nämlich den Gonococcus. Die Behandlung
der Präparate nsob GHAM'scher Methode ergab für beide Untersuchungen gleiche
Kesultate. Na oh V huckt und Bordas giebt es keine verwerthbaren Differenzen
swlschen dem Diplococcu* Neisser und den Mikroben gewisser Vulvitiden.
Unter dem Titel „Ueber die Nichtspecificität des Mikroorganismus der
lllennorrhoe" thellt Kraud ia) in Lyon in der französischen dermatologischen
(lesellschaft Folgendes mit: In der Harnröhre junger Leute, welche absolut frei
von vencrlseheu Erkrankungen waren , bei der subacuten Prostatitis und bei der
hlennorrholtcben Arthritis, fand er einen Diplococous (Diplocoque staphylocoque),
welcher durch seine mikrochemische Reaction, seine morphologischen Eigenschaften
uud seine (<ulturen mit dem in Keinculturen gewonnenen Nkisser sehen Diplococcus
identisch ist. Die UUAM'sche Metbode führt zur Entfärbung dieses Saprophyten der
Harnröhre» aber doch muss es gesagt werden, dass sich dieser etwas weniger
vollttAudig, wie der IH^hskchs Xeisser entfärbt. Abadie hat die von diesen
Mikroorganlsuieu gelieferten Ptowaine untersucht, und zwar namentlich die „Diastase*.
Diese Substaus ist uicht toxisch, dieselbe ruft weder Entzündung, noch Eiterung
hervor, weun man sie in das Zellgewebe verschiedener Thiere einspritzt. Wenn
mau diese Flüssigkeit aber in den Hoden junger Hunde einspritzt (der zweite
Hoden wurde wegen der Controle nicht injicirt), so entsteht zunächst Orchitis, dann
Eiterung der Scheidenhaut und endlich Atrophie des Hodens. Es ist also die An-
nahme gestattet, dass die verschiedenen Mikroben iGonococcen, Stapbyiococcen
der Harnröhre) ein Ferment liefern, eine Diastase, welche auf das Hodenpaxesehym
eine electiv* Wirkung zu äussern scheint und welche zeigt, dass man ohne Intex-
>vutuvu von MikrxwgauUmen Eiterung bekommen kann. Eeacd will keine Theorie
aufetellen, aber er glaubt« dass die Specifieitat des Gonoeoccns sehr eompranittirt
TRIPPER.
665
jst, besonders wenn man bedenkt, dass auch auf anderen medicinischen Gebieten
die Bpeeifioität der Mikroben ebenfalls angezweifelt wird. Er glaubt, dass sieb hier
ein neutrales Terrain bilde, auf welchem sich die Phlogogisten und Virulisten
vereinigen könnten. Es wird sich, meint Eraud, herausstellen, dass, wenn man auch
in der Mehrzahl der Fälle die Contagien interveniren lassen muss, man doch in
anderen selteneren Fällen die Idee des Transformismus wird aeeeptiren müssen, nach-
dem der Mikrobe unter dem Einfluss gewisser noch klar zu legender Bedingungen
giftige Eigenschaften erwerben kann.
Nach Schuürmans - Stekhoven steht es fest, dass eine morphologische
Diagnose , wenn man auch speoifische Gonococcen annehmen wollte , ein Ding der
Unmöglichkeit ist.
Wenn es für uns auch keinem Zweifel unterliegt, dass es ein Tripper-
contagium giebt, so müssen wir doch den unwiderleglichen Beweis, dass der
NEiSöEß'sche Diplococcus dies sei, von neuen Arbeiten, welche einzelne noch dunkle
Punkte in dieser Beziehung aufklären, erwarten.
Im Vorstehenden sind, so weit es der Raum gestattet, die in Beziehung
des Gonococcus wichtigsten Mittheilungen zusammengefasst. Was die Pathologie
und Therapie des Trippers anlangt, so sind seit Abschluss der zweiten Auf-
lage der Real - Encyclopädie keine besonders wichtigen Veröffentlichungen zu
verzeichnen.
Erwähnt werden mag, dass einzelne Autoren die scharfe Trennung des
Trippers in eine Urethritis anterior und posterior nicht gerechtfertigt finden.
Des weiteren hat die Theorie, dass das Secret des Trippers bei Erkrankung der
Pars membranacea und prostatica in die Blase regurgitire, entschiedenen Wider-
spruch gefunden. Derselbe wurde namentlich energisch im Jahre 1886 von M.
v. Zeissl erhoben und bekennen sich seit jeher Fürbringer und ausser ihm
Goldenberg, Mraöek, Horovitz, Röna u. A. zu der Anschauung, dass das
Secret der Urethritis posterior nicht in die Blase regurgitire ; sicher ist diese
Lehre nicht so begründet und bewiesen, dass sie ohneweiters hingenommen werden
könnte, wie es leider von vielen Aerzten geschieht.
Glazinski ") erwähnt , dass im Verlaufe der Blennorrhoe der Harnröhre
sowohl Peri- als auch Endocarditis auftreten kann. Diese Complicationen können
sich auf Grundlage von blennorrhoischem Rheumatismus, aber auch ohne diesen
entwickeln. Der Verlauf einer solchen Peri- oder Endocarditis nimmt oft den
Charakter einer schweren Infectionskrankheit an, wie z. B. bei Endocarditis ulcerosa,
und fahrt zuweilen zur Entwicklung von Herzfehlern. Goldenberg 16) empfiehlt, um
eine Diagnose über den Sitz der gonorrhoischen Erkrankung machen zu können,
die Auswaschung der Pars anterior der Urethra mittelst Wasserirrigationen von
der Temperatur von 110 — 120° F. vor Anstellung der Harnprobe; das aufgefangene
Wasser giebt Aufschlags, ob in dem vorderen Harnröhrenabschnitte eine Secretion
stattfindet oder nicht. Dann erst lässt man den Kranken in zwei Gläser uriniren.
Ist die erste Harnportion trübe und die zweite rein, so ist der Sitz der Secretion
die Pars posterior urethrae; sind jedoch beide Portionen trübe, so ist sowohl die
Pars posterior urethrae, als auch die Blase erkrankt. In diesen Fällen sei gewöhn-
lich die erste Harnprobe trüber als die zweite, weil zu dem Sediment der Cystitis
die gonorrhoischen Elemente hinzutreten. Pjck, Toüton und Jadassohn haben
über die Gonorrhoe der paraurethralen und präputialen Drüsengänge berichtet.
Was die Therapie anlangt, so sind die Salbenspritzen, sowie die verschiedenen
Formen der Antrophore zu erwähnen. Uebrigens scheint sich zum Heile der Kranken
ein Umschwung zu einer milderen und schonenderen Behandlung in den letzten
zwei Jahren geltend zu machen.
Literatur: *) Centralbl. f. d. med. Wissensch. Nr. 28. — ') Charite-Ann.
VII. Jahrg., pag. 760. — ) Der Mikroorganismus der gonorrhoischen Schleimhauterkrankungen,
„Gonococcus Neisseru . 1885 und 1887. Bergmann, Wiesbaden. — 4) Monatsh. f. prakt. Der-
iGS TRIPPER. — TYPHUS BACILLEN.
mdL I£% Nr. 10. — rt t. Sekrötter vmd Wiakler, Ueber Remcultaren der Gta>
«ol An»dra k. k. embrrolopackoi iMlititmPtff Sekeak in Wien. Höldcr 1390. -
* Kn»aa. 1 pnkt. DmatnL 1886, Nr. 4. — 7) TierldjtJkrataclir. f. DermatoL v. S/w&Sm.
IST. 4 Heft, L Hälfte. — •) Berüa. küa. Wacaaaackr. Kr. 24. — *) CeatralhL 1 i
buhL WnMaack. 1886. Hr. Ä — ") AiaaJL de dnut et sypa. 1890. — ") Le moii aednL
LSÖL p*§> IL — a) L'natra »edkale. 1891. Nr. 4-S. — lJ) Deutsch, med. Wochenaekr. 19%
Nr. 35. — '■*) Praegladkkaraki. 1SS9. Nr. 11. — "> Med. Racord. Nr. 945. 15. Deceartarl»
t. ZeinL
TrOnnleiiähnilingy 3. Besehaftigrungsneuroßen, pag. 94.
TubercHfinim Kochii, s. koch tehes Verfahren, pag. 364.
TuberkeJbacillen, im Sputum, pag. 609.
TllbArklll088. s. Lnagenkraakheiten, pag. 447 ff.
Tuberkulose des Ovariums, pag. 539.
TubOOVarialCySten, g. Ovarien, pag. 532.
Typhotoxin, «. Abdo minaltrphus, pag. 2. 16.
TyphUSbaCilleil, 8. AbdominAltYphus, pag. 2.
u
Ueberanstrengung des Herzens, s. Herzkrankheiten, pag.327.
Ueber08miUm8äure, s. Osmiumsänre, pag. 519.
Unfallsneurose, s. Tr aumatische Neurose, pag. 653.
Uran. Ein sehr giftiges und in eigentümlicher Weise wirkendes Metall
ist das Uran, dessen eiweisscoagalirende Verbindungen (Urannitrat und Uranacetat)
bei interner Einführung toxische intensive Gastroenteritis erzeugen, während nicht
caustische Doppelsalze (Urannatriumtartrat) parenchymatöse nnd hämorrhagische
Nephritis, Anurie, allgemeine Schwäche und Paralyse herbeiführen. Bei Warm-
blütern sind schon Mengen, die 1/a — 2 Mgnn. Uranoxyd pro Kilo entsprechen,
bei Infusion im Stande, tödtliche subacute Vergiftung hervorzurufen, während
Frösche erst durch 30mal grössere Mengen tödtliche Lähmung bekommen. Uran
ist ein Protoplasmagift, das als weinsaures Natriumdoppelsalz Muskeln und Flimmer-
epithel , obschon langsam , tödtet. Besonderes Interesse gewährt Uran dadurch,
dass es schon in ganz minimen Mengen die Sauerstoffabgabe des Oxyhämoglobius
bebindert, so dass im uranhaltigen Blute die Oxyhämoglobinstreifen 24 Stunden
erhalten bleiben und dass, wahrscheinlich in Folge hiervon, sich constaot Zucker
im Harn findet. Ein sonstiger Einfluss auf den Eiweissumsatz kommt kleinen
Dosen nicht zu. Bei Durchströmungsversuchen ist starke Gefässerweiteruog constatirt.
Literatur: Kobert nnd Wor o schil sky , Dorpater pharmak. Studien. 1890,
Heft 5. — Chi 1t enden nnd Lambert, Zeitschr. für Biologie. 1889, XXI, pag. 513.
Th. Hnsemann.
Urethritis, s. Tripper, pag. 659, 665.
V.
VenenthrOmbOSe, bei Chlorose, pag. 151.
VerbalSUggeStiOn, s. Suggestiv-Therapie, pag. 620.
Vibration, s. Massage, pag. 462.
Viniim. Das Arzneibuch für das Deutsche Reich , 3. Ausgabe , enthält
in Bezug auf Arznei weine folgende Veränderungen: Vitium Colchici hat
pro die veränderte Maximaldosis (6*0 statt früher 6*0). — Vinum Condu-
rango ist neu aufgenommen; aus 1 Th. Condurangorinde und 10 Th. Xereswein
zu bereiten. — Vinum Pepsini mit Xereswein (früher mit Weisswein)
zu bereiten.
Vorstellungskrankheiten, s. Suggestiv-Therapie, pag. 623.
Vulvitis, s. Tripper, pag. 664.
w
Wasserdampf zur Desinfection, pag. 190.
Wasserentziehung, s. Fettleibigkeit, pag. 261.
WaSSergaS, 8. Beleuchtung, pag. 84; Leuchtgasvergiftung,
pag. 435.
WaSSerStOffSUperOXyd, Hydrogenium hyperoxydatum, Ha 02. Wird
durch Zerlegen von Baryumhyperoxyd mit Schwefelsäure erhalten. Man erhält
es hierbei in wässeriger Lösung.. Das arzneilich verwendete Präparat enthält
2 — 3, aber auch 5 — 10% Wasserstoffsuperoxyd. Das unter der Luftpumpe
von Wasser möglichst befreite Wasserstoffhyperoxyd ist eine färb- und geruchlose,
bitter schmeckende Flüssigkeit , die sich schon bei 20° C. , schneller noch bei
stärkerem Erwärmen zersetzt. Die wässerige Lösung ist um so beständiger, je
verdünnter sie ist; sie wirkt wegen ihrer Sauerstoffabgabe oxydirend, auf unbe-
ständige Oxyde und Superoxyde auch reducirend. Die Gegenwart des Wasser-
stoffhyperoxyds in der Flüssigkeit wird an dessen Eigenschaft, Jodkaliumstärke-
kleister oder auch Guajakharzlösung nach Zusatz eines Tropfens Ferrosulfatlösung
blau zu färben, erkannt. Die wässerige Lösung bleicht Pflanzen und Thierfarb-
stoffe, sie dient unter Anderem zum Goldblondfärben dunkler Haare. Wurde
therapeutisch als Antisepticum, ferner gegen Dyspepsie, auch bei Diphtherie ver-
sucht. Jos. Schmidt (Münchener med. Wochenschr. 1888) empfiehlt Ozonwasser (aus
0*2 Wasserstoffsuperoxyd auf 100*0 Wasser) gegen Krebs in Form von parenchy-
matösen Einspritzungen in die Krebsmasse und deren Umgebung. Loebisch.
Wolfram. Von den seltenen Metallen zeigt das Wolfram nach Ver-
suchen mit wolframsaurem Natrium erhebliche giftige Wirkung, welche derjenigen
des Chroms um das lOfache überlegen ist. Die Vergiftung beginnt mit Apathie
und Mattigkeit, worauf Nausea und bei brechfähigen Thieren unaufhörliches Er-
brechen, das zu Gefässzerreissung im Magen und Blutbrechen führt, und intensive,
anfangs schleimige, später blutige Durchfälle folgen. Diese Erscheinungen stehen
offenbar damit im Zusammenhange, dass bei directer Einführung in den Blutstrom
die grösste Menge des eingeführten Metalls durch die Magenschleimhaut eliminirt
wird , während der kleinere Theil durch die Nieren Ausscheidung findet. Bei nicht
brechfähigen Thieren treten zu den Darmsymptomen Dyspnoe, Krämpfe, Opistho-
tonos, bei langsamen Vergiftungen Adynamie und Lähmung. In rasch tödtlichen
Fällen ist der Sectionsbefund negativ, in langsam verlaufenden findet sich Magen-
und Darmentzündung und der Befund diphtheritischer Dysenterie, mitunter leichte
parenchymatöse Nephritis und Hämorrhagien in den Nieren, ein Zustand, der sich
durch seine geringe Intensität wesentlich von der Chromsäure Vergiftung unter-
scheidet. Vom Magen aus wird wolframsaures Natrium fast gar nicht resorbirt;
bei Infusion findet es sich in der Darmschleimhaut und besonders bei langdauern-
der Vergiftung in grossen Mengen in den Knochen, weniger in Muskeln, Milz und
Nieren. Auf Gefässe und Herz wirkt Wolfram nicht, auch erzeugt es keinen
Diabetes wie Uran, das ihm an Giftigkeit vielfach (50— lOOmal) überlegen ist.
Literatur: Bernst e in -Kohan , Wirkung des Wolframs auf den thierischen
Organismus. Dorpat 1890. Th. Husemann.
Wunddrainage, s. Drainage, pag. 213.
WurmaneUrySma, s. Endarteriitis etc., pag. 238.
z
Zahnkrankhetteit. Caries (der Zahne). Der Zahncaries liegt ein
chemisch-parasitärer Process zu Grunde. Staren und Mikroorganismen nehmen an
der Zerstörung der Zahngewebe TheiL Die Säuren dringen in die Zahngewebe
ein und erweichen dieselben, ihnen folgen die Pilze. Im cariösen Zahnbein sehen
wir die Zahncanälchen erweitert und mit Pilzen (Coeeen und Stäbehen) vollge-
pfropft. Im vorgerückteren Stadium beobachten wir bedeutende Cavernen im Dentin,
welche von zerfallenem Zahnbein und Mikroorganismen erfüllt sind. Die Canälehen
des Zahnbeins werden erweitert durch das Wachsen der Mikroorganismen, mit
der Zeit fliessen die Lücken zusammen, das Zahnbein wird porös, so daas es zer-
fallt. Die im Munde am meisten wirkende Säure ist die Milchsäure, welche ihren
Ursprung zurückgehaltenen Speiseresten verdankt, die entweder Zueker oder Stärke
enthalten. Von den Pilzen der Mundhöhle wissen wir Folgendes: Von den bisher
bekannten Pilzen der Mundhöhle sind viele im Stande, Zueker in Milch-
säure umzuwandeln. Auch die Stärke geht in Traubenzucker über und dieser
bildet Milchsäure. Die Pilze haben auch die Fähigkeit, Eiweiss aufzulösen, also
lösen sie das entkalkte Zahnbein auf. Es giebt auch Pilze, welche beide Eigen-
schaften verbinden, d. i. Zucker in Milchsäure gähren und Eiweiss lösen. Die
Zahncaries tritt nicht allein an lebenden Menschen- und Thierzähnen wie auch
an eingesetzten Leichenzähnen, sondern auch an aus Thierzähnen (Elfenbein, Wal-
rosa, Hippopotamos) verfertigten Zahnersatzstücken auf und es lassen sieh die in
allen Fällen übereinstimmenden Erscheinungen durch die baeteriologische Unter-
suchung nachweisen. Obwohl man cariöses Zahnbein, wie es ist, mit einem scharfen
Excavator aus dem Zahne herauslöffeln und sofort auf dem Gefriermikrotom
schneiden kann, muss man grössere Stücke in verdünnter Salzsäure entkalken.
Die Schnitte färbt man auf Mikroorganismen am besten in folgender Weise : Aus
dem absoluten Alkohol bringt man sie in Fuchsin, d. i. destillirtes Wasser, weichem
einige Tropfen einer alkoholischen Fuchsinlösung bis zur Rothweinfarbung bei-
gegeben sind. Darin lässt man die Schnitte circa 4 Minuten und bringt sie sodann
nach der GRAM'schen Methode in eine Lösung von Jod 1*0, Jodkalium 2a0, destil-
lirtes Wasser 300*0. Aus der GRAM'schen Flüssigkeit giebt man nach l1/, Minuten
die Schnitte in absoluten Alkohol. Dieser entfärbt das Zahnbein, während die
Pilze den Farbstoff behalten. Der Alkohol wird einigemale gewechselt, bis das
Zahnbein die Fuchsinfärbung verloren hat. Sodann werden die Schnitte in Nelkenöl
aufgehellt und in Canadabalsam eingeschlossen.
Literatur: W.D.Miller, Die Mikroorganismen der Manihöhle. 1883. — J v. Met-
nitz, Hippopotamoszahnbein. im menschlichen Mnnde durch Zahncaries mrstört. Wieaar
klin. Wochenschr. 1591. Nr. 19.
ZAHNKRANKHEITEN.
671
Fractur (eines Zahnes). Die Ausheilung: einer Zahufraetur kann allein
durch die Wirkung der Odontoblasten, resp. der Pulpa zu Staude kommen. Eine
Zahn fractur entsteht durch Schlag, Fall etc. Nicht sehr selten kommen Zahn-
fracturen vor an den Stosszäbnen grosser Säugethiere, welche auch den mannig-
fachsten Insulten ausgesetzt sind. Wird durch eine Flintenkugel die Pulpahöhle
eines Elephantenstosszahnes eröffnet, dann kommt es, wie Untersuchungen gezeigt
haben, nicht selten zu einer Regeneration der Hartgebilde. An dieser letzteren
betheiligen sich die Pulpa und die Wurzelbaut, Vor Allem sind es die Dentin-
zellen, welche zur Neubildung von Zahnbein bettragen. Bei einem Menschen wird
man die Heilung einer Zahn fractur nur äusserst selten und dann nur nuter deu
günstigsten Verhältnissen eintreten sehen.
Flg. 71.
Gangrän (der Zahnpulpa). Die Pulpa kann gangränös werden, ohne
daas sie freiliegt. Wir wissen, dass im Blate Mikroorganismen vorhanden sind;
im normalen Blute können diese nicht lauge bestehen; kommen sie aber an eine
Stelle, wo sie einen günstigen Nährboden finden, wie in einer durch Stoss abge-
storbenen Pulpa, dann stellt nick Fänlniss ein. Gewöhnlich aber sehen wir Gangrän
auftreten nach Pulpitis totalis. Die Gangran der Pnlpa gebt nicht immer sehr
rasch vor sich. Sehr häutig geht der gänzlichen Auflösung derselben zu einem
stinkenden Brei ein chronischer Zustand voraus, den wir mit Arkövy als Pulpitis
chronica gang rann o*a bezeichnen wollen» Bei der Untersuchung eines solchen
Zahnes finden wir die Pulpa im Grossen und Ganzen noch lebend, in den peri-
pheren Theilen jedoch im gangränösen Zerfall begriffen , die Pulpazipfel verfärbt.
An der Demarkationslinie des gangränösen Theiles gegen den lebenden Theil der
Pulpa kommt, wie Arkövy betont, eine gewisse Injeetion zur Beobachtung. So
wie bei der Pulpitis septica und purulenta das Vorhandensein von Mikrococceu
ausser Zweifel steht, ebenso findet man nach AbkÖvt's Angaben bei der Pulpitis
chronica gangraenosa nicht allein Gruppen von Mikrococceu, sondern aueh wohl-
ausgebildete Bacillen, welche in grosser Zahl im Gewebe zerstreut sind. Mit der
672
ZAHNKRANKHEITEN.
Zeit greift der Process auf den übrigen Theil der Pulpa über und schreitet also
auf diese Weise gegen die Wurzelspitze fort. Die Scbmerzempfindung bei begin-
nender Gangrän der Pulpa stebt an Heftigkeit der Pulpitis acuta totalis nicbt
nacb. Es unterscheidet sieb aber die Pulpitis chronica gangraenosa von der
Pulpitis acuta totalis durcb den üblen Geruch, welcher der Gangrän eigen ist.
Das Secret bei Pulpitis chronica gangraenosa ist nach Arkövy's Angabe sehr
wenig gelb und rein gangränös riechend; bei der Pulpitis partialis purulenta
gelb, von normaler Eiterfarbe, ohne gangränösem, sondern von knochenartigem
oder phosphatischem Geruch. Beim Eindringen mit einem Excavator in die Pulpa-
kammer stösst man in den tieferen Theilen noch auf empfindliches Gewebe. Der
herausgezogene Excavator ist äusserst übelriechend; es ist also die Pulpa noch
nicht gänzlich zerfallen und die Diagnose auf Pulpitis chronica gangraenosa
gerechtfertigt.
Ist die Pulpa in ihrer Gesammtheit der Gangrän verfallen, dann finden
wir den Zahn meist verfärbt, blauschwarz, graubraun oder braunroth, der Ex-
cavator ist nach der Sondirung übelriechend, der Geruch faulig oder säuerlich. Es
ist also für einen Zahn mit gangränöser Pulpa charakteristisch die Verfärbung
und der üble Geruch. Eine atrophische Pulpa hingegen zeigt gar keinen Geruch.
Literatur: J. Arkövy, Diagnostik der Zahnkrankheiten.
Pyorrhoea alveolaris {Caries alveolaris y Rioo'sche Krankheit).
Arkövy unterscheidet eine Caries alveolaris acuta und chronica. Bei der ersteren
Form sind die Zähne feststehend oder nur unmerklich beweglich, die Eiterabsonde-
rung aus der Zahnfleischtasche unbedeutend, der Zahnfleischrand nicht entfärbt,
etwas anämiseh, dünn und eine kleine Tasche auf der Lippenseite bildend ; wenn
Zahnstein vorhanden ist, stellt er einen schwarzen Ring dar. Die Wurzeloberfläche
zeigt concrementartige Ablagerungen. Diese Concremente stellen einen Niederschlag
von Eiter und Kalksalzen dar und darf man sie mit Zahnstein nicht verwechseln.
Es besteht ein unbedeutender, übler Geruch aus dem Munde. Bei der chronischen Form
ist der Halstheil meistens blossgelegt, der Geruch aus dem Munde bedeutender, sowie
auch der Speiohelfluss. Die Zähne werden locker, die Eiterbildung ist bedeutender,
sowie die Bildung der Concremente an der Wurzeloberfläche. An der Wurzelspitze
bemerkt man hin und .wieder Granulationen. Der ganze Zustand ist schmerzlos.
Mit der Caries alveolaris kann man leicht die senile Atrophie des Alveolar-
fortsatzes verwechseln. Meist kann man sie nicht unterscheiden. Acute und chro-
nische Alveolarpyorrhoe unterscheiden sich dadurch, dass bei der ersteren nur
eine geringe Anzahl von Zähnen betroffen ist, bei der letzteren ein grösserer
Theil der Zahnreihe.
Bisher nahm man an und besonders Tomes trat dafür ein, dass die
Pyorrhoea alveolaris meist Erwachsene betreffe. Dies ist jedoch ein Irrthum.
Miller untersuchte in der Anstalt für rachitische und scrophulöse Kinder zu
Middelkerk in Belgien die Mundhöhlen von mehr als hundert Kindern und fand
mehrere ausgesprochene Fälle von Pyorrhoea alveolaris. Galippr hält die
Pyorrhoea alveolaris für unzweifelhaft parasitärer Natur. Erfand wiederholt denselben
Parasiten , den er mit dem griechischen Buchstaben nrtu bezeichnet. Nach Miller's
Ansicht sind bei jedem Falle von Pyorrhoea alveolaris drei Factoren in Erwägung
zu ziehen: 1. Prädisponirende Umstände, 2. locale Reize, 3. Pilze. Eine be-
sondere Prädisposition für die Pyorrhoea alveolaris scheint nach Miller's Unter-
suchungen die Rachitis zu geben, indem von 26 rachitischen Kindern 7 ausge-
sprochene Symptome der Alveolarpyorrhoe zeigten. Zur Entstehung der Alveolar-
pyorrhoe können ferner beitragen constitutionelle Erkrankungen, ungesunde
Wohnräume, schlechte Nahrung, Mangel an Bewegung. Miller constatirt, dass
wilde Thiere, die in Gefangenschaft gehalten werden, Schosshunde, die sich Wenig
bewegen dürfen und allerlei Sachen zu fressen bekommen, sehr häufig an
Pyorrhoea alveolaris leiden.
ZAHNKRANKHEITEN. — ZAHNOPERATIONEN.
673
Der locale Reiz entsteht durch Zahnstein, Speisereste oder einen anderen
mechanischen oder chemischen Reiz.
Was den Antheil der Mikroorganismen hei der Pyorrhoea alveolaris
anlangt, sieht sich Miller nach den jetzigen Anschauungen über die eitrigen Ent-
zündungen gezwungen, dieselben als Ursache der die Pyorrhoea alveolaris be-
gleitenden Eiterungen zu betrachten.
Behandlung der Pyorrhoea alveolaris : Gründliche Entfernung des Zahn-
steines, Touohirung der Zahnfleischtasche mit Argentum nitricum -Pulver. Damit
kommt man jedoch nur bei den leichtesten Formen aus. Am besten ist es, nach
Entfernung des Zahnsteines nach der ganzen Länge der Wurzel das Zahnfleisch
zu spalten. In die Spalte legt man etwas Jodoformgaze ein. Tags darauf kommt
man leicht an die Oberflache der Wurzel und befreit dieselbe von dem etwa
noch zurückgebliebenen Zahnstein und von den Concrementen ; man kann dazu
auch eine verdünnte Lösung von Salpetersäure (2 — 4%, Miller) verwenden. Zur
Einbringung der Lösung verwendet man eine Holzspitze. Sodann gebraucht man
adstringirende und antiseptische Mittel. Dem Patienten verordnet man ein des-
inficirendes Mundwasser und legt ihm die sorgfältigste Reinigung und Pflege der
Mundhöhle an's Herz. Sind grössere Zahnfleischtaschen vorhanden, dann müssen
diese ganz besonders nach jeder Mahlzeit ausgespritzt werden.
Literatur: Arkövy, Diagnostik der Zahnkrankheiten, 1885.— Miller, Mikro-
organismen der Mundhöhle. 1869. — v. Metnitz, Lehrbnch der Zahnheilkunde. 1891.
v. Metnitz.
Zahnoperationen. Abtödtung der Pulpa. Die Abtödtung der
Zahnpulpa führt man folgendermassen aus. 1. Die Pulpa muss blossgelegt werden
soweit, dass sie blutet. 2. Auf die Pulpa bringt man eine kleine Quantität Arsen-
pasta. 3. Man verschliesst die Cavität. Die Arsenpasta soll folgende Zusammen-
setzung haben:
Rp. Acidi arsenici,
Morphii acetici aa. 5*00.
Acidi carbolici qu. s. ut f. pasta,
oder Acidi arsenici 5 00,
Cocaini,
Creosoti qu. s. ut f. pasta.
Die abgetödtete Pulpa muss extrahirt werden, da sie sonst der Gangrän
verfallt und Reizungen der Beinhaut nach Einführung einer Füllung, sowie anderer-
seits der übelste Geruch aus dem Munde bei Ausserach tlassung einer weiteren
Behandlung unvermeidlich sind. Zum Ausfüllen des Wurzelcanales ist am geeignetsten
ein Daueren tisepticum. Die Kronencavität kann mit einem beliebigen Material
ausgefüllt werden.
Behandlung der blossgelegten nicht entzündeten Pulpa.
Man verhindert den Zutritt des Speichels und der atmosphärischen Luft durch
Anlegen des Rubberdam und Einführung eines Antisepticums (2— -5°/0 Carbol-
lösung oder 4% Borsäure). Auf die Pulpawunde bringt man einen Tropfen dünn
angerührten Cementes von Fletchkr (Fletcher's „artificial dentine"). Sowie
dieser Tropfen erhärtet ist, füllt man die Cavität mit dicker angerührtem Brei
desselben Cementes voll. Man kann aber auch eine Phosphatcementfüllung darauf
legen. Nach 4 — 6 Wochen kann man den grössten Theil der Cementfüllung her-
au8rftumen und ein dauerhafteres Material einbringen.
Literatur: v. Metnitz, Lehrbuch der Zahnheilknnde. 1891.
Extraction der Zähne. Ueber diese Operation ist im Hauptwerke
so viel geschrieben worden, dass uns nur kurze Bemerkungen über die Wurzel-
extraction übrig bleiben. Die oberen Bicuspidaten soll man immer mit der Wurzel-
zange für den Oberkiefer extrahiren. Die für die Bicuspidaten empfohlene, nicht
Encyclop. Jahrbücher. I. 43
674
ZAHNOPERATIONEN. — ZWEIZELLENBAD.
BchliesseDde Zange ist gänzlich zu verwerfen. Die Wurzeln der Mahlzähne des
Unterkiefers, sowie auch tief zerstörte untere Mahlzähne empfehlen wir mit
einer von uns construirten (von Marconi in Wien verfertigten) Zange zu extra-
hiren. Dieselbe ist, dem Mundwinkel Rechnung tragend, zweimal im entgegen-
gesetzten Sinne über die Kante und einmal über die Fläche gekrümmt. Man
braucht daher eine Zange für links und eine für rechts. Der Schnabel der Zange
schlie8st nicht. Die Schnabelenden stellen scharfe Hohlmeissel dar. Der Zungen-
sohnabeltheil ist länger, nach einem kürzeren Radius gekrümmt und dadurch
sehr geeignet, auch gegen die innere Mundhöhle zu geneigte Zähne zu umgreifen.
Fistelbehandlung. Wir unterscheiden eine Zahnfleischfistel und eine
Wangen- (Haut ) Fistel.
1. Ursache einer Zahnfleischfistel ist eine chronische Periostitis, verur-
sacht durch Pulpagangrän. Man entferne die gangränösen Pulpareste und cauterisire
das röhrenförmige Geschwür mit einem Antisepticum , welches vom Wurzelcanale
aus durch das Foramen apicale applicirt wird. Auf eine Nervnadel wickelt man
einige Fäden Baumwolle und taucht selbe in concentrirte Carbolsäure. Ist jedoch
die Wurzelspitze bereits necrotisch, dann ist die Extraction der Wurzel das einzige
Mittel, die Fistel zu heilen.
2. Die Wangen- (Haut-) Fistel heilt nach Extraction der sie verur-
sachenden Wurzel meist binnen 14 Tagen. Gewöhnlich handelt es sich um eine
Wurzelspitze, die nach der Extraction eine zerfressene Oberfläche zeigt. Seltener
sehen wir die Wangen- (Haut ) Fistel verursacht durch eine zerfallene Pulpa in
einem äusserlich intacten Zahne. Jedoch zeigt ein solcher Zahn immer eine Ver-
färbung in's Schmutziggraue. Die Pulpa ist in letzterem Falle meist durch St<>ss
zu Grunde gegangen.
Replantation. Man kann einen pulpakranken Zahn extrahiren , den
Pulpacanal reinigen und mit einer Füllung versehet!. Sodann kann man den
Zahn in die Wunde wieder einsetzen. Die Einheilung des Zahnes erfolgt in
kürzerer oder späterer Zeit. Die Wurzeln der replantirten Zähne jedoch , sowie
der transplantirten verfallen der Resorption und somit der Ausstossung. Bei diesem
Resorptionsprocesse ist das Periost hervorragend thätig. Bei allen derartigen
Processen, bei welchen die Beiuhaut hervorragend thätig ist, sehen wir bei mikro-
skopischer Untersuchung neben Resorptionserscheinungen auch Knochenneubildung,
und zwar an Stellen , an denen der Resorptionsprocess durch eine Zeit still ge-
standen hat. Diese Knoehenneubildung, die wir fast immer als Begleiterscheinuug
des Resorptionsprocesses auftreten sehen, wurde von oberflächlichen Beobachtern
als ein Zeichen der knöchernen Einheilung der replantirten Zähne angesehen
und falsch gedeutet. In neuester Zeit versucht man ganze Porzellanzähne mit
durchlöcherten Wurzeln in die Zahnzellen einzusetzen. Einige sollen bereits ein-
geheilt sein. Die Porzellan wurzel kann natürlich nicht resorbirt werden, aber die
knöcherne Zahnzelle muss selbstverständlich in Folge des Reizes durch den Fremd-
körper der Resorption verfallen. Sind ja doch die Löcher in der Porzellanwurzel
nur dazu da, dass Granulationsgewebe in dieselben hineinwuchere.
Literatur: v. Metnitz, Das Schwinden der Milchzahn wurzel. 18*8. — Schelf,
Die Replantation der Zähne. 1891. — v. Metnitz, Lehrbuch der Zahnheilkunde. Ib91. —
Znamensky, Implantation künstlicher Zähne. Deutsche Monatsschr. für Zahnheilk. 18'.' 1.
v. Metnitz.
ZelltheÜUng, *. Karyokinese, pag. 357.
ZOOgloea. s. Mikroben, pag. 472.
Zweizellenbad (Gakrtner'üO. s. hydroelektrische Bäder,
pag. 338.
ZW1ESELBAD-HANDLH0F.
675
ZwieS6lbad-Handlhof , Bade- und Luftourort in der Provinz Salzburg,
Bahnstation Gotting, am Fusse der Zwieselalpe, eines Ausläufers des Dachstein-
gebirges, mit neuerdings hergestelltem Cur- und Badehdtel, 712 M. über Meer ;
kräftige salinische Mineralquelle, die zum Trinken und Baden benutzt wird, nach
der Analyse von Prof. F. Schneider in 1000 Theilen :
Specifisches Gewicht 1*0073. — Indioationen bei habituellen Stuhl Ver-
stopfungen, chronischen Bronchial-, Magen- und Darmcatarrhen , bei Leber-
anschoppungen und daraus hervorgehenden Verdauungsstörungen, Hämorrhoiden,
Fettsucht, bei einigen Frauenkrankheiten und Scrophulose.
Im Artikel Aphasie (pag. 55) des 1. Supplementheftes ist Figur 3 irrthümlich
doppelt abgedruckt; nur die rechtsstehende Fignr ist giltig.
Chlornatrium . .
Kali ....
Schwefelsaures Kali
Chlorwasserstoff .
Kieselsäure . .
Magnesia . . .
Kalk ....
3-424
1-087
1- 157
0-725
0019
0-570
2- 553
Berichtigung.
Verzeichniss
der in diesem Bande enthaltenen Artikel.
Seite
Abasie and Astasie 1
Abdominaltyphus 2
Abfallstoffe, Abwässer 15
Abortus (forensisch) 20
Abrusgift 20
Abwässer, s. Abfallstone 22
Acclimatisation 22
Accommodationskrampf 24
Adaptation 25
Addison'sche Krankheit 26
Aderlass 27
Adipocire 31
Aerzteorganisation 31
Agaricin 33
Agoraphobie 33
Ainhnm 34
Aktinomykose 36
Albuminimeter 36
Alkalescenz 36
Alkoholismus 37
Amalgamfällungen, s. Zahnoperationen . 38
Amputation 38
Amylum hydratum 40
Anämie 40
Andromedotoxin 44
Aneurysma 44
Anhalonium 46
Anilinfarbstoffe 46
Anilinum crudum 48
Anthropocholalsäure 49
Antidota 49
Antifebrin 50
Anti nervin 50
Antiphlogose 5>
Antipyrese 52
Antipyrin 53
Antisepsis 54
Antiseptin 54
Antrophore, s. Tripper 54
Aphasie 55
Apnoe 58
Apomorphinum 59
Aprosexia 59
Seite
Apsithyria 60
Arbeitsparesen, 8. Beschäftigungsneurosen 61
Argyria 61
Arrestantenlähmung 62
! Arsenigsanres Kupfer 62
Arsenik vergiftuog 63
Arzneimittel verkehr 64
Astasie, s. Abasie 65
Athetose 65
Auctionatorkrampf , s. Beschäftigungsneu-
rosen 65
Augenheilmittel 66
Augenmuskellähmungen 68
Auscultation 68
Bacterien, s. Mikroben 73
Bad 73
Basedow'sche Krankheit 73
Bauchwuuden 77
Baupolizei 77
Beleuchtung 82
Beri-Beri 85
> Berylliumverbindungen 93
1 Beschäftigungsneurosen 93
! Beulen, endemische Beulen, Boutons . . 94
Bier 98
Blausäure 99
Bleichsucht, Aderlassbehandlung, s. Ader-
lass 100
Blei 100
' Blepharitis ciliaris 102
Blitzschlag 102
Blutanomalien 103
Blutfleckenkrankheit 107
Blut spuren (forensisch) 1 10
Blutstillung 113
Borax 118
Bosnische Mineralquellen, s. Guberquelle . 118
Branntwein 118
Brausebäder, s. Bad 119
Brillen 119
Brom und Brompräparate 119
Brustfellentzündung 120
Brust wunden 126
677
Seite
Bryönia alba, s. Blutstillungsmittel . . .126
Bubo 126
Butter 127
Canalisation, s. Abfallstoffe 130
Carbolsäure bei Bromverätzung, s. Antidot* 130
Carcinom 130
Caries (der Zähne), s. Zahnkrankheiten . 144
Carotidengeräusch, s. Auscultation . . . 144
Cataracta 144
Catheterismus der Luftwege 148
Cement, s. Zahnsubstanzen. — Cement-
füllungen, s. Zahnoperationen .... 149
Chalazion 149
Chinotoxin 149
Chloralfonnamid 149
Chlorosis, Bleichsucht 149
Cholagoga 153
Cholera 154
Cholesterin 156
Chrom Verbindungen 157
Chorea 157
Cineol 159
Clavierspielerkrampf P s. Beschäftigungs-
neurosen 160
Climacterisches Alter der Frauen . . . 160
Cocain 162
Codein 162
Coffein 162
Coleb icin, Colchicum 162
Colitis, s. Darmentzündung 163
Cooipression 164
Condylome (spitz«) 165
Conjunctivitis 166
Contactbrillen, s. Brillen 168
Creolin, s. Augenheilmittel 168
Uretinismus 168
Curare 170
Cyanose 171
Cyan Verbindungen 172
Cyclamin 172
Darmblutungen . .173
Darmcatarrh . 173
Darmentzündung 174
Darmgeschwür 175
Darminfusion 176
Darmperforation bei Abdominaltyphus . 178
Darmstenose 178
Dengue, Denguefieber 182
Desinfection 183
Desinfectol 197
Diabetes insipidus 197
Diabetes mellitus 198
Diät *04
Diaphanoskopie 206
Digitalis 206
Dilatationsaneurysmen, s. Endarteriitis . 207
Dinitrocresol 2U7
Diphtheritis . 207
Diuretin 213
Döglingöl 213
Drainage 213
Dramin, s. Augenheilmittel 219
Duboisin 219
Dyslexie, s. Aphasie 219
Kisen und Eisenpräparate 220
Elektrisches Licht, s. Beleuchtung . . . 221
Elektrodiagnostik und Elektrotherapie . 221
Seite
Elektrolyse bei venerischen Papillomen, s.
Condylome 232
Empyem, s. Brustfellentzündung .... 232
Endarteriitis, Arteriosclerose und Aneu-
rysma 232
Entartungsreaction , s. Elektrodiagnostik
und Elektrotherapie 246
Enteritis membranacea, s. Darmentzündung 246
Ephedrin , als Mydriaticum , s. Augen-
heilmittel . . / 246
Epididymitis 246
Erdrosseln 249
Erfrieren, Erfrierungstod (forensisch) . . 249
Erhängen . . 250
Erstickung 250
Ertrinken 250*
Erwürgen 252
Erythrophlaein, s. Augenheilmittel . . . 252
Eserinum 252
E s 1 1 a n d e r'sche Operation, s. Brustfellent-
zündung 252
Encalypto], s. Cineol 252
Euphorine 252
Extraction der Linse, s. Cataracta . . . 253
Fabrikhygiene 254
Faradimeter, s. Elektrodiagnostik und
Elektrotherapie 259
Federgalvanometer , s. Elektrodiagnostik
und Elektrotherapie 259
Felinsäure, s. Anthropocbolalsäure . . . 259
Fettsucht 259
Filariakrankheiten 262
Filix mas 265
Fleischverkehr 265
Flüssigkeitsrheostat, s. Elektrodiagnostik
und Elektrotherapie 267
Fluorescein 267
Fluorwasserstoffsäure und Fluornatrium . 267
Folia Belladonna 269
Frakturen 269
Franklinisation, Franklinotherapie, s. In-
fluenzmaschinen 275
Friedreich'sche Krankheit 275
Fructus Colocynthidis 277
Funiculiti8 277
Gallium 278
Galopprhythmus, s. Auscultation .... 278
Galvanokaustik und Galvanolyse .... 278
Galvanometer, s. Elektrodiagnostik und
Elektrotherapie 278
Galvanopunktur der Aneurysmen , s.
Aneurysma 278
Gaslicht, 8. Beleuchtuug 278
Gastrodiaphan, 8. Diaphanoskopie . . . 278
Gehirnkrankheiten 278
Gehirnkrankheiten (chirurgisch) .... 282
Gelenkentzündong bei AbdominaJtyphus 284
Geranium maculatum, s. Blutstillung . . 284
Gicht 284
Glykosurie, 8. Diabetes mellitus .... 285
Glykuron8äure 285
Gonococcus, s. Tripper 287
Graphitrheostat, s. Elektrodiagnostik und
Elektrotherapie 287
Graues Oel, s. Syphilis 287
Grippe 287
Guberquelle 287
678
Seite
Gutti 288
Gymnastik , maschinelle (Zande r'sche),
s. Mechanotherapie 288
Haminkry8talle, s. Blutspuren 289
Hämoglobinkrystalle 289
Hämopbilie 289
Hamamelis, s. Blutstillung 289
Harn 289
Harnsäurestauung, s. Gicht 298
Hebammenwesen 298
Heereskrankheiten 300
Heilgymnastik 308
Herniaria glabra et hirsuta 317
Herzgeräusche, s. Auscultation 317
Herzkrankheiten 318
* Herzpalpitationen, Herzschwäche . . . 338
Heteroianthin, s. Harn 338
Hirnabscesse, s. Gehirnkrankheiten . . . 338
Hirnblutungen 338
Hirngeichwulste (Exstirpation) .... 338
Hirnsyphilis 338
Hirnwnnden 338
Hitzedesinfection, s. Desinfection .... 338
Homatropinum hydrobromicum .... 333
Horizontalgalvanometer , s. Elektro-
diagnostik und Elektrotherapie . . . 338
Huminsubstanz im Harn 338
Hundseck 338
Hydrastis, s. Blutstillung 338
Hydroelektrische Bäder 338
Hyoscinum hydrobromicum 341
Hypnotismus, 8. Suggestiv-Therapie . . 341
Jaborin, s. Augenheilmittel (Mydriatica) . 342
Idiotismus, s. Cretinismus 342
Jequirity, s. Abrusgift 342
Immunität 342
lndicanausscheidung 347
Indigoroth, s. Harn 347
Indigurie 347
Inductionsapparate, s. Elektrodiagnostik
und Elektrotherapie 347
Influenza, s. Grippe 347
Influenzmaschinen (Franklinisation, Frank-
linotherapie) 347
Inten tionspsychose, s. Agoraphobie . . . 355
Intubation, s. Catheterismus der Luft-
wege 355
Jugularvenengerätuch, s. Auscultation . . 355
Kak-ke, s. Beriberi 356
Kali cantharidinicum , cantharidinsaures
Kali 356
Kalium telluricum. tellursaures Kali . . 357
Karyokinese 357
Kataphorese, s. Elektrodiagnostik und
Elektrotherapie 370
Kawaharz, s. Augenheilmittel (Anaesthe-
tica) 370
Kefir 370
Kehlkopf (Krankheiten), s. unter Larynx . 372
Kehlkopfgeschw&re bei Abdominaltyphus . 372
Kehlkopfspiegel, s. Laryngoskopie . . . 372
Keratinum 372
Klimatische Curen und Ourorte .... 372
Knochenbruch,Knochenwunde, s.Frakturen 377
Knochenentzündung bei Abdominaltyphus 377
Koch'sches Verfahren 377
Kohlenoxyd 417
Seite
| Krebs, s. Carcinom 420
Kreosot 420
Krim, s. klimatische Curen und Curorte . 421
Krötengift, s. Augenheilmittel 421
Kugelthromben (des Endocards), s. Herz-
krankheiten 421
! Kunstbutter, s. Butter 421
! Kupfervitriol als Desinficieus, s. Desin-
fection % 421
Lamium album, s. Blutstillung .... 422
' Laryngoskopie 422
! Larynx (anatomisch) 423
Larynxcatarrh 424
Larynxfractur 425
Larynxgeschwüiste 426
I Larynxödem 428
| Larynxtuberkulose 429
; Lathyrismus 432
1 Laugenvergiftung 434
! Lavatur (Auswaschung), s. Antidot« . . 434
i Leuchtgasvergiftung 434
Leukämie 436
Lipacidurie, s. Harn . 438
Liquor ferri albuminati, ferri jodati, s.
Eisenpräparate 438 .
Liquor ferri peptonati 438
Listerine 438
Lolch (Lolium) 438
Lorchelgift, 8. Pilzvergiftung 439
Luftuntersuchungen 439
Lungenkrankheiten 442
Lungenseuche, Schutzimpfung, 8. Im-
munität 456
Lupus 456
Lussin, 8. Klimatische Curen 456
Lysol 456
Madera, s. klimatische Curen 458
Magenausspülung bei Darmstenose . . . 458
Maschinelle Gymnastik, s. Heilgymnastik 458
Masern 458
Massage, s. Mechanotherapie. — Bei
Frakturen 460
Maturation der Cataracta 460
Mechanotherapie 460
Melanurie 468
Melkerkrampf, s. Beschäftigungsneurosen . 469
Meningitis bei Abdominaltyphus .... 469
Menthol 469
Mercnrial Nation bei Abdominaltyphus . . 469
Methylenblau 469
Methyl violett, s. Anilinfarbstoffe . . . .470
Migraine . . . 470
Mikroben 471
Mikroben (Mikroorganismen) 490
Milchzucker bei Herzkrankheiten . . . 491
Militär-Krankendienst 491
Milzbrand, Impfung, s. Immunität . . . 499
Mitralstenose, 8. Herzkrankheiten . . . 500
Mittelohraft'ectionen 501
Morvan'sche Krankheit 50 1
Muscarin 502
Muskelabscesse bei Abdominaltyphus . . 502
Musquitos, s. Filariakrankheiten .... 502
Mydriatica, s. Augenheilmittel 502
Nährboden, r. Mikroben 503
Nährclvstiere 503
Naht * 503
679
Seite
Naphthalin bei Abdominaltyphus .... 514
Naphthol bei Darmcatarrh 514 j
Naregamia aleata 514 I
Nasen blaten, s. Blutstillung 514
Natiium fluoratum, 8. Fluornatrium . . .514 |
Natriumsulfit, s. Antidota 514
Nebenhoden, Entzündung, s. Epididymis 515
Nephrotyphus, s. Abdominal typhua . . . 515
Nerveuextraction 515
Neuropathische Gelenkentzündungen . . 516
Nierenentzündung 516
Nitropru88idnatrium, s. Blausäure . . . . 5 18
Norwegen, s. klimatische Curen und Cur-
orte 518
Nylander's Reagens, s. Harn 518
Oertel-Cur, s. Fettsucht 519 I
Oleum camphoratum 519
Oleum choenocoeti, s. Döglingöl . . . .519
Oligämie, Oligocythämie, s. Anämie . *. 519
Oligochromämie, s. Chlorose 519
Osmiumsäure 519
Ovarien 520
Oxybuttersäure bei Diabetes mellitus . . 550
Oxydicolchicin, s. Colchicin 550
Palmella, s. Mikroben 551
Pancreatischer Diabetes, s. Diabetes mel-
litus 551
Paraldehyd 551
Paraly^is agitans 551
Paraphasie, s. Aphasie 552
Paraxanthin, s. Harn 552
Pasteuria ramosa, s. Mikroben 552
Pectoriloquie, s. Auscultation 552
Penghawar Djambi, s. Blutstillung . . . 552
Pentam-thylendiamin, s Harn 552 ;
Peptonurie 552
Percussion . 552
Pericardiales Sehnenpfeifen, s. Auscultation 553
Pericarditis, s. Herzkrankheiten .... 553
Perniciöse Anämie 553
Phenacetinum 557
Phenocollum hydrochloricum 557
Phenol- Quecksilber, s. Quecksilber . . .558
Phenylhydrazin 558
Phenylurethan, s. Euphorin 558 1
Phloridzin, s. Diabetes mellitus .... 558
Phosphaturie 558
i'hysostigmin 559
Pilocarpin um hydrochloricum 559
Pilzvergiftung 559 !
liperazidin 565
Plattenculturen, s. Mikroben 565
Platzangst, s. Agoraphobie 565
Pleuritis, s. Brustfellentzündung .... 565
Pneumatische Therapie 565
Pneumaturie 573
Pneumonie, Aderlassbehandlung. — Pneu-
moniecoccns, s. Brustfellentzündung . . 573
Polydipsie, 8. Diabetes insipidus. — Po-
lyurie, Ibid 573
Propeptonurie 573 i
Pteudarthrosis, s. Fractur 573
Pseudobulbärparalyse 573
P8eudoephedrin als Mydriaticum, 8. Augen-
heilmittel 574
Paeudoleukämie 574 I
Pseudomucin, s. Ovarialcysten 576 '
Seite
Pseudomyxom» peritonei, s. Ovarien . . 576
Pseudotubovarialcysten 576
Ptomaine, s. Mikroben 576
Purpura haemorrhagica , s. Blutflecken-
krankheit 576
Pyoktanin, 8. Anilinfarbstoffe 576
Pyrrol 576
Quecksilber 577
Rachenerkrankung bei Abdominaltyphus,
bei Scharlach . 583
RauBchbrand (der Schafe), s. Immunität . 583
Recrutirung 583
Recurrirendes Lymphosarcom , s. Pseudo-
leukämie 592
Rheostat, s. Elektrodiagnostik und Elektro-
therapie. Rheostat-Elektrode 593
Ricin 593
Röthein . . . 594
Rosenbach's Reaction 594
Rothlauf (der Schweine), s. Immunität . 596
Rubidium-Ammonium-Bromid 596
Rückfallsfieber, chronisches, s. Pseudo-
leukämie 596
Rupturaneurysmen, s. End arte ritis . . . 597
Saccharin, s. Diabetes mellitus .... 598
Safransurrogate, s. Dinitrocresol .... 5^8
Salicylpräparate, s. Bauchfellentzündung . 598
Samenstrang, Entzündung, s. Funiculitis 598
Sarciua, s. Mikroben 598
Schädelresection, temporäre, s. Gehirn-
krankheiten 598
Schafpocken (Ovinisation), s. Immunität . 598
Schanker 598
Scharlach 601
SchiiFshygiene 604
Schlachtanlagen, Schlachthäuser, s. Fleisch-
schau 606
Schraubenbacterien (Spirillen), s. Mikroben 606
Schwindel im Climacterium 6ü6
Seereisen, s. klimatische Cureu .... 606
Sehnenpfeifen (pericardiales), s. Ausculta-
tion 606
Separat i od s System, s. Abfallstoffe . . . 607
Sexual verhält nisn 607
Spartein bei Herzkrankheiten 608
Species diureticae 608
Spermin 608
Sporen, s. Mikroben 609
Sputa 609
Staar, s. Cataracta 610
Stabchenbacterien, s. Mikroben . . . .610
Staphylococcen, s. Mikroben 610
Steigeapparate, s. Heilgymnastik 610
Sterilität des Weibes 610
Stichculturen. Striehculturen, 8. Mikroben 614
Stieltorsion bei Ovarialtumoren .... 614
Streptococcen, s. Mikroben 614
Stimmband lähmungen 614
Stottern 617
Stromwage , s. Elektrodiagnostik und
Elektrotherapie 617
Strophanthus 617
Styli caustici 618
Subclaviageräusch, s. Auscultation . . . 618
Sublimat, Snblimatbäder 618
Succus entericus 618
Suggestiv-Therapie 620
LANK MKDICAL LIBRARY
To avold flue, Ibis book should be returned
oii or bofon; t lio dalu last. Htampcd below.
LANE MEOICAl LI- «
STANFORD UNIVERStH
MEOICAL CENTER
STANFORD. CALIF. 9430b