INNERUNGEN
BRIEFE
OKUMENTE
1877-1916
HAROLDb KY
BRIGHAM YOUNG UMVERSITY
PROVO.UTAH
Generaloberst Helmuth von Moltke
Erinnerungen - Briefe - Dokumente
Generaloberst
Helmuth von Moltke
Erinnerungen
Briefe Dokumente
1877-1916
Ein Bild vom Kriegsausbruch,
erster Kriegsführung und Persönlichkeit des
ersten militärischen Führers des Krieges
Herausgegeben und mit einem Vorwort versehen von
Eliza von Moltke
geb. Gräfin Moltke-Huitfeldt
1922
Der Kommende Tag A.-G. Verlag, Stuttgart
Zweite Auflage
Sechstes bis zehntes Tausend
Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in sämtliche Sprachen,
ausdrücklich vorbehalten
Copyright 1922 by Der Kommende Tag A.-G.
Verlag, Stuttgart
Druck: Der Kommende Tag A.-G. Verlag, Stuttgart
HAROLD B. LEE LTBRARY
BR1GHAM YOUNG ÜMVERSITY
Vorwort des Herausgebers
Im Frühjahr 1919 faßte ich den Entschluß, die Auf-
zeichnungen meines Mannes, des Generalobersten
von Moltke, über den Kriegsausbruch zu veröffent-
lichen, damit noch rechtzeitig vor dem Abschluß der
Friedensverhandlungen in Versailles die Wahrheit
bekannt werde. Denn ich besaß in diesen Aufzeich-
nungen den Beweis, daß Deutschland nicht in dem
Sinn am Weltkriege schuldig sei, wie seine Gegner
behaupten, um einen Gewaltfrieden zu ihren Gunsten
herbeiführen zu können. Aus diesen Aufzeichnungen
geht zwar die Unfähigkeit und Hilflosigkeit der po-
litischen Leitung Deutschlands in der entscheiden-
den Zeit in ihrem ganzen Umfang hervor, zugleich
aber wird durch Darstellung bisher unbekannter,
wichtigster Tatsachen und Vorgänge der unumstöß-
liche Beweis erbracht, daß die deutsche Regierung
den Krieg nicht gewollt hat. Glaubte doch diese Re-
gierung noch in den Tagen des Kriegsausbruchs an
den Willen Englands, die Ausdehnung des Krieges
zu verhindern, so daß Kaiser und Reichskanzler, die
in diesem Irrtum befangen waren, hemmend in den
Gang der Mobilmachung eingriffen.
Der Versuch, diesen Beweis von Deutschlands Frie-
denswillen in Versailles vorzubringen und dadurch
den Gewaltfrieden, der sich auf Deutschlands Schuld *
* Der Artikel 231, S. 122, der amtlichen Ausgabe des Versailler
Friedensvertrages lautet:
Die alliierten und assoziierten Regierungen erklären, und Deutsch-
land erkennt an, daß Deutschland und seine Verbündeten als Ur-
heber für alle Verluste und Schäden verantwortlich sind, die die
alliierten und assoziierten Regierungen und ihre Staatsangehörigen
infolge des Krieges, der ihnen durch den Angriff Deutschlands
und seiner Verbündeten aufgezwungen wurde, erlitten haben.
Die richtige Übersetzung lautet: Die alliierten und assozi-
VII
aufbaut, unmöglich zu machen, scheiterte. — Die Auf-
zeichnungen sollten damals erscheinen, um vor die
Menschen und Völker die nackten Tatsachen hinzu-
stellen und dadurch eine Gegenwirkung gegen die Ver-
schleierung der Wahrheit zu schaffen. Auch dieser
Versuch eines Appells an die Öffentlichkeit scheiterte,
da das Erscheinen der Aufzeichnungen durch das Ein-
greifen gewisser Persönlichkeiten verhindert wurde.
Seitdem dieses im Jahre 1919 sich abspielte, hat sich
manches zugetragen. Der Frieden von Versailles, des-
sen Schuldartikel deutsche Unterhändler unterschrie-
ben haben, hat das größte Unheil über Deutschland
und die Welt gebracht. In Deutschland ist inzwischen
eine ganze Literatur entstanden, die sich mit den Grün-
den des Kriegsverlustes beschäftigt. Immer wieder
wird auf die Marneschlacht und das Versagen der
ersten Obersten Heeresleitung, insbesondere auf die
angebliche Unfähigkeit Moltkes hingewiesen. Heißt
es doch in dem von Karl Rosner herausgegebenen
Buch »Erinnerungen« des ehemaligen Kronprinzen
Wilhelm, Moltke habe »in einem mißverstandenen
Pflichtgefühl, wider Willen und in Erkenntnis seiner
Unzulänglichkeit« eine Aufgabe, die über seine Kräfte
ging, auf sich genommen. Das sei sein Verhängnis
geworden. Seines und der Unsrigen.
ierten Regierungen erklären, und Deutschland erkennt dies an,
daß Deutschland und seine Verbündeten für alle von ihnen ver-
ursachten, den alliierten und assoziierten Regierungen und ihren
Volksangehörigen erwachsenen Verluste und Schäden verant-
wortlich sind, die entstanden sind als Folgen des Krieges, der
ihnen durch den Angriff Deutschlands und seiner Verbündeten
auferlegt worden ist.
Ich sage das Obige trotz dieser etwas wenig sagenden
Fassung des Artikels nicht aus einer fälschlichen Inter-
pretation desselben heraus, die den Deutschen sonst
vorgeworfen wird, sondern weil das Gesagte seine tat-
sächliche Folge und seine Behandlung von Seiten der
Sieger in Wirklichkeit so ist (Der Herausgeber.)
VIII
Sätze dieser Art sind es, die mir die Herausgabe
des vorliegenden Buches zur Pflicht machen. Mit
Moltkes eigenen Worten soll ein Bild seines Wir-
kens und seiner Anschauungen gegeben werden, und
zwar durch die Veröffentlichung von Briefen aus sei-
ner Frühzeit bis zu den Aufzeichnungen während des
Krieges. Nur hierdurch können die ungeheuerlichen
Vorwürfe zurückgewiesen werden. Diese Briefe und
Dokumente werden zeigen, wo die »Unzulänglichkeit«
lag und wie sich in Moltkes Persönlichkeit größtes
Verantwortungsbewußtsein mit einem umfassenden
Überblick über die Verhältnisse und dem Willen zum
Handeln unter Zurückstellung aller persönlichen Be-
denken vereinigte. Als am 7. Januar 1905 die Unter-
redung zwischen dem Kaiser und Moltke über die
Annahme des Postens des Chefs des Generalstabes
stattfand, für welchen der Kaiser ihn auf den Rat des
Grafen Schlief fen ausgesucht hatte, machte Moltke
die Annahme davon abhängig, daß der Kaiser nicht
persönlich in die militärische Leitung eingreifen solle.
Acht Friedensjahre hindurch hat der Kaiser seine Na-
tur bezwungen. Er tat es, weil er wußte, daß er kei-
nen treueren Berater als Moltke hatte. Da wo es sich
um den wirklichen Krieg, nicht nur um Manöver han-
delte, am i.August 1914, hörte er zum erstenmal nicht
auf den erprobten langjährigen Mitarbeiter, er griff
ein in militärische Notwendigkeiten und gab über den
Kopf Moltkes hinweg einen Befehl, der den gesam-
ten Aufmarsch gefährden mußte.
Es ist nicht wahr die immer wiederkehrende Be-
hauptung, Moltke sei schon lange vor dem Kriege
schwer krank gewesen. Auch sein letzter Besuch in
Karlsbad kurz vor Kriegsausbruch erfolgte aus Fa-
miliengründen und hatte mit seiner längst verheilten
Krankheit nichts zu tun. Moltke ging in voller Ge-
IX
sundheit frisch und tatkräftig am i. August ins Schloß.
Erst, was er dort in den Nachmittagsstunden des i. Au-
gust erleben mußte, hat ihn auf das schwerste ge-
troffen. Dem Generalstabschef oblag es, die militäri-
schen Maßregeln so zu ergreifen, daß das Vaterland
inmitten eines Walles von Feinden nicht zertrüm-
mert werde; die Politik, die auf Sand gebaut war,
versagte, und darum war die militärische Verfügung
die einzig mögliche. Auf Moltke, der seit Jahren mit
klarem Blick die politische, wirtschaftliche und mili-
tärische Lage Deutschlands erkannt hatte, der immer
auf die Gefahren hingewiesen hatte, die Deutschland
drohten, lastete in diesen Stunden, in denen er um
die Ausführung des Mobilmachungsplanes kämpfen
mußte, ganz allein die Verantwortung. Nach diesen
Stunden, in denen alle seine Einwände überhört wur-
den, war Moltke ein anderer Mensch. Seine Zuver-
sicht war erschüttert. Das Vertrauensverhältnis zwi-
schen ihm und dem Kaiser war zerstört. Seine Über-
zeugung war von da ab : Wo solche Verhältnisse in
einem Lande möglich sind, muß Unglück daraus ent-
stehen. Zwar hat Helmuth von Moltke die einschlägi-
gen Verhältnisse seit langer Zeit sachgemäß ernst be-
urteilt, aber stets gemeint, der Ernstfall werde in
den maßgebenden Persönlichkeiten die notwendigen
Kräfte auslösen, was leider nicht eingetroffen ist. »Ich
kann wohl Krieg führen gegen den äußeren Feind,
aber nicht gegen den eigenen Kaiser«, waren seine
Worte nach den vorangegangenen Erlebnissen. Der
einzige Mann, der am i. August nach dem völligen
Versagen der deutschen Politik die militärisch not-
wendigen Verfügungen treffen mußte, der in diesen
Augenblicken kämpfen mußte gegen Unverstand und
Kurzsichtigkeit in militärischer und politischer Hin-
sicht, dieser Mann war, als ihm endlich am Spät-
abend des i. August 1914 die Handlungsmöglichkeit
zurückgegeben wurde, bis ins Mark hinein getroffen
durch dasjenige, was er an diesem Nachmittage er-
lebt hatte. Das ist die furchtbare Wahrheit. An dem
Eindruck dieser Erlebnisse, der nicht aus seinem Be-
wußtsein auszulöschen war, krankte Moltke noch in
der nächstfolgenden Zeit, und die Wirkungen dieser
Stunden machten sich geltend, als der erste große
Rückschlag im Kriege eintrat.
Wer gerade Moltkes Verantwortungsgefühl und -be-
wußtsein gekannt hat, wird verstehen, daß diese Er-
fahrungen des 1. August eine tiefgehende Wirkung
auf ihn ausüben mußten. Darin, daß das Verständnis
für solche »Imponderabilien« unseren Zeitgenossen
verlorenging und sich ihr Denken und Urteilen so
sehr vergröberten, liegt der Gund zu der falschen Be-
urteilung der Persönlichkeit Moltkes, wie auch mei-
nes Erachtens eine Hauptursache für die trostlosen
Verhältnisse unserer jetzigen Zeit.
Moltkes Absicht, neue Operationen einzuleiten,
nachdem durch den Rückzug an der Marne die Ar-
meen wieder Bewegungsfreiheit erlangt hatten, wurde
unter der Leitung des Generals von Falkenhayn nicht
ausgeführt. Statt dessen fing der Stellungskrieg an,
den Moltke unter allen Umständen vermeiden wollte,
da er darin die größte Gefahr für das deutsche Heer
erkannte. Die Entscheidung fiel nicht an der
Marne, sondern einige Wochen später im Osten.
Da fing der Kampf um die Leitung des Krieges zwi-
schen Ost und West an. General von Falkenhayn
verweigerte als Chef des Generalstabes dem Feld-
marschall von Hindenburg die von ihm im Novem-
ber 1914 angeforderten Truppen; der sicher erhoffte
Sieg über die Russen wurde dadurch vereitelt. Viel-
leicht wird einst die Geschichte über dieses dunkle
XI
Kapitel strenger urteilen, als man jetzt gewillt ist, es
zu tun, und dann die Ursachen erkennen für vieles,
das daraus folgte.
Moltke war seit Anfang Dezember 1914 wieder in
Berlin. Er fing nun an, in die wirtschaftlichen Ver-
hältnisse sich einzuarbeiten; er sah die Gefahren und
Übelstände im Lande, er erhob seine warnende Stim-
me. Dies erregte den Unwillen derjenigen Männer,
die jetzt die Macht in Händen hatten, und die ver-
suchten, seine Tätigkeit zu verhindern. Zur selben
Zeit entschlossen sich mehrere Persönlichkeiten, an
den Kaiser heranzutreten mit dem Hinweis, daß Ge-
neral von Falkenhayn ein Unglück für das Land sei,
daß die Armee kein Vertrauen zu ihm habe. Feldmar-
schall von Hindenburg verlangte seinen Abschied,
wenn General von Falkenhayn weiter die Leitung be-
halten würde. Moltke schrieb an den Kaiser, auch der
Kronprinz setzte sich für die Angelegenheit ein. Aber
alles war damals umsonst. Die Klarsehenden drangen
nicht durch. Zwanzig Monate später, im September
1916, drei Monate nach Moltkes Tod, wurde ausge-
führt, was er zur rechten Zeit zu unternehmen geraten
hat. Damals war er der einzige, der für das Verlan-
gen der im Osten führenden Persönlichkeiten an maß-
gebender Stelle ausführlich den strategischen Plan
vorschlug; später, als andere auf dasselbe verfielen,
war es für vieles leider zu spät. Denn die Gefahren für
Deutschland, die Moltke hatte kommen sehen, wenn
alles so blieb, wie es damals war, die waren eingetre-
ten und hatten eine verzweifelt ernste Lage gegen-
über der Übermacht der Feinde geschaffen. Was hätte
erreicht werden können, wenn im Jahre 1915 Moltkes
Rat befolgt worden wäre, wie hätte sich die Kriegs-
lage gestaltet, wenn im November 1914 oder später
im August 1915 die nötigen Truppen nach dem Osten
XII
geschickt worden wären? Unzählige Male hat Moltke
1915 gesagt, mit dem, was vom Großen Hauptquartier
für den Osten an Truppenmassen zur Verfügung ge-
stellt werde, ließen sich zwar schöne taktische Erfolge,
nicht aber ein durchgreifender strategischer Haupt-
schlag, wie er im Osten notwendig wäre, erreichen.
Bequem und entlastend für viele, die heute über
diese einschneidenden Fragen hinweggehen, ist es ge-
wiß, Moltke alle Schuld aufzubürden. Da er heute tot
ist und sich nicht verteidigen kann, was er sonst gewiß
sehr kräftig tun würde, obliegt mir die schwere Ver-
pflichtung, für ihn einzutreten. Es ist die Verpflich-
tung, ihn zu verteidigen gegen diejenigen, die immer
wieder von dem »entschlußschwachen«, »unfähigen«
Moltke, der seiner Aufgabe nicht gewachsen gewesen
sei, reden und schreiben. Moltke faßte den schwersten
Entschluß seines Lebens, eine neue wirksame Kriegs-
handlung im Westen nach den entstandenen Schwie-
rigkeiten dadurch einzuleiten, daß er den Hauptteil
der Armeen weiter rückwärts in neuer Frontgestal-
tung sammeln wollte. Daß sich seine Überzeugung,
auf diese Art den Krieg wirksam weiter fortzuführen,
nicht ausführen ließ, liegt daran, daß ihm vor der
Ausführung die Führung abgenommen worden ist.
In seinem ganzen Leben hat Moltke bewiesen, daß
er sich nicht scheute, zu handeln und rücksichtslos
seine Person einzusetzen, wo es des Landes Wohl
galt. Seine Überzeugung von der Unzulänglichkeit
anderer hat ihn zu Beginn des Krieges gelähmt, seine
Kräfte in entscheidender Zeit nicht voll zur Entfal-
tung kommen lassen.
So mag, was Moltke gedacht, gefühlt, gewirkt und
gelitten hat, für ihn zeugen, und alle die, denen es
unbequem sein wird, mögen bedenken, daß sie die
Veröffentlichung durch ihr eigenes Verhalten verur-
XIII
sacht haben; denn wahrlich, nicht leichten Herzens
ist der Entschluß zu diesen Veröffentlichungen ge-
faßt worden, sondern aus der Erkenntnis heraus, daß
es die Pflicht fordert, für einen Mann einzutreten,
der in der unerhörtesten Weise verleumdet wird.
Moltke war der treueste Diener seines Königs und
Vaterlandes, der an gebrochenem Herzen starb aus
Sorge um sein Volk und Land, weil er genau voraus-
sah und voraus erlebte, wie alles kommen und wer-
den müsse in Anbetracht der Verhältnisse, die in
Deutschland herrschten. Diese Veröffentlichungen
sollen dazu beitragen, daß die Wahrheit erkannt
werde, und so der Weg gefunden werden kann, um
die Unwahrhaftigkeit zu besiegen, die als zerstörende
Kraft alles wahre Leben vernichten möchte, die
Deutschland mehr und mehr in einen Trümmerhau-
fen verwandeln wird, wie Moltke es bereits im Früh-
jahr 1904 voraus empfand und niederschrieb.
Möchten doch die Deutschen endlich aufhören, sich
selber zu zerfleischen, ihre besten Männer zu verun-
glimpfen. Nur so kann in Erfüllung gehen, woran
Helmuth von Moltke fest glaubte: die Neugeburt des
echten wahren Deutschtums, aufgebaut auf Wahr-
heit und Erkenntnis. Dann sind seine Leiden um sein
Vaterland nicht umsonst gewesen, dann verwandelt
sich seine »Tragik« in ein für das Deutschtum segen-
bringendes »Heldentum«, dessen Früchte spätere Ge-
schlechter ernten werden. »Ihr werdet die Wahrheit
erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen.«
Unter diesem Leitmotiv stehen meine Veröffent-
lichungen.
Weil ein übersichtliches Bild von Moltkes Wirken
und Persönlichkeit gegeben werden soll, ist die fol-
gende Anordnung des Inhaltes dieses Buches getrof-
fen worden.
XIV
Vorangestellt sind die Dokumente, die der Gegen-
wart ein sachgemäßes und wahres Bild der Vorgänge
von Ende Juli und Anfang August 1914 in Berlin geben.
Im Mittelpunkt dieses ersten Teiles steht Moltkes ei-
gene Niederschrift seiner Erinnerungen an die ent-
scheidenden Vorgänge und deren politische und mili-
tärische Bedeutung. Durch die Erinnerungen wird,
wie man überzeugt sein kann, eine Darstellung des
Kriegsausbruches gegeben, die trotz ihrer Kürze mehr
und wichtigeres enthält als alles, was bisher darüber
erschienen ist. Das Bild der künftigen Geschichts-
schreibung wird, wie man weiter überzeugt sein
kann, dieser Darstellung viel ähnlicher sein als den
anderen.
Dann folgen alle diejenigen Dokumente, die Molt-
kes Entwicklung in anschaulicher Art zeigen, bis zu
dem Zeitpunkte seines Lebens, in dem er bewußt
eine so schwere Entscheidung treffen mußte, wie
keine andere ihm bekannte Persönlichkeit der Ge-
genwart oder Vergangenheit.
Den Abschluß bilden Äußerungen seines Lebens-
ernstes nach seiner Enthebung aus der Stellung des
Chefs des Generalstabes, die in jeder Zeile ein Be-
weis dafür sind, daß er bis zu seinem Tode als treue-
ster Diener seines Volkes seine besten Kräfte zum
Opfer bringen wollte.
Berlin, Oktober 1922.
Eliza von Moltke
geb. Gräfin Moltke-Huitfeldt.
XV
Generaloberst Helmuth von Moltke
Koblenz August 1914
Erster Teil
Ein Memorandum Moltkes
Betrachtungen und Erinnerungen
Ein Memorandum Moltkes
Berlin, den 28. Juli 1914.
Zur Beurteilung der politischen Lage
Es ist ohne Frage, daß kein Staat Europas dem
Konflikt zwischen Österreich und Serbien mit einem
anderen als wie menschlichem Interesse gegenüber-
stehen würde, wenn in ihn nicht die Gefahr einer
allgemein politischen Verwickelung hineingetragen
wäre, die heute bereits droht, einen Weltkrieg zu ent-
fesseln. Seit mehr als fünf Jahren ist Serbien die Ur-
sache einer europäischen Spannung, die mit nach-
gerade unerträglich werdendem Druck auf dem po-
litischen und wirtschaftlichen Leben der Völker lastet.
Mit einer bis zur Schwäche gehenden Langmut hat
Österreich bisher die dauernden Provokationen und
die auf Zersetzung seines staatlichen Bestandes ge-
richtete politische Wühlarbeit eines Volkes ertragen,
das vom Königsmord im eigenen zum Fürstenmord
im Nachbarlande geschritten ist. Erst nach dem letz-
ten scheußlichen Verbrechen hat es zum äußersten
Mittel gegriffen, um mit glühendem Eisen ein Ge-
schwür auszubrennen, das fortwährend den Körper
Europas zu vergiften drohte. Man sollte meinen, daß
ganz Europa ihm hätte Dank wissen müssen. Ganz
Europa würde aufgeatmet haben, wenn sein Stören-
fried in gebührender Weise gezüchtigt und damit Ruhe
und Ordnung auf dem Balkan hergestellt worden wäre,
aber Rußland stellte sich auf die Seite des verbreche-
rischen Landes. Erst damit wurde die österreichisch-
serbische Angelegenheit zu der Wetterwolke, die sich
jeden Augenblick über Europa entladen kann.
Österreich hat den europäischen Kabinetten erklärt,
daß es weder territoriale Erwerbungen auf Kosten
Serbiens anstreben, noch den Bestand dieses Staates
antasten wolle, es wolle den unruhigen Nachbar nur
zwingen, die Bedingungen anzunehmen, die es für
ein weiteres Nebeneinanderleben für nötig hält und
die Serbien, wie die Erfahrung gezeigt hat, trotz feier-
licher Versprechungen ungezwungen niemals halten
würde.
Die österreichisch-serbische Angelegenheit ist eine
rein private Auseinandersetzung, für die, wie gesagt,
kein Mensch in Europa ein tiefer gehendes Interesse
haben würde, das in keiner Weise den europäischen
Frieden bedrohen, sondern im Gegenteil ihn festigen
würde, wenn nicht Rußland sich eingemischt hätte.
Das erst hat der Sache den bedrohlichen Charakter
gegeben.
Österreich hat nur einen Teil seiner Streitkräfte,
8 Armeekorps, gegen Serbien mobilisiert. Gerade ge-
nug, um seine Strafexpedition durchführen zu kön-
nen. Demgegenüber trifft Rußland alle Vorbereitungen,
um die Armeekorps der Militärbezirke Kiew, Odessa
und Moskau, in Summa 12 Armeekorps, in kürzester
Zeit mobilisieren zu können* und verfügt ähnliche
vorbereitende Maßnahmen auch im Norden, der deut-
schen Grenze gegenüber, und an der Ostsee. Es er-
klärt, mobilisieren zu wollen, wenn Österreich in
Serbien einrückt, da es eine Zertrümmerung Ser-
biens durch Österreich nicht zugeben könne, ob-
gleich Österreich erklärt hat, daß es an eine solche
nicht denke.
Was wird und muß die weitere Folge sein?
* Randbemerkung: Moltlces : Ist inzwischen geschehen.
Österreich wird, wenn es in Serbien einrückt, nicht
nur der serbischen Armee, sondern auch einer star-
ken russischen Überlegenheit gegenüberstehen, es
wird also den Krieg gegen Serbien nicht durchführen
können, ohne sich gegen ein russisches Eingreifen
zu sichern. — Das heißt, es wird gezwungen sein,
auch die andere Hälfte seines Heeres mobil zu ma-
chen, denn es kann sich unmöglich auf Gnade oder
Ungnade einem kriegsbereiten Rußland ausliefern.
Mit dem Augenblick aber, wo Österreich sein ganzes
Heer mobil macht, wird der Zusammenstoß zwischen
ihm und Rußland unvermeidlich werden. Das aber ist
für Deutschland der Casus foederis. Will Deutschland
nicht wortbrüchig werden und seinen Bundesgenos-
sen der Vernichtung durch die russische Übermacht
verfallen lassen, so muß es auch seinerseits mobil
machen. Das wird auch die Mobilisierung der übri-
gen Militärbezirke Rußlands zur Folge haben. Dann
aber wird Rußland sagen können, ich werde von
Deutschland angegriffen, und damit wird es sich die
Unterstützung Frankreichs sichern, das vertrags-
mäßig verpflichtet ist, an dem Kriege teilzunehmen,
wenn sein Bundesgenosse Rußland angegriffen wird.
Das so oft als reines Defensiv-Bündnis gepriesene
französisch-russische Abkommen, das nur geschaf-
fen sein soll, um Angriffsplänen Deutschlands be-
gegnen zu können, ist damit wirksam geworden und
die gegenseitige Zerfleischung der europäischen Kul-
turstaaten wird beginnen.
Man kann nicht leugnen, daß die Sache von sehen
Rußlands geschickt inszeniert ist. Unter fortwähren-
den Versicherungen, daß es noch nicht »mobil« ma-
che, sondern nur »für alle Fälle« Vorbereitungen
treffe, daß es »bisher« keine Reservisten einberufen
habe, macht es sich soweit kriegsbereit, daß es, wenn
es die Mobilmachung wirklich ausspricht, in weni-
gen Tagen zum Vormarsch fertig sein kann. Damit
bringt es Österreich in eine verzweifelte Lage und
schiebt ihm die Verantwortung zu, indem es doch
Österreich zwingt, sich gegen eine russische Über-
raschung zu sichern. Es wird sagen: »Du Österreich
machst gegen uns mobil, du willst also den Krieg
mit uns.«
Gegen Deutschland versichert Rußland, nichts un-
ternehmen zu wollen, es weiß aber ganz genau, daß
Deutschland einem kriegerischen Zusammenstoß
zwischen seinem Bundesgenossen und Rußland
nicht untätig zusehen kann. Auch Deutschland wird
gezwungen werden, mobil zu machen, und wiederum
wird Rußland der Welt gegenüber sagen können: »Ich
habe den Krieg nicht gewollt, aber Deutschland hat
ihn herbeigeführt.« — So werden und müssen die
Dinge sich entwickeln, wenn nicht, fast möchte man
sagen, ein Wunder geschieht, um noch in letzter
Stunde einen Krieg zu verhindern, der die Kultur fast
des gesamten Europas auf Jahrzehnte hinaus ver-
nichten wird.
Deutschland will diesen schrecklichen Krieg nicht
herbeiführen. Die deutsche Regierung weiß aber, daß
es die tiefgewurzelten Gefühle der Bundestreue, ei-
nes der schönsten Züge deutschen Gemütslebens, in
verhängnisvoller Weise verletzen und sich in Wider-
spruch mit allen Empfindungen ihres Volkes setzen
würde, wenn sie ihren Bundesgenossen in einem Au-
genblick nicht zu Hilfe kommen wollte, der über des-
sen Existenz entscheiden muß.
Nach den vorliegenden Nachrichten scheint auch
Frankreich vorbereitende Maßnahmen für eine even-
tuelle spätere Mobilmachung zu treffen. Es ist augen-
scheinlich, daß Rußland und Frankreich in ihren Maß-
nahmen Hand in Hand gehen. — Deutschland wird
also, wenn der Zusammenstoß zwischen Österreich
und Rußland unvermeidlich ist, mobil machen und
bereit sein, den Kampf nach zwei Fronten aufzuneh-
men. Für die eintretendenfalls von uns beabsichtig-
ten militärischen Maßnahmen ist es von größter
"Wichtigkeit, möglichst bald Klarheit darüber zu er-
halten, ob Rußland und Frankreich gewillt sind, es
auf einen Krieg mit Deutschland ankommen zu las-
sen. Je weiter die Vorbereitungen unserer Nachbarn
fortschreiten, um so schneller werden sie ihre Mobil-
machung beendigen können. Die militärische Lage
wird dadurch für uns von Tag zu Tag ungünstiger
und kann, wenn unsere voraussichtlichen Gegner sich
weiter in aller Ruhe vorbereiten, zu verhängnisvollen
Folgen für uns führen.
Betrachtungen und Erinnerungen
Homburg, November 1914.
Der europäische Krieg des Jahres 1914 kam dem
nicht unerwartet, der ohne diplomatische Befangen-
heit in die Welt blickte. Seit Jahren stand er wie eine
Wetterwolke am politischen Himmel, die gespannte
europäische Lage drängte nach Entladung, und es
konnte keinem Zweifel unterliegen, daß der Konflikt
zwischen zwei europäischen Großstaaten den Krieg
fast des gesamten Europas entfesseln werde. Das
mußte schon die Folge der zwischen den Angehöri-
gen der beiden Mächtegruppen abgeschlossenen Ver-
träge und Vereinbarungen sein, die im Kriegsfalle
Staat an Staat banden. Es war sicher, daß Deutsch-
land aktiv an einem Kriege teilnehmen werde, der die
Existenz der österreichisch-ungarischen Monarchie
ernstlich bedrohte, und ebenso sicher, daß Frank-
reich an der Seite Rußlands stehen werde. Seit Jahren
stand die Entente dem Dreibund feindlich gegenüber.
Daß letzterer bei der Probe des Ernstfalles versagen,
daß Italien seinen bindenden Verpflichtungen nicht
nachkommen werde, war allerdings nicht zu erwar-
ten. Noch im Vorjahr des Krieges waren die schon
früher bestehenden Abmachungen zwischen Italien
und Deutschland revidiert und erneuert worden, noch
im Frühjahr 1914 waren diese Abmachungen in bin-
dender Form erneut festgelegt. Italien hatte sich ver-
pflichtet, im Falle des Krieges zwischen Deutschland
und Frankreich 2 Kavallerie-Divisionen und 3 Ar-
meekorps Deutschland zur Verfügung zu stellen,
der als Führer dieser Hilfstruppen bestimmte Gene-
ral Zuccari hatte mich in Berlin aufgesucht, der
Transport der Truppen war unter Mitwirkung des
österreichischen Generalstabes ausgearbeitet. Alles
war genau besprochen. Ebenso war ein Marineab-
kommen zwischen Deutschland, Italien und Öster-
reich formell abgeschlossen und unterzeichnet, nach-
dem eine gemeinsame Aktion der österreichischen
und italienischen Flotte unter Hinzutritt der bei Aus-
bruch des Krieges im Mittelmeer anwesenden deut-
schen Schiffe stattfinden sollte. Alle diese Abma-
chungen waren so klar und so bindend getroffen, daß
ein Zweifel an der Bundestreue Italiens kaum ent-
stehen konnte. Die darüber entstandenen Aktenstücke,
die von italienischer Seite namens der Regierung ab-
gegebenen Erklärungen, die die Zustimmung des Kö-
nigs erhalten hatten, liegen in unseren Archiven. —
Trotzdem hat Italien sein Wort gebrochen. Es er-
klärte seine Neutralität und setzte sich gleichmütig
über alle Verträge hinweg. Ein schmählicherer Wort-
bruch ist vielleicht in der Geschichte nicht zu finden.
Deutschland und Österreich standen allein, als der
Krieg ausbrach.
Die englische Diplomatie hatte es verstanden, sich
von bindenden Verträgen freizuhalten, sich die Poli-
tik der freien Hand zu wahren. Es waren allerdings
Verabredungen zwischen England, Frankreich und
Belgien für den eventuellen Fall einer Kooperation
getroffen, aber England konnte mit Recht behaup-
ten, daß es keine bindenden Staatsverträge eingegan-
gen sei. Blieb somit die Haltung Englands bei Aus-
bruch des Krieges zweifelhaft, so sprach doch alle
Wahrscheinlichkeit dafür, daß es auf Seiten der Geg-
ner Deutschlands zu finden sein werde, wenn der
Krieg zwischen Deutschland und Frankreich ausbre-
chen sollte. Die Gelegenheit, den unbequemen Kon-
kurrenten auf dem Weltmarkt aus dem Wege zu räu-
men, mit einzugreifen, wo die Aussicht vorlag, im
Verein mit Rußland und Frankreich Deutschland mit
Übermacht zu erdrücken; die langjährige, von König
Eduard VII. eingeleitete Wühlarbeit zur Einkreisung
Deutschlands, die Hoffnung, die gefürchtete deutsche
Flotte zu vernichten und damit die unbeschränkte
Herrschaft der Weltmeere, die Weltherrschaft kurz-
hin zu erlangen, machten es von vorneherein wahr-
scheinlich, daß England in der Reihe unserer Feinde
zu finden sein werde.
Die Hoffnung unserer Diplomatie, ein gutes Ver-
hältnis zu England anbahnen zu können, die jahre-
lang die Magnetnadel war, nach der unsere Politik
eingerichtet wurde, mußte sich als verfehlt erweisen,
sobald die brutalen englischen Interessen Gelegen-
heit finden konnten, sich durchzusetzen. — England
hat es immer verstanden, seinen selbstsüchtigen
Handlungen ein moralisches Mäntelchen umzuhän-
gen. So mußte auch hier die Verletzung der belgi-
schen Neutralität durch Deutschland als Vorwand
dienen, um letzterem den Krieg zu erklären. Es mag
dahingestellt bleiben, ob England sofort aktiv in den
Krieg gegen uns eingetreten sein würde, wenn diese
Neutralitätsverletzung nicht erfolgt wäre. Jedenfalls
würde es eingegriffen haben, sobald Gefahr sich
zeigte, daß Frankreich von uns überwältigt werde.
Keine der kontinentalen Mächte, am wenigsten
Deutschland, hätte nach der alten Praxis englischer
Politik so stark werden dürfen, daß die Gefahr einer
Hegemonie vorlag. — Vielleicht wäre es für Eng-
land bequemer gewesen, mit seinem Eingreifen zu
warten, bis die kontinentalen Staaten sich im Kriege
erschöpft hätten, vielleicht hat dieser Gedanke der
10
englischen Staatsleitung zunächst vorgeschwebt. Da-
mit aber, daß England immer, sei es früher oder spä-
ter, gegen Deutschland aufgetreten sein würde, mußte
von jedem unbefangenen Beobachter unter allen Um-
ständen gerechnet werden. Alles Liebeswerben unse-
rer Diplomatie war einem Staate gegenüber, der wie
England nur eine selbstsüchtige Interessenpolitik be-
folgt, von Anfang an verloren. — Das zu erkennen,
wäre vielleicht auch schon vor dem Ausbruch des
Krieges nicht so schwer gewesen. Ich glaube, man
hätte eher zu einem Abkommen mit Frankreich oder
zu einer Verständigung mit Rußland als zu einer zu-
verlässigen Neutralität Englands kommen können.
Unsere Blicke aber waren wie hypnotisiert auf Eng-
land gerichtet, und als dies sich gleich bei Beginn
des Krieges gegen uns erklärte, standen wir mit Öster-
reich ohne jeden weiteren Bundesgenossen, ja selbst
ohne Vorbereitung, einen solchen zu gewinnen, der
Übermacht unserer Feinde gegenüber.
Der Ausbruch des europäischen Krieges ist durch
Jahre hindurch hinausgeschoben worden durch die
Furcht der Menschen. Sie war es, die alle Kabinette
zu den immer wiederholten Beteuerungen veranlaßte,
daß alle Bestrebungen auf Erhaltung des Friedens
gerichtet seien.
Es wäre besser für uns gewesen, wenn wir in den
letzten Jahren den kommenden Ereignissen, dem
Kriege, der unverkennbar vor der Türe stand, fest ins
Auge geblickt und uns auch diplomatisch auf ihn
vorbereitet hätten. — Die höchste Kunst der Diplo-
matie besteht meiner Ansicht nach nicht darin, den
Frieden unter allen Umständen zu erhalten, sondern
darin, die politische Lage des Staates dauernd so zu
gestalten, daß er in der Lage ist, unter günstigen Vor-
aussetzungen in einen Krieg eintreten zu können. —
ii
Das war das unsterbliche Verdienst Bismarcks vor
den Kriegen von 1866 und 1871. Seine stete Sorge
war eine Koalition Frankreichs und Rußlands, die
jetzt eingetreten ist und uns zu dem Kriege nach
zwei Fronten zwingt. — Daß das deutsche Volk eine
klare Empfindung darüber gehabt hat, daß dem Vater-
lande schwere Zeiten bevorständen, beweist die An-
nahme der vom Generalstab und Kriegsministerium
geforderten Wehrvorlage des Jahres 1912.
Mit dem Kriege nach zwei Fronten war seit Jahren
im Generalstab gerechnet worden. Daß er notwendig
werden würde in dem Augenblick, wo die Rivalität
Rußlands und Österreichs auf dem Balkan zum offe-
nen Konflikt führen werde, war klar genug. Wir wuß-
ten alle, daß Frankreich an der Seite des Zarenreichs,
dem es seine Milliarden zur besseren Vorbereitung
für den Krieg zur Verfügung gestellt hatte, unbedingt
an demselben teilnehmen würde. — Man könnte die
Frage aufwerfen, ob Deutschland nicht weiser getan
hätte, Österreich seinem Schicksal zu überlassen, statt
bundestreu die ungeheure Schwere des zu erwarten-
den Krieges auf sich zu nehmen. Mehrfach ist die
Ansicht geäußert worden, daß der Zerfall der öster-
reichisch-ungarischen Monarchie doch nicht mehr
aufzuhalten sei und daß für Deutschland eigentlich
keine Veranlassung vorläge, sich Österreichs wegen
in das Abenteuer eines Krieges zu stürzen, über des-
sen Schwere sich jedermann klar war. Die Möglich-
keit, daß Deutschland, wenn es die verbündete Mon-
archie preisgab, zunächst vor dem Kriege hätte be-
wahrt werden können, muß zugegeben werden. Aber
abgesehen davon, daß das deutsche Volk für eine
solche Felonie kein Verständnis gehabt haben würde,
wäre meiner Ansicht nach das Fallenlassen Öster-
reichs ein politischer Fehler gewesen, der sich bin-
12
nen kurzem schwer gerächt haben würde. Die eng-
lisch-französische Einkreisungspolitik richtete sich
in erster Linie gegen Deutschland. Sie wäre bestehen
geblieben, wenn Deutschland sich von Österreich ge-
trennt hätte, und in wenigen Jahren würden wir vor
dem Kriege mit derselben Koalition gestanden haben,
die uns jetzt angreift, dann aber ohne, oder vielleicht
sogar mit einem feindlichen Österreich. Dann würden
wir ganz allein gestanden haben. Dieser Krieg, den
wir jetzt führen, war eine Notwendigkeit, die in der
Weltentwickelung begründet ist. Unter ihrem Ge-
setz stehen die Völker wie die einzelnen Menschen.
Wenn diese Weltentwickelung, die man gewöhnlich
als Weltgeschichte bezeichnet, nicht vorhanden wäre,
wenn sie nicht vom Weltentwickelungsplan aus nach
höheren Gesetzen geleitet würde, wäre die Entwicke-
lungstheorie, die man in bezug auf die Lebewesen
der Erde anerkennt, auf das höchste Lebewesen, den
Menschen, in seiner Zusammenfassung als Volk,
nicht anwendbar. Dann wäre die Weltgeschichte
nichts weiter als das wirre Ergebnis von Zufälligkei-
ten, und man müßte ihr jede planvolle Entwickelung
abstreiten. Daß aber eine solche stattfindet, lehrt mei-
ner Ansicht nach die Geschichte selber. Sie zeigt,
wie die Kulturepochen sich in fortschreitender Folge
ablösen, wie jedes Volk seine bestimmte Aufgabe in
der Weltentwickelung zu erfüllen hat und wie diese
Entwickelung sich in aufsteigender Linie vollzieht.
So hat auch Deutschland seine Kulturaufgabe zu
erfüllen. Die Erfüllung solcher Aufgaben vollzieht
sich aber nicht ohne Reibungen, da immer Wider-
stände zu überwinden sind; sie können nur durch
Krieg zur Entfaltung kommen. Wollte man anneh-
men, daß Deutschland in diesem Kriege vernichtet
würde, so wäre damit das deutsche Geistesleben, das
13
für die spirituelle Weiterentwickelung der Mensch-
heit notwendig ist, und die deutsche Kultur ausge-
schaltet; die Menschheit würde in ihrer Gesamtent-
wickelung in unheilvollster Weise zurückgeworfen
werden.
Die romanischen Völker haben den Höhepunkt
ihrer Entwickelung schon überschritten, sie können
keine neuen befruchtenden Elemente in die Gesamt-
entwickelung hineintragen. — Die slawischen Völker,
in erster Linie Rußland, sind noch zu weit in der
Kultur zurück, um die Führung der Menschheit über-
nehmen zu können. Unter der Herrschaft der Knute
würde Europa in den Zustand geistiger Barbarei zu-
rückgeführt werden. — England verfolgt nur mate-
rielle Ziele.
Eine geistige Weiterentwickelung der Menschheit
ist nur durch Deutschland möglich. Deshalb wird
auch Deutschland in diesem Kriege nicht unterlie-
gen, es ist das einzige Volk, das zur Zeit die Führung
der Menschheit zu höheren Zielen übernehmen kann.
Es ist eine gewaltige Zeit, in der wir leben.
Dieser Krieg wird eine neue Entwickelung der Ge-
schichte zur Folge haben, und sein Ergebnis wird
der gesamten Welt die Bahn vorschreiben, auf der
sie in den nächsten Jahrhunderten vorzuschreiten
haben wird.
Deutschland hat den Krieg nicht herbeigeführt, es
ist nicht in ihn eingetreten aus Eroberungslust oder
aus aggressiven Absichten gegen seine Nachbarn.
Der Krieg ist ihm von seinen Gegnern aufgezwun-
gen worden, und wir kämpfen um unsere nationale
Existenz, um das Fortbestehen unseres Volkes, un-
seres nationalen Lebens. Damit kämpfen wir um ide-
ale Güter, während unsere Gegner es offen ausspre-
chen, daß ihr Ziel die Vernichtung Deutschlands ist.
14
Nie ist von einem Staat ein gerechterer Krieg ge-
führt worden und nie hat er ein mehr von idealen
Empfindungen bewegtes Volk betroffen. Wie mit ei-
nem Schlage traten bei ihm alle Entzweiung, alle Par-
teiunterschiede, alle materiellen Interessen zurück, ein-
mütig stand das Volk zusammen, und jeder war be-
reit, Gut und Blut für das Vaterland zu opfern. Der
hohe Idealismus des deutschen Volkes, den selbst
die materialistische Strömung der langen Jahre des
Wohllebens nicht hat vernichten können, brach sich
siegreich Bahn. Das Volk erkannte, daß es höhere
und wertvollere Ziele gibt, als materielle Wohlfahrt,
es wandte sich diesen zu mit der ganzen Inbrunst des
Germanentums.
Ein solches Volk ist unbesieglich.
Die äußere Ursache des Krieges war die Ermordung
des Erzherzog-Thronfolgers. Sobald es sich zeigte,
daß Österreich weitgehende Vergeltungsansprüche an
Serbien stellte, trat Rußland auf die Seite der Mörder.
Es fürchtete, daß sein Prestige auf dem Balkan und
seine Stellung als Protektor aller Slawen verloren sein
werde, wenn es Serbien ohne Unterstützung an Öster-
reich ausliefern werde. Deshalb war Rußland von
vornherein zum Kriege entschlossen und begann als-
bald mit den Vorbereitungen zur Mobilmachung, die
zunächst sehr geheim gehalten wurden. Meiner An-
sicht nach wollte es nur Zeit gewinnen, als es kurz
darauf erklärte, daß die nun offen angeordnete Mo-
bilmachung in den südlichen Militärbezirken sich nur
gegen Österreich richte, daß gegen Deutschland nicht
mobilisiert werden solle. Während die Mobilmachung
schon in vollem Zuge war, gab der Kriegsminister
dem deutschen Militärattache sein Ehrenwort, daß
nicht mobilisiert werde. Es ist bekannt, daß dann,
während unser Kaiser noch zwischen Rußland und
IS
Österreich in ehrlicher Weise zu vermitteln versuchte,
in Rußland die Mobilmachung auch der nördlichen
Militärbezirke ausgesprochen wurde. Zwar erklärte
der Zar, daß diese Mobilmachung sich nicht gegen
Deutschland richte, daß Rußland den Krieg gegen
Deutschland nicht wolle, es stellte aber damit die An-
forderung an uns, ohne eigene Kriegs Vorbereitung
der Willkür eines fertig gerüsteten Rußlands uns aus-
geliefert zu sehen.
Das war natürlich für Deutschland unmöglich. Mit
dem Augenblick, wo Rußland sein gesamtes Heer mo-
bilisierte, waren auch wir gezwungen, mobil zu ma-
chen. Hätten wir es nicht getan, wäre Rußland jeder-
zeit in der Lage gewesen, in unser ungeschütztes
Land einzumarschieren und eine spätere Mobilma-
chung für uns unmöglich zu machen.
Es kann für jeden Unbefangenen keinem Zweifel
unterliegen, daß Rußland es gewesen ist, das diesen
Krieg entfacht hat. Es wußte genau, daß Deutschland
seinen Bundesgenossen Österreich nicht vernichten
lassen werde, aber es hatte durch sein hinterlistiges
Verhalten Zeit gewonnen und war in seiner Mobil-
machung schon weit vorgeschritten, wie Deutsch-
land die seinige begann.
Wie schon erwähnt, war der Krieg gegen zwei
Fronten im Generalstab schon seit Jahren bearbeitet
worden. Schon unter meinem Vorgänger, dem Gra-
fen Schlieffen, war der Vormarsch durch Belgien
ausgearbeitet.
Diese Operation wurde dadurch begründet, daß es
so gut wie ausgeschlossen schien, ohne die Verlet-
zung der belgischen Neutralität das französische Heer
im freien Felde zur Entscheidung zwingen zu kön-
nen. Alle Nachrichten schienen es gewiß zu ma-
chen, daß die Franzosen hinter ihrer starken Ostfront
16
einen Defensivkrieg führen würden, und man mußte
darauf gefaßt sein, einen lange währenden Positions-
und Festungskrieg vor sich zu haben, wenn man fron-
tal gegen diese starke Front vorging. — Graf Schlief-
fen wollte sogar mit dem rechten Flügel des deut-
schen Heeres durch Südholland marschieren. Ich
habe dies abgeändert, um nicht auch die Niederlande
auf die Seite unserer Feinde zu zwingen, und lieber
die großen technischen Schwierigkeiten auf mich ge-
nommen, die dadurch verursacht wurden, daß der
rechte Flügel unseres Heeres sich durch den engen
Raum zwischen Aachen und der Südgrenze der Pro-
vinz Limburg hindurchzwängen mußte. — Um die-
ses Manöver überhaupt ausführen zu können, mußten
wir uns möglichst rasch in den Besitz von Lüttich
setzen. Daraus entstand der Plan, sich dieser Festung
durch Handstreich zu bemächtigen.
Wiederholt ist auch im Generalstab die Frage ge-
prüft worden, ob wir nicht besser täten, einen Defen-
sivkrieg zu führen. Sie wurde immer verneint, da mit
ihm die Möglichkeit hinfällig wurde, den Krieg so
bald wie möglich in Feindesland zu tragen. Mit der
Möglichkeit, daß Belgien zwar gegen einen Durch-
marsch protestieren, aber sich demselben nicht mit
Waffengewalt entgegenstellen werde, war gerechnet.
In diesem Sinne war die von mir entworfene Som-
mation an die belgische Regierung gehalten, die dem
König den Bestand der Monarchie garantierte. Der
in derselben enthaltene Passus, in dem Belgien terri-
toriale Vergrößerung im Falle freundschaftlichen
Verhaltens in Aussicht gestellt wurde, ist vom Aus-
wärtigen Amt bei Überreichung der Sommation ge-
strichen worden.
Es läßt sich gewiß vieles gegen ein Vorgehen
durch Belgien einwenden, aber der Verlauf der er-
Moltke. 2. 17
sten Kriegswochen hat gezeigt, daß es, wie beabsich-
tigt, die Franzosen zwang, sich uns im freien Felde
zu stellen, und daß sie geschlagen werden konnten.
Daß die Niederwerfung Frankreichs im ersten An-
lauf mißlang, hat es der schnellen Hilfeleistung Eng-
lands zu verdanken.
Der Handstreich auf Lüttich war ein gewagtes Un-
ternehmen. Wenn er mißlang, mußte der moralische
Rückschlag empfindlich sein. Was mich in erster
Linie veranlaßte, ihn anzuordnen, war die Hoffnung,
damit die Bahn Aachen — Lüttich unzerstört in unse-
ren Besitz zu bringen. Das ist gelungen, und daß wir
die Bahn bis Brüssel und darüber hinaus bis St.
Quentin später zur Verfügung hatten, ist von unbe-
rechenbarem Nutzen gewesen.
Am Tage vor der Mobilmachung war eine De-
pesche aus London eingetroffen, in der gesagt war,
daß England sich Frankreich gegenüber verpflichtet
habe, den Schutz der französischen Nordküste gegen
deutsche Angriffe von der See her zu schützen. Der
Kaiser forderte meine Ansicht, und ich erklärte, daß
wir uns unbedenklich verpflichten könnten, die fran-
zösische Nordküste nicht anzugreifen, wenn England
unter dieser Voraussetzung neutral bleiben werde.
Meiner Ansicht nach werde der Kampf gegen Frank-
reich zu Lande entschieden werden, ein Angriff von
der See könne, wenn die Neutralität Englands davon
abhinge, unterbleiben. — Diese Depesche war augen-
scheinlich der erste Versuch Englands, uns zu dü-
pieren, wenigstens unsere Mobilmachung zu ver-
zögern.
Auf die am 28. Juli oder 29.? * eintreffende Nach-
richt, daß in Rußland die allgemeine Mobilmachung
befohlen sei, hatte der Kaiser die Erklärung: drohende
• Am 30. Juli. (Der Herausgeber.)
18
Kriegsgefahr erlassen. Am i. August befahl Se. Maje-
stät der Kaiser, nachmittags 5 Uhr, die Mobilmachung
für Deutschland. Der 2. August war erster Mobil-
machungstag.
Ich war auf dem Rückwege vom Schloß nach dem
Generalstab, als ich den Befehl erhielt, sofort ins
Schloß zurückzukehren, es sei eine wichtige Nach-
richt eingetroffen. Ich drehte sofort um. Im Schloß
fand ich außer Sr. Majestät den Reichskanzler, den
Kriegsminister und noch einige andere Herren.
Der Reichskanzler, der, wie schon angedeutet, das
wichtigste Ziel seiner Politik darin sah, ein gutes Ver-
hältnis mit England herzustellen, und der merkwür-
digerweise bis zu diesem Tage immer noch geglaubt
hat, daß sich der allgemeine Krieg, zum mindesten
die Teilnahme Englands an demselben vermeiden las-
sen würde, war augenscheinlich über den Inhalt einer
soeben von dem deutschen Botschafter in London,
Fürsten Lichnowsky, eingetroffenen Depesche freu-
dig erregt. Ebenso Se. Majestät der Kaiser. — Die De-
pesche teilte mit, daß der Staatssekretär Grey dem
Botschafter mitgeteilt habe, England wolle die Ver-
pflichtung übernehmen, daß Frankreich nicht in den
Krieg gegen uns eintreten werde, wenn Deutschland
sich seinerseits verpflichte, keine feindselige Hand-
lung gegen Frankreich zu unternehmen. Ich muß da-
bei bemerken, daß auch in Frankreich bereits am sel-
ben Tage wie bei uns die Mobilmachung befohlen
und dies uns bekannt war. — Es herrschte, wie ge-
sagt, eine freudige Stimmung.
Nun brauchen wir nur den Krieg gegen Rußland
zu führen! Der Kaiser sagte mir: »Also wir mar-
schieren einfach mit der ganzen Armee im Osten
auf!« — Ich erwiderte Sr. Majestät, daß das unmög-
lich sei. Der Aufmarsch eines Millionenheeres lasse
19
sich nicht improvisieren, es sei das Ergebnis einer
vollen, mühsamen Jahresarbeit und könne, einmal
festgelegt, nicht geändert werden. Wenn Se. Majestät
darauf bestehen, das gesamte Heer nach dem Osten
zu führen, so würden dieselben kein schlagfertiges
Heer, sondern einen wüsten Haufen ungeordneter be-
waffneter Menschen ohne Verpflegung haben. — Der
Kaiser bestand auf seiner Forderung und wurde sehr
ungehalten, er sagte mir unter anderem: »Ihr Onkel
würde mir eine andere Antwort gegeben haben!«, was
mir sehr wehe tat. — Ich habe nie den Anspruch er-
hoben, dem Feldmarschall gleichwertig zu sein. —
Daran, daß es für uns eine Katastrophe herbeiführen
müßte, wenn wir mit unserer gesamten Armee nach
Rußland hineinmarschiert wären, mit einem mobilen
Frankreich im Rücken, daran schien kein Mensch
zu denken. Wie hätte England es jemals — selbst den
guten Willen vorausgesetzt — verhindern können,
daß Frankreich uns in den Rücken fiel! — Auch
meine Einwendung, daß Frankreich bereits in der
Mobilmachung begriffen sei und daß es unmöglich
sei, daß ein mobiles Deutschland und ein mobiles
Frankreich sich friedlich darauf einigen würden, sich
gegenseitig nichts zu tun, blieb erfolglos. Die Stim-
mung wurde immer erregter, und ich stand ganz al-
lein da. —
Schließlich gelang es mir, Se. Majestät davon zu
überzeugen, daß unser Aufmarsch, der mit starken
Kräften gegen Frankreich, mit schwachen Defensiv-
kräften gegen Rußland gedacht war, planmäßig aus-
laufen müßte, wenn nicht die unheilvollste Verwir-
rung entstehen solle. Ich sagte dem Kaiser, daß es
nach vollendetem Aufmarsch möglich sein werde, be-
liebig starke Teile des Heeres nach dem Osten zu
überführen, an dem Aufmarsch selbst dürfe nichts
20
geändert werden, sonst könne ich keine Verantwor-
tung übernehmen.
Die Antwortdepesche nach London wurde dann
demgemäß entworfen, daß Deutschland das englische
Angebot sehr gerne annähme, daß aber der einmal ge-
plante Aufmarsch, auch an der französischen Grenze,
aus technischen Gründen zunächst ausgeführt wer-
den müßte. Wir würden aber Frankreich nichts tun,
wenn es sich unter Kontrolle Englands ebenfalls ruhig
verhalten würde. — Mehr konnte ich nicht erreichen.
Das Unsinnige dieses ganzen englischen Vorschlages
war mir von vorneherein klar. Schon in früheren
Jahren war mir vom Auswärtigen Amt davon gespro-
chen worden, daß Frankreich möglicherweise in ei-
nem Kriege Deutschlands gegen Rußland neutral blei-
ben könne. Ich glaubte so wenig an diese Möglich-
keit, daß ich schon damals erklärt hatte, wenn Ruß-
land uns den Krieg erklärt, müssen wir, wenn die
Haltung Frankreichs zweifelhaft ist, ihm sofort den
Krieg erklären. Jetzt forderte ich als Garantie für das
Nichtlosschlagen Frankreichs die zeitweilige Über-
lassung der Festungen Verdun und Toul an uns. Die-
ser Vorschlag wurde als ein Mißtrauensvotum gegen
England abgelehnt.
Ich war im Laufe dieser Szene in eine fast ver-
zweifelte Stimmung gekommen, ich sah aus diesen
diplomatischen Aktionen, die hindernd in den Gang
unserer Mobilmachung einzugreifen drohten, das
größte Unheil für den uns bevorstehenden Krieg er-
wachsen. — Ich muß hier einschalten, daß in un-
serem Mobilmachungsplan die Besetzung Luxem-
burgs durch die 16. Division schon am ersten Mobil-
machungstag vorgesehen war. — Wir mußten unbe-
dingt die luxemburgischen Bahnen gegen einen fran-
zösischen Handstreich sichern, da wir sie zu unse-
21
rem Aufmarsch gebrauchten. Um so schwerer traf es
mich, als der Reichskanzler nun erklärte, die Beset-
zung Luxemburgs dürfe unter keinen Umständen statt-
finden, sie sei eine direkte Bedrohung Frankreichs
und würde die angebotene englische Garantie illuso-
risch machen. — Während ich dabeistand, wandte
sich der Kaiser, ohne mich zu fragen, an den Flügel-
adjutanten vom Dienst und befahl ihm, sofort tele-
graphisch der 16. Division nach Trier den Befehl zu
übermitteln, sie solle nicht in Luxemburg einmar-
schieren. — Mir war zumut, als ob mir das Herz bre-
chen sollte. — Abermals lag die Gefahr vor, daß un-
ser Aufmarsch in Verwirrung gebracht werde. Was
das heißt, kann in vollem Umfang wohl nur derjenige
ermessen, dem die komplizierte und bis auf das kleinste
Detail geregelte Arbeit eines Aufmarsches bekannt
ist. Wo jeder Zug auf die Minute geregelt ist, muß
jede Änderung in verhängnisvoller Weise wirken. —
Ich versuchte vergebens, Se. Majestät davon zu über-
zeugen, daß wir die Luxemburger Bahnen brauchten
und sie sichern müßten, ich wurde mit der Bemer-
kung abgefertigt, ich möchte statt ihrer andere Bahnen
benutzen. Es blieb bei dem Befehl.
Damit war ich entlassen. Es ist unmöglich, die Stim-
mung zu schildern, in der ich zu Hause ankam. Ich
war wie gebrochen und vergoß Tränen der Verzweif-
lung. Wie mir die Depesche an die 16. Division vor-
gelegt wurde, die den telephonisch gegebenen Be-
fehl wiederholte, stieß ich die Feder auf den Tisch
und erklärte, ich unterschreibe sie nicht. Ich kann
nicht meine Unterschrift, die erste nach Ausspruch
der Mobilmachung, unter einen Befehl setzen, der
etwas widerruft, was planmäßig vorbereitet ist, und
der von der Truppe sofort als Zeichen der Unsicher-
heit empfunden werden wird. — »Machen Sie mit der
22
Depesche, was Sie wollen«, sagte ich dem Oberst-
leutnant Tappen. »Ich unterschreibe sie nicht.« — So
saß ich in dumpfer Stimmung untätig in meinem Zim-
mer, bis ich um n Uhr abends wieder ins Schloß
zu Sr. Majestät befohlen wurde. Der Kaiser empfing
mich in seinem Schlafzimmer, er war schon zu Bett
gewesen, aber wieder aufgestanden und hatte einen
Rock übergeworfen. Er gab mir eine Depesche des
Königs von England, in der dieser erklärte, ihm sei
von einer Garantie Englands, Frankreich am Kriege
zu verhindern, nichts bekannt. Die Depesche des Für-
sten Lichnowsky müsse auf einem Irrtum beruhen
oder er müsse etwas falsch verstanden haben. — Der
Kaiser war sehr erregt und sagte mir: »Nun können
Sie machen, was Sie wollen.« — Ich fuhr sofort nach
Hause und telegraphierte an die 16. Division, der Ein-
marsch in Luxemburg solle ausgeführt werden. Um
diesen erneuten Befehl wenigstens etwas zu moti-
vieren, fügte ich hinzu: »Da soeben bekannt gewor-
den ist, daß in Frankreich die Mobilmachung be-
fohlen ist.«
Das war mein erstes Erlebnis in diesem Kriege. —
Ich habe die Überzeugung, daß der Kaiser die Mobil-
machungsorder überhaupt nicht unterzeichnet haben
würde, wenn die Depesche des Fürsten Lichnowsky
eine halbe Stunde früher angekommen wäre. — Ich
habe die Eindrücke dieses Erlebnisses nicht über-
winden können, es war etwas in mir zerstört, das
nicht wieder aufzubauen war, Zuversicht und Ver-
trauen waren erschüttert. —
Der Handstreich gegen Lüttich war auf den 5. Au-
gust angesetzt. Am Abend des Tages lief eine Mel-
dung von dort ein, nach der anzunehmen war, daß
das Unternehmen nicht gelungen sei. Jedenfalls waren
unsere Truppen nicht bis in die Stadt vorgedrungen.
23
Ich mußte es dem Kaiser melden. Er sagte mir: »Das
habe ich mir gleich gedacht. Mir hat dies Vorgehen
gegen Belgien den Krieg mit England auf den Hals
gebracht.« — Als am nächsten Tage die Meldung kam,
daß die Stadt von uns genommen sei, wurde ich ab-
geküßt. —
Nach dem ersten raschen und siegreichen Vorgehen
unserer Armeen durch Belgien nach Frankreich hin-
ein trat der Rückschlag ein durch den Angriff star-
ker französischer und englischer Kräfte von Paris
her gegen unseren rechten Flügel. Die 2. Armee mußte
ihren rechten Flügel zurücknehmen, auch die 1. Ar-
mee mußte zurückgenommen werden. Die Lage war
kritisch. — Ich war zu den Armee-Oberkommandos
herausgefahren. Wie ich bei A.-O.-K. 4 war, kam ein
Funkspruch der 2. Armee, daß starke französische
Kräfte nach Osten abbiegend gegen die 3. Armee vor-
gingen. Ich wollte die 3. Armee gerne stehenlassen,
ebenso die 4. und 5. — Wie ich zum A.-O.-K. 3 kam,
erklärte mir der General v. Hausen, er könne die ihm
zugewiesene Linie nicht halten, seine Truppen seien
nicht mehr leistungsfähig. Ich war daher gezwungen,
der 3. Armee eine kürzere und weiter zurückliegende
Linie zuzuweisen, gleichzeitig mußte ich aber die 4.
und 5. Armee ebenfalls zurücknehmen, um wieder eine
geschlossene Armeefront herzustellen. Ich mußte den
entsprechenden Befehl sofort an Ort und Stelle aus-
geben, auf meine eigene Verantwortung hin. — Es
war ein schwerer Entschluß, den ich fassen mußte,
ohne die Genehmigung Sr. Majestät vorher einholen
zu können. Der schwerste Entschluß meines Lebens,
der mich mein Herzblut gekostet hat. Ich sah aber
eine Katastrophe voraus, wenn ich das Heer nicht
zurückgenommen hätte. In der Nacht um 3 Uhr kam
ich wieder in Luxemburg im Großen Hauptquartier
24
an. — Am 13. September meldete ich dem Kaiser das,
was ich angeordnet hatte, und motivierte es. — Der
Kaiser war zwar nicht ungnädig, aber ich hatte den
Eindruck, daß er von der Notwendigkeit des Rück-
zuges nicht ganz überzeugt war. — Ich muß zugeben,
daß meine Nerven durch alles, was ich erlebt hatte,
sehr herunter waren und daß ich wohl den Eindruck
eines kranken Mannes gemacht habe.
Am 14. September,nachmittags, erschien der General
v. Lyncker bei mir auf dem Bureau und sagte mir,
der Kaiser ließe mir sagen, er habe den Eindruck, daß
ich zu krank sei, um die Operationen weiter leiten zu
können. Se. Majestät hätten befohlen, ich solle mich
krank melden und nach Berlin zurückfahren. General
v. Falkenhayn solle die Operationen übernehmen.
Gleichzeitig warmeinbisheriger Oberquartiermeister
General v. Stein abgelöst und ihm das Kommando
über ein Reserve-Armeekorps übertragen. Das alles
kam ohne jede Vorbereitung über mich.
Ich ging sofort zu General v. Falkenhayn und teilte
ihm den Befehl Sr. Majestät mit. Er war völlig über-
rascht. — Wir gingen zusammen zum Kaiser, der
mir erklärte, er habe den Eindruck, daß ich durch
meine zweimalige Kur in Karlsbad geschwächt sei
und mich erholen müsse. Ich sagte dem Kai-
ser, daß ich glaube, es werde in der Armee und im
Auslande keinen guten Eindruck machen, wenn ich
unmittelbar nach dem Rückzug der Armee fort-
geschickt werde.
General v. Falkenhayn trat dieser Ansicht bei. Der
Kaiser meinte darauf, Falkenhayn solle als Oberquar-
tiermeister fungieren und ich solle »pro forma« blei-
ben. Falkenhayn erklärte, er könne die Operationen
nur übernehmen, wenn er völlig freie Hand habe. Ich
konnte dies nur anerkennen.
25
So blieb ich im Hauptquartier, während mir alles
aus der Hand genommen wurde und ich ohne allen
Einfluß als Zuschauer dastand. Das wird vielleicht
niemand verstehen. — Ich habe dies Martyrium auf
mich genommen und die weiteren Operationen mit
meinem Namen gedeckt, des Landes wegen und um
dem Kaiser es zu ersparen, daß von ihm gesagt werde,
er habe seinen Generalstabschef fortgeschickt, sobald
der erste Rückschlag eintrat. Ich wußte, welche un-
heilvollen Folgen das haben müßte. — Später bat ich
Se. Majestät, mich nach Brüssel zu schicken, um die
Einnahme von Antwerpen mit zu betreiben. Ich konnte
es nicht mehr ertragen, ohne Tätigkeit und ganz bei-
seite geschoben im Großen Hauptquartier anwesend
zu sein. Der Kaiser genehmigte meine Bitte, und ich
fuhr nach Brüssel und von dort in das Hauptquartier
des Generals v. Beseler nach Fildonk. Ich war drei-
mal dort, zwischendurch wieder im Großen Haupt-
quartier, wohin mich die Unruhe wegen der weiteren
Operationen immer wieder zurücktrieb. Dem General
v. Beseler konnte ich einige Hilfsmaterialien, Brücken-
trains und eine Landwehr-Brigade verschaffen. Bei
der Kapitulation Antwerpens war ich in Fildonk an-
wesend. Der Kaiser hatte mir Vollmacht gegeben, die
eventuelle Kapitulation abzuschließen, die ich indes-
sen an Beseler abtrat, dem allein die Ehre gebührte.
Nach der Kapitulation kam ich ins Große Haupt-
quartier zurück. Ich hatte nun nichts mehr zu tun,
war fertig und fast verzweifelt über meine Schein-
stellung. — Ich ging zum Kaiser und sagte ihm, ich
könne diesen Zustand nicht mehr ertragen. Er war
verwundert, wie ich ihm darlegte, daß ich ganz aus-
geschlossen sei, und sagte, er betrachte mich nach
wie vor als den eigentlichen Leiter der Operationen.
Nachdem ich ihm den Tatbestand dargelegt hatte,
26
sagte er, das sei nicht seine Absicht, er werde Reme-
dur eintreten lassen, wolle sich die Sache durch den
Kopf gehen lassen und sie ändern. — Am nächsten
Tage erkrankte ich an einer Entzündung der Gallen-
blase und Leber und mußte mich zu Bett legen. Die
seelische Aufregung der letzten Wochen, meine ver-
zweifelte Stimmung und Lage hatten auf den phy-
sischen Organismus krankheitsbildend eingewirkt.
Nachdem ich acht Tage gelegen hatte, besuchte mich
der Kaiser und saß eine Stunde an meinem Bett. Er
war sehr gütig und gnädig, kam jedoch auf meine
dienstlichen Funktionen nicht zurück. Zwei Tage dar-
auf erhielt ich seinen zweiten Besuch. Er stellte mir
Wohnung im Schloß Homburg zur Verfügung, riet
mir, dorthin auf einige Zeit zu gehen, um mich zu er-
holen. Er ermahnte auch meinen zweiten Adjutanten,
Hauptmann Köhler, gut für mich zu sorgen, und war
wiederum sehr gnädig. Ich fuhr ein oder zwei Tage
später nach Homburg, es war am i. November.
Am 3. November wurde die Order unterzeichnet, in
der General v. Falkenhayn zu meinem Nachfolger er-
nannt wurde. Ich stand ohne irgendeine dienstliche
Funktion in der Luft. —
Ich habe diese flüchtigen Aufzeichnungen gemacht,
ohne Notizen oder irgendwelches Material zur Hand
zu haben. Es mögen daher manche Irrtümer in bezug
auf Daten usw. darin sein. Auch war ich noch krank,
wie ich sie schrieb. Sie sollen nur für meine Frau be-
stimmt sein und dürfen niemals der Öffentlichkeit be-
kannt werden *. Das Martyrium, das ich getragen habe,
war groß. Ich glaubte, es dem Kaiser und dem Lande
schuldig zu sein. Wenn ich falsch gehandelt habe,
möge Gott mir verzeihen.
* Die Veröffentlichung der Aufzeichnungen Moltkes halte ich heute für notwendig,
damit über wichtige Vorgänge die Wahrheit bekannt werde. (Der Herausgeber.)
27
Ich bin fest überzeugt, daß der Kaiser sich nie dar-
über klar geworden ist, was er mir angetan hat. Er hat
mir auch nach meiner Verabschiedung seine gnädige
Gesinnung bewahrt.
28
Zweiter Teil
Moltkes Gedanken
und sein Wirken in Teilen aus
Briefen an seine Braut
1877—1878
*Creisau, i. September 1877.
Heute ist der 1. September. Heute vor sieben Jah-
ren stand ich auf dem Schlachtfelde und hörte mit
beklommenem Herzen auf das Rollen des Feuerge-
fechtes vor uns um die Sedan umgebenden Höhen.
— Um dieselbe Stunde, wo ich jetzt schreibe, rollten
die eisernen Würfel noch hierhin und dahin und nie-
mand wußte, wem der Wurf gelingen würde. Jetzt
nach sieben Jahren läuten durchs ganze deutsche
Reich die Kirchenglocken und Tausende von Herzen
beugen sich vor dem, der mit starker Hand die Ge-
schicke der Nationen leitet und aus aber tausend deut-
schen Herzen steigt ein Dankgebet empor dafür, daß
der Traum, den das deutsche Volk seit Jahrhunder-
ten geträumt hat, zur Wahrheit geworden ist, und
daß wir es erlebt haben, wie die Sonne der Einigkeit
voll und strahlend aufging, wenn auch aus blutig
dunkler Nacht, die Sonne, für die schon unsere Väter
und Urväter geblutet haben und von der sie doch nur
die erste Röte des Morgenhimmels erblickten.
** Generalstab Berlin, 4. Oktober 1877.
Es freut mich, daß Dir der »Faust« gefallen hat. Mich
zieht es stets mit unwiderstehlicher Gewalt zu diesem
Buch zurück, das ich doch schon so unzählige Male
gelesen habe, daß ich es fast ganz auswendig weiß. Es
ist ein Werk, das alle Töne der Poesie in sich ver-
einigt, von den Lobgesängen der Erzengel an bis zum
Hohngelächter der Hölle — von den Kraftgedanken
eines titanisch ringenden Mannesgeistes bis zum na-
• Sekondeleutnant im 1. Garderegiment z. Fuß, kommandiert zur Kriegsakademie.
•* Premierleutnant.
31
iven Geplauder eines unschuldigen Mädchenherzens.
Das Größte, was unsere deutsche Literatur je geschaf-
fen hat.
Generalstab Berlin, 13. Oktober 1877.
Es mag für heute genug sein mit dem Arbeiten,
meine Gedanken, die ich lange genug auf Bücher und
Papier gefesselt habe, wollen nun auch ihren Willen
haben und drängen mit Gewalt fort von hier und
ziehen gegen Norden, weit in die Ferne. Könnte ich
mit ihnen wandern! Es ist jetzt schon spät in der
Nacht. Ich habe mich so in meine Arbeiten vertieft
gehabt, daß ich es nicht bemerkt habe, wie die Stun-
den verliefen und der Zeiger der Uhr allmählich wei-
ter und weiter rückte. Rings um mich her herrscht das
Schweigen der Nacht. Der Schlaf ist herabgestiegen
auf die Stadt; mit leisem Flügelschlag ist er gekom-
men und hat das Geräusch des Tages ausgelöscht.
Er, der Freund der Armen und Elenden, verschönt
nun wohl schon manches Antlitz, das vor wenigen
Stunden noch Not und Sorge furchten, durch ein stil-
les, friedliches Lächeln, und bringt dem Geplagten
liebliche Träume, in denen er die Mühen des Tages
vergessen kann. — Nichts regt sich in den stillen
Zimmern, die an das meinige stoßen, nur meine Uhr
tickt ihr geschäftiges Einerlei und meine Lampe wirft
ihren stillen gelben Schein auf dieses Blatt Papier,
auf das ich die schwarzen Buchstaben male. Es ist
so recht die Zeit, wie ich sie zum Arbeiten liebe.
Wenn die Wagen nicht mehr durch die Straßen ras-
seln und kein lautes Geräusch die Aufmerksamkeit
mehr abzieht, dann erwachen die Geisteskräfte, dann
kann man alles so leicht und rasch begreifen und
auffassen, daß es eine wahre Lust ist, dann fühle ich
so recht, was es heißt, mit Lust arbeiten und gegen
32
die Bücher zu Felde ziehen wie gegen einen Feind,
derniedergekämpftwerdenmuß, damit man die Freude
des Siegesbewußtseins empfinden kann. — Und ich
bin ja auch nicht alleine in diesen der Arbeit gewid-
meten Stunden. Geistig und bildlich bist Du bei mir,
mein treuer Kamerad, Du arbeitest mit mir und hältst
mit mir aus, bis ich die Bücher zurückschiebe und
sage Stop für heute. — Ich fühle von Tag zu Tag
immer mehr, daß ich Kraft habe, es zu etwas zu brin-
gen, und der Gedanke an Dich ist mir der immer spru-
delnde Quell, aus dem ich mir Stärke schöpfe, vor-
wärts zu gehen, vorwärts, vorwärts, wie ich es Dir
und meinem Namen schuldig bin.
Generalstab Berlin, i. November 1877.
Ich habe mir oft gedacht, daß die Gedanken des
menschlichen Geistes ihm ein Vorbild sind, wie
er später werden wird. So denke ich mir die Seele
nach dem Tode. Der Körper ist dann abgestreift und
wird zu Staub und Asche, wie es seine Bestimmung
ist, er kehrt zurück zu der Erde, aus der er geformt
ist und zu der er gehört, aber das Bewußtsein bleibt
lebendig, und wie wir jetzt uns in Gedanken von ei-
nem Ort zum andern versetzen können im Augen-
blick, so können wir dann wirklich durch die unend-
lichen Räume der Schöpfungen wandern ; wie wir uns
jetzt in Gedanken der Zeit vorausbringen können
oder in ihr zurückkehren bis in die Tage unserer früh-
sten Kindheit, ja sogar bis in die nebelhaften Fernen
der ältesten bekannten Geschichte, so können wir uns
dann in Wirklichkeit vor- und zurückversetzen, die
Zeit hat dann aufgehört, uns mit sich fortzuführen
ohne unsern Willen, wir stehen dann über der Zeit,
das heißt, sie existiert nicht mehr und das ist die
Ewigkeit. — Ich finde die Vorstellung schön, so von
Moltke. 3. 33
Welt zu Welt wandern zu können durch die unend-
lichen Säulen des Himmels, das zu sehen, was wir
jetzt nur ahnen können, und die Seligkeit zu genießen
darin, wie es verheißen ist: im Anschauen der Herr-
lichkeit Gottes, die sich so offenbart, wie wir sie be-
greifen können, nämlich in den allgewaltigen Wer-
ken des allmächtigen Schöpfers. Dieser Gedanke ge-
fällt mir besser als die starre Ruhe des Todes, von
der es heißt, daß der Mensch schläft, bis ihn die Po-
saune des Weltgerichts aus seinem Schlummer auf-
schreckt. Wir schlafen hier auf Erden schon so viel,
sollen wir denn nach dem Tode erst recht anfangen!
— Glaube aber nicht, daß ich der Ansicht der Spiri-
tisten bin. Nach meiner Meinung haben wir mit dem
Tode mit dieser Erde abgeschlossen und kommen
nicht dahin zurück. Ich denke, Du wirst mich ver-
stehen und mich nicht für einen mystischen Schwär-
mer halten.
Generalstab Berlin, 7. November 1877.
Du mußt nicht an diese dummen Kriegsgerüchte
glauben. Frankreich hat noch zu sehr an seinen Wun-
den zu heilen, um Lust zu haben, sich neue zu holen.
Aber wenn wir marschieren müssen, dann wirst auch
Du die Zähne aufeinander beißen und wirst mich
gehen lassen, meine Pflicht zu tun wie alle andern.
Mein Blut und Leib gehört dem König und dem Va-
terland, mein Herz aber ist mein Eigentum.
Generalstab Berli n, 7. November 1877, abends.
Fürchtest Du Dich davor, daß es wieder Krieg wer-
den wird? Wenn das der Fall ist, so sage ich Dir,
glaube nichts von dem, was die andern sprechen,,
denn ich kann Dir versichern, daß es kein Krieg wer-
den wird. Ein Krieg fällt nicht so ohne weiteres vom
34
Himmel, sondern kündigt sich vorher an wie ein Ge-
witter, das sich an dem politischen Horizont zusam-
menzieht, und selbst wenn man glaubt, jetzt muß es
ausbrechen, bleibt es noch oft bei einem ungefähr-
lichen Wetterleuchten. Hier bei uns weiß kein Mensch
etwas von Krieg, sondern es ist alles so friedlich, wie
es nur je gewesen ist.
Akademie Berlin, n. November 1877.
Weißt Du, woher Du diesen Brief bekommst? Du
kannst es Dir gewiß nicht denken. Höre nur, wie
pflichtvergessen ich heute bin. Hier sitze ich in der
Akademie an meinem grün angestrichenen Holztisch,
rund um mich herum sitzen alle die Offiziere und hö-
ren mit den aufmerksamsten Gesichtern dem Vortrag
des Majors von A. zu, der uns erzählt, wie der alte
Friedrich, der große König, im Siebenjährigen Kriege
seine Schlachten schlug. Wie er mit seiner kleinen
Armee bald hier-, bald dorthin zog, hier die Österrei-
cher, dort die Franzosen schlug und durch alle Ge-
fahren hindurch das arme kleine Preußen groß und
mächtig machte, trotz der Unzahl der ihn umdrängen-
den Feinde, ohne andere Hilfsmittel als die, welche
sein genialer Geist stets von neuem aus sich selbst
heraus erschuf. Da sollte ich nun zwar eigentlich
meine Augen auf die vor mir ausgebreiteten Karten
richten und im Geist den Scharen des großen Königs
folgen über Dresden bis nach den böhmischen Gefil-
den hinein! — Im Vertrauen will ich Dir sagen, daß ich
mich dann heute abend zu Hause hinsetze und alles
nacharbeite, so daß mir doch nichts verloren geht.
Generalstab Berlin, i3.November 1877.
Und nun will ich Dir noch eins sagen: An und für
sich gut ist kein Mensch, denn sonst wären wir eben
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keine Menschen. Es hatjeder seine Fehler undSchwä-
chen. Es kommt nur darauf an, daß man seine Fehler
erkennt und sie zu verbessern sucht. — Dieses Stre-
ben muß in jedem Menschen vorhanden sein, wenn
er nicht immer tiefer in sich versinken will. Mit gutem
Willen aber läßt sich viel ausrichten. Wir wollen beide
sehen, daß wir uns gegenseitig besser machen und
einer dem andern darin helfen.
Weißt Du noch, wie wir einmal über die Hiero-
glyphen in den ägyptischen Grabmälern sprachen?
An sie muß ich denken, wenn ich vor Deinen Zeich-
nungen sitze, und mir zuerst klar zu machen suche,
ob es ein Mensch oder eine Landschaft ist, die ich
vor mir habe! — Wie oft verweile ich in Gedanken
bei den schönen Stunden, wo wir zusammensaßen,
uns zusammen freuten und Unsinn machten wie Kin-
der, und dann wieder, wie Du mir so aufmerksam zu-
hörtest, wenn ich Dir die Abhandlung über den Chor
in der griechischen Tragödie vorlas. Es war so schön,
bei Dir Interessen zu finden, die auf alles eingingen.
Generalstab Berlin, 27. November 1877.
Wie ich zufällig aufsehe und mein Blick auf die
Bücher fällt, die vor mir auf dem Tisch liegen, da
sitzt da jemand oben auf einem dicken Buch, sagt
gar nichts und hält mir ein Blatt Papier hin, darauf
steht: »Weihnacht«. — Ich nicke ihm zu und sag':
»Schongut! Dichkenne ich auch schon lange und weiß,
daß du da in meinen Büchern wohnst, so daß, wenn
ich sie aufschlage, du mir daraus entgegentrittst und
dich Tag und Nacht auf meinem Schreibtisch herum-
treibst. Schon gut, mein kleiner Freund, wir müssen
warten, die Zeit wird kommen. Dann aber, wenn sie
da ist, sollst du mit nach Schweden und deinen Ka-
meraden besuchen. Wie werdet ihr beide froh sein!«
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Generalstab Berlin, 28. November 1877.
Du fragst mich in Deinem letzten Brief, ob ich die
Unterhaltung der großen Welt nicht furchtbar finde.
Ich kann das nicht sagen. Man kann nicht mit allen
Menschen über alles sprechen, und ehe man einen
findet, der sich für etwas anderes interessiert, als das
was ihn direkt berührt, muß man lange suchen. Du
hast ganz recht, wenn Du meinst, wirklich gescheite
Menschen gäbe es so wenige. Das ist ja aber ein
wahres Glück, daß man dann diese Unterhaltung er-
funden hat, die Du so schrecklich findest. Was sollte
man anfangen in einer Gesellschaft und mit einem
Menschen, der auf etwas, was er nicht alle Tage zu
hören bekommt, nur Ja oder Nein zu sagen weiß,
und selbst das nicht immer, wenn man nicht diese
Unterhaltung hätte, die man anziehen kann wie ein
Paar ausgetretene Pantoffeln und in denen alle Welt
einherzuschlürfen versteht. Worüber sollte man mit
einem solchen Menschen sprechen? — Wenn mir der
Mensch höchst gleichgültig ist, wähle ich mir auch
gerne einen höchst gleichgültigen Unterhaltungsstoff,
gleich und gleich gesellt sich gern. So spricht man
eine halbe Stunde Worte, und nachher meint jeder,
er habe sich vortrefflich unterhalten. Alles ist glück-
lich und zufrieden und jeder denkt von sich: Du bist
doch viel bedeutender als der andere! — Und weil
das jeder denkt, ist auch jeder liebenswürdig, denn
der Mensch ist niemals liebenswürdiger, als wenn er
sich über sich selber freut. — Daß man irgend etwas
davon hätte, von dieser Art Unterhaltung, will ich
nun allerdings nicht behaupten, aber sie ist eben der
große Weg, auf dem sich alle zusammen- und zu-
rechtfinden, und der so breitgetreten ist, daß keiner
ihn verfehlen kann. Diese Unterhaltung ist konven-
37
tionell festgesetzt wie alle Regeln des Anstandes und
der guten Sitte, die doch wirklich bisweilen töricht
und wunderbar genug sind, und doch, wenn man sie
nicht befolgen wollte, würden wir mit der Zeit wieder
dahin kommen, Eicheln zu essen wie unsere Vor-
fahren und uns mit Knitteln zu erschlagen.
Generalstab Berlin, 8.Dezember 1877.
Wie ich heute morgen aufstand, lag der weiße Reif
auf den Bäumen und den Rasenplätzen vor dem Hause.
Die ersten leichten Truppen, welche der Winter vor-
ausschickt, um zu rekognoszieren, ob er mit der Haupt-
macht nachrücken könne oder ob hier und da noch
eine unvorsichtige Blume, die der abziehende Herbst
zurückgelassen, naseweis sich über der Erde aufhalte.
Diese letzten Spätlinge vertreibt der Reif; was noch
an grünem Pflanzenleben da war, ist vernichtet und
die Bahn ist freigemacht für den König Winter. Er
kann kommen mit Schnee und Nebel, und dann mit
Frost und klarem Sonnenschein, doch ohne Wärme,
gleichsam ein Spiegelbild der heißen Sommersonne;
dieselbe Sonne, dieselben Strahlen, aber ohne daß
sie Leben wecken, ohne daß sie die starre Erde er-
wärmen, ohne daß sie aus allen Furchen den feuch-
ten Dampf des knospenden Frühjahrs steigen macht.
Und dieser Unterschied bloß deshalb, weil die Son-
nenstrahlen etwas schräger auf die Erde fallen als im
Sommer, obgleich die Erde im Winter der Sonne
näher ist als im Sommer! — Ich will Dir aber keine
physikalischen Vorlesungen halten, sondern Dir nur
erzählen, wie schwach diese ersten winterlichen An-
griffe sind, denn heute mittag schon tropft es wieder
von allen Dächern und der naßfeuchte Dunst, in den
wir seit einem Monat eingehüllt sind, liegt wieder auf
der Stadt wie ein Witwenschleier. — Es geht mir ge-
38
radeso wie Dir, ich mag dies Wetter auch nicht lei-
den und liebe nichts mehr, als einen tüchtigen, reel-
len Frost, wo alle Sinne in der Kälte sich schärfen.
Jetzt sieht auch hier alles trübe und schläfrig aus, die
Menschen haben langweilige Gesichter und ein un-
gesundes Aussehen!
Generalstab Berlin, g. Januar 1878.
Setze einen Menschen nach seiner Geburt auf eine
wüste Insel und laß ihn dort aufwachsen, ohne mit
anderen Menschen in Berührung zu kommen. Was
meinst Du, daß aus ihm werden würde? Ein vernünf-
tiges Tier, weiter nichts, ein Geschöpf, das keine an-
deren Interessen kennt als seinen Bauch, Essen und
Schlafen. Was denkst Du, würde dieser Unglückliche
sagen, wenn er auf einmal in die Welt käme und an-
finge zu begreifen, daß es außer den Dingen, die ihn
bisher beschäftigten, noch andere Interessen gibt? Er
würde nichts verstehen und sich furchtbar dumm vor-
kommen. Nun ist aber gar nicht ausgeschlossen, daß
dieser Mensch die besten Anlagen von der Welt hat,
und wenn er sie hat, werden sie sich entwickeln, so-
bald sich Gelegenheit bietet, und er wird in kurzer
Zeit ebenso klug sein wie die andern. — Je bessere
Anlagen er aber hat, um so mehr wird er das Drük-
kende seiner Unwissenheit fühlen, denn wenn er das
nicht fühlte, würde er nicht das Bedürfnis haben, sich
auszubilden, und würde Zeit seines Lebens dumm
und einfältig bleiben.
Generalstab Berlin, 12. Januar 1878.
Um mich von gestern zu erholen, ging ich heute
nach der Akademie in die Gemäldegalerie, wo einige
neue, sehr schöne Gemälde aufgestellt sind. Ich habe
mich da lange umhergetrieben und habe es versucht,
39
dem Geist auf die Spur zu kommen, mit dem der eine
odei der andere Künstler seine Figuren geschaffen
hat. Man kann sich bei einigen Bildern so viel, bei
anderen so wenig denken, alle aber sehen einen stumm
und bedeutsam an, als wollten sie sagen: Willst du
mich verstehen, so denke über mich nach. Vergiß
dich und die Zeit und Welt, in der du lebst, und ver-
setze dich in meine Welt und in meine Zeit. — Dann
werden die Figuren lebendig und die Geschichten
der Vergangenheit, die sie darstellen, werden leben-
dig und steigen auf aus der alten grauen Zeit mit
ihren Freuden und Schmerzen, ihren guten und bö-
sen Taten.
Generalstab Berlin, 24. Januar 1878.
Wenn Dir ein Mensch gegenübertritt mit kleinlichen
Gedanken, ein Mensch, der im Staube kriecht und
der sich wohlfühlt im Schmutz, dann laß den ganzen
Stolz deiner Seele aufbrausen wie einen Orkan, wende
Dich ab voll Verachtung von allem, was klein und
gemein ist, und halte fest an dem Idealen, an dem
Wahren und Schönen, dann sei stolz, stolz in Dei-
nem Glauben an Wahrheit und Recht, stolz gegen
kleinliche Menschen, stolz gegen Lüge und Verleum-
dung. Wende Deinen Blick immer nach oben, nie-
mals nach unten, öffne Dein Herz weit, wo Wahr-
heit und Schönheit ihm entgegentritt, aber schließe
es fest ab gegen alles, was unrecht ist.
Generalstab Berlin, 28. Januar 1878.
Welch ein Glück, daß gelegentlich des Turmbaues
zu Babel die Musik sich aus der Sprachverwirrung
gerettet hat und Gemeingut aller Nationen geblieben
ist! Denke Dir, wenn jedes Volk wie seine eigene
40
Sprache so auch seine eigene Musik hätte, die der
Fremde nicht verstehen könnte oder erst mühsam
erlernen; glücklicherweise steht die Musik über den
Völkern, daß alle sich in ihrem gemeinsamen Genuß
vereinigen und sie verstehen und sich an ihr erfreuen
können.
Generalstab Berlin, io.Februar 1878.
Heute war ich in der Kirche, es ist ein sehr guter
Kanzelredner, nur hat er den Fehler, daß er nicht
lassen kann, die Politik in seine Rede hineinzubrin-
gen. Nach meinem Gefühl muß die Predigt frei blei-
ben von allem, was nicht in direkter Beziehung zu
unserem Glauben steht. Eine Ecclesia militans, das
heißt eine zum Streit gerüstete Kirche, ist nicht nach
meinem Sinn. Unsere Religion ist die der Liebe und
der Duldsamkeit, der Humanität und Vergebung,
darin liegt nach meiner Auffassung die hohe Schön-
heit derselben. Der Gott meines Herzens ist kein Gott
der Rache, sondern ein Gott, der den Sünder auf-
nimmt, der sich mit bußfertigem Herzen ihm zuwen-
det, der Gott, der auf das Herz sieht, und nicht auf
das Bekenntnis, ein Gott, der gleich nahe allen Men-
schen steht und der sich finden läßt von jedem, der
ihn sucht. — Wir leben aber in einer Zeit, wo es von
unten auf gärt und sich rührt an aller Welt Ecken.
Hier in Berlin, in der großen Stadt, wo mit vielen
Menschen viel Not und Elend zusammengekommen
ist, fangen die Geister mehr und mehr an sich zu er-
hitzen. Das dringt selbst bis auf die Kanzeln und tönt
wider aus dem Munde der Prediger, das dringt ein in
die Religion und will sie ersticken. Die aufklärenden
Lehren der Wissenschaft üben ihren ganzen gefähr-
lichen Einfluß auf die Massen, welche diese Lehren
hören, ohne sie verdauen zu können, und die ein-
4i
zelne herausgerissene Sätze derselben auf die Fah-
nen ihrer sozialistischen Bestrebungen schreiben. —
Es werden schlimme Zeiten kommen, wenn noch
nicht bald, so werden sie kommen, wir beide werden
noch mitten drin stehen in dem Sturm. — Mein ar-
mes Vaterland, du schönes, stolzes Reich, dessen
mächtiger Adler seine Schwingen breitet über alle
Meere, was werden sie aus dir machen! Solange die
Armee nur aushält, ist alles gut, da steckt ein guter
und gesunder Stamm darin, und die militärische Ehre
ist stark in ihr, aber die Armee formiert sich aus dem
Volk, und wenn die Balken morsch werden, stürzt
das Haus ein. — Diese unsinnigen Menschen, sie wis-
sen nicht, was sie tun, sie legen die Fackel an das
Pulverfaß, ohne zu denken, daß sie sich selber mit in
die Luft sprengen; sie glauben, die Bewegung leiten
zu können und bedenken nicht, daß der rasende Strom
des entfesselten Pöbels sie hinwegschwemmen wird
wie Strohhalme, wenn der Damm gebrochen ist, den
sie langsam unterwühlen. Sie nennen sich Volksbe-
glücker und haben nicht acht auf das namenlose
Elend, das sie über dasselbe Volk bringen werden, das
sie beglücken wollen; wenn sie sich doch ein Bei-
spiel nehmen wollten an den Girondisten der franzö-
sischen Revolution, edle Männer mit den besten Ab-
sichten, die die Früchte ihrer Volksbeglückung auf
dem Schafott der Guillotine fanden.
Jetzt bin ich wohl zu weit gekommen und Du schüt-
telst den Kopf über diesen politischen Brief. Magst
Du ihn immerhin lesen, warum solltest Du nicht Teil
haben an dem, was uns alle so nahe angeht. — Mache
Dir übrigens keine Sorge, noch ist alles nur im An-
fang, aber ich sehe es kommen, wie es werden wird.
— Wärst Du hier, könnten wir besser miteinander
sprechen und Du würdest ebenso gut Deine politische
42
Meinung haben wie ich, denn auch darin sollst Du
mit gleichem Verständnis an meiner Seite stehen.
Adieu, mein Kamerad. Wir stehen fest auf unserem
Posten.
Generalstab Berlin, io.Februar 1878.
— Ein Knoten und ein Stück Vaterlandsfarbe, das
habe ich nun von Deinen Arbeiten. Soll ich Dir auch
einmal von den meinen schicken? Was wird's wer-
den? Einige Gedanken über Taktik und Fortifikation
oder ein Stück Kriegsgeschichte, daraus man ersehen
kann, daß die Menschen sich bekriegt haben, solange
die Welt steht, daß sie ihr Blut vergossen um Phan-
tome, die in ihrer Hand zergingen wie Seifenblasen.
— Schwarz-weiße Kriegsgeschichte könnte ich Dir
auch schicken, so hat jeder seine zweifarbige Arbeit!
Generalstab Berlin, io.Februar 1878.
Wir fangen nachgerade an, die Politik etwas auf-
merksam zu betrachten. Was mag sich da noch aus-
bauen, wenn erst der große Topf der Konferenz kocht,
vorausgesetzt, daß er überhaupt soweit kommt und
nicht vorher noch die Engländer unter der unglaub-
lichen Leitung ihres israelitischen Premier sich eine
Lektion für die allzu humanen Finger holen. Ich
gönnte es ihnen von Herzen, diesem Volk mit der
hochmütigen Anmaßung gegen außen, den abgeleier-
ten Phrasen der Humanität auf der Zunge, und im
Herzen nichts als Gewinnsucht, Baumwolle und Han-
delspolitik.
Generalstab Berlin, 22.Februar 1878.
Die Blumen haben ja auch eine Sprache, wenn auch
nicht in Worten, so sprechen sie doch zum Herzen,
es kommt nur darauf an, daß das Herz sie versteht,
43
daß es empfänglich ist für die Sprache der feinen
Blätter, die so graziös auf dem Stile sitzen, die mit
ihren lichten Farben das Auge erfreuen, die ihren
Duft von Schweden herübertragen und Grüße brin-
gen!
Generalstab Berlin, 28. Februar 1878.
Es ist still um mich her, fast könnte man glauben,
daß man die Atemzüge des vergehenden Monatshören
könnte. Er geht dahin in die endlose Vergangenheit
zu der unendlichen Zahl seiner Brüder, ein vorüber-
geschwundener Sekundenschlag an der großen Uhr
der Zeit und doch wie unendlich viel hat sich in ihm
zusammengedrängt. — Was wird sein Nachfolger
bringen? Die Wogen der politischen Strömung schla-
gen hoch. Was wird daraus werden?
Generalstab Berlin, 22. März 1878.
An Sr. Majestät des Kaisers Geburtstag!
Möge der gute Gott ihn uns noch lange erhalten,
möge er tausend und aber tausend Wünsche für das
Heil unseres geliebten Kaisers erhören, die an dem
heutigen Tage aus allen Gauen des deutschen Rei-
ches zu ihm aufsteigen, dieses Reiches, das er groß
und mächtig gemacht hat, dieses Reiches, dessen
Traum, den es geträumt hat seit hunderten von
Jahren, er zur Erfüllung gebracht hat, den Kindheits-
traum des jungen Deutschland, an dem es gehalten
hat bis in sein Mannesalter hinauf, den seine Dichter
gesungen haben in zahllosen Liedern und den es im
Herzen getragen hat, trotzdem es zerrissen und zer-
fallen war, wie seinen köstlichsten Schatz, dieses Ideal
des deutschen Volkes, das sein Leitstern gewesen ist
in der Nacht der Knechtschaft und Unterdrückung;
das Völkermorgenrot, das uns gestrahlt hat in den
44
Befreiungskriegen, jetzt ist die Sonne aufgegangen
und leuchtet weithin über alles deutsche Land, so
weit die deutsche Zunge klingt, die deutsche Einig-
keit ist erkämpft und unser Kaiser hat sie uns errun-
gen. Durch Blut und Kampf mit unerhörten Opfern
ist sie erstritten, die besten der Landeskinder sind ge-
blieben und ihre Leichen ruhen wie Gedenksteine in
fremdem Boden, aber ihr Tod ist nicht verloren, aus
der blutigen Saat ist die goldene Ernte aufgesproßt.
— »Vergeßt der treuen Toten nicht!« — sie starben
einen schönen Tod, wir aber rufen aus vollem Her-
zen: »es lebe unser Kaiser!« — Auf dem Königsplatze
unter der Siegessäule ist eine Batterie aufgefahren
und nun folgt in rascher Folge Schuß auf Schuß! —
Wie kenne ich sie, diese Stimmen, die so mächtig
zum Herzen sprechen, diese schweren Hammer-
schläge in der Schlachtenmusik, wie oft hat ihr Klang
mich umdröhnt, während wir dastanden auf blutigem
Felde, während der Tod seine Ernte hielt und wenn
das menschlich schwache Herz erzittern wollte, wenn
es heiß wurde und die Zahl der Kampfgenossen ge-
ringer und geringer, dann rollte der frische Klang
herüber und rief mit mächtiger Stimme: Noch fliegt
der Preußen Adler hoch, steht fest, Kameraden, der
Sieg ist unser! — Dein Herz wird auch deutsch füh-
len mit dem Manne, dem Du so lieb bist, Dein star-
kes mutiges Herz versteht es, was es heißt: sein Va-
terland und seinen König lieben, und da Du es mir
geschenkt hast, dies Herz, wird es auch mit mir ju-
beln und Gott danken, daß er uns diese Heiligtümer
gegeben hat in einer Zeit, wo Materialismus und
Nichtachtung sich ausbreiten. — Wie sie auseinander-
laufen, die vielen Menschen, die um die Geschütze
standen, in den Straßen zerschlägt sich die Menge,
Männer und Weiber und Kinder, ja geht nur hin,
45
wenn auch mancher unter euch ist, der sich aufleh-
nen möchte gegen den Kriegerstand, der so eisern
auf dem Volke liegt, ihr seid doch alle Deutsche, und
wenn das Vaterland und der Kaiser ruft, seid ihr doch
alle da und haltet den Schild der deutschen Ehre
hoch und rein in starker deutscher Hand, daß an
seiner ehernen Festigkeit zerschellen müssen alle
Feinde, die die Hand nach den heiligen deutschen
Gütern ausstrecken, ihr liebt es ja doch alle so sehr,
euer deutsches Vaterland.
Generalstab Berlin, i. April 1878.
Heute ist also der Tag, auf den ich so lange gewar-
tet habe — nun mögen auch seine Nachfolger sich
schleunigst auf die Reise machen in die Regionen
der Vergangenheit, aus denen nichts wieder zurück-
kehrt, das einzige, was Macht hat, diese Toten zu be-
suchen, ist die Erinnerung. Erinnerung und Hoffnung,
diese beiden Gottesgaben, die wir Menschen zur Ver-
schönerung unseres Erdenlebens mitbekommen ha-
ben, das eine der Vergangenheit, das andere der Zu-
kunft angehörig. So berühren sie sich immer mit An-
fang und Ende, ohne jemals die Gebiete wechseln zu
können. — Der Raum der Hoffnung wird enger und
enger mit den kommenden Jahren, mit ihnen das Ge-
biet der Erinnerung weiter und weiter, und mitten
zwischen beiden, gerade da, wo die eine anfängt, die
andere aufhört, steht der Mensch mit seinem klopfen-
den Herzen, das unter dem Einfluß beider lebt und
bebt. Immer hofft es, und doch wie selten hält die
Erinnerung das, was die Hoffnung versprochen hatte,
und doch bleibt diese ewig jung und ewig neu, bis
mit dem letzten Atemzuge die Hoffnung aufhört und
die Erinnerung ihre lange Liste abschließt. — So geht
es ja auch mir. Ich habe viel von beiden. Die Erinne-
46
rung zeigt mir so schöne Stunden, die Hoffnung malt
mir noch schönere vor, und je näher die Stunde rückt,
wo sie sich erfüllen soll, um so schneller schlägt das
Herz ihr entgegen: Komm doch bald, wie lange ist es
noch bis dahin — und dann wieder: Eile nicht so
schnell vorüber, du flüchtige Zeit, kann man dich
denn nirgends fassen, nirgends halten? — Aber die
Vernunft will auch mitsprechen, wie würde es aus-
sehen in der Welt, wenn jeder nach Gelüste und Gut-
dünken die Zeit stellen könnte wie seine Taschenuhr,
wie könnte sich bei solchem Charivari eine ruhige
Weltgeschichte abwickeln, die die Menschen auf-
zeichnen, die die Kinder in den Schulen lernen könn-
ten. — Es ist schon besser so, wie es ist, und doch
wie gerne würde jeder den Uhrmacher am unend-
lichen Zeitengetriebe machen, wenn er nur nicht ein
so ohnmächtiger schwacher Mensch wäre. Ein Atom
in der langen Kette des Lebendigen, ein Sonnenstaub,
der hinweggeblasen wird, und man sieht seine Spur
nicht mehr, ein Nichts, dessen Bedeutungslosigkeit
man erst daraus erkennt, daß sein Verschwinden keine
Lücke zurückläßt. — Und doch, welch eine Welt der
Gefühle steht still, wenn ein Menschenherz aufhört
zu schlagen. Welch eine Fülle von Gedanken erlischt
in dem Momente, wo das lebendige Blut nicht mehr
durch die Adern strömt, Gedanken, die weit ausgrei-
fend die Welt umspannten, die eindrangen in alles,
was seit Jahrtausenden das Menschengeschlecht be-
wegte, die im Gigantenfluge der Zeit vorauseilten und
in die Ferne schweifend erwogen, was kommen wird
des Guten und des Bösen. Wie hat es gebebt in Leid
und Schmerz, wie hat es aufgejauchzt zum strahlen-
den Himmel über das Glück, wenn seine Hand es be-
rührte, wie hat es gehofft und gewartet, wie hat es
geduldet und geblutet und wie hat es geliebt — dies
AT
kleine Menschenherz, dies Nichts, das verschwindet
ohne Weg und Spur, welche Welt hat es in sich ge-
borgen! Die Tage kommen und gehen, in der Perlen-
schnur der Ewigkeit reiht sich Stunde an Stunde und
wir ziehen mit dem Unbekannten entgegen, wie der
Schiffer auf dem Meere, der den Winden folgt, die
ihn treiben und nur den Kompaß hat, der ihm seine
Richtung weist. — Mein Kompaß zeigt nach Norden,
er ist also gut imstande, am Steuerruder meines Le-
bensschiffes sitzt die Hoffnung, der Wind ist günstig
und die Segel schwellen. Glückliche Fahrt! — Ich
weiß es ja, daß ich es nicht alleine rufe. Ich bin ja
nicht alleine in dieser öden Welt.
Generalstab Berlin, 3. April 1878.
Nun habe ich von allem, was Gesellschaft heißt, ge-
nug, mache einen Strich darunter und ziehe das Fa-
zit. Was kommt dabei heraus? Nicht viel Profit, den
ich gehabt hätte. Dieselben Menschen wie immer,
dieselben Interessen, dieselben Gedankenkreise, die
ich schon im vorigen Winter kennen lernte und die
mir jetzt wieder entgegengetreten sind. Wie sind sie
doch kleinlich, diese Menschen, die nichts im Kopfe
haben als ihre liebe Person, denen ihr Ich der Gott
ist, dem alles geopfert wird. — Ich weiß nicht, ob ich
in diesem Jahre schärfer urteile als früher oder ob
vielleicht meine Beobachtung unbefangener ist wie
im vergangenen Jahr, aber ich habe noch nie so die
Nichtigkeit der Gesellschaftsmenschen bemerkt wie
diesen Winter, und wenn ich aufrichtig sein soll, ich
selber bin mir noch niemals so töricht vorgekom-
men als die verflossenen Monate, wenn ich in Gesell-
schaften den Liebenswürdigen spielte, ohne mit dem
Herzen dabei zu sein. Ich will nichts von dieser Ge-
sellschaft, ich finde nichts in ihr, das wert wäre, sich
48
danach zu bücken, wenn man es zu seinen Füßen
sieht, sie bietet nichts, an dem man sich erheben
könnte, sie ist nur ein Abklatsch des Alltagsmenschen
mit allen seinen Fehlern, allen seinen kleinlichen In-
teressen, all seinem Egoismus, seiner Engherzigkeit,
seiner Frivolität. — Jetzt ist all dies untergegangen,
alle diese Vergnügungen und Eitelkeiten haben ihren
Wert verloren, ich habe den wahren Wert des Lebens
gefunden. — Du schriebst mir einmal: Das Leben der
großen Welt hat keinen bleibenden Wert. Wahrhaf-
tig, Du hast Recht gehabt, ich glaube, daß Du sehr
oft Recht hast, nur mußt Du es mir auch immer
sagen.
Generalstab Berlin, 13. Mai 1878.
Von dem Attentat auf den Kaiser hast Du wohl ge-
lesen. Unbeschreiblich war der Enthusiasmus der vor
dem Palais versammelten unzähligen Menschenmas-
sen. Ich ging hin, gleich nachdem die Nachricht ge-
kommen war. Kopf an Kopf standen die Mengen,
sangen »Heil dir im Siegerkranz«, »Ich bin ein Preuße«
etc., am ergreifendsten war es, wie die ganze Masse
von vielen Tausenden das alte schöne Luthersche
Lied anstimmte: »Nun danket alle Gott«. — Der Kai-
ser trat auf den Balkon hinaus und die Luft erzitterte
von endlosem jubelnden Zuruf. — Die Wut auf den
Schweinehund von Kerl war kolossal, ich glaube, das
Volk hätte ihn zerrissen, wenn ihn nicht die Polizei
geschützt hätte. Die ganze Nacht hindurch standen
die Menschen vor dem Palais und, als am andern:
Tag der Kaiser wieder wie immer ausfuhr, standen
die Straßen voll jubelnden Volks, der Wagen mußte
im Schritt fahren, wenig fehlte, so hätten sie ihm die
Pferde ausgespannt, um den geliebten Kaiser selber
zu ziehen, den alle sehen, dem jeder zurufen wollte.
Moltke. 4. 49
Generalstab Berlin, 25. Mai 1878.
Wenn die Leute sich in Paris den Krieg wahrsagen
lassen, so finde ich, können sie einem nur leid tun.
Dann kannst Du ganz sicher sein, daß keiner kommt.
Außerdem traue ich mehr auf die politische Lage als
auf das Geschwätz, das aus dem Munde eines alten
Weibes kommt und mit dem ich meine Ohren nicht
beschmutzen möchte. Wie kann man nur so . . . sein!
Generalstab Berlin, 31. Mai 1878.
Ich denke mir, Ihr seid in den jetzigen Tagen ein-
mal in Versailles gewesen und habt Euch dort im
Schloß die wundervollen Gemälde von Horace Ver-
net angesehen. Wie manches Mal bin ich durch diese
Säle gewandert und habe mich an den schönen Bil-
dern erfreut. — Besonders ist mir eins in der Erinne-
rung geblieben, ein Überfall eines maurischen Lagers
durch französische Chasseurs ä cheval, ferner die Er-
stürmung des Malakoff, wo der kleine Tambour so
schnell vor der Mauerlücke vorbei läuft, um wieder
den schützenden Wall zu gewinnen. — Schön ist
diese Sammlung, und es ist zu bedauern, daß nicht
auch Deutschland einen Schlachtenmaler hervorge-
bracht hat, der aus der reichen und ruhmvollen kriegs-
geschichtlichen Entwickelung desselben in ähnlicher
Art wie Vernet die bedeutendsten Episoden für die
Nachwelt fixiert hat. Die Schlachtenbilder, welche
unsere Maler gemalt haben, lassen meistens kalt und
sind ohne Leben, ohne Aktion und unnatürlich, nur
wenige Ausnahmen zum Besseren wüßte ich. Merk-
würdig, daß wir es verstehen, die Schlachten zu schla-
gen, aber nicht den Geist des Gefechtes auf die Lein-
wand zu übertragen! — Jedenfalls darfst Du Paris
nicht verlassen, ohne Versailles gesehen zu haben,
50
besonders Trianon, alle diese Stätten von so großem
geschichtlichen Interesse, diese still verborgenen Ra-
senplätze, auf denen die unglückliche Marie Antoi-
nette ihre Schäferspiele abhielt, während schon die
schwarzen Wolken der Revolution so drohend über
ihrem Haupte sich zusammenzogen, diesem Haupte,
das noch so harmlos lachte und scherzte und das
doch später zum blutigen Denkstein für die entfessel-
ten Gewalten eines lange unterdrückten Volkes wer-
den sollte.
Generalstab Berlin, 3. Juni 1878.
Mit welchen Gefühlen ich Dir heute schreibe,
kannst Du Dir denken. — Noch kann ich kaum zur
Besinnung kommen, kann es nicht fassen und be-
greif en, wie es möglich ist, daß eine solche Schandtat
geschehen konnte. Wie stehen wir da vor den Völ-
kern der ganzen Welt. Die Mörderhand dieses ruch-
losen Buben hat unser Volk mit einem Schimpf be-
lastet, der ihm anhängen wird, solange die Geschichte
existieren wird. Unser alter Kaiser, der Mann, der
Deutschland zu dem gemacht hat, was es ist, der
Mann, der einzige in der Welt, der heute die Frie-
denshoffnungen aller in sich vereinigte, es ist zu nie-
derträchtig, zu gemein. — Wie standen wir da nach
dem glücklich vollendeten Kriege, ein neu geeintes
Volk, stark und mächtig, stolz auf unsere Kraft, stolz
auf unseren Kaiser, den Liebling des Volks, wie hoch
schlug das Herz, wenn man sich sagte: Du bist ein
Deutscher und du kannst stolz darauf sein, — jetzt
liegt Schmach und Schande auf uns, unser Kron-
prinz in England von deutschen Arbeitern verhöhnt,
unsere Schiffe zertrümmern sich gegenseitig, unser
Kaiser in seiner eigenen Hauptstadt von Mörderhand
verwundet, zweimal in so kurzer Zeit. Unser Reichs-
51
tag schwach und tatlos, elende feige Gesellen, die es
nicht wagen, gegen das aufzutreten, was sie die Volks-
rechte nennen, und dadurch die blutigen Leidenschaf-
ten der Kanaille entfesseln, unsere Minister mit dem
Liberalismus kokettierend, unsere Industrie liegt
brach, ihre Produkte werden im Auslande beiseite-
geschoben, alles vorbei und aus, und nun noch dieser
Schimpf. — Ich war so froh in dem Gedanken, Dich
in unser deutsches Land bringen zu können, was
mußt Du jetzt von uns denken! Wie kann ich wieder
nach Schweden kommen, wo die Leute mit Fingern
auf mich zeigen werden und sagen: Das ist einer von
denen, die ihren Kaiser erschießen. — Das ist ge-
kommen, wie ein Hagelschlag, der die junge Saat ver-
nichtet, zerknickt und zu Boden drückt, zu Boden tief
in den Schmutz. — Was hilft es uns, wenn Tausende
auch mit Freuden mit ihren Leibern unseren Kaiser
decken möchten, wenn wir jeden Augenblick bereit
sind, unser Herzblut für ihn zu vergießen, was hilft
es uns! Die feige Mörderhand sucht den Hinterhalt
auf und die Schande der Tat liegt auf uns allen.
Generalstab Berlin, 4. Juni 1878.
Hier sitze ich wieder mit dem Schmerz und der
Scham im Herzen. Ich kann das Gefühl nicht los
werden, daß eine unauslöschliche Schande auf unse-
rer Nation liegt. Das Blut schreit zum Himmel und
klagt das Volk an, für das es gesorgt und gearbeitet
hat ein Leben von 81 Jahren hindurch. — Diese Bu-
ben im Auslande, die den Namen des deutschen Vol-
kes an den Pranger stellen, daß jeder pfui über uns
rufen muß, die die Gastfreundschaft, welche ein frem-
des Volk unserem Kronprinzen angedeihen läßt, be-
sudeln mit ihren unflätigen Händen, die das in den
Schmutz ziehen, was jedem Menschen von Ehre hei-
52
lig ist, die ihrem Volke Schande machen, Schande
und Schimpf auf ewig. Es ist schwer, das zu tragen,
wenn man nur einiges Gefühl für Anstand und guten
Namen hat. Ja, das ist schlimmer, als wenn Unglück
und Armut über einen hereinbricht. Not und Sorge
können schmerzen und den Menschen verzehren und
aufreiben, aber die Ehre ist wenigstens makellos, was
will dann alle Not sagen. — Wir haben unsere deut-
sche Ehre verloren, wenigstens fühle ich so, und ha-
ben sie verloren durch die Schuld dieser Bestien, die
nicht verdienen, daß ein deutsches Weib sie geboren
hat, die selbst die Tiere ausstoßen würden, wenn sie
Vernunft hätten, denn sie stehen weit unter den Tie-
ren und wälzen sich mit ihren ekelhaften Leibern im
Schmutz. — Und wir müssen dabei stehen und zu-
sehen, wie der deutsche Name geschändet wird, und
können nichts machen, — wir können sie ja nicht
fassen, diese Halunken, die im Dunkeln schleichen,
die nur von Zeit zu Zeit hervorgrinsen unter dem
Schild unserer humanen liberalen Gesetzgebung, wo
sie sicher sind, ganz sicher, und lachen können mit
ihren häßlichen Satansfratzen. Keine Revolution, kein
Aufstand, Angst haben die Hunde, frei herauszutre-
ten und für ihre Prinzipien zu kämpfen. — Alles wird
stille und heimlich gemacht, Stein auf Stein gelöst,
wo keine Gefahr ist. Hätte ich nur einen von diesen
Burschen unter meinen Fingern, hätte ich zwanzig
oder hundert gegen mich, ich wollte meinem Gott
auf den Knien danken und mit Freude, wie ich sie
nie gekannt, zum Kampfe gehen gegen diesen Aus-
wurf der Menschheit. Aber Handschuhe würde ich
mir anziehen, denn man könnte in Versuchung kom-
men, diesen Schmutz anzufassen.
Was sollen wir noch in diesem Lande, wenn unser
Kaiser stirbt, den Kronprinzen werden sie auch er-
53
schießen, und unser Reichstag wird sich in den Trauer-
mantel seiner humanen Gesetze wickeln, denen sie
das Leben des edelsten Hohenzollern geopfert haben,
der je gelebt hat, wird die Achseln zucken und sagen:
Wir mußten die liberalen Gesetze aufrecht erhalten.
— Sie werden sitzen, diese humanen Schlafmützen,
bis auch über ihnen der Staatsbau zusammenbricht
und sie unter seinen Trümmern begräbt, bis das Ge-
heul des blutig roten Sozialismus durch die Straßen
gellt, bis die Fackeln der Volkshefe das junge Deut-
sche Reich in Asche legen und unsere Feinde ihren
Fuß auf den Nacken unseres zerrissenen Volkes set-
zen. Es gibt keine Nation, die so wenig Patriotismus
hat wie die Deutschen. — Ich telegraphierte gleich an
Onkel Helmuth*. Gestern ist er gekommen. Er hat
auch einen Drohbrief bekommen, der Schreiber sagt
ihm: Du hast Dein Leben lang von dem Schweiße
der Arbeiter gepraßt usw. — Ein zu gemeines Mach-
werk, aber doch schmerzlich für einen Mann, der
sein Leben lang nur seine Pflicht getan und so viel
dazu beigetragen hat, dies Deutschland zu der Höhe
zu heben, auf der es stand. — Wahrhaftig, man könnte
Ekel empfinden über die Feigheit und Unschlüssig-
keit der Gesinnungen, welche zu herrschen scheinen.
— Wäre ich ein freier Mann, ich schnürte mein Bün-
del und wendete dem ganzen Schelmenpack den
Rücken, ginge nach Amerika oder nach Afrika zu
den Hottentotten.
• Der Chef des Generalstabes Generalfeldmarschall Graf Helmuth Moltke.
54
Dritter Teil
Moltkes Gedanken
und sein Wirken in Teilen aus
Briefen an seine Frau
1879—1914
Laub an, ig. Juli 1879.
Gestern sind wir hier eingerückt. Eine freundliche,
kleine Stadt, leider unser letztes Quartier, übermor-
gen ist unsere Generalstabsreise vorbei. Ich hätte den
ganzen Sommer so weiter reiten mögen. Ich fühle
mich so gesund, daß ich immer Lust habe, zu singen
und zu springen. Mit meinen Arbeiten glaube ich auch
zufrieden sein zu dürfen. Von einem Expose, das ich
ausgearbeitet, sagte unser Major sogar: Ich wüßte
nicht, wie man es besser machen könnte. Du kannst
Dir denken, wie stolz ich bin.
Potsdam, 29. Juli 1879.
Also: Potsdam! Da sitze ich nun wieder in meiner
alten Garnison, aus der ich drei Jahre ausgeflogen
war, ein flügge gewordener Vogel, den das Geschick
doch wieder in sein altes Nest zurückführt. Mir ist
ganz heimatlich zu Mut. Die altbekannten Klänge des
Glockenspieles auf der Garnisonskirche klingen mir
so vertraut in Herz und Ohren, die schönen Kerls
in ihrer strammen Haltung, das Kommando, die straffe
Disziplin, das holperige Steinpflaster, die leeren Stra-
ßen, lauter gute und liebe alte Bekannte, die mich
begrüßen, als hätte sich an ihnen auch nicht eines
Haares Breite geändert während der drei Jahre mei-
ner Abwesenheit. Drei Jahre! welch eine lange Zeit!
Zehnmal derselbe Zeitabschnitt und ein Menschen-
leben ist dahin. Verblüht wie die Blumen auf dem
Felde und vom Winde verweht.
Am Sonntag kamen wir hier an und meldeten uns
beim Regiment zurück. Ich bin kommandiert zur Füh-
rung der Leibkompagnie, solange der Hauptmann auf
57
Urlaub ist. Das ist sehr angenehm. Ich kann mir sel-
ber den Dienst ansetzen und mich allmählich wieder
an die kleinen Finessen des praktischen Soldaten ge-
wöhnen. Gleich am Montag hatten wir eine große
Übung im Bataillon. Wir marschierten morgens V25
Uhr ab. Zuerst wurde ein großes Gefecht gemacht
und dann rückten wir in ein Biwak. Wir hatten herr-
liches Wetter. Unser Biwakplatz war unter schattigen
Eichen, durch deren dunkelgrüne Blätter die Sonne
grüngoldige Reflexe warf, die zitternd über die blan-
ken Helme der Soldaten spielten. Bald brannten die
Biwakfeuer und dicht gedrängt standen die Soldaten
um ihre Kochkessel, in denen Fleisch und Kartoffeln
zur Mittagsmahlzeit brodelten. Wir Offiziere saßen
währenddem auf unseren Feldstühlen an unseren
kleinen Feldtischen, und während wir abwarteten, bis
unsere Mahlzeit, von den Ordonnanzen gekocht, fertig
sei, rauchten wir unsere Zigarre und hörten der Re-
gimentsmusik zu, die, im großen Kreise aufgestellt,
vor dem Biwak ihre lustigen Weisen spielte. Oder
wir lagen der Länge nach auf dem Rücken im Grase
und sahen den kleinen blauen Wölkchen unserer Zi-
garre nach, die leicht und luftig durch die grünen
Blätter schwebten, bis sie sich verloren in dem Blau
des hohen Himmels, der sich wie eine kristallene
Glocke über uns ausspannte. In ix/2 Stunden war das
Essen fertig und wir tafelten im Grünen mit einem
Appetit, wie ihn nur der Soldat kennt, der schon von
Sonnenaufgang an auf den Beinen gewesen ist. Nach
dem Essen fingen die Soldaten an, ihre drastischen
Tänze aufzuführen. Immer zwei und zwei, Polonaise,
Quadrille, immer rund um die Musik herum. Einer
hat einen großen Stock in der Hand und komman-
diert den Tanz. Er ist ein Lothringer aus der Gegend
von Metz, der, wie er zum Regiment kam, nur Fran-
58
zösisch verstand. Wunderlich klingen die französi-
schen Worte in dem deutschen Biwak, en avant,
changez les dames! etc., aber alle verstehen sie und
führen tadellos die vorgeschriebenen Touren aus. An
einer anderen Stelle wird ein Rekrut »geprellt«. Eine
lange Reihe von Soldaten stehen sich vis-a-vis und
haben sich fest an den Händen gefaßt. Auf diese Ket-
tenbrücke von Armen wird der Geprellte gelegt und
in taktmäßigem Wurfe wird er hoch in die Luft ge-
schleudert, herunterfallend wieder aufgefangen und
wieder hochgeworfen, bis er am Ende der Reihe an-
gekommen ist und — nicht immer auf die sanfteste
Weise — endlich nach seiner Luftfahrt den Boden
wieder erreicht. Lauter Jubel und Lachen tönt durch
die Luft. Wenn die Musik schweigt, stimmen die Sol-
daten, auf dem Boden gelagert, ihren Chorgesang an.
Die alten Lieder, wie gut ich sie noch kannte und
wie leicht es wurde, in sie mit einzustimmen. So wird
es allmählich dunkel und wie es Abend geworden,
brechen wir auf, um noch eine Nachtübung zu ma-
chen. Vorposten werden aufgestellt, Losung und Feld-
geschrei ausgegeben, und bald liegt Dunkel und Stille
über der vorhin so laut lustigen Gesellschaft. Die
Nacht ist angebrochen. Am Horizont steht eine dunkle
Wolkenbank, durch deren Schleier ab und zu der
Mond hervorlugt, als wollte er einen erstaunten Blick
werfen auf die nächtliche militärische Übung. Tiefe
Stille rings umher. — In den Wipfeln der Pappeln
flüstert leise der Nachtwind. Die Luft ist warm und
weich, erfrischend im Walde. Ab und zu tönt der
leise Ruf eines Postens durch die Dunkelheit, der
eine zurückkehrende Patrouille anruft. Losung und
Feldgeschrei werden ausgetauscht, dann geht die Pa-
trouille weiter, leise, schattenhaft in der Dunkelheit
verschwindend. Nun ist wieder alles still. Plötzlich
59
blitzt weit vorne ein kurzes Licht auf. Gleich darauf
kommt der Knall eines Schusses durch die Nacht an un-
ser Ohr. Zwei bis drei andere Schüsse knattern hinter-
her, dann wieder alles still. Jetzt fallen wieder Schüsse,
fünf bis sechs, rasch hintereinander. Erst sieht man den
Blitz, dann kommt der Knall. Die Feldwache eilt an
die Gewehre, in zwei Minuten steht die ganze Kom-
pagnie aufmarschiert, wie eine dunkle Mauer, kein
Laut wird dabei vernehmbar, kein Mensch spricht ein
Wort, alles geht auf den leisen Zuruf der Offiziere,
die wie ein dunkler Punkt vor ihren Zügen stehen.
Jetzt kommt eine Meldung von den vorgeschobenen
Patrouillen. Der Feind hat eine Rekognoszierung auf
der Chaussee gegen unsere Stellung gemacht, ist je-
doch wieder abgezogen, wie er auf unsere Patrouillen
gestoßen ist. Die Gewehre werden wieder zusammen-
gesetzt, in wenigen Minuten herrscht dieselbe Stille
wie vorher. Um u Uhr bekommen wir den Befehl,
abzumarschieren. Um 1/ii Uhr sind wir in unseren
Quartieren. Das war der erste Tag meines Hierseins.
Wüstemark, n. September 187g.
Wir liegen sehr gut, in einer Mühle mitten im
Walde. Ganz einsam, ich mit meinem ältesten Offi-
zier und dem Fähnrich. Zwei Meilen von Witten-
berg. Ich bin mit meiner Kompagnie ganz alleine.
Sehr angenehm. Vorige Nacht biwakierten wir bei
strömendem Regen. Das war weniger angenehm. Was
aber der Mensch nicht alles aushält. Die Kleider sind
am nächsten Morgen auf dem Leibe getrocknet. Die
Nacht aber war übel. Das Wasser lief einem zum
Kragen hinein und aus den Hosen wieder hinaus.
Ich war mit meiner Kompagnie auf Vorposten und
hatte Glück, wie Du gleich sehen wirst. Mein Major
sagte mir: »Wenn Sie angegriffen werden, liegt Ihre
60
Verteidigung naturgemäß in der Lisiere.« Ich sah
aber mit meinem angeborenen militärischen Scharf-
blick sofort, daß meine Verteidigung nicht in der Li-
siere des Waldes, in dem ich biwakierte, lag, sondern
auf einem vorliegenden Höhenzug. Ließ den Major
Major sein und hob auf der Höhe Schützengräben aus
und richtete dort eine Verteidigungsstellung für meine
Kompagnie ein. Als wir nun am nächsten Morgen
wirklich angegriffen wurden, kam der Oberst und
sprach seine Anerkennung aus über die zweckmäßige
Einrichtung, und der Major, der das Lob bekommen
hatte, kam zu mir und sagte mir, ich möchte nun
auch mit meiner Kompagnie die Stellung besetzen,
die ich »so gewandt« eingerichtet hätte. Wirklich wurde
auch der feindliche Angriff abgeschlagen, und ich
war so stolz, daß ein gewöhnlicher Stratege wie On-
kel Helmuth mir sehr klein vorkam! — Ich fühle mich
so wohl wie nur möglich. Gesund und kräftig und
voll Lebenslust und Freude an meiner Tätigkeit.
Wittenberg, 14. September 1879.
Hier sitze ich in der alten Luther-Stadt an der Elbe.
Heute ist wieder ein Ruhetag. Wir liegen auf einem
Dorf Dabrun in der Nähe der Stadt und sind heute
hereingefahren, um uns die Sehenswürdigkeiten der-
selben anzusehen. In der Tat sehr interessant. —
Lange stand ich vor der Tür der alten massiven
Schloßkirche, an welche Dr. Martin Luther einst seine
fünfundneunzig Thesen anschlug und damit den Fun-
ken in die aufgeregten Geister warf, der in wenigen
Jahren die Riesenfackel des Dreißigjährigen Krieges
anfachte, die sengend über Deutschlands blühende
Fluren hinging und die Kultur um Jahrhunderte
zurückdämmte. Gleichzeitig aber in diesem europäi-
schen Brand die alte verfilzte Religion reinigte und
61
zu neuen, reineren Anschauungen durchläuterte. —
Jetzt ist eine Tür von Erz dort eingelassen, in wel-
cher die Sätze Luthers in das Metall eingegraben sind.
In altem, schwerfälligem Lateinisch. Damals war ja
die deutsche Sprache nicht in dem Munde der Kir-
chenstreiter zu finden. Die Ecclesia militans stritt mit
dem römischen Schwert. Heute ist das anders, und
unsere einheitliche Sprache, vielleicht das einzig Ei-
nige, was wir besitzen, verdanken wir zum besten
Teil jenem Wittenberger Mönch, der unerschrocken
den Kampf gegen Papst und Kaiser aufnahm und
siegreich durchfocht. — Dann waren wir in Luthers
Wohnung in der alten Universität. Sein Wohnzim-
mer ist noch unverändert erhalten. Die Bänke an den
Wänden, der große Tisch, der Ofen. Bildnisse von
Luther, von Cranach gemalt. An jenem Fenster mit
den trüben bleigefaßten Scheiben saß Frau Katha-
rina Bora, seine Frau, und schaute nach dem Herrn
Doktor aus, wenn er aus dem Kolleg nach Hause
kehrte. In der Aula des Universitätsgebäudes steht
noch der alte, hochgebaute Lehrstuhl, von dem herab
er Vorträge hielt und auf dem er, fast ein Knabe noch,
seine Doktordissertation abhielt und den Doktorhut
erlangte. Das alles ist interessant zu sehen. Es um-
weht einen wie der alte Geist der Reformation, wenn
man durch diese Räume schreitet. Altertümlich, kräf-
tig, hausbacken und derbe. Aber gesund und dauer-
haft. War doch eine große, gewaltige Zeit, und der
Luther ein ganzer Mann.
Potsdam, 22. September 1879.
Wenn die unsinnigen und unbegründeten Het-
zereien der russischen Presse gegen Deutschland zu
einem Konflikt zwischen beiden Staaten geführt hät-
ten, was ja durch die Reise unseres Kaisers glücklich
62
vermieden ist, so wäre natürlich nach der unpar-
teiischen und absolut richtigen Meinung des Aus-
landes Bismarck wieder der Krakeeler gewesen ! Wollt
ihr uns armen Deutschen denn nicht einmal das Recht
einräumen, das doch sonst durch die Zivilgesetz-
gebung aller Staaten geht, das Recht der Selbstver-
teidigung!?
* Wildberg, 30. Mai 1880.
Wie Du siehst, bin ich nun an dem ersten Ort mei-
ner Bestimmung eingetroffen. — Gestern habe ich
meine Vorübung fertiggestellt und heute morgen fuhr
ich hierher ab. Ich hatte einen sogenannten Leiter-
wagen, auf dem mein großer Koffer und alle meine
Instrumente, Max und ich saßen. Ersterer oben auf
dem Koffer wie ein Araber auf dem Rücken seines
Kamels. Pluto hinterher, so ging es mit Hü und Hott
die Chaussee herunter. Schließlich mußten wir den
braven Pluto auch noch aufladen, denn er wurde
müde und konnte nicht mehr mitkommen. Es war
eine herrliche Fuhre, Du hättest uns sehen sollen.
Eine halbe Meile vor Wildberg neigte sich plötzlich
der Wagen auf die Seite, das eine Vorderrad war ab-
gelaufen. Da saßen wir nun. Glücklicherweise waren
wir nicht umgeworfen, so daß die Instrumente kei-
nen Schaden gelitten hatten. Ich ließ Max mit dem
Kutscher zurück, um die Sache in Ordnung zu brin-
gen, und ging zu Fuß vorauf. Sie kamen auch bald
nach.
Hier traf ich eine tüchtige Fuhrmannskneipe, in der
ich mich einlogiert habe. Ein Zimmer, in dem die
Tapeten in großen Lappen von der Wand herunter-
hängen. Das Bett verspricht eine schmerzliche Nacht.
Mein Diner bestand in Schweinebraten und Kartof-
* Kommandiert zur Kgl. Landesaufnahme.
63
fein, alles in Fett schwimmend. Dies Etablissement
führt den stolzen Namen »Hotel zum alten Zieten«!
Nachdem ich diniert hatte, machte ich eine Reko-
gnoszierung rund um das Dorf herum, das seinen
Namen mit Unrecht führt, denn es ist weder wild
noch bergig, im Gegenteil, die ganze Gegend flach
wie ein Teller, ich werde Mühe haben, die Niveau-
linien laufen zu sehen. Auf der einen Seite sind weit-
gestreckte Wiesen, ziemlich sumpfig, mitten in den-
selben eine eigentümliche Ruine aus alter Zeit. D.h.
Ruine kann man es eigentlich nicht nennen, denn es
ist nur ein Erdwerk, kreisrund, Wälle von Haushöhe
und ein Graben mit Wasser rund herum. An einer
Seite sieht man noch die Pfeiler einer alten Brücke.
Das kolossale Bauwerk ist offenbar von Menschen
aufgefahren. Viele tausend Fuhren Erde müssen nö-
tig gewesen sein, um es in dem morastigen Unter-
grund herzustellen. Aber es muß eine feste Position
gewesen sein. Hier wird wohl ein alter Raubritter
sein Nest gehabt haben, unangreifbar in den morasti-
gen Wiesen, die nur durch einen Damm, auf dem
jetzt die Chaussee läuft, mit dem festen Lande in
Verbindung standen. Das Ding macht einen eigen-
tümlichen Eindruck. Man sieht die mächtigen Wälle
in den flachen Wiesen von weit her. Rund herum an
ihrem Fuße stehen Bäume. Das Ganze ist kreisrund.
Ich ging hinein. Inwendig ein großer, leerer Raum,
keine Spur von Mauerwerk, daß aber solches dage-
wesen, erkannte ich bald. Ein Teil des inneren Wal-
les war abgestochen, der Besitzer hatte die Erde ge-
braucht, um die sumpfigen Wiesen damit auszufül-
len. Bei diesem Abstechen war ein Stück eines alten
Grundbaues bloßgelegt, aber keine Ziegelsteine, son-
dern Granit und ohne Mörtel gefügt. Man nennt das
Zyklopenmauern, und sie sind immer ein Beweis sehr
64
hohen Alters. Ferner fand ich in demselben Abstich
eine durchlaufende Schicht Holzkohlen, woraus ich
schloß, daß die Gebäude, die hier gestanden hatten,
einmal abgebrannt sein müßten. Dann hatte das Ka-
stell offenbar lange Zeit unbewohnt gestanden, denn
es folgte über den Kohlen wieder eine ungefähr drei
Meter dicke Erdschicht. Später ist es wieder ange-
baut und dann abermals abgebrannt, wie mir eine
zweite Kohlenschicht bewies, über der dann aber-
mals zwei Meter Erde lagen. In dieser zweiten Schicht
fand ich auch bereits Steine, an denen Mörtel klebte,
also eine spätere Zeit. Daß die untere Schicht, also
der ganze Bau, schon sehr alt sein muß, fand ich be-
stätigt durch Scherben von Töpfen, die ich heraus-
kratzte. Diese waren aus ungebranntem Ton gefertigt.
Ich nahm einen Henkel und den Rand eines Topfes
zum Andenken mit. Beide zeigen die grobe Kunst-
fertigkeit des Altertums. Mit der Hand gearbeitete Ver-
zierungen, Eindrücke und Rillen. Wo mögen die
Hände jetzt sein, die diese Scherben gearbeitet haben,
die hier vor mir auf dem Tisch liegen und mich so
grau und uralt ansehen? Einen Arbeiter, der oben auf
dem einen Wall Rüben pflanzte, fragte ich, ob man
niemals Münzen gefunden hätte, was er verneinte.
Es muß also eine powere Gesellschaft gewesen sein,
die hier gehaust hat. — Ein Stückchen Eisen fand ich
auch, es war aber so von Rost durchfressen, daß ich
nicht erkennen konnte, was es gewesen, es zerbrök-
kelte mir in der Hand. Der Arbeiter zeigte mir die
Klinge eines Beils, die er ausgegraben, zwar auch
sehr verrostet, aber doch offenbar neueren Ursprungs,
so daß ich kein Verlangen danach trug und sie liegen
ließ. Die alten Topfscherben, die ich aus der unter-
sten Schicht auskratzte, sind mir viel interessanter,
sie sind viele hundert Jahre alt, soweit meine unvoll-
Moltke. 5. 65
kommene Beurteilung reicht, noch aus heidnischer —
wahrscheinlich wendischer Zeit. — Morgen fahre ich
das Terrain ab, welches ich aufnehmen soll, zweiein-
halb Quadratmeilen. Übermorgen geht die Arbeit an.
Wildberg, 6. Juni 1880.
Heute ist Sonntag, und es hat den ganzen Tag, vom
Morgen bis zum Abend, ohne eine Pause geregnet.
Das ist wirklich fürchterlich. Ich habe den lieben lan-
gen Tag gesessen und gezeichnet, bis mir die Augen
weh taten, dann bin ich im Zimmer umhergegangen
und habe gepfiffen und gesungen und deklamiert, es
half alles nichts, ich langweile mich entsetzlich! —
Pluto liegt mitten im Zimmer auf dem Rücken und
streckt alle vier Beine in die Luft, ihm ist sauwohl,
er möchte, daß das Topographieren nie ein Ende
nähme. — Eine gute Unterhaltung habe ich doch,
nämlich Treitschkes Deutsche Geschichte des neun-
zehnten Jahrhunderts. Du hast vielleicht schon von
diesem Buch sprechen hören, das alle Welt jetzt liest,
mir hat es mein Hauptmann als Trosteinsamkeit ge-
liehen, und ich muß gestehen, daß ich mich nicht
erinnere, jemals von einem Geschichtswerk so gefes-
selt worden zu sein. Das ganze Buch ist dramatisch.
Man fühlt und lebt mit den Personen, man denkt,,
hofft und fürchtet mit ihnen, man wird so lebhaft in
die Zeit zurückversetzt, die es schildert, daß man sich
erstaunt in der Wirklichkeit wiederfindet, wenn man.
das Buch zuklappt. Und dabei weht ein Geist des
Patriotismus und deutscher Vaterlandsliebe durch das
Ganze, ohne jedoch der historischen Wahrheit je-
mals Gewalt anzutun, es ist herrlich.
Vichel, 19. Juni 1880.
Ich bekam gestern die Meldung von meinem Haupt-
66
mann, er werde heute kommen, um mit mir zu ar-
beiten. Er bestellte mich an einen bestimmten Ort,
wo er aufnehmen wollte, um, wie er schrieb, mir et-
was vorwärts zu helfen. Wie er ankam, hatte ich aber
schon das ganze umliegende Terrain fix und fertig
aufgenommen, so daß er sagte, er sähe, daß ich kei-
ner Hilfe bedürfe, war sehr erstaunt, wieviel ich schon
fertiggebracht hatte, und sagte, nach meinen bisheri-
gen Leistungen zweifle er nicht, daß ich einer der
ersten fertig sein würde. Er war überhaupt sehr zu-
frieden und fuhr nach einer halben Stunde wieder
ab, ohne mir geholfen zu haben. Ich kann schon
auf meinen eigenen Füßen stehen!
Vichel, ii. Juli 1880.
Ich habe meinen »Faust« wieder als steten Begleiter.
Du solltest mich sehen, wenn ich über meinen Meß-
tisch gebeugt stehe und einsam mitten im wehenden
Buschgras laut Monologe aus »Faust« deklamiere,
während ich mit dem Zirkel die Entfernungen abgreife.
Bisweilen muß ich selbst über mich lachen, das
klingt dann wieder ganz eigen und verloren durch die
stille Luft. Ein Mensch, der über sich selbst lacht,
ist in der Einsamkeit immer etwas Wunderliches, nur
gut, daß es nicht das schneidende Lachen des Hoh-
nes oder der Verzweiflung, sondern das gemütliche
innere Lachen über einen Phantasten ist, der mitten
in der handgreiflich praktischsten und prosaischsten
Arbeit es nicht lassen kann, den Seelendurst nach
Schönheit mit einem Schluck aus dem Kristallbron-
nen Goethischer Poesie zu stillen. So fliegen die Stun-
den wie Minuten dahin, und immer wieder entdecke
ich neue Schönheiten, an denen man bisher achtlos
vorübergeeilt ist. Solch ein Arbeitstag von zwölf bis
dreizehn Stunden befriedigt mich immer. Wenn ich
67
abends nach Hause gehe, habe ich ein gewisses freu-
diges Gefühl der Genugtuung.
Nackel,2i.Juli 1880.
Siehe, wie schön die Welt ist ! Was wäre der Mensch,
wenn er nicht hoffen könnte. Eine verkümmerte Exi-
stenz, in dunklen, unklaren Schmerzen wühlend und
mit geheimem Grauen sich selbst peinigend. Die Ver-
gangenheit, das Verlorene, das Nichterreichte betrau-
ernd und beweinend, mit Selbstvorwürfen in namen-
loser Qual sich ängstigend. Nein, die Hoffnung, diese
wahre Tochter des Himmels, wurde nach der schö-
nen alten Sage den Menschen geschenkt, als aus der
Büchse der Pandora alle Leiden über sie daher-
geflogen waren, sie alleine wog alle Leiden auf. Vor-
wärts sind die Augen der Menschen gerichtet, vor-
wärts soll man auch blicken, dem Licht entgegen,
das uns den Morgen bringt. Wer umblickt und zu-
rückschaut, wird zur Salzsäule wie Lots Weib. —
Offene Augen und offene Herzen, siehst Du, das ist
meine Ansicht und Meinung.
Segeletz,4. September 1880.
Ich habe heute doch einen gewissen kleinen Tri-
umph gefeiert, wie mein Hauptmann mir sagte, daß
ich der erste fertig sei. Selbst die alten Topographen,
die schon im achten bis zehnten Jahr aufnehmen,
sind noch hinter mir zurück. Er fuhr alles sehr genau
mit mir ab, ich glaube, eigentlich meinte er, ich hätte
bei der großen Leistung von fast dreißig Minuten im
letzten Monat flüchtig gearbeitet, er fand aber nichts
und drückte mir gerührt die Hand, als er wegfuhr
und sagte : »Eine wirklich außerordentlich fleißige Ar-
beit, die ich manchem alten Topographen als Muster
hinstellen kann.«
68
Wildberg, 6. September 1880.
Nun bin ich denn also wieder da, wo ich angefan-
gen habe, nach dreimonatlicher Arbeit im großen Zir-
kel wieder an dem Ausgangspunkt angelangt. Dies-
mal bin ich doch mit bedeutend leichterem Herzen
hier. Hieß es damals: anfangen, so bedeutet mir mein
jetziges Hiersein: aufhören, und das werde ich tun
mit tausend Freuden, sobald der letzte Strich der Ar-
beit getan ist. Es kommt mir so eigentümlich vor,
daß meine mühsame Arbeit nun wirklich fast fertig ist,
daß ich mich gar nicht in den Gedanken hineinver-
setzen kann, es schien immer so, als könnte sie nie
fertig werden. Der Sommer freilich ist mir vergan-
gen, ohne daß ich eigentlich ein Gefühl davon habe,
daß er vorbei ist. Ich meine immer noch, die Ler-
chen müßten singen und die Erdbeeren da sein, und
doch fallen schon die ersten gelben Blätter von den
Bäumen, und die Schwalben rüsten sich zum Abzüge.
Die Störche sind schon fort, hingezogen über das
Meer, der Sonne entgegen. — Unsere Erdensonne,
die ja allen scheint, hat es in den letzten Tagen recht
gut mit uns gemeint. Sie hat eine solche Glut auf
unseren Scheitel gehäuft, daß Tier und Mensch re-
gungslos und lechzend dalag, nur den Moment er-
wartend, wo der glühende Feuerball unter den Hori-
zont gesunken sein würde und die Schatten des
Abends eine wenn auch geringe Kühlung bringen
werden. Nur der Topograph zog durch die Glut des
Weges, ohne Rock und Weste, mit offenem Hemde,
dennoch fast verschmachtend.
Berlin, 18. Juni 1881.
Du sollst sehen, wenn wir erst wieder unsere Woh-
nung hier in Berlin haben und uns ein klein wenig
69
eingelebt haben, wird es Dir auch bald gut hier ge-
fallen. Nur stehst Du jetzt vor einem Ungewissen und
siehst nur die Vergangenheit in dem verschönern-
den Lichte, das sie, dank der gütigen Weltordnung,
immer annimmt, wenn sie schöne Stunden aufzu-
weisen hat. Das Schlimme vergessen wir ja so rasch,
das Angenehme setzt sich in der Erinnerung fest, und
das ist gut so. Aber auch in die Zukunft sollen wir
festen Mutes sehen und die Hoffnung festhalten, diese
gute Fee des Menschengeschlechtes, die von der
Wiege bis zum Grabe an der Seite des Menschen
steht und mit ihrer goldig leuchtenden Fackel helle
Streiflichter in das Dunkel der Zukunft wirft. — Und
nach diesen Streiflichtern hascht der Mensch sein
ganzes Leben lang wie das Kind nach Schmetterlin-
gen. — Wer die Hoffnung verliert, hat alles verloren,
denn er hat dann einen gebrochenen Mut und ein
totes Herz, und ist so gut als ob er schon gestorben
wäre. — Darum, lassen wir der Vergangenheit ihr
Recht und freuen uns der sonnigen Erinnerungen,
aber vergessen wir über dem, was hinter uns liegt,
nicht das, was vor uns liegt. Wenn wir uns der Ver-
gangenheit freuen, so wollen wir auf die Zukunft
hoffen und nicht ungerecht werden gegen das, was
über kurz oder lang ja doch auch zur Vergangenheit
werden wird.
Generalstab Berlin, 21. Juni 1881.
Ich bin diesen Moment von oben heruntergekom-
men, wo ich von 10 bis 7 Uhr gesessen und gearbeitet
habe. Ich soll übermorgen einen Vortrag halten über
das Geniewesen der österreichischen Armee, und muß
das Material dazu aus allen möglichen Instruktionen,
Berichten, Verordnungsblättern usw. zusammen-
suchen. Eine mühselige Arbeit.
70
Generalstab Berlin, 23. Juni 1881.
Heute habe ich meinen Vortrag gehalten. Es ging
gut und meine Herrn Vorgesetzten waren befriedigt.
Vom i.Juli ab bin ich zum Leiter der Übungen im
Aufnehmen kommandiert. Wo? weiß ich noch nicht.
Charlottenburg, 10. Juli 1881.
Könnte ich doch bei Dir sein, um mich mit Dir der
herrlichen gigantischen Natur zu freuen, deren gan-
zer ungeahnter Zauber Dich jetzt schon gefesselt hal-
ten muß. — Welche Empfindungen werden Dich wohl
bestürmen, wenn Dein Blick zum ersten Male auf
diese starren Schneehäupter fällt, die mit ewig un-
veränderlicher Stille in den blauen Himmel hinein-
ragen, die Wolken wie einen Kranz um ihre Stirne
flechtend, herabsehend aus eisiger Ruhe auf das un-
ruhige Gewühl der Menschen unter sich mit ihrem
Zank und Hader, ihren Tränen und Freuden, ihrem
Hassen und Lieben. Fühlt man sich nicht der Natur
gleichsam nähergetreten, wenn man so in die gewal-
tigen Formen eindringt, die sie geschaffen? Glaubt
man nicht, noch den Odem des allmächtigen Schöp-
fers um diese Bergesgipfel wehen zu spüren, kommt
man sich nicht unendlich klein vor, wenn man an
den Felswänden hinaufschaut, die schon gestanden
haben, lange bevor der erste Mensch sein unbehilf-
liches Erdenleben zu lernen begann? Wie wunder-
voll ist doch dies Anschauen der reichen Natur. Frei-
lich nicht lieblich und zart geschwungen. Rauh und
zackig tritt sie uns hier entgegen, aber voll Kraft und
Mark, voll geheimnisvoller Schauer eines allgewalti-
gen Weltgeistes und mächtigen Schöpfers. Das stärkt
und stählt Herz und Sinne. Du wirst sehen, wie die
Nerven fest werden im Anschauen des Großen und
7i
wie die Brust weit wird und das Blut rascher pulsiert
beim Einatmen der würzigen Bergesluft. — Ihr seid
wohl über den Bodensee gegangen und dann das
Rheintal hinauf? Du bist ja jetzt dicht an der Quelle
dieses uralt deutschen Stromes, um dessen reben-
umwachsene Ufer schon soviel deutsches und frän-
kisches Blut geflossen ist. Später wirst Du diesen
Stromfürsten ja auch in seinem unteren Lauf sehen
und Dich an der entzückenden Schönheit desselben
berauschen. »An den Rhein, an den Rhein, zieh' nicht
an den Rhein« — singt der Dichter, denn hast Du ihn
erst gesehen, haben seine Zauber Dein Herz umspon-
nen, so krankst Du an ewiger Sehnsucht nach seinen
grünen Ufern! — Wie groß ist das Stück Welt-
geschichte, das sich an diesen Strom knüpft, dessen
schwache rieselnde Quelle Du gesehen haben wirst.
Du thronst jetzt soundsoviel tausend Fuß über uns
anderen Sterblichen, die wir in tiefer sandiger Ebene
unser Dasein weiterspinnen.
Berlin, 15. Juli 1881.
Du schreibst so hübsch und so interessant, daß ich
alles, was Du gesehen, mit Dir zusammen noch ein-
mal durchkoste. — Aus Deinem Briefe sehe ich so
recht, wie sehr Dein inneres Leben mehr und mehr
erwacht ist und zum Lichte, zur Erkenntnis seiner
selbst und der Dich umgebenden Außenwelt drängt.
Fahre nur so fort, alles was Du siehst, auf Dich wir-
ken zu lassen, öffne Dein Inneres den Großartig-
keiten und Schönheiten der Welt, und Du wirst sel-
ber fühlen, wie Du täglich reineren Genuß an diesen
Freuden haben und täglich besser lernen wirst, mit
ungetrübtem Inneren zu genießen und Dich des schö-
nen Lebens zu freuen. Dann, wenn Du Dich selber
innerlich glücklich fühlst, wirst Du auch andere glück-
72
lieh machen und aus dem Bewußtsein, Dich mit Dei-
nen Mitmenschen in Harmonie zu befinden, wieder
ein immer neues Moment des Glückes ziehen. Des-
halb lege ich auch so sehr großen Wert auf diese
Reise, weil ich weiß, daß nichts mehr geeignet ist,
einen Geist von sich selber abzuziehen und der Außen-
welt zuzulenken, als eine Reise mit ihren täglich neuen
Bildern, ihrem Zwang, auf alles zu achten, ihrem In-
teresse an noch nie Gesehenem und ihrer inneren
Wanderlust, die jedem Menschen innewohnt und ge-
weckt wird, sobald das Posthorn bläst und die Rä-
der auf dem Steinpflaster rasseln. Das zwingt den
Sinn aus sich selber heraus, und indem täglich neue
Eindrücke an ihn herantreten, bleibt ihm keine Zeit,
in Grübeleien zu versinken, keine Zeit zum Speku-
lieren und Brüten, denn die schöne Welt lockt doch
gar zu goldig draußen, die Bächlein von den Felsen
springen, die Lerchen jubeln laut vor Lust — wer
möchte nicht mit ihnen singen mit frischem Sinn
aus freier Brust!
Berlin, 20. Juli 1881.
Von Onkel Helmuth habe ich heute einen Brief be-
kommen mit der Anfrage, ob ich zehn Tage Urlaub
bekommen könnte, er wollte mich gerne mitnehmen
zu einer Reise auf dem Tatra-Gebirge. Ich glaube
aber nicht, daß ich Urlaub bekommen werde, da ich
vom 22. ab der einzige Offizier in meiner Abteilung
bin, da alle anderen auf Urlaub sind.
Creisau, 30. Juli 1881.
Laß Dir erzählen, wie alles gekommen ist! Ich
schrieb Dir schon von Kandrzin, daß ich ohne alle
Sachen hatte abreisen müssen, da der Koffer nicht
auf dem Bahnhof war. Ich hatte alles so schön vor-
73
bereitet, Briefpapier, Feder und Tinte mit, nun mußte
ich reisen, ohne ein Stück davon mitnehmen zu kön-
nen. L. borgte mir glücklicherweise ein paar Hemden
und Strümpfe, die mit in Onkel Helmuths kleinen
Handkoffer gepackt wurden, das war unser ganzes
Gepäck! Wir fuhren den ersten Tag bis Ratibor, wo
wir in einem kleinen Hotel übernachteten, Onkel Hel-
muth und ich beide in einem Zimmer. Übrigens war
er natürlich überall gleich erkannt, obgleich er, wie
er sagte, ganz inkognito reisen wollte! Wir kamen
abends 7 Uhr an, gingen ins Hotel, ich immer mit
dem Koffer, Reisedecke usw. in der Hand — und
dann gleich wieder aus, um die Stadt zu besehen. —
Auf dem Rückwege kam uns der Bürgermeister in
Frack und weißer Binde entgegen, der Onkel Hel-
muth begrüßte und ihn um die Ehre bat, ihn bis an
sein Hotel begleiten zu dürfen. Onkel Helmuth war
ziemlich kurz angebunden, verstand auch nicht, was
der Mann sagte, und so zogen wir denn durch die
Stadt, der Bürgermeister immer im Rinnstein neben-
her mit dem krampfhaften Bemühen, Konversation
zu machen, was ihm gänzlich mißglückte! — Am
nächsten Morgen auf dem Bahnhof große Versamm-
lung, um Onkel Helmuth abfahren zu sehen. Die
Eisenbahnverwaltung hatte einen Salonwagen in den
Zug einstellen lassen, was für uns sehr angenehm
war, da er rund herum Fenster hatte und man so einen
freien Blick auf die wirklich reizende Gegend des
Riesengebirges und der Sudeten hatte. Die Ankunft
von Onkel Helmuth war immer bereits von der Bahn-
verwaltung telegraphisch vorausgemeldet, so daß alle
Schaffner und Bahnbeamten bereits avertiert waren.
— In Oderberg tritt die Bahn auf österreichisches Ge-
biet über. Auch hier war alles sehr höflich und sehr
neugierig. Die österreichische Bahnverwaltung ließ
74
den Salonwagen weiter mitgehen, und so fuhren wir
denn bewundert und angestaunt in Österreich hin-
ein!— Nun kam eine wirklich großartig schöne Fahrt
durch das immer bergiger werdende Land den Kar-
pathen entgegen. Die Bahn überschreitet, fortwährend
steigend, den Tablenkau-Paß in einer Höhe von tau-
send Meter über dem Meere und steigt dann in das
Waagtal hinab, um ferner in diesem Tal wieder an-
steigend und immer dem Laufe der Waag folgend an
dieser stromauf zu gehen. Die Gegend wird, je weiter
wir kommen, immer großartiger. In mannigfachen
Windungen dem Flußlaufe folgend, durch Tunnel
und in scharfen Kurven um Felsvorsprünge biegend,
steigt die Bahn bergan. Auf der anderen Seite des
Tablenkau-Passes, der Wasserscheide zwischen Do-
nau und Weichsel, wird schon alles charakteristisch
ungarisch. Die Leute, welche auf dem Felde arbeiten,
zeigen das malerische Kostüm der Ungarn, die wei-
ten weißen Hosen und Hemden, mit dem Filzhut mit
breiter Krempe, die Weiber alle in hohen Stiefeln
mit weißem Hemd und Überwurf oder die Beine bis
zu den Knien mit Filzlappen umwickelt. Alles Korn
wird mit der Sichel geschnitten und in eigentümlichen
Mandeln aufgesetzt. Kleine melancholische Pferde,
die doch viel leisten und aushalten, ärmliche mit zer-
fallendem Strohdach gedeckte Hütten, aber überall
eine überreiche Vegetation, die in mächtigen, wo-
genden Kornfeldern ihr ursprüngliches reiches Schaf-
fen zeigt.
Von Rattek ab verlassen wir die Pester Bahn, um
auf der Raschauer Zweigbahn unserem Zielpunkte
Poprard zuzueilen. Jetzt zeigen sich schon die höch-
sten, mit ewigem Schnee bedeckten Spitzen des Ta-
tra zur Linken, während zur Rechten das weniger
steile Tatragebirge aufsteigt. Die Fahrt auf dieser letz-
75
ten Strecke ist bezaubernd schön. Je näher man dem
Tatra kommt, der als ganz abgesonderte mächtige
Gruppe fast unvermittelt aus der flacheren Ebene auf-
steigt, desto schöner wird der Anblick, den dies im-
posante Gebirge bietet. Die Spitzen sind sehr steil.
Schroffe Felswände aus grauem Granit, senkrecht steil
aufsteigend, bis zum dritten Teil der Höhe kriecht
dichtes Nadelholz in den Schluchten hinauf, dann
kommen Föhren und Arven, darüber nackter Fels
mit langen, schneegefüllten Tälern und den ganz
spitzen Gipfeln, die rauh und zerrissen in den blauen
Himmel hineinstarren. — Die Beleuchtung der gan-
zen Partien ist wundervoll. Blaue tiefe Schatten wech-
seln mit grell beschienenen Wänden, bisweilen hängt
eine der ziehenden Wolken sich wie ein wehender
Schleier um eines der Bergeshäupter, kann sich nicht
von ihm loslösen, verzweigt sich in den Rissen und
Schluchten, als wollte sie sich festsaugen, wallt hin-
auf und zur Seite, gibt aber immer noch nicht den
Gipfel frei, der mit seinen spitzen Felszacken ganz
in ihr verschwunden ist, kriecht dann hinab und zer-
reißt, und über ihr starren auf einmal wieder grau
zerrissen und unbeweglich die Felsspitzen in den
blauenden Himmel hinein. Dies immer wechselnde
Schauspiel ist wunderbar schön, und ich kann wohl
sagen, daß ich mich schon in das Gebirge verliebt
hatte, bevor wir es noch betreten hatten. — Endlich,
abends 8 Uhr, kamen wir in Poprard an und stiegen
aus. Onkel Helmuth hatte dem Schaffner gesagt, er
wollte in Poprard die Nacht bleiben, wie aber neben
dem Bahnhof eine Reihe Landwagen, mit den klei-
nen, mageren ungarischen Pferden bespannt, hielten
und mehrere Kutscher im zerlumptesten Kostüm, das
sich denken läßt, sich erboten uns zu fahren, da der
Abend schön war und die Luft erfrischend kühl nach
76
der heißen Fahrt im Coup6, schlug Onkel Helmuth
vor, gleich denselben Abend noch nach Schmeks zu
fahren, dem Bad, in dem wir ein paar Tage bleiben
sollten und das eine gute Stunde Wegs entfernt war.
»Und«, setzte er hinzu, »wir haben dann den Vorteil,
daß wir so ganz inkognito ankommen!« Den Vorteil
hatten wir nun allerdings, und wie uns derselbe be-
kam, will ich Dir morgen erzählen, denn heute abend,
es ist ii Uhr, fallen mir die Augen zu. Morgen mit
frischen Kräften mehr.
Creisau, 31. Juli 1881.
Nun sollst Du die Fortsetzung meines gestern abend
abgebrochenen Briefes haben. — Also, wir fuhren
abends 1/2& Uhr von Poprard auf einem kleinen schmie-
rigen Wagen ohne Federn, mit kleinen, schmierigen
Pferden bespannt, gen Schmeks — den Gebirgsweg
hinan. Da wir nur einen kleinen Handkoffer mithatten,
war mit dem Fortbringen keine Schwierigkeit. — Der
Weg steigt von Poprard an fortwährend. Schmeks
liegt am Fuße des Tatra mitten in dunkelgrünem Tan-
nenwald versteckt, unmittelbar dahinter steigt der stei-
nige, felsige Gebirgskamm auf. Es war ein wunder-
voller Abend, eine balsamische Luft, die man mit
voller Brust einsog und die belebend die Lungen
füllte.
Um V210 Uhr kamen wir in Schmeks an. Wir wand-
ten uns an den Portier um Zimmer und erhielten so-
fort den wenig tröstlichen Bescheid, daß wahrschein-
lich kein Zimmer mehr frei sein würde. Der Direktor
wurde gerufen und uns natürlich zuerst die übliche
Frage vorgelegt, ob wir längere Zeit oder nur ein
paar Tage bleiben wollten. Nachdem wir gesagt, daß
letzteres unsere Absicht sei, hatten wir entschieden
verspielt. — Wir waren richtig ganz inkognito, wie
77
Onkel Helmuth es gewünscht hatte, und mußten die
Folgen tragen! Nachdem wir in zwei falsche Häuser
geführt waren, fanden wir endlich in einem dritten,
hoch auf einer Lehne liegend, ein dürftiges Unter-
kommen in einem ganz kleinen Zimmerchen mit
einem mäßigen Bett, einem kleinen Fenster nach dem
Hof und einer rechten Kellerluft. Onkel Helmuth war
sehr indigniert. »Das soll nun das erste Bad Ungarns
sein! Das ist ja wie in einer Baude auf dem Riesen-
gebirge. Eine schrecklich unzivilisierte Nation« usw.
— Er mußte aber doch aus der Not eine Tugend
machen, und ich war froh, wie mir eine Lagerstatt
auf dem steinharten Sofa zubereitet wurde. — Nach-
dem unser Gepäck abgelegt war, gingen wir hinunter
in ein tiefer liegendes Haus, auf dessen Außenseite
mit großen Buchstaben »Speisehaus« geschrieben
stand. Wir traten in einen großen Saal, der gedrängt
voll Menschen, Männlein und Weiblein saß. Mit
Mühe fanden wir ein Unterkommen an der Ecke
eines Tisches gerade vor der offenstehenden Tür,
im schönsten Zug! — In der Mitte des Zimmers saßen
an einem Tisch der Badearzt und der Geistliche,
welche eine Menge kleiner Gewinne vor sich stehen
hatten, einen Sack mit Nummern, und von Zeit zu
Zeit etwas auf ungarisch mit lauter Stimme durch
den Saal riefen, von dem wir natürlich keine Silbe
verstanden. Fast alle Gäste hatten kleine Lottokarten
vor sich, die sie aufmerksam betrachteten, und end-
lich wurde es uns klar, daß die ganze Gesellschaft in
ein Tombolaspiel vertieft war, das eben im besten
Gange war, als wir eintraten. — Wie allgemein das
Interesse an diesem Spiel sei, sollten wir zu unserer
Betrübnis bald dadurch erfahren, daß auch alle Kell-
ner eine Lottokarte in der Hand hielten und ihre Auf-
merksamkeit zwischen dieser und den Gästen sehr
78
zu Ungunsten der letzteren teilten. Nach langer Mühe
gelang es mir, einen solchen in seine Karte vertieften
Buben durch lautes Anschreien dazu zu bewegen,
daß er uns in einer Pause, die der Ausrufer machte,
ein Backhuhn brachte, welches wir bis auf die alier-
härtesten Knochen verzehrten. Mehr zu bekommen
glückte uns indessen absolut nicht, wir mußten den
Versuch aufgeben und uns in unser kellerartiges Ge-
mach zurückziehen, wo Onkel Helmuth unter man-
chem Stöhnen und Seufzen in sein viel zu kurzes
Bett kroch, während ich mich auf dem Sofa ein-
richtete. Wir waren eben gründlich inkognito!
Der nächste Morgen fand uns schon früh auf. Es
war herrliches Wetter, die Sonne warf ihr grelles
Licht auf die steilen Felswände zu unseren Häupten,
tiefblau, fast purpurn hoben sich die schattengefüll-
ten Schluchten von den Wänden ab, hie und da ein
schmaler Streifen Schnee in die Sprünge des Gesteins
hinein verweht. — Ein großartig schöner Anblick. Die
Luft dabei so klar und schön, man schlürfte sie or-
dentlich ein wie den köstlichsten Wein. Es war, als
ob das Atmen ganz von selber ginge, als ob jemand
anderes für uns atmete und wir nur den Genuß da-
von hätten. Wir nahmen uns nun einen Wagen und
fuhren auf steilem unbequemem Wege, den eben nur
diese ungarischen Katzen überwinden können, hin-
auf in das Kohlbachtal. Hier fanden wir eine Schutz-
hütte, eine Art Blockhaus, in dem es vortrefflichen
Ungarwein und gute Forellen gab, saßen auf einer
Terrasse mit schöner Aussicht über das Tal, in dem
die Kohlbach brausend hinabkommt, und einem wei-
ten Blick über die getreidewogenden Ebenen zu
Füßen des Gebirges. — Während Onkel Helmuth
sitzen blieb, machte ich mich auf und stieg noch eine
Stunde in dem Tal hinauf auf ziemlich schwierigem
79
Wege bis an den sogenannten Riesenwasserfall der
Kohlbach. Derselbe ist zwar sehr schön, verdient aber
seinen Namen nicht wegen der zu unbedeutenden
Wassermenge. — Wie ich wieder umdrehte, standen
die hohen Berggipfel noch gerade so hoch über mir,
als sei ich ganz unten in der Ebene geblieben. Das ist
das Schöne hier im Gebirge, daß alles noch so ist,
wie es die Natur geschaffen hat. Hier sind keine
künstlich gestauten Wasserfälle, keine auskostümier-
ten Sennerinnen, keine musikalisch gebildeten und
in malerische Bauernkostüme verkleideten Schalmei-
bläser, keine sorgsam durchgehauenen Fernblicke,
keine Ruinen, die uralt verwittert an steilem Fels kle-
ben und die doch erst im vorigen Jahr der Aussicht
wegen aufgemauert und künstlich alt gemacht wor-
den sind, keine gußeisernen Brücken und bequemen
Fußwege, keine Geländer mit verzierten Knäufen vor
jedem zehn Fuß tiefen Abgrund — rein und unver-
fälscht tritt die Natur uns entgegen, rauh und zackig,
wie sie geschaffen. — Die Tannen, die hier mit aus-
gerissenem Wurzelwerk über die Schlucht gestürzt
sind, hat sicher der Wind geworfen, das Wasser braust
seit Jahrtausenden über dieselben Felsblöcke, hier
hat keine Menschenhand seinen Lauf reguliert, keine
Schleuse staut es an, um es gegen 50 Pfennig Entree
eine Minute frei zu lassen. — Hie und da zieht sich
ein kaum ausgetretener Fußpfad rauh und rücksichts-
los über Wurzeln und Felsen an den Hängen hin, es
ist nur der Fuß des Menschen, der ihn ausgetreten
hat, nicht die Hand hat ihn zur Bequemlichkeit ge-
schaffen. Wo du an einen Abgrund trittst, hemmt
kein Geländer deinen Schritt, noch einen und du liegst
zerschellt zwischen den Felsen. Kunstlos sind wenige
notdürftige Stege über den Bach geschlagen. Ein paar
kaum behauene Tannenstämme, ein harziges Gelän-
80
der auf der einen Seite genügt, um hinüberzukom-
men und auf der andern Seite weiterklettern zu kön-
nen. — Das alles ist wunderbar schön, ergreifend
mächtig, wenn man aus unserer erbarmungslosen Zi-
vilisation wie mit Zauberschlag auf einmal so mitten
in die urgeschaffene Natur versetzt wird. — Mächtig
quillt die Vegetation überall hervor, an den Tannen
hängt langbärtig das Flechtenmoos, hoch und üppig
wuchern Bickbeeren und Fairen um die feuchtdunk-
len Stämme, und darüber der zackige zerklüftete Gra-
nit, himmelansteigend, scharf abgehoben vom Äther
und untermischt mit seinem tiefblauen Schatten. Keine
Menschenstimme, soweit das Ohr reicht, kaum der
Laut eines vorbeihuschenden Vogels. Man könnte
glauben, der einzige Mensch in diesen Einsamkeiten
zu sein, der erste Mensch vielleicht und der letzte,
und das weitgestreckte Bild der fruchtgelben Ebene
mit den in den Tälern zusammengekrochenen Dör-
fern ist eben nur ein Bild, ist keine Wirklichkeit, nur
ein Symbol menschlichen Erdenlebens, hier oben in
der gottgeschaffenen Einsamkeit umweht uns der
starke Hauch der schaffenden Gewalt, uralt, doch
ewig jung, milde und süß gleichso, wie starr, kräftig
und unbeugsam. Ich sehnte mich hinauf bis dahin,
wo die Wolken vergebens strebten, die Bergspitzen
zu erreichen, aber — , unten saß Onkel Helmuth und
wartete, also zurück und wieder im Wagen mit ihm
hinab in unser Kellergeschoß!
Unten spielten die Zigeuner vor dem sogenannten
Promenadenplatz. — Geige, Zymbal und Klarinette
ohne Noten, einer spielt vor, die andern wild hinter-
drein, wenn auch manch abenteuerlicher Sprung mit
unterläuft, die allgemeine Richtung halten doch alle
wie eine Herde wilder Pferde, die in rasendem Ga-
lopp hinter dem Leithengst über die Pußta brausen.
Moltke. 6. 8l
— Wir waren hungrig geworden, und doch war es
uns unmöglich, etwas zu essen zu bekommen. Im
Speisehause war die Küche »gesperrt«, um '/28 Uhr
abends wird erst wieder zur Nacht gespeist, jetzt kön-
nen Sie nichts bekommen! — Da zog sich denn Onkel
Helmuth grollend und hungrig in sein Zimmer zu-
rück, um bei einem englischen Roman die Zeit zu
verbringen; ich aber strich hinaus die Kreuz und Quer,
folgte den brausenden Bächen talab, stieg wieder hin-
auf, schwärmte unter den Tannen umher und war
herzlich froh, keinem Menschen zu begegnen, der mir
den Genuß hätte trüben können. — Es ist eine himm-
lische Natur und nach dem, was ich von den Alpen
gesehen, d. h. die Tour über den St. Bernhard vom
Luzerner See bis zum Luganer See, steht der Tatra
ihnen an wild romantischer Schönheit in keiner Weise
nach. — Wie ich müde und abgetrieben zurückkehrte,
saß Onkel Helmuth noch immer finster und in sehr
schlechter Laune bei seinem Buch. Er hatte noch
einen Versuch gemacht, ein besseres Zimmer zu be-
kommen, aber vergebens. Der Direktor hatte ihm auf
die Schulter geklopft und gesagt: »Ja, schauen's, Sie
können froh sein, daß Sie überhaupt noch unterge-
kommen sind und nicht haben auf Stroh liegen müs-
sen.« — Wir waren also noch immer im höchsten
Grade inkognito. — »Morgen reisen wir ab,« sagte On-
kel Helmuth, »dann werde ich aber feurige Kohlen auf
ihr Haupt sammeln. Sie sehen uns nicht für voll an —
(natürlich, dachte ich), wenn wir aber abreisen, werde
ich mich einschreiben: Graf Moltke, Generalfeldmar-
schall, Ritter pp. mit allen Titeln und Würden!!!« —
Mir tat es leid, schon wieder fort zu sollen, ich wollte
gern noch mehr von den Bergen sehen und ge-
brauchte demnach eine Kriegslist. — Wie wir wieder
zum Abendessen hinabgingen, blieb ich zurück und
82
fragte dann einen Kellner, ob er nicht gesehen hätte,
ob der Graf Moltke schon hineingegangen wäre? —
Nun hättest Du sehen sollen! — Wer? Der Graf
Moltke? Der Feldmarschall? Der berühmte — oh! und
von Mund zu Mund ging die Kunde! Auf einmal wa-
ren alle Kellner geschmeidig und aufmerksam, auf
einmal stürzte der Wirt herbei und wies uns Plätze
an, auf einmal hieß es: was befehlen Exzellenz? Ich
werde eigens für Ew. Gnaden kochen lassen, bitte Ex-
zellenz, hier Platz zu nehmen, hier ist ein gepolster-
ter Stuhl, hier zieht es nicht, dieser Wein ist zu emp-
fehlen, nein, nicht der, Exzellenz, das ist nur ein Land-
wein. — Da stand plötzlich hinter jedem Stuhl ein
Kellner, ihn zurecht zu rücken, da sprang plötzlich
einer nach Zahnstochern, einer nach Wasser, einer
nach Wein, da war auf einmal das Tischtuch nicht
ganz frisch, da wurde das Brot vom Tisch gerissen,
weil es von gestern war, und frisches hingestellt, da
fuhr der Wirt mit Donnerstimme einen Kellner an,
der zu langsam lief: was das für eine Bedienung sei,
ob er nicht gehört habe, daß Exzellenz rasch essen
wolle, da rannte er selber in die Küche und kam
atemlos zurück mit dem Rehfilet, das er ganz eigens
für Exzellenz habe braten lassen! Bitte, Ew. Gnaden,
sind Exzellenz zufrieden? Ist es weich? Soll ich ein
anderes machen? Bitte schön, Ew. Gnaden! — Und
Onkel Helmuth, ruhig und behaglich sich fixieren
lassend, blinzelt mir über den Tisch zu und flüstert:
»Es muß mich doch jemand erkannt haben.« — Daß
er aber nicht unzufrieden war mit dem gebrochenen
Inkognito, sah ich an dem leisen Schmunzeln seiner
Mundwinkel! — Jetzt auch die Bewegung unter den
Gästen. Alle Köpfe drehen sich nach uns um. Jeder,
der hereinkommt, hat es schon erfahren und wirft
einen langen neugierigen Blick auf Onkel Helmuth.
83
— Nach einer Viertelstunde kommt auch der Direk-
tor, aber nicht um Onkel Helmuth wieder auf die
Schulter zu klopfen, sondern um zu sagen, daß ein
sehr schönes Zimmer für ihn eingerichtet sei: das
Zimmer vom Minister, Exzellenz ! Das beste Zimmer,
das wir haben. Herr Gott, dreht er sich um, ich hätt'
mir mögen die Haare ausraufen, wie ich gehört hab',
daß ich den Grafen Moltke in das Zimmer da oben
getan hab'! Halten zu Gnaden, Exzellenz, die Sachen
sollen sofort heruntergebracht werden. — Und drei
stämmige Hausdiener werden geschickt, um die Sa-
chen zu holen! Zwei können dann wieder umkehren,
denn schon kommt der erste ihnen triumphierend
entgegen, in der Hand unseren Koffer schwingend,
er hat die »Sachen« von Exzellenz schon alleine hin-
untergebracht!
Die Enthüllung von Onkel Helmuths wahrem We-
sen brachte uns also den doppelten Vorteil, gut be-
dient zu werden und ein besseres Zimmer zu erhal-
ten. — Wir saßen noch bei unserem Abendbrot, als
aus der Schar der den Saal füllenden Gäste, ein älte-
rer Herr sich erhob, auf Onkel Helmuth zuschritt
und mit würdevollem Ton sagte: Exzellenz, ich be-
grüße Sie im Namen der Badegäste! — Dieser ältere
Herr entpuppte sich als ein katholischer Propst aus
Szegedin, der Stadt, die im vorigen Jahr durch die
Überschwemmung derTheis fast ganz zerstört wurde.
Er war Präses des Vergnügungsausschusses der Gäste
und hieß Oltvarrgi Päl-prepost, päpai Kamares, Fe-
rencz Jözsef rend lovag keresztese. — Von dieser lan-
gen Mitteilung seiner Visitenkarte ist mir nur ver-
ständlich: Propst, päpstlicher Kammerherr. — Dieser
wackere Propst redete sehr viel, von dem Onkel Hel-
muth nur den zehnten Teil verstand, und teilte uns
schließlich mit, daß heute Abend im Tanzsalon des
84
Bades der große Annaball gefeiert würde, der am
St. Anna -Tage in allen Bädern Ungarns in gleicher
Weise stattfände. Gewiß würde es Exzellenz interes-
sieren, einen echten ungarischen Szardas anzusehen.
Exzellenz würden in keiner Weise inkommodiert wer-
den, könnten aus einer Ecke zusehen etc. — Wirk-
lich sagte Onkel Helmuth zu meinem Erstaunen zu,
und so gingen wir abends auf den Annaball! — Die-
ser Ball wurde erst um V211 Uhr eröffnet und fing
mit einem Szardas an, wie alle Bälle in Ungarn, wie
mir der vergnügungskundige Geistliche versicherte.
— In einer Ecke des großen Tanzsaales hatten sich
die Zigeuner postiert und unmittelbar vor diesen sie-
ben bis acht Paare, die zum Szardas angetreten wa-
ren. Ich muß sagen, daß ich mir diesen berühmten
Tanz ganz anders vorgestellt hatte. Die Herren im
Frack und weißer Halsbinde, Lackstiefeln, die Damen
in großer Balltoilette. Sehr hübsche Erscheinungen,
besonders auffällig durch die wunderhübschen kleinen
Füße und das ausgezeichnet sitzende Schuhzeug. —
Herr und Dame standen sich vis-a-vis. Der Herr mit
beiden Händen seine Dame um die Taille gefaßt, diese
ihre Hände auf die Schultern des Herrn gelegt. Die
Zigeuner spielten mit sehr viel Feuer die wilden Tanz-
weisen und dazu hüpften und sprangen die Paare
dicht aneinandergedrängt, ohne sich von der Stelle
zu bewegen, vor einander auf und nieder. Bald hoben
sie sich auf die Fußspitzen, bald schlugen sie Wirbel
mit den Füßen, aber kein Herr ließ seine Dame los,
um in wechselnden Pas, Biegungen und Verschlin-
gungen den Tanz durchzuführen, wie er in unserer
Einbildung lebt. So machte das Ganze den Eindruck
einer Gesellschaft von Tollen, die unermüdlich auf
und ab sprangen, bis ihnen der Schweiß in großen
Tropfen von der Stirn rann und Herr und Dame keu-
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chendnach Atem rangen. Wunderbar sah es aus, der
große Saal ganz leer, nur an den Wänden herum die
nicht tanzenden Damen, und dann in der einen Ecke,
oft bis so dicht in die Zigeuner hineintanzend, daß
diese ihre Geigen erheben mußten, um nicht an die
Köpfe der Tanzenden zu stoßen, dieser wirre Knäuel
von auf und ab hüpfenden Gestalten in der elegante-
sten Balltoilette! — Wäre eine solche Szene auf ei-
nem deutschen Ballsaal vorgefallen, man hätte sofort
nach dem Irrenarzt geschickt, hier saß und stand die
ganze Gesellschaft in stummem Staunen den weni-
gen Paaren zusehend, die sich bei der großen Hitze
einer so enorm anstrengenden Beschäftigung hin-
gaben!
Onkel Helmuth, der zehn Minuten durch die Tür
dem Spektakel zugesehen, drückte sich kopfschüt-
telnd nach Hause, während ich noch blieb, da es
mich interessierte zu beobachten, wie lange wohl ein
Mensch dieses Herumspringen würde aushalten kön-
nen! — Der ganze Tanz dauerte über eine halbe
Stunde. Ab und zu fiel ein Paar ab, immer die Damen
zuerst, die sich unter heftigem Sträuben ihres Herrn
zurückzogen, um völlig ermattet auf einen Stuhl zu
sinken. Hatte sie sich etwas erholt, traten sie wieder
ein. Andere, offenbar mit ausdauernden Waden und
Lungen versehen, hielten länger durch. — Nach einer
Viertelstunde schwitzten alle Herren, als wären sie
in einem römischen Bade. Sie ließen eine Hand los,
um mit dem Taschentuch über die triefende Stirn zu
fahren, ohne jedoch im Hüpfen innezuhalten. Die Da-
men, gleichfalls immer hüpfend, brauchten stark die
Fächer. Dann, als schämten sie sich ihrer Schwäche,
sprangen die Herren doppelt so hoch wie vorher,
schüttelten die Hand mit dem Taschentuch den Zi-
geunern bis unmittelbar unter die Nasen, riefen ihnen
86
zu, und diese braunen Kerle spielten dann mit neuem
Feuer darauf los. — Allmählich blieben weniger und
weniger Paare zurück, die vollständig fertigen lagen
und hingen auf Stühlen umher, zuletzt tanzte nur noch
ein einziges Paar, doch auch hier war die Dame ganz
fertig, nachdem sie vergebliche Versuche gemacht
sich loszureißen, dann ihren Tänzer zum Stehen zu
bringen, indes mit demselben Erfolg, mit dem ein
Unerfahrener, der die Arretierung nicht kennt, es ver-
suchen würde, den stampfenden Kolben einer Dampf-
maschine anzuhalten, hatte sie sich resigniert in ihr
Schicksal ergeben, stand bewegungslos still und ließ
ihren Herren wie ein junges, an einen Pfahl gebunde-
nes Füllen an sich hinauf- und hinunterhüpfen. Ich
bin überzeugt, dieser Herr spränge noch heutigen
Tags wie ein Gummiball weiter, wenn nicht allmäh-
lich auch die Kraft der Zigeuner ermattet wäre, deren
zitternde Hände den Bogen nicht mehr zu führen
vermochten. Plötzlich brach die Musik ab, und der
Herr, der alle anderen geschlagen und sogar die Mu-
sik totgetanzt hatte, machte noch einen letzten Hop-
ser und führte seine wankende Dame auf ihren Platz,
den sie nach norddeutschem Maß gemessen inner-
halb vierundzwanzig Stunden nicht wieder zu verlas-
sen imstande gewesen sein würde. So endigte dieser
wüste Hexensabbat, in dem weder Grazie noch Ge-
wandtheit, weder schöne Figuren noch verschlun-
gene Tanzweisen zu bemerken waren, sondern bei
dem es bloß darauf ankommt, in einer möglichst klei-
nen Ecke möglichst dicht zwischen die Zigeuner ge-
drückt möglichst lange auf und ab zu springen und
bei dem eine Menge Schweiß vergossen wird, der
noch nach Aufhören des Tanzes den feuchten Boden
dampfen machte, während Zigeuner, Herren und Da-
men mit lautem Schnaufen schwitzend nach Atem
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ringend, eine notgedrungene Pause machten! — Die
armen Damen taten mir leid. Es waren zum Teil rei-
zende, graziöse Erscheinungen, die auch im Tanze
eine gewisse Würde bewahrten, während bisweilen
bei den Herren blitzartig eine Bewegung auftauchte,
die in unangenehmer Weise an die schlenkernden
Verdrehungen des Pariser Cancan par excellence er-
innerte.
Ich machte es wie Onkel Helmuth, schüttelte den
Kopf, sagte meinem Propst, der mit leuchtenden Au-
gen dem Tanze zugeschaut hatte, ich hätte es sehr
schön, jedenfalls sehr originell gefunden, und suchte
mein Bett auf, um am andern Morgen um 5 Uhr
wach zu sein, wo ich einen Führer bestellt hatte, um
auf den sogenannten polnischen Kamm zu steigen,
der die Scheide zwischen Galizien und Ungarn bil-
dend, sich scharf und zackig vom Himmel abhebt. —
Denn, siehe da, Onkel Helmuth hatte in Gnaden be-
schlossen, noch einen Tag in Schmeks zu bleiben,
und ich wollte die Gelegenheit ausnutzen.
Schwere trübe Wolken, wallende Nebel, eine
schwere schwüle Luft, das gibt sicher einen Regen-
tag, wie ich am Morgen um 5 Uhr vor die Türe trat.
Doch, der Tag muß genommen werden, wie er ist,
sicher kommt er nicht wieder, also hinauf und ob
alle Schleusen des Himmels sich über mich öffnen
möchten!
Vor mir stand der bestellte Führer, ein Junge von
fünfzehn bis sechzehn Jahren, mit gutmütigem deut-
schen Gesicht, ein echter Abkomme jener vertriebe-
nen sächsischen Protestanten, die überall im Zipser
Komitat angesiedelt noch unverkennbar ihre germa-
nische Abstammung bewahrt haben, sowie auch die
Sprache fast überall deutsch ist. — Er hatte in einem
Sack auf dem Rücken Proviant für uns beide ; Schnür-
88
schuhe, einen Bergstock mit Hammer oben und sah
sehr malerisch und nett aus. — Ein anderer Bube,
kaum drei Käse hoch, mit einer Jacke angetan, die
offenbar vom Vater abgelegt war und durch deren
Ärmel er sich vergeblich bemühte die Hände frei-
zubekommen, kam mit einem kleinen Pferdchen ge-
zogen, das mit gesenktem Kopf und hängenden Ohren
geduldig dem schrecklichen Schicksal entgegenging,
mein Gewicht von zweihundert Pfund die erste Hälfte
des Weges bergan zu schleppen. Ich stieg wirklich
auf dieses kleine Tier auf, da mir mein Führer ver-
sicherte, es hätte schon viel schwerere Lasten ge-
tragen. Da ich aber bei jedem Schritt rechts und links
mit den fast die Erde streifenden Fußspitzen an Fels-
stücke und Wurzeln stieß, machte ich der Qual nach
zehn Minuten ein Ende, schickte das Roß samt dem
Buben zurück und erklärte meinem Führer, die Tour
ganz zu Fuß machen zu wollen. — Hierob sah dieser
mich erstaunt an — denn die Tour ist ganz gehörig
anstrengend und dauert doch gegen acht Stunden. —
Wir also traten den Weg zu Fuß an, er vor mir her-
steigend, ich ihm Schritt für Schritt folgend. Jetzt
schon will ich Dich daran erinnern, daß ich nur einen
Anzug mithatte und nur ein Paar Schuhe, daß also
Regen etwas war, das ich sehr zu fürchten hatte, und
doch sollte dieser mir nicht erspart bleiben. Vorläufig
allerdings war es nur trübe, ja bisweilen trieb ein
Luftzug sogar die Nebel zur Seite und ein goldiger
Sonnenstrahl fiel über das Gebirge, mir guten Mut
zur weiteren Reise machend. — Immer auf einem
Fußsteig aufwärts steigend, der vom Wasser ausge-
waschen, voll Steine und Geröll liegt, gelangten wir
nach eineinhalbstündigem Steigen über die Grenze
des Nadelwaldes hinaus. Leider war es wieder so
trübe geworden, daß von all den schönen Aussich-
89
ten, die wir nach Aussage des Führers passierten,
nichts zu sehen war. — Nach zwei Stunden kamen
wir, das Felkatal, in dem wir bis jetzt aufgestiegen
waren, verlassend, an ein roh gezimmertes Block-
haus, welches vom Karpathenverein zum Besten der
Touristen erbaut ist und in dem wir Ruhe hielten
und frühstückten. Der »gute Weg«, wie mein Führer
sagte, hörte hier auf, und von nun ab kamen wir auf
den schwierigen Weg. Nach einer halben Stunde ging
es weiter. Jetzt kam bald der erste schlimme Weg.
Eine steile Felswand, über die in ewigem Regen das
Wasser hinuntersprüht. Unter diesen schweren Trop-
fen hin geht der Stieg hinauf, jetzt wurde es schon
bedenklich steil, und wenn man zurückschaute, der
Absturz bedenklich tief. Nach Überwindung dieser
ersten Schwierigkeit kamen wir in ein Tal, welches
den Namen »Der Blumengarten« führt. Und in der
Tat verdient es diesen Namen und den großen Ruf,
den es wegen seiner Schönheit in der ganzen Gegend
genießt.
Ich hatte jetzt schon das Gefühl, daß wir so un-
gefähr auf dem höchsten Punkt sein müßten, und
nun denke Dir mein Staunen, wie ein glücklicher
Windstoß plötzlich den Nebel zerriß, der uns ein-
hüllte, und ich folgenden Anblick hatte.
Wir standen auf einer mäßig großen Wiese, auf
der das üppigste Gras wucherte, mitten durch die-
selbe floß sanft murmelnd mit kristallklarem Wasser
die Felka über flache Steine dahin, ringsumher aber
blühte und duftete es von Tausenden der buntesten
Blumen. Da stand der tiefblaue Enzian, Vergißmein-
nicht so tiefdunkel wie das Meer, gelbe gefüllte
Wiesenrosen, wer kann sie alle nennen, die vielfälti-
gen Blumen und Kräuter, die hier oben in der berg-
hohen Einsamkeit ihre glühenden Kelche entfalteten
90
und nickend an dem Ufer des glasreinen Wassers
standen. Und, rings um diese blühende Pracht, um-
schließend wie der eiserne Kasten des Geizigen seine
Schätze hütet, ragten himmelhoch, eisengrau, kahl,
zerklüftet und zerrissen die senkrecht steilen Fels-
wände empor. — Wie war mein Gefühl, als ich da
hinaufblickte, den Nacken zurückbeugend, ich, der ich
schon geglaubt hatte, auf der Höhe zu sein und der
nun sah, daß ich tief unter den Spitzen in einem eng
umschlossenen Tal stand! Wunderbar schön und er-
greifend war dieser Augenblick, das Schönste, was
ich gesehen und erlebt, als der Nebel ganz plötzlich
zerflog, als habe eine Zauberhand ihn hinweggestreift,
gleichsam als wenn im Theater der Vorhang aufgeht
und prächtige Dekorationen enthüllt.
Nur nach einer Seite, die, von der wir gekommen,
war das Tal offen, hier brauste die Felka im jähen
Sturz über hundert Fuß tief hinab, und über den Rand
dieses Absturzes, an dessen Wänden wir hinaufge-
klettert, senkte sich der entzückte Blick meilenweit
hinaus, bergestief hinab über die Ebene da unten, bis
ganz hinten am Horizont blaue Bergesschatten, wie
mit Feenhänden gemalt, zart und duftig das Bild ab-
schlössen, über das die Sonne rein und goldig ihre
warmen Strahlen breitete. Dieses ganze Anblicken
und Anstaunen dauerte nur eine Minute, dann kroch
schwer und ungeschlachten schon wieder der nasse
graue Nebel heran, alle Zauber auslöschend, alle
Fernsicht verschleiernd, alle Schönheiten einhüllend.
Vielleicht hat sich mir dies wunderbare Bild mit des-
halb so tief eingeprägt, weil es mir nur einen kurzen
Augenblick vergönnt war, mich an ihm zu erfreuen.
So aber steht es vor mir wie umflossen von allen
Zaubern einer unbeschreiblichen Schönheit, einer
wilden, rauhen Großartigkeit, verbunden mit der lieb-
91
lichsten Anmut und düftedurchwobenen Blumen-
pracht, Fels und Gestein, feuchte Wände, steile Klip-
pen und zackige Grate, eine blühende Wiese, ein mur-
melnder Silberbach und dann ein Blick in die Weite,
als könne man die Welt mit seinen Augen überflie-
gen — wo findet man eine solche Vereinigung wie-
der, und wann — ja wann werde ich dergleichen
wiedersehen! — Ein Glück am Ende, daß der Nebel
wieder kam, sonst hätte es mir gehen können wie
dem Ritter Toggenburg, und statt heute hier in Creisau
zu sitzen und schwache Abklatsche schöner Erleb-
nisse auf das Papier zu zirkeln, säße ich vielleicht
noch immer da oben und würde sitzenbleiben und
staunen und schauen, bis mir die Winterkälte über
das warme Blut gekommen wäre, bis mir die Blicke
erstarrt und gefroren wären, bis ich nach Jahr und
Tag den Reisenden als Merkwürdigkeit gezeigt wor-
den wäre, als mißgeformter Stein, als Felszacke oder
wer weiß was! — So also kam er gekrochen wie mit
tausend Füßen, wand sich um die Felsecken, wickelte
uns ein, blies uns kalt ins Gesicht und scheuchte
mich aus stummem Staunen auf. — Wir stiegen in
dichtem Nebel weiter den Höhen zu. Jetzt hörte jeder
Weg und Steg auf, eine Viertelstunde, nachdem wir
den Blumengarten verlassen hatten, trat unser Fuß
schon auf das erste Schneefeld. Weiter ging's über
riesige Felsblöcke, über die wir kletterten und spran-
gen und unter denen unsichtbar, aber in der Tiefe
laut brausend das Wasser dahinfloß. Glücklicherweise
fiel ich nicht hin, sonst hätte ich mir sicher ein Bein
gebrochen, doch wenn im Reisehandbuch steht: »Das
Wort ,Weg* ist aber hier nur sehr euphemistisch zu
verstehen, denn es gehört eine Gemsjägergewandt-
heit dazu, diese Granitblöcke zu erklettern und Klüfte
zu übersetzen« — und weiter: »Das Panorama ist zwar
92
sehr lohnend, aber wer nicht schwindelfrei, nerven-
stark und mit tüchtigen Kniesehnen versehen ist, der
unterlasse diesen letzten Teil der Partie« — so trafen
Gott sei Dank alle Vorbedingungen bei mir zu, und
ich machte den ganzen Weg, ohne eigentliche Er-
müdung zu spüren. — Das allerletzte Stück war das
schlimmste, hier ging es so steil an glatten Granit-
wänden hinauf, über vom Nebel naßglattes Geröll,
dann wieder nur eine Spalte, um den Fuß hineinzu-
setzen, nur ein loser Grasbüschel, um sich daran zu
halten, daß ich wirklich einen Augenblick dachte:
Ja, hinauf geht es schon, wie aber soll man da jemals
wieder herunterkommen!
Endlich waren wir oben auf dem eigentlichen Kamm.
Ein schmaler Grat, kaum zwei Meter breit, nach bei-
den Seiten steil in die unendliche Tiefe hinabsin-
kend. Wie tief es sei, konnte man nicht sehen, denn
der Nebel hüllte alles ein. Jetzt pfiff ein scharfer,
naßkalter Wind über die Höhen, ich war vom Stei-
gen sehr warm geworden und drückte mich schau-
dernd in eine Felsspalte, um etwas Schutz zu suchen
und zu verschnaufen. In großen Perlen setzte sich
der Nebel auf meinen Kleidern ab und überzog mich
und meinen Begleiter mit feuchtem, glitzerndem
Schleier. — Die Luft war dünn und rauh. Von der so
berühmten Aussicht nach Galizien auf der einen, Un-
garn auf der andern Seite war nichts zu sehen, nur zu
unseren Füßen sah man trübe durch den Nebel blin-
kend den sogenannten »gefrorenen See« liegen, der,
Sommer und Winter hindurch mit Eis bedeckt, Zeug-
nis gibt für die Höhe, auf der wir uns befanden. Ich
mußte mich also mit dem Bewußtsein begnügen, oben
zu sein, das Ziel erreicht zu haben, welches ich er-
reichen wollte, auf die Früchte der Arbeit mußte ich
leider verzichten.
93
Wir warteten eine Viertelstunde, ob nicht der Ne-
bel einen Moment verziehen werde, aber er blieb un-
beweglich, undurchdringlich. — So mußte ich denn
die Aussicht aufgeben, und wir machten uns an den
Abstieg. Das war noch schwieriger wie der Aufstieg.
Zuerst mußte mir mein Führer hier und da den Fuß
zurechtsetzen, während ich auf den Händen und mit
Erlaubnis zu sagen — Stück für Stück hinunter-
rutschte. Später ging es besser und kam ich allein
vorwärts, doch oft noch kamen Stellen, wo ich das
Bewußtsein hatte, daß ein falscher Tritt mich ret-
tungslos in die Tiefe stürzen würde. — Nach einer
halben Stunde war ich doch so sicher geworden, daß
ich mit Leichtigkeit meinem gewandten Führer fol-
gen konnte, der mir denn auch das Zeugnis aus-
stellte, daß ich sehr viel Anlage zum Steigen hätte
und er mir sehr riete, die Besteigung der Gerlsdorfer
Spitze zu unternehmen, der schwierigsten und hals-
brecherischsten Partie im ganzen Tatra. — Allmäh-
lich kamen wir in immer dichter sich lagernden Ne-
bel auf das mit Granitblöcken übersäte Feld zurück.
Unterwegs scheuchten wir ein Rudel Gemsen auf,
die in wilder Flucht über die scharfen Grate dahin-
stäubten. Man sah sie nicht, hörte nur den scharfen
Schlag der Hufe auf dem Fels, kleine Steine und Ge-
röll lösten sich unter ihren flüchtigen Füßen und
rollten, sprangen und hüpften in hundert Aufschlä-
gen kollernd und polternd in die Tiefe. Erst nach
einer Weile kam der Ton zu uns herauf, wie sie un-
ten klappernd aufschlugen oder platschend ins Was-
ser stürzten. — Nach zehn Sekunden war alles wie-
der totenstill, nur der Nebel um uns her, kein Ton
eines lebenden Wesens in der erhabenen Stille der
Bergesriesen. — Dann stieß mein Führer einen lang-
gezogenen Juchzer aus, wir standen und lauschten,
94
schwerfällig, wie im Nebel erstickt, kam zwanzigfach
das hallende Echo zurück.
Wie wir den Blumengarten zum zweitenmal pas-
sierten, pflückten wir einen mächtigen Strauß; blau,
gelb, rosa, lila, hundertfarbig faßten wir die Blumen
zusammen, ein prächtiger glühender Strauß, wie man
ihn wohl in keinem von Menschenhand gepflegten
Garten binden könnte! Ein kräftiger Geruch durch-
strömte die Blumen, würzig, kräuterhaft, echte Kin-
der der Berge.
Nach vier Stunden, seit wir es verlassen, kamen
wir bei dem Blockhause wieder an und setzten uns
mit einem urgesunden Appetit zum Frühstücken nie-
der. Hier wurde alles aufgezehrt, was der Ranzen
enthielt und was die Flaschen bieten konnten, und
dann, während wir noch saßen und ruhten, fing der
Regen an herunterzuströmen. Erst in kleinen Pausen,
als wollte er seine Kraft prüfen, dann unablässig, un-
ermüdlich, gerade und gleichmäßig, ein richtiger an-
dauernder Landregen. — Und wir saßen und warte-
ten. Mein Führer machte ein Feuer an und briet, auf
ein Stück Holz gespießt, das letzte Stück Speck. —
Der Regen strömte ruhig und gleichmäßig weiter. Da
faßte ich denn den großen Entschluß, allem zu trot-
zen und mit aufgeschlagenem Rockkragen, den Hals
in die Schultern gezogen, ging es hinein in das
fließende Naß, hinunter auf den zweistündigen Heim-
weg. Der Blumenstrauß hatte gut davon, frisch, als
sei er eben gebrochen, brachten wir ihn hinunter,
aber ich — ! Aus den Schuhen, aus den Ärmeln und
Hosen floß mir das Wasser, wie ich in unser Zimmer
trat, und nun — nicht ein Stück zum Umziehen! Ich
zog mich aus, rang das Wasser aus meinen Kleidern,
stopfte meine Schuhe mit Strümpfen und Taschen-
tüchern aus, hing alles zum Trocknen über Stühle
95
und — legte mich zu Bett! — Ich mußte es machen
wie weiland Kato, wenn seine einzige Toga, was übri-
gens nicht zu oft vorgekommen sein soll, zum Wa-
schen gegeben war!
Onkel Helmuth war unten im Kaffeehaus, es war
3 Uhr. Eben war ich warm geworden, kam er zurück,
und nun fing mein Leiden an! — Es regnete immer
ruhig weiter und er setzte sich mit einem Buch zum
Lesen. Mit der Zeit wurde es ihm langweilig, daß ich
im Bette lag, und er fing an mich zu intrigieren, daß
ich aufstehen sollte. — Glücklicherweise hatte ich ja
von L. Hemden und Unterzeug mit, soweit ging es also
ganz gut, dann aber konnte ich nicht in meine nas-
sen Schuhe hinein. — Die Küche war wie gewöhn-
lich »gesperrt«, Feuer zum Trocknen gab es also
nicht. Mit unsäglicher Mühe klemmte ich endlich
meine Füße, die doch von dem ungewohnten Stei-
gen etwas geschwollen waren, in das nasse Leder
hinein, konnte aber die ersten fünf Minuten keinen
Schritt darin machen. Dann sollte ich ein Paar Hosen
von Onkel Helmuth anziehen, die mir bis halb unter
die Knie reichten und die ich über dem Bauch nicht
zukriegen konnte. Onkel Helmuth behauptete zwar,
sie säßen wie angegossen, das will ich schon glau-
ben, nur daß der Guß ein gut Stück zu kurz und zu
eng geraten ist! Dazu zog ich L.s Sommerpaletot an,
der in Weite und Länge das wieder gutmachte, was
die Beinkleider verbrachen, und so sollte ich mit On-
kel Helmuth hinuntergehen, um zu Abend zu essen!
Energisch weigerte ich mich indessen. Naß wie sie
waren, zog ich meine eigenen Sachen wieder an und
tröstete mich mit dem Gedanken, daß sie an mei-
nem Leibe am ehesten trocknen würden. Inzwischen
hatte Onkel Helmuth beschlossen, auf seinem Zim-
mer Tee zu trinken, und ich ging, naß und kühl bis
96
ans Herz hinan, alleine hinunter. — Am nächsten
Morgen schien hell und klar die Sonne am Himmel
und funkelte in den regenschweren Tannenzweigen
über die Millionen Tropfen hin, die in ihnen verfan-
gen saßen. Es war ein Glanz und Funkeln, ein Blit-
zen und Ineinanderschmelzen von Licht und Schat-
ten, wie ich es noch nie gesehen, und dabei eine
Luft, so balsamisch rein, so stärkend und belebend,
daß man nicht satt werden konnte des wonnigen
Vergnügens, sie einzuatmen, unbeschreiblich erquik-
kend. — Wir aber rüsteten uns zur Abfahrt. — Mir
wurde das Herz schwer, wie ich lustige Gesellschaf-
ten, des schönen Tages froh, in die Berge steigen sah,
wie jeder sich beeilte, das im Freien nachzuholen,
was ihm der gestrige Regentag an Zimmersitzen ge-
kostet hatte, — wir packten unser Kofferchen, stie-
gen auf einen federlosen Wagen, und fort ging es,
den steinigen Bergweg hinab nach der Eisenbahn-
station! — Ade du schönes Stück Gotteswelt, du
herrliche Bergnatur mit deinem kristallenen Was-
ser, deinen blaugrauen Felswänden, deinem diaman-
ten blitzenden Tannendunkel, wie gerne wäre ich
noch dort geblieben, wie hast du in zwei Tagen, wie
ein Kind, das lächelt und weint, mit Sonnenschein
und Regen mein ganzes Herz gefangen. — Das aber
gelobte ich bei mir selbst, daß wenn uns Gott das
Leben läßt, so reisen wir beide, Du und ich, noch
einmal auf ein paar Wochen hierher und freuen uns
gemeinsam der schönen Natur, atmen gemeinsam
die reine Luft der Berge und lauschen zusammen
den fremdartigen Klängen der Zymbal und Geige, de-
nen die braunen Zigeuner ihre wilden Weisen ent-
locken. —
Wir fuhren den ganzen Tag. Um 8 Uhr ging der
Zug von Poprard ab, abends um 1J2n Uhr waren wir
Moltke. 7. 97
in Neiße, den nächsten Morgen um 6 Uhr ging es
weiter, um 12 Uhr waren wir in Creisau — wo ich
meinen Koffer vorfand! — So endete also unsere
kurze Reise, die trotzdem eine Fülle der herrlich-
sten Erinnerungen mir gebracht hat. — Die Blumen,
welche ich hier oben eingeheftet habe, schickt Onkel
Helmuth Dir. Er selbst ist einen steilen Berg hinab-
geklettert, um sie zu pflücken, hat sie selber mitge-
nommen, getrocknet und mir hier gegeben mit den
Worten: »Wenn du an Eliza schreibst, grüße sie von
mir und schicke ihr dies Bukett aus dem Tatra.« —
Ich war so gerührt über den alten Herrn.
Creisau, 2. August iS8r.
Heute haben Onkel Helmuth und ich einen langen
Ausflug gemacht, er mit der Baumschere, ich mit
einer Säge bewaffnet, und haben furchtbar unter den
jungen Schößlingen gewütet!
Generalstab Berlin, 2Q.August 1881.
Ein Generalstabsoffizier, der nicht im Terrain rei-
ten kann, ist nicht zu gebrauchen, und da ich bisher
nicht reiten gekonnt habe, muß ich es jetzt lernen.
Daß ich mein Genick dabei riskiere, weiß ich wohl,
aber lieber den Hals brechen, als auf einem Posten
stehen, den man mit Bewußtsein nicht ausfüllen kann.
Ich muß reiten können und werde es lernen, und
sollte ich noch hundertmal stürzen, das hilft nun ein-
mal nicht.
Die Manöverluft fängt schon an zu wehen und mu-
tet mich eigentümlich an. Man sehnt sich hinaus aus
den engen vier Wänden, hinaus ins freie frische
Feldleben unter lebendige Soldaten, unter Schweiß
und körperlicher Mühe statt dieser papierenen Ar-
meen, die einem täglich dasselbe langweilige Zahlen-
98
gesicht entgegenhalten. "Wie freue ich mich auf die
wenigen Tage, wo ich in Holstein dem Manöver bei-
wohnen soll, es wird zu hübsch werden.
Generalstab Berlin, 8. September 1881.
Die Manöver beim X. Korps sind nun beendet, und
für die Zwischenzeit, bis sie beim IX. Korps an-
fangen, ist Onkel Helmuth nach Kiel gegangen. Der
Kaiser geht nach Danzig, wo die Zusammenkunft mit
dem Kaiser von Rußland stattfinden soll, von wel-
cher alle Zeitungen jetzt voll sind. Bismarck kommt
auch hin. Der Kaiser soll in den letzten Tagen bei
den Manövern nicht ganz wohl gewesen sein. Er hat
einen Tag denselben im Wagen beigewohnt, was er
sonst noch nie getan hat.
Itzehoe, 12. September 1881.
Die Parade war sehr hübsch. Um V210 Uhr fuhren
wir hinaus nach dem Lockstädter Artillerieschieß-
platz, einer großen Ebene, auf der das ganze IX. Korps
aufgestellt war. Um 11 Uhr kam der Kaiser, der Kron-
prinz, Kronprinzeß, Prinz Wilhelm usw. Der Vorbei-
marsch war sehr gut, wenngleich nicht so tadellos,
wie ich ihn in Berlin vom Gardekorps sah. Die meck-
lenburgischen Regimenter gefielen mir am besten,
wunderschöne große Leute. Eine riesige Men-
schenmenge ist hier zusammengeströmt. Wo der Kai-
ser sich sehen läßt, wird er mit endlosen Hurras be-
grüßt. Das Wetter hielt sich während der ganzen Pa-
rade. Kaum war aber der Kaiser in seinen Wagen
gestiegen und abgefahren, so ging ein wahrer Platz-
regen nieder. Wie merkwürdig, als ob es nur darauf
gewartet hätte, bis der Kaiser im trockenen Wa-
gen sei!
99
Itzehoe, 13. September 1881.
Ich kann Dir gar nicht sagen, wie unendlich wohl
ich mich fühle in diesem frischen, regen Manöver-
leben. Mitten unter den Truppen, in freier Luft, im
Gefecht, alles sehend, beobachtend, und nicht im
beschränkten Gesichtskreise des Frontoffiziers. Zu
Pferde, dahin, wo die Hauptmomente des Gefechts
sich abspielen, kritisierend, prüfend und beurteilend,
es ist zu schön. Nur das Quartier müßte etwas schlech-
ter sein, ein Strohsack oder Biwak, kein Federbett und
dann etwas mehr Gefahr. Mit einem Wort, ein rich-
tiges Gefecht, ein wirklicher Feldzug, und dann möchte
ich selber nach meinen eigenen Ideen das Gefecht
leiten! Und wenn das nicht, nur ein Moment, wo man
einmal wieder das Pfeifen der Kugeln hörte und den
Erfolg mit Blut und Eisen dem Feinde abringen
müßte! Wie das arabische Pferd den heißen Hauch
der Wüste, so atme ich in langen, tiefen Zügen den
Pulvergeruch ein. Hier ist mein Element, hier mein
Leben, Fühlen und Denken. Mit tausend Freuden
würde ich einen Feldzug begrüßen und mit wahrer
Wollust mich in das Kriegsgetümmel stürzen. Was
gibt es Schöneres als das Soldatenleben. Der Mann,
der auf seinen eigenen Füßen steht, dem Feinde ge-
genüber, und nun beginnt der Kampf auf Tod und
Leben. Du mußt das aber nicht so ernst nehmen. Ich
habe die Nase noch voll Pulverdampf, und das be-
rauscht mich immer wie junger Wein. Doppelt aber
fühlt man sein inneres Leben pulsieren. Alle Nerven
angespannt, alle Sinne geschärft, du schönes, herr-
liches Kriegsleben! Ich glaube, ich bin zum Feld-
soldaten geboren, und danke Gott, daß er mich in
eine Karriere gebracht hat, in der man in überfließen-
der Berufsfreudigkeit sein Herz schlagen fühlt.
100
Itzehoe, 14. September 1881.
Das Manöver gestern war sehr schön. Das ganze
Armeekorps manövrierte gegen einen markierten
Feind. Es fing an mit einem großen Reitergefecht,
wo vier Regimenter gegeneinander losplatzten. Da es
nicht das mindeste staubte, konnte man das ganze
Attackenfeld herrlich übersehen.Dann entwickelte sich
die Infanterie, ging zum Angriff vor, unterstützt von
einer Artilleriestellung von 12 Batterien, 48 Geschüt-
zen. — Der Kaiser sah sehr frisch aus. Es gewährte
einen schönen Anblick, wenn er, gefolgt von der glän-
zenden Suite, über das Feld galoppierte, ungefähr
zweihundert Offiziere der verschiedensten Armeen
der Welt hinter sich. Onkel Helmuth tauchte auch
bisweilen auf. — Prinz Wilhelm ritt gestern lange mit
mir. Ich glaube, er ist froh, einen alten Bekannten
unter den Massen fremder Menschen zu finden. —
Die Kronprinzeß ist auch immer draußen zu Pferde.
Der Kronprinz schön und imposant wie immer.
Generalstab Berlin, 25. September 1881.
Gestern abend gingen wir alle zusammen, natürlich
in Zivil, in eine Volksversammlung, in welcher der
Pastor Stöcker reden sollte. Er ist der Begründer der
sogenannten Christlich-sozialen Arbeiterpartei und
hat öfters gegen das überwuchernde Judentum ge-
sprochen. Ein riesiger Saal, Tivoli, war mit wenig-
stens zweitausend Menschen gefüllt, die ihn mit
Bravo und Händeklatschen empfingen. Ich hatte viel
von der hinreißenden Beredsamkeit des Pastors ge-
hört und war sehr neugierig auf ihn. Er sprach denn
auch sehr hübsch und stellenweise sogar mit flam-
mender Begeisterung. Als er sagte, daß die soziale
Reform von der Familie ausgehen müsse, daß die
101
rechtschaffene, treue alte deutsche Ehe, das feste Zu-
sammengehen zwischen Mann und Frau, wiederher-
gestellt werden müsse, brach ein unendlicher Jubel,
ein minutenlanges Händeklatschen und Bravo aus.
Man bekam den Eindruck, daß alle diese Männer,
Arbeiter und Kaufleute, mit ganzem Herzen danach
streben, ein nationales Deutschland wiederaufzurich-
ten. Gegen Ende der zweistündigen Rede wurde
Stöcker etwas zu salbungsvoll und geriet zuletzt völ-
lig in den Kanzelton. Das ist schade, die erste Hälfte
war stellenweise von wahrhafter Schönheit und oft
hinreißend.
Generalstab Berlin, 26. September 1881.
Ich habe jetzt eine Arbeit, die mich sehr interes-
siert, nämlich eine Berichterstattung anzufertigen
über die diesjährigen österreichischen großen Manö-
ver. Man muß sich aus Zeitungsnachrichten und mili-
tärischen Blättern das Material zusammensuchen, was
ziemlich mühsam ist. Es ist mir privatim gesagt wor-
den, daß ich im Winter die Sektion Skandinavien als
Sektionschef übernehmen sollte, doch kommt mir
dies unwahrscheinlich vor, da unsere Hauptleute noch
nicht Sektionschefs sind, und ich bin doch noch im-
mer der ewige Premierleutnant. —
Onkel Helmuth ist mit seinen Offizieren in einem
Zuge von Schleswig nach Eckernförde geritten, eine
ganz tüchtige Leistung! Wie gerne hätte ich diese
Reise mitgemacht! Doch man muß nicht zuviel ver-
langen.
♦Ragaz, 26. April 1882.
Wie Du siehst, sind wir nun hier eingetroffen, aber
nur um morgen oder übermorgen bereits wieder ab-
* Persönlicher Adjutant des Generalfeldmarschalls Graf Helmuth von Moltke und
Hauptmann im Großen Generalstab.
102
zureisen. Das Bad hier ist nämlich noch gar nicht er-
öffnet, da aber nicht gebadet werden kann, will On-
kel Helmuth auch nicht hier bleiben und spricht be-
reits davon,nach Berlin oder nach Creisau zu gehen.
Ich vermute, daß er doch zunächst nach Berlin zu-
rückgehen wird, und da man bei ihm immer darauf
rechnen kann, daß er dort, wo er ist, einen oder zwei
Tage kürzer aushalten wird als er vorher sagt, so
brauchst Du Dich nicht zu wundern, wenn wir in
drei bis vier Tagen schon wieder in Berlin eintreffen!
— Nun muß ich Dir doch erzählen, wie und wo wir
uns diese Tage umhergetrieben haben. Du kannst
glauben, wir haben eine anstrengende Tour gemacht,
und um diese Art zu reisen als ein Vergnügen zu
bezeichnen, muß man eben Onkel Helmuths Anschau-
ungen über Komfort haben! — Also, von Zürich fuh-
ren Onkel Helmuth und ich morgens 9 Uhr ab nach
Luzern. Es war beabsichtigt, daß wir den Tag in Lu-
zern bleiben sollten und am nächsten Tage über den
Vierwaldstätter See weitergehen sollten. Da aber so
schönes Wetter war, so aßen wir nur etwas Früh-
stück,— ich lief in aller Eile hin und besah mir den Lö-
wen und den Gletschergarten, und dann fuhren wir mit-
tags mit dem Schiff über den See. Prachtvolles Wet-
ter, eine entzückende Fahrt. Gegen Abend kamen
wir in Fluelen an, wo wir übernachteten. Am näch-
sten Morgen hatten wir zwei Plätze auf der Post,
Bankett, genommen, bestiegen mit einer Leiter un-
seren luftigen Sitz und fuhren bei leidlichem Wetter
in die Berge hinein, dem Gotthardt entgegen. Ob-
gleich die Bahn bereits völlig fertig ist und von Ar-
beiterzügen auf der ganzen Strecke von Luzern bis
Mailand befahren wird, wird sie doch erst im näch-
sten Monat dem Verkehr übergeben. Bis jetzt muß
man mit der Post bis Göschenen fahren, wo der große
103
Haupttunnel, der unter dem Gotthardt durchgeht, an-
fängt. Bis dahin hatten wir Gelegenheit, die kolos-
salen Bauten zu bewundern, welche ausgeführt sind,
um diese Bahnstrecke zu ermöglichen. Auf himmel-
hohen Viadukten übersetzt die Bahn tiefe Abgründe,
um in Tunnel hinter Tunnel zu verschwinden und
wieder zu erscheinen. Zweimal macht sie eine voll-
ständige Schleife, d.h. geht über sich selber weg, so
daß die beiden Tunnelöffnungen genau übereinander
liegen. Es ist wirklich ein Riesenbau, der hier aus-
geführt ist, und man weiß nicht, was man mehr an-
staunen soll, die gewaltigen Formen, welche die Na-
tur hier geschaffen, oder die Kühnheit der winzigen
Menschen, welche alle diese Felswände durchbohrte,
diese Abgründe überbrückte und einen dünnen Ei-
senweg mitten durch das Herz der mächtigen Berg-
riesen hindurchzog. — In Göschenen stiegen wir in
die Bahn und vertieften uns gleich nach dem An-
fahren in die Nacht des Gotthardt -Tunnels. Die Lam-
pen waren angesteckt und so war es genau dasselbe,
als ob man in der Nacht führe. Nur wenn man das
Fenster öffnete, strömte die dunstige erstickend
warme Luft hinein und erinnerte daran, daß die Ar-
beiter bei Bohrung des Tunnels unter einer Hitze bis
zwanzig Grad zu leiden hatten! — Die Fahrt dauerte
fast dreiviertel Stunden. In der Mitte des Tunnels
ward einen Moment gehalten und es sah eigentüm-
lich aus, wie bei Fackellicht die Bahnarbeiter sich
bewegten, während ihre flackernden Schatten in gro-
tesken Verzerrungen an der dunklen Wölbung dahin-
huschten. — Bei Airolo tauchten wir plötzlich wieder
in den Sonnenschein der offenen Landschaft hinaus.
— Die Augen mußten sich erst an das Licht gewöh-
nen. — Nun ging es wieder auf die Post, eigentlich
wollten wir in Biasca übernachten, da wir aber ein-
104
mal unterwegs waren, stiegen wir in Biasca wieder in
die Bahn und kamen abends 9 Uhr in Bellinzona an,
wo wir zur Nacht blieben. Wir waren gerade zwölf
Stunden unterwegs, und es war mir nicht möglich ge-
wesen, Onkel Helmuth dazu zu bewegen, daß er etwas
zu sich nahm. Nur eine Tasse Kaffee glückte mir
ihm einzuflößen und im übrigen ab und zu einen
kleinen Schluck von dem aus Berlin mitgenomme-
nen Portwein. In Bellinzona aßen wir wenig und
schlecht zu Abend und gingen dann zu Bett. Am
nächsten Morgen um 5 Uhr auf, um 6 Uhr mit der
Bahn nach Como. Jetzt regnete es schon sachte, aber
beharrlich, trotzdem machten wir einen Spaziergang,
von dem wir durchnaß nach Hause kamen und es
mir dann gelang, Onkel Helmuth, der ganz matt und
ausgehungert war, zu Bett zu packen. Er schlief dann
bis 12 Uhr, wo wir warm frühstückten. Eigentlich
hatten wir in Como einen Tag bleiben und von dort
aus einige schöne Punkte am Corner See besuchen
sollen, da es aber schlecht Wetter war, beschloß On-
kel Helmuth, lieber gleich weiter zu fahren. Wir gin-
gen also um 2 Uhr an Bord und fuhren den Corner
See hinauf nach Colico. Trotzdem es nun wirklich
abscheuliches Wetter war, entzückte mich dieser See
doch in höchstem Maße. Bei Sonnenschein muß es
da himmlisch sein. Überall Zypressen, an denen sich
blühende Schlingpflanzen hinaufwinden, mit Blüten
überdeckte wuchernde Rosen an allen Häusern, es
ist wirklich unbeschreiblich schön. Wir passierten
die wundervoll gelegene Villa Carlotta, die unserem
Kronprinzen gehört. — Abends 8 Uhr kamen wir in
Colico an, wo wir übernachten wollten, da wir aber
gerade die Post zur Abfahrt fertig stehen sahen, be-
schloß Onkel Helmuth, noch denselben Abend bis
Chiavenna zu fahren, wo wir um 12 Uhr nachts an-
105
kamen. Wir waren also achtzehn Stunden unterwegs.
Da von Chiavenna die Post über den Splügen um 2 Uhr
nachts weitergeht, blieben wir die Nacht dort, und für
den nächsten Morgen 6 Uhr war Extrapost bis Splügen
bestellt. — Jetzt hatte ich eine Flasche Wein und
etwas kalte Küche heimlich in den Wagen geschmug-
gelt und hatte den festen Entschluß gefaßt, Onkel
Helmuth nötigenfalls auf der einsamen Landstraße
unter Anwendung von Gewalt zum Essen zu zwingen!
— Unter herrlichem Sonnenschein fuhren wir berg-
an. Diese Straße ist mit das Schönste, was ich ge-
sehen. In unglaublich steilen Serpentinen steigt sie
hinan und eröffnet immer neue Blicke in das Tal und
auf die weißen Bergeshäupter, welche vor uns lagen.
In der Nacht hatte es oben geschneit und der Schnee
lag bis tief in die Täler hinab auf den grünen Blättern
der Nußbäume, die hier unten eben anfingen auszu-
schlagen. Alles erstrahlte im Sonnenschein, aber der
hohe Gipfel des Splügen war in eine kleine graue
Wolke gehüllt und unser Kutscher schüttelte bedenk-
lich den Kopf und meinte, oben würde es nicht sau-
ber hergehen! — Um 12 Uhr mittags waren wir an
der Schneegrenze und mußten nun den Wagen ver-
lassen, um in einen kleinen Schlitten gepreßt zu wer-
den. Hier frühstückten wir auch von den mitgenom-
menen Vorräten. Gut, daß ich etwas mit hatte ! — Unser
eines Pferd wurde vor den Schlitten gespannt, das
andere lief wie ein Hund ganz von selber hinterher.
So ging es über den Paß fast zwei Stunden im Schnee.
Je höher wir kamen, desto ungemütlicher wurde es.
Ein heftiger Wind pfiff uns entgegen, dabei schneite
es ziemlich stark, stellenweise war es bitter kalt. —
Dann wieder kamen wir an eine geschützte Stelle,
wo plötzlich die Sonne schien, so grell, daß man kein
Auge öffnen konnte, und so heiß, daß man ihre Strah-
106
len ordentlich brennen fühlte. — Dann im nächsten
Augenblick wieder alles grauer Dunst und eisiger
Schnee gerade ins Gesicht. Bergab ging es in großer
Eile. In dem tiefen Schnee, der alle Risse und Klüfte
ausfüllte, fuhren wir, die Serpentinen der Straße über-
springend, direkt bergab. Unser armes Pferd rutschte
auf allen Vieren und war immer nahe daran, sich zu
überschlagen. Komisch sah es aus, wie das ledige
Pferd pflichttreu mit erstauntem Gesicht ebenfalls auf
allen Vieren hinter uns herrutschte. — Um 2 Uhr
hatten wir den Schnee hinter uns und stiegen wieder
in den Wagen. Wir passierten dann die romantische
wunderschöne Via mala und kamen dann nach Thu-
sis. — Daß ich hier besonders lebhaft an Dich dachte,
kannst Du Dir denken. Hier bist Du ja auch gewesen.
— Dann kamen wir abends 7 Uhr nach Chur, wo wir
ordentlich zu Mittag aßen. Das erstemal seit unserer
Abreise von Zürich, aber Onkel Helmuth war jetzt auch
so weit, daß er sägte: »Wenn ich jetzt nicht bald etwas
zu essen bekomme, klappe ich um.« — Um 8 Uhr fuhren
wir dann mit der Bahn nach Ragaz, wo wir um 9 Uhr
ankamen nach einer ununterbrochenen Tour
von vierzehn Stunden. Hier packte ich Onkel Hel-
muth gleich mit einer Wärmeflasche zusammen ins
Bett und heute morgen war er wieder ganz munter.
Nur im Gesicht sehen wir beide krebsrot aus. Der
rasche Wechsel von Sonnenhitze und Schneegestö-
ber macht, daß wir beide wie die Schlangen im Ge-
sichthäuten. — Heute morgen haben wir bereits eine
lange Spaziertour gemacht, und ich habe mir die
schöne Tamina-Schlucht angesehen. Dann haben wir
gegessen und eben hatte Onkel Helmuth sich etwas
hingelegt, ist aber jetzt wieder auf. Nun werden wir
es nicht lange mehr hier aushalten und wie ich ver-
mute, in nächster Zeit wieder in Berlin eintreffen!
107
Was sagst Du zu unserer »kleinen Vergnügungs-
reise an die oberitalienischen Seen mit einiger Zeit
Aufenthalt an irgendeinem schönen Punkt«, wie On-
kel Helmuth dieselbe vorher bezeichnete? Sollte man
glauben, daß er zweiundachtzig Jahre zählt? »Aber«
— sagt er — »wenn man so mit allem Komfort reisen
kann, wie wir es machen, dann kann es nichts Be-
quemeres geben!«
Wildbad Gast ein, 2. August 1882.
Nun sind wir denn glücklich hier. Wir haben viel
Schönes gesehen, und ich habe daneben auch schon
manchmal meinen gründlichen Ärger gehabt, wie Du
Dir denken kannst, ohne diesen geht ja eine Reise
mit Onkel Helmuth nun einmal nicht ab! — Meine
Karte aus Wien wirst Du erhalten haben. Am näch-
sten Tage fuhren wir nach Ischl, eine prächtige Tour
an dem Ufer des lieblichen Traunsees entlang, leider
unter beständigem Regen. Nachmittags kamen wir
daselbst an, logierten uns im Hotel »Elisabeth« ein,
demselben, in welchem eine Szene aus Ouidas »Mot-
ten« spielt, auch der Balkon, auf dem Correz saß und
seine Stimme ertönen ließ, war richtig da, darunter
die brausende Traun. Alles stimmte! — Nachdem wir
gegessen, machten wir einen langen Spaziergang in
die schönen Umgebungen dieses reizend gelegenen
Ortes. — Bei Tisch saß neben uns die Wegner vom
Wallner-Theater, der »jüngste Leutnant«, über deren
auch im Zivilverhältnis beibleibende Komik Onkel
Helmuth und ich uns höchlich ergötzten. Sie stu-
dierte Onkel Helmuth offenbar, ich fürchte, sie bringt
ihn nächstens auf die Bühne!
Am andern Morgen fuhren wir bis Aussee, wo wir
abermals unter strömendem Regen die Umgebung
abspazierten, dann aßen und nach Tisch weiter fuh-
108
ren bis Lend. Auch diese Tour bot viel des Schönen.
Die Berge des Salzkammergutes sind großartig schön.
Sie stehen mehr vereinzelt in einzelnen gewaltigen
Stöcken, wodurch die gigantischen Massen dersel-
ben mehr zum Eindruck kommen, als die Alpen. In
Lend blieben wir die Nacht von Montag zum Diens-
tag im Hotel »zur Post« mit miserablen Betten, On-
kel Helmuth und ich in einem kleinen Zimmer zu-
sammen. Beide fast ohne zu schlafen, obgleich wir
uns durch sechs bis sieben Patiencen beruhigt hatten!
Eigentlich wollte Onkel Helmuth denselben Abend
noch mit der Post hierher, wo wir um 12 Uhr angekom-
men wären, da dieselbe aber wegen Zugverspätung
schon weg war, mußten wir bleiben und fuhren nun
heute morgen mit Extrapost hierher, wo wir um 1 1 Uhr
morgens ankamen. Gleich nach Ankunft nahm Onkel
Helmuth sein erstes Bad, dann legte er sich schlafen,
und ich ging aus, begegnete dem Kaiser, der jugend-
lich frisch aussieht und sich nach Onkel Helmuth er-
kundigte. — Dann wurde ich umgehends für heute
abend zu einer Soiree dansant bei Graf Lehndorff
eingeladen, wo wir dem Kaiser vortanzen sollen.
Wildbad Gastein, 3. August 1882.
Gestern abend habe ich mich ganz gut amüsiert.
Der Kaiser saß den ganzen Abend in einer Ecke und
sah zu. Er amüsierte sich offenbar sehr gut dabei.
Er sieht prächtig aus, frisch und gesund. Heute mor-
gen waren wir ein paar Stunden ohne Regen. Onkel
Helmuth und ich gingen auf die Promenade, wo wir
den Kaiser auf einer Bank sitzend fanden, der Onkel
Helmuth sehr herzlich begrüßte. Onkel Helmuth ist
heute zum Diner dort. Seit 12 Uhr regnet es wieder,
es ist wirklich zum Verzweifeln. Ich habe trotzdem
eine Tour in die Berge gemacht. Der Fall der Ach ist
109
wirklich wunderbar schön. Sie kommt sechshundert
Fuß hoch in einer ganz engen Schlucht herunterge-
braust, lauter weißer Gischt und Schaum. Gerade vor
unserem Fenster stürzt sie in ihr Becken mit donner-
ähnlichem Brausen hinab. Über dem Becken steht
haushoch eine Wolke von Wasserstaub, in welchem
sich der Dampf der hinabströmenden heißen Wasser
mischt. Die schneebedeckten Gipfel der Berge hoben
sich herrlich gegen den tiefblauen Himmel ab, wie es
einen Moment aufklärte, leider nur so kurze Zeit. —
Onkel Helmuth läßt Dich bitten, doch recht viel über
Creisau, Wetter und Ernte zu schreiben. Er will acht-
zehn Bäder nehmen.
Wildbad Gastein, 4. August 1882.
Onkel Helmuth war sehr erfreut über die Mitteilun-
gen betreffend Wetter und Ernte. Wir leben hier ruhig
weiter. Morgens um 7 Uhr nimmt Onkel Helmuth sein
Bad und liegt darauf noch zwei Stunden zu Bett. Dann
trinken wir Kaffee und lesen die Zeitung, worauf wir
etwa um V211 Uhr auf die Promenade gehen, dem
Kaiser begegnen, der auf irgendeiner Bank sitzt und
Onkel Helmuth immer sehr freundlich begrüßt. Um
2 Uhr essen wir zu Mittag, dann trinken wir irgendwo
Kaffee und spazieren wieder bis 8 Uhr, wo wir in Onkel
Helmuths Zimmer Tee trinken und dann bis 10 Uhr
Patiencen legen. — Heute nachmittag nahmen wir
einen kleinen Einspänner und fuhren nach einem Ort
Bockstein, der eine halbe Stunde höher im Gebirge
liegt. Von dort gingen wir zurück. Unterwegs erklärte
Onkel Helmuth, die Hauptsache bei der Kur sei, daß
man sich ganz ruhig verhalte und sich nicht anstrenge.
Dabei waren wir den Morgen schon zwei Stunden
bergauf und -ab geklettert und gingen nun eine Stunde
zurück. Er war ganz ermattet, und ich habe ihn ge-
110
hörig ausgescholten und werde von nun an keine
solche Extravaganzen mehr dulden. Im übrigen ist
er guter Laune und recht mobil. Ich glaube, die Bäder
tun ihm gut, wenn er sich nur vernünftig benimmt. —
Die Umgegend und das Land selbst sind in der
Tat von einer entzückenden Schönheit. Wohin man
kommt, immer neue Schönheiten. In jedem Tal ein
brausender Wasserfall, doch der König aller, der
Achenfall, mitten zwischen den Logierhäusern. On-
kel Helmuth kennt hier jeden Schritt und Tritt und
weiß immer, wo eine Aussicht oder sonstiger schö-
ner Punkt zu finden ist.
Wildbad Gastein, 6. August 1882.
Gestern waren Onkel Helmuth und ich zum Diner
beim Kaiser. Heute ist feierlicher Gottesdienst in der
kleinen protestantischen Kirche. Ich habe soeben
Onkel Helmuth dorthin begleitet. Der ganze Hof ist
dort, und die sehr kleine Kirche war zum Ersticken
voll. — Wann wir zurückkommen, kann ich ja nicht
wissen, doch glaube ich, daß Onkel Helmuth am 20.
etwa seine Kur für beendet erklären und dann in for-
cierten Eilmärschen nach Hause eilen wird; er hat
mir einen ganz besonderen Gruß für Dich aufgetragen.
Wildbad Gastein, 8. August 1882.
Der Regen fällt ganz fein und ganz gerade herunter
mit einem Gleichmut, der einen zur Verzweiflung
bringen kann. Alle Wege sind grundlos, die ganze
Gegend in ein monotones Grau gehüllt. Das wenige
Korn, welches hier oben gebaut wird, steht faulend
und ausgewachsen auf den Feldern, es ist zu trüb-
selig. Wenn man hier nicht heraus kann, ist es ge-
radezu zum Auswachsen. Den ganzen Tag mit Onkel
Helmuth in der Stube sitzen, der nachgerade auch
in
anfängt schlechter Laune zu werden, gehört nicht zu
den größten Annehmlichkeiten! Gestern aßen wir
beim Kaiser. Heute fuhr er mit seinem ganzen Ge-
folge ab. Den Moment, wo er von dem gesamten
Bade mit Hochrufen begleitet abfuhr, schien die
Sonne, zehn Minuten darauf regnete es wieder los!
Wildbad Gastein, i4.August 1882.
Onkel Helmuth will nicht länger als bis zum 19.
hierbleiben. Er will dann, wenn es schön Wetter ist,
noch eine Tour von einigen Tagen nach Berchtes-
gaden, dem Königsee, Reichenhall, Salzburg machen
und beabsichtigt, etwa am 1. September in Creisau
einzutreffen. Doch kenne ich diese Vergnügungs-
touren schon, die auf acht Tage projektiert und dann
in ein oder höchstens zwei Tagen durchrast werden!
— Gestern habe ich ein Schachspiel gekauft und mit
Onkel Helmuth eine Partie Schach gespielt. Da ich
ihn nach heißem Kampf matt setzte, erklärte er, das
Spiel rege ihn zu sehr auf, und wir kehrten zur Be-
ruhigung zu der Patience zurück! Diese Nacht hatte
er schlecht geschlafen, wie er sagte, noch infolge
der Aufregung vom Schachspiel her! Sonst geht es
ihm ausgezeichnet. — Die Kur bekommt ihm sehr
gut, ergeht jeden Morgen zwei bis drei Stunden ohne
Beschwerden und sieht vortrefflich aus.
Dresden, Palais, 17. September 1882.
Diesen Brief habe ich schon dreimal unterbrechen
müssen. Inzwischen sind wir mit dem Kaiser, dem
König und dem ganzen Rummel bei Professor Schil-
ling gewesen, wo wir den Gipsentwurf zu dem Na-
tionaldenkmal auf dem Niederwald sahen, dann Ka-
serneninspektion in der Albrechtstadt und großes
112
Frühstück bei dem Regiment des Kaisers, eben zu-
rückgekommen, und in einer halben Stunde sollen
wir wieder fahren, zu einem großen Gartenfest. Da-
nach um 5 Uhr Diner, heute abend Theater und dann
Soiree beim Kriegsminister — und das nennt man
einen freien Sonntag!
Merseburg, 15. September 1883.
Die Parade gestern war sehr hübsch, etwas sehr stau-
big, aber sonst wohlgelungen. Der Kaiser sieht sehr
wohl aus, Prinz Wilhelm in seiner Husarenuniform
entwickelt sich immer mehr zu seinem Vorteil. —
Onkel Helmuths Stute ging ausgezeichnet, gestern
wie heute. Morgen gehen wir alle zusammen in Be-
gleitung des Kaisers nach Halle, wo eine Rundfahrt
durch die Stadt und Besichtigung der dortigen Sehens-
würdigkeiten vorgenommen werden soll. Übermor-
gen ist abends ein großes Fest, welches die Stände
dem Kaiser geben, verbunden mit einer Theatervor-
stellung, zu welcher die großherzogliche Truppe aus
Weimar herkommen wird. Am 18. ist dann noch ein
solches Fest. Am 20. gehen wir nach Homburg.
Merseburg, 18. September 1883.
Dem Kaiser ist der gestrige Tag doch zu anstren-
gend gewesen, so daß er die heute beabsichtigte Fahrt
nach Halle aufgeben mußte. Infolgedessen sind wir
auch nicht gefahren, sondern haben uns statt dessen
den sehr schönen alten Dom, der recht geschickt in letz-
ter Zeit renoviert worden ist, und den recht hübschen
Schloßgarten und Hof besehen. Der historische Rabe
erfreut sich des besten Wohlseins. — Vor vielen
Jahren ließ einer der alten Bischöfe von Merseburg
einen seiner Pagen hinrichten, weil er ihn im Ver-
dacht hatte, ihm einen wertvollen Ring gestohlen zu
Moltke. 8. 113
haben, es war dies ein Krosigk. Nach einigen Jahren
fand man dann zufällig bei einem Umbau den ver-
mißten Ring in einem Rabennest auf einem der Türme.
Zur Entschädigung schenkte der Bischof dem Bru-
der des Enthaupteten ein ansehnliches Gut, auf dem
jedoch die Verpflichtung haftet, zum Andenken an den
unschuldig Gerichteten auf der Burg einen Raben zu
unterhalten. Gleichzeitig bekamen die Krosigks einen
Raben, der einen Ring im Schnabel trägt, ins Wap-
pen. Dieser Rabe wird' noch immer in einem großen
Käfig gehalten. Wenn er stirbt, muß er sofort ersetzt
werden, da an seiner Unterhaltung der Besitz des
noch in der Familie befindlichen Majorats hängt.
Im Dom ist eine prachtvolle Orgel, die die ganze
Höhe des einen Schiff sf lügeis einnimmt, einige schöne
alte Eichenschnitzereien und das unschöne Bronce-
grabmal des Kaisers Rudolph, der von der früher ka-
tholischen Bevölkerung für einen Heiligen gehalten
worden und an einigen Stellen ganz blank geküßt
worden ist. Sonst ist an der Stadt selbst absolut gar
nichts zu sehen. Gottlob ist der heutige Ruhetag bald
überstanden, und morgen gehen die Manöver wie-
der an.
Merseburg, 18. September 1883.
Soeben kommen wir müde und bestaubt vom Ma-
növerfelde zurück. — Das Manöverleben ist von je-
her meine höchste Lust gewesen. — An den Tagen,
wo Goßler mit Onkel Helmuth zum Diner geht, esse
ich mit den Kameraden zusammen und sitze abends
mit ihnen in der Kneipe, Bier trinkend und Anek-
doten anhörend, was ich richtig genieße, nachdem
ich so lange keinen Soldatenmenschen mehr gesehen
und mit keinem Kameraden mehr mich harmlos und
ungezwungen habe unterhalten können. Onkel Hel-
114
muth ist immer sehr liebenswürdig und heiter, ein
vollkommen anderer Mensch als sonst. Das Manö-
ver macht auch ihm Freude, und er ist so aufgetaut,
wie man es gar nicht bei ihm für möglich halten
sollte.
Merseburg, ig. September 1883.
Heute abend haben wir einen großen Genuß ge-
habt. Um J/a7 Uhr hatte der Prinz Albrecht sich den
Organisten in den Dom bestellt, um ihm auf der wun-
dervollen Orgel vorzuspielen. Onkel Helmuth und ich
waren auch da und hörten mit Entzücken ein Adagio
von Mendelssohn und mehrere Präludien von Bach.
Wenn man die Augen schloß, hatte man förmlich
das Gefühl, als ob die mächtigen Tonwellen einen
aufhoben und mit sich davontragen könnten. Es war
herrlich. — Der heutige letzte Manövertag verlief sehr
hübsch.
H o m b u r g , 23. September 1883.
Am 20. abends kamen wir hier um 7 Uhr an, um
V28 Uhr mußten wir schon wieder im Schloß sein
zum Diner, das ging alles Hals über Kopf. Den näch-
sten Tag Parade, um 5 Uhr Diner, um 7 Uhr Theater,
gestern Korpsmanöver. Das Wetter war trübe, und
gegen 12 Uhr fing es an gehörig zu regnen, so daß
wir um Vz3 Uhr durchnaß nach Hause kamen. Um
5 Uhr Diner und abends Theater. Heute ist Sonntag,
und habe ich so einen freien Vormittag. Um 2 Uhr
ist Offiziersrennen, zu dem wir hinauswollen. Am
28. sind wir am Nationaldenkmal bei Rüdesheim, von
dort gehen wir abends nach Wiesbaden. — Hier ist
eine unglaubliche Versammlung von Fürstlichkeiten.
Am meisten Interesse erregt der König von Spanien,
der sich als ein vortrefflicher schneidiger Reiter zeigt.
"5
Er war zuerst in bayerischer Uniform, die ihm nicht
gut stand, in spanischer sieht er viel besser aus. Er
ist ein kleiner eleganter Herr mit ein klein wenig jü-
dischem Typus. Der König von Serbien, größer und
ziemlich dick, sieht nicht sehr vornehm aus. — Die
Kaiserin sieht sehr wohl aus. Sie ist stärker gewor-
den, was ihr gut steht, und wohnt den Manövern im
Wagen bei. Während des Regens hält sie unbeküm-
mert ohne Schirm im offenen Wagen und läßt sich
naßregnen, ebenso wie der Kaiser, der in jugendlicher
Frische allen Unbilden des Wetters trotzt. Außerdem
wimmeln hier eine Menge von Hoheiten und König-
lichen Hoheiten umher, von denen man früher nie
etwas gehört hat. Diniert wird in den prachtvollen
Sälen des Kurhauses, in denen in früheren Zeiten die
Bank gehalten wurde. Das Schloß ist klein und un-
ansehnlich, überhaupt Homburg ein kleiner, wenig
schöner Ort. Die Umgegend ist hübsch, mit stellen-
weise schönen Blicken auf die Taunuskette, der Bo-
den außerordentlich fruchtbar. Eigentümlich berühren
einen die rot und weißen Grenzpfähle des hessischen
Gebiets. — Onkel Helmuth befindet sich vortrefflich.
Homburg, 24. September 1883.
Gestern nach dem Offiziersrennen fuhr ich mit un-
serem Wirt auf die eine halbe Stunde entfernte, auf
einem Gebirgssattel liegende Ruine der Saalburg. Im
höchsten Grade interessant. Es sind die Überreste
eines alten befestigten römischen Lagers, welches
etwa im Jahre 30 vor Christi gebaut und über drei-
hundert Jahre besetzt gehalten worden ist. Das Ganze
ist in Form eines Rechtecks gebaut, von einem hohen
Wall umgeben, mit gemauerter Brustwehr und dop-
peltem Graben. Vier Tore führen hinein, jedes von
zwei Türmen flankiert. Alle Grundmauern sind noch
116
vollständig erhalten. Man sieht das Exerzierhaus, die
Offizierswohnungen, Lazarette, Küchen, Vorratshäu-
ser, ein kleines Amphitheater und ein Badehaus, in
dem man noch vollständig die Heizvorrichtungen
sehen kann, die in Röhren unter dem Fußboden hin-
geführt worden sind. Etwa fünf Minuten vor dem
Lager zieht sich noch deutlich erkennbar der uralte
römische Grenzgraben hin, den sie gegen die Ger-
manen von der Sieg über den ganzen Taunus bis zur
Donau hingeführt hatten. Das Lager soll ganz einzig
in seiner Art sein und verdankt seine Erhaltung dem
Umstände, daß es mitten im Walde gelegen war. Erst
in letzter Zeit ist es freigelegt und zum Teil ausgegra-
ben worden, wobei eine Menge interessanter Funde
gemacht worden sind, die in einem Museum im hie-
sigen Kurhause zusammengestellt sind.
Ragaz, 7. August 1884.
Nun sind wir denn glücklich hier. Viel Erzählens-
wertes ist uns nicht begegnet. Den ersten Tag litten
wir sehr unter einer unerträglichen Hitze und kamen
halb gebraten und staubbedeckt in Prag an, wo wir
den ersten Reiseschmerz dadurch erlebten, daß wir
auf dem Staatsbahnhof ankamen und den nächsten
Morgen von dem Westbahnhof wieder abfahren muß-
ten, der am entgegengesetzten Ende der Stadt liegt,
so daß jede Kombination betreffend Hinterlassung
unserer Koffer auf dem Bahnhof ausgeschlossen
blieb! — Im Hotel, wo man offenbar über Onkel Hel-
muths Persönlichkeit seiner Sache nicht ganz sicher
war, bekamen wir zwei schauderhafte Zimmer und gin-
gen sofort aus, um uns die Stadt anzusehen. Wir gin-
gen über die historische Nepomuk-Brücke mit ihren
zahlreichen Heiligenstatuen, schauten von dem Ge-
länder, wo ein eingelassenes Metallkreuz die Stelle
117
bezeichnet, von der der heilige Nepomuk in die Mol-
dau gestürzt wurde, nachdenklich in die rauschenden
Fluten, konnten aber nichts besonderes bemerken.
Vielleicht war das Wasser, welches gerade unter uns
dahinbrauste, dasselbe, das einst dem Heiligen in
Mund und Nase drang, und nun, im ewigen Kreis-
lauf wiederkehrend, nachdem es im Meere verdun-
stet, als Wolke aufgestiegen, von Pflanzen aufgeso-
gen, sich in allen möglichen Tier- und Menschen-
leibern umhergetrieben, als Regen zum tausendsten
Male niedergeschlagen, jetzt gerade wieder hier vor-
beifloß. Wer weiß! — Wir gingen bis an den alt-
ehrwürdigen Hradschin, schwenkten dann links, ver-
loren uns in unzähligen Gassen und Gäßchen und
tauchten endlich an der Kettenbrücke wieder auf, die
weiter stromauf über den Fluß zur alten Stadt zu-
rückführt. — Hier wurden wir in Verlegenheit gesetzt,
als wir pro Person einen Kreuzer Brückengeld be-
zahlen sollten und über keinen Kreuzer österreichisch
Geld verfügten. Ein Fünfzigpfennigstück, das ich an-
bot, wurde zurückgewiesen, und wir hätten den gan-
sen langen Weg zurückspazieren müssen, wenn nicht
der edle Tscheche, der als Einnehmer fungierte, zu
stolz, um seine Hände mit deutschem Gelde zu be-
flecken, ebenso großmütig wie national gewesen wäre
und uns umsonst hätte passieren lassen. Dieser merk-
würdige Beweis, daß es auch unter den Tschechen
großdenkende Menschen gibt, söhnte uns mit der Be-
merkung aus, die wir auf unserem Gange durch die
Stadt gemacht hatten, daß das deutsche Element aus
Prag mehr und mehr verschwindet, daß fast alle In-
schriften tschechisch sind und nur noch hin und wie-
der wie halb mitleidig verstohlen die deutsche Über-
setzung hinter den tschechischen Hieroglyphen steht.
— Eine Nation, die, wie gesagt, so großdenkende Män-
118
ner zu den ihrigen zählt, wie jenen Zöllner, hat ent-
schieden die Berechtigung, die Deutschen, die ihr einst
die Kultur brachten, nun aber soweit gesunken sind,
mit Fünfzigpfennigstücken sich den Übergang über
die Kettenbrücke erkaufen zu wollen, hinauszudrän-
gen und Herr im eigenen Lande zu sein! — Mitten
auf der Brücke, die über eine Insel gebaut ist, ent-
deckten wir unter uns einen Garten mit einem großen
Tanzsaal und einer Gartenmusik. Wir kletterten also
hinab, der Eingangswächter war hier weniger skru-
pulös und wechselte uns einen Taler. Wir saßen dann
mitten unter dem Volk, anscheinend kleine Hand-
werker und Bürger, Dienstmädchen usw. vor einem
tschechischen Musikprogramm, das uns völlig un-
verständlich war, und tranken eine Flasche Pilse-
ner Bier. — Am nächsten Tag fuhren wir nach Re-
gensburg. Wir kehrten wie weiland Kaiser Karl V. im
»Goldenen Kreuz« ein. Die Stadt ist überhaupt höchst
interessant. Das alte Rathaus mit dem unveränderten
Saal, in dem früher der Reichstag des Heiligen Römi-
schen Reiches Deutscher Nation tagte, viele alte Häu-
serfronten, Türme, Giebel etc. Der schönste Schmuck
des Ganzen, der prachtvolle Dom, der im vierzehnten
Jahrhundert begonnen, ist jetzt ganz fertiggestellt.
Im reinsten gotischen Stil gehalten, gibt er an Schön-
heit wohl kaum dem Kölner Dom etwas nach.
Unerkannt und im tiefsten Inkognito verließen wir
am nächsten Morgen die alte Reichstagsstadt, doch
schon auf dem Bahnhof wurde Onkel Helmuth re-
kognosziert und wie wir in München ankamen, war
der Bahnhofinspektor in füll dress zur Stelle, ein be-
sonderes Zimmer bereit und ein Salonwagen ange-
boten. Onkel Helmuth lehnte indessen alles dankend
ab. — Nach einer Stunde fuhren wir weiter nach Lin-
dau, wo wir nachmittags ankamen und unter rück-
119
sichtsloser Beiseitelegung jedes Inkognitos im »Bay-
rischen Hof« Wohnung nahmen. Nächsten Mor-
gen fuhren wir über den See nach Rorschach und
von dort mit der Bahn hierher, wo wir mittags 2 Uhr
ankamen. — Ich hatte sehr recht, Onkel Helmuth zu
raten, hierher und nicht nach Gastein zu gehen. Die
Freude des Herrn Kinberger über Onkel Helmuths
Ankunft war wirklich rührend, er vertraute mir an,
daß ihm ordentlich das Herz geschlagen habe vor
Freude, wie er Onkel Helmuth gesehen habe, und
der Gärtner Joseph, eine berühmte Persönlichkeit,
habe vor Freude förmlich Luftsprünge gemacht. Sehr
amüsant war es, wie Onkel Helmuth abends 7 Uhr
zur Table d'hote erschien. Es ist hier eine ganze Ko-
lonie von Franzosen, die zum Teil vor der Cholera
geflüchtet sind, und mit ungeheucheltem Interesse
wurde Onkel Helmuths Persönlichkeit von ihnen be-
staunt.
Ragaz, 12. August 1884.
Gestern machten wir eine Tour in die Berge nach
einer alten Ruine, dem Wartenstein, in deren Nähe
ein spekulativer Unternehmer eine Restauration auf
einen überhängenden Felsen geklebt hat. Onkel Hel-
muth fuhr mit der Bahn hinauf, und ich ging zu Fuß,
wobei ich eine Viertelstunde vor ihm oben ankam.
Dann ging ich noch eine halbe Meile weiter, um zu
der sogenannten Naturbrücke zu gelangen, d.h. der
Stelle der Tamina-Schlucht, wo sich dieselbe oben
vollständig geschlossen hat, so daß man darüber hin-
weggehen kann. Um von der oben auf dem Berge
hinführenden Chaussee dorthin zu kommen, steigt
man eine fast senkrecht abfallende Felswand auf ei-
ner Art von Treppe hinab, die über vierhundert Stu-
fen, teils in den Fels gehauen, teils aus Tannenstäm-
120
men hat. Es ist die reine Hühnerstiege, die im schärf-
sten Zickzack hinunterführt. Unten angekommen,
steht man auf einigen mächtigen Felsblöcken, die
quer über der hier nur etwa zwei Meter weiten Öffnung
der Tamina-Schlucht liegen. Man blickt wie durch
einen Schornstein in die dunkle Tiefe hinunter, auf
deren Grunde die Tamina ihr gräuliches Wasser ko-
chend hinabwälzt. Eigentümlich klingt das Brausen
von unten hinauf. — Von hier aus wurden in alten
Zeiten, wo man noch keine Fahrstühle, keine Bade-
hotels und Eisenbahnen kannte, die Kranken an ei-
nem Strick zu der heilbringenden Quelle hinabgelas-
sen, die aus der Seitenwand der Schlucht dampfend
hervorquillt. Über derselben schwebte, auf Balken,
die in die Felswände eingehauen waren, das alte
Badehaus, in dem die Kranken sich während der drei
Wochen ihrer Kur aufhalten mußten, ohne jemals
die Sonne zu sehen, um dann nach beendetem Ge-
brauch des Bades, wie ein Kolli wieder ans Tages-
licht gehißt zu werden. Nachdem ich mich genugsam
in eine grausliche Stimmung hineingedacht hatte,
stieg ich die vierhundert Stufen wieder hinauf und
ging zu unserer Restauration zurück, wo ich wie ein
Pudel ankam, der für seinen Herrn aus dem Wasser
apportiert hat, denn wir hatten 28 Grad Wärme. —
Dann aßen wir zu Mittag und spazierten hernach hier-
her zurück, wo ich voller Bewunderung für Onkel
Helmuth ankam, der mit vierundachtzig Jahren noch
solche Fußpartien zu machen imstande ist.
Ragaz, 18. August 1884.
Heute steht im »Figaro« ein langer Artikel über On-
kel Helmuth, den wir mit vielem Vergnügen gelesen
haben und der die unglaublichsten Dinge enthält. Un-
ter anderem teilt der Verfasser die besonders für On-
121
kel Helmuth höchst interessante Neuigkeit mit, daß
Onkel Helmuth zur Zeit todkrank auf seinem Gut
Creisau läge, wo er nur von seinem Neffen Burt, der
wie er einem der zahlreichen kleinen mecklenburgi-
schen Adelsgeschlechter enstamme, Besuch emp-
finge, man erwarte mit Besorgnis sein Abscheiden.
Der Artikel wirkt um so drastischer, da er aus Inter-
laken geschrieben ist, also demselben Lande, dem
Onkel Helmuth durch seine Anwesenheit einen greif-
baren Beweis seines Wohlseins gibt. Der Verfasser
erhebt die Glaubwürdigkeit seiner Mitteilungen da-
durch über allen Zweifel, daß er sie einer Unterhal-
tung mit einem Obersten des Preußischen General-
stabes entnimmt, den er die oben angeführte Mittei-
lung mit den Worten beschließen läßt: Der Wille
Gottes geschehe! — Auch das Neue verdankt er die-
sem pfiffigen Oberst, daß Onkel Helmuth auf einem
Bein lahm sei und dasselbe nur mühsam nachziehe,
und daß er bei Paraden mit Vorliebe einen Küraß
trage, der auf ihm schlottre wie auf einem Skelett,
während Bismarck immer vor ihm reitet und ihn da-
durch, daß er sein Pferd vor ihm stallmeistert, von
dem Kaiser abzudrängen versuche, an den Onkel Hel-
muth sich heranmachen möchte etc. Den hier an-
wesenden Badegästen scheint diese Farce auch viel
Spaß zu machen, wenigstens geht der »Figaro« unab-
lässig von Hand zu Hand.
Gestern machte ich eine sehr schöne, wenn auch
ziemlich anstrengende Tour. — Um 9 Uhr fuhr ich
nach Chur, von wo ich zu Fuß in dem reizenden Tal
der Rabiusa hinaufging bis Passug, von dort weiter
bis Churwalden, wo ich zu Mittag aß, und dann, da
die Post erst in eineinhalb Stunden ging, mit der ich
nach Chur zurückzufahren gedachte, machte ich
mich, des langen Wartens müde, auf und ging zu
122
Fuß nach Chur zurück, wo ich mit der Post gleich-
zeitig eintraf. So hatte ich gut meine vier Meilen auf
zum Teil recht steilen Wegen marschiert und war,
wie ich um 725 Uhr auf dem Bahnhof in Chur ankam,
herzlich müde. Um 7 Uhr war ich in Ragaz zurück
und fand Onkel Helmuth ausgeflogen. Kein Mensch
wußte, wo er geblieben war. Die Teezeit kam, aber
kein Onkel Helmuth. Es wurde später und dunkler,
um 9 Uhr war er noch nicht zurück. Du kannst Dir
denken, welche Angst ich hatte. Schon war ich im
Begriff, das gesamte Hotelpersonal aufzubieten und
Nachforschungen anzustellen, als er auf einmal ganz
vergnügt anmarschiert kam. Wo war er gewesen? In
Chur! — Wahrscheinlich in dem Gedanken, mit mir
dort zusammenzutreffen. — Da er indessen mich nicht
bei Abgang meines Zuges auf dem Bahnhof aufge-
sucht hatte, sondern außerhalb der Stadt spazieren
gegangen war, hatten wir uns »unbegreiflicherweise«
verfehlt! Nun kam er mit dem Abendzug wieder zu-
rück und begriff gar nicht, daß ich es mir nicht hätte
denken können, daß er in Chur gewesen sei!
Ragaz, 20. August 1884.
Der heutige »Figaro« bringt noch einen ergänzen-
den Nachtrag zu seinem neulichen Artikel, von dem
ich Dir schrieb, indem er sich aus Berlin telegraphieren
läßt: Feldmarschall Moltke ist von einer Paralyse des
Gehirns befallen, er kann nicht mehr gehen und nur
noch mit Mühe Nahrung zu sich nehmen, er stirbt
an Altersschwäche und hat nur noch wenige Wo-
chen vor sich, — ich habe wörtlich übersetzt! Ein
ausgezeichnet unterrichtetes Blatt!
Seit Onkel Helmuth mir neulich den Schrecken ein-
gejagt, wo er nach Chur gefahren war, entferne ich
mich nicht wieder auf einen ganzen Tag. Er fängt
123
schon an, die Rückreise aus dem Kursbuch heraus-
zustudieren und hat offenbar von seinem hiesigen
Aufenthalt mehr als genug. Ich kann auch nicht leug-
nen, das mein Bedarf an Bergluft vollständig gedeckt
ist. Ich sehne mich ordentlich danach, einmal wieder
ein Pferd zu besteigen.
Ragaz, 25. August 1884.
Onkel Helmuth hat mir wieder ein paar reizende
Geschichten gemacht, die ich in aller Kürze mitteile,
denn zu längerem Schreiben fehlt mir Zeit und
Ruhe. Erstens: Vor einigen Tagen saßen wir mor-
gens im Garten, als er mir sagte, er hätte Lust, nach
der Ruine Wartenstein hinaufzugehen. Da es etwas
anstrengend zu steigen, könnten wir langsam den die
hinaufführende Chaussee kreuzenden Fußweg gehen
und unterwegs die Post abfassen, die um 10 Uhr hin-
auffährt. Dann gab er mir Geld, mit dem Auftrag, es
zu wechseln. Ich gehe also aufs Bureau, er bleibt auf
der Bank sitzen. Wie ich nach zehn Minuten zu-
rückkomme, ist er nicht mehr da. Dies wunderte
mich nun eigentlich nicht, denn ich hatte, wie ich
ihn kenne, nicht erwartet, ihn noch auf demselben
Platz vorzufinden. Ich mache mich also resigniert
auf die Suche, durchstreife den Garten, das Lese-
zimmer, suche ihn auf seinem Zimmer, nirgends eine
Spur von ihm. Ich denke also, er ist vielleicht schon
voraufgegangen, gehe also im Geschwindschritt den
steilen Fußsteig hinauf, finde ihn nicht, denke, so
weit kann er unmöglich sein, kehre um, suche noch-
mals die ganze Umgebung ab, frage Portier und Kell-
ner, kein Mensch hat ihn gesehen. Inzwischen ist es
fast zehn Uhr geworden, ich denke mir, wenn er die
Post noch hat abfassen wollen, muß er schon weit
oben sein, renne also wie ein Hirsch, die Krümmun-
124
gen der Fußsteige abschneidend, direkt bergan, hoch
über mir fährt die Post bereits dahin, in fünfzehn
Minuten war ich oben am Wartenstein, noch nie in
meinem Leben habe ich so geschwitzt, das Wasser lief
mir am ganzen Leibe hinunter,aberichkamnoch etwas
vor der Post oben an. Onkel Helmuth ist nicht darin!
— Jetzt mußte ich alle Hoffnung aufgeben, kehre um
und zog mich, zu Hause angekommen, von Kopf bis
zu Füßen um. — Um i Uhr kommt Onkel Helmuth
ganz vergnügt an. Wo ist er gewesen? Quer durch den
Garten durch nach Magenfeld, das gerade in der ent-
gegengesetzten Richtung des Wartensteins liegt. Hier
hatte er sich ein altes Schloß angesehen und dann,
wie er mir mit vielem Vergnügen erzählte, dem Be-
sitzer, der ihm alles gezeigt und den er für den Gärt-
ner gehalten, Trinkgeld geben wollen, und habe sei-
nen Irrtum erst erkannt, als dieser entrüstet die Spende
zurückgewiesen habe! —
Zweitens: Gestern, wie ich um 8 Uhr noch mit mei-
ner Toilette beschäftigt bin, klopft Onkel Helmuth,
wie er es immer macht, wenn er Kaffee trinken gehen
will, im Vorbeigehen mit dem Stock an meiner Tür.
Ich komme in etwa fünf Minuten nach und finde ihn
bereits mit Kaff eetrinken fertig. Ich sage: Guten Mor-
gen, er sagt: Guten Morgen, sitzt noch einen Augen-
blick, während ich Kaffee trinke, und geht dann in
den Garten. Ich trinke ruhig fertig und gehe nach.
Kein Onkel Helmuth zu finden. Ich gehe den ganzen
Garten durch, keine Spur. — Zufällig komme ich auf
den Flur des Hotels zurück, da sagt mir der Portier:
»Exzellenz läßt Ihnen sagen, er wäre auf den Bahn-
hof gegangen, um, wenn es noch Zeit wäre, mit dem
Zug nach Glarus zu fahren.« Ich also hinterher und
hole ihn ein. Er ist wütend und sagt mir: »Natürlich
kommen wir zu spät, Du hättest auch früher auf-
125
stehen können.« Ich sage: »Ja, wenn ich nur ein Wort
davon gewußt hätte, daß wir nach Glarus fahren soll-
ten!« Nach einigen Schritten sagt er: »Du hättest auch
wohl den Baedeker mitnehmen können und dich er-
kundigen, ob wir wieder Anschluß zurück haben.« —
Ich erkläre, beides noch nachholen zu wollen, kehre
um, laufe ins Hotel, hole den Baedeker und renne wie-
der hinter ihm her. Ich begreife nicht, daß ich ihn
nicht sehe, bis ich ihn schließlich ganz klein in der
Ferne auf einem falschen Wege entdecke. Nun ging
ich aber ruhig an den Bahnhof und wartete ihn ab.
Er kam denn auch fünf Minuten vor Abgang des Zu-
ges, halbtot vor Asthma und noch immer ärgerlich auf
mich, daß ich diese Reise, von der ich kein Sterbens-
wort wußte, so mangelhaft vorbereitet habe. Den in
mir auftauchenden Gedanken: ,Warum hast du, als
du an meine Tür klopftest, mir nicht ein Wort ge-
sagt?', sprach ich nicht aus! Übrigens ist er immer
reizend liebenswürdig, und als wir nun glücklich mit
Retourbillett I. Klasse im Zuge saßen, mit der Gewiß-
heit, Anschluß zur Rückkehr zu haben, war seine gute
Laune sehr bald wieder da.
Benrath, 17. September 1884.
Wir haben gestern unseren ersten Manövertag mit-
gemacht, der sehr hübsch verlief. Am Montag abend
kamen wir hier an, haben ein sehr gutes Quartier bei
dem Bürgermeister Josten gefunden. — Wir fuhren
den nächsten Morgen um 7 Uhr per Bahn etwa eine
Stunde über Düsseldorf nach Bedburg, wo die Pferde
bereitstanden. Ich habe einen Ulanengaul bekommen,
der ausgezeichnet geht, wenngleich etwas klein für
mich ist. Onkel Helmuth ritt auf der ausgezeichnet
gehenden Stute sehr schneidig, so daß er allgemeine
Bewunderung erregte. Die Truppen waren ausgezeich-
126
net und machten trotz der großen Hitze und ziem-
lich anstrengenden Anmärsche einen sehr frischen
Eindruck. Der Kronprinz war unermüdlich, ritt das
ganze Manöverfeld ab und an alle einzelnen Batail-
lone heran. Sehr hübsch war eine Attacke der Kaval-
leriedivision, welche die Arrieregarde des VII. Korps
außer Gefecht brachte. Der Anmarsch war sehr ge-
schickt unter Benutzung des Terrains angelegt, das
Auftreten völlig überraschend und der Aufmarsch
schnell und geordnet. Die Infanterie wurde direkt im
Rücken gefaßt und überritten, ehe sie Zeit hatte, sich
zu rangieren. Um 12 Uhr wurde das Manöver nach
einem allgemeinen Angriff des VIII. Korps gegen das
VII., der siegreich ausfiel, beendet. Dann hielt der
Kronprinz eine sehr sachgemäße kurze Kritik ab. Er
sprach sehr hübsch und treffend, lobte und tadelte
ziemlich scharf, etwas ganz Ungewohntes, da der
Kaiser sich immer nur lobend ausspricht.
San Remo, 30. März 1885.
Heute sind wir nun gerade vierzehn Tage hier und
unser Abmarsch ist nahe bevorstehend. Kein Weg
und Steg um San Remo, den wir nicht gewandelt
wären, kein Aussichtspunkt, den wir nicht aufge-
sucht. — Nun geht es zunächst nach Bordighera, wie
dann weiter, weiß ich noch nicht.
Die französischen Zeitungen sind wieder ganz kin-
disch in Mitteilungen über Onkel Helmuth. — Bald
heißt es, er wäre in Nizza, wo er jedoch polizeilicher-
seits scharf überwacht werde. Onkel Helmuth meinte:
»Das mag ein netter Kerl sein, den sie da überwachen,
hoffentlich stiehlt er keine silbernen Löffel!« — Bald
werden Betrachtungen darüber angestellt, warum On-
kel Helmuth in einem Privathause wohne. Doch der
Korrespondent kann sich dies erklären, denn er hat
127
in Erfahrung gebracht, daß in diesem Hause nur eine
Magd ist, die nur patois spricht, also nichts von den
strategischen Arbeiten verraten kann, die in Onkel
Helmuths Zimmer angefertigt werden, wenn sie dort
aufräumt! Dann wird mitgeteilt, daß der deutsche Kon-
sul eifrigst Karten und statistisches Material für den
Feldmarschall herbeischleppe — (in Wirklichkeit hat
er ihm einige Hefte »Fliegende Blätter« zur Unter-
haltung geschickt) — und das Bedenklichste ist, daß
eine Menge deutscher Offiziere hier sind, die mit einer
solchen gegen alle deutschen Gewohnheiten versto-
ßenden Großartigkeit der Mittel auftreten, daß sie of-
fenbar vom Staat ausgerüstete Generalstabsoffiziere
sind. Also die Sache ist klar, Moltke ist hier mit einem
Teil seines Generalstabes, und der Zweck ihrer An-
wesenheit ist dem schlauen Berichterstatter auch
nicht verborgen geblieben: es ist auf Corsica abge-
sehen, das zur deutschen Kolonie gemacht werden
soll. — Es ist wirklich amüsant, diese hirnverbrann-
ten Kombinationen zu lesen, man glaubt, Privatkorre-
spondenzen aus dem Irrenhaus vor sich zu haben!
Nervi, 17. April 1885.
Wer hätte geglaubt, daß sich nach all dem Säbel-
gerassel England und Rußland nun doch noch fried-
lich einigen würden. Sie machen mir gerade den Ein-
druck wie zwei Hunde, die sich mit grimmigem
Zähnefletschen gegenseitig anknurren und dann mit
gesträubten Rückenborsten auseinandergehen, weil
keiner sich traut, den ersten Biß zu tun.
Rapallo, 24. April 1885.
Wir befinden uns noch immer sehr wohl in dem
schönen Rapallo, in dessen Umgebung wir täglich
neue Schönheiten entdecken. Die Gegend hier ist des-
128
wegen soviel lieblicher, weil alle Täler mit Maulbeer-
bäumen, Pappeln, Rüstern und Eichen bewachsen
sind, lauter Bäumen, die das Laub abwerfen und sich
nun mit dem saftigen jungen Grün der frischen Blät-
ter bekleidet haben, das ja auch dem nordischen
Walde jenen eigenen goldigen Frühlingszauber ver-
leiht, den man hier unter den immergrünen südlichen
Bäumen und Pflanzen so schmerzlich vermißt. Schön
sind auch die Feigenbäume, die bei unserer Ankunft
an der Riviera noch ganz kahl waren, jetzt aber ihre
mächtigen, großen Blätter fast sichtlich von Tag zu
Tag mehr auseinanderfalten, indem sie die unschönen
polypenartigen Formen ihrer Äste ganz darunter ver-
bergen. Wundervolle mächtige Pinien heben ihre ku-
gelartigen Kronen von dem lichtblauen Himmel ab;
ein Ausrufszeichen, von dem Schöpfer hingesetzt,
wie er das herrliche Werk dieser Natur niederschrieb,
ragen dunkle Zypressen aus dem bunten Farbenspiel
hervor, und wie in einem mächtigen kristallgeschlif-
fenen Spiegel beschaut der Himmel seine strahlende
Herrlichkeit in der klaren Tiefe des stahlblauen
Meeres. Von den felsigen Landzungen blicken ernst-
hafte, grau zerfallene Kastelle in die Tiefe, an eine
Zeit mahnend, in der das Meer die Straße bildete, auf
der Raub und Verderben an diese Küsten herantrat,
wo die Schiffe der Sarazenen Tod und Gefangen-
schaft brachten, wenn nicht das wachsame Auge des
Türmers sie rechtzeitig erblickte, oder wo später die
immerwährenden Kriege der Bürger untereinander
dem Frieden, den Gottes Hand über dies sonnige
Land gebreitet, Hohn sprachen. Indes, die dunkel
gähnenden Geschützscharten der mächtigen Mauern
sind schon seit lange nicht mehr erzittert von dem
Knall der Kanonen, hier und da hat sich auf der Platt-
form ein Engländer angesiedelt, der sich dort oben
Moltke. 9. 129
seine Cottage baute und nun, umgeben von allem
Komfort seines aus der nebeligen Heimat mitgebrach-
ten Lebens, vergnüglich über Land und Meer schaut.
— An den geborstenen Quadersteinen klettert der Efeu
empor, und von den Ecktürmen, von denen einst der
Arkebusier Tod und Verderben dem Angreifer her-
untersandte, nicken jetzt unzählige Rosen grüßend
herab. Die Natur überkleidet alles mit ihrem ewig
jungen treibenden Leben, und über dem zerbröckeln-
den Gebilde von Menschenhand schwenkt sie trium-
phierend die grüne Fahne ihres blühenden, duften-
den Daseins. — Mit leisem Gemurmel plaudern die
Wellen zwischen den Felsen, als wollten sie Mär-
chen erzählen, anmutig wiegen sie die Fischerboote
auf ihrem Rücken, deren eigentümliche lateinische
Segelformen, von sanftem Wind gebläht, als leuch-
tende Punkte auf dem Wasser schimmern und das
Auge weit hinauslocken in die unbegrenzt scheinende
Ferne. Ganz hinten, vom weichsten Duft vermählt,
schmilzt die scheinbar ansteigende Fläche mit der
Kuppel des Himmels zusammen, man glaubt zu sehen,
wie sich der Himmel auf die Erde senkt, und jene un-
bestimmbare Sehnsucht, die in jedes Menschen Brust
liegt, wenn sein Gefühl hinauf und vorwärts dringt,
berührt mit wundersamem Klingen das Herz. — Wie
das alles blüht und duftet! Aus dem üppigen Grase
der Wiesenflächen ringen sich Tausende von offe-
nen Kelchen empor, gleichsam die eine über die an-
dere wegkletternd, duften blaue, rote und gelbe Blu-
men der Sonne entgegen, es ist ein förmliches Kämp-
fen der überschwenglichsten Üppigkeit ; von den Weg-
rändern nicken gedrängte Glockenblumen, und wo
ein gefälliger Wind eine Handvoll Erde zwischen
Steinen zusammengetragen, da hat sich auch ein
Blümlein eingenistet, das, dankbar des gefundenen
130
Heims, mit Duft und Farbe seine graue Umgebung
schmückt. — "Wie weitet sich die Brust beim Einat-
men dieser Ströme von Licht und Wohlgeruch, be-
haglich strömt der reine Atem der Natur durch alle
Adern und weckt in allen Fibern das Gefühl unend-
lichen Wohlbehagens. — Und wenn nun die Sonne
sinkt, gleichsam zögernd, als täte es ihr Leid, Ab-
schied zu nehmen von ihren verwöhnten Kindern,
dann leuchtet noch einmal alles auf in den herrlich-
sten blauen Tinten. Die Abhänge der Berge heben
sich scharf und klar aus der Dämmerung der Täler
hervor, wie ausgemeißelt stehen ihre ragenden Spit-
zen, kein Blatt rührt sich an Bäumen und Büschen,
und durch die stille Luft klingt wie ein Dankgebet
zum Herrn empor das Ave-Läuten der zahlreichen
Glocken!
R ap all o, 26. April 1885.
Nun scheint es ja wirklich mit dem englisch-russi-
schen Kriege ernst zu werden. Gott mag wissen, wie-
weit diese Flamme um sich greifen wird und ob es
der Staatskunst Bismarcks gelingen wird, das Deutsche
Reich hindurchzusteuern, ohne daß es mit anfängt
zu glimmen. — Hier in Italien ist die öffentliche Mei-
nung bereits sehr erregt, besonders da es wirklich
scheint, als wollte der Staat die zweifelhafte Erb-
schaft Englands im Sudan antreten und Suakiu mili-
tärisch besetzen, wenn die englische Garnison von
dort zurückgezogen werden sollte, um in Indien dem
nordischen Feinde gegenüberzutreten. Wenn sich
Italien so mehr oder weniger engagiert, wird sich
auch die arme, zwischen Hammer und Amboß sit-
zende Türkei nicht neutral halten können. — Dies
kann ein Krieg werden, der die ganzen bisherigen
Staatenverhältnisse umgestaltet und bei dem es sich
131
für England um Tod und Leben handelt, denn In-
dien ist der Lebensnerv Englands, ohne den es eben-
sowenig leben kann, wie ein Mensch ohne Magen.
Indessen noch ist ja der Krieg nicht erklärt, und ich
glaube, Mr. Gladstone würde gerne seinen kleinen
Finger hergeben, wenn er auf eine anständige Weise
aus dieser Patsche wieder herauskommen könnte,
ohne zum Schlagen genötigt zu sein. — Ob Bismarck
sich wohl auf das undankbare Amt eines Vermittlers
einlassen wird. Er wohl kaum, aber der Kaiser wird
es vielleicht wollen.
Straßburg, h. September 1886.
Nun bin ich da in der alten, vielumstrittenen Stadt.
Es ist doch ein eigenes Gefühl, das einen überkommt,
wenn man in diese nach jahrhundertlanger Entfrem-
dung dem Deutschen Reiche zurückgewonnenen Orte
kommt. Wieviel Blut ist geflossen vor den Wällen
der bisher unbezwinglichen Festung, von der es
schon in dem alten deutschen Liede heißt: »O Straß-
burg, o Straßburg, du wunderschöne Stadt, darinnen
liegt begraben so mancher Soldat«. Und in der Tat,
wunderschön ist die Stadt, wie ein mahnend ausge-
streckter Finger winkt der schlanke Turm des herr-
lichen Münsters in die rechtsrheinischen Lande, als
ob er sagen wollte: Du deutsches Volk, das mich ge-
gründet und gebaut, willst du mich nicht wieder heim-
führen zu dir? — und als ein Repräsentant der befolg-
ten Mahnung ziehen in diesem Augenblick mit klin-
gendem Spiel die verschiedenen deutschen Trup-
pen unter meinem Fenster hinaus zur Parade vor
dem Kaiser, Preußen, Bayern, Württemberger, Sach-
sen, ein bunter Anblick in ihren blitzenden Parade-
uniformen. — Ich wohne am Ufer des 111, der sich
mit der Aar hundert Schritt weiter mitten in der
132
Stadt vereinigt, zahlreiche Brücken schwingen sich
hinüber und im Hintergrunde hebt sich der noch im
Bau begriffene neue Kaiserpalast mit seiner schönen
Fassade vom blauen Himmel ab. Links liegt alle Häu-
ser überragend das Münster, wie aus Steinfiligran ge-
woben mit seinen Tausenden von Spitzen und Säu-
len, durch die hohen Fenster des leicht sich hinauf-
schwingenden Turmes blaut der lichte Himmel, die
Steinrose der Spitze zittert im Sonnenlicht. Die Ge-
sichter der Einwohner sind unverfälscht deutsch und,
wo man geht, hört man nur das breite Elsäßer Deutsch,
aber über den Läden stehen die französischen In-
schriften, an denen niemand etwas geändert hat. —
Gestern war ich mit Onkel Helmuth zum Diner beim
Kaiser. Eine Menge Fürstlichkeiten sind hier versam-
melt. Abends war das Münster erleuchtet, ein wahr-
haft feenhafter Anblick, der ganze Turm bis zur
höchsten Spitze mit Lampen besetzt. Da man in der
Dunkelheit den unteren nicht erleuchteten Bau nicht
sah, schien es, als ob ein Zauberschloß von Geistern
getragen in den Lüften schwebe, es war unbeschreib-
lich schön. — Die Stadt hatte auch ziemlich durch-
gehend illuminiert und ist auch sonst reich und schön
dekoriert, die Stimmung der Bevölkerung eine recht
animierte. Vielfach sieht man Leute mit der Korn-
blume im Knopfloch und Onkel Helmuth wurde, wo
er sich blicken ließ, mit stürmischen Hochrufen be-
grüßt. Die Begrüßung des Kaisers war geradezu en-
thusiastisch. Abends großer Zapfenstreich, bei dem
Tausende von Menschen vor dem Palais standen und
dem am Fenster stehenden Kaiser zujubelten. Immer
und immer wieder schallten die Hochrufe durch die
stille Nacht, ein Ausbrechen des uralten Deutsch-
tums, das zwei Jahrhunderte der Fremdherrschaft
nicht vermocht haben auszurotten. — In einer Stunde
133
sollen wir nun hinaus zur Parade. Der Himmel ist
leicht bewölkt, die Hitze hat etwas nachgelassen, ganz
windstill, ein schönes Kaiserwetter.
Straßburg, 12. September 1886.
Heute haben wir einen bewegten Tag hinter uns.
Es ist nämlich Sonntag, Ruhetag, den wir benutzten,
um uns in und vor der Stadt umzusehen. Wir fuhren
erst durch allerlei Straßen nach der Orangerie, einem
großen öffentlichen Garten, nach der Zitadelle, ei-
nem noch von Vauban, dem Festungsbaumeister Lud-
wigs des XIV., gebauten Werk, mit dem dieser die
Stadt befestigte, nachdem er mitten im Frieden die-
selbe besetzt hatte. — Die Ohnmacht des damaligen
Deutschen Reiches war so groß, daß kein ernsthaf-
ter Versuch gemacht wurde, dieselbe zurück zu ge-
winnen, und die beiden alten Provinzen Elsaß und
Lothringen waren seit der Zeit für Deutschland ver-
loren. — Die Zitadelle, nach dem damaligen Stand
der Belagerungsmittel, ein ungemein festes Werk, ist
noch heute imposant durch seine massiven Kon-
struktionen, wenn auch, da größtenteils ungedecktes
Mauerwerk, gegen den heutigen Angriff nicht mehr
auf die Dauer haltbar. Sie liegt aber auch jetzt inner-
halb der Umwallung und ist einem solchen nicht
mehr ausgesetzt. — Dann fuhren wir ein ganzes Stück
der neuen Befestigungen ab, bestiegen auch den Wall
und besichtigten dann in der evangelischen Kirche
das berühmte Denkmal des Herzogs Moritz von
Sachsen. — Von da in den Dom, wo wir von einem
sehr höflichen Priester umhergeführt wurden, der
nach hunderten zählenden Volksmenge wegen, die
Onkel Helmuth umdrängte, aber wenig sehen konn-
ten. Überhaupt, wo Onkel Helmuth sich blicken läßt,
134
wird er mit stürmischen Hochrufen begrüßt und alles
rennt hinter ihm her.
Straßburg, 14. September 1886.
Gestern war Korpsmanöver, das sehr hübsch ver-
lief. Der Kaiser war im Wagen draußen. Onkel Hel-
muth ritt sehr flott und wir sahen alles sehr gut,
zwei große Kavallerieattacken von zwölf Kavallerie-
regimentern gegeneinander. Es sind hundertfünfzig
französische Offiziere auf der hiesigen Kommandantur
angemeldet, ebensoviel mögen wohl noch unangemel-
det hier sein. Jedenfalls müssen diese Herren den Ein-
druck empfangen, daß die Gesinnungen des hiesigen
Volkes gut deutsch sind. Überall sind die Ortschaften
reich geschmückt, große Ehrenpforten errichtet und
der Kaiser wird überall mit großem Enthusiasmus
begrüßt. Ebenso Onkel Helmuth, den alle kennen.
Wo man durch ein Dorf kommt, stehen die Leute
mit Wasser, Wein und Bier vor den Türen, das sie
den vorbeimarschierenden Truppen zureichen, die
Offiziere der Front sagen, daß sie sich vor der Lie-
benswürdigkeit der Bauern, bei denen sie einquar-
tiert sind, kaum zu retten wissen. Es ist ein schöner
Volksschlag hier, viele Bauern sieht man in weißen
Hosen, hohen Stiefeln, kurzen Jacken und ihrem
breitkrämpigen Filzhut zu Pferde auf dem Manöver-
feld.
Straßburg, 16. September 1886.
Die Reise des Kaisers nach Metz ist noch immer
ganz unbestimmt. Die Ärzte möchten ihn gerne da-
von abbringen, da die Sache für den alten Herrn sehr
anstrengend werden dürfte.
Heute morgen haben Onkel Helmuth und ich eine
Fahrt nach dem sieben Kilometer vor der Stadt lie-
135
genden Fort Moltke gemacht und dasselbe eingehend
von innen und außen besichtigt. Es hat mich sehr
interessiert, einmal ein nach den neueren Prinzipien
konstruiertes Fort zu sehen.
* Generalstab Berlin, 24. April 1887.
Onkel Helmuth hat sich noch immer nicht darüber
geäußert, was er eigentlich vorhat. Ob und wann er
abreisen will und ob er dabei auf meine Begleitung
rechnet, ist völlig dunkel! — Ich bliebe natürlich am
liebsten hier, bis Du zurückkommst, aber der Him-
mel mag wissen, wo ich hinverschlage, nachdem ich
am 1. Mai mein Kommando niedergelegt habe. Wir
haben nun nur noch drei Exerziertage. Am Montag
und Dienstag werden wir auf dem Tempelhof er Felde
im Bataillon exerzieren, am Mittwoch ist die Batail-
lonsvorstellung. Es wird mir ganz wunderbar vor-
kommen, wenn ich wieder ohne Zusammenhang mit
der Truppe dastehe, die mir während der Monate
meiner Dienstleistung doch sehr ans Herz gewach-
sen ist.
Generalstab Berlin, 30.April 1887.
Bei der gestrigen Vorstellung des Füsilier-Batail-
lons war auch Prinz Wilhelm zugegen. — Ich hatte
bei dieser Vorstellung Gelegenheit, mich gleich bei
allen Vorgesetzten abzumelden. Heute nachmittag
übergebe ich nun die Kompagnie an ihren alten Chef
G., dessen Hoffnung, Major zu werden, sich nun doch
nicht erfüllt hat.
Generalstab Berlin, i.Mai 1887.
Gestern war Liebesmahl und zugleich mein Ab-
schied vom Regiment. Der Oberst sagte mir viel
* Kommandiert zur Dienstleistung- beim 2. Garde-Rgt. z. Fuß.
136
schöne Sachen, und alle schienen mich ungern zu
verlieren. Am meisten die Unteroffiziere der Kom-
pagnie, die mir mit Tränen in den Augen Adieu sag-
ten. Nach Tisch ging ich noch einmal durch alle Stu-
ben der Kompagnie, wo die Leute zum Teil schon
zu Bett waren, und sagte ihnen Adieu.
Generalstab Berlin, 3. Mai 1887.
Gestern war ich um V25 Uhr bei G. zu Tisch ge-
laden. Ich fand Herrn und Frau v. W. — außerdem
Herrn und Frau v. B. vor. — Nach Tisch gingen wir
alle zusammen in die Concordia, um die hypnoti-
schen Produktionen des dänischen Magnetiseurs
Hansen zu sehen. Diese Vorstellungen sind wirklich
interessant, unerklärlich und zum Teil unheimlich.
Es meldeten sich aus dem Publikum etwa dreißig
Herren und zwei Damen, die alle auf Stühle gesetzt
wurden und jeder ein kleines Glasprisma in die Hand
bekamen, mit der Weisung, dasselbe scharf anzu-
sehen. Inzwischen ging Hansen von einem zum an-
deren und machte magnetische Striche. Nach fünf
Minuten war die Hälfte eingeschlafen, die andere
Hälfte wurde als unbrauchbar entlassen. Die Ent-
schlafenen hatte Hansen nun völlig in seiner Gewalt.
Er zwang sie durch den bloßen Blick aufzustehen
und, wie der Magnet vom Eisen angezogen, hinter
ihm herzulaufen. Er ließ sie sich wie ein Kreisel
drehen, legte einen mit dem Kopf und den Füßen
auf zwei Stühle und stellte sich auf seinen Bauch,
knickte ihn dann zusammen wie ein Taschenmesser
und setzte ihn wie ein Scheit Holz auf die Erde. —
Es war hier entschieden kein Humbug mit im Spiel,
sondern eine bis jetzt noch unerklärliche Kraft, die
man nicht deuten, aber auch nicht ableugnen kann.
137
Generalstab Berlin, 10. Mai 1887.
Gestern war ich mit Onkel Helmuth einer Ein-
ladung des Vorstandes vom Wagner- Verein gefolgt.
Ich habe mich nie mit dem Unternehmen befreun-
den können, Wagner von der Bühne loszulösen und
in den Konzertsaal zu verpflanzen. Man kann gerade
so gut eine Eiche aus dem Boden, in dem sie wur-
zelt, herausheben und ins Zimmer stellen. Sie wird
vertrocknen, die Blätter verlieren und von dem herr-
lichen, winddurchbrausten Baum wird bald nur das
Skelett der Äste übrigbleiben, interessant für den, der
Baumstudien machen will, aber etwas Totes und Star-
res für den, der gekommen ist, sich zu freuen an der
Schönheit der urgewaltigen Natur. — Ich finde es
von den Wagner-Verehrern unbegreiflich, daß sie mit
den Werken ihres vergötterten Meisters diese gewag-
ten Experimente machen, und es scheint mir, daß
keiner die Absicht Wagners in dessen Sinne verstan-
den hat, der selber wiederholt betont hat, daß die
Musik seiner Werke nur das Gewand ist, welches die
lebendige Gestalt des Dramas umhüllt; er nennt ja
auch selber seine Werke nicht Opern, sondern musi-
kalische Dramas. Kaum glaube ich, daß er einverstan-
den sein würde, wenn man diesen seinen gewaltig
einherschreitenden Gestalten den Rock auszieht und
diesen wie in einem Trödlerladen aushängt.
Stettin, 13. September 1887.
Eben kommen wir von der Parade zurück, die bei
herrlichstem Wetter sehr schön verlief. Onkel Hel-
muth führte sein Regiment sehr nett vorbei, kam gut
und richtig in Galopp und sah gut aus. Der Kaiser
sehr frisch und seelenvergnügt über die vielen Sol-
daten.
138
Stettin, 14. September 1887.
Das Korpsmanöver ist heute vollständig verregnet.
Seit 7 Uhr goß es, um 9 Uhr regnete es, um 10 Uhr
war Nebel und um 11 Uhr schien die Sonne I Der
Kaiser fuhr nicht hinaus, schickte Graf Lehndorff
und ließ Onkel Helmuth bitten, auch nicht hinaus-
zufahren, da er sich leicht erkälten könne. Onkel Hel-
muth, der nun einmal in Zug ist, war dies gar nicht
recht, er wäre um 10 Uhr gerne hinausgefahren. So
mußten wir aber zu Hause bleiben, machten eine
Spazierfahrt durch die Stadt und dann nach der
großen Schiffsbauanstalt Vulkan hinaus, die wir un-
ter Leitung des Direktors sehr eingehend besichtig-
ten. Sehr interessant, zwischen vier- und fünftausend
Arbeiter. Eine Panzerkorvette, der Vollendung nahe,
besichtigten wir innen und außen.
Creisau, 29. Mai 1888.
Ich habe mir eine Art Maleratelier aufgeschlagen
und angefangen, eins von den Landschaftsstücken
zu kopieren. Mein Cello kultiviere ich auch dabei,
lebe also ganz in den Künsten.
Generalstab Berlin, 16. Juni 1888.
Um 10 Uhr fahren Onkel Helmuth und ich nach
Potsdam, wo Onkel Helmuth sich bei dem jungen
Kaiser melden will. — Nun sind wir wieder zurück
aus Potsdam, und ich habe auch diesen toten Kai-
ser gesehen wie den vorigen. — Wie verschieden
aber war der Eindruck. Damals Friede und Ruhe, der
Abschluß eines Lebens, das sich ausgelebt hat und
still verrinnt, hier die Spuren eines schrecklichen
Leidens, das mitten aus seiner vollsten Kraft hinaus
einen Mann dahingerafft, der von der Natur bestimmt
139
schien, noch lange zu wirken. — Niemals würde ich
diese eingefallenen Züge als die des Mannes wieder-
erkannt haben, den ich zuletzt in blühender Kraft und
Gesundheit gesehen hatte. Die Nase ganz scharf und
hervortretend, die Augenhöhlen tief eingesunken, die
Backenknochen vorspringend. Um den Mund deut-
lich, trotz des Bartes erkennbar, zwischen den zu-
sammengezogenen Augenbrauen ein Zug tiefsten
Wehs, namenlosen Schmerzes. Etwas ganz Fremdes
in dem gelblich blassen, abgemagerten Gesicht, aus
dem der Schnurrbart fast struppig hervorstand. Die
Haare auf der breiten Stirn dünn geworden, der Kinn-
bart gräulich schattiert. Aus der ganzen Erscheinung
sprach unheimlich, fast teuflisch triumphierend der
Dämon der grausigen Krankheit. Dies tote Gesicht
erzählte eine erschütternde Geschichte namenlos
schmerzlichen Ringens mit dem Würgengel des To-
des. — Es war, als ob dieser die sich sträubende
menschliche Kraft unter die Füße getreten habe, bis
sie aufstöhnend zerbrach, jammervoll, herzzerreißend.
Die großen starken Hände bis auf die Knochen ab-
gemagert, fast durchsichtig blaß, über der Brust ge-
kreuzt, hielten seinen schweren Kürassierpallasch, der
lang und blank über das Bett hinlag. Es sah aus, als
ob er sein eigenes Richtschwert an die Brust drücke.
Unter der Bettdecke zeichnete sich die lange starre
Gestalt ab. — Ich kann nicht sagen, wie schmerzlich
dies alles sich mir einprägte, welch namenloser Jam-
mer aus dem allen sprach. — Wie furchtbar ist über
den Zustand des armen Kaisers gelogen worden,
denn nicht plötzlich und unvermutet ist das Ende an
ihn herangetreten, das sieht man nur gar zu gut, lang-
sam und allmählich, Schritt für Schritt, hat es ihn
zu Tode gequält; und wenn er repräsentieren mußte
und wenn es von ihm hieß: er hat eine gute Nacht
140
gehabt, so zählte er schlaflos die Schläge der Uhr,
deren jeder, wie er verhallte, ihn um eine Spanne
dem Ende näherbrachte, dem Ende namenloser Qual,
das er, Gott allein weiß wie heiß ersehnt und erfleht
haben mag. — Armer Kaiser, mit seiner Brust er-
füllt von Plänen für die Ausübung einer Macht, auf
die er warten mußte über die besten schaffensfreudi-
gen Jahre hinaus, mit seinem warmen Herzen für
das Wohl des Volkes, mit dem er gekämpft und ge-
stritten in schwerer, doch so heldenhaft frischer,
schöner Zeit, wie grausam ist sein Geschick gewesen.
Ist es nicht, als ob er gebüßt habe für alle Sünden
dieses Volkes, er, der reine, der ideal denkende Fürst!
Kann die verhältnismäßig kurze Qual am Stamm
des Kreuzes furchtbarer gewesen sein als dies mo-
natlange Sterben, als dies grausam erzwungene Ver-
zichtleisten auf alles, was Herz und Gemüt erfüllt,
auf die vorbereitende Arbeit eines ganzen Lebens?
Armer Kaiser, erschüttert bis ins tiefste Innere wen-
den wir uns ab, wie eine schmerzliche Betäubung
liegt es auf Kopf und Sinnen. — Ich weiß kaum, wie
wir zurückgekommen sind, aber mitteilen mußte ich
den Eindruck, den ich empfangen, und ich weiß, Du
wirst mit mir fühlen.
Generalstab Berlin, 17. Juni 1888.
Heute um 1 Uhr hat Onkel Helmuth die General-
stabsoffiziere vereidigt. — Den schönen Erlaß des
jungen Kaisers an die Armee wirst Du in der Zei-
tung gelesen haben. — Es weht jetzt in allem ein
bedeutend anderer Wind. Der junge Kaiser ist in be-
ständiger Tätigkeit, hat den ganzen Tag konferiert,
Befehle erteilt, Unterschriften erledigt. Schon vor-
gestern abend kam die erste Kabinettsorder mit der
Unterschrift Imperator Rex zu uns.
141
Generalstab Berlin, 18. Juni 1888.
Soeben kommen wir aus Potsdam zurück, wo wir
den hochseligen Kaiser zur letzten Ruhestätte geleitet
haben. — "Wie wir im Saale des Stadtschlosses wa-
ren, kam Prinz Heinrich angefahren und suchte On-
kel Helmuth auf, um ihm ein kleines Etui zu über-
bringen, in dem die Orden en miniature lagen, die der
Kaiser Friedrich zum Zivil zu tragen pflegte. Die ver-
witwete Kaiserin Viktoria schickte dieselben als An-
denken an Onkel Helmuth, und zwar hatte der junge
Kaiser das Etui in der Tasche gehabt, um es selber
an Onkel Helmuth zu geben, da er aber keine Ge-
legenheit dazu gefunden hatte, schickte er den Prin-
zen Heinrich auf die Suche hinter Onkel Helmuth her.
Generalstab Berlin, 19. Juni 1888.
Gott segne den jungen Herrn ! Dabei hatte er alle Pro-
klamationen selbst geschrieben, keine fremde Feder
darin, alle Vorschläge verworfen und die Sache selbst
gemacht.
Generalstab Berlin, 25. Juni 1888.
Bei unserer Rückkehr gestern abend aus Ratzeburg
fanden wir das Programm der feierlichen Eröffnung
des Reichstages vor, die heute stattfinden soll. Onkel
Helmuth war in demselben wie auch in dem Pro-
gramm der Trauerfeierlichkeit überhaupt gar nicht er-
wähnt. Er war mit Recht auf das tiefste gekränkt und
erklärte im ersten Moment, sofort abreisen zu wollen,
wollte seinen Abschied nehmen, sagte, er sei in den
Skat gelegt usw. Alles ganz richtig. — Heute morgen
hat er einen Brief an den diensttuenden Adjutanten
geschrieben, worin er sagt: Da er als ältester Feld-
marschall, Kanzler des Schwarzen Adlerordens usw.
wohl hätte erwarten können, einen Platz im Gefolge
142
Sr. Majestät, und zwar zunächst hinter dem Reichs-
kanzler zu finden, in dem Programm aber gar nicht
erwähnt sei, es auch mit seiner militärischen Würde
nicht vereinbar finde, als Abgeordneter zu erschei-
nen, bäte er, Sr. Majestät zu melden, daß er von der
Feier fernzubleiben sich gezwungen sähe. Die
ganze Schuld trifft natürlich die Hofschranzen, die
denken, laß den Alten laufen, und sich lieber den
neuen Sternen zuwenden! Hoffentlich wird es ihnen
etwas in die Bude regnen, und Onkel Helmuth in Zu-
kunft, wenn dem Kaiser die Augen geöffnet worden
sind, seiner Stellung entsprechend behandelt werden.
Generalstab Berlin, 26. Juni 1888.
Das war gestern ein sehr schöner, feierlicher Akt,
dem wir mit beiwohnen durften. Um 12 Uhr fuhren
wir, Onkel Helmuth, Goßler und ich, im offenen Wa-
gen, begleitet von den ununterbrochenen Hurrarufen
der dicht auf den Straßen stehenden Menschen nach
dem Schloß, wo wir dem Gottesdienst in der Ka-
pelle beiwohnten, eine sehr schöne Rede von Kögel
hörten. Der gegebene Text war: Durch Gottes Gnade
bin ich, was ich bin. Der Kaiser, der, zur Rechten den
König von Sachsen, zur Linken den Regenten von
Bayern, eintrat, sah sehr schön und würdevoll aus.
Nach dem Gottesdienst versammelte sich die ganze
Gesellschaft, der gesamte Reichstag im Weißen Saal,
Bismarck, der die Mitglieder des Bundesrats wie
eine Herde von Lämmern hereinführte, sah in sei-
ner Kürassieruniform vortrefflich aus, das ganze
Arrangement machte einen großartigen Eindruck.
Das Hereinmarschieren einer Kompagnie der Schloß-
garde im Tritt mit Gewehr auf, mit eingetretenen Of-
fizieren mit gezogenem Degen, machte einen groß-
artigen Eindruck. Der Thron mit großen Draperien
143
von gelbem Samt, die rotsamtene Estrade für die
Kaiserin, die Sessel für die Fürsten rechts und links
des Thrones, alles sehr feierlich. Wie alles versam-
melt, ging Bismarck es dem Kaiser melden. Dann
nahm der Hof seinen Eintritt. Erst Pagen in schwar-
zen Eskarpins mit Trauerflor an den Knien, dann
die Reichsinsignien. — Onkel Helmuth hatte einen
besonderen Ehrenplatz erhalten, indem er ganz al-
leine hinter den Insignienträgern und unmittelbar vor
dem Kaiser ging. Er sah in dem großen roten Samt-
mantel des Schwarzen Adlers sehr gut aus, mit sei-
nem auf die Hüfte gestemmten Marschallstab. — Der
Kaiser, wieder mit dem König von Sachsen und dem
Prinzregenten zur Rechten und Linken, wie alle Rit-
ter vom Schwarzen Adler, in langem wallenden Pur-
purmantel, sah ungemein hoheitsvoll und tiefernst
aus. Geradezu majestätisch, wie er mit sicherem
Schritt auf den Hautpas des Thrones trat und die
Versammlung mit feierlicher Neigung des Kopfes be-
grüßte. — Dann, nachdem alles geordnet und Ruhe
eingetreten war, hatte er wieder einen sehr schönen
Moment, als der Kanzler ihm die Thronrede über-
reichte, er dieselbe ergriff, mit einem energischen
Ruck den Helm aufsetzte und den Mantel zurück-
warf, um hochaufgerichtet den Blick über die lautlos
harrende Versammlung gleiten zu lassen. Dann be-
gann er zu lesen. Ich achtete genau darauf und sah,
daß das Blatt in seiner Hand nicht zitterte. Dennoch
war die Stimme zuerst umflort und undeutlich. Die
Sätze kamen ruckweise und mühsam heraus, er war
trotz der Totenstille kaum zu verstehen. Nach und
nach aber hob sich das Organ, der Vortrag wurde
fließend und wie er an die Stelle kam: Ich bin geson-
nen, Frieden zu halten mit jedermann, so weit es an
mir liegt, betonte er das Wort mir so laut und schön,
144
daß es wie ein elektrischer Funke durch alle Hörer
fuhr, es lag soviel darin, das volle Bewußtsein der
Herrscherkraft, es grollte gleichsam darin die Beteue-
rung: aber wehe dem, der es wagen sollte, mir zu nahe
zu treten, eine ungemeine Stärke und Sicherheit lag
in dem einen Wort, so daß spontan alles in lauten
begeisterten Beifallsruf ausbrach. — Die letzten Sätze
der Rede sprach er mit schöner, durchdringender
Stimme, jede Spur von Befangenheit war gewichen
und er stand da, fest und stolz, der kraftvolle, selbst-
bewußte Herrscher eines mächtigen Reiches.
Du kannst Dir nicht denken, wie wohltuend das
Gefühl war, einen jungen, kräftigen Kaiser zu haben,
der weiß, was er will. — Es war ein schöner, groß-
artiger Akt. — Nachher sprach beim Auseinander-
gehen Bismarck Onkel Helmuth an, und beide saßen
fast eine halbe Stunde lang nebeneinander in der
sonst ganz leeren Bildergalerie, scheu von allen ge-
mieden, die hereinkamen. Was sie verhandelt haben,
weiß ich nicht, Onkel Helmuth ist stumm wie das
Grab, ich glaube aber, daß Bismarck ihm auseinan-
dergesetzt hat, daß er unmöglich seinen Abschied
nehmen dürfe und Onkel Helmuth wird das wohl
eingesehen haben, er ist heute still und feierlich.
Generalstab Berlin, 27. Juni 1888.
Gestern schickte der Kaiser durch den Oberstleut-
nant v. B. seine außerordentlich gut gemachte Büste
in Lebensgröße (Gips) an Onkel Helmuth mit einem
eigenhändigen Schreiben, in dem er etwa folgendes
sagte: Verehrter Feldmarschall! Zum Andenken an
den gestrigen Tag (Eröffnung des Reichstags), den
wir durch Ihre Taten im Siebziger Kriege als eine Er-
rungenschaft derselben feiern durften, bitte ich Sie,
Ihnen meine Büste überreichen zu dürfen, freilich
Moltke. 10. 145
vorerst nur in Gips, bis dieselbe in Erz fertiggestellt
ist. In treuer Freundschaft Ihr wohlaffektionierter
Wilhelm. — Die Büste ist von Schott gemacht und
zeigt den Kaiser in Husaren-Uniform mit einem sehr
schönen, ungemein kühnen Blick.
Heute findet die Vereidigung des Kaisers auf die
Verfassung statt, in derselben feierlichen Weise, wie
die Eröffnung des Reichstages.
In dem gedruckten Programm, das gestern ankam,
ist Onkel Helmuth persönlich aufgeführt und ihm
wieder der Platz unmittelbar vor dem Kaiser ange-
wiesen. Bei der Gruppierung um den Thronsessel
steht Onkel Helmuth auf dem Hautpas hinter dem
Thron, ganz alleine, während alles andere rechts und
links steht. — Es hat somit die wohltätigsten Folgen
gehabt, daß er einmal die Zähne gezeigt hat, und
wird das Hofmarschallamt ihn wohl so leicht nicht
wieder vergessen. Wie ich nachträglich hörte, soll
der Kaiser infolge Onkel Helmuths Brief ganz außer
sich gewesen sein, er hatte gleich einen Flügeladju-
tanten an Bismarck geschickt und fragen lassen, ob
es wohl angängig sei, daß er Onkel Helmuth mit den
Fürstlichkeiten zusammen gehen lassen könnte, wo-
rauf B. geantwortet, ja wohl, das ginge sehr gut. —
Onkel Helmuth aber hat im Schloß erklärt, nein, da
gehöre er nicht hin und hat sich selber seinen Platz
hinter den Kroninsignien vor dem Kaiser gewählt,
der ihm denn auch heute offiziell wieder angewie-
sen ist.
Ganz Berlin, und wie es nach den Zeitungen scheint,
so ziemlich das ganze Deutschland aller Parteifär-
bungen, ist entzückt und begeistert von dem Auftre-
ten des jungen Kaisers, alles atmet auf, wie von
schwerem Druck befreit, und ein Gefühl der Ruhe
und Sicherheit macht sich überall geltend. Auch das
146
Ausland hat ja die Thronrede sehr sympathisch auf-
genommen, die ruhige Sicherheit und die vollbewußte
Kraft derselben haben allseitig imponiert.
C r e i s a u , 26. Juli 1888.
So gern ich Dir auch den unverkürzten Genuß Deiner
Ferien lassen möchte, muß ich Dich doch bitten, so
bald wie möglich zurückzukommen. Die Sache geht
hier nicht mehr ohne Dich. Onkel Helmuth wird, da
Du ihn nicht mehr fütterst, von Tag zu Tag kümmer-
licher, er ißt so gut wie gar nichts mehr und ist ent-
setzlich Hypochonder. Um sich zu beschäftigen, ar-
beitet er täglich fünf bis sechs Stunden im Busch
und sinkt immer mehr zusammen. Der Whist en trois
ist für alle Beteiligten geradezu vernichtend. Bitte
telegraphiere mir, wann ich Dich erwarten kann.
♦Generalstab Berlin, 28. Oktober 1888.
Heute morgen hatte ich per Telephon anfragen las-
sen, ob und wann sich Onkel Helmuth bei Sr. Maje-
stät melden könne. Als Antwort kam zurück: Se. Ma-
jestät bittet den Feldmarschall, um il/2 Uhr bei ihm
zu frühstücken. — Ich wollte die Gelegenheit benut-
zen, um mich gleich beim Kaiser zu melden, und fuhr
daher im Paradeanzug mit. In Potsdam angekommen,
fuhren wir quer durch den Lustgarten und nach dem
Marmorpalais hinaus. Hier wurden wir in ein kleines
Zimmer geführt und gebeten zu warten, da Se. Maje-
stät noch Vortrag habe. Nach einer kleinen Weile
kam die Kaiserin ganz alleine ohne Damen hinein,
sagte Onkel Helmuth sehr freundlich Guten Tag und
setzte sich mit ihm hin. Es begann nun eine etwas
stockende Konversation, die Kaiserin ein wenig ver-
legen, was ihr reizend stand, sehr liebenswürdig und
* Major im Generalstab.
147
herzlich, und wenn sie spricht, mit einem außerordent-
lich gewinnenden Zug im Gesicht. Sie sieht sehr gut
aus, sehr wohl und frisch. Sie hat sehr schöne Hände,
und ihre Bewegungen sind alle voll Grazie und An-
mut. Sie fragte gleich nach Dir und den Kindern und
plauderte, nachdem die erste Verlegenheit überwun-
den, sehr hübsch und harmlos.
Dann kam der Kaiser, der erst Onkel Helmuth be-
grüßte und dann auf mich zukam, der ich mich in
eine Ecke gedrückt hatte. Ich sprang ihm nun sofort
mit meiner Meldung ins Gesicht, meldete mich : »Durch
Ew. Majestät Gnade zum Major befördert«, wobei er
mich während der ganzen Zeit an der Hand hielt. —
Dann sagte er: »Mein Gott, Sie sind auch schon Ma-
jor? Man wird alt, wenn ich denke, wie ich Sie noch
als ganz jungen Dachs beim Regiment gekannt habe.
Na, ich gratuliere Ihnen.« Wir gingen dann gleich zu
Tisch. Die Tafel war in einem kleinen Saal serviert,
dessen offenstehende Flügeltüren über eine Terrasse
hinweg einen herrlichen Blick über den tiefblauen
See und das gegenüberliegende Ufer gewährten. Es
war prachtvolles Wetter, warm, windstill und ganz
heller Sonnenschein. — Der Kaiser saß mit dem Ge-
sicht nach der offenen Tür, die Kaiserin ihm gegen-
über, rechts vom Kaiser die Gräfin Brockdorff, dann
ich. Links die Gräfin Keller, dann Bissing. Onkel Hel-
muth links von der Kaiserin, rechts von ihr der Oberst
v. Villaume, Militärattache in Petersburg, der mit uns
gekommen war. Dann Lyncker und auf der anderen
Seite der Flügeladjutant Sr. Majestät v. Scholl. Das
war die ganze Tafelrunde. Der Kaiser war sehr leb-
haft und angeregt, sprach viel. Er sieht sehr gut aus.
Das Gesicht ist markierter geworden und männlicher,
die großen blauen Augen noch größer wie früher.
Gegen Ende des Menüs sagt die Kaiserin: »Du, Wil-
148
heim, die Jungens könnten wohl kommen und dem
Feldmarschall Guten Tag sagen.« »Ja, natürlich«, er-
widert der Kaiser. Dann zu mir: »Sagen Sie mal, Ju-
lius, der Feldmarschall hat doch eine Mütze mit?« »Ja-
wohl.«— Sie wird gebracht; wir stehen auf und gehen
auf die Terrasse, wo ein Tischchen mit Zigarren hin-
gesetzt und der Kaffee serviert wird. — Dann kom-
men die Jungens! Vier an der Zahl. Die drei ältesten
in Samtanzügen mit kleinen Helmen mit Haarbüschen
auf. Baby Wilhelm August im weißen Kleidchen und
nackten Beinen. Reizende gesunde Kinder, die uns
allen die Hand geben und sich dann sofort um On-
kel Helmuth gruppieren. Der Älteste hat ganz die Au-
gen des Vaters, ein feines Gesichtchen, etwas blaß;
der zweite mit seinem Lockenkopf ist hübscher,
ebenso der dritte, das Prachtstück aber Nr. 4, der von
seinen Brüdern sehr verzogen wird. Mama findet, daß
es für seine übrigens strammen Beinchen zu kalt sei,
und sofort entsteht ein Wettrennen nach Hut und
Mantel für Baby, aus dem der Älteste als Sieger her-
vorgeht und sehr stolz mit beiden Sachen antritt, noch
ganz außer Atem. Baby wird nun von der Mama an-
gezogen, die Brüder wollen zuknöpfen, er wird um-
gestoßen, fällt auf die Nase, macht ein schiefes Mäul-
chen, wird aber sofort von den Brüdern wieder auf
die Beine gestellt, abgeklopft und getröstet. Dabei ist
weder eine Kinderfrau, noch irgendein dienstbarer
Geist zu sehen. Die Jungens sind ganz mit ihren El-
tern allein. — Der Kaiser steht mit der Zigarre im
Munde lachenden Gesichts dabei und freut sich rie-
sig über die Rangen! Es ist eine reizende Familien-
szene. — Plötzlich stürmt die ganze Gesellschaft auf
den Kaiser ein: »Papa, dürfen wir unsere Gewehre
holen?« Die Erlaubnis wird gegeben, und nun kom-
men sie mit feierlichem Ernst und Gewehr auf im
149
Reihenmarsch an. Baby hat noch kein Gewehr und
versucht, ohne dies Tritt zu halten, wird aber von den
Brüdern als Posten zur Seite gestellt, wodurch er
unschädlich gemacht wird. Nun läßt Onkel Helmuth
die drei Ältesten antreten und Wendungen machen,
die gewissenhaft ausgeführt werden, dann marschie-
ren sie unter dem Kommando von Bissing, der als
Kavallerist Kavalleriekommandos abgibt und dafür
von dem kleinen Kronprinzen rektifiziert wird. Dann
wird Wache gemacht und an den Kaiser die Auffor-
derung gerichtet: »Papa, geh' einmal vorbei, damit
wir heraustreten können.« Schließlich wird Villaume
arretiert, einer geht vorne, einer hinten mit gespann-
tem Gewehr. Er reißt aus, die beiden hinterher, er
wird am Kopf verwundet (natürlich fingiert) und muß
sich mit seinem Taschentuch verbinden. Dann wird
er an die Wand gestellt und zwei Stühle vor ihm, so
ist er im Schilderhaus gefangen. »Du darfst als Ge-
fangener nicht rauchen«, sagt Nr. i, er muß seine Zi-
garette wegwerfen. — Die Kaiserin sieht mit seligem
Lächeln auf ihre hübschen Kinder, deren Wangen
glühen und deren Augen vor Vergnügen strahlen. —
So geht die Zeit hin, bis ich plötzlich sehe, wie mir
ein Lakai energisch zuwinkt. Es ist Zeit abzufahren.
Ich avertiere Onkel Helmuth, der nicht weg will, bis
ihm der Kaiser zu Hilfe kommt und ihm Adieu sagt.
»Es war sehr liebenswürdig von Ihnen, daß Sie her-
ausgekommen sind.« Mir gibt er wenigstens dreimal
die Hand : »Adieu, lieber Julius, grüßen Sie Ihre Frau
schön.« Auch die Kaiserin gibt mir die Hand und sagt
mir dasselbe: »Grüßen Sie Ihre Frau herzlich.« — On-
kel Helmuth ist in heiterster Dejeunerstimmung, hält
Frl. v. Gersdorff für die Kaiserin, will ihr die Hand
küssen und fragt dann: »Wo ist die Prinzeß?« Dabei
steht die Kaiserin einen Schritt hinter ihm und sagt:
150
»Hier bin ich.« — Das tut aber alles nichts, alles wird
harmlos genommen, und wir ziehen ab. — Der Lakai
ist in allen Zuständen, denn der Zug geht in zehn Mi-
nuten. Ich versuche Onkel Helmuth zu etwas größe-
rer Eile zu veranlassen, aber er fängt auf dem Vesti-
bül noch eine längere Konversation mit Maj or v. Scholl
an, steckt sich seine Zigarre wieder an und erklärt,
wir haben noch lange Zeit. Endlich kommen wir in
den Wagen, der nun wie rasend mit uns abfährt. Wir
müssen durch ganz Potsdam durch, wie wir an den
Lustgarten kommen, haben wir noch zwei Minuten.
Ich rufe es dem Kutscher zu, und Onkel Helmuth er-
klärt mit größter Gemütsruhe: »Wir kommen sicher
zu spät.« — Der Zug will gerade abfahren, wie wir vor
dem Perron halten. Onkel Helmuth wird erkannt, die
königliche Equipage war schon gesehen worden, und
es wird, da alle Coup6s voll sind, noch ein Wagen
angehängt, in den wir steigen. Kaum sitzen wir, so
geht es los, und Onkel Helmuth meint: »Das haben
wir gerade richtig abgepaßt!«
Generalstab Berlin, 12. August 1889.
Um 5 Uhr fuhren wir, Onkel Helmuth und ich, mit
Graf Waldersee nach dem Tiergarten-Bahnhof, wo
bald nach uns der Kaiser ankam in österreichischer
Uniform, die ihn gar nicht kleidet. Er sieht geradezu
schlecht darin aus, sonst sehr blühend, ganz braun
und verbrannt, außerordentlich gesund. Er begrüßte
Onkel Helmuth, der sich bei ihm meldete, sehr herz-
lich und sprach lange mit ihm. Prinz Heinrich war
auch da. Dann kam der Kaiser von Österreich, sehr
gut aussehend, mit blühender Gesichtsfarbe und ele-
ganter Figur, der Herzog von Este ebenfalls ausge-
zeichnet aussehend. Wir fuhren dann unter den üb-
lichen Hurras die Linden hinauf bis zum Schloß,
151
wo Onkel Helmuth sich einschrieb. — Heute abend
sollen wir zum Zapfenstreich, morgen um 7 Uhr zum
Diner, übermorgen nach Babelsberg.
Generalstab Berlin, i3.August 1889»
Wir waren gestern abend im Schloß zum Zapfen-
streich, der wunderhübsch war und in allen seinen
Teilen außerordentlich glückte. Der Kaiser von Öster-
reich sagte Onkel Helmuth, daß er ihn zum Chef des
71. Regiments (österr.) gemacht habe. Ich stand zu
weit, um genau verstehen zu können, hörte aber, daß
von Regiment pp. die Rede war, und sah auch, daß
Onkel Helmuth eine seiner zweifelhaften Verbeugun-
gen machte, die er immer macht, wenn er nicht recht
verstanden hat. Der Kaiser von Österreich stand eine
Weile mit etwas verlegenem Gesicht vor ihm und
ging dann weg. Ich fragte nun Onkel Helmuth, ob
ihm nicht der Kaiser ein Regiment verliehen habe,
und er antwortete mir ganz gleichgültig: »Jawohl.« —
»Welches denn?« »Ja, das hab' ich nicht verstanden.«
Ich erkundige mich also bei dem österreichischen
Flügeladjutanten, und er sagt mir, es ist das 71. Re-
giment, ein sehr schönes ungarisches Regiment. Der
österreichische Militärbevollmächtigte geht nun zu
Onkel Helmuth und gratuliert ihm und sagt, er freue
sich so sehr, Onkel Helmuth nun als Mitglied der
österreichischen Armee begrüßen zu können. Onkel
Helmuth sieht ihn ganz wild an und sagt: »Was mei-
nen Sie?« Er wiederholt es. Onkel Helmuth steht auf
und sagt: »Mich? Wie meinen Sie das?« Steininger
sagt: »Exzellenz, Se. Majestät der Kaiser hat Ihnen
doch das 71. Regiment verliehen.« — »Mir? Denkt gar
nicht dran.« — Schließlich kommt es heraus, daß er
verstanden hat, der Kaiser von Österreich habe ihm
erzählt, daß er unserem Kaiser ein Regiment ver-
152
'*-"■* ■ Mj|B ■
Helmuth von Moltkc
1389
liehen habe. Onkel Helmuth ist nun ziemlich ver-
zweifelt, daß er kein Wort des Dankes gesagt hat.
Ich bitte Graf Wedell, es dem Kaiser mitzuteilen, daß
der Feldmarschall ihn mißverstanden habe und daß
er bitte, seinen Dank noch nachträglich zu Füßen
Sr. Majestät legen zu dürfen. Dies geschieht denn
auch. Der Kaiser steht noch einmal auf und geht zu
Onkel Helmuth hin, der sich nun gebührend bedankt.
Von dem Kaiser ist dieser Akt der Gnade gegen sei-
nen alten Gegner und Besieger wirklich großartig,
um so mehr, da es ein in Österreich sehr seltener
Fall ist, daß ein Ausländer und nicht Prinz ein Re-
giment bekommt. — Die österreichischen Herren, die
alle einen sehr angenehmen Eindruck machen, sind
voll Kampflust. Bismarck soll dagegen aus allen Ton-
arten die Friedensschalmei blasen. Er war auch mit
zum Empfang, sah aber blaß und elend aus.
Generalstab Berlin, i8.November 1889.
Ich bin heute um 11 Uhr mit Onkel Helmuth im
Exerzierhause des 2. Garde-Regiments bei der Ver-
eidigung der Rekruten der Berliner Garnison zugegen
gewesen, bei welcher Gelegenheit Onkel Helmuth
sich bei dem Kaiser meldete. — Es war ein ganz
feierlicher Akt. Das Exerzierhaus mit Fahnen und
Schilden geschmückt, in der Mitte unter einem Pur-
purbaldachin ein Feldaltar aufgeschlagen, von dem
aus erst der protestantische, dann der katholische
Garnisonspfarrer eine Ansprache hielt. — Sämtliche
Generale der Garnison und alle Fahnen waren zu-
gegen. Der Kaiser sah sehr frisch und gut aus. —
Einen Nachgeschmack unserer zerrissenen politi-
schen Verhältnisse bekam man bei Verlesung der ver-
schiedenen Eidesformeln. Da schwuren erst die preu-
ßischen Untertanen a) evangelischer, b) katholischer
153
Religion. Dann die Braunschweiger, dann die Würt-
temberger, dann die Untertanen der übrigen kleinen
Bundesstaaten, zuletzt die Elsaß-Lothringer, alle ihren
besonderen Eid!
Generalstab Berlin, 24. November 1889.
Gestern haben wir eine recht mäßige Aufführung
des Lohengrin gehört. E. mit zuletzt gänzlich versa-
gender Stimme als Lohengrin und eine Frau P., die
ich nach ihrer entsetzlichen Aussprache als Englän-
derin oder Amerikanerin taxiere, gab die Elsa. — Es
war jammervoll. Diese Dame hatte einen riesigen
Mund, den sie beim Singen so weit aufriß, daß man
ihr mit dem Opernglas über eine gewaltige Zunge
hinweg bis hinten in den Gaumen sehen konnte.
Gleich wie sie anfing: »Mein armer Bruder!« schnappte
ihr der Ton über, in allen Bewegungen war sie un-
graziös, maniriert unnatürlich und unschön, von dem
Wesen der Rolle hatte sie keine Ahnung, es war wirk-
lich schrecklich. Das Orchester bald schleppend, bald
in solcher Stärke, daß man von dem Gesang auf der
Bühne gar nichts hörte, nur das Auf- und Zuklappen
von Elsas riesigem Mund sah, wenn sie nicht gerade
in Momenten der Erregung, die sie dadurch veran-
schaulichte, daß sie mit dem ganzen Kopf zwischen
den hochgezogenen Schulterblättern verschwand, so
daß man nur eine rote Perücke mehr sah, dem Pu-
blikum auch diesen Genuß entzog. Nein, unsere Oper
ist wirklich geradezu haarsträubend miserabel.
Generalstab Berlin, 27. November 188g.
Onkel Helmuth und ich fahren morgen nach Prutz.
— Wir haben jetzt eine recht interessante Lektüre,
die Errichtung des deutschen Kaisertums durch Wil-
helm I. von Heinrich von Sybel. Hübsch und in-
154
teressant geschrieben und aus den Staatsarchiven zu-
sammengestellt.
Kiel, Königliches Schloß, 3. April 1891.
Heute morgen um 10 Uhr war Parade der Ma-
trosen-Division und des Seebataillons sowie eines Ba-
taillons 85er. Nach dem Parademarsch versammelte
der Kaiser die Offiziere und sprach seine Anerken-
nung über die Parade aus. Dann fuhr er etwa fol-
gendermaßen fort: »Ich habe beschlossen, der Ma-
rine einen neuen Beweis meines Wohlwollens zu ge-
ben, um dieselbe zu ehren und um ihr einen neuen
Ansporn zu verleihen zu immer erneutem Streben
und nicht ermattender Tätigkeit und Arbeit. Der Ge-
neralfeldmarschall Graf von Moltke hat von jeher ein
lebhaftes Interesse der Marine entgegengebracht, und
der gewaltige Heerführer hat es nicht verschmäht,
unserer wenig zahlreichen und noch im Entstehen
begriffenen Flotte immer wieder sein Wohlwollen
und seine Sympathie zu zeigen. Um die Marine zu
ehren, indem ich Se. Exzellenz den Herrn Feldmar-
schall in eine noch nähere Beziehung zu derselben
bringe, stelle ich Se. Exzellenz hiermit ä la suite des
1. Seebataillons, und ich bitte Ew. Exzellenz, Ihre Be-
fehle für das Bataillon erteilen zu wollen.« — On-
kel Helmuth war sehr überrascht, hatte aber glück-
licherweise, da er neben dem Kaiser stand, verstan-
den, was er sagte, und machte seine Sache sehr gut.
Das Bataillon präsentierte, Onkel Helmuth ließ sich
das Offizierkorps vorstellen und ging die Front ab,
dann ging er auf den Kaiser zu und dankte ihm für
den neuen Beweis seiner Gnade. Hierauf trat der Chef
der Admiralität, Admiral Goltz, vor die Front und
teilte dem Bataillon mit schallender Stimme mit, was
geschehen, schloß mit einem Hoch auf den Kaiser,
155
in das alle, auch das zu Hunderten auf den Dächern
und in den Fenstern der umliegenden Häuser ge^
drängte Publikum (die Parade fand auf dem Kaser-
nenhof der Marine statt) einstimmte. Dann folgte ein
Gefechtsexerzieren einer Matrosen-Kompagnie mit
Platzpatronen, was in dem von hohen Kasernen um-
gebenen Hof gewaltig knallte, und schließlich ein
Frühstück im Marinekasino, bei dem der Kaiser eine
lange Rede hielt. Der Admiral Goltz ließ dann Onkel
Helmuth leben, indem er an ein Wort desselben er-
innerte, das er gelegentlich der Anlage der Kieler
Hafenbefestigungen gesprochen habe: »Sie sollen
hinausfliegen, meine Herrn, damit Sie dies können,
bauen wir Ihnen ein sicheres Nest, in das Sie zurück-
kehren können.« — Wir saßen gegen zwei Stunden
bei Tisch, worauf wir ins Schloß zurückfuhren. Nach-
mittags versuchte Onkel Helmuth mit mir einen Spa-
ziergang auf der vom Schloß am Hafen hinlaufenden
Promenade, mußte denselben aber sehr bald wieder
aufgeben, vertrieben von dem schneidenden Ostwind
und den in Haufen uns folgenden Neugierigen.
Onkel Helmuth befindet sich sehr wohl. Er ißt mit
einem riesigen Appetit und hat Interesse für alles.
Kiel, Königliches Schloß, 7. April 1891.
Gestern haben wir, leider bei schlechtem Wetter,
kaltem Wind und anhaltendem, wenn auch nicht star-
kem Regen eine Tour nach dem im Bau befindlichen
Nord-Ostsee-Kanal unternommen. Zunächst fuhren
wir per Wagen nach einem kleinen, in der Nähe von
Holtenau belegenen Ort, wo drei kleine Dampfer be-
reit lagen, uns aufzunehmen. Der Kaiser kam fünf
Minuten nach uns an. Onkel Helmuth war in der Uni-
form des Seebataillons. — Wir schifften uns ein und
fuhren zunächst auf dem alten Eider-Kanal los. Voran
156
ein kleiner Polizeidampfer, dann die Dampfbarkasse
mit Sr. Majestät, dem Prinzen Heinrich, dem Chef
der Admiralität Goltz und dem Staatsminister v. Böt-
ticher, der zu dieser Fahrt von Berlin gekommen war.
Dann folgten wir anderen auf einer größeren Dampf-
barkasse. — Der alte Eider-Kanal, der vor etwa hun-
dert Jahren von der dänischen Regierung gebaut
worden ist, ist in seiner Weise ein recht großartiges
Werk. Wenn man bedenkt, daß damals ohne Hilfe
der Maschinen der Jetztzeit gearbeitet werden mußte,
daß die ganze zum Teil bedeutende Erdbewegung
nur mit dem Spaten und der Schubkarre, nur mit
Menschenhänden zustandegebracht worden ist, so
kann man wohl sagen, daß diese Arbeit, mit dem
Maße ihrer Zeit und ihrer Verhältnisse gemessen, der
jetzt von uns unternommenen nicht viel nachsteht.
— Der alte Kanal folgt meist dem Lauf der Eider, die
ausgegraben und vertieft, an vielen Stellen auch ge-
rade gelegt worden ist. Er steigt mit drei Schleusen
über die Wasserscheide und bietet nur kleineren
Küstenfahrzeugen die Möglichkeit der Passage. Er
ist vielfach gewunden und gekrümmt und vermeidet
möglichst das Durchschneiden bedeutender Boden-
hebungen.
Der neue Kanal folgt zum Teil seinem Zug, schnei-
det aber überall die Krümmungen ab und stellt sich
dar als eine ziemlich gerade, im ganzen etwas gegen
Norden gekrümmte Linie. Er beginnt bei Holtenau
im Kieler Hafen und mündet in der Nähe von Bruns-
büttel in den Unterlauf der Elbe.
Die Arbeit ist sehr verschieden vorgeschritten, ein-
zelne Strecken sind ganz fertig, andere erst eben be-
gonnen. Der Kanal bekommt eine obere Breite von
fünfundneunzig Metern, also hundert Schritten, so
daß überall zwei Schiffe einander begegnen und vor-
157
beipassieren können. Es ist eine ganz gewaltige Ar-
beit, die zurzeit siebentausend Arbeiter und eine
Unzahl von Maschinen, hauptsächlich Grund- und
Trockenbagger, beschäftigt. Sehr interessant ist eine
Strecke, wo der Kanal ein flüssiges Moor durch-
schneidet. Da hier die Böschungen bei einfachem
Ausstechen immer wieder nachsinken und die Tiefe
wieder füllen würden, werden zunächst auf beiden
Seiten in der Breite des projektierten Ausstichs ge-
waltige Sand- und Kiesdämme geschüttet. Das Ma-
terial wird von anderen Stellen entnommen, wo
durch hohes Land durchgestochen wird. Beiderseits
sind provisorische Eisenbahnschienen gelegt, auf de-
nen mit kleinen Lokomotiven der ausgehobene Bo-
den angefahren wird. Der Ausstich erfolgt meistens
mit Trockenbaggern, die den Boden ausheben und
direkt in die Eisenbahnloris schütten. Ist ein Wag-
gon vollgeladen, schiebt sich der ganze Bagger, der
ebenfalls auf Schienen geht, um einen Wagen wei-
ter und ladet so einen Zug von zwanzig Wagen in
etwa zehn Minuten voll. Der Zug fährt nun bis da-
hin, wo der Damm geschüttet werden soll, worauf
alle Wagen an der Seite geöffnet und umgestürzt
werden. Der auf diese Weise gebildete Damm sinkt
in das flüssige Moor ein, das sich zwischen den bei-
den Dämmen vollständig heraushebt, von dem Druck
derselben, und dann wird zwischen den so erst ge-
schütteten Dämmen der eigentliche Kanal ausge-
stochen, dessen Ufer nun stehen. — An einer an-
deren Stelle sahen wir einen sogenannten Spritz-
bagger. Der arbeitet folgendermaßen: Er hebt vom
Grunde unter Wasser den Boden aus, bringt ihn nach
oben, wo er durch dieselbe Maschine, die gleichzeitig
ein Wasserpumpwerk bewegt, mit Wasser zu einem
ganz dünnen Brei gemischt wird, der dann wiederum
158
durch eine Leitung auf ein abseits gelegenes sump-
figes Terrain abfließt. Das Wasser staut sich hier
auf, setzt den mitgeführten Boden ab und fließt sei-
nerseits über ein Wehr wieder ab. Auf diese Weise
wird nicht nur der Transport des ausgehobenen Ma-
terials erspart, sondern gleichzeitig ein nicht benutz-
bares Stück Land in guten kulturfähigen Boden um-
geschaffen. — Ich mußte bei allen diesen großarti-
gen Arbeiten an den zweiten Teil des »Faust« den-
ken. — Wieder an einer anderen Stelle sah man von
der Böschung einer durchstochenen Bodenwelle auf
ein Stück ausgehobenen Kanal, der noch trocken lag,
wie in ein tiefes Tal hinab. Ameisenartig arbeiteten
die Menschen da unten, keuchten und pfiffen die
Lokomotiven und ächzten die Trockenbagger. — Alle
diese Bagger sind groß wie Häuser, und alle natür-
lich arbeiten mit Dampf kraft. — Sieben Millionen Ku-
bikmeter Erde sind etwa zu bewegen. — Die ganze
Strecke ist in sogenannte Lose eingeteilt, die an Un-
ternehmer vergeben sind. Einer derselben hat allein
vier Millionen Mark in Arbeitsmaterial stecken. Jedes
Los steht unter einem Baubeamten, der die Arbeiten
kontrolliert und leitet. Für die Arbeiter sind Baracken
aus Wellblech gebaut, kleine, einzeln liegende Häus-
chen mit je zwei Zimmern, hell und freundlich. Die
Verpflegung dieser Armee von Arbeitern wird von
der Kanal-Bauinspektion geleitet. Der Mann hat Woh-
nung, Morgenkaffee und Mittagsbrot für 60 Pfennig
täglich, er bekommt 3 Mark Lohn, so daß er also täg-
lich nach Bezahlung seiner Bedürfnisse 2,40 Mark er-
übrigen kann. — Natürlich mußten wir, um all dies
zu sehen, wiederholt aus- und wieder einsteigen, was
bei dem feinen Regen, der anfing zu fallen, nicht ge-
rade angenehm war. — Onkel Helmuth hat aber alles
sehr gut überstanden und ist ganz wohl.
159
Bei der Stadt Rendsburg gingen wir durch die
Schleuse des alten Eider-Kanals, die an beiden Sei-
ten von Hunderten von Menschen besetzt war, und
fuhren noch ein ganzes Stück auf die Untereider hin-
aus, drehten dann um und kamen um 5 Uhr in den
auf dem Rendsburger Bahnhof bereitstehenden kai-
serlichen Sonderzug, der uns nach Kiel zurückführte.
— Heute morgen waren Onkel Helmuth und ich beim
I. Seebataillon, wo er die Kaserne besichtigte und
mit dem Offizierkorps frühstückte, auch ließ er sich
mit den Herren zusammen photographieren, zu de-
ren größter Freude. — Dann fuhren wir spazieren
und kamen um 1 Uhr zum Frühstück ins Schloß zu-
rück. Nach demselben waren wir auf der »Moltke«, die
heute morgen in Dienst gestellt wurde, wo wir ein-
gehend das ganze Schiff besichtigten, das in drei Ta-
gen in See gehen soll. — Es ist ein schönes stolzes
Schiff mit 3 Masten und 2 Schrauben, ganz weiß ge-
strichen, führt 12 schwere Geschütze und 430 Mann
Besatzung. Unter dem Bugsprit ist Onkel Helmuths
Kopf in riesiger Größe angebracht und die Mann-
schaft trägt den Namen »Moltke« auf der Mütze.
♦Neues Palais, 15. Mai 1891.
Der Kaiser war sehr gnädig und gütig gegen mich,
ich mußte ihm noch viel von Onkel Helmuth er-
zählen. Ebenso die Kaiserin.
Berlin, 7. November i8gi.
Um 5 Uhr hatte der Kaiser sich bei dem Reichs-
kanzler zu Tisch angesagt, und wir fuhren um 4 1/i Uhr
mit Sonderzug nach Berlin. Ich aß zum erstenmal in
den Räumen, in denen mir noch der Geist des ge-
waltigen Vorgängers zu wehen schien. Was haben
* Diensttuender Flügeladjutant S. M. des Kaisers.
l60
diese Zimmer alles erlebt! Auch dem Kaiser kamen
die Erinnerungen mächtig herauf und wie wir weg-
fuhren, sprach er sich mir gegenüber wieder einmal
mit großer Offenheit aus, voll Bitterkeit und rechtem
Herzenskummer über die trüben Erfahrungen, die er
mit krassem Undank gemacht hat. Er tat mir so leid,
denn kaum jemand versteht es, wie tief ihn das Zer-
würfnis mit Bismarck berührt und wie innerlich er
den Bruch empfindet.
Wartburg, 23. April 1892.
Der Großherzog hat die Burg, die arg zerfallen war,
mit großer Pietät restaurieren lassen. Alles was zu er-
halten war, ist erhalten und das Neue genau nach
den alten Meistern angefügt. Man glaubt mitten in
das Mittelalter hineinzutreten, wenn man das nied-
rig gewölbte Tor durchschritten hat und nun auf den,
von gewachsenem Fels gebildeten Burghof tritt. —
So stand die Burg da, wie unter der Regierung des
Landgrafen Philipp und der heiligen Elisabeth die
Minnesänger aus allen deutschen Gauen zu ihr hin-
aufzogen, um in dem Festsaal den Sängerkrieg mit
Sang und Harfenspiel auszufechten. Das sind die
Schwellen, die Heinrich von Ofterdingen, Hartmann
von der Aue, Walther von der Vogelweide und Tann-
häuser überschritten, das ist derselbe Saal, in dem
ihre Weisen ertönten und Widerhall weckten, so
weit die deutsche Zunge klang. — Dies ist das Frauen-
gemach, in dem die heilige Elisabeth lebte, da steht
die alte Truhe, in der sie das Brot und den Wein für
ihre Armen aufbewahrte, das sich in ihrem Korbe in
Rosen verwandelte, als der Gemahl sie wegen ihrer
verschwenderischen Milde hart anließ. Noch tragen
dieselben Säulen die Wölbungen, die sich damals
über ihr wölbten, und auf dem zerschlissenen Est-
Moltlce. 11. l6l
rieh hat ihr Fuß gewandelt. — Leider reicht meine
Zeit nicht aus, um alles zu schildern. Der Großherzog
sagte mir aber gestern: »Sagen Sie Ihrer Frau Ge-
mahlin, ich lüde sie ein, mit Ihnen zusammen mich
auf der Wartburg zu besuchen. Grüßen Sie sie sehr
von mir.«
Weimar, 10. Oktober 1892.
Die wenigen freien Stunden, die mir blieben, habe
ich benutzt, um mir das Goethe-Haus und die von
ihm eingerichtete Bibliothek anzusehen. Das Sterbe-
zimmer, ein kleiner, nach dem Garten zu belegener
Raum, in dem ein Bett mit groben Laken, der vor
dem stehende Lehnstuhl, in dem Goethe starb, sein
ganz kleiner Waschtisch mit einfachster Wasch-
schüssel und einem braunen irdenen Wassergefäß
stehen, ist völlig so erhalten, wie es war. Ein feier-
liches Gefühl überkommt einen, wenn man in dieses
Kämmerchen eintritt, in dem nicht einmal ein Ofen
steht, und dies schmucklose, fast ärmliche Zimmer
betrachtet, in dem einer der größten Geister sich von
der irdischen Hülle loslöste. Das danebenliegende Ar-
beitszimmer zeigt dieselbe Einfachheit. Steife grad-
linige Möbel ohne jede Verzierung, ohne jeden Kom-
fort. Die reichbelebte geistige Welt, in der er lebte,,
ließ ihn wohl keinen Wert auf die Äußerlichkeiten
legen. Gerne hätte ich stundenlang in diesen Räumen:
geweilt, in denen alle von ihm angelegten und selbst
geordneten Sammlungen aufbewahrt werden, aber die
Zeit war knapp bemessen, und ich mußte mich mit
flüchtigem Durchwandern begnügen.
Berlin, 15. Dezember 1892..
Daß Du offenen Sinn hast für die schönen alten
Erinnerungen, an denen Weimar so reich ist, weiß*
162
ich ja und kann mir Dein heiliges Gruseln vorstellen,
mit dem Du die Stätten betrittst, über denen noch ein
Hauch der großen Geister schwebt, die dort gelebt
und — wie Du meinst — gelitten haben. Gewiß haben
sie gelitten, wie hätten sie sonst so Großes schaffen
können. — Wie der Mensch mit Schmerzen geboren
wird, so gehen auch seine besten geistigen Schöp-
fungen aus Leid und Schmerz hervor, und was er
selber durchlitten hat, wird zur Wohltat für die Mit-
menschen. — Die äußere Umgebung dieser Geistes-
heroen war schlicht und einfach, sie bauten sich ihre
Tempel im Inneren, der Mann, der einen »Faust«
empfinden und ausdrücken konnte, ist auch nicht
vorstellbar inmitten der Bequemlichkeiten unseres
modernen Lebens.
KABINETTSORDER.
Ich habe Sie heute zum Oberstleutnant befördert und gereicht
es Mir zum Vergnügen, Ihnen dies hierdurch bekanntzumachen.
Berlin, den 27. Januar 1893.
Wilhelm R.
An Meinen diensttuenden Flügeladjutanten, Major v. Moltke.
KABINETTSORDER.
Ich ernenne Sie hierdurch zum Kommandeur der Schloßgarde-
Kompagnie.
Potsdam, den 9. Februar 1893.
Wilhelm R.
An Meinen Flügeladjutanten, Oberstleutnant v. Moltke.
Schloß Urville, 3. September 1893.
Wir haben eine vollgepfropfte Zeit hinter uns, und
es wird ja noch vierzehn Tage so weitergehen. — Die
Beleuchtung des Rheins in Koblenz am 1. September
war wunderbar schön. — Von Trier haben wir nicht
viel gesehen, sind nur durchgeritten, unter anderem
163
auch durch die berühmte Porta nigra, eins der schön-
sten Bauwerke altrömischer Zeit. — Heute morgen
sind wir von Koblenz nach Metz gefahren, wo großer
Feldgottesdienst stattfand. Dann ritten wir mit dem
Kaiser an der Spitze der gesamten Garnison nach Metz
hinein bis auf die Esplanade, wo der Kaiser unter
dem Denkmal des alten Kaisers Wilhelm die Trup-
pen an sich vorbeimarschieren ließ.
Man hat von dort oben einen herrlichen Blick auf
das Moseltal und die dahinter liegende imposante
Höhe des Mont St. Quentin, ein großartiges Panora-
ma. — Die Beteiligung der Bevölkerung in Metz war
mäßig, es waren nicht allzuviel Leute auf den Stra-
ßen. Die Fenster dünn besetzt, von der Landbevölke-
rung fast nichts zu bemerken, dennoch wurde mir
gesagt, daß die Beteiligung eine viel regere sei, als
beim letzten Kaiserbesuch.
Von Kurzell bis hier ans Schloß fährt man keine
zehn Minuten. — Die ganze Chaussee war dicht be-
setzt mit Schulen, Vereinen pp., alle mit deutschen
Fahnen und Fähnchen, aber natürlich alles gelieferte
Ware. Hier war auch ein größerer Teil der Land-
bevölkerung zusammengeströmt, der sich spontan an
den Huldigungen beteiligte.
Schloß Urville, 5. September 1893.
Heute haben wir den ersten Manövertag gehabt.
Die Übungen sind sehr interessant. Es klingt merk-
würdig, wenn der Kaiser an einer Gruppe Landleute
vorbeikommt und dieselben mit Begeisterung vive
l'empereur rufen. — Die frische und schöne Erschei-
nung des Kaisers wirkt sichtlich auf die Leute. Alles
spricht hier französisch, und die Leute sehen aus wie
Stockfranzosen, Blusen, Jabots und weiße Hosen.
164
Schloß Urville, 8. September 1893.
Es ist 4 Uhr morgens, ich sitze mit Säbel und
Schärpe bei der Lampe, um das Tagwerden abzu-
warten. Der Kaiser führt heute die zu einem Kaval-
lerie-Korps vereinigten beiden Kavallerie-Divisionen,
und wir sind heute Zuschauer, da er einen Kavallerie-
stab hat. Wir sind diese Tage sehr matinös, jeden
Morgen um 3 Uhr auf und abends nicht vor 11 oder
12 Uhr zu Bett. — Der Kaiser führte gestern das
XVI. Korps. Unsere Pferde, Schwadronspferde, sind
sehr abgetrieben, der Boden ist ungemein schwierig
für sie, steinhart mit großen festen Klumpen und Ge-
röllsteinen, dabei immer bergauf und -ab. Ich staune
oft über die Leistungsfähigkeit der Pferde, die zum
Teil erst bei Dunkelwerden ins Biwak kommen und
morgens um 2 Uhr wieder gesattelt werden, um den
ganzen Tag unter dem Sattel zu bleiben ohne Futter
und Tränke.
Schloß Karlsruhe, 12. September 1893.
Übermorgen ist der letzte Manövertag hier, dann
kommen noch die beiden Tage in Stuttgart, und dann
ist das Manöver vorübergeflogen, kann ich wohl sa-
gen. Es kommt mir vor, als ob wir eben erst mit dem-
selben angefangen hätten, mich hat noch kaum ein
Manöver so interessiert, wie das diesjährige. Die
nicht unbedeutenden körperlichen Anstrengungen be-
kommen mir ausgezeichnet, ich fühle mich wohl und
frisch und könnte noch Wochen so aushalten.
Besuch des Fürsten Bismarck bei Sr. Majestät dem
Kaiser in Berlin am 26. Januar 1894.
Am Freitag, den 26. Januar 1894, mittags 1 Uhr, war
das Hauptquartier Sr. Majestät des Kaisers und Kö-
165
nigs nach dem Berliner Schloß, Portal 5, bestellt, um
daselbst bei der erwarteten Ankunft des Fürsten Bis-
marck anwesend zu sein. Es waren zugegen der Kom-
mandant des Hauptquartiers, General v. Plessen, die
Flügeladjutanten Kapitän zur See v. Arnim, Oberst-
leutnant v. Scholl, v.Arnim II, v. Moltke, Major v.Ja-
kobi. Der Oberst v. Kessel, Kommandeur des 1. Garde-
Regiments, war ebenfalls von Sr. Majestät zum Emp-
fang befohlen worden. Außerdem die Kabinettschefs
General v. Hahnke, Admiral v. Senden, Geheimer Ka-
binettsrat v. Lucanus. Um dem Empfang den Charak-
ter des Militärischen zu wahren, hatte Se. Majestät
befohlen, daß die Offiziere im Dienstanzug, Achsel-
stücke und hohe Stiefel, erscheinen sollten. Der
Flügeladjutant Major Graf Moltke, den der Kaiser
drei Tage vorher mit einem Handschreiben, in dem
er den Fürsten einlud, als sein Gast nach Berlin zu
kommen, nach Friedrichsruh geschickt hatte, war für
die Anwesenheit des Fürsten zu ihm kommandiert
und erwartete mit Sr. Königlichen Hoheit dem Prin-
zen Heinrich von Preußen, dem Kommandanten
Oberst v.Natzmer und dem Gouverneur, Generaloberst
v. Pape, die Ankunft des Fürsten auf dem Lehrter
Bahnhof. Zur Vertretung des Grafen Moltke, welcher
den II. Dienst bei Sr. Majestät hatte, war ich kom-
mandiert. Ich kam um 12 Uhr ins Schloß. Vor dem
Brandenburger Tor und Unter den Linden wogte be-
reits eine dichtgedrängte Menge, den Fürsten erwar-
tend, und immer neue Scharen zogen auf der Char-
lottenburger Chaussee und aus den Nebenstraßen
herbei. Überall sah man frohe, erwartungsvolle Ge-
sichter. Das Wetter war schön, die öffentlichen Ge-
bäude hatten auf Allerhöchsten Befehl geflaggt, viele
Privathäuser waren festlich geschmückt. In der Ein-
fahrt des Portals 1 im Schloß stand bei meiner An-
166
kunft eine Deputation des 7. Kürassier-Regiments, be-
stehend aus dem Regimentskommandeur, Grafen Klin-
kowström, dem Rittmeister v. Zitzewitz, einem Leut-
nant und sechs Unteroffizieren im Paradeanzug mit
Küraß, die Se. Majestät herbefohlen hatte, da er be-
absichtigte, den Fürsten zum Chef dieses Regiments
zu ernennen. Ich ging ins Adjutantenzimmer hin-
auf, wo Kapitän v. Arnim, welcher den I. Dienst hatte,
anwesend war. Schon um 12V2 Uhr meldete uns der
Leibjäger, daß Se. Majestät sich soeben durch den
Nonnengang nach der für den Fürsten bereitgehalte-
nen Terrassenwohnung bei Portal 5 begebe. Wir eil-
ten rasch hinterher und trafen den Kaiser auf der
Theatertreppe. Se. Majestät trugen die Uniform der
Gardes du Corps, blauen Waffenrock, hohe Stiefel,
Achselstücke, Helm und Schärpe. Der Kaiser wollte
gerade die Treppe hinaufsteigen, als wir ihn erreich-
ten und Arnim ihn darauf aufmerksam machte, daß
er im Gegenteil hinuntergehen müsse, um nach Por-
tal 1 zu kommen. Er war augenscheinlich nervös und
aufgeregt, gab keine Antwort, drehte kurz um und
ging rasch die Treppe hinab, während wir ihm folg-
ten. Unterwegs versuchte Arnim ein paarmal, einen
Befehl von ihm zu erlangen, wann die Deputation
der 7. Kürassiere vorgeführt werden sollte usw., er-
hielt aber nur kurze, abweisende und unfreundliche
Antworten in ungeduldigem Ton. Wie wir in die Woh-
nung eintraten, waren Kammermädchen und Lakaien
noch damit beschäftigt, Blumenkörbe und riesige
Sträuße, die von vielen Seiten für den Fürsten abge-
geben waren, in den Zimmern zu ordnen. Der Haus-
marschall v. Lyncker lief ab und zu und beschleu-
nigte die Arbeit. Der Teppich wurde gefegt und Tische
abgewischt, allgemeine Unruhe herrschte, die noch
erhöht wurde, als der Kaiser befahl, alle Blumen aus
167
dem Wohnzimmer hinaus und in das Vorzimmer zu
bringen, da der Geruch zu stark sei. Derselbe war in
der Tat betäubend, die Fenster mußten geöffnet wer-
den. Draußen vor der Rampe stand die Menge Kopf
an Kopf , das dumpf e Brausen sich drängender Volks-
massen tönte herein, man hörte das Stampfen der
Pferde der berittenen Schutzmannschaft auf dem
Asphalt. Die Mitte des Schloßplatzes war in breiter
Ausdehnung frei gehalten, unter den Fenstern der
Wohnung stand eine Kompagnie des 2. Garde-Regi-
ments mit Fahne und Musik im Paradeanzug als
Ehrenwache. Der Kaiser ging unruhig durch die Zim-
mer. Um ihn herum schleppten Bedienstete die Blu-
menkörbe und gingen Mädchen mit Staubbesen und
Wischtuch, um Teppich und Möbel zu reinigen.
Wir drückten uns in eine Ecke und sahen dem Ge-
haste zu. Endlich war Ordnung geschaffen und die
Leute wurden hinausgejagt. Nach und nach fanden
sich die zum Empfang Befohlenen ein. Sie scho-
ben sich hin und her, keiner wußte, wo wir Aufstel-
lung nehmen sollten, und alles flüsterte leise. Der
Kaiser sprach diesen und jenen hastig an, hatte aber
keine Ruhe, brach kurz ab und ging wieder in ein an-
deres Zimmer. Plötzlich schritt er rasch auf den Aus-
gang zu und ging durch das Portal auf den Schloß-
platz hinaus. Arnim und ich folgten. Der Kaiser ging
an den rechten Flügel der Ehrenkompagnie heran,
bot derselben Guten Morgen und schritt die Front
ab. Dann kehrte er ebenso rasch und ohne ein Wort
zu sagen in das Schloß zurück. Dann befahl er, daß
eine Sektion von der Schloßwache die Rampe be-
setzen und keinen Menschen auf dieselbe hinauflas-
sen sollte. Dies geschah. Es war schon vorher kein
Mensch auf der Rampe gewesen. Jetzt traf auch der
Oberhofmarschall Graf zu Eulenburg ein, ebenso die
168
Kabinettschefs, als letzter, wie gewöhnlich, der Ge-
neral v. Hahnke. Der Kaiser hatte schon wiederholt
nach jedem einzelnen gefragt, ob er noch nicht da
sei. Es war inzwischen i Uhr geworden, und alle
waren versammelt. Tags zuvor hatte der Kaiser be-
fohlen, daß die beiden ältesten Prinzen von einem
Flügeladjutanten bei Ihrer Majestät der Kaiserin ab-
geholt und nach Eintreffen des Fürsten zu seiner Be-
grüßung hinuntergeleitet werden sollten. Der General
v. Plessen hatte den Oberstleutnant v. Scholl hierfür
bestimmt. Dieser trat jetzt an den Kaiser heran und
fragte, wann Se. Majestät befehle, daß die Prinzen ge-
holt werden. Der Allerhöchste Herr wurde hierauf
sehr ungehalten und sagte, er werde schon rechtzei-
tig befehlen, was geschehen solle, worauf Scholl sich
stumm zurückzog. Der Oberhofmarschall traf inzwi-
schen die näheren Anordnungen. Das Hauptquartier
sollte sich im Vorzimmer aufstellen, um den Fürsten
zuerst zu begrüßen; der Kaiser hatte befohlen, daß
der General v. Plessen uns alle vorstellen solle. Se. Ma-
jestät verblieben im Vorzimmer. Der Fürst sollte hier
alleine zu ihm eintreten. Auf einem Tisch des Vor-
zimmers lag ein großes Album, auf dessen Deckel in
goldenen Lettern gedruckt war: »Der neue Herr«. Es
enthielt eine Sammlung von Photographien einer
Reihe von Szenen aus diesem Schauspiel, und mochte
wohl schon Jahr und Tag dort gelegen haben. Ich
schlug das Album auf und betrachtete das Bild. Es
war die Szene, wo der Kanzler Graf Schwarzenberg
vor dem Kurfürsten kniet, der, hochaufgerichtet, vor
ihm steht. Ich machte den Grafen Eulenburg auf das
Album aufmerksam, das hier so wenig ä propos war,
und er legte es sorgsam in eine Schublade. — Um
i10 Uhr traf der General v. Plessen, der zum Emp-
fang auf der Bahn gewesen war, mit der Meldung
169
ein, daß der Fürst angelangt sei, daß in seiner Be-
gleitung außer dem Dr. Schwenninger und dem Dr.
Chrysander, die erwartet wurden, auch der Graf Her-
bert Bismarck sich befinde, der nicht erwartet wurde.
Dem Kaiser war dies augenscheinlich unangenehm.
Er befahl, daß der Graf Herbert im Vorzimmer blei-
ben und nicht mit dem Fürsten zu ihm hineinkom-
men solle. Das Hofmarschallamt war in großer Auf-
regung, wie man sich mit diesem unerwarteten Fait
accompli abfinden solle. Der Fürst konnte jetzt je-
den Moment eintreffen. Wir hatten im Vorzimmer
Aufstellung genommen und blickten in gespannter
Erwartung durch das Fenster. Jetzt hörte man brau-
senden Jubel von den Linden herauftönen. In die
vor dem Schloß gestaute Menge kam Bewegung, al-
les schob und drängte nach vorwärts, alle Köpfe wa-
ren der Schloßbrücke zugewandt, über die in schlan-
kem Trabe, mit in der Sonne blitzenden Kürassen, die
voranreitende Eskorte daherkam, dahinter der große,
geschlossene Galawagen, in dem der Fürst mit dem
Prinzen Heinrich saß. Vor der Ehrenwache ange-
kommen, schwenkte die Eskorte ab, der Wagen hielt,
unterstützt von dem Prinzen Heinrich stieg der Fürst
aus und ging auf den rechten Flügel der Kompagnie
zu. Diese präsentierte, und in die jauchzenden Zu-
rufe, den brausenden Jubel der Menge, die die Hüte
schwenkte und mit Tüchern wehte, mischten sich
die Klänge der Musikkapelle, die den Präsentier-
marsch spielte. Während der Fürst mit seinem lang-
samen, schleppenden Schritt die Front der Kom-
pagnie hinunterging, drückten wir die Nasen an die
Fensterscheibe. Im Nebenzimmer, dessen Türen ge-
schlossen waren, war der Kaiser allein. Was mag in
diesem Augenblick durch die Seele des Monarchen
gezogen sein, wie er den Mann, der ihm so bitter weh
170
getan und dem er so großmütig verziehen, umtost von-
der Begeisterung Tausender an der Front seiner Garden
dahinschreiten sah. Vier Jahre des Grolls lagen zwi-
schen ihnen, und in wenigen Minuten sollten sie sich
Auge in Auge gegenübertreten. Nachdem der Fürst die
Front der Ehrenkompagnie abgeschritten, bestieg er,
vom Prinzen Heinrich unterstützt, wieder den Wa-
gen, der nach wenigen Augenblicken unter dem Por-
tal des Schlosses hielt. Die Türen wurden geöffnet,
und am Arm des Prinzen trat der Fürst in das Vor-
zimmer. Wir alle verneigten uns tief. Die mächtige
Figur des Altkanzlers, der seinen sorgsamen Führer
um Kopfeslänge überragte, schien ungebrochen, ge-
rade und aufrecht, der runde Kopf mit den gewalti-
gen, von dichten Brauen überbuschten Augen war
von blasser Farbe. Er überflog uns mit einem raschen
Blick und nahm die Vorstellung durch den General
v. Plessen entgegen, der unsere Namen nannte. Er
begrüßte jeden von uns mit einer freundlichen Hand-
bewegung. Dem Oberst v. Kessel gab er die Hand
und sah ihm forschend ins Gesicht. »Kessel?« sagte er
in fragendem Ton. »Mir scheint, Sie sind kleiner ge-
worden seit damals.« Wie der General v. Plessen den
Namen des Geh. Kabinettschefs v. Lucanus nannte,
der etwas verlegen schien und sich sehr zurückhielt,
machte der Fürst eine steife Verbeugung und sagte:
»Ich habe schon von früher her die Ehre.« Nachdem
die Vorstellung vorüber, nahm ein Lakai dem Fürsten
den Mantel ab. Er hatte den dunklen Waffenrock der
Kürassiere an, lange Beinkleider, und knöpfte ruhig an
seinen Handschuhen herum. Seine Hände zitterten
ein wenig, und er war augenscheinlich gespannt und
aufgeregt. Der Prinz Heinrich trat nun an ihn heran
und sagte: »Wollen Ew. Durchlaucht nun zu Sr. Ma-
jestät hereintreten.« Der Fürst verbeugte sich stumm.
171
Die Flügeltüren wurden geöffnet, und er trat über
die Schwelle. Der Kaiser, welcher mitten im Zimmer
stand, trat ihm rasch mit ausgestreckter Hand ent-
gegen, die der Fürst, sich tief verneigend, mit beiden
Händen ergriff. Da beugte der Kaiser sich vor und
küßte ihn auf beide Wangen. Die Türen schlössen
sich, die beiden waren allein. Draußen stand Kopf an
Kopf. Die Menge war bis an die Rampe herange-
drängt und schrie ihre unaufhörlichen Hochs, die
Hüte wurden geschwenkt, mit den Tüchern gewinkt,
und immer wieder erneuerten sich die Zurufe. Schließ-
lich fing einer an »Deutschland, Deutschland über
alles« zu singen, andere fielen ein, und bald scholl
das Lied vielhundertstimmig empor, unterbrochen
von immer wiederholten Hurras, sobald jemand sich
am Fenster zeigte. — Nach etwa zehn Minuten öff-
nete der Kaiser wieder die Tür und befahl, daß die
beiden ältesten Prinzen geholt werden sollten. Dann
winkte er den Prinzen Heinrich hinein. Während S choll
ging, um die Prinzen zu holen, blieben wir im Vor-
zimmer im Gespräch mit dem Dr. Schwenninger und
Herbert v. Bismarck. Dann kamen die Prinzen in der
Uniform des i. Garde-Regiments und mit dem Bande
des Schwarzen-Adler-Ordens. Sie blieben etwaf ünf Mi-
nuten im Zimmer des Fürsten und wurden dann von
Scholl wieder zurückgeleitet. Nachdem abermals et-
wa zehn Minuten verstrichen waren, öffnete der Kai-
ser wieder die Tür, um uns zu entlassen. Sein Gesicht
war hell und heiter, es lag auf demselben wie der
Schimmer einer großen Freude. Während die übri-
gen Herren von den Hofmarschällen zum Frühstück
hinausgeleitet wurden, gingen Arnim und ich auf das
Adjutantenzimmer, um ebenfalls zu frühstücken. Dann
zogen wir uns um zum Reiten. Der Kaiser hatte um
1/23 Uhr die Reitpferde bestellt. Im Portal i stand noch
172
immer, nun seit über zwei Stunden, die Deputation
des 7. Kürassier-Regiments. Erst nachdem das Früh-
stück beendet, hatte der Kaiser dem Fürsten die Ka-
binettsorder überreichen lassen, in der er zum Chef
dieses Regiments ernannt wurde, und ihm die Depu-
tation vorstellen lassen. Der Fürst soll tief gerührt
und dankbar gewesen sein.
Der Fürst war inzwischen mit dem Kaiser und dem
Prinzen Heinrich zu Ihrer Majestät der Kaiserin hin-
aufgegangen, um dieselbe zu begrüßen. Das Früh-
stück wurde von den beiden Majestäten, dem Prin-
zen Heinrich und dem Fürsten allein eingenommen.
Es wurde 724 Uhr, bevor wir abritten. Vor dem
Schloß und Unter den Linden wogten noch immer
die Menschenmassen hin und her. Wie sie des Kai-
sers ansichtig wurden, erhob sich ein unendlicher
Jubel. Alles drängte ihm zu. Die Schutzmannschaft
bemühte sich vergeblich, die Leute zurückzuhalten,
die alle Schranken durchbrachen. »Hoch! edler Kai-
ser!« »Es lebe unser großmütiger Kaiser!« »Hoch! ge-
liebter Kaiser!« scholl es von allen Seiten. Wir muß-
ten rechts und links von Sr. Majestät reiten, um ihn
einigermaßen frei zu halten. Die ganzen Linden hin-
unter begleitete uns der Jubel, direkt aus dem Her-
zen des begeisterten Volkes strömend. Auf der Char-
lottenburger Chaussee, wo der Kaiser, den Reitweg
benutzend, anfing zu traben, rannten die Leute atem-
los neben uns her und begleiteten uns mit ihren Ru-
fen, eine ganze Wagenkolonne fuhr auf der Chaussee
neben und hinter uns, und die Insassen wehten uner-
müdlich mit Tüchern und Hüten. Zuletzt hielten nur
noch die Jungens aus, bis auch von diesen einer nach
dem andern erschöpft zurückblieb, mit einem keu-
chenden »Adieu, geliebter Kaiser!« den Lauf auf-
gebend. Wir ritten nach dem Hippodrom, wo wir un-
173
sere viertausend Meter abgaloppierten. Dann ging es
in einem Galopp nach dem Brandenburger Tor durch
den Tiergarten zurück. Der Kaiser war in sehr ge-
hobener Stimmung. Er sprach lebhaft und scherzte
mit uns. Er erzählte, wie er dem Fürsten beim Früh-
stück von seinem besten Rheinwein vorgesetzt und
wie der ihm gemundet habe. Die begeisterten Ova-
tionen, deren Gegenstand er geworden war, hatten
ihn augenscheinlich tief ergriffen, und er freute sich
des Sieges, den er über sich selbst gewonnen, des
schwersten, den ein Mensch erringen kann. Von dem
Augenblick an, wo wir uns dem Brandenburger Tor
näherten, wo schon eine dichte Menge die Rückkehr
des Kaisers erwartete, umbrauste uns wieder derselbe
Jubel. Es war fast dunkel, wie wir im Schloß wieder
anlangten.
Um 6V4 Uhr fand in den Räumen des Fürsten ein
kleines Diner statt. Wie wir, dem Kaiser folgend, hin-
untergingen, gab der Kaiser mir den Befehl, für den
morgigen Tag, seinen Geburtstag, eine Ehrenkom-
pagnie zur Paroleausgabe nach dem Zeughaus zu be-
stellen. Ich ging auf unser Zimmer, um den Befehl
auszufertigen. Wie ich wieder hinunterkomme, öff-
net mir ein Lakai eine Tür, ich trete ein und stehe
dem Kaiser gegenüber, der mit dem Fürsten und dem
Prinzen Heinrich im Gespräch ist. Ich melde dienst-
lich, daß der Befehl ausgeführt sei, und stehe stramm
neben der Tür. Indem sagt der Kaiser zum Fürsten:
»Das ist der Oberstleutnant von Moltke, der lange
Adjutant des verstorbenen Feldmarschalls war.« Der
Fürst nickt freundlich und sagt: »Oh, ich kenne Herrn
von Moltke, und habe ihn auch schon begrüßt.« Dar-
auf sagt der Kaiser: »Die beiden« (womit er Cuno von
Moltke und mich meint) »sind nämlich Vettern.« Wie
ich nun wieder zum Zimmer hinauswischen will, in
174
das ich so unvermutet geraten, sagt mir der Kaiser:
»Sagen Sie doch dem Grafen Eulenburg, daß wir
hungrig wären und gerne essen möchten.«
Die im Vorzimmer gedeckte Tafel hatte elf Kuverts.
Rechts vom Kaiser saß Prinz Heinrich, links der
Fürst. Außerdem nahmen an dem Diner teil: Herbert
v. Bismarck, Graf Eulenburg, Graf Klinkowström, der
als Ordonnanzoffizier kommandierte Leutnant von
Niesewand von den 7. Kürassieren, v. Arnim, der Adju-
tant des Prinzen Heinrich, v. Colomb, Cuno v.Moltke
und ich. Die Unterhaltung war animiert und zwang-
los, der Verkehr zwischen dem Kaiser und dem Für-
sten herzlich und ohne alles Gene. Wiedergab es den
alten Rheinwein, dem der Fürst kräftig zusprach. Mit
seiner leisen, stockenden Stimme erzählte er Geschich-
ten von der Kaiserin Augusta, und wie sein alter Hund
Tyras einmal beinahe den Großherzog von Weimar
angepackt hätte, der ihn besuchte. Es wurde viel ge-
lacht, und auch Se. Majestät erzählte lebhaft und an-
geregt. Wie wir beim Braten waren, wurde Sr. Maje-
stät gemeldet, daß Graf Wilhelm Bismarck draußen
wäre, worauf der Kaiser befahl, es solle noch ein Ku-
vert aufgelegt und er hereingerufen werden. Der Graf
war aber inzwischen schon wieder fort und wurde
von den nachgeschickten Boten erst kurz vor Ende
des Diners eingebracht. Kaffee und Zigarren wurden
bei Tisch gereicht. Der Fürst rauchte ebenso wie der
Kaiser eine Zigarette. Der Kaiser hatte mit dem Für-
sten getrunken und ebenso mit den beiden Grafen
Bismarck. Um 7 Uhr fuhren wir nach dem Lehrter
Bahnhof voraus, wo wieder das ganze Hauptquartier
versammelt war. Der Kaiser begleitete den Fürsten
im Galawagen, dem eine Schwadron voraufritt. Wie
der Wagen vor dem Bahnhofsgebäude hielt, war der
Prinz Heinrich, der vorausgefahren, dem Fürsten
175
beim Aussteigen behilflich, dann folgte der Kaiser.
Beim Eintreten in die Bahnhofshalle gab der Kaiser
dem Fürsten den Arm und führte ihn die Stufen hin-
ab. Donnerndes Hurra der auf dem Perron versam-
melten Menschenmenge begrüßte beide. Vor dem Sa-
lonwagen nahm der Fürst Abschied von seinem Kai-
serlichen Herrn, der ihn wieder auf beide Wangen
küßte, er neigte sich über die Hand des Kaisers und
führte sie an seine Lippen. Seine Augen waren feucht.
Wie er eingestiegen und noch am offenen Fenster
stand, sagte ihm der Kaiser: »Nun, lieber Fürst, wer-
den Sie hoffentlich gut schlafen nach dem anstren-
genden Tage.« Und dann fügte er noch hinzu: »Wenn
ich im Februar nach Wilhelmshaven gehe, werde ich
einmal in Friedrichsruh anfragen, ob ich Sie besu-
chen kann.« — Dann pfiff die Lokomotive und der
Zug fuhr langsam hinaus, während der Fürst am Fen-
ster stand und mit der Hand winkte. Das Gewölbe
hallte wider von den Hurras der Leute, wie wir uns
zur Rückfahrt wandten. Uns war den ganzen Tag
hochzeitlich zumut gewesen.
Für Liza geschrieben von Helmuth.
Berlin, den 28. Januar 1894.
St. Petersburg, 17. November 1894.
Das ging alles so rasch und unerwartet, die Nach-
richt von dem Tode des Papas und unsere Abreise,
an der sich nun nichts mehr ändern ließ. — Nun habe
ich an der Bahre eines anderen Toten gestanden, an
einer Bahre, um die sich noch einmal aller Pomp
und Glanz des Irdischen entfaltet, bevor der stille
Mann, der auf ihr ruht, in der Gruft beigesetzt werden
wird, und zur selben Zeit liegt in Schweden der an-
dere stille Mann, wohl noch auf seinem einfachen
176
Bett, und welcher Unterschied ist nun geblieben zwi-
schen beiden? Sie sind gleich geworden vor dem all-
mächtigen Gleichmacher, sie sind dem menschlichen
Tun entrückt und Gott der Herr wird sie wägen ohne
Rücksicht auf das, was im Leben der Unterschied
zwischen ihnen war.
Hier tönen die Gesänge der Priester, Wolken von
Weihrauch steigen gen Himmel, und ein ganzes Volk
liegt auf den Knien, für den Toten zu beten — dort
spricht vielleicht gerade jetzt der einfache Landpfar-
rer ein schlichtes Gebet. — Wie rasch war der Wech-
sel der Geschehnisse auch für mich, die Taufe unter
dem frischen Eindruck der Todesnachricht, dann un-
mittelbar darauf die Abreise, der nächste Tag mit
dem Überschreiten der Grenze, die vielen fremdarti-
gen Eindrücke, die Ankunft heute morgen in Peters-
burg, gleich darauf der Besuch am Katafalk, wo wir
den mitgebrachten Kranz des Kaisers niederlegten,
dann im Laufe des Tages zwei Seelenmessen am
offenen Sarge, dazwischen eine endlose Fahrt mit
Einschreiben usw., alles in einem grauen, dampfenden
Nebel, in dem die Riesengebäude der Stadt gespen-
sterhaft ausschauen. Der tote Kaiser liegt in seinem
prächtigen Sarkophag in der Kathedrale der Peter-
Pauls-Festung, über ihm spannt sich ein Himmel von
Silberbrokat und Hermelin. Der Kaisermantel bedeckt
seine Figur. Der Kopf ist frei. Das Gesicht abgemagert
und eingefallen, die Hautfarbe fast braun, das Kopf-
haar dünn, die Züge scharf, von Leiden durchfurcht.
Es ist, als ob selbst die sonst so mächtige Stirn zu-
sammengesunken wäre, der Kopf sieht klein aus, als
ob er sich verstecken wollte in all der Pracht, die ihn
umgibt. Die Luft ist von Weihrauch geschwängert
und unaufhörlich tönt die Litanei der betenden Prie-
ster. — Das Volk strömt an den Sarg und küßt das
Moltke. 12. 177
Heiligenbild, das auf der Brust des toten Kaisers liegt,
und draußen weint der traurige Himmel über die Stadt
und über ganz Rußland.
St. Petersburg, 20. November 1894.
Die Beisetzung des verstorbenen Kaisers hat heute
stattgefunden. Es war eine ergreifende Zeremonie,
nur durch die Länge der Handlung etwas monoton.
Die Feier dauerte zweieinhalb Stunden. Um V211 Uhr
versammelten wir uns in der Peter-Pauls-Kirche, in
deren Mitte der Sarkophag mit der Leiche aufgebahrt
steht. Die Kirche ist nicht groß und die Tausende,
welche der Feier beiwohnten, standen dicht gedrängt,
ohne sich während der ganzen Zeit bewegen zu kön-
nen. — Die zahlreiche Geistlichkeit in prunkvollen
weißen Silberbrokatgewändern umstand den Sarg.
— Der berühmte Chor sang in der ergreifendsten
Weise, nie habe ich einen schöneren Gesang gehört,
die Bässe von der Tiefe einer Orgel und dazwischen
wehklagend weiche Sopranstimmen. Räucherwerk
füllt den Raum und steigt in blauen Wolken zur
hohen Wölbung hinan. Immer wieder erhebt der
Priester seine tiefe Stimme, um Gott um Frieden für
den Verstorbenen anzuflehen, und rhythmisch fällt
der Chor in die Schlußworte ein. — Endlich nimmt
die Familie Abschied von dem Toten. Zuerst die Kai-
serin-Witwe, dann der junge Kaiser, dann alle Groß-
fürsten und Großfürstinnen treten an den Sarg heran
und küssen den Toten auf die Stirn. Dann wird der
Sarg geschlossen und vom Kaiser und den Groß-
fürsten von dem Sarkophag herabgehoben und bis
dorthin getragen, wo er in die Gruft hinabgesenkt
werden soll. Der Kaiser selber legt den Hermelin-
mantel über den Sarg, und langsam sinkt er in die
Tiefe. — Das Gedränge beim Ausgang war fürchter-
178
lieh. — Nachmittags hatten wir noch das imposante
Schauspiel des Zurückbringens der Kronjuwelen in
das Winterpalais, fünfzehn vierspännige Wagen, alle
vergoldet und mit Scharlachsamt ausgeschlagen, führ-
ten die Kleinodien zurück. Alle Wagen mit Schim-
meln bespannt, die reiche goldene Geschirre tragen,
und von je vier Leuten in langen, goldgestickten
Scharlachmänteln am goldenen Zügel geführt wer-
den. Den Zug eröffnet eine Schwadron der Chevalier
garde, alle auf Rappen, mit dem Küraß und dem flie-
genden Doppeladler auf dem goldenen Helm. Eine
ebensolche Schwadron schließt den Zug. — Das dicht-
gedrängte Volk läßt diesen märchenhaft schönen Zug
schweigend an sich vorbei passieren. Die Entfaltung
der Pracht hier ist unbeschreiblich. Alle Maße sind
riesenhaft. Die Breite der Straßen, in denen sich Pa-
last an Palast reiht, steht im Einklang mit der Größe
der freien Plätze. Von dem Winterpalais, in dem wir
wohnen, kannst Du Dir eine Vorstellung machen,
wenn ich Dir sage, daß unter anderen hier ein Saal
ist, in dem bei großen Festen dreitausend Personen
an kleinen Tischen soupieren können. Über all die-
sen riesigen Massen liegt ein dichter, grauer Nebel,
der jede Fernsicht verhindert. — Wir bleiben noch
hier bis nach der Vermählung, die am 26. stattfindet.
St. Petersburg, 21. November 1894.
Wir waren heute wieder zu einer großen Zeremo-
nie in der Kirche, die diesmal an der geschlossenen
Gruft abgehalten wurde. Es war die letzte, und ich
kann sagen : Gott sei Dank. Auf die Dauer sind diese
Zeremonien ermüdend und fangen an theatralisch zu
wirken. Das Wesen verliert sich zu sehr unter äuße-
rem Gepränge und Schein. Ein stilles Gebet würde
erhebender sein.
179
Heute nachmittag bin ich zum erstenmal etwas in
die Stadt gekommen, aber einen rechten Eindruck
habe ich noch nicht erhalten. Es ist alles zu massig
und groß und dabei alles in den ewigen dicken Nebel
gehüllt, den selbst London nicht schöner aufweisen
könnte.
St. Petersburg, 23. November 1894.
Den heutigen Tag haben wir benutzt, um uns zwei
Sehenswürdigkeiten von Petersburg anzusehen, die
Isaakskirche und den Marstall. Die erstere ist in ihrer
Art ein Wunderbau. Sie liegt auf dem schönsten
freien Platz der Stadt, die sie mit ihrer vergoldeten
Kuppel hoch überragt. Da ganz Petersburg auf Sumpf-
boden steht, ist man genötigt gewesen, allen Gebäu-
den durch unzählige eingerammte Baumstämme eine
feste Unterlage zu schaffen. Um den Prachtbau der
Isaakskirche zu tragen, muß ein ganzer Wald von
Mastbäumen nötig gewesen sein. Breite Granitstufen
führen zu der Plattform hinan, auf welcher sie sich
erhebt. Die beiden Haupteingänge gegen Nord und
Süd werden durch zwei von Säulen getragenen Peri-
stylen gebildet. Diese Säulen sind sechsundfünfzig
Fuß hoch und sieben Fuß dick und bestehen jede aus
einem einzigen Granitblock, der bis zur Glätte des Mar-
mors poliert ist. Sie ruhen auf bronzenen Basen und
tragen ein bronzenes korinthisches Kapital. Über-
haupt ist die ganze Kirche durchweg aus Granit, Mar-
mor und Erz gebaut, im Gegensatz zu den meisten
übrigen Petersburger Kolossalbauten, die fast alle aus
Backsteinen aufgemauert sind. Mächtige Türen aus
Bronze mit reicher Hautrelief arbeit führen in das
Innere der Kirche, das in seiner ganzen Anordnung
an St. Peter in Rom erinnert. Nur ist dort die Kuppel
von doppelt so großer Spannung wie hier. Entspre-
180
chend dem byzantinischen Stil, ist hier die Kuppel im
Verhältnis zum Unterbau eng und hoch, in Halb-
kugelform. Ihre in der Höhe angebrachten Fenster
lassen nur ein gedämpftes Licht in den Raum drin-
gen, das Auge muß sich erst an das Halbdunkel ge-
wöhnen, und in diesem mystischen Licht, das man
übrigens in allen russischen Kirchen liebt, kommt die
Pracht des verwendeten Materials nicht voll zur Gel-
tung. Wie es der griechische Ritus vorschreibt, ist
auch hier das Allerheiligste von dem übrigen Raum
der Kirche durch die Bilderwand getrennt, wodurch
der Raum verengert wird. In der Ikonostate stehen
zunächst der Kaiserpforte zwei kolossale Säulen aus
poliertem Lapislazuli, daneben sechs solche aus Ma-
lachit. Zwischen diesen befinden sich Darstellungen
von Heiligen in dem schönsten Mosaik, den ich
mich erinnere gesehen zu haben. Ein Kirchendiener,
welcher sich unserer sofort bemächtigt hatte und mit
einem brennenden Wachslicht vor uns herleuchtete,
führte uns auch in das Allerheiligste selbst, in dem
ein aus Gold ausgeführtes Modell der Kirche von
sechs Fuß Höhe steht. Den Hintergrund schließt ein
Fenstergemälde, den griechischen Christus in der vor-
geschriebenen Haltung darstellend, ab. Das Allerhei-
ligste wird nur während des Zelebrierens der Messe
als solches behandelt, sobald der Gottesdienst vorbei
ist, verliert es jeden Anspruch auf besondere Berück-
sichtigung, meistens benutzen die Priester es als Gar-
derobe. Bewunderungswert sind die vielen aus mas-
sivem Silber hergestellten Kirchenleuchter, die über-
all im Schiff umherstehen und zum Teil weit über
Mannshöhe sind. Der ganze Bau, von Kaiser Niko-
laus I. ausgeführt, ist wohl die schönste griechisch-
katholische Kirche, die existiert.
Im Marstall sahen wir eine unendliche Reihe ver-
181
goldeter Prachtkutschen, meist aus der Zeit Katha-
rinas II., zum Teil von Boucher und Pesne gemalt
und mit Edelsteinen reich verziert, dann die Zere-
monienwagen für den Transport der Regalien, von
denen zehn ganz gleich sind, aus stark vergoldetem
Silberblech und rotem Samt gebildet. Mitten unter
dieser goldenen Pracht, die wirklich betörend wirkt,
steht das einfache Coupe des Kaisers Alexander II.,
dessen ganzer Rückteil von der Bombe zersplittert
ist, die unter dem Wagen krepierte, ohne den Kaiser
zu verletzen, der erst der zweiten Bombe zum Opfer
fiel. Eine ernste Mahnung für alle kommenden Herr-
scher!
St. Petersburg, 24. November 1894.
Wir haben heute morgen die hiesige Reitschule
besucht, zu der wir gelangten, nachdem wir fast eine
Stunde in der Irre gefahren waren. Die uns beige-
gebenen Lakaien sind das Stupideste, was denkbar
ist, der meinige hat mich noch nicht ein einziges Mal
richtig an Ort und Stelle gebracht. — Gegen Pferde
und Kutscher verfährt man hier mit großer Rück-
sichtslosigkeit. Keinem Menschen, der ein Diner oder
eine Abendgesellschaft besucht, fällt es ein, den Wa-
gen nach Hause zu schicken, er bleibt einfach auf
der Straße halten, der Kutscher, in seinen langen Pelz
gehüllt, schläft auf dem Bock, indem er den Kopf
gegen die Kante des Kutschkastens lehnt und die
Pferde stehen mit gesenkten Köpfen regungslos da.
— Von der drakonischen Strenge, mit der hier die
Polizei gehandhabt wird, habe ich ein Beispiel erlebt.
Ich hatte eines schönen Tages einen neuen Kutscher
und auf meine Frage nach dem alten, erwiderte mir
mein Lakai nur, der sei fortgeschickt. Am nächsten
Tage las ich in der Zeitung unter der Rubrik: Tages-
182
befehl des Herrn Stadthauptmanns — folgendes: Der
Aushilfskutscher des Marstallamts Iwan usw. wurde
nachts betrunken im Marstallgebäude angetroffen.
Zur Rede gestellt, gab er eine freche Antwort. Er ist
deswegen mit vierzehn Tagen Arrest, wovon acht
Tage bei Wasser und Brot abzusitzen, bestraft wor-
den, und der Aufenthalt in Petersburg ist ihm auf
zwei Jahre verboten. Der Fuhrherr, welcher diesen
Kutscher gestellt hat, ist in eine Strafe von fünfzig
Rubel zu nehmen. — Ich zweifle nicht, daß dieser
Iwan mein Rosselenker war, der die freie Zeit, die
ich ihm gelassen, in so verbrecherischer Weise ge-
mißbraucht hat.
Heute, wie gesagt, fuhren wir fast eine Stunde um-
her, mein Lakai brachte mich zu allen möglichen
Reitbahnen, nur nicht zur richtigen, wir landeten
auf einem Holzhof, kamen aber schließlich nach un-
endlichen Fragen an der Reitbahn an. — Hier sahen
wir in der sehr schönen, geräumigen Bahn eine Ab-
teilung dorthin kommandierter Offiziere reiten. Die
Leistungen waren nach unseren Begriffen recht man-
gelhaft. — Das Pferdematerial erbärmlich. Das Sprin-
gen über Hürde und Steinmauer schlecht. Kein ein-
ziges Pferd ging in glattem Sprunge über die Hinder-
nisse, fast alle stutzten und machten verhaltene
Sprünge. Die Tempos waren unausgeglichen, die Ab-
stände wurden gar nicht gehalten, der Sitz der Reiter
war lose, eine Einwirkung der Schenkel gar nicht zu
bemerken. Sodann sahen wir das Reiten der Kosaken-
offiziere, alle reiten die hohen tatarischen Sättel, auf
denen der Reiter in den Bügeln stehend über dem
Pferde schwebt. Die Zäumung ist die einfache Trense,
infolgedessen gehen alle Pferde mit der Nase in
der Luft und treten im Trabe unter sich. Der Schritt,
wo das Pferd sich losläßt, ist geräumig, Galopp wird
183
nicht geritten, nur Schritt, Trab und Karriere. Auch
hier war das Springen über die niedrige Hürde höchst
mangelhaft. Oftmals mußte das vor dem Hindernis
stutzende Pferd durch Hiebe mit der ledernen Ko-
sakenpeitsche, die jeder Reiter am Faustriemen trägt,
hinübergebracht werden. — Es wurde dann noch ein
Gestell in die Bahn gebracht, auf dem fingerdicke
Weidenruten aufgesteckt waren. Die Offiziere ritten
mit Rechtsauslage vom Fleck in der Karriere einzeln
ab an dem Gestell vorbei, und es kam darauf an, im
Vorbeijagen eine der Ruten mit dem Säbel zu durch-
hauen. Den meisten gelang dies Manöver, einige der
Stäbe waren glatt wie mit dem Rasiermesser durch-
schnitten. Der Kommandeur der Reitschule, der vor
einigen Wochen erst aus Hannover zurückgekehrt
ist, wo er einem Kursus unserer Reitschule beige-
wohnt hat, erzählte uns, daß er im vorigen Jahr acht-
zehn Pferde mit abgeschlagenen Ohren gehabt habe.
Wenn der haarscharfe Säbel nicht sehr geschickt ge-
führt wird, ist ein solches Malheur leicht erklärlich.
Wir sahen dann noch einzelne, wohl besonders aus-
gesuchte Leute, auf alten Schulpferden voltigieren. Sie
machten ihre Sache sehr gut, einer von ihnen hätte
gleich im Zirkus als Jockeireiter auftreten können.
Nachdem die Vorstellung beendet war, fuhr ich
nach der Kasan-Kathedrale, die berühmt ist wegen
ihres ungeheuren Reichtums an gediegenem Silber.
Die Kirche, ebenso wie die Isaaks-Kathedrale, im by-
zantinischen Stil erbaut, liegt auf einem freien Platz
am Newski Prospekt, der größten Straße Petersburgs.
Von beiden Seiten wird sie flankiert durch eine of-
fene, halbkreisförmige Säulenkolonnade, einer Nach-
ahmung der großen Kolonnade von St. Peter in Rom.
Im Inneren hat sich die Vorliebe der Russen für Säu-
len Genüge getan, die auch in den privaten und öf-
184
fentlichen Profangebäuden überall hervortritt, deren
Mehrzahl Säulenarrangements, freilich aus Backstein
und mit Kalk abgeputzt, zeigen. Im Inneren dieser
Kirche sind einige vierzig Granitsäulen aus einem
Stück aufgestellt. Da hierfür durchaus kein Platz war
und obgleich für die Säulen durchaus nichts zu tra-
gen ist als ihre eigenen Kapitale, so hat man sie in
doppelter Reihe gesetzt.
Ich sah das berühmte Bild der Mutter Gottes von
Kasan, das mit Juwelen und Edelsteinen bedeckt ist
und vor dem immer einige Menschen auf den Knien
liegen, mit der Stirn die Fliesen des Fußbodens be-
rührend. An den Säulen hängen eine Anzahl erober-
ter französischer Fahnen, ferner der erbeutete Mar-
schallstab des Marschalls Davoust und eine Anzahl
Schlüssel von eroberten Städten. An einer Seiten-
wand befindet sich das einfache Grabmal des Feld-
marschalls Kutusoff. Die Ikonostate mit prächtigen
Bildern geschmückt und von ungeheurer Größe, ist
fast ganz aus getriebenem Silber hergestellt. Eine
massive silberne Barriere, lang und hoch genug für
eine mäßige Brücke, trennt sie vom inneren Kirchen-
raum. Überall stehen hohe, silberne Kirchenleuchter
umher, auf denen Wachslichte von der Dünne eines
Bleistiftes bis zur Dicke eines Armes brennen. Die
Gläubigen stecken dieselben dort auf und bemessen
die Stärke derselben nach dem Maßstab ihrer Mittel
und — nach der Größe ihres Anliegens an die heilige
Mutter Gottes.
Um die wenigen Stunden, die mit bleichem Schein
den kurzen Petersburger Tag andeuten, auszunutzen,
schenkte ich mir das Frühstück und fuhr in die Ere-
mitage, die größte Sehenswürdigkeit Petersburgs.
Wohl an keinem anderen Orte der Welt sind so viele
und wertvolle Kunstschätze auf so engem Raum ver-
185
einigt, wie hier. Hier sind die berühmtesten Meister-
werke der Malerei und Skulptur aller Lande in einer
unermeßlichen Reihe von Zimmern und Sälen ver-
teilt, deren jeder selbst ein Kunstwerk an Schönheit
und Geschmack ist. Es gibt keinen berühmten Maler,
der hier nicht durch seine vorzüglichsten Schöpfun-
gen vertreten wäre. Rubens, Raphael, Tizian, van Dyk,
Ruisdael, Teniers, Wouwerman, Corregio und Mu-
rillo füllen ganze Säle aus, leider ist die Beleuchtung
eine so schlechte, daß fast keins der erhebenden Mei-
sterwerke zur vollen Geltung gelangt. — Um 2 Uhr
war es schon so dunkel, daß man fast nichts mehr
sah, der neblige, graue Himmel erstickt alles Licht.
— Den Teil der Sammlungen, welcher die Antiken,
die Mosaiken, Juwelen und geschnittenen Steine um-
faßt, habe ich nicht gesehen, ich konnte von den Bil-
dern nicht loskommen. — Sehr merkwürdig sollen
auch die dort aufbewahrten Ausgrabungen von
Kertsch in der Krim sein, wo vierhundert Jahre vor
Christi griechische Kultur blühte, bis die Völkerwelle
der Skythen und die tatarischen Horden sie hinweg-
spülte.
KABINETTSORDER.
Ich habe Sie heute zum Obersten befördert und gereicht es
Mir zum Vergnügen, Ihnen dies hierdurch bekanntzumachen.
Neues Palais, den 18. August 1895.
Wilhelm R.
An Meinen diensrt Flügeladjutanten, Oberstleutnant v. Moltke,
Kommandeur der Schloßgarde-Kompagnie.
Stettin, 7. September 1895.
Wir sind eben aus dem Schloß gekommen, wo wir
Manöverbesprechungen gehabt haben. — Dies Le-
ben, so ermüdend es ist, bekommt mir außerordent-
lich gut. Es ist mir immer, als ob meine Kräfte sich
186
erst entwickelten, wenn größere Anforderungen an
sie gestellt werden, und das tröstet mich wieder im
Hinblick auf die Zukunft, ich hoffe doch noch mei-
nen Mann stehen zu können, wenn es einmal gilt.
An Bord S.M.Jacht »Hohenzollern«,
14. September 1895.
Am 15. Oktober werde ich etwa wieder den Dienst
bekommen, dann geht das Reisen sogleich wieder
an. Nach Urville bei Metz, wo eine Kirche einge-
weiht und nachWörth, wo ein Denkmal Kaiser Fried-
richs enthüllt wird.
Jagdhaus Rominten, 27. September 1895.
Ich schreibe Dir nur ein paar Worte, um Dir mit-
zuteilen, daß ich morgen vormittag nach Petersburg
abreise. Der Kaiser schickt mich mit einem Hand-
schreiben an den Kaiser von Rußland.
St. Petersburg, 2. Oktober 1895.
Am 29. September kam ich hier an, hatte, da die
Sendung mir völlig überraschend kam und ich keine
Sachen mit hatte, Uniform und Paß telegraphisch aus
Berlin requiriert. Die Sachen kamen mit demselben
Zuge an, mit dem ich weiterfuhr und wurden mir in
Trakehnen auf dem Bahnhof übergeben. Auf der rus-
sischen Grenzstation Wirballen war meine Ankunft
mitgeteilt, ich wurde von dem Chef des Zollamts sehr
höflich empfangen und ohne alle Schwierigkeiten
durchgelassen. — Derselbe Herr hatte mir ein Schlaf -
coup6 reserviert, das, wie er mir sagte, zwar schon
verkauft gewesen, aus dem man aber den Inhaber
ohne weiteres herausgesetzt hatte, ein Verfahren, das
zwar für denjenigen, der davon profitiert, sehr ange-
nehm ist, für denjenigen, der darunter zu leiden hat,
187
aber ebenso unangenehm sein muß. Da mir der Ex-
mittierte unbekannt war und blieb, schlief ich mit
ziemlich ruhigem Gewissen auf dem bequemen
Schlafsofa des breiten Wagens, das bei dem sehr
langsamen Fahren des russischen Zuges ein vor-
treffliches Lager bot. Um 9 Uhr morgens war ich
aus Rominten, um 11V2 Uhr ausTrakehnen weggefah-
ren, am nächsten Tage um 12 Uhr mittags lief der
Zug mit einer Stunde fahrplanmäßiger Verspätung
in Petersburg ein. Auf dem Bahnhof fand ich unse-
ren Botschafter Fürst Radolin und den Militärattache"
Hauptmann Lauenstein, die eine volle Stunde auf
mich gewartet hatten. Der erstere sagte mir, daß ich
von Seiten des Kaiserlich russischen Hofmarschall-
amts in dem Hotel d'Europe als Gast Sr. Majestät
einquartiert sei, und daß Hof wagen und Lakai zu
meiner Verfügung gestellt wären. — Ich fuhr nun in
mein Hotel, wo ich eine hübsche Wohnung, beste-
hend aus Vorzimmer, Salon und Schlafzimmer bereit
fand, — dann in unsere Botschaft, um daselbst mei-
nen Besuch zu machen und dort zum Frühstück
zu bleiben. — Abends war ich mit Lauenstein zusam-
men in der Oper. Das riesige, soeben neu restaurierte
Haus, macht einen prächtigen Eindruck, es ist in
Weiß und Gold gehalten, Vorhänge und Draperien
aus blauem Damast. Es wurde das Ballett Copelia ge-
geben, und da die Russen das Ballett besonders lie-
ben, ist auf Ausstattung und Personal ein großer
Wert gelegt. Nie habe ich ein dankbareres Publikum
gesehen. Jede Leistung wurde mit Stürmen des Bei-
falls begrüßt, und viele Solotänze mußten wiederholt
werden. — Am 30. September, dem folgenden Tage,
war ich vormittags 11 Uhr zur Audienz bei Sr. Maje-
stät dem Zaren angesagt. Ich hatte schon tags vorher
an den Adjutanten des Großfürsten Wladimir, des
188
einzigen zurzeit hier anwesenden Mitglieds des kai-
serlichen Hauses, telegraphiert und gebeten, mich
nach meiner Audienz bei Sr. Kaiserl. Hoheit melden
zu dürfen. Der Großfürst wohnt in einem besonderen
Palais, ebenfalls in Zarskoje Selo, wo der Kaiser re-
sidiert. Ich fuhr mit dem um 10 Uhr von hier ab-
gehenden Zuge hinaus. Man fährt dreißig Minuten,
wie von Berlin bis Potsdam. Auf dem Bahnhof emp-
fing mich der Adjutant des Großfürsten, Graf Versen,
und sagte mir, daß Se. Kaiserl. Hoheit mich empfan-
gen wollten und mich bitten ließen, bei ihm zu früh-
stücken. Nun fuhr ich nach dem etwa zehn Minuten
vom Bahnhof gelegenen kleinen Alexanderpalais, in
dem Se. Majestät wohnen, während das große Palais,
von der Kaiserin Katharina im Barockstil erbaut, leer
steht. Ich wurde sogleich von dem Hof marschall Gra-
fen Benckendorff empfangen und unmittelbar darauf
durch eine Reihe von Zimmern, Sälen und Gängen
in das Vorzimmer des Kaisers geleitet. Wie wir einen
schmalen Gang durchschritten, an dessen Eingang
zwei riesige, pechschwarze Mohren in orientalischem
Kostüme und bis an die Zähne bewaffnet Wache
standen, öffnete sich, gerade wie wir vorbeischritten,
eine Tür, und der Kaiser erschien im weißen Pikee-
jäckchen, im Begriff, die gegenüberliegende Tür zu
erreichen. Sowie er uns erblickte, zog er die Tür
rasch wieder zu, und wir machten unsere tiefe Ver-
beugung vor dem Türflügel! — Nun gelangten wir in
das Vorzimmer, in dessen Mitte, gerade wie in dem
Adjutantenzimmer in Berlin, ein Billard stand und in
dem ein kleiner dicker Herr mit einer großen Rolle
Zeichnungen unter dem Arm auf den Moment war-
tete, wo er zum Vortrag vorgelassen werde. Er wurde
mir von dem Hofmarschall als der Marineminister
vorgestellt.
189
Nach wenigen Minuten des Wartens wurde ich
durch einen Kammerdiener, den Graf Benckendorff
damit beauftragte, bei Sr. Majestät angemeldet. Es war
wederein General, noch ein Flügeladjutant zu sehen.
Der Kaiser soll so ziemlich ganz ohne militärische
Umgebung leben; wie ich hörte, ist im Schloß außer
dem Hofmarschall nur der Oberstallmeister und der
Kommandeur des Leibkonvois anwesend. — Ich trat
nun, ziemlich belastet, in das Arbeitszimmer Sr. Ma-
jestät. Ich war natürlich im Paradeanzug, hatte in
der einen Hand den Helm und Säbel, in der andern
den Brief unseres Kaisers, und unter dem Arm ein
aufgerolltes Bild, das nach dem Entwurf unseres Kai-
sers von dem Professor Knackfuß ausgeführt und im
Steindruck vervielfältigt ist. Dieses Bild sollte ich
gleichzeitig mit dem Brief übergeben. Der Zar kam
mir sogleich mit ausgestreckter Hand entgegen und
sagte mir: »Ich freue mich, Sie hier zu sehen, wir
kennen uns ja schon.« — Nachdem ich nicht ohne
Schwierigkeit alle meine Gegenstände, zu denen noch
der ausgezogene Handschuh der rechten Hand kam,
in der linken konzentriert hatte, konnte ich die mir
gütig dargebotene Hand annehmen. — Ich überreichte
dann den Brief und gab sodann eine Erläuterung des
Bildes, bei dessen Aufrollung auf einem Tisch Se. Ma-
jestät mir selber behilflich waren. — Das Bild zeigt
eine Gruppe weiblicher Figuren, die im antiken Ko-
stüm, in der Art der Walküren, auf einem Felsvor-
sprung stehen und über eine mit blühenden Städten,
schiffbefahrenen Flüssen und beackerten Feldern be-
deckte Ebene hinwegschauen. Sie stellen die euro-
päischen Staaten vor. Im Vordergrunde Deutschland,
eng an dasselbe geschmiegt Rußland, zur Seite Frank-
reich, dahinter Österreich, Italien, England usw. —
Vor ihnen steht, mit der Hand in die Ferne weisend,
190
das Flammenschwert in der anderen, der Cherub des
Krieges, über der Gruppe schwebt, von Strahlen um-
geben, das Kreuz. Hinter der blühenden Landschaft,
die Handel und Gewerbe, europäische Kultur und Ge-
sittung versinnbildlicht, sieht man den qualmend auf-
steigenden Rauch einer brennenden Stadt. Der Schwa-
den zieht in dicken Wolken, die sich zur Form eines
Drachens zusammenballen, drohend heran. Aus dem
Qualm steigt das Bild Buddhas auf, das mit stieren,
kalten Augen auf die Zerstörung blickt. — Der Sinn
des Ganzen ist der in der Zukunft heraufdämmernde
Existenzkampf der weißen und gelben Rasse. — Die
Idee zu dem Bilde ist Sr. Majestät gekommen, wie bei
Abschluß der Friedenspräliminarien zwischen China
und Japan die Gefahr vorlag, daß die ungeheure
Masse des chinesischen Reiches, auf dessen Ent-
wicklung Japan einen entscheidenden Einfluß zu ge-
winnen suchte, durch dieses tätige, nach expansiver
Entwicklung strebende Land organisiert und in Gä-
rung gebracht werden könnte, und daß dann die Woge
der gelben Rasse sich verderbenbringend über Eu-
ropa ergießen würde. Unter dem Bild stehen, von der
Hand des Kaisers geschrieben, die Worte: »Völker
Europas, wahrt eure heiligsten Güter«. — Ich ver-
fehlte nicht, nachdem ich die Erläuterung gegeben,
hinzuzufügen, daß diese Gefahr durch die Weisheit
der Politik und des gemeinsamen Handelns Rußlands,
Deutschlands und Frankreichs vorläufig zurückge-
dämmt sei. — Der Kaiser interessierte sich lebhaft für
die Zeichnung, und ich mußte ihm alle Details er-
klären. — Ich wies darauf hin, wie in den Silhouetten
der Städte die Kuppel der orthodoxen Kirche neben
dem Turm des protestantischen Münsters aufrage,
und als der Kaiser auf eine Stadt deutend fragte, ob
das Moskau sein solle, erwiderte ich, daß ich zwar
igi
nicht wüßte, ob Se. Majestät, mein allergnädigster
Herr, gerade diese Stadt im Auge gehabt habe, daß
aber Moskau sicherlich ebenso bedroht sein würde
wie jede andere europäische Stadt. — Nachdem das
Bild besichtigt, hatte der Kaiser die Gnade, mich
noch einer längeren Unterredung zu würdigen, und
erteilte mir dann den Auftrag, das Antwortschreiben
wieder an unseren Kaiser zurückzubringen. — Nach-
dem der Kaiser mich dann in gnädigster Weise ver-
abschiedet, sagte er noch zu mir: »Sie wollen gewiß
gerne die Kaiserin sehen, lassen Sie sich doch bei ihr
anmelden.« Wie ich mich rückwärts zur Tür hinaus-
dienerte, verlor ich einen Handschuh, der mir von
dem Kammerdiener nachgebracht wurde. Ein aber-
gläubischer Mensch würde hierin vielleicht ein Omen
erblickt haben, was Gott und alle Heiligen verhüten
wollen.
Ich ließ mich nun bei Ihrer Majestät anmelden.
Nach kurzer Zeit wurde ich zur Kaiserin geführt, die
mich ganz allein empfing. Es war auch hier keine
Dame zugegen, und die Anmeldung erfolgte eben-
falls durch einen Kammerdiener. Die Kaiserin sah
vortrefflich aus. Sie hatte frische Farben, strahlende
Madonnaaugen und sah in ihrem faltigen Trauerkleide
aus wie eine wahre Kaiserin. — Sie unterhielt sich
sehr freundlich mit mir, ich mußte erzählen von dem
Kaiser aus Rominten, von der Kaiserin und den Kin-
dern, und wie sie mir zum Abschied die Hand reichte,
führte ich sie mit der Empfindung an die Lippen, daß
die Russen ihrem orthodoxen Gott wohl dankbar sein
können, daß er einen solchen Lichtengel auf den
Thron des Zarenreiches berufen hat. — Von hier fuhr
ich nun zu dem Palais des Großfürsten Wladimir,
wo Versen mich empfing und mich alsbald zu Sr. Kai-
serlichen Hoheit führte, der mich freundlichst be-
192
grüßte und sich gegen eine halbe Stunde mit mir
unterhielt. Wir gingen dann zum Frühstück, an dem
außer dem Großfürsten, Versen und mir noch ein
Russe mit einem unaussprechbaren Namen teilnahm.
Se. Kaiserliche Hoheit ist ein sehr passionierter Jäger
und kannte alle Jagdgründe Deutschlands, hatte früher
öfters Hirsche in Rominten und der Schorfheide ge-
schossen und konnte ein leises Bedauern nicht unter-
drücken, daß diese Zeiten jetzt vorbei seien. Er ließ
auch die Geweihe der zuletzt von ihm geschossenen
Hirsche hereinbringen, die ich aufrichtig bewundern
konnte, da sie in der Tat kapital waren. — Nachdem
das Frühstück, bei dem ausschließlich deutsch ge-
sprochen wurde, beendet, entließ mich der Großfürst
mit den Worten: »Ich hoffe, Sie jedenfalls noch zu
sehen, bevor Sie abreisen.« Daß es ihm damit ernst
gewesen, beweist ein Telegramm, das mir gerade ge-
bracht worden ist: »Voulez-vous venir diner chez moi
demain jeudipar trains sept heures. Überrock, Mütze.
Wladimir.« — Wenige Augenblicke später erhielt ich
ein Telegramm vom Hofmarschall Benckendorff :
»L'Empereur vous recevra demain jeudi ä onzes
heures. Train ä dix heures.« — So werde ich also
morgen, Donnerstag, mein Antwortschreiben erhal-
ten, und kann morgen abend 12 Uhr von hier ab-
reisen.
Nachdem ich mit dem Zuge aus Zarskoje Selo zu-
rückgekehrt war, ging ich auf unsere Botschaft, von
wo ich ein zweieinhalb Bogen langes Telegramm an
unseren Kaiser richtete, an dem die Chiffreure über
zwei Stunden zu arbeiten hatten. — Am Dienstag fuhr
ich wieder nach Zarskoje Selo, um einer Einladung
des Grafen Versen zum Frühstück zu folgen. — Wir
frühstückten sehr nett, und dann ließ er anspannen
und fuhr mich eine fast zweistündige Tour durch die
Moltke. 13. 193
herrlichen Parkanlagen von Zarskoje Selo. — Auf die
Herstellung der weitläufigen Anlagen ist eine unge-
heure Mühe verwendet. Das Terrain ist durchweg
sumpfig, nur auf einzelnen festen Inseln, die in dem
morastigen Wiesenboden liegen, wachsen schöne
Baumgruppen, die freilich schon fast durchweg das
Laub verloren hatten. Alle Wege (und es sind mei-
lenlange breite Chausseen, von doppelten Eichen-
alleen flankiert), sind aufgeschüttet. — Sobald man
vom Wege herunterkommt, versinkt man im Sumpf.
— Dennoch macht das Ganze, dem viele ausgedehnte
Wasserspiegel Abwechslung verleihen, ein land-
schaftlich schönes Bild. Man fährt an vielen größe-
ren und kleineren Schlössern vorüber, an den Kaser-
nen der Gardekavallerie-Regimenter, an chinesischen
Gebäudekomplexen, wo rachensperrende Drachen
auf den Dächern und alte pensionierte Generale in
den Häuschen sitzen und das Gnadenbrot des Zaren
essen. Den Mittelpunkt bildet das große Palais der
Kaiserin Katharina, die, wie Peter der Große Peters-
burg, so ihrerseits Zarskoje Selo aus dem Sumpf her-
vorgestampft hat. Die Front des mächtigen Schlos-
ses ist wohl zweimal so lang wie die des Neuen Pa-
lais. Das niedrige Dach wird getragen von dicken
weißen Säulen, zwischen denen enorme Karyatiden,
ganz vergoldet, in Form des die Welt tragenden At-
las, sich unter der Last der Fenstersimse bücken.
Zwei massive, hochragende Giebel unterbrechen die
langgezogene Linie der Front, die zu beiden Seiten
in kreisförmige Flügel ausläuft, an deren einen sich
die griechische Kirche mit ihren vielen zwiebelförmi-
gen Kuppeln und hohen, blau gemalten Fenstern an-
schließt. Die mit dicker Goldbronze beschlagenen
Kuppeln glänzen in der Sonne, und aus den mar-
morweißen Wänden treten die himmelblauen Fen-
194
ster etwas indiskret hervor. Alle Fenster- und Türein-
fassungen des Schlosses sind barock geschweift und
vergoldet. So liegt das Ganze in wuchtiger Macht da,
wie ein Stein gewordener Ukas der selbstherrischen
Kaiserin, die es geschaffen. — Von dort fuhren wir
nach dem Paulowskschen Palais, erbaut von dem un-
glücklichen Kaiser Paul, der sein Leben unter der
drosselnden Schärpe des Generals von Benningsen
aushauchen mußte. Ebenso einfach, fast furchtsam
zusammengebogen ist dies im beinahe geschlosse-
nen Kreise gebaute Schloß, wie das der Mutter her-
ausfordernd anspruchsvoll, breit und gerade ausge-
laden. Auch die Umgebung ist eine ganz andere.
Wenn dort weite Flächen sich breiten, gerade ge-
haltene Chausseen strahlenförmige Ausblicke eröff-
nen oder mathematisch rechtwinklig einander kreu-
zen, so liegt das Palais des Kaisers Paul mitten in
hochstämmigem Fichtenwald. Keine Hand hat an die-
sem Waldboden gemodelt, er trägt seine hohen
Stämme und sein wucherndes Gestrüpp, wie die
Gärtnerin Natur es ihm anweist, und mitten durch
diesen Wald schmiegen sich weiche, aber gut ge-
haltene Wege an die wellenförmigen Bodenerhebun-
gen, zu denen das Gelände hier ansteigt. Es fährt
sich herrlich durch diesen Urwald, bald an stillen
Waldseen entlang, bald über bescheidene Holz-
brücken, die geschickt über rauschendes Wasser
führen. In ihrer Art sind diese bequemen Wege, die
mitten durch einen Wald führen, in dessen Dunkel
und Gewirr ein Durchqueren fast unmöglich ist,
ebenso überraschend wie die Fjorde Norwegens, auf
denen man glatt und bequem bis mitten in das Hoch-
gebirge fährt.
Von Pawlowsk über Zarskoje Selo führt die älteste
Bahn Rußlands nach Petersburg. Es ist die vierte
195
Bahn, die überhaupt in Europa gebaut worden ist,
und dadurch ein Unikum, daß ihre Spurbreite noch
breiter ist als die der übrigen russischen Bahnen.
Die hölzernen Stationsgebäude, die hölzernen Per-
rons, die unendlich breiten, mit klapprigen Fenstern
und schmutzigen, zerschlissenen Sitzsofas ausge-
rüsteten Wagen, machen den Eindruck, als ob seit
Erbauung der Bahn nichts daran geändert und nie
etwas repariert worden wäre. Und trotzdem ist dies
die befahrenste Bahn, denn im Sommer strömt all-
nachmittäglich halb Petersburg hier heraus, um unter
den taufeuchten, alten Bäumen auf den trockenen
Wegen zu lustwandeln oder vor dem riesigen, aus
Holz gebauten Musikpavillon zu sitzen, in dem von
den besten Kapellmeistern täglich Konzerte gegeben
werden. Es war fünf Minuten vor 3 Uhr, wie wir vor
dem Bahnhofsgebäude hielten, das ungefähr aus-
sieht, wie ein polnischer Ochsenstall. Um 3 Uhr ging
der Zug, der mich nach Petersburg zurückbrachte.
Gestern abend habe ich wieder ein Diner unserer
Botschaftsherren gehabt, diesmal aber waren wir un-
ter uns. Graf Pückler, Du kennst ihn ja, und Herr
v. Romberg haben sich auf den jenseits der Newa ge-
legenen Inseln gemeinsam eine Datsche gemietet, in
deren kleinen Räumen sie ein gemütliches Sommer-
leben in friedlicher Ehe führen. Das andauernd gute
Wetter gestattet ihnen noch draußen zu bleiben, ob-
gleich die Saison längst vorbei ist. Beide hatten mich
eingeladen, abends in ihrer Hütte zu speisen, und
außer mir war noch Lauenstein und der erste Bot-
schaftsrat, ein Herr von Tschirschky, dort. Lauen-
stein holte mich ab, und wir fuhren in meinem Hof-
wagen hinaus. Trotz des wahnsinnigen Tempos, in
dem hier alles, und allen voran die kaiserlichen Wa-
gen fahren, brauchten wir über eine halbe Stunde,
ig6
um hinaus zu kommen. Die Inseln liegen umschlos-
sen von der vielarmigen Newamündung und sind
durchweg parkartig gehalten. Zwischen den Bäumen
liegen zerstreut die kleinen Datschen, in denen im
Sommer alles sich einquartiert, was irgend die Mittel
dazu hat. Hier spielt sich an den langen, hellen Som-
merabenden der Korso der Petersburger Welt ab, der
darin gipfelt, daß jeder an einen bestimmten Punkt,
ein weit ausspringendes Rondell, fährt, das die West-
spitze der letzten Insel bildet. Hier hält Wagen an
Wagen gedrängt und alles blickt hinaus über eine
weite Wasserfläche, die von Bäumen eingerahmt ist,
und an deren einer Seite ein plumpes Holzhaus in
die öde Landschaft eine schwermütige Silhouette
zeichnet, und alles wartet auf den Augenblick, wo
der Sonnenball, nachdem er seine lange Reise über
den nordischen Sommerhimmel zurückgelegt hat,
hinter der glänzenden Wasserfläche verschwunden
ist. Sobald der letzte Funke verglommen ist, wirrt
sich der Knäuel der Wagen auseinander und jeder
fährt stumpfsinnig nach Hause.
Heute morgen bin ich in der Peter-Pauls-Kathedrale
gewesen und habe einen Kranz auf dem Sarkophag des
verstorbenen Kaisers Alexander III. niedergelegt. Ich
hatte einen Kranz ganz aus Lorbeerblättern machen
lassen mit großer schwarz-silberner Schleife, auf de-
ren einem Bande ich ebenfalls aus Lorbeerblättern
ein W und auf dem andern ebenso eine Krone hatte
anbringen lassen. De la part de Samajeste l'Empereur
d'Allemagne — wie ich dem Kommandanten der Fe-
stung sagte. Die Kirche war voll Menschen, die mich
in meiner preußischen Uniform verwundert anstarr-
ten.
197
Bericht über die Abschiedsaudienz bei Sr. Majestät
dem Kaiser von Rußland am 3. Oktober 1895.
St. Petersburg, 3. Oktober 1895.
Am Vormittag des 2. Oktober erhielt ich durch Tele-
gramm des Oberhofmarschalls Graf Benckendorff die
Mitteilung, daß Se. Majestät der Kaiser mich am fol-
genden Tage, vormittags 11 Uhr, in Zarskoje Selo
empfangen wollten.
Ich fuhr mit dem um 10 Uhr von Petersburg ab-
gehenden sogenannten Hofzug am 3. Oktober nach
Zarskoje Selo, wo ein Wagen für mich bereitstand.
Wieder — wie bei meiner ersten Audienz — wurde
ich, im Alexander-Palais angelangt, durch den Gra-
fen Benckendorff in das Vorzimmer Sr. Majestät ge-
führt und sofort bei Allerhöchstdemselben angemel-
det. In dem Vorzimmer fand ich den Minister des
Innern und einige Generale, die zum Vortrag befoh-
len waren, und denen ich durch Graf Benckendorff
vorgestellt wurde. — Nach wenigen Minuten wurde
ich zu Sr. Majestät hereinbefohlen.
Der Kaiser kam mir in liebenswürdigster Weise
entgegen, reichte mir die Hand und fragte mich, wie
mir Petersburg gefallen habe. Sodann fragte der Kai-
ser nach Ew. Majestät und ließen Sich von Aller-
höchstdero Aufenthalt in Rominten erzählen. Nach-
dem das Gespräch sich eine Weile um Jagd gedreht,
fand ich Gelegenheit, Sr. Majestät zu melden, daß ich
am gestrigen Tage in der Peter-Pauls-Kathedrale ge-
wesen und dort einen Kranz im Auftrage Ew. Maje-
stät auf dem Grabstein des hochseligen Kaisers Alex-
ander III. niedergelegt habe, was Se. Majestät augen-
scheinlich angenehm berührte.
Dann sagte der Kaiser, Sich der französischen
Sprache bedienend, während Er bis dahin deutsch ge-
198
sprochen hatte: »Maintenant j'ai encore quelques
mots ä vous dire, mais il me faut parier francais,
parce que en allemand je ne peux pas exprimer ce que
j'ai ä vous dire.« Se. Majestät setzten Sich sodann an
den Schreibtisch Seines Arbeitszimmers und forder-
ten mich auf, neben Ihm auf einem Stuhle Platz zu
nehmen.
Der Kaiser sagte sodann etwa folgendes, das ich
mir nach beendeter Audienz sofort notiert habe: »Se.
Majestät beunruhigen sich wegen der Anwesenheit
meines Ministers Lobanoff in Frankreich. Derselbe
hatte von mir Urlaub ins Bad erbeten, und telegra-
phierte mir von dort, ob ich gestatte, daß er der Revue
beiwohne, die ihn sehr interessiere. Ich antwortete,
daß ich nichts dagegen einzuwenden habe. Ich hatte
ihm bei seiner Abreise den Auftrag gegeben, in be-
ruhigendem Sinne auf die Franzosen zu wirken.
Nachdem ich nun gesehen und auch durch den Brief
Sr. Majestät aufs neue darauf hingewiesen worden
bin, daß im Gegenteil der französische Chauvinis-
mus lebhaft erregt worden ist, habe ich Lobanoff
aufs neue telegraphisch befohlen (und bei dem letz-
ten Wort stießen Se. Majestät energisch mit dem
Zeigefinger auf die Tischplatte), sich nicht nur jeden
demonstrativen Auftretens zu enthalten, sondern auch
den französischen Chauvinismus abzukühlen, wo er
ihm entgegentritt. Ich habe ihm ferner befohlen, auf
seiner Rückreise eine Audienz bei Sr. Majestät dem
Kaiser nachzusuchen, und stelle es Allerhöchstdem-
selben anheim, ob er ihn empfangen will. Wenn er
ihn empfängt, wird er aus seinem Munde dasselbe
hören, was ich Ihnen jetzt sage. Es war mir bisher
nicht genügend bekannt, wie leicht die Franzosen
Feuer fangen. Hätte ich dies gewußt und vorher-
sehen können, so hätte ich weder Lobanoff noch
199
Dragomirow die Erlaubnis erteilt, nach Frankreich
zu gehen, und ich werde in Zukunft vorsichtiger mit
meinen Herren sein.«
Se. Majestät kamen sodann auf die französische
Presse zu sprechen, äußerten Sich darüber, wieviel
Unheil die Presse schon in der Welt angerichtet, und
fuhren dann etwa fort: »Ich vermute, daß Se. Majestät
in der Stille seines Jagdaufenthalts, wo keiner seiner
Minister bei ihm war, erregt worden ist, durch die
Lektüre der Zeitungsausschnitte, und ich kann dies
vollkommen begreifen. Wenn man nur in dieser Form
die Nachrichten aus Frankreich liest, so kann ich mir
denken, daß die Nachrichten von dort alarmierend
wirken müssen. Ich selber habe mir die Zeitungs-
ausschnitte verbeten, die man mir zuerst auch vor-
legen wollte. Ich fürchte durch sie nur Kenntnis zu
erhalten von einer bestimmten Richtung, die zu be-
stimmen in der Hand desjenigen liegt, der Ausschnitte
auswählt und anfertigt. Ich lese statt dessen eine
deutsche (ich glaube, es ist die Kölnische, die ich
wenigstens im Zimmer Sr. Majestät liegen sah), eine
französische — den Temps — , eine englische und
eine russische Zeitung, — letztere nicht gern, denn
sie taugen alle nichts, und indem ich so die verschie-
denen Stimmen höre, suche ich mir mein Urteil sel-
ber zu bilden. Ich lege aber nicht zu viel Wert auf
die Zeitungen, denn ich weiß, wie sie gemacht wer-
den. Da sitzt irgendein Jude, der sein Geschäft dabei
macht, wenn er die Leidenschaften der Völker ge-
geneinander aufhetzt, und das Volk, meist ohne eige-
nes politisches Urteil, hält sich an die Phrase. Des-
wegen werde ich auch die russische Presse nie frei-
geben, solange ich lebe. Die russische Presse soll
nur schreiben, was ich will (und dabei stießen Se.
Majestät wieder mit dem Zeigefinger auf den Tisch),
200
und im ganzen Lande darf nur mein Wille herr-
schen.«
Se. Majestät führten sodann aus, wie der Russisch-
türkische Krieg nur den Hetzereien der Presse zu
verdanken sei, und wie diese auch jetzt die Bezie-
hungen zwischen Deutschland und Rußland sowie
Frankreich verderbe und die Empfindungen verbit-
tere, und sagten dann: »Zwischen Deutschland und
Rußland ist seit hundertfünfzig Jahren kein Krieg ge-
wesen. Deutschland hat sich mit ungefähr allen sei-
nen Nachbarn geschlagen, nur mit uns nicht, und es
ist auch ein Unding, an einen Krieg zwischen Deutsch-
land und Rußland zu denken, da diese beiden Län-
der gar keine miteinander kollidierenden Interessen
haben.«
Sodann erzählte Se. Majestät, daß Ihm aus den
deutsch-russischen Grenzdistrikten laufend Berichte
zugingen, aus denen Er zu Seiner Freude ersehe, wie
das Verhältnis zwischen den beiderseits an der Grenze
stehenden Truppen ein ausgezeichnet gutes sei. Die
Offiziere machten sich gegenseitig Besuche, lüden
sich ein und hielten gute Kameradschaft. Alles Nach-
richten, worüber Er Sich aufrichtig freue. Hier we-
nigstens sei nichts von der Animosität zu bemerken,
die sich in der Presse breit mache.
Ich bemerkte nun: »Wollen Ew. Majestät mir al-
lergnädigst erlauben, noch einmal darauf zurückzu-
kommen, daß wir nach den Gesinnungen, die Ew.
Majestät äußern, gewiß keinen Grund haben, Be-
sorgnisse von sehen Rußlands zu hegen. Das was
wir aber befürchten müssen, ist das leicht erregbare
Temperament der französischen Nation, das natür-
lich durch die Anwesenheit der russischen Generale
und Staatsmänner noch mehr erhitzt wird.« Der Kai-
ser erwiderte: »Ich weiß es, aber sagen Sie dem Kai-
201
ser, daß ich die Ruhe aufrecht erhalten werde! Vor-
läufig haben die Franzosen Madagaskar auf dem
Buckel. Sie können nicht anders, als um der Ehre
willen diese Sache durchführen. Sie müssen neue
Kredite fordern und neue Truppen hinschicken. Das
wird sie gewiß noch ein Jahr beschäftigen, so lange
können sie an nichts anderes denken. Und wenn das
Jahr vorbei ist, so garantiere ich Sr. Majestät, daß sie
dann auch ruhig sein werden und sich ferner ruhig
verhalten werden. Es liegt mir außerordentlich viel
daran, daß wir (Deutschland und Rußland) die guten
Beziehungen zueinander aufrecht halten. Wir sind
gegen Sie noch weit zurück, haben unendlich viel zu
tun im Inneren. Wir produzieren hauptsächlich Ge-
treide, Sie industrielle Waren, die wir austauschen
müssen. Ein Krieg zwischen uns würde beiden Völ-
kern unendliches Elend bringen.«
Ich sagte: »Ew. Majestät kennen meinen allergnä-
digsten Herrn selber gut genug, um zu wissen, daß
Er in nichts anderem Seine Lebensaufgabe sieht, als
darin, Seinem Volk eine friedliche Entwicklung zu
ermöglichen.« Der Kaiser erwiderte: »Das weiß ich,
und ich kann Sie versichern, auch ich will nichts von
Krieg wissen, und werde streben, den Frieden zu er-
halten, bis an das Ende meines Lebens. Ich will fort-
fahren in der friedlichen Politik meines verstorbenen
Vaters.« — Auf den Brief Ew. Majestät zurückkom-
mend, sagte der Kaiser dann noch: »Se. Majestät mei-
nen, daß ich infolge des Trauerjahres keine Gele-
genheit hätte, mich genügend zu orientieren. Ganz
das Gegenteil ist der Fall. Gerade weil ich so still
leben kann, habe ich mich eingehend mit allen Ver-
hältnissen meines Reiches und der Politik beschäf-
tigen können, und ich glaube mir das Zeugnis aus-
stellen zu können, daß ich fleißig gearbeitet und vor
202
allem gestrebt habe, mir ein eigenes, unbefangenes
Urteil zu bilden. Ich weiß, was uns noch alles fehlt,
und ich will friedliche Arbeit im Lande, ich will kei-
nen Krieg und werde ihn nie zugeben. Das alles habe
ich Sr. Majestät auch in meinem Briefe auseinander-
gesetzt, aber mir liegt daran, daß Sie es ihm auch
mündlich wiederholen.«
Ich erwiderte, daß ich nach allem, was Se. Majestät
die Gnade gehabt hätten mir zu sagen, mich sehr
glücklich schätze, die kundgegebene Gesinnung Sr.
Majestät, meinem Herrn und Kaiser übermitteln zu
dürfen.
Se. Majestät erhoben sich sodann und trugen mir,
wieder zur deutschen Sprache zurückkehrend, die
herzlichsten Grüße an Ew. Majestät sowie auch die-
jenigen der Kaiserin an beide Majestäten auf. Hierauf
verabschiedeten Se. Majestät mich mit einem kräfti-
gen Händedruck.
Die Audienz hatte etwas über eine halbe Stunde
gedauert.
In tiefster Ehrfurcht verharre ich als
Ew. Majestät
alleruntertänigster
v. Moltke,
Oberst und Flügeladjutant.
Besuch S. M. des Kaisers beim Fürsten Bismarck in
Friedrichsruh am 16. Dezember 1895.
Am 16. Dezember 1895 war Se. Majestät der Kaiser
morgens von Kiel nach Altona gefahren, wo die
Werft von Blohm & Voß besichtigt wurde, und hatte
dann das Frühstück bei dem Kommandierenden Ge-
neral des IX. Armeekorps, Grafen Waldersee, einge-
nommen. Um 4 Uhr nachmittags fuhren Se. Majestät
203
wieder von Altona ab, und um 5 Uhr hielt der kaiser-
liche Sonderzug in Friedrichsruh. Der Fürst Bis-
marck erwartete die Ankunft Sr. Majestät. Im Über-
rock und Helm, ohne Paletot, stand die reckenhafte
Gestalt des Altreichskanzlers auf dem Perron. Der
Kaiser stieg rasch aus und begrüßte den Fürsten mit
herzlichem Händedruck, er nötigte ihn, den Mantel
umzunehmen, und nach kurzer Begrüßung des Ge-
folges und der mit dem Fürsten erschienenen Her-
ren, Grafen Rantzau und Professor Schwenninger,
schritten wir alle dem Hause zu. In der Tür desselben
stand die Gräfin Rantzau und im Vorzimmer ihre bei-
den jüngsten Söhne.
Der Kaiser hatte für den Fürsten das illustrierte
Werk über die deutsche Flotte von Wislicenus mit-
gebracht, und während er dasselbe aufschlug, um
dem Fürsten die Zeichnungen zu erläutern, zogen
wir uns in das Nebenzimmer zurück. Der Monarch
und der Altreichskanzler blieben alleine. Sie saßen
sich gegenüber, jeder in einem großen Fauteuil an
dem runden Tisch des kleinen Salons, die große
Mappe mit den Zeichnungen der Schiffe lag zwi-
schen ihnen. Von dem, was da etwa drei Viertel-
stunden lang gesprochen wurde, hörten wir nichts,
wir kamen bald in lebhafte Unterhaltung mit der Grä-
fin Rantzau. So verging die Zeit rasch, bis um 6 Uhr
gemeldet wurde, daß serviert sei. Der Kaiser gab der
Gräfin Rantzau den Arm, um sie in das anstoßende
Speisezimmer zu führen, wohin wir alle folgten. Wir
waren zwölf Personen an der Tafel. An ihrer Spitze
saß der Kaiser, zu seiner Linken der Fürst, zu seiner
Rechten die Gräfin Rantzau. Es folgten dann auf der
Seite des Fürsten General von Plessen, Admiral
von Senden, Kalckstein, Schwenninger, auf der Seite
der Gräfin Exzellenz von Lucanus, Lyncker, Dr. Leut-
204
hold, ich. Am unteren Ende des Tisches saß Graf
Rantzau. Das Diner war gut, die Weine ausgezeich-
net. Das Gespräch drehte sich um die alltäglichen
Themata. Ab und zu redete der Kaiser einen der un-
ten sitzenden Herren an oder trank einem derselben
zu. Wie der Sekt eingeschenkt wurde, erzählte der
Fürst, daß er einmal mit Friedrich Wilhelm IV. über
dessen damalige Minister gesprochen habe und dem
König gegenüber geäußert hätte, die Minister tränken
zu wenig Sekt, sie hätten zu wenig Raketensatz in
sich. Zum Nachtisch wurde ein weißer italienischer
Wein geschenkt, der im Geschmack etwas an Chä-
teau d'Yquem erinnerte und von dem der Fürst sagte,
daß er ihn jedes Jahr von Crispi geschenkt erhielte.
Er fügte dann hinzu : »Er vergißt mich kein Jahr, wir
sind ja beide so ein paar alte Seeräuber.«
Nachdem die Tafel aufgehoben war, versammelten
wir uns wieder in dem kleinen Salon, es wurden Zi-
garren gereicht, und der Fürst sprach mit verschiede-
nen Herren des Gefolges. Der Kaiser hatte ihm bei
seiner Ankunft einen Strauß von Flieder und Mai-
glöckchen überreicht, den der Fürst jetzt wieder in
die Hand nahm, daran roch und seine Freude über
die frischen Blumen äußerte. Er sprach dann über
das Aussehen des Kaisers, meinte, er sähe etwas an-
gegriffen aus, und sagte dann: »Se. Majestät wird sich
wohl über seine Minister geärgert haben. Ein König
könnte ja sehr viel ruhiger leben, wenn er keine Mi-
nister hätte, aber bisweilen ist es doch ganz gut, wenn
die Flut kommt und wenn dann so ein Deich da ist.«
Er wendete sich dann an Oberst von Kalckstein und
fragte ihn, wo er während des Feldzuges gestan-
den hätte, und als er erfahren, daß Kalckstein beim
i . Garde-Landwehr-Regiment gestanden, fragte er, wie
die Leute gewesen wären, ob sie willig gegangen wä-
205
ren und wie sie sich im Gefecht gemacht hätten. Er
erinnerte sich mit Vergnügen der prächtigen Erschei-
nungen der Garde-Landwehr, die an der Seinebrücke
Posten gestanden hätten und zu denen die kleinen
Franzosen mit scheuer Verwunderung aufgeblickt
hätten. — Inzwischen war die lange Meerschaum-
pfeife des Fürsten gebracht worden, er setzte sich in
einen Lehnstuhl an den Tisch, nahm das große Bern-
steinmundstück zwischen die Lippen und zündete sie
an dem Streichholz an, das Professor Schwenninger
bereithielt. Der Kaiser, welcher jenseits des Tisches
im Sofa saß, sagte zu mir, ich möchte mich neben
den Fürsten setzen und ihm etwas vom Zaren er-
zählen. Ich setzte mich nun auf einen Stuhl dem Für-
sten gegenüber und erzählte ihm, daß Se. Majestät
mich vor einiger Zeit nach Petersburg geschickt hät-
ten, um dem Zaren das Bild des Professors Knack-
fuß zu überreichen, und daß ich gefunden hätte, daß
der Kaiser sich sehr zu seinem Vorteil entwickelt
hätte. Der Fürst unterbrach mich sehr bald mit der
Frage: »Was ist denn der Zar für ein Mann? Ich
meine, würde er sich entschließen können, vom Le-
der zu ziehen?« Dabei machte er eine Handbewegung,
als ob er das Schwert ziehen wollte. Ich erwiderte,
daß nach meiner Ansicht der Zar hauptsächlich ein
Gemütsmensch sei, worauf der Fürst sagte: »Damit
wird er seine Gesellschaft nicht in Ordnung halten.
Hat er denn wenigstens den Willen, Herrscher zu
sein?« Ich erzählte nun, wie gelegentlich der Unter-
redung, die der Zar mir gewährt, das Gespräch auf
die Presse gekommen sei, und wie der Kaiser dabei
geäußert habe: »Ich werde die russische Presse nicht
freigeben, solange ich lebe. Eine freie Presse richtet
das größte Unheil an. Die russische Presse soll nur
schreiben, was ich will, und im ganzen Lande soll
206
nur ein Wille herrschen, und das ist der meinige.«
Der Fürst sagte darauf: »Das gefällt mir, und er tut
sehr wohl daran, denn wenn er erst die öffentliche
Diskussion gestattet, dann wird er bald einem ufer-
losen Meer gegenüberstehen. Für den russischen
Bauer muß der Zar, das Väterchen, ein Halbgott blei-
ben, ja beinahe ein Gott. Ich kenne Rußland und
seine Leute, ich bin volle drei Jahre dort gewesen
und habe mich umgesehen. Wenn man die sechzig
Millionen Russen ihrem Zaren entfremden wollte,
würden sie bald lauter Verrücktheiten machen.« —
Nachdem ich gesagt, daß ich fürchte, der Zar werde
nicht der Mann dazu sein, seinen Willen rücksichts-
los durchzusetzen, fragte der Fürst nach der Zarin,
ob sie Einfluß auf ihn habe. Ich sagte, daß die Zarin
den allerbesten Eindruck auf mich gemacht hätte,
daß sie entschieden Einfluß auf ihren Gemahl habe
und daß zu hoffen sei, dieser werde an ihr eine feste
Stütze haben. Der Fürst sagte darauf: Ich habe auch
nur Gutes von ihr gehört.« — Hierauf kam der Fürst
ohne Übergang auf den Kaiser Napoleon III. Wäh-
rend die Sätze ruckweise, in der Art wie eine Ma-
schine den Dampf abstößt, aus seinem Munde ka-
men, sog er in den Zwischenpausen heftig an der
immer wieder ausgehenden Pfeife. Der mächtige
Kopf war scharf von der Lampe beleuchtet, und
die gewaltigen Augen blickten starr vor sich hin. Er
wendete sich an keinen einzelnen, sondern sprach
gerade hinaus. Die ganze Gesellschaft stand dicht
zusammengedrängt, aller Augen hingen an seinem
Munde, aller Sinne standen unter dem Bann seiner
Persönlichkeit.
»Ich erinnere mich, daß, wie ich im Jahr 1856 in
Paris war, — da ließ mich der Kaiser Napoleon ein-
mal rufen and legte mir die Frage vor, — ob er
207
absolut oder konstitutionell regieren solle. — Ich
sagte ihm: — ,Solange Ew. Majestät die Garde haben,
können Sie sich den Luxus dieses Experiments ja
erlauben, — aber wenn einmal die Flut kommt, —
dann ist es doch ganz gut, wenn ein Damm da ist,
der zwischen Ihnen und dem Volk steht. Aber so-
lange die Garde da ist, können Sie ja das Experiment
machen.' — Mit den fünfzigtausend Mann Garde
konnte Paris beherrscht werden und damit Frank-
reich. Das waren lauter ausgesuchte Truppen, große,
schöne Leute, die den Hut fürquer aufgesetzt hat-
ten und die wußten, daß sie Paris beherrschten. Die
Leute waren gut gestellt, — sie konnten bei einer
Veränderung nur verlieren, — es konnte ihnen gar
nicht besser gehen. — Wenn sie auf der Straße gin-
gen, wichen sie keinem Menschen aus, sie gingen
immer zu zweien — und wichen keinem beladenen
Wagen aus.« Der Kaiser fragte: »Wer komman-
dierte doch das Gardekorps damals?« Der Fürst er-
widerte: »Darauf kommt es gar nicht an. Der Kaiser
konnte sich unter allen Umständen auf sie verlassen.
Wer sie kommandierte, — darauf kommt es gar nicht
an. Ich erinnere mich, daß wenn ich damals zum
Vortrag ging, ich bisweilen einen verbotenen Weg
benutzte. Wenn da einer von den kleinen Südfran-
zosen auf Posten stand, so sagte ich bloß: ,Le mi-
nistre de Prusse', — wenn aber einer von den Gar-
disten dastand, so sagte der mir: ,Cela m'est tout ä
f ait 6gal'.« — Alles lachte, und der Fürst lachte selber
herzlich mit, mit großen, offenen Augen, und nur
den Mund ein wenig verziehend, gleichsam wie er-
staunt darüber, daß er einen Witz gemacht habe.
Der Fürst fuhr dann fort: »Ja, — also, — solange er
diese fünfzigtausend Mann Garde hatte, da sagte
ich Napoleon, könnte er das Experiment machen.
208
Aber es wäre doch gut, wenn er einen Wall von Mi-
nistern um sich hätte, um den ersten Stoß aufzufan-
gen. Sonst würde das Volk ihn für jedes schlechte
Wetter verantwortlich machen, c'est l'art de regner!
Der Kaiser war damals schon kränklich, — er hatte
keine rechte Energie mehr, — und dann fühlte er
sich auch gedrückt durch die überwiegende Intelli-
genz der Kaiserin. Sie war die schönste Frau, die ich
gesehen habe.« —
Der Kaiser sagte, sie sei noch immer eine schöne
Frau, mit ganz weißen Haaren und trotz ihres Alters
von tadelloser, schlanker Figur. Bismarck erwiderte:
»Ja, sie war eine energische Frau, — viel energischer
wie der Kaiser — ich sprach zu ihm, wie man zu ei-
nem gesunden, energischen Menschen redet, — aber
er mag mir wohl nicht recht geglaubt haben, — er
war kränklich und fühlte sich seiner Frau gegenüber
inferior.« — Ich warf ein, daß er dies doch wohl mit
Unrecht getan habe, worauf der Fürst erwiderte:
»Wenn er unverheiratet gewesen wäre, würde er nie
den Krieg gegen uns angefangen haben.«
Irgend jemand fragte, ob der Kaiser deutsch ge-
sprochen habe, worauf der Fürst erwiderte: »Er soll
es sehr gut gesprochen haben, mit mir hat er aber
nie ein Wort anders als französisch gesprochen, und
selbst wenn er einmal ein deutsches Wort inter-
kalieren mußte, so sprach er es affektiert französisch
aus, so zum Beispiel das Wort Kreuzzeitung.« —
Inzwischen war es 1/2S Uhr geworden, die Abfahrt
war auf 7 Uhr festgesetzt gewesen, und der Graf
Rantzau meldete dem Kaiser, daß die Zeit bereits
verstrichen sei.
Se. Majestät standen auf. Die Säbel wurden umge-
schnallt und es wurde Abschied genommen. Irgend
jemand fragte den Fürsten nach einem in Gips aus-
Moltke. 14. 209
geführten reizenden Entwurf zu einem Bismarck-
denkmal für Rudolstadt, der im Nebenzimmer auf
dem Tisch stand. Auf einem Sockel ist der Fürst als
Student sitzend dargestellt. Die geschmeidige Figur
lehnt lässig in einem Sessel, ein Knie über das an-
dere geschlagen; die herabgesunkene rechte Faust
hält den Schläger. Jugendliche Kühnheit, gepaart mit
sicherer Energie sprechen aus der Figur. Ein großer
Hund strebt von unten an dem Sockel zu seinem
Herrn empor. — Der Fürst nannte den Namen des
Künstlers und erzählte, wie er sich dadurch haupt-
sächlich zur Annahme habe bewegen lassen, daß der
Hund auf dem Halsband den Namen Ariel trage, —
»und« — fügte er hinzu — »so hieß mein Hund damals.
In meinem Alter«, — fuhr er dann fort, »muß man die
Fluten im guten wie im schlimmen über sich ergehen
lassen.«
Als ihm jemand sagte, die im guten könne er
sich schon gefallen lassen, — sagte er: »Nein, gegen
die schlimmen kann man sich wehren, aber gegen
die guten ist man machtlos.«
Der Kaiser verabschiedete sich nun von der Grä-
fin Rantzau und ging, von dem Fürsten geleitet, zum
Zuge. Nachdem er dem Alten wiederholt die Hand
gedrückt, bestieg er den Zug, der sich alsbald in Be-
wegung setzte.
Der Fürst stand hochaufgerichtet da, die Hand zum
militärischen Gruß an den Helm gelegt.
Palermo, 2. April 1896.
Der alte Graf Roger von der Normandie, der sein
nordisches Schwert in diesen Boden stieß und ihm
alle Wunder der edelsten Kunst entsprossen ließ, ist
mir jetzt so vertraut, als hätte ich mit ihm zusammen-
gelebt, und vor wenig Tagen noch ahnte ich nichts
210
davon, daß er existiert habe. Welch entsetzliches
Stückwerk ist doch unser Wissen und wie viel kost-
bare Zeit verschwendet man, die man besser verwen-
dete, um sich in etwas zu orientieren über die Zeiten,
die Großes geschaffen, und die Männer, die Großes
vollbracht haben. Erst dann erwacht das wahre In-
teresse an einem Land, an einer örtlichkeit, wenn
man sie sich als Schauplatz der Begebenheiten den-
ken kann, sie sich vorstellen kann als das große The-
ater, auf dem sich das große Drama des Lebens ab-
gespielt hat. Dann fangen die alten Steine an zu re-
den, aus zerfallenem Gemäuer bauen sich Paläste und
Kirchen neu auf in ihrer längst versunkenen Herr-
lichkeit, der Blick, der Anfang und Ausgang einer
Epoche umfaßt, schärft sich für die Spuren, die der
Gang gewaltiger Ereignisse hinterlassen hat und die
alten Fürsten, ihre Trabanten, ihre Künstler und Ge-
lehrten treten greifbar deutlich aus dem Dunkel der
Vergangenheit hervor.
Syrakus, 7. April 1896.
Es ist ein entsetzlich heruntergekommenes Ge-
schlecht, das auf den Stätten alten Glanzes wohnt.
Damals muß es ein anderes gewesen sein, denn nur
kraftvolle Menschen können imstande gewesen sein,
so Großes zu schaffen.
Wenn Jehova einst zu Moses sprach: Zieh deine
Schuhe aus, denn der Boden, auf den du trittst, ist
heiliges Land, was soll man da von diesem Hafen
sagen, von diesen Felshöhen, in die die Weltge-
schichte ihre unvergänglichen Spuren eingegraben
hat!
Moskau, 18. Mai i8g6.
Nun sind wir glücklich hier bei strömendem Re-
gen angekommen. — Die Reise war sehr nett. Im
211
übrigen ist die Tour selbst unglaublich öde, man
fährt sechsunddreißig Stunden lang durch Sumpf
und verkümmertes Holz, sieht elende Hütten auf fla-
cher Gegend und könnte meinen, immer am selben
Ort zu sein, so sehr gleicht ein Teil der weiten Land-
schaft dem andern. Seit heute morgen, wo wir Smo-
lensk um 5 Uhr passierten, hat es geregnet, stellen-
weise etwas geschneit.
In Warschau — gestern morgen — meldete sich
der Ehrendienst, ein General Graf Puschkin und ein
Admiral Fürst Scharawskoy beim Prinzen Heinrich.
Wir wechselten hier den Zug, da wir von dort ab auf
die breitspurige russische Bahn kamen. Der russische
Sonderzug, der uns von dort ab gestellt wurde, war
bequem und gut eingerichtet, hatte aber furchtbar
schlechte Achsen, so daß wir entsetzlich gerüttelt
worden sind. — Nun sind wir in unserem Quartier,
einem hübschen Hause, das einem reichen Kaufmann
gehört und von ihm gemietet worden ist. Wir woh-
nen hier: General v. Villaume, General v. Bülow,
Klinckowström und ich. Von den Besitzern ist kein
Mensch da. Der Prinz wohnt uns schräg vis-a-vis. —
Außer Wasser und Schmutz habe ich bis jetzt von
Moskau nichts gesehen.
Moskau, 20. Mai 1896.
Wir waren gestern nachmittag im Petrof sky-Palais,
um uns beim Kaiser zu melden. Man fährt fast eine
Stunde bis hinaus. In dem Palais wohnte Kaiser Na-
poleon bei seiner Anwesenheit in Moskau. — Der Kai-
ser und die Kaiserin empfingen beide unsere gesamte
Deputation. Sie ist viel stärker geworden, sie sah sehr
schön aus in einem einfachen, grauen Kleid. Der Kai-
ser sah sehr elend, blaß und angegriffen aus, es mag
auch eine anstrengende Zeit für ihn sein. Beide Maje-
212
stäten sprachen mit jedem einzelnen von uns. — Ge-
genüber dem Palais liegt das ungeheure Übungsfeld
der Garnison, auf dem zur Zeit das Grenadier- und
ein Teil des Gardekorps im Sommerlager in Baracken
liegt. Am Abend sollte ein Umritt durch das Lager
gemacht werden, an dem wir uns beteiligen wollten,
dann sollte ein großer Zapfenstreich sich anschlies-
sen. Wie wir aber hinauskamen, war alles wegen des
schlechten Wetters abgesagt, so daß wir unverrich-
teter Sache wieder zurückfuhren. — Klinckowström
und ich benutzten den freien Abend, um noch rasch
auf den Kreml zu fahren, von wo man einen herr-
lichen Blick auf die vielgekrümmte Moskwa und die
Stadt mit ihren hunderten von Kirchtürmen hat. Die-
ser Blick ist überwältigend schön, groß und eigen-
artig. — Hier erst sieht man, was Moskau eigentlich
ist. — Der Kreml selbst ist eine Stadt für sich mit
Palästen und Kirchen, riesenhaft ins Große gehend,
wie es eben nur in einem solchen Riesenreich wie
Rußland möglich ist.
Moskau, 22. Mai 1896.
Über den feierlichen Einzug der Majestäten vom
Petrofsky-Palais nach dem Kreml wirst Du schon
lange in der Zeitung gelesen haben, bevor dieser
Brief in Deine Hände kommt.
Wir hatten glücklicherweise herrliches Wetter. Es
ist, als ob der Sommer mit einem Schlage hier ein-
gekehrt sei, schöner warmer Sonnenschein und milde
Luft. Der Glanz des Einzugs war großartig und im-
posant. Wir mußten schon morgens V212 Uhr nach
Petrofsky hinausfahren, da später alle Straßen ab-
gesperrt waren. Das Leben in der Stadt war ein un-
geheures. Ganze Menschenströme fluteten durch die
Straßen und stauten sich an allen Orten, wo der Zug
213
vorüberkommen sollte. Die Truppen, zirka fünfzig-
tausend Mann, bildeten Spalier auf dem ganzen acht
Kilometer langen Wege bis zum Kreml. Draußen im
Palais versammelten sich alle Suiten, die ein Gefolge
von gegen dreihundert Reitern bildeten. Wir mußten
fast drei Stunden warten, bevor der Zug sich in Be-
wegung setzte. Endlich kamen die Pferde, auf die
wir gesetzt werden sollten. — Nun fuhren die golde-
nen, mit edlen Steinen geschmückten Kutschen für
die Kaiserin und die Kaiserin-Mutter vor, jede mit
acht Schimmeln bespannt, dann setzte sich der Kai-
ser zu Pferde. Er ritt ebenfalls einen Schimmel. Da
wir uns gleich den Fürstlichkeiten anschließen muß-
ten, die ihm unmittelbar folgten, sahen wir von dem
Zuge nur einen Teil, um so interessanter war es, die
Truppen und das Volk im Vorbeireiten zu sehen.
Erstere sahen sehr gut aus. Die schönen Uniformen
der Chevalier garde, der Garde ä cheval, der Grena-
diere zu Pferde, der Gardekosaken, die lange schar-
lachrote Röcke tragen, der Uralschen Kosaken, die
himmelblau angezogen sind, mit blauen Lanzen und
dito Schabracken, leuchteten in der Sonne. Dann kam
das Paulowsksche Grenadier-Regiment, mit Grena-
diermützen, in das zur Erinnerung an den Kaiser Paul
nur Leute mit Stumpf nasen eingestellt werden, schließ-
lich das Preobratschenske Regiment, das unserem
i. Garde-Regiment entspricht. — Die ganze lange
Straße war dick mit Sand bestreut, zu beiden Seiten
standen die Tausende, die herbeigeströmt waren, um
zu schauen. Alle Bäume saßen voll Menschen, es
sah aus, als ob sie mit riesigen Raupen bedeckt wä-
ren. — Alles Volk stand entblößten Hauptes da und
rief seinem Väterchen ein rollendes Hurra zu. Die
Begeisterung leuchtete den Leuten aus den Augen.
Wahrhaft imposant war der Blick auf die Straße der
214
Stadt, nachdem wir die Porta triumphalis passiert hat-
ten, wo dem Kaiser Brot und Salz gereicht wurde. —
Alle Fenster voll Menschen, überall große Tribü-
nen errichtet, die von Damen in hellen Toiletten be-
setzt waren, wie Riesentreibhäuser von weißen Aza-
leen. Alle Häuser in reichem Flaggenschmuck, zwi-
schen dem der glänzende Zug sich langsam, aber
ohne Stockung fortbewegte. Vierundzwanzig goldene
Kutschen, mit rotem Samt ausgeschlagen, alle mit
Schimmeln bespannt, goldstrotzende Uniformen, eine
märchenhafte Pracht. — Vor den Kirchen stand die
Geistlichkeit in überladener Pracht, weihrauchdamp-
fend, in der Mitte das große, goldene Heiligenbild
der Kirche, Fahnen und Goldmonstranzen in den
Händen. Es ist unmöglich, den ganzen Pomp dieses
Einzugs zu schildern. — Vor dem Tore des Kremls
erwartete der Metropolit, umgeben von den höchsten
geistlichen Würdenträgern, die Majestäten, die hier
auf purpurner Estrade den Segen empfingen.
Wir ritten inzwischen durch das Tor auf den wei-
ten Schloßhof, wo alle Deputationen aus dem weiten
Reich aufgestellt waren. — Da standen Samojeden
aus den eisigen Gefilden Finnlands, Kirgisen vom
Ural, Tataren vom Don, vom Asowschen und Kaspi-
schen Meer hatten die Stämme ihre Abgesandten ge-
schickt, aus den Steppen Sibiriens waren sie gekom-
men, das ganze ungeheure Reich war hier auf engem
Raum vertreten. Die Gemeindevorsteher aus dem
Inneren standen in langen, gescheitelten Haaren,
breite Bauerngesichter neben den braunen, ver-
schmitzten Kaufleuten aus Kasan, es war eine Aus-
stellung der verschiedensten Menschenrassen, wie sie
wohl auf der Welt nicht wieder zu sehen ist. — Der
Kaiser ritt die lange Front ab, dann ging es durch das
Heilige Tor, wo alles das Haupt entblößt, in das In-
215
nere des Kremls. — Hier wurde vom Pferde gestie-
gen, und nun betrat das Kaiserpaar die beiden inneren
Kirchen nacheinander, um eine kurze Andacht zu ver-
richten. Damit war die Zeremonie für uns beendet.
Abends waren wir in der Oper und machten dann
eine Rundfahrt durch die illuminierte Stadt. Was illu-
minieren heißt, habe ich erst hier kennen gelernt.
Tausende und Abertausende von bunten Glaslämp-
chen bedecken die Gebäude. Ganze Kirchen ragen,
aus Licht bis zur höchsten Turmspitze gebaut, in den
dunklen Nachthimmel, ein feenhafter Anblick. Mitten
durch die dichtgedrängte Menge fuhren wir. Man
hört kein lautes Wort, kein Schreien, kein Schimp-
fen. Alles macht dem Hofwagen als selbstverständ-
lich Platz, viele Leute ziehen den Hut und machen
tiefe Verbeugungen, während unser Wagen sie zur
Seite drängt!
Moskau, 25. Mai 1896.
Jetzt haben wir angefangen, uns Kirchen, Galerien
und andere Sehenswürdigkeiten anzusehen. Ich ver-
suche meine Eindrücke, wenn auch nur in skizzen-
hafter Form, in meinem Tagebuch festzuhalten, aber
sie stürmen so massenhaft auf mich ein, daß ich
schwer Ordnung hineinbringe. Wir haben das Innere
des Kremls wenigstens zum Teil gesehen. Der Kreml
ist eine Stadt für sich mit zwei großen Schlössern,
Kaserne, Arsenal, fünf bis sechs Kirchen, drei Klö-
stern, Kavalierhäusern, Stallungen usw. Das Ganze
umschlossen von hoher, kremelierter Mauer mit fünf
Toren. Hier ist das Heilige Tor, das Sspassky Tor,
durch das kein Russe bedeckten Hauptes gehen darf.
Vor demselben stets eine dichtgedrängte Menge Pil-
ger, armes Volk, das aus dem weiten Zarenreich zu-
sammenströmt, um im heiligen Moskau seine An-
216
dacht zu verrichten, und das vor allem, sogar vor der
Viktoria auf dem Tor sich andächtig bekreuzt. Die
Männer in groben Kitteln, die Weiber mit filzum-
wundenen Beinen, den Pilgerstecken in der Hand,
das Bündel auf dem Rücken.
Das große Schloß im Kreml hat die schönsten Säle,
die vielleicht je eines Menschen Auge gesehen. Da-
neben der älteste Teil mit den kleinen, engen Ge-
mächern der alten Zaren, die in historischer Treue
erhalten und restauriert sind.
Dann waren wir in der schönsten Kirche Moskaus,
der Erlöserkirche, die zur Erinnerung an 1812 gebaut
ist und eine Bauzeit von fünfzig Jahren und ein
Kapital von fünfzig Millionen Mark gekostet hat. —
Von ihrer Höhe, die wir erstiegen, habe ich den er-
sten umfassenden Blick auf die Stadt tun können, von
der ich mir bis jetzt gar keine Vorstellung machen
konnte, obgleich wir tagelang in ihr herumgefahren
waren. Von hier oben sieht man deutlich, wie die
Stadt sich um den Kreml herumkristallisiert hat. Wie
die Jahresringe um das Mark des Baumes legen sich
die Stadtteile um die Höhe des Kremls. Die Straßen
sind kreisförmig um diesen Mittelpunkt gezogen, von
radial auslaufenden Straßenzügen durchschnitten.
Einen klaren Überblick gewinnt man aber auch von
hier oben nicht. Um Moskau ganz sehen und er-
kennen zu können, müßte man in einem Luftballon
ein paar hundert Meter über der Stadt schweben.
Endlos dehnen sich nach allen Seiten die grünen
Dächer der meist niedrigen Häuser, die wieder ein-
zeln in Gärten und zwischen freien, grünen Plätzen
liegen, und aus dem Gewirr des ganzen, ungeheuren
Bildes steigen unzählbar die Kuppeln und Türme der
vierzigmal vierzig Kirchen und Kapellen der Stadt
auf. Sie glänzen als goldene Zwiebeln oder tiefblau
217
gefärbt, als Zinnen und Spitzen in verwirrender
Masse, ganz unmöglich, sie zu zählen. Im Hinter-
grunde liegen die dunkel bewaldeten Sperlingsberge,
von denen aus Napoleon einst auf die Stadt blickte,
die ihm so verhängnisvoll werden sollte; bis in die
weiteste Ferne leuchten Klöster von Mauern um-
schlossen herüber. — Unaufhörlich durchtönt Glok-
kenklang die Luft und auf den Straßen flutet ein ge-
drängtes Leben von Droschken, Drei- und Vier-
spännern, alle Pferde nebeneinander gehend.
Heute morgen hatte der berühmte Li-Hung-Tschang
Audienz beim Prinzen. Wir waren alle zugegen und
wurden dem großen Chinesen vorgestellt. Die Unter-
haltung ging per Dolmetsch. Ich interessierte ihn be-
sonders wegen Onkel Helmuth. Er sieht äußerst in-
teressant aus, ein kluges, geistvolles Gesicht. Die be-
rühmte gelbe Jacke hatte er an. — Nachher haben
wir die Wiege der Romanows, das alte Bojarenhaus
besucht, in dem der Stammhalter des jetzt regierenden
Geschlechts geboren wurde, höchst interessant. —
Dann die wüsteste Ausgeburt architektonischer Phan-
tasie, die Kirche Wassily-Blashenyi, die von Iwan
dem Schrecklichen gebaut wurde. Ferner sahen wir
eine Gemäldegalerie, in der nur russische Künstler
vertreten sind, mit einem interessanten Porträt Tol-
stois.
Moskau, 27. Mai 1896.
Gestern fand die Krönung bei herrlichstem Wetter
statt. Die Russen haben wirklich Glück mit diesen
Veranstaltungen. Ebenso wie der Tag des Einzugs
war es auch gestern am Krönungstage das herr-
lichste Wetter. Die Sonne brannte mit fast südlicher
Glut vom wolkenlosen Himmel. — Bei Regenwetter
würde auch die Krönung eigentlich gar nicht statt-
218
finden können, da der ganze Umzug mit all seinem
Pomp sich zum größten Teil unter freiem Himmel
bewegt. — Wir mußten schon um 728 Uhr morgens
nach dem Kreml hinausfahren, wo wir Plätze auf ei-
ner Tribüne hatten, die in dem weiten Schloßhof er-
richtet war. — Um 72 9 Uhr begann der feierliche
Akt mit dem Kirchgang der Kaiserin-Mutter, die un-
ter einem goldenen, mit Straußenfedern geschmück-
ten Baldachin mit der Brillantkrone auf dem Kopf
und den von zehn Kavalieren getragenen Hermelin-
mantel um die Schultern vom Palais aus nach der
Uspenskyschen Kathedrale schritt, in der die Krö-
nung stattfindet. — Wir hatten einen sehr guten Platz,
von dem aus wir den ganzen Schloßhof übersehen
konnten. In demselben waren kreuzweise zwei Wege
für den Aufzug aus Bretterplanken hergestellt, die
mit rotem Tuch überkleidet waren. Der eine führte
von der großen Treppe des Palais zur Kathedrale, ein
paar hundert Schritt, der andere durchschnitt den Hof
quer. Ein dritter führte im Umgang von der Krö-
nungskathedrale zu dem Iwan Weliky, von diesem
zur Archangelschen Kathedrale, von dort zur Kirche
Maria Verkündigung und von da zurück zur Frei-
treppe. — Diesen Weg hat der Zar nach vollzogener
Krönung zurückzulegen und in jeder der genannten
Kirchen, die um den Schloßhof herumliegen, eine
Andacht zu verrichten. — Der ganze weite Hof war
Kopf an Kopf gefüllt mit den Deputationen des ge-
samten Volks, alle Völker, die das russische Zepter
vereinigt, waren hier vertreten, vom turbantragenden
Bucharen an bis zum pelzbekleideten Finnländer. Die
Chevalier garde in Helm und Küraß bildete Spalier
auf der einen Seite des Hofes, die in lange Schar-
lachröcke gekleideten Leute des kaiserlich kaukasi-
schen Leibkonvois auf der anderen. — Gegen 9 Uhr
219
verkündeten Trompetenstöße, daß der Zug sich in
Bewegung setze. Alles entblößte die Häupter. Ein
rollendes Hurra stieg aus den hundertsprachigen
Kehlen der Massen, die in Erregung durcheinander-
drängten. Der ganze weite Hof, umsäumt von zahl-
reichen Tribünen, auf denen die hellen Toiletten der
Damen schimmerten, dazwischen die leuchtenden
Uniformen der spalierbildenden Truppen, das Ganze
umstanden von den goldgedeckten Türmen und Kir-
chen und von der hohen Front des alten Zaren-
schlosses und überflutet von glühendem Sonnenlicht,
machte schon an und für sich einen zauberhaften
Eindruck. — Und auf der mitten durch das Gewirre
führenden roten Plankenbahn zog nun der Krönungs-
zug in seiner ganzen orientalisch märchenhaften
Pracht an uns vorüber nach der Kathedrale, an deren
Portal der Metropolit von St. Petersburg, umgeben
von der hohen Geistlichkeit mit dem heiligen Bilde
der Mutter Gottes stand, um den Eingang des Kaiser-
paares zu segnen. — Fast eine Viertelstunde dauerte
es, bis der ganze Zug vorüber war. Da kam zuerst
eine Abteilung Chevalier garde, dann die Pagen, die
Zeremonienmeister, die Syndikate des ganzen Rei-
ches, die Munizipalitäten, Delegierte des Adels, der
Bürgerschaft, des Handelsstandes, der Künstlerschaft,
dann endlose Kammerherren in goldüberladenen Uni-
formen, die Vertreter der Universitäten, der Mini-
sterien, die Delegierten der verschiedenen Kosaken-
stämme, die Adelsmarschälle, die Generalsynode, die
Senatoren, der Staatsrat, Herolde, die Schloßgarde,
dann in feierlichem Pomp die Reichsinsignien, die
Reichsfahne und Schwert, Krone, Zepter, Apfel, Män-
tel usw., ein Peloton der Chevalier garde der Kaiserin,
die Oberhof- und Hofmarschälle und endlich der Kai-
ser und die Kaiserin unter einem goldenen Baldachin
220
mit Straußenfedern, der von zwanzig Generalen ge-
tragen wurde. — Nach altem Zeremoniell schritt die
Kaiserin unter demselben Baldachin hinter dem Kai-
ser. — Nun folgte der lange Zug aller russischen
Großfürsten und aller der Fürstlichkeiten, die zur
Krönung hier versammelt sind, dann der lange Zug
der Hof-, Ehren- und Palastdamen in der russischen
Hoftracht, dem rotsamtenen Überkleid, den Kokosch-
nik auf dem Kopf, wieder eine Abteilung Chevalier
garde und dann noch eine Menge Generale, Flügel-
adjutanten, Vertreter des erblichen Adels usw. — Das
alles zog wie ein Märchen an uns vorüber und ver-
schwand in der Kathedrale. Dazu Geläute aller Glok-
ken, Kanonendonner und brausendes Hurra, in der
Tat ein Bild von unbeschreiblichem Eindruck. — Die
Zeremonie in der Kirche dauerte von 9 bis V22 Uhr. —
Nach Beendigung derselben trat der Zug wieder her-
aus zum Umgang. Jetzt trug der Kaiser die schwere
Brillantkrone, den Mantel und in der Hand das Zep-
ter, an dessen Spitze der größte Diamant der Welt,
der Orloff , funkelt, und den Reichsapfel, ein Anblick,
den man sonst nur auf Bilderbogen sieht. — Er hatte
sich selber und dann die Kaiserin gekrönt, hatte die
heilige Salbung empfangen und als höchstes kirch-
liches Oberhaupt das Abendmahl in beiderlei Gestalt
genossen. Nun trat er erst als rechtmäßiger Kaiser
im ganzen Glanz seiner riesigen Macht vor sein Volk.
— Es liegt etwas Großes in diesen Feierlichkeiten,
deren Kunde von allen den Deputationen, die ihnen
beiwohnten, hinausgetragen wird in die endlosen
Steppen des Reiches, die erzählen werden, wie sie
den Weißen Zaren gesehen haben in dem ganzen
Glanz seiner Macht, gefolgt von Hunderten unter-
worfenen Fürsten, gesegnet von Gott, der für ihn die
Sonne scheinen ließ und gebenedeit von der Geist-
221
lichkeit, angejubelt vom ganzen Volk, bedeckt mit
den Schätzen der Erde, ein höheres Wesen, in des-
sen Hand das Wohl und Wehe ungezählter Mil-
lionen liegt. — Dies Volk und dies Reich braucht eine
solche äußere Schaustellung, und man tut weise
daran, sie in allen Stücken nach altgeheiligtem Ritus
aufrechtzuerhalten. Religion und Weltherrschaft sind
hier so innig verschmolzen, daß keins vom anderen
zu trennen ist, ohne daß beide sich verbluten. — Man
muß dies alles gesehen haben, um zu begreifen, wes-
halb in Rußland die orthodoxe Kirche oft mit dra-
konischer Strenge durchgeführt wird, um zu ver-
stehen, wie es möglich ist, dies endlose Reich, das
vom ewigen Eis des Nordens bis zum ewigen Som-
mer des Südens reicht, in einem Gedanken zusam-
menzufassen und zu erhalten. Nur die absolute Ge-
walt, getragen von der allgemeinen orthodoxen Kirche,
kann Rußland regieren, und jeder Riß zwischen die-
sen beiden Grundpfeilern würde das ganze riesige
Gebäude zum Einsturz bringen.
Nachdem der Krönungszug alle Kirchen passiert,
steigen Kaiser und Kaiserin die rotbelegte Freitreppe
zum Schloß hinauf. Oben angekommen, wandten
beide sich um und grüßten das Volk mit dreimaliger
Verbeugung. Die beiden Majestäten sahen prächtig
aus, die edlen Steine auf ihren Häuptern blitzten in
der Sonne, die Figuren umwallten die weiten Falten
der Hermelinmäntel, es schien, als ob der Himmel
einen segnenden Kuß über sie hinhauchte und alle
die Tausende, die draußen auf den Knien gelegen
hatten, während in der Kirche ihr Kaiser gesalbt
wurde, jubelten zu dem Herrscherpaar hinauf, man
fühlte sich umströmt von der Flut der Segenswünsche,
der Begeisterung und der monarchischen Treue eines
ganzen Volkes.
222
An diesem Tage wurden gegen dreitausend Men-
schen auf dem Kreml gespeist, in Zelten, in Sälen
und Hallen waren die endlosen Tafeln gerichtet. —
Wir entzogen uns dem Gedränge und fuhren zu
Haus, wo wir gegen 5 Uhr ankamen. Neun Stunden
hatte die ganze Zeremonie gedauert!
Die Kaiserin sah reizend aus. Das feine Gesicht
blaß von Erregung und Anstrengung. Sie trug ein
Kleid aus Silberbrokat. — Die Kaiserkrone, ganz aus
Diamanten gearbeitet, die ihr der Kaiser in der Kirche
aufgesetzt, nachdem er sich selber gekrönt und mit
seiner Krone die vor ihm Kniende an der Stirn be-
rührt hat, saß wie ein Strahl des Himmelslichtes sel-
ber auf ihrem reichen Haar. Auch der Kaiser trug
die schwere Krone mit kaiserlichem Anstand. Sie
muß furchtbar schwer sein, denn auch sie besteht
ganz aus Brillanten. Die Spitze bildet ein Rubin von
der Größe eines Hühnereis, in dem das Sonnenlicht
sich mit blutigrotem Schein brach.
Abends war Moskau illuminiert. Was das heißen
will, ist schwer zu beschreiben. Der ganze Kreml er-
strahlte in elektrischem Licht. Die Türme und Tore
bauten sich aus Millionen von Lampen auf, vom Fuß
bis zur höchsten Kreuzspitze. Sie standen da wie Er-
scheinungen einer anderen Welt. Die ganze acht Kilo-
meter lange Umfassungsmauer war in ihrer Kreme-
lierung von Lampen umfaßt. Dieses ganze Feuer-
meer entzündet die Hand der Kaiserin. Sie ergreift
ein Bukett, und im selben Nu flammt alles auf. Von
der Terrasse des Kreml sahen wir hinab auf eine
Stadt von Feuer. Blau, rot, grün erstrahlten die Häu-
ser, Brücken, Türme in blitzenden Funken. Girlan-
den von Lampen zogen sich an den Ufern der Mos-
kwa hin, soweit das Auge reichte. Es war eine so
unbeschreibliche Pracht, daß wir ganz betäubt waren.
223
Es ist auch ganz unmöglich, den Eindruck wieder-
zugeben. Laß Deine Phantasie ins Ungemessene
schweifen und Du wirst noch lange nicht die Wirk-
lichkeit erreichen. Hier hört jedes Denken auf. Selbst
wenn man diese Illumination sieht, hält man sie für
unmöglich. Man faßt sich an die Stirn und fragt sich,
ob man bei klarem Verstände ist oder ob man Fieber-
phantasien hat. Und drei Abende hintereinander soll
sich dies Schauspiel erneuern! —
M o s k a u , 30. Mai 1896.
Der Trubel der letzten Tage war groß. Wir waren
permanent unterwegs von morgens bis abends, ohne
Pause. — Wir hatten große Gratulationscour, die
Stunden dauerte. Einzeln vorbeidefiliert mit zwei Ver-
beugungen. Die Kaiserin reichte mir die Hand zum
Kuß, nie habe ich einer Fürstin mit mehr Freude die
Hand geküßt! — Gestern waren wir mit dem Prinzen
Heinrich im Lager. Wir fuhren morgens nach dem Pe-
trof sky-Palais, wo wir Pferde vom Marstall bekamen.
Es war interessant, das Lager zu sehen, in dem drei
Inf anterie-und eine Kavallerie-Division so wie zweiBri-
gaden Artillerie liegen. Die Leute sind teils in Holz-
baracken, teils in Zelten untergebracht. Wir ritten ge-
gen drei Stunden durch das Lager. — Abends war
Galaoper. Das riesige Haus sah prächtig aus. Die
Ränge mit juwelengeschmückten Damen, das Par-
terre mit Offizieren besetzt. Brausendes Hurra und
Nationalhymne begrüßte die Majestäten, die, gefolgt
von allen Großfürsten und Prinzen, in die große Hof-
loge traten. — Es wurde ein Akt aus der Oper »Das
Leben für den Zar« gegeben. Die Pracht der Kostüme
war ungeheuer, wie überhaupt der Luxus, der hier
entwickelt wird, alles hinter sich läßt, was ich bisher
gesehen. Am Schluß wurde wieder die National-
224
hymne gespielt, die der ganze Chor des Theaters, zu
einer gold- und silberglänzenden Gruppe vereinigt,
mitsang. Wir kamen um V22 Uhr nach Hause.
Heute ist großes Volksfest, bei dem hunderttausend
Menschen unter freiem Himmel gespeist werden. Je-
der nimmt sein Geschirr und einen Becher mit dem
Bild des Zaren mit nach Hause.
Moskau, i.Juni 1896.
Seit ich Dir zuletzt schrieb, haben wir ein Mas-
senfest auf der französischen Botschaft mitgemacht.
Das merkwürdigste an diesem Fest war das, daß es
uns gelang, ohne erdrückt worden zu sein, wieder
hinauszukommen. Fast wäre es uns gegangen wie
den armen Tausenden des Volkes, die elend zu Tode
gedrückt worden sind. Nach offiziellen Berichten
sind 1365 Tote und 320 Verwundete gemeldet. Man
kann sich nichts Grausigeres denken, als ein Volk,
das sich gegenseitig zerquetscht und unter die Füße
tritt. Auf dem riesigen Platz sollen gegen eine Mil-
lion Menschen versammelt gewesen sein.
Berlin, 1. September 1896.
Jetzt heißt es allgemein, ich werde das Alexander-
Regiment bekommen, und zwar nach dem Manöver.
Das ist auch wahrscheinlich, denn Se. Majestät liebt
es, dergleichen Dinge am letzten Manövertage abzu-
machen. Daß ich als Kandidat für das Alexander-Re-
giment genannt werde, hängt wohl mit meinen rus-
sischen Beziehungen zusammen. — Ich freue mich
darauf, hinauszukommen. Für meine Zukunft ist es
nötig, daß ich nach langer, zwanzigjähriger Pause ein-
mal wieder in die Front komme. Der Gedanke, auf ei-
nem Posten alt und überständig zu werden und schließ-
lich nur noch aus Gnade so weiter mitgeschleppt zu
Moltke. 15 225
werden wie ein ausgedienter Gaul, dem man wider-
willig ein Gnadenbrot gibt, würde mir unerträglich
sein. Dann lieber vorher von selber gehen. — So habe
ich die Zuversicht zu mir selber, daß ich mein Exa-
men als Regimentskommandeur gut bestehen und mir
damit die Berechtigung erwerben werde, mit gutem
Gewissen auf der militärischen Stufenleiter weiterzu-
klettern, solange Kraft und Gesundheit ausreichen.
Breslau, 6. September i8g6.
Gestern morgen 6V2 Uhr nach Brieg gefahren, wo
wir warteten, bis der russische Sonderzug einlief. Wir
wurden in einem sehr schön ausgestatteten Salon-
wagen verstaut, wo wir die Bekanntschaft der russi-
schen Begleitung machten. Nach einer halben Stunde
erschienen der Kaiser und die Kaiserin, um uns zu
begrüßen. Der Kaiser hatte die Uniform des Alexan-
der-Regiments an, die ihn nicht besonders kleidet. Er
sah blaß und kränklich aus, war sehr liebenswürdig
und sprach mit jedem einzeln von uns. — Auf dem
Bahnhof Breslau war großer Empfang, unser Kaiser
und Kaiserin standen auf dem Perron. Die Begrüßung
sehr herzlich, — Ehrenwache, ein Gewimmel von
Fürsten, Prinzen, Generalen usw. — Wir begaben uns
in das Landeshaus, wo wir eine Stunde hatten, um
uns zur Parade fertig zu machen. Diese fand bei schö-
nem Wetter statt. Der russische Kaiser führte das
Alexander- Regiment zweimal sehr nett vorbei. Abends
Paradediner und dann großer Zapfenstreich.
Die Anrede des Kaisers beim Diner wirst Du in der
Zeitung gelesen haben, sie war sehr gut, maßvoll
und doch warm. — Die Antwort des Zaren geben die
Zeitungen nach russischer Redaktion etwas abge-
schwächt wieder, er sagte wirklich : »Je remercie votre
majeste et la ville de Breslau pour le bon acceuille
226
qu'elle a bien voulu me preparer. Je partage sincere-
ment les relations traditionelles, qui unissent nos deux
pays. Je bois ä la santö usw.« — In der Zeitung ist
dies dahin abgeändert: »Je partage les sentiments tra-
ditionelles, qui existent entre nous.« — Das ist ein
großer Unterschied und klingt viel kühler. Die Ab-
änderung ist sicher eine Konzession an Paris !
Görlitz, ii. September 1896.
Wir haben nun morgen unseren letzten Manöver-
tag und gleichzeitig für mich den letzten Tag eines
sich nun abschließenden Lebensabschnitts. Der Vor-
hang fällt, ein neues Stück beginnt!
So laß uns denn den neuen Weg gehen, als gute,
treue Kameraden. Im Anfang wird es uns beiden nicht
leicht werden. Wir sind des Lebens in der Truppe
seit langen Jahren zu ungewohnt geworden, aber bei
gutem Willen werden wir auch die schönen Seiten
bald empfinden und wir werden, jeder in seiner Art,
einen dankbaren Wirkungskreis haben. Es ist wohl
das letzte Mal, daß ich Dir als diensttuender Flügel-
adjutant Sr. Majestät schreibe. — Heute hat der Kai-
ser das V. und VI. Korps geführt und natürlich einen
glänzenden Sieg erfochten.
KABINETTSORDER.
Ich ernenne Sie hierdurch, unter Belassung in dem Verhältnis
als Mein Flügeladjutant und unter Entbindung von der Stellung
als Kommandeur der Schloßgarde-Kompagnie, zum Komman-
deur des Kaiser-Alexander-Gardegrenadier-Regiments Nr. 1.
Görlitz, den 12. September 1896.
Wilhelm R.
An Meinen diensttuenden Flügeladjutanten Obersten v. Moltke.
Berlin, 14. September 1896.
Mich selber findest Du nicht mehr vor, ich bin
mittags ins Manöverterrain des Gardekorps abgereist,
227
um mein Regiment zu übernehmen. Ich komme ge-
rade zum großen Korpsmanöver zurecht, fasse gleich
zwei Biwaknächte und werde so mit einem Schlage
mitten in die Praxis des Soldatenlebens hineinver-
setzt, die ich seit zwanzig Jahren nicht mehr kennen-
gelernt habe. Ich bin Flügeladjutant geblieben. Daß
ich das Regiment bekommen hätte, sagte mir der Kai-
ser am letzten Manövertage. Er war sehr gütig, sagte
mir: »Nun, ich denke, der Zar wird mit dem neuen
Kommandeur zufrieden sein.« — Nicht wahr, Du siehst
ein, daß ich recht habe, wenn ich etwas »auf die
Front« gedrängelt habe. Der Kaiser hat's mir nicht
übel genommen, das fühle ich gut genug. Es wird
sehr wunderbar für mich werden, wenn ich zum er-
stenmal den Degen vor der Front des Regiments ziehe
und fünfundvierzig Offiziere und zweitausend Mann
auf mein Kommando hören. Ich freue mich sehr dar-
auf und besonders, daß ich gleich im Manöver füh-
ren kann.
St. Petersburg, 9. März 1897.
Durch meine Depesche hast Du ersehen, daß ich
wohlbehalten hier angekommen bin. Ich hatte gerade
Zeit, mich umzuziehen, um dann sofort wieder auf
die Bahn und nach Zarskoje Selo zu fahren, da Se.
Majestät der Kaiser mich noch am selben Nachmit-
tag empfangen wollten. — Heute wurde ich von der
alten Großfürstin Konstantin in einer langen Audienz
empfangen und darauf von ihrem Sohn, dem Groß-
fürsten Konstantin und dessen Gemahlin, einer Prin-
zeß von Anhalt — Morgen hat mich der Großfürst
Wladimir zum Frühstück eingeladen.
St. Petersburg, 11. März 1897.
Die Woche geht so sachte hin, ich sitze unbeweg-
lich hier und weiß noch nicht einmal, wann ich über-
228
haupt zurückkommen kann. Gestern beim Großfür-
sten Wladimir, ganz en famille, als ob ich mit dazu
gehörte! Ich mußte von Berlin erzählen, als ob es
nur diese Stadt auf der Welt gäbe! Dann war ich bei
dem alten Großfürsten Michael, der sich wohl drei-
viertel Stunden mit mir unterhielt, es war, als ob man
in einem alten Tagebuch läse, so aus den sechziger
Jahren, wo Preußen und Rußland noch Arm in Arm
durch die Welt gingen wie zwei lustige Studenten,
Schmollis tranken und alles anrempelten, was ihnen
in den Weg kam.
Petersburg ist still und tut Buße, geht zur Beichte
und Kommunion und hat alles abgestreift, was an
die Vergnügungen dieser Welt erinnern könnte. Kein
Musikton erklingt, kein Theater ist offen, dafür drängt
das Volk in Scharen in die Kirchen.
Ich war heute in der Peter-Pauls-Festung, dann be-
suchte ich das kleine Holzhäuschen, in dem der große
Peter wohnte, während die Stadt, die seinen Namen
trägt, aus den Sümpfen des Newaufers hervorwuchs,
während er sein Fenster in die Mauer der Unkultur
brach, die damals das russische Reich umschloß, da-
mit das Licht europäischer Kultur in sein riesiges
Reich hineinfalle.
Döberitz, i.Juli 1897.
Morgens wird Gefecht exerziert. Der ganze Übungs-
platz ist eine Quadratmeile groß, abwechselnd Wald
und abgeholzte Flächen. — Man kann alle möglichen
Gefechtsbilder auf demselben aufführen und da man
keine Rücksicht auf Flurschäden zu nehmen braucht,
ist man in allen Bewegungen ganz unbehindert. — Die
armen Pferde leiden sehr unter den unzähligen Brem-
sen. Vorgestern bekam »Nyalka« einen Kolikanfall.
Ich ließ gleich einen Tierarzt holen, sie bekam ein
22g
halb Liter Hoffmannsche Tropfen, wurde massiert
und mit Prießnitzschem Umschlag behandelt. Nach
einigen Stunden war der Anfall vorüber. — Übermor-
gen habe ich Regimentsbesichtigung, da kannst Du
mir den Daumen halten, denn natürlich werde ich für
meine Person besichtigt, damit meine Herren Vor-
gesetzten ein Urteil darüber gewinnen, wie töricht
ich etwa bin.
Berlin, 3. Juli 1897.
Meine heutige Regiments Vorstellung ist sehr gut
verlaufen. Der Divisionskommandeur und eine Menge
Zuschauer waren zugegen. Die Kritik fiel sehr gut
aus und alles war befriedigt. Ich habe dann meinen
Offizieren Adieu gesagt und bin mittags hierher ge-
fahren. Von hier geht es morgen früh weiter nach
Travemünde. Ich kann es noch nicht verwinden, vom
Regiment fortzumüssen.
Norwegen, Odde, 12. Juli 1897.
Gestern wurde Se. Majestät von einem herunterfal-
lenden Tauende am Auge verletzt und am selben
Nachmittags kam der Leutnant von Hahnke, der Sohn
des alten General v. Hahnke, der auf der »Hohenzol-
lern« im Dienst war, ums Leben. — Die Matrosen sa-
gen, das ganze Unglück kommt daher, daß ein Pastor
an Bord ist.
Die Verletzung des Kaisers ist eine ganz unbedeu-
tende, die Sache wird in ein paar Tagen vorüber sein,
er kommt heute schon wieder an Deck. — Das Un-
glück mit dem jungen Hahnke hat sich folgender-
maßen zugetragen. Einige der Schiffsoffiziere woll-
ten eine Partie nach dem zwanzig Kilometer von
Odde entfernten Lotefoß machen. Hahnke und ein
Leutnant v. Levetzow per Rad, ein anderer Offizier
mit einem Beamten fuhr mit Karriol hinterher. Leut-
230
nant v. Hahnke fuhr als erster auf der schmalen, zum
Teil in den Fels gesprengten Straße voraus, etwa
vierhundert Meter hinter ihm folgte Levetzow, eben-
falls auf dem Rade, dann die anderen. Nachdem sie
etwa eine Stunde gefahren, kamen sie an eine Stelle,
wo der Weg sehr schmal ist. — An der einen Seite
steiler Fels, rechts das felsige Bett des mit reißender
Gewalt dahinströmenden Elfs. Die Straße liegt hier
etwa vier Meter über dem Flußbett. Gerade hier sind
starke Stromschnellen und Wirbel, das Wasser kocht
zwischen großen Felsblöcken und bildet tiefe Stru-
del. Dicht über der Stelle führt eine schmale Holz-
brücke über den Fluß zu einem Bauernhaus, das auf
dem andern Ufer der Straße gegenüberliegt. — Wie
Leutnant v. Levetzow, der abgestiegen war und sein
Rad führte, da die Straße hier ansteigt, an diese Stelle
kam, kamen ihm über die Holzbrücke laufend, zwei
Jungen im Alter von zehn und sieben Jahren ent-
gegen, Söhne des gegenüber wohnenden Bauern und
sagten ihm, sie hätten am andern Ufer gestanden und
hätten gesehen, wie ein Mann, der auf einem Rad ge-
fahren sei, eben von der Straße herab in den Fluß
gestürzt sei, mit seinem Rade. Glücklicherweise ver-
steht Levetzow Dänisch. — Er hatte Hahnke, der
wie gesagt, etwa vierhundert Meter vor ihm fuhr,
wegen der Straßenkrümmung nicht sehen können.
Hahnke ist seitdem spurlos verschwunden, der rei-
ßende Strom hat ihn verschlungen und nicht einmal
ein Stück seiner Kleidung, Hut oder irgend etwas
wieder herausgegeben. — Die Jungen sagen, der Herr
wäre ganz langsam auf der Straße entlang gefahren,
auf der dem Fluß zuliegenden Seite. Wie er gerade
ihnen gegenüber gewesen, habe er sein Taschentuch
herausgezogen, um sich den Schweiß abzuwischen,
dabei sei das Rad ins Schwanken gekommen, er habe
231
noch rasch mit der Hand an die Stange gegriffen, das
Rad sei aber vorn an einen Prellstein gestoßen, habe
sich überschlagen und der Herr sei kopfüber hinab-
gestürzt. Im Fallen habe er einen lauten Schrei aus-
gestoßen. Eine kurze Strecke abwärts sei er noch ein-
mal aus dem Strudel aufgetaucht, habe beide Arme
in die Luft geworfen und nochmals einen Schrei aus-
gestoßen, im selben Augenblick sei er verschwun-
den. — Seit gestern nachmittag wird der Fluß von
Matrosen mit Netzen und Greifankern abgesucht.
Heute sind hundertzwanzig Mann an der Arbeit, es
ist keine Spur des Verunglückten gefunden. Wenn
die beiden Jungen nicht wären, verschwand Hahnke
von der Erde, ohne daß jemals ein Mensch gewußt
hätte, wo er geblieben sei. — Der arme Vater, der in
Karlsbad zur Kur ist, ist durch den ältesten Sohn, der
telegraphisch benachrichtigt wurde, von dem Un-
glück unterrichtet. Der Kaiser, selber liegend, war tief
ergriffen und will hier bleiben, bis die Leiche gefun-
den. Stahlheim usw. ist natürlich aufgegeben, und tiefe
Niedergeschlagenheit herrscht auf dem ganzen Schiff.
Odde, 14. Juli 1897.
Wir sind drei Tage hier geblieben, um Nachfor-
schungen nach der Leiche des jungen Hahnke anzu-
stellen. Es ist mit hundertvierzig Mann tagaus tagein
gearbeitet worden, um sie zu finden, doch völlig re-
sultatlos. Der reißende Gebirgsstrom, der ihn ver-
schlungen, hat nichts wieder herausgegeben. Es sind
in dem felsigen Flußbett so tiefe Wirbel und unter-
höhlte Felsen, daß sie aller Versuche spotten, mit
Greifankern usw. hinabzugelangen. So muß die Hoff-
nung aufgegeben werden, der Leiche ein Grab in
deutscher Erde bereiten zu können, der Elf hält ihn
fest und umrauscht ihn mit seinem kühlen Wasser in
232
dunkler Felskluft, ein Grab von düsterer Majestät.
Heute hatten wir einen ergreifenden Gedächtnis-
gottesdienst an Bord. Der Kaiser wird an der Un-
glücksstelle einen Gedenkstein an der Felswand er-
richten lassen.
Norwegen, Digarmulena.d.Lof oten, 20.Juli t8g8.
Wir passierten mittags den Polarkreis an Deck sit-
zend, von der warmen Sonne geliebkost, die so heiß
auf das Verdeck niederbrannte, als ob man tief im
Süden wäre. — Wir sahen Walfische, die ihre stäu-
benden Wasserstrahlen aufspritzten, Pamorane und
Eidergänse strichen über die Fläche, und weit ge-
breitet lag zu unserer Rechten das bergige Gestade
Norwegens in tausendfacher Abwechslung der For-
men und Farben, meilenweit streckte sich zwischen
den violetten Berggestalten der schimmernde Rücken
des größten Schneefeldes der Welt, des Svart Jisen,
hin. Es ist unbeschreiblich schön hier oben, wenn
der Himmel klar ist. Die Weite der Ausblicke zieht
den Geist ins Unendliche, die Großartigkeit der Na-
tur, die um ihrer selbst und nicht der Menschen we-
gen gemacht zu sein scheint, stimmt das Gemüt zu
feierlicher Empfindung. Unbeschreiblich ist auch das
wechselnde Spiel der Farben, die von den tiefsten
Tönen durch zarte Vermittlung bis zur lichtesten
Färbung übergehen. — Man sieht sich nicht satt an
dem Panorama, wohin der Blick sich wendet, trifft
er neue Schönheiten, und trunken von Sonnenglanz
und Klarheit eilt er über das unendliche Meer, das in
endloser Ferne mit dem Himmel zusammenschmilzt.
Norwegen, Lofoten, 23. Juli 1898.
Sehr schön war die Mitternachtssonne, die unter
einer Wolkenbank bis auf etwa dreißig Bogenminu-
233
ten über den Horizont herabsank, dann etwa zehn
Minuten stehen blieb, das Schiff und die fernen Berg-
spitzen der Lofoten mit purpurnem Schein überflu-
tete und dann wieder langsam emporstieg. — Der
Fürst von Monako kam zu uns an Bord, um den
Fang zu zeigen, den er mit seinem Schleppnetz ge-
macht hatte. Er brachte mehrere große Glasgefäße
mit, in denen in Spiritus abermals eine Anzahl gräß-
licher Tiere waren. Da waren große Seespinnen, mit
Beinen so lang wie dieser Briefbogen hoch ist, See-
gurken, die aussehen wie greuliche, dicke Blutegel,
die vorne und hinten eine Öffnung haben, damit der
Schlamm des Meeres durch sie hindurchfließen kann.
Usw. usw. — Mit einem Wort, eine Sammlung von
Gräßlichkeiten, die aber höchst interessant war. Man
fragt sich, wozu alle diese Bestien existieren. Was
ist die Absicht der Schöpfung mit ihnen? Wird man
vielleicht zur Strafe schlechten Lebens später in eine
Seegurke verwandelt und muß nun in tiefer Finster-
nis den Schlamm schlucken?
Auf der Fahrt nach Kiel, i. August 1898.
Die Nachricht vom Tode des Fürsten Bismarck kam
gestern morgen in Bergen an, ganz unerwartet, denn
die Depeschen, die Se. Majestät über den Fürsten von
Professor Schwenninger zuletzt erhalten hatte, lau-
teten durchaus beruhigend. So hatten wir keine Ah-
nung von dem, was ganz Deutschland wußte, daß es
mit dem alten Recken zu Ende ging. Der Kaiser be-
fahl nun die beschleunigte Rückkehr. — Die Depesche
des Kaisers an den Sohn Bismarcks, in welcher der-
selbe sagt, daß er den Fürsten in der Hohenzollern-
gruft neben seinen Ahnen beisetzen wolle, wirst Du
wohl schon in der Zeitung gelesen haben. Die Söhne
antworteten dankend, daß der Fürst selber den Platz
234
im Sachsenwald bestimmt habe, wo er beigesetzt sein
wolle.
Berlin, 10. August 1898.
Heute war ich in der Kunstausstellung, um mir die
großen Wandgemälde von Prell anzusehen, die als
Fresken nach der deutschen Botschaft Villa Caffa-
relli nach Rom kommen. Sie sind sehr schön, von
großer Wirkung und zum Teil von bestrickendem
Liebreiz. — Die Motive sind der altgermanischen My-
thologie aus der Edda entnommen. — Im ersten Bilde
ist der junge Frühlingsgott Baidur zur Erde herab-
gestiegen, um die von den Eisriesen gefesselte Göttin
der Erde — Gerda — zu befreien. Er wird von Schwa-
nenjungfrauen begrüßt. — Im zweiten Bilde kämpft
er gegen die Riesen, die ins Hochgebirge zurück-
geworfen werden (Sommer). Gewitter. Der alte Win-
ter in seiner Schwäche, zieht sich in rauhe Berge
zurück. — Im dritten versinkt die Sonne im Meer
(Winter). Die verlassene Erdgöttin trauert ihrer Ge-
fangenschaft entgegen. Baidur ist erschlagen, nur der
Sänger ist übriggeblieben, um von der Schönheit des
Sommers zu singen. — Ihm zur Seite steht eine Norne,
die auf dem Arm das Knäblein der Gerda hält, den
künftigen Frühling. Du mußt diese Bilder sehen, wenn
Du kommst.
Berlin, 12. August 1898.
Ich werde in etwa acht Tagen wieder einmal nach
Rußland fahren müssen. Am 27. findet die Enthül-
lung des russischen Nationaldenkmals in Moskau
für Kaiser Alexander III. statt, und es soll dazu eine
Deputation vom Regiment hingehen.
Paris, 22. Februar 1899.
Wir haben eine sehr gute Reise gehabt, wurden an
der Grenze tadellos behandelt und bei unserer An-
235
kunft in Paris auf dem Bahnhof von einem eigens
dazu geschickten Obersten en parade von dem Maison
militaire des Präsidenten und einem höheren Zivil-
beamten empfangen. Wir fanden zwei Wagen, die
vom Elysöe für uns gestellt waren. Gegen vierzig Poli-
zisten waren aufgeboten, die einen ununterbroche-
nen Ring um uns bildeten und sofort jeden beim
Kragen kriegten, der nur den Hals vorstreckte, um
uns anzusehen! Einige Pfiffe ertönten aus der dicht-
gedrängten Menge, sonst blieb alles ruhig. —
Wir wollen jetzt ausfahren und auch in den Dome
des Invalides. Nachmittag ist Empfang beim Präsi-
denten und beim Minister des Äußeren Delcassö. —
Morgen sollen wir den ganzen Zug mitmachen, zirka
acht Kilometer. — Es haben jetzt auf das Beispiel
Deutschlands hin alle anderen Staaten auch Depu-
tationen geschickt, die Hals über Kopf ankommen.
KABINETTSORDER.
Ich ernenne Sie hierdurch, unter Beförderung zum General-
major, zu Meinem General ä la suite und zum Kommandeur
der i. Garde-Infanterie-Brigade. Gleichzeitig beauftrage ich Sie
mit Wahrnehmung der Geschäfte der Kommandantur von Pots-
dam. Es gereicht Mir zum Vergnügen, Ihnen dies bekanntzu-
machen.
Berlin, den 25. März 1899.
Wilhelm R.
An Meinen Flügeladjutanten, Obersten v. Moltke, Kommandeur
des Kaiser-Alexander-Gardegrenadier-Regiments Nr. 1.
TELEGRAMM.
Oberst von Moltke, Kommandeur Kaiser-Alexander-Gardegrena-
dier-Regiments Nr. 1, Regimentsbureau, Alexanderstraße 56.
Ich ernenne Sie zum 1. April zu Meinem General ä la suite
und Kommandeur der 1. Garde-Infanterie-Brigade. Indem Ich Sie
mit schwerem Herzen von Ihrem vortrefflichen und unter Ihrer
bewährten Leitung hervorragend ausgebildeten Regimente ab-
236
berufe, wünsche Ich Ihnen durch die Beförderung Meine vollste
Zufriedenheit darüber auszudrücken, wie Sie es verstanden ha-
ben, Meinen Intentionen in Ihrer bisherigen Stellung völlig zu
entsprechen und dadurch ein so glänzendes Resultat erzielt haben.
gez. Wilhelm R.
Döberitz, 29. Juni 1899.
Am Montag halte ich die Besichtigungen des
3. Garde-Regiments, am Dienstag die des 1. Garde-Re-
giments ab. — Dann beginnen die Brigadeexerzitien
unter meiner Leitung, und am 12. Juli werde ich mit
meiner Brigade durch den Herrn Divisionskomman-
deur besichtigt. So überzeugt sich immer einer von
den Leistungen des andern.
Potsdam, 19. Juli 1899.
Die einsame Höhe des Kommandanten und Bri-
gadekommandeurs ist recht langweilig. — Gestern
habe ich lange Manöverarbeiten gemacht.
Potsdam, 23. Juli 1899.
Da ich nun einmal in Berlin war, ging ich in die
Ausstellung, wo ich noch nicht gewesen war und be-
sah mir zwei Stunden lang die recht mäßigen Bilder.
Mit der Kunst scheint es mir rapide zurückzugehen,
das Beste dort sind alte bekannte Bilder, von dem
Neueren habe ich nichts Bemerkenswertes gefunden.
Potsdam, 30. Juli 1899.
Mit großem Interesse habe ich Bebeis Buch über
die Frau gelesen, das ich unter Deinen Büchern fand.
Gott behüte uns und unsere Kinder davor, daß wir
diesen Staat erleben, in dem das Leben in trostloser
Monotonie verlaufen wird und die ganze Erde in
einen großen Fabriksaal umgewandelt wird, in dem
237
alle gleichmäßig unglücklich sein sollen, bloß damit
nicht einige glücklich sind.
Potsdam, 23. August 1899.
Die Kanalangelegenheit ist eine recht betrübende
und ernste Sache. Ich fürchte, sie wird noch unan-
genehme Folgen haben in bezug auf die Stellung der
Konservativen zu Sr. Majestät. — Daß im Ministerium
Veränderungen eintreten werden, betrachte ich als
sicher. Meines Erachtens nach wäre es auch nicht
weiter schade um ein ganz Teil der Herren. Wie sich
alles noch entwickeln wird, weiß ich nicht. Die Ab-
lehnung war doch wohl eine große Dummheit, denn
kommen wird der Kanal doch.
Potsdam, 25. August 1899.
Der Kaiser setzte sich mit mir hin und sprach lange
über die Kanalvorlage usw. Ich habe getan, was in
meinen Kräften stand, um zu mildern und versöhn-
lich zu stimmen. Die Erregung Sr. Majestät war aber
sehr tiefgehend, und ich fürchte, daß bereits Anord-
nungen erlassen waren, die nicht mehr rückgängig zu
machen sind.
Potsdam, 5. September 189g.
Da ich die Manöver selber leite, habe ich sehr viel
zu tun und werde so ziemlich den ganzen Tag zu
Pferde sein müssen. Ich bin selber neugierig, wie es
gehen wird, es ist das erste Mal, daß ich solche Ma-
növer selber angelegt habe.
Döberitz, 14. Juni 1900.
Vorgestern und gestern habe ich das 1. und 3. Garde-
Regiment besichtigt, im Beisein des Divisionskom-
mandeurs und des Kommandierenden Generals. Alles
ging herrlich, und am Schluß bekam ich noch ein
238
Lob vom Kommandierenden, der mir seine beson-
dere Anerkennung aussprach über die hübsche Art
meiner Besichtigung. Er sagte noch: »Ich empfehle
Ihnen allen, meine Herren, die kriegsmäßige und in-
teressante Art der Besichtigung, wie sie der Herr Bri-
gadekommandeur uns vorgeführt hat.«
Wilhelmshaven, 4. Juli 1900.
Heute abend soll die »Hohenzollern« in See gehen.
Der Kaiser will die Panzerdivision, die nach China
gehen soll, vor dem Auslaufen noch sehen. — Bülow
gefällt mir sehr gut, er ist ruhig, klar und bestimmt.
Sein Einfluß auf den Kaiser, wie mir scheint, ein
günstiger. Leicht ist seine Aufgabe nicht, seine große
Klugheit und Gewandtheit kommt ihm sehr zustatten.
Gestern abend spät kam Schlief fen noch an, heute
kommt Hahnke.
Es kribbelt mir in allen Gliedern, die China-Expedi-
tion mitzumachen. Es muß riesig interessant werden,
wenn ich auch glaube, daß das Ganze weniger auf
einen Einzug in Peking als auf einen Schutz von
Schantung hinauslaufen wird. Ich vermute, daß letz-
teres nötig geworden sein wird, bis wir dort sein kön-
nen, denn daß die ganze Bewegung so rasch erstickt
sein wird, glaube ich nicht. Die politischen Verwick-
lungen zwischen den europäischen Mächten werden
wohl noch kommen.
Kiel, 7. Juli 1900.
Die politischen Verhältnisse scheinen bis jetzt gün-
stig zu liegen. Die Anlässe zu Zerwürfnissen zwi-
schen den europäischen Mächten werden ja auch erst
später eintreten. Der Aufstand in China scheint sich
inzwischen mit rapider Gewalt auszubreiten, in eini-
gen Wochen wird wohl das ganze ungeheure Reich
239
in Flammen stehen. — Was man sich eigentlich bei
einem Unternehmen gegen Peking denkt, ist mir völ-
lig unklar und ich fürchte den Herrn metteurs en
scene ebenso. Die paar Mann, die wir dorthin (nach
Taku) schaffen können, werden nutzlos sein dem An-
sturm von Hunderttausenden f anatisierter Horden ge-
genüber, und nun eine Kriegsführung von zehn ver-
schiedenen Kontingenten unter einer Führung, der
sich keiner wird unterordnen wollen, der Franzose
wird nicht unter deutschem, der Deutsche nicht unter
russischem, der Russe nicht unter japanischem Ober-
befehl stehen wollen, dazu kein Kriegsobjekt, keine
legale Regierung, mit der man selbst im günstigsten
Fall Frieden schließen könnte, nichts als ein grund-
loser Abgrund von Menschen, in dem die europäi-
schen Häuflein ertrinken werden. Keine Ausrüstung
mit Trains usw., keine Basis als fünf bis sechs Schiffe,
keine geregelte Nachfuhr von Lebensmitteln usw. —
Ich sehe dies ganze Unternehmen als ein wüstes
Abenteuer an und hoffe, daß der Druck der Verhält-
nisse uns vor demselben bewahren und dahin führen
wird, uns auf das einzige zu beschränken, das wir tun
können und meiner Meinung nach tun müssen, näm-
lich unsere Kolonie Kiautschou zu schützen, dann
.den chinesischen Riesenbrand sich ausbrennen zu
lassen und uns später durch Kompensationen schad-
los zu halten. — Was wollen wir in Peking? — Wir
müssen darauf hoffen, daß die Zeit, die gottlob ver-
streichen muß, bevor unsere ersten Transporte an-
langen können, Ruhe und Überlegtheit auch bei uns
die Oberhand gewinnen lassen. Vorläufig sind wir
jeden Moment einer unvermuteten Willensexplosion
ausgesetzt, die gänzlich unberechenbar ist. Die Rat-
geber haben einen schweren Stand. — Mit Besorgnis
:sehe ich den unvermeidlich kommenden Vorwürfen
^40
in der Presse entgegen, die mit dem Vorwurf kom-
men werden, daß übereiltes Handeln uns in kopflose
kriegerische Verwicklungen gestürzt hat im fernen
Osten, wo wir eigentlich nichts zu suchen haben. —
Das wird sicher kommen, wenn wir auf Peking aven-
turieren und uns unser Schutzgebiet darüber verloren
geht, wenn unser Häuflein in dem Riesenreich all-
mählich zerschmilzt und aufgezehrt wird, wie ein
Schneeball auf einem Ofen, wenn wir dann genötigt
sein werden, neue Kräfte heranzuziehen, um die alten
womöglich noch zu retten, wenn dann der Reichstag,
den man jetzt völlig beiseite liegen läßt, mitreden wird
und die enormen Mittel dargelegt werden müssen,
die wir an die Erreichung eines Phantoms gesetzt
haben und noch setzen müssen, das man nicht an-
ders bezeichnen kann als: Rache. Ich sehe mit trüber
Besorgnis in die Zukunft. Doch ich bin ja Pessimist,
und vielleicht wird noch alles besser.
Kiel, 9. Juli 1900.
Hier ist in den letzten zwölf Stunden ein völliger
Umschwung eingetreten und ich bin sehr froh dar-
über, denn die Entschlüsse, die der Kaiser jetzt ge-
faßt hat, decken sich völlig mit dem, was ich als rich-
tig angesehen habe. Der Rachezug nach Peking ist
aufgegeben. Alle Truppen, die unterwegs sind und
noch abgehen sollen, werden nach Kiautschou be-
ordert. Dort wird eine sichere Basis geschaffen und
Ruhe und Ordnung hergestellt resp. aufrecht erhal-
ten. Damit begnügen wir uns fürs erste, sehen die
Entwicklung der Dinge an, lassen den Brand in
China ausbrennen und halten nur mit dem Wasser-
schlauch in der Hand Wache, daß das Feuer nicht
unser eigenes Haus ergreift. Damit sind wir aus allen
politischen Wirren heraus, brauchen es weder mitRuß-
Moltke. 16. 241
land noch mit England zu verschütten und können
später unsere Rechnung präsentieren. Ich habe die-
sen Standpunkt von Anfang an vertreten. Nun ist der
Kaiser ganz dafür gewonnen, wie ich zu Gott hoffe,
wird er festhalten zum Wohle des Vaterlandes. Es
war eine aufregende Zeit, die tollsten Projekte wur-
den gemacht, und die Zukunft stand oft auf des Mes-
sers Schneide. Ich bin sehr froh, daß alles so ge-
kommen. Der Kaiser hat sehr nett mit mir gespro-
chen und ich habe auch unverfroren meine Meinung
gesagt. Über unsere Abreise ist noch immer nichts
bestimmt. Ich hoffe stets noch, sie unterbleibt ganz,
aber wenn wir auch nun noch hinausgehen, so tue
ich es doch mit leichterem Herzen.
Kiel, 10. Juli 1900.
Ich kann Dir noch sagen, daß ich gebeten hatte, mir
das Kommando nach China zu geben, gestern war
Hahnks hier und hatte in den Sachen Vortrag, da bat
ich ihn noch einmal, mich dem Kaiser in Vorschlag
zu bringen, was er auch getan hat, aber ohne Erfolg.
Der Kaiser hat mich nicht gehen lassen, nicht wie ich
glaube, weil er mich für unfähig hält, sondern weil
er, wie er sagt, mich nicht entbehren kann. Eine wun-
derliche Idee, ich habe auch gesagt, daß meine Bri-
gade jeder führen könne und daß ich mit der größten
Leichtigkeit zu ersetzen wäre, aber umsonst. Ich war
recht enttäuscht, denn ich hatte mir schon einen
großen Feldzugsplan zurechtgelegt und der alte Sol-
datengeist mit seinem Drang nach Gefahr und Tätig-
keit war wieder ganz in mir erwacht. Nun habe ich
ihn fein sanft wieder schlafen gelegt und werde fort-
fahren, meinen Beruf zu pflegen und mir im übrigen
recht überflüssig vorzukommen.
242
Norwegen, Kopervik, n.Juli 1900.
Die Stellenbesetzung der nach China gehenden
Truppen ist wohl inzwischen veröffentlicht. Als Ober-
kommandierender General v. Lessei. Das ist die Stel-
lung, die ich gerne gehabt hätte. Da ich aber »unent-
behrlich« bin, habe ich ja darauf verzichten müssen.
Es ist sehr komisch, so ganz unentbehrlich zu sein
und sich dabei so ganz überflüssig vorzukommen. —
Du findest meine Idee gewiß abenteuerlich und doch,
wie gerne hätte ich die schwarz-weiß-rote Fahne ge-
gen die gelben Halunken geführt, die unsere Lands-
leute umgebracht haben. — Auf das eigentlich trei-
bende Motiv der ganzen Expedition muß man frei-
lich nicht eingehen, denn wenn wir ganz ehrlich sein
wollen, so ist es Geldgier, die uns bewogen hat, den
großen chinesischen Kuchen anzuschneiden. Wir
wollten Geld verdienen, Eisenbahnen bauen, Berg-
werke in Betrieb setzen, europäische Kultur bringen,
das heißt in einem Wort ausgedrückt, Geld verdienen.
Darin sind wir keinen Deut besser als die Engländer
in Transvaal!
Norwegen, Molde, 21. Juli 1900.
Von China haben wir keine neuen Nachrichten von
Bedeutung. Nachdem Tientsin von den Europäern
genommen, wird zunächst wohl ein Stillstand ein-
treten. Unsere Truppen haben sich brav benommen,
wie es nicht anders zu erwarten war. Von hier aus
werden Orden über Orden hingeschickt, ich glaube
kein Offizier ist mehr undekoriert. Der Kapitän U. ist
Flügeladjutant geworden, es ist das gewohnte Über-
maß in allem, das stets wieder hervortritt.
Potsdam, 28. Juli 1900.
Politisch kann ich Dir nichts mitteilen, da ich nichts
weiß. Bülow und der Reichskanzler kamen, wie ich
243
von Bord ging, so weiß ich nicht, was abgemacht
worden ist. Die Lage ist aber, glaube ich, für uns
nicht ungünstig.
Potsdam, 2. August 1900.
Die Ermordung des armen Königs von Italien ist
eins der gemeinsten Bubenstücke, die es je gegeben.
Er war ein wahrer Vater seines Volks und tat nur
Gutes. Der Halunke, der ihn niedergeschossen, sollte
öffentlich gepfählt werden. Ich denke so oft mit Be-
sorgnis an unseren Kaiser, über dessen Haupt doch
auch immer der Mordstahl schwebt, und der so
außerordentlich unvorsichtig ist. — Ich begreife nicht,
warum man alle Anarchisten nicht einfach als all-
gemeingefährlich hinter Schloß und Riegel setzt.
Wenn ein Geisteskranker herumläuft und Menschen-
leben bedroht, so steckt man ihn ein, wenn diese Ver-
brecher aber öffentlich erklären, daß sie morden wol-
len und ihre Worte auch gelegentlich zur Tat werden
lassen, so behandelt man sie wie eine gleichberech-
tigte politische Partei. Die Menschen sind eben mit
Blindheit geschlagen und werden selbst dann nicht
klug werden, wenn ihnen das Dach überm Kopf an-
gezündet wird.
Potsdam, 8. August 1900.
J. sagte mir heute, daß die Entsendung des Grafen
Waldersee nach China auf Wunsch Rußlands erfolge,
das gebeten habe, Deutschland möge den definitiven
Oberbefehl dort übernehmen. Ich halte dies für ein
sehr glückliches Omen als Beweis für den Zusam-
menschluß Deutschlands und Rußlands, dem sich
natürlich Frankreich angliedern wird.
Potsdam, 9. August 1900.
Heute morgen war ich in Berlin, wo in der Hed-
wigs-Kirche ein Hochamt für König Humbert zele-
244
briert wurde. Auf mich machte die ganze Handlung
mit den unverständlichen Manipulationen der Prie-
ster vor dem Altar, den Weihrauchwolken und dem
näselnden Gesang einen fast abstoßenden Eindruck.
Es ist doch genau wie ein Götzendienst. — Ich kann
mir nicht denken, daß Christus mit dieser Art Gottes-
dienst einverstanden sein kann, er, der seine Predig-
ten unter Gottes freiem Himmel hielt und der alles
verwarf, was an die ritualen Gebräuche des alten Ge-
setzes erinnerte und der selber sagte, wenn ihr betet,
so sollt ihr nicht plappern wie die Heiden.
Döberitz, ig. Mai 1901.
Gestern bin ich besichtigt worden. Es verlief alles
glatt und gut und ich habe von allen Seiten Glück-
wünsche über die gute Besichtigung empfangen. Ich
bin froh, daß dieser Tag glücklich verlaufen ist, der
einzige im Jahr, wo man vom Lehrer zum Schüler
degradiert wird und zeigen muß, daß man nicht nur
anderen sagen kann, wie sie es hätten machen müs-
sen, sondern auch selber seine Sache zu machen ver-
steht. Ich habe das Glück gehabt, alle Aufgaben, die
der Brigade gestellt wurden, in zufriedenstellender
Weise zu lösen.
Neu-Ruppin, 19. September igoi.
Morgen würde es schlimm aussehen, wenn es wei-
ter gießt, denn morgen ist der erste Korpsmanöver-
tag, wo alle Truppen biwakieren müssen. Wie ich in
der Zeitung sehe, hat der Kaiser wegen Regen die
großen Manöver für einen Tag unterbrochen. Der
Laie wird sich kaum eine Vorstellung davon machen
können, was das für die Manöverleitung sagen will.
Alle die Dispositionen werden über den Haufen ge-
worfen. — Die Eisenbahntransporte, die mit den
Bahnverwaltungen lange vorher vereinbart worden
245
sind, müssen innegehalten werden, alles geht drüber
und drunter und abgesehen von allen Schwierigkeiten
wird in der Armee die Empfindung erweckt, als ob
die Soldaten keinen Regen mehr vertragen könnten.
— Man denke sich die Folgen, wenn im Ernstfall ein
solches gewaltsames Eingreifen stattfinden sollte.
KABINETTSORDER.
Ich habe Sie heute, unter Beförderung zum Generalleutnant,
zu Meinem Generaladjutanten und zum Kommandeur der i. Garde-
Infanterie-Division ernannt. Es gereicht Mir zum besonderen Ver-
gnügen, Ihnen dies hierdurch bekanntzumachen.
Berlin, den 27. Januar 1902.
Wilhelm R.
An Meinen General a la suite, Generalmajor v. Moltke, Komman-
deur der 1. Garde-Infanterie-Brigade und beauftragt mit Wahr-
nehmung der Geschäfte der Kommandantur von Potsdam.
Madrid, 16. Mai 1902.
Ich hätte so viel zu erzählen, aber wir sind schon
wieder in der gewöhnlichen Hetze und ich weiß nicht,
wie weit ich kommen werde. Darum vorweg, daß es
mir ausgezeichnet geht, daß die Reise glücklich über-
standen ist, daß wir gestern, am 15., nachmittags, hier
angekommen sind, und daß ich mit noch zwei ande-
ren Herren des Gefolges in unserer Botschaft wohne,
wo wir ganz vorzüglich untergebracht sind. — Also
am 13., mittags, Abfahrt von Berlin. In Braunschweig
meldeten wir uns im Reiseanzug bei dem Prinzen
Albrecht, der von dort aus mitfuhr. Wir wurden
abends 7 Uhr zum Prinzen in den Speisewagen be-
fohlen und saßen dann zusammen, bis wir abends
10 Uhr in Köln ankamen, wo wir den Zug wechselten
und uns in den Luxuszug Köln — Paris einschifften.
Am nächsten Morgen um 8 Uhr war wieder mit dem
Prinzen und seinen Herren zusammen Frühstück
246
und um V29 Uhr kamen wir in Paris an, wo der Bot-
schafter Fürst Radolin uns auf dem Bahnhof emp-
fing. Wir bestiegen nun sofort bereitstehende Wagen
und fuhren zunächst nach dem Palais de Justice, wo
wir die reizende Sainte Chapelle besahen mit ihren al-
ten, wundervollen Glasfenstern und ihren herrlichen
Mosaik- und Emailbildern, die alte venezianische
Arbeit sind. Sodann sahen wir die unteren Räume,
von denen am meisten das kleine Kellerloch interes-
siert, in dem die unglückliche Königin Marie Antoinette
das letzte Jahr ihres Martyriums verlebte. Von dort
fuhren wir in den Louvre, durch den wir einen Run
machten, die Venus von Milo besuchten und die schön-
sten Stücke der Gemäldesammlung besichtigten. Dann
eine Fahrt über den Place de la Concorde, die Elys6es,
über den Pont Alexandre II. nach der Botschaft, wo
ein großes Frühstück mit allen Mitgliedern derselben
stattfand. Paris war wunderschön, das Wetter klar,
alles grün, ich war doch wieder überrascht von der
Großartigkeit der Stadt, die, seit ich sie zuletzt ge-
sehen, noch durch die beiden großen Paläste erhöht
worden ist, die vor der Alexander-Brücke gelegent-
lich der Weltausstellung gebaut worden sind. Unmit-
telbar nach dem Frühstück ging es auf die Bahn. Um
12 Uhr mittags fuhren wir ab, über Orleans, Bordeaux
nach der spanischen Grenzstation Irun, wo wir um
11 Uhr abends ankamen. Leider war es schon dun-
kel, wie wir an die Pyrenäen herankamen, so daß wir
von den schönsten Gegenden, San Sebastian und
Biarritz nichts gesehen haben. — Die Tour durch
Frankreich war aber herrlich, es ist ein wundervolles
Land, Reichtum und Kultur zeigen sich überall, Wein-
bau und sorgsam bestellte Felder mit sauberen Ort-
schaften. Alles grünt und blüht, der erste Klee war
schon gemäht, das Korn hatte schon Ähren und
247
das Vieh war auf der Weide. — Von Irun ab hatten
wir einen spanischen Extrazug, der als Fürstensam-
melzug gestellt war. Außer uns wurden in demselben
verstaut Großfürst Wladimir, der Prinz Christian von
Dänemark, der Kronprinz von Siam, Prinz Eugen von
Schweden, der Prinz von Monako usw. — Ich bekam
noch ein kleines Coupö für mich, wo ich auf der
Bank leidlich geschlafen habe. Die Herren des Prin-
zen waren zu vier in einem Abteil. Auch bei dieser
Fahrt ging uns der schönste Teil der Nacht wegen
verloren. Ich wachte um 7 Uhr morgens auf. Wir
fuhren durch kahles, ödes Land und es wurde auch
nicht anders, bis wir in Madrid ankamen. Weite, öde,
unbebaute Strecken, nackte Berglehnen, die Felder un-
beschreiblich lotterig bestellt, das Getreide so dünn
wie meine Haare, ab und zu eine Schafherde oder ein
Trupp Maulesel, die zwischen den Steinen weideten.
Die Häuser elend, aus ungebrannten Lehmziegeln auf-
gebaut, verfallen, zum Teil ohne Dächer. Die Bevölke-
rung zerlumpt, schmutzig. Dazwischen feiste Pfaffen
mit fettglänzender Soutane. Ein elendes Land. Ab
und zu etwas Weinbau in der Ebene. Alle Wohnun-
gen in Ortschaften zusammengedrängt, auf den wei-
ten Landstrecken kein Haus, kein Bauernhof, kein
Baum, alles heruntergeschlagen. Später einige dürre
Pinienwälder oder Balsamfichten, alle mit aufge-
schnittener Rinde und unter der Wunde ein Topf,
um das herausfließende Harz aufzufangen, es sah aus,
als ob das Wild geschält hätte. Natürlich gehen alle
Bäume mit der Zeit aus. Fast kein Vogel, kein Stück
Wild, öde Verlassenheit unter der strahlenden Sonne.
In der Nähe von Madrid einige Olivenpflanzungen,
alles grau. Dabei schwerer, schöner Boden, auf dem
alles von selber wachsen würde, wenn die Felder
ordentlich bestellt würden. Es ist traurig, dieses dem
248
Verfall entgegengehende Land zu sehen. — Um 4 Uhr
nachmittags kamen wir in Madrid an, bereits im Pa-
radeanzug, in der Bahn umgezogen. — Große Auf-
fahrt nach dem hochgelegenen, sehr schönen Schloß,
das wirklich hervorragend schön ist. Auf der breiten
Treppe im Inneren Empfang durch die Königin, Hat-
schiere mit Hellebarden, Musik, Fanfaren. Alles sehr
prächtig und zeremoniell. Feierliche Begrüßung der
sukzessive nach dem Rang eintreffenden Fürstlich-
keiten. Dann allgemeine Vorstellung der Gefolge. Wir
schlagen alle anderen durch Kopfzahl und Körper-
länge. Die Königin sehr liebenswürdig, der kleine Kö-
nig schmächtig, zart, noch ein Kind, aber in guter
Haltung und von anerkennenswerter Sicherheit. Dann
fahren wir, die wir hier wohnen, nach unserer Bot-
schaft, die am anderen Ende der Stadt liegt, sehr
schön, mitten in einem blühenden Garten, umgeben
von blühenden Rosen, Akazien, Kastanien, dazwi-
schen hohe dunkle Zedern. Es ist die hübscheste Bot-
schaft, die ich bisher gesehen, und wir sind vortreff-
lich hier aufgehoben. Abends 8 Uhr großes Galadiner
im Schloß. Prachtvoller Saal, elektrisch beleuchtet,
mit einer Fülle von Blumen auf der Tafel. Alles erster
Klasse. — Abends 11 Uhr zu Hause. Am 16. Fahrt mit
dem Prinzen in den Prado (Museum) mit seinen mas-
senhaften Meisterwerken von Murillo, Velasquez, Ti-
zian, Raphael, herrlich schön. Um 3 Uhr im Parade-
anzug im Schloß. Der König hat preußische Uniform
angezogen und bedankt sich beim Prinzen für die
Verleihung des Regiments. Dann Visitenfahren. Ge-
gen Abend Spazierfahrt in dem großen, schönen Park
Buen retiro. Hunderte von sehr schönen Equipagen,
darin angemalte Spanierinnen mit Glutaugen und se-
mitischen Nasen. Abends großes Diner auf der Bot-
schaft. Um 3 Uhr zu Bett.
249
Madrid, 18. Mai 1902.
Wir festen inzwischen weiter. Gestern um 1 Uhr
waren wir in Parade im Schloß, um an der großen
Auffahrt zur Eidesleistung des Königs teilzunehmen.
Diese fand mit dem ganzen Pomp statt, den der Hof
aufbringen kann. Staatskarossen, Galageschirre, alle
Pferde mit Riesenfederbüschen, die ganzen Trup-
pen in den Straßen als Spalier. Wir versammelten
uns in dem Saal der Cortes, einem verhältnismäßig
kleinen Sitzungssaal, in dem ein Podium für den Hof
hergestellt war. Während wir noch auf den König
warteten, wurde die Nachricht eines Attentats ver-
breitet, große Aufregung. Der Präsident steht auf und
sagt, daß ein Verrückter oder ein Halunke ein Atten-
tat versucht habe, Hoch auf den König. Endlich
kommt er. Riesige Akklamation, Händeklatschen,
Hochs. Er sieht ganz vergnügt aus und hat eine gute
Haltung. Mit klarer Stimme verliest er die Eidesfor-
mel. Hochs. Rückfahrt nach der Kirche. Tausende
von Menschen auf der Straße. Alles nach der Kirche,
die gepfropft voll ist. Tedeum. Wundervolle Musik,
herrlicher Gesang, es war das Schönste von allem.
Nach der Kirche ist es kaum möglich, den Prinzen
in seinen Wagen zu bekommen. Alles verfahren. Die
wüsteste Unordnung. Keine Spur von irgendeinem
Freihalten der Straßen oder Ordnung im Auffahren.
Wir sitzen beinahe eine Stunde im Volksgewühl fest,
ohne Rücken und Rühren, in der brennenden Sonne.
Endlich kommen wir ins Schloß. Hier Gratulation.
Dann alle auf den Balkon. Vorbeimarsch der Trup-
pen vor dem Schloß. Volksmenge Kopf an Kopf, ein
hübscher Anblick von oben. Die Truppen sehr gut
angezogen, sehr farbenreich und malerisch. Schöne
Pferde in ganz spanischem Typus. Abends großer
250
Ball bei einem Granden, wo viele Beautös mit ge-
malten Augenbrauen und zum Teil prachtvollem fal-
schen Schmuck. Große Illumination. In der Botschaft
geht auf einmal das gesamte elektrische Licht aus
und läßt sich den ganzen Abend nicht mehr sehen.
Wir müssen uns mit Stearinkerzen behelfen. Unsere
Wirte sehr liebenswürdig. — Die Nächte sind sehr
kalt, die Tage meist sehr heiß. Madrid ist eigentlich
eine ganz moderne Stadt, Häuser sehr hoch, ohne
charakteristischen Stil. Eine schöne breite Avenue,
an der die Botschaft liegt, und dann der große, schöne
Park Buen retiro. Viele Akazien in der Stadt, die ganz
von dem süßlichen Geruch ihrer Blüten durchduftet
ist. Der Manzanares ist ein kleines Wässerchen in
einem breiten Bett. — Wir sollen jetzt zu einem Polo-
spiel. Um 4 Uhr Grundsteinlegung des Denkmals Al-
fons XII. Paradeanzug. Abends Galaoper.
Madrid, ig. Mai 1902.
Uns geht es andauernd gut, wir sind aber in perma-
nenter Hetze, so daß ich zum ordentlichen Schreiben
nicht kommen kann. — Gestern abend Oper. Ein
Riesenhaus mit fünf Rängen, dreitausend Menschen.
Sehr schöne Toiletten und schöne Frauen. Das Haus
sah sehr hübsch aus, wenn es auch gar nicht deko-
riert war wie bei uns üblich bei solchen Gelegen-
heiten. Die Vorstellung — Don Juan — war recht
gut. Hübsche Stimmen. Die Mise en scene miserabel,
auch hier gänzlicher Mangel an dekorativer Ausstat-
tung. Die Vorstellung dauerte von g Uhr bis V21 Uhr
mit endlosen Pausen. — Die gestrige Grundstein-
legung war wieder eine Komödie mit Volksmassen
und gräßlicher Unordnung. Keine Spur von irgend-
welchem Freihalten oder Ordnung in den Wagen-
kolonnen, die alle wüst durcheinander fahren. Es ist
251
immer fast lebensgefährlich, an seinen Wagen zu ge-
langen, wenn man ihn überhaupt findet. — Heute
nachmittag V25 Uhr Parade, die in den Straßen der
Stadt abgehalten werden soll.
Paris, 24. Mai 1902.
Gestern abend 11 Uhr sind wir hier nach fünfund-
zwanzigstündiger Fahrt von Madrid angekommen und
im Hotel quai d'Orsay abgestiegen. Wir fahren heute
nachmittag 2 Uhr weiter nach Berlin, wo wir am
25. morgens ankommen.
Berlin, 25. Mai 1902.
Ich bin um g Uhr heute morgen angekommen. Ge-
stern mittag 2 Uhr aus Paris abgefahren. Ich hoffe
noch Zeit zu finden, über das eine und andere zu
schreiben, besonders über die große Corrida, der wir
beiwohnten, bei der neun Stiere, einige zehn bis
zwölf Pferde und zwei Menschen umgebracht wur-
den, sodann über unseren Besuch des Escorial, der
Burg Philipps II., des Vaters der Inquisition. Jetzt
komme ich nicht dazu. Ich habe soeben zwei Stun-
den Vortrag gehabt und soll um 7 Uhr zum Diner
zum Prinzen Albrecht, der sehr gütig und liebens-
würdigwar. Morgen habe ich Brigadebesichtigung in
Döberitz, am Dienstag Prüfungsschießen daselbst.
Am Mittwoch Exerzieren der Kaiserbrigade daselbst,
am Donnerstag soll ich morgens den Kronprinzen
von Siam und nachmittags den Schah von Persien
in Potsdam auf dem Bahnhof empfangen, am Frei-
tag ist Parade hier in Berlin, am Sonnabend Parade
in Potsdam. Die Woche ist also rund ausgefüllt!
Berlin, 26. Mai 1902.
Bis zum Juli bin ich sehr besetzt, und dann kommt
die Nordlandreise, und dann gleich das doppelte Ma-
252
növer, dann ist der Herbst da und der Wind streicht
über die Stoppeln. So geht ein Sommer nach dem
andern wie im Fluge dahin, und aus dem Sommer
unseres Lebens wird auch bald der Herbst.
Berlin, 31. Mai 1902.
Nun ist die zweite Parade auch glücklich überstan-
den, bei glühendem Sonnenbrand unter den blühen-
den Kastanien des Potsdamer Lustgartens. Ich kom-
mandierte die Parade, und alles ging gut. Der Kaiser
war sehr zufrieden und lobte die Truppen besonders.
— Am Montagnachmittag muß ich nach Beeskow
fahren, wo den Dienstag Besichtigung ist. Dienstag
nachmittag nach Lübbenau ins Manövergelände. Mitt-
woch abend hier zurück.
Norwegen, Bergen, 15. Juli 1902.
Morgens machten Cuno, Se. Majestät und ich einen
langen Spaziergang an Land, besuchten einen alten
Schleswig-Holsteiner, der eine niedliche Villa auf ei-
nem Bergvorsprung hat, mit schöner Aussicht über
die Reede der Stadt, und dann seinen Nachbarn, ei-
nen alten norwegischen Schiffskapitän. Wir saßen
lange in den am Steilhang hinaufkletternden Gärten
und schwatzten mit den Leuten und ihren Frauen.
Der Kaiser ist bei solchen Gelegenheiten von einer
bezaubernden Liebenswürdigkeit, harmlos wie ein
Kind, es macht ihm Freude, mit diesen einfachen
schlichten Leuten ohne alle Zeremonie zu verkehren,
ihre Ansichten über die Zustände ihrer Heimat zu
hören und sich ihre kleinen Freuden und Sorgen er-
zählen zu lassen. Diese Menschen sind dann immer
in einem Zustand der grenzenlosesten Begeisterung.
253
Norwegen, Molde, i8.Juli 1902.
Wir gingen von Bergen am Dienstag nach Gud-
vangen, wo wir Mittwoch ankamen. Hier machten
wir eine Partie nach Stahlheim, wo gegessen wurde,
am selben Nachmittag an Bord zurück. Ich fuhr mit
dem Kaiser in seinem Karriol, das mit einem mu-
tigen kleinen norwegischen Pferdchen bespannt war.
Er kutschierte selber, und ich hatte ab und zu etwas
Herzklopfen, wenn wir herabkommenden Wagen be-
gegneten, denen wir auf der schmalen Landstraße aus-
weichen mußten, und er hart am Absturz vorbeifuhr,
in dessem Grunde das Wasser über die Felsen braust,
die Zügel mit der Linken haltend und mit der Rech-
ten den Hut abnehmend, um die Grüße zu erwidern.
Wir kamen aber glücklich oben an. Hinab ließ er
mich fahren, was mir lieb war, denn der kleine Gaul
ging wie das Donnerwetter und lag hart auf den Zü-
geln, so daß ich wieder froh war, ihn ohne Unfall un-
ten abliefern zu können. Er ist immer sehr nett und
freundlich zu mir, gab mir neulich einen Beweis be-
sonderen Vertrauens, indem er mich in sein Arbeits-
zimmer holen ließ und mir einen Brief vorlas, den er
soeben geschrieben hatte an den Kronprinzen, und
meine Meinung hören wollte. Er ist eigentlich noch
nie so freundlich gewesen wie auf dieser Reise, ich
habe ihn überhaupt noch nie so liebenswürdig und
gleichmäßig gesehen. Er bespricht jetzt oft militäri-
sche Fragen mit mir und will oft meine Ansicht
hören. In solchen Augenblicken kann man ihm alles
sagen, dann ist er reizend, wie ein guter Kamerad,
und man kann ganz ungezwungen das sagen, was
man meint, wovon ich auch weitgehenden Gebrauch
gemacht habe.
254
Berlin, 5. August 1902.
Ich habe sie (E.) für morgen abend nach »Alt-Hei-
delberg« eingeladen, damit sie auch einmal einen Spaß
hat. Die kleine . . . war auch da. Sie behandelt augen-
blicklich einen Mann, der seit Jahren blind ist, und
hat sich damit meiner Meinung nach gleich von An-
fang an vor eine unlösbare Aufgabe gestellt. Natür-
lich hat sie, wie alle Scientisten, die beste Hoffnung
und behauptet, daß er bereits den berühmten »Schim-
mer« habe, den alle Blinden, die scientistisch behan-
delt werden, unfehlbar bekommen und über den hin-
aus — wenigstens soweit ich erfahren habe — ebenso
unfehlbar bisher noch nie einer gekommen ist. Wir
haben lange über das Thema der Science gespro-
chen, sie hat viel verständigere Ansichten als die
waschechten Scientisten und sieht selber ein, daß in
der ganzen Bewegung der Keim des Erstarrens in
einem neuen Dogma enthalten ist.
St. Petersburg, Palais d'Hiver,
16. Januar 1903.
Wir sind vor zwei Stunden hier wohlbehalten an-
gekommen nach sehr angenehm verbrachter Reise.
Nach Ankunft hier fuhren wir ins Winterpalais, wo
Kaiser und Kaiserin uns begrüßten. Letztere sieht
außerordentlich wohl aus und ist noch hübscher ge-
worden, als sie früher schon war. Von dort zur Kai-
serin-Mutter, die uns ebenfalls sämtlichst begrüßte.
Wir wohnen alle im Winterpalais. Die ganze Reise
war sehr nett und harmonisch. Mir ist ganz so zu-
mute, als ob ich nach einiger Abwesenheit wieder
in altbekannte Gegenden käme. Ich kenne nun ja auch
fast den ganzen hiesigen Hof.
255
Palais d'Hiver, 17. Januar 1903.
Gestern abend war große Galatafel, sehr schön und
prunkvoll. Ich saß links neben der Großfürstin Maria
Georgiewna, Tochter des Königs von Griechenland,
rechts von ihr saß der Zar. Wir unterhielten uns sehr
angeregt, sie spricht fließend deutsch. Mir gegenüber
der Kronprinz, neben ihm die beiden Kaiserinnen.
Der arme Kronprinz war sehr aufgeregt wegen seiner
zu haltenden Rede. Erst nachdem sie vorüber war,
wurde er lebhaft. Nach Tisch unterhielt sich die Kai-
serin-Mutter lange mit mir und war außerordentlich
gnädig. Ebenso die regierende Kaiserin und die Groß-
fürstin Wladimir. Der Großfürst Wladimir ist leider
krank. Er ließ mir durch die Großfürstin sagen, er
wolle mich gerne sprechen und ich möchte einen der
nächsten Tage zu ihm kommen. Die regierende Kai-
serin imponierte wieder durch ihre Schönheit. Sie ist
etwas stärker geworden, was ihr sehr gut steht. Der
Kaiser sah wohler aus als morgens. Heute morgen
waren wir in der Eremitage und sahen leider nur sehr
im Galopp die herrlichen Kunstschätze, die einzig in
ihrer Art sind.
Palais d'Hiver, 18. Januar 1903.
Wir waren heute in der evangelischen Kirche, wo
wir eine entsetzlich langweilige Predigt hörten, der
eine endlose Liturgie folgte. Sodann Frühstück hier
im Palais. Gestern abend im Französischen Theater,
wo ein namenlos dummes Stück gegeben wurde.
Nach dem Theater saß ich noch bis 1 Uhr mit dem
Kronprinzen, der mir von seinen russischen Ein-
drücken erzählte. Er ist sehr gerne hier und gefällt
allgemein. Ich glaube, die ganze Reise wird sehr nett
und harmonisch verlaufen und den guten Erfolg ha-
ben, daß persönliche Beziehungen gebildet werden.
256
Palais d'Hiver, 19. Januar 1903.
Heute war das Fest der Wasserweihe. Da die Er-
kältung des Kaisers noch nicht ganz behoben ist, ging
er nicht hinaus, und wir konnten uns den gefürch-
teten zweiten Teil der Feier, der im Freien mit bloßem
Kopf stattfindet, von einem Fenster des Palais aus
ansehen. Die ganze Sache war höchst interessant. Im
Palais Deputationen aller Garderegimenter mit den
Fahnen durch eine lange Flucht von Sälen aufge-
stellt. Wunderschöne Leute, brillant angezogen. Ein
wahrer Staat von Truppen. Großer Gottesdienst in
der Schloßkirche, dann die Feier am Ufer der Newa,
dann Vorbeimarsch der Fahnen vor dem Kaiser und
sodann Frühstück. Die Sache dauerte von V211 bis
3 Uhr. Gestern war ein großes Galadiner auf der Bot-
schaft. Abends um 10 Uhr hörten wir ein wunder-
volles Konzert von dem kaiserlichen Sängerkorps,
achtzig Knaben und vierzig Männer, das Idealste von
Gesang, das man sich denken kann, die reine Sphären-
musik. Bässe, die wie Orgeln klingen, und dazu die
feinen Stimmen der Knaben, die wie mit Engelstönen
singen.
Brief Moltkes an eines seiner Kinder.
Berlin, 29. Januar 1903.
Die Mama sagte mir, daß Du gerne etwas Näheres
über Rußland, Land und Leute, hören willst und als
gehorsamer Vater, der von seiner Tochter gut ge-
zogen ist, beeile ich mich, Deinem Wunsche nach-
zukommen und Dir zu berichten, was ich dort er-
lebte.
Wir waren unserer sieben, die den Kronprinzen be-
gleiteten, drei Regimentskommandeure, die die Regi-
menter kommandieren, von denen der Kaiser Niko-
Moltke. 17. 257
laus Chef ist, nämlich Oberstleutnant v. Schwerin von
den 6. Kürassieren, Oberstleutnant v. Lyncker von
den 8. Husaren und Oberst v. Schenck vom Alexan-
der-Regiment, außerdem der Flügeladjutant v. Friede-
burg und ich, ferner Oberst v. Pritzelwitz, der militä-
rische Gouverneur des Kronprinzen und sein Adju-
tant Stülpnagel. Am 14. Januar, abends, meldeten wir
uns bei ihm auf dem Bahnhof Friedrich Straße, wohin
auch der Kaiser kam, um seinem Sohn Adieu zu
sagen. Es war ein Schlafwagen für uns reserviert,
in dem jeder seinen Abteil hatte, ich als Exzel-
lenz und piece de resistance der Gesellschaft zwei!
Nach ruhig durchschlafener Nacht kamen wir am
15. gegen 10 Uhr in Eydtkuhnen, unserer Grenz-
station, an, von wo unser Zug sofort nach dem rus-
sischen Grenzort Wirballen oder wie die Russen sa-
gen: Wirballowo, überführt wurde. Hier erwartete uns
der russische Ehrendienst und, was auch nicht zu
verachten war, ein kaiserlich russischer Extrazug.
Ersterer bestand aus dem Generaladjutanten Fürsten
Dolgoroucki, dem Rittmeister im Regiment Gardes
ä cheval, Flügeladjutant Graf Schuwalow und dem
Leutnant vom Regiment Chevalier garde, Fürst Kan-
tacouzeme; letzterer aus einem Salonwagen mit
Schlafzimmer für den Kronprinzen, einem Küchen-
wagen, einem Speisesalon, einem Versammlungs-
salon, drei Wagen mit kleineren Wohn- und Schlaf-
zimmern für das Gefolge, drei Wagen für die Diener-
schaft und einigen Gepäckwagen, alles elektrisch be-
leuchtet. Zwei Lokomotiven vorne zum Ziehen und
eine dritte hinten zum Schieben sollten diesen Zug,
der den Größenverhältnissen des russischen Reichs
entsprach, nach Petersburg befördern. — Die russi-
schen Bahnen haben bekanntlich breitere Geleise wie
die unsrigen und fahren bedeutend langsamer, nicht
258
über fünfzig Kilometer in der Stunde, beides trägt
sehr zur Bequemlichkeit des Reisens bei. Die Ma-
schinen werden nur mit Holz geheizt, was bei Dun-
kelheit ein prächtiges Feuerwerk gibt, indem der ganze
Zug in ein Meer von fliegenden Funken eingehüllt
ist, die wie tausende kleiner, leuchtender Kometen in
langen Streifen vor den Fenstern vorbeiziehen. Mir
wurde eine Kammer angewiesen, die ein breites Bett,
ein bequemes Sofa, Waschtoilette, Schreibtisch und
Kleiderschrank enthielt und so geräumig war, daß
sie füglich als Empfangsraum für Besuche dienen
konnte. Alles war mit hellfarbigem Seidenstoff aus-
geschlagen und ich würde in diesem luxuriösen Ge-
mach gerne die Reise über die sibirische Bahn nach
Wladiwostock gemacht haben, zu der man nur acht
Tage gebraucht. — Die unerreicht dastehende russi-
sche Gastfreundschaft nahm uns von nun an völlig
in ihren Wirkungsbereich auf. Kaum hatten wir uns
in Bewegung gesetzt, so wurden wir schon zum
Frühstück gebeten, das, wie alle russischen Mahl-
zeiten, mit der Sakkuska anfing, das heißt einem so-
genannten Imbiß, bei der der ungesalzene Kaviar mit
Löffeln gegessen wird und alle möglichen Delikates-
sen den Neulingdazu verleiten, sich schon völlig satt zu
essen, bevor man dazukommt, sich zum eigentlichen
Frühstück niederzusetzen. Hier tranken wir zur Be-
grüßung unserer neuen russischen Freunde unseren
ersten Schnaps, um dann beim Frühstück sofort zum
Sekt überzugehen, einem Getränk, das auf dem rus-
sischen Tisch eine ähnliche Rolle spielt, wie bei uns
der Moselwein, das Liter zu fünfzig Pfennig. Die
Sektflasche blieb denn auch unser unzertrennlicher
Genosse, wo wir in die Nähe eines gedeckten Tisches
kamen bis zu dem Augenblick, wo wir auf der Rück-
reise die Grenze wieder überschritten und sie sofort
259
von dem Seidel »echt Münchener« abgelöst wurde.
Den ganzen Tag verbrachten wir mit frühstücken,
dinieren und soupieren und hatten uns nach den er-
sten zwölf Stunden schon so an den Kaviar gewöhnt,
daß wir kaum noch begreifen konnten, wie es für
einen anständigen Menschen möglich sei, tage-, ja
wochenlang ohne denselben zu leben. Wie herrlich
hätte man in dem seidenen Bett schlafen können,
leise gewiegt von dem sanften Rütteln des breiten,
langsamen Zuges, wenn man nur nicht so unendlich
viel gegessen hätte. Ich lag lange wach und sah auf
das Feuerwerk der sprühenden Funken, die vor mei-
nen Fenstern vorbeizogen. Endlich schloß ich die
Vorhänge und löschte das elektrische Licht, dann
verfiel ich in einen Halbschlummer, in dem alle
Pasteten, Haselhühner, Wachteln und geräucherten
Fische, die ich gegessen, mir als Vision erschienen,
während dickbäuchige Champagnerflaschen mit ei-
nem Kranz von Kaviarkörnern im Haar mich um-
gaukelten, um endlich im Dunkel des tiefen Schlafes
zu verschwinden.
So fuhren wir Kilometer um Kilometer durch das
heilige Rußland, durch öde, schneebedeckte Flä-
chen, durch Moraste und Gestrüpp, durch Winter und
Einsamkeit, hinein in das unendliche Riesenreich, des-
sen unermeßlicher Raum uns enggewohnten West-
europäern die Empfindung gibt, als ob man den Pla-
neten verlassen hätte und hinaussteuerte in die Un-
begrenztheit des Wertenraumes. — Am nächsten Mor-
gen, den 16., um 10 Uhr, kamen wir in Petersburg
an. Unser Botschafter, Graf Alvensleben, hatte eine
Stunde vorher in Gatschina den Zug bestiegen und
brachte die letzten Bestimmungen über den Emp-
fang.
Der Kaiser konnte nicht, wie er beabsichtigt hatte,
260
auf dem Bahnhof erscheinen, da er an einer Ohrenent-
zündung litt, die ihn ans Zimmer fesselte. Alle nicht
an der Influenza erkrankten Großfürsten waren zum
Empfang erschienen. Auf dem Bahnsteig stand eine
Ehrenkompagnie vom Regiment Preobratschensk,
das unserem i. Garderegiment entspricht. Wunder-
schöne, riesengroße Leute mit den offenen, gutmü-
tigen russischen Bauerngesichtern. Alles ging nun
nach internationalem Muster. Abgehen der Front,
Vorstellung des Gefolges usw. Ich bin ja nachgerade
schon ein alter Bekannter in diesen Kreisen gewor-
den. — Dann fuhren wir in das Winterpalais, in dem
wir alle untergebracht waren. Hier wurde der Kron-
prinz vom Kaiser und der Kaiserin empfangen und
in seine Gemächer geleitet. Dann wurden wir von
den Majestäten begrüßt. Im Vorzimmer war der ganze
Hofstaat aufgestellt. Da war die Oberhofmeisterin, die
alte, dicke Fürstin Galitzin, die immer, wie die Juden
in der Synagoge, den Hut auf dem Kopf haben muß,
unter dessen großer Krempe sie mit müden, hängen-
den Augen vor sich hinblinzelt, der Oberhofmar-
schall Fürst Dolgoroucki, ein Bruder unseres Beglei-
ters und eine ganze Reihe von Hofdamen, alle mit
der Brillantchiffre der Kaiserin auf der Achsel. Vor
den Türen stehen je zwei Mohren in phantastisch
bunter Tracht, die mich ebenfalls als alten Bekann-
ten mit weißen Zähnen grinsend begrüßten. Ein lei-
ser Geruch nach Weihrauch schwebt durch alle
Räume, in einer Ecke jedes Zimmers hängt das Heili-
genbild, dem die spezielle Überwachung dieses Ge-
lasses obliegt, und das Licht der elektrischen Lam-
pen, die bei der trüben Petersburger Atmosphäre den
ganzen Tag brennen, glitzert in den Kristallen der
Kronleuchter und wirft glänzende Reflexe auf das
kunstvolle, spiegelglatte Parkett.
261
Die Majestäten begrüßten uns in freundlichster
Weise. Der Kaiser sah elend aus, er hatte ein Ge-
schwür im Ohr gehabt, das erst kürzlich aufgegangen
war und ihm viel Schmerzen gemacht hatte. Die Kai-
serin sah blühend aus. An den feinen Mundwinkeln
haben sich ein paar allerliebste Grübchen gebildet,
die schön gezeichneten Augenbrauen stehen herrlich
auf der weißen Stirn. Endlich ist alles vorüber. Die
Hofstaaten werden entlassen. Mit einem tiefen Seuf-
zer und einer leichten Verbeugung verabschiedet die
imposante Oberhofmeisterin ihre Damen, die ihrer-
seits mit einer tiefen Verbeugung und einem leichten
Seufzer hinausgleiten. — Wir werden auf unsere Zim-
mer geführt. Ich sehe sofort die Unmöglichkeit ein,
ohne ortskundigen Führer jemals den Weg wieder
zurückzufinden. Glücklicherweise habe ich einen
deutsch sprechenden Lakaien. Ich wohne wieder
recht bescheiden. Wenn man vom Korridor durch
die Tür tritt, ist rechts ein Badezimmer, links mein
Schlafzimmer. Geradeaus kommt man in mein Ar-
beitszimmer mit unendlichen Polsterstühlen, Chaise-
longues, Sofas, Schreibtisch usw. Daran stößt mein
Speisesaal, an diesen mein Empfangszimmer. Ich
brauche allein eine ganze Weile, um mich in meiner
Wohnung zurechtzufinden. — Wir sind frei bis zum
Diner um 7 Uhr. Es soll große Galatafel sein. A. mit
meinen Sachen ist schon da und packt aus. Dann
steige ich ins Bad, um den Reisestaub abzuwaschen.
Wie ich zurückkomme, ist A. verschwunden und hat
mich meinem Schicksal überlassen. Er geht mit un-
erschütterlicher Konsequenz von der Ansicht aus,
daß dergleichen Reisen zu seiner Unterhaltung unter-
nommen werden, und daß ich eine höchst überflüs-
sige und nebensächliche Zugabe dazu bin, von der
man am besten so viel wie möglich absieht. Das ist
262
von seinem Standpunkt eine sehr verständige An-
schauung, und ich bin auch schon so daran gewöhnt,
daß ich mich auch diesmal nicht darüber aufgeregt
haben würde, wenn nur nicht jetzt gerade einige rus-
sische Herren gekommen wären, die mich besuchen
wollten, und wenn ich nur meine Hosen hätte finden
können. — Die aber waren ebenso spurlos verschwun-
den wie A. — Vergebens durchsuchte ich alle
Schränke, ohne etwas zu finden, mit dem ich meine
untere Blöße hätte bedecken können. Röcke, Helm,
Mütze, alles war da, aber nicht eine einzige Hose!
— Immer wieder klopfte der Lakai an meine Tür, um
mir zu sagen, daß er den Grafen Lüttke, einen mir
bekannten Offizier vom Preobratschensk, in den Emp-
fangssalon geführt habe. Auch er wußte weder, wo A.
noch wo meine Hosen geblieben wären. Erst später
entdeckte ich sie in einem Wandschrank des Vor-
zimmers, in dem A. sie als ordentlicher Mann, unter
Vermeidung aller im Schlafzimmer selbst befind-
lichen Schränke, untergebracht hatte. Da liegen sie
friedlich eine neben der andern, wie die Bücklinge
im Rauch. — Wie ich die Hoffnung aufgab, sie je-
mals zu finden, überlegte ich kurz, ob ich den Waf-
fenrock ohne Beinkleider anziehen sollte, oder ob
ich die Konsequenzen meiner Lage bis aufs äußerste
ziehen sollte, entschied mich für letzteres und emp-
fing meine Visiten in Hemd und Unterhose! Erst wie
der Fürst Orloff sich bei mir melden ließ, der im
Auftrag des Kaisers kam, um mir einen Orden zu
überbringen, sank mir der Mut meiner Nacktheit und
ich verhandelte mit ihm durch die Türspalte, ohne
ihn zu sehen, so daß ich mich ihm erst am Abend
vorstellen konnte. Durch diese Türspalte nahm ich
ein rotes Saffiankästchen in Empfang, in dem ein
blitzender Diamantstern lag. Die Hand, welche es mir
263
darreichte, war groß und fett, woraus ich schloß, daß
der dazugehörige Fürst groß und wohlbeleibt sei.
Wie ich abends feststellen konnte, hatte ich mich
nicht getäuscht, er war groß und fett. — Ich legte
mich schließlich zu Bett und wartete auf A. Er er-
schien nach einigen Stunden und erklärte, daß er zu
Mittag gegessen habe. Ich wagte nicht in diesem na-
türlichen Vorgang etwas Ungeziemendes zu finden
und suchte seine Freundschaft wieder zu gewinnen.
Die Galatafel war prächtig. Alle Großfürsten und
Großfürstinnen waren erschienen, alle Würdenträger
des Reichs zur Stelle. Ich saß in der Mitte der Tafel,
zu meiner Rechten die Großfürstin Marie Georgiew-
na, Tochter des Königs von Griechenland, rechts ne-
ben ihr der Kaiser. Zu meiner Linken die Oberhof-
meisterin der Kaiserin-Mutter, die ein unverständ-
liches Französisch vor sich hinmurmelte. Mir gegen-
über die beiden Kaiserinnen, die den Kronprinzen
zwischen sich hatten, der vis-a-vis dem Kaiser saß. —
Die griechische Großfürstin sprach fließend Deutsch
und war sehr lebhaft, liebenswürdig und unterhal-
tend. Der arme Kronprinz sah blaß und präokkupiert
aus und aß so gut wie nichts. Erst wie er seine Rede
gehalten hatte, lebte er auf. Die beiden Kaiserinnen
strahlten in den herrlichsten Brillanten. Beide sind
sehr vorteilhafte Erscheinungen. Die Kaiserin-Mutter
ist nicht gerade hübsch, sie hat aber ein Paar wunder-
bare Augen, deren Glanz die Jahre nicht verdunkelt
haben, und über denen man den zu großen Mund
vergißt. Sie hat von ihrem Vater, dem König von
Dänemark, die Kunst der ewigen Jugend geerbt, man
würde ihr kaum vierzig Jahre geben. Geistig bedeu-
tend, klug und, wenn sie will, bestrickend liebenswür-
dig, hat sie einen großen Einfluß auf den Kaiser. Sie
ist bei allen offiziellen Anlässen die erste Dame, die
264
selbst der regierenden Kaiserin vorgeht, solange diese
keinen Sohn hat. Bis jetzt ist die Kaiserin-Mutter als
Mutter des Großfürsten-Thronfolgers Nummer eins.
— Die regierende Kaiserin ist geschaffen dafür, einen
Thron zu zieren und in großer Parade die wallnuß-
großen Diamanten des Kronschatzes auf ihrem wei-
ßen Busen zu tragen. Ihre blendende Erscheinung
paßt so sehr zu diesem Schmuck, daß man meinen
könnte, sie sei mit demselben geboren. — Nachdem
die Tafel aufgehoben war, wurde Cercle gemacht. Die
Großfürstin Wladimir, eine geborene Prinzeß von
Mecklenburg, die mir, ebenso wie ihr Mann, stets
mit größter Freundlichkeit entgegengekommen ist,
nahm mich in Beschlag. Sie bat mich, ich möchte
einen der nächsten Tage den Großfürsten besuchen,
der an Influenza erkrankt zu Bett läge. Dann unter-
hielt sich die Kaiserin mit jedem einzelnen von uns.
Währenddem stellte der Kaiser dem Kronprinzen die
Hauptpersonen vor. Da waren recht interessante Ge-
stalten. Der Graf Lambsdorff, ein kleiner, kahlköpfi-
ger Mann, der immer so aussieht, als ob er auf den
Zehenspitzen stände, um größer zu erscheinen, selbst
die spärlichen Haare hat er hinter den Ohren nach
oben gebürstet, daß sie in die Luft stehen, und dabei
macht er ein halb finsteres, halb wohlwollendes Ge-
sicht und schiebt die Unterlippe vor. — Der Minister
Witte, der allmächtige Finanzminister des Reiches,
der das Kunststück fertig gebracht hat, in Rußland
die Goldwährung einzuführen, ohne daß das Land
Bankerott machte, ein Mann von meiner Größe, mit
einem klugen kleinen Kopf und dunklem Vollbart.
Sehr bescheiden, etwas verlegen, drückt er sich am
liebsten in verborgenen Ecken. — Der Kriegsminister
Kuropatkin, der seinen Blick so fest auf Asien ge-
richtet hält, daß er das bißchen Europa in seiner
265
Flanke mit wohlwollender Gleichgültigkeit behan-
deln kann, — sein Antipode, der Chef des General-
stabs, Sacharin, ein kleiner, fetter Mann mit listigen
Augen, großer Franzosenfreund und Deutschenfres-
ser, der lieber heute wie morgen gegen uns los-
schlüge. Ja, wenn Kuropatkin mit seinem Asien und
wenn Witte mit seinen Reformplänen nicht wären!
Diese beiden aber brauchen uns, denn sie brauchen
den Frieden! — Der kleine Kronprinz müht sich tap-
fer ab, mit allen den ihm Vorgestellten Unterhaltung
zu machen. Er sieht sehr nett aus in seiner kleid-
samen russischen Uniform, seine schlanke, elegante
Figur und sein offenes, freundliches Gesicht gefal-
len allgemein. — Um V211 Uhr ziehen die Herrschaf-
ten sich zurück, und wir gehen — selbstverständlich
geführt von Ortskundigen — über die endlosen Trep-
pen und Korridore nach oben, um in einem meiner
Salons noch ein Glas Bier zu trinken. Ich werde
dann, eben oben angelangt, zum Kronprinzen her-
untergerufen, der wohl das Bedürfnis hat, sich über
seine Eindrücke noch etwas auszusprechen, und mit
dem ich bis 1 Uhr zusammensitze. Wie ich wieder
auf mein Zimmer komme, sind alle fort, sie haben
mir nur einen dicken Tabakrauch und eine Batterie
geleerter Flaschen zurückgelassen!
Dies war unser erster Petersburger Tag. Wenn ich
aber in demselben Stil fortfahren wollte, Dir die fol-
genden acht Tage zu schildern, so würde dieser Brief
ein Buch werden, und ich fürchte, Du würdest dar-
über einschlafen. Ich muß also etwas kursorischer
verfahren.
Am zweiten Tag nach unserer Ankunft war das
Fest der Wasserweihe. Dies in ganz Rußland ge-
feierte Fest wird stets in glänzendster Weise began-
gen. Es wird von allen Beteiligten gefürchtet, denn
266
im allgemeinen gilt der 18. Januar als der kälteste Tag
des kalten russischen Winters, und es ist ein zweifel-
haftes Vergnügen, an einem Tage von zwanzig Grad
Reaumur unter Null eine halbe Stunde mit unbedeck-
tem Kopf im Freien zu stehen. Diesem Fest zu Ehren
hatten wir uns alle mit Pelzen und Filzstiefeln ausge-
rüstet. Wir sollten sie nicht gebrauchen. Die ganze
Zeit unseres Petersburger Aufenthaltes fiel das
Thermometer nicht unter acht Grad. Es war den Gra-
den nach wärmer als es gleichzeitig in Deutschland
war, auch lag wenig Schnee, so daß täglich große
Fuhren Schnee von außerhalb in die Stadt gebracht
wurden, wo der Schnee auf den Straßen ausgebrei-
tet wurde, wie bei uns Sand gestreut wird, um die
Schlittenbahn zu verbessern. Auch an dem Tage des
Festes waren nur sieben Grad Kälte, aber die Luft ist
trotzdem schneidend und jeder Windzug scheint ver-
doppelte Kälte mitzubringen. Die Newa, dieser ge-
waltige, stolze Strom, der die Stadt in einer Breite
von zwei Kilometern durchschneidet, lag vom Eis
gebändigt. — Elektrische Bahnen, Straßen für Schlit-
ten und Wagenverkehr gehen über die Eisdecke,
Gasleitungen sind über das Eis gelegt, und abends
sind alle Straßen erleuchtet, unter denen das schwarze
Newawasser gurgelt. — Das Fest der Wasserweihe
ist das Erinnerungsfest an die Taufe Christi im Jor-
dan. Am Ufer des Stroms ist ein Pavillon für die
Geistlichkeit und den Hof erbaut, von dem aus eine
Treppe zum Eis hinabführt, in das ein Loch geschla-
gen wird. In dieses Loch wird unter Gesang und Se-
gen das Kreuz getaucht und damit das Wasser ge-
weiht. — Um ii Uhr fing die Zeremonie im Palais
an. Da standen in den endlosen Sälen, die sich in
langer Flucht aneinanderreihen, Deputationen von
allen Petersburger Regimentern. Immer sechzig Mann
267
von jedem Regimente in Paradekostüm. Ein schöner
Anblick. Lauter ausgesuchte Leute. Da waren zum
Beispiel die Gardes ä cheval, lauter Leute in meiner
Größe, alle mit schwarzem Haar und kurz gehalte-
nem schwarzen Vollbart, was zu den weißen Waffen-
röcken prächtig aussah. Daneben die Chevalier garde,
lauter blonde Leute, das Regiment Paulowsk, in dem
nur Leute mit Stumpfnasen eingestellt werden, zur
Erinnerung an Kaiser Pauls Stumpfnase, der das
Regiment begründete. Da sind die Kosaken des Leib-
konvois, in ihren bis auf die Füße fallenden schar-
lachroten Röcken mit silberbeschlagenen Wehrge-
henken, die schwarze Kirgisenmütze schief auf dem
rechten Ohr, während um das linke sich eine große
Locke des dichten krausen Haares legt. Die Don-
schen Kosaken in himmelblauen Röcken, die Grena-
diere zu Pferde mit langen Roßschweifen auf den
altertümlichen Bärenmützen, die Gardeequipage der
Marine, zu der nur die ausgesucht schönsten Leute
kommen, die dort sieben Jahre dienen — wer kennt
die Truppen, nennt die Namen! — eine Blütenlese
der Garde, wie sie schöner wohl kein Volk der Erde
stellen kann. In Rußland wird jährlich nur etwa ein
Drittel der gestellungspflichtigen Mannschaft einge-
stellt, man kann sich denken, welche Auswahl man
da hat, und zur Garde kommt nur das Allerbeste. —
Durch diese spalierbildenden Truppen schreitet nun
in langem, feierlichem Aufzug der Hof in die Kapelle
des Winterpalais. Die Kaiserinnen im Schmuck ihrer
Brillanten, alle Damen im rotsamtenen, goldgestick-
ten Hofkleid mit langer Schleppe, auf dem Kopf den
Kokoschnik, den altrussischen, halbmondförmigen
Kopfschmuck. Voran die Geistlichkeit in ihren sil-
berstarrenden Gewändern, der Patriarch mit der Bi-
schofsmütze, auf der ein Vermögen von Steinen fun-
268
kelt, goldene Monstranzen, Weihrauchgefässe, ge-
stickte Fähnchen, ein überwältigendes Bild des äus-
sersten Prunkes und der denkbar größten Pracht. Mit
dem Erlös der Steine, die hier vor unseren Augen
vorbeiziehen, könnte man ein Königreich kaufen. Und
vor all diesem Pomp, in dem sich das Höchste ver-
einigt, das das russische Riesenreich an weltlicher
und geistlicher Macht, an irdischem und himmlischem
Glanz aufzubieten vermag, steht mit präsentiertem Ge-
wehr der russische Bauernsohn in seiner Paradeuni-
form und starrt mit aufgerissenen Augen auf all den
Schimmer. Ist es ein Wunder, wenn er meint, Gott
selber und seine Heiligen vorüberziehen zu sehen,
ist es ein Wunder, wenn in seinem treuherzigen
Bauernsinn sich die Begriffe der Göttlichkeit und der
Monarchie verschmelzen und daß er in die Knie
sinkt vor seinem Zar Väterchen, der nicht nur sein
weltlicher Herrscher, sondern auch der Träger der
höchsten geistlichen Gewalt ist! — Hier liegt die Rie-
senkraft der russischen Monarchie. Die beiden Säu-
len, auf denen das ganze russische Staatswesen ruht:
Kirche und Kaisertum vereinigen sich in der Person
des Zaren. Unzertrennbar ist der eine Begriff vom
anderen und sie beherrschen alles, was es Heiliges
und Mystisches in der Seele des russischen Bauern
gibt. — Und wie ist es bei uns, wo zwei verschiedene
Bekenntnisse sich bekämpfen und wo der Titel eines
Summus Episcopus alles ist, was dem Inhaber des
Thrones geblieben ist, ein Titel, den kaum jemand
kennt oder versteht!
Nun beginnt in der Kapelle das Hochamt. Diese
Kapelle ist mindestens so groß, wie die Garnisons-
kirche in Potsdam. Unbeschreiblich schön tönt von
ihrer hohen Wölbung der Gesang des kaiserlichen
Sängerchors wieder. Dieser berühmte Chor, wohl der
269
schönste A-cappella-Chor, den es auf der Welt gibt,
besteht aus achtzig Knaben und ebensoviel Männern.
Wie auf Engelsfittichen schweben die silberklaren
Knabenstimmen über den orgelartigen Bässen. Um
solche Bässe zu hören, muß man nach Rußland kom-
men, man kann es kaum glauben, daß sie einer
menschlichen Brust entstammen und doch, es gibt
kein Instrument, das so weich klingen könnte. Der
ganze Chor ist in Scharlach gekleidet, vorne stehen
die Kinder mit andächtigen Gesichtern, wie mystische
Verzückung klingt es aus dem Gesang. Allmählich
füllt sich die Kirche mit Weihrauch. Was hier auf-
geführt wird, ist nach unseren nüchternen Begriffen
kein Gottesdienst mehr, es ist ein Schaugepränge,
Gottesdienst aber, und zwar erhabenster Art, ist der
Gesang. Und doch, wie ich mir das Gebaren der
Geistlichkeit ansah, wie sie kommen und gehen, den
Patriarchen schmücken, die heiligen Geräte mit ge-
heimnisvollen Zermonien umgeben, kam es mir zum
Bewußtsein, wie in dem allen nur das Bestreben des
Menschen liegt, das, was ihm das Heiligste ist, in
einer Weise der äußeren Feier zu gestalten, in die er
alles hineinlegen will, was ihm an Schönem und
Feierlichem gegeben ist. Aller Glanz und alle Pracht
soll vor dem Altar des Höchsten niedergelegt wer-
den in dem Gedanken, daß das Herrlichste, was wir
besitzen, nur gerade gut genug ist, um das Göttliche
zu verehren. Dieser Gedanke mag irdisch genug sein,
aber er ist begreiflich für die große Masse der Men-
schen, die noch nicht gelernt haben, Gott anzubeten
im Geist und in der Wahrheit.
Ein solches russisches Hochamt dauert gut ein-
einhalb Stunden, und alle Teilnehmer müssen wäh-
rend der ganzen Zeit stehen, wenn sie nicht zur Ab-
wechslung einmal hinknien. Das ist eine anstrengende
270
Sache und, wenn sie vorbei ist, sind die meisten An-
dächtigen kreuzlahm. Nachdem die Feier beendet
war, ging der feierliche Zug wieder zurück und nun
begann die Feier draußen am Newaufer. — Der Kai-
ser ging nicht hinaus seines Ohrenleidens wegen und
so blieb auch der Kronprinz und mit ihm wir im
Inneren. Wir sahen die Zeremonie von einem Fen-
ster des Palais an und hatten herzliches Mitleid mit
den Armen, die entblößten Hauptes um das Loch im
Eis der Newa herumstanden. Nachdem auch dies vor-
über, ließ der Kaiser in einem Saale alle Fahnen des
Gardekorps an sich vorbeimarschieren. Alle kamen
einzeln hintereinander, jede von einem Offizier ge-
führt. Dazu spielte die Musik einen Parademarsch.
Es war eine höchst eigenartige Parade. — Dann wurde
gefrühstückt. Gegen zweitausend Personen an klei-
nen Tischen. Alle plaziert. Das russische Hofmar-
schallamt ist großartig in solchen Arrangements.
Nach dem Frühstück übergab der Kronprinz dem
Kaiser ein von uns mitgebrachtes Schiffsmodell. Er
klagte mir gegenüber dabei schon über Erschöpfung
und Müdigkeit. Nachmittags hatte er sich denn auch
richtig zu Bett gelegt und war krank. Influenza, wie
die Ärzte sagten. Ich glaube, es war nur Überan-
strengung, denn nach zwei Tagen war er wieder ganz
munter.
Diese Erkrankung machte natürlich einen Strich
durch unser Programm, aber sie ist dem Zweck der
Reise, eine persönliche Annäherung herbeizuführen,
nur dienlich gewesen. Der Kaiser und die Kaiserin
waren rührend in ihrer Fürsorge für den Kranken.
Sie saßen stundenlang an seinem Bett, brachten ihm
kleine Geschenke, aßen in seinem Zimmer und ge-
wannen ihn, wie ich glaube, wirklich lieb. Ebenso
knüpfte sich ein sehr hübsches Verhältnis zwischen
271
ihm und dem Thronfolger an, der ein sehr sympathi-
scher, offener und liebenswürdiger Mensch ist.
Ich fuhr am nächsten Tage, dem Wunsch der Groß-
fürstin entsprechend, zum Großfürsten Wladimir.
Wie ich ankam, wurde mir gesagt, daß er gerade
schlafe, aber die Großfürstin lasse mich bitten, zu
ihr heraufzukommen. Ich saß dann etwa eine Stunde
mit ihr zusammen. Sie wollte mich nicht fortlassen,
da sie behauptete, der Großfürst würde böse werden,
wenn ich fort sei, daß man ihn nicht geweckt habe.
Dann wurde die Kaiserin-Mutter angemeldet und
kam schon ins Zimmer, bevor ich mich verabschie-
den konnte. Sie sagte mir gleich: Ihr Kronprinz ist
ein ganz charmanter junger Mann. Er hat mir ein
sehr schönes Bukett geschickt. Sehr aufmerksam usw.
— Ich freute mich, daß er bei der wichtigsten Dame
des Hofes sich in ein so gutes Licht gesetzt hatte. —
Nachmittags mußte ich wiederkommen und wurde
alsbald zum Großfürsten hereingeführt. Er lag im Bett
und sah recht elend aus. Es war mir schmerzlich,
diesen Mann, den ich noch in der Fülle seiner Kraft
und männlichen Schönheit gekannt habe, so gebro-
chen und gealtert zu sehen. Ich fürchte, er wird nicht
lange mehr leben und wir werden einen guten Freund
an ihm verlieren. — Die Großfürstin saß mit einer
Handarbeit an seinem Bett. Er begrüßte mich sehr
freundlich und reichte mir seine fieberheiße Hand.
Dann mußte ich mich setzen und erzählen, wie Pe-
tersburg dem Kronprinzen gefalle. Es dauerte eine
ganze Weile, bis ich mich sammeln konnte, immer
durchforschte ich dies Krankengesicht, über dessen
eingefallenen Wangen die mit grünem Schirm ver-
deckte Lampe unsichere Lichter warf. — Nachdem
ich etwa eine halbe Stunde gesessen und erzählt
hatte, wurde ich entlassen. — Am Abend desselben
272
Tages aßen wir alle in dem berühmten Restaurant
Cubat, das meines Wissens an der Spitze aller un-
verschämtesten Preise der Welt marschiert. — Dann
waren wir im Deutschen Theater, wo eine Wiener
Posse aufgeführt wurde, und machten dann spät in
der Nacht eine Schlittenfahrt in Troikas nach den
Inseln, wo wir auf einer russischen Rutschbahn im
Schlitten hinabsausten, daß einem Hören und Sehen
verging. Sodann fuhren wir ins Aquarium, einem
großen Vergnügungslokal außerhalb der Stadt, wo
in reserviertem Zimmer ein lukullisches Mahl für uns
bereitet war, während ein für uns engagierter Chor
in russischem Nationalkostüm musizierte. — Um
4 Uhr morgens kamen wir nach Hause. — Das Hüb-
scheste sind die Troikafahrten. Ein großer Schlitten
mit breit ausladenden Schneeflügeln. Bis an die
Ohren sitzt man im Pelz, warm und mollig, wie die
Dotter im Ei. Der Kutscher steht vorn unmittelbar
vor dem Sitz, er trägt das russische Kutscherkostüm,
den langen Pelz mit buntgesticktem Leibgurt und das
Pelzbarett. Von den drei mit silberbeschlagenen Ge-
schirren reich aufgezäumten Pferden, geht das mit-
telste unter dem hohen Bügel, an dem Glöckchen
hängen. Die beiden Seitenpferde, die ohne Deichsel
gehen, sind scharf nach rechts, resp. links angebun-
den, so daß sie mit ganz seitwärts gebogenem Hals
galoppieren, während das Mittelpferd nur traben darf.
Zu ihm werden die besten Harttraber genommen.
Man sagte mir, daß die Seitenpferde nicht länger als
zwei bis drei Jahre aushalten. So geht die Fahrt in
einem rasenden Tempo vorwärts. Das laute Rufen
des Kutschers, der bald zu den Pferden spricht, bald
andere Schlitten anruft, ihm Platz zu machen, tönt
mit den Glocken zusammen und alles weicht ehr-
erbietig aus und macht der Troika Platz, in der nur
Moltke. 18. 273
ein Barim, ein »Herr« fahren kann. Ein solches Ge-
spann, mit nachtdunklen Rappen bespannt, ist wirk-
lich ein herrlicher Anblick, es kann allerdings nur auf
den breiten russischen Straßen fahren, bei uns würde
es fast die ganze Chaussee sperren. Man sitzt pracht-
voll in dem tiefen, bequemen Schlitten, die kalte Luft
weht einem ums Gesicht, an dem ganze Schneeklum-
pen, von den Hufen der galoppierenden Pferde ge-
schleudert, vorbeisausen, während ein feiner Schnee-
staub einen von oben bis unten bepudert.
Alles, was wir erlebt und gesehen, kann ich Dir
nicht erzählen, ich müßte tagelang am Schreibtisch
sitzen. — Wir waren in der Eremitage, diesem einzig
dastehenden Museum, mit seinen auserlesenen Kunst-
schätzen, wir besuchten die Nikolaus- und die Ka-
sansche Kathedrale, wir waren in einer Industrieaus-
stellung, wir dinierten auf der Botschaft, wir fuhren
und gingen über das Eis der Newa, wir besuchten
die Kasernen des Preobratschensk-Regiments und
frühstückten mit den Offizieren in ihrem schönen
Kasino, wir waren bei den Gardes ä cheval, die uns
in ihrer großen, geheizten Manege oder wie wir sa-
gen Reitbahn ein Schwadronsexerzieren vormachten^
wir dinierten einmal bei ihnen und frühstückten ein-
mal dort, genug, wir standen immer einige Zollhoch
unter Sekt und ich mußte Reden halten auf die rus-
sischen Kameraden. — So vergingen die Tage wie
im Fluge. — Am 23. war großer Ball beim Großfür-
sten Michael. Der Kronprinz war wieder gesund und
freute sich sehr auf das Tanzen. In dem großen Saal
war die Creme der Petersburger Gesellschaft ver-
einigt, es wimmelte von Fürstinnen, Gräfinnen usw.
— Wie der Kotillion getanzt wurde, ließ mich die
regierende Kaiserin rufen und ich mußte mich neben
sie setzen. So tanzten wir einen Sitzkotillion zusam-
274
men, rechts und links von uns ein leerer Raum von
zehn Schritt, angefüllt nur von Ehrfurcht, und wir
beide mitten darin. Wir unterhielten uns sehr gut und
ich lernte sie auch einmal als Mensch kennen und
fand Gelegenheit, ihre natürliche Liebenswürdigkeit
und ihren einfachen geraden Sinn zu bewundern. Ich
gab ihr alle Buketts, Schleifen, Körbe und sonsti-
gen Sachen, die die Touren brachten und sie nahm
alles fröhlich an, um, wie sie sagte, es ihren Kindern
mitzubringen. Dann kamen die Schleifen für die Da-
men, und nun bekam ich eine von ihr. Ich sagte ihr:
»Majestät, das ist das erstemal in meinem Leben, daß
ich eine Kotillionsschleif e von einer regierenden Kai-
serin bekommen habe.« Der Kotillion dauerte fast
eine Stunde und unsere Unterhaltung riß nicht einen
Augenblick ab. — Tanzen wollte sie aber nicht, ob-
gleich der alte Großfürst Michael kam, um ihr zu sa-
gen, sie möchte doch einmal mit mir tanzen. Er sagte,
auf mich zeigend, »je suis sur, que Monsieur est un
bon marcheur!« — aber sie wollte nicht. — Mir war's
auch lieber so. Dann kam das Souper, bei dem ich
neben die Kaiserin-Mutter gesetzt wurde, so daß ich
diesen Abend fast nur mit Kaiserinnen verkehrte. —
Am nächsten Morgen verabschiedeten wir uns von
den Majestäten und fuhren nach Nowgorod zum
Wyborgschen Regiment. Von der dicht herbeige-
strömten Bevölkerung wurde der Kronprinz mit end-
losen Hurras begrüßt. — Von dort zurück im selben
bequemen Hofzug bis Eydtkuhnen, wo wir uns von
unseren russischen Freunden verabschiedeten. Am
26., morgens 6 Uhr, waren wir in Berlin.
Nun nur noch eine kurze Mitteilung über die Art,
wie man Bären schießt. Ich habe ja nur die einmalige
Erfahrung, die ich zugrunde lege. — Also man steht
morgens 8 Uhr auf. Das ist sehr früh für die russi-
275
sehen Verhältnisse. Dann fährt man in leichtem Jagd-
kostüm auf den Bahnhof, wo ein Extrazug bereit-
steht. In diesem wartet bereits ein Frühstück mit Tee,
Kaffee, kaltem Aufschnitt und Sekt, natürlich Kaviar.
Der Zug setzt sich in Bewegung, und man fährt zwei
Stunden, das ist sehr lange, aber der Bär hat nun ein-
mal die Marotte, so weit von Petersburg zu über-
wintern. Kurz bevor man ankommt, zieht man die
bereitgehaltenen warmen Sachen an. Einen Pelz, eine
Pelzmütze und weiße, weiche Filzstiefel, in die man
bloß mit Strümpfen hineinfährt. Dann hält der Zug,
man steigt aus und setzt sich in einen bereitstehen-
den Schlitten, der ganz mit Pelz ausgefüttert ist. Für
jeden von uns steht ein Schlitten da. Der Oberjäger-
meister Fürst Galitzin nimmt die Tete, und man hat
nun auf glatter Bahn zehn Minuten zu fahren. Im Walde
sind alle Zweige, die unbequem werden könnten, aus-
gehauen. Man kommt auf einen freien Platz, auf dem
der Schnee sorgfältig festgetreten ist, damit man
keine nassen Füße beim Aussteigen bekommt, und
steigt aus. Dort sind bereits die Treiber versammelt,
etwa hundert Mann, die uns mit abgezogenen Müt-
zen begrüßen. Etwa zwanzig Mann tragen rote Kit-
tel, Mützen und Handschuhe. Dies sind die Spezial-
treiber, die den Bären »heben« sollen, wenn er nicht
freiwillig aufsteht. Von diesem Platz führt ein sauber
festgetretener Weg ins Innere des Dickichts. Im
Gänsemarsch gehen wir vor. Jetzt darf nicht mehr
laut gesprochen werden. Alles bewegt sich schwei-
gend vorwärts, Jäger und Treiber. Nach zwei Minuten
sind wir an den numerierten Ständen. Ich bekomme
den für den Kronprinzen bestimmten. Eine starke
Brustwehr aus Tannenreisern geflochten, der Boden
mit kleinen Tannenzweigen belegt. Ein kaiserlicher
Leibjäger stellt eine Doppelbüchse neben mich, glatte
276
Läufe und Rundkugel. Meine Büchse stellt er als Re-
serve seitwärts. Er selber ist ebenfalls mit Doppel-
büchse bewaffnet, sowie mit einem armdicken Speer.
Ein Treiber mit einer Dogge so hoch wie ein Tisch,
bleibt hinter uns, sie ist darauf dressiert, einen attak-
kierenden Bären sofort an der Gurgel zu fassen. Man
fühlt sich also einigermaßen sicher. Nachdem die Jä-
ger aufgestellt sind, ist auch schon der »Ring« durch
die Treiber gebildet. Sie umstehen das Lager des Bä-
ren im Halbkreis von etwa dreihundert Schritt Durch-
messer. Ein Hornsignal und der Spektakel geht los.
Alle schießen mit Pistolen, schreien, quitschen, krei-
schen, lassen Kanonenschläge los. Das dauert zehn
Minuten, kein Bär kommt. Hornsignal: Der Bär muß
gehoben werden. Die roten Treiber gehen mit Hunden
vor. Diese bellen den Bären in seiner Höhle an, die
Treiber rücken vor und stoßen mit langen Stangen in
das Lager. Plötzlich Explosion, Schnee, Eisstücke,
Zweige und Blätter fliegen umher, der Bär ist aufge-
standen und hat sein Lagergesprengt, er ist»gehoben«.
Hornsignal macht dies den Jägern bekannt. Weitere
zehn Minuten. Die Hunde bellen hinter dem Bären her,
der langsam in dem Kreise der Treiber einherzieht und
einen Ausweg sucht. Plötzlich kommt er gerade spitz
auf mich zu. Er watet langsam durch den knietiefen
Schnee. Vierzig Schritt vor mir bleibt er stehen und
sichert. Ich kann den Kopf nicht freikriegen, der
durch einen Baum gedeckt ist, aber ich halte auf die
Schulter und reiße Feuer. Der Bär sinkt zusammen,
macht einen Sprung nach der Seite, ich bekomme
das Blatt frei und gebe ihm dorthin die zweite Kugel.
Er fällt, versucht wieder hoch zu kommen, mir ist
bereits eine andere Büchse in die Hand geschoben
und ich feuere noch zwei Kugeln auf den armen Petz,
der nun mausetot ist. Die Jagd wird abgeblasen, der
277
Bär herausgeschleppt. Es ist ein schönes Exemplar,
fast schwarz, ein Männchen. Nun wieder zurück zur
Bahn. In dem Zuge wartet schon das Frühstück, das
mit Kaviar und Sekt beginnt. Dann wieder in den
Schlitten und zum zweiten Bären, der allerdings
sechzehn Kilometer weit liegt. Hier genau dasselbe.
Ich habe meinen Platz an Pritzelwitz abgetreten, und
er schießt den Bären. Diesmal war es eine Bärin mit
zwei Jungen, die kaum acht Tage alt sind und die die
Hunde totbissen. Dann wieder in den Zug, wo Tee
und Kaffee serviert wird. Um 6 Uhr sind wir in Pe-
tersburg zurück und sitzen um 7 Uhr beim Diner. —
Wohl bekomm's, wirst Du sagen. Und ich sage Dir:
Wohl bekomm's, nämlich die Lektüre dieses Werks.
Berlin, 31. März 1903.
Glaube mir, daß mir nichts ferner liegt, als Dir Dei-
nen Glauben nehmen oder auch nur antasten zu
wollen. Nur zur Vorsicht möchte ich Dich mah-
nen, denn Dein gutes Herz wird nur zu leicht miß-
braucht und Du siehst die Menschen in der Ver-
klärung gemeinsamen Anschauungskreises, nicht ob-
jektiv, wie sie wirklich sind. — Das was wirklich
schön und tröstlich in diesem Glauben ist, will ich
gerne mit Dir teilen, in dem aufs Ideale gerichte-
ten Streben, glaube ich, werden wir uns immer fin-
den, nur in diesen häßlichen Äußerlichkeiten kann
ich nicht mit. Du idealisierst sie Dir, ich sehe immer
die nackte und oft abstoßende Wirklichkeit, und ver-
mag sie mir nicht einzureihen in die Vorstellungen,
die ich vom Geist und Geisteswesen habe. Sie sind ja
unklar, diese Vorstellungen, aber ich muß suchen,
ihnen ein gewisses Klares zu unterlegen, etwas was
über unserem Erdendasein liegt und nicht in die trü-
ben Tiefen desselben hinabtaucht. — Wer einen Edel-
278
stein besitzt, soll denselben nicht an die Brust stecken
und damit auf den Markt gehen, sonst greifen schmut-
zige Hände nach ihm und er kann leicht in den Kot
fallen und unter die Füße getreten werden.
Kopenhagen, 2.April 1903.
Nun sitze ich hier in dem alten Kopenhagen, in dem
Schloß, an dem ich in alten Zeiten so oft vorbeige-
gangen bin, mit dem Blick aus meinem Fenster auf
den Schloßplatz mit seiner alten Reiterfigur! — Es
ist ganz eigenartig. Unsere Reise war vortrefflich.
Wir gingen heute morgen 7 Uhr an Bord in Kiel,
das Wetter war kalt und unfreundlich. Je mehr wir
uns der dänischen Küste näherten, desto heller wurde
es aber, und wie wir an die Forts herankamen, die
uns mit Kanonendonner begrüßten, war es ganz klar
geworden und die Sonne schien freundlich. Viele
Tausende von Menschen standen dicht gedrängt am
Ufer, wie wir bei Tre Kroner vorbei in den Hafen
hineinfuhren und Anker warfen. — Der König mit
allen Prinzen kamen an Bord, wo wir im Parade-
kostüm aufgebaut standen. — Der Kaiser fuhr mit
dem König in einer Glas-Staatskarosse, eskortiert
von einer Schwadron Husaren. Auf dem ganzen
Wege waren Truppen als Spalier aufgestellt, und eine
unzählige Menge drängte sich in den Straßen.
Kopenhagen, 6.April 1903.
Wir sind die ganzen Tage unterwegs gewesen und
haben viel gesehen. Die Stimmung ist gut, der Kaiser
hat sehr gewonnen durch seine Leutseligkeit, und
seine Rede hat einen vortrefflichen Eindruck ge-
macht.
279
Kiel, 6. April 1903.
Die Zeit in Kopenhagen war sehr hübsch und in
jeder Beziehung geglückt. Das Verhältnis zwischen
den beiden Monarchen war vortrefflich und gestal-
tete sich sehr herzlich. Die Stimmung war ausge-
zeichnet und wurde auch im Publikum von Tag zu
Tag wärmer, bei der Abfahrt bekam der Kaiser sogar
ein ganz nettes Hurra. — Der Kaiser war dauernd
sehr guter Laune und immer sehr freundlich gegen
mich. Ich frühstückte jeden Morgen mit ihm und den
beiden Flügeladjutanten vom Dienst. Die dänischen
Herrschaften waren rührend liebenswürdig.
Zum erstenmal habe ich bei der Gelegenheit dieses
Besuches, obgleich ich schon so oft in Kopenhagen
war, Rosenborg und Frederiksborg zu sehen bekom-
men, beides höchst interessante Schlösser mit sehr
wertvollem Inhalt. Wir waren auch in dem Sana-
torium von Professor Finsen, was zwar interessant,
aber gräßlich anzusehen war. Nie in meinem Leben
habe ich soviel Menschen ohne Nasen gesehen.
Berlin, 10. April 1903.
Heute waren E. und ich in der Kaiser-Friedrichs-
Kirche, wo wir eine sehr schöne Predigt hörten. Sel-
ten ist mir eine Predigt so zu Herzen gegangen und
die Erhabenheit des reinen christlichen Glaubens in
ihrer undefinierbaren Gewalt so zum inneren Be-
wußtsein gekommen. Wie beneidenswert sind doch
die Menschen, die aus voller innerer Überzeugung
diesen friedebringenden Erlöserglauben haben, der
dem tief innerlichen Bedürfnis der ringenden und su-
chenden Menschenseele volles Genügen gewähren
muß, wenn er sich wirklich zur ganzen Höhe uner-
schütterlicher Gewißheit erhebt. Du weißt, daß diese
280
Wohltat mir nicht gegeben ist und daß ich vergebens
nach ihr gerungen habe und noch ringe. Wenn ich
meinen sogenannten Verstand ausschalten könnte,
würde es mir vielleicht gelingen, den Frieden zu er-
ringen, der höher ist als alle Vernunft. Aber das Dog-
ma der Erlösung steht vor mir unverständlich und
unfaßbar. Ich kann es nicht begreifen, weshalb es
für einen Gott, der die Liebe sein soll, nötig war, ein
blutiges Opfer des Unschuldigen zu verlangen, um
sich mit den Schuldigen zu versöhnen, und wie es
möglich sein soll, daß mir meine Schuld erlassen
werden soll, weil ein anderer gelitten hat. Aus die-
sem Konflikt komme ich nicht heraus, und da ich so-
mit die Erlösung nicht begreifen und daher nicht für
mich beanspruchen kann, kann ich auch nicht auf
den Felsengrund des Glaubens kommen und wate
stetig weiter in dem Triebsand der grübelnden Zwei-
fel. Ich hoffe aber, daß Gott mir helfen werde, und
wenn nicht in diesem, dann in einem anderen Leben
einen Lichtstrahl schenken werde, dem ich folgen
kann. —
Um 2 Uhr hatten wir Deine Mama zu Tisch bei
uns. E. hatte ihr einen kleinen Geburtstagstisch auf-
gebaut— , ein Bild, das sie besorgt, der durch blühen-
den Mohn schreitenden Blinden, war mir wie ein
Gleichnis meiner Seele, auch sie geht blind und ta-
stend ihren Weg, Dunkelheit bedeckt die Augen, und
doch weiß sie, daß die Sonne scheint und daß der
Mohn blüht in roter Pracht, der Mohn, das Sinnbild
des Schlafes — jenes Schlafes, der auch der Blinden
Augen öffnen wird.
Berlin, 15. April 1903.
Gewiß sollen wir nach immer größerer Vergeisti-
gung streben, aber meiner Ansicht nach nicht da-
281
durch, daß wir das Materielle einfach negieren und
verachten, sondern dadurch, daß wir aus ihm die
ideellen Momente immer reiner hervortreten lassen,
dadurch, daß wir es verklären und durchleuchten mit
dem Geistigen, als da ist: Liebe, Sorge für den Näch-
sten, Zartheit der Empfindung, Nachsicht mit den
Fehlern anderer. So werden wir uns im materiellen
Kleide eine geistige Welt schaffen, wir werden nicht
das Irdische verachten, sondern es veredeln, nicht
die Welt, in der wir leben, gewaltsam aus den An-
geln heben wollen, sondern unser materielles Dasein
als das erkennen, was es sein soll, eine Durchgangs-
stufe zum besseren Dasein. Wenn wir diese Stufe
aus der Leiter der Weltentwicklung herausbrechen
wollen, so tritt unser Fuß ins Leere und wir fallen,
da wir noch keine Flügel haben. Ich meine, wir sol-
len fest und sicher auf dieser Stufe stehen, den Blick
nach oben gerichtet, im Bewußtsein, daß noch wei-
tere Stufen kommen, aber auch in dem klaren Be-
wußtsein, daß wir zur nächsten erst weiterschreiten
können, wenn wir das Gleichgewicht auf der jetzigen
erlangt haben.
Berlin, 16. April 1903.
Ich habe die letzten Tage ein recht interessantes Buch
von Chamberlain gelesen, es heißt »Dilettantismus —
Babel und Bibel — Rom«, laß es Dir doch kommen.
Unter anderem fand ich darin, als Beleg für die man-
gelhafte Übersetzung der Bibel durch Luther, und
damit den Schlußfolgerungen, die man dem Buch-
stabenglauben machen kann, den Nachweis, daß der
erste Vers der Genesis, der nach der Lutherschen
Übersetzung lautet: »Im Anfang schuf Gott Himmel
und Erde« — Punkt — , ersteres nur der Vordersatz
zu dem dann folgenden Nachsatz: »und die Erde war
282
wüst und leer« — ist, daß also kein Punkt stehen darf;
zweitens, daß es wörtlich aus dem Hebräischen über-
setzt lauten müßte: »Wie die Dämonen anfingen die
Luft und das feste Land auseinanderzutrennen, war
die Erde noch leer und unbewohnt.« Es steht näm-
lich »elohim« im Text, was Plural ist und »die Dä-
monen« bedeutet. Im Singular müßte stehen »el«, was
Gott bedeutet. So ist also schon der erste Vers zu-
gunsten des Monotheismus gefälscht usw. Ob Cham-
berlain recht hat, kann ich natürlich nicht beurteilen,
möchte es aber glauben.
Berlin, 23. April 1903.
Ich war gestern im Kleinen Theater, wo ich »Pel-
leas und Melisande« von Maeterlingk sah, eine vor-
treffliche Aufführung dieses merkwürdigen märchen-
haften Stückes, das wenig dramatisch, aber sehr po-
etisch ist. Ich kannte es von der Lektüre her, hatte
selbst einmal die Absicht, es zu übersetzen, kam nicht
dazu.
Berlin, 25. April 1903.
Abends war ich im »Nachtasyl«. Das ist ein schreck-
liches Stück! Nichts wie Elend und Verkommenheit,
eine Photographie des versumpften menschlichen Da-
seins. Dabei ist es unbefriedigend, ohne dramatische
Steigerung und ohne Schluß, zwecklos wie die Mi-
sere des Lebens, und trostlos, weil kein einziger sich
aus dem Elend herausarbeitet, sondern alle drin zu-
grunde gehen oder hoffnungslos drin sitzen bleiben.
Die wenigen, die einen schwachen Anlauf zu ihrer
eigenen Errettung machen wollen, werden aufs neue
in Schuld verstrickt, kein einziger Lichtstrahl in all
der erstickenden Dunkelheit, das Leben zermahlt
gleichgültig und schwer wie Mühlsteine diese elen-
283
den Menschen, die mit all ihrem Menschentum nicht
über die stumpfsinnige Frage hinauskommen: Wozu
bin ich auf der Welt? Das Stück hat mir einen tiefen
und häßlichen Eindruck hinterlassen, und ich kann
die Berechtigung dieser Lebensanschauung nicht an-
erkennen. — Wenn immer nur gesagt wird: Weshalb
arbeiten? Es hat ja gar keinen Zweck, ist ja ganz sinn-
los, so ist das der Pessimismus in seiner häßlichsten
Gestalt. Wäre auch nur eine Figur in dem Stück, die
sich durch Arbeit frei machte, so wäre es etwas an-
deres. Der alte vertrottelte Pilger ist auch kein Licht-
punkt, seine Bemühungen trösten zwar eine Ster-
bende, treiben aber einen Lebenden in den Tod, und
seine Theorie, daß die Menschen nur für den Tüch-
tigsten da sind, ist wertlos, da kein einziger sich fin-
det, der nun aus eigener Kraft dieser Tüchtigste wer-
den will.
Berlin, 27. April 1903.
— Daß der Anblick einer solchen Verwüstung übel-
erregend auf Dich wirkt, kann ich mir wohl erklären.
Es ist das Sinnlose, daß Du als solches empfindest,
die Zerstörung als solche, ohne denkbaren Grund;
man ist gewohnt, Ursache und Wirkung zu verknüp-
fen, wenn man diese logische Folgerung nicht kon-
struieren kann, fehlt die Festigkeit der Gedankenver-
bindung, die Begriffe kommen ins Schwanken, man
wird geistig seekrank.
Berlin, 27. April 1903.
Morgen ist der Tag, dem wir alle mit Besorgnis
entgegensehen, die Besichtigung der Bataillone des
i.Garde-Regiments durch den Kaiser. Kein Mensch
freut sich auf diesen Tag, wie es früher war, wenn
der alte Herr kam, um sein Regiment zu sehen. Jetzt
284
herrscht im besten Fall eine dumpfe Resignation wie
dem Fatum gegenüber, und wenn es glücklich vorbei
ist, ohne Windbruch, atmet alles auf wie erlöst. Wo
ist die Freudigkeit geblieben, mit der früher jeder sei-
nen Dienst tat!
Berlin, 30. April 1903.
Du wunderst Dich über die Ernennung H.s zum
Feldmarschall, er war aber schon Generaloberst, was
etwa dasselbe ist. Er ist an allen drei letzten Kriegen
beteiligt gewesen und hat sich stets ausgezeichnet. —
Du meinst wohl, daß er nicht im Anschluß an einen
Krieg dazu ernannt ist, das ist ja richtig. Solange On-
kel Helmuth der einzige Feldmarschall war, hatte man
eine andere Vorstellung von diesem Titel, da wir aber
keine Kriege mehr haben, muß man eben Friedens-
marschälle machen — wenn man sie überhaupt für
nötig hält.
Berlin, 4. Mai 1903.
— Wie lange wird's dauern, dann steht man vor
der Beantwortung aller der ungelösten Fragen, mit
denen man hier im Leben sich so andauernd abge-
plagt hat. Inzwischen ist es ja schön, wenn es um
den alten Stamm sprießt und wächst, ein neues Ge-
schlecht mit neuen Anschauungen, neuen Leiden und
Freuden und neuen ungelösten Fragen!
Berlin, 6. Mai 1903.
— Alle Bäume mit Ausnahme der alten Eichen sind
grün, die Buchen sind prachtvoll in ihrem frisch grü-
nen Laub. Ich kann so eine frühlingsfrische Buche
nicht sehen, ohne an meine Kinderzeit zu denken, an
die Buchenwälder in Ranzau, die mir unvergeßlich
sind. Ich sehe mich selber als Junge durch den Wald
285
streifen, die Tiere beobachten und auf den Gesang
der Vögel lauschen, deren Stimmen ich alle kannte,
und ich habe die Empfindung, als ob ich heute mich
für das moosbekleidete Nest eines Buchfinken noch
ebenso lebhaft interessieren könnte wie vor — einem
halben Jahrhundert.
Berlin, 14. Mai 1903.
In militärischen Kreisen zerbricht man sich den
Kopf darüber, wer das VI. Korps bekommen wird.
Genannt wird in erster Linie der Herzog Albrecht von
Württemberg. Auch Prinz Friedrich Leopold wird
stark gehandelt. Ich glaube, für Breslau wäre es am
besten, wenn einmal kein Prinz hinkäme, damit die
Leute sich erst einmal wieder beruhigen, und das
Wettrennen nach Fürstengunst aufhört.
B erlin , 31. Mai 1903.
Ich habe heute morgen Kirchweih gehabt, das heißt
eine Kirche eingeweiht, zusammen mit M., der die
Kaiserin vertrat. Wir hörten zwei Predigten, die erste
von F., sehr interessant wie immer, mehr philoso-
phisch als dogmatisch. Der Mann macht mir immer
den Eindruck, als ob er sich selber davon überreden
wollte, daß alles wahr sei, was er sagt, und daß er
selber daran glaubt. Aber er ist geistvoll und fesselnd,
wenn auch nicht zu Herzen gehend, sondern sich
mehr an den Verstand wendend. — Dann kam der
Pastor loci mit einer endlosen, inhaltslosen Rede,
viel Worte und wenig Sinn. Er versuchte mehr durch
Betonung als durch Gedanken die Herzen seiner Zu-
hörer zu rühren!
Norwegen, Molde, 21. Juli 1903.
Heute bei Tisch erklärte mich der Kaiser für einen
Heiden, da ich behauptete, es wären drei Jünger nach
286
Emmaus gegangen, während es nur zwei gewesen sein
sollen! Ich sagte ihm, ich glaube nicht, daß ich we-
gen dem einen Jünger in die Hölle komme, außer-
dem kann man ja nicht wissen, ob nicht noch einer
mitgegangen ist! — Der Kaiser ist immer gleichmäßig
nett und freundlich mit mir, und hier auf dem Schiff
wird behauptet, ich sei der einzige, dem er nicht grob
geworden sei.
Norwegen, Insel Florö, 4.August 1903.
Dabei fällt mir ein, daß heute ja der neue Papst ge-
wählt ist, wie zu erwarten war, ein Outsider, ein Kom-
promißpapst. Die Kardinäle haben sich über die mar-
kanten zur Wahl stehenden Persönlichkeiten nicht
einigen können, und wählen schließlich den, der
ihnen allen am wenigsten unbequem ist. — Welche
Ungeheuerlichkeiten ergeben sich doch, wenn man
dieser Sache nachdenkt. Jetzt ist der Mann, der aus
solchen Gründen gewählt wurde, der Unfehlbare! —
Der souveräne Beherrscher des Seelenheils von Mil-
lionen von Menschen, denen er die Tür des Para-
dieses öffnen oder vor der Nase zuschlagen kann.
Es ist doch ganz unfaßbar, wie ein denkender Mensch
glauben kann, daß Gott in dieser Weise seine Stell-
vertretung auf Erden angeordnet habe. Und welche
Macht verkörpert doch dieser Glaube, der sich auf
die breite Basis der Denkunfähigkeit der großen
Masse der Menschen gründet!
Norwegen, Odde, 8.August 1903.
— Wir leben so ruhig weiter, als ob es keinen Tod
gäbe, und wissen nicht, wie nahe uns der unsrige
ist — . Wie zart und vergänglich ist doch ein Men-
schenleben, wenn man es an der vieltausendjährigen
Dauer dieser granitenen Berge mißt. Und doch wer-
287
den auch sie einst vergehen, der Unterschied liegt
nur in der Spanne der Zeit, und was ist Zeit, wenn
man sie mißt an der Ewigkeit!
— Das ist so ein Leben, wie ich es mir wünschen
möchte, den Tag, der seine Last gehabt hat, ab-
schließen mit einem Vortrag tiefen Gehalts, und dann
vielleicht eine Diskussion zur Klärung der Meinun-
gen, in der jeder einmal hinabsteigt in seine ei-
gene Gedankenwelt und forscht nach der Perle der
Wahrheit.
KABINETTSORDER.
Ich kommandiere Sie hierdurch bis auf weiteres zur Dienst-
leistung zum Chef des Generalstabes der Armee.
Berlin, den i. Januar 1904.
Wilhelm R.
An Meinen Generaladjutanten, Generalleutnant v. Moltke,
Kommandeur der 1. Garde-Division.
KABINETTSORDER.
Ich ernenne Sie hierdurch, unter Belassung in dem Verhältnis
als Mein Generaladjutant und unter Versetzung in den General-
stab der Armee, zum Generalquartiermeister.
Berlin, den 16. Februar 1904.
Wilhelm R.
An Meinen Generaladjutanten, Generalleutnant v. Moltke, Kom-
mandeur der 1. Garde-Division und kommandiert zum Chef des
Generalstabes der Armee.
Berlin , 5. März 1904.
Wie hübsch wäre es, wenn wir alle hätten zusam-
men sein können. Ja, wenn man frei wäre! Nicht bloß
meine ungewisse Stellung und Zukunft lastet auf mir,
ich empfinde wie einen Druck die ganze Unwahrheit
und Unnahbarkeit unserer vaterländischen Verhält-
nisse. Das deutsche Volk ist doch in seiner Gesamt-
heit eine erbärmliche Gesellschaft. Lauter Kirchturms-
288
Politiker, ohne eine Spur von Großzügigkeit, klein-
lich, hämisch, voller Neid und Mißgunst, gehässig
und kurzsichtig, daß es zum Erbarmen ist. Überall
wird heruntergerissen, mit Schmutz beworfen, ver-
leumdet und gelogen, und das alles unter dem Man-
tel tugendhafter Entrüstung. Heuchelei wohin man
sieht, engherziger Egoismus und krasser Materialis-
mus. Keine Ideale gelten mehr, alles ist äußerer
Schein. Was noch Bestand hatte, wird herunterge-
rissen, jeder will sich selbst erheben, und wenn der
große Trümmerhaufen fertig ist, wird das Straf-
gericht über uns kommen. — Klingt es nicht wie eine
Äußerung aus dem Narrenhause, wenn im Reichs-
tag gesagt wird, wir dürften jetzt keine Schiffe mehr
bauen, sondern müßten erst die Erfahrungen des See-
krieges in Ostasien abwarten. Und das sagen Män-
ner, die sich für weise halten. Sie wollen abwarten,
welcher Deckel wohl am besten auf den Brunnen
passen wird, in den das Kind fallen wird. — Keiner
hat einen Begriff davon, welches Gewitter sich über
uns zusammenzieht, statt mit heiligem Ernst sich auf
Schweres vorzubereiten, zerhackt sich die Nation ge-
genseitig. Wie lange wird es dauern, bis die Säulen
in dem stolzen Reichsbau krachen, der mit Blut und
Eisen aufgebaut ist und der nun in kleinlichem Ge-
zänk untergraben wird.
Berlin, 6. März 1904.
Waldersees Tod ist doch sehr überraschend ge-
kommen. Ich habe ja keinen Freund und Gönner an
ihm verloren, aber ich bedaure seinen Abgang doch.
Er war immerhin eine der alten Standarten der Armee.
Im Generalstab ist man der Ansicht, daß Graf
Schlieffen jetzt an Stelle von Waldersee Armeein-
spekteur werde und ein Nachfolger für ihn dem-
Moltke.
289
nächst ernannt werden wird. — Hoffentlich spricht
wenigstens Se. Majestät mit mir vorher und schickt
mir nicht wieder einfach einen blauen Brief ins Haus.
Ich hatte gehofft, die Entscheidung würde sich hin-
ziehen, bis ich zum Korps heran wäre, darüber kön-
nen aber noch Gott weiß wie viele Jahre vergehen,
da gar kein Avancement mehr ist und die höheren
Stellen wie gerammt feststehen.
Ich lese jetzt ein sehr interessantes Buch von Dr.
Steiner über Nietzsche, der mir bisher völlig unver-
ständlich war. In diesem Buch ist seine Entwicklung
und sein Gedankengang so klar und faßlich dargelegt,
daß es eine wahre Freude ist. Wie Schopenhauer
alles menschliche Tun und Denken auf den transzen-
dentalen Willen zum Leben zurückführt, so behaup-
tet Nietzsche, daß das Grundmotiv aller Handlungen
der reale Wille zur Macht sei. Die Schwachen, die
sich fürchten, diesem Willen zur Macht zu folgen,
konstruieren sich einen fremden (göttlichen) Willen,
dem sie sich unterwerfen. — Daher die Begriffe von
Gut und Böse, während in Wirklichkeit gar nicht be-
wiesen ist, was eigentlich Gut und Böse sei. Jenseits
von Gut und Böse. Du mußt das Buch auch einmal
lesen. Man bekommt doch einen Begriff davon, was
der Mann eigentlich sagen will.
B e rl i n , 8. März 1904.
Gestern abend habe ich noch ein Buch von Steiner
gelesen über Haeckel, das mich, wie alle seine Schrif-
ten, sehr interessiert hat. Er bekennt sich in dem-
selben ganz zu der monistischen Naturphilosophie
Haeckels (nicht zu verwechseln mit monotheistisch),
und es ist mir ganz unbegreiflich, wie er von ihr aus
den Sprung zur Theosophie gemacht hat. Ich bin
sehr begierig, ihn einmal wiederzusehen, um ihn da-
290
nach zu fragen. Nach diesem seinem Werk kann man
ihn getrost mitten in Phalanx der Materialisten stel-
len, und dabei ist es eins seiner neueren Schriften.
Aber klar und fesselnd ist er immer. Kein philoso-
phierender Schriftsteller ist mir bisher so verständ-
lich gewesen wie er.
Saarunion, i6.Juni 1904.
Wir ritten heute 6 Uhr früh ab und kamen hier nach
12 Uhr an. Wir haben heute den ganzen nördlichen
Ausläufer der Vogesen durchquert von Zabern bis
Saarunion an den Ufern der Saar. Hier ist bereits
Lothringen, und ein charakteristischer Unterschied
macht sich bemerkbar. Die Häuser sind anders ge-
baut, alle haben den Misthaufen nach der Straße zu.
Die französischen Inschriften mehren sich. Mitten
darunter steht immer als stattlichstes Gebäude die
»Kaiserliche Post«. Das Gelände wird hier weniger
bergig, breite, flache Höhenzüge haben die waldbe-
standenen oft recht steilen Kuppen des Gebirges ab-
gelöst. Morgen kehren wir noch einmal in dieses zu-
rück, indem wir unser Quartier nach der kleinen Berg-
festung Bitsch verlegen, die uns im Kriege 1870/71
bis zum Friedensschluß widerstand. Damit kommen
wir in die Gegend, die damals die 3. Armee, zu der
ich gehörte, nach der Schlacht bei Wörth durchzog.
Oft muß ich an diese nun so weit hinter mir liegende
Zeit denken. Damals ein junger Fähnrich, heute wo
ich zum erstenmal wieder in diese Gegend komme,
ein alter, kahlköpfiger General. Sic transit gloria
mundi!
Du kannst Dir denken, wie diese Ritte mich in-
teressieren. Mit Schlieffen komme ich sehr gut aus.
Er ist höflich und bisweilen sogar liebenswürdig ge-
gen mich. Bisweilen erzählt er sogar etwas. Ich be-
291
wundere aufrichtig seine Rüstigkeit. Nicht viele in sei-
nem Alter würden diese Ritte mehr machen, und da-
bei arbeitet er fleißig im Quartier. Die Offiziere wer-
den gehörig herangenommen, müssen Rekognoszie-
rungen und Erkundungen machen und haben viel zu
reiten und zu schreiben.
St. Avold, i8.Juni 1904.
Ich wohne im »Hotel zur Post« in dem Zimmer, in
dem der alte Kaiser Wilhelm 1870 vom n. bis 13. Au-
gust gewohnt hat. Onkel Helmuth hat auch hier ge-
wohnt. Heute ist Sonntag, und die Pferde haben Ruhe-
tag, der ihnen sehr angenehm sein wird. — Von 4 Uhr
ab wurde das Kriegsspiel im Zimmer fortgesetzt bis
7 Uhr, wo wir aßen. Graf Schlief fen fragt mich ab
und zu um meine Ansicht, und diese deckt sich fast
nie mit der seinigen. Man kann sich keine größeren
Gegensätze denken, als unsere beiderseitigen Ansich-
ten. Ich sage aber die meinige rund heraus, und er
nimmt meine Äußerungen mit Anstand und Würde
entgegen.
Berlin, 29. Juni 1904.
Der vierzehntägige Ritt durch die Reichslande hat
mich sehr interessiert. Elsaß und die Vogesen sind
ein herrliches Land. In Lothringen verkommt die Be-
völkerung in Schmutz und Indolenz. Ich habe mit
Kummer gesehen, daß eine dreiunddreißigj ährige Zu-
gehörigkeit zum Deutschen Reich ohne die mindeste
Einwirkung geblieben ist, die dortigen Landräte oder,
wie sie da heißen, Distriktsdirektoren, müßte der
Teufel holen. Es ist rein gar nichts geschehen, nicht
mal eine ordentliche Verwaltungsbehörde ist einge-
richtet, und alles geht im gröbsten Schlendrian, wie
es eben mag. Von der Liederlichkeit der Felder-
292
bestellimg macht man sich keine Vorstellung, meist
weiß man nicht, ob die Leute Weizen oder Unkraut
bauen, dabei ist es ein herrlicher, fruchtbarer Boden,
auf dem alles von selber wächst, die Rebe und der
Nußbaum gedeihen. Die Dörfer bestehen zur Hälfte
aus Misthaufen, die alle vor den verlumpten Häusern
nach der Straße zu liegen, mitten zwischen ihnen die
Ziehbrunnen. Typhus grassiert infolgedessen. Es ist
ein Herrgottsjammer um das schöne Land. Die Leute
haben sehr schönes Vieh, ähnlich wie die Simmen-
taler, nur etwas kleiner, dabei bekommt man nur ran-
zige Butter. In den Gärten wächst der Kohl wie auf
den Osdorfer Rieselfeldern, überall gebeugt volle
Kirschbäume und Aprikosen, aber die Gasthöfe star-
ren von Schmutz, alle Zimmer mit herabhängenden
Tapeten, das Essen schauderhaft bis auf die guten
frischen Kartoffeln. Es ist ein Jammer, anzusehen,
wie dies gesegnete Land verlumpt und verludert, ohne
daß etwas geschieht.
KABINETTSORDER.
Ich habe bestimmt, daß Sie bei den in diesem Jahre vor Mir
stattfindenden Manövern des Garde- und IX. Armeekorps als
Schiedsrichter Verwendung finden, wovon Ich Sie hierdurch in
Kenntnis setze. Gleichzeitig lasse Ich Ihnen beifolgend ein Ver-
zeichnis der übrigen von Mir bestimmten Schiedsrichter zugehen.
Kiel, an Bord M. J. »Hohenzollern«, den 30. Juni 1904.
Wilhelm R.
An Meinen Generaladjutanten, Generalleutnant v. Moltke,
Generalquartiermeister.
Norwegen, Bergen, 10. Juli 1904.
Ich lese jetzt ein Buch von dem Philosophen Hart-
mann: »Religionsphilosophie«. Er versucht nachzu-
weisen, daß die Religion sich ebenso wie die Welt-
anschauung entwickeln muß, wenn sie nicht rück-
ständig werden und absterben will.
293
Norwegen, Bergen, 12. Juli 1904.
Gestern nach Tisch las der Kaiser einen hübsch
geschriebenen Artikel aus einer englischen Zeitschrift
vor, den er gleich ins Deutsche übersetzte, über das Ra-
dium und seine merkwürdigen Eigenschaften. Zur Be-
griff lichmachung des Atoms, des kleinsten, nicht mehr
zerlegbaren Teiles eines Körpers, war folgendes Bild
gebraucht. Man denke sich einen Wassertropfen bis
zur Größe der Erde vergrößert, dann würde ein Atom
etwa die Größe einer Walnuß haben. In diesem Atom
sind etwa hundertfünfzigtausend sogenannte Elek-
tronen enthalten. Wenn man sich nun dieses Atom in
der Größe der Peters-Kirche vorstellt, so würde jedes
Elektron die Größe eines Punktes in einer Druck-
schrift haben. Diese hundertfünfzigtausend Elektro-
nen sind durch Zwischenräume getrennt, die sich zu
ihrer Größe verhalten, wie die Abstände der Planeten
von der Sonne und alle diese Elektronen bewegen
sich mit rasender Schnelligkeit um den Zentralpunkt
des Atoms. Die größte bisher bekannte Schnelligkeit
eines Körpers ist diejenige des Sterns Arkturus, der
hundert Meilen in der Sekunde zurücklegt. Die Be-
wegungsschnelligkeit der Elektronen beträgt etwa das
dreifache davon. Sie werden unablässig von dem Ra-
dium hinausgeschleudert und durchdringen ungehin-
dert eine fünfzöllige Panzerplatte. — Bei der merk-
würdigen Erscheinung, daß sich das Element Radium
in das Element Helium umwandelt, eine Erscheinung,
die die Wissenschaft bisher für unmöglich hielt, war
gesagt, hierin läge eine Ehrenrettung für die alten
Alchimisten, die dasselbe erreichen wollten und über
die so viel gespottet sei. — Im Atom wiederholt sich
also im Kleinsten die Erscheinung des Sonnen- und
Planetensystems im Großen. Alles ist Bewegung, alle
294
Materie ist Bewegung und im letzten Grunde elek-
trische Kraft, also Materie gleich Kraft. Man braucht
nun bloß noch zu folgern: Kraft ist Geist, so hat man
die spiritualisrische Weltauffassung. — Interessant war
auch die gemachte Folgerung, daß die gesamte Mate-
rie in Evolution begriffen sei, die dauernd in ungemes-
senen Zeitläuften zu einer Verfeinerung, das heißt Ver-
geistigung führen müsse. Merkwürdige Schlüsse, zu
denen eine rein materialistische Anschauung kommt,
und das alles hat ein Körnchen Radium bewirkt, das
nicht größer ist als ein Stecknadelkopf. Der alte L.,
als Vertreter der alten Wissenschaft, schüttelte un-
gläubig den grauen Kopf und bestritt zunächst alles.
Er gehört zu der Richtung der Wissenschaft, die alles
ergründet zu haben meint und in deren scharf um-
grenztem Gebiet kein Raum für etwas Neues ist.
Norwegen, Molde, 17. Juli 1904.
Ich lese jetzt die »Geschichte der französischen Re-
volution« von Carlyle. Das Buch ist geistvoll geschrie-
ben, wenn auch etwas manieriert. — Daneben be-
schäftige ich mich mit Steiners »Theosophie«. Ge-
stern kam zufällig das Gespräch auf die theosophische
Weltauffassung. Wir saßen unserer fünf oder sechs
zusammen und da ich der einzige war, der von diesen
Dingen etwas wußte, mußte ich das Wort führen.
Erst lachten einige, dann wurden sie immer ernster
und zuletzt hörten sie mir zu wie dem Pastor in der
Kirche. Es ist merkwürdig, wie dieses Thema die
Menschen alle interessiert, wenn sie auch so tun, als
ob sie hoch darüber erhaben wären.
Hier ist ein Prinz an Bord, dessen Bruder ein eif-
riger Spiritist ist, und schließlich hatte fast jeder das
eine oder andere erfahren, selber oder in seiner näch-
sten Umgebung etwas erlebt. Kaum einer aber hatte
versucht, sich darüber Rechenschaft abzulegen oder
den Dingen nachzudenken. Die Menschen sind so
denkfaul und legen beiseite, was ihnen Kopfzerbre-
chen machen könnte und in das gewohnte Lebens-
schema nicht paßt.
Norwegen, Trondhjem, 23. Juli 1904.
Der Kaiser harangierte mich unterwegs wegen der
Manöver usw., ich mußte dem Grafen Schlieffen die
Stange halten. Immer mehr sehe ich ein, wie schwie-
rig die Erbschaft sein wird, die sein Nachfolger an-
zutreten haben wird. Daß dem so ist, ist gewiß zum
großen Teil Schlief fens Schuld. —
Bis es dahin kommt, daß die Menschen so vergei-
stigt sind, um die Naturgewalten zu beherrschen, hat
es noch gute Wege. Viele tausende von Jahren wer-
den wohl nötig sein. Du lebst in Deiner eigenen Welt,
unter lauter gleichgestimmten Büchern und manchen
gleichgestimmten Menschen, da verlierst Du die große
Masse der Menschheit aus den Augen, hast gar keine
rechte Vorstellung von der riesigen Rückständigkeit
derselben und meinst schon Licht zu sehen, wo
nichts ist als faustdicke Finsternis. Dein Licht brennt
in Deinem Innern, in der schwerlastenden Masse ist's
dunkel und wird noch dunkel bleiben in undenkbare
Zeiten. Indes, aller Anfang ist klein. Auch der höchste
Menschengeist mußte sich aus dem Ei der Mutter
entwickeln und langsam ausreifen, und sicher ist, daß
die Wahrheit siegen wird, wenn auch nach langen
und schweren Kämpfen. — Es freute mich so, daß
Du mir mal wieder philosophisch geschrieben hast.
Norwegen, Trondhjem, 25. Juli 1904.
Unser Hauptverkehr besteht in Amerikanern. Alle
Finanzgrößen der neuen Welt lauern dem Kaiser hier
296
auf und wissen ganz genau, daß er zu ihnen an Bord
kommt. Und der Allerhöchste Herr glaubt wirklich,
daß er mit diesem Entgegenkommen gegen ein paar
amerikanische Geldprotzen eine Einwirkung auf das
gegenseitige politische Verhältnis der beiden Staaten
ausüben könne, glaubt, daß er, wenn er an Bord eines
Mr.Vanderbild, Drexel oder Goelette besucht oder zu
Mittag speist, wenn er diese Leute mit ausgesuchter
Höflichkeit auf der »Hohenzollern« empfängt und be-
wirtet, die widerstreitenden wirtschaftlichen Inter-
essen von hundert Millionen Menschen schlichten
könne, die alle im Kampf ums Dasein stehen, die alle
leben und reich werden wollen, jeder auf Kosten des
anderen, die um ihre Existenz ringen in Landbau,
Handel, Industrie, die hungrig und durstig sind und
die sich den Teufel um etwas anderes bekümmern,
als um die günstigsten Lebensbedingungen.
Die gestrige Predigt, die besser war als ihre faden-
scheinigen Vorgängerinnen, hatte zum Thema: Wenn
das Leben köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und
Arbeit gewesen. — Wie wahr das ist, empfinden wir
alle in unserem aufgezwungenen Müßiggang. Alle
bis auf einen leider.
Ich habe jetzt die Carlylesche »Geschichte der fran-
zösischen Revolution« beendet, drei Bände. Es ist
geistvoll und dramatisch geschrieben, vom Stand-
punkt des Philosophen, der in dem bunten Wirrsal
der Erscheinungen nach den treibenden Motiven
sucht und sie tief unter der schäumenden, blutigen
Oberfläche in den Menschenherzen findet. — Das ist
ja das Schlimme bei den meisten Monarchen und
bei den herrschenden Klassen, daß sie vergessen, wie
in der Brust jedes, auch des geringsten ihrer Unter-
tanen, ein Herz schlägt voll Verlangen nach Glück
und Daseinsfreude, daß sie alle Menschen sind mit
297
menschlichem Empfinden und dem Willen zum Le-
ben. — Hier liegen wir nun und essen und trinken,
als ob es weiter auf der Welt nichts zu tun gäbe, und
dort oben in Schlesien verdurstet das Land, versagt
sogar die Erde das einzige, was sie umsonst her-
zugeben pflegt, das Wasser, müssen die wirtschaft-
lich Schwachen ihr Vieh verkaufen, vielleicht Haus
und Hof verlieren, wieviel vernichtete Existenzen,
wieviel verbitterte Herzen, Jammer und Elend, dessen
Notschrei freilich nicht hineindringt in die eleganten
amerikanischen Decksalons, in denen wir Tee trin-
ken und Zigaretten rauchen. — In solcher Umgebung
ist es gut, ein Buch wie das Carlylesche zu lesen!
Norwegen, Molde, 31. Juli 1904.
Alle unsere Gottesdienste fangen mit einem Wehe-
ruf des alten Jehova an, wehe dir, daß du dies tust,
wehe dir, daß du das tust! — Dann wird das Evange-
lium verlesen, aber nicht erklärt, sondern der Predigt
wird wieder ein alttestamentlicher Spruch unterlegt.
Heute hörten wir das Evangelium vom ungerechten
Haushalter, eines der verworrensten Gleichnisse aus
der ganzen Bibel, das von den Abschreibern der alten
Handschriften augenscheinlich völlig mißverstanden
oder verstümmelt ist und die Gedanken darüber wohl-
weislich dem eigenen Scharfsinn der Hörer überläßt.
Ich habe vor einigen Tagen ein Buch gelesen, das
Du unbedingt lesen mußt, es wird Dich sehr interes-
sieren, es heißt: »Die Quellen des Lebens Jesu« von
Professor Dr. Paul Wernle, Basel. Es ist das beste,
was ich bisher über die Entstehung der Evangelien
gelesen habe und wirkt geradezu überzeugend durch
seine Gedankenklarheit und logischen Schlüsse. Für
mich war es interessant, meine Ansicht bestätigt zu
finden, die ich durch das Lesen der Evangelien ge-
298
wonnen hatte, daß das Markus-Evangelium in seiner
naiven Darstellung das ursprünglichste ist.
Eine andere Schrift in demselben Genre habe ich
auch gelesen: »Was wissen wir von Jesus?« von Bos-
suet. Sie steht aber nicht auf der Höhe der ersteren,
ist mehr eine Polemik gegen eine Schrift von Kalt-
hoff, der in der Geschichte Jesu nichts weiter sehen
will als eine posthume Einkleidung der Geschichte
der christlichen Kirche in das Gewand der Person
Christi. Kalthoff will also den historischen Christus
überhaupt beseitigen, was meiner Ansicht nach un-
bedingt falsch ist.
Norwegen, Bergen, 5. August 1904.
Die armen Russen, es geht ihnen doch gar zu
schlecht. Die Mandschurei ist so gut wie verloren für
sie, und ich fürchte, daß es noch zu einer Katastrophe
kommt und Kuropatkin, wenn nicht mit seiner gan-
zen Armee, so doch mit beträchtlichen Teilen der-
selben kapitulieren muß. — Er ist von den Japanern
schon fast ganz umstellt, und ich halte es für sehr
unwahrscheinlich, daß er noch wird zum Abmarsch
auf Mukden und weiter nach Charbin kommen können.
Berlin, 1. September 1904.
Der »kluge Hans« fängt an eine ähnliche Rolle zu
spielen, wie seinerzeit die Rote. — Der Streit der Mei-
nungen ist heftig entbrannt, doch scheint mir die Par-
tei, die nur Dressur sehen will, allmählich obzusie-
gen. — Daß auch diese Sache mit einem leiden-
schaftlichen Fanatismus pro und contra behandelt
und beurteilt wird, ist bedauerlich. Fanatismus trübt
immer Blick und Urteil und wenn man nicht einmal
einem Pferde gegenüber objektiv und leidenschafts-
los bleiben kann, wie soll man es dann einem Men-
299
sehen gegenüber sein. — Es ist mir völlig unbegreif-
lich, weshalb man sich über ein Problem in so
hohem Maße aufregt, das weder neu noch von welt-
erschütternder Bedeutung ist. Von Hunden, Papa-
geien und Staren hat man schon ganz andere Sachen
erzählt und schon in Brehms Tierleben kann man
viele Züge von diesen Tieren lesen, die unverkenn-
bar auf einen gewissen Grad von Intelligenz deuten,
und wer wollte leugnen, daß ein Hund, der viel mit
Menschen verkehrt, bis zu einem gewissen Grade die
menschliche Sprache versteht? Das ist doch eigent-
lich ganz selbstverständlich.
Berlin, 4. September 1904.
Ich hatte immer noch gehofft, Kuropatkin würde in
dieser Hauptschlacht obsiegen. Nun wird es wohl
zunächst mit ihm alle sein und die Russen müssen
einen ganz neuen Feldzug auf neuer Basis anfangen,
wenn sie nicht einen demütigenden Frieden auf sich
nehmen und damit ihr Prestige vor Europa und Asien
in unheilvoller Weise schädigen wollen.
Berlin, 5. September 1904.
Ich habe gestern lange in Chamberlains »Grund-
lagen« gelesen und gefunden, daß ich viele Erörte-
rungen jetzt viel besser verstehen und beurteilen
kann wie früher. Ein Satz fiel mir als sehr treffend
auf. Er spricht von der Dualität der Erscheinungen,
etwa wie man sagen könnte, der materiellen und gei-
stigen Welt und sagt, man könne diese beiden Seiten
des Daseins am besten definieren als die Erschei-
nungen, die mechanisch erklärbar sind, und diejeni-
gen, die nicht mechanisch erklärbar sind. Das finde
ich sehr gut ausgedrückt. »Die vier Religionen« von
A. Besant habe ich mit großem Interesse gelesen. Es
300
wundert mich, daß sie sich auf diese vier, Hinduis-
mus, Zoroastrismus, Buddhismus und Christentum
beschränkt und die Religion gar nicht erwähnt, die
nächst dem Buddhismus wohl die meisten Bekenner
auf der Erde hat, die mohammedanische. Vieles in ihren
Äußerungen über das Christentum deckt sich mit den-
jenigen Chamberlains. Wenn man diese Sachen liest,
wird es einem immer unerklärlicher, wie es möglich
war, daß das Zerrbild von Religion, das die Mensch-
heit aus den Lehren Christi gemacht hat, ihr selber
so lange genügen konnte. Ein Beweis dafür, wie ge-
dankenlos die Masse an der äußeren Form hängt und
wie mächtig doch das geistige Leben dieser Lehre
sein muß, wenn es darin nicht ganz erstickte.
Berlin, 6. September 1904.
Der arme . . . Ich zweifle nicht daran, daß er ein
wahrheitsliebender Mann ist und nach seinen Dar-
legungen ist der größte Teil dessen, was ihm vor-
geworfen wird, einfach erlogen. Wehe dem Mann,
auf dessen Spur die Bluthunde einer gewissenlosen
Presse gehetzt werden, sie hetzen ihn zu Tode, und
je anständiger er ist, um so wehrloser ist er. Er hatte
das Unglück, Unbequemlichkeiten zu verursachen,
und damit war ihm der Boden unter den Füßen weg-
gezogen, auf dem er so fest zu stehen meinte. Ein
redendes Menetekel für alle, die meinen, einen festen
Rückhalt zu haben. — Es ist schon gut, wenn man
sich immer darüber klar bleibt, daß es heutzutage
nur einen Maßstab gibt, nach dem man gemessen
wird, ob man bequem oder unbequem ist. Was einer
sonst leistet, ist weniger wichtig.
Berlin, 18. Dezember 1904.
Ich lese jetzt ein Buch von General Bonval: »Le
301
manceuvre de Saint Privat«, aus dem ich einige Stel-
len ausziehe und ins Deutsche übertrage, die recht
lehrreiche Einblicke in die Art und Weise gewähren,
wie sich einer der hervorragendsten französischen
Militärschriftsteller einen künftigen Krieg zwischen
Deutschland und Frankreich denkt.
B e r 1 i n , 20. Dezember 1904.
Daß E. die alten säugenden Madonnen nicht son-
derlich gefallen, kann ich mir denken. Sie sind ja
auch zum überwiegenden Teil nicht schön, sondern
nur interessant als ein Zeugnis dafür, wie sich die
Kunst allmählich an der Hand des religiösen Emp-
findens entwickelte, bis sie schließlich, dieser Lehr-
meisterin entwachsen, selbständig wurde und ihre
fester werdenden Schritte nun in das große Gebiet
der Natur lenkte, wie das Kind es tut, wenn es ge-
lernt hat, alleine zu gehen, und nun in den Garten
läuft, um Blumen zu pflücken. — In dieser ersten
Zeit des Erwachens der Kunst betätigte sich in ihr
ein Drang, das tiefste Empfinden, dessen die Men-
schen damals fähig waren, das religiöse, dies be-
wegte sie am tiefgründigsten und sie fühlten den
Drang, ihm sichtbaren Ausdruck zu verleihen. Daher
hielten sich alle alten Maler an religiöse Themen und
so wurde die Madonnenmalerei die Mutter der heuti-
gen Malerei, wie die christliche Baukunst diejenige
der heutigen Architektur. Wie diese alten Maler mal-
ten, hatte man noch keine Kunde von den längst ver-
schollenen Meisterwerken griechischer Kunst, das in
den mitteleuropäischen Völkern erwachende Bedürf-
nis nach künstlerischem Ausdruck mußte sich selber
tastend seinen Weg bahnen und erst im langsamen
Werden viele Roheiten und Kindlichkeiten über-
winden.
302
Hannover, 8. Januar 1905.
Ich war gestern abend bei Sr. Majestät. Ich habe
eine dreiviertelstündige Unterredung mit ihm gehabt
und ihm alles gesagt, was ich auf dem Herzen hatte.
Ich glaube, so hat noch nie ein Mensch mit ihm ge-
sprochen. Ich schreibe Dir darüber ausführlich, wenn
ich Ruhe finde.
Berlin, 25. Januar 1905.
Ich machte bei einem Diner in Rom, bei Rotenhahn,
die Bekanntschaft eines Priesters, dessen Name mir
leider entfallen ist, der bekannt geworden ist durch
sein Werk über die Katakomben Roms. Er ist Auto-
rität auf diesem Gebiet und ist vom Kaiser pekuniär
unterstützt worden, ein sehr interessanter Mann, Deut-
scher, das wäre so einer für Dich.
Bei unseren Nachbarn, den Russen, sieht es übel
aus. Daß Arbeiterrevolten in Petersburg gewesen, die
mit Waffengewalt niedergeworfen worden sind und
bei denen viel Blut geflossen ist, hast Du wohl ge-
lesen. Solange das Militär treu bleibt, werden sie in
Rußland wohl damit fertig werden, aber die »Ideen«
breiten sich immer weiter aus und ergreifen immer
breitere Schichten der Bevölkerung und mit denen
wird man nicht mit Soldaten fertig. Ich fürchte, daß
die Ära der Attentate wieder anfangen wird. Kuropat-
kin steht noch immer unbeweglich den Japanern
gegenüber. Eine so verrückte Art der Kriegsführung
war noch nicht da, solange die Welt steht.
Berlin, 26. Januar 1905.
Ich denke mir, es müßte interessant sein, etwas rö-
mische Geschichte zu lesen, die man gleich an den
Örtlichkeiten nacherleben könnte. Doch wohl interes-
santer, als ein Roman irgendeiner Art. Wenn Ihr
303
Euch z.B. Mommsens »Römische Geschichte« ver-
schaffen könntet, vielleicht hat sie jemand von der
Botschaft
Berlin, 29. Januar 1905.
Vor etwa vier Wochen ritt ich eines Morgens mit
dem Reichskanzler zusammen im Tiergarten. Das Ge-
spräch kam auf die politische Lage, die damals sehr
gespannt war. — Er frug mich, wie wir uns trennten,
ob ich nicht bald den Grafen Schlief fen ersetzen
würde, mit dem er anscheinend nicht übereinstimmte,
worauf ich ihm sagte, ich hoffe, daß dieser Kelch an
mir vorübergehen werde. Einige Tage darauf kam . . .
zu mir, um mir folgendes zu sagen: Der Reichskanz-
ler habe in einem Gespräch mit Sr. Majestät diesem
gesagt, daß ich nicht geneigt wäre, die Stellung eines
Chefs des Generalstabs zu übernehmen. Se. Majestät
sei hierüber aufs äußerste erstaunt und beunruhigt
gewesen, er schicke nun ... zu mir, um mir zu sagen,
daß er unbedingtes Vertrauen zu mir habe. Es habe
ihm leid getan, daß, wenn ich nicht annehmen wolle,
ich ihm dies nicht selber gesagt habe, und daß er es erst
durch den Reichskanzler erfahren habe. Ich hatte nun
eine längere Besprechung mit . . ., in der ich ihm
meine Gründe entwickelte, die mir die Übernahme
dieser Stellung erschwerten. Er war auch mit mir ein-
verstanden und frug mich, ob er Sr. Majestät dies sa-
gen solle, worauf ich ihm erwiderte, es wäre mir das
liebste, wenn ich mich selber Sr. Majestät gegenüber
aussprechen könne und ich würde Sr. Majestät dank-
bar sein, wenn er mich empfangen und anhören
würde. — Zwei Tage darauf erhielt ich eine Einladung
zum Abendessen im Schloß und gleichzeitig die Mit-
teilung, ich möchte eine halbe Stunde früher kom-
men und mich bei Sr. Majestät melden lassen. — Daß
304
ich mit ganz eigenen Gefühlen ins Schloß fuhr,
kannst Du Dir denken. Ich war fest entschlossen, Sr.
Majestät alles gerade heraus zu sagen und wußte
nicht, wie die Sache ablaufen würde. Ich sagte mir
aber, daß es hier gar nicht auf die Person ankomme,
daß ich verpflichtet sei, mich, wenn es sein müßte,
der Sache zum Opfer zu bringen und daß ich Sr. Ma-
jestät nur wirklich nutzen könne, wenn ich ihm ein-
mal sagte, was überall in den Offizierskreisen geredet
und heimlich gemunkelt wird, ohne daß je einer den
Mut gefunden hätte, es Sr. Majestät auszusprechen.
Ich wurde von dem Flügeladjutanten in das Arbeits-
zimmer Sr. Majestät geführt, ich stand, wie lange weiß
ich nicht, und wartete! — Endlich kam der Kaiser
herein und begrüßte mich sehr freundlich. Er lehnte
sich an den Arbeitstisch, als ob er sagen wollte: nun
laß einmal hören, was du vorzubringen hast!
Ich fing nun damit an, ihm zu sagen, daß meine
Äußerung dem Reichskanzler gegenüber eine rein
private gewesen und daß es mir nicht in den Sinn ge-
kommen sei, daß dieser sie Sr. Majestät wieder über-
bringen werde. — Weiter kam ich nicht, denn der
Kaiser unterbrach mich mit großer Lebhaftigkeit und
sagte mir : »Nun will ich Ihnen mal erzählen, wie das zu-
sammenhängt. Wie der Reichskanzler neulich abends
bei mir war, sprachen wir von der schwierigen poli-
tischen Lage, in der wir uns England gegenüber be-
fänden, und daß wir darauf gefaßt sein müßten, eines
schönen Tags von dort angegriffen zu werden. Es
ist klar, daß dieser Krieg nicht lokalisiert werden kann,
sondern, daß er weitere europäische Verwicklungen
nach sich führen wird. — Da sagte der Reichskanz-
ler, er fände, daß der Graf Schlieffen recht alt werde,
worauf ich ihm erwiderte, wenn der nicht mehr kann,
dann ist Moltke da. — Darauf sagte er: Ew. Majestät,
Moltke. 20. 3°5
der nimmt die Stellung nicht an. — Sie können sich
denken, daß ich durch diese Äußerung völlig ver-
blüfft wurde. Ich habe Sie vor einem Jahr zum Gene-
ralstab kommandiert, damit Sie sich orientieren sol-
len, und ich hatte natürlich sicher darauf gerechnet,
daß Sie da wären um einzuspringen, wenn der Graf
Schlief fen aus irgendeinem Grunde zurücktreten
muß. Er ist alt und es kann ihm etwas passieren, er
kann krank werden oder dergleichen und dann muß
jemand da sein, der ihn ersetzen kann. Nun ist mir
noch der General v. der Goltz vorgeschlagen, den ich
nicht will, und dann der General v. Beseler, den ich
nicht kenne. Sie kenne ich und zu Ihnen habe ich
Vertrauen. Ich weiß wohl, daß Sie zu bescheiden sind,
um zu glauben, daß Sie der Stellung genügen könn-
ten. Der Graf Schlieffen, den ich gefragt habe, sagt
mir, er habe Sie nun ein Jahr beobachtet und könne
mir keinen besseren Nachfolger vorschlagen als Sie
in erster Linie. Ihr verstorbener Onkel hat einmal
geäußert, es komme bei der Wahl zu dieser Stellung
viel weniger darauf an, daß der Betreffende genial
sei, als darauf, daß man sich unter allen Umständen
auf ihn verlassen könne, der Charakter sei die Haupt-
sache, dieser ist es, der im Kriege auf die Probe ge-
stellt wird. Ich kann Ihnen nur sagen, daß ich zu
Ihnen völliges Vertrauen habe. Sie sind eine bekannte
Persönlichkeit in der Armee, jeder schätzt Sie und
wird Ihnen wie ich Vertrauen entgegenbringen. Wie
ich als junger Mensch auf einmal auf den Thron kam,
da habe ich mir auch gesagt, die Aufgabe übersteigt
deine Kräfte. Ich war ganz auf mich allein gestellt,
niemand konnte mir helfen, und wie ich nun das
Schwerste gleich vollbringen mußte, den Abschied
von dem alten Reichskanzler, da habe ich mir gesagt,
es muß gehen, und ich habe das durchgeführt, was
306
ich tun mußte. So wird es Ihnen auch gehen. Wenn
Sie an die Aufgabe herantreten, werden Sie die Kraft
in sich selber finden.«
Dies war in kurzem der Inhalt dessen, was Se. Ma-
jestät sagte. Er sprach in seiner Lebhaftigkeit sehr
lange und führte alles viel mehr aus, als ich es hier
wiedergegeben habe. Ich sah es kommen, daß er mir
keine Gelegenheit geben werde, meinerseits das zu
sagen, was ich zu sagen hatte, aber ich war fest ent-
schlossen, nicht fortzugehen, bis ich es getan hätte.
Ich hörte also ehrerbietig zu, bis er ausgeredet hatte.
Dann sagte ich: Ew. Majestät wollen mir gestatten,
meinen tiefempfundenen Dank auszusprechen für den
ehrenden Ausdruck des Vertrauens, dessen Ew. Ma-
jestät mich würdigen, um so mehr aber fühle ich
mich verpflichtet, mich Ew. Majestät gegenüber ganz
offen und ehrlich auszusprechen. Es kommt nicht
nur darauf an, daß Ew. Majestät Vertrauen zu mir
haben, sondern auch darauf, ob ich dies Vertrauen
verdiene oder nicht. Das werden Ew. Majestät erst
dann beurteilen können, wenn Ew. Majestät meine
Ansichten genau kennen und ich bitte daher aller-
untertänigst um die Erlaubnis, Ew. Majestät gegen-
über meine Bedenken so offen darlegen zu dürfen,
wie meinem eigenen Gewissen gegenüber. Sollte ich
dabei etwas sagen, was Ew. Majestät vielleicht nicht
gefällt, so wird dies jedenfalls die Folge haben, daß
Ew. Majestät mich ganz und völlig beurteilen und da-
nach abschätzen können. — Ew. Majestät haben mich
als eventuellen späteren Chef des Generalstabes in
Aussicht genommen. Wie ich mich als solcher im
Fall eines Feldzuges bewähren würde, weiß ich nicht.
Ich beurteile mich selber sehr kritisch. Meiner Mei-
nung nach ist es überhaupt sehr schwierig, wenn
nicht unmöglich, sich jetzt schon ein Bild davon zu
307
machen, wie sich ein moderner, europäischer Krieg;
gestalten wird. — Wir haben jetzt eine über dreißig-
jährige Friedensperiode hinter uns und ich glaube,
daß wir in unseren Anschauungen vielfach sehr frie-
densmäßig geworden sind. Wie und ob es überhaupt
möglich sein wird, die Massenheere, die wir aufstel-
len werden, einheitlich zu leiten, kann, glaube ich,
kein Mensch vorher wissen. Auch unser Gegner ist
ein anderer geworden, wir werden es nicht mehr wie
früher mit einem feindlichen Heer, dem wir mit Über-
legenheit entgegentreten können, zu tun haben, son-
dern mit einer Nation in Waffen. Es wird ein Volks-
krieg werden, der nicht mit einer entscheidenden
Schlacht abzumachen sein wird, sondern der ein lan-
ges, mühevolles Ringen mit einem Lande sein wird,
das sich nicht eher überwunden geben wird, als bis
seine ganze Volkskraft gebrochen ist, und der auch
unser Volk, selbst wenn wir Sieger sein sollten, bis
aufs äußerste erschöpfen wird. Wenn ich nun sehe,
wie die strategischen Kriegsspiele, die Ew. Majestät
Jahr für Jahr unterbreitet werden, regelmäßig mit der
Gefangennahme feindlicher Armeen von fünf- bis
sechshunderttausend Mann, und zwar nach Verlauf
weniger Operationstage enden, so kann ich mich der
Empfindung nicht verschließen, daß dieselben den
Verhältnissen des Krieges in keiner Weise gerecht
werden. Solche Kriegsspiele kann ich nicht machen.
Ew. Majestät wissen selber, daß die von Ihnen ge-
führten Armeen regelmäßig den Gegner einkesseln
und so angeblich den Krieg mit einem Schlage be-
enden. Diese Resultate sind meiner Meinung nach
nur dadurch zu erreichen, daß den Verhältnissen in
einer Weise Gewalt angetan wird, die dem Grund-
satz, daß das Kriegsspiel eine Studie für den wirk-
lichen Krieg sein soll und daß es alle Reibungen und
308
Hindernisse, die im Kriege auftreten, möglichst be-
rücksichtigen muß, in keiner Weise entsprechen.
Diese Art des Kriegsspiels, bei dem der Gegner Ew.
Majestät gewissermaßen von vorneherein mit gebun-
denen Händen ausgeliefert wird, muß ganz falsche
Vorstellungen erwecken, die verderblich werden müs-
sen, wenn der Krieg wirklich kommt. Doch ist dies
meines Erachtens nach noch nicht das schlimmste.
Für noch bedenklicher halte ich es, daß durch die
Gewalt, die dem Kriegsspiel angetan wird, dem gan-
zen großen Kreis der daran beteiligten Offiziere das
Interesse an der Sache genommen wird. Jeder hat
die Empfindung, es ist ganz gleichgültig, was Du
machst, ein höheres Fatum dirigiert die Sache und
führt sie so oder so zum gewollten Ende. Ew. Maje-
stät werden bemerkt haben, daß es immer schwie-
riger wird, Offiziere zu finden, die gegen Ew. Maje-
stät führen wollen. Das kommt daher, weil jeder sich
sagt, ich werde ja doch nur abgeschlachtet. — Das,
was ich aber am allermeisten beklagen und was ich
Ew. Majestät sagen muß, das ist, daß das Vertrauen
der Offiziere zu ihrem Allerhöchsten Kriegsherrn da-
durch aufs tiefste erschüttert wird. Die Offiziere sa-
gen sich, der Kaiser ist viel zu klug, als daß er nicht
merken sollte, wie hier alles zurechtgemacht wird,
damit er siegen soll, er muß es also doch so haben
wollen.
Hier unterbrach mich der Kaiser und versicherte,
er habe keine Ahnung davon gehabt, daß nicht auf
beiden Seiten mit gleichen Waffen gekämpft worden
sei. Er sei ganz bona fide gewesen. — Ich solle
Schlief fen sagen, daß er beim nächsten Kriegsspiel
ihn nicht besser behandele wie seinen Gegner.
Ich erwiderte ihm: Der Graf Schlieffen sagt, wenn
der Kaiser spielt, muß er siegen, er kann als Kaiser
309
nicht von einem seiner Generale geschlagen werden.
Das ist auch ganz richtig. Ew. Majestät dürfen daher
überhaupt nicht führen. Lassen Ew. Majestät sich
doch ein Kriegsspiel vorlegen, in dem Ew. Majestät
die Oberleitung haben und so über den Parteien ste-
hen, statt selber Partei zu sein.
Der Kaiser pflichtete mir hierin bei. — Ich sagte
ihm dann noch, wenn Ew. Majestät sich bei den Her-
ren erkundigen wollten, ich glaube, alle würden be-
stätigen, was ich hier gesagt habe, das heißt, wenn sie
den Mut haben, Ew. Majestät die Wahrheit zu sagen.
Und dasselbe, was ich vom Kriegsspiel gesagt habe,
gilt auch von den Manövern. Der Wert der großen
Manöver als Vorbereitung für den Krieg liegt in der
Übung der höheren Führer einem Gegner gegenüber,
der eigenen Entschluß hat. Die Truppe als solche
lernt in den großen Manövern weniger als in den
Detachementsübungen, bei denen man auf alle De-
tails achten kann. Wenn nun die Entschlüsse der
Kommandierenden Generale immer durch das Ein-
greifen Ew. Majestät beeinflußt werden, so wird ihnen
die Lust zur Initiative genommen, sie werden un-
lustig und unsicher gemacht.
Hier unterbrach mich der Kaiser wieder und sagte,
er habe den Kommandierenden Generalen immer die
Freiheit des Entschlusses gelassen. Ich erwiderte: In
dem letzten Kaisermanöver bin ich als Schiedsrichter
verwendet worden, war daher nicht selber zugegen,
aber es ist mir gesagt worden, daß Ew. Majestät an
einem Tage dem Kommandierenden General des
. . Armeekorps den Befehl für sein Korps, entgegen
seinen Absichten wörtlich diktiert hätten. — Das
mußte Se. Majestät zugeben. Er sagte: Ach ja, das
war, wie er mit seinem Korps zurückgehen wollte,
so daß es an dem Tage zu gar keinem Gefecht ge-
310
kommen wäre. — Ich: Da hätten Ew. Majestät ihm
doch einfach sagen lassen können, ich wünsche mor-
gen ein Gefecht zu sehen, und ihm dann die Art der
Ausführung überlassen können, oder Ew. Majestät
hätten ihm irgendeine Supposition geben können, die
ihn zum Stehenbleiben veranlaßt hätte. So weiß es
die ganze Armee, daß Ew. Majestät einem Komman-
dierenden General die Befehle für sein Korps einfach
diktiert haben, und das trägt nicht zur Hebung des
Ansehens des Generals seinem Korps gegenüber bei
und muß deprimierend auf ihn wirken. Ein Komman-
dierender General hat vielleicht während der ganzen
Zeit, wo er in seiner Stellung ist, nur einmal bei den
Kaisermanövern Gelegenheit, sein Korps gegen ei-
nen Gegner zu führen, und das sind meistens nur drei
Tage. Wenn nun Ew. Majestät noch selber im Ma-
növer ein Korps führen, so geht ihm einer von den
drei Übungstagen verloren. Im Kriege führen Ew.
Majestät doch kein Korps. — Se. Majestät: Nein, das
ist richtig. — Ich: Da soll es der Kommandierende
General machen, und er muß jede Stunde ausnutzen,
in der er sich darin üben kann. — Se. Majestät: Ich
führe, um den Kommandierenden Generalen zu zei-
gen, wie ich wünsche, daß es gemacht werden soll. —
Ich: Das können Ew. Majestät bei der Besprechung
zum Ausdruck bringen. Die Manöver können meines
Erachtens nach nur kriegsmäßig und dadurch von
Nutzen sein, wenn sie sich ohne gewaltsamen Ein-
griff von oben abspielen. Werden Fehler gemacht,
so schadet das nichts, denn man lernt nie mehr, als
aus seinen Fehlern. Wenn aber Ew. Majestät führen,
so weiß jeder, Se. Majestät muß siegen, und die ganze
Gegenpartei fühlt sich von vorneherein als Schlacht-
opfer und wird mißmutig. Die Manöver werden in
der ganzen Armee besprochen, das gesamte Offiziers-
3ii
korps beurteilt sie und die Kritik wird immer schär-
fer. — Und dann kommt noch eins hinzu. Die Trup-
pen bekommen Ew. Majestät nicht zu sehen, was von
der größten Wichtigkeit ist, denn der Soldat, der Ew.
Majestät im Manöver gesehen hat, vergißt das sein
ganzes Leben lang nicht. — Ew. Majestät wollen zu
Gnaden halten, wenn ich mich freier ausgesprochen
habe, als Ew. Majestät es zu hören gewohnt sind. Ich
würde es nicht gewagt haben, wenn es sich nicht um
das handelte, was mir das höchste ist, Ew. Majestät
und der Armee Wohl. — Der Kaiser sagte mir nun:
Warum haben Sie mir das alles nicht schon längst
gesagt? — Ich: Ich habe mich nicht berechtigt ge-
fühlt, Ew. Majestät meine Ansicht aufzudrängen. Es
kann doch nicht jeder zu Ew. Majestät kommen und
sagen: Ich finde dies nicht richtig, was Sie tun, und
das nicht richtig. — Se. Majestät: Sie sind aber Ge-
neraladjutant, und da wissen Sie, daß Sie immer
kommen können. — Ich: Wenn Ew. Majestät mich
um meine Ansicht befragen, werde ich sie immer
freimütig äußern.
Der Kaiser gab mir darauf die Hand und sagte: Ich
danke Ihnen. — Ich sagte ihm dann: Wenn Ew. Ma-
jestät es wirklich mit mir versuchen wollen, dann ge-
ben Sie mir doch Gelegenheit, mich einmal zu erpro-
ben. Lassen Ew. Majestät mich doch in diesem Jahr
einmal die Kaisermanöver anlegen. Geht es gut, kön-
nen Ew. Majestät mich ja behalten, zeigt es sich, daß
es nicht geht oder werden die Schwierigkeiten zu
groß, dann stellen Ew. Majestät mich einfach beiseite
und nehmen einen anderen. Hier liegt wirklich nichts
an einer Person, es kommt nur darauf an, daß der
Sache gedient wird. — Der Kaiser war ganz damit
einverstanden und sagte: Ich werde es dem Grafen
Schlieffen sagen. — Ich: Wenn Ew. Majestät gestat-
312
ten, meldeich dies selbst dem Grafen Schlieffen und
bitte um seine Einwilligung.
Dann gab Se. Majestät mir nochmals die Hand und
ging voraus in den Empfangssalon, wo die Kaiserin
und die Tischgesellschaft schon lange gewartet hat-
ten.— Der Kaiser war den ganzen Abend sehr schweig-
sam und nachdenklich. Er tat mir eigentlich furcht-
bar leid, aber weiß Gott, ich konnte nicht anders.
Ich war sehr gespannt, wie er gegen mich sein
würde, wenn ich ihn wiedersehen würde, nachdem
eine Zeit verflossen und die erste Überraschung über-
wunden war. Er zeigte sich aber auch dann gleich-
mäßig freundlich. Wie dies alles nun weiterwirken
wird, weiß ich nicht. Vielleicht ist es von Dauer, viel-
leicht verwischt es die Zeit wieder. —
Wie ich das wegen der Manöver dem Grafen Schlief-
fen meldete, machte er ein sehr verdutztes Gesicht.
Es war ihm offenbar äußerst unangenehm, und er
versuchte auszuweichen, sagte, wie ich ihn direkt
fragte: Sind Ew. Exzellenz damit einverstanden, wenn
ich die Manöver in diesem Jahr anlege? — Darüber
können wir ja noch sprechen. — Geht er nicht darauf
ein, so nehme ich den Kampf auf. Ich habe die Zu-
sicherung Sr. Majestät, und die laß ich mir nicht wie-
der nehmen.
So, nun weißt Du Bescheid. Bitte, laß mich gleich
wissen, daß dieser Brief in Deine Hände gelangt ist,
denn ich möchte nicht, daß irgend jemand sonst da-
von erfährt, und bin eigentlich unruhig, ihn auf die
Post zu geben. Bewahre ihn so auf, daß er in keine
unrechten Hände kommt.
Berlin, i. Februar 1905.
Die Zustände in Rußland sind sehr bedenklich. Bis
jetzt waren es nur Arbeiterunruhen, die mit leichter
313
Mühe vom Militär unterdrückt worden sind, wobei
ziemlich viel Blut geflossen ist. Das waren aber wohl
nur die Ballons d'essay. Es gärt überall, besonders
in den Kreisen der Intelligenz. Wenn der Zar nicht
vernünftig ist und seinem Volk mehr Freiheit ge-
währt, wird's schlimm werden. Für eine Konstitution
und allgemeines Wahlrecht ist Rußland wohl noch
nicht reif. Aber er muß eine Habeas-corpus-Akte ge-
ben, das heißt einen Schutz gegen Willkür und Gewalt,
und eine ständische Vertretung. Damit würden alle
zufrieden sein, und er würde der Vater des Vater-
landes sein. Tut er das nicht, sondern beharrt auf
dem Standpunkt der brutalen Gewalt, so wird er diese
gegen sich selber herausfordern und über kurz oder
lang dem Fanatismus zum Opfer fallen. Die Truppen
haben sich bisher überall zuverlässig bewiesen, die
Gerüchte von Meuterei sind englische Erfindun-
gen. Rußland wird die allerschärfsten Gesetze willig
ertragen, aber es müssen eben Gesetze sein und
nicht Willkür, bei der kein Mensch sicher ist. — Gebe
Gott dem armen Zar verständige Ratgeber. — Der
Oberst Schebekow sagte mir neulich, er wäre schon
verschiedene Male gefragt worden, ob keine Aussicht
wäre, daß ich hingeschickt würde! Wie findest Du
das!?
Mit der Kriegsführung steht es auch schlecht für die
Russen. Kuropatkin hat einen wieder verunglückten
Versuch gemacht, vorzugehen, hat eins auf die Nase
bekommen und ist wieder hinter den Hunho gekro-
chen. Es ist der reine Jammer. Übrigens glaube ich,
daß wir indirekt der großen Schwäche Rußlands es
verdanken, wenn England jetzt so friedfertig gegen
uns ist. Ich denke mir, daß Frankreich in England
vorstellig geworden ist, Frieden zu halten. Die Fran-
zosen wissen es ganz genau, daß sie es mit uns zu
314
tun bekommen, wenn der Krieg zwischen England
und Deutschland anfangen sollte, und da ihr guter
Freund Rußland zurzeit ganz ohnmächtig ist, wür-
den sie es alleine mit uns aufnehmen müssen, und
davor haben sie einen höllischen Respekt. Wäre es
nicht so, könnte ich mir die englischen Friedens-
schalmeien nicht erklären. Nun aber genug der Poli-
tik. Ein garstig Lied, pfui, ein politisch Lied, sagt
der Student in Auerbachs Keller.
B e r 1 i n , 4. Februar 1905.
Der Zar scheint wirklich die Absicht zu haben, ein
etwas liberaleres Regime einzuführen, was für ihn und
das Land ein Segen sein würde. Vorläufig empfängt
er Arbeiterdeputationen, was nicht viel zu bedeuten
hat. In der Mandschurei ist es nach dem neulichen
kläglichen Versuch einer russischen Offensive wie-
der still geworden. Die Kriegsführung dort ist gleich
miserabel von beiden Seiten.
Bei uns zu Hause wirkt der nun schon wochenlang
währende Streik der Kohlenarbeiter im Ruhrrevier
störend weiter. Die Kohlennot wird dringlich. Viele
Fabriken müssen die Arbeit einstellen, englische und
belgische Kohle wird massenhaft importiert, deckt
aber den Bedarf nicht. Man sieht wieder mal, wie
künstlich unser modernes Kulturleben aufgebaut ist,
wenn ein Faktor versagt, kommt alles ins Stocken.
Die Ruhe und Ordnung ist übrigens nirgends gestört,
und die streikenden Arbeiter haben reichlich zu leben
von den Hilfsmitteln, die ihnen von allen Seiten zu-
fließen. Sogar unsere brave Geistlichkeit sammelt für
sie. Die Leute sind recht töricht, ihre Politik reicht
nicht weiter als ihre Nasenspitzen, auch hier wird
alles von Schlagwörtern regiert.
315
Berlin, 6. Februar 1905.
Ich habe jetzt ein sehr interessantes Buch »Paulus,
die Anfänge des Christentums und des Dogmas« von
Professor Weinel. Ein ganz klein wenig riecht es
doch nach Orthodoxie, wenn auch der Professor dar-
über empört sein würde, wollte man ihm das sagen,
denn er ist bekannt als der freisinnigste aller freisin-
nigen Theologen, aber kein Mensch kann aus seiner
Haut, und wenn er auch meint, die christlich-dogma-
tische Haut, die ihm wohl in der Jugend anerzogen
war, ganz abgestreift zu haben, so ist doch noch hier
und da ein Läppchen hängengeblieben, so fein, daß
man's nicht sehen kann, nur fühlen, wenn man mit
dem Finger des Geistes den Aufbau seines Werkes
nachfühlt.
Berlin, 7. Februar 1905.
Daß dies Volk (die Italiener), das einst die Welt be-
herrschte, so heruntergekommen ist, daß sie zu Die-
ben und Lumpen geworden sind, das ist traurig ge-
nug, liegt aber wohl im Lauf der Welt. Sie sind auf
dem absterbenden Ast, wir Germanen sind ja noch
jünger, werden aber seinerzeit wohl denselben Weg
gehen, um jüngeren Platz zu machen. In der Be-
ziehung ist es mit den Nationen wie mit dem einzel-
nen Menschen.
Berlin, 9. Februar 1905.
Der gestrige Hofball hat mich nicht weiter gefes-
selt. Es macht mir immer wieder einen ganz merk-
würdigen Eindruck, wenn ich den Einzug des Hofes
in den Weißen Saal sehe, der Kaiser bringt immer
so ein Stück Mittelalter hinter sich her. S. in Perücke,
ebenso den alten Süß, den Offizier der Leibwache
der Kaiserin ebenso; es ist, als ob die Toten aufer-
stehen mit Zopf und Puder.
316
Berlin, 12. Februar 1905.
Ich lege Dir ein paar Worte bei, die ich aus dem
Weineischen Werk über Paulus ausgezogen habe.
Es ist nur kurz und gedrängt. Die Entwicklung
frappierte mich, weil sie genau meiner Ansicht über
den Opfertod Christi entspricht. Ich stimme ihr durch-
aus bei. Hoffentlich kannst Du es lesen und wird es
Dich auch interessieren. — Paulus : Zwei Wege, auf
denen die Menschheit zu ihrem Gott zu gelangen ver-
sucht: Offenbarung, Sakrament — Gebet und
Opfer. — In Paulus seit Damaskus ist Christus leben-
dig geworden, hat sich ihm offenbart. Nun lebe ich,
aber nicht ich, sondern Christus lebt in mir. Jetzt
spricht sein Gott zu ihm nicht mehr aus den Papieren
der Gesetzesvorschriften, sondern aus der Feuer-
flamme, die in seinem Herzen lodert. Er hat damit
lebendige Religion, er hat sie als persönliches Er-
lebnis.
Berlin, 14. Februar 1905.
Die Beerdigung des alten Menzel wurde mit großem
Pomp in der Rotunde des Alten Museums abgehalten.
Vor dem Portal die Leib-Kompagnie des 1. Garde-
Regiments mit Grenadiermützen, auf der Freitreppe
die Schloßgarde-Kompagnie und die kunststudenti-
schen Vereine in Wichs mit ihren Fahnen, ein far-
benprächtiges Bild. Im Innern eine gedrängte Ver-
sammlung aller Stände und Berufsklassen, sogar Sin-
ger war da als Reichstagsdeputation! Auf der Balu-
strade oben Joachim mit seinem Quartett und der
Sängerchor der Hochschule. Neben dem kleinen
Sarg, der aussah wie ein Kindersarg, Dryander. Nach-
dem Kaiser, Kaiserin und sämtliche Prinzen einge-
troffen, wurde eine sehr schöne Kantate von Beetho-
ven gesungen, dann hielt Dryander eine schlichte und
317
daher wirkende Ansprache, darauf Quartett, ein Satz
von Haydn und dann Einsegnung, worauf wieder
Chorgesang. Dann wurde der Sarg von sechs Unter-
offizieren des i. Garde-Regiments herausgetragen und
auf den Leichenwagen gesetzt, der mit sechs Mar-
stallpferden bespannt war und von kaiserlichen Kut-
schern eskortiert wurde. An der Tete des Zuges die
Leib-Kompagnie, dann die Chargierten der studen-
tischen Verbindungen mit ihren bunten Trachten und
Federhüten. Hinter dem Sarg der Kaiser mit der
ganzen Generalität, und dann ein endloses Gefolge
schwarzer Zylinder. Vor dem Schloß schwenkte der
Kaiser links, die Kompagnie rechts ab und ließen den
Zug an sich vorüberdefilieren. So ist wohl noch kein
Künstler geehrt worden, und die kleine Exzellenz
wird ihre Freude daran gehabt haben, wenn er sein
eigenes Leichenbegängnis etwa hat sehen können!
B e r 1 i n , 20. Februar 1905.
Die geistige Ära, auf die Du hoffst, wird, glaube
ich, noch nicht so bald kommen. Ich fürchte, daß die
Menschheit noch durch viel Blut und Elend wird
gehen müssen, bis sie soweit kommt. Wir werden
das Tausendjährige Reich wohl nicht mehr anbrechen
sehen, auf das die Menschheit schon seit Christi Zei-
ten hofft. — Die neue schreckliche Bluttat in Ruß-
land ist auch wie eine blutrote Fackel, die in eine
dunkle Zukunft leuchtet. Der arme Zar, der selber
jeden Augenblick das neue Opfer sein kann! Und da-
bei keine Energie, um neue Bahnen einzuschlagen
und sich und sein Volk zu retten! Ich glaube, daß
Rußland und Japan bald Frieden machen werden.
Der Krieg ist für ersteres hoffnungslos.
3i8
Berlin, 4« März 1905.
Es freut mich, daß Du Bekanntschaft mit dem
Katakombenpriester gemacht hast und daß er Dir et-
was zeigen wird. Er ist Autorität auf diesem Gebiet
und wird Euch gewiß interessant erzählen können.
Vielleicht triffst Du bei Rotenhahn mit dem Kardinal-
staatssekretär Merry del Val zusammen, der mich
sehr interessiert hat. Er ist der Mann an der Spritze,
der die ganzen weitverzweigten Fäden der vatikani-
schen Diplomatie in der Hand hat.
Berlin, 7. März 1905.
Ich habe heute einen ersten Strauß mit Graf Schlief-
fen durchgefochten. Ich schrieb Dir doch, daß der
Kaiser mir erlaubt habe, in diesem Jahr die Manöver
anzulegen. Dies hatte ich dem Grafen Schlief fen ge-
meldet, worauf er mir sagte, er wolle sich es noch
überlegen. Seitdem habe ich ihn zweimal wieder ge-
fragt, ob er es sich nun überlegt habe, was er immer
verneinte, sagte, es wäre ja noch lange Zeit usw. und
immer Ausflüchte machte. Vor einigen Tagen hat er
nun dem Kaiser, ohne daß ich vorher etwas erfahren
hatte, eine Manöveranlage, die er gemacht hatte, vor-
getragen. Wie . . . mir sagte, habe der Kaiser gesagt:
Ich denke, Moltke macht die Anlage? Worauf Graf
Schlieffen etwas Unverständliches gemurmelt habe.
Ich ging darauf zu H. und bat ihn, Sr. Majestät den
Sachverhalt mitzuteilen, damit dieser nicht von mir
glaube, daß ich mich drücken wolle oder dergleichen.
Heute hat nun der Kaiser H. zu Graf Schlieffen ge-
schickt mit dem Befehl, daß ich die Manöver zu be-
arbeiten hätte. Letzterer kam ziemlich bedrückt zu
mir herein und sagte mir, er habe den Befehl bekom-
men, mir die Anlage des Manövers zu überlassen.
319
Dann machte er allerlei Entschuldigungen, er habe
mich nicht richtig verstanden gehabt usw. — Ich sagte
ihm nur, daß ich ihm alles klar und deutlich damals
gemeldet hätte. Es war ihm offenbar sehr unange-
nehm, ich konnte es ja aber nicht ändern, und mir
blieb nach den Vorgängen ja gar nichts anderes
übrig, als eine Entscheidung Sr. Majestät herbeizu-
führen. Er hätte sich das ersparen können, wenn er
loyaler gegen mich verfahren wäre. Wenn er es auf
Biegen oder Brechen ankommen lassen will, so ist
mir's auch recht, jedenfalls hat er mich falsch taxiert,
wenn er meint, mich einfach beiseite drücken zu kön-
nen. In diesem Fall habe ich nun gesiegt, was er sich
hätte anders und ohne alle Unannehmlichkeiten ein-
richten können, wenn er sich auf den Standpunkt ge-
stellt hätte, einem Mann, den er selber als seinen
Nachfolger bezeichnet hat, zu helfen, statt ihn ge-
wissermaßen zu behumpsen. Ich bin übrigens nicht
nachträgerisch, und an mir wird's nicht liegen, wenn
mein Verhältnis zu ihm gestört werden sollte. — Dies
mußt Du natürlich für Dich behalten. Ich weiß, daß
Du das sowieso tust, und sage es nur für mich, nicht
für Dich.
Berlin, n.März 1905.
Ich traf Frau v. B., deren Mann, wie Du weißt, mit
dem Prinzen Friedrich Leopold in der Mandschurei
bei den Japanern ist, wo er in diesen Tagen wohl
Zeuge des großen Sieges gewesen ist, den die Ja-
paner über die Russen erfochten haben. Mit letzteren
ist es nun wohl definitiv vorbei. Es scheint, als wenn
die Armee vollständig geschlagen und zersprengt ist
und wohl zum größten Teil in Gefangenschaft ge-
raten. Eine fürchterliche Blamage für die Russen, die
gegen hunderttausend Mann stärker waren als die Ja-
320
paner. Meiner Meinung nach bleibt ihnen nun nichts
anderes mehr übrig, als coute que coute Frieden zuma-
chen.— Die Folgen dieses Krieges werden im Osten sich
sehr bald fühlbar machen und in einer unbeschränk-
ten Vorherrschaft der Japaner bestehen. Ich hoffe nur,
daß wir nicht mit ihnen wegen Kiautschou aneinan-
der geraten, denn wir würden ihnen gegenüber noch
ohnmächtiger sein als die Russen, und wenn sie wol-
len, können sie uns jeden Moment aus China hinaus-
werfen, wozu unsere Freunde, die Engländer, bereit-
willig die Hand bieten würden. — Aus diesen Grün-
den bedauere ich den völligen Mißerfolg der Russen,
so sehr ihnen sonst eine ordentliche Tracht Prügel
zu gönnen ist. Die Zustände in diesem Lande sind
doch zu verrottet.
Berlin, 12. März 1905.
— Wenn ich dies Friedensbild sehe, muß ich im-
mer an die armen Russen in der Mandschurei den-
ken, die zerstreut, geschlagen und verfolgt durch die
öden Berge irren oder verstümmelt in ihrem Blut lie-
gen. Die Niederlage muß entsetzlich gewesen sein.
Ich glaube nicht, daß die Armee als solche überhaupt
noch existiert. Der Zar sollte nur schleunigst Frieden
machen, Aussicht auf Erfolg hat er nicht mehr, das
ist sicher.
Berlin, 13. März 1905.
Die Russen scheinen den Krieg trotz aller Nieder-
lagen doch noch fortsetzen zu wollen. Ich halte sie
aber fast für unfähig dazu. Sie können nicht viel
Truppen mehr aus dem Lande ziehen, wo sie sie
brauchen, um überall die Unruhen niederzuhalten,
und ich bin überzeugt, daß mit dem Frühjahr die Un-
ruhen auch unter den Bauern anfangen werden, die
Moltke. 21. 321
dem Beispiel der Städte folgen werden. Bei der letz-
ten Niederlage bei Mukden haben sie den dritten Teil
ihrer Armee an Toten, Verwundeten und Gefange-
nen eingebüßt, gegen 150000 Mann und 60 Geschütze.
Berlin, 21. März 1905.
Ich habe im Generalstab jetzt eine andere Quartier-
meisterstelle als bisher. Ich wollte gern tauschen, und
bat Graf Schlieffen darum, der es sofort genehmigte.
Jetzt habe ich die Abteilungen, in denen Rußland, Ja-
pan, Frankreich, England, Österreich, Italien, Schweiz,
Türkei usw. bearbeitet werden, was ungleich interes-
santer ist als meine bisherige Stellung. So bekomme
ich alle Berichte aus erster Hand und die Nachrich-
ten aus der ganzen Welt.
Was aus dem russischen Feldzug werden soll, ist
mir ganz unklar. Es scheint wirklich, daß die Russen
den Krieg fortsetzen wollen. Menschen haben sie ja
genug, aber es wird allmählich knapp mit dem Gelde
werden, was nicht so leicht zu beschaff en ist. — Nach
ungefährer Schätzung müssen sie in ein bis zwei Mo-
naten mit ihrem Gelde fertig sein. Vorläufig befindet
sich die gesamte Armee in ununterbrochenem Rück-
zug, und die Japs sind immer feste hinterher. Zu einer
Vernichtung der Russen, oder selbst nur Gefangen-
nahme größerer Teile derselben, haben sie es aber
auch diesmal nicht gebracht.
Berlin, 31. März 1905.
Ich habe immer ein Gefühl der Beschämung als
Europäer, wenn ich mit diesen kleinen gelben Leu-
ten zusammenkomme, die seit ihren Erfolgen im
Kriege auf uns alle mit souveräner Verachtung her-
absehen. — Es scheint übrigens, als ob die Russen
jetzt Frieden machen wollen, es heißt, der Zar wäre
322
umgefallen, nachdem er eben erst aufs äußerste krie-
gerisch und zum äußersten entschlossen war. — Daß
Japan geneigt sein wird, unter billigen Bedingungen
Frieden zu machen, glaube ich gerne, es kann eigent-
lich kaum mehr erreichen, als es schon erreicht hat,
und wird mit seinen Geldmitteln wahrscheinlich ziem-
lich fertig sein.
Ich bin begierig, wie der Besuch des Kaisers in
Tanger ablaufen und was für Resultate er zwischen
Deutschland und Frankreich zeitigen wird. Die Stim-
mung in Frankreich ist ziemlich gereizt, wenn Ruß-
land nicht so elend am Boden läge, würde es sicher
mit Freuden die Gelegenheit als Casus belli ergreifen.
So ist es freilich immerhin etwas gewagt, jetzt mit
uns anzubinden, da aber Frankreich das Land der
Launen und Leidenschaften ist, kann man nie wis-
sen, wie sich dort die Dinge gestalten.
Berlin, 12. April 1905.
Neugierig bin ich, wie sich die Marokko-Sache zwi-
schen Frankreich und uns entwickeln wird. Daß sie
zu einem Säbelziehen ausarten wird, glaube ich nicht,
wenn auch von beiden Seiten etwas geschnaubt wird.
— Ebenso gespannt bin ich auf den Ausgang des rus-
sischen Argonautenzuges, ich habe jedes Vertrauen
zu einem glücklichen Ausgang für die Russen ver-
loren. Die dortigen Verhältnisse sind doch, wenn
man Näheres über sie erfährt, noch verrotteter, als
ich geglaubt hätte. — Da sind mir unsere Verhält-
nisse, soviel daran zu mäkeln ist, doch noch lieber.
S. M.Jacht »Hohenzollern«, 10. Juli 1905.
Ich habe eben dem Kaiser meine Manöveranlage
für das Kaisermanöver vorgetragen, mit der er ganz
einverstanden war und die er sehr hübsch und in-
323
teressant fand. — Ich bin sehr froh, daß alles gut ein-
geleitet ist, und habe die verwegene Hoffnung, daß
es gelingen wird, einmal ein kriegsmäßiges Manöver
ohne gewaltsame Eingriffe und ohne unnatürliche
Kavallerieschlachten usw. zu machen. — Gelingt mir
dies, so habe ich nicht umsonst gelebt. Übrigens
würde ich keinen Moment zögern, meine Person der
Sache wegen einzusetzen, wenn es nötig werden
sollte. Ich hoffe aber, daß alles gut gehen wird. Der
Kaiser wollte augenscheinlich mir in allem entgegen-
kommen und war überaus gnädig und zufrieden. Da-
mit ist mir eine Besorgnis, die ziemlich schwer auf
mir lag, abgenommen, und ich habe Hoffnung und
Vertrauen. — Ich weiß, daß wenn es mir gelingt, den
Kaiser von unmilitärischen Unnatürlichkeiten abzu-
halten, ich der Armee einen großen Dienst erweise,
und nicht bloß ihr, sondern auch Sr. Majestät selber.
Das ist ein Ziel, das wohl des Strebens wert ist, und
neben dessen Erreichung die Person des einzelnen
nicht ins Gewicht fallen kann.
Schweden, Hernösand, i8.Juli 1905.
Die norwegische Krise scheint sich dahin aufzu-
lösen, daß Prinz Karl von Dänemark als Prätendent
kandidieren wird, da der König von Schweden kei-
nen Prinzen geben will. Damit würde der englische
Einfluß in Norwegen dominierend werden, da der
Prinz ein Schwiegersohn König Eduards ist. Ob die
Norweger ihn wollen, weiß ich nicht, ich glaube aber,
daß der Ehrgeiz dieses Volkes dahin geht, einen eige-
nen König zu haben. Ein Wiederzusammenschluß
mit Schweden scheint mir ganz ausgeschlossen. Auch
diese Angelegenheit ist ein Teil des großen Unsiche-
ren und Ungewissen, das rings umher aufsteigt. Wer
doch in die Zukunft sehen könnte, und doch, man
324
würde sie vielleicht ebensowenig verstehen, wie man
die Gegenwart versteht, die auch meistens erst klar
wird, wenn sie Vergangenheit geworden ist.
S. M.Jacht »Höh enzol lern«, 21. Juli 1905.
Der Kaiser will mich absolut zum Chef des Ge-
neralstabs machen, gleich nach dem Manöver. Ich
habe ihm geraten, erst das Resultat des Manövers ab-
zuwarten, um zu sehen, ob es überhaupt mit uns bei-
den ginge. Ich werde meinem Geschick wohl nicht
mehr entgehen. — Der Kaiser wollte heute, ich sollte
bei der Enthüllung von Onkel Helmuths Denkmal
diesen Herbst die Rede halten, ich habe ihm aber
gesagt, daß er das dem alten Schlief fen nicht antun
könne, und er ging dann auch darauf ein, ihn noch
so lange in seiner Stellung zu belassen. Ich habe nur
zu tun, daß er ihn nicht Hals über Kopf fortschickt,
was gegen den verdienten General sehr unrecht wäre.
Schweden, Wisby, 26. Juli 1905.
Wir kamen um 7 Uhr hier an, direkt von Björkö
im Finnischen Meerbusen, wo wir das Rendezvous
mit dem Kaiser von Rußland hatten. — Wie wir aus
Hernösand abfuhren, wußten wir nichts anderes, als
daß wir nach Gotland steuern sollten. Wir waren
aber, wie wir morgens erwachten, auf offenem Meer,
und merkten bald, da wir östlich Kurs liefen, daß wir
nicht auf dem Wege nach Gotland seien. Über das
Ziel unserer Fahrt wurde aber tiefstes Schweigen be-
obachtet. Stunde um Stunde verging, und noch im-
mer fuhren wir mit achtzehn Knoten Geschwindig-
keit nach Osten. Da wurde es uns allmählich klar,
daß wir in den Finnischen Meerbusen fahren muß-
ten, sonst hätten wir längst eine Küste erreichen müs-
sen. Unsere Spannung wuchs dauernd im Laufe des
325
Tages. Alle möglichen Kombinationen wurden laut,
aber wir erhielten keine Aufklärung. Es wurde Nach-
mittag, noch immer kein Land in Sicht, und immer
der Kurs nach Osten. — Plötzlich kam ein Schiff in
Sicht, ein Kriegsschiff, das salutierte, es führte die
russische Flagge. Nun wurde unsere Vermutung zur
Gewißheit, wohin wir aber fuhren, ahnte keiner von
uns. Der Kaiser war undurchdringlich geheimnisvoll.
Die Seeoffiziere hatten strenge Order, keine Auskunft
zu geben. — Um 6 Uhr, wie wir alle im Salon saßen
und hin und her rieten, ob Reval, ob Riga, ob Kron-
stadt, kam der Kaiser herein und sagte : »Nun, Kinder,
macht euren Paradeanzug in Ordnung, in zwei Stunden
steht ihr vor dem Kaiser von Rußland«. — Kein Mensch
sagte ein Wort, wir waren wie erschlagen, Totenstille
im ganzen Raum. Keiner von uns ahnte die Motive
dieses plötzlichen und so geheimnisvoll eingeleiteten
Besuchs, wir alle aber empfanden die ungeheure po-
litische Wichtigkeit der kommenden Stunden, deren
Folgen niemand berechnen konnte. — Um 9 Uhr lie-
fen wir in eine Bucht ein, flache einsame Ufer, mit
dürftigen Tannen bestanden, felsige Höhen dahinter,
keine menschliche Wohnung, soweit das Auge reichte,
kein lebendes Wesen, grauer Himmel, graues Was-
ser und eine unendliche Einsamkeit. Vor uns im her-
absinkenden Dunkel ein mächtiges dunkles Schiff,
der »Polarstern« mit dem Zaren an Bord. Wir gingen
in geringer Entfernung von ihm vor Anker, die Boote
wurden zu Wasser gelassen, und der Kaiser fuhr hin-
über. Bald darauf wurde nach uns geschickt, wir soll-
ten alle hinüberkommen. Wenige Minuten später
standen wir auf dem Deck des »Polarstern« und wur-
den von dem Kaiser dem Zaren vorgestellt. Er sah
ernst, aber nicht gebrochen aus, wie er so oft ge-
schildert worden ist. Uns alle redete er auf deutsch
326
an, mir sagte er: »Es ist mir eine große Freude, Sie
wiederzusehen«. — Sobald die Vorstellung beendet
war, fuhren wir wieder auf die »Hohenzollern«, wo-
hin kurz darauf auch die beiden Monarchen mit dem
russischen Gefolge kamen. Dann wurde auf der
»Hohenzollern« diniert. Ich war ganz erstaunt über
den Zaren. Je länger wir bei Tisch saßen, desto mehr
taute er auf, zuletzt war er ganz vergnügt, lachte und
unterhielt sich lebhaft, man merkte ihm deutlich an,
daß er sich wohl fühlte in einer Umgebung, in der
er sicher war. Er sowohl wie alle Herren seines Ge-
folges waren von ausgesuchter Liebenswürdigkeit,
alle sprachen auf einmal deutsch, sie waren gar nicht
wiederzuerkennen. Nach Tische unterhielt sich der
Zar lange mit jedem einzelnen von uns. Er sprach
ganz fließend deutsch, wann und wie er das gelernt
hat, ist mir ein Rätsel. — Es war 3 Uhr nachts, wie er
mit seinen Herren auf den »Polarstern« zurückfuhr.
Wie wir am nächsten Morgen erwachten, hatten
sich um uns herum sechs bis acht russische Tor-
pedoboote eingefunden, die dauernd patrouillierten.
— Der Kaiser fuhr um 9 Uhr alleine auf den »Polar-
stern« zum Frühstück, um 11 Uhr mit dem Zaren auf
den Kreuzer »Berlin«, unser Begleitschiff, und um
i Uhr waren wir alle zum Frühstück auf den »Polar-
stern« befohlen. Wir wurden wiederum mit ausge-
zeichneter Liebenswürdigkeit empfangen — Der Bru-
der des Zaren, Großfürst Michael, hatte ihn begleitet,
sonst waren mit ihm der Hof marschall Graf Bencken-
dorff, der General Frederiks, der alte Leibarzt Dr.
Hirsch, ein prächtiger alter Herr, Deutschrusse, sie-
benundsiebzig Jahre alt, aber ganz rüstig, der Ma-
rineminister Birilew, der Generalgouverneur von
Finnland, Fürst Obolenski, und einige Flügeladju-
tanten von der Marine. — Beim Frühstück saß ich
327
neben dem Dr. Hirsch, der sich sehr offen aussprach.
Er sagte, es sei eine große Freude für den Zaren ge-
wesen, zu sehen, daß sich in seinem Unglück noch
jemand um ihn bekümmere, und man könne unse-
rem Kaiser nicht dankbar genug für diesen Freund-
schaftsbeweis sein. — Der Zar habe alle Unglücks-
fälle standhaft und ruhig ertragen, seine Gesundheit
sei gut und seine Nerven vollkommen in Ordnung.
Mit großer Verachtung sprach der alte Herr von der
Umgebung seines Monarchen. »Sie können sich den-
ken,« sagte er, »daß es für den Zaren eine wahre Er-
holung sein muß, sich in einem Kreise anständiger
Menschen zu fühlen. Sehen Sie doch seine Umge-
bung an, keine Intelligenz, alle unter Mittelmäßigkeit,
kein Herz und Gefühl.« — Im Verkehr zwischen den
beiden Kaisern herrschte eine große Herzlichkeit, un-
ser Kaiser erzählte uns nachher, der Zar sei ihm, wie
sie alleine gewesen, wiederholt um den Hals gefallen
und habe ihn umarmt und geküßt. — Unter allen rus-
sischen Herren herrschte eine unglaubliche Energie-
losigkeit in bezug auf den Krieg. Keiner kam über
den Gedanken hinaus, daß man abwarten müsse, was
die Japaner weiter unternehmen würden, keine Spur
von Offensivgeist. Auf die Frage, ob die Russen,
wenn die Armee nun, wie behauptet wurde, wieder
ganz retabliert sei, nicht die Japaner angreifen und
werfen würden, wurde erwidert, das sei nicht mög-
lich, denn beide Heere hätten so feste Stellungen
inne, daß der Teil, der angreifen werde, unfehlbar ab-
geschlagen werden würde. Was denn nun werden
solle, wenn die Japaner auch ihrerseits nicht angrif-
fen? Dann würde der Krieg so lange dauern, bis Ja-
pan erschöpft sei. — Über die innerpolitischen Ver-
hältnisse waren die Meinungen im ganzen sehr opti-
mistisch, Rußland habe schon wiederholt dergleichen
328
Krisen durchgemacht und habe sie immer glücklich
überwunden, so zum Beispiel nach dem Krimkriege.
Im Jahre 1858 seien die Verhältnisse genau so gewe-
sen wie heute. Dies bestätigt in der Tat ein Brief Bis-
marcks, den er damals als Gesandter von Petersburg
aus an den Minister Schleinitz schrieb, und der in
dem letzten Heft der »Preußischen Jahrbücher« mit-
geteilt wird. Man könnte glauben, der Brief sei heute
geschrieben. Bismarck ist schon damals der Ansicht,
der Zusammenbruch Rußlands sei unvermeidlich, er
hat sich geirrt. — Heute ist allerdings die Aufklärung
mehr vorgeschritten und die internationale revolutio-
näre Propaganda ist organisiert, die Bomben spielen
ihre Rolle und breitere Schichten des Volkes sind
von Freiheitsideen durchdrungen. Der Zar scheint
dem Frieden zuzuneigen. Gebe Gott, daß er bald zu-
stande kommt und wir wieder in ruhigere Zeiten kom-
men, damit endlich die drohende Brandfackel eines
allgemeinen europäischen Mordkrieges vom Horizont
verschwinde. — Ich kann mir denken, wie die Zeitun-
gen diese neueste kaiserliche Überraschung hin und
her zerren werden. Stoff genug für mehrere Monate
zu den ausschweifendsten Kombinationen! Auf den
Gedanken des rein menschlichen Empfindens, den
Wunsch, einem gedemütigten und vom Unglück er-
drückten Monarchen einen Beweis der Teilnahme zu
geben, ihm Mut zuzusprechen, vielleicht auch zum
Frieden zuzureden, ihm vorzustellen, wie nötig es für
Rußland sei, Recht und Gerechtigkeit dem Volk zu
geben, wird wohl keiner der Zeitungsschreiber und
Artikelschmiede kommen.
Diesen Abend und den folgenden Tag werde ich
nie vergessen. Das Ganze war zu eigenartig, fast mär-
chenhaft. Die bedeutsame Begegnung, die umgewan-
delte Stimmung der früher so hochmütigen Russen,
329
die graue Einsamkeit, die weltferne Bucht, ein Auf-
flackern der Dankbarkeit bei dem Herrscher, der vor
Jahr und Tag das stolze Wort sprach: »Man greift
Rußland nicht an, es ist kein Staat, dem man den
Krieg erklärt, es ist ein Kontinent« — und deT nun mit
suchender Hand nach dem festen Stab Deutschlands
greift, — das alles machte einen tief ergreifenden Ein-
druck. — Und dann am Nachmittag des zweiten Ta-
ges Abschied, Salut, Umarmung, Dank und abermals
Dank, daß Du gekommen! — Die Schiffe dampfen
langsam an, fahren eine Zeitlang nebeneinander her,
die Kaiser stehen auf Deck, winken und grüßen, die
Klänge der russischen Nationalhymne und das »Heil
Dir im Siegeskranz« mischen sich, die Matrosen ru-
fen ihre Hurras hinüber und herüber, dann dreht der
»Polarstern« nach Norden, wir nach Westen, noch ein-
mal werden Signale getauscht: Glückliche Reise! —
dann verschwindet das mächtige, dunkle Zarenschiff
allmählich unseren Augen und taucht in die graue,
neblige Ferne, während wir dem offenen Meere zu-
steuern. Die Entrevue ist vorüber und vor uns steht
riesengroß und dunkel wie die Sphinx die Frage:
Was wird die Folge dieser Stunden sein?
Wie anders ist diese Reise, als die Fahrten in den
norwegischen Fjorden. Wir suchen diesmal nicht die
Stille der Gletscherwelt und der hellen Nächte. Wir
fahren umher und drehen das Seil der Politik, dessen
Ende sich im Finstern der Zukunft verliert und das
unser Vaterland mit seinen sechzig Millionen Men-
schen dem Unbekannten entgegenführen wird. Gebe
Gott, daß es zu seinem Heil ist.
Dan zig, 30. Juli 1905.
Die Mißstimmung zwischen Deutschland und Eng-
land verschärft sich leider in einer bedrohlichen
330
"Weise. Der von England annoncierte Besuch der Ka-
nalflotte in der Ostsee ist nicht anders als eine De-
monstration aufzufassen. Wie diese Angelegenheiten
auslaufen und sich entwirren sollen, weiß ich nicht.
Es wird von englischer Seite in der unglaublichsten
Weise gehetzt, die scheußlichsten Lügen werden in
die Welt gesetzt und Deutschland als der böse Geist
der ganzen Welt dargestellt. Der erste Schuß, der zwi-
schen England und Deutschland gewechselt wird,
wird sicher das Signal zu einem allgemeinen europäi-
schen Massaker werden, an dessen Greuel man nur
mit Schauder denken kann. Und dabei liegt absolut
kein eigentlicher Grund vor, kein vitales Interesse
eines der beiden Staaten ist bedroht oder verletzt
und wenn es zum Schlagen kommt, wird niemand
wissen, weswegen es so weit gekommen ist. — Die
Zukunft steht dunkel vor uns. Möge Deutschland die
Kraft haben, auch schwere Zeiten zu ertragen.
S.M.Jacht »Hohenzollern«, 3. August 1905.
Wie Du weißt, begleitete ich den Kaiser nach Bern-
storff. Der alte König war wie immer von einer rüh-
renden Liebenswürdigkeit, er war frisch und munter,
von unverminderter Elastizität und Rüstigkeit. Außer
ihm waren anwesend der Kronprinz, der Dich sehr
grüßen läßt, mit Frau und allen Kindern. Unter diesen
interessierte der Prinz Karl am meisten wegen seiner
Kandidatur auf Norwegen und seine Gemahlin Maud
von England. Er ist ein sehr gut aussehender schlan-
ker Mensch. — Dann Prinz Harald, den der Kaiser
zu den Manövern eingeladen hat. — Der Prinz und
Prinzessin Waldemar mit ihren fünf Kindern. Alle
Herrschaften sind von ausgesuchter Liebenswürdig-
keit. Ich glaube, man findet auf der Welt keinen zwei-
ten Hof von gleicher natürlicher Menschlichkeit und
33i
Freundlichkeit, von einer so wohltuenden, vornehmen
Atmosphäre. Kaiser und König waren gegenseitig
sehr befriedigt voneinander. Gestern abend war ein
Diner bei unserem Gesandten Schön. Der Kaiser war
in strahlender Laune. Wir kamen erst gegen 12 Uhr
an Bord zurück. Heute morgen 10 Uhr sind wir in
See gegangen und fahren jetzt bei Sonnenschein und
stillem Wetter durch den Sund nach Saßnitz.
Saßnitz, 3. August 1905.
Daß wir in ernsten politischen Zeiten leben, ist ge-
wiß. Man braucht ja nicht gleich das Schlimmste zu
befürchten, aber Zündstoff genug ist da, darin hast Du
ganz recht. — Das Schlimmste für uns ist die Eifer-
sucht Englands auf unseren aufstrebenden Handel
und unsere industrielle Entwicklung. Wenn man die
englischen Zeitungen einsieht, erschrickt man vor der
systematischen und gehässigen Deutschenhetze, die
durch die Blätter aller Parteien geht. Die Presse ist
geradezu blutdürstig und möchte uns am liebsten mit
Stumpf und Stiel ausrotten, um unbeschränkt die
Welt beherrschen und ausbeuten zu können. Diese
Zeitungsschreiber und Schreier richten viel Unheil
an und spielen gewissenlos mit dem Feuer. Wenn's
zum Schlagen kommt, brauchen sie ihre Haut frei-
lich nicht zu Markte zu tragen, bleiben hübsch da-
heim, tauchen die Feder in Gift und Galle und lassen
die anderen sich totschlagen.
Saßnitz, 5. August 1905.
Ich werde wohl erst am 8. oder g. nach Berlin zu-
rückkommen, da ich noch einen Tag nach Norder-
ney muß, wo ich einen kaiserlichen Auftrag an Bü-
low auszurichten habe.
332
Berlin, 9. August 1995.
Heute bin ich im Generalstab gewesen, habe aber
den Grafen Schlief fen nicht gesehen, der am heuti-
gen Morgen beim Reiten im Tiergarten von dem
Pferde eines Bereiters beim Vorbeireiten einen Schlag
gegen das Schienbein erhalten hat, der den Stiefel
durchschlagen und eine mehrere Zentimeter lange
Wunde hinterlassen hat. Es ist ein Glück, daß der
Knochen nicht zerschlagen ist, so daß die Sache
wohl in nicht allzulanger Zeit überstanden sein wird.
Der alte Herr mußte die Treppe hinaufgetragen wer-
den, da er nicht mehr gehen konnte.
Berlin, 10. August 1905.
Die politische Situation scheint sich in letzter Zeit
etwas geklärt zu haben. Der Versuch, eine Zusam-
menkunft zwischen König Eduard und dem Kaiser
herbeizuführen, ist von englischer Seite ausgegan-
gen. Nachdem der unzweifelhaft gehegte Plan, Frank-
reich in einen Konflikt mit Deutschland zu bringen,
an der Unlust der Franzosen zum Kriege gescheitert
ist, werden nun in England die Friedensschalmeien
geblasen. Die guten Engländer hätten gar zu gerne
als Tertius gaudens im Trüben gefischt. Während
Deutschland und Frankreich sich die Köpfe einge-
schlagen, hätten sie in aller Gemütsruhe unseren ge-
fährlichen Handel ruiniert, vielleicht unsere kleine
Flotte vernichtet und unsere afrikanischen Kolonien
eingesteckt, um ihren Plan eines neuen südafrikani-
schen Weltreichs unter britischer Flagge zu verwirk-
lichen. Die Sache war nicht übel ausgedacht und
der gefällige Gefolgsmann Englands, M. Delcasse,
war im besten Zuge sie zu verwirklichen, bis die
Franzosen infolge des deutschen Einspruchs in der
333
Marokko -Angelegenheit mit einemmal erkannten,
daß sie benutzt werden sollten, den Engländern die
Kastanien aus dem Feuer zu holen, und daß sie,
wenn die Sache schief ging, alleine die Zeche zu
bezahlen haben würden. Mit dem Sturz Delcasses
fingen die schönen Pläne an zu zerfließen, denn
die Franzosen wollen keinen Krieg, in dem sie es
alleine mit Deutschland zu tun haben. Die russi-
sche Hilfe, auf die sie seit Jahren gerechnet haben,
versagt wegen der russischen Schwäche. So ist Eng-
land auf sich alleine angewiesen und findet nun auf
einmal, daß eigentlich gar kein Grund vorliegt, sich
mit dem deutschen Vetter zu zanken! So liegen die
Sachen, und es ist das unbestreitbare Verdienst Bü-
lows, das Gewebe, das sich um Deutschland spann,
erkannt und mit kräftigem Griff zerrissen zu haben.
Die Marokko-Sache, die bei uns vielleicht kaum be-
griffen wurde, war die Staroperation für Frankreich.
Das deutsche Volk ahnt aber gar nicht, wie nahe das
Verhängnis über seinem Haupte schwebte.
Berlin, u. August 1905.
Dem alten Schlieffen geht es verhältnismäßig gut.
Er muß aber noch längere Zeit liegen, da der Bein-
knochen leicht angeknaxt ist. Zum Glück war das
Pferd, das ihn schlug, hinten nicht beschlagen, sonst
wäre fraglos der Knochen zersplittert worden. Das
Manöver wird er wohl nicht mitmachen können. —
Ich habe für die Kavallerie-Aufklärungsübung in
Preußen ein Automobil gestellt bekommen. Für die
Manöver haben wir einige vierzig Maschinen zur
Verfügung, die auf die Korps und Divisionen verteilt
werden, so daß wir mit ganz modernen Hilfsmitteln
arbeiten können.
334
Berlin, 12. August 1905.
Anliegendes Telegramm* bekam ich heute vom
Kaiser. Du kannst aus demselben sehen, daß ich
wieder einmal etwas habe in die Reihe bringen müs-
sen, es ist aber nett von ihm, daß er mir Mitteilung
macht.
Berlin, 21. August 1905.
Graf Schlieffen ist nun auf die Chaiselongue
übergesiedelt, wie mir der Adjutant sagt. Er läßt
niemanden vor, so daß auch ich ihn noch nicht ge-
sehen habe.
Onkel Helmuths Bildsäule ist nun aufgestellt. Er
steht da in ein großes Laken gehüllt wie in ein Sterbe-
laken. An der äußeren Umgebung werden anschei-
nend allerlei Allotria gemacht, ohne die unsere mo-
derne Bildnerei nun einmal nicht mehr schaffen kann.
Die Figur selbst ist einfach und ohne Brimborium,
ohne Genius der Kriegskunst und sonstige Götter ge-
halten. Das ist wenigstens etwas.
Mit den Friedensverhandlungen in Portsmouth
sieht es schlecht aus. Die Russen wollen nicht zah-
len, weil sie nicht können, und Japan will absolut
Münze haben, da es selber fast bankerott ist. Ich glaube
fast, es geht noch einmal wieder los, die Russen ver-
stärken ihr Heer in der Mandschurei dauernd und
schicken jetzt wieder drei neue Korps hinaus, womit
sie ihre Armee auf fünfhunderttausend Mann brin-
gen.— Das Manifest des Zaren ist für die Konservati-
ven zu viel, für die Freiheitshoffer zu wenig. Immer-
hin ein Anfang. Es ist nicht unmöglich, daß sich die
einzuberufende Duma in derselben Weise mausert,
wie dazumal die Nationalversammlung in Paris. Eine
• Der Kaiser dankt Moltke für seine Bemühungen. (Der Herausgeber.)
335
feste Hand wird jedenfalls dazu gehören, diesen rie-
sigen Staatskörper zu leiten, wenn er in abschüssige
Bahnen gerät. Nicki wird sie wohl nicht haben! —
Der freundnachbarliche Besuch der englischen Flotte
in der Ostsee steht uns bevor. Hoffentlich behalten
wir kaltes Blut von oben bis unten, zwar ist meine
Hoffnung darauf minimal. Ein Regierungskommu-
niqu6, das den Deutschen Verhaltungsmaßregeln vor-
schreibt und ihnen wohlanständiges Benehmen an-
empfiehlt, ist gut gemeint, wird aber an der politi-
schen und Bildungsunreife unseres Volkes spurlos
vorübergehen. Unsere leider so ganz ungebildete
Presse wird wohl Orgien feiern.
Berlin, 22. August 1905.
Ich mache die Übungen J. P. Müllers gewissenshaft
jeden Morgen, und sie bekommen mir ausgezeichnet.
Dieser Müller würde ein Segen für die Menschheit
sein und zahllosen Ärzten das Handwerk legen, wenn
er allgemein befolgt würde. Aber dazu sind die mei-
sten Menschen wieder zu bequem, sie lassen es gehen,
solange es geht, und wenn der vernachlässigte Kör-
per sich rächt und krank wird, dann müssen Medizin
und Bäder heran, um die Symptome zu bekämpfen,
während das Grundübel unbeachtet bleibt. —
Die japanisch-russischen Friedensverhandlungen
scheinen sich endgültig zu zerschlagen, und bald wird
das Gemetzel in der Mandschurei wohl wieder an-
fangen. — In der allgemeinen politischen Stimmung
hat sich bei uns und um uns nichts geändert. Alle
anderen Nationen sind ziemlich einstimmig darin, auf
Deutschland zu schimpfen und die ausgestunkensten
Lügen über uns in die Welt zu setzen. Ich glaube,
nichts würde eine so allgemeine Weltfreude zu er-
regen imstande sein, als wenn Deutschland gehörig
336
verhauen würde. Alles behauptet, daß wir der Stören-
fried seien, und niemand sieht ein, daß Deutschland
nichts weiter will, als in Ruhe gelassen werden.
Berlin, 25. August 1905.
Ich gehe schon am 6. September, morgens, nach
Homburg, wo der Kaiser am 7. früh eintrifft. Am 8. ist
dort die Parade des XVIII. Korps. Am 10. bin ich in Ko-
blenz, wo die Parade des VIII. Korps am 11. ist. Am
13., 14. und 15. sind die Manöver. Wahrscheinlich wird
sich die zweite Generalstabsreise unmittelbar an das
beendete Manöver anschließen. Das hängt davon ab,
ob Graf Schlieffen bis dahin wieder felddienstfähig
ist, was ich glauben möchte, da er schon wieder auf
ist und im Stuhl sitzt. Gesehen habe ich ihn noch
nicht, er läßt außer seinen Adjutanten niemanden vor.
— Am nächsten Sonntag ist hier große Fahnennage-
lung im Zeughaus. Wir meinen noch immer, daß wir
in einem Kampf auf Leben und Tod den Sieg mit
einem Lappen gestickten Tuches erringen werden!
Wir sind in einer schrecklich friedensmäßigen An-
schauung befangen, es graut mich, wenn ich all die-
sen Unfug mit ansehe, über dem die Hauptsache, sich
ernsthaft und mit bitterlicher Energie auf den Krieg
vorzubereiten, völlig vergessen wird. — Da werden
den Leuten bunte Schnüre als Schützenabzeichen an-
gehängt, die sie nur in der Handhabung des Gewehrs
hindern, durch alle möglichen äußeren Auszeichnun-
gen wird der Ehrgeiz angeregt, statt das Pflichtgefühl
zu entwickeln, die Uniformen werden immer glän-
zender, statt feldmäßig unscheinbar gestaltet zu wer-
den, die Übungen werden zu parademäßigen Theater-
stücken, dekorativ ist die Losung des Tages, und hin-
ter all diesem Firlefanz grinst das Gorgonenhaupt
Moltke. 22. 337
des Krieges hervor, der über uns hängt wie eine Wet-
terwolke. Und keine Einsicht und keine Umkehr auf
diesem Wege, es wird nur immer schlimmer. —
Ich traf heute ... im Tiergarten, der schrecklich
nervös herunter und fast fertig ist. Er klagte, daß es
kaum mehr zum Aushalten sei. Ja, er hat viele Lei-
densgefährten. Wieviel guter Wille ist da bei so vielen,
und wie schwer wird es jedem gemacht, der gerne
sein bestes Können einsetzen möchte und der nie
mit Freuden Ja sagen kann. Wir alle leben unter ei-
nem dumpfen Druck, der die Schaffensfreude ertötet,
und kaum jemals kann man etwas beginnen, ohne die
innere Stimme zu hören: Wozu, es ist ja doch ver-
gebens. — Nun aber genug mit diesem Jeremiasbrief .
Das sind Wolken, die vergehen, und die Sonne steht
doch am Himmel, und sie ist der Glaube an die Zu-
kunft unseres Volkes und Vaterlandes. —
Was Du über die Notwendigkeit eines gesunden
Seelenlebens sagst, ist gewiß richtig. Leider sind wir
äußerst weit von einem solchen entfernt. Der Lateiner
hat das Sprichwort: »Mens sana in corpore sano«,
das heißt: »Ein gesunder Geist in einem gesunden
Körper«. Wo beides zusammentrifft, ist das höchste
erreicht. Ich finde, wir sollen nur immer mit dem
Körper anfangen, und es scheint mir, daß Müller ein
guter Wegweiser dazu ist.
Berlin, 31. August 1905.
Graf Schlief fen kann noch immer nicht wieder
gehen. Er wird das Manöver nicht mitmachen. Es ist
ja gut, daß ich es in diesem Jahr angelegt habe. Ge-
sehen habe ich ihn noch immer nicht. Die Abtei-
lungschefs kommen nun mit allen Vorträgen und
Unterschriftsachen zu mir, so daß ich dauernd in
Anspruch genommen bin.
338
Berlin, i. September 1905.
Ich bin heute zum ersten Male bei Schlieffen ge-
wesen. Er lag auf dem Sofa und sah miserabel aus.
Die Sache ist doch nicht unbedenklich, er hat gestern
einen neuen Gipsverband bekommen, der vom Ober-
schenkel an das ganze Bein heruntergeht. Er klagte
über die Qual eines so festgenagelten Beines. — Seine
Stimmung war ziemlich deprimiert, er sprach mit
mir über seinen Abschied, wollte gleich gehen, ich
habe versucht, ihm Mut zuzureden, und wie ich ihn
verließ, schien er mir etwas getröstet. Ich war fast
zwei Stunden bei ihm, und zuletzt waren wir beide
sehr nett gegeneinander. Der alte Herr tut mir doch
leid, er hängt mit allen Fasern seines Denkens an
seiner Stellung, und da muß es allerdings nicht leicht
sein, sie aufzugeben. Übrigens sagte er mir, er hätte
sowieso nicht mehr lange bleiben können, denn seine
Augen und Ohren würden zu schlecht.
Berlin, 3. September 1905.
Du fragst, ob der Friede halten wird? Das ist schwer
zu beantworten. Alle Vorbedingungen für einen neuen
Ausbruch der Feindseligkeiten sind gegeben, aber ei-
nige Jahre lang wird es wohl dauern. — Die Teilung
der Insel Sachalin ist recht bedenklich, ebenso die
Teilung der Mandschurischen Bahn, von der von nun
ab jeder Staat seinen Teil bewachen soll. Streitpunkte
wird es viele geben. Zum Wiederausbruch der Feind-
seligkeiten wird auch die Stimmung in Japan drän-
gen. Das Land ist mit den milden Bedingungen des
Friedens nicht zufrieden, es soll eine sehr tiefgehende
Mißstimmung herrschen. Daß Japan in allen Forde-
rungen nachgegeben hat, ist ein Beweis dafür, daß
es mit seinen Leistungen dicht am Schluß angekom-
339
men war, es konnte eben nicht weiter kriegen, wohl
hauptsächlich aus Mangel an Geld, und ich glaube,
ein taktischer Erfolg der Russen im Felde hätte ge-
nügt, um die ganze Situation umzuwerfen. Daß die
Russen sich zu einer energischen Anstrengung nicht
aufraffen konnten, war ein Glück für Japan. Die hoch-
mütige Eingebildetheit der Russen, die jetzt bereits
erklären, sie hätten zwar etwas Unglück gehabt, aber
geschlagen wären sie nicht, hat sich bei den Frie-
densverhandlungen in schönstem Licht gezeigt, hat
aber diesmal einen guten Erfolg gehabt, sie scheint
ein Bluff für die Japaner gewesen zu sein. — Welche
weiteren Folgen der Friedensschluß in der großen
internationalen Politik haben wird, ist wohl kaum
schon jetzt zu übersehen. England scheint mir den
größten Nutzen aus der Sache zu ziehen. Wie ge-
wöhnlich, wenn sich zwei Völker die Köpfe ein-
schlagen, hat es still im Hintergrund gestanden,
um seinen Vorteil abzupassen. Nach dem neuen
Bündnisvertrag mit Japan hat England sich die Bei-
hilfe der Japaner für den Fall gesichert, daß es in In-
dien angegriffen werden sollte. Damit hat es eine er-
hebliche Sicherung für diese seine Achillesferse er-
reicht und würde mit vielem Vergnügen sehen, wie
die Japaner sich für es totschießen lassen, während
England nur einige Schiffe und einiges Geld zu der
Sache beizusteuern brauchte. Die Gegenleistung soll
angeblich in einer englischen Hilfe bestehen, wenn
die Errungenschaften Japans aus dem russischen
Kriege bedroht werden sollten. Daß Rußland das ein-
zige Land ist, das dies unternehmen könnte, daß es
aber auf lange Jahre hinaus dazu nicht in der Lage
sein wird, wissen die Engländer nur zu gut. — Es
wird also gute Weile haben, bis ihr Teil des gemein-
sam ausgestellten Wechsels eingeklagt werden wird.
340
— Im übrigen kann man sich ja nur darüber freuen,
daß der Krieg zu Ende ist. — Ich glaube aber, daß
die inneren Schwierigkeiten in Rußland jetzt noch
viel größer und sich nun erst entfalten werden. Der
Krieg, den das Zarentum gegen den Freiheitsdrang
seiner Untertanen, zunächst gegen die Vorläufer
durchgreifender Reformen, die Räuber- und Mörder-
banden der Umsturzparteien zu führen haben wird,
wird viel erbitterter werden als der Krieg gegen die
Gelben.
KABINETTSORDER.
Am Schluß der von Mir abgehaltenen Manöver, deren Leitung
Ich Ihnen in vollem Vertrauen zu Ihren Fähigkeiten zum ersten
Male übertragen habe, nehme ich gerne Veranlassung, Ihnen
Meine lebhafte Anerkennung für die kriegsgemäße Anlage und
den belehrenden Verlauf der Übungen auszusprechen. Ich wün-
sche Ihnen Meinen Dank hierfür und Meine gnädige Wohlge-
neigtheit dadurch zu betätigen, daß Ich Ihnen den Roten-Adler-
Orden i. Klasse mit Eichenlaub und der Königlichen Krone ver-
leihe, dessen Insignien Ich Ihnen hiermit zugehen lasse.
Koblenz, den 15. September 1905.
Wilhelm R.
An Meinen Generaladjutanten, Generalleutnant v. Moltke,
Generalquartiermeister.
Berlin, 16. September 1905.
Ich habe mit den Manövern viel Glück gehabt. Sie
werden wohl entscheidend auf mein ferneres Ge-
schick einwirken. Der Kaiser hat alles getan, was ich
in der Sache verlangen zu müssen glaubte; er hat
nicht selber geführt, obgleich es ihm bitterlich schwer
geworden ist, er hat nicht gewaltsam in den Gang
der Gefechte eingegriffen, und es ist jede Unnatür-
lichkeit damit vermieden worden. Ich habe manchen
Strauß mit ihm durchgefochten, aber immer habe ich
34i
in ihm den gleich gütigen Herrn gefunden, und
niemals hat er mir es nachgetragen, wenn ich ihm
freimütig entgegentrat. Ich würde nach diesen Er-
fahrungen beruhigter der Zukunft entgegensehen,
wenn ich nicht genau wüßte, daß die Hauptschwie-
rigkeiten für mich erst beginnen werden, wenn ich
definitiv die Stellung übernommen habe, die der Kai-
ser mir zugedacht hat. Bisher war ich ihm ein un-
sicherer Kantonist, der immer auf dem Sprung stand,
ihm auszubrechen, mit dem Amt aber wird mir
die Kette angelegt, an der meine Überzeugungen
sich wundscheuern und -zerren werden, und es ist
schwer, eine Fessel zu brechen, die man sich frei-
willig hat anlegen lassen. — Der Kaiser hat mir ei-
nen sehr hohen Orden verliehen, der mir ziemlich
gleichgültig sein würde, aber er hat, entgegen allem
Gebrauch, die Verleihung mit einer Kabinettsorder
verbunden.
Wie das Manöver schloß, rief mich der Kaiser her-
an, gab mir die Hand und sagte mir: »Es ist mir ein
Bedürfnis, Ihnen zu danken. Es ist das keine Redens-
art, es ist aufrichtig gemeint. Ich habe noch nie so
interessante und so wirklich kriegsmäßige Manöver
gehabt wie diesmal. Ich hätte gerne in meiner Be-
sprechung Ihnen diesen Dank zum Ausdruck ge-
bracht, aber ich fürchtete, es würde Ihnen nicht an-
genehm sein.«
Ich sagte dann dem Kaiser: »Ich danke Ew. Maje-
stät, daß Sie meiner keine Erwähnung getan haben,
denn es liegt nichts an der Persönlichkeit. Wenn aber
Ew. Majestät sagen, daß die Manöver kriegsmäßig
verlaufen sind, so ist dies nur dadurch ermöglicht
worden, daß Ew. Majestät mir volle Freiheit gelas-
sen, daß Sie mich in allen meinen Ansichten unter-
342
stützt und daß Ew. Majestät sich jeden Eingriffs in
den Gang derselben enthalten haben.«
Schweden, Tulesbo, 28. September 1905.
Gestern war der Pastor loci hier, um M. zu besu-
chen, ein sehr angenehmer Mann, durchaus liberal,
gescheit und belesen. Wir hatten ein langes reli-
giöses Gespräch zusammen an M.s Bett, und ich
freute mich über die Ansichten, die er entwickelte.
Er würde mit diesen bei uns wahrscheinlich längst
vor das Konsistorium gefordert worden sein. Er ist
der Ansicht, daß die Entwicklung der Menschenseele
nach dem Tode weitergeht, daß ein Zwischenreich
existiert; er meinte, daß die Seele nach dem Tode
durch Sympathie in Kreise gezogen werde, die ihr
gleichgestimmt seien, daß höhere Geister sich der
Seelen der Verstorbenen annehmen, sie belehren und
sie allmählich von Sphäre zu Sphäre heben. Was
würde Pastor H. zu diesem Amtsbruder sagen! — Er
hat viel gelesen, auch die Schriften der deutschen
Theologen, kannte alle die Alten, Origines usw., die
buddhistische Lehre, war sehr beschlagen in allen
verschiedenen Religionssystemen und hatte einen
klaren Blick für alle. Ich war äußerst erstaunt, einen
solchen Mann hier in der Einsamkeit einer kleinen
Landpastorenstelle zu finden.
KABINETTSORDER.
Es gereicht Mir zur aufrichtigen Freude, Sie hierdurch, unter
Belassung in dem Verhältnis als Mein Generaladjutant, zum Chef
des Generalstabes der Armee zu ernennen. Ich übertrage Ihnen
diese für die Armee so hochwichtige Stellung, da Ich zu Ihrer
Mir wohlbekannten Einsicht, zu Ihren militärischen Eigenschaf-
ten und Kenntnissen, wie zu der Energie und Zuverlässigkeit
Ihres Charakters, das unbedingte Vertrauen habe, daß es Ihnen
343
gelingen wird, die vielfachen und schwierigen Aufgaben des
Generalstabes, insonderheit diejenigen, welche Ihnen als Chef
des Generalstabes zufallen, in einer für die Wohlfahrt der Armee,
wie des Vaterlandes ersprießlichen Weise zu lösen.
Berlin, den i. Januar 1906.
Wilhelm R.
An Meinen Generaladjutanten, Generalleutnant v. Moltke,
Generalquartiermeister.
KABINETTSORDER.
Ich nehme gern Veranlassung, Ihnen heute bei Beendigung
der diesjährigen großen Herbstübungen, die in Anlage und Ver-
lauf voll Meinen Erwartungen entsprochen haben, einen erneu-
ten Beweis Meiner Zufriedenheit und Meiner gnädigen Wert-
schätzung zu geben und Ihnen den beifolgenden Stern der Kom-
ture des Königlichen Haus-Ordens von Hohenzollern zu ver-
leihen.
Liegnitz, den 13. September 1906.
Wilhelm R.
An Meinen Generaladjutanten, Generalleutnant v. Moltke,
Chef des Generalstabes der Armee.
KABINETTSORDER.
Ich habe Sie heute zum General der Infanterie befördert und
gereicht es Mir zum besonderen Vergnügen, Ihnen dies hier-
durch bekanntzumachen.
Bonn, den 16. Oktober 1906.
Wilhelm R.
An Meinen Generaladjutanten, Generalleutnant v. Moltke,
Chef des Generalstabes der Armee.
Generalstab Berlin, ig. Mai 1907.
Du hast ja Verständnis dafür, daß die Dinge dieser
Welt, für die ich in meiner Stellung so schwer ver-
antwortlich bin und möglicherweise noch einmal in
allerernstester Weise werde aufkommen müssen, mir
zurzeit noch näher liegen als Dein Streben. — Ich
habe immer das Bewußtsein, daß ich mein Leben
344
nicht so einrichten darf, wie ich es vielleicht tun
würde, wenn ich nur für mich lebte, ich muß mein
eigenes Interesse hierin zurückstellen und so leben
und arbeiten, wie es meine Stellung erfordert. — Da
ich nun einmal auf diesen Posten gestellt bin, muß
ich seine Forderungen über alles stellen, das weißt
Du ja auch.
Generalstab Berlin, 24. Mai 1907.
Der Kaiser hat mich am 20. Mai gelegentlich des
Schrippenfestes ä la suite des Alexander-Regiments
gestellt, was mir eine große Freude gewesen ist, da
ich nun wieder dem Regiment angehöre und seine
Uniform tragen kann. Bei der Parade am i.Juli werde
ich das Regiment vorbeiführen können.
Freiburg i. B., 17. Juni 1907.
Meine Stute ist in Müllheim stehen geblieben, der
Tierarzt ist der Ansicht, daß sie vor acht bis vier-
zehn Tagen nicht transportfähig sein wird. Der große
Fuchs ist heute mit den Handpferden hierhermar-
schiert. Wie er ankam, war er stocklahm, wurde un-
tersucht, und es fand sich, daß er sich einen finger-
langen Nagel in den Huf getreten hatte. Zwei Tier-
ärzte habe ich also in Tätigkeit und zwei kaputte
Pferde. Es ist mein altes Pferdepech, das ich trotz
bestem Willen nicht ableugnen kann, wenn Du mich
auch als Pessimisten bezeichnest.
Generalstab Berlin, i.Juli 1907.
Diese Nordlandsreise liegt mir etwas auf dem Ma-
gen, ich werde mich nicht so leicht mehr in den mir
schon ungewohnt gewordenen Lokalton derselben
hineinfinden, außerdem habe ich ein schlechtes Ge-
wissen, wenn ich an die kostbare Zeit denke, die ich
345
zu vertrödeln gezwungen sein werde. Indessen auch
dies ist ja Dienst fürs Vaterland.
Norwegen, Bergen, 7. Juli 1907.
Der Kaiser ist sehr munter und sehr liebenswürdig.
Die politischen Aussichten scheinen auch besser zu
sein als das Wetter. Die sehr freundschaftlich ge-
haltene Einladung Onkel Eduards bedeutet fraglos
einen Wendepunkt in der englischen Richtung ge-
gen uns. Was diesen Wandel veranlaßt hat, ist mir
noch nicht ganz klar, ob es die Verhältnisse in Frank-
reich sind, ob diejenigen in Indien oder ein Wider-
stand der Regierung in London, weiß ich nicht. Ir-
gendein gewichtiger Grund muß aber vorliegen, je-
denfalls ist diese Einladung ein Symptom. Ich glaube
daher, daß die nächsten Wochen ruhig verlaufen
werden. —
Es ist Sonntag heute, und wir haben den Gottes-
dienst mit der obligaten Verfluchung aus dem Alten
Testament eingeleitet und dann zum Trost eine Pre-
digt über den Glauben gehört unter Zugrundelegung
des Wortes: »Wer da glaubt, wird selig, wer aber
nicht glaubet, wird verdammt werden.« — Der Verfas-
ser der Predigt wies nach, wie man sich selber den
Glauben nicht geben könne, also im Grunde die aus-
gesprochenste Prädestinationslehre, daß nämlich Gott
nur gewissen Menschen den Glauben und damit die
Seligkeit gibt, während die andern, mögen sie sich
quälen soviel sie wollen, verloren bleiben, eine der
barbarischsten und trostlosesten Lehren, die es gibt.
Ich habe mal wieder einen wahren Horror vor dieser
Art Religion bekommen, und möchte nur wissen, was
die armen Matrosen sich bei der Auseinandersetzung
gedacht haben — wenn sie überhaupt etwas gedacht
haben! —
346
Ich muß mich allmählich erst wieder in dies Leben
hineinfinden, dessen ich mich schon so ziemlich ent-
wöhnt hatte, es ist aber doch ganz gut, daß ich die
Reise mitmache, aus mancherlei Gründen, als Ver-
gnügungssache fasse ich sie ja auch nicht auf, es ist
eben Dienst wie jeder andere, und dem Kaiser ist es,
glaube ich, auch lieb, daß ich mit bin, da er sich mir
gegenüber sehr offen ausspricht, was ihm ein Be-
dürfnis ist.
Norwegen, Bergen, 9. Juli 1907.
Morgens waren wir mit dem Kaiser an Land und
machten den programmäßigen Besuch bei der Witwe
des alten Schiffskapitäns, die in einem kleinen Häus-
chen auf dem äußersten Klint vorm Hafen wohnt,
und die wir nun seit zehn Jahren immer besuchen.
Der alte Mann ist vor drei Jahren gestorben. Seine
Witwe lebt mit ihrer Schwester und zwei bereits ält-
lichen Töchtern dort oben. Ihr Bruder ist Schirm-
fabrikant in Bergen, die eine Tochter Ladenmamsell.
Der Kaiser sitzt alle Jahre auf demselben Stuhl, ich
auf demselben Puff und alle Jahre wird dieselbe
Konversation gemacht. Es gibt ein Glas selbstgemach-
ten Johannisbeerwein und selbstgebackenen Kuchen,
die alten Damen reden wie Wasserfälle und ich muß
den Dolmetsch machen.
Norwegen, Victoriahavn, 17. Juli 1907.
Ich weiß nicht mehr, ob ich Dir schon schrieb, daß
ich am 1. August mittags in Swinemünde entlassen
werde, also am 1. abends in Berlin zurück sein
werde.
Ich sehne diesen Tag herbei. Unter diesen klima-
tischen Verhältnissen ist die Reise einfach eine Pö-
nitenz, auch gewöhne ich mich nicht mehr in den
347
auf den Kalauer gestimmten Grundton unseres Krei-
ses und vermisse meine ernste Arbeit. So friere ich
innerlich und äußerlich. Ich vertrage die Sache aber
von dem Standpunkt der Pflichterfüllung, und meine
Gesundheit hat nicht gelitten. Gottlob, daß ich kein
Karlsbad oder dergleichen gebrauche.
Generalstab Berlin, 4.August 1907.
Wie ich eben das Datum schrieb, fiel mir ein, daß
eine gewisse Ähnlichkeit mit dem heutigen 4. Au-
gust 07 und demselben Tag vor siebenunddreißig
Jahren, 4. August 70, ist, nur die beiden letzten Zif-
fern sind umgestellt. Am 4. August 1870 hatte ich
mein erstes Gefecht, bei Weißenburg. Wie lange das
her ist und wie deutlich doch alles vor mir steht. —
Die Entrevue zwischen dem Kaiser und Zaren
scheint programmäßig zu verlaufen. Natürlich knüp-
fen sich an sie die abenteuerlichsten Kombinationen
in der Presse. Sie ist meiner Meinung nach von kei-
ner erheblichen politischen Bedeutung. Die Interes-
sen der Länder werden nicht durch die Zusammen-
künfte von Monarchen bestimmt, sie gehen ihren ei-
genen Gang und führen konsequent und unerbittlich
zu Kollisionen oder zu Verständigungen. — Zurzeit
sieht die Weltlage, soviel ich es beurteilen kann,
nicht bedrohlich aus. Unser westlicher Nachbar hat
zuviel im eigenen Hause zu tun, um aggressive Poli-
tik zu machen, und England scheint sich allmählich
in seinen weit gespannten Koalitionen selber zu ver-
stricken. — Solange wir ruhig und stark bleiben, brau-
chen wir nichts zu fürchten, beides ist allerdings nö-
tig, besonders das letztere. Ein schwaches Deutsch-
land wäre die größte Gefahr für den europäischen
Frieden.
348
KABINETTSORDER.
Ich verleihe Ihnen in dankbarer Anerkennung Ihrer unaus-
gesetzten und erfolgreichen Bemühungen um die kriegsgemäße
und lehrreiche Anlage und Leitung der in diesem Jahre von Mir
abgehaltenen großen Manöver das Großkreuz des Roten- Adler-
Ordens mit Eichenlaub und der Königlichen Krone, dessen In-
signien Ihnen beifolgend zugehen.
Wilhelmshöhe, den u. September 1907.
Wilhelm R.
An Meinen Generaladjutanten, General der Infanterie v. Moltke,
Chef des Generalstabes der Armee.
Norwegen, Odde , 14. Juli 1908.
Daß Du die Freude haben wirst, in Bayreuth Dich
in die reine Atmosphäre der Kunst zurückzuziehen,
gönne ich Dir von ganzem Herzen. Es gibt so we-
niges, an dem Du wirklich Freude hast. Die Stim-
mung an Bord ist eine gute, nicht so blödsinnig al-
bern wie sonst wohl. Der Ernst der Weltlage macht
sich auch in unserer Gesellschaft unbewußt geltend.
Auch die Allerhöchste Stimmung gefällt mir recht
wohl.
Norwegen, Bergen, 18. Juli 1908.
Wenn ich nicht auf allen Deinen Wegen mitgehe,
so liegt es daran, daß ich eben einen sehr realen Be-
ruf habe und mit beiden Beinen auf dieser Erde stehen
muß, solange ich ihm gerecht werden will. Das weißt
Du ja auch und hast Verständnis dafür.
Generalstab Berlin, 12. September 1908.
Die Manöver sind gut verlaufen, wir haben vier
Tage lang gutes Wetter gehabt, was bei dem schwe-
ren lothringischen Boden, der bei Nässe unergründ-
lich wird, fast eine Notwendigkeit ist, um dort zu ma-
növrieren. Alles ist nach Wunsch gegangen, und die
Manöver haben, glaube ich, allgemein befriedigt. Der
349
Kaiser war guter Laune und enthielt sich jeden Ein-
greifens. Der Erzherzog Franz Ferdinand, der nach
dem Tode des alten Kaisers den österreichischen
Thron besteigen wird, hat mir sehr gut gefallen. Er
hat wiederholt und lange mit mir gesprochen, ist ein
kluger und scharfblickender Herr, der augenschein-
lich weiß, was er will. — Die lothringische Bevölke-
rung war sehr enthusiasmiert, wo sie den Kaiser zu
sehen bekam. — Die Truppen waren hervorragend
gut. Die Gefechtsausbildung tadellos, alles ordentlich
und von großer Ruhe. Dabei gutes Ertragen der zum
Teil enormen Marschleistungen. Die militärischen
Eisenbahntransporte verliefen ohne Störung, die Ei-
senbahnabteilung des Generalstabes bewährte sich
vorzüglich. In seiner Schlußbesprechung erteilte der
Kaiser beiden Korps das größte Lob. — Nun weißt
Du wohl genug von den Manövern.
Moltkes Bitte um Enthebung von der Stellung als
Chef des Generalstabes.*
Berlin, 25. Februar 1909.
Am 25. hatte ich Vortrag bei Sr. Majestät im Neuen
Palais. Ich bat Se. Majestät um eine Aussprache un-
• Ende Februar 1909 richtete der Kaiser ein Schreiben an Moltke, in dem er sich
mit Nachdruck dagegen wandte, daß jüngere, zum Generalstab kommandierte Offi-
ziere ein Thema aus dem Zweifrontenkrieg als Schlußprüfungsaufgabe zu bearbeiten
hätten. Der Kaiser befürchtete, daß durch eine solche Aufgabenstellung wichtigste
militärische Geheimnisse preisgegeben würden. Zudem seien Aufgaben dieses Um-
fanges nur für Armeeführer und Generalstabschefs zur Durcharbeitung geeignet, keines-
falls für jüngere Offiziere. Der Brief des Kaisers schließt mit dem Ersuchen, in Zu-
kunft möge weiter aus dem bewährten Rahmen eines begrenzten Themas, das den
Herren näher läge und keine Rückschlüsse auf Absichten im Ernstfalle zulasse, eine
Auswahl für die Arbeiten getroffen werden.
Für Moltke war diese Angelegenheit eine Prinzipienfrage. Moltke hatte das in Frage
stehende Thema deshalb gewählt, um gerade auch den Nachwuchs des Generalstabes
frühzeitig mit solchen Gedankengängen vertraut zu machen, von denen Moltke an-
nehmen mußte, daß sie im Falle eines Krieges an zahlreiche Generalstabsoffiziere heran-
treten würden. Er hielt es für notwendig, daß auch diese jüngeren Generalstabsoffi-
ziere über den Rahmen eines begrenzten Themas hinaus Gelegenheit bekämen, sich über
solche Lagen ein Urteil zu bilden, die im Ernstfalle mutmaßlich eintreten würden.
Dieser prinzipielle Standpunkt war es, der Moltke dazu bewog, auf das Schreiben
des Kaisers hin die Enthebung aus seiner Stellung zu erbitten. (Der Herausgeber.)
350
ter vier Augen, die Se. Majestät mir sofort gewährten.
Ich sagte Sr. Majestät, daß in dem Allerhöchsten
Schreiben ein Vorwurf für mich enthalten sei, wie er
schwerer nicht erhoben werden könnte, der Vorwurf
der Indiskretion und Preisgabe von geheimen Din-
gen und fügte hinzu, daß Se. Majestät, da Allerhöchst-
derselbe mit der Leitung der Ausbildung nicht ein-
verstanden seien und mir diesen Vorwurf machten,
wohl nichts anderes von mir erwarten könnten, als
daß ich um Enthebung von meiner Stellung als Chef
des Generalstabes bitte.
Nachdem Se. Majestät darauf erklärten, daß ihm
nichts ferner gelegen habe als ein Vorwurf, daß ich
seine Worte falsch aufgefaßt hätte und daß er mit
meiner Leitung vollkommen einverstanden sei, daß
von meinem Fortgang keine Rede sein könne, er-
klärte ich, daß ich »in Anbetracht der kritischen poli-
tischen Lage nach dieser Erklärung Sr. Majestät mein
Amt weiterführen werde.«
Kiel, 8. Juli 1909.
Wenn dieser Brief in Deine Hände gelangt, wird
wohl schon alles erledigt sein, und Du wirst dann
klüger sein, als ich es jetzt bin, denn ich weiß bis
jetzt noch nicht, wer Reichskanzler werden soll. Ich
bedauere es aufrichtig, daß Bülow fortgeht. Er hat
trotz aller Schwächen und Fehler doch seine großen
Verdienste, und es ist sehr die Frage, ob er durch ei-
nen besseren Mann ersetzt werden wird.
T., unser Gesandter in Christiania, ist der einzige,
mit dem man über ein ernsthaftes Thema sprechen
kann. Der Kaiser ist wohlauf und guter Dinge. Man
sollte nicht glauben, daß wir vor einer Entscheidung
stehen, die denn doch von einiger Wichtigkeit für
das Reich ist. Wahrscheinlich am Sonntag oder
35i
Montag wird er nach Berlin gehen, um Bülow zu
verabschieden, und den Nachfolger zu ernennen,
dann solls nach Norwegen gehen.
Kiel, 16. Juli 1909.
Ich traf auf der Bahn Bülow-Botkamp, der eben
von einer Mutung auf Petroleum in Hannover zu-
rückkam. Er sagte, er hätte große Petroleumquellen
mit der Wünschelrute festgestellt, es soll nun gebohrt
werden. Er kann nun mit der eisernen Rute Petro-
leum feststellen, mit der Holzrute Wasser. Es muß
sich bald zeigen, ob er richtig gemutet hat.
Karlsruhe, September 1909.
Die Tage in Österreich waren sehr hübsch. Herr-
liches Wetter, interessante Manöver. Ich bin äußerst
kameradschaftlich aufgenommen und man hat mir
alles gezeigt, was ich sehen wollte. Der alte Kaiser
war rührend gütig. Ich traf T., der bei einem Divi-
sionsstabe kommandiert war. Ich war an dem Tage
dreizehn Stunden unterwegs, teils zu Pferde, teils per
Auto, kam zu spät zur Hoftafel, wo ich dem Kaiser
Franz Joseph gegenüber plaziert war. Er freute sich,
daß ich soviel Interesse für die Manöver zeige. Es
geht mir ausgezeichnet.
KABINETTSORDER.
Die von Ihnen wohl vorbereitete Anlage der diesjährigen gros-
sen Herbstübungen und ihr besonders lehrreicher Verlauf haben
Meinen Erwartungen durchaus entsprochen. Ich freue Mich des-
halb, Sie heute bei Beendigung der Manöver Meiner im hohen
Maße verdienten Anerkennung und Meines Königlichen Dankes
versichern zu können. Als ein Zeichen dieses Dankes verleihe
352
Ich Ihnen Meinen hohen Orden vom Schwarzen Adler, dessen
Insignien Ihnen beifolgend zugehen.
Mergentheim, den 17. September 1909.
Wilhelm R.
An Meinen Generaladjutanten, General der Infanterie v. Moltke,
Chef des Generalstabes der Armee.
Frankfurt a. M., ig. September 1909.
Meine Manöver sind gut verlaufen, ich bin im all-
gemeinen zufrieden. Mit Sr. Majestät bin ich gut aus-
gekommen, habe mich ab und zu schwer geärgert,
aber auch das ging. Er war sehr zufrieden, hat mir,
wie Du wohl gelesen hast, den Schwarzen-Adler-
Orden verliehen. Ich habe mich förmlich geschämt.
Onkel Helmuth gebrauchte einen siegreichen Feld-
zug dazu, um diese höchste preußische Auszeich-
nung zu erringen. Wir Epigonen machen das mit drei
Manövertagen ab!!!
Gesundheitlich geht es mir ausgezeichnet. Man hat
mir viel Komplimente über das Manöver gemacht,
indessen gebe ich nicht viel darauf. Die Beurteilung
der Presse habe ich noch nicht erfahren. Mein
Freund G. wird bei mir wohl wieder den Gipfel des
Idiotismus festgestellt haben. — Der Erzherzog Franz
Ferdinand, der österreichische Thronfolger, war ganz
begeistert, was er mir einmal über das andere sagte,
besonders freute es mich, daß mein österreichischer
Kollege, General Conrad von Hötzendorff, sehr zu-
frieden war. Über den Kaiser habe ich mehrmals Ge-
legenheit gehabt, mich aufrichtig zu freuen. Er tat
das, was ich ihm sagte, und besonders in der Schluß-
besprechung sagte er genau das, was ich ihm vor-
getragen hatte, blieb durchaus sachlich und hielt die
beste Kritik ab, die ich je von ihm gehört habe, so
daß alles ganz entzückt war. — Ich lege den reichen
Moltke. 23. 353
Ordenssegen, der sich von allen Seiten über mich er-
gossen hat, zu dem übrigen — in der zweiten Schub-
lade meiner Kommode!
Rede Moltkes bei der Enthüllung der Moltke-Büste
in der Walhalla am 10. Mai igio.
Voll Dankbarkeit, daß die Gnade Sr. Königlichen
Hoheit des Prinzregenten es uns gestattet hat, an der
erhebenden Feier des heutigen Tages teilzunehmen,
und tief bewegt in der Erinnerung an unseren großen
Schöpfer und einstigen Chef, sind wir, die Vertreter
des Generalstabes, in diesen weihevollen Raum ein-
getreten, der eindringlicher als Worte es vermöchten,
von deutscher Geisteskraft und Größe zu uns spricht.
Das, was die Männer geschaffen haben, deren Na-
men dieser stolze Bau geweiht ist, das haben sie uns,
den jetzt Lebenden, als heiliges Vermächtnis hinter-
lassen, uns liegt es ob, das schwer Errungene treu
zu wahren. In Ehrfurcht und Bewunderung blicken
wir zu ihnen auf und unverrückbar steht vor unse-
rem Geist das Beispiel und die Lehre, die sie uns
gegeben.
Mit dem Generalstab, in dem wie in keiner anderen
militärischen Organisation die Angehörigen aller
deutschen Kontingente vereinigt sind, feiert das ge-
samte deutsche Heer und in ihm das deutsche Volk
das Andenken seines unsterblichen Führers und Leh-
rers, des Feldmarschalls Grafen Moltke.
Mit vollem Recht hat ihn der Herr Kriegsminister
eine Nationalgestalt genannt. Unberührt von der Par-
teien Haß und Gunst steht sein Bild in reiner Größe
vor den Augen der Nation, das Bild eines Mannes,
gleich bewundernswert als Feldherr wie als Mensch,
ein Vorbild jedem Strebenden und Kämpfenden, sei
354
er Soldat oder Bürger. War er doch selber ein Kämp-
fer sein Leben lang, der Tapfersten und der Edelsten
einer, die je gerungen und gestritten haben. Als Sieb-
zigjähriger führte er den Kampf, der den tausendjäh-
rigen Traum der Deutschen zur Wirklichkeit machte,
als Siebzehnjähriger mußte er den Kampf mit dem
Leben aufnehmen, das ihn vor Mangel und Entbeh-
rungen stellte. In harter Schule stählte er den Charak-
ter, lernte er die Entsagung, die Selbstzucht und die
Verachtung alles äußeren Scheins, lernte er das Le-
ben zu besiegen und zu beherrschen, dessen wech-
selnde Erscheinungen sein klarer und durchdringen-
der Verstand nach ihrem Wert und Unwert sonderte,
errang er sich die Fähigkeit, das Vielseitige und
Widersprechende unter wenige, einheitliche Gesichts-
punkte einzuordnen. In dieser kristallklaren Erkennt-
nis der Dinge und Verhältnisse liegt die nur dem
Genie erreichbare Größe seines Feldherrntums.
Und dieser Mann, der still und bescheiden den
Ruhm trug, den die bewundernde Welt seinen Taten
zollte, blieb sich selber treu bis zum letzten Atem-
zuge. Die Pflicht war die Richtschnur seines langen
Lebens, seine Begleiterin die Arbeit, sein Wesens-
kern die Treue. Nie suchte er eigenen Vorteil, stets
ordnete er seine Person der Sache unter, der er diente.
Seinem König, seinem Volk, dem Heer, dem er an-
gehörte, galt sein Mühen und Sorgen, sein Schaffen
und Arbeiten.
Das sind die idealen Güter, die er uns hinterlassen
hat, der von den Strahlen seines Genius erhellte
Weg, den er uns vorgezeichnet hat. Diese Güter zu
wahren, auf diesem Wege ihm nachzustreben, bleibt
unsere ernste Aufgabe.
Dem Andenken unseres großen Chefs weihen wir
diesen Kranz, den ich namens des Generalstabes zu
355
Füßen seiner Büste niederlege, und mit ihm bringen
wir dar die nie verlöschenden Gefühle unserer Liebe
und unserer Dankbarkeit.
Plön, 19. Juni 1910.
Seit gestern sind wir hier auf diesem schönen Fleck
Erde. Ich bekomme freilich wenig davon zu sehen,
da ich gestern und heute den ganzen Tag nicht vom
Schreibtisch fortkomme. Ich habe schon zwei Be-
sprechungen der bisher stattgehabten Operationen
abgehalten, was immer eine tüchtige Arbeit ist, da
ich alles im Kopf haben, wiedergeben und beurteilen
muß. Gestern abend die zweite, zu der uns der große
Saal des hiesigen Kadettenhauses zur Verfügung ge-
stellt war. Morgen vormittag ist die dritte, die Schluß-
besprechung, die die ganze Reise abschließt.
Generalstab Berlin, 26. Juni 1910.
Daß Du alle diese alten Stätten einmal wieder sehen
kannst, ist mir eine große Freude. Mit diesen Orten
geht es genau so wie mit uns Menschen, die wir uns
im Laufe der langen Jahre verändert haben und doch
dieselben noch sind, wie vor dreißig Jahren. — Wie
wunderbar einen die Kinderheimat umfängt, wenn
man nach langen Jahren als älterer Mensch sie wie-
der betritt, habe ich bei meinem vorjährigen Besuch
in Ranzau und auch gelegentlich meiner diesjährigen
Generalstabsreise in Holstein so tief empfunden. Es
ist, als ob die alten Orte die Arme nach einem aus-
streckten, als ob die Bäume einen grüßten als alten
Bekannten, als ob die Luft sich leichter und wohliger
atmete und der Erdgeruch einem entgegenduftete.
Wie schön das alles ist, wie lieb ud vertraut und wel-
che Flut von Erinnerungen strömt aus den Stätten
der Kinderzeit! Wie wir durch die herrlichen Buchen-
356
wälder Holsteins ritten, da fühlte ich mich wieder als
Kind, lauschte auf die hundert Vogelstimmen und
nickte den Sonnenstrahlen zu, die goldig durch den
stolzen Dom der grünen Laubkronen flimmerten.
Wie bekannt war das alles und wie schön!
Norwegen, Bergen, 14. Juli 1910.
Es ist V211 Uhr abends, ich sitze bei offenem Fen-
ster und schreibe ohne Licht. Auf den höchsten Berg-
gipfeln glüht noch die Sonne, unser Schiff liegt im
Schatten. Nie in meinem Leben habe ich ein schöne-
res Panorama gesehen als heute abend, es läßt sich
ja nicht beschreiben. Die tiefvioletten Schatten der
Berge, die rotstrahlenden Gipfel, die rosigen Schnee-
felder— wie Goethe sagt: »Entzündet alle Höh'n, be-
ruhigt jedes Tal« — ich hatte den Eindruck, als ob
diese Berge Übergossen von Licht, glühend vor
Liebe ihrem Schöpfer entgegenleuchteten und als ob
sein Auge mit stillem Entzücken auf ihnen ruhen
müßte. Wie zauberhaft schön ist dies Norwegen,
wenn es sich in Sonnenlicht und Gottesliebe badet.
Norwegen, Molde, 22. Juli 1910.
Wir waren alle an Bord der »Nassau« und besahen
dies Riesenschiff in allen seinen Teilen. Es ist höchst
interessant, die Summe von Intelligenz zu bewundern,
die in dem komplizierten Mechanismus zur Tat ge-
worden ist. Ein solches Schiff hat sein Gehirn und
seine Nervenstränge, wie ein Lebewesen. Die elek-
trischen Leitungen beherrschen jedes Glied und mit
derselben Leichtigkeit, mit der wir einen Arm aus-
strecken oder ein Bein heben, bewegt das Schiff
seine Riesengeschütze rechts und links, hinauf und
hinab und setzt seine Maschinen in Tätigkeit.
357
KABINETTSORDER.
Ich bewillige Ihnen hierdurch einen vierwöchigen Urlaub von
Mitte April bis Mitte Mai ign nach Karlsbad.
Venedig, den 27. März 191 1.
Wilhelm R.
An Meinen Generaladjutanten, General der Infanterie v. Moltke,
Chef des Generalstabes der Armee.
Karlsbad, 19. April 1911.
Ich mußte dem Arzt meine Krankheitsgeschichte
erzählen und er sagte sofort, daß durch die gewalt-
same Behandlung meiner Mandeln der Krankheits-
stoff in den Körper getrieben worden sei und daß ich
wahrscheinlich noch immer an den Folgen laboriere.
Er war von der Herztätigkeit durchaus befriedigt.
Meinte, es wäre — nachdem er mich lange beklopft
hatte — nur eine leichte Indisposition des Magens
und eine leichte Schwellung der Leber zu konsta-
tieren.
TELEGRAMM.
General v. Moltke, Königsplatz 6, Berlin.
Magdeburg, den 23. Mai 191 1.
Zu Ihrem Geburtstage sende Ich Ihnen, mein lieber Julius,
den herzlichsten Glückwunsch. Ich freue Mich zu hören, daß
der Aufenthalt in Karlsbad den letzten Rest Ihrer Krankheit be-
seitigt hat und hoffe, daß Ihre unvergleichliche Arbeitskraft Mir
noch lange erhalten bleiben wird zum Besten des Vaterlandes.
Möchte die Uhr, die Ihnen als Zeichen meines Gedenkens heute
zugeht, Ihnen nur glückliche Stunden schlagen.
Wilhelm R.
Molsheim, 19. Juni 1911.
Mir bekommt das Herumziehen im Lande ausge-
zeichnet, ich fühle mich vollkommen frisch und wohl,
habe keine Spur von irgendwelchen Beschwerden,
weder beim Reiten noch bei den langen Fahrten im
358
Auto, noch bei dem gelegentlichen Steigen bergan.
Heute morgen ritt ich zunächst bis Oberehnheim. Die
Luft war so klar, daß man deutlich die Höhen des
Schwarzwaldes sah, während zu unserer Rechten
sich die Kette der Vogesen hinzog mit ihren schö-
nen waldigen Kuppen und zahlreichen Burgruinen.
— Wir fuhren dann nach dem weit und breit be-
rühmten Kloster Odilienberg, das oben auf der Berg-
spitze gelegen, einen wundervollen Rundblick über
die Rheinebene und die Ausläufer der Vogesen bie-
tet. Es ist eine uralte Niederlassung, die schon im
Jahre 800 unter Karl dem Großen erwähnt wird. In
weitem, zehn Kilometer langen Bogen zieht sich um
die Bergspitze die sogenannte Heidenmauer, eine Zy-
klopenmauer aus urkeltischer Zeit, mit riesigen Qua-
dern aufgetürmt, man begreift kaum, wie Menschen-
kräfte sie haben bewegen können, es ist eines der
merkwürdigsten Bauwerke seiner Art, sowohl was
Ausdehnung als auch Mächtigkeit betrifft, die Mauer
ist stellenweise zehn Meter dick und ebenso hoch,
es ist unverständlich, wie die Leute es angefangen
haben, die Steine, die zum Teil ein Gewicht von hun-
dert Zentnern haben, zu heben. — In dem Kloster ist
jetzt eine Art Sommerfrische mit Pension eingerich-
tet, die viel besucht wird. Es ist ein Kloster für Laien-
schwestern, die in ihrer schwarzen Ordenstracht und
weißen gesteiften Hauben die Gäste bedienen. —
Nachmittags waren wir auf der Feste Kaiser Wilhelm,
wo unsere Vorträge gehalten werden. Morgen gehen
wir nach Zabern, übermorgen nach Dieuze, dann
nach Metz. Ich denke am Montag, den 26., die Schluß-
besprechung zu halten, am Dienstag nach Köln zu
einer Besichtigung der Bahnkommandantur zu gehen
und am 28. nach Berlin zurückzukommen.
359
Kiel, 4. Juli igu.
Wir haben uns gestern abend beim Kaiser gemel-
det, der sehr vergnügt und gnädig war. Heute mor-
gen haben wir alle die Arbeiten an der Erweiterung
des Kaiser-Wilhelm-Kanals besichtigt, die ebenso
großartig wie interessant sind. Es wird eine ganz neue
Schleuseneinfahrt gebaut, in der die Schleusentore
von bisher dreißig auf fünfundvierzig Meter Breite
angelegt und die Kanalstrecke dahinter geradegelegt
wird. Der ganze Kanal wird entsprechend verbreitert
und vertieft. Die ungeheuren Mauerungen der neuen
Schleusen stehen schon zum Teil, und mit Staunen
blickt man auf die gewaltige Erdbewegung, die hier
ausgeführt wird. Die verschiedenartigsten Maschinen
arbeiten überall. Hier schaufelt ein Erdgrubber den
Boden aus; als ob er ein vernunftbegabtes Wesen
wäre, beißt er mit eisernem Rachen in den Boden,
frißt Erde, Sand, Steine, ja ganze Felsblöcke in sich
hinein, erhebt dann das bodengefüllte Maul und speit
nach leicht gemachter Drehung den ganzen Inhalt in
einen bereitstehenden Eisenbahnwagen, ihn mit ei-
nem Happen füllend. Dann wendet er sich wieder
dem Boden zu, reißt das Maul auf und frißt wieder,
während der Eisenbahnzug um eine Wagenlänge
weiterrückt. So wird mit einem solchen Zug in einer
halben Minute die sonst stundenlange Arbeit von
hundert Menschen geleistet. Das ganze bodenfres-
sende Ungetüm wird von zwei Mann bedient. — Dort
rollt auf einem Stahlseil ein Riesenkorb, gefüllt mit
Zement, heran. Über der Stelle angekommen, wo das
Material gebraucht wird, macht er Halt, senkt sich
herab, öffnet sich und entleert seinen Inhalt. Sofort
schwebt er wieder in die Höhe und läuft auf seinem
Seil eilig davon, um neue Ladung zu holen, während
360
die erste mit mechanischen, elektrisch angetriebenen
Stampfen eingestampft und geglättet wird. Man sieht
auf dem ganzen Arbeitsfeld fast keine Menschen.
Hier arbeitet der menschliche Geist, umgesetzt in
Maschinen, und die Materie folgt willig, wenn auch
pustend und stöhnend, dampfend und sprühend den
ihr vorgezeichneten Gesetzen. Das ist wirklich im-
posant, und es muß für den Ingenieur ein stolzes
Bewußtsein sein, seine Gedanken so in Arbeit um-
zusetzen.
In See, 9. Juli 1911.
Die Stimmung an Bord ist gut. Der Kaiser verhält-
nismäßig ruhig. Die politischen Verhältnisse sind ja
noch in der Schwebe. Daß etwas Ernsthaftes aus dem
Erscheinen unserer Schiffe an der marokkanischen
Küste folgen sollte, glaube ich nicht. Es wird dazu
beitragen, klare Verhältnisse zu schaffen.
Baleholm, 16. Juli 1911.
Vor einigen Tagen hatte ich eine sehr interessante
Unterhaltung mit Sr. Majestät über religiöse Fragen.
Er war aufs äußerste schlecht zu sprechen auf die
Pastoren, ihre Engherzigkeit und Orthodoxie. Er war
der Meinung, daß der Tod nur den Beginn einer wei-
teren Entwicklung bedeute, hat überhaupt viel über
diese Dinge nachgedacht und ist viel freier in seinen
Ansichten, als man glauben sollte. Er sucht nach
Wahrheit, und alles öde Formelwesen ist ihm ein
Greuel. Er will keinen Stillstand in der religiösen Ent-
wicklung, sondern ein Fortschreiten, und fühlt das
Bedürfnis, Religion und Wissenschaft in Einklang
zu bringen. Er erzählte, wie er den Pastoren gesagt
habe, wenn die Kinder in der »Urania« die Weltent-
wicklung sehen und hören und ihnen dann im Reli-
361
gionsunterricht gesagt werde, in sechs Tagen habe
Gott die Welt geschaffen, so müsse der Zweifel in
ihr Herz gesät werden. Wenn ihr Pastoren nicht fort-
schreitet, wird die Wissenschaft über euch hinweg-
gehen, und wenn ihr nichts Neues zu sagen wißt,
werden die Steine reden.
Generalstab Berlin, 19. August 1911.
Die unglückselige Marokko-Geschichte fängt an,
mir zum Halse herauszuhängen. Es ist gewiß ein Zei-
chen lobenswerter Ausdauer, unentwegt auf Kohlen
zu sitzen, aber angenehm ist es nicht. Wenn wir aus
dieser Affäre wieder mit eingezogenem Schwanz her-
ausschleichen, wenn wir uns nicht zu einer energi-
schen Forderung aufraffen können, die wir bereit sind
mit dem Schwert zu erzwingen, dann verzweifle ich
an der Zukunft des Deutschen Reiches. Dann gehe
ich. Vorher aber werde ich den Antrag stellen, die
Armee abzuschaffen und uns unter das Protektorat
Japans zu stellen, dann können wir ungestört Geld
machen und versimpeln. — Du wirst wohl zurzeit
wenig Interesse für Politik haben, Deine Beschäfti-
gung ist auch jedenfalls interessanter und nützlicher.
Bukowina, Koszczuja, 1. Oktober 1911.
Bin neugierig, wie sich die Sache zwischen Italien
und der Türkei weiterentwickeln wird. Wenn die klei-
nen Balkanhunde anfangen zu bellen, kann man nicht
wissen, was daraus entsteht.
Karlsbad, i6.April 1912.
Der Dr. H. hat mich heute sehr eingehend unter-
sucht und ist sehr zufrieden. Das Herz ganz in Ord-
nung. In den Nieren ist noch eine leise Gereiztheit
bemerkbar, aber, wie er sagt, so wenig, daß er es
gar nicht bemerken würde, wenn er nicht wüßte, daß
362
im vorigen Jahr eine Reizung da war. Er meint, im
Laufe des jetzigen Jahres würde sie völlig ver-
schwunden sein. Der Befund bestätigte seine An-
nahme, daß es sich bei mir um eine Infektion ge-
handelt hat. Er sagt, die Nieren brauchen immer am
längsten Zeit, wieder ganz frei zu werden, meistens
etwa zwei Jahre, was also auch bei mir stimmen
würde. — Schonen brauche ich mich nicht, kann
gehen und steigen. Ich bin sehr froh über das gün-
stige Resultat der Untersuchung, um so mehr, da der
Dr. H. ein sehr penibler und genauer Untersucher ist.
Karlsbad, 24.April 1912.
Politisch ist anscheinend alles ziemlich ruhig. Der
Italienisch-türkische Krieg schleppt sich mühsam wei-
ter, ohne daß ein Ende abzusehen wäre. Im deut-
schen Reichstag ist nun endlich die Wehrvorlage zur
Verhandlung gekommen, von einer Rede Bethmanns
äußerst schwach eingeleitet. Dieser Mann wird sich
nie zu einem klaren und energischen Wort aufraffen.
Auch hier wieder die alte Milchsauce. Kein Mensch
denkt an Krieg, Deutschland ist ganz friedfertig,
und die anderen Mächte ebenso, dennoch kann man
nicht wissen, was einmal passieren könnte, und da-
her ist eine Verstärkung der Wehrmacht nötig. — Es
wäre zum Lachen, wenn's nicht zum Weinen wäre!
— Trotzdem wird die Vorlage anscheinend glatt ange-
nommen werden. Das Volk hat ein gesünderes Emp-
finden von der Weltlage als seine berufenen Leiter.
Telegramm Moltkes an den Kaiser.
Berlin, 23. Mai 1912.
Ew. Majestät wollen meinen tief empfundenen Dank
für das mir allergnädigst zum Geburtstag übersandte
Tintenfaß und die huldvollen Begleitworte entgegen-
363
nehmen. In dem Vertrauen, das Ew. Majestät mir so
oft betätigt und auch heute wieder ausgesprochen
haben, liegt die Wurzel meiner Kraft, ihm ist alles zu
verdanken, was ich habe leisten können. Ich bitte
Gott, er möge mir Kraft geben, mich dieses höchsten
Gutes auch fernerhin würdig zeigen zu können.
Ew. Majestät treu gehorsamster
General v. Moltke.
Norwegen, Baleholm, i8.Juli 1912.
In den mit dem Kurier gekommenen Zeitungen
stand, daß ich zum Herbst meine Entlassung nehmen
und durch General v. W. ersetzt werden würde. Ich
weiß nicht, wer diesen Unfug ausgeheckt hat. Der
Kaiser hatte neben die Nachricht geschrieben: »Un-
verschämt!« Im übrigen rege ich mich nicht darüber
auf. Wenn's sein soll, werde ich es am besten wis-
sen. Noch ist es nicht so weit.
Norwegen, Baleholm, 20. Juli igi2.
Gestern nachmittag war der Kaiser mit vier Herren,
darunter ich, auf einer hier eingelaufenen englischen
Jacht, die einem Sir Wächter gehört, ein alter Herr,
der die verrückte Idee des allgemeinen Weltfriedens
propagiert!
Generalstab Berlin, i8.August 1912.
Obgleich das Wetter nicht sehr günstig war, haben
wir den Flug mit der »Hansa« doch unternommen;
leider konnte er nicht in der ursprünglich geplanten
Ausdehnung stattfinden. Wir fuhren am Sonnabend-
morgen nach der Halle hinaus, in der das mächtige
Schiff untergebracht ist. — Mit hundertzehn Meter
Länge nahm es fast die Gesamtlänge der Halle ein.
Das Wetter war trübe und wolkig, der Wind ziemlich
364
frisch, aber es regnete wenigstens nicht. Der Führer
des Schiffes sagte mir, daß durch Versuchsballons
festgestellt sei, daß in der Höhe von achthundert Me-
tern ein starker Wind wehe von fünfzehn bis sech-
zehn Sekundennietern, und daß er annehme, gegen
Mittag werden starke Böen herunterkommen, wir
könnten daher nur eine Fahrt von einigen Stunden
machen und müßten gegen Mittag wieder in der Halle
sein. Um 8 Uhr gingen wir an Bord, und das Schiff
wurde aus der Halle herausgezogen. Es hat eine sehr
geräumige Kabine, in der sechzehn Personen bequem
sitzen können, wir waren nur acht. — Man hat einen
bequemen Korbsessel zur Benutzung, in dem man
am großen offenen Fenster sitzt und auf die Welt
herabschaut. Man merkt keinen Zug und absolut
keine Erschütterung. Es ist ein Steward an Bord, der
eine kleine Pantry mit kalter Küche und einen klei-
nen Eiskeller hat, in dem der Wein auf Eis liegt. —
Auf kleinen Tischen kann man die Karten vor sich
ausbreiten oder seine Mahlzeit halten. Die Kajüte ist
sehr hübsch in hellem Lack gehalten, und so hoch,
daß ich bequem darin stehen konnte.
Wundervoll war der Aufstieg. Nachdem das Schiff
mit der Spitze gegen den Wind gedreht war, wurden
auf ein Kommando die Haltetaue von den Mann-
schaften losgelassen, die Propeller begannen sich zu
drehen, und langsam stieg das Riesenfahrzeug in die
Luft. Man merkte es nur daran, daß die Menschen,
Häuser, Bäume usw. immer kleiner, der Rundblick
immer größer wurde. In wenigen Minuten hatten wir
die Höhe von dreihundert Meter erreicht, die wir nun
dauernd, mit geringen Abweichungen innehielten. Die
Fahrt ging quer über Hamburg weg, das in einen trü-
ben Dunst von Rauch und Nebel gehüllt war, die
Alster blitzte hell durch die verqualmte Luft. Der
365
Wind war stark, etwa zehn Meter in der Sekunde,
trotzdem kamen wir, da das Schiff eine Eigenge-
schwindigkeit von einundzwanzig Meter hat, schnell
vorwärts. Die »Hansa« hat an ihren zwei Gondeln
vier Propeller, in der Mitte zwischen den beiden Gon-
deln liegt die Kajüte, durch einen schmalen Gang mit
der vorderen und hinteren Gondel verbunden, der
aber nicht von den Passagieren betreten werden darf.
Man sitzt in der Kajüte genau wie in einem Salon-
wagen, das Geräusch der Propeller stört gar nicht,
man kann sich in Ruhe unterhalten. Jetzt sind wir
über dem Hafen mit seinen zahllosen Schiffen und
kleinen Dampfbooten, die hin und her schießend das
Wasser unablässig aufwühlen. Alle Schiffe grüßen
die »Hansa« mit ihren Dampfpfeifen, wir winken aus
den Fenstern mit Taschentüchern, unten stehen die
Menschen mit nach oben gedrehten weißen Gesich-
tern und winken zurück. Dann fahren wir die Elbe
hinab. Reizvoll ist der Blick auf die begrünten Höhen
von Blankenese, die zahlreichen, hell schimmernden
Villen, die unter uns die Flut durchziehenden Schiffe.
Überall zusammengelaufene Menschen, die herauf-
grüßen; aus den Fenstern, von den Dächern wehen
sie mit weißen Tüchern. Mit einem Blick übersieht
man die vielen Einschnitte des Hafens, die Docks,
die Kais, überall dampfen die Essen, und das Krei-
schen der Kräne tönt herauf. — Unablässig dröhnt
das Geräusch der Arbeit, webt und wirbelt der Han-
del, die Industrie. Schiffe werden entladen und be-
laden, Warenballen verfrachtet, die Eisenbahnlinien
glänzen und die Züge kriechen auf ihnen dahin wie
schwarze Raupen. — Allmählich schwindet die Stadt
hinter uns, wir folgen dem Lauf des mächtigen Stro-
mes, sehen seine beiden Ufer, die Baggerarbeiten, die
Inseln und Stromzeichen. Auf der großen Welthan-
366
delsstraße ziehen die Schiffe, der Schnelldampfer
rauscht durch das Wasser, die ablaufende Ebbe be-
nutzend, wir überholen ihn spielend, die Züge am
Ufer können nicht die gleiche Fahrt mit uns halten.
So geht es den Strom hinab bis Kuxhaven, und vor
uns liegt das Meer in bleigrauer Farbe. Wir haben in
zwei Stunden hundertdreißig Kilometer zurückgelegt.
Aber uns entgegen kommt eine blauschwarze Wand
über das Meer herüber, die Wolken jagen an uns
vorbei, uns oft einhüllend, daß die Aussicht ver-
schwindet, der Wind wird allmählich stärker, und wir
müssen umdrehen, wenn wir nicht von der heran-
kommenden Böe erfaßt werden wollen. Schade,
schade, aber es hilft nichts, denn wir machen keine
Kriegsfahrt, sondern eine Lustfahrt, und wir dürfen
das Schiff nicht gefährden. Also zurück. — Jetzt trei-
ben wir vor dem Winde. Die Maschinen gehen mit
halber Kraft, dennoch zieht die Landschaft unter uns
dahin wie ein Wandelpanorama. Wir haben eine Ge-
schwindigkeit von hundertzwanzig Kilometer in der
Stunde. Bewunderungswürdig gehorcht das Schiff
dem Steuer. Wir senken uns hinab bis auf wenige
Meter über den Wasserspiegel, dann steigen wir wie-
der hinauf in die Lüfte. Ein herrliches Gefühl, so in
der Luft zu schweben, dem Vogel gleich, sich zu er-
heben, sich zu senken, wie es beliebt, und immer in
gleichmäßigem Fluge, ohne alle Erschütterung. —
Nun fahren wir in nordöstlicher Richtung über das
Land, lassen den Strom hinter uns. Unter uns liegen
in regelmäßigen Vierecken die Felder, stehen die Häu-
ser und Höfe, weidet das Vieh. Interessant ist die
Wirkung des Schiffes auf die Tiere. Die auf den Kop-
peln grasenden Pferde heben den Kopf, und mit we-
hendem Schweif und Mähnen jagen sie in gestreck-
tem Galopp davon, ebenso die Kühe und Schafe, alles
367
reißt aus, als wenn es gälte, das Leben zu retten. Die
Hühner in den Hühnerhöfen gebärden sich wie toll.
Sie flattern und fliegen durcheinander, ducken sich
platt an die Erde, rennen in die Ställe, sich zu ver-
bergen. — Von oben schauen wir in die Wälder hin-
ein, sehen die Gestelle wie gerade Linien, hier und
da ein paar Rehe, die in schnellster Flucht ein Dik-
kicht aufsuchen, einige Störche, die angstvoll über
den Wiesen davonflattern. Überall Angst und Schrek-
ken bei den Tieren, nur die Menschen stehen und
grüßen und winken hinauf! — Über die holsteinische
Geest fliegen wir hin, Heide, Felder, Gehölze, Ort-
schaften und einzelne Höfe wechseln miteinander
ab. — Jetzt sind wir über Elmshorn, dann nehmen
wir die Richtung nach Barmstedt, dessen flachen
Kirchturm ich von weit her erkenne. Da ist Voßloeh,
wo wir als Kinder Warmbier und Butterbrot aßen,
dann der Buchenwald, in dem wir uns herumtrieben,
in dem unklaren Gefühl seiner unermeßlichen Größe !
Jetzt überblicken wir ihn mit einem Blick, eine grüne
Insel in der Landschaft. Jetzt sehen wir die vielge-
krümmte Pinau, und jetzt kommt Ranzau. Da liegt
das alte Haus unserer schönen Jugend auf seiner
kleinen Insel, umgeben von Grün und von Wasser. Je-
den Fleck kann ich erkennen, jeden Fleck, auf dem
wir gespielt, die Bäume, in die ich meinen Namen
geschnitten. Die Fenster, hinter denen ich gewohnt
habe, die Brücken, über die wir gegangen sind. Wie
unverändert ist alles, und wie tief in die Erinnerung
eingegraben. Da ist der Garten, in dem ich so manche
Winternacht im Schnee gesessen habe, um den Ha-
sen zu schießen, der nächtens zum Kohl kam, der
Teich, in dem die vielen Karauschen waren, die alten
Tannen, in deren Gipfel W. und ich uns bargen, wenn
wir die Zeichenstunden schwänzten, die Bornholter
368
Mühle, das Gerichtshaus, die Amtsgerichtsrats-Woh-
nung, alles ist da, alles von oben gesehen, alles wie
ein Spielzeug aufgebaut, und auch hier wieder Kin-
der wie damals, die heraufstarren, im Spielen unter-
brochen, die wohl glücklich sind, wie wir es waren, und
die denken, daß dies herrliche Dasein nie ein Ende
nehmen werde, wie — wir es dachten! — Die Pro-
peller der »Hansa« knattern über dem alten lieben
Fleck Erde und Wasser, wir machen eine Schleife
und fahren noch einmal das ganze Stück Vergangen-
heit ab. Die Propeller knattern, und in ihren Tönen
höre ich den Kinderjubel der alten Zeit, die Stimme
der Eltern, das Rauschen der Blätter, das Raunen der
vergangenen Tage. "Wie fern, wie weltenfern liegt
diese Zeit hinter dem, der jetzt da oben in den Lüf-
ten schwebt und fühlt, wie Vergangenheit, Gegen-
wart und Zukunft sich mischen. — Wenn's nicht so
trivial klänge, möchte ich sagen: Wer uns das damals
gesagt hätte! — Doch wir müssen uns losreißen, denn
auf den Flügeln des Sturmes reitet das Wetter hin-
ter uns her. Wir drehen ab, und in zehn Minuten sind
wir über Altona, dann über Hamburg, jetzt schon über,
der Halle. Auf dem Platz davor liegt ein weißes La-
ken mit einem roten Pfeilstrich, der die Windrich-
tung bezeichnet, denn wir müssen gegen den Wind
landen, damit dieser nicht den Riesenkörper des
Schiffes von der Seite faßt. Die Mannschaften stehen
bereit, den herabschwebenden Vogel einzufangen.
Nun drehen wir gegen den Wind. Die Spitze des
Schiffes senkt sich, und in schrägem Gleitflug sinken
wir hinab, bis dicht über den grünen Rasen. Die
Haltetaue werden ausgeworfen, von den Leuten ge-
faßt, die Maschinen stehen still. Im Laufschritt ziehen
die Soldaten das Schiff vor die Halle, richten es, und
dann drehen sich die Propeller noch einmal, und in
Moltke.
369
raschem Zug taucht die »Hansa« durch die mächtige
Pforte in das Innere der Halle, stoppt ab und wird
festgemacht. Wir steigen aus, alle in dem Bewußt-
sein, das war eine herrliche Fahrt. — Zwei Minuten
darauf kommt das Wetter, dem wir so rasch ent-
flohen sind, heran, und der Regen prasselt auf das
Blechdach der Halle. Gerade zur rechten Zeit unter
Dach und Fach! Meisterhaft abgepaßt.
Generalstab Berlin, i4.September 1912.
Das Manöver ist gut und glatt verlaufen. Der Kaiser
war sehr zufrieden und sprach mir seine Anerken-
nung in besonders warmer Weise aus; auch sonst
habe ich gehört, daß das Manöver allgemein befrie-
digt hat. Zu der von mir befürchteten Komplikation
ist es nicht gekommen, ich hatte mich schon auf der
Nordlandsreise mit Sr. Majestät ausgesprochen, und er
hat sich mit großer Aufopferung im Zaume gehalten.
— Se. Majestät der Kaiser hielt eine sehr hübsche
Besprechung ab. Morgen vormittag fahre ich nun
nach Wilhelmshaven, um am Montag auf der »Hohen-
zollern« den Flottenübungen beizuwohnen.
Generalstab Berlin, i7.September 1912.
Der Tag auf der Flotte war sehr schön. Ein stol-
zer Anblick, 66 Torpedoboote, 14 Unterseeboote und
46 große Schiffe. Die Vorbeifahrt dauerte fast eine
Stunde. Ich war mit dem Kaiser auf dem Linien-
schiff »Deutschland«. — Mir geht es gut. Wie mir
gesagt wird, hat das Manöver in der Presse viel Bei-
fall gefunden. Von militärischer Seite habe ich viel
Anerkennung gehört.
Bankau, 21. September 1912.
Was die Manöver anbetrifft, so habe ich — wie
man zu sagen pflegt — eine »gute Presse« gehabt.
370
Die Zeitungen haben es sich offenbar jetzt abgewöhnt,
mich als Trottel zu bezeichnen!
Generalstab Berlin, 16. Mai 1913.
Es scheint, daß der Tanz auf dem Balkan wieder
losgehen wird. Serbien und Bulgarien können sich
nicht über die Verteilung des Bärenfelles einigen, und
stehen sich mit den Waffen in der Hand gegenüber.
Griechenland ist ebenso im Konflikt mit Bulgarien,
das einen gewaltigen Heißhunger nach Land hat. —
Wenn's zum Kriege unter den bisherigen Verbünde-
ten kommt, werden Serbien und Griechenland gegen
Bulgarien stehen. — Inwieweit dieser Krieg auf das
Verhalten der Großstaaten einwirken wird, kann kein
Mensch voraussehen. — Wir sind also noch ziemlich
weit von definitiven friedlichen Verhältnissen.
KABINETTSORDER.
Es macht Mir besondere Freude, Ihnen an dem heutigen Tage
Meines fünfundzwanzigjährigen Regierungsjubiläums erneut Mein
gnädiges Wohlwollen dadurch zu betätigen, daß Ich Sie hier-
durch auch zum Chef des Füsilier-Regiments Generalfeldmar-
schall Graf Moltke (Schlesischen) Nr. 38 ernenne. Das Regiment
bewahrt mit seinem Namen eine tiefe verehrungsvolle Dankbar-
keit für den verewigten Feldmarschall und somit bestehen in der
Erinnerung und in der Gegenwart Beziehungen an den Namen
»Moltke«, die Mich annehmen lassen, daß Sie in der Ernennung
zum Chef dieses Regiments einen Beweis Meiner besonderen
Anerkennung Ihrer Mir in allen Dienststellungen, insonderheit
als Chef des Generalstabes der Armee, geleisteten stets bewähr-
ten, treuen und guten Dienste erkennen werden. — Ich habe das
Regiment anweisen lassen, Ihnen den Rapport und die Offiziers-
Rangliste vorschriftsmäßig einzureichen.
Berlin, den 16. Juni 1913.
Wilhelm R.
An Meinen Generaladjutanten, General der Infanterie v. Moltke,
Chef des Generalstabes der Armee, ä la suite des Kaiser-Alexander-
Gardegrenadier-Regiments Nr. 1.
371
Generalstab Berlin, 16. Juni 1913.
Der Kaiser hat mich heute zum Chef des Füsilier-
Regiments Generalfeldmarschall Graf Moltke Nr. 38
ernannt. Das Regiment stand früher in Schweidnitz,
jetzt in Glatz.
Generalstab Berlin, 17. Juni 1913.
Berlin feiert und jubiliert noch immer; vom frühen
Morgen an ziehen Vereine, Innungen, Studenten usw.
mit Musikkorps und Fahnen durch die Straßen, voll-
führen einen Mordsspektakel und sperren jeglichen
Verkehr. Der Kaiser war gestern sehr frisch und gu-
ter Laune. Es liegt doch etwas Großartiges in dieser
Riesenbeteiligung an seinem Jubiläum, und das mag
er wohl empfinden.
Kuxhaven, 9. Juli 1913.
Heute meldet sich der neue Kriegsminister, General
von Falkenhayn. Ich weiß nicht, ob Du ihn erinnerst;
er war lange im Generalstab.
Norwegen, Bergen, 11. Juli 1913.
Die Ereignisse auf dem Balkan verlaufen nicht so,
wie ich es eigentlich gewünscht hätte. Die Bulgaren
scheinen überall im Nachteil zu sein. Ihr Verhalten
ist mir unbegreiflich. Der König scheint ganz elimi-
niert zu sein; man hört nichts von ihm. Seine viel-
gerühmte diplomatische Geschicklichkeit scheint völ-
lig zu versagen. Ich habe den Eindruck, daß er wil-
lenlos der Militärpartei ausgeliefert ist. Bulgarien spielt
va banque, es kann unmöglich den Krieg gegen Ser-
bien, Griechenland und Rumänien durchführen. Auch
die Türkei scheint sich wieder zu regen ; es wäre auch
dumm, wenn sie keinen Vorteil aus der Lage zöge.
Die Meldungen vom Kriegsschauplatz sind übrigens
372
so widersprechend, daß es fast unmöglich ist, sich
ein klares Bild der Lage zu machen.
Norwegen, Baleholm,ig.Juli 1913.
Gegen die Ereignisse auf dem Balkan sind wir alle
etwas abgestumpft. Kein Mensch weiß mehr, was dar-
aus werden soll. Nun fangen die Türken auch wieder
an, benutzen die Wehrlosigkeit Bulgariens und mar-
schieren auf Adrianopel. Bulgarien hat zu unsinnig
alles aufs Spiel gesetzt, um, wie es scheint, alles Ge-
wonnene wieder zu verlieren. Qui trop embrasse, mal
ötreint! — Ich denke mir, das nächste Ereignis wird,
wenn Bulgarien abgetan ist, der Krieg zwischen Ser-
bien und Griechenland, den beiden jetzt Verbünde-
ten, werden. Man täte am besten, den ganzen Balkan
mit einem Gitter zu umgeben, und es nicht eher wie-
der aufzumachen, bis alles dort sich totgeschlagen
hat. — Solange Österreich und Rußland sich nicht in
die Wirren einmischen, sehe ich keine Gefahr eines
europäischen Konflikts. — Das unglückliche Land,
in dem die Kriegführenden abwechselnd die Bewoh-
ner hinschlachten, je nachdem sie irgendwo hinkom-
men, kann einem leid tun. Was für fürchterliche Greuel
werden dort verübt, denn einer ist des andern wür-
dig; die Serben schlachten die Einwohner genau so
regelmäßig wie die Bulgaren, und die Griechen schei-
nen es nicht besser zu machen.
Norwegen, Baleholm, 22. Juli 1913.
Was die Entwicklung der kriegerischen Ereignisse
auf dem Balkan und ihre politische Rückwirkung be-
trifft, so glaube ich, daß wir mit dem Verlauf ganz
zufrieden sein können. Rußland, das so gerne die
Rolle des Protektors der Balkanstaaten gespielt hätte
und eine entscheidende Vermittlung ausüben wollte,
373
hat sich stark in die Nesseln gesetzt. Die Kriegfüh-
renden haben ihm einfach einen Korb gegeben und
erklärt, sie würden ihre Sache ohne Vermittlung un-
ter sich ausmachen. — Griechenland tritt durch seine
Erfolge den Bulgaren gegenüber immer mehr in den
Vordergrund und wenn eine Verständigung zwischen
ihm und Rumänien zustande kommt, was anschei-
nend der Fall ist, dann wird damit ein Gegen-
gewicht gegen die panslawistischen Bestrebungen
auf dem Balkan geschaffen und eine Mächtegruppe
hergestellt, die nicht auf russisches Kommando hin
marschieren wird.
Auch Österreich scheint endlich einzusehen, daß
es mit den Verhältnissen rechnen muß, wie sie sind
und nicht mit solchen, die es sich wünschen möchte.
Die unerfreuliche Spannung zwischen ihm und Ru-
mänien scheint behoben, das ist für uns, in Anbe-
tracht eines eventuellen Zusammenstoßes zwischen
Germanen- und Slawentum, von großer Bedeutung.
— Bulgarien sitzt in einer hoffnungslosen Klemme.
Die rumänische Kavallerie streift schon in die Ge-
gend von Sofia und König Ferdinand mag das Herz
wohl recht tief in die Hosen gefallen sein! Es bleibt
ihm nichts übrig, als Frieden zu machen und alles zu
bewilligen, was seine Gegner verlangen. — Ein sol-
cher Umschwung vom größten Erfolg zu völliger
Ohnmacht, ist ohne Beispiel in der Weltgeschichte.
Übrigens ist das den Bulgaren zu gönnen. Sie sind
nach den von ihnen verübten Greueltaten nicht mehr
als kriegsführender Staat, sondern als eine Horde von
Verbrechern zu betrachten. In der Stadt Serres haben
sie beim Rückzug von 2700 Einwohnern nur ein paar
hundert am Leben gelassen und alles verbrannt, die
reinen Hunnen. Ich glaube, daß der Friede bald ge-
schaffen werden wird, denn sie sind am Ende.
374
In China ist auch wieder der Teufel los. Der Süden
empört sich gegen Peking und Yuan Shi Kai. Der
Krieg ist im Gange, und schon streckt Rußland seine
gierige Hand nach der Mongolei und der nördlichen
Mandschurei aus. Wieviel Menschen werden täglich
umgebracht!
Posen, 27. August 1913.
General Pollio, der hier ist, hat mir gut gefallen, er
spricht nur französisch, scheint für unsere Armee
eine aufrichtige Bewunderung zu haben.
Generalstab Berl in, 22. Dezember 1913.
Das Kommando des Kronprinzen ladet mir eine
nicht leichte und verantwortungsvolle Aufgabe auf.
Nicht persönlich, denn er ist ein sehr charmanter
und liebenswürdiger Herr, aber sachlich. Er muß zur
Arbeit, wenigstens zur Wertschätzung der Arbeit er-
zogen werden, er muß einsehen lernen, daß Pflicht-
erfüllung wichtiger ist als Sporttreiben.
Rede Moltkes am Geburtstag Sr. Majestät des Kaisers
27. Januar 19 14.
Meine Herren!
Ich möchte namens des Generalstabes unserer
Freude darüber Ausdruck geben, daß es uns heute
vergönnt ist, den schönsten Festtag der Armee, den
Geburtstag unseres Allerhöchsten Kriegsherrn, im
Verein mit einer großen Zahl früherer Angehöriger
des Generalstabes feiern zu können, und ich möchte
den Herren dafür danken, daß sie durch ihr zahlrei-
ches Erscheinen das Gefühl kameradschaftlicher Zu-
sammengehörigkeit betätigt haben.
Für diese kameradschaftliche Zusammengehörig-
keit, die alle Teile des gesamten Heeres umfaßt, ist ja
375
der Generalstab der prägnanteste Ausdruck, denn er
vereinigt in sich die Angehörigen aller deutschen
Bundeskontingente zu gemeinsamer Arbeit für Kai-
ser und Reich.
Aber nicht nur die Kameradschaft ist es, die uns
heute zusammengeführt hat, es ist die uns allen ge-
meinsame, uns alle umfassende, treue Hingabe an
unseren kaiserlichen Herrn.
Meine Herren, lassen Sie uns als Geburtstagsgabe
für unseren Kaiser das Gelübde erneuern, fest zu ihm
zu stehen in guten und schlimmen Tagen. — Je mehr
eine vaterlandslose Demagogie an der Arbeit ist, Un-
frieden und Zwietracht zu säen zwischen den deut-
schen Stämmen und Ständen, je mehr sie daran ar-
beitet, die letzte und festeste Stütze von Staat und
Monarchie, das Heer, zu untergraben, desto mehr wird
es unsere Pflicht, uns fest zusammenzuschließen zur
Wahrung der heiligen Güter, die eine große Vergan-
genheit uns überliefert hat.
Lassen Sie uns in dem Bewußtsein, daß das ge-
samte Heer, getragen von dem Geist der Treue und
der Pflicht, geschlossen hinter unserem Allerhöch-
sten Kriegsherrn steht, unsere Gläser erheben auf die
Zukunft Deutschlands und auf das Wohl unseres
Kaisers und Herrn.
Generalstab Berlin, 22.Februar 1914.
Mit dem kommenden Frühling fängt es wie all-
jährlich wieder an, politisch zu kriseln. Man sieht in
Österreich einer politischen Aktion Rußlands ent-
gegen und Österreich hat sich militärisch durch seine
unverständliche Politik gegen Rumänien selber in
eine schwierige Lage gebracht. — Nun soll Berlin
das wieder gut machen. Ist aber nicht so leicht!
376
Generalstab Berlin, y.März 1914.
Heute morgen habe ich einer Anzahl von Reichs-
tagsabgeordneten einen Vortrag über Photostereo-
skopie im Bibliotheksaal des Generalstabes halten
lassen, mit Lichtbildern. Es handelt sich darum, daß
ich einen Abteilungschef mehr beantragt habe und
daß im Reichstag für diese Materie kein Verständnis
vorhanden war. Um ihnen dies beizubringen, fand
diese Veranstaltung statt. Sie haben alle viel Inter-
esse gezeigt und ihrem Erstaunen über die techni-
schen Möglichkeiten der Ausnutzung der Photogra-
phie Ausdruck gegeben.
Generalstab Berlin, g. März 1914.
Morgen habe ich ein Diner zu zwölf Personen aus
Anlaß der Anwesenheit einer italienischen Militär-
mission.
Generalstab Berlin, 11. März 1914.
Ich trank bei Tisch dem italienischen General Zuc-
cari zu, ohne eine Rede zu halten, worauf er aufstand
und eine Rede auf mich hielt, in der er sagte, daß
ich mir das größte Verdienst erworben habe, daß man
in Italien und in Österreich mit dem größten Ver-
trauen auf mich blicke usw. usw. — Es war mir recht
peinlich, wie Du Dir denken kannst.
Generalstab Berlin, 22. März 1914.
Ich war heute vormittag bei der Eröffnungsfeier
der Neuen Bibliothek. Das Gebäude ist sehr schön,
mit mächtigem Kuppelsaal, dessen Kuppel etwas
größer sein soll, als diejenige der Peterskirche. Ganz
aus Eisenbeton erbaut, der genau so aussieht wie
grauer Sandstein. Es wurden eine ganze Reihe von
377
Reden gehalten, unter denen diejenige des Kaisers
die beste war.
Karlsbad , 27. April 1914.
Die Geschichte in Mexiko wird, soweit ich es be-
urteilen kann, ein Reinfall für die Union werden, denn
das ganze Land schließt sich gegen die Amerikaner
zusammen, und es wird ihnen nicht leicht werden,
mit dem Lande, das etwa viermal so groß ist wie
Deutschland, fertig zu werden. — Ich glaube, Präsi-
dent Wilson wird froh sein, wenn er mit einem blauen
Auge aus der Affäre herauskommt. Zu internationa-
len Verwicklungen wird die Sache nicht führen.
Baden-Baden, 30. Mai 1914.
Wir waren heute auf den Schlachtfeldern von
Weißenburg und Wörth, auf denen ich vor vierund-
vierzig Jahren die Feuertaufe erhielt. Du kannst Dir
denken, daß auf diesen blutgetränkten Geländen die
Erinnerungen an die große Zeit lebhaft wieder er-
wachen. Mir wurde der Gefechtsbericht überreicht,
den ich als Fähnrich am Abend der Schlacht von
Weißenburg im Biwak geschrieben hatte und den
man in den Kriegsakten, merkwürdigerweise, vorge-
funden hatte. Ich mußte ihn damals schreiben, da
alle Offiziere der Kompagnie gefallen waren und ich
die Kompagnie führte. Hatte es ganz vergessen. Der
Bericht, auf einen Bogen groben Papiers geschrie-
ben, gefiel mir ganz gut, er ist einfach, sachlich und
ganz verständig, ohne Prahlerei, vonmir selber sprach
ich bescheidenerweise nur in der dritten Person als:
der Fähnrich. — Das Papier machte mir Spaß. Es ist
interessant, die Striche im Gelände wieder aufzufin-
den, die ich damals im Feuer gegangen bin.
378
Metz, 5. Juni 1914.
Es macht mir Freude, den Kronprinzen in die Ver-
hältnisse unserer Grenzlande einzuführen. Er ist vol-
ler Interesse bei der Sache. Es steckt viel gute An-
lage in ihm, der junge Most kann einmal einen guten
Wein geben.
Kyllburg, 7. Juni 1914.
Du hast gewiß Recht mit Deinen Ausführungen
über die Entwicklung der Seelenfreiheit, ich habe
sie mit großem Interesse gelesen. Du weißt, daß
heute (Sonntag) mein Arbeitstag ist, ich habe viel zu
tun, habe schon stundenlang geschrieben und muß
mich kurz fassen, kann daher auf Dein Thema heute
nicht näher eingehen. — Ich denke am 11. in Köln
die Schlußbesprechung abzuhalten. Nachmittags will
ich dann nach Homburg und von dort am 12. einen
Tag ins Manövergelände fahren. Am 13., morgens,
denke ich in Berlin einzutreffen.
Generalstab Berlin, 16. Juni 1914.
Wir sind lange getrennt gewesen, seit langer Zeit,
laß uns hoffen, daß uns mal wieder ein längeres Zu-
sammensein beschieden werde. Am Donnerstag hoffe
ich Vortrag bei Sr. Majestät zu haben, dann will ich
ihn bitten, mich von der Nordlandsreise zu dispensie-
ren. Es muß eben mal ohne mich gehen.
Generalstab Berlin, 18. Juni 1914.
Wenn ich von der Nordlandsreise dispensiert werde,
denke ich am 2. Juli nach Karlsbad zu kommen. Ich
kann vorher nicht gut weg, da ich noch zu viel dienst-
liche Dinge zu erledigen habe. Wenn Ihr fünf Wo-
chen dort bleibt, würden wir ja auch dann noch etwa
drei Wochen zusammen sein.
379
Generalstab Berlin, ig. Juni 1914.
Gestern abend habe ich nun Se. Majestät gebeten,
mich von der Nordlandsreise zu dispensieren. Die
Sache machte keine Schwierigkeiten, er bedauerte es
zwar sehr, daß ich nicht mitkäme.
Karlsbad, 17. Juli 1914.
Was Deine Reise nach Bayreuth anbetrifft, so wirst
Du sie nach den neuesten Nachrichten, die ich er-
halten habe, ruhig machen können. — Vor dem 25.
wird nichts Entscheidendes geschehen.
Karlsbad, 18. Juli 1914.
Ich hoffe sehr, daß Du an Deiner Bayreuther Reise
nichts ändern wirst. Wenn ich auch zwei Tage al-
leine in Berlin bin, so schadet das wirklich gar nichts.
Ich freue mich sehr auf unser Zusammensein im Au-
gust, wenn Du aus Bayreuth zurückkommst.
Karlsbad, ig. Juli 1914.
Ich glaube noch nicht recht an ein ungestörtes Zu-
sammenleben im August. Entweder wirst Du zu Olga
gehen oder, wenn es mit der Mama schlecht gehen
sollte — nach Gvesarum, oder es wird irgend etwas
anderes kommen.
Karlsbad, 21. Juli 1914.
Es freut mich, daß Du Dr. Steiner gesehen und ge-
sprochen hast, es ist Dir ja immer eine solche innere
Erfrischung und Stärkung, mit ihm zu reden. Ich
würde mich auch freuen, ihn im August zu sehen,
wenn er nach Berlin kommen sollte.
Nun soll also der Donnerstag die Entscheidung
bringen! Ich fange allmählich an, etwas skeptisch in
dieser Sache zu werden!
380
Generalstab Berlin, 26. Juli 1914.
Hier im Generalstab wartete W. auf mich und wir
hatten eine längere Besprechung. — Ich will nach-
her — es ist jetzt 10 Uhr — aufs Auswärtige Amt
gehen, um mich mit J. zu besprechen. Die Lage ist
noch ziemlich ungeklärt. Die weitere Gestaltung der
Dinge hängt lediglich von der Haltung Rußlands ab,
unternimmt dies keinen feindlichen Akt gegen Öster-
reich, so wird der Krieg lokalisiert bleiben. Gestern
abend zogen Tausende von Menschen vor der öster-
reichischen Botschaft vorbei und brachten Ovatio-
nen aus, bis spät in die Nacht dauerten die Hurra-
rufe, die Leute sangen patriotische Lieder, es war
beinahe so, als ob wir selber mobil gemacht hätten.
Die Stimmung in der Presse ist gut, sogar das »Ber-
liner Tageblatt« schreibt energisch in österreichi-
schem Sinne. Du wirst aber wohl am Dienstag zu-
rückkommen. Bis dahin wird auch kaum eine grös-
sere Entscheidung gefallen sein. Genieße das Schöne,
das Dir noch geboten wird.
Generalstab Berlin, 27. Juli 1914.
Heute morgen war ich lange bei Bethmann, komme
eben von dort zurück und muß in einer Stunde nach
dem Neuen Palais, wo der Kaiser um 3 Uhr eintref-
fen wird. Die Lage ist dauernd recht unklar. Sehr
schnell wird sie sich nicht klären, es werden noch
etwa vierzehn Tage vergehen, bevor man etwas Be-
stimmtes wissen oder sagen kann. Du kannst diese
Zeit in Bayreuth ruhig zu Ende bleiben, meinetwegen
brauchst Du keine Sorge zu haben. — Ich habe den
gestrigen Tag, der allerdings etwas anders war als
der Karlsbader Kurtag, ausgezeichnet durchgehalten,
fühle mich wohl und frisch.
38i
Luxemburg, 2g.August 1914.
Ich sitze hier in der Schule, in der wir auch hier
unsere Bureaus errichtet haben. Es ist alles noch un-
fertig und bei weitem nicht so bequem wie in Ko-
blenz. Wir haben weder Gas noch elektrisch Licht,
nur trübe Petroleumlampen. Desto helleres Licht er-
strahlt mir aus den Meldungen, die von unseren Ar-
meen heute eingelaufen sind. Im Osten ist ein voller
Sieg erfochten, so viele Gefangene, daß die Armee
nicht weiß, wie sie sie fortschaffen soll. — Im We-
sten meldet die 2. Armee unter Bülow einen vollen
Sieg, der heute gegen fünfeinhalb französische Korps
erfochten worden ist.
Wir wohnen alle zusammen, das heißt meine Her-
ren und ich, in dem Hotel de Cologne, das einen
deutschen Wirt hat. Es ist nicht sehr schön, aber
man muß im Felde vorliebnehmen. Es kommt ja
auch nicht darauf an, ob man's ein bißchen besser
oder schlechter hat.
Ich bin froh, für mich zu sein und nicht am Hofe.
Ich werde ganz krank, wenn ich dort das Gerede höre,
es ist herzzerreißend, wie ahnungslos der hohe Herr
über den Ernst der Lage ist. Schon kommt eine ge-
wisse Hurrastimmung auf, die mir bis in den Tod
verhaßt ist. — Nun, ich arbeite mit meinen braven
Leuten ruhig weiter. Bei uns gibt es nur den Ernst
der Pflicht und keiner ist sich darüber im unklaren,
wie viel und Schweres noch getan werden muß.
Luxemburg, 31. August 1914.
Der Erfolg im Osten ist groß und wird unsere un-
glückliche Provinz hoffentlich von den Russen säu-
bern. Die Verwüstungen, die sie angerichtet haben,
muß eine spätere Zeit heilen, wenn wir wieder Frie-
382
den haben. — Auch im Westen wieder ein Erfolg
bei der 2. Armee unter Bülow, zu der das Gardekorps
gehört. Es soll schwere Verluste gehabt haben. Heute
und morgen kämpfen die Armeen der Mitte, es wird
ein Entscheidungskampf sein, von dessen Ausgang
unendlich viel abhängt.
Luxemburg, 1. September 1914.
Heute, am Schlachttage von Sedan, haben wir wie-
der einen großen Erfolg über die Franzosen errun-
gen. Der Kaiser war auf meinen Wunsch heute draus-
sen bei dem Oberkommando der 5. Armee, bei dem
Kronprinzen, und bleibt die Nacht draußen. Es ist
gut für ihn, daß er einmal zur Truppe kommt und
daß sie ihn sieht, auch, daß er auf französischem Bo-
den ist.
Luxemburg, 2. September 1914.
Ich bin eben aus Frankreich zurückgekommen. Ich
war auf dem Fort Longwy, das gleich nach dem Ein-
marsch zusammengeschossen wurde. Die Wirkung
unserer schweren Artillerie ist vernichtend. Das ganze
Fort, das eine kleine Stadt umschloß, ist ein Trüm-
merhaufen. — Der Kaiser kam heute von den Trup-
pen zurück, in Hurrastimmung. — In Österreich geht
es schlecht. Die Armee kommt nicht vorwärts. Ich
sehe es kommen, daß sie geworfen wird.
Luxemburg, 3. September 1914.
Heute ist nichts Neues vorgefallen. Mit den Öster-
reichern geht es schlecht, und wir können ihnen zur
Zeit nicht helfen, müssen Gott danken, wenn wir mit
unseren Gegnern fertig werden. Gott gebe, daß bald
irgendein Ereignis in Rußland eintritt, das uns von
den moskowitischen Massen entlastet.
383
Luxemburg, 7. September 1914.
Heute fällt eine große Entscheidung, unser ganzes
Heer von Paris bis zum oberen Elsaß steht seit ge-
stern im Kampf. Müßte ich heute mein Leben hin-
geben, um damit den Sieg zu erkämpfen, ich täte es
mit tausend Freuden, wie es wieder Tausende unserer
BrüderheutetunundTausendeesgetanhaben.Welche
Ströme von Blut sind schon geflossen, welcher na-
menlose Jammer ist über die ungezählten Unschuldi-
gen gekommen, denen Haus und Hof verbrannt und
verwüstet ist. — Mich überkommt oft ein Grauen,
wenn ich daran denke, und mir ist zu Mute, als müßte
ich dieses Entsetzliche verantworten, und doch konnte
ich nicht anders handeln, als geschehen ist.
Luxemburg, 8. September 1914.
Ich kann es schwer sagen, mit welcher namenlosen
Schwere die Last der Verantwortung die letzten Tage
auf mir gelastet hat und noch lastet. Denn noch im-
mer ist das große Ringen vor der gesamten Front
unseres Heeres nicht entschieden. Es handelt sich
hierbei um Wahrung oder Verlust des bisher mit un-
endlichen Opfern Errungenen, es wäre furchtbar,
wenn all dies Blut vergossen sein sollte, ohne einen
durchschlagenden Erfolg. Die schreckliche Span-
nung dieser Tage, das Ausbleiben von Nachrichten
von den weit entfernten Armeen, das Bewußtsein
dessen, was auf dem Spiel steht, geht fast über
menschliche Kraft. — Die furchtbare Schwierigkeit
unserer Lage steht oft wie eine schwarze Wand vor
mir, die undurchdringlich scheint. — Heute abend
sind etwas günstigere Nachrichten von der Front
eingetroffen. Gott gebe, daß wir noch einmal mit un-
seren zusammengeschmolzenen Truppen einen Er-
384
folg haben. Das Gardekorps ist wieder schwer im
Kampf gewesen, es soll fast bis auf die Hälfte seines
Bestandes heruntergekommen sein.
Es ist eine schwere Zeit, und namenlose Opfer hat
dieser Krieg schon gefordert und wird sie weiter for-
dern. Die ganze Welt hat sich gegen uns verschwo-
ren, es sieht so aus, als ob es die Aufgabe aller übri-
gen Nationen wäre, Deutschland endgültig zu ver-
nichten. — Die wenigen neutralen Staaten sind uns
gegenüber nicht freundlich gesinnt. Deutschland hat
keinen Freund in der Welt, es steht ganz alleine auf
sich angewiesen.
Von der heutigen Entscheidung hängt es ab, ob
wir noch hier bleiben. — Lange jedenfalls nicht mehr.
Der Kaiser muß nach Frankreich hinein, näher an die
Armee heran, er muß wie seine Truppen in Feindes-
land sein.
Luxemburg, 9. September 1914.
Es geht schlecht. Die Kämpfe im Osten von Paris
werden zu unseren Ungunsten ausfallen. Die eine
unserer Armeen muß zurückgehen, die andern wer-
den folgen müssen. Der so hoffnungsvoll begonnene
Anfang des Krieges wird in das Gegenteil umschla-
gen. — Ich muß das, was geschieht, tragen, und werde
mit meinem Lande stehen oder fallen. Wir müssen
ersticken in dem Kampf gegen Ost und West. — Wie
anders war es, als wir vor wenigen Wochen den Feld-
zug so glanzvoll eröffneten — die bittere Enttäu-
schung kommt jetzt nach. Und wie werden wir zu
zahlen haben für alles, was zerstört ist.
Der Feldzug ist ja nicht verloren, ebensowenig wie
er es bisher für die Franzosen war, aber der französi-
sche Elan, der auf dem Punkt stand, zu erlöschen,
wird mächtig aufflammen, und ich fürchte, unser
Moltke. 25. 385
Volk in seinem Siegestaumel wird das Unglück kaum
ertragen können. — Wie schwer dies mir wird, kann
niemand besser ermessen — als Du, die Du ganz in
meiner Seele lebst.
TELEGRAMM S.M.DES KAISERS UND KÖNIGS.
Mit bestem Glückwunsche
Luxemburg, 14. September 1914. Wilhelm.
Chef des Generalstabes.
Die Wilnaer Armee, II., III., IV., XX. Armeekorps, drei bis
vier Reserve-Divisionen, fünf Kavallerie-Divisionen, ist durch die
Schlacht an den Masurischen Seen und die sich daran anschlies-
sende Verfolgung vollständig geschlagen. Die Grodnoer Reserve-
Armee, XXII. A.-K., Rest des VI. A.-K, Teile des III. Sibirischen
Korps, hat im besonderen Gefecht bei Lyk schwer gelitten. Der
Feind hat starke Verluste von Toten und Verwundeten. Die
Zahl der Gefangenen steigert sich. Die Kriegsbeute ist außer-
ordentlich. Bei der Frontbreite der Armee von über hundert
Kilometern, den ungeheuren Marschleistungen von zum Teil hun-
dertfünfzig Kilometern in vier Tagen, bei den sich auf dieser
ganzen Front und Tiefe abspielenden Kämpfen, kann ich den
vollen Umfang noch nicht melden. Einige unserer Verbände sind
scharf ins Gefecht gekommen. Die Verluste sind aber doch nur
gering. Die Armee war siegreich auf der ganzen Linie gegen ei-
nen hartnäckig kämpfenden, aber schließlich fliehenden Feind.
Die Armee ist stolz darauf, daß ein Kaiserlicher Prinz in ihren
Reihen gekämpft und geblutet hat.
gez. Hindenburg.
(Eigenhändig vom Kaiser geschrieben und Moltke zugeschickt
am 14. September 1914.)
Mözieres, 27. September 1914.
Ich fahre heute mittag wieder von hier ab nach
Brüssel, um dort die Sache in Schwung zu bringen.
Unsere Lage in Frankreich ist noch immer unverän-
dert. Wir brauchen einen Erfolg an irgendeiner Stelle,
er kommt und kommt nicht.
386
Mezieres,3- Oktober 1914.
Unsere Lage ist noch immer kritisch, aber auch
hier in Frankreich kann jeden Tag eine Wendung
eintreten, wie wir gestern vor Antwerpen einen schö-
nen Erfolg gehabt haben. Ein solcher Erfolg im We-
sten, und alles ist gerettet. — Du weißt, daß ich mich
gesträubt habe, mich krank zu melden und abzurei-
sen, Du weißt, daß ich Dir sagte, mein Platz ist hier,
ich stehe und falle mit dem Heere. — Ich werde viel-
leicht schon morgen nach Brüssel zurückkehren, wo
die Entscheidung heranreift, und es gut ist, wenn ich
dort bin, damit die Einheitlichkeit gewahrt bleibt. —
Das Gardekorps ist an eine andere Stelle gezogen und
wird wohl wieder neue Kämpfe zu bestehen haben.
TELEGRAMM DES KAISERS.
Generaloberst v. Moltke, Gouvernement Brüssel.
Den 10. Oktober 1914.
Ich spreche Ihnen Meinen Königlichen Dank aus für Ihre
erfolgreiche Mitwirkung bei der Einnahme von Antwerpen, die
für immer eine der ruhmreichsten Waffentaten sein wird, und
verleihe Ihnen in hoher Anerkennung Ihrer Mir bisher geleiste-
ten vortrefflichen Dienste das Eiserne Kreuz erster Klasse. Ich
bin voll Dank gegen Gott für diesen herrlichen Erfolg.
Wilhelm LR.
Mezieres, 11. Oktober 1914.
Ich versuche, soviel wie möglich, mich zu orien-
tieren über alles, was gemacht wird, und das Verhält-
nis zwischen Falkenhayn und mir aufrecht zu erhal-
ten, es ist nicht leicht, aber ich tue, was ich kann. Ich
glaube, eine schwerere Prüfung kann einem Men-
schen kaum auferlegt werden. — Gestern bin ich von
Antwerpen zurückgekommen. Ich habe dort wenig-
stens etwas helfen können, während ich hier nur Zu-
387
schauer bin. — Der Fall Antwerpens war seit langem
wenigstens mal wieder ein Erfolg.
Mezieres, 22. Oktober 1914.
Ich bin nun doch zusammengeklappt, nachdem
mein Körper sich bisher so gut gehalten hatte. Es ist
eine Entzündung der Gallenblase und Stauung im
rechten Leberlappen. An und für sich ist die Sache
nicht schlimm, ich muß aber liegen. Dr. N. vom Kai-
ser behandelt mich in netter und angenehmer Weise,
er rechnet damit, daß die Sache in noch acht Tagen
ganz überwunden sein wird. — Für mich war diese
Erkrankung ein harter Schlag, gerade am Tage vor-
her hatte ich mit Sr. Majestät gesprochen. Es war so,
wie ich es gedacht hatte. Der Kaiser war in der Idee,
daß ich eigentlich die Sache leitete und Falkenhayn
nur gewissermaßen Hilfsarbeiter sei. Ich habe ihm
die Sache nun klargelegt und gesagt, daß ich ganz
ausgeschaltet bin. Er sagte, er wolle »Remedur« ein-
treten lassen.
Mezieres, 24. Oktober 1914.
Der Kaiser war gestern eine Stunde bei mir, sehr
gütig, persönlich ist er augenscheinlich der Alte mir
gegenüber geblieben. Einen klaren Einblick in die
Lage, in die er mich gebracht hat, hat er wohl nicht.
Ich konnte gestern auch nicht darüber sprechen, muß
es aber tun, wenn ich gesund bin, in drei bis vier
Tagen denke ich. — P. sagte mir, der Kaiser wollte
mir eins seiner Jagdschlösser anbieten, wenn ich mich
einige Zeit erholen wollte. Vielleicht ist dies der ein-
zige Weg, um zu einer Änderung zu kommen, ich
weiß es noch nicht, möchte es sehr ungern.
Der Erfolg, auf den wir hofften, ist nicht eingetre-
ten, immer wieder Enttäuschung. Es ist, als ob uns
388
nichts mehr glücken sollte, und doch muß endlich
der Erfolg kommen, wenn wir nicht in der Masse
unserer Gegner ersticken sollen.
Mezieres, 26. Oktober 1914.
Es geht nicht vorwärts mit unseren Operationen.
Alle unsere Hoffnungen, die wir auf die neuen Korps
gesetzt haben, sind trügerisch gewesen. Wir kommen
zu keiner Entscheidung, der Feldzug quält sich hin
wie ein stagnierender Sumpf. — Körperlich geht es
täglich besser.
Mezieres, 28. Oktober 1914.
Die Verhältnisse Rußland gegenüber machen mir
schwere Sorge. Ich sehe es kommen, daß nachdem
die Österreicher wieder geschlagen sind, unsere Ar-
mee zurückgehen muß. — Diese österreichische Nie-
derlage ist der schwerste Schlag, den wir erleiden
konnten.
KABINETTSORDER S. M. DES KAISERS.
Infolge Ihrer Erkrankung habe Ich Mich zu Meinem größten
Bedauern in die Notwendigkeit versetzt gesehen, die Stelle des
Chefs des Generalstabes des Feldheeres in andere Hände zu
legen, und habe Ich den Kriegsminister Generalleutnant von Fal-
kenhayn zu Ihrem Nachfolger ernannt. Es berührt Mich im höch-
sten Grade schmerzlich, daß Sie Ihre langjährige, unermüdliche
und segensreiche Friedensarbeit nun nicht mehr selbst in wei-
tere Taten umsetzen und an dem Erfolge Ihres Wirkens aus
nächster Nähe teilnehmen können. Ihr Verdienst um den Ge-
neralstab bleibt aber deshalb doch ungeschmälert und wird Ihre
Persönlichkeit und Ihre Tätigkeit an der Spitze des in der ganzen
Welt ruhmreich bekannten deutschen Generalstabes bei Mir und
Meiner Armee unvergessen bleiben. Von Herzen wünsche Ich
Ihnen baldige Genesung und hoffe, daß Sie Ihre bisherige Rüstig-
keit völlig wieder erlangen werden.
Ihrem Wunsche um Begleitung durch einen Generalstabsoffi-
389
zier habe ich gern entsprochen, und betreffs des weiteren Bezugs
Ihrer bisherigen Gebührnisse an den Kriegsminister verfügt.
Großes Hauptquartier, den 3. November 1914.
Wilhelm R.
An Meinen Generaladjutanten und Chef des Generalstabes des
Feldheeres Generalobersten v. Moltke.
Vorwort Moltkes für »Das deutsche Soldatenbuch«.*
Geschrieben November 1914.
Euch, deutsche Krieger, die ihr Eltern, Geschwi-
ster, Weib und Kind, Haus und Hof verlassen habt,
um hinauszuziehen in den Krieg, ist dies Buch gewid-
met: Es soll euch einen Gruß aus der Heimat brin-
gen, die ihr mit eurem Blute und Leben schützt. Es
ist eine heilige Sache, um die ihr im Felde steht.
Nicht aus selbstsüchtigem Interesse hat Deutschland
diesen Krieg unternommen. Wir wollten Frieden hal-
ten mit aller Welt, und wir trachteten nicht nach
fremdem Gut oder Land. Der Krieg ist uns aufge-
zwungen worden durch den Neid und den Haß un-
serer zahlreichen Feinde, die das Reich, deutsches
Leben, deutsche Kultur und Friedensarbeit vernich-
ten wollten. Die Deutschland austilgen wollten aus
der Reihe der Kultur und uns das verderben wollten,
was wir in langer, stiller Friedensarbeit geschaffen
haben. Zur Verteidigung unseres nationalen Lebens,
für die Existenz unseres Landes führen wir diesen
Krieg, und wir werden die Waffen nicht eher nieder-
legen, bis wir einen Frieden erkämpft haben, der es
unseren Kindern und Enkeln ermöglicht, sicher vor
neuen Angriffen das wieder aufzubauen und weiter-
zuführen, was der Krieg zerstört hat. Aber es handelt
sich nicht nur um materielle Güter, das wollen wir
* Verlag: Deutsche Bibliothek, Berlin W.
390
nicht vergessen, es handelt sich um etwas Höheres,
darum, der gesamten Welt das führende deutsche
Geistesleben zu erhalten. Deshalb ist es ein heili-
ger Krieg, den wir führen, das weiß und fühlt das
ganze deutsche Volk, und es steht einmütig in treuer
Brüderschaft hinter seinem Heere. Es wird aushal-
ten mit euch und jedes Opfer bringen, bis der Sieg
errungen ist. Und wenn ihr dann heimkehrt, werdet
ihr als kostbarstes Gut aus dem Felde die Gewiß-
heit mitbringen, daß Deutschland unbesiegbar war,
mit allen seinen Stämmen und Parteien wie Brü-
der zusammenstand, und ihr werdet in eurem Her-
zen das Bewußtsein tragen, daß die deutsche Volks-
seele unendliche Kräfte birgt, wenn sie ideale Ziele
in sich aufleben läßt. Daß dieses Gut dem deutschen
Volke auch nach dem Kriege erhalten bleibe in aller
Zukunft, ist der heiße Wunsch aller, die eurer heute
und täglich gedenken. Haltet aus, ihr deutschen Krie-
ger, wenn der Kampf auch noch so schwer ist. Bleibt
treu und fest, wie ihr es bisher gewesen seid, und ihr
werdet siegen.
AUSZUG AUS EINEM BRIEF VON KRONPRINZ WILHELM
AN MOLTKE.
Stenay, den 15. Dezember 1914.
Euer Exzellenz
habe ich schon lange einmal schreiben wollen, wie sehr ich mit
Ihnen fühle in dieser für Sie so schweren Zeit. Es hat mir ins
Herz geschnitten, wie ich Sie damals in Mezieres so vereinsamt
und krank sehen mußte. Von alten Zeiten her habe ich stets so
riesig viel von Euer Exzellenz gehalten und speziell als wirklich
treuer, aufrichtiger Freund meines Vaters, der ja leider wenig
von dieser Art besitzt. — Während meiner Zeit im Generalstab
habe ich nur Güte und Nachsicht und Verständnis, was den Ver-
lust meines Regiments anbetrifft, bei Euer Exzellenz gefunden.
Endlich verdanke ich Ihnen allein mein jetziges Kommando und
391
sollte Gott mich gesund nach dem Kriege in die Heimat zurück-
kehren lassen, so werden die Schlachten von Longwy, an der
Lotaine, dem Maasübergang und den Kämpfen bei Varennes und
in den Argonnen bis zu meinem letzten Augenblick herrliche, er-
hebende Erinnerungen für mich immer bleiben. — Alles dieses
gibt mir das Recht jetzt, in den für Sie trüben Tagen, an Ihre
Seite zu treten und Ihnen die Hand fest zu drücken in dem Ge-
fühl der Hochachtung und der treuen Anhänglichkeit, ich bin
gewiß, daß ich verstanden werde, auch wenn ich mich unge-
schickt ausdrücke, viel Worte habe ich nie machen können, aber
das Gefühl ist warm und echt.
Nun auf Wiedersehen, Euer Exzellenz, und einen herzlichen
Gruß an Ihre liebe Frau, die in dieser Zeit die einzige wirkliche
Trösterin sein kann.
In alter Treue
Wilhelm.
KABINETTSORDER S. M. DES KAISERS.
Ich ernenne Sie hierdurch für die Dauer des mobilen Verhält-
nisses zum Chef des Stellvertretenden Generalstabes der Armee.
Großes Hauptquartier, den 30. Dezember 1914.
Wilhelm R.
An Meinen Generaladjutanten, Generalobersten von Moltke, Chef
des Füsilier-Regiments Generalfeldmarschall Graf Moltke (Schle-
sisches) Nr. 38, ä la suite des Kaiser-Alexander-Gardegrenadier-
Regiments Nr. 1.
392
Vierter Teil
Moltke nach der Marneschlacht
Moltke
an den Reichskanzler v. Bethmann Hollweg.
Berlin, 8. Januar 1915.
Ew. Exzellenz
wollen verzeihen, wenn ich durch handschriftliche
Antwort auf Ihr Schreiben vom 5. d. M. Schwierig-
keiten beim Lesen mache, ich möchte aber dies
Schreiben keinem Abschreiber anvertrauen.
Ich spreche mich im Vertrauen auf den von Ew.
Exzellenz gewählten Weg rein persönlicher Mittei-
lung so offen aus, wie es mir die Schwierigkeit der
Sache gestattet.
Es ist keine Frage, und es ist mir hier von den
verschiedensten Seiten entgegengetreten, daß die Ver-
einigung des Amtes des Chefs des Generalstabes und
des Kriegsministers in einer Hand in weiten Kreisen
des Landes in ungünstigem Sinne beurteilt wird. Ich
persönlich halte diese Vereinigung nicht für günstig.
Generalstab und Kriegsministerium sind zwei Behör-
den, die ein Gegengewicht gegeneinander bilden müs-
sen, wenn in zweckdienlicher Weise gearbeitet wer-
den soll. Außerdem gehört der Kriegsminister nach
Berlin, an die Zentralstelle seiner Wirksamkeit. Per-
sönlich ist die Vereinigung beider Stellen für den In-
haber gewiß sehr bequem, wo sich entgegenstehende
Auffassungen gegenüberstehen, kann er diktatorisch
entscheiden. Das hat sich kürzlich gezeigt, wie es
sich um die Frage der Neuaufstellung der Korps han-
delte, wo das Kriegsministerium und, wie mir gesagt
ist, auch der General v. Falkenhayn als Kriegsminister
gegen die Neuaufstellung und für die Stärkung un-
seres Westheeres war, während General v. Falkenhayn
395
kurz darauf als Chef des Generalstabes die Aufstellung,
befahl. Ich würde mich in diesem Falle der Ansicht
des Kriegsministeriums angeschlossen haben. — Es
ist aber sehr schwer für mich, über diese Dinge ein
begründetes Urteil abzugeben, da mir jede Orientie-
rung über die tatsächliche Lage des Heeres fehlt. Von
dem Augenblicke an, wo Se. Majestät mir durch den
Chef des Militärkabinetts sagen ließ, ich solle mich
krank melden und nach Berlin fahren, da dem Gene-
ral v. Falkenhayn die Leitung der Operationen über-
tragen werden solle, habe ich keinen Einfluß auf die
Führung des Krieges mehr gehabt. Da der General
v. Falkenhayn mir gleichzeitig erklärte, er könne die
Verantwortung nur übernehmen, wenn ich mich in
keiner Weise einmischte, habe ich mich zurückge-
halten und bin seitdem weder um meine Ansicht ge-
fragt, noch über die beabsichtigten Maßnahmen der
Heeresleitung vorher unterrichtet worden. Seitdem
ich am i. November auf Wunsch Sr. Majestät nach
Homburg gegangen war und dort nach zwei Tagen
die Order über meine Entlassung von meiner bis-
herigen Stellung erhalten hatte, habe ich mich auch
nicht mehr über die Lage durch Umfrage im Gene-
ralstab orientieren können, da ich nun völlig ausge-
schaltet war. — Ich sage dies nicht, um mich zu be-
klagen, sondern nur, um darzulegen, wie schwer es
für mich ist, ein begründetes Urteil über die operati-
ven Geschehnisse und eine Bewertung derselben ab-
zugeben.
Das einzige, was ich sehe und was ebenso wie ich
alle Welt sehen kann, ist das Ergebnis der letzten
Kriegsmonate. — Ich sehe, daß unser ganzes West-
heer im Schützengraben liegt, und daß eine operative
Kriegsführung nicht mehr stattgefunden hat. Der Un-
terschied zwischen der Kriegsführung im Osten und
396
im Westen muß auch dem militärischen Laien klar
sein. — Es ist einleuchtend, daß die Wiederherstel-
lung der Operationsmöglichkeit im Westen nur durch
ein Loslösen vom Feinde und in einer Konzentrie-
rung der Heeresgruppen weiter rückwärts bewirkt
werden kann. — Zu dieser Maßregel, die eine Ent-
scheidung in offener Feldschlacht gegen den Geg-
ner suchen würde, der unbedingt folgen muß, hat
man sich bisher nicht entschlossen. — Über die
Gründe bin ich ebensowenig unterrichtet, wie über
die jetzt im Westen verfolgten Ziele. Ebensowenig
kenne ich die Ansichten der Armeeführer hierüber
und weiß nicht, ob sie darüber befragt worden sind.
— Ich würde die Kriegsführung im Westen verstehen,
wenn sie von dem Gedanken getragen würde: im
Westen zunächst hinhalten, im Osten eine Entschei-
dung herbeiführen. — Es ist mir unverständlich, daß
die Wichtigkeit der letzteren nicht schon vor langem
erkannt worden ist. — Wären wir mit Rußland zu ei-
nem Frieden gekommen, so wäre meiner Ansicht
nach alles gewonnen gewesen. Ob es jetzt noch mög-
lich sein wird, diese Entscheidung herbeizuführen,
kann ich von hier aus nicht beurteilen. Bei dem Ver-
sagen der österreichischen Kriegsführung ist es jeden-
falls viel schwerer geworden, als es vor zwei Monaten
gewesen wäre. — Ew. Exzellenz sagen, daß Se. Maje-
stät und der General v. Lyncker den General v. Fal-
kenhayn unter allen Umständen als Chef des Gene-
ralstabes behalten wollen, selbst wenn die beiden jetzt
vereinigten Funktionen getrennt werden sollten. —
Damit ist die Frage ja von vorneherein entschieden.
General Ludendorff ist zum Chef des General-
stabes wohl zu jung. — Er würde ausgezeichnet am
Platze sein als Chef der Operationsabteilung oder
als Oberquartiermeister, aber er ist eine eigenwillige
397
Persönlichkeit, die mit dem Kopf durch die Wand
geht, und er würde niemals mit dem jetzigen Chef
des Generalstabes zusammenarbeiten können. — Er
ist sehr befähigt und ehrgeizig, hat auch dafür eine
Berechtigung, aber er würde sich nur einer Persön-
lichkeit unterordnen, die er achtet.
Generaloberst v. Bülow ist nach meinem Urteil der
befähigtste unserer Armeeführer.
Darüber, ob General v. Falkenhayn Vertrauen in
den Kreisen der letzteren entgegengebracht wird,
habe ich kein Urteil. Es wäre sehr zu wünschen, daß
es geschehe, denn Vertrauen ist eine wichtige Sache.
Ew. Exzellenz werden von meinen Ausführungen
kaum befriedigt sein, das fühle ich selber. Es ist mir
aber unmöglich, mich bestimmt auszusprechen. Ew.
Exzellenz werden das verstehen. — Wenn Sie ein
kompetentes Urteil haben wollen, setzen Sie sich mit
dem General v. Bülow in Verbindung. Ob dies mög-
lich ist, ohne daß Sie den Anschein erwecken, sich
in militärische Fragen einzumischen, weiß ich nicht.
In den letzten Tagen sind mehrfach Herren bei mir
gewesen, die schwere Besorgnisse über die Nah-
rungsmittelfrage zur Sprache gebracht haben. Ich
werde Ew. Exzellenz demnächst über diese Ange-
legenheit berichten, die von vitaler Wichtigkeit ist.
Es waren Vertreter der Landwirtschaft, der Industrie
und der Getreideaufkaufsgesellschaft, die alle die glei-
chen Besorgnisse äußerten.
Mit der größten Hochachtung bin ich Ew. Exzellenz
sehr ergebener
v. Moltke.
398
Moltke
an den Reichskanzler v. Bethmann Hollweg.
Berlin, 10. Januar 1915.
Ew. Exzellenz
bitte ich, von tiefer Sorge um das Vaterland getrie-
ben, die nachstehenden Zeilen unterbreiten zu dürfen.
Ich bin in betreff der Nahrungsversorgung unse-
res Volkes mit den verschiedensten Autoritäten : Ge-
heimrat Sering, Professor Eltzbacher, Professor Bal-
lod u. a. in Verbindung getreten, außerdem sind zu
mir gekommen, ohne gerufen zu sein: Herr v. Wan-
genheim, Klein-Spiegel, ferner Vertreter der Großin-
dustrie, Herr Stinnes, Müllheim, Geheimrat Hugen-
berg, Essen, sowie viele Private, alle von der glei-
chen Sorge um das Land getrieben.
Wenn nicht sofort und zwar mit rücksichtsloser
Energie eingegriffen wird, werden wir, nach Ansicht
aller, einer Katastrophe entgegengehen. — Die in der
Anlage beigefügten Richtlinien sind das Ergebnis
des gemeinsamen Urteils aller Herren, mit denen ich
gesprochen habe. — Ew. Exzellenz werden vielleicht
der Ansicht sein, daß ich mich hier um Dinge beküm-
mere, die mich nichts angehen. Die Frage der Volks-
ernährung ist aber von so einschneidender Bedeutung
für die Kriegsführung, daß ich mich verpflichtet fühle,
sie zur Sprache zu bringen. Unsere Heere nützen uns
am letzten Ende nichts, wenn wir genötigt sind, aus
Mangel an Nahrungsmitteln, vor allem an Brotge-
treide, um Frieden zu bitten, bevor eine Entschei-
dung durch die Waffen herbeigeführt ist, und nie-
mand kann wissen, wie lange der Krieg noch dauern
wird. — Ich habe gehört, daß von der Durchführung
radikaler Maßnahmen durch den Bundesrat bisher
Abstand genommen worden ist, um keine Unzufrie-
399
denheit bei den linksstehenden Parteien zu erregen.
— Unser Volk wird jetzt noch energische Maßnah-
men ruhig hinnehmen, es ist noch opferbereit und
fordert sogar in weiten Kreisen, daß die Regierung
mit starker Hand eingreift, aber dasselbe Volk wird
Rechenschaft von der Regierung fordern, wenn Not-
stände eintreten, die noch in letzter Stunde hätten
vermieden werden können. Auf die Regierung wird
die ganze Verantwortung mit voller Schwere fallen,
wenn nichts geschieht. — Ich beschwöre Ew. Exzel-
lenz daher, sofort einzugreifen. — Wenn jetzt erst wie-
der Kommissionen einberufen und endlose Beratun-
gen abgehalten werden, werden erfahrungsmäßig alle
ergebnislos verlauf en, geht die kostbare Zeit verloren,
und wie Ew. Exzellenz aus der Anlage ersehen, ha-
ben wir keine Zeit mehr zu verlieren. Es kommt nicht
darauf an, das absolut Beste zu machen, man kann
nicht alle Sonderinteressen berücksichtigen, die sich
dauernd widersprechen werden. Hier handelt es sich
nicht um Einzelinteressen, sondern um die Gesamt-
heit des Volkes und um die Existenz des Staates und
der Monarchie.
Das Bewußtsein, daß es sich um die Wahrung un-
serer höchsten Güter handelt, hat mich zu diesem
Schreiben veranlaßt.
Eine zweite wichtige Frage, über deren Entschei-
dung ich nicht unterrichtet bin, ist die, ob die in
nächster Zeit verfügbar werdenden Streitmittel im
Osten oder im Westen eingesetzt werden sollen. Dar-
über müssen Ew. Exzellenz orientiert sein, um da-
nach die Politik des Reiches leiten zu können. —
Ich glaube mit Ew. Exzellenz derselben Ansicht darin
zu sein, daß das einzige große Ziel, das wir jetzt
noch verfolgen müssen, trotzdem die Gelegenheit
schon einmal versäumt ist, die Herbeiführung einer
400
Entscheidung gegen Rußland ist, die uns die Mög-
lichkeit eines Friedens mit ihm eröffnet. Ich habe
Ew. Exzellenz schon vor Wochen gesagt, daß, wenn
dies gelingt, meines Erachtens nach der Krieg so gut
wie gewonnen ist. — Ich halte den hier zu fassenden
Entschluß für den sowohl militärisch wie poli-
tisch wichtigsten der gesamten bisherigen Kriegs-
führung.
In größter Verehrung
Ew. Exzellenz sehr ergebener
v. Moltke.
Anlage.
An den Reichskanzler eingesandt am 10. Januar 1915.
Eingehende Berichte und Rücksprachen mit nam-
haften Persönlichkeiten der Finanz, Industrie und
Volkswirtschaf t haben ergeben, daß wir nur noch ge-
ringe Vorräte an Brotgetreide in Deutschland haben,
und zwar Weizen nur noch für ein bis zwei Monate,
Roggen in so beschränkter Menge, daß er für die
beiden letzten Monate des Erntejahres voraussicht-
lich völlig fehlen wird.
Die Vorschriften des Bundesrates über die stärkere
Ausmahlung des Brotgetreides sind hierbei schon
berücksichtigt.
Die erweiterte Vorschrift des Einbackens von Kar-
toffelmehl in Brot vermag den Mangel keineswegs
zu beheben.
Die Aufgabe besteht jetzt darin, jede Verschwen-
dung und jeden Luxuskonsum mit allen, selbst den
schärfsten Mitteln, zu beseitigen.
Ferner ist der Vorrat menschlicher Nahrungsmittel
dadurch zu vergrößern, daß die Verfütterung von
Roggen und Kartoffeln mit aller Energie verhindert
Moltke. 26. 401
wird. Jede Verfütterung menschlicher Nahrungsmit-
tel bedeutet eine Verschwendung wertvollen Natio-
nalvermögens. Die riesenhaften Schweinebestände
können daher nicht durchgehalten werden.
Das einzig Erfreuliche ist, daß unsere große Rauh-
futterernte gestattet, die Milchkühe einigermaßen voll-
ständig zu erhalten, so daß der Milch-, Käse- und But-
terverbrauch voraussichtlich keine über das erträg-
liche Maß hinausgehende Einschränkung erfahren
wird.
Überfluß besitzen wir nur an Zucker. Dieser muß
dazu nutzbar gemacht werden, den Ausfall an Über-
see eingeführten Fetten auszugleichen, sowie Lücken
in der Getreideversorgung auszufüllen. — Es ist
durchaus unzulässig, daß die bisher ausgeführten
Zuckermengen eingesperrt bleiben, um den Besitzern
nach dem Friedensschluß große Spekulationen zu er-
möglichen. Es darf sich hier nicht um Vorteile ein-
zelner, sondern um die Gesamtheit des Volkes han-
deln. — Im einzelnen werden von allen Autoritäten
auf dem Gebiet der Volkswirtschaft folgende Maß-
nahmen für unbedingt nötig erachtet:
i. Sofortige Aufhebung der Höchstpreise für Wei-
zen.
2. Ermächtigung an Kriegsgetreidegesellschaften,
höhere Preise als Höchstpreise für Roggen, Weizen,
und Gerste zu zahlen und zwar ohne jede Bindung.
Anweisung an K.-G.-G. alle Getreide-, insbesondere
sämtliche Weizenvorräte, soweit es irgend möglich
ist, an sich zu bringen.
3. Höchstpreise für Roggen sind vorläufig um drei-
ßig Mark zu erhöhen, die der Speisekartoffeln um
dreißig bis vierzig Prozent.
4. Schweine sind bis um fünfzig Prozent des Be-
standes durch große Ankäufe der Stadtgemeinden
402
mit Unterstützung des Reiches einzuschlachten und
zu konservieren. Kontingentierung nach der Bevöl-
kerungsziffer. — Die Heeresverwaltung hat sich an
dem Ankauf zu beteiligen.
5. Vollständige Verhinderung jeder Ausfuhr von
Nahrungsmitteln an das Ausland. — Österreich-Un-
garn hat die bisher empfangenen Getreidemengen
durch andere Nahrungs- oder Futtermengen, z. B.
Hülsenfrüchte, als Bohnen usw., zu ersetzen.
Die Heeresverwaltung kann die bisher durch
Deutschland erfolgende Verpflegung der österrei-
chisch-ungarischen Truppen in Polen nicht weiter
übernehmen.
6. Nutzbarmachung der Zuckervorräte:
a) durch Erhöhung der sperrfreien Kontingente
derart, daß dem Verbrauch um monatlich eine gegen
das Vorjahr um wenigstens die Hälfte erhöhte Zuk-
kermenge zur Verfügung gestellt wird,
b) durch Herabsetzung der Zuckersteuer von vier-
zehn auf sieben Mark für den Doppelzentner,
c) durch Ankauf von einer Million Doppelzentner
Zucker seitens der Heeresverwaltung für die Truppen,
d) durch Beimengung von Zucker zu dem Hafer-
futter seitens der Heeresverwaltung, auf zehn Pfund
Hafer zwei Pfund Rohzucker.
7. Die Eisenbahnverwaltung hat statt Kohlen, so-
weit noch nicht geschehen, Koks zum Verbrauch
heranzuziehen, dies gilt besonders auch für die Mili-
tärtransporte.
8. Weit stärkere Heranziehung der Gefangenen als
bisher zum Urbarmachen der ödländereien und Moor-
kulturen, um sie im Frühjahr ausbauen zu können.
9. Sicherstellung der Hülsenfrüchte (auch von Som-
mergetreide) zur Aussaat durch Verleihung des Ent-
eignungsrechtes an die Landwirtschaftskammer.
403
io. Die Gefangenen sind in viel weiterem Maße mit
Fisch (Stockfisch) zu ernähren, der in großen Men-
gen aus Norwegen bezogen werden kann.
v. Moltke.*
Moltke an Se. Majestät den Kaiser.
Generalstab Berlin, io. Januar 1915.
Ew. Majestät
melde ich alleruntertänigst, daß ich heute an den
Herrn Reichskanzler einen Bericht über die Nah-
rungsmittelfrage eingereicht habe. Ich bitte Ew. Ma-
jestät alleruntertänigst, Sich über die in demselben
angeregten Fragen und Vorschläge Vortrag halten zu
lassen. Die Sicherstellung der Versorgung des Heeres
und des Volkes ist so ernst, daß ich mich verpflichtet
gefühlt habe, sie zur Sprache zu bringen.
Ich habe mich mit vielen maßgebenden Persön-
lichkeiten auf dem Gebiete der Lebensmittelversor-
gung in Verbindung gesetzt, überall ist mir die An-
sicht entgegengetreten, daß wir einer schweren Krisis
entgegengehen, wenn nicht unverzüglich mit den
energischsten Maßnahmen vorgegangen wird.
Ich habe die Richtlinien, in denen diese sich zu be-
wegen hätten, und die von allen Herren, die teils mit der
* Ein Urteil über Moltkes wirtschaftliche Betätigung: sei hier angeführt:
Berlin, 6. August 1918.
Sehr verehrte Exzellenz!
Es wird jetzt die »Geschichte der deutschen Volkswirtschaft während des Krieges«
geschrieben. An dem Aufbau unserer Ernährungswirtschaft hat Ihr verstorbener Herr
Gemahl einen grofien Anteil gehabt. Der von mir hochverehrte Mann hat mich mehr-
fach zu Beratungen über diesen Gegenstand herangezogen, und es erscheint mir als
ein Gebot der Gerechtigkeit und historischen Wahrheit, sein Verdienst der Vergessen-
heit zu entziehen. Wir haben es nach meiner Überzeugung nur seinem entschlosse-
nen und wie immer selbstlosen Eintreten zu verdanken, daß nicht schon im ersten
Jahre des Krieges eine Hungersnot ausbrach. . . .
M. Sering
Geheimer Regierungsrat, Universitäts-Professor.
Z. Zt. Vorsitzender der Wissenschaftl. Kommission des Kgl. Preufi. Kriegsministeriums.
404
Bitte zu mir gekommen sind, Ew. Majestät die Lage
darzulegen, teils von mir gebeten sind, mir ihre An-
sichten zur Kenntnis zu geben, übereinstimmend als
nötig bezeichnet sind, dem Herrn Reichskanzler unter-
breitet. — Von allen Seiten ist mir übereinstimmend
gesagt worden, daß es die zwölfte Stunde sei, wenn
noch geholfen werden soll. — Ew. Majestät brauche
ich nicht darzulegen, daß diese Angelegenheit von
vitalster Bedeutung für die Kriegsführung ist. Das
stärkste Heer wird Ew. Majestät nicht den glück-
lichen Ausgang des Krieges sichern können, wenn
Ew. Majestät gezwungen werden wegen Mangel an
Nahrungsmitteln Frieden zu schließen, bevor eine
endgültige Waffenentscheidung herbeigeführt ist. —
Das Volk wird jetzt noch bereit sein, selbst das schärf-
ste Eingreifen der Regierung als berechtigt anzuerken-
nen, es wird sogar in weiten Kreisen gefordert. Tritt
der von den maßgebenden Autoritäten auf dem Ge-
biet der Nahrungsmittelversorgung befürchtete Not-
stand ein, der durch rechtzeitiges Eingreifen hätte
verhindert werden können, so sind die schlimmsten
Folgen zu erwarten.
Die Sorge um die Zukunft der Monarchie und des
Vaterlandes drückt mir die Feder in die Hand. Ich
bitte Ew. Majestät inständigst zu befehlen, daß hier
mit eiserner Hand eingegriffen wird, nur dadurch wird
Hilfe geschaffen werden können.
Ich habe mich in früheren Zeiten des Vertrauens
Ew. Majestät erfreuen dürfen und in der Gewißheit,
daß Ew. Majestät mir auch jetzt noch glauben, daß
ich keine anderen Motive kenne als Kaiser und Va-
terland, bitte ich noch das Folgende über die großen
Ziele des Krieges, wie sie sich mir darstellen, hin-
zufügen zu dürfen.
405
Nach meiner innersten Überzeugung liegt die Ent-
scheidung des Krieges im Osten. Gelingt es, auch
jetzt noch, die Russen so zu schlagen, daß man zu
einem Friedensschluß mit ihnen gelangen kann, so
wird Frankreich sehr bald den Widerstand aufgeben.
Ew. Majestät werden dann den Krieg so gut wie ge-
wonnen haben. Solange Rußland im Felde steht, wird
Frankreich keinen Frieden schließen. Es wird auch
dann nicht Frieden schließen, wenn es gelingen sollte,
seine Linien zu durchbrechen oder ihm eine Teil-
niederlage beizubringen, es wird und es kann den
Krieg nicht aufgeben, solange Rußland nicht erledigt
ist und solange ein englischer Soldat auf französi-
schem Boden steht. Dafür wird England sorgen. Ist
aber die Hoffnung auf die russische Hilfe vernichtet,
wird auch die Macht Englands über Frankreich ge-
brochen sein. — Ich halte es daher für unbedingt er-
forderlich, alle verfügbaren Kräfte einzusetzen, um
Rußland niederzuwerfen, und dies um so mehr, da
Österreich augenscheinlich militärisch mehr und mehr
versagt. Nicht Österreichs wegen, aber um der Ge-
fahr zu begegnen, daß nach einem Separatfrieden
Österreichs uns die gesamte Heeresmacht Rußlands
gegenübersteht.
Ich bin nicht darüber unterrichtet, wie Ew. Majestät
entscheiden wollen, und ich bitte Ew. Majestät, es zu
verzeihen, wenn ich meine Ansicht ungefragt Aller-
höchstdenselben ausspreche. Ich habe es aber stets
für meine Pflicht gehalten, Ew. Majestät offen und
ohne Rücksicht auf meine Person zu dienen, und an
dieser Auffassung werde ich festhalten bis zu mei-
nem Tode.
In tiefer Ehrfurcht verharre ich als Ew. Majestät
alleruntertänigster
v. M o 1 1 k e , Generaloberst.
406
Moltke an General . . .
Generalstab Berlin, 12. Januar 1915.
Ew. Exzellenz
Schreiben vom 3. d. M. ist mir erst am 10. d. M. durch
Major . . . überbracht worden. — Ich ersehe aus dem-
selben, daß der Reichskanzler sowie Ew. Exzellenz
den Versuch gemacht haben, den Kaiser über die all-
gemein herrschende Stimmung gegen den General
v. Falkenhayn aufzuklären.
Daß diese Stimmung nicht nur in der Armee, son-
dern auch im Volk dieselbe ist, tritt mir von Tag zu
Tag mehr entgegen. Ich habe bis jetzt geschwiegen,
da Se. Majestät mich nie um meine Ansicht befragt
hat, und da ich nach den Orders, die ich von ihm er-
halten habe, annehmen muß, daß ich für ihn abgetan
sei, aber die Sorge um Kaiser und Reich drückt mir
fast das Herz ab. Ich fürchte, daß wir, wenn kein
Wandel geschaffen wird, der schwersten Katastro-
phe entgegengehen.
Wenn ich auch völlig ausgeschaltet worden bin, so
sehe ich doch die Ergebnisse der Kriegsführung der
letzten Monate. Sie sind geradezu erschreckend. —
Wir haben unseren Gegnern drei Monate Zeit ge-
schenkt und jede eigene Initiative verloren. General
v. Falkenhayn hat großen persönlichen Ehrgeiz, die
Fähigkeit, die großen Verhältnisse dieses gewaltigen
Krieges richtig zu beurteilen, kraftvolle Entschlüsse
zu fassen, den Augenblick und den Ort zu erkennen,
wo ein Erfolg von Bedeutung zu erringen ist, sich
große Ziele zu stecken und sie energisch zu verfol-
gen, fehlt ihm augenscheinlich. Es wird seit drei Mo-
naten gewurschtelt. Seit Monaten liegen einige vier-
zig Armeekorps in den Schützengräben. Von einer
407
Operation ist nicht mehr die Rede. General v. Falken-
hayn hat sich nicht entschließen können, das Heer
wieder bewegungsfähig zu machen.
Man hätte dies auf zwei Wegen erreichen können.
Entweder indem man die Armeen gruppenweise nach
rückwärts konzentrierte, um die Entscheidung gegen
den Gegner, der folgen mußte, in der Feldschlacht zu
suchen, oder indem die jetzt gehaltene Linie durch
Zurücknehmen des nach Westen ausspringenden Bo-
gens verkürzt und damit die Möglichkeit geschaffen
würde, starke Kräfte freizubekommen. Wäre dann er-
kannt worden, daß die Entscheidung des ganzen
Feldzuges zunächst im Osten lag, denn eine vernich-
tende Niederlage der Russen würde uns wahrschein-
lich den Frieden mit ihnen gebracht haben, wären
die so verfügbar gewordenen Kräfte rechtzeitig dort
eingesetzt worden, so hätte unendlich Großes erreicht
werden können. Das hat General v. Falkenhayn nicht
erkannt. Er hat sich vielleicht davor gescheut, einen
Teil des gewonnenen Geländes aufzugeben. Es kommt
aber nicht darauf an, einige Kilometer Boden zu be-
haupten, sondern eine Entscheidung herbeizuführen.
— Das Stillstehen im Westen hat nur einen Sinn,
wenn man hier die Entscheidung im Osten zunächst
abwarten wollte. Seit Monaten erfährt man nichts
weiter, als daß hier ein Schützengraben genommen,
dort einer verloren ist, das ist alles. — Im November
konnte im Osten Großes erreicht werden. Die Bitten
und Vorstellungen des Feldmarschalls Hindenburg
sind ungehört verhallt. — Ob es jetzt noch möglich
sein wird, dort das zu erreichen, was versäumt ist,
kann ich von hier aus nicht beurteilen. In schreck-
licher Weise ist unsere militärische Kraft verzettelt
worden. Wir gehen einer Katastrophe entgegen, wenn
nicht Wandel geschaffen wird.
408
Ew. Exzellenz wissen, daß ich dieses Urteil nicht
abgebe, um etwa durch Kritik meines Nachfolgers
mich selbst in empfehlende Erinnerung zu bringen.
Ich habe mit meinem Leben und Wirken abgeschlos-
sen und würde nie wieder auf meine alte Stelle zu-
rücktreten können. — Aber ich sehe die Dinge, wie
sie liegen, und ich glaube, daß so wie ich die ganze
Armee urteilt. Fragen Sie einmal die ehrlichen und
urteilsfähigen Leute im Generalstab, Oberst H. und
Oberst B., Sie werden entsetzt sein, wenn diese Ihnen
offen ihre Ansicht sagen. Das Vertrauen ist zum Teu-
fel, und das Vertrauen ist eine Riesenkraft.
Möge Se. Majestät den General Ludendorff nehmen,
vielleicht kann er noch retten, was zu retten ist. Er
ist keine bequeme Persönlichkeit, aber darauf kommt
es doch, weiß Gott, nicht an. Hier handelt es sich
um Thron und Land und um die Zukunft eines Vol-
kes, das schon unendliche Opfer gebracht und Ströme
von Blut vergossen hat. — Gott helfe uns weiter.
Treulich der Ihrige
v.Moltke.
Moltke an Generalfeldmarschall v. Hindenburg.
Berlin, 14. Januar 1915.
Ew. Exzellenz
bitte ich, meinen besten Dank entgegennehmen zu
wollen für Ihr letztes Schreiben und die Beteuerung
Ihrer kameradschaftlichen Gefühle, die mir eine herz-
erquickende Freude war. Seien Sie versichert, daß
ich dieselben Empfindungen Ihnen gegenüber hege
und bewahren werde, wie auch mein ferneres Le-
bensschicksal sich gestalten sollte.
Ich weiß, wie schwer Ihrem königstreuen Herzen
es geworden ist, den Gedanken, den Sie über General
409
v. Falkenhayn haben und Ihr Urteil über ihn in die
Tat Ihres Schreibens an Se. Majestät den Kaiser um-
zusetzen. — Gott gebe, daß Ihr Vorgehen Erfolg habe.
Dieser Mann stürzt uns alle, Thron und Vaterland
ins Verderben. Wenn Ihr Schritt sein Ziel erreicht,
werden Sie nicht nur der Retter Preußens und Schle-
siens, sondern der Retter unseres ganzen Landes sein.
— Ich kenne den Inhalt Ihres Schreibens nicht, aber
ich kenne und teile die Gedanken, denen Sie Aus-
druck gegeben haben. Nur Sie konnten und mußten
so schreiben. Was kann es Höheres geben, als sein
ganzes Selbst für das Vaterland einzusetzen. — Ich
drücke Ihnen die Hand, Exzellenz. Ich stehe und falle
mit Ihnen. Halten Sie unbeirrbar und unbeeinfluß-
bar durch. Das Wohl und Wehe des Landes steht
auf dem Spiel.
Treulichst der Ihrige
v. Moltke.
Moltke an Se. Majestät den Kaiser.
Berlin, 15. Januar 1915.
Ew. Majestät
bitte ich alleruntertänigst, nachstehende Gedanken
über die weitere Durchführung dieses über das Schick-
sal Deutschlands entscheidenden Weltkrieges vortra-
gen zu dürfen.
Wie ich Ew. Majestät in meinem Schreiben vom
10. d. M. bereits anzuführen wagte, muß, nachdem die
Kriegsführung im Westen seit Monaten zum völligen
Stillstand gekommen ist, das nächste Ziel der Opera-
tionen die Niederwerfung Rußlands und Serbiens
sein, um hierdurch die Möglichkeit für einen Sonder-
frieden mit Rußland zu erlangen. Sollte es gelingen,
zu einem erfolgreichen Abschluß des Krieges mit
410.
Rußland zu kommen, so halte ich auch den Anschluß
der neutralen Balkanstaaten und Italiens an unsere
Sache für möglich. — Es erscheint mir sehr wahr-
scheinlich, daß Frankreich dann nicht lange mehr
gewillt sein wird, den Krieg in der Gefolgschaft Eng-
lands weiterzuführen. — Die durch einen Frieden mit
Rußland gewährte Möglichkeit, alle bisher im Osten
stehenden Streitkräfte im Westen einzusetzen, wird
Frankreich sicher zu einem Frieden geneigt machen.
Daß England sich einem friedlichen Ausgleich
Deutschlands mit Frankreich anschließen wird, halte
ich dagegen für durchaus unwahrscheinlich. Es wird
meiner festen Überzeugung nach den Krieg auch dann
allein gegen uns weiterführen, um ein rasches Wie-
deraufblühen unseres Wirtschaftslebens und unseres
Außenhandels zu verhindern.
Die Wahrscheinlichkeit der Weiterführung des
Krieges gegen England müßte schon jetzt ins Auge
gefaßt werden. Mit unserer Flotte kann meines Er-
achtens nach ein vernichtender Schlag gegen Eng-
land nicht geführt werden.
Ist eine Blockade nach Ew. Majestät maßgeben-
dem Ermessen nicht ausführbar, so müßte — vor-
ausgesetzt, daß wir mit unseren übrigen Gegnern
zu einem Abkommen gekommen sind — der alte
Napoleonische Gedanke eines Angriffs gegen die
verwundbarste Stelle Englands, Ägypten, wieder auf-
gegriffen werden. — Der Plan Napoleons ist geschei-
tert, weil er damals keine Bahnen hatte. Heute be-
sitzen wir dieses gewaltige Kriegsmittel. Der Ausbau
der noch im Taurus und Amanos vorhandenen Lük-
ken der Bagdadbahn sowie die Herstellung einer
Zweiglinie der Hedschasbahn bis zum Suezkanal
würde einen direkten Schienenweg von Deutschland
bis nach Ägypten herstellen und uns die Möglichkeit
411
bieten, eine große Entscheidung gegen England auf
dem Lande herbeizuführen, die von dem mit unzu-
reichenden Mitteln augenblicklich ausgeführten tür-
kischen Unternehmen nicht zu erwarten ist. Im-
merhin darf man hoffen, daß das türkische Expe-
ditionskorps sich im Sinai halten kann, um einen
Bahnbau zu decken.
Die Fertigstellung der Bagdadbahnstrecken im Tau-
rus und Amanos nimmt bei äußerster Anstrengung
aller Kräfte etwa ein Jahr in Anspruch. Ihre Kosten
belaufen sich auf etwa fünfzig Millionen Mark. Ein
provisorischer Bau würde etwa die Hälfte der Zeit
und Kosten beanspruchen. Ist auch dies zurzeit nicht
ausführbar, so würde der Ausbau der vorhandenen
Straßen für einen Lastkraftwagenbetrieb großen Stils
in Aussicht zu nehmen sein.
Die Früchte der gewaltigen Opfer, die Deutschland
in diesem Kriege hat bringen müssen, können, neben
wirtschaftlichen Vorteilen auf dem Kontinent, nur von
England durch den Ausbau eines deutsch-zentralafri-
kanischen Kolonialreiches gefordert werden. — Frank-
reich und Rußland haben Deutschland großen Ge-
winn — insbesondere territorialen — nicht zu bieten.
Die Inangriffnahme des Baues der besprochenen
Bahn würde auch für den Fall, daß England früher
zu einem Frieden mit Deutschland geneigt ist, ein
wertvolles Instrument für etwaige Friedensverhand-
lungen bieten, bei denen wir durch diese Bahn einen
gewaltigen Druck auf England auszuüben imstande
wären.
Ich halte es für so wichtig, die Gedanken über die
eventuelle Weiterführung des Krieges rechtzeitig klar-
zulegen und ihre Durchführung rechtzeitig einzulei-
ten, daß ich es gewagt habe, Ew. Majestät das Vor-
stehende zu unterbreiten.
412
Ich bitte Ew. Majestät alleruntertänigst, die Vor-
schläge zu prüfen, und falls Ew. Majestät denselben
zustimmen, ihre unverzügliche Inangriffnahme zu be-
fehlen.
In tiefer Ehrfurcht verharre ich als Ew. Majestät
alleruntertänigster
v. Moltke, Generaloberst.
Moltke an Se. Majestät den Kaiser.
Berlin, 17. Januar 1915.
Ew. Majestät!
Durch den Feldmarschall v. Hindenburg erfahre ich,
in welch schwerer Krisis sich augenblicklich die Mon-
archie und das Vaterland befinden. Als ältester treue-
ster Diener Ew. Majestät muß ich, selbst auf die Ge-
fahr hin, daß mein Schritt, wenn auch nicht von Ew.
Majestät, so doch von anderen, mißdeutet werden
könnte, es wagen, Ew. Majestät in aller Ehrfurcht
rückhaltslos und offen meine Ansicht auszusprechen.
General v. Falkenhayn ist nach meiner festen Über-
zeugung weder nach seinem Charakter noch nach
seiner Befähigung geeignet, der erste Ratgeber Ew.
Majestät auf militärischem Gebiet in diesen schweren
Zeiten zu sein. — Seine Person bildet eine ernste
Gefahr für das Vaterland. — Trotz eines äußerlich
starken Willens und geschickter äußerer Aufmachung
besitzt er nicht die innere Kraft des Geistes und der
Seele, großzügige Operationen zu entwerfen und
durchzuhalten. — Die von ihm im Westen Ew. Maje-
stät vorgeschlagenen und zur Ausführung gelangten
Operationen haben zu keinem Ergebnis geführt, sie
sind eine Strategie der verpaßten Gelegenheiten. —
Durch seine Kurzsichtigkeit — ich sage absichtlich
413
nicht seinen Ehrgeiz — haben wir einen schweren
Mißerfolg an der Yser erlitten und dabei die sich da-
mals bietende Gelegenheit versäumt, den Feldzug ge-
gen Rußland durch einen schnellen, entscheidenden
Schlag zu beendigen. Es liegt die ernste Gefahr vor,
daß im jetzigen Augenblick der gleiche Fehler be-
gangen wird. — Unsere gesamte Kriegslage ist jetzt
so kritisch, daß nur ein ganzer und voller Erfolg im
Osten sie retten kann. Es ist keine Zeit zu verlieren,
wenn die Gefahr beschworen werden soll, daß Ru-
mänien und Italien sich auf die Seite unserer Gegner
stellen. Sie wird abgewendet werden, wenn es ge-
lingt, die Russen entscheidend zu schlagen und zu
einem Frieden mit ihnen zu kommen. Ich glaube,
daß dies zu erreichen ist, wenn wir billige Forderun-
gen stellen. Es ist aber nur möglich, wenn wir alle
irgend verfügbaren Kräfte, auch unter Heranziehung
der im Westen etwa noch entbehrlichen Gewehre, im
Osten einsetzen, selbst auf die Gefahr hin, dort in
eine schwierige Lage zu kommen, ja zu einer Ver-
kürzung unserer Linien gezwungen zu sein.
Wie ich Ew. Majestät schon dargelegt habe, kön-
nen wir im Westen jetzt nur Teilerfolge erringen, die
ohne Einfluß auf die Beendigung des Krieges blei-
ben werden. Setzen wir jetzt auch im Osten unzu-
reichende Kräfte ein, so können auch dort nur Teil-
erfolge errungen werden und Ew. Majestät werden
binnen kurzem, bei der unzuverlässigen Haltung der
Neutralen, gezwungen sein, noch stärkere Kräfte als
jetzt erforderlich, aus dem Westen nach dem Osten
zu ziehen. Das führt, wie es schon einmal geschehen,
zu einem tropfenweisen Einsetzen, ohne einen ent-
scheidenden Erfolg zu haben. Bleibt ein solcher jetzt
aus, so werden Rumänien und Italien gegen Öster-
reich vorgehen und es zu einem schimpflichen Frie-
414
den zwingen, der auch uns um die Früchte der schwe-
ren und blutigen Opfer dieses Krieges bringen muß.
Durch einen Zufall ist es zu meiner Kenntnis ge-
langt, daß Feldmarschall v. Hindenburg Ew. Majestät
vorgeschlagen hat, mich wieder in meine alte Stel-
lung zurückzuberufen. Ich bitte Ew. Majestät instän-
digst, hiervon unter allen Umständen Abstand neh-
men zu wollen. Nicht meiner Gesundheit wegen, die
wieder vollkommen hergestellt ist, sondern weil ich
die Empfindung habe, daß Ew. Majestät mir nicht
mehr das alte Vertrauen bewahrt haben. — Ew. Maje-
stät haben von dem Tage ab, wo Allerhöchstdiesel-
ben mir die Leitung der Operationen abnahmen, keine
Meinungsäußerung mehr von mir verlangt, und es
würde unmöglich für mich sein, diesen Brief zu
schreiben, wenn eine selbstsüchtige Absicht ihm zu-
grunde läge. Auf meine Person kommt es jetzt gar
nicht an. Darauf kommt es an, das Vaterland aus sei-
ner schweren Krisis zu erretten. Im jetzigen Augen-
blick ist zum Chef des Generalstabes jede Persön-
lichkeit geeignet, welche die Fähigkeit besitzt, die
Forderungen der strategischen Lage zu erkennen und
den Charakter, sie mit Entschlossenheit durchzu-
führen, ein Mann, dem Ew. Majestät berechtigt sind
Vertrauen zu schenken.
Aus den vorstehenden Darlegungen wollen Ew. Ma-
jestät erkennen, daß es nur sachliche Gründe sind,
die mir die Enthebung des Generals v. Falkenhayn
von seiner Stellung als Chef des Generalstabes im
eigensten Interesse Ew. Majestät und des Vaterlan-
des geboten erscheinen lassen.
General v. Falkenhayn hat so wenig Vertrauen in
der Armee, daß neue Operationen unter seiner Lei-
tung nicht begonnen werden dürfen. — Selbst wenn
er jetzt, unter dem Druck der Verhältnisse, geneigt
415
sein sollte, alle Forderungen des Oberkommandos
Ost zu erfüllen, so wird er morgen seine Verspre-
chungen nicht halten, und es besteht die Gefahr, daß
er der Kriegsführung im Osten neue Schwierigkeiten
bereiten wird, statt sie mit allen Kräften zu unter-
stützen.
Falls Ew. Majestät diese offenen Ausführungen
nicht als den Ausdruck meiner unbedingten Hingabe
an Ew. Majestät Person und an mein Vaterland auf-
fassen, sondern als eine unbefugte Einmischung in
die Kriegsführung und die Entschlüsse Ew. Majestät,
so bitte ich, mich in Gnaden entlassen zu wollen. —
Meine Worte werden dann der letzte warnende Rat
eines treuen Dieners gewesen sein, der sich mit schwe-
rem Herzen, aber getrieben vom Gefühl der Pflicht,
zu diesem Schritt entschlossen hat.
In tiefer Verehrung verharre ich als Ew. Majestät
alleruntertänigster
v. Moltke.
Zusatzbemerkung Moltkes.
Auf vorstehenden Brief hat Se. Majestät in dem an-
liegenden uneröffneten Schreiben geantwortet. Be-
vor dasselbe in meine Hände kam, erhielt ich ein
Telegramm von Generaloberst v. Plessen, ich sollte
den Brief auf Befehl Sr. Majestät nicht öffnen, bevor
Generaloberst v. Plessen bei mir gewesen sei, um mir
mündlich Erläuterungen zu machen. Generaloberst
v. Plessen traf am 24. Januar, vormittags 10 Uhr, bei
mir ein. — Eine Stunde nach seinem Eintreffen wurde
mir der anliegende Brief überbracht. Ich erklärte Ge-
neraloberst v. Plessen, daß ich, nachdem ich seine
Erläuterungen entgegengenommen hätte, den Brief
Sr. Majestät nicht öffnen werde, da ich nach Kennt-
nisnahme seines Inhaltes — wie mir nach den münd-
416
liehen Mitteilungen des Generalobersten v. Plessen
klargeworden sei — gezwungen sein würde, die Kon-
sequenzen zu ziehen. Ich werde den Brief uneröffnet
zu den Akten geben, und bäte, dies Sr. Majestät zu
melden. Damit wäre ich so weit gegangen, wie mir
möglich sei, um dem Lande noch weiter dienen zu
können.
Berlin, 24. Januar 1915.
v. Moltke.
Dringend! TELEGRAMM.
Generaloberst v. Moltke, Berlin, Königsplatz, Generalstabsgebäude.
Großes Hauptquartier, 23. Januar 1915.
Bin morgen, 24. Januar, vormittags 10 Uhr, bei Ihnen in Berlin.
Bitte Brief Sr. Majestät vor meiner Ankunft nicht eröffnen.
Auf Allerhöchsten Befehl
v. Plessen,
Generaladjutant.
Moltke an Generalfeldmarschall v. Hindenburg.
Streng vertraulich. Berlin, 23. Januar 1915.
Hochgeehrter Herr Feldmarschall!
Major v. . . . ist gestern abend aus dem Großen
Hauptquartier zurückgekehrt. Bevor er hier ankam,
war bereits ein Telegramm hier mit seiner Verset-
zung in den Generalstab des Gouvernements . . . und
dem Befehl, sofort dorthin abzureisen. — Er ist heute
abgefahren, konnte also seine Absicht, Ihnen persön-
lich Bericht zu erstatten, nicht ausführen. Mir ist mit
ihm meine beste Hilfskraft genommen; er war mein
Ludendorff in den hiesigen Verhältnissen.
Seine Mission ist gescheitert, vollkommen. Sie ist
sehr ungnädig aufgenommen, ohne Verständnis. Der
brave Mann, der seine Existenz für sein Vaterland
Moltke. 27. 4*7
eingesetzt hat, ohne alle Rücksicht auf seine Person,
der bereit war, alle Folgen auf sich zu nehmen, ist
nun von mir getrennt. — Der Schritt, den er, Sie Herr
Feldmarschall, ich und die Kaiserin unternommen
hatten, alle geleitet von der gleichen Sorge um das
Land und das Ergebnis des Krieges, hat immerhin
die Wirkung gehabt, daß Ihnen nun vier Korps zur
Verfügung gestellt werden. Meine Bitte, alles, was
irgend entbehrlich sei, aus dem Westen herauszu-
ziehen und nach dem Osten zu schicken, bleibt uner-
füllt. Ob es Ihnen möglich sein wird, mit diesen vier
Korps einen so großen Erfolg zu erringen, wie wir
ihn brauchen, wenn wir diesen Krieg überhaupt be-
enden wollen, kann ich nicht beurteilen. Gott gebe
es. — Sie kennen ja meine Ansichten, die sich mit
den Ihrigen decken. — Der zweite Erfolg ist die Rück-
kehr des Generals Ludendorff zu Ihnen. Darüber
bin ich sehr froh. — Mir scheint, man muß jetzt wei-
tere Schritte unterlassen, die nur die Stimmung ver-
schlechtern können. Es kommt ja doch nur auf die
Sache an.
H. meinte, daß die volle Selbständigkeit Ihrer Ope-
rationen gewahrt bleiben werde. Auf Ihren Vorschlag,
mich in meine alte Stellung zurückzuberufen, hat
Se. Majestät kurzweg erklärt, ich wäre zu krank, wie
ihm der Oberst v. M. gemeldet habe, der sich bei mei-
nem Arzt erkundigt habe. Letzteres ist gelogen, er
ist weder bei ihm gewesen, noch hat er schriftlich
angefragt. Im übrigen geht es mir gut, ich bin wieder
ganz auf dem Posten.
Auf meinen Brief an Se. Majestät habe ich bisher
keine Antwort bekommen. Morgen kommt P., der
sie mir wohl bringen wird. Ich sehe ihm mit Ruhe
entgegen und bin ebenso wie H. bereit, alle Konse-
quenzen zu tragen.
418
Ich bitte um Verzeihung, wenn ich rate, etwaigen
ferneren Abgesandten gegenüber recht vorsichtig zu
sein. Ihre Äußerungen über Stimmung im General-
stab sind Sr. Majestät berichtet worden und haben zu
scharfen Reprimanden geführt.
Herr Feldmarschall, ich habe getan, was in meiner
Macht stand, um Ihnen und dem Vaterlande zu hel-
fen. Das Geschick des letzteren liegt nun in Ihrer
Hand. Möge unser Gott im Himmel sein deutsches
Volk nicht verlassen und möge er mit Ihnen sein in
den Entscheidungsstunden.
Treulich der Ihrige
v. Moltke.
Rede Moltkes am Geburtstag Se. Majestät des
Kaisers am 27. Januar 1915.
Unter ganz anderen Verhältnissen haben wir uns
heute versammelt an dem Geburtstag des Deutschen
Kaisers, als wir es unter früheren Verhältnissen ge-
wohnt waren. Wir sind mitten im Kriege, in einem
Kriege, der wie noch kein früherer über das Schick-
sal unseres Vaterlandes entscheiden wird. Da sind
unsere Seelen nicht in der friedensmäßigen Jubel-
stimmung, die an Kaisers Geburtstag zu herrschen
pflegt, einer Stimmung, die sich kaum über den Ge-
danken des Liebesmahles oder der sonstigen zu ver-
anstaltenden Festlichkeiten erhebt, — heute sind wir
tiefernst, denn wir stehen heute dem Schicksal gegen-
über, das über Tod und Leben eines ganzen Volkes
entscheidet. Ich denke, diese ernste Stimmung ist ge-
rade am heutigen Tage besonders am Platz. Wir stel-
len das Schicksal unseres Volkes vor unsere Seele,
wenn wir uns heute hier in schlichter Weise versam-
melt haben. Millionen deutscher Herzen vereinigen
419
sich heute in einem gemeinsamen Gedanken. Er
richtet sich auf den Kaiser, und indem er gewisser-
maßen in ihm die Gesamtheit des deutschen Volkes
begreift, bildet er den Zentralpunkt, in dem alles zu-
sammenströmt, was an Wünschen für unser Land in
der Gesamtheit der deutschen Volksseele lebt. So
wollen auch wir heute unsere Wünsche auf unser
Volk und unser Land richten. Wir wollen hoffen,
daß es aus der schweren Prüfung, die ihm Gottes
Ratschluß auferlegt hat, gestärkt im Innern und ge-
reinigt von vielen häßlichen Seiten des langen Frie-
denslebens hervorgehen wird. — Heute wollen wir
nicht in ein Hurra einstimmen, wir wollen ernst und
still auseinandergehen, und an diesem Kaisergeburts-
tag wollen wir geloben, dem Vaterlande zu dienen
mit aller Kraft, und wir wollen alle sagen : Gott segne,
Gott schütze, Gott erhalte unser deutsches Vaterland.
Moltke an General Ludendorff.
Berlin, 29. Januar 1915.
Lieber Ludendorff!
Ich bin Ihnen herzlich dankbar für Ihren Brief und
dafür, daß Sie bei Ihrer Arbeitsüberlastung sich die Zeit
abgerungen haben, mir so ausführlich zu schreiben.
Sie wissen wohl kaum, welche Wohltat Sie mir mit
diesem Zeichen des Vertrauens erwiesen haben. Wer
wie ich ausgeschaltet, mit Füßen getreten, verleum-
det ist, der empfindet das doppelt dankbar.
Mein Herz ist zerrissen, wenn ich an die Monate
der Kriegsführung denke, die dahingegangen, die ver-
loren sind, seit ich abgesetzt wurde. — Ich will nicht
behaupten, daß ich es besser gemacht hätte, aber an-
ders jedenfalls. Aber kein Mensch, weder der Kaiser
420
noch sonst jemand, hat seitdem nach mir gefragt.
Der Kaiser hat es nicht einmal der Mühe wert gehal-
ten sich zu erkundigen, ob ich gesund oder krank sei,
ob ich den Wunsch hätte, wieder in meine alte Stel-
lung zurückzukehren oder nicht.
Mein Nachfolger und das Militär-Kabinett haben
mich zu den Toten geworfen. Vom Kaiser habe ich,
seit General P. mit meiner Antwort nach dem Großen
Hauptquartier zurückgekehrt ist, nichts mehr gehört.
Ich versuche nun hier der Not des Landes zu
steuern, soviel ich kann. Ich weiß, daß ich mir viele
neue Feinde damit mache, das ist mir völlig gleich-
gültig.
Mein lieber Ludendorff, auf Ihnen und dem Feld-
marschall ruht jetzt die Zukunft Deutschlands. —
Wenn wir in zwei Monaten nicht Frieden mit Ruß-
land haben, weiß ich nicht, was aus uns werden soll.
Nicht militärisch, aber wirtschaftlich. In frevelhafter
Weise sind die Hilfsquellen des Landes vergeudet.
Monat nach Monat ist dahingegangen, ohne daß et-
was Durchgreifendes geschehen ist, immer ist das
Volk in der Illusion erhalten, daß wir Überfluß an
Nahrungsmitteln hätten. Jetzt zeigt sich die traurige
Wahrheit. Ich habe an den Kaiser, an den Reichs-
kanzler geschrieben, gestern noch zum zweitenmal,
und die bevorstehende Gefahr schonungslos aufge-
deckt. Aber was hat die Stimme eines Abgeschobe-
nen für einen Wert! Ich erwarte nun, als Querulant
entfernt zu werden — in Gottes Namen!
Ich habe wenigstens das Bewußtsein, meine Pflicht
getan zu haben, ohne jede Rücksicht auf meine Per-
son. — Sehen Sie, lieber Ludendorff, deshalb ist es von
so unendlicher Bedeutung, daß Sie rasch und mit
rücksichtsloser Energie handeln. Wir müssen mit
Rußland zu einem Abkommen gelangen, wir müssen
421
wenigstens Rumänien durch einen Erfolg dahin brin-
gen, daß es uns die Einfuhr von Brotgetreide gestat-
tet. Es hängt unendlich viel von der Gestaltung der
militärischen Lage im Osten ab, daß dies nicht schon
seit Monaten von leitender Stelle erkannt ist, ist ein
Fehler, der sich in schwerster Weise an Land und
Volk, an Thron und Monarchie rächen kann. — Gegen
fünfzig Armeekorps liegen im Westen im Schützen-
graben, jeder Gedanke, dies Riesenheer wieder opera-
tionsfähig zu machen, ist aufgegeben. Man kann sich
nicht entschließen, einen Meter Land aufzugeben und
die Entscheidung in der offenen Feldschlacht zu su-
chen. Das ist keine Kriegsführung mehr, es ist ein
vollständiges Fiasko.
Ich kann Ihren Operationen nur in Gedanken und
mit heißen Wünschen folgen. Was Sie beabsichti-
gen, finde ich durchaus richtig. Die Operation auf
das rechte Weichselufer zu verlegen, ist meiner Mei-
nung nach das einzig Richtige. Wenn es gelingt, müs-
sen die Russen aus ihrem Mauseloch heraus. Sie
werden ja alle Mittel anwenden, um ihnen die Lebens-
ader, die Bahn nach Warschau zu durchschneiden.
— Gott sei mit Ihnen.
Ich weiß, wenn es jemanden gibt, der das Vater-
land noch retten kann, so sind Sie es und Ihr Feld-
marschall.
Treulichst wie in alter Zeit der Ihrige
v. Moltke.
Chef des Generalstabes des Feldheeres
Nr. 227.
Groß es Hauptquartier, den ... Februar 1915.
Bei Gelegenheit einer Konferenz habe ich zufäl-
lig von einer Denkschrift über die Ernährungsfrage
422
Deutschlands in ihrer Beziehung zum Kriege erfah-
ren, die der stellvertretende Generalstab an den Herrn
Reichskanzler gerichtet hat. Ich weiß nicht, von wel-
cher Stelle im besonderen die Schrift bearbeitet ist,
habe mich auch nach ihrem Inhalt im einzelnen nicht
erkundigen wollen. — Indessen möchte ich Ew. Ex-
zellenz bitten, sehr gefälligst Maßnahmen zu treffen,
die es verhindern, daß Auslassungen des stellvertre-
tenden Generalstabs, die für Entschlüsse der Ober-
sten Heeres- oder Staatsleitung von Einfluß sein
könnten, nach außen gelangen, ehe sie mir vorge-
legen haben.
An den Chef des stellv. General- Ohne Datum und ohne Unter-
stabes Herrn Generaloberst schrift eingegangen am Freitag,
v. Moltke, Exzellenz, j den 5. Februar 1915. v. Moltke.
Moltke an General . . .
Berlin, 4. Mai 1915.
Ew. Exzellenz
sage ich meinen besten Dank für Ihren Brief vom
30. v. M.
Die Offenheit, mit der Sie mir geschrieben haben,
ist mir der beste Beweis Ihrer aufrichtigen Freund-
schaft. Nichts ist schlimmer, als unklaren Verhält-
nissen gegenüberzustehen. — Jetzt weiß ich, woran
ich bin, und kenne den mir bisher unerklärlichen
Grund meiner dauernden Ausschaltung.
Ich kann nicht leugnen, daß Ihre Mitteilung, meine
Tätigkeit in Sachen der Volksernährung werde als
Zeichen der Nervosität gedeutet, mich doch über-
rascht hat und ich muß offen gestehen, daß ich ohne
Ihre Aufklärung auf diesen Gedanken nie gekommen
sein würde. — Sie macht mir etwa den Eindruck, als
ob man von einem Menschen, der das Haus brennen
423
sieht und der die Feuerwehr alarmiert, sagen würde,
er tue dies aus Nervosität! Ich glaube, daß man im
Großen Hauptquartier über die Zustände in der Hei-
mat nicht sehr eingehend unterrichtet ist. Das ist ja
auch begreiflich, da die Kriegsführung selbstverständ-
lich im Vordergrund der Interessen steht und da die
Zeitungen infolge der Zensur völlig gebunden sind.
Dadurch ist es vielleicht erklärlich, daß die Notwen-
digkeit dessen, was ich getan habe, nicht erkannt
worden ist. Ich kann aber versichern, daß es sehr nö-
tig war, den verantwortlichen Behörden die Augen
zu öffnen, wenn Unheil verhütet werden sollte. Da
kein anderer da war, der dies übernehmen wollte,
habe ich es getan. Von außerordentlich vielen Sei-
ten ist mir auch dafür Dank geworden. — Wenn in
der Umgebung Sr. Majestät mein Eingreifen gegen
mich ausgenutzt worden ist, so bedauere ich dies,
kann es aber nicht ändern, und würde in einem zwei-
ten Fall genau ebenso handeln. — Allerdings war es
schon zu meiner Kenntnis gekommen, daß man
neuerdings auch den Rückzug von der Marne im
September vorigen Jahres auf Nervosität meinerseits
zurückführen will. Diese Unterstellung ist ebenso
falsch, wie die obige. Der Rückzug war eine nach
Lage der Dinge unvermeidlich gewordene Notwen-
digkeit, die ich — wenn auch schweren Herzens —
mit voller Überlegung habe anordnen müssen, und
ich bin sicher, daß die Kriegsgeschichte mir einmal
Recht geben wird. — Doch dies bemerke ich nur
nebenbei.
Wie ich Ende September hierher kam, haben mich
zahlreiche Herren aus den Kreisen der Industrie, der
Landwirtschaft, der Wissenschaft aufgesucht. Sie
kamen alle unabhängig voneinander, aber alle mit
derselben Bitte um Hilfe, und alle in derselben Über-
424
zeugung, daß wenn so weiter gewirtschaftet werde
wie bisher, eine wirtschaftliche Katastrophe unver-
meidlich sein würde. Das war nicht Schwarzseherei
von mir, sondern die Ansicht der kompetentesten Be-
urteiler unserer Volkswirtschaft. Es war eben in den
verflossenen fünf Kriegsmonaten so gut wie nichts
geschehen, alles ging weiter wie im Frieden und alle
mahnenden Stimmen verhallten ungehört. Ich wurde
gedrängt, an Se. Majestät zu berichten und ihn um
sein Eingreifen zu bitten, in dem von vielen Seiten
die einzige Rettung gesehen wurde. — Ich habe mich
nicht leicht dazu entschlossen, mich in diesen Din-
gen, denen ich doch als Laie gegenüberstand, einzu-
setzen und habe es erst getan, nachdem ich zu der
Überzeugung gekommen war, daß im Interesse des
Landes eine radikale Änderung des bisherigen Ver-
fahrens nötig sei. Es war nötig, daß ein einheitlicher
und großzügiger Wirtschaftsplan und eine dem
Kriege angepaßte Organisation der Volkswirtschaft
coute que coute herbeigeführt wurde. — Ich wußte,
daß ich in ein Wespennest greifen würde, das war
mir aber gleichgültig, hier kam es auf die Sache an.
Ich glaube auch den richtigen Weg beschritten zu
haben, indem ich eine Denkschrift an den Reichs-
kanzler richtete, in der ich die Lage schilderte und
gleichzeitig Se. Majestät bat, sich über dieselbe Vor-
trag halten zu lassen. Damals haben Se. Majestät mir
seinen Dank aussprechen lassen. Das scheint verges-
sen zu sein. — Nicht alles, aber doch die Hauptsache
dessen, was ich nach eingehender Beratung mit un-
seren bedeutendsten Nationalökonomen in dieser
Denkschrift vorgeschlagen habe, ist heute — aller-
dings leider erst nach Monaten — zur Einführung
gekommen. Manche Schwierigkeiten, zum Beispiel
die Haferkalamität, hätten vermieden werden können,
425
wenn der schwerfällige Apparat unserer Zivilverwal-
tung rascher in Bewegung zu setzen gewesen wäre.
Immerhin ist das, was ich herbeiführen wollte, im
wesentlichen erreicht und ich bin befriedigt in dem
Bewußtsein, meine Pflicht getan und dem Kaiser und
dem Lande einen guten Dienst geleistet zu haben.
Daß ich bei der Wichtigkeit der Sache sehr ener-
gisch vorgegangen bin, halte ich nicht für einen Feh-
ler. — Ich glaube, hier zu Hause wird man schwer-
lich, außer vielleicht bei denjenigen, die in meinem
Vorgehen eine Verletzung ihrer Privilegien gesehen
haben, die Ansicht vertreten finden, ich habe aus
Nervosität gehandelt.
Wenn dies jetzt dem Kaiser so dargestellt wird,
so kann ich wohl vermuten, von welcher Seite das
kommt, und ich werde mich auch hiermit gleich-
mütig abfinden. — Ich kann Ew. Exzellenz versichern,
daß nach den Erfahrungen, die ich vom ersten Mo-
bilmachungstage an habe machen müssen, meine
Ruhe und mein inneres Gleichgewicht durch nichts
mehr erschüttert werden können.
Verzeihen Sie dies lange Schreiben. Ich bin dank-
bar, daß Sie mir gute Kameradschaft immer bewahrt
haben und es lag mir nur daran, daß nicht auch Sie
zu falschen Vorstellungen über mich kommen. Es
soll aber das letztemal sein, daß ich Sie mit meiner
Person belästige.
Treulich der Ihrige
v. Moltke.
TELEGRAMM DES KAISERS AN MOLTKE.
Neues Palais, 23. Mai 1915.
Generaloberst v. Moltke, Königsplatz, Berlin.
Mein lieber Moltke! Empfangen Sie meine herzlichsten Glück-
wünsche zu Ihrem Geburtstage. Das vergangene Jahr brachte
426
uns den schwersten Krieg der Weltgeschichte! Daß Meine Ar-
mee für denselben mustergültig vorbereitet war und im ersten
Teil des Feldzuges glänzende Erfolge erkämpfte, das war we-
sentlich mit Ihr Verdienst, für welches Ich und das Vaterland
Ihnen für alle Zeiten tief dankbar bleiben. — Seitdem hat die
Vorsehung unsere Aufgaben immer gesteigert, Gottes Gnade half
uns, sie glücklich zu vollbringen. Unser festes Gottvertrauen wird
uns auch weiter helfen. In dieser Zuversicht wünsche Ich Ihnen
für Ihr kommendes Lebensjahr Gottes Segen.
Es ist mir eine besondere Freude, Ihnen die Briefe Friedrichs
des Großen zu schenken, der auch wie Ich gegen eine Welt von
Feinden zu kämpfen hatte und sich durch schwerste Zeiten
durchringen mußte.
Wilhelm I. R.
TELEGRAMM DES KAISERS AN MOLTKE.
Pleß, Schloß, 7. August 1915.
Generaloberst v. Moltke, Königsplatz, Berlin.
Bei der Wiederkehr des Tages, an dem vor einem Jahre die
Festung Lüttich im Ansturm heldenhaft vorwärtsdrängender Trup-
pen genommen und der Aufmarsch an der Westfront sicher-
gestellt war, gedenke Ich dankbar Ihrer Verdienste. Ihr Werk
war es, daß die Armee mustergültig in diesen uns aufgezwun-
genen größten aller Kriege zog, daß Mobilmachung und Auf-
marsch ungeheurer Massen sich in tadelloser Weise vollzog, und
daß in raschem Anlauf der größte Teil von Belgien und Nord-
frankreich mit großen, für unbezwinglich gehaltenen Festungen
in unsere Hand fiel. In langen Friedensjahren haben Sie es ver-
standen, im Geiste Ihrer Vorgänger, deren Wirken Ich in hoher
Anerkennung gedenke, den Generalstab weiterzubilden und für
die ihm jetzt obliegenden großen Aufgaben zu schulen, so daß
der Generalstab überall, wo unsere Waffen kämpfen, seine Pflicht
vortrefflich erfüllt. — Ich und das Vaterland sind Ihnen allezeit
dafür dankbar. — Ich verleihe Ihnen am heutigen Gedenktage
den Orden Pour le merite.
Wilhelm I. R.
427
Moltke über den Rückzug an der Marne.
Berlin, Sommer 1915.
Ich habe mich nie über die Schwere des Kampfes
getäuscht, den Deutschland durchzufechten haben
würde, wenn einmal der Brand in Europa zum Aus-
bruch kommen sollte. — Meine alljährlich dem Reichs-
kanzler eingereichten Denkschriften über die militär-
politische Lage, nicht am wenigsten diejenige, in der
ich vor drei Jahren die letzte Armee Verstärkung for-
derte, die leider nicht in dem Maße, wie ich sie wollte,
zur Durchführung gekommen ist, könnten darüber
Auskunft geben.
Die schwerwiegendste Entscheidung, vor die ich
als Chef des Generalstabes gestellt war, war diejenige,
ob Deutschland den zu erwartenden Zweifrontenkrieg
defensiv oder wenigstens nach einer Seite offensiv
führen solle. — Ich habe mich nach eingehenden Prü-
fungen und Studien für das letztere entschieden und
den Aufmarsch so angelegt, daß die Offensive im
Westen mit möglichst starken, die gleichzeitige De-
fensive im Osten mit einem Mindestmaß von Kräften
geführt werden konnte. — Es war zu erhoffen, daß
im Westen eine schnelle Entscheidung herbeigeführt
werden würde. Eine solche war nötig, um Freiheit
des weiteren Handelns zu gewinnen, sie war aber nur
zu erwarten, wenn man die französische Armee im
freien Felde treffen konnte. Ein Angriff gegen die be-
festigte Ostgrenze Frankreichs mußte aller Voraus-
sicht nach zu einem langwierigen Positionskrieg füh-
ren und eine Entscheidung hinausschieben. — Die
428
Kriegsereignisse bei der 6. und 7. Armee sprechen für
die Richtigkeit dieser Ansicht. — Daraus ergab sich
die Notwendigkeit, den französischen Festungsgürtel
zu umgehen, was der Raum- und Heeresstärkever-
hältnisse wegen nur unter Benutzung belgischen Ge-
bietes geschehen konnte.
Soweit stimmte meine Auffassung mit derjenigen
des Grafen Schlief fen überein. Wesentlich unterschied
sie sich in der Ausführung. Der von meinem Vorgän-
ger ausgearbeitete Aufmarsch war so angelegt, daß
der deutsche rechte Heeresflügel über Roermond vor-
gehen, also nicht nur belgisches, sondern auch hol-
ländisches Gebiet durchschreiten mußte. Graf Schlief -
f en war der Ansicht, daß Holland sich auf einen Pro-
test beschränken, die Verletzung seines Gebietes im
übrigen ungehindert geschehen lassen würde. — Ich
habe gegen diese Auffassung die schwersten Beden-
ken gehabt, ich glaubte nicht, daß Holland eine Ver-
gewaltigung ruhig hinnehmen werde, dagegen sah ich
voraus, daß dem deutschen Heeresflügel durch ein
feindliches Holland so starke Kräfte entzogen wer-
den würden, daß er die nötige Schlagkraft gegen den
Westen einbüßen müßte. Der Vormarsch durch Bel-
gien konnte meiner Ansicht nach nur unter der Vor-
aussetzung eines strikt neutralen Hollands ausgeführt
werden.
Wenn ich auch nicht wußte, welche Haltung Eng-
land bei einem Kriege Deutschlands gegen Rußland
und Frankreich einnehmen werde, so hielt ich es doch
für mehr als wahrscheinlich, daß dieser Staat an die
Seite unserer Gegner treten würde, sobald wir die
belgische Neutralität verletzten, um so mehr, da Eng-
land schon im Jahre 1870 dies als casus belli erklärt
hatte. Es war mir klar, daß die Wahrung der Neu-
tralität Hollands schon deswegen unbedingtes Erf or-
429
dernis sei, und ich habe alle Schwierigkeiten in den
Kauf genommen, die unserem Aufmarsch und Vor-
marsch erwachsen mußten, wenn wir keinen hollän-
dischen Boden betreten wollten. Gleich nach dem
Ausspruch der Mobilmachung habe ich dem hollän-
dischen Gesandten in Berlin erklärt, daß ich mich für
eine strikte Achtung der holländischen Neutralität von
Seiten Deutschlands feierlich verbürge. Ich glaube,
daß die Verhältnisse mir recht gegeben haben. Man
braucht sich nur zu vergegenwärtigen, wie sie sich
gestaltet haben würden, wenn wir es mit einem feind-
lichen Holland, dessen Küsten einer englischen Lan-
dung offen standen, zu tun gehabt hätten, was aus
dem Unternehmen gegen Antwerpen unter der Vor-
aussetzung einer nicht neutralen Scheide geworden
wäre, wieviel Truppen zu unserer Rückendeckung bei
dem Vormarsch nach Westen erforderlich gewesen
sein würden.
Ich war und bin noch heute der Überzeugung, daß der
Feldzug im Westen scheitern müßte, wenn wir Hol-
land nicht geschont hätten. — Außerdem war ich mir
klar darüber, daß dieses Land gewissermaßen als
Luftröhre für unser wirtschaftliches Leben unter al-
len Umständen erhalten werden mußte. — Schonten
wir dagegen Holland, so konnte England, nachdem
es angeblich zum Schutz der kleinen Neutralen uns
den Krieg erklärt hatte, seinerseits die holländische
Neutralität unmöglich verletzen.
Allerdings komplizierte sich der geplante Vormarsch
durch Belgien in hohem Maße durch die Ausschal-
tung Hollands : unser durch die Bahnlinien bedingter
Aufmarsch mußte mit dem rechten Flügel bis in die
Gegend von Krefeld ausgedehnt werden. Es wurde
nötig, die starke i. Armee, die beim weiteren Vor-
marsch den Umfassungsflügel bilden sollte, nach Sü-
43o
den über Aachen vorzuziehen. — Zwischen Lüttich
und der holländischen Grenze gab es nur den einen
Übergang bei Vise, der außerhalb des Feuers der
Festung lag.
Um den ungeheuren technischen Schwierigkeiten
begegnen zu können, die bei diesem Vorgehen zu er-
warten waren, habe ich jahrelang theoretische Ar-
beiten über den Vormarsch unserer Armeekorps auf
einer Straße und die Regelung der rückwärtigen Ver-
bindungen ausführen lassen, und ich glaube, daß in
dieser Hinsicht die von mir ins Leben gerufenen Ver-
waltungs-Generalstabsreisen sich belohnt haben.
Von allergrößter Bedeutung für die Ausführung der
geplanten Operation war die frühzeitige Inbesitznahme
von Lüttich. Die Festung mußte in unserer Hand sein,
wenn der Vormarsch der i. Armee überhaupt ermög-
licht werden sollte. Diese Erwägung ließ mich den
Entschluß fassen, Lüttich durch Handstreich zu neh-
men.
In allen früheren Operationsentwürfen war mit ei-
ner ordnungsmäßigen Belagerung Lüttichs gerech-
net, erst sollte der Aufmarsch planmäßig erfolgen,
dann der Vormarsch auf der ganzen Linie angetreten,
Lüttich eingeschlossen und artilleristisch angegriffen
werden. — Aber auch hierfür war der früher geplante
Vormarsch des rechten Heeresflügels durch Holland
Voraussetzung. — Sicherlich würde die Belagerung
viel Zeit und Truppen gekostet haben, die belgische
Armee hätte inzwischen Mobilmachung und Auf-
marsch vollendet, wir hätten ein kriegsmäßig ausge-
bautes Lüttich vorgefunden, unbedingt hätte man dann
ferner mit der Zerstörung der Bahn Verviers — Lüt-
tich rechnen müssen, deren Erhaltung für unseren
Vormarsch durch Belgien von der allergrößten Be-
deutung sein mußte.
43i
Bei dem von mir beabsichtigten Handstreich kam
alles auf Schnelligkeit des Handelns an. — Ich hatte
die Verhältnisse bei Lüttich auf das genaueste reko-
gnoszieren und alle Wege festlegen lassen, auf de-
nen Kolonnen gegen die innere Stadt vorgehen konn-
ten, ohne in das Gesichtsfeld der Außenforts zu kom-
men. Es waren fünf solcher Straßen festgestellt, Of-
fiziere zur Führung der Kolonnen auch bei Nacht
waren durch örtliche Erkundungen ausgebildet und
wurden dauernd ergänzt. Trotz des allgemein herr-
schenden Vorurteils gegen Unternehmungen mit im-
mobilen Truppen habe ich fünf Friedensbrigaden für
das Unternehmen bestimmt. Es kam darauf an, den
Handstreich auszuführen, bevor die Zwischenwerke
in der Fortlinie ausgebaut sein konnten.
Ich war mir völlig darüber klar, daß, wenn das Un-
ternehmen mißglückte, mir von der gesamten mili-
tärischen Welt der Vorwurf gemacht werden würde,
etwas Unmögliches gewollt und mit dem Wagnis ei-
nes infanteristischen Angriffs auf eine moderne Fe-
stung meine völlige Unfähigkeit bewiesen zu haben.
Aber gerade der Umstand, daß Lüttich eine moderne
Festung war, das heißt eine solche ohne innere Um-
wallung, ließ mich den Plan fassen, durch die Zwi-
schenräume der Außenforts hindurch direkt in das
Innere der Festung vorzustoßen.
Ich habe mit diesem Unternehmen alles auf eine
Karte gesetzt und dank der Tapferkeit unserer Trup-
pen das Spiel gewonnen.
Man wird in Zukunft keine solche modernen Fe-
stungen mehr bauen.
Erst mit dem Falle von Lüttich war die Bahn für
das Vorgehen der i. Armee frei, außerdem war den
Belgiern keine Zeit geblieben, die Maasbahn zu zer-
stören. Damit war ungeheuer viel gewonnen, wie im
432
späteren Verlauf der Ereignisse in die Erscheinung
trat, wo die Bahn über Lüttich die einzige verfüg-
bare Linie für unsere Truppenverschiebungen bildete.
Der den nun folgenden Operationen zugrunde lie-
gende Gedanke war der, das belgische Heer wenn
irgend möglich von Antwerpen, ebenso das franzö-
sische Heer, das ich an der Maas und Sambre zu fin-
den erwartete, unter Umfassung seines linken Flü-
gels, von Paris ab und nach Südosten zu drängen.
— Während die i.bis 5. Armee mit dem Drehpunkt
Metz — Diedenhofen eine Schwenkung nach Süden
ausführten, sollten die 6. und 7. Armee zwischen Nancy
und Epinal die Maas überschreiten, um südlich Ver-
dun den Anschluß an die 5. Armee wieder zu ge-
winnen.
Über die Absichten der Franzosen war uns vor Er-
öffnung des Krieges nichts bekannt geworden, eben-
so hatten wir keine sicheren Nachrichten über ihren
geplanten Aufmarsch. Die starke Betonung des Of-
fensivgedankens, die in den letzten Jahren in der fran-
zösischen Militärliteratur hervortrat, war bei uns nicht
unbeachtet geblieben. Anzeichen dafür, daß dieser
Gedanke durch den Versuch eines mit starken Kräf-
ten zu unternehmenden Vorstoßes beiderseits Metz
sich verwirklichen würde, lagen uns nicht vor.
Die starke 6. Armee war aber durch die Aufmarsch-
anweisungen so in Lothringen bereitgestellt, daß sie
sowohl nördlich wie südlich Metz eingesetzt werden
konnte. Erst das Vorgehen starker französischer Mas-
sen zwischen Metz und den Vogesen nach vollende-
tem französischen Aufmarsch brachte Klarheit.
Ich hatte die 6. Armee, der die 7. unterstellt wurde,
angewiesen, vor dem Vormarsch der Franzosen zu-
nächst auszuweichen, es lag mir daran, den Gegner
möglichst weit südlich Metz vorkommen zu lassen,
Moltke. 28. 433
um dann womöglich seine beiden Flügel von Nor-
den und Süden her mit umso größerer Aussicht auf
einen entscheidenden Erfolg anzugreifen. — Die Er-
klärung des Führers der 6. Armee, daß er seine Trup-
pen nicht weiter zurückgehen lassen könne, ohne
ihren inneren Halt zu gefährden, daß er angreifen
müsse, ließen diese Absicht nicht zur Ausführung
kommen.
Die Schlacht in Lothringen wurde geschlagen, be-
vor die 7. Armee und die der 6. Armee zur Verfügung
gestellten Ersatz-Divisionen vollzählig eingetroffen
waren. Sie brachte einen vollen taktischen Erfolg,
aber die Verfolgung kam an der Maas zum Stehen
und der geplante Durchstoß zwischen Nancy und
Epinal gelang nicht. — Zum erstenmal zeigte sich
hier die Stärke der Defensive in feldmäßig vorberei-
teten Stellungen, die dem ganzen Verlauf des Krie-
ges nach der Schlacht an der Marne seinen Charak-
ter aufgedrückt hat. — Bald wurde es klar, daß die
von den Franzosen errichtete Verteidigungslinie zwi-
schen Nancy und Epinal nur durch den Vormarsch
der 5. Armee geöffnet werden würde.
Während die i.bis 5. Armee in siegreichem Vor-
gehen über Maas und Sambre waren, machten die
Verhältnisse im Osten, wo die Russen gegen Erwar-
ten schnell in Ostpreußen eingedrungen waren, eine
Entsendung von Verstärkungen dorthin nötig, bevor
eine endgültige Entscheidung gegen das französisch-
englische Heer hatte erreicht werden können. — Ich
beabsichtigte, diese Verstärkungen der 7. Armee zu
entnehmen, die ebensowenig wie die 6. trotz langem
schwerem Ringen an der Maas vorwärts kommen
konnte. Die bestimmten Meldungen beider Armeen,
daß der Feind ihnen dauernd mit überlegenen Kräf-
ten gegenüberstehe und daß die eigenen Verluste
434
so groß seien, daß eine andere Verwendung von Tei-
len der 7. Armee erst nach Wiederauffüllung möglich
sei, waren Veranlassung, nach dem Fall von Mau-
beuge dem deutschen rechten Flügel zwei Korps zu
entnehmen und sie nach dem Osten zu führen. Ich
erkenne an, daß dies ein Fehler war, der sich an der
Marne rächte.
Die über die Gruppierung der französischen Streit-
kräfte während des Vormarsches nach Nordfrank-
reich hin einlaufenden Nachrichten lauteten stets da-
hin, daß Paris von Truppen so gut wie entblößt sei.
In den Meldungen der Armeen war bisher dauernd
von »fluchtartigem Rückzug« und von »beginnender
Auflösung« des Gegners die Rede gewesen, die Ar-
mee-Oberkommandos hatten wiederholt betont, daß
»rücksichtslose Verfolgung« die Vernichtung des Geg-
ners vollenden würde. Erst in den letzten August-
tagen kamen Meldungen über Transporte franzö-
sischer Truppen vom Osten in Richtung Paris, der
Gegner schien sie vor der Front der 6. und 7. Armee
herauszuziehen. Der Abtransport der 7. Armee nach
St. Quentin wurde nun angeordnet, es war beabsich-
tigt, sie auf dem rechten Heeresflügel einzusetzen.
Ein französischer Vorstoß von Paris aus gegen den
rechten Flügel der 1. Armee wurde jetzt wahrschein-
lich. Die Nachrichten hierüber wurden den Armeen
des rechten Flügels mitgeteilt, sie wurden — wenn
ich nicht irre — am 28. oder 29. August — über das
Aktenmaterial verfüge ich nicht — angewiesen: die
I.Armee zwischen Oise und Marne, die 2. Armee zwi-
schen Marne und Seine Halt zu machen. — Gleich-
zeitig wurde die 1. Armee darauf hingewiesen, sie
solle nicht näher an Paris herangehen, als es die
Wahrung der Operationsfreiheit gestatte. — Als die
obige Weisung die 1. Armee erreichte, hatte sie mit
435
Teilen die Marne bereits überschritten. Sie beantragte,
die Verfolgung noch einen Tag fortsetzen zu dürfen,
um die Früchte ihrer Siege zu ernten. Das wurde ihr
zugebilligt, die Notwendigkeit der Staffelung und
Sicherung gegen Paris aber gleichzeitig nochmals be-
tont.
Es erfolgte nun der französische Gegenangriff ge-
gen den rechten Flügel der i.und die Front der 2.,
4. und 5. Armee. Die 1. Armee zog, um die Bedrohung
ihres rechten Flügels abzuwehren, ihre beiden linken
Flügelkorps hinter ihre Front herum auf den rechten
Flügel. Dadurch entstand eine 25 Kilometer breite
Lücke zwischen der i.und 2. Armee, in die drei eng-
lische Divisionen eindrangen, worauf die 2. Armee
ihren rechten Flügel zurücknahm.
Am 7. September kamen Nachrichten, die erken-
nen ließen, daß die 1. Armee einen sehr schweren
Stand habe. Es erschien nötig, eine Anweisung zu
geben für den möglichen Fall, daß sie geworfen wer-
den sollte. Ich schickte deshalb den Oberstleutnant
Hentsch zur 2. und 1. Armee. Er sollte sich über die
Lage orientieren, hatte aber nicht den Auftrag, die
I.Armee zurückzuführen, sondern sollte sie nur an-
weisen, für den Fall, daß sie sich nicht halten könne,
in die Linie Soissons — Fismes auszuweichen, um so
wieder den Anschluß an den rechten Flügel der 2. Ar-
mee zu gewinnen — um so die entstandene Lücke
zu schließen. Wie wenig ich daran gedacht habe,
dem Oberstleutnant Hentsch den Befehl für die
i.Armee zum einfachen Rückzug hinter die Aisne
mitzugeben, geht aus meinem Funkspruch vom 10.
September, 10 Uhr nachmittags, an A.-O.-K. 1 und 2
hervor: »I.Armee stellt sich als rückwärtige Staffel
bereit. Umfassung des rechten Flügels der 2. Armee
ist durch Angriff zu verhindern.« Die i.Armee be-
436
hauptet, Oberstleutnant Hentsch habe ihr den Be-
fehl zum Zurückgehen überbracht, Oberstleutnant
Hentsch bestreitet dies, er meldete mir bei seiner
Rückkehr, daß die Anordnungen für den Rückzug der
Armee bei seiner Ankunft dort bereits ausgearbeitet
gewesen wären. — Daß die i. Armee nicht mehr in
der Lage war, frei zu handeln, geht daraus hervor,
daß es ihr nicht gelang, den Anschluß an die 2. Ar-
mee bei Fismes zu erreichen. Sie mußte statt mit
dem rechten, mit dem linken Flügel auf Soissons
zurückgehen, so daß die Lücke zwischen ihr und der
2. Armee nicht geschlossen wurde und später die in-
zwischen eintreffende 7. Armee hier eingesetzt wer-
den mußte.
Ich fuhr am 11. September zu den Armee-Oberkom-
mandos. — Ich hatte angeordnet, daß die 3., 4. und
5. Armee stehen bleiben sollten. Ich glaube, daß der
Befehl, den ich bei der 4. Armee diktierte, in den Ak-
ten der 4. Armee enthalten sein muß. Ich habe ihn
dann aber aus folgenden Gründen nicht weiter ge-
geben. Wie ich zum Oberkommando der 3. Armee
kam, erklärte mir der Oberbefehlshaber, daß seine
Armee nicht mehr imstande sei, die zwischen der 2.
und 4. Armee befindliche Geländestrecke zu halten,
wenn die Franzosen ihn angreifen sollten. Die Armee
habe so starke Verluste gehabt und sei durch ihr
Eingreifen teils auf dem linken Flügel der 2., teils auf
dem rechten Flügel der 4. Armee so ermüdet, daß sie
keine Gefechtskraft mehr habe. — Ich fuhr nun zur
4. Armee zurück, um nochmals die Lage zu bespre-
chen. Hier erreichte mich eine Meldung der 2. Armee
folgenden Inhalts: »Feind scheint Hauptdruck gegen
rechten Flügel und Mitte 3. Armee zu richten, um hier
durchzubrechen. Dies bei Breite der Armeefronten
und verminderten Gefechtsstärken bedenklich. Durch
437
Zurücknahme der deutschen Mitte unter fester An-
lehnung an linken Flügel 2. Armee bei Thuizy bis in
Höhe von Suippes — St. Menehould und östlich kann
dem begegnet werden. Später neue Offensive vom
rechten Flügel aus dann aussichtsvoll.« — Wenn die
Auffassung der 2. Armee richtig war, und ich hatte
keinen Grund sie anzuzweifeln, so mußte ich nach
den bei der 3. Armee empfangenen Eindrücken be-
fürchten, daß sie nicht mehr imstande sein werde,
den bevorstehenden feindlichen Durchbruchsversuch
abzuwehren. Gelang derselbe, so mußten die 4. und
5. Armee in eine so schwierige Lage kommen, daß
eine Katastrophe zu befürchten stand. — Bei einer
Besprechung, die ich am 11. September abends mit
dem Oberbefehlshaber der 2. Armee in Reims hatte,
bestätigte mir derselbe seine, dem Telegramm vom
11. früh zugrunde liegende Ansicht, er rechnete be-
stimmt mit einem schon am 13. zu erwartenden An-
griff der Franzosen auf die 3. Armee.
Ich mußte mich daher entschließen, der 3. Armee
eine verkürzte Linie zuzuweisen, in der sie sich mei-
ner Ansicht nach mit Bestimmtheit halten konnte.
Das war nur durch Zurücknehmen der Armee mög-
lich. Damit wurde auch das Zurücknehmen der 4. und
5. Armee bedingt. Die Versammlung der 3., 4. und
5. Armee in der Linie Reims — Verdun bedeutete eine
erhebliche Verkürzung der Frontlinie und mußte es
ermöglichen, nachdem sie erreicht war, Truppen aus
der Front zur Verstärkung des bedrohten rechten
Heeresflügels herauszuziehen. — Ich gab daher, da
hier rasch gehandelt werden mußte, am 11. Septem-
ber, 4 Uhr nachmittags, den Befehl aus, nach dem
die 3. Armee die Linie Thuizy (ausschl.) — Suippes
(ausschl.), die 4. Armee die Linie Suippes (einschl.) —
St. Menehould (ausschl.), die 5. Armee die Linie St.
438
Menehould (einschl.) — und östlich erreichen sollten.
Die erreichten Linien sollten ausgebaut und gehalten
werden. Die somit der schwachen 3. Armee zugewie-
sene Linie hatte nur 20 Kilometer Frontbreite, die
Gesamtausdehnung für die 1. bis 5. Armee betrug nach
ihrer Zusammenfassung etwa 150 Kilometer.
Da die französischen Angriffe der letzten Tage vor
der Front des linken Heeresflügels abgewiesen wa-
ren, ließ sich erwarten, daß die Armeen die ange-
wiesenen Stellungen ohne Schwierigkeiten würden
erreichen können. Leider gelang es, wie erwähnt, der
1. Armee nicht, den Anschluß an den rechten Flü-
gel der 2. zu gewinnen. Ebenso erklärte die 5. Ar-
mee, bei St. Menehould nicht stehen bleiben zu kön-
nen, sondern bis nördlich des Argonnenwaldes zu-
rückgehen zu müssen. (Siehe Operationsakten der
5. Armee vom 11. September.)
Somit kam der Zusammenschluß des Heeres in der
Linie, die ich beabsichtigt hatte, nicht zur Ausfüh-
rung.
Am i3.September ordnete ich das Herausziehen von
je einem Korps der 3., 4. und 5. Armee und den Ab-
marsch dieser Korps nach Westen an, um den rech-
ten Heeresflügel zu verstärken und um die Lücke
zwischen den. und 2. Armee zu schließen. Dies wurde
nötig, da die 7. Armee erst mit den Anfängen St. Quen-
tin erreicht hatte.
Am 14. September wurde die weitere Leitung der
Operationen dem General v. Falkenhayn übertragen,
gleichzeitig wurde mein Oberquartiermeister, General
v. Stein, zum Kommandierenden General des XIV. Re-
servekorps ernannt.
Somit endete meine militärische Tätigkeit.
439
Fünfter Teil
Aus Moltkes letzter Lebenszeit
Moltke und die Gründung der »Deutschen
Gesellschaft 1914«.
Ansprache Moltkes bei Eröffnung der »Deutschen
Gesellschaft 1914« am 28. November 1915.
Als Ältester des Ausschusses zur Gründung der
»Deutschen Gesellschaft 1914« fällt mir die ehrenvolle
Aufgabe zu, die Versammlung zu eröffnen, und über-
nehme ich zunächst den Vorsitz.
Meine Herren, während wir uns hier in gesicherter
Ruhe versammeln können, tobt draußen der Krieg,
stehen unsere Brüder und Söhne im Kampf gegen
eine Welt von Feinden, bereit, täglich und stündlich
ihr Leben hinzugeben, um durch das Opfer ihres in-
dividuellen Lebens das Leben der Gesamtheit, der
Nation vor dem Untergang zu bewahren, den unsere
Gegner uns zugedacht haben, um in heißem, bluti-
gem Ringen dem Deutschen Reich einen siegreichen
und dauernden Frieden zu erkämpfen. Schulter an
Schulter stehen und kämpfen sie, ohne Unterschied
des Standes, des Berufs, der Geburt, der politischen
Richtung, — eine große, einheitliche Masse, die ge-
sammelte Kraft des Volkes, zusammengehalten und
durchglüht von dem einen großen Gedanken des
Vaterlandes. Geeint wurde unser Volk, das von Par-
teiungen zerrissen schien, das so oft seine beste Kraft
in kleinlichem Zank vergeudet hatte, durch diesen
Krieg. Die heilige Flamme der Vaterlandsliebe zer-
schmolz die Schranken, die der Egoismus des Wohl-
lebens unter uns aufgerichtet hatte, wir lernten uns
als Brüder kennen, wir erlebten das Wort Lagardes:
»Ein Volk sein, heißt eine gemeinsame Not empfin-
443
den«, und diese Einigkeit ist es, die uns unüberwind-
lich macht.
Wohl reißt der Krieg auch vieles nieder, vernichtet
er viel Wertvolles, Leben und Güter, aber er erzeugt
und offenbart auch Kräfte und Fähigkeiten, mit deren
Hilfe nicht nur Bewährtes wieder aufgerichtet wer-
den kann, sondern dem Menschenwerk neue, Größe-
res verheißende Bahnen gewiesen werden. Wer sollte
es nicht fühlen, daß dieser Krieg einen der großen
Wendepunkte der Weltgeschichte bedeutet, daß sein
Ausgang entscheidend sein wird für die Richtung,
die der Menschheitsentwicklung, der Menschheits-
kultur auf Jahrhunderte hinaus gegeben werden wird.
Eine neue Zeit, neue Entwicklungsmöglichkeiten,
ein neues gefestigtes Gemeinleben, neue Betätigungs-
formen des geistigen Lebens, muß dieser Krieg uns
bringen. Wir werden manches hinter uns lassen müs-
sen, das uns vorher der höchsten Mühe wert erschien
und das sich doch als wertlos erwiesen hat, in dieser
großen, eisernen Zeit. Aber wir haben die Überzeu-
gung, daß in unserem Volk die Zauberkraft lebt, die
furchtbaren Spuren des Kampfes zu tilgen, und
neues, schaffendes Leben an den Stätten des Todes
und der Verwüstung wachzurufen.
Diese schöpferische Kraft, die sich schon jetzt so
vielfach und so herrlich offenbart hat, diese Einigkeit
der Gesinnung, die uns gelehrt hat, Sonderwünsche
und Sonderinteressen einem großen gemeinsamen
Ziele unterzuordnen, müssen wir pflegen und bewah-
ren als unser höchstes Gut, als die sicherste Gewähr
einer aufwärtsstrebenden Zukunft. 1871 wurden wir
ein Reich, jetzt gilt es, daß wir ein Volk werden.
Das sind die Gedanken, die der Gründung der »Deut-
schen Gesellschaft 1914« zugrunde gelegen haben.
Daß sie ein wohlvorbereitetes Feld gefunden haben,
444
beweist die Anzahl unserer Mitglieder und die statt-
liche Zähl, in der Sie heute abend zu unserer Eröff-
nungssitzung erschienen sind. Ich danke Ihnen und
heiße Sie herzlich willkommen.
Brief Moltkes an den Herausgeber der »Tat«
vom i.Januar 1916*.
Mit großer Aufmerksamkeit habe ich Ihren Auf-
satz über die Gründung der Deutschen Gesellschaft
gelesen. Ich habe auch die anderen Artikel der Num-
mer der »Tat« gelesen, und ich will gerne erklären,
daß der Geist und die Gesinnung, die in ihnen wal-
ten, in mir freudige Zustimmung gefunden haben.
Das Programm Ihrer Zeitschrift: Alles umfassend,
was ernsthaft der Erneuerung des Lebens zustrebt,
die Erneuerung Deutschlands aus den irrationalisti-
schen Anlagen seines Volkstums heraus — umfaßt
die Gedanken, die auch mich bewogen haben, mich
an der Gründung der Deutschen Gesellschaft zu be-
teiligen. Daß uns eine Erneuerung des geistigen Le-
bens bitter not tut, war mir Gewißheit, schon lange
bevor dieser Krieg unser Volk auf die Goldwage der
Weltentwicklung legte, und mit ganzer Seele habe
ich gehofft, daß es sich wert erweisen möge der
hohen Aufgabe, die ihm die Weltenlenkung gestellt
hat. — Hier handelt es sich um geistige Waffen, nur
* Diesen Brief brachte die »Tat« im Juliheft 1916 mit der hier folgenden Einleitung :
Der sympathischen Persönlichkeit des anfänglichen Leiters unserer Kriegsopera-
tionen wurde bei den Nachrufen zu seinem jähen Tode allgemein gedacht, denn Moltke
war nicht nur Berufssoldat, sondern ein warmherziger, kultivierter Mensch mit ideali-
stischer Tendenz. So beschäftigte ihn das Werden des neuen Deutschland nach dem
Kriege besonders stark, und bekanntlich ist die Gründung der »Deutschen Gesell-
schaft 1914« in Berlin auf ihn zurückzuführen. Das Januarheft der »Tat« befaßte sich
eingehend mit dieser Gründung, und es dürfte wohl für die Leser der »Tat« von In-
teresse sein, wie sich Moltke anläßlich dieses Aufsatzes zur »Tat« stellte. — Er schrieb
später noch einmal dem Herausgeber anläßlich des Märzheftes : »Wenn man der An-
sicht ist, daß in der Denkweise Ihrer Monatsschrift diejenige der kommenden Jugend
Deutschlands zum Ausdruck kommt, so darf man meiner Überzeugung nach der Zu-
kunft mit frohem Vertrauen entgegensehen.«
445
mit ihnen kann die Zukunft bezwungen werden. Es
liegt so unendlich viel Ideales, nach oben Streben-
des in der Seele unseres Volkes. Lange war es unter-
drückt durch die dicke Schrift materiellen Lebens,
es durchbrach sie, als der Krieg die Äußerlichkeiten
des Daseins verschwinden ließ vor dem idealen
Sturm der Vaterlandsliebe, der alle Herzen durch-
brauste. — Wenn Gott unser Volk lieb hat, wird er
diese geistige Erhebung ihm bewahren. Aber jeder
muß dazu mitarbeiten. — Das wollen Sie mit Ihrer
Zeitschrift, und das wollte ich mit dem Inslebenruf en
einer Gesellschaft, die nicht, wie Sie sagen, ein »poli-
tischer Klub« sein soll, sondern ein Versammlungs-
ort aller der Geister, die die Kraft haben, Einzel-
wünsche und Bestrebungen im Dienste des deut-
schen Einheitsgedankens zurückzustellen. In Klassen
geschieden, in Parteien getrennt, haben wir uns vor
dem Kriege kaum gekannt. Die Schranken, die der
Egoismus der Einzelexistenz zwischen uns aufge-
richtet hatte, wollten wir niederlegen und Mensch
dem Menschen nahebringen. Gewiß, Sie haben recht,
es wird darauf ankommen, dem Seelenadel zum Sieg
über den Geschäftsgeist zu verhelfen, die Pflänzlein
zu pflegen, die schon seit Jahren in vielen Menschen
wuchsen, und von deren stiller Entfaltung sich jeder
überzeugen konnte, der mit offenen Augen in unser
Volksleben hineinsah. Über die Schwierigkeiten, die
uns seit Jahren anerzogene mechanische Lebensauf-
fassung zu überwinden, sind wir alle uns von Anfang
an klar gewesen. Aber man darf vor den Schwierig-
keiten nicht zurückscheuen, wo es sich um Großes
handelt. Immerhin wird ein idealer Gedanke einmal
in die Realität hineingeboren gewesen sein. Es ist
bekannt, daß, wenn man einen Wald auf einem Bo-
den aufforsten will, der vorher kein Waldboden war,
446
die erste Anpflanzung oft nach einer Reihe von Jah-
ren zugrunde geht, aber die zweite gedeiht dann. Man
muß nur nicht verzagen. Gelingt der Wurf diesmal
nicht, so wird eine spätere Generation den einmal
geborenen Gedanken wieder aufnehmen. Wir müs-
sen für die Zukunft arbeiten. Wir gehen bald dahin,
aber unser Volk soll in die kommenden Jahrhun-
derte hinein leben, es soll nach oben leben, und jedes
Samenkorn, das jetzt gelegt wird, wird einmal auf-
gehen. Das ist meine Hoffnung und Zuversicht und
mein Glauben an die Weltmission unseres Volkes.
Auszug aus einem Brief Moltkes.
Berlin, 20. März 1916.
Die Jetztzeit bietet viele wenig erfreuliche Erschei-
nungen, zu denen im Innern in erster Linie der Streit
zwischen der Regierung und den Parteien des Reichs-
tags gehört. Wo bleibt der berühmte Burgfriede und
wo die Einigkeit zwischen Volk und Regierung. Mir
scheint, letztere ist sich durchaus nicht klar über die
tiefgehende Mißstimmung weiter Kreise, und, was
das Schlimmste ist, sie macht Versuche, einerseits
durch schärfstes Anziehen der Zensur die Zeitungen
zu knebeln, andererseits durch offiziöse Mitteilungen
einzuwirken, die nicht immer ganz den Tatsachen
entsprechen. Ich sehe darin einen bedauerlichen Man-
gel an Vertrauen zum Volk. Gebe Gott, daß uns bald
eine Entscheidung auf militärischem Gebiet zufällt,
es wird Zeit, der Krieg muß zu Ende gebracht wer-
den, wenn wir nicht alle mit ihm versumpfen und
versauern wollen.
Zuschauer zu sein, wie es mir beschieden, ist
schwer. Ich bin oft am Rande der Verzweiflung ge-
wesen, besonders wenn ich sah, wie manches anders
447
gemacht wurde, als es meiner Meinung nach hätte
gemacht werden müssen. Erst nach langen und schwe-
ren Kämpfen habe ich mich selbst bezwingen kön-
nen, und habe gelernt, die Schwere des Drucks zu
tragen. Ich denke nicht an mich, sondern nur an
unser Vaterland. Ihm nicht dienen zu können, ist
das Opfer, das ich täglich wieder bringen muß.
Gestern war ich bei Tirpitz, auch einem Schick-
salsgenossen. Er fühlt es wie eine Erlösung, aus
dienstlichen Verhältnissen heraus zu sein, die ihm
unerträglich geworden waren. Möge der Kaiser es
nie bereuen, Männer beiseite geschoben zu haben,
die doch vielleicht ihm hätten nutzen können.
Bethmann wird einen schweren Stand haben im
Reichstag. Wie unsinnig handelt dieser Mann, indem
er es versäumt, Fühlung zu nehmen mit dem Volk
und seiner Vertretung.
Auszug aus einem Brief Moltkes.
Berlin, 21. April 1916.
Es war mir eine große und herzliche Freude, nach
langer Zeit wieder eine Nachricht von Ihnen zu er-
halten und aus Ihren Worten den alten Ton herz-
licher Zuneigung herauszuhören, der alle Wechsel-
fälle des Lebens überdauert. Haben Sie Dank für
diese treue Freundschaft, die ich, wie Sie wohl wis-
sen, von Herzen erwidere.
Ich danke Ihnen auch für das, was Sie mir über
Ihre Unterredung mit Sr. Majestät schreiben. Wenn
der hohe Herr mir so freundschaftliche Empfindun-
gen entgegenbringt, wie Sie meinen, so hat er die-
selben jedenfalls nur rein platonisch betätigt. — Ich
habe mich Weihnachten 1914 persönlich bei ihm ge-
sund gemeldet und auch telegraphisch gemeldet, daß
448
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ich zu jeder Verwendung, wo und wann Se. Majestät
es befehlen, bereit sei. Seitdem ist nichts erfolgt, man
hat sich so wenig um mich gekümmert, als ob ich
schon längst begraben wäre. Ich habe nie in meinem
Leben um etwas für mich gebeten und werde dies
auch nie tun.
Wollte Se. Majestät mich wirklich verwenden, hätte
er wohl bei mir selber anfragen können, ob ich mich
befähigt hielte, diese oder jene Stellung zu über-
nehmen, er hätte das Vertrauen zu mir haben kön-
nen, daß ich rein sachlich geantwortet hätte. Ich habe
aber nie ein Wort von ihm gehört. Wenn er jetzt
sagt, ihm wäre immer, wenn er mich hätte verwen-
den wollen, gesagt worden, meine Gesundheit ver-
biete eine Verwendung, so weiß ich nicht, wer so
über mich orientiert war, um dies wissen zu können.
Bei meinem Arzt ist niemals nach mir gefragt worden.
Ich habe in den ersten Monaten meiner Inhaf-
tierung einige Male an Se. Majestät geschrieben. Nach-
dem General . . . mir mitgeteilt hat, ich möchte mich
dem Kaiser gegenüber nicht zur Kriegslage äußern,
da ihn dies vielleicht unsicher machen könnte, habe
ich die Korrespondenz unterlassen. Über das Wetter
zu schreiben, hatte keinen Reiz für mich.
Ich habe im vorigen Frühjahr mein möglichstes
getan, um durch Schreiben an den Reichskanzler die
ganz im argen liegende Volksernährungsfrage in
Fluß zu bringen. Schon damals war es für den Vor-
ausschauenden zu erkennen, daß die traurigen Ver-
hältnisse eintreten mußten, die nun wirklich gekom-
men sind und die durch eine großzügige, das ganze
Wirtschaftsleben umfassende einheitliche Organisa-
tion und Vorsorge hätten vermieden werden können.
Von vielen Seiten aus den Kreisen der Landwirt-
schaft, der Industrie, der Nationalökonomie ist mir
Moltke. 29. 44g
Dank geworden, daß ich eingegriffen habe, wo un-
sere Verwaltungsbehörden versagten; von dem Ge-
neral . . . habe ich dagegen gehört, daß an höchster
Stelle meine Bemühungen als Nervosität, Schwarz-
seherei und unzulässige Einmischung bewertet wor-
den seien. Der Kaiser könne einem so kranken Mann
nicht die Verantwortung einer Heerführung anver-
trauen. Damit war die Sache für mich erledigt, und
ich habe mich nicht weiter vorgedrängt.
Übrigens habe ich Sr. Majestät zu den Erfolgen in
Russisch-Polen seinerzeit meinen Glückwunsch tele-
graphisch ausgesprochen. Sie sehen, lieber . . ., daß
ich keine Veranlassung habe, mich erneut an Se. Ma-
jestät heranzudrängen.
Betteln habe ich in meinem Leben nicht gelernt.
Ich weiß sehr wohl, daß der Kaiser persönlich nicht
den Willen hat, mich links liegen zu lassen, aber er
ist ebenso machtlos gegen die Einflüsse, die gegen
mich gerichtet sind, wie ich.
Hätte er nicht z. B. jetzt mir den Oberbefehl in
Schleswig-Holstein anbieten können? Auch hier wie-
der kein Wort an mich. Meine Vergangenheit ist aus-
gelöscht, für mich hat sie nur den Wert des Bewußt-
seins, meine Pflicht getan zu haben.
Gott helfe unserem Lande und unserem unver-
gleichlichen Volk, wir werden noch viel Schweres
durchzumachen haben. Möge es dem Kaiser dann
nicht an Männern fehlen, die nur den Gedanken ha-
ben, ihm und dem Lande zu dienen, und die ihre Per-
son der Sache unterordnen.
Leben Sie wohl, lieber . . ., Sie tun meinem schwer-
geprüften Herzen wohl, wenn Sie mich ab und an
etwas von sich hören lassen. Ich bleibe immer Ihr
alter Freund
Moltke.
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Rede Moltkes bei der Trauerfeier
für den Generalfeldmarschall Frhrn. v. d. Goltz
am 18. Juni 1916.
Hochverehrte Anwesende!
Das Bild des Mannes, zu dessen Gedächtnisfeier
wir uns hier versammelt haben, ist in einer so aus-
führlichen, glänzenden und wahrheitsgetreuen Weise
geschildert worden, daß Sie es von mir nicht als Ver-
messenheit ansehen wollen, wenn ich Sie bitte, mir
zu einem ganz kurzen Worte ein geneigtes Ohr zu
schenken. — Es sind zwei Gründe, die mich dazu be-
wegen, zu Ihnen zu sprechen: Erstens meine lang-
jährigen persönlichen, kameradschaftlichen, ich darf
wohl sagen freundschaftlichen Beziehungen, die mich
mit dem Verstorbenen verbunden haben. Und zwei-
tens die Empfindung, daß an dem Grabe eines Sol-
daten auch aus soldatischem Munde ein Wort für
ihn erklingen muß; denn Soldat war er doch in erster
Linie.
Ich war ein junger Offizier, wie ich von der Kriegs-
akademie zum Generalstab kommandiert wurde und
mit dem damaligen Major v. d. Goltz in Beziehungen
trat. Er hatte die reichen Erfahrungen, die er im Ver-
laufe des Feldzuges 1870/71 bei der Armee des Prin-
zen Friedrich Karl gesammelt hatte, bereits schrift-
stellerisch verwertet zum Segen der Armee, und wir
sahen schon mit einer gewissen scheuen Ehrfurcht
zu ihm auf. Diese Ehrfurcht wich aber bald einer auf-
richtigen Verehrung und Hingebung. Wie rasch lern-
ten wir den Mann kennen, der uns nicht als Vor-
gesetzter, sondern als Kamerad entgegentrat, in dem
Bestreben, wir alle wollen dasselbe, wir alle wollen
arbeiten für die Armee und für unser Land. — Ich
45i
glaube, wenn auf irgend j emand der lateinische Spruch
»Homo sum, nihil humani mihi alienum esse puto«
zutrifft, so war es der Verstorbene. Seine hervor-
ragenden menschlichen Eigenschaften, seine Her-
zensgüte gewannen ihm die Herzen aller, die mit ihm
in Berührung traten. Diese kameradschaftlichen Emp-
findungen sind allen denjenigen geblieben, die das
Glück gehabt haben, mit ihm in persönliche Be-
ziehungen zu treten. Bei mir haben sie angedauert
bis an sein Ende, und sie sind ausgeklungen in einem
Briefwechsel, der erst kurze Zeit vor dem Tode des
Feldmarschalls seinen Abschluß gefunden hat.
Meine hochverehrten Herrschaften I Ich darf das
nicht wiederholen, was hier gesagt worden ist. Sie
wissen ja den Lebensgang des Verstorbenen, Sie
wissen, daß er als junger Offizier bereits nach der
Türkei ging, daß er dort zwölf Jahre lang dem Sultan
gedient hat, und daß er damals den Grundstein gelegt
hat zu den freundschaftlichen Beziehungen, die heute
das Osmanische Reich und das Deutsche Reich in
gemeinsamen Kriegsunternehmungen vereinigen. Sie
wissen, daß er, von dort zurückgekehrt, die Geschäfte
als Generalinspekteur der Pioniere übernahm, und
alle diejenigen, die damals mit ihm gearbeitet haben,
bewahren ihm noch heute ein Andenken, denn auch
diese ihm fremde Materie wußte er nach kurzer Zeit
entsprechend zu beherrschen. — Dann kam seine
schönste Zeit, als er von Sr. Majestät zum Komman-
dierenden General des I. Armeekorps berufen wurde.
Wie freute sich sein Herz, da war er in seinem Ele-
ment, unermüdlich im Zusammenleben mit der
Truppe, die höchsten Anforderungen an sich selbst
stellend. Keine Mühen scheuend, lebte er mit seinen
Soldaten zusammen, als Vater, Freund und Kame-
rad. Er mußte dann die Stellung eines Generalinspek-
452
teurs übernehmen, die ihm die Truppen in die Ferne
rückte, und erst nach Eröffnung des jetzigen Feld-
zuges, als ihm das Generalgouvernement von Bel-
gien übertragen wurde, trat er wieder in aktive Tätig-
keit. Ich habe damals Gelegenheit gehabt, des öfte-
ren mit ihm zusammenzutreffen. Wenn ich nach
Brüssel kam — während der Belagerung von Ant-
werpen — man traf ihn selten zu Hause; stets hieß
es: »Der Feldmarschall ist draußen an der Front.« —
Es hielt ihn nicht an dem Schreibtisch, er mußte hin-
aus, und diejenigen, die mit ihm waren, erzählten,
mit welch unbeschreiblicher Tapferkeit und Todes-
verachtung er mitten im Gefecht stand in den Reihen
seiner Soldaten, als wenn er auf dem Exerzierplatze
stand. Und wenn er abends zurückkam, besprach er
die Ereignisse des Tages, wie man ein Manöver be-
spricht mit vollständiger Ruhe und Objektivität. Und
mancher von denen, die mit ihm im Schützengraben
waren, kehrte nicht mehr zurück; der Feldmarschall
selbst war auch verwundet. — Aber wenn er auch
mit unermüdlicher Treue und Aufopferung durch
seinen scharfen Verstand es wohl verstanden hat, die
zerrütteten Teile des okkupierten Landes zunächst
wieder in geordnete Verhältnisse zu bringen, so war
doch sein Herz nicht bei der Sache, er war Soldat,
und ich glaube, er ist nicht ungern von seinem schwie-
rigen und undankbaren Posten zurückgetreten, als er
dann auf Wunsch des Sultans von dort als oberstes
Bindeglied zwischen der osmanischen und deutschen
Armee nach der Türkei berufen wurde. Er erlebte
den gewaltigen Kampf unserer Bundesgenossen auf
Gallipoli, er sah die Früchte seiner jahrelangen Tätig-
keit greifbar vor sich, und dann kam der Augenblick,
wo er selbst das Kommando übernehmen mußte und
hinauszog nach Bagdad, um den Kampf gegen die
453
Engländer aufzunehmen. Als er in Bagdad eintraf,
fand er die Engländer in starker Stellung bei Kut el
Amara. Seine Aufgabe war, sie zurückzuschlagen. Mit
wie schwierigen Verhältnissen, mit welch schlechten
Zufahrtsstraßen, mit einer wie großen Entfernung
mußte er rechnen, bis überhaupt Verstärkungen her-
angeführt werden konnten.
Meine verehrten Herrschaften! Es wiederholt sich
in der Geschichte öfters, daß Heldentum und Tragik
nebeneinander stehen. — So war es auch hier. So,
wie es Moses einstmals zwar vergönnt war, einen
Blick in das Gelobte Land zu tun, nicht aber es zu be-
treten, so war es auch dem Generalfeldmarschall nicht
vergönnt, den letzten Kampf seiner Armee zu erleben,
aber sein scharfer Blick hat wohl den Ausblick in das
Gelobte Land getan, denn sicher hat er den Sieg von
Kut el Amara vorausgesehen.
Meine verehrten Herrschaften! Ich habe dem Bilde
des Feldmarschalls nur noch eine persönliche Note
hinzufügen können. Ich habe es getan, weil ich
glaube, daß ich in diesem Falle wohl im Namen der
Armee und namens des Generalstabes sprechen darf,
dem wir beide lange Jahre angehört haben.
Ich will nicht sprechen von dem tiefen Schmerze,
der auch mich ergriffen hat, als die Kunde von dem
tragischen Ende des Feldmarschalls eintraf, und ich
möchte nicht, daß dieser Tag vorbeigeht, ohne daß
wir an diesem Tage ein Lorbeerblatt auf die Bahre
gelegt haben*.
• Fast unmittelbar nach der Beendigung dieser Rede starb Helmuth v. Moltke
noch während der Gedächtnisfeier für Generalfeldmarschall Frhrn. v. d. Goltz im
Reichstagsgebäude an Herzschlag am 18. Juni 1916.
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Telegramm Sr. Majestät des Kaisers.
18. Juni 1916.
Exzellenz Frau von Moltke,
Berlin, Generalstabsgebäude.
Ich erhalte soeben die erschütternde Nachricht vom plötzlichen
Tode Ihres Gemahls. Mir fehlen die Worte, um Meinen Empfin-
dungen dabei vollen Ausdruck zu geben. Tief bewegt gedenke
Ich seiner Erkrankung im Beginn dieses Krieges, dessen glän-
zende Vorbereitung der Inhalt seines rastlosen Wirkens als Chef
des Generalstabes der Armee gewesen ist. Das Vaterland wird
seine hohen Verdienste nicht vergessen, und Ich werde, solange
Ich lebe, in dankbarem Gedächtnis behalten, was dieser auf-
rechte, kluge Mann mit dem goldenen Charakter und dem war-
men treuen Herzen für Mich "und die Armee war.
In aufrichtiger Trauer spreche Ich Ihnen und Ihren Kindern
Meine herzliche Teilnahme aus. Ich weiß, daß Ich an ihm einen
wahren Freund verloren habe.
Wilhelm LR.
Der am 24. Januar 1915 von Sr. Majestät dem Kaiser und König
an Generaloberst v. Moltke in meiner Gegenwart eingetroffene
Brief ist mir heute von Ihrer Exzellenz der Frau v. Moltke nach
dem Tode Ihres Gemahls uneröffnet zurückgegeben worden,
behufs Rückgabe in die Hände Sr. Majestät.
Berlin, 23. Juni 1916.
v. PI essen,
Generaladjutant.
Brief von Kronprinz Wilhelm.
8. Juli 1916.
Liebe gnädige Frau!
Mit Absicht schreibe ich erst jetzt, nachdem einige Zeit ver-
strichen ist. Viel Worte brauche ich nicht zu machen. Sie wissen,
wie sehr ich Ihren Mann geliebt und verehrt habe. Die Hand
möchte ich Ihnen drücken, um Ihnen mein inniges Mitgefühl
zum Ausdruck zu bringen. Nie werde ich vergessen, daß der zu
früh verblichene alte Chef es war, der mir das Kommando über
die herrliche s.Armee verschaffte, indem er Sr. Majestät sagte:
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»So wie die anderen macht der Kronprinz die Sache noch lange.«
Und dann, wie mein Vater mir gesagt hatte, ich müßte das tun,
was Knobelsdorff mir riete, drückte mir Ihr Mann warm die Hand
und sagte: »Lassen Sie sich nur nicht Ihr gesundes eigenes Urteil
ausschalten, Sie sind und bleiben der Armeeführer, der allein
Sr. Majestät verantwortlich ist!« — Ich habe diese Worte den
ganzen Feldzug über beherzigt und bin gut dabei gefahren.
Sein Andenken bleibt groß und rein in meinem Herzen. — Es
küßt Ihre Hand, liebe gnädige Frau, Ihr getreuer
Wilhelm,
Heeresgruppe Kronprinz.
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BRIGHAMYOUNGUNIVERSjTY
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