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Full text of "Erinnerungen, Briefe, Dokumente, 1877-1916 : Ein Bild vom Kriegsausbruch, erster Kriegsführung und Persönlichkeit des ersten militärischen Führers des Krieges"

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INNERUNGEN 

BRIEFE 
OKUMENTE 

1877-1916 


HAROLDb  KY 

BRIGHAM  YOUNG  UMVERSITY 

PROVO.UTAH 


Generaloberst  Helmuth  von  Moltke 
Erinnerungen   -   Briefe    -    Dokumente 


Generaloberst 

Helmuth  von  Moltke 

Erinnerungen 
Briefe  Dokumente 

1877-1916 

Ein  Bild  vom  Kriegsausbruch, 

erster  Kriegsführung  und  Persönlichkeit  des 

ersten  militärischen  Führers  des  Krieges 

Herausgegeben  und  mit  einem  Vorwort  versehen  von 

Eliza  von  Moltke 

geb.  Gräfin  Moltke-Huitfeldt 


1922 


Der  Kommende  Tag  A.-G.  Verlag,  Stuttgart 


Zweite  Auflage 

Sechstes  bis  zehntes  Tausend 

Alle  Rechte,  insbesondere  das  der  Übersetzung  in  sämtliche  Sprachen, 

ausdrücklich  vorbehalten 

Copyright  1922  by  Der  Kommende  Tag  A.-G. 

Verlag,  Stuttgart 


Druck:  Der  Kommende  Tag  A.-G.  Verlag,  Stuttgart 


HAROLD  B.  LEE  LTBRARY 
BR1GHAM  YOUNG  ÜMVERSITY 


Vorwort  des  Herausgebers 


Im  Frühjahr  1919  faßte  ich  den  Entschluß,  die  Auf- 
zeichnungen meines  Mannes,  des  Generalobersten 
von  Moltke,  über  den  Kriegsausbruch  zu  veröffent- 
lichen, damit  noch  rechtzeitig  vor  dem  Abschluß  der 
Friedensverhandlungen  in  Versailles  die  Wahrheit 
bekannt  werde.  Denn  ich  besaß  in  diesen  Aufzeich- 
nungen den  Beweis,  daß  Deutschland  nicht  in  dem 
Sinn  am  Weltkriege  schuldig  sei,  wie  seine  Gegner 
behaupten,  um  einen  Gewaltfrieden  zu  ihren  Gunsten 
herbeiführen  zu  können.  Aus  diesen  Aufzeichnungen 
geht  zwar  die  Unfähigkeit  und  Hilflosigkeit  der  po- 
litischen Leitung  Deutschlands  in  der  entscheiden- 
den Zeit  in  ihrem  ganzen  Umfang  hervor,  zugleich 
aber  wird  durch  Darstellung  bisher  unbekannter, 
wichtigster  Tatsachen  und  Vorgänge  der  unumstöß- 
liche Beweis  erbracht,  daß  die  deutsche  Regierung 
den  Krieg  nicht  gewollt  hat.  Glaubte  doch  diese  Re- 
gierung noch  in  den  Tagen  des  Kriegsausbruchs  an 
den  Willen  Englands,  die  Ausdehnung  des  Krieges 
zu  verhindern,  so  daß  Kaiser  und  Reichskanzler,  die 
in  diesem  Irrtum  befangen  waren,  hemmend  in  den 
Gang  der  Mobilmachung  eingriffen. 

Der  Versuch,  diesen  Beweis  von  Deutschlands  Frie- 
denswillen in  Versailles  vorzubringen  und  dadurch 
den  Gewaltfrieden,  der  sich  auf  Deutschlands  Schuld  * 

*  Der  Artikel  231,  S.  122,  der  amtlichen  Ausgabe  des  Versailler 
Friedensvertrages  lautet: 

Die  alliierten  und  assoziierten  Regierungen  erklären,  und  Deutsch- 
land erkennt  an,  daß  Deutschland  und  seine  Verbündeten  als  Ur- 
heber für  alle  Verluste  und  Schäden  verantwortlich  sind,  die  die 
alliierten  und  assoziierten  Regierungen  und  ihre  Staatsangehörigen 
infolge  des  Krieges,  der  ihnen  durch  den  Angriff  Deutschlands 
und  seiner  Verbündeten  aufgezwungen  wurde,  erlitten  haben. 

Die  richtige  Übersetzung  lautet:  Die  alliierten  und assozi- 

VII 


aufbaut,  unmöglich  zu  machen,  scheiterte.  —  Die  Auf- 
zeichnungen sollten  damals  erscheinen,  um  vor  die 
Menschen  und  Völker  die  nackten  Tatsachen  hinzu- 
stellen und  dadurch  eine  Gegenwirkung  gegen  die  Ver- 
schleierung der  Wahrheit  zu  schaffen.  Auch  dieser 
Versuch  eines  Appells  an  die  Öffentlichkeit  scheiterte, 
da  das  Erscheinen  der  Aufzeichnungen  durch  das  Ein- 
greifen gewisser  Persönlichkeiten  verhindert  wurde. 
Seitdem  dieses  im  Jahre  1919  sich  abspielte,  hat  sich 
manches  zugetragen.  Der  Frieden  von  Versailles,  des- 
sen Schuldartikel  deutsche  Unterhändler  unterschrie- 
ben haben,  hat  das  größte  Unheil  über  Deutschland 
und  die  Welt  gebracht.  In  Deutschland  ist  inzwischen 
eine  ganze  Literatur  entstanden,  die  sich  mit  den  Grün- 
den des  Kriegsverlustes  beschäftigt.  Immer  wieder 
wird  auf  die  Marneschlacht  und  das  Versagen  der 
ersten  Obersten  Heeresleitung,  insbesondere  auf  die 
angebliche  Unfähigkeit  Moltkes  hingewiesen.  Heißt 
es  doch  in  dem  von  Karl  Rosner  herausgegebenen 
Buch  »Erinnerungen«  des  ehemaligen  Kronprinzen 
Wilhelm,  Moltke  habe  »in  einem  mißverstandenen 
Pflichtgefühl,  wider  Willen  und  in  Erkenntnis  seiner 
Unzulänglichkeit«  eine  Aufgabe,  die  über  seine  Kräfte 
ging,  auf  sich  genommen.  Das  sei  sein  Verhängnis 
geworden.  Seines  und  der  Unsrigen. 

ierten  Regierungen  erklären,  und  Deutschland  erkennt  dies  an, 
daß  Deutschland  und  seine  Verbündeten  für  alle  von  ihnen  ver- 
ursachten, den  alliierten  und  assoziierten  Regierungen  und  ihren 
Volksangehörigen  erwachsenen  Verluste  und  Schäden  verant- 
wortlich sind,  die  entstanden  sind  als  Folgen  des  Krieges,  der 
ihnen  durch  den  Angriff  Deutschlands  und  seiner  Verbündeten 
auferlegt  worden  ist. 

Ich  sage  das  Obige  trotz  dieser  etwas  wenig  sagenden 
Fassung  des  Artikels  nicht  aus  einer  fälschlichen  Inter- 
pretation desselben  heraus,  die  den  Deutschen  sonst 
vorgeworfen  wird,  sondern  weil  das  Gesagte  seine  tat- 
sächliche Folge  und  seine  Behandlung  von  Seiten  der 
Sieger  in  Wirklichkeit  so  ist  (Der  Herausgeber.) 

VIII 


Sätze  dieser  Art  sind  es,  die  mir  die  Herausgabe 
des  vorliegenden  Buches  zur  Pflicht  machen.  Mit 
Moltkes  eigenen  Worten  soll  ein  Bild  seines  Wir- 
kens und  seiner  Anschauungen  gegeben  werden,  und 
zwar  durch  die  Veröffentlichung  von  Briefen  aus  sei- 
ner Frühzeit  bis  zu  den  Aufzeichnungen  während  des 
Krieges.  Nur  hierdurch  können  die  ungeheuerlichen 
Vorwürfe  zurückgewiesen  werden.  Diese  Briefe  und 
Dokumente  werden  zeigen,  wo  die  »Unzulänglichkeit« 
lag  und  wie  sich  in  Moltkes  Persönlichkeit  größtes 
Verantwortungsbewußtsein  mit  einem  umfassenden 
Überblick  über  die  Verhältnisse  und  dem  Willen  zum 
Handeln  unter  Zurückstellung  aller  persönlichen  Be- 
denken vereinigte.  Als  am  7.  Januar  1905  die  Unter- 
redung zwischen  dem  Kaiser  und  Moltke  über  die 
Annahme  des  Postens  des  Chefs  des  Generalstabes 
stattfand,  für  welchen  der  Kaiser  ihn  auf  den  Rat  des 
Grafen  Schlief fen  ausgesucht  hatte,  machte  Moltke 
die  Annahme  davon  abhängig,  daß  der  Kaiser  nicht 
persönlich  in  die  militärische  Leitung  eingreifen  solle. 
Acht  Friedensjahre  hindurch  hat  der  Kaiser  seine  Na- 
tur bezwungen.  Er  tat  es,  weil  er  wußte,  daß  er  kei- 
nen treueren  Berater  als  Moltke  hatte.  Da  wo  es  sich 
um  den  wirklichen  Krieg,  nicht  nur  um  Manöver  han- 
delte, am  i.August  1914,  hörte  er  zum  erstenmal  nicht 
auf  den  erprobten  langjährigen  Mitarbeiter,  er  griff 
ein  in  militärische  Notwendigkeiten  und  gab  über  den 
Kopf  Moltkes  hinweg  einen  Befehl,  der  den  gesam- 
ten Aufmarsch  gefährden  mußte. 

Es  ist  nicht  wahr  die  immer  wiederkehrende  Be- 
hauptung, Moltke  sei  schon  lange  vor  dem  Kriege 
schwer  krank  gewesen.  Auch  sein  letzter  Besuch  in 
Karlsbad  kurz  vor  Kriegsausbruch  erfolgte  aus  Fa- 
miliengründen und  hatte  mit  seiner  längst  verheilten 
Krankheit  nichts  zu  tun.  Moltke  ging  in  voller  Ge- 

IX 


sundheit  frisch  und  tatkräftig  am  i.  August  ins  Schloß. 
Erst,  was  er  dort  in  den  Nachmittagsstunden  des  i.  Au- 
gust erleben  mußte,  hat  ihn  auf  das  schwerste  ge- 
troffen. Dem  Generalstabschef  oblag  es,  die  militäri- 
schen Maßregeln  so  zu  ergreifen,  daß  das  Vaterland 
inmitten  eines  Walles  von  Feinden  nicht  zertrüm- 
mert werde;  die  Politik,  die  auf  Sand  gebaut  war, 
versagte,  und  darum  war  die  militärische  Verfügung 
die  einzig  mögliche.  Auf  Moltke,  der  seit  Jahren  mit 
klarem  Blick  die  politische,  wirtschaftliche  und  mili- 
tärische Lage  Deutschlands  erkannt  hatte,  der  immer 
auf  die  Gefahren  hingewiesen  hatte,  die  Deutschland 
drohten,  lastete  in  diesen  Stunden,  in  denen  er  um 
die  Ausführung  des  Mobilmachungsplanes  kämpfen 
mußte,  ganz  allein  die  Verantwortung.  Nach  diesen 
Stunden,  in  denen  alle  seine  Einwände  überhört  wur- 
den, war  Moltke  ein  anderer  Mensch.  Seine  Zuver- 
sicht war  erschüttert.  Das  Vertrauensverhältnis  zwi- 
schen ihm  und  dem  Kaiser  war  zerstört.  Seine  Über- 
zeugung war  von  da  ab :  Wo  solche  Verhältnisse  in 
einem  Lande  möglich  sind,  muß  Unglück  daraus  ent- 
stehen. Zwar  hat  Helmuth  von  Moltke  die  einschlägi- 
gen Verhältnisse  seit  langer  Zeit  sachgemäß  ernst  be- 
urteilt, aber  stets  gemeint,  der  Ernstfall  werde  in 
den  maßgebenden  Persönlichkeiten  die  notwendigen 
Kräfte  auslösen,  was  leider  nicht  eingetroffen  ist.  »Ich 
kann  wohl  Krieg  führen  gegen  den  äußeren  Feind, 
aber  nicht  gegen  den  eigenen  Kaiser«,  waren  seine 
Worte  nach  den  vorangegangenen  Erlebnissen.  Der 
einzige  Mann,  der  am  i.  August  nach  dem  völligen 
Versagen  der  deutschen  Politik  die  militärisch  not- 
wendigen Verfügungen  treffen  mußte,  der  in  diesen 
Augenblicken  kämpfen  mußte  gegen  Unverstand  und 
Kurzsichtigkeit  in  militärischer  und  politischer  Hin- 
sicht, dieser  Mann  war,  als  ihm  endlich  am  Spät- 


abend  des  i.  August  1914  die  Handlungsmöglichkeit 
zurückgegeben  wurde,  bis  ins  Mark  hinein  getroffen 
durch  dasjenige,  was  er  an  diesem  Nachmittage  er- 
lebt hatte.  Das  ist  die  furchtbare  Wahrheit.  An  dem 
Eindruck  dieser  Erlebnisse,  der  nicht  aus  seinem  Be- 
wußtsein auszulöschen  war,  krankte  Moltke  noch  in 
der  nächstfolgenden  Zeit,  und  die  Wirkungen  dieser 
Stunden  machten  sich  geltend,  als  der  erste  große 
Rückschlag  im  Kriege  eintrat. 

Wer  gerade  Moltkes  Verantwortungsgefühl  und  -be- 
wußtsein  gekannt  hat,  wird  verstehen,  daß  diese  Er- 
fahrungen des  1.  August  eine  tiefgehende  Wirkung 
auf  ihn  ausüben  mußten.  Darin,  daß  das  Verständnis 
für  solche  »Imponderabilien«  unseren  Zeitgenossen 
verlorenging  und  sich  ihr  Denken  und  Urteilen  so 
sehr  vergröberten,  liegt  der  Gund  zu  der  falschen  Be- 
urteilung der  Persönlichkeit  Moltkes,  wie  auch  mei- 
nes Erachtens  eine  Hauptursache  für  die  trostlosen 
Verhältnisse  unserer  jetzigen  Zeit. 

Moltkes  Absicht,  neue  Operationen  einzuleiten, 
nachdem  durch  den  Rückzug  an  der  Marne  die  Ar- 
meen wieder  Bewegungsfreiheit  erlangt  hatten,  wurde 
unter  der  Leitung  des  Generals  von  Falkenhayn  nicht 
ausgeführt.  Statt  dessen  fing  der  Stellungskrieg  an, 
den  Moltke  unter  allen  Umständen  vermeiden  wollte, 
da  er  darin  die  größte  Gefahr  für  das  deutsche  Heer 
erkannte.  Die  Entscheidung  fiel  nicht  an  der 
Marne,  sondern  einige  Wochen  später  im  Osten. 
Da  fing  der  Kampf  um  die  Leitung  des  Krieges  zwi- 
schen Ost  und  West  an.  General  von  Falkenhayn 
verweigerte  als  Chef  des  Generalstabes  dem  Feld- 
marschall von  Hindenburg  die  von  ihm  im  Novem- 
ber 1914  angeforderten  Truppen;  der  sicher  erhoffte 
Sieg  über  die  Russen  wurde  dadurch  vereitelt.  Viel- 
leicht wird  einst  die  Geschichte  über  dieses  dunkle 

XI 


Kapitel  strenger  urteilen,  als  man  jetzt  gewillt  ist,  es 
zu  tun,  und  dann  die  Ursachen  erkennen  für  vieles, 
das  daraus  folgte. 

Moltke  war  seit  Anfang  Dezember  1914  wieder  in 
Berlin.  Er  fing  nun  an,  in  die  wirtschaftlichen  Ver- 
hältnisse sich  einzuarbeiten;  er  sah  die  Gefahren  und 
Übelstände  im  Lande,  er  erhob  seine  warnende  Stim- 
me. Dies  erregte  den  Unwillen  derjenigen  Männer, 
die  jetzt  die  Macht  in  Händen  hatten,  und  die  ver- 
suchten, seine  Tätigkeit  zu  verhindern.  Zur  selben 
Zeit  entschlossen  sich  mehrere  Persönlichkeiten,  an 
den  Kaiser  heranzutreten  mit  dem  Hinweis,  daß  Ge- 
neral von  Falkenhayn  ein  Unglück  für  das  Land  sei, 
daß  die  Armee  kein  Vertrauen  zu  ihm  habe.  Feldmar- 
schall von  Hindenburg  verlangte  seinen  Abschied, 
wenn  General  von  Falkenhayn  weiter  die  Leitung  be- 
halten würde.  Moltke  schrieb  an  den  Kaiser,  auch  der 
Kronprinz  setzte  sich  für  die  Angelegenheit  ein.  Aber 
alles  war  damals  umsonst.  Die  Klarsehenden  drangen 
nicht  durch.  Zwanzig  Monate  später,  im  September 
1916,  drei  Monate  nach  Moltkes  Tod,  wurde  ausge- 
führt, was  er  zur  rechten  Zeit  zu  unternehmen  geraten 
hat.  Damals  war  er  der  einzige,  der  für  das  Verlan- 
gen der  im  Osten  führenden  Persönlichkeiten  an  maß- 
gebender Stelle  ausführlich  den  strategischen  Plan 
vorschlug;  später,  als  andere  auf  dasselbe  verfielen, 
war  es  für  vieles  leider  zu  spät.  Denn  die  Gefahren  für 
Deutschland,  die  Moltke  hatte  kommen  sehen,  wenn 
alles  so  blieb,  wie  es  damals  war,  die  waren  eingetre- 
ten und  hatten  eine  verzweifelt  ernste  Lage  gegen- 
über der  Übermacht  der  Feinde  geschaffen.  Was  hätte 
erreicht  werden  können,  wenn  im  Jahre  1915  Moltkes 
Rat  befolgt  worden  wäre,  wie  hätte  sich  die  Kriegs- 
lage gestaltet,  wenn  im  November  1914  oder  später 
im  August  1915  die  nötigen  Truppen  nach  dem  Osten 

XII 


geschickt  worden  wären?  Unzählige  Male  hat  Moltke 
1915  gesagt,  mit  dem,  was  vom  Großen  Hauptquartier 
für  den  Osten  an  Truppenmassen  zur  Verfügung  ge- 
stellt werde,  ließen  sich  zwar  schöne  taktische  Erfolge, 
nicht  aber  ein  durchgreifender  strategischer  Haupt- 
schlag, wie  er  im  Osten  notwendig  wäre,  erreichen. 

Bequem  und  entlastend  für  viele,  die  heute  über 
diese  einschneidenden  Fragen  hinweggehen,  ist  es  ge- 
wiß, Moltke  alle  Schuld  aufzubürden.  Da  er  heute  tot 
ist  und  sich  nicht  verteidigen  kann,  was  er  sonst  gewiß 
sehr  kräftig  tun  würde,  obliegt  mir  die  schwere  Ver- 
pflichtung, für  ihn  einzutreten.  Es  ist  die  Verpflich- 
tung, ihn  zu  verteidigen  gegen  diejenigen,  die  immer 
wieder  von  dem  »entschlußschwachen«,  »unfähigen« 
Moltke,  der  seiner  Aufgabe  nicht  gewachsen  gewesen 
sei,  reden  und  schreiben.  Moltke  faßte  den  schwersten 
Entschluß  seines  Lebens,  eine  neue  wirksame  Kriegs- 
handlung im  Westen  nach  den  entstandenen  Schwie- 
rigkeiten dadurch  einzuleiten,  daß  er  den  Hauptteil 
der  Armeen  weiter  rückwärts  in  neuer  Frontgestal- 
tung sammeln  wollte.  Daß  sich  seine  Überzeugung, 
auf  diese  Art  den  Krieg  wirksam  weiter  fortzuführen, 
nicht  ausführen  ließ,  liegt  daran,  daß  ihm  vor  der 
Ausführung  die  Führung  abgenommen  worden  ist. 
In  seinem  ganzen  Leben  hat  Moltke  bewiesen,  daß 
er  sich  nicht  scheute,  zu  handeln  und  rücksichtslos 
seine  Person  einzusetzen,  wo  es  des  Landes  Wohl 
galt.  Seine  Überzeugung  von  der  Unzulänglichkeit 
anderer  hat  ihn  zu  Beginn  des  Krieges  gelähmt,  seine 
Kräfte  in  entscheidender  Zeit  nicht  voll  zur  Entfal- 
tung kommen  lassen. 

So  mag,  was  Moltke  gedacht,  gefühlt,  gewirkt  und 
gelitten  hat,  für  ihn  zeugen,  und  alle  die,  denen  es 
unbequem  sein  wird,  mögen  bedenken,  daß  sie  die 
Veröffentlichung  durch  ihr  eigenes  Verhalten  verur- 

XIII 


sacht  haben;  denn  wahrlich,  nicht  leichten  Herzens 
ist  der  Entschluß  zu  diesen  Veröffentlichungen  ge- 
faßt worden,  sondern  aus  der  Erkenntnis  heraus,  daß 
es  die  Pflicht  fordert,  für  einen  Mann  einzutreten, 
der  in  der  unerhörtesten  Weise  verleumdet  wird. 

Moltke  war  der  treueste  Diener  seines  Königs  und 
Vaterlandes,  der  an  gebrochenem  Herzen  starb  aus 
Sorge  um  sein  Volk  und  Land,  weil  er  genau  voraus- 
sah und  voraus  erlebte,  wie  alles  kommen  und  wer- 
den müsse  in  Anbetracht  der  Verhältnisse,  die  in 
Deutschland  herrschten.  Diese  Veröffentlichungen 
sollen  dazu  beitragen,  daß  die  Wahrheit  erkannt 
werde,  und  so  der  Weg  gefunden  werden  kann,  um 
die  Unwahrhaftigkeit  zu  besiegen,  die  als  zerstörende 
Kraft  alles  wahre  Leben  vernichten  möchte,  die 
Deutschland  mehr  und  mehr  in  einen  Trümmerhau- 
fen verwandeln  wird,  wie  Moltke  es  bereits  im  Früh- 
jahr 1904  voraus  empfand  und  niederschrieb. 

Möchten  doch  die  Deutschen  endlich  aufhören,  sich 
selber  zu  zerfleischen,  ihre  besten  Männer  zu  verun- 
glimpfen. Nur  so  kann  in  Erfüllung  gehen,  woran 
Helmuth  von  Moltke  fest  glaubte:  die  Neugeburt  des 
echten  wahren  Deutschtums,  aufgebaut  auf  Wahr- 
heit und  Erkenntnis.  Dann  sind  seine  Leiden  um  sein 
Vaterland  nicht  umsonst  gewesen,  dann  verwandelt 
sich  seine  »Tragik«  in  ein  für  das  Deutschtum  segen- 
bringendes »Heldentum«,  dessen  Früchte  spätere  Ge- 
schlechter ernten  werden.  »Ihr  werdet  die  Wahrheit 
erkennen,  und  die  Wahrheit  wird  euch  frei  machen.« 

Unter  diesem  Leitmotiv  stehen  meine  Veröffent- 
lichungen. 

Weil  ein  übersichtliches  Bild  von  Moltkes  Wirken 
und  Persönlichkeit  gegeben  werden  soll,  ist  die  fol- 
gende Anordnung  des  Inhaltes  dieses  Buches  getrof- 
fen worden. 

XIV 


Vorangestellt  sind  die  Dokumente,  die  der  Gegen- 
wart ein  sachgemäßes  und  wahres  Bild  der  Vorgänge 
von  Ende  Juli  und  Anfang  August  1914  in  Berlin  geben. 
Im  Mittelpunkt  dieses  ersten  Teiles  steht  Moltkes  ei- 
gene Niederschrift  seiner  Erinnerungen  an  die  ent- 
scheidenden Vorgänge  und  deren  politische  und  mili- 
tärische Bedeutung.  Durch  die  Erinnerungen  wird, 
wie  man  überzeugt  sein  kann,  eine  Darstellung  des 
Kriegsausbruches  gegeben,  die  trotz  ihrer  Kürze  mehr 
und  wichtigeres  enthält  als  alles,  was  bisher  darüber 
erschienen  ist.  Das  Bild  der  künftigen  Geschichts- 
schreibung wird,  wie  man  weiter  überzeugt  sein 
kann,  dieser  Darstellung  viel  ähnlicher  sein  als  den 
anderen. 

Dann  folgen  alle  diejenigen  Dokumente,  die  Molt- 
kes Entwicklung  in  anschaulicher  Art  zeigen,  bis  zu 
dem  Zeitpunkte  seines  Lebens,  in  dem  er  bewußt 
eine  so  schwere  Entscheidung  treffen  mußte,  wie 
keine  andere  ihm  bekannte  Persönlichkeit  der  Ge- 
genwart oder  Vergangenheit. 

Den  Abschluß  bilden  Äußerungen  seines  Lebens- 
ernstes nach  seiner  Enthebung  aus  der  Stellung  des 
Chefs  des  Generalstabes,  die  in  jeder  Zeile  ein  Be- 
weis dafür  sind,  daß  er  bis  zu  seinem  Tode  als  treue- 
ster  Diener  seines  Volkes  seine  besten  Kräfte  zum 
Opfer  bringen  wollte. 

Berlin,  Oktober  1922. 

Eliza  von  Moltke 

geb.  Gräfin  Moltke-Huitfeldt. 


XV 


Generaloberst  Helmuth  von  Moltke 
Koblenz  August  1914 


Erster  Teil 


Ein  Memorandum  Moltkes 
Betrachtungen  und   Erinnerungen 


Ein  Memorandum  Moltkes 

Berlin,  den  28.  Juli  1914. 
Zur  Beurteilung  der  politischen  Lage 

Es  ist  ohne  Frage,  daß  kein  Staat  Europas  dem 
Konflikt  zwischen  Österreich  und  Serbien  mit  einem 
anderen  als  wie  menschlichem  Interesse  gegenüber- 
stehen würde,  wenn  in  ihn  nicht  die  Gefahr  einer 
allgemein  politischen  Verwickelung  hineingetragen 
wäre,  die  heute  bereits  droht,  einen  Weltkrieg  zu  ent- 
fesseln. Seit  mehr  als  fünf  Jahren  ist  Serbien  die  Ur- 
sache einer  europäischen  Spannung,  die  mit  nach- 
gerade unerträglich  werdendem  Druck  auf  dem  po- 
litischen und  wirtschaftlichen  Leben  der  Völker  lastet. 
Mit  einer  bis  zur  Schwäche  gehenden  Langmut  hat 
Österreich  bisher  die  dauernden  Provokationen  und 
die  auf  Zersetzung  seines  staatlichen  Bestandes  ge- 
richtete politische  Wühlarbeit  eines  Volkes  ertragen, 
das  vom  Königsmord  im  eigenen  zum  Fürstenmord 
im  Nachbarlande  geschritten  ist.  Erst  nach  dem  letz- 
ten scheußlichen  Verbrechen  hat  es  zum  äußersten 
Mittel  gegriffen,  um  mit  glühendem  Eisen  ein  Ge- 
schwür auszubrennen,  das  fortwährend  den  Körper 
Europas  zu  vergiften  drohte.  Man  sollte  meinen,  daß 
ganz  Europa  ihm  hätte  Dank  wissen  müssen.  Ganz 
Europa  würde  aufgeatmet  haben,  wenn  sein  Stören- 
fried in  gebührender  Weise  gezüchtigt  und  damit  Ruhe 
und  Ordnung  auf  dem  Balkan  hergestellt  worden  wäre, 
aber  Rußland  stellte  sich  auf  die  Seite  des  verbreche- 
rischen Landes.  Erst  damit  wurde  die  österreichisch- 


serbische  Angelegenheit  zu  der  Wetterwolke,  die  sich 
jeden  Augenblick  über  Europa  entladen  kann. 

Österreich  hat  den  europäischen  Kabinetten  erklärt, 
daß  es  weder  territoriale  Erwerbungen  auf  Kosten 
Serbiens  anstreben,  noch  den  Bestand  dieses  Staates 
antasten  wolle,  es  wolle  den  unruhigen  Nachbar  nur 
zwingen,  die  Bedingungen  anzunehmen,  die  es  für 
ein  weiteres  Nebeneinanderleben  für  nötig  hält  und 
die  Serbien,  wie  die  Erfahrung  gezeigt  hat,  trotz  feier- 
licher Versprechungen  ungezwungen  niemals  halten 
würde. 

Die  österreichisch-serbische  Angelegenheit  ist  eine 
rein  private  Auseinandersetzung,  für  die,  wie  gesagt, 
kein  Mensch  in  Europa  ein  tiefer  gehendes  Interesse 
haben  würde,  das  in  keiner  Weise  den  europäischen 
Frieden  bedrohen,  sondern  im  Gegenteil  ihn  festigen 
würde,  wenn  nicht  Rußland  sich  eingemischt  hätte. 
Das  erst  hat  der  Sache  den  bedrohlichen  Charakter 
gegeben. 

Österreich  hat  nur  einen  Teil  seiner  Streitkräfte, 
8  Armeekorps,  gegen  Serbien  mobilisiert.  Gerade  ge- 
nug, um  seine  Strafexpedition  durchführen  zu  kön- 
nen. Demgegenüber  trifft  Rußland  alle  Vorbereitungen, 
um  die  Armeekorps  der  Militärbezirke  Kiew,  Odessa 
und  Moskau,  in  Summa  12  Armeekorps,  in  kürzester 
Zeit  mobilisieren  zu  können*  und  verfügt  ähnliche 
vorbereitende  Maßnahmen  auch  im  Norden,  der  deut- 
schen Grenze  gegenüber,  und  an  der  Ostsee.  Es  er- 
klärt, mobilisieren  zu  wollen,  wenn  Österreich  in 
Serbien  einrückt,  da  es  eine  Zertrümmerung  Ser- 
biens durch  Österreich  nicht  zugeben  könne,  ob- 
gleich Österreich  erklärt  hat,  daß  es  an  eine  solche 
nicht  denke. 

Was  wird  und  muß  die  weitere  Folge  sein? 

*  Randbemerkung:  Moltlces :  Ist  inzwischen  geschehen. 


Österreich  wird,  wenn  es  in  Serbien  einrückt,  nicht 
nur  der  serbischen  Armee,  sondern  auch  einer  star- 
ken russischen  Überlegenheit  gegenüberstehen,  es 
wird  also  den  Krieg  gegen  Serbien  nicht  durchführen 
können,  ohne  sich  gegen  ein  russisches  Eingreifen 
zu  sichern.  —  Das  heißt,  es  wird  gezwungen  sein, 
auch  die  andere  Hälfte  seines  Heeres  mobil  zu  ma- 
chen, denn  es  kann  sich  unmöglich  auf  Gnade  oder 
Ungnade  einem  kriegsbereiten  Rußland  ausliefern. 
Mit  dem  Augenblick  aber,  wo  Österreich  sein  ganzes 
Heer  mobil  macht,  wird  der  Zusammenstoß  zwischen 
ihm  und  Rußland  unvermeidlich  werden.  Das  aber  ist 
für  Deutschland  der  Casus  foederis.  Will  Deutschland 
nicht  wortbrüchig  werden  und  seinen  Bundesgenos- 
sen der  Vernichtung  durch  die  russische  Übermacht 
verfallen  lassen,  so  muß  es  auch  seinerseits  mobil 
machen.  Das  wird  auch  die  Mobilisierung  der  übri- 
gen Militärbezirke  Rußlands  zur  Folge  haben.  Dann 
aber  wird  Rußland  sagen  können,  ich  werde  von 
Deutschland  angegriffen,  und  damit  wird  es  sich  die 
Unterstützung  Frankreichs  sichern,  das  vertrags- 
mäßig verpflichtet  ist,  an  dem  Kriege  teilzunehmen, 
wenn  sein  Bundesgenosse  Rußland  angegriffen  wird. 
Das  so  oft  als  reines  Defensiv-Bündnis  gepriesene 
französisch-russische  Abkommen,  das  nur  geschaf- 
fen sein  soll,  um  Angriffsplänen  Deutschlands  be- 
gegnen zu  können,  ist  damit  wirksam  geworden  und 
die  gegenseitige  Zerfleischung  der  europäischen  Kul- 
turstaaten wird  beginnen. 

Man  kann  nicht  leugnen,  daß  die  Sache  von  sehen 
Rußlands  geschickt  inszeniert  ist.  Unter  fortwähren- 
den Versicherungen,  daß  es  noch  nicht  »mobil«  ma- 
che, sondern  nur  »für  alle  Fälle«  Vorbereitungen 
treffe,  daß  es  »bisher«  keine  Reservisten  einberufen 
habe,  macht  es  sich  soweit  kriegsbereit,  daß  es,  wenn 


es  die  Mobilmachung  wirklich  ausspricht,  in  weni- 
gen Tagen  zum  Vormarsch  fertig  sein  kann.  Damit 
bringt  es  Österreich  in  eine  verzweifelte  Lage  und 
schiebt  ihm  die  Verantwortung  zu,  indem  es  doch 
Österreich  zwingt,  sich  gegen  eine  russische  Über- 
raschung zu  sichern.  Es  wird  sagen:  »Du  Österreich 
machst  gegen  uns  mobil,  du  willst  also  den  Krieg 
mit  uns.« 

Gegen  Deutschland  versichert  Rußland,  nichts  un- 
ternehmen zu  wollen,  es  weiß  aber  ganz  genau,  daß 
Deutschland  einem  kriegerischen  Zusammenstoß 
zwischen  seinem  Bundesgenossen  und  Rußland 
nicht  untätig  zusehen  kann.  Auch  Deutschland  wird 
gezwungen  werden,  mobil  zu  machen,  und  wiederum 
wird  Rußland  der  Welt  gegenüber  sagen  können:  »Ich 
habe  den  Krieg  nicht  gewollt,  aber  Deutschland  hat 
ihn  herbeigeführt.«  —  So  werden  und  müssen  die 
Dinge  sich  entwickeln,  wenn  nicht,  fast  möchte  man 
sagen,  ein  Wunder  geschieht,  um  noch  in  letzter 
Stunde  einen  Krieg  zu  verhindern,  der  die  Kultur  fast 
des  gesamten  Europas  auf  Jahrzehnte  hinaus  ver- 
nichten wird. 

Deutschland  will  diesen  schrecklichen  Krieg  nicht 
herbeiführen.  Die  deutsche  Regierung  weiß  aber,  daß 
es  die  tiefgewurzelten  Gefühle  der  Bundestreue,  ei- 
nes der  schönsten  Züge  deutschen  Gemütslebens,  in 
verhängnisvoller  Weise  verletzen  und  sich  in  Wider- 
spruch mit  allen  Empfindungen  ihres  Volkes  setzen 
würde,  wenn  sie  ihren  Bundesgenossen  in  einem  Au- 
genblick nicht  zu  Hilfe  kommen  wollte,  der  über  des- 
sen Existenz  entscheiden  muß. 

Nach  den  vorliegenden  Nachrichten  scheint  auch 
Frankreich  vorbereitende  Maßnahmen  für  eine  even- 
tuelle spätere  Mobilmachung  zu  treffen.  Es  ist  augen- 
scheinlich, daß  Rußland  und  Frankreich  in  ihren  Maß- 


nahmen  Hand  in  Hand  gehen.  —  Deutschland  wird 
also,  wenn  der  Zusammenstoß  zwischen  Österreich 
und  Rußland  unvermeidlich  ist,  mobil  machen  und 
bereit  sein,  den  Kampf  nach  zwei  Fronten  aufzuneh- 
men. Für  die  eintretendenfalls  von  uns  beabsichtig- 
ten militärischen  Maßnahmen  ist  es  von  größter 
"Wichtigkeit,  möglichst  bald  Klarheit  darüber  zu  er- 
halten, ob  Rußland  und  Frankreich  gewillt  sind,  es 
auf  einen  Krieg  mit  Deutschland  ankommen  zu  las- 
sen. Je  weiter  die  Vorbereitungen  unserer  Nachbarn 
fortschreiten,  um  so  schneller  werden  sie  ihre  Mobil- 
machung beendigen  können.  Die  militärische  Lage 
wird  dadurch  für  uns  von  Tag  zu  Tag  ungünstiger 
und  kann,  wenn  unsere  voraussichtlichen  Gegner  sich 
weiter  in  aller  Ruhe  vorbereiten,  zu  verhängnisvollen 
Folgen  für  uns  führen. 


Betrachtungen  und  Erinnerungen 

Homburg,  November  1914. 

Der  europäische  Krieg  des  Jahres  1914  kam  dem 
nicht  unerwartet,  der  ohne  diplomatische  Befangen- 
heit in  die  Welt  blickte.  Seit  Jahren  stand  er  wie  eine 
Wetterwolke  am  politischen  Himmel,  die  gespannte 
europäische  Lage  drängte  nach  Entladung,  und  es 
konnte  keinem  Zweifel  unterliegen,  daß  der  Konflikt 
zwischen  zwei  europäischen  Großstaaten  den  Krieg 
fast  des  gesamten  Europas  entfesseln  werde.  Das 
mußte  schon  die  Folge  der  zwischen  den  Angehöri- 
gen der  beiden  Mächtegruppen  abgeschlossenen  Ver- 
träge und  Vereinbarungen  sein,  die  im  Kriegsfalle 
Staat  an  Staat  banden.  Es  war  sicher,  daß  Deutsch- 
land aktiv  an  einem  Kriege  teilnehmen  werde,  der  die 
Existenz  der  österreichisch-ungarischen  Monarchie 
ernstlich  bedrohte,  und  ebenso  sicher,  daß  Frank- 
reich an  der  Seite  Rußlands  stehen  werde.  Seit  Jahren 
stand  die  Entente  dem  Dreibund  feindlich  gegenüber. 
Daß  letzterer  bei  der  Probe  des  Ernstfalles  versagen, 
daß  Italien  seinen  bindenden  Verpflichtungen  nicht 
nachkommen  werde,  war  allerdings  nicht  zu  erwar- 
ten. Noch  im  Vorjahr  des  Krieges  waren  die  schon 
früher  bestehenden  Abmachungen  zwischen  Italien 
und  Deutschland  revidiert  und  erneuert  worden,  noch 
im  Frühjahr  1914  waren  diese  Abmachungen  in  bin- 
dender Form  erneut  festgelegt.  Italien  hatte  sich  ver- 
pflichtet, im  Falle  des  Krieges  zwischen  Deutschland 
und  Frankreich  2  Kavallerie-Divisionen  und  3  Ar- 
meekorps  Deutschland   zur    Verfügung    zu    stellen, 


der  als  Führer  dieser  Hilfstruppen  bestimmte  Gene- 
ral Zuccari  hatte  mich  in  Berlin  aufgesucht,  der 
Transport  der  Truppen  war  unter  Mitwirkung  des 
österreichischen  Generalstabes  ausgearbeitet.  Alles 
war  genau  besprochen.  Ebenso  war  ein  Marineab- 
kommen zwischen  Deutschland,  Italien  und  Öster- 
reich formell  abgeschlossen  und  unterzeichnet,  nach- 
dem eine  gemeinsame  Aktion  der  österreichischen 
und  italienischen  Flotte  unter  Hinzutritt  der  bei  Aus- 
bruch des  Krieges  im  Mittelmeer  anwesenden  deut- 
schen Schiffe  stattfinden  sollte.  Alle  diese  Abma- 
chungen waren  so  klar  und  so  bindend  getroffen,  daß 
ein  Zweifel  an  der  Bundestreue  Italiens  kaum  ent- 
stehen konnte.  Die  darüber  entstandenen  Aktenstücke, 
die  von  italienischer  Seite  namens  der  Regierung  ab- 
gegebenen Erklärungen,  die  die  Zustimmung  des  Kö- 
nigs erhalten  hatten,  liegen  in  unseren  Archiven.  — 
Trotzdem  hat  Italien  sein  Wort  gebrochen.  Es  er- 
klärte seine  Neutralität  und  setzte  sich  gleichmütig 
über  alle  Verträge  hinweg.  Ein  schmählicherer  Wort- 
bruch ist  vielleicht  in  der  Geschichte  nicht  zu  finden. 
Deutschland  und  Österreich  standen  allein,  als  der 
Krieg  ausbrach. 

Die  englische  Diplomatie  hatte  es  verstanden,  sich 
von  bindenden  Verträgen  freizuhalten,  sich  die  Poli- 
tik der  freien  Hand  zu  wahren.  Es  waren  allerdings 
Verabredungen  zwischen  England,  Frankreich  und 
Belgien  für  den  eventuellen  Fall  einer  Kooperation 
getroffen,  aber  England  konnte  mit  Recht  behaup- 
ten, daß  es  keine  bindenden  Staatsverträge  eingegan- 
gen sei.  Blieb  somit  die  Haltung  Englands  bei  Aus- 
bruch des  Krieges  zweifelhaft,  so  sprach  doch  alle 
Wahrscheinlichkeit  dafür,  daß  es  auf  Seiten  der  Geg- 
ner Deutschlands  zu  finden  sein  werde,  wenn  der 
Krieg  zwischen  Deutschland  und  Frankreich  ausbre- 


chen  sollte.  Die  Gelegenheit,  den  unbequemen  Kon- 
kurrenten auf  dem  Weltmarkt  aus  dem  Wege  zu  räu- 
men, mit  einzugreifen,  wo  die  Aussicht  vorlag,  im 
Verein  mit  Rußland  und  Frankreich  Deutschland  mit 
Übermacht  zu  erdrücken;  die  langjährige,  von  König 
Eduard  VII.  eingeleitete  Wühlarbeit  zur  Einkreisung 
Deutschlands,  die  Hoffnung,  die  gefürchtete  deutsche 
Flotte  zu  vernichten  und  damit  die  unbeschränkte 
Herrschaft  der  Weltmeere,  die  Weltherrschaft  kurz- 
hin  zu  erlangen,  machten  es  von  vorneherein  wahr- 
scheinlich, daß  England  in  der  Reihe  unserer  Feinde 
zu  finden  sein  werde. 

Die  Hoffnung  unserer  Diplomatie,  ein  gutes  Ver- 
hältnis zu  England  anbahnen  zu  können,  die  jahre- 
lang die  Magnetnadel  war,  nach  der  unsere  Politik 
eingerichtet  wurde,  mußte  sich  als  verfehlt  erweisen, 
sobald  die  brutalen  englischen  Interessen  Gelegen- 
heit finden  konnten,  sich  durchzusetzen.  —  England 
hat  es  immer  verstanden,  seinen  selbstsüchtigen 
Handlungen  ein  moralisches  Mäntelchen  umzuhän- 
gen. So  mußte  auch  hier  die  Verletzung  der  belgi- 
schen Neutralität  durch  Deutschland  als  Vorwand 
dienen,  um  letzterem  den  Krieg  zu  erklären.  Es  mag 
dahingestellt  bleiben,  ob  England  sofort  aktiv  in  den 
Krieg  gegen  uns  eingetreten  sein  würde,  wenn  diese 
Neutralitätsverletzung  nicht  erfolgt  wäre.  Jedenfalls 
würde  es  eingegriffen  haben,  sobald  Gefahr  sich 
zeigte,  daß  Frankreich  von  uns  überwältigt  werde. 
Keine  der  kontinentalen  Mächte,  am  wenigsten 
Deutschland,  hätte  nach  der  alten  Praxis  englischer 
Politik  so  stark  werden  dürfen,  daß  die  Gefahr  einer 
Hegemonie  vorlag.  —  Vielleicht  wäre  es  für  Eng- 
land bequemer  gewesen,  mit  seinem  Eingreifen  zu 
warten,  bis  die  kontinentalen  Staaten  sich  im  Kriege 
erschöpft  hätten,  vielleicht  hat  dieser  Gedanke  der 

10 


englischen  Staatsleitung  zunächst  vorgeschwebt.  Da- 
mit aber,  daß  England  immer,  sei  es  früher  oder  spä- 
ter, gegen  Deutschland  aufgetreten  sein  würde,  mußte 
von  jedem  unbefangenen  Beobachter  unter  allen  Um- 
ständen gerechnet  werden.  Alles  Liebeswerben  unse- 
rer Diplomatie  war  einem  Staate  gegenüber,  der  wie 
England  nur  eine  selbstsüchtige  Interessenpolitik  be- 
folgt, von  Anfang  an  verloren.  —  Das  zu  erkennen, 
wäre  vielleicht  auch  schon  vor  dem  Ausbruch  des 
Krieges  nicht  so  schwer  gewesen.  Ich  glaube,  man 
hätte  eher  zu  einem  Abkommen  mit  Frankreich  oder 
zu  einer  Verständigung  mit  Rußland  als  zu  einer  zu- 
verlässigen Neutralität  Englands  kommen  können. 
Unsere  Blicke  aber  waren  wie  hypnotisiert  auf  Eng- 
land gerichtet,  und  als  dies  sich  gleich  bei  Beginn 
des  Krieges  gegen  uns  erklärte,  standen  wir  mit  Öster- 
reich ohne  jeden  weiteren  Bundesgenossen,  ja  selbst 
ohne  Vorbereitung,  einen  solchen  zu  gewinnen,  der 
Übermacht  unserer  Feinde  gegenüber. 

Der  Ausbruch  des  europäischen  Krieges  ist  durch 
Jahre  hindurch  hinausgeschoben  worden  durch  die 
Furcht  der  Menschen.  Sie  war  es,  die  alle  Kabinette 
zu  den  immer  wiederholten  Beteuerungen  veranlaßte, 
daß  alle  Bestrebungen  auf  Erhaltung  des  Friedens 
gerichtet  seien. 

Es  wäre  besser  für  uns  gewesen,  wenn  wir  in  den 
letzten  Jahren  den  kommenden  Ereignissen,  dem 
Kriege,  der  unverkennbar  vor  der  Türe  stand,  fest  ins 
Auge  geblickt  und  uns  auch  diplomatisch  auf  ihn 
vorbereitet  hätten.  —  Die  höchste  Kunst  der  Diplo- 
matie besteht  meiner  Ansicht  nach  nicht  darin,  den 
Frieden  unter  allen  Umständen  zu  erhalten,  sondern 
darin,  die  politische  Lage  des  Staates  dauernd  so  zu 
gestalten,  daß  er  in  der  Lage  ist,  unter  günstigen  Vor- 
aussetzungen in  einen  Krieg  eintreten  zu  können.  — 

ii 


Das  war  das  unsterbliche  Verdienst  Bismarcks  vor 
den  Kriegen  von  1866  und  1871.  Seine  stete  Sorge 
war  eine  Koalition  Frankreichs  und  Rußlands,  die 
jetzt  eingetreten  ist  und  uns  zu  dem  Kriege  nach 
zwei  Fronten  zwingt.  —  Daß  das  deutsche  Volk  eine 
klare  Empfindung  darüber  gehabt  hat,  daß  dem  Vater- 
lande schwere  Zeiten  bevorständen,  beweist  die  An- 
nahme der  vom  Generalstab  und  Kriegsministerium 
geforderten  Wehrvorlage  des  Jahres  1912. 

Mit  dem  Kriege  nach  zwei  Fronten  war  seit  Jahren 
im  Generalstab  gerechnet  worden.  Daß  er  notwendig 
werden  würde  in  dem  Augenblick,  wo  die  Rivalität 
Rußlands  und  Österreichs  auf  dem  Balkan  zum  offe- 
nen Konflikt  führen  werde,  war  klar  genug.  Wir  wuß- 
ten alle,  daß  Frankreich  an  der  Seite  des  Zarenreichs, 
dem  es  seine  Milliarden  zur  besseren  Vorbereitung 
für  den  Krieg  zur  Verfügung  gestellt  hatte,  unbedingt 
an  demselben  teilnehmen  würde.  —  Man  könnte  die 
Frage  aufwerfen,  ob  Deutschland  nicht  weiser  getan 
hätte,  Österreich  seinem  Schicksal  zu  überlassen,  statt 
bundestreu  die  ungeheure  Schwere  des  zu  erwarten- 
den Krieges  auf  sich  zu  nehmen.  Mehrfach  ist  die 
Ansicht  geäußert  worden,  daß  der  Zerfall  der  öster- 
reichisch-ungarischen Monarchie  doch  nicht  mehr 
aufzuhalten  sei  und  daß  für  Deutschland  eigentlich 
keine  Veranlassung  vorläge,  sich  Österreichs  wegen 
in  das  Abenteuer  eines  Krieges  zu  stürzen,  über  des- 
sen Schwere  sich  jedermann  klar  war.  Die  Möglich- 
keit, daß  Deutschland,  wenn  es  die  verbündete  Mon- 
archie preisgab,  zunächst  vor  dem  Kriege  hätte  be- 
wahrt werden  können,  muß  zugegeben  werden.  Aber 
abgesehen  davon,  daß  das  deutsche  Volk  für  eine 
solche  Felonie  kein  Verständnis  gehabt  haben  würde, 
wäre  meiner  Ansicht  nach  das  Fallenlassen  Öster- 
reichs ein  politischer  Fehler  gewesen,  der  sich  bin- 

12 


nen  kurzem  schwer  gerächt  haben  würde.  Die  eng- 
lisch-französische Einkreisungspolitik  richtete  sich 
in  erster  Linie  gegen  Deutschland.  Sie  wäre  bestehen 
geblieben,  wenn  Deutschland  sich  von  Österreich  ge- 
trennt hätte,  und  in  wenigen  Jahren  würden  wir  vor 
dem  Kriege  mit  derselben  Koalition  gestanden  haben, 
die  uns  jetzt  angreift,  dann  aber  ohne,  oder  vielleicht 
sogar  mit  einem  feindlichen  Österreich.  Dann  würden 
wir  ganz  allein  gestanden  haben.  Dieser  Krieg,  den 
wir  jetzt  führen,  war  eine  Notwendigkeit,  die  in  der 
Weltentwickelung  begründet  ist.  Unter  ihrem  Ge- 
setz stehen  die  Völker  wie  die  einzelnen  Menschen. 
Wenn  diese  Weltentwickelung,  die  man  gewöhnlich 
als  Weltgeschichte  bezeichnet,  nicht  vorhanden  wäre, 
wenn  sie  nicht  vom  Weltentwickelungsplan  aus  nach 
höheren  Gesetzen  geleitet  würde,  wäre  die  Entwicke- 
lungstheorie,  die  man  in  bezug  auf  die  Lebewesen 
der  Erde  anerkennt,  auf  das  höchste  Lebewesen,  den 
Menschen,  in  seiner  Zusammenfassung  als  Volk, 
nicht  anwendbar.  Dann  wäre  die  Weltgeschichte 
nichts  weiter  als  das  wirre  Ergebnis  von  Zufälligkei- 
ten, und  man  müßte  ihr  jede  planvolle  Entwickelung 
abstreiten.  Daß  aber  eine  solche  stattfindet,  lehrt  mei- 
ner Ansicht  nach  die  Geschichte  selber.  Sie  zeigt, 
wie  die  Kulturepochen  sich  in  fortschreitender  Folge 
ablösen,  wie  jedes  Volk  seine  bestimmte  Aufgabe  in 
der  Weltentwickelung  zu  erfüllen  hat  und  wie  diese 
Entwickelung  sich  in  aufsteigender  Linie  vollzieht. 
So  hat  auch  Deutschland  seine  Kulturaufgabe  zu 
erfüllen.  Die  Erfüllung  solcher  Aufgaben  vollzieht 
sich  aber  nicht  ohne  Reibungen,  da  immer  Wider- 
stände zu  überwinden  sind;  sie  können  nur  durch 
Krieg  zur  Entfaltung  kommen.  Wollte  man  anneh- 
men, daß  Deutschland  in  diesem  Kriege  vernichtet 
würde,  so  wäre  damit  das  deutsche  Geistesleben,  das 

13 


für  die  spirituelle  Weiterentwickelung  der  Mensch- 
heit notwendig  ist,  und  die  deutsche  Kultur  ausge- 
schaltet; die  Menschheit  würde  in  ihrer  Gesamtent- 
wickelung in  unheilvollster  Weise  zurückgeworfen 
werden. 

Die  romanischen  Völker  haben  den  Höhepunkt 
ihrer  Entwickelung  schon  überschritten,  sie  können 
keine  neuen  befruchtenden  Elemente  in  die  Gesamt- 
entwickelung hineintragen.  —  Die  slawischen  Völker, 
in  erster  Linie  Rußland,  sind  noch  zu  weit  in  der 
Kultur  zurück,  um  die  Führung  der  Menschheit  über- 
nehmen zu  können.  Unter  der  Herrschaft  der  Knute 
würde  Europa  in  den  Zustand  geistiger  Barbarei  zu- 
rückgeführt werden.  —  England  verfolgt  nur  mate- 
rielle Ziele. 

Eine  geistige  Weiterentwickelung  der  Menschheit 
ist  nur  durch  Deutschland  möglich.  Deshalb  wird 
auch  Deutschland  in  diesem  Kriege  nicht  unterlie- 
gen, es  ist  das  einzige  Volk,  das  zur  Zeit  die  Führung 
der  Menschheit  zu  höheren  Zielen  übernehmen  kann. 

Es  ist  eine  gewaltige  Zeit,  in  der  wir  leben. 

Dieser  Krieg  wird  eine  neue  Entwickelung  der  Ge- 
schichte zur  Folge  haben,  und  sein  Ergebnis  wird 
der  gesamten  Welt  die  Bahn  vorschreiben,  auf  der 
sie  in  den  nächsten  Jahrhunderten  vorzuschreiten 
haben  wird. 

Deutschland  hat  den  Krieg  nicht  herbeigeführt,  es 
ist  nicht  in  ihn  eingetreten  aus  Eroberungslust  oder 
aus  aggressiven  Absichten  gegen  seine  Nachbarn. 

Der  Krieg  ist  ihm  von  seinen  Gegnern  aufgezwun- 
gen worden,  und  wir  kämpfen  um  unsere  nationale 
Existenz,  um  das  Fortbestehen  unseres  Volkes,  un- 
seres nationalen  Lebens.  Damit  kämpfen  wir  um  ide- 
ale Güter,  während  unsere  Gegner  es  offen  ausspre- 
chen, daß  ihr  Ziel  die  Vernichtung  Deutschlands  ist. 

14 


Nie  ist  von  einem  Staat  ein  gerechterer  Krieg  ge- 
führt worden  und  nie  hat  er  ein  mehr  von  idealen 
Empfindungen  bewegtes  Volk  betroffen.  Wie  mit  ei- 
nem Schlage  traten  bei  ihm  alle  Entzweiung,  alle  Par- 
teiunterschiede, alle  materiellen  Interessen  zurück,  ein- 
mütig stand  das  Volk  zusammen,  und  jeder  war  be- 
reit, Gut  und  Blut  für  das  Vaterland  zu  opfern.  Der 
hohe  Idealismus  des  deutschen  Volkes,  den  selbst 
die  materialistische  Strömung  der  langen  Jahre  des 
Wohllebens  nicht  hat  vernichten  können,  brach  sich 
siegreich  Bahn.  Das  Volk  erkannte,  daß  es  höhere 
und  wertvollere  Ziele  gibt,  als  materielle  Wohlfahrt, 
es  wandte  sich  diesen  zu  mit  der  ganzen  Inbrunst  des 
Germanentums. 

Ein  solches  Volk  ist  unbesieglich. 

Die  äußere  Ursache  des  Krieges  war  die  Ermordung 
des  Erzherzog-Thronfolgers.  Sobald  es  sich  zeigte, 
daß  Österreich  weitgehende  Vergeltungsansprüche  an 
Serbien  stellte,  trat  Rußland  auf  die  Seite  der  Mörder. 
Es  fürchtete,  daß  sein  Prestige  auf  dem  Balkan  und 
seine  Stellung  als  Protektor  aller  Slawen  verloren  sein 
werde,  wenn  es  Serbien  ohne  Unterstützung  an  Öster- 
reich ausliefern  werde.  Deshalb  war  Rußland  von 
vornherein  zum  Kriege  entschlossen  und  begann  als- 
bald mit  den  Vorbereitungen  zur  Mobilmachung,  die 
zunächst  sehr  geheim  gehalten  wurden.  Meiner  An- 
sicht nach  wollte  es  nur  Zeit  gewinnen,  als  es  kurz 
darauf  erklärte,  daß  die  nun  offen  angeordnete  Mo- 
bilmachung in  den  südlichen  Militärbezirken  sich  nur 
gegen  Österreich  richte,  daß  gegen  Deutschland  nicht 
mobilisiert  werden  solle.  Während  die  Mobilmachung 
schon  in  vollem  Zuge  war,  gab  der  Kriegsminister 
dem  deutschen  Militärattache  sein  Ehrenwort,  daß 
nicht  mobilisiert  werde.  Es  ist  bekannt,  daß  dann, 
während  unser  Kaiser  noch  zwischen  Rußland  und 

IS 


Österreich  in  ehrlicher  Weise  zu  vermitteln  versuchte, 
in  Rußland  die  Mobilmachung  auch  der  nördlichen 
Militärbezirke  ausgesprochen  wurde.  Zwar  erklärte 
der  Zar,  daß  diese  Mobilmachung  sich  nicht  gegen 
Deutschland  richte,  daß  Rußland  den  Krieg  gegen 
Deutschland  nicht  wolle,  es  stellte  aber  damit  die  An- 
forderung an  uns,  ohne  eigene  Kriegs  Vorbereitung 
der  Willkür  eines  fertig  gerüsteten  Rußlands  uns  aus- 
geliefert zu  sehen. 

Das  war  natürlich  für  Deutschland  unmöglich.  Mit 
dem  Augenblick,  wo  Rußland  sein  gesamtes  Heer  mo- 
bilisierte, waren  auch  wir  gezwungen,  mobil  zu  ma- 
chen. Hätten  wir  es  nicht  getan,  wäre  Rußland  jeder- 
zeit in  der  Lage  gewesen,  in  unser  ungeschütztes 
Land  einzumarschieren  und  eine  spätere  Mobilma- 
chung für  uns  unmöglich  zu  machen. 

Es  kann  für  jeden  Unbefangenen  keinem  Zweifel 
unterliegen,  daß  Rußland  es  gewesen  ist,  das  diesen 
Krieg  entfacht  hat.  Es  wußte  genau,  daß  Deutschland 
seinen  Bundesgenossen  Österreich  nicht  vernichten 
lassen  werde,  aber  es  hatte  durch  sein  hinterlistiges 
Verhalten  Zeit  gewonnen  und  war  in  seiner  Mobil- 
machung schon  weit  vorgeschritten,  wie  Deutsch- 
land die  seinige  begann. 

Wie  schon  erwähnt,  war  der  Krieg  gegen  zwei 
Fronten  im  Generalstab  schon  seit  Jahren  bearbeitet 
worden.  Schon  unter  meinem  Vorgänger,  dem  Gra- 
fen Schlieffen,  war  der  Vormarsch  durch  Belgien 
ausgearbeitet. 

Diese  Operation  wurde  dadurch  begründet,  daß  es 
so  gut  wie  ausgeschlossen  schien,  ohne  die  Verlet- 
zung der  belgischen  Neutralität  das  französische  Heer 
im  freien  Felde  zur  Entscheidung  zwingen  zu  kön- 
nen. Alle  Nachrichten  schienen  es  gewiß  zu  ma- 
chen, daß  die  Franzosen  hinter  ihrer  starken  Ostfront 

16 


einen  Defensivkrieg  führen  würden,  und  man  mußte 
darauf  gefaßt  sein,  einen  lange  währenden  Positions- 
und Festungskrieg  vor  sich  zu  haben,  wenn  man  fron- 
tal gegen  diese  starke  Front  vorging.  —  Graf  Schlief- 
fen  wollte  sogar  mit  dem  rechten  Flügel  des  deut- 
schen Heeres  durch  Südholland  marschieren.  Ich 
habe  dies  abgeändert,  um  nicht  auch  die  Niederlande 
auf  die  Seite  unserer  Feinde  zu  zwingen,  und  lieber 
die  großen  technischen  Schwierigkeiten  auf  mich  ge- 
nommen, die  dadurch  verursacht  wurden,  daß  der 
rechte  Flügel  unseres  Heeres  sich  durch  den  engen 
Raum  zwischen  Aachen  und  der  Südgrenze  der  Pro- 
vinz Limburg  hindurchzwängen  mußte.  —  Um  die- 
ses Manöver  überhaupt  ausführen  zu  können,  mußten 
wir  uns  möglichst  rasch  in  den  Besitz  von  Lüttich 
setzen.  Daraus  entstand  der  Plan,  sich  dieser  Festung 
durch  Handstreich  zu  bemächtigen. 

Wiederholt  ist  auch  im  Generalstab  die  Frage  ge- 
prüft worden,  ob  wir  nicht  besser  täten,  einen  Defen- 
sivkrieg zu  führen.  Sie  wurde  immer  verneint,  da  mit 
ihm  die  Möglichkeit  hinfällig  wurde,  den  Krieg  so 
bald  wie  möglich  in  Feindesland  zu  tragen.  Mit  der 
Möglichkeit,  daß  Belgien  zwar  gegen  einen  Durch- 
marsch protestieren,  aber  sich  demselben  nicht  mit 
Waffengewalt  entgegenstellen  werde,  war  gerechnet. 
In  diesem  Sinne  war  die  von  mir  entworfene  Som- 
mation  an  die  belgische  Regierung  gehalten,  die  dem 
König  den  Bestand  der  Monarchie  garantierte.  Der 
in  derselben  enthaltene  Passus,  in  dem  Belgien  terri- 
toriale Vergrößerung  im  Falle  freundschaftlichen 
Verhaltens  in  Aussicht  gestellt  wurde,  ist  vom  Aus- 
wärtigen Amt  bei  Überreichung  der  Sommation  ge- 
strichen worden. 

Es  läßt  sich  gewiß  vieles  gegen  ein  Vorgehen 
durch  Belgien  einwenden,  aber  der  Verlauf  der  er- 

Moltke.         2.  17 


sten  Kriegswochen  hat  gezeigt,  daß  es,  wie  beabsich- 
tigt, die  Franzosen  zwang,  sich  uns  im  freien  Felde 
zu  stellen,  und  daß  sie  geschlagen  werden  konnten. 
Daß  die  Niederwerfung  Frankreichs  im  ersten  An- 
lauf mißlang,  hat  es  der  schnellen  Hilfeleistung  Eng- 
lands zu  verdanken. 

Der  Handstreich  auf  Lüttich  war  ein  gewagtes  Un- 
ternehmen. Wenn  er  mißlang,  mußte  der  moralische 
Rückschlag  empfindlich  sein.  Was  mich  in  erster 
Linie  veranlaßte,  ihn  anzuordnen,  war  die  Hoffnung, 
damit  die  Bahn  Aachen — Lüttich  unzerstört  in  unse- 
ren Besitz  zu  bringen.  Das  ist  gelungen,  und  daß  wir 
die  Bahn  bis  Brüssel  und  darüber  hinaus  bis  St. 
Quentin  später  zur  Verfügung  hatten,  ist  von  unbe- 
rechenbarem Nutzen  gewesen. 

Am  Tage  vor  der  Mobilmachung  war  eine  De- 
pesche aus  London  eingetroffen,  in  der  gesagt  war, 
daß  England  sich  Frankreich  gegenüber  verpflichtet 
habe,  den  Schutz  der  französischen  Nordküste  gegen 
deutsche  Angriffe  von  der  See  her  zu  schützen.  Der 
Kaiser  forderte  meine  Ansicht,  und  ich  erklärte,  daß 
wir  uns  unbedenklich  verpflichten  könnten,  die  fran- 
zösische Nordküste  nicht  anzugreifen,  wenn  England 
unter  dieser  Voraussetzung  neutral  bleiben  werde. 
Meiner  Ansicht  nach  werde  der  Kampf  gegen  Frank- 
reich zu  Lande  entschieden  werden,  ein  Angriff  von 
der  See  könne,  wenn  die  Neutralität  Englands  davon 
abhinge,  unterbleiben.  —  Diese  Depesche  war  augen- 
scheinlich der  erste  Versuch  Englands,  uns  zu  dü- 
pieren, wenigstens  unsere  Mobilmachung  zu  ver- 
zögern. 

Auf  die  am  28.  Juli  oder  29.?  *  eintreffende  Nach- 
richt, daß  in  Rußland  die  allgemeine  Mobilmachung 
befohlen  sei,  hatte  der  Kaiser  die  Erklärung:  drohende 

•  Am  30.  Juli.  (Der  Herausgeber.) 

18 


Kriegsgefahr  erlassen.  Am  i.  August  befahl  Se.  Maje- 
stät der  Kaiser,  nachmittags  5  Uhr,  die  Mobilmachung 
für  Deutschland.  Der  2.  August  war  erster  Mobil- 
machungstag. 

Ich  war  auf  dem  Rückwege  vom  Schloß  nach  dem 
Generalstab,  als  ich  den  Befehl  erhielt,  sofort  ins 
Schloß  zurückzukehren,  es  sei  eine  wichtige  Nach- 
richt eingetroffen.  Ich  drehte  sofort  um.  Im  Schloß 
fand  ich  außer  Sr.  Majestät  den  Reichskanzler,  den 
Kriegsminister  und  noch  einige  andere  Herren. 

Der  Reichskanzler,  der,  wie  schon  angedeutet,  das 
wichtigste  Ziel  seiner  Politik  darin  sah,  ein  gutes  Ver- 
hältnis mit  England  herzustellen,  und  der  merkwür- 
digerweise bis  zu  diesem  Tage  immer  noch  geglaubt 
hat,  daß  sich  der  allgemeine  Krieg,  zum  mindesten 
die  Teilnahme  Englands  an  demselben  vermeiden  las- 
sen würde,  war  augenscheinlich  über  den  Inhalt  einer 
soeben  von  dem  deutschen  Botschafter  in  London, 
Fürsten  Lichnowsky,  eingetroffenen  Depesche  freu- 
dig erregt.  Ebenso  Se.  Majestät  der  Kaiser.  —  Die  De- 
pesche teilte  mit,  daß  der  Staatssekretär  Grey  dem 
Botschafter  mitgeteilt  habe,  England  wolle  die  Ver- 
pflichtung übernehmen,  daß  Frankreich  nicht  in  den 
Krieg  gegen  uns  eintreten  werde,  wenn  Deutschland 
sich  seinerseits  verpflichte,  keine  feindselige  Hand- 
lung gegen  Frankreich  zu  unternehmen.  Ich  muß  da- 
bei bemerken,  daß  auch  in  Frankreich  bereits  am  sel- 
ben Tage  wie  bei  uns  die  Mobilmachung  befohlen 
und  dies  uns  bekannt  war.  —  Es  herrschte,  wie  ge- 
sagt, eine  freudige  Stimmung. 

Nun  brauchen  wir  nur  den  Krieg  gegen  Rußland 
zu  führen!  Der  Kaiser  sagte  mir:  »Also  wir  mar- 
schieren einfach  mit  der  ganzen  Armee  im  Osten 
auf!«  —  Ich  erwiderte  Sr.  Majestät,  daß  das  unmög- 
lich sei.  Der  Aufmarsch  eines  Millionenheeres  lasse 

19 


sich  nicht  improvisieren,  es  sei  das  Ergebnis  einer 
vollen,  mühsamen  Jahresarbeit  und  könne,  einmal 
festgelegt,  nicht  geändert  werden.  Wenn  Se.  Majestät 
darauf  bestehen,  das  gesamte  Heer  nach  dem  Osten 
zu  führen,  so  würden  dieselben  kein  schlagfertiges 
Heer,  sondern  einen  wüsten  Haufen  ungeordneter  be- 
waffneter Menschen  ohne  Verpflegung  haben.  —  Der 
Kaiser  bestand  auf  seiner  Forderung  und  wurde  sehr 
ungehalten,  er  sagte  mir  unter  anderem:  »Ihr  Onkel 
würde  mir  eine  andere  Antwort  gegeben  haben!«,  was 
mir  sehr  wehe  tat.  —  Ich  habe  nie  den  Anspruch  er- 
hoben, dem  Feldmarschall  gleichwertig  zu  sein.  — 
Daran,  daß  es  für  uns  eine  Katastrophe  herbeiführen 
müßte,  wenn  wir  mit  unserer  gesamten  Armee  nach 
Rußland  hineinmarschiert  wären,  mit  einem  mobilen 
Frankreich  im  Rücken,  daran  schien  kein  Mensch 
zu  denken.  Wie  hätte  England  es  jemals  —  selbst  den 
guten  Willen  vorausgesetzt  —  verhindern  können, 
daß  Frankreich  uns  in  den  Rücken  fiel!  —  Auch 
meine  Einwendung,  daß  Frankreich  bereits  in  der 
Mobilmachung  begriffen  sei  und  daß  es  unmöglich 
sei,  daß  ein  mobiles  Deutschland  und  ein  mobiles 
Frankreich  sich  friedlich  darauf  einigen  würden,  sich 
gegenseitig  nichts  zu  tun,  blieb  erfolglos.  Die  Stim- 
mung wurde  immer  erregter,  und  ich  stand  ganz  al- 
lein da.  — 

Schließlich  gelang  es  mir,  Se.  Majestät  davon  zu 
überzeugen,  daß  unser  Aufmarsch,  der  mit  starken 
Kräften  gegen  Frankreich,  mit  schwachen  Defensiv- 
kräften gegen  Rußland  gedacht  war,  planmäßig  aus- 
laufen müßte,  wenn  nicht  die  unheilvollste  Verwir- 
rung entstehen  solle.  Ich  sagte  dem  Kaiser,  daß  es 
nach  vollendetem  Aufmarsch  möglich  sein  werde,  be- 
liebig starke  Teile  des  Heeres  nach  dem  Osten  zu 
überführen,  an  dem  Aufmarsch  selbst  dürfe  nichts 

20 


geändert  werden,  sonst  könne  ich  keine  Verantwor- 
tung übernehmen. 

Die  Antwortdepesche  nach  London  wurde  dann 
demgemäß  entworfen,  daß  Deutschland  das  englische 
Angebot  sehr  gerne  annähme,  daß  aber  der  einmal  ge- 
plante Aufmarsch,  auch  an  der  französischen  Grenze, 
aus  technischen  Gründen  zunächst  ausgeführt  wer- 
den müßte.  Wir  würden  aber  Frankreich  nichts  tun, 
wenn  es  sich  unter  Kontrolle  Englands  ebenfalls  ruhig 
verhalten  würde.  —  Mehr  konnte  ich  nicht  erreichen. 
Das  Unsinnige  dieses  ganzen  englischen  Vorschlages 
war  mir  von  vorneherein  klar.  Schon  in  früheren 
Jahren  war  mir  vom  Auswärtigen  Amt  davon  gespro- 
chen worden,  daß  Frankreich  möglicherweise  in  ei- 
nem Kriege  Deutschlands  gegen  Rußland  neutral  blei- 
ben könne.  Ich  glaubte  so  wenig  an  diese  Möglich- 
keit, daß  ich  schon  damals  erklärt  hatte,  wenn  Ruß- 
land uns  den  Krieg  erklärt,  müssen  wir,  wenn  die 
Haltung  Frankreichs  zweifelhaft  ist,  ihm  sofort  den 
Krieg  erklären.  Jetzt  forderte  ich  als  Garantie  für  das 
Nichtlosschlagen  Frankreichs  die  zeitweilige  Über- 
lassung der  Festungen  Verdun  und  Toul  an  uns.  Die- 
ser Vorschlag  wurde  als  ein  Mißtrauensvotum  gegen 
England  abgelehnt. 

Ich  war  im  Laufe  dieser  Szene  in  eine  fast  ver- 
zweifelte Stimmung  gekommen,  ich  sah  aus  diesen 
diplomatischen  Aktionen,  die  hindernd  in  den  Gang 
unserer  Mobilmachung  einzugreifen  drohten,  das 
größte  Unheil  für  den  uns  bevorstehenden  Krieg  er- 
wachsen. —  Ich  muß  hier  einschalten,  daß  in  un- 
serem Mobilmachungsplan  die  Besetzung  Luxem- 
burgs durch  die  16.  Division  schon  am  ersten  Mobil- 
machungstag vorgesehen  war.  —  Wir  mußten  unbe- 
dingt die  luxemburgischen  Bahnen  gegen  einen  fran- 
zösischen Handstreich  sichern,  da  wir  sie  zu  unse- 

21 


rem  Aufmarsch  gebrauchten.  Um  so  schwerer  traf  es 
mich,  als  der  Reichskanzler  nun  erklärte,  die  Beset- 
zung Luxemburgs  dürfe  unter  keinen  Umständen  statt- 
finden, sie  sei  eine  direkte  Bedrohung  Frankreichs 
und  würde  die  angebotene  englische  Garantie  illuso- 
risch machen.  —  Während  ich  dabeistand,  wandte 
sich  der  Kaiser,  ohne  mich  zu  fragen,  an  den  Flügel- 
adjutanten vom  Dienst  und  befahl  ihm,  sofort  tele- 
graphisch der  16.  Division  nach  Trier  den  Befehl  zu 
übermitteln,  sie  solle  nicht  in  Luxemburg  einmar- 
schieren. —  Mir  war  zumut,  als  ob  mir  das  Herz  bre- 
chen sollte.  —  Abermals  lag  die  Gefahr  vor,  daß  un- 
ser Aufmarsch  in  Verwirrung  gebracht  werde.  Was 
das  heißt,  kann  in  vollem  Umfang  wohl  nur  derjenige 
ermessen,  dem  die  komplizierte  und  bis  auf  das  kleinste 
Detail  geregelte  Arbeit  eines  Aufmarsches  bekannt 
ist.  Wo  jeder  Zug  auf  die  Minute  geregelt  ist,  muß 
jede  Änderung  in  verhängnisvoller  Weise  wirken.  — 
Ich  versuchte  vergebens,  Se.  Majestät  davon  zu  über- 
zeugen, daß  wir  die  Luxemburger  Bahnen  brauchten 
und  sie  sichern  müßten,  ich  wurde  mit  der  Bemer- 
kung abgefertigt,  ich  möchte  statt  ihrer  andere  Bahnen 
benutzen.  Es  blieb  bei  dem  Befehl. 

Damit  war  ich  entlassen.  Es  ist  unmöglich,  die  Stim- 
mung zu  schildern,  in  der  ich  zu  Hause  ankam.  Ich 
war  wie  gebrochen  und  vergoß  Tränen  der  Verzweif- 
lung. Wie  mir  die  Depesche  an  die  16.  Division  vor- 
gelegt wurde,  die  den  telephonisch  gegebenen  Be- 
fehl wiederholte,  stieß  ich  die  Feder  auf  den  Tisch 
und  erklärte,  ich  unterschreibe  sie  nicht.  Ich  kann 
nicht  meine  Unterschrift,  die  erste  nach  Ausspruch 
der  Mobilmachung,  unter  einen  Befehl  setzen,  der 
etwas  widerruft,  was  planmäßig  vorbereitet  ist,  und 
der  von  der  Truppe  sofort  als  Zeichen  der  Unsicher- 
heit empfunden  werden  wird.  —  »Machen  Sie  mit  der 

22 


Depesche,  was  Sie  wollen«,  sagte  ich  dem  Oberst- 
leutnant Tappen.  »Ich  unterschreibe  sie  nicht.«  —  So 
saß  ich  in  dumpfer  Stimmung  untätig  in  meinem  Zim- 
mer, bis  ich  um  n  Uhr  abends  wieder  ins  Schloß 
zu  Sr.  Majestät  befohlen  wurde.  Der  Kaiser  empfing 
mich  in  seinem  Schlafzimmer,  er  war  schon  zu  Bett 
gewesen,  aber  wieder  aufgestanden  und  hatte  einen 
Rock  übergeworfen.  Er  gab  mir  eine  Depesche  des 
Königs  von  England,  in  der  dieser  erklärte,  ihm  sei 
von  einer  Garantie  Englands,  Frankreich  am  Kriege 
zu  verhindern,  nichts  bekannt.  Die  Depesche  des  Für- 
sten Lichnowsky  müsse  auf  einem  Irrtum  beruhen 
oder  er  müsse  etwas  falsch  verstanden  haben.  —  Der 
Kaiser  war  sehr  erregt  und  sagte  mir:  »Nun  können 
Sie  machen,  was  Sie  wollen.«  —  Ich  fuhr  sofort  nach 
Hause  und  telegraphierte  an  die  16.  Division,  der  Ein- 
marsch in  Luxemburg  solle  ausgeführt  werden.  Um 
diesen  erneuten  Befehl  wenigstens  etwas  zu  moti- 
vieren, fügte  ich  hinzu:  »Da  soeben  bekannt  gewor- 
den ist,  daß  in  Frankreich  die  Mobilmachung  be- 
fohlen ist.« 

Das  war  mein  erstes  Erlebnis  in  diesem  Kriege.  — 
Ich  habe  die  Überzeugung,  daß  der  Kaiser  die  Mobil- 
machungsorder überhaupt  nicht  unterzeichnet  haben 
würde,  wenn  die  Depesche  des  Fürsten  Lichnowsky 
eine  halbe  Stunde  früher  angekommen  wäre.  —  Ich 
habe  die  Eindrücke  dieses  Erlebnisses  nicht  über- 
winden können,  es  war  etwas  in  mir  zerstört,  das 
nicht  wieder  aufzubauen  war,  Zuversicht  und  Ver- 
trauen waren  erschüttert.  — 

Der  Handstreich  gegen  Lüttich  war  auf  den  5.  Au- 
gust angesetzt.  Am  Abend  des  Tages  lief  eine  Mel- 
dung von  dort  ein,  nach  der  anzunehmen  war,  daß 
das  Unternehmen  nicht  gelungen  sei.  Jedenfalls  waren 
unsere  Truppen  nicht  bis  in  die  Stadt  vorgedrungen. 

23 


Ich  mußte  es  dem  Kaiser  melden.  Er  sagte  mir:  »Das 
habe  ich  mir  gleich  gedacht.  Mir  hat  dies  Vorgehen 
gegen  Belgien  den  Krieg  mit  England  auf  den  Hals 
gebracht.«  —  Als  am  nächsten  Tage  die  Meldung  kam, 
daß  die  Stadt  von  uns  genommen  sei,  wurde  ich  ab- 
geküßt. — 

Nach  dem  ersten  raschen  und  siegreichen  Vorgehen 
unserer  Armeen  durch  Belgien  nach  Frankreich  hin- 
ein trat  der  Rückschlag  ein  durch  den  Angriff  star- 
ker französischer  und  englischer  Kräfte  von  Paris 
her  gegen  unseren  rechten  Flügel.  Die  2.  Armee  mußte 
ihren  rechten  Flügel  zurücknehmen,  auch  die  1.  Ar- 
mee mußte  zurückgenommen  werden.  Die  Lage  war 
kritisch.  —  Ich  war  zu  den  Armee-Oberkommandos 
herausgefahren.  Wie  ich  bei  A.-O.-K.  4  war,  kam  ein 
Funkspruch  der  2.  Armee,  daß  starke  französische 
Kräfte  nach  Osten  abbiegend  gegen  die  3.  Armee  vor- 
gingen. Ich  wollte  die  3.  Armee  gerne  stehenlassen, 
ebenso  die  4.  und  5.  —  Wie  ich  zum  A.-O.-K.  3  kam, 
erklärte  mir  der  General  v.  Hausen,  er  könne  die  ihm 
zugewiesene  Linie  nicht  halten,  seine  Truppen  seien 
nicht  mehr  leistungsfähig.  Ich  war  daher  gezwungen, 
der  3.  Armee  eine  kürzere  und  weiter  zurückliegende 
Linie  zuzuweisen,  gleichzeitig  mußte  ich  aber  die  4. 
und  5.  Armee  ebenfalls  zurücknehmen,  um  wieder  eine 
geschlossene  Armeefront  herzustellen.  Ich  mußte  den 
entsprechenden  Befehl  sofort  an  Ort  und  Stelle  aus- 
geben, auf  meine  eigene  Verantwortung  hin.  —  Es 
war  ein  schwerer  Entschluß,  den  ich  fassen  mußte, 
ohne  die  Genehmigung  Sr.  Majestät  vorher  einholen 
zu  können.  Der  schwerste  Entschluß  meines  Lebens, 
der  mich  mein  Herzblut  gekostet  hat.  Ich  sah  aber 
eine  Katastrophe  voraus,  wenn  ich  das  Heer  nicht 
zurückgenommen  hätte.  In  der  Nacht  um  3  Uhr  kam 
ich  wieder  in  Luxemburg  im  Großen  Hauptquartier 

24 


an.  —  Am  13.  September  meldete  ich  dem  Kaiser  das, 
was  ich  angeordnet  hatte,  und  motivierte  es.  —  Der 
Kaiser  war  zwar  nicht  ungnädig,  aber  ich  hatte  den 
Eindruck,  daß  er  von  der  Notwendigkeit  des  Rück- 
zuges nicht  ganz  überzeugt  war.  —  Ich  muß  zugeben, 
daß  meine  Nerven  durch  alles,  was  ich  erlebt  hatte, 
sehr  herunter  waren  und  daß  ich  wohl  den  Eindruck 
eines  kranken  Mannes  gemacht  habe. 

Am  14.  September,nachmittags,  erschien  der  General 
v.  Lyncker  bei  mir  auf  dem  Bureau  und  sagte  mir, 
der  Kaiser  ließe  mir  sagen,  er  habe  den  Eindruck,  daß 
ich  zu  krank  sei,  um  die  Operationen  weiter  leiten  zu 
können.  Se.  Majestät  hätten  befohlen,  ich  solle  mich 
krank  melden  und  nach  Berlin  zurückfahren.  General 
v.  Falkenhayn  solle  die  Operationen  übernehmen. 

Gleichzeitig  warmeinbisheriger  Oberquartiermeister 
General  v.  Stein  abgelöst  und  ihm  das  Kommando 
über  ein  Reserve-Armeekorps  übertragen.  Das  alles 
kam  ohne  jede  Vorbereitung  über  mich. 

Ich  ging  sofort  zu  General  v.  Falkenhayn  und  teilte 
ihm  den  Befehl  Sr.  Majestät  mit.  Er  war  völlig  über- 
rascht. —  Wir  gingen  zusammen  zum  Kaiser,  der 
mir  erklärte,  er  habe  den  Eindruck,  daß  ich  durch 
meine  zweimalige  Kur  in  Karlsbad  geschwächt  sei 
und  mich  erholen  müsse. Ich  sagte  dem  Kai- 
ser, daß  ich  glaube,  es  werde  in  der  Armee  und  im 
Auslande  keinen  guten  Eindruck  machen,  wenn  ich 
unmittelbar  nach  dem  Rückzug  der  Armee  fort- 
geschickt werde. 

General  v.  Falkenhayn  trat  dieser  Ansicht  bei.  Der 
Kaiser  meinte  darauf,  Falkenhayn  solle  als  Oberquar- 
tiermeister fungieren  und  ich  solle  »pro  forma«  blei- 
ben. Falkenhayn  erklärte,  er  könne  die  Operationen 
nur  übernehmen,  wenn  er  völlig  freie  Hand  habe.  Ich 
konnte  dies  nur  anerkennen. 

25 


So  blieb  ich  im  Hauptquartier,  während  mir  alles 
aus  der  Hand  genommen  wurde  und  ich  ohne  allen 
Einfluß  als  Zuschauer  dastand.  Das  wird  vielleicht 
niemand  verstehen.  —  Ich  habe  dies  Martyrium  auf 
mich  genommen  und  die  weiteren  Operationen  mit 
meinem  Namen  gedeckt,  des  Landes  wegen  und  um 
dem  Kaiser  es  zu  ersparen,  daß  von  ihm  gesagt  werde, 
er  habe  seinen  Generalstabschef  fortgeschickt,  sobald 
der  erste  Rückschlag  eintrat.  Ich  wußte,  welche  un- 
heilvollen Folgen  das  haben  müßte.  —  Später  bat  ich 
Se.  Majestät,  mich  nach  Brüssel  zu  schicken,  um  die 
Einnahme  von  Antwerpen  mit  zu  betreiben.  Ich  konnte 
es  nicht  mehr  ertragen,  ohne  Tätigkeit  und  ganz  bei- 
seite geschoben  im  Großen  Hauptquartier  anwesend 
zu  sein.  Der  Kaiser  genehmigte  meine  Bitte,  und  ich 
fuhr  nach  Brüssel  und  von  dort  in  das  Hauptquartier 
des  Generals  v.  Beseler  nach  Fildonk.  Ich  war  drei- 
mal dort,  zwischendurch  wieder  im  Großen  Haupt- 
quartier, wohin  mich  die  Unruhe  wegen  der  weiteren 
Operationen  immer  wieder  zurücktrieb.  Dem  General 
v.  Beseler  konnte  ich  einige  Hilfsmaterialien,  Brücken- 
trains und  eine  Landwehr-Brigade  verschaffen.  Bei 
der  Kapitulation  Antwerpens  war  ich  in  Fildonk  an- 
wesend. Der  Kaiser  hatte  mir  Vollmacht  gegeben,  die 
eventuelle  Kapitulation  abzuschließen,  die  ich  indes- 
sen an  Beseler  abtrat,  dem  allein  die  Ehre  gebührte. 

Nach  der  Kapitulation  kam  ich  ins  Große  Haupt- 
quartier zurück.  Ich  hatte  nun  nichts  mehr  zu  tun, 
war  fertig  und  fast  verzweifelt  über  meine  Schein- 
stellung. —  Ich  ging  zum  Kaiser  und  sagte  ihm,  ich 
könne  diesen  Zustand  nicht  mehr  ertragen.  Er  war 
verwundert,  wie  ich  ihm  darlegte,  daß  ich  ganz  aus- 
geschlossen sei,  und  sagte,  er  betrachte  mich  nach 
wie  vor  als  den  eigentlichen  Leiter  der  Operationen. 
Nachdem  ich  ihm   den  Tatbestand  dargelegt  hatte, 

26 


sagte  er,  das  sei  nicht  seine  Absicht,  er  werde  Reme- 
dur  eintreten  lassen,  wolle  sich  die  Sache  durch  den 
Kopf  gehen  lassen  und  sie  ändern.  —  Am  nächsten 
Tage  erkrankte  ich  an  einer  Entzündung  der  Gallen- 
blase und  Leber  und  mußte  mich  zu  Bett  legen.  Die 
seelische  Aufregung  der  letzten  Wochen,  meine  ver- 
zweifelte Stimmung  und  Lage  hatten  auf  den  phy- 
sischen Organismus  krankheitsbildend  eingewirkt. 
Nachdem  ich  acht  Tage  gelegen  hatte,  besuchte  mich 
der  Kaiser  und  saß  eine  Stunde  an  meinem  Bett.  Er 
war  sehr  gütig  und  gnädig,  kam  jedoch  auf  meine 
dienstlichen  Funktionen  nicht  zurück.  Zwei  Tage  dar- 
auf erhielt  ich  seinen  zweiten  Besuch.  Er  stellte  mir 
Wohnung  im  Schloß  Homburg  zur  Verfügung,  riet 
mir,  dorthin  auf  einige  Zeit  zu  gehen,  um  mich  zu  er- 
holen. Er  ermahnte  auch  meinen  zweiten  Adjutanten, 
Hauptmann  Köhler,  gut  für  mich  zu  sorgen,  und  war 
wiederum  sehr  gnädig.  Ich  fuhr  ein  oder  zwei  Tage 
später  nach  Homburg,  es  war  am  i.  November. 

Am  3.  November  wurde  die  Order  unterzeichnet,  in 
der  General  v.  Falkenhayn  zu  meinem  Nachfolger  er- 
nannt wurde.  Ich  stand  ohne  irgendeine  dienstliche 
Funktion  in  der  Luft.  — 

Ich  habe  diese  flüchtigen  Aufzeichnungen  gemacht, 
ohne  Notizen  oder  irgendwelches  Material  zur  Hand 
zu  haben.  Es  mögen  daher  manche  Irrtümer  in  bezug 
auf  Daten  usw.  darin  sein.  Auch  war  ich  noch  krank, 
wie  ich  sie  schrieb.  Sie  sollen  nur  für  meine  Frau  be- 
stimmt sein  und  dürfen  niemals  der  Öffentlichkeit  be- 
kannt werden  *.  Das  Martyrium,  das  ich  getragen  habe, 
war  groß.  Ich  glaubte,  es  dem  Kaiser  und  dem  Lande 
schuldig  zu  sein.  Wenn  ich  falsch  gehandelt  habe, 
möge  Gott  mir  verzeihen. 

*  Die  Veröffentlichung  der  Aufzeichnungen  Moltkes  halte  ich  heute  für  notwendig, 
damit  über  wichtige  Vorgänge  die  Wahrheit  bekannt  werde.  (Der  Herausgeber.) 

27 


Ich  bin  fest  überzeugt,  daß  der  Kaiser  sich  nie  dar- 
über klar  geworden  ist,  was  er  mir  angetan  hat.  Er  hat 
mir  auch  nach  meiner  Verabschiedung  seine  gnädige 
Gesinnung  bewahrt. 


28 


Zweiter  Teil 

Moltkes  Gedanken 

und  sein  Wirken  in  Teilen  aus 

Briefen  an  seine  Braut 

1877—1878 


*Creisau,  i. September  1877. 

Heute  ist  der  1.  September.  Heute  vor  sieben  Jah- 
ren stand  ich  auf  dem  Schlachtfelde  und  hörte  mit 
beklommenem  Herzen  auf  das  Rollen  des  Feuerge- 
fechtes vor  uns  um  die  Sedan  umgebenden  Höhen. 
—  Um  dieselbe  Stunde,  wo  ich  jetzt  schreibe,  rollten 
die  eisernen  Würfel  noch  hierhin  und  dahin  und  nie- 
mand wußte,  wem  der  Wurf  gelingen  würde.  Jetzt 
nach  sieben  Jahren  läuten  durchs  ganze  deutsche 
Reich  die  Kirchenglocken  und  Tausende  von  Herzen 
beugen  sich  vor  dem,  der  mit  starker  Hand  die  Ge- 
schicke der  Nationen  leitet  und  aus  aber  tausend  deut- 
schen Herzen  steigt  ein  Dankgebet  empor  dafür,  daß 
der  Traum,  den  das  deutsche  Volk  seit  Jahrhunder- 
ten geträumt  hat,  zur  Wahrheit  geworden  ist,  und 
daß  wir  es  erlebt  haben,  wie  die  Sonne  der  Einigkeit 
voll  und  strahlend  aufging,  wenn  auch  aus  blutig 
dunkler  Nacht,  die  Sonne,  für  die  schon  unsere  Väter 
und  Urväter  geblutet  haben  und  von  der  sie  doch  nur 
die  erste  Röte  des  Morgenhimmels  erblickten. 

**  Generalstab  Berlin,  4.  Oktober  1877. 

Es  freut  mich,  daß  Dir  der  »Faust«  gefallen  hat.  Mich 
zieht  es  stets  mit  unwiderstehlicher  Gewalt  zu  diesem 
Buch  zurück,  das  ich  doch  schon  so  unzählige  Male 
gelesen  habe,  daß  ich  es  fast  ganz  auswendig  weiß.  Es 
ist  ein  Werk,  das  alle  Töne  der  Poesie  in  sich  ver- 
einigt, von  den  Lobgesängen  der  Erzengel  an  bis  zum 
Hohngelächter  der  Hölle  —  von  den  Kraftgedanken 
eines  titanisch  ringenden  Mannesgeistes  bis  zum  na- 

•  Sekondeleutnant  im  1.  Garderegiment  z.  Fuß,  kommandiert  zur  Kriegsakademie. 
•*  Premierleutnant. 

31 


iven  Geplauder  eines  unschuldigen  Mädchenherzens. 
Das  Größte,  was  unsere  deutsche  Literatur  je  geschaf- 
fen hat. 

Generalstab  Berlin,  13. Oktober  1877. 

Es  mag  für  heute  genug  sein  mit  dem  Arbeiten, 
meine  Gedanken,  die  ich  lange  genug  auf  Bücher  und 
Papier  gefesselt  habe,  wollen  nun  auch  ihren  Willen 
haben  und  drängen  mit  Gewalt  fort  von  hier  und 
ziehen  gegen  Norden,  weit  in  die  Ferne.  Könnte  ich 
mit  ihnen  wandern!  Es  ist  jetzt  schon  spät  in  der 
Nacht.  Ich  habe  mich  so  in  meine  Arbeiten  vertieft 
gehabt,  daß  ich  es  nicht  bemerkt  habe,  wie  die  Stun- 
den verliefen  und  der  Zeiger  der  Uhr  allmählich  wei- 
ter und  weiter  rückte.  Rings  um  mich  her  herrscht  das 
Schweigen  der  Nacht.  Der  Schlaf  ist  herabgestiegen 
auf  die  Stadt;  mit  leisem  Flügelschlag  ist  er  gekom- 
men und  hat  das  Geräusch  des  Tages  ausgelöscht. 
Er,  der  Freund  der  Armen  und  Elenden,  verschönt 
nun  wohl  schon  manches  Antlitz,  das  vor  wenigen 
Stunden  noch  Not  und  Sorge  furchten,  durch  ein  stil- 
les, friedliches  Lächeln,  und  bringt  dem  Geplagten 
liebliche  Träume,  in  denen  er  die  Mühen  des  Tages 
vergessen  kann.  —  Nichts  regt  sich  in  den  stillen 
Zimmern,  die  an  das  meinige  stoßen,  nur  meine  Uhr 
tickt  ihr  geschäftiges  Einerlei  und  meine  Lampe  wirft 
ihren  stillen  gelben  Schein  auf  dieses  Blatt  Papier, 
auf  das  ich  die  schwarzen  Buchstaben  male.  Es  ist 
so  recht  die  Zeit,  wie  ich  sie  zum  Arbeiten  liebe. 
Wenn  die  Wagen  nicht  mehr  durch  die  Straßen  ras- 
seln und  kein  lautes  Geräusch  die  Aufmerksamkeit 
mehr  abzieht,  dann  erwachen  die  Geisteskräfte,  dann 
kann  man  alles  so  leicht  und  rasch  begreifen  und 
auffassen,  daß  es  eine  wahre  Lust  ist,  dann  fühle  ich 
so  recht,  was  es  heißt,  mit  Lust  arbeiten  und  gegen 

32 


die  Bücher  zu  Felde  ziehen  wie  gegen  einen  Feind, 
derniedergekämpftwerdenmuß,  damit  man  die  Freude 
des  Siegesbewußtseins  empfinden  kann.  —  Und  ich 
bin  ja  auch  nicht  alleine  in  diesen  der  Arbeit  gewid- 
meten Stunden.  Geistig  und  bildlich  bist  Du  bei  mir, 
mein  treuer  Kamerad,  Du  arbeitest  mit  mir  und  hältst 
mit  mir  aus,  bis  ich  die  Bücher  zurückschiebe  und 
sage  Stop  für  heute.  —  Ich  fühle  von  Tag  zu  Tag 
immer  mehr,  daß  ich  Kraft  habe,  es  zu  etwas  zu  brin- 
gen, und  der  Gedanke  an  Dich  ist  mir  der  immer  spru- 
delnde Quell,  aus  dem  ich  mir  Stärke  schöpfe,  vor- 
wärts zu  gehen,  vorwärts,  vorwärts,  wie  ich  es  Dir 
und  meinem  Namen  schuldig  bin. 

Generalstab  Berlin,  i. November  1877. 

Ich  habe  mir  oft  gedacht,  daß  die  Gedanken  des 
menschlichen  Geistes  ihm  ein  Vorbild  sind,  wie 
er  später  werden  wird.  So  denke  ich  mir  die  Seele 
nach  dem  Tode.  Der  Körper  ist  dann  abgestreift  und 
wird  zu  Staub  und  Asche,  wie  es  seine  Bestimmung 
ist,  er  kehrt  zurück  zu  der  Erde,  aus  der  er  geformt 
ist  und  zu  der  er  gehört,  aber  das  Bewußtsein  bleibt 
lebendig,  und  wie  wir  jetzt  uns  in  Gedanken  von  ei- 
nem Ort  zum  andern  versetzen  können  im  Augen- 
blick, so  können  wir  dann  wirklich  durch  die  unend- 
lichen Räume  der  Schöpfungen  wandern ;  wie  wir  uns 
jetzt  in  Gedanken  der  Zeit  vorausbringen  können 
oder  in  ihr  zurückkehren  bis  in  die  Tage  unserer  früh- 
sten Kindheit,  ja  sogar  bis  in  die  nebelhaften  Fernen 
der  ältesten  bekannten  Geschichte,  so  können  wir  uns 
dann  in  Wirklichkeit  vor-  und  zurückversetzen,  die 
Zeit  hat  dann  aufgehört,  uns  mit  sich  fortzuführen 
ohne  unsern  Willen,  wir  stehen  dann  über  der  Zeit, 
das  heißt,  sie  existiert  nicht  mehr  und  das  ist  die 
Ewigkeit.  —  Ich  finde  die  Vorstellung  schön,  so  von 

Moltke.         3.  33 


Welt  zu  Welt  wandern  zu  können  durch  die  unend- 
lichen Säulen  des  Himmels,  das  zu  sehen,  was  wir 
jetzt  nur  ahnen  können,  und  die  Seligkeit  zu  genießen 
darin,  wie  es  verheißen  ist:  im  Anschauen  der  Herr- 
lichkeit Gottes,  die  sich  so  offenbart,  wie  wir  sie  be- 
greifen können,  nämlich  in  den  allgewaltigen  Wer- 
ken des  allmächtigen  Schöpfers.  Dieser  Gedanke  ge- 
fällt mir  besser  als  die  starre  Ruhe  des  Todes,  von 
der  es  heißt,  daß  der  Mensch  schläft,  bis  ihn  die  Po- 
saune des  Weltgerichts  aus  seinem  Schlummer  auf- 
schreckt. Wir  schlafen  hier  auf  Erden  schon  so  viel, 
sollen  wir  denn  nach  dem  Tode  erst  recht  anfangen! 
—  Glaube  aber  nicht,  daß  ich  der  Ansicht  der  Spiri- 
tisten bin.  Nach  meiner  Meinung  haben  wir  mit  dem 
Tode  mit  dieser  Erde  abgeschlossen  und  kommen 
nicht  dahin  zurück.  Ich  denke,  Du  wirst  mich  ver- 
stehen und  mich  nicht  für  einen  mystischen  Schwär- 
mer halten. 

Generalstab  Berlin,  7.  November  1877. 

Du  mußt  nicht  an  diese  dummen  Kriegsgerüchte 
glauben.  Frankreich  hat  noch  zu  sehr  an  seinen  Wun- 
den zu  heilen,  um  Lust  zu  haben,  sich  neue  zu  holen. 
Aber  wenn  wir  marschieren  müssen,  dann  wirst  auch 
Du  die  Zähne  aufeinander  beißen  und  wirst  mich 
gehen  lassen,  meine  Pflicht  zu  tun  wie  alle  andern. 
Mein  Blut  und  Leib  gehört  dem  König  und  dem  Va- 
terland, mein  Herz  aber  ist  mein  Eigentum. 

Generalstab  Berli  n,  7.  November  1877,  abends. 

Fürchtest  Du  Dich  davor,  daß  es  wieder  Krieg  wer- 
den wird?  Wenn  das  der  Fall  ist,  so  sage  ich  Dir, 
glaube  nichts  von  dem,  was  die  andern  sprechen,, 
denn  ich  kann  Dir  versichern,  daß  es  kein  Krieg  wer- 
den wird.  Ein  Krieg  fällt  nicht  so  ohne  weiteres  vom 

34 


Himmel,  sondern  kündigt  sich  vorher  an  wie  ein  Ge- 
witter, das  sich  an  dem  politischen  Horizont  zusam- 
menzieht, und  selbst  wenn  man  glaubt,  jetzt  muß  es 
ausbrechen,  bleibt  es  noch  oft  bei  einem  ungefähr- 
lichen Wetterleuchten.  Hier  bei  uns  weiß  kein  Mensch 
etwas  von  Krieg,  sondern  es  ist  alles  so  friedlich,  wie 
es  nur  je  gewesen  ist. 

Akademie  Berlin,  n. November  1877. 

Weißt  Du,  woher  Du  diesen  Brief  bekommst?  Du 
kannst  es  Dir  gewiß  nicht  denken.  Höre  nur,  wie 
pflichtvergessen  ich  heute  bin.  Hier  sitze  ich  in  der 
Akademie  an  meinem  grün  angestrichenen  Holztisch, 
rund  um  mich  herum  sitzen  alle  die  Offiziere  und  hö- 
ren mit  den  aufmerksamsten  Gesichtern  dem  Vortrag 
des  Majors  von  A.  zu,  der  uns  erzählt,  wie  der  alte 
Friedrich,  der  große  König,  im  Siebenjährigen  Kriege 
seine  Schlachten  schlug.  Wie  er  mit  seiner  kleinen 
Armee  bald  hier-,  bald  dorthin  zog,  hier  die  Österrei- 
cher, dort  die  Franzosen  schlug  und  durch  alle  Ge- 
fahren hindurch  das  arme  kleine  Preußen  groß  und 
mächtig  machte,  trotz  der  Unzahl  der  ihn  umdrängen- 
den Feinde,  ohne  andere  Hilfsmittel  als  die,  welche 
sein  genialer  Geist  stets  von  neuem  aus  sich  selbst 
heraus  erschuf.  Da  sollte  ich  nun  zwar  eigentlich 
meine  Augen  auf  die  vor  mir  ausgebreiteten  Karten 
richten  und  im  Geist  den  Scharen  des  großen  Königs 
folgen  über  Dresden  bis  nach  den  böhmischen  Gefil- 
den hinein!  —  Im  Vertrauen  will  ich  Dir  sagen,  daß  ich 
mich  dann  heute  abend  zu  Hause  hinsetze  und  alles 
nacharbeite,  so  daß  mir  doch  nichts  verloren  geht. 

Generalstab  Berlin,  i3.November  1877. 

Und  nun  will  ich  Dir  noch  eins  sagen:  An  und  für 
sich  gut  ist  kein  Mensch,  denn  sonst  wären  wir  eben 

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keine  Menschen.  Es  hatjeder  seine  Fehler  undSchwä- 
chen.  Es  kommt  nur  darauf  an,  daß  man  seine  Fehler 
erkennt  und  sie  zu  verbessern  sucht.  —  Dieses  Stre- 
ben muß  in  jedem  Menschen  vorhanden  sein,  wenn 
er  nicht  immer  tiefer  in  sich  versinken  will.  Mit  gutem 
Willen  aber  läßt  sich  viel  ausrichten.  Wir  wollen  beide 
sehen,  daß  wir  uns  gegenseitig  besser  machen  und 
einer  dem  andern  darin  helfen. 

Weißt  Du  noch,  wie  wir  einmal  über  die  Hiero- 
glyphen in  den  ägyptischen  Grabmälern  sprachen? 
An  sie  muß  ich  denken,  wenn  ich  vor  Deinen  Zeich- 
nungen sitze,  und  mir  zuerst  klar  zu  machen  suche, 
ob  es  ein  Mensch  oder  eine  Landschaft  ist,  die  ich 
vor  mir  habe!  —  Wie  oft  verweile  ich  in  Gedanken 
bei  den  schönen  Stunden,  wo  wir  zusammensaßen, 
uns  zusammen  freuten  und  Unsinn  machten  wie  Kin- 
der, und  dann  wieder,  wie  Du  mir  so  aufmerksam  zu- 
hörtest, wenn  ich  Dir  die  Abhandlung  über  den  Chor 
in  der  griechischen  Tragödie  vorlas.  Es  war  so  schön, 
bei  Dir  Interessen  zu  finden,  die  auf  alles  eingingen. 

Generalstab  Berlin,  27.  November  1877. 

Wie  ich  zufällig  aufsehe  und  mein  Blick  auf  die 
Bücher  fällt,  die  vor  mir  auf  dem  Tisch  liegen,  da 
sitzt  da  jemand  oben  auf  einem  dicken  Buch,  sagt 
gar  nichts  und  hält  mir  ein  Blatt  Papier  hin,  darauf 
steht:  »Weihnacht«.  —  Ich  nicke  ihm  zu  und  sag': 
»Schongut!  Dichkenne  ich  auch  schon  lange  und  weiß, 
daß  du  da  in  meinen  Büchern  wohnst,  so  daß,  wenn 
ich  sie  aufschlage,  du  mir  daraus  entgegentrittst  und 
dich  Tag  und  Nacht  auf  meinem  Schreibtisch  herum- 
treibst. Schon  gut,  mein  kleiner  Freund,  wir  müssen 
warten,  die  Zeit  wird  kommen.  Dann  aber,  wenn  sie 
da  ist,  sollst  du  mit  nach  Schweden  und  deinen  Ka- 
meraden besuchen.  Wie  werdet  ihr  beide  froh  sein!« 

36 


Generalstab  Berlin,  28.  November  1877. 

Du  fragst  mich  in  Deinem  letzten  Brief,  ob  ich  die 
Unterhaltung  der  großen  Welt  nicht  furchtbar  finde. 
Ich  kann  das  nicht  sagen.  Man  kann  nicht  mit  allen 
Menschen  über  alles  sprechen,  und  ehe  man  einen 
findet,  der  sich  für  etwas  anderes  interessiert,  als  das 
was  ihn  direkt  berührt,  muß  man  lange  suchen.  Du 
hast  ganz  recht,  wenn  Du  meinst,  wirklich  gescheite 
Menschen  gäbe  es  so  wenige.  Das  ist  ja  aber  ein 
wahres  Glück,  daß  man  dann  diese  Unterhaltung  er- 
funden hat,  die  Du  so  schrecklich  findest.  Was  sollte 
man  anfangen  in  einer  Gesellschaft  und  mit  einem 
Menschen,  der  auf  etwas,  was  er  nicht  alle  Tage  zu 
hören  bekommt,  nur  Ja  oder  Nein  zu  sagen  weiß, 
und  selbst  das  nicht  immer,  wenn  man  nicht  diese 
Unterhaltung  hätte,  die  man  anziehen  kann  wie  ein 
Paar  ausgetretene  Pantoffeln  und  in  denen  alle  Welt 
einherzuschlürfen  versteht.  Worüber  sollte  man  mit 
einem  solchen  Menschen  sprechen?  —  Wenn  mir  der 
Mensch  höchst  gleichgültig  ist,  wähle  ich  mir  auch 
gerne  einen  höchst  gleichgültigen  Unterhaltungsstoff, 
gleich  und  gleich  gesellt  sich  gern.  So  spricht  man 
eine  halbe  Stunde  Worte,  und  nachher  meint  jeder, 
er  habe  sich  vortrefflich  unterhalten.  Alles  ist  glück- 
lich und  zufrieden  und  jeder  denkt  von  sich:  Du  bist 
doch  viel  bedeutender  als  der  andere!  —  Und  weil 
das  jeder  denkt,  ist  auch  jeder  liebenswürdig,  denn 
der  Mensch  ist  niemals  liebenswürdiger,  als  wenn  er 
sich  über  sich  selber  freut.  —  Daß  man  irgend  etwas 
davon  hätte,  von  dieser  Art  Unterhaltung,  will  ich 
nun  allerdings  nicht  behaupten,  aber  sie  ist  eben  der 
große  Weg,  auf  dem  sich  alle  zusammen-  und  zu- 
rechtfinden, und  der  so  breitgetreten  ist,  daß  keiner 
ihn  verfehlen  kann.  Diese  Unterhaltung  ist  konven- 

37 


tionell  festgesetzt  wie  alle  Regeln  des  Anstandes  und 
der  guten  Sitte,  die  doch  wirklich  bisweilen  töricht 
und  wunderbar  genug  sind,  und  doch,  wenn  man  sie 
nicht  befolgen  wollte,  würden  wir  mit  der  Zeit  wieder 
dahin  kommen,  Eicheln  zu  essen  wie  unsere  Vor- 
fahren und  uns  mit  Knitteln  zu  erschlagen. 

Generalstab  Berlin,  8.Dezember  1877. 

Wie  ich  heute  morgen  aufstand,  lag  der  weiße  Reif 
auf  den  Bäumen  und  den  Rasenplätzen  vor  dem  Hause. 
Die  ersten  leichten  Truppen,  welche  der  Winter  vor- 
ausschickt, um  zu  rekognoszieren,  ob  er  mit  der  Haupt- 
macht nachrücken  könne  oder  ob  hier  und  da  noch 
eine  unvorsichtige  Blume,  die  der  abziehende  Herbst 
zurückgelassen,  naseweis  sich  über  der  Erde  aufhalte. 
Diese  letzten  Spätlinge  vertreibt  der  Reif;  was  noch 
an  grünem  Pflanzenleben  da  war,  ist  vernichtet  und 
die  Bahn  ist  freigemacht  für  den  König  Winter.  Er 
kann  kommen  mit  Schnee  und  Nebel,  und  dann  mit 
Frost  und  klarem  Sonnenschein,  doch  ohne  Wärme, 
gleichsam  ein  Spiegelbild  der  heißen  Sommersonne; 
dieselbe  Sonne,  dieselben  Strahlen,  aber  ohne  daß 
sie  Leben  wecken,  ohne  daß  sie  die  starre  Erde  er- 
wärmen, ohne  daß  sie  aus  allen  Furchen  den  feuch- 
ten Dampf  des  knospenden  Frühjahrs  steigen  macht. 
Und  dieser  Unterschied  bloß  deshalb,  weil  die  Son- 
nenstrahlen etwas  schräger  auf  die  Erde  fallen  als  im 
Sommer,  obgleich  die  Erde  im  Winter  der  Sonne 
näher  ist  als  im  Sommer!  —  Ich  will  Dir  aber  keine 
physikalischen  Vorlesungen  halten,  sondern  Dir  nur 
erzählen,  wie  schwach  diese  ersten  winterlichen  An- 
griffe sind,  denn  heute  mittag  schon  tropft  es  wieder 
von  allen  Dächern  und  der  naßfeuchte  Dunst,  in  den 
wir  seit  einem  Monat  eingehüllt  sind,  liegt  wieder  auf 
der  Stadt  wie  ein  Witwenschleier.  —  Es  geht  mir  ge- 

38 


radeso  wie  Dir,  ich  mag  dies  Wetter  auch  nicht  lei- 
den und  liebe  nichts  mehr,  als  einen  tüchtigen,  reel- 
len Frost,  wo  alle  Sinne  in  der  Kälte  sich  schärfen. 
Jetzt  sieht  auch  hier  alles  trübe  und  schläfrig  aus,  die 
Menschen  haben  langweilige  Gesichter  und  ein  un- 
gesundes Aussehen! 

Generalstab  Berlin,  g.  Januar  1878. 

Setze  einen  Menschen  nach  seiner  Geburt  auf  eine 
wüste  Insel  und  laß  ihn  dort  aufwachsen,  ohne  mit 
anderen  Menschen  in  Berührung  zu  kommen.  Was 
meinst  Du,  daß  aus  ihm  werden  würde?  Ein  vernünf- 
tiges Tier,  weiter  nichts,  ein  Geschöpf,  das  keine  an- 
deren Interessen  kennt  als  seinen  Bauch,  Essen  und 
Schlafen.  Was  denkst  Du,  würde  dieser  Unglückliche 
sagen,  wenn  er  auf  einmal  in  die  Welt  käme  und  an- 
finge zu  begreifen,  daß  es  außer  den  Dingen,  die  ihn 
bisher  beschäftigten,  noch  andere  Interessen  gibt?  Er 
würde  nichts  verstehen  und  sich  furchtbar  dumm  vor- 
kommen. Nun  ist  aber  gar  nicht  ausgeschlossen,  daß 
dieser  Mensch  die  besten  Anlagen  von  der  Welt  hat, 
und  wenn  er  sie  hat,  werden  sie  sich  entwickeln,  so- 
bald sich  Gelegenheit  bietet,  und  er  wird  in  kurzer 
Zeit  ebenso  klug  sein  wie  die  andern.  —  Je  bessere 
Anlagen  er  aber  hat,  um  so  mehr  wird  er  das  Drük- 
kende  seiner  Unwissenheit  fühlen,  denn  wenn  er  das 
nicht  fühlte,  würde  er  nicht  das  Bedürfnis  haben,  sich 
auszubilden,  und  würde  Zeit  seines  Lebens  dumm 
und  einfältig  bleiben. 

Generalstab  Berlin,  12.  Januar  1878. 

Um  mich  von  gestern  zu  erholen,  ging  ich  heute 
nach  der  Akademie  in  die  Gemäldegalerie,  wo  einige 
neue,  sehr  schöne  Gemälde  aufgestellt  sind.  Ich  habe 
mich  da  lange  umhergetrieben  und  habe  es  versucht, 

39 


dem  Geist  auf  die  Spur  zu  kommen,  mit  dem  der  eine 
odei  der  andere  Künstler  seine  Figuren  geschaffen 
hat.  Man  kann  sich  bei  einigen  Bildern  so  viel,  bei 
anderen  so  wenig  denken,  alle  aber  sehen  einen  stumm 
und  bedeutsam  an,  als  wollten  sie  sagen:  Willst  du 
mich  verstehen,  so  denke  über  mich  nach.  Vergiß 
dich  und  die  Zeit  und  Welt,  in  der  du  lebst,  und  ver- 
setze dich  in  meine  Welt  und  in  meine  Zeit.  —  Dann 
werden  die  Figuren  lebendig  und  die  Geschichten 
der  Vergangenheit,  die  sie  darstellen,  werden  leben- 
dig und  steigen  auf  aus  der  alten  grauen  Zeit  mit 
ihren  Freuden  und  Schmerzen,  ihren  guten  und  bö- 
sen Taten. 

Generalstab  Berlin,  24.  Januar  1878. 

Wenn  Dir  ein  Mensch  gegenübertritt  mit  kleinlichen 
Gedanken,  ein  Mensch,  der  im  Staube  kriecht  und 
der  sich  wohlfühlt  im  Schmutz,  dann  laß  den  ganzen 
Stolz  deiner  Seele  aufbrausen  wie  einen  Orkan,  wende 
Dich  ab  voll  Verachtung  von  allem,  was  klein  und 
gemein  ist,  und  halte  fest  an  dem  Idealen,  an  dem 
Wahren  und  Schönen,  dann  sei  stolz,  stolz  in  Dei- 
nem Glauben  an  Wahrheit  und  Recht,  stolz  gegen 
kleinliche  Menschen,  stolz  gegen  Lüge  und  Verleum- 
dung. Wende  Deinen  Blick  immer  nach  oben,  nie- 
mals nach  unten,  öffne  Dein  Herz  weit,  wo  Wahr- 
heit und  Schönheit  ihm  entgegentritt,  aber  schließe 
es  fest  ab  gegen  alles,  was  unrecht  ist. 

Generalstab  Berlin,  28.  Januar  1878. 

Welch  ein  Glück,  daß  gelegentlich  des  Turmbaues 
zu  Babel  die  Musik  sich  aus  der  Sprachverwirrung 
gerettet  hat  und  Gemeingut  aller  Nationen  geblieben 
ist!  Denke  Dir,  wenn  jedes  Volk  wie  seine  eigene 

40 


Sprache  so  auch  seine  eigene  Musik  hätte,  die  der 
Fremde  nicht  verstehen  könnte  oder  erst  mühsam 
erlernen;  glücklicherweise  steht  die  Musik  über  den 
Völkern,  daß  alle  sich  in  ihrem  gemeinsamen  Genuß 
vereinigen  und  sie  verstehen  und  sich  an  ihr  erfreuen 
können. 

Generalstab  Berlin,  io.Februar  1878. 

Heute  war  ich  in  der  Kirche,  es  ist  ein  sehr  guter 
Kanzelredner,  nur  hat  er  den  Fehler,  daß  er  nicht 
lassen  kann,  die  Politik  in  seine  Rede  hineinzubrin- 
gen. Nach  meinem  Gefühl  muß  die  Predigt  frei  blei- 
ben von  allem,  was  nicht  in  direkter  Beziehung  zu 
unserem  Glauben  steht.  Eine  Ecclesia  militans,  das 
heißt  eine  zum  Streit  gerüstete  Kirche,  ist  nicht  nach 
meinem  Sinn.  Unsere  Religion  ist  die  der  Liebe  und 
der  Duldsamkeit,  der  Humanität  und  Vergebung, 
darin  liegt  nach  meiner  Auffassung  die  hohe  Schön- 
heit derselben.  Der  Gott  meines  Herzens  ist  kein  Gott 
der  Rache,  sondern  ein  Gott,  der  den  Sünder  auf- 
nimmt, der  sich  mit  bußfertigem  Herzen  ihm  zuwen- 
det, der  Gott,  der  auf  das  Herz  sieht,  und  nicht  auf 
das  Bekenntnis,  ein  Gott,  der  gleich  nahe  allen  Men- 
schen steht  und  der  sich  finden  läßt  von  jedem,  der 
ihn  sucht.  —  Wir  leben  aber  in  einer  Zeit,  wo  es  von 
unten  auf  gärt  und  sich  rührt  an  aller  Welt  Ecken. 
Hier  in  Berlin,  in  der  großen  Stadt,  wo  mit  vielen 
Menschen  viel  Not  und  Elend  zusammengekommen 
ist,  fangen  die  Geister  mehr  und  mehr  an  sich  zu  er- 
hitzen. Das  dringt  selbst  bis  auf  die  Kanzeln  und  tönt 
wider  aus  dem  Munde  der  Prediger,  das  dringt  ein  in 
die  Religion  und  will  sie  ersticken.  Die  aufklärenden 
Lehren  der  Wissenschaft  üben  ihren  ganzen  gefähr- 
lichen Einfluß  auf  die  Massen,  welche  diese  Lehren 
hören,  ohne  sie  verdauen  zu  können,  und  die  ein- 

4i 


zelne  herausgerissene  Sätze  derselben  auf  die  Fah- 
nen ihrer  sozialistischen  Bestrebungen  schreiben.  — 
Es  werden  schlimme  Zeiten  kommen,  wenn  noch 
nicht  bald,  so  werden  sie  kommen,  wir  beide  werden 
noch  mitten  drin  stehen  in  dem  Sturm.  —  Mein  ar- 
mes Vaterland,  du  schönes,  stolzes  Reich,  dessen 
mächtiger  Adler  seine  Schwingen  breitet  über  alle 
Meere,  was  werden  sie  aus  dir  machen!  Solange  die 
Armee  nur  aushält,  ist  alles  gut,  da  steckt  ein  guter 
und  gesunder  Stamm  darin,  und  die  militärische  Ehre 
ist  stark  in  ihr,  aber  die  Armee  formiert  sich  aus  dem 
Volk,  und  wenn  die  Balken  morsch  werden,  stürzt 
das  Haus  ein.  —  Diese  unsinnigen  Menschen,  sie  wis- 
sen nicht,  was  sie  tun,  sie  legen  die  Fackel  an  das 
Pulverfaß,  ohne  zu  denken,  daß  sie  sich  selber  mit  in 
die  Luft  sprengen;  sie  glauben,  die  Bewegung  leiten 
zu  können  und  bedenken  nicht,  daß  der  rasende  Strom 
des  entfesselten  Pöbels  sie  hinwegschwemmen  wird 
wie  Strohhalme,  wenn  der  Damm  gebrochen  ist,  den 
sie  langsam  unterwühlen.  Sie  nennen  sich  Volksbe- 
glücker und  haben  nicht  acht  auf  das  namenlose 
Elend,  das  sie  über  dasselbe  Volk  bringen  werden,  das 
sie  beglücken  wollen;  wenn  sie  sich  doch  ein  Bei- 
spiel nehmen  wollten  an  den  Girondisten  der  franzö- 
sischen Revolution,  edle  Männer  mit  den  besten  Ab- 
sichten, die  die  Früchte  ihrer  Volksbeglückung  auf 
dem  Schafott  der  Guillotine  fanden. 

Jetzt  bin  ich  wohl  zu  weit  gekommen  und  Du  schüt- 
telst den  Kopf  über  diesen  politischen  Brief.  Magst 
Du  ihn  immerhin  lesen,  warum  solltest  Du  nicht  Teil 
haben  an  dem,  was  uns  alle  so  nahe  angeht.  —  Mache 
Dir  übrigens  keine  Sorge,  noch  ist  alles  nur  im  An- 
fang, aber  ich  sehe  es  kommen,  wie  es  werden  wird. 
—  Wärst  Du  hier,  könnten  wir  besser  miteinander 
sprechen  und  Du  würdest  ebenso  gut  Deine  politische 

42 


Meinung  haben  wie  ich,  denn  auch  darin  sollst  Du 
mit  gleichem  Verständnis  an  meiner  Seite  stehen. 
Adieu,  mein  Kamerad.  Wir  stehen  fest  auf  unserem 
Posten. 

Generalstab  Berlin,  io.Februar  1878. 

—  Ein  Knoten  und  ein  Stück  Vaterlandsfarbe,  das 
habe  ich  nun  von  Deinen  Arbeiten.  Soll  ich  Dir  auch 
einmal  von  den  meinen  schicken?  Was  wird's  wer- 
den? Einige  Gedanken  über  Taktik  und  Fortifikation 
oder  ein  Stück  Kriegsgeschichte,  daraus  man  ersehen 
kann,  daß  die  Menschen  sich  bekriegt  haben,  solange 
die  Welt  steht,  daß  sie  ihr  Blut  vergossen  um  Phan- 
tome, die  in  ihrer  Hand  zergingen  wie  Seifenblasen. 
—  Schwarz-weiße  Kriegsgeschichte  könnte  ich  Dir 
auch  schicken,  so  hat  jeder  seine  zweifarbige  Arbeit! 

Generalstab  Berlin,  io.Februar  1878. 

Wir  fangen  nachgerade  an,  die  Politik  etwas  auf- 
merksam zu  betrachten.  Was  mag  sich  da  noch  aus- 
bauen, wenn  erst  der  große  Topf  der  Konferenz  kocht, 
vorausgesetzt,  daß  er  überhaupt  soweit  kommt  und 
nicht  vorher  noch  die  Engländer  unter  der  unglaub- 
lichen Leitung  ihres  israelitischen  Premier  sich  eine 
Lektion  für  die  allzu  humanen  Finger  holen.  Ich 
gönnte  es  ihnen  von  Herzen,  diesem  Volk  mit  der 
hochmütigen  Anmaßung  gegen  außen,  den  abgeleier- 
ten Phrasen  der  Humanität  auf  der  Zunge,  und  im 
Herzen  nichts  als  Gewinnsucht,  Baumwolle  und  Han- 
delspolitik. 

Generalstab  Berlin,  22.Februar  1878. 

Die  Blumen  haben  ja  auch  eine  Sprache,  wenn  auch 
nicht  in  Worten,  so  sprechen  sie  doch  zum  Herzen, 
es  kommt  nur  darauf  an,  daß  das  Herz  sie  versteht, 

43 


daß  es  empfänglich  ist  für  die  Sprache  der  feinen 
Blätter,  die  so  graziös  auf  dem  Stile  sitzen,  die  mit 
ihren  lichten  Farben  das  Auge  erfreuen,  die  ihren 
Duft  von  Schweden  herübertragen  und  Grüße  brin- 
gen! 

Generalstab  Berlin,  28. Februar  1878. 

Es  ist  still  um  mich  her,  fast  könnte  man  glauben, 
daß  man  die  Atemzüge  des  vergehenden  Monatshören 
könnte.  Er  geht  dahin  in  die  endlose  Vergangenheit 
zu  der  unendlichen  Zahl  seiner  Brüder,  ein  vorüber- 
geschwundener Sekundenschlag  an  der  großen  Uhr 
der  Zeit  und  doch  wie  unendlich  viel  hat  sich  in  ihm 
zusammengedrängt.  —  Was  wird  sein  Nachfolger 
bringen?  Die  Wogen  der  politischen  Strömung  schla- 
gen hoch.  Was  wird  daraus  werden? 

Generalstab  Berlin,  22. März  1878. 
An  Sr.  Majestät  des  Kaisers  Geburtstag! 
Möge  der  gute  Gott  ihn  uns  noch  lange  erhalten, 
möge  er  tausend  und  aber  tausend  Wünsche  für  das 
Heil  unseres  geliebten  Kaisers  erhören,  die  an  dem 
heutigen  Tage  aus  allen  Gauen  des  deutschen  Rei- 
ches zu  ihm  aufsteigen,  dieses  Reiches,  das  er  groß 
und  mächtig  gemacht  hat,  dieses  Reiches,  dessen 
Traum,  den  es  geträumt  hat  seit  hunderten  von 
Jahren,  er  zur  Erfüllung  gebracht  hat,  den  Kindheits- 
traum des  jungen  Deutschland,  an  dem  es  gehalten 
hat  bis  in  sein  Mannesalter  hinauf,  den  seine  Dichter 
gesungen  haben  in  zahllosen  Liedern  und  den  es  im 
Herzen  getragen  hat,  trotzdem  es  zerrissen  und  zer- 
fallen war,  wie  seinen  köstlichsten  Schatz,  dieses  Ideal 
des  deutschen  Volkes,  das  sein  Leitstern  gewesen  ist 
in  der  Nacht  der  Knechtschaft  und  Unterdrückung; 
das  Völkermorgenrot,  das  uns  gestrahlt  hat  in  den 

44 


Befreiungskriegen,  jetzt  ist  die  Sonne  aufgegangen 
und  leuchtet  weithin  über  alles  deutsche  Land,  so 
weit  die  deutsche  Zunge  klingt,  die  deutsche  Einig- 
keit ist  erkämpft  und  unser  Kaiser  hat  sie  uns  errun- 
gen. Durch  Blut  und  Kampf  mit  unerhörten  Opfern 
ist  sie  erstritten,  die  besten  der  Landeskinder  sind  ge- 
blieben und  ihre  Leichen  ruhen  wie  Gedenksteine  in 
fremdem  Boden,  aber  ihr  Tod  ist  nicht  verloren,  aus 
der  blutigen  Saat  ist  die  goldene  Ernte  aufgesproßt. 
—  »Vergeßt  der  treuen  Toten  nicht!«  —  sie  starben 
einen  schönen  Tod,  wir  aber  rufen  aus  vollem  Her- 
zen: »es  lebe  unser  Kaiser!«  —  Auf  dem  Königsplatze 
unter  der  Siegessäule  ist  eine  Batterie  aufgefahren 
und  nun  folgt  in  rascher  Folge  Schuß  auf  Schuß!  — 
Wie  kenne  ich  sie,  diese  Stimmen,  die  so  mächtig 
zum  Herzen  sprechen,  diese  schweren  Hammer- 
schläge in  der  Schlachtenmusik,  wie  oft  hat  ihr  Klang 
mich  umdröhnt,  während  wir  dastanden  auf  blutigem 
Felde,  während  der  Tod  seine  Ernte  hielt  und  wenn 
das  menschlich  schwache  Herz  erzittern  wollte,  wenn 
es  heiß  wurde  und  die  Zahl  der  Kampfgenossen  ge- 
ringer und  geringer,  dann  rollte  der  frische  Klang 
herüber  und  rief  mit  mächtiger  Stimme:  Noch  fliegt 
der  Preußen  Adler  hoch,  steht  fest,  Kameraden,  der 
Sieg  ist  unser!  —  Dein  Herz  wird  auch  deutsch  füh- 
len mit  dem  Manne,  dem  Du  so  lieb  bist,  Dein  star- 
kes mutiges  Herz  versteht  es,  was  es  heißt:  sein  Va- 
terland und  seinen  König  lieben,  und  da  Du  es  mir 
geschenkt  hast,  dies  Herz,  wird  es  auch  mit  mir  ju- 
beln und  Gott  danken,  daß  er  uns  diese  Heiligtümer 
gegeben  hat  in  einer  Zeit,  wo  Materialismus  und 
Nichtachtung  sich  ausbreiten.  —  Wie  sie  auseinander- 
laufen, die  vielen  Menschen,  die  um  die  Geschütze 
standen,  in  den  Straßen  zerschlägt  sich  die  Menge, 
Männer  und  Weiber  und  Kinder,  ja  geht  nur  hin, 

45 


wenn  auch  mancher  unter  euch  ist,  der  sich  aufleh- 
nen möchte  gegen  den  Kriegerstand,  der  so  eisern 
auf  dem  Volke  liegt,  ihr  seid  doch  alle  Deutsche,  und 
wenn  das  Vaterland  und  der  Kaiser  ruft,  seid  ihr  doch 
alle  da  und  haltet  den  Schild  der  deutschen  Ehre 
hoch  und  rein  in  starker  deutscher  Hand,  daß  an 
seiner  ehernen  Festigkeit  zerschellen  müssen  alle 
Feinde,  die  die  Hand  nach  den  heiligen  deutschen 
Gütern  ausstrecken,  ihr  liebt  es  ja  doch  alle  so  sehr, 
euer  deutsches  Vaterland. 

Generalstab  Berlin,  i. April  1878. 

Heute  ist  also  der  Tag,  auf  den  ich  so  lange  gewar- 
tet habe  —  nun  mögen  auch  seine  Nachfolger  sich 
schleunigst  auf  die  Reise  machen  in  die  Regionen 
der  Vergangenheit,  aus  denen  nichts  wieder  zurück- 
kehrt, das  einzige,  was  Macht  hat,  diese  Toten  zu  be- 
suchen, ist  die  Erinnerung.  Erinnerung  und  Hoffnung, 
diese  beiden  Gottesgaben,  die  wir  Menschen  zur  Ver- 
schönerung unseres  Erdenlebens  mitbekommen  ha- 
ben, das  eine  der  Vergangenheit,  das  andere  der  Zu- 
kunft angehörig.  So  berühren  sie  sich  immer  mit  An- 
fang und  Ende,  ohne  jemals  die  Gebiete  wechseln  zu 
können.  —  Der  Raum  der  Hoffnung  wird  enger  und 
enger  mit  den  kommenden  Jahren,  mit  ihnen  das  Ge- 
biet der  Erinnerung  weiter  und  weiter,  und  mitten 
zwischen  beiden,  gerade  da,  wo  die  eine  anfängt,  die 
andere  aufhört,  steht  der  Mensch  mit  seinem  klopfen- 
den Herzen,  das  unter  dem  Einfluß  beider  lebt  und 
bebt.  Immer  hofft  es,  und  doch  wie  selten  hält  die 
Erinnerung  das,  was  die  Hoffnung  versprochen  hatte, 
und  doch  bleibt  diese  ewig  jung  und  ewig  neu,  bis 
mit  dem  letzten  Atemzuge  die  Hoffnung  aufhört  und 
die  Erinnerung  ihre  lange  Liste  abschließt.  —  So  geht 
es  ja  auch  mir.  Ich  habe  viel  von  beiden.  Die  Erinne- 

46 


rung  zeigt  mir  so  schöne  Stunden,  die  Hoffnung  malt 
mir  noch  schönere  vor,  und  je  näher  die  Stunde  rückt, 
wo  sie  sich  erfüllen  soll,  um  so  schneller  schlägt  das 
Herz  ihr  entgegen:  Komm  doch  bald,  wie  lange  ist  es 
noch  bis  dahin  —  und  dann  wieder:  Eile  nicht  so 
schnell  vorüber,  du  flüchtige  Zeit,  kann  man  dich 
denn  nirgends  fassen,  nirgends  halten?  —  Aber  die 
Vernunft  will  auch  mitsprechen,  wie  würde  es  aus- 
sehen in  der  Welt,  wenn  jeder  nach  Gelüste  und  Gut- 
dünken die  Zeit  stellen  könnte  wie  seine  Taschenuhr, 
wie  könnte  sich  bei  solchem  Charivari  eine  ruhige 
Weltgeschichte  abwickeln,  die  die  Menschen  auf- 
zeichnen, die  die  Kinder  in  den  Schulen  lernen  könn- 
ten. —  Es  ist  schon  besser  so,  wie  es  ist,  und  doch 
wie  gerne  würde  jeder  den  Uhrmacher  am  unend- 
lichen Zeitengetriebe  machen,  wenn  er  nur  nicht  ein 
so  ohnmächtiger  schwacher  Mensch  wäre.  Ein  Atom 
in  der  langen  Kette  des  Lebendigen,  ein  Sonnenstaub, 
der  hinweggeblasen  wird,  und  man  sieht  seine  Spur 
nicht  mehr,  ein  Nichts,  dessen  Bedeutungslosigkeit 
man  erst  daraus  erkennt,  daß  sein  Verschwinden  keine 
Lücke  zurückläßt.  —  Und  doch,  welch  eine  Welt  der 
Gefühle  steht  still,  wenn  ein  Menschenherz  aufhört 
zu  schlagen.  Welch  eine  Fülle  von  Gedanken  erlischt 
in  dem  Momente,  wo  das  lebendige  Blut  nicht  mehr 
durch  die  Adern  strömt,  Gedanken,  die  weit  ausgrei- 
fend die  Welt  umspannten,  die  eindrangen  in  alles, 
was  seit  Jahrtausenden  das  Menschengeschlecht  be- 
wegte, die  im  Gigantenfluge  der  Zeit  vorauseilten  und 
in  die  Ferne  schweifend  erwogen,  was  kommen  wird 
des  Guten  und  des  Bösen.  Wie  hat  es  gebebt  in  Leid 
und  Schmerz,  wie  hat  es  aufgejauchzt  zum  strahlen- 
den Himmel  über  das  Glück,  wenn  seine  Hand  es  be- 
rührte, wie  hat  es  gehofft  und  gewartet,  wie  hat  es 
geduldet  und  geblutet  und  wie  hat  es  geliebt  —  dies 

AT 


kleine  Menschenherz,  dies  Nichts,  das  verschwindet 
ohne  Weg  und  Spur,  welche  Welt  hat  es  in  sich  ge- 
borgen! Die  Tage  kommen  und  gehen,  in  der  Perlen- 
schnur der  Ewigkeit  reiht  sich  Stunde  an  Stunde  und 
wir  ziehen  mit  dem  Unbekannten  entgegen,  wie  der 
Schiffer  auf  dem  Meere,  der  den  Winden  folgt,  die 
ihn  treiben  und  nur  den  Kompaß  hat,  der  ihm  seine 
Richtung  weist.  —  Mein  Kompaß  zeigt  nach  Norden, 
er  ist  also  gut  imstande,  am  Steuerruder  meines  Le- 
bensschiffes sitzt  die  Hoffnung,  der  Wind  ist  günstig 
und  die  Segel  schwellen.  Glückliche  Fahrt!  —  Ich 
weiß  es  ja,  daß  ich  es  nicht  alleine  rufe.  Ich  bin  ja 
nicht  alleine  in  dieser  öden  Welt. 

Generalstab  Berlin,  3.  April  1878. 

Nun  habe  ich  von  allem,  was  Gesellschaft  heißt,  ge- 
nug, mache  einen  Strich  darunter  und  ziehe  das  Fa- 
zit. Was  kommt  dabei  heraus?  Nicht  viel  Profit,  den 
ich  gehabt  hätte.  Dieselben  Menschen  wie  immer, 
dieselben  Interessen,  dieselben  Gedankenkreise,  die 
ich  schon  im  vorigen  Winter  kennen  lernte  und  die 
mir  jetzt  wieder  entgegengetreten  sind.  Wie  sind  sie 
doch  kleinlich,  diese  Menschen,  die  nichts  im  Kopfe 
haben  als  ihre  liebe  Person,  denen  ihr  Ich  der  Gott 
ist,  dem  alles  geopfert  wird.  —  Ich  weiß  nicht,  ob  ich 
in  diesem  Jahre  schärfer  urteile  als  früher  oder  ob 
vielleicht  meine  Beobachtung  unbefangener  ist  wie 
im  vergangenen  Jahr,  aber  ich  habe  noch  nie  so  die 
Nichtigkeit  der  Gesellschaftsmenschen  bemerkt  wie 
diesen  Winter,  und  wenn  ich  aufrichtig  sein  soll,  ich 
selber  bin  mir  noch  niemals  so  töricht  vorgekom- 
men als  die  verflossenen  Monate,  wenn  ich  in  Gesell- 
schaften den  Liebenswürdigen  spielte,  ohne  mit  dem 
Herzen  dabei  zu  sein.  Ich  will  nichts  von  dieser  Ge- 
sellschaft, ich  finde  nichts  in  ihr,  das  wert  wäre,  sich 

48 


danach  zu  bücken,  wenn  man  es  zu  seinen  Füßen 
sieht,  sie  bietet  nichts,  an  dem  man  sich  erheben 
könnte,  sie  ist  nur  ein  Abklatsch  des  Alltagsmenschen 
mit  allen  seinen  Fehlern,  allen  seinen  kleinlichen  In- 
teressen, all  seinem  Egoismus,  seiner  Engherzigkeit, 
seiner  Frivolität.  —  Jetzt  ist  all  dies  untergegangen, 
alle  diese  Vergnügungen  und  Eitelkeiten  haben  ihren 
Wert  verloren,  ich  habe  den  wahren  Wert  des  Lebens 
gefunden.  —  Du  schriebst  mir  einmal:  Das  Leben  der 
großen  Welt  hat  keinen  bleibenden  Wert.  Wahrhaf- 
tig, Du  hast  Recht  gehabt,  ich  glaube,  daß  Du  sehr 
oft  Recht  hast,  nur  mußt  Du  es  mir  auch  immer 
sagen. 

Generalstab  Berlin,  13.  Mai  1878. 

Von  dem  Attentat  auf  den  Kaiser  hast  Du  wohl  ge- 
lesen. Unbeschreiblich  war  der  Enthusiasmus  der  vor 
dem  Palais  versammelten  unzähligen  Menschenmas- 
sen. Ich  ging  hin,  gleich  nachdem  die  Nachricht  ge- 
kommen war.  Kopf  an  Kopf  standen  die  Mengen, 
sangen  »Heil  dir  im  Siegerkranz«,  »Ich  bin  ein  Preuße« 
etc.,  am  ergreifendsten  war  es,  wie  die  ganze  Masse 
von  vielen  Tausenden  das  alte  schöne  Luthersche 
Lied  anstimmte:  »Nun  danket  alle  Gott«.  —  Der  Kai- 
ser trat  auf  den  Balkon  hinaus  und  die  Luft  erzitterte 
von  endlosem  jubelnden  Zuruf.  —  Die  Wut  auf  den 
Schweinehund  von  Kerl  war  kolossal,  ich  glaube,  das 
Volk  hätte  ihn  zerrissen,  wenn  ihn  nicht  die  Polizei 
geschützt  hätte.  Die  ganze  Nacht  hindurch  standen 
die  Menschen  vor  dem  Palais  und,  als  am  andern: 
Tag  der  Kaiser  wieder  wie  immer  ausfuhr,  standen 
die  Straßen  voll  jubelnden  Volks,  der  Wagen  mußte 
im  Schritt  fahren,  wenig  fehlte,  so  hätten  sie  ihm  die 
Pferde  ausgespannt,  um  den  geliebten  Kaiser  selber 
zu  ziehen,  den  alle  sehen,  dem  jeder  zurufen  wollte. 

Moltke.        4.  49 


Generalstab  Berlin,  25.  Mai  1878. 

Wenn  die  Leute  sich  in  Paris  den  Krieg  wahrsagen 
lassen,  so  finde  ich,  können  sie  einem  nur  leid  tun. 
Dann  kannst  Du  ganz  sicher  sein,  daß  keiner  kommt. 
Außerdem  traue  ich  mehr  auf  die  politische  Lage  als 
auf  das  Geschwätz,  das  aus  dem  Munde  eines  alten 
Weibes  kommt  und  mit  dem  ich  meine  Ohren  nicht 
beschmutzen  möchte.  Wie  kann  man  nur  so  . . .  sein! 

Generalstab  Berlin,  31. Mai  1878. 

Ich  denke  mir,  Ihr  seid  in  den  jetzigen  Tagen  ein- 
mal in  Versailles  gewesen  und  habt  Euch  dort  im 
Schloß  die  wundervollen  Gemälde  von  Horace  Ver- 
net  angesehen.  Wie  manches  Mal  bin  ich  durch  diese 
Säle  gewandert  und  habe  mich  an  den  schönen  Bil- 
dern erfreut.  —  Besonders  ist  mir  eins  in  der  Erinne- 
rung geblieben,  ein  Überfall  eines  maurischen  Lagers 
durch  französische  Chasseurs  ä  cheval,  ferner  die  Er- 
stürmung des  Malakoff,  wo  der  kleine  Tambour  so 
schnell  vor  der  Mauerlücke  vorbei  läuft,  um  wieder 
den  schützenden  Wall  zu  gewinnen.  —  Schön  ist 
diese  Sammlung,  und  es  ist  zu  bedauern,  daß  nicht 
auch  Deutschland  einen  Schlachtenmaler  hervorge- 
bracht hat,  der  aus  der  reichen  und  ruhmvollen  kriegs- 
geschichtlichen Entwickelung  desselben  in  ähnlicher 
Art  wie  Vernet  die  bedeutendsten  Episoden  für  die 
Nachwelt  fixiert  hat.  Die  Schlachtenbilder,  welche 
unsere  Maler  gemalt  haben,  lassen  meistens  kalt  und 
sind  ohne  Leben,  ohne  Aktion  und  unnatürlich,  nur 
wenige  Ausnahmen  zum  Besseren  wüßte  ich.  Merk- 
würdig, daß  wir  es  verstehen,  die  Schlachten  zu  schla- 
gen, aber  nicht  den  Geist  des  Gefechtes  auf  die  Lein- 
wand zu  übertragen!  —  Jedenfalls  darfst  Du  Paris 
nicht  verlassen,  ohne  Versailles  gesehen  zu  haben, 

50 


besonders  Trianon,  alle  diese  Stätten  von  so  großem 
geschichtlichen  Interesse,  diese  still  verborgenen  Ra- 
senplätze, auf  denen  die  unglückliche  Marie  Antoi- 
nette  ihre  Schäferspiele  abhielt,  während  schon  die 
schwarzen  Wolken  der  Revolution  so  drohend  über 
ihrem  Haupte  sich  zusammenzogen,  diesem  Haupte, 
das  noch  so  harmlos  lachte  und  scherzte  und  das 
doch  später  zum  blutigen  Denkstein  für  die  entfessel- 
ten Gewalten  eines  lange  unterdrückten  Volkes  wer- 
den sollte. 

Generalstab  Berlin,  3.  Juni  1878. 

Mit  welchen  Gefühlen  ich  Dir  heute  schreibe, 
kannst  Du  Dir  denken.  —  Noch  kann  ich  kaum  zur 
Besinnung  kommen,  kann  es  nicht  fassen  und  be- 
greif en,  wie  es  möglich  ist,  daß  eine  solche  Schandtat 
geschehen  konnte.  Wie  stehen  wir  da  vor  den  Völ- 
kern der  ganzen  Welt.  Die  Mörderhand  dieses  ruch- 
losen Buben  hat  unser  Volk  mit  einem  Schimpf  be- 
lastet, der  ihm  anhängen  wird,  solange  die  Geschichte 
existieren  wird.  Unser  alter  Kaiser,  der  Mann,  der 
Deutschland  zu  dem  gemacht  hat,  was  es  ist,  der 
Mann,  der  einzige  in  der  Welt,  der  heute  die  Frie- 
denshoffnungen aller  in  sich  vereinigte,  es  ist  zu  nie- 
derträchtig, zu  gemein.  —  Wie  standen  wir  da  nach 
dem  glücklich  vollendeten  Kriege,  ein  neu  geeintes 
Volk,  stark  und  mächtig,  stolz  auf  unsere  Kraft,  stolz 
auf  unseren  Kaiser,  den  Liebling  des  Volks,  wie  hoch 
schlug  das  Herz,  wenn  man  sich  sagte:  Du  bist  ein 
Deutscher  und  du  kannst  stolz  darauf  sein,  —  jetzt 
liegt  Schmach  und  Schande  auf  uns,  unser  Kron- 
prinz in  England  von  deutschen  Arbeitern  verhöhnt, 
unsere  Schiffe  zertrümmern  sich  gegenseitig,  unser 
Kaiser  in  seiner  eigenen  Hauptstadt  von  Mörderhand 
verwundet,  zweimal  in  so  kurzer  Zeit.  Unser  Reichs- 

51 


tag  schwach  und  tatlos,  elende  feige  Gesellen,  die  es 
nicht  wagen,  gegen  das  aufzutreten,  was  sie  die  Volks- 
rechte nennen,  und  dadurch  die  blutigen  Leidenschaf- 
ten der  Kanaille  entfesseln,  unsere  Minister  mit  dem 
Liberalismus  kokettierend,  unsere  Industrie  liegt 
brach,  ihre  Produkte  werden  im  Auslande  beiseite- 
geschoben, alles  vorbei  und  aus,  und  nun  noch  dieser 
Schimpf.  —  Ich  war  so  froh  in  dem  Gedanken,  Dich 
in  unser  deutsches  Land  bringen  zu  können,  was 
mußt  Du  jetzt  von  uns  denken!  Wie  kann  ich  wieder 
nach  Schweden  kommen,  wo  die  Leute  mit  Fingern 
auf  mich  zeigen  werden  und  sagen:  Das  ist  einer  von 
denen,  die  ihren  Kaiser  erschießen.  —  Das  ist  ge- 
kommen, wie  ein  Hagelschlag,  der  die  junge  Saat  ver- 
nichtet, zerknickt  und  zu  Boden  drückt,  zu  Boden  tief 
in  den  Schmutz.  —  Was  hilft  es  uns,  wenn  Tausende 
auch  mit  Freuden  mit  ihren  Leibern  unseren  Kaiser 
decken  möchten,  wenn  wir  jeden  Augenblick  bereit 
sind,  unser  Herzblut  für  ihn  zu  vergießen,  was  hilft 
es  uns!  Die  feige  Mörderhand  sucht  den  Hinterhalt 
auf  und  die  Schande  der  Tat  liegt  auf  uns  allen. 

Generalstab  Berlin,  4.  Juni  1878. 

Hier  sitze  ich  wieder  mit  dem  Schmerz  und  der 
Scham  im  Herzen.  Ich  kann  das  Gefühl  nicht  los 
werden,  daß  eine  unauslöschliche  Schande  auf  unse- 
rer Nation  liegt.  Das  Blut  schreit  zum  Himmel  und 
klagt  das  Volk  an,  für  das  es  gesorgt  und  gearbeitet 
hat  ein  Leben  von  81  Jahren  hindurch.  —  Diese  Bu- 
ben im  Auslande,  die  den  Namen  des  deutschen  Vol- 
kes an  den  Pranger  stellen,  daß  jeder  pfui  über  uns 
rufen  muß,  die  die  Gastfreundschaft,  welche  ein  frem- 
des Volk  unserem  Kronprinzen  angedeihen  läßt,  be- 
sudeln mit  ihren  unflätigen  Händen,  die  das  in  den 
Schmutz  ziehen,  was  jedem  Menschen  von  Ehre  hei- 

52 


lig  ist,  die  ihrem  Volke  Schande  machen,  Schande 
und  Schimpf  auf  ewig.  Es  ist  schwer,  das  zu  tragen, 
wenn  man  nur  einiges  Gefühl  für  Anstand  und  guten 
Namen  hat.  Ja,  das  ist  schlimmer,  als  wenn  Unglück 
und  Armut  über  einen  hereinbricht.  Not  und  Sorge 
können  schmerzen  und  den  Menschen  verzehren  und 
aufreiben,  aber  die  Ehre  ist  wenigstens  makellos,  was 
will  dann  alle  Not  sagen.  —  Wir  haben  unsere  deut- 
sche Ehre  verloren,  wenigstens  fühle  ich  so,  und  ha- 
ben sie  verloren  durch  die  Schuld  dieser  Bestien,  die 
nicht  verdienen,  daß  ein  deutsches  Weib  sie  geboren 
hat,  die  selbst  die  Tiere  ausstoßen  würden,  wenn  sie 
Vernunft  hätten,  denn  sie  stehen  weit  unter  den  Tie- 
ren und  wälzen  sich  mit  ihren  ekelhaften  Leibern  im 
Schmutz.  —  Und  wir  müssen  dabei  stehen  und  zu- 
sehen, wie  der  deutsche  Name  geschändet  wird,  und 
können  nichts  machen,  —  wir  können  sie  ja  nicht 
fassen,  diese  Halunken,  die  im  Dunkeln  schleichen, 
die  nur  von  Zeit  zu  Zeit  hervorgrinsen  unter  dem 
Schild  unserer  humanen  liberalen  Gesetzgebung,  wo 
sie  sicher  sind,  ganz  sicher,  und  lachen  können  mit 
ihren  häßlichen  Satansfratzen.  Keine  Revolution,  kein 
Aufstand,  Angst  haben  die  Hunde,  frei  herauszutre- 
ten und  für  ihre  Prinzipien  zu  kämpfen.  —  Alles  wird 
stille  und  heimlich  gemacht,  Stein  auf  Stein  gelöst, 
wo  keine  Gefahr  ist.  Hätte  ich  nur  einen  von  diesen 
Burschen  unter  meinen  Fingern,  hätte  ich  zwanzig 
oder  hundert  gegen  mich,  ich  wollte  meinem  Gott 
auf  den  Knien  danken  und  mit  Freude,  wie  ich  sie 
nie  gekannt,  zum  Kampfe  gehen  gegen  diesen  Aus- 
wurf der  Menschheit.  Aber  Handschuhe  würde  ich 
mir  anziehen,  denn  man  könnte  in  Versuchung  kom- 
men, diesen  Schmutz  anzufassen. 

Was  sollen  wir  noch  in  diesem  Lande,  wenn  unser 
Kaiser  stirbt,  den  Kronprinzen  werden  sie  auch  er- 

53 


schießen,  und  unser  Reichstag  wird  sich  in  den  Trauer- 
mantel seiner  humanen  Gesetze  wickeln,  denen  sie 
das  Leben  des  edelsten  Hohenzollern  geopfert  haben, 
der  je  gelebt  hat,  wird  die  Achseln  zucken  und  sagen: 
Wir  mußten  die  liberalen  Gesetze  aufrecht  erhalten. 

—  Sie  werden  sitzen,  diese  humanen  Schlafmützen, 
bis  auch  über  ihnen  der  Staatsbau  zusammenbricht 
und  sie  unter  seinen  Trümmern  begräbt,  bis  das  Ge- 
heul des  blutig  roten  Sozialismus  durch  die  Straßen 
gellt,  bis  die  Fackeln  der  Volkshefe  das  junge  Deut- 
sche Reich  in  Asche  legen  und  unsere  Feinde  ihren 
Fuß  auf  den  Nacken  unseres  zerrissenen  Volkes  set- 
zen. Es  gibt  keine  Nation,  die  so  wenig  Patriotismus 
hat  wie  die  Deutschen.  —  Ich  telegraphierte  gleich  an 
Onkel  Helmuth*.  Gestern  ist  er  gekommen.  Er  hat 
auch  einen  Drohbrief  bekommen,  der  Schreiber  sagt 
ihm:  Du  hast  Dein  Leben  lang  von  dem  Schweiße 
der  Arbeiter  gepraßt  usw.  —  Ein  zu  gemeines  Mach- 
werk, aber  doch  schmerzlich  für  einen  Mann,  der 
sein  Leben  lang  nur  seine  Pflicht  getan  und  so  viel 
dazu  beigetragen  hat,  dies  Deutschland  zu  der  Höhe 
zu  heben,  auf  der  es  stand.  —  Wahrhaftig,  man  könnte 
Ekel  empfinden  über  die  Feigheit  und  Unschlüssig- 
keit der  Gesinnungen,  welche  zu  herrschen  scheinen. 

—  Wäre  ich  ein  freier  Mann,  ich  schnürte  mein  Bün- 
del und  wendete  dem  ganzen  Schelmenpack  den 
Rücken,  ginge  nach  Amerika  oder  nach  Afrika  zu 
den  Hottentotten. 


•  Der  Chef  des  Generalstabes  Generalfeldmarschall  Graf  Helmuth  Moltke. 

54 


Dritter  Teil 

Moltkes  Gedanken 

und  sein  Wirken  in  Teilen  aus 

Briefen  an  seine  Frau 

1879—1914 


Laub  an,  ig.  Juli  1879. 

Gestern  sind  wir  hier  eingerückt.  Eine  freundliche, 
kleine  Stadt,  leider  unser  letztes  Quartier,  übermor- 
gen ist  unsere  Generalstabsreise  vorbei.  Ich  hätte  den 
ganzen  Sommer  so  weiter  reiten  mögen.  Ich  fühle 
mich  so  gesund,  daß  ich  immer  Lust  habe,  zu  singen 
und  zu  springen.  Mit  meinen  Arbeiten  glaube  ich  auch 
zufrieden  sein  zu  dürfen.  Von  einem  Expose,  das  ich 
ausgearbeitet,  sagte  unser  Major  sogar:  Ich  wüßte 
nicht,  wie  man  es  besser  machen  könnte.  Du  kannst 
Dir  denken,  wie  stolz  ich  bin. 

Potsdam,  29.  Juli  1879. 

Also:  Potsdam!  Da  sitze  ich  nun  wieder  in  meiner 
alten  Garnison,  aus  der  ich  drei  Jahre  ausgeflogen 
war,  ein  flügge  gewordener  Vogel,  den  das  Geschick 
doch  wieder  in  sein  altes  Nest  zurückführt.  Mir  ist 
ganz  heimatlich  zu  Mut.  Die  altbekannten  Klänge  des 
Glockenspieles  auf  der  Garnisonskirche  klingen  mir 
so  vertraut  in  Herz  und  Ohren,  die  schönen  Kerls 
in  ihrer  strammen  Haltung,  das  Kommando,  die  straffe 
Disziplin,  das  holperige  Steinpflaster,  die  leeren  Stra- 
ßen, lauter  gute  und  liebe  alte  Bekannte,  die  mich 
begrüßen,  als  hätte  sich  an  ihnen  auch  nicht  eines 
Haares  Breite  geändert  während  der  drei  Jahre  mei- 
ner Abwesenheit.  Drei  Jahre!  welch  eine  lange  Zeit! 
Zehnmal  derselbe  Zeitabschnitt  und  ein  Menschen- 
leben ist  dahin.  Verblüht  wie  die  Blumen  auf  dem 
Felde  und  vom  Winde  verweht. 

Am  Sonntag  kamen  wir  hier  an  und  meldeten  uns 
beim  Regiment  zurück.  Ich  bin  kommandiert  zur  Füh- 
rung der  Leibkompagnie,  solange  der  Hauptmann  auf 

57 


Urlaub  ist.  Das  ist  sehr  angenehm.  Ich  kann  mir  sel- 
ber den  Dienst  ansetzen  und  mich  allmählich  wieder 
an  die  kleinen  Finessen  des  praktischen  Soldaten  ge- 
wöhnen. Gleich  am  Montag  hatten  wir  eine  große 
Übung  im  Bataillon.  Wir  marschierten  morgens  V25 
Uhr  ab.  Zuerst  wurde  ein  großes  Gefecht  gemacht 
und  dann  rückten  wir  in  ein  Biwak.  Wir  hatten  herr- 
liches Wetter.  Unser  Biwakplatz  war  unter  schattigen 
Eichen,  durch  deren  dunkelgrüne  Blätter  die  Sonne 
grüngoldige  Reflexe  warf,  die  zitternd  über  die  blan- 
ken Helme  der  Soldaten  spielten.  Bald  brannten  die 
Biwakfeuer  und  dicht  gedrängt  standen  die  Soldaten 
um  ihre  Kochkessel,  in  denen  Fleisch  und  Kartoffeln 
zur  Mittagsmahlzeit  brodelten.  Wir  Offiziere  saßen 
währenddem  auf  unseren  Feldstühlen  an  unseren 
kleinen  Feldtischen,  und  während  wir  abwarteten,  bis 
unsere  Mahlzeit,  von  den  Ordonnanzen  gekocht,  fertig 
sei,  rauchten  wir  unsere  Zigarre  und  hörten  der  Re- 
gimentsmusik zu,  die,  im  großen  Kreise  aufgestellt, 
vor  dem  Biwak  ihre  lustigen  Weisen  spielte.  Oder 
wir  lagen  der  Länge  nach  auf  dem  Rücken  im  Grase 
und  sahen  den  kleinen  blauen  Wölkchen  unserer  Zi- 
garre nach,  die  leicht  und  luftig  durch  die  grünen 
Blätter  schwebten,  bis  sie  sich  verloren  in  dem  Blau 
des  hohen  Himmels,  der  sich  wie  eine  kristallene 
Glocke  über  uns  ausspannte.  In  ix/2  Stunden  war  das 
Essen  fertig  und  wir  tafelten  im  Grünen  mit  einem 
Appetit,  wie  ihn  nur  der  Soldat  kennt,  der  schon  von 
Sonnenaufgang  an  auf  den  Beinen  gewesen  ist.  Nach 
dem  Essen  fingen  die  Soldaten  an,  ihre  drastischen 
Tänze  aufzuführen.  Immer  zwei  und  zwei,  Polonaise, 
Quadrille,  immer  rund  um  die  Musik  herum.  Einer 
hat  einen  großen  Stock  in  der  Hand  und  komman- 
diert den  Tanz.  Er  ist  ein  Lothringer  aus  der  Gegend 
von  Metz,  der,  wie  er  zum  Regiment  kam,  nur  Fran- 

58 


zösisch  verstand.  Wunderlich  klingen  die  französi- 
schen Worte  in  dem  deutschen  Biwak,  en  avant, 
changez  les  dames!  etc.,  aber  alle  verstehen  sie  und 
führen  tadellos  die  vorgeschriebenen  Touren  aus.  An 
einer  anderen  Stelle  wird  ein  Rekrut  »geprellt«.  Eine 
lange  Reihe  von  Soldaten  stehen  sich  vis-a-vis  und 
haben  sich  fest  an  den  Händen  gefaßt.  Auf  diese  Ket- 
tenbrücke von  Armen  wird  der  Geprellte  gelegt  und 
in  taktmäßigem  Wurfe  wird  er  hoch  in  die  Luft  ge- 
schleudert, herunterfallend  wieder  aufgefangen  und 
wieder  hochgeworfen,  bis  er  am  Ende  der  Reihe  an- 
gekommen ist  und  —  nicht  immer  auf  die  sanfteste 
Weise  —  endlich  nach  seiner  Luftfahrt  den  Boden 
wieder  erreicht.  Lauter  Jubel  und  Lachen  tönt  durch 
die  Luft.  Wenn  die  Musik  schweigt,  stimmen  die  Sol- 
daten, auf  dem  Boden  gelagert,  ihren  Chorgesang  an. 
Die  alten  Lieder,  wie  gut  ich  sie  noch  kannte  und 
wie  leicht  es  wurde,  in  sie  mit  einzustimmen.  So  wird 
es  allmählich  dunkel  und  wie  es  Abend  geworden, 
brechen  wir  auf,  um  noch  eine  Nachtübung  zu  ma- 
chen. Vorposten  werden  aufgestellt,  Losung  und  Feld- 
geschrei ausgegeben,  und  bald  liegt  Dunkel  und  Stille 
über  der  vorhin  so  laut  lustigen  Gesellschaft.  Die 
Nacht  ist  angebrochen.  Am  Horizont  steht  eine  dunkle 
Wolkenbank,  durch  deren  Schleier  ab  und  zu  der 
Mond  hervorlugt,  als  wollte  er  einen  erstaunten  Blick 
werfen  auf  die  nächtliche  militärische  Übung.  Tiefe 
Stille  rings  umher.  —  In  den  Wipfeln  der  Pappeln 
flüstert  leise  der  Nachtwind.  Die  Luft  ist  warm  und 
weich,  erfrischend  im  Walde.  Ab  und  zu  tönt  der 
leise  Ruf  eines  Postens  durch  die  Dunkelheit,  der 
eine  zurückkehrende  Patrouille  anruft.  Losung  und 
Feldgeschrei  werden  ausgetauscht,  dann  geht  die  Pa- 
trouille weiter,  leise,  schattenhaft  in  der  Dunkelheit 
verschwindend.  Nun  ist  wieder  alles  still.  Plötzlich 

59 


blitzt  weit  vorne  ein  kurzes  Licht  auf.  Gleich  darauf 
kommt  der  Knall  eines  Schusses  durch  die  Nacht  an  un- 
ser Ohr.  Zwei  bis  drei  andere  Schüsse  knattern  hinter- 
her, dann  wieder  alles  still.  Jetzt  fallen  wieder  Schüsse, 
fünf  bis  sechs,  rasch  hintereinander.  Erst  sieht  man  den 
Blitz,  dann  kommt  der  Knall.  Die  Feldwache  eilt  an 
die  Gewehre,  in  zwei  Minuten  steht  die  ganze  Kom- 
pagnie aufmarschiert,  wie  eine  dunkle  Mauer,  kein 
Laut  wird  dabei  vernehmbar,  kein  Mensch  spricht  ein 
Wort,  alles  geht  auf  den  leisen  Zuruf  der  Offiziere, 
die  wie  ein  dunkler  Punkt  vor  ihren  Zügen  stehen. 
Jetzt  kommt  eine  Meldung  von  den  vorgeschobenen 
Patrouillen.  Der  Feind  hat  eine  Rekognoszierung  auf 
der  Chaussee  gegen  unsere  Stellung  gemacht,  ist  je- 
doch wieder  abgezogen,  wie  er  auf  unsere  Patrouillen 
gestoßen  ist.  Die  Gewehre  werden  wieder  zusammen- 
gesetzt, in  wenigen  Minuten  herrscht  dieselbe  Stille 
wie  vorher.  Um  u  Uhr  bekommen  wir  den  Befehl, 
abzumarschieren.  Um  1/ii  Uhr  sind  wir  in  unseren 
Quartieren.  Das  war  der  erste  Tag  meines  Hierseins. 

Wüstemark,  n. September  187g. 

Wir  liegen  sehr  gut,  in  einer  Mühle  mitten  im 
Walde.  Ganz  einsam,  ich  mit  meinem  ältesten  Offi- 
zier und  dem  Fähnrich.  Zwei  Meilen  von  Witten- 
berg. Ich  bin  mit  meiner  Kompagnie  ganz  alleine. 
Sehr  angenehm.  Vorige  Nacht  biwakierten  wir  bei 
strömendem  Regen.  Das  war  weniger  angenehm.  Was 
aber  der  Mensch  nicht  alles  aushält.  Die  Kleider  sind 
am  nächsten  Morgen  auf  dem  Leibe  getrocknet.  Die 
Nacht  aber  war  übel.  Das  Wasser  lief  einem  zum 
Kragen  hinein  und  aus  den  Hosen  wieder  hinaus. 
Ich  war  mit  meiner  Kompagnie  auf  Vorposten  und 
hatte  Glück,  wie  Du  gleich  sehen  wirst.  Mein  Major 
sagte  mir:  »Wenn  Sie  angegriffen  werden,  liegt  Ihre 

60 


Verteidigung  naturgemäß  in  der  Lisiere.«  Ich  sah 
aber  mit  meinem  angeborenen  militärischen  Scharf- 
blick sofort,  daß  meine  Verteidigung  nicht  in  der  Li- 
siere des  Waldes,  in  dem  ich  biwakierte,  lag,  sondern 
auf  einem  vorliegenden  Höhenzug.  Ließ  den  Major 
Major  sein  und  hob  auf  der  Höhe  Schützengräben  aus 
und  richtete  dort  eine  Verteidigungsstellung  für  meine 
Kompagnie  ein.  Als  wir  nun  am  nächsten  Morgen 
wirklich  angegriffen  wurden,  kam  der  Oberst  und 
sprach  seine  Anerkennung  aus  über  die  zweckmäßige 
Einrichtung,  und  der  Major,  der  das  Lob  bekommen 
hatte,  kam  zu  mir  und  sagte  mir,  ich  möchte  nun 
auch  mit  meiner  Kompagnie  die  Stellung  besetzen, 
die  ich  »so  gewandt«  eingerichtet  hätte.  Wirklich  wurde 
auch  der  feindliche  Angriff  abgeschlagen,  und  ich 
war  so  stolz,  daß  ein  gewöhnlicher  Stratege  wie  On- 
kel Helmuth  mir  sehr  klein  vorkam!  —  Ich  fühle  mich 
so  wohl  wie  nur  möglich.  Gesund  und  kräftig  und 
voll  Lebenslust  und  Freude  an  meiner  Tätigkeit. 

Wittenberg,  14.  September  1879. 

Hier  sitze  ich  in  der  alten  Luther-Stadt  an  der  Elbe. 
Heute  ist  wieder  ein  Ruhetag.  Wir  liegen  auf  einem 
Dorf  Dabrun  in  der  Nähe  der  Stadt  und  sind  heute 
hereingefahren,  um  uns  die  Sehenswürdigkeiten  der- 
selben anzusehen.  In  der  Tat  sehr  interessant.  — 
Lange  stand  ich  vor  der  Tür  der  alten  massiven 
Schloßkirche,  an  welche  Dr.  Martin  Luther  einst  seine 
fünfundneunzig  Thesen  anschlug  und  damit  den  Fun- 
ken in  die  aufgeregten  Geister  warf,  der  in  wenigen 
Jahren  die  Riesenfackel  des  Dreißigjährigen  Krieges 
anfachte,  die  sengend  über  Deutschlands  blühende 
Fluren  hinging  und  die  Kultur  um  Jahrhunderte 
zurückdämmte.  Gleichzeitig  aber  in  diesem  europäi- 
schen Brand  die  alte  verfilzte  Religion  reinigte  und 

61 


zu  neuen,  reineren  Anschauungen  durchläuterte.  — 
Jetzt  ist  eine  Tür  von  Erz  dort  eingelassen,  in  wel- 
cher die  Sätze  Luthers  in  das  Metall  eingegraben  sind. 
In  altem,  schwerfälligem  Lateinisch.  Damals  war  ja 
die  deutsche  Sprache  nicht  in  dem  Munde  der  Kir- 
chenstreiter zu  finden.  Die  Ecclesia  militans  stritt  mit 
dem  römischen  Schwert.  Heute  ist  das  anders,  und 
unsere  einheitliche  Sprache,  vielleicht  das  einzig  Ei- 
nige, was  wir  besitzen,  verdanken  wir  zum  besten 
Teil  jenem  Wittenberger  Mönch,  der  unerschrocken 
den  Kampf  gegen  Papst  und  Kaiser  aufnahm  und 
siegreich  durchfocht.  —  Dann  waren  wir  in  Luthers 
Wohnung  in  der  alten  Universität.  Sein  Wohnzim- 
mer ist  noch  unverändert  erhalten.  Die  Bänke  an  den 
Wänden,  der  große  Tisch,  der  Ofen.  Bildnisse  von 
Luther,  von  Cranach  gemalt.  An  jenem  Fenster  mit 
den  trüben  bleigefaßten  Scheiben  saß  Frau  Katha- 
rina Bora,  seine  Frau,  und  schaute  nach  dem  Herrn 
Doktor  aus,  wenn  er  aus  dem  Kolleg  nach  Hause 
kehrte.  In  der  Aula  des  Universitätsgebäudes  steht 
noch  der  alte,  hochgebaute  Lehrstuhl,  von  dem  herab 
er  Vorträge  hielt  und  auf  dem  er,  fast  ein  Knabe  noch, 
seine  Doktordissertation  abhielt  und  den  Doktorhut 
erlangte.  Das  alles  ist  interessant  zu  sehen.  Es  um- 
weht einen  wie  der  alte  Geist  der  Reformation,  wenn 
man  durch  diese  Räume  schreitet.  Altertümlich,  kräf- 
tig, hausbacken  und  derbe.  Aber  gesund  und  dauer- 
haft. War  doch  eine  große,  gewaltige  Zeit,  und  der 
Luther  ein  ganzer  Mann. 

Potsdam,  22.  September  1879. 

Wenn  die  unsinnigen  und  unbegründeten  Het- 
zereien der  russischen  Presse  gegen  Deutschland  zu 
einem  Konflikt  zwischen  beiden  Staaten  geführt  hät- 
ten, was  ja  durch  die  Reise  unseres  Kaisers  glücklich 

62 


vermieden  ist,  so  wäre  natürlich  nach  der  unpar- 
teiischen und  absolut  richtigen  Meinung  des  Aus- 
landes Bismarck  wieder  der  Krakeeler  gewesen !  Wollt 
ihr  uns  armen  Deutschen  denn  nicht  einmal  das  Recht 
einräumen,  das  doch  sonst  durch  die  Zivilgesetz- 
gebung aller  Staaten  geht,  das  Recht  der  Selbstver- 
teidigung!? 

*  Wildberg,  30.  Mai  1880. 

Wie  Du  siehst,  bin  ich  nun  an  dem  ersten  Ort  mei- 
ner Bestimmung  eingetroffen.  —  Gestern  habe  ich 
meine  Vorübung  fertiggestellt  und  heute  morgen  fuhr 
ich  hierher  ab.  Ich  hatte  einen  sogenannten  Leiter- 
wagen, auf  dem  mein  großer  Koffer  und  alle  meine 
Instrumente,  Max  und  ich  saßen.  Ersterer  oben  auf 
dem  Koffer  wie  ein  Araber  auf  dem  Rücken  seines 
Kamels.  Pluto  hinterher,  so  ging  es  mit  Hü  und  Hott 
die  Chaussee  herunter.  Schließlich  mußten  wir  den 
braven  Pluto  auch  noch  aufladen,  denn  er  wurde 
müde  und  konnte  nicht  mehr  mitkommen.  Es  war 
eine  herrliche  Fuhre,  Du  hättest  uns  sehen  sollen. 
Eine  halbe  Meile  vor  Wildberg  neigte  sich  plötzlich 
der  Wagen  auf  die  Seite,  das  eine  Vorderrad  war  ab- 
gelaufen. Da  saßen  wir  nun.  Glücklicherweise  waren 
wir  nicht  umgeworfen,  so  daß  die  Instrumente  kei- 
nen Schaden  gelitten  hatten.  Ich  ließ  Max  mit  dem 
Kutscher  zurück,  um  die  Sache  in  Ordnung  zu  brin- 
gen, und  ging  zu  Fuß  vorauf.  Sie  kamen  auch  bald 
nach. 

Hier  traf  ich  eine  tüchtige  Fuhrmannskneipe,  in  der 
ich  mich  einlogiert  habe.  Ein  Zimmer,  in  dem  die 
Tapeten  in  großen  Lappen  von  der  Wand  herunter- 
hängen. Das  Bett  verspricht  eine  schmerzliche  Nacht. 
Mein  Diner  bestand  in  Schweinebraten  und  Kartof- 

*  Kommandiert  zur  Kgl.  Landesaufnahme. 

63 


fein,  alles  in  Fett  schwimmend.  Dies  Etablissement 
führt  den  stolzen  Namen  »Hotel  zum  alten  Zieten«! 
Nachdem  ich  diniert  hatte,  machte  ich  eine  Reko- 
gnoszierung rund  um  das  Dorf  herum,  das  seinen 
Namen  mit  Unrecht  führt,  denn  es  ist  weder  wild 
noch  bergig,  im  Gegenteil,  die  ganze  Gegend  flach 
wie  ein  Teller,  ich  werde  Mühe  haben,  die  Niveau- 
linien laufen  zu  sehen.  Auf  der  einen  Seite  sind  weit- 
gestreckte Wiesen,  ziemlich  sumpfig,  mitten  in  den- 
selben eine  eigentümliche  Ruine  aus  alter  Zeit.  D.h. 
Ruine  kann  man  es  eigentlich  nicht  nennen,  denn  es 
ist  nur  ein  Erdwerk,  kreisrund,  Wälle  von  Haushöhe 
und  ein  Graben  mit  Wasser  rund  herum.  An  einer 
Seite  sieht  man  noch  die  Pfeiler  einer  alten  Brücke. 
Das  kolossale  Bauwerk  ist  offenbar  von  Menschen 
aufgefahren.  Viele  tausend  Fuhren  Erde  müssen  nö- 
tig gewesen  sein,  um  es  in  dem  morastigen  Unter- 
grund herzustellen.  Aber  es  muß  eine  feste  Position 
gewesen  sein.  Hier  wird  wohl  ein  alter  Raubritter 
sein  Nest  gehabt  haben,  unangreifbar  in  den  morasti- 
gen Wiesen,  die  nur  durch  einen  Damm,  auf  dem 
jetzt  die  Chaussee  läuft,  mit  dem  festen  Lande  in 
Verbindung  standen.  Das  Ding  macht  einen  eigen- 
tümlichen Eindruck.  Man  sieht  die  mächtigen  Wälle 
in  den  flachen  Wiesen  von  weit  her.  Rund  herum  an 
ihrem  Fuße  stehen  Bäume.  Das  Ganze  ist  kreisrund. 
Ich  ging  hinein.  Inwendig  ein  großer,  leerer  Raum, 
keine  Spur  von  Mauerwerk,  daß  aber  solches  dage- 
wesen, erkannte  ich  bald.  Ein  Teil  des  inneren  Wal- 
les war  abgestochen,  der  Besitzer  hatte  die  Erde  ge- 
braucht, um  die  sumpfigen  Wiesen  damit  auszufül- 
len. Bei  diesem  Abstechen  war  ein  Stück  eines  alten 
Grundbaues  bloßgelegt,  aber  keine  Ziegelsteine,  son- 
dern Granit  und  ohne  Mörtel  gefügt.  Man  nennt  das 
Zyklopenmauern,  und  sie  sind  immer  ein  Beweis  sehr 

64 


hohen  Alters.  Ferner  fand  ich  in  demselben  Abstich 
eine  durchlaufende  Schicht  Holzkohlen,  woraus  ich 
schloß,  daß  die  Gebäude,  die  hier  gestanden  hatten, 
einmal  abgebrannt  sein  müßten.  Dann  hatte  das  Ka- 
stell offenbar  lange  Zeit  unbewohnt  gestanden,  denn 
es  folgte  über  den  Kohlen  wieder  eine  ungefähr  drei 
Meter  dicke  Erdschicht.  Später  ist  es  wieder  ange- 
baut und  dann  abermals  abgebrannt,  wie  mir  eine 
zweite  Kohlenschicht  bewies,  über  der  dann  aber- 
mals zwei  Meter  Erde  lagen.  In  dieser  zweiten  Schicht 
fand  ich  auch  bereits  Steine,  an  denen  Mörtel  klebte, 
also  eine  spätere  Zeit.  Daß  die  untere  Schicht,  also 
der  ganze  Bau,  schon  sehr  alt  sein  muß,  fand  ich  be- 
stätigt durch  Scherben  von  Töpfen,  die  ich  heraus- 
kratzte. Diese  waren  aus  ungebranntem  Ton  gefertigt. 
Ich  nahm  einen  Henkel  und  den  Rand  eines  Topfes 
zum  Andenken  mit.  Beide  zeigen  die  grobe  Kunst- 
fertigkeit des  Altertums.  Mit  der  Hand  gearbeitete  Ver- 
zierungen, Eindrücke  und  Rillen.  Wo  mögen  die 
Hände  jetzt  sein,  die  diese  Scherben  gearbeitet  haben, 
die  hier  vor  mir  auf  dem  Tisch  liegen  und  mich  so 
grau  und  uralt  ansehen?  Einen  Arbeiter,  der  oben  auf 
dem  einen  Wall  Rüben  pflanzte,  fragte  ich,  ob  man 
niemals  Münzen  gefunden  hätte,  was  er  verneinte. 
Es  muß  also  eine  powere  Gesellschaft  gewesen  sein, 
die  hier  gehaust  hat.  —  Ein  Stückchen  Eisen  fand  ich 
auch,  es  war  aber  so  von  Rost  durchfressen,  daß  ich 
nicht  erkennen  konnte,  was  es  gewesen,  es  zerbrök- 
kelte  mir  in  der  Hand.  Der  Arbeiter  zeigte  mir  die 
Klinge  eines  Beils,  die  er  ausgegraben,  zwar  auch 
sehr  verrostet,  aber  doch  offenbar  neueren  Ursprungs, 
so  daß  ich  kein  Verlangen  danach  trug  und  sie  liegen 
ließ.  Die  alten  Topfscherben,  die  ich  aus  der  unter- 
sten Schicht  auskratzte,  sind  mir  viel  interessanter, 
sie  sind  viele  hundert  Jahre  alt,  soweit  meine  unvoll- 

Moltke.        5.  65 


kommene  Beurteilung  reicht,  noch  aus  heidnischer  — 
wahrscheinlich  wendischer  Zeit.  —  Morgen  fahre  ich 
das  Terrain  ab,  welches  ich  aufnehmen  soll,  zweiein- 
halb Quadratmeilen.  Übermorgen  geht  die  Arbeit  an. 

Wildberg,  6. Juni  1880. 

Heute  ist  Sonntag,  und  es  hat  den  ganzen  Tag,  vom 
Morgen  bis  zum  Abend,  ohne  eine  Pause  geregnet. 
Das  ist  wirklich  fürchterlich.  Ich  habe  den  lieben  lan- 
gen Tag  gesessen  und  gezeichnet,  bis  mir  die  Augen 
weh  taten,  dann  bin  ich  im  Zimmer  umhergegangen 
und  habe  gepfiffen  und  gesungen  und  deklamiert,  es 
half  alles  nichts,  ich  langweile  mich  entsetzlich!  — 
Pluto  liegt  mitten  im  Zimmer  auf  dem  Rücken  und 
streckt  alle  vier  Beine  in  die  Luft,  ihm  ist  sauwohl, 
er  möchte,  daß  das  Topographieren  nie  ein  Ende 
nähme.  —  Eine  gute  Unterhaltung  habe  ich  doch, 
nämlich  Treitschkes  Deutsche  Geschichte  des  neun- 
zehnten Jahrhunderts.  Du  hast  vielleicht  schon  von 
diesem  Buch  sprechen  hören,  das  alle  Welt  jetzt  liest, 
mir  hat  es  mein  Hauptmann  als  Trosteinsamkeit  ge- 
liehen, und  ich  muß  gestehen,  daß  ich  mich  nicht 
erinnere,  jemals  von  einem  Geschichtswerk  so  gefes- 
selt worden  zu  sein.  Das  ganze  Buch  ist  dramatisch. 
Man  fühlt  und  lebt  mit  den  Personen,  man  denkt,, 
hofft  und  fürchtet  mit  ihnen,  man  wird  so  lebhaft  in 
die  Zeit  zurückversetzt,  die  es  schildert,  daß  man  sich 
erstaunt  in  der  Wirklichkeit  wiederfindet,  wenn  man. 
das  Buch  zuklappt.  Und  dabei  weht  ein  Geist  des 
Patriotismus  und  deutscher  Vaterlandsliebe  durch  das 
Ganze,  ohne  jedoch  der  historischen  Wahrheit  je- 
mals Gewalt  anzutun,  es  ist  herrlich. 

Vichel,  19.  Juni  1880. 
Ich  bekam  gestern  die  Meldung  von  meinem  Haupt- 

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mann,  er  werde  heute  kommen,  um  mit  mir  zu  ar- 
beiten. Er  bestellte  mich  an  einen  bestimmten  Ort, 
wo  er  aufnehmen  wollte,  um,  wie  er  schrieb,  mir  et- 
was vorwärts  zu  helfen.  Wie  er  ankam,  hatte  ich  aber 
schon  das  ganze  umliegende  Terrain  fix  und  fertig 
aufgenommen,  so  daß  er  sagte,  er  sähe,  daß  ich  kei- 
ner Hilfe  bedürfe,  war  sehr  erstaunt,  wieviel  ich  schon 
fertiggebracht  hatte,  und  sagte,  nach  meinen  bisheri- 
gen Leistungen  zweifle  er  nicht,  daß  ich  einer  der 
ersten  fertig  sein  würde.  Er  war  überhaupt  sehr  zu- 
frieden und  fuhr  nach  einer  halben  Stunde  wieder 
ab,  ohne  mir  geholfen  zu  haben.  Ich  kann  schon 
auf  meinen  eigenen  Füßen  stehen! 

Vichel,  ii. Juli  1880. 

Ich  habe  meinen  »Faust«  wieder  als  steten  Begleiter. 
Du  solltest  mich  sehen,  wenn  ich  über  meinen  Meß- 
tisch gebeugt  stehe  und  einsam  mitten  im  wehenden 
Buschgras  laut  Monologe  aus  »Faust«  deklamiere, 
während  ich  mit  dem  Zirkel  die  Entfernungen  abgreife. 
Bisweilen  muß  ich  selbst  über  mich  lachen,  das 
klingt  dann  wieder  ganz  eigen  und  verloren  durch  die 
stille  Luft.  Ein  Mensch,  der  über  sich  selbst  lacht, 
ist  in  der  Einsamkeit  immer  etwas  Wunderliches,  nur 
gut,  daß  es  nicht  das  schneidende  Lachen  des  Hoh- 
nes oder  der  Verzweiflung,  sondern  das  gemütliche 
innere  Lachen  über  einen  Phantasten  ist,  der  mitten 
in  der  handgreiflich  praktischsten  und  prosaischsten 
Arbeit  es  nicht  lassen  kann,  den  Seelendurst  nach 
Schönheit  mit  einem  Schluck  aus  dem  Kristallbron- 
nen Goethischer  Poesie  zu  stillen.  So  fliegen  die  Stun- 
den wie  Minuten  dahin,  und  immer  wieder  entdecke 
ich  neue  Schönheiten,  an  denen  man  bisher  achtlos 
vorübergeeilt  ist.  Solch  ein  Arbeitstag  von  zwölf  bis 
dreizehn  Stunden  befriedigt  mich  immer.  Wenn  ich 

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abends  nach  Hause  gehe,  habe  ich  ein  gewisses  freu- 
diges Gefühl  der  Genugtuung. 

Nackel,2i.Juli  1880. 

Siehe,  wie  schön  die  Welt  ist !  Was  wäre  der  Mensch, 
wenn  er  nicht  hoffen  könnte.  Eine  verkümmerte  Exi- 
stenz, in  dunklen,  unklaren  Schmerzen  wühlend  und 
mit  geheimem  Grauen  sich  selbst  peinigend.  Die  Ver- 
gangenheit, das  Verlorene,  das  Nichterreichte  betrau- 
ernd und  beweinend,  mit  Selbstvorwürfen  in  namen- 
loser Qual  sich  ängstigend.  Nein,  die  Hoffnung,  diese 
wahre  Tochter  des  Himmels,  wurde  nach  der  schö- 
nen alten  Sage  den  Menschen  geschenkt,  als  aus  der 
Büchse  der  Pandora  alle  Leiden  über  sie  daher- 
geflogen waren,  sie  alleine  wog  alle  Leiden  auf.  Vor- 
wärts sind  die  Augen  der  Menschen  gerichtet,  vor- 
wärts soll  man  auch  blicken,  dem  Licht  entgegen, 
das  uns  den  Morgen  bringt.  Wer  umblickt  und  zu- 
rückschaut, wird  zur  Salzsäule  wie  Lots  Weib.  — 
Offene  Augen  und  offene  Herzen,  siehst  Du,  das  ist 
meine  Ansicht  und  Meinung. 

Segeletz,4.  September  1880. 

Ich  habe  heute  doch  einen  gewissen  kleinen  Tri- 
umph gefeiert,  wie  mein  Hauptmann  mir  sagte,  daß 
ich  der  erste  fertig  sei.  Selbst  die  alten  Topographen, 
die  schon  im  achten  bis  zehnten  Jahr  aufnehmen, 
sind  noch  hinter  mir  zurück.  Er  fuhr  alles  sehr  genau 
mit  mir  ab,  ich  glaube,  eigentlich  meinte  er,  ich  hätte 
bei  der  großen  Leistung  von  fast  dreißig  Minuten  im 
letzten  Monat  flüchtig  gearbeitet,  er  fand  aber  nichts 
und  drückte  mir  gerührt  die  Hand,  als  er  wegfuhr 
und  sagte :  »Eine  wirklich  außerordentlich  fleißige  Ar- 
beit, die  ich  manchem  alten  Topographen  als  Muster 
hinstellen  kann.« 

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Wildberg,  6. September  1880. 

Nun  bin  ich  denn  also  wieder  da,  wo  ich  angefan- 
gen habe,  nach  dreimonatlicher  Arbeit  im  großen  Zir- 
kel wieder  an  dem  Ausgangspunkt  angelangt.  Dies- 
mal bin  ich  doch  mit  bedeutend  leichterem  Herzen 
hier. Hieß  es  damals:  anfangen,  so  bedeutet  mir  mein 
jetziges  Hiersein:  aufhören,  und  das  werde  ich  tun 
mit  tausend  Freuden,  sobald  der  letzte  Strich  der  Ar- 
beit getan  ist.  Es  kommt  mir  so  eigentümlich  vor, 
daß  meine  mühsame  Arbeit  nun  wirklich  fast  fertig  ist, 
daß  ich  mich  gar  nicht  in  den  Gedanken  hineinver- 
setzen kann,  es  schien  immer  so,  als  könnte  sie  nie 
fertig  werden.  Der  Sommer  freilich  ist  mir  vergan- 
gen, ohne  daß  ich  eigentlich  ein  Gefühl  davon  habe, 
daß  er  vorbei  ist.  Ich  meine  immer  noch,  die  Ler- 
chen müßten  singen  und  die  Erdbeeren  da  sein,  und 
doch  fallen  schon  die  ersten  gelben  Blätter  von  den 
Bäumen,  und  die  Schwalben  rüsten  sich  zum  Abzüge. 
Die  Störche  sind  schon  fort,  hingezogen  über  das 
Meer,  der  Sonne  entgegen.  —  Unsere  Erdensonne, 
die  ja  allen  scheint,  hat  es  in  den  letzten  Tagen  recht 
gut  mit  uns  gemeint.  Sie  hat  eine  solche  Glut  auf 
unseren  Scheitel  gehäuft,  daß  Tier  und  Mensch  re- 
gungslos und  lechzend  dalag,  nur  den  Moment  er- 
wartend, wo  der  glühende  Feuerball  unter  den  Hori- 
zont gesunken  sein  würde  und  die  Schatten  des 
Abends  eine  wenn  auch  geringe  Kühlung  bringen 
werden.  Nur  der  Topograph  zog  durch  die  Glut  des 
Weges,  ohne  Rock  und  Weste,  mit  offenem  Hemde, 
dennoch  fast  verschmachtend. 

Berlin,  18.  Juni  1881. 

Du  sollst  sehen,  wenn  wir  erst  wieder  unsere  Woh- 
nung hier  in  Berlin  haben  und  uns  ein  klein  wenig 

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eingelebt  haben,  wird  es  Dir  auch  bald  gut  hier  ge- 
fallen. Nur  stehst  Du  jetzt  vor  einem  Ungewissen  und 
siehst  nur  die  Vergangenheit  in  dem  verschönern- 
den Lichte,  das  sie,  dank  der  gütigen  Weltordnung, 
immer  annimmt,  wenn  sie  schöne  Stunden  aufzu- 
weisen hat.  Das  Schlimme  vergessen  wir  ja  so  rasch, 
das  Angenehme  setzt  sich  in  der  Erinnerung  fest,  und 
das  ist  gut  so.  Aber  auch  in  die  Zukunft  sollen  wir 
festen  Mutes  sehen  und  die  Hoffnung  festhalten,  diese 
gute  Fee  des  Menschengeschlechtes,  die  von  der 
Wiege  bis  zum  Grabe  an  der  Seite  des  Menschen 
steht  und  mit  ihrer  goldig  leuchtenden  Fackel  helle 
Streiflichter  in  das  Dunkel  der  Zukunft  wirft.  —  Und 
nach  diesen  Streiflichtern  hascht  der  Mensch  sein 
ganzes  Leben  lang  wie  das  Kind  nach  Schmetterlin- 
gen. —  Wer  die  Hoffnung  verliert,  hat  alles  verloren, 
denn  er  hat  dann  einen  gebrochenen  Mut  und  ein 
totes  Herz,  und  ist  so  gut  als  ob  er  schon  gestorben 
wäre.  —  Darum,  lassen  wir  der  Vergangenheit  ihr 
Recht  und  freuen  uns  der  sonnigen  Erinnerungen, 
aber  vergessen  wir  über  dem,  was  hinter  uns  liegt, 
nicht  das,  was  vor  uns  liegt.  Wenn  wir  uns  der  Ver- 
gangenheit freuen,  so  wollen  wir  auf  die  Zukunft 
hoffen  und  nicht  ungerecht  werden  gegen  das,  was 
über  kurz  oder  lang  ja  doch  auch  zur  Vergangenheit 
werden  wird. 

Generalstab  Berlin,  21. Juni  1881. 

Ich  bin  diesen  Moment  von  oben  heruntergekom- 
men, wo  ich  von  10  bis  7  Uhr  gesessen  und  gearbeitet 
habe.  Ich  soll  übermorgen  einen  Vortrag  halten  über 
das  Geniewesen  der  österreichischen  Armee,  und  muß 
das  Material  dazu  aus  allen  möglichen  Instruktionen, 
Berichten,  Verordnungsblättern  usw.  zusammen- 
suchen. Eine  mühselige  Arbeit. 

70 


Generalstab  Berlin,  23. Juni  1881. 

Heute  habe  ich  meinen  Vortrag  gehalten.  Es  ging 
gut  und  meine  Herrn  Vorgesetzten  waren  befriedigt. 
Vom  i.Juli  ab  bin  ich  zum  Leiter  der  Übungen  im 
Aufnehmen  kommandiert.  Wo?  weiß  ich  noch  nicht. 

Charlottenburg,  10.  Juli  1881. 

Könnte  ich  doch  bei  Dir  sein,  um  mich  mit  Dir  der 
herrlichen  gigantischen  Natur  zu  freuen,  deren  gan- 
zer ungeahnter  Zauber  Dich  jetzt  schon  gefesselt  hal- 
ten muß.  —  Welche  Empfindungen  werden  Dich  wohl 
bestürmen,  wenn  Dein  Blick  zum  ersten  Male  auf 
diese  starren  Schneehäupter  fällt,  die  mit  ewig  un- 
veränderlicher Stille  in  den  blauen  Himmel  hinein- 
ragen, die  Wolken  wie  einen  Kranz  um  ihre  Stirne 
flechtend,  herabsehend  aus  eisiger  Ruhe  auf  das  un- 
ruhige Gewühl  der  Menschen  unter  sich  mit  ihrem 
Zank  und  Hader,  ihren  Tränen  und  Freuden,  ihrem 
Hassen  und  Lieben.  Fühlt  man  sich  nicht  der  Natur 
gleichsam  nähergetreten,  wenn  man  so  in  die  gewal- 
tigen Formen  eindringt,  die  sie  geschaffen?  Glaubt 
man  nicht,  noch  den  Odem  des  allmächtigen  Schöp- 
fers um  diese  Bergesgipfel  wehen  zu  spüren,  kommt 
man  sich  nicht  unendlich  klein  vor,  wenn  man  an 
den  Felswänden  hinaufschaut,  die  schon  gestanden 
haben,  lange  bevor  der  erste  Mensch  sein  unbehilf- 
liches Erdenleben  zu  lernen  begann?  Wie  wunder- 
voll ist  doch  dies  Anschauen  der  reichen  Natur.  Frei- 
lich nicht  lieblich  und  zart  geschwungen.  Rauh  und 
zackig  tritt  sie  uns  hier  entgegen,  aber  voll  Kraft  und 
Mark,  voll  geheimnisvoller  Schauer  eines  allgewalti- 
gen Weltgeistes  und  mächtigen  Schöpfers.  Das  stärkt 
und  stählt  Herz  und  Sinne.  Du  wirst  sehen,  wie  die 
Nerven  fest  werden  im  Anschauen  des  Großen  und 

7i 


wie  die  Brust  weit  wird  und  das  Blut  rascher  pulsiert 
beim  Einatmen  der  würzigen  Bergesluft.  —  Ihr  seid 
wohl  über  den  Bodensee  gegangen  und  dann  das 
Rheintal  hinauf?  Du  bist  ja  jetzt  dicht  an  der  Quelle 
dieses  uralt  deutschen  Stromes,  um  dessen  reben- 
umwachsene Ufer  schon  soviel  deutsches  und  frän- 
kisches Blut  geflossen  ist.  Später  wirst  Du  diesen 
Stromfürsten  ja  auch  in  seinem  unteren  Lauf  sehen 
und  Dich  an  der  entzückenden  Schönheit  desselben 
berauschen.  »An  den  Rhein,  an  den  Rhein,  zieh'  nicht 
an  den  Rhein«  —  singt  der  Dichter,  denn  hast  Du  ihn 
erst  gesehen,  haben  seine  Zauber  Dein  Herz  umspon- 
nen, so  krankst  Du  an  ewiger  Sehnsucht  nach  seinen 
grünen  Ufern!  —  Wie  groß  ist  das  Stück  Welt- 
geschichte, das  sich  an  diesen  Strom  knüpft,  dessen 
schwache  rieselnde  Quelle  Du  gesehen  haben  wirst. 
Du  thronst  jetzt  soundsoviel  tausend  Fuß  über  uns 
anderen  Sterblichen,  die  wir  in  tiefer  sandiger  Ebene 
unser  Dasein  weiterspinnen. 

Berlin,  15.  Juli  1881. 

Du  schreibst  so  hübsch  und  so  interessant,  daß  ich 
alles,  was  Du  gesehen,  mit  Dir  zusammen  noch  ein- 
mal durchkoste.  —  Aus  Deinem  Briefe  sehe  ich  so 
recht,  wie  sehr  Dein  inneres  Leben  mehr  und  mehr 
erwacht  ist  und  zum  Lichte,  zur  Erkenntnis  seiner 
selbst  und  der  Dich  umgebenden  Außenwelt  drängt. 
Fahre  nur  so  fort,  alles  was  Du  siehst,  auf  Dich  wir- 
ken zu  lassen,  öffne  Dein  Inneres  den  Großartig- 
keiten und  Schönheiten  der  Welt,  und  Du  wirst  sel- 
ber fühlen,  wie  Du  täglich  reineren  Genuß  an  diesen 
Freuden  haben  und  täglich  besser  lernen  wirst,  mit 
ungetrübtem  Inneren  zu  genießen  und  Dich  des  schö- 
nen Lebens  zu  freuen.  Dann,  wenn  Du  Dich  selber 
innerlich  glücklich  fühlst,  wirst  Du  auch  andere  glück- 

72 


lieh  machen  und  aus  dem  Bewußtsein,  Dich  mit  Dei- 
nen Mitmenschen  in  Harmonie  zu  befinden,  wieder 
ein  immer  neues  Moment  des  Glückes  ziehen.  Des- 
halb lege  ich  auch  so  sehr  großen  Wert  auf  diese 
Reise,  weil  ich  weiß,  daß  nichts  mehr  geeignet  ist, 
einen  Geist  von  sich  selber  abzuziehen  und  der  Außen- 
welt zuzulenken,  als  eine  Reise  mit  ihren  täglich  neuen 
Bildern,  ihrem  Zwang,  auf  alles  zu  achten,  ihrem  In- 
teresse an  noch  nie  Gesehenem  und  ihrer  inneren 
Wanderlust,  die  jedem  Menschen  innewohnt  und  ge- 
weckt wird,  sobald  das  Posthorn  bläst  und  die  Rä- 
der auf  dem  Steinpflaster  rasseln.  Das  zwingt  den 
Sinn  aus  sich  selber  heraus,  und  indem  täglich  neue 
Eindrücke  an  ihn  herantreten,  bleibt  ihm  keine  Zeit, 
in  Grübeleien  zu  versinken,  keine  Zeit  zum  Speku- 
lieren und  Brüten,  denn  die  schöne  Welt  lockt  doch 
gar  zu  goldig  draußen,  die  Bächlein  von  den  Felsen 
springen,  die  Lerchen  jubeln  laut  vor  Lust  —  wer 
möchte  nicht  mit  ihnen  singen  mit  frischem  Sinn 
aus  freier  Brust! 

Berlin,  20. Juli  1881. 

Von  Onkel  Helmuth  habe  ich  heute  einen  Brief  be- 
kommen mit  der  Anfrage,  ob  ich  zehn  Tage  Urlaub 
bekommen  könnte,  er  wollte  mich  gerne  mitnehmen 
zu  einer  Reise  auf  dem  Tatra-Gebirge.  Ich  glaube 
aber  nicht,  daß  ich  Urlaub  bekommen  werde,  da  ich 
vom  22.  ab  der  einzige  Offizier  in  meiner  Abteilung 
bin,  da  alle  anderen  auf  Urlaub  sind. 

Creisau,  30. Juli  1881. 

Laß  Dir  erzählen,  wie  alles  gekommen  ist!  Ich 
schrieb  Dir  schon  von  Kandrzin,  daß  ich  ohne  alle 
Sachen  hatte  abreisen  müssen,  da  der  Koffer  nicht 
auf  dem  Bahnhof  war.  Ich  hatte  alles  so  schön  vor- 

73 


bereitet,  Briefpapier,  Feder  und  Tinte  mit,  nun  mußte 
ich  reisen,  ohne  ein  Stück  davon  mitnehmen  zu  kön- 
nen. L.  borgte  mir  glücklicherweise  ein  paar  Hemden 
und  Strümpfe,  die  mit  in  Onkel  Helmuths  kleinen 
Handkoffer  gepackt  wurden,  das  war  unser  ganzes 
Gepäck!  Wir  fuhren  den  ersten  Tag  bis  Ratibor,  wo 
wir  in  einem  kleinen  Hotel  übernachteten,  Onkel  Hel- 
muth  und  ich  beide  in  einem  Zimmer.  Übrigens  war 
er  natürlich  überall  gleich  erkannt,  obgleich  er,  wie 
er  sagte,  ganz  inkognito  reisen  wollte!  Wir  kamen 
abends  7  Uhr  an,  gingen  ins  Hotel,  ich  immer  mit 
dem  Koffer,  Reisedecke  usw.  in  der  Hand  —  und 
dann  gleich  wieder  aus,  um  die  Stadt  zu  besehen.  — 
Auf  dem  Rückwege  kam  uns  der  Bürgermeister  in 
Frack  und  weißer  Binde  entgegen,  der  Onkel  Hel- 
muth  begrüßte  und  ihn  um  die  Ehre  bat,  ihn  bis  an 
sein  Hotel  begleiten  zu  dürfen.  Onkel  Helmuth  war 
ziemlich  kurz  angebunden,  verstand  auch  nicht,  was 
der  Mann  sagte,  und  so  zogen  wir  denn  durch  die 
Stadt,  der  Bürgermeister  immer  im  Rinnstein  neben- 
her mit  dem  krampfhaften  Bemühen,  Konversation 
zu  machen,  was  ihm  gänzlich  mißglückte!  —  Am 
nächsten  Morgen  auf  dem  Bahnhof  große  Versamm- 
lung, um  Onkel  Helmuth  abfahren  zu  sehen.  Die 
Eisenbahnverwaltung  hatte  einen  Salonwagen  in  den 
Zug  einstellen  lassen,  was  für  uns  sehr  angenehm 
war,  da  er  rund  herum  Fenster  hatte  und  man  so  einen 
freien  Blick  auf  die  wirklich  reizende  Gegend  des 
Riesengebirges  und  der  Sudeten  hatte.  Die  Ankunft 
von  Onkel  Helmuth  war  immer  bereits  von  der  Bahn- 
verwaltung telegraphisch  vorausgemeldet,  so  daß  alle 
Schaffner  und  Bahnbeamten  bereits  avertiert  waren. 
—  In  Oderberg  tritt  die  Bahn  auf  österreichisches  Ge- 
biet über.  Auch  hier  war  alles  sehr  höflich  und  sehr 
neugierig.  Die  österreichische  Bahnverwaltung  ließ 

74 


den  Salonwagen  weiter  mitgehen,  und  so  fuhren  wir 
denn  bewundert  und  angestaunt  in  Österreich  hin- 
ein!—  Nun  kam  eine  wirklich  großartig  schöne  Fahrt 
durch  das  immer  bergiger  werdende  Land  den  Kar- 
pathen  entgegen.  Die  Bahn  überschreitet,  fortwährend 
steigend,  den  Tablenkau-Paß  in  einer  Höhe  von  tau- 
send Meter  über  dem  Meere  und  steigt  dann  in  das 
Waagtal  hinab,  um  ferner  in  diesem  Tal  wieder  an- 
steigend und  immer  dem  Laufe  der  Waag  folgend  an 
dieser  stromauf  zu  gehen.  Die  Gegend  wird,  je  weiter 
wir  kommen,  immer  großartiger.  In  mannigfachen 
Windungen  dem  Flußlaufe  folgend,  durch  Tunnel 
und  in  scharfen  Kurven  um  Felsvorsprünge  biegend, 
steigt  die  Bahn  bergan.  Auf  der  anderen  Seite  des 
Tablenkau-Passes,  der  Wasserscheide  zwischen  Do- 
nau und  Weichsel,  wird  schon  alles  charakteristisch 
ungarisch.  Die  Leute,  welche  auf  dem  Felde  arbeiten, 
zeigen  das  malerische  Kostüm  der  Ungarn,  die  wei- 
ten weißen  Hosen  und  Hemden,  mit  dem  Filzhut  mit 
breiter  Krempe,  die  Weiber  alle  in  hohen  Stiefeln 
mit  weißem  Hemd  und  Überwurf  oder  die  Beine  bis 
zu  den  Knien  mit  Filzlappen  umwickelt.  Alles  Korn 
wird  mit  der  Sichel  geschnitten  und  in  eigentümlichen 
Mandeln  aufgesetzt.  Kleine  melancholische  Pferde, 
die  doch  viel  leisten  und  aushalten,  ärmliche  mit  zer- 
fallendem Strohdach  gedeckte  Hütten,  aber  überall 
eine  überreiche  Vegetation,  die  in  mächtigen,  wo- 
genden Kornfeldern  ihr  ursprüngliches  reiches  Schaf- 
fen zeigt. 

Von  Rattek  ab  verlassen  wir  die  Pester  Bahn,  um 
auf  der  Raschauer  Zweigbahn  unserem  Zielpunkte 
Poprard  zuzueilen.  Jetzt  zeigen  sich  schon  die  höch- 
sten, mit  ewigem  Schnee  bedeckten  Spitzen  des  Ta- 
tra zur  Linken,  während  zur  Rechten  das  weniger 
steile  Tatragebirge  aufsteigt.  Die  Fahrt  auf  dieser  letz- 

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ten  Strecke  ist  bezaubernd  schön.  Je  näher  man  dem 
Tatra  kommt,  der  als  ganz  abgesonderte  mächtige 
Gruppe  fast  unvermittelt  aus  der  flacheren  Ebene  auf- 
steigt, desto  schöner  wird  der  Anblick,  den  dies  im- 
posante Gebirge  bietet.  Die  Spitzen  sind  sehr  steil. 
Schroffe  Felswände  aus  grauem  Granit,  senkrecht  steil 
aufsteigend,  bis  zum  dritten  Teil  der  Höhe  kriecht 
dichtes  Nadelholz  in  den  Schluchten  hinauf,  dann 
kommen  Föhren  und  Arven,  darüber  nackter  Fels 
mit  langen,  schneegefüllten  Tälern  und  den  ganz 
spitzen  Gipfeln,  die  rauh  und  zerrissen  in  den  blauen 
Himmel  hineinstarren.  —  Die  Beleuchtung  der  gan- 
zen Partien  ist  wundervoll.  Blaue  tiefe  Schatten  wech- 
seln mit  grell  beschienenen  Wänden,  bisweilen  hängt 
eine  der  ziehenden  Wolken  sich  wie  ein  wehender 
Schleier  um  eines  der  Bergeshäupter,  kann  sich  nicht 
von  ihm  loslösen,  verzweigt  sich  in  den  Rissen  und 
Schluchten,  als  wollte  sie  sich  festsaugen,  wallt  hin- 
auf und  zur  Seite,  gibt  aber  immer  noch  nicht  den 
Gipfel  frei,  der  mit  seinen  spitzen  Felszacken  ganz 
in  ihr  verschwunden  ist,  kriecht  dann  hinab  und  zer- 
reißt, und  über  ihr  starren  auf  einmal  wieder  grau 
zerrissen  und  unbeweglich  die  Felsspitzen  in  den 
blauenden  Himmel  hinein.  Dies  immer  wechselnde 
Schauspiel  ist  wunderbar  schön,  und  ich  kann  wohl 
sagen,  daß  ich  mich  schon  in  das  Gebirge  verliebt 
hatte,  bevor  wir  es  noch  betreten  hatten.  —  Endlich, 
abends  8  Uhr,  kamen  wir  in  Poprard  an  und  stiegen 
aus.  Onkel  Helmuth  hatte  dem  Schaffner  gesagt,  er 
wollte  in  Poprard  die  Nacht  bleiben,  wie  aber  neben 
dem  Bahnhof  eine  Reihe  Landwagen,  mit  den  klei- 
nen, mageren  ungarischen  Pferden  bespannt,  hielten 
und  mehrere  Kutscher  im  zerlumptesten  Kostüm,  das 
sich  denken  läßt,  sich  erboten  uns  zu  fahren,  da  der 
Abend  schön  war  und  die  Luft  erfrischend  kühl  nach 

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der  heißen  Fahrt  im  Coup6,  schlug  Onkel  Helmuth 
vor,  gleich  denselben  Abend  noch  nach  Schmeks  zu 
fahren,  dem  Bad,  in  dem  wir  ein  paar  Tage  bleiben 
sollten  und  das  eine  gute  Stunde  Wegs  entfernt  war. 
»Und«,  setzte  er  hinzu,  »wir  haben  dann  den  Vorteil, 
daß  wir  so  ganz  inkognito  ankommen!«  Den  Vorteil 
hatten  wir  nun  allerdings,  und  wie  uns  derselbe  be- 
kam, will  ich  Dir  morgen  erzählen,  denn  heute  abend, 
es  ist  ii  Uhr,  fallen  mir  die  Augen  zu.  Morgen  mit 
frischen  Kräften  mehr. 

Creisau,  31.  Juli  1881. 

Nun  sollst  Du  die  Fortsetzung  meines  gestern  abend 
abgebrochenen  Briefes  haben.  —  Also,  wir  fuhren 
abends  1/2&  Uhr  von  Poprard  auf  einem  kleinen  schmie- 
rigen Wagen  ohne  Federn,  mit  kleinen,  schmierigen 
Pferden  bespannt,  gen  Schmeks  —  den  Gebirgsweg 
hinan.  Da  wir  nur  einen  kleinen  Handkoffer  mithatten, 
war  mit  dem  Fortbringen  keine  Schwierigkeit.  —  Der 
Weg  steigt  von  Poprard  an  fortwährend.  Schmeks 
liegt  am  Fuße  des  Tatra  mitten  in  dunkelgrünem  Tan- 
nenwald versteckt,  unmittelbar  dahinter  steigt  der  stei- 
nige, felsige  Gebirgskamm  auf.  Es  war  ein  wunder- 
voller Abend,  eine  balsamische  Luft,  die  man  mit 
voller  Brust  einsog  und  die  belebend  die  Lungen 
füllte. 

Um  V210  Uhr  kamen  wir  in  Schmeks  an.  Wir  wand- 
ten uns  an  den  Portier  um  Zimmer  und  erhielten  so- 
fort den  wenig  tröstlichen  Bescheid,  daß  wahrschein- 
lich kein  Zimmer  mehr  frei  sein  würde.  Der  Direktor 
wurde  gerufen  und  uns  natürlich  zuerst  die  übliche 
Frage  vorgelegt,  ob  wir  längere  Zeit  oder  nur  ein 
paar  Tage  bleiben  wollten.  Nachdem  wir  gesagt,  daß 
letzteres  unsere  Absicht  sei,  hatten  wir  entschieden 
verspielt.  —  Wir  waren  richtig  ganz  inkognito,  wie 

77 


Onkel  Helmuth  es  gewünscht  hatte,  und  mußten  die 
Folgen  tragen!  Nachdem  wir  in  zwei  falsche  Häuser 
geführt  waren,  fanden  wir  endlich  in  einem  dritten, 
hoch  auf  einer  Lehne  liegend,  ein  dürftiges  Unter- 
kommen in  einem  ganz  kleinen  Zimmerchen  mit 
einem  mäßigen  Bett,  einem  kleinen  Fenster  nach  dem 
Hof  und  einer  rechten  Kellerluft.  Onkel  Helmuth  war 
sehr  indigniert.  »Das  soll  nun  das  erste  Bad  Ungarns 
sein!  Das  ist  ja  wie  in  einer  Baude  auf  dem  Riesen- 
gebirge. Eine  schrecklich  unzivilisierte  Nation«  usw. 
—  Er  mußte  aber  doch  aus  der  Not  eine  Tugend 
machen,  und  ich  war  froh,  wie  mir  eine  Lagerstatt 
auf  dem  steinharten  Sofa  zubereitet  wurde.  —  Nach- 
dem unser  Gepäck  abgelegt  war,  gingen  wir  hinunter 
in  ein  tiefer  liegendes  Haus,  auf  dessen  Außenseite 
mit  großen  Buchstaben  »Speisehaus«  geschrieben 
stand.  Wir  traten  in  einen  großen  Saal,  der  gedrängt 
voll  Menschen,  Männlein  und  Weiblein  saß.  Mit 
Mühe  fanden  wir  ein  Unterkommen  an  der  Ecke 
eines  Tisches  gerade  vor  der  offenstehenden  Tür, 
im  schönsten  Zug!  —  In  der  Mitte  des  Zimmers  saßen 
an  einem  Tisch  der  Badearzt  und  der  Geistliche, 
welche  eine  Menge  kleiner  Gewinne  vor  sich  stehen 
hatten,  einen  Sack  mit  Nummern,  und  von  Zeit  zu 
Zeit  etwas  auf  ungarisch  mit  lauter  Stimme  durch 
den  Saal  riefen,  von  dem  wir  natürlich  keine  Silbe 
verstanden.  Fast  alle  Gäste  hatten  kleine  Lottokarten 
vor  sich,  die  sie  aufmerksam  betrachteten,  und  end- 
lich wurde  es  uns  klar,  daß  die  ganze  Gesellschaft  in 
ein  Tombolaspiel  vertieft  war,  das  eben  im  besten 
Gange  war,  als  wir  eintraten.  —  Wie  allgemein  das 
Interesse  an  diesem  Spiel  sei,  sollten  wir  zu  unserer 
Betrübnis  bald  dadurch  erfahren,  daß  auch  alle  Kell- 
ner eine  Lottokarte  in  der  Hand  hielten  und  ihre  Auf- 
merksamkeit zwischen  dieser  und  den  Gästen  sehr 

78 


zu  Ungunsten  der  letzteren  teilten.  Nach  langer  Mühe 
gelang  es  mir,  einen  solchen  in  seine  Karte  vertieften 
Buben  durch  lautes  Anschreien  dazu  zu  bewegen, 
daß  er  uns  in  einer  Pause,  die  der  Ausrufer  machte, 
ein  Backhuhn  brachte,  welches  wir  bis  auf  die  alier- 
härtesten  Knochen  verzehrten.  Mehr  zu  bekommen 
glückte  uns  indessen  absolut  nicht,  wir  mußten  den 
Versuch  aufgeben  und  uns  in  unser  kellerartiges  Ge- 
mach zurückziehen,  wo  Onkel  Helmuth  unter  man- 
chem Stöhnen  und  Seufzen  in  sein  viel  zu  kurzes 
Bett  kroch,  während  ich  mich  auf  dem  Sofa  ein- 
richtete. Wir  waren  eben  gründlich  inkognito! 

Der  nächste  Morgen  fand  uns  schon  früh  auf.  Es 
war  herrliches  Wetter,  die  Sonne  warf  ihr  grelles 
Licht  auf  die  steilen  Felswände  zu  unseren  Häupten, 
tiefblau,  fast  purpurn  hoben  sich  die  schattengefüll- 
ten Schluchten  von  den  Wänden  ab,  hie  und  da  ein 
schmaler  Streifen  Schnee  in  die  Sprünge  des  Gesteins 
hinein  verweht.  —  Ein  großartig  schöner  Anblick.  Die 
Luft  dabei  so  klar  und  schön,  man  schlürfte  sie  or- 
dentlich ein  wie  den  köstlichsten  Wein.  Es  war,  als 
ob  das  Atmen  ganz  von  selber  ginge,  als  ob  jemand 
anderes  für  uns  atmete  und  wir  nur  den  Genuß  da- 
von hätten.  Wir  nahmen  uns  nun  einen  Wagen  und 
fuhren  auf  steilem  unbequemem  Wege,  den  eben  nur 
diese  ungarischen  Katzen  überwinden  können,  hin- 
auf in  das  Kohlbachtal.  Hier  fanden  wir  eine  Schutz- 
hütte, eine  Art  Blockhaus,  in  dem  es  vortrefflichen 
Ungarwein  und  gute  Forellen  gab,  saßen  auf  einer 
Terrasse  mit  schöner  Aussicht  über  das  Tal,  in  dem 
die  Kohlbach  brausend  hinabkommt,  und  einem  wei- 
ten Blick  über  die  getreidewogenden  Ebenen  zu 
Füßen  des  Gebirges.  —  Während  Onkel  Helmuth 
sitzen  blieb,  machte  ich  mich  auf  und  stieg  noch  eine 
Stunde  in  dem  Tal  hinauf  auf  ziemlich  schwierigem 

79 


Wege  bis  an  den  sogenannten  Riesenwasserfall  der 
Kohlbach.  Derselbe  ist  zwar  sehr  schön,  verdient  aber 
seinen  Namen  nicht  wegen  der  zu  unbedeutenden 
Wassermenge.  —  Wie  ich  wieder  umdrehte,  standen 
die  hohen  Berggipfel  noch  gerade  so  hoch  über  mir, 
als  sei  ich  ganz  unten  in  der  Ebene  geblieben.  Das  ist 
das  Schöne  hier  im  Gebirge,  daß  alles  noch  so  ist, 
wie  es  die  Natur  geschaffen  hat.  Hier  sind  keine 
künstlich  gestauten  Wasserfälle,  keine  auskostümier- 
ten Sennerinnen,  keine  musikalisch  gebildeten  und 
in  malerische  Bauernkostüme  verkleideten  Schalmei- 
bläser, keine  sorgsam  durchgehauenen  Fernblicke, 
keine  Ruinen,  die  uralt  verwittert  an  steilem  Fels  kle- 
ben und  die  doch  erst  im  vorigen  Jahr  der  Aussicht 
wegen  aufgemauert  und  künstlich  alt  gemacht  wor- 
den sind,  keine  gußeisernen  Brücken  und  bequemen 
Fußwege,  keine  Geländer  mit  verzierten  Knäufen  vor 
jedem  zehn  Fuß  tiefen  Abgrund  —  rein  und  unver- 
fälscht tritt  die  Natur  uns  entgegen,  rauh  und  zackig, 
wie  sie  geschaffen.  —  Die  Tannen,  die  hier  mit  aus- 
gerissenem Wurzelwerk  über  die  Schlucht  gestürzt 
sind,  hat  sicher  der  Wind  geworfen,  das  Wasser  braust 
seit  Jahrtausenden  über  dieselben  Felsblöcke,  hier 
hat  keine  Menschenhand  seinen  Lauf  reguliert,  keine 
Schleuse  staut  es  an,  um  es  gegen  50  Pfennig  Entree 
eine  Minute  frei  zu  lassen.  —  Hie  und  da  zieht  sich 
ein  kaum  ausgetretener  Fußpfad  rauh  und  rücksichts- 
los über  Wurzeln  und  Felsen  an  den  Hängen  hin,  es 
ist  nur  der  Fuß  des  Menschen,  der  ihn  ausgetreten 
hat,  nicht  die  Hand  hat  ihn  zur  Bequemlichkeit  ge- 
schaffen. Wo  du  an  einen  Abgrund  trittst,  hemmt 
kein  Geländer  deinen  Schritt,  noch  einen  und  du  liegst 
zerschellt  zwischen  den  Felsen.  Kunstlos  sind  wenige 
notdürftige  Stege  über  den  Bach  geschlagen.  Ein  paar 
kaum  behauene  Tannenstämme,  ein  harziges  Gelän- 

80 


der  auf  der  einen  Seite  genügt,  um  hinüberzukom- 
men  und  auf  der  andern  Seite  weiterklettern  zu  kön- 
nen. —  Das  alles  ist  wunderbar  schön,  ergreifend 
mächtig,  wenn  man  aus  unserer  erbarmungslosen  Zi- 
vilisation wie  mit  Zauberschlag  auf  einmal  so  mitten 
in  die  urgeschaffene  Natur  versetzt  wird.  —  Mächtig 
quillt  die  Vegetation  überall  hervor,  an  den  Tannen 
hängt  langbärtig  das  Flechtenmoos,  hoch  und  üppig 
wuchern  Bickbeeren  und  Fairen  um  die  feuchtdunk- 
len Stämme,  und  darüber  der  zackige  zerklüftete  Gra- 
nit, himmelansteigend,  scharf  abgehoben  vom  Äther 
und  untermischt  mit  seinem  tiefblauen  Schatten.  Keine 
Menschenstimme,  soweit  das  Ohr  reicht,  kaum  der 
Laut  eines  vorbeihuschenden  Vogels.  Man  könnte 
glauben,  der  einzige  Mensch  in  diesen  Einsamkeiten 
zu  sein,  der  erste  Mensch  vielleicht  und  der  letzte, 
und  das  weitgestreckte  Bild  der  fruchtgelben  Ebene 
mit  den  in  den  Tälern  zusammengekrochenen  Dör- 
fern ist  eben  nur  ein  Bild,  ist  keine  Wirklichkeit,  nur 
ein  Symbol  menschlichen  Erdenlebens,  hier  oben  in 
der  gottgeschaffenen  Einsamkeit  umweht  uns  der 
starke  Hauch  der  schaffenden  Gewalt,  uralt,  doch 
ewig  jung,  milde  und  süß  gleichso,  wie  starr,  kräftig 
und  unbeugsam.  Ich  sehnte  mich  hinauf  bis  dahin, 
wo  die  Wolken  vergebens  strebten,  die  Bergspitzen 
zu  erreichen,  aber — ,  unten  saß  Onkel  Helmuth  und 
wartete,  also  zurück  und  wieder  im  Wagen  mit  ihm 
hinab  in  unser  Kellergeschoß! 

Unten  spielten  die  Zigeuner  vor  dem  sogenannten 
Promenadenplatz.  —  Geige,  Zymbal  und  Klarinette 
ohne  Noten,  einer  spielt  vor,  die  andern  wild  hinter- 
drein, wenn  auch  manch  abenteuerlicher  Sprung  mit 
unterläuft,  die  allgemeine  Richtung  halten  doch  alle 
wie  eine  Herde  wilder  Pferde,  die  in  rasendem  Ga- 
lopp hinter  dem  Leithengst  über  die  Pußta  brausen. 

Moltke.        6.  8l 


—  Wir  waren  hungrig  geworden,  und  doch  war  es 
uns  unmöglich,  etwas  zu  essen  zu  bekommen.  Im 
Speisehause  war  die  Küche  »gesperrt«,  um  '/28  Uhr 
abends  wird  erst  wieder  zur  Nacht  gespeist,  jetzt  kön- 
nen Sie  nichts  bekommen!  —  Da  zog  sich  denn  Onkel 
Helmuth  grollend  und  hungrig  in  sein  Zimmer  zu- 
rück, um  bei  einem  englischen  Roman  die  Zeit  zu 
verbringen;  ich  aber  strich  hinaus  die  Kreuz  und  Quer, 
folgte  den  brausenden  Bächen  talab,  stieg  wieder  hin- 
auf, schwärmte  unter  den  Tannen  umher  und  war 
herzlich  froh,  keinem  Menschen  zu  begegnen,  der  mir 
den  Genuß  hätte  trüben  können.  —  Es  ist  eine  himm- 
lische Natur  und  nach  dem,  was  ich  von  den  Alpen 
gesehen,  d.  h.  die  Tour  über  den  St.  Bernhard  vom 
Luzerner  See  bis  zum  Luganer  See,  steht  der  Tatra 
ihnen  an  wild  romantischer  Schönheit  in  keiner  Weise 
nach.  —  Wie  ich  müde  und  abgetrieben  zurückkehrte, 
saß  Onkel  Helmuth  noch  immer  finster  und  in  sehr 
schlechter  Laune  bei  seinem  Buch.  Er  hatte  noch 
einen  Versuch  gemacht,  ein  besseres  Zimmer  zu  be- 
kommen, aber  vergebens.  Der  Direktor  hatte  ihm  auf 
die  Schulter  geklopft  und  gesagt:  »Ja,  schauen's,  Sie 
können  froh  sein,  daß  Sie  überhaupt  noch  unterge- 
kommen sind  und  nicht  haben  auf  Stroh  liegen  müs- 
sen.« —  Wir  waren  also  noch  immer  im  höchsten 
Grade  inkognito.  —  »Morgen  reisen  wir  ab,«  sagte  On- 
kel Helmuth,  »dann  werde  ich  aber  feurige  Kohlen  auf 
ihr  Haupt  sammeln.  Sie  sehen  uns  nicht  für  voll  an  — 
(natürlich,  dachte  ich),  wenn  wir  aber  abreisen,  werde 
ich  mich  einschreiben:  Graf  Moltke,  Generalfeldmar- 
schall, Ritter  pp.  mit  allen  Titeln  und  Würden!!!«  — 
Mir  tat  es  leid,  schon  wieder  fort  zu  sollen,  ich  wollte 
gern  noch  mehr  von  den  Bergen  sehen  und  ge- 
brauchte demnach  eine  Kriegslist.  —  Wie  wir  wieder 
zum  Abendessen  hinabgingen,  blieb  ich  zurück  und 

82 


fragte  dann  einen  Kellner,  ob  er  nicht  gesehen  hätte, 
ob  der  Graf  Moltke  schon  hineingegangen  wäre?  — 
Nun  hättest  Du  sehen  sollen!  —  Wer?  Der  Graf 
Moltke?  Der  Feldmarschall?  Der  berühmte  —  oh!  und 
von  Mund  zu  Mund  ging  die  Kunde!  Auf  einmal  wa- 
ren alle  Kellner  geschmeidig  und  aufmerksam,  auf 
einmal  stürzte  der  Wirt  herbei  und  wies  uns  Plätze 
an,  auf  einmal  hieß  es:  was  befehlen  Exzellenz?  Ich 
werde  eigens  für  Ew.  Gnaden  kochen  lassen,  bitte  Ex- 
zellenz, hier  Platz  zu  nehmen,  hier  ist  ein  gepolster- 
ter Stuhl,  hier  zieht  es  nicht,  dieser  Wein  ist  zu  emp- 
fehlen, nein,  nicht  der,  Exzellenz,  das  ist  nur  ein  Land- 
wein. —  Da  stand  plötzlich  hinter  jedem  Stuhl  ein 
Kellner,  ihn  zurecht  zu  rücken,  da  sprang  plötzlich 
einer  nach  Zahnstochern,  einer  nach  Wasser,  einer 
nach  Wein,  da  war  auf  einmal  das  Tischtuch  nicht 
ganz  frisch,  da  wurde  das  Brot  vom  Tisch  gerissen, 
weil  es  von  gestern  war,  und  frisches  hingestellt,  da 
fuhr  der  Wirt  mit  Donnerstimme  einen  Kellner  an, 
der  zu  langsam  lief:  was  das  für  eine  Bedienung  sei, 
ob  er  nicht  gehört  habe,  daß  Exzellenz  rasch  essen 
wolle,  da  rannte  er  selber  in  die  Küche  und  kam 
atemlos  zurück  mit  dem  Rehfilet,  das  er  ganz  eigens 
für  Exzellenz  habe  braten  lassen!  Bitte,  Ew.  Gnaden, 
sind  Exzellenz  zufrieden?  Ist  es  weich?  Soll  ich  ein 
anderes  machen?  Bitte  schön,  Ew.  Gnaden!  —  Und 
Onkel  Helmuth,  ruhig  und  behaglich  sich  fixieren 
lassend,  blinzelt  mir  über  den  Tisch  zu  und  flüstert: 
»Es  muß  mich  doch  jemand  erkannt  haben.«  —  Daß 
er  aber  nicht  unzufrieden  war  mit  dem  gebrochenen 
Inkognito,  sah  ich  an  dem  leisen  Schmunzeln  seiner 
Mundwinkel!  —  Jetzt  auch  die  Bewegung  unter  den 
Gästen.  Alle  Köpfe  drehen  sich  nach  uns  um.  Jeder, 
der  hereinkommt,  hat  es  schon  erfahren  und  wirft 
einen  langen  neugierigen  Blick  auf  Onkel  Helmuth. 

83 


—  Nach  einer  Viertelstunde  kommt  auch  der  Direk- 
tor, aber  nicht  um  Onkel  Helmuth  wieder  auf  die 
Schulter  zu  klopfen,  sondern  um  zu  sagen,  daß  ein 
sehr  schönes  Zimmer  für  ihn  eingerichtet  sei:  das 
Zimmer  vom  Minister,  Exzellenz !  Das  beste  Zimmer, 
das  wir  haben.  Herr  Gott,  dreht  er  sich  um,  ich  hätt' 
mir  mögen  die  Haare  ausraufen,  wie  ich  gehört  hab', 
daß  ich  den  Grafen  Moltke  in  das  Zimmer  da  oben 
getan  hab'!  Halten  zu  Gnaden,  Exzellenz,  die  Sachen 
sollen  sofort  heruntergebracht  werden.  —  Und  drei 
stämmige  Hausdiener  werden  geschickt,  um  die  Sa- 
chen zu  holen!  Zwei  können  dann  wieder  umkehren, 
denn  schon  kommt  der  erste  ihnen  triumphierend 
entgegen,  in  der  Hand  unseren  Koffer  schwingend, 
er  hat  die  »Sachen«  von  Exzellenz  schon  alleine  hin- 
untergebracht! 

Die  Enthüllung  von  Onkel  Helmuths  wahrem  We- 
sen brachte  uns  also  den  doppelten  Vorteil,  gut  be- 
dient zu  werden  und  ein  besseres  Zimmer  zu  erhal- 
ten. —  Wir  saßen  noch  bei  unserem  Abendbrot,  als 
aus  der  Schar  der  den  Saal  füllenden  Gäste,  ein  älte- 
rer Herr  sich  erhob,  auf  Onkel  Helmuth  zuschritt 
und  mit  würdevollem  Ton  sagte:  Exzellenz,  ich  be- 
grüße Sie  im  Namen  der  Badegäste!  —  Dieser  ältere 
Herr  entpuppte  sich  als  ein  katholischer  Propst  aus 
Szegedin,  der  Stadt,  die  im  vorigen  Jahr  durch  die 
Überschwemmung  derTheis  fast  ganz  zerstört  wurde. 
Er  war  Präses  des  Vergnügungsausschusses  der  Gäste 
und  hieß  Oltvarrgi  Päl-prepost,  päpai  Kamares,  Fe- 
rencz  Jözsef  rend  lovag  keresztese.  — Von  dieser  lan- 
gen Mitteilung  seiner  Visitenkarte  ist  mir  nur  ver- 
ständlich: Propst,  päpstlicher  Kammerherr.  —  Dieser 
wackere  Propst  redete  sehr  viel,  von  dem  Onkel  Hel- 
muth nur  den  zehnten  Teil  verstand,  und  teilte  uns 
schließlich  mit,  daß  heute  Abend  im  Tanzsalon  des 

84 


Bades  der  große  Annaball  gefeiert  würde,  der  am 
St.  Anna -Tage  in  allen  Bädern  Ungarns  in  gleicher 
Weise  stattfände.  Gewiß  würde  es  Exzellenz  interes- 
sieren, einen  echten  ungarischen  Szardas  anzusehen. 
Exzellenz  würden  in  keiner  Weise  inkommodiert  wer- 
den, könnten  aus  einer  Ecke  zusehen  etc.  —  Wirk- 
lich sagte  Onkel  Helmuth  zu  meinem  Erstaunen  zu, 
und  so  gingen  wir  abends  auf  den  Annaball!  —  Die- 
ser Ball  wurde  erst  um  V211  Uhr  eröffnet  und  fing 
mit  einem  Szardas  an,  wie  alle  Bälle  in  Ungarn,  wie 
mir  der  vergnügungskundige  Geistliche  versicherte. 
—  In  einer  Ecke  des  großen  Tanzsaales  hatten  sich 
die  Zigeuner  postiert  und  unmittelbar  vor  diesen  sie- 
ben bis  acht  Paare,  die  zum  Szardas  angetreten  wa- 
ren. Ich  muß  sagen,  daß  ich  mir  diesen  berühmten 
Tanz  ganz  anders  vorgestellt  hatte.  Die  Herren  im 
Frack  und  weißer  Halsbinde,  Lackstiefeln,  die  Damen 
in  großer  Balltoilette.  Sehr  hübsche  Erscheinungen, 
besonders  auffällig  durch  die  wunderhübschen  kleinen 
Füße  und  das  ausgezeichnet  sitzende  Schuhzeug.  — 
Herr  und  Dame  standen  sich  vis-a-vis.  Der  Herr  mit 
beiden  Händen  seine  Dame  um  die  Taille  gefaßt,  diese 
ihre  Hände  auf  die  Schultern  des  Herrn  gelegt.  Die 
Zigeuner  spielten  mit  sehr  viel  Feuer  die  wilden  Tanz- 
weisen und  dazu  hüpften  und  sprangen  die  Paare 
dicht  aneinandergedrängt,  ohne  sich  von  der  Stelle 
zu  bewegen,  vor  einander  auf  und  nieder.  Bald  hoben 
sie  sich  auf  die  Fußspitzen,  bald  schlugen  sie  Wirbel 
mit  den  Füßen,  aber  kein  Herr  ließ  seine  Dame  los, 
um  in  wechselnden  Pas,  Biegungen  und  Verschlin- 
gungen den  Tanz  durchzuführen,  wie  er  in  unserer 
Einbildung  lebt.  So  machte  das  Ganze  den  Eindruck 
einer  Gesellschaft  von  Tollen,  die  unermüdlich  auf 
und  ab  sprangen,  bis  ihnen  der  Schweiß  in  großen 
Tropfen  von  der  Stirn  rann  und  Herr  und  Dame  keu- 

85 


chendnach  Atem  rangen.  Wunderbar  sah  es  aus,  der 
große  Saal  ganz  leer,  nur  an  den  Wänden  herum  die 
nicht  tanzenden  Damen,  und  dann  in  der  einen  Ecke, 
oft  bis  so  dicht  in  die  Zigeuner  hineintanzend,  daß 
diese  ihre  Geigen  erheben  mußten,  um  nicht  an  die 
Köpfe  der  Tanzenden  zu  stoßen,  dieser  wirre  Knäuel 
von  auf  und  ab  hüpfenden  Gestalten  in  der  elegante- 
sten Balltoilette!  —  Wäre  eine  solche  Szene  auf  ei- 
nem deutschen  Ballsaal  vorgefallen,  man  hätte  sofort 
nach  dem  Irrenarzt  geschickt,  hier  saß  und  stand  die 
ganze  Gesellschaft  in  stummem  Staunen  den  weni- 
gen Paaren  zusehend,  die  sich  bei  der  großen  Hitze 
einer  so  enorm  anstrengenden  Beschäftigung  hin- 
gaben! 

Onkel  Helmuth,  der  zehn  Minuten  durch  die  Tür 
dem  Spektakel  zugesehen,  drückte  sich  kopfschüt- 
telnd nach  Hause,  während  ich  noch  blieb,  da  es 
mich  interessierte  zu  beobachten,  wie  lange  wohl  ein 
Mensch  dieses  Herumspringen  würde  aushalten  kön- 
nen! —  Der  ganze  Tanz  dauerte  über  eine  halbe 
Stunde.  Ab  und  zu  fiel  ein  Paar  ab,  immer  die  Damen 
zuerst,  die  sich  unter  heftigem  Sträuben  ihres  Herrn 
zurückzogen,  um  völlig  ermattet  auf  einen  Stuhl  zu 
sinken.  Hatte  sie  sich  etwas  erholt,  traten  sie  wieder 
ein.  Andere,  offenbar  mit  ausdauernden  Waden  und 
Lungen  versehen,  hielten  länger  durch.  —  Nach  einer 
Viertelstunde  schwitzten  alle  Herren,  als  wären  sie 
in  einem  römischen  Bade.  Sie  ließen  eine  Hand  los, 
um  mit  dem  Taschentuch  über  die  triefende  Stirn  zu 
fahren,  ohne  jedoch  im  Hüpfen  innezuhalten.  Die  Da- 
men, gleichfalls  immer  hüpfend,  brauchten  stark  die 
Fächer.  Dann,  als  schämten  sie  sich  ihrer  Schwäche, 
sprangen  die  Herren  doppelt  so  hoch  wie  vorher, 
schüttelten  die  Hand  mit  dem  Taschentuch  den  Zi- 
geunern bis  unmittelbar  unter  die  Nasen,  riefen  ihnen 

86 


zu,  und  diese  braunen  Kerle  spielten  dann  mit  neuem 
Feuer  darauf  los.  —  Allmählich  blieben  weniger  und 
weniger  Paare  zurück,  die  vollständig  fertigen  lagen 
und  hingen  auf  Stühlen  umher,  zuletzt  tanzte  nur  noch 
ein  einziges  Paar,  doch  auch  hier  war  die  Dame  ganz 
fertig,  nachdem  sie  vergebliche  Versuche  gemacht 
sich  loszureißen,  dann  ihren  Tänzer  zum  Stehen  zu 
bringen,  indes  mit  demselben  Erfolg,  mit  dem  ein 
Unerfahrener,  der  die  Arretierung  nicht  kennt,  es  ver- 
suchen würde,  den  stampfenden  Kolben  einer  Dampf- 
maschine anzuhalten,  hatte  sie  sich  resigniert  in  ihr 
Schicksal  ergeben,  stand  bewegungslos  still  und  ließ 
ihren  Herren  wie  ein  junges,  an  einen  Pfahl  gebunde- 
nes Füllen  an  sich  hinauf-  und  hinunterhüpfen.  Ich 
bin  überzeugt,  dieser  Herr  spränge  noch  heutigen 
Tags  wie  ein  Gummiball  weiter,  wenn  nicht  allmäh- 
lich auch  die  Kraft  der  Zigeuner  ermattet  wäre,  deren 
zitternde  Hände  den  Bogen  nicht  mehr  zu  führen 
vermochten.  Plötzlich  brach  die  Musik  ab,  und  der 
Herr,  der  alle  anderen  geschlagen  und  sogar  die  Mu- 
sik totgetanzt  hatte,  machte  noch  einen  letzten  Hop- 
ser und  führte  seine  wankende  Dame  auf  ihren  Platz, 
den  sie  nach  norddeutschem  Maß  gemessen  inner- 
halb vierundzwanzig  Stunden  nicht  wieder  zu  verlas- 
sen imstande  gewesen  sein  würde.  So  endigte  dieser 
wüste  Hexensabbat,  in  dem  weder  Grazie  noch  Ge- 
wandtheit, weder  schöne  Figuren  noch  verschlun- 
gene Tanzweisen  zu  bemerken  waren,  sondern  bei 
dem  es  bloß  darauf  ankommt,  in  einer  möglichst  klei- 
nen Ecke  möglichst  dicht  zwischen  die  Zigeuner  ge- 
drückt möglichst  lange  auf  und  ab  zu  springen  und 
bei  dem  eine  Menge  Schweiß  vergossen  wird,  der 
noch  nach  Aufhören  des  Tanzes  den  feuchten  Boden 
dampfen  machte,  während  Zigeuner,  Herren  und  Da- 
men mit  lautem  Schnaufen  schwitzend  nach  Atem 

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ringend,  eine  notgedrungene  Pause  machten!  —  Die 
armen  Damen  taten  mir  leid.  Es  waren  zum  Teil  rei- 
zende, graziöse  Erscheinungen,  die  auch  im  Tanze 
eine  gewisse  Würde  bewahrten,  während  bisweilen 
bei  den  Herren  blitzartig  eine  Bewegung  auftauchte, 
die  in  unangenehmer  Weise  an  die  schlenkernden 
Verdrehungen  des  Pariser  Cancan  par  excellence  er- 
innerte. 

Ich  machte  es  wie  Onkel  Helmuth,  schüttelte  den 
Kopf,  sagte  meinem  Propst,  der  mit  leuchtenden  Au- 
gen dem  Tanze  zugeschaut  hatte,  ich  hätte  es  sehr 
schön,  jedenfalls  sehr  originell  gefunden,  und  suchte 
mein  Bett  auf,  um  am  andern  Morgen  um  5  Uhr 
wach  zu  sein,  wo  ich  einen  Führer  bestellt  hatte,  um 
auf  den  sogenannten  polnischen  Kamm  zu  steigen, 
der  die  Scheide  zwischen  Galizien  und  Ungarn  bil- 
dend, sich  scharf  und  zackig  vom  Himmel  abhebt.  — 
Denn,  siehe  da,  Onkel  Helmuth  hatte  in  Gnaden  be- 
schlossen, noch  einen  Tag  in  Schmeks  zu  bleiben, 
und  ich  wollte  die  Gelegenheit  ausnutzen. 

Schwere  trübe  Wolken,  wallende  Nebel,  eine 
schwere  schwüle  Luft,  das  gibt  sicher  einen  Regen- 
tag, wie  ich  am  Morgen  um  5  Uhr  vor  die  Türe  trat. 
Doch,  der  Tag  muß  genommen  werden,  wie  er  ist, 
sicher  kommt  er  nicht  wieder,  also  hinauf  und  ob 
alle  Schleusen  des  Himmels  sich  über  mich  öffnen 
möchten! 

Vor  mir  stand  der  bestellte  Führer,  ein  Junge  von 
fünfzehn  bis  sechzehn  Jahren,  mit  gutmütigem  deut- 
schen Gesicht,  ein  echter  Abkomme  jener  vertriebe- 
nen sächsischen  Protestanten,  die  überall  im  Zipser 
Komitat  angesiedelt  noch  unverkennbar  ihre  germa- 
nische Abstammung  bewahrt  haben,  sowie  auch  die 
Sprache  fast  überall  deutsch  ist.  —  Er  hatte  in  einem 
Sack  auf  dem  Rücken  Proviant  für  uns  beide ;  Schnür- 

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schuhe,  einen  Bergstock  mit  Hammer  oben  und  sah 
sehr  malerisch  und  nett  aus.  —  Ein  anderer  Bube, 
kaum  drei  Käse  hoch,  mit  einer  Jacke  angetan,  die 
offenbar  vom  Vater  abgelegt  war  und  durch  deren 
Ärmel  er  sich  vergeblich  bemühte  die  Hände  frei- 
zubekommen, kam  mit  einem  kleinen  Pferdchen  ge- 
zogen, das  mit  gesenktem  Kopf  und  hängenden  Ohren 
geduldig  dem  schrecklichen  Schicksal  entgegenging, 
mein  Gewicht  von  zweihundert  Pfund  die  erste  Hälfte 
des  Weges  bergan  zu  schleppen.  Ich  stieg  wirklich 
auf  dieses  kleine  Tier  auf,  da  mir  mein  Führer  ver- 
sicherte, es  hätte  schon  viel  schwerere  Lasten  ge- 
tragen. Da  ich  aber  bei  jedem  Schritt  rechts  und  links 
mit  den  fast  die  Erde  streifenden  Fußspitzen  an  Fels- 
stücke und  Wurzeln  stieß,  machte  ich  der  Qual  nach 
zehn  Minuten  ein  Ende,  schickte  das  Roß  samt  dem 
Buben  zurück  und  erklärte  meinem  Führer,  die  Tour 
ganz  zu  Fuß  machen  zu  wollen.  —  Hierob  sah  dieser 
mich  erstaunt  an  —  denn  die  Tour  ist  ganz  gehörig 
anstrengend  und  dauert  doch  gegen  acht  Stunden. — 
Wir  also  traten  den  Weg  zu  Fuß  an,  er  vor  mir  her- 
steigend, ich  ihm  Schritt  für  Schritt  folgend.  Jetzt 
schon  will  ich  Dich  daran  erinnern,  daß  ich  nur  einen 
Anzug  mithatte  und  nur  ein  Paar  Schuhe,  daß  also 
Regen  etwas  war,  das  ich  sehr  zu  fürchten  hatte,  und 
doch  sollte  dieser  mir  nicht  erspart  bleiben.  Vorläufig 
allerdings  war  es  nur  trübe,  ja  bisweilen  trieb  ein 
Luftzug  sogar  die  Nebel  zur  Seite  und  ein  goldiger 
Sonnenstrahl  fiel  über  das  Gebirge,  mir  guten  Mut 
zur  weiteren  Reise  machend.  —  Immer  auf  einem 
Fußsteig  aufwärts  steigend,  der  vom  Wasser  ausge- 
waschen, voll  Steine  und  Geröll  liegt,  gelangten  wir 
nach  eineinhalbstündigem  Steigen  über  die  Grenze 
des  Nadelwaldes  hinaus.  Leider  war  es  wieder  so 
trübe  geworden,  daß  von  all  den  schönen  Aussich- 

89 


ten,  die  wir  nach  Aussage  des  Führers  passierten, 
nichts  zu  sehen  war.  —  Nach  zwei  Stunden  kamen 
wir,  das  Felkatal,  in  dem  wir  bis  jetzt  aufgestiegen 
waren,  verlassend,  an  ein  roh  gezimmertes  Block- 
haus, welches  vom  Karpathenverein  zum  Besten  der 
Touristen  erbaut  ist  und  in  dem  wir  Ruhe  hielten 
und  frühstückten.  Der  »gute  Weg«,  wie  mein  Führer 
sagte,  hörte  hier  auf,  und  von  nun  ab  kamen  wir  auf 
den  schwierigen  Weg.  Nach  einer  halben  Stunde  ging 
es  weiter.  Jetzt  kam  bald  der  erste  schlimme  Weg. 
Eine  steile  Felswand,  über  die  in  ewigem  Regen  das 
Wasser  hinuntersprüht.  Unter  diesen  schweren  Trop- 
fen hin  geht  der  Stieg  hinauf,  jetzt  wurde  es  schon 
bedenklich  steil,  und  wenn  man  zurückschaute,  der 
Absturz  bedenklich  tief.  Nach  Überwindung  dieser 
ersten  Schwierigkeit  kamen  wir  in  ein  Tal,  welches 
den  Namen  »Der  Blumengarten«  führt.  Und  in  der 
Tat  verdient  es  diesen  Namen  und  den  großen  Ruf, 
den  es  wegen  seiner  Schönheit  in  der  ganzen  Gegend 
genießt. 

Ich  hatte  jetzt  schon  das  Gefühl,  daß  wir  so  un- 
gefähr auf  dem  höchsten  Punkt  sein  müßten,  und 
nun  denke  Dir  mein  Staunen,  wie  ein  glücklicher 
Windstoß  plötzlich  den  Nebel  zerriß,  der  uns  ein- 
hüllte, und  ich  folgenden  Anblick  hatte. 

Wir  standen  auf  einer  mäßig  großen  Wiese,  auf 
der  das  üppigste  Gras  wucherte,  mitten  durch  die- 
selbe floß  sanft  murmelnd  mit  kristallklarem  Wasser 
die  Felka  über  flache  Steine  dahin,  ringsumher  aber 
blühte  und  duftete  es  von  Tausenden  der  buntesten 
Blumen.  Da  stand  der  tiefblaue  Enzian,  Vergißmein- 
nicht so  tiefdunkel  wie  das  Meer,  gelbe  gefüllte 
Wiesenrosen,  wer  kann  sie  alle  nennen,  die  vielfälti- 
gen Blumen  und  Kräuter,  die  hier  oben  in  der  berg- 
hohen Einsamkeit  ihre  glühenden  Kelche  entfalteten 

90 


und  nickend  an  dem  Ufer  des  glasreinen  Wassers 
standen.  Und,  rings  um  diese  blühende  Pracht,  um- 
schließend wie  der  eiserne  Kasten  des  Geizigen  seine 
Schätze  hütet,  ragten  himmelhoch,  eisengrau,  kahl, 
zerklüftet  und  zerrissen  die  senkrecht  steilen  Fels- 
wände empor.  —  Wie  war  mein  Gefühl,  als  ich  da 
hinaufblickte,  den  Nacken  zurückbeugend,  ich,  der  ich 
schon  geglaubt  hatte,  auf  der  Höhe  zu  sein  und  der 
nun  sah,  daß  ich  tief  unter  den  Spitzen  in  einem  eng 
umschlossenen  Tal  stand!  Wunderbar  schön  und  er- 
greifend war  dieser  Augenblick,  das  Schönste,  was 
ich  gesehen  und  erlebt,  als  der  Nebel  ganz  plötzlich 
zerflog,  als  habe  eine  Zauberhand  ihn  hinweggestreift, 
gleichsam  als  wenn  im  Theater  der  Vorhang  aufgeht 
und  prächtige  Dekorationen  enthüllt. 

Nur  nach  einer  Seite,  die,  von  der  wir  gekommen, 
war  das  Tal  offen,  hier  brauste  die  Felka  im  jähen 
Sturz  über  hundert  Fuß  tief  hinab,  und  über  den  Rand 
dieses  Absturzes,  an  dessen  Wänden  wir  hinaufge- 
klettert, senkte  sich  der  entzückte  Blick  meilenweit 
hinaus,  bergestief  hinab  über  die  Ebene  da  unten,  bis 
ganz  hinten  am  Horizont  blaue  Bergesschatten,  wie 
mit  Feenhänden  gemalt,  zart  und  duftig  das  Bild  ab- 
schlössen, über  das  die  Sonne  rein  und  goldig  ihre 
warmen  Strahlen  breitete.  Dieses  ganze  Anblicken 
und  Anstaunen  dauerte  nur  eine  Minute,  dann  kroch 
schwer  und  ungeschlachten  schon  wieder  der  nasse 
graue  Nebel  heran,  alle  Zauber  auslöschend,  alle 
Fernsicht  verschleiernd,  alle  Schönheiten  einhüllend. 
Vielleicht  hat  sich  mir  dies  wunderbare  Bild  mit  des- 
halb so  tief  eingeprägt,  weil  es  mir  nur  einen  kurzen 
Augenblick  vergönnt  war,  mich  an  ihm  zu  erfreuen. 
So  aber  steht  es  vor  mir  wie  umflossen  von  allen 
Zaubern  einer  unbeschreiblichen  Schönheit,  einer 
wilden,  rauhen  Großartigkeit,  verbunden  mit  der  lieb- 

91 


lichsten  Anmut  und  düftedurchwobenen  Blumen- 
pracht, Fels  und  Gestein,  feuchte  Wände,  steile  Klip- 
pen und  zackige  Grate,  eine  blühende  Wiese,  ein  mur- 
melnder Silberbach  und  dann  ein  Blick  in  die  Weite, 
als  könne  man  die  Welt  mit  seinen  Augen  überflie- 
gen —  wo  findet  man  eine  solche  Vereinigung  wie- 
der, und  wann  —  ja  wann  werde  ich  dergleichen 
wiedersehen!  —  Ein  Glück  am  Ende,  daß  der  Nebel 
wieder  kam,  sonst  hätte  es  mir  gehen  können  wie 
dem  Ritter  Toggenburg,  und  statt  heute  hier  in  Creisau 
zu  sitzen  und  schwache  Abklatsche  schöner  Erleb- 
nisse auf  das  Papier  zu  zirkeln,  säße  ich  vielleicht 
noch  immer  da  oben  und  würde  sitzenbleiben  und 
staunen  und  schauen,  bis  mir  die  Winterkälte  über 
das  warme  Blut  gekommen  wäre,  bis  mir  die  Blicke 
erstarrt  und  gefroren  wären,  bis  ich  nach  Jahr  und 
Tag  den  Reisenden  als  Merkwürdigkeit  gezeigt  wor- 
den wäre,  als  mißgeformter  Stein,  als  Felszacke  oder 
wer  weiß  was!  —  So  also  kam  er  gekrochen  wie  mit 
tausend  Füßen,  wand  sich  um  die  Felsecken,  wickelte 
uns  ein,  blies  uns  kalt  ins  Gesicht  und  scheuchte 
mich  aus  stummem  Staunen  auf.  —  Wir  stiegen  in 
dichtem  Nebel  weiter  den  Höhen  zu.  Jetzt  hörte  jeder 
Weg  und  Steg  auf,  eine  Viertelstunde,  nachdem  wir 
den  Blumengarten  verlassen  hatten,  trat  unser  Fuß 
schon  auf  das  erste  Schneefeld.  Weiter  ging's  über 
riesige  Felsblöcke,  über  die  wir  kletterten  und  spran- 
gen und  unter  denen  unsichtbar,  aber  in  der  Tiefe 
laut  brausend  das  Wasser  dahinfloß.  Glücklicherweise 
fiel  ich  nicht  hin,  sonst  hätte  ich  mir  sicher  ein  Bein 
gebrochen,  doch  wenn  im  Reisehandbuch  steht:  »Das 
Wort  ,Weg*  ist  aber  hier  nur  sehr  euphemistisch  zu 
verstehen,  denn  es  gehört  eine  Gemsjägergewandt- 
heit  dazu,  diese  Granitblöcke  zu  erklettern  und  Klüfte 
zu  übersetzen«  —  und  weiter:  »Das  Panorama  ist  zwar 

92 


sehr  lohnend,  aber  wer  nicht  schwindelfrei,  nerven- 
stark  und  mit  tüchtigen  Kniesehnen  versehen  ist,  der 
unterlasse  diesen  letzten  Teil  der  Partie«  —  so  trafen 
Gott  sei  Dank  alle  Vorbedingungen  bei  mir  zu,  und 
ich  machte  den  ganzen  Weg,  ohne  eigentliche  Er- 
müdung zu  spüren.  —  Das  allerletzte  Stück  war  das 
schlimmste,  hier  ging  es  so  steil  an  glatten  Granit- 
wänden hinauf,  über  vom  Nebel  naßglattes  Geröll, 
dann  wieder  nur  eine  Spalte,  um  den  Fuß  hineinzu- 
setzen, nur  ein  loser  Grasbüschel,  um  sich  daran  zu 
halten,  daß  ich  wirklich  einen  Augenblick  dachte: 
Ja,  hinauf  geht  es  schon,  wie  aber  soll  man  da  jemals 
wieder  herunterkommen! 

Endlich  waren  wir  oben  auf  dem  eigentlichen  Kamm. 
Ein  schmaler  Grat,  kaum  zwei  Meter  breit,  nach  bei- 
den Seiten  steil  in  die  unendliche  Tiefe  hinabsin- 
kend. Wie  tief  es  sei,  konnte  man  nicht  sehen,  denn 
der  Nebel  hüllte  alles  ein.  Jetzt  pfiff  ein  scharfer, 
naßkalter  Wind  über  die  Höhen,  ich  war  vom  Stei- 
gen sehr  warm  geworden  und  drückte  mich  schau- 
dernd in  eine  Felsspalte,  um  etwas  Schutz  zu  suchen 
und  zu  verschnaufen.  In  großen  Perlen  setzte  sich 
der  Nebel  auf  meinen  Kleidern  ab  und  überzog  mich 
und  meinen  Begleiter  mit  feuchtem,  glitzerndem 
Schleier.  —  Die  Luft  war  dünn  und  rauh.  Von  der  so 
berühmten  Aussicht  nach  Galizien  auf  der  einen,  Un- 
garn auf  der  andern  Seite  war  nichts  zu  sehen,  nur  zu 
unseren  Füßen  sah  man  trübe  durch  den  Nebel  blin- 
kend den  sogenannten  »gefrorenen  See«  liegen,  der, 
Sommer  und  Winter  hindurch  mit  Eis  bedeckt,  Zeug- 
nis gibt  für  die  Höhe,  auf  der  wir  uns  befanden.  Ich 
mußte  mich  also  mit  dem  Bewußtsein  begnügen,  oben 
zu  sein,  das  Ziel  erreicht  zu  haben,  welches  ich  er- 
reichen wollte,  auf  die  Früchte  der  Arbeit  mußte  ich 
leider  verzichten. 

93 


Wir  warteten  eine  Viertelstunde,  ob  nicht  der  Ne- 
bel einen  Moment  verziehen  werde,  aber  er  blieb  un- 
beweglich, undurchdringlich.  —  So  mußte  ich  denn 
die  Aussicht  aufgeben,  und  wir  machten  uns  an  den 
Abstieg.  Das  war  noch  schwieriger  wie  der  Aufstieg. 
Zuerst  mußte  mir  mein  Führer  hier  und  da  den  Fuß 
zurechtsetzen,  während  ich  auf  den  Händen  und  mit 
Erlaubnis  zu  sagen  —  Stück  für  Stück  hinunter- 
rutschte. Später  ging  es  besser  und  kam  ich  allein 
vorwärts,  doch  oft  noch  kamen  Stellen,  wo  ich  das 
Bewußtsein  hatte,  daß  ein  falscher  Tritt  mich  ret- 
tungslos in  die  Tiefe  stürzen  würde.  —  Nach  einer 
halben  Stunde  war  ich  doch  so  sicher  geworden,  daß 
ich  mit  Leichtigkeit  meinem  gewandten  Führer  fol- 
gen konnte,  der  mir  denn  auch  das  Zeugnis  aus- 
stellte, daß  ich  sehr  viel  Anlage  zum  Steigen  hätte 
und  er  mir  sehr  riete,  die  Besteigung  der  Gerlsdorfer 
Spitze  zu  unternehmen,  der  schwierigsten  und  hals- 
brecherischsten Partie  im  ganzen  Tatra.  —  Allmäh- 
lich kamen  wir  in  immer  dichter  sich  lagernden  Ne- 
bel auf  das  mit  Granitblöcken  übersäte  Feld  zurück. 
Unterwegs  scheuchten  wir  ein  Rudel  Gemsen  auf, 
die  in  wilder  Flucht  über  die  scharfen  Grate  dahin- 
stäubten.  Man  sah  sie  nicht,  hörte  nur  den  scharfen 
Schlag  der  Hufe  auf  dem  Fels,  kleine  Steine  und  Ge- 
röll lösten  sich  unter  ihren  flüchtigen  Füßen  und 
rollten,  sprangen  und  hüpften  in  hundert  Aufschlä- 
gen kollernd  und  polternd  in  die  Tiefe.  Erst  nach 
einer  Weile  kam  der  Ton  zu  uns  herauf,  wie  sie  un- 
ten klappernd  aufschlugen  oder  platschend  ins  Was- 
ser stürzten.  —  Nach  zehn  Sekunden  war  alles  wie- 
der totenstill,  nur  der  Nebel  um  uns  her,  kein  Ton 
eines  lebenden  Wesens  in  der  erhabenen  Stille  der 
Bergesriesen.  —  Dann  stieß  mein  Führer  einen  lang- 
gezogenen Juchzer  aus,  wir  standen  und  lauschten, 

94 


schwerfällig,  wie  im  Nebel  erstickt,  kam  zwanzigfach 
das  hallende  Echo  zurück. 

Wie  wir  den  Blumengarten  zum  zweitenmal  pas- 
sierten, pflückten  wir  einen  mächtigen  Strauß;  blau, 
gelb,  rosa,  lila,  hundertfarbig  faßten  wir  die  Blumen 
zusammen,  ein  prächtiger  glühender  Strauß,  wie  man 
ihn  wohl  in  keinem  von  Menschenhand  gepflegten 
Garten  binden  könnte!  Ein  kräftiger  Geruch  durch- 
strömte die  Blumen,  würzig,  kräuterhaft,  echte  Kin- 
der der  Berge. 

Nach  vier  Stunden,  seit  wir  es  verlassen,  kamen 
wir  bei  dem  Blockhause  wieder  an  und  setzten  uns 
mit  einem  urgesunden  Appetit  zum  Frühstücken  nie- 
der. Hier  wurde  alles  aufgezehrt,  was  der  Ranzen 
enthielt  und  was  die  Flaschen  bieten  konnten,  und 
dann,  während  wir  noch  saßen  und  ruhten,  fing  der 
Regen  an  herunterzuströmen.  Erst  in  kleinen  Pausen, 
als  wollte  er  seine  Kraft  prüfen,  dann  unablässig,  un- 
ermüdlich, gerade  und  gleichmäßig,  ein  richtiger  an- 
dauernder Landregen.  —  Und  wir  saßen  und  warte- 
ten. Mein  Führer  machte  ein  Feuer  an  und  briet,  auf 
ein  Stück  Holz  gespießt,  das  letzte  Stück  Speck.  — 
Der  Regen  strömte  ruhig  und  gleichmäßig  weiter.  Da 
faßte  ich  denn  den  großen  Entschluß,  allem  zu  trot- 
zen und  mit  aufgeschlagenem  Rockkragen,  den  Hals 
in  die  Schultern  gezogen,  ging  es  hinein  in  das 
fließende  Naß,  hinunter  auf  den  zweistündigen  Heim- 
weg. Der  Blumenstrauß  hatte  gut  davon,  frisch,  als 
sei  er  eben  gebrochen,  brachten  wir  ihn  hinunter, 
aber  ich  — !  Aus  den  Schuhen,  aus  den  Ärmeln  und 
Hosen  floß  mir  das  Wasser,  wie  ich  in  unser  Zimmer 
trat,  und  nun  —  nicht  ein  Stück  zum  Umziehen!  Ich 
zog  mich  aus,  rang  das  Wasser  aus  meinen  Kleidern, 
stopfte  meine  Schuhe  mit  Strümpfen  und  Taschen- 
tüchern aus,  hing  alles  zum  Trocknen  über  Stühle 

95 


und  —  legte  mich  zu  Bett!  —  Ich  mußte  es  machen 
wie  weiland  Kato,  wenn  seine  einzige  Toga,  was  übri- 
gens nicht  zu  oft  vorgekommen  sein  soll,  zum  Wa- 
schen gegeben  war! 

Onkel  Helmuth  war  unten  im  Kaffeehaus,  es  war 
3  Uhr.  Eben  war  ich  warm  geworden,  kam  er  zurück, 
und  nun  fing  mein  Leiden  an!  —  Es  regnete  immer 
ruhig  weiter  und  er  setzte  sich  mit  einem  Buch  zum 
Lesen.  Mit  der  Zeit  wurde  es  ihm  langweilig,  daß  ich 
im  Bette  lag,  und  er  fing  an  mich  zu  intrigieren,  daß 
ich  aufstehen  sollte.  —  Glücklicherweise  hatte  ich  ja 
von  L.  Hemden  und  Unterzeug  mit,  soweit  ging  es  also 
ganz  gut,  dann  aber  konnte  ich  nicht  in  meine  nas- 
sen Schuhe  hinein.  —  Die  Küche  war  wie  gewöhn- 
lich »gesperrt«,  Feuer  zum  Trocknen  gab  es  also 
nicht.  Mit  unsäglicher  Mühe  klemmte  ich  endlich 
meine  Füße,  die  doch  von  dem  ungewohnten  Stei- 
gen etwas  geschwollen  waren,  in  das  nasse  Leder 
hinein,  konnte  aber  die  ersten  fünf  Minuten  keinen 
Schritt  darin  machen.  Dann  sollte  ich  ein  Paar  Hosen 
von  Onkel  Helmuth  anziehen,  die  mir  bis  halb  unter 
die  Knie  reichten  und  die  ich  über  dem  Bauch  nicht 
zukriegen  konnte.  Onkel  Helmuth  behauptete  zwar, 
sie  säßen  wie  angegossen,  das  will  ich  schon  glau- 
ben, nur  daß  der  Guß  ein  gut  Stück  zu  kurz  und  zu 
eng  geraten  ist!  Dazu  zog  ich  L.s  Sommerpaletot  an, 
der  in  Weite  und  Länge  das  wieder  gutmachte,  was 
die  Beinkleider  verbrachen,  und  so  sollte  ich  mit  On- 
kel Helmuth  hinuntergehen,  um  zu  Abend  zu  essen! 
Energisch  weigerte  ich  mich  indessen.  Naß  wie  sie 
waren,  zog  ich  meine  eigenen  Sachen  wieder  an  und 
tröstete  mich  mit  dem  Gedanken,  daß  sie  an  mei- 
nem Leibe  am  ehesten  trocknen  würden.  Inzwischen 
hatte  Onkel  Helmuth  beschlossen,  auf  seinem  Zim- 
mer Tee  zu  trinken,  und  ich  ging,  naß  und  kühl  bis 

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ans  Herz  hinan,  alleine  hinunter.  —  Am  nächsten 
Morgen  schien  hell  und  klar  die  Sonne  am  Himmel 
und  funkelte  in  den  regenschweren  Tannenzweigen 
über  die  Millionen  Tropfen  hin,  die  in  ihnen  verfan- 
gen saßen.  Es  war  ein  Glanz  und  Funkeln,  ein  Blit- 
zen und  Ineinanderschmelzen  von  Licht  und  Schat- 
ten, wie  ich  es  noch  nie  gesehen,  und  dabei  eine 
Luft,  so  balsamisch  rein,  so  stärkend  und  belebend, 
daß  man  nicht  satt  werden  konnte  des  wonnigen 
Vergnügens,  sie  einzuatmen,  unbeschreiblich  erquik- 
kend.  —  Wir  aber  rüsteten  uns  zur  Abfahrt.  —  Mir 
wurde  das  Herz  schwer,  wie  ich  lustige  Gesellschaf- 
ten, des  schönen  Tages  froh,  in  die  Berge  steigen  sah, 
wie  jeder  sich  beeilte,  das  im  Freien  nachzuholen, 
was  ihm  der  gestrige  Regentag  an  Zimmersitzen  ge- 
kostet hatte,  —  wir  packten  unser  Kofferchen,  stie- 
gen auf  einen  federlosen  Wagen,  und  fort  ging  es, 
den  steinigen  Bergweg  hinab  nach  der  Eisenbahn- 
station! —  Ade  du  schönes  Stück  Gotteswelt,  du 
herrliche  Bergnatur  mit  deinem  kristallenen  Was- 
ser, deinen  blaugrauen  Felswänden,  deinem  diaman- 
ten blitzenden  Tannendunkel,  wie  gerne  wäre  ich 
noch  dort  geblieben,  wie  hast  du  in  zwei  Tagen,  wie 
ein  Kind,  das  lächelt  und  weint,  mit  Sonnenschein 
und  Regen  mein  ganzes  Herz  gefangen.  —  Das  aber 
gelobte  ich  bei  mir  selbst,  daß  wenn  uns  Gott  das 
Leben  läßt,  so  reisen  wir  beide,  Du  und  ich,  noch 
einmal  auf  ein  paar  Wochen  hierher  und  freuen  uns 
gemeinsam  der  schönen  Natur,  atmen  gemeinsam 
die  reine  Luft  der  Berge  und  lauschen  zusammen 
den  fremdartigen  Klängen  der  Zymbal  und  Geige,  de- 
nen die  braunen  Zigeuner  ihre  wilden  Weisen  ent- 
locken. — 

Wir  fuhren  den  ganzen  Tag.  Um  8  Uhr  ging  der 
Zug  von  Poprard  ab,  abends  um  1J2n  Uhr  waren  wir 

Moltke.        7.  97 


in  Neiße,  den  nächsten  Morgen  um  6  Uhr  ging  es 
weiter,  um  12  Uhr  waren  wir  in  Creisau  —  wo  ich 
meinen  Koffer  vorfand!  —  So  endete  also  unsere 
kurze  Reise,  die  trotzdem  eine  Fülle  der  herrlich- 
sten Erinnerungen  mir  gebracht  hat.  —  Die  Blumen, 
welche  ich  hier  oben  eingeheftet  habe,  schickt  Onkel 
Helmuth  Dir.  Er  selbst  ist  einen  steilen  Berg  hinab- 
geklettert, um  sie  zu  pflücken,  hat  sie  selber  mitge- 
nommen, getrocknet  und  mir  hier  gegeben  mit  den 
Worten:  »Wenn  du  an  Eliza  schreibst,  grüße  sie  von 
mir  und  schicke  ihr  dies  Bukett  aus  dem  Tatra.«  — 
Ich  war  so  gerührt  über  den  alten  Herrn. 

Creisau,  2.  August  iS8r. 

Heute  haben  Onkel  Helmuth  und  ich  einen  langen 
Ausflug  gemacht,  er  mit  der  Baumschere,  ich  mit 
einer  Säge  bewaffnet,  und  haben  furchtbar  unter  den 
jungen  Schößlingen  gewütet! 

Generalstab  Berlin,  2Q.August  1881. 

Ein  Generalstabsoffizier,  der  nicht  im  Terrain  rei- 
ten kann,  ist  nicht  zu  gebrauchen,  und  da  ich  bisher 
nicht  reiten  gekonnt  habe,  muß  ich  es  jetzt  lernen. 
Daß  ich  mein  Genick  dabei  riskiere,  weiß  ich  wohl, 
aber  lieber  den  Hals  brechen,  als  auf  einem  Posten 
stehen,  den  man  mit  Bewußtsein  nicht  ausfüllen  kann. 
Ich  muß  reiten  können  und  werde  es  lernen,  und 
sollte  ich  noch  hundertmal  stürzen,  das  hilft  nun  ein- 
mal nicht. 

Die  Manöverluft  fängt  schon  an  zu  wehen  und  mu- 
tet mich  eigentümlich  an.  Man  sehnt  sich  hinaus  aus 
den  engen  vier  Wänden,  hinaus  ins  freie  frische 
Feldleben  unter  lebendige  Soldaten,  unter  Schweiß 
und  körperlicher  Mühe  statt  dieser  papierenen  Ar- 
meen, die  einem  täglich  dasselbe  langweilige  Zahlen- 

98 


gesicht  entgegenhalten.  "Wie  freue  ich  mich  auf  die 
wenigen  Tage,  wo  ich  in  Holstein  dem  Manöver  bei- 
wohnen soll,  es  wird  zu  hübsch  werden. 

Generalstab  Berlin,  8. September  1881. 

Die  Manöver  beim  X.  Korps  sind  nun  beendet,  und 
für  die  Zwischenzeit,  bis  sie  beim  IX.  Korps  an- 
fangen, ist  Onkel  Helmuth  nach  Kiel  gegangen.  Der 
Kaiser  geht  nach  Danzig,  wo  die  Zusammenkunft  mit 
dem  Kaiser  von  Rußland  stattfinden  soll,  von  wel- 
cher alle  Zeitungen  jetzt  voll  sind.  Bismarck  kommt 
auch  hin.  Der  Kaiser  soll  in  den  letzten  Tagen  bei 
den  Manövern  nicht  ganz  wohl  gewesen  sein.  Er  hat 
einen  Tag  denselben  im  Wagen  beigewohnt,  was  er 
sonst  noch  nie  getan  hat. 

Itzehoe,  12.  September  1881. 

Die  Parade  war  sehr  hübsch.  Um  V210  Uhr  fuhren 
wir  hinaus  nach  dem  Lockstädter  Artillerieschieß- 
platz, einer  großen  Ebene,  auf  der  das  ganze  IX.  Korps 
aufgestellt  war.  Um  11  Uhr  kam  der  Kaiser,  der  Kron- 
prinz, Kronprinzeß,  Prinz  Wilhelm  usw.  Der  Vorbei- 
marsch war  sehr  gut,  wenngleich  nicht  so  tadellos, 
wie  ich  ihn  in  Berlin  vom  Gardekorps  sah.  Die  meck- 
lenburgischen Regimenter  gefielen  mir  am  besten, 
wunderschöne  große  Leute. Eine  riesige  Men- 
schenmenge ist  hier  zusammengeströmt.  Wo  der  Kai- 
ser sich  sehen  läßt,  wird  er  mit  endlosen  Hurras  be- 
grüßt. Das  Wetter  hielt  sich  während  der  ganzen  Pa- 
rade. Kaum  war  aber  der  Kaiser  in  seinen  Wagen 
gestiegen  und  abgefahren,  so  ging  ein  wahrer  Platz- 
regen nieder.  Wie  merkwürdig,  als  ob  es  nur  darauf 
gewartet  hätte,  bis  der  Kaiser  im  trockenen  Wa- 
gen sei! 

99 


Itzehoe,  13.  September  1881. 

Ich  kann  Dir  gar  nicht  sagen,  wie  unendlich  wohl 
ich  mich  fühle  in  diesem  frischen,  regen  Manöver- 
leben. Mitten  unter  den  Truppen,  in  freier  Luft,  im 
Gefecht,  alles  sehend,  beobachtend,  und  nicht  im 
beschränkten  Gesichtskreise  des  Frontoffiziers.  Zu 
Pferde,  dahin,  wo  die  Hauptmomente  des  Gefechts 
sich  abspielen,  kritisierend,  prüfend  und  beurteilend, 
es  ist  zu  schön.  Nur  das  Quartier  müßte  etwas  schlech- 
ter sein,  ein  Strohsack  oder  Biwak,  kein  Federbett  und 
dann  etwas  mehr  Gefahr.  Mit  einem  Wort,  ein  rich- 
tiges Gefecht,  ein  wirklicher  Feldzug,  und  dann  möchte 
ich  selber  nach  meinen  eigenen  Ideen  das  Gefecht 
leiten!  Und  wenn  das  nicht,  nur  ein  Moment,  wo  man 
einmal  wieder  das  Pfeifen  der  Kugeln  hörte  und  den 
Erfolg  mit  Blut  und  Eisen  dem  Feinde  abringen 
müßte!  Wie  das  arabische  Pferd  den  heißen  Hauch 
der  Wüste,  so  atme  ich  in  langen,  tiefen  Zügen  den 
Pulvergeruch  ein.  Hier  ist  mein  Element,  hier  mein 
Leben,  Fühlen  und  Denken.  Mit  tausend  Freuden 
würde  ich  einen  Feldzug  begrüßen  und  mit  wahrer 
Wollust  mich  in  das  Kriegsgetümmel  stürzen.  Was 
gibt  es  Schöneres  als  das  Soldatenleben.  Der  Mann, 
der  auf  seinen  eigenen  Füßen  steht,  dem  Feinde  ge- 
genüber, und  nun  beginnt  der  Kampf  auf  Tod  und 
Leben.  Du  mußt  das  aber  nicht  so  ernst  nehmen.  Ich 
habe  die  Nase  noch  voll  Pulverdampf,  und  das  be- 
rauscht mich  immer  wie  junger  Wein.  Doppelt  aber 
fühlt  man  sein  inneres  Leben  pulsieren.  Alle  Nerven 
angespannt,  alle  Sinne  geschärft,  du  schönes,  herr- 
liches Kriegsleben!  Ich  glaube,  ich  bin  zum  Feld- 
soldaten geboren,  und  danke  Gott,  daß  er  mich  in 
eine  Karriere  gebracht  hat,  in  der  man  in  überfließen- 
der Berufsfreudigkeit  sein  Herz  schlagen  fühlt. 

100 


Itzehoe,  14. September  1881. 

Das  Manöver  gestern  war  sehr  schön.  Das  ganze 
Armeekorps  manövrierte  gegen  einen  markierten 
Feind.  Es  fing  an  mit  einem  großen  Reitergefecht, 
wo  vier  Regimenter  gegeneinander  losplatzten.  Da  es 
nicht  das  mindeste  staubte,  konnte  man  das  ganze 
Attackenfeld  herrlich  übersehen.Dann  entwickelte  sich 
die  Infanterie,  ging  zum  Angriff  vor,  unterstützt  von 
einer  Artilleriestellung  von  12  Batterien,  48  Geschüt- 
zen. —  Der  Kaiser  sah  sehr  frisch  aus.  Es  gewährte 
einen  schönen  Anblick,  wenn  er,  gefolgt  von  der  glän- 
zenden Suite,  über  das  Feld  galoppierte,  ungefähr 
zweihundert  Offiziere  der  verschiedensten  Armeen 
der  Welt  hinter  sich.  Onkel  Helmuth  tauchte  auch 
bisweilen  auf.  —  Prinz  Wilhelm  ritt  gestern  lange  mit 
mir.  Ich  glaube,  er  ist  froh,  einen  alten  Bekannten 
unter  den  Massen  fremder  Menschen  zu  finden.  — 
Die  Kronprinzeß  ist  auch  immer  draußen  zu  Pferde. 
Der  Kronprinz  schön  und  imposant  wie  immer. 

Generalstab  Berlin,  25. September  1881. 

Gestern  abend  gingen  wir  alle  zusammen,  natürlich 
in  Zivil,  in  eine  Volksversammlung,  in  welcher  der 
Pastor  Stöcker  reden  sollte.  Er  ist  der  Begründer  der 
sogenannten  Christlich-sozialen  Arbeiterpartei  und 
hat  öfters  gegen  das  überwuchernde  Judentum  ge- 
sprochen. Ein  riesiger  Saal,  Tivoli,  war  mit  wenig- 
stens zweitausend  Menschen  gefüllt,  die  ihn  mit 
Bravo  und  Händeklatschen  empfingen.  Ich  hatte  viel 
von  der  hinreißenden  Beredsamkeit  des  Pastors  ge- 
hört und  war  sehr  neugierig  auf  ihn.  Er  sprach  denn 
auch  sehr  hübsch  und  stellenweise  sogar  mit  flam- 
mender Begeisterung.  Als  er  sagte,  daß  die  soziale 
Reform  von  der  Familie  ausgehen  müsse,  daß  die 

101 


rechtschaffene,  treue  alte  deutsche  Ehe,  das  feste  Zu- 
sammengehen zwischen  Mann  und  Frau,  wiederher- 
gestellt werden  müsse,  brach  ein  unendlicher  Jubel, 
ein  minutenlanges  Händeklatschen  und  Bravo  aus. 
Man  bekam  den  Eindruck,  daß  alle  diese  Männer, 
Arbeiter  und  Kaufleute,  mit  ganzem  Herzen  danach 
streben,  ein  nationales  Deutschland  wiederaufzurich- 
ten. Gegen  Ende  der  zweistündigen  Rede  wurde 
Stöcker  etwas  zu  salbungsvoll  und  geriet  zuletzt  völ- 
lig in  den  Kanzelton.  Das  ist  schade,  die  erste  Hälfte 
war  stellenweise  von  wahrhafter  Schönheit  und  oft 
hinreißend. 

Generalstab  Berlin,  26. September  1881. 

Ich  habe  jetzt  eine  Arbeit,  die  mich  sehr  interes- 
siert, nämlich  eine  Berichterstattung  anzufertigen 
über  die  diesjährigen  österreichischen  großen  Manö- 
ver. Man  muß  sich  aus  Zeitungsnachrichten  und  mili- 
tärischen Blättern  das  Material  zusammensuchen,  was 
ziemlich  mühsam  ist.  Es  ist  mir  privatim  gesagt  wor- 
den, daß  ich  im  Winter  die  Sektion  Skandinavien  als 
Sektionschef  übernehmen  sollte,  doch  kommt  mir 
dies  unwahrscheinlich  vor,  da  unsere  Hauptleute  noch 
nicht  Sektionschefs  sind,  und  ich  bin  doch  noch  im- 
mer der  ewige  Premierleutnant.  — 

Onkel  Helmuth  ist  mit  seinen  Offizieren  in  einem 
Zuge  von  Schleswig  nach  Eckernförde  geritten,  eine 
ganz  tüchtige  Leistung!  Wie  gerne  hätte  ich  diese 
Reise  mitgemacht!  Doch  man  muß  nicht  zuviel  ver- 
langen. 

♦Ragaz,  26.  April  1882. 

Wie  Du  siehst,  sind  wir  nun  hier  eingetroffen,  aber 
nur  um  morgen  oder  übermorgen  bereits  wieder  ab- 

*  Persönlicher  Adjutant  des  Generalfeldmarschalls  Graf  Helmuth  von  Moltke  und 
Hauptmann  im  Großen  Generalstab. 

102 


zureisen.  Das  Bad  hier  ist  nämlich  noch  gar  nicht  er- 
öffnet, da  aber  nicht  gebadet  werden  kann,  will  On- 
kel Helmuth  auch  nicht  hier  bleiben  und  spricht  be- 
reits davon,nach  Berlin  oder  nach  Creisau  zu  gehen. 
Ich  vermute,  daß  er  doch  zunächst  nach  Berlin  zu- 
rückgehen wird,  und  da  man  bei  ihm  immer  darauf 
rechnen  kann,  daß  er  dort,  wo  er  ist,  einen  oder  zwei 
Tage  kürzer  aushalten  wird  als  er  vorher  sagt,  so 
brauchst  Du  Dich  nicht  zu  wundern,  wenn  wir  in 
drei  bis  vier  Tagen  schon  wieder  in  Berlin  eintreffen! 
—  Nun  muß  ich  Dir  doch  erzählen,  wie  und  wo  wir 
uns  diese  Tage  umhergetrieben  haben.  Du  kannst 
glauben,  wir  haben  eine  anstrengende  Tour  gemacht, 
und  um  diese  Art  zu  reisen  als  ein  Vergnügen  zu 
bezeichnen,  muß  man  eben  Onkel  Helmuths  Anschau- 
ungen über  Komfort  haben!  —  Also,  von  Zürich  fuh- 
ren Onkel  Helmuth  und  ich  morgens  9  Uhr  ab  nach 
Luzern.  Es  war  beabsichtigt,  daß  wir  den  Tag  in  Lu- 
zern  bleiben  sollten  und  am  nächsten  Tage  über  den 
Vierwaldstätter  See  weitergehen  sollten.  Da  aber  so 
schönes  Wetter  war,  so  aßen  wir  nur  etwas  Früh- 
stück,—  ich  lief  in  aller  Eile  hin  und  besah  mir  den  Lö- 
wen und  den  Gletschergarten,  und  dann  fuhren  wir  mit- 
tags mit  dem  Schiff  über  den  See.  Prachtvolles  Wet- 
ter, eine  entzückende  Fahrt.  Gegen  Abend  kamen 
wir  in  Fluelen  an,  wo  wir  übernachteten.  Am  näch- 
sten Morgen  hatten  wir  zwei  Plätze  auf  der  Post, 
Bankett,  genommen,  bestiegen  mit  einer  Leiter  un- 
seren luftigen  Sitz  und  fuhren  bei  leidlichem  Wetter 
in  die  Berge  hinein,  dem  Gotthardt  entgegen.  Ob- 
gleich die  Bahn  bereits  völlig  fertig  ist  und  von  Ar- 
beiterzügen auf  der  ganzen  Strecke  von  Luzern  bis 
Mailand  befahren  wird,  wird  sie  doch  erst  im  näch- 
sten Monat  dem  Verkehr  übergeben.  Bis  jetzt  muß 
man  mit  der  Post  bis  Göschenen  fahren,  wo  der  große 

103 


Haupttunnel,  der  unter  dem  Gotthardt  durchgeht,  an- 
fängt. Bis  dahin  hatten  wir  Gelegenheit,  die  kolos- 
salen Bauten  zu  bewundern,  welche  ausgeführt  sind, 
um  diese  Bahnstrecke  zu  ermöglichen.  Auf  himmel- 
hohen Viadukten  übersetzt  die  Bahn  tiefe  Abgründe, 
um  in  Tunnel  hinter  Tunnel  zu  verschwinden  und 
wieder  zu  erscheinen.  Zweimal  macht  sie  eine  voll- 
ständige Schleife,  d.h.  geht  über  sich  selber  weg,  so 
daß  die  beiden  Tunnelöffnungen  genau  übereinander 
liegen.  Es  ist  wirklich  ein  Riesenbau,  der  hier  aus- 
geführt ist,  und  man  weiß  nicht,  was  man  mehr  an- 
staunen soll,  die  gewaltigen  Formen,  welche  die  Na- 
tur hier  geschaffen,  oder  die  Kühnheit  der  winzigen 
Menschen,  welche  alle  diese  Felswände  durchbohrte, 
diese  Abgründe  überbrückte  und  einen  dünnen  Ei- 
senweg mitten  durch  das  Herz  der  mächtigen  Berg- 
riesen hindurchzog.  —  In  Göschenen  stiegen  wir  in 
die  Bahn  und  vertieften  uns  gleich  nach  dem  An- 
fahren in  die  Nacht  des  Gotthardt -Tunnels.  Die  Lam- 
pen waren  angesteckt  und  so  war  es  genau  dasselbe, 
als  ob  man  in  der  Nacht  führe.  Nur  wenn  man  das 
Fenster  öffnete,  strömte  die  dunstige  erstickend 
warme  Luft  hinein  und  erinnerte  daran,  daß  die  Ar- 
beiter bei  Bohrung  des  Tunnels  unter  einer  Hitze  bis 
zwanzig  Grad  zu  leiden  hatten!  —  Die  Fahrt  dauerte 
fast  dreiviertel  Stunden.  In  der  Mitte  des  Tunnels 
ward  einen  Moment  gehalten  und  es  sah  eigentüm- 
lich aus,  wie  bei  Fackellicht  die  Bahnarbeiter  sich 
bewegten,  während  ihre  flackernden  Schatten  in  gro- 
tesken Verzerrungen  an  der  dunklen  Wölbung  dahin- 
huschten.  —  Bei  Airolo  tauchten  wir  plötzlich  wieder 
in  den  Sonnenschein  der  offenen  Landschaft  hinaus. 
—  Die  Augen  mußten  sich  erst  an  das  Licht  gewöh- 
nen. —  Nun  ging  es  wieder  auf  die  Post,  eigentlich 
wollten  wir  in  Biasca  übernachten,  da  wir  aber  ein- 

104 


mal  unterwegs  waren,  stiegen  wir  in  Biasca  wieder  in 
die  Bahn  und  kamen  abends  9  Uhr  in  Bellinzona  an, 
wo  wir  zur  Nacht  blieben.  Wir  waren  gerade  zwölf 
Stunden  unterwegs,  und  es  war  mir  nicht  möglich  ge- 
wesen, Onkel  Helmuth  dazu  zu  bewegen,  daß  er  etwas 
zu  sich  nahm.  Nur  eine  Tasse  Kaffee  glückte  mir 
ihm  einzuflößen  und  im  übrigen  ab  und  zu  einen 
kleinen  Schluck  von  dem  aus  Berlin  mitgenomme- 
nen Portwein.  In  Bellinzona  aßen  wir  wenig  und 
schlecht  zu  Abend  und  gingen  dann  zu  Bett.  Am 
nächsten  Morgen  um  5  Uhr  auf,  um  6  Uhr  mit  der 
Bahn  nach  Como.  Jetzt  regnete  es  schon  sachte,  aber 
beharrlich,  trotzdem  machten  wir  einen  Spaziergang, 
von  dem  wir  durchnaß  nach  Hause  kamen  und  es 
mir  dann  gelang,  Onkel  Helmuth,  der  ganz  matt  und 
ausgehungert  war,  zu  Bett  zu  packen.  Er  schlief  dann 
bis  12  Uhr,  wo  wir  warm  frühstückten.  Eigentlich 
hatten  wir  in  Como  einen  Tag  bleiben  und  von  dort 
aus  einige  schöne  Punkte  am  Corner  See  besuchen 
sollen,  da  es  aber  schlecht  Wetter  war,  beschloß  On- 
kel Helmuth,  lieber  gleich  weiter  zu  fahren.  Wir  gin- 
gen also  um  2  Uhr  an  Bord  und  fuhren  den  Corner 
See  hinauf  nach  Colico.  Trotzdem  es  nun  wirklich 
abscheuliches  Wetter  war,  entzückte  mich  dieser  See 
doch  in  höchstem  Maße.  Bei  Sonnenschein  muß  es 
da  himmlisch  sein.  Überall  Zypressen,  an  denen  sich 
blühende  Schlingpflanzen  hinaufwinden,  mit  Blüten 
überdeckte  wuchernde  Rosen  an  allen  Häusern,  es 
ist  wirklich  unbeschreiblich  schön.  Wir  passierten 
die  wundervoll  gelegene  Villa  Carlotta,  die  unserem 
Kronprinzen  gehört.  —  Abends  8  Uhr  kamen  wir  in 
Colico  an,  wo  wir  übernachten  wollten,  da  wir  aber 
gerade  die  Post  zur  Abfahrt  fertig  stehen  sahen,  be- 
schloß Onkel  Helmuth,  noch  denselben  Abend  bis 
Chiavenna  zu  fahren,  wo  wir  um  12  Uhr  nachts  an- 

105 


kamen.  Wir  waren  also  achtzehn  Stunden  unterwegs. 
Da  von  Chiavenna  die  Post  über  den  Splügen  um  2  Uhr 
nachts  weitergeht,  blieben  wir  die  Nacht  dort,  und  für 
den  nächsten  Morgen  6  Uhr  war  Extrapost  bis  Splügen 
bestellt.  —  Jetzt  hatte  ich  eine  Flasche  Wein  und 
etwas  kalte  Küche  heimlich  in  den  Wagen  geschmug- 
gelt und  hatte  den  festen  Entschluß  gefaßt,  Onkel 
Helmuth  nötigenfalls  auf  der  einsamen  Landstraße 
unter  Anwendung  von  Gewalt  zum  Essen  zu  zwingen! 
—  Unter  herrlichem  Sonnenschein  fuhren  wir  berg- 
an. Diese  Straße  ist  mit  das  Schönste,  was  ich  ge- 
sehen. In  unglaublich  steilen  Serpentinen  steigt  sie 
hinan  und  eröffnet  immer  neue  Blicke  in  das  Tal  und 
auf  die  weißen  Bergeshäupter,  welche  vor  uns  lagen. 
In  der  Nacht  hatte  es  oben  geschneit  und  der  Schnee 
lag  bis  tief  in  die  Täler  hinab  auf  den  grünen  Blättern 
der  Nußbäume,  die  hier  unten  eben  anfingen  auszu- 
schlagen. Alles  erstrahlte  im  Sonnenschein,  aber  der 
hohe  Gipfel  des  Splügen  war  in  eine  kleine  graue 
Wolke  gehüllt  und  unser  Kutscher  schüttelte  bedenk- 
lich den  Kopf  und  meinte,  oben  würde  es  nicht  sau- 
ber hergehen!  —  Um  12  Uhr  mittags  waren  wir  an 
der  Schneegrenze  und  mußten  nun  den  Wagen  ver- 
lassen, um  in  einen  kleinen  Schlitten  gepreßt  zu  wer- 
den. Hier  frühstückten  wir  auch  von  den  mitgenom- 
menen Vorräten.  Gut,  daß  ich  etwas  mit  hatte !  —  Unser 
eines  Pferd  wurde  vor  den  Schlitten  gespannt,  das 
andere  lief  wie  ein  Hund  ganz  von  selber  hinterher. 
So  ging  es  über  den  Paß  fast  zwei  Stunden  im  Schnee. 
Je  höher  wir  kamen,  desto  ungemütlicher  wurde  es. 
Ein  heftiger  Wind  pfiff  uns  entgegen,  dabei  schneite 
es  ziemlich  stark,  stellenweise  war  es  bitter  kalt.  — 
Dann  wieder  kamen  wir  an  eine  geschützte  Stelle, 
wo  plötzlich  die  Sonne  schien,  so  grell,  daß  man  kein 
Auge  öffnen  konnte,  und  so  heiß,  daß  man  ihre  Strah- 

106 


len  ordentlich  brennen  fühlte.  —  Dann  im  nächsten 
Augenblick  wieder  alles  grauer  Dunst  und  eisiger 
Schnee  gerade  ins  Gesicht.  Bergab  ging  es  in  großer 
Eile.  In  dem  tiefen  Schnee,  der  alle  Risse  und  Klüfte 
ausfüllte,  fuhren  wir,  die  Serpentinen  der  Straße  über- 
springend, direkt  bergab.  Unser  armes  Pferd  rutschte 
auf  allen  Vieren  und  war  immer  nahe  daran,  sich  zu 
überschlagen.  Komisch  sah  es  aus,  wie  das  ledige 
Pferd  pflichttreu  mit  erstauntem  Gesicht  ebenfalls  auf 
allen  Vieren  hinter  uns  herrutschte.  —  Um  2  Uhr 
hatten  wir  den  Schnee  hinter  uns  und  stiegen  wieder 
in  den  Wagen.  Wir  passierten  dann  die  romantische 
wunderschöne  Via  mala  und  kamen  dann  nach  Thu- 
sis.  —  Daß  ich  hier  besonders  lebhaft  an  Dich  dachte, 
kannst  Du  Dir  denken.  Hier  bist  Du  ja  auch  gewesen. 
—  Dann  kamen  wir  abends  7  Uhr  nach  Chur,  wo  wir 
ordentlich  zu  Mittag  aßen.  Das  erstemal  seit  unserer 
Abreise  von  Zürich,  aber  Onkel  Helmuth  war  jetzt  auch 
so  weit,  daß  er  sägte:  »Wenn  ich  jetzt  nicht  bald  etwas 
zu  essen  bekomme,  klappe  ich  um.«  —  Um  8  Uhr  fuhren 
wir  dann  mit  der  Bahn  nach  Ragaz,  wo  wir  um  9  Uhr 
ankamen  nach  einer  ununterbrochenen  Tour 
von  vierzehn  Stunden.  Hier  packte  ich  Onkel  Hel- 
muth gleich  mit  einer  Wärmeflasche  zusammen  ins 
Bett  und  heute  morgen  war  er  wieder  ganz  munter. 
Nur  im  Gesicht  sehen  wir  beide  krebsrot  aus.  Der 
rasche  Wechsel  von  Sonnenhitze  und  Schneegestö- 
ber macht,  daß  wir  beide  wie  die  Schlangen  im  Ge- 
sichthäuten. —  Heute  morgen  haben  wir  bereits  eine 
lange  Spaziertour  gemacht,  und  ich  habe  mir  die 
schöne  Tamina-Schlucht  angesehen.  Dann  haben  wir 
gegessen  und  eben  hatte  Onkel  Helmuth  sich  etwas 
hingelegt,  ist  aber  jetzt  wieder  auf.  Nun  werden  wir 
es  nicht  lange  mehr  hier  aushalten  und  wie  ich  ver- 
mute, in  nächster  Zeit  wieder  in  Berlin  eintreffen! 

107 


Was  sagst  Du  zu  unserer  »kleinen  Vergnügungs- 
reise an  die  oberitalienischen  Seen  mit  einiger  Zeit 
Aufenthalt  an  irgendeinem  schönen  Punkt«,  wie  On- 
kel Helmuth  dieselbe  vorher  bezeichnete?  Sollte  man 
glauben,  daß  er  zweiundachtzig  Jahre  zählt?  »Aber« 
—  sagt  er  —  »wenn  man  so  mit  allem  Komfort  reisen 
kann,  wie  wir  es  machen,  dann  kann  es  nichts  Be- 
quemeres geben!« 

Wildbad  Gast  ein,  2.  August  1882. 

Nun  sind  wir  denn  glücklich  hier.  Wir  haben  viel 
Schönes  gesehen,  und  ich  habe  daneben  auch  schon 
manchmal  meinen  gründlichen  Ärger  gehabt,  wie  Du 
Dir  denken  kannst,  ohne  diesen  geht  ja  eine  Reise 
mit  Onkel  Helmuth  nun  einmal  nicht  ab!  —  Meine 
Karte  aus  Wien  wirst  Du  erhalten  haben.  Am  näch- 
sten Tage  fuhren  wir  nach  Ischl,  eine  prächtige  Tour 
an  dem  Ufer  des  lieblichen  Traunsees  entlang,  leider 
unter  beständigem  Regen.  Nachmittags  kamen  wir 
daselbst  an,  logierten  uns  im  Hotel  »Elisabeth«  ein, 
demselben,  in  welchem  eine  Szene  aus  Ouidas  »Mot- 
ten« spielt,  auch  der  Balkon,  auf  dem  Correz  saß  und 
seine  Stimme  ertönen  ließ,  war  richtig  da,  darunter 
die  brausende  Traun.  Alles  stimmte!  —  Nachdem  wir 
gegessen,  machten  wir  einen  langen  Spaziergang  in 
die  schönen  Umgebungen  dieses  reizend  gelegenen 
Ortes.  —  Bei  Tisch  saß  neben  uns  die  Wegner  vom 
Wallner-Theater,  der  »jüngste  Leutnant«,  über  deren 
auch  im  Zivilverhältnis  beibleibende  Komik  Onkel 
Helmuth  und  ich  uns  höchlich  ergötzten.  Sie  stu- 
dierte Onkel  Helmuth  offenbar,  ich  fürchte,  sie  bringt 
ihn  nächstens  auf  die  Bühne! 

Am  andern  Morgen  fuhren  wir  bis  Aussee,  wo  wir 
abermals  unter  strömendem  Regen  die  Umgebung 
abspazierten,  dann  aßen  und  nach  Tisch  weiter  fuh- 

108 


ren  bis  Lend.  Auch  diese  Tour  bot  viel  des  Schönen. 
Die  Berge  des  Salzkammergutes  sind  großartig  schön. 
Sie  stehen  mehr  vereinzelt  in  einzelnen  gewaltigen 
Stöcken,  wodurch  die  gigantischen  Massen  dersel- 
ben mehr  zum  Eindruck  kommen,  als  die  Alpen.  In 
Lend  blieben  wir  die  Nacht  von  Montag  zum  Diens- 
tag im  Hotel  »zur  Post«  mit  miserablen  Betten,  On- 
kel Helmuth  und  ich  in  einem  kleinen  Zimmer  zu- 
sammen. Beide  fast  ohne  zu  schlafen,  obgleich  wir 
uns  durch  sechs  bis  sieben  Patiencen  beruhigt  hatten! 
Eigentlich  wollte  Onkel  Helmuth  denselben  Abend 
noch  mit  der  Post  hierher,  wo  wir  um  12  Uhr  angekom- 
men wären,  da  dieselbe  aber  wegen  Zugverspätung 
schon  weg  war,  mußten  wir  bleiben  und  fuhren  nun 
heute  morgen  mit  Extrapost  hierher,  wo  wir  um  1 1  Uhr 
morgens  ankamen.  Gleich  nach  Ankunft  nahm  Onkel 
Helmuth  sein  erstes  Bad,  dann  legte  er  sich  schlafen, 
und  ich  ging  aus,  begegnete  dem  Kaiser,  der  jugend- 
lich frisch  aussieht  und  sich  nach  Onkel  Helmuth  er- 
kundigte. —  Dann  wurde  ich  umgehends  für  heute 
abend  zu  einer  Soiree  dansant  bei  Graf  Lehndorff 
eingeladen,  wo  wir  dem  Kaiser  vortanzen  sollen. 

Wildbad  Gastein,  3.  August  1882. 

Gestern  abend  habe  ich  mich  ganz  gut  amüsiert. 
Der  Kaiser  saß  den  ganzen  Abend  in  einer  Ecke  und 
sah  zu.  Er  amüsierte  sich  offenbar  sehr  gut  dabei. 
Er  sieht  prächtig  aus,  frisch  und  gesund.  Heute  mor- 
gen waren  wir  ein  paar  Stunden  ohne  Regen.  Onkel 
Helmuth  und  ich  gingen  auf  die  Promenade,  wo  wir 
den  Kaiser  auf  einer  Bank  sitzend  fanden,  der  Onkel 
Helmuth  sehr  herzlich  begrüßte.  Onkel  Helmuth  ist 
heute  zum  Diner  dort.  Seit  12  Uhr  regnet  es  wieder, 
es  ist  wirklich  zum  Verzweifeln.  Ich  habe  trotzdem 
eine  Tour  in  die  Berge  gemacht.  Der  Fall  der  Ach  ist 

109 


wirklich  wunderbar  schön.  Sie  kommt  sechshundert 
Fuß  hoch  in  einer  ganz  engen  Schlucht  herunterge- 
braust, lauter  weißer  Gischt  und  Schaum.  Gerade  vor 
unserem  Fenster  stürzt  sie  in  ihr  Becken  mit  donner- 
ähnlichem Brausen  hinab.  Über  dem  Becken  steht 
haushoch  eine  Wolke  von  Wasserstaub,  in  welchem 
sich  der  Dampf  der  hinabströmenden  heißen  Wasser 
mischt.  Die  schneebedeckten  Gipfel  der  Berge  hoben 
sich  herrlich  gegen  den  tiefblauen  Himmel  ab,  wie  es 
einen  Moment  aufklärte,  leider  nur  so  kurze  Zeit.  — 
Onkel  Helmuth  läßt  Dich  bitten,  doch  recht  viel  über 
Creisau,  Wetter  und  Ernte  zu  schreiben.  Er  will  acht- 
zehn Bäder  nehmen. 

Wildbad  Gastein,  4.  August  1882. 

Onkel  Helmuth  war  sehr  erfreut  über  die  Mitteilun- 
gen betreffend  Wetter  und  Ernte.  Wir  leben  hier  ruhig 
weiter.  Morgens  um  7  Uhr  nimmt  Onkel  Helmuth  sein 
Bad  und  liegt  darauf  noch  zwei  Stunden  zu  Bett.  Dann 
trinken  wir  Kaffee  und  lesen  die  Zeitung,  worauf  wir 
etwa  um  V211  Uhr  auf  die  Promenade  gehen,  dem 
Kaiser  begegnen,  der  auf  irgendeiner  Bank  sitzt  und 
Onkel  Helmuth  immer  sehr  freundlich  begrüßt.  Um 
2  Uhr  essen  wir  zu  Mittag,  dann  trinken  wir  irgendwo 
Kaffee  und  spazieren  wieder  bis  8  Uhr,  wo  wir  in  Onkel 
Helmuths  Zimmer  Tee  trinken  und  dann  bis  10  Uhr 
Patiencen  legen.  —  Heute  nachmittag  nahmen  wir 
einen  kleinen  Einspänner  und  fuhren  nach  einem  Ort 
Bockstein,  der  eine  halbe  Stunde  höher  im  Gebirge 
liegt.  Von  dort  gingen  wir  zurück.  Unterwegs  erklärte 
Onkel  Helmuth,  die  Hauptsache  bei  der  Kur  sei,  daß 
man  sich  ganz  ruhig  verhalte  und  sich  nicht  anstrenge. 
Dabei  waren  wir  den  Morgen  schon  zwei  Stunden 
bergauf  und  -ab  geklettert  und  gingen  nun  eine  Stunde 
zurück.  Er  war  ganz  ermattet,  und  ich  habe  ihn  ge- 

110 


hörig  ausgescholten  und  werde  von  nun  an  keine 
solche  Extravaganzen  mehr  dulden.  Im  übrigen  ist 
er  guter  Laune  und  recht  mobil.  Ich  glaube,  die  Bäder 
tun  ihm  gut,  wenn  er  sich  nur  vernünftig  benimmt.  — 
Die  Umgegend  und  das  Land  selbst  sind  in  der 
Tat  von  einer  entzückenden  Schönheit.  Wohin  man 
kommt,  immer  neue  Schönheiten.  In  jedem  Tal  ein 
brausender  Wasserfall,  doch  der  König  aller,  der 
Achenfall,  mitten  zwischen  den  Logierhäusern.  On- 
kel Helmuth  kennt  hier  jeden  Schritt  und  Tritt  und 
weiß  immer,  wo  eine  Aussicht  oder  sonstiger  schö- 
ner Punkt  zu  finden  ist. 

Wildbad  Gastein,  6.  August  1882. 

Gestern  waren  Onkel  Helmuth  und  ich  zum  Diner 
beim  Kaiser.  Heute  ist  feierlicher  Gottesdienst  in  der 
kleinen  protestantischen  Kirche.  Ich  habe  soeben 
Onkel  Helmuth  dorthin  begleitet.  Der  ganze  Hof  ist 
dort,  und  die  sehr  kleine  Kirche  war  zum  Ersticken 
voll.  —  Wann  wir  zurückkommen,  kann  ich  ja  nicht 
wissen,  doch  glaube  ich,  daß  Onkel  Helmuth  am  20. 
etwa  seine  Kur  für  beendet  erklären  und  dann  in  for- 
cierten Eilmärschen  nach  Hause  eilen  wird;  er  hat 
mir  einen  ganz  besonderen  Gruß  für  Dich  aufgetragen. 

Wildbad  Gastein,  8.  August  1882. 

Der  Regen  fällt  ganz  fein  und  ganz  gerade  herunter 
mit  einem  Gleichmut,  der  einen  zur  Verzweiflung 
bringen  kann.  Alle  Wege  sind  grundlos,  die  ganze 
Gegend  in  ein  monotones  Grau  gehüllt.  Das  wenige 
Korn,  welches  hier  oben  gebaut  wird,  steht  faulend 
und  ausgewachsen  auf  den  Feldern,  es  ist  zu  trüb- 
selig. Wenn  man  hier  nicht  heraus  kann,  ist  es  ge- 
radezu zum  Auswachsen.  Den  ganzen  Tag  mit  Onkel 
Helmuth  in  der  Stube  sitzen,  der  nachgerade  auch 

in 


anfängt  schlechter  Laune  zu  werden,  gehört  nicht  zu 
den  größten  Annehmlichkeiten!  Gestern  aßen  wir 
beim  Kaiser.  Heute  fuhr  er  mit  seinem  ganzen  Ge- 
folge ab.  Den  Moment,  wo  er  von  dem  gesamten 
Bade  mit  Hochrufen  begleitet  abfuhr,  schien  die 
Sonne,  zehn  Minuten  darauf  regnete  es  wieder  los! 

Wildbad  Gastein,  i4.August  1882. 

Onkel  Helmuth  will  nicht  länger  als  bis  zum  19. 
hierbleiben.  Er  will  dann,  wenn  es  schön  Wetter  ist, 
noch  eine  Tour  von  einigen  Tagen  nach  Berchtes- 
gaden,  dem  Königsee,  Reichenhall,  Salzburg  machen 
und  beabsichtigt,  etwa  am  1.  September  in  Creisau 
einzutreffen.  Doch  kenne  ich  diese  Vergnügungs- 
touren schon,  die  auf  acht  Tage  projektiert  und  dann 
in  ein  oder  höchstens  zwei  Tagen  durchrast  werden! 
—  Gestern  habe  ich  ein  Schachspiel  gekauft  und  mit 
Onkel  Helmuth  eine  Partie  Schach  gespielt.  Da  ich 
ihn  nach  heißem  Kampf  matt  setzte,  erklärte  er,  das 
Spiel  rege  ihn  zu  sehr  auf,  und  wir  kehrten  zur  Be- 
ruhigung zu  der  Patience  zurück!  Diese  Nacht  hatte 
er  schlecht  geschlafen,  wie  er  sagte,  noch  infolge 
der  Aufregung  vom  Schachspiel  her!  Sonst  geht  es 
ihm  ausgezeichnet.  —  Die  Kur  bekommt  ihm  sehr 
gut,  ergeht  jeden  Morgen  zwei  bis  drei  Stunden  ohne 
Beschwerden  und  sieht  vortrefflich  aus. 

Dresden,  Palais,  17. September  1882. 

Diesen  Brief  habe  ich  schon  dreimal  unterbrechen 
müssen.  Inzwischen  sind  wir  mit  dem  Kaiser,  dem 
König  und  dem  ganzen  Rummel  bei  Professor  Schil- 
ling gewesen,  wo  wir  den  Gipsentwurf  zu  dem  Na- 
tionaldenkmal auf  dem  Niederwald  sahen,  dann  Ka- 
serneninspektion in   der   Albrechtstadt   und   großes 

112 


Frühstück  bei  dem  Regiment  des  Kaisers,  eben  zu- 
rückgekommen, und  in  einer  halben  Stunde  sollen 
wir  wieder  fahren,  zu  einem  großen  Gartenfest.  Da- 
nach um  5  Uhr  Diner,  heute  abend  Theater  und  dann 
Soiree  beim  Kriegsminister  —  und  das  nennt  man 
einen  freien  Sonntag! 

Merseburg,  15.  September  1883. 

Die  Parade  gestern  war  sehr  hübsch,  etwas  sehr  stau- 
big, aber  sonst  wohlgelungen.  Der  Kaiser  sieht  sehr 
wohl  aus,  Prinz  Wilhelm  in  seiner  Husarenuniform 
entwickelt  sich  immer  mehr  zu  seinem  Vorteil.  — 
Onkel  Helmuths  Stute  ging  ausgezeichnet,  gestern 
wie  heute.  Morgen  gehen  wir  alle  zusammen  in  Be- 
gleitung des  Kaisers  nach  Halle,  wo  eine  Rundfahrt 
durch  die  Stadt  und  Besichtigung  der  dortigen  Sehens- 
würdigkeiten vorgenommen  werden  soll.  Übermor- 
gen ist  abends  ein  großes  Fest,  welches  die  Stände 
dem  Kaiser  geben,  verbunden  mit  einer  Theatervor- 
stellung, zu  welcher  die  großherzogliche  Truppe  aus 
Weimar  herkommen  wird.  Am  18.  ist  dann  noch  ein 
solches  Fest.  Am  20.  gehen  wir  nach  Homburg. 

Merseburg,  18.  September  1883. 

Dem  Kaiser  ist  der  gestrige  Tag  doch  zu  anstren- 
gend gewesen,  so  daß  er  die  heute  beabsichtigte  Fahrt 
nach  Halle  aufgeben  mußte.  Infolgedessen  sind  wir 
auch  nicht  gefahren,  sondern  haben  uns  statt  dessen 
den  sehr  schönen  alten  Dom,  der  recht  geschickt  in  letz- 
ter Zeit  renoviert  worden  ist,  und  den  recht  hübschen 
Schloßgarten  und  Hof  besehen.  Der  historische  Rabe 
erfreut  sich  des  besten  Wohlseins.  —  Vor  vielen 
Jahren  ließ  einer  der  alten  Bischöfe  von  Merseburg 
einen  seiner  Pagen  hinrichten,  weil  er  ihn  im  Ver- 
dacht hatte,  ihm  einen  wertvollen  Ring  gestohlen  zu 

Moltke.         8.  113 


haben,  es  war  dies  ein  Krosigk.  Nach  einigen  Jahren 
fand  man  dann  zufällig  bei  einem  Umbau  den  ver- 
mißten Ring  in  einem  Rabennest  auf  einem  der  Türme. 
Zur  Entschädigung  schenkte  der  Bischof  dem  Bru- 
der des  Enthaupteten  ein  ansehnliches  Gut,  auf  dem 
jedoch  die  Verpflichtung  haftet,  zum  Andenken  an  den 
unschuldig  Gerichteten  auf  der  Burg  einen  Raben  zu 
unterhalten.  Gleichzeitig  bekamen  die  Krosigks  einen 
Raben,  der  einen  Ring  im  Schnabel  trägt,  ins  Wap- 
pen. Dieser  Rabe  wird' noch  immer  in  einem  großen 
Käfig  gehalten.  Wenn  er  stirbt,  muß  er  sofort  ersetzt 
werden,  da  an  seiner  Unterhaltung  der  Besitz  des 
noch  in  der  Familie  befindlichen  Majorats  hängt. 

Im  Dom  ist  eine  prachtvolle  Orgel,  die  die  ganze 
Höhe  des  einen  Schiff  sf  lügeis  einnimmt,  einige  schöne 
alte  Eichenschnitzereien  und  das  unschöne  Bronce- 
grabmal  des  Kaisers  Rudolph,  der  von  der  früher  ka- 
tholischen Bevölkerung  für  einen  Heiligen  gehalten 
worden  und  an  einigen  Stellen  ganz  blank  geküßt 
worden  ist.  Sonst  ist  an  der  Stadt  selbst  absolut  gar 
nichts  zu  sehen.  Gottlob  ist  der  heutige  Ruhetag  bald 
überstanden,  und  morgen  gehen  die  Manöver  wie- 
der an. 

Merseburg,  18.  September  1883. 

Soeben  kommen  wir  müde  und  bestaubt  vom  Ma- 
növerfelde zurück.  —  Das  Manöverleben  ist  von  je- 
her meine  höchste  Lust  gewesen.  —  An  den  Tagen, 
wo  Goßler  mit  Onkel  Helmuth  zum  Diner  geht,  esse 
ich  mit  den  Kameraden  zusammen  und  sitze  abends 
mit  ihnen  in  der  Kneipe,  Bier  trinkend  und  Anek- 
doten anhörend,  was  ich  richtig  genieße,  nachdem 
ich  so  lange  keinen  Soldatenmenschen  mehr  gesehen 
und  mit  keinem  Kameraden  mehr  mich  harmlos  und 
ungezwungen  habe  unterhalten  können.  Onkel  Hel- 

114 


muth  ist  immer  sehr  liebenswürdig  und  heiter,  ein 
vollkommen  anderer  Mensch  als  sonst.  Das  Manö- 
ver macht  auch  ihm  Freude,  und  er  ist  so  aufgetaut, 
wie  man  es  gar  nicht  bei  ihm  für  möglich  halten 
sollte. 

Merseburg,  ig. September  1883. 

Heute  abend  haben  wir  einen  großen  Genuß  ge- 
habt. Um  J/a7  Uhr  hatte  der  Prinz  Albrecht  sich  den 
Organisten  in  den  Dom  bestellt,  um  ihm  auf  der  wun- 
dervollen Orgel  vorzuspielen.  Onkel  Helmuth  und  ich 
waren  auch  da  und  hörten  mit  Entzücken  ein  Adagio 
von  Mendelssohn  und  mehrere  Präludien  von  Bach. 
Wenn  man  die  Augen  schloß,  hatte  man  förmlich 
das  Gefühl,  als  ob  die  mächtigen  Tonwellen  einen 
aufhoben  und  mit  sich  davontragen  könnten.  Es  war 
herrlich.  —  Der  heutige  letzte  Manövertag  verlief  sehr 
hübsch. 

H  o  m  b  u r  g ,  23.  September  1883. 

Am  20.  abends  kamen  wir  hier  um  7  Uhr  an,  um 
V28  Uhr  mußten  wir  schon  wieder  im  Schloß  sein 
zum  Diner,  das  ging  alles  Hals  über  Kopf.  Den  näch- 
sten Tag  Parade,  um  5  Uhr  Diner,  um  7  Uhr  Theater, 
gestern  Korpsmanöver.  Das  Wetter  war  trübe,  und 
gegen  12  Uhr  fing  es  an  gehörig  zu  regnen,  so  daß 
wir  um  Vz3  Uhr  durchnaß  nach  Hause  kamen.  Um 
5  Uhr  Diner  und  abends  Theater.  Heute  ist  Sonntag, 
und  habe  ich  so  einen  freien  Vormittag.  Um  2  Uhr 
ist  Offiziersrennen,  zu  dem  wir  hinauswollen.  Am 
28.  sind  wir  am  Nationaldenkmal  bei  Rüdesheim,  von 
dort  gehen  wir  abends  nach  Wiesbaden.  —  Hier  ist 
eine  unglaubliche  Versammlung  von  Fürstlichkeiten. 
Am  meisten  Interesse  erregt  der  König  von  Spanien, 
der  sich  als  ein  vortrefflicher  schneidiger  Reiter  zeigt. 

"5 


Er  war  zuerst  in  bayerischer  Uniform,  die  ihm  nicht 
gut  stand,  in  spanischer  sieht  er  viel  besser  aus.  Er 
ist  ein  kleiner  eleganter  Herr  mit  ein  klein  wenig  jü- 
dischem Typus.  Der  König  von  Serbien,  größer  und 
ziemlich  dick,  sieht  nicht  sehr  vornehm  aus.  —  Die 
Kaiserin  sieht  sehr  wohl  aus.  Sie  ist  stärker  gewor- 
den, was  ihr  gut  steht,  und  wohnt  den  Manövern  im 
Wagen  bei.  Während  des  Regens  hält  sie  unbeküm- 
mert ohne  Schirm  im  offenen  Wagen  und  läßt  sich 
naßregnen,  ebenso  wie  der  Kaiser,  der  in  jugendlicher 
Frische  allen  Unbilden  des  Wetters  trotzt.  Außerdem 
wimmeln  hier  eine  Menge  von  Hoheiten  und  König- 
lichen Hoheiten  umher,  von  denen  man  früher  nie 
etwas  gehört  hat.  Diniert  wird  in  den  prachtvollen 
Sälen  des  Kurhauses,  in  denen  in  früheren  Zeiten  die 
Bank  gehalten  wurde.  Das  Schloß  ist  klein  und  un- 
ansehnlich, überhaupt  Homburg  ein  kleiner,  wenig 
schöner  Ort.  Die  Umgegend  ist  hübsch,  mit  stellen- 
weise schönen  Blicken  auf  die  Taunuskette,  der  Bo- 
den außerordentlich  fruchtbar.  Eigentümlich  berühren 
einen  die  rot  und  weißen  Grenzpfähle  des  hessischen 
Gebiets.  —  Onkel  Helmuth  befindet  sich  vortrefflich. 

Homburg,  24.  September  1883. 

Gestern  nach  dem  Offiziersrennen  fuhr  ich  mit  un- 
serem Wirt  auf  die  eine  halbe  Stunde  entfernte,  auf 
einem  Gebirgssattel  liegende  Ruine  der  Saalburg.  Im 
höchsten  Grade  interessant.  Es  sind  die  Überreste 
eines  alten  befestigten  römischen  Lagers,  welches 
etwa  im  Jahre  30  vor  Christi  gebaut  und  über  drei- 
hundert Jahre  besetzt  gehalten  worden  ist.  Das  Ganze 
ist  in  Form  eines  Rechtecks  gebaut,  von  einem  hohen 
Wall  umgeben,  mit  gemauerter  Brustwehr  und  dop- 
peltem Graben.  Vier  Tore  führen  hinein,  jedes  von 
zwei  Türmen  flankiert.  Alle  Grundmauern  sind  noch 

116 


vollständig  erhalten.  Man  sieht  das  Exerzierhaus,  die 
Offizierswohnungen,  Lazarette,  Küchen,  Vorratshäu- 
ser, ein  kleines  Amphitheater  und  ein  Badehaus,  in 
dem  man  noch  vollständig  die  Heizvorrichtungen 
sehen  kann,  die  in  Röhren  unter  dem  Fußboden  hin- 
geführt worden  sind.  Etwa  fünf  Minuten  vor  dem 
Lager  zieht  sich  noch  deutlich  erkennbar  der  uralte 
römische  Grenzgraben  hin,  den  sie  gegen  die  Ger- 
manen von  der  Sieg  über  den  ganzen  Taunus  bis  zur 
Donau  hingeführt  hatten.  Das  Lager  soll  ganz  einzig 
in  seiner  Art  sein  und  verdankt  seine  Erhaltung  dem 
Umstände,  daß  es  mitten  im  Walde  gelegen  war.  Erst 
in  letzter  Zeit  ist  es  freigelegt  und  zum  Teil  ausgegra- 
ben worden,  wobei  eine  Menge  interessanter  Funde 
gemacht  worden  sind,  die  in  einem  Museum  im  hie- 
sigen Kurhause  zusammengestellt  sind. 

Ragaz,  7.  August  1884. 

Nun  sind  wir  denn  glücklich  hier.  Viel  Erzählens- 
wertes ist  uns  nicht  begegnet.  Den  ersten  Tag  litten 
wir  sehr  unter  einer  unerträglichen  Hitze  und  kamen 
halb  gebraten  und  staubbedeckt  in  Prag  an,  wo  wir 
den  ersten  Reiseschmerz  dadurch  erlebten,  daß  wir 
auf  dem  Staatsbahnhof  ankamen  und  den  nächsten 
Morgen  von  dem  Westbahnhof  wieder  abfahren  muß- 
ten, der  am  entgegengesetzten  Ende  der  Stadt  liegt, 
so  daß  jede  Kombination  betreffend  Hinterlassung 
unserer  Koffer  auf  dem  Bahnhof  ausgeschlossen 
blieb!  —  Im  Hotel,  wo  man  offenbar  über  Onkel Hel- 
muths  Persönlichkeit  seiner  Sache  nicht  ganz  sicher 
war,  bekamen  wir  zwei  schauderhafte  Zimmer  und  gin- 
gen sofort  aus,  um  uns  die  Stadt  anzusehen.  Wir  gin- 
gen über  die  historische  Nepomuk-Brücke  mit  ihren 
zahlreichen  Heiligenstatuen,  schauten  von  dem  Ge- 
länder, wo  ein  eingelassenes  Metallkreuz  die  Stelle 

117 


bezeichnet,  von  der  der  heilige  Nepomuk  in  die  Mol- 
dau gestürzt  wurde,  nachdenklich  in  die  rauschenden 
Fluten,  konnten  aber  nichts  besonderes  bemerken. 
Vielleicht  war  das  Wasser,  welches  gerade  unter  uns 
dahinbrauste,  dasselbe,  das   einst  dem   Heiligen   in 
Mund  und  Nase  drang,  und  nun,  im  ewigen  Kreis- 
lauf wiederkehrend,  nachdem  es  im  Meere  verdun- 
stet, als  Wolke  aufgestiegen,  von  Pflanzen  aufgeso- 
gen, sich  in  allen  möglichen  Tier-  und  Menschen- 
leibern umhergetrieben,  als  Regen  zum  tausendsten 
Male  niedergeschlagen,  jetzt  gerade  wieder  hier  vor- 
beifloß. Wer  weiß!  —  Wir  gingen  bis  an  den  alt- 
ehrwürdigen  Hradschin,  schwenkten  dann  links,  ver- 
loren uns  in  unzähligen  Gassen  und  Gäßchen  und 
tauchten  endlich  an  der  Kettenbrücke  wieder  auf,  die 
weiter  stromauf  über  den  Fluß  zur  alten  Stadt  zu- 
rückführt. —  Hier  wurden  wir  in  Verlegenheit  gesetzt, 
als  wir  pro  Person  einen  Kreuzer  Brückengeld  be- 
zahlen sollten  und  über  keinen  Kreuzer  österreichisch 
Geld  verfügten.  Ein  Fünfzigpfennigstück,  das  ich  an- 
bot, wurde  zurückgewiesen,  und  wir  hätten  den  gan- 
sen  langen  Weg  zurückspazieren  müssen,  wenn  nicht 
der  edle  Tscheche,  der  als  Einnehmer  fungierte,  zu 
stolz,  um  seine  Hände  mit  deutschem  Gelde  zu  be- 
flecken, ebenso  großmütig  wie  national  gewesen  wäre 
und  uns  umsonst  hätte  passieren  lassen.  Dieser  merk- 
würdige Beweis,  daß  es  auch  unter  den  Tschechen 
großdenkende  Menschen  gibt,  söhnte  uns  mit  der  Be- 
merkung aus,  die  wir  auf  unserem  Gange  durch  die 
Stadt  gemacht  hatten,  daß  das  deutsche  Element  aus 
Prag  mehr  und  mehr  verschwindet,  daß  fast  alle  In- 
schriften tschechisch  sind  und  nur  noch  hin  und  wie- 
der wie  halb  mitleidig  verstohlen  die  deutsche  Über- 
setzung hinter  den  tschechischen  Hieroglyphen  steht. 
—  Eine  Nation,  die,  wie  gesagt,  so  großdenkende  Män- 

118 


ner  zu  den  ihrigen  zählt,  wie  jenen  Zöllner,  hat  ent- 
schieden die  Berechtigung,  die  Deutschen,  die  ihr  einst 
die  Kultur  brachten,  nun  aber  soweit  gesunken  sind, 
mit  Fünfzigpfennigstücken  sich  den  Übergang  über 
die  Kettenbrücke  erkaufen  zu  wollen,  hinauszudrän- 
gen und  Herr  im  eigenen  Lande  zu  sein!  —  Mitten 
auf  der  Brücke,  die  über  eine  Insel  gebaut  ist,  ent- 
deckten wir  unter  uns  einen  Garten  mit  einem  großen 
Tanzsaal  und  einer  Gartenmusik.  Wir  kletterten  also 
hinab,  der  Eingangswächter  war  hier  weniger  skru- 
pulös und  wechselte  uns  einen  Taler.  Wir  saßen  dann 
mitten  unter  dem  Volk,  anscheinend  kleine  Hand- 
werker und  Bürger,  Dienstmädchen  usw.  vor  einem 
tschechischen  Musikprogramm,  das  uns  völlig  un- 
verständlich war,  und  tranken  eine  Flasche  Pilse- 
ner Bier.  —  Am  nächsten  Tag  fuhren  wir  nach  Re- 
gensburg. Wir  kehrten  wie  weiland  Kaiser  Karl  V.  im 
»Goldenen  Kreuz«  ein.  Die  Stadt  ist  überhaupt  höchst 
interessant.  Das  alte  Rathaus  mit  dem  unveränderten 
Saal,  in  dem  früher  der  Reichstag  des  Heiligen  Römi- 
schen Reiches  Deutscher  Nation  tagte,  viele  alte  Häu- 
serfronten, Türme,  Giebel  etc.  Der  schönste  Schmuck 
des  Ganzen,  der  prachtvolle  Dom,  der  im  vierzehnten 
Jahrhundert  begonnen,  ist  jetzt  ganz  fertiggestellt. 
Im  reinsten  gotischen  Stil  gehalten,  gibt  er  an  Schön- 
heit wohl  kaum  dem  Kölner  Dom  etwas  nach. 

Unerkannt  und  im  tiefsten  Inkognito  verließen  wir 
am  nächsten  Morgen  die  alte  Reichstagsstadt,  doch 
schon  auf  dem  Bahnhof  wurde  Onkel  Helmuth  re- 
kognosziert und  wie  wir  in  München  ankamen,  war 
der  Bahnhofinspektor  in  füll  dress  zur  Stelle,  ein  be- 
sonderes Zimmer  bereit  und  ein  Salonwagen  ange- 
boten. Onkel  Helmuth  lehnte  indessen  alles  dankend 
ab.  —  Nach  einer  Stunde  fuhren  wir  weiter  nach  Lin- 
dau, wo  wir  nachmittags  ankamen  und  unter  rück- 

119 


sichtsloser  Beiseitelegung  jedes  Inkognitos  im  »Bay- 
rischen Hof«  Wohnung  nahmen.  Nächsten  Mor- 
gen fuhren  wir  über  den  See  nach  Rorschach  und 
von  dort  mit  der  Bahn  hierher,  wo  wir  mittags  2  Uhr 
ankamen.  —  Ich  hatte  sehr  recht,  Onkel  Helmuth  zu 
raten,  hierher  und  nicht  nach  Gastein  zu  gehen.  Die 
Freude  des  Herrn  Kinberger  über  Onkel  Helmuths 
Ankunft  war  wirklich  rührend,  er  vertraute  mir  an, 
daß  ihm  ordentlich  das  Herz  geschlagen  habe  vor 
Freude,  wie  er  Onkel  Helmuth  gesehen  habe,  und 
der  Gärtner  Joseph,  eine  berühmte  Persönlichkeit, 
habe  vor  Freude  förmlich  Luftsprünge  gemacht.  Sehr 
amüsant  war  es,  wie  Onkel  Helmuth  abends  7  Uhr 
zur  Table  d'hote  erschien.  Es  ist  hier  eine  ganze  Ko- 
lonie von  Franzosen,  die  zum  Teil  vor  der  Cholera 
geflüchtet  sind,  und  mit  ungeheucheltem  Interesse 
wurde  Onkel  Helmuths  Persönlichkeit  von  ihnen  be- 
staunt. 

Ragaz,  12.  August  1884. 

Gestern  machten  wir  eine  Tour  in  die  Berge  nach 
einer  alten  Ruine,  dem  Wartenstein,  in  deren  Nähe 
ein  spekulativer  Unternehmer  eine  Restauration  auf 
einen  überhängenden  Felsen  geklebt  hat.  Onkel  Hel- 
muth fuhr  mit  der  Bahn  hinauf,  und  ich  ging  zu  Fuß, 
wobei  ich  eine  Viertelstunde  vor  ihm  oben  ankam. 
Dann  ging  ich  noch  eine  halbe  Meile  weiter,  um  zu 
der  sogenannten  Naturbrücke  zu  gelangen,  d.h.  der 
Stelle  der  Tamina-Schlucht,  wo  sich  dieselbe  oben 
vollständig  geschlossen  hat,  so  daß  man  darüber  hin- 
weggehen kann.  Um  von  der  oben  auf  dem  Berge 
hinführenden  Chaussee  dorthin  zu  kommen,  steigt 
man  eine  fast  senkrecht  abfallende  Felswand  auf  ei- 
ner Art  von  Treppe  hinab,  die  über  vierhundert  Stu- 
fen, teils  in  den  Fels  gehauen,  teils  aus  Tannenstäm- 

120 


men  hat.  Es  ist  die  reine  Hühnerstiege,  die  im  schärf- 
sten Zickzack  hinunterführt.  Unten  angekommen, 
steht  man  auf  einigen  mächtigen  Felsblöcken,  die 
quer  über  der  hier  nur  etwa  zwei  Meter  weiten  Öffnung 
der  Tamina-Schlucht  liegen.  Man  blickt  wie  durch 
einen  Schornstein  in  die  dunkle  Tiefe  hinunter,  auf 
deren  Grunde  die  Tamina  ihr  gräuliches  Wasser  ko- 
chend hinabwälzt.  Eigentümlich  klingt  das  Brausen 
von  unten  hinauf.  —  Von  hier  aus  wurden  in  alten 
Zeiten,  wo  man  noch  keine  Fahrstühle,  keine  Bade- 
hotels und  Eisenbahnen  kannte,  die  Kranken  an  ei- 
nem Strick  zu  der  heilbringenden  Quelle  hinabgelas- 
sen, die  aus  der  Seitenwand  der  Schlucht  dampfend 
hervorquillt.  Über  derselben  schwebte,  auf  Balken, 
die  in  die  Felswände  eingehauen  waren,  das  alte 
Badehaus,  in  dem  die  Kranken  sich  während  der  drei 
Wochen  ihrer  Kur  aufhalten  mußten,  ohne  jemals 
die  Sonne  zu  sehen,  um  dann  nach  beendetem  Ge- 
brauch des  Bades,  wie  ein  Kolli  wieder  ans  Tages- 
licht gehißt  zu  werden.  Nachdem  ich  mich  genugsam 
in  eine  grausliche  Stimmung  hineingedacht  hatte, 
stieg  ich  die  vierhundert  Stufen  wieder  hinauf  und 
ging  zu  unserer  Restauration  zurück,  wo  ich  wie  ein 
Pudel  ankam,  der  für  seinen  Herrn  aus  dem  Wasser 
apportiert  hat,  denn  wir  hatten  28  Grad  Wärme.  — 
Dann  aßen  wir  zu  Mittag  und  spazierten  hernach  hier- 
her zurück,  wo  ich  voller  Bewunderung  für  Onkel 
Helmuth  ankam,  der  mit  vierundachtzig  Jahren  noch 
solche  Fußpartien  zu  machen  imstande  ist. 

Ragaz,  18.  August  1884. 

Heute  steht  im  »Figaro«  ein  langer  Artikel  über  On- 
kel Helmuth,  den  wir  mit  vielem  Vergnügen  gelesen 
haben  und  der  die  unglaublichsten  Dinge  enthält.  Un- 
ter anderem  teilt  der  Verfasser  die  besonders  für  On- 

121 


kel  Helmuth  höchst  interessante  Neuigkeit  mit,  daß 
Onkel  Helmuth  zur  Zeit  todkrank  auf  seinem  Gut 
Creisau  läge,  wo  er  nur  von  seinem  Neffen  Burt,  der 
wie  er  einem  der  zahlreichen  kleinen  mecklenburgi- 
schen Adelsgeschlechter  enstamme,  Besuch  emp- 
finge, man  erwarte  mit  Besorgnis  sein  Abscheiden. 
Der  Artikel  wirkt  um  so  drastischer,  da  er  aus  Inter- 
laken  geschrieben  ist,  also  demselben  Lande,  dem 
Onkel  Helmuth  durch  seine  Anwesenheit  einen  greif- 
baren Beweis  seines  Wohlseins  gibt.  Der  Verfasser 
erhebt  die  Glaubwürdigkeit  seiner  Mitteilungen  da- 
durch über  allen  Zweifel,  daß  er  sie  einer  Unterhal- 
tung mit  einem  Obersten  des  Preußischen  General- 
stabes entnimmt,  den  er  die  oben  angeführte  Mittei- 
lung mit  den  Worten  beschließen  läßt:  Der  Wille 
Gottes  geschehe!  —  Auch  das  Neue  verdankt  er  die- 
sem pfiffigen  Oberst,  daß  Onkel  Helmuth  auf  einem 
Bein  lahm  sei  und  dasselbe  nur  mühsam  nachziehe, 
und  daß  er  bei  Paraden  mit  Vorliebe  einen  Küraß 
trage,  der  auf  ihm  schlottre  wie  auf  einem  Skelett, 
während  Bismarck  immer  vor  ihm  reitet  und  ihn  da- 
durch, daß  er  sein  Pferd  vor  ihm  stallmeistert,  von 
dem  Kaiser  abzudrängen  versuche,  an  den  Onkel  Hel- 
muth sich  heranmachen  möchte  etc.  Den  hier  an- 
wesenden Badegästen  scheint  diese  Farce  auch  viel 
Spaß  zu  machen,  wenigstens  geht  der  »Figaro«  unab- 
lässig von  Hand  zu  Hand. 

Gestern  machte  ich  eine  sehr  schöne,  wenn  auch 
ziemlich  anstrengende  Tour.  —  Um  9  Uhr  fuhr  ich 
nach  Chur,  von  wo  ich  zu  Fuß  in  dem  reizenden  Tal 
der  Rabiusa  hinaufging  bis  Passug,  von  dort  weiter 
bis  Churwalden,  wo  ich  zu  Mittag  aß,  und  dann,  da 
die  Post  erst  in  eineinhalb  Stunden  ging,  mit  der  ich 
nach  Chur  zurückzufahren  gedachte,  machte  ich 
mich,  des  langen  Wartens  müde,  auf  und  ging  zu 

122 


Fuß  nach  Chur  zurück,  wo  ich  mit  der  Post  gleich- 
zeitig eintraf.  So  hatte  ich  gut  meine  vier  Meilen  auf 
zum  Teil  recht  steilen  Wegen  marschiert  und  war, 
wie  ich  um  725  Uhr  auf  dem  Bahnhof  in  Chur  ankam, 
herzlich  müde.  Um  7  Uhr  war  ich  in  Ragaz  zurück 
und  fand  Onkel  Helmuth  ausgeflogen.  Kein  Mensch 
wußte,  wo  er  geblieben  war.  Die  Teezeit  kam,  aber 
kein  Onkel  Helmuth.  Es  wurde  später  und  dunkler, 
um  9  Uhr  war  er  noch  nicht  zurück.  Du  kannst  Dir 
denken,  welche  Angst  ich  hatte.  Schon  war  ich  im 
Begriff,  das  gesamte  Hotelpersonal  aufzubieten  und 
Nachforschungen  anzustellen,  als  er  auf  einmal  ganz 
vergnügt  anmarschiert  kam.  Wo  war  er  gewesen?  In 
Chur!  —  Wahrscheinlich  in  dem  Gedanken,  mit  mir 
dort  zusammenzutreffen.  —  Da  er  indessen  mich  nicht 
bei  Abgang  meines  Zuges  auf  dem  Bahnhof  aufge- 
sucht hatte,  sondern  außerhalb  der  Stadt  spazieren 
gegangen  war,  hatten  wir  uns  »unbegreiflicherweise« 
verfehlt!  Nun  kam  er  mit  dem  Abendzug  wieder  zu- 
rück und  begriff  gar  nicht,  daß  ich  es  mir  nicht  hätte 
denken  können,  daß  er  in  Chur  gewesen  sei! 

Ragaz,  20.  August  1884. 

Der  heutige  »Figaro«  bringt  noch  einen  ergänzen- 
den Nachtrag  zu  seinem  neulichen  Artikel,  von  dem 
ich  Dir  schrieb,  indem  er  sich  aus  Berlin  telegraphieren 
läßt:  Feldmarschall  Moltke  ist  von  einer  Paralyse  des 
Gehirns  befallen,  er  kann  nicht  mehr  gehen  und  nur 
noch  mit  Mühe  Nahrung  zu  sich  nehmen,  er  stirbt 
an  Altersschwäche  und  hat  nur  noch  wenige  Wo- 
chen vor  sich,  —  ich  habe  wörtlich  übersetzt!  Ein 
ausgezeichnet  unterrichtetes  Blatt! 

Seit  Onkel  Helmuth  mir  neulich  den  Schrecken  ein- 
gejagt, wo  er  nach  Chur  gefahren  war,  entferne  ich 
mich  nicht  wieder  auf  einen  ganzen  Tag.  Er  fängt 

123 


schon  an,  die  Rückreise  aus  dem  Kursbuch  heraus- 
zustudieren und  hat  offenbar  von  seinem  hiesigen 
Aufenthalt  mehr  als  genug.  Ich  kann  auch  nicht  leug- 
nen, das  mein  Bedarf  an  Bergluft  vollständig  gedeckt 
ist.  Ich  sehne  mich  ordentlich  danach,  einmal  wieder 
ein  Pferd  zu  besteigen. 

Ragaz,  25.  August  1884. 

Onkel  Helmuth  hat  mir  wieder  ein  paar  reizende 
Geschichten  gemacht,  die  ich  in  aller  Kürze  mitteile, 
denn  zu  längerem  Schreiben  fehlt  mir  Zeit  und 
Ruhe.  Erstens:  Vor  einigen  Tagen  saßen  wir  mor- 
gens im  Garten,  als  er  mir  sagte,  er  hätte  Lust,  nach 
der  Ruine  Wartenstein  hinaufzugehen.  Da  es  etwas 
anstrengend  zu  steigen,  könnten  wir  langsam  den  die 
hinaufführende  Chaussee  kreuzenden  Fußweg  gehen 
und  unterwegs  die  Post  abfassen,  die  um  10  Uhr  hin- 
auffährt. Dann  gab  er  mir  Geld,  mit  dem  Auftrag,  es 
zu  wechseln.  Ich  gehe  also  aufs  Bureau,  er  bleibt  auf 
der  Bank  sitzen.  Wie  ich  nach  zehn  Minuten  zu- 
rückkomme, ist  er  nicht  mehr  da.  Dies  wunderte 
mich  nun  eigentlich  nicht,  denn  ich  hatte,  wie  ich 
ihn  kenne,  nicht  erwartet,  ihn  noch  auf  demselben 
Platz  vorzufinden.  Ich  mache  mich  also  resigniert 
auf  die  Suche,  durchstreife  den  Garten,  das  Lese- 
zimmer, suche  ihn  auf  seinem  Zimmer,  nirgends  eine 
Spur  von  ihm.  Ich  denke  also,  er  ist  vielleicht  schon 
voraufgegangen,  gehe  also  im  Geschwindschritt  den 
steilen  Fußsteig  hinauf,  finde  ihn  nicht,  denke,  so 
weit  kann  er  unmöglich  sein,  kehre  um,  suche  noch- 
mals die  ganze  Umgebung  ab,  frage  Portier  und  Kell- 
ner, kein  Mensch  hat  ihn  gesehen.  Inzwischen  ist  es 
fast  zehn  Uhr  geworden,  ich  denke  mir,  wenn  er  die 
Post  noch  hat  abfassen  wollen,  muß  er  schon  weit 
oben  sein,  renne  also  wie  ein  Hirsch,  die  Krümmun- 

124 


gen  der  Fußsteige  abschneidend,  direkt  bergan,  hoch 
über  mir  fährt  die  Post  bereits  dahin,  in  fünfzehn 
Minuten  war  ich  oben  am  Wartenstein,  noch  nie  in 
meinem  Leben  habe  ich  so  geschwitzt,  das  Wasser  lief 
mir  am  ganzen  Leibe  hinunter,aberichkamnoch  etwas 
vor  der  Post  oben  an.  Onkel  Helmuth  ist  nicht  darin! 
—  Jetzt  mußte  ich  alle  Hoffnung  aufgeben,  kehre  um 
und  zog  mich,  zu  Hause  angekommen,  von  Kopf  bis 
zu  Füßen  um.  —  Um  i  Uhr  kommt  Onkel  Helmuth 
ganz  vergnügt  an.  Wo  ist  er  gewesen?  Quer  durch  den 
Garten  durch  nach  Magenfeld,  das  gerade  in  der  ent- 
gegengesetzten Richtung  des  Wartensteins  liegt.  Hier 
hatte  er  sich  ein  altes  Schloß  angesehen  und  dann, 
wie  er  mir  mit  vielem  Vergnügen  erzählte,  dem  Be- 
sitzer, der  ihm  alles  gezeigt  und  den  er  für  den  Gärt- 
ner gehalten,  Trinkgeld  geben  wollen,  und  habe  sei- 
nen Irrtum  erst  erkannt,  als  dieser  entrüstet  die  Spende 
zurückgewiesen  habe!  — 

Zweitens:  Gestern,  wie  ich  um  8  Uhr  noch  mit  mei- 
ner Toilette  beschäftigt  bin,  klopft  Onkel  Helmuth, 
wie  er  es  immer  macht,  wenn  er  Kaffee  trinken  gehen 
will,  im  Vorbeigehen  mit  dem  Stock  an  meiner  Tür. 
Ich  komme  in  etwa  fünf  Minuten  nach  und  finde  ihn 
bereits  mit  Kaff eetrinken  fertig.  Ich  sage:  Guten  Mor- 
gen, er  sagt:  Guten  Morgen,  sitzt  noch  einen  Augen- 
blick, während  ich  Kaffee  trinke,  und  geht  dann  in 
den  Garten.  Ich  trinke  ruhig  fertig  und  gehe  nach. 
Kein  Onkel  Helmuth  zu  finden.  Ich  gehe  den  ganzen 
Garten  durch,  keine  Spur.  —  Zufällig  komme  ich  auf 
den  Flur  des  Hotels  zurück,  da  sagt  mir  der  Portier: 
»Exzellenz  läßt  Ihnen  sagen,  er  wäre  auf  den  Bahn- 
hof gegangen,  um,  wenn  es  noch  Zeit  wäre,  mit  dem 
Zug  nach  Glarus  zu  fahren.«  Ich  also  hinterher  und 
hole  ihn  ein.  Er  ist  wütend  und  sagt  mir:  »Natürlich 
kommen  wir  zu  spät,  Du  hättest  auch  früher  auf- 

125 


stehen  können.«  Ich  sage:  »Ja,  wenn  ich  nur  ein  Wort 
davon  gewußt  hätte,  daß  wir  nach  Glarus  fahren  soll- 
ten!« Nach  einigen  Schritten  sagt  er:  »Du  hättest  auch 
wohl  den  Baedeker  mitnehmen  können  und  dich  er- 
kundigen, ob  wir  wieder  Anschluß  zurück  haben.«  — 
Ich  erkläre,  beides  noch  nachholen  zu  wollen,  kehre 
um,  laufe  ins  Hotel,  hole  den  Baedeker  und  renne  wie- 
der hinter  ihm  her.  Ich  begreife  nicht,  daß  ich  ihn 
nicht  sehe,  bis  ich  ihn  schließlich  ganz  klein  in  der 
Ferne  auf  einem  falschen  Wege  entdecke.  Nun  ging 
ich  aber  ruhig  an  den  Bahnhof  und  wartete  ihn  ab. 
Er  kam  denn  auch  fünf  Minuten  vor  Abgang  des  Zu- 
ges, halbtot  vor  Asthma  und  noch  immer  ärgerlich  auf 
mich,  daß  ich  diese  Reise,  von  der  ich  kein  Sterbens- 
wort wußte,  so  mangelhaft  vorbereitet  habe.  Den  in 
mir  auftauchenden  Gedanken:  ,Warum  hast  du,  als 
du  an  meine  Tür  klopftest,  mir  nicht  ein  Wort  ge- 
sagt?', sprach  ich  nicht  aus!  Übrigens  ist  er  immer 
reizend  liebenswürdig,  und  als  wir  nun  glücklich  mit 
Retourbillett  I.  Klasse  im  Zuge  saßen,  mit  der  Gewiß- 
heit, Anschluß  zur  Rückkehr  zu  haben,  war  seine  gute 
Laune  sehr  bald  wieder  da. 

Benrath,  17.  September  1884. 

Wir  haben  gestern  unseren  ersten  Manövertag  mit- 
gemacht, der  sehr  hübsch  verlief.  Am  Montag  abend 
kamen  wir  hier  an,  haben  ein  sehr  gutes  Quartier  bei 
dem  Bürgermeister  Josten  gefunden.  —  Wir  fuhren 
den  nächsten  Morgen  um  7  Uhr  per  Bahn  etwa  eine 
Stunde  über  Düsseldorf  nach  Bedburg,  wo  die  Pferde 
bereitstanden.  Ich  habe  einen  Ulanengaul  bekommen, 
der  ausgezeichnet  geht,  wenngleich  etwas  klein  für 
mich  ist.  Onkel  Helmuth  ritt  auf  der  ausgezeichnet 
gehenden  Stute  sehr  schneidig,  so  daß  er  allgemeine 
Bewunderung  erregte.  Die  Truppen  waren  ausgezeich- 

126 


net  und  machten  trotz  der  großen  Hitze  und  ziem- 
lich anstrengenden  Anmärsche  einen  sehr  frischen 
Eindruck.  Der  Kronprinz  war  unermüdlich,  ritt  das 
ganze  Manöverfeld  ab  und  an  alle  einzelnen  Batail- 
lone heran.  Sehr  hübsch  war  eine  Attacke  der  Kaval- 
leriedivision, welche  die  Arrieregarde  des  VII.  Korps 
außer  Gefecht  brachte.  Der  Anmarsch  war  sehr  ge- 
schickt unter  Benutzung  des  Terrains  angelegt,  das 
Auftreten  völlig  überraschend  und  der  Aufmarsch 
schnell  und  geordnet.  Die  Infanterie  wurde  direkt  im 
Rücken  gefaßt  und  überritten,  ehe  sie  Zeit  hatte,  sich 
zu  rangieren.  Um  12  Uhr  wurde  das  Manöver  nach 
einem  allgemeinen  Angriff  des  VIII.  Korps  gegen  das 
VII.,  der  siegreich  ausfiel,  beendet.  Dann  hielt  der 
Kronprinz  eine  sehr  sachgemäße  kurze  Kritik  ab.  Er 
sprach  sehr  hübsch  und  treffend,  lobte  und  tadelte 
ziemlich  scharf,  etwas  ganz  Ungewohntes,  da  der 
Kaiser  sich  immer  nur  lobend  ausspricht. 

San  Remo,  30.  März  1885. 

Heute  sind  wir  nun  gerade  vierzehn  Tage  hier  und 
unser  Abmarsch  ist  nahe  bevorstehend.  Kein  Weg 
und  Steg  um  San  Remo,  den  wir  nicht  gewandelt 
wären,  kein  Aussichtspunkt,  den  wir  nicht  aufge- 
sucht. —  Nun  geht  es  zunächst  nach  Bordighera,  wie 
dann  weiter,  weiß  ich  noch  nicht. 

Die  französischen  Zeitungen  sind  wieder  ganz  kin- 
disch in  Mitteilungen  über  Onkel  Helmuth.  —  Bald 
heißt  es,  er  wäre  in  Nizza,  wo  er  jedoch  polizeilicher- 
seits  scharf  überwacht  werde.  Onkel  Helmuth  meinte: 
»Das  mag  ein  netter  Kerl  sein,  den  sie  da  überwachen, 
hoffentlich  stiehlt  er  keine  silbernen  Löffel!«  —  Bald 
werden  Betrachtungen  darüber  angestellt,  warum  On- 
kel Helmuth  in  einem  Privathause  wohne.  Doch  der 
Korrespondent  kann  sich  dies  erklären,  denn  er  hat 

127 


in  Erfahrung  gebracht,  daß  in  diesem  Hause  nur  eine 
Magd  ist,  die  nur  patois  spricht,  also  nichts  von  den 
strategischen  Arbeiten  verraten  kann,  die  in  Onkel 
Helmuths  Zimmer  angefertigt  werden,  wenn  sie  dort 
aufräumt!  Dann  wird  mitgeteilt,  daß  der  deutsche  Kon- 
sul eifrigst  Karten  und  statistisches  Material  für  den 
Feldmarschall  herbeischleppe  —  (in  Wirklichkeit  hat 
er  ihm  einige  Hefte  »Fliegende  Blätter«  zur  Unter- 
haltung geschickt)  —  und  das  Bedenklichste  ist,  daß 
eine  Menge  deutscher  Offiziere  hier  sind,  die  mit  einer 
solchen  gegen  alle  deutschen  Gewohnheiten  versto- 
ßenden Großartigkeit  der  Mittel  auftreten,  daß  sie  of- 
fenbar vom  Staat  ausgerüstete  Generalstabsoffiziere 
sind.  Also  die  Sache  ist  klar,  Moltke  ist  hier  mit  einem 
Teil  seines  Generalstabes,  und  der  Zweck  ihrer  An- 
wesenheit ist  dem  schlauen  Berichterstatter  auch 
nicht  verborgen  geblieben:  es  ist  auf  Corsica  abge- 
sehen, das  zur  deutschen  Kolonie  gemacht  werden 
soll.  —  Es  ist  wirklich  amüsant,  diese  hirnverbrann- 
ten Kombinationen  zu  lesen,  man  glaubt,  Privatkorre- 
spondenzen aus  dem  Irrenhaus  vor  sich  zu  haben! 

Nervi,  17.  April  1885. 

Wer  hätte  geglaubt,  daß  sich  nach  all  dem  Säbel- 
gerassel England  und  Rußland  nun  doch  noch  fried- 
lich einigen  würden.  Sie  machen  mir  gerade  den  Ein- 
druck wie  zwei  Hunde,  die  sich  mit  grimmigem 
Zähnefletschen  gegenseitig  anknurren  und  dann  mit 
gesträubten  Rückenborsten  auseinandergehen,  weil 
keiner  sich  traut,  den  ersten  Biß  zu  tun. 

Rapallo,  24.  April  1885. 

Wir  befinden  uns  noch  immer  sehr  wohl  in  dem 
schönen  Rapallo,  in  dessen  Umgebung  wir  täglich 
neue  Schönheiten  entdecken.  Die  Gegend  hier  ist  des- 

128 


wegen  soviel  lieblicher,  weil  alle  Täler  mit  Maulbeer- 
bäumen, Pappeln,  Rüstern  und  Eichen  bewachsen 
sind,  lauter  Bäumen,  die  das  Laub  abwerfen  und  sich 
nun  mit  dem  saftigen  jungen  Grün  der  frischen  Blät- 
ter bekleidet  haben,  das  ja  auch  dem  nordischen 
Walde  jenen  eigenen  goldigen  Frühlingszauber  ver- 
leiht, den  man  hier  unter  den  immergrünen  südlichen 
Bäumen  und  Pflanzen  so  schmerzlich  vermißt.  Schön 
sind  auch  die  Feigenbäume,  die  bei  unserer  Ankunft 
an  der  Riviera  noch  ganz  kahl  waren,  jetzt  aber  ihre 
mächtigen,  großen  Blätter  fast  sichtlich  von  Tag  zu 
Tag  mehr  auseinanderfalten,  indem  sie  die  unschönen 
polypenartigen  Formen  ihrer  Äste  ganz  darunter  ver- 
bergen. Wundervolle  mächtige  Pinien  heben  ihre  ku- 
gelartigen Kronen  von  dem  lichtblauen  Himmel  ab; 
ein  Ausrufszeichen,  von  dem  Schöpfer  hingesetzt, 
wie  er  das  herrliche  Werk  dieser  Natur  niederschrieb, 
ragen  dunkle  Zypressen  aus  dem  bunten  Farbenspiel 
hervor,  und  wie  in  einem  mächtigen  kristallgeschlif- 
fenen Spiegel  beschaut  der  Himmel  seine  strahlende 
Herrlichkeit  in  der  klaren  Tiefe  des  stahlblauen 
Meeres.  Von  den  felsigen  Landzungen  blicken  ernst- 
hafte, grau  zerfallene  Kastelle  in  die  Tiefe,  an  eine 
Zeit  mahnend,  in  der  das  Meer  die  Straße  bildete,  auf 
der  Raub  und  Verderben  an  diese  Küsten  herantrat, 
wo  die  Schiffe  der  Sarazenen  Tod  und  Gefangen- 
schaft brachten,  wenn  nicht  das  wachsame  Auge  des 
Türmers  sie  rechtzeitig  erblickte,  oder  wo  später  die 
immerwährenden  Kriege  der  Bürger  untereinander 
dem  Frieden,  den  Gottes  Hand  über  dies  sonnige 
Land  gebreitet,  Hohn  sprachen.  Indes,  die  dunkel 
gähnenden  Geschützscharten  der  mächtigen  Mauern 
sind  schon  seit  lange  nicht  mehr  erzittert  von  dem 
Knall  der  Kanonen,  hier  und  da  hat  sich  auf  der  Platt- 
form ein  Engländer  angesiedelt,  der  sich  dort  oben 

Moltke.  9.  129 


seine  Cottage  baute  und  nun,  umgeben  von  allem 
Komfort  seines  aus  der  nebeligen  Heimat  mitgebrach- 
ten Lebens,  vergnüglich  über  Land  und  Meer  schaut. 
—  An  den  geborstenen  Quadersteinen  klettert  der  Efeu 
empor,  und  von  den  Ecktürmen,  von  denen  einst  der 
Arkebusier  Tod  und  Verderben  dem  Angreifer  her- 
untersandte, nicken  jetzt  unzählige  Rosen  grüßend 
herab.  Die  Natur  überkleidet  alles  mit  ihrem  ewig 
jungen  treibenden  Leben,  und  über  dem  zerbröckeln- 
den Gebilde  von  Menschenhand  schwenkt  sie  trium- 
phierend die  grüne  Fahne  ihres  blühenden,  duften- 
den Daseins.  —  Mit  leisem  Gemurmel  plaudern  die 
Wellen  zwischen  den  Felsen,  als  wollten  sie  Mär- 
chen erzählen,  anmutig  wiegen  sie  die  Fischerboote 
auf  ihrem  Rücken,  deren  eigentümliche  lateinische 
Segelformen,  von  sanftem  Wind  gebläht,  als  leuch- 
tende Punkte  auf  dem  Wasser  schimmern  und  das 
Auge  weit  hinauslocken  in  die  unbegrenzt  scheinende 
Ferne.  Ganz  hinten,  vom  weichsten  Duft  vermählt, 
schmilzt  die  scheinbar  ansteigende  Fläche  mit  der 
Kuppel  des  Himmels  zusammen,  man  glaubt  zu  sehen, 
wie  sich  der  Himmel  auf  die  Erde  senkt,  und  jene  un- 
bestimmbare Sehnsucht,  die  in  jedes  Menschen  Brust 
liegt,  wenn  sein  Gefühl  hinauf  und  vorwärts  dringt, 
berührt  mit  wundersamem  Klingen  das  Herz.  —  Wie 
das  alles  blüht  und  duftet!  Aus  dem  üppigen  Grase 
der  Wiesenflächen  ringen  sich  Tausende  von  offe- 
nen Kelchen  empor,  gleichsam  die  eine  über  die  an- 
dere wegkletternd,  duften  blaue,  rote  und  gelbe  Blu- 
men der  Sonne  entgegen,  es  ist  ein  förmliches  Kämp- 
fen der  überschwenglichsten  Üppigkeit ;  von  den  Weg- 
rändern nicken  gedrängte  Glockenblumen,  und  wo 
ein  gefälliger  Wind  eine  Handvoll  Erde  zwischen 
Steinen  zusammengetragen,  da  hat  sich  auch  ein 
Blümlein  eingenistet,  das,  dankbar  des  gefundenen 

130 


Heims,  mit  Duft  und  Farbe  seine  graue  Umgebung 
schmückt.  —  "Wie  weitet  sich  die  Brust  beim  Einat- 
men dieser  Ströme  von  Licht  und  Wohlgeruch,  be- 
haglich strömt  der  reine  Atem  der  Natur  durch  alle 
Adern  und  weckt  in  allen  Fibern  das  Gefühl  unend- 
lichen Wohlbehagens.  —  Und  wenn  nun  die  Sonne 
sinkt,  gleichsam  zögernd,  als  täte  es  ihr  Leid,  Ab- 
schied zu  nehmen  von  ihren  verwöhnten  Kindern, 
dann  leuchtet  noch  einmal  alles  auf  in  den  herrlich- 
sten blauen  Tinten.  Die  Abhänge  der  Berge  heben 
sich  scharf  und  klar  aus  der  Dämmerung  der  Täler 
hervor,  wie  ausgemeißelt  stehen  ihre  ragenden  Spit- 
zen, kein  Blatt  rührt  sich  an  Bäumen  und  Büschen, 
und  durch  die  stille  Luft  klingt  wie  ein  Dankgebet 
zum  Herrn  empor  das  Ave-Läuten  der  zahlreichen 
Glocken! 

R ap all o,  26. April  1885. 

Nun  scheint  es  ja  wirklich  mit  dem  englisch-russi- 
schen Kriege  ernst  zu  werden.  Gott  mag  wissen,  wie- 
weit diese  Flamme  um  sich  greifen  wird  und  ob  es 
der  Staatskunst  Bismarcks  gelingen  wird,  das  Deutsche 
Reich  hindurchzusteuern,  ohne  daß  es  mit  anfängt 
zu  glimmen.  —  Hier  in  Italien  ist  die  öffentliche  Mei- 
nung bereits  sehr  erregt,  besonders  da  es  wirklich 
scheint,  als  wollte  der  Staat  die  zweifelhafte  Erb- 
schaft Englands  im  Sudan  antreten  und  Suakiu  mili- 
tärisch besetzen,  wenn  die  englische  Garnison  von 
dort  zurückgezogen  werden  sollte,  um  in  Indien  dem 
nordischen  Feinde  gegenüberzutreten.  Wenn  sich 
Italien  so  mehr  oder  weniger  engagiert,  wird  sich 
auch  die  arme,  zwischen  Hammer  und  Amboß  sit- 
zende Türkei  nicht  neutral  halten  können.  —  Dies 
kann  ein  Krieg  werden,  der  die  ganzen  bisherigen 
Staatenverhältnisse  umgestaltet  und  bei  dem  es  sich 

131 


für  England  um  Tod  und  Leben  handelt,  denn  In- 
dien ist  der  Lebensnerv  Englands,  ohne  den  es  eben- 
sowenig leben  kann,  wie  ein  Mensch  ohne  Magen. 
Indessen  noch  ist  ja  der  Krieg  nicht  erklärt,  und  ich 
glaube,  Mr.  Gladstone  würde  gerne  seinen  kleinen 
Finger  hergeben,  wenn  er  auf  eine  anständige  Weise 
aus  dieser  Patsche  wieder  herauskommen  könnte, 
ohne  zum  Schlagen  genötigt  zu  sein.  —  Ob  Bismarck 
sich  wohl  auf  das  undankbare  Amt  eines  Vermittlers 
einlassen  wird.  Er  wohl  kaum,  aber  der  Kaiser  wird 
es  vielleicht  wollen. 

Straßburg,  h. September  1886. 

Nun  bin  ich  da  in  der  alten,  vielumstrittenen  Stadt. 
Es  ist  doch  ein  eigenes  Gefühl,  das  einen  überkommt, 
wenn  man  in  diese  nach  jahrhundertlanger  Entfrem- 
dung dem  Deutschen  Reiche  zurückgewonnenen  Orte 
kommt.  Wieviel  Blut  ist  geflossen  vor  den  Wällen 
der  bisher  unbezwinglichen  Festung,  von  der  es 
schon  in  dem  alten  deutschen  Liede  heißt:  »O  Straß- 
burg, o  Straßburg,  du  wunderschöne  Stadt,  darinnen 
liegt  begraben  so  mancher  Soldat«.  Und  in  der  Tat, 
wunderschön  ist  die  Stadt,  wie  ein  mahnend  ausge- 
streckter Finger  winkt  der  schlanke  Turm  des  herr- 
lichen Münsters  in  die  rechtsrheinischen  Lande,  als 
ob  er  sagen  wollte:  Du  deutsches  Volk,  das  mich  ge- 
gründet und  gebaut,  willst  du  mich  nicht  wieder  heim- 
führen zu  dir?  —  und  als  ein  Repräsentant  der  befolg- 
ten Mahnung  ziehen  in  diesem  Augenblick  mit  klin- 
gendem Spiel  die  verschiedenen  deutschen  Trup- 
pen unter  meinem  Fenster  hinaus  zur  Parade  vor 
dem  Kaiser,  Preußen,  Bayern,  Württemberger,  Sach- 
sen, ein  bunter  Anblick  in  ihren  blitzenden  Parade- 
uniformen. —  Ich  wohne  am  Ufer  des  111,  der  sich 
mit  der  Aar  hundert   Schritt  weiter  mitten   in   der 

132 


Stadt  vereinigt,  zahlreiche  Brücken  schwingen  sich 
hinüber  und  im  Hintergrunde  hebt  sich  der  noch  im 
Bau  begriffene  neue  Kaiserpalast  mit  seiner  schönen 
Fassade  vom  blauen  Himmel  ab.  Links  liegt  alle  Häu- 
ser überragend  das  Münster,  wie  aus  Steinfiligran  ge- 
woben mit  seinen  Tausenden  von  Spitzen  und  Säu- 
len, durch  die  hohen  Fenster  des  leicht  sich  hinauf- 
schwingenden Turmes  blaut  der  lichte  Himmel,  die 
Steinrose  der  Spitze  zittert  im  Sonnenlicht.  Die  Ge- 
sichter der  Einwohner  sind  unverfälscht  deutsch  und, 
wo  man  geht,  hört  man  nur  das  breite  Elsäßer  Deutsch, 
aber  über  den  Läden  stehen  die  französischen  In- 
schriften, an  denen  niemand  etwas  geändert  hat.  — 
Gestern  war  ich  mit  Onkel  Helmuth  zum  Diner  beim 
Kaiser.  Eine  Menge  Fürstlichkeiten  sind  hier  versam- 
melt. Abends  war  das  Münster  erleuchtet,  ein  wahr- 
haft feenhafter  Anblick,  der  ganze  Turm  bis  zur 
höchsten  Spitze  mit  Lampen  besetzt.  Da  man  in  der 
Dunkelheit  den  unteren  nicht  erleuchteten  Bau  nicht 
sah,  schien  es,  als  ob  ein  Zauberschloß  von  Geistern 
getragen  in  den  Lüften  schwebe,  es  war  unbeschreib- 
lich schön.  —  Die  Stadt  hatte  auch  ziemlich  durch- 
gehend illuminiert  und  ist  auch  sonst  reich  und  schön 
dekoriert,  die  Stimmung  der  Bevölkerung  eine  recht 
animierte.  Vielfach  sieht  man  Leute  mit  der  Korn- 
blume im  Knopfloch  und  Onkel  Helmuth  wurde,  wo 
er  sich  blicken  ließ,  mit  stürmischen  Hochrufen  be- 
grüßt. Die  Begrüßung  des  Kaisers  war  geradezu  en- 
thusiastisch. Abends  großer  Zapfenstreich,  bei  dem 
Tausende  von  Menschen  vor  dem  Palais  standen  und 
dem  am  Fenster  stehenden  Kaiser  zujubelten.  Immer 
und  immer  wieder  schallten  die  Hochrufe  durch  die 
stille  Nacht,  ein  Ausbrechen  des  uralten  Deutsch- 
tums, das  zwei  Jahrhunderte  der  Fremdherrschaft 
nicht  vermocht  haben  auszurotten.  —  In  einer  Stunde 

133 


sollen  wir  nun  hinaus  zur  Parade.  Der  Himmel  ist 
leicht  bewölkt,  die  Hitze  hat  etwas  nachgelassen,  ganz 
windstill,  ein  schönes  Kaiserwetter. 

Straßburg,  12.  September  1886. 

Heute  haben  wir  einen  bewegten  Tag  hinter  uns. 
Es  ist  nämlich  Sonntag,  Ruhetag,  den  wir  benutzten, 
um  uns  in  und  vor  der  Stadt  umzusehen.  Wir  fuhren 
erst  durch  allerlei  Straßen  nach  der  Orangerie,  einem 
großen  öffentlichen  Garten,  nach  der  Zitadelle,  ei- 
nem noch  von  Vauban,  dem  Festungsbaumeister  Lud- 
wigs des  XIV.,  gebauten  Werk,  mit  dem  dieser  die 
Stadt  befestigte,  nachdem  er  mitten  im  Frieden  die- 
selbe besetzt  hatte.  —  Die  Ohnmacht  des  damaligen 
Deutschen  Reiches  war  so  groß,  daß  kein  ernsthaf- 
ter Versuch  gemacht  wurde,  dieselbe  zurück  zu  ge- 
winnen, und  die  beiden  alten  Provinzen  Elsaß  und 
Lothringen  waren  seit  der  Zeit  für  Deutschland  ver- 
loren. —  Die  Zitadelle,  nach  dem  damaligen  Stand 
der  Belagerungsmittel,  ein  ungemein  festes  Werk,  ist 
noch  heute  imposant  durch  seine  massiven  Kon- 
struktionen, wenn  auch,  da  größtenteils  ungedecktes 
Mauerwerk,  gegen  den  heutigen  Angriff  nicht  mehr 
auf  die  Dauer  haltbar.  Sie  liegt  aber  auch  jetzt  inner- 
halb der  Umwallung  und  ist  einem  solchen  nicht 
mehr  ausgesetzt.  —  Dann  fuhren  wir  ein  ganzes  Stück 
der  neuen  Befestigungen  ab,  bestiegen  auch  den  Wall 
und  besichtigten  dann  in  der  evangelischen  Kirche 
das  berühmte  Denkmal  des  Herzogs  Moritz  von 
Sachsen.  —  Von  da  in  den  Dom,  wo  wir  von  einem 
sehr  höflichen  Priester  umhergeführt  wurden,  der 
nach  hunderten  zählenden  Volksmenge  wegen,  die 
Onkel  Helmuth  umdrängte,  aber  wenig  sehen  konn- 
ten. Überhaupt,  wo  Onkel  Helmuth  sich  blicken  läßt, 

134 


wird  er  mit  stürmischen  Hochrufen  begrüßt  und  alles 
rennt  hinter  ihm  her. 

Straßburg,  14.  September  1886. 

Gestern  war  Korpsmanöver,  das  sehr  hübsch  ver- 
lief. Der  Kaiser  war  im  Wagen  draußen.  Onkel  Hel- 
muth  ritt  sehr  flott  und  wir  sahen  alles  sehr  gut, 
zwei  große  Kavallerieattacken  von  zwölf  Kavallerie- 
regimentern gegeneinander.  Es  sind  hundertfünfzig 
französische  Offiziere  auf  der  hiesigen  Kommandantur 
angemeldet,  ebensoviel  mögen  wohl  noch  unangemel- 
det hier  sein.  Jedenfalls  müssen  diese  Herren  den  Ein- 
druck empfangen,  daß  die  Gesinnungen  des  hiesigen 
Volkes  gut  deutsch  sind.  Überall  sind  die  Ortschaften 
reich  geschmückt,  große  Ehrenpforten  errichtet  und 
der  Kaiser  wird  überall  mit  großem  Enthusiasmus 
begrüßt.  Ebenso  Onkel  Helmuth,  den  alle  kennen. 
Wo  man  durch  ein  Dorf  kommt,  stehen  die  Leute 
mit  Wasser,  Wein  und  Bier  vor  den  Türen,  das  sie 
den  vorbeimarschierenden  Truppen  zureichen,  die 
Offiziere  der  Front  sagen,  daß  sie  sich  vor  der  Lie- 
benswürdigkeit der  Bauern,  bei  denen  sie  einquar- 
tiert sind,  kaum  zu  retten  wissen.  Es  ist  ein  schöner 
Volksschlag  hier,  viele  Bauern  sieht  man  in  weißen 
Hosen,  hohen  Stiefeln,  kurzen  Jacken  und  ihrem 
breitkrämpigen  Filzhut  zu  Pferde  auf  dem  Manöver- 
feld. 

Straßburg,  16.  September  1886. 

Die  Reise  des  Kaisers  nach  Metz  ist  noch  immer 
ganz  unbestimmt.  Die  Ärzte  möchten  ihn  gerne  da- 
von abbringen,  da  die  Sache  für  den  alten  Herrn  sehr 
anstrengend  werden  dürfte. 

Heute  morgen  haben  Onkel  Helmuth  und  ich  eine 
Fahrt  nach  dem  sieben  Kilometer  vor  der  Stadt  lie- 

135 


genden  Fort  Moltke  gemacht  und  dasselbe  eingehend 
von  innen  und  außen  besichtigt.  Es  hat  mich  sehr 
interessiert,  einmal  ein  nach  den  neueren  Prinzipien 
konstruiertes  Fort  zu  sehen. 

*  Generalstab  Berlin,  24.  April  1887. 

Onkel  Helmuth  hat  sich  noch  immer  nicht  darüber 
geäußert,  was  er  eigentlich  vorhat.  Ob  und  wann  er 
abreisen  will  und  ob  er  dabei  auf  meine  Begleitung 
rechnet,  ist  völlig  dunkel!  —  Ich  bliebe  natürlich  am 
liebsten  hier,  bis  Du  zurückkommst,  aber  der  Him- 
mel mag  wissen,  wo  ich  hinverschlage,  nachdem  ich 
am  1.  Mai  mein  Kommando  niedergelegt  habe.  Wir 
haben  nun  nur  noch  drei  Exerziertage.  Am  Montag 
und  Dienstag  werden  wir  auf  dem  Tempelhof  er  Felde 
im  Bataillon  exerzieren,  am  Mittwoch  ist  die  Batail- 
lonsvorstellung. Es  wird  mir  ganz  wunderbar  vor- 
kommen, wenn  ich  wieder  ohne  Zusammenhang  mit 
der  Truppe  dastehe,  die  mir  während  der  Monate 
meiner  Dienstleistung  doch  sehr  ans  Herz  gewach- 
sen ist. 

Generalstab  Berlin,  30.April  1887. 

Bei  der  gestrigen  Vorstellung  des  Füsilier-Batail- 
lons war  auch  Prinz  Wilhelm  zugegen.  —  Ich  hatte 
bei  dieser  Vorstellung  Gelegenheit,  mich  gleich  bei 
allen  Vorgesetzten  abzumelden.  Heute  nachmittag 
übergebe  ich  nun  die  Kompagnie  an  ihren  alten  Chef 
G.,  dessen  Hoffnung,  Major  zu  werden,  sich  nun  doch 
nicht  erfüllt  hat. 

Generalstab  Berlin,  i.Mai  1887. 

Gestern  war  Liebesmahl  und  zugleich  mein  Ab- 
schied vom  Regiment.   Der   Oberst   sagte   mir  viel 

*  Kommandiert  zur  Dienstleistung-  beim  2.  Garde-Rgt.  z.  Fuß. 
136 


schöne  Sachen,  und  alle  schienen  mich  ungern  zu 
verlieren.  Am  meisten  die  Unteroffiziere  der  Kom- 
pagnie, die  mir  mit  Tränen  in  den  Augen  Adieu  sag- 
ten. Nach  Tisch  ging  ich  noch  einmal  durch  alle  Stu- 
ben der  Kompagnie,  wo  die  Leute  zum  Teil  schon 
zu  Bett  waren,  und  sagte  ihnen  Adieu. 

Generalstab  Berlin, 3. Mai  1887. 

Gestern  war  ich  um  V25  Uhr  bei  G.  zu  Tisch  ge- 
laden. Ich  fand  Herrn  und  Frau  v.  W.  —  außerdem 
Herrn  und  Frau  v.  B.  vor.  —  Nach  Tisch  gingen  wir 
alle  zusammen  in  die  Concordia,  um  die  hypnoti- 
schen Produktionen  des  dänischen  Magnetiseurs 
Hansen  zu  sehen.  Diese  Vorstellungen  sind  wirklich 
interessant,  unerklärlich  und  zum  Teil  unheimlich. 
Es  meldeten  sich  aus  dem  Publikum  etwa  dreißig 
Herren  und  zwei  Damen,  die  alle  auf  Stühle  gesetzt 
wurden  und  jeder  ein  kleines  Glasprisma  in  die  Hand 
bekamen,  mit  der  Weisung,  dasselbe  scharf  anzu- 
sehen. Inzwischen  ging  Hansen  von  einem  zum  an- 
deren und  machte  magnetische  Striche.  Nach  fünf 
Minuten  war  die  Hälfte  eingeschlafen,  die  andere 
Hälfte  wurde  als  unbrauchbar  entlassen.  Die  Ent- 
schlafenen hatte  Hansen  nun  völlig  in  seiner  Gewalt. 
Er  zwang  sie  durch  den  bloßen  Blick  aufzustehen 
und,  wie  der  Magnet  vom  Eisen  angezogen,  hinter 
ihm  herzulaufen.  Er  ließ  sie  sich  wie  ein  Kreisel 
drehen,  legte  einen  mit  dem  Kopf  und  den  Füßen 
auf  zwei  Stühle  und  stellte  sich  auf  seinen  Bauch, 
knickte  ihn  dann  zusammen  wie  ein  Taschenmesser 
und  setzte  ihn  wie  ein  Scheit  Holz  auf  die  Erde.  — 
Es  war  hier  entschieden  kein  Humbug  mit  im  Spiel, 
sondern  eine  bis  jetzt  noch  unerklärliche  Kraft,  die 
man  nicht  deuten,  aber  auch  nicht  ableugnen  kann. 

137 


Generalstab  Berlin,  10.  Mai  1887. 

Gestern  war  ich  mit  Onkel  Helmuth  einer  Ein- 
ladung des  Vorstandes  vom  Wagner- Verein  gefolgt. 
Ich  habe  mich  nie  mit  dem  Unternehmen  befreun- 
den können,  Wagner  von  der  Bühne  loszulösen  und 
in  den  Konzertsaal  zu  verpflanzen.  Man  kann  gerade 
so  gut  eine  Eiche  aus  dem  Boden,  in  dem  sie  wur- 
zelt, herausheben  und  ins  Zimmer  stellen.  Sie  wird 
vertrocknen,  die  Blätter  verlieren  und  von  dem  herr- 
lichen, winddurchbrausten  Baum  wird  bald  nur  das 
Skelett  der  Äste  übrigbleiben,  interessant  für  den,  der 
Baumstudien  machen  will,  aber  etwas  Totes  und  Star- 
res für  den,  der  gekommen  ist,  sich  zu  freuen  an  der 
Schönheit  der  urgewaltigen  Natur.  —  Ich  finde  es 
von  den  Wagner-Verehrern  unbegreiflich,  daß  sie  mit 
den  Werken  ihres  vergötterten  Meisters  diese  gewag- 
ten Experimente  machen,  und  es  scheint  mir,  daß 
keiner  die  Absicht  Wagners  in  dessen  Sinne  verstan- 
den hat,  der  selber  wiederholt  betont  hat,  daß  die 
Musik  seiner  Werke  nur  das  Gewand  ist,  welches  die 
lebendige  Gestalt  des  Dramas  umhüllt;  er  nennt  ja 
auch  selber  seine  Werke  nicht  Opern,  sondern  musi- 
kalische Dramas.  Kaum  glaube  ich,  daß  er  einverstan- 
den sein  würde,  wenn  man  diesen  seinen  gewaltig 
einherschreitenden  Gestalten  den  Rock  auszieht  und 
diesen  wie  in  einem  Trödlerladen  aushängt. 

Stettin,  13.  September  1887. 

Eben  kommen  wir  von  der  Parade  zurück,  die  bei 
herrlichstem  Wetter  sehr  schön  verlief.  Onkel  Hel- 
muth führte  sein  Regiment  sehr  nett  vorbei,  kam  gut 
und  richtig  in  Galopp  und  sah  gut  aus.  Der  Kaiser 
sehr  frisch  und  seelenvergnügt  über  die  vielen  Sol- 
daten. 

138 


Stettin,  14.  September  1887. 

Das  Korpsmanöver  ist  heute  vollständig  verregnet. 
Seit  7  Uhr  goß  es,  um  9  Uhr  regnete  es,  um  10  Uhr 
war  Nebel  und  um  11  Uhr  schien  die  Sonne  I  Der 
Kaiser  fuhr  nicht  hinaus,  schickte  Graf  Lehndorff 
und  ließ  Onkel  Helmuth  bitten,  auch  nicht  hinaus- 
zufahren, da  er  sich  leicht  erkälten  könne.  Onkel  Hel- 
muth, der  nun  einmal  in  Zug  ist,  war  dies  gar  nicht 
recht,  er  wäre  um  10  Uhr  gerne  hinausgefahren.  So 
mußten  wir  aber  zu  Hause  bleiben,  machten  eine 
Spazierfahrt  durch  die  Stadt  und  dann  nach  der 
großen  Schiffsbauanstalt  Vulkan  hinaus,  die  wir  un- 
ter Leitung  des  Direktors  sehr  eingehend  besichtig- 
ten. Sehr  interessant,  zwischen  vier-  und  fünftausend 
Arbeiter.  Eine  Panzerkorvette,  der  Vollendung  nahe, 
besichtigten  wir  innen  und  außen. 

Creisau,  29.  Mai  1888. 

Ich  habe  mir  eine  Art  Maleratelier  aufgeschlagen 
und  angefangen,  eins  von  den  Landschaftsstücken 
zu  kopieren.  Mein  Cello  kultiviere  ich  auch  dabei, 
lebe  also  ganz  in  den  Künsten. 

Generalstab  Berlin,  16.  Juni  1888. 

Um  10  Uhr  fahren  Onkel  Helmuth  und  ich  nach 
Potsdam,  wo  Onkel  Helmuth  sich  bei  dem  jungen 
Kaiser  melden  will.  —  Nun  sind  wir  wieder  zurück 
aus  Potsdam,  und  ich  habe  auch  diesen  toten  Kai- 
ser gesehen  wie  den  vorigen.  —  Wie  verschieden 
aber  war  der  Eindruck.  Damals  Friede  und  Ruhe,  der 
Abschluß  eines  Lebens,  das  sich  ausgelebt  hat  und 
still  verrinnt,  hier  die  Spuren  eines  schrecklichen 
Leidens,  das  mitten  aus  seiner  vollsten  Kraft  hinaus 
einen  Mann  dahingerafft,  der  von  der  Natur  bestimmt 

139 


schien,  noch  lange  zu  wirken.  —  Niemals  würde  ich 
diese  eingefallenen  Züge  als  die  des  Mannes  wieder- 
erkannt haben,  den  ich  zuletzt  in  blühender  Kraft  und 
Gesundheit  gesehen  hatte.  Die  Nase  ganz  scharf  und 
hervortretend,  die  Augenhöhlen  tief  eingesunken,  die 
Backenknochen  vorspringend.  Um  den  Mund  deut- 
lich, trotz  des  Bartes  erkennbar,  zwischen  den  zu- 
sammengezogenen Augenbrauen  ein  Zug  tiefsten 
Wehs,  namenlosen  Schmerzes.  Etwas  ganz  Fremdes 
in  dem  gelblich  blassen,  abgemagerten  Gesicht,  aus 
dem  der  Schnurrbart  fast  struppig  hervorstand.  Die 
Haare  auf  der  breiten  Stirn  dünn  geworden,  der  Kinn- 
bart gräulich  schattiert.  Aus  der  ganzen  Erscheinung 
sprach  unheimlich,  fast  teuflisch  triumphierend  der 
Dämon  der  grausigen  Krankheit.  Dies  tote  Gesicht 
erzählte  eine  erschütternde  Geschichte  namenlos 
schmerzlichen  Ringens  mit  dem  Würgengel  des  To- 
des. —  Es  war,  als  ob  dieser  die  sich  sträubende 
menschliche  Kraft  unter  die  Füße  getreten  habe,  bis 
sie  aufstöhnend  zerbrach,  jammervoll,  herzzerreißend. 
Die  großen  starken  Hände  bis  auf  die  Knochen  ab- 
gemagert, fast  durchsichtig  blaß,  über  der  Brust  ge- 
kreuzt, hielten  seinen  schweren  Kürassierpallasch,  der 
lang  und  blank  über  das  Bett  hinlag.  Es  sah  aus,  als 
ob  er  sein  eigenes  Richtschwert  an  die  Brust  drücke. 
Unter  der  Bettdecke  zeichnete  sich  die  lange  starre 
Gestalt  ab.  —  Ich  kann  nicht  sagen,  wie  schmerzlich 
dies  alles  sich  mir  einprägte,  welch  namenloser  Jam- 
mer aus  dem  allen  sprach.  —  Wie  furchtbar  ist  über 
den  Zustand  des  armen  Kaisers  gelogen  worden, 
denn  nicht  plötzlich  und  unvermutet  ist  das  Ende  an 
ihn  herangetreten,  das  sieht  man  nur  gar  zu  gut,  lang- 
sam und  allmählich,  Schritt  für  Schritt,  hat  es  ihn 
zu  Tode  gequält;  und  wenn  er  repräsentieren  mußte 
und  wenn  es  von  ihm  hieß:  er  hat  eine  gute  Nacht 

140 


gehabt,  so  zählte  er  schlaflos  die  Schläge  der  Uhr, 
deren  jeder,  wie  er  verhallte,  ihn  um  eine  Spanne 
dem  Ende  näherbrachte,  dem  Ende  namenloser  Qual, 
das  er,  Gott  allein  weiß  wie  heiß  ersehnt  und  erfleht 
haben  mag.  —  Armer  Kaiser,  mit  seiner  Brust  er- 
füllt von  Plänen  für  die  Ausübung  einer  Macht,  auf 
die  er  warten  mußte  über  die  besten  schaffensfreudi- 
gen Jahre  hinaus,  mit  seinem  warmen  Herzen  für 
das  Wohl  des  Volkes,  mit  dem  er  gekämpft  und  ge- 
stritten in  schwerer,  doch  so  heldenhaft  frischer, 
schöner  Zeit,  wie  grausam  ist  sein  Geschick  gewesen. 
Ist  es  nicht,  als  ob  er  gebüßt  habe  für  alle  Sünden 
dieses  Volkes,  er,  der  reine,  der  ideal  denkende  Fürst! 
Kann  die  verhältnismäßig  kurze  Qual  am  Stamm 
des  Kreuzes  furchtbarer  gewesen  sein  als  dies  mo- 
natlange Sterben,  als  dies  grausam  erzwungene  Ver- 
zichtleisten auf  alles,  was  Herz  und  Gemüt  erfüllt, 
auf  die  vorbereitende  Arbeit  eines  ganzen  Lebens? 
Armer  Kaiser,  erschüttert  bis  ins  tiefste  Innere  wen- 
den wir  uns  ab,  wie  eine  schmerzliche  Betäubung 
liegt  es  auf  Kopf  und  Sinnen.  —  Ich  weiß  kaum,  wie 
wir  zurückgekommen  sind,  aber  mitteilen  mußte  ich 
den  Eindruck,  den  ich  empfangen,  und  ich  weiß,  Du 
wirst  mit  mir  fühlen. 

Generalstab  Berlin,  17. Juni  1888. 

Heute  um  1  Uhr  hat  Onkel  Helmuth  die  General- 
stabsoffiziere vereidigt.  —  Den  schönen  Erlaß  des 
jungen  Kaisers  an  die  Armee  wirst  Du  in  der  Zei- 
tung gelesen  haben.  —  Es  weht  jetzt  in  allem  ein 
bedeutend  anderer  Wind.  Der  junge  Kaiser  ist  in  be- 
ständiger Tätigkeit,  hat  den  ganzen  Tag  konferiert, 
Befehle  erteilt,  Unterschriften  erledigt.  Schon  vor- 
gestern abend  kam  die  erste  Kabinettsorder  mit  der 
Unterschrift  Imperator  Rex  zu  uns. 

141 


Generalstab  Berlin,  18.  Juni  1888. 

Soeben  kommen  wir  aus  Potsdam  zurück,  wo  wir 
den  hochseligen  Kaiser  zur  letzten  Ruhestätte  geleitet 
haben.  —  "Wie  wir  im  Saale  des  Stadtschlosses  wa- 
ren, kam  Prinz  Heinrich  angefahren  und  suchte  On- 
kel Helmuth  auf,  um  ihm  ein  kleines  Etui  zu  über- 
bringen, in  dem  die  Orden  en  miniature  lagen,  die  der 
Kaiser  Friedrich  zum  Zivil  zu  tragen  pflegte.  Die  ver- 
witwete Kaiserin  Viktoria  schickte  dieselben  als  An- 
denken an  Onkel  Helmuth,  und  zwar  hatte  der  junge 
Kaiser  das  Etui  in  der  Tasche  gehabt,  um  es  selber 
an  Onkel  Helmuth  zu  geben,  da  er  aber  keine  Ge- 
legenheit dazu  gefunden  hatte,  schickte  er  den  Prin- 
zen Heinrich  auf  die  Suche  hinter  Onkel  Helmuth  her. 

Generalstab  Berlin,  19.  Juni  1888. 

Gott  segne  den  jungen  Herrn !  Dabei  hatte  er  alle  Pro- 
klamationen selbst  geschrieben,  keine  fremde  Feder 
darin,  alle  Vorschläge  verworfen  und  die  Sache  selbst 
gemacht. 

Generalstab  Berlin,  25. Juni  1888. 

Bei  unserer  Rückkehr  gestern  abend  aus  Ratzeburg 
fanden  wir  das  Programm  der  feierlichen  Eröffnung 
des  Reichstages  vor,  die  heute  stattfinden  soll.  Onkel 
Helmuth  war  in  demselben  wie  auch  in  dem  Pro- 
gramm der  Trauerfeierlichkeit  überhaupt  gar  nicht  er- 
wähnt. Er  war  mit  Recht  auf  das  tiefste  gekränkt  und 
erklärte  im  ersten  Moment,  sofort  abreisen  zu  wollen, 
wollte  seinen  Abschied  nehmen,  sagte,  er  sei  in  den 
Skat  gelegt  usw.  Alles  ganz  richtig.  —  Heute  morgen 
hat  er  einen  Brief  an  den  diensttuenden  Adjutanten 
geschrieben,  worin  er  sagt:  Da  er  als  ältester  Feld- 
marschall, Kanzler  des  Schwarzen  Adlerordens  usw. 
wohl  hätte  erwarten  können,  einen  Platz  im  Gefolge 

142 


Sr.  Majestät,  und  zwar  zunächst  hinter  dem  Reichs- 
kanzler zu  finden,  in  dem  Programm  aber  gar  nicht 
erwähnt  sei,  es  auch  mit  seiner  militärischen  Würde 
nicht  vereinbar  finde,  als  Abgeordneter  zu  erschei- 
nen, bäte  er,  Sr.  Majestät  zu  melden,  daß  er  von  der 

Feier  fernzubleiben  sich  gezwungen  sähe. Die 

ganze  Schuld  trifft  natürlich  die  Hofschranzen,  die 
denken,  laß  den  Alten  laufen,  und  sich  lieber  den 
neuen  Sternen  zuwenden!  Hoffentlich  wird  es  ihnen 
etwas  in  die  Bude  regnen,  und  Onkel  Helmuth  in  Zu- 
kunft, wenn  dem  Kaiser  die  Augen  geöffnet  worden 
sind,  seiner  Stellung  entsprechend  behandelt  werden. 

Generalstab  Berlin,  26.  Juni  1888. 

Das  war  gestern  ein  sehr  schöner,  feierlicher  Akt, 
dem  wir  mit  beiwohnen  durften.  Um  12  Uhr  fuhren 
wir,  Onkel  Helmuth,  Goßler  und  ich,  im  offenen  Wa- 
gen, begleitet  von  den  ununterbrochenen  Hurrarufen 
der  dicht  auf  den  Straßen  stehenden  Menschen  nach 
dem  Schloß,  wo  wir  dem  Gottesdienst  in  der  Ka- 
pelle beiwohnten,  eine  sehr  schöne  Rede  von  Kögel 
hörten.  Der  gegebene  Text  war:  Durch  Gottes  Gnade 
bin  ich,  was  ich  bin.  Der  Kaiser,  der,  zur  Rechten  den 
König  von  Sachsen,  zur  Linken  den  Regenten  von 
Bayern,  eintrat,  sah  sehr  schön  und  würdevoll  aus. 
Nach  dem  Gottesdienst  versammelte  sich  die  ganze 
Gesellschaft,  der  gesamte  Reichstag  im  Weißen  Saal, 
Bismarck,  der  die  Mitglieder  des  Bundesrats  wie 
eine  Herde  von  Lämmern  hereinführte,  sah  in  sei- 
ner Kürassieruniform  vortrefflich  aus,  das  ganze 
Arrangement  machte  einen  großartigen  Eindruck. 
Das  Hereinmarschieren  einer  Kompagnie  der  Schloß- 
garde im  Tritt  mit  Gewehr  auf,  mit  eingetretenen  Of- 
fizieren mit  gezogenem  Degen,  machte  einen  groß- 
artigen Eindruck.  Der  Thron  mit  großen  Draperien 

143 


von  gelbem  Samt,  die  rotsamtene  Estrade  für  die 
Kaiserin,  die  Sessel  für  die  Fürsten  rechts  und  links 
des  Thrones,  alles  sehr  feierlich.  Wie  alles  versam- 
melt, ging  Bismarck  es  dem  Kaiser  melden.  Dann 
nahm  der  Hof  seinen  Eintritt.  Erst  Pagen  in  schwar- 
zen Eskarpins  mit  Trauerflor  an  den  Knien,  dann 
die  Reichsinsignien.  —  Onkel  Helmuth  hatte  einen 
besonderen  Ehrenplatz  erhalten,  indem  er  ganz  al- 
leine hinter  den  Insignienträgern  und  unmittelbar  vor 
dem  Kaiser  ging.  Er  sah  in  dem  großen  roten  Samt- 
mantel des  Schwarzen  Adlers  sehr  gut  aus,  mit  sei- 
nem auf  die  Hüfte  gestemmten  Marschallstab.  —  Der 
Kaiser,  wieder  mit  dem  König  von  Sachsen  und  dem 
Prinzregenten  zur  Rechten  und  Linken,  wie  alle  Rit- 
ter vom  Schwarzen  Adler,  in  langem  wallenden  Pur- 
purmantel, sah  ungemein  hoheitsvoll  und  tiefernst 
aus.  Geradezu  majestätisch,  wie  er  mit  sicherem 
Schritt  auf  den  Hautpas  des  Thrones  trat  und  die 
Versammlung  mit  feierlicher  Neigung  des  Kopfes  be- 
grüßte. —  Dann,  nachdem  alles  geordnet  und  Ruhe 
eingetreten  war,  hatte  er  wieder  einen  sehr  schönen 
Moment,  als  der  Kanzler  ihm  die  Thronrede  über- 
reichte, er  dieselbe  ergriff,  mit  einem  energischen 
Ruck  den  Helm  aufsetzte  und  den  Mantel  zurück- 
warf, um  hochaufgerichtet  den  Blick  über  die  lautlos 
harrende  Versammlung  gleiten  zu  lassen.  Dann  be- 
gann er  zu  lesen.  Ich  achtete  genau  darauf  und  sah, 
daß  das  Blatt  in  seiner  Hand  nicht  zitterte.  Dennoch 
war  die  Stimme  zuerst  umflort  und  undeutlich.  Die 
Sätze  kamen  ruckweise  und  mühsam  heraus,  er  war 
trotz  der  Totenstille  kaum  zu  verstehen.  Nach  und 
nach  aber  hob  sich  das  Organ,  der  Vortrag  wurde 
fließend  und  wie  er  an  die  Stelle  kam:  Ich  bin  geson- 
nen, Frieden  zu  halten  mit  jedermann,  so  weit  es  an 
mir  liegt,  betonte  er  das  Wort  mir  so  laut  und  schön, 

144 


daß  es  wie  ein  elektrischer  Funke  durch  alle  Hörer 
fuhr,  es  lag  soviel  darin,  das  volle  Bewußtsein  der 
Herrscherkraft,  es  grollte  gleichsam  darin  die  Beteue- 
rung: aber  wehe  dem,  der  es  wagen  sollte,  mir  zu  nahe 
zu  treten,  eine  ungemeine  Stärke  und  Sicherheit  lag 
in  dem  einen  Wort,  so  daß  spontan  alles  in  lauten 
begeisterten  Beifallsruf  ausbrach.  —  Die  letzten  Sätze 
der  Rede  sprach  er  mit  schöner,  durchdringender 
Stimme,  jede  Spur  von  Befangenheit  war  gewichen 
und  er  stand  da,  fest  und  stolz,  der  kraftvolle,  selbst- 
bewußte Herrscher  eines  mächtigen  Reiches. 

Du  kannst  Dir  nicht  denken,  wie  wohltuend  das 
Gefühl  war,  einen  jungen,  kräftigen  Kaiser  zu  haben, 
der  weiß,  was  er  will.  —  Es  war  ein  schöner,  groß- 
artiger Akt.  —  Nachher  sprach  beim  Auseinander- 
gehen Bismarck  Onkel  Helmuth  an,  und  beide  saßen 
fast  eine  halbe  Stunde  lang  nebeneinander  in  der 
sonst  ganz  leeren  Bildergalerie,  scheu  von  allen  ge- 
mieden, die  hereinkamen.  Was  sie  verhandelt  haben, 
weiß  ich  nicht,  Onkel  Helmuth  ist  stumm  wie  das 
Grab,  ich  glaube  aber,  daß  Bismarck  ihm  auseinan- 
dergesetzt hat,  daß  er  unmöglich  seinen  Abschied 
nehmen  dürfe  und  Onkel  Helmuth  wird  das  wohl 
eingesehen  haben,  er  ist  heute  still  und  feierlich. 

Generalstab  Berlin,  27.  Juni  1888. 

Gestern  schickte  der  Kaiser  durch  den  Oberstleut- 
nant v.  B.  seine  außerordentlich  gut  gemachte  Büste 
in  Lebensgröße  (Gips)  an  Onkel  Helmuth  mit  einem 
eigenhändigen  Schreiben,  in  dem  er  etwa  folgendes 
sagte:  Verehrter  Feldmarschall!  Zum  Andenken  an 
den  gestrigen  Tag  (Eröffnung  des  Reichstags),  den 
wir  durch  Ihre  Taten  im  Siebziger  Kriege  als  eine  Er- 
rungenschaft derselben  feiern  durften,  bitte  ich  Sie, 
Ihnen  meine  Büste  überreichen  zu  dürfen,  freilich 

Moltke.         10.  145 


vorerst  nur  in  Gips,  bis  dieselbe  in  Erz  fertiggestellt 
ist.  In  treuer  Freundschaft  Ihr  wohlaffektionierter 
Wilhelm.  —  Die  Büste  ist  von  Schott  gemacht  und 
zeigt  den  Kaiser  in  Husaren-Uniform  mit  einem  sehr 
schönen,  ungemein  kühnen  Blick. 

Heute  findet  die  Vereidigung  des  Kaisers  auf  die 
Verfassung  statt,  in  derselben  feierlichen  Weise,  wie 
die  Eröffnung  des  Reichstages. 

In  dem  gedruckten  Programm,  das  gestern  ankam, 
ist  Onkel  Helmuth  persönlich  aufgeführt  und  ihm 
wieder  der  Platz  unmittelbar  vor  dem  Kaiser  ange- 
wiesen. Bei  der  Gruppierung  um  den  Thronsessel 
steht  Onkel  Helmuth  auf  dem  Hautpas  hinter  dem 
Thron,  ganz  alleine,  während  alles  andere  rechts  und 
links  steht.  —  Es  hat  somit  die  wohltätigsten  Folgen 
gehabt,  daß  er  einmal  die  Zähne  gezeigt  hat,  und 
wird  das  Hofmarschallamt  ihn  wohl  so  leicht  nicht 
wieder  vergessen.  Wie  ich  nachträglich  hörte,  soll 
der  Kaiser  infolge  Onkel  Helmuths  Brief  ganz  außer 
sich  gewesen  sein,  er  hatte  gleich  einen  Flügeladju- 
tanten an  Bismarck  geschickt  und  fragen  lassen,  ob 
es  wohl  angängig  sei,  daß  er  Onkel  Helmuth  mit  den 
Fürstlichkeiten  zusammen  gehen  lassen  könnte,  wo- 
rauf B.  geantwortet,  ja  wohl,  das  ginge  sehr  gut.  — 
Onkel  Helmuth  aber  hat  im  Schloß  erklärt,  nein,  da 
gehöre  er  nicht  hin  und  hat  sich  selber  seinen  Platz 
hinter  den  Kroninsignien  vor  dem  Kaiser  gewählt, 
der  ihm  denn  auch  heute  offiziell  wieder  angewie- 
sen ist. 

Ganz  Berlin,  und  wie  es  nach  den  Zeitungen  scheint, 
so  ziemlich  das  ganze  Deutschland  aller  Parteifär- 
bungen, ist  entzückt  und  begeistert  von  dem  Auftre- 
ten des  jungen  Kaisers,  alles  atmet  auf,  wie  von 
schwerem  Druck  befreit,  und  ein  Gefühl  der  Ruhe 
und  Sicherheit  macht  sich  überall  geltend.  Auch  das 

146 


Ausland  hat  ja  die  Thronrede  sehr  sympathisch  auf- 
genommen, die  ruhige  Sicherheit  und  die  vollbewußte 
Kraft  derselben  haben  allseitig  imponiert. 

C  r  e  i  s  a  u ,  26.  Juli  1888. 

So  gern  ich  Dir  auch  den  unverkürzten  Genuß  Deiner 
Ferien  lassen  möchte,  muß  ich  Dich  doch  bitten,  so 
bald  wie  möglich  zurückzukommen.  Die  Sache  geht 
hier  nicht  mehr  ohne  Dich.  Onkel  Helmuth  wird,  da 
Du  ihn  nicht  mehr  fütterst,  von  Tag  zu  Tag  kümmer- 
licher, er  ißt  so  gut  wie  gar  nichts  mehr  und  ist  ent- 
setzlich Hypochonder.  Um  sich  zu  beschäftigen,  ar- 
beitet er  täglich  fünf  bis  sechs  Stunden  im  Busch 
und  sinkt  immer  mehr  zusammen.  Der  Whist  en  trois 
ist  für  alle  Beteiligten  geradezu  vernichtend.  Bitte 
telegraphiere  mir,  wann  ich  Dich  erwarten  kann. 

♦Generalstab  Berlin,  28.  Oktober  1888. 

Heute  morgen  hatte  ich  per  Telephon  anfragen  las- 
sen, ob  und  wann  sich  Onkel  Helmuth  bei  Sr.  Maje- 
stät melden  könne.  Als  Antwort  kam  zurück:  Se.  Ma- 
jestät bittet  den  Feldmarschall,  um  il/2  Uhr  bei  ihm 
zu  frühstücken.  —  Ich  wollte  die  Gelegenheit  benut- 
zen, um  mich  gleich  beim  Kaiser  zu  melden,  und  fuhr 
daher  im  Paradeanzug  mit.  In  Potsdam  angekommen, 
fuhren  wir  quer  durch  den  Lustgarten  und  nach  dem 
Marmorpalais  hinaus.  Hier  wurden  wir  in  ein  kleines 
Zimmer  geführt  und  gebeten  zu  warten,  da  Se.  Maje- 
stät noch  Vortrag  habe.  Nach  einer  kleinen  Weile 
kam  die  Kaiserin  ganz  alleine  ohne  Damen  hinein, 
sagte  Onkel  Helmuth  sehr  freundlich  Guten  Tag  und 
setzte  sich  mit  ihm  hin.  Es  begann  nun  eine  etwas 
stockende  Konversation,  die  Kaiserin  ein  wenig  ver- 
legen, was  ihr  reizend  stand,  sehr  liebenswürdig  und 

*  Major  im  Generalstab. 

147 


herzlich, und  wenn  sie  spricht,  mit  einem  außerordent- 
lich gewinnenden  Zug  im  Gesicht.  Sie  sieht  sehr  gut 
aus,  sehr  wohl  und  frisch.  Sie  hat  sehr  schöne  Hände, 
und  ihre  Bewegungen  sind  alle  voll  Grazie  und  An- 
mut. Sie  fragte  gleich  nach  Dir  und  den  Kindern  und 
plauderte,  nachdem  die  erste  Verlegenheit  überwun- 
den, sehr  hübsch  und  harmlos. 

Dann  kam  der  Kaiser,  der  erst  Onkel  Helmuth  be- 
grüßte und  dann  auf  mich  zukam,  der  ich  mich  in 
eine  Ecke  gedrückt  hatte.  Ich  sprang  ihm  nun  sofort 
mit  meiner  Meldung  ins  Gesicht,  meldete  mich :  »Durch 
Ew.  Majestät  Gnade  zum  Major  befördert«,  wobei  er 
mich  während  der  ganzen  Zeit  an  der  Hand  hielt.  — 
Dann  sagte  er:  »Mein  Gott,  Sie  sind  auch  schon  Ma- 
jor? Man  wird  alt,  wenn  ich  denke,  wie  ich  Sie  noch 
als  ganz  jungen  Dachs  beim  Regiment  gekannt  habe. 
Na,  ich  gratuliere  Ihnen.«  Wir  gingen  dann  gleich  zu 
Tisch.  Die  Tafel  war  in  einem  kleinen  Saal  serviert, 
dessen  offenstehende  Flügeltüren  über  eine  Terrasse 
hinweg  einen  herrlichen  Blick  über  den  tiefblauen 
See  und  das  gegenüberliegende  Ufer  gewährten.  Es 
war  prachtvolles  Wetter,  warm,  windstill  und  ganz 
heller  Sonnenschein.  —  Der  Kaiser  saß  mit  dem  Ge- 
sicht nach  der  offenen  Tür,  die  Kaiserin  ihm  gegen- 
über, rechts  vom  Kaiser  die  Gräfin  Brockdorff,  dann 
ich.  Links  die  Gräfin  Keller,  dann  Bissing.  Onkel  Hel- 
muth links  von  der  Kaiserin,  rechts  von  ihr  der  Oberst 
v.  Villaume,  Militärattache  in  Petersburg,  der  mit  uns 
gekommen  war.  Dann  Lyncker  und  auf  der  anderen 
Seite  der  Flügeladjutant  Sr.  Majestät  v.  Scholl.  Das 
war  die  ganze  Tafelrunde.  Der  Kaiser  war  sehr  leb- 
haft und  angeregt,  sprach  viel.  Er  sieht  sehr  gut  aus. 
Das  Gesicht  ist  markierter  geworden  und  männlicher, 
die  großen  blauen  Augen  noch  größer  wie  früher. 
Gegen  Ende  des  Menüs  sagt  die  Kaiserin:  »Du,  Wil- 

148 


heim,  die  Jungens  könnten  wohl  kommen  und  dem 
Feldmarschall  Guten  Tag  sagen.«  »Ja,  natürlich«,  er- 
widert der  Kaiser.  Dann  zu  mir:  »Sagen  Sie  mal,  Ju- 
lius, der  Feldmarschall  hat  doch  eine  Mütze  mit?«  »Ja- 
wohl.«—  Sie  wird  gebracht;  wir  stehen  auf  und  gehen 
auf  die  Terrasse,  wo  ein  Tischchen  mit  Zigarren  hin- 
gesetzt und  der  Kaffee  serviert  wird.  —  Dann  kom- 
men die  Jungens!  Vier  an  der  Zahl.  Die  drei  ältesten 
in  Samtanzügen  mit  kleinen  Helmen  mit  Haarbüschen 
auf.  Baby  Wilhelm  August  im  weißen  Kleidchen  und 
nackten  Beinen.  Reizende  gesunde  Kinder,  die  uns 
allen  die  Hand  geben  und  sich  dann  sofort  um  On- 
kel Helmuth  gruppieren.  Der  Älteste  hat  ganz  die  Au- 
gen des  Vaters,  ein  feines  Gesichtchen,  etwas  blaß; 
der  zweite  mit  seinem  Lockenkopf  ist  hübscher, 
ebenso  der  dritte,  das  Prachtstück  aber  Nr.  4,  der  von 
seinen  Brüdern  sehr  verzogen  wird.  Mama  findet,  daß 
es  für  seine  übrigens  strammen  Beinchen  zu  kalt  sei, 
und  sofort  entsteht  ein  Wettrennen  nach  Hut  und 
Mantel  für  Baby,  aus  dem  der  Älteste  als  Sieger  her- 
vorgeht und  sehr  stolz  mit  beiden  Sachen  antritt,  noch 
ganz  außer  Atem.  Baby  wird  nun  von  der  Mama  an- 
gezogen, die  Brüder  wollen  zuknöpfen,  er  wird  um- 
gestoßen, fällt  auf  die  Nase,  macht  ein  schiefes  Mäul- 
chen,  wird  aber  sofort  von  den  Brüdern  wieder  auf 
die  Beine  gestellt,  abgeklopft  und  getröstet.  Dabei  ist 
weder  eine  Kinderfrau,  noch  irgendein  dienstbarer 
Geist  zu  sehen.  Die  Jungens  sind  ganz  mit  ihren  El- 
tern allein.  —  Der  Kaiser  steht  mit  der  Zigarre  im 
Munde  lachenden  Gesichts  dabei  und  freut  sich  rie- 
sig über  die  Rangen!  Es  ist  eine  reizende  Familien- 
szene. —  Plötzlich  stürmt  die  ganze  Gesellschaft  auf 
den  Kaiser  ein:  »Papa,  dürfen  wir  unsere  Gewehre 
holen?«  Die  Erlaubnis  wird  gegeben,  und  nun  kom- 
men sie  mit  feierlichem  Ernst  und  Gewehr  auf  im 

149 


Reihenmarsch  an.  Baby  hat  noch  kein  Gewehr  und 
versucht,  ohne  dies  Tritt  zu  halten,  wird  aber  von  den 
Brüdern  als  Posten  zur  Seite  gestellt,  wodurch  er 
unschädlich  gemacht  wird.  Nun  läßt  Onkel  Helmuth 
die  drei  Ältesten  antreten  und  Wendungen  machen, 
die  gewissenhaft  ausgeführt  werden,  dann  marschie- 
ren sie  unter  dem  Kommando  von  Bissing,  der  als 
Kavallerist  Kavalleriekommandos  abgibt  und  dafür 
von  dem  kleinen  Kronprinzen  rektifiziert  wird.  Dann 
wird  Wache  gemacht  und  an  den  Kaiser  die  Auffor- 
derung gerichtet:  »Papa,  geh'  einmal  vorbei,  damit 
wir  heraustreten  können.«  Schließlich  wird  Villaume 
arretiert,  einer  geht  vorne,  einer  hinten  mit  gespann- 
tem Gewehr.  Er  reißt  aus,  die  beiden  hinterher,  er 
wird  am  Kopf  verwundet  (natürlich  fingiert)  und  muß 
sich  mit  seinem  Taschentuch  verbinden.  Dann  wird 
er  an  die  Wand  gestellt  und  zwei  Stühle  vor  ihm,  so 
ist  er  im  Schilderhaus  gefangen.  »Du  darfst  als  Ge- 
fangener nicht  rauchen«,  sagt  Nr.  i,  er  muß  seine  Zi- 
garette wegwerfen.  —  Die  Kaiserin  sieht  mit  seligem 
Lächeln  auf  ihre  hübschen  Kinder,  deren  Wangen 
glühen  und  deren  Augen  vor  Vergnügen  strahlen.  — 
So  geht  die  Zeit  hin,  bis  ich  plötzlich  sehe,  wie  mir 
ein  Lakai  energisch  zuwinkt.  Es  ist  Zeit  abzufahren. 
Ich  avertiere  Onkel  Helmuth,  der  nicht  weg  will,  bis 
ihm  der  Kaiser  zu  Hilfe  kommt  und  ihm  Adieu  sagt. 
»Es  war  sehr  liebenswürdig  von  Ihnen,  daß  Sie  her- 
ausgekommen sind.«  Mir  gibt  er  wenigstens  dreimal 
die  Hand :  »Adieu,  lieber  Julius,  grüßen  Sie  Ihre  Frau 
schön.«  Auch  die  Kaiserin  gibt  mir  die  Hand  und  sagt 
mir  dasselbe:  »Grüßen  Sie  Ihre  Frau  herzlich.«  —  On- 
kel Helmuth  ist  in  heiterster  Dejeunerstimmung,  hält 
Frl.  v.  Gersdorff  für  die  Kaiserin,  will  ihr  die  Hand 
küssen  und  fragt  dann:  »Wo  ist  die  Prinzeß?«  Dabei 
steht  die  Kaiserin  einen  Schritt  hinter  ihm  und  sagt: 

150 


»Hier  bin  ich.«  —  Das  tut  aber  alles  nichts,  alles  wird 
harmlos  genommen,  und  wir  ziehen  ab.  —  Der  Lakai 
ist  in  allen  Zuständen,  denn  der  Zug  geht  in  zehn  Mi- 
nuten. Ich  versuche  Onkel  Helmuth  zu  etwas  größe- 
rer Eile  zu  veranlassen,  aber  er  fängt  auf  dem  Vesti- 
bül noch  eine  längere  Konversation  mit  Maj or  v.  Scholl 
an,  steckt  sich  seine  Zigarre  wieder  an  und  erklärt, 
wir  haben  noch  lange  Zeit.  Endlich  kommen  wir  in 
den  Wagen,  der  nun  wie  rasend  mit  uns  abfährt.  Wir 
müssen  durch  ganz  Potsdam  durch,  wie  wir  an  den 
Lustgarten  kommen,  haben  wir  noch  zwei  Minuten. 
Ich  rufe  es  dem  Kutscher  zu,  und  Onkel  Helmuth  er- 
klärt mit  größter  Gemütsruhe:  »Wir  kommen  sicher 
zu  spät.«  —  Der  Zug  will  gerade  abfahren,  wie  wir  vor 
dem  Perron  halten.  Onkel  Helmuth  wird  erkannt,  die 
königliche  Equipage  war  schon  gesehen  worden,  und 
es  wird,  da  alle  Coup6s  voll  sind,  noch  ein  Wagen 
angehängt,  in  den  wir  steigen.  Kaum  sitzen  wir,  so 
geht  es  los,  und  Onkel  Helmuth  meint:  »Das  haben 
wir  gerade  richtig  abgepaßt!« 

Generalstab  Berlin,  12. August  1889. 

Um  5  Uhr  fuhren  wir,  Onkel  Helmuth  und  ich,  mit 
Graf  Waldersee  nach  dem  Tiergarten-Bahnhof,  wo 
bald  nach  uns  der  Kaiser  ankam  in  österreichischer 
Uniform,  die  ihn  gar  nicht  kleidet.  Er  sieht  geradezu 
schlecht  darin  aus,  sonst  sehr  blühend,  ganz  braun 
und  verbrannt,  außerordentlich  gesund.  Er  begrüßte 
Onkel  Helmuth,  der  sich  bei  ihm  meldete,  sehr  herz- 
lich und  sprach  lange  mit  ihm.  Prinz  Heinrich  war 
auch  da.  Dann  kam  der  Kaiser  von  Österreich,  sehr 
gut  aussehend,  mit  blühender  Gesichtsfarbe  und  ele- 
ganter Figur,  der  Herzog  von  Este  ebenfalls  ausge- 
zeichnet aussehend.  Wir  fuhren  dann  unter  den  üb- 
lichen Hurras  die  Linden  hinauf  bis  zum  Schloß, 

151 


wo  Onkel  Helmuth  sich  einschrieb.  —  Heute  abend 
sollen  wir  zum  Zapfenstreich,  morgen  um  7  Uhr  zum 
Diner,  übermorgen  nach  Babelsberg. 

Generalstab  Berlin,  i3.August  1889» 

Wir  waren  gestern  abend  im  Schloß  zum  Zapfen- 
streich, der  wunderhübsch  war  und  in  allen  seinen 
Teilen  außerordentlich  glückte.  Der  Kaiser  von  Öster- 
reich sagte  Onkel  Helmuth,  daß  er  ihn  zum  Chef  des 
71.  Regiments  (österr.)  gemacht  habe.  Ich  stand  zu 
weit,  um  genau  verstehen  zu  können,  hörte  aber,  daß 
von  Regiment  pp.  die  Rede  war,  und  sah  auch,  daß 
Onkel  Helmuth  eine  seiner  zweifelhaften  Verbeugun- 
gen machte,  die  er  immer  macht,  wenn  er  nicht  recht 
verstanden  hat.  Der  Kaiser  von  Österreich  stand  eine 
Weile  mit  etwas  verlegenem  Gesicht  vor  ihm  und 
ging  dann  weg.  Ich  fragte  nun  Onkel  Helmuth,  ob 
ihm  nicht  der  Kaiser  ein  Regiment  verliehen  habe, 
und  er  antwortete  mir  ganz  gleichgültig:  »Jawohl.«  — 
»Welches  denn?«  »Ja,  das  hab'  ich  nicht  verstanden.« 
Ich  erkundige  mich  also  bei  dem  österreichischen 
Flügeladjutanten,  und  er  sagt  mir,  es  ist  das  71.  Re- 
giment, ein  sehr  schönes  ungarisches  Regiment.  Der 
österreichische  Militärbevollmächtigte  geht  nun  zu 
Onkel  Helmuth  und  gratuliert  ihm  und  sagt,  er  freue 
sich  so  sehr,  Onkel  Helmuth  nun  als  Mitglied  der 
österreichischen  Armee  begrüßen  zu  können.  Onkel 
Helmuth  sieht  ihn  ganz  wild  an  und  sagt:  »Was  mei- 
nen Sie?«  Er  wiederholt  es.  Onkel  Helmuth  steht  auf 
und  sagt:  »Mich?  Wie  meinen  Sie  das?«  Steininger 
sagt:  »Exzellenz,  Se.  Majestät  der  Kaiser  hat  Ihnen 
doch  das  71.  Regiment  verliehen.«  —  »Mir?  Denkt  gar 
nicht  dran.«  —  Schließlich  kommt  es  heraus,  daß  er 
verstanden  hat,  der  Kaiser  von  Österreich  habe  ihm 
erzählt,  daß  er  unserem  Kaiser  ein  Regiment  ver- 

152 


'*-"■*      ■  Mj|B  ■ 


Helmuth  von  Moltkc 
1389 


liehen  habe.  Onkel  Helmuth  ist  nun  ziemlich  ver- 
zweifelt, daß  er  kein  Wort  des  Dankes  gesagt  hat. 
Ich  bitte  Graf  Wedell,  es  dem  Kaiser  mitzuteilen,  daß 
der  Feldmarschall  ihn  mißverstanden  habe  und  daß 
er  bitte,  seinen  Dank  noch  nachträglich  zu  Füßen 
Sr.  Majestät  legen  zu  dürfen.  Dies  geschieht  denn 
auch.  Der  Kaiser  steht  noch  einmal  auf  und  geht  zu 
Onkel  Helmuth  hin,  der  sich  nun  gebührend  bedankt. 
Von  dem  Kaiser  ist  dieser  Akt  der  Gnade  gegen  sei- 
nen alten  Gegner  und  Besieger  wirklich  großartig, 
um  so  mehr,  da  es  ein  in  Österreich  sehr  seltener 
Fall  ist,  daß  ein  Ausländer  und  nicht  Prinz  ein  Re- 
giment bekommt.  —  Die  österreichischen  Herren,  die 
alle  einen  sehr  angenehmen  Eindruck  machen,  sind 
voll  Kampflust.  Bismarck  soll  dagegen  aus  allen  Ton- 
arten die  Friedensschalmei  blasen.  Er  war  auch  mit 
zum  Empfang,  sah  aber  blaß  und  elend  aus. 

Generalstab  Berlin,  i8.November  1889. 

Ich  bin  heute  um  11  Uhr  mit  Onkel  Helmuth  im 
Exerzierhause  des  2.  Garde-Regiments  bei  der  Ver- 
eidigung der  Rekruten  der  Berliner  Garnison  zugegen 
gewesen,  bei  welcher  Gelegenheit  Onkel  Helmuth 
sich  bei  dem  Kaiser  meldete.  —  Es  war  ein  ganz 
feierlicher  Akt.  Das  Exerzierhaus  mit  Fahnen  und 
Schilden  geschmückt,  in  der  Mitte  unter  einem  Pur- 
purbaldachin ein  Feldaltar  aufgeschlagen,  von  dem 
aus  erst  der  protestantische,  dann  der  katholische 
Garnisonspfarrer  eine  Ansprache  hielt.  —  Sämtliche 
Generale  der  Garnison  und  alle  Fahnen  waren  zu- 
gegen. Der  Kaiser  sah  sehr  frisch  und  gut  aus.  — 
Einen  Nachgeschmack  unserer  zerrissenen  politi- 
schen Verhältnisse  bekam  man  bei  Verlesung  der  ver- 
schiedenen Eidesformeln.  Da  schwuren  erst  die  preu- 
ßischen Untertanen  a)  evangelischer,  b)  katholischer 

153 


Religion.  Dann  die  Braunschweiger,  dann  die  Würt- 
temberger, dann  die  Untertanen  der  übrigen  kleinen 
Bundesstaaten,  zuletzt  die  Elsaß-Lothringer,  alle  ihren 
besonderen  Eid! 

Generalstab  Berlin,  24. November  1889. 

Gestern  haben  wir  eine  recht  mäßige  Aufführung 
des  Lohengrin  gehört.  E.  mit  zuletzt  gänzlich  versa- 
gender Stimme  als  Lohengrin  und  eine  Frau  P.,  die 
ich  nach  ihrer  entsetzlichen  Aussprache  als  Englän- 
derin oder  Amerikanerin  taxiere,  gab  die  Elsa.  —  Es 
war  jammervoll.  Diese  Dame  hatte  einen  riesigen 
Mund,  den  sie  beim  Singen  so  weit  aufriß,  daß  man 
ihr  mit  dem  Opernglas  über  eine  gewaltige  Zunge 
hinweg  bis  hinten  in  den  Gaumen  sehen  konnte. 
Gleich  wie  sie  anfing:  »Mein  armer  Bruder!«  schnappte 
ihr  der  Ton  über,  in  allen  Bewegungen  war  sie  un- 
graziös, maniriert  unnatürlich  und  unschön,  von  dem 
Wesen  der  Rolle  hatte  sie  keine  Ahnung,  es  war  wirk- 
lich schrecklich.  Das  Orchester  bald  schleppend,  bald 
in  solcher  Stärke,  daß  man  von  dem  Gesang  auf  der 
Bühne  gar  nichts  hörte,  nur  das  Auf-  und  Zuklappen 
von  Elsas  riesigem  Mund  sah,  wenn  sie  nicht  gerade 
in  Momenten  der  Erregung,  die  sie  dadurch  veran- 
schaulichte, daß  sie  mit  dem  ganzen  Kopf  zwischen 
den  hochgezogenen  Schulterblättern  verschwand,  so 
daß  man  nur  eine  rote  Perücke  mehr  sah,  dem  Pu- 
blikum auch  diesen  Genuß  entzog.  Nein,  unsere  Oper 
ist  wirklich  geradezu  haarsträubend  miserabel. 

Generalstab  Berlin,  27. November  188g. 

Onkel  Helmuth  und  ich  fahren  morgen  nach  Prutz. 
—  Wir  haben  jetzt  eine  recht  interessante  Lektüre, 
die  Errichtung  des  deutschen  Kaisertums  durch  Wil- 
helm I.  von  Heinrich  von  Sybel.  Hübsch  und  in- 

154 


teressant  geschrieben  und  aus  den  Staatsarchiven  zu- 
sammengestellt. 

Kiel,  Königliches  Schloß,  3.  April  1891. 

Heute  morgen  um  10  Uhr  war  Parade  der  Ma- 
trosen-Division und  des  Seebataillons  sowie  eines  Ba- 
taillons 85er.  Nach  dem  Parademarsch  versammelte 
der  Kaiser  die  Offiziere  und  sprach  seine  Anerken- 
nung über  die  Parade  aus.  Dann  fuhr  er  etwa  fol- 
gendermaßen fort:  »Ich  habe  beschlossen,  der  Ma- 
rine einen  neuen  Beweis  meines  Wohlwollens  zu  ge- 
ben, um  dieselbe  zu  ehren  und  um  ihr  einen  neuen 
Ansporn  zu  verleihen  zu  immer  erneutem  Streben 
und  nicht  ermattender  Tätigkeit  und  Arbeit.  Der  Ge- 
neralfeldmarschall Graf  von  Moltke  hat  von  jeher  ein 
lebhaftes  Interesse  der  Marine  entgegengebracht,  und 
der  gewaltige  Heerführer  hat  es  nicht  verschmäht, 
unserer  wenig  zahlreichen  und  noch  im  Entstehen 
begriffenen  Flotte  immer  wieder  sein  Wohlwollen 
und  seine  Sympathie  zu  zeigen.  Um  die  Marine  zu 
ehren,  indem  ich  Se.  Exzellenz  den  Herrn  Feldmar- 
schall in  eine  noch  nähere  Beziehung  zu  derselben 
bringe,  stelle  ich  Se.  Exzellenz  hiermit  ä  la  suite  des 
1.  Seebataillons,  und  ich  bitte  Ew.  Exzellenz,  Ihre  Be- 
fehle für  das  Bataillon  erteilen  zu  wollen.«  —  On- 
kel Helmuth  war  sehr  überrascht,  hatte  aber  glück- 
licherweise, da  er  neben  dem  Kaiser  stand,  verstan- 
den, was  er  sagte,  und  machte  seine  Sache  sehr  gut. 
Das  Bataillon  präsentierte,  Onkel  Helmuth  ließ  sich 
das  Offizierkorps  vorstellen  und  ging  die  Front  ab, 
dann  ging  er  auf  den  Kaiser  zu  und  dankte  ihm  für 
den  neuen  Beweis  seiner  Gnade.  Hierauf  trat  der  Chef 
der  Admiralität,  Admiral  Goltz,  vor  die  Front  und 
teilte  dem  Bataillon  mit  schallender  Stimme  mit,  was 
geschehen,  schloß  mit  einem  Hoch  auf  den  Kaiser, 

155 


in  das  alle,  auch  das  zu  Hunderten  auf  den  Dächern 
und  in  den  Fenstern  der  umliegenden  Häuser  ge^ 
drängte  Publikum  (die  Parade  fand  auf  dem  Kaser- 
nenhof der  Marine  statt)  einstimmte.  Dann  folgte  ein 
Gefechtsexerzieren  einer  Matrosen-Kompagnie  mit 
Platzpatronen,  was  in  dem  von  hohen  Kasernen  um- 
gebenen Hof  gewaltig  knallte,  und  schließlich  ein 
Frühstück  im  Marinekasino,  bei  dem  der  Kaiser  eine 
lange  Rede  hielt.  Der  Admiral  Goltz  ließ  dann  Onkel 
Helmuth  leben,  indem  er  an  ein  Wort  desselben  er- 
innerte, das  er  gelegentlich  der  Anlage  der  Kieler 
Hafenbefestigungen  gesprochen  habe:  »Sie  sollen 
hinausfliegen,  meine  Herrn,  damit  Sie  dies  können, 
bauen  wir  Ihnen  ein  sicheres  Nest,  in  das  Sie  zurück- 
kehren können.«  —  Wir  saßen  gegen  zwei  Stunden 
bei  Tisch,  worauf  wir  ins  Schloß  zurückfuhren.  Nach- 
mittags versuchte  Onkel  Helmuth  mit  mir  einen  Spa- 
ziergang auf  der  vom  Schloß  am  Hafen  hinlaufenden 
Promenade,  mußte  denselben  aber  sehr  bald  wieder 
aufgeben,  vertrieben  von  dem  schneidenden  Ostwind 
und  den  in  Haufen  uns  folgenden  Neugierigen. 

Onkel  Helmuth  befindet  sich  sehr  wohl.  Er  ißt  mit 
einem  riesigen  Appetit  und  hat  Interesse  für  alles. 

Kiel,  Königliches  Schloß,  7.  April  1891. 

Gestern  haben  wir,  leider  bei  schlechtem  Wetter, 
kaltem  Wind  und  anhaltendem,  wenn  auch  nicht  star- 
kem Regen  eine  Tour  nach  dem  im  Bau  befindlichen 
Nord-Ostsee-Kanal  unternommen.  Zunächst  fuhren 
wir  per  Wagen  nach  einem  kleinen,  in  der  Nähe  von 
Holtenau  belegenen  Ort,  wo  drei  kleine  Dampfer  be- 
reit lagen,  uns  aufzunehmen.  Der  Kaiser  kam  fünf 
Minuten  nach  uns  an.  Onkel  Helmuth  war  in  der  Uni- 
form des  Seebataillons.  —  Wir  schifften  uns  ein  und 
fuhren  zunächst  auf  dem  alten  Eider-Kanal  los.  Voran 

156 


ein  kleiner  Polizeidampfer,  dann  die  Dampfbarkasse 
mit  Sr.  Majestät,  dem  Prinzen  Heinrich,  dem  Chef 
der  Admiralität  Goltz  und  dem  Staatsminister  v.  Böt- 
ticher,  der  zu  dieser  Fahrt  von  Berlin  gekommen  war. 
Dann  folgten  wir  anderen  auf  einer  größeren  Dampf- 
barkasse. —  Der  alte  Eider-Kanal,  der  vor  etwa  hun- 
dert Jahren  von  der  dänischen  Regierung  gebaut 
worden  ist,  ist  in  seiner  Weise  ein  recht  großartiges 
Werk.  Wenn  man  bedenkt,  daß  damals  ohne  Hilfe 
der  Maschinen  der  Jetztzeit  gearbeitet  werden  mußte, 
daß  die  ganze  zum  Teil  bedeutende  Erdbewegung 
nur  mit  dem  Spaten  und  der  Schubkarre,  nur  mit 
Menschenhänden  zustandegebracht  worden  ist,  so 
kann  man  wohl  sagen,  daß  diese  Arbeit,  mit  dem 
Maße  ihrer  Zeit  und  ihrer  Verhältnisse  gemessen,  der 
jetzt  von  uns  unternommenen  nicht  viel  nachsteht. 
—  Der  alte  Kanal  folgt  meist  dem  Lauf  der  Eider,  die 
ausgegraben  und  vertieft,  an  vielen  Stellen  auch  ge- 
rade gelegt  worden  ist.  Er  steigt  mit  drei  Schleusen 
über  die  Wasserscheide  und  bietet  nur  kleineren 
Küstenfahrzeugen  die  Möglichkeit  der  Passage.  Er 
ist  vielfach  gewunden  und  gekrümmt  und  vermeidet 
möglichst  das  Durchschneiden  bedeutender  Boden- 
hebungen. 

Der  neue  Kanal  folgt  zum  Teil  seinem  Zug,  schnei- 
det aber  überall  die  Krümmungen  ab  und  stellt  sich 
dar  als  eine  ziemlich  gerade,  im  ganzen  etwas  gegen 
Norden  gekrümmte  Linie.  Er  beginnt  bei  Holtenau 
im  Kieler  Hafen  und  mündet  in  der  Nähe  von  Bruns- 
büttel  in  den  Unterlauf  der  Elbe. 

Die  Arbeit  ist  sehr  verschieden  vorgeschritten,  ein- 
zelne Strecken  sind  ganz  fertig,  andere  erst  eben  be- 
gonnen. Der  Kanal  bekommt  eine  obere  Breite  von 
fünfundneunzig  Metern,  also  hundert  Schritten,  so 
daß  überall  zwei  Schiffe  einander  begegnen  und  vor- 

157 


beipassieren  können.  Es  ist  eine  ganz  gewaltige  Ar- 
beit,  die   zurzeit   siebentausend   Arbeiter   und   eine 
Unzahl  von  Maschinen,  hauptsächlich  Grund-  und 
Trockenbagger,  beschäftigt.  Sehr  interessant  ist  eine 
Strecke,  wo   der  Kanal  ein  flüssiges   Moor  durch- 
schneidet. Da  hier  die  Böschungen  bei  einfachem 
Ausstechen  immer  wieder  nachsinken  und  die  Tiefe 
wieder  füllen  würden,  werden  zunächst  auf  beiden 
Seiten  in  der  Breite  des  projektierten  Ausstichs  ge- 
waltige Sand-  und  Kiesdämme  geschüttet.  Das  Ma- 
terial   wird   von    anderen    Stellen    entnommen,    wo 
durch  hohes  Land  durchgestochen  wird.  Beiderseits 
sind  provisorische  Eisenbahnschienen  gelegt,  auf  de- 
nen mit  kleinen  Lokomotiven  der  ausgehobene  Bo- 
den angefahren  wird.  Der  Ausstich  erfolgt  meistens 
mit  Trockenbaggern,  die  den  Boden  ausheben  und 
direkt  in  die  Eisenbahnloris  schütten.  Ist  ein  Wag- 
gon vollgeladen,  schiebt  sich  der  ganze  Bagger,  der 
ebenfalls  auf  Schienen  geht,  um  einen  Wagen  wei- 
ter und  ladet  so  einen  Zug  von  zwanzig  Wagen  in 
etwa  zehn  Minuten  voll.  Der  Zug  fährt  nun  bis  da- 
hin, wo  der  Damm  geschüttet  werden  soll,  worauf 
alle  Wagen  an  der  Seite  geöffnet  und  umgestürzt 
werden.  Der  auf  diese  Weise  gebildete  Damm  sinkt 
in  das  flüssige  Moor  ein,  das  sich  zwischen  den  bei- 
den Dämmen  vollständig  heraushebt,  von  dem  Druck 
derselben,  und  dann  wird  zwischen  den  so  erst  ge- 
schütteten  Dämmen   der    eigentliche    Kanal   ausge- 
stochen, dessen  Ufer  nun  stehen.  —  An  einer  an- 
deren Stelle  sahen   wir   einen   sogenannten   Spritz- 
bagger. Der  arbeitet  folgendermaßen:  Er  hebt  vom 
Grunde  unter  Wasser  den  Boden  aus,  bringt  ihn  nach 
oben,  wo  er  durch  dieselbe  Maschine,  die  gleichzeitig 
ein  Wasserpumpwerk  bewegt,  mit  Wasser  zu  einem 
ganz  dünnen  Brei  gemischt  wird,  der  dann  wiederum 

158 


durch  eine  Leitung  auf  ein  abseits  gelegenes  sump- 
figes Terrain  abfließt.  Das  Wasser  staut  sich  hier 
auf,  setzt  den  mitgeführten  Boden  ab  und  fließt  sei- 
nerseits über  ein  Wehr  wieder  ab.  Auf  diese  Weise 
wird  nicht  nur  der  Transport  des  ausgehobenen  Ma- 
terials erspart,  sondern  gleichzeitig  ein  nicht  benutz- 
bares Stück  Land  in  guten  kulturfähigen  Boden  um- 
geschaffen. —  Ich  mußte  bei  allen  diesen  großarti- 
gen Arbeiten  an  den  zweiten  Teil  des  »Faust«  den- 
ken. —  Wieder  an  einer  anderen  Stelle  sah  man  von 
der  Böschung  einer  durchstochenen  Bodenwelle  auf 
ein  Stück  ausgehobenen  Kanal,  der  noch  trocken  lag, 
wie  in  ein  tiefes  Tal  hinab.  Ameisenartig  arbeiteten 
die  Menschen  da  unten,  keuchten  und  pfiffen  die 
Lokomotiven  und  ächzten  die  Trockenbagger.  —  Alle 
diese  Bagger  sind  groß  wie  Häuser,  und  alle  natür- 
lich arbeiten  mit  Dampf  kraft.  —  Sieben  Millionen  Ku- 
bikmeter Erde  sind  etwa  zu  bewegen.  —  Die  ganze 
Strecke  ist  in  sogenannte  Lose  eingeteilt,  die  an  Un- 
ternehmer vergeben  sind.  Einer  derselben  hat  allein 
vier  Millionen  Mark  in  Arbeitsmaterial  stecken.  Jedes 
Los  steht  unter  einem  Baubeamten,  der  die  Arbeiten 
kontrolliert  und  leitet.  Für  die  Arbeiter  sind  Baracken 
aus  Wellblech  gebaut,  kleine,  einzeln  liegende  Häus- 
chen mit  je  zwei  Zimmern,  hell  und  freundlich.  Die 
Verpflegung  dieser  Armee  von  Arbeitern  wird  von 
der  Kanal-Bauinspektion  geleitet.  Der  Mann  hat  Woh- 
nung, Morgenkaffee  und  Mittagsbrot  für  60  Pfennig 
täglich,  er  bekommt  3  Mark  Lohn,  so  daß  er  also  täg- 
lich nach  Bezahlung  seiner  Bedürfnisse  2,40  Mark  er- 
übrigen kann.  —  Natürlich  mußten  wir,  um  all  dies 
zu  sehen,  wiederholt  aus-  und  wieder  einsteigen,  was 
bei  dem  feinen  Regen,  der  anfing  zu  fallen,  nicht  ge- 
rade angenehm  war.  —  Onkel  Helmuth  hat  aber  alles 
sehr  gut  überstanden  und  ist  ganz  wohl. 

159 


Bei  der  Stadt  Rendsburg  gingen  wir  durch  die 
Schleuse  des  alten  Eider-Kanals,  die  an  beiden  Sei- 
ten von  Hunderten  von  Menschen  besetzt  war,  und 
fuhren  noch  ein  ganzes  Stück  auf  die  Untereider  hin- 
aus, drehten  dann  um  und  kamen  um  5  Uhr  in  den 
auf  dem  Rendsburger  Bahnhof  bereitstehenden  kai- 
serlichen Sonderzug,  der  uns  nach  Kiel  zurückführte. 
—  Heute  morgen  waren  Onkel  Helmuth  und  ich  beim 
I.  Seebataillon,  wo  er  die  Kaserne  besichtigte  und 
mit  dem  Offizierkorps  frühstückte,  auch  ließ  er  sich 
mit  den  Herren  zusammen  photographieren,  zu  de- 
ren größter  Freude.  —  Dann  fuhren  wir  spazieren 
und  kamen  um  1  Uhr  zum  Frühstück  ins  Schloß  zu- 
rück. Nach  demselben  waren  wir  auf  der  »Moltke«,  die 
heute  morgen  in  Dienst  gestellt  wurde,  wo  wir  ein- 
gehend das  ganze  Schiff  besichtigten,  das  in  drei  Ta- 
gen in  See  gehen  soll.  —  Es  ist  ein  schönes  stolzes 
Schiff  mit  3  Masten  und  2  Schrauben,  ganz  weiß  ge- 
strichen, führt  12  schwere  Geschütze  und  430  Mann 
Besatzung.  Unter  dem  Bugsprit  ist  Onkel  Helmuths 
Kopf  in  riesiger  Größe  angebracht  und  die  Mann- 
schaft trägt  den  Namen  »Moltke«  auf  der  Mütze. 

♦Neues  Palais,  15.  Mai  1891. 

Der  Kaiser  war  sehr  gnädig  und  gütig  gegen  mich, 
ich  mußte  ihm  noch  viel  von  Onkel  Helmuth  er- 
zählen. Ebenso  die  Kaiserin. 

Berlin,  7.  November  i8gi. 

Um  5  Uhr  hatte  der  Kaiser  sich  bei  dem  Reichs- 
kanzler zu  Tisch  angesagt,  und  wir  fuhren  um  4 1/i  Uhr 
mit  Sonderzug  nach  Berlin.  Ich  aß  zum  erstenmal  in 
den  Räumen,  in  denen  mir  noch  der  Geist  des  ge- 
waltigen Vorgängers  zu  wehen  schien.  Was  haben 

*  Diensttuender  Flügeladjutant  S.  M.  des  Kaisers. 
l60 


diese  Zimmer  alles  erlebt!  Auch  dem  Kaiser  kamen 
die  Erinnerungen  mächtig  herauf  und  wie  wir  weg- 
fuhren, sprach  er  sich  mir  gegenüber  wieder  einmal 
mit  großer  Offenheit  aus,  voll  Bitterkeit  und  rechtem 
Herzenskummer  über  die  trüben  Erfahrungen,  die  er 
mit  krassem  Undank  gemacht  hat.  Er  tat  mir  so  leid, 
denn  kaum  jemand  versteht  es,  wie  tief  ihn  das  Zer- 
würfnis mit  Bismarck  berührt  und  wie  innerlich  er 
den  Bruch  empfindet. 

Wartburg,  23.  April  1892. 

Der  Großherzog  hat  die  Burg,  die  arg  zerfallen  war, 
mit  großer  Pietät  restaurieren  lassen.  Alles  was  zu  er- 
halten war,  ist  erhalten  und  das  Neue  genau  nach 
den  alten  Meistern  angefügt.  Man  glaubt  mitten  in 
das  Mittelalter  hineinzutreten,  wenn  man  das  nied- 
rig gewölbte  Tor  durchschritten  hat  und  nun  auf  den, 
von  gewachsenem  Fels  gebildeten  Burghof  tritt.  — 
So  stand  die  Burg  da,  wie  unter  der  Regierung  des 
Landgrafen  Philipp  und  der  heiligen  Elisabeth  die 
Minnesänger  aus  allen  deutschen  Gauen  zu  ihr  hin- 
aufzogen, um  in  dem  Festsaal  den  Sängerkrieg  mit 
Sang  und  Harfenspiel  auszufechten.  Das  sind  die 
Schwellen,  die  Heinrich  von  Ofterdingen,  Hartmann 
von  der  Aue,  Walther  von  der  Vogelweide  und  Tann- 
häuser überschritten,  das  ist  derselbe  Saal,  in  dem 
ihre  Weisen  ertönten  und  Widerhall  weckten,  so 
weit  die  deutsche  Zunge  klang.  —  Dies  ist  das  Frauen- 
gemach, in  dem  die  heilige  Elisabeth  lebte,  da  steht 
die  alte  Truhe,  in  der  sie  das  Brot  und  den  Wein  für 
ihre  Armen  aufbewahrte,  das  sich  in  ihrem  Korbe  in 
Rosen  verwandelte,  als  der  Gemahl  sie  wegen  ihrer 
verschwenderischen  Milde  hart  anließ.  Noch  tragen 
dieselben  Säulen  die  Wölbungen,  die  sich  damals 
über  ihr  wölbten,  und  auf  dem  zerschlissenen  Est- 

Moltlce.  11.  l6l 


rieh  hat  ihr  Fuß  gewandelt.  —  Leider  reicht  meine 
Zeit  nicht  aus,  um  alles  zu  schildern.  Der  Großherzog 
sagte  mir  aber  gestern:  »Sagen  Sie  Ihrer  Frau  Ge- 
mahlin, ich  lüde  sie  ein,  mit  Ihnen  zusammen  mich 
auf  der  Wartburg  zu  besuchen.  Grüßen  Sie  sie  sehr 
von  mir.« 

Weimar,  10.  Oktober  1892. 

Die  wenigen  freien  Stunden,  die  mir  blieben,  habe 
ich  benutzt,  um  mir  das  Goethe-Haus  und  die  von 
ihm  eingerichtete  Bibliothek  anzusehen.  Das  Sterbe- 
zimmer, ein  kleiner,  nach  dem  Garten  zu  belegener 
Raum,  in  dem  ein  Bett  mit  groben  Laken,  der  vor 
dem  stehende  Lehnstuhl,  in  dem  Goethe  starb,  sein 
ganz  kleiner  Waschtisch  mit  einfachster  Wasch- 
schüssel und  einem  braunen  irdenen  Wassergefäß 
stehen,  ist  völlig  so  erhalten,  wie  es  war.  Ein  feier- 
liches Gefühl  überkommt  einen,  wenn  man  in  dieses 
Kämmerchen  eintritt,  in  dem  nicht  einmal  ein  Ofen 
steht,  und  dies  schmucklose,  fast  ärmliche  Zimmer 
betrachtet,  in  dem  einer  der  größten  Geister  sich  von 
der  irdischen  Hülle  loslöste.  Das  danebenliegende  Ar- 
beitszimmer zeigt  dieselbe  Einfachheit.  Steife  grad- 
linige Möbel  ohne  jede  Verzierung,  ohne  jeden  Kom- 
fort. Die  reichbelebte  geistige  Welt,  in  der  er  lebte,, 
ließ  ihn  wohl  keinen  Wert  auf  die  Äußerlichkeiten 
legen.  Gerne  hätte  ich  stundenlang  in  diesen  Räumen: 
geweilt,  in  denen  alle  von  ihm  angelegten  und  selbst 
geordneten  Sammlungen  aufbewahrt  werden,  aber  die 
Zeit  war  knapp  bemessen,  und  ich  mußte  mich  mit 
flüchtigem  Durchwandern  begnügen. 

Berlin,  15.  Dezember  1892.. 

Daß  Du  offenen  Sinn  hast  für  die  schönen  alten 
Erinnerungen,  an  denen  Weimar  so  reich  ist,  weiß* 

162 


ich  ja  und  kann  mir  Dein  heiliges  Gruseln  vorstellen, 
mit  dem  Du  die  Stätten  betrittst,  über  denen  noch  ein 
Hauch  der  großen  Geister  schwebt,  die  dort  gelebt 
und  —  wie  Du  meinst  —  gelitten  haben.  Gewiß  haben 
sie  gelitten,  wie  hätten  sie  sonst  so  Großes  schaffen 
können.  —  Wie  der  Mensch  mit  Schmerzen  geboren 
wird,  so  gehen  auch  seine  besten  geistigen  Schöp- 
fungen aus  Leid  und  Schmerz  hervor,  und  was  er 
selber  durchlitten  hat,  wird  zur  Wohltat  für  die  Mit- 
menschen. —  Die  äußere  Umgebung  dieser  Geistes- 
heroen war  schlicht  und  einfach,  sie  bauten  sich  ihre 
Tempel  im  Inneren,  der  Mann,  der  einen  »Faust« 
empfinden  und  ausdrücken  konnte,  ist  auch  nicht 
vorstellbar  inmitten  der  Bequemlichkeiten  unseres 
modernen  Lebens. 

KABINETTSORDER. 

Ich  habe  Sie  heute  zum  Oberstleutnant  befördert  und  gereicht 
es  Mir  zum  Vergnügen,  Ihnen  dies  hierdurch  bekanntzumachen. 

Berlin,  den  27.  Januar  1893. 

Wilhelm  R. 
An  Meinen  diensttuenden  Flügeladjutanten,  Major  v.  Moltke. 

KABINETTSORDER. 

Ich  ernenne  Sie  hierdurch  zum  Kommandeur  der  Schloßgarde- 
Kompagnie. 

Potsdam,  den  9.  Februar  1893. 

Wilhelm  R. 
An  Meinen  Flügeladjutanten,  Oberstleutnant  v.  Moltke. 

Schloß  Urville,  3. September  1893. 

Wir  haben  eine  vollgepfropfte  Zeit  hinter  uns,  und 
es  wird  ja  noch  vierzehn  Tage  so  weitergehen.  —  Die 
Beleuchtung  des  Rheins  in  Koblenz  am  1.  September 
war  wunderbar  schön.  —  Von  Trier  haben  wir  nicht 
viel  gesehen,  sind  nur  durchgeritten,  unter  anderem 

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auch  durch  die  berühmte  Porta  nigra,  eins  der  schön- 
sten Bauwerke  altrömischer  Zeit.  —  Heute  morgen 
sind  wir  von  Koblenz  nach  Metz  gefahren,  wo  großer 
Feldgottesdienst  stattfand.  Dann  ritten  wir  mit  dem 
Kaiser  an  der  Spitze  der  gesamten  Garnison  nach  Metz 
hinein  bis  auf  die  Esplanade,  wo  der  Kaiser  unter 
dem  Denkmal  des  alten  Kaisers  Wilhelm  die  Trup- 
pen an  sich  vorbeimarschieren  ließ. 

Man  hat  von  dort  oben  einen  herrlichen  Blick  auf 
das  Moseltal  und  die  dahinter  liegende  imposante 
Höhe  des  Mont  St.  Quentin,  ein  großartiges  Panora- 
ma. —  Die  Beteiligung  der  Bevölkerung  in  Metz  war 
mäßig,  es  waren  nicht  allzuviel  Leute  auf  den  Stra- 
ßen. Die  Fenster  dünn  besetzt,  von  der  Landbevölke- 
rung fast  nichts  zu  bemerken,  dennoch  wurde  mir 
gesagt,  daß  die  Beteiligung  eine  viel  regere  sei,  als 
beim  letzten  Kaiserbesuch. 

Von  Kurzell  bis  hier  ans  Schloß  fährt  man  keine 
zehn  Minuten.  —  Die  ganze  Chaussee  war  dicht  be- 
setzt mit  Schulen,  Vereinen  pp.,  alle  mit  deutschen 
Fahnen  und  Fähnchen,  aber  natürlich  alles  gelieferte 
Ware.  Hier  war  auch  ein  größerer  Teil  der  Land- 
bevölkerung zusammengeströmt,  der  sich  spontan  an 
den  Huldigungen  beteiligte. 

Schloß  Urville,  5. September  1893. 

Heute  haben  wir  den  ersten  Manövertag  gehabt. 
Die  Übungen  sind  sehr  interessant.  Es  klingt  merk- 
würdig, wenn  der  Kaiser  an  einer  Gruppe  Landleute 
vorbeikommt  und  dieselben  mit  Begeisterung  vive 
l'empereur  rufen.  —  Die  frische  und  schöne  Erschei- 
nung des  Kaisers  wirkt  sichtlich  auf  die  Leute.  Alles 
spricht  hier  französisch,  und  die  Leute  sehen  aus  wie 
Stockfranzosen,  Blusen,  Jabots  und  weiße  Hosen. 

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Schloß  Urville,  8. September  1893. 

Es  ist  4  Uhr  morgens,  ich  sitze  mit  Säbel  und 
Schärpe  bei  der  Lampe,  um  das  Tagwerden  abzu- 
warten. Der  Kaiser  führt  heute  die  zu  einem  Kaval- 
lerie-Korps vereinigten  beiden  Kavallerie-Divisionen, 
und  wir  sind  heute  Zuschauer,  da  er  einen  Kavallerie- 
stab hat.  Wir  sind  diese  Tage  sehr  matinös,  jeden 
Morgen  um  3  Uhr  auf  und  abends  nicht  vor  11  oder 
12  Uhr  zu  Bett.  —  Der  Kaiser  führte  gestern  das 
XVI.  Korps.  Unsere  Pferde,  Schwadronspferde,  sind 
sehr  abgetrieben,  der  Boden  ist  ungemein  schwierig 
für  sie,  steinhart  mit  großen  festen  Klumpen  und  Ge- 
röllsteinen, dabei  immer  bergauf  und  -ab.  Ich  staune 
oft  über  die  Leistungsfähigkeit  der  Pferde,  die  zum 
Teil  erst  bei  Dunkelwerden  ins  Biwak  kommen  und 
morgens  um  2  Uhr  wieder  gesattelt  werden,  um  den 
ganzen  Tag  unter  dem  Sattel  zu  bleiben  ohne  Futter 
und  Tränke. 

Schloß  Karlsruhe,  12. September  1893. 

Übermorgen  ist  der  letzte  Manövertag  hier,  dann 
kommen  noch  die  beiden  Tage  in  Stuttgart,  und  dann 
ist  das  Manöver  vorübergeflogen,  kann  ich  wohl  sa- 
gen. Es  kommt  mir  vor,  als  ob  wir  eben  erst  mit  dem- 
selben angefangen  hätten,  mich  hat  noch  kaum  ein 
Manöver  so  interessiert,  wie  das  diesjährige.  Die 
nicht  unbedeutenden  körperlichen  Anstrengungen  be- 
kommen mir  ausgezeichnet,  ich  fühle  mich  wohl  und 
frisch  und  könnte  noch  Wochen  so  aushalten. 

Besuch  des  Fürsten  Bismarck  bei  Sr.  Majestät  dem 
Kaiser  in  Berlin  am  26.  Januar  1894. 

Am  Freitag,  den  26.  Januar  1894,  mittags  1  Uhr,  war 
das  Hauptquartier  Sr.  Majestät  des  Kaisers  und  Kö- 

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nigs  nach  dem  Berliner  Schloß,  Portal  5,  bestellt,  um 
daselbst  bei  der  erwarteten  Ankunft  des  Fürsten  Bis- 
marck  anwesend  zu  sein.  Es  waren  zugegen  der  Kom- 
mandant des  Hauptquartiers,  General  v.  Plessen,  die 
Flügeladjutanten  Kapitän  zur  See  v.  Arnim,  Oberst- 
leutnant v.  Scholl,  v.Arnim  II,  v.  Moltke,  Major  v.Ja- 
kobi.  Der  Oberst  v.  Kessel,  Kommandeur  des  1.  Garde- 
Regiments,  war  ebenfalls  von  Sr.  Majestät  zum  Emp- 
fang befohlen  worden.  Außerdem  die  Kabinettschefs 
General  v.  Hahnke,  Admiral  v.  Senden,  Geheimer  Ka- 
binettsrat v.  Lucanus.  Um  dem  Empfang  den  Charak- 
ter des  Militärischen  zu  wahren,  hatte  Se.  Majestät 
befohlen,  daß  die  Offiziere  im  Dienstanzug,  Achsel- 
stücke und  hohe  Stiefel,  erscheinen  sollten.  Der 
Flügeladjutant  Major  Graf  Moltke,  den  der  Kaiser 
drei  Tage  vorher  mit  einem  Handschreiben,  in  dem 
er  den  Fürsten  einlud,  als  sein  Gast  nach  Berlin  zu 
kommen,  nach  Friedrichsruh  geschickt  hatte,  war  für 
die  Anwesenheit  des  Fürsten  zu  ihm  kommandiert 
und  erwartete  mit  Sr.  Königlichen  Hoheit  dem  Prin- 
zen Heinrich  von  Preußen,  dem  Kommandanten 
Oberst  v.Natzmer  und  dem  Gouverneur,  Generaloberst 
v.  Pape,  die  Ankunft  des  Fürsten  auf  dem  Lehrter 
Bahnhof.  Zur  Vertretung  des  Grafen  Moltke,  welcher 
den  II.  Dienst  bei  Sr.  Majestät  hatte,  war  ich  kom- 
mandiert. Ich  kam  um  12  Uhr  ins  Schloß.  Vor  dem 
Brandenburger  Tor  und  Unter  den  Linden  wogte  be- 
reits eine  dichtgedrängte  Menge,  den  Fürsten  erwar- 
tend, und  immer  neue  Scharen  zogen  auf  der  Char- 
lottenburger Chaussee  und  aus  den  Nebenstraßen 
herbei.  Überall  sah  man  frohe,  erwartungsvolle  Ge- 
sichter. Das  Wetter  war  schön,  die  öffentlichen  Ge- 
bäude hatten  auf  Allerhöchsten  Befehl  geflaggt,  viele 
Privathäuser  waren  festlich  geschmückt.  In  der  Ein- 
fahrt des  Portals  1  im  Schloß  stand  bei  meiner  An- 

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kunft  eine  Deputation  des  7.  Kürassier-Regiments,  be- 
stehend aus  dem  Regimentskommandeur,  Grafen  Klin- 
kowström,  dem  Rittmeister  v.  Zitzewitz,  einem  Leut- 
nant und  sechs  Unteroffizieren  im  Paradeanzug  mit 
Küraß,  die  Se.  Majestät  herbefohlen  hatte,  da  er  be- 
absichtigte, den  Fürsten  zum  Chef  dieses  Regiments 
zu  ernennen.  Ich  ging  ins  Adjutantenzimmer  hin- 
auf, wo  Kapitän  v.  Arnim,  welcher  den  I.  Dienst  hatte, 
anwesend  war.  Schon  um  12V2  Uhr  meldete  uns  der 
Leibjäger,  daß  Se.  Majestät  sich  soeben  durch  den 
Nonnengang  nach  der  für  den  Fürsten  bereitgehalte- 
nen Terrassenwohnung  bei  Portal  5  begebe.  Wir  eil- 
ten rasch  hinterher  und  trafen  den  Kaiser  auf  der 
Theatertreppe.  Se.  Majestät  trugen  die  Uniform  der 
Gardes  du  Corps,  blauen  Waffenrock,  hohe  Stiefel, 
Achselstücke,  Helm  und  Schärpe.  Der  Kaiser  wollte 
gerade  die  Treppe  hinaufsteigen,  als  wir  ihn  erreich- 
ten und  Arnim  ihn  darauf  aufmerksam  machte,  daß 
er  im  Gegenteil  hinuntergehen  müsse,  um  nach  Por- 
tal 1  zu  kommen.  Er  war  augenscheinlich  nervös  und 
aufgeregt,  gab  keine  Antwort,  drehte  kurz  um  und 
ging  rasch  die  Treppe  hinab,  während  wir  ihm  folg- 
ten. Unterwegs  versuchte  Arnim  ein  paarmal,  einen 
Befehl  von  ihm  zu  erlangen,  wann  die  Deputation 
der  7.  Kürassiere  vorgeführt  werden  sollte  usw.,  er- 
hielt aber  nur  kurze,  abweisende  und  unfreundliche 
Antworten  in  ungeduldigem  Ton.  Wie  wir  in  die  Woh- 
nung eintraten,  waren  Kammermädchen  und  Lakaien 
noch  damit  beschäftigt,  Blumenkörbe  und  riesige 
Sträuße,  die  von  vielen  Seiten  für  den  Fürsten  abge- 
geben waren,  in  den  Zimmern  zu  ordnen.  Der  Haus- 
marschall v.  Lyncker  lief  ab  und  zu  und  beschleu- 
nigte die  Arbeit.  Der  Teppich  wurde  gefegt  und  Tische 
abgewischt,  allgemeine  Unruhe  herrschte,  die  noch 
erhöht  wurde,  als  der  Kaiser  befahl,  alle  Blumen  aus 

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dem  Wohnzimmer  hinaus  und  in  das  Vorzimmer  zu 
bringen,  da  der  Geruch  zu  stark  sei.  Derselbe  war  in 
der  Tat  betäubend,  die  Fenster  mußten  geöffnet  wer- 
den. Draußen  vor  der  Rampe  stand  die  Menge  Kopf 
an  Kopf ,  das  dumpf  e  Brausen  sich  drängender  Volks- 
massen tönte  herein,  man  hörte  das  Stampfen  der 
Pferde  der  berittenen  Schutzmannschaft  auf  dem 
Asphalt.  Die  Mitte  des  Schloßplatzes  war  in  breiter 
Ausdehnung  frei  gehalten,  unter  den  Fenstern  der 
Wohnung  stand  eine  Kompagnie  des  2.  Garde-Regi- 
ments mit  Fahne  und  Musik  im  Paradeanzug  als 
Ehrenwache.  Der  Kaiser  ging  unruhig  durch  die  Zim- 
mer. Um  ihn  herum  schleppten  Bedienstete  die  Blu- 
menkörbe und  gingen  Mädchen  mit  Staubbesen  und 
Wischtuch,  um  Teppich  und  Möbel  zu  reinigen. 
Wir  drückten  uns  in  eine  Ecke  und  sahen  dem  Ge- 
haste zu.  Endlich  war  Ordnung  geschaffen  und  die 
Leute  wurden  hinausgejagt.  Nach  und  nach  fanden 
sich  die  zum  Empfang  Befohlenen  ein.  Sie  scho- 
ben sich  hin  und  her,  keiner  wußte,  wo  wir  Aufstel- 
lung nehmen  sollten,  und  alles  flüsterte  leise.  Der 
Kaiser  sprach  diesen  und  jenen  hastig  an,  hatte  aber 
keine  Ruhe,  brach  kurz  ab  und  ging  wieder  in  ein  an- 
deres Zimmer.  Plötzlich  schritt  er  rasch  auf  den  Aus- 
gang zu  und  ging  durch  das  Portal  auf  den  Schloß- 
platz hinaus.  Arnim  und  ich  folgten.  Der  Kaiser  ging 
an  den  rechten  Flügel  der  Ehrenkompagnie  heran, 
bot  derselben  Guten  Morgen  und  schritt  die  Front 
ab.  Dann  kehrte  er  ebenso  rasch  und  ohne  ein  Wort 
zu  sagen  in  das  Schloß  zurück.  Dann  befahl  er,  daß 
eine  Sektion  von  der  Schloßwache  die  Rampe  be- 
setzen und  keinen  Menschen  auf  dieselbe  hinauflas- 
sen sollte.  Dies  geschah.  Es  war  schon  vorher  kein 
Mensch  auf  der  Rampe  gewesen.  Jetzt  traf  auch  der 
Oberhofmarschall  Graf  zu  Eulenburg  ein,  ebenso  die 

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Kabinettschefs,  als  letzter,  wie  gewöhnlich,  der  Ge- 
neral v.  Hahnke.  Der  Kaiser  hatte  schon  wiederholt 
nach  jedem  einzelnen  gefragt,  ob  er  noch  nicht  da 
sei.  Es  war  inzwischen  i  Uhr  geworden,  und  alle 
waren  versammelt.  Tags  zuvor  hatte  der  Kaiser  be- 
fohlen, daß  die  beiden  ältesten  Prinzen  von  einem 
Flügeladjutanten  bei  Ihrer  Majestät  der  Kaiserin  ab- 
geholt und  nach  Eintreffen  des  Fürsten  zu  seiner  Be- 
grüßung hinuntergeleitet  werden  sollten.  Der  General 
v.  Plessen  hatte  den  Oberstleutnant  v.  Scholl  hierfür 
bestimmt.  Dieser  trat  jetzt  an  den  Kaiser  heran  und 
fragte,  wann  Se.  Majestät  befehle,  daß  die  Prinzen  ge- 
holt werden.  Der  Allerhöchste  Herr  wurde  hierauf 
sehr  ungehalten  und  sagte,  er  werde  schon  rechtzei- 
tig befehlen,  was  geschehen  solle,  worauf  Scholl  sich 
stumm  zurückzog.  Der  Oberhofmarschall  traf  inzwi- 
schen die  näheren  Anordnungen.  Das  Hauptquartier 
sollte  sich  im  Vorzimmer  aufstellen,  um  den  Fürsten 
zuerst  zu  begrüßen;  der  Kaiser  hatte  befohlen,  daß 
der  General  v.  Plessen  uns  alle  vorstellen  solle.  Se.  Ma- 
jestät verblieben  im  Vorzimmer.  Der  Fürst  sollte  hier 
alleine  zu  ihm  eintreten.  Auf  einem  Tisch  des  Vor- 
zimmers lag  ein  großes  Album,  auf  dessen  Deckel  in 
goldenen  Lettern  gedruckt  war:  »Der  neue  Herr«.  Es 
enthielt  eine  Sammlung  von  Photographien  einer 
Reihe  von  Szenen  aus  diesem  Schauspiel,  und  mochte 
wohl  schon  Jahr  und  Tag  dort  gelegen  haben.  Ich 
schlug  das  Album  auf  und  betrachtete  das  Bild.  Es 
war  die  Szene,  wo  der  Kanzler  Graf  Schwarzenberg 
vor  dem  Kurfürsten  kniet,  der,  hochaufgerichtet,  vor 
ihm  steht.  Ich  machte  den  Grafen  Eulenburg  auf  das 
Album  aufmerksam,  das  hier  so  wenig  ä  propos  war, 
und  er  legte  es  sorgsam  in  eine  Schublade.  —  Um 
i10  Uhr  traf  der  General  v.  Plessen,  der  zum  Emp- 
fang auf  der  Bahn  gewesen  war,  mit  der  Meldung 

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ein,  daß  der  Fürst  angelangt  sei,  daß  in  seiner  Be- 
gleitung außer  dem  Dr.  Schwenninger  und  dem  Dr. 
Chrysander,  die  erwartet  wurden,  auch  der  Graf  Her- 
bert Bismarck  sich  befinde,  der  nicht  erwartet  wurde. 
Dem  Kaiser  war  dies  augenscheinlich  unangenehm. 
Er  befahl,  daß  der  Graf  Herbert  im  Vorzimmer  blei- 
ben und  nicht  mit  dem  Fürsten  zu  ihm  hineinkom- 
men solle.  Das  Hofmarschallamt  war  in  großer  Auf- 
regung, wie  man  sich  mit  diesem  unerwarteten  Fait 
accompli  abfinden  solle.  Der  Fürst  konnte  jetzt  je- 
den Moment  eintreffen.  Wir  hatten  im  Vorzimmer 
Aufstellung  genommen  und  blickten  in  gespannter 
Erwartung  durch  das  Fenster.  Jetzt  hörte  man  brau- 
senden Jubel  von  den  Linden  herauftönen.  In  die 
vor  dem  Schloß  gestaute  Menge  kam  Bewegung,  al- 
les schob  und  drängte  nach  vorwärts,  alle  Köpfe  wa- 
ren der  Schloßbrücke  zugewandt,  über  die  in  schlan- 
kem Trabe,  mit  in  der  Sonne  blitzenden  Kürassen,  die 
voranreitende  Eskorte  daherkam,  dahinter  der  große, 
geschlossene  Galawagen,  in  dem  der  Fürst  mit  dem 
Prinzen  Heinrich  saß.  Vor  der  Ehrenwache  ange- 
kommen, schwenkte  die  Eskorte  ab,  der  Wagen  hielt, 
unterstützt  von  dem  Prinzen  Heinrich  stieg  der  Fürst 
aus  und  ging  auf  den  rechten  Flügel  der  Kompagnie 
zu.  Diese  präsentierte,  und  in  die  jauchzenden  Zu- 
rufe, den  brausenden  Jubel  der  Menge,  die  die  Hüte 
schwenkte  und  mit  Tüchern  wehte,  mischten  sich 
die  Klänge  der  Musikkapelle,  die  den  Präsentier- 
marsch spielte.  Während  der  Fürst  mit  seinem  lang- 
samen, schleppenden  Schritt  die  Front  der  Kom- 
pagnie hinunterging,  drückten  wir  die  Nasen  an  die 
Fensterscheibe.  Im  Nebenzimmer,  dessen  Türen  ge- 
schlossen waren,  war  der  Kaiser  allein.  Was  mag  in 
diesem  Augenblick  durch  die  Seele  des  Monarchen 
gezogen  sein,  wie  er  den  Mann,  der  ihm  so  bitter  weh 

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getan  und  dem  er  so  großmütig  verziehen,  umtost  von- 
der  Begeisterung  Tausender  an  der  Front  seiner  Garden 
dahinschreiten  sah.  Vier  Jahre  des  Grolls  lagen  zwi- 
schen ihnen,  und  in  wenigen  Minuten  sollten  sie  sich 
Auge  in  Auge  gegenübertreten.  Nachdem  der  Fürst  die 
Front  der  Ehrenkompagnie  abgeschritten,  bestieg  er, 
vom  Prinzen  Heinrich  unterstützt,  wieder  den  Wa- 
gen, der  nach  wenigen  Augenblicken  unter  dem  Por- 
tal des  Schlosses  hielt.  Die  Türen  wurden  geöffnet, 
und  am  Arm  des  Prinzen  trat  der  Fürst  in  das  Vor- 
zimmer. Wir  alle  verneigten  uns  tief.  Die  mächtige 
Figur  des  Altkanzlers,  der  seinen  sorgsamen  Führer 
um  Kopfeslänge  überragte,  schien  ungebrochen,  ge- 
rade und  aufrecht,  der  runde  Kopf  mit  den  gewalti- 
gen, von  dichten  Brauen  überbuschten  Augen  war 
von  blasser  Farbe.  Er  überflog  uns  mit  einem  raschen 
Blick  und  nahm  die  Vorstellung  durch  den  General 
v.  Plessen  entgegen,  der  unsere  Namen  nannte.  Er 
begrüßte  jeden  von  uns  mit  einer  freundlichen  Hand- 
bewegung. Dem  Oberst  v.  Kessel  gab  er  die  Hand 
und  sah  ihm  forschend  ins  Gesicht.  »Kessel?«  sagte  er 
in  fragendem  Ton.  »Mir  scheint,  Sie  sind  kleiner  ge- 
worden seit  damals.«  Wie  der  General  v.  Plessen  den 
Namen  des  Geh.  Kabinettschefs  v.  Lucanus  nannte, 
der  etwas  verlegen  schien  und  sich  sehr  zurückhielt, 
machte  der  Fürst  eine  steife  Verbeugung  und  sagte: 
»Ich  habe  schon  von  früher  her  die  Ehre.«  Nachdem 
die  Vorstellung  vorüber,  nahm  ein  Lakai  dem  Fürsten 
den  Mantel  ab.  Er  hatte  den  dunklen  Waffenrock  der 
Kürassiere  an,  lange  Beinkleider,  und  knöpfte  ruhig  an 
seinen  Handschuhen  herum.  Seine  Hände  zitterten 
ein  wenig,  und  er  war  augenscheinlich  gespannt  und 
aufgeregt.  Der  Prinz  Heinrich  trat  nun  an  ihn  heran 
und  sagte:  »Wollen  Ew. Durchlaucht  nun  zu  Sr. Ma- 
jestät hereintreten.«  Der  Fürst  verbeugte  sich  stumm. 

171 


Die  Flügeltüren  wurden  geöffnet,  und  er  trat  über 
die  Schwelle.  Der  Kaiser,  welcher  mitten  im  Zimmer 
stand,  trat  ihm  rasch  mit  ausgestreckter  Hand  ent- 
gegen, die  der  Fürst,  sich  tief  verneigend,  mit  beiden 
Händen  ergriff.  Da  beugte  der  Kaiser  sich  vor  und 
küßte  ihn  auf  beide  Wangen.  Die  Türen  schlössen 
sich,  die  beiden  waren  allein.  Draußen  stand  Kopf  an 
Kopf.  Die  Menge  war  bis  an  die  Rampe  herange- 
drängt und  schrie  ihre  unaufhörlichen  Hochs,  die 
Hüte  wurden  geschwenkt,  mit  den  Tüchern  gewinkt, 
und  immer  wieder  erneuerten  sich  die  Zurufe.  Schließ- 
lich fing  einer  an  »Deutschland,  Deutschland  über 
alles«  zu  singen,  andere  fielen  ein,  und  bald  scholl 
das  Lied  vielhundertstimmig  empor,  unterbrochen 
von  immer  wiederholten  Hurras,  sobald  jemand  sich 
am  Fenster  zeigte.  —  Nach  etwa  zehn  Minuten  öff- 
nete der  Kaiser  wieder  die  Tür  und  befahl,  daß  die 
beiden  ältesten  Prinzen  geholt  werden  sollten.  Dann 
winkte  er  den  Prinzen  Heinrich  hinein.  Während  S  choll 
ging,  um  die  Prinzen  zu  holen,  blieben  wir  im  Vor- 
zimmer im  Gespräch  mit  dem  Dr.  Schwenninger  und 
Herbert  v.  Bismarck.  Dann  kamen  die  Prinzen  in  der 
Uniform  des  i.  Garde-Regiments  und  mit  dem  Bande 
des  Schwarzen-Adler-Ordens.  Sie  blieben  etwaf  ünf  Mi- 
nuten im  Zimmer  des  Fürsten  und  wurden  dann  von 
Scholl  wieder  zurückgeleitet.  Nachdem  abermals  et- 
wa zehn  Minuten  verstrichen  waren,  öffnete  der  Kai- 
ser wieder  die  Tür,  um  uns  zu  entlassen.  Sein  Gesicht 
war  hell  und  heiter,  es  lag  auf  demselben  wie  der 
Schimmer  einer  großen  Freude.  Während  die  übri- 
gen Herren  von  den  Hofmarschällen  zum  Frühstück 
hinausgeleitet  wurden,  gingen  Arnim  und  ich  auf  das 
Adjutantenzimmer,  um  ebenfalls  zu  frühstücken.  Dann 
zogen  wir  uns  um  zum  Reiten.  Der  Kaiser  hatte  um 
1/23  Uhr  die  Reitpferde  bestellt.  Im  Portal  i  stand  noch 

172 


immer,  nun  seit  über  zwei  Stunden,  die  Deputation 
des  7.  Kürassier-Regiments.  Erst  nachdem  das  Früh- 
stück beendet,  hatte  der  Kaiser  dem  Fürsten  die  Ka- 
binettsorder überreichen  lassen,  in  der  er  zum  Chef 
dieses  Regiments  ernannt  wurde,  und  ihm  die  Depu- 
tation vorstellen  lassen.  Der  Fürst  soll  tief  gerührt 
und  dankbar  gewesen  sein. 

Der  Fürst  war  inzwischen  mit  dem  Kaiser  und  dem 
Prinzen  Heinrich  zu  Ihrer  Majestät  der  Kaiserin  hin- 
aufgegangen, um  dieselbe  zu  begrüßen.  Das  Früh- 
stück wurde  von  den  beiden  Majestäten,  dem  Prin- 
zen Heinrich  und  dem  Fürsten  allein  eingenommen. 

Es  wurde  724  Uhr,  bevor  wir  abritten.  Vor  dem 
Schloß  und  Unter  den  Linden  wogten  noch  immer 
die  Menschenmassen  hin  und  her.  Wie  sie  des  Kai- 
sers ansichtig  wurden,  erhob  sich  ein  unendlicher 
Jubel.  Alles  drängte  ihm  zu.  Die  Schutzmannschaft 
bemühte  sich  vergeblich,  die  Leute  zurückzuhalten, 
die  alle  Schranken  durchbrachen.  »Hoch!  edler  Kai- 
ser!« »Es  lebe  unser  großmütiger  Kaiser!«  »Hoch!  ge- 
liebter Kaiser!«  scholl  es  von  allen  Seiten.  Wir  muß- 
ten rechts  und  links  von  Sr.  Majestät  reiten,  um  ihn 
einigermaßen  frei  zu  halten.  Die  ganzen  Linden  hin- 
unter begleitete  uns  der  Jubel,  direkt  aus  dem  Her- 
zen des  begeisterten  Volkes  strömend.  Auf  der  Char- 
lottenburger Chaussee,  wo  der  Kaiser,  den  Reitweg 
benutzend,  anfing  zu  traben,  rannten  die  Leute  atem- 
los neben  uns  her  und  begleiteten  uns  mit  ihren  Ru- 
fen, eine  ganze  Wagenkolonne  fuhr  auf  der  Chaussee 
neben  und  hinter  uns,  und  die  Insassen  wehten  uner- 
müdlich mit  Tüchern  und  Hüten.  Zuletzt  hielten  nur 
noch  die  Jungens  aus,  bis  auch  von  diesen  einer  nach 
dem  andern  erschöpft  zurückblieb,  mit  einem  keu- 
chenden »Adieu,  geliebter  Kaiser!«  den  Lauf  auf- 
gebend. Wir  ritten  nach  dem  Hippodrom,  wo  wir  un- 

173 


sere  viertausend  Meter  abgaloppierten.  Dann  ging  es 
in  einem  Galopp  nach  dem  Brandenburger  Tor  durch 
den  Tiergarten  zurück.  Der  Kaiser  war  in  sehr  ge- 
hobener Stimmung.  Er  sprach  lebhaft  und  scherzte 
mit  uns.  Er  erzählte,  wie  er  dem  Fürsten  beim  Früh- 
stück von  seinem  besten  Rheinwein  vorgesetzt  und 
wie  der  ihm  gemundet  habe.  Die  begeisterten  Ova- 
tionen, deren  Gegenstand  er  geworden  war,  hatten 
ihn  augenscheinlich  tief  ergriffen,  und  er  freute  sich 
des  Sieges,  den  er  über  sich  selbst  gewonnen,  des 
schwersten,  den  ein  Mensch  erringen  kann.  Von  dem 
Augenblick  an,  wo  wir  uns  dem  Brandenburger  Tor 
näherten,  wo  schon  eine  dichte  Menge  die  Rückkehr 
des  Kaisers  erwartete,  umbrauste  uns  wieder  derselbe 
Jubel.  Es  war  fast  dunkel,  wie  wir  im  Schloß  wieder 
anlangten. 

Um  6V4  Uhr  fand  in  den  Räumen  des  Fürsten  ein 
kleines  Diner  statt.  Wie  wir,  dem  Kaiser  folgend,  hin- 
untergingen, gab  der  Kaiser  mir  den  Befehl,  für  den 
morgigen  Tag,  seinen  Geburtstag,  eine  Ehrenkom- 
pagnie zur  Paroleausgabe  nach  dem  Zeughaus  zu  be- 
stellen. Ich  ging  auf  unser  Zimmer,  um  den  Befehl 
auszufertigen.  Wie  ich  wieder  hinunterkomme,  öff- 
net mir  ein  Lakai  eine  Tür,  ich  trete  ein  und  stehe 
dem  Kaiser  gegenüber,  der  mit  dem  Fürsten  und  dem 
Prinzen  Heinrich  im  Gespräch  ist.  Ich  melde  dienst- 
lich, daß  der  Befehl  ausgeführt  sei,  und  stehe  stramm 
neben  der  Tür.  Indem  sagt  der  Kaiser  zum  Fürsten: 
»Das  ist  der  Oberstleutnant  von  Moltke,  der  lange 
Adjutant  des  verstorbenen  Feldmarschalls  war.«  Der 
Fürst  nickt  freundlich  und  sagt:  »Oh,  ich  kenne  Herrn 
von  Moltke,  und  habe  ihn  auch  schon  begrüßt.«  Dar- 
auf sagt  der  Kaiser:  »Die  beiden«  (womit  er  Cuno  von 
Moltke  und  mich  meint)  »sind  nämlich  Vettern.«  Wie 
ich  nun  wieder  zum  Zimmer  hinauswischen  will,  in 

174 


das  ich  so  unvermutet  geraten,  sagt  mir  der  Kaiser: 
»Sagen  Sie  doch  dem  Grafen  Eulenburg,  daß  wir 
hungrig  wären  und  gerne  essen  möchten.« 

Die  im  Vorzimmer  gedeckte  Tafel  hatte  elf  Kuverts. 
Rechts  vom  Kaiser  saß  Prinz  Heinrich,  links  der 
Fürst.  Außerdem  nahmen  an  dem  Diner  teil:  Herbert 
v.  Bismarck,  Graf  Eulenburg,  Graf  Klinkowström,  der 
als  Ordonnanzoffizier  kommandierte  Leutnant  von 
Niesewand  von  den  7. Kürassieren,  v.  Arnim,  der  Adju- 
tant des  Prinzen  Heinrich,  v.  Colomb,  Cuno  v.Moltke 
und  ich.  Die  Unterhaltung  war  animiert  und  zwang- 
los, der  Verkehr  zwischen  dem  Kaiser  und  dem  Für- 
sten herzlich  und  ohne  alles  Gene.  Wiedergab  es  den 
alten  Rheinwein,  dem  der  Fürst  kräftig  zusprach.  Mit 
seiner  leisen,  stockenden  Stimme  erzählte  er  Geschich- 
ten von  der  Kaiserin  Augusta,  und  wie  sein  alter  Hund 
Tyras  einmal  beinahe  den  Großherzog  von  Weimar 
angepackt  hätte,  der  ihn  besuchte.  Es  wurde  viel  ge- 
lacht, und  auch  Se.  Majestät  erzählte  lebhaft  und  an- 
geregt. Wie  wir  beim  Braten  waren,  wurde  Sr.  Maje- 
stät gemeldet,  daß  Graf  Wilhelm  Bismarck  draußen 
wäre,  worauf  der  Kaiser  befahl,  es  solle  noch  ein  Ku- 
vert aufgelegt  und  er  hereingerufen  werden.  Der  Graf 
war  aber  inzwischen  schon  wieder  fort  und  wurde 
von  den  nachgeschickten  Boten  erst  kurz  vor  Ende 
des  Diners  eingebracht.  Kaffee  und  Zigarren  wurden 
bei  Tisch  gereicht.  Der  Fürst  rauchte  ebenso  wie  der 
Kaiser  eine  Zigarette.  Der  Kaiser  hatte  mit  dem  Für- 
sten getrunken  und  ebenso  mit  den  beiden  Grafen 
Bismarck.  Um  7  Uhr  fuhren  wir  nach  dem  Lehrter 
Bahnhof  voraus,  wo  wieder  das  ganze  Hauptquartier 
versammelt  war.  Der  Kaiser  begleitete  den  Fürsten 
im  Galawagen,  dem  eine  Schwadron  voraufritt.  Wie 
der  Wagen  vor  dem  Bahnhofsgebäude  hielt,  war  der 
Prinz  Heinrich,  der   vorausgefahren,   dem    Fürsten 

175 


beim  Aussteigen  behilflich,  dann  folgte  der  Kaiser. 
Beim  Eintreten  in  die  Bahnhofshalle  gab  der  Kaiser 
dem  Fürsten  den  Arm  und  führte  ihn  die  Stufen  hin- 
ab. Donnerndes  Hurra  der  auf  dem  Perron  versam- 
melten Menschenmenge  begrüßte  beide.  Vor  dem  Sa- 
lonwagen nahm  der  Fürst  Abschied  von  seinem  Kai- 
serlichen Herrn,  der  ihn  wieder  auf  beide  Wangen 
küßte,  er  neigte  sich  über  die  Hand  des  Kaisers  und 
führte  sie  an  seine  Lippen.  Seine  Augen  waren  feucht. 
Wie  er  eingestiegen  und  noch  am  offenen  Fenster 
stand,  sagte  ihm  der  Kaiser:  »Nun,  lieber  Fürst,  wer- 
den Sie  hoffentlich  gut  schlafen  nach  dem  anstren- 
genden Tage.«  Und  dann  fügte  er  noch  hinzu:  »Wenn 
ich  im  Februar  nach  Wilhelmshaven  gehe,  werde  ich 
einmal  in  Friedrichsruh  anfragen,  ob  ich  Sie  besu- 
chen kann.«  —  Dann  pfiff  die  Lokomotive  und  der 
Zug  fuhr  langsam  hinaus,  während  der  Fürst  am  Fen- 
ster stand  und  mit  der  Hand  winkte.  Das  Gewölbe 
hallte  wider  von  den  Hurras  der  Leute,  wie  wir  uns 
zur  Rückfahrt  wandten.  Uns  war  den  ganzen  Tag 
hochzeitlich  zumut  gewesen. 

Für  Liza  geschrieben  von  Helmuth. 

Berlin,  den  28.  Januar  1894. 

St.  Petersburg,  17.  November  1894. 

Das  ging  alles  so  rasch  und  unerwartet,  die  Nach- 
richt von  dem  Tode  des  Papas  und  unsere  Abreise, 
an  der  sich  nun  nichts  mehr  ändern  ließ.  —  Nun  habe 
ich  an  der  Bahre  eines  anderen  Toten  gestanden,  an 
einer  Bahre,  um  die  sich  noch  einmal  aller  Pomp 
und  Glanz  des  Irdischen  entfaltet,  bevor  der  stille 
Mann,  der  auf  ihr  ruht,  in  der  Gruft  beigesetzt  werden 
wird,  und  zur  selben  Zeit  liegt  in  Schweden  der  an- 
dere stille  Mann,  wohl  noch  auf  seinem  einfachen 

176 


Bett,  und  welcher  Unterschied  ist  nun  geblieben  zwi- 
schen beiden?  Sie  sind  gleich  geworden  vor  dem  all- 
mächtigen Gleichmacher,  sie  sind  dem  menschlichen 
Tun  entrückt  und  Gott  der  Herr  wird  sie  wägen  ohne 
Rücksicht  auf  das,  was  im  Leben  der  Unterschied 
zwischen  ihnen  war. 

Hier  tönen  die  Gesänge  der  Priester,  Wolken  von 
Weihrauch  steigen  gen  Himmel,  und  ein  ganzes  Volk 
liegt  auf  den  Knien,  für  den  Toten  zu  beten  —  dort 
spricht  vielleicht  gerade  jetzt  der  einfache  Landpfar- 
rer ein  schlichtes  Gebet.  —  Wie  rasch  war  der  Wech- 
sel der  Geschehnisse  auch  für  mich,  die  Taufe  unter 
dem  frischen  Eindruck  der  Todesnachricht,  dann  un- 
mittelbar darauf  die  Abreise,  der  nächste  Tag  mit 
dem  Überschreiten  der  Grenze,  die  vielen  fremdarti- 
gen Eindrücke,  die  Ankunft  heute  morgen  in  Peters- 
burg, gleich  darauf  der  Besuch  am  Katafalk,  wo  wir 
den  mitgebrachten  Kranz  des  Kaisers  niederlegten, 
dann  im  Laufe  des  Tages  zwei  Seelenmessen  am 
offenen  Sarge,  dazwischen  eine  endlose  Fahrt  mit 
Einschreiben  usw.,  alles  in  einem  grauen,  dampfenden 
Nebel,  in  dem  die  Riesengebäude  der  Stadt  gespen- 
sterhaft ausschauen.  Der  tote  Kaiser  liegt  in  seinem 
prächtigen  Sarkophag  in  der  Kathedrale  der  Peter- 
Pauls-Festung,  über  ihm  spannt  sich  ein  Himmel  von 
Silberbrokat  und  Hermelin.  Der  Kaisermantel  bedeckt 
seine  Figur.  Der  Kopf  ist  frei.  Das  Gesicht  abgemagert 
und  eingefallen,  die  Hautfarbe  fast  braun,  das  Kopf- 
haar dünn,  die  Züge  scharf,  von  Leiden  durchfurcht. 
Es  ist,  als  ob  selbst  die  sonst  so  mächtige  Stirn  zu- 
sammengesunken wäre,  der  Kopf  sieht  klein  aus,  als 
ob  er  sich  verstecken  wollte  in  all  der  Pracht,  die  ihn 
umgibt.  Die  Luft  ist  von  Weihrauch  geschwängert 
und  unaufhörlich  tönt  die  Litanei  der  betenden  Prie- 
ster. —  Das  Volk  strömt  an  den  Sarg  und  küßt  das 

Moltke.         12.  177 


Heiligenbild,  das  auf  der  Brust  des  toten  Kaisers  liegt, 
und  draußen  weint  der  traurige  Himmel  über  die  Stadt 
und  über  ganz  Rußland. 

St. Petersburg,  20. November  1894. 

Die  Beisetzung  des  verstorbenen  Kaisers  hat  heute 
stattgefunden.  Es  war  eine  ergreifende  Zeremonie, 
nur  durch  die  Länge  der  Handlung  etwas  monoton. 
Die  Feier  dauerte  zweieinhalb  Stunden.  Um  V211  Uhr 
versammelten  wir  uns  in  der  Peter-Pauls-Kirche,  in 
deren  Mitte  der  Sarkophag  mit  der  Leiche  aufgebahrt 
steht.  Die  Kirche  ist  nicht  groß  und  die  Tausende, 
welche  der  Feier  beiwohnten,  standen  dicht  gedrängt, 
ohne  sich  während  der  ganzen  Zeit  bewegen  zu  kön- 
nen. —  Die  zahlreiche  Geistlichkeit  in  prunkvollen 
weißen  Silberbrokatgewändern  umstand  den  Sarg. 
—  Der  berühmte  Chor  sang  in  der  ergreifendsten 
Weise,  nie  habe  ich  einen  schöneren  Gesang  gehört, 
die  Bässe  von  der  Tiefe  einer  Orgel  und  dazwischen 
wehklagend  weiche  Sopranstimmen.  Räucherwerk 
füllt  den  Raum  und  steigt  in  blauen  Wolken  zur 
hohen  Wölbung  hinan.  Immer  wieder  erhebt  der 
Priester  seine  tiefe  Stimme,  um  Gott  um  Frieden  für 
den  Verstorbenen  anzuflehen,  und  rhythmisch  fällt 
der  Chor  in  die  Schlußworte  ein.  —  Endlich  nimmt 
die  Familie  Abschied  von  dem  Toten.  Zuerst  die  Kai- 
serin-Witwe, dann  der  junge  Kaiser,  dann  alle  Groß- 
fürsten und  Großfürstinnen  treten  an  den  Sarg  heran 
und  küssen  den  Toten  auf  die  Stirn.  Dann  wird  der 
Sarg  geschlossen  und  vom  Kaiser  und  den  Groß- 
fürsten von  dem  Sarkophag  herabgehoben  und  bis 
dorthin  getragen,  wo  er  in  die  Gruft  hinabgesenkt 
werden  soll.  Der  Kaiser  selber  legt  den  Hermelin- 
mantel über  den  Sarg,  und  langsam  sinkt  er  in  die 
Tiefe.  —  Das  Gedränge  beim  Ausgang  war  fürchter- 

178 


lieh.  —  Nachmittags  hatten  wir  noch  das  imposante 
Schauspiel  des  Zurückbringens  der  Kronjuwelen  in 
das  Winterpalais,  fünfzehn  vierspännige  Wagen,  alle 
vergoldet  und  mit  Scharlachsamt  ausgeschlagen,  führ- 
ten die  Kleinodien  zurück.  Alle  Wagen  mit  Schim- 
meln bespannt,  die  reiche  goldene  Geschirre  tragen, 
und  von  je  vier  Leuten  in  langen,  goldgestickten 
Scharlachmänteln  am  goldenen  Zügel  geführt  wer- 
den. Den  Zug  eröffnet  eine  Schwadron  der  Chevalier 
garde,  alle  auf  Rappen,  mit  dem  Küraß  und  dem  flie- 
genden Doppeladler  auf  dem  goldenen  Helm.  Eine 
ebensolche  Schwadron  schließt  den  Zug.  —  Das  dicht- 
gedrängte Volk  läßt  diesen  märchenhaft  schönen  Zug 
schweigend  an  sich  vorbei  passieren.  Die  Entfaltung 
der  Pracht  hier  ist  unbeschreiblich.  Alle  Maße  sind 
riesenhaft.  Die  Breite  der  Straßen,  in  denen  sich  Pa- 
last an  Palast  reiht,  steht  im  Einklang  mit  der  Größe 
der  freien  Plätze.  Von  dem  Winterpalais,  in  dem  wir 
wohnen,  kannst  Du  Dir  eine  Vorstellung  machen, 
wenn  ich  Dir  sage,  daß  unter  anderen  hier  ein  Saal 
ist,  in  dem  bei  großen  Festen  dreitausend  Personen 
an  kleinen  Tischen  soupieren  können.  Über  all  die- 
sen riesigen  Massen  liegt  ein  dichter,  grauer  Nebel, 
der  jede  Fernsicht  verhindert.  —  Wir  bleiben  noch 
hier  bis  nach  der  Vermählung,  die  am  26.  stattfindet. 

St.  Petersburg,  21. November  1894. 

Wir  waren  heute  wieder  zu  einer  großen  Zeremo- 
nie in  der  Kirche,  die  diesmal  an  der  geschlossenen 
Gruft  abgehalten  wurde.  Es  war  die  letzte,  und  ich 
kann  sagen :  Gott  sei  Dank.  Auf  die  Dauer  sind  diese 
Zeremonien  ermüdend  und  fangen  an  theatralisch  zu 
wirken.  Das  Wesen  verliert  sich  zu  sehr  unter  äuße- 
rem Gepränge  und  Schein.  Ein  stilles  Gebet  würde 
erhebender  sein. 

179 


Heute  nachmittag  bin  ich  zum  erstenmal  etwas  in 
die  Stadt  gekommen,  aber  einen  rechten  Eindruck 
habe  ich  noch  nicht  erhalten.  Es  ist  alles  zu  massig 
und  groß  und  dabei  alles  in  den  ewigen  dicken  Nebel 
gehüllt,  den  selbst  London  nicht  schöner  aufweisen 
könnte. 

St.  Petersburg,  23. November  1894. 

Den  heutigen  Tag  haben  wir  benutzt,  um  uns  zwei 
Sehenswürdigkeiten  von  Petersburg  anzusehen,  die 
Isaakskirche  und  den  Marstall.  Die  erstere  ist  in  ihrer 
Art  ein  Wunderbau.  Sie  liegt  auf  dem  schönsten 
freien  Platz  der  Stadt,  die  sie  mit  ihrer  vergoldeten 
Kuppel  hoch  überragt.  Da  ganz  Petersburg  auf  Sumpf- 
boden steht,  ist  man  genötigt  gewesen,  allen  Gebäu- 
den durch  unzählige  eingerammte  Baumstämme  eine 
feste  Unterlage  zu  schaffen.  Um  den  Prachtbau  der 
Isaakskirche  zu  tragen,  muß  ein  ganzer  Wald  von 
Mastbäumen  nötig  gewesen  sein.  Breite  Granitstufen 
führen  zu  der  Plattform  hinan,  auf  welcher  sie  sich 
erhebt.  Die  beiden  Haupteingänge  gegen  Nord  und 
Süd  werden  durch  zwei  von  Säulen  getragenen  Peri- 
stylen  gebildet.  Diese  Säulen  sind  sechsundfünfzig 
Fuß  hoch  und  sieben  Fuß  dick  und  bestehen  jede  aus 
einem  einzigen  Granitblock,  der  bis  zur  Glätte  des  Mar- 
mors poliert  ist.  Sie  ruhen  auf  bronzenen  Basen  und 
tragen  ein  bronzenes  korinthisches  Kapital.  Über- 
haupt ist  die  ganze  Kirche  durchweg  aus  Granit,  Mar- 
mor und  Erz  gebaut,  im  Gegensatz  zu  den  meisten 
übrigen  Petersburger  Kolossalbauten,  die  fast  alle  aus 
Backsteinen  aufgemauert  sind.  Mächtige  Türen  aus 
Bronze  mit  reicher  Hautrelief  arbeit  führen  in  das 
Innere  der  Kirche,  das  in  seiner  ganzen  Anordnung 
an  St.  Peter  in  Rom  erinnert.  Nur  ist  dort  die  Kuppel 
von  doppelt  so  großer  Spannung  wie  hier.  Entspre- 

180 


chend  dem  byzantinischen  Stil,  ist  hier  die  Kuppel  im 
Verhältnis  zum  Unterbau  eng  und  hoch,  in  Halb- 
kugelform. Ihre  in  der  Höhe  angebrachten  Fenster 
lassen  nur  ein  gedämpftes  Licht  in  den  Raum  drin- 
gen, das  Auge  muß  sich  erst  an  das  Halbdunkel  ge- 
wöhnen, und  in  diesem  mystischen  Licht,  das  man 
übrigens  in  allen  russischen  Kirchen  liebt,  kommt  die 
Pracht  des  verwendeten  Materials  nicht  voll  zur  Gel- 
tung. Wie  es  der  griechische  Ritus  vorschreibt,  ist 
auch  hier  das  Allerheiligste  von  dem  übrigen  Raum 
der  Kirche  durch  die  Bilderwand  getrennt,  wodurch 
der  Raum  verengert  wird.  In  der  Ikonostate  stehen 
zunächst  der  Kaiserpforte  zwei  kolossale  Säulen  aus 
poliertem  Lapislazuli,  daneben  sechs  solche  aus  Ma- 
lachit. Zwischen  diesen  befinden  sich  Darstellungen 
von  Heiligen  in  dem  schönsten  Mosaik,  den  ich 
mich  erinnere  gesehen  zu  haben.  Ein  Kirchendiener, 
welcher  sich  unserer  sofort  bemächtigt  hatte  und  mit 
einem  brennenden  Wachslicht  vor  uns  herleuchtete, 
führte  uns  auch  in  das  Allerheiligste  selbst,  in  dem 
ein  aus  Gold  ausgeführtes  Modell  der  Kirche  von 
sechs  Fuß  Höhe  steht.  Den  Hintergrund  schließt  ein 
Fenstergemälde,  den  griechischen  Christus  in  der  vor- 
geschriebenen Haltung  darstellend,  ab.  Das  Allerhei- 
ligste wird  nur  während  des  Zelebrierens  der  Messe 
als  solches  behandelt,  sobald  der  Gottesdienst  vorbei 
ist,  verliert  es  jeden  Anspruch  auf  besondere  Berück- 
sichtigung, meistens  benutzen  die  Priester  es  als  Gar- 
derobe. Bewunderungswert  sind  die  vielen  aus  mas- 
sivem Silber  hergestellten  Kirchenleuchter,  die  über- 
all im  Schiff  umherstehen  und  zum  Teil  weit  über 
Mannshöhe  sind.  Der  ganze  Bau,  von  Kaiser  Niko- 
laus I.  ausgeführt,  ist  wohl  die  schönste  griechisch- 
katholische  Kirche,  die  existiert. 

Im  Marstall  sahen  wir  eine  unendliche  Reihe  ver- 

181 


goldeter  Prachtkutschen,  meist  aus  der  Zeit  Katha- 
rinas II.,  zum  Teil  von  Boucher  und  Pesne  gemalt 
und  mit  Edelsteinen  reich  verziert,  dann  die  Zere- 
monienwagen für  den  Transport  der  Regalien,  von 
denen  zehn  ganz  gleich  sind,  aus  stark  vergoldetem 
Silberblech  und  rotem  Samt  gebildet.  Mitten  unter 
dieser  goldenen  Pracht,  die  wirklich  betörend  wirkt, 
steht  das  einfache  Coupe  des  Kaisers  Alexander  II., 
dessen  ganzer  Rückteil  von  der  Bombe  zersplittert 
ist,  die  unter  dem  Wagen  krepierte,  ohne  den  Kaiser 
zu  verletzen,  der  erst  der  zweiten  Bombe  zum  Opfer 
fiel.  Eine  ernste  Mahnung  für  alle  kommenden  Herr- 
scher! 

St.  Petersburg,  24.  November  1894. 

Wir  haben  heute  morgen  die  hiesige  Reitschule 
besucht,  zu  der  wir  gelangten,  nachdem  wir  fast  eine 
Stunde  in  der  Irre  gefahren  waren.  Die  uns  beige- 
gebenen Lakaien  sind  das  Stupideste,  was  denkbar 
ist,  der  meinige  hat  mich  noch  nicht  ein  einziges  Mal 
richtig  an  Ort  und  Stelle  gebracht.  —  Gegen  Pferde 
und  Kutscher  verfährt  man  hier  mit  großer  Rück- 
sichtslosigkeit. Keinem  Menschen,  der  ein  Diner  oder 
eine  Abendgesellschaft  besucht,  fällt  es  ein,  den  Wa- 
gen nach  Hause  zu  schicken,  er  bleibt  einfach  auf 
der  Straße  halten,  der  Kutscher,  in  seinen  langen  Pelz 
gehüllt,  schläft  auf  dem  Bock,  indem  er  den  Kopf 
gegen  die  Kante  des  Kutschkastens  lehnt  und  die 
Pferde  stehen  mit  gesenkten  Köpfen  regungslos  da. 
—  Von  der  drakonischen  Strenge,  mit  der  hier  die 
Polizei  gehandhabt  wird,  habe  ich  ein  Beispiel  erlebt. 
Ich  hatte  eines  schönen  Tages  einen  neuen  Kutscher 
und  auf  meine  Frage  nach  dem  alten,  erwiderte  mir 
mein  Lakai  nur,  der  sei  fortgeschickt.  Am  nächsten 
Tage  las  ich  in  der  Zeitung  unter  der  Rubrik:  Tages- 

182 


befehl  des  Herrn  Stadthauptmanns  —  folgendes:  Der 
Aushilfskutscher  des  Marstallamts  Iwan  usw.  wurde 
nachts  betrunken  im  Marstallgebäude  angetroffen. 
Zur  Rede  gestellt,  gab  er  eine  freche  Antwort.  Er  ist 
deswegen  mit  vierzehn  Tagen  Arrest,  wovon  acht 
Tage  bei  Wasser  und  Brot  abzusitzen,  bestraft  wor- 
den, und  der  Aufenthalt  in  Petersburg  ist  ihm  auf 
zwei  Jahre  verboten.  Der  Fuhrherr,  welcher  diesen 
Kutscher  gestellt  hat,  ist  in  eine  Strafe  von  fünfzig 
Rubel  zu  nehmen.  —  Ich  zweifle  nicht,  daß  dieser 
Iwan  mein  Rosselenker  war,  der  die  freie  Zeit,  die 
ich  ihm  gelassen,  in  so  verbrecherischer  Weise  ge- 
mißbraucht hat. 

Heute,  wie  gesagt,  fuhren  wir  fast  eine  Stunde  um- 
her, mein  Lakai  brachte  mich  zu  allen  möglichen 
Reitbahnen,  nur  nicht  zur  richtigen,  wir  landeten 
auf  einem  Holzhof,  kamen  aber  schließlich  nach  un- 
endlichen Fragen  an  der  Reitbahn  an.  —  Hier  sahen 
wir  in  der  sehr  schönen,  geräumigen  Bahn  eine  Ab- 
teilung dorthin  kommandierter  Offiziere  reiten.  Die 
Leistungen  waren  nach  unseren  Begriffen  recht  man- 
gelhaft. —  Das  Pferdematerial  erbärmlich.  Das  Sprin- 
gen über  Hürde  und  Steinmauer  schlecht.  Kein  ein- 
ziges Pferd  ging  in  glattem  Sprunge  über  die  Hinder- 
nisse, fast  alle  stutzten  und  machten  verhaltene 
Sprünge.  Die  Tempos  waren  unausgeglichen,  die  Ab- 
stände wurden  gar  nicht  gehalten,  der  Sitz  der  Reiter 
war  lose,  eine  Einwirkung  der  Schenkel  gar  nicht  zu 
bemerken.  Sodann  sahen  wir  das  Reiten  der  Kosaken- 
offiziere, alle  reiten  die  hohen  tatarischen  Sättel,  auf 
denen  der  Reiter  in  den  Bügeln  stehend  über  dem 
Pferde  schwebt.  Die  Zäumung  ist  die  einfache  Trense, 
infolgedessen  gehen  alle  Pferde  mit  der  Nase  in 
der  Luft  und  treten  im  Trabe  unter  sich.  Der  Schritt, 
wo  das  Pferd  sich  losläßt,  ist  geräumig,  Galopp  wird 

183 


nicht  geritten,  nur  Schritt,  Trab  und  Karriere.  Auch 
hier  war  das  Springen  über  die  niedrige  Hürde  höchst 
mangelhaft.  Oftmals  mußte  das  vor  dem  Hindernis 
stutzende  Pferd  durch  Hiebe  mit  der  ledernen  Ko- 
sakenpeitsche, die  jeder  Reiter  am  Faustriemen  trägt, 
hinübergebracht  werden.  —  Es  wurde  dann  noch  ein 
Gestell  in  die  Bahn  gebracht,  auf  dem  fingerdicke 
Weidenruten  aufgesteckt  waren.  Die  Offiziere  ritten 
mit  Rechtsauslage  vom  Fleck  in  der  Karriere  einzeln 
ab  an  dem  Gestell  vorbei,  und  es  kam  darauf  an,  im 
Vorbeijagen  eine  der  Ruten  mit  dem  Säbel  zu  durch- 
hauen. Den  meisten  gelang  dies  Manöver,  einige  der 
Stäbe  waren  glatt  wie  mit  dem  Rasiermesser  durch- 
schnitten. Der  Kommandeur  der  Reitschule,  der  vor 
einigen  Wochen  erst  aus  Hannover  zurückgekehrt 
ist,  wo  er  einem  Kursus  unserer  Reitschule  beige- 
wohnt hat,  erzählte  uns,  daß  er  im  vorigen  Jahr  acht- 
zehn Pferde  mit  abgeschlagenen  Ohren  gehabt  habe. 
Wenn  der  haarscharfe  Säbel  nicht  sehr  geschickt  ge- 
führt wird,  ist  ein  solches  Malheur  leicht  erklärlich. 
Wir  sahen  dann  noch  einzelne,  wohl  besonders  aus- 
gesuchte Leute,  auf  alten  Schulpferden  voltigieren.  Sie 
machten  ihre  Sache  sehr  gut,  einer  von  ihnen  hätte 
gleich  im  Zirkus  als  Jockeireiter  auftreten  können. 

Nachdem  die  Vorstellung  beendet  war,  fuhr  ich 
nach  der  Kasan-Kathedrale,  die  berühmt  ist  wegen 
ihres  ungeheuren  Reichtums  an  gediegenem  Silber. 
Die  Kirche,  ebenso  wie  die  Isaaks-Kathedrale,  im  by- 
zantinischen Stil  erbaut,  liegt  auf  einem  freien  Platz 
am  Newski  Prospekt,  der  größten  Straße  Petersburgs. 
Von  beiden  Seiten  wird  sie  flankiert  durch  eine  of- 
fene, halbkreisförmige  Säulenkolonnade,  einer  Nach- 
ahmung der  großen  Kolonnade  von  St.  Peter  in  Rom. 
Im  Inneren  hat  sich  die  Vorliebe  der  Russen  für  Säu- 
len Genüge  getan,  die  auch  in  den  privaten  und  öf- 

184 


fentlichen  Profangebäuden  überall  hervortritt,  deren 
Mehrzahl  Säulenarrangements,  freilich  aus  Backstein 
und  mit  Kalk  abgeputzt,  zeigen.  Im  Inneren  dieser 
Kirche  sind  einige  vierzig  Granitsäulen  aus  einem 
Stück  aufgestellt.  Da  hierfür  durchaus  kein  Platz  war 
und  obgleich  für  die  Säulen  durchaus  nichts  zu  tra- 
gen ist  als  ihre  eigenen  Kapitale,  so  hat  man  sie  in 
doppelter  Reihe  gesetzt. 

Ich  sah  das  berühmte  Bild  der  Mutter  Gottes  von 
Kasan,  das  mit  Juwelen  und  Edelsteinen  bedeckt  ist 
und  vor  dem  immer  einige  Menschen  auf  den  Knien 
liegen,  mit  der  Stirn  die  Fliesen  des  Fußbodens  be- 
rührend. An  den  Säulen  hängen  eine  Anzahl  erober- 
ter französischer  Fahnen,  ferner  der  erbeutete  Mar- 
schallstab des  Marschalls  Davoust  und  eine  Anzahl 
Schlüssel  von  eroberten  Städten.  An  einer  Seiten- 
wand befindet  sich  das  einfache  Grabmal  des  Feld- 
marschalls Kutusoff.  Die  Ikonostate  mit  prächtigen 
Bildern  geschmückt  und  von  ungeheurer  Größe,  ist 
fast  ganz  aus  getriebenem  Silber  hergestellt.  Eine 
massive  silberne  Barriere,  lang  und  hoch  genug  für 
eine  mäßige  Brücke,  trennt  sie  vom  inneren  Kirchen- 
raum. Überall  stehen  hohe,  silberne  Kirchenleuchter 
umher,  auf  denen  Wachslichte  von  der  Dünne  eines 
Bleistiftes  bis  zur  Dicke  eines  Armes  brennen.  Die 
Gläubigen  stecken  dieselben  dort  auf  und  bemessen 
die  Stärke  derselben  nach  dem  Maßstab  ihrer  Mittel 
und  —  nach  der  Größe  ihres  Anliegens  an  die  heilige 
Mutter  Gottes. 

Um  die  wenigen  Stunden,  die  mit  bleichem  Schein 
den  kurzen  Petersburger  Tag  andeuten,  auszunutzen, 
schenkte  ich  mir  das  Frühstück  und  fuhr  in  die  Ere- 
mitage, die  größte  Sehenswürdigkeit  Petersburgs. 
Wohl  an  keinem  anderen  Orte  der  Welt  sind  so  viele 
und  wertvolle  Kunstschätze  auf  so  engem  Raum  ver- 

185 


einigt,  wie  hier.  Hier  sind  die  berühmtesten  Meister- 
werke der  Malerei  und  Skulptur  aller  Lande  in  einer 
unermeßlichen  Reihe  von  Zimmern  und  Sälen  ver- 
teilt, deren  jeder  selbst  ein  Kunstwerk  an  Schönheit 
und  Geschmack  ist.  Es  gibt  keinen  berühmten  Maler, 
der  hier  nicht  durch  seine  vorzüglichsten  Schöpfun- 
gen vertreten  wäre.  Rubens,  Raphael,  Tizian,  van  Dyk, 
Ruisdael,  Teniers,  Wouwerman,  Corregio  und  Mu- 
rillo  füllen  ganze  Säle  aus,  leider  ist  die  Beleuchtung 
eine  so  schlechte,  daß  fast  keins  der  erhebenden  Mei- 
sterwerke zur  vollen  Geltung  gelangt.  —  Um  2  Uhr 
war  es  schon  so  dunkel,  daß  man  fast  nichts  mehr 
sah,  der  neblige,  graue  Himmel  erstickt  alles  Licht. 
—  Den  Teil  der  Sammlungen,  welcher  die  Antiken, 
die  Mosaiken,  Juwelen  und  geschnittenen  Steine  um- 
faßt, habe  ich  nicht  gesehen,  ich  konnte  von  den  Bil- 
dern nicht  loskommen.  —  Sehr  merkwürdig  sollen 
auch  die  dort  aufbewahrten  Ausgrabungen  von 
Kertsch  in  der  Krim  sein,  wo  vierhundert  Jahre  vor 
Christi  griechische  Kultur  blühte,  bis  die  Völkerwelle 
der  Skythen  und  die  tatarischen  Horden  sie  hinweg- 
spülte. 

KABINETTSORDER. 

Ich  habe  Sie  heute  zum  Obersten  befördert  und  gereicht  es 
Mir   zum  Vergnügen,    Ihnen    dies   hierdurch   bekanntzumachen. 

Neues  Palais,  den  18.  August  1895. 

Wilhelm  R. 

An  Meinen  diensrt  Flügeladjutanten,   Oberstleutnant  v.  Moltke, 
Kommandeur  der  Schloßgarde-Kompagnie. 

Stettin,  7. September  1895. 

Wir  sind  eben  aus  dem  Schloß  gekommen,  wo  wir 
Manöverbesprechungen  gehabt  haben.  —  Dies  Le- 
ben, so  ermüdend  es  ist,  bekommt  mir  außerordent- 
lich gut.  Es  ist  mir  immer,  als  ob  meine  Kräfte  sich 

186 


erst  entwickelten,  wenn  größere  Anforderungen  an 
sie  gestellt  werden,  und  das  tröstet  mich  wieder  im 
Hinblick  auf  die  Zukunft,  ich  hoffe  doch  noch  mei- 
nen Mann  stehen  zu  können,  wenn  es  einmal  gilt. 

An  Bord  S.M.Jacht  »Hohenzollern«, 
14.  September  1895. 

Am  15.  Oktober  werde  ich  etwa  wieder  den  Dienst 
bekommen,  dann  geht  das  Reisen  sogleich  wieder 
an.  Nach  Urville  bei  Metz,  wo  eine  Kirche  einge- 
weiht und  nachWörth,  wo  ein  Denkmal  Kaiser  Fried- 
richs enthüllt  wird. 

Jagdhaus  Rominten,  27. September  1895. 

Ich  schreibe  Dir  nur  ein  paar  Worte,  um  Dir  mit- 
zuteilen, daß  ich  morgen  vormittag  nach  Petersburg 
abreise.  Der  Kaiser  schickt  mich  mit  einem  Hand- 
schreiben an  den  Kaiser  von  Rußland. 

St.  Petersburg,  2.  Oktober  1895. 

Am  29.  September  kam  ich  hier  an,  hatte,  da  die 
Sendung  mir  völlig  überraschend  kam  und  ich  keine 
Sachen  mit  hatte,  Uniform  und  Paß  telegraphisch  aus 
Berlin  requiriert.  Die  Sachen  kamen  mit  demselben 
Zuge  an,  mit  dem  ich  weiterfuhr  und  wurden  mir  in 
Trakehnen  auf  dem  Bahnhof  übergeben.  Auf  der  rus- 
sischen Grenzstation  Wirballen  war  meine  Ankunft 
mitgeteilt,  ich  wurde  von  dem  Chef  des  Zollamts  sehr 
höflich  empfangen  und  ohne  alle  Schwierigkeiten 
durchgelassen.  —  Derselbe  Herr  hatte  mir  ein  Schlaf - 
coup6  reserviert,  das,  wie  er  mir  sagte,  zwar  schon 
verkauft  gewesen,  aus  dem  man  aber  den  Inhaber 
ohne  weiteres  herausgesetzt  hatte,  ein  Verfahren,  das 
zwar  für  denjenigen,  der  davon  profitiert,  sehr  ange- 
nehm ist,  für  denjenigen,  der  darunter  zu  leiden  hat, 

187 


aber  ebenso  unangenehm  sein  muß.  Da  mir  der  Ex- 
mittierte unbekannt  war  und  blieb,  schlief  ich  mit 
ziemlich  ruhigem  Gewissen  auf  dem  bequemen 
Schlafsofa  des  breiten  Wagens,  das  bei  dem  sehr 
langsamen  Fahren  des  russischen  Zuges  ein  vor- 
treffliches Lager  bot.  Um  9  Uhr  morgens  war  ich 
aus  Rominten,  um  11V2  Uhr  ausTrakehnen  weggefah- 
ren, am  nächsten  Tage  um  12  Uhr  mittags  lief  der 
Zug  mit  einer  Stunde  fahrplanmäßiger  Verspätung 
in  Petersburg  ein.  Auf  dem  Bahnhof  fand  ich  unse- 
ren Botschafter  Fürst  Radolin  und  den  Militärattache" 
Hauptmann  Lauenstein,  die  eine  volle  Stunde  auf 
mich  gewartet  hatten.  Der  erstere  sagte  mir,  daß  ich 
von  Seiten  des  Kaiserlich  russischen  Hofmarschall- 
amts in  dem  Hotel  d'Europe  als  Gast  Sr.  Majestät 
einquartiert  sei,  und  daß  Hof  wagen  und  Lakai  zu 
meiner  Verfügung  gestellt  wären.  —  Ich  fuhr  nun  in 
mein  Hotel,  wo  ich  eine  hübsche  Wohnung,  beste- 
hend aus  Vorzimmer,  Salon  und  Schlafzimmer  bereit 
fand,  —  dann  in  unsere  Botschaft,  um  daselbst  mei- 
nen Besuch  zu  machen  und  dort  zum  Frühstück 
zu  bleiben.  —  Abends  war  ich  mit  Lauenstein  zusam- 
men in  der  Oper.  Das  riesige,  soeben  neu  restaurierte 
Haus,  macht  einen  prächtigen  Eindruck,  es  ist  in 
Weiß  und  Gold  gehalten,  Vorhänge  und  Draperien 
aus  blauem  Damast.  Es  wurde  das  Ballett  Copelia  ge- 
geben, und  da  die  Russen  das  Ballett  besonders  lie- 
ben, ist  auf  Ausstattung  und  Personal  ein  großer 
Wert  gelegt.  Nie  habe  ich  ein  dankbareres  Publikum 
gesehen.  Jede  Leistung  wurde  mit  Stürmen  des  Bei- 
falls begrüßt,  und  viele  Solotänze  mußten  wiederholt 
werden.  —  Am  30.  September,  dem  folgenden  Tage, 
war  ich  vormittags  11  Uhr  zur  Audienz  bei  Sr.  Maje- 
stät dem  Zaren  angesagt.  Ich  hatte  schon  tags  vorher 
an  den  Adjutanten  des  Großfürsten  Wladimir,  des 

188 


einzigen  zurzeit  hier  anwesenden  Mitglieds  des  kai- 
serlichen Hauses,  telegraphiert  und  gebeten,  mich 
nach  meiner  Audienz  bei  Sr.  Kaiserl.  Hoheit  melden 
zu  dürfen.  Der  Großfürst  wohnt  in  einem  besonderen 
Palais,  ebenfalls  in  Zarskoje  Selo,  wo  der  Kaiser  re- 
sidiert. Ich  fuhr  mit  dem  um  10  Uhr  von  hier  ab- 
gehenden Zuge  hinaus.  Man  fährt  dreißig  Minuten, 
wie  von  Berlin  bis  Potsdam.  Auf  dem  Bahnhof  emp- 
fing mich  der  Adjutant  des  Großfürsten,  Graf  Versen, 
und  sagte  mir,  daß  Se.  Kaiserl.  Hoheit  mich  empfan- 
gen wollten  und  mich  bitten  ließen,  bei  ihm  zu  früh- 
stücken. Nun  fuhr  ich  nach  dem  etwa  zehn  Minuten 
vom  Bahnhof  gelegenen  kleinen  Alexanderpalais,  in 
dem  Se.  Majestät  wohnen,  während  das  große  Palais, 
von  der  Kaiserin  Katharina  im  Barockstil  erbaut,  leer 
steht.  Ich  wurde  sogleich  von  dem  Hof  marschall  Gra- 
fen Benckendorff  empfangen  und  unmittelbar  darauf 
durch  eine  Reihe  von  Zimmern,  Sälen  und  Gängen 
in  das  Vorzimmer  des  Kaisers  geleitet.  Wie  wir  einen 
schmalen  Gang  durchschritten,  an  dessen  Eingang 
zwei  riesige,  pechschwarze  Mohren  in  orientalischem 
Kostüme  und  bis  an  die  Zähne  bewaffnet  Wache 
standen,  öffnete  sich,  gerade  wie  wir  vorbeischritten, 
eine  Tür,  und  der  Kaiser  erschien  im  weißen  Pikee- 
jäckchen, im  Begriff,  die  gegenüberliegende  Tür  zu 
erreichen.  Sowie  er  uns  erblickte,  zog  er  die  Tür 
rasch  wieder  zu,  und  wir  machten  unsere  tiefe  Ver- 
beugung vor  dem  Türflügel!  —  Nun  gelangten  wir  in 
das  Vorzimmer,  in  dessen  Mitte,  gerade  wie  in  dem 
Adjutantenzimmer  in  Berlin,  ein  Billard  stand  und  in 
dem  ein  kleiner  dicker  Herr  mit  einer  großen  Rolle 
Zeichnungen  unter  dem  Arm  auf  den  Moment  war- 
tete, wo  er  zum  Vortrag  vorgelassen  werde.  Er  wurde 
mir  von  dem  Hofmarschall  als  der  Marineminister 
vorgestellt. 

189 


Nach  wenigen  Minuten  des  Wartens  wurde  ich 
durch  einen  Kammerdiener,  den  Graf  Benckendorff 
damit  beauftragte,  bei  Sr.  Majestät  angemeldet.  Es  war 
wederein  General,  noch  ein  Flügeladjutant  zu  sehen. 
Der  Kaiser  soll  so  ziemlich  ganz  ohne  militärische 
Umgebung  leben;  wie  ich  hörte,  ist  im  Schloß  außer 
dem  Hofmarschall  nur  der  Oberstallmeister  und  der 
Kommandeur  des  Leibkonvois  anwesend.  —  Ich  trat 
nun,  ziemlich  belastet,  in  das  Arbeitszimmer  Sr.  Ma- 
jestät. Ich  war  natürlich  im  Paradeanzug,  hatte  in 
der  einen  Hand  den  Helm  und  Säbel,  in  der  andern 
den  Brief  unseres  Kaisers,  und  unter  dem  Arm  ein 
aufgerolltes  Bild,  das  nach  dem  Entwurf  unseres  Kai- 
sers von  dem  Professor  Knackfuß  ausgeführt  und  im 
Steindruck  vervielfältigt  ist.  Dieses  Bild  sollte  ich 
gleichzeitig  mit  dem  Brief  übergeben.  Der  Zar  kam 
mir  sogleich  mit  ausgestreckter  Hand  entgegen  und 
sagte  mir:  »Ich  freue  mich,  Sie  hier  zu  sehen,  wir 
kennen  uns  ja  schon.«  —  Nachdem  ich  nicht  ohne 
Schwierigkeit  alle  meine  Gegenstände,  zu  denen  noch 
der  ausgezogene  Handschuh  der  rechten  Hand  kam, 
in  der  linken  konzentriert  hatte,  konnte  ich  die  mir 
gütig  dargebotene  Hand  annehmen.  —  Ich  überreichte 
dann  den  Brief  und  gab  sodann  eine  Erläuterung  des 
Bildes,  bei  dessen  Aufrollung  auf  einem  Tisch  Se.  Ma- 
jestät mir  selber  behilflich  waren.  —  Das  Bild  zeigt 
eine  Gruppe  weiblicher  Figuren,  die  im  antiken  Ko- 
stüm, in  der  Art  der  Walküren,  auf  einem  Felsvor- 
sprung stehen  und  über  eine  mit  blühenden  Städten, 
schiffbefahrenen  Flüssen  und  beackerten  Feldern  be- 
deckte Ebene  hinwegschauen.  Sie  stellen  die  euro- 
päischen Staaten  vor.  Im  Vordergrunde  Deutschland, 
eng  an  dasselbe  geschmiegt  Rußland,  zur  Seite  Frank- 
reich, dahinter  Österreich,  Italien,  England  usw.  — 
Vor  ihnen  steht,  mit  der  Hand  in  die  Ferne  weisend, 

190 


das  Flammenschwert  in  der  anderen,  der  Cherub  des 
Krieges,  über  der  Gruppe  schwebt,  von  Strahlen  um- 
geben, das  Kreuz.  Hinter  der  blühenden  Landschaft, 
die  Handel  und  Gewerbe,  europäische  Kultur  und  Ge- 
sittung versinnbildlicht,  sieht  man  den  qualmend  auf- 
steigenden Rauch  einer  brennenden  Stadt.  Der  Schwa- 
den zieht  in  dicken  Wolken,  die  sich  zur  Form  eines 
Drachens  zusammenballen,  drohend  heran.  Aus  dem 
Qualm  steigt  das  Bild  Buddhas  auf,  das  mit  stieren, 
kalten  Augen  auf  die  Zerstörung  blickt.  —  Der  Sinn 
des  Ganzen  ist  der  in  der  Zukunft  heraufdämmernde 
Existenzkampf  der  weißen  und  gelben  Rasse.  —  Die 
Idee  zu  dem  Bilde  ist  Sr.  Majestät  gekommen,  wie  bei 
Abschluß  der  Friedenspräliminarien  zwischen  China 
und  Japan  die  Gefahr  vorlag,  daß  die  ungeheure 
Masse  des  chinesischen  Reiches,  auf  dessen  Ent- 
wicklung Japan  einen  entscheidenden  Einfluß  zu  ge- 
winnen suchte,  durch  dieses  tätige,  nach  expansiver 
Entwicklung  strebende  Land  organisiert  und  in  Gä- 
rung gebracht  werden  könnte,  und  daß  dann  die  Woge 
der  gelben  Rasse  sich  verderbenbringend  über  Eu- 
ropa ergießen  würde.  Unter  dem  Bild  stehen,  von  der 
Hand  des  Kaisers  geschrieben,  die  Worte:  »Völker 
Europas,  wahrt  eure  heiligsten  Güter«.  —  Ich  ver- 
fehlte nicht,  nachdem  ich  die  Erläuterung  gegeben, 
hinzuzufügen,  daß  diese  Gefahr  durch  die  Weisheit 
der  Politik  und  des  gemeinsamen  Handelns  Rußlands, 
Deutschlands  und  Frankreichs  vorläufig  zurückge- 
dämmt sei.  —  Der  Kaiser  interessierte  sich  lebhaft  für 
die  Zeichnung,  und  ich  mußte  ihm  alle  Details  er- 
klären. —  Ich  wies  darauf  hin,  wie  in  den  Silhouetten 
der  Städte  die  Kuppel  der  orthodoxen  Kirche  neben 
dem  Turm  des  protestantischen  Münsters  aufrage, 
und  als  der  Kaiser  auf  eine  Stadt  deutend  fragte,  ob 
das  Moskau  sein  solle,  erwiderte  ich,  daß  ich  zwar 

igi 


nicht  wüßte,  ob  Se.  Majestät,  mein  allergnädigster 
Herr,  gerade  diese  Stadt  im  Auge  gehabt  habe,  daß 
aber  Moskau  sicherlich  ebenso  bedroht  sein  würde 
wie  jede  andere  europäische  Stadt.  —  Nachdem  das 
Bild  besichtigt,  hatte  der  Kaiser  die  Gnade,  mich 
noch  einer  längeren  Unterredung  zu  würdigen,  und 
erteilte  mir  dann  den  Auftrag,  das  Antwortschreiben 
wieder  an  unseren  Kaiser  zurückzubringen.  —  Nach- 
dem der  Kaiser  mich  dann  in  gnädigster  Weise  ver- 
abschiedet, sagte  er  noch  zu  mir:  »Sie  wollen  gewiß 
gerne  die  Kaiserin  sehen,  lassen  Sie  sich  doch  bei  ihr 
anmelden.«  Wie  ich  mich  rückwärts  zur  Tür  hinaus- 
dienerte, verlor  ich  einen  Handschuh,  der  mir  von 
dem  Kammerdiener  nachgebracht  wurde.  Ein  aber- 
gläubischer Mensch  würde  hierin  vielleicht  ein  Omen 
erblickt  haben,  was  Gott  und  alle  Heiligen  verhüten 
wollen. 

Ich  ließ  mich  nun  bei  Ihrer  Majestät  anmelden. 
Nach  kurzer  Zeit  wurde  ich  zur  Kaiserin  geführt,  die 
mich  ganz  allein  empfing.  Es  war  auch  hier  keine 
Dame  zugegen,  und  die  Anmeldung  erfolgte  eben- 
falls durch  einen  Kammerdiener.  Die  Kaiserin  sah 
vortrefflich  aus.  Sie  hatte  frische  Farben,  strahlende 
Madonnaaugen  und  sah  in  ihrem  faltigen  Trauerkleide 
aus  wie  eine  wahre  Kaiserin.  —  Sie  unterhielt  sich 
sehr  freundlich  mit  mir,  ich  mußte  erzählen  von  dem 
Kaiser  aus  Rominten,  von  der  Kaiserin  und  den  Kin- 
dern, und  wie  sie  mir  zum  Abschied  die  Hand  reichte, 
führte  ich  sie  mit  der  Empfindung  an  die  Lippen,  daß 
die  Russen  ihrem  orthodoxen  Gott  wohl  dankbar  sein 
können,  daß  er  einen  solchen  Lichtengel  auf  den 
Thron  des  Zarenreiches  berufen  hat.  —  Von  hier  fuhr 
ich  nun  zu  dem  Palais  des  Großfürsten  Wladimir, 
wo  Versen  mich  empfing  und  mich  alsbald  zu  Sr.  Kai- 
serlichen Hoheit  führte,  der  mich  freundlichst  be- 

192 


grüßte  und  sich  gegen  eine  halbe  Stunde  mit  mir 
unterhielt.  Wir  gingen  dann  zum  Frühstück,  an  dem 
außer  dem  Großfürsten,  Versen  und  mir  noch  ein 
Russe  mit  einem  unaussprechbaren  Namen  teilnahm. 
Se.  Kaiserliche  Hoheit  ist  ein  sehr  passionierter  Jäger 
und  kannte  alle  Jagdgründe  Deutschlands,  hatte  früher 
öfters  Hirsche  in  Rominten  und  der  Schorfheide  ge- 
schossen und  konnte  ein  leises  Bedauern  nicht  unter- 
drücken, daß  diese  Zeiten  jetzt  vorbei  seien.  Er  ließ 
auch  die  Geweihe  der  zuletzt  von  ihm  geschossenen 
Hirsche  hereinbringen,  die  ich  aufrichtig  bewundern 
konnte,  da  sie  in  der  Tat  kapital  waren.  —  Nachdem 
das  Frühstück,  bei  dem  ausschließlich  deutsch  ge- 
sprochen wurde,  beendet,  entließ  mich  der  Großfürst 
mit  den  Worten:  »Ich  hoffe,  Sie  jedenfalls  noch  zu 
sehen,  bevor  Sie  abreisen.«  Daß  es  ihm  damit  ernst 
gewesen,  beweist  ein  Telegramm,  das  mir  gerade  ge- 
bracht worden  ist:  »Voulez-vous  venir  diner  chez  moi 
demain  jeudipar  trains  sept  heures.  Überrock,  Mütze. 
Wladimir.«  —  Wenige  Augenblicke  später  erhielt  ich 
ein  Telegramm  vom  Hofmarschall  Benckendorff : 
»L'Empereur  vous  recevra  demain  jeudi  ä  onzes 
heures.  Train  ä  dix  heures.«  —  So  werde  ich  also 
morgen,  Donnerstag,  mein  Antwortschreiben  erhal- 
ten, und  kann  morgen  abend  12  Uhr  von  hier  ab- 
reisen. 

Nachdem  ich  mit  dem  Zuge  aus  Zarskoje  Selo  zu- 
rückgekehrt war,  ging  ich  auf  unsere  Botschaft,  von 
wo  ich  ein  zweieinhalb  Bogen  langes  Telegramm  an 
unseren  Kaiser  richtete,  an  dem  die  Chiffreure  über 
zwei  Stunden  zu  arbeiten  hatten.  —  Am  Dienstag  fuhr 
ich  wieder  nach  Zarskoje  Selo,  um  einer  Einladung 
des  Grafen  Versen  zum  Frühstück  zu  folgen.  —  Wir 
frühstückten  sehr  nett,  und  dann  ließ  er  anspannen 
und  fuhr  mich  eine  fast  zweistündige  Tour  durch  die 

Moltke.  13.  193 


herrlichen  Parkanlagen  von  Zarskoje  Selo.  —  Auf  die 
Herstellung  der  weitläufigen  Anlagen  ist  eine  unge- 
heure Mühe  verwendet.  Das  Terrain  ist  durchweg 
sumpfig,  nur  auf  einzelnen  festen  Inseln,  die  in  dem 
morastigen  Wiesenboden  liegen,  wachsen  schöne 
Baumgruppen,  die  freilich  schon  fast  durchweg  das 
Laub  verloren  hatten.  Alle  Wege  (und  es  sind  mei- 
lenlange breite  Chausseen,  von  doppelten  Eichen- 
alleen flankiert),  sind  aufgeschüttet.  —  Sobald  man 
vom  Wege  herunterkommt,  versinkt  man  im  Sumpf. 
—  Dennoch  macht  das  Ganze,  dem  viele  ausgedehnte 
Wasserspiegel  Abwechslung  verleihen,  ein  land- 
schaftlich schönes  Bild.  Man  fährt  an  vielen  größe- 
ren und  kleineren  Schlössern  vorüber,  an  den  Kaser- 
nen der  Gardekavallerie-Regimenter,  an  chinesischen 
Gebäudekomplexen,  wo  rachensperrende  Drachen 
auf  den  Dächern  und  alte  pensionierte  Generale  in 
den  Häuschen  sitzen  und  das  Gnadenbrot  des  Zaren 
essen.  Den  Mittelpunkt  bildet  das  große  Palais  der 
Kaiserin  Katharina,  die,  wie  Peter  der  Große  Peters- 
burg, so  ihrerseits  Zarskoje  Selo  aus  dem  Sumpf  her- 
vorgestampft hat.  Die  Front  des  mächtigen  Schlos- 
ses ist  wohl  zweimal  so  lang  wie  die  des  Neuen  Pa- 
lais. Das  niedrige  Dach  wird  getragen  von  dicken 
weißen  Säulen,  zwischen  denen  enorme  Karyatiden, 
ganz  vergoldet,  in  Form  des  die  Welt  tragenden  At- 
las, sich  unter  der  Last  der  Fenstersimse  bücken. 
Zwei  massive,  hochragende  Giebel  unterbrechen  die 
langgezogene  Linie  der  Front,  die  zu  beiden  Seiten 
in  kreisförmige  Flügel  ausläuft,  an  deren  einen  sich 
die  griechische  Kirche  mit  ihren  vielen  zwiebelförmi- 
gen  Kuppeln  und  hohen,  blau  gemalten  Fenstern  an- 
schließt. Die  mit  dicker  Goldbronze  beschlagenen 
Kuppeln  glänzen  in  der  Sonne,  und  aus  den  mar- 
morweißen Wänden  treten  die  himmelblauen  Fen- 

194 


ster  etwas  indiskret  hervor.  Alle  Fenster-  und  Türein- 
fassungen des  Schlosses  sind  barock  geschweift  und 
vergoldet.  So  liegt  das  Ganze  in  wuchtiger  Macht  da, 
wie  ein  Stein  gewordener  Ukas  der  selbstherrischen 
Kaiserin,  die  es  geschaffen.  —  Von  dort  fuhren  wir 
nach  dem  Paulowskschen  Palais,  erbaut  von  dem  un- 
glücklichen Kaiser  Paul,  der  sein  Leben  unter  der 
drosselnden  Schärpe  des  Generals  von  Benningsen 
aushauchen  mußte.  Ebenso  einfach,  fast  furchtsam 
zusammengebogen  ist  dies  im  beinahe  geschlosse- 
nen Kreise  gebaute  Schloß,  wie  das  der  Mutter  her- 
ausfordernd anspruchsvoll,  breit  und  gerade  ausge- 
laden. Auch  die  Umgebung  ist  eine  ganz  andere. 
Wenn  dort  weite  Flächen  sich  breiten,  gerade  ge- 
haltene Chausseen  strahlenförmige  Ausblicke  eröff- 
nen oder  mathematisch  rechtwinklig  einander  kreu- 
zen, so  liegt  das  Palais  des  Kaisers  Paul  mitten  in 
hochstämmigem  Fichtenwald.  Keine  Hand  hat  an  die- 
sem Waldboden  gemodelt,  er  trägt  seine  hohen 
Stämme  und  sein  wucherndes  Gestrüpp,  wie  die 
Gärtnerin  Natur  es  ihm  anweist,  und  mitten  durch 
diesen  Wald  schmiegen  sich  weiche,  aber  gut  ge- 
haltene Wege  an  die  wellenförmigen  Bodenerhebun- 
gen, zu  denen  das  Gelände  hier  ansteigt.  Es  fährt 
sich  herrlich  durch  diesen  Urwald,  bald  an  stillen 
Waldseen  entlang,  bald  über  bescheidene  Holz- 
brücken, die  geschickt  über  rauschendes  Wasser 
führen.  In  ihrer  Art  sind  diese  bequemen  Wege,  die 
mitten  durch  einen  Wald  führen,  in  dessen  Dunkel 
und  Gewirr  ein  Durchqueren  fast  unmöglich  ist, 
ebenso  überraschend  wie  die  Fjorde  Norwegens,  auf 
denen  man  glatt  und  bequem  bis  mitten  in  das  Hoch- 
gebirge fährt. 

Von  Pawlowsk  über  Zarskoje  Selo  führt  die  älteste 
Bahn  Rußlands  nach   Petersburg.   Es  ist   die   vierte 

195 


Bahn,  die  überhaupt  in  Europa  gebaut  worden  ist, 
und  dadurch  ein  Unikum,  daß  ihre  Spurbreite  noch 
breiter  ist  als  die  der  übrigen  russischen  Bahnen. 
Die  hölzernen  Stationsgebäude,  die  hölzernen  Per- 
rons, die  unendlich  breiten,  mit  klapprigen  Fenstern 
und  schmutzigen,  zerschlissenen  Sitzsofas  ausge- 
rüsteten Wagen,  machen  den  Eindruck,  als  ob  seit 
Erbauung  der  Bahn  nichts  daran  geändert  und  nie 
etwas  repariert  worden  wäre.  Und  trotzdem  ist  dies 
die  befahrenste  Bahn,  denn  im  Sommer  strömt  all- 
nachmittäglich halb  Petersburg  hier  heraus,  um  unter 
den  taufeuchten,  alten  Bäumen  auf  den  trockenen 
Wegen  zu  lustwandeln  oder  vor  dem  riesigen,  aus 
Holz  gebauten  Musikpavillon  zu  sitzen,  in  dem  von 
den  besten  Kapellmeistern  täglich  Konzerte  gegeben 
werden.  Es  war  fünf  Minuten  vor  3  Uhr,  wie  wir  vor 
dem  Bahnhofsgebäude  hielten,  das  ungefähr  aus- 
sieht, wie  ein  polnischer  Ochsenstall.  Um  3  Uhr  ging 
der  Zug,  der  mich  nach  Petersburg  zurückbrachte. 

Gestern  abend  habe  ich  wieder  ein  Diner  unserer 
Botschaftsherren  gehabt,  diesmal  aber  waren  wir  un- 
ter uns.  Graf  Pückler,  Du  kennst  ihn  ja,  und  Herr 
v.  Romberg  haben  sich  auf  den  jenseits  der  Newa  ge- 
legenen Inseln  gemeinsam  eine  Datsche  gemietet,  in 
deren  kleinen  Räumen  sie  ein  gemütliches  Sommer- 
leben in  friedlicher  Ehe  führen.  Das  andauernd  gute 
Wetter  gestattet  ihnen  noch  draußen  zu  bleiben,  ob- 
gleich die  Saison  längst  vorbei  ist.  Beide  hatten  mich 
eingeladen,  abends  in  ihrer  Hütte  zu  speisen,  und 
außer  mir  war  noch  Lauenstein  und  der  erste  Bot- 
schaftsrat, ein  Herr  von  Tschirschky,  dort.  Lauen- 
stein holte  mich  ab,  und  wir  fuhren  in  meinem  Hof- 
wagen hinaus.  Trotz  des  wahnsinnigen  Tempos,  in 
dem  hier  alles,  und  allen  voran  die  kaiserlichen  Wa- 
gen fahren,  brauchten  wir  über  eine  halbe  Stunde, 

ig6 


um  hinaus  zu  kommen.  Die  Inseln  liegen  umschlos- 
sen von  der  vielarmigen  Newamündung  und  sind 
durchweg  parkartig  gehalten.  Zwischen  den  Bäumen 
liegen  zerstreut  die  kleinen  Datschen,  in  denen  im 
Sommer  alles  sich  einquartiert,  was  irgend  die  Mittel 
dazu  hat.  Hier  spielt  sich  an  den  langen,  hellen  Som- 
merabenden der  Korso  der  Petersburger  Welt  ab,  der 
darin  gipfelt,  daß  jeder  an  einen  bestimmten  Punkt, 
ein  weit  ausspringendes  Rondell,  fährt,  das  die  West- 
spitze der  letzten  Insel  bildet.  Hier  hält  Wagen  an 
Wagen  gedrängt  und  alles  blickt  hinaus  über  eine 
weite  Wasserfläche,  die  von  Bäumen  eingerahmt  ist, 
und  an  deren  einer  Seite  ein  plumpes  Holzhaus  in 
die  öde  Landschaft  eine  schwermütige  Silhouette 
zeichnet,  und  alles  wartet  auf  den  Augenblick,  wo 
der  Sonnenball,  nachdem  er  seine  lange  Reise  über 
den  nordischen  Sommerhimmel  zurückgelegt  hat, 
hinter  der  glänzenden  Wasserfläche  verschwunden 
ist.  Sobald  der  letzte  Funke  verglommen  ist,  wirrt 
sich  der  Knäuel  der  Wagen  auseinander  und  jeder 
fährt  stumpfsinnig  nach  Hause. 

Heute  morgen  bin  ich  in  der  Peter-Pauls-Kathedrale 
gewesen  und  habe  einen  Kranz  auf  dem  Sarkophag  des 
verstorbenen  Kaisers  Alexander  III.  niedergelegt.  Ich 
hatte  einen  Kranz  ganz  aus  Lorbeerblättern  machen 
lassen  mit  großer  schwarz-silberner  Schleife,  auf  de- 
ren einem  Bande  ich  ebenfalls  aus  Lorbeerblättern 
ein  W  und  auf  dem  andern  ebenso  eine  Krone  hatte 
anbringen  lassen.  De  la  part  de  Samajeste  l'Empereur 
d'Allemagne  —  wie  ich  dem  Kommandanten  der  Fe- 
stung sagte.  Die  Kirche  war  voll  Menschen,  die  mich 
in  meiner  preußischen  Uniform  verwundert  anstarr- 
ten. 


197 


Bericht  über  die  Abschiedsaudienz  bei  Sr.  Majestät 
dem  Kaiser  von  Rußland  am  3.  Oktober  1895. 

St.  Petersburg,  3. Oktober  1895. 

Am  Vormittag  des  2.  Oktober  erhielt  ich  durch  Tele- 
gramm des  Oberhofmarschalls  Graf  Benckendorff  die 
Mitteilung,  daß  Se.  Majestät  der  Kaiser  mich  am  fol- 
genden Tage,  vormittags  11  Uhr,  in  Zarskoje  Selo 
empfangen  wollten. 

Ich  fuhr  mit  dem  um  10  Uhr  von  Petersburg  ab- 
gehenden sogenannten  Hofzug  am  3.  Oktober  nach 
Zarskoje  Selo,  wo  ein  Wagen  für  mich  bereitstand. 
Wieder  —  wie  bei  meiner  ersten  Audienz  —  wurde 
ich,  im  Alexander-Palais  angelangt,  durch  den  Gra- 
fen Benckendorff  in  das  Vorzimmer  Sr.  Majestät  ge- 
führt und  sofort  bei  Allerhöchstdemselben  angemel- 
det. In  dem  Vorzimmer  fand  ich  den  Minister  des 
Innern  und  einige  Generale,  die  zum  Vortrag  befoh- 
len waren,  und  denen  ich  durch  Graf  Benckendorff 
vorgestellt  wurde.  —  Nach  wenigen  Minuten  wurde 
ich  zu  Sr.  Majestät  hereinbefohlen. 

Der  Kaiser  kam  mir  in  liebenswürdigster  Weise 
entgegen,  reichte  mir  die  Hand  und  fragte  mich,  wie 
mir  Petersburg  gefallen  habe.  Sodann  fragte  der  Kai- 
ser nach  Ew.  Majestät  und  ließen  Sich  von  Aller- 
höchstdero  Aufenthalt  in  Rominten  erzählen.  Nach- 
dem das  Gespräch  sich  eine  Weile  um  Jagd  gedreht, 
fand  ich  Gelegenheit,  Sr.  Majestät  zu  melden,  daß  ich 
am  gestrigen  Tage  in  der  Peter-Pauls-Kathedrale  ge- 
wesen und  dort  einen  Kranz  im  Auftrage  Ew.  Maje- 
stät auf  dem  Grabstein  des  hochseligen  Kaisers  Alex- 
ander III.  niedergelegt  habe,  was  Se.  Majestät  augen- 
scheinlich angenehm  berührte. 

Dann  sagte  der  Kaiser,  Sich  der  französischen 
Sprache  bedienend,  während  Er  bis  dahin  deutsch  ge- 

198 


sprochen  hatte:  »Maintenant  j'ai  encore  quelques 
mots  ä  vous  dire,  mais  il  me  faut  parier  francais, 
parce  que  en  allemand  je  ne  peux  pas  exprimer  ce  que 
j'ai  ä  vous  dire.«  Se.  Majestät  setzten  Sich  sodann  an 
den  Schreibtisch  Seines  Arbeitszimmers  und  forder- 
ten mich  auf,  neben  Ihm  auf  einem  Stuhle  Platz  zu 
nehmen. 

Der  Kaiser  sagte  sodann  etwa  folgendes,  das  ich 
mir  nach  beendeter  Audienz  sofort  notiert  habe:  »Se. 
Majestät  beunruhigen  sich  wegen  der  Anwesenheit 
meines  Ministers  Lobanoff  in  Frankreich.  Derselbe 
hatte  von  mir  Urlaub  ins  Bad  erbeten,  und  telegra- 
phierte mir  von  dort,  ob  ich  gestatte,  daß  er  der  Revue 
beiwohne,  die  ihn  sehr  interessiere.  Ich  antwortete, 
daß  ich  nichts  dagegen  einzuwenden  habe.  Ich  hatte 
ihm  bei  seiner  Abreise  den  Auftrag  gegeben,  in  be- 
ruhigendem Sinne  auf  die  Franzosen  zu  wirken. 
Nachdem  ich  nun  gesehen  und  auch  durch  den  Brief 
Sr.  Majestät  aufs  neue  darauf  hingewiesen  worden 
bin,  daß  im  Gegenteil  der  französische  Chauvinis- 
mus lebhaft  erregt  worden  ist,  habe  ich  Lobanoff 
aufs  neue  telegraphisch  befohlen  (und  bei  dem  letz- 
ten Wort  stießen  Se.  Majestät  energisch  mit  dem 
Zeigefinger  auf  die  Tischplatte),  sich  nicht  nur  jeden 
demonstrativen  Auftretens  zu  enthalten,  sondern  auch 
den  französischen  Chauvinismus  abzukühlen,  wo  er 
ihm  entgegentritt.  Ich  habe  ihm  ferner  befohlen,  auf 
seiner  Rückreise  eine  Audienz  bei  Sr.  Majestät  dem 
Kaiser  nachzusuchen,  und  stelle  es  Allerhöchstdem- 
selben  anheim,  ob  er  ihn  empfangen  will.  Wenn  er 
ihn  empfängt,  wird  er  aus  seinem  Munde  dasselbe 
hören,  was  ich  Ihnen  jetzt  sage.  Es  war  mir  bisher 
nicht  genügend  bekannt,  wie  leicht  die  Franzosen 
Feuer  fangen.  Hätte  ich  dies  gewußt  und  vorher- 
sehen können,  so  hätte  ich  weder  Lobanoff  noch 

199 


Dragomirow  die  Erlaubnis  erteilt,  nach  Frankreich 
zu  gehen,  und  ich  werde  in  Zukunft  vorsichtiger  mit 
meinen  Herren  sein.« 

Se.  Majestät  kamen  sodann  auf  die  französische 
Presse  zu  sprechen,  äußerten  Sich  darüber,  wieviel 
Unheil  die  Presse  schon  in  der  Welt  angerichtet,  und 
fuhren  dann  etwa  fort:  »Ich  vermute,  daß  Se.  Majestät 
in  der  Stille  seines  Jagdaufenthalts,  wo  keiner  seiner 
Minister  bei  ihm  war,  erregt  worden  ist,  durch  die 
Lektüre  der  Zeitungsausschnitte,  und  ich  kann  dies 
vollkommen  begreifen.  Wenn  man  nur  in  dieser  Form 
die  Nachrichten  aus  Frankreich  liest,  so  kann  ich  mir 
denken,  daß  die  Nachrichten  von  dort  alarmierend 
wirken  müssen.  Ich  selber  habe  mir  die  Zeitungs- 
ausschnitte verbeten,  die  man  mir  zuerst  auch  vor- 
legen wollte.  Ich  fürchte  durch  sie  nur  Kenntnis  zu 
erhalten  von  einer  bestimmten  Richtung,  die  zu  be- 
stimmen in  der  Hand  desjenigen  liegt,  der  Ausschnitte 
auswählt  und  anfertigt.  Ich  lese  statt  dessen  eine 
deutsche  (ich  glaube,  es  ist  die  Kölnische,  die  ich 
wenigstens  im  Zimmer  Sr.  Majestät  liegen  sah),  eine 
französische  —  den  Temps  — ,  eine  englische  und 
eine  russische  Zeitung,  —  letztere  nicht  gern,  denn 
sie  taugen  alle  nichts,  und  indem  ich  so  die  verschie- 
denen Stimmen  höre,  suche  ich  mir  mein  Urteil  sel- 
ber zu  bilden.  Ich  lege  aber  nicht  zu  viel  Wert  auf 
die  Zeitungen,  denn  ich  weiß,  wie  sie  gemacht  wer- 
den. Da  sitzt  irgendein  Jude,  der  sein  Geschäft  dabei 
macht,  wenn  er  die  Leidenschaften  der  Völker  ge- 
geneinander aufhetzt,  und  das  Volk,  meist  ohne  eige- 
nes politisches  Urteil,  hält  sich  an  die  Phrase.  Des- 
wegen werde  ich  auch  die  russische  Presse  nie  frei- 
geben, solange  ich  lebe.  Die  russische  Presse  soll 
nur  schreiben,  was  ich  will  (und  dabei  stießen  Se. 
Majestät  wieder  mit  dem  Zeigefinger  auf  den  Tisch), 

200 


und  im  ganzen  Lande  darf  nur  mein  Wille  herr- 
schen.« 

Se.  Majestät  führten  sodann  aus,  wie  der  Russisch- 
türkische  Krieg  nur  den  Hetzereien  der  Presse  zu 
verdanken  sei,  und  wie  diese  auch  jetzt  die  Bezie- 
hungen zwischen  Deutschland  und  Rußland  sowie 
Frankreich  verderbe  und  die  Empfindungen  verbit- 
tere, und  sagten  dann:  »Zwischen  Deutschland  und 
Rußland  ist  seit  hundertfünfzig  Jahren  kein  Krieg  ge- 
wesen. Deutschland  hat  sich  mit  ungefähr  allen  sei- 
nen Nachbarn  geschlagen,  nur  mit  uns  nicht,  und  es 
ist  auch  ein  Unding,  an  einen  Krieg  zwischen  Deutsch- 
land und  Rußland  zu  denken,  da  diese  beiden  Län- 
der gar  keine  miteinander  kollidierenden  Interessen 
haben.« 

Sodann  erzählte  Se.  Majestät,  daß  Ihm  aus  den 
deutsch-russischen  Grenzdistrikten  laufend  Berichte 
zugingen,  aus  denen  Er  zu  Seiner  Freude  ersehe,  wie 
das  Verhältnis  zwischen  den  beiderseits  an  der  Grenze 
stehenden  Truppen  ein  ausgezeichnet  gutes  sei.  Die 
Offiziere  machten  sich  gegenseitig  Besuche,  lüden 
sich  ein  und  hielten  gute  Kameradschaft.  Alles  Nach- 
richten, worüber  Er  Sich  aufrichtig  freue.  Hier  we- 
nigstens sei  nichts  von  der  Animosität  zu  bemerken, 
die  sich  in  der  Presse  breit  mache. 

Ich  bemerkte  nun:  »Wollen  Ew.  Majestät  mir  al- 
lergnädigst  erlauben,  noch  einmal  darauf  zurückzu- 
kommen, daß  wir  nach  den  Gesinnungen,  die  Ew. 
Majestät  äußern,  gewiß  keinen  Grund  haben,  Be- 
sorgnisse von  sehen  Rußlands  zu  hegen.  Das  was 
wir  aber  befürchten  müssen,  ist  das  leicht  erregbare 
Temperament  der  französischen  Nation,  das  natür- 
lich durch  die  Anwesenheit  der  russischen  Generale 
und  Staatsmänner  noch  mehr  erhitzt  wird.«  Der  Kai- 
ser erwiderte:  »Ich  weiß  es,  aber  sagen  Sie  dem  Kai- 

201 


ser,  daß  ich  die  Ruhe  aufrecht  erhalten  werde!  Vor- 
läufig haben  die  Franzosen  Madagaskar  auf  dem 
Buckel.  Sie  können  nicht  anders,  als  um  der  Ehre 
willen  diese  Sache  durchführen.  Sie  müssen  neue 
Kredite  fordern  und  neue  Truppen  hinschicken.  Das 
wird  sie  gewiß  noch  ein  Jahr  beschäftigen,  so  lange 
können  sie  an  nichts  anderes  denken.  Und  wenn  das 
Jahr  vorbei  ist,  so  garantiere  ich  Sr.  Majestät,  daß  sie 
dann  auch  ruhig  sein  werden  und  sich  ferner  ruhig 
verhalten  werden.  Es  liegt  mir  außerordentlich  viel 
daran,  daß  wir  (Deutschland  und  Rußland)  die  guten 
Beziehungen  zueinander  aufrecht  halten.  Wir  sind 
gegen  Sie  noch  weit  zurück,  haben  unendlich  viel  zu 
tun  im  Inneren.  Wir  produzieren  hauptsächlich  Ge- 
treide, Sie  industrielle  Waren,  die  wir  austauschen 
müssen.  Ein  Krieg  zwischen  uns  würde  beiden  Völ- 
kern unendliches  Elend  bringen.« 

Ich  sagte:  »Ew.  Majestät  kennen  meinen  allergnä- 
digsten  Herrn  selber  gut  genug,  um  zu  wissen,  daß 
Er  in  nichts  anderem  Seine  Lebensaufgabe  sieht,  als 
darin,  Seinem  Volk  eine  friedliche  Entwicklung  zu 
ermöglichen.«  Der  Kaiser  erwiderte:  »Das  weiß  ich, 
und  ich  kann  Sie  versichern,  auch  ich  will  nichts  von 
Krieg  wissen,  und  werde  streben,  den  Frieden  zu  er- 
halten, bis  an  das  Ende  meines  Lebens.  Ich  will  fort- 
fahren in  der  friedlichen  Politik  meines  verstorbenen 
Vaters.«  —  Auf  den  Brief  Ew.  Majestät  zurückkom- 
mend, sagte  der  Kaiser  dann  noch:  »Se.  Majestät  mei- 
nen, daß  ich  infolge  des  Trauerjahres  keine  Gele- 
genheit hätte,  mich  genügend  zu  orientieren.  Ganz 
das  Gegenteil  ist  der  Fall.  Gerade  weil  ich  so  still 
leben  kann,  habe  ich  mich  eingehend  mit  allen  Ver- 
hältnissen meines  Reiches  und  der  Politik  beschäf- 
tigen können,  und  ich  glaube  mir  das  Zeugnis  aus- 
stellen zu  können,  daß  ich  fleißig  gearbeitet  und  vor 

202 


allem  gestrebt  habe,  mir  ein  eigenes,  unbefangenes 
Urteil  zu  bilden.  Ich  weiß,  was  uns  noch  alles  fehlt, 
und  ich  will  friedliche  Arbeit  im  Lande,  ich  will  kei- 
nen Krieg  und  werde  ihn  nie  zugeben.  Das  alles  habe 
ich  Sr.  Majestät  auch  in  meinem  Briefe  auseinander- 
gesetzt, aber  mir  liegt  daran,  daß  Sie  es  ihm  auch 
mündlich  wiederholen.« 

Ich  erwiderte,  daß  ich  nach  allem,  was  Se.  Majestät 
die  Gnade  gehabt  hätten  mir  zu  sagen,  mich  sehr 
glücklich  schätze,  die  kundgegebene  Gesinnung  Sr. 
Majestät,  meinem  Herrn  und  Kaiser  übermitteln  zu 
dürfen. 

Se.  Majestät  erhoben  sich  sodann  und  trugen  mir, 
wieder  zur  deutschen  Sprache  zurückkehrend,  die 
herzlichsten  Grüße  an  Ew.  Majestät  sowie  auch  die- 
jenigen der  Kaiserin  an  beide  Majestäten  auf.  Hierauf 
verabschiedeten  Se.  Majestät  mich  mit  einem  kräfti- 
gen Händedruck. 

Die  Audienz  hatte  etwas  über  eine  halbe  Stunde 
gedauert. 

In  tiefster  Ehrfurcht  verharre  ich  als 

Ew.  Majestät 

alleruntertänigster 

v.  Moltke, 

Oberst  und  Flügeladjutant. 

Besuch  S.  M.  des  Kaisers  beim  Fürsten  Bismarck  in 
Friedrichsruh  am  16.  Dezember  1895. 

Am  16.  Dezember  1895  war  Se.  Majestät  der  Kaiser 
morgens  von  Kiel  nach  Altona  gefahren,  wo  die 
Werft  von  Blohm  &  Voß  besichtigt  wurde,  und  hatte 
dann  das  Frühstück  bei  dem  Kommandierenden  Ge- 
neral des  IX.  Armeekorps,  Grafen  Waldersee,  einge- 
nommen. Um  4  Uhr  nachmittags  fuhren  Se.  Majestät 

203 


wieder  von  Altona  ab,  und  um  5  Uhr  hielt  der  kaiser- 
liche Sonderzug  in  Friedrichsruh.  Der  Fürst  Bis- 
marck  erwartete  die  Ankunft  Sr.  Majestät.  Im  Über- 
rock und  Helm,  ohne  Paletot,  stand  die  reckenhafte 
Gestalt  des  Altreichskanzlers  auf  dem  Perron.  Der 
Kaiser  stieg  rasch  aus  und  begrüßte  den  Fürsten  mit 
herzlichem  Händedruck,  er  nötigte  ihn,  den  Mantel 
umzunehmen,  und  nach  kurzer  Begrüßung  des  Ge- 
folges und  der  mit  dem  Fürsten  erschienenen  Her- 
ren, Grafen  Rantzau  und  Professor  Schwenninger, 
schritten  wir  alle  dem  Hause  zu.  In  der  Tür  desselben 
stand  die  Gräfin  Rantzau  und  im  Vorzimmer  ihre  bei- 
den jüngsten  Söhne. 

Der  Kaiser  hatte  für  den  Fürsten  das  illustrierte 
Werk  über  die  deutsche  Flotte  von  Wislicenus  mit- 
gebracht, und  während  er  dasselbe  aufschlug,  um 
dem  Fürsten  die  Zeichnungen  zu  erläutern,  zogen 
wir  uns  in  das  Nebenzimmer  zurück.  Der  Monarch 
und  der  Altreichskanzler  blieben  alleine.  Sie  saßen 
sich  gegenüber,  jeder  in  einem  großen  Fauteuil  an 
dem  runden  Tisch  des  kleinen  Salons,  die  große 
Mappe  mit  den  Zeichnungen  der  Schiffe  lag  zwi- 
schen ihnen.  Von  dem,  was  da  etwa  drei  Viertel- 
stunden lang  gesprochen  wurde,  hörten  wir  nichts, 
wir  kamen  bald  in  lebhafte  Unterhaltung  mit  der  Grä- 
fin Rantzau.  So  verging  die  Zeit  rasch,  bis  um  6  Uhr 
gemeldet  wurde,  daß  serviert  sei.  Der  Kaiser  gab  der 
Gräfin  Rantzau  den  Arm,  um  sie  in  das  anstoßende 
Speisezimmer  zu  führen,  wohin  wir  alle  folgten.  Wir 
waren  zwölf  Personen  an  der  Tafel.  An  ihrer  Spitze 
saß  der  Kaiser,  zu  seiner  Linken  der  Fürst,  zu  seiner 
Rechten  die  Gräfin  Rantzau.  Es  folgten  dann  auf  der 
Seite  des  Fürsten  General  von  Plessen,  Admiral 
von  Senden,  Kalckstein,  Schwenninger,  auf  der  Seite 
der  Gräfin  Exzellenz  von  Lucanus,  Lyncker,  Dr.  Leut- 

204 


hold,  ich.  Am  unteren  Ende  des  Tisches  saß  Graf 
Rantzau.  Das  Diner  war  gut,  die  Weine  ausgezeich- 
net. Das  Gespräch  drehte  sich  um  die  alltäglichen 
Themata.  Ab  und  zu  redete  der  Kaiser  einen  der  un- 
ten sitzenden  Herren  an  oder  trank  einem  derselben 
zu.  Wie  der  Sekt  eingeschenkt  wurde,  erzählte  der 
Fürst,  daß  er  einmal  mit  Friedrich  Wilhelm  IV.  über 
dessen  damalige  Minister  gesprochen  habe  und  dem 
König  gegenüber  geäußert  hätte,  die  Minister  tränken 
zu  wenig  Sekt,  sie  hätten  zu  wenig  Raketensatz  in 
sich.  Zum  Nachtisch  wurde  ein  weißer  italienischer 
Wein  geschenkt,  der  im  Geschmack  etwas  an  Chä- 
teau  d'Yquem  erinnerte  und  von  dem  der  Fürst  sagte, 
daß  er  ihn  jedes  Jahr  von  Crispi  geschenkt  erhielte. 
Er  fügte  dann  hinzu :  »Er  vergißt  mich  kein  Jahr,  wir 
sind  ja  beide  so  ein  paar  alte  Seeräuber.« 

Nachdem  die  Tafel  aufgehoben  war,  versammelten 
wir  uns  wieder  in  dem  kleinen  Salon,  es  wurden  Zi- 
garren gereicht,  und  der  Fürst  sprach  mit  verschiede- 
nen Herren  des  Gefolges.  Der  Kaiser  hatte  ihm  bei 
seiner  Ankunft  einen  Strauß  von  Flieder  und  Mai- 
glöckchen überreicht,  den  der  Fürst  jetzt  wieder  in 
die  Hand  nahm,  daran  roch  und  seine  Freude  über 
die  frischen  Blumen  äußerte.  Er  sprach  dann  über 
das  Aussehen  des  Kaisers,  meinte,  er  sähe  etwas  an- 
gegriffen aus,  und  sagte  dann:  »Se.  Majestät  wird  sich 
wohl  über  seine  Minister  geärgert  haben.  Ein  König 
könnte  ja  sehr  viel  ruhiger  leben,  wenn  er  keine  Mi- 
nister hätte,  aber  bisweilen  ist  es  doch  ganz  gut,  wenn 
die  Flut  kommt  und  wenn  dann  so  ein  Deich  da  ist.« 
Er  wendete  sich  dann  an  Oberst  von  Kalckstein  und 
fragte  ihn,  wo  er  während  des  Feldzuges  gestan- 
den hätte,  und  als  er  erfahren,  daß  Kalckstein  beim 
i .  Garde-Landwehr-Regiment  gestanden,  fragte  er,  wie 
die  Leute  gewesen  wären,  ob  sie  willig  gegangen  wä- 

205 


ren  und  wie  sie  sich  im  Gefecht  gemacht  hätten.  Er 
erinnerte  sich  mit  Vergnügen  der  prächtigen  Erschei- 
nungen der  Garde-Landwehr,  die  an  der  Seinebrücke 
Posten  gestanden  hätten  und  zu  denen  die  kleinen 
Franzosen  mit  scheuer  Verwunderung  aufgeblickt 
hätten.  —  Inzwischen  war  die  lange  Meerschaum- 
pfeife des  Fürsten  gebracht  worden,  er  setzte  sich  in 
einen  Lehnstuhl  an  den  Tisch,  nahm  das  große  Bern- 
steinmundstück zwischen  die  Lippen  und  zündete  sie 
an  dem  Streichholz  an,  das  Professor  Schwenninger 
bereithielt.  Der  Kaiser,  welcher  jenseits  des  Tisches 
im  Sofa  saß,  sagte  zu  mir,  ich  möchte  mich  neben 
den  Fürsten  setzen  und  ihm  etwas  vom  Zaren  er- 
zählen. Ich  setzte  mich  nun  auf  einen  Stuhl  dem  Für- 
sten gegenüber  und  erzählte  ihm,  daß  Se.  Majestät 
mich  vor  einiger  Zeit  nach  Petersburg  geschickt  hät- 
ten, um  dem  Zaren  das  Bild  des  Professors  Knack- 
fuß zu  überreichen,  und  daß  ich  gefunden  hätte,  daß 
der  Kaiser  sich  sehr  zu  seinem  Vorteil  entwickelt 
hätte.  Der  Fürst  unterbrach  mich  sehr  bald  mit  der 
Frage:  »Was  ist  denn  der  Zar  für  ein  Mann?  Ich 
meine,  würde  er  sich  entschließen  können,  vom  Le- 
der zu  ziehen?«  Dabei  machte  er  eine  Handbewegung, 
als  ob  er  das  Schwert  ziehen  wollte.  Ich  erwiderte, 
daß  nach  meiner  Ansicht  der  Zar  hauptsächlich  ein 
Gemütsmensch  sei,  worauf  der  Fürst  sagte:  »Damit 
wird  er  seine  Gesellschaft  nicht  in  Ordnung  halten. 
Hat  er  denn  wenigstens  den  Willen,  Herrscher  zu 
sein?«  Ich  erzählte  nun,  wie  gelegentlich  der  Unter- 
redung, die  der  Zar  mir  gewährt,  das  Gespräch  auf 
die  Presse  gekommen  sei,  und  wie  der  Kaiser  dabei 
geäußert  habe:  »Ich  werde  die  russische  Presse  nicht 
freigeben,  solange  ich  lebe.  Eine  freie  Presse  richtet 
das  größte  Unheil  an.  Die  russische  Presse  soll  nur 
schreiben,  was  ich  will,  und  im  ganzen  Lande  soll 

206 


nur  ein  Wille  herrschen,  und  das  ist  der  meinige.« 
Der  Fürst  sagte  darauf:  »Das  gefällt  mir,  und  er  tut 
sehr  wohl  daran,  denn  wenn  er  erst  die  öffentliche 
Diskussion  gestattet,  dann  wird  er  bald  einem  ufer- 
losen Meer  gegenüberstehen.  Für  den  russischen 
Bauer  muß  der  Zar,  das  Väterchen,  ein  Halbgott  blei- 
ben, ja  beinahe  ein  Gott.  Ich  kenne  Rußland  und 
seine  Leute,  ich  bin  volle  drei  Jahre  dort  gewesen 
und  habe  mich  umgesehen.  Wenn  man  die  sechzig 
Millionen  Russen  ihrem  Zaren  entfremden  wollte, 
würden  sie  bald  lauter  Verrücktheiten  machen.«  — 
Nachdem  ich  gesagt,  daß  ich  fürchte,  der  Zar  werde 
nicht  der  Mann  dazu  sein,  seinen  Willen  rücksichts- 
los durchzusetzen,  fragte  der  Fürst  nach  der  Zarin, 
ob  sie  Einfluß  auf  ihn  habe.  Ich  sagte,  daß  die  Zarin 
den  allerbesten  Eindruck  auf  mich  gemacht  hätte, 
daß  sie  entschieden  Einfluß  auf  ihren  Gemahl  habe 
und  daß  zu  hoffen  sei,  dieser  werde  an  ihr  eine  feste 
Stütze  haben.  Der  Fürst  sagte  darauf:  Ich  habe  auch 
nur  Gutes  von  ihr  gehört.«  —  Hierauf  kam  der  Fürst 
ohne  Übergang  auf  den  Kaiser  Napoleon  III.  Wäh- 
rend die  Sätze  ruckweise,  in  der  Art  wie  eine  Ma- 
schine den  Dampf  abstößt,  aus  seinem  Munde  ka- 
men, sog  er  in  den  Zwischenpausen  heftig  an  der 
immer  wieder  ausgehenden  Pfeife.  Der  mächtige 
Kopf  war  scharf  von  der  Lampe  beleuchtet,  und 
die  gewaltigen  Augen  blickten  starr  vor  sich  hin.  Er 
wendete  sich  an  keinen  einzelnen,  sondern  sprach 
gerade  hinaus.  Die  ganze  Gesellschaft  stand  dicht 
zusammengedrängt,  aller  Augen  hingen  an  seinem 
Munde,  aller  Sinne  standen  unter  dem  Bann  seiner 
Persönlichkeit. 

»Ich  erinnere  mich,  daß,  wie  ich  im  Jahr  1856  in 
Paris  war,  —  da  ließ  mich  der  Kaiser  Napoleon  ein- 
mal rufen         and  legte  mir  die  Frage  vor,  —  ob  er 

207 


absolut  oder  konstitutionell  regieren  solle.  —  Ich 
sagte  ihm:  —  ,Solange  Ew.  Majestät  die  Garde  haben, 
können  Sie  sich  den  Luxus  dieses  Experiments  ja 
erlauben,  —  aber  wenn  einmal  die  Flut  kommt,  — 
dann  ist  es  doch  ganz  gut,  wenn  ein  Damm  da  ist, 
der  zwischen  Ihnen  und  dem  Volk  steht.  Aber  so- 
lange die  Garde  da  ist,  können  Sie  ja  das  Experiment 
machen.'  —  Mit  den  fünfzigtausend  Mann  Garde 
konnte  Paris  beherrscht  werden  und  damit  Frank- 
reich. Das  waren  lauter  ausgesuchte  Truppen,  große, 
schöne  Leute,  die  den  Hut  fürquer  aufgesetzt  hat- 
ten und  die  wußten,  daß  sie  Paris  beherrschten.  Die 
Leute  waren  gut  gestellt,  —  sie  konnten  bei  einer 
Veränderung  nur  verlieren,  —  es  konnte  ihnen  gar 
nicht  besser  gehen.  —  Wenn  sie  auf  der  Straße  gin- 
gen, wichen  sie  keinem  Menschen  aus,  sie  gingen 
immer  zu  zweien  —  und  wichen  keinem  beladenen 
Wagen  aus.« Der  Kaiser  fragte:  »Wer  komman- 
dierte doch  das  Gardekorps  damals?«  Der  Fürst  er- 
widerte: »Darauf  kommt  es  gar  nicht  an.  Der  Kaiser 
konnte  sich  unter  allen  Umständen  auf  sie  verlassen. 
Wer  sie  kommandierte,  —  darauf  kommt  es  gar  nicht 
an.  Ich  erinnere  mich,  daß  wenn  ich  damals  zum 
Vortrag  ging,  ich  bisweilen  einen  verbotenen  Weg 
benutzte.  Wenn  da  einer  von  den  kleinen  Südfran- 
zosen auf  Posten  stand,  so  sagte  ich  bloß:  ,Le  mi- 
nistre  de  Prusse',  —  wenn  aber  einer  von  den  Gar- 
disten dastand,  so  sagte  der  mir:  ,Cela  m'est  tout  ä 
f ait  6gal'.«  —  Alles  lachte,  und  der  Fürst  lachte  selber 
herzlich  mit,  mit  großen,  offenen  Augen,  und  nur 
den  Mund  ein  wenig  verziehend,  gleichsam  wie  er- 
staunt darüber,  daß  er  einen  Witz  gemacht  habe. 

Der  Fürst  fuhr  dann  fort:  »Ja,  —  also,  —  solange  er 
diese  fünfzigtausend  Mann  Garde  hatte,  da  sagte 
ich  Napoleon,  könnte   er  das  Experiment  machen. 

208 


Aber  es  wäre  doch  gut,  wenn  er  einen  Wall  von  Mi- 
nistern um  sich  hätte,  um  den  ersten  Stoß  aufzufan- 
gen. Sonst  würde  das  Volk  ihn  für  jedes  schlechte 
Wetter  verantwortlich  machen,  c'est  l'art  de  regner! 
Der  Kaiser  war  damals  schon  kränklich,  —  er  hatte 
keine  rechte  Energie  mehr,  —  und  dann  fühlte  er 
sich  auch  gedrückt  durch  die  überwiegende  Intelli- 
genz der  Kaiserin.  Sie  war  die  schönste  Frau,  die  ich 
gesehen  habe.«  — 

Der  Kaiser  sagte,  sie  sei  noch  immer  eine  schöne 
Frau,  mit  ganz  weißen  Haaren  und  trotz  ihres  Alters 
von  tadelloser,  schlanker  Figur.  Bismarck  erwiderte: 
»Ja,  sie  war  eine  energische  Frau,  —  viel  energischer 
wie  der  Kaiser  —  ich  sprach  zu  ihm,  wie  man  zu  ei- 
nem gesunden,  energischen  Menschen  redet,  —  aber 
er  mag  mir  wohl  nicht  recht  geglaubt  haben,  —  er 
war  kränklich  und  fühlte  sich  seiner  Frau  gegenüber 
inferior.«  —  Ich  warf  ein,  daß  er  dies  doch  wohl  mit 
Unrecht  getan  habe,  worauf  der  Fürst  erwiderte: 
»Wenn  er  unverheiratet  gewesen  wäre,  würde  er  nie 
den  Krieg  gegen  uns  angefangen  haben.« 

Irgend  jemand  fragte,  ob  der  Kaiser  deutsch  ge- 
sprochen habe,  worauf  der  Fürst  erwiderte:  »Er  soll 
es  sehr  gut  gesprochen  haben,  mit  mir  hat  er  aber 
nie  ein  Wort  anders  als  französisch  gesprochen,  und 
selbst  wenn  er  einmal  ein  deutsches  Wort  inter- 
kalieren  mußte,  so  sprach  er  es  affektiert  französisch 
aus,  so  zum  Beispiel  das  Wort  Kreuzzeitung.«  — 

Inzwischen  war  es  1/2S  Uhr  geworden,  die  Abfahrt 
war  auf  7  Uhr  festgesetzt  gewesen,  und  der  Graf 
Rantzau  meldete  dem  Kaiser,  daß  die  Zeit  bereits 
verstrichen  sei. 

Se.  Majestät  standen  auf.  Die  Säbel  wurden  umge- 
schnallt und  es  wurde  Abschied  genommen.  Irgend 
jemand  fragte  den  Fürsten  nach  einem  in  Gips  aus- 

Moltke.  14.  209 


geführten  reizenden  Entwurf  zu  einem  Bismarck- 
denkmal  für  Rudolstadt,  der  im  Nebenzimmer  auf 
dem  Tisch  stand.  Auf  einem  Sockel  ist  der  Fürst  als 
Student  sitzend  dargestellt.  Die  geschmeidige  Figur 
lehnt  lässig  in  einem  Sessel,  ein  Knie  über  das  an- 
dere geschlagen;  die  herabgesunkene  rechte  Faust 
hält  den  Schläger.  Jugendliche  Kühnheit,  gepaart  mit 
sicherer  Energie  sprechen  aus  der  Figur.  Ein  großer 
Hund  strebt  von  unten  an  dem  Sockel  zu  seinem 
Herrn  empor.  —  Der  Fürst  nannte  den  Namen  des 
Künstlers  und  erzählte,  wie  er  sich  dadurch  haupt- 
sächlich zur  Annahme  habe  bewegen  lassen,  daß  der 
Hund  auf  dem  Halsband  den  Namen  Ariel  trage,  — 
»und«  —  fügte  er  hinzu  —  »so  hieß  mein  Hund  damals. 
In  meinem  Alter«,  —  fuhr  er  dann  fort,  »muß  man  die 
Fluten  im  guten  wie  im  schlimmen  über  sich  ergehen 
lassen.« 

Als  ihm  jemand  sagte,  die  im  guten  könne  er 
sich  schon  gefallen  lassen,  —  sagte  er:  »Nein,  gegen 
die  schlimmen  kann  man  sich  wehren,  aber  gegen 
die  guten  ist  man  machtlos.« 

Der  Kaiser  verabschiedete  sich  nun  von  der  Grä- 
fin Rantzau  und  ging,  von  dem  Fürsten  geleitet,  zum 
Zuge.  Nachdem  er  dem  Alten  wiederholt  die  Hand 
gedrückt,  bestieg  er  den  Zug,  der  sich  alsbald  in  Be- 
wegung setzte. 

Der  Fürst  stand  hochaufgerichtet  da,  die  Hand  zum 
militärischen  Gruß  an  den  Helm  gelegt. 

Palermo,  2.  April  1896. 

Der  alte  Graf  Roger  von  der  Normandie,  der  sein 
nordisches  Schwert  in  diesen  Boden  stieß  und  ihm 
alle  Wunder  der  edelsten  Kunst  entsprossen  ließ,  ist 
mir  jetzt  so  vertraut,  als  hätte  ich  mit  ihm  zusammen- 
gelebt, und  vor  wenig  Tagen  noch  ahnte  ich  nichts 

210 


davon,  daß  er  existiert  habe.  Welch  entsetzliches 
Stückwerk  ist  doch  unser  Wissen  und  wie  viel  kost- 
bare Zeit  verschwendet  man,  die  man  besser  verwen- 
dete, um  sich  in  etwas  zu  orientieren  über  die  Zeiten, 
die  Großes  geschaffen,  und  die  Männer,  die  Großes 
vollbracht  haben.  Erst  dann  erwacht  das  wahre  In- 
teresse an  einem  Land,  an  einer  örtlichkeit,  wenn 
man  sie  sich  als  Schauplatz  der  Begebenheiten  den- 
ken kann,  sie  sich  vorstellen  kann  als  das  große  The- 
ater, auf  dem  sich  das  große  Drama  des  Lebens  ab- 
gespielt hat.  Dann  fangen  die  alten  Steine  an  zu  re- 
den, aus  zerfallenem  Gemäuer  bauen  sich  Paläste  und 
Kirchen  neu  auf  in  ihrer  längst  versunkenen  Herr- 
lichkeit, der  Blick,  der  Anfang  und  Ausgang  einer 
Epoche  umfaßt,  schärft  sich  für  die  Spuren,  die  der 
Gang  gewaltiger  Ereignisse  hinterlassen  hat  und  die 
alten  Fürsten,  ihre  Trabanten,  ihre  Künstler  und  Ge- 
lehrten treten  greifbar  deutlich  aus  dem  Dunkel  der 
Vergangenheit  hervor. 

Syrakus,  7.  April  1896. 

Es  ist  ein  entsetzlich  heruntergekommenes  Ge- 
schlecht, das  auf  den  Stätten  alten  Glanzes  wohnt. 
Damals  muß  es  ein  anderes  gewesen  sein,  denn  nur 
kraftvolle  Menschen  können  imstande  gewesen  sein, 
so  Großes  zu  schaffen. 

Wenn  Jehova  einst  zu  Moses  sprach:  Zieh  deine 
Schuhe  aus,  denn  der  Boden,  auf  den  du  trittst,  ist 
heiliges  Land,  was  soll  man  da  von  diesem  Hafen 
sagen,  von  diesen  Felshöhen,  in  die  die  Weltge- 
schichte ihre  unvergänglichen  Spuren  eingegraben 
hat! 

Moskau,  18.  Mai  i8g6. 

Nun  sind  wir  glücklich  hier  bei  strömendem  Re- 
gen angekommen.  —  Die  Reise  war  sehr  nett.  Im 

211 


übrigen  ist  die  Tour  selbst  unglaublich  öde,  man 
fährt  sechsunddreißig  Stunden  lang  durch  Sumpf 
und  verkümmertes  Holz,  sieht  elende  Hütten  auf  fla- 
cher Gegend  und  könnte  meinen,  immer  am  selben 
Ort  zu  sein,  so  sehr  gleicht  ein  Teil  der  weiten  Land- 
schaft dem  andern.  Seit  heute  morgen,  wo  wir  Smo- 
lensk  um  5  Uhr  passierten,  hat  es  geregnet,  stellen- 
weise etwas  geschneit. 

In  Warschau  —  gestern  morgen  —  meldete  sich 
der  Ehrendienst,  ein  General  Graf  Puschkin  und  ein 
Admiral  Fürst  Scharawskoy  beim  Prinzen  Heinrich. 
Wir  wechselten  hier  den  Zug,  da  wir  von  dort  ab  auf 
die  breitspurige  russische  Bahn  kamen.  Der  russische 
Sonderzug,  der  uns  von  dort  ab  gestellt  wurde,  war 
bequem  und  gut  eingerichtet,  hatte  aber  furchtbar 
schlechte  Achsen,  so  daß  wir  entsetzlich  gerüttelt 
worden  sind.  —  Nun  sind  wir  in  unserem  Quartier, 
einem  hübschen  Hause,  das  einem  reichen  Kaufmann 
gehört  und  von  ihm  gemietet  worden  ist.  Wir  woh- 
nen hier:  General  v.  Villaume,  General  v.  Bülow, 
Klinckowström  und  ich.  Von  den  Besitzern  ist  kein 
Mensch  da.  Der  Prinz  wohnt  uns  schräg  vis-a-vis.  — 
Außer  Wasser  und  Schmutz  habe  ich  bis  jetzt  von 
Moskau  nichts  gesehen. 

Moskau,  20.  Mai  1896. 

Wir  waren  gestern  nachmittag  im  Petrof  sky-Palais, 
um  uns  beim  Kaiser  zu  melden.  Man  fährt  fast  eine 
Stunde  bis  hinaus.  In  dem  Palais  wohnte  Kaiser  Na- 
poleon bei  seiner  Anwesenheit  in  Moskau.  —  Der  Kai- 
ser und  die  Kaiserin  empfingen  beide  unsere  gesamte 
Deputation.  Sie  ist  viel  stärker  geworden,  sie  sah  sehr 
schön  aus  in  einem  einfachen,  grauen  Kleid.  Der  Kai- 
ser sah  sehr  elend,  blaß  und  angegriffen  aus,  es  mag 
auch  eine  anstrengende  Zeit  für  ihn  sein.  Beide  Maje- 

212 


stäten  sprachen  mit  jedem  einzelnen  von  uns.  —  Ge- 
genüber dem  Palais  liegt  das  ungeheure  Übungsfeld 
der  Garnison,  auf  dem  zur  Zeit  das  Grenadier-  und 
ein  Teil  des  Gardekorps  im  Sommerlager  in  Baracken 
liegt.  Am  Abend  sollte  ein  Umritt  durch  das  Lager 
gemacht  werden,  an  dem  wir  uns  beteiligen  wollten, 
dann  sollte  ein  großer  Zapfenstreich  sich  anschlies- 
sen.  Wie  wir  aber  hinauskamen,  war  alles  wegen  des 
schlechten  Wetters  abgesagt,  so  daß  wir  unverrich- 
teter  Sache  wieder  zurückfuhren.  —  Klinckowström 
und  ich  benutzten  den  freien  Abend,  um  noch  rasch 
auf  den  Kreml  zu  fahren,  von  wo  man  einen  herr- 
lichen Blick  auf  die  vielgekrümmte  Moskwa  und  die 
Stadt  mit  ihren  hunderten  von  Kirchtürmen  hat.  Die- 
ser Blick  ist  überwältigend  schön,  groß  und  eigen- 
artig. —  Hier  erst  sieht  man,  was  Moskau  eigentlich 
ist.  —  Der  Kreml  selbst  ist  eine  Stadt  für  sich  mit 
Palästen  und  Kirchen,  riesenhaft  ins  Große  gehend, 
wie  es  eben  nur  in  einem  solchen  Riesenreich  wie 
Rußland  möglich  ist. 

Moskau,  22.  Mai  1896. 

Über  den  feierlichen  Einzug  der  Majestäten  vom 
Petrofsky-Palais  nach  dem  Kreml  wirst  Du  schon 
lange  in  der  Zeitung  gelesen  haben,  bevor  dieser 
Brief  in  Deine  Hände  kommt. 

Wir  hatten  glücklicherweise  herrliches  Wetter.  Es 
ist,  als  ob  der  Sommer  mit  einem  Schlage  hier  ein- 
gekehrt sei,  schöner  warmer  Sonnenschein  und  milde 
Luft.  Der  Glanz  des  Einzugs  war  großartig  und  im- 
posant. Wir  mußten  schon  morgens  V212  Uhr  nach 
Petrofsky  hinausfahren,  da  später  alle  Straßen  ab- 
gesperrt waren.  Das  Leben  in  der  Stadt  war  ein  un- 
geheures. Ganze  Menschenströme  fluteten  durch  die 
Straßen  und  stauten  sich  an  allen  Orten,  wo  der  Zug 

213 


vorüberkommen  sollte.  Die  Truppen,  zirka  fünfzig- 
tausend Mann,  bildeten  Spalier  auf  dem  ganzen  acht 
Kilometer  langen  Wege  bis  zum  Kreml.  Draußen  im 
Palais  versammelten  sich  alle  Suiten,  die  ein  Gefolge 
von  gegen  dreihundert  Reitern  bildeten.  Wir  mußten 
fast  drei  Stunden  warten,  bevor  der  Zug  sich  in  Be- 
wegung setzte.  Endlich  kamen  die  Pferde,  auf  die 
wir  gesetzt  werden  sollten.  —  Nun  fuhren  die  golde- 
nen, mit  edlen  Steinen  geschmückten  Kutschen  für 
die  Kaiserin  und  die  Kaiserin-Mutter  vor,  jede  mit 
acht  Schimmeln  bespannt,  dann  setzte  sich  der  Kai- 
ser zu  Pferde.  Er  ritt  ebenfalls  einen  Schimmel.  Da 
wir  uns  gleich  den  Fürstlichkeiten  anschließen  muß- 
ten, die  ihm  unmittelbar  folgten,  sahen  wir  von  dem 
Zuge  nur  einen  Teil,  um  so  interessanter  war  es,  die 
Truppen  und  das  Volk  im  Vorbeireiten  zu  sehen. 
Erstere  sahen  sehr  gut  aus.  Die  schönen  Uniformen 
der  Chevalier  garde,  der  Garde  ä  cheval,  der  Grena- 
diere zu  Pferde,  der  Gardekosaken,  die  lange  schar- 
lachrote Röcke  tragen,  der  Uralschen  Kosaken,  die 
himmelblau  angezogen  sind,  mit  blauen  Lanzen  und 
dito  Schabracken,  leuchteten  in  der  Sonne.  Dann  kam 
das  Paulowsksche  Grenadier-Regiment,  mit  Grena- 
diermützen, in  das  zur  Erinnerung  an  den  Kaiser  Paul 
nur  Leute  mit  Stumpf  nasen  eingestellt  werden,  schließ- 
lich das  Preobratschenske  Regiment,  das  unserem 
i.  Garde-Regiment  entspricht.  —  Die  ganze  lange 
Straße  war  dick  mit  Sand  bestreut,  zu  beiden  Seiten 
standen  die  Tausende,  die  herbeigeströmt  waren,  um 
zu  schauen.  Alle  Bäume  saßen  voll  Menschen,  es 
sah  aus,  als  ob  sie  mit  riesigen  Raupen  bedeckt  wä- 
ren. —  Alles  Volk  stand  entblößten  Hauptes  da  und 
rief  seinem  Väterchen  ein  rollendes  Hurra  zu.  Die 
Begeisterung  leuchtete  den  Leuten  aus  den  Augen. 
Wahrhaft  imposant  war  der  Blick  auf  die  Straße  der 

214 


Stadt,  nachdem  wir  die  Porta  triumphalis  passiert  hat- 
ten, wo  dem  Kaiser  Brot  und  Salz  gereicht  wurde.  — 

Alle  Fenster  voll  Menschen,  überall  große  Tribü- 
nen errichtet,  die  von  Damen  in  hellen  Toiletten  be- 
setzt waren,  wie  Riesentreibhäuser  von  weißen  Aza- 
leen. Alle  Häuser  in  reichem  Flaggenschmuck,  zwi- 
schen dem  der  glänzende  Zug  sich  langsam,  aber 
ohne  Stockung  fortbewegte.  Vierundzwanzig  goldene 
Kutschen,  mit  rotem  Samt  ausgeschlagen,  alle  mit 
Schimmeln  bespannt,  goldstrotzende  Uniformen,  eine 
märchenhafte  Pracht.  —  Vor  den  Kirchen  stand  die 
Geistlichkeit  in  überladener  Pracht,  weihrauchdamp- 
fend, in  der  Mitte  das  große,  goldene  Heiligenbild 
der  Kirche,  Fahnen  und  Goldmonstranzen  in  den 
Händen.  Es  ist  unmöglich,  den  ganzen  Pomp  dieses 
Einzugs  zu  schildern.  —  Vor  dem  Tore  des  Kremls 
erwartete  der  Metropolit,  umgeben  von  den  höchsten 
geistlichen  Würdenträgern,  die  Majestäten,  die  hier 
auf  purpurner  Estrade  den  Segen  empfingen. 

Wir  ritten  inzwischen  durch  das  Tor  auf  den  wei- 
ten Schloßhof,  wo  alle  Deputationen  aus  dem  weiten 
Reich  aufgestellt  waren.  —  Da  standen  Samojeden 
aus  den  eisigen  Gefilden  Finnlands,  Kirgisen  vom 
Ural,  Tataren  vom  Don,  vom  Asowschen  und  Kaspi- 
schen  Meer  hatten  die  Stämme  ihre  Abgesandten  ge- 
schickt, aus  den  Steppen  Sibiriens  waren  sie  gekom- 
men, das  ganze  ungeheure  Reich  war  hier  auf  engem 
Raum  vertreten.  Die  Gemeindevorsteher  aus  dem 
Inneren  standen  in  langen,  gescheitelten  Haaren, 
breite  Bauerngesichter  neben  den  braunen,  ver- 
schmitzten Kaufleuten  aus  Kasan,  es  war  eine  Aus- 
stellung der  verschiedensten  Menschenrassen,  wie  sie 
wohl  auf  der  Welt  nicht  wieder  zu  sehen  ist.  —  Der 
Kaiser  ritt  die  lange  Front  ab,  dann  ging  es  durch  das 
Heilige  Tor,  wo  alles  das  Haupt  entblößt,  in  das  In- 

215 


nere  des  Kremls.  —  Hier  wurde  vom  Pferde  gestie- 
gen, und  nun  betrat  das  Kaiserpaar  die  beiden  inneren 
Kirchen  nacheinander,  um  eine  kurze  Andacht  zu  ver- 
richten. Damit  war  die  Zeremonie  für  uns  beendet. 
Abends  waren  wir  in  der  Oper  und  machten  dann 
eine  Rundfahrt  durch  die  illuminierte  Stadt.  Was  illu- 
minieren heißt,  habe  ich  erst  hier  kennen  gelernt. 
Tausende  und  Abertausende  von  bunten  Glaslämp- 
chen  bedecken  die  Gebäude.  Ganze  Kirchen  ragen, 
aus  Licht  bis  zur  höchsten  Turmspitze  gebaut,  in  den 
dunklen  Nachthimmel,  ein  feenhafter  Anblick.  Mitten 
durch  die  dichtgedrängte  Menge  fuhren  wir.  Man 
hört  kein  lautes  Wort,  kein  Schreien,  kein  Schimp- 
fen. Alles  macht  dem  Hofwagen  als  selbstverständ- 
lich Platz,  viele  Leute  ziehen  den  Hut  und  machen 
tiefe  Verbeugungen,  während  unser  Wagen  sie  zur 
Seite  drängt! 

Moskau,  25. Mai  1896. 

Jetzt  haben  wir  angefangen,  uns  Kirchen,  Galerien 
und  andere  Sehenswürdigkeiten  anzusehen.  Ich  ver- 
suche meine  Eindrücke,  wenn  auch  nur  in  skizzen- 
hafter Form,  in  meinem  Tagebuch  festzuhalten,  aber 
sie  stürmen  so  massenhaft  auf  mich  ein,  daß  ich 
schwer  Ordnung  hineinbringe.  Wir  haben  das  Innere 
des  Kremls  wenigstens  zum  Teil  gesehen.  Der  Kreml 
ist  eine  Stadt  für  sich  mit  zwei  großen  Schlössern, 
Kaserne,  Arsenal,  fünf  bis  sechs  Kirchen,  drei  Klö- 
stern, Kavalierhäusern,  Stallungen  usw.  Das  Ganze 
umschlossen  von  hoher,  kremelierter  Mauer  mit  fünf 
Toren.  Hier  ist  das  Heilige  Tor,  das  Sspassky  Tor, 
durch  das  kein  Russe  bedeckten  Hauptes  gehen  darf. 
Vor  demselben  stets  eine  dichtgedrängte  Menge  Pil- 
ger, armes  Volk,  das  aus  dem  weiten  Zarenreich  zu- 
sammenströmt, um  im  heiligen  Moskau  seine  An- 

216 


dacht  zu  verrichten,  und  das  vor  allem,  sogar  vor  der 
Viktoria  auf  dem  Tor  sich  andächtig  bekreuzt.  Die 
Männer  in  groben  Kitteln,  die  Weiber  mit  filzum- 
wundenen Beinen,  den  Pilgerstecken  in  der  Hand, 
das  Bündel  auf  dem  Rücken. 

Das  große  Schloß  im  Kreml  hat  die  schönsten  Säle, 
die  vielleicht  je  eines  Menschen  Auge  gesehen.  Da- 
neben der  älteste  Teil  mit  den  kleinen,  engen  Ge- 
mächern der  alten  Zaren,  die  in  historischer  Treue 
erhalten  und  restauriert  sind. 

Dann  waren  wir  in  der  schönsten  Kirche  Moskaus, 
der  Erlöserkirche,  die  zur  Erinnerung  an  1812  gebaut 
ist  und  eine  Bauzeit  von  fünfzig  Jahren  und  ein 
Kapital  von  fünfzig  Millionen  Mark  gekostet  hat.  — 
Von  ihrer  Höhe,  die  wir  erstiegen,  habe  ich  den  er- 
sten umfassenden  Blick  auf  die  Stadt  tun  können,  von 
der  ich  mir  bis  jetzt  gar  keine  Vorstellung  machen 
konnte,  obgleich  wir  tagelang  in  ihr  herumgefahren 
waren.  Von  hier  oben  sieht  man  deutlich,  wie  die 
Stadt  sich  um  den  Kreml  herumkristallisiert  hat.  Wie 
die  Jahresringe  um  das  Mark  des  Baumes  legen  sich 
die  Stadtteile  um  die  Höhe  des  Kremls.  Die  Straßen 
sind  kreisförmig  um  diesen  Mittelpunkt  gezogen,  von 
radial  auslaufenden  Straßenzügen  durchschnitten. 
Einen  klaren  Überblick  gewinnt  man  aber  auch  von 
hier  oben  nicht.  Um  Moskau  ganz  sehen  und  er- 
kennen zu  können,  müßte  man  in  einem  Luftballon 
ein  paar  hundert  Meter  über  der  Stadt  schweben. 
Endlos  dehnen  sich  nach  allen  Seiten  die  grünen 
Dächer  der  meist  niedrigen  Häuser,  die  wieder  ein- 
zeln in  Gärten  und  zwischen  freien,  grünen  Plätzen 
liegen,  und  aus  dem  Gewirr  des  ganzen,  ungeheuren 
Bildes  steigen  unzählbar  die  Kuppeln  und  Türme  der 
vierzigmal  vierzig  Kirchen  und  Kapellen  der  Stadt 
auf.  Sie  glänzen  als  goldene  Zwiebeln  oder  tiefblau 

217 


gefärbt,  als  Zinnen  und  Spitzen  in  verwirrender 
Masse,  ganz  unmöglich,  sie  zu  zählen.  Im  Hinter- 
grunde liegen  die  dunkel  bewaldeten  Sperlingsberge, 
von  denen  aus  Napoleon  einst  auf  die  Stadt  blickte, 
die  ihm  so  verhängnisvoll  werden  sollte;  bis  in  die 
weiteste  Ferne  leuchten  Klöster  von  Mauern  um- 
schlossen herüber.  —  Unaufhörlich  durchtönt  Glok- 
kenklang  die  Luft  und  auf  den  Straßen  flutet  ein  ge- 
drängtes Leben  von  Droschken,  Drei-  und  Vier- 
spännern, alle  Pferde  nebeneinander  gehend. 

Heute  morgen  hatte  der  berühmte  Li-Hung-Tschang 
Audienz  beim  Prinzen.  Wir  waren  alle  zugegen  und 
wurden  dem  großen  Chinesen  vorgestellt.  Die  Unter- 
haltung ging  per  Dolmetsch.  Ich  interessierte  ihn  be- 
sonders wegen  Onkel  Helmuth.  Er  sieht  äußerst  in- 
teressant aus,  ein  kluges,  geistvolles  Gesicht.  Die  be- 
rühmte gelbe  Jacke  hatte  er  an.  —  Nachher  haben 
wir  die  Wiege  der  Romanows,  das  alte  Bojarenhaus 
besucht,  in  dem  der  Stammhalter  des  jetzt  regierenden 
Geschlechts  geboren  wurde,  höchst  interessant.  — 
Dann  die  wüsteste  Ausgeburt  architektonischer  Phan- 
tasie, die  Kirche  Wassily-Blashenyi,  die  von  Iwan 
dem  Schrecklichen  gebaut  wurde.  Ferner  sahen  wir 
eine  Gemäldegalerie,  in  der  nur  russische  Künstler 
vertreten  sind,  mit  einem  interessanten  Porträt  Tol- 
stois. 

Moskau,  27. Mai  1896. 

Gestern  fand  die  Krönung  bei  herrlichstem  Wetter 
statt.  Die  Russen  haben  wirklich  Glück  mit  diesen 
Veranstaltungen.  Ebenso  wie  der  Tag  des  Einzugs 
war  es  auch  gestern  am  Krönungstage  das  herr- 
lichste Wetter.  Die  Sonne  brannte  mit  fast  südlicher 
Glut  vom  wolkenlosen  Himmel.  —  Bei  Regenwetter 
würde  auch  die  Krönung  eigentlich  gar  nicht  statt- 

218 


finden  können,  da  der  ganze  Umzug  mit  all  seinem 
Pomp  sich  zum  größten  Teil  unter  freiem  Himmel 
bewegt.  —  Wir  mußten  schon  um  728  Uhr  morgens 
nach  dem  Kreml  hinausfahren,  wo  wir  Plätze  auf  ei- 
ner Tribüne  hatten,  die  in  dem  weiten  Schloßhof  er- 
richtet war.  —  Um  72  9  Uhr  begann  der  feierliche 
Akt  mit  dem  Kirchgang  der  Kaiserin-Mutter,  die  un- 
ter einem  goldenen,  mit  Straußenfedern  geschmück- 
ten Baldachin  mit  der  Brillantkrone  auf  dem  Kopf 
und  den  von  zehn  Kavalieren  getragenen  Hermelin- 
mantel um  die  Schultern  vom  Palais  aus  nach  der 
Uspenskyschen  Kathedrale  schritt,  in  der  die  Krö- 
nung stattfindet.  —  Wir  hatten  einen  sehr  guten  Platz, 
von  dem  aus  wir  den  ganzen  Schloßhof  übersehen 
konnten.  In  demselben  waren  kreuzweise  zwei  Wege 
für  den  Aufzug  aus  Bretterplanken  hergestellt,  die 
mit  rotem  Tuch  überkleidet  waren.  Der  eine  führte 
von  der  großen  Treppe  des  Palais  zur  Kathedrale,  ein 
paar  hundert  Schritt,  der  andere  durchschnitt  den  Hof 
quer.  Ein  dritter  führte  im  Umgang  von  der  Krö- 
nungskathedrale zu  dem  Iwan  Weliky,  von  diesem 
zur  Archangelschen  Kathedrale,  von  dort  zur  Kirche 
Maria  Verkündigung  und  von  da  zurück  zur  Frei- 
treppe. —  Diesen  Weg  hat  der  Zar  nach  vollzogener 
Krönung  zurückzulegen  und  in  jeder  der  genannten 
Kirchen,  die  um  den  Schloßhof  herumliegen,  eine 
Andacht  zu  verrichten.  —  Der  ganze  weite  Hof  war 
Kopf  an  Kopf  gefüllt  mit  den  Deputationen  des  ge- 
samten Volks,  alle  Völker,  die  das  russische  Zepter 
vereinigt,  waren  hier  vertreten,  vom  turbantragenden 
Bucharen  an  bis  zum  pelzbekleideten  Finnländer.  Die 
Chevalier  garde  in  Helm  und  Küraß  bildete  Spalier 
auf  der  einen  Seite  des  Hofes,  die  in  lange  Schar- 
lachröcke gekleideten  Leute  des  kaiserlich  kaukasi- 
schen Leibkonvois  auf  der  anderen.  —  Gegen  9  Uhr 

219 


verkündeten  Trompetenstöße,  daß  der  Zug  sich  in 
Bewegung  setze.  Alles  entblößte  die  Häupter.  Ein 
rollendes  Hurra  stieg  aus  den  hundertsprachigen 
Kehlen  der  Massen,  die  in  Erregung  durcheinander- 
drängten. Der  ganze  weite  Hof,  umsäumt  von  zahl- 
reichen Tribünen,  auf  denen  die  hellen  Toiletten  der 
Damen  schimmerten,  dazwischen  die  leuchtenden 
Uniformen  der  spalierbildenden  Truppen,  das  Ganze 
umstanden  von  den  goldgedeckten  Türmen  und  Kir- 
chen und  von  der  hohen  Front  des  alten  Zaren- 
schlosses und  überflutet  von  glühendem  Sonnenlicht, 
machte  schon  an  und  für  sich  einen  zauberhaften 
Eindruck.  —  Und  auf  der  mitten  durch  das  Gewirre 
führenden  roten  Plankenbahn  zog  nun  der  Krönungs- 
zug in  seiner  ganzen  orientalisch  märchenhaften 
Pracht  an  uns  vorüber  nach  der  Kathedrale,  an  deren 
Portal  der  Metropolit  von  St.  Petersburg,  umgeben 
von  der  hohen  Geistlichkeit  mit  dem  heiligen  Bilde 
der  Mutter  Gottes  stand,  um  den  Eingang  des  Kaiser- 
paares zu  segnen.  —  Fast  eine  Viertelstunde  dauerte 
es,  bis  der  ganze  Zug  vorüber  war.  Da  kam  zuerst 
eine  Abteilung  Chevalier  garde,  dann  die  Pagen,  die 
Zeremonienmeister,  die  Syndikate  des  ganzen  Rei- 
ches, die  Munizipalitäten,  Delegierte  des  Adels,  der 
Bürgerschaft,  des  Handelsstandes,  der  Künstlerschaft, 
dann  endlose  Kammerherren  in  goldüberladenen  Uni- 
formen, die  Vertreter  der  Universitäten,  der  Mini- 
sterien, die  Delegierten  der  verschiedenen  Kosaken- 
stämme, die  Adelsmarschälle,  die  Generalsynode,  die 
Senatoren,  der  Staatsrat,  Herolde,  die  Schloßgarde, 
dann  in  feierlichem  Pomp  die  Reichsinsignien,  die 
Reichsfahne  und  Schwert,  Krone,  Zepter,  Apfel,  Män- 
tel usw.,  ein  Peloton  der  Chevalier  garde  der  Kaiserin, 
die  Oberhof-  und  Hofmarschälle  und  endlich  der  Kai- 
ser und  die  Kaiserin  unter  einem  goldenen  Baldachin 

220 


mit  Straußenfedern,  der  von  zwanzig  Generalen  ge- 
tragen wurde.  —  Nach  altem  Zeremoniell  schritt  die 
Kaiserin  unter  demselben  Baldachin  hinter  dem  Kai- 
ser. —  Nun  folgte  der  lange  Zug  aller  russischen 
Großfürsten  und  aller  der  Fürstlichkeiten,  die  zur 
Krönung  hier  versammelt  sind,  dann  der  lange  Zug 
der  Hof-,  Ehren-  und  Palastdamen  in  der  russischen 
Hoftracht,  dem  rotsamtenen  Überkleid,  den  Kokosch- 
nik  auf  dem  Kopf,  wieder  eine  Abteilung  Chevalier 
garde  und  dann  noch  eine  Menge  Generale,  Flügel- 
adjutanten, Vertreter  des  erblichen  Adels  usw.  —  Das 
alles  zog  wie  ein  Märchen  an  uns  vorüber  und  ver- 
schwand in  der  Kathedrale.  Dazu  Geläute  aller  Glok- 
ken,  Kanonendonner  und  brausendes  Hurra,  in  der 
Tat  ein  Bild  von  unbeschreiblichem  Eindruck.  —  Die 
Zeremonie  in  der  Kirche  dauerte  von  9  bis  V22  Uhr.  — 
Nach  Beendigung  derselben  trat  der  Zug  wieder  her- 
aus zum  Umgang.  Jetzt  trug  der  Kaiser  die  schwere 
Brillantkrone,  den  Mantel  und  in  der  Hand  das  Zep- 
ter, an  dessen  Spitze  der  größte  Diamant  der  Welt, 
der  Orloff ,  funkelt,  und  den  Reichsapfel,  ein  Anblick, 
den  man  sonst  nur  auf  Bilderbogen  sieht.  —  Er  hatte 
sich  selber  und  dann  die  Kaiserin  gekrönt,  hatte  die 
heilige  Salbung  empfangen  und  als  höchstes  kirch- 
liches Oberhaupt  das  Abendmahl  in  beiderlei  Gestalt 
genossen.  Nun  trat  er  erst  als  rechtmäßiger  Kaiser 
im  ganzen  Glanz  seiner  riesigen  Macht  vor  sein  Volk. 
—  Es  liegt  etwas  Großes  in  diesen  Feierlichkeiten, 
deren  Kunde  von  allen  den  Deputationen,  die  ihnen 
beiwohnten,  hinausgetragen  wird  in  die  endlosen 
Steppen  des  Reiches,  die  erzählen  werden,  wie  sie 
den  Weißen  Zaren  gesehen  haben  in  dem  ganzen 
Glanz  seiner  Macht,  gefolgt  von  Hunderten  unter- 
worfenen Fürsten,  gesegnet  von  Gott,  der  für  ihn  die 
Sonne  scheinen  ließ  und  gebenedeit  von  der  Geist- 

221 


lichkeit,  angejubelt  vom  ganzen  Volk,  bedeckt  mit 
den  Schätzen  der  Erde,  ein  höheres  Wesen,  in  des- 
sen Hand  das  Wohl  und  Wehe  ungezählter  Mil- 
lionen liegt.  —  Dies  Volk  und  dies  Reich  braucht  eine 
solche  äußere  Schaustellung,  und  man  tut  weise 
daran,  sie  in  allen  Stücken  nach  altgeheiligtem  Ritus 
aufrechtzuerhalten.  Religion  und  Weltherrschaft  sind 
hier  so  innig  verschmolzen,  daß  keins  vom  anderen 
zu  trennen  ist,  ohne  daß  beide  sich  verbluten.  —  Man 
muß  dies  alles  gesehen  haben,  um  zu  begreifen,  wes- 
halb in  Rußland  die  orthodoxe  Kirche  oft  mit  dra- 
konischer Strenge  durchgeführt  wird,  um  zu  ver- 
stehen, wie  es  möglich  ist,  dies  endlose  Reich,  das 
vom  ewigen  Eis  des  Nordens  bis  zum  ewigen  Som- 
mer des  Südens  reicht,  in  einem  Gedanken  zusam- 
menzufassen und  zu  erhalten.  Nur  die  absolute  Ge- 
walt, getragen  von  der  allgemeinen  orthodoxen  Kirche, 
kann  Rußland  regieren,  und  jeder  Riß  zwischen  die- 
sen beiden  Grundpfeilern  würde  das  ganze  riesige 
Gebäude  zum  Einsturz  bringen. 

Nachdem  der  Krönungszug  alle  Kirchen  passiert, 
steigen  Kaiser  und  Kaiserin  die  rotbelegte  Freitreppe 
zum  Schloß  hinauf.  Oben  angekommen,  wandten 
beide  sich  um  und  grüßten  das  Volk  mit  dreimaliger 
Verbeugung.  Die  beiden  Majestäten  sahen  prächtig 
aus,  die  edlen  Steine  auf  ihren  Häuptern  blitzten  in 
der  Sonne,  die  Figuren  umwallten  die  weiten  Falten 
der  Hermelinmäntel,  es  schien,  als  ob  der  Himmel 
einen  segnenden  Kuß  über  sie  hinhauchte  und  alle 
die  Tausende,  die  draußen  auf  den  Knien  gelegen 
hatten,  während  in  der  Kirche  ihr  Kaiser  gesalbt 
wurde,  jubelten  zu  dem  Herrscherpaar  hinauf,  man 
fühlte  sich  umströmt  von  der  Flut  der  Segenswünsche, 
der  Begeisterung  und  der  monarchischen  Treue  eines 
ganzen  Volkes. 

222 


An  diesem  Tage  wurden  gegen  dreitausend  Men- 
schen auf  dem  Kreml  gespeist,  in  Zelten,  in  Sälen 
und  Hallen  waren  die  endlosen  Tafeln  gerichtet.  — 
Wir  entzogen  uns  dem  Gedränge  und  fuhren  zu 
Haus,  wo  wir  gegen  5  Uhr  ankamen.  Neun  Stunden 
hatte  die  ganze  Zeremonie  gedauert! 

Die  Kaiserin  sah  reizend  aus.  Das  feine  Gesicht 
blaß  von  Erregung  und  Anstrengung.  Sie  trug  ein 
Kleid  aus  Silberbrokat.  —  Die  Kaiserkrone,  ganz  aus 
Diamanten  gearbeitet,  die  ihr  der  Kaiser  in  der  Kirche 
aufgesetzt,  nachdem  er  sich  selber  gekrönt  und  mit 
seiner  Krone  die  vor  ihm  Kniende  an  der  Stirn  be- 
rührt hat,  saß  wie  ein  Strahl  des  Himmelslichtes  sel- 
ber auf  ihrem  reichen  Haar.  Auch  der  Kaiser  trug 
die  schwere  Krone  mit  kaiserlichem  Anstand.  Sie 
muß  furchtbar  schwer  sein,  denn  auch  sie  besteht 
ganz  aus  Brillanten.  Die  Spitze  bildet  ein  Rubin  von 
der  Größe  eines  Hühnereis,  in  dem  das  Sonnenlicht 
sich  mit  blutigrotem  Schein  brach. 

Abends  war  Moskau  illuminiert.  Was  das  heißen 
will,  ist  schwer  zu  beschreiben.  Der  ganze  Kreml  er- 
strahlte in  elektrischem  Licht.  Die  Türme  und  Tore 
bauten  sich  aus  Millionen  von  Lampen  auf,  vom  Fuß 
bis  zur  höchsten  Kreuzspitze.  Sie  standen  da  wie  Er- 
scheinungen einer  anderen  Welt.  Die  ganze  acht  Kilo- 
meter lange  Umfassungsmauer  war  in  ihrer  Kreme- 
lierung  von  Lampen  umfaßt.  Dieses  ganze  Feuer- 
meer entzündet  die  Hand  der  Kaiserin.  Sie  ergreift 
ein  Bukett,  und  im  selben  Nu  flammt  alles  auf.  Von 
der  Terrasse  des  Kreml  sahen  wir  hinab  auf  eine 
Stadt  von  Feuer.  Blau,  rot,  grün  erstrahlten  die  Häu- 
ser, Brücken,  Türme  in  blitzenden  Funken.  Girlan- 
den von  Lampen  zogen  sich  an  den  Ufern  der  Mos- 
kwa hin,  soweit  das  Auge  reichte.  Es  war  eine  so 
unbeschreibliche  Pracht,  daß  wir  ganz  betäubt  waren. 

223 


Es  ist  auch  ganz  unmöglich,  den  Eindruck  wieder- 
zugeben. Laß  Deine  Phantasie  ins  Ungemessene 
schweifen  und  Du  wirst  noch  lange  nicht  die  Wirk- 
lichkeit erreichen.  Hier  hört  jedes  Denken  auf.  Selbst 
wenn  man  diese  Illumination  sieht,  hält  man  sie  für 
unmöglich.  Man  faßt  sich  an  die  Stirn  und  fragt  sich, 
ob  man  bei  klarem  Verstände  ist  oder  ob  man  Fieber- 
phantasien hat.  Und  drei  Abende  hintereinander  soll 
sich  dies  Schauspiel  erneuern!  — 

M  o  s  k  a  u ,  30.  Mai  1896. 

Der  Trubel  der  letzten  Tage  war  groß.  Wir  waren 
permanent  unterwegs  von  morgens  bis  abends,  ohne 
Pause.  —  Wir  hatten  große  Gratulationscour,  die 
Stunden  dauerte.  Einzeln  vorbeidefiliert  mit  zwei  Ver- 
beugungen. Die  Kaiserin  reichte  mir  die  Hand  zum 
Kuß,  nie  habe  ich  einer  Fürstin  mit  mehr  Freude  die 
Hand  geküßt!  —  Gestern  waren  wir  mit  dem  Prinzen 
Heinrich  im  Lager.  Wir  fuhren  morgens  nach  dem  Pe- 
trof sky-Palais,  wo  wir  Pferde  vom  Marstall  bekamen. 
Es  war  interessant,  das  Lager  zu  sehen,  in  dem  drei 
Inf  anterie-und  eine  Kavallerie-Division  so  wie  zweiBri- 
gaden  Artillerie  liegen.  Die  Leute  sind  teils  in  Holz- 
baracken, teils  in  Zelten  untergebracht.  Wir  ritten  ge- 
gen drei  Stunden  durch  das  Lager.  —  Abends  war 
Galaoper.  Das  riesige  Haus  sah  prächtig  aus.  Die 
Ränge  mit  juwelengeschmückten  Damen,  das  Par- 
terre mit  Offizieren  besetzt.  Brausendes  Hurra  und 
Nationalhymne  begrüßte  die  Majestäten,  die,  gefolgt 
von  allen  Großfürsten  und  Prinzen,  in  die  große  Hof- 
loge traten.  —  Es  wurde  ein  Akt  aus  der  Oper  »Das 
Leben  für  den  Zar«  gegeben.  Die  Pracht  der  Kostüme 
war  ungeheuer,  wie  überhaupt  der  Luxus,  der  hier 
entwickelt  wird,  alles  hinter  sich  läßt,  was  ich  bisher 
gesehen.  Am   Schluß   wurde   wieder   die   National- 

224 


hymne  gespielt,  die  der  ganze  Chor  des  Theaters,  zu 
einer  gold-  und  silberglänzenden  Gruppe  vereinigt, 
mitsang.  Wir  kamen  um  V22  Uhr  nach  Hause. 

Heute  ist  großes  Volksfest,  bei  dem  hunderttausend 
Menschen  unter  freiem  Himmel  gespeist  werden.  Je- 
der nimmt  sein  Geschirr  und  einen  Becher  mit  dem 
Bild  des  Zaren  mit  nach  Hause. 

Moskau,  i.Juni  1896. 

Seit  ich  Dir  zuletzt  schrieb,  haben  wir  ein  Mas- 
senfest auf  der  französischen  Botschaft  mitgemacht. 
Das  merkwürdigste  an  diesem  Fest  war  das,  daß  es 
uns  gelang,  ohne  erdrückt  worden  zu  sein,  wieder 
hinauszukommen.  Fast  wäre  es  uns  gegangen  wie 
den  armen  Tausenden  des  Volkes,  die  elend  zu  Tode 
gedrückt  worden  sind.  Nach  offiziellen  Berichten 
sind  1365  Tote  und  320  Verwundete  gemeldet.  Man 
kann  sich  nichts  Grausigeres  denken,  als  ein  Volk, 
das  sich  gegenseitig  zerquetscht  und  unter  die  Füße 
tritt.  Auf  dem  riesigen  Platz  sollen  gegen  eine  Mil- 
lion Menschen  versammelt  gewesen  sein. 

Berlin,  1.  September  1896. 

Jetzt  heißt  es  allgemein,  ich  werde  das  Alexander- 
Regiment  bekommen,  und  zwar  nach  dem  Manöver. 
Das  ist  auch  wahrscheinlich,  denn  Se.  Majestät  liebt 
es,  dergleichen  Dinge  am  letzten  Manövertage  abzu- 
machen. Daß  ich  als  Kandidat  für  das  Alexander-Re- 
giment genannt  werde,  hängt  wohl  mit  meinen  rus- 
sischen Beziehungen  zusammen.  —  Ich  freue  mich 
darauf,  hinauszukommen.  Für  meine  Zukunft  ist  es 
nötig,  daß  ich  nach  langer,  zwanzigjähriger  Pause  ein- 
mal wieder  in  die  Front  komme.  Der  Gedanke,  auf  ei- 
nem Posten  alt  und  überständig  zu  werden  und  schließ- 
lich nur  noch  aus  Gnade  so  weiter  mitgeschleppt  zu 

Moltke.  15  225 


werden  wie  ein  ausgedienter  Gaul,  dem  man  wider- 
willig ein  Gnadenbrot  gibt,  würde  mir  unerträglich 
sein.  Dann  lieber  vorher  von  selber  gehen.  —  So  habe 
ich  die  Zuversicht  zu  mir  selber,  daß  ich  mein  Exa- 
men als  Regimentskommandeur  gut  bestehen  und  mir 
damit  die  Berechtigung  erwerben  werde,  mit  gutem 
Gewissen  auf  der  militärischen  Stufenleiter  weiterzu- 
klettern,  solange  Kraft  und  Gesundheit  ausreichen. 

Breslau,  6. September  i8g6. 

Gestern  morgen  6V2  Uhr  nach  Brieg  gefahren,  wo 
wir  warteten,  bis  der  russische  Sonderzug  einlief.  Wir 
wurden  in  einem  sehr  schön  ausgestatteten  Salon- 
wagen verstaut,  wo  wir  die  Bekanntschaft  der  russi- 
schen Begleitung  machten.  Nach  einer  halben  Stunde 
erschienen  der  Kaiser  und  die  Kaiserin,  um  uns  zu 
begrüßen.  Der  Kaiser  hatte  die  Uniform  des  Alexan- 
der-Regiments an,  die  ihn  nicht  besonders  kleidet.  Er 
sah  blaß  und  kränklich  aus,  war  sehr  liebenswürdig 
und  sprach  mit  jedem  einzeln  von  uns.  —  Auf  dem 
Bahnhof  Breslau  war  großer  Empfang,  unser  Kaiser 
und  Kaiserin  standen  auf  dem  Perron.  Die  Begrüßung 
sehr  herzlich,  —  Ehrenwache,  ein  Gewimmel  von 
Fürsten,  Prinzen,  Generalen  usw.  —  Wir  begaben  uns 
in  das  Landeshaus,  wo  wir  eine  Stunde  hatten,  um 
uns  zur  Parade  fertig  zu  machen.  Diese  fand  bei  schö- 
nem Wetter  statt.  Der  russische  Kaiser  führte  das 
Alexander-  Regiment  zweimal  sehr  nett  vorbei.  Abends 
Paradediner  und  dann  großer  Zapfenstreich. 

Die  Anrede  des  Kaisers  beim  Diner  wirst  Du  in  der 
Zeitung  gelesen  haben,  sie  war  sehr  gut,  maßvoll 
und  doch  warm.  —  Die  Antwort  des  Zaren  geben  die 
Zeitungen  nach  russischer  Redaktion  etwas  abge- 
schwächt wieder,  er  sagte  wirklich :  »Je  remercie  votre 
majeste  et  la  ville  de  Breslau  pour  le  bon  acceuille 

226 


qu'elle  a  bien  voulu  me  preparer.  Je  partage  sincere- 
ment  les  relations  traditionelles,  qui  unissent  nos  deux 
pays.  Je  bois  ä  la  santö  usw.«  —  In  der  Zeitung  ist 
dies  dahin  abgeändert:  »Je  partage  les  sentiments  tra- 
ditionelles, qui  existent  entre  nous.«  —  Das  ist  ein 
großer  Unterschied  und  klingt  viel  kühler.  Die  Ab- 
änderung ist  sicher  eine  Konzession  an  Paris ! 

Görlitz,  ii. September  1896. 

Wir  haben  nun  morgen  unseren  letzten  Manöver- 
tag und  gleichzeitig  für  mich  den  letzten  Tag  eines 
sich  nun  abschließenden  Lebensabschnitts.  Der  Vor- 
hang fällt,  ein  neues  Stück  beginnt! 

So  laß  uns  denn  den  neuen  Weg  gehen,  als  gute, 
treue  Kameraden.  Im  Anfang  wird  es  uns  beiden  nicht 
leicht  werden.  Wir  sind  des  Lebens  in  der  Truppe 
seit  langen  Jahren  zu  ungewohnt  geworden,  aber  bei 
gutem  Willen  werden  wir  auch  die  schönen  Seiten 
bald  empfinden  und  wir  werden,  jeder  in  seiner  Art, 
einen  dankbaren  Wirkungskreis  haben.  Es  ist  wohl 
das  letzte  Mal,  daß  ich  Dir  als  diensttuender  Flügel- 
adjutant Sr.  Majestät  schreibe.  —  Heute  hat  der  Kai- 
ser das  V.  und  VI.  Korps  geführt  und  natürlich  einen 
glänzenden  Sieg  erfochten. 

KABINETTSORDER. 
Ich  ernenne  Sie  hierdurch,  unter  Belassung  in  dem  Verhältnis 
als  Mein  Flügeladjutant  und  unter  Entbindung  von  der  Stellung 
als  Kommandeur   der    Schloßgarde-Kompagnie,    zum    Komman- 
deur des  Kaiser-Alexander-Gardegrenadier-Regiments  Nr.  1. 
Görlitz,  den  12.  September  1896. 

Wilhelm  R. 
An  Meinen  diensttuenden  Flügeladjutanten  Obersten  v.  Moltke. 

Berlin,  14.  September  1896. 

Mich  selber  findest  Du  nicht  mehr  vor,  ich  bin 

mittags  ins  Manöverterrain  des  Gardekorps  abgereist, 

227 


um  mein  Regiment  zu  übernehmen.  Ich  komme  ge- 
rade zum  großen  Korpsmanöver  zurecht,  fasse  gleich 
zwei  Biwaknächte  und  werde  so  mit  einem  Schlage 
mitten  in  die  Praxis  des  Soldatenlebens  hineinver- 
setzt, die  ich  seit  zwanzig  Jahren  nicht  mehr  kennen- 
gelernt habe.  Ich  bin  Flügeladjutant  geblieben.  Daß 
ich  das  Regiment  bekommen  hätte,  sagte  mir  der  Kai- 
ser am  letzten  Manövertage.  Er  war  sehr  gütig,  sagte 
mir:  »Nun,  ich  denke,  der  Zar  wird  mit  dem  neuen 
Kommandeur  zufrieden  sein.«  —  Nicht  wahr,  Du  siehst 
ein,  daß  ich  recht  habe,  wenn  ich  etwas  »auf  die 
Front«  gedrängelt  habe.  Der  Kaiser  hat's  mir  nicht 
übel  genommen,  das  fühle  ich  gut  genug.  Es  wird 
sehr  wunderbar  für  mich  werden,  wenn  ich  zum  er- 
stenmal den  Degen  vor  der  Front  des  Regiments  ziehe 
und  fünfundvierzig  Offiziere  und  zweitausend  Mann 
auf  mein  Kommando  hören.  Ich  freue  mich  sehr  dar- 
auf und  besonders,  daß  ich  gleich  im  Manöver  füh- 
ren kann. 

St.  Petersburg,  9.  März  1897. 
Durch  meine  Depesche  hast  Du  ersehen,  daß  ich 
wohlbehalten  hier  angekommen  bin.  Ich  hatte  gerade 
Zeit,  mich  umzuziehen,  um  dann  sofort  wieder  auf 
die  Bahn  und  nach  Zarskoje  Selo  zu  fahren,  da  Se. 
Majestät  der  Kaiser  mich  noch  am  selben  Nachmit- 
tag empfangen  wollten.  —  Heute  wurde  ich  von  der 
alten  Großfürstin  Konstantin  in  einer  langen  Audienz 
empfangen  und  darauf  von  ihrem  Sohn,  dem  Groß- 
fürsten Konstantin  und  dessen  Gemahlin,  einer  Prin- 
zeß von  Anhalt  —  Morgen  hat  mich  der  Großfürst 
Wladimir  zum  Frühstück  eingeladen. 

St.  Petersburg,  11. März  1897. 
Die  Woche  geht  so  sachte  hin,  ich  sitze  unbeweg- 
lich hier  und  weiß  noch  nicht  einmal,  wann  ich  über- 

228 


haupt  zurückkommen  kann.  Gestern  beim  Großfür- 
sten Wladimir,  ganz  en  famille,  als  ob  ich  mit  dazu 
gehörte!  Ich  mußte  von  Berlin  erzählen,  als  ob  es 
nur  diese  Stadt  auf  der  Welt  gäbe!  Dann  war  ich  bei 
dem  alten  Großfürsten  Michael,  der  sich  wohl  drei- 
viertel Stunden  mit  mir  unterhielt,  es  war,  als  ob  man 
in  einem  alten  Tagebuch  läse,  so  aus  den  sechziger 
Jahren,  wo  Preußen  und  Rußland  noch  Arm  in  Arm 
durch  die  Welt  gingen  wie  zwei  lustige  Studenten, 
Schmollis  tranken  und  alles  anrempelten,  was  ihnen 
in  den  Weg  kam. 

Petersburg  ist  still  und  tut  Buße,  geht  zur  Beichte 
und  Kommunion  und  hat  alles  abgestreift,  was  an 
die  Vergnügungen  dieser  Welt  erinnern  könnte.  Kein 
Musikton  erklingt,  kein  Theater  ist  offen,  dafür  drängt 
das  Volk  in  Scharen  in  die  Kirchen. 

Ich  war  heute  in  der  Peter-Pauls-Festung,  dann  be- 
suchte ich  das  kleine  Holzhäuschen,  in  dem  der  große 
Peter  wohnte,  während  die  Stadt,  die  seinen  Namen 
trägt,  aus  den  Sümpfen  des  Newaufers  hervorwuchs, 
während  er  sein  Fenster  in  die  Mauer  der  Unkultur 
brach,  die  damals  das  russische  Reich  umschloß,  da- 
mit das  Licht  europäischer  Kultur  in  sein  riesiges 
Reich  hineinfalle. 

Döberitz,  i.Juli  1897. 

Morgens  wird  Gefecht  exerziert.  Der  ganze  Übungs- 
platz ist  eine  Quadratmeile  groß,  abwechselnd  Wald 
und  abgeholzte  Flächen.  —  Man  kann  alle  möglichen 
Gefechtsbilder  auf  demselben  aufführen  und  da  man 
keine  Rücksicht  auf  Flurschäden  zu  nehmen  braucht, 
ist  man  in  allen  Bewegungen  ganz  unbehindert.  —  Die 
armen  Pferde  leiden  sehr  unter  den  unzähligen  Brem- 
sen. Vorgestern  bekam  »Nyalka«  einen  Kolikanfall. 
Ich  ließ  gleich  einen  Tierarzt  holen,  sie  bekam  ein 

22g 


halb  Liter  Hoffmannsche  Tropfen,  wurde  massiert 
und  mit  Prießnitzschem  Umschlag  behandelt.  Nach 
einigen  Stunden  war  der  Anfall  vorüber.  —  Übermor- 
gen habe  ich  Regimentsbesichtigung,  da  kannst  Du 
mir  den  Daumen  halten,  denn  natürlich  werde  ich  für 
meine  Person  besichtigt,  damit  meine  Herren  Vor- 
gesetzten ein  Urteil  darüber  gewinnen,  wie  töricht 
ich  etwa  bin. 

Berlin,  3.  Juli  1897. 

Meine  heutige  Regiments  Vorstellung  ist  sehr  gut 
verlaufen.  Der  Divisionskommandeur  und  eine  Menge 
Zuschauer  waren  zugegen.  Die  Kritik  fiel  sehr  gut 
aus  und  alles  war  befriedigt.  Ich  habe  dann  meinen 
Offizieren  Adieu  gesagt  und  bin  mittags  hierher  ge- 
fahren. Von  hier  geht  es  morgen  früh  weiter  nach 
Travemünde.  Ich  kann  es  noch  nicht  verwinden,  vom 
Regiment  fortzumüssen. 

Norwegen,  Odde,  12. Juli  1897. 

Gestern  wurde  Se.  Majestät  von  einem  herunterfal- 
lenden Tauende  am  Auge  verletzt  und  am  selben 
Nachmittags  kam  der  Leutnant  von  Hahnke,  der  Sohn 
des  alten  General  v.  Hahnke,  der  auf  der  »Hohenzol- 
lern«  im  Dienst  war,  ums  Leben.  —  Die  Matrosen  sa- 
gen, das  ganze  Unglück  kommt  daher,  daß  ein  Pastor 
an  Bord  ist. 

Die  Verletzung  des  Kaisers  ist  eine  ganz  unbedeu- 
tende, die  Sache  wird  in  ein  paar  Tagen  vorüber  sein, 
er  kommt  heute  schon  wieder  an  Deck.  —  Das  Un- 
glück mit  dem  jungen  Hahnke  hat  sich  folgender- 
maßen zugetragen.  Einige  der  Schiffsoffiziere  woll- 
ten eine  Partie  nach  dem  zwanzig  Kilometer  von 
Odde  entfernten  Lotefoß  machen.  Hahnke  und  ein 
Leutnant  v.  Levetzow  per  Rad,  ein  anderer  Offizier 
mit  einem  Beamten  fuhr  mit  Karriol  hinterher.  Leut- 

230 


nant  v.  Hahnke  fuhr  als  erster  auf  der  schmalen,  zum 
Teil  in  den  Fels  gesprengten  Straße  voraus,  etwa 
vierhundert  Meter  hinter  ihm  folgte  Levetzow,  eben- 
falls auf  dem  Rade,  dann  die  anderen.  Nachdem  sie 
etwa  eine  Stunde  gefahren,  kamen  sie  an  eine  Stelle, 
wo  der  Weg  sehr  schmal  ist.  —  An  der  einen  Seite 
steiler  Fels,  rechts  das  felsige  Bett  des  mit  reißender 
Gewalt  dahinströmenden  Elfs.  Die  Straße  liegt  hier 
etwa  vier  Meter  über  dem  Flußbett.  Gerade  hier  sind 
starke  Stromschnellen  und  Wirbel,  das  Wasser  kocht 
zwischen  großen  Felsblöcken  und  bildet  tiefe  Stru- 
del. Dicht  über  der  Stelle  führt  eine  schmale  Holz- 
brücke über  den  Fluß  zu  einem  Bauernhaus,  das  auf 
dem  andern  Ufer  der  Straße  gegenüberliegt.  —  Wie 
Leutnant  v.  Levetzow,  der  abgestiegen  war  und  sein 
Rad  führte,  da  die  Straße  hier  ansteigt,  an  diese  Stelle 
kam,  kamen  ihm  über  die  Holzbrücke  laufend,  zwei 
Jungen  im  Alter  von  zehn  und  sieben  Jahren  ent- 
gegen, Söhne  des  gegenüber  wohnenden  Bauern  und 
sagten  ihm,  sie  hätten  am  andern  Ufer  gestanden  und 
hätten  gesehen,  wie  ein  Mann,  der  auf  einem  Rad  ge- 
fahren sei,  eben  von  der  Straße  herab  in  den  Fluß 
gestürzt  sei,  mit  seinem  Rade.  Glücklicherweise  ver- 
steht Levetzow  Dänisch.  —  Er  hatte  Hahnke,  der 
wie  gesagt,  etwa  vierhundert  Meter  vor  ihm  fuhr, 
wegen  der  Straßenkrümmung  nicht  sehen  können. 
Hahnke  ist  seitdem  spurlos  verschwunden,  der  rei- 
ßende Strom  hat  ihn  verschlungen  und  nicht  einmal 
ein  Stück  seiner  Kleidung,  Hut  oder  irgend  etwas 
wieder  herausgegeben.  —  Die  Jungen  sagen,  der  Herr 
wäre  ganz  langsam  auf  der  Straße  entlang  gefahren, 
auf  der  dem  Fluß  zuliegenden  Seite.  Wie  er  gerade 
ihnen  gegenüber  gewesen,  habe  er  sein  Taschentuch 
herausgezogen,  um  sich  den  Schweiß  abzuwischen, 
dabei  sei  das  Rad  ins  Schwanken  gekommen,  er  habe 

231 


noch  rasch  mit  der  Hand  an  die  Stange  gegriffen,  das 
Rad  sei  aber  vorn  an  einen  Prellstein  gestoßen,  habe 
sich  überschlagen  und  der  Herr  sei  kopfüber  hinab- 
gestürzt. Im  Fallen  habe  er  einen  lauten  Schrei  aus- 
gestoßen. Eine  kurze  Strecke  abwärts  sei  er  noch  ein- 
mal aus  dem  Strudel  aufgetaucht,  habe  beide  Arme 
in  die  Luft  geworfen  und  nochmals  einen  Schrei  aus- 
gestoßen, im  selben  Augenblick  sei  er  verschwun- 
den. —  Seit  gestern  nachmittag  wird  der  Fluß  von 
Matrosen  mit  Netzen  und  Greifankern  abgesucht. 
Heute  sind  hundertzwanzig  Mann  an  der  Arbeit,  es 
ist  keine  Spur  des  Verunglückten  gefunden.  Wenn 
die  beiden  Jungen  nicht  wären,  verschwand  Hahnke 
von  der  Erde,  ohne  daß  jemals  ein  Mensch  gewußt 
hätte,  wo  er  geblieben  sei.  —  Der  arme  Vater,  der  in 
Karlsbad  zur  Kur  ist,  ist  durch  den  ältesten  Sohn,  der 
telegraphisch  benachrichtigt  wurde,  von  dem  Un- 
glück unterrichtet.  Der  Kaiser,  selber  liegend,  war  tief 
ergriffen  und  will  hier  bleiben,  bis  die  Leiche  gefun- 
den. Stahlheim  usw.  ist  natürlich  aufgegeben,  und  tiefe 
Niedergeschlagenheit  herrscht  auf  dem  ganzen  Schiff. 

Odde,  14.  Juli  1897. 

Wir  sind  drei  Tage  hier  geblieben,  um  Nachfor- 
schungen nach  der  Leiche  des  jungen  Hahnke  anzu- 
stellen. Es  ist  mit  hundertvierzig  Mann  tagaus  tagein 
gearbeitet  worden,  um  sie  zu  finden,  doch  völlig  re- 
sultatlos. Der  reißende  Gebirgsstrom,  der  ihn  ver- 
schlungen, hat  nichts  wieder  herausgegeben.  Es  sind 
in  dem  felsigen  Flußbett  so  tiefe  Wirbel  und  unter- 
höhlte Felsen,  daß  sie  aller  Versuche  spotten,  mit 
Greifankern  usw.  hinabzugelangen.  So  muß  die  Hoff- 
nung aufgegeben  werden,  der  Leiche  ein  Grab  in 
deutscher  Erde  bereiten  zu  können,  der  Elf  hält  ihn 
fest  und  umrauscht  ihn  mit  seinem  kühlen  Wasser  in 

232 


dunkler  Felskluft,  ein  Grab  von  düsterer  Majestät. 
Heute  hatten  wir  einen  ergreifenden  Gedächtnis- 
gottesdienst an  Bord.  Der  Kaiser  wird  an  der  Un- 
glücksstelle einen  Gedenkstein  an  der  Felswand  er- 
richten lassen. 

Norwegen, Digarmulena.d.Lof  oten,  20.Juli  t8g8. 

Wir  passierten  mittags  den  Polarkreis  an  Deck  sit- 
zend, von  der  warmen  Sonne  geliebkost,  die  so  heiß 
auf  das  Verdeck  niederbrannte,  als  ob  man  tief  im 
Süden  wäre.  —  Wir  sahen  Walfische,  die  ihre  stäu- 
benden Wasserstrahlen  aufspritzten,  Pamorane  und 
Eidergänse  strichen  über  die  Fläche,  und  weit  ge- 
breitet lag  zu  unserer  Rechten  das  bergige  Gestade 
Norwegens  in  tausendfacher  Abwechslung  der  For- 
men und  Farben,  meilenweit  streckte  sich  zwischen 
den  violetten  Berggestalten  der  schimmernde  Rücken 
des  größten  Schneefeldes  der  Welt,  des  Svart  Jisen, 
hin.  Es  ist  unbeschreiblich  schön  hier  oben,  wenn 
der  Himmel  klar  ist.  Die  Weite  der  Ausblicke  zieht 
den  Geist  ins  Unendliche,  die  Großartigkeit  der  Na- 
tur, die  um  ihrer  selbst  und  nicht  der  Menschen  we- 
gen gemacht  zu  sein  scheint,  stimmt  das  Gemüt  zu 
feierlicher  Empfindung.  Unbeschreiblich  ist  auch  das 
wechselnde  Spiel  der  Farben,  die  von  den  tiefsten 
Tönen  durch  zarte  Vermittlung  bis  zur  lichtesten 
Färbung  übergehen.  —  Man  sieht  sich  nicht  satt  an 
dem  Panorama,  wohin  der  Blick  sich  wendet,  trifft 
er  neue  Schönheiten,  und  trunken  von  Sonnenglanz 
und  Klarheit  eilt  er  über  das  unendliche  Meer,  das  in 
endloser  Ferne  mit  dem  Himmel  zusammenschmilzt. 

Norwegen,  Lofoten,  23. Juli  1898. 

Sehr  schön  war  die  Mitternachtssonne,  die  unter 
einer  Wolkenbank  bis  auf  etwa  dreißig  Bogenminu- 

233 


ten  über  den  Horizont  herabsank,  dann  etwa  zehn 
Minuten  stehen  blieb,  das  Schiff  und  die  fernen  Berg- 
spitzen der  Lofoten  mit  purpurnem  Schein  überflu- 
tete und  dann  wieder  langsam  emporstieg.  —  Der 
Fürst  von  Monako  kam  zu  uns  an  Bord,  um  den 
Fang  zu  zeigen,  den  er  mit  seinem  Schleppnetz  ge- 
macht hatte.  Er  brachte  mehrere  große  Glasgefäße 
mit,  in  denen  in  Spiritus  abermals  eine  Anzahl  gräß- 
licher Tiere  waren.  Da  waren  große  Seespinnen,  mit 
Beinen  so  lang  wie  dieser  Briefbogen  hoch  ist,  See- 
gurken, die  aussehen  wie  greuliche,  dicke  Blutegel, 
die  vorne  und  hinten  eine  Öffnung  haben,  damit  der 
Schlamm  des  Meeres  durch  sie  hindurchfließen  kann. 
Usw.  usw.  —  Mit  einem  Wort,  eine  Sammlung  von 
Gräßlichkeiten,  die  aber  höchst  interessant  war.  Man 
fragt  sich,  wozu  alle  diese  Bestien  existieren.  Was 
ist  die  Absicht  der  Schöpfung  mit  ihnen?  Wird  man 
vielleicht  zur  Strafe  schlechten  Lebens  später  in  eine 
Seegurke  verwandelt  und  muß  nun  in  tiefer  Finster- 
nis den  Schlamm  schlucken? 

Auf  der  Fahrt  nach  Kiel,  i.  August  1898. 

Die  Nachricht  vom  Tode  des  Fürsten  Bismarck  kam 
gestern  morgen  in  Bergen  an,  ganz  unerwartet,  denn 
die  Depeschen,  die  Se.  Majestät  über  den  Fürsten  von 
Professor  Schwenninger  zuletzt  erhalten  hatte,  lau- 
teten durchaus  beruhigend.  So  hatten  wir  keine  Ah- 
nung von  dem,  was  ganz  Deutschland  wußte,  daß  es 
mit  dem  alten  Recken  zu  Ende  ging.  Der  Kaiser  be- 
fahl nun  die  beschleunigte  Rückkehr.  —  Die  Depesche 
des  Kaisers  an  den  Sohn  Bismarcks,  in  welcher  der- 
selbe sagt,  daß  er  den  Fürsten  in  der  Hohenzollern- 
gruft  neben  seinen  Ahnen  beisetzen  wolle,  wirst  Du 
wohl  schon  in  der  Zeitung  gelesen  haben.  Die  Söhne 
antworteten  dankend,  daß  der  Fürst  selber  den  Platz 

234 


im  Sachsenwald  bestimmt  habe,  wo  er  beigesetzt  sein 
wolle. 

Berlin,  10.  August  1898. 
Heute  war  ich  in  der  Kunstausstellung,  um  mir  die 
großen  Wandgemälde  von  Prell  anzusehen,  die  als 
Fresken  nach  der  deutschen  Botschaft  Villa  Caffa- 
relli  nach  Rom  kommen.  Sie  sind  sehr  schön,  von 
großer  Wirkung  und  zum  Teil  von  bestrickendem 
Liebreiz.  —  Die  Motive  sind  der  altgermanischen  My- 
thologie aus  der  Edda  entnommen.  —  Im  ersten  Bilde 
ist  der  junge  Frühlingsgott  Baidur  zur  Erde  herab- 
gestiegen, um  die  von  den  Eisriesen  gefesselte  Göttin 
der  Erde  —  Gerda  —  zu  befreien.  Er  wird  von  Schwa- 
nenjungfrauen  begrüßt.  —  Im  zweiten  Bilde  kämpft 
er  gegen  die  Riesen,  die  ins  Hochgebirge  zurück- 
geworfen werden  (Sommer).  Gewitter.  Der  alte  Win- 
ter in  seiner  Schwäche,  zieht  sich  in  rauhe  Berge 
zurück.  —  Im  dritten  versinkt  die  Sonne  im  Meer 
(Winter).  Die  verlassene  Erdgöttin  trauert  ihrer  Ge- 
fangenschaft entgegen.  Baidur  ist  erschlagen,  nur  der 
Sänger  ist  übriggeblieben,  um  von  der  Schönheit  des 
Sommers  zu  singen.  —  Ihm  zur  Seite  steht  eine  Norne, 
die  auf  dem  Arm  das  Knäblein  der  Gerda  hält,  den 
künftigen  Frühling.  Du  mußt  diese  Bilder  sehen,  wenn 
Du  kommst. 

Berlin,  12.  August  1898. 
Ich  werde  in  etwa  acht  Tagen  wieder  einmal  nach 
Rußland  fahren  müssen.  Am  27.  findet  die  Enthül- 
lung des  russischen  Nationaldenkmals  in  Moskau 
für  Kaiser  Alexander  III.  statt,  und  es  soll  dazu  eine 
Deputation  vom  Regiment  hingehen. 

Paris,  22.  Februar  1899. 

Wir  haben  eine  sehr  gute  Reise  gehabt,  wurden  an 

der  Grenze  tadellos  behandelt  und  bei  unserer  An- 

235 


kunft  in  Paris  auf  dem  Bahnhof  von  einem  eigens 
dazu  geschickten  Obersten  en  parade  von  dem  Maison 
militaire  des  Präsidenten  und  einem  höheren  Zivil- 
beamten empfangen.  Wir  fanden  zwei  Wagen,  die 
vom  Elysöe  für  uns  gestellt  waren.  Gegen  vierzig  Poli- 
zisten waren  aufgeboten,  die  einen  ununterbroche- 
nen Ring  um  uns  bildeten  und  sofort  jeden  beim 
Kragen  kriegten,  der  nur  den  Hals  vorstreckte,  um 
uns  anzusehen!  Einige  Pfiffe  ertönten  aus  der  dicht- 
gedrängten Menge,  sonst  blieb  alles  ruhig.  — 

Wir  wollen  jetzt  ausfahren  und  auch  in  den  Dome 
des  Invalides.  Nachmittag  ist  Empfang  beim  Präsi- 
denten und  beim  Minister  des  Äußeren  Delcassö.  — 
Morgen  sollen  wir  den  ganzen  Zug  mitmachen,  zirka 
acht  Kilometer.  —  Es  haben  jetzt  auf  das  Beispiel 
Deutschlands  hin  alle  anderen  Staaten  auch  Depu- 
tationen geschickt,  die  Hals  über  Kopf  ankommen. 

KABINETTSORDER. 

Ich  ernenne  Sie  hierdurch,  unter  Beförderung  zum  General- 
major, zu  Meinem  General  ä  la  suite  und  zum  Kommandeur 
der  i.  Garde-Infanterie-Brigade.  Gleichzeitig  beauftrage  ich  Sie 
mit  Wahrnehmung  der  Geschäfte  der  Kommandantur  von  Pots- 
dam. Es  gereicht  Mir  zum  Vergnügen,  Ihnen  dies  bekanntzu- 
machen. 

Berlin,  den  25.  März  1899. 

Wilhelm  R. 
An  Meinen  Flügeladjutanten,  Obersten  v.  Moltke,  Kommandeur 
des  Kaiser-Alexander-Gardegrenadier-Regiments  Nr.  1. 

TELEGRAMM. 

Oberst  von  Moltke,  Kommandeur  Kaiser-Alexander-Gardegrena- 
dier-Regiments Nr.  1,  Regimentsbureau,  Alexanderstraße  56. 

Ich  ernenne  Sie  zum  1.  April  zu  Meinem  General  ä  la  suite 
und  Kommandeur  der  1.  Garde-Infanterie-Brigade.  Indem  Ich  Sie 
mit  schwerem  Herzen  von  Ihrem  vortrefflichen  und  unter  Ihrer 
bewährten  Leitung  hervorragend   ausgebildeten   Regimente   ab- 

236 


berufe,  wünsche  Ich  Ihnen  durch  die  Beförderung  Meine  vollste 
Zufriedenheit  darüber  auszudrücken,  wie  Sie  es  verstanden  ha- 
ben, Meinen  Intentionen  in  Ihrer  bisherigen  Stellung  völlig  zu 
entsprechen  und  dadurch  ein  so  glänzendes  Resultat  erzielt  haben. 

gez.    Wilhelm   R. 

Döberitz,  29.  Juni  1899. 

Am  Montag  halte  ich  die  Besichtigungen  des 
3.  Garde-Regiments,  am  Dienstag  die  des  1.  Garde-Re- 
giments ab.  —  Dann  beginnen  die  Brigadeexerzitien 
unter  meiner  Leitung,  und  am  12.  Juli  werde  ich  mit 
meiner  Brigade  durch  den  Herrn  Divisionskomman- 
deur besichtigt.  So  überzeugt  sich  immer  einer  von 
den  Leistungen  des  andern. 

Potsdam,  19.  Juli  1899. 

Die  einsame  Höhe  des  Kommandanten  und  Bri- 
gadekommandeurs ist  recht  langweilig.  —  Gestern 
habe  ich  lange  Manöverarbeiten  gemacht. 

Potsdam,  23.  Juli  1899. 

Da  ich  nun  einmal  in  Berlin  war,  ging  ich  in  die 
Ausstellung,  wo  ich  noch  nicht  gewesen  war  und  be- 
sah mir  zwei  Stunden  lang  die  recht  mäßigen  Bilder. 
Mit  der  Kunst  scheint  es  mir  rapide  zurückzugehen, 
das  Beste  dort  sind  alte  bekannte  Bilder,  von  dem 
Neueren  habe  ich  nichts  Bemerkenswertes  gefunden. 

Potsdam,  30.  Juli  1899. 

Mit  großem  Interesse  habe  ich  Bebeis  Buch  über 
die  Frau  gelesen,  das  ich  unter  Deinen  Büchern  fand. 
Gott  behüte  uns  und  unsere  Kinder  davor,  daß  wir 
diesen  Staat  erleben,  in  dem  das  Leben  in  trostloser 
Monotonie  verlaufen  wird  und  die  ganze  Erde  in 
einen  großen  Fabriksaal  umgewandelt  wird,  in  dem 

237 


alle  gleichmäßig  unglücklich  sein  sollen,  bloß  damit 
nicht  einige  glücklich  sind. 

Potsdam,  23.  August  1899. 

Die  Kanalangelegenheit  ist  eine  recht  betrübende 
und  ernste  Sache.  Ich  fürchte,  sie  wird  noch  unan- 
genehme Folgen  haben  in  bezug  auf  die  Stellung  der 
Konservativen  zu  Sr.  Majestät.  —  Daß  im  Ministerium 
Veränderungen  eintreten  werden,  betrachte  ich  als 
sicher.  Meines  Erachtens  nach  wäre  es  auch  nicht 
weiter  schade  um  ein  ganz  Teil  der  Herren.  Wie  sich 
alles  noch  entwickeln  wird,  weiß  ich  nicht.  Die  Ab- 
lehnung war  doch  wohl  eine  große  Dummheit,  denn 
kommen  wird  der  Kanal  doch. 

Potsdam,  25.  August  1899. 

Der  Kaiser  setzte  sich  mit  mir  hin  und  sprach  lange 
über  die  Kanalvorlage  usw.  Ich  habe  getan,  was  in 
meinen  Kräften  stand,  um  zu  mildern  und  versöhn- 
lich zu  stimmen.  Die  Erregung  Sr.  Majestät  war  aber 
sehr  tiefgehend,  und  ich  fürchte,  daß  bereits  Anord- 
nungen erlassen  waren,  die  nicht  mehr  rückgängig  zu 
machen  sind. 

Potsdam,  5. September  189g. 

Da  ich  die  Manöver  selber  leite,  habe  ich  sehr  viel 
zu  tun  und  werde  so  ziemlich  den  ganzen  Tag  zu 
Pferde  sein  müssen.  Ich  bin  selber  neugierig,  wie  es 
gehen  wird,  es  ist  das  erste  Mal,  daß  ich  solche  Ma- 
növer selber  angelegt  habe. 

Döberitz,  14.  Juni  1900. 

Vorgestern  und  gestern  habe  ich  das  1.  und  3.  Garde- 
Regiment  besichtigt,  im  Beisein  des  Divisionskom- 
mandeurs und  des  Kommandierenden  Generals.  Alles 
ging  herrlich,  und  am  Schluß  bekam  ich  noch  ein 

238 


Lob  vom  Kommandierenden,  der  mir  seine  beson- 
dere Anerkennung  aussprach  über  die  hübsche  Art 
meiner  Besichtigung.  Er  sagte  noch:  »Ich  empfehle 
Ihnen  allen,  meine  Herren,  die  kriegsmäßige  und  in- 
teressante Art  der  Besichtigung,  wie  sie  der  Herr  Bri- 
gadekommandeur uns  vorgeführt  hat.« 

Wilhelmshaven,  4.  Juli  1900. 

Heute  abend  soll  die  »Hohenzollern«  in  See  gehen. 
Der  Kaiser  will  die  Panzerdivision,  die  nach  China 
gehen  soll,  vor  dem  Auslaufen  noch  sehen.  —  Bülow 
gefällt  mir  sehr  gut,  er  ist  ruhig,  klar  und  bestimmt. 
Sein  Einfluß  auf  den  Kaiser,  wie  mir  scheint,  ein 
günstiger.  Leicht  ist  seine  Aufgabe  nicht,  seine  große 
Klugheit  und  Gewandtheit  kommt  ihm  sehr  zustatten. 
Gestern  abend  spät  kam  Schlief fen  noch  an,  heute 
kommt  Hahnke. 

Es  kribbelt  mir  in  allen  Gliedern,  die  China-Expedi- 
tion mitzumachen.  Es  muß  riesig  interessant  werden, 
wenn  ich  auch  glaube,  daß  das  Ganze  weniger  auf 
einen  Einzug  in  Peking  als  auf  einen  Schutz  von 
Schantung  hinauslaufen  wird.  Ich  vermute,  daß  letz- 
teres nötig  geworden  sein  wird,  bis  wir  dort  sein  kön- 
nen, denn  daß  die  ganze  Bewegung  so  rasch  erstickt 
sein  wird,  glaube  ich  nicht.  Die  politischen  Verwick- 
lungen zwischen  den  europäischen  Mächten  werden 
wohl  noch  kommen. 

Kiel,  7.  Juli  1900. 

Die  politischen  Verhältnisse  scheinen  bis  jetzt  gün- 
stig zu  liegen.  Die  Anlässe  zu  Zerwürfnissen  zwi- 
schen den  europäischen  Mächten  werden  ja  auch  erst 
später  eintreten.  Der  Aufstand  in  China  scheint  sich 
inzwischen  mit  rapider  Gewalt  auszubreiten,  in  eini- 
gen Wochen  wird  wohl  das  ganze  ungeheure  Reich 

239 


in  Flammen  stehen.  —  Was  man  sich  eigentlich  bei 
einem  Unternehmen  gegen  Peking  denkt,  ist  mir  völ- 
lig unklar  und  ich  fürchte  den  Herrn  metteurs  en 
scene  ebenso.  Die  paar  Mann,  die  wir  dorthin  (nach 
Taku)  schaffen  können,  werden  nutzlos  sein  dem  An- 
sturm von  Hunderttausenden  f  anatisierter  Horden  ge- 
genüber, und  nun  eine  Kriegsführung  von  zehn  ver- 
schiedenen Kontingenten  unter  einer  Führung,  der 
sich  keiner  wird  unterordnen  wollen,  der  Franzose 
wird  nicht  unter  deutschem,  der  Deutsche  nicht  unter 
russischem,  der  Russe  nicht  unter  japanischem  Ober- 
befehl stehen  wollen,  dazu  kein  Kriegsobjekt,  keine 
legale  Regierung,  mit  der  man  selbst  im  günstigsten 
Fall  Frieden  schließen  könnte,  nichts  als  ein  grund- 
loser Abgrund  von  Menschen,  in  dem  die  europäi- 
schen Häuflein  ertrinken  werden.  Keine  Ausrüstung 
mit  Trains  usw.,  keine  Basis  als  fünf  bis  sechs  Schiffe, 
keine  geregelte  Nachfuhr  von  Lebensmitteln  usw.  — 
Ich  sehe  dies  ganze  Unternehmen  als  ein  wüstes 
Abenteuer  an  und  hoffe,  daß  der  Druck  der  Verhält- 
nisse uns  vor  demselben  bewahren  und  dahin  führen 
wird,  uns  auf  das  einzige  zu  beschränken,  das  wir  tun 
können  und  meiner  Meinung  nach  tun  müssen,  näm- 
lich unsere  Kolonie  Kiautschou  zu  schützen,  dann 
.den  chinesischen  Riesenbrand  sich  ausbrennen  zu 
lassen  und  uns  später  durch  Kompensationen  schad- 
los zu  halten.  —  Was  wollen  wir  in  Peking?  —  Wir 
müssen  darauf  hoffen,  daß  die  Zeit,  die  gottlob  ver- 
streichen muß,  bevor  unsere  ersten  Transporte  an- 
langen können,  Ruhe  und  Überlegtheit  auch  bei  uns 
die  Oberhand  gewinnen  lassen.  Vorläufig  sind  wir 
jeden  Moment  einer  unvermuteten  Willensexplosion 
ausgesetzt,  die  gänzlich  unberechenbar  ist.  Die  Rat- 
geber haben  einen  schweren  Stand.  —  Mit  Besorgnis 
:sehe  ich  den  unvermeidlich  kommenden  Vorwürfen 

^40 


in  der  Presse  entgegen,  die  mit  dem  Vorwurf  kom- 
men werden,  daß  übereiltes  Handeln  uns  in  kopflose 
kriegerische  Verwicklungen  gestürzt  hat  im  fernen 
Osten,  wo  wir  eigentlich  nichts  zu  suchen  haben.  — 
Das  wird  sicher  kommen,  wenn  wir  auf  Peking  aven- 
turieren  und  uns  unser  Schutzgebiet  darüber  verloren 
geht,  wenn  unser  Häuflein  in  dem  Riesenreich  all- 
mählich zerschmilzt  und  aufgezehrt  wird,  wie  ein 
Schneeball  auf  einem  Ofen,  wenn  wir  dann  genötigt 
sein  werden,  neue  Kräfte  heranzuziehen,  um  die  alten 
womöglich  noch  zu  retten,  wenn  dann  der  Reichstag, 
den  man  jetzt  völlig  beiseite  liegen  läßt,  mitreden  wird 
und  die  enormen  Mittel  dargelegt  werden  müssen, 
die  wir  an  die  Erreichung  eines  Phantoms  gesetzt 
haben  und  noch  setzen  müssen,  das  man  nicht  an- 
ders bezeichnen  kann  als:  Rache.  Ich  sehe  mit  trüber 
Besorgnis  in  die  Zukunft.  Doch  ich  bin  ja  Pessimist, 
und  vielleicht  wird  noch  alles  besser. 

Kiel,  9.  Juli  1900. 

Hier  ist  in  den  letzten  zwölf  Stunden  ein  völliger 
Umschwung  eingetreten  und  ich  bin  sehr  froh  dar- 
über, denn  die  Entschlüsse,  die  der  Kaiser  jetzt  ge- 
faßt hat,  decken  sich  völlig  mit  dem,  was  ich  als  rich- 
tig angesehen  habe.  Der  Rachezug  nach  Peking  ist 
aufgegeben.  Alle  Truppen,  die  unterwegs  sind  und 
noch  abgehen  sollen,  werden  nach  Kiautschou  be- 
ordert. Dort  wird  eine  sichere  Basis  geschaffen  und 
Ruhe  und  Ordnung  hergestellt  resp.  aufrecht  erhal- 
ten. Damit  begnügen  wir  uns  fürs  erste,  sehen  die 
Entwicklung  der  Dinge  an,  lassen  den  Brand  in 
China  ausbrennen  und  halten  nur  mit  dem  Wasser- 
schlauch in  der  Hand  Wache,  daß  das  Feuer  nicht 
unser  eigenes  Haus  ergreift.  Damit  sind  wir  aus  allen 
politischen  Wirren  heraus,  brauchen  es  weder  mitRuß- 

Moltke.  16.  241 


land  noch  mit  England  zu  verschütten  und  können 
später  unsere  Rechnung  präsentieren.  Ich  habe  die- 
sen Standpunkt  von  Anfang  an  vertreten.  Nun  ist  der 
Kaiser  ganz  dafür  gewonnen,  wie  ich  zu  Gott  hoffe, 
wird  er  festhalten  zum  Wohle  des  Vaterlandes.  Es 
war  eine  aufregende  Zeit,  die  tollsten  Projekte  wur- 
den gemacht,  und  die  Zukunft  stand  oft  auf  des  Mes- 
sers Schneide.  Ich  bin  sehr  froh,  daß  alles  so  ge- 
kommen. Der  Kaiser  hat  sehr  nett  mit  mir  gespro- 
chen und  ich  habe  auch  unverfroren  meine  Meinung 
gesagt.  Über  unsere  Abreise  ist  noch  immer  nichts 
bestimmt.  Ich  hoffe  stets  noch,  sie  unterbleibt  ganz, 
aber  wenn  wir  auch  nun  noch  hinausgehen,  so  tue 
ich  es  doch  mit  leichterem  Herzen. 

Kiel,  10.  Juli  1900. 

Ich  kann  Dir  noch  sagen,  daß  ich  gebeten  hatte,  mir 
das  Kommando  nach  China  zu  geben,  gestern  war 
Hahnks  hier  und  hatte  in  den  Sachen  Vortrag,  da  bat 
ich  ihn  noch  einmal,  mich  dem  Kaiser  in  Vorschlag 
zu  bringen,  was  er  auch  getan  hat,  aber  ohne  Erfolg. 
Der  Kaiser  hat  mich  nicht  gehen  lassen,  nicht  wie  ich 
glaube,  weil  er  mich  für  unfähig  hält,  sondern  weil 
er,  wie  er  sagt,  mich  nicht  entbehren  kann.  Eine  wun- 
derliche Idee,  ich  habe  auch  gesagt,  daß  meine  Bri- 
gade jeder  führen  könne  und  daß  ich  mit  der  größten 
Leichtigkeit  zu  ersetzen  wäre,  aber  umsonst.  Ich  war 
recht  enttäuscht,  denn  ich  hatte  mir  schon  einen 
großen  Feldzugsplan  zurechtgelegt  und  der  alte  Sol- 
datengeist mit  seinem  Drang  nach  Gefahr  und  Tätig- 
keit war  wieder  ganz  in  mir  erwacht.  Nun  habe  ich 
ihn  fein  sanft  wieder  schlafen  gelegt  und  werde  fort- 
fahren, meinen  Beruf  zu  pflegen  und  mir  im  übrigen 
recht  überflüssig  vorzukommen. 

242 


Norwegen,  Kopervik,  n.Juli  1900. 

Die  Stellenbesetzung  der  nach  China  gehenden 
Truppen  ist  wohl  inzwischen  veröffentlicht.  Als  Ober- 
kommandierender General  v.  Lessei.  Das  ist  die  Stel- 
lung, die  ich  gerne  gehabt  hätte.  Da  ich  aber  »unent- 
behrlich« bin,  habe  ich  ja  darauf  verzichten  müssen. 
Es  ist  sehr  komisch,  so  ganz  unentbehrlich  zu  sein 
und  sich  dabei  so  ganz  überflüssig  vorzukommen.  — 
Du  findest  meine  Idee  gewiß  abenteuerlich  und  doch, 
wie  gerne  hätte  ich  die  schwarz-weiß-rote  Fahne  ge- 
gen die  gelben  Halunken  geführt,  die  unsere  Lands- 
leute umgebracht  haben.  —  Auf  das  eigentlich  trei- 
bende Motiv  der  ganzen  Expedition  muß  man  frei- 
lich nicht  eingehen,  denn  wenn  wir  ganz  ehrlich  sein 
wollen,  so  ist  es  Geldgier,  die  uns  bewogen  hat,  den 
großen  chinesischen  Kuchen  anzuschneiden.  Wir 
wollten  Geld  verdienen,  Eisenbahnen  bauen,  Berg- 
werke in  Betrieb  setzen,  europäische  Kultur  bringen, 
das  heißt  in  einem  Wort  ausgedrückt,  Geld  verdienen. 
Darin  sind  wir  keinen  Deut  besser  als  die  Engländer 
in  Transvaal! 

Norwegen,  Molde,  21. Juli  1900. 

Von  China  haben  wir  keine  neuen  Nachrichten  von 
Bedeutung.  Nachdem  Tientsin  von  den  Europäern 
genommen,  wird  zunächst  wohl  ein  Stillstand  ein- 
treten. Unsere  Truppen  haben  sich  brav  benommen, 
wie  es  nicht  anders  zu  erwarten  war.  Von  hier  aus 
werden  Orden  über  Orden  hingeschickt,  ich  glaube 
kein  Offizier  ist  mehr  undekoriert.  Der  Kapitän  U.  ist 
Flügeladjutant  geworden,  es  ist  das  gewohnte  Über- 
maß in  allem,  das  stets  wieder  hervortritt. 

Potsdam,  28.  Juli  1900. 

Politisch  kann  ich  Dir  nichts  mitteilen,  da  ich  nichts 

weiß.  Bülow  und  der  Reichskanzler  kamen,  wie  ich 

243 


von  Bord  ging,  so  weiß  ich  nicht,  was  abgemacht 
worden  ist.  Die  Lage  ist  aber,  glaube  ich,  für  uns 
nicht  ungünstig. 

Potsdam,  2.  August  1900. 

Die  Ermordung  des  armen  Königs  von  Italien  ist 
eins  der  gemeinsten  Bubenstücke,  die  es  je  gegeben. 
Er  war  ein  wahrer  Vater  seines  Volks  und  tat  nur 
Gutes.  Der  Halunke,  der  ihn  niedergeschossen,  sollte 
öffentlich  gepfählt  werden.  Ich  denke  so  oft  mit  Be- 
sorgnis an  unseren  Kaiser,  über  dessen  Haupt  doch 
auch  immer  der  Mordstahl  schwebt,  und  der  so 
außerordentlich  unvorsichtig  ist.  —  Ich  begreife  nicht, 
warum  man  alle  Anarchisten  nicht  einfach  als  all- 
gemeingefährlich hinter  Schloß  und  Riegel  setzt. 
Wenn  ein  Geisteskranker  herumläuft  und  Menschen- 
leben bedroht,  so  steckt  man  ihn  ein,  wenn  diese  Ver- 
brecher aber  öffentlich  erklären,  daß  sie  morden  wol- 
len und  ihre  Worte  auch  gelegentlich  zur  Tat  werden 
lassen,  so  behandelt  man  sie  wie  eine  gleichberech- 
tigte politische  Partei.  Die  Menschen  sind  eben  mit 
Blindheit  geschlagen  und  werden  selbst  dann  nicht 
klug  werden,  wenn  ihnen  das  Dach  überm  Kopf  an- 
gezündet wird. 

Potsdam,  8. August  1900. 

J.  sagte  mir  heute,  daß  die  Entsendung  des  Grafen 
Waldersee  nach  China  auf  Wunsch  Rußlands  erfolge, 
das  gebeten  habe,  Deutschland  möge  den  definitiven 
Oberbefehl  dort  übernehmen.  Ich  halte  dies  für  ein 
sehr  glückliches  Omen  als  Beweis  für  den  Zusam- 
menschluß Deutschlands  und  Rußlands,  dem  sich 
natürlich  Frankreich  angliedern  wird. 

Potsdam,  9.  August  1900. 
Heute  morgen  war  ich  in  Berlin,  wo  in  der  Hed- 
wigs-Kirche ein  Hochamt  für  König  Humbert  zele- 

244 


briert  wurde.  Auf  mich  machte  die  ganze  Handlung 
mit  den  unverständlichen  Manipulationen  der  Prie- 
ster vor  dem  Altar,  den  Weihrauchwolken  und  dem 
näselnden  Gesang  einen  fast  abstoßenden  Eindruck. 
Es  ist  doch  genau  wie  ein  Götzendienst.  —  Ich  kann 
mir  nicht  denken,  daß  Christus  mit  dieser  Art  Gottes- 
dienst einverstanden  sein  kann,  er,  der  seine  Predig- 
ten unter  Gottes  freiem  Himmel  hielt  und  der  alles 
verwarf,  was  an  die  ritualen  Gebräuche  des  alten  Ge- 
setzes erinnerte  und  der  selber  sagte,  wenn  ihr  betet, 
so  sollt  ihr  nicht  plappern  wie  die  Heiden. 

Döberitz,  ig. Mai  1901. 
Gestern  bin  ich  besichtigt  worden.  Es  verlief  alles 
glatt  und  gut  und  ich  habe  von  allen  Seiten  Glück- 
wünsche über  die  gute  Besichtigung  empfangen.  Ich 
bin  froh,  daß  dieser  Tag  glücklich  verlaufen  ist,  der 
einzige  im  Jahr,  wo  man  vom  Lehrer  zum  Schüler 
degradiert  wird  und  zeigen  muß,  daß  man  nicht  nur 
anderen  sagen  kann,  wie  sie  es  hätten  machen  müs- 
sen, sondern  auch  selber  seine  Sache  zu  machen  ver- 
steht. Ich  habe  das  Glück  gehabt,  alle  Aufgaben,  die 
der  Brigade  gestellt  wurden,  in  zufriedenstellender 
Weise  zu  lösen. 

Neu-Ruppin,  19. September  igoi. 
Morgen  würde  es  schlimm  aussehen,  wenn  es  wei- 
ter gießt,  denn  morgen  ist  der  erste  Korpsmanöver- 
tag, wo  alle  Truppen  biwakieren  müssen.  Wie  ich  in 
der  Zeitung  sehe,  hat  der  Kaiser  wegen  Regen  die 
großen  Manöver  für  einen  Tag  unterbrochen.  Der 
Laie  wird  sich  kaum  eine  Vorstellung  davon  machen 
können,  was  das  für  die  Manöverleitung  sagen  will. 
Alle  die  Dispositionen  werden  über  den  Haufen  ge- 
worfen. —  Die  Eisenbahntransporte,  die  mit  den 
Bahnverwaltungen  lange  vorher  vereinbart  worden 

245 


sind,  müssen  innegehalten  werden,  alles  geht  drüber 
und  drunter  und  abgesehen  von  allen  Schwierigkeiten 
wird  in  der  Armee  die  Empfindung  erweckt,  als  ob 
die  Soldaten  keinen  Regen  mehr  vertragen  könnten. 
—  Man  denke  sich  die  Folgen,  wenn  im  Ernstfall  ein 
solches  gewaltsames  Eingreifen  stattfinden  sollte. 

KABINETTSORDER. 

Ich  habe  Sie  heute,  unter  Beförderung  zum  Generalleutnant, 
zu  Meinem  Generaladjutanten  und  zum  Kommandeur  der  i.  Garde- 
Infanterie-Division  ernannt.  Es  gereicht  Mir  zum  besonderen  Ver- 
gnügen, Ihnen  dies  hierdurch  bekanntzumachen. 

Berlin,  den  27.  Januar  1902. 

Wilhelm  R. 
An  Meinen  General  a  la  suite,  Generalmajor  v.  Moltke,  Komman- 
deur der   1.  Garde-Infanterie-Brigade   und   beauftragt  mit  Wahr- 
nehmung der  Geschäfte  der  Kommandantur  von  Potsdam. 

Madrid,  16.  Mai  1902. 

Ich  hätte  so  viel  zu  erzählen,  aber  wir  sind  schon 
wieder  in  der  gewöhnlichen  Hetze  und  ich  weiß  nicht, 
wie  weit  ich  kommen  werde.  Darum  vorweg,  daß  es 
mir  ausgezeichnet  geht,  daß  die  Reise  glücklich  über- 
standen ist,  daß  wir  gestern,  am  15.,  nachmittags,  hier 
angekommen  sind,  und  daß  ich  mit  noch  zwei  ande- 
ren Herren  des  Gefolges  in  unserer  Botschaft  wohne, 
wo  wir  ganz  vorzüglich  untergebracht  sind.  —  Also 
am  13.,  mittags,  Abfahrt  von  Berlin.  In  Braunschweig 
meldeten  wir  uns  im  Reiseanzug  bei  dem  Prinzen 
Albrecht,  der  von  dort  aus  mitfuhr.  Wir  wurden 
abends  7  Uhr  zum  Prinzen  in  den  Speisewagen  be- 
fohlen und  saßen  dann  zusammen,  bis  wir  abends 
10  Uhr  in  Köln  ankamen,  wo  wir  den  Zug  wechselten 
und  uns  in  den  Luxuszug  Köln — Paris  einschifften. 
Am  nächsten  Morgen  um  8  Uhr  war  wieder  mit  dem 
Prinzen   und   seinen   Herren   zusammen    Frühstück 

246 


und  um  V29  Uhr  kamen  wir  in  Paris  an,  wo  der  Bot- 
schafter Fürst  Radolin  uns  auf  dem  Bahnhof  emp- 
fing. Wir  bestiegen  nun  sofort  bereitstehende  Wagen 
und  fuhren  zunächst  nach  dem  Palais  de  Justice,  wo 
wir  die  reizende  Sainte  Chapelle  besahen  mit  ihren  al- 
ten, wundervollen  Glasfenstern  und  ihren  herrlichen 
Mosaik-  und  Emailbildern,  die  alte  venezianische 
Arbeit  sind.  Sodann  sahen  wir  die  unteren  Räume, 
von  denen  am  meisten  das  kleine  Kellerloch  interes- 
siert, in  dem  die  unglückliche  Königin  Marie  Antoinette 
das  letzte  Jahr  ihres  Martyriums  verlebte.  Von  dort 
fuhren  wir  in  den  Louvre,  durch  den  wir  einen  Run 
machten,  die  Venus  von  Milo  besuchten  und  die  schön- 
sten Stücke  der  Gemäldesammlung  besichtigten.  Dann 
eine  Fahrt  über  den  Place  de  la  Concorde,  die  Elys6es, 
über  den  Pont  Alexandre  II.  nach  der  Botschaft,  wo 
ein  großes  Frühstück  mit  allen  Mitgliedern  derselben 
stattfand.  Paris  war  wunderschön,  das  Wetter  klar, 
alles  grün,  ich  war  doch  wieder  überrascht  von  der 
Großartigkeit  der  Stadt,  die,  seit  ich  sie  zuletzt  ge- 
sehen, noch  durch  die  beiden  großen  Paläste  erhöht 
worden  ist,  die  vor  der  Alexander-Brücke  gelegent- 
lich der  Weltausstellung  gebaut  worden  sind.  Unmit- 
telbar nach  dem  Frühstück  ging  es  auf  die  Bahn.  Um 
12  Uhr  mittags  fuhren  wir  ab,  über  Orleans,  Bordeaux 
nach  der  spanischen  Grenzstation  Irun,  wo  wir  um 
11  Uhr  abends  ankamen.  Leider  war  es  schon  dun- 
kel, wie  wir  an  die  Pyrenäen  herankamen,  so  daß  wir 
von  den  schönsten  Gegenden,  San  Sebastian  und 
Biarritz  nichts  gesehen  haben.  —  Die  Tour  durch 
Frankreich  war  aber  herrlich,  es  ist  ein  wundervolles 
Land,  Reichtum  und  Kultur  zeigen  sich  überall,  Wein- 
bau und  sorgsam  bestellte  Felder  mit  sauberen  Ort- 
schaften. Alles  grünt  und  blüht,  der  erste  Klee  war 
schon  gemäht,   das   Korn   hatte   schon   Ähren   und 

247 


das  Vieh  war  auf  der  Weide.  —  Von  Irun  ab  hatten 
wir  einen  spanischen  Extrazug,  der  als  Fürstensam- 
melzug  gestellt  war.  Außer  uns  wurden  in  demselben 
verstaut  Großfürst  Wladimir,  der  Prinz  Christian  von 
Dänemark,  der  Kronprinz  von  Siam,  Prinz  Eugen  von 
Schweden,  der  Prinz  von  Monako  usw.  —  Ich  bekam 
noch  ein  kleines  Coupö  für  mich,  wo  ich  auf  der 
Bank  leidlich  geschlafen  habe.  Die  Herren  des  Prin- 
zen waren  zu  vier  in  einem  Abteil.  Auch  bei  dieser 
Fahrt  ging  uns  der  schönste  Teil  der  Nacht  wegen 
verloren.  Ich  wachte  um  7  Uhr  morgens  auf.  Wir 
fuhren  durch  kahles,  ödes  Land  und  es  wurde  auch 
nicht  anders,  bis  wir  in  Madrid  ankamen.  Weite,  öde, 
unbebaute  Strecken,  nackte  Berglehnen,  die  Felder  un- 
beschreiblich lotterig  bestellt,  das  Getreide  so  dünn 
wie  meine  Haare,  ab  und  zu  eine  Schafherde  oder  ein 
Trupp  Maulesel,  die  zwischen  den  Steinen  weideten. 
Die  Häuser  elend,  aus  ungebrannten  Lehmziegeln  auf- 
gebaut, verfallen,  zum  Teil  ohne  Dächer.  Die  Bevölke- 
rung zerlumpt,  schmutzig.  Dazwischen  feiste  Pfaffen 
mit  fettglänzender  Soutane.  Ein  elendes  Land.  Ab 
und  zu  etwas  Weinbau  in  der  Ebene.  Alle  Wohnun- 
gen in  Ortschaften  zusammengedrängt,  auf  den  wei- 
ten Landstrecken  kein  Haus,  kein  Bauernhof,  kein 
Baum,  alles  heruntergeschlagen.  Später  einige  dürre 
Pinienwälder  oder  Balsamfichten,  alle  mit  aufge- 
schnittener Rinde  und  unter  der  Wunde  ein  Topf, 
um  das  herausfließende  Harz  aufzufangen,  es  sah  aus, 
als  ob  das  Wild  geschält  hätte.  Natürlich  gehen  alle 
Bäume  mit  der  Zeit  aus.  Fast  kein  Vogel,  kein  Stück 
Wild,  öde  Verlassenheit  unter  der  strahlenden  Sonne. 
In  der  Nähe  von  Madrid  einige  Olivenpflanzungen, 
alles  grau.  Dabei  schwerer,  schöner  Boden,  auf  dem 
alles  von  selber  wachsen  würde,  wenn  die  Felder 
ordentlich  bestellt  würden.  Es  ist  traurig,  dieses  dem 

248 


Verfall  entgegengehende  Land  zu  sehen.  —  Um  4  Uhr 
nachmittags  kamen  wir  in  Madrid  an,  bereits  im  Pa- 
radeanzug, in  der  Bahn  umgezogen.  —  Große  Auf- 
fahrt nach  dem  hochgelegenen,  sehr  schönen  Schloß, 
das  wirklich  hervorragend  schön  ist.  Auf  der  breiten 
Treppe  im  Inneren  Empfang  durch  die  Königin,  Hat- 
schiere  mit  Hellebarden,  Musik,  Fanfaren.  Alles  sehr 
prächtig  und  zeremoniell.  Feierliche  Begrüßung  der 
sukzessive  nach  dem  Rang  eintreffenden  Fürstlich- 
keiten. Dann  allgemeine  Vorstellung  der  Gefolge.  Wir 
schlagen  alle  anderen  durch  Kopfzahl  und  Körper- 
länge. Die  Königin  sehr  liebenswürdig,  der  kleine  Kö- 
nig schmächtig,  zart,  noch  ein  Kind,  aber  in  guter 
Haltung  und  von  anerkennenswerter  Sicherheit.  Dann 
fahren  wir,  die  wir  hier  wohnen,  nach  unserer  Bot- 
schaft, die  am  anderen  Ende  der  Stadt  liegt,  sehr 
schön,  mitten  in  einem  blühenden  Garten,  umgeben 
von  blühenden  Rosen,  Akazien,  Kastanien,  dazwi- 
schen hohe  dunkle  Zedern.  Es  ist  die  hübscheste  Bot- 
schaft, die  ich  bisher  gesehen,  und  wir  sind  vortreff- 
lich hier  aufgehoben.  Abends  8  Uhr  großes  Galadiner 
im  Schloß.  Prachtvoller  Saal,  elektrisch  beleuchtet, 
mit  einer  Fülle  von  Blumen  auf  der  Tafel.  Alles  erster 
Klasse.  —  Abends  11  Uhr  zu  Hause.  Am  16.  Fahrt  mit 
dem  Prinzen  in  den  Prado  (Museum)  mit  seinen  mas- 
senhaften Meisterwerken  von  Murillo,  Velasquez,  Ti- 
zian, Raphael,  herrlich  schön.  Um  3  Uhr  im  Parade- 
anzug im  Schloß.  Der  König  hat  preußische  Uniform 
angezogen  und  bedankt  sich  beim  Prinzen  für  die 
Verleihung  des  Regiments.  Dann  Visitenfahren.  Ge- 
gen Abend  Spazierfahrt  in  dem  großen,  schönen  Park 
Buen  retiro.  Hunderte  von  sehr  schönen  Equipagen, 
darin  angemalte  Spanierinnen  mit  Glutaugen  und  se- 
mitischen Nasen.  Abends  großes  Diner  auf  der  Bot- 
schaft. Um  3  Uhr  zu  Bett. 

249 


Madrid,  18.  Mai  1902. 

Wir  festen  inzwischen  weiter.  Gestern  um  1  Uhr 
waren  wir  in  Parade  im  Schloß,  um  an  der  großen 
Auffahrt  zur  Eidesleistung  des  Königs  teilzunehmen. 
Diese  fand  mit  dem  ganzen  Pomp  statt,  den  der  Hof 
aufbringen  kann.  Staatskarossen,  Galageschirre,  alle 
Pferde  mit  Riesenfederbüschen,  die  ganzen  Trup- 
pen in  den  Straßen  als  Spalier.  Wir  versammelten 
uns  in  dem  Saal  der  Cortes,  einem  verhältnismäßig 
kleinen  Sitzungssaal,  in  dem  ein  Podium  für  den  Hof 
hergestellt  war.  Während  wir  noch  auf  den  König 
warteten,  wurde  die  Nachricht  eines  Attentats  ver- 
breitet, große  Aufregung.  Der  Präsident  steht  auf  und 
sagt,  daß  ein  Verrückter  oder  ein  Halunke  ein  Atten- 
tat versucht  habe,  Hoch  auf  den  König.  Endlich 
kommt  er.  Riesige  Akklamation,  Händeklatschen, 
Hochs.  Er  sieht  ganz  vergnügt  aus  und  hat  eine  gute 
Haltung.  Mit  klarer  Stimme  verliest  er  die  Eidesfor- 
mel. Hochs.  Rückfahrt  nach  der  Kirche.  Tausende 
von  Menschen  auf  der  Straße.  Alles  nach  der  Kirche, 
die  gepfropft  voll  ist.  Tedeum.  Wundervolle  Musik, 
herrlicher  Gesang,  es  war  das  Schönste  von  allem. 
Nach  der  Kirche  ist  es  kaum  möglich,  den  Prinzen 
in  seinen  Wagen  zu  bekommen.  Alles  verfahren.  Die 
wüsteste  Unordnung.  Keine  Spur  von  irgendeinem 
Freihalten  der  Straßen  oder  Ordnung  im  Auffahren. 
Wir  sitzen  beinahe  eine  Stunde  im  Volksgewühl  fest, 
ohne  Rücken  und  Rühren,  in  der  brennenden  Sonne. 
Endlich  kommen  wir  ins  Schloß.  Hier  Gratulation. 
Dann  alle  auf  den  Balkon.  Vorbeimarsch  der  Trup- 
pen vor  dem  Schloß.  Volksmenge  Kopf  an  Kopf,  ein 
hübscher  Anblick  von  oben.  Die  Truppen  sehr  gut 
angezogen,  sehr  farbenreich  und  malerisch.  Schöne 
Pferde  in  ganz  spanischem  Typus.  Abends  großer 

250 


Ball  bei  einem  Granden,  wo  viele  Beautös  mit  ge- 
malten Augenbrauen  und  zum  Teil  prachtvollem  fal- 
schen Schmuck.  Große  Illumination.  In  der  Botschaft 
geht  auf  einmal  das  gesamte  elektrische  Licht  aus 
und  läßt  sich  den  ganzen  Abend  nicht  mehr  sehen. 
Wir  müssen  uns  mit  Stearinkerzen  behelfen.  Unsere 
Wirte  sehr  liebenswürdig.  —  Die  Nächte  sind  sehr 
kalt,  die  Tage  meist  sehr  heiß.  Madrid  ist  eigentlich 
eine  ganz  moderne  Stadt,  Häuser  sehr  hoch,  ohne 
charakteristischen  Stil.  Eine  schöne  breite  Avenue, 
an  der  die  Botschaft  liegt,  und  dann  der  große,  schöne 
Park  Buen  retiro.  Viele  Akazien  in  der  Stadt,  die  ganz 
von  dem  süßlichen  Geruch  ihrer  Blüten  durchduftet 
ist.  Der  Manzanares  ist  ein  kleines  Wässerchen  in 
einem  breiten  Bett.  —  Wir  sollen  jetzt  zu  einem  Polo- 
spiel. Um  4  Uhr  Grundsteinlegung  des  Denkmals  Al- 
fons  XII.  Paradeanzug.  Abends  Galaoper. 

Madrid, ig.  Mai  1902. 

Uns  geht  es  andauernd  gut,  wir  sind  aber  in  perma- 
nenter Hetze,  so  daß  ich  zum  ordentlichen  Schreiben 
nicht  kommen  kann.  —  Gestern  abend  Oper.  Ein 
Riesenhaus  mit  fünf  Rängen,  dreitausend  Menschen. 
Sehr  schöne  Toiletten  und  schöne  Frauen.  Das  Haus 
sah  sehr  hübsch  aus,  wenn  es  auch  gar  nicht  deko- 
riert war  wie  bei  uns  üblich  bei  solchen  Gelegen- 
heiten. Die  Vorstellung  —  Don  Juan  —  war  recht 
gut.  Hübsche  Stimmen.  Die  Mise  en  scene  miserabel, 
auch  hier  gänzlicher  Mangel  an  dekorativer  Ausstat- 
tung. Die  Vorstellung  dauerte  von  g  Uhr  bis  V21  Uhr 
mit  endlosen  Pausen.  —  Die  gestrige  Grundstein- 
legung war  wieder  eine  Komödie  mit  Volksmassen 
und  gräßlicher  Unordnung.  Keine  Spur  von  irgend- 
welchem Freihalten  oder  Ordnung  in  den  Wagen- 
kolonnen, die  alle  wüst  durcheinander  fahren.  Es  ist 

251 


immer  fast  lebensgefährlich,  an  seinen  Wagen  zu  ge- 
langen, wenn  man  ihn  überhaupt  findet.  —  Heute 
nachmittag  V25  Uhr  Parade,  die  in  den  Straßen  der 
Stadt  abgehalten  werden  soll. 

Paris,  24.  Mai  1902. 

Gestern  abend  11  Uhr  sind  wir  hier  nach  fünfund- 
zwanzigstündiger  Fahrt  von  Madrid  angekommen  und 
im  Hotel  quai  d'Orsay  abgestiegen.  Wir  fahren  heute 
nachmittag  2  Uhr  weiter  nach  Berlin,  wo  wir  am 
25.  morgens  ankommen. 

Berlin,  25.  Mai  1902. 

Ich  bin  um  g  Uhr  heute  morgen  angekommen.  Ge- 
stern mittag  2  Uhr  aus  Paris  abgefahren.  Ich  hoffe 
noch  Zeit  zu  finden,  über  das  eine  und  andere  zu 
schreiben,  besonders  über  die  große  Corrida,  der  wir 
beiwohnten,  bei  der  neun  Stiere,  einige  zehn  bis 
zwölf  Pferde  und  zwei  Menschen  umgebracht  wur- 
den, sodann  über  unseren  Besuch  des  Escorial,  der 
Burg  Philipps  II.,  des  Vaters  der  Inquisition.  Jetzt 
komme  ich  nicht  dazu.  Ich  habe  soeben  zwei  Stun- 
den Vortrag  gehabt  und  soll  um  7  Uhr  zum  Diner 
zum  Prinzen  Albrecht,  der  sehr  gütig  und  liebens- 
würdigwar. Morgen  habe  ich  Brigadebesichtigung  in 
Döberitz,  am  Dienstag  Prüfungsschießen  daselbst. 
Am  Mittwoch  Exerzieren  der  Kaiserbrigade  daselbst, 
am  Donnerstag  soll  ich  morgens  den  Kronprinzen 
von  Siam  und  nachmittags  den  Schah  von  Persien 
in  Potsdam  auf  dem  Bahnhof  empfangen,  am  Frei- 
tag ist  Parade  hier  in  Berlin,  am  Sonnabend  Parade 
in  Potsdam.  Die  Woche  ist  also  rund  ausgefüllt! 

Berlin,  26. Mai  1902. 

Bis  zum  Juli  bin  ich  sehr  besetzt,  und  dann  kommt 
die  Nordlandreise,  und  dann  gleich  das  doppelte  Ma- 

252 


növer,  dann  ist  der  Herbst  da  und  der  Wind  streicht 
über  die  Stoppeln.  So  geht  ein  Sommer  nach  dem 
andern  wie  im  Fluge  dahin,  und  aus  dem  Sommer 
unseres  Lebens  wird  auch  bald  der  Herbst. 

Berlin,  31. Mai  1902. 

Nun  ist  die  zweite  Parade  auch  glücklich  überstan- 
den, bei  glühendem  Sonnenbrand  unter  den  blühen- 
den Kastanien  des  Potsdamer  Lustgartens.  Ich  kom- 
mandierte die  Parade,  und  alles  ging  gut.  Der  Kaiser 
war  sehr  zufrieden  und  lobte  die  Truppen  besonders. 
—  Am  Montagnachmittag  muß  ich  nach  Beeskow 
fahren,  wo  den  Dienstag  Besichtigung  ist.  Dienstag 
nachmittag  nach  Lübbenau  ins  Manövergelände.  Mitt- 
woch abend  hier  zurück. 

Norwegen,  Bergen,  15. Juli  1902. 

Morgens  machten  Cuno,  Se.  Majestät  und  ich  einen 
langen  Spaziergang  an  Land,  besuchten  einen  alten 
Schleswig-Holsteiner,  der  eine  niedliche  Villa  auf  ei- 
nem Bergvorsprung  hat,  mit  schöner  Aussicht  über 
die  Reede  der  Stadt,  und  dann  seinen  Nachbarn,  ei- 
nen alten  norwegischen  Schiffskapitän.  Wir  saßen 
lange  in  den  am  Steilhang  hinaufkletternden  Gärten 
und  schwatzten  mit  den  Leuten  und  ihren  Frauen. 
Der  Kaiser  ist  bei  solchen  Gelegenheiten  von  einer 
bezaubernden  Liebenswürdigkeit,  harmlos  wie  ein 
Kind,  es  macht  ihm  Freude,  mit  diesen  einfachen 
schlichten  Leuten  ohne  alle  Zeremonie  zu  verkehren, 
ihre  Ansichten  über  die  Zustände  ihrer  Heimat  zu 
hören  und  sich  ihre  kleinen  Freuden  und  Sorgen  er- 
zählen zu  lassen.  Diese  Menschen  sind  dann  immer 
in  einem  Zustand  der  grenzenlosesten  Begeisterung. 

253 


Norwegen,  Molde,  i8.Juli  1902. 

Wir  gingen  von  Bergen  am  Dienstag  nach  Gud- 
vangen,  wo  wir  Mittwoch  ankamen.  Hier  machten 
wir  eine  Partie  nach  Stahlheim,  wo  gegessen  wurde, 
am  selben  Nachmittag  an  Bord  zurück.  Ich  fuhr  mit 
dem  Kaiser  in  seinem  Karriol,  das  mit  einem  mu- 
tigen kleinen  norwegischen  Pferdchen  bespannt  war. 
Er  kutschierte  selber,  und  ich  hatte  ab  und  zu  etwas 
Herzklopfen,  wenn  wir  herabkommenden  Wagen  be- 
gegneten, denen  wir  auf  der  schmalen  Landstraße  aus- 
weichen mußten,  und  er  hart  am  Absturz  vorbeifuhr, 
in  dessem  Grunde  das  Wasser  über  die  Felsen  braust, 
die  Zügel  mit  der  Linken  haltend  und  mit  der  Rech- 
ten den  Hut  abnehmend,  um  die  Grüße  zu  erwidern. 
Wir  kamen  aber  glücklich  oben  an.  Hinab  ließ  er 
mich  fahren,  was  mir  lieb  war,  denn  der  kleine  Gaul 
ging  wie  das  Donnerwetter  und  lag  hart  auf  den  Zü- 
geln, so  daß  ich  wieder  froh  war,  ihn  ohne  Unfall  un- 
ten abliefern  zu  können.  Er  ist  immer  sehr  nett  und 
freundlich  zu  mir,  gab  mir  neulich  einen  Beweis  be- 
sonderen Vertrauens,  indem  er  mich  in  sein  Arbeits- 
zimmer holen  ließ  und  mir  einen  Brief  vorlas,  den  er 
soeben  geschrieben  hatte  an  den  Kronprinzen,  und 
meine  Meinung  hören  wollte.  Er  ist  eigentlich  noch 
nie  so  freundlich  gewesen  wie  auf  dieser  Reise,  ich 
habe  ihn  überhaupt  noch  nie  so  liebenswürdig  und 
gleichmäßig  gesehen.  Er  bespricht  jetzt  oft  militäri- 
sche Fragen  mit  mir  und  will  oft  meine  Ansicht 
hören.  In  solchen  Augenblicken  kann  man  ihm  alles 
sagen,  dann  ist  er  reizend,  wie  ein  guter  Kamerad, 
und  man  kann  ganz  ungezwungen  das  sagen,  was 
man  meint,  wovon  ich  auch  weitgehenden  Gebrauch 
gemacht  habe. 


254 


Berlin,  5.  August  1902. 

Ich  habe  sie  (E.)  für  morgen  abend  nach  »Alt-Hei- 
delberg« eingeladen,  damit  sie  auch  einmal  einen  Spaß 
hat.  Die  kleine  . . .  war  auch  da.  Sie  behandelt  augen- 
blicklich einen  Mann,  der  seit  Jahren  blind  ist,  und 
hat  sich  damit  meiner  Meinung  nach  gleich  von  An- 
fang an  vor  eine  unlösbare  Aufgabe  gestellt.  Natür- 
lich hat  sie,  wie  alle  Scientisten,  die  beste  Hoffnung 
und  behauptet,  daß  er  bereits  den  berühmten  »Schim- 
mer« habe,  den  alle  Blinden,  die  scientistisch  behan- 
delt werden,  unfehlbar  bekommen  und  über  den  hin- 
aus —  wenigstens  soweit  ich  erfahren  habe  —  ebenso 
unfehlbar  bisher  noch  nie  einer  gekommen  ist.  Wir 
haben  lange  über  das  Thema  der  Science  gespro- 
chen, sie  hat  viel  verständigere  Ansichten  als  die 
waschechten  Scientisten  und  sieht  selber  ein,  daß  in 
der  ganzen  Bewegung  der  Keim  des  Erstarrens  in 
einem  neuen  Dogma  enthalten  ist. 

St.  Petersburg,  Palais  d'Hiver, 
16.  Januar  1903. 

Wir  sind  vor  zwei  Stunden  hier  wohlbehalten  an- 
gekommen nach  sehr  angenehm  verbrachter  Reise. 
Nach  Ankunft  hier  fuhren  wir  ins  Winterpalais,  wo 
Kaiser  und  Kaiserin  uns  begrüßten.  Letztere  sieht 
außerordentlich  wohl  aus  und  ist  noch  hübscher  ge- 
worden, als  sie  früher  schon  war.  Von  dort  zur  Kai- 
serin-Mutter, die  uns  ebenfalls  sämtlichst  begrüßte. 
Wir  wohnen  alle  im  Winterpalais.  Die  ganze  Reise 
war  sehr  nett  und  harmonisch.  Mir  ist  ganz  so  zu- 
mute, als  ob  ich  nach  einiger  Abwesenheit  wieder 
in  altbekannte  Gegenden  käme.  Ich  kenne  nun  ja  auch 
fast  den  ganzen  hiesigen  Hof. 

255 


Palais  d'Hiver,  17. Januar  1903. 

Gestern  abend  war  große  Galatafel,  sehr  schön  und 
prunkvoll.  Ich  saß  links  neben  der  Großfürstin  Maria 
Georgiewna,  Tochter  des  Königs  von  Griechenland, 
rechts  von  ihr  saß  der  Zar.  Wir  unterhielten  uns  sehr 
angeregt,  sie  spricht  fließend  deutsch.  Mir  gegenüber 
der  Kronprinz,  neben  ihm  die  beiden  Kaiserinnen. 
Der  arme  Kronprinz  war  sehr  aufgeregt  wegen  seiner 
zu  haltenden  Rede.  Erst  nachdem  sie  vorüber  war, 
wurde  er  lebhaft.  Nach  Tisch  unterhielt  sich  die  Kai- 
serin-Mutter lange  mit  mir  und  war  außerordentlich 
gnädig.  Ebenso  die  regierende  Kaiserin  und  die  Groß- 
fürstin Wladimir.  Der  Großfürst  Wladimir  ist  leider 
krank.  Er  ließ  mir  durch  die  Großfürstin  sagen,  er 
wolle  mich  gerne  sprechen  und  ich  möchte  einen  der 
nächsten  Tage  zu  ihm  kommen.  Die  regierende  Kai- 
serin imponierte  wieder  durch  ihre  Schönheit.  Sie  ist 
etwas  stärker  geworden,  was  ihr  sehr  gut  steht.  Der 
Kaiser  sah  wohler  aus  als  morgens.  Heute  morgen 
waren  wir  in  der  Eremitage  und  sahen  leider  nur  sehr 
im  Galopp  die  herrlichen  Kunstschätze,  die  einzig  in 
ihrer  Art  sind. 

Palais  d'Hiver,  18. Januar  1903. 

Wir  waren  heute  in  der  evangelischen  Kirche,  wo 
wir  eine  entsetzlich  langweilige  Predigt  hörten,  der 
eine  endlose  Liturgie  folgte.  Sodann  Frühstück  hier 
im  Palais.  Gestern  abend  im  Französischen  Theater, 
wo  ein  namenlos  dummes  Stück  gegeben  wurde. 
Nach  dem  Theater  saß  ich  noch  bis  1  Uhr  mit  dem 
Kronprinzen,  der  mir  von  seinen  russischen  Ein- 
drücken erzählte.  Er  ist  sehr  gerne  hier  und  gefällt 
allgemein.  Ich  glaube,  die  ganze  Reise  wird  sehr  nett 
und  harmonisch  verlaufen  und  den  guten  Erfolg  ha- 
ben, daß  persönliche  Beziehungen  gebildet  werden. 

256 


Palais  d'Hiver,  19. Januar  1903. 

Heute  war  das  Fest  der  Wasserweihe.  Da  die  Er- 
kältung des  Kaisers  noch  nicht  ganz  behoben  ist,  ging 
er  nicht  hinaus,  und  wir  konnten  uns  den  gefürch- 
teten zweiten  Teil  der  Feier,  der  im  Freien  mit  bloßem 
Kopf  stattfindet,  von  einem  Fenster  des  Palais  aus 
ansehen.  Die  ganze  Sache  war  höchst  interessant.  Im 
Palais  Deputationen  aller  Garderegimenter  mit  den 
Fahnen  durch  eine  lange  Flucht  von  Sälen  aufge- 
stellt. Wunderschöne  Leute,  brillant  angezogen.  Ein 
wahrer  Staat  von  Truppen.  Großer  Gottesdienst  in 
der  Schloßkirche,  dann  die  Feier  am  Ufer  der  Newa, 
dann  Vorbeimarsch  der  Fahnen  vor  dem  Kaiser  und 
sodann  Frühstück.  Die  Sache  dauerte  von  V211  bis 
3  Uhr.  Gestern  war  ein  großes  Galadiner  auf  der  Bot- 
schaft. Abends  um  10  Uhr  hörten  wir  ein  wunder- 
volles Konzert  von  dem  kaiserlichen  Sängerkorps, 
achtzig  Knaben  und  vierzig  Männer,  das  Idealste  von 
Gesang,  das  man  sich  denken  kann,  die  reine  Sphären- 
musik. Bässe,  die  wie  Orgeln  klingen,  und  dazu  die 
feinen  Stimmen  der  Knaben,  die  wie  mit  Engelstönen 
singen. 

Brief  Moltkes  an  eines  seiner  Kinder. 

Berlin,  29. Januar  1903. 

Die  Mama  sagte  mir,  daß  Du  gerne  etwas  Näheres 
über  Rußland,  Land  und  Leute,  hören  willst  und  als 
gehorsamer  Vater,  der  von  seiner  Tochter  gut  ge- 
zogen ist,  beeile  ich  mich,  Deinem  Wunsche  nach- 
zukommen und  Dir  zu  berichten,  was  ich  dort  er- 
lebte. 

Wir  waren  unserer  sieben,  die  den  Kronprinzen  be- 
gleiteten, drei  Regimentskommandeure,  die  die  Regi- 
menter kommandieren,  von  denen  der  Kaiser  Niko- 

Moltke.         17.  257 


laus  Chef  ist,  nämlich  Oberstleutnant  v.  Schwerin  von 
den  6.  Kürassieren,  Oberstleutnant  v.  Lyncker  von 
den  8.  Husaren  und  Oberst  v.  Schenck  vom  Alexan- 
der-Regiment, außerdem  der  Flügeladjutant  v.  Friede- 
burg und  ich,  ferner  Oberst  v.  Pritzelwitz,  der  militä- 
rische Gouverneur  des  Kronprinzen  und  sein  Adju- 
tant Stülpnagel.  Am  14.  Januar,  abends,  meldeten  wir 
uns  bei  ihm  auf  dem  Bahnhof  Friedrich  Straße,  wohin 
auch  der  Kaiser  kam,  um  seinem  Sohn  Adieu  zu 
sagen.  Es  war  ein  Schlafwagen  für  uns  reserviert, 
in  dem  jeder  seinen  Abteil  hatte,  ich  als  Exzel- 
lenz und  piece  de  resistance  der  Gesellschaft  zwei! 
Nach  ruhig  durchschlafener  Nacht  kamen  wir  am 
15.  gegen  10  Uhr  in  Eydtkuhnen,  unserer  Grenz- 
station, an,  von  wo  unser  Zug  sofort  nach  dem  rus- 
sischen Grenzort  Wirballen  oder  wie  die  Russen  sa- 
gen: Wirballowo,  überführt  wurde.  Hier  erwartete  uns 
der  russische  Ehrendienst  und,  was  auch  nicht  zu 
verachten  war,  ein  kaiserlich  russischer  Extrazug. 
Ersterer  bestand  aus  dem  Generaladjutanten  Fürsten 
Dolgoroucki,  dem  Rittmeister  im  Regiment  Gardes 
ä  cheval,  Flügeladjutant  Graf  Schuwalow  und  dem 
Leutnant  vom  Regiment  Chevalier  garde,  Fürst  Kan- 
tacouzeme;  letzterer  aus  einem  Salonwagen  mit 
Schlafzimmer  für  den  Kronprinzen,  einem  Küchen- 
wagen, einem  Speisesalon,  einem  Versammlungs- 
salon, drei  Wagen  mit  kleineren  Wohn-  und  Schlaf- 
zimmern für  das  Gefolge,  drei  Wagen  für  die  Diener- 
schaft und  einigen  Gepäckwagen,  alles  elektrisch  be- 
leuchtet. Zwei  Lokomotiven  vorne  zum  Ziehen  und 
eine  dritte  hinten  zum  Schieben  sollten  diesen  Zug, 
der  den  Größenverhältnissen  des  russischen  Reichs 
entsprach,  nach  Petersburg  befördern.  —  Die  russi- 
schen Bahnen  haben  bekanntlich  breitere  Geleise  wie 
die  unsrigen  und  fahren  bedeutend  langsamer,  nicht 

258 


über  fünfzig  Kilometer  in  der  Stunde,  beides  trägt 
sehr  zur  Bequemlichkeit  des  Reisens  bei.  Die  Ma- 
schinen werden  nur  mit  Holz  geheizt,  was  bei  Dun- 
kelheit ein  prächtiges  Feuerwerk  gibt,  indem  der  ganze 
Zug  in  ein  Meer  von  fliegenden  Funken  eingehüllt 
ist,  die  wie  tausende  kleiner,  leuchtender  Kometen  in 
langen  Streifen  vor  den  Fenstern  vorbeiziehen.  Mir 
wurde  eine  Kammer  angewiesen,  die  ein  breites  Bett, 
ein  bequemes  Sofa,  Waschtoilette,  Schreibtisch  und 
Kleiderschrank  enthielt  und  so  geräumig  war,  daß 
sie  füglich  als  Empfangsraum  für  Besuche  dienen 
konnte.  Alles  war  mit  hellfarbigem  Seidenstoff  aus- 
geschlagen und  ich  würde  in  diesem  luxuriösen  Ge- 
mach gerne  die  Reise  über  die  sibirische  Bahn  nach 
Wladiwostock  gemacht  haben,  zu  der  man  nur  acht 
Tage  gebraucht.  —  Die  unerreicht  dastehende  russi- 
sche Gastfreundschaft  nahm  uns  von  nun  an  völlig 
in  ihren  Wirkungsbereich  auf.  Kaum  hatten  wir  uns 
in  Bewegung  gesetzt,   so   wurden   wir   schon   zum 
Frühstück  gebeten,  das,  wie  alle  russischen  Mahl- 
zeiten, mit  der  Sakkuska  anfing,  das  heißt  einem  so- 
genannten Imbiß,  bei  der  der  ungesalzene  Kaviar  mit 
Löffeln  gegessen  wird  und  alle  möglichen  Delikates- 
sen den  Neulingdazu  verleiten,  sich  schon  völlig  satt  zu 
essen,  bevor  man  dazukommt,  sich  zum  eigentlichen 
Frühstück  niederzusetzen.  Hier  tranken  wir  zur  Be- 
grüßung unserer  neuen  russischen  Freunde  unseren 
ersten  Schnaps,  um  dann  beim  Frühstück  sofort  zum 
Sekt  überzugehen,  einem  Getränk,  das  auf  dem  rus- 
sischen Tisch  eine  ähnliche  Rolle  spielt,  wie  bei  uns 
der  Moselwein,  das   Liter  zu  fünfzig  Pfennig.  Die 
Sektflasche  blieb  denn  auch  unser  unzertrennlicher 
Genosse,  wo  wir  in  die  Nähe  eines  gedeckten  Tisches 
kamen  bis  zu  dem  Augenblick,  wo  wir  auf  der  Rück- 
reise die  Grenze  wieder  überschritten  und  sie  sofort 

259 


von  dem  Seidel  »echt  Münchener«  abgelöst  wurde. 
Den  ganzen  Tag  verbrachten  wir  mit  frühstücken, 
dinieren  und  soupieren  und  hatten  uns  nach  den  er- 
sten zwölf  Stunden  schon  so  an  den  Kaviar  gewöhnt, 
daß  wir  kaum  noch  begreifen  konnten,  wie  es  für 
einen  anständigen  Menschen  möglich  sei,  tage-,  ja 
wochenlang  ohne  denselben  zu  leben.  Wie  herrlich 
hätte  man  in  dem  seidenen  Bett  schlafen  können, 
leise  gewiegt  von  dem  sanften  Rütteln  des  breiten, 
langsamen  Zuges,  wenn  man  nur  nicht  so  unendlich 
viel  gegessen  hätte.  Ich  lag  lange  wach  und  sah  auf 
das  Feuerwerk  der  sprühenden  Funken,  die  vor  mei- 
nen Fenstern  vorbeizogen.  Endlich  schloß  ich  die 
Vorhänge  und  löschte  das  elektrische  Licht,  dann 
verfiel  ich  in  einen  Halbschlummer,  in  dem  alle 
Pasteten,  Haselhühner,  Wachteln  und  geräucherten 
Fische,  die  ich  gegessen,  mir  als  Vision  erschienen, 
während  dickbäuchige  Champagnerflaschen  mit  ei- 
nem Kranz  von  Kaviarkörnern  im  Haar  mich  um- 
gaukelten, um  endlich  im  Dunkel  des  tiefen  Schlafes 
zu  verschwinden. 

So  fuhren  wir  Kilometer  um  Kilometer  durch  das 
heilige  Rußland,  durch  öde,  schneebedeckte  Flä- 
chen, durch  Moraste  und  Gestrüpp,  durch  Winter  und 
Einsamkeit,  hinein  in  das  unendliche  Riesenreich,  des- 
sen unermeßlicher  Raum  uns  enggewohnten  West- 
europäern die  Empfindung  gibt,  als  ob  man  den  Pla- 
neten verlassen  hätte  und  hinaussteuerte  in  die  Un- 
begrenztheit  des  Wertenraumes.  —  Am  nächsten  Mor- 
gen, den  16.,  um  10  Uhr,  kamen  wir  in  Petersburg 
an.  Unser  Botschafter,  Graf  Alvensleben,  hatte  eine 
Stunde  vorher  in  Gatschina  den  Zug  bestiegen  und 
brachte  die  letzten  Bestimmungen  über  den  Emp- 
fang. 

Der  Kaiser  konnte  nicht,  wie  er  beabsichtigt  hatte, 

260 


auf  dem  Bahnhof  erscheinen,  da  er  an  einer  Ohrenent- 
zündung litt,  die  ihn  ans  Zimmer  fesselte.  Alle  nicht 
an  der  Influenza  erkrankten  Großfürsten  waren  zum 
Empfang  erschienen.  Auf  dem  Bahnsteig  stand  eine 
Ehrenkompagnie  vom  Regiment  Preobratschensk, 
das  unserem  i.  Garderegiment  entspricht.  Wunder- 
schöne, riesengroße  Leute  mit  den  offenen,  gutmü- 
tigen russischen  Bauerngesichtern.  Alles  ging  nun 
nach  internationalem  Muster.  Abgehen  der  Front, 
Vorstellung  des  Gefolges  usw.  Ich  bin  ja  nachgerade 
schon  ein  alter  Bekannter  in  diesen  Kreisen  gewor- 
den. —  Dann  fuhren  wir  in  das  Winterpalais,  in  dem 
wir  alle  untergebracht  waren.  Hier  wurde  der  Kron- 
prinz vom  Kaiser  und  der  Kaiserin  empfangen  und 
in  seine  Gemächer  geleitet.  Dann  wurden  wir  von 
den  Majestäten  begrüßt.  Im  Vorzimmer  war  der  ganze 
Hofstaat  aufgestellt.  Da  war  die  Oberhofmeisterin,  die 
alte,  dicke  Fürstin  Galitzin,  die  immer,  wie  die  Juden 
in  der  Synagoge,  den  Hut  auf  dem  Kopf  haben  muß, 
unter  dessen  großer  Krempe  sie  mit  müden,  hängen- 
den Augen  vor  sich  hinblinzelt,  der  Oberhofmar- 
schall Fürst  Dolgoroucki,  ein  Bruder  unseres  Beglei- 
ters und  eine  ganze  Reihe  von  Hofdamen,  alle  mit 
der  Brillantchiffre  der  Kaiserin  auf  der  Achsel.  Vor 
den  Türen  stehen  je  zwei  Mohren  in  phantastisch 
bunter  Tracht,  die  mich  ebenfalls  als  alten  Bekann- 
ten mit  weißen  Zähnen  grinsend  begrüßten.  Ein  lei- 
ser Geruch  nach  Weihrauch  schwebt  durch  alle 
Räume,  in  einer  Ecke  jedes  Zimmers  hängt  das  Heili- 
genbild, dem  die  spezielle  Überwachung  dieses  Ge- 
lasses obliegt,  und  das  Licht  der  elektrischen  Lam- 
pen, die  bei  der  trüben  Petersburger  Atmosphäre  den 
ganzen  Tag  brennen,  glitzert  in  den  Kristallen  der 
Kronleuchter  und  wirft  glänzende  Reflexe  auf  das 
kunstvolle,  spiegelglatte  Parkett. 

261 


Die  Majestäten  begrüßten  uns  in  freundlichster 
Weise.  Der  Kaiser  sah  elend  aus,  er  hatte  ein  Ge- 
schwür im  Ohr  gehabt,  das  erst  kürzlich  aufgegangen 
war  und  ihm  viel  Schmerzen  gemacht  hatte.  Die  Kai- 
serin sah  blühend  aus.  An  den  feinen  Mundwinkeln 
haben  sich  ein  paar  allerliebste  Grübchen  gebildet, 
die  schön  gezeichneten  Augenbrauen  stehen  herrlich 
auf  der  weißen  Stirn.  Endlich  ist  alles  vorüber.  Die 
Hofstaaten  werden  entlassen.  Mit  einem  tiefen  Seuf- 
zer und  einer  leichten  Verbeugung  verabschiedet  die 
imposante  Oberhofmeisterin  ihre  Damen,  die  ihrer- 
seits mit  einer  tiefen  Verbeugung  und  einem  leichten 
Seufzer  hinausgleiten.  —  Wir  werden  auf  unsere  Zim- 
mer geführt.  Ich  sehe  sofort  die  Unmöglichkeit  ein, 
ohne  ortskundigen  Führer  jemals  den  Weg  wieder 
zurückzufinden.  Glücklicherweise  habe  ich  einen 
deutsch  sprechenden  Lakaien.  Ich  wohne  wieder 
recht  bescheiden.  Wenn  man  vom  Korridor  durch 
die  Tür  tritt,  ist  rechts  ein  Badezimmer,  links  mein 
Schlafzimmer.  Geradeaus  kommt  man  in  mein  Ar- 
beitszimmer mit  unendlichen  Polsterstühlen,  Chaise- 
longues, Sofas,  Schreibtisch  usw.  Daran  stößt  mein 
Speisesaal,  an  diesen  mein  Empfangszimmer.  Ich 
brauche  allein  eine  ganze  Weile,  um  mich  in  meiner 
Wohnung  zurechtzufinden.  —  Wir  sind  frei  bis  zum 
Diner  um  7  Uhr.  Es  soll  große  Galatafel  sein.  A.  mit 
meinen  Sachen  ist  schon  da  und  packt  aus.  Dann 
steige  ich  ins  Bad,  um  den  Reisestaub  abzuwaschen. 
Wie  ich  zurückkomme,  ist  A.  verschwunden  und  hat 
mich  meinem  Schicksal  überlassen.  Er  geht  mit  un- 
erschütterlicher Konsequenz  von  der  Ansicht  aus, 
daß  dergleichen  Reisen  zu  seiner  Unterhaltung  unter- 
nommen werden,  und  daß  ich  eine  höchst  überflüs- 
sige und  nebensächliche  Zugabe  dazu  bin,  von  der 
man  am  besten  so  viel  wie  möglich  absieht.  Das  ist 

262 


von  seinem  Standpunkt  eine  sehr  verständige  An- 
schauung, und  ich  bin  auch  schon  so  daran  gewöhnt, 
daß  ich  mich  auch  diesmal  nicht  darüber  aufgeregt 
haben  würde,  wenn  nur  nicht  jetzt  gerade  einige  rus- 
sische Herren  gekommen  wären,  die  mich  besuchen 
wollten,  und  wenn  ich  nur  meine  Hosen  hätte  finden 
können.  —  Die  aber  waren  ebenso  spurlos  verschwun- 
den wie  A.  —  Vergebens  durchsuchte  ich  alle 
Schränke,  ohne  etwas  zu  finden,  mit  dem  ich  meine 
untere  Blöße  hätte  bedecken  können.  Röcke,  Helm, 
Mütze,  alles  war  da,  aber  nicht  eine  einzige  Hose! 
—  Immer  wieder  klopfte  der  Lakai  an  meine  Tür,  um 
mir  zu  sagen,  daß  er  den  Grafen  Lüttke,  einen  mir 
bekannten  Offizier  vom  Preobratschensk,  in  den  Emp- 
fangssalon geführt  habe.  Auch  er  wußte  weder,  wo  A. 
noch  wo  meine  Hosen  geblieben  wären.  Erst  später 
entdeckte  ich  sie  in  einem  Wandschrank  des  Vor- 
zimmers, in  dem  A.  sie  als  ordentlicher  Mann,  unter 
Vermeidung  aller  im  Schlafzimmer  selbst  befind- 
lichen Schränke,  untergebracht  hatte.  Da  liegen  sie 
friedlich  eine  neben  der  andern,  wie  die  Bücklinge 
im  Rauch.  —  Wie  ich  die  Hoffnung  aufgab,  sie  je- 
mals zu  finden,  überlegte  ich  kurz,  ob  ich  den  Waf- 
fenrock ohne  Beinkleider  anziehen  sollte,  oder  ob 
ich  die  Konsequenzen  meiner  Lage  bis  aufs  äußerste 
ziehen  sollte,  entschied  mich  für  letzteres  und  emp- 
fing meine  Visiten  in  Hemd  und  Unterhose!  Erst  wie 
der  Fürst  Orloff  sich  bei  mir  melden  ließ,  der  im 
Auftrag  des  Kaisers  kam,  um  mir  einen  Orden  zu 
überbringen,  sank  mir  der  Mut  meiner  Nacktheit  und 
ich  verhandelte  mit  ihm  durch  die  Türspalte,  ohne 
ihn  zu  sehen,  so  daß  ich  mich  ihm  erst  am  Abend 
vorstellen  konnte.  Durch  diese  Türspalte  nahm  ich 
ein  rotes  Saffiankästchen  in  Empfang,  in  dem  ein 
blitzender  Diamantstern  lag.  Die  Hand,  welche  es  mir 

263 


darreichte,  war  groß  und  fett,  woraus  ich  schloß,  daß 
der  dazugehörige  Fürst  groß  und  wohlbeleibt  sei. 
Wie  ich  abends  feststellen  konnte,  hatte  ich  mich 
nicht  getäuscht,  er  war  groß  und  fett.  —  Ich  legte 
mich  schließlich  zu  Bett  und  wartete  auf  A.  Er  er- 
schien nach  einigen  Stunden  und  erklärte,  daß  er  zu 
Mittag  gegessen  habe.  Ich  wagte  nicht  in  diesem  na- 
türlichen Vorgang  etwas  Ungeziemendes  zu  finden 
und  suchte  seine  Freundschaft  wieder  zu  gewinnen. 
Die  Galatafel  war  prächtig.  Alle  Großfürsten  und 
Großfürstinnen  waren  erschienen,  alle  Würdenträger 
des  Reichs  zur  Stelle.  Ich  saß  in  der  Mitte  der  Tafel, 
zu  meiner  Rechten  die  Großfürstin  Marie  Georgiew- 
na,  Tochter  des  Königs  von  Griechenland,  rechts  ne- 
ben ihr  der  Kaiser.  Zu  meiner  Linken  die  Oberhof- 
meisterin der  Kaiserin-Mutter,  die  ein  unverständ- 
liches Französisch  vor  sich  hinmurmelte.  Mir  gegen- 
über die  beiden  Kaiserinnen,  die  den  Kronprinzen 
zwischen  sich  hatten,  der  vis-a-vis  dem  Kaiser  saß.  — 
Die  griechische  Großfürstin  sprach  fließend  Deutsch 
und  war  sehr  lebhaft,  liebenswürdig  und  unterhal- 
tend. Der  arme  Kronprinz  sah  blaß  und  präokkupiert 
aus  und  aß  so  gut  wie  nichts.  Erst  wie  er  seine  Rede 
gehalten  hatte,  lebte  er  auf.  Die  beiden  Kaiserinnen 
strahlten  in  den  herrlichsten  Brillanten.  Beide  sind 
sehr  vorteilhafte  Erscheinungen.  Die  Kaiserin-Mutter 
ist  nicht  gerade  hübsch,  sie  hat  aber  ein  Paar  wunder- 
bare Augen,  deren  Glanz  die  Jahre  nicht  verdunkelt 
haben,  und  über  denen  man  den  zu  großen  Mund 
vergißt.  Sie  hat  von  ihrem  Vater,  dem  König  von 
Dänemark,  die  Kunst  der  ewigen  Jugend  geerbt,  man 
würde  ihr  kaum  vierzig  Jahre  geben.  Geistig  bedeu- 
tend, klug  und,  wenn  sie  will,  bestrickend  liebenswür- 
dig, hat  sie  einen  großen  Einfluß  auf  den  Kaiser.  Sie 
ist  bei  allen  offiziellen  Anlässen  die  erste  Dame,  die 

264 


selbst  der  regierenden  Kaiserin  vorgeht,  solange  diese 
keinen  Sohn  hat.  Bis  jetzt  ist  die  Kaiserin-Mutter  als 
Mutter  des  Großfürsten-Thronfolgers  Nummer  eins. 
—  Die  regierende  Kaiserin  ist  geschaffen  dafür,  einen 
Thron  zu  zieren  und  in  großer  Parade  die  wallnuß- 
großen  Diamanten  des  Kronschatzes  auf  ihrem  wei- 
ßen Busen  zu  tragen.  Ihre  blendende  Erscheinung 
paßt  so  sehr  zu  diesem  Schmuck,  daß  man  meinen 
könnte,  sie  sei  mit  demselben  geboren.  —  Nachdem 
die  Tafel  aufgehoben  war,  wurde  Cercle  gemacht.  Die 
Großfürstin  Wladimir,  eine  geborene  Prinzeß  von 
Mecklenburg,  die  mir,  ebenso  wie  ihr  Mann,  stets 
mit  größter  Freundlichkeit  entgegengekommen  ist, 
nahm  mich  in  Beschlag.  Sie  bat  mich,  ich  möchte 
einen  der  nächsten  Tage  den  Großfürsten  besuchen, 
der  an  Influenza  erkrankt  zu  Bett  läge.  Dann  unter- 
hielt sich  die  Kaiserin  mit  jedem  einzelnen  von  uns. 
Währenddem  stellte  der  Kaiser  dem  Kronprinzen  die 
Hauptpersonen  vor.  Da  waren  recht  interessante  Ge- 
stalten. Der  Graf  Lambsdorff,  ein  kleiner,  kahlköpfi- 
ger Mann,  der  immer  so  aussieht,  als  ob  er  auf  den 
Zehenspitzen  stände,  um  größer  zu  erscheinen,  selbst 
die  spärlichen  Haare  hat  er  hinter  den  Ohren  nach 
oben  gebürstet,  daß  sie  in  die  Luft  stehen,  und  dabei 
macht  er  ein  halb  finsteres,  halb  wohlwollendes  Ge- 
sicht und  schiebt  die  Unterlippe  vor.  —  Der  Minister 
Witte,  der  allmächtige  Finanzminister  des  Reiches, 
der  das  Kunststück  fertig  gebracht  hat,  in  Rußland 
die  Goldwährung  einzuführen,  ohne  daß  das  Land 
Bankerott  machte,  ein  Mann  von  meiner  Größe,  mit 
einem  klugen  kleinen  Kopf  und  dunklem  Vollbart. 
Sehr  bescheiden,  etwas  verlegen,  drückt  er  sich  am 
liebsten  in  verborgenen  Ecken.  —  Der  Kriegsminister 
Kuropatkin,  der  seinen  Blick  so  fest  auf  Asien  ge- 
richtet hält,  daß   er  das  bißchen  Europa  in  seiner 

265 


Flanke  mit  wohlwollender  Gleichgültigkeit  behan- 
deln kann,  —  sein  Antipode,  der  Chef  des  General- 
stabs, Sacharin,  ein  kleiner,  fetter  Mann  mit  listigen 
Augen,  großer  Franzosenfreund  und  Deutschenfres- 
ser, der  lieber  heute  wie  morgen  gegen  uns  los- 
schlüge. Ja,  wenn  Kuropatkin  mit  seinem  Asien  und 
wenn  Witte  mit  seinen  Reformplänen  nicht  wären! 
Diese  beiden  aber  brauchen  uns,  denn  sie  brauchen 
den  Frieden!  —  Der  kleine  Kronprinz  müht  sich  tap- 
fer ab,  mit  allen  den  ihm  Vorgestellten  Unterhaltung 
zu  machen.  Er  sieht  sehr  nett  aus  in  seiner  kleid- 
samen russischen  Uniform,  seine  schlanke,  elegante 
Figur  und  sein  offenes,  freundliches  Gesicht  gefal- 
len allgemein.  —  Um  V211  Uhr  ziehen  die  Herrschaf- 
ten sich  zurück,  und  wir  gehen  —  selbstverständlich 
geführt  von  Ortskundigen  —  über  die  endlosen  Trep- 
pen und  Korridore  nach  oben,  um  in  einem  meiner 
Salons  noch  ein  Glas  Bier  zu  trinken.  Ich  werde 
dann,  eben  oben  angelangt,  zum  Kronprinzen  her- 
untergerufen, der  wohl  das  Bedürfnis  hat,  sich  über 
seine  Eindrücke  noch  etwas  auszusprechen,  und  mit 
dem  ich  bis  1  Uhr  zusammensitze.  Wie  ich  wieder 
auf  mein  Zimmer  komme,  sind  alle  fort,  sie  haben 
mir  nur  einen  dicken  Tabakrauch  und  eine  Batterie 
geleerter  Flaschen  zurückgelassen! 

Dies  war  unser  erster  Petersburger  Tag.  Wenn  ich 
aber  in  demselben  Stil  fortfahren  wollte,  Dir  die  fol- 
genden acht  Tage  zu  schildern,  so  würde  dieser  Brief 
ein  Buch  werden,  und  ich  fürchte,  Du  würdest  dar- 
über einschlafen.  Ich  muß  also  etwas  kursorischer 
verfahren. 

Am  zweiten  Tag  nach  unserer  Ankunft  war  das 
Fest  der  Wasserweihe.  Dies  in  ganz  Rußland  ge- 
feierte Fest  wird  stets  in  glänzendster  Weise  began- 
gen. Es  wird  von  allen  Beteiligten  gefürchtet,  denn 

266 


im  allgemeinen  gilt  der  18.  Januar  als  der  kälteste  Tag 
des  kalten  russischen  Winters,  und  es  ist  ein  zweifel- 
haftes Vergnügen,  an  einem  Tage  von  zwanzig  Grad 
Reaumur  unter  Null  eine  halbe  Stunde  mit  unbedeck- 
tem Kopf  im  Freien  zu  stehen.  Diesem  Fest  zu  Ehren 
hatten  wir  uns  alle  mit  Pelzen  und  Filzstiefeln  ausge- 
rüstet. Wir  sollten  sie  nicht  gebrauchen.  Die  ganze 
Zeit  unseres  Petersburger  Aufenthaltes  fiel  das 
Thermometer  nicht  unter  acht  Grad.  Es  war  den  Gra- 
den nach  wärmer  als  es  gleichzeitig  in  Deutschland 
war,  auch  lag  wenig  Schnee,  so  daß  täglich  große 
Fuhren  Schnee  von  außerhalb  in  die  Stadt  gebracht 
wurden,  wo  der  Schnee  auf  den  Straßen  ausgebrei- 
tet wurde,  wie  bei  uns  Sand  gestreut  wird,  um  die 
Schlittenbahn  zu  verbessern.  Auch  an  dem  Tage  des 
Festes  waren  nur  sieben  Grad  Kälte,  aber  die  Luft  ist 
trotzdem  schneidend  und  jeder  Windzug  scheint  ver- 
doppelte Kälte  mitzubringen.  Die  Newa,  dieser  ge- 
waltige, stolze  Strom,  der  die  Stadt  in  einer  Breite 
von  zwei  Kilometern  durchschneidet,  lag  vom  Eis 
gebändigt.  —  Elektrische  Bahnen,  Straßen  für  Schlit- 
ten und  Wagenverkehr  gehen  über  die  Eisdecke, 
Gasleitungen  sind  über  das  Eis  gelegt,  und  abends 
sind  alle  Straßen  erleuchtet,  unter  denen  das  schwarze 
Newawasser  gurgelt.  —  Das  Fest  der  Wasserweihe 
ist  das  Erinnerungsfest  an  die  Taufe  Christi  im  Jor- 
dan. Am  Ufer  des  Stroms  ist  ein  Pavillon  für  die 
Geistlichkeit  und  den  Hof  erbaut,  von  dem  aus  eine 
Treppe  zum  Eis  hinabführt,  in  das  ein  Loch  geschla- 
gen wird.  In  dieses  Loch  wird  unter  Gesang  und  Se- 
gen das  Kreuz  getaucht  und  damit  das  Wasser  ge- 
weiht. —  Um  ii  Uhr  fing  die  Zeremonie  im  Palais 
an.  Da  standen  in  den  endlosen  Sälen,  die  sich  in 
langer  Flucht  aneinanderreihen,  Deputationen  von 
allen  Petersburger  Regimentern.  Immer  sechzig  Mann 

267 


von  jedem  Regimente  in  Paradekostüm.  Ein  schöner 
Anblick.  Lauter  ausgesuchte  Leute.  Da  waren  zum 
Beispiel  die  Gardes  ä  cheval,  lauter  Leute  in  meiner 
Größe,  alle  mit  schwarzem  Haar  und  kurz  gehalte- 
nem schwarzen  Vollbart,  was  zu  den  weißen  Waffen- 
röcken prächtig  aussah.  Daneben  die  Chevalier  garde, 
lauter  blonde  Leute,  das  Regiment  Paulowsk,  in  dem 
nur  Leute  mit  Stumpfnasen  eingestellt  werden,  zur 
Erinnerung  an  Kaiser  Pauls  Stumpfnase,  der  das 
Regiment  begründete.  Da  sind  die  Kosaken  des  Leib- 
konvois, in  ihren  bis  auf  die  Füße  fallenden  schar- 
lachroten Röcken  mit  silberbeschlagenen  Wehrge- 
henken, die  schwarze  Kirgisenmütze  schief  auf  dem 
rechten  Ohr,  während  um  das  linke  sich  eine  große 
Locke  des  dichten  krausen  Haares  legt.  Die  Don- 
schen  Kosaken  in  himmelblauen  Röcken,  die  Grena- 
diere zu  Pferde  mit  langen  Roßschweifen  auf  den 
altertümlichen  Bärenmützen,  die  Gardeequipage  der 
Marine,  zu  der  nur  die  ausgesucht  schönsten  Leute 
kommen,  die  dort  sieben  Jahre  dienen  —  wer  kennt 
die  Truppen,  nennt  die  Namen!  —  eine  Blütenlese 
der  Garde,  wie  sie  schöner  wohl  kein  Volk  der  Erde 
stellen  kann.  In  Rußland  wird  jährlich  nur  etwa  ein 
Drittel  der  gestellungspflichtigen  Mannschaft  einge- 
stellt, man  kann  sich  denken,  welche  Auswahl  man 
da  hat,  und  zur  Garde  kommt  nur  das  Allerbeste.  — 
Durch  diese  spalierbildenden  Truppen  schreitet  nun 
in  langem,  feierlichem  Aufzug  der  Hof  in  die  Kapelle 
des  Winterpalais.  Die  Kaiserinnen  im  Schmuck  ihrer 
Brillanten,  alle  Damen  im  rotsamtenen,  goldgestick- 
ten Hofkleid  mit  langer  Schleppe,  auf  dem  Kopf  den 
Kokoschnik,  den  altrussischen,  halbmondförmigen 
Kopfschmuck.  Voran  die  Geistlichkeit  in  ihren  sil- 
berstarrenden Gewändern,  der  Patriarch  mit  der  Bi- 
schofsmütze, auf  der  ein  Vermögen  von  Steinen  fun- 

268 


kelt,  goldene  Monstranzen,  Weihrauchgefässe,  ge- 
stickte Fähnchen,  ein  überwältigendes  Bild  des  äus- 
sersten  Prunkes  und  der  denkbar  größten  Pracht.  Mit 
dem  Erlös  der  Steine,  die  hier  vor  unseren  Augen 
vorbeiziehen,  könnte  man  ein  Königreich  kaufen.  Und 
vor  all  diesem  Pomp,  in  dem  sich  das  Höchste  ver- 
einigt, das  das  russische  Riesenreich  an  weltlicher 
und  geistlicher  Macht,  an  irdischem  und  himmlischem 
Glanz  aufzubieten  vermag,  steht  mit  präsentiertem  Ge- 
wehr der  russische  Bauernsohn  in  seiner  Paradeuni- 
form und  starrt  mit  aufgerissenen  Augen  auf  all  den 
Schimmer.  Ist  es  ein  Wunder,  wenn  er  meint,  Gott 
selber  und  seine  Heiligen  vorüberziehen  zu  sehen, 
ist  es  ein  Wunder,  wenn  in  seinem  treuherzigen 
Bauernsinn  sich  die  Begriffe  der  Göttlichkeit  und  der 
Monarchie  verschmelzen  und  daß  er  in  die  Knie 
sinkt  vor  seinem  Zar  Väterchen,  der  nicht  nur  sein 
weltlicher  Herrscher,  sondern  auch  der  Träger  der 
höchsten  geistlichen  Gewalt  ist!  —  Hier  liegt  die  Rie- 
senkraft der  russischen  Monarchie.  Die  beiden  Säu- 
len, auf  denen  das  ganze  russische  Staatswesen  ruht: 
Kirche  und  Kaisertum  vereinigen  sich  in  der  Person 
des  Zaren.  Unzertrennbar  ist  der  eine  Begriff  vom 
anderen  und  sie  beherrschen  alles,  was  es  Heiliges 
und  Mystisches  in  der  Seele  des  russischen  Bauern 
gibt.  —  Und  wie  ist  es  bei  uns,  wo  zwei  verschiedene 
Bekenntnisse  sich  bekämpfen  und  wo  der  Titel  eines 
Summus  Episcopus  alles  ist,  was  dem  Inhaber  des 
Thrones  geblieben  ist,  ein  Titel,  den  kaum  jemand 
kennt  oder  versteht! 

Nun  beginnt  in  der  Kapelle  das  Hochamt.  Diese 
Kapelle  ist  mindestens  so  groß,  wie  die  Garnisons- 
kirche in  Potsdam.  Unbeschreiblich  schön  tönt  von 
ihrer  hohen  Wölbung  der  Gesang  des  kaiserlichen 
Sängerchors  wieder.  Dieser  berühmte  Chor,  wohl  der 

269 


schönste  A-cappella-Chor,  den  es  auf  der  Welt  gibt, 
besteht  aus  achtzig  Knaben  und  ebensoviel  Männern. 
Wie  auf  Engelsfittichen  schweben  die  silberklaren 
Knabenstimmen  über  den  orgelartigen  Bässen.  Um 
solche  Bässe  zu  hören,  muß  man  nach  Rußland  kom- 
men, man  kann  es  kaum  glauben,  daß  sie  einer 
menschlichen  Brust  entstammen  und  doch,  es  gibt 
kein  Instrument,  das  so  weich  klingen  könnte.  Der 
ganze  Chor  ist  in  Scharlach  gekleidet,  vorne  stehen 
die  Kinder  mit  andächtigen  Gesichtern,  wie  mystische 
Verzückung  klingt  es  aus  dem  Gesang.  Allmählich 
füllt  sich  die  Kirche  mit  Weihrauch.  Was  hier  auf- 
geführt wird,  ist  nach  unseren  nüchternen  Begriffen 
kein  Gottesdienst  mehr,  es  ist  ein  Schaugepränge, 
Gottesdienst  aber,  und  zwar  erhabenster  Art,  ist  der 
Gesang.  Und  doch,  wie  ich  mir  das  Gebaren  der 
Geistlichkeit  ansah,  wie  sie  kommen  und  gehen,  den 
Patriarchen  schmücken,  die  heiligen  Geräte  mit  ge- 
heimnisvollen Zermonien  umgeben,  kam  es  mir  zum 
Bewußtsein,  wie  in  dem  allen  nur  das  Bestreben  des 
Menschen  liegt,  das,  was  ihm  das  Heiligste  ist,  in 
einer  Weise  der  äußeren  Feier  zu  gestalten,  in  die  er 
alles  hineinlegen  will,  was  ihm  an  Schönem  und 
Feierlichem  gegeben  ist.  Aller  Glanz  und  alle  Pracht 
soll  vor  dem  Altar  des  Höchsten  niedergelegt  wer- 
den in  dem  Gedanken,  daß  das  Herrlichste,  was  wir 
besitzen,  nur  gerade  gut  genug  ist,  um  das  Göttliche 
zu  verehren.  Dieser  Gedanke  mag  irdisch  genug  sein, 
aber  er  ist  begreiflich  für  die  große  Masse  der  Men- 
schen, die  noch  nicht  gelernt  haben,  Gott  anzubeten 
im  Geist  und  in  der  Wahrheit. 

Ein  solches  russisches  Hochamt  dauert  gut  ein- 
einhalb Stunden,  und  alle  Teilnehmer  müssen  wäh- 
rend der  ganzen  Zeit  stehen,  wenn  sie  nicht  zur  Ab- 
wechslung einmal  hinknien.  Das  ist  eine  anstrengende 

270 


Sache  und,  wenn  sie  vorbei  ist,  sind  die  meisten  An- 
dächtigen kreuzlahm.  Nachdem  die  Feier  beendet 
war,  ging  der  feierliche  Zug  wieder  zurück  und  nun 
begann  die  Feier  draußen  am  Newaufer.  —  Der  Kai- 
ser ging  nicht  hinaus  seines  Ohrenleidens  wegen  und 
so  blieb  auch  der  Kronprinz  und  mit  ihm  wir  im 
Inneren.  Wir  sahen  die  Zeremonie  von  einem  Fen- 
ster des  Palais  an  und  hatten  herzliches  Mitleid  mit 
den  Armen,  die  entblößten  Hauptes  um  das  Loch  im 
Eis  der  Newa  herumstanden.  Nachdem  auch  dies  vor- 
über, ließ  der  Kaiser  in  einem  Saale  alle  Fahnen  des 
Gardekorps  an  sich  vorbeimarschieren.  Alle  kamen 
einzeln  hintereinander,  jede  von  einem  Offizier  ge- 
führt. Dazu  spielte  die  Musik  einen  Parademarsch. 
Es  war  eine  höchst  eigenartige  Parade.  —  Dann  wurde 
gefrühstückt.  Gegen  zweitausend  Personen  an  klei- 
nen Tischen.  Alle  plaziert.  Das  russische  Hofmar- 
schallamt ist  großartig  in  solchen  Arrangements. 

Nach  dem  Frühstück  übergab  der  Kronprinz  dem 
Kaiser  ein  von  uns  mitgebrachtes  Schiffsmodell.  Er 
klagte  mir  gegenüber  dabei  schon  über  Erschöpfung 
und  Müdigkeit.  Nachmittags  hatte  er  sich  denn  auch 
richtig  zu  Bett  gelegt  und  war  krank.  Influenza,  wie 
die  Ärzte  sagten.  Ich  glaube,  es  war  nur  Überan- 
strengung, denn  nach  zwei  Tagen  war  er  wieder  ganz 
munter. 

Diese  Erkrankung  machte  natürlich  einen  Strich 
durch  unser  Programm,  aber  sie  ist  dem  Zweck  der 
Reise,  eine  persönliche  Annäherung  herbeizuführen, 
nur  dienlich  gewesen.  Der  Kaiser  und  die  Kaiserin 
waren  rührend  in  ihrer  Fürsorge  für  den  Kranken. 
Sie  saßen  stundenlang  an  seinem  Bett,  brachten  ihm 
kleine  Geschenke,  aßen  in  seinem  Zimmer  und  ge- 
wannen ihn,  wie  ich  glaube,  wirklich  lieb.  Ebenso 
knüpfte  sich  ein  sehr  hübsches  Verhältnis  zwischen 

271 


ihm  und  dem  Thronfolger  an,  der  ein  sehr  sympathi- 
scher, offener  und  liebenswürdiger  Mensch  ist. 

Ich  fuhr  am  nächsten  Tage,  dem  Wunsch  der  Groß- 
fürstin entsprechend,  zum  Großfürsten  Wladimir. 
Wie  ich  ankam,  wurde  mir  gesagt,  daß  er  gerade 
schlafe,  aber  die  Großfürstin  lasse  mich  bitten,  zu 
ihr  heraufzukommen.  Ich  saß  dann  etwa  eine  Stunde 
mit  ihr  zusammen.  Sie  wollte  mich  nicht  fortlassen, 
da  sie  behauptete,  der  Großfürst  würde  böse  werden, 
wenn  ich  fort  sei,  daß  man  ihn  nicht  geweckt  habe. 
Dann  wurde  die  Kaiserin-Mutter  angemeldet  und 
kam  schon  ins  Zimmer,  bevor  ich  mich  verabschie- 
den konnte.  Sie  sagte  mir  gleich:  Ihr  Kronprinz  ist 
ein  ganz  charmanter  junger  Mann.  Er  hat  mir  ein 
sehr  schönes  Bukett  geschickt.  Sehr  aufmerksam  usw. 
—  Ich  freute  mich,  daß  er  bei  der  wichtigsten  Dame 
des  Hofes  sich  in  ein  so  gutes  Licht  gesetzt  hatte.  — 
Nachmittags  mußte  ich  wiederkommen  und  wurde 
alsbald  zum  Großfürsten  hereingeführt.  Er  lag  im  Bett 
und  sah  recht  elend  aus.  Es  war  mir  schmerzlich, 
diesen  Mann,  den  ich  noch  in  der  Fülle  seiner  Kraft 
und  männlichen  Schönheit  gekannt  habe,  so  gebro- 
chen und  gealtert  zu  sehen.  Ich  fürchte,  er  wird  nicht 
lange  mehr  leben  und  wir  werden  einen  guten  Freund 
an  ihm  verlieren.  —  Die  Großfürstin  saß  mit  einer 
Handarbeit  an  seinem  Bett.  Er  begrüßte  mich  sehr 
freundlich  und  reichte  mir  seine  fieberheiße  Hand. 
Dann  mußte  ich  mich  setzen  und  erzählen,  wie  Pe- 
tersburg dem  Kronprinzen  gefalle.  Es  dauerte  eine 
ganze  Weile,  bis  ich  mich  sammeln  konnte,  immer 
durchforschte  ich  dies  Krankengesicht,  über  dessen 
eingefallenen  Wangen  die  mit  grünem  Schirm  ver- 
deckte Lampe  unsichere  Lichter  warf.  —  Nachdem 
ich  etwa  eine  halbe  Stunde  gesessen  und  erzählt 
hatte,  wurde  ich  entlassen.  —  Am  Abend  desselben 

272 


Tages  aßen  wir  alle  in  dem  berühmten  Restaurant 
Cubat,  das  meines  Wissens  an  der  Spitze  aller  un- 
verschämtesten Preise  der  Welt  marschiert.  —  Dann 
waren  wir  im  Deutschen  Theater,  wo  eine  Wiener 
Posse  aufgeführt  wurde,  und  machten  dann  spät  in 
der  Nacht  eine  Schlittenfahrt  in  Troikas  nach  den 
Inseln,  wo  wir  auf  einer  russischen  Rutschbahn  im 
Schlitten  hinabsausten,  daß  einem  Hören  und  Sehen 
verging.  Sodann  fuhren  wir  ins  Aquarium,  einem 
großen  Vergnügungslokal  außerhalb  der  Stadt,  wo 
in  reserviertem  Zimmer  ein  lukullisches  Mahl  für  uns 
bereitet  war,  während  ein  für  uns  engagierter  Chor 
in  russischem  Nationalkostüm  musizierte.  —  Um 
4  Uhr  morgens  kamen  wir  nach  Hause.  —  Das  Hüb- 
scheste sind  die  Troikafahrten.  Ein  großer  Schlitten 
mit  breit  ausladenden  Schneeflügeln.  Bis  an  die 
Ohren  sitzt  man  im  Pelz,  warm  und  mollig,  wie  die 
Dotter  im  Ei.  Der  Kutscher  steht  vorn  unmittelbar 
vor  dem  Sitz,  er  trägt  das  russische  Kutscherkostüm, 
den  langen  Pelz  mit  buntgesticktem  Leibgurt  und  das 
Pelzbarett.  Von  den  drei  mit  silberbeschlagenen  Ge- 
schirren reich  aufgezäumten  Pferden,  geht  das  mit- 
telste unter  dem  hohen  Bügel,  an  dem  Glöckchen 
hängen.  Die  beiden  Seitenpferde,  die  ohne  Deichsel 
gehen,  sind  scharf  nach  rechts,  resp.  links  angebun- 
den, so  daß  sie  mit  ganz  seitwärts  gebogenem  Hals 
galoppieren,  während  das  Mittelpferd  nur  traben  darf. 
Zu  ihm  werden  die  besten  Harttraber  genommen. 
Man  sagte  mir,  daß  die  Seitenpferde  nicht  länger  als 
zwei  bis  drei  Jahre  aushalten.  So  geht  die  Fahrt  in 
einem  rasenden  Tempo  vorwärts.  Das  laute  Rufen 
des  Kutschers,  der  bald  zu  den  Pferden  spricht,  bald 
andere  Schlitten  anruft,  ihm  Platz  zu  machen,  tönt 
mit  den  Glocken  zusammen  und  alles  weicht  ehr- 
erbietig aus  und  macht  der  Troika  Platz,  in  der  nur 

Moltke.         18.  273 


ein  Barim,  ein  »Herr«  fahren  kann.  Ein  solches  Ge- 
spann, mit  nachtdunklen  Rappen  bespannt,  ist  wirk- 
lich ein  herrlicher  Anblick,  es  kann  allerdings  nur  auf 
den  breiten  russischen  Straßen  fahren,  bei  uns  würde 
es  fast  die  ganze  Chaussee  sperren.  Man  sitzt  pracht- 
voll in  dem  tiefen,  bequemen  Schlitten,  die  kalte  Luft 
weht  einem  ums  Gesicht,  an  dem  ganze  Schneeklum- 
pen, von  den  Hufen  der  galoppierenden  Pferde  ge- 
schleudert, vorbeisausen,  während  ein  feiner  Schnee- 
staub einen  von  oben  bis  unten  bepudert. 

Alles,  was  wir  erlebt  und  gesehen,  kann  ich  Dir 
nicht  erzählen,  ich  müßte  tagelang  am  Schreibtisch 
sitzen.  —  Wir  waren  in  der  Eremitage,  diesem  einzig 
dastehenden  Museum,  mit  seinen  auserlesenen  Kunst- 
schätzen, wir  besuchten  die  Nikolaus-  und  die  Ka- 
sansche  Kathedrale,  wir  waren  in  einer  Industrieaus- 
stellung, wir  dinierten  auf  der  Botschaft,  wir  fuhren 
und  gingen  über  das  Eis  der  Newa,  wir  besuchten 
die  Kasernen  des  Preobratschensk-Regiments  und 
frühstückten  mit  den  Offizieren  in  ihrem  schönen 
Kasino,  wir  waren  bei  den  Gardes  ä  cheval,  die  uns 
in  ihrer  großen,  geheizten  Manege  oder  wie  wir  sa- 
gen Reitbahn  ein  Schwadronsexerzieren  vormachten^ 
wir  dinierten  einmal  bei  ihnen  und  frühstückten  ein- 
mal dort,  genug,  wir  standen  immer  einige  Zollhoch 
unter  Sekt  und  ich  mußte  Reden  halten  auf  die  rus- 
sischen Kameraden.  —  So  vergingen  die  Tage  wie 
im  Fluge.  —  Am  23.  war  großer  Ball  beim  Großfür- 
sten Michael.  Der  Kronprinz  war  wieder  gesund  und 
freute  sich  sehr  auf  das  Tanzen.  In  dem  großen  Saal 
war  die  Creme  der  Petersburger  Gesellschaft  ver- 
einigt, es  wimmelte  von  Fürstinnen,  Gräfinnen  usw. 
—  Wie  der  Kotillion  getanzt  wurde,  ließ  mich  die 
regierende  Kaiserin  rufen  und  ich  mußte  mich  neben 
sie  setzen.  So  tanzten  wir  einen  Sitzkotillion  zusam- 

274 


men,  rechts  und  links  von  uns  ein  leerer  Raum  von 
zehn  Schritt,  angefüllt  nur  von  Ehrfurcht,  und  wir 
beide  mitten  darin.  Wir  unterhielten  uns  sehr  gut  und 
ich  lernte  sie  auch  einmal  als  Mensch  kennen  und 
fand  Gelegenheit,  ihre  natürliche  Liebenswürdigkeit 
und  ihren  einfachen  geraden  Sinn  zu  bewundern.  Ich 
gab  ihr  alle  Buketts,  Schleifen,  Körbe  und  sonsti- 
gen Sachen,  die  die  Touren  brachten  und  sie  nahm 
alles  fröhlich  an,  um,  wie  sie  sagte,  es  ihren  Kindern 
mitzubringen.  Dann  kamen  die  Schleifen  für  die  Da- 
men, und  nun  bekam  ich  eine  von  ihr.  Ich  sagte  ihr: 
»Majestät,  das  ist  das  erstemal  in  meinem  Leben,  daß 
ich  eine  Kotillionsschleif  e  von  einer  regierenden  Kai- 
serin bekommen  habe.«  Der  Kotillion  dauerte  fast 
eine  Stunde  und  unsere  Unterhaltung  riß  nicht  einen 
Augenblick  ab.  —  Tanzen  wollte  sie  aber  nicht,  ob- 
gleich der  alte  Großfürst  Michael  kam,  um  ihr  zu  sa- 
gen, sie  möchte  doch  einmal  mit  mir  tanzen.  Er  sagte, 
auf  mich  zeigend,  »je  suis  sur,  que  Monsieur  est  un 
bon  marcheur!«  —  aber  sie  wollte  nicht.  —  Mir  war's 
auch  lieber  so.  Dann  kam  das  Souper,  bei  dem  ich 
neben  die  Kaiserin-Mutter  gesetzt  wurde,  so  daß  ich 
diesen  Abend  fast  nur  mit  Kaiserinnen  verkehrte.  — 
Am  nächsten  Morgen  verabschiedeten  wir  uns  von 
den  Majestäten  und  fuhren  nach  Nowgorod  zum 
Wyborgschen  Regiment.  Von  der  dicht  herbeige- 
strömten Bevölkerung  wurde  der  Kronprinz  mit  end- 
losen Hurras  begrüßt.  —  Von  dort  zurück  im  selben 
bequemen  Hofzug  bis  Eydtkuhnen,  wo  wir  uns  von 
unseren  russischen  Freunden  verabschiedeten.  Am 
26.,  morgens  6  Uhr,  waren  wir  in  Berlin. 

Nun  nur  noch  eine  kurze  Mitteilung  über  die  Art, 
wie  man  Bären  schießt.  Ich  habe  ja  nur  die  einmalige 
Erfahrung,  die  ich  zugrunde  lege.  —  Also  man  steht 
morgens  8  Uhr  auf.  Das  ist  sehr  früh  für  die  russi- 

275 


sehen  Verhältnisse.  Dann  fährt  man  in  leichtem  Jagd- 
kostüm auf  den  Bahnhof,  wo  ein  Extrazug  bereit- 
steht. In  diesem  wartet  bereits  ein  Frühstück  mit  Tee, 
Kaffee,  kaltem  Aufschnitt  und  Sekt,  natürlich  Kaviar. 
Der  Zug  setzt  sich  in  Bewegung,  und  man  fährt  zwei 
Stunden,  das  ist  sehr  lange,  aber  der  Bär  hat  nun  ein- 
mal die  Marotte,  so  weit  von  Petersburg  zu  über- 
wintern. Kurz  bevor  man  ankommt,  zieht  man  die 
bereitgehaltenen  warmen  Sachen  an.  Einen  Pelz,  eine 
Pelzmütze  und  weiße,  weiche  Filzstiefel,  in  die  man 
bloß  mit  Strümpfen  hineinfährt.  Dann  hält  der  Zug, 
man  steigt  aus  und  setzt  sich  in  einen  bereitstehen- 
den Schlitten,  der  ganz  mit  Pelz  ausgefüttert  ist.  Für 
jeden  von  uns  steht  ein  Schlitten  da.  Der  Oberjäger- 
meister Fürst  Galitzin  nimmt  die  Tete,  und  man  hat 
nun  auf  glatter  Bahn  zehn  Minuten  zu  fahren.  Im  Walde 
sind  alle  Zweige,  die  unbequem  werden  könnten,  aus- 
gehauen. Man  kommt  auf  einen  freien  Platz,  auf  dem 
der  Schnee  sorgfältig  festgetreten  ist,  damit  man 
keine  nassen  Füße  beim  Aussteigen  bekommt,  und 
steigt  aus.  Dort  sind  bereits  die  Treiber  versammelt, 
etwa  hundert  Mann,  die  uns  mit  abgezogenen  Müt- 
zen begrüßen.  Etwa  zwanzig  Mann  tragen  rote  Kit- 
tel, Mützen  und  Handschuhe.  Dies  sind  die  Spezial- 
treiber,  die  den  Bären  »heben«  sollen,  wenn  er  nicht 
freiwillig  aufsteht.  Von  diesem  Platz  führt  ein  sauber 
festgetretener  Weg  ins  Innere  des  Dickichts.  Im 
Gänsemarsch  gehen  wir  vor.  Jetzt  darf  nicht  mehr 
laut  gesprochen  werden.  Alles  bewegt  sich  schwei- 
gend vorwärts,  Jäger  und  Treiber.  Nach  zwei  Minuten 
sind  wir  an  den  numerierten  Ständen.  Ich  bekomme 
den  für  den  Kronprinzen  bestimmten.  Eine  starke 
Brustwehr  aus  Tannenreisern  geflochten,  der  Boden 
mit  kleinen  Tannenzweigen  belegt.  Ein  kaiserlicher 
Leibjäger  stellt  eine  Doppelbüchse  neben  mich,  glatte 

276 


Läufe  und  Rundkugel.  Meine  Büchse  stellt  er  als  Re- 
serve seitwärts.  Er  selber  ist  ebenfalls  mit  Doppel- 
büchse bewaffnet,  sowie  mit  einem  armdicken  Speer. 
Ein  Treiber  mit  einer  Dogge  so  hoch  wie  ein  Tisch, 
bleibt  hinter  uns,  sie  ist  darauf  dressiert,  einen  attak- 
kierenden  Bären  sofort  an  der  Gurgel  zu  fassen.  Man 
fühlt  sich  also  einigermaßen  sicher.  Nachdem  die  Jä- 
ger aufgestellt  sind,  ist  auch  schon  der  »Ring«  durch 
die  Treiber  gebildet.  Sie  umstehen  das  Lager  des  Bä- 
ren im  Halbkreis  von  etwa  dreihundert  Schritt  Durch- 
messer. Ein  Hornsignal  und  der  Spektakel  geht  los. 
Alle  schießen  mit  Pistolen,  schreien,  quitschen,  krei- 
schen, lassen  Kanonenschläge  los.  Das  dauert  zehn 
Minuten,  kein  Bär  kommt.  Hornsignal:  Der  Bär  muß 
gehoben  werden.  Die  roten  Treiber  gehen  mit  Hunden 
vor.  Diese  bellen  den  Bären  in  seiner  Höhle  an,  die 
Treiber  rücken  vor  und  stoßen  mit  langen  Stangen  in 
das  Lager.  Plötzlich  Explosion,  Schnee,  Eisstücke, 
Zweige  und  Blätter  fliegen  umher,  der  Bär  ist  aufge- 
standen und  hat  sein  Lagergesprengt,  er  ist»gehoben«. 
Hornsignal  macht  dies  den  Jägern  bekannt.  Weitere 
zehn  Minuten.  Die  Hunde  bellen  hinter  dem  Bären  her, 
der  langsam  in  dem  Kreise  der  Treiber  einherzieht  und 
einen  Ausweg  sucht.  Plötzlich  kommt  er  gerade  spitz 
auf  mich  zu.  Er  watet  langsam  durch  den  knietiefen 
Schnee.  Vierzig  Schritt  vor  mir  bleibt  er  stehen  und 
sichert.  Ich  kann  den  Kopf  nicht  freikriegen,  der 
durch  einen  Baum  gedeckt  ist,  aber  ich  halte  auf  die 
Schulter  und  reiße  Feuer.  Der  Bär  sinkt  zusammen, 
macht  einen  Sprung  nach  der  Seite,  ich  bekomme 
das  Blatt  frei  und  gebe  ihm  dorthin  die  zweite  Kugel. 
Er  fällt,  versucht  wieder  hoch  zu  kommen,  mir  ist 
bereits  eine  andere  Büchse  in  die  Hand  geschoben 
und  ich  feuere  noch  zwei  Kugeln  auf  den  armen  Petz, 
der  nun  mausetot  ist.  Die  Jagd  wird  abgeblasen,  der 

277 


Bär  herausgeschleppt.  Es  ist  ein  schönes  Exemplar, 
fast  schwarz,  ein  Männchen.  Nun  wieder  zurück  zur 
Bahn.  In  dem  Zuge  wartet  schon  das  Frühstück,  das 
mit  Kaviar  und  Sekt  beginnt.  Dann  wieder  in  den 
Schlitten  und  zum  zweiten  Bären,  der  allerdings 
sechzehn  Kilometer  weit  liegt.  Hier  genau  dasselbe. 
Ich  habe  meinen  Platz  an  Pritzelwitz  abgetreten,  und 
er  schießt  den  Bären.  Diesmal  war  es  eine  Bärin  mit 
zwei  Jungen,  die  kaum  acht  Tage  alt  sind  und  die  die 
Hunde  totbissen.  Dann  wieder  in  den  Zug,  wo  Tee 
und  Kaffee  serviert  wird.  Um  6  Uhr  sind  wir  in  Pe- 
tersburg zurück  und  sitzen  um  7  Uhr  beim  Diner.  — 
Wohl  bekomm's,  wirst  Du  sagen.  Und  ich  sage  Dir: 
Wohl  bekomm's,  nämlich  die  Lektüre  dieses  Werks. 

Berlin,  31.  März  1903. 

Glaube  mir,  daß  mir  nichts  ferner  liegt,  als  Dir  Dei- 
nen Glauben  nehmen  oder  auch  nur  antasten  zu 
wollen.  Nur  zur  Vorsicht  möchte  ich  Dich  mah- 
nen, denn  Dein  gutes  Herz  wird  nur  zu  leicht  miß- 
braucht und  Du  siehst  die  Menschen  in  der  Ver- 
klärung gemeinsamen  Anschauungskreises,  nicht  ob- 
jektiv, wie  sie  wirklich  sind.  —  Das  was  wirklich 
schön  und  tröstlich  in  diesem  Glauben  ist,  will  ich 
gerne  mit  Dir  teilen,  in  dem  aufs  Ideale  gerichte- 
ten Streben,  glaube  ich,  werden  wir  uns  immer  fin- 
den, nur  in  diesen  häßlichen  Äußerlichkeiten  kann 
ich  nicht  mit.  Du  idealisierst  sie  Dir,  ich  sehe  immer 
die  nackte  und  oft  abstoßende  Wirklichkeit,  und  ver- 
mag sie  mir  nicht  einzureihen  in  die  Vorstellungen, 
die  ich  vom  Geist  und  Geisteswesen  habe.  Sie  sind  ja 
unklar,  diese  Vorstellungen,  aber  ich  muß  suchen, 
ihnen  ein  gewisses  Klares  zu  unterlegen,  etwas  was 
über  unserem  Erdendasein  liegt  und  nicht  in  die  trü- 
ben Tiefen  desselben  hinabtaucht.  —  Wer  einen  Edel- 

278 


stein  besitzt,  soll  denselben  nicht  an  die  Brust  stecken 
und  damit  auf  den  Markt  gehen,  sonst  greifen  schmut- 
zige Hände  nach  ihm  und  er  kann  leicht  in  den  Kot 
fallen  und  unter  die  Füße  getreten  werden. 

Kopenhagen,  2.April  1903. 

Nun  sitze  ich  hier  in  dem  alten  Kopenhagen,  in  dem 
Schloß,  an  dem  ich  in  alten  Zeiten  so  oft  vorbeige- 
gangen bin,  mit  dem  Blick  aus  meinem  Fenster  auf 
den  Schloßplatz  mit  seiner  alten  Reiterfigur!  —  Es 
ist  ganz  eigenartig.  Unsere  Reise  war  vortrefflich. 
Wir  gingen  heute  morgen  7  Uhr  an  Bord  in  Kiel, 
das  Wetter  war  kalt  und  unfreundlich.  Je  mehr  wir 
uns  der  dänischen  Küste  näherten,  desto  heller  wurde 
es  aber,  und  wie  wir  an  die  Forts  herankamen,  die 
uns  mit  Kanonendonner  begrüßten,  war  es  ganz  klar 
geworden  und  die  Sonne  schien  freundlich.  Viele 
Tausende  von  Menschen  standen  dicht  gedrängt  am 
Ufer,  wie  wir  bei  Tre  Kroner  vorbei  in  den  Hafen 
hineinfuhren  und  Anker  warfen.  —  Der  König  mit 
allen  Prinzen  kamen  an  Bord,  wo  wir  im  Parade- 
kostüm aufgebaut  standen.  —  Der  Kaiser  fuhr  mit 
dem  König  in  einer  Glas-Staatskarosse,  eskortiert 
von  einer  Schwadron  Husaren.  Auf  dem  ganzen 
Wege  waren  Truppen  als  Spalier  aufgestellt,  und  eine 
unzählige  Menge  drängte  sich  in  den  Straßen. 

Kopenhagen,  6.April  1903. 

Wir  sind  die  ganzen  Tage  unterwegs  gewesen  und 
haben  viel  gesehen.  Die  Stimmung  ist  gut,  der  Kaiser 
hat  sehr  gewonnen  durch  seine  Leutseligkeit,  und 
seine  Rede  hat  einen  vortrefflichen  Eindruck  ge- 
macht. 

279 


Kiel,  6.  April  1903. 

Die  Zeit  in  Kopenhagen  war  sehr  hübsch  und  in 
jeder  Beziehung  geglückt.  Das  Verhältnis  zwischen 
den  beiden  Monarchen  war  vortrefflich  und  gestal- 
tete sich  sehr  herzlich.  Die  Stimmung  war  ausge- 
zeichnet und  wurde  auch  im  Publikum  von  Tag  zu 
Tag  wärmer,  bei  der  Abfahrt  bekam  der  Kaiser  sogar 
ein  ganz  nettes  Hurra.  —  Der  Kaiser  war  dauernd 
sehr  guter  Laune  und  immer  sehr  freundlich  gegen 
mich.  Ich  frühstückte  jeden  Morgen  mit  ihm  und  den 
beiden  Flügeladjutanten  vom  Dienst.  Die  dänischen 
Herrschaften  waren  rührend  liebenswürdig. 

Zum  erstenmal  habe  ich  bei  der  Gelegenheit  dieses 
Besuches,  obgleich  ich  schon  so  oft  in  Kopenhagen 
war,  Rosenborg  und  Frederiksborg  zu  sehen  bekom- 
men, beides  höchst  interessante  Schlösser  mit  sehr 
wertvollem  Inhalt.  Wir  waren  auch  in  dem  Sana- 
torium von  Professor  Finsen,  was  zwar  interessant, 
aber  gräßlich  anzusehen  war.  Nie  in  meinem  Leben 
habe  ich  soviel  Menschen  ohne  Nasen  gesehen. 

Berlin,  10.  April  1903. 

Heute  waren  E.  und  ich  in  der  Kaiser-Friedrichs- 
Kirche,  wo  wir  eine  sehr  schöne  Predigt  hörten.  Sel- 
ten ist  mir  eine  Predigt  so  zu  Herzen  gegangen  und 
die  Erhabenheit  des  reinen  christlichen  Glaubens  in 
ihrer  undefinierbaren  Gewalt  so  zum  inneren  Be- 
wußtsein gekommen.  Wie  beneidenswert  sind  doch 
die  Menschen,  die  aus  voller  innerer  Überzeugung 
diesen  friedebringenden  Erlöserglauben  haben,  der 
dem  tief  innerlichen  Bedürfnis  der  ringenden  und  su- 
chenden Menschenseele  volles  Genügen  gewähren 
muß,  wenn  er  sich  wirklich  zur  ganzen  Höhe  uner- 
schütterlicher Gewißheit  erhebt.  Du  weißt,  daß  diese 

280 


Wohltat  mir  nicht  gegeben  ist  und  daß  ich  vergebens 
nach  ihr  gerungen  habe  und  noch  ringe.  Wenn  ich 
meinen  sogenannten  Verstand  ausschalten  könnte, 
würde  es  mir  vielleicht  gelingen,  den  Frieden  zu  er- 
ringen, der  höher  ist  als  alle  Vernunft.  Aber  das  Dog- 
ma der  Erlösung  steht  vor  mir  unverständlich  und 
unfaßbar.  Ich  kann  es  nicht  begreifen,  weshalb  es 
für  einen  Gott,  der  die  Liebe  sein  soll,  nötig  war,  ein 
blutiges  Opfer  des  Unschuldigen  zu  verlangen,  um 
sich  mit  den  Schuldigen  zu  versöhnen,  und  wie  es 
möglich  sein  soll,  daß  mir  meine  Schuld  erlassen 
werden  soll,  weil  ein  anderer  gelitten  hat.  Aus  die- 
sem Konflikt  komme  ich  nicht  heraus,  und  da  ich  so- 
mit die  Erlösung  nicht  begreifen  und  daher  nicht  für 
mich  beanspruchen  kann,  kann  ich  auch  nicht  auf 
den  Felsengrund  des  Glaubens  kommen  und  wate 
stetig  weiter  in  dem  Triebsand  der  grübelnden  Zwei- 
fel. Ich  hoffe  aber,  daß  Gott  mir  helfen  werde,  und 
wenn  nicht  in  diesem,  dann  in  einem  anderen  Leben 
einen  Lichtstrahl  schenken  werde,  dem  ich  folgen 
kann.  — 

Um  2  Uhr  hatten  wir  Deine  Mama  zu  Tisch  bei 
uns.  E.  hatte  ihr  einen  kleinen  Geburtstagstisch  auf- 
gebaut— ,  ein  Bild,  das  sie  besorgt,  der  durch  blühen- 
den Mohn  schreitenden  Blinden,  war  mir  wie  ein 
Gleichnis  meiner  Seele,  auch  sie  geht  blind  und  ta- 
stend ihren  Weg,  Dunkelheit  bedeckt  die  Augen,  und 
doch  weiß  sie,  daß  die  Sonne  scheint  und  daß  der 
Mohn  blüht  in  roter  Pracht,  der  Mohn,  das  Sinnbild 
des  Schlafes  —  jenes  Schlafes,  der  auch  der  Blinden 
Augen  öffnen  wird. 

Berlin,  15.  April  1903. 

Gewiß  sollen  wir  nach  immer  größerer  Vergeisti- 
gung streben,  aber  meiner  Ansicht  nach  nicht  da- 

281 


durch,  daß  wir  das  Materielle  einfach  negieren  und 
verachten,  sondern  dadurch,  daß  wir  aus  ihm  die 
ideellen  Momente  immer  reiner  hervortreten  lassen, 
dadurch,  daß  wir  es  verklären  und  durchleuchten  mit 
dem  Geistigen,  als  da  ist:  Liebe,  Sorge  für  den  Näch- 
sten, Zartheit  der  Empfindung,  Nachsicht  mit  den 
Fehlern  anderer.  So  werden  wir  uns  im  materiellen 
Kleide  eine  geistige  Welt  schaffen,  wir  werden  nicht 
das  Irdische  verachten,  sondern  es  veredeln,  nicht 
die  Welt,  in  der  wir  leben,  gewaltsam  aus  den  An- 
geln heben  wollen,  sondern  unser  materielles  Dasein 
als  das  erkennen,  was  es  sein  soll,  eine  Durchgangs- 
stufe zum  besseren  Dasein.  Wenn  wir  diese  Stufe 
aus  der  Leiter  der  Weltentwicklung  herausbrechen 
wollen,  so  tritt  unser  Fuß  ins  Leere  und  wir  fallen, 
da  wir  noch  keine  Flügel  haben.  Ich  meine,  wir  sol- 
len fest  und  sicher  auf  dieser  Stufe  stehen,  den  Blick 
nach  oben  gerichtet,  im  Bewußtsein,  daß  noch  wei- 
tere Stufen  kommen,  aber  auch  in  dem  klaren  Be- 
wußtsein, daß  wir  zur  nächsten  erst  weiterschreiten 
können,  wenn  wir  das  Gleichgewicht  auf  der  jetzigen 
erlangt  haben. 

Berlin,  16.  April  1903. 

Ich  habe  die  letzten  Tage  ein  recht  interessantes  Buch 
von  Chamberlain  gelesen,  es  heißt  »Dilettantismus  — 
Babel  und  Bibel  —  Rom«,  laß  es  Dir  doch  kommen. 
Unter  anderem  fand  ich  darin,  als  Beleg  für  die  man- 
gelhafte Übersetzung  der  Bibel  durch  Luther,  und 
damit  den  Schlußfolgerungen,  die  man  dem  Buch- 
stabenglauben machen  kann,  den  Nachweis,  daß  der 
erste  Vers  der  Genesis,  der  nach  der  Lutherschen 
Übersetzung  lautet:  »Im  Anfang  schuf  Gott  Himmel 
und  Erde«  —  Punkt  — ,  ersteres  nur  der  Vordersatz 
zu  dem  dann  folgenden  Nachsatz:  »und  die  Erde  war 

282 


wüst  und  leer«  —  ist,  daß  also  kein  Punkt  stehen  darf; 
zweitens,  daß  es  wörtlich  aus  dem  Hebräischen  über- 
setzt lauten  müßte:  »Wie  die  Dämonen  anfingen  die 
Luft  und  das  feste  Land  auseinanderzutrennen,  war 
die  Erde  noch  leer  und  unbewohnt.«  Es  steht  näm- 
lich »elohim«  im  Text,  was  Plural  ist  und  »die  Dä- 
monen« bedeutet.  Im  Singular  müßte  stehen  »el«,  was 
Gott  bedeutet.  So  ist  also  schon  der  erste  Vers  zu- 
gunsten des  Monotheismus  gefälscht  usw.  Ob  Cham- 
berlain  recht  hat,  kann  ich  natürlich  nicht  beurteilen, 
möchte  es  aber  glauben. 

Berlin,  23. April  1903. 

Ich  war  gestern  im  Kleinen  Theater,  wo  ich  »Pel- 
leas  und  Melisande«  von  Maeterlingk  sah,  eine  vor- 
treffliche Aufführung  dieses  merkwürdigen  märchen- 
haften Stückes,  das  wenig  dramatisch,  aber  sehr  po- 
etisch ist.  Ich  kannte  es  von  der  Lektüre  her,  hatte 
selbst  einmal  die  Absicht,  es  zu  übersetzen,  kam  nicht 
dazu. 

Berlin,  25. April  1903. 

Abends  war  ich  im  »Nachtasyl«.  Das  ist  ein  schreck- 
liches Stück!  Nichts  wie  Elend  und  Verkommenheit, 
eine  Photographie  des  versumpften  menschlichen  Da- 
seins. Dabei  ist  es  unbefriedigend,  ohne  dramatische 
Steigerung  und  ohne  Schluß,  zwecklos  wie  die  Mi- 
sere des  Lebens,  und  trostlos,  weil  kein  einziger  sich 
aus  dem  Elend  herausarbeitet,  sondern  alle  drin  zu- 
grunde gehen  oder  hoffnungslos  drin  sitzen  bleiben. 
Die  wenigen,  die  einen  schwachen  Anlauf  zu  ihrer 
eigenen  Errettung  machen  wollen,  werden  aufs  neue 
in  Schuld  verstrickt,  kein  einziger  Lichtstrahl  in  all 
der  erstickenden  Dunkelheit,  das  Leben  zermahlt 
gleichgültig  und  schwer  wie  Mühlsteine  diese  elen- 

283 


den  Menschen,  die  mit  all  ihrem  Menschentum  nicht 
über  die  stumpfsinnige  Frage  hinauskommen:  Wozu 
bin  ich  auf  der  Welt?  Das  Stück  hat  mir  einen  tiefen 
und  häßlichen  Eindruck  hinterlassen,  und  ich  kann 
die  Berechtigung  dieser  Lebensanschauung  nicht  an- 
erkennen. —  Wenn  immer  nur  gesagt  wird:  Weshalb 
arbeiten?  Es  hat  ja  gar  keinen  Zweck,  ist  ja  ganz  sinn- 
los, so  ist  das  der  Pessimismus  in  seiner  häßlichsten 
Gestalt.  Wäre  auch  nur  eine  Figur  in  dem  Stück,  die 
sich  durch  Arbeit  frei  machte,  so  wäre  es  etwas  an- 
deres. Der  alte  vertrottelte  Pilger  ist  auch  kein  Licht- 
punkt, seine  Bemühungen  trösten  zwar  eine  Ster- 
bende, treiben  aber  einen  Lebenden  in  den  Tod,  und 
seine  Theorie,  daß  die  Menschen  nur  für  den  Tüch- 
tigsten da  sind,  ist  wertlos,  da  kein  einziger  sich  fin- 
det, der  nun  aus  eigener  Kraft  dieser  Tüchtigste  wer- 
den will. 

Berlin,  27. April  1903. 

—  Daß  der  Anblick  einer  solchen  Verwüstung  übel- 
erregend  auf  Dich  wirkt,  kann  ich  mir  wohl  erklären. 
Es  ist  das  Sinnlose,  daß  Du  als  solches  empfindest, 
die  Zerstörung  als  solche,  ohne  denkbaren  Grund; 
man  ist  gewohnt,  Ursache  und  Wirkung  zu  verknüp- 
fen, wenn  man  diese  logische  Folgerung  nicht  kon- 
struieren kann,  fehlt  die  Festigkeit  der  Gedankenver- 
bindung, die  Begriffe  kommen  ins  Schwanken,  man 
wird  geistig  seekrank. 

Berlin,  27.  April  1903. 

Morgen  ist  der  Tag,  dem  wir  alle  mit  Besorgnis 
entgegensehen,  die  Besichtigung  der  Bataillone  des 
i.Garde-Regiments  durch  den  Kaiser.  Kein  Mensch 
freut  sich  auf  diesen  Tag,  wie  es  früher  war,  wenn 
der  alte  Herr  kam,  um  sein  Regiment  zu  sehen.  Jetzt 

284 


herrscht  im  besten  Fall  eine  dumpfe  Resignation  wie 
dem  Fatum  gegenüber,  und  wenn  es  glücklich  vorbei 
ist,  ohne  Windbruch,  atmet  alles  auf  wie  erlöst.  Wo 
ist  die  Freudigkeit  geblieben,  mit  der  früher  jeder  sei- 
nen Dienst  tat! 

Berlin,  30.  April  1903. 

Du  wunderst  Dich  über  die  Ernennung  H.s  zum 
Feldmarschall,  er  war  aber  schon  Generaloberst,  was 
etwa  dasselbe  ist.  Er  ist  an  allen  drei  letzten  Kriegen 
beteiligt  gewesen  und  hat  sich  stets  ausgezeichnet.  — 
Du  meinst  wohl,  daß  er  nicht  im  Anschluß  an  einen 
Krieg  dazu  ernannt  ist,  das  ist  ja  richtig.  Solange  On- 
kel Helmuth  der  einzige  Feldmarschall  war,  hatte  man 
eine  andere  Vorstellung  von  diesem  Titel,  da  wir  aber 
keine  Kriege  mehr  haben,  muß  man  eben  Friedens- 
marschälle machen  —  wenn  man  sie  überhaupt  für 
nötig  hält. 

Berlin,  4.  Mai  1903. 

—  Wie  lange  wird's  dauern,  dann  steht  man  vor 
der  Beantwortung  aller  der  ungelösten  Fragen,  mit 
denen  man  hier  im  Leben  sich  so  andauernd  abge- 
plagt hat.  Inzwischen  ist  es  ja  schön,  wenn  es  um 
den  alten  Stamm  sprießt  und  wächst,  ein  neues  Ge- 
schlecht mit  neuen  Anschauungen,  neuen  Leiden  und 
Freuden  und  neuen  ungelösten  Fragen! 

Berlin,  6.  Mai  1903. 

—  Alle  Bäume  mit  Ausnahme  der  alten  Eichen  sind 
grün,  die  Buchen  sind  prachtvoll  in  ihrem  frisch  grü- 
nen Laub.  Ich  kann  so  eine  frühlingsfrische  Buche 
nicht  sehen,  ohne  an  meine  Kinderzeit  zu  denken,  an 
die  Buchenwälder  in  Ranzau,  die  mir  unvergeßlich 
sind.  Ich  sehe  mich  selber  als  Junge  durch  den  Wald 

285 


streifen,  die  Tiere  beobachten  und  auf  den  Gesang 
der  Vögel  lauschen,  deren  Stimmen  ich  alle  kannte, 
und  ich  habe  die  Empfindung,  als  ob  ich  heute  mich 
für  das  moosbekleidete  Nest  eines  Buchfinken  noch 
ebenso  lebhaft  interessieren  könnte  wie  vor  —  einem 
halben  Jahrhundert. 

Berlin,  14.  Mai  1903. 

In  militärischen  Kreisen  zerbricht  man  sich  den 
Kopf  darüber,  wer  das  VI.  Korps  bekommen  wird. 
Genannt  wird  in  erster  Linie  der  Herzog  Albrecht  von 
Württemberg.  Auch  Prinz  Friedrich  Leopold  wird 
stark  gehandelt.  Ich  glaube,  für  Breslau  wäre  es  am 
besten,  wenn  einmal  kein  Prinz  hinkäme,  damit  die 
Leute  sich  erst  einmal  wieder  beruhigen,  und  das 
Wettrennen  nach  Fürstengunst  aufhört. 

B  erlin ,  31.  Mai  1903. 

Ich  habe  heute  morgen  Kirchweih  gehabt,  das  heißt 
eine  Kirche  eingeweiht,  zusammen  mit  M.,  der  die 
Kaiserin  vertrat.  Wir  hörten  zwei  Predigten,  die  erste 
von  F.,  sehr  interessant  wie  immer,  mehr  philoso- 
phisch als  dogmatisch.  Der  Mann  macht  mir  immer 
den  Eindruck,  als  ob  er  sich  selber  davon  überreden 
wollte,  daß  alles  wahr  sei,  was  er  sagt,  und  daß  er 
selber  daran  glaubt.  Aber  er  ist  geistvoll  und  fesselnd, 
wenn  auch  nicht  zu  Herzen  gehend,  sondern  sich 
mehr  an  den  Verstand  wendend.  —  Dann  kam  der 
Pastor  loci  mit  einer  endlosen,  inhaltslosen  Rede, 
viel  Worte  und  wenig  Sinn.  Er  versuchte  mehr  durch 
Betonung  als  durch  Gedanken  die  Herzen  seiner  Zu- 
hörer zu  rühren! 

Norwegen,  Molde,  21. Juli  1903. 

Heute  bei  Tisch  erklärte  mich  der  Kaiser  für  einen 
Heiden,  da  ich  behauptete,  es  wären  drei  Jünger  nach 

286 


Emmaus  gegangen,  während  es  nur  zwei  gewesen  sein 
sollen!  Ich  sagte  ihm,  ich  glaube  nicht,  daß  ich  we- 
gen dem  einen  Jünger  in  die  Hölle  komme,  außer- 
dem kann  man  ja  nicht  wissen,  ob  nicht  noch  einer 
mitgegangen  ist!  —  Der  Kaiser  ist  immer  gleichmäßig 
nett  und  freundlich  mit  mir,  und  hier  auf  dem  Schiff 
wird  behauptet,  ich  sei  der  einzige,  dem  er  nicht  grob 
geworden  sei. 

Norwegen,  Insel  Florö,  4.August  1903. 

Dabei  fällt  mir  ein,  daß  heute  ja  der  neue  Papst  ge- 
wählt ist,  wie  zu  erwarten  war,  ein  Outsider,  ein  Kom- 
promißpapst. Die  Kardinäle  haben  sich  über  die  mar- 
kanten zur  Wahl  stehenden  Persönlichkeiten  nicht 
einigen  können,  und  wählen  schließlich  den,  der 
ihnen  allen  am  wenigsten  unbequem  ist.  —  Welche 
Ungeheuerlichkeiten  ergeben  sich  doch,  wenn  man 
dieser  Sache  nachdenkt.  Jetzt  ist  der  Mann,  der  aus 
solchen  Gründen  gewählt  wurde,  der  Unfehlbare!  — 
Der  souveräne  Beherrscher  des  Seelenheils  von  Mil- 
lionen von  Menschen,  denen  er  die  Tür  des  Para- 
dieses öffnen  oder  vor  der  Nase  zuschlagen  kann. 
Es  ist  doch  ganz  unfaßbar,  wie  ein  denkender  Mensch 
glauben  kann,  daß  Gott  in  dieser  Weise  seine  Stell- 
vertretung auf  Erden  angeordnet  habe.  Und  welche 
Macht  verkörpert  doch  dieser  Glaube,  der  sich  auf 
die  breite  Basis  der  Denkunfähigkeit  der  großen 
Masse  der  Menschen  gründet! 

Norwegen,  Odde,  8.August  1903. 

—  Wir  leben  so  ruhig  weiter,  als  ob  es  keinen  Tod 
gäbe,  und  wissen  nicht,  wie  nahe  uns  der  unsrige 
ist  — .  Wie  zart  und  vergänglich  ist  doch  ein  Men- 
schenleben, wenn  man  es  an  der  vieltausendjährigen 
Dauer  dieser  granitenen  Berge  mißt.  Und  doch  wer- 

287 


den  auch  sie  einst  vergehen,  der  Unterschied  liegt 
nur  in  der  Spanne  der  Zeit,  und  was  ist  Zeit,  wenn 
man  sie  mißt  an  der  Ewigkeit! 

—  Das  ist  so  ein  Leben,  wie  ich  es  mir  wünschen 
möchte,  den  Tag,  der  seine  Last  gehabt  hat,  ab- 
schließen mit  einem  Vortrag  tiefen  Gehalts,  und  dann 
vielleicht  eine  Diskussion  zur  Klärung  der  Meinun- 
gen, in  der  jeder  einmal  hinabsteigt  in  seine  ei- 
gene Gedankenwelt  und  forscht  nach  der  Perle  der 
Wahrheit. 

KABINETTSORDER. 

Ich  kommandiere  Sie  hierdurch  bis  auf  weiteres  zur  Dienst- 
leistung zum  Chef  des  Generalstabes  der  Armee. 

Berlin,  den  i.  Januar  1904. 

Wilhelm  R. 
An  Meinen  Generaladjutanten,  Generalleutnant  v.  Moltke, 
Kommandeur  der  1.  Garde-Division. 

KABINETTSORDER. 

Ich  ernenne  Sie  hierdurch,  unter  Belassung  in  dem  Verhältnis 
als  Mein  Generaladjutant  und  unter  Versetzung  in  den  General- 
stab der  Armee,  zum  Generalquartiermeister. 

Berlin,  den  16.  Februar  1904. 

Wilhelm  R. 

An  Meinen  Generaladjutanten,  Generalleutnant  v.  Moltke,  Kom- 
mandeur der  1.  Garde-Division  und  kommandiert  zum  Chef  des 
Generalstabes  der  Armee. 

Berlin  ,  5.  März  1904. 

Wie  hübsch  wäre  es,  wenn  wir  alle  hätten  zusam- 
men sein  können.  Ja,  wenn  man  frei  wäre!  Nicht  bloß 
meine  ungewisse  Stellung  und  Zukunft  lastet  auf  mir, 
ich  empfinde  wie  einen  Druck  die  ganze  Unwahrheit 
und  Unnahbarkeit  unserer  vaterländischen  Verhält- 
nisse. Das  deutsche  Volk  ist  doch  in  seiner  Gesamt- 
heit eine  erbärmliche  Gesellschaft.  Lauter  Kirchturms- 

288 


Politiker,  ohne  eine  Spur  von  Großzügigkeit,  klein- 
lich, hämisch,  voller  Neid  und  Mißgunst,  gehässig 
und  kurzsichtig,  daß  es  zum  Erbarmen  ist.  Überall 
wird  heruntergerissen,  mit  Schmutz  beworfen,  ver- 
leumdet und  gelogen,  und  das  alles  unter  dem  Man- 
tel tugendhafter  Entrüstung.  Heuchelei  wohin  man 
sieht,  engherziger  Egoismus  und  krasser  Materialis- 
mus. Keine  Ideale  gelten  mehr,  alles  ist  äußerer 
Schein.  Was  noch  Bestand  hatte,  wird  herunterge- 
rissen, jeder  will  sich  selbst  erheben,  und  wenn  der 
große  Trümmerhaufen  fertig  ist,  wird  das  Straf- 
gericht über  uns  kommen.  —  Klingt  es  nicht  wie  eine 
Äußerung  aus  dem  Narrenhause,  wenn  im  Reichs- 
tag gesagt  wird,  wir  dürften  jetzt  keine  Schiffe  mehr 
bauen,  sondern  müßten  erst  die  Erfahrungen  des  See- 
krieges in  Ostasien  abwarten.  Und  das  sagen  Män- 
ner, die  sich  für  weise  halten.  Sie  wollen  abwarten, 
welcher  Deckel  wohl  am  besten  auf  den  Brunnen 
passen  wird,  in  den  das  Kind  fallen  wird.  —  Keiner 
hat  einen  Begriff  davon,  welches  Gewitter  sich  über 
uns  zusammenzieht,  statt  mit  heiligem  Ernst  sich  auf 
Schweres  vorzubereiten,  zerhackt  sich  die  Nation  ge- 
genseitig. Wie  lange  wird  es  dauern,  bis  die  Säulen 
in  dem  stolzen  Reichsbau  krachen,  der  mit  Blut  und 
Eisen  aufgebaut  ist  und  der  nun  in  kleinlichem  Ge- 
zänk untergraben  wird. 

Berlin,  6.  März  1904. 

Waldersees  Tod  ist  doch  sehr  überraschend  ge- 
kommen. Ich  habe  ja  keinen  Freund  und  Gönner  an 
ihm  verloren,  aber  ich  bedaure  seinen  Abgang  doch. 
Er  war  immerhin  eine  der  alten  Standarten  der  Armee. 

Im  Generalstab  ist  man  der  Ansicht,  daß  Graf 
Schlieffen  jetzt  an  Stelle  von  Waldersee  Armeein- 
spekteur werde  und   ein   Nachfolger  für  ihn   dem- 


Moltke. 


289 


nächst  ernannt  werden  wird.  —  Hoffentlich  spricht 
wenigstens  Se.  Majestät  mit  mir  vorher  und  schickt 
mir  nicht  wieder  einfach  einen  blauen  Brief  ins  Haus. 
Ich  hatte  gehofft,  die  Entscheidung  würde  sich  hin- 
ziehen, bis  ich  zum  Korps  heran  wäre,  darüber  kön- 
nen aber  noch  Gott  weiß  wie  viele  Jahre  vergehen, 
da  gar  kein  Avancement  mehr  ist  und  die  höheren 
Stellen  wie  gerammt  feststehen. 

Ich  lese  jetzt  ein  sehr  interessantes  Buch  von  Dr. 
Steiner  über  Nietzsche,  der  mir  bisher  völlig  unver- 
ständlich war.  In  diesem  Buch  ist  seine  Entwicklung 
und  sein  Gedankengang  so  klar  und  faßlich  dargelegt, 
daß  es  eine  wahre  Freude  ist.  Wie  Schopenhauer 
alles  menschliche  Tun  und  Denken  auf  den  transzen- 
dentalen Willen  zum  Leben  zurückführt,  so  behaup- 
tet Nietzsche,  daß  das  Grundmotiv  aller  Handlungen 
der  reale  Wille  zur  Macht  sei.  Die  Schwachen,  die 
sich  fürchten,  diesem  Willen  zur  Macht  zu  folgen, 
konstruieren  sich  einen  fremden  (göttlichen)  Willen, 
dem  sie  sich  unterwerfen.  —  Daher  die  Begriffe  von 
Gut  und  Böse,  während  in  Wirklichkeit  gar  nicht  be- 
wiesen ist,  was  eigentlich  Gut  und  Böse  sei.  Jenseits 
von  Gut  und  Böse.  Du  mußt  das  Buch  auch  einmal 
lesen.  Man  bekommt  doch  einen  Begriff  davon,  was 
der  Mann  eigentlich  sagen  will. 

B  e  rl  i  n ,  8.  März  1904. 

Gestern  abend  habe  ich  noch  ein  Buch  von  Steiner 
gelesen  über  Haeckel,  das  mich,  wie  alle  seine  Schrif- 
ten, sehr  interessiert  hat.  Er  bekennt  sich  in  dem- 
selben ganz  zu  der  monistischen  Naturphilosophie 
Haeckels  (nicht  zu  verwechseln  mit  monotheistisch), 
und  es  ist  mir  ganz  unbegreiflich,  wie  er  von  ihr  aus 
den  Sprung  zur  Theosophie  gemacht  hat.  Ich  bin 
sehr  begierig,  ihn  einmal  wiederzusehen,  um  ihn  da- 

290 


nach  zu  fragen.  Nach  diesem  seinem  Werk  kann  man 
ihn  getrost  mitten  in  Phalanx  der  Materialisten  stel- 
len, und  dabei  ist  es  eins  seiner  neueren  Schriften. 
Aber  klar  und  fesselnd  ist  er  immer.  Kein  philoso- 
phierender Schriftsteller  ist  mir  bisher  so  verständ- 
lich gewesen  wie  er. 

Saarunion,  i6.Juni  1904. 

Wir  ritten  heute  6  Uhr  früh  ab  und  kamen  hier  nach 
12  Uhr  an.  Wir  haben  heute  den  ganzen  nördlichen 
Ausläufer  der  Vogesen  durchquert  von  Zabern  bis 
Saarunion  an  den  Ufern  der  Saar.  Hier  ist  bereits 
Lothringen,  und  ein  charakteristischer  Unterschied 
macht  sich  bemerkbar.  Die  Häuser  sind  anders  ge- 
baut, alle  haben  den  Misthaufen  nach  der  Straße  zu. 
Die  französischen  Inschriften  mehren  sich.  Mitten 
darunter  steht  immer  als  stattlichstes  Gebäude  die 
»Kaiserliche  Post«.  Das  Gelände  wird  hier  weniger 
bergig,  breite,  flache  Höhenzüge  haben  die  waldbe- 
standenen oft  recht  steilen  Kuppen  des  Gebirges  ab- 
gelöst. Morgen  kehren  wir  noch  einmal  in  dieses  zu- 
rück, indem  wir  unser  Quartier  nach  der  kleinen  Berg- 
festung Bitsch  verlegen,  die  uns  im  Kriege  1870/71 
bis  zum  Friedensschluß  widerstand.  Damit  kommen 
wir  in  die  Gegend,  die  damals  die  3.  Armee,  zu  der 
ich  gehörte,  nach  der  Schlacht  bei  Wörth  durchzog. 
Oft  muß  ich  an  diese  nun  so  weit  hinter  mir  liegende 
Zeit  denken.  Damals  ein  junger  Fähnrich,  heute  wo 
ich  zum  erstenmal  wieder  in  diese  Gegend  komme, 
ein  alter,  kahlköpfiger  General.  Sic  transit  gloria 
mundi! 

Du  kannst  Dir  denken,  wie  diese  Ritte  mich  in- 
teressieren. Mit  Schlieffen  komme  ich  sehr  gut  aus. 
Er  ist  höflich  und  bisweilen  sogar  liebenswürdig  ge- 
gen mich.  Bisweilen  erzählt  er  sogar  etwas.  Ich  be- 

291 


wundere  aufrichtig  seine  Rüstigkeit.  Nicht  viele  in  sei- 
nem Alter  würden  diese  Ritte  mehr  machen,  und  da- 
bei arbeitet  er  fleißig  im  Quartier.  Die  Offiziere  wer- 
den gehörig  herangenommen,  müssen  Rekognoszie- 
rungen und  Erkundungen  machen  und  haben  viel  zu 
reiten  und  zu  schreiben. 

St.  Avold,  i8.Juni  1904. 

Ich  wohne  im  »Hotel  zur  Post«  in  dem  Zimmer,  in 
dem  der  alte  Kaiser  Wilhelm  1870  vom  n.  bis  13.  Au- 
gust gewohnt  hat.  Onkel  Helmuth  hat  auch  hier  ge- 
wohnt. Heute  ist  Sonntag,  und  die  Pferde  haben  Ruhe- 
tag, der  ihnen  sehr  angenehm  sein  wird.  —  Von  4  Uhr 
ab  wurde  das  Kriegsspiel  im  Zimmer  fortgesetzt  bis 
7  Uhr,  wo  wir  aßen.  Graf  Schlief fen  fragt  mich  ab 
und  zu  um  meine  Ansicht,  und  diese  deckt  sich  fast 
nie  mit  der  seinigen.  Man  kann  sich  keine  größeren 
Gegensätze  denken,  als  unsere  beiderseitigen  Ansich- 
ten. Ich  sage  aber  die  meinige  rund  heraus,  und  er 
nimmt  meine  Äußerungen  mit  Anstand  und  Würde 
entgegen. 

Berlin,  29. Juni  1904. 

Der  vierzehntägige  Ritt  durch  die  Reichslande  hat 
mich  sehr  interessiert.  Elsaß  und  die  Vogesen  sind 
ein  herrliches  Land.  In  Lothringen  verkommt  die  Be- 
völkerung in  Schmutz  und  Indolenz.  Ich  habe  mit 
Kummer  gesehen,  daß  eine  dreiunddreißigj ährige  Zu- 
gehörigkeit zum  Deutschen  Reich  ohne  die  mindeste 
Einwirkung  geblieben  ist,  die  dortigen  Landräte  oder, 
wie  sie  da  heißen,  Distriktsdirektoren,  müßte  der 
Teufel  holen.  Es  ist  rein  gar  nichts  geschehen,  nicht 
mal  eine  ordentliche  Verwaltungsbehörde  ist  einge- 
richtet, und  alles  geht  im  gröbsten  Schlendrian,  wie 
es   eben  mag.   Von   der   Liederlichkeit   der   Felder- 

292 


bestellimg  macht  man  sich  keine  Vorstellung,  meist 
weiß  man  nicht,  ob  die  Leute  Weizen  oder  Unkraut 
bauen,  dabei  ist  es  ein  herrlicher,  fruchtbarer  Boden, 
auf  dem  alles  von  selber  wächst,  die  Rebe  und  der 
Nußbaum  gedeihen.  Die  Dörfer  bestehen  zur  Hälfte 
aus  Misthaufen,  die  alle  vor  den  verlumpten  Häusern 
nach  der  Straße  zu  liegen,  mitten  zwischen  ihnen  die 
Ziehbrunnen.  Typhus  grassiert  infolgedessen.  Es  ist 
ein  Herrgottsjammer  um  das  schöne  Land.  Die  Leute 
haben  sehr  schönes  Vieh,  ähnlich  wie  die  Simmen- 
taler,  nur  etwas  kleiner,  dabei  bekommt  man  nur  ran- 
zige Butter.  In  den  Gärten  wächst  der  Kohl  wie  auf 
den  Osdorfer  Rieselfeldern,  überall  gebeugt  volle 
Kirschbäume  und  Aprikosen,  aber  die  Gasthöfe  star- 
ren von  Schmutz,  alle  Zimmer  mit  herabhängenden 
Tapeten,  das  Essen  schauderhaft  bis  auf  die  guten 
frischen  Kartoffeln.  Es  ist  ein  Jammer,  anzusehen, 
wie  dies  gesegnete  Land  verlumpt  und  verludert,  ohne 
daß  etwas  geschieht. 

KABINETTSORDER. 
Ich  habe  bestimmt,  daß  Sie  bei  den  in  diesem  Jahre  vor  Mir 
stattfindenden  Manövern  des  Garde-  und  IX.  Armeekorps  als 
Schiedsrichter  Verwendung  finden,  wovon  Ich  Sie  hierdurch  in 
Kenntnis  setze.  Gleichzeitig  lasse  Ich  Ihnen  beifolgend  ein  Ver- 
zeichnis der  übrigen  von  Mir  bestimmten  Schiedsrichter  zugehen. 
Kiel,  an  Bord  M.  J.  »Hohenzollern«,  den  30.  Juni  1904. 

Wilhelm  R. 
An  Meinen  Generaladjutanten,  Generalleutnant  v.  Moltke, 
Generalquartiermeister. 

Norwegen,  Bergen,  10. Juli  1904. 
Ich  lese  jetzt  ein  Buch  von  dem  Philosophen  Hart- 
mann: »Religionsphilosophie«.  Er  versucht  nachzu- 
weisen, daß  die  Religion  sich  ebenso  wie  die  Welt- 
anschauung entwickeln  muß,  wenn  sie  nicht  rück- 
ständig werden  und  absterben  will. 

293 


Norwegen,  Bergen,  12. Juli  1904. 

Gestern  nach  Tisch  las  der  Kaiser  einen  hübsch 
geschriebenen  Artikel  aus  einer  englischen  Zeitschrift 
vor,  den  er  gleich  ins  Deutsche  übersetzte,  über  das  Ra- 
dium und  seine  merkwürdigen  Eigenschaften.  Zur  Be- 
griff lichmachung  des  Atoms,  des  kleinsten,  nicht  mehr 
zerlegbaren  Teiles  eines  Körpers,  war  folgendes  Bild 
gebraucht.  Man  denke  sich  einen  Wassertropfen  bis 
zur  Größe  der  Erde  vergrößert,  dann  würde  ein  Atom 
etwa  die  Größe  einer  Walnuß  haben.  In  diesem  Atom 
sind  etwa  hundertfünfzigtausend  sogenannte  Elek- 
tronen enthalten.  Wenn  man  sich  nun  dieses  Atom  in 
der  Größe  der  Peters-Kirche  vorstellt,  so  würde  jedes 
Elektron  die  Größe  eines  Punktes  in  einer  Druck- 
schrift haben.  Diese  hundertfünfzigtausend  Elektro- 
nen sind  durch  Zwischenräume  getrennt,  die  sich  zu 
ihrer  Größe  verhalten,  wie  die  Abstände  der  Planeten 
von  der  Sonne  und  alle  diese  Elektronen  bewegen 
sich  mit  rasender  Schnelligkeit  um  den  Zentralpunkt 
des  Atoms.  Die  größte  bisher  bekannte  Schnelligkeit 
eines  Körpers  ist  diejenige  des  Sterns  Arkturus,  der 
hundert  Meilen  in  der  Sekunde  zurücklegt.  Die  Be- 
wegungsschnelligkeit der  Elektronen  beträgt  etwa  das 
dreifache  davon.  Sie  werden  unablässig  von  dem  Ra- 
dium hinausgeschleudert  und  durchdringen  ungehin- 
dert eine  fünfzöllige  Panzerplatte.  —  Bei  der  merk- 
würdigen Erscheinung,  daß  sich  das  Element  Radium 
in  das  Element  Helium  umwandelt,  eine  Erscheinung, 
die  die  Wissenschaft  bisher  für  unmöglich  hielt,  war 
gesagt,  hierin  läge  eine  Ehrenrettung  für  die  alten 
Alchimisten,  die  dasselbe  erreichen  wollten  und  über 
die  so  viel  gespottet  sei.  —  Im  Atom  wiederholt  sich 
also  im  Kleinsten  die  Erscheinung  des  Sonnen-  und 
Planetensystems  im  Großen.  Alles  ist  Bewegung,  alle 

294 


Materie  ist  Bewegung  und  im  letzten  Grunde  elek- 
trische Kraft,  also  Materie  gleich  Kraft.  Man  braucht 
nun  bloß  noch  zu  folgern:  Kraft  ist  Geist,  so  hat  man 
die  spiritualisrische  Weltauffassung.  —  Interessant  war 
auch  die  gemachte  Folgerung,  daß  die  gesamte  Mate- 
rie in  Evolution  begriffen  sei,  die  dauernd  in  ungemes- 
senen Zeitläuften  zu  einer  Verfeinerung,  das  heißt  Ver- 
geistigung führen  müsse.  Merkwürdige  Schlüsse,  zu 
denen  eine  rein  materialistische  Anschauung  kommt, 
und  das  alles  hat  ein  Körnchen  Radium  bewirkt,  das 
nicht  größer  ist  als  ein  Stecknadelkopf.  Der  alte  L., 
als  Vertreter  der  alten  Wissenschaft,  schüttelte  un- 
gläubig den  grauen  Kopf  und  bestritt  zunächst  alles. 
Er  gehört  zu  der  Richtung  der  Wissenschaft,  die  alles 
ergründet  zu  haben  meint  und  in  deren  scharf  um- 
grenztem Gebiet  kein  Raum  für  etwas  Neues  ist. 

Norwegen,  Molde,  17. Juli  1904. 

Ich  lese  jetzt  die  »Geschichte  der  französischen  Re- 
volution« von  Carlyle.  Das  Buch  ist  geistvoll  geschrie- 
ben, wenn  auch  etwas  manieriert.  —  Daneben  be- 
schäftige ich  mich  mit  Steiners  »Theosophie«.  Ge- 
stern kam  zufällig  das  Gespräch  auf  die  theosophische 
Weltauffassung.  Wir  saßen  unserer  fünf  oder  sechs 
zusammen  und  da  ich  der  einzige  war,  der  von  diesen 
Dingen  etwas  wußte,  mußte  ich  das  Wort  führen. 
Erst  lachten  einige,  dann  wurden  sie  immer  ernster 
und  zuletzt  hörten  sie  mir  zu  wie  dem  Pastor  in  der 
Kirche.  Es  ist  merkwürdig,  wie  dieses  Thema  die 
Menschen  alle  interessiert,  wenn  sie  auch  so  tun,  als 
ob  sie  hoch  darüber  erhaben  wären. 

Hier  ist  ein  Prinz  an  Bord,  dessen  Bruder  ein  eif- 
riger Spiritist  ist,  und  schließlich  hatte  fast  jeder  das 
eine  oder  andere  erfahren,  selber  oder  in  seiner  näch- 
sten Umgebung  etwas  erlebt.  Kaum  einer  aber  hatte 


versucht,  sich  darüber  Rechenschaft  abzulegen  oder 
den  Dingen  nachzudenken.  Die  Menschen  sind  so 
denkfaul  und  legen  beiseite,  was  ihnen  Kopfzerbre- 
chen machen  könnte  und  in  das  gewohnte  Lebens- 
schema nicht  paßt. 

Norwegen,  Trondhjem,  23. Juli  1904. 

Der  Kaiser  harangierte  mich  unterwegs  wegen  der 
Manöver  usw.,  ich  mußte  dem  Grafen  Schlieffen  die 
Stange  halten.  Immer  mehr  sehe  ich  ein,  wie  schwie- 
rig die  Erbschaft  sein  wird,  die  sein  Nachfolger  an- 
zutreten haben  wird.  Daß  dem  so  ist,  ist  gewiß  zum 
großen  Teil  Schlief fens  Schuld.  — 

Bis  es  dahin  kommt,  daß  die  Menschen  so  vergei- 
stigt sind,  um  die  Naturgewalten  zu  beherrschen,  hat 
es  noch  gute  Wege.  Viele  tausende  von  Jahren  wer- 
den wohl  nötig  sein.  Du  lebst  in  Deiner  eigenen  Welt, 
unter  lauter  gleichgestimmten  Büchern  und  manchen 
gleichgestimmten  Menschen,  da  verlierst  Du  die  große 
Masse  der  Menschheit  aus  den  Augen,  hast  gar  keine 
rechte  Vorstellung  von  der  riesigen  Rückständigkeit 
derselben  und  meinst  schon  Licht  zu  sehen,  wo 
nichts  ist  als  faustdicke  Finsternis.  Dein  Licht  brennt 
in  Deinem  Innern,  in  der  schwerlastenden  Masse  ist's 
dunkel  und  wird  noch  dunkel  bleiben  in  undenkbare 
Zeiten.  Indes,  aller  Anfang  ist  klein.  Auch  der  höchste 
Menschengeist  mußte  sich  aus  dem  Ei  der  Mutter 
entwickeln  und  langsam  ausreifen,  und  sicher  ist,  daß 
die  Wahrheit  siegen  wird,  wenn  auch  nach  langen 
und  schweren  Kämpfen.  —  Es  freute  mich  so,  daß 
Du  mir  mal  wieder  philosophisch  geschrieben  hast. 

Norwegen,  Trondhjem,  25. Juli  1904. 

Unser  Hauptverkehr  besteht  in  Amerikanern.  Alle 
Finanzgrößen  der  neuen  Welt  lauern  dem  Kaiser  hier 

296 


auf  und  wissen  ganz  genau,  daß  er  zu  ihnen  an  Bord 
kommt.  Und  der  Allerhöchste  Herr  glaubt  wirklich, 
daß  er  mit  diesem  Entgegenkommen  gegen  ein  paar 
amerikanische  Geldprotzen  eine  Einwirkung  auf  das 
gegenseitige  politische  Verhältnis  der  beiden  Staaten 
ausüben  könne,  glaubt,  daß  er,  wenn  er  an  Bord  eines 
Mr.Vanderbild,  Drexel  oder  Goelette  besucht  oder  zu 
Mittag  speist,  wenn  er  diese  Leute  mit  ausgesuchter 
Höflichkeit  auf  der  »Hohenzollern«  empfängt  und  be- 
wirtet, die  widerstreitenden  wirtschaftlichen  Inter- 
essen von  hundert  Millionen  Menschen  schlichten 
könne,  die  alle  im  Kampf  ums  Dasein  stehen,  die  alle 
leben  und  reich  werden  wollen,  jeder  auf  Kosten  des 
anderen,  die  um  ihre  Existenz  ringen  in  Landbau, 
Handel,  Industrie,  die  hungrig  und  durstig  sind  und 
die  sich  den  Teufel  um  etwas  anderes  bekümmern, 
als  um  die  günstigsten  Lebensbedingungen. 

Die  gestrige  Predigt,  die  besser  war  als  ihre  faden- 
scheinigen Vorgängerinnen,  hatte  zum  Thema:  Wenn 
das  Leben  köstlich  gewesen  ist,  so  ist  es  Mühe  und 
Arbeit  gewesen.  —  Wie  wahr  das  ist,  empfinden  wir 
alle  in  unserem  aufgezwungenen  Müßiggang.  Alle 
bis  auf  einen  leider. 

Ich  habe  jetzt  die  Carlylesche  »Geschichte  der  fran- 
zösischen Revolution«  beendet,  drei  Bände.  Es  ist 
geistvoll  und  dramatisch  geschrieben,  vom  Stand- 
punkt des  Philosophen,  der  in  dem  bunten  Wirrsal 
der  Erscheinungen  nach  den  treibenden  Motiven 
sucht  und  sie  tief  unter  der  schäumenden,  blutigen 
Oberfläche  in  den  Menschenherzen  findet.  —  Das  ist 
ja  das  Schlimme  bei  den  meisten  Monarchen  und 
bei  den  herrschenden  Klassen,  daß  sie  vergessen,  wie 
in  der  Brust  jedes,  auch  des  geringsten  ihrer  Unter- 
tanen, ein  Herz  schlägt  voll  Verlangen  nach  Glück 
und  Daseinsfreude,  daß  sie  alle  Menschen  sind  mit 

297 


menschlichem  Empfinden  und  dem  Willen  zum  Le- 
ben. —  Hier  liegen  wir  nun  und  essen  und  trinken, 
als  ob  es  weiter  auf  der  Welt  nichts  zu  tun  gäbe,  und 
dort  oben  in  Schlesien  verdurstet  das  Land,  versagt 
sogar  die  Erde  das  einzige,  was  sie  umsonst  her- 
zugeben pflegt,  das  Wasser,  müssen  die  wirtschaft- 
lich Schwachen  ihr  Vieh  verkaufen,  vielleicht  Haus 
und  Hof  verlieren,  wieviel  vernichtete  Existenzen, 
wieviel  verbitterte  Herzen,  Jammer  und  Elend,  dessen 
Notschrei  freilich  nicht  hineindringt  in  die  eleganten 
amerikanischen  Decksalons,  in  denen  wir  Tee  trin- 
ken und  Zigaretten  rauchen.  —  In  solcher  Umgebung 
ist  es  gut,  ein  Buch  wie  das  Carlylesche  zu  lesen! 

Norwegen,  Molde,  31.  Juli  1904. 

Alle  unsere  Gottesdienste  fangen  mit  einem  Wehe- 
ruf des  alten  Jehova  an,  wehe  dir,  daß  du  dies  tust, 
wehe  dir,  daß  du  das  tust!  —  Dann  wird  das  Evange- 
lium verlesen,  aber  nicht  erklärt,  sondern  der  Predigt 
wird  wieder  ein  alttestamentlicher  Spruch  unterlegt. 
Heute  hörten  wir  das  Evangelium  vom  ungerechten 
Haushalter,  eines  der  verworrensten  Gleichnisse  aus 
der  ganzen  Bibel,  das  von  den  Abschreibern  der  alten 
Handschriften  augenscheinlich  völlig  mißverstanden 
oder  verstümmelt  ist  und  die  Gedanken  darüber  wohl- 
weislich dem  eigenen  Scharfsinn  der  Hörer  überläßt. 

Ich  habe  vor  einigen  Tagen  ein  Buch  gelesen,  das 
Du  unbedingt  lesen  mußt,  es  wird  Dich  sehr  interes- 
sieren, es  heißt:  »Die  Quellen  des  Lebens  Jesu«  von 
Professor  Dr.  Paul  Wernle,  Basel.  Es  ist  das  beste, 
was  ich  bisher  über  die  Entstehung  der  Evangelien 
gelesen  habe  und  wirkt  geradezu  überzeugend  durch 
seine  Gedankenklarheit  und  logischen  Schlüsse.  Für 
mich  war  es  interessant,  meine  Ansicht  bestätigt  zu 
finden,  die  ich  durch  das  Lesen  der  Evangelien  ge- 

298 


wonnen  hatte,  daß  das  Markus-Evangelium  in  seiner 
naiven  Darstellung  das  ursprünglichste  ist. 

Eine  andere  Schrift  in  demselben  Genre  habe  ich 
auch  gelesen:  »Was  wissen  wir  von  Jesus?«  von  Bos- 
suet.  Sie  steht  aber  nicht  auf  der  Höhe  der  ersteren, 
ist  mehr  eine  Polemik  gegen  eine  Schrift  von  Kalt- 
hoff, der  in  der  Geschichte  Jesu  nichts  weiter  sehen 
will  als  eine  posthume  Einkleidung  der  Geschichte 
der  christlichen  Kirche  in  das  Gewand  der  Person 
Christi.  Kalthoff  will  also  den  historischen  Christus 
überhaupt  beseitigen,  was  meiner  Ansicht  nach  un- 
bedingt falsch  ist. 

Norwegen,  Bergen,  5.  August  1904. 

Die  armen  Russen,  es  geht  ihnen  doch  gar  zu 
schlecht.  Die  Mandschurei  ist  so  gut  wie  verloren  für 
sie,  und  ich  fürchte,  daß  es  noch  zu  einer  Katastrophe 
kommt  und  Kuropatkin,  wenn  nicht  mit  seiner  gan- 
zen Armee,  so  doch  mit  beträchtlichen  Teilen  der- 
selben kapitulieren  muß.  —  Er  ist  von  den  Japanern 
schon  fast  ganz  umstellt,  und  ich  halte  es  für  sehr 
unwahrscheinlich,  daß  er  noch  wird  zum  Abmarsch 
auf  Mukden  und  weiter  nach  Charbin  kommen  können. 

Berlin,  1.  September  1904. 

Der  »kluge  Hans«  fängt  an  eine  ähnliche  Rolle  zu 
spielen,  wie  seinerzeit  die  Rote.  —  Der  Streit  der  Mei- 
nungen ist  heftig  entbrannt,  doch  scheint  mir  die  Par- 
tei, die  nur  Dressur  sehen  will,  allmählich  obzusie- 
gen. —  Daß  auch  diese  Sache  mit  einem  leiden- 
schaftlichen Fanatismus  pro  und  contra  behandelt 
und  beurteilt  wird,  ist  bedauerlich.  Fanatismus  trübt 
immer  Blick  und  Urteil  und  wenn  man  nicht  einmal 
einem  Pferde  gegenüber  objektiv  und  leidenschafts- 
los bleiben  kann,  wie  soll  man  es  dann  einem  Men- 

299 


sehen  gegenüber  sein.  —  Es  ist  mir  völlig  unbegreif- 
lich, weshalb  man  sich  über  ein  Problem  in  so 
hohem  Maße  aufregt,  das  weder  neu  noch  von  welt- 
erschütternder Bedeutung  ist.  Von  Hunden,  Papa- 
geien und  Staren  hat  man  schon  ganz  andere  Sachen 
erzählt  und  schon  in  Brehms  Tierleben  kann  man 
viele  Züge  von  diesen  Tieren  lesen,  die  unverkenn- 
bar auf  einen  gewissen  Grad  von  Intelligenz  deuten, 
und  wer  wollte  leugnen,  daß  ein  Hund,  der  viel  mit 
Menschen  verkehrt,  bis  zu  einem  gewissen  Grade  die 
menschliche  Sprache  versteht?  Das  ist  doch  eigent- 
lich ganz  selbstverständlich. 

Berlin,  4. September  1904. 

Ich  hatte  immer  noch  gehofft,  Kuropatkin  würde  in 
dieser  Hauptschlacht  obsiegen.  Nun  wird  es  wohl 
zunächst  mit  ihm  alle  sein  und  die  Russen  müssen 
einen  ganz  neuen  Feldzug  auf  neuer  Basis  anfangen, 
wenn  sie  nicht  einen  demütigenden  Frieden  auf  sich 
nehmen  und  damit  ihr  Prestige  vor  Europa  und  Asien 
in  unheilvoller  Weise  schädigen  wollen. 

Berlin,  5. September  1904. 

Ich  habe  gestern  lange  in  Chamberlains  »Grund- 
lagen« gelesen  und  gefunden,  daß  ich  viele  Erörte- 
rungen jetzt  viel  besser  verstehen  und  beurteilen 
kann  wie  früher.  Ein  Satz  fiel  mir  als  sehr  treffend 
auf.  Er  spricht  von  der  Dualität  der  Erscheinungen, 
etwa  wie  man  sagen  könnte,  der  materiellen  und  gei- 
stigen Welt  und  sagt,  man  könne  diese  beiden  Seiten 
des  Daseins  am  besten  definieren  als  die  Erschei- 
nungen, die  mechanisch  erklärbar  sind,  und  diejeni- 
gen, die  nicht  mechanisch  erklärbar  sind.  Das  finde 
ich  sehr  gut  ausgedrückt.  »Die  vier  Religionen«  von 
A.  Besant  habe  ich  mit  großem  Interesse  gelesen.  Es 

300 


wundert  mich,  daß  sie  sich  auf  diese  vier,  Hinduis- 
mus, Zoroastrismus,  Buddhismus  und  Christentum 
beschränkt  und  die  Religion  gar  nicht  erwähnt,  die 
nächst  dem  Buddhismus  wohl  die  meisten  Bekenner 
auf  der  Erde  hat,  die  mohammedanische.  Vieles  in  ihren 
Äußerungen  über  das  Christentum  deckt  sich  mit  den- 
jenigen Chamberlains.  Wenn  man  diese  Sachen  liest, 
wird  es  einem  immer  unerklärlicher,  wie  es  möglich 
war,  daß  das  Zerrbild  von  Religion,  das  die  Mensch- 
heit aus  den  Lehren  Christi  gemacht  hat,  ihr  selber 
so  lange  genügen  konnte.  Ein  Beweis  dafür,  wie  ge- 
dankenlos die  Masse  an  der  äußeren  Form  hängt  und 
wie  mächtig  doch  das  geistige  Leben  dieser  Lehre 
sein  muß,  wenn  es  darin  nicht  ganz  erstickte. 

Berlin,  6. September  1904. 

Der  arme  . . .  Ich  zweifle  nicht  daran,  daß  er  ein 
wahrheitsliebender  Mann  ist  und  nach  seinen  Dar- 
legungen ist  der  größte  Teil  dessen,  was  ihm  vor- 
geworfen wird,  einfach  erlogen.  Wehe  dem  Mann, 
auf  dessen  Spur  die  Bluthunde  einer  gewissenlosen 
Presse  gehetzt  werden,  sie  hetzen  ihn  zu  Tode,  und 
je  anständiger  er  ist,  um  so  wehrloser  ist  er.  Er  hatte 
das  Unglück,  Unbequemlichkeiten  zu  verursachen, 
und  damit  war  ihm  der  Boden  unter  den  Füßen  weg- 
gezogen, auf  dem  er  so  fest  zu  stehen  meinte.  Ein 
redendes  Menetekel  für  alle,  die  meinen,  einen  festen 
Rückhalt  zu  haben.  —  Es  ist  schon  gut,  wenn  man 
sich  immer  darüber  klar  bleibt,  daß  es  heutzutage 
nur  einen  Maßstab  gibt,  nach  dem  man  gemessen 
wird,  ob  man  bequem  oder  unbequem  ist.  Was  einer 
sonst  leistet,  ist  weniger  wichtig. 

Berlin,  18.  Dezember  1904. 
Ich  lese  jetzt  ein  Buch  von  General  Bonval:  »Le 

301 


manceuvre  de  Saint  Privat«,  aus  dem  ich  einige  Stel- 
len ausziehe  und  ins  Deutsche  übertrage,  die  recht 
lehrreiche  Einblicke  in  die  Art  und  Weise  gewähren, 
wie  sich  einer  der  hervorragendsten  französischen 
Militärschriftsteller  einen  künftigen  Krieg  zwischen 
Deutschland  und  Frankreich  denkt. 

B  e  r  1  i  n ,  20.  Dezember  1904. 

Daß  E.  die  alten  säugenden  Madonnen  nicht  son- 
derlich gefallen,  kann  ich  mir  denken.  Sie  sind  ja 
auch  zum  überwiegenden  Teil  nicht  schön,  sondern 
nur  interessant  als  ein  Zeugnis  dafür,  wie  sich  die 
Kunst  allmählich  an  der  Hand  des  religiösen  Emp- 
findens entwickelte,  bis  sie  schließlich,  dieser  Lehr- 
meisterin entwachsen,  selbständig  wurde  und  ihre 
fester  werdenden  Schritte  nun  in  das  große  Gebiet 
der  Natur  lenkte,  wie  das  Kind  es  tut,  wenn  es  ge- 
lernt hat,  alleine  zu  gehen,  und  nun  in  den  Garten 
läuft,  um  Blumen  zu  pflücken.  —  In  dieser  ersten 
Zeit  des  Erwachens  der  Kunst  betätigte  sich  in  ihr 
ein  Drang,  das  tiefste  Empfinden,  dessen  die  Men- 
schen damals  fähig  waren,  das  religiöse,  dies  be- 
wegte sie  am  tiefgründigsten  und  sie  fühlten  den 
Drang,  ihm  sichtbaren  Ausdruck  zu  verleihen.  Daher 
hielten  sich  alle  alten  Maler  an  religiöse  Themen  und 
so  wurde  die  Madonnenmalerei  die  Mutter  der  heuti- 
gen Malerei,  wie  die  christliche  Baukunst  diejenige 
der  heutigen  Architektur.  Wie  diese  alten  Maler  mal- 
ten, hatte  man  noch  keine  Kunde  von  den  längst  ver- 
schollenen Meisterwerken  griechischer  Kunst,  das  in 
den  mitteleuropäischen  Völkern  erwachende  Bedürf- 
nis nach  künstlerischem  Ausdruck  mußte  sich  selber 
tastend  seinen  Weg  bahnen  und  erst  im  langsamen 
Werden  viele  Roheiten  und  Kindlichkeiten  über- 
winden. 

302 


Hannover,  8.  Januar  1905. 

Ich  war  gestern  abend  bei  Sr.  Majestät.  Ich  habe 
eine  dreiviertelstündige  Unterredung  mit  ihm  gehabt 
und  ihm  alles  gesagt,  was  ich  auf  dem  Herzen  hatte. 
Ich  glaube,  so  hat  noch  nie  ein  Mensch  mit  ihm  ge- 
sprochen. Ich  schreibe  Dir  darüber  ausführlich,  wenn 
ich  Ruhe  finde. 

Berlin,  25.  Januar  1905. 

Ich  machte  bei  einem  Diner  in  Rom,  bei  Rotenhahn, 
die  Bekanntschaft  eines  Priesters,  dessen  Name  mir 
leider  entfallen  ist,  der  bekannt  geworden  ist  durch 
sein  Werk  über  die  Katakomben  Roms.  Er  ist  Auto- 
rität auf  diesem  Gebiet  und  ist  vom  Kaiser  pekuniär 
unterstützt  worden,  ein  sehr  interessanter  Mann,  Deut- 
scher, das  wäre  so  einer  für  Dich. 

Bei  unseren  Nachbarn,  den  Russen,  sieht  es  übel 
aus.  Daß  Arbeiterrevolten  in  Petersburg  gewesen,  die 
mit  Waffengewalt  niedergeworfen  worden  sind  und 
bei  denen  viel  Blut  geflossen  ist,  hast  Du  wohl  ge- 
lesen. Solange  das  Militär  treu  bleibt,  werden  sie  in 
Rußland  wohl  damit  fertig  werden,  aber  die  »Ideen« 
breiten  sich  immer  weiter  aus  und  ergreifen  immer 
breitere  Schichten  der  Bevölkerung  und  mit  denen 
wird  man  nicht  mit  Soldaten  fertig.  Ich  fürchte,  daß 
die  Ära  der  Attentate  wieder  anfangen  wird.  Kuropat- 
kin  steht  noch  immer  unbeweglich  den  Japanern 
gegenüber.  Eine  so  verrückte  Art  der  Kriegsführung 
war  noch  nicht  da,  solange  die  Welt  steht. 

Berlin,  26.  Januar  1905. 

Ich  denke  mir,  es  müßte  interessant  sein,  etwas  rö- 
mische Geschichte  zu  lesen,  die  man  gleich  an  den 
Örtlichkeiten  nacherleben  könnte.  Doch  wohl  interes- 
santer, als  ein   Roman   irgendeiner  Art.   Wenn   Ihr 

303 


Euch  z.B.  Mommsens  »Römische  Geschichte«  ver- 
schaffen könntet,  vielleicht  hat  sie  jemand  von  der 
Botschaft 

Berlin,  29.  Januar  1905. 

Vor  etwa  vier  Wochen  ritt  ich  eines  Morgens  mit 
dem  Reichskanzler  zusammen  im  Tiergarten.  Das  Ge- 
spräch kam  auf  die  politische  Lage,  die  damals  sehr 
gespannt  war.  —  Er  frug  mich,  wie  wir  uns  trennten, 
ob  ich  nicht  bald  den  Grafen  Schlief fen  ersetzen 
würde,  mit  dem  er  anscheinend  nicht  übereinstimmte, 
worauf  ich  ihm  sagte,  ich  hoffe,  daß  dieser  Kelch  an 
mir  vorübergehen  werde.  Einige  Tage  darauf  kam  . . . 
zu  mir,  um  mir  folgendes  zu  sagen:  Der  Reichskanz- 
ler habe  in  einem  Gespräch  mit  Sr.  Majestät  diesem 
gesagt,  daß  ich  nicht  geneigt  wäre,  die  Stellung  eines 
Chefs  des  Generalstabs  zu  übernehmen.  Se.  Majestät 
sei  hierüber  aufs  äußerste  erstaunt  und  beunruhigt 
gewesen,  er  schicke  nun  ...  zu  mir,  um  mir  zu  sagen, 
daß  er  unbedingtes  Vertrauen  zu  mir  habe.  Es  habe 
ihm  leid  getan,  daß,  wenn  ich  nicht  annehmen  wolle, 
ich  ihm  dies  nicht  selber  gesagt  habe,  und  daß  er  es  erst 
durch  den  Reichskanzler  erfahren  habe.  Ich  hatte  nun 
eine  längere  Besprechung  mit  . . .,  in  der  ich  ihm 
meine  Gründe  entwickelte,  die  mir  die  Übernahme 
dieser  Stellung  erschwerten.  Er  war  auch  mit  mir  ein- 
verstanden und  frug  mich,  ob  er  Sr.  Majestät  dies  sa- 
gen solle,  worauf  ich  ihm  erwiderte,  es  wäre  mir  das 
liebste,  wenn  ich  mich  selber  Sr.  Majestät  gegenüber 
aussprechen  könne  und  ich  würde  Sr.  Majestät  dank- 
bar sein,  wenn  er  mich  empfangen  und  anhören 
würde.  —  Zwei  Tage  darauf  erhielt  ich  eine  Einladung 
zum  Abendessen  im  Schloß  und  gleichzeitig  die  Mit- 
teilung, ich  möchte  eine  halbe  Stunde  früher  kom- 
men und  mich  bei  Sr.  Majestät  melden  lassen.  —  Daß 

304 


ich  mit  ganz  eigenen  Gefühlen  ins  Schloß  fuhr, 
kannst  Du  Dir  denken.  Ich  war  fest  entschlossen,  Sr. 
Majestät  alles  gerade  heraus  zu  sagen  und  wußte 
nicht,  wie  die  Sache  ablaufen  würde.  Ich  sagte  mir 
aber,  daß  es  hier  gar  nicht  auf  die  Person  ankomme, 
daß  ich  verpflichtet  sei,  mich,  wenn  es  sein  müßte, 
der  Sache  zum  Opfer  zu  bringen  und  daß  ich  Sr.  Ma- 
jestät nur  wirklich  nutzen  könne,  wenn  ich  ihm  ein- 
mal sagte,  was  überall  in  den  Offizierskreisen  geredet 
und  heimlich  gemunkelt  wird,  ohne  daß  je  einer  den 
Mut  gefunden  hätte,  es  Sr.  Majestät  auszusprechen. 
Ich  wurde  von  dem  Flügeladjutanten  in  das  Arbeits- 
zimmer Sr.  Majestät  geführt,  ich  stand,  wie  lange  weiß 
ich  nicht,  und  wartete!  —  Endlich  kam  der  Kaiser 
herein  und  begrüßte  mich  sehr  freundlich.  Er  lehnte 
sich  an  den  Arbeitstisch,  als  ob  er  sagen  wollte:  nun 
laß  einmal  hören,  was  du  vorzubringen  hast! 

Ich  fing  nun  damit  an,  ihm  zu  sagen,  daß  meine 
Äußerung  dem  Reichskanzler  gegenüber  eine  rein 
private  gewesen  und  daß  es  mir  nicht  in  den  Sinn  ge- 
kommen sei,  daß  dieser  sie  Sr.  Majestät  wieder  über- 
bringen werde.  —  Weiter  kam  ich  nicht,  denn  der 
Kaiser  unterbrach  mich  mit  großer  Lebhaftigkeit  und 
sagte  mir :  »Nun  will  ich  Ihnen  mal  erzählen,  wie  das  zu- 
sammenhängt. Wie  der  Reichskanzler  neulich  abends 
bei  mir  war,  sprachen  wir  von  der  schwierigen  poli- 
tischen Lage,  in  der  wir  uns  England  gegenüber  be- 
fänden, und  daß  wir  darauf  gefaßt  sein  müßten,  eines 
schönen  Tags  von  dort  angegriffen  zu  werden.  Es 
ist  klar,  daß  dieser  Krieg  nicht  lokalisiert  werden  kann, 
sondern,  daß  er  weitere  europäische  Verwicklungen 
nach  sich  führen  wird.  —  Da  sagte  der  Reichskanz- 
ler, er  fände,  daß  der  Graf  Schlieffen  recht  alt  werde, 
worauf  ich  ihm  erwiderte,  wenn  der  nicht  mehr  kann, 
dann  ist  Moltke  da.  —  Darauf  sagte  er:  Ew.  Majestät, 

Moltke.        20.  3°5 


der  nimmt  die  Stellung  nicht  an.  —  Sie  können  sich 
denken,  daß  ich  durch  diese  Äußerung  völlig  ver- 
blüfft wurde.  Ich  habe  Sie  vor  einem  Jahr  zum  Gene- 
ralstab kommandiert,  damit  Sie  sich  orientieren  sol- 
len, und  ich  hatte  natürlich  sicher  darauf  gerechnet, 
daß  Sie  da  wären  um  einzuspringen,  wenn  der  Graf 
Schlief fen  aus  irgendeinem  Grunde  zurücktreten 
muß.  Er  ist  alt  und  es  kann  ihm  etwas  passieren,  er 
kann  krank  werden  oder  dergleichen  und  dann  muß 
jemand  da  sein,  der  ihn  ersetzen  kann.  Nun  ist  mir 
noch  der  General  v.  der  Goltz  vorgeschlagen,  den  ich 
nicht  will,  und  dann  der  General  v.  Beseler,  den  ich 
nicht  kenne.  Sie  kenne  ich  und  zu  Ihnen  habe  ich 
Vertrauen.  Ich  weiß  wohl,  daß  Sie  zu  bescheiden  sind, 
um  zu  glauben,  daß  Sie  der  Stellung  genügen  könn- 
ten. Der  Graf  Schlieffen,  den  ich  gefragt  habe,  sagt 
mir,  er  habe  Sie  nun  ein  Jahr  beobachtet  und  könne 
mir  keinen  besseren  Nachfolger  vorschlagen  als  Sie 
in  erster  Linie.  Ihr  verstorbener  Onkel  hat  einmal 
geäußert,  es  komme  bei  der  Wahl  zu  dieser  Stellung 
viel  weniger  darauf  an,  daß  der  Betreffende  genial 
sei,  als  darauf,  daß  man  sich  unter  allen  Umständen 
auf  ihn  verlassen  könne,  der  Charakter  sei  die  Haupt- 
sache, dieser  ist  es,  der  im  Kriege  auf  die  Probe  ge- 
stellt wird.  Ich  kann  Ihnen  nur  sagen,  daß  ich  zu 
Ihnen  völliges  Vertrauen  habe.  Sie  sind  eine  bekannte 
Persönlichkeit  in  der  Armee,  jeder  schätzt  Sie  und 
wird  Ihnen  wie  ich  Vertrauen  entgegenbringen.  Wie 
ich  als  junger  Mensch  auf  einmal  auf  den  Thron  kam, 
da  habe  ich  mir  auch  gesagt,  die  Aufgabe  übersteigt 
deine  Kräfte.  Ich  war  ganz  auf  mich  allein  gestellt, 
niemand  konnte  mir  helfen,  und  wie  ich  nun  das 
Schwerste  gleich  vollbringen  mußte,  den  Abschied 
von  dem  alten  Reichskanzler,  da  habe  ich  mir  gesagt, 
es  muß  gehen,  und  ich  habe  das  durchgeführt,  was 

306 


ich  tun  mußte.  So  wird  es  Ihnen  auch  gehen.  Wenn 
Sie  an  die  Aufgabe  herantreten,  werden  Sie  die  Kraft 
in  sich  selber  finden.« 

Dies  war  in  kurzem  der  Inhalt  dessen,  was  Se.  Ma- 
jestät sagte.  Er  sprach  in  seiner  Lebhaftigkeit  sehr 
lange  und  führte  alles  viel  mehr  aus,  als  ich  es  hier 
wiedergegeben  habe.  Ich  sah  es  kommen,  daß  er  mir 
keine  Gelegenheit  geben  werde,  meinerseits  das  zu 
sagen,  was  ich  zu  sagen  hatte,  aber  ich  war  fest  ent- 
schlossen, nicht  fortzugehen,  bis  ich  es  getan  hätte. 
Ich  hörte  also  ehrerbietig  zu,  bis  er  ausgeredet  hatte. 
Dann  sagte  ich:  Ew.  Majestät  wollen  mir  gestatten, 
meinen  tiefempfundenen  Dank  auszusprechen  für  den 
ehrenden  Ausdruck  des  Vertrauens,  dessen  Ew.  Ma- 
jestät mich  würdigen,  um  so  mehr  aber  fühle  ich 
mich  verpflichtet,  mich  Ew.  Majestät  gegenüber  ganz 
offen  und  ehrlich  auszusprechen.  Es  kommt  nicht 
nur  darauf  an,  daß  Ew.  Majestät  Vertrauen  zu  mir 
haben,  sondern  auch  darauf,  ob  ich  dies  Vertrauen 
verdiene  oder  nicht.  Das  werden  Ew.  Majestät  erst 
dann  beurteilen  können,  wenn  Ew.  Majestät  meine 
Ansichten  genau  kennen  und  ich  bitte  daher  aller- 
untertänigst  um  die  Erlaubnis,  Ew.  Majestät  gegen- 
über meine  Bedenken  so  offen  darlegen  zu  dürfen, 
wie  meinem  eigenen  Gewissen  gegenüber.  Sollte  ich 
dabei  etwas  sagen,  was  Ew.  Majestät  vielleicht  nicht 
gefällt,  so  wird  dies  jedenfalls  die  Folge  haben,  daß 
Ew.  Majestät  mich  ganz  und  völlig  beurteilen  und  da- 
nach abschätzen  können.  —  Ew.  Majestät  haben  mich 
als  eventuellen  späteren  Chef  des  Generalstabes  in 
Aussicht  genommen.  Wie  ich  mich  als  solcher  im 
Fall  eines  Feldzuges  bewähren  würde,  weiß  ich  nicht. 
Ich  beurteile  mich  selber  sehr  kritisch.  Meiner  Mei- 
nung nach  ist  es  überhaupt  sehr  schwierig,  wenn 
nicht  unmöglich,  sich  jetzt  schon  ein  Bild  davon  zu 

307 


machen,  wie  sich  ein  moderner,  europäischer  Krieg; 
gestalten  wird.  —  Wir  haben  jetzt  eine  über  dreißig- 
jährige Friedensperiode  hinter  uns  und  ich  glaube, 
daß  wir  in  unseren  Anschauungen  vielfach  sehr  frie- 
densmäßig geworden  sind.  Wie  und  ob  es  überhaupt 
möglich  sein  wird,  die  Massenheere,  die  wir  aufstel- 
len werden,  einheitlich  zu  leiten,  kann,  glaube  ich, 
kein  Mensch  vorher  wissen.  Auch  unser  Gegner  ist 
ein  anderer  geworden,  wir  werden  es  nicht  mehr  wie 
früher  mit  einem  feindlichen  Heer,  dem  wir  mit  Über- 
legenheit entgegentreten  können,  zu  tun  haben,  son- 
dern mit  einer  Nation  in  Waffen.  Es  wird  ein  Volks- 
krieg werden,  der  nicht  mit  einer  entscheidenden 
Schlacht  abzumachen  sein  wird,  sondern  der  ein  lan- 
ges, mühevolles  Ringen  mit  einem  Lande  sein  wird, 
das  sich  nicht  eher  überwunden  geben  wird,  als  bis 
seine  ganze  Volkskraft  gebrochen  ist,  und  der  auch 
unser  Volk,  selbst  wenn  wir  Sieger  sein  sollten,  bis 
aufs  äußerste  erschöpfen  wird.  Wenn  ich  nun  sehe, 
wie  die  strategischen  Kriegsspiele,  die  Ew.  Majestät 
Jahr  für  Jahr  unterbreitet  werden,  regelmäßig  mit  der 
Gefangennahme  feindlicher  Armeen  von  fünf-  bis 
sechshunderttausend  Mann,  und  zwar  nach  Verlauf 
weniger  Operationstage  enden,  so  kann  ich  mich  der 
Empfindung  nicht  verschließen,  daß  dieselben  den 
Verhältnissen  des  Krieges  in  keiner  Weise  gerecht 
werden.  Solche  Kriegsspiele  kann  ich  nicht  machen. 
Ew.  Majestät  wissen  selber,  daß  die  von  Ihnen  ge- 
führten Armeen  regelmäßig  den  Gegner  einkesseln 
und  so  angeblich  den  Krieg  mit  einem  Schlage  be- 
enden. Diese  Resultate  sind  meiner  Meinung  nach 
nur  dadurch  zu  erreichen,  daß  den  Verhältnissen  in 
einer  Weise  Gewalt  angetan  wird,  die  dem  Grund- 
satz, daß  das  Kriegsspiel  eine  Studie  für  den  wirk- 
lichen Krieg  sein  soll  und  daß  es  alle  Reibungen  und 

308 


Hindernisse,  die  im  Kriege  auftreten,  möglichst  be- 
rücksichtigen muß,  in  keiner  Weise  entsprechen. 
Diese  Art  des  Kriegsspiels,  bei  dem  der  Gegner  Ew. 
Majestät  gewissermaßen  von  vorneherein  mit  gebun- 
denen Händen  ausgeliefert  wird,  muß  ganz  falsche 
Vorstellungen  erwecken,  die  verderblich  werden  müs- 
sen, wenn  der  Krieg  wirklich  kommt.  Doch  ist  dies 
meines  Erachtens  nach  noch  nicht  das  schlimmste. 
Für  noch  bedenklicher  halte  ich  es,  daß  durch  die 
Gewalt,  die  dem  Kriegsspiel  angetan  wird,  dem  gan- 
zen großen  Kreis  der  daran  beteiligten  Offiziere  das 
Interesse  an  der  Sache  genommen  wird.  Jeder  hat 
die  Empfindung,  es  ist  ganz  gleichgültig,  was  Du 
machst,  ein  höheres  Fatum  dirigiert  die  Sache  und 
führt  sie  so  oder  so  zum  gewollten  Ende.  Ew.  Maje- 
stät werden  bemerkt  haben,  daß  es  immer  schwie- 
riger wird,  Offiziere  zu  finden,  die  gegen  Ew.  Maje- 
stät führen  wollen.  Das  kommt  daher,  weil  jeder  sich 
sagt,  ich  werde  ja  doch  nur  abgeschlachtet.  —  Das, 
was  ich  aber  am  allermeisten  beklagen  und  was  ich 
Ew.  Majestät  sagen  muß,  das  ist,  daß  das  Vertrauen 
der  Offiziere  zu  ihrem  Allerhöchsten  Kriegsherrn  da- 
durch aufs  tiefste  erschüttert  wird.  Die  Offiziere  sa- 
gen sich,  der  Kaiser  ist  viel  zu  klug,  als  daß  er  nicht 
merken  sollte,  wie  hier  alles  zurechtgemacht  wird, 
damit  er  siegen  soll,  er  muß  es  also  doch  so  haben 
wollen. 

Hier  unterbrach  mich  der  Kaiser  und  versicherte, 
er  habe  keine  Ahnung  davon  gehabt,  daß  nicht  auf 
beiden  Seiten  mit  gleichen  Waffen  gekämpft  worden 
sei.  Er  sei  ganz  bona  fide  gewesen.  —  Ich  solle 
Schlief fen  sagen,  daß  er  beim  nächsten  Kriegsspiel 
ihn  nicht  besser  behandele  wie  seinen  Gegner. 

Ich  erwiderte  ihm:  Der  Graf  Schlieffen  sagt,  wenn 
der  Kaiser  spielt,  muß  er  siegen,  er  kann  als  Kaiser 

309 


nicht  von  einem  seiner  Generale  geschlagen  werden. 
Das  ist  auch  ganz  richtig.  Ew.  Majestät  dürfen  daher 
überhaupt  nicht  führen.  Lassen  Ew.  Majestät  sich 
doch  ein  Kriegsspiel  vorlegen,  in  dem  Ew.  Majestät 
die  Oberleitung  haben  und  so  über  den  Parteien  ste- 
hen, statt  selber  Partei  zu  sein. 

Der  Kaiser  pflichtete  mir  hierin  bei.  —  Ich  sagte 
ihm  dann  noch,  wenn  Ew.  Majestät  sich  bei  den  Her- 
ren erkundigen  wollten,  ich  glaube,  alle  würden  be- 
stätigen, was  ich  hier  gesagt  habe,  das  heißt,  wenn  sie 
den  Mut  haben,  Ew.  Majestät  die  Wahrheit  zu  sagen. 

Und  dasselbe,  was  ich  vom  Kriegsspiel  gesagt  habe, 
gilt  auch  von  den  Manövern.  Der  Wert  der  großen 
Manöver  als  Vorbereitung  für  den  Krieg  liegt  in  der 
Übung  der  höheren  Führer  einem  Gegner  gegenüber, 
der  eigenen  Entschluß  hat.  Die  Truppe  als  solche 
lernt  in  den  großen  Manövern  weniger  als  in  den 
Detachementsübungen,  bei  denen  man  auf  alle  De- 
tails achten  kann.  Wenn  nun  die  Entschlüsse  der 
Kommandierenden  Generale  immer  durch  das  Ein- 
greifen Ew.  Majestät  beeinflußt  werden,  so  wird  ihnen 
die  Lust  zur  Initiative  genommen,  sie  werden  un- 
lustig und  unsicher  gemacht. 

Hier  unterbrach  mich  der  Kaiser  wieder  und  sagte, 
er  habe  den  Kommandierenden  Generalen  immer  die 
Freiheit  des  Entschlusses  gelassen.  Ich  erwiderte:  In 
dem  letzten  Kaisermanöver  bin  ich  als  Schiedsrichter 
verwendet  worden,  war  daher  nicht  selber  zugegen, 
aber  es  ist  mir  gesagt  worden,  daß  Ew.  Majestät  an 
einem  Tage  dem  Kommandierenden  General  des 
. .  Armeekorps  den  Befehl  für  sein  Korps,  entgegen 
seinen  Absichten  wörtlich  diktiert  hätten.  —  Das 
mußte  Se.  Majestät  zugeben.  Er  sagte:  Ach  ja,  das 
war,  wie  er  mit  seinem  Korps  zurückgehen  wollte, 
so  daß  es  an  dem  Tage  zu  gar  keinem  Gefecht  ge- 

310 


kommen  wäre.  —  Ich:  Da  hätten  Ew.  Majestät  ihm 
doch  einfach  sagen  lassen  können,  ich  wünsche  mor- 
gen ein  Gefecht  zu  sehen,  und  ihm  dann  die  Art  der 
Ausführung  überlassen  können,  oder  Ew.  Majestät 
hätten  ihm  irgendeine  Supposition  geben  können,  die 
ihn  zum  Stehenbleiben  veranlaßt  hätte.  So  weiß  es 
die  ganze  Armee,  daß  Ew.  Majestät  einem  Komman- 
dierenden General  die  Befehle  für  sein  Korps  einfach 
diktiert  haben,  und  das  trägt  nicht  zur  Hebung  des 
Ansehens  des  Generals  seinem  Korps  gegenüber  bei 
und  muß  deprimierend  auf  ihn  wirken.  Ein  Komman- 
dierender General  hat  vielleicht  während  der  ganzen 
Zeit,  wo  er  in  seiner  Stellung  ist,  nur  einmal  bei  den 
Kaisermanövern  Gelegenheit,  sein  Korps  gegen  ei- 
nen Gegner  zu  führen,  und  das  sind  meistens  nur  drei 
Tage.  Wenn  nun  Ew.  Majestät  noch  selber  im  Ma- 
növer ein  Korps  führen,  so  geht  ihm  einer  von  den 
drei  Übungstagen  verloren.  Im  Kriege  führen  Ew. 
Majestät  doch  kein  Korps.  —  Se.  Majestät:  Nein,  das 
ist  richtig.  —  Ich:  Da  soll  es  der  Kommandierende 
General  machen,  und  er  muß  jede  Stunde  ausnutzen, 
in  der  er  sich  darin  üben  kann.  —  Se.  Majestät:  Ich 
führe,  um  den  Kommandierenden  Generalen  zu  zei- 
gen, wie  ich  wünsche,  daß  es  gemacht  werden  soll.  — 
Ich:  Das  können  Ew.  Majestät  bei  der  Besprechung 
zum  Ausdruck  bringen.  Die  Manöver  können  meines 
Erachtens  nach  nur  kriegsmäßig  und  dadurch  von 
Nutzen  sein,  wenn  sie  sich  ohne  gewaltsamen  Ein- 
griff von  oben  abspielen.  Werden  Fehler  gemacht, 
so  schadet  das  nichts,  denn  man  lernt  nie  mehr,  als 
aus  seinen  Fehlern.  Wenn  aber  Ew.  Majestät  führen, 
so  weiß  jeder,  Se.  Majestät  muß  siegen,  und  die  ganze 
Gegenpartei  fühlt  sich  von  vorneherein  als  Schlacht- 
opfer und  wird  mißmutig.  Die  Manöver  werden  in 
der  ganzen  Armee  besprochen,  das  gesamte  Offiziers- 

3ii 


korps  beurteilt  sie  und  die  Kritik  wird  immer  schär- 
fer. —  Und  dann  kommt  noch  eins  hinzu.  Die  Trup- 
pen bekommen  Ew.  Majestät  nicht  zu  sehen,  was  von 
der  größten  Wichtigkeit  ist,  denn  der  Soldat,  der  Ew. 
Majestät  im  Manöver  gesehen  hat,  vergißt  das  sein 
ganzes  Leben  lang  nicht.  —  Ew.  Majestät  wollen  zu 
Gnaden  halten,  wenn  ich  mich  freier  ausgesprochen 
habe,  als  Ew.  Majestät  es  zu  hören  gewohnt  sind.  Ich 
würde  es  nicht  gewagt  haben,  wenn  es  sich  nicht  um 
das  handelte,  was  mir  das  höchste  ist,  Ew.  Majestät 
und  der  Armee  Wohl.  —  Der  Kaiser  sagte  mir  nun: 
Warum  haben  Sie  mir  das  alles  nicht  schon  längst 
gesagt?  —  Ich:  Ich  habe  mich  nicht  berechtigt  ge- 
fühlt, Ew.  Majestät  meine  Ansicht  aufzudrängen.  Es 
kann  doch  nicht  jeder  zu  Ew.  Majestät  kommen  und 
sagen:  Ich  finde  dies  nicht  richtig,  was  Sie  tun,  und 
das  nicht  richtig.  —  Se.  Majestät:  Sie  sind  aber  Ge- 
neraladjutant, und  da  wissen  Sie,  daß  Sie  immer 
kommen  können.  —  Ich:  Wenn  Ew. Majestät  mich 
um  meine  Ansicht  befragen,  werde  ich  sie  immer 
freimütig  äußern. 

Der  Kaiser  gab  mir  darauf  die  Hand  und  sagte:  Ich 
danke  Ihnen.  —  Ich  sagte  ihm  dann:  Wenn  Ew.  Ma- 
jestät es  wirklich  mit  mir  versuchen  wollen,  dann  ge- 
ben Sie  mir  doch  Gelegenheit,  mich  einmal  zu  erpro- 
ben. Lassen  Ew.  Majestät  mich  doch  in  diesem  Jahr 
einmal  die  Kaisermanöver  anlegen.  Geht  es  gut,  kön- 
nen Ew.  Majestät  mich  ja  behalten,  zeigt  es  sich,  daß 
es  nicht  geht  oder  werden  die  Schwierigkeiten  zu 
groß,  dann  stellen  Ew.  Majestät  mich  einfach  beiseite 
und  nehmen  einen  anderen.  Hier  liegt  wirklich  nichts 
an  einer  Person,  es  kommt  nur  darauf  an,  daß  der 
Sache  gedient  wird.  —  Der  Kaiser  war  ganz  damit 
einverstanden  und  sagte:  Ich  werde  es  dem  Grafen 
Schlieffen  sagen.  —  Ich:  Wenn  Ew.  Majestät  gestat- 

312 


ten, meldeich  dies  selbst  dem  Grafen  Schlieffen  und 
bitte  um  seine  Einwilligung. 

Dann  gab  Se.  Majestät  mir  nochmals  die  Hand  und 
ging  voraus  in  den  Empfangssalon,  wo  die  Kaiserin 
und  die  Tischgesellschaft  schon  lange  gewartet  hat- 
ten.—  Der  Kaiser  war  den  ganzen  Abend  sehr  schweig- 
sam und  nachdenklich.  Er  tat  mir  eigentlich  furcht- 
bar leid,  aber  weiß  Gott,  ich  konnte  nicht  anders. 

Ich  war  sehr  gespannt,  wie  er  gegen  mich  sein 
würde,  wenn  ich  ihn  wiedersehen  würde,  nachdem 
eine  Zeit  verflossen  und  die  erste  Überraschung  über- 
wunden war.  Er  zeigte  sich  aber  auch  dann  gleich- 
mäßig freundlich.  Wie  dies  alles  nun  weiterwirken 
wird,  weiß  ich  nicht.  Vielleicht  ist  es  von  Dauer,  viel- 
leicht verwischt  es  die  Zeit  wieder.  — 

Wie  ich  das  wegen  der  Manöver  dem  Grafen  Schlief- 
fen meldete,  machte  er  ein  sehr  verdutztes  Gesicht. 
Es  war  ihm  offenbar  äußerst  unangenehm,  und  er 
versuchte  auszuweichen,  sagte,  wie  ich  ihn  direkt 
fragte:  Sind  Ew. Exzellenz  damit  einverstanden,  wenn 
ich  die  Manöver  in  diesem  Jahr  anlege?  —  Darüber 
können  wir  ja  noch  sprechen.  —  Geht  er  nicht  darauf 
ein,  so  nehme  ich  den  Kampf  auf.  Ich  habe  die  Zu- 
sicherung Sr.  Majestät,  und  die  laß  ich  mir  nicht  wie- 
der nehmen. 

So,  nun  weißt  Du  Bescheid.  Bitte,  laß  mich  gleich 
wissen,  daß  dieser  Brief  in  Deine  Hände  gelangt  ist, 
denn  ich  möchte  nicht,  daß  irgend  jemand  sonst  da- 
von erfährt,  und  bin  eigentlich  unruhig,  ihn  auf  die 
Post  zu  geben.  Bewahre  ihn  so  auf,  daß  er  in  keine 
unrechten  Hände  kommt. 

Berlin,  i. Februar  1905. 

Die  Zustände  in  Rußland  sind  sehr  bedenklich.  Bis 
jetzt  waren  es  nur  Arbeiterunruhen,  die  mit  leichter 

313 


Mühe  vom  Militär  unterdrückt  worden  sind,  wobei 
ziemlich  viel  Blut  geflossen  ist.  Das  waren  aber  wohl 
nur  die  Ballons  d'essay.  Es  gärt  überall,  besonders 
in  den  Kreisen  der  Intelligenz.  Wenn  der  Zar  nicht 
vernünftig  ist  und  seinem  Volk  mehr  Freiheit  ge- 
währt, wird's  schlimm  werden.  Für  eine  Konstitution 
und  allgemeines  Wahlrecht  ist  Rußland  wohl  noch 
nicht  reif.  Aber  er  muß  eine  Habeas-corpus-Akte  ge- 
ben, das  heißt  einen  Schutz  gegen  Willkür  und  Gewalt, 
und  eine  ständische  Vertretung.  Damit  würden  alle 
zufrieden  sein,  und  er  würde  der  Vater  des  Vater- 
landes sein.  Tut  er  das  nicht,  sondern  beharrt  auf 
dem  Standpunkt  der  brutalen  Gewalt,  so  wird  er  diese 
gegen  sich  selber  herausfordern  und  über  kurz  oder 
lang  dem  Fanatismus  zum  Opfer  fallen.  Die  Truppen 
haben  sich  bisher  überall  zuverlässig  bewiesen,  die 
Gerüchte  von  Meuterei  sind  englische  Erfindun- 
gen. Rußland  wird  die  allerschärfsten  Gesetze  willig 
ertragen,  aber  es  müssen  eben  Gesetze  sein  und 
nicht  Willkür,  bei  der  kein  Mensch  sicher  ist.  —  Gebe 
Gott  dem  armen  Zar  verständige  Ratgeber.  —  Der 
Oberst  Schebekow  sagte  mir  neulich,  er  wäre  schon 
verschiedene  Male  gefragt  worden,  ob  keine  Aussicht 
wäre,  daß  ich  hingeschickt  würde!  Wie  findest  Du 
das!? 

Mit  der  Kriegsführung  steht  es  auch  schlecht  für  die 
Russen.  Kuropatkin  hat  einen  wieder  verunglückten 
Versuch  gemacht,  vorzugehen,  hat  eins  auf  die  Nase 
bekommen  und  ist  wieder  hinter  den  Hunho  gekro- 
chen. Es  ist  der  reine  Jammer.  Übrigens  glaube  ich, 
daß  wir  indirekt  der  großen  Schwäche  Rußlands  es 
verdanken,  wenn  England  jetzt  so  friedfertig  gegen 
uns  ist.  Ich  denke  mir,  daß  Frankreich  in  England 
vorstellig  geworden  ist,  Frieden  zu  halten.  Die  Fran- 
zosen wissen  es  ganz  genau,  daß  sie  es  mit  uns  zu 

314 


tun  bekommen,  wenn  der  Krieg  zwischen  England 
und  Deutschland  anfangen  sollte,  und  da  ihr  guter 
Freund  Rußland  zurzeit  ganz  ohnmächtig  ist,  wür- 
den sie  es  alleine  mit  uns  aufnehmen  müssen,  und 
davor  haben  sie  einen  höllischen  Respekt.  Wäre  es 
nicht  so,  könnte  ich  mir  die  englischen  Friedens- 
schalmeien nicht  erklären.  Nun  aber  genug  der  Poli- 
tik. Ein  garstig  Lied,  pfui,  ein  politisch  Lied,  sagt 
der  Student  in  Auerbachs  Keller. 

B  e  r  1  i  n ,  4.  Februar  1905. 

Der  Zar  scheint  wirklich  die  Absicht  zu  haben,  ein 
etwas  liberaleres  Regime  einzuführen,  was  für  ihn  und 
das  Land  ein  Segen  sein  würde.  Vorläufig  empfängt 
er  Arbeiterdeputationen,  was  nicht  viel  zu  bedeuten 
hat.  In  der  Mandschurei  ist  es  nach  dem  neulichen 
kläglichen  Versuch  einer  russischen  Offensive  wie- 
der still  geworden.  Die  Kriegsführung  dort  ist  gleich 
miserabel  von  beiden  Seiten. 

Bei  uns  zu  Hause  wirkt  der  nun  schon  wochenlang 
währende  Streik  der  Kohlenarbeiter  im  Ruhrrevier 
störend  weiter.  Die  Kohlennot  wird  dringlich.  Viele 
Fabriken  müssen  die  Arbeit  einstellen,  englische  und 
belgische  Kohle  wird  massenhaft  importiert,  deckt 
aber  den  Bedarf  nicht.  Man  sieht  wieder  mal,  wie 
künstlich  unser  modernes  Kulturleben  aufgebaut  ist, 
wenn  ein  Faktor  versagt,  kommt  alles  ins  Stocken. 
Die  Ruhe  und  Ordnung  ist  übrigens  nirgends  gestört, 
und  die  streikenden  Arbeiter  haben  reichlich  zu  leben 
von  den  Hilfsmitteln,  die  ihnen  von  allen  Seiten  zu- 
fließen. Sogar  unsere  brave  Geistlichkeit  sammelt  für 
sie.  Die  Leute  sind  recht  töricht,  ihre  Politik  reicht 
nicht  weiter  als  ihre  Nasenspitzen,  auch  hier  wird 
alles  von  Schlagwörtern  regiert. 

315 


Berlin,  6.  Februar  1905. 

Ich  habe  jetzt  ein  sehr  interessantes  Buch  »Paulus, 
die  Anfänge  des  Christentums  und  des  Dogmas«  von 
Professor  Weinel.  Ein  ganz  klein  wenig  riecht  es 
doch  nach  Orthodoxie,  wenn  auch  der  Professor  dar- 
über empört  sein  würde,  wollte  man  ihm  das  sagen, 
denn  er  ist  bekannt  als  der  freisinnigste  aller  freisin- 
nigen Theologen,  aber  kein  Mensch  kann  aus  seiner 
Haut,  und  wenn  er  auch  meint,  die  christlich-dogma- 
tische Haut,  die  ihm  wohl  in  der  Jugend  anerzogen 
war,  ganz  abgestreift  zu  haben,  so  ist  doch  noch  hier 
und  da  ein  Läppchen  hängengeblieben,  so  fein,  daß 
man's  nicht  sehen  kann,  nur  fühlen,  wenn  man  mit 
dem  Finger  des  Geistes  den  Aufbau  seines  Werkes 
nachfühlt. 

Berlin,  7.  Februar  1905. 

Daß  dies  Volk  (die  Italiener),  das  einst  die  Welt  be- 
herrschte, so  heruntergekommen  ist,  daß  sie  zu  Die- 
ben und  Lumpen  geworden  sind,  das  ist  traurig  ge- 
nug, liegt  aber  wohl  im  Lauf  der  Welt.  Sie  sind  auf 
dem  absterbenden  Ast,  wir  Germanen  sind  ja  noch 
jünger,  werden  aber  seinerzeit  wohl  denselben  Weg 
gehen,  um  jüngeren  Platz  zu  machen.  In  der  Be- 
ziehung ist  es  mit  den  Nationen  wie  mit  dem  einzel- 
nen Menschen. 

Berlin,  9. Februar  1905. 

Der  gestrige  Hofball  hat  mich  nicht  weiter  gefes- 
selt. Es  macht  mir  immer  wieder  einen  ganz  merk- 
würdigen Eindruck,  wenn  ich  den  Einzug  des  Hofes 
in  den  Weißen  Saal  sehe,  der  Kaiser  bringt  immer 
so  ein  Stück  Mittelalter  hinter  sich  her.  S.  in  Perücke, 
ebenso  den  alten  Süß,  den  Offizier  der  Leibwache 
der  Kaiserin  ebenso;  es  ist,  als  ob  die  Toten  aufer- 
stehen mit  Zopf  und  Puder. 

316 


Berlin,  12.  Februar  1905. 

Ich  lege  Dir  ein  paar  Worte  bei,  die  ich  aus  dem 
Weineischen  Werk  über  Paulus  ausgezogen  habe. 
Es  ist  nur  kurz  und  gedrängt.  Die  Entwicklung 
frappierte  mich,  weil  sie  genau  meiner  Ansicht  über 
den  Opfertod  Christi  entspricht.  Ich  stimme  ihr  durch- 
aus bei.  Hoffentlich  kannst  Du  es  lesen  und  wird  es 
Dich  auch  interessieren.  —  Paulus  :  Zwei  Wege,  auf 
denen  die  Menschheit  zu  ihrem  Gott  zu  gelangen  ver- 
sucht: Offenbarung,  Sakrament  —  Gebet  und 
Opfer.  —  In  Paulus  seit  Damaskus  ist  Christus  leben- 
dig geworden,  hat  sich  ihm  offenbart.  Nun  lebe  ich, 
aber  nicht  ich,  sondern  Christus  lebt  in  mir.  Jetzt 
spricht  sein  Gott  zu  ihm  nicht  mehr  aus  den  Papieren 
der  Gesetzesvorschriften,  sondern  aus  der  Feuer- 
flamme, die  in  seinem  Herzen  lodert.  Er  hat  damit 
lebendige  Religion,  er  hat  sie  als  persönliches  Er- 
lebnis. 

Berlin,  14.  Februar  1905. 

Die  Beerdigung  des  alten  Menzel  wurde  mit  großem 
Pomp  in  der  Rotunde  des  Alten  Museums  abgehalten. 
Vor  dem  Portal  die  Leib-Kompagnie  des  1.  Garde- 
Regiments  mit  Grenadiermützen,  auf  der  Freitreppe 
die  Schloßgarde-Kompagnie  und  die  kunststudenti- 
schen Vereine  in  Wichs  mit  ihren  Fahnen,  ein  far- 
benprächtiges Bild.  Im  Innern  eine  gedrängte  Ver- 
sammlung aller  Stände  und  Berufsklassen,  sogar  Sin- 
ger war  da  als  Reichstagsdeputation!  Auf  der  Balu- 
strade oben  Joachim  mit  seinem  Quartett  und  der 
Sängerchor  der  Hochschule.  Neben  dem  kleinen 
Sarg,  der  aussah  wie  ein  Kindersarg,  Dryander.  Nach- 
dem Kaiser,  Kaiserin  und  sämtliche  Prinzen  einge- 
troffen, wurde  eine  sehr  schöne  Kantate  von  Beetho- 
ven gesungen,  dann  hielt  Dryander  eine  schlichte  und 

317 


daher  wirkende  Ansprache,  darauf  Quartett,  ein  Satz 
von  Haydn  und  dann  Einsegnung,  worauf  wieder 
Chorgesang.  Dann  wurde  der  Sarg  von  sechs  Unter- 
offizieren des  i.  Garde-Regiments  herausgetragen  und 
auf  den  Leichenwagen  gesetzt,  der  mit  sechs  Mar- 
stallpferden  bespannt  war  und  von  kaiserlichen  Kut- 
schern eskortiert  wurde.  An  der  Tete  des  Zuges  die 
Leib-Kompagnie,  dann  die  Chargierten  der  studen- 
tischen Verbindungen  mit  ihren  bunten  Trachten  und 
Federhüten.  Hinter  dem  Sarg  der  Kaiser  mit  der 
ganzen  Generalität,  und  dann  ein  endloses  Gefolge 
schwarzer  Zylinder.  Vor  dem  Schloß  schwenkte  der 
Kaiser  links,  die  Kompagnie  rechts  ab  und  ließen  den 
Zug  an  sich  vorüberdefilieren.  So  ist  wohl  noch  kein 
Künstler  geehrt  worden,  und  die  kleine  Exzellenz 
wird  ihre  Freude  daran  gehabt  haben,  wenn  er  sein 
eigenes  Leichenbegängnis  etwa  hat  sehen  können! 

B  e  r  1  i  n ,  20.  Februar  1905. 

Die  geistige  Ära,  auf  die  Du  hoffst,  wird,  glaube 
ich,  noch  nicht  so  bald  kommen.  Ich  fürchte,  daß  die 
Menschheit  noch  durch  viel  Blut  und  Elend  wird 
gehen  müssen,  bis  sie  soweit  kommt.  Wir  werden 
das  Tausendjährige  Reich  wohl  nicht  mehr  anbrechen 
sehen,  auf  das  die  Menschheit  schon  seit  Christi  Zei- 
ten hofft.  —  Die  neue  schreckliche  Bluttat  in  Ruß- 
land ist  auch  wie  eine  blutrote  Fackel,  die  in  eine 
dunkle  Zukunft  leuchtet.  Der  arme  Zar,  der  selber 
jeden  Augenblick  das  neue  Opfer  sein  kann!  Und  da- 
bei keine  Energie,  um  neue  Bahnen  einzuschlagen 
und  sich  und  sein  Volk  zu  retten!  Ich  glaube,  daß 
Rußland  und  Japan  bald  Frieden  machen  werden. 
Der  Krieg  ist  für  ersteres  hoffnungslos. 

3i8 


Berlin,  4«  März  1905. 

Es  freut  mich,  daß  Du  Bekanntschaft  mit  dem 
Katakombenpriester  gemacht  hast  und  daß  er  Dir  et- 
was zeigen  wird.  Er  ist  Autorität  auf  diesem  Gebiet 
und  wird  Euch  gewiß  interessant  erzählen  können. 
Vielleicht  triffst  Du  bei  Rotenhahn  mit  dem  Kardinal- 
staatssekretär Merry  del  Val  zusammen,  der  mich 
sehr  interessiert  hat.  Er  ist  der  Mann  an  der  Spritze, 
der  die  ganzen  weitverzweigten  Fäden  der  vatikani- 
schen Diplomatie  in  der  Hand  hat. 

Berlin,  7.  März  1905. 

Ich  habe  heute  einen  ersten  Strauß  mit  Graf  Schlief- 
fen  durchgefochten.  Ich  schrieb  Dir  doch,  daß  der 
Kaiser  mir  erlaubt  habe,  in  diesem  Jahr  die  Manöver 
anzulegen.  Dies  hatte  ich  dem  Grafen  Schlief fen  ge- 
meldet, worauf  er  mir  sagte,  er  wolle  sich  es  noch 
überlegen.  Seitdem  habe  ich  ihn  zweimal  wieder  ge- 
fragt, ob  er  es  sich  nun  überlegt  habe,  was  er  immer 
verneinte,  sagte,  es  wäre  ja  noch  lange  Zeit  usw.  und 
immer  Ausflüchte  machte.  Vor  einigen  Tagen  hat  er 
nun  dem  Kaiser,  ohne  daß  ich  vorher  etwas  erfahren 
hatte,  eine  Manöveranlage,  die  er  gemacht  hatte,  vor- 
getragen. Wie  . . .  mir  sagte,  habe  der  Kaiser  gesagt: 
Ich  denke,  Moltke  macht  die  Anlage?  Worauf  Graf 
Schlieffen  etwas  Unverständliches  gemurmelt  habe. 
Ich  ging  darauf  zu  H.  und  bat  ihn,  Sr.  Majestät  den 
Sachverhalt  mitzuteilen,  damit  dieser  nicht  von  mir 
glaube,  daß  ich  mich  drücken  wolle  oder  dergleichen. 
Heute  hat  nun  der  Kaiser  H.  zu  Graf  Schlieffen  ge- 
schickt mit  dem  Befehl,  daß  ich  die  Manöver  zu  be- 
arbeiten hätte.  Letzterer  kam  ziemlich  bedrückt  zu 
mir  herein  und  sagte  mir,  er  habe  den  Befehl  bekom- 
men, mir  die  Anlage  des  Manövers  zu  überlassen. 

319 


Dann  machte  er  allerlei  Entschuldigungen,  er  habe 
mich  nicht  richtig  verstanden  gehabt  usw.  —  Ich  sagte 
ihm  nur,  daß  ich  ihm  alles  klar  und  deutlich  damals 
gemeldet  hätte.  Es  war  ihm  offenbar  sehr  unange- 
nehm, ich  konnte  es  ja  aber  nicht  ändern,  und  mir 
blieb  nach  den  Vorgängen  ja  gar  nichts  anderes 
übrig,  als  eine  Entscheidung  Sr.  Majestät  herbeizu- 
führen. Er  hätte  sich  das  ersparen  können,  wenn  er 
loyaler  gegen  mich  verfahren  wäre.  Wenn  er  es  auf 
Biegen  oder  Brechen  ankommen  lassen  will,  so  ist 
mir's  auch  recht,  jedenfalls  hat  er  mich  falsch  taxiert, 
wenn  er  meint,  mich  einfach  beiseite  drücken  zu  kön- 
nen. In  diesem  Fall  habe  ich  nun  gesiegt,  was  er  sich 
hätte  anders  und  ohne  alle  Unannehmlichkeiten  ein- 
richten können,  wenn  er  sich  auf  den  Standpunkt  ge- 
stellt hätte,  einem  Mann,  den  er  selber  als  seinen 
Nachfolger  bezeichnet  hat,  zu  helfen,  statt  ihn  ge- 
wissermaßen zu  behumpsen.  Ich  bin  übrigens  nicht 
nachträgerisch,  und  an  mir  wird's  nicht  liegen,  wenn 
mein  Verhältnis  zu  ihm  gestört  werden  sollte.  —  Dies 
mußt  Du  natürlich  für  Dich  behalten.  Ich  weiß,  daß 
Du  das  sowieso  tust,  und  sage  es  nur  für  mich,  nicht 
für  Dich. 

Berlin,  n.März  1905. 

Ich  traf  Frau  v.  B.,  deren  Mann,  wie  Du  weißt,  mit 
dem  Prinzen  Friedrich  Leopold  in  der  Mandschurei 
bei  den  Japanern  ist,  wo  er  in  diesen  Tagen  wohl 
Zeuge  des  großen  Sieges  gewesen  ist,  den  die  Ja- 
paner über  die  Russen  erfochten  haben.  Mit  letzteren 
ist  es  nun  wohl  definitiv  vorbei.  Es  scheint,  als  wenn 
die  Armee  vollständig  geschlagen  und  zersprengt  ist 
und  wohl  zum  größten  Teil  in  Gefangenschaft  ge- 
raten. Eine  fürchterliche  Blamage  für  die  Russen,  die 
gegen  hunderttausend  Mann  stärker  waren  als  die  Ja- 

320 


paner.  Meiner  Meinung  nach  bleibt  ihnen  nun  nichts 
anderes  mehr  übrig,  als  coute  que  coute  Frieden  zuma- 
chen.— Die  Folgen  dieses  Krieges  werden  im  Osten  sich 
sehr  bald  fühlbar  machen  und  in  einer  unbeschränk- 
ten Vorherrschaft  der  Japaner  bestehen.  Ich  hoffe  nur, 
daß  wir  nicht  mit  ihnen  wegen  Kiautschou  aneinan- 
der geraten,  denn  wir  würden  ihnen  gegenüber  noch 
ohnmächtiger  sein  als  die  Russen,  und  wenn  sie  wol- 
len, können  sie  uns  jeden  Moment  aus  China  hinaus- 
werfen, wozu  unsere  Freunde,  die  Engländer,  bereit- 
willig die  Hand  bieten  würden.  —  Aus  diesen  Grün- 
den bedauere  ich  den  völligen  Mißerfolg  der  Russen, 
so  sehr  ihnen  sonst  eine  ordentliche  Tracht  Prügel 
zu  gönnen  ist.  Die  Zustände  in  diesem  Lande  sind 
doch  zu  verrottet. 

Berlin,  12.  März  1905. 

—  Wenn  ich  dies  Friedensbild  sehe,  muß  ich  im- 
mer an  die  armen  Russen  in  der  Mandschurei  den- 
ken, die  zerstreut,  geschlagen  und  verfolgt  durch  die 
öden  Berge  irren  oder  verstümmelt  in  ihrem  Blut  lie- 
gen. Die  Niederlage  muß  entsetzlich  gewesen  sein. 
Ich  glaube  nicht,  daß  die  Armee  als  solche  überhaupt 
noch  existiert.  Der  Zar  sollte  nur  schleunigst  Frieden 
machen,  Aussicht  auf  Erfolg  hat  er  nicht  mehr,  das 
ist  sicher. 

Berlin,  13. März  1905. 

Die  Russen  scheinen  den  Krieg  trotz  aller  Nieder- 
lagen doch  noch  fortsetzen  zu  wollen.  Ich  halte  sie 
aber  fast  für  unfähig  dazu.  Sie  können  nicht  viel 
Truppen  mehr  aus  dem  Lande  ziehen,  wo  sie  sie 
brauchen,  um  überall  die  Unruhen  niederzuhalten, 
und  ich  bin  überzeugt,  daß  mit  dem  Frühjahr  die  Un- 
ruhen auch  unter  den  Bauern  anfangen  werden,  die 

Moltke.        21.  321 


dem  Beispiel  der  Städte  folgen  werden.  Bei  der  letz- 
ten Niederlage  bei  Mukden  haben  sie  den  dritten  Teil 
ihrer  Armee  an  Toten,  Verwundeten  und  Gefange- 
nen eingebüßt,  gegen  150000  Mann  und  60  Geschütze. 

Berlin,  21.  März  1905. 

Ich  habe  im  Generalstab  jetzt  eine  andere  Quartier- 
meisterstelle als  bisher.  Ich  wollte  gern  tauschen,  und 
bat  Graf  Schlieffen  darum,  der  es  sofort  genehmigte. 
Jetzt  habe  ich  die  Abteilungen,  in  denen  Rußland,  Ja- 
pan, Frankreich,  England,  Österreich,  Italien,  Schweiz, 
Türkei  usw.  bearbeitet  werden,  was  ungleich  interes- 
santer ist  als  meine  bisherige  Stellung.  So  bekomme 
ich  alle  Berichte  aus  erster  Hand  und  die  Nachrich- 
ten aus  der  ganzen  Welt. 

Was  aus  dem  russischen  Feldzug  werden  soll,  ist 
mir  ganz  unklar.  Es  scheint  wirklich,  daß  die  Russen 
den  Krieg  fortsetzen  wollen.  Menschen  haben  sie  ja 
genug,  aber  es  wird  allmählich  knapp  mit  dem  Gelde 
werden,  was  nicht  so  leicht  zu  beschaff en  ist.  —  Nach 
ungefährer  Schätzung  müssen  sie  in  ein  bis  zwei  Mo- 
naten mit  ihrem  Gelde  fertig  sein.  Vorläufig  befindet 
sich  die  gesamte  Armee  in  ununterbrochenem  Rück- 
zug, und  die  Japs  sind  immer  feste  hinterher.  Zu  einer 
Vernichtung  der  Russen,  oder  selbst  nur  Gefangen- 
nahme größerer  Teile  derselben,  haben  sie  es  aber 
auch  diesmal  nicht  gebracht. 

Berlin,  31.  März  1905. 

Ich  habe  immer  ein  Gefühl  der  Beschämung  als 
Europäer,  wenn  ich  mit  diesen  kleinen  gelben  Leu- 
ten zusammenkomme,  die  seit  ihren  Erfolgen  im 
Kriege  auf  uns  alle  mit  souveräner  Verachtung  her- 
absehen. —  Es  scheint  übrigens,  als  ob  die  Russen 
jetzt  Frieden  machen  wollen,  es  heißt,  der  Zar  wäre 

322 


umgefallen,  nachdem  er  eben  erst  aufs  äußerste  krie- 
gerisch und  zum  äußersten  entschlossen  war.  —  Daß 
Japan  geneigt  sein  wird,  unter  billigen  Bedingungen 
Frieden  zu  machen,  glaube  ich  gerne,  es  kann  eigent- 
lich kaum  mehr  erreichen,  als  es  schon  erreicht  hat, 
und  wird  mit  seinen  Geldmitteln  wahrscheinlich  ziem- 
lich fertig  sein. 

Ich  bin  begierig,  wie  der  Besuch  des  Kaisers  in 
Tanger  ablaufen  und  was  für  Resultate  er  zwischen 
Deutschland  und  Frankreich  zeitigen  wird.  Die  Stim- 
mung in  Frankreich  ist  ziemlich  gereizt,  wenn  Ruß- 
land nicht  so  elend  am  Boden  läge,  würde  es  sicher 
mit  Freuden  die  Gelegenheit  als  Casus  belli  ergreifen. 
So  ist  es  freilich  immerhin  etwas  gewagt,  jetzt  mit 
uns  anzubinden,  da  aber  Frankreich  das  Land  der 
Launen  und  Leidenschaften  ist,  kann  man  nie  wis- 
sen, wie  sich  dort  die  Dinge  gestalten. 

Berlin,  12.  April  1905. 

Neugierig  bin  ich,  wie  sich  die  Marokko-Sache  zwi- 
schen Frankreich  und  uns  entwickeln  wird.  Daß  sie 
zu  einem  Säbelziehen  ausarten  wird,  glaube  ich  nicht, 
wenn  auch  von  beiden  Seiten  etwas  geschnaubt  wird. 
—  Ebenso  gespannt  bin  ich  auf  den  Ausgang  des  rus- 
sischen Argonautenzuges,  ich  habe  jedes  Vertrauen 
zu  einem  glücklichen  Ausgang  für  die  Russen  ver- 
loren. Die  dortigen  Verhältnisse  sind  doch,  wenn 
man  Näheres  über  sie  erfährt,  noch  verrotteter,  als 
ich  geglaubt  hätte.  —  Da  sind  mir  unsere  Verhält- 
nisse, soviel  daran  zu  mäkeln  ist,  doch  noch  lieber. 

S.  M.Jacht  »Hohenzollern«,  10.  Juli  1905. 

Ich  habe  eben  dem  Kaiser  meine  Manöveranlage 
für  das  Kaisermanöver  vorgetragen,  mit  der  er  ganz 
einverstanden  war  und  die  er  sehr  hübsch  und  in- 

323 


teressant  fand.  —  Ich  bin  sehr  froh,  daß  alles  gut  ein- 
geleitet ist,  und  habe  die  verwegene  Hoffnung,  daß 
es  gelingen  wird,  einmal  ein  kriegsmäßiges  Manöver 
ohne  gewaltsame  Eingriffe  und  ohne  unnatürliche 
Kavallerieschlachten  usw.  zu  machen.  —  Gelingt  mir 
dies,  so  habe  ich  nicht  umsonst  gelebt.  Übrigens 
würde  ich  keinen  Moment  zögern,  meine  Person  der 
Sache  wegen  einzusetzen,  wenn  es  nötig  werden 
sollte.  Ich  hoffe  aber,  daß  alles  gut  gehen  wird.  Der 
Kaiser  wollte  augenscheinlich  mir  in  allem  entgegen- 
kommen und  war  überaus  gnädig  und  zufrieden.  Da- 
mit ist  mir  eine  Besorgnis,  die  ziemlich  schwer  auf 
mir  lag,  abgenommen,  und  ich  habe  Hoffnung  und 
Vertrauen.  —  Ich  weiß,  daß  wenn  es  mir  gelingt,  den 
Kaiser  von  unmilitärischen  Unnatürlichkeiten  abzu- 
halten, ich  der  Armee  einen  großen  Dienst  erweise, 
und  nicht  bloß  ihr,  sondern  auch  Sr.  Majestät  selber. 
Das  ist  ein  Ziel,  das  wohl  des  Strebens  wert  ist,  und 
neben  dessen  Erreichung  die  Person  des  einzelnen 
nicht  ins  Gewicht  fallen  kann. 

Schweden,  Hernösand,  i8.Juli  1905. 

Die  norwegische  Krise  scheint  sich  dahin  aufzu- 
lösen, daß  Prinz  Karl  von  Dänemark  als  Prätendent 
kandidieren  wird,  da  der  König  von  Schweden  kei- 
nen Prinzen  geben  will.  Damit  würde  der  englische 
Einfluß  in  Norwegen  dominierend  werden,  da  der 
Prinz  ein  Schwiegersohn  König  Eduards  ist.  Ob  die 
Norweger  ihn  wollen,  weiß  ich  nicht,  ich  glaube  aber, 
daß  der  Ehrgeiz  dieses  Volkes  dahin  geht,  einen  eige- 
nen König  zu  haben.  Ein  Wiederzusammenschluß 
mit  Schweden  scheint  mir  ganz  ausgeschlossen.  Auch 
diese  Angelegenheit  ist  ein  Teil  des  großen  Unsiche- 
ren und  Ungewissen,  das  rings  umher  aufsteigt.  Wer 
doch  in  die  Zukunft  sehen  könnte,  und  doch,  man 

324 


würde  sie  vielleicht  ebensowenig  verstehen,  wie  man 
die  Gegenwart  versteht,  die  auch  meistens  erst  klar 
wird,  wenn  sie  Vergangenheit  geworden  ist. 

S.  M.Jacht  »Höh  enzol  lern«,  21.  Juli  1905. 

Der  Kaiser  will  mich  absolut  zum  Chef  des  Ge- 
neralstabs machen,  gleich  nach  dem  Manöver.  Ich 
habe  ihm  geraten,  erst  das  Resultat  des  Manövers  ab- 
zuwarten, um  zu  sehen,  ob  es  überhaupt  mit  uns  bei- 
den ginge.  Ich  werde  meinem  Geschick  wohl  nicht 
mehr  entgehen.  —  Der  Kaiser  wollte  heute,  ich  sollte 
bei  der  Enthüllung  von  Onkel  Helmuths  Denkmal 
diesen  Herbst  die  Rede  halten,  ich  habe  ihm  aber 
gesagt,  daß  er  das  dem  alten  Schlief fen  nicht  antun 
könne,  und  er  ging  dann  auch  darauf  ein,  ihn  noch 
so  lange  in  seiner  Stellung  zu  belassen.  Ich  habe  nur 
zu  tun,  daß  er  ihn  nicht  Hals  über  Kopf  fortschickt, 
was  gegen  den  verdienten  General  sehr  unrecht  wäre. 

Schweden,  Wisby,  26. Juli  1905. 

Wir  kamen  um  7  Uhr  hier  an,  direkt  von  Björkö 
im  Finnischen  Meerbusen,  wo  wir  das  Rendezvous 
mit  dem  Kaiser  von  Rußland  hatten.  —  Wie  wir  aus 
Hernösand  abfuhren,  wußten  wir  nichts  anderes,  als 
daß  wir  nach  Gotland  steuern  sollten.  Wir  waren 
aber,  wie  wir  morgens  erwachten,  auf  offenem  Meer, 
und  merkten  bald,  da  wir  östlich  Kurs  liefen,  daß  wir 
nicht  auf  dem  Wege  nach  Gotland  seien.  Über  das 
Ziel  unserer  Fahrt  wurde  aber  tiefstes  Schweigen  be- 
obachtet. Stunde  um  Stunde  verging,  und  noch  im- 
mer fuhren  wir  mit  achtzehn  Knoten  Geschwindig- 
keit nach  Osten.  Da  wurde  es  uns  allmählich  klar, 
daß  wir  in  den  Finnischen  Meerbusen  fahren  muß- 
ten, sonst  hätten  wir  längst  eine  Küste  erreichen  müs- 
sen. Unsere  Spannung  wuchs  dauernd  im  Laufe  des 

325 


Tages.  Alle  möglichen  Kombinationen  wurden  laut, 
aber  wir  erhielten  keine  Aufklärung.  Es  wurde  Nach- 
mittag, noch  immer  kein  Land  in  Sicht,  und  immer 
der  Kurs  nach  Osten.  —  Plötzlich  kam  ein  Schiff  in 
Sicht,  ein  Kriegsschiff,  das  salutierte,  es  führte  die 
russische  Flagge.  Nun  wurde  unsere  Vermutung  zur 
Gewißheit,  wohin  wir  aber  fuhren,  ahnte  keiner  von 
uns.  Der  Kaiser  war  undurchdringlich  geheimnisvoll. 
Die  Seeoffiziere  hatten  strenge  Order,  keine  Auskunft 
zu  geben.  —  Um  6  Uhr,  wie  wir  alle  im  Salon  saßen 
und  hin  und  her  rieten,  ob  Reval,  ob  Riga,  ob  Kron- 
stadt, kam  der  Kaiser  herein  und  sagte :  »Nun,  Kinder, 
macht  euren  Paradeanzug  in  Ordnung,  in  zwei  Stunden 
steht  ihr  vor  dem  Kaiser  von  Rußland«.  —  Kein  Mensch 
sagte  ein  Wort,  wir  waren  wie  erschlagen,  Totenstille 
im  ganzen  Raum.  Keiner  von  uns  ahnte  die  Motive 
dieses  plötzlichen  und  so  geheimnisvoll  eingeleiteten 
Besuchs,  wir  alle  aber  empfanden  die  ungeheure  po- 
litische Wichtigkeit  der  kommenden  Stunden,  deren 
Folgen  niemand  berechnen  konnte.  —  Um  9  Uhr  lie- 
fen wir  in  eine  Bucht  ein,  flache  einsame  Ufer,  mit 
dürftigen  Tannen  bestanden,  felsige  Höhen  dahinter, 
keine  menschliche  Wohnung,  soweit  das  Auge  reichte, 
kein  lebendes  Wesen,  grauer  Himmel,  graues  Was- 
ser und  eine  unendliche  Einsamkeit.  Vor  uns  im  her- 
absinkenden Dunkel  ein  mächtiges  dunkles  Schiff, 
der  »Polarstern«  mit  dem  Zaren  an  Bord.  Wir  gingen 
in  geringer  Entfernung  von  ihm  vor  Anker,  die  Boote 
wurden  zu  Wasser  gelassen,  und  der  Kaiser  fuhr  hin- 
über. Bald  darauf  wurde  nach  uns  geschickt,  wir  soll- 
ten alle  hinüberkommen.  Wenige  Minuten  später 
standen  wir  auf  dem  Deck  des  »Polarstern«  und  wur- 
den von  dem  Kaiser  dem  Zaren  vorgestellt.  Er  sah 
ernst,  aber  nicht  gebrochen  aus,  wie  er  so  oft  ge- 
schildert worden  ist.  Uns  alle  redete  er  auf  deutsch 

326 


an,  mir  sagte  er:  »Es  ist  mir  eine  große  Freude,  Sie 
wiederzusehen«.  —  Sobald  die  Vorstellung  beendet 
war,  fuhren  wir  wieder  auf  die  »Hohenzollern«,  wo- 
hin kurz  darauf  auch  die  beiden  Monarchen  mit  dem 
russischen  Gefolge  kamen.  Dann  wurde  auf  der 
»Hohenzollern«  diniert.  Ich  war  ganz  erstaunt  über 
den  Zaren.  Je  länger  wir  bei  Tisch  saßen,  desto  mehr 
taute  er  auf,  zuletzt  war  er  ganz  vergnügt,  lachte  und 
unterhielt  sich  lebhaft,  man  merkte  ihm  deutlich  an, 
daß  er  sich  wohl  fühlte  in  einer  Umgebung,  in  der 
er  sicher  war.  Er  sowohl  wie  alle  Herren  seines  Ge- 
folges waren  von  ausgesuchter  Liebenswürdigkeit, 
alle  sprachen  auf  einmal  deutsch,  sie  waren  gar  nicht 
wiederzuerkennen.  Nach  Tische  unterhielt  sich  der 
Zar  lange  mit  jedem  einzelnen  von  uns.  Er  sprach 
ganz  fließend  deutsch,  wann  und  wie  er  das  gelernt 
hat,  ist  mir  ein  Rätsel.  —  Es  war  3  Uhr  nachts,  wie  er 
mit  seinen  Herren  auf  den  »Polarstern«  zurückfuhr. 
Wie  wir  am  nächsten  Morgen  erwachten,  hatten 
sich  um  uns  herum  sechs  bis  acht  russische  Tor- 
pedoboote eingefunden,  die  dauernd  patrouillierten. 
—  Der  Kaiser  fuhr  um  9  Uhr  alleine  auf  den  »Polar- 
stern« zum  Frühstück,  um  11  Uhr  mit  dem  Zaren  auf 
den  Kreuzer  »Berlin«,  unser  Begleitschiff,  und  um 
i  Uhr  waren  wir  alle  zum  Frühstück  auf  den  »Polar- 
stern« befohlen.  Wir  wurden  wiederum  mit  ausge- 
zeichneter Liebenswürdigkeit  empfangen  —  Der  Bru- 
der des  Zaren,  Großfürst  Michael,  hatte  ihn  begleitet, 
sonst  waren  mit  ihm  der  Hof  marschall  Graf  Bencken- 
dorff,  der  General  Frederiks,  der  alte  Leibarzt  Dr. 
Hirsch,  ein  prächtiger  alter  Herr,  Deutschrusse,  sie- 
benundsiebzig Jahre  alt,  aber  ganz  rüstig,  der  Ma- 
rineminister Birilew,  der  Generalgouverneur  von 
Finnland,  Fürst  Obolenski,  und  einige  Flügeladju- 
tanten von  der  Marine.  —  Beim  Frühstück  saß  ich 

327 


neben  dem  Dr.  Hirsch,  der  sich  sehr  offen  aussprach. 
Er  sagte,  es  sei  eine  große  Freude  für  den  Zaren  ge- 
wesen, zu  sehen,  daß  sich  in  seinem  Unglück  noch 
jemand  um  ihn  bekümmere,  und  man  könne  unse- 
rem Kaiser  nicht  dankbar  genug  für  diesen  Freund- 
schaftsbeweis sein.  —  Der  Zar  habe  alle  Unglücks- 
fälle standhaft  und  ruhig  ertragen,  seine  Gesundheit 
sei  gut  und  seine  Nerven  vollkommen  in  Ordnung. 
Mit  großer  Verachtung  sprach  der  alte  Herr  von  der 
Umgebung  seines  Monarchen.  »Sie  können  sich  den- 
ken,« sagte  er,  »daß  es  für  den  Zaren  eine  wahre  Er- 
holung sein  muß,  sich  in  einem  Kreise  anständiger 
Menschen  zu  fühlen.  Sehen  Sie  doch  seine  Umge- 
bung an,  keine  Intelligenz,  alle  unter  Mittelmäßigkeit, 
kein  Herz  und  Gefühl.«  —  Im  Verkehr  zwischen  den 
beiden  Kaisern  herrschte  eine  große  Herzlichkeit,  un- 
ser Kaiser  erzählte  uns  nachher,  der  Zar  sei  ihm,  wie 
sie  alleine  gewesen,  wiederholt  um  den  Hals  gefallen 
und  habe  ihn  umarmt  und  geküßt.  —  Unter  allen  rus- 
sischen Herren  herrschte  eine  unglaubliche  Energie- 
losigkeit in  bezug  auf  den  Krieg.  Keiner  kam  über 
den  Gedanken  hinaus,  daß  man  abwarten  müsse,  was 
die  Japaner  weiter  unternehmen  würden,  keine  Spur 
von  Offensivgeist.  Auf  die  Frage,  ob  die  Russen, 
wenn  die  Armee  nun,  wie  behauptet  wurde,  wieder 
ganz  retabliert  sei,  nicht  die  Japaner  angreifen  und 
werfen  würden,  wurde  erwidert,  das  sei  nicht  mög- 
lich, denn  beide  Heere  hätten  so  feste  Stellungen 
inne,  daß  der  Teil,  der  angreifen  werde,  unfehlbar  ab- 
geschlagen werden  würde.  Was  denn  nun  werden 
solle,  wenn  die  Japaner  auch  ihrerseits  nicht  angrif- 
fen? Dann  würde  der  Krieg  so  lange  dauern,  bis  Ja- 
pan erschöpft  sei.  —  Über  die  innerpolitischen  Ver- 
hältnisse waren  die  Meinungen  im  ganzen  sehr  opti- 
mistisch, Rußland  habe  schon  wiederholt  dergleichen 

328 


Krisen  durchgemacht  und  habe  sie  immer  glücklich 
überwunden,  so  zum  Beispiel  nach  dem  Krimkriege. 
Im  Jahre  1858  seien  die  Verhältnisse  genau  so  gewe- 
sen wie  heute.  Dies  bestätigt  in  der  Tat  ein  Brief  Bis- 
marcks,  den  er  damals  als  Gesandter  von  Petersburg 
aus  an  den  Minister  Schleinitz  schrieb,  und  der  in 
dem  letzten  Heft  der  »Preußischen  Jahrbücher«  mit- 
geteilt wird.  Man  könnte  glauben,  der  Brief  sei  heute 
geschrieben.  Bismarck  ist  schon  damals  der  Ansicht, 
der  Zusammenbruch  Rußlands  sei  unvermeidlich,  er 
hat  sich  geirrt.  —  Heute  ist  allerdings  die  Aufklärung 
mehr  vorgeschritten  und  die  internationale  revolutio- 
näre Propaganda  ist  organisiert,  die  Bomben  spielen 
ihre  Rolle  und  breitere  Schichten  des  Volkes  sind 
von  Freiheitsideen  durchdrungen.  Der  Zar  scheint 
dem  Frieden  zuzuneigen.  Gebe  Gott,  daß  er  bald  zu- 
stande kommt  und  wir  wieder  in  ruhigere  Zeiten  kom- 
men, damit  endlich  die  drohende  Brandfackel  eines 
allgemeinen  europäischen  Mordkrieges  vom  Horizont 
verschwinde.  —  Ich  kann  mir  denken,  wie  die  Zeitun- 
gen diese  neueste  kaiserliche  Überraschung  hin  und 
her  zerren  werden.  Stoff  genug  für  mehrere  Monate 
zu  den  ausschweifendsten  Kombinationen!  Auf  den 
Gedanken  des  rein  menschlichen  Empfindens,  den 
Wunsch,  einem  gedemütigten  und  vom  Unglück  er- 
drückten Monarchen  einen  Beweis  der  Teilnahme  zu 
geben,  ihm  Mut  zuzusprechen,  vielleicht  auch  zum 
Frieden  zuzureden,  ihm  vorzustellen,  wie  nötig  es  für 
Rußland  sei,  Recht  und  Gerechtigkeit  dem  Volk  zu 
geben,  wird  wohl  keiner  der  Zeitungsschreiber  und 
Artikelschmiede  kommen. 

Diesen  Abend  und  den  folgenden  Tag  werde  ich 
nie  vergessen.  Das  Ganze  war  zu  eigenartig,  fast  mär- 
chenhaft. Die  bedeutsame  Begegnung,  die  umgewan- 
delte Stimmung  der  früher  so  hochmütigen  Russen, 

329 


die  graue  Einsamkeit,  die  weltferne  Bucht,  ein  Auf- 
flackern der  Dankbarkeit  bei  dem  Herrscher,  der  vor 
Jahr  und  Tag  das  stolze  Wort  sprach:  »Man  greift 
Rußland  nicht  an,  es  ist  kein  Staat,  dem  man  den 
Krieg  erklärt,  es  ist  ein  Kontinent«  —  und  deT  nun  mit 
suchender  Hand  nach  dem  festen  Stab  Deutschlands 
greift,  —  das  alles  machte  einen  tief  ergreifenden  Ein- 
druck. —  Und  dann  am  Nachmittag  des  zweiten  Ta- 
ges Abschied,  Salut,  Umarmung,  Dank  und  abermals 
Dank,  daß  Du  gekommen!  —  Die  Schiffe  dampfen 
langsam  an,  fahren  eine  Zeitlang  nebeneinander  her, 
die  Kaiser  stehen  auf  Deck,  winken  und  grüßen,  die 
Klänge  der  russischen  Nationalhymne  und  das  »Heil 
Dir  im  Siegeskranz«  mischen  sich,  die  Matrosen  ru- 
fen ihre  Hurras  hinüber  und  herüber,  dann  dreht  der 
»Polarstern«  nach  Norden,  wir  nach  Westen,  noch  ein- 
mal werden  Signale  getauscht:  Glückliche  Reise!  — 
dann  verschwindet  das  mächtige,  dunkle  Zarenschiff 
allmählich  unseren  Augen  und  taucht  in  die  graue, 
neblige  Ferne,  während  wir  dem  offenen  Meere  zu- 
steuern. Die  Entrevue  ist  vorüber  und  vor  uns  steht 
riesengroß  und  dunkel  wie  die  Sphinx  die  Frage: 
Was  wird  die  Folge  dieser  Stunden  sein? 

Wie  anders  ist  diese  Reise,  als  die  Fahrten  in  den 
norwegischen  Fjorden.  Wir  suchen  diesmal  nicht  die 
Stille  der  Gletscherwelt  und  der  hellen  Nächte.  Wir 
fahren  umher  und  drehen  das  Seil  der  Politik,  dessen 
Ende  sich  im  Finstern  der  Zukunft  verliert  und  das 
unser  Vaterland  mit  seinen  sechzig  Millionen  Men- 
schen dem  Unbekannten  entgegenführen  wird.  Gebe 
Gott,  daß  es  zu  seinem  Heil  ist. 

Dan  zig,  30.  Juli  1905. 

Die  Mißstimmung  zwischen  Deutschland  und  Eng- 
land  verschärft   sich    leider   in    einer    bedrohlichen 

330 


"Weise.  Der  von  England  annoncierte  Besuch  der  Ka- 
nalflotte in  der  Ostsee  ist  nicht  anders  als  eine  De- 
monstration aufzufassen.  Wie  diese  Angelegenheiten 
auslaufen  und  sich  entwirren  sollen,  weiß  ich  nicht. 
Es  wird  von  englischer  Seite  in  der  unglaublichsten 
Weise  gehetzt,  die  scheußlichsten  Lügen  werden  in 
die  Welt  gesetzt  und  Deutschland  als  der  böse  Geist 
der  ganzen  Welt  dargestellt.  Der  erste  Schuß,  der  zwi- 
schen England  und  Deutschland  gewechselt  wird, 
wird  sicher  das  Signal  zu  einem  allgemeinen  europäi- 
schen Massaker  werden,  an  dessen  Greuel  man  nur 
mit  Schauder  denken  kann.  Und  dabei  liegt  absolut 
kein  eigentlicher  Grund  vor,  kein  vitales  Interesse 
eines  der  beiden  Staaten  ist  bedroht  oder  verletzt 
und  wenn  es  zum  Schlagen  kommt,  wird  niemand 
wissen,  weswegen  es  so  weit  gekommen  ist.  —  Die 
Zukunft  steht  dunkel  vor  uns.  Möge  Deutschland  die 
Kraft  haben,  auch  schwere  Zeiten  zu  ertragen. 

S.M.Jacht  »Hohenzollern«,  3. August  1905. 

Wie  Du  weißt,  begleitete  ich  den  Kaiser  nach  Bern- 
storff.  Der  alte  König  war  wie  immer  von  einer  rüh- 
renden Liebenswürdigkeit,  er  war  frisch  und  munter, 
von  unverminderter  Elastizität  und  Rüstigkeit.  Außer 
ihm  waren  anwesend  der  Kronprinz,  der  Dich  sehr 
grüßen  läßt,  mit  Frau  und  allen  Kindern.  Unter  diesen 
interessierte  der  Prinz  Karl  am  meisten  wegen  seiner 
Kandidatur  auf  Norwegen  und  seine  Gemahlin  Maud 
von  England.  Er  ist  ein  sehr  gut  aussehender  schlan- 
ker Mensch.  —  Dann  Prinz  Harald,  den  der  Kaiser 
zu  den  Manövern  eingeladen  hat.  —  Der  Prinz  und 
Prinzessin  Waldemar  mit  ihren  fünf  Kindern.  Alle 
Herrschaften  sind  von  ausgesuchter  Liebenswürdig- 
keit. Ich  glaube,  man  findet  auf  der  Welt  keinen  zwei- 
ten Hof  von  gleicher  natürlicher  Menschlichkeit  und 

33i 


Freundlichkeit,  von  einer  so  wohltuenden,  vornehmen 
Atmosphäre.  Kaiser  und  König  waren  gegenseitig 
sehr  befriedigt  voneinander.  Gestern  abend  war  ein 
Diner  bei  unserem  Gesandten  Schön.  Der  Kaiser  war 
in  strahlender  Laune.  Wir  kamen  erst  gegen  12  Uhr 
an  Bord  zurück.  Heute  morgen  10  Uhr  sind  wir  in 
See  gegangen  und  fahren  jetzt  bei  Sonnenschein  und 
stillem  Wetter  durch  den  Sund  nach  Saßnitz. 

Saßnitz,  3.  August  1905. 

Daß  wir  in  ernsten  politischen  Zeiten  leben,  ist  ge- 
wiß. Man  braucht  ja  nicht  gleich  das  Schlimmste  zu 
befürchten,  aber  Zündstoff  genug  ist  da,  darin  hast  Du 
ganz  recht.  —  Das  Schlimmste  für  uns  ist  die  Eifer- 
sucht Englands  auf  unseren  aufstrebenden  Handel 
und  unsere  industrielle  Entwicklung.  Wenn  man  die 
englischen  Zeitungen  einsieht,  erschrickt  man  vor  der 
systematischen  und  gehässigen  Deutschenhetze,  die 
durch  die  Blätter  aller  Parteien  geht.  Die  Presse  ist 
geradezu  blutdürstig  und  möchte  uns  am  liebsten  mit 
Stumpf  und  Stiel  ausrotten,  um  unbeschränkt  die 
Welt  beherrschen  und  ausbeuten  zu  können.  Diese 
Zeitungsschreiber  und  Schreier  richten  viel  Unheil 
an  und  spielen  gewissenlos  mit  dem  Feuer.  Wenn's 
zum  Schlagen  kommt,  brauchen  sie  ihre  Haut  frei- 
lich nicht  zu  Markte  zu  tragen,  bleiben  hübsch  da- 
heim, tauchen  die  Feder  in  Gift  und  Galle  und  lassen 
die  anderen  sich  totschlagen. 

Saßnitz,  5.  August  1905. 

Ich  werde  wohl  erst  am  8.  oder  g.  nach  Berlin  zu- 
rückkommen, da  ich  noch  einen  Tag  nach  Norder- 
ney  muß,  wo  ich  einen  kaiserlichen  Auftrag  an  Bü- 
low  auszurichten  habe. 

332 


Berlin,  9.  August  1995. 

Heute  bin  ich  im  Generalstab  gewesen,  habe  aber 
den  Grafen  Schlief fen  nicht  gesehen,  der  am  heuti- 
gen Morgen  beim  Reiten  im  Tiergarten  von  dem 
Pferde  eines  Bereiters  beim  Vorbeireiten  einen  Schlag 
gegen  das  Schienbein  erhalten  hat,  der  den  Stiefel 
durchschlagen  und  eine  mehrere  Zentimeter  lange 
Wunde  hinterlassen  hat.  Es  ist  ein  Glück,  daß  der 
Knochen  nicht  zerschlagen  ist,  so  daß  die  Sache 
wohl  in  nicht  allzulanger  Zeit  überstanden  sein  wird. 
Der  alte  Herr  mußte  die  Treppe  hinaufgetragen  wer- 
den, da  er  nicht  mehr  gehen  konnte. 

Berlin,  10.  August  1905. 

Die  politische  Situation  scheint  sich  in  letzter  Zeit 
etwas  geklärt  zu  haben.  Der  Versuch,  eine  Zusam- 
menkunft zwischen  König  Eduard  und  dem  Kaiser 
herbeizuführen,  ist  von  englischer  Seite  ausgegan- 
gen. Nachdem  der  unzweifelhaft  gehegte  Plan,  Frank- 
reich in  einen  Konflikt  mit  Deutschland  zu  bringen, 
an  der  Unlust  der  Franzosen  zum  Kriege  gescheitert 
ist,  werden  nun  in  England  die  Friedensschalmeien 
geblasen.  Die  guten  Engländer  hätten  gar  zu  gerne 
als  Tertius  gaudens  im  Trüben  gefischt.  Während 
Deutschland  und  Frankreich  sich  die  Köpfe  einge- 
schlagen, hätten  sie  in  aller  Gemütsruhe  unseren  ge- 
fährlichen Handel  ruiniert,  vielleicht  unsere  kleine 
Flotte  vernichtet  und  unsere  afrikanischen  Kolonien 
eingesteckt,  um  ihren  Plan  eines  neuen  südafrikani- 
schen Weltreichs  unter  britischer  Flagge  zu  verwirk- 
lichen. Die  Sache  war  nicht  übel  ausgedacht  und 
der  gefällige  Gefolgsmann  Englands,  M.  Delcasse, 
war  im  besten  Zuge  sie  zu  verwirklichen,  bis  die 
Franzosen  infolge  des  deutschen  Einspruchs  in  der 

333 


Marokko -Angelegenheit  mit  einemmal  erkannten, 
daß  sie  benutzt  werden  sollten,  den  Engländern  die 
Kastanien  aus  dem  Feuer  zu  holen,  und  daß  sie, 
wenn  die  Sache  schief  ging,  alleine  die  Zeche  zu 
bezahlen  haben  würden.  Mit  dem  Sturz  Delcasses 
fingen  die  schönen  Pläne  an  zu  zerfließen,  denn 
die  Franzosen  wollen  keinen  Krieg,  in  dem  sie  es 
alleine  mit  Deutschland  zu  tun  haben.  Die  russi- 
sche Hilfe,  auf  die  sie  seit  Jahren  gerechnet  haben, 
versagt  wegen  der  russischen  Schwäche.  So  ist  Eng- 
land auf  sich  alleine  angewiesen  und  findet  nun  auf 
einmal,  daß  eigentlich  gar  kein  Grund  vorliegt,  sich 
mit  dem  deutschen  Vetter  zu  zanken!  So  liegen  die 
Sachen,  und  es  ist  das  unbestreitbare  Verdienst  Bü- 
lows,  das  Gewebe,  das  sich  um  Deutschland  spann, 
erkannt  und  mit  kräftigem  Griff  zerrissen  zu  haben. 
Die  Marokko-Sache,  die  bei  uns  vielleicht  kaum  be- 
griffen wurde,  war  die  Staroperation  für  Frankreich. 
Das  deutsche  Volk  ahnt  aber  gar  nicht,  wie  nahe  das 
Verhängnis  über  seinem  Haupte  schwebte. 

Berlin,  u. August  1905. 

Dem  alten  Schlieffen  geht  es  verhältnismäßig  gut. 
Er  muß  aber  noch  längere  Zeit  liegen,  da  der  Bein- 
knochen leicht  angeknaxt  ist.  Zum  Glück  war  das 
Pferd,  das  ihn  schlug,  hinten  nicht  beschlagen,  sonst 
wäre  fraglos  der  Knochen  zersplittert  worden.  Das 
Manöver  wird  er  wohl  nicht  mitmachen  können.  — 
Ich  habe  für  die  Kavallerie-Aufklärungsübung  in 
Preußen  ein  Automobil  gestellt  bekommen.  Für  die 
Manöver  haben  wir  einige  vierzig  Maschinen  zur 
Verfügung,  die  auf  die  Korps  und  Divisionen  verteilt 
werden,  so  daß  wir  mit  ganz  modernen  Hilfsmitteln 
arbeiten  können. 

334 


Berlin,  12.  August  1905. 

Anliegendes  Telegramm*  bekam  ich  heute  vom 
Kaiser.  Du  kannst  aus  demselben  sehen,  daß  ich 
wieder  einmal  etwas  habe  in  die  Reihe  bringen  müs- 
sen, es  ist  aber  nett  von  ihm,  daß  er  mir  Mitteilung 
macht. 

Berlin,  21. August  1905. 

Graf  Schlieffen  ist  nun  auf  die  Chaiselongue 
übergesiedelt,  wie  mir  der  Adjutant  sagt.  Er  läßt 
niemanden  vor,  so  daß  auch  ich  ihn  noch  nicht  ge- 
sehen habe. 

Onkel  Helmuths  Bildsäule  ist  nun  aufgestellt.  Er 
steht  da  in  ein  großes  Laken  gehüllt  wie  in  ein  Sterbe- 
laken. An  der  äußeren  Umgebung  werden  anschei- 
nend allerlei  Allotria  gemacht,  ohne  die  unsere  mo- 
derne Bildnerei  nun  einmal  nicht  mehr  schaffen  kann. 
Die  Figur  selbst  ist  einfach  und  ohne  Brimborium, 
ohne  Genius  der  Kriegskunst  und  sonstige  Götter  ge- 
halten. Das  ist  wenigstens  etwas. 

Mit  den  Friedensverhandlungen  in  Portsmouth 
sieht  es  schlecht  aus.  Die  Russen  wollen  nicht  zah- 
len, weil  sie  nicht  können,  und  Japan  will  absolut 
Münze  haben,  da  es  selber  fast  bankerott  ist.  Ich  glaube 
fast,  es  geht  noch  einmal  wieder  los,  die  Russen  ver- 
stärken ihr  Heer  in  der  Mandschurei  dauernd  und 
schicken  jetzt  wieder  drei  neue  Korps  hinaus,  womit 
sie  ihre  Armee  auf  fünfhunderttausend  Mann  brin- 
gen.—  Das  Manifest  des  Zaren  ist  für  die  Konservati- 
ven zu  viel,  für  die  Freiheitshoffer  zu  wenig.  Immer- 
hin ein  Anfang.  Es  ist  nicht  unmöglich,  daß  sich  die 
einzuberufende  Duma  in  derselben  Weise  mausert, 
wie  dazumal  die  Nationalversammlung  in  Paris.  Eine 

•  Der  Kaiser  dankt  Moltke  für  seine  Bemühungen.     (Der  Herausgeber.) 

335 


feste  Hand  wird  jedenfalls  dazu  gehören,  diesen  rie- 
sigen Staatskörper  zu  leiten,  wenn  er  in  abschüssige 
Bahnen  gerät.  Nicki  wird  sie  wohl  nicht  haben!  — 
Der  freundnachbarliche  Besuch  der  englischen  Flotte 
in  der  Ostsee  steht  uns  bevor.  Hoffentlich  behalten 
wir  kaltes  Blut  von  oben  bis  unten,  zwar  ist  meine 
Hoffnung  darauf  minimal.  Ein  Regierungskommu- 
niqu6,  das  den  Deutschen  Verhaltungsmaßregeln  vor- 
schreibt und  ihnen  wohlanständiges  Benehmen  an- 
empfiehlt, ist  gut  gemeint,  wird  aber  an  der  politi- 
schen und  Bildungsunreife  unseres  Volkes  spurlos 
vorübergehen.  Unsere  leider  so  ganz  ungebildete 
Presse  wird  wohl  Orgien  feiern. 

Berlin,  22.  August  1905. 

Ich  mache  die  Übungen  J.  P.  Müllers  gewissenshaft 
jeden  Morgen,  und  sie  bekommen  mir  ausgezeichnet. 
Dieser  Müller  würde  ein  Segen  für  die  Menschheit 
sein  und  zahllosen  Ärzten  das  Handwerk  legen,  wenn 
er  allgemein  befolgt  würde.  Aber  dazu  sind  die  mei- 
sten Menschen  wieder  zu  bequem,  sie  lassen  es  gehen, 
solange  es  geht,  und  wenn  der  vernachlässigte  Kör- 
per sich  rächt  und  krank  wird,  dann  müssen  Medizin 
und  Bäder  heran,  um  die  Symptome  zu  bekämpfen, 
während  das  Grundübel  unbeachtet  bleibt.  — 

Die  japanisch-russischen  Friedensverhandlungen 
scheinen  sich  endgültig  zu  zerschlagen,  und  bald  wird 
das  Gemetzel  in  der  Mandschurei  wohl  wieder  an- 
fangen. —  In  der  allgemeinen  politischen  Stimmung 
hat  sich  bei  uns  und  um  uns  nichts  geändert.  Alle 
anderen  Nationen  sind  ziemlich  einstimmig  darin,  auf 
Deutschland  zu  schimpfen  und  die  ausgestunkensten 
Lügen  über  uns  in  die  Welt  zu  setzen.  Ich  glaube, 
nichts  würde  eine  so  allgemeine  Weltfreude  zu  er- 
regen imstande  sein,  als  wenn  Deutschland  gehörig 

336 


verhauen  würde.  Alles  behauptet,  daß  wir  der  Stören- 
fried seien,  und  niemand  sieht  ein,  daß  Deutschland 
nichts  weiter  will,  als  in  Ruhe  gelassen  werden. 

Berlin,  25. August  1905. 

Ich  gehe  schon  am  6.  September,  morgens,  nach 
Homburg,  wo  der  Kaiser  am  7.  früh  eintrifft.  Am  8.  ist 
dort  die  Parade  des  XVIII.  Korps.  Am  10.  bin  ich  in  Ko- 
blenz, wo  die  Parade  des  VIII.  Korps  am  11.  ist.  Am 
13.,  14.  und  15.  sind  die  Manöver.  Wahrscheinlich  wird 
sich  die  zweite  Generalstabsreise  unmittelbar  an  das 
beendete  Manöver  anschließen.  Das  hängt  davon  ab, 
ob  Graf  Schlieffen  bis  dahin  wieder  felddienstfähig 
ist,  was  ich  glauben  möchte,  da  er  schon  wieder  auf 
ist  und  im  Stuhl  sitzt.  Gesehen  habe  ich  ihn  noch 
nicht,  er  läßt  außer  seinen  Adjutanten  niemanden  vor. 
—  Am  nächsten  Sonntag  ist  hier  große  Fahnennage- 
lung  im  Zeughaus.  Wir  meinen  noch  immer,  daß  wir 
in  einem  Kampf  auf  Leben  und  Tod  den  Sieg  mit 
einem  Lappen  gestickten  Tuches  erringen  werden! 
Wir  sind  in  einer  schrecklich  friedensmäßigen  An- 
schauung befangen,  es  graut  mich,  wenn  ich  all  die- 
sen Unfug  mit  ansehe,  über  dem  die  Hauptsache,  sich 
ernsthaft  und  mit  bitterlicher  Energie  auf  den  Krieg 
vorzubereiten,  völlig  vergessen  wird.  —  Da  werden 
den  Leuten  bunte  Schnüre  als  Schützenabzeichen  an- 
gehängt, die  sie  nur  in  der  Handhabung  des  Gewehrs 
hindern,  durch  alle  möglichen  äußeren  Auszeichnun- 
gen wird  der  Ehrgeiz  angeregt,  statt  das  Pflichtgefühl 
zu  entwickeln,  die  Uniformen  werden  immer  glän- 
zender, statt  feldmäßig  unscheinbar  gestaltet  zu  wer- 
den, die  Übungen  werden  zu  parademäßigen  Theater- 
stücken, dekorativ  ist  die  Losung  des  Tages,  und  hin- 
ter all  diesem  Firlefanz  grinst  das  Gorgonenhaupt 

Moltke.         22.  337 


des  Krieges  hervor,  der  über  uns  hängt  wie  eine  Wet- 
terwolke. Und  keine  Einsicht  und  keine  Umkehr  auf 
diesem  Wege,  es  wird  nur  immer  schlimmer.  — 

Ich  traf  heute  ...  im  Tiergarten,  der  schrecklich 
nervös  herunter  und  fast  fertig  ist.  Er  klagte,  daß  es 
kaum  mehr  zum  Aushalten  sei.  Ja,  er  hat  viele  Lei- 
densgefährten. Wieviel  guter  Wille  ist  da  bei  so  vielen, 
und  wie  schwer  wird  es  jedem  gemacht,  der  gerne 
sein  bestes  Können  einsetzen  möchte  und  der  nie 
mit  Freuden  Ja  sagen  kann.  Wir  alle  leben  unter  ei- 
nem dumpfen  Druck,  der  die  Schaffensfreude  ertötet, 
und  kaum  jemals  kann  man  etwas  beginnen,  ohne  die 
innere  Stimme  zu  hören:  Wozu,  es  ist  ja  doch  ver- 
gebens. —  Nun  aber  genug  mit  diesem  Jeremiasbrief . 
Das  sind  Wolken,  die  vergehen,  und  die  Sonne  steht 
doch  am  Himmel,  und  sie  ist  der  Glaube  an  die  Zu- 
kunft unseres  Volkes  und  Vaterlandes.  — 

Was  Du  über  die  Notwendigkeit  eines  gesunden 
Seelenlebens  sagst,  ist  gewiß  richtig.  Leider  sind  wir 
äußerst  weit  von  einem  solchen  entfernt.  Der  Lateiner 
hat  das  Sprichwort:  »Mens  sana  in  corpore  sano«, 
das  heißt:  »Ein  gesunder  Geist  in  einem  gesunden 
Körper«.  Wo  beides  zusammentrifft,  ist  das  höchste 
erreicht.  Ich  finde,  wir  sollen  nur  immer  mit  dem 
Körper  anfangen,  und  es  scheint  mir,  daß  Müller  ein 
guter  Wegweiser  dazu  ist. 

Berlin,  31.  August  1905. 

Graf  Schlief fen  kann  noch  immer  nicht  wieder 
gehen.  Er  wird  das  Manöver  nicht  mitmachen.  Es  ist 
ja  gut,  daß  ich  es  in  diesem  Jahr  angelegt  habe.  Ge- 
sehen habe  ich  ihn  noch  immer  nicht.  Die  Abtei- 
lungschefs kommen  nun  mit  allen  Vorträgen  und 
Unterschriftsachen  zu  mir,  so  daß  ich  dauernd  in 
Anspruch  genommen  bin. 

338 


Berlin,  i. September  1905. 

Ich  bin  heute  zum  ersten  Male  bei  Schlieffen  ge- 
wesen. Er  lag  auf  dem  Sofa  und  sah  miserabel  aus. 
Die  Sache  ist  doch  nicht  unbedenklich,  er  hat  gestern 
einen  neuen  Gipsverband  bekommen,  der  vom  Ober- 
schenkel an  das  ganze  Bein  heruntergeht.  Er  klagte 
über  die  Qual  eines  so  festgenagelten  Beines.  —  Seine 
Stimmung  war  ziemlich  deprimiert,  er  sprach  mit 
mir  über  seinen  Abschied,  wollte  gleich  gehen,  ich 
habe  versucht,  ihm  Mut  zuzureden,  und  wie  ich  ihn 
verließ,  schien  er  mir  etwas  getröstet.  Ich  war  fast 
zwei  Stunden  bei  ihm,  und  zuletzt  waren  wir  beide 
sehr  nett  gegeneinander.  Der  alte  Herr  tut  mir  doch 
leid,  er  hängt  mit  allen  Fasern  seines  Denkens  an 
seiner  Stellung,  und  da  muß  es  allerdings  nicht  leicht 
sein,  sie  aufzugeben.  Übrigens  sagte  er  mir,  er  hätte 
sowieso  nicht  mehr  lange  bleiben  können,  denn  seine 
Augen  und  Ohren  würden  zu  schlecht. 

Berlin,  3.  September  1905. 

Du  fragst,  ob  der  Friede  halten  wird?  Das  ist  schwer 
zu  beantworten.  Alle  Vorbedingungen  für  einen  neuen 
Ausbruch  der  Feindseligkeiten  sind  gegeben,  aber  ei- 
nige Jahre  lang  wird  es  wohl  dauern.  —  Die  Teilung 
der  Insel  Sachalin  ist  recht  bedenklich,  ebenso  die 
Teilung  der  Mandschurischen  Bahn,  von  der  von  nun 
ab  jeder  Staat  seinen  Teil  bewachen  soll.  Streitpunkte 
wird  es  viele  geben.  Zum  Wiederausbruch  der  Feind- 
seligkeiten wird  auch  die  Stimmung  in  Japan  drän- 
gen. Das  Land  ist  mit  den  milden  Bedingungen  des 
Friedens  nicht  zufrieden,  es  soll  eine  sehr  tiefgehende 
Mißstimmung  herrschen.  Daß  Japan  in  allen  Forde- 
rungen nachgegeben  hat,  ist  ein  Beweis  dafür,  daß 
es  mit  seinen  Leistungen  dicht  am  Schluß  angekom- 

339 


men  war,  es  konnte  eben  nicht  weiter  kriegen,  wohl 
hauptsächlich  aus  Mangel  an  Geld,  und  ich  glaube, 
ein  taktischer  Erfolg  der  Russen  im  Felde  hätte  ge- 
nügt, um  die  ganze  Situation  umzuwerfen.  Daß  die 
Russen  sich  zu  einer  energischen  Anstrengung  nicht 
aufraffen  konnten,  war  ein  Glück  für  Japan.  Die  hoch- 
mütige Eingebildetheit  der  Russen,  die  jetzt  bereits 
erklären,  sie  hätten  zwar  etwas  Unglück  gehabt,  aber 
geschlagen  wären  sie  nicht,  hat  sich  bei  den  Frie- 
densverhandlungen in  schönstem  Licht  gezeigt,  hat 
aber  diesmal  einen  guten  Erfolg  gehabt,  sie  scheint 
ein  Bluff  für  die  Japaner  gewesen  zu  sein.  —  Welche 
weiteren  Folgen  der  Friedensschluß  in  der  großen 
internationalen  Politik  haben  wird,  ist  wohl  kaum 
schon  jetzt  zu  übersehen.  England  scheint  mir  den 
größten  Nutzen  aus  der  Sache  zu  ziehen.  Wie  ge- 
wöhnlich, wenn  sich  zwei  Völker  die  Köpfe  ein- 
schlagen, hat  es  still  im  Hintergrund  gestanden, 
um  seinen  Vorteil  abzupassen.  Nach  dem  neuen 
Bündnisvertrag  mit  Japan  hat  England  sich  die  Bei- 
hilfe der  Japaner  für  den  Fall  gesichert,  daß  es  in  In- 
dien angegriffen  werden  sollte.  Damit  hat  es  eine  er- 
hebliche Sicherung  für  diese  seine  Achillesferse  er- 
reicht und  würde  mit  vielem  Vergnügen  sehen,  wie 
die  Japaner  sich  für  es  totschießen  lassen,  während 
England  nur  einige  Schiffe  und  einiges  Geld  zu  der 
Sache  beizusteuern  brauchte.  Die  Gegenleistung  soll 
angeblich  in  einer  englischen  Hilfe  bestehen,  wenn 
die  Errungenschaften  Japans  aus  dem  russischen 
Kriege  bedroht  werden  sollten.  Daß  Rußland  das  ein- 
zige Land  ist,  das  dies  unternehmen  könnte,  daß  es 
aber  auf  lange  Jahre  hinaus  dazu  nicht  in  der  Lage 
sein  wird,  wissen  die  Engländer  nur  zu  gut.  —  Es 
wird  also  gute  Weile  haben,  bis  ihr  Teil  des  gemein- 
sam ausgestellten  Wechsels  eingeklagt  werden  wird. 

340 


—  Im  übrigen  kann  man  sich  ja  nur  darüber  freuen, 
daß  der  Krieg  zu  Ende  ist.  —  Ich  glaube  aber,  daß 
die  inneren  Schwierigkeiten  in  Rußland  jetzt  noch 
viel  größer  und  sich  nun  erst  entfalten  werden.  Der 
Krieg,  den  das  Zarentum  gegen  den  Freiheitsdrang 
seiner  Untertanen,  zunächst  gegen  die  Vorläufer 
durchgreifender  Reformen,  die  Räuber-  und  Mörder- 
banden der  Umsturzparteien  zu  führen  haben  wird, 
wird  viel  erbitterter  werden  als  der  Krieg  gegen  die 
Gelben. 

KABINETTSORDER. 

Am  Schluß  der  von  Mir  abgehaltenen  Manöver,  deren  Leitung 
Ich  Ihnen  in  vollem  Vertrauen  zu  Ihren  Fähigkeiten  zum  ersten 
Male  übertragen  habe,  nehme  ich  gerne  Veranlassung,  Ihnen 
Meine  lebhafte  Anerkennung  für  die  kriegsgemäße  Anlage  und 
den  belehrenden  Verlauf  der  Übungen  auszusprechen.  Ich  wün- 
sche Ihnen  Meinen  Dank  hierfür  und  Meine  gnädige  Wohlge- 
neigtheit dadurch  zu  betätigen,  daß  Ich  Ihnen  den  Roten-Adler- 
Orden  i.  Klasse  mit  Eichenlaub  und  der  Königlichen  Krone  ver- 
leihe, dessen  Insignien  Ich  Ihnen  hiermit  zugehen  lasse. 

Koblenz,  den  15.  September  1905. 

Wilhelm  R. 

An  Meinen  Generaladjutanten,  Generalleutnant  v.  Moltke, 
Generalquartiermeister. 

Berlin,  16.  September  1905. 

Ich  habe  mit  den  Manövern  viel  Glück  gehabt.  Sie 
werden  wohl  entscheidend  auf  mein  ferneres  Ge- 
schick einwirken.  Der  Kaiser  hat  alles  getan,  was  ich 
in  der  Sache  verlangen  zu  müssen  glaubte;  er  hat 
nicht  selber  geführt,  obgleich  es  ihm  bitterlich  schwer 
geworden  ist,  er  hat  nicht  gewaltsam  in  den  Gang 
der  Gefechte  eingegriffen,  und  es  ist  jede  Unnatür- 
lichkeit  damit  vermieden  worden.  Ich  habe  manchen 
Strauß  mit  ihm  durchgefochten,  aber  immer  habe  ich 

34i 


in  ihm  den  gleich  gütigen  Herrn  gefunden,  und 
niemals  hat  er  mir  es  nachgetragen,  wenn  ich  ihm 
freimütig  entgegentrat.  Ich  würde  nach  diesen  Er- 
fahrungen beruhigter  der  Zukunft  entgegensehen, 
wenn  ich  nicht  genau  wüßte,  daß  die  Hauptschwie- 
rigkeiten für  mich  erst  beginnen  werden,  wenn  ich 
definitiv  die  Stellung  übernommen  habe,  die  der  Kai- 
ser mir  zugedacht  hat.  Bisher  war  ich  ihm  ein  un- 
sicherer Kantonist,  der  immer  auf  dem  Sprung  stand, 
ihm  auszubrechen,  mit  dem  Amt  aber  wird  mir 
die  Kette  angelegt,  an  der  meine  Überzeugungen 
sich  wundscheuern  und  -zerren  werden,  und  es  ist 
schwer,  eine  Fessel  zu  brechen,  die  man  sich  frei- 
willig hat  anlegen  lassen.  —  Der  Kaiser  hat  mir  ei- 
nen sehr  hohen  Orden  verliehen,  der  mir  ziemlich 
gleichgültig  sein  würde,  aber  er  hat,  entgegen  allem 
Gebrauch,  die  Verleihung  mit  einer  Kabinettsorder 
verbunden. 

Wie  das  Manöver  schloß,  rief  mich  der  Kaiser  her- 
an, gab  mir  die  Hand  und  sagte  mir:  »Es  ist  mir  ein 
Bedürfnis,  Ihnen  zu  danken.  Es  ist  das  keine  Redens- 
art, es  ist  aufrichtig  gemeint.  Ich  habe  noch  nie  so 
interessante  und  so  wirklich  kriegsmäßige  Manöver 
gehabt  wie  diesmal.  Ich  hätte  gerne  in  meiner  Be- 
sprechung Ihnen  diesen  Dank  zum  Ausdruck  ge- 
bracht, aber  ich  fürchtete,  es  würde  Ihnen  nicht  an- 
genehm sein.« 

Ich  sagte  dann  dem  Kaiser:  »Ich  danke  Ew.  Maje- 
stät, daß  Sie  meiner  keine  Erwähnung  getan  haben, 
denn  es  liegt  nichts  an  der  Persönlichkeit.  Wenn  aber 
Ew.  Majestät  sagen,  daß  die  Manöver  kriegsmäßig 
verlaufen  sind,  so  ist  dies  nur  dadurch  ermöglicht 
worden,  daß  Ew.  Majestät  mir  volle  Freiheit  gelas- 
sen, daß  Sie  mich  in  allen  meinen  Ansichten  unter- 

342 


stützt  und  daß  Ew.  Majestät  sich  jeden  Eingriffs  in 
den  Gang  derselben  enthalten  haben.« 

Schweden,  Tulesbo,  28.  September  1905. 

Gestern  war  der  Pastor  loci  hier,  um  M.  zu  besu- 
chen, ein  sehr  angenehmer  Mann,  durchaus  liberal, 
gescheit  und  belesen.  Wir  hatten  ein  langes  reli- 
giöses Gespräch  zusammen  an  M.s  Bett,  und  ich 
freute  mich  über  die  Ansichten,  die  er  entwickelte. 
Er  würde  mit  diesen  bei  uns  wahrscheinlich  längst 
vor  das  Konsistorium  gefordert  worden  sein.  Er  ist 
der  Ansicht,  daß  die  Entwicklung  der  Menschenseele 
nach  dem  Tode  weitergeht,  daß  ein  Zwischenreich 
existiert;  er  meinte,  daß  die  Seele  nach  dem  Tode 
durch  Sympathie  in  Kreise  gezogen  werde,  die  ihr 
gleichgestimmt  seien,  daß  höhere  Geister  sich  der 
Seelen  der  Verstorbenen  annehmen,  sie  belehren  und 
sie  allmählich  von  Sphäre  zu  Sphäre  heben.  Was 
würde  Pastor  H.  zu  diesem  Amtsbruder  sagen!  —  Er 
hat  viel  gelesen,  auch  die  Schriften  der  deutschen 
Theologen,  kannte  alle  die  Alten,  Origines  usw.,  die 
buddhistische  Lehre,  war  sehr  beschlagen  in  allen 
verschiedenen  Religionssystemen  und  hatte  einen 
klaren  Blick  für  alle.  Ich  war  äußerst  erstaunt,  einen 
solchen  Mann  hier  in  der  Einsamkeit  einer  kleinen 
Landpastorenstelle  zu  finden. 

KABINETTSORDER. 

Es  gereicht  Mir  zur  aufrichtigen  Freude,  Sie  hierdurch,  unter 
Belassung  in  dem  Verhältnis  als  Mein  Generaladjutant,  zum  Chef 
des  Generalstabes  der  Armee  zu  ernennen.  Ich  übertrage  Ihnen 
diese  für  die  Armee  so  hochwichtige  Stellung,  da  Ich  zu  Ihrer 
Mir  wohlbekannten  Einsicht,  zu  Ihren  militärischen  Eigenschaf- 
ten und  Kenntnissen,  wie  zu  der  Energie  und  Zuverlässigkeit 
Ihres  Charakters,  das  unbedingte  Vertrauen  habe,  daß  es  Ihnen 

343 


gelingen  wird,  die  vielfachen  und  schwierigen  Aufgaben  des 
Generalstabes,  insonderheit  diejenigen,  welche  Ihnen  als  Chef 
des  Generalstabes  zufallen,  in  einer  für  die  Wohlfahrt  der  Armee, 
wie  des  Vaterlandes  ersprießlichen  Weise  zu  lösen. 

Berlin,  den  i.  Januar  1906. 

Wilhelm  R. 
An  Meinen  Generaladjutanten,  Generalleutnant  v.  Moltke, 
Generalquartiermeister. 

KABINETTSORDER. 

Ich  nehme  gern  Veranlassung,  Ihnen  heute  bei  Beendigung 
der  diesjährigen  großen  Herbstübungen,  die  in  Anlage  und  Ver- 
lauf voll  Meinen  Erwartungen  entsprochen  haben,  einen  erneu- 
ten Beweis  Meiner  Zufriedenheit  und  Meiner  gnädigen  Wert- 
schätzung zu  geben  und  Ihnen  den  beifolgenden  Stern  der  Kom- 
ture des  Königlichen  Haus-Ordens  von  Hohenzollern  zu  ver- 
leihen. 

Liegnitz,  den  13.  September  1906. 

Wilhelm  R. 
An  Meinen  Generaladjutanten,  Generalleutnant  v.  Moltke, 
Chef  des  Generalstabes  der  Armee. 

KABINETTSORDER. 

Ich  habe  Sie  heute  zum  General  der  Infanterie  befördert  und 
gereicht  es  Mir  zum  besonderen  Vergnügen,  Ihnen  dies  hier- 
durch bekanntzumachen. 

Bonn,  den  16.  Oktober  1906. 

Wilhelm  R. 
An  Meinen  Generaladjutanten,  Generalleutnant  v.  Moltke, 
Chef  des  Generalstabes  der  Armee. 

Generalstab  Berlin,  ig.  Mai  1907. 

Du  hast  ja  Verständnis  dafür,  daß  die  Dinge  dieser 
Welt,  für  die  ich  in  meiner  Stellung  so  schwer  ver- 
antwortlich bin  und  möglicherweise  noch  einmal  in 
allerernstester  Weise  werde  aufkommen  müssen,  mir 
zurzeit  noch  näher  liegen  als  Dein  Streben.  —  Ich 
habe  immer  das  Bewußtsein,  daß  ich  mein  Leben 

344 


nicht  so  einrichten  darf,  wie  ich  es  vielleicht  tun 
würde,  wenn  ich  nur  für  mich  lebte,  ich  muß  mein 
eigenes  Interesse  hierin  zurückstellen  und  so  leben 
und  arbeiten,  wie  es  meine  Stellung  erfordert.  —  Da 
ich  nun  einmal  auf  diesen  Posten  gestellt  bin,  muß 
ich  seine  Forderungen  über  alles  stellen,  das  weißt 
Du  ja  auch. 

Generalstab  Berlin,  24.  Mai  1907. 

Der  Kaiser  hat  mich  am  20.  Mai  gelegentlich  des 
Schrippenfestes  ä  la  suite  des  Alexander-Regiments 
gestellt,  was  mir  eine  große  Freude  gewesen  ist,  da 
ich  nun  wieder  dem  Regiment  angehöre  und  seine 
Uniform  tragen  kann.  Bei  der  Parade  am  i.Juli  werde 
ich  das  Regiment  vorbeiführen  können. 

Freiburg  i. B.,  17. Juni  1907. 

Meine  Stute  ist  in  Müllheim  stehen  geblieben,  der 
Tierarzt  ist  der  Ansicht,  daß  sie  vor  acht  bis  vier- 
zehn Tagen  nicht  transportfähig  sein  wird.  Der  große 
Fuchs  ist  heute  mit  den  Handpferden  hierhermar- 
schiert.  Wie  er  ankam,  war  er  stocklahm,  wurde  un- 
tersucht, und  es  fand  sich,  daß  er  sich  einen  finger- 
langen Nagel  in  den  Huf  getreten  hatte.  Zwei  Tier- 
ärzte habe  ich  also  in  Tätigkeit  und  zwei  kaputte 
Pferde.  Es  ist  mein  altes  Pferdepech,  das  ich  trotz 
bestem  Willen  nicht  ableugnen  kann,  wenn  Du  mich 
auch  als  Pessimisten  bezeichnest. 

Generalstab  Berlin,  i.Juli  1907. 

Diese  Nordlandsreise  liegt  mir  etwas  auf  dem  Ma- 
gen, ich  werde  mich  nicht  so  leicht  mehr  in  den  mir 
schon  ungewohnt  gewordenen  Lokalton  derselben 
hineinfinden,  außerdem  habe  ich  ein  schlechtes  Ge- 
wissen, wenn  ich  an  die  kostbare  Zeit  denke,  die  ich 

345 


zu  vertrödeln  gezwungen  sein  werde.  Indessen  auch 
dies  ist  ja  Dienst  fürs  Vaterland. 

Norwegen,  Bergen,  7.  Juli  1907. 

Der  Kaiser  ist  sehr  munter  und  sehr  liebenswürdig. 
Die  politischen  Aussichten  scheinen  auch  besser  zu 
sein  als  das  Wetter.  Die  sehr  freundschaftlich  ge- 
haltene Einladung  Onkel  Eduards  bedeutet  fraglos 
einen  Wendepunkt  in  der  englischen  Richtung  ge- 
gen uns.  Was  diesen  Wandel  veranlaßt  hat,  ist  mir 
noch  nicht  ganz  klar,  ob  es  die  Verhältnisse  in  Frank- 
reich sind,  ob  diejenigen  in  Indien  oder  ein  Wider- 
stand der  Regierung  in  London,  weiß  ich  nicht.  Ir- 
gendein gewichtiger  Grund  muß  aber  vorliegen,  je- 
denfalls ist  diese  Einladung  ein  Symptom.  Ich  glaube 
daher,  daß  die  nächsten  Wochen  ruhig  verlaufen 
werden.  — 

Es  ist  Sonntag  heute,  und  wir  haben  den  Gottes- 
dienst mit  der  obligaten  Verfluchung  aus  dem  Alten 
Testament  eingeleitet  und  dann  zum  Trost  eine  Pre- 
digt über  den  Glauben  gehört  unter  Zugrundelegung 
des  Wortes:  »Wer  da  glaubt,  wird  selig,  wer  aber 
nicht  glaubet,  wird  verdammt  werden.«  —  Der  Verfas- 
ser der  Predigt  wies  nach,  wie  man  sich  selber  den 
Glauben  nicht  geben  könne,  also  im  Grunde  die  aus- 
gesprochenste Prädestinationslehre,  daß  nämlich  Gott 
nur  gewissen  Menschen  den  Glauben  und  damit  die 
Seligkeit  gibt,  während  die  andern,  mögen  sie  sich 
quälen  soviel  sie  wollen,  verloren  bleiben,  eine  der 
barbarischsten  und  trostlosesten  Lehren,  die  es  gibt. 
Ich  habe  mal  wieder  einen  wahren  Horror  vor  dieser 
Art  Religion  bekommen,  und  möchte  nur  wissen,  was 
die  armen  Matrosen  sich  bei  der  Auseinandersetzung 
gedacht  haben  —  wenn  sie  überhaupt  etwas  gedacht 
haben! — 

346 


Ich  muß  mich  allmählich  erst  wieder  in  dies  Leben 
hineinfinden,  dessen  ich  mich  schon  so  ziemlich  ent- 
wöhnt hatte,  es  ist  aber  doch  ganz  gut,  daß  ich  die 
Reise  mitmache,  aus  mancherlei  Gründen,  als  Ver- 
gnügungssache fasse  ich  sie  ja  auch  nicht  auf,  es  ist 
eben  Dienst  wie  jeder  andere,  und  dem  Kaiser  ist  es, 
glaube  ich,  auch  lieb,  daß  ich  mit  bin,  da  er  sich  mir 
gegenüber  sehr  offen  ausspricht,  was  ihm  ein  Be- 
dürfnis ist. 

Norwegen,  Bergen,  9.  Juli  1907. 

Morgens  waren  wir  mit  dem  Kaiser  an  Land  und 
machten  den  programmäßigen  Besuch  bei  der  Witwe 
des  alten  Schiffskapitäns,  die  in  einem  kleinen  Häus- 
chen auf  dem  äußersten  Klint  vorm  Hafen  wohnt, 
und  die  wir  nun  seit  zehn  Jahren  immer  besuchen. 
Der  alte  Mann  ist  vor  drei  Jahren  gestorben.  Seine 
Witwe  lebt  mit  ihrer  Schwester  und  zwei  bereits  ält- 
lichen Töchtern  dort  oben.  Ihr  Bruder  ist  Schirm- 
fabrikant in  Bergen,  die  eine  Tochter  Ladenmamsell. 
Der  Kaiser  sitzt  alle  Jahre  auf  demselben  Stuhl,  ich 
auf  demselben  Puff  und  alle  Jahre  wird  dieselbe 
Konversation  gemacht.  Es  gibt  ein  Glas  selbstgemach- 
ten Johannisbeerwein  und  selbstgebackenen  Kuchen, 
die  alten  Damen  reden  wie  Wasserfälle  und  ich  muß 
den  Dolmetsch  machen. 

Norwegen,  Victoriahavn,  17.  Juli  1907. 

Ich  weiß  nicht  mehr,  ob  ich  Dir  schon  schrieb,  daß 
ich  am  1.  August  mittags  in  Swinemünde  entlassen 
werde,  also  am  1.  abends  in  Berlin  zurück  sein 
werde. 

Ich  sehne  diesen  Tag  herbei.  Unter  diesen  klima- 
tischen Verhältnissen  ist  die  Reise  einfach  eine  Pö- 
nitenz,  auch  gewöhne  ich  mich  nicht  mehr  in  den 

347 


auf  den  Kalauer  gestimmten  Grundton  unseres  Krei- 
ses und  vermisse  meine  ernste  Arbeit.  So  friere  ich 
innerlich  und  äußerlich.  Ich  vertrage  die  Sache  aber 
von  dem  Standpunkt  der  Pflichterfüllung,  und  meine 
Gesundheit  hat  nicht  gelitten.  Gottlob,  daß  ich  kein 
Karlsbad  oder  dergleichen  gebrauche. 

Generalstab  Berlin,  4.August  1907. 

Wie  ich  eben  das  Datum  schrieb,  fiel  mir  ein,  daß 
eine  gewisse  Ähnlichkeit  mit  dem  heutigen  4.  Au- 
gust 07  und  demselben  Tag  vor  siebenunddreißig 
Jahren,  4.  August  70,  ist,  nur  die  beiden  letzten  Zif- 
fern sind  umgestellt.  Am  4.  August  1870  hatte  ich 
mein  erstes  Gefecht,  bei  Weißenburg.  Wie  lange  das 
her  ist  und  wie  deutlich  doch  alles  vor  mir  steht.  — 

Die  Entrevue  zwischen  dem  Kaiser  und  Zaren 
scheint  programmäßig  zu  verlaufen.  Natürlich  knüp- 
fen sich  an  sie  die  abenteuerlichsten  Kombinationen 
in  der  Presse.  Sie  ist  meiner  Meinung  nach  von  kei- 
ner erheblichen  politischen  Bedeutung.  Die  Interes- 
sen der  Länder  werden  nicht  durch  die  Zusammen- 
künfte von  Monarchen  bestimmt,  sie  gehen  ihren  ei- 
genen Gang  und  führen  konsequent  und  unerbittlich 
zu  Kollisionen  oder  zu  Verständigungen.  —  Zurzeit 
sieht  die  Weltlage,  soviel  ich  es  beurteilen  kann, 
nicht  bedrohlich  aus.  Unser  westlicher  Nachbar  hat 
zuviel  im  eigenen  Hause  zu  tun,  um  aggressive  Poli- 
tik zu  machen,  und  England  scheint  sich  allmählich 
in  seinen  weit  gespannten  Koalitionen  selber  zu  ver- 
stricken. —  Solange  wir  ruhig  und  stark  bleiben,  brau- 
chen wir  nichts  zu  fürchten,  beides  ist  allerdings  nö- 
tig, besonders  das  letztere.  Ein  schwaches  Deutsch- 
land wäre  die  größte  Gefahr  für  den  europäischen 
Frieden. 

348 


KABINETTSORDER. 

Ich  verleihe  Ihnen  in  dankbarer  Anerkennung  Ihrer  unaus- 
gesetzten und  erfolgreichen  Bemühungen  um  die  kriegsgemäße 
und  lehrreiche  Anlage  und  Leitung  der  in  diesem  Jahre  von  Mir 
abgehaltenen  großen  Manöver  das  Großkreuz  des  Roten- Adler- 
Ordens  mit  Eichenlaub  und  der  Königlichen  Krone,  dessen  In- 
signien  Ihnen  beifolgend  zugehen. 

Wilhelmshöhe,  den  u.  September  1907. 

Wilhelm  R. 
An  Meinen  Generaladjutanten,  General  der  Infanterie  v.  Moltke, 
Chef  des  Generalstabes  der  Armee. 

Norwegen,  Odde  ,  14.  Juli  1908. 
Daß  Du  die  Freude  haben  wirst,  in  Bayreuth  Dich 
in  die  reine  Atmosphäre  der  Kunst  zurückzuziehen, 
gönne  ich  Dir  von  ganzem  Herzen.  Es  gibt  so  we- 
niges, an  dem  Du  wirklich  Freude  hast.  Die  Stim- 
mung an  Bord  ist  eine  gute,  nicht  so  blödsinnig  al- 
bern wie  sonst  wohl.  Der  Ernst  der  Weltlage  macht 
sich  auch  in  unserer  Gesellschaft  unbewußt  geltend. 
Auch  die  Allerhöchste  Stimmung  gefällt  mir  recht 
wohl. 

Norwegen,  Bergen,  18. Juli  1908. 

Wenn  ich  nicht  auf  allen  Deinen  Wegen  mitgehe, 
so  liegt  es  daran,  daß  ich  eben  einen  sehr  realen  Be- 
ruf habe  und  mit  beiden  Beinen  auf  dieser  Erde  stehen 
muß,  solange  ich  ihm  gerecht  werden  will.  Das  weißt 
Du  ja  auch  und  hast  Verständnis  dafür. 

Generalstab  Berlin,  12. September  1908. 
Die  Manöver  sind  gut  verlaufen,  wir  haben  vier 
Tage  lang  gutes  Wetter  gehabt,  was  bei  dem  schwe- 
ren lothringischen  Boden,  der  bei  Nässe  unergründ- 
lich wird,  fast  eine  Notwendigkeit  ist,  um  dort  zu  ma- 
növrieren. Alles  ist  nach  Wunsch  gegangen,  und  die 
Manöver  haben,  glaube  ich,  allgemein  befriedigt.  Der 

349 


Kaiser  war  guter  Laune  und  enthielt  sich  jeden  Ein- 
greifens. Der  Erzherzog  Franz  Ferdinand,  der  nach 
dem  Tode  des  alten  Kaisers  den  österreichischen 
Thron  besteigen  wird,  hat  mir  sehr  gut  gefallen.  Er 
hat  wiederholt  und  lange  mit  mir  gesprochen,  ist  ein 
kluger  und  scharfblickender  Herr,  der  augenschein- 
lich weiß,  was  er  will.  —  Die  lothringische  Bevölke- 
rung war  sehr  enthusiasmiert,  wo  sie  den  Kaiser  zu 
sehen  bekam.  —  Die  Truppen  waren  hervorragend 
gut.  Die  Gefechtsausbildung  tadellos,  alles  ordentlich 
und  von  großer  Ruhe.  Dabei  gutes  Ertragen  der  zum 
Teil  enormen  Marschleistungen.  Die  militärischen 
Eisenbahntransporte  verliefen  ohne  Störung,  die  Ei- 
senbahnabteilung des  Generalstabes  bewährte  sich 
vorzüglich.  In  seiner  Schlußbesprechung  erteilte  der 
Kaiser  beiden  Korps  das  größte  Lob.  —  Nun  weißt 
Du  wohl  genug  von  den  Manövern. 

Moltkes  Bitte  um  Enthebung  von  der  Stellung  als 
Chef  des  Generalstabes.* 

Berlin,  25. Februar  1909. 

Am  25.  hatte  ich  Vortrag  bei  Sr.  Majestät  im  Neuen 
Palais.  Ich  bat  Se.  Majestät  um  eine  Aussprache  un- 

•  Ende  Februar  1909  richtete  der  Kaiser  ein  Schreiben  an  Moltke,  in  dem  er  sich 
mit  Nachdruck  dagegen  wandte,  daß  jüngere,  zum  Generalstab  kommandierte  Offi- 
ziere ein  Thema  aus  dem  Zweifrontenkrieg  als  Schlußprüfungsaufgabe  zu  bearbeiten 
hätten.  Der  Kaiser  befürchtete,  daß  durch  eine  solche  Aufgabenstellung  wichtigste 
militärische  Geheimnisse  preisgegeben  würden.  Zudem  seien  Aufgaben  dieses  Um- 
fanges  nur  für  Armeeführer  und  Generalstabschefs  zur  Durcharbeitung  geeignet,  keines- 
falls für  jüngere  Offiziere.  Der  Brief  des  Kaisers  schließt  mit  dem  Ersuchen,  in  Zu- 
kunft möge  weiter  aus  dem  bewährten  Rahmen  eines  begrenzten  Themas,  das  den 
Herren  näher  läge  und  keine  Rückschlüsse  auf  Absichten  im  Ernstfalle  zulasse,  eine 
Auswahl  für  die  Arbeiten  getroffen  werden. 

Für  Moltke  war  diese  Angelegenheit  eine  Prinzipienfrage.  Moltke  hatte  das  in  Frage 
stehende  Thema  deshalb  gewählt,  um  gerade  auch  den  Nachwuchs  des  Generalstabes 
frühzeitig  mit  solchen  Gedankengängen  vertraut  zu  machen,  von  denen  Moltke  an- 
nehmen mußte,  daß  sie  im  Falle  eines  Krieges  an  zahlreiche  Generalstabsoffiziere  heran- 
treten würden.  Er  hielt  es  für  notwendig,  daß  auch  diese  jüngeren  Generalstabsoffi- 
ziere über  den  Rahmen  eines  begrenzten  Themas  hinaus  Gelegenheit  bekämen,  sich  über 
solche  Lagen  ein  Urteil  zu  bilden,  die  im  Ernstfalle  mutmaßlich  eintreten  würden. 

Dieser  prinzipielle  Standpunkt  war  es,  der  Moltke  dazu  bewog,  auf  das  Schreiben 
des  Kaisers  hin  die  Enthebung  aus  seiner  Stellung  zu  erbitten.    (Der  Herausgeber.) 

350 


ter  vier  Augen,  die  Se.  Majestät  mir  sofort  gewährten. 
Ich  sagte  Sr.  Majestät,  daß  in  dem  Allerhöchsten 
Schreiben  ein  Vorwurf  für  mich  enthalten  sei,  wie  er 
schwerer  nicht  erhoben  werden  könnte,  der  Vorwurf 
der  Indiskretion  und  Preisgabe  von  geheimen  Din- 
gen und  fügte  hinzu,  daß  Se.  Majestät,  da  Allerhöchst- 
derselbe  mit  der  Leitung  der  Ausbildung  nicht  ein- 
verstanden seien  und  mir  diesen  Vorwurf  machten, 
wohl  nichts  anderes  von  mir  erwarten  könnten,  als 
daß  ich  um  Enthebung  von  meiner  Stellung  als  Chef 
des  Generalstabes  bitte. 

Nachdem  Se.  Majestät  darauf  erklärten,  daß  ihm 
nichts  ferner  gelegen  habe  als  ein  Vorwurf,  daß  ich 
seine  Worte  falsch  aufgefaßt  hätte  und  daß  er  mit 
meiner  Leitung  vollkommen  einverstanden  sei,  daß 
von  meinem  Fortgang  keine  Rede  sein  könne,  er- 
klärte ich,  daß  ich  »in  Anbetracht  der  kritischen  poli- 
tischen Lage  nach  dieser  Erklärung  Sr.  Majestät  mein 
Amt  weiterführen  werde.« 

Kiel,  8.  Juli  1909. 

Wenn  dieser  Brief  in  Deine  Hände  gelangt,  wird 
wohl  schon  alles  erledigt  sein,  und  Du  wirst  dann 
klüger  sein,  als  ich  es  jetzt  bin,  denn  ich  weiß  bis 
jetzt  noch  nicht,  wer  Reichskanzler  werden  soll.  Ich 
bedauere  es  aufrichtig,  daß  Bülow  fortgeht.  Er  hat 
trotz  aller  Schwächen  und  Fehler  doch  seine  großen 
Verdienste,  und  es  ist  sehr  die  Frage,  ob  er  durch  ei- 
nen besseren  Mann  ersetzt  werden  wird. 

T.,  unser  Gesandter  in  Christiania,  ist  der  einzige, 
mit  dem  man  über  ein  ernsthaftes  Thema  sprechen 
kann.  Der  Kaiser  ist  wohlauf  und  guter  Dinge.  Man 
sollte  nicht  glauben,  daß  wir  vor  einer  Entscheidung 
stehen,  die  denn  doch  von  einiger  Wichtigkeit  für 
das   Reich   ist.    Wahrscheinlich    am    Sonntag    oder 

35i 


Montag  wird  er  nach  Berlin  gehen,  um  Bülow  zu 
verabschieden,  und  den  Nachfolger  zu  ernennen, 
dann  solls  nach  Norwegen  gehen. 

Kiel,  16.  Juli  1909. 

Ich  traf  auf  der  Bahn  Bülow-Botkamp,  der  eben 
von  einer  Mutung  auf  Petroleum  in  Hannover  zu- 
rückkam. Er  sagte,  er  hätte  große  Petroleumquellen 
mit  der  Wünschelrute  festgestellt,  es  soll  nun  gebohrt 
werden.  Er  kann  nun  mit  der  eisernen  Rute  Petro- 
leum feststellen,  mit  der  Holzrute  Wasser.  Es  muß 
sich  bald  zeigen,  ob  er  richtig  gemutet  hat. 

Karlsruhe,  September  1909. 

Die  Tage  in  Österreich  waren  sehr  hübsch.  Herr- 
liches Wetter,  interessante  Manöver.  Ich  bin  äußerst 
kameradschaftlich  aufgenommen  und  man  hat  mir 
alles  gezeigt,  was  ich  sehen  wollte.  Der  alte  Kaiser 
war  rührend  gütig.  Ich  traf  T.,  der  bei  einem  Divi- 
sionsstabe kommandiert  war.  Ich  war  an  dem  Tage 
dreizehn  Stunden  unterwegs,  teils  zu  Pferde,  teils  per 
Auto,  kam  zu  spät  zur  Hoftafel,  wo  ich  dem  Kaiser 
Franz  Joseph  gegenüber  plaziert  war.  Er  freute  sich, 
daß  ich  soviel  Interesse  für  die  Manöver  zeige.  Es 
geht  mir  ausgezeichnet. 

KABINETTSORDER. 

Die  von  Ihnen  wohl  vorbereitete  Anlage  der  diesjährigen  gros- 
sen Herbstübungen  und  ihr  besonders  lehrreicher  Verlauf  haben 
Meinen  Erwartungen  durchaus  entsprochen.  Ich  freue  Mich  des- 
halb, Sie  heute  bei  Beendigung  der  Manöver  Meiner  im  hohen 
Maße  verdienten  Anerkennung  und  Meines  Königlichen  Dankes 
versichern  zu  können.  Als  ein  Zeichen  dieses  Dankes  verleihe 

352 


Ich  Ihnen  Meinen  hohen  Orden  vom  Schwarzen  Adler,  dessen 
Insignien  Ihnen  beifolgend  zugehen. 

Mergentheim,  den  17.  September  1909. 

Wilhelm  R. 

An  Meinen  Generaladjutanten,  General  der  Infanterie  v.  Moltke, 
Chef  des  Generalstabes  der  Armee. 

Frankfurt  a.  M.,  ig.  September  1909. 

Meine  Manöver  sind  gut  verlaufen,  ich  bin  im  all- 
gemeinen zufrieden.  Mit  Sr.  Majestät  bin  ich  gut  aus- 
gekommen, habe  mich  ab  und  zu  schwer  geärgert, 
aber  auch  das  ging.  Er  war  sehr  zufrieden,  hat  mir, 
wie  Du  wohl  gelesen  hast,  den  Schwarzen-Adler- 
Orden  verliehen.  Ich  habe  mich  förmlich  geschämt. 
Onkel  Helmuth  gebrauchte  einen  siegreichen  Feld- 
zug dazu,  um  diese  höchste  preußische  Auszeich- 
nung zu  erringen.  Wir  Epigonen  machen  das  mit  drei 
Manövertagen  ab!!! 

Gesundheitlich  geht  es  mir  ausgezeichnet.  Man  hat 
mir  viel  Komplimente  über  das  Manöver  gemacht, 
indessen  gebe  ich  nicht  viel  darauf.  Die  Beurteilung 
der  Presse  habe  ich  noch  nicht  erfahren.  Mein 
Freund  G.  wird  bei  mir  wohl  wieder  den  Gipfel  des 
Idiotismus  festgestellt  haben.  —  Der  Erzherzog  Franz 
Ferdinand,  der  österreichische  Thronfolger,  war  ganz 
begeistert,  was  er  mir  einmal  über  das  andere  sagte, 
besonders  freute  es  mich,  daß  mein  österreichischer 
Kollege,  General  Conrad  von  Hötzendorff,  sehr  zu- 
frieden war.  Über  den  Kaiser  habe  ich  mehrmals  Ge- 
legenheit gehabt,  mich  aufrichtig  zu  freuen.  Er  tat 
das,  was  ich  ihm  sagte,  und  besonders  in  der  Schluß- 
besprechung sagte  er  genau  das,  was  ich  ihm  vor- 
getragen hatte,  blieb  durchaus  sachlich  und  hielt  die 
beste  Kritik  ab,  die  ich  je  von  ihm  gehört  habe,  so 
daß  alles  ganz  entzückt  war.  —  Ich  lege  den  reichen 

Moltke.        23.  353 


Ordenssegen,  der  sich  von  allen  Seiten  über  mich  er- 
gossen hat,  zu  dem  übrigen  —  in  der  zweiten  Schub- 
lade meiner  Kommode! 

Rede  Moltkes  bei  der  Enthüllung  der  Moltke-Büste 
in  der  Walhalla  am  10.  Mai  igio. 

Voll  Dankbarkeit,  daß  die  Gnade  Sr.  Königlichen 
Hoheit  des  Prinzregenten  es  uns  gestattet  hat,  an  der 
erhebenden  Feier  des  heutigen  Tages  teilzunehmen, 
und  tief  bewegt  in  der  Erinnerung  an  unseren  großen 
Schöpfer  und  einstigen  Chef,  sind  wir,  die  Vertreter 
des  Generalstabes,  in  diesen  weihevollen  Raum  ein- 
getreten, der  eindringlicher  als  Worte  es  vermöchten, 
von  deutscher  Geisteskraft  und  Größe  zu  uns  spricht. 

Das,  was  die  Männer  geschaffen  haben,  deren  Na- 
men dieser  stolze  Bau  geweiht  ist,  das  haben  sie  uns, 
den  jetzt  Lebenden,  als  heiliges  Vermächtnis  hinter- 
lassen, uns  liegt  es  ob,  das  schwer  Errungene  treu 
zu  wahren.  In  Ehrfurcht  und  Bewunderung  blicken 
wir  zu  ihnen  auf  und  unverrückbar  steht  vor  unse- 
rem Geist  das  Beispiel  und  die  Lehre,  die  sie  uns 
gegeben. 

Mit  dem  Generalstab,  in  dem  wie  in  keiner  anderen 
militärischen  Organisation  die  Angehörigen  aller 
deutschen  Kontingente  vereinigt  sind,  feiert  das  ge- 
samte deutsche  Heer  und  in  ihm  das  deutsche  Volk 
das  Andenken  seines  unsterblichen  Führers  und  Leh- 
rers, des  Feldmarschalls  Grafen  Moltke. 

Mit  vollem  Recht  hat  ihn  der  Herr  Kriegsminister 
eine  Nationalgestalt  genannt.  Unberührt  von  der  Par- 
teien Haß  und  Gunst  steht  sein  Bild  in  reiner  Größe 
vor  den  Augen  der  Nation,  das  Bild  eines  Mannes, 
gleich  bewundernswert  als  Feldherr  wie  als  Mensch, 
ein  Vorbild  jedem  Strebenden  und  Kämpfenden,  sei 

354 


er  Soldat  oder  Bürger.  War  er  doch  selber  ein  Kämp- 
fer sein  Leben  lang,  der  Tapfersten  und  der  Edelsten 
einer,  die  je  gerungen  und  gestritten  haben.  Als  Sieb- 
zigjähriger führte  er  den  Kampf,  der  den  tausendjäh- 
rigen Traum  der  Deutschen  zur  Wirklichkeit  machte, 
als  Siebzehnjähriger  mußte  er  den  Kampf  mit  dem 
Leben  aufnehmen,  das  ihn  vor  Mangel  und  Entbeh- 
rungen stellte.  In  harter  Schule  stählte  er  den  Charak- 
ter, lernte  er  die  Entsagung,  die  Selbstzucht  und  die 
Verachtung  alles  äußeren  Scheins,  lernte  er  das  Le- 
ben zu  besiegen  und  zu  beherrschen,  dessen  wech- 
selnde Erscheinungen  sein  klarer  und  durchdringen- 
der Verstand  nach  ihrem  Wert  und  Unwert  sonderte, 
errang  er  sich  die  Fähigkeit,  das  Vielseitige  und 
Widersprechende  unter  wenige,  einheitliche  Gesichts- 
punkte einzuordnen.  In  dieser  kristallklaren  Erkennt- 
nis der  Dinge  und  Verhältnisse  liegt  die  nur  dem 
Genie  erreichbare  Größe  seines  Feldherrntums. 

Und  dieser  Mann,  der  still  und  bescheiden  den 
Ruhm  trug,  den  die  bewundernde  Welt  seinen  Taten 
zollte,  blieb  sich  selber  treu  bis  zum  letzten  Atem- 
zuge. Die  Pflicht  war  die  Richtschnur  seines  langen 
Lebens,  seine  Begleiterin  die  Arbeit,  sein  Wesens- 
kern die  Treue.  Nie  suchte  er  eigenen  Vorteil,  stets 
ordnete  er  seine  Person  der  Sache  unter,  der  er  diente. 
Seinem  König,  seinem  Volk,  dem  Heer,  dem  er  an- 
gehörte, galt  sein  Mühen  und  Sorgen,  sein  Schaffen 
und  Arbeiten. 

Das  sind  die  idealen  Güter,  die  er  uns  hinterlassen 
hat,  der  von  den  Strahlen  seines  Genius  erhellte 
Weg,  den  er  uns  vorgezeichnet  hat.  Diese  Güter  zu 
wahren,  auf  diesem  Wege  ihm  nachzustreben,  bleibt 
unsere  ernste  Aufgabe. 

Dem  Andenken  unseres  großen  Chefs  weihen  wir 
diesen  Kranz,  den  ich  namens  des  Generalstabes  zu 

355 


Füßen  seiner  Büste  niederlege,  und  mit  ihm  bringen 
wir  dar  die  nie  verlöschenden  Gefühle  unserer  Liebe 
und  unserer  Dankbarkeit. 

Plön,  19.  Juni  1910. 

Seit  gestern  sind  wir  hier  auf  diesem  schönen  Fleck 
Erde.  Ich  bekomme  freilich  wenig  davon  zu  sehen, 
da  ich  gestern  und  heute  den  ganzen  Tag  nicht  vom 
Schreibtisch  fortkomme.  Ich  habe  schon  zwei  Be- 
sprechungen der  bisher  stattgehabten  Operationen 
abgehalten,  was  immer  eine  tüchtige  Arbeit  ist,  da 
ich  alles  im  Kopf  haben,  wiedergeben  und  beurteilen 
muß.  Gestern  abend  die  zweite,  zu  der  uns  der  große 
Saal  des  hiesigen  Kadettenhauses  zur  Verfügung  ge- 
stellt war.  Morgen  vormittag  ist  die  dritte,  die  Schluß- 
besprechung, die  die  ganze  Reise  abschließt. 

Generalstab  Berlin,  26.  Juni  1910. 

Daß  Du  alle  diese  alten  Stätten  einmal  wieder  sehen 
kannst,  ist  mir  eine  große  Freude.  Mit  diesen  Orten 
geht  es  genau  so  wie  mit  uns  Menschen,  die  wir  uns 
im  Laufe  der  langen  Jahre  verändert  haben  und  doch 
dieselben  noch  sind,  wie  vor  dreißig  Jahren.  —  Wie 
wunderbar  einen  die  Kinderheimat  umfängt,  wenn 
man  nach  langen  Jahren  als  älterer  Mensch  sie  wie- 
der betritt,  habe  ich  bei  meinem  vorjährigen  Besuch 
in  Ranzau  und  auch  gelegentlich  meiner  diesjährigen 
Generalstabsreise  in  Holstein  so  tief  empfunden.  Es 
ist,  als  ob  die  alten  Orte  die  Arme  nach  einem  aus- 
streckten, als  ob  die  Bäume  einen  grüßten  als  alten 
Bekannten,  als  ob  die  Luft  sich  leichter  und  wohliger 
atmete  und  der  Erdgeruch  einem  entgegenduftete. 
Wie  schön  das  alles  ist,  wie  lieb  ud  vertraut  und  wel- 
che Flut  von  Erinnerungen  strömt  aus  den  Stätten 
der  Kinderzeit!  Wie  wir  durch  die  herrlichen  Buchen- 

356 


wälder  Holsteins  ritten,  da  fühlte  ich  mich  wieder  als 
Kind,  lauschte  auf  die  hundert  Vogelstimmen  und 
nickte  den  Sonnenstrahlen  zu,  die  goldig  durch  den 
stolzen  Dom  der  grünen  Laubkronen  flimmerten. 
Wie  bekannt  war  das  alles  und  wie  schön! 

Norwegen,  Bergen,  14. Juli  1910. 

Es  ist  V211  Uhr  abends,  ich  sitze  bei  offenem  Fen- 
ster und  schreibe  ohne  Licht.  Auf  den  höchsten  Berg- 
gipfeln glüht  noch  die  Sonne,  unser  Schiff  liegt  im 
Schatten.  Nie  in  meinem  Leben  habe  ich  ein  schöne- 
res Panorama  gesehen  als  heute  abend,  es  läßt  sich 
ja  nicht  beschreiben.  Die  tiefvioletten  Schatten  der 
Berge,  die  rotstrahlenden  Gipfel,  die  rosigen  Schnee- 
felder—  wie  Goethe  sagt:  »Entzündet  alle  Höh'n,  be- 
ruhigt jedes  Tal«  —  ich  hatte  den  Eindruck,  als  ob 
diese  Berge  Übergossen  von  Licht,  glühend  vor 
Liebe  ihrem  Schöpfer  entgegenleuchteten  und  als  ob 
sein  Auge  mit  stillem  Entzücken  auf  ihnen  ruhen 
müßte.  Wie  zauberhaft  schön  ist  dies  Norwegen, 
wenn  es  sich  in  Sonnenlicht  und  Gottesliebe  badet. 

Norwegen,  Molde,  22.  Juli  1910. 

Wir  waren  alle  an  Bord  der  »Nassau«  und  besahen 
dies  Riesenschiff  in  allen  seinen  Teilen.  Es  ist  höchst 
interessant,  die  Summe  von  Intelligenz  zu  bewundern, 
die  in  dem  komplizierten  Mechanismus  zur  Tat  ge- 
worden ist.  Ein  solches  Schiff  hat  sein  Gehirn  und 
seine  Nervenstränge,  wie  ein  Lebewesen.  Die  elek- 
trischen Leitungen  beherrschen  jedes  Glied  und  mit 
derselben  Leichtigkeit,  mit  der  wir  einen  Arm  aus- 
strecken oder  ein  Bein  heben,  bewegt  das  Schiff 
seine  Riesengeschütze  rechts  und  links,  hinauf  und 
hinab  und  setzt  seine  Maschinen  in  Tätigkeit. 

357 


KABINETTSORDER. 

Ich  bewillige  Ihnen  hierdurch  einen  vierwöchigen  Urlaub  von 
Mitte  April  bis  Mitte  Mai  ign  nach  Karlsbad. 

Venedig,  den  27.  März  191 1. 

Wilhelm  R. 
An  Meinen  Generaladjutanten,  General  der  Infanterie  v.  Moltke, 
Chef  des  Generalstabes  der  Armee. 

Karlsbad,  19. April  1911. 

Ich  mußte  dem  Arzt  meine  Krankheitsgeschichte 
erzählen  und  er  sagte  sofort,  daß  durch  die  gewalt- 
same Behandlung  meiner  Mandeln  der  Krankheits- 
stoff in  den  Körper  getrieben  worden  sei  und  daß  ich 
wahrscheinlich  noch  immer  an  den  Folgen  laboriere. 
Er  war  von  der  Herztätigkeit  durchaus  befriedigt. 
Meinte,  es  wäre  —  nachdem  er  mich  lange  beklopft 
hatte  —  nur  eine  leichte  Indisposition  des  Magens 
und  eine  leichte  Schwellung  der  Leber  zu  konsta- 
tieren. 

TELEGRAMM. 

General  v.  Moltke,  Königsplatz  6,  Berlin. 

Magdeburg,  den  23.  Mai  191 1. 
Zu  Ihrem  Geburtstage  sende  Ich  Ihnen,  mein  lieber  Julius, 
den  herzlichsten  Glückwunsch.  Ich  freue  Mich  zu  hören,  daß 
der  Aufenthalt  in  Karlsbad  den  letzten  Rest  Ihrer  Krankheit  be- 
seitigt hat  und  hoffe,  daß  Ihre  unvergleichliche  Arbeitskraft  Mir 
noch  lange  erhalten  bleiben  wird  zum  Besten  des  Vaterlandes. 
Möchte  die  Uhr,  die  Ihnen  als  Zeichen  meines  Gedenkens  heute 
zugeht,  Ihnen  nur  glückliche  Stunden  schlagen. 

Wilhelm  R. 

Molsheim,  19.  Juni  1911. 

Mir  bekommt  das  Herumziehen  im  Lande  ausge- 
zeichnet, ich  fühle  mich  vollkommen  frisch  und  wohl, 
habe  keine  Spur  von  irgendwelchen  Beschwerden, 
weder  beim  Reiten  noch  bei  den  langen  Fahrten  im 

358 


Auto,  noch  bei  dem  gelegentlichen  Steigen  bergan. 
Heute  morgen  ritt  ich  zunächst  bis  Oberehnheim.  Die 
Luft  war  so  klar,  daß  man  deutlich  die  Höhen  des 
Schwarzwaldes  sah,  während  zu  unserer  Rechten 
sich  die  Kette  der  Vogesen  hinzog  mit  ihren  schö- 
nen waldigen  Kuppen  und  zahlreichen  Burgruinen. 
—  Wir  fuhren  dann  nach  dem  weit  und  breit  be- 
rühmten Kloster  Odilienberg,  das  oben  auf  der  Berg- 
spitze gelegen,  einen  wundervollen  Rundblick  über 
die  Rheinebene  und  die  Ausläufer  der  Vogesen  bie- 
tet. Es  ist  eine  uralte  Niederlassung,  die  schon  im 
Jahre  800  unter  Karl  dem  Großen  erwähnt  wird.  In 
weitem,  zehn  Kilometer  langen  Bogen  zieht  sich  um 
die  Bergspitze  die  sogenannte  Heidenmauer,  eine  Zy- 
klopenmauer aus  urkeltischer  Zeit,  mit  riesigen  Qua- 
dern aufgetürmt,  man  begreift  kaum,  wie  Menschen- 
kräfte sie  haben  bewegen  können,  es  ist  eines  der 
merkwürdigsten  Bauwerke  seiner  Art,  sowohl  was 
Ausdehnung  als  auch  Mächtigkeit  betrifft,  die  Mauer 
ist  stellenweise  zehn  Meter  dick  und  ebenso  hoch, 
es  ist  unverständlich,  wie  die  Leute  es  angefangen 
haben,  die  Steine,  die  zum  Teil  ein  Gewicht  von  hun- 
dert Zentnern  haben,  zu  heben.  —  In  dem  Kloster  ist 
jetzt  eine  Art  Sommerfrische  mit  Pension  eingerich- 
tet, die  viel  besucht  wird.  Es  ist  ein  Kloster  für  Laien- 
schwestern, die  in  ihrer  schwarzen  Ordenstracht  und 
weißen  gesteiften  Hauben  die  Gäste  bedienen.  — 
Nachmittags  waren  wir  auf  der  Feste  Kaiser  Wilhelm, 
wo  unsere  Vorträge  gehalten  werden.  Morgen  gehen 
wir  nach  Zabern,  übermorgen  nach  Dieuze,  dann 
nach  Metz.  Ich  denke  am  Montag,  den  26.,  die  Schluß- 
besprechung zu  halten,  am  Dienstag  nach  Köln  zu 
einer  Besichtigung  der  Bahnkommandantur  zu  gehen 
und  am  28.  nach  Berlin  zurückzukommen. 

359 


Kiel, 4. Juli  igu. 

Wir  haben  uns  gestern  abend  beim  Kaiser  gemel- 
det, der  sehr  vergnügt  und  gnädig  war.  Heute  mor- 
gen haben  wir  alle  die  Arbeiten  an  der  Erweiterung 
des  Kaiser-Wilhelm-Kanals  besichtigt,  die  ebenso 
großartig  wie  interessant  sind.  Es  wird  eine  ganz  neue 
Schleuseneinfahrt  gebaut,  in  der  die  Schleusentore 
von  bisher  dreißig  auf  fünfundvierzig  Meter  Breite 
angelegt  und  die  Kanalstrecke  dahinter  geradegelegt 
wird.  Der  ganze  Kanal  wird  entsprechend  verbreitert 
und  vertieft.  Die  ungeheuren  Mauerungen  der  neuen 
Schleusen  stehen  schon  zum  Teil,  und  mit  Staunen 
blickt  man  auf  die  gewaltige  Erdbewegung,  die  hier 
ausgeführt  wird.  Die  verschiedenartigsten  Maschinen 
arbeiten  überall.  Hier  schaufelt  ein  Erdgrubber  den 
Boden  aus;  als  ob  er  ein  vernunftbegabtes  Wesen 
wäre,  beißt  er  mit  eisernem  Rachen  in  den  Boden, 
frißt  Erde,  Sand,  Steine,  ja  ganze  Felsblöcke  in  sich 
hinein,  erhebt  dann  das  bodengefüllte  Maul  und  speit 
nach  leicht  gemachter  Drehung  den  ganzen  Inhalt  in 
einen  bereitstehenden  Eisenbahnwagen,  ihn  mit  ei- 
nem Happen  füllend.  Dann  wendet  er  sich  wieder 
dem  Boden  zu,  reißt  das  Maul  auf  und  frißt  wieder, 
während  der  Eisenbahnzug  um  eine  Wagenlänge 
weiterrückt.  So  wird  mit  einem  solchen  Zug  in  einer 
halben  Minute  die  sonst  stundenlange  Arbeit  von 
hundert  Menschen  geleistet.  Das  ganze  bodenfres- 
sende Ungetüm  wird  von  zwei  Mann  bedient.  —  Dort 
rollt  auf  einem  Stahlseil  ein  Riesenkorb,  gefüllt  mit 
Zement,  heran.  Über  der  Stelle  angekommen,  wo  das 
Material  gebraucht  wird,  macht  er  Halt,  senkt  sich 
herab,  öffnet  sich  und  entleert  seinen  Inhalt.  Sofort 
schwebt  er  wieder  in  die  Höhe  und  läuft  auf  seinem 
Seil  eilig  davon,  um  neue  Ladung  zu  holen,  während 

360 


die  erste  mit  mechanischen,  elektrisch  angetriebenen 
Stampfen  eingestampft  und  geglättet  wird.  Man  sieht 
auf  dem  ganzen  Arbeitsfeld  fast  keine  Menschen. 
Hier  arbeitet  der  menschliche  Geist,  umgesetzt  in 
Maschinen,  und  die  Materie  folgt  willig,  wenn  auch 
pustend  und  stöhnend,  dampfend  und  sprühend  den 
ihr  vorgezeichneten  Gesetzen.  Das  ist  wirklich  im- 
posant, und  es  muß  für  den  Ingenieur  ein  stolzes 
Bewußtsein  sein,  seine  Gedanken  so  in  Arbeit  um- 
zusetzen. 

In  See,  9.  Juli  1911. 

Die  Stimmung  an  Bord  ist  gut.  Der  Kaiser  verhält- 
nismäßig ruhig.  Die  politischen  Verhältnisse  sind  ja 
noch  in  der  Schwebe.  Daß  etwas  Ernsthaftes  aus  dem 
Erscheinen  unserer  Schiffe  an  der  marokkanischen 
Küste  folgen  sollte,  glaube  ich  nicht.  Es  wird  dazu 
beitragen,  klare  Verhältnisse  zu  schaffen. 

Baleholm,  16.  Juli  1911. 

Vor  einigen  Tagen  hatte  ich  eine  sehr  interessante 
Unterhaltung  mit  Sr.  Majestät  über  religiöse  Fragen. 
Er  war  aufs  äußerste  schlecht  zu  sprechen  auf  die 
Pastoren,  ihre  Engherzigkeit  und  Orthodoxie.  Er  war 
der  Meinung,  daß  der  Tod  nur  den  Beginn  einer  wei- 
teren Entwicklung  bedeute,  hat  überhaupt  viel  über 
diese  Dinge  nachgedacht  und  ist  viel  freier  in  seinen 
Ansichten,  als  man  glauben  sollte.  Er  sucht  nach 
Wahrheit,  und  alles  öde  Formelwesen  ist  ihm  ein 
Greuel.  Er  will  keinen  Stillstand  in  der  religiösen  Ent- 
wicklung, sondern  ein  Fortschreiten,  und  fühlt  das 
Bedürfnis,  Religion  und  Wissenschaft  in  Einklang 
zu  bringen.  Er  erzählte,  wie  er  den  Pastoren  gesagt 
habe,  wenn  die  Kinder  in  der  »Urania«  die  Weltent- 
wicklung sehen  und  hören  und  ihnen  dann  im  Reli- 

361 


gionsunterricht  gesagt  werde,  in  sechs  Tagen  habe 
Gott  die  Welt  geschaffen,  so  müsse  der  Zweifel  in 
ihr  Herz  gesät  werden.  Wenn  ihr  Pastoren  nicht  fort- 
schreitet, wird  die  Wissenschaft  über  euch  hinweg- 
gehen, und  wenn  ihr  nichts  Neues  zu  sagen  wißt, 
werden  die  Steine  reden. 

Generalstab  Berlin,  19. August  1911. 
Die  unglückselige  Marokko-Geschichte  fängt  an, 
mir  zum  Halse  herauszuhängen.  Es  ist  gewiß  ein  Zei- 
chen lobenswerter  Ausdauer,  unentwegt  auf  Kohlen 
zu  sitzen,  aber  angenehm  ist  es  nicht.  Wenn  wir  aus 
dieser  Affäre  wieder  mit  eingezogenem  Schwanz  her- 
ausschleichen, wenn  wir  uns  nicht  zu  einer  energi- 
schen Forderung  aufraffen  können,  die  wir  bereit  sind 
mit  dem  Schwert  zu  erzwingen,  dann  verzweifle  ich 
an  der  Zukunft  des  Deutschen  Reiches.  Dann  gehe 
ich.  Vorher  aber  werde  ich  den  Antrag  stellen,  die 
Armee  abzuschaffen  und  uns  unter  das  Protektorat 
Japans  zu  stellen,  dann  können  wir  ungestört  Geld 
machen  und  versimpeln.  —  Du  wirst  wohl  zurzeit 
wenig  Interesse  für  Politik  haben,  Deine  Beschäfti- 
gung ist  auch  jedenfalls  interessanter  und  nützlicher. 

Bukowina,  Koszczuja,  1.  Oktober  1911. 
Bin  neugierig,  wie  sich  die  Sache  zwischen  Italien 
und  der  Türkei  weiterentwickeln  wird.  Wenn  die  klei- 
nen Balkanhunde  anfangen  zu  bellen,  kann  man  nicht 
wissen,  was  daraus  entsteht. 

Karlsbad,  i6.April  1912. 
Der  Dr.  H.  hat  mich  heute  sehr  eingehend  unter- 
sucht und  ist  sehr  zufrieden.  Das  Herz  ganz  in  Ord- 
nung. In  den  Nieren  ist  noch  eine  leise  Gereiztheit 
bemerkbar,  aber,  wie  er  sagt,  so  wenig,  daß  er  es 
gar  nicht  bemerken  würde,  wenn  er  nicht  wüßte,  daß 

362 


im  vorigen  Jahr  eine  Reizung  da  war.  Er  meint,  im 
Laufe  des  jetzigen  Jahres  würde  sie  völlig  ver- 
schwunden sein.  Der  Befund  bestätigte  seine  An- 
nahme, daß  es  sich  bei  mir  um  eine  Infektion  ge- 
handelt hat.  Er  sagt,  die  Nieren  brauchen  immer  am 
längsten  Zeit,  wieder  ganz  frei  zu  werden,  meistens 
etwa  zwei  Jahre,  was  also  auch  bei  mir  stimmen 
würde.  —  Schonen  brauche  ich  mich  nicht,  kann 
gehen  und  steigen.  Ich  bin  sehr  froh  über  das  gün- 
stige Resultat  der  Untersuchung,  um  so  mehr,  da  der 
Dr.  H.  ein  sehr  penibler  und  genauer  Untersucher  ist. 

Karlsbad,  24.April  1912. 

Politisch  ist  anscheinend  alles  ziemlich  ruhig.  Der 
Italienisch-türkische  Krieg  schleppt  sich  mühsam  wei- 
ter, ohne  daß  ein  Ende  abzusehen  wäre.  Im  deut- 
schen Reichstag  ist  nun  endlich  die  Wehrvorlage  zur 
Verhandlung  gekommen,  von  einer  Rede  Bethmanns 
äußerst  schwach  eingeleitet.  Dieser  Mann  wird  sich 
nie  zu  einem  klaren  und  energischen  Wort  aufraffen. 
Auch  hier  wieder  die  alte  Milchsauce.  Kein  Mensch 
denkt  an  Krieg,  Deutschland  ist  ganz  friedfertig, 
und  die  anderen  Mächte  ebenso,  dennoch  kann  man 
nicht  wissen,  was  einmal  passieren  könnte,  und  da- 
her ist  eine  Verstärkung  der  Wehrmacht  nötig.  —  Es 
wäre  zum  Lachen,  wenn's  nicht  zum  Weinen  wäre! 
—  Trotzdem  wird  die  Vorlage  anscheinend  glatt  ange- 
nommen werden.  Das  Volk  hat  ein  gesünderes  Emp- 
finden von  der  Weltlage  als  seine  berufenen  Leiter. 

Telegramm  Moltkes  an  den  Kaiser. 

Berlin,  23.  Mai  1912. 

Ew.  Majestät  wollen  meinen  tief  empfundenen  Dank 

für  das  mir  allergnädigst  zum  Geburtstag  übersandte 

Tintenfaß  und  die  huldvollen  Begleitworte  entgegen- 

363 


nehmen.  In  dem  Vertrauen,  das  Ew.  Majestät  mir  so 
oft  betätigt  und  auch  heute  wieder  ausgesprochen 
haben,  liegt  die  Wurzel  meiner  Kraft,  ihm  ist  alles  zu 
verdanken,  was  ich  habe  leisten  können.  Ich  bitte 
Gott,  er  möge  mir  Kraft  geben,  mich  dieses  höchsten 
Gutes  auch  fernerhin  würdig  zeigen  zu  können. 
Ew.  Majestät  treu  gehorsamster 

General  v.  Moltke. 

Norwegen,  Baleholm,  i8.Juli  1912. 

In  den  mit  dem  Kurier  gekommenen  Zeitungen 
stand,  daß  ich  zum  Herbst  meine  Entlassung  nehmen 
und  durch  General  v.  W.  ersetzt  werden  würde.  Ich 
weiß  nicht,  wer  diesen  Unfug  ausgeheckt  hat.  Der 
Kaiser  hatte  neben  die  Nachricht  geschrieben:  »Un- 
verschämt!« Im  übrigen  rege  ich  mich  nicht  darüber 
auf.  Wenn's  sein  soll,  werde  ich  es  am  besten  wis- 
sen. Noch  ist  es  nicht  so  weit. 

Norwegen,  Baleholm, 20. Juli  igi2. 

Gestern  nachmittag  war  der  Kaiser  mit  vier  Herren, 
darunter  ich,  auf  einer  hier  eingelaufenen  englischen 
Jacht,  die  einem  Sir  Wächter  gehört,  ein  alter  Herr, 
der  die  verrückte  Idee  des  allgemeinen  Weltfriedens 
propagiert! 

Generalstab  Berlin,  i8.August  1912. 

Obgleich  das  Wetter  nicht  sehr  günstig  war,  haben 
wir  den  Flug  mit  der  »Hansa«  doch  unternommen; 
leider  konnte  er  nicht  in  der  ursprünglich  geplanten 
Ausdehnung  stattfinden.  Wir  fuhren  am  Sonnabend- 
morgen nach  der  Halle  hinaus,  in  der  das  mächtige 
Schiff  untergebracht  ist.  —  Mit  hundertzehn  Meter 
Länge  nahm  es  fast  die  Gesamtlänge  der  Halle  ein. 
Das  Wetter  war  trübe  und  wolkig,  der  Wind  ziemlich 

364 


frisch,  aber  es  regnete  wenigstens  nicht.  Der  Führer 
des  Schiffes  sagte  mir,  daß  durch  Versuchsballons 
festgestellt  sei,  daß  in  der  Höhe  von  achthundert  Me- 
tern ein  starker  Wind  wehe  von  fünfzehn  bis  sech- 
zehn Sekundennietern,  und  daß  er  annehme,  gegen 
Mittag  werden  starke  Böen  herunterkommen,  wir 
könnten  daher  nur  eine  Fahrt  von  einigen  Stunden 
machen  und  müßten  gegen  Mittag  wieder  in  der  Halle 
sein.  Um  8  Uhr  gingen  wir  an  Bord,  und  das  Schiff 
wurde  aus  der  Halle  herausgezogen.  Es  hat  eine  sehr 
geräumige  Kabine,  in  der  sechzehn  Personen  bequem 
sitzen  können,  wir  waren  nur  acht.  —  Man  hat  einen 
bequemen  Korbsessel  zur  Benutzung,  in  dem  man 
am  großen  offenen  Fenster  sitzt  und  auf  die  Welt 
herabschaut.  Man  merkt  keinen  Zug  und  absolut 
keine  Erschütterung.  Es  ist  ein  Steward  an  Bord,  der 
eine  kleine  Pantry  mit  kalter  Küche  und  einen  klei- 
nen Eiskeller  hat,  in  dem  der  Wein  auf  Eis  liegt.  — 
Auf  kleinen  Tischen  kann  man  die  Karten  vor  sich 
ausbreiten  oder  seine  Mahlzeit  halten.  Die  Kajüte  ist 
sehr  hübsch  in  hellem  Lack  gehalten,  und  so  hoch, 
daß  ich  bequem  darin  stehen  konnte. 

Wundervoll  war  der  Aufstieg.  Nachdem  das  Schiff 
mit  der  Spitze  gegen  den  Wind  gedreht  war,  wurden 
auf  ein  Kommando  die  Haltetaue  von  den  Mann- 
schaften losgelassen,  die  Propeller  begannen  sich  zu 
drehen,  und  langsam  stieg  das  Riesenfahrzeug  in  die 
Luft.  Man  merkte  es  nur  daran,  daß  die  Menschen, 
Häuser,  Bäume  usw.  immer  kleiner,  der  Rundblick 
immer  größer  wurde.  In  wenigen  Minuten  hatten  wir 
die  Höhe  von  dreihundert  Meter  erreicht,  die  wir  nun 
dauernd,  mit  geringen  Abweichungen  innehielten.  Die 
Fahrt  ging  quer  über  Hamburg  weg,  das  in  einen  trü- 
ben Dunst  von  Rauch  und  Nebel  gehüllt  war,  die 
Alster  blitzte  hell   durch   die  verqualmte  Luft.  Der 

365 


Wind  war  stark,  etwa  zehn  Meter  in  der  Sekunde, 
trotzdem  kamen  wir,  da  das  Schiff  eine  Eigenge- 
schwindigkeit von  einundzwanzig  Meter  hat,  schnell 
vorwärts.  Die  »Hansa«  hat  an  ihren  zwei  Gondeln 
vier  Propeller,  in  der  Mitte  zwischen  den  beiden  Gon- 
deln liegt  die  Kajüte,  durch  einen  schmalen  Gang  mit 
der  vorderen  und  hinteren  Gondel  verbunden,  der 
aber  nicht  von  den  Passagieren  betreten  werden  darf. 
Man  sitzt  in  der  Kajüte  genau  wie  in  einem  Salon- 
wagen, das  Geräusch  der  Propeller  stört  gar  nicht, 
man  kann  sich  in  Ruhe  unterhalten.  Jetzt  sind  wir 
über  dem  Hafen  mit  seinen  zahllosen  Schiffen  und 
kleinen  Dampfbooten,  die  hin  und  her  schießend  das 
Wasser  unablässig  aufwühlen.  Alle  Schiffe  grüßen 
die  »Hansa«  mit  ihren  Dampfpfeifen,  wir  winken  aus 
den  Fenstern  mit  Taschentüchern,  unten  stehen  die 
Menschen  mit  nach  oben  gedrehten  weißen  Gesich- 
tern und  winken  zurück.  Dann  fahren  wir  die  Elbe 
hinab.  Reizvoll  ist  der  Blick  auf  die  begrünten  Höhen 
von  Blankenese,  die  zahlreichen,  hell  schimmernden 
Villen,  die  unter  uns  die  Flut  durchziehenden  Schiffe. 
Überall  zusammengelaufene  Menschen,  die  herauf- 
grüßen; aus  den  Fenstern,  von  den  Dächern  wehen 
sie  mit  weißen  Tüchern.  Mit  einem  Blick  übersieht 
man  die  vielen  Einschnitte  des  Hafens,  die  Docks, 
die  Kais,  überall  dampfen  die  Essen,  und  das  Krei- 
schen der  Kräne  tönt  herauf.  —  Unablässig  dröhnt 
das  Geräusch  der  Arbeit,  webt  und  wirbelt  der  Han- 
del, die  Industrie.  Schiffe  werden  entladen  und  be- 
laden, Warenballen  verfrachtet,  die  Eisenbahnlinien 
glänzen  und  die  Züge  kriechen  auf  ihnen  dahin  wie 
schwarze  Raupen.  —  Allmählich  schwindet  die  Stadt 
hinter  uns,  wir  folgen  dem  Lauf  des  mächtigen  Stro- 
mes, sehen  seine  beiden  Ufer,  die  Baggerarbeiten,  die 
Inseln  und  Stromzeichen.  Auf  der  großen  Welthan- 

366 


delsstraße  ziehen  die  Schiffe,  der  Schnelldampfer 
rauscht  durch  das  Wasser,  die  ablaufende  Ebbe  be- 
nutzend, wir  überholen  ihn  spielend,  die  Züge  am 
Ufer  können  nicht  die  gleiche  Fahrt  mit  uns  halten. 
So  geht  es  den  Strom  hinab  bis  Kuxhaven,  und  vor 
uns  liegt  das  Meer  in  bleigrauer  Farbe.  Wir  haben  in 
zwei  Stunden  hundertdreißig  Kilometer  zurückgelegt. 
Aber  uns  entgegen  kommt  eine  blauschwarze  Wand 
über  das  Meer  herüber,  die  Wolken  jagen  an  uns 
vorbei,  uns  oft  einhüllend,  daß  die  Aussicht  ver- 
schwindet, der  Wind  wird  allmählich  stärker,  und  wir 
müssen  umdrehen,  wenn  wir  nicht  von  der  heran- 
kommenden Böe  erfaßt  werden  wollen.  Schade, 
schade,  aber  es  hilft  nichts,  denn  wir  machen  keine 
Kriegsfahrt,  sondern  eine  Lustfahrt,  und  wir  dürfen 
das  Schiff  nicht  gefährden.  Also  zurück.  —  Jetzt  trei- 
ben wir  vor  dem  Winde.  Die  Maschinen  gehen  mit 
halber  Kraft,  dennoch  zieht  die  Landschaft  unter  uns 
dahin  wie  ein  Wandelpanorama.  Wir  haben  eine  Ge- 
schwindigkeit von  hundertzwanzig  Kilometer  in  der 
Stunde.  Bewunderungswürdig  gehorcht  das  Schiff 
dem  Steuer.  Wir  senken  uns  hinab  bis  auf  wenige 
Meter  über  den  Wasserspiegel,  dann  steigen  wir  wie- 
der hinauf  in  die  Lüfte.  Ein  herrliches  Gefühl,  so  in 
der  Luft  zu  schweben,  dem  Vogel  gleich,  sich  zu  er- 
heben, sich  zu  senken,  wie  es  beliebt,  und  immer  in 
gleichmäßigem  Fluge,  ohne  alle  Erschütterung.  — 
Nun  fahren  wir  in  nordöstlicher  Richtung  über  das 
Land,  lassen  den  Strom  hinter  uns.  Unter  uns  liegen 
in  regelmäßigen  Vierecken  die  Felder,  stehen  die  Häu- 
ser und  Höfe,  weidet  das  Vieh.  Interessant  ist  die 
Wirkung  des  Schiffes  auf  die  Tiere.  Die  auf  den  Kop- 
peln grasenden  Pferde  heben  den  Kopf,  und  mit  we- 
hendem Schweif  und  Mähnen  jagen  sie  in  gestreck- 
tem Galopp  davon,  ebenso  die  Kühe  und  Schafe,  alles 

367 


reißt  aus,  als  wenn  es  gälte,  das  Leben  zu  retten.  Die 
Hühner  in  den  Hühnerhöfen  gebärden  sich  wie  toll. 
Sie  flattern  und  fliegen  durcheinander,  ducken  sich 
platt  an  die  Erde,  rennen  in  die  Ställe,  sich  zu  ver- 
bergen. —  Von  oben  schauen  wir  in  die  Wälder  hin- 
ein, sehen  die  Gestelle  wie  gerade  Linien,  hier  und 
da  ein  paar  Rehe,  die  in  schnellster  Flucht  ein  Dik- 
kicht  aufsuchen,  einige  Störche,  die  angstvoll  über 
den  Wiesen  davonflattern.  Überall  Angst  und  Schrek- 
ken  bei  den  Tieren,  nur  die  Menschen  stehen  und 
grüßen  und  winken  hinauf!  —  Über  die  holsteinische 
Geest  fliegen  wir  hin,  Heide,  Felder,  Gehölze,  Ort- 
schaften und  einzelne  Höfe  wechseln  miteinander 
ab.  —  Jetzt  sind  wir  über  Elmshorn,  dann  nehmen 
wir  die  Richtung  nach  Barmstedt,  dessen  flachen 
Kirchturm  ich  von  weit  her  erkenne.  Da  ist  Voßloeh, 
wo  wir  als  Kinder  Warmbier  und  Butterbrot  aßen, 
dann  der  Buchenwald,  in  dem  wir  uns  herumtrieben, 
in  dem  unklaren  Gefühl  seiner  unermeßlichen  Größe ! 
Jetzt  überblicken  wir  ihn  mit  einem  Blick,  eine  grüne 
Insel  in  der  Landschaft.  Jetzt  sehen  wir  die  vielge- 
krümmte Pinau,  und  jetzt  kommt  Ranzau.  Da  liegt 
das  alte  Haus  unserer  schönen  Jugend  auf  seiner 
kleinen  Insel,  umgeben  von  Grün  und  von  Wasser.  Je- 
den Fleck  kann  ich  erkennen,  jeden  Fleck,  auf  dem 
wir  gespielt,  die  Bäume,  in  die  ich  meinen  Namen 
geschnitten.  Die  Fenster,  hinter  denen  ich  gewohnt 
habe,  die  Brücken,  über  die  wir  gegangen  sind.  Wie 
unverändert  ist  alles,  und  wie  tief  in  die  Erinnerung 
eingegraben.  Da  ist  der  Garten,  in  dem  ich  so  manche 
Winternacht  im  Schnee  gesessen  habe,  um  den  Ha- 
sen zu  schießen,  der  nächtens  zum  Kohl  kam,  der 
Teich,  in  dem  die  vielen  Karauschen  waren,  die  alten 
Tannen,  in  deren  Gipfel  W.  und  ich  uns  bargen,  wenn 
wir  die  Zeichenstunden  schwänzten,  die  Bornholter 

368 


Mühle,  das  Gerichtshaus,  die  Amtsgerichtsrats-Woh- 
nung,  alles  ist  da,  alles  von  oben  gesehen,  alles  wie 
ein  Spielzeug  aufgebaut,  und  auch  hier  wieder  Kin- 
der wie  damals,  die  heraufstarren,  im  Spielen  unter- 
brochen, die  wohl  glücklich  sind,  wie  wir  es  waren,  und 
die  denken,  daß  dies  herrliche  Dasein  nie  ein  Ende 
nehmen  werde,  wie  —  wir  es  dachten!  —  Die  Pro- 
peller der  »Hansa«  knattern  über  dem  alten  lieben 
Fleck  Erde  und  Wasser,  wir  machen  eine  Schleife 
und  fahren  noch  einmal  das  ganze  Stück  Vergangen- 
heit ab.  Die  Propeller  knattern,  und  in  ihren  Tönen 
höre  ich  den  Kinderjubel  der  alten  Zeit,  die  Stimme 
der  Eltern,  das  Rauschen  der  Blätter,  das  Raunen  der 
vergangenen  Tage.  "Wie  fern,  wie  weltenfern  liegt 
diese  Zeit  hinter  dem,  der  jetzt  da  oben  in  den  Lüf- 
ten schwebt  und  fühlt,  wie  Vergangenheit,  Gegen- 
wart und  Zukunft  sich  mischen.  —  Wenn's  nicht  so 
trivial  klänge,  möchte  ich  sagen:  Wer  uns  das  damals 
gesagt  hätte!  —  Doch  wir  müssen  uns  losreißen,  denn 
auf  den  Flügeln  des  Sturmes  reitet  das  Wetter  hin- 
ter uns  her.  Wir  drehen  ab,  und  in  zehn  Minuten  sind 
wir  über  Altona,  dann  über  Hamburg,  jetzt  schon  über, 
der  Halle.  Auf  dem  Platz  davor  liegt  ein  weißes  La- 
ken mit  einem  roten  Pfeilstrich,  der  die  Windrich- 
tung bezeichnet,  denn  wir  müssen  gegen  den  Wind 
landen,  damit  dieser  nicht  den  Riesenkörper  des 
Schiffes  von  der  Seite  faßt.  Die  Mannschaften  stehen 
bereit,  den  herabschwebenden  Vogel  einzufangen. 
Nun  drehen  wir  gegen  den  Wind.  Die  Spitze  des 
Schiffes  senkt  sich,  und  in  schrägem  Gleitflug  sinken 
wir  hinab,  bis  dicht  über  den  grünen  Rasen.  Die 
Haltetaue  werden  ausgeworfen,  von  den  Leuten  ge- 
faßt, die  Maschinen  stehen  still.  Im  Laufschritt  ziehen 
die  Soldaten  das  Schiff  vor  die  Halle,  richten  es,  und 
dann  drehen  sich  die  Propeller  noch  einmal,  und  in 


Moltke. 


369 


raschem  Zug  taucht  die  »Hansa«  durch  die  mächtige 
Pforte  in  das  Innere  der  Halle,  stoppt  ab  und  wird 
festgemacht.  Wir  steigen  aus,  alle  in  dem  Bewußt- 
sein, das  war  eine  herrliche  Fahrt.  —  Zwei  Minuten 
darauf  kommt  das  Wetter,  dem  wir  so  rasch  ent- 
flohen sind,  heran,  und  der  Regen  prasselt  auf  das 
Blechdach  der  Halle.  Gerade  zur  rechten  Zeit  unter 
Dach  und  Fach!  Meisterhaft  abgepaßt. 

Generalstab  Berlin,  i4.September  1912. 
Das  Manöver  ist  gut  und  glatt  verlaufen.  Der  Kaiser 
war  sehr  zufrieden  und  sprach  mir  seine  Anerken- 
nung in  besonders  warmer  Weise  aus;  auch  sonst 
habe  ich  gehört,  daß  das  Manöver  allgemein  befrie- 
digt hat.  Zu  der  von  mir  befürchteten  Komplikation 
ist  es  nicht  gekommen,  ich  hatte  mich  schon  auf  der 
Nordlandsreise  mit  Sr.  Majestät  ausgesprochen,  und  er 
hat  sich  mit  großer  Aufopferung  im  Zaume  gehalten. 
—  Se.  Majestät  der  Kaiser  hielt  eine  sehr  hübsche 
Besprechung  ab.  Morgen  vormittag  fahre  ich  nun 
nach  Wilhelmshaven,  um  am  Montag  auf  der  »Hohen- 
zollern«  den  Flottenübungen  beizuwohnen. 

Generalstab  Berlin,  i7.September  1912. 
Der  Tag  auf  der  Flotte  war  sehr  schön.  Ein  stol- 
zer Anblick,  66  Torpedoboote,  14  Unterseeboote  und 
46  große  Schiffe.  Die  Vorbeifahrt  dauerte  fast  eine 
Stunde.  Ich  war  mit  dem  Kaiser  auf  dem  Linien- 
schiff »Deutschland«.  —  Mir  geht  es  gut.  Wie  mir 
gesagt  wird,  hat  das  Manöver  in  der  Presse  viel  Bei- 
fall gefunden.  Von  militärischer  Seite  habe  ich  viel 
Anerkennung  gehört. 

Bankau,  21. September  1912. 

Was  die  Manöver  anbetrifft,  so  habe  ich  —  wie 

man  zu  sagen  pflegt  —  eine  »gute  Presse«  gehabt. 

370 


Die  Zeitungen  haben  es  sich  offenbar  jetzt  abgewöhnt, 
mich  als  Trottel  zu  bezeichnen! 

Generalstab  Berlin,  16.  Mai  1913. 

Es  scheint,  daß  der  Tanz  auf  dem  Balkan  wieder 
losgehen  wird.  Serbien  und  Bulgarien  können  sich 
nicht  über  die  Verteilung  des  Bärenfelles  einigen,  und 
stehen  sich  mit  den  Waffen  in  der  Hand  gegenüber. 
Griechenland  ist  ebenso  im  Konflikt  mit  Bulgarien, 
das  einen  gewaltigen  Heißhunger  nach  Land  hat.  — 
Wenn's  zum  Kriege  unter  den  bisherigen  Verbünde- 
ten kommt,  werden  Serbien  und  Griechenland  gegen 
Bulgarien  stehen.  —  Inwieweit  dieser  Krieg  auf  das 
Verhalten  der  Großstaaten  einwirken  wird,  kann  kein 
Mensch  voraussehen. —  Wir  sind  also  noch  ziemlich 
weit  von  definitiven  friedlichen  Verhältnissen. 

KABINETTSORDER. 

Es  macht  Mir  besondere  Freude,  Ihnen  an  dem  heutigen  Tage 
Meines  fünfundzwanzigjährigen  Regierungsjubiläums  erneut  Mein 
gnädiges  Wohlwollen  dadurch  zu  betätigen,  daß  Ich  Sie  hier- 
durch auch  zum  Chef  des  Füsilier-Regiments  Generalfeldmar- 
schall Graf  Moltke  (Schlesischen)  Nr.  38  ernenne.  Das  Regiment 
bewahrt  mit  seinem  Namen  eine  tiefe  verehrungsvolle  Dankbar- 
keit für  den  verewigten  Feldmarschall  und  somit  bestehen  in  der 
Erinnerung  und  in  der  Gegenwart  Beziehungen  an  den  Namen 
»Moltke«,  die  Mich  annehmen  lassen,  daß  Sie  in  der  Ernennung 
zum  Chef  dieses  Regiments  einen  Beweis  Meiner  besonderen 
Anerkennung  Ihrer  Mir  in  allen  Dienststellungen,  insonderheit 
als  Chef  des  Generalstabes  der  Armee,  geleisteten  stets  bewähr- 
ten, treuen  und  guten  Dienste  erkennen  werden.  —  Ich  habe  das 
Regiment  anweisen  lassen,  Ihnen  den  Rapport  und  die  Offiziers- 
Rangliste  vorschriftsmäßig  einzureichen. 

Berlin,  den  16.  Juni  1913. 

Wilhelm  R. 
An  Meinen  Generaladjutanten,  General  der  Infanterie  v.  Moltke, 
Chef  des  Generalstabes  der  Armee,  ä  la  suite  des  Kaiser-Alexander- 
Gardegrenadier-Regiments  Nr.  1. 

371 


Generalstab  Berlin,  16. Juni  1913. 

Der  Kaiser  hat  mich  heute  zum  Chef  des  Füsilier- 
Regiments  Generalfeldmarschall  Graf  Moltke  Nr.  38 
ernannt.  Das  Regiment  stand  früher  in  Schweidnitz, 
jetzt  in  Glatz. 

Generalstab  Berlin,  17. Juni  1913. 

Berlin  feiert  und  jubiliert  noch  immer;  vom  frühen 
Morgen  an  ziehen  Vereine,  Innungen,  Studenten  usw. 
mit  Musikkorps  und  Fahnen  durch  die  Straßen,  voll- 
führen einen  Mordsspektakel  und  sperren  jeglichen 
Verkehr.  Der  Kaiser  war  gestern  sehr  frisch  und  gu- 
ter Laune.  Es  liegt  doch  etwas  Großartiges  in  dieser 
Riesenbeteiligung  an  seinem  Jubiläum,  und  das  mag 
er  wohl  empfinden. 

Kuxhaven,  9.  Juli  1913. 

Heute  meldet  sich  der  neue  Kriegsminister,  General 
von  Falkenhayn.  Ich  weiß  nicht,  ob  Du  ihn  erinnerst; 
er  war  lange  im  Generalstab. 

Norwegen,  Bergen,  11. Juli  1913. 

Die  Ereignisse  auf  dem  Balkan  verlaufen  nicht  so, 
wie  ich  es  eigentlich  gewünscht  hätte.  Die  Bulgaren 
scheinen  überall  im  Nachteil  zu  sein.  Ihr  Verhalten 
ist  mir  unbegreiflich.  Der  König  scheint  ganz  elimi- 
niert zu  sein;  man  hört  nichts  von  ihm.  Seine  viel- 
gerühmte diplomatische  Geschicklichkeit  scheint  völ- 
lig zu  versagen.  Ich  habe  den  Eindruck,  daß  er  wil- 
lenlos der  Militärpartei  ausgeliefert  ist.  Bulgarien  spielt 
va  banque,  es  kann  unmöglich  den  Krieg  gegen  Ser- 
bien, Griechenland  und  Rumänien  durchführen.  Auch 
die  Türkei  scheint  sich  wieder  zu  regen ;  es  wäre  auch 
dumm,  wenn  sie  keinen  Vorteil  aus  der  Lage  zöge. 
Die  Meldungen  vom  Kriegsschauplatz  sind  übrigens 

372 


so  widersprechend,  daß  es  fast  unmöglich  ist,  sich 
ein  klares  Bild  der  Lage  zu  machen. 

Norwegen,  Baleholm,ig.Juli  1913. 

Gegen  die  Ereignisse  auf  dem  Balkan  sind  wir  alle 
etwas  abgestumpft.  Kein  Mensch  weiß  mehr,  was  dar- 
aus werden  soll.  Nun  fangen  die  Türken  auch  wieder 
an,  benutzen  die  Wehrlosigkeit  Bulgariens  und  mar- 
schieren auf  Adrianopel.  Bulgarien  hat  zu  unsinnig 
alles  aufs  Spiel  gesetzt,  um,  wie  es  scheint,  alles  Ge- 
wonnene wieder  zu  verlieren.  Qui  trop  embrasse,  mal 
ötreint!  —  Ich  denke  mir,  das  nächste  Ereignis  wird, 
wenn  Bulgarien  abgetan  ist,  der  Krieg  zwischen  Ser- 
bien und  Griechenland,  den  beiden  jetzt  Verbünde- 
ten, werden.  Man  täte  am  besten,  den  ganzen  Balkan 
mit  einem  Gitter  zu  umgeben,  und  es  nicht  eher  wie- 
der aufzumachen,  bis  alles  dort  sich  totgeschlagen 
hat.  —  Solange  Österreich  und  Rußland  sich  nicht  in 
die  Wirren  einmischen,  sehe  ich  keine  Gefahr  eines 
europäischen  Konflikts.  —  Das  unglückliche  Land, 
in  dem  die  Kriegführenden  abwechselnd  die  Bewoh- 
ner hinschlachten,  je  nachdem  sie  irgendwo  hinkom- 
men, kann  einem  leid  tun.  Was  für  fürchterliche  Greuel 
werden  dort  verübt,  denn  einer  ist  des  andern  wür- 
dig; die  Serben  schlachten  die  Einwohner  genau  so 
regelmäßig  wie  die  Bulgaren,  und  die  Griechen  schei- 
nen es  nicht  besser  zu  machen. 

Norwegen,  Baleholm,  22.  Juli  1913. 

Was  die  Entwicklung  der  kriegerischen  Ereignisse 
auf  dem  Balkan  und  ihre  politische  Rückwirkung  be- 
trifft, so  glaube  ich,  daß  wir  mit  dem  Verlauf  ganz 
zufrieden  sein  können.  Rußland,  das  so  gerne  die 
Rolle  des  Protektors  der  Balkanstaaten  gespielt  hätte 
und  eine  entscheidende  Vermittlung  ausüben  wollte, 

373 


hat  sich  stark  in  die  Nesseln  gesetzt.  Die  Kriegfüh- 
renden haben  ihm  einfach  einen  Korb  gegeben  und 
erklärt,  sie  würden  ihre  Sache  ohne  Vermittlung  un- 
ter sich  ausmachen.  —  Griechenland  tritt  durch  seine 
Erfolge  den  Bulgaren  gegenüber  immer  mehr  in  den 
Vordergrund  und  wenn  eine  Verständigung  zwischen 
ihm  und  Rumänien  zustande  kommt,  was  anschei- 
nend der  Fall  ist,  dann  wird  damit  ein  Gegen- 
gewicht gegen  die  panslawistischen  Bestrebungen 
auf  dem  Balkan  geschaffen  und  eine  Mächtegruppe 
hergestellt,  die  nicht  auf  russisches  Kommando  hin 
marschieren  wird. 

Auch  Österreich  scheint  endlich  einzusehen,  daß 
es  mit  den  Verhältnissen  rechnen  muß,  wie  sie  sind 
und  nicht  mit  solchen,  die  es  sich  wünschen  möchte. 
Die  unerfreuliche  Spannung  zwischen  ihm  und  Ru- 
mänien scheint  behoben,  das  ist  für  uns,  in  Anbe- 
tracht eines  eventuellen  Zusammenstoßes  zwischen 
Germanen-  und  Slawentum,  von  großer  Bedeutung. 
—  Bulgarien  sitzt  in  einer  hoffnungslosen  Klemme. 
Die  rumänische  Kavallerie  streift  schon  in  die  Ge- 
gend von  Sofia  und  König  Ferdinand  mag  das  Herz 
wohl  recht  tief  in  die  Hosen  gefallen  sein!  Es  bleibt 
ihm  nichts  übrig,  als  Frieden  zu  machen  und  alles  zu 
bewilligen,  was  seine  Gegner  verlangen.  —  Ein  sol- 
cher Umschwung  vom  größten  Erfolg  zu  völliger 
Ohnmacht,  ist  ohne  Beispiel  in  der  Weltgeschichte. 
Übrigens  ist  das  den  Bulgaren  zu  gönnen.  Sie  sind 
nach  den  von  ihnen  verübten  Greueltaten  nicht  mehr 
als  kriegsführender  Staat,  sondern  als  eine  Horde  von 
Verbrechern  zu  betrachten.  In  der  Stadt  Serres  haben 
sie  beim  Rückzug  von  2700  Einwohnern  nur  ein  paar 
hundert  am  Leben  gelassen  und  alles  verbrannt,  die 
reinen  Hunnen.  Ich  glaube,  daß  der  Friede  bald  ge- 
schaffen werden  wird,  denn  sie  sind  am  Ende. 

374 


In  China  ist  auch  wieder  der  Teufel  los.  Der  Süden 
empört  sich  gegen  Peking  und  Yuan  Shi  Kai.  Der 
Krieg  ist  im  Gange,  und  schon  streckt  Rußland  seine 
gierige  Hand  nach  der  Mongolei  und  der  nördlichen 
Mandschurei  aus.  Wieviel  Menschen  werden  täglich 
umgebracht! 

Posen,  27.  August  1913. 

General  Pollio,  der  hier  ist,  hat  mir  gut  gefallen,  er 
spricht  nur  französisch,  scheint  für  unsere  Armee 
eine  aufrichtige  Bewunderung  zu  haben. 

Generalstab  Berl  in,  22. Dezember  1913. 

Das  Kommando  des  Kronprinzen  ladet  mir  eine 
nicht  leichte  und  verantwortungsvolle  Aufgabe  auf. 
Nicht  persönlich,  denn  er  ist  ein  sehr  charmanter 
und  liebenswürdiger  Herr,  aber  sachlich.  Er  muß  zur 
Arbeit,  wenigstens  zur  Wertschätzung  der  Arbeit  er- 
zogen werden,  er  muß  einsehen  lernen,  daß  Pflicht- 
erfüllung wichtiger  ist  als  Sporttreiben. 

Rede  Moltkes  am  Geburtstag  Sr.  Majestät  des  Kaisers 
27.  Januar  19 14. 

Meine  Herren! 

Ich  möchte  namens  des  Generalstabes  unserer 
Freude  darüber  Ausdruck  geben,  daß  es  uns  heute 
vergönnt  ist,  den  schönsten  Festtag  der  Armee,  den 
Geburtstag  unseres  Allerhöchsten  Kriegsherrn,  im 
Verein  mit  einer  großen  Zahl  früherer  Angehöriger 
des  Generalstabes  feiern  zu  können,  und  ich  möchte 
den  Herren  dafür  danken,  daß  sie  durch  ihr  zahlrei- 
ches Erscheinen  das  Gefühl  kameradschaftlicher  Zu- 
sammengehörigkeit betätigt  haben. 

Für  diese  kameradschaftliche  Zusammengehörig- 
keit, die  alle  Teile  des  gesamten  Heeres  umfaßt,  ist  ja 

375 


der  Generalstab  der  prägnanteste  Ausdruck,  denn  er 
vereinigt  in  sich  die  Angehörigen  aller  deutschen 
Bundeskontingente  zu  gemeinsamer  Arbeit  für  Kai- 
ser und  Reich. 

Aber  nicht  nur  die  Kameradschaft  ist  es,  die  uns 
heute  zusammengeführt  hat,  es  ist  die  uns  allen  ge- 
meinsame, uns  alle  umfassende,  treue  Hingabe  an 
unseren  kaiserlichen  Herrn. 

Meine  Herren,  lassen  Sie  uns  als  Geburtstagsgabe 
für  unseren  Kaiser  das  Gelübde  erneuern,  fest  zu  ihm 
zu  stehen  in  guten  und  schlimmen  Tagen.  —  Je  mehr 
eine  vaterlandslose  Demagogie  an  der  Arbeit  ist,  Un- 
frieden und  Zwietracht  zu  säen  zwischen  den  deut- 
schen Stämmen  und  Ständen,  je  mehr  sie  daran  ar- 
beitet, die  letzte  und  festeste  Stütze  von  Staat  und 
Monarchie,  das  Heer,  zu  untergraben,  desto  mehr  wird 
es  unsere  Pflicht,  uns  fest  zusammenzuschließen  zur 
Wahrung  der  heiligen  Güter,  die  eine  große  Vergan- 
genheit uns  überliefert  hat. 

Lassen  Sie  uns  in  dem  Bewußtsein,  daß  das  ge- 
samte Heer,  getragen  von  dem  Geist  der  Treue  und 
der  Pflicht,  geschlossen  hinter  unserem  Allerhöch- 
sten Kriegsherrn  steht,  unsere  Gläser  erheben  auf  die 
Zukunft  Deutschlands  und  auf  das  Wohl  unseres 
Kaisers  und  Herrn. 

Generalstab  Berlin,  22.Februar  1914. 

Mit  dem  kommenden  Frühling  fängt  es  wie  all- 
jährlich wieder  an,  politisch  zu  kriseln.  Man  sieht  in 
Österreich  einer  politischen  Aktion  Rußlands  ent- 
gegen und  Österreich  hat  sich  militärisch  durch  seine 
unverständliche  Politik  gegen  Rumänien  selber  in 
eine  schwierige  Lage  gebracht.  —  Nun  soll  Berlin 
das  wieder  gut  machen.  Ist  aber  nicht  so  leicht! 

376 


Generalstab  Berlin,  y.März  1914. 

Heute  morgen  habe  ich  einer  Anzahl  von  Reichs- 
tagsabgeordneten einen  Vortrag  über  Photostereo- 
skopie im  Bibliotheksaal  des  Generalstabes  halten 
lassen,  mit  Lichtbildern.  Es  handelt  sich  darum,  daß 
ich  einen  Abteilungschef  mehr  beantragt  habe  und 
daß  im  Reichstag  für  diese  Materie  kein  Verständnis 
vorhanden  war.  Um  ihnen  dies  beizubringen,  fand 
diese  Veranstaltung  statt.  Sie  haben  alle  viel  Inter- 
esse gezeigt  und  ihrem  Erstaunen  über  die  techni- 
schen Möglichkeiten  der  Ausnutzung  der  Photogra- 
phie Ausdruck  gegeben. 

Generalstab  Berlin,  g.  März  1914. 

Morgen  habe  ich  ein  Diner  zu  zwölf  Personen  aus 
Anlaß  der  Anwesenheit  einer  italienischen  Militär- 
mission. 

Generalstab  Berlin,  11. März  1914. 

Ich  trank  bei  Tisch  dem  italienischen  General  Zuc- 
cari  zu,  ohne  eine  Rede  zu  halten,  worauf  er  aufstand 
und  eine  Rede  auf  mich  hielt,  in  der  er  sagte,  daß 
ich  mir  das  größte  Verdienst  erworben  habe,  daß  man 
in  Italien  und  in  Österreich  mit  dem  größten  Ver- 
trauen auf  mich  blicke  usw.  usw.  —  Es  war  mir  recht 
peinlich,  wie  Du  Dir  denken  kannst. 

Generalstab  Berlin,  22.  März  1914. 

Ich  war  heute  vormittag  bei  der  Eröffnungsfeier 
der  Neuen  Bibliothek.  Das  Gebäude  ist  sehr  schön, 
mit  mächtigem  Kuppelsaal,  dessen  Kuppel  etwas 
größer  sein  soll,  als  diejenige  der  Peterskirche.  Ganz 
aus  Eisenbeton  erbaut,  der  genau  so  aussieht  wie 
grauer  Sandstein.  Es  wurden  eine  ganze  Reihe  von 

377 


Reden  gehalten,  unter  denen  diejenige  des  Kaisers 
die  beste  war. 

Karlsbad  ,  27.  April  1914. 

Die  Geschichte  in  Mexiko  wird,  soweit  ich  es  be- 
urteilen kann,  ein  Reinfall  für  die  Union  werden,  denn 
das  ganze  Land  schließt  sich  gegen  die  Amerikaner 
zusammen,  und  es  wird  ihnen  nicht  leicht  werden, 
mit  dem  Lande,  das  etwa  viermal  so  groß  ist  wie 
Deutschland,  fertig  zu  werden.  —  Ich  glaube,  Präsi- 
dent Wilson  wird  froh  sein,  wenn  er  mit  einem  blauen 
Auge  aus  der  Affäre  herauskommt.  Zu  internationa- 
len Verwicklungen  wird  die  Sache  nicht  führen. 

Baden-Baden,  30.  Mai  1914. 

Wir  waren  heute  auf  den  Schlachtfeldern  von 
Weißenburg  und  Wörth,  auf  denen  ich  vor  vierund- 
vierzig Jahren  die  Feuertaufe  erhielt.  Du  kannst  Dir 
denken,  daß  auf  diesen  blutgetränkten  Geländen  die 
Erinnerungen  an  die  große  Zeit  lebhaft  wieder  er- 
wachen. Mir  wurde  der  Gefechtsbericht  überreicht, 
den  ich  als  Fähnrich  am  Abend  der  Schlacht  von 
Weißenburg  im  Biwak  geschrieben  hatte  und  den 
man  in  den  Kriegsakten,  merkwürdigerweise,  vorge- 
funden hatte.  Ich  mußte  ihn  damals  schreiben,  da 
alle  Offiziere  der  Kompagnie  gefallen  waren  und  ich 
die  Kompagnie  führte.  Hatte  es  ganz  vergessen.  Der 
Bericht,  auf  einen  Bogen  groben  Papiers  geschrie- 
ben, gefiel  mir  ganz  gut,  er  ist  einfach,  sachlich  und 
ganz  verständig,  ohne  Prahlerei,  vonmir  selber  sprach 
ich  bescheidenerweise  nur  in  der  dritten  Person  als: 
der  Fähnrich.  —  Das  Papier  machte  mir  Spaß.  Es  ist 
interessant,  die  Striche  im  Gelände  wieder  aufzufin- 
den, die  ich  damals  im  Feuer  gegangen  bin. 

378 


Metz,  5.  Juni  1914. 

Es  macht  mir  Freude,  den  Kronprinzen  in  die  Ver- 
hältnisse unserer  Grenzlande  einzuführen.  Er  ist  vol- 
ler Interesse  bei  der  Sache.  Es  steckt  viel  gute  An- 
lage in  ihm,  der  junge  Most  kann  einmal  einen  guten 
Wein  geben. 

Kyllburg,  7.  Juni  1914. 

Du  hast  gewiß  Recht  mit  Deinen  Ausführungen 
über  die  Entwicklung  der  Seelenfreiheit,  ich  habe 
sie  mit  großem  Interesse  gelesen.  Du  weißt,  daß 
heute  (Sonntag)  mein  Arbeitstag  ist,  ich  habe  viel  zu 
tun,  habe  schon  stundenlang  geschrieben  und  muß 
mich  kurz  fassen,  kann  daher  auf  Dein  Thema  heute 
nicht  näher  eingehen.  —  Ich  denke  am  11.  in  Köln 
die  Schlußbesprechung  abzuhalten.  Nachmittags  will 
ich  dann  nach  Homburg  und  von  dort  am  12.  einen 
Tag  ins  Manövergelände  fahren.  Am  13.,  morgens, 
denke  ich  in  Berlin  einzutreffen. 

Generalstab  Berlin,  16. Juni  1914. 

Wir  sind  lange  getrennt  gewesen,  seit  langer  Zeit, 
laß  uns  hoffen,  daß  uns  mal  wieder  ein  längeres  Zu- 
sammensein beschieden  werde.  Am  Donnerstag  hoffe 
ich  Vortrag  bei  Sr.  Majestät  zu  haben,  dann  will  ich 
ihn  bitten,  mich  von  der  Nordlandsreise  zu  dispensie- 
ren. Es  muß  eben  mal  ohne  mich  gehen. 

Generalstab  Berlin,  18.  Juni  1914. 

Wenn  ich  von  der  Nordlandsreise  dispensiert  werde, 
denke  ich  am  2.  Juli  nach  Karlsbad  zu  kommen.  Ich 
kann  vorher  nicht  gut  weg,  da  ich  noch  zu  viel  dienst- 
liche Dinge  zu  erledigen  habe.  Wenn  Ihr  fünf  Wo- 
chen dort  bleibt,  würden  wir  ja  auch  dann  noch  etwa 
drei  Wochen  zusammen  sein. 

379 


Generalstab  Berlin,  ig. Juni  1914. 

Gestern  abend  habe  ich  nun  Se.  Majestät  gebeten, 
mich  von  der  Nordlandsreise  zu  dispensieren.  Die 
Sache  machte  keine  Schwierigkeiten,  er  bedauerte  es 
zwar  sehr,  daß  ich  nicht  mitkäme. 

Karlsbad,  17. Juli  1914. 

Was  Deine  Reise  nach  Bayreuth  anbetrifft,  so  wirst 
Du  sie  nach  den  neuesten  Nachrichten,  die  ich  er- 
halten habe,  ruhig  machen  können.  —  Vor  dem  25. 
wird  nichts  Entscheidendes  geschehen. 

Karlsbad,  18.  Juli  1914. 

Ich  hoffe  sehr,  daß  Du  an  Deiner  Bayreuther  Reise 
nichts  ändern  wirst.  Wenn  ich  auch  zwei  Tage  al- 
leine in  Berlin  bin,  so  schadet  das  wirklich  gar  nichts. 
Ich  freue  mich  sehr  auf  unser  Zusammensein  im  Au- 
gust, wenn  Du  aus  Bayreuth  zurückkommst. 

Karlsbad,  ig.  Juli  1914. 

Ich  glaube  noch  nicht  recht  an  ein  ungestörtes  Zu- 
sammenleben im  August.  Entweder  wirst  Du  zu  Olga 
gehen  oder,  wenn  es  mit  der  Mama  schlecht  gehen 
sollte  —  nach  Gvesarum,  oder  es  wird  irgend  etwas 
anderes  kommen. 

Karlsbad,  21. Juli  1914. 

Es  freut  mich,  daß  Du  Dr.  Steiner  gesehen  und  ge- 
sprochen hast,  es  ist  Dir  ja  immer  eine  solche  innere 
Erfrischung  und  Stärkung,  mit  ihm  zu  reden.  Ich 
würde  mich  auch  freuen,  ihn  im  August  zu  sehen, 
wenn  er  nach  Berlin  kommen  sollte. 

Nun  soll  also  der  Donnerstag  die  Entscheidung 
bringen!  Ich  fange  allmählich  an,  etwas  skeptisch  in 
dieser  Sache  zu  werden! 

380 


Generalstab  Berlin,  26.  Juli  1914. 

Hier  im  Generalstab  wartete  W.  auf  mich  und  wir 
hatten  eine  längere  Besprechung.  —  Ich  will  nach- 
her —  es  ist  jetzt  10  Uhr  —  aufs  Auswärtige  Amt 
gehen,  um  mich  mit  J.  zu  besprechen.  Die  Lage  ist 
noch  ziemlich  ungeklärt.  Die  weitere  Gestaltung  der 
Dinge  hängt  lediglich  von  der  Haltung  Rußlands  ab, 
unternimmt  dies  keinen  feindlichen  Akt  gegen  Öster- 
reich, so  wird  der  Krieg  lokalisiert  bleiben.  Gestern 
abend  zogen  Tausende  von  Menschen  vor  der  öster- 
reichischen Botschaft  vorbei  und  brachten  Ovatio- 
nen aus,  bis  spät  in  die  Nacht  dauerten  die  Hurra- 
rufe, die  Leute  sangen  patriotische  Lieder,  es  war 
beinahe  so,  als  ob  wir  selber  mobil  gemacht  hätten. 
Die  Stimmung  in  der  Presse  ist  gut,  sogar  das  »Ber- 
liner Tageblatt«  schreibt  energisch  in  österreichi- 
schem Sinne.  Du  wirst  aber  wohl  am  Dienstag  zu- 
rückkommen. Bis  dahin  wird  auch  kaum  eine  grös- 
sere Entscheidung  gefallen  sein.  Genieße  das  Schöne, 
das  Dir  noch  geboten  wird. 

Generalstab  Berlin,  27. Juli  1914. 

Heute  morgen  war  ich  lange  bei  Bethmann,  komme 
eben  von  dort  zurück  und  muß  in  einer  Stunde  nach 
dem  Neuen  Palais,  wo  der  Kaiser  um  3  Uhr  eintref- 
fen wird.  Die  Lage  ist  dauernd  recht  unklar.  Sehr 
schnell  wird  sie  sich  nicht  klären,  es  werden  noch 
etwa  vierzehn  Tage  vergehen,  bevor  man  etwas  Be- 
stimmtes wissen  oder  sagen  kann.  Du  kannst  diese 
Zeit  in  Bayreuth  ruhig  zu  Ende  bleiben,  meinetwegen 
brauchst  Du  keine  Sorge  zu  haben.  —  Ich  habe  den 
gestrigen  Tag,  der  allerdings  etwas  anders  war  als 
der  Karlsbader  Kurtag,  ausgezeichnet  durchgehalten, 
fühle  mich  wohl  und  frisch. 

38i 


Luxemburg,  2g.August  1914. 

Ich  sitze  hier  in  der  Schule,  in  der  wir  auch  hier 
unsere  Bureaus  errichtet  haben.  Es  ist  alles  noch  un- 
fertig und  bei  weitem  nicht  so  bequem  wie  in  Ko- 
blenz. Wir  haben  weder  Gas  noch  elektrisch  Licht, 
nur  trübe  Petroleumlampen.  Desto  helleres  Licht  er- 
strahlt mir  aus  den  Meldungen,  die  von  unseren  Ar- 
meen heute  eingelaufen  sind.  Im  Osten  ist  ein  voller 
Sieg  erfochten,  so  viele  Gefangene,  daß  die  Armee 
nicht  weiß,  wie  sie  sie  fortschaffen  soll.  —  Im  We- 
sten meldet  die  2.  Armee  unter  Bülow  einen  vollen 
Sieg,  der  heute  gegen  fünfeinhalb  französische  Korps 
erfochten  worden  ist. 

Wir  wohnen  alle  zusammen,  das  heißt  meine  Her- 
ren und  ich,  in  dem  Hotel  de  Cologne,  das  einen 
deutschen  Wirt  hat.  Es  ist  nicht  sehr  schön,  aber 
man  muß  im  Felde  vorliebnehmen.  Es  kommt  ja 
auch  nicht  darauf  an,  ob  man's  ein  bißchen  besser 
oder  schlechter  hat. 

Ich  bin  froh,  für  mich  zu  sein  und  nicht  am  Hofe. 
Ich  werde  ganz  krank,  wenn  ich  dort  das  Gerede  höre, 
es  ist  herzzerreißend,  wie  ahnungslos  der  hohe  Herr 
über  den  Ernst  der  Lage  ist.  Schon  kommt  eine  ge- 
wisse Hurrastimmung  auf,  die  mir  bis  in  den  Tod 
verhaßt  ist.  —  Nun,  ich  arbeite  mit  meinen  braven 
Leuten  ruhig  weiter.  Bei  uns  gibt  es  nur  den  Ernst 
der  Pflicht  und  keiner  ist  sich  darüber  im  unklaren, 
wie  viel  und  Schweres  noch  getan  werden  muß. 

Luxemburg,  31.  August  1914. 

Der  Erfolg  im  Osten  ist  groß  und  wird  unsere  un- 
glückliche Provinz  hoffentlich  von  den  Russen  säu- 
bern. Die  Verwüstungen,  die  sie  angerichtet  haben, 
muß  eine  spätere  Zeit  heilen,  wenn  wir  wieder  Frie- 

382 


den  haben.  —  Auch  im  Westen  wieder  ein  Erfolg 
bei  der  2.  Armee  unter  Bülow,  zu  der  das  Gardekorps 
gehört.  Es  soll  schwere  Verluste  gehabt  haben.  Heute 
und  morgen  kämpfen  die  Armeen  der  Mitte,  es  wird 
ein  Entscheidungskampf  sein,  von  dessen  Ausgang 
unendlich  viel  abhängt. 

Luxemburg,  1. September  1914. 

Heute,  am  Schlachttage  von  Sedan,  haben  wir  wie- 
der einen  großen  Erfolg  über  die  Franzosen  errun- 
gen. Der  Kaiser  war  auf  meinen  Wunsch  heute  draus- 
sen  bei  dem  Oberkommando  der  5.  Armee,  bei  dem 
Kronprinzen,  und  bleibt  die  Nacht  draußen.  Es  ist 
gut  für  ihn,  daß  er  einmal  zur  Truppe  kommt  und 
daß  sie  ihn  sieht,  auch,  daß  er  auf  französischem  Bo- 
den ist. 

Luxemburg,  2. September  1914. 

Ich  bin  eben  aus  Frankreich  zurückgekommen.  Ich 
war  auf  dem  Fort  Longwy,  das  gleich  nach  dem  Ein- 
marsch zusammengeschossen  wurde.  Die  Wirkung 
unserer  schweren  Artillerie  ist  vernichtend.  Das  ganze 
Fort,  das  eine  kleine  Stadt  umschloß,  ist  ein  Trüm- 
merhaufen. —  Der  Kaiser  kam  heute  von  den  Trup- 
pen zurück,  in  Hurrastimmung.  —  In  Österreich  geht 
es  schlecht.  Die  Armee  kommt  nicht  vorwärts.  Ich 
sehe  es  kommen,  daß  sie  geworfen  wird. 

Luxemburg,  3. September  1914. 

Heute  ist  nichts  Neues  vorgefallen.  Mit  den  Öster- 
reichern geht  es  schlecht,  und  wir  können  ihnen  zur 
Zeit  nicht  helfen,  müssen  Gott  danken,  wenn  wir  mit 
unseren  Gegnern  fertig  werden.  Gott  gebe,  daß  bald 
irgendein  Ereignis  in  Rußland  eintritt,  das  uns  von 
den  moskowitischen  Massen  entlastet. 

383 


Luxemburg,  7. September  1914. 

Heute  fällt  eine  große  Entscheidung,  unser  ganzes 
Heer  von  Paris  bis  zum  oberen  Elsaß  steht  seit  ge- 
stern im  Kampf.  Müßte  ich  heute  mein  Leben  hin- 
geben, um  damit  den  Sieg  zu  erkämpfen,  ich  täte  es 
mit  tausend  Freuden,  wie  es  wieder  Tausende  unserer 
BrüderheutetunundTausendeesgetanhaben.Welche 
Ströme  von  Blut  sind  schon  geflossen,  welcher  na- 
menlose Jammer  ist  über  die  ungezählten  Unschuldi- 
gen gekommen,  denen  Haus  und  Hof  verbrannt  und 
verwüstet  ist.  —  Mich  überkommt  oft  ein  Grauen, 
wenn  ich  daran  denke,  und  mir  ist  zu  Mute,  als  müßte 
ich  dieses  Entsetzliche  verantworten,  und  doch  konnte 
ich  nicht  anders  handeln,  als  geschehen  ist. 

Luxemburg,  8. September  1914. 

Ich  kann  es  schwer  sagen,  mit  welcher  namenlosen 
Schwere  die  Last  der  Verantwortung  die  letzten  Tage 
auf  mir  gelastet  hat  und  noch  lastet.  Denn  noch  im- 
mer ist  das  große  Ringen  vor  der  gesamten  Front 
unseres  Heeres  nicht  entschieden.  Es  handelt  sich 
hierbei  um  Wahrung  oder  Verlust  des  bisher  mit  un- 
endlichen Opfern  Errungenen,  es  wäre  furchtbar, 
wenn  all  dies  Blut  vergossen  sein  sollte,  ohne  einen 
durchschlagenden  Erfolg.  Die  schreckliche  Span- 
nung dieser  Tage,  das  Ausbleiben  von  Nachrichten 
von  den  weit  entfernten  Armeen,  das  Bewußtsein 
dessen,  was  auf  dem  Spiel  steht,  geht  fast  über 
menschliche  Kraft.  —  Die  furchtbare  Schwierigkeit 
unserer  Lage  steht  oft  wie  eine  schwarze  Wand  vor 
mir,  die  undurchdringlich  scheint.  —  Heute  abend 
sind  etwas  günstigere  Nachrichten  von  der  Front 
eingetroffen.  Gott  gebe,  daß  wir  noch  einmal  mit  un- 
seren zusammengeschmolzenen  Truppen  einen  Er- 

384 


folg  haben.  Das  Gardekorps  ist  wieder  schwer  im 
Kampf  gewesen,  es  soll  fast  bis  auf  die  Hälfte  seines 
Bestandes  heruntergekommen  sein. 

Es  ist  eine  schwere  Zeit,  und  namenlose  Opfer  hat 
dieser  Krieg  schon  gefordert  und  wird  sie  weiter  for- 
dern. Die  ganze  Welt  hat  sich  gegen  uns  verschwo- 
ren, es  sieht  so  aus,  als  ob  es  die  Aufgabe  aller  übri- 
gen Nationen  wäre,  Deutschland  endgültig  zu  ver- 
nichten. —  Die  wenigen  neutralen  Staaten  sind  uns 
gegenüber  nicht  freundlich  gesinnt.  Deutschland  hat 
keinen  Freund  in  der  Welt,  es  steht  ganz  alleine  auf 
sich  angewiesen. 

Von  der  heutigen  Entscheidung  hängt  es  ab,  ob 
wir  noch  hier  bleiben.  —  Lange  jedenfalls  nicht  mehr. 
Der  Kaiser  muß  nach  Frankreich  hinein,  näher  an  die 
Armee  heran,  er  muß  wie  seine  Truppen  in  Feindes- 
land sein. 

Luxemburg,  9. September  1914. 

Es  geht  schlecht.  Die  Kämpfe  im  Osten  von  Paris 
werden  zu  unseren  Ungunsten  ausfallen.  Die  eine 
unserer  Armeen  muß  zurückgehen,  die  andern  wer- 
den folgen  müssen.  Der  so  hoffnungsvoll  begonnene 
Anfang  des  Krieges  wird  in  das  Gegenteil  umschla- 
gen. —  Ich  muß  das,  was  geschieht,  tragen,  und  werde 
mit  meinem  Lande  stehen  oder  fallen.  Wir  müssen 
ersticken  in  dem  Kampf  gegen  Ost  und  West.  —  Wie 
anders  war  es,  als  wir  vor  wenigen  Wochen  den  Feld- 
zug so  glanzvoll  eröffneten  —  die  bittere  Enttäu- 
schung kommt  jetzt  nach.  Und  wie  werden  wir  zu 
zahlen  haben  für  alles,  was  zerstört  ist. 

Der  Feldzug  ist  ja  nicht  verloren,  ebensowenig  wie 
er  es  bisher  für  die  Franzosen  war,  aber  der  französi- 
sche Elan,  der  auf  dem  Punkt  stand,  zu  erlöschen, 
wird  mächtig  aufflammen,   und  ich  fürchte,  unser 

Moltke.        25.  385 


Volk  in  seinem  Siegestaumel  wird  das  Unglück  kaum 
ertragen  können.  —  Wie  schwer  dies  mir  wird,  kann 
niemand  besser  ermessen  —  als  Du,  die  Du  ganz  in 
meiner  Seele  lebst. 

TELEGRAMM  S.M.DES  KAISERS  UND  KÖNIGS. 

Mit  bestem  Glückwunsche 

Luxemburg,  14.  September  1914.  Wilhelm. 

Chef  des  Generalstabes. 

Die  Wilnaer  Armee,  II.,  III.,  IV.,  XX.  Armeekorps,  drei  bis 
vier  Reserve-Divisionen,  fünf  Kavallerie-Divisionen,  ist  durch  die 
Schlacht  an  den  Masurischen  Seen  und  die  sich  daran  anschlies- 
sende Verfolgung  vollständig  geschlagen.  Die  Grodnoer  Reserve- 
Armee,  XXII.  A.-K.,  Rest  des  VI.  A.-K,  Teile  des  III.  Sibirischen 
Korps,  hat  im  besonderen  Gefecht  bei  Lyk  schwer  gelitten.  Der 
Feind  hat  starke  Verluste  von  Toten  und  Verwundeten.  Die 
Zahl  der  Gefangenen  steigert  sich.  Die  Kriegsbeute  ist  außer- 
ordentlich. Bei  der  Frontbreite  der  Armee  von  über  hundert 
Kilometern,  den  ungeheuren  Marschleistungen  von  zum  Teil  hun- 
dertfünfzig Kilometern  in  vier  Tagen,  bei  den  sich  auf  dieser 
ganzen  Front  und  Tiefe  abspielenden  Kämpfen,  kann  ich  den 
vollen  Umfang  noch  nicht  melden.  Einige  unserer  Verbände  sind 
scharf  ins  Gefecht  gekommen.  Die  Verluste  sind  aber  doch  nur 
gering.  Die  Armee  war  siegreich  auf  der  ganzen  Linie  gegen  ei- 
nen hartnäckig  kämpfenden,  aber  schließlich  fliehenden  Feind. 
Die  Armee  ist  stolz  darauf,  daß  ein  Kaiserlicher  Prinz  in  ihren 
Reihen  gekämpft  und  geblutet  hat. 

gez.  Hindenburg. 
(Eigenhändig  vom  Kaiser  geschrieben  und  Moltke  zugeschickt 
am  14.  September  1914.) 

Mözieres,  27. September  1914. 

Ich  fahre  heute  mittag  wieder  von  hier  ab  nach 
Brüssel,  um  dort  die  Sache  in  Schwung  zu  bringen. 
Unsere  Lage  in  Frankreich  ist  noch  immer  unverän- 
dert. Wir  brauchen  einen  Erfolg  an  irgendeiner  Stelle, 
er  kommt  und  kommt  nicht. 

386 


Mezieres,3-  Oktober  1914. 
Unsere  Lage  ist  noch  immer  kritisch,  aber  auch 
hier  in  Frankreich  kann  jeden  Tag  eine  Wendung 
eintreten,  wie  wir  gestern  vor  Antwerpen  einen  schö- 
nen Erfolg  gehabt  haben.  Ein  solcher  Erfolg  im  We- 
sten, und  alles  ist  gerettet.  —  Du  weißt,  daß  ich  mich 
gesträubt  habe,  mich  krank  zu  melden  und  abzurei- 
sen, Du  weißt,  daß  ich  Dir  sagte,  mein  Platz  ist  hier, 
ich  stehe  und  falle  mit  dem  Heere.  —  Ich  werde  viel- 
leicht schon  morgen  nach  Brüssel  zurückkehren,  wo 
die  Entscheidung  heranreift,  und  es  gut  ist,  wenn  ich 
dort  bin,  damit  die  Einheitlichkeit  gewahrt  bleibt.  — 
Das  Gardekorps  ist  an  eine  andere  Stelle  gezogen  und 
wird  wohl  wieder  neue  Kämpfe  zu  bestehen  haben. 

TELEGRAMM  DES  KAISERS. 
Generaloberst  v.  Moltke,  Gouvernement  Brüssel. 

Den  10.  Oktober  1914. 
Ich  spreche  Ihnen  Meinen  Königlichen  Dank  aus  für  Ihre 
erfolgreiche  Mitwirkung  bei  der  Einnahme  von  Antwerpen,  die 
für  immer  eine  der  ruhmreichsten  Waffentaten  sein  wird,  und 
verleihe  Ihnen  in  hoher  Anerkennung  Ihrer  Mir  bisher  geleiste- 
ten vortrefflichen  Dienste  das  Eiserne  Kreuz  erster  Klasse.  Ich 
bin  voll  Dank  gegen  Gott  für  diesen  herrlichen  Erfolg. 

Wilhelm  LR. 

Mezieres,  11.  Oktober  1914. 

Ich  versuche,  soviel  wie  möglich,  mich  zu  orien- 
tieren über  alles,  was  gemacht  wird,  und  das  Verhält- 
nis zwischen  Falkenhayn  und  mir  aufrecht  zu  erhal- 
ten, es  ist  nicht  leicht,  aber  ich  tue,  was  ich  kann.  Ich 
glaube,  eine  schwerere  Prüfung  kann  einem  Men- 
schen kaum  auferlegt  werden.  —  Gestern  bin  ich  von 
Antwerpen  zurückgekommen.  Ich  habe  dort  wenig- 
stens etwas  helfen  können,  während  ich  hier  nur  Zu- 

387 


schauer  bin.  —  Der  Fall  Antwerpens  war  seit  langem 
wenigstens  mal  wieder  ein  Erfolg. 

Mezieres,  22. Oktober  1914. 

Ich  bin  nun  doch  zusammengeklappt,  nachdem 
mein  Körper  sich  bisher  so  gut  gehalten  hatte.  Es  ist 
eine  Entzündung  der  Gallenblase  und  Stauung  im 
rechten  Leberlappen.  An  und  für  sich  ist  die  Sache 
nicht  schlimm,  ich  muß  aber  liegen.  Dr.  N.  vom  Kai- 
ser behandelt  mich  in  netter  und  angenehmer  Weise, 
er  rechnet  damit,  daß  die  Sache  in  noch  acht  Tagen 
ganz  überwunden  sein  wird.  —  Für  mich  war  diese 
Erkrankung  ein  harter  Schlag,  gerade  am  Tage  vor- 
her hatte  ich  mit  Sr.  Majestät  gesprochen.  Es  war  so, 
wie  ich  es  gedacht  hatte.  Der  Kaiser  war  in  der  Idee, 
daß  ich  eigentlich  die  Sache  leitete  und  Falkenhayn 
nur  gewissermaßen  Hilfsarbeiter  sei.  Ich  habe  ihm 
die  Sache  nun  klargelegt  und  gesagt,  daß  ich  ganz 
ausgeschaltet  bin.  Er  sagte,  er  wolle  »Remedur«  ein- 
treten lassen. 

Mezieres,  24.  Oktober  1914. 

Der  Kaiser  war  gestern  eine  Stunde  bei  mir,  sehr 
gütig,  persönlich  ist  er  augenscheinlich  der  Alte  mir 
gegenüber  geblieben.  Einen  klaren  Einblick  in  die 
Lage,  in  die  er  mich  gebracht  hat,  hat  er  wohl  nicht. 
Ich  konnte  gestern  auch  nicht  darüber  sprechen,  muß 
es  aber  tun,  wenn  ich  gesund  bin,  in  drei  bis  vier 
Tagen  denke  ich.  —  P.  sagte  mir,  der  Kaiser  wollte 
mir  eins  seiner  Jagdschlösser  anbieten,  wenn  ich  mich 
einige  Zeit  erholen  wollte.  Vielleicht  ist  dies  der  ein- 
zige Weg,  um  zu  einer  Änderung  zu  kommen,  ich 
weiß  es  noch  nicht,  möchte  es  sehr  ungern. 

Der  Erfolg,  auf  den  wir  hofften,  ist  nicht  eingetre- 
ten, immer  wieder  Enttäuschung.  Es  ist,  als  ob  uns 

388 


nichts  mehr  glücken  sollte,  und  doch  muß  endlich 
der  Erfolg  kommen,  wenn  wir  nicht  in  der  Masse 
unserer  Gegner  ersticken  sollen. 

Mezieres,  26.  Oktober  1914. 

Es  geht  nicht  vorwärts  mit  unseren  Operationen. 
Alle  unsere  Hoffnungen,  die  wir  auf  die  neuen  Korps 
gesetzt  haben,  sind  trügerisch  gewesen.  Wir  kommen 
zu  keiner  Entscheidung,  der  Feldzug  quält  sich  hin 
wie  ein  stagnierender  Sumpf.  —  Körperlich  geht  es 
täglich  besser. 

Mezieres,  28.  Oktober  1914. 

Die  Verhältnisse  Rußland  gegenüber  machen  mir 
schwere  Sorge.  Ich  sehe  es  kommen,  daß  nachdem 
die  Österreicher  wieder  geschlagen  sind,  unsere  Ar- 
mee zurückgehen  muß.  —  Diese  österreichische  Nie- 
derlage ist  der  schwerste  Schlag,  den  wir  erleiden 
konnten. 

KABINETTSORDER  S.  M.  DES  KAISERS. 

Infolge  Ihrer  Erkrankung  habe  Ich  Mich  zu  Meinem  größten 
Bedauern  in  die  Notwendigkeit  versetzt  gesehen,  die  Stelle  des 
Chefs  des  Generalstabes  des  Feldheeres  in  andere  Hände  zu 
legen,  und  habe  Ich  den  Kriegsminister  Generalleutnant  von  Fal- 
kenhayn  zu  Ihrem  Nachfolger  ernannt.  Es  berührt  Mich  im  höch- 
sten Grade  schmerzlich,  daß  Sie  Ihre  langjährige,  unermüdliche 
und  segensreiche  Friedensarbeit  nun  nicht  mehr  selbst  in  wei- 
tere Taten  umsetzen  und  an  dem  Erfolge  Ihres  Wirkens  aus 
nächster  Nähe  teilnehmen  können.  Ihr  Verdienst  um  den  Ge- 
neralstab bleibt  aber  deshalb  doch  ungeschmälert  und  wird  Ihre 
Persönlichkeit  und  Ihre  Tätigkeit  an  der  Spitze  des  in  der  ganzen 
Welt  ruhmreich  bekannten  deutschen  Generalstabes  bei  Mir  und 
Meiner  Armee  unvergessen  bleiben.  Von  Herzen  wünsche  Ich 
Ihnen  baldige  Genesung  und  hoffe,  daß  Sie  Ihre  bisherige  Rüstig- 
keit völlig  wieder  erlangen  werden. 

Ihrem  Wunsche  um  Begleitung  durch  einen  Generalstabsoffi- 

389 


zier  habe  ich  gern  entsprochen,  und  betreffs  des  weiteren  Bezugs 
Ihrer  bisherigen  Gebührnisse  an  den  Kriegsminister  verfügt. 

Großes  Hauptquartier,  den  3.  November  1914. 

Wilhelm  R. 

An  Meinen  Generaladjutanten  und  Chef  des  Generalstabes  des 
Feldheeres  Generalobersten  v.  Moltke. 

Vorwort  Moltkes  für  »Das  deutsche  Soldatenbuch«.* 

Geschrieben  November  1914. 

Euch,  deutsche  Krieger,  die  ihr  Eltern,  Geschwi- 
ster, Weib  und  Kind,  Haus  und  Hof  verlassen  habt, 
um  hinauszuziehen  in  den  Krieg,  ist  dies  Buch  gewid- 
met: Es  soll  euch  einen  Gruß  aus  der  Heimat  brin- 
gen, die  ihr  mit  eurem  Blute  und  Leben  schützt.  Es 
ist  eine  heilige  Sache,  um  die  ihr  im  Felde  steht. 
Nicht  aus  selbstsüchtigem  Interesse  hat  Deutschland 
diesen  Krieg  unternommen.  Wir  wollten  Frieden  hal- 
ten mit  aller  Welt,  und  wir  trachteten  nicht  nach 
fremdem  Gut  oder  Land.  Der  Krieg  ist  uns  aufge- 
zwungen worden  durch  den  Neid  und  den  Haß  un- 
serer zahlreichen  Feinde,  die  das  Reich,  deutsches 
Leben,  deutsche  Kultur  und  Friedensarbeit  vernich- 
ten wollten.  Die  Deutschland  austilgen  wollten  aus 
der  Reihe  der  Kultur  und  uns  das  verderben  wollten, 
was  wir  in  langer,  stiller  Friedensarbeit  geschaffen 
haben.  Zur  Verteidigung  unseres  nationalen  Lebens, 
für  die  Existenz  unseres  Landes  führen  wir  diesen 
Krieg,  und  wir  werden  die  Waffen  nicht  eher  nieder- 
legen, bis  wir  einen  Frieden  erkämpft  haben,  der  es 
unseren  Kindern  und  Enkeln  ermöglicht,  sicher  vor 
neuen  Angriffen  das  wieder  aufzubauen  und  weiter- 
zuführen, was  der  Krieg  zerstört  hat.  Aber  es  handelt 
sich  nicht  nur  um  materielle  Güter,  das  wollen  wir 

*  Verlag:  Deutsche  Bibliothek,  Berlin  W. 
390 


nicht  vergessen,  es  handelt  sich  um  etwas  Höheres, 
darum,  der  gesamten  Welt  das  führende  deutsche 
Geistesleben  zu  erhalten.  Deshalb  ist  es  ein  heili- 
ger Krieg,  den  wir  führen,  das  weiß  und  fühlt  das 
ganze  deutsche  Volk,  und  es  steht  einmütig  in  treuer 
Brüderschaft  hinter  seinem  Heere.  Es  wird  aushal- 
ten mit  euch  und  jedes  Opfer  bringen,  bis  der  Sieg 
errungen  ist.  Und  wenn  ihr  dann  heimkehrt,  werdet 
ihr  als  kostbarstes  Gut  aus  dem  Felde  die  Gewiß- 
heit mitbringen,  daß  Deutschland  unbesiegbar  war, 
mit  allen  seinen  Stämmen  und  Parteien  wie  Brü- 
der zusammenstand,  und  ihr  werdet  in  eurem  Her- 
zen das  Bewußtsein  tragen,  daß  die  deutsche  Volks- 
seele unendliche  Kräfte  birgt,  wenn  sie  ideale  Ziele 
in  sich  aufleben  läßt.  Daß  dieses  Gut  dem  deutschen 
Volke  auch  nach  dem  Kriege  erhalten  bleibe  in  aller 
Zukunft,  ist  der  heiße  Wunsch  aller,  die  eurer  heute 
und  täglich  gedenken.  Haltet  aus,  ihr  deutschen  Krie- 
ger, wenn  der  Kampf  auch  noch  so  schwer  ist.  Bleibt 
treu  und  fest,  wie  ihr  es  bisher  gewesen  seid,  und  ihr 
werdet  siegen. 

AUSZUG  AUS  EINEM  BRIEF  VON  KRONPRINZ  WILHELM 
AN  MOLTKE. 

Stenay,  den  15.  Dezember  1914. 

Euer  Exzellenz 

habe  ich  schon  lange  einmal  schreiben  wollen,  wie  sehr  ich  mit 
Ihnen  fühle  in  dieser  für  Sie  so  schweren  Zeit.  Es  hat  mir  ins 
Herz  geschnitten,  wie  ich  Sie  damals  in  Mezieres  so  vereinsamt 
und  krank  sehen  mußte.  Von  alten  Zeiten  her  habe  ich  stets  so 
riesig  viel  von  Euer  Exzellenz  gehalten  und  speziell  als  wirklich 
treuer,  aufrichtiger  Freund  meines  Vaters,  der  ja  leider  wenig 
von  dieser  Art  besitzt.  —  Während  meiner  Zeit  im  Generalstab 
habe  ich  nur  Güte  und  Nachsicht  und  Verständnis,  was  den  Ver- 
lust meines  Regiments  anbetrifft,  bei  Euer  Exzellenz  gefunden. 
Endlich  verdanke  ich  Ihnen  allein  mein  jetziges  Kommando  und 

391 


sollte  Gott  mich  gesund  nach  dem  Kriege  in  die  Heimat  zurück- 
kehren lassen,  so  werden  die  Schlachten  von  Longwy,  an  der 
Lotaine,  dem  Maasübergang  und  den  Kämpfen  bei  Varennes  und 
in  den  Argonnen  bis  zu  meinem  letzten  Augenblick  herrliche,  er- 
hebende Erinnerungen  für  mich  immer  bleiben.  —  Alles  dieses 
gibt  mir  das  Recht  jetzt,  in  den  für  Sie  trüben  Tagen,  an  Ihre 
Seite  zu  treten  und  Ihnen  die  Hand  fest  zu  drücken  in  dem  Ge- 
fühl der  Hochachtung  und  der  treuen  Anhänglichkeit,  ich  bin 
gewiß,  daß  ich  verstanden  werde,  auch  wenn  ich  mich  unge- 
schickt ausdrücke,  viel  Worte  habe  ich  nie  machen  können,  aber 

das  Gefühl  ist  warm  und  echt. 

Nun  auf  Wiedersehen,  Euer  Exzellenz,  und  einen  herzlichen 
Gruß  an  Ihre  liebe  Frau,  die  in  dieser  Zeit  die  einzige  wirkliche 
Trösterin  sein  kann. 

In  alter  Treue 

Wilhelm. 

KABINETTSORDER  S.  M.  DES  KAISERS. 

Ich  ernenne  Sie  hierdurch  für  die  Dauer  des  mobilen  Verhält- 
nisses zum  Chef  des  Stellvertretenden  Generalstabes  der  Armee. 

Großes  Hauptquartier,  den  30.  Dezember  1914. 

Wilhelm  R. 
An  Meinen  Generaladjutanten,  Generalobersten  von  Moltke,  Chef 
des  Füsilier-Regiments  Generalfeldmarschall  Graf  Moltke  (Schle- 
sisches)  Nr.  38,  ä  la  suite  des  Kaiser-Alexander-Gardegrenadier- 
Regiments  Nr.  1. 


392 


Vierter  Teil 

Moltke  nach  der  Marneschlacht 


Moltke 
an  den  Reichskanzler  v.  Bethmann  Hollweg. 

Berlin,  8. Januar  1915. 
Ew.  Exzellenz 

wollen  verzeihen,  wenn  ich  durch  handschriftliche 
Antwort  auf  Ihr  Schreiben  vom  5.  d.  M.  Schwierig- 
keiten beim  Lesen  mache,  ich  möchte  aber  dies 
Schreiben  keinem  Abschreiber  anvertrauen. 

Ich  spreche  mich  im  Vertrauen  auf  den  von  Ew. 
Exzellenz  gewählten  Weg  rein  persönlicher  Mittei- 
lung so  offen  aus,  wie  es  mir  die  Schwierigkeit  der 
Sache  gestattet. 

Es  ist  keine  Frage,  und  es  ist  mir  hier  von  den 
verschiedensten  Seiten  entgegengetreten,  daß  die  Ver- 
einigung des  Amtes  des  Chefs  des  Generalstabes  und 
des  Kriegsministers  in  einer  Hand  in  weiten  Kreisen 
des  Landes  in  ungünstigem  Sinne  beurteilt  wird.  Ich 
persönlich  halte  diese  Vereinigung  nicht  für  günstig. 
Generalstab  und  Kriegsministerium  sind  zwei  Behör- 
den, die  ein  Gegengewicht  gegeneinander  bilden  müs- 
sen, wenn  in  zweckdienlicher  Weise  gearbeitet  wer- 
den soll.  Außerdem  gehört  der  Kriegsminister  nach 
Berlin,  an  die  Zentralstelle  seiner  Wirksamkeit.  Per- 
sönlich ist  die  Vereinigung  beider  Stellen  für  den  In- 
haber gewiß  sehr  bequem,  wo  sich  entgegenstehende 
Auffassungen  gegenüberstehen,  kann  er  diktatorisch 
entscheiden.  Das  hat  sich  kürzlich  gezeigt,  wie  es 
sich  um  die  Frage  der  Neuaufstellung  der  Korps  han- 
delte, wo  das  Kriegsministerium  und,  wie  mir  gesagt 
ist,  auch  der  General  v.  Falkenhayn  als  Kriegsminister 
gegen  die  Neuaufstellung  und  für  die  Stärkung  un- 
seres Westheeres  war,  während  General  v.  Falkenhayn 

395 


kurz  darauf  als  Chef  des  Generalstabes  die  Aufstellung, 
befahl.  Ich  würde  mich  in  diesem  Falle  der  Ansicht 
des  Kriegsministeriums  angeschlossen  haben.  —  Es 
ist  aber  sehr  schwer  für  mich,  über  diese  Dinge  ein 
begründetes  Urteil  abzugeben,  da  mir  jede  Orientie- 
rung über  die  tatsächliche  Lage  des  Heeres  fehlt.  Von 
dem  Augenblicke  an,  wo  Se.  Majestät  mir  durch  den 
Chef  des  Militärkabinetts  sagen  ließ,  ich  solle  mich 
krank  melden  und  nach  Berlin  fahren,  da  dem  Gene- 
ral v.  Falkenhayn  die  Leitung  der  Operationen  über- 
tragen werden  solle,  habe  ich  keinen  Einfluß  auf  die 
Führung  des  Krieges  mehr  gehabt.  Da  der  General 
v.  Falkenhayn  mir  gleichzeitig  erklärte,  er  könne  die 
Verantwortung  nur  übernehmen,  wenn  ich  mich  in 
keiner  Weise  einmischte,  habe  ich  mich  zurückge- 
halten und  bin  seitdem  weder  um  meine  Ansicht  ge- 
fragt, noch  über  die  beabsichtigten  Maßnahmen  der 
Heeresleitung  vorher  unterrichtet  worden.  Seitdem 
ich  am  i.  November  auf  Wunsch  Sr.  Majestät  nach 
Homburg  gegangen  war  und  dort  nach  zwei  Tagen 
die  Order  über  meine  Entlassung  von  meiner  bis- 
herigen Stellung  erhalten  hatte,  habe  ich  mich  auch 
nicht  mehr  über  die  Lage  durch  Umfrage  im  Gene- 
ralstab orientieren  können,  da  ich  nun  völlig  ausge- 
schaltet war.  —  Ich  sage  dies  nicht,  um  mich  zu  be- 
klagen, sondern  nur,  um  darzulegen,  wie  schwer  es 
für  mich  ist,  ein  begründetes  Urteil  über  die  operati- 
ven Geschehnisse  und  eine  Bewertung  derselben  ab- 
zugeben. 

Das  einzige,  was  ich  sehe  und  was  ebenso  wie  ich 
alle  Welt  sehen  kann,  ist  das  Ergebnis  der  letzten 
Kriegsmonate.  —  Ich  sehe,  daß  unser  ganzes  West- 
heer im  Schützengraben  liegt,  und  daß  eine  operative 
Kriegsführung  nicht  mehr  stattgefunden  hat.  Der  Un- 
terschied zwischen  der  Kriegsführung  im  Osten  und 

396 


im  Westen  muß  auch  dem  militärischen  Laien  klar 
sein.  —  Es  ist  einleuchtend,  daß  die  Wiederherstel- 
lung der  Operationsmöglichkeit  im  Westen  nur  durch 
ein  Loslösen  vom  Feinde  und  in  einer  Konzentrie- 
rung der  Heeresgruppen  weiter  rückwärts  bewirkt 
werden  kann.  —  Zu  dieser  Maßregel,  die  eine  Ent- 
scheidung in  offener  Feldschlacht  gegen  den  Geg- 
ner suchen  würde,  der  unbedingt  folgen  muß,  hat 
man  sich  bisher  nicht  entschlossen.  —  Über  die 
Gründe  bin  ich  ebensowenig  unterrichtet,  wie  über 
die  jetzt  im  Westen  verfolgten  Ziele.  Ebensowenig 
kenne  ich  die  Ansichten  der  Armeeführer  hierüber 
und  weiß  nicht,  ob  sie  darüber  befragt  worden  sind. 
—  Ich  würde  die  Kriegsführung  im  Westen  verstehen, 
wenn  sie  von  dem  Gedanken  getragen  würde:  im 
Westen  zunächst  hinhalten,  im  Osten  eine  Entschei- 
dung herbeiführen.  —  Es  ist  mir  unverständlich,  daß 
die  Wichtigkeit  der  letzteren  nicht  schon  vor  langem 
erkannt  worden  ist.  —  Wären  wir  mit  Rußland  zu  ei- 
nem Frieden  gekommen,  so  wäre  meiner  Ansicht 
nach  alles  gewonnen  gewesen.  Ob  es  jetzt  noch  mög- 
lich sein  wird,  diese  Entscheidung  herbeizuführen, 
kann  ich  von  hier  aus  nicht  beurteilen.  Bei  dem  Ver- 
sagen der  österreichischen  Kriegsführung  ist  es  jeden- 
falls viel  schwerer  geworden,  als  es  vor  zwei  Monaten 
gewesen  wäre.  —  Ew.  Exzellenz  sagen,  daß  Se.  Maje- 
stät und  der  General  v.  Lyncker  den  General  v.  Fal- 
kenhayn  unter  allen  Umständen  als  Chef  des  Gene- 
ralstabes behalten  wollen,  selbst  wenn  die  beiden  jetzt 
vereinigten  Funktionen  getrennt  werden  sollten.  — 
Damit  ist  die  Frage  ja  von  vorneherein  entschieden. 
General  Ludendorff  ist  zum  Chef  des  General- 
stabes wohl  zu  jung.  —  Er  würde  ausgezeichnet  am 
Platze  sein  als  Chef  der  Operationsabteilung  oder 
als  Oberquartiermeister,  aber  er  ist  eine  eigenwillige 

397 


Persönlichkeit,  die  mit  dem  Kopf  durch  die  Wand 
geht,  und  er  würde  niemals  mit  dem  jetzigen  Chef 
des  Generalstabes  zusammenarbeiten  können.  —  Er 
ist  sehr  befähigt  und  ehrgeizig,  hat  auch  dafür  eine 
Berechtigung,  aber  er  würde  sich  nur  einer  Persön- 
lichkeit unterordnen,  die  er  achtet. 

Generaloberst  v.  Bülow  ist  nach  meinem  Urteil  der 
befähigtste  unserer  Armeeführer. 

Darüber,  ob  General  v.  Falkenhayn  Vertrauen  in 
den  Kreisen  der  letzteren  entgegengebracht  wird, 
habe  ich  kein  Urteil.  Es  wäre  sehr  zu  wünschen,  daß 
es  geschehe,  denn  Vertrauen  ist  eine  wichtige  Sache. 

Ew.  Exzellenz  werden  von  meinen  Ausführungen 
kaum  befriedigt  sein,  das  fühle  ich  selber.  Es  ist  mir 
aber  unmöglich,  mich  bestimmt  auszusprechen.  Ew. 
Exzellenz  werden  das  verstehen.  —  Wenn  Sie  ein 
kompetentes  Urteil  haben  wollen,  setzen  Sie  sich  mit 
dem  General  v.  Bülow  in  Verbindung.  Ob  dies  mög- 
lich ist,  ohne  daß  Sie  den  Anschein  erwecken,  sich 
in  militärische  Fragen  einzumischen,  weiß  ich  nicht. 

In  den  letzten  Tagen  sind  mehrfach  Herren  bei  mir 
gewesen,  die  schwere  Besorgnisse  über  die  Nah- 
rungsmittelfrage zur  Sprache  gebracht  haben.  Ich 
werde  Ew.  Exzellenz  demnächst  über  diese  Ange- 
legenheit berichten,  die  von  vitaler  Wichtigkeit  ist. 
Es  waren  Vertreter  der  Landwirtschaft,  der  Industrie 
und  der  Getreideaufkaufsgesellschaft,  die  alle  die  glei- 
chen Besorgnisse  äußerten. 

Mit  der  größten  Hochachtung  bin  ich  Ew.  Exzellenz 

sehr  ergebener 

v.  Moltke. 


398 


Moltke 
an  den  Reichskanzler  v.  Bethmann  Hollweg. 

Berlin,  10.  Januar  1915. 
Ew.  Exzellenz 
bitte  ich,  von  tiefer  Sorge  um  das  Vaterland  getrie- 
ben, die  nachstehenden  Zeilen  unterbreiten  zu  dürfen. 

Ich  bin  in  betreff  der  Nahrungsversorgung  unse- 
res Volkes  mit  den  verschiedensten  Autoritäten :  Ge- 
heimrat Sering,  Professor  Eltzbacher,  Professor  Bal- 
lod  u.  a.  in  Verbindung  getreten,  außerdem  sind  zu 
mir  gekommen,  ohne  gerufen  zu  sein:  Herr  v.  Wan- 
genheim, Klein-Spiegel,  ferner  Vertreter  der  Großin- 
dustrie, Herr  Stinnes,  Müllheim,  Geheimrat  Hugen- 
berg,  Essen,  sowie  viele  Private,  alle  von  der  glei- 
chen Sorge  um  das  Land  getrieben. 

Wenn  nicht  sofort  und  zwar  mit  rücksichtsloser 
Energie  eingegriffen  wird,  werden  wir,  nach  Ansicht 
aller,  einer  Katastrophe  entgegengehen.  —  Die  in  der 
Anlage  beigefügten  Richtlinien  sind  das  Ergebnis 
des  gemeinsamen  Urteils  aller  Herren,  mit  denen  ich 
gesprochen  habe.  —  Ew.  Exzellenz  werden  vielleicht 
der  Ansicht  sein,  daß  ich  mich  hier  um  Dinge  beküm- 
mere, die  mich  nichts  angehen.  Die  Frage  der  Volks- 
ernährung ist  aber  von  so  einschneidender  Bedeutung 
für  die  Kriegsführung,  daß  ich  mich  verpflichtet  fühle, 
sie  zur  Sprache  zu  bringen.  Unsere  Heere  nützen  uns 
am  letzten  Ende  nichts,  wenn  wir  genötigt  sind,  aus 
Mangel  an  Nahrungsmitteln,  vor  allem  an  Brotge- 
treide, um  Frieden  zu  bitten,  bevor  eine  Entschei- 
dung durch  die  Waffen  herbeigeführt  ist,  und  nie- 
mand kann  wissen,  wie  lange  der  Krieg  noch  dauern 
wird.  —  Ich  habe  gehört,  daß  von  der  Durchführung 
radikaler  Maßnahmen  durch  den  Bundesrat  bisher 
Abstand  genommen  worden  ist,  um  keine  Unzufrie- 

399 


denheit  bei  den  linksstehenden  Parteien  zu  erregen. 
—  Unser  Volk  wird  jetzt  noch  energische  Maßnah- 
men ruhig  hinnehmen,  es  ist  noch  opferbereit  und 
fordert  sogar  in  weiten  Kreisen,  daß  die  Regierung 
mit  starker  Hand  eingreift,  aber  dasselbe  Volk  wird 
Rechenschaft  von  der  Regierung  fordern,  wenn  Not- 
stände eintreten,  die  noch  in  letzter  Stunde  hätten 
vermieden  werden  können.  Auf  die  Regierung  wird 
die  ganze  Verantwortung  mit  voller  Schwere  fallen, 
wenn  nichts  geschieht.  —  Ich  beschwöre  Ew.  Exzel- 
lenz daher,  sofort  einzugreifen.  —  Wenn  jetzt  erst  wie- 
der Kommissionen  einberufen  und  endlose  Beratun- 
gen abgehalten  werden,  werden  erfahrungsmäßig  alle 
ergebnislos  verlauf  en,  geht  die  kostbare  Zeit  verloren, 
und  wie  Ew.  Exzellenz  aus  der  Anlage  ersehen,  ha- 
ben wir  keine  Zeit  mehr  zu  verlieren.  Es  kommt  nicht 
darauf  an,  das  absolut  Beste  zu  machen,  man  kann 
nicht  alle  Sonderinteressen  berücksichtigen,  die  sich 
dauernd  widersprechen  werden.  Hier  handelt  es  sich 
nicht  um  Einzelinteressen,  sondern  um  die  Gesamt- 
heit des  Volkes  und  um  die  Existenz  des  Staates  und 
der  Monarchie. 

Das  Bewußtsein,  daß  es  sich  um  die  Wahrung  un- 
serer höchsten  Güter  handelt,  hat  mich  zu  diesem 
Schreiben  veranlaßt. 

Eine  zweite  wichtige  Frage,  über  deren  Entschei- 
dung ich  nicht  unterrichtet  bin,  ist  die,  ob  die  in 
nächster  Zeit  verfügbar  werdenden  Streitmittel  im 
Osten  oder  im  Westen  eingesetzt  werden  sollen.  Dar- 
über müssen  Ew.  Exzellenz  orientiert  sein,  um  da- 
nach die  Politik  des  Reiches  leiten  zu  können.  — 
Ich  glaube  mit  Ew.  Exzellenz  derselben  Ansicht  darin 
zu  sein,  daß  das  einzige  große  Ziel,  das  wir  jetzt 
noch  verfolgen  müssen,  trotzdem  die  Gelegenheit 
schon  einmal  versäumt  ist,  die  Herbeiführung  einer 

400 


Entscheidung  gegen  Rußland  ist,  die  uns  die  Mög- 
lichkeit eines  Friedens  mit  ihm  eröffnet.  Ich  habe 
Ew.  Exzellenz  schon  vor  Wochen  gesagt,  daß,  wenn 
dies  gelingt,  meines  Erachtens  nach  der  Krieg  so  gut 
wie  gewonnen  ist.  —  Ich  halte  den  hier  zu  fassenden 
Entschluß  für  den  sowohl  militärisch  wie  poli- 
tisch wichtigsten  der  gesamten  bisherigen  Kriegs- 
führung. 

In  größter  Verehrung 

Ew.  Exzellenz  sehr  ergebener 

v.  Moltke. 

Anlage. 
An  den  Reichskanzler  eingesandt  am  10.  Januar  1915. 

Eingehende  Berichte  und  Rücksprachen  mit  nam- 
haften Persönlichkeiten  der  Finanz,  Industrie  und 
Volkswirtschaf t  haben  ergeben,  daß  wir  nur  noch  ge- 
ringe Vorräte  an  Brotgetreide  in  Deutschland  haben, 
und  zwar  Weizen  nur  noch  für  ein  bis  zwei  Monate, 
Roggen  in  so  beschränkter  Menge,  daß  er  für  die 
beiden  letzten  Monate  des  Erntejahres  voraussicht- 
lich völlig  fehlen  wird. 

Die  Vorschriften  des  Bundesrates  über  die  stärkere 
Ausmahlung  des  Brotgetreides  sind  hierbei  schon 
berücksichtigt. 

Die  erweiterte  Vorschrift  des  Einbackens  von  Kar- 
toffelmehl in  Brot  vermag  den  Mangel  keineswegs 
zu  beheben. 

Die  Aufgabe  besteht  jetzt  darin,  jede  Verschwen- 
dung und  jeden  Luxuskonsum  mit  allen,  selbst  den 
schärfsten  Mitteln,  zu  beseitigen. 

Ferner  ist  der  Vorrat  menschlicher  Nahrungsmittel 
dadurch  zu  vergrößern,  daß  die  Verfütterung  von 
Roggen  und  Kartoffeln  mit  aller  Energie  verhindert 

Moltke.         26.  401 


wird.  Jede  Verfütterung  menschlicher  Nahrungsmit- 
tel bedeutet  eine  Verschwendung  wertvollen  Natio- 
nalvermögens. Die  riesenhaften  Schweinebestände 
können  daher  nicht  durchgehalten  werden. 

Das  einzig  Erfreuliche  ist,  daß  unsere  große  Rauh- 
futterernte gestattet,  die  Milchkühe  einigermaßen  voll- 
ständig zu  erhalten,  so  daß  der  Milch-,  Käse-  und  But- 
terverbrauch voraussichtlich  keine  über  das  erträg- 
liche Maß  hinausgehende  Einschränkung  erfahren 
wird. 

Überfluß  besitzen  wir  nur  an  Zucker.  Dieser  muß 
dazu  nutzbar  gemacht  werden,  den  Ausfall  an  Über- 
see eingeführten  Fetten  auszugleichen,  sowie  Lücken 
in  der  Getreideversorgung  auszufüllen.  —  Es  ist 
durchaus  unzulässig,  daß  die  bisher  ausgeführten 
Zuckermengen  eingesperrt  bleiben,  um  den  Besitzern 
nach  dem  Friedensschluß  große  Spekulationen  zu  er- 
möglichen. Es  darf  sich  hier  nicht  um  Vorteile  ein- 
zelner, sondern  um  die  Gesamtheit  des  Volkes  han- 
deln. —  Im  einzelnen  werden  von  allen  Autoritäten 
auf  dem  Gebiet  der  Volkswirtschaft  folgende  Maß- 
nahmen für  unbedingt  nötig  erachtet: 

i.  Sofortige  Aufhebung  der  Höchstpreise  für  Wei- 
zen. 

2.  Ermächtigung  an  Kriegsgetreidegesellschaften, 
höhere  Preise  als  Höchstpreise  für  Roggen,  Weizen, 
und  Gerste  zu  zahlen  und  zwar  ohne  jede  Bindung. 

Anweisung  an  K.-G.-G.  alle  Getreide-,  insbesondere 
sämtliche  Weizenvorräte,  soweit  es  irgend  möglich 
ist,  an  sich  zu  bringen. 

3.  Höchstpreise  für  Roggen  sind  vorläufig  um  drei- 
ßig Mark  zu  erhöhen,  die  der  Speisekartoffeln  um 
dreißig  bis  vierzig  Prozent. 

4.  Schweine  sind  bis  um  fünfzig  Prozent  des  Be- 
standes durch  große  Ankäufe   der  Stadtgemeinden 

402 


mit  Unterstützung  des  Reiches  einzuschlachten  und 
zu  konservieren.  Kontingentierung  nach  der  Bevöl- 
kerungsziffer. —  Die  Heeresverwaltung  hat  sich  an 
dem  Ankauf  zu  beteiligen. 

5.  Vollständige  Verhinderung  jeder  Ausfuhr  von 
Nahrungsmitteln  an  das  Ausland.  —  Österreich-Un- 
garn hat  die  bisher  empfangenen  Getreidemengen 
durch  andere  Nahrungs-  oder  Futtermengen,  z.  B. 
Hülsenfrüchte,  als  Bohnen  usw.,  zu  ersetzen. 

Die  Heeresverwaltung  kann  die  bisher  durch 
Deutschland  erfolgende  Verpflegung  der  österrei- 
chisch-ungarischen Truppen  in  Polen  nicht  weiter 
übernehmen. 

6.  Nutzbarmachung  der  Zuckervorräte: 

a)  durch  Erhöhung  der  sperrfreien  Kontingente 
derart,  daß  dem  Verbrauch  um  monatlich  eine  gegen 
das  Vorjahr  um  wenigstens  die  Hälfte  erhöhte  Zuk- 
kermenge  zur  Verfügung  gestellt  wird, 

b)  durch  Herabsetzung  der  Zuckersteuer  von  vier- 
zehn auf  sieben  Mark  für  den  Doppelzentner, 

c)  durch  Ankauf  von  einer  Million  Doppelzentner 
Zucker  seitens  der  Heeresverwaltung  für  die  Truppen, 

d)  durch  Beimengung  von  Zucker  zu  dem  Hafer- 
futter seitens  der  Heeresverwaltung,  auf  zehn  Pfund 
Hafer  zwei  Pfund  Rohzucker. 

7.  Die  Eisenbahnverwaltung  hat  statt  Kohlen,  so- 
weit noch  nicht  geschehen,  Koks  zum  Verbrauch 
heranzuziehen,  dies  gilt  besonders  auch  für  die  Mili- 
tärtransporte. 

8.  Weit  stärkere  Heranziehung  der  Gefangenen  als 
bisher  zum  Urbarmachen  der  ödländereien  und  Moor- 
kulturen, um  sie  im  Frühjahr  ausbauen  zu  können. 

9.  Sicherstellung  der  Hülsenfrüchte  (auch  von  Som- 
mergetreide) zur  Aussaat  durch  Verleihung  des  Ent- 
eignungsrechtes an  die  Landwirtschaftskammer. 

403 


io.  Die  Gefangenen  sind  in  viel  weiterem  Maße  mit 
Fisch  (Stockfisch)  zu  ernähren,  der  in  großen  Men- 
gen aus  Norwegen  bezogen  werden  kann. 

v.  Moltke.* 

Moltke  an  Se.  Majestät  den  Kaiser. 

Generalstab  Berlin,  io.  Januar  1915. 

Ew.  Majestät 

melde  ich  alleruntertänigst,  daß  ich  heute  an  den 
Herrn  Reichskanzler  einen  Bericht  über  die  Nah- 
rungsmittelfrage eingereicht  habe.  Ich  bitte  Ew.  Ma- 
jestät alleruntertänigst,  Sich  über  die  in  demselben 
angeregten  Fragen  und  Vorschläge  Vortrag  halten  zu 
lassen.  Die  Sicherstellung  der  Versorgung  des  Heeres 
und  des  Volkes  ist  so  ernst,  daß  ich  mich  verpflichtet 
gefühlt  habe,  sie  zur  Sprache  zu  bringen. 

Ich  habe  mich  mit  vielen  maßgebenden  Persön- 
lichkeiten auf  dem  Gebiete  der  Lebensmittelversor- 
gung in  Verbindung  gesetzt,  überall  ist  mir  die  An- 
sicht entgegengetreten,  daß  wir  einer  schweren  Krisis 
entgegengehen,  wenn  nicht  unverzüglich  mit  den 
energischsten  Maßnahmen  vorgegangen  wird. 

Ich  habe  die  Richtlinien,  in  denen  diese  sich  zu  be- 
wegen hätten,  und  die  von  allen  Herren,  die  teils  mit  der 

*  Ein  Urteil  über  Moltkes  wirtschaftliche  Betätigung:  sei  hier  angeführt: 

Berlin,  6.  August  1918. 
Sehr  verehrte  Exzellenz! 
Es  wird  jetzt  die  »Geschichte  der  deutschen  Volkswirtschaft  während  des  Krieges« 
geschrieben.  An  dem  Aufbau  unserer  Ernährungswirtschaft  hat  Ihr  verstorbener  Herr 
Gemahl  einen  grofien  Anteil  gehabt.  Der  von  mir  hochverehrte  Mann  hat  mich  mehr- 
fach zu  Beratungen  über  diesen  Gegenstand  herangezogen,  und  es  erscheint  mir  als 
ein  Gebot  der  Gerechtigkeit  und  historischen  Wahrheit,  sein  Verdienst  der  Vergessen- 
heit zu  entziehen.  Wir  haben  es  nach  meiner  Überzeugung  nur  seinem  entschlosse- 
nen und  wie  immer  selbstlosen  Eintreten  zu  verdanken,  daß  nicht  schon  im  ersten 
Jahre  des  Krieges  eine  Hungersnot  ausbrach.  .  .  . 

M.  Sering 

Geheimer  Regierungsrat,  Universitäts-Professor. 

Z.  Zt.  Vorsitzender  der  Wissenschaftl.  Kommission  des  Kgl.  Preufi.  Kriegsministeriums. 

404 


Bitte  zu  mir  gekommen  sind,  Ew.  Majestät  die  Lage 
darzulegen,  teils  von  mir  gebeten  sind,  mir  ihre  An- 
sichten zur  Kenntnis  zu  geben,  übereinstimmend  als 
nötig  bezeichnet  sind,  dem  Herrn  Reichskanzler  unter- 
breitet. —  Von  allen  Seiten  ist  mir  übereinstimmend 
gesagt  worden,  daß  es  die  zwölfte  Stunde  sei,  wenn 
noch  geholfen  werden  soll.  —  Ew.  Majestät  brauche 
ich  nicht  darzulegen,  daß  diese  Angelegenheit  von 
vitalster  Bedeutung  für  die  Kriegsführung  ist.  Das 
stärkste  Heer  wird  Ew.  Majestät  nicht  den  glück- 
lichen Ausgang  des  Krieges  sichern  können,  wenn 
Ew.  Majestät  gezwungen  werden  wegen  Mangel  an 
Nahrungsmitteln  Frieden  zu  schließen,  bevor  eine 
endgültige  Waffenentscheidung  herbeigeführt  ist.  — 
Das  Volk  wird  jetzt  noch  bereit  sein,  selbst  das  schärf- 
ste Eingreifen  der  Regierung  als  berechtigt  anzuerken- 
nen, es  wird  sogar  in  weiten  Kreisen  gefordert.  Tritt 
der  von  den  maßgebenden  Autoritäten  auf  dem  Ge- 
biet der  Nahrungsmittelversorgung  befürchtete  Not- 
stand ein,  der  durch  rechtzeitiges  Eingreifen  hätte 
verhindert  werden  können,  so  sind  die  schlimmsten 
Folgen  zu  erwarten. 

Die  Sorge  um  die  Zukunft  der  Monarchie  und  des 
Vaterlandes  drückt  mir  die  Feder  in  die  Hand.  Ich 
bitte  Ew.  Majestät  inständigst  zu  befehlen,  daß  hier 
mit  eiserner  Hand  eingegriffen  wird,  nur  dadurch  wird 
Hilfe  geschaffen  werden  können. 

Ich  habe  mich  in  früheren  Zeiten  des  Vertrauens 
Ew.  Majestät  erfreuen  dürfen  und  in  der  Gewißheit, 
daß  Ew.  Majestät  mir  auch  jetzt  noch  glauben,  daß 
ich  keine  anderen  Motive  kenne  als  Kaiser  und  Va- 
terland, bitte  ich  noch  das  Folgende  über  die  großen 
Ziele  des  Krieges,  wie  sie  sich  mir  darstellen,  hin- 
zufügen zu  dürfen. 

405 


Nach  meiner  innersten  Überzeugung  liegt  die  Ent- 
scheidung des  Krieges  im  Osten.  Gelingt  es,  auch 
jetzt  noch,  die  Russen  so  zu  schlagen,  daß  man  zu 
einem  Friedensschluß  mit  ihnen  gelangen  kann,  so 
wird  Frankreich  sehr  bald  den  Widerstand  aufgeben. 
Ew.  Majestät  werden  dann  den  Krieg  so  gut  wie  ge- 
wonnen haben.  Solange  Rußland  im  Felde  steht,  wird 
Frankreich  keinen  Frieden  schließen.  Es  wird  auch 
dann  nicht  Frieden  schließen,  wenn  es  gelingen  sollte, 
seine  Linien  zu  durchbrechen  oder  ihm  eine  Teil- 
niederlage beizubringen,  es  wird  und  es  kann  den 
Krieg  nicht  aufgeben,  solange  Rußland  nicht  erledigt 
ist  und  solange  ein  englischer  Soldat  auf  französi- 
schem Boden  steht.  Dafür  wird  England  sorgen.  Ist 
aber  die  Hoffnung  auf  die  russische  Hilfe  vernichtet, 
wird  auch  die  Macht  Englands  über  Frankreich  ge- 
brochen sein.  —  Ich  halte  es  daher  für  unbedingt  er- 
forderlich, alle  verfügbaren  Kräfte  einzusetzen,  um 
Rußland  niederzuwerfen,  und  dies  um  so  mehr,  da 
Österreich  augenscheinlich  militärisch  mehr  und  mehr 
versagt.  Nicht  Österreichs  wegen,  aber  um  der  Ge- 
fahr zu  begegnen,  daß  nach  einem  Separatfrieden 
Österreichs  uns  die  gesamte  Heeresmacht  Rußlands 
gegenübersteht. 

Ich  bin  nicht  darüber  unterrichtet,  wie  Ew.  Majestät 
entscheiden  wollen,  und  ich  bitte  Ew.  Majestät,  es  zu 
verzeihen,  wenn  ich  meine  Ansicht  ungefragt  Aller- 
höchstdenselben  ausspreche.  Ich  habe  es  aber  stets 
für  meine  Pflicht  gehalten,  Ew.  Majestät  offen  und 
ohne  Rücksicht  auf  meine  Person  zu  dienen,  und  an 
dieser  Auffassung  werde  ich  festhalten  bis  zu  mei- 
nem Tode. 

In  tiefer  Ehrfurcht  verharre  ich  als  Ew.  Majestät 
alleruntertänigster 

v.  M  o  1 1  k  e ,  Generaloberst. 

406 


Moltke  an  General  .  .  . 

Generalstab  Berlin,  12.  Januar  1915. 
Ew.  Exzellenz 

Schreiben  vom  3.  d.  M.  ist  mir  erst  am  10.  d.  M.  durch 
Major . . .  überbracht  worden.  —  Ich  ersehe  aus  dem- 
selben, daß  der  Reichskanzler  sowie  Ew.  Exzellenz 
den  Versuch  gemacht  haben,  den  Kaiser  über  die  all- 
gemein herrschende  Stimmung  gegen  den  General 
v.  Falkenhayn  aufzuklären. 

Daß  diese  Stimmung  nicht  nur  in  der  Armee,  son- 
dern auch  im  Volk  dieselbe  ist,  tritt  mir  von  Tag  zu 
Tag  mehr  entgegen.  Ich  habe  bis  jetzt  geschwiegen, 
da  Se.  Majestät  mich  nie  um  meine  Ansicht  befragt 
hat,  und  da  ich  nach  den  Orders,  die  ich  von  ihm  er- 
halten habe,  annehmen  muß,  daß  ich  für  ihn  abgetan 
sei,  aber  die  Sorge  um  Kaiser  und  Reich  drückt  mir 
fast  das  Herz  ab.  Ich  fürchte,  daß  wir,  wenn  kein 
Wandel  geschaffen  wird,  der  schwersten  Katastro- 
phe entgegengehen. 

Wenn  ich  auch  völlig  ausgeschaltet  worden  bin,  so 
sehe  ich  doch  die  Ergebnisse  der  Kriegsführung  der 
letzten  Monate.  Sie  sind  geradezu  erschreckend.  — 
Wir  haben  unseren  Gegnern  drei  Monate  Zeit  ge- 
schenkt und  jede  eigene  Initiative  verloren.  General 
v.  Falkenhayn  hat  großen  persönlichen  Ehrgeiz,  die 
Fähigkeit,  die  großen  Verhältnisse  dieses  gewaltigen 
Krieges  richtig  zu  beurteilen,  kraftvolle  Entschlüsse 
zu  fassen,  den  Augenblick  und  den  Ort  zu  erkennen, 
wo  ein  Erfolg  von  Bedeutung  zu  erringen  ist,  sich 
große  Ziele  zu  stecken  und  sie  energisch  zu  verfol- 
gen, fehlt  ihm  augenscheinlich.  Es  wird  seit  drei  Mo- 
naten gewurschtelt.  Seit  Monaten  liegen  einige  vier- 
zig Armeekorps  in  den  Schützengräben.  Von  einer 

407 


Operation  ist  nicht  mehr  die  Rede.  General  v.  Falken- 
hayn  hat  sich  nicht  entschließen  können,  das  Heer 
wieder  bewegungsfähig  zu  machen. 

Man  hätte  dies  auf  zwei  Wegen  erreichen  können. 
Entweder  indem  man  die  Armeen  gruppenweise  nach 
rückwärts  konzentrierte,  um  die  Entscheidung  gegen 
den  Gegner,  der  folgen  mußte,  in  der  Feldschlacht  zu 
suchen,  oder  indem  die  jetzt  gehaltene  Linie  durch 
Zurücknehmen  des  nach  Westen  ausspringenden  Bo- 
gens  verkürzt  und  damit  die  Möglichkeit  geschaffen 
würde,  starke  Kräfte  freizubekommen.  Wäre  dann  er- 
kannt worden,  daß  die  Entscheidung  des  ganzen 
Feldzuges  zunächst  im  Osten  lag,  denn  eine  vernich- 
tende Niederlage  der  Russen  würde  uns  wahrschein- 
lich den  Frieden  mit  ihnen  gebracht  haben,  wären 
die  so  verfügbar  gewordenen  Kräfte  rechtzeitig  dort 
eingesetzt  worden,  so  hätte  unendlich  Großes  erreicht 
werden  können.  Das  hat  General  v.  Falkenhayn  nicht 
erkannt.  Er  hat  sich  vielleicht  davor  gescheut,  einen 
Teil  des  gewonnenen  Geländes  aufzugeben.  Es  kommt 
aber  nicht  darauf  an,  einige  Kilometer  Boden  zu  be- 
haupten, sondern  eine  Entscheidung  herbeizuführen. 
—  Das  Stillstehen  im  Westen  hat  nur  einen  Sinn, 
wenn  man  hier  die  Entscheidung  im  Osten  zunächst 
abwarten  wollte.  Seit  Monaten  erfährt  man  nichts 
weiter,  als  daß  hier  ein  Schützengraben  genommen, 
dort  einer  verloren  ist,  das  ist  alles.  —  Im  November 
konnte  im  Osten  Großes  erreicht  werden.  Die  Bitten 
und  Vorstellungen  des  Feldmarschalls  Hindenburg 
sind  ungehört  verhallt.  —  Ob  es  jetzt  noch  möglich 
sein  wird,  dort  das  zu  erreichen,  was  versäumt  ist, 
kann  ich  von  hier  aus  nicht  beurteilen.  In  schreck- 
licher Weise  ist  unsere  militärische  Kraft  verzettelt 
worden.  Wir  gehen  einer  Katastrophe  entgegen,  wenn 
nicht  Wandel  geschaffen  wird. 

408 


Ew.  Exzellenz  wissen,  daß  ich  dieses  Urteil  nicht 
abgebe,  um  etwa  durch  Kritik  meines  Nachfolgers 
mich  selbst  in  empfehlende  Erinnerung  zu  bringen. 
Ich  habe  mit  meinem  Leben  und  Wirken  abgeschlos- 
sen und  würde  nie  wieder  auf  meine  alte  Stelle  zu- 
rücktreten können.  —  Aber  ich  sehe  die  Dinge,  wie 
sie  liegen,  und  ich  glaube,  daß  so  wie  ich  die  ganze 
Armee  urteilt.  Fragen  Sie  einmal  die  ehrlichen  und 
urteilsfähigen  Leute  im  Generalstab,  Oberst  H.  und 
Oberst  B.,  Sie  werden  entsetzt  sein,  wenn  diese  Ihnen 
offen  ihre  Ansicht  sagen.  Das  Vertrauen  ist  zum  Teu- 
fel, und  das  Vertrauen  ist  eine  Riesenkraft. 

Möge  Se.  Majestät  den  General  Ludendorff  nehmen, 
vielleicht  kann  er  noch  retten,  was  zu  retten  ist.  Er 
ist  keine  bequeme  Persönlichkeit,  aber  darauf  kommt 
es  doch,  weiß  Gott,  nicht  an.  Hier  handelt  es  sich 
um  Thron  und  Land  und  um  die  Zukunft  eines  Vol- 
kes, das  schon  unendliche  Opfer  gebracht  und  Ströme 
von  Blut  vergossen  hat.  —  Gott  helfe  uns  weiter. 

Treulich  der  Ihrige 

v.Moltke. 

Moltke  an  Generalfeldmarschall  v.  Hindenburg. 

Berlin,  14.  Januar  1915. 
Ew.  Exzellenz 
bitte  ich,  meinen  besten  Dank  entgegennehmen  zu 
wollen  für  Ihr  letztes  Schreiben  und  die  Beteuerung 
Ihrer  kameradschaftlichen  Gefühle,  die  mir  eine  herz- 
erquickende Freude  war.  Seien  Sie  versichert,  daß 
ich  dieselben  Empfindungen  Ihnen  gegenüber  hege 
und  bewahren  werde,  wie  auch  mein  ferneres  Le- 
bensschicksal sich  gestalten  sollte. 

Ich  weiß,  wie  schwer  Ihrem  königstreuen  Herzen 
es  geworden  ist,  den  Gedanken,  den  Sie  über  General 

409 


v.  Falkenhayn  haben  und  Ihr  Urteil  über  ihn  in  die 
Tat  Ihres  Schreibens  an  Se.  Majestät  den  Kaiser  um- 
zusetzen. —  Gott  gebe,  daß  Ihr  Vorgehen  Erfolg  habe. 
Dieser  Mann  stürzt  uns  alle,  Thron  und  Vaterland 
ins  Verderben.  Wenn  Ihr  Schritt  sein  Ziel  erreicht, 
werden  Sie  nicht  nur  der  Retter  Preußens  und  Schle- 
siens, sondern  der  Retter  unseres  ganzen  Landes  sein. 
—  Ich  kenne  den  Inhalt  Ihres  Schreibens  nicht,  aber 
ich  kenne  und  teile  die  Gedanken,  denen  Sie  Aus- 
druck gegeben  haben.  Nur  Sie  konnten  und  mußten 
so  schreiben.  Was  kann  es  Höheres  geben,  als  sein 
ganzes  Selbst  für  das  Vaterland  einzusetzen.  —  Ich 
drücke  Ihnen  die  Hand,  Exzellenz.  Ich  stehe  und  falle 
mit  Ihnen.  Halten  Sie  unbeirrbar  und  unbeeinfluß- 
bar durch.  Das  Wohl  und  Wehe  des  Landes  steht 
auf  dem  Spiel. 

Treulichst  der  Ihrige 

v.  Moltke. 

Moltke  an  Se.  Majestät  den  Kaiser. 

Berlin,  15.  Januar  1915. 
Ew.  Majestät 
bitte  ich  alleruntertänigst,  nachstehende  Gedanken 
über  die  weitere  Durchführung  dieses  über  das  Schick- 
sal Deutschlands  entscheidenden  Weltkrieges  vortra- 
gen zu  dürfen. 

Wie  ich  Ew.  Majestät  in  meinem  Schreiben  vom 
10.  d.  M.  bereits  anzuführen  wagte,  muß,  nachdem  die 
Kriegsführung  im  Westen  seit  Monaten  zum  völligen 
Stillstand  gekommen  ist,  das  nächste  Ziel  der  Opera- 
tionen die  Niederwerfung  Rußlands  und  Serbiens 
sein,  um  hierdurch  die  Möglichkeit  für  einen  Sonder- 
frieden mit  Rußland  zu  erlangen.  Sollte  es  gelingen, 
zu  einem  erfolgreichen  Abschluß  des  Krieges  mit 

410. 


Rußland  zu  kommen,  so  halte  ich  auch  den  Anschluß 
der  neutralen  Balkanstaaten  und  Italiens  an  unsere 
Sache  für  möglich.  —  Es  erscheint  mir  sehr  wahr- 
scheinlich, daß  Frankreich  dann  nicht  lange  mehr 
gewillt  sein  wird,  den  Krieg  in  der  Gefolgschaft  Eng- 
lands weiterzuführen.  —  Die  durch  einen  Frieden  mit 
Rußland  gewährte  Möglichkeit,  alle  bisher  im  Osten 
stehenden  Streitkräfte  im  Westen  einzusetzen,  wird 
Frankreich  sicher  zu  einem  Frieden  geneigt  machen. 

Daß  England  sich  einem  friedlichen  Ausgleich 
Deutschlands  mit  Frankreich  anschließen  wird,  halte 
ich  dagegen  für  durchaus  unwahrscheinlich.  Es  wird 
meiner  festen  Überzeugung  nach  den  Krieg  auch  dann 
allein  gegen  uns  weiterführen,  um  ein  rasches  Wie- 
deraufblühen unseres  Wirtschaftslebens  und  unseres 
Außenhandels  zu  verhindern. 

Die  Wahrscheinlichkeit  der  Weiterführung  des 
Krieges  gegen  England  müßte  schon  jetzt  ins  Auge 
gefaßt  werden.  Mit  unserer  Flotte  kann  meines  Er- 
achtens  nach  ein  vernichtender  Schlag  gegen  Eng- 
land nicht  geführt  werden. 

Ist  eine  Blockade  nach  Ew.  Majestät  maßgeben- 
dem Ermessen  nicht  ausführbar,  so  müßte  —  vor- 
ausgesetzt, daß  wir  mit  unseren  übrigen  Gegnern 
zu  einem  Abkommen  gekommen  sind  —  der  alte 
Napoleonische  Gedanke  eines  Angriffs  gegen  die 
verwundbarste  Stelle  Englands,  Ägypten,  wieder  auf- 
gegriffen werden.  —  Der  Plan  Napoleons  ist  geschei- 
tert, weil  er  damals  keine  Bahnen  hatte.  Heute  be- 
sitzen wir  dieses  gewaltige  Kriegsmittel.  Der  Ausbau 
der  noch  im  Taurus  und  Amanos  vorhandenen  Lük- 
ken  der  Bagdadbahn  sowie  die  Herstellung  einer 
Zweiglinie  der  Hedschasbahn  bis  zum  Suezkanal 
würde  einen  direkten  Schienenweg  von  Deutschland 
bis  nach  Ägypten  herstellen  und  uns  die  Möglichkeit 

411 


bieten,  eine  große  Entscheidung  gegen  England  auf 
dem  Lande  herbeizuführen,  die  von  dem  mit  unzu- 
reichenden Mitteln  augenblicklich  ausgeführten  tür- 
kischen Unternehmen  nicht  zu  erwarten  ist.  Im- 
merhin darf  man  hoffen,  daß  das  türkische  Expe- 
ditionskorps sich  im  Sinai  halten  kann,  um  einen 
Bahnbau  zu  decken. 

Die  Fertigstellung  der  Bagdadbahnstrecken  im  Tau- 
rus  und  Amanos  nimmt  bei  äußerster  Anstrengung 
aller  Kräfte  etwa  ein  Jahr  in  Anspruch.  Ihre  Kosten 
belaufen  sich  auf  etwa  fünfzig  Millionen  Mark.  Ein 
provisorischer  Bau  würde  etwa  die  Hälfte  der  Zeit 
und  Kosten  beanspruchen.  Ist  auch  dies  zurzeit  nicht 
ausführbar,  so  würde  der  Ausbau  der  vorhandenen 
Straßen  für  einen  Lastkraftwagenbetrieb  großen  Stils 
in  Aussicht  zu  nehmen  sein. 

Die  Früchte  der  gewaltigen  Opfer,  die  Deutschland 
in  diesem  Kriege  hat  bringen  müssen,  können,  neben 
wirtschaftlichen  Vorteilen  auf  dem  Kontinent,  nur  von 
England  durch  den  Ausbau  eines  deutsch-zentralafri- 
kanischen Kolonialreiches  gefordert  werden. — Frank- 
reich und  Rußland  haben  Deutschland  großen  Ge- 
winn —  insbesondere  territorialen  —  nicht  zu  bieten. 

Die  Inangriffnahme  des  Baues  der  besprochenen 
Bahn  würde  auch  für  den  Fall,  daß  England  früher 
zu  einem  Frieden  mit  Deutschland  geneigt  ist,  ein 
wertvolles  Instrument  für  etwaige  Friedensverhand- 
lungen bieten,  bei  denen  wir  durch  diese  Bahn  einen 
gewaltigen  Druck  auf  England  auszuüben  imstande 
wären. 

Ich  halte  es  für  so  wichtig,  die  Gedanken  über  die 
eventuelle  Weiterführung  des  Krieges  rechtzeitig  klar- 
zulegen und  ihre  Durchführung  rechtzeitig  einzulei- 
ten, daß  ich  es  gewagt  habe,  Ew.  Majestät  das  Vor- 
stehende zu  unterbreiten. 

412 


Ich  bitte  Ew.  Majestät  alleruntertänigst,  die  Vor- 
schläge zu  prüfen,  und  falls  Ew.  Majestät  denselben 
zustimmen,  ihre  unverzügliche  Inangriffnahme  zu  be- 
fehlen. 

In  tiefer  Ehrfurcht  verharre  ich  als  Ew.  Majestät 
alleruntertänigster 

v.  Moltke,  Generaloberst. 

Moltke  an  Se.  Majestät  den  Kaiser. 

Berlin,  17. Januar  1915. 
Ew.  Majestät! 

Durch  den  Feldmarschall  v.  Hindenburg  erfahre  ich, 
in  welch  schwerer  Krisis  sich  augenblicklich  die  Mon- 
archie und  das  Vaterland  befinden.  Als  ältester  treue- 
ster  Diener  Ew.  Majestät  muß  ich,  selbst  auf  die  Ge- 
fahr hin,  daß  mein  Schritt,  wenn  auch  nicht  von  Ew. 
Majestät,  so  doch  von  anderen,  mißdeutet  werden 
könnte,  es  wagen,  Ew.  Majestät  in  aller  Ehrfurcht 
rückhaltslos  und  offen  meine  Ansicht  auszusprechen. 

General  v.  Falkenhayn  ist  nach  meiner  festen  Über- 
zeugung weder  nach  seinem  Charakter  noch  nach 
seiner  Befähigung  geeignet,  der  erste  Ratgeber  Ew. 
Majestät  auf  militärischem  Gebiet  in  diesen  schweren 
Zeiten  zu  sein.  —  Seine  Person  bildet  eine  ernste 
Gefahr  für  das  Vaterland.  —  Trotz  eines  äußerlich 
starken  Willens  und  geschickter  äußerer  Aufmachung 
besitzt  er  nicht  die  innere  Kraft  des  Geistes  und  der 
Seele,  großzügige  Operationen  zu  entwerfen  und 
durchzuhalten.  —  Die  von  ihm  im  Westen  Ew.  Maje- 
stät vorgeschlagenen  und  zur  Ausführung  gelangten 
Operationen  haben  zu  keinem  Ergebnis  geführt,  sie 
sind  eine  Strategie  der  verpaßten  Gelegenheiten.  — 
Durch  seine  Kurzsichtigkeit  —  ich  sage  absichtlich 

413 


nicht  seinen  Ehrgeiz  —  haben  wir  einen  schweren 
Mißerfolg  an  der  Yser  erlitten  und  dabei  die  sich  da- 
mals bietende  Gelegenheit  versäumt,  den  Feldzug  ge- 
gen Rußland  durch  einen  schnellen,  entscheidenden 
Schlag  zu  beendigen.  Es  liegt  die  ernste  Gefahr  vor, 
daß  im  jetzigen  Augenblick  der  gleiche  Fehler  be- 
gangen wird.  —  Unsere  gesamte  Kriegslage  ist  jetzt 
so  kritisch,  daß  nur  ein  ganzer  und  voller  Erfolg  im 
Osten  sie  retten  kann.  Es  ist  keine  Zeit  zu  verlieren, 
wenn  die  Gefahr  beschworen  werden  soll,  daß  Ru- 
mänien und  Italien  sich  auf  die  Seite  unserer  Gegner 
stellen.  Sie  wird  abgewendet  werden,  wenn  es  ge- 
lingt, die  Russen  entscheidend  zu  schlagen  und  zu 
einem  Frieden  mit  ihnen  zu  kommen.  Ich  glaube, 
daß  dies  zu  erreichen  ist,  wenn  wir  billige  Forderun- 
gen stellen.  Es  ist  aber  nur  möglich,  wenn  wir  alle 
irgend  verfügbaren  Kräfte,  auch  unter  Heranziehung 
der  im  Westen  etwa  noch  entbehrlichen  Gewehre,  im 
Osten  einsetzen,  selbst  auf  die  Gefahr  hin,  dort  in 
eine  schwierige  Lage  zu  kommen,  ja  zu  einer  Ver- 
kürzung unserer  Linien  gezwungen  zu  sein. 

Wie  ich  Ew.  Majestät  schon  dargelegt  habe,  kön- 
nen wir  im  Westen  jetzt  nur  Teilerfolge  erringen,  die 
ohne  Einfluß  auf  die  Beendigung  des  Krieges  blei- 
ben werden.  Setzen  wir  jetzt  auch  im  Osten  unzu- 
reichende Kräfte  ein,  so  können  auch  dort  nur  Teil- 
erfolge errungen  werden  und  Ew.  Majestät  werden 
binnen  kurzem,  bei  der  unzuverlässigen  Haltung  der 
Neutralen,  gezwungen  sein,  noch  stärkere  Kräfte  als 
jetzt  erforderlich,  aus  dem  Westen  nach  dem  Osten 
zu  ziehen.  Das  führt,  wie  es  schon  einmal  geschehen, 
zu  einem  tropfenweisen  Einsetzen,  ohne  einen  ent- 
scheidenden Erfolg  zu  haben.  Bleibt  ein  solcher  jetzt 
aus,  so  werden  Rumänien  und  Italien  gegen  Öster- 
reich vorgehen  und  es  zu  einem  schimpflichen  Frie- 

414 


den  zwingen,  der  auch  uns  um  die  Früchte  der  schwe- 
ren und  blutigen  Opfer  dieses  Krieges  bringen  muß. 

Durch  einen  Zufall  ist  es  zu  meiner  Kenntnis  ge- 
langt, daß  Feldmarschall  v.  Hindenburg  Ew.  Majestät 
vorgeschlagen  hat,  mich  wieder  in  meine  alte  Stel- 
lung zurückzuberufen.  Ich  bitte  Ew.  Majestät  instän- 
digst, hiervon  unter  allen  Umständen  Abstand  neh- 
men zu  wollen.  Nicht  meiner  Gesundheit  wegen,  die 
wieder  vollkommen  hergestellt  ist,  sondern  weil  ich 
die  Empfindung  habe,  daß  Ew.  Majestät  mir  nicht 
mehr  das  alte  Vertrauen  bewahrt  haben.  —  Ew.  Maje- 
stät haben  von  dem  Tage  ab,  wo  Allerhöchstdiesel- 
ben mir  die  Leitung  der  Operationen  abnahmen,  keine 
Meinungsäußerung  mehr  von  mir  verlangt,  und  es 
würde  unmöglich  für  mich  sein,  diesen  Brief  zu 
schreiben,  wenn  eine  selbstsüchtige  Absicht  ihm  zu- 
grunde läge.  Auf  meine  Person  kommt  es  jetzt  gar 
nicht  an.  Darauf  kommt  es  an,  das  Vaterland  aus  sei- 
ner schweren  Krisis  zu  erretten.  Im  jetzigen  Augen- 
blick ist  zum  Chef  des  Generalstabes  jede  Persön- 
lichkeit geeignet,  welche  die  Fähigkeit  besitzt,  die 
Forderungen  der  strategischen  Lage  zu  erkennen  und 
den  Charakter,  sie  mit  Entschlossenheit  durchzu- 
führen, ein  Mann,  dem  Ew.  Majestät  berechtigt  sind 
Vertrauen  zu  schenken. 

Aus  den  vorstehenden  Darlegungen  wollen  Ew.  Ma- 
jestät erkennen,  daß  es  nur  sachliche  Gründe  sind, 
die  mir  die  Enthebung  des  Generals  v.  Falkenhayn 
von  seiner  Stellung  als  Chef  des  Generalstabes  im 
eigensten  Interesse  Ew.  Majestät  und  des  Vaterlan- 
des geboten  erscheinen  lassen. 

General  v.  Falkenhayn  hat  so  wenig  Vertrauen  in 
der  Armee,  daß  neue  Operationen  unter  seiner  Lei- 
tung nicht  begonnen  werden  dürfen.  —  Selbst  wenn 
er  jetzt,  unter  dem  Druck  der  Verhältnisse,  geneigt 

415 


sein  sollte,  alle  Forderungen  des  Oberkommandos 
Ost  zu  erfüllen,  so  wird  er  morgen  seine  Verspre- 
chungen nicht  halten,  und  es  besteht  die  Gefahr,  daß 
er  der  Kriegsführung  im  Osten  neue  Schwierigkeiten 
bereiten  wird,  statt  sie  mit  allen  Kräften  zu  unter- 
stützen. 

Falls  Ew.  Majestät  diese  offenen  Ausführungen 
nicht  als  den  Ausdruck  meiner  unbedingten  Hingabe 
an  Ew.  Majestät  Person  und  an  mein  Vaterland  auf- 
fassen, sondern  als  eine  unbefugte  Einmischung  in 
die  Kriegsführung  und  die  Entschlüsse  Ew.  Majestät, 
so  bitte  ich,  mich  in  Gnaden  entlassen  zu  wollen.  — 
Meine  Worte  werden  dann  der  letzte  warnende  Rat 
eines  treuen  Dieners  gewesen  sein,  der  sich  mit  schwe- 
rem Herzen,  aber  getrieben  vom  Gefühl  der  Pflicht, 
zu  diesem  Schritt  entschlossen  hat. 

In  tiefer  Verehrung  verharre  ich  als  Ew.  Majestät 
alleruntertänigster 

v.  Moltke. 

Zusatzbemerkung  Moltkes. 

Auf  vorstehenden  Brief  hat  Se.  Majestät  in  dem  an- 
liegenden uneröffneten  Schreiben  geantwortet.  Be- 
vor dasselbe  in  meine  Hände  kam,  erhielt  ich  ein 
Telegramm  von  Generaloberst  v.  Plessen,  ich  sollte 
den  Brief  auf  Befehl  Sr.  Majestät  nicht  öffnen,  bevor 
Generaloberst  v.  Plessen  bei  mir  gewesen  sei,  um  mir 
mündlich  Erläuterungen  zu  machen.  Generaloberst 
v.  Plessen  traf  am  24.  Januar,  vormittags  10  Uhr,  bei 
mir  ein.  —  Eine  Stunde  nach  seinem  Eintreffen  wurde 
mir  der  anliegende  Brief  überbracht.  Ich  erklärte  Ge- 
neraloberst v.  Plessen,  daß  ich,  nachdem  ich  seine 
Erläuterungen  entgegengenommen  hätte,  den  Brief 
Sr.  Majestät  nicht  öffnen  werde,  da  ich  nach  Kennt- 
nisnahme seines  Inhaltes  —  wie  mir  nach  den  münd- 

416 


liehen  Mitteilungen  des  Generalobersten  v.  Plessen 
klargeworden  sei  —  gezwungen  sein  würde,  die  Kon- 
sequenzen zu  ziehen.  Ich  werde  den  Brief  uneröffnet 
zu  den  Akten  geben,  und  bäte,  dies  Sr.  Majestät  zu 
melden.  Damit  wäre  ich  so  weit  gegangen,  wie  mir 
möglich  sei,  um  dem  Lande  noch  weiter  dienen  zu 
können. 

Berlin,  24.  Januar  1915. 

v.  Moltke. 

Dringend!  TELEGRAMM. 

Generaloberst  v.  Moltke,  Berlin,  Königsplatz,  Generalstabsgebäude. 

Großes  Hauptquartier,  23.  Januar  1915. 

Bin  morgen,  24.  Januar,  vormittags  10  Uhr,  bei  Ihnen  in  Berlin. 
Bitte  Brief  Sr.  Majestät  vor  meiner  Ankunft  nicht  eröffnen. 

Auf  Allerhöchsten  Befehl 

v.  Plessen, 
Generaladjutant. 

Moltke  an  Generalfeldmarschall  v.  Hindenburg. 

Streng  vertraulich.  Berlin,  23.  Januar  1915. 

Hochgeehrter  Herr  Feldmarschall! 

Major  v.  . . .  ist  gestern  abend  aus  dem  Großen 
Hauptquartier  zurückgekehrt.  Bevor  er  hier  ankam, 
war  bereits  ein  Telegramm  hier  mit  seiner  Verset- 
zung in  den  Generalstab  des  Gouvernements  . . .  und 
dem  Befehl,  sofort  dorthin  abzureisen.  —  Er  ist  heute 
abgefahren,  konnte  also  seine  Absicht,  Ihnen  persön- 
lich Bericht  zu  erstatten,  nicht  ausführen.  Mir  ist  mit 
ihm  meine  beste  Hilfskraft  genommen;  er  war  mein 
Ludendorff  in  den  hiesigen  Verhältnissen. 

Seine  Mission  ist  gescheitert,  vollkommen.  Sie  ist 
sehr  ungnädig  aufgenommen,  ohne  Verständnis.  Der 
brave  Mann,  der  seine  Existenz  für  sein  Vaterland 

Moltke.        27.  4*7 


eingesetzt  hat,  ohne  alle  Rücksicht  auf  seine  Person, 
der  bereit  war,  alle  Folgen  auf  sich  zu  nehmen,  ist 
nun  von  mir  getrennt.  —  Der  Schritt,  den  er,  Sie  Herr 
Feldmarschall,  ich  und  die  Kaiserin  unternommen 
hatten,  alle  geleitet  von  der  gleichen  Sorge  um  das 
Land  und  das  Ergebnis  des  Krieges,  hat  immerhin 
die  Wirkung  gehabt,  daß  Ihnen  nun  vier  Korps  zur 
Verfügung  gestellt  werden.  Meine  Bitte,  alles,  was 
irgend  entbehrlich  sei,  aus  dem  Westen  herauszu- 
ziehen und  nach  dem  Osten  zu  schicken,  bleibt  uner- 
füllt. Ob  es  Ihnen  möglich  sein  wird,  mit  diesen  vier 
Korps  einen  so  großen  Erfolg  zu  erringen,  wie  wir 
ihn  brauchen,  wenn  wir  diesen  Krieg  überhaupt  be- 
enden wollen,  kann  ich  nicht  beurteilen.  Gott  gebe 
es.  —  Sie  kennen  ja  meine  Ansichten,  die  sich  mit 
den  Ihrigen  decken.  —  Der  zweite  Erfolg  ist  die  Rück- 
kehr des  Generals  Ludendorff  zu  Ihnen.  Darüber 
bin  ich  sehr  froh.  —  Mir  scheint,  man  muß  jetzt  wei- 
tere Schritte  unterlassen,  die  nur  die  Stimmung  ver- 
schlechtern können.  Es  kommt  ja  doch  nur  auf  die 
Sache  an. 

H.  meinte,  daß  die  volle  Selbständigkeit  Ihrer  Ope- 
rationen gewahrt  bleiben  werde.  Auf  Ihren  Vorschlag, 
mich  in  meine  alte  Stellung  zurückzuberufen,  hat 
Se.  Majestät  kurzweg  erklärt,  ich  wäre  zu  krank,  wie 
ihm  der  Oberst  v.  M.  gemeldet  habe,  der  sich  bei  mei- 
nem Arzt  erkundigt  habe.  Letzteres  ist  gelogen,  er 
ist  weder  bei  ihm  gewesen,  noch  hat  er  schriftlich 
angefragt.  Im  übrigen  geht  es  mir  gut,  ich  bin  wieder 
ganz  auf  dem  Posten. 

Auf  meinen  Brief  an  Se.  Majestät  habe  ich  bisher 
keine  Antwort  bekommen.  Morgen  kommt  P.,  der 
sie  mir  wohl  bringen  wird.  Ich  sehe  ihm  mit  Ruhe 
entgegen  und  bin  ebenso  wie  H.  bereit,  alle  Konse- 
quenzen zu  tragen. 

418 


Ich  bitte  um  Verzeihung,  wenn  ich  rate,  etwaigen 
ferneren  Abgesandten  gegenüber  recht  vorsichtig  zu 
sein.  Ihre  Äußerungen  über  Stimmung  im  General- 
stab sind  Sr.  Majestät  berichtet  worden  und  haben  zu 
scharfen  Reprimanden  geführt. 

Herr  Feldmarschall,  ich  habe  getan,  was  in  meiner 
Macht  stand,  um  Ihnen  und  dem  Vaterlande  zu  hel- 
fen. Das  Geschick  des  letzteren  liegt  nun  in  Ihrer 
Hand.  Möge  unser  Gott  im  Himmel  sein  deutsches 
Volk  nicht  verlassen  und  möge  er  mit  Ihnen  sein  in 
den  Entscheidungsstunden. 

Treulich  der  Ihrige 

v.  Moltke. 

Rede  Moltkes  am  Geburtstag  Se.  Majestät  des 
Kaisers  am  27.  Januar  1915. 

Unter  ganz  anderen  Verhältnissen  haben  wir  uns 
heute  versammelt  an  dem  Geburtstag  des  Deutschen 
Kaisers,  als  wir  es  unter  früheren  Verhältnissen  ge- 
wohnt waren.  Wir  sind  mitten  im  Kriege,  in  einem 
Kriege,  der  wie  noch  kein  früherer  über  das  Schick- 
sal unseres  Vaterlandes  entscheiden  wird.  Da  sind 
unsere  Seelen  nicht  in  der  friedensmäßigen  Jubel- 
stimmung, die  an  Kaisers  Geburtstag  zu  herrschen 
pflegt,  einer  Stimmung,  die  sich  kaum  über  den  Ge- 
danken des  Liebesmahles  oder  der  sonstigen  zu  ver- 
anstaltenden Festlichkeiten  erhebt,  —  heute  sind  wir 
tiefernst,  denn  wir  stehen  heute  dem  Schicksal  gegen- 
über, das  über  Tod  und  Leben  eines  ganzen  Volkes 
entscheidet.  Ich  denke,  diese  ernste  Stimmung  ist  ge- 
rade am  heutigen  Tage  besonders  am  Platz.  Wir  stel- 
len das  Schicksal  unseres  Volkes  vor  unsere  Seele, 
wenn  wir  uns  heute  hier  in  schlichter  Weise  versam- 
melt haben.  Millionen  deutscher  Herzen  vereinigen 

419 


sich  heute  in  einem  gemeinsamen  Gedanken.  Er 
richtet  sich  auf  den  Kaiser,  und  indem  er  gewisser- 
maßen in  ihm  die  Gesamtheit  des  deutschen  Volkes 
begreift,  bildet  er  den  Zentralpunkt,  in  dem  alles  zu- 
sammenströmt, was  an  Wünschen  für  unser  Land  in 
der  Gesamtheit  der  deutschen  Volksseele  lebt.  So 
wollen  auch  wir  heute  unsere  Wünsche  auf  unser 
Volk  und  unser  Land  richten.  Wir  wollen  hoffen, 
daß  es  aus  der  schweren  Prüfung,  die  ihm  Gottes 
Ratschluß  auferlegt  hat,  gestärkt  im  Innern  und  ge- 
reinigt von  vielen  häßlichen  Seiten  des  langen  Frie- 
denslebens hervorgehen  wird.  —  Heute  wollen  wir 
nicht  in  ein  Hurra  einstimmen,  wir  wollen  ernst  und 
still  auseinandergehen,  und  an  diesem  Kaisergeburts- 
tag wollen  wir  geloben,  dem  Vaterlande  zu  dienen 
mit  aller  Kraft,  und  wir  wollen  alle  sagen :  Gott  segne, 
Gott  schütze,  Gott  erhalte  unser  deutsches  Vaterland. 

Moltke  an  General  Ludendorff. 

Berlin,  29. Januar  1915. 
Lieber  Ludendorff! 

Ich  bin  Ihnen  herzlich  dankbar  für  Ihren  Brief  und 
dafür,  daß  Sie  bei  Ihrer  Arbeitsüberlastung  sich  die  Zeit 
abgerungen  haben,  mir  so  ausführlich  zu  schreiben. 
Sie  wissen  wohl  kaum,  welche  Wohltat  Sie  mir  mit 
diesem  Zeichen  des  Vertrauens  erwiesen  haben.  Wer 
wie  ich  ausgeschaltet,  mit  Füßen  getreten,  verleum- 
det ist,  der  empfindet  das  doppelt  dankbar. 

Mein  Herz  ist  zerrissen,  wenn  ich  an  die  Monate 
der  Kriegsführung  denke,  die  dahingegangen,  die  ver- 
loren sind,  seit  ich  abgesetzt  wurde.  —  Ich  will  nicht 
behaupten,  daß  ich  es  besser  gemacht  hätte,  aber  an- 
ders jedenfalls.  Aber  kein  Mensch,  weder  der  Kaiser 

420 


noch  sonst  jemand,  hat  seitdem  nach  mir  gefragt. 
Der  Kaiser  hat  es  nicht  einmal  der  Mühe  wert  gehal- 
ten sich  zu  erkundigen,  ob  ich  gesund  oder  krank  sei, 
ob  ich  den  Wunsch  hätte,  wieder  in  meine  alte  Stel- 
lung zurückzukehren  oder  nicht. 

Mein  Nachfolger  und  das  Militär-Kabinett  haben 
mich  zu  den  Toten  geworfen.  Vom  Kaiser  habe  ich, 
seit  General  P.  mit  meiner  Antwort  nach  dem  Großen 
Hauptquartier  zurückgekehrt  ist,  nichts  mehr  gehört. 

Ich  versuche  nun  hier  der  Not  des  Landes  zu 
steuern,  soviel  ich  kann.  Ich  weiß,  daß  ich  mir  viele 
neue  Feinde  damit  mache,  das  ist  mir  völlig  gleich- 
gültig. 

Mein  lieber  Ludendorff,  auf  Ihnen  und  dem  Feld- 
marschall ruht  jetzt  die  Zukunft  Deutschlands.  — 
Wenn  wir  in  zwei  Monaten  nicht  Frieden  mit  Ruß- 
land haben,  weiß  ich  nicht,  was  aus  uns  werden  soll. 
Nicht  militärisch,  aber  wirtschaftlich.  In  frevelhafter 
Weise  sind  die  Hilfsquellen  des  Landes  vergeudet. 
Monat  nach  Monat  ist  dahingegangen,  ohne  daß  et- 
was Durchgreifendes  geschehen  ist,  immer  ist  das 
Volk  in  der  Illusion  erhalten,  daß  wir  Überfluß  an 
Nahrungsmitteln  hätten.  Jetzt  zeigt  sich  die  traurige 
Wahrheit.  Ich  habe  an  den  Kaiser,  an  den  Reichs- 
kanzler geschrieben,  gestern  noch  zum  zweitenmal, 
und  die  bevorstehende  Gefahr  schonungslos  aufge- 
deckt. Aber  was  hat  die  Stimme  eines  Abgeschobe- 
nen für  einen  Wert!  Ich  erwarte  nun,  als  Querulant 
entfernt  zu  werden  —  in  Gottes  Namen! 

Ich  habe  wenigstens  das  Bewußtsein,  meine  Pflicht 
getan  zu  haben,  ohne  jede  Rücksicht  auf  meine  Per- 
son. —  Sehen  Sie,  lieber  Ludendorff,  deshalb  ist  es  von 
so  unendlicher  Bedeutung,  daß  Sie  rasch  und  mit 
rücksichtsloser  Energie  handeln.  Wir  müssen  mit 
Rußland  zu  einem  Abkommen  gelangen,  wir  müssen 

421 


wenigstens  Rumänien  durch  einen  Erfolg  dahin  brin- 
gen, daß  es  uns  die  Einfuhr  von  Brotgetreide  gestat- 
tet. Es  hängt  unendlich  viel  von  der  Gestaltung  der 
militärischen  Lage  im  Osten  ab,  daß  dies  nicht  schon 
seit  Monaten  von  leitender  Stelle  erkannt  ist,  ist  ein 
Fehler,  der  sich  in  schwerster  Weise  an  Land  und 
Volk,  an  Thron  und  Monarchie  rächen  kann.  —  Gegen 
fünfzig  Armeekorps  liegen  im  Westen  im  Schützen- 
graben, jeder  Gedanke,  dies  Riesenheer  wieder  opera- 
tionsfähig zu  machen,  ist  aufgegeben.  Man  kann  sich 
nicht  entschließen,  einen  Meter  Land  aufzugeben  und 
die  Entscheidung  in  der  offenen  Feldschlacht  zu  su- 
chen. Das  ist  keine  Kriegsführung  mehr,  es  ist  ein 
vollständiges  Fiasko. 

Ich  kann  Ihren  Operationen  nur  in  Gedanken  und 
mit  heißen  Wünschen  folgen.  Was  Sie  beabsichti- 
gen, finde  ich  durchaus  richtig.  Die  Operation  auf 
das  rechte  Weichselufer  zu  verlegen,  ist  meiner  Mei- 
nung nach  das  einzig  Richtige.  Wenn  es  gelingt,  müs- 
sen die  Russen  aus  ihrem  Mauseloch  heraus.  Sie 
werden  ja  alle  Mittel  anwenden,  um  ihnen  die  Lebens- 
ader, die  Bahn  nach  Warschau  zu  durchschneiden. 
—  Gott  sei  mit  Ihnen. 

Ich  weiß,  wenn  es  jemanden  gibt,  der  das  Vater- 
land noch  retten  kann,  so  sind  Sie  es  und  Ihr  Feld- 
marschall. 

Treulichst  wie  in  alter  Zeit  der  Ihrige 

v.  Moltke. 

Chef  des  Generalstabes  des  Feldheeres 
Nr.  227. 

Groß  es  Hauptquartier,  den  ...  Februar  1915. 

Bei  Gelegenheit  einer  Konferenz  habe  ich  zufäl- 
lig von  einer  Denkschrift  über  die  Ernährungsfrage 

422 


Deutschlands  in  ihrer  Beziehung  zum  Kriege  erfah- 
ren, die  der  stellvertretende  Generalstab  an  den  Herrn 
Reichskanzler  gerichtet  hat.  Ich  weiß  nicht,  von  wel- 
cher Stelle  im  besonderen  die  Schrift  bearbeitet  ist, 
habe  mich  auch  nach  ihrem  Inhalt  im  einzelnen  nicht 
erkundigen  wollen.  —  Indessen  möchte  ich  Ew.  Ex- 
zellenz bitten,  sehr  gefälligst  Maßnahmen  zu  treffen, 
die  es  verhindern,  daß  Auslassungen  des  stellvertre- 
tenden Generalstabs,  die  für  Entschlüsse  der  Ober- 
sten Heeres-  oder  Staatsleitung  von  Einfluß  sein 
könnten,  nach  außen  gelangen,  ehe  sie  mir  vorge- 
legen haben. 

An  den  Chef  des  stellv.  General-  Ohne  Datum  und  ohne  Unter- 

stabes Herrn  Generaloberst  schrift  eingegangen  am  Freitag, 

v.  Moltke,  Exzellenz,  j      den  5.  Februar  1915.    v.  Moltke. 

Moltke  an  General .  .  . 

Berlin,  4.  Mai  1915. 

Ew.  Exzellenz 

sage  ich  meinen  besten  Dank  für  Ihren  Brief  vom 
30.  v.  M. 

Die  Offenheit,  mit  der  Sie  mir  geschrieben  haben, 
ist  mir  der  beste  Beweis  Ihrer  aufrichtigen  Freund- 
schaft. Nichts  ist  schlimmer,  als  unklaren  Verhält- 
nissen gegenüberzustehen.  —  Jetzt  weiß  ich,  woran 
ich  bin,  und  kenne  den  mir  bisher  unerklärlichen 
Grund  meiner  dauernden  Ausschaltung. 

Ich  kann  nicht  leugnen,  daß  Ihre  Mitteilung,  meine 
Tätigkeit  in  Sachen  der  Volksernährung  werde  als 
Zeichen  der  Nervosität  gedeutet,  mich  doch  über- 
rascht hat  und  ich  muß  offen  gestehen,  daß  ich  ohne 
Ihre  Aufklärung  auf  diesen  Gedanken  nie  gekommen 
sein  würde.  —  Sie  macht  mir  etwa  den  Eindruck,  als 
ob  man  von  einem  Menschen,  der  das  Haus  brennen 

423 


sieht  und  der  die  Feuerwehr  alarmiert,  sagen  würde, 
er  tue  dies  aus  Nervosität!  Ich  glaube,  daß  man  im 
Großen  Hauptquartier  über  die  Zustände  in  der  Hei- 
mat nicht  sehr  eingehend  unterrichtet  ist.  Das  ist  ja 
auch  begreiflich,  da  die  Kriegsführung  selbstverständ- 
lich im  Vordergrund  der  Interessen  steht  und  da  die 
Zeitungen  infolge  der  Zensur  völlig  gebunden  sind. 
Dadurch  ist  es  vielleicht  erklärlich,  daß  die  Notwen- 
digkeit dessen,  was  ich  getan  habe,  nicht  erkannt 
worden  ist.  Ich  kann  aber  versichern,  daß  es  sehr  nö- 
tig war,  den  verantwortlichen  Behörden  die  Augen 
zu  öffnen,  wenn  Unheil  verhütet  werden  sollte.  Da 
kein  anderer  da  war,  der  dies  übernehmen  wollte, 
habe  ich  es  getan.  Von  außerordentlich  vielen  Sei- 
ten ist  mir  auch  dafür  Dank  geworden.  —  Wenn  in 
der  Umgebung  Sr.  Majestät  mein  Eingreifen  gegen 
mich  ausgenutzt  worden  ist,  so  bedauere  ich  dies, 
kann  es  aber  nicht  ändern,  und  würde  in  einem  zwei- 
ten Fall  genau  ebenso  handeln.  —  Allerdings  war  es 
schon  zu  meiner  Kenntnis  gekommen,  daß  man 
neuerdings  auch  den  Rückzug  von  der  Marne  im 
September  vorigen  Jahres  auf  Nervosität  meinerseits 
zurückführen  will.  Diese  Unterstellung  ist  ebenso 
falsch,  wie  die  obige.  Der  Rückzug  war  eine  nach 
Lage  der  Dinge  unvermeidlich  gewordene  Notwen- 
digkeit, die  ich  —  wenn  auch  schweren  Herzens  — 
mit  voller  Überlegung  habe  anordnen  müssen,  und 
ich  bin  sicher,  daß  die  Kriegsgeschichte  mir  einmal 
Recht  geben  wird.  —  Doch  dies  bemerke  ich  nur 
nebenbei. 

Wie  ich  Ende  September  hierher  kam,  haben  mich 
zahlreiche  Herren  aus  den  Kreisen  der  Industrie,  der 
Landwirtschaft,  der  Wissenschaft  aufgesucht.  Sie 
kamen  alle  unabhängig  voneinander,  aber  alle  mit 
derselben  Bitte  um  Hilfe,  und  alle  in  derselben  Über- 

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zeugung,  daß  wenn  so  weiter  gewirtschaftet  werde 
wie  bisher,  eine  wirtschaftliche  Katastrophe  unver- 
meidlich sein  würde.  Das  war  nicht  Schwarzseherei 
von  mir,  sondern  die  Ansicht  der  kompetentesten  Be- 
urteiler unserer  Volkswirtschaft.  Es  war  eben  in  den 
verflossenen  fünf  Kriegsmonaten  so  gut  wie  nichts 
geschehen,  alles  ging  weiter  wie  im  Frieden  und  alle 
mahnenden  Stimmen  verhallten  ungehört.  Ich  wurde 
gedrängt,  an  Se.  Majestät  zu  berichten  und  ihn  um 
sein  Eingreifen  zu  bitten,  in  dem  von  vielen  Seiten 
die  einzige  Rettung  gesehen  wurde.  —  Ich  habe  mich 
nicht  leicht  dazu  entschlossen,  mich  in  diesen  Din- 
gen, denen  ich  doch  als  Laie  gegenüberstand,  einzu- 
setzen und  habe  es  erst  getan,  nachdem  ich  zu  der 
Überzeugung  gekommen  war,  daß  im  Interesse  des 
Landes  eine  radikale  Änderung  des  bisherigen  Ver- 
fahrens nötig  sei.  Es  war  nötig,  daß  ein  einheitlicher 
und  großzügiger  Wirtschaftsplan  und  eine  dem 
Kriege  angepaßte  Organisation  der  Volkswirtschaft 
coute  que  coute  herbeigeführt  wurde.  —  Ich  wußte, 
daß  ich  in  ein  Wespennest  greifen  würde,  das  war 
mir  aber  gleichgültig,  hier  kam  es  auf  die  Sache  an. 
Ich  glaube  auch  den  richtigen  Weg  beschritten  zu 
haben,  indem  ich  eine  Denkschrift  an  den  Reichs- 
kanzler richtete,  in  der  ich  die  Lage  schilderte  und 
gleichzeitig  Se.  Majestät  bat,  sich  über  dieselbe  Vor- 
trag halten  zu  lassen.  Damals  haben  Se.  Majestät  mir 
seinen  Dank  aussprechen  lassen.  Das  scheint  verges- 
sen zu  sein.  —  Nicht  alles,  aber  doch  die  Hauptsache 
dessen,  was  ich  nach  eingehender  Beratung  mit  un- 
seren bedeutendsten  Nationalökonomen  in  dieser 
Denkschrift  vorgeschlagen  habe,  ist  heute  —  aller- 
dings leider  erst  nach  Monaten  —  zur  Einführung 
gekommen.  Manche  Schwierigkeiten,  zum  Beispiel 
die  Haferkalamität,  hätten  vermieden  werden  können, 

425 


wenn  der  schwerfällige  Apparat  unserer  Zivilverwal- 
tung rascher  in  Bewegung  zu  setzen  gewesen  wäre. 
Immerhin  ist  das,  was  ich  herbeiführen  wollte,  im 
wesentlichen  erreicht  und  ich  bin  befriedigt  in  dem 
Bewußtsein,  meine  Pflicht  getan  und  dem  Kaiser  und 
dem  Lande  einen  guten  Dienst  geleistet  zu  haben. 

Daß  ich  bei  der  Wichtigkeit  der  Sache  sehr  ener- 
gisch vorgegangen  bin,  halte  ich  nicht  für  einen  Feh- 
ler. —  Ich  glaube,  hier  zu  Hause  wird  man  schwer- 
lich, außer  vielleicht  bei  denjenigen,  die  in  meinem 
Vorgehen  eine  Verletzung  ihrer  Privilegien  gesehen 
haben,  die  Ansicht  vertreten  finden,  ich  habe  aus 
Nervosität  gehandelt. 

Wenn  dies  jetzt  dem  Kaiser  so  dargestellt  wird, 
so  kann  ich  wohl  vermuten,  von  welcher  Seite  das 
kommt,  und  ich  werde  mich  auch  hiermit  gleich- 
mütig abfinden.  —  Ich  kann  Ew.  Exzellenz  versichern, 
daß  nach  den  Erfahrungen,  die  ich  vom  ersten  Mo- 
bilmachungstage an  habe  machen  müssen,  meine 
Ruhe  und  mein  inneres  Gleichgewicht  durch  nichts 
mehr  erschüttert  werden  können. 

Verzeihen  Sie  dies  lange  Schreiben.  Ich  bin  dank- 
bar, daß  Sie  mir  gute  Kameradschaft  immer  bewahrt 
haben  und  es  lag  mir  nur  daran,  daß  nicht  auch  Sie 
zu  falschen  Vorstellungen  über  mich  kommen.  Es 
soll  aber  das  letztemal  sein,  daß  ich  Sie  mit  meiner 
Person  belästige. 

Treulich  der  Ihrige 

v.  Moltke. 

TELEGRAMM  DES  KAISERS  AN  MOLTKE. 

Neues  Palais,  23.  Mai  1915. 
Generaloberst  v.  Moltke,  Königsplatz,  Berlin. 
Mein  lieber  Moltke!  Empfangen  Sie  meine  herzlichsten  Glück- 
wünsche zu  Ihrem   Geburtstage.   Das   vergangene   Jahr   brachte 

426 


uns  den  schwersten  Krieg  der  Weltgeschichte!  Daß  Meine  Ar- 
mee für  denselben  mustergültig  vorbereitet  war  und  im  ersten 
Teil  des  Feldzuges  glänzende  Erfolge  erkämpfte,  das  war  we- 
sentlich mit  Ihr  Verdienst,  für  welches  Ich  und  das  Vaterland 
Ihnen  für  alle  Zeiten  tief  dankbar  bleiben.  —  Seitdem  hat  die 
Vorsehung  unsere  Aufgaben  immer  gesteigert,  Gottes  Gnade  half 
uns,  sie  glücklich  zu  vollbringen.  Unser  festes  Gottvertrauen  wird 
uns  auch  weiter  helfen.  In  dieser  Zuversicht  wünsche  Ich  Ihnen 
für  Ihr  kommendes  Lebensjahr  Gottes  Segen. 

Es  ist  mir  eine  besondere  Freude,  Ihnen  die  Briefe  Friedrichs 
des  Großen  zu  schenken,  der  auch  wie  Ich  gegen  eine  Welt  von 
Feinden  zu  kämpfen  hatte  und  sich  durch  schwerste  Zeiten 
durchringen  mußte. 

Wilhelm  I.  R. 


TELEGRAMM  DES  KAISERS  AN  MOLTKE. 

Pleß,  Schloß,  7.  August  1915. 
Generaloberst  v.  Moltke,  Königsplatz,  Berlin. 
Bei  der  Wiederkehr  des  Tages,  an  dem  vor  einem  Jahre  die 
Festung  Lüttich  im  Ansturm  heldenhaft  vorwärtsdrängender  Trup- 
pen genommen  und  der  Aufmarsch  an  der  Westfront  sicher- 
gestellt war,  gedenke  Ich  dankbar  Ihrer  Verdienste.  Ihr  Werk 
war  es,  daß  die  Armee  mustergültig  in  diesen  uns  aufgezwun- 
genen größten  aller  Kriege  zog,  daß  Mobilmachung  und  Auf- 
marsch ungeheurer  Massen  sich  in  tadelloser  Weise  vollzog,  und 
daß  in  raschem  Anlauf  der  größte  Teil  von  Belgien  und  Nord- 
frankreich mit  großen,  für  unbezwinglich  gehaltenen  Festungen 
in  unsere  Hand  fiel.  In  langen  Friedensjahren  haben  Sie  es  ver- 
standen, im  Geiste  Ihrer  Vorgänger,  deren  Wirken  Ich  in  hoher 
Anerkennung  gedenke,  den  Generalstab  weiterzubilden  und  für 
die  ihm  jetzt  obliegenden  großen  Aufgaben  zu  schulen,  so  daß 
der  Generalstab  überall,  wo  unsere  Waffen  kämpfen,  seine  Pflicht 
vortrefflich  erfüllt.  —  Ich  und  das  Vaterland  sind  Ihnen  allezeit 
dafür  dankbar.  —  Ich  verleihe  Ihnen  am  heutigen  Gedenktage 
den  Orden  Pour  le  merite. 

Wilhelm  I.  R. 


427 


Moltke  über  den  Rückzug  an  der  Marne. 

Berlin,  Sommer  1915. 

Ich  habe  mich  nie  über  die  Schwere  des  Kampfes 
getäuscht,  den  Deutschland  durchzufechten  haben 
würde,  wenn  einmal  der  Brand  in  Europa  zum  Aus- 
bruch kommen  sollte.  —  Meine  alljährlich  dem  Reichs- 
kanzler eingereichten  Denkschriften  über  die  militär- 
politische Lage,  nicht  am  wenigsten  diejenige,  in  der 
ich  vor  drei  Jahren  die  letzte  Armee  Verstärkung  for- 
derte, die  leider  nicht  in  dem  Maße,  wie  ich  sie  wollte, 
zur  Durchführung  gekommen  ist,  könnten  darüber 
Auskunft  geben. 

Die  schwerwiegendste  Entscheidung,  vor  die  ich 
als  Chef  des  Generalstabes  gestellt  war,  war  diejenige, 
ob  Deutschland  den  zu  erwartenden  Zweifrontenkrieg 
defensiv  oder  wenigstens  nach  einer  Seite  offensiv 
führen  solle.  —  Ich  habe  mich  nach  eingehenden  Prü- 
fungen und  Studien  für  das  letztere  entschieden  und 
den  Aufmarsch  so  angelegt,  daß  die  Offensive  im 
Westen  mit  möglichst  starken,  die  gleichzeitige  De- 
fensive im  Osten  mit  einem  Mindestmaß  von  Kräften 
geführt  werden  konnte.  —  Es  war  zu  erhoffen,  daß 
im  Westen  eine  schnelle  Entscheidung  herbeigeführt 
werden  würde.  Eine  solche  war  nötig,  um  Freiheit 
des  weiteren  Handelns  zu  gewinnen,  sie  war  aber  nur 
zu  erwarten,  wenn  man  die  französische  Armee  im 
freien  Felde  treffen  konnte.  Ein  Angriff  gegen  die  be- 
festigte Ostgrenze  Frankreichs  mußte  aller  Voraus- 
sicht nach  zu  einem  langwierigen  Positionskrieg  füh- 
ren und  eine  Entscheidung  hinausschieben.  —  Die 

428 


Kriegsereignisse  bei  der  6.  und  7.  Armee  sprechen  für 
die  Richtigkeit  dieser  Ansicht.  —  Daraus  ergab  sich 
die  Notwendigkeit,  den  französischen  Festungsgürtel 
zu  umgehen,  was  der  Raum-  und  Heeresstärkever- 
hältnisse  wegen  nur  unter  Benutzung  belgischen  Ge- 
bietes geschehen  konnte. 

Soweit  stimmte  meine  Auffassung  mit  derjenigen 
des  Grafen  Schlief  fen  überein.  Wesentlich  unterschied 
sie  sich  in  der  Ausführung.  Der  von  meinem  Vorgän- 
ger ausgearbeitete  Aufmarsch  war  so  angelegt,  daß 
der  deutsche  rechte  Heeresflügel  über  Roermond  vor- 
gehen, also  nicht  nur  belgisches,  sondern  auch  hol- 
ländisches Gebiet  durchschreiten  mußte.  Graf  Schlief  - 
f  en  war  der  Ansicht,  daß  Holland  sich  auf  einen  Pro- 
test beschränken,  die  Verletzung  seines  Gebietes  im 
übrigen  ungehindert  geschehen  lassen  würde.  —  Ich 
habe  gegen  diese  Auffassung  die  schwersten  Beden- 
ken gehabt,  ich  glaubte  nicht,  daß  Holland  eine  Ver- 
gewaltigung ruhig  hinnehmen  werde,  dagegen  sah  ich 
voraus,  daß  dem  deutschen  Heeresflügel  durch  ein 
feindliches  Holland  so  starke  Kräfte  entzogen  wer- 
den würden,  daß  er  die  nötige  Schlagkraft  gegen  den 
Westen  einbüßen  müßte.  Der  Vormarsch  durch  Bel- 
gien konnte  meiner  Ansicht  nach  nur  unter  der  Vor- 
aussetzung eines  strikt  neutralen  Hollands  ausgeführt 
werden. 

Wenn  ich  auch  nicht  wußte,  welche  Haltung  Eng- 
land bei  einem  Kriege  Deutschlands  gegen  Rußland 
und  Frankreich  einnehmen  werde,  so  hielt  ich  es  doch 
für  mehr  als  wahrscheinlich,  daß  dieser  Staat  an  die 
Seite  unserer  Gegner  treten  würde,  sobald  wir  die 
belgische  Neutralität  verletzten,  um  so  mehr,  da  Eng- 
land schon  im  Jahre  1870  dies  als  casus  belli  erklärt 
hatte.  Es  war  mir  klar,  daß  die  Wahrung  der  Neu- 
tralität Hollands  schon  deswegen  unbedingtes  Erf  or- 

429 


dernis  sei,  und  ich  habe  alle  Schwierigkeiten  in  den 
Kauf  genommen,  die  unserem  Aufmarsch  und  Vor- 
marsch erwachsen  mußten,  wenn  wir  keinen  hollän- 
dischen Boden  betreten  wollten.  Gleich  nach  dem 
Ausspruch  der  Mobilmachung  habe  ich  dem  hollän- 
dischen Gesandten  in  Berlin  erklärt,  daß  ich  mich  für 
eine  strikte  Achtung  der  holländischen  Neutralität  von 
Seiten  Deutschlands  feierlich  verbürge.  Ich  glaube, 
daß  die  Verhältnisse  mir  recht  gegeben  haben.  Man 
braucht  sich  nur  zu  vergegenwärtigen,  wie  sie  sich 
gestaltet  haben  würden,  wenn  wir  es  mit  einem  feind- 
lichen Holland,  dessen  Küsten  einer  englischen  Lan- 
dung offen  standen,  zu  tun  gehabt  hätten,  was  aus 
dem  Unternehmen  gegen  Antwerpen  unter  der  Vor- 
aussetzung einer  nicht  neutralen  Scheide  geworden 
wäre,  wieviel  Truppen  zu  unserer  Rückendeckung  bei 
dem  Vormarsch  nach  Westen  erforderlich  gewesen 
sein  würden. 

Ich  war  und  bin  noch  heute  der  Überzeugung,  daß  der 
Feldzug  im  Westen  scheitern  müßte,  wenn  wir  Hol- 
land nicht  geschont  hätten.  —  Außerdem  war  ich  mir 
klar  darüber,  daß  dieses  Land  gewissermaßen  als 
Luftröhre  für  unser  wirtschaftliches  Leben  unter  al- 
len Umständen  erhalten  werden  mußte.  —  Schonten 
wir  dagegen  Holland,  so  konnte  England,  nachdem 
es  angeblich  zum  Schutz  der  kleinen  Neutralen  uns 
den  Krieg  erklärt  hatte,  seinerseits  die  holländische 
Neutralität  unmöglich  verletzen. 

Allerdings  komplizierte  sich  der  geplante  Vormarsch 
durch  Belgien  in  hohem  Maße  durch  die  Ausschal- 
tung Hollands :  unser  durch  die  Bahnlinien  bedingter 
Aufmarsch  mußte  mit  dem  rechten  Flügel  bis  in  die 
Gegend  von  Krefeld  ausgedehnt  werden.  Es  wurde 
nötig,  die  starke  i.  Armee,  die  beim  weiteren  Vor- 
marsch den  Umfassungsflügel  bilden  sollte,  nach  Sü- 

43o 


den  über  Aachen  vorzuziehen.  —  Zwischen  Lüttich 
und  der  holländischen  Grenze  gab  es  nur  den  einen 
Übergang  bei  Vise,  der  außerhalb  des  Feuers  der 
Festung  lag. 

Um  den  ungeheuren  technischen  Schwierigkeiten 
begegnen  zu  können,  die  bei  diesem  Vorgehen  zu  er- 
warten waren,  habe  ich  jahrelang  theoretische  Ar- 
beiten über  den  Vormarsch  unserer  Armeekorps  auf 
einer  Straße  und  die  Regelung  der  rückwärtigen  Ver- 
bindungen ausführen  lassen,  und  ich  glaube,  daß  in 
dieser  Hinsicht  die  von  mir  ins  Leben  gerufenen  Ver- 
waltungs-Generalstabsreisen  sich  belohnt  haben. 

Von  allergrößter  Bedeutung  für  die  Ausführung  der 
geplanten  Operation  war  die  frühzeitige  Inbesitznahme 
von  Lüttich.  Die  Festung  mußte  in  unserer  Hand  sein, 
wenn  der  Vormarsch  der  i.  Armee  überhaupt  ermög- 
licht werden  sollte.  Diese  Erwägung  ließ  mich  den 
Entschluß  fassen,  Lüttich  durch  Handstreich  zu  neh- 
men. 

In  allen  früheren  Operationsentwürfen  war  mit  ei- 
ner ordnungsmäßigen  Belagerung  Lüttichs  gerech- 
net, erst  sollte  der  Aufmarsch  planmäßig  erfolgen, 
dann  der  Vormarsch  auf  der  ganzen  Linie  angetreten, 
Lüttich  eingeschlossen  und  artilleristisch  angegriffen 
werden.  —  Aber  auch  hierfür  war  der  früher  geplante 
Vormarsch  des  rechten  Heeresflügels  durch  Holland 
Voraussetzung.  —  Sicherlich  würde  die  Belagerung 
viel  Zeit  und  Truppen  gekostet  haben,  die  belgische 
Armee  hätte  inzwischen  Mobilmachung  und  Auf- 
marsch vollendet,  wir  hätten  ein  kriegsmäßig  ausge- 
bautes Lüttich  vorgefunden,  unbedingt  hätte  man  dann 
ferner  mit  der  Zerstörung  der  Bahn  Verviers — Lüt- 
tich rechnen  müssen,  deren  Erhaltung  für  unseren 
Vormarsch  durch  Belgien  von  der  allergrößten  Be- 
deutung sein  mußte. 

43i 


Bei  dem  von  mir  beabsichtigten  Handstreich  kam 
alles  auf  Schnelligkeit  des  Handelns  an.  —  Ich  hatte 
die  Verhältnisse  bei  Lüttich  auf  das  genaueste  reko- 
gnoszieren und  alle  Wege  festlegen  lassen,  auf  de- 
nen Kolonnen  gegen  die  innere  Stadt  vorgehen  konn- 
ten, ohne  in  das  Gesichtsfeld  der  Außenforts  zu  kom- 
men. Es  waren  fünf  solcher  Straßen  festgestellt,  Of- 
fiziere zur  Führung  der  Kolonnen  auch  bei  Nacht 
waren  durch  örtliche  Erkundungen  ausgebildet  und 
wurden  dauernd  ergänzt.  Trotz  des  allgemein  herr- 
schenden Vorurteils  gegen  Unternehmungen  mit  im- 
mobilen Truppen  habe  ich  fünf  Friedensbrigaden  für 
das  Unternehmen  bestimmt.  Es  kam  darauf  an,  den 
Handstreich  auszuführen,  bevor  die  Zwischenwerke 
in  der  Fortlinie  ausgebaut  sein  konnten. 

Ich  war  mir  völlig  darüber  klar,  daß,  wenn  das  Un- 
ternehmen mißglückte,  mir  von  der  gesamten  mili- 
tärischen Welt  der  Vorwurf  gemacht  werden  würde, 
etwas  Unmögliches  gewollt  und  mit  dem  Wagnis  ei- 
nes infanteristischen  Angriffs  auf  eine  moderne  Fe- 
stung meine  völlige  Unfähigkeit  bewiesen  zu  haben. 
Aber  gerade  der  Umstand,  daß  Lüttich  eine  moderne 
Festung  war,  das  heißt  eine  solche  ohne  innere  Um- 
wallung, ließ  mich  den  Plan  fassen,  durch  die  Zwi- 
schenräume der  Außenforts  hindurch  direkt  in  das 
Innere  der  Festung  vorzustoßen. 

Ich  habe  mit  diesem  Unternehmen  alles  auf  eine 
Karte  gesetzt  und  dank  der  Tapferkeit  unserer  Trup- 
pen das  Spiel  gewonnen. 

Man  wird  in  Zukunft  keine  solche  modernen  Fe- 
stungen mehr  bauen. 

Erst  mit  dem  Falle  von  Lüttich  war  die  Bahn  für 
das  Vorgehen  der  i.  Armee  frei,  außerdem  war  den 
Belgiern  keine  Zeit  geblieben,  die  Maasbahn  zu  zer- 
stören. Damit  war  ungeheuer  viel  gewonnen,  wie  im 

432 


späteren  Verlauf  der  Ereignisse  in  die  Erscheinung 
trat,  wo  die  Bahn  über  Lüttich  die  einzige  verfüg- 
bare Linie  für  unsere  Truppenverschiebungen  bildete. 

Der  den  nun  folgenden  Operationen  zugrunde  lie- 
gende Gedanke  war  der,  das  belgische  Heer  wenn 
irgend  möglich  von  Antwerpen,  ebenso  das  franzö- 
sische Heer,  das  ich  an  der  Maas  und  Sambre  zu  fin- 
den erwartete,  unter  Umfassung  seines  linken  Flü- 
gels, von  Paris  ab  und  nach  Südosten  zu  drängen. 
—  Während  die  i.bis  5.  Armee  mit  dem  Drehpunkt 
Metz — Diedenhofen  eine  Schwenkung  nach  Süden 
ausführten, sollten  die  6. und  7.  Armee  zwischen  Nancy 
und  Epinal  die  Maas  überschreiten,  um  südlich  Ver- 
dun  den  Anschluß  an  die  5.  Armee  wieder  zu  ge- 
winnen. 

Über  die  Absichten  der  Franzosen  war  uns  vor  Er- 
öffnung des  Krieges  nichts  bekannt  geworden,  eben- 
so hatten  wir  keine  sicheren  Nachrichten  über  ihren 
geplanten  Aufmarsch.  Die  starke  Betonung  des  Of- 
fensivgedankens, die  in  den  letzten  Jahren  in  der  fran- 
zösischen Militärliteratur  hervortrat,  war  bei  uns  nicht 
unbeachtet  geblieben.  Anzeichen  dafür,  daß  dieser 
Gedanke  durch  den  Versuch  eines  mit  starken  Kräf- 
ten zu  unternehmenden  Vorstoßes  beiderseits  Metz 
sich  verwirklichen  würde,  lagen  uns  nicht  vor. 

Die  starke  6.  Armee  war  aber  durch  die  Aufmarsch- 
anweisungen so  in  Lothringen  bereitgestellt,  daß  sie 
sowohl  nördlich  wie  südlich  Metz  eingesetzt  werden 
konnte.  Erst  das  Vorgehen  starker  französischer  Mas- 
sen zwischen  Metz  und  den  Vogesen  nach  vollende- 
tem französischen  Aufmarsch  brachte  Klarheit. 

Ich  hatte  die  6.  Armee,  der  die  7.  unterstellt  wurde, 
angewiesen,  vor  dem  Vormarsch  der  Franzosen  zu- 
nächst auszuweichen,  es  lag  mir  daran,  den  Gegner 
möglichst  weit  südlich  Metz  vorkommen  zu  lassen, 

Moltke.        28.  433 


um  dann  womöglich  seine  beiden  Flügel  von  Nor- 
den und  Süden  her  mit  umso  größerer  Aussicht  auf 
einen  entscheidenden  Erfolg  anzugreifen.  —  Die  Er- 
klärung des  Führers  der  6.  Armee,  daß  er  seine  Trup- 
pen nicht  weiter  zurückgehen  lassen  könne,  ohne 
ihren  inneren  Halt  zu  gefährden,  daß  er  angreifen 
müsse,  ließen  diese  Absicht  nicht  zur  Ausführung 
kommen. 

Die  Schlacht  in  Lothringen  wurde  geschlagen,  be- 
vor die  7.  Armee  und  die  der  6.  Armee  zur  Verfügung 
gestellten  Ersatz-Divisionen  vollzählig  eingetroffen 
waren.  Sie  brachte  einen  vollen  taktischen  Erfolg, 
aber  die  Verfolgung  kam  an  der  Maas  zum  Stehen 
und  der  geplante  Durchstoß  zwischen  Nancy  und 
Epinal  gelang  nicht.  —  Zum  erstenmal  zeigte  sich 
hier  die  Stärke  der  Defensive  in  feldmäßig  vorberei- 
teten Stellungen,  die  dem  ganzen  Verlauf  des  Krie- 
ges nach  der  Schlacht  an  der  Marne  seinen  Charak- 
ter aufgedrückt  hat.  —  Bald  wurde  es  klar,  daß  die 
von  den  Franzosen  errichtete  Verteidigungslinie  zwi- 
schen Nancy  und  Epinal  nur  durch  den  Vormarsch 
der  5.  Armee  geöffnet  werden  würde. 

Während  die  i.bis  5.  Armee  in  siegreichem  Vor- 
gehen über  Maas  und  Sambre  waren,  machten  die 
Verhältnisse  im  Osten,  wo  die  Russen  gegen  Erwar- 
ten schnell  in  Ostpreußen  eingedrungen  waren,  eine 
Entsendung  von  Verstärkungen  dorthin  nötig,  bevor 
eine  endgültige  Entscheidung  gegen  das  französisch- 
englische Heer  hatte  erreicht  werden  können.  —  Ich 
beabsichtigte,  diese  Verstärkungen  der  7.  Armee  zu 
entnehmen,  die  ebensowenig  wie  die  6.  trotz  langem 
schwerem  Ringen  an  der  Maas  vorwärts  kommen 
konnte.  Die  bestimmten  Meldungen  beider  Armeen, 
daß  der  Feind  ihnen  dauernd  mit  überlegenen  Kräf- 
ten gegenüberstehe  und   daß  die   eigenen  Verluste 

434 


so  groß  seien,  daß  eine  andere  Verwendung  von  Tei- 
len der  7.  Armee  erst  nach  Wiederauffüllung  möglich 
sei,  waren  Veranlassung,  nach  dem  Fall  von  Mau- 
beuge dem  deutschen  rechten  Flügel  zwei  Korps  zu 
entnehmen  und  sie  nach  dem  Osten  zu  führen.  Ich 
erkenne  an,  daß  dies  ein  Fehler  war,  der  sich  an  der 
Marne  rächte. 

Die  über  die  Gruppierung  der  französischen  Streit- 
kräfte während  des  Vormarsches  nach  Nordfrank- 
reich hin  einlaufenden  Nachrichten  lauteten  stets  da- 
hin, daß  Paris  von  Truppen  so  gut  wie  entblößt  sei. 
In  den  Meldungen  der  Armeen  war  bisher  dauernd 
von  »fluchtartigem  Rückzug«  und  von  »beginnender 
Auflösung«  des  Gegners  die  Rede  gewesen,  die  Ar- 
mee-Oberkommandos hatten  wiederholt  betont,  daß 
»rücksichtslose  Verfolgung«  die  Vernichtung  des  Geg- 
ners vollenden  würde.  Erst  in  den  letzten  August- 
tagen kamen  Meldungen  über  Transporte  franzö- 
sischer Truppen  vom  Osten  in  Richtung  Paris,  der 
Gegner  schien  sie  vor  der  Front  der  6.  und  7.  Armee 
herauszuziehen.  Der  Abtransport  der  7.  Armee  nach 
St.  Quentin  wurde  nun  angeordnet,  es  war  beabsich- 
tigt, sie  auf  dem  rechten  Heeresflügel  einzusetzen. 

Ein  französischer  Vorstoß  von  Paris  aus  gegen  den 
rechten  Flügel  der  1.  Armee  wurde  jetzt  wahrschein- 
lich. Die  Nachrichten  hierüber  wurden  den  Armeen 
des  rechten  Flügels  mitgeteilt,  sie  wurden  —  wenn 
ich  nicht  irre  —  am  28.  oder  29.  August  —  über  das 
Aktenmaterial  verfüge  ich  nicht  —  angewiesen:  die 
I.Armee  zwischen  Oise  und  Marne,  die  2.  Armee  zwi- 
schen Marne  und  Seine  Halt  zu  machen.  —  Gleich- 
zeitig wurde  die  1.  Armee  darauf  hingewiesen,  sie 
solle  nicht  näher  an  Paris  herangehen,  als  es  die 
Wahrung  der  Operationsfreiheit  gestatte.  —  Als  die 
obige  Weisung  die  1.  Armee  erreichte,  hatte  sie  mit 

435 


Teilen  die  Marne  bereits  überschritten.  Sie  beantragte, 
die  Verfolgung  noch  einen  Tag  fortsetzen  zu  dürfen, 
um  die  Früchte  ihrer  Siege  zu  ernten.  Das  wurde  ihr 
zugebilligt,  die  Notwendigkeit  der  Staffelung  und 
Sicherung  gegen  Paris  aber  gleichzeitig  nochmals  be- 
tont. 

Es  erfolgte  nun  der  französische  Gegenangriff  ge- 
gen den  rechten  Flügel  der  i.und  die  Front  der  2., 
4.  und  5.  Armee.  Die  1.  Armee  zog,  um  die  Bedrohung 
ihres  rechten  Flügels  abzuwehren,  ihre  beiden  linken 
Flügelkorps  hinter  ihre  Front  herum  auf  den  rechten 
Flügel.  Dadurch  entstand  eine  25  Kilometer  breite 
Lücke  zwischen  der  i.und  2.  Armee,  in  die  drei  eng- 
lische Divisionen  eindrangen,  worauf  die  2.  Armee 
ihren  rechten  Flügel  zurücknahm. 

Am  7.  September  kamen  Nachrichten,  die  erken- 
nen ließen,  daß  die  1.  Armee  einen  sehr  schweren 
Stand  habe.  Es  erschien  nötig,  eine  Anweisung  zu 
geben  für  den  möglichen  Fall,  daß  sie  geworfen  wer- 
den sollte.  Ich  schickte  deshalb  den  Oberstleutnant 
Hentsch  zur  2.  und  1.  Armee.  Er  sollte  sich  über  die 
Lage  orientieren,  hatte  aber  nicht  den  Auftrag,  die 
I.Armee  zurückzuführen,  sondern  sollte  sie  nur  an- 
weisen, für  den  Fall,  daß  sie  sich  nicht  halten  könne, 
in  die  Linie  Soissons — Fismes  auszuweichen,  um  so 
wieder  den  Anschluß  an  den  rechten  Flügel  der  2.  Ar- 
mee zu  gewinnen  —  um  so  die  entstandene  Lücke 
zu  schließen.  Wie  wenig  ich  daran  gedacht  habe, 
dem  Oberstleutnant  Hentsch  den  Befehl  für  die 
i.Armee  zum  einfachen  Rückzug  hinter  die  Aisne 
mitzugeben,  geht  aus  meinem  Funkspruch  vom  10. 
September,  10  Uhr  nachmittags,  an  A.-O.-K.  1  und  2 
hervor:  »I.Armee  stellt  sich  als  rückwärtige  Staffel 
bereit.  Umfassung  des  rechten  Flügels  der  2.  Armee 
ist  durch  Angriff  zu  verhindern.«  Die   i.Armee  be- 

436 


hauptet,  Oberstleutnant  Hentsch  habe  ihr  den  Be- 
fehl zum  Zurückgehen  überbracht,  Oberstleutnant 
Hentsch  bestreitet  dies,  er  meldete  mir  bei  seiner 
Rückkehr,  daß  die  Anordnungen  für  den  Rückzug  der 
Armee  bei  seiner  Ankunft  dort  bereits  ausgearbeitet 
gewesen  wären.  —  Daß  die  i.  Armee  nicht  mehr  in 
der  Lage  war,  frei  zu  handeln,  geht  daraus  hervor, 
daß  es  ihr  nicht  gelang,  den  Anschluß  an  die  2.  Ar- 
mee bei  Fismes  zu  erreichen.  Sie  mußte  statt  mit 
dem  rechten,  mit  dem  linken  Flügel  auf  Soissons 
zurückgehen,  so  daß  die  Lücke  zwischen  ihr  und  der 
2.  Armee  nicht  geschlossen  wurde  und  später  die  in- 
zwischen eintreffende  7.  Armee  hier  eingesetzt  wer- 
den mußte. 

Ich  fuhr  am  11.  September  zu  den  Armee-Oberkom- 
mandos. —  Ich  hatte  angeordnet,  daß  die  3.,  4.  und 
5.  Armee  stehen  bleiben  sollten.  Ich  glaube,  daß  der 
Befehl,  den  ich  bei  der  4.  Armee  diktierte,  in  den  Ak- 
ten der  4.  Armee  enthalten  sein  muß.  Ich  habe  ihn 
dann  aber  aus  folgenden  Gründen  nicht  weiter  ge- 
geben. Wie  ich  zum  Oberkommando  der  3.  Armee 
kam,  erklärte  mir  der  Oberbefehlshaber,  daß  seine 
Armee  nicht  mehr  imstande  sei,  die  zwischen  der  2. 
und  4.  Armee  befindliche  Geländestrecke  zu  halten, 
wenn  die  Franzosen  ihn  angreifen  sollten.  Die  Armee 
habe  so  starke  Verluste  gehabt  und  sei  durch  ihr 
Eingreifen  teils  auf  dem  linken  Flügel  der  2.,  teils  auf 
dem  rechten  Flügel  der  4.  Armee  so  ermüdet,  daß  sie 
keine  Gefechtskraft  mehr  habe.  —  Ich  fuhr  nun  zur 
4.  Armee  zurück,  um  nochmals  die  Lage  zu  bespre- 
chen. Hier  erreichte  mich  eine  Meldung  der  2.  Armee 
folgenden  Inhalts:  »Feind  scheint  Hauptdruck  gegen 
rechten  Flügel  und  Mitte  3.  Armee  zu  richten,  um  hier 
durchzubrechen.  Dies  bei  Breite  der  Armeefronten 
und  verminderten  Gefechtsstärken  bedenklich.  Durch 

437 


Zurücknahme  der  deutschen  Mitte  unter  fester  An- 
lehnung an  linken  Flügel  2.  Armee  bei  Thuizy  bis  in 
Höhe  von  Suippes — St.  Menehould  und  östlich  kann 
dem  begegnet  werden.  Später  neue  Offensive  vom 
rechten  Flügel  aus  dann  aussichtsvoll.«  —  Wenn  die 
Auffassung  der  2.  Armee  richtig  war,  und  ich  hatte 
keinen  Grund  sie  anzuzweifeln,  so  mußte  ich  nach 
den  bei  der  3.  Armee  empfangenen  Eindrücken  be- 
fürchten, daß  sie  nicht  mehr  imstande  sein  werde, 
den  bevorstehenden  feindlichen  Durchbruchsversuch 
abzuwehren.  Gelang  derselbe,  so  mußten  die  4.  und 
5.  Armee  in  eine  so  schwierige  Lage  kommen,  daß 
eine  Katastrophe  zu  befürchten  stand.  —  Bei  einer 
Besprechung,  die  ich  am  11.  September  abends  mit 
dem  Oberbefehlshaber  der  2.  Armee  in  Reims  hatte, 
bestätigte  mir  derselbe  seine,  dem  Telegramm  vom 
11.  früh  zugrunde  liegende  Ansicht,  er  rechnete  be- 
stimmt mit  einem  schon  am  13.  zu  erwartenden  An- 
griff der  Franzosen  auf  die  3.  Armee. 

Ich  mußte  mich  daher  entschließen,  der  3.  Armee 
eine  verkürzte  Linie  zuzuweisen,  in  der  sie  sich  mei- 
ner Ansicht  nach  mit  Bestimmtheit  halten  konnte. 
Das  war  nur  durch  Zurücknehmen  der  Armee  mög- 
lich. Damit  wurde  auch  das  Zurücknehmen  der  4.  und 
5.  Armee  bedingt.  Die  Versammlung  der  3.,  4.  und 
5.  Armee  in  der  Linie  Reims — Verdun  bedeutete  eine 
erhebliche  Verkürzung  der  Frontlinie  und  mußte  es 
ermöglichen,  nachdem  sie  erreicht  war,  Truppen  aus 
der  Front  zur  Verstärkung  des  bedrohten  rechten 
Heeresflügels  herauszuziehen.  —  Ich  gab  daher,  da 
hier  rasch  gehandelt  werden  mußte,  am  11.  Septem- 
ber, 4  Uhr  nachmittags,  den  Befehl  aus,  nach  dem 
die  3.  Armee  die  Linie  Thuizy  (ausschl.) — Suippes 
(ausschl.),  die  4.  Armee  die  Linie  Suippes  (einschl.) — 
St.  Menehould  (ausschl.),  die  5.  Armee  die  Linie  St. 

438 


Menehould  (einschl.) —  und  östlich  erreichen  sollten. 
Die  erreichten  Linien  sollten  ausgebaut  und  gehalten 
werden.  Die  somit  der  schwachen  3.  Armee  zugewie- 
sene Linie  hatte  nur  20  Kilometer  Frontbreite,  die 
Gesamtausdehnung  für  die  1.  bis  5.  Armee  betrug  nach 
ihrer  Zusammenfassung  etwa  150  Kilometer. 

Da  die  französischen  Angriffe  der  letzten  Tage  vor 
der  Front  des  linken  Heeresflügels  abgewiesen  wa- 
ren, ließ  sich  erwarten,  daß  die  Armeen  die  ange- 
wiesenen Stellungen  ohne  Schwierigkeiten  würden 
erreichen  können.  Leider  gelang  es,  wie  erwähnt,  der 
1.  Armee  nicht,  den  Anschluß  an  den  rechten  Flü- 
gel der  2.  zu  gewinnen.  Ebenso  erklärte  die  5.  Ar- 
mee, bei  St.  Menehould  nicht  stehen  bleiben  zu  kön- 
nen, sondern  bis  nördlich  des  Argonnenwaldes  zu- 
rückgehen zu  müssen.  (Siehe  Operationsakten  der 
5.  Armee  vom  11.  September.) 

Somit  kam  der  Zusammenschluß  des  Heeres  in  der 
Linie,  die  ich  beabsichtigt  hatte,  nicht  zur  Ausfüh- 
rung. 

Am  i3.September  ordnete  ich  das  Herausziehen  von 
je  einem  Korps  der  3.,  4.  und  5.  Armee  und  den  Ab- 
marsch dieser  Korps  nach  Westen  an,  um  den  rech- 
ten Heeresflügel  zu  verstärken  und  um  die  Lücke 
zwischen  den.  und  2.  Armee  zu  schließen.  Dies  wurde 
nötig,  da  die  7.  Armee  erst  mit  den  Anfängen  St.  Quen- 
tin  erreicht  hatte. 

Am  14.  September  wurde  die  weitere  Leitung  der 
Operationen  dem  General  v.  Falkenhayn  übertragen, 
gleichzeitig  wurde  mein  Oberquartiermeister,  General 
v.  Stein,  zum  Kommandierenden  General  des  XIV.  Re- 
servekorps ernannt. 

Somit  endete  meine  militärische  Tätigkeit. 


439 


Fünfter  Teil 

Aus  Moltkes  letzter  Lebenszeit 


Moltke  und  die  Gründung  der  »Deutschen 
Gesellschaft  1914«. 

Ansprache  Moltkes  bei  Eröffnung  der  »Deutschen 
Gesellschaft  1914«  am  28.  November  1915. 

Als  Ältester  des  Ausschusses  zur  Gründung  der 
»Deutschen  Gesellschaft  1914«  fällt  mir  die  ehrenvolle 
Aufgabe  zu,  die  Versammlung  zu  eröffnen,  und  über- 
nehme ich  zunächst  den  Vorsitz. 

Meine  Herren,  während  wir  uns  hier  in  gesicherter 
Ruhe  versammeln  können,  tobt  draußen  der  Krieg, 
stehen  unsere  Brüder  und  Söhne  im  Kampf  gegen 
eine  Welt  von  Feinden,  bereit,  täglich  und  stündlich 
ihr  Leben  hinzugeben,  um  durch  das  Opfer  ihres  in- 
dividuellen Lebens  das  Leben  der  Gesamtheit,  der 
Nation  vor  dem  Untergang  zu  bewahren,  den  unsere 
Gegner  uns  zugedacht  haben,  um  in  heißem,  bluti- 
gem Ringen  dem  Deutschen  Reich  einen  siegreichen 
und  dauernden  Frieden  zu  erkämpfen.  Schulter  an 
Schulter  stehen  und  kämpfen  sie,  ohne  Unterschied 
des  Standes,  des  Berufs,  der  Geburt,  der  politischen 
Richtung,  —  eine  große,  einheitliche  Masse,  die  ge- 
sammelte Kraft  des  Volkes,  zusammengehalten  und 
durchglüht  von  dem  einen  großen  Gedanken  des 
Vaterlandes.  Geeint  wurde  unser  Volk,  das  von  Par- 
teiungen  zerrissen  schien,  das  so  oft  seine  beste  Kraft 
in  kleinlichem  Zank  vergeudet  hatte,  durch  diesen 
Krieg.  Die  heilige  Flamme  der  Vaterlandsliebe  zer- 
schmolz die  Schranken,  die  der  Egoismus  des  Wohl- 
lebens unter  uns  aufgerichtet  hatte,  wir  lernten  uns 
als  Brüder  kennen,  wir  erlebten  das  Wort  Lagardes: 
»Ein  Volk  sein,  heißt  eine  gemeinsame  Not  empfin- 

443 


den«,  und  diese  Einigkeit  ist  es,  die  uns  unüberwind- 
lich macht. 

Wohl  reißt  der  Krieg  auch  vieles  nieder,  vernichtet 
er  viel  Wertvolles,  Leben  und  Güter,  aber  er  erzeugt 
und  offenbart  auch  Kräfte  und  Fähigkeiten,  mit  deren 
Hilfe  nicht  nur  Bewährtes  wieder  aufgerichtet  wer- 
den kann,  sondern  dem  Menschenwerk  neue,  Größe- 
res verheißende  Bahnen  gewiesen  werden.  Wer  sollte 
es  nicht  fühlen,  daß  dieser  Krieg  einen  der  großen 
Wendepunkte  der  Weltgeschichte  bedeutet,  daß  sein 
Ausgang  entscheidend  sein  wird  für  die  Richtung, 
die  der  Menschheitsentwicklung,  der  Menschheits- 
kultur auf  Jahrhunderte  hinaus  gegeben  werden  wird. 
Eine  neue  Zeit,  neue  Entwicklungsmöglichkeiten, 
ein  neues  gefestigtes  Gemeinleben,  neue  Betätigungs- 
formen des  geistigen  Lebens,  muß  dieser  Krieg  uns 
bringen.  Wir  werden  manches  hinter  uns  lassen  müs- 
sen, das  uns  vorher  der  höchsten  Mühe  wert  erschien 
und  das  sich  doch  als  wertlos  erwiesen  hat,  in  dieser 
großen,  eisernen  Zeit.  Aber  wir  haben  die  Überzeu- 
gung, daß  in  unserem  Volk  die  Zauberkraft  lebt,  die 
furchtbaren  Spuren  des  Kampfes  zu  tilgen,  und 
neues,  schaffendes  Leben  an  den  Stätten  des  Todes 
und  der  Verwüstung  wachzurufen. 

Diese  schöpferische  Kraft,  die  sich  schon  jetzt  so 
vielfach  und  so  herrlich  offenbart  hat,  diese  Einigkeit 
der  Gesinnung,  die  uns  gelehrt  hat,  Sonderwünsche 
und  Sonderinteressen  einem  großen  gemeinsamen 
Ziele  unterzuordnen,  müssen  wir  pflegen  und  bewah- 
ren als  unser  höchstes  Gut,  als  die  sicherste  Gewähr 
einer  aufwärtsstrebenden  Zukunft.  1871  wurden  wir 
ein  Reich,  jetzt  gilt  es,  daß  wir  ein  Volk  werden. 

Das  sind  die  Gedanken,  die  der  Gründung  der  »Deut- 
schen Gesellschaft  1914«  zugrunde  gelegen  haben. 
Daß  sie  ein  wohlvorbereitetes  Feld  gefunden  haben, 

444 


beweist  die  Anzahl  unserer  Mitglieder  und  die  statt- 
liche Zähl,  in  der  Sie  heute  abend  zu  unserer  Eröff- 
nungssitzung erschienen  sind.  Ich  danke  Ihnen  und 
heiße  Sie  herzlich  willkommen. 

Brief  Moltkes  an  den  Herausgeber  der  »Tat« 
vom  i.Januar  1916*. 

Mit  großer  Aufmerksamkeit  habe  ich  Ihren  Auf- 
satz über  die  Gründung  der  Deutschen  Gesellschaft 
gelesen.  Ich  habe  auch  die  anderen  Artikel  der  Num- 
mer der  »Tat«  gelesen,  und  ich  will  gerne  erklären, 
daß  der  Geist  und  die  Gesinnung,  die  in  ihnen  wal- 
ten, in  mir  freudige  Zustimmung  gefunden  haben. 
Das  Programm  Ihrer  Zeitschrift:  Alles  umfassend, 
was  ernsthaft  der  Erneuerung  des  Lebens  zustrebt, 
die  Erneuerung  Deutschlands  aus  den  irrationalisti- 
schen Anlagen  seines  Volkstums  heraus  —  umfaßt 
die  Gedanken,  die  auch  mich  bewogen  haben,  mich 
an  der  Gründung  der  Deutschen  Gesellschaft  zu  be- 
teiligen. Daß  uns  eine  Erneuerung  des  geistigen  Le- 
bens bitter  not  tut,  war  mir  Gewißheit,  schon  lange 
bevor  dieser  Krieg  unser  Volk  auf  die  Goldwage  der 
Weltentwicklung  legte,  und  mit  ganzer  Seele  habe 
ich  gehofft,  daß  es  sich  wert  erweisen  möge  der 
hohen  Aufgabe,  die  ihm  die  Weltenlenkung  gestellt 
hat.  —  Hier  handelt  es  sich  um  geistige  Waffen,  nur 

*  Diesen  Brief  brachte  die  »Tat«  im  Juliheft  1916  mit  der  hier  folgenden  Einleitung  : 
Der  sympathischen  Persönlichkeit  des  anfänglichen  Leiters  unserer  Kriegsopera- 
tionen wurde  bei  den  Nachrufen  zu  seinem  jähen  Tode  allgemein  gedacht,  denn  Moltke 
war  nicht  nur  Berufssoldat,  sondern  ein  warmherziger,  kultivierter  Mensch  mit  ideali- 
stischer Tendenz.  So  beschäftigte  ihn  das  Werden  des  neuen  Deutschland  nach  dem 
Kriege  besonders  stark,  und  bekanntlich  ist  die  Gründung  der  »Deutschen  Gesell- 
schaft 1914«  in  Berlin  auf  ihn  zurückzuführen.  Das  Januarheft  der  »Tat«  befaßte  sich 
eingehend  mit  dieser  Gründung,  und  es  dürfte  wohl  für  die  Leser  der  »Tat«  von  In- 
teresse sein,  wie  sich  Moltke  anläßlich  dieses  Aufsatzes  zur  »Tat«  stellte.  —  Er  schrieb 
später  noch  einmal  dem  Herausgeber  anläßlich  des  Märzheftes :  »Wenn  man  der  An- 
sicht ist,  daß  in  der  Denkweise  Ihrer  Monatsschrift  diejenige  der  kommenden  Jugend 
Deutschlands  zum  Ausdruck  kommt,  so  darf  man  meiner  Überzeugung  nach  der  Zu- 
kunft mit  frohem  Vertrauen  entgegensehen.« 

445 


mit  ihnen  kann  die  Zukunft  bezwungen  werden.  Es 
liegt  so  unendlich  viel  Ideales,  nach  oben  Streben- 
des in  der  Seele  unseres  Volkes.  Lange  war  es  unter- 
drückt durch  die  dicke  Schrift  materiellen  Lebens, 
es  durchbrach  sie,  als  der  Krieg  die  Äußerlichkeiten 
des  Daseins  verschwinden  ließ  vor  dem  idealen 
Sturm  der  Vaterlandsliebe,  der  alle  Herzen  durch- 
brauste. —  Wenn  Gott  unser  Volk  lieb  hat,  wird  er 
diese  geistige  Erhebung  ihm  bewahren.  Aber  jeder 
muß  dazu  mitarbeiten.  —  Das  wollen  Sie  mit  Ihrer 
Zeitschrift,  und  das  wollte  ich  mit  dem  Inslebenruf en 
einer  Gesellschaft,  die  nicht,  wie  Sie  sagen,  ein  »poli- 
tischer Klub«  sein  soll,  sondern  ein  Versammlungs- 
ort aller  der  Geister,  die  die  Kraft  haben,  Einzel- 
wünsche und  Bestrebungen  im  Dienste  des  deut- 
schen Einheitsgedankens  zurückzustellen.  In  Klassen 
geschieden,  in  Parteien  getrennt,  haben  wir  uns  vor 
dem  Kriege  kaum  gekannt.  Die  Schranken,  die  der 
Egoismus  der  Einzelexistenz  zwischen  uns  aufge- 
richtet hatte,  wollten  wir  niederlegen  und  Mensch 
dem  Menschen  nahebringen.  Gewiß,  Sie  haben  recht, 
es  wird  darauf  ankommen,  dem  Seelenadel  zum  Sieg 
über  den  Geschäftsgeist  zu  verhelfen,  die  Pflänzlein 
zu  pflegen,  die  schon  seit  Jahren  in  vielen  Menschen 
wuchsen,  und  von  deren  stiller  Entfaltung  sich  jeder 
überzeugen  konnte,  der  mit  offenen  Augen  in  unser 
Volksleben  hineinsah.  Über  die  Schwierigkeiten,  die 
uns  seit  Jahren  anerzogene  mechanische  Lebensauf- 
fassung zu  überwinden,  sind  wir  alle  uns  von  Anfang 
an  klar  gewesen.  Aber  man  darf  vor  den  Schwierig- 
keiten nicht  zurückscheuen,  wo  es  sich  um  Großes 
handelt.  Immerhin  wird  ein  idealer  Gedanke  einmal 
in  die  Realität  hineingeboren  gewesen  sein.  Es  ist 
bekannt,  daß,  wenn  man  einen  Wald  auf  einem  Bo- 
den aufforsten  will,  der  vorher  kein  Waldboden  war, 

446 


die  erste  Anpflanzung  oft  nach  einer  Reihe  von  Jah- 
ren zugrunde  geht,  aber  die  zweite  gedeiht  dann.  Man 
muß  nur  nicht  verzagen.  Gelingt  der  Wurf  diesmal 
nicht,  so  wird  eine  spätere  Generation  den  einmal 
geborenen  Gedanken  wieder  aufnehmen.  Wir  müs- 
sen für  die  Zukunft  arbeiten.  Wir  gehen  bald  dahin, 
aber  unser  Volk  soll  in  die  kommenden  Jahrhun- 
derte hinein  leben,  es  soll  nach  oben  leben,  und  jedes 
Samenkorn,  das  jetzt  gelegt  wird,  wird  einmal  auf- 
gehen. Das  ist  meine  Hoffnung  und  Zuversicht  und 
mein  Glauben  an  die  Weltmission  unseres  Volkes. 

Auszug  aus  einem  Brief  Moltkes. 

Berlin,  20. März  1916. 

Die  Jetztzeit  bietet  viele  wenig  erfreuliche  Erschei- 
nungen, zu  denen  im  Innern  in  erster  Linie  der  Streit 
zwischen  der  Regierung  und  den  Parteien  des  Reichs- 
tags gehört.  Wo  bleibt  der  berühmte  Burgfriede  und 
wo  die  Einigkeit  zwischen  Volk  und  Regierung.  Mir 
scheint,  letztere  ist  sich  durchaus  nicht  klar  über  die 
tiefgehende  Mißstimmung  weiter  Kreise,  und,  was 
das  Schlimmste  ist,  sie  macht  Versuche,  einerseits 
durch  schärfstes  Anziehen  der  Zensur  die  Zeitungen 
zu  knebeln,  andererseits  durch  offiziöse  Mitteilungen 
einzuwirken,  die  nicht  immer  ganz  den  Tatsachen 
entsprechen.  Ich  sehe  darin  einen  bedauerlichen  Man- 
gel an  Vertrauen  zum  Volk.  Gebe  Gott,  daß  uns  bald 
eine  Entscheidung  auf  militärischem  Gebiet  zufällt, 
es  wird  Zeit,  der  Krieg  muß  zu  Ende  gebracht  wer- 
den, wenn  wir  nicht  alle  mit  ihm  versumpfen  und 
versauern  wollen. 

Zuschauer  zu  sein,  wie  es  mir  beschieden,  ist 
schwer.  Ich  bin  oft  am  Rande  der  Verzweiflung  ge- 
wesen, besonders  wenn  ich  sah,  wie  manches  anders 

447 


gemacht  wurde,  als  es  meiner  Meinung  nach  hätte 
gemacht  werden  müssen.  Erst  nach  langen  und  schwe- 
ren Kämpfen  habe  ich  mich  selbst  bezwingen  kön- 
nen, und  habe  gelernt,  die  Schwere  des  Drucks  zu 
tragen.  Ich  denke  nicht  an  mich,  sondern  nur  an 
unser  Vaterland.  Ihm  nicht  dienen  zu  können,  ist 
das  Opfer,  das  ich  täglich  wieder  bringen  muß. 

Gestern  war  ich  bei  Tirpitz,  auch  einem  Schick- 
salsgenossen. Er  fühlt  es  wie  eine  Erlösung,  aus 
dienstlichen  Verhältnissen  heraus  zu  sein,  die  ihm 
unerträglich  geworden  waren.  Möge  der  Kaiser  es 
nie  bereuen,  Männer  beiseite  geschoben  zu  haben, 
die  doch  vielleicht  ihm  hätten  nutzen  können. 

Bethmann  wird  einen  schweren  Stand  haben  im 
Reichstag.  Wie  unsinnig  handelt  dieser  Mann,  indem 
er  es  versäumt,  Fühlung  zu  nehmen  mit  dem  Volk 
und  seiner  Vertretung. 

Auszug  aus  einem  Brief  Moltkes. 

Berlin,  21. April  1916. 

Es  war  mir  eine  große  und  herzliche  Freude,  nach 
langer  Zeit  wieder  eine  Nachricht  von  Ihnen  zu  er- 
halten und  aus  Ihren  Worten  den  alten  Ton  herz- 
licher Zuneigung  herauszuhören,  der  alle  Wechsel- 
fälle des  Lebens  überdauert.  Haben  Sie  Dank  für 
diese  treue  Freundschaft,  die  ich,  wie  Sie  wohl  wis- 
sen, von  Herzen  erwidere. 

Ich  danke  Ihnen  auch  für  das,  was  Sie  mir  über 
Ihre  Unterredung  mit  Sr.  Majestät  schreiben.  Wenn 
der  hohe  Herr  mir  so  freundschaftliche  Empfindun- 
gen entgegenbringt,  wie  Sie  meinen,  so  hat  er  die- 
selben jedenfalls  nur  rein  platonisch  betätigt.  —  Ich 
habe  mich  Weihnachten  1914  persönlich  bei  ihm  ge- 
sund gemeldet  und  auch  telegraphisch  gemeldet,  daß 

448 


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ich  zu  jeder  Verwendung,  wo  und  wann  Se.  Majestät 
es  befehlen,  bereit  sei.  Seitdem  ist  nichts  erfolgt,  man 
hat  sich  so  wenig  um  mich  gekümmert,  als  ob  ich 
schon  längst  begraben  wäre.  Ich  habe  nie  in  meinem 
Leben  um  etwas  für  mich  gebeten  und  werde  dies 
auch  nie  tun. 

Wollte  Se.  Majestät  mich  wirklich  verwenden,  hätte 
er  wohl  bei  mir  selber  anfragen  können,  ob  ich  mich 
befähigt  hielte,  diese  oder  jene  Stellung  zu  über- 
nehmen, er  hätte  das  Vertrauen  zu  mir  haben  kön- 
nen, daß  ich  rein  sachlich  geantwortet  hätte.  Ich  habe 
aber  nie  ein  Wort  von  ihm  gehört.  Wenn  er  jetzt 
sagt,  ihm  wäre  immer,  wenn  er  mich  hätte  verwen- 
den wollen,  gesagt  worden,  meine  Gesundheit  ver- 
biete eine  Verwendung,  so  weiß  ich  nicht,  wer  so 
über  mich  orientiert  war,  um  dies  wissen  zu  können. 
Bei  meinem  Arzt  ist  niemals  nach  mir  gefragt  worden. 

Ich  habe  in  den  ersten  Monaten  meiner  Inhaf- 
tierung einige  Male  an  Se.  Majestät  geschrieben.  Nach- 
dem General  . . .  mir  mitgeteilt  hat,  ich  möchte  mich 
dem  Kaiser  gegenüber  nicht  zur  Kriegslage  äußern, 
da  ihn  dies  vielleicht  unsicher  machen  könnte,  habe 
ich  die  Korrespondenz  unterlassen.  Über  das  Wetter 
zu  schreiben,  hatte  keinen  Reiz  für  mich. 

Ich  habe  im  vorigen  Frühjahr  mein  möglichstes 
getan,  um  durch  Schreiben  an  den  Reichskanzler  die 
ganz  im  argen  liegende  Volksernährungsfrage  in 
Fluß  zu  bringen.  Schon  damals  war  es  für  den  Vor- 
ausschauenden zu  erkennen,  daß  die  traurigen  Ver- 
hältnisse eintreten  mußten,  die  nun  wirklich  gekom- 
men sind  und  die  durch  eine  großzügige,  das  ganze 
Wirtschaftsleben  umfassende  einheitliche  Organisa- 
tion und  Vorsorge  hätten  vermieden  werden  können. 
Von  vielen  Seiten  aus  den  Kreisen  der  Landwirt- 
schaft, der  Industrie,  der  Nationalökonomie  ist  mir 

Moltke.        29.  44g 


Dank  geworden,  daß  ich  eingegriffen  habe,  wo  un- 
sere Verwaltungsbehörden  versagten;  von  dem  Ge- 
neral . . .  habe  ich  dagegen  gehört,  daß  an  höchster 
Stelle  meine  Bemühungen  als  Nervosität,  Schwarz- 
seherei und  unzulässige  Einmischung  bewertet  wor- 
den seien.  Der  Kaiser  könne  einem  so  kranken  Mann 
nicht  die  Verantwortung  einer  Heerführung  anver- 
trauen. Damit  war  die  Sache  für  mich  erledigt,  und 
ich  habe  mich  nicht  weiter  vorgedrängt. 

Übrigens  habe  ich  Sr.  Majestät  zu  den  Erfolgen  in 
Russisch-Polen  seinerzeit  meinen  Glückwunsch  tele- 
graphisch ausgesprochen.  Sie  sehen,  lieber  . . .,  daß 
ich  keine  Veranlassung  habe,  mich  erneut  an  Se.  Ma- 
jestät heranzudrängen. 

Betteln  habe  ich  in  meinem  Leben  nicht  gelernt. 

Ich  weiß  sehr  wohl,  daß  der  Kaiser  persönlich  nicht 
den  Willen  hat,  mich  links  liegen  zu  lassen,  aber  er 
ist  ebenso  machtlos  gegen  die  Einflüsse,  die  gegen 
mich  gerichtet  sind,  wie  ich. 

Hätte  er  nicht  z.  B.  jetzt  mir  den  Oberbefehl  in 
Schleswig-Holstein  anbieten  können?  Auch  hier  wie- 
der kein  Wort  an  mich.  Meine  Vergangenheit  ist  aus- 
gelöscht, für  mich  hat  sie  nur  den  Wert  des  Bewußt- 
seins, meine  Pflicht  getan  zu  haben. 

Gott  helfe  unserem  Lande  und  unserem  unver- 
gleichlichen Volk,  wir  werden  noch  viel  Schweres 
durchzumachen  haben.  Möge  es  dem  Kaiser  dann 
nicht  an  Männern  fehlen,  die  nur  den  Gedanken  ha- 
ben, ihm  und  dem  Lande  zu  dienen,  und  die  ihre  Per- 
son der  Sache  unterordnen. 

Leben  Sie  wohl,  lieber  . . .,  Sie  tun  meinem  schwer- 
geprüften Herzen  wohl,  wenn  Sie  mich  ab  und  an 
etwas  von  sich  hören  lassen.  Ich  bleibe  immer  Ihr 
alter  Freund 

Moltke. 

450 


Rede  Moltkes  bei  der  Trauerfeier 

für  den  Generalfeldmarschall  Frhrn.  v.  d.  Goltz 

am  18.  Juni  1916. 

Hochverehrte  Anwesende! 

Das  Bild  des  Mannes,  zu  dessen  Gedächtnisfeier 
wir  uns  hier  versammelt  haben,  ist  in  einer  so  aus- 
führlichen, glänzenden  und  wahrheitsgetreuen  Weise 
geschildert  worden,  daß  Sie  es  von  mir  nicht  als  Ver- 
messenheit ansehen  wollen,  wenn  ich  Sie  bitte,  mir 
zu  einem  ganz  kurzen  Worte  ein  geneigtes  Ohr  zu 
schenken.  —  Es  sind  zwei  Gründe,  die  mich  dazu  be- 
wegen, zu  Ihnen  zu  sprechen:  Erstens  meine  lang- 
jährigen persönlichen,  kameradschaftlichen,  ich  darf 
wohl  sagen  freundschaftlichen  Beziehungen,  die  mich 
mit  dem  Verstorbenen  verbunden  haben.  Und  zwei- 
tens die  Empfindung,  daß  an  dem  Grabe  eines  Sol- 
daten auch  aus  soldatischem  Munde  ein  Wort  für 
ihn  erklingen  muß;  denn  Soldat  war  er  doch  in  erster 
Linie. 

Ich  war  ein  junger  Offizier,  wie  ich  von  der  Kriegs- 
akademie zum  Generalstab  kommandiert  wurde  und 
mit  dem  damaligen  Major  v.  d.  Goltz  in  Beziehungen 
trat.  Er  hatte  die  reichen  Erfahrungen,  die  er  im  Ver- 
laufe des  Feldzuges  1870/71  bei  der  Armee  des  Prin- 
zen Friedrich  Karl  gesammelt  hatte,  bereits  schrift- 
stellerisch verwertet  zum  Segen  der  Armee,  und  wir 
sahen  schon  mit  einer  gewissen  scheuen  Ehrfurcht 
zu  ihm  auf.  Diese  Ehrfurcht  wich  aber  bald  einer  auf- 
richtigen Verehrung  und  Hingebung.  Wie  rasch  lern- 
ten wir  den  Mann  kennen,  der  uns  nicht  als  Vor- 
gesetzter, sondern  als  Kamerad  entgegentrat,  in  dem 
Bestreben,  wir  alle  wollen  dasselbe,  wir  alle  wollen 
arbeiten  für  die  Armee  und  für  unser  Land.  —  Ich 

45i 


glaube,  wenn  auf  irgend  j  emand  der  lateinische  Spruch 
»Homo  sum,  nihil  humani  mihi  alienum  esse  puto« 
zutrifft,  so  war  es  der  Verstorbene.  Seine  hervor- 
ragenden menschlichen  Eigenschaften,  seine  Her- 
zensgüte gewannen  ihm  die  Herzen  aller,  die  mit  ihm 
in  Berührung  traten.  Diese  kameradschaftlichen  Emp- 
findungen sind  allen  denjenigen  geblieben,  die  das 
Glück  gehabt  haben,  mit  ihm  in  persönliche  Be- 
ziehungen zu  treten.  Bei  mir  haben  sie  angedauert 
bis  an  sein  Ende,  und  sie  sind  ausgeklungen  in  einem 
Briefwechsel,  der  erst  kurze  Zeit  vor  dem  Tode  des 
Feldmarschalls  seinen  Abschluß  gefunden  hat. 

Meine  hochverehrten  Herrschaften  I  Ich  darf  das 
nicht  wiederholen,  was  hier  gesagt  worden  ist.  Sie 
wissen  ja  den  Lebensgang  des  Verstorbenen,  Sie 
wissen,  daß  er  als  junger  Offizier  bereits  nach  der 
Türkei  ging,  daß  er  dort  zwölf  Jahre  lang  dem  Sultan 
gedient  hat,  und  daß  er  damals  den  Grundstein  gelegt 
hat  zu  den  freundschaftlichen  Beziehungen,  die  heute 
das  Osmanische  Reich  und  das  Deutsche  Reich  in 
gemeinsamen  Kriegsunternehmungen  vereinigen.  Sie 
wissen,  daß  er,  von  dort  zurückgekehrt,  die  Geschäfte 
als  Generalinspekteur  der  Pioniere  übernahm,  und 
alle  diejenigen,  die  damals  mit  ihm  gearbeitet  haben, 
bewahren  ihm  noch  heute  ein  Andenken,  denn  auch 
diese  ihm  fremde  Materie  wußte  er  nach  kurzer  Zeit 
entsprechend  zu  beherrschen.  —  Dann  kam  seine 
schönste  Zeit,  als  er  von  Sr.  Majestät  zum  Komman- 
dierenden General  des  I.  Armeekorps  berufen  wurde. 
Wie  freute  sich  sein  Herz,  da  war  er  in  seinem  Ele- 
ment, unermüdlich  im  Zusammenleben  mit  der 
Truppe,  die  höchsten  Anforderungen  an  sich  selbst 
stellend.  Keine  Mühen  scheuend,  lebte  er  mit  seinen 
Soldaten  zusammen,  als  Vater,  Freund  und  Kame- 
rad. Er  mußte  dann  die  Stellung  eines  Generalinspek- 

452 


teurs  übernehmen,  die  ihm  die  Truppen  in  die  Ferne 
rückte,  und  erst  nach  Eröffnung  des  jetzigen  Feld- 
zuges, als  ihm  das  Generalgouvernement  von  Bel- 
gien übertragen  wurde,  trat  er  wieder  in  aktive  Tätig- 
keit. Ich  habe  damals  Gelegenheit  gehabt,  des  öfte- 
ren mit  ihm  zusammenzutreffen.  Wenn  ich  nach 
Brüssel  kam  —  während  der  Belagerung  von  Ant- 
werpen —  man  traf  ihn  selten  zu  Hause;  stets  hieß 
es:  »Der  Feldmarschall  ist  draußen  an  der  Front.«  — 
Es  hielt  ihn  nicht  an  dem  Schreibtisch,  er  mußte  hin- 
aus, und  diejenigen,  die  mit  ihm  waren,  erzählten, 
mit  welch  unbeschreiblicher  Tapferkeit  und  Todes- 
verachtung er  mitten  im  Gefecht  stand  in  den  Reihen 
seiner  Soldaten,  als  wenn  er  auf  dem  Exerzierplatze 
stand.  Und  wenn  er  abends  zurückkam,  besprach  er 
die  Ereignisse  des  Tages,  wie  man  ein  Manöver  be- 
spricht mit  vollständiger  Ruhe  und  Objektivität.  Und 
mancher  von  denen,  die  mit  ihm  im  Schützengraben 
waren,  kehrte  nicht  mehr  zurück;  der  Feldmarschall 
selbst  war  auch  verwundet.  —  Aber  wenn  er  auch 
mit  unermüdlicher  Treue  und  Aufopferung  durch 
seinen  scharfen  Verstand  es  wohl  verstanden  hat,  die 
zerrütteten  Teile  des  okkupierten  Landes  zunächst 
wieder  in  geordnete  Verhältnisse  zu  bringen,  so  war 
doch  sein  Herz  nicht  bei  der  Sache,  er  war  Soldat, 
und  ich  glaube,  er  ist  nicht  ungern  von  seinem  schwie- 
rigen und  undankbaren  Posten  zurückgetreten,  als  er 
dann  auf  Wunsch  des  Sultans  von  dort  als  oberstes 
Bindeglied  zwischen  der  osmanischen  und  deutschen 
Armee  nach  der  Türkei  berufen  wurde.  Er  erlebte 
den  gewaltigen  Kampf  unserer  Bundesgenossen  auf 
Gallipoli,  er  sah  die  Früchte  seiner  jahrelangen  Tätig- 
keit greifbar  vor  sich,  und  dann  kam  der  Augenblick, 
wo  er  selbst  das  Kommando  übernehmen  mußte  und 
hinauszog  nach  Bagdad,  um  den  Kampf  gegen  die 

453 


Engländer  aufzunehmen.  Als  er  in  Bagdad  eintraf, 
fand  er  die  Engländer  in  starker  Stellung  bei  Kut  el 
Amara.  Seine  Aufgabe  war,  sie  zurückzuschlagen.  Mit 
wie  schwierigen  Verhältnissen,  mit  welch  schlechten 
Zufahrtsstraßen,  mit  einer  wie  großen  Entfernung 
mußte  er  rechnen,  bis  überhaupt  Verstärkungen  her- 
angeführt werden  konnten. 

Meine  verehrten  Herrschaften!  Es  wiederholt  sich 
in  der  Geschichte  öfters,  daß  Heldentum  und  Tragik 
nebeneinander  stehen.  —  So  war  es  auch  hier.  So, 
wie  es  Moses  einstmals  zwar  vergönnt  war,  einen 
Blick  in  das  Gelobte  Land  zu  tun,  nicht  aber  es  zu  be- 
treten, so  war  es  auch  dem  Generalfeldmarschall  nicht 
vergönnt,  den  letzten  Kampf  seiner  Armee  zu  erleben, 
aber  sein  scharfer  Blick  hat  wohl  den  Ausblick  in  das 
Gelobte  Land  getan,  denn  sicher  hat  er  den  Sieg  von 
Kut  el  Amara  vorausgesehen. 

Meine  verehrten  Herrschaften!  Ich  habe  dem  Bilde 
des  Feldmarschalls  nur  noch  eine  persönliche  Note 
hinzufügen  können.  Ich  habe  es  getan,  weil  ich 
glaube,  daß  ich  in  diesem  Falle  wohl  im  Namen  der 
Armee  und  namens  des  Generalstabes  sprechen  darf, 
dem  wir  beide  lange  Jahre  angehört  haben. 

Ich  will  nicht  sprechen  von  dem  tiefen  Schmerze, 
der  auch  mich  ergriffen  hat,  als  die  Kunde  von  dem 
tragischen  Ende  des  Feldmarschalls  eintraf,  und  ich 
möchte  nicht,  daß  dieser  Tag  vorbeigeht,  ohne  daß 
wir  an  diesem  Tage  ein  Lorbeerblatt  auf  die  Bahre 
gelegt  haben*. 


•  Fast  unmittelbar  nach  der  Beendigung  dieser  Rede  starb  Helmuth  v.  Moltke 
noch  während  der  Gedächtnisfeier  für  Generalfeldmarschall  Frhrn.  v.  d.  Goltz  im 
Reichstagsgebäude  an  Herzschlag  am  18.  Juni  1916. 


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Telegramm  Sr.  Majestät  des  Kaisers. 

18.  Juni  1916. 
Exzellenz  Frau  von  Moltke, 

Berlin,   Generalstabsgebäude. 

Ich  erhalte  soeben  die  erschütternde  Nachricht  vom  plötzlichen 
Tode  Ihres  Gemahls.  Mir  fehlen  die  Worte,  um  Meinen  Empfin- 
dungen dabei  vollen  Ausdruck  zu  geben.  Tief  bewegt  gedenke 
Ich  seiner  Erkrankung  im  Beginn  dieses  Krieges,  dessen  glän- 
zende Vorbereitung  der  Inhalt  seines  rastlosen  Wirkens  als  Chef 
des  Generalstabes  der  Armee  gewesen  ist.  Das  Vaterland  wird 
seine  hohen  Verdienste  nicht  vergessen,  und  Ich  werde,  solange 
Ich  lebe,  in  dankbarem  Gedächtnis  behalten,  was  dieser  auf- 
rechte, kluge  Mann  mit  dem  goldenen  Charakter  und  dem  war- 
men treuen  Herzen  für  Mich  "und  die  Armee  war. 

In  aufrichtiger  Trauer  spreche  Ich  Ihnen  und  Ihren  Kindern 
Meine  herzliche  Teilnahme  aus.  Ich  weiß,  daß  Ich  an  ihm  einen 
wahren  Freund  verloren  habe. 

Wilhelm  LR. 


Der  am  24.  Januar  1915  von  Sr.  Majestät  dem  Kaiser  und  König 
an  Generaloberst  v.  Moltke  in  meiner  Gegenwart  eingetroffene 
Brief  ist  mir  heute  von  Ihrer  Exzellenz  der  Frau  v.  Moltke  nach 
dem  Tode  Ihres  Gemahls  uneröffnet  zurückgegeben  worden, 
behufs  Rückgabe  in  die  Hände  Sr.  Majestät. 

Berlin,  23.  Juni  1916. 

v.  PI  essen, 
Generaladjutant. 

Brief  von  Kronprinz  Wilhelm. 

8.  Juli  1916. 
Liebe  gnädige  Frau! 

Mit  Absicht  schreibe  ich  erst  jetzt,  nachdem  einige  Zeit  ver- 
strichen ist.  Viel  Worte  brauche  ich  nicht  zu  machen.  Sie  wissen, 
wie  sehr  ich  Ihren  Mann  geliebt  und  verehrt  habe.  Die  Hand 
möchte  ich  Ihnen  drücken,  um  Ihnen  mein  inniges  Mitgefühl 
zum  Ausdruck  zu  bringen.  Nie  werde  ich  vergessen,  daß  der  zu 
früh  verblichene  alte  Chef  es  war,  der  mir  das  Kommando  über 
die  herrliche  s.Armee  verschaffte,  indem  er  Sr.  Majestät  sagte: 

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»So  wie  die  anderen  macht  der  Kronprinz  die  Sache  noch  lange.« 
Und  dann,  wie  mein  Vater  mir  gesagt  hatte,  ich  müßte  das  tun, 
was  Knobelsdorff  mir  riete,  drückte  mir  Ihr  Mann  warm  die  Hand 
und  sagte:  »Lassen  Sie  sich  nur  nicht  Ihr  gesundes  eigenes  Urteil 
ausschalten,  Sie  sind  und  bleiben  der  Armeeführer,  der  allein 
Sr.  Majestät  verantwortlich  ist!«  —  Ich  habe  diese  Worte  den 
ganzen  Feldzug  über  beherzigt  und  bin  gut  dabei  gefahren. 

Sein  Andenken  bleibt  groß  und  rein  in  meinem  Herzen.  —  Es 
küßt  Ihre  Hand,  liebe  gnädige  Frau,  Ihr  getreuer 

Wilhelm, 
Heeresgruppe  Kronprinz. 


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BRIGHAMYOUNGUNIVERSjTY 


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