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Full text of "Festgabe zum 100jährigen[hundertjährigen] Jubiläum des Schottengymnasiums"

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FROM THE FUND OF 

CHARLES MINOT 

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GEWIDMET VON EHEMALIGEN SCHOTTENSCHÜ 



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FESTGABE 

ZUM 100JÄHRIGEN JUBILÄUM DES 
SCHOTTENGYMNASIUMS 

GEWIDMET VON EHEMALIGEN SCHOTTENSCHÜLERN 

WIEN 1907 



VERLAG VON WILHELM BRAUMÜLLER 

K. ü. K. HOF- UND UNIVERSITÄTS-BUCHHÄNDLER 



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HARVARD C0LIE6E LIBRARY 
f WOY. 7, 1919 

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DRUCK VON CHRISTOPH REISSKR'S SÖHNE, WIEN V 



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VORWORT. 



Ein Säkulum ist vergangen, seitdem das Stift Schotten von Kaiser 
Franz den ehrenvollen Auftrag erhielt, an Stelle des aufgelassenen 
Gymnasiums zu St. Anna eine öffentliche Mittelschule einzurichten und 
den Unterricht von geistlichen Mitgliedern seines Hauses erteilen zu 
lassen. Mit Befriedigung kann heute das Stift auf die hundertjährige 
segensreiche Wirksamkeit seiner Lehranstalt zurückblicken, die wesent- 
lich dazu beigetragen hat, daß die Liebe und das Vertrauen zu ihm 
beim Volke Wiens erhöht und befestigt wurde und sein Ansehen auch 
außerhalb unserer engeren Heimat wuchs. Denn in dieser Pflegestätte 
klassisch-humanistischer Bildung erhielten während dieses Säkulums zahl- 
reiche Jünglinge aus allen Schichten der Gesellschaft ihre Erziehung und 
Bildung und verdanken die wichtigsten Anregungen für ihr ganzes Leben 
ihren geistig hochstehenden, wahrhaft väterlich gesinnten Lehrern, die 
mit pädagogischem Geschick für ihr Wissen und Können die Grundlagen 
schufen und ebenso ihre Charakterbildung aufs kräftigste förderten. 

Deshalb erblicken wir, die wir uns mit Stolz ehemalige Schotten- 
schüler nennen, in der gegenwärtigen Säkularfeier einen willkommenen 
Anlaß, unsere Pietät für die Bildungsstätte unserer Jugend zum Aus- 
drucke zu bringen; es ist unsere Absicht, durch umfassende Beteiligung 
an den bevorstehenden Festlichkeiten zu beweisen, daß uns die innigsten 
Bande der Liebe und der Anhänglichkeit mit der Anstalt und ihren 
Lehrern für unser ganzes Leben verknüpfen. Als alte Schottenstudenten 
besitzen wir vollen Grund zu dankbarer Gesinnung für das Stift und 
sein Gymnasium, das uns während unserer Jugendzeit zum zweiten Vater- 
hause wurde. Verstanden es doch unsere Lehrer, uns für alles Schöne 



und Gute zu gewinnen und zu erwärmen, wie auch durch liebevolles 
Eingehen auf unser kindliches Denken und Streben die in uns schlum- 
mernde Geisteskraft zu erwecken. 

So mag denn diese Festschrift als kleiner Zoll der Dankbarkeit 
an die Lehranstalt betrachtet werden. Die Beiträge sollen Zeugnis 
dafür ablegen, daß die einst von unseren verehrten Lehrern in ihre 
Schüler gelegten Bildungskeime später in Wissenschaft und Leben, in 
Amt, Kirche und Schule, im parlamentarischen Wirken wie in gelehrten 
Berufen mannigfach aufgegangen sind. 

Die Festschrift bringt Beiträge von Männern nicht bloß in den 
mannigfaltigsten Lebensstellungen« sondern auch der verschiedensten 
geistigen Richtungen. So wird sie ein bleibendes Denkzeichen dafür 
sein, daß die ehemaligen Schottenstudenten, mögen ihre Lebenswege 
und ihre Lebensanschauungen noch so weit auseinandergehen, doch das 
eine Gefühl gemeinsam haben: die dauernde Anhänglichkeit an 
das ehrwürdige Schottengymnasium, wo sie in den glücklichen 
Tagen ihrer Jugend Freuden und Leiden des Schullebens mit einander 
geteilt und manchmal recht strenge, immer aber liebevolle Beurteilung 
gefunden haben. 

Die künstlerische Ausstattung hat mit größter Bereitwilligkeit ein 
ehemaliger Schottenschüler, der Maler Maximilian Li eben wein, über- 
nommen, dem dafür der wärmste Dank gebührt. Seinem feinen künst- 
lerischen Empfinden ist es gelungen, dieser Schrift ein würdiges Fest- 
kleid zu geben. 

Wien, im September 1907. 

Im Namen des vorbereitenden Komitees 

Der Obmann 

Heinrich Ritter v. Wittek. 




Ungarn nach dem Tode Kaiser Josefs IL J| Von 
Sigmund Adler. 9t 

Kaiserin Maria Theresia hatte zwar seit dem Jahre 1765 den ungarischen 
Reichstag- nicht mehr einberufen, im Prinzipe aber die rechtliche 
Geltung der von ihr beschworenen ungarischen Verfassung immer an- 
erkannt. Dies wird unter Josef II. anders. 



Eingeleitet wird dessen Regierung sehr deutlich dadurch, daß Kaiser 
Josef zwar am 30. November 1780 im allgemeinen die Aufrechterhaltung der 
Freiheiten und Rechte Ungarns verhieß, daß aber die Krönung unterblieb, 
weil sie die Ausfertigung des Inauguraldiploms und den Eid auf die Ver- 
fassung in sich geschlossen hätte. Daß Josef durch diese Unterlassung die 
alte Verfassung Ungarns prinzipiell negieren wollte, bewies er durch die An- 
ordnung vom 7. April 1784, kraft deren die Stephanskrone unter nichtigen 
Vorwänden vom Preßburger Schloß in die Wiener Schatzkammer gebracht 
wurde, wo ja auch die böhmische Krone und der österreichische Herzogshut 
Aufnahme fanden. 

Ungarn sollte dem geplanten Einheitsstaate eingefügt, es sollte provin- 
zialisiert werden. Josef glaubte, mit der nötigen Energie lasse sich dieses Ziel 
erreichen. Als ihn die ungarische Hofkanzlei vor der Erbitterung warnte, 
welche die Entfernung der Krone herbeifuhren müsse, antwortet er mit den 
Worten: »Risum teneatis amici«. 

Seine großen Reformen in Ungarn inauguriert Josef 1781 durch Er- 
lassung des Toleranzpatentes, wodurch den Bekennern der Augsburger und 
Helvetischen Konfession sowie den Griechisch - Nichtunierten die private 
Religionsübung, nicht aber volle Gleichberechtigung gewährt wird. Die Maß- 
regel erweckte die Opposition der von den ungarischen Bischöfen geführten 
katholischen Partei, ohne die bloß tolerierten übrigen christlichen Konfessionen 
ganz zu befriedigen. Ein Jahr später erfolgte die Aufhebung zahlreicher 
Klöster, eine Maßregel, welche bei den Katholiken Erbitterung hervorrief, 
obwohl das eingezogene Vermögen dem religiösen Zwecke erhalten blieb 
und teilweise zur Schaffung neuer Pfarreien verwendet wurde. 

Die Erbitterung in der Bevölkerung wächst durch eine Reihe anderer 
Verordnungen, die seit dem Jahre 1784 rasch aufeinander folgen. 

Durch das Reskript vom 6. Mai 1784 wurde die deutsche Sprache an- 
statt des Lateinischen als Amtssprache erklärt. Nach drei Jahren sollte in 
Gerichten und Ämtern nur mehr in deutscher Sprache verhandelt, vom 
November 1784 niemand in eine Mittelschule ohne Kenntnis der deutschen 
Sprache aufgenommen werden. Nach derselben Verordnung ist die deutsche 
Sprache auch die Sprache des Landtags. Niemand ist als Abgeordneter 
zuzulassen, der ihrer nicht mächtig ist. Zugleich wird das gesamte Unter- 
richtswesen neu geregelt und der Wiener Studienhofkommission unterstellt. 

Bisher hatte in Ungarn noch niemals eine Volkszählung stattgefunden, 
die sich auf Adel und Klerus erstreckt hätte. Im Jahre 1784 erklärt Josef 
eine solche »allgemeine Konskription« als unerläßliche Vorbedingung für jede 
fruchtbare Regierungstätigkeit und ordnet ihre Durchführung an. Mit ihr 



sollte die Numerierung aller Häuser ohne Rücksicht auf den Stand des Be- 
sitzers verbunden werden. Da der Adel Widerstand leistet, wird in den 
widerstrebenden Komitaten die Konskription zwangsweise durchgeführt. 

Um den wachsenden Widerstand des Komitatsadels zu brechen, ent- 
schließt sich Josef ein Jahre später zur Aufhebung der alten Komitatsver- 
fassung. Diese einschneidende Maßregel schloß in sich die Einteilung der 
Länder Ungarn, Kroatien und Slawonien in zehn Kreise, die Beseitigung der 
alten Autonomie der Komitate, die Aufhebung des Rechtes, eigenmächtig 
Kongregationen abzuhalten, die Ernennung des Vizegespans durch den König 
und die der übrigen Komitatsbeamten durch den Vizegespan, schließlich die 
Unterordnung der bisher eximierten königlichen Freistädte unter diesen neu 
geschaffenen Beamtenorganismus. 

Das von Josef II. befolgte Prinzip der Zentralisierung und Unifizierung 
des Behördenwesens führt zur Übertragung der ungarischen, banatischen und 
siebenbürgischen Finanzen an die ungarische Hofkanzlei und zur Vereinigung 
der siebenbürgischen mit der ungarischen Hofkanzlei. In Siebenbürgen selbst 
aber wird 1784 die alte Verfassung beseitigt und nach Aufhebung der drei 
ständischen Nationen dem Lande eine völlig neue Einteilung aufgezwungen. 
Die sächsische Nation insbesondere wird ausdrücklich für erloschen erklärt, ihr 
Vermögen vom Staate eingezogen und im Widerspruch zur alten Verfassung 
dem Bürgerrecht der Sachsen sein wertvollstes Privilegium der Ausschließ- 
lichkeit genommen. Trotz aller Gegenvorstellungen besteht der Kaiser auf 
der Durchführung dieser Verordnungen, »zur Aufhebung der bisher in der 
politischen Verwaltung des Großfürstentums Siebenbürgen bestehenden Ver- 
schiedenheit und zur Ausrottung des damit verknüpft gewesenen National- 
hasses«. 

Den Abschluß dieser alle Gebiete des Staatslebens umfassenden Ver- 
änderungen bildete die vom Adel heftig angefeindete Gesetzgebung zu gunsten 
des Bauernstandes, die weit über die Urbarialgesetzgebung der Kaiserin 
Maria Theresia hinausging; ferner ein Dekret vom 30. Dezember 1785, wo- 
durch zur Reform der Grundsteuer eine Vermessung und Einschätzung des 
gesamten Grund und Bodens einschließlich der adeligen Gründe angeordnet 
wird. Der Adel soll dieser Steuer mit unterworfen, dagegen aber von der 
Pflicht zur Insurrektion befreit werden. Vergebens warnte die ungarische 
Statthalterei, daß dies ohne Zustimmung des Landtags unzulässig und daß ein 
Aufstand zu befurchten sei, weil der Adel bereits durch die Einführung der 
deutschen Amtssprache und die Änderung der Komitatsverfassung erbittert 
sei. Josef begnügt sich mit der Einberufung von Komitatsversammlungen für 
das Jahr 1786, denen er das Dekret bezüglich der Vermessung des Landes 

* 1* 



vorlegt. Er hält dies verfassungsrechtlich für genügend. Erst nach geschehener 
Vermessung soll zur Bewilligung der Steuer und Ablösung der Insurrektions- 
pflicht ein Reichstag einberufen werden. Militär wird in großen Massen kon- 
zentriert, Zwangsmaßregeln werden angedroht und mit diesen Mitteln wird 
die Ausmessung Ende 1787 wirklich vollendet, sofort auch eine Kommission 
zur Berechnung der Grundsteuer auf Grund der gewonnenen Katastertabellen 
eingesetzt. Bei der Abfassung der Instruktion für diese Kommission hat Josef 
noch persönlich mitgewirkt. 

Josef II. plante noch die Vereinigung der ungarisch-siebenbürgischen 
mit der böhmisch-österreichischen Hofkanzlei und die Verlegung der unga- 
rischen Septemviraltafel nach Wien, Maßregeln, durch welche die Zentralisation 
der Behörden ihre Vollendung erfahren hätte. Dazu sollte es aber nicht mehr 
kommen. 

Der Gang der Ereignisse führte zu einer Krisis. Der Widerstand Ungarns 
wurde nicht bloß durch die Einwirkung der französischen Revolution und des 
belgischen Aufstandes, sondern vor allem durch die unglückliche auswärtige 
Politik Josefs bedenklich gesteigert. Josef II., der für seine Person zu einer 
Aussöhnung und Verbindung mit Preußen geneigt war, ließ sich durch Kaunitz 
davon überzeugen, daß der Interessengegensatz zwischen beiden Staaten zu 
groß und deshalb ein Festhalten an der Allianz mit Rußland geboten sei. So 
verbindet sich der Kaiser mit der Zarin Katharina zu einem gemeinsamen 
Eroberungszug gegen die Türkei. Als nun dieser Krieg, der zuerst nur Miß- 
erfolge brachte, seit Laudons Führung durch die Eroberung Belgrads eine 
günstige Wendung nahm, trat Preußen im Vereine mit den Seemächten für 
die Integrität der Türkei ein, während Österreich durch den Ausbruch der 
französischen Revolution die Unterstützung Frankreichs, seines wichtigsten 
Bundesgenossen, verlor. Tatsächlich schien im Jahre 1789 der Krieg zwischen 
Österreich und Preußen unmittelbar bevorzustehen. 

Josef sucht den Frieden mit der Türkei, um mit Preußen abzurechnen. 
Da dieser Frieden nicht erreichbar ist, sieht er sich gezwungen, einen Teil 
seiner Truppen aus der Türkei nach Norden zu senden, um dem von Preußen 
drohenden Angriff zu begegnen. 

Unter solchen Umständen mußte dem König Friedrich Wilhelm II. die 
Gärung in Ungarn sehr erwünscht sein. Einmischung in die ungarischen Ver- 
hältnisse war gleichsam ein Erbstück preußischer Politik. Seit den Tagen 
Kaiser Leopolds I. war Preußen wiederholt zum Schutze der Protestanten in 
Ungarn angerufen worden und Friedrich II. hatte schon die nationale Be- 
wegung in Ungarn begünstigt, um Anhang im Lande zu gewinnen. Dieselbe 
Politik verfolgt nun auch in diesem entscheidenden Moment der preußische 



Konig, und zwar mit einer Energie und Rücksichtslosigkeit, welche wiederholt 
den Widerspruch seines Ministers Hertzberg und Bedenken bei Jacobi, dem 
preußischen Gesandten in Wien, hervorriefen. 

Was nun ^Ungarn selbst betrifft, so wäre die Annahme sehr irrig, daß 
das gesamte Volk dem Kaiser wegen seiner Neuerungen feindlich gesinnt war. 
Auf Seiten des Kaisers war nicht bloß ein großer Teil des Bürgerstandes und 
der ganze Bauernstand, sondern auch die große Mehrzahl des hohen Adels. 
Fraknöi hat in einer wertvollen Abhandlung darauf hingewiesen, »daß die vor- 
nehmsten Namen der Nation und die bedeutendsten Männer des Landes in 
der Liste von Josefs Beamten zu finden sind«, Männer, von denen man ent- 
weder weiß oder annehmen muß, daß sie die Anschauungen Josefs geteilt 
haben. Daneben gab es aber damals eine mächtige politische Strömung, welche 
das Land nicht bloß von der Herrschaft Josefs II. befreien, sondern das ganze 
Herrscherhaus seines legitimen Rechts auf die Thronfolge berauben will. Diese 
Strömung hatte ihre Hauptstütze im mittleren und kleinen Adel, der die 
Komitatsversammlungen beherrschte. Einzelne Mitglieder des Hochadels 
schlössen sich ihr an. Friedrich Wilhelm IL aber unterstützte diese Bestrebungen 
nach Kräften. In einem Briefe vom 14. Oktober 1788 an seinen Wiener Ge- 
sandten Jacobi wünscht er, Ungarn möge von Josef IL die Garantierung seiner 
Verfassimg durch Preußen mit der Drohung verlangen, sich andernfalls für 
unabhängig zu erklären. Würde aber der Kaiser sterben, »dann müßte man 
Maßregeln treffen, um Ungarn unabhängig zu machen, um zu verhindern, daß 
es jemals einen Bestandteil der österreichischen Monarchie bilde«. 

Als dann im Jahre 1789 die Gefahr eines Zusammenstoßes unmittelbar 
bevorstand, unterhandelt die revolutionäre Adelspartei durch Baron Hompesch 
und andere Emissäre mit Preußen, und das Projekt einer Erhebung des 
Herzogs Karl August von Sachsen-Weimar auf den ungarischen Thron wurde in 
Berlin und auf Veranlassung des Königs von Preußen auch in Weimar sehr 
ernstlich erwogen; in Weimar freilich mit sehr großer Zurückhaltung. Die 
Briefe des Herzogs an den König sind von Goethes Hand und wohl auch 
unter dessen geistiger Mitwirkung geschrieben. Friedrich Wilhelm II. scheute 
sich nicht, obwohl der Krieg an Osterreich nicht erklärt war, im November 1789 
einen imgarischen Emissär in Audienz zu empfangen und ihm den Herzog 
von Weimar als Preußens Kandidaten zu bezeichnen. 

Zur selben Zeit begann in vielen Komitaten die passive Resistenz ein- 
zusetzen. Das Jahr 1789 hatte zwar den kaiserlichen Waffen Siege gebracht, 
aber der Bedarf an Truppen, Geld und Naturalien war nicht geringer ge- 
worden und ein Zirkularschreiben vom 24. September 1789 forderte die Komi- 
tate zur Leistung von Subsidien für den Feldzug des künftigen Jahres auf. 



Aber die zur Entgegennahme des Reskripts einberufenen Komitate nahmen 
einen sehr bedenklichen Verlauf. Einzelne Komitate, die eingeschüchtert waren, 
stimmen zwar zu, andere verweigern aber vor Einberufung eines Reichstages 
jede weitere Beihilfe. Marczali hat berechnet, daß etwa die Hälfte des ge- 
forderten Quantums von Naturalien verweigert wurde und daß die Steuer- 
eingänge zu Ende des Jahres gleichfalls einen Rückgang um die Hälfte auf- 
weisen. In den Repräsentationen der widerstrebenden Komitate kommt auch 
schon der Einfluß der beginnenden franzosischen Revolution und ihrer Ideen- 
welt zum deutlichen Ausdruck. 

Josef II. antwortet mit dem Reskript vom 18. Dezember 1789, in welchem 
er das Versprechen gibt, nach Beendigung des Krieges den Reichstag ein- 
zuberufen, aber hinzufugt, daß im Augenblicke der Gefahr dem Vaterlande 
die Hilfe nicht versagt werden dürfe. Das Reskript ist bemerkenswerterweise 
in deutscher und ungarischer Sprache publiziert, nach Marczali der erste Fall 
des amtlichen Gebrauches der ungarischen Sprache durch einen ungarischen 
Konig; durch denselben Konig, der im Jahre 1784 in Ungarn die deutsche 
Sprache als Staatssprache eingeführt hatte. Aber die Nachgiebigkeit Josefs 
wird als ein Zeichen der Schwäche gedeutet und die Opposition im Lande 
wird um so kühner und feindlicher. In den zu Anfang des Jahres 1790 ver- 
sammelten Kongregationen der Komitate wird mit stürmischen Worten die 
Rückführung der Stephanskrone, die Festsetzung eines bestimmten Termines 
tür die Einberufung des Reichstages und die Abschaffung aller Neuerungen 
verlangt. Der Adel, der hier die Herrschaft fuhrt, spricht mit flammenden 
Worten von der Souveränität des Volkes und vom Gesellschaftsvertrag, scheut 
sich aber nicht, zugleich die Wiederherstellung seiner alten Privilegien zu 
fordern, welche das Recht auf Steuerfreiheit und auf die Knechtung des 
Bauernstandes in sich schließen. In einzelnen Komitaten wird sogar eigen- 
mächtig die alte Verfassung wieder hergestellt und der Beistand des Fürsten 
Kaunitz angerufen, um den Forderungen des »Volkes« Nachdruck zu ver- 
leihen. 

Josef II., schwer erkrankt und den Tod vor Augen, sieht sich bedrängt 
durch die Not des Krieges und die schwierige auswärtige Lage. Die Nach- 
richt, daß Belgien seine Unabhängigkeit erklärt hat, erschüttert ihn tief. Er 
sieht, daß von Seiten Ungarns die gleiche Gefahr droht, und weiß auch von 
der Verbindung der ungarischen Revolutionspartei mit Preußen. Nach einem 
vergeblichen Versuche, sich Preußen zu nähern, entschließt sich Josef zu 
Konzessionen an Ungarn. Er beruft für anfangs Jänner 1790 eine Konferenz 
unter dem Vorsitze des ungarischen Hofkanzlers ein, welche die Rückkehr 
zur alten Verfassung und die möglichst rasche Einberufung eines Reichstages 



anrät. Fürst Kaunitz aber trat diesem Gutachten in einem an den Kaiser ge- 
richteten Schreiben bei, das die schonungslosen Worte enthält: »Eure Majestät 
belieben sich zu erinnern, daß Sie Ihre Niederlande verloren, vielleicht un- 
wiederbringlich verloren haben, weil Sie meine wohlüberlegte Vorstellung 
vom 20. Juni 1787 nicht nur übel aufgenommen, sondern vielmehr seitdem 
in allen Stücken das gerade Gegenteil zu verfügen für gut befunden . . . .« 

So erging das Handschreiben des Kaisers vom 28. Jänner 1790, das er 
durch die ungarische Hofkanzlei an die Komitate sendet. Darin ordnet der 
Kaiser die Rückführung der Krone an, verspricht für das Jahr 1791 die Ein- 
berufung eines Reichstages und verspricht ferner bis längstens 1. Mai 1790 
die Rückversetzung der politischen und gerichtlichen Verwaltung auf den 
Stand des Jahres 1780, in welchem er die Regierung übernommen hatte. 
Der Kaiser fugt mit Resignation hinzu, er habe alle Änderungen im Interesse 
des Gemeinwohles getroffen, in der Hoffnung, das Land werde durch Er- 
fahrung daran Gefallen finden. Nun habe er sich überzeugt, daß das Land 
nur in der alten Verfassung sein Glück finde, und er zögere nicht, des Landes 
Wünsche zu befriedigen. »Denn Uns ist jener Weg zum Glücke der Nation 
der liebste, bei dem Wir ihrer Übereinstimmung sicher sind.« 

Deshalb setzt Josef auch die Komitate und deren Kongregationen in ihre 
alten Rechte ein und gibt den königlichen Freistädten ihre Immunität zurück. 
Er erklärt ganz allgemein alle seit Regierungsantritt ergangenen Verordnungen 
für aufgehoben, »quae sensu communi legibus adversari videbantur«. 

Nur das Toleranzedikt, die Regelung der Pfarreien und der bäuerlichen 
Verhältnisse sollen bestehen bleiben, denn sie seien mit den Gesetzen des 
Landes vereinbar und entsprechen den Forderungen der naturalis aequitas. 

Der Kaiser schließt sein Handschreiben mit der Anerkennung des Prinzips, 
daß die gesetzgebende Gewalt zwischen König und Ständen geteilt sei. Er- 
greifend ist der letzte Satz, der in die ganze Not blicken läßt, aus der dieses 
Handschreiben entstanden ist. Der Kaiser gibt nämlich der Hoffnung Aus- 
druck, das Land werde nach allen diesen Zugeständnissen dem darum 
flehenden Vaterlande auf irgend eine Weise die Rekruten und die Feld- 
früchte gewähren, die für das Heer nötig sind. 

Trotz der Resignation aber, die aus diesem Handschreiben spricht, wäre 
es ganz irrig, anzunehmen, Josef habe in diesen Stunden der Bedrängnis 
fassungslos gehandelt und sein eigenes Lebenswerk restlos zerstört. Indem 
Josef das Toleranzedikt, die Regelung der Pfarreien und der bäuerlichen 
Rechtsverhältnisse ausnahm, suchte er von seinem Lebenswerke das zu retten, 
was ihm am meisten am Herzen lag. Wenn es dem Nachfolger Josefs ge- 
lungen ist, wichtige Reformen der Josefinischen Zeit aufrecht zu erhalten, so 



ist dieser Erfolg vor allem der Besonnenheit zu danken, die Josef IL in der 
schwersten Stunde seines Lebens bewiesen hat. 

Das Handschreiben aber ist in den Komitaten durchaus nicht mit all- 
gemeiner Genugtuung aufgenommen worden. Kaiser Josef hatte dies voraus- 
gesehen, wie sich aus seinem Briefe vom 30. Jänner an Leopold ergibt, worin 
die Besorgnis ausgesprochen wird, die Ungarn würden, »einmal in ihrem 
Sinne befriedigt, doch von wahrer Befriedigung nichts verspüren, nur zu 
neuen Forderungen sich hinreißen lassen«. 

In der Tat nehmen die Komitate Anstoß daran, daß der Reichstag erst 
im Jahre 1791 einberufen werden soll, und protestieren gegen die Vorbehalte, 
welche das Handschreiben enthält. In einzelnen Komitaten werden die mit 
unsäglicher Mühe und mit großen Kosten zu stände gekommenen Steuer- 
operate unter dem Jubel der Menge verbrannt. 

Preußen aber setzte seine bereits gekennzeichnete Politik fort. Friedrich 
Wilhelm IL fürchtete nur, das Handschreiben Kaiser Josefs konnte beruhigend 
wirken. Wir wissen von einem Briefe des preußischen Königs an seinen Wiener 
Gesandten, in welchem diesem befohlen wird, den ungarischen Vertrauens- 
männern nahe zu legen, sich mit dem Handschreiben des Kaisers nicht zu- 
frieden zu geben, sondern Preußens Garantie zu verlangen, »damit die Nation 
von all dem Unglück und der Unterdrückung befreit wird, die sie von den 
Habsburgern erfahren hat«. Es mußte den Konig mit Genugtuung erfüllen, 
daß ihm Jacobi antworten konnte, es bestehe in Ungarn trotz Entgegen- 
kommens des Kaisers noch eine mächtige Partei, die an dem Entschlüsse 
festhält, die österreichische Herrschaft abzuschütteln, und zu diesem Zwecke 
eine Garantie Preußens für die Aufrechterhaltung seiner Verfassung anstrebt. 
Vorerst agitiere diese Partei für die Forderung nach sofortiger Einberufung 
des Reichstags und dafür, daß das ungarische Militär nicht außerhalb der 
Landesgrenze verwendet werde. 

Am 20. Februar starb Kaiser Josef. Er hatte schon am 6. Februar an 
seinen Bruder und Nachfolger Leopold, Großherzog von Toskana, die Bitte 
gerichtet, die Mitfegentschaft zu übernehmen. Aber Leopold verzögerte die 
Abreise von Florenz, um nicht durch Übernahme einer Mitregierung den 
Anschein zu erwecken, als billige er das System seines Bruders. Er verließ 
Florenz erst am 3. März und traf am 12. März in Wien ein. 

Leopold hatte in Toskana eine mit großen Erfolgen gekrönte und im 
Sinne seiner Zeit reformatorische Tätigkeit entfaltet. Nun erwartet ihn ein 
Reich, das in seiner äußeren Existenz bedroht und in den verfassungsmäßigen 
Grundlagen aufs tiefste erschüttert ist. Seine ersten Regierungshandlungen 
sind darauf gerichtet, in den österreichischen Ländern und in Ungarn die 



Wiederherstellung der standischen Verfassung einzuleiten. Den Josefinischen 
Gedanken der Zentralisation aHer Länder läßt er fallen, aber die Errungen- 
schaften Maria Theresias und die im letzten Handschreiben Kaiser Josefs II. 
vorbehaltenen Reformen mochte er nach Möglichkeit retten. Belgien sucht 
er durch den Widerruf der Josefinischen Neuerungen, durch die Bestätigung 
seiner alten Privilegien und die Zusicherung einer allgemeinen Amnestie zu 
beruhigen. 

In der auswärtigen Politik will Leopold den Eroberungsplänen seines 
Bruders entsagen, um für die Regelung der inneren Verhältnisse freie Hand 
zu haben. Er setzt zwar die Rüstungen mit Energie fort, sucht aber zugleich 
den Kaiser von Rußland zur Beendigung des türkischen Kriegs zu bewegen 
und richtet an Friedrich Wilhelm IL ein Handschreiben, in welchem er dem 
Wunsche nach gegenseitigem Vertrauen und gutem Einvernehmen Ausdruckgibt. 

Preußens Politik hat infolge dieser neuen Ereignisse etwas von seiner 
Feindseligkeit gegenüber Österreich verloren. Aber noch steht das preußische 
Heer zum Einmärsche bereit und noch ermutigt der preußische Konig die 
ungarische Revolutionspartei, die ihre Ziele keineswegs aufgegeben hat. 

In Ungarn hatte der Tod Kaiser Josefs eine tiefgehende Bewegung 
hervorgerufen. Am folgenden Tage, am 21. Februar, wurde unter beispiel- 
losem Jubel der Bevölkerung in Ofen die Stephanskrone empfangen und auf- 
bewahrt, als das geheiligte Symbol des historischen Rechtes der Nation. In 
den Komitaten, welche die Führung übernommen haben, wird die Anschauung 
vertreten, Kaiser Josef habe durch Mißachtimg der Verfassung den Vertrag 
mit der Nation verletzt, durch die Regierung dieses ungekrönten Königs sei 
die Thronfolge unterbrochen (»filum successionis interruptum esse«) und der 
Nation dadurch die freie Selbstbestimmung zurückgegeben. In einzelnen 
Komitaten wird die Wahl eines neuen Königs, in andern ein Vertrag Leopolds 
mit den Ständen verlangt, durch welchen die Erbfolge der Dynastie wieder 
hergestellt, aber neue Garantien für die zukünftige Aufrechterhaltung der 
Verfassung geschafiFen werden sollen. Für die Zwischenzeit übernehmen aber 
die Komitate die Herrschaft im Lande und Ungarn droht — wie Marczali 
es trefiFend ausdrückt — in 52 Adelsrepubliken zu zerfallen. 

Als Beweis für die Anschauungen, die den Komitatsadel beherrschen, 
sei die Repräsentation des Eisenburger Komitats genannt, welche die Auf- 
hebung des Toleranzsystems, der Gesetzgebung zu gunsten der Bauernschaft 
und aller übrigen Josefinischen Verordnungen ohne Ausnahme fordert: »Die 
Ungarn sind nicht so blödsinnig, daß sie nicht das Motiv durchschauen würden, 
das die Räte des Kaisers bei Feststellung der drei reservierten Punkte (des 
Handschreibens vom 28. Jänner) geleitet hat. Die Absicht war, dadurch die 



Einigkeit zwischen den verschiedenen Klassen der Bevölkerung Ungarns zu 
zerstören. Heute gelten aber die Vorsteher der Völker nicht mehr als Götter 
oder Halbgötter. Es bestehen heute ganz andere Anschauungen von der staat- 
lichen Gewalt. Die Pacta conventa müssen beiden Teilen heilig sein. Wenn 
ein Teil davon abweicht, ist auch der andere entbunden. Ungarn hätte seitens 
Josefs ein besseres Schicksal verdient. Da das Land aber weder in seinen 
Pactis conventis Schutz, noch in seinen Bitten Erhörung findet, so ist es be- 
müßigt, einen Weg einzuschlagen, der jene Freiheiten hinlänglich sichert, die 
sich das Land ohne Verlust des Lebens nicht entreißen lassen wird. Sollte 
es aber dennoch geschehen, so werden sich die Ungarn als würdige Söhne 
ihrer Väter erweisen. Durch ihren glorreichen Tod wird der ganzen Welt 
kundgegeben werden, daß das Königreich Ungarn nicht im stände ist, ein 
Joch oder eine Dienstbarkeit zu tragen. . .« 

Zur Charakterisierung dieses Adels, der so tönende Worte im Munde 
führt, ist es freilich nötig, hinzuzufügen, daß rücksichtlich der allgemeinen 
Konskription und Grundsteuerregulierung in derselben Versammlung folgender 
Beschluß gefaßt wird: »Die Konskriptionsnummern sind Brandzeichen einer 
verabscheuungswürdigen Dienstbarkeit und ohneweiters auszulöschen ; die 
Wegezeiger, die von den Ausmessern errichtet wurden, sind aus der Erde 
herauszureißen und die Ausmessungsakten sowie Seelenbeschreibungsakten 
durch das Feuer zu vertilgen.« 

Man würde aber die ungarische Bewegung jener Tage verkennen, wollte 
man sie allein nach solchen Zeugnissen beurteilen. Ungarn erlebte damals 
eine Epoche nationaler Erhebung, die, obwohl sie zunächst als eine Gegen- 
wirkung der Germanisationsbestrebungen Kaiser Josefs aufzufassen ist, den- 
noch von dauernder Bedeutung für die Geschichte der Nation geworden ist. 
Zugleich erblüht eine politische Literatur, die zwar — wie Concha nachwies 
— ihre ursprüngliche Befruchtung durch die Reformideen der Theresianischen 
und Josefinischen Epoche erhalten hatte und durch die Schriften von Martini 
und Sonnenfels bestimmend beeinflußt worden war, nun aber infolge der Ver- 
fassungskämpfe in eine große Epoche eintritt. In Staatsschriften bedeutender 
Männer, wie Batthyäny, Hajnöczy, Martinovics u. a., und in einer kaum über- 
blickbaren Anzahl von Flugschriften, die wieder Gegenschriften von dynasti- 
scher Seite hervorriefen, werden die Verfassungsfragen diskutiert. Es werden 
Verfassungsentwürfe ausgearbeitet, die zwar meist unter dem maßgebenden 
Einflüsse englischer oder französischer Theorien stehen, in andern Fällen aber 
eine selbständige nationale Prägung zeigen, und sich über den in den meisten 
Komitaten herrschenden Klassenegoismus des Adels hoch erheben. Auf eine 
nähere Charakterisierung dieser Literatur muß hier verzichtet werden. Wir 



10 



verweisen in dieser Hinsicht auf die wertvollen Arbeiten von Concha, Ballagi 
und Fraknöi. In jedem Falle erhebt sich durch diese Erscheinungen der un- 
garische Verfassungskampf hoch über die gleichzeitige Bewegung in den 
westösterreichischen Ländern. 

Die politische Führung behaupteten freilich in dieser Zeit noch die 
Komitate und von ihren Abgesandten drohte auch im kommenden Reichstag 
der größte Widerstand. 

Leopold wünschte Ungarn noch vor seiner Ankunft in Wien über seine 
Absichten zu beruhigen und verständigte schon am 5. März die Komitate 
durch die Hofkanzlei, daß er willens sei, die Regierung mit seiner Krönung 
zu inaugurieren. Am 14. März erläßt er ein Manifest, wonach er die Re- 
gierung übernommen hat, die auf Grund des Thronfolgegesetzes vom Jahre 
1723, Art. 1 und 2, auf ihn übergegangen sei ; ferner seinen Entschluß erklärt, 
die Rechte und Freiheiten des Landes aufrechtzuerhalten, den Inhalt des 
Handschreibens Kaiser Josefs II. bis 1. Mai durchzuführen und für den Juni 
des Jahres den Krönungslandtag einzuberufen. Die Eröffnung dieses Reichs- 
tages in Ofen wird durch ein späteres Handschreiben auf den 6. Juni fest- 
gesetzt. Aber dieses Reskript findet im Hinblick auf die viel größeren Kon- 
zessionen, die Leopold an Belgien gemacht hatte, eine sehr kühle Aufnahme 
und man rüstet in den Komitaten zur Beschickung des Reichstages, der die 
Entscheidung in diesem Kampfe zwischen König und Ständen bringen sollte. 

Bevor wir jedoch den Gang der Ereignisse seit Eröffnung des Reichs- 
tages in Kürze vorführen, sei es gestattet, die Stellung zu beleuchten, die 
der österreichische Staatsrat gegenüber der Bewegung in den Komitaten 
einnahm. 

Auf die von uns besprochenen Reskripte Kaiser Josefs IL und Leopolds IL 
wurden von den Komitaten Vorstellungen »Repraesentationes« beschlossen, die 
zu den wichtigsten Quellen dieser Epoche ungarischer Geschichte gehören 
und von der Literatur auch vielfach verwertet worden sind. Aber noch eine 
zweite, unseres Wissens bisher unbenutzte Quelle kommt hier in Betracht. 
Die ungarische Statthalterei hatte nämlich alle diese Repräsentationen mit 
einem Berichte an die Hofkanzlei geleitet, »um S. M. gleich bei Antritt der 
Regierung in Ungarn von den Gesinnungen in Ungarn zu unterrichten«. Die 
ungarisch-siebenbürgische Hofkanzlei ihrerseits hatte wieder über diesen 
Bericht am 3. Mai 1790 einen Vortrag erstattet, den Erzherzog Leopold dem 
österreichischen Staatsrate zur Begutachtung überwies. Das Wiener Staats- 
archiv nun bewahrt in seinen Staatsratsakten den zitierten Vortrag der Hof- 
kanzlei und die Voten des Staatsrates. Es ist eine Quelle von nicht geringer 
Wichtigkeit. Wir lernen aus ihr die Anschauungen der maßgebenden Männer 

11 



des Beamtentums über die damalige Bewegung in den Komitaten kennen 
und über die Politik, die ihr gegenüber zu verfolgen sei. 

Es ist hier nicht möglich, die Stellungnahme der ungarischen Statt- 
halterei und Hofkanzlei hinsichtlich jeder einzelnen Frage, welche die Ko- 
mitate aufgeworfen hatten, zu erörtern. Bemerkt sei nur, dafl die ungarische 
Statthalterei oft in ihren Anschauungen den Komitaten sehr nahe steht, und 
daß auch die Hofkanzlei in vielen Fällen einen vermittelnden Standpunkt 
einnimmt, der ihr von einzelnen Mitgliedern des Staatsrates, insbesondere von 
Izdenczy, sehr übel genommen wurde. 

Wir betrachten nun die Stellungnahme des Staatsrates, dem die Ein- 
sicht in den Inhalt aller Repräsentationen durch zwei von Izdenczy meister- 
haft ausgearbeitete, »wesentliche Auszüge der Komitats Vorstellungen« sehr 
erleichtert wurde, die das Staatsarchiv gleichfalls aufbewahrt. 

Das erste Votum vom 6. Juni 1790 rührt von Izdenczy her, jenem 
Mitgliede des Staatsrates, das wegen seiner zentralistischen Anschauungen 
von den Ungarn am meisten angefeindet wurde. In Rücksicht auf das 
Inauguraldiplom, das sehr bald den Mittelpunkt des politischen Kampfes 
zwischen Konig und Reichstag bilden sollte, äußert sich Izdenczy dahin, daß 
Leopold kein anderes Diplom bewilligen dürfe als dasjenige der Kaiserin 
Maria Theresia. 

Izdenczy bespricht nun die Thronfolge. Die Pragmatische Sanktion habe 
das Erbfolgerecht der weiblichen Linie anerkannt; diese Bestimmung habe 
die Garantie der fremden Mächte erhalten und ist daher ohne Einwilligung 
dieser Mächte und ohne Einwilligung aller durch die Pragmatische Sanktion 
zur Erbfolge berufenen Anwärter keiner Abänderung fähig. Izdenczy fahrt 
folgendermaßen fort: »Es muß daher das diesfällige Postulat mehrerer Ko- 
mitatsstände, dem auch die Statthalterei und Hof kanzlei nicht widerspricht, 
höchst auffallen. Noch sonderbarer aber ist die Behauptung einiger Komitate, 
daß der Fall einer Königswahl wirklich eingetreten sei, weil die Kaiserin 
und Konigin Maria Theresia und weiland Kaiser Josef von der Pragmatischen 
Sanktion abgewichen seien. Ein Gesetz von dieser Gattung existiert im ganzen 
Corpore juris nicht. Wohl aber wird durch den zweiten Artikel vom Jahre 1723, 
vermöge welchem vorerwähnte Erbfolge auf das weibliche Geschlecht er- 
strecket wird, gerade das Gegenteil erprobet.« 

Izdenczy zitiert nun die Bestimmungen der Pragmatischen Sanktion über 
des Erbfolgerecht der weiblichen Linie wörtlich und unterstreicht den § n, der 
den Satz enthält, wonach erst für den Fall des gänzlichen Aussterbens der 
gedachten Linie (»praedicti sexus«) das uralte Recht der Stände auf die 
Wahl ihres Königs wieder auflebe: »Da nun, dem Himmel sei gedankt, der 



Casus dicti defectus sexus feminei nicht vorhanden ist, für welchen Fall allein 
die hungarischen Landstande sich das jus electionis vorbehalten haben, so 
ist es unbegreiflich, wie man wider den klaren Wortlaut des Gesetzes durch 
Scheingründe ein Interregnum hat erzwingen wollen.« Für den Fall einer 
gesetzwidrigen Regierung aber haben die Gesetze eine anderweitige Vorsehung 
getroffen; Izdenczy zitiert hier den § 8 des Art. 2 vom Jahre 1622, der durch 
Art. 1, 1659, renoviert wurde, wonach der König die bei seinem Regierungs- 
antritte vorgebrachten Gravamina in einem binnen sechs Monaten abzuhalten- 
den Landtage zu beheben hat 

Den von den Komitaten behaupteten Einfluß auf Krieg und Frieden 
haben die Stande keineswegs, »was sich durch contraria facta hujus saeculi 
beweisen läßt und doch die geheime Haus-, Hof- und Staatskanzlei am besten 
wissen muß«. Auch haben die ungarischen Konige immer das Recht be- 
hauptet, Statthalter ohne Einfluß der Stande zu ernennen, wofür Beispiele 
gegeben werden; ebenso dafür, daß das Amt des Palatins nicht immer besetzt 
wurde: »Nachdem aber E. M. auch die Wahl eines Palatins bereits zu be- 
willigen geruht haben, so fallt diese Beschwerde ohnehin ganz weg.« 

In den anderen Punkten stimmt Izdenczy der Hofkanzlei meistens zu. 
Zum Schlüsse verweist Izdenczy auf die von ihm verfaßten Auszüge aus den 
Komitats Vorstellungen mit folgenden scharfen Worten: »Hieraus dürfte man 
sich in die Kenntnis setzen, in was eigentlich die Beschwerden und die Desi- 
deria der Komitatsstande bestehen, und daß selbe auch in betreff der wesent- 
lichsten Gegenstände, welche auf das hungarische Landessystem einen Bezug 
haben, ganz ungleiche Begriffe hegen. Die meisten bestreiten das Sukzessions- 
recht keinesdings, einige aber suchen zu behaupten, daß der Fall eines Inter- 
regni wirklich eingetreten sey. Das Preßburger Komitat ist sogar zur Königs- 
wahl geschritten und hat Euer Mt. unter Vorschreibung gewisser Bedingnisse 
die Erbfolge eingestanden. Das Kreutzer Komitat will behaupten, daß die 
Grundherren das Souveränitätsrecht über ihre Untertanen ebenso auszuüben 
berechtigt sind, als wie die unmittelbaren Reichsfürsten. Die meisten aber 
dringen auf eine neue Kapitulation und mehrere haben sich einer dreusten 
und sehr anzüglichen Schreibart bedient. Welchen Bemerkungen nur noch 
dieses anzufügen habe, daß auch jetzt der größte Teil der Komitate zu be- 
haupten sucht, die Komitatsstände seien nicht befugt, was immer für Kriegs- 
subsidien extra diaetam zu bewilligen, indessen sie doch kein Bedenken 
tragen, über die Sanctionem Pragmaticam und über die Erbfolge des Erz- 
hauses von Österreich in den Komitatsversammlungen zu entscheiden, welche 
zween Gegenstände unmittelbar und ohne Widerrede ad Tractatus diaetales 
gehören«. 

13 



Diesem Votum stimmten Staatsrat Eger am 10. Juni und Staatsrat 
Reischach am 12. Juni 1790 vollinhaltlich zu. Viel zurückhaltender, aber in 
der Frage des Thronfolgerechts ungemein treffend votiert Graf Hatzfeld, 
»Staatsminister« und damaliger Präsident des Staatsrates. Er meint, daß Seiner 
Majestät kein anderes Diplom als das der Kaiserin Maria Theresia aufge- 
zwungen werden kann, wobei aber die Frage offen bleibe, ob etwaige Ände- 
rungen, die der Landtag vorschlagen würde, nicht gegen Konzessionen der 
Stände auf andern Gebieten annehmbar wären. Er fährt fort: »Die Sukzessions- 
folge kann E. M. unmöglich streitig gemacht werden, denn, gesetzt auch, sie 
wäre dadurch unterbrochen worden, daß der höchstselige Kaiser durch die 
Verletzung der Gesetze wirklich das Recht zum Besitz der hungarischen 
Krone verloren hätte, so kann doch dieses E. M. jenes Recht nicht benehmen, 
welches Derselben durch die von der Nation angenommene Pragmatische 
Sanktion auf den Fall zusteht, wenn kein älterer Sohn des letztgekrönten 
hungarischen Königs Maria Theresia vorhanden ist.« 

Graf Hatzfeld bespricht dann die gesetzwidrigen Handlungen der 
Komitate, verurteilt sie aufs entschiedenste und verlangt, daß sie von der 
Regierung im Reichstage gerügt werden. Er schließt mit dem Gutachten, 
der in Frage stehende Vortrag der ungarischen Hofkanzlei sei »mehr eine 
Anzeige des Geschehenen, als eine Anfrage dessen, was in Zukunft zu 
geschehen habe. Ich glaube also, er wäre lediglich zur Nachricht zu nehmen«. 

Das letzte, sehr merkwürdige Votum gibt Fürst Kaunitz. Er schreibt 
wörtlich: »Ich bin mit vorstehendem Voto des Herrn Grafen von Hatzfeld 
(ein)verstanden, und wäre übrigens zu wünschen, daß die höchste Final- 
entschließung über den zu erwartenden, vermutlich sehr bedenklichen Entwurf 
des neuen Diplomatis assecuratorii so lange in suspenso gelassen wird, bis sich 
näher aufklärt, ob mit Preußen eine gütliche Übereinkunft statthaben wird.« 
In diesem Sinne entschied auch Leopold; er nahm den Vortrag der ungarischen 
Hofkanzlei »zur Nachricht«. 

Das Votum des Fürsten Kaunitz aber ist vom größten Interesse, denn 
es weist auf den eigentlichen Angelpunkt der Situation hin. Die ungarische 
Verfassungsfrage war in der Tat nur dann ohne Demütigung für die Krone 
zu lösen, wenn der Herrscher durch eine Verständigung mit Preußen Ungarn 
gegenüber freie Hand erhielt. Das war die Politik, die dem Herrscher durch 
die maßlosen Forderungen der ungarischen Oppositionspartei und durch ihre 
Verbindung mit Preußen aufgenötigt wurde, und die nunmehr mit fester Hand 
zur Durchführung kam. 

Wie Fürst Kaunitz es in seinem Gutachten aussprach, handelte es sich 
in Ungarn um die Feststellung des Inauguraldiploms, das der König bei 

14 



seiner Krönung auszustellen hatte. Kaunitz spricht von einem »vermutlich 
sehr bedenklichen Entwürfe«, über den die Entscheidung in suspenso bleiben 
müsse. Die Äußerung stimmt mit den uns bekannten Tatsachen überein. Der 
Reichstag, der in Ofen am 6; Juni zusammengetreten war, beschäftigte sich 
mit der Vorbereitung des Inauguraldiploms und wollte die Krönung verzögern, 
bis Leopold den geplanten Änderungen im Diplom zugestimmt hat. In den 
»Zirkularsitzungen« der Donau- und Theißkreise, die der Plenarberatung voran- 
gingen, wurden Beschlüsse ganz im Geiste der uns bekannten Komitats- 
versammlungen gefaßt. Dieselben Anschauungen über eine Unterbrechung 
der Erbfolge durch die Regierung Josefs II. und über das dadurch erworbene 
Recht freier Selbstbestimmung kehren wieder, und allgemein wird gefordert, 
daß das durch die Bulle von König Andreas II. dem Adel zugesicherte, im 
Jahre 1687 aber beseitigte Recht des bewaffneten Widerstands dem Adel 
wieder gewährleistet werde. 

Am weitesten geht wohl der, nach einer Aufzeichnung im Budapester 
Staatsarchiv, am 21. Juni 1790 von den Ständen der beiden Theißkreise be- 
schlossene Entwurf (abgedruckt in der Flugschrift »Ninive« 1791), dessen 
Bestimmungen ihr Interesse behalten, wenn auch der Reichstag denselben 
nicht unverändert annahm. In diesem Entwürfe wird die Abschaffung der 
Statthalterei verlangt, an deren Stelle ein Nationalrat (»senatus regni nationalis«) 
zu treten hat, der aus Würdenträgern und gewählten Mitgliedern bestehen 
soll, die Gesetzmäßigkeit der königlichen Regierung überwacht, über seine 
Wahrnehmungen dem Reichstage periodisch berichtet und auch für seine 
Amtsführung selbst wieder dem Reichstage verantwortlich ist. 

Der Entwurf enthält ferner folgende bemerkenswerte Bestimmungen 
Alle Ämter sollen auf Vorschlag des Reichstags verliehen werden. Die bür- 
gerlichen Inhaber von Ämtern sind zu entlassen. Der Adel soll für ewige 
Zeiten steuerfrei sein. Das adelige Widerstandsrecht soll wieder eingeführt 
werden. Die ungarische Sprache soll die alleinige Amtssprache sein, mit Aus- 
nahme des Justizwesens, wo die lateinische Sprache anzuwenden ist. — Ungarn 
mit seinen Nebenländern soll ein selbständiges, unabhängiges Land sein mit 
eigener Verfassung, eigenen Zentralbehörden und eigener Verwaltung auch 
in auswärtigen Angelegenheiten. 

Die ungarischen Truppen schwören den Eid sowohl dem König, als auch 
dem Lande. Sie dürfen die Waffen nicht wider ihr Land ohne Zustimmung 
des Reichstages ergreifen und dürfen ohne eine solche Zustimmung auch nicht 
Ungarn verlassen. Sie sollen einer neuen ungarischen Kriegsbehörde unter- 
stehen, die vom Hofkriegsrate unabhängig ist. Alle Ungarn, die in deutschen 
Regimentern dienen, sind in ungarische, alle Deutschen, die in ungarischen 

15 



Regimentern dienen, in deutsche Regimenter zu versetzen. Die fremdnationalen 
Soldaten sollen überhaupt das Land räumen und es nur mit Zustimmung- des- 
selben wieder betreten. 

Jedem Thronfolger, der diese Bestimmungen mißachtet, soll der Gehor- 
sam verweigert werden, eventuell soll die Thronfolge von seinen Deszendenten 
auf die Seitenlinie übergehen, und wenn diese fehlt, das freie Wahlrecht der 
Stande wieder zur Geltimg kommen. Schließlich soll die Einhaltung dieses 
Diploms durch die Garantie auswärtiger Mächte sichergestellt werden. 

Die Forderungen, die dieser Entwurf hinsichtlich des Militärwesens aus- 
sprach, mußten die Aufmerksamkeit Leopolds umsomehr in Anspruch nehmen, 
als sich in der Armee selbst eine Bewegung in gleicher Richtung geltend 
machte. Am 18. Juni überreichte eine Anzahl ungarischer Infanterie- und 
Kavallerieregimenter dem Reichstag eine Eingabe, die sich mit dem Inhalte 
des oben genannten Entwurfs vielfach deckte, außerdem aber wegen der 
beklagten Trennung des Militärstandes von der Nation die Aufnahme des- 
selben in den Reichstag als Stand befürwortet. Dazu kam die gleichfalls im 
Juni überreichte Petition des Husarenregiments von Greven wegen Bevor- 
zugung deutscher Offiziere und anderer behaupteter Mißstände; Beschwerden, 
deren sich der Reichstag annahm, die aber wegen der Adresse, an die sie 
sich richteten, und anderer Nebenumstände eine schwere Durchbrechung 
der militärischen Disziplin in sich schlössen, und nicht ungeahndet bleiben 
konnten. 

Dies war die Sachlage, die Leopold dazu gezwungen hat, eine Ver- 
ständigung mit Preußen auch unter Opfern zu suchen. Friedrich Wilhelm IL 
willigte in Verhandlungen, horte aber nicht auf, Ungarn als Pressionsmittel 
zu benützen. Die mit Preußen in Verbindung stehende Adelspartei aber 
mochte die Verständigung Preußens mit Österreich verhindern, zum mindesten 
verzogern, bis ihre Forderung nach einer Garantie Preußens für die ungarische 
Verfassung erfüllt ist, und Konig Friedrich Wilhelm IL unterstützt diese 
Partei noch am 12. Juli in ihren Hoffnungen. In der Reichenbacher Kon- 
vention aber, die am 25. Juli zwischen Österreich und Preußen zu stände kam, 
ist von einer solchen Garantie für die ungarische Verfassung mit keinem 
Worte die Rede. Wohl aber mußte Österreich auf jeden Ländergewinn aus 
dem Türkenkriege verzichten. Leopold empfand dieses Opfer schwer. In einem 
Briefe vom 4. August an Erzherzogin Marie Christine nennt er den Aus- 
gleich »den am wenigsten schlechten, der geschlossen werden konnte«, und 
fügt hinzu, »die Untreue der Ungarn, die mit Aufruhr drohten und, mit 
Preußen verbündet, auf den Umsturz der Monarchie sannen«, trage an allem 
die Schuld. 

16 



Nun war die auswärtige Gefahr beseitigt und Ungarn von seiner Ver- 
bindung mit Preußen abgeschnitten. Nun wird Ungarn durch eine kluge und 
energische Politik gemeistert. 

Bisher hatte Leopold gegenüber dem Reichstage eine zuwartende Politik 
verfolgt und auch getan, als habe er von der Verbindung Ungarns mit 
Preußen keine Kenntnis erlangt. Nun wird alles mit einem Schlage anders. 
Schon am 20. Juli, also noch vor Abschluß der Konvention, aber zu einer 
Zeit, als dieser Abschluß schon außer Zweifel stand, erging von Seiten der 
ungarischen Hofkanzlei ein Dekret, in welchem der königliche Wille zum 
energischen Ausdruck kam. Es heißt darin, der König habe den festen 
Entschluß, die ungarische Verfassung aufrecht zu erhalten und alle gesetz- 
lichen Versuche zu fordern, diese Verfassung sicherzustellen. Aber das Ver- 
halten einzelner Komitate müsse gerechtes Bedenken erregen und der bis- 
herige Gang des Reichstages habe Seine Majestät nicht befriedigt. Der König 
werde niemals dulden, daß das auf der Pragmatischen Sanktion ruhende Erb- 
folgerecht seines Hauses angezweifelt werde, und ebensowenig Veränderungen 
in der Militärverfassung gestatten, durch welche die militärische Zucht und 
die wirksame Verteidigung des Landes gefährdet werden. Die Wahrung 
dieser militärischen Interessen stehe allein dem Könige zu. — Kurz darauf, 
am 29. Juli, erging ein zweites Dekret, in welchem das Befremden darüber 
ausgesprochen wird, daß der Reichstag, obwohl bereits mehr als zwei Monate 
verstrichen sind, noch nicht in der üblichen Weise eröffnet und der König 
noch nicht zum Erscheinen eingeladen worden sei. Als Leopold endlich am 
20. August durch eine Deputation des Reichstags feierlich eingeladen wurde, 
antwortet der König, an der Verzögerung trage nicht er die Schuld ; er sei 
von Anfang bereit gewesen, das Inauguraldiplom Maria Theresias oder Karls, 
aber kein anderes anzunehmen. 

Auf diesem Standpunkte beharrte Leopold und wurde darin — wie wir 
aus Akten wissen, die Schütter veröffentlicht hat — durch Kaunitz wirksam 
unterstützt. Es war ein großer Sieg der königlichen Politik, daß die Krönung 
in der Tat auf Grund des alten Diploms geschah, an welchem nur wenige 
Änderungen vorgenommen wurden. Es hatte der Standpunkt gesiegt, daß 
zwar die ungarische Verfassimg neue Garantien erhalten solle, daß aber die 
Beratungen darüber erst nach der Krönung zu Ende zu fuhren seien. Die 
betreffenden Gesetzesartikel haben daher im Diplome keine Aufnahme ge- 
funden. Das Inauguraldiplom blieb von diesen Verfassungskämpfen nahezu 
unberührt. 

Herbeigeführt wurde dieser große Erfolg durch eine äußerst kluge 
Politik, kraft deren der König im Reichstage den Klerus und die Magnaten 

17 2 



für sich gewinnt, sehr bald aber auch die Opposition dazu zwingt, von ihren 
maßlosen Forderungen eine nach der andern preiszugeben. Es hatte tiefen 
Eindruck gemacht, als die Nachricht kam, der König habe beim Director 
causarum regalium, dem königlichen Anwalt, angefragt, welche Strafe die- 
jenigen verdienen, die behaupten, daß die Thronfolge durch die Regierung 
Josefs II. unterbrochen sei, und sich sogar mit auswärtigen Mächten ver- 
bunden haben? Man sprach auch davon, Preußen habe in Reichenbach die 
Namen der ungarischen Emissäre verraten, eine Nachricht, die zwar den 
Tatsachen nicht entsprach, aber großen Schrecken verbreitete. Nach einer 
Nachricht, die E. v. Wertheimer aus Briefen jener Zeit bringt, wagte seit 
Mitte August kein Ungar, sich der preußischen Gesandtschaft auch nur zu 
nähern. 

Zugleich wurde die Oppositionspartei infolge der königlichen Politik 
immer mehr isoliert. In der Tat kämpfte ja diese imgarische Adelspartei 
nicht so sehr für die Nation als für ihr engherziges Klasseninteresse und 
hatte deshalb einen großen Teil des Bürgertums und die ganze Bauernschaft 
gegen sich. Dieser Umstand wird von Leopold nach Kräften benützt und 
• die Illusion gründlich zerstört, als kämpfe der Adel für das Interesse der 
gesamten Nation. Der König unterstützt die Wünsche des Bürgertums nach 
einer Besserung seiner politischen Stellung, vor allem aber auch die For- 
derung der Bauernschaft nach Aufrechterhaltung der Theresianischen und 
Josefinischen Gesetzgebimg. Mochten sich auch nicht alle ihre Wünsche er- 
füllen, die Bauernschaft hatte das Bewußtsein, daß der König ihr zur Seite 
stand, und sie errichtete nicht bloß dem Andenken Josefs IL, ihres Befreiers, 
sondern auch dem regierenden Könige Denksäulen, wie die Armut sie ge- 
stattete. Dazu wollte es das Geschick, daß Bauernaufstände — wie Marczali 
erzählt — eben in jenen Komitaten ausbrachen, deren Adel sich am 
schwierigsten gezeigt, und daß derselbe Adel nun in der Anrufung könig- 
licher Hilfe sein Heil suchen muß. 

Aber nicht bloß die unterdrückten gesellschaftlichen Klassen wurden 
gegen die adelige Opposition aufgeboten; es wird auch der ungarischen 
Nation als solcher gezeigt, daß sie nicht die Herrin im Lande ist. Der König 
willigt am 10. Juli 1790 in die Einberufung eines Kongresses der Serben 
nach Temesvar zur Wahl des Metropoliten und zur Geltendmachung der 
nationalen Rechte der sogenannten »Illyrischen« Nation. Allgemein sah man 
darin die Absicht, dem ungarischen Reichstage gleichsam eine konkurrierende 
fremdnationale Versammlung gegenüberzustellen. In der Tat wurden die For- 
derungen des »Illyrischen« Landtages um Zuweisung des Banats als Sondergebiet, 
um selbständige Verwaltung desselben und um Garantien für die Bekenner der 

18 



griechisch-nichtunierten Kirche vom Könige sehr gnädig aufgenommen. Noch 
am 9. September äußert Leopold trotz aller Proteste des ungarischen Reichs- 
tages seine Freude über das »bescheidene« Verhalten der Serben und über 
das Vertrauen, das sie zu ihm haben. Er werde dafür ewig dankbar sein, 
nach seiner Krönung die Wünsche der ihm »lieb gewordenen Illyrischen 
Nation« gründlich untersuchen und alles zu ihrer Förderung tun. Dazu 
gehöre vor allem die Errichtung einer besonderen Hofkanzlei, die die Inter- 
essen der Nation und ihrer Konfession zu vertreten haben werde. 

In der Tat erhielt die serbische Nation eine besondere Illyrische Hof- 
kanzlei, die allerdings nur von kurzer Dauer war. Ebenso wurden in Sieben- 
bürgen die drei Nationen in ihr altes Recht wieder eingesetzt und die Sieben- 
bürgische Hofkanzlei wird von der ungarischen wieder abgetrennt. 

In allen diesen Maßnahmen, die mit Billigung, ja unter Mitwirkung des 
Fürsten Kaunitz geschahen, kam für Ungarn der Grundsatz des »divide et 
impera« zur bewußten Anwendung. Es war die Antwort des Königs auf die 
antidynastische Politik des ungarischen Adels. 

Bedenkt man, daß das Inauguraldiplom fast ungeändert blieb, daß der 
Adel die Forderung nach dem Rechte bewaffneten Widerstandes fallen ließ, 
daß die Statthalterei bestehen blieb und von der Errichtung eines National- 
rates nicht mehr gesprochen wurde, daß das Amt des Palatins zwar wieder 
besetzt wurde, aber bemerkenswerterweise durch einen Erzherzog, daß schließ- 
lich der König in der Militärfrage nicht die geringste Konzession gemacht 
hatte — so wird man zugeben, daß Leopold glücklich operiert hat. 

Leopold hat der adeligen Opposition das eigentliche Machtverhältnis der 
Parteien im Lande vor Augen geführt und sie dadurch gemeistert. 

Es soll nicht geleugnet werden, daß in den Gesetzesartikeln, die nach 
der Krönung zu stände kamen, die ungarische Verfassung neue und wert- 
volle Garantien erhalten hat. Aber diese Bestimmungen waren nicht im stände, 
der gefestigten Stellung des Königs Abbruch zu tun. 



Literatur und Quellen. 

Die vorliegende Arbeit will die politischen und socialen Faktoren kennzeichnen, welche auf 
die ungarische Gesetzgebung jener Zeit einen bestimmenden Einfluß geübt haben. Auf eine nähere 
▼erfassungsrechtliche Würdigung dieser Gesetzgebung mußte an diesem Orte verzichtet werden. 

Abgesehen von den bekannten allgemeinen Geschichtswerken von A. Springer, F. v. Krones, 
M. Horvath und Feöler-Klein und dem Artikel v. Zelßbergs in der Allgemeinen deutschen Biographie 
über Leopold IL wurde für diese Arbeit benützt: 

H. Marczali, Magyarorszäg Törtenete IL Jözsef koraban, Budapest 1885, 4 Bde.; Derselbe, 
in A Magyar Nemzet Törtenete, szerkeszti Szilagyi Sandor, VIII. Bd., Budapest 1898; v. Hock- 

19 2* 



Bidermann, Der österreichische Staatsrat, Wien 1878; H. Schütter, Kaunitz, Philipp Cobenzl 
and Spielmann, ihr Briefwechsel, Wien 1899; F. v. Zieglauer, Die politische Reformbewegung in 
Siebenbürgen in der Zeit Josefs II. und Leopolds II., Wien 1881; F. Krön es, Ungarn unter Maria 
Theresia und Josef II., Graz 1871. 

Für die politische Literatur Ungarns in jener Zeit vergleiche die wertvollen Abhandlungen 
von Concha Gyözö, A Kilenczvenes e>ek reformeszmei 6s elözmenyeik (Die Reformideen der 
Neunzigerjahre und ihre Vorgeschichte), Budapest 1885; Ballagi Gera, »A Politikai Irodalom 
Magyarorszagon 1825-ig, Budapest 1888; W. Fraknöi, Martinovics es tarsainak összeesküvese 
(Die Verschwörung Martinovics und seiner Genossen) in Szazadok, 1878; ferner H. Marczali, 
Alkotmany tervezetek 1790-ben (Verfassungsentwurfe 1790) in Budapesti Szemle 1906. 

Über die Beziehungen Preußens zu Ungarn sind zu vergleichen H. Marczali in Literarische 
Berichte aus Ungarn, herausgegeben von P. Hunfalvy, II. Jahrgang, 1878, S. 28 ff.; ferner die wichtigen 
Arbeiten von £. v. Wertheimer, Baron Hompesch und Josef II., in den Mitteilungen des Instituts 
für österreichische Geschichte, VI. Ergänzungsband, 19OI, und Derselbe, Magyarorszag 6s II. Frigyes 
Vilmos Porosz kiraly (Ungarn und Friedrich Wilhelm II., König von Preußen) in Budapesti Szemle 1902. 

Zur Vergleichung ist die Literatur über die Restauration in den westösterreichischen Landern 
heranzuziehen, insbesondere kommen in Betracht die einschlägigen Schriften von H. J. Bidermann, 
d'Elvert, Toman und V. Bibl. 

An Quellen wurden benützt: Die Collectio Repraesentationum et Protocollorum Statuum 
et Ordinum Regni Hungariae 1790, 2 Bde.; ferner das Diarium und das Protocollum des Reichs- 
tages von 1790/91. 

Aus den Staatsratsakten des k. u. k. Geheimen Haus-, Hof- und Staatsarchivs, die dem Autor 
in gütigster Weise zur Verfügung gestellt wurden, sind hier nur die Gutachten des österreichischen 
Staatsrates vom Juni 1790 über die Repräsentationen der Komitate benützt Die Repräsentationen 
wurden noch ein zweitesmal Gegenstand der Beratung im Staatsrate, aber in einem Zusammenhange, 
der außerhalb des Bereiches dieser Arbeit liegt 




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„Aus der Jugendzeit 
v. Berger. J| 



J| Von Alfred Freiherrn 



Wenn ich, aus nordischer Fremde zu kurzem Besuch in die Heimatstadt 
zurückgekehrt, gelegentlich den Weg gehe, den ich vor fast vier 
Jahrzehnten täglich gegangen bin, aus dem Bazar, wo wir wohnten, 
durch das Kriegsgebäude über Hof und Freiung zum Schottenhof, da über- 
kommt sie mich wieder lebhaft, die Stimmung meiner Jugendzeit Die Gerüche, 
die ich auf dieser Strecke einatme, bringen sie mir zurück: der Kasernen- 
dunst aus der Wachtstube am Hof, der Grünzeugduft von den Ständen der 
Marktweiber, das Gemenge von Fleischbankgeruch mit dem Aroma, das 
aus den Tonnen der Sauerkrautverkäufer auf der Freiung aufsteigt. . . ♦ 
Am stärksten aber, ins Geistige und Gemütliche verfeinert, haftet mir das 
Jugendgefuhl an der Schottenkirche und am Schottenhof. In meiner Knaben- 
phantasie kam mir die Schottenkirche immer vor wie ein Gebäude, das ein 
alter, Kloster und Kirchen stiftender Babenberger Herzog auf der Linken 
trägt, in vergrößertem Mafistabe von der flachen Hand des steinernen Mannes 
auf den Erdboden versetzt. Überhaupt fühlte ich mich in Kirche, Kloster 
und Schule der Schotten immer ein wenig von einem Lüftlein aus dem 
Zeitalter des Heinrich Jasomirgott angeweht, von der Ekkehardpoesie, die 
alle deutschen Benediktinerklöster umgibt. Damals empfand ich dies nur, 
heute weifl ich, daß diese Poesie ein wesentliches Element der starken und 
eigenartigen Empfindung bildet, welche fast alle ehemaligen Schottenschüler 
dem Gymnasium, das sie unterrichtet und erzogen hat, durch das ganze 
Leben verknüpft. Mag auch das Schottengymnasium erst hundert Jahre alt 
sein, so waren doch die Benediktiner von altersher Lehrer, Erzieher und 

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Kulturbringer, von denen die unwissende und rohe Bevölkerung, in deren 
Mitte sie ihre Häuser erbauten, mit Gartenpflege, Weinbau und sonstigen 
friedlichen Künsten auch den veredelnden Funken antiker Wissenschaft und 
Kultur empfing, den die Vorgänger der Mönche, die uns heute unterrichteten, 
in Zeiten der Verwilderung und drohender Barbarei vor völligem Verlöschen 
bewahrt hatten. Das Latein und Griechisch, das wir von ihnen lernten, 
stammte also nicht, wie das an gewöhnlichen weltlichen Gymnasien gelehrte, 
aus zweiter oder eigentlich aus hundertster Hand, sondern es schien unmittelbar 
aus uralten Handschriften zu kommen, welche die Vorgänger unserer gegen- 
wärtigen Professoren nach den geretteten Originalen kopiert haben mochten. 
Wenn ich nun gar den Pater Hugo Mareta vom Nibelungenlied oder von 
Walther von der Vogelweide begeistert erzählen hörte, so wandelte mich 
oft die Empfindung an, ob nicht der geheimnisvolle Dichter des deutschen 
Heldenliedes, den die Gelehrten noch immer vergebens suchen, vor Zeiten 
im Kellerstübchen des Schottenstiftes zu Gast gewesen und einigen seiner 
sangesfreudigen Brüder bei einem guten Tropfen die schönsten Aventuren 
zum besten gegeben habe. . . . Kein Wunder, daß mir in solcher Stimmung 
war, als ob Pater Hugo, wenn er von den ritterlichen Sängern der mittel- 
hochdeutschen Epoche sprach, von ihm persönlich bekannten Zeitgenossen 
berichte. Es ist leichter zu fühlen als mit deutlichen Worten zu sagen, was 
es eigentlich war, wodurch sich für meine junge Phantasie die Schotten- 
professoren von anderen Mittelschullehrern unterschieden. Es war nicht der 
geistliche Charakter allein. In ganz besonderer Weise war kerndeutsches 
und echt österreichisches Wesen in ihren höchst mannigfaltigen, aber immer 
ausdrucksvollen Persönlichkeiten verkörpert. Gelehrte, tiefstudierte Herren 
gab es genug unter ihnen. Aber ein nüchterner Schulfuchs, ein vertrockneter 
Bücherwurm war kein einziger. Man spürte sich, ob man nun mit dem feinen 
Pater Klemens Kickh sprach, dessen leise Worte edelste Seelenkultur ver- 
rieten, oder mit dem feurigen Pater Hugo Mareta, oder mit dem in der 
Philosophie Kants und wohl auch in verschwiegenen Seelenkämpfen ge- 
schulten und geläuterten Pater Sigismund Gschwandner, immer von dem 
frischen, gesunden Hauch niederösterreichischer Natur und Landschaft 
wohltuend berührt, von Getreideduft und Fichtennadelgeruch, vom Aroma 
der Rebenblüte und der Kühle der Wienerwaldbuchen. Aber auch die 
Eigenschaften des heimatlichen Menschenschlages begegneten einem, wenn 
auch, wie sich's geziemt, priesterlich gedämpft, in den geistlichen Herren 
wieder. Denn immer war es den Benediktinern eigen, sich von der Land- 
schaft und Bevölkerung nicht abzutrennen, sondern mit Land und Volk innig 
zu verwachsen. 



Von den siebenundzwanzig jungen Menschen, die wir im Sommer 1871 
vom Schottengymnasium das Zeugnis der Reife zum Besuch einer Hoch- 
schule erhielten, bin ich der einzige, der zum Theater geraten ist. Alle 
anderen haben Berufe ergriffen, die als ernsthafter und würdiger gelten. 
Aber wenn ich mir die scharfgeprägten Physiognomien meiner ehemaligen 
Lehrer in der Phantasie lebhaft vergegenwärtige und sie in Gedanken frage* 
was sie zu ihrem einstigen Schüler sagen, so gewahre ich auf keinem dieser 
unvergeßlichen Gesichter den Ausdruck der Mißbilligung. Wie sollte dies 
auch möglich sein? Hab' ich doch die leidenschaftliche Liebe zur Poesie, 
die mich zu dem gemacht hat, was ich bin, auch meinem Professor für 
deutsche Sprache und Literatur, dem Pater Hugo Mareta, zu danken. Er 
war der erste, der mir den Mut gegeben hat, an mein literarisches Talent 
zu glauben. Denn mein Vater vermied es grundsätzlich, meinen schrift- 
stellerischen Ehrgeiz zu nähren, und ergofl zuweilen über meine ersten 
Versuche in bester Absicht, aber nicht immer mit bester Wirkung, seine 
ätzendste Kritik. Pater Hugo hat das, obwohl sein Urteil kein allzu gelindes 
war, gut zu machen gewußt Kein Erfolg meines späteren Lebens hat mir 
das Blut so stolz und so freudig in die Wangen getrieben, wie jener früheste, 
als Pater Hugo zum erstenmal meine »Deutsche Arbeit« vor der Klasse als 
die beste vorlas. Er war es auch, der es veranlagte, daß ich wenigstens die 
Schwelle der Öffentlichkeit betreten durfte. Ich wurde von ihm mit der 
Abfassung der Adresse der Schüler des Schottengymnasiums an den achtzig- 
jährigen Grillparzer betraut. An einem Sonntag, nach der Studentenmesse, 
wurde mein Werk, kalligraphisch ausgeführt, im Schulzimmer der achten 
Klasse zu allgemeiner Besichtigung durch Professoren und Schüler aus- 
gestellt. Noch entsinne ich mich des Herzklopfens, mit dem ich beobachtete, 
wie Pater Klemens Kickh das Schriftstück aufmerksam durchlas. Pater 
Klemens, der damals schon Hofprediger war, galt als ein Meister deutschen 
Stils. Nachdem er gelesen hatte, trat er auf mich zu, sah mich einen Moment 
an und sagte ganz leise mit einem unmerklichen Kopfnicken: »Recht schon 
und gediegen.« Was vergißt man nicht alles im Leben, die glänzendsten 
und die schnödesten Kritiken. Diese schlichten vier Worte aber werde ich 
wohl niemals vergessen. 





Grüne Jugend. 51 Von Wilhelm Freiherrn v. Berger. 

Es ist ein eigenartiges Band, welches auch später diejenigen verbindet, 
welche gemeinschaftlich »die Schulbank gedrückt« haben. Die kennen 
einander besser und gründlicher, oder doch auf eine ganz andere Weise, 
als sonst die Menschen sich gegenseitig zu kennen pflegen. Sie können sich 
nicht leicht etwas vormachen, sie imponieren einander nicht durch an- 
genommenes Wesen und gravitätisches Auftreten. 

In der Jugend liegen die Fundamente zu dem, was wir später bauen, 
mögen wir uns auch oft darüber wundern, wie auf schwach gewähnten Grund- 
lagen ein stolzer, prächtiger, jedenfalls effektvoller Tempel errichtet wurde, 
während andere, die im Gymnasium granitene Quadern zusammentrugen, 
kaum mehr als ein gewöhnliches, nicht einmal immer wohnliches Gebäude 
zu stände brachten. Zum Glück bildet der Fall des Aufbrauchens der besten 
Kräfte während der Gymnasialzeit, die betrübende Erscheinung vorzeitigen 
Abschlusses der persönlichen Entwicklung, einer Karriere, die schon mit einer 
ausgezeichneten Maturitätsprüfung am Ende anlangt, nicht die Regel. Viel 
öfter erweisen sich die Zierden des Gymnasiums auch als Kapazitäten im 
Leben, und findet die Ehre des Primus in der Klasse auch später in einer 
ruhmreichen Laufbahn ihre glänzende Fortsetzung. Das Schottengymnasium 
kann mit stolzer Befriedigung unter unseren hervorragenden Männern auf 
allen Gebieten viele seiner Schüler zählen. 

Es ist eine schöne Sitte, daß periodische Kollegenabende die ehemaligen 
Schulkameraden wieder zusammenführen, um die alte Kameradschaft zu er- 
neuern und Umschau zu halten, was aus ihnen allen geworden ist, wie die 
Lebenswege der einzelnen sich gestaltet, welche Erfolge und Siege sie alle, 
die einst gleichzeitig auszogen ins feindliche Leben, sich errungen und er- 



24 



kämpft haben. Bei solchen Zusammenkünften treten gesellschaftliche und 
politische Unterschiede, soziale und nationale Verschiedenheiten in den Hinter- 
grund. Sie sollen es wenigstens. Einzelne Kollegen haben sich seit der 
Gymnasialzeit nicht aus den Augen verloren, sind in engem, freundschaft- 
lichem Verkehr geblieben. Andere haben sich seit Jahrzehnten nicht mehr 
gesehen. So kommt denn endlich, schneller als man gedacht, der Abend 
einer dreißig-, vierzigjährigen Abiturienten-Jubelfeier heran. Erwartungsvolle 
Spannung herrscht unter den ersten Ankömmlingen, die sich in dem reser- 
vierten Zimmer des Restaurants einfinden. Die Blicke sind nach der Tür ge- 
richtet. Sie öffnet sich. Vielleicht ist es ein würdiger Priester, der jetzt ge- 
messenen Schrittes eintritt — ein Fremder? Nein. Ein eigenartiges Lächeln 
umspielt die glatten Lippen und verklärt das rasierte Gesicht, ein Lächeln 
für das er in seinem Beruf keine Verwendung hat. Eine Heiterkeitssalve be- 
grüßt den Erschienenen, sie erkennen den Hallodri von einst, hinter den 
streng gewordenen Zügen den lustigen Kumpan, der nicht der sanftmütigste 
Jüngling in der Klasse gewesen. Wieder eine Pause. Da erscheint mit ernster 
Staatsmiene ein vornehmer Herr. Ah! Er ist doch gekommen. Es ist Seine 
Exzellenz, vielleicht gar der Minister. Er sieht sich um, ob die Tür sich 
hinter ihm geschlossen, und in den versteinerten Zügen seines Gesichtes 
blitzt der alte Schalk auf. Kurze Beklommenheit der Versammelten, dann 
kollegiales Händeschütteln. »Du?« Welcher Genuß, einer Exzellenz »du« 
sagen zu können! Jetzt kommt ein unscheinbarer Mann, ein kleiner Privat- 
beamter, aber ein prächtiger, gemütvoller Mensch, und er wird mit dem 
gleichen Jubel empfangen wie Seine Exzellenz. Wer kann wissen, ob es allein 
seine Schuld gewesen, wenn er es über eine bescheidene, unbedeutende 
Existenz nicht hinausbrachte! Damals, im Gymnasium, wußte er sich mehr 
Geltung zu verschaffen, denn er war der lauteste Schreier der ganzen Klasse. 
Er hat sich seither gewohnt, im Leben übersehen und in die Ecke geschoben 
zu werden, aber er trägt dieses Los mit Würde. 

Man läßt sich an der gedeckten Tafel nieder. Es ist eine ganz kuriose 
Tafelrunde, einzig in ihrer Zusammensetzung, wie sie eben nur der Zufall 
der kollegialen Verbindimg von Gymnasiums Zeiten her zusammenwürfeln 
konnte. Einzelne sind sich beinahe fremd geworden, aber ein gemeinsames 
Band umschlingt sie dennoch. Wenn eine Verlegenheit bestanden hat, ver- 
schwindet sie jetzt, und eine seltsame, geheimnisvolle Stimmung senkt ihren 
Schleier über die Gesellschaft. Denn unsichtbar hat sie sich eingefunden, die 
mit weichen, kosenden Händen um die grauen und kahlen Häupter spielt, 
in den gebleichten Barten wühlt und längst vergessene, anheimelnde Weisen 
den alten Kerlen in die Ohren säuselt. Sie, die Gastgeberin des Festes, weilt 

*5 



hier in diesem Kreise und laßt einen jeden den Zauber ihrer Gegenwart fühlen, 
sie: die Erinnerung an die schönsten Tage, an die Tage der goldenen Jugend. 

Stolz war vor allem diese goldene Jugend des Gymnasiums. Stolz ist 
der Gymnasiast auf alles, was mit seiner werten Persönlichkeit unmittelbar 
oder mittelbar zusammenhängt. Am besten für ihn ist's natürlich, wenn er 
recht stolz ist auf seine geistigen Leistungen und Erfolge in der Schule. Es 
gibt aber auch einen perversen Stolz auf negative Verdienste, dem, wenn es 
gut geht, noch rechtzeitig die schmerzliche Einkehr in sich folgt. Jeder Gym- 
nasiast ist stolz auf sein vermeintlich so interessantes Äußeres, seine sich 
streckenden Glieder, den keimenden Bartflaum, den Zwicker, wenn er ihn 
auch nicht benotigt, stolz mit einem Wort auf den in ihm knospenden Mann. 
Er fühlt sich gehoben, wenn er heimlich, aber doch gesehen, eine Zigarre 
probieren oder eine elegante Dame grüßen kann. Wie der junge Handlungs- 
kommis trägt auch der richtige Gymnasiast immer eine ideale Neigung im 
Herzen, wäre es auch nur zu einer verblühten Schönheit seiner Nachbarschaft, 
wenn nicht gar die gefeierte Sängerin der Oper es ihm angetan oder die 
schöne Ballerine im fliegenden Rocklein mit ihren graziösen Pirouetten neu- 
lich im Theater ihn um sein bißchen Fassimg gebracht hat. Nie ist aber so 
etwas sein erstes Erlebnis, denn der Gymnasiast dünkt sich immer erfahren 
und hat immer noch früher schon etwas anderes erlebt. 

Ich war in jungen Jahren so glücklich, noch einen anderen Kult treiben zu 
können: ich war stolz auf meinen Vater, aufweichen damals alle Welt stolz war. 

Unser guter Professor des Griechischen, P. Bernhard Frieb, hatte die 
Gabe, durch harmlose Spässe und humorvolle Anspielungen die Schwächen 
des Jünglings zu kitzeln und sein kribbelndes Wohlbehagen zu erregen. Dabei 
ließ aber der vortreffliche Mann seine eigene liebenswürdige schwache Seite 
entdecken. Er lechzte nämlich nach Beifall, nach wahrem und echtem Beifall, 
und hatte das feinste Gefühl für die zarte Linie, jenseits welcher die wirk- 
liche, natürliche Heiterkeit unmerklich in ein Lachen auf Kosten des Spaß- 
machers übergeht. Wehe der Klasse, wenn der prächtige Mann zu merken 
glaubte, daß ein allzu übermütiger Laut nicht dem gelungenen Witze, sondern 
der Person seines Erfinders galt! Dann konnte der sonst so gutmütige Lehrer 
urplötzlich seine Stimmung ändern, das runde, lebensfrohe Gesicht blutrot in 
wilde Falten legen und mit erbarmungsloser Strenge aus der griechischen 
Grammatik examinieren. 

P. Bernhard Frieb schien große Stücke auf meinen Vater zu halten, 
und auch ich durfte mich seiner Sympathie erfreuen. Da — es war der Tag 
der Wahlen in den niederösterreichischen Landtag und mein Vater kandidierte — 
nickte am Schluß der griechischen Stunde P. Bernhard mir vielsagend lächelnd 

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mit den Worten zu: »Berger, jetzt gehe ich wohin und dort werde ich Ihren 
Namen aufschreiben.« Ich hatte natürlich nichts Eiligeres zu tun, als zu 
Hause bei Tisch meinem Vater die Szene freudestrahlend zu erzählen. Man 
muß Gymnasiast gewesen sein und das Wichtigkeitsgefühl des Gymnasiasten 
selbst gehabt haben, um zu begreifen, wie sehr ich mich durch diese so 
unbedeutende Episode geschmeichelt und gehoben fühlte. Sonst hätte ich ja 
die kleine Geschichte auch längst vergessen. 

So erwachen Bilder aus den Jugendtagen bei den alten Abiturienten. 
»Mir träumt niemals von Staatsprüfungen oder Rigorosen« — erzählt so 
mancher — »aber mir träumt noch heute, ich wäre im Gymnasium, vor der 
Matura, und stünde draußen vor der Bank und soll examiniert werden, habe 
aber alles vergessen, und immer ist es P. Dr. Ernest Hauswirth, dessen Prüfen 
aus Geschichte und Religion ich noch heute im Traume furchte.« »So geht 
es uns allen«, wird ihm einstimmig im Kollegenkreise geantwortet. Auch da 
muß man den gefürchteten, gestrengen Professor und nachmaligen Abt des 
Schottenstiftes Dr. Ernest Hauswirth gekannt und mitgemacht haben, um zu 
wissen, was es bedeutete, von P. Ernest examiniert zu werden. »Sie sind hier 
in der Schule, um sich eine Summe von Kenntnissen zu erwerben.« Das war 
die oft gehorte Unterrichtsparole des Professors Hauswirth. Aber was für eine 
»Summe von Kenntnissen« war gemeint! Hunderte von umfangreichen, nur 
stenographisch fixierbaren Vorträgen, welche eine Unmenge von Jahreszahlen 
und anderen ziffermäßigen Daten enthielten, mußten ad verbum dem Gedächtnis 
eingeprägt sein, um den strengen Herrn einigermaßen zufrieden zu stellen. 
Größere Anforderungen hat das ganze spätere Leben nicht mehr an uns gestellt. 

Das Gegenstück zu P. Ernest war der aus vielen Schilderungen seiner 
Schüler gut bekannte, unvergessene Dr. Sigismund Gschwandner, Professor 
der Mathematik, Physik und Philosophischen Propädeutik, der niemals das 
Wort über die Sache stellte. Ihm war es gegeben, verborgene Fähigkeiten 
der Schüler ans Licht zu bringen, aber auch jeden leeren Schein erbarmungslos 
auf sein Nichts zu reduzieren. 

Während ich diese Zeilen schreibe, sind von unseren Professoren am 
Schottengymnasium nur mehr zwei am Leben: P. Hugo Mareta, Professor der 
deutschen und lateinischen Sprache, und der frühere Hofprediger P. Dr. Klemens 
Kickh, unser Professor des Lateinischen in der achten Klasse des Gymnasiums. 

Mit Freude denke ich noch heute an den jungen P. Hugo Mareta, einen 
feurigen Mann mit kohlschwarzen Haaren. Er war von cholerischem Wesen, 
ein heller Geist, zugänglich jedem erhebenden Gefühl, begeistert für alles 
Hohe und Schone. Er konnte die Jugend hinreißen und bei heiteren Anlässen 
eine Lache aufschlagen, so recht von Herzen, daß sie nimmer vergessen 

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kann, wer das Glück gehabt hat, sie zu hören. Wenn auch heute die Haare 
des Achtzigjährigen gebleicht sind, die hohe Gestalt hat das Alter nicht 
gebeugt, und aus den ausdrucksvollen Augen lodert noch das jugendliche 
Feuer. Wie allen temperamentvollen Lehrern erging es auch Hugo Mareta: 
neben glühenden Verehrern hatte er immer ein paar Antagonisten in der 
Klasse, mit denen er beim Unterricht seine liebe Not hatte. 

P. Klemens Kickh war eine der zartesten und feinfühligsten Naturen, 
die mir im Leben vorgekommen, peinlich berührt von allem Gemeinen und 
Rohen. »Odi profanum volgus et arceo«, sagt Horaz, in dessen Verständnis uns 
der klassisch-humanistisch hochgebildete Mann einführte, dem selbst Vornehm- 
heit von Inhalt und Form über alles ging. 

Im Schottengymnasium wurde der Grund zu dem gelegt, was aus uns 
wurde. Wir hatten als Lehrer ganze Menschen, von denen und, noch mehr, 
an denen man lernen konnte. Kommt es doch so oft im Leben mehr auf die 
Personen an als auf die Sache. Auch für das öffentliche Leben war die Schule 
eine gewisse Vorbereitung. Allerdings haben wir dort nicht gelernt, wovon 
heute so vieles abhängt: die Intrige. 

Mein warmer Dank und mein freundliches Gedenken gehört dem Schotten- 
gymnasium. Ihm verdanke ich auch liebe Kollegen und treue Freunde fürs 
Leben. Viele der Mitschüler, einige in jugendlichen Jahren, sind bereits ins 
Grab gesunken. Wir übrigen kommen gelegentlich zusammen und werden 
es so halten, bis auch uns die Stunde schlägt. Wir sind uns gut geblieben 
und verdanken uns gegenseitig manches. So haben wir in jungen Tagen 
dafür gesorgt, nicht empfindlich zu sein und einander nichts übel zu nehmen. 
Das ist gut für uns gewesen, denn so ist es uns leichter geworden, neben 
der »Summe von Kenntnissen« auch jene Rhinozeroshaut zu erwerben, ohne 
welche man schon seit einiger Zeit nicht mehr heil durchs Leben kommt. 





Aus der Zeit der Errichtung unserer Gesandtschaft 
am Hofe des Schah* J| Von Guido Freiherrn v. Call. 

Noch stand alle Welt bei uns — nicht am wenigsten die heranwachsende 
Jugend — unter dem beklemmenden Eindruck des Schicksalsschlages, 
der auf den böhmischen Schlachtfeldern das Vaterland schwer getroffen 
hatte, als ich im Herbst des Jahres 1866 in die VIII. Klasse des Schotten- 
gymnasiums aufgenommen wurde. 

Mit der Befriedigung, dem Stolz, dieser altberühmten Anstalt anzu- 
gehören, mischte sich freilich auch eine gewisse Bangigkeit bei dem Ge- 
danken an die bevorstehende Maturitätsprüfung, noch heute erinnere ich 
mich mit aufrichtigem Dankgefühl an die Sorgfalt und Mühe, welche die 
hochverehrten Patres, darunter der nachmalige Prälat P. Hauswirth sowie der 
trotz seiner Strenge allbeliebte P. Sigismund Gschwandner, aufwendeten, um 
die Klasse über die Fährlichkeiten des den wichtigsten Studienabschnitt bil- 
denden Examens glücklich hinüberzubringen. Gern entspreche ich daher der 
an mich gerichteten Einladung, indem ich als bescheidenen Beitrag zu der 
anläßlich der Säkularfeier des Gymnasiums vorbereiteten Festschrift und zu- 
gleich als geringen Ausdruck meiner Erkenntlichkeit die nachfolgenden 
Zeilen widme. 

Unter den Kollegen, die vor bald vierzig Jahren das Reifezeugnis des 
Schottengymnasiums erlangten und sodann die Fachstudien vollendeten, dürfte 
ich der sein, dem es beschieden war, gleich beim Antritt des Berufes am 
weitesten in die Welt hinaus zu kommen. War doch das alte Perserreich das 



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Land meiner ersten Bestimmung. Das mag es rechtfertigen, daß ich für den 
erwähnten Zweck ein paar Reminiszenzen an die Fahrt nach diesem, damals 
selten besuchten Land und an den Aufenthalt dort in gedrängter Kürze zu 
Papier bringe. 

Im Sommer 1872 hatte Graf Andrässy erst seit wenigen Monaten die 
Leitimg des auswärtigen Amtes übernommen. Der geniale Staatsmann, dessen 
weitblickende Ideen noch heute, nach mehr als einem Menschenalter, rich- 
tunggebend sind für die auswärtige Politik der Monarchie, hatte auch für 
deren große Interessen im Orient ein offenes Auge. Seiner Initiative ent- 
sprang die Errichtung der ersten ständigen diplomatischen Vertretung Öster- 
reich-Ungarns in Persien. Nach Abschluß der Voreinleitungen fanden sich 
Mitte November des genannten Jahres die Mitglieder der Mission in Konstanti- 
nopel zusammen, an ihrer Spitze stand der Gesandte Graf Dubsky; ich war 
ihr nach eben erfolgter Vollendung meiner Studien an der orientalischen 
Akademie als Konsulareleve in diplomatischer Verwendung zugeteilt worden. 

Die Reise ging zunächst nach der inmitten malerischer Ruinen und 
einer schonen Vegetation gelegenen einstigen Kaiserstadt Trapezunt, die 
trotz ihres Verfalls als Umschlagplatz der nach Persien gehenden und von 
dorther kommenden Karawanen kommerzielle Bedeutung besitzt, dann über 
Poti, das seither in dieser Funktion von Batum verdrängte Seeemporium des 
Kaukasus und die fruchtbare Landschaft Kolchis, wo Erinnerungen an die 
auch von unserem größten vaterländischen Dichter verherrlichte Argonauten- 
sage uns begleiteten, nach Tiflis. Die Eisenbahnverbindung dahin war damals 
noch nicht durchwegs in Betrieb, da der Tunnel durch den Suram, die Wasser- 
scheide zwischen dem Schwarzen und dem Kaspischen Meere, rekonstruiert 
werden mußte. Die Wagenfahrt über diesen Paß bot einen herrlichen Aus- 
blick auf die Bergketten des Kaukasus und die in blendendem Weiß die Vor- 
berge überragende Spitze des Kasbek. 

In Tiflis berühren sich Orient und Okzident sehr nahe, ohne daß sich ihre 
Eigentümlichkeiten verwischten; übrigens ist die Stadt schon vermöge ihrer 
Bauart, die neben modernen Palästen alte Häuser aus der Zeit vor der russischen 
Eroberung und malerische Reste ehemaliger Fortifikationen aufweist, sehr inter- 
essant. In diesem Rahmen bewegt sich der lebhafte Straßenverkehr, in welchem 
die pittoresken Kostüme der so zahlreichen kaukasischen Volksstämme hervor- 
treten. Der Wandel der Zeit hat auch manche der einheimischen früheren 
Dynastenfamilien nicht unberührt gelassen; zwei Aufwärter in einer Kon- 
ditorei wurden mir als direkte Nächkommen eines solchen Fürsten bezeichnet. 

Von Tiflis aus reisten wir in Postwagen bis an die persische Grenze, eine 
Fahrt, die sechs Tage beanspruchte. Endlose steppenartige Ebenen, abwechselnd 

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mit Gegenden von hervorragender landschaftlicher Schönheit, wie die Ufer 
des hochgelegenen Göktschasees, zogen an unseren Augen vorüber. Den 
mächtigsten Eindruck macht der Anblick des Ararat, der aus der Ebene von 
Eriwan als regelmäßig geformter Kegel majestätisch gegen den Himmel ragt. 
Schon im Altertum berühmt, da mit diesem Berge die Lage Edens und die 
Landung von Noahs Arche in Verbindung gebracht wird, ist er heute das 
Triplex confinium Rußlands, Persiens und der Türkei. An seinem Fuße liegt 
Etschmiadzin, die Residenz des Oberhauptes der gregorianischen Armenier. 
Der Gesandte stattete diesem Kirchenfürsten — damals war Kevork IV. »Ka- 
tholikos« dieser weitverbreiteten Religionsgemeinde, deren Geschichte bis in 
die ersten Jahrhunderte der christlichen Zeitrechnung zurückreicht — einen 
Besuch ab ; bei dieser Gelegenheit konnten wir im dortigen Kloster interessante 
Antiquitäten sowie die an Handschriften besonders reiche Bibliothek be- 
sichtigen. 

In Dschulfa am Araxes, welcher Fluß die Grenze zwischen Rußland und 
Persien bildet, erwartete den Gesandten ein persischer General mit zahlreichen 
Dienern und einer Karawane, um die Mission, dem persischen Zeremonial 
entsprechend, als Mehmandär — Reisemarschall — nach Teheran zu geleiten. 
Während der 24 Tage, die wir benötigten, um in Etappen von 25 bis 35 km 
die Strecke bis dahin zu Pferd zurückzulegen, war folgendes Programm die 
Regel: Morgens Aufladen des größeren Gepäckes, darunter auch der Feld- 
betten, auf die Lastkamele, eine ziemlich umständliche Operation, dann Antritt 
des Tagesrittes, unterbrochen durch eine Mittagspause mit einem kalten Gabel- 
frühstück; gegen Abend Ankunft in der zum Nachtquartier bestimmten Ort- 
schaft, wo das größere Gepäck meist schon eingetroffen war und woselbst der 
persische Koch mit primitiven Mitteln unglaublich rasch ein ganz annehmbares 
Diner bereitzustellen wußte, dem alsbald die Nachtruhe folgte. Die Unterkunft 
war sehr abwechslungsreich; bald übernachteten wir in einem der mitunter 
recht primitiven, kaum heizbaren Landhäuser persischer Würdenträger, bald 
in Bauernhütten, einmal — es war gerade Silvesterabend — diente ein bau- 
fälliger Stall als Speiseraum; auf der einen Seite die Tafelrunde, wo bei 
Becherklang das neue Jahr begrüßt wurde, auf der anderen das zusammen- 
gepferchte Vieh: ein seltsam kontrastierendes, ganz originelles Bild. 

Ein Aufenthalt von mehreren Tagen wurde in Täbris gemacht, er hatte 
u. a. den Zweck, in diesem Haupthandelsplatze des Landes die Beteiligung 
Persiens an der bevorstehenden Wiener Weltausstellung einzuleiten. In Ab- 
wesenheit des Gouverneurs der Provinz gab sein Stellvertreter dem Gesandten 
zu Ehren ein Diner, an welchem auch das Konsularkorps teilnahm. Hiebei 
wurde mein Tischnachbar, ein Sekretär des russischen Generalkonsulats, auf 

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eine eigentümliche Weise durch den Gastgeber, einen alten Perser, der 
Europens übertünchte Höflichkeit nicht kannte, ausgezeichnet : ein Diener über- 
brachte ihm auf der flachen Hand eine aus Reis geformte Kugel, welche der 
Gouverneur aus dem eben servierten Pillaw eigenhändig zusammengeknetet 
hatte. Mein Nachbar quittierte den absonderlichen Gunstbeweis durch eine 
Verbeugung und beeilte sich, den sichtbaren Ausdruck desselben mit gut ge- 
spieltem Behagen zu verzehren. 

Eine der weiteren Etappen war Sultani6 mit der Ruine einer Moschee, 
die zu den herrlichsten Denkmälern orientalischer Baukunst gehört Oft bil- 
deten im tiefen Schnee die Eisensaiden des von einer englischen Gesellschaft 
unterhaltenen indoeuropäischen Telegraphen die alleinigen Wegweiser. Kaswin, 
der letzte größere Ort vor Teheran, liegt bereits, wie die Hauptstadt selbst, 
am Abhang der Eiburskette, welche das Nordende der iranischen Hochfläche 
begrenzt. Noch mußten wir in Ken, ein paar Stunden vor dem Ziel unserer 
Reise, im dortigen Jagdschlosse des Schah zwei Tage zubringen, ehe der 
feierliche Einzug der Gesandtschaft stattfand. Dieser vollzog sich am 20. Jänner 
1873, an einem sonnenklaren, aber recht kalten Tage, unter orientalischem 
Prunk mit großem Aufgebot von Militär und inmitten einer nach Tausenden 
zählenden Zuschauermenge. 

Eine Stadt relativ geringen Alters, ist Teheran erst seit dem Ende des 
XVIII. Jahrhunderts, dem Zeitpunkt des Regierungsantrittes der jetzt herr- 
schenden Kadscharen-Dynastie, Residenz geworden und steht, was Architektur 
anlangt, anderen persischen Städten, wie Ispahan, gegenüber zurück. Im Norden 
wird die Stadt von der schon geformten, schneebedeckten Kette des Elburs um- 
säumt, jenseits welcher die imposante, gegen 6000 m hohe Spitze desDemawend, 
die Vorberge weit überragend, emporstrebt Die Umgebung der Stadt ist wenig 
fruchtbar, von Südost her reicht die große Salzwüste nahe heran. Künstliche 
Bewässerungsanlagen — ein Fach, in dem die persischen Ingenieure seit 
altersher Hervorragendes leisten — haben den Boden streckenweise ertrags- 
fähig gemacht und einzelne große Gärten mit ihrem reichen Rosenflor sind, 
besonders im Frühjahr, bei dem Schlage zahlloser Nachtigallen, von unver- 
gleichlich poetischem Reiz. 

Während meines fast dreijährigen Aufenthaltes im Lande des Sonnen- 
königs war ich dienstlich keineswegs derart in Anspruch genommen, daß mir 
nicht Muße für sprachliche und andere Studien sowie für größere Ausflüge 
übrig geblieben wäre. 

Unter letzteren ist die Besteigung des Demawend, des höchsten Berges 
der klassischen Altertumswelt, zu erwähnen, die ich in Gesellschaft eines 
englischen Offiziers glücklich ausführte und worüber seinerzeit in den Mit- 

32 



teilungen der k. k. Geographischen Gesellschaft ein Bericht erschien, dann 
eine Jagdpartie im Gefolge des Schah, dieses passionierten und treffsicheren 
Weidmannes. 

Diese Jagd fand im strengsten Winter in einem westlich von Teheran 
gelegenen, Kuritschai (der ausgetrocknete Fluß) genannten felsigen Seitental 
des Eiburs statt und stellte die physische Ausdauer der Teilnehmer schon 
durch den Umstand auf die Probe, daß sie bei scharfer Kälte die Nächte in 
Lehmhütten zubringen mußten, denen Tür- und Fensterverschlüsse fehlten. 

Am ersten Tage wurde mit dressierten Falken, die der Schah vom 
Gouverneur der Provinz Gilan zum Geschenk erhalten hatte, auf Rebhühner 
gejagt. Die Jagdfalken, mit Amuletten und kleinen Schellen behängt, flogen, 
sobald ihnen die Kappe abgezogen war, sofort empor und stießen blitzschnell 
auf ihr Opfer; auf einen Pfiff des Falkeniers kehrten sie folgsam zurück; in 
kurzer Zeit wurden auf diese Weise gegen 200 Rebhühner erlegt Der Schah, 
in ein grünes, pelzverbrämtes Kostüm gekleidet, war stets in der vordersten 
Reihe der Reitergesellschaft und beteiligte sich eifrig an dem Lancieren der 
Falken. 

Nicht weniger als 2000 Treiber aus den umliegenden Dorfern waren für 
die nächste Jagd aufgeboten, die der königliche Nimrod auf Steinbocke ab- 
hielt ; er selbst wies den Gästen die Stände an. Zu Beginn vereinzelt — allen 
voran ein mächtiger alter Bock — dann truppweise stiegen die zusammen- 
getriebenen Steinbocke, kenntlich an ihren langen, knotigen, wie ein Türken- 
säbel nach hinten gebogenen Hörnern, und die Moufflons, deren Hörner kleiner 
und in Schneckenwindung eingezogen sind, erst langsam, dann eilenden Sprunges 
zu Tal. Zehn Steinböcke und 12 Moufflons waren die Jagdbeute des Schah. 
Die gesamte Strecke zählte gegen 100 Stück, das schwerste davon im Ge- 
wichte von 120 kg. Auch ich hatte das Glück, zwei Steinböcke auf meine 
Schußliste setzen zu können. 

Auf seiner ersten Reise nach Europa besuchte Schah Nassr-ed-din die 
Weltausstellung 1873 in Wien. Sicherlich war es nicht die historische Tat- 
sache, daß seit den Tagen des Xerxes, also seit mehr als zwei Jahrtausenden, 
kein persischer Herrscher europäischen Boden betreten hatte, welche im 
ganzen Lande Sensation und in ultrakonservativen mohammedanischen Kreisen 
Unzufriedenheit erregte. Später bekanntlich einem Fanatiker zum Opfer ge- 
fallen, hatte der Schah unleugbar das Bestreben, aus eigener Anschauung das 
kennen zu lernen, was seinem sehr zurückgebliebenen Lande am nötigsten 
war. Aus Gründen, deren Erörterung zu weit fuhren würde, waren freilich 
die Kulturfortschritte Persiens während der langen Zeit seiner Regierung recht 
bescheidene; um so erfreulicher ist es, daß gerade österreichische, zeitweise 

33 3 



in persische Dienste getretene Beamte in einigen Zweigen der Staatsverwaltung 
Reformen anzubahnen vermochten. 

Dies gilt in erster Linie von der Einrichtung der Post; undankbarer er- 
wiesen sich die Bemühungen des zur Regelung des Geldwesens berufenen 
Fachmannes, der es weniger mit technischen Fragen als mit der Beseitigung 
altererbter Mißbräuche zu tun hatte, die eine reiche Einnahmsquelle hoch- 
gestellter Würdenträger bildeten. Hiezu kam noch der Preissturz des Silbers, 
welcher die auf diesem Metall beruhende Landeswährung arg deroutierte, so 
daß der Kurs des Kran, der persischen Münzeinheit, von etwas über einer 
Krone unseres Geldes auf die Hälfte und darunter sank. Welch enorme De- 
valvation aber unter dem doppelten Einfluß fortgesetzter Münzverschlechte- 
rungen und des generell zu beobachtenden Sinkens des Geldwertes diese 
Münze schon vorher erlitten hatte, bezeugt die auf ihr ersichtliche Legende, 
der zufolge der Kran iooo Dinars, also ein kleines Vermögen, repräsentieren 
würde, da ja vor Zeiten der Dinar als Goldstück ausgemünzt wurde. 

Über seine Europafahrt verfaßte der Schah ein Tagebuch, das erste 
in Teheran mit Lettern hergestellte Druckwerk; genaue Wiedergabe des 
Gesehenen, begleitet von einem mitunter naiven Interesse für Nebensächliches, 
so z. B. für die Wasserkünste in Hellbrunn oder die Eiserne Jungfrau im 
Laxenburger Schloß, charakterisiert das Buch. Der fürstliche Autor über- 
sandte den Souveränen, deren Gast er gewesen, Dedikationsexemplare mit 
massiven Goldplatten als Einbanddeckeln ; solche aus Silber schmückten die den 
fremden Vertretern an seinem Hofe gespendeten Exemplare des Reisewerkes. 

Europäischer Geschmack war zu jener Zeit auch in den höchsten persi- 
schen Kreisen noch wenig eingebürgert. Im Rahmen einer oft künstlerischen 
einheimischen Architektur, zu der unter anderem die mit Spiegelfacetten ver- 
zierten stalaktitenartigen Plafonds gehören, und inmitten kostbarer Teppiche 
und Stickereien, diesen berühmtesten Erzeugnissen persischen Gewerbefleißes, 
stechen wahllos zusammengetragene europäische Dutzendwaren unerfreulich 
ab. Ohne ersichtlichen Zweck aufgestapelte Quantitäten von allerlei Gebrauchs- 
gegenständen aus Glas und Porzellan, mitunter recht minderer Gattung, ge- 
mahnten da weit mehr an ein wohlassortiertes Verkaufslager derartiger Waren, 
als an einen Gesellschaftsraum, ja in dem sonst luxuriös eingerichteten Empfangs- 
salon eines der höchsten Würdenträger hatten gar in größerer Anzahl paar- 
weise an der Wand angebrachte Wagenlaternen als Beleuchtungsapparate 
Verwendung gefunden. 

Ich möchte nicht mit der Erwähnung solcher Kleinlichkeiten diese Zeilen 
schließen, sondern mit der Versicherung, daß ein Land von der großen Aus- 
dehnung des persischen Reiches, von so alter Geschichte, bewohnt von einer 

34 



intelligenten, künstlerisch veranlagten Bevölkerung, die dem Fremden 
freundlich entgegenkommt, auch mir so viel Anregung und Interesse bot, daß 
ich die auf der sonnigen Hochfläche Irans verlebte Zeit gern in meiner Er- 
innerung festhalte und — Ende 1875 auf einen anderen Dienstposten berufen 
— nicht ohne Bedauern die Rückreise antrat, die mich über das Kaspische 
Meer, Baku, Tiflis, Sebastopol und Odessa nach der Heimat führte. 

Lovrana, Dezember 1906. 



El 




HD 



35 




Eine Erinnerung an Prof. Sigismund Gschwandner. 
Von Hans Chiari. $| 



Der hohe Wert der Gymnasialbildung liegt zweifellos nicht bloß in der 
Erwerbung reichlicher positiver Kenntnisse humanistischer und realisti- 
scher Richtung und in der strengen Schulung des Verstandes der in der 
Entwicklung begriffenen jungen Leute, sondern auch in der Erziehung der 
Charaktereigenschaften durch das Vorbild geistig hochstehender und ihrem 
pädagogischen Berufe mit Begeisterung sich hingebender Lehrer. Mit tiefer 
Dankbarkeit gedenken stets die einstigen Schüler solcher Lehrer und erkennen 
noch in späten Jahren den hohen Wert der ihnen zuteil gewordenen Erziehung. 
Ein hervorragendster Lehrer dieser Art war meiner Überzeugung nach der im 
Jahre 1896 verstorbene frühere Direktor des Schottengymnasiums, k. k. Re- 
gierungrat Dr. Sigismund Gschwandner, der durch fast drei Dezennien 
hindurch als Professor am Gymnasium gewirkt hatte. 

Unvergeßlich ist mir für mein ganzes Leben eine Episode geblieben, 
welche sich in der ersten Stunde des Unterrichtes in der philosophischen 
Propädeutik in der VII. Klasse meines Jahrganges im Oktober des Jahres 
1867 zutrug. 

Mit großen Erwartungen hatten wir alle dieser ersten Stunde in der 
philosophischen Propädeutik entgegengesehen, handelte es sich doch um einen 
Gegenstand, der uns zunächst zwar ganz und gar fremd war, aber uns schon 
durch seine Bezeichnung und die Aussicht, dabei etwas von der vielgepriesenen 
Philosophie zu hören, ungemeines Interesse einflößte, und ging weiter dem 
Professor Gschwandner der Ruf eines ganz besonders hervorragenden, 
allerdings sehr strengen, aber auch vollkommen gerechten Lehrers voraus. 

36 



Als Professor Gschwandner die Kathedra bestiegen hatte und wir auf 
sein Geheiß : »Setzen Sie sich« unsere Plätze eingenommen hatten, schritt er 
würdevoll zur Schultafel und schrieb, ohne ein Wort zu sprechen, die 
Horazsche Sentenz: »Sapere aude« auf die Tafel. Wir waren alle darüber 
hochlich erstaunt und konnten nicht begreifen, warum er diese Worte auf- 
geschrieben hatte. Das kam auch sofort zum Ausdruck, als Professor 
Gschwandner nach einer kurzen Pause den damaligen Primus der Klasse, 
jetzigen Geheimen Justizrat Dr. v. Liszt, Professor des Strafrechtes an der 
Berliner Universität, fragte: »Was denken Sie sich, warum habe ich das auf- 
geschrieben?« v. Liszt blieb stumm, ebenso der Secundus, Tertius und 
Quartus, an die Professor Gschwandner nacheinander dieselbe Frage richtete. 
Immer horten wir nur den Befehl des Professors: »Setzen Sie sich.« 

Wie Professor Gschwandner auf diese Weise gesehen hatte, daß auch 
aus den Besten der Klasse keine Antwort auf seine Frage zu holen war, 
ergriff er selbst das Wort und exponierte in seiner charakteristischen, klaren 
und scharf pointierenden Weise, daß er den Satz in der Absicht aufgeschrieben 
habe, um uns eine Lehre und Mahnung für das Studium des Gegenstandes 
und auch zugleich für das Leben zu geben. Die philosophische Propädeutik 
sei ein für uns ganz neues, von den übrigen bisherigen Lehrgegenständen 
sehr verschiedenes Gebiet, in das einzutreten uns gewiß Schwierigkeiten 
bereiten würde, weil es sich dabei nicht um bloßes Memorieren, sondern im 
wesentlichen um eigentliche Denkarbeit handle; wir sollten aber deswegen 
nicht verzagen, vielmehr frohen Muts beginnen, bei ernstlichem Wollen 
würde es schon gehen. Es würde dann auch der Erfolg nicht ausbleiben, 
wir würden die in der philosophischen Propädeutik vorzunehmenden Lehren 
von den Gesetzen des Denkens und von der Tätigkeit der Psyche lieben 
und schätzen lernen. Wir sollten aber den Satz auch fernerhin für unser 
ganzes Leben beherzigen, und auch später, wenn wir nach Absolvierung des 
Gymnasiums an eine Hochschule kommen würden, sowie sonst in unserem 
Leben vor keiner Schwierigkeit zurückschrecken, immer bedenkend, daß der 
Anfang stets schwer sei, derselbe aber zur Vollendung notwendig sei und 
daß der Mensch, der energisch will, sehr viel erreichen könne. Hierauf be- 
gann Professor Gschwandner seinen Vortrag über Logik. 

Die im vorstehenden wiedergegebenen Äußerungen des Professors 
Gschwandner betrachte ich als eine hervorragende pädagogische Leistung 
desselben. So hatte noch niemand vorher zu uns gesprochen, und mit der 
größten Lust und Liebe folgte ich in den letzten zwei Jahren des Gym- 
nasiums seinem Unterrichte in der philosophischen Propädeutik, sowie in der 
Mathematik und Physik, welche Fächer er gleichfalls lehrte. Immer legte er 

37 



das größte Gewicht auf das wirkliche Verständnis und wußte in der Beur- 
teilung der Schüler scharf zwischen der reinen Gedächtnisleistung und der 
Denkarbeit zu scheiden. 

Oft aber habe ich auch noch hinterher als Hörer der Universität und 
später als selbständiger Fachmann dieses ausgezeichneten Lehrers und des 
»Sapere aude« gedacht und hegte ich stets das Gefühl der größten Dank- 
barkeit gegen ihn, wie gewiß auch viele meiner damaligen Kollegen, die 
wir zusammen das Glück hatten, von Professor Gschwandner unterrichtet 
zu werden. 




38 




snrwriNUS 



Vom Geben. $| Eine Winterbetrachtung. $| Von 
Adolf Daum. 9t 

— 14 R im Freien! Die Feder sträubt sich, es niederzuschreiben und 
kaum vermögen die steifen Finger sie zu bändigen; denn der Schreibtisch 
steht am Fenster und der geheizte Ofen kann auf die Entfernung von 
4 Meter nicht mit Erfolg gegen die Kälte aufkommen, die trotz aller Schutz- 
vorrichtungen begierig durch die Fugen eindringt. Wie müssen diejenigen 
frieren, die nicht heizen können! Und die Kohlenpreise steigen täglich. 
Unter Tausenden unserer Mitbürger, denen sie viel zu hoch sind, haben 
Hunderte weder warme Kleider noch kräftige Nahrung genug, um der 
grimmen Kälte Widerstand zu leisten. Und die anderen, denen die hohen 
Preise des Brennstoffes keinen Kummer bereiten, haben sie kein Mitleid 
mit den Frierenden? 

Gewiß! Die Morgenblätter berichten, daß für die Wärmestuben Spenden 
von 20 bis 100 Kronen eingehen. Die 6 Wärmestuben unserer Stadt waren 

39 



aber schon vor Eintritt der grimmen Kälte überfüllt und können sich dem 
vermehrten Zuspruch nicht sofort anpassen. Und mehr vermochte das 
Mitleid nicht? 

Mitleid ist eine durch den Anblick fremden Leides, durch Wahr- 
nehmung von Anzeichen der Not anderer hervorgerufene Gemütsbewegung, 
gegen welche man sich bei öfterer Wiederholung der gleichen Sinnes- 
eindrücke rasch abstumpft. Es ist eine Reflexwirkung von rasch abnehmender 
Kraft. Es kommt nur dann auf, wenn entsprechende Sinneseindrücke erzeugt 
oder besonders lebhaft durch Gedächtnis oder Phantasie reproduziert werden, 
und es verliert seine Wirkung, wenn wir uns an diese Eindrücke oder deren 
Reproduktion gewöhnt haben. 

Die großstädtische Lebensweise erspart den meisten in behaglichen 
Verhältnissen Lebenden den Anblick des Elends, das sich in den Stuben der 
Armut abspielt. Gesundheits- und sicherheitspolizeiliche Rücksichten verbieten 
den Straßenbettel mit ziemlichem Erfolge und der Wohlhabende zieht es 
vor, Geld zu Wohltätigkeitszwecken beizusteuern, statt selbst die dumpfen, 
übelriechenden Quartiere derjenigen zu besuchen, die seiner Unterstützung 
bedürfen; gerade, weil er »ein gutes Herz« hat, will er die Erweckung seines 
Mitleides durch den Anblick der Not vermeiden. Wen aber Beruf oder 
Gewohnheit mit fremdem Leid in Berührung bringen, auf den verliert es 
allmählich seine Wirkung; dem Metzger und dem Schlächter mutet man 
deshalb allgemein Gemütsroheit zu, aber auch bei dem Jäger überwindet 
die Freude über seine Treffsicherheit bald den Abscheu über den Tiermord 
aus dem Hinterhalte, das Mitleid beim Anblicke des brechenden Auges seines 
Opfers; der Vivisektor und der Chirurg lernen es rasch, die innere Bewegung 
zu unterdrücken, die der Anblick schmerzlicher Zuckungen, das Stöhnen und 
Röcheln leidender und verendender Lebewesen hervorrufen, ganz zu 
schweigen von den Greueln des Schlachtfeldes, gegen die nicht nur die 
Krieger, sondern auch die Pfleger und Ärzte sich abhärten müssen, um 
ihren Dienst mit der erforderlichen Ruhe und Sicherheit zu leisten. Mitleid 
kann also den Anreiz zu Akten der Barmherzigkeit bilden, nicht aber die 
Grundlage zu dauerhafter Organisation einer Hilfstätigkeit sein; es fallt ihm 
in der sozialen Mechanik die Funktion des »Antriebes« zu, oder es kann als 
zündender Funke eine von Wärmeerzeugung bedingte Kraft auslosen, die 
Erhaltung der Wärme und ihre motorische Dauerverwertung muß aber durch 
geeignete Vorrichtungen gesichert sein, deren Anlage und Betrieb Überlegung 
und Wissen erfordern. 

Dem gelegentlichen Mitleidsimpuls folgend, vergeuden leider nur zu 
viele — insgeheim oder öffentlich — unbekümmert um die Folgen, reiche 

40 



Mittel, die dringend notwendigen Werken organisierter Wohlfahrtspflege 
vorenthalten bleiben, und geben sich dabei der selbstgefälligen Täuschung 
hin, als großherzige Wohltäter gelten zu dürfen, während sie an sich traurige 
Zustände dadurch in bedauerlichster Weise verschlimmern helfen. 

Mit Recht sagt Carnegie,*) »eines der ernstlichsten Hindernisse bei der 
Verbesserung unserer Bevölkerung sei wahllose Wohltätigkeit, und nur der 
sei ein treuer Helfer, der eben so sorgsam bemüht ist, Unwürdige 
nicht zu unterstützen wie den Würdigen zu helfen«. 

Die Sorge für den Komfort derer, die in der Großstadt behaglich 
leben können und wollen, bildet den Erwerbszweig einer vielfachen Überzahl 
anderer Großstadtbewohner, die darin wetteifern, die Bedürfnisse, ja die Launen 
der Wohlhabenden genau zu studieren. Nicht nur die höher entlohnten häus- 
lichen Dienstboten, alle, die Licht-, Wasser- und Schalleitungen herstellen und 
instandhalten, Reinigungs- und Ausschmückungsarbeiten rasch, gründlich 
und mit möglichster Schonung des häuslichen Behagens besorgen, Nahrungs- 
und Genußmittel in bester Qualität, Kleidungs-, Wäschestücke und Schmuck- 
sachen in geschmackvoller Auswahl beschaffen, Kunst- und Sportbetrieb 
jeder Art ermöglichen, sondern auch diejenigen haben es gelernt, sich den 
Anschauungen und Gewohnheiten, dem Gedankenkreise und der Gefühlsweise 
der Reichen anzupassen, die ohne Gegenleistung Geld von ihnen zu 
erlangen wünschen, ja diese vielleicht noch weit besser. Sie verletzen den 
in guten Verhältnissen Lebenden nicht wie der Straßenkrüppel, indem sie 
ihm einen widerwärtigen Anblick aufdrängen; neben dem Inserat in öffent- 
lichen Blättern, durch gutgläubige oder leichtfertige Redaktionen vermittelt, 
neben der Verwendung »Bekannter», die lieber vermitteln als geben, lieber 
befürworten als prüfen, ist der Bettelbrief, das Bittgesuch die häufigste 
Form, in der das Mitleid solcher Personen angerufen wird, die sich dessen 
Betätigung leisten können. Da nur ein Teil dieser Personen sich Organisa- 
tionen zum Schutz gegen den Berufsbettel angeschlossen hat und da bei der 
Isolierung der Wohltätigkeitsvereine von einander auch dieser Schutz 
ein unvollständiger ist, vermögen betriebsame Bittsteller gleichzeitig 
oder in kurzen Zeiträumen von vielen Seiten Unterstützungsbeträge in 
solcher Höhe zu erlangen, daß ihr arbeitsloses Einkommen das fleißiger und 
geschickter Arbeiter übersteigt. Das wird sich nicht ändern, so lange man 
gibt, um zu geben, so lange den Berufsbittstellern Wohltäter gegenüber- 
stehen, denen die Natur des Unterstützungsfalles genauer zu erforschen zu 
zeitraubend ist, so lange man das Wohltun als eine Art durch Wohl- 



*) »Die Pflichten des Reichtums«. Leipzig. Hobbing 1894. 

4» 



stand oder gesellschaftliche Stellung gebotenen Luxus betrachtet. 
Daß es so betrachtet wird, wissen eben diejenigen ganz genau, die es in 
Anspruch nehmen. So kommt es, daß die Großstadt eine sehr bedeutende 
— freilich statistisch nicht feststellbare — Zahl von Menschen dauernd 
beherbergt, die ihre Lebensweise den Wechselfallen eines durch Anrufung 
der sogenannten »Wohltätigkeit« zu beschaffenden Einkommens angepaßt 
haben und sich dabei, ohne Arbeit leisten zu müssen, leidlich wohl befinden. 
Darin liegt ein volkswirtschaftlicher und sozialer Übelstand und eine sittliche 
Gefahr von größter Bedeutung. Der Druck des gegenwärtigen und die 
Furcht künftigen Mangels ist nach Bentham das Motiv zur Arbeit. 

Würden die Gewässer, die, den Boden befruchtend und Volker ver- 
bindend, auf ihrem Weg vom Fels zum Meere die menschlichen Ansiedlungen 
ermöglicht haben, fließen, wenn nicht ihre Quellen hoch über den Meeresufern 
lägen, wenn nicht Unebenheiten des Bodens sie zu fließen zwängen? So bergen 
die Ungleichheiten des Besitzes die Quellen, die die alles befruchtenden 
Strome menschlicher Arbeit speisen. Daraus folgt nicht, daß Arbeitende 
hungern müssen; bei steigenden Kulturbedürfnissen muß es stets neue Anreize 
zum Erwerbe geben; nicht die Not, die »verfluchte Bedürfnislosigkeit«, wollen 
wir, sondern, daß auch den Satten Bedürfnisse zur Arbeit treiben. 
Wer hoffnungslos sich dauernd das Notigste versagen muß, gibt allmählich 
den Wettbewerb im wirtschaftlichen Leben auf. Durch Hilfe in der Not 
sollen also Arbeitskräfte erhalten, soll aber nicht solchen die Arbeit 
erspart werden, die ihre Bedürfnisse arbeitslosem Einkommen anbequemen. 
Wenn der Millionär Carnegie die Zivilisation von dem Augenblick an 
beginnen läßt, an dem der fleißige, tüchtige Arbeiter zu seinem faulen, 
unfähigen Genossen sprach: »Wenn du nicht säest, sollst du nicht ernten« 
und daraus die Unverletzlichkeit des Eigentums am Selbsterworbenen 
ableitet, so hat er nicht minder recht als jener Sozialist, der die 
Unzufriedenheit heilig pries, die das Menschengeschlecht vermocht hat, 
die Erdhohlen zu verlassen und im Lichte der Sonne Häuser zu bauen und 
mit Blumen zu schmücken. Die Kultur verlangt Erwerbsarbeit und die 
Dauer des Arbeitseifers ist bedingt durch die Unzufriedenheit mit dem Er- 
worbenen. 

Die Existenz einer großen Anzahl von Menschen, die ihr Einkommen 
weder der Arbeit noch dem eigenen Besitze, sondern übel angebrachter 
Freigebigkeit anderer danken, wirkt volkswirtschaftlich nachteilig auf die 
übrigen besitzlosen Mitglieder derselben Ortsgemeinschaft, zu deren Schaden 
sie durch ihren Mitbewerb die Preise der Wohnimg und Ernährung erhöhen 
hilft und denen sie die Arbeitslust vergällt. 

42 



■ 



Unter ihrem Gebaren leidet aber in weiterer Entwicklung auch das 
soziale Pflichtgefühl der in Wohlstand Lebenden, die der oft fruchtlosen 
Mühe, zwischen Würdigen und Unwürdigen zu unterscheiden, müde, ihr 
Gewissen beruhigen; das Mitleid, wie schon erörtert, an und für sich eine 
flüchtige Regung, geht endlich in der Besorgnis vor Ausbeutung unter. 

In meisterhafter Weise erzählt Graf Leo Tolstoi in der Schrift: »Wie 
ist mein Leben?«*) von seinen Bemühungen, den Armen Moskaus zu helfen. 
Im Ljapinschen Nachtasyl sammelt er Eindrücke im Verkehr mit Armen der 
verschiedensten Kategorien und als Mitglied einer Volkszählungskommission im 
Rschanowschen Hause beginnt er eingehend zahlreiche verlorene Existenzen 
zu studieren, in der Absicht, eine große Hilfsaktion einzuleiten, gibt aber 
endlich alles auf in dem ihn niederschmetternden Bewußtsein, er habe fast 
nur solche Leute gefunden, denen er entweder gar keine Ursache zu helfen 
habe, weil sie, an Mühe und Entbehrung gewohnt, als arbeitende Menschen 
fester im Leben dastehen als er selbst, oder solche, denen überhaupt nicht 
zu helfen ist, weil sie die Lust, Gewohnheit und Fähigkeit zu arbeiten ver- 
loren haben. 

Wenn der Menschenfreund Tolstoi solche Erfahrungen machte, so kann 
man es begreifen, daß mancher andere zu geben ganz aufhört, weil er zu 
der Überzeugung gekommen, daß die Reichen es nicht verstehen und die Armen 
es nicht verdienen. Wäre das der Weisheit letzter Schluß? 

Wenn die Reichen es nicht verstehen, den Armen zu helfen, so trägt daran 
die Abschließung schuld, in der sie in der Großstadt leben und aus der 
herauszutreten, um sich mit den Sorgen des Armen zu beschweren, sie Be- 
quemlichkeit und Lebenslust abhalten. Wie sollte man es diesem zumuten, 
daß er dem Mann, der unbekümmert um ihn seine behagliche Lebensweise 
fuhrt, besonderes Zutrauen entgegenbringt? »Mit dem Mann« — sagt Freiherr 
von Berlepsch**) — »der mich für seinen Feind hält, der annimmt, daß mein 
Vorteil unter allen Umständen sein Nachteil, mein Nachteil sein Vorteil sein 
muß, kann ich über nichts mit Erfolg diskutieren, über nichts mich verständigen. 
In dieser Scheidung liegt die Ursache der tiefen Kluft, .... ohne deren 
Ausfüllung wir allerdings in ständiger Gefahr leben würden.« In dieser Ab- 
schließung vor der Armut, die der Besitzende begünstigt, weil sie ihm erspart, 
beständig an soziale Mißstände erinnert zu werden, liegt, weil sie verhindert, 
daß dort geholfen wird, wo im Interesse aller, zum Wohle des Ganzen 
geholfen werden muß, eine große soziale Gefahr, deren man sich in Ländern 
des englischen Sprachgebietes bereits bewußt geworden ist. Not und Armut 

*) Berlin, Otto Janke. Deutsch von A. Häuft. 
**) »Warum betreiben wir die soziale Reform?« Vortrag. 1903. Jena, Fischer. 

43 



vieler sind eine Gefahr für alle. Jeder hat der Verarmung des Volkes vor- 
zubeugen ein Interesse und nur die Besitzenden haben die Mittel dazu. Wenn 
auf einer Ozeanfahrt der Proviant schmal wird, so müssen die Passagiere 
ihren Vorrat mit der Mannschaft teilen; von der Arbeit dieser hängt es ja 
ab, ob das Schiff sein Ziel erreicht. Der Schlechtbehauste, der Hungrige, 
Frierende, Ungepflegte und Unreinliche bilden eine hygienische Gefahr für 
alle, der Darbende, Arbeitlose, der der Arbeit Entwohnte gefährden aber auch 
die soziale Ordnung, deren Feinde sie wurden, weil sie sie nicht vor dem 
Elend geschützt hat. Mangel und Not haben mit Überfluß und Machtfülle 
eines gemeinsam: sie erzeugen Rücksichtslosigkeit. »Not kennt kein Gebot« 
und ist deshalb der schlimmste Tyrann. Wenn sie eine gewisse Grenze 
überschritten hat, achtet sie gesetzliche Schranken nur mehr, soweit der Zwang 
reicht, und dieser ist umso machtloser, je weniger der Widerstrebende zu 
verlieren hat. 

Schon sehen wir in der überall beobachteten Zunahme jugendlicher 
Verbrecher, in der steigenden Verwahrlosung einer der Erziehung zur 
Ordnimg völlig entbehrenden Jugend*) ein recht bedenkliches Anzeichen 
dafür, daß Rücksichtslosigkeit in weiteren Kreisen Trumpf zu werden beginnt. 

Die Selbsterhaltung der Gesellschaft und jenes Maßes von Be- 
hagen, das, mit dem Besitze verbunden, von niemandem als gemeinschädlich 
angesehen wird, gebietet also, der Ausbreitung der Not entgegen- 
zuwirken. 

Um dies zu tun, muß aber das Leben derjenigen Klassen, die der Ver- 
armungsgefahr sozusagen täglich ins Auge blicken, näher erforscht werden; 
die Abschließung hat es dahin gebracht, daß die Besitzenden sich die Gemein- 
gefahr schlechter hygienischer und sittlicher Zustände in den Armenvierteln 
gar nicht gegenwärtig halten oder doch glauben, es der Polizei und der 
Schule überlassen zu dürfen, daß für das im allgemeinen Interesse unbedingt 
nötige Maß von Gesundheits- und Sittlichkeitspflege, von Reinlichkeit und 
Bildung gesorgt wird. Das ist ein Irrtum. Der Besitzlose lebt nicht nur 
deshalb schlechter als der Begüterte, weil er weniger Geld ausgeben kann, 
sondern weil sich um die Befriedigung seiner Bedürfnisse nur diejenigen 
kümmern, die sich das Risiko seiner Kundschaft teuer bezahlen lassen. 
Während das Angebot an guter Ware, an Luxusgegenständen meist viel höher 
ist als die Nachfrage, während deshalb der Reiche überall Bereitwilligkeit 
findet, seinen Wünschen, ja Launen nachzukommen, entspricht der ungeheuren 

*) Vergl. »Die Ursachen, Erscheinungsformen und die Ausbreitung der Verwahrlosung von 
Kindern und Jugendlichen in Österreich.« (Schriften des I. Kinderschutzkongresses Wien 1907. 
I. Band, mit Einleitung von Dr. Baernreither.) 

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Nachfrage nach billigen Wohnungen, Nahrungs- und Genuömitteln, nach be- 
scheidenstem Komfort niemals ein zureichendes Angebot. Der Arme muß 
nehmen, was man ihm bietet, und man bietet es oft so teuer und so schlecht 
als irgend möglich, denn der Wohnungs- oder Nahrungsmittel- oder sonstige 
Lieferant arbeitet mit fremdem Gelde, das verzinst werden muß, und der 
Grund und Boden der Großstadt, auf dem die Häuser der Armen stehen, ist 
Spekulationsobjekt. Kredit ist für den Reichen überall und billig zu haben, 
für den Armen schwer und teuer. Den von der Arbeit Heimkehrenden er- 
wartet im armseligen Heim, dessen Miete er oft nur durch Aufnahme eines 
Bettgehers bestreiten kann, wenig Behagen; will er sich zerstreuen, so gibt 
es nur die Schenke, deren Wirt, ein im Solde der Brauindustrie stehender 
kapitalloser Mann, nichts anderes als die möglichste Vergrößerung des Bier- 
absatzes im Auge hat und, um sich zu halten, im Auge haben darf. 

Die Polizei kann ungesunde Wohnungen beanständen und sperren, ver- 
dorbene Nahrungsmittel auf offenem Markte vernichten lassen, aber sie kann 
nicht für bessere Wohnungen und Nahrungsmittel sorgen, sie kann es nicht 
ändern, daß die von geringem Einkommen Lebenden, bei bestem Willen nicht 
immer pünktliche Zahler, ihren Wohnungsbedarf von Bauspekulanten decken 
lassen, ihre Eßwaren bei teuren Kredit gewährenden Kleinhändlern, ihre 
Einrichtungsstücke und Nähmaschinen bei Ratenhändlern auf Borg kaufen 
und zu ihrer Erholung auf die Schenke oder gar den Schnapsladen angewiesen 
sind. Kann die Schulbehörde mehr tun, als die Tatsache des Schulbesuches 
kontrollieren, kann sie etwa für die Erziehung der Jugend sorgen? Ein- 
richtungen, die es den Bewohnern armer Bezirke gestatten würden, gesünder, 
besser, billiger und froher zu leben, gemeinnützige Fürsorge für die 
notwendigen Lebensbedürfnisse, für Gesundheitspflege und Bil- 
dung, statt einer eigennützigen Fürsorge für diese Bedürfnisse durch Unter- 
nehmer, die selbst mit fremdem Gelde arbeiten und nebst hohen Zinsen 
reichliches Entgelt für Risken ins Verdienen bringen müssen, könnten von 
den Geldkräftigen leicht, sozusagen ohne Kapitalverlust, nur unter Verzicht 
auf Unternehmergewinn und unter Beschränkung auf niedrige Zinsen ge- 
schaffen werden. Daß solche Einrichtungen, in großem Maßstabe geschaffen, 
allen zustatten kämen, das »tua res agitur« sozialpolitischer Bestrebungen ist 
vielen Bewohnern der wohlhabenden Bezirke noch nicht geläufig. Nicht 
Geldgeschenke an einzelne, am allerwenigsten solche Spenden, die ohne 
näheres Eingehen auf die Lage des Beschenkten, ohne Kenntnis seiner 
Persönlichkeit und ohne Prüfung der Verwendung des Geschenkes gegeben 
werden, können die Gefahr bannen, mit der die hygienischen und sittlichen 
Mißstände in den Bezirken der Armut das ganze Gemeinwesen bedrohen, 

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sondern in erster Linie solche Einrichtungen, welche gesundere Lebens- 
bedingungen schaffen, die Kinder vor Verwahrlosung und Entsittlichung be- 
wahren, den Sinn für Ordnung und Reinlichkeit, für Anstand und Gesetz- 
lichkeit, für Schönheit und Bildung nähren und den Notleidenden vor dem 
Verfall in dumpfe Resignation behüten. Ohne Zweifel haben öffentliche 
Faktoren und private Körperschaften so manches in diesem Sinne getan. 
Volksbäder, öffentliche Gartenanlagen wurden hergestellt, Volksküchen und 
Suppenanstalten, die ihre Betriebskosten decken, in Wien besser als irgendwo 
organisiert*) und entwickelt, gewähren nahrhafte, gut bereitete Speise um 
geringes Entgelt, Kinderbewahranstalten und Krippen, Kinderasyle und 
Knabenhorte nehmen Kinder stundenweise oder zu dauerndem Aufenthalte 
auf, Konsum- und Bildungsvereine für Arbeiter von Arbeitern gegründet, 
erleichtern die Führung des Haushaltes, die Aneignung von Wissen und die 
Pflege des Kunstsinnes, von den Anstalten für die Pflege Kranker und nicht 
Vollsinniger ganz zu schweigen. Aber all das ist viel zu wenig. Vor 
allem fehlt es an jeder Art gemeinnütziger Wohnungsfürsorge. 

Würde ein Kapitalist, statt jährlich 2000 K in Geschenken an mehr oder 
weniger Unbekannte zu verzetteln, auf ebensoviel von seinem Zinseneinkommen 
verzichtend, 200.000 K, die ihm zu 5 Prozent 10.000 K abwerfen, in steuer- 
freien**) Arbeiterhäusern anlegen, die nach Abzug aller Reserven und der 
Amortisation reine 4 Prozent abwerfen, so könnte er 50 — 60 Arbeiterfamilien, 
die heute nur mit Hilfe fremder Aftermieter und Bettgeher einen unbehag- 
lichen Schlafraum in Miete haben, freundliche und helle gesunde Wohnräume 
bieten, die sie zum Vorteil des Familienlebens und der Sittlichkeit ohne Mehr- 
aufwand allein bewohnen. Wie viel wäre damit an wirtschaftlichen, sittlichen 
und hygienischen Mißständen für diese Familien beseitigt! 

Wenn die Kinder all der Tausende von Arbeitern und Angestellten, die 
tagsüber vom Hause fern sind, in der schulfreien Zeit von den Organen ge- 
meinnütziger Anstalten beaufsichtigt, verpflegt, zu Bewegungsspielen und 
Arbeiten angehalten würden, anstatt dem verderblichen Einfluß der Straße 
preisgegeben zu werden, so wäre unsere Zukunft vor gefahrlichen Elementen 
bewahrt. Und wenn in jedem Bezirke öffentlich zugängliche Lesehallen und 
Freibibliotheken wären, wie dies in vielen Städten Amerikas der Fall ist, so 
würde mancher heute dem Wirtshausleben verfallene Arbeiter, anstatt zu 
sinken, auf höhere Bildungsstufe gehoben, auch in bessere Erwerbsverhält- 
nisse gebracht worden sein. 

*) »Volks- und Krankenküchen.« Von Oberstabsarzt Dr. Josef Blum. Leipzig. Dunker & Humblot 
I903. (Schriften des Deutschen Vereines für Armenpflege, Heft 66.) 
**) Gesetz vom 8. Juli 1902, R.-G.-B1. 144. 

46 



Wie viel von all dem könnte aus jenen Mitteln bestritten werden, die 
heute mangels zweckmäßiger Einrichtungen von den Wohltätern unserer Stadt 
mittelbar oder unmittelbar an Arbeitscheue und Unwürdige verschenkt werden! 
Neben solchen Einrichtungen sozialpolitischer Art wird freilich auch die Einzel- 
fürsorge für würdige Arme niemals entbehrlich werden, sie darf aber 
nicht summarisch und schablonenhaft, sondern sie muß mit genauer Indi- 
vidualisierung und einem auf die Kenntnis der Lebensverhältnisse, für die 
sie wirken soll, gegründeten Verständnis des Einzelfalles, daher von jedem 
nur in beschränktem Umfange geübt werden. Dilettantismus ist hier wie 
anderwärts gefahrlich. 

Jenseit des Ozeans haben Universitäten*) (Boston, New York, Chicago) 
für den systematischen ^Unterricht über Armenpflege und Sozialpolitik Lehr- 
stühle gegründet ; einem derselben widmete John S. Kennedy eine Schenkung 
von 250.000 Dollars. Hier werden die Leiter der Charity Organisations heran- 
gebildet. Schon 1880 hat der Oxforder Student Toynbee in seinen Schul- 
ferien eine Wohnung mitten in einem von Proletariern niedrigster Lebens- 
haltung bevölkerten südlichen Teile Londons zu dem Zwecke bezogen, um 
unter Verzicht auf den gewohnten Komfort die Bewohner dieses Stadtteiles 
kennen zu lernen, ihnen näher zu treten, sie zu beraten, aufzuklären, zu heben 
und ihnen behilflich zu sein. Dieses »Settlement« erweiterte sich nach seinem 
Tode zum Clubhouse Toynbee-Hall. 1900 gab es schon 20 solcher Settlements 
in der englischen Hauptstadt. 

Das Geben ist eben, wie oben dargelegt, eine viel zu ernste und wichtige 
Funktion im wirtschaftlichen Leben, um planlos betrieben zu werden, es muß 
organisiert sein, und das Organisieren muß gelernt werden. Auch in Wien 
fehlt es nicht an Musteranstalten humanitärer und sozialpolitischer Art für 
einzelne Gebiete der Wohlfahrts- und Armenpflege, unter denen der Wiener 
Volksküchenverein und die Freiwillige Rettungsgesellschaft wohl obenan zu 
nennen wären. Aber auf anderen Gebieten* fehlen Organisationen oder die 
vorhandenen vermögen nur einen sehr kleinen Teil des Gebotenen zu leisten, 
so auf denen der Wohnungs- und der Jugendfürsorge. 

Soziale Hilfsarbeit, die ohne das Erniedrigende des Almosens den Hilf- 
losen Hilfe bringt, wird anstatt des Austeilens von Geld an ausgestreckte 
Hände bei fortschreitender Kulturentwicklung immer intensiver und plan- 
mäfiiger geleistet werden müssen. Sie entzieht das Geben der Laune des 
Gebers und hebt es zum Range gesellschaftlicher Pflichterfüllung empor. 



*) IV Congresso internazionale dell Assistenza pubblica e private. 1906. Milano. Fascic. III. 
Tema II. Les ecoles de bienfaisance aux Etats-Unis. 

47 



Um Großes zu leisten, bedarf es reicher Mittel, und diese zu gewähren 
müssen Geber gewonnen werden. Mit welchen Beweggründen? 

Wem die Mahnungen des Evangeliums (Matth. VI, i — 4. Marc. X, 21. 
Lucas III, 10, 11, VI. 35 f. u. a.) tief im Herzen haften, und wer sie mit den 
oben entwickelten Anschauungen über die Gemeingefährlichkeit des Elends 
in Einklang bringt, bedarf freilich anderer Beweggründe nicht, um hilfsbereit 
und hilfsfreudig zu sein. Unter diesen anderen Motiven zum Geben ist eines der 
häufigsten und praktisch wichtigsten leider zum Nachteile der guten Sache 
in Mißkredit gekommen, indem man es mit Geringschätzung als »Eitelkeit« 
bezeichnet. 

Wer Genugtuung darüber empfindet, als bereitwilliger Forderer gemein- 
nütziger Unternehmungen, als freigebiger Spender zum Nutzen der Armen 
anerkannt zu werden, verdient dafür so wenig Spott als derjenige, der auf 
sein reiches Wissen oder auf seine selbsterworbene Geltung »eitel« ist. Wehe 
uns, wenn es den Anhängern der Herrenmoral je gelingen sollte, unter Berufung 
auf den Kampf ums Dasein, in dem die Schwachen dem Untergang geweiht 
sind, oder auf das, »was Zarathustra sprach«, die Freude am hilfsbereiten Geben 
zu untergraben: damit wäre der praktischen Sozialpolitik der schwerste 
Schlag versetzt! 

Ist auch Mitleid nicht die geeignete Grundlage für die Organisation des 
Wohltuns, so sollte das Geben doch niemals aufhören, auch »Herzenssache« 
zu sein, und deshalb noch ein Wort über die Schonung der Gefühle. 

Die menschlichen Gefühle bedürfen großer Schonung, wenn auf ihre 
Betätigung gerechnet werden soll. Wie das Bromsilber vom Sonnenlicht, so 
werden sie durch das Licht der Öffentlichkeit, durch Besprechung, Analyse 
und Kritik verändert, zersetzt; um Dauerwirkung zu erzielen, ist es aber not- 
wendig, sie aus den dunklen Tiefen des Innenlebens emporzuziehen. Was 
einst unwillkürlicher, natürlicher Ausdruck der Ehrfurcht, der Dankbarkeit, 
des Schmerzes, der Freude, der Zuneigung und Liebe gewesen war, hat sich, 
sobald es allgemein als Ausdruck dieser Empfindungen anerkannt war, in ein 
Zeremoniell der Huldigung, der Festfeier, der Trauer, der Begrüßung mit 
Kuß oder Handschlag verwandelt, es ist konventionell geworden und hat 
längst aufgehört, Gefühle zu verraten, an die in vielen Fällen niemand glauben 
würde. So kann auch die Schilderung unbewußter Gefühlsäußerungen, die 
einen Leser in Werken erzählender oder dramatischer Literatur oder den 
Beschauer eines Sittenbildes erfreut, weil diese Schilderung in ihm verwandte 
Gefühle erweckt, die Unbefangenheit des Benehmens anderer Leser oder 
Betrachter zerstören ; die einen furchten sich durch die unwillkürliche Gebärde 
oder Äußerung zu verraten, die anderen scheuen den Verdacht, durch dieselbe 

48 



zu »posieren«. Daraus erklärt sich meines Erachtens zum Teile die zu- 
weilen als Gefühlsroheit getadelte Haltung junger Leute, die, in der Furcht 
zu posieren, verletzen. 

Auch auf dem Gebiete des Wohltuns geht ähnliches vor. Gab man 
früher aus warmem Herzen, so gibt man jetzt, wo, ein warmes Herz voraus- 
gesetzt, gefordert wird; wollte man früher helfen, so demonstriert man jetzt 
für die Hilfstätigkeit und ihre Anreger ; das freiwillig Gebotene wird nur als 
pflichtmäßige Beisteuer betrachtet und das Geben verliert so den Charakter 
der Warmherzigkeit. Deshalb müssen die Reichen von heute nicht minder 
warmherzig sein als die von ehedem. 

Viele ziehen sich aber dadurch, daß man ihre Gaben als Pflichtgaben 
ansieht oder ihnen »Eitelkeit« oder niedrige Motive unterschiebt, verletzt 
zurück und genügen dem Triebe ihres Herzens zum Wohltun insgeheim, 
leider aber deshalb oft ohne Verständnis und ohne Erfolg. Wer will, daß 
geholfen wird, muß die Freude am Geben zu wecken und zu er- 
halten suchen. 

Daß viel gegeben und daß das Gegebene zweckmäßig verwendet wird, 
ist in unserer Zeit nicht mehr von nebensächlicher Bedeutung, wie es die 
Almosen früherer Zeiten gewesen sein mögen. Wohin wir unsere Blicke 
wenden, sehen wir Hilfsbedürftigkeit und Verwahrlosung nicht als gelegent- 
liches Mißgeschick einzelner, sondern als Massenerscheinung und als das 
notwendige Ergebnis herrschender Verhältnisse, und die Sozialwissenschaft 
befaßt sich ernstlich mit der Erforschung dieser Erscheinung. 

Ihre Ergebnisse werden vielleicht wertvolle Fingerzeige geben, aber 
die Hilfe darf nicht von ihnen abhängig gemacht werden, sie ist viel zu 
dringend. So möge denn jeder, der geben kann, sich bedenken, ehe er im 
unfruchtbaren Verzetteln des Verfügbaren fortfahrt, und dort reichlich und 
warmen Herzens geben, wo er fruchtbare Fürsorgetätigkeit damit erhalten 
oder begründen kann! 




49 




Geschichte der kaiserlichen Sammlung altägyptischer 
Objekte in Wien, jjf Dargestellt von Alexander Dede- 
kind. 9t 



Als im Jahre 1765 unter der Regierung der Kaiserin Maria Theresia 
durch die Vereinigung der bis dahin an sehr verschiedenen Orten 
zerstreut gewesenen Antiken, Münzen und Gemmen, welche Eigentum 
des Allerhöchsten Kaiserhauses waren, das k. k. Münz- und Antikenkabinett 
gegründet wurde, gelangte in dasselbe auch eine geringe Anzahl altägypti- 
scher Objekte, über deren Provenienz fast jegliche Angabe fehlt. 

Diese Gegenstände bildeten einen sachlich und numerisch untergeordneten 
Bestandteil des k. k. Antikenkabinetts und blieben bei der damaligen Nicht- 
achtung angesichts altägyptischer Objekte zunächst gänzlich vernachlässigt 
und ohne Zuwachs. Es ist kein Verzeichnis jener Objekte vorhanden. Bloß 
aus einzelnen gelegentlichen zerstreuten Notizen läßt sich ersehen, daß diese 
Gruppe des k. k. Antikenkabinetts eine geringe Anzahl von kleineren Denk- 
mälern, etliche Mumien und einige wenige Bildwerke aus Stein enthielt, unter 

50 



welchen die Diorit-Statue des Kemnef horbak aus der 26. Dynastie das Hauptstück 
war. So sah es gegen das Ende des XVIII. Jahrhunderts mit dem Grundstocke 
der Sammlung altägyptischer Objekte des Allerhöchsten Kaiserhauses aus. 
Ein Umschwung in diesen Verhältnissen trat erst ein, als Buonapartes 
Zug nach Ägypten die Aufmerksamkeit Europas auf das Nilland gelenkt 
und das Monumental werk der französischen Expedition, die »Description de 
TEgypte«, zum ersten Male ein allgemeines Interesse für den Umfang und die 
Bedeutung der Denkmälerwelt des alten Ägypten geweckt und diese Antiken- 
sphäre zum ersten Male erschlossen hatte. 

Auch die Wissenschaft Österreichs wandte der nun aufkeimenden 
Ägyptologie endlich Aufmerksamkeit zu. Nach Beendigung der Napoleoni- 
schen Kriege äußerte sich das erwachte Interesse an dem neuen Forschungs- 
gebiete in mehreren wertvollen Zuwendungen ägyptischer Denkmäler an das 
k. k. Antikenkabinett. Diese Geschenke erfolgten seitens des Wiener Erz- 
bischofs v. Milde und solcher Kunstfreunde, welche teils Konsulatsbeamte, 
teils mit Ägypten in Verbindungen stehende Kaufleute waren. So schenkte 
Erzbischof v. Milde eine im Jahre 1798 am Rennweg in Wien gefundene 
hockende Statue des Propheten Hapicha (20. Dynastie), ferner im Jahre 18 14 
der österreichische Generalkonsul in Kairo, Karl Ritter v. Rosetti, den 
kolossalen und mit prachtvoll eingravierten Hieroglyphen geschmückten 
Sarkophagdeckel der Königin Nit-chodeb-iri-b6n (das heißt: die Göttin Nit 
tötet den Übeltäter) und vier Jahre später (18 18) der Triester Kaufmann 
Peter Jussuff zwei aus dem Tempel der Göttin Mut zu Karnak stammende 
riesige Sochet-Statuen. Diesen kostbaren Gaben ließ Jussuff im Jahre 1821 
den von Arabern jahrhundertelang als Wasserbehälter benutzten Sarkophag 
des Anhernacht sowie eine aus weißem Marmor gemeißelte vierköpfige 
Sphinx (aus der Ptolemäerzeit) folgen, während als Widmung des Groß- 
händlers Neubauer aus dem Jahre 1820 mehrere Antikaglien (ein Fischchen 
aus Amethyst etc.) zu nennen sind. 

Auch die ersten Ankäufe fallen in diese Zeit. Jedenfalls nach 1799 er- 
folgte die Erwerbung des sogenannten Obicianischen Mumiensarges; im Jahre 
181 3 wurde durch Kauf der Deckel und ein bemaltes Seitenbrett des Sarges 
des Nasipahirön, eines Hierogrammaten des Chonsu-Tempels in Theben, vom 
Hofrate Baron Plenker erworben. 

In diese Epoche fallt auch der erste Versuch einer wissenschaftlichen 
Verwertung von ägyptischen Denkmälern des k. k. Antikenkabinetts durch 
Hammer-Purgstall. 

Eine günstige Gelegenheit zu einer namhaften Vermehrung der kaiser- 
lichen Sammlung altägyptischer Objekte ergab sich im Jahre 1821, als der 

51 4* 



Doktor der Medizin E. August Burghart, welcher im Begriffe stand, nach 
Ägypten abzureisen, auf Veranlassung der k. k. Haus-, Hof- und Staats- 
kanzlei sich erbot, antike Objekte für das kaiserliche Antikenkabinett zu 
sammeln und nach Wien zu überbringen. Obgleich Dr. Burghart kein 
Archäolog von Beruf war, so ließen ihn doch seine vielseitige Bildung sowie 
die durch frühere Reisen im Orient erworbenen Erfahrungen zu dieser 
Mission geeignet erscheinen, welche ihm auch in der Tat von Direktor von 
Steinbüchel übertragen wurde. Eine vom damaligen Kustos Josef Arneth 
flüchtig niedergeschriebene Reiseinstruktion vom 31. Mai 1821 gab die 
Direktive für Burgharts Sammeltätigkeit und enthielt eine nach dem da- 
maligen Stande der Wissenschaft aufgestellte, ziemlich lückenhafte Liste der 
Desiderata, in welche auch die klassische Kunst einbezogen war. Da Dr. Ernst 
August Burghart auf seiner beschlossenen Reise keine eigenen Ausgrabungen 
vornehmen konnte, so mußte er sich auf den Ankauf der ihm brauchbar 
erscheinenden Gegenstände beschränken. 

Schon am 10. November 1821 konnten dem damaligen Oberstkämmerer 
Rudolf Grafen v. Wrbna die Ergebnisse der abgeschlossenen Reise Burg- 
harts gemeldet werden. Die von demselben erworbenen Objekte beliefen 
sich, nach einem summarischen Verzeichnisse (und zwar nach dem allein er- 
haltenen summarischen Ausweise), auf drei Mumien (jede Mumie in einem 
Doppelsarge), zirka 60 Stelen, einige kleine Bildwerke aus Stein, auf mehrere 
andere Bildwerke, 27 Papyri und auf eine größere Anzahl von anderen 
kleineren Objekten, wie Bronzen, Fayencen, Amuletten (darunter 13 aus Gold), 
Kanopen, sonstigen Gefäßen, Holzgegenständen u. s. w., welche sämtlich noch 
im Dezember 1821 wohlbehalten in Wien eintrafen. 

Den größeren Teil dieser Stücke hatte Burghart von einem gewissen 
C. Lebolo in Alexandrien, einem Sammler, angekauft; und wohl auch den 
Rest hatte Burghart von Antikenhändlern erworben. Dadurch war es ihm 
möglich geworden, seinen Auftrag in so kurzer Zeit und ohne Vornahme von 
eigenen Ausgrabungen, zu welchen ihm sowohl die Mittel als auch die Voll- 
machten gefehlt hatten, mit verhältnismäßig sehr geringen Kosten durch- 
zuführen, wofür ihm die Belobung von Seiten seiner Auftraggeber aus- 
gesprochen wurde. Vor allem ist zu bedauern, daß unter den Objekten der 
Burghartschen Sammlung die monumentale Kunst, insbesondere die wichtige 
Kunstperiode des Alten Reiches (3600 — 3000 vor Christo) nicht vertreten war. 
Das Mittlere Reich dagegen (2400 — 2100 vor Christo) erschien vermöge der 
Burghartschen Ankäufe durch einige Stelen vertreten. 

Infolge der Erwerbung der Burghartschen Sammlung, durch welche ein- 
zelne Gruppen namhaft an Vollständigkeit gewonnen hatten, war die Kollektion 

52 



altägyptischer Objekte an 
Zahl und Umfang so be- 
deutend angewachsen, dafl 
die Lokalitäten des k. k. An- 
tikenkabinetts zur Unter- 
bringung derselben nicht 
mehr ausreichten. Man 
entschloß sich daher, die 
Sammlung in abgesonder- 
ten Räumlichkeiten auf- 
zustellen und gleichzeitig 
aus ihr eine Spezialsamm- 




lung altägyptischer Ob- 
jekte zu bilden, welche 
aber dem k. k. Antiken- 
kabinett administrativ an- 
geschlossen bleiben sollte. 
Zu diesem Behufe wurde 
im Jahre 1822 das erste 
Stockwerk des Harrach- 
schen Gebäudes in der 
Johannesgasse (alt Nr. 972) 
provisorisch gemietet und 
die Aufstellung sämtlicher 
befindlichen ägyptischen 



im Eigentume des Allerhöchsten Kaiserhauses 
Denkmäler in fünf Zimmern dort sofort in Angriff genommen und bis zum 
10. September 1823 beendet. Dem Publikum war die neue Wiener Samm- 
lung an jedem Samstag geöffnet. Zur Orientierung und Belehrung wurde vom 
Direktor des k. k. Münz- und Antikenkabinetts Anton v.Steinbüchel eine 
»Beschreibung der k. k. Sammlung ägyptischer Altertümer« verfaßt. Dieser 
Katalog (Wien 1826) ist noch heute von hervorragendem Interesse. Stein- 
büchel hatte auch bereits 1824 die mit Figuraldarstellungen und Inschriften 
verzierten Skarabäen der kaiserlichen Sammlung auf vier Tafeln veröffentlicht. 

Die Auslagen für den Ankauf der Burghartschen Sammlung sowie die 
Kosten der Neuaufstellung der ägyptischen Objekte nötigten dazu, vorläufig 
auf weitere Erwerbungen zu verzichten. So mußte das Anerbieten von Doktor 
Burghart, welcher im Jahre 1823 abermals nach Ägypten reiste und sich 
neuerdings zur Vermittlung von Erwerbungen erbot, ebenso abgelehnt 
werden, wie das Angebot zum Ankaufe (Betrag 30.000 Francs) der Sammlung 
ägyptischer Objekte des Bernardino Drovetti in Triest, einer aus 59 Stücken 
bestehenden auserlesenen Kollektion. Am bedauerlichsten war die Ablehnung 
der Offerte zum Ankaufe der hochbedeutenden, für 200.000 Gulden ange- 
botenen Sammlung des schwedischen Konsuls Anastasy, welche später nach 
Leyden kam. Auch wurde das Angebot des Reisenden Passalacqua (1827) 
abgelehnt. 

In dem Harrachschen Gebäude verblieb die kaiserliche Sammlung bis 
zum Jahre 1836, in welchem die Kündigung der Miete seitens des Haus- 
eigentümers erfolgte. Bereits seit längerer Zeit hatten in Voraussicht einer 
solchen Eventualität zwischen den verschiedenen Hofämtern Verhandlungen 
über die Beschaffung anderer Räumlichkeiten stattgefunden gehabt, ohne 
jedoch wegen der mannigfachen sich hiebei ergebenden Schwierigkeiten zu 



53 



einem Resultate zu fuhren. Doch nunmehr vor eine definitive Entscheidung 
gestellt, entschloß man sich für die im westlichen Flügel des k. k. Unteren 
Belvedere neben der Sammlung der antiken Skulpturen gegen den Gebäudehof 
zu gelegenen Lokalitäten, welche bislang als Dienerwohnung verwendet 
worden waren. Diese Wahl war in mehrfacher Hinsicht keine glückliche und 
wohl nur deshalb getroffen worden, weil die Verwaltung der, administrativ 
dem Direktor des k. k. Antikenkabinetts unterstellten Sammlung altägyptischer 
Objekte dadurch wesentlich vereinfacht und erleichtert erschien. Die not- 
wendigen Adaptierungen wurden sofort vorgenommen. Die Neuaufstellung der 
Sammlung wurde nach den Angaben des damaligen Direktors des k. k. Münz- 
und Antikenkabinetts JosefArneth begonnen und bis zu dem hiefür be- 
stimmten Termin im Oktober 1837 beendet. 

Die neuen Räumlichkeiten reichten von vornherein nicht zur Auf- 
nahme aller Objekte aus, so daß dann gar erst die später erworbenen 
großen Objekte aus Stein (mit Ausnahme des Sarkophagdeckels der Konigin 
Nit-chodeb-iri-b6n) in dem Saale der antiken Skulpturen und dessen Neben- 
zimmern vereinzelt und aus dem Zusammenhange losgelost, nach Maßgabe des 
vorhandenen Raumes, untergebracht werden mußten. Selbst für die kleineren 
Denkmäler boten die beschränkten Lokalitäten nur unzureichenden Platz und 
machten eine sehr gedrängte Aufstellung notwendig, bei welcher die Folge 
der kleineren Objekte zumeist nach dem Material bestimmt ward, aus welchem 
die Gegenstände gearbeitet waren. 

Auch in ihrem neuen Unterkunftsraume, in welchem die Sammlung 
53 Jahre verblieb, erfuhr sie durch Ankäufe und Schenkungen vielfache 
Bereicherungen. — Im Jahre 1837 widmete Herr Isidor Löwenstein eine 
Anzahl von Götterfigürchen und Antikaglien. Im Jahre 1846 führte der öster- 
reichische Generalkonsul in Alexandrien, Herr Anton Ritter v. Laurin, 
der Sammlung 1 1 Stelen zu und außerdem Teile dreier Apismumien, welche 
bei Saqqarah gefunden worden waren. Zu diesen wertvollen Gaben gesellte 
sich im Jahre 1847, ebenfalls als Spende des Ritters v. Laurin, der schöne 
Granitsarkophag des Hierogrammaten Padepep. Im Jahre 1846 waren die 
bisher in der Sammlung altägyptischer Objekte aufbewahrt gewesenen elf 
griechisch-ägyptischen Papyri, darunter die sogenannten Zoi's-Papyri (ihr Inhalt 
betrifft die schwere Klage einer gleichzeitig die Götter zu ihren Zeugen und 
Helfern anrufenden Tochter, weil ihren Kindern die Bestattung im Familien- 
grabe verweigert wurde), tauschweise gegen das Senatusconsultum de 
Bacchanalibus (über eine Aufhebung der Bacchanalienfeier) aus dem 
Jahre 186 vor Christo und gegen eine Anzahl antiker Büsten an die k. k. 
Hofbibliothek abgegeben. 

54 



Im Jahre 1852 hatte sich die Sammlung eines für die demotische Literatur 
wertvollen Zuwachses zu erfreuen, nämlich des Papyrus Kremer. Dieser 
Papyrus war ein Geschenk seitens des am 27. Dezember 1889 in Döbling 
verschiedenen Ministers außer Dienst, des bekannten Arabisten Alfred Frei- 
herrn v. Kremer. Das Schriftstück enthält ein Spottgedicht auf einen Harfen- 
spieler. Ferner sind aus dem Jahre 1853 als abermalige Schenkung des öster- 
reichischen Generalkonsuls v. Laurin zu verzeichnen: 9 Stelen, 2 Kolossal- 
köpfe von Pharaonen der 20. Dynastie, 3 kleinere Skulpturen und der 
kolossale Granitsarkophag des Hierogrammaten Nes-Schu-Tafnut (d. h. »der 
an das Götterpaar Schu und Tafnut attachiert ist«). Dieser Sarkophag war 
in Saqqarah gefunden worden. 

Im Jahre 1854 erhielt die kaiserliche Sammlung vermöge der Widmung 
seitens des österreichischen Konsuls in Kairo Franz Champion als Zuwachs 
eine Gruppe von drei sitzenden Figuren aus Sandstein (jetzt in Saal I, 
Nr. XXIII, Inventarnummer 48) und den vollständigen, aus Theben stam- 
menden Kanopensatz (4 Kanopen) mit dem Namen der Prinzessin Tes-Bast- 
per (d. h. »die Göttin Bast läflt Getreide emporsprieflen«), einer Tochter des 
Pharao Osorkon II., welcher um das Jahr 850 vor Christo regiert hat 
(22. Dynastie). Hiezu kam als Geschenk seitens des österreichischen General- 
konsuls Christian v. Huber eine aus dem Fayum, bei Medinet el-Fayum ge- 
fundene Stele aus der Zeit des Kaisers Augustus mit griechischer Inschrift. 
Der tätigen Vermittlung des nämlichen Generalkonsuls (v. Huber) verdankt 
die Sammlung ferner die im Jahre 1857 durch Ankauf erfolgte Erwerbung 
des herrlichen Sarkophages des Fnochem-Isi (Pa-nochem-Isi). Dieses Pracht- 
stück ward aus dem Besitze der Herren Frisch & Co. in Kairo gekauft. 
Hiedurch wurde die Zahl der in der kaiserlichen Sammlung befindlichen 
Sarkophage auf vier gebracht. 

In den Jahren 1864 und 1865 nahmen die Erwerbungen ihren Fortgang. 
Es wurden in der genannten Zeit ein großer, schöner Bronzesperber und 
mehrere andere vorzügliche Bronzen aus der Sammlung Böhm erworben, 
sowie zwei bisher in der k. k. hydrographischen Anstalt in Triest befindlich 
gewesene ägyptische Holzsärge minderer Erhaltung mit den dazugehörigen 
Mumien; ferner eine Kindermumie, welche sich ebenfalls bis dahin in der 
k. k. hydrographischen Anstalt in Triest befunden hatte. 

Die Orientreise Seiner Majestät Kaiser Franz Josefs nach Ägypten im 
Jahre 1869 (anläßlich der Eröffnung des Suezkanals) hatte einen außergewöhn- 
lich interessanten Zuwachs, eine in ihrer Art einzige Bereicherung der Samm- 
lung zur Folge. Der österreichische Ingenieur in Alexandrien Anton Luco- 
vich widmete damals dem Monarchen drei Monolithsäulen aus rotem Porphyr 

55 



(Syenit) in Form von gebündelten Schäften mit Lotosknospen- Kapitellen. 
Diese Säulen rühren ungefähr aus dem XV. Jahrhundert vor Christo her, 
stammen aller Wahrscheinlichkeit nach aus einem unterägyptischen Tempel 
und hatten halbvergraben im Sande bei Alexandrien gelegen. Diese mäch- 
tigen Monolithen bilden imposante Proben ägyptischer Architektur, wiegen 
ungefähr je 800 Zentner, sind jetzt als Plafondträger der Säle I und V des 
Kunsthistorischen Hofmuseums verwendet und bilden dort eine sonst in keinem 
anderen Museum vertretene Spezialität der Architektur des Landes vom alten 
Nil. Es tragen diese Säulen die Namensschilder der Pharaonen Thothmes' 
(Tuthmosis) IV., Meri en Ptah und Seti II. 

Im nämlichen Jahre, 1869, widmete Seine Exzellenz Josef Freiherr 
v. Schwegel eine hervorragend schone, mit der zweimal dargestellten Ge- 
stalt und mit den Namensschildern von Psametik II. ausgestattete Interkolum- 
nialplatte. Das Jahr 1870 brachte seitens Seiner kaiserlichen und königlichen 
Hoheit des durchlauchtigsten Herrn Erzherzogs Rainer zwei wertvolle Zu- 
wüchse, nämlich ein schönes, großes bronzenes Libationsgefäß (reich bedeckt 
mit Figuren und Inschriften — nach letzteren für den Totenkult des Priesters 
Ptah-hotep bestimmt — ) und einen Spiegel aus Bronze mit dem Namen des 
Amonpriesters Hor-em-Ank. 

Seitdem die erfolgreichen Ausgrabungen Auguste Edouard Mariettes 
auf den Pyramidenfeldern von Gizeh und Saqqarah die hohe Entwicklung 
der Kunst — insbesondere die Plastik — des Alten Reiches kennen gelehrt 
hatten, machte sich in der kaiserlichen Sammlung der Mangel an Denkmälern 
der gedachten Epoche empfindlich fühlbar. Die Bemühungen der hiebei auf 
den Zufall von Anerbietungen angewiesen gewesenen Museumsverwaltung, 
in den Besitz plastischer Werke des Alten Reiches zu gelangen, waren 
längere Zeit erfolglos geblieben. Es schien beinahe schon, wie wenn darauf 
verzichtet werden müßte, die hochentwickelt gewesene Kunst jener Epoche 
überhaupt in der kaiserlichen Sammlung zur Anschauung zu bringen. Doch 
bot sich im Jahre 1873 die Gelegenheit zur Erwerbung zweier plastischer 
Werke aus dem Alten Reiche, nämlich der Porträtstatuetten: 1. des Ober- 
baumeisters Honka und 2. eines sitzenden Hierogrammaten. Diese 
beiden Objekte stammen aus den uralten Gräbern von Meidun und wurden 
dem weiland Professor Dr. Heinrich Brugsch abgekauft. Unter den sonstigen 
Bereicherungen im Jahre 1873 ist ferner ein aus dem Alten Reiche stam- 
mendes Gefäß aus grünem Porphyr hervorzuheben, sowie das Bruchstück 
einer aus der Wand eines thebanischen Grabes herausgesägten Kalkstein- 
dekoration aus der Zeit des Pharao Hor-em-Heb, rtiit welchem (um das Jahr 
1400 vor Christo) die 18. Dynastie abschließt. Dies Objekt bildet die direkte 

56 



Fortsetzung einer Kalksteindekoration, welche sich im Museum zu Leyden 
befindet. Auch der Ankauf eines schonen Kalksteinsphinx (im Ägyptischen 
sind die Sphinxe regelmäßig männlich) mit einer bemerkenswerten Inschrift 
aus der 26. Dynastie bereicherte im Jahre 1873 den Bestand der Sammlung 
in sehr erwünschter Weise. Auch dieser zuletzt genannte Sphinx wurde von 
Heinrich Brugsch erworben. 

Dazu kamen im Jahre 1875 ein Hochzeitsskarabäus Amenophis' III. 
(etwa aus der Zeit 1450 vor unserer Zeitrechnung) und ein Granitbalken mit 
einer überaus schwungvollen Anrufung des Ptah durch den Prinzen Chamuas, 
einen Sohn von Ramses II. (approximativ aus der Zeit um 1300 vor unserer 
Zeitrechnung). Ein ungewöhnlich interessantes und gut erhaltenes Stück von 
hohem Werte brachte der kaiserlichen Sammlung das Jahr 1876. In diesem 
Jahre wurde nämlich aus dem Nachlasse des seinerzeit wegen einer vermeint- 
lichen naturwissenschaftlichen Entdeckung vielgenannt gewesenen Professors 
Franz Unger ein alabasternes Salbengefaß erworben. Dieses enthält Reste 
einer schwarzen Augenhaarschminke. Sie wurde auf ägyptisch »meszem« 
genannt, enthält nach weiland Virchows chemischen Analysen besonders 
Schwefelblei und war nach Plinius* Zeugnis auch den Romern wohlbekannt. 
Gegenwärtig wird sie noch allgemein bei den Arabern unter dem Namen 
»Kohol« verwendet. Das erwähnte Gefäfl in Gestalt eines Affen (einer Meer- 
katze), der ein Junges in den Armen hält, zeigt den Vornamen Meri-Ra des 
Pharao Afofi (ge wohnlich irrtümlich »Pepi« ausgesprochen) und stammt aus 
der 6. Dynastie (etwa 3000 vor Christo). In den Jahren 1877 un( * 1878 wurden 
von Herrn Liebl 22 Skarabäen angekauft. 

Die Studienreise, welche mein Amtsvorgänger, der damalige Kustos 
der Sammlung, Dr. Ernst Ritter v. Bergmann, im Winter 1877/78 nach 
Ägypten unternahm, gab Gelegenheit zur Erwerbung einer funerären Barke 
mit Pavillon, einer doppelseitig hieratisch beschriebenen Holztafel sowie einer 
Anzahl musivischer Flachreliefs aus Teil el-Yahudi6 (Hügel der Juden). 
Sonstige Reste solcher bunten und glasierten Fayence- Wandgemälde finden 
sich in Berlin, im Louvre, im neuen Museum in Ägypten und sonst verstreut. 
Diese Flachreliefs stellen teils ausgezeichnet modellierte Kopfe verschieden- 
rassiger Kriegsgefangener dar, teils Rümpfe kniender Kriegsgefangener in 
überaus reich verzierten Gewändern und stammen aus einem zerstörten Tempel 
Ramses* III. 

Eines namhaften Zuwachses hatte sich die Wiener Sammlung ägyptischer 
Objekte bis zu der am 17. Oktober 1891 erfolgten Eröffnung des Kunst- 
historischen Hofmuseums sowohl durch die Einbeziehung der im Schlosse 
Miramar aufbewahrten ägyptischen Objekte, als auch durch einige Geschenke 

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seitens Seiner kaiserlichen und königlichen Hoheit des Kronprinzen Rudolf 
zu erfreuen. Entstanden war jene Sammlung von Miramar aus zwei, zu ver- 
schiedenen Zeiten gemacht gewesenen Erwerbungen des Kaisers Maximilian 
von Mexiko. Die erstere Erwerbung fiel in das Jahr 1855 und die zweite 
in das Jahr 1866. 

Am 17. Oktober 1891, an dem denkwürdigen Tage der feierlichen Er- 
öffnung des Kunsthistorischen Hofmuseums, wurden die altägyptischen Objekte 
endlich in ihrer Totalitat der allgemeinen Besichtigung und Verwertung er- 
schlossen. 

Den bedeutendsten Zuwachs unter den zahlreichen Neuerwerbungen in 
den letzten Jahren bildet ein von der ägyptischen Regierung der kaiserlichen 
Sammlung zugewandtes Geschenk in Gestalt mehrerer Mumiensarge, jedoch 
ohne die Mumien, aus der 21. Dynastie (etwa von 1050 bis 950 vor unserer 
Zeitrechnung). Diese Objekte waren 1891 zu Deir el-Bahari aufgefunden 
worden. Die Geschenksendung traf 1893 im Museum ein und schuf einen 
neuen Anziehungspunkt in den berühmten Sammlungen am Burgring in Wien. 
Die in sechs Sälen untergebrachte Sammlung altägyptischer Objekte besteht 
jetzt (im März 1907) aus 6686 Stucken. 




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Mittelmeerfahrt (1873). 9t Von Josef Freiherrn von 
Doblhoff. ft 

Krank und darum reisemüde verbrachte ich den Winter 1872 — 1873 in 
Montreux an den lachenden Ufern des »L6man«. Auf meinem Tische 
lag Th6ophile Gautiers »Constantinople« ; darin las ich täglich; oft 
kehrte ich zu der Stelle zurück, welche mir neuen Mut gab: »qui a bu 
boira — qui a voyag6, voyagera«. — Es war mir wohl klar, daß »le Vaga- 
bundage cosmopolite« ein gefahrliches Element sei, der Unruhe des Zug- 
vogels zu vergleichen, dafl uns das Wandern verzichten läßt auf die wahre 
Freundschaft, uns der Familie entfremdet, daß bei der Jagd nach dem Un- 
bekannten die Lebensgeister immer mehr des Ortwechsels bedürfen und 
der Spruch des Persers: »Traurig ist der Morgen des Weisen und der Abend 
des Wanderers« viel Wahres enthalte. So glaubte ich. In diese Stimmung 
brachte der Lenz, wie mit einem Zauberschlage erwacht, Licht und Farbe, 
und ein Brief mit dem Poststempel »Stambul« gab vollends den Ausschlag, 
ein Schreiben des mir befreundeten Obersten Messoud Bey (Felix Smith) im 
Generalstabe, »Bureau der ausländischen Korrespondenzen«, im »Seraskierät«. 

Wie ein Warnruf schien mir diese Einladung an das »Goldene Hörn«, 
denn, nachdem ich in drei Jahren Italien, Spanien, Frankreich, England, 
Ägypten und die Vereinigten Staaten von Nordamerika besucht hatte, war 
es ja Pflicht, auch den historischen Boden von Byzanz zu schauen, ehe mich 
meine weiteren Pläne durch den Suezkanal in gar zu ferne Längen und 
Breiten versetzten; also rasch ans Werk! 

Einen Tag später war ich via Genf in Lyon ; im Flug ging es per Expreß 
nach Süden. — Was hätte Marie de Rabutin-Chantal (»Madame de Sevign6«), 
welche 1672 nach dreißigtägiger Fahrt von Paris nach Marseille die neue 

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Diligence als größten Fortschritt im Verkehrsleben begrüßt hatte, was hätte 
diese geistvolle Briefstellerin zum Nizza-Expreß gesagt, welcher zwölf Meilen 
pro Stunde macht? Wir wissen gar nicht, wie gut wir's haben! 

In Marseille blühte schon alles. Dort beginnt der Sommer im April. — 
Thümmels*) und seiner Nachfolger farbenreichen Bildern habe ich nichts 
hinzuzufügen als Freudenrufe über dieses »Klein-Paris«, dessen Bewohner 
sogar stolz prahlen: »Si Paris avait une Cannebtere, Paris serait une petite 
Marseille.« Diese Hauptstraße ist eine der elegantesten der Welt, aber noch 
viel schöner ist der Blick bei der weit hinaus leuchtenden Madonnenkirche 
auf dem Felsen über der Corniche, wo man einen Rundblick genießt auf 
beide Hafen, die See, die Leuchttürme, die Stadt, die Küste bis zur flachen 
Rhönemündung, auf das romantische Gefängnis des Monte Cristo, das 
Chäteau dTf, die Inseln Ratonneau und Pom6gue, die Felsmauern des Strandes 
und die zahllosen Gärtchen, deren Rosenfluren von Schmetterlingen umgaukelt 
waren, auf Wälder von Mandelblüten, kurz, auf ein Meer von Frühlingslust. 
Sogar zwei Dattelpalmen wendeten in den heißdurchglühten Ecken des 
prächtigen Chäteau d'eau ihre Blätterbüschel der Sonne, freilich auch sehn- 
süchtig der fernen afrikanischen Heimat zu. 

In dem neuen Hafen »La Joliette«, dem gegen den gefurchteten Mistral 
(maestrale) geschützten Asyl der Seefahrzeuge aller Größen, heizten mehrere 
Dampfer, meist von den »Messageries maritimes«, einer Gesellschaft, welche 
schon 1853 Staatssubvention erhalten hatte und seit 1860 den Dienst nach 
Ostasien (bis 1869 um Afrika) besorgte. — Hier lag ein kleinerer Dampfer, 
fast wie eine Privatjacht gebaut; es war der »Tanais« (Capitaine Coulonne), 
nur 1263 Tons mit 280 Pferdekräften; er heizte für Athen — Konstantinopel; 
das war mein SchiflF. — Ich betrat das Deck um 3 Uhr; die Kabine glühte 
hinter der sonnenbeschienenen Eisenwand, aber draußen spielte die Brise mit 
den Wimpeln und ein beseligender Hauch von würziger Meerluft kam uns ent- 
gegen, als wir vor dem alten Hafen wendeten. Bald verkündeten die Befehle von 
der Offiziersbrücke »Volldampf«, ein Zittern durchzog den Rumpf des schlanken 
SchiiFes, wir traten in die Bai ; links an dem Chäteau d'If vorüber ging es 
längs der Küste, der Corniche, die von rastlosen »Brechern« der Brandung 
bestürmt wurde. Ein Wogen und Wiegen, ein Schäumen und Tosen war es, 
wie Jubelgesang des freien Elementes ; immer größere Wellen hatte der »Tanais« 
zu zerschneiden: »La houle du large se fait sentir«, sagte der erste Offizier. 

Der Kurs war Süd-Süd-Ost ; allmählich entschwand die Küste den Blicken, 
nur mehr die üppig bewachsenen Hohen bei Toulon leuchteten schwach vom 



*) Thümmel, »Reisen in die mittägigen Provinzen von Frankreich« (1785 — 1786). 

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Festlande herüber, davor zahlreiche Mastspitzen der Kriegsschiffe zu unter- 
scheiden waren. Der Wind setzte noch starker ein, trieb den Rauch des 
Schlotes wie eine lange Trauerschleppe über das sprudelnde milchweiße 
Kielwasser, welches unseren Weg ins Meer zeichnete, und schüttelte Takelage 
und Segelstangen, die ächzten und knirschten. 

Die Tafelglocke ertönte, ein beliebter Klang, denn die Küche auf den 
»Messageries« gilt als ausgezeichnet. Die beweglichen Marseiller taten alles, 
um das Tischgespräch in Gang zu bringen; von Chauvinismus, Revanche- 
gelüsten war bei diesen vielgereisten Seeleuten nichts zu bemerken. Wer 
den »Deutschtümler« nicht zur Schau trug, konnte schon 1872 als »Allemand« 
sehr gut mit Franzosen verkehren, vollends ein Österreicher. Man braucht 
sich an Bord eines Passagierdampfers nicht vorschreiben zu lassen, mit wem 
man in der buntgewürfelten Gesellschaft verkehren solle, doch eigentlich 
zurückhaltend sind nur die Engländer, denen ihr »Ich« wichtiger dünkt als 
die Welt, was sie eigentlich zu Hegelianern macht. — Neben ihnen gab 
es Türken, Griechen, Deutschrussen, einen deutschen Ingenieur von den 
türkischen Bahnen, unter den Franzosen einen Duc Tacher de la Pagerie 
(der einzige mir von früher her bekannte Passagier des »Tanais«, welchen 
ich 1872 an der Table d'höte zu Athen im »Hotel d'Angleterre« kennen ge- 
lernt hatte), einen Kaufmann aus Zagazig (in Ägypten), welcher nach Bujuk- 
dere am Bosporus übersiedelte, einen Rochefort-Schwärmer, ferner eine 
Pariserin, mehrere nach Neapel reisende Geschäftsagenten und einen 
Künstler ohne nähere Angaben. Der witzige »premier mäcanicien« und der 
ruhige, feine, vertrauenerweckende Kommandant Coulonne erheiterten und 
verbanden die Gesellschaft, so dafl zwischen 10 und 11 Uhr abends alle fröhlich 
die Kabinen aufsuchten, ohne Nausea, »le mal au Coeur«; das große Leid 
hatte trotz der »coups de mer« mit seinen Spinnenfuflen noch kein Opfer für 
Neptun ausersehen; der kleine »Tanais« durchschnitt tapfer die Wasserberge. 

Am Morgen des folgenden Tages näherten wir uns den Felstrümmern 
der interessanten Straße von Bonifacio zwischen Korsika und Sardinien, 
die zwischen Capo di Feno und Kap Testa beginnt; nachdem wir die Hohe 
von Ajaccio verlassen hatten, sahen wir die Steilküste des »Bodens der Blut- 
rache« schon ganz nahe. — Mit Marinegläsern wurde die »Wiege Bona- 
partes« gemustert und einer — ein Franzose — zitierte dramatisch: 

»Une ile lui donna naissance (Korsika), 
Tomb<§, il repart dune ile (Elba), 
Et meurt dans une ile (St Helena), 
Tue* par une Ile (England), 
II sort de la mer et s'y replongel« 

61 



Während dieser phantastischen Deklamation zog eine Gruppe von 
Sardellenfischern an uns vorbei, alle gleich aufgetakelt, mit gleichfarbigen 
Segeln; alle lagen im gleichen Winkel an dem Winde, gleichmäßig Distanz 
haltend, wie eine uniformierte Truppe, die über die Wogenkämme zur 
Parade marschiert, wie eine Truppe als Ehrenwache des toten Korsen, 
welcher einst der Welt geboten von der Charybdis bis zum Sund. 

Unsere Aufmerksamkeit wurde jedoch bald abgelenkt durch die sieben 
Klippen, »Les Moines« genannt, welche der Gewalt des Meeres trotzten, 
während die Inselwände von der Riesenbrandung total unterwaschen waren ; 
über letzteren, ostlich von Capo di Feno (Pertusato), hängt hoch oben 
die verwitterte Ortschaft Bonifacio wie ein Wespennest am Rande, so zwar, 
daß man glaubt, das ausgehöhlte Gestein müßte in der nächsten Stunde in die 
Fluten stürzen. Die Strömung reißt das Wasser an den rötlichgelben Klippen 
vorbei, wie bei den Nilkatarakten. Ein Chaos von Felsstücken, Nadeln und 
Platten wird von den leuchtenden Schaumzungen beleckt, bis an die mittleren 
Schichten der bröckligen, gelbbraunen Stützmauern der halbzerstörten Ab- 
hänge. Man kann sich kaum ein fesselnderes Bild von Fels und Meer denken. 

Östlich von Kap Testa (Sardinien), hinter Isola di Sa. Maria und Isola 
di Sa. Maddalena, tauchte Caprera auf (die »Ziegeninsel« Garibaldis), kahl, 
fast weiß, wie ein Stück der ausgebrannten libyschen Wüste; ein leichter 
Mistral setzte ein, schwellte bei Ost-Süd-Ostkurs unsere Segel und trieb 
uns so rasch vorwärts, daß wir bald die Küste Italiens erblickten. Mit 
welchen Gefühlen hatte ich dort zwei Jahre zuvor fünf Monate lang Kunst- 
studien getrieben! Die Freude stieg mir auf die Lippen und ich erzählte 
bei der Tafel meinen Nachbarn von der Weihnachtsnacht im Eilwagen 
Mentone — Savona, vom Schneesturme im Apennin, von der Abreise König 
Amadeos nach Spanien, von Carrara, Pisa, Florenz, dem Waggonbrande bei 
Cecina, der Fahrt im Tiberwasser bei Palo durch die Campagna und wie 
ich (gleich Tamino in der »Zauberflöte« geläutert durch die Feuer- und Wasser- 
probe) in der Neujahrsnacht einzog unter die Tempel Roms. Ich schilderte 
die Fluten im Ghetto, die Brotverteilung auf dem Kapitol durch Gemeinde- 
diener, auf deren Kappen »S. P. Q. R.« zu lesen war; ich zeichnete die Via 
Appia, Albano, Frascati, Tusculum, Nemi, wo ich mit Künstlern geschwelgt, 
das Forum, den tarpejischen Fels, bis uns das herrlichste Meerleuchten noch 
spät abends an die Bordwand fesselte, denn Myriaden heller Punkte zeigten 
sich in den Wogen ; im Kielwasser glänzte der Mondschein, nur das Sternen- 
licht war so weit, so fern, so fremd! 

Bei Morgendämmerung sah ich Ponza und die ferne Küste bei Gaeta, 
um 6 Uhr den Epomeo auf Ischia. Capri stieg aus dem Nebel, der 

62 



Vesuv aber trug einen Wolkenhut, zahmer als im Jänner 1871, da ich ihn 
(noch vor dem mächtigen Ausbruche, aber schon bei dichtem Lapilli- 
regen) mit Herrn v. C . . . . r., zwei Amerikanern und einem Engländer bestieg. 

Zahlreiche Segel verstellten die Aussicht auf das Häusermeer von 
Neapel; als wir dann in den Hafen einliefen, lagen zwei »Russen« (eine 
Jacht und ein Kriegsschiff) verankert dort, welche die kranke Kaiserin*) 
nach Sorrento gebracht hatten. Da wir kaum drei Stunden verweilten, 
betrachteten die meisten nur die Verkäufer und Musikanten und vermieden 
eine Landfahrt; ich zeigte einem Salonikier die »Chiaja« und den »Toledo«. — 
Die Abfahrt eines italienischen Panzers, die Salutschüsse, die Akrobaten und 
Bettler, die Möwenscharen, welche unermüdlich den Steindamm, die Raaen 
und Masten kreischend umschwebten, einige Sorrentiner Marktschiffe, die 
»Orangen übers Meer« trugen (wie Scheffel singt) und, unter Winddruck 
auf der Seite liegend, pfeilgeschwind die Schäume durchfurchten, endlich 
das Geschrei der Bootführer, welche Verspätete brachten, die gerade noch 
Zeit hatten, auf das Fallreep des »TanaTs« zu springen — das alles bot 
ein so bewegtes Bild, daß es schwer war, sich zu sammeln, so lange uns 
noch der Lärm des fieberhaften Treibens, des Volksgetümmels in die Bai 
von Parthenopolis nachfolgte. 

Hell erstrahlten in der Mittagssonne die entzückenden Ufer bei Castella- 
mare, Sorrento und Massa, jenseits die bei Pozzuoli und Bajae (»fontibus 
tepentes«). — So durcheilten wir das alte Kraterbecken, an dessen Ufern 
das Volk um den Vulkan tanzt und singt. Orangen- und Blumendüfte trug 
der Tramontano vom Monte Sant' Angelo herunter. — Unter der Fels- 
burg »Ana-Capris« stiegen jenseits die »Faraglioni« aus dem Wasser, kühn 
die Stirnen bietend dem Wogenschwall. Das offene Meer da draußen 
glich einem großen, weit gefalteten, im Winde flatternden Mantel aus tief- 
blauer Seide mit Lilaschatten, durchwirkt mit Goldfäden (den Sonnenreflexen), 
an den Rändern mit Eisbärenfell verbrämt (den Küstenbrechern und 
Brandungsschäumen). 

Ein kleines Rededuell, eine politische Diskussion zwischen dem Herzog 
und dem Anhänger Rocheforts bewies uns, daß hier zwei feine Klingen von 
echtem Pariser Schliffe gekreuzt wurden, deren Schlag wie Musik tonte und 
die mit Salut der rhetorischen Gegner gesenkt wurden, ohne den Anstand zu 
verletzen. — Es hinderte nicht, noch einen letzten Blick dem Golfe von 
Salerno im Abendscheine, den Bergen bei Paestums Tempeln und den Felsen 
des Klosters bei Amalfi bis zum . Kap Campanella zuzuwerfen. 



*j Starb 1880. 

63 



Gegen Mitternacht erschien etwas, was weder Lampenlicht noch Sternen- 
glanz war; wie fernes Blitzen zuckte es auf; es war das Feuer des »Strom- 
boli«, der Schein der innen kochenden Lava auf den über dem Kraterrande 
hängenden Nebeln. Der Felszahn »Strombolicchio« tauchte aus dem Wasser, 
dahinter die breite Masse des Berges, und ein heller Glanz schimmerte wie 
Phosphor über den liparischen Inseln: der kreideweiße Schnee des Ätna 
im Mondlichte in duftiger Ferne. 

Schon um halb 7 Uhr morgens befanden wir uns in der Enge von 
Messina. Ein klarer Tag zeigte uns hoch oben über Giardini das griechische 
Theater von Taormina, in welchem sich einst Ludwig L, Konig von Bayern, 
Stücke von Sophokles in der Ursprache hatte vorlesen lassen.*) Die Sonne 
warf ihren Glanz wie auf eine Metallscheibe, so ruhig war das Meer hier 
vor der Scylla und Charybdis von Kap Faro bis Reggio; die sandige Küste 
spiegelte sich sogar darin. 

Bei Capo dell' Armi wendete der »Tanais« auf Ostkurs gegen Kap 
Spartivento zu; Sizilien versank hinter uns. Wir steuerten nun östlich und 
kein Land lag mehr, den Kurs verhindernd, zwischen uns und Kap Matapän, 
Griechenlands und Europas Südspitze; wir durchzogen bald die Grenze des 
Adriatischen und Jonischen Meeres. Der Ruf dieses Kaps (auch Kap Tanaron) 
ist nicht schlimmer, als die Tatsachen; für uns wenigstens begann schon 
frühmorgens ein heftiges »Roulis«, noch lange, ehe wir uns dem Kanal 
von Cervi genähert hatten. Unter den verschiedensten Vorwänden ver- 
schwanden die Passagiere vom Deck, andere kamen gar nicht aus den 
Kabinen: — Seekrankheit wütete in den Reihen und als die Glocke zum 
zweiten Frühstück ertönte, waren wir nebst dem Kapitän und dem Mecanicien 
nur drei Hungrige. Doch nach der Suppe hörte das Schwanken auf und — 
siehe da — gelockt durch Tellerklirren und Gläserklang — erschien einer nach 
dem anderen, mehr oder minder bleich ; — die Farbe wechselte auch der Wirt, 
aber mit einem leisen Fluche in den Bart, denn er hatte schon auf einen 
hübschen Gewinn aus übriggebliebenen Resten unberührter Speisen gerechnet. 

Die (»myrtenreiche und rosenduftende Insel«) Kythera (oder Cerigo), 
die »Wiege der Anadyomene«, hatte sich huldvollst zwischen uns und den 
Süd-Ost gestellt, der von Kleinasien herüberwehte; so konnten die Dulder 
nachholen, was sie schon verloren glaubten; die Situation stimmte sehr heiter, 
man erzählte aus dem Stegreife, die Palme jedoch erhielt diesmal der Eng- 
länder, welcher behauptete, ein Landsmann von Albions Küsten habe einmal 



*) So erzählte mir der 68jährige Francesco Strazzera (1844 des Malers Waldmüller 
Cicerone) im Jahre 1871. 

64 



ein Stück vom Kap Matapdn abgeschlagen und sich auf den Schreibtisch 
gestellt, darauf war in Goldlettern zu lesen: »Die Südspitze Europas«. 

Wir stiegen auf Deck, sahen südöstlich die Insel, nordlich Berge. Der 
M6canicien wies hin und sagte: »Täschett!« Niemand verstand ihn. »Tädschetjus« 
verbesserte der Engländer, »where they exposed children!« »O, der Taygetus!« 
meinten die Herren. Der volle Rückblick auf den Golf von Marathonisi 
(Kolokyntha) fesselte uns, bis wir das Kap Sant' Angelo (Malia) ins Auge 
faßten, dem wir auf fast 30 Meter nahe kamen. Ein Eremit lebte dort, 
wohlbekannt den Schiffern, der sich jedoch uns nur wenige Minuten zeigte, 
um mit der griechischen Flagge ein Zeichen des Grußes zu geben. Zwischen 
Karavi und Velopulon (Kaimenis) ging es nordwärts. Die Nacht fiel ein; 
vergeblich spähten wir nach Äginas Umrissen. Die Lichter des Piräeus 
tauchten aus dem Nebel, als wir Mitternacht von den Uhren lasen. 

Bald kreuzte der Dampfer das »Kap Sunium«, fuhr durch den Canal 
d'Oro und an Euboa vorbei; ich verschlief diese stürmische Nacht, die 
uns tanzen machte bis Lesbos. Als ich erwachte, jagte eben eine »Goletta 
a palo« (Dreimasterschoner) an uns vorbei, nur ein Marssegel am Großmast 
und ein dreieckiges Vorsegel am Bugspriet, diese windgefullt bis zum 
Platzen ; wir hatten hier ein Bild von unserer eigenen Bewegung vor Augen, 
die uns übrigens, dank dem Südweststurme, in der Stunde 13 Vi Knoten 
vorwärts trieb. Ohne »Violons«*) war es nicht möglich zu speisen, und jetzt 
kam der Wirt auf seine Rechnung, denn keine »Venus-Insel« schützte uns 
und die »Sappho-Insel« war noch nicht erreicht. Metelin (Mytilene, Lesbos), 
die »Insel des Gesanges«, sieht sehr nüchtern aus, das Malerischeste ist 
der Hügel hinter der Stadt, welchen ein altersgraues, massig gebautes Fort 
der Genuesen krönt. Allmählich verlor der Sturm seine Kraft. 

Postdampfer dürfen zu jeder Zeit durch die belebte Dardanellenstraße 
fahren. Als wir nach einigen Stunden die roten und grünen Doppelfeuer 
(errichtet während des Krimkrieges von den Engländern) sahen, wußten wir, 
daß der nächste Morgen uns ans Ziel bringen werde; es war am fünften 
Abend seit Marseille. Vor Kal6h Sultanteh (oder TschanAk) hielten wir an. 
Boote kamen zur Schiffstreppe, viele Passagiere wechselten den Dampfer, 
um die Linie nach Saloniki zu benützen. Das hohe Ufer verhinderte uns, * 
von der Troas irgendwelchen Eindruck zu erhalten. Ein hier an Bord einge- 
troffener Belgier, welcher mit seinem Freunde die Ausgrabungen Schliemanns 
gesehen hatte, erzählte jedoch sehr fesselnd: 



*) »Violons«, offene Schutzkistchen für das Eßgerät, mit Schnüren verbunden; die Flaschen 
werden gelegt oder sind bei der Tafel aufgehängt 

65 5 



»Wo die Lichter das Dorf Yeni-Schey anzeigen, liegt das Grab des 
Patroklus. Seit einem Jahre (1872) gräbt Schliemann unermüdlich im Kampfe 
mit Wind und Wetter. Seine treue Genossin hilft ihm; so oft sie der Statte 
jedoch den Rücken kehren, wird mit der Arbeit ausgesetzt, eine Gewohn- 
heit hiesiger Arbeiter. Schliemann verrät sich als Autodidakt und Dilettant: 
In dem Grabe lag niemals Patroklus; nächstens findet er das des Agamemnon, 
und wenn er ein Fersenbein entdeckt, so ist es für ihn gewiß die Achilles- 
ferse. Schmuck haben sie sicher aus dem Nachlasse der Helena und des 
Priamos; das große »trojanische Pferd« werden sie wohl auch finden, wenn 
es nicht verbrannt ist. Dieses Aufbauschen aller Dinge, die nervöse Ungeduld 
ist die Folge des Götzendienstes für Lebende, ein Zug der Zeit; der Beste 
glaubt an das Verhimmeln seiner Erfolge, während die wissenschaftliche 
Welt ihn nur als Vermittler braucht und darum seine Lücken im Wissen 
und seine Eitelkeit geduldig hinnimmt.« 

Die Nacht führte uns in das Marmarameer. Gerade drei Tage nach- 
dem wir im Golf von Neapel eingefahren, ebenfalls mit anbrechendem Tage, 
kamen wir in Sicht der zum Bosporus sich verbindenden Küsten Europas 
und Asiens. Ein seltener Glücksfall war unsere rasche Abfahrt vom Piräeus 
gewesen, denn es heißt: »Stambul, in der Morgensonne von Süden gesehen, 
ist der schönste Anblick der Erde!« Da die Linien noch verwischt waren, 
besah ich mir die Farben des Sonnenaufganges. Ein Maler müßte tatsächlich 
verzweifeln an den kühnen Mischungen; träfe er sie auch, wer würde sie 
glauben? »Erst ein gelbroter Streif über Asien, wie ein greller Trompeten- 
stoß durch den blaugrauen Morgendunst über der Ostküste, als Herolds- 
zeichen des himmlischen Schauspieles; undeutlich heben sich Küstenbildungen 
aus dem Wasser, ein Hauch von Violett deutet an, daß Berge dahinter sind, 
ein Hauch von Rosa an den Rändern der Wölkchen im Westen verkündet 
die Nähe des Sonnenballes. Erwartungsvoll blickt man auf Asien, davor die 
bleiern schwer wogende Wassermasse ruht, durchzuckt von schwefelgelben 
Lichtern und mit bläulichen Schäumen bedeckt. Plötzlich ein Glanz, wie der 
Schein eines aufflackernden Feuerbrandes: wie eine gewaltige vulkanische 
Eruption tritt aus den Bodendämpfen der Sonnenball heraus, schleudert auf 
die Wolkenschicht über uns seinen Glanz, belebt, vergoldet, erwärmt und 
klärt den Zugang zum Paradiese, dessen Perle wir sehnsüchtig am nördlichen 
Horizonte zu erkennen suchen.« So war es, so schrieb ich es nach der Natur 
in mein Reisebüchlein; versucht einer, es in Farben zu geben, er wird nicht 
verstanden werden. 

Als die letzten Nebel von den breiten Strahlenbündeln verjagt waren, 
sahen wir Böjuk, Stephano, jenseits Brussa und die Schneehäupter Klein- 

66 



asiens, vor uns unterschied man schon die feinen Linien der Prinzeninseln. 
Eine Viertelstunde später tauchte wie ein Feenmärchen ein Bild aus den 
Fluten, dessen prachtvolle Konturen, von schlanken Moscheenadeln gekrönt, 
sich scharf von dem mattblauen Firmamente abhoben. Bei wachsendem See- 
gange, zwischen Gruppen von Segelschiffen, umspielt von drolligen Delphinen 
und schreienden Möven, erblickten wir das von der Aprilsonne grell be- 
leuchtete Yedikale, Heptapyrgon (das Schloß der »sieben Türme«) und die 
Spitzen der zahllosen Zypressen zwischen den höheren Dächern und Kuppeln 
von Stambul. Nach 5 Vi Tagen Fahrt von Marseille hatten wir das letzte 
Kap vor dem »Goldenen Hörn« erreicht, vor uns lag der »Leanderturm« 
auf einsamer Klippe (denn auch hier spielt diese Sage), tatsächlich ein 
Festungsturm, bis zu welchem einst eiserne Ketten gespannt waren, den 
Verkehr zu zwingen. Beschiktasch schob sich rechts vor mit dem hölzernen 
Sommerpalaste des Groöherrn, weiter das herrliche Schloß des Sultans: 
Dolma bagdsch£, davor Panzerfrögatten. Zwischen zahllosen Kaiks zogen 
Möven ihre Kreise, rastlose Bojen zerrten an ihren Ketten im Gewoge, 
darüber ein Knäuel von Schiffen, ein Gewirre von Gärten im ersten Grün, 
massige Moscheenbilder mit ihren Minaretts, welche, gleichsam emporjubelnd, 
den Sieg des Islam einst über das morsche Byzanz zu verkünden hatten, 
das alles umrahmt von den Häuserterrassen der Säulen an der Pforte des 
»Goldenen Horns«, Seraglio und Tophan6! 

So genoß das Auge noch niemals; es war für mich das schönste Hafen- 
und Städtebild der Erde, es webte und lebte ein harmonisches Farbenspiel 
aus diesem Füllhorne von Schönheit, durchbraust von dem Hafenleben, dem 
Getöse der Stadt; — ich rieb mir die Augen, ob es nicht ein Traum sei, wie 
einst vor dem Anblicke des Urner Sees mit dem Eissarkophage Uri-Rothstock. 

Gegenüber Bebek waren die Rasenplätze neben dem Marmorkiosk des 
Sultans (mit schönem Goldgitter) dicht besetzt Verkäufer mit »Mastix-Likör«, 
mit »Rachat Lockum«, dem türkischen Konfekt (aus Mehl, Honig und Trauben 
bereitet) und Konfitüren »Chalva« (aus Sesam und Honig mit Mehl) wandelten 
von Gruppe zu Gruppe. Im Hintergründe ritten Haremswächter, äthiopische 
Typen, auf prächtigen Arabern eine »Phantasia«, als wären sie im Zirkus Renz, 
und zwischen den Equipagen drängten sich Soldaten, feine Griechen, Neger, 
großbärtige Türken, oft prächtige Gestalten, Bettler durch, manche mit grünen 
Turbans, als »Nachkommen des Propheten«, die den Titel »Emir« tragen dürfen. 

Wir mußten uns durch die Massen drängen, sogar an Igelverkäufern 
vorbei, welche ihre stacheligen Objekte dicht unter die Nasen der Passanten 
hielten; über die »Petits champs« ging's in den kleinen Friedhof, dessen Grab- 
steine eine Geschichte des Turbans aus vier Jahrhunderten darstellen. 

67 5* 



Durch eine Seitenstraße fiel mein Blick hinüber auf Stambul. Die Sonne 
stieg, die Schiffe ruhten an ihren Ankern, Wellenschäume blitzten an ihren 
Booten auf, hinter ihnen stieg die alte Stadt und ich stand mitten unter 
Grabsteinen und im Schatten düsterer Zypressen! 

Der Freitag (des Sultans Moscheenbesuch), die erste türkische Kunst- 
ausstellung, eine große griechische Leiche, die Ausflüge nach Skutari 
(Chrysopolis) in Asien, der Ritt zu den sieben Türmen, die Fahrt nach den 
Prinzeninseln, zu den »süßen Wassern Asiens«, nach Rumeli Hissar und 
Andoli Hissar — füllten die Tage aus. Alles herrlich! Nur einen schlechten 
Eindruck nahm ich von Konstantinopel mit, die Masse räudiger Hunde in 
den Straßen. Wehe dem Europäer, den sie verfolgt; kein Türke beschützt ihn. 

Im Mai langte ich in Wien an; die Eindrücke von der Weltausstellung 
wurden eine gute Vorschule für die geplante Weltreise. Schon im Herbste 
sah ich Ceylons Pflanzenpracht. Die großen Fragen im Osten Asiens wurden 
mir 1874 klar, denn ich schaute Jung- Japans erste Regungen, ja, der »Samurai- 
Auf stand« bei Nagasaki hinderte sogar für kurze Zeit unsere Weiterfahrt 
Trotz der wechselvollen Eindrücke habe ich nichts Größeres in das Schatz- 
kästlein von Erinnerungen aus meinen Wanderjahren aufgenommen, als was 
ich gesehen in Rom und Konstantinopel, den Metropolen der versunkenen 
Römermacht im Osten und Westen. 

Hilflos wäre ich gewesen ohne Vorkenntnisse: Immer führten mich die 
empfangenen Eindrücke zurück zur Schule. Die Persönlichkeit des Lehrers, 
seine Art, zu lehren, erwacht in der Erinnerung, denn die in der Jugendzeit 
geweckten Empfindungen für Großes, Edles, Schönes sind das Entscheidende. 
Aus der Schule stammt die Geistesrichtung; ohne Lob und Ermunterung, 
ohne Führung und Beispiel geht die Schule des Lebens später spurlos an 
uns vorbei. 




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Meine Bombe. (Auch ein Jubiläum.) J| Von Alexander 
Dorn. 9t 

Vor fünfundzwanzig Jahren erlebte Triest sein großes Jubiläum. Anno 
1382 hatte die Stadt zu ihrem Heile sich unter den Schutz Öster- 
reichs gestellt, und das Jahr 1882 war der Feier der Erinnerung an 
jenen bedeutungsvollen Staatsakt gewidmet. Eine große österreichisch-unga- 
rische Industrie- und Landwirtschaftsausstellung bildete den Hauptteil und 
Mittelpunkt der festlichen Veranstaltungen, welche der Verherrlichung der 
für beide Teile so segensreichen Vereinigung dienen sollten. 

Trotz mancher Schwierigkeiten, die ja bei solchen Unternehmungen 
immer sich entgegenstellen, die aber, wie meistens, auch in diesem Falle 
überwunden wurden, konnte die Durchführung des Planes glücklich zu Ende 
gebracht werden. Die Beteiligung der Aussteller war eine befriedigende, 
die Anlage und Einteilung erwies sich als vollkommen zweckentsprechend, 
und schon am Vorabend der Eröffnung konnte man sowohl von den Ein- 
heimischen als auch von den bereits in beträchtlicher Zahl aus dem Binnen- 

69 



lande eingetroffenen Interessenten ungeheuchelte Äußerungen von Lob und 
Anerkennung vernehmen. Wir vom Komitee waren glücklich in der Er- 
wartung schönster Erfolge. 

Am i. August fand die Eröffnung statt. Erzherzog Karl Ludwig, der 
Protektor der Ausstellung, war personlich erschienen und geizte nicht mit 
Lobsprüchen für die Veranstalter ; übereinstimmend mit allen Teilnehmern an 
dem Feste, gab auch er seinem Entzücken über den prächtigen Anblick leb- 
haften Ausdruck. Von herrlichem Sonnenschein — wohl etwas warm — beglänzt, 
bot die ganze Anlage am Strande von St. Andrea in der Tat ein wundervolles 
Bild; die große, in schönen architektonischen Verhältnissen gehaltene Aus- 
stellungshalle beherrschte die in südlicher Üppigkeit prangenden Gartenanlagen 
mit den darin verstreuten zahlreichen, größtenteils geschmackvollen Spezial- 
bauten und Pavillons, und angesichts des ernsten Werkes erfüllte der strahlende 
Himmel und das blauende Meer, das uns gegen Mittag als Willkommgruß 
eine erfrischende Brise zusendete, Gemüt und Seele mit edler Heiterkeit. 

Noch berückender war es am Abend. Der ganze Platz mit allen Kunst- 
stücken der damaligen Beleuchtungstechnik illuminiert, auf dem Wasser farbig 
leuchtende, musikspendende Schiffe, brillante Feuerwerke — und alles ge- 
taucht in das bezaubernde Silberlicht des Vollmonds, der aus klarem Sternen- 
himmel herniederschien ; im Hintergrunde schimmernd vorübergleitende Segel- 
boote erhöhten den poetischen Reiz des wirklich feenhaft schönen Bildes und 
alle, die von dort heimgingen, nahmen einen Eindruck mit sich, an den die 
Erinnerung wohl lange nicht erlosch. 

Auch der folgende Tag verlief in eitel Freude. Festliche Rundfahrt im 
Golf und abends große Soir6e beim Statthalter zu Ehren seines Gastes, des 
Erzherzogs. Diesem eine besondere Huldigung darzubringen, war ein Fackel- 
zug des Veteranenvereines bestimmt. Alles war zufrieden; insbesondere die 
Veranstalter. Neben der Genugtuung über das unbestrittene Gelingen ihres 
Werkes empfanden diese auch ein Gefühl der Erleichterung, eine Befreiung 
von geheimer Angst. Es gab ja Elemente, welche die Zugehörigkeit Triests 
zu Österreich nicht als geeignetes Objekt einer Festfeier betrachteten, und 
da man dort auch gewohnt war, daß diese Elemente ihre Ansichten zuweilen 
in recht störenden Demonstrationen zum Ausdrucke brachten, so war eben 
die Besorgnis gerechtfertigt, daß feindselige Anschläge gegen das Unternehmen 
selbst — etwa während der Vorbereitungsarbeiten — geplant seien oder daß 
ein Mißklang in die Eröffnungsfeierlichkeiten gebracht werde. Nun waren 
letztere fast zu Ende und nichts war geschehen! Wir atmeten auf — leider 
zu früh ; denn der Blitz kam ! Doch nicht aus heiterem Himmel, sondern aus 
dunkler Torwölbung. Dies trug sich folgendermaßen zu. 

70 



Der Fackelzug — genauer gesagt Lampionzug — des Veteranenvereines 
formierte sich bei der großen Kaserne und zog von dort um 9 Uhr aus. An 
der Spitze Oberfinanzrat v. Rainer, der Vizepräsident des Vereines, als Kom- 
mandant; sodann die Musikkapelle, hinter dieser der Präsident Raecke mit 
dem Vorstande — dem auch ich angehörte — dann etwa 400 — 500 Veteranen 
mit Lampions. Als wir über den Korso marschierten, spielte die Kapelle 
den schonen Marsch »O, du mein Österreich« ; die Fahrbahn war freige- 
blieben, an beiden Seiten gingen die Lampionträger, die Trottoirs dahinter 
von Menschen überfüllt. Alle waren in bester Laune, ich speziell freute mich 
nach starken Anstrengungen der letzten Zeit auf ein paar ruhige Tage. Eben 
dachte ich bei mir: Es ist doch gut, daß nichts geschehen ist — da hatte 
ich das Gefühl, als sei ich mit dem rechten Fuße auf einen harten Korper 
getreten und von demselben abgerutscht ; zugleich ein Knall, eine rasch auf- 
steigende Flamme, der momentane Gedanke: Also doch eine Petarde — — 

Ich schlage die Augen auf — höchst erstaunt, mich auf dem Boden 
liegend zu finden. Die Musikkapelle höre ich schon ziemlich gegen den 
großen Platz zu entfernt lustig spielen; zu beiden Seiten der Fahrbahn 
marschieren noch immer die Lampionträger. Da will ich aufstehen, der Musik 
und meinen Vorstandskollegen nachzueilen — nun erst fühle ich, daß mich 
jemand von rückwärts stützt, sehe, daß ein Blutstrom von mir fließt — das 
Schienbein ist zerschmettert! 

Da kamen nun ein paar Herren aus der Menge vom Trottoir heran — 
Mitglieder des Turnvereines »Eintracht«, dessen Präsident ich damals war — 
und trugen mich in eine nächstgelegene Apotheke. Dort waren schon fünf 
oder sechs andere, leichter Verwundete; mich setzte man in einen Fauteuil, 
das rechte Bein auf ein Taburett legend. Dr. Castiglioni war — durch Zufall 
in der Nähe beschäftigt — sofort in die Apotheke eingetreten, und er be- 
treute schon die anderen, als ich hereingetragen wurde. Bei mir war aber 
die Sache doch viel ernster. Zum Glück aber war kurz vorher das Jodoform 
erfunden worden und Dr. Castiglioni, der stets dem Fortschritt der Wissen- 
schaft gefolgt war, hatte davon Kenntnis ; in der Apotheke selbst war dieses 
neueste Heilmittel nicht einmal vorrätig, der Doktor bestand darauf, daß es 
anderswoher geholt werde. Mittlerweile wurde auch für eine Tragbahre gesorgt. 
Alsbald wurde die Wunde mit Jodoform förmlich paniert, ich sandte noch in 
der Eile ein Telegramm an meine in Adelsberg zur Sommerfrische weilende 
Frau : »Bin verwundet, komme gleich zurück«, dann legte man mich auf die Trag- 
bahre, deckte diese zu, und nun wurde der Transport nach Hause bewerkstelligt. 

Dieser Transport war nicht sehr angenehm; der ziemlich weite Weg 
führte durch die belebtesten Stadtteile, Korso, großen Platz, die enge Via 

71 



Cavana, über den Leipziger Platz hinauf in die etwas abseits liegende Via 
Massimiliana zu meinem Hause. Hilflos lag ich in dem finstern, gedeckten 
Kasten, zu jeder Seite des Kopfes ein kleines, verhängtes Luftloch. Hut und 
Handschuhe hatte man mir auf den Magen gelegt, wie einer Leiche. Von 
der eigentlichen Große meiner Verletzung hatte ich keine rechte Vorstellung, 
wußte nur, daß sie beträchtlich und gefahrlich war, was natürlich den Aus- 
gangspunkt für allerlei unheitere Gedanken abgab ; dazu die Triester August- 
hitze, an deren voraussichtliche Beziehungen zum Wundverlauf sich auch 
manche Ideenassoziationen knüpften. In diese Gedankenreihen mischte sich 
die Vorstellung von dem Schreck meiner armen, geliebten Frau, die aus der 
idyllischen Ruhe der krainischen Wälder gerissen werden sollte, sowie auch 
patriotischer Schmerz über die politische Seite des ganzen Vorganges, von 
dessen Details ich übrigens gar nicht unterrichtet war. 

Durch die Wände des Deckels horte ich dumpf das Brausen der Menge. 
Eine ungeheure Erregung hatte sich nach dem Bekanntwerden des Attentats 
der gesamten Bevölkerung bemächtigt; die Massen durchzogen die Straßen, 
und insbesondere die Slawen der Vororte gaben in Drohungen ihre Wut 
kund, die sich stellenweise auch bis zu Exzessen steigerte. Die Träger meiner 
Bahre hatten wohl zuweilen Mühe, ihre Last heil durch den Menschenstrom 
zu lotsen. Aber es gelang doch, und mit Beruhigung merkte ich endlich, 
daß wir durch die menschenleeren Seitengassen meinem Hause nahe kamen. 

Zum Glück war das Dienstmädchen heimgekehrt. Mit einigen Schwierig- 
keiten brachte man mich zu Bett, und ich wartete nun auf die Ärzte, die 
übrigens gar nicht lange säumten. Dr. Castiglioni war, nachdem er in der 
Apotheke meine Expedition in die Wege geleitet, zum Primarius Dr. Theodor 
Escher, einem ausgezeichneten Chirurgen, geeilt, und nun brachte er ihn zu 
mir. Öffnung des vorläufigen Verbandes, bedenkliche Gesichter, lang an- 
dauernde Narkose, dann der Orakelspruch: »Nun, wir hoffen, den Fuß er- 
halten zu können« — eine Äußerung, die wohl mehr negative als positive 
Erwartungen ausloste! 

Aus einer 17 cm langen Wunde an der inneren Seite des Unterschenkels 
waren die Splitter des zertrümmerten Schienbeines herausgezogen worden, 
die Wunde gereinigt, mit Jodoform behandelt und wieder verbunden worden; 
das Projektil aber hatte man nicht gefunden. Ein Wagen blieb vor der Tür, 
und ein junger Mann, der zur Wartung zurückgelassen worden, hatte den 
Auftrag, im Falle des Auftretens starker Blutung sofort den Arzt wieder 
holen zu lassen. Es war halb zwei Uhr geworden, als die beiden Doktoren 
mich verließen ; ich bat noch Dr. Escher, er möge ein beruhigendes Tele- 
gramm an meine Frau senden, und da mir einfiel, daß Adelsberg keinen 

72 



Nachtdienst habe, bat ich ihn, auch beim Telegraphenbureau zu veranlassen, 
daß doch dieses Telegramm sofort abgehe und zugestellt werde. Dies 
geschah auch. 

Gegen drei Uhr glaubte der junge Mann eine verstärkte Blutung zu 
bemerken und sandte sofort den Wagen um Dr. Escher. Dieser kam alsbald 
mit einem Assistenten. Nach Abnahme des Verbandes bemerkte Dr. Escher 
eine Anschwellung an der Außenseite des Beines und konstatierte das Vor- 
handensein eines harten Korpers unter der Haut. Ein Schnitt öffnete den 
Weg zu diesem und gleich darauf war das Projektil, ein kräftiger Bomben- 
splitter, herausgezogen, die Wunde auch auf dieser Seite von Stoffresten und 
dergleichen gereinigt; damit war erst die Grundbedingung für die Möglich- 
keit der Heilung getroffen — mit hoffnunggebenden Worten verabschiedete 
sich der Arzt. 

Meine Frau erhielt beide Depeschen im »Adelsberger Hof« um halb 
drei Uhr morgens. Man kann sich den Eindruck vorstellen, den die 
Nachricht auf die aus tiefstem Schlafe Erweckte machte. Sie konnte sich die 
Sache gar nicht erklären, dachte an ein Duell oder sonst einen Unfall, den 
wahren Vorgang ahnte sie nicht und konnte ihn auch gar nicht vermuten. 
Sie packte rasch alles zusammen und eilte auf den Bahnhof, wo sie — in 
welcher Stimmung! — bis halb sechs Uhr auf den Wiener Nachteilzug 
warten mußte. Im Bahnhofe zu Nabresina bemerkte sie große Aufregung 
unter den Leuten auf dem Perron, wie sie die Triester Morgenblätter lasen 
und eifrig diskutierten ; da fragte sie aus dem Fenster einen fremden Herrn, 
was denn geschehen sei; dieser, der sie offenbar vom Sehen kannte, sagte, 
es sei eine Petarde in Triest geplatzt und einige Leute seien verwundet 
worden. »Auch Ihr Herr Gemahl — aber beruhigen Sie sich, es ist nichts 
von Bedeutung!« Als nun meine Frau ein Zeitungsblatt wollte, sagte er: 
•Ach nein, hier ist ja alles übertrieben, Sie würden sich nur unnötig auf- 
regen.« Während dieser Zwiesprache setzte sich der Zug in Bewegung und 
die Frau blieb ohne Kenntnis der wahren Lage. Dem Unbekannten aber, 
der sich da so zart und fürsorglich benommen, bin ich heute noch tief 
dankbar. 

Auf dem Triester Bahnhof erwarteten drei Herren vom Vorstande des 
Veteranenvereines meine Frau, um ihr einige tröstende Worte zu sagen — 
ihre betrübten Mienen gaben Anlaß zu den schlimmsten Befürchtungen; 
diese Mienen waren auch bis zu einem gewissen Grade gerechtfertigt, denn 
in der Nacht, besonders nachdem man erfahren, daß die Ärzte ein zweites 
Mal geholt wurden, zirkulierten böse Gerüchte. Mit Bestimmtheit wurde er- 
zählt, es sei mir bereits der Fuß abgenommen; ja voreilige Telegramme 

73 



meldeten sogar ein die Wiener Blatter die Nachricht von meinem Tode. So 
schlimm war es aber doch nicht! 

Mit der möglichsten Raschheit eines Triester Einspänners eilte nun 
meine Frau in höchster Aufregung zu mir. Durch die vor dem Hause ange- 
sammelte Menge von Neugierigen stürzte sie in mein Schlafzimmer, und^da 
konnte sie sich wenigstens zunächst von meinem Lebendigsein überzeugen, 
und auch der Fuß, kunstgerecht verbunden und hoch auf geschichteten Kissen 
liegend, machte seine Anwesenheit höchst auffallend bemerkbar. Ich trachtete 
natürlich, die Gute nach Möglichkeit zu beruhigen, und sprach mit dem mir 
angeborenen heiteren Optimismus die Überzeugung aus, daß ja an der 
Heilung nicht zu zweifeln sei. Bald kam auch der Arzt und half mit bei 
dem Trösten — und so endete die todesschwangere Nacht mit einem hoff- 
nungsvollen Morgen. 

Die Hoffnung\ tauschte auch nicht — nur dauerte die Erfüllung etwas 
lange. Aber immerhin — dank der ausgezeichneten ärztlichen Behandlung 
und der aufopfernden, hingebenden Pflege durch meine Frau wurde ich 
schließlich gesund und nach einem Jahre war alles wieder gut. 

Erst im Laufe des Tages erfuhr ich selbst alles, was sich zugetragen; 
ich kehre daher jetzt noch einmal zu dem Momente zurück, der mich Be- 
wußtlosen auf das Pflaster warf. Aus dem Tore des Hauses Nr. 9 am Korso 
war über die Köpfe des auf dem Trottoir stehenden Publikums hinweg in 
die Mitte des hinter der Musikkapelle einherschreitenden Vorstandes des 
Veteranenvereines eine Bombe — Orsini-Bombe — geworfen worden. Sie 
traf zunächst den Präsidenten, einen ungewöhnlich großen, starken Mann, aui 
die Schulter und fiel von da zu meinen Füßen auf den Boden, wo sie ex- 
plodierte. Ein großer Splitter — etwa in der Größe eines Semmelfünftels — 
fuhr mir in das Bein und was da weiter geschehen ist, habe ich erzählt. Ein 
anderer starker Splitter flog merkwürdigerweise über die Menge hin an 
eine ziemlich entfernte Straßenecke, traf dort einen zufallig dastehenden 
jungen Mann in den Hals und tötete ihn sogleich. Außerdem gab es in 
kleinerem Umkreise noch zwölf bis fünfzehn weniger bedeutende Fußwunden, 
teils bei den Lampionträgern, teils bei einigen Musikern der Kapelle. 

Da war nun ein~Moment großer Gefahr. Die Kapelle hörte zu spielen 
auf, einige Leute machten Miene davonzulaufen, und wenn nun da eine 
Stockung eingetreten wäre, so hätten die Lampionträger und das Publikum 
nachgedrängt und es wäre zu fürchterlichen Szenen gekommen. Ich selbst 
wäre wahrscheinlich von der Masse zertreten worden. Nun aber vollbrachte 
der Führer des Zuges, der schon erwähnte Oberfinanzrat v. Rainer, eine 
große, rettende Tat! Mit einer ans Befehlen gewöhnten Kommandostimme, 

74 



der sich alles fugt, rief er zur Kapelle: »Einschlagen und vorwärts!« Und 
dies wirkte unmittelbar. Der Marsch ertönte wieder, die Kapelle setzte sich 
in Bewegung, die Lampionträger folgten in ungestörter Ordnung und es 
machte sich ein Aufenthalt so wenig bemerkbar, daß schon die Nachfolgenden 
vom zwanzigsten oder dreißigsten Mann an gar nicht mehr wußten, daß etwas 
Besonderes geschehen sei: Sie hatten wohl den Knall gehört, aber an 
knallende Petarden, die keinen Schaden anrichteten, war man ja damals in 
Triest gewöhnt, und man vermutete weiter nichts als wieder einen solchen 
Scherz. 

Als Werfer der Bombe wurde ein gewisser Contento eruiert, ein höchst 
übelbeleumundetes Individuum. Als die Nachforschungen auf seine Spur 
führten, leugnete er zwar und suchte sich durch falsche Alibi- Angaben heraus- 
zureden; aber alle Indizien ließen es als unbezweifelbar erscheinen, daß er 
tatsächlich der Verbrecher gewesen. Zu einem definitiven Resultate führte 
jedoch die Untersuchung nicht, denn Contento, der tuberkulös und physisch 
bereits sehr herabgekommen war, starb während der Untersuchungshaft im 
Gefangnisse. 

Für die Ausstellung, das stolze Jubiläumswahrzeichen, war aber dieser 
Bombenwurf der Beginn einer ganzen Serie von Mißgeschicken. Es war 
geradezu merkwürdig: während der ganzen Vorbereitungsarbeiten bis zum 
Tage der Eröffnung war dieses patriotische Unternehmen vom Glücke be- 
günstigt — und von da an folgte Unglück auf Unglück, wie es kaum je 
bei einer anderen Ausstellung der Fall gewesen sein dürfte. Furchtbare 
Witterungsunbilden, tödliche Unfälle bei elektrischen Leitungen verursachten 
an Ort und Stelle riesige Schädigungen. Die Überschwemmungen in Ober- 
italien und Kärnten schwächten oder verhinderten den Zufluß von Besuchern, 
deren man eine große Zahl aus diesen Gegenden mit Recht erwartet hatte. 
Und endlich — als im September der Kaiser kam, um der eigentlichen 
Feier des Jahrestages der Verbindung Triests mit Österreich die höchste 
Weihe zu geben, da versuchte sich der Fanatiker Oberdank heranzuschleichen, 
um das größte Verbrechen zu begehen — zum Glücke konnte er noch sozu- 
sagen im letzten Augenblicke unschädlich gemacht werden. Aber während 
der Anwesenheit des Kaisers herrschte infolgedessen die düsterste, ängst- 
lichste Stimmung, und Sciroccoregen von tropischer Stärke vereitelten fast 
alle festlichen Veranstaltungen. 

Erst im Oktober konnte ich die Ausstellung noch ein paarmal im Rollstuhl 
besuchen. Schön war sie ja noch immer, und von den Tücken des Schicksals 
war ihr von außen kaum etwas anzumerken ; aber als sie geschlossen worden, 
war die Bilanz des mit so viel Elan und unleugbarem Geschick ins Werk 

75 



gesetzten Unternehmens in jedem Belange eine ziemlich trübselige; als 
einziger Glücksfall wäre noch zu bezeichnen, daß der betrachtliche Haupt- 
treffer der Ausstellungslotterie von dem Unternehmen selbst gemacht wurde. 
Wenn es gestattet ist, noch eine Bemerkung allgemeinen Charakters 
der Erzählung dieses personlichen Erlebnisses beizufügen, so mochte ich an 
diesem Beispiele zeigen, wie oft die Konsequenzen von zeitlich und räumlich 
ganz entfernten Tatsachen sich in einem Einzelfalle betätigen. Hätte ich nicht 
im Jahre 1859 freiwillig den italienischen Krieg mitgemacht, so wäre ich kein 
Veteran gewesen, hätte nicht an dem Festzuge teilgenommen und auch von 
der Bombe nichts abbekommen ; hatte der kürzlich so tragisch dahingeschiedene 
Mosetig nicht rechtzeitig das Jodoform erfunden, so wäre ich wahrscheinlich 
rettungslos verloren gewesen. Die schlimme Konsequenz von einer Seite wurde 
durch die gute Konsequenz von der anderen unschädlich gemacht, und so 
bin ich — soferne man das Leben überhaupt als ein Glück betrachten will 
— heute in der glücklichen Lage, nach fünfundzwanzig Jahren die Vorgänge 
einer Nacht zu erzählen, von der es sehr zweifelhaft war, ob ich sie über- 
leben würde. 

Wien, 2. August 1907. 




76 




Zur Kunst. Kleine Erlebnisse und Anmerkungen 
eines Kunstfreundes. J| Von M. Dreger. J| 

Monumental wirkt ein Bauwerk nur dann, wenn man an seine Festigkeit 
glaubt, ohne sie nachweisen zu können. Bei Eisenbauten wird man 
sofort nachrechnen wollen, und wo das Rechnen beginnt, stellen die 
Zweifel sich ein. 

»Das sieht aus, wie wenn er noch nicht bauen konnte«, sagte die Dame, 
als sie vor einem einfachen modernen Landhause stand, und dachte dabei 
sicherlich, wenn er — d. i. der Architekt — erst auf Seite 78 oder 79 des 
Lehrbuches angelangt ist, dann wird er schon die Giebel und Erkerchen 
darauf setzen wie die anderen . . . 



Museumsleiter und Kunstfreunde sollten Preise aussetzen auf möglichst 
gute Fälschungen von Antiquitäten ; vielleicht würden manche Modesammler 
dann die Lust verlieren, nur Altes ergattern zu wollen. 

Wäre ich Museumsleiter, so würde ich einem alten Kniffe folgen und 
vor den besten Werken Bretterzäune aufstellen; dann würden die Leute 
immer durch die Ritzen hindurchschauen und wirklich genau sehen. 

77 



Ein Berliner Kamerad erzählte mir von einer Mutter, die auf der Aus- 
stellung ihrer Tochter immer wieder zurief: »Emilie, so staune doch mal 'n 
bißchen!« — Über einen Freund staunen wir nur, wenn er uns gerade 
befremdet; die Kunst befremdet heute die Menschen aber fast immer. 



Wenn der Tölpel vom Lande zum ersten Male in einen Salon tritt, 
wird er gewiß höchst originell erscheinen. In Wirklichkeit ist man aber nur 
übertölpelt. — Originell ist nur der, der auch die Lebensart anderer kennt 
und doch selbständig bleibt 

Um eine neue Bewegung zu gründe zu richten, braucht man sie nur 
rasch zur offiziellen zu machen. Dann werden die k la mode-Streber Orgien 
feiern, und die Kunst ist begraben. 



Unsere heutigen Schulen gleichen vielfach dem Schlaraffenlande. Es 
fliegt der Jugend die geistige Nahrung ohne weitere Anstrengung in den 
Mund. — Fallen einem aber alle guten Früchte von selbst zu, so bleiben 
nur die Giftbäume übrig, will sich einer selbst etwas holen. 

Unsere Schüler haben zumeist keine Zeit, sich bei Livius an altrömischer 
Größe zu begeistern oder bei Teil von der Freiheit der Berge zu schwärmen. 
Kaum hat der Mund sich zur Bewunderung geöffnet, so fallt schon eine 
neue Frucht hinein. 

Verbotene Früchte schmecken am besten; beim Kinde sind es eben 
auch die einzigen wirklich erworbenen. Da tritt zum Genüsse, den das Obst 
selbst bereitet, noch der Genuß überwundener Mühe und Gefahr. 

Ist einer in einem Fache groß geworden, so hat er damit meist heimlich 
und mühsam begonnen. Wer wird aber Beeren auflesen, wenn die Trauben 
in den Mund hängen? 

Wenn man alles von den sogenannten besten Lehrern erhalten hat, so 
glaubt man, falls andere anderes denken, das könne nur zwei Ursachen 
haben : entweder die anderen wissen das Gute noch nicht — dann muß man 
sie eben belehren — oder sie wollen es nicht wissen — dann muß man sie 
eben zerschmettern. 

78 



Glücklich das Kind, das Goethes »Sah ein Knab' ein Röslein stehn« 
auch dann albern findet, wenn man es zur Bewunderung des »wohlgetroffenen 
Volkstones« auffordert. Wenn es reif ist, wird es von dem Liedchen entzückt 
sein, auch ohne solchen Hinweis. 

Kunst soll unsere Phantasie harmonisch ausgleichen. Aber soll man dort 
ausgleichen, wo ein Hauptteil noch fehlt? Das Kind empfindet noch nichts 
von alle dem, was die Erhaltung der Menschheit betrifft. — Schließe den 
Ausgleich nicht zu früh, damit auch dieses noch Platz finde und nicht ge- 
trennt einherlaufe neben dem fertigen ästhetischen Dasein. Auch die Griechen 
hatten nicht nur Tugenden, sondern auch Laster. 

Not lehrt beten. Aber darf man jemanden unglücklich machen, um ihn 
beten zu lehren? Wes Seele Zwiespalt empfindet, der wird den Ausgleich 
auch durch die Kunst suchen. Die Kunst der Griechen ist ihrem Unglücke, 
nicht ihrem Glücke entsprungen. Soll ich deshalb aber Leid bringen? Nein, 
das kommt schon durch das Leben und damit der Hunger nach Kunst. 

Fühle ich Hunger nach Kunst, so soll mein Magen aber nicht schon 
verdorben sein. Darum alles Unwahre und Geschmacklose weg aus den 
Augen des Kindes! 

Wenn man jemandem den Geschmack an Gassenhauern abgewöhnen 
will, so wird man ihm Johann Strauß vorspielen, nicht Richard Strauß. — 
Wenn man jemanden an gewichtigere Werke bildender Kunst gewöhnen 
will, so braucht man nicht mit Klimt und Rodin zu beginnen. 

Lasset die Kinder spielen, wie es ihnen beliebt, so lange es nur nichts 
Böses ist. Lasset dem Volke die Kunst, die ihm gefällt, so lange sie euch 
nicht schadet 

Die Kunst des Urwüchsigen und die des Verfeinerten können sich nur 
im Einfachen oder im Erhabenen treffen. Das merke man bei allem, was 
der andere sehen muß, wenn er es auch nicht sehen will. 

Wenn Ihr wollt, daß die Jugend aus einem unpassenden Buche nichts 
Böses lerne, so erklärt ihr Syntax und Formenlehre daran, und der Jüngling 
wird keine Ahnung vom Inhalte haben. Unter dieser Bedingung empfiehlt 
sich auch die Lektüre von Lessings »Laokoon« ; die Jugend könnte sonst 
allerdings lernen, über Kunst zu reden, ohne Anschauung zu haben. 

79 



Das Kind hat Sehnsucht nach Wissen; seine Freude ist es, Tatsachen 
aufzuhäufen für das spätere Leben. Pulverdampf und dräuender Gewitter- 
himmel werden im Erwachsenen Schlachtenstimmung erwecken; auf dem 
Kinderbilderbogen werden sie nur hindern, daß man die Festung und die 
Waffen erkennt. 

Das blöde Auge des Kindes sieht im Käfer nur die krabbelnde Masse 
und es wird ihn mitleidlos quälen. Laß das Kind ihn zeichnen und es wird 
erkennen, daß. im Tiere mehr Leben steckt, als es dachte, und es wird seiner 
schonen. — Stumpfe Augen machen weltabgeschlossen, verdrossen und böse. 
Zeichnen lehrt sehen und fühlen. 




80 



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Heiliger Abend. J| Wiener Skizze von Peter Enslein. 

Immer rascher verschwinden die alten, typischen Wiener Vorstadthäuser, 
wie selbe noch im Vormärz zu Hunderten zu sehen waren. 
Nur die nunmehr zum III. Wiener Gemeindebezirke gehörige ehe- 
malige Vorstadt Erdberg, deren historische Vergangenheit noch bis auf die 
Zeiten Richard Löwenherz* zurückreicht, ist in dieser Beziehung am meisten 
konservativ geblieben. 

Dort findet man noch ebenerdige Häuschen mit zwei Fenstern Gassen- 
front, mit einem verhältnismäßig großen Einfahrtstore samt Giebel, einem 
endlos langen, schmalen Hofraum, welcher von zwei ebenerdigen Hoftrakten 
mit sehr vielen kleinen Wohnungen flankiert wird. Derlei Wohnungen be- 
stehen in der Regel aus einer Küche, oft noch mit offener Herdstelle, über 
welcher ein sogenannter »Mantelbaum« aufgebaut ist. Daran schließt eine 

81 6 



kleine Kammer, in der man die Decke mit der ausgestreckten Hand er- 
reichen kann und deren zumeist zerbrochene Fensterscheiben mit Papier- 
streifen verklebt sind Haben solche Kammern sogenannte »Winterfenster«, 
dann ist der Zwischenraum zwischen den äußeren und inneren Fenstern zu- 
meist mit Sägespänen oder Moos ausgefüllt In der Mitte der Kammer steht 
das eiserne Öferl, dessen Rauchabzugsrohr mit »Spagatschnür In« an der 
Zimmerdecke befestigt ist und in die Küche geleitet wurde, um dort ober- 
halb der Tür durch ein mit Papier und Fetzen gegen den Zug verstopftes 
Loch ins Freie geführt zu werden. 

Aus den Küchen fuhren hölzerne Stiegen, in Form einer etwas festeren 
Leiter, auf den »Boden«. Mitten im Hofe steht noch der alte Brunnen, und 
eine einzige, in der Nähe des Tores angebrachte Wassermuschel mit Pipe 
und Hahn zeigt, daß auch hier der Fortschritt nicht Halt gemacht hat. 
Der Brunnen als Nutz- und die Muschel als Trinkwasserspender sind fast 
den ganzen Tag von den vielköpfigen Parteien des Hauses umlagert. 

In eine solche Wohnung führe ich nun den Leser und mache ihn mit 
den Bewohnern derselben bekannt. Der Familienvater war einst Einspänner- 
kutscher, ein schweres körperliches Leiden zwang ihn, seinen Beruf aufzu- 
geben, als »Stallpage« bei einem Fiaker fristet er sein kümmerliches Dasein. 

Sein Weib geht »ins Waschen und Ausreiben«, von den sechs Arbeits- 
tagen der Woche bringt sie fünf außer Haus zu. Die zwei Kinder des Ehe- 
paares, ein Knabe und ein Mädchen, besuchen die Volksschule, und nur die 
beiden Großeltern, welche bei ihrem Sohne das Gnadenbrot essen — das 
freilich manchesmal sehr schmal ausfallt — sind unter Tags zu Hause. Die 
Großmutter kocht, der Vater geht um Koks, schneidet Späne oder macht 
sich, soweit es sein hohes Alter und seine schwachen Kräfte erlauben, 
anderweitig nützlich in der kleinen Häuslichkeit der armen Familie. 

Heute nun ist heiliger Abend. Schon senkt sich die Dämmerung herab 
und die beiden Enkelkinder sind fortgegangen, um durch die Fenster 
»Christbäume brennen« zu sehen, ein bescheidenes Vergnügen, oft die 
einzige Weihnachtsfreude der Enterbten des Glückes. 

Die Schwiegertochter ist noch bei der Hausfrau in der Keinergasse, 
da ist vor den Feiertagen »großes Reinmachen«, da aber die Hausfrau 
etwas konfus ist, läßt sie alles für den letzten Augenblick. Der Vater 
kehrt nicht eher heim, bis nicht das letzte »Zeugerl« und das letzte 
Pferd in Schuppen und Stall untergebracht sind — darüber graut oft der 
Morgen. 

Großmütterchen ist heute wieder ordentlich »jung« geworden, so ge- 
schäftig tut sie sich um. 

82 



»Ja, sag mir nur glei, wo hast denn du heunt das große Umaschießen 
nur her?« fragt der alte Mann, der mit schadhaften Fleckerlpatschen an den 
Füßen, einem blauen Barchentjanker, einem »Fürtuch« und einer alten, von 
Motten zerfressenen »Pudelhaub'n« am Kopfe beim Öferl sitzt, weil er sich 
heute »völli not derwarma kann«. 

»Aber i bitt di, Peperl, heunt is ja heiliger Abend, muaß do a wengerl 
an Kaffee für die Kinder koch'n, daß a a Freud hab'n.« 

»Ja, ja, hast schon recht. Mein Gott und Herr, wo san do schön Zeiten, 
wo i allemal in der Stadt Am Hof am Christkindlmarkt mit dö Kripperln 
g'standen bin, dö i und du miteinander daham z'sambaselt hab'n.« 

»Ja, halt eh! Kannst di no erinnern, Pepi, wia dir amal die Gräfin 
Harrach a Kripperl für die Kinder von ihr'n Portier abkauft hat und du 
hast es selber hin tragen dürfn ins Palais auf die Freyung?« 

»Schau, wannst es not du jetzt g'sagt hättest, i hätt' nimmer drauf 
denkt. Mein Schädl laßt schon so viel nach. Aber, Kathi, da unter mein 
Strohsack hab' i a klan's Asterl von an Christbam, das i neulich am Markt 
g'funden hab', versteckt, das zarr'n ma außa, steck'ns in a altes Garten- 
g'schirrl, und drei Wachskirzl'n hab' i a in der Schublad, die pick'n ma 
drauf und wann nachher der klane Peperl und d' Salerl kumman, nachher 
zünd'st es an, daß dö Kinder a an Christbam hab'n.« 

Gesagt, getan. Mit für ihr Alter staunenswerter Behendigkeit stellte das 
Mütterchen das kleine Tannenästchen auf den alten »Schubladekasten« und 
die drei Kerzchen klebte sie recht »windverdraht« drauf fest. 

Inzwischen ging auf dem Herde die Milch »über«, ein penetranter 
Gestank durchzog die Kammer. 

»Mir scheint, es is was anbrennt?« 

»Mir kommt's selber so vor. No, macht nix, is not 's erstemal. Waßt no, 
wie bei unserer Hochzeit d' Milli zum Jausenkaffee davong'rennt und der 
Gugelhupf, den die Baumannmahm bachen hat, sitzen blieben is?« 

»Ja damals hat halt 's G'frett schon ang'hebt. Ja, i sag's, wie's wahr is : 
Mit G'frett hab'n mir ang'fangt und wia a Pech is 's auf uns häng'n blieb'n 
bis zum heutigen Tag.« 

»Na aber schau, Pepi, deswegen haben wir uns do alleweil brav g'halten, 
und oft is hinter'n G'frett a a Glück dahinterg'steckt. Waßt no, wiar du in 
48er Jahr als Mobilgard hättest sollen zum Nordbahnhof ausziag'n. In der 
Leopoldstadt kriagst aber solche Bauchweh, daß du nimmer weiter kannst, 
und wiar du nachher hamkumma bist, hast g'sagt: ,So a G'frett, wann ma 
vielleicht General wer'n kunnt und Bauchweh kriagt.' Und do war das G'frett 
a Glück für uns, denn damals san gar viel z'sammg'schossen wur'n.« 

83 6* 



»Du hast ja recht! Ob's aber grad gar a so a Glück war, daß ma mehr als 
fufzig Jahr hat mit Not und Elend kämpfen müassen, das wafl i grad not« 

•Geh, sei ka alter Brummbär. Der Habe Gott und die Himmelmuatter 
hab'n uns alleweil den G'sund dahalten, und so lang ma no haben arwaten 
kinna, hat's uns da d'ran nie not g'fehlt. Du frali hast öfters hoch außi wölTn.« 

»Aber, Alte, a Holzscheiber und Pudelwascher vom Schanzl — und hoch 
außi wöll'n! Daß i not lach.« 

»Na hast vielleicht not lauter noblichte Pudeln zum Waschen g'habt, von 
lauter Grafn und Baroner?« 

»Hat's aber a kaner a so schon kampelt, als wia i. Da hat mi amal aner 
frozzeln woll'n und hat g'sagt: ,Bei Ihna is ja a formlichs Tiresianum — lauter 
Adelige'. Daß i dem not ane einig'rieben hab, auf do er no acht Tag denkt hat, 
denn meine Kundschaften hab 1 i not bileidig'n lassen.« 

»Oder, Pepi, waßt no, wia i do goldene Uhr gefunden hab und nachher 
20 Gulden Finderlohn kriagt hab, war das vielleicht nacher ka Glück not 
g'wesen? 

»Ja, Katherl, aber daß du do 20 Gulden ins Schneuztüachel einbunden 
und das Schneuztüachel samt do 20 Gulden verloren hast, auf das denkst 
nimma?« 

»Geh, wer waß hätt ma mit dem Geld a Glück g'habt! Wir wären leicht 
übermüati wur'n. War das vielleicht a a G'frett g'wesen, daß unser Sühn es 
beim Militär bis zum Korporalen bracht hat?« 

»Dös war nur sei .G'hörtsi', wo man is, durten muaß ma was taug'n. 

»Heunt is er aber Stallpage — und das is grad a ka große Stell'.« 

»San ma stad, heunt wart'l i not mit dir, heunt is heiliger Abend. Jetzt 
muaß i no a Lackerl an Kaffee aufgieß'n, heunt nimm i a »SchmutzerP mehr 
Zigori dazua.« 

Die alte Frau trippelte in die Küche, hantierte am Herde, und als sie 
wieder in die Kammer zurück kam, war der Alte eingenickt. 

Auf den Zehen schlich sie sich hinein, setzte sich auf einen wackligen 
Stuhl und begann ihren Rosenkranz zu beten — bis sie selbst einschlief. 

Die Kinder waren durch die Rüdengasse bis auf den Paulusplatz hinauf 
geschlendert; der etwas größere Knabe führte sein Schwesterchen an der 
Hand. Aus vielen Fenstern blitzte ihnen der helle Strahl der aufgesteckten 
Weihnachtskerzen entgegen, in den Fenstern eines hohen Hauses spiegelte 
sich der Lichterglanz eines herrlichen Baumes. 

Endlich kehrten die Kinder um, es fror sie in ihrer fadenscheinigen 
Kleidung. Der Bub war voll Zuversicht, die Mutter wird gewiß etwas heim- 
bringen, das Mädchen machte ein »Krückerl« und begann zu weinen. 

84 



Als die Kinder heimkamen, empfing sie ein erstickender Qualm. Der 
Gestank der »davongelaufenen« Milch und der Qualm eines zu hoch auf- 
gedrehten Petroleumlämpchens hatten sich miteinander vermählt und einen 
pestilenzialischen Stickstoff erzeugt. 

Die Kinder horten die Großeltern »schnarchen« und setzten sich ruhig 
auf ein »Schamerl« neben dem Herde. Flüsternd erzählte der Bub, was alles 
die Mutter vom Christkind bringen werde. 

Endlich öffnete sich die Tür, in deren Rahmen die Mutter erschien. 

»Jessas na, der G'stank! Ja i sag's ja, enk Fratzen darf ma kan Augen- 
blick allan lassen.« 

»Muatter, wir haben nix angestellt, es hat schon so g'stunken, wia ma 
hamkumma san.« 

»Na ja, i sag's ja, die alte Großmuatter hat gar ka Nas'n mehr. So a 
Malefizg'stank und dabei können do zwa Alten schlaf n.« 

Rasch öffnete sie die Tür und die kalte Luft der Winternacht brachte 
bald bessere Atmosphäre in die Stube. 

Nun erblickt sie den auf dem alten Schubladekasten stehenden Tannen- 
zweig. 

Freudige Rührung überkam das brave Weib. 

»Kinder, bleibt's daweil in da Küchel, i laß' beim Fenster 's Christkindl 
eina«, rief sie den Kindern zu. 

Jetzt entnahm sie ihrem Korbe ein paar Kleinigkeiten: eine kleine Gredl 
für die Salerl, ein Paar gestrickte Handstützerl für den Pepi, in einem 
Skarnitzel Schnupftabak für die Großmutter und ein kleines Päckchen »Drei- 
könig« für den Alten. Alles ordnete sie am Schubladekasten um den Tannen- 
zweig, dann entzündete sie die » windschiefen «Kerzeln und die zwei geweihten 
Wachskerzen, die in gläsernen Leuchtern neben dem erblindeten Glassturze 
mit dem »Kruzifix« standen, und rief die Kinder. 

Die stürmten herein, die Großeltern erwachten, und alle staunten und 
freuten sich über das, was ihnen das brave »Christkindl« gebracht hatte. 

Als sich nun alle zum Kaffee gesetzt hatten, der zwar heute mit »mehr 
Zigori«, aber auch mit »angebrannter« Milch serviert wurde, da merkte niemand 
etwas vom »Beigeschmack« der Milch und alle erfreuten sich nur am »Zigori«. 
Da nahm die Mutter noch einen halben Laib Milchbrot aus dem Korbe, den 
sie von der Hausfrau aus der Keinergasse erhalten hatte. Jetzt war die Freude 
voll. Sie schmausten selig, die Großmutter nahm eine Prise um die andere 
aus dem Skarnitzel und ergriff dann die Hand ihres »Alten« und sagte: 

»Was, Alter, war das vielleicht a a G'frett?« 

85 



»Mein Gott, na, Alte, hast schon recht. Hatt' ma not denkt, daß ma no 
so an schön heilig'n Abend haben. Ja, ja, Kinder. Nur alleweil brav sein 
und auf unsern Herrgott not vergessen, nachher vergißt enk 's Christkindel 
a not.« 

Mit den Rauchwolken, die der Alte aus seiner Pfeife zur Decke sandte, 
schwebten die Engel des Friedens und des stillen Glückes durch die kleine 
Kammer, »hinten im Hof in der Rüdengasse in Erdberg«: »pax hominibus 
bonae voluntatis.« 




86 




Entwürfe zu einer österreichischen Kaiserkrönung. 9t 
Von Heinrich Friedjung. 51 

Vergilbte Dokumente nur sprechen von den sonst vergessenen Vor- 
schlägen, die vom Fürsten Klemens Metternich und dem Freiherrn 
Alexander von Bach ausgingen, um der Reihe nach den Herrschern 
Franz L, Ferdinand I. und Franz Joseph I. die Krone des 1804 zum Erb- 
kaisertum erhobenen Österreich aufs Haupt zu setzen. Nach ihrer staats- 
männischen Auffassung durfte die Kaiserkrönung nicht unterbleiben, wenn an 
dem alten Brauche festgehalten wurde, der für die Königskronen des heiligen 
Stephan und des heiligen Wenzel galt; trat doch 1838 auch noch die Weihe 
durch die eiserne Krone der Lombarden hinzu. Sollte das Kaisertum darin 
den Königreichen nachstehen? Symbole und die Weihe durch religiöse Zere- 
monien besitzen für die Festigung der Herrschaft ihren Wert, auch wenn die 

87 



Dynastie, wie in Österreich, aus der ererbten Treue und Anhänglichkeit der 
Volker ihre Kraft schöpft. 

Gerade jetzt, da der innere Zusammenhang des Reiches oft nur mit 
Mühe gegen die verschiedensten Angriffe verteidigt wird, ist es wohl der 
Mühe wert, jene Entwürfe ans Tageslicht zu ziehen. Sie sind genau so alt 
wie das Patent vom n. August 1804, durch die das Erbkaisertum Österreich 
geschaffen wurde. Es lag etwas Bescheidenes, Geräuschloses in dem wichtigen 
Staatsakte, wie es alt-österreichischer Art entsprach. Weder in den Räumen 
der kaiserlichen Burg noch außerhalb wurde aus diesem Anlasse auch nur 
die leiseste Feierlichkeit angeordnet; doch ist in dem Patente ausgesprochen, 
daß sich der Monarch die Kaiserkrönung und den Erlaß der darauf bezüglichen 
Bestimmungen vorbehalte. Beruhigend wird hinzugefugt, daß die ungarische 
und die böhmische Königskrönung darob nicht unterlassen werden sollten. 

Bei der weiteren Beratung der Angelegenheit kam man noch 1804 zu 
dem Schlüsse, die Feierlichkeit auf bessere und friedlichere Zeiten zu ver- 
schieben. So schlimm stand es mit den Finanzen, daß man es sogar unter- 
ließ, eine eigene Kaiserkrone schmieden zu lassen. Dies besagt der noch 
unveröffentlichte Vortrag, den die Staatskanzlei hierüber am 5. November 1804 
dem Kaiser erstattete. Daselbst wird vorgeschlagen, sich mit der sogenannten 
Hauskrone zu begnügen, die sich bereits in der kaiserlichen Schatzkammer 
befand. Welche Bewandtnis aber hatte es mit dieser Kleinodie? Sie war auf 
Befehl Kaiser Rudolfs II. verfertigt worden, um auf dem Haupte der habs- 
burgischen Herrscher zu prangen, so oft sie in der Burg zu Wien deutsche 
Reichslehen vergaben. Die deutsche Kaiserkrone lag nämlich damals noch 
nicht wie jetzt zu Wien, sondern wurde zu Nürnberg verwahrt und nur zu 
der in Frankfurt stattfindenden Krönung herausgegeben. Also geschah es, 
was zu wissen doch nicht unwichtig ist, daß die österreichische Kaiserkrone, 
auch im strengsten Wortsinne genommen, ein Erbstück ist aus der Zeit des 
alten Deutschen Reiches. Denn Kaiser Franz gab jenem Vortrage der Staats- 
kanzlei seine Zustimmung. 

Die Krönung selbst aber fand doch nicht statt. Zweimal, so berichtet 
Metternich in dem 1852 niedergeschriebenen Stücke seiner Selbstbiographie, 
ging von ihm die Anregung aus, die 1 804 gegebene Verheißung zu erfüllen.*) 
Das erstemal 18 15 nach wiederhergestelltem Frieden, und später 1835, als 
Franz I. zu Grabe ging und Kaiser Ferdinand den Thron bestieg. Graf Hartig, 
selbst Mitglied des Staatsrates, bedauert in seinem Buche »Die Genesis der 
Revolution in Österreich«, daß der staatskluge Antrag Metternichs, wie so 
manche andere von ihm empfohlene Ideen, nicht ausgeführt worden ist. 

*) Metternichs »Nachgelassene Papiere«, 8. Band, S. 386. 

88 



Hier nun erhebt sich die Frage, wie sich Ungarn zu der Krönung in 
Wien gestellt, ob sein Landtag eine Abordnung entsendet und so seine Zu- 
gehörigkeit zum Kaisertum Österreich anerkannt hätte. Tatsächlich nahmen 
die ungarischen Stände das Patent vom n. August 1804 ohne Einspruch hin, 
obwohl es für das Reich die Namenseinheit schuf; sie fühlten sich dadurch 
beruhigt, daß darin die bisherigen Rechte der Königreiche und Länder, ins- 
besondere Ungarns, ausdrücklich wieder Bestätigung fanden. Deshalb sträubten 
sie sich auch nicht dagegen, daß in den Erlässen des Herrschers unter dem 
Kaisertum Österreich auch seine ungarischen Länder begriffen wurden, ja der 
Landtag sprach noch in dem Gesetzartikel 38 vom Jahre 1827 unzweideutig 
von der universa Monarchia Austriaca. Bald darauf erhob sich allerdings in 
Ungarn Opposition gegen diese Auffassung und sie setzte es auf dem Land- 
tage von 1835 auch durch, daß Kaiser Ferdinand sich nur als österreichischer 
Herrscher den Ersten nennen durfte, während er als König von Ungarn der 
Fünfte hieß; und so wurde es auch für Böhmen angeordnet. Aber nach jenem 
langen Streite blieb es anläßlich der Verkündigung der Gesetzartikel von 1835 
doch dabei, daß der Kaisername in dem Titel des Herrschers sich auch auf 
die ungarischen Länder erstrecken durfte, wie aus den Eingangsworten erhellt: 
Nos Ferdinandus Imperii Austriaci Caesareus, Hungariae Bohemiae, Lom- 
bardiae et Venetiorum Galiciae et Illyrii Regius Hereditarius princeps. Somit 
erkannte der Landtag an, daß Ungarn ein Teil des Kaisertums Österreich 
sei, der mächtigste, der verfassungsmäßig mit großen Vorrechten ausgestattete, 
aber immerhin ein Bestandteil.*) 

Im Falle der Krönung Ferdinands I. zum österreichischen Kaiser wären 
die Dinge staatsrechtlich noch so gestanden, daß der feierliche Akt für das 
ganze Reich, Ungarn eingeschlossen, gegolten hätte. Um so bedauerlicher ist 
die damalige Unterlassung der Kaiserkrönung. Man wende nicht ein, daß 
dies kein Hindernis gebildet hätte, um im Jahre 1867 doch die Teilung des 
Reiches vorzunehmen. Dagegen ist doch zu sagen, daß Symbole und Würden, 
auch wenn sie zu Schatten herabgesunken sind, eine gewisse ihnen inne- 
wohnende Kraft besitzen, die später mitunter in wunderbarer Weise wieder 
aufquillt. Einen Beleg hiefür erlebte die staunende Welt im XIX. Jahrhundert 
bezüglich Japans: der Mikado, der durch Jahrhunderte in seinem Palast als 
Gefangener festgehalten wurde und bloß wesenlose Ehren genoß, erhob sich 
in unseren Tagen aus seiner Weltabgeschiedenheit und Ohnmacht und gewann 

*) Nahezu alle Begriffe des ungarischen Staatsrechtes sind fließend; daher der niemals ab- 
reißende Streit aber ihre Auslegung. So hat sich auch über die Frage, ob der österreichische Kaiser- 
titel gebietsrechtlich auch Ungarn umfaßt habe, eine Polemik entsponnen, in der Nagy auf der einen, 
Friedrich Tezner auf der anderen Seite steht, der letztere in seinem Buche »Der österreichische 
Kaisertitel« (Wien 1899). Die obigen Daten sind dem Buche Tezners entnommen. 



durch eine zuerst literarische, dann aber politische Revolution wieder seine 
ehemalige Machtfülle. Als die Nation zu dem herrisch auftretenden Ausland 
in Gegensatz trat, begriff sie die Notwendigkeit staatlicher Einheit; darauf 
wurden die trotzigen Vasallen, die Daimios, gedemütigt, der Schogun, der 
allgewaltige Majordomus, zur Abdankung genötigt, und unter Führung des 
Mikado erhob sich Japan zu ungeahnter Macht und Große. Das ist die Gewalt 
alter Symbole, wenn sie in den Dienst neuer Ideen und eines fortschreitenden 
Jahrhunderts gestellt werden. 

Übrigens war die Kaisermacht auch in Ungarn trotz der Erstarkung des 
nationalen Gedankens nicht entwurzelt und nach den Wirren von 1848 erhob 
sie sich nochmals zu imponierender Hohe. Am 4. März 1849, nach den ersten 
Siegen über Ungarn, wurde für das ganze Reich eine Einheitsverfassimg er- 
lassen, nach der dieses Königreich als Provinz galt wie jedes andere Kronland. 
Ein Kaiser, ein Reichstag zu Wien, ein einheitliches Staatsbürgerrecht und 
Zollgebiet — das war die Grundidee dieser nie ganz zur Ausführung gelangten 
Urkunde. In diesem Sinne kehrte sie auch zu dem Gedanken der Kaiser- 
krönung zurück und es heifit demnach im Paragraphen 12: 

»Der Kaiser wird als Kaiser von Österreich gekrönt. Ein besonderes 
Statut wird diesfalls das Nähere bestimmen.« 

Indessen ist es auch diesmal nicht zur Krönung gekommen, wenn auch 
der Gegenstand noch durch Jahre im Auge behalten wurde; die Gesandten 
Österreichs im Auslande hielten sich, wie aus den Briefen des ehemaligen 
Ministerpräsidenten Freiherrn v. Wessenberg zu ersehen ist, zur Reise nach 
Wien bereit, weil die Festlichkeit nahe gerückt schien. Am 21. August 1850 
schrieb Wessenberg dem Legationssekretär Isfordink nach dem Haag : »Baron 
Doblhoff (der damalige Gesandte in den Niederlanden) wird durch keine Krönungs- 
feierlichkeit in Wien geniert werden ; eine solche scheint mir auf jeden Fall 
vor vollendeter Organisation der gesamten Monarchie nicht möglich — wird 
eigentlich erst bei versammeltem Reichstage passend sein. In England geschieht 
sie auch nur bei versammeltem Parlament.« Damals glaubte man noch all- 
gemein, die Verfassung vom 4. März 1849 werde ausgeführt werden und der 
Reichstag wirklich zusammentreten. Dies aber scheiterte an der vereinten 
Gegnerschaft der Absolutisten, der Ungarn und des feudalen Adels, die ent- 
weder den Einheitsstaat bekämpften oder aber die Wiederbelebung der aristo- 
kratischen, 1848 gefallenen Vorrechte erstrebten. Ihrem gemeinsamen Wider- 
stände erlag das geplante Verfassungswerk und am 31. Dezember 1851 wurde 
der Absolutismus wieder zum Staatsprinzip erhoben. 

Der ideenreiche Fürsprecher der zentralistischen Verfassung von 1849, 
Graf Franz Stadion, war in die Nacht des Wahnsinns versunken, und Ale* 

90 



xander Bach, sein Mitarbeiter, der nach ihm das Ministerium des Innern über- 
nahm, besaß bei Hofe nicht die personliche Geltung, um das Vermächtnis 
Stadions zu Ehren zu bringen. In der Revolution emporgekommen, konnte 
sich der »Barrikadenminister« im Amte dauernd nur dadurch behaupten, daß 
er sich in die rückläufige Flut warf und sich von ihr tragen ließ. Doch war 
er zu klug, um nicht innerlich daran festzuhalten, daß der Einheitsgedanke 
der Unterstützung durch die öffentliche Meinung bedürfe; deshalb empfahl 
er immer wieder die Berufung von Land- und Reichsständen, und wären sie 
auch nur mit dem bescheidenen Rechte ausgerüstet, ein beratendes Votum 
abzugeben. Darauf zielten die Entwürfe zu Provinzialvertretungen, die er 
1854 ausarbeiten ließ. Diese beratenden Landes Versammlungen und die aus 
ihnen entnommenen Landesausschüsse wären ein, wenn auch kümmerlicher 
Ersatz für parlamentarische Einrichtungen gewesen. 

Gleich damals warfen die unversöhnlichen Absolutisten ein, daß diese 
Landstände doch nur den Tummelplatz für revolutionäre Ideen abgeben würden; 
und ebenso ungünstig war merkwürdigerweise die Aufnahme, die sein Entwurf 
zur Kaiserkrönung des Monarchen fand. Ein Verwaltungstalent ersten Ranges, 
zähe und schmiegsam, Mittel und Wege nach dem Bedarfe des Augenblicks 
wechselnd, sah er sich nur allzu oft in großen Entwürfen gelähmt; freie Hand 
besaß er nur so weit, als er an der Einschmelzung Ungarns in das Reich und an 
der Niederhaltung freier Lebensregungen auch diesseits der Leitha mitwirkte. 

So blieb auch der letzte Entwurf zur Kaiserkrönung ein lebloses Akten- 
bündel. Bach hielt aber diese sorgfältig vorbereitete Arbeit offenbar doch für 
zu gut, um sie im Archiv des Ministeriums des Innern vergraben zu lassen; 
er behielt sie unter seinen eigenen Dokumenten und sie befindet sich auch 
jetzt in dem an wichtigen Schriftstücken überreichen Nachlasse dieses Ministers.*) 
In einer sorgsam ausgestatteten Mappe liegen in Reinschrift 17 Hefte, von 
denen das wichtigste die Aufschrift trägt: »Punktationen, die Kaiserkrönung 
betreffend«, während die übrigen Hefte knappe, aber sehr übersichtliche Dar- 
stellungen des Zeremoniells enthalten, die bei der deutschen Kaiserkrönung, 
wie bei den Krönungen und Erbhuldigungen von 15 österreichischen König- 
reichen und Ländern üblich waren. Ziemlich genau sind die Ungarn, Böhmen 
und dem lombardisch-venetianischen Königreiche gewidmeten Schilderungen; 
entsprechenden Umfang besitzt dasjenige, was über die anderen Kronländer 
zu sagen war. Man sieht, daß der Plan wohldurchdacht und mit dem not- 
wendigen staatsrechtlichen Rüstzeuge ausgestattet war. Er vertrug eine ge- 
naue Prüfung, wie auch sonst die Entwürfe, die aus der Arbeitswerkstätte des 
hochbegabten Mannes hervorgingen. 

*) Dieser Quelle sind die folgenden Angaben entnommen. 

9» 



Danach hatte der Kaiserkrönung die Erbhuldigung von Vertretern sämt- 
licher Kronländer vorangehen sollen. Auf dem inneren Burgplatze zu Wien 
wären die Deputationen erschienen, etwa in der doppelten Stärke des großen 
Landesausschusses, dem, wie erwähnt wurde, die Selbstverwaltung in jeder 
Provinz hätte anvertraut werden sollen. Ungarn hätte an dieser Erbhuldigung 
teilgenommen wie jedes andere Kronland. 

Für die Krönung selbst war wie natürlich der Stephansdom ins Auge 
gefaßt Der päpstliche Nuntius sollte von dem Heiligen Vater den besonderen 
Auftrag erhalten, unter Assistenz von Erzbischöfen und Bischöfen der Mon- 
archie die Krönung vorzunehmen. Ein Krönungseid, für diesen Zweck aus- 
gearbeitet, war an die Stelle der Eide zu setzen, welche die Herrscher aus 
dem Hause Habsburg sonst in Ungarn abzulegen gewohnt waren. Zu 
Reichskleinodien waren die im Hausschatze vorhandenen bestimmt, die man 
noch ergänzen konnte. Bei der feierlichen Handlung aber sollten ebenso die 
Kronen von Ungarn, Böhmen und die eiserne der Lombardei vorangetragen 
werden, wie die Herzogshüte von Österreich und Steiermark. 

Darauf wird in dem Entwürfe die Frage erwogen, wie es mit der gleich- 
zeitigen oder späteren Krönung für Ungarn, Böhmen und die Lombardei zu 
halten sei. Hiebei werden zwei Modalitäten ins Auge gefaßt. Man könnte, 
dies war der eine Weg, während des Aufhebens und Ablegens der Kaiser- 
krone durch Hebung und Senkung der übrigen Kronen symbolisch andeuten, 
daß der in Vollzug begriffene Krönungsakt auch den Königskronen gelte. 

»Sollte es jedoch darum zu tun sein,« so heißt es weiter, »daß jede der 
drei königlichen Kronen auf dem Haupte Seiner Majestät faktisch ruhe, so 
bieten sich dafür zwei Modalitäten dar. Die eine in Verbindung mit der 
Kaiserkrönung, die andere außerdem. Was die erste betrifft: Nach Bewirkung 
der Krönung mit der Kaiserkrone werden sich im Hochamte Abschnitte bilden 
lassen — zumal bei der heiligen Kommunion und Wandlung die Krone ohnehin 
abgenommen wird — in welchen die Kronen von Ungarn, Böhmen und die 
eiserne aufgesetzt werden könnten. Beim vierten und letzten Abschnitte 
kommt die Kaiserkrone wieder an die Reihe und verbleibt bis zum Schlüsse 
der Zeremonie auf dem Haupte Seiner Majestät. 

Dieser Modus ist jedoch nicht ganz frei von Bedenken. Erstens müßten 
die Abschnitte mehr oder minder erzwungen werden, zweitens und vorzugs- 
weise fragt es sich, ob die drei Königskronen ohne sonstige Attribute ihrer 
respektiven Krönungsornate mit dem Kaiserornate sich wohl vereinbaren 
lassen würden. 

Die andere Modalität wäre: Unter der Kaiserkrönung werden die 
Salbung, Krönung und Inthronisation für Ungarn, Böhmen und das lombar- 

92 



disch-venezianische Königreich mitverstanden. Am nächsten Festtage des 
Landespatrons verlegen Seine Majestät Allerhöchst deren Hoflager nach Ofen 
(wenn nicht nach Preflburg), Prag und Mailand und veranlassen eine besondere 
Feierlichkeit, welcher Allerhöchst dieselben als gesalbter, gekrönter und 
inthronisierter König in vollem Krönungsornate beiwohnen«. 

Man sieht, welchen Wert Bach darauf legte, daß die Kaiserkrönung auch 
die mit den Kronen von Ungarn, Böhmen und der Lombardei in sich schließe 
— diese Konsekrationen seien dem Hauptakte untergeordnet. Indem aber doch 
in Aussicht genommen wird, die Krönung in diesen drei Königreichen feier- 
lich vornehmen zu lassen, wird ein überaus fruchtbarer und weittragender 
Gedanke ausgesprochen. Würde nämlich der Kaiser von Österreich ohne 
Berufung des ungarischen Landtages wie ohne den üblichen Eid in den alten 
Formen gekrönt worden sein, so wäre dies ein wichtiges Präzedens gewesen; 
man hätte bei der späteren Versöhnung mit der ungarischen Nation nicht 
daran denken können, die großartige Zeremonie zu wiederholen. Wichtige 
Gründe sprachen dafür, also vorzugehen, und wir wissen heute aus den Tage- 
büchern des Generaladjutanten König Friedrich Wilhelms IV. von Preußen, 
Leopold v. Gerlach, daß dieser Monarch damals schon der Ansicht war, sein 
Neffe Kaiser Franz Josef solle sich die ungarische Königskrone auf jeden 
Fall aufs Haupt setzen. 

Ein großer Stil und Wurf geht, wie man sieht, durch diesen Krönungs- 
plan. Der Minister, der Ungarn und seine Nebenländer unter die von ihm 
geschaffene Verwaltungseinheit zwingen wollte, gab sich mit kleinen Dingen 
nicht gerne ab; wo es geschah, rechnete er eben mit Gewalten, die stärker 
waren als er und denen er sich anschmiegen mußte, um eine Stütze gegen 
seine zahlreichen Gegner zu gewinnen. Denn sein Durst nach Macht war 
größer als die Festigkeit seiner Grundsätze. 

Es bedarf noch einiger erklärender Worte, wieso es kam, daß man daran 
dachte, die Kaiserkrönung durch einen päpstlichen Legaten vornehmen zu 
lassen. Der Idee des österreichischen Imperiums hätte es wohl besser ent- 
sprochen, wenn der Metropolit der Reichshauptstadt zur Konsekration ein- 
geladen worden wäre. Auch war der Kirchenfürst, der damals diese Würde 
bekleidete, Kardinal Rauscher, durch die Hoheit seiner Gesinnung wie durch 
seine bis an den Tod unerschütterte Treue zur Idee des Einheitsstaates in 
jeder Beziehung dazu berufen, in die vorderste Linie zu treten. Man faßte 
jedoch in Wien ursprünglich etwas Größeres ins Auge: der erste Gedanke 
war gewesen, Papst Pius IX. nach Wien einzuladen und ihn zu bitten, in 
eigener Person die Krönung zu vollziehen. Gelang dies, so war allerdings die 
Reichsidee mächtiger gefördert als durch den größten österreichischen Bischof. 

93 



Über diese merkwürdigen Umstände fand sich in den zugänglichen 
österreichischen Quellen kein Aufschluß, wir sind bisher bloß auf das ange- 
wiesen, was aus franzosischen Memoiren berichtet wird. Denn dieselbe Ab- 
sicht wie von der österreichischen Regierung wurde von Napoleon III. 
verfolgt, der seit dem 2. Dezember 1852 auf dem Kaiserthrone saß. Er ge- 
dachte, dem von dem ersten Napoleon gegebenen Beispiele zu folgen und 
sich von dem Heiligen Vater krönen zu lassen. Papst Pius IX. lehnte nicht 
ab, aber er verlangte die Erfüllung einer für die römische Kurie wichtigen 
Bedingung. Kurz nachdem 1801 das Konkordat zwischen Rom und Paris 
abgeschlossen worden war, erließ der erste Konsul aus eigener Machtvoll- 
kommenheit und in Ergänzung jenes Vertrages die Organischen Artikel, die 
nach der Rechtsüberzeugung des Heiligen Stuhles mit dem Konkordat im 
Widerspruche standen. Der Papst wollte also nur dann nach Paris zur Krö- 
nung kommen, wenn Napoleon III. jenes von seinem Oheim gegebene Gesetz 
zurückziehe. Als ihm Monsignore de S6gur im Mai 1853 einen Brief über- 
brachte, in dem der Kaiser in den ehrerbietigsten Ausdrücken um die 
Krönung durch den Heiligen Vater warb, rief dieser aus: »Das ist ein präch- 
tiger Brief!« aber er machte dem französischen Prälaten gegenüber, einem 
warmen Anhänger des Kaiserreichs, doch sogleich zwei Hindernisse geltend. 
Das eine war der Bestand der Organischen Artikel, das andere kam von 
seiten Österreichs. Dieser Staat verhandelte eben über ein der Kurie überaus 
genehmes Konkordat und der Kaiser von Österreich wäre beleidigt gewesen, 
wenn Napoleon HI. vor ihm bevorzugt und durch den Papst mit der Krone 
geschmückt worden wäre. Als der Heilige Vater dann S6gur um seine Meinung 
fragte, machte dieser einen merkwürdigen Vorschlag. Er riet dem Papste, 
Österreich wie Frankreich dadurch zu befriedigen, daß er zuerst Napoleon in 
Paris und darauf Kaiser Franz Josef in Wien kröne. »Die Reise nach Frank- 
reich«, fuhr er fort, »würde die Reste des Gallikanismus ausmerzen, die Reise 
nach Wien wäre ein tödlicher Streich für den Protestantismus.« Pius IX. ver- 
hielt sich nicht ablehnend, doch blieb er bei der gestellten Bedingung der 
Aufhebung der Organischen Artikel. »Ich würde dann«, so sagte er mit der 
ihm eigenen Lebhaftigkeit, »drei Monate vorüber gehen lassen, um dem Aus- 
gleiche den Anschein eines Handels zu benehmen. Und dann in den Wagen! 
E poi in carozza!« Die Verhandlungen führten jedoch nicht zum Ziele, da 
Kaiser Napoleon von dem Machtkreise des Staates nichts aufgeben wollte, 
so daß die Gegenleistung von selbst entfiel. 

Der Geschichtschreiber des zweiten Kaiserreiches, Pierre de la Gorce, 
ein Mann von treuer Ergebenheit für die katholische Kirche, knüpft an diese 
den Denkwürdigkeiten Sägurs entnommene Erzählung die feine und kluge 

94 



Bemerkung: »Herr vonS6gur dachte nicht daran, daß selbst die erhabensten 
Zeremonien durch Wiederholung ihren Glanz verlieren, und daß der Papst, 
wenn er der allgemeine Spender der heiligen Krönungssalbungen würde, 
vom Range eines Oberhauptes der Kirche zu der eines Grofialmoseniers der 
Konige herabstiege.«*) Erwägungen dieser Art werden mitgespielt haben, als 
Papst Pius IX. schließlich von der Reise nach Paris ebenso abstand wie von 
der nach Wien. 

Und doch hatte der Vatikan alle Ursache, mit Österreich zufrieden zu 
sein, da es am 18. August 1855 das Konkordat abschloß, durch das die 
Wünsche des Papstes erfüllt wurden. Aber unterdessen war auch der Eifer, 
mit dem man in Wien die Kaiserkrönung betrieb, erloschen, und auch der 
Entwurf des leitenden Ministers nahm nur mehr die Entsendung eines päpst- 
lichen Legaten in Vertretung des Heiligen Vaters in Aussicht. Wir hören 
nichts mehr von der beabsichtigten Feierlichkeit — nach dem Sturze der 
Bachschen Reichsordnung aber erhoben die Provinzen und Nationalitäten 
ihre Ansprüche zur Sonderung und Trennung, während die Anwälte des 
Ganzen und Allgemeinen sich immer vereinsamter fühlten. Wer wagt heute 
noch zu hoffen, daß die österreichische Kaiserkrone einmal wieder auch 
Ungarn und seine Nebenländer überschatten werde? Wohl möglich, daß die 
Hauskrone Rudolfs II. doch einmal unter festlichem Gepränge dem Haupte 
eines seiner Nachfolger aufgesetzt werden wird; solange aber das jetzige 
Staatsrecht der Monarchie gilt, würde diese Zeremonie für Ungarn keine 
Geltung besitzen. Nur solange das einheitliche Reich bestand, war die 
Kaiserkrone ein Symbol, dem sich alle Völker und Länder der Monarchie 
zu beugen hatten. 




*) Pierre de la Gorce »Histoire du second empire«. II. Bd., S. 147 — 152. Das siebenbändige 
Werk dieses Autors ist eines der besten Bücher der modernen historischen Literatur Frankreichs. 

95 



eflMiT. 



BAMm 




Auf Xenophons Spuren. J| Von Ernst Fuchs. J| 

Dreimal im Leben ist mir Xenophon auf meinen Wegen begegnet Das 
erstemal, als ich als Schuljunge die Bänke des Schottengymnasiums 
drückte und die Anabasis las. Die Schwierigkeiten, durch das Dorn- 
gestrüpp der griechischen Formenlehre sich durchzuschlagen, erlaubte dem 
Schuljungen nicht, die hohe Schönheit des Werkes zu erkennen und zu 
genießen. Dies war, wenigstens teilweise, viele Jahre später der Fall, als 
die Zeit gekommen war, da mein Sohn auf denselben Schulbänken saß und 
an derselben Anabasis kaute. Da las ich manchmal mit ihm korrepetierend 
das eine oder andere Kapitel aus der Anabasis, zu dieser Zeit mit weniger 
Verständnis für die griechische Formenlehre und mit desto größerem für die 
schlichte und anschauliche Schilderung von Land und Begebenheiten und 
mit Bewunderung der Klugheit und Tapferkeit des griechischen Heer- 
führers. Ich hätte damals nicht gedacht, daß ich wenige Jahre später an 
einzelne jener Stätten kommen würde, die Xenophon mit seinen Zehntausend 
betreten hatte, und daß ich an Ort und Stelle einen noch höheren Begriff 
von den Mühsalen und Gefahren seines Zuges bekommen sollte. 



96 



Von Cypern kommend, fuhr ich mit meiner Tochter gegen Mersina, 
dem einzigen Landungsplatz an der Küste des »rauhen«, das ist gebirgigen 
Ciliciens — Cilicia trachea. Als wir uns dieser Küste näherten, lag dichter Nebel 
auf dem Meere. Plötzlich zerriß derselbe und wie bei einer Verwandlung 
auf der Bühne stand binnen wenigen Minuten vor unseren Augen die Küste 
und dahinter die riesige Kette des Taurus, der bis weit herab beschneit in 
der Sonne glänzte. Nur ein schmaler Küstenstrich ebenen Landes trennt 
den mächtigen Gebirgszug vom Meer. Dieses schmale Vorland war ver- 
möge seiner Fruchtbarkeit im Altertum von griechischen Städten bedeckt, 
wie die ausgedehnten Ruinenfelder beweisen: Selefke, das alte Seleucia 
aurea, in dessen Nähe Kaiser Barbarossa 1190 im Calycadnus ertrank, dann 
Ura, früher Olba, und unmittelbar neben Mersina die Ruinen von Pompejo- 
polis, deren Allee mächtiger Säulen, die vom Strand bis gegen den 
Fuß des Berges führen, schon vom Schiffe aus westlich von Mersina sicht- 
bar sind. 

Mersina hat keinen Hafen, sondern ist eine offene Reede. Ich wurde 
daher in einer Barke ans Land geholt, welche der österreichische Konsul, 
Herr N. Daras, mir entgegengeschickt hatte. Herr Daras empfing mich aufs 
liebenswürdigste. Ich fand in seinem Hause gastfreundliche Aufnahme und 
er hatte auch für die Fahrt über den Taurus, welche ich vorhatte, alles aufs 
sorgfaltigste vorbereitet. 

Mersina besteht aus einigen den Strand entlang führenden Straßen 
europäisch gebauter Häuser. Rings um diese ziehen sich die »Gärten«. 
Darunter versteht man im Orient den Gürtel von Obstgärten und Feldern, 
welcher manche orientalische Stadt umgibt, so vor allen Damaskus, welches 
davon den Beinamen der Gartenstadt fuhrt. Man würde sehr irren, wenn 
man sich dabei das vorstellen würde, was man heute als Gartenstadt plant 
und in England auch schon in Wirklichkeit zu übersetzen beginnt. Im Innern 
der orientalischen Städte ist gewöhnlich nicht das kleinste Fleckchen Garten 
zu sehen. In Mersina werden die Gärten von Fellachen, das sind ägyptische 
Bauern, gepflegt, welche Ibrahim Pascha in den Vierzigerjahren des vorigen 
Jahrhunderts hieher gebracht hatte. Die Gärten verdanken einer ausgiebigen 
Bewässerung ihre große Fruchtbarkeit, aber auch ihre Fieberluft. Um sich 
gegen diese zu schützen, haben die Fellachen ihre Holzhütten auf hohen 
Holzpfahlen in die Luft gebaut. Die Städter von Mersina aber flüchten, 
wenn die heiße Jahreszeit beginnt, in einzelne hochgelegene Dörfer im Taurus, 
so daß Mersina fast verödet daliegt. Dies ist begreiflich, da im Sommer 
auch des Nachts die Temperatur manchmal nicht unter 40 C, also Fieber- 
temperatur, herabgeht. 

97 7 



Mersina ist nicht groß (9000 Einwohner), aber wichtig als Zugang zu dem 
genannten fruchtbaren Küstenstriche, der ostlich von Mersina immer breiter 
wird, dank den Anschwemmungen der Flüsse Cydnus und Sanis. An ersterem 
liegt Tarsus, an letzterem Adana, die größte und belebteste der drei Städte, 
welche durch eine kurze Eisenbahn miteinander und dadurch mit dem Meere 
verbunden sind. 

Im Norden der drei Städte erhebt sich wie eine unübersteigliche Mauer 
die über 3000 m hohe Kette des Taurus, welche das Küstenland vom Innern 
Kleinasiens abschließt. Unsere Absicht war aber, gerade über den Taurus 
dorthin vorzudringen, und zwar über die alte Karawanenstraße des Gülek 
Boghas. Herr Dr. Schaffer vom naturhistorischen Hofmuseum, welcher diese 
Gegenden als Geologe und Archäologe wiederholt bereist hatte, hat mich 
zu großem Danke verpflichtet, indem er mich mit seinem Rate unterstützte 
und mir Empfehlungen mitgab; auch sind die meisten Angaben in dieser 
kleinen Schrift den Arbeiten Schaffers entnommen. 

Neben dem Gülek Boghas hat Schaffer noch drei Übergänge über den 
Taurus feststellen können, welche aber sämtlich nur auf steilen Bergpfaden 
zu erreichen und so hoch gelegen sind, daß sie durch den größeren Teil des 
Jahres unter tiefem Schnee liegen. Über einen dieser hohen Pässe wurde 
nach Xenophons Erzählung auf Geheiß des Cyrus Epyaxa, die Gemahlin des 
Königs von Cilicien, Syennesis, in ihre Heimat zurückgebracht, geleitet von 
dem thessalischen Feldherrn Menon, welcher später den Führer der Griechen, 
Klearchos, so schmählich an die Perser verriet. 

Ende April, als wir in Mersina landeten, war nur der Hauptübergang 
über den Gülek Boghas passierbar. Das ist die uralte Karawanenstraße 
über den Taurus, welche Semiramis, Xerxes, Darius, Alexander der Große 
und die Kreuzfahrer benützt hatten. Nach Xenophon hatte auch Cyrus 
diesen Weg gewählt. »Der Paß war nur für einen Wagen breit genug, 
außerdem außerordentlich steil, und, wenn er verteidigt wurde, unzugänglich. 
Erst als Ciliciens König Syennesis von den Bergen abgezogen war, wagte 
es Cyrus, den Paß zu überschreiten und zog über denselben in die cilicische 
Ebene hinab. Diese ist groß, schön und wasserreich und von Bäumen aller 
Art und Weinstöcken voll. Auch trägt sie viel Sesamkraut, Buchweizen, 
Hirse, Weizen und Gerste. In Tarsus, einer großen und wohlhabenden Stadt, 
durch welche der Cydnus fließt, hatte der König von Cilicien, Syennesis, seine 
Residenz.« 

Tarsus ist auch heute noch der Ausgangspunkt für diesen wichtigsten 
Paß der cilicischen Küste. Tarsus ist berühmt als Geburtsstätte des heiligen 
Paulus, welcher hier als Zeltmacher lebte, und berüchtigt wegen seiner vielen 



Schlangen im Sommer. Die Stadt liegt am Cydnus (jetzt Tarsus Tschai), 
welcher vor den Toren der Stadt einen schönen Wasserfall bildet. Hier war es, 
wo Alexander der Große nach einem Bade im Flusse in ein schweres Fieber 
verfiel und von seinem Leibarzt durch eine heroische Kur gerettet wurde. 

Wir erfreuten uns in Tarsus der freundlichen Führung eines Öster- 
reichers, Herrn Dörfler, welcher dort als Stadtingenieur lebt. Ihm verdankt 
die Stadt manche Einrichtungen europäischer Kultur, z. B. in vielen Straßen 
ein gutes Pflaster, das man sonst im Orient nicht findet; jetzt arbeitet Herr 
Dörfler daran, der Stadt eine Wasserleitung zu verschaffen. Herr Dörfler 
half uns, in den belebten Bazaren noch einige Einkäufe für die Reise zu 
machen, darunter als Wichtigstes einen Sack Reis, welcher das Hauptnah- 
rungsmittel für uns und unsere Begleiter während der Reise zu bilden hatte. 
Ein Besuch beim Kaimakam verschaffte uns noch die erforderliche militäri- 
sche Begleitung in Form eines türkischen Soldaten (Zaptieh), der in kleid- 
samer und nett gehaltener Uniform vor unserem Wagen einhersprengte. 
Allerdings schien er nur deshalb so gut adjustiert zu sein, um bei den Ein- 
wohnern von Tarsus unser Ansehen und das des türkischen Militärs nicht zu 
schädigen, denn außerhalb der Stadt wurde er durch einen anderen, ziemlich 
dürftig uniformierten Zaptieh abgelöst. Einen wirksamen Schutz gegen 
räuberischen Überfall würde der begleitende Zaptieh schon deshalb nicht 
gewährt haben, weil er oft außer Rufweite vor oder hinter uns daher trabte. 
Er dient mehr zum Aufputz des reisenden Europäers und als Zeichen, daß 
die Regierung eine gewisse Verantwortung für dessen Sicherheit übernimmt. 
Übrigens trafen wir auf unserer Reise ebensowenig Räuber als reisende 
Europäer; die so romantische Straße wird von Touristen so gut wie nie 
gemacht. Obwohl gerade wir Österreicher verhältnismäßig wenig reisen, 
waren es doch zwei Landsleute, welche als Erste diese Gegend erforschten. 
Der Bergrat Russegger untersuchte im Auftrage der ägyptischen Regierung 
1838 das Land geologisch, um eventuelle Mineralschätze zu finden, und der 
Botaniker Kotschy, der schon Russegger begleitet hatte, war dann noch 
zweimal behufs botanischer Erforschung in den Taurus zurückgekehrt. 

Die Straße über die Pylae oder Portae Ciliciae dürfte im Altertum 
wohl viel besser gewesen sein als heute, wo sie streckenweise wohl gut ist, 
dann aber oft wieder so, wie überhaupt nur eine türkische Straße sein kann. 
Wir haben in der Tat auch keinen einzigen Wagen auf dieser Straße begegnet ; 
die zahlreichen Karawanen sind alle zu Fuß oder beritten zu Pferd oder 
Kamel. Auch wir hatten geplant, zu Pferde diese Reise zu machen, aber 
HerrDaras hatte schon zwei Wagen zu unserer größeren Bequemlichkeit bestellt 
gehabt, von welchen der eine sogar ein Landauer war. Der andere war die 

99 7* 



landesübliche Tachta araba (»Holzwagen«), das ist ein mit einem Zeltdach 
überspannter Leiterwagen, der unser Gepäck, Proviant und Bettzeug trans- 
portierte. Er hätte uns auch als Nachtlager dienen sollen, doch zogen wir 
wegen der kühlen Nächte im Hochgebirge vor, die Nacht unter Dach in den 
Hans zuzubringen. Nebst den beiden Kutschern für diese Wagen war noch 
ein Reservekutscher da, der unter anderem auch die Aufgabe hatte, bei 
schwierigen Passagen das Gleichgewicht der Wagen zu erhalten. 

Da die Straße über den Gülek Boghas den einzigen zu jeder Jahreszeit 
gangbaren Weg von der Küste ins Landesinnere bildet, ist sie stets von 
Karawanen belebt, welche Waren und besonders Holz aus den Wäldern des 
Taurus an die Küste bringen. Der Holztransport erfolgt in primitiver Weise 
durch Tragtiere, indem zu beiden Seiten des Pferdes je ein Baumstamm 
befestigt ist, dessen dünneres Ende hinten am Boden schleift. 

Zur Unterkunft sind in gewissen Abständen Hans an der Straße gelegen. 
Der türkische Han in den Städten besteht gewöhnlich aus einem größeren, 
gemauerten, meist zweistöckigen Gebäude von Vierecksform, das einen großen 
Hof einschließt. In diesem werden die Wagen, Pferde, Esel und Kamele 
beherbergt; in dem Gebäude selbst befinden sich zahlreiche kleine Zimmer, 
welche nur nach dem Hofe hin eine Tür haben; bei den Zimmern des ersten 
Stockwerkes führt diese auf eine hölzerne Galerie, die ringsum läuft Der 
Reisende bringt sich meist selbst einen Teppich oder eine dickere Decke 
mit, die er auf dem Boden ausbreitet und darauf nach orientalischer Sitte 
angekleidet schläft. Ebenso verpflegen sich die Reisenden selbst, entweder 
aus den Garküchen der Stadt oder von ihrem mitgebrachten Proviant. An 
den großen Karawanenstraßen im Innern Kleinasiens finden sich einige monu- 
mentale Hans, welche die seldschukischen Herrscher hatten erbauen lassen. 
Es sind riesige Bauten mit gewölbten Hallen und kunstvollen Fassaden, 
welche Hunderte von Reisenden beherbergen konnten. Einen solchen Han 
trafen auch wir auf unserer Reise bei Ulu Kischla. Diese Hans liegen aber 
jetzt alle in Trümmern und können nicht mehr benützt werden. 

Die Hans, welche jetzt dem Reisenden entlang der Gülek-Boghasstraße 
zur Verfügung stehen, sind kleine gemauerte Gebäude, die nur aus einem 
Erdgeschoß bestehen. An der Vorderseite springt das Dach weit vor und 
ruht auf hölzernen Säulen, wodurch eine Veranda gebildet wird, auf welche 
sich die einzelnen Räume des Hans öffnen. Hier bekommt der Reisende ein 
vollkommen leeres Gemach angewiesen, was wenigstens den Vorteil hat, daß 
wegen Mangels an Hausgeräte auch kein Ungeziefer darin ist, wenigstens 
von uns nicht bemerkt wurde. In diesem Räume richtet man sich mit den 
mitgebrachten Sachen häuslich ein, während die Begleitimg am gemein- 



ioo 



schaftlichen offenen Herdfeuer Wasser heiß macht und den Reis zur abend- 
lichen Hauptmahlzeit kocht. Unsere Kutscher pflegten auf dem Wege aro- 
matische Kräuter zu sammeln, die sie dem Reis zusetzten und ihn dadurch 
wohlschmeckend machten. Als Getränk gibt es im Taurus fast überall vor- 
treffliches, oft aus dem Felsen hervorsprudelndes Quellwasser. Geistige 
Getränke sind ganz unbekannt und würden auch nirgends zu erhalten sein. 

Anschließend an den Han findet man gewöhnlich einen kleinen Laden, 
wo man einigen Proviant sowie für den einheimischen Reisenden notwendige 
Kleinigkeiten kaufen kann, ferner eine Schmiede zum Beschlagen der Pferde. 
Endlich ein luftiges Holzgerüst, das in der Höhe eines ersten Stockwerkes 
eine hölzerne Plattform trägt, auf welche man auf einer Leiter oder Treppe 
hinaufsteigt. Hier kann man hoch über dem Erdboden unbelästigt von Mücken 
ausruhen. 

Es war Mittag geworden und die Sonne brannte schon heiß herab, als 
wir mit unseren Besorgungen in Tarsus fertig geworden waren und von 
unseren freundlichen Begleitern aus Mersina und Tarsus Abschied nahmen. 

Der Weg führt zuerst durch die Ebene bis an den Fuß des Gebirges, 
das sich zunächst nur sanft ansteigend erhebt. Diese einem Mittelgebirge 
zu vergleichende Zone sticht traurig gegen die fruchtbare Ebene ab, indem 
sie fast nur von macchiaähnlichem Gestrüpp bedeckt ist und Tieren als 
kümmerliche Weide dient. Es war schon fast dunkel geworden, als wir an 
den eigentlichen Fuß des steil ansteigenden Gebirges kamen. Hier liegt der 
erste größere Han, Mesarlik Han, und neben ihm eine mächtige, aus dem 
Felsen hervorsprudelnde Quelle, vielleicht die Mopsu Krene des Altertums. 
Die Wände des engen Tales, welches den Han beherbergt, sind steil an- 
steigende, stark zerklüftete Kalkfelsen, von einzelnen Föhren bestanden, 
welche im allgemeinen die Bewaldung des Taurus bilden. So bot das Tal 
ein an unsere Heimat, speziell an unser Höllental bei Reichenau erinnerndes 
Bild. Im Talgrunde wachsen die niedrigen Bäumchen von Cercis siliquastrum 
(Judasbaum), welche auch bei uns in Gärten gezogen werden. Sie waren 
jetzt gerade über und über mit roten Blüten bedeckt und glichen von Ferne 
blühenden Pfirsichbäumen, nur daß ihr Rot von dunklerem Ton war. Hie 
und da stand ein hoher Thuyabaum oder der kleinere baumartige Wacholder; 
unten am Bache wuchsen uralte Platanen, auf deren mächtigem Stamm leider 
meist keine Krone saß, da die Hauptäste abgeschnitten worden waren, um 
Holz zu gewinnen. 

Der Han war von übernachtenden Reisenden reichlich besetzt, welche 
nach Landessitte alsbald an den reisenden Europäer sich um ärztlichen Rat 
wandten, umsomehr, als sie gehört hatten, daß ich wirklich Arzt sei. 



IOI 



Am nächsten Tage brachen wir bei prachtvollem Wetter nach der Paßhohe 
auf. Der Weg fuhrt durch Fohrenwald, der zwar schütter ist, aber einzelne 
prachtvolle alte Stamme aufweist. Immer höher erheben sich zu beiden 
Seiten die Gipfel, immer näher rückt der Schnee der Straße, ohne sie ganz 
zu erreichen. Von der Paßhöhe verengt sich das Tal zu einer tiefen und 
engen Schlucht, den eigentlichen Portae Ciliciae oder Gülek Boghas, noow 
über dem Meere. Hier vereinigen sich Straße und Wildbach zu einem einzigen 
schmalen Durchlaß durch das Gebirge; an der seitlichen Felswand ist eine 
Inschrift aus den Zeiten Kaiser Hadrians eingegraben. Dies ist die Stelle, 
von der Xenophon sagt, daß sie unpassierbar sei, wenn sie verteidigt würde. 
Hinter diesem Engpaß erweitert sich das Tal und in 1400 m über dem Meer 
erreicht man den eigentlichen Sattel, die Tekirhöhe. Diese ist breit, von 
Wiesen bedeckt; zur Rechten der Straße liegt ein von Ibrahim Pascha 
erbautes, jetzt ganz verfallenes Fort, wo im tiefen Grase eine stattliche An- 
zahl recht großer Kanonen friedlich rostet. Rückwärts blickt man auf die 
Küste und das Meer, nach den Seiten auf die schneebedeckten Häupter des 
Taurus und vorwärts in das hier breite Tal des Tschakit Tschai. Dieser 
Fluß kommt aus dem Norden, vom Rande der lykaonischen Steppe her. 
Die meisten am Nordrande des Taurus entspringenden Flüsse laufen dieser 
abflußlosen Steppe zu, wo sie entweder im Sande versickern oder in flachen, 
meist salzigen Seen endigen. Der Tschakit Tschai aber wendet sich ungleich 
seinen Brüdern nach Süden gegen das immer höher emporsteigende Gebirge 
und durchbricht es mittels einer Reihe von Schluchten, deren tiefste und 
engste durch den Hauptkamm des Gebirges in das ebene Vorland an der 
Küste hinausführt, wo sich der Tschakit Tschai oberhalb Adana in den Sarus 
ergießt. Auf diesem Wege soll auch die zukünftige Bagdadbahn den Taurus 
überwinden, welche jetzt noch als anatolische Bahn am Nordende des Taurus 
mitten in der Salzwüste unrühmlich endigt. 

In das Tal des Tschakit Tschai hinabblickend, sieht man sowohl rechts 
als links, östlich wie westlich den Fluß in den genannten tiefen Bergschluchten 
verschwinden. Gerade zu Füßen hat man ein kleines Gehöft, den Bozanti 
Han (das alte Podandos); darüber hinaus nach Norden schweift der Blick 
über kahle Berge und Täler bis in die Richtung von Kaisarieh. 

Soweit das Auge reicht, sieht man, abgesehen von dem kleinen Han 
zu Füßen, keine menschliche Ansiedlung. Die Kahlheit der Gegend und 
das Fehlen jeder Besiedlung führt eindringlich die Verödung von Kleinasien 
vor Augen; diese Gegenden waren im Altertum blühend und könnten auch 
heute bei entsprechender Kultur eine fruchtbare und dicht bewohnte Land- 
schaft sein. 



102 



Die Straße führt von der Jochhöhe steil gegen den Bozanti Han hinab 
und folgt dann dem Tschakit Tschai stromaufwärts, bis dieser plötzlich 
zwischen hohen Felswänden verschwindet, die durch den Fluß so tief ein- 
geschnitten sind, daß sie diesen selbst dem Blicke entziehen. Am Eingange 
der Felsenschlucht überspannt eine alte Steinbrücke, nach ihrer weißen Farbe 
Ak Köpri genannt, den Fluß und an der Brücke liegt der gleichnamige 
kleine Han zwischen dem rauschenden Fluß und der hohen Felswand. Aus 
der gegenüber liegenden Talwand sprudelt am Fuße des Felsens eine mächtige 
Quelle hervor, wegen ihrer Klarheit Kara Su, schwarzes Wasser, genannt. 

Nach erquickender Nachtruhe und Toilette am Flusse setzten wir am 
nächsten Morgen unsere Reise fort, indem wir zunächst in die vom Flusse 
durchströmte Schlucht eintraten. Kaum findet neben dem reißenden Flusse 
die schmale Straße Platz; in einem etwas höheren Niveau findet man 
stellenweise die Spuren der antiken Straße. Allmählich wird das Tal etwas 
weiter, bleibt aber immer gleich öde. Plötzlich, nach einer Wegbiegung, 
sieht man durch ein südwestlich abzweigendes Seitental wieder die schnee- 
bedeckten Gipfel des Taurus, an deren Fuß hier das Minendorf Bulghar 
Maden liegt. Hier wird aus dem Gebirge Erz, reich an Blei, Silber und 
selbst Gold, gewonnen. Die Ausbeutung des Bergwerkes und die Verhüttung 
des Erzes erfolgt aber in der primitivsten Weise. Das Anerbieten verschie- 
dener europäischer Gesellschaften, das Bergwerk rationell zu betreiben und 
den Ertrag desselben auf das Vielfache zu heben, wurde von der türkischen 
Regierung zurückgewiesen, trotz günstiger Bedingungen in bezug auf Gewinn- 
anteil, welche man der Regierung vorschlug. Diese ist überall bestrebt, 
europäischen Einfluß möglichst fern zu halten, in der vielleicht nicht unbe- 
gründeten Besorgnis, daß mit dem Eindringen des Europäers auch das Ende 
der türkischen Herrschaft näher rücke. 

Unser Weg fuhrt uus aber nicht nach Bulghar Maden, sondern wir ver- 
ließen beim schön gelegenen Tschifte Han das Tal des Tschakit Tschai und 
gelangten durch eine außerordentlich wilde Schlucht in eine Art Felswüste. 
Immer höher steigt der Weg und immer unwirtlicher wird die Gegend. Die 
Gerippe gefallener Kamele bilden aber entlang der ganzen Karawanenstraße 
eine Art natürlicher und kostenloser Wegmarkierung, welche den Weg leicht 
finden lassen, selbst wenn die Straße wenig kenntlich ist, weil jeder über 
die Steppe reitet, wo ihm beliebt. Endlich erreicht man auf der Höhe eines 
kahlen Plateaus ein größeres, aber armes Dorf, Ulu Kischla. Da der alte 
großartige seldschukische Han in Ruinen lag, suchten wir nach einer Unter- 
kunft, die uns am besten in der kleinen Kaserne schien, wo uns die türki- 
schen Soldaten ihr Zimmer bereitwillig überlassen wollten. Da kamen von 

103 



Ferne zwei Wagen, vorne und hinten von je einem Zaptieh eskortiert Es 
war ein Transport Verbannter, Männer, Frauen und Kinder, welche von der 
türkischen Regierung in irgend ein abgelegenes Nest in Kleinasien verschickt 
wurden. Einer der Zaptiehs teilte uns mit, daß einige Stunden weiter ein Dorf, 
namens Tschayan, liege, wo bessere Unterkunft zu finden sei. In jenen Orten, 
wo kein Han ist, soll für den Reisenden ein Zimmer, Oda genannt, bereit ge- 
halten werden, das jeder Reisende ohne Entgelt benützen kann. Es enthält keine 
Einrichtungsstücke und man mufl sich mit Hilfe mitgebrachter Teppiche oder 
Decken selbst häuslich einrichten. Wenn man das Glück hat, allein zu bleiben 
und das Zimmer nicht mit anderen Reisenden teilen zu müssen, kann man sich 
ganz behaglich und ungestört darin fühlen. Die Dorfbewohner sind gutmütige, 
bereitwillige Menschen, welche einem sofort zur Labung Jourt, das ist eine 
eigene Art festgeronnener sauerer Milch, herbeibringen; dieser Jourt ist Volks- 
nahrungsmittel, das in großer Menge verzehrt wird und sehr erfrischend und 
zuträglich ist. Da diese Leute nahezu nie einen Europäer durchreisen sehen, 
so sind sie außerordentlich neugierig und das halbe Dorf folgt jeder Bewegung 
des Reisenden mit Aufmerksamkeit; man darf sich dadurch nicht stören lassen. 
Die Bewohner dieses Teiles von Kleinasien sind Türken, während die 
Südküste hauptsächlich von Griechen, Armeniern und einzelnen Europäern 
besiedelt ist. Der türkische Bauer ist ein untersetzter, breitschultriger Mann 
mit Neigung zur Fettleibigkeit. Er hat schwarzes oder braunes Haar und 
sein gutmütiges, wenn auch gerade nicht besonders intelligentes Gesicht 
erinnert manchmal an unsere Bauern. Gleich diesen ist der Türke der Feld- 
arbeit zugetan; er trägt keine Waffen und kommt dem Fremden freundlich 
entgegen, wenn ihn dieser nicht durch ungeschicktes Benehmen verletzt 
Über die Frauen kann ich nichts sagen, denn man bekommt diese auf der 
Straße kaum zu sehen und dann sind sie verhüllt. Meine Tochter war des- 
halb als reisende Dame ein besonderer Gegenstand der Verwunderung. — 
Wesentlich verschieden vom Türken ist sein südöstlicher Nachbar, der Araber, 
den wir auf der Reise durch Syrien kennen gelernt hatten. Die Araber sind 
eine aristokratische Rasse. Sie haben dunklen Teint, rabenschwarzes Haar 
und zarte Gliedmaßen. Sie sind mager und elastisch, mit eleganten Bewe- 
gungen und vorzügliche Reiter. Wir haben manchen Reiter begegnet, der 
einem Maler als Modell zu einem orientalischen Fürsten hätte dienen können, 
den man aber ebensogut für einen Räuber ansehen konnte, wenn man ihn 
auf einsamem Feldwege traf, dahersprengend mit der langen Flinte über den 
Rücken gehängt und im Gürtel ein langes Dolchmesser. Das Land nomadi- 
sierend zu durchziehen, und wenn es geht, Reisende zu brandschatzen, ent- 
spricht auch mehr den Neigungen des Arabers als der Feldbau. 

104 



j 



Tschayan war unser letztes Nachtlager im Gebirge. Nun ging es immer 
mehr bergab gegen die durchschnittlich iooo m über dem Meere liegende 
lykaonische Steppe, in deren nördlichem Teil Konia, das alte Ikonium, liegt, 
dem wir zustrebten. Oft sieht man, soweit das Auge reicht, weder Baum 
noch Haus. In der Ferne erheben sich Gruppen kegelförmiger Berge, aus- 
gebrannte Vulkane, gerade so kahl wie die Ebene selbst; dazwischen ein- 
zelne Salzseen. Das Klima dieser hochgelegenen Salzsteppe ist möglichst 
schlecht. Im Sommer glühend heiß, ist es im Winter ebenso bitter kalt; 
im letzten Winter war inEregli die Temperatur bis auf — 2 8° Celsius herab- 
gegangen. Dazu fehlt es bei der Baumlosigkeit der Gegend an Holz. Das 
Brennmaterial der Eingebornen ist getrockneter Kuh- und Kamelmist. Ihre 
armseligen Lehmhütten scheinen, aus der Ferne gesehen, einen eigentüm- 
lichen, an die Sezession erinnernden Wandschmuck zu tragen in Form 
dunkler, in regelmäßigen Abstanden stehender Scheiben. In der Nähe 
betrachtet sind es Kuhfladen, die man zum Trocknen an die Wand des Hauses 
angeklatscht hat. 

Als wir endlich ganz in die Salzsteppe herabgekommen waren, erblickten 
wir als erstes Gebäude einen runden Turm, daneben ein Haus, die wir, näher- 
kommend, als den Wasserturm der Eisenbahn und das Stationsgebäude er- 
kannten, die hier mitten in der Wüste, fern von jeder Ortschaft, liegen. Hier, 
bei Bulgurlu, ist das Ende der anatolischen Bahn, welche vor dem Taurus Halt 
gemacht hat. Die technischen Schwierigkeiten der Durchquerung des Taurus 
sowie die Langwierigkeit der Unterhandlungen mit der türkischen Regierung 
haben hier den Bahnbau schon seit einigen Jahren zum Stillstand gebracht, 
und wer weiß, wann die Bahn hier wieder zu neuem Leben erwachen und 
ihre stolz geplante Fortsetzung bis Bagdad erleben wird? 

Die nächste Station an der Bahn ist die Stadt Eregli, welche, abgesehen 
vom Bahnhofsgebäude, vollkommen orientalisch ist. Sie liegt so nahe dem 
Rande des Gebirges, daß die von diesem kommenden Wasserläufe zur Be- 
wässerung verwendet werden können und die Gegend zu einer fruchtbaren 
Oase in der Salzsteppe machen. Folgt man von der Stadt aus dem aus den 
Bergen kommenden Flusse stromaufwärts, so gelangt man nach einigen Stunden 
an einen der schönsten Flecke Kleinasiens. Knapp am Fuße der Tauruskette, 
welche hier ganz unvermittelt mit ungeheueren Steilwänden zur Ebene ab- 
stürzt, liegt das kleine Dorf Iwriz zwischen Obstbäumen versteckt. Neben 
dem Dorfe sprudelt aus dem Fuß der Felswand eine mächtige Quelle klarsten 
Wassers hervor, das sofort einen ansehnlichen Bach bildet. Dort, wo dieser 
den Felsen bespült, haben in unzugänglicher Höhe die alten Hittiter, die 
semitischen Ureinwohner des Landes, vor Jahrtausenden in die Felswand ein 

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ReHer eingemeißelt, zwei Kolossalfiguren, einen Konig und einen Priester 
darstellend. Mit ihren langen, künstlich gekräuselten Barten erinnern sie an 
die bekannten assyrischen Skulpturen. Die düsteren, himmelhoch aufstrebenden 
Berge im Hintergründe, das rauschende Wasser und ein Nußbaumwäldchen 
im Vordergrunde samt dem alten Hittiterrelief machen diesen Ort zu einer 
selten harmonischen Vereinigung von Naturschönheit mit ehrfurchtgebietenden 
Denkmälern uralter Kultur. 

In Eregli hatte unsere Taurusfahrt ihr Ende und begann die prosaische 
Eisenbahnfahrt, welche uns nach Konia im Herzen von Kleinasien brachte. 
Um mit Xenophon zu schließen, zitiere ich aus ihm, daß Cyrus von Tyriaeus 
aus mit seinem einheimischen Heere und mit der Königin Epyaxa nach 
Ikonium (Konia) marschierte und mit ihm die griechischen Hilfstruppen, 
unter welchen sich auch Xenophon befand. 




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Spitzbergen. J| Von Raimund Günther. J| 

Spitzbergen ! Welch eine Fülle von Zauber liegt in diesem Worte für die 
wenigen Glücklichen, die diese einsame Inselwelt betreten durften. » Aui 

Wiedersehn«, ich rief es scheidend den verlassenen Gestaden zu, die vor 
meinen Blicken allmählich im trüben Glänze der Mitternachtssonne ins dunkle 
Eismeer hinabsanken — wir fuhren wieder Europa entgegen. Auf Wieder- 
sehn ! Ja, ich will es halten, so mir das Schicksal dieses Glück noch einmal 
gönnen mag. 

Wie viele sind hinaufgezogen nach dem finsteren Felsen, dem Nordkap 
Europas, wie viele haben die ernste Schönheit des Nordlands in begeisterten 
Worten gepriesen, und wie wenige nur von ihnen haben das Eismeer durch- 
quert, haben das Wunderland Spitzbergen geschaut. 

Weit, weit nördlicher als die letzten Behausungen der heidnischen 
Eskimos Grönlands, der wilden Samojeden von Nowaja Semlja, dort wo kein 
menschliches Wesen mehr dauernd zu siedeln vermag, wo nur der Eisbär 
noch haust und der Polarwolf heult in der endlosen Winternacht, dort liegt, 
im Norden und Osten umgürtet vom ewigen Eise, die verlassene Inselwelt — 
Spitzbergen. 

Wohl hatte ich schon viel des Wundersamen gehört und gelesen von 
diesem nördlichsten Lande der Welt, dem nur der nördliche Teil von Franz 
Josefs-Land diesen Ehrentitel streitig macht, doch die geschaute Wirklichkeit 
übertraf bei weitem alles, was die gespannte Erwartung der Phantasie zu 
schaffen gebot. Die wenigen Tage, die mir dort im Reiche des Nordpols zu 
wandern beschieden waren, sie werden mir zeitlebens unvergeßlich bleiben. 



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Rotglühend war die Sonne des Nordens zur stillen Mitternacht in die 
goldigen Fluten des Eismeers getaucht, den Kamm der zarten Wogen im 
flüchtigen Kusse berührend, um sich alsbald wieder zu erheben, im steigenden 
Glänze erbleichend. Wie schweigsam brütend lag der schwarze Felskoloß 
des Nordkaps da, als spähe ein ungeheurer Riese über die bleiernen Fluten 
des Eismeers nach dem unerreichbaren Wunderland am Nordpol aus. Wie 
viele kühne Fahrer haben hier von ihrem geliebten Europa Abschied ge- 
nommen — für immer. 

Rasselnd ging der Anker in die Hohe, die Maschine fing langsam zu 
stampfen an, und allmählich wendete sich der schlanke Leib unserer schonen 
»Prinzessin Viktoria Louise«, die wir alle schon innig lieb gewonnen. Hatte 
sie uns doch sicher und wohlbehalten durch alle Riffe und Schären der 
zerklüfteten Küste Norwegens gesteuert, in alle Fjorde tief, tief ins Innere 
dieses einzig schonen Landes geführt; vorüber an brausenden Wasserfallen, 
an lachenden Fluren und gigantischen Felswänden, vorbei an lieblichen 
Dörfern und blühenden Städten, hinauf bis zur nordlichsten Stadt der Welt, 
dem trauten Hammerfest, das so friedlich inmitten seiner grünenden Matten 
liegt, in der stillen Bucht, wo kein Baum mehr wächst und kein Strauch 
mehr blüht. 

Still und ruhig lag das Meer vor uns und im fahlen Glänze der nebel- 
umwobenen Sonne sah es aus wie geschmolzenes Blei. Nach Norden ging 
der Kurs ! Nach Norden 1 Hier vom nordlichsten Ende der menschenbewohnten 
Erde — nach Norden ! Ein seltsames Gefühl beschlich den einsamen Passagier, 
der allein von allen auf Deck zurückgeblieben war. Langsam entschwand am 
fernen Horizont der feste Boden, der uns mit der Menschheit, mit dem Leben 
verband, und entgegen ging es dem Ungewissen, der geheimnisvollen, unbe- 
kannten Welt, aus der schon so viele nie wiedergekehrt sind zu den Ihrigen. 
Ein letzter Blick noch nach dem versinkenden Felsen des Nordkaps, auf 
dessen steilem Haupte wir noch vor wenigen Stunden Europa Lebewohl 
gerufen, und auch ich ging zur Ruhe, um von dem Märchenland zu träumen, 
dem wir entgegenfuhren. 

Die stimmungsvollen Klänge der Tagwache, die der Schiffshornist, durch 
alle Räume schreitend, bläst, verscheuchten mit freundlicher Stimme all die 
Spukgestalten der Träume, die meine erregte Phantasie mir vorzugaukeln 
wußte. Behende sprang ich aus dem Bett, kleidete mich eilends an und lief 
die Treppen empor aufs Verdeck, all die Eisbären und Polarwölfe, mit denen 
ich im Traume gerungen, in der Kajüte zurücklassend. Welch ein Bild wird 
sich meinen Blicken bieten? Mußten wir doch schon mitten im Eismeer sein ! 
Und in der Tat, da lag es ausgebreitet zwischen Himmel und Erde in un- 

108 



endlicher Weite, still und regungslos, als wäre es zu Eis erstarrt, in das der 
Bug unseres Schiffes lautlos seine Bahn schnitt. Leblos schien diese einsame 
Welt, auf die die bleiche Sonne aus trüben Wolkenschleiern müde vom 
langen Wachen herabsah. Doch was war das? Ein schwarzer Rücken, wie 
der Kamm einer dunklen Welle, zog sich über die ruhige Fläche hin — 
jetzt ist er versunken in den Fluten, dort erhebt er sich wieder, ein zweiter 
taucht neben ihm auf, dort ein dritter und drüben ein vierter. Wie das eilt, 
sich überstürzt und hastet, je näher das Schiff dem sonderbaren Treiben 
kommt. Ha, jetzt erkenne ich die schwarzen Wasserteufel; Delphine sind's, 
die ihr übermütiges Spiel hier unten treiben! Und sieh, da flattert's in die 
Höhe, eine ganze Schar von buntgefiederten Wildenten, und je schärfer du 
hinsiehst, umsomehr von den lieben Tierchen erscheinen auf der glatten 
Wasserfläche, Tausende und Abertausende, so weit das Auge reicht. Ich trete 
näher an den Rand des Schiffes und senke den Blick in die aufgewühlten 
Fluten. Hei, wie es da wimmelt von kleinen und großen Fischen, wie sie 
durcheinanderschießen, den drohenden Schwingen der Schraube zu entwischen, 
das ganze Meer voll munteren Lebens. 

»Ein Seehund«, ruft der Matrose, der neben mir steht, und deutet mit 
der Hand auf die Meeresfläche hinaus, und schon hab* ich ihn erblickt, wie 
er mit seinen großen Augen angstvoll auf den Schiffskoloß starrt. Jetzt taucht 
er unter, doch nicht lange dauert es, und er erscheint wieder auf der Fläche, 
blickt hastig um sich mit erschrockenem Gesicht, aus dem der lange Schnurr- 
bart chinesenartig herabhängt und schon ist er wieder verschwunden, um weit 
draußen wieder emporzutauchen. Der Arme, welch eine Angst muß er wohl 
vor dem weißen Riesenleib unseres Schiffsungeheuers ausgestanden haben. 
Da ist der Walfisch ein ganz anderer Kerl. Der schwimmt majestätisch ruhig 
dahin, ohne sich viel um das Schiff zu kümmern, stoßt ab und zu eine Säule 
zerstäubten Wassers gen Himmel, taucht langsam unter, um weit, weit weg 
nach langer, langer Zeit wieder ruhig emporzutauchen. Er ist sich seiner Größe 
und Macht bewußt — ist er doch der König aller Wassertiere, der letzte 
Überlebende aus der grauen Vorzeit, die solche Ungeheuer auf der Erde schuf. 

Und weiter ging's gegen Norden hin, nichts als Wasser und Himmel, 
so weit das Auge reicht. 

Da löst sich langsam vom fernen Horizont eine dunkle Wolke los, und 
je näher wir kommen, desto weiter scheint sie sich nach Osten hin auszu- 
breiten, als wollte sie den ganzen Horizont verschlingen. Vorne aber, wo sie 
am dunkelsten ist, stürzt sie in jäher Linie steil ins Meer hinab. Ich hole das 
Fernrohr und richte es hin auf diesen sonderbaren Punkt. Das sieht ja aus 
wie Land? Sollte das schon Spitzbergen sein? Doch der Matrose an meiner 

109 



Seite, der die Fahrt schon einige Male gemacht, klärte meinen Irrtum auf. 
Es war die Bäreninsel, dieses einsame Eiland, das ganz allein mitten im Eis- 
meer liegt. Auf halbem Wege vom Nordkap nach Spitzbergen ragt es als 
höchste Erhebung der großen, vor grauen Zeiten ins Eismeer versunkenen 
Felsbank aus den Fluten empor, dort wo der Golfstrom und der Polarstrom 
ineinanderfließen. So kommt es, daß ein ewiger Nebel, von den westlichen 
Winden in langen Streifen über das Meer gezogen, das düstere Haupt des 
Mount Misery umlagert, des höchsten Berges dieser ausgestorbenen Insel, 
wo einst der kühne holländische Seefahrer Willem Barents die ersten Eis- 
bären sah. Jetzt ist alles Leben dort längst von den Menschen ausgetilgt, 
und nur auf den jäh ins Meer stürzenden Felsen an der Südspitze der Insel 
hausen in ungezählten Scharen die Eidervögel und Seemöwen, die sich diesen 
einsamen Platz für ihre Nester auserkoren haben. Dort sitzen sie auf den 
Felsbändern der ungeheuren Wände grau in grau, daß selbst das bewaffnete 
Auge sie nicht zu erspähen vermag. Aber auch dort läßt ihnen der Mensch 
ihre Ruhe nicht. Sobald das Schiff sich den Felsen auf Büchsenschußweite 
genähert hat, wird ein kräftiger Boller losgeschossen, und wie ein dichtes 
Schneegestober flattern die Tausende von weißen Vögeln in die Lüfte, um, in 
weitem Bogen wiederkehrend, sich langsam wieder niederzulassen. 

In kahler Eintönigkeit ziehen die düsteren Ufer dieser traurigen Insel 
an unseren Blicken vorüber, nur hie und da von spärlichen Resten der winter- 
lichen Schneedecke bestreut. Langsam entschwindet auch dieses Bild am süd- 
lichen Horizont, und weiter geht es dem Norden zu, unserem Ziele entgegen, 
dem geheimnisvollen Wunderland »Spitzbergen«. Noch eine Nacht — das 
heißt noch eine Schlafenszeit bei Tageshelle — und am Morgen, wenn das 
Hörn uns wieder weckt, muß Spitzbergen vor uns liegen, das letzte Festland, 
das vom Nordpol uns trennt. 

Es war am Morgen des 29. Juli 1904, als wir den 77 ° nördlicher Breite 
passierten, dessen Linie die Südspitze Spitzbergens schneidet. Das Wetter 
hatte Festkleid angelegt. Ein scharfer Nordnordost, der das Thermometer auf 
2 ober Null sinken ließ, hatte über «Nacht« den Himmel reingefegt, und das 
lachende Antlitz der strahlenden Sonne grüßte freundlich aus wolkenlosem 
Himmel uns Willkommen zu. 

Ich war in fieberhafter Erregung aufs Deck geeilt und blickte freude- 
trunken hinaus auf die weite Fläche des Meeres, in dessen Wogen, vom 
Wind geführt, das Firmament im tiefsten Dunkelblau sich widerspiegelte. 
Und ich eilte das Promenadedeck entlang, der Vorderseite des Schiffes zu, denn 
dort mußte es liegen, das Land meiner Sehnsucht, dort würde ich es schauen. 
Und sieh, welch ein erhabenes Wunder. Wie auf ein Zauberwort war es aus 



den Fluten aufgetaucht, eine Welt von schneebedeckten Bergeshäuptern. In 
tausend wundervollen, wie von Künstlerhand geformten Gipfeln entsteigt das 
Wunderland den dunklen Meereswogen in strahlend weißem Schneegewand. 
Das ist die Alpenwelt, mit einem Male in die Flut getaucht bis zu der Grenze 
ihres ewigen Schnees! Und aus den Tälern fließen Ströme Eis, die sich in 
schillernd blauen Wänden hinab in Meerestiefe stürzen. Von Zeit zu Zeit lost 
krachend sich ein ungeheurer Eisberg los, und donnernd stürzen die gewaltigen 
Massen in die Flut, daß hoch zum Himmel auf der weiße Gischt entspritzt. 
Dann schwimmt der mächtige Koloß hoch auf dem Kamm der Wogen dem 
fernen Süden zu, Seefahrern Kunde bringend aus dem verbotenen Reich, 
an dessen Pforten ewiges Eis und ewiger Schnee dem allzu kühnen Menschen 
finster drohend Halt gebieten. 

Lautlos glitt das Schiff den Märchenstrand entlang, es wechselten die eis- 
erfüllten Täler ab mit ungeheuren Bergesketten. Bald traten die Ufer weit 
zurück, in einem großen Halbkreis eine Bucht umschließend, bald tat die 
Mündung eines blauen Fjords sich auf, der tief ins Innere des Landes führt. 
So zogen wechselvoll die erhabensten Bilder in ernster Schönheit an uns 
vorüber, und das trunkene Auge konnte sich nicht satt sehen an all den 
Wundern, und es war mir, als ob ich träumte und all das Geschaute nicht 
Wahrheit, nicht Wirklichkeit sei. So ist es mir schon oft ergangen, wenn ich 
allein den erhabenen Wundern der Natur gegenüberstand, überwältigt von 
der unendlichen Schönheit der Welt. 

Erst als das Mittagszeichen ertönte, da erinnerte ich mich, daß ich ganz aut 
das Frühstück vergessen hatte. Der Hunger, der schüchtern vor den Freuden 
des Auges zurückgetreten war, machte jetzt ganz ungestüm und erbost über 
seine Bescheidenheit von seinen Rechten Gebrauch. Wir entfernten uns all- 
mählich von den Gestaden Südspitzbergens, um die Einfahrt in den nördlichen 
Eisfjord zu gewinnen, der an dem westlich vorspringenden Teil der großen 
Insel einschneidet. So versäumten wir nur wenig, da die Konturen des Landes 
während einiger Stunden nur ganz ferne am Horizont zu sehen waren. Nachdem 
wir die Mahlzeit beendet hatten, ging ich daran, meine Ausrüstung in Ordnung 
zu bringen, wollte ich doch, soweit es der kurze, nur 37stündige Aufenthalt 
in der Adventbai gestatten würde, ins Innere des Landes vordringen. Da 
mußte alles klappen. Der Proviant wurde verpackt, das Gewehr nachgesehen, 
Patronen in die Taschen gesteckt und meine geliebten Alpenskis in stand 
gesetzt, die mich sicher und sturzfrei über die weiten Schneefelder tragen 
sollten. 

Als ich mit den Vorbereitungen zu der kleinen Expedition zu Ende 
war, da fuhren wir gerade in den Eisfjord ein. Er ist der größte und zugleich 



in 



der schönste Fjord der ganzen Küste. Die Einfahrt bewacht nordlich der 
Tote Mann, dessen Haupt sich 762 m über das Meer erhebt. Andere schroffe 
Bergeskegel reihen sich in wechselvoller Kette an, und zwischen ihren Rücken 
spannen ungeheure Gletscher sich, die Täler voll ausfüllend, hin, den ganzen 
Fjord im Norden mit einem Panzer von Eis und Schnee umgürtend. In schroffem 
Gegensatz zu diesem Bilde hochalpiner Formenschönheit, die Titanenhände aus 
uraltem Granit und Gneis einst aufgebaut, steigt das südliche Ufer, das den 
jüngeren geologischen Formationen des Jura und Miocän gehört, allmählich 
auf, die Berge aber liegen weit zurück. 

Lange, lange stand ich wie gebannt vor diesem erhabenen Bild, bis 
allmählich die Ufer weiter zurücktraten, während unser Schiff in die Mitte 
des Fjords steuerte. Doch auch von hier aus waren die Ufer so deutlich zu 
sehen, daß man einen Menschen genau zu erkennen vermocht hätte, obgleich 
die Wasser des Eisfjords eine Fläche in der Größe von halb Niederösterreich 
bedecken, so klar und rein ist hier die Luft. Das Menschenauge unterschätzt 
im hohen Norden die Entfernungen, glaubt alles in greifbarer Nähe und wird 
genarrt, wie in der Wüste von der Fata morgana. Schon seit Stunden konnte 
ich ganz deutlich die Einfahrt der Adventbai sehen, wo unser Schiff vor 
Anker gehen sollte, und immer noch lag sie scheinbar in gleicher Weite vor 
uns da. 

Endlich, endlich war die heiß ersehnte Stunde der Landung gekommen. 
Die Anker gingen rasselnd nieder, das erste Boot ward ausgesetzt, und wir 
stiegen ans Land. 

Fürwahr, hier gab es wirklich Land, wie sich's der Europäer denkt. Eine 
große Zunge von Sand und Geröll, aus dem schmalen Tale kommend, das 
zum Nordenskjöld-Berg führt, schiebt sich weit ins Meer hinein. Auf dieser 
Zunge hat eine norwegische Schiffahrtsgesellschaft vor Jahren ein kleines 
Blockhaus errichtet, das sie einige Sommer hindurch für die Passagiere ihrer 
Dampfer bewirtschaften ließ. Die Linie rentierte sich jedoch nicht, ging bald 
ein und mit ihr auch der Betrieb dieses nördlichsten »Hotels« der Erde. Jetzt, 
da jährlich nur zwei Dampfer der Hamburg — Amerika-Linie und zwei Schiffe 
des Kapitäns Bade Touristen nach Spitzbergen bringen, wird die Blockhütte 
viermal jährlich zu einem tollen Picknick mit Tanz und Sang mißbraucht. 

Ich hätte den herzlichen Wunsch, daß die sauberen Herrchen und Dämchen, 
die mit Galoschen auf gelegten Brettern vom Landungssteg die paar hundert 
Meter zu diesem nordischen Idyll hinübertrippeln, um es zu entweihen, einmal 
den Besuch einiger ruppiger Eisbären bekämen. Solche Leute machen eine 
Nordlandsreise nur, weil es zum guten Ton gehört, sitzen den ganzen Tag 
in den Prunksälen des Luxusdampfers, spielen Karten, trinken und rauchen — 



doch ans Land wagen sie sich nicht — sie könnten sich die schonen Schuhe 
ruinieren oder gar einen Schnupfen holen. 

So fand ich denn auch unter den 200 Passagieren des Schiffes nur einen 
einzigen jungen Mann, der es gewagt hat, eine mehrstündige Tour ins Innere 
der Insel zu unternehmen. Er hatte gleich mir eine Kugelflinte mitgebracht, 
doch leider keine Skis, was ihn sehr am Vorwärtskommen hinderte, so daß 
wir beinahe zu spät zur Abfahrt des Schiffes wieder an der Landungsstelle 
eingetroffen wären. Was dies für Folgen hätte haben können, das sagten uns 
mit schauriger Beredsamkeit der kleine Unterschlupf der Verschollenen vom 
Jahre 1895 und die zwei Kreuze davor, wo der einzig Überlebende aus der 
entsetzlichen Polarnacht seine zwei Gefährten begraben hatte. 

Sie hatten sich aus einem Sturm, in dem ihr Schiff, ein Walfischfänger, 
untergegangen war, in einem Rettungsboot hieher geflüchtet. Das nackte 
Leben und ihr Boot war alles, was sie retten konnten. So warteten sie lange 
in banger Sorge, ob nicht vielleicht Hilfe kommen würde; die Jahreszeit war 
bereits weit vorgeschritten, und mit jedem Tage schlich die Sonne tiefer hin 
am Horizont, bis endlich die endlose Nacht mit ihren grausigen Schrecken und 
ihrer entsetzlichen Kälte hereinbrechen mußte. So entschwand allmählich mit 
dem letzten Strahl des Tageslichts der letzte Schimmer von Hoffnung für 
die Armen. Nach mehreren vergeblichen Versuchen, mit dem Boote rudernd zu 
entkommen, vom Treibeis unbarmherzig immer wieder zur Umkehr ge- 
zwungen, waren sie schließlich genötigt, ihre einzige Habe — das Boot — 
zu opfern, um sich daraus einen Unterschlupf gegen die Kälte und — die 
Eisbären zu bauen. Sie gruben sich in den Schutt am Strande eine meter- 
tiefe Grube und darüber kreuzten sie die Ruder, zerlegten die Seitenwände 
des Schiffleins und bauten sich ein Dach. Die wenigen Fische, die sie mit 
improvisierten Fanggeräten erhaschen konnten, sammelten sie bei der Hütte 
und ließen sie zur Konservierung für den Winter einfrieren. 

So legten sie sich zusammengedrängt in die Hütte und erwarteten den 
Tod. Und er kam gar bald. Die gefrorenen Fische, ihre einzige Nahrung, und 
Schnee, ihr einziger Trank, sie öffneten leise dem Feinde die Tür, und er 
kam hereingeschlichen in Gestalt der entsetzlichen Fäulnis, des unerbittlichen 
Skorbuts. Und er raffte den einen der Gefährten hin und bald darauf holte er 
sich auch den anderen. So blieb der letzte ganz allein in der grauenvollen Winter- 
nacht, allein mit den beiden Leichen an seiner Seite, die er nicht hinauszutragen 
wagte, da er das Kratzen und Fauchen der Eisbären an dem Dache der 
Hütte vernahm, und das Heulen der Polarwölfe gar schauervoll in seine Ein- 
samkeit drang. Was ist der Mensch doch für ein herrlich Wesen, daß er 
solche unsagbare Qualen zu ertragen vermag. 

113 8 



Und als der erste Strahl des neuen Lichts in seine Hütte wieder fiel 
und er zum erstenmal hinaus ins Freie trat, die Sonne wiedersah, da war 
das Leid vergessen, alles, und Hoffnung zog von neuem in die freud- 
bewegte Brust 

Er ward gerettet, doch bald darauf starb auch er an den Folgen der 
entsetzlichen Schreckenszeit. 

Die schaurige Geschichte, die uns der Kapitän während der Fahrt erzählt 
hatte, bekam neues Leben beim Anblick der traurigen Reste der Hütte und 
der zwei Kreuze davor. Die Gedanken daran verfolgten uns ein weites Stück 
ins Land hinein, als wir schweigsam nebeneinander einherschritten, unserem 
Ziele, dem Nordenskjöld-Berg, entgegen. Erst als der Schnee tiefer wurde und 
ich die Skis anlegen mußte, um nicht bis zu den halben Waden im Schnee 
stampfen zu müssen, brachte uns das auf andere Gedanken. Da es, trotzdem 
die Eisbären im Sommer sich sehr weit in das eisbedeckte Inland zurück, 
ziehen, dennoch im Bereiche der Möglichkeit lag, daß wir mit einem dieser 
ungemütlichen Herren bekannt werden konnten, verteilten wir die Rollen 
des Angriffes und besprachen den stolzen Triumphzug, den uns die Rückkehr 
mit einer solchen Jagdtrophäe sichern müßte. So stiegen wir langsam das 
schmale Tal empor, das zum eisbedeckten Hochplateau fuhrt, von dem aus 
wir den höchsten, vom berühmten Nordpolforscher Nordenskjöld entdeckten 
Gipfel ersteigen wollten. Wir waren etwa drei Stunden gestiegen, als wir zu 
unserer Rechten einen ungeheuren Bergsturz sahen, dessen Trümmerfeld sich 
bis an den Fuß unserer Talsenkung erstreckte. Ich stieß mit meinem langen 
Skistock an einen der Blocke, und siehe da, der Klotz zerfallt wie von einer 
Hacke gespalten in zwei Stücke, ein weiterer Stoß auf eines derselben, und 
derselbe Effekt. Das machte mich stutzig, ich bückte mich nieder, und ein 
Ruf des Erstaunens kam über meine Lippen. Das waren ja die herrlichsten 
Versteinerungen einer tropischen Pflanzenwelt! 

Man kann sich denken, daß wir mit Feuereifer ein halbes Dutzend dieser 
Blocke zerteilten und alle Taschen mit ihrem Trümmern füllten. Da werden 
die trägen Salontouristen staunen, wenn wir ihnen diese stummen Zeugen aus 
einer längst vergangenen Zeit vor die Nase halten werden. Es ist aber auch 
höchst wunderbar, und der Menschengeist kann es kaum fassen, daß hier im 
höchsten Norden, wo seit Tausenden von Jahren alles starrt im Schnee und 
Eis, wo kaum im Sommer ein paar schmächtige Blümlein und einige ver- 
kümmerte Moosarten ihr kurzes Leben fristen — dereinst in grauer Vorzeit 
ein Erdenparadies geblüht — lange, lange vor der letzten Eiszeit, da die Pole 
über die Erde hinwanderten, als die Erdachse durch kosmische Katastrophen 
ins Schwanken geraten war. 

114 



Auch ungeheuere Steinkohlenwälder muß es hier zur Tertiärzeit gegeben 
haben, denn noch heute kommen während der wenigen Sommermonate kühne 
Unternehmer mit ihren Schiffen an dieses verlassene Gestade, um nach der 
kostbaren Steinkohle zu schürfen. Dereinst, vor einigen Jahrhunderten, als im 
äußersten Nordwesten der Insel in der holländischen Sommerniederlassung 
der Smeerenburg der Walfang blühte, da sollen auch ganz ergiebige Mengen 
von Kohle gewonnen worden sein. Heute, ist so gut wie nichts mehr übrig 
von dieser einst blühenden Niederlassung wie auch von dem Bergbau, und 
nur die halbverfallene Ballonhütte Andrees, der von dort aus seinen unheil- 
vollen Aufstieg unternahm, ist das einzige Wahrzeichen menschlicher Tätigkeit. 

Nach fünfstündiger Wanderung hatten wir das Hochplateau erreicht und 
sahen die Pyramide des Nordenskjöld-Berges vor uns. Wir beschlossen eine 
Rast zu halten und die Rucksäcke um einen Teil des Proviants zu erleichtern. 
Nachdem wir uns gestärkt und ausgeruht hatten, suchten wir auf dem Schnee 
nach Spuren von Reimtieren und Blaufuchsen; wir wollten doch nicht ohne 
Jagdbeute heimkehren, zumal wir sämtlichen hübschen Damen Blaufuchsfelle 
und den dazugehörigen Herren Renntier- «Geweihe« versprochen hatten. Wir 
fanden auch tatsächlich eine Menge Fährten dieser seltenen Tiere, bekamen 
auch einen Rudel Renntiere zu sehen, doch konnten wir ihnen nicht auf 
Schußweite nahe kommen, da die Tiere unbegreiflicherweise sehr scheu sind. 
Offenbar müssen hier vor Jahren die Jagdgesellschaften entsetzlich gehaust 
haben, sonst wäre das scheue Wesen der Tiere gegen den Menschen nicht 
zu erklären. Von den heißbegehrten Blaufüchsen bekamen wir leider nur die 
Spuren zu sehen, während, so paradox es klingen mag, von ihnen selbst »nicht 
die Spur« zu sehen war. 

Da mein Gefährte vom langen Schneestampfen schon sehr müde war, 
hieß ich ihn am Fuße des Berges zurückbleiben und ging, nachdem er noch 
eine letzte Aufnahme von mir gemacht hatte, allein weiter. In zwei Stunden 
stand ich auf dem Gipfel des Berges. Das war ein überwältigender Anblick. 
So weit das Auge sah, nichts als Schnee und Eis und das erhabene Schweigen 
der Einsamkeit über der Natur. 

Als ich so allein dastand, allein auf dieser unbewohnten Insel, den Blick 
nach dem unerreichbaren Nordpol gerichtet, da war es mir, als stund* ich nicht 
einsam auf einem verlassenen Teile der Erde, nein, ich wähnte mich weit, 
weit draußen im Weltall, auf einem von allem Leben längst verlassenen 
Planeten und dachte ferne in die Zukunft, an die Zeit, wo auch wir Menschen 
und mit uns all unsere kleinen, uns groß und herrlich dünkenden Werke ver- 
schwinden werden von der dem Untergang geweihten Erde. Und da schienen 
mir all die Menschensorgen so unendlich klein und all das Kämpfen, all das 

115 8* 



Hasten so erbärmlich nutzlos, daß ich mich so recht als Nichts im großen 
Weltall fühlte. 

Da hob ich sachte meinen Blick gen Himmel, die Sonne trat hervor aus 
Wolkenschleiern und schien mir strahlend ins Gesicht, als wollte sie mich 
hin zum Überirdischen weisen, mir deuten, daß es außerhalb der Erde noch 
unzählbar viele Welten gibt, die alle, ewig sich erneuend, ewig weiterleben 
in der Unendlichkeit des Alls, in der wir ehrfurchtsvoll die Gottheit ahnen. 

Hoch oben in den Lüften zog ein mächtiger schneeweißer Seeadler seine 
stillen Kreise und sah erstaunt auf das einsame Menschenkind nieder, das 
die kurze Zeit des Lebens mit Grübeln verlor, statt zu arbeiten und zu 
schaffen und sich des Schaffens zu freuen, sowie die Gottheit selbst, mag 
alles auch zu gründe gehen, da wir doch wissen, daß es wieder einst erstehen 
wird in noch weit schön'rem Glanz, als wir ietzt es schufen. Und so arbeiten 
wir alle am sausenden Webstuhl der Zeit an der Gottheit erhabenem Kleid 
— und so erschuf die Gottheit selber sich die Welt, und schafft sie stündlich 
neu in alle Ewigkeit! So werden wir Gott ähnlich sein und Gottes Ebenbild. 

Die Sonne hob sich langsam wieder, Mitternacht war längst vorbei, und 
in sausender Fahrt ging es hinunter über die steilen Hänge und die endlosen 
Schneefelder zum Schiffe, zum Leben zurück und hinaus in das weite Meer, 
der geliebten Heimat entgegen, zu neuem Schaffen und neuem Streben. 




116 




Weltrecht. & Von Emil Jettel v. Ettenach. & 



• • 



Überblickt man die Entwicklung der letzten fünfzig Jahre, so zeigt sich 
auf fast allen Gebieten eine Neigung zur Ausgleichung der Gegensätze, 
zur Uniformität Eingelebte Institutionen mußten neuen Schöpfungen 
weichen, neuen Einrichtungen Platz machen, die sich anderwärts bewährt 
hatten. Kein Staat kann sich auf die Dauer dieser Bewegung entziehen, trägt 
man sich doch beispielsweise in Japan ernstlich mit dem Gedanken, die alten 
Ideogramme durch die lateinische Schrift zu ersetzen. 

In erster Linie tritt dieser nivellierende Zug auf dem Gebiete des Ver- 
kehrswesens zutage. Es sei hier nur an die Annahme des metrischen Maßes 
und Gewichtes erinnert, das sich, ein Kind der franzosischen Revolution, 
beinahe überall Bahn gebrochen hat, an die Feststellung einer einheitlichen 
Zeit im Eisenbahnverkehr, an die großen internationalen Institutionen: den 
Weltpostverein, der mit Ausnahme des Inneren von China und Marokkos 



117 



und einiger Distrikte Zentralafrikas heute bereits die ganze zivilisierte Welt 
umfaßt (915 Millionen Menschen, mehr als 30 Milliarden Briefsendungen im 
Jahre), an die internationale Telegraphenkonvention, der gegenwärtig mehr 
als zwanzig Staaten angehören, an die lateinische Münzunion zwischen Frank- 
reich, Belgien, Italien, der Schweiz und Griechenland, an die Vereinbarungen 
zur Feststellung der technischen Einheit im Eisenbahnwesen u. s. w. 

In anderer Form strebte man dasselbe Ziel an durch Rezipierung 
fremder, dem internationalen Rechtsverkehre dienender Gesetze. So wurde 
die deutsche Wechselordnung, die während der Jahre 1849 k* s l ^ 2 an die 
Stelle von 56 verschiedenen in Deutschland in Geltung gestandenen Wechsel- 
rechten getreten ist, im Laufe der Zeit in Österreich, Ungarn, Portugal, Japan, 
der Schweiz und Rumänien eingeführt, und es ist seit langem eine Bewegung 
im Zuge, die darauf hinausgeht, die Unterschiede, die zwischen dem deutschen 
und dem franzosischen und englisch-amerikanischen Wechselsystem bestehen, 
zu überbrücken. 

Erfolgreicher noch waren die Bemühungen, durch internationale Ab- 
kommen zwischen einzelnen Staaten die vorhandenen Differenzen in der 
Gesetzgebung zu beseitigen und so zu einer einheitlichen Regelung gewisser 
Fragen zu gelangen. Hiezu gehören die Eisenbahnfrachtrechtskonvention vom 
Jahre 1890, deren Geltungsgebiet bereits zur Zeit ihres Abschlusses Bahn- 
strecken in der Gesamtlänge von 125.000 km umfaßte, die Vereinbarungen 
zum Schutze des Autorrechtes (zehn Staaten) und des gewerblichen Eigen- 
tums (siebzehn Staaten). 

Geradezu epochemachend auf dem Gebiete der vertragsmäßigen Kodi- 
fikation internationaler Rechtsgrundsätze ist aber das Unternehmen der hol- 
ländischen Regierung, auf deren Einladung in den Jahren 1893, 1894, 1900 
und 1904 sich im Haag die Vertreter fast aller europäischen Staaten ver- 
sammelten, um allgemein verbindliche Normen zur Regelung von Fragen 
des internationalen Privatrechtes zu vereinbaren. Die erste Frucht dieser 
Konferenzen war eine im Jahre 1896 zustandegekommene Abmachung über 
die internationale Rechtshilfe, der im Jahre 1897 auch Österreich-Ungarn bei- 
getreten ist. 

Von weitaus größerer Bedeutung sind jene im Haag ausgearbeiteten 
Verträge, durch welche übereinstimmende Grundsätze für die Fragen der 
Eheschließung, der Ehestreitigkeiten und der Vormundschaft festgestellt 
wurden. Nicht weniger als fünfzehn europäische Staaten (Deutschland, Öster- 
reich-Ungarn, Belgien, Dänemark, Spanien, Frankreich, Italien, Luxemburg, 
die Niederlande, Portugal, Rumänien, Rußland, Schweden, Norwegen und 
die Schweiz) haben diese Konventionen unterzeichnet. Wer die tief ins Privat- 

118 



leben einschneidenden Nachteile kennt, die aus der Verschiedenheit der Gesetz- 
gebungen in den Fragen des Familienrechtes, besonders des Eherechtes, und 
der daraus resultierenden widerspruchsvollen Judikatur entspringen, wird die 
im Haag vertretenen Regierungen zu den Erfolgen ihrer schwierigen Arbeit 
beglückwünschen müssen, denn auf keinem Gebiete sind die Differenzen so 
groß wie hier, wo ererbte nationale und religiöse Begriffe, konservative und 
liberale Auffassungen so vielfach mit einander in Konflikt geraten. Es ist 
kein kleines Stück Arbeit, derart widerstreitende Auffassungen halbwegs in 
Übereinstimmung zu bringen, eine Abgrenzung der konkurrierenden Rechts- 
systeme zu erzielen und vor allem den von einander abweichenden Rechts- 
einrichtungen zur gegenseitigen Anerkennung zu verhelfen. Auf diesem Wege 
der Zusammenfassung übereinstimmender Grundsätze kann es mit der Zeit 
gelingen, ein wahres Jus gentium zu schaffen, ein »Jus quod apud omnes 
populos peraeque custoditur«. 

Man wird einwenden können, daß durch derartige internationale Ver- 
einbarungen eine Ungleichheit der Behandlung entsteht, daß Bresche gelegt 
wird in die Einheitlichkeit der Gesetzgebung und Judikatur. Es kann freilich 
kaum ausbleiben, daß die werbende Kraft fremder Rechtsanschauungen um- 
formend auch auf das nationale Recht einwirkt, in dasselbe Gesichtspunkte ein- 
fuhrt, die ihm bisher fremd waren, und daß schließlich das nationale Recht 
allmählich internationalisiert wird. Manche liebgewordene Tradition wird so 
zum Opfer fallen. Selbst das konservative England hat dem Schmied von 
Gretna-Green vor mehr als einem halben Jahrhundert das Handwerk gelegt ; 
Helgoland ist, seitdem es deutsch geworden, nicht mehr der beliebte Zu- 
fluchtsort heiratslustiger Paare, so wenig als man mehr von Siebenbürger Ehen 
sprechen kann; denn was früher auf Grund bedenklicher Fiktionen in aller 
Heimlichkeit als Singularität bestand, ist durch das Ehegesetz vom Jahre 1894 
in ganz Ungarn allgemeines Recht geworden. 

So wie alte Trachten, alte Dialekte verschwinden, wie altehrwürdige 
Häuser fallen müssen, um Licht und Luft hereinzulassen, so wird auch an 
manche Rechtsreliquie die Hand gelegt werden müssen, um zu ebnen und aus- 
zugleichen. Das ist der Zug der Zeit. Und, wenn auch in kaum merklicher 
Bewegung, nähert sich unaufhaltsam der Augenblick, wo das, was in dem 
einen Staate Recht ist, auch in dem andern Recht sein wird : die Herrschaft 
eines Weltrechtes. 



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Einiges von den Anfängen des Griechentums und 
der griechischen Schrift J| Von Ernst Kaiinka. J| 

a ls ich das Gymnasium besuchte, dessen hundertjähriger Bestand in 
/\ dieser Festschrift ein Denkmal erhalten soll, begann die griechische 
^ •*■ Geschichte mit dem VII. Jahrhundert v. Chr. Was weiter zurück- 
reicht, war in den Nebel der Sage gehüllt oder in die Nacht voller Ver- 
gessenheit getaucht. Seither ist uns die griechische Kultur des zweiten vor- 
christlichen Jahrtausends näher getreten: das Aufsehen, das Schliemanns 
Funde und Dörpfelds Entdeckungen erregt hatten, wurde von den Über- 
raschungen der kretischen Ausgrabungsfelder abgelöst. 

Reiches, üppig blühendes Leben entfaltet sich vor unseren staunenden 
Augen. Die ausgedehnten Burganlagen im Gebiet des ägäischen Meeres mit 
ihren Prunksälen und Säulenhallen, stattlichen Höfen und weitläufigen Wirt- 
schaftsräumen, mit Badezimmern und mit Wandmalereien lassen in ihrer 
Mannigfaltigkeit eine Entwicklung erschließen, die mehr als ein Jahrtausend 
umspannt. Wo es die Örtlichkeit erheischte, ist eine feste Ringmauer mit 
wohlversicherten Toren herumgelegt; wo man sich vor feindlichen Überfallen 
geborgen wähnte, wie auf der Insel Kreta, öffnet sich der Palast auf weite 
Versammlungsplätze, die das Volk nicht so sehr zu Beratungen, als zu Fest- 
spielen herbeizogen. In Masse sind Goldgeschmeide, Metallgerät und Erz- 
waffen zutage gekommen, wovon einzelne Stücke in ihrer kunstvollen Ver- 
zierung einen unglaublichen Hochstand des Handwerks jener Frühzeit be- 
zeugen. Besonders lehrreich ist es, das Wachstum der Töpferei von rohen 
Anfangen schmuckloser, nur mit der Hand geformter und an der Sonne 



getrockneter Tongefaße bis hinauf zu den feinen, gleichmäßig gebrannten 
Vasen mit lebensvoller Firnismalerei, die der Fachmann dem dritten mykeni- 
schen Stil zuweist, zu verfolgen. 

Aber diese Kultur, die der ägäische Landerkreis in der Mitte des 
zweiten Jahrtausends erreicht hatte, weist auch Züge auf, die uns fremdartig 
anmuten. Zahlreiche Abbildungen und Nachbildungen zeigen, daß die Griechin 
des zweiten Jahrtausends einen Rock mit Parallelstreifenbesatz trug, wie er 
jetzt wieder einmal modern ist; aber im Gegensatz zur jetzigen Mode 
scheint sich die Damenwelt jener Zeit unter Umstanden mit diesem Kleidungs- 
stück begnügt und überhaupt eine für uns auffallige Gleichgültigkeit gegen 
Entblößung der Brust an den Tag gelegt zu haben, wie auch die männliche 
Tracht sich in der Regel auf einen Lendenschurz beschränkte. 

Die Gottheiten des volkstümlichen Glaubens hatten noch keineswegs 
durchaus Menschengestalt angenommen, so wesentlich sie uns auch für die 
griechische Götterwelt scheinen mag; sondern es herrschte vielgestaltiger 
Fetischismus, dessen Reste sich nicht nur in der Sage, sondern auch im 
religiösen Leben der geschichtlichen Jahrhunderte Griechenlands erhalten 
haben. Vielerorten beteten die Griechen unter verschiedenen Götternamen 
heilige Steine an, wahrscheinlich großenteils Meteoriten, deren geheimnis- 
voller Ursprung ihre Göttlichkeit zu verbürgen schien, wie ja auch der 
schwarze Stein der Kaaba in Mekka eine ähnliche Erklärung nahelegt. Weit 
verbreitet war die Heilighaltung von Schlangen, die ihr Spiegelbild in der 
Schlange des Paradieses hat. Kein Wunder, daß der Segen, den die Zähmung 
des Rindes dem Menschen gebracht hatte, ihn dazu führte, Stier und Kuh 
als Götterpaar zu betrachten. Natürlich war es kein neckischer Scherz, keine 
verliebte Laune, daß sich der höchste Gott in einen Stier verwandelte, um 
die schöne Europe zu entführen; hierin steckt vielmehr uraltes Glaubensgut: 
der Gott, den eine spätere Zeit dem Zeus gleichsetzte, hatte von vornherein 
Stiergestalt und sein weibliches Gegenstück war die Kuh mit dem breiten 
Gesicht, die eöp-üwry] oder geradezu ßo-a>mc, wie wir noch in den erhaltenen 
Dichtungen der Griechen lesen, wenn auch deren Dichter diesen Beinamen 
längst nicht mehr richtig verstanden, ebensowenig wie das entsprechende Bei- 
wort des Zeus e&pfofta. Es fehlt auch nicht an unzweideutigen Zeugnissen für den 
Übergang dieser tiergestaltigen Götter in menschengestaltige. Die bekannteste 
dieser Mischfiguren, wie sie uns aus der ägyptischen Religion geläufig sind, 
ist der Minotauros, der kretische Stiergott, der in der altgriechischen Bildung 
nur noch den Kopf des Stiers auf einem Menschenleib trägt. 

Freilich sind Zweifel zulässig, ob auf Kreta alle altertümlichen Denk- 
mäler und Funde als griechische Erzeugnisse betrachtet werden dürfen; 



denn nicht immer wohnten Griechen in den Gegenden, die schon das Altertum 
nach ihnen benannte. Vor ihnen saß in den Küstenländern des ägäischen 
Meeres ein Volk, auf das sich noch viele ungriechische Namen von Bergen, 
Flüssen und Ortschaften zurückführen lassen (wie Parnassos, Hymettos, 
Ilissos, Labyrinthos, Korinthos, Tiryns), nach deren Ausweis es weder mit 
dem indogermanischen noch mit dem semitischen Sprachstamm etwas gemein 
hatte. Erst im dritten oder spätestens am Anfang des zweiten Jahrtausends 
brachen indogermanische Stamme in die Balkanhalbinsel ein, denen immer 
neue Scharen gleicher Herkunft folgten, bis dieser über Jahrhunderte sich 
erstreckende Volkersturm in der dorischen Wanderung ums Jahr iooo herum 
seinen Abschluß fand. Fast keine dieser indogermanischen Horden fand bei der 
Einwanderung sofort ihren endgültigen Wohnsitz; sondern von den Nachrücken- 
den wurden sie immer weiter geschoben. Dieser Wandel läßt sich nirgends so 
sicher verfolgen wie an der peloponnesischen Ostküste. Dorthin müssen als 
erste Griechen die Arkader vorgedrungen sein; denn die auffallig nahe Ver- 
wandtschaft des griechischen Dialektes Kyperns mit dem arkadischen be- 
weist, daß die Arkader frühzeitig durch Kolonisierung den Grundstock zur 
griechischen Bevölkerung der Insel geliefert haben; aber von ihren historischen 
Wohnsitzen aus in der Mitte der Peloponnesos, wo sie, vom Meere und von 
aller Welt durch hohe Randgebirge abgeschieden, friedlich ihr Vieh weideten, 
können sie unmöglich die ferne Insel Kypros besiedelt haben; sie waren 
damals zweifellos noch Seefahrer und Küstenbewohner und wurden erst 
danach durch nachrückende Stamme ins Hochgebirge abgedrängt; dieser 
Vorgang muß sich schon Jahrhunderte vor der dorischen Wanderung ab- 
gespielt haben, weil sie sich in ihrem arkadischen Berglande als Autochthonen 
fühlten, während alle Stämme, die erst am Schlüsse des zweiten Jahrtausends 
seßhaft wurden, mindestens dunkle Erinnerungen an ihre Einwanderung be- 
wahrten. Deshalb können es nicht die Dorer gewesen sein, die sie ver- 
trieben, sondern nur andere Stämme, die vor den Dorern und nach den 
Arkadern die peloponnesische Ostküste bevölkerten. Da nun tatsächlich 
Niederlassungen anderer Griechenstamme, die man Achaier und Ionier 
nennen mag, für jene Zeit und Gegend bezeugt sind, so gewinnt man für 
die vorgeschichtlichen Völkerschiebungen im argolisch-lakonischen Gebiet ein 
in den Hauptzügen fest umrissenes Bild: 

Zu den ersten indogermanischen Besiedlern der Balkanhalbinsel gehörten 
die Arkader, die spätestens bald nach 2000 bis in die peloponnesische 
Halbinsel vordrangen, wo sie sich wie alle indogermanischen Einwanderer 
mit den Eingebornen vermischten und Jahrhunderte lang unangefochten im 
Besitz der Ostküste verblieben. Von den Zügen der Folgezeit verdienen 



122 



jene sprachlich enger zusammengehörigen Scharen besondere Beachtung, die 
den ionischen Dialekt ausbildeten. Ein Teil von ihnen setzte sich in der ab- 
seits der großen Heerstraßen gelegenen Landschaft Attika fest, wo er so 
frühe Fuß faßte, daß sich seine Nachkommen als Autochthonen betrachteten. 
Ein andrer Teil überschritt den Isthmos. Dem Druck dieses Nachschubs 
wich die arkadische Mischbevölkerung, indem sie teils nach Kypros über- 
setzte, teils sich in die Berge des Binnenlandes zurückzog. 

Die siegreichen Ionier und andere Stamme teilten sich in die Herrschaft 
und gründeten jene Burgen, deren Überreste uns ein farbensattes Gemälde der 
damaligen Kultur entrollen. Es war eine Zeit jugendfrischen Aufstrebens, ein 
Lebensfrühling voll von Saft und Trieben. Kunst und Gewerbe rangen sich 
mit beflügelter Kraft empor, Handel und Seeverkehr breiteten sich aus, der 
Lebensgenuß wurde vervielfältigt und verfeinert. In den Bergen des Nordens 
aber waren noch Volksgenossen zurückgeblieben, die, keinen verweichlichenden 
Einflüssen ausgesetzt, sich ihre alte Einfachheit und urwüchsige Kraft bewahrt 
hatten und nur mit benachbarten indogermanischen Stämmen, die teilweise 
sich später nach Italien wandten, Verkehr pflegten. Es waren die Dorer, deren 
Wesen, Sprache und Einrichtungen manche mit den Romern und den Make- 
donen gemeinsame Züge aufwiesen, die auf diese länger dauernde Gemein- 
schaft zurückzuführen sind. Als auch sie dem Zuge nach Süden folgten, ver- 
mochten ihnen die peloponnesischen Festungen nicht zu widerstehen; sie 
gewannen das Land durch Niederwerfung und Vertreibung der Ionier, die 
ihnen seither unversöhnliche Gregner geblieben sind, und wie die Stämme 
alle geheißen haben. 

Die Dorer waren keine Freunde und Forderer jener Kultur, die unter 
ihren Vorgängern in die Höhe geschossen war und bald danach in den ionischen 
Kolonien Kleinasiens neue Keime ansetzte. Auch eine der größten Errungen- 
schaften des menschlichen Fortschrittes, die reine Buchstabenschrift, war ver- 
mutlich eine Schöpfung der Ionier. Die Anfange einer B ilderschrift lassen sich 
in Mesopotamien, dem ältesten Kulturland der Erde, bis ins fünfte Jahrtausend 
zurückverfolgen. Es ist daher keineswegs verwunderlich, daß auf Kreta im 
zweiten vorchristlichen Jahrtausend sich ein lineares Schriftsystem ausbildete, 
dessen Belege sich mit jeder Ausgrabung mehren, ohne bis jetzt den Schlüssel 
zur Entzifferung geliefert zu haben. Die Zahl seiner Zeichen ist so groß, daß 
sie schwerlich zur Wiedergabe der einzelnen Laute, sondern eher der ver- 
schiedenen Silben gedient haben, wie auch anderseits die geringe Zahl von 
Zeichen, die durch Teiler zu je einem Worte verbunden sind, für eine Silben- 
schrift spricht. Eine solche Silbenschrift erscheint bis ins vierte Jahrhundert 
herab in griechischen Inschriften der Insel Kypern; Beispiele wie pa— si — 

123 



le— u — se (= ßoKRXeos), ka— te - se— ta - se (= xortEorax), a— po— ro — ti— ta— i 
(= 'AfpoSfa}) tun die Unvollkommenheit dieses Ausdruckmittels dar. Möglich, 
daß die kyprische Silbenschrift aus der kretischen, an die viele ihrer Zeichen 
erinnern, hervorgewachsen ist; bezweifeln aber mochte ich, daß die kretische 
jemals griechischen Stammen gedient habe, sondern sie war sicherlich die 
Schrift der vorgriechischen Einwohner des ägäischen Gebietes, die spätestens 
im VI. Jahrhundert sich gleichfalls zur bequemen Buchstabenschrift der 
Griechen bekehrten, wie unverstandliche Denkmäler griechischer Schrift, die 
im Osten Kretas zutage kamen (z. B. onadesiemetepimitspha dophiarala- 
phraisoiinai), wahrscheinlich machen. Hätten die Griechen sich jemals jener 
kretischen Schrift bedient, so wären sie gewiß nicht schon im Anfang des 
letzten vorchristlichen Jahrtausends allgemein und plötzlich zu einer ganz 
andern übergegangen, während die kyprischen Griechen noch über ein halbes 
Jahrtausend an ihrer unbeholfenen Silbenschrift festhielten, und sie hätten ihre 
neue Schrift nicht einem grundverschiedenen Kulturkreis entlehnt. Die 
griechische Schrift ist nämlich ihrem Ursprung nach semitisch; aber erst 
Griechen bildeten sie zu einer reinen Buchstabenschrift um, während die 
Semiten die Vokale nicht ausdrückten, also wie in den Silbenschriften für 
jede Silbe in der Regel nur ein Zeichen nahmen. Trotz dieser wesentlichen 
Verschiedenheit kann nicht der geringste Zweifel an der Abhängigkeit der 
griechischen Schrift von einer nordsemitischen, wie sie in Denkmälern des X. 
und IX. Jahrhunderts v. Chr. erscheint, bestehen; denn es deckt sich die Ge- 
samtheit der Zeichen, nur haben die Griechen einige umgedeutet, namentlich 
um Vokalzeichen zu gewinnen, einige bald wieder aufgegeben, einige hinzu* 
gefugt 

Auch die nordsemitische Schrift war eine Bilderschrift, wie schon die 
Buchstabennamen verraten. Diese Namen bezeichnen einerseits den durch das 
Buchstabenbild dargestellten Gegenstand, anderseits mit ihrem Anlaut den 
Lautwert des Buchstabens. So stellt die älteste Form des Alf (= Rind), wenn 
auch noch so skizzenhaft, einen Rindskopf mit den beiden Ohren und Hörnern 
dar (^P, Gaml (Kamel) die zwei großen Hauptstriche des Kamelbildes mit 
den langen Hinterbeinen und dem schrägen Rücken ( y \ f Wau einen Zelt- 
pflock ( Y )» Chet (Zaun) den aus vier kreuzweise gelegten Latten bestehenden 
Abschnitt eines Zaunes (J^), Jod (Arm) den wagrechten Oberarm und den 
senkrecht erhobenen Unterarm mit der Hand, alles natürlich nur angedeutet 
(\_), Mem (Wasser) eine stark bewegte Wasserfläche (^), Nun (Fisch) 
einen schlangenartig gebildeten Fisch (*7 , vgl. die Hieroglyphe ^), Ajn 
(Auge) den Augapfel O» Sade (Treppe) zwei Treppenabsätze d-|_, von den 
Griechen bald nur noch als Zahlzeichen [= 900] verwendet in der symmetrisch 

124 



ausgestalteten Form f]" 1 ), Qof (Hinterkopf) die schematische Rückenansicht 
des menschlichen Kopfes mit Andeutimg herabhängenden Haares (^p), Resch 
(Kopf auf Hals) die lineare Skizze des vom Hals vorspringenden Kopfes 
(<] ), Schin (Zahn) zwei dreieckige Zähne (W), Tau ein Kreuz (X). Es ist 
ausgeschlossen, daß diese nordsemitischen Zeichen samt ihrem Lautwert einem 
andern Volk entnommen sind, weil dann unmöglich die Namen nach beiden 
Seiten hin stimmen könnten. Wenn also Semiten dieses Alphabet, selbst- 
verständlich in Anlehnung an ältere Bilderschriften, wahrscheinlich die 
ägyptische, erfunden haben, erst Griechen vollzogen, wie gesagt, den ent- 
scheidenden Schritt zur reinen Buchstabenschrift. Auf die griechische Buch- 
stabenschrift, die im Laufe eines halben Jahrtausends (rund 900 — 400) die 
semitischen Formen läuterte und regelte, gehen unsere modernen Alphabete 
durch sicher nachweisbare Mittelglieder zurück, wie fast alle unsere Kultur 
ihre Wurzeln in der griechischen hat. 

Diese Erkenntnis des unlöslich engen Zusammenhangs der antiken und 
modernen Kultur ist das Lebensprinzip des Gymnasiums. Den Anforderungen 
der Gegenwart soll und muß ihr Recht werden auch im Jugendunterricht; 
hiezu gehört aber auch die Forderung, daß wenigstens ein Teil des heran- 
wachsenden Geschlechtes, schon um die Gegenwart tiefer zu erfassen, seine 
historische Bildung aus dem ewig jungen Born des griechischen Altertums 
schöpfe und an dessen vorbildlicher Entwicklung aus unscheinbaren An- 
fängen bis zu glänzender Höhe das geistige Wachstum der Menschheit, aber 
auch die geschichtliche Bedingtheit aller menschlichen Zustände, Verhältnisse 
und Leistungren anschaulich kennen lerne. In diesem Sinne wünsche ich 
dem jubilierenden Gymnasium segensreiche Wirksamkeit auch für sein zweites 
Jahrhundert. 




125 




ST. BflSIUUS. 



Aus einer Schrift des heiligen Basilius über die 
klassischen Studien. $f Von Klemens Kickh. 9t 

Die Brücke zwischen Europa und Vorderasien, die kleinasiatische Halb- 
insel, ahmt im kleinen die Bodengestaltung des ganzen Weltteiles 
nach. Die Mitte nimmt ein von Randgebirgen umgebenes Hochland 
ein, die oberste Terrasse, das Tibet Kleinasiens, war die Landschaft Kappa- 
dokia. Ein regenloses, wasserarmes, pflanzenleeres, steppenartiges, im Winter 
von Stürmen heimgesuchtes, im Sommer afrikanisch heißes Land. Weite 
traurige Flachen, in denen die Steppenflüsse versickern, Salzseen großen 
Umfanges, unregelmäßige Bergzüge oder in Reihen hintereinander stehende 
Kegelberge vulkanischen Ursprungs lassen landschaftliche Schönheit nicht 
aufkommen. Nur die Nordostseite ist vom bewässernden Kisilirmak (Halys) 
erfrischt, nur an den Rändern ist grünendes Bergland; nur der 3800 Meter 
hohe Erdschisch (Argaeus) läßt das Auge an dem ewigen Schnee seines 
Gipfels sich erquicken. Osmanische Kulturverachtung hat das alte Mazaka 
Caesarea (Kaisarieh) verfallen lassen; das einst blühende Nazianzos ist zum 
dürren Wiran-scheh6r geworden, Nyssa, Garsaura, Archelais, Tyana sind in 
arme türkische Dorfer verwandelt. Dieses erstorbene Land ist die Heimat 

126 



dreier großer heiliger Männer, deren Schriften reiche Blütentriebe des Christen- 
tums gewesen sind. Es sind dies — schon bald nach ihren Tagen nannte 
man sie das dreiblätterige kappadokische Kleeblatt — der heilige Basilius 
(Basileios), sein älterer Herzensfreund, der heilige Gregorios von Nazianzos, 
sein jüngerer Bruder, von seinem Bistumssitze Gregorios von Nyssa genannt. 

Der zuerst genannte, dessen Namen die morgenländische Christenheit 
mit besonderer Verehrung nennt und die russische Slawenwelt in unzähligen 
Wassilj und Wassiljewitsch fortleben läflt, hat außer seinen großen theo- 
logischen Werken eine kleine Schrift hinterlassen, die den Titel fuhrt: Ȇber 
die Lektüre der profanen Schriftsteller«. Er meint die hellenische Literatur. 
Er richtet seine Worte an christliche Jünglinge, die versucht sind, die 
Beschäftigung mit der klassischen Literatur als eine Gefahr für ihr Bekenntnis 
zu betrachten, und er verteidigt diese von der Seite, daß er ihren ethischen 
Nutzen zeigt. Er beginnt die Schrift mit der Anrede: »Meine jugendlichen 
Freunde!« Ich will diesen »Freund« der Jugend, seine eigenen Worte 
zitierend, über ein Thema sprechen lassen, das so viele Verteidiger, aber 
eben heute so viele Gegner hat. Dann will ich erst von dem Verfasser und 
seiner Zeit sprechen, weil der Blick auf den Lebensgang des heiligen Mannes 
und auf seine Zeit die Wertschätzung der Schrift steigert. 

Auf klassische Dichtung weiset Basilius zuerst hin. Das Jugendleben 
ist ja selbst Poesie. Jugendträume und Zukunftsbilder sind Dichtung. Die 
Welt liegt in hellen Farben vor dem Auge der Jugend, in ihr ist noch 
Sonnenschein et adhuc decor integer aevi. 

»Erstens ist das, was zunächst die Dichter bieten, wegen der Viel- 
seitigkeit seiner Form — jedoch nicht alles — in Betracht zu ziehen. Aber 
nur, wenn es Taten und Reden der Helden sind, womit sie euch unterhalten, 
dürft ihr diese liebgewinnen und ihnen nachstreben und ernstlich ver- 
suchen, es ihnen gleichzutun. Sind es dagegen solche, deren Nachahmung 
Verderben bringt, auf die sie zu reden kommen, so fliehet das ja und ver- 
schließt euer Ohr nicht minder dagegen, als Odysseus es nach ihrer Erzählung 
gegen den Gesang der Sirenen getan hat.« 

Mit starkmütigen, willenskräftigen Menschen (Helden), die in Zeiten der 
Auflösung selten sind, soll sich die Phantasie der (christlichen) Jugend 
beschäftigen, diese soll sie in ihr Herz aufnehmen (liebgewinnen) und im 
Bereiche der Jugendpflicht nachahmen. 

»Von einem Manne, der den Schlüssel zu des Dichters Verständnisse 
gehabt hat ( — es ist wohl Libanios gemeint, Rhetor, Heide, aber duldsam 
gegen die Christen, Lehrer des heiligen Basilius und des heiligen Johannes 
Chrysostomus) habe ich mir einprägen lassen, mit jeder Dichtung beabsichtige 

127 



Homer die Verherrlichung der Tugend Zumal sei dies der Fall, wo 

er Odysseus darstellt, wie er, nach dem Schiffbruch gerettet, durch sein 
Erscheinen die Fürstentochter erschreckt habe, ohne daß er, obwohl nackt 
geschaut, sich zu schämen gehabt habe, weil ihm die Tugend zum Kleide 
diente. . . . Sie ist es, um welche ihr Menschenkinder euch beeifern müsset, 
die auch den Verunglückten zur Seite steht und den geretteten Hilflosen 
über die genußseligen Phaiaken stellt.« 

Basilius versteht wohl wieder die Tugend als die edle, innerlich reine 
und keusche Mannestüchtigkeit und Seelenhoheit, die aret6, die auf sittlichem 
Gebiete etwas von der Kraftfulle des Ares in sich hat. Es ist die virtus 
(virtus, vir) auch im Sinne des Dichters, der sagt: »rursus quid virtus et 
quid sapientia possit, — Utile proposuit nobis exemplar Ulyxen«. (Horat. 
Epp. I., II. 17.) Diese virtus wird dann im Glaubensleben auf die höchsten 
Ziele gelenkt. 

»Was die sonstigen Güter betrifft, so hat darauf ihr Besitzer nicht mehr 
Anspruch, als so weit der Zufall ihn begünstigt ; wie im Würfelspiel schwankt es 
damit hierhin und dorthin. Nur die Tugend ist eine sichere Habe; sie begleitet 
im Leben und Sterben. Daher denn, denk 1 ich, schon Solon zu den Glückskindern 
spricht: Tauschen fürwahr nicht möcht' ich die Tugend jemals mit Reichtum. 
Jene ist bleibend bei mir; Geld ist ein flüchtiger Gast.« (Vgl. Anthol. Solon, 15.) 

Gleiche Kräftigung im Guten erwartet Basilius von der Lektüre philo- 
sophischer Schriften, denen er Charaktere schildernde historische nahestellt. 

»Soll die Tugend unsere Lebensführerin sein, und ist sie hoch von 
Dichtern, hoch von Geschichtschreibern, weit hoher noch von Philosophen 
gefeiert worden, so ist es insbesonders diese Seite der Literatur, welcher wir 
unsere Aufmerksamkeit zuwenden sollen. Es liegt ein großer Segen darin, daß 
die jugendliche Seele sich mit solcher Tugend (Höhe sittlicher Anschauungen) 
befreundet, da dergleichen zum geistigen Eigentum gewordene Erkennt- 
nisse (math6mata) sich wegen der Zartheit der Seele tief einprägen und in der 
Regel unverrückbar sind.« 

Aber freilich, die Tugend muß sich bewähren. 

»Wer die Philosophie des Wortes (die das Lehr wort des Weisen lehrt) 
durch die Tat bewährt, der allein ist weise, die andern sind eilende Schatten.« 

Die Worte erinnern an das, was Kirke zu Odysseus von Teiresias sagt: 

Unversehrt ist ihm Einsicht geblieben — Ihm nur allein gewährt im 
Tode noch Persephoneia — Sinn und Verstand, denn die andern sind nur 
flatternde Schatten. (Od. X., 493.) 

»Die Tugend in glänzenden Phrasen anpreisen, daheim aber die Ge- 
mächlichkeit der Besonnenheit (der von der Sophrosyne geforderten Tätig- 

128 



keit) und die Habsucht der Rechtschaffenheit vorziehen, erinnert zu sehr an 
jene, die auf der Bühne ihre Rollen abspielen und sich wie Konige und 
Machthaber gebaren, aber weder Konig noch Machthaber, ja nicht einmal 
Freigeborene (sondern bezahlte Maskenträger) sind.« 

»Wohl wird mancher zuweilen mit sich selber in Widerspruch kommen 
und zum vollkommenen Einklänge zwischen seinem inneren und äußeren 
Leben (den Idealen und dem Tun) es nicht bringen; er wird sich auf Euri- 
pides berufen: die Zunge schwor, das Herz ist nicht durch Schwur gebunden 
(vgl. Hippolytos v. 575), ja seine Lebensnorm kann werden: gerecht zu scheinen, 
nicht, es zu sein. Das aber, nämlich den Schein zu haben, als sei man ein 
Gerechter, da man es doch nicht ist, das ist, um mit Plato zu reden, das 
Übermaß der Ungerechtigkeit« (Vgl. Politeia IL, p. 361 ff.) 

Aber die Weisheit der Alten stählt das Herz und verleiht die Energie 
des Bergsteigers. 

»Rauh ist der Weg anfanglich und holperig und vielen Schweißes und 
der Arbeit voll, der zur aret6 (Ausdauer, edle Männlichkeit in einer der 
Kraft des Ares verwandten Kraft) führt und bergwärts sich hinanzieht. Daher 
ist es der Steilheit wegen nicht jedermanns Sache, ihn anzutreten. Am Ziele 
freilich sieht man ein, wie eben er ist und schon, wie eigentlich gangbar und 
wie weit angenehmer als der andere, den die Masse mühelos betritt.« (Vgl. 
Hesiod, Werke und Tage, 285 — 290; auch Matth. VII. 14). »Wie eng ist die 
Pforte und schmal der Weg, der zum Leben führt, und wenige sind es, die 
ihn finden.« 

Über die Redekunst und die Redner spricht sich Basilius mit Zurück- 
haltung aus. Er war wohl Kind eines Volkes, welches seinerzeit sich ganz 
und gar im öffentlichen Leben bewegt hatte und Redner noch immer hoch 
hielt; er teilte wohl die Ansicht Ciceros: >ut hominis decus est ingenium, sie 
ingenii lumen est eloquentia« ; aber er verschließt sich nicht der Überzeugung 
vieler, die, wie Quintilian H. c. 16 sagt, die Ansicht aussprechen: »Die Beredsam- 
keit sei es, welche die Übeltäter der Strafe entzieht, durch deren Trugkunst 
bisweilen die Guten verurteilt, die politischen Maßregeln auf das Schlechtere 
geleitet, und nicht nur Empörungen und Volkserhebungen, sondern auch sogar 
unversöhnliche Kriege erregt werden, und die man dann am meisten notig 
habe, wenn sie im Dienste der Unwahrheit gegen die Wahrheit ihre Kraft 
aufbieten soll.« 

So sagt denn Basilius: »Was die Redner betrifft, so darf uns ihre Ge- 
wandtheit im Lügen nicht zur Nachahmung verleiten. Weder vor Gericht, 
noch sonst wo (im öffentlichen Leben) ziemt uns die Lüge, da solche für den 
geraden und wahren Weg durchs Leben sich entscheiden, denen Prozesse zu 

129 9 



führen (doch eigentlich) gesetzlich verboten ist. (Vgl. Matth. V. 37.) Dagegen 
müssen wir das von ihnen zur Hand nehmen, worin ihr Lob der Gerechtig- 
keit oder ihr Tadel der Ungerechtigkeit sich ausspricht.« 

Er weiset also darauf hin, von den Rednern nicht bloß rednerischen 
Stil zu lernen, sondern auch an ihren Aussagen und namentlich an Geschichts- 
lügen Kritik zu üben. 

Aber auch einzelne Persönlichkeiten, die ihm seine Vertrautheit mit den 
Klassikern vor Augen hält, sollen für seine Jünglinge zur rechten Stunde 
Lehrmeister des rechten Verhaltens sein. 

»Den Perikles schmähte ein gemeiner Mensch; er aber achtete dessen 
nicht. Den ganzen Tag horte jener nicht auf, mit den gröbsten Lästerungen 
ihn zu verfolgen, und jener hörte nicht auf, seine Geduld zu bewahren. Als 
derselbe bei einbrechender Dunkelheit sich entfernen wollte, ließ Perikles 
ihm unter Fackelschein das Geleite geben, um die Gelegenheit zur vollen Be- 
tätigung seiner Philosophie nicht zu verlieren.« 

Plutarch erzählt in Perikles V., der Schreier habe den Staatsmann bis 
an die Tür seines Hauses verfolgt; da habe dieser seine eigene Fackel- 
begleitung dem Manne abgetreten und ihm bis zu seinem Heim leuchten 
lassen, bis dieser hinter der Tür verschwand. 

»Man schlug den Sohn des Sophroniskos, Sokrates, mit schonungsloser 
Frechheit ins Gesicht. Statt die Hand zu erheben, erlaubte dieser dem Tölpel, 
seinem Zorn freien Lauf zu lassen, so daß sein Gesicht aufschwoll und infolge 
der Schläge blutrünstig wurde. Als er aufhörte, schrieb er dem Täter einfach 
auf die Stirn: Der Dingsda hat's getan.« 

Basilius verweiset dabei auf Matth. V. 39. Er bringt auch Eukleides in 
Erinnerung, der dem Worte des Bruders: »Ich will des Todes sein, wenn 
ich dich nicht peitsche«, das Wort entgegensetzte: »Ich will des Todes sein, 
wenn ich es nicht dahinbringe, daß du deinen Zorn aufgibst und mir gut bist 
wie ehedem. (Vgl. Plutarch über die Bruderliebe, 18.) 

»Was Alexander getan, der die Töchter des Darius, von denen versichert 
wird, dafl sie für Wunder der Schönheit galten, zu Kriegsgefangenen ge- 
macht hatte, aber sie nicht zu sehen begehrte, da er es für entehrend hielt, 
Weibern zu unterliegen, nachdem er Männer bezwungen, — das läuft darauf 
hinaus, daß, wer auf ein Weib mit Lustgier ein Auge werfe, darum doch 
nicht vorwurfsfrei bleibe, wenn er auch der Tat nach nicht ehebreche, sondern 
dadurch schon befleckt ist, daß er seine Seele an die Begierde verschachert« 

So empfiehlt Basilius, selbst ganz heimisch in der klassischen Literatur, 
den Jünglingen, Beispiele fürs Leben aus ihr zu entnehmen. Und diese ge- 
mahnen nicht so sehr an einfaches Rechttun, als vielmehr an einen sehr 

130 



hohen Grad fast heroischer Selbstbeherrschung und Willenskraft. Wir be- 
merken eine gewisse Steigerung in dem, was die Beispiele sagen. Geduld, 
Sanftmut, selbst eine Art von Feindesliebe wird von der Macht über Lust 
und Trieb, bezauberndem Liebreiz gegenüber, an Wert überboten. 

Am Schlüsse seiner Hinweisungen auf sittlich hochstehende Menschen 
gibt Basilius kurz gehaltene Vorschriften, das Leben nicht in einem Freuden- 
taumel zu vergeuden, auf die Gefahr hin »in unterirdischen oder sonstwo 
befindlichen Straforten sich Bußen gefallen lassen zu müssen«, 
wenn das Entschlafen des Leibes in ein klarsehendes Erwachen der Seele 
übergeht, — auch der Gaumenlust sich nicht zu ergeben, — »nicht in 
Frisur und Kleidung sich Sonderbarkeiten zu erlauben« — nicht 
»an duftende Essenzen Geld aufzuwenden«, — das Leben »in dorischer 
(ernster), nicht in jonischer Tonweise« sich abspielen zu lassen, — gleich 
den Ringkämpfern Mühen auf sich zu nehmen, »um den Ölzweig oder Eppich- 
kranz zu erringen« (vgl. S. Paul, I. Cor. IX. 24), — nicht Reichtum, sondern 
»Zehrgeld zu sammeln, nicht allein für das Alter, sondern auch für 
das andere Leben, das über das Alter eines Tithonos oder Argan- 
thonios hinausreicht, und an dessen Grenze ebensowenig zu denken 
ist als an ein letzliches Aufhören der unsterblichen Seele«. 

Es wären etwa 200 Zeilen eines in Oktavform gehaltenen Büchleins, in 
welche sich diese Mahnungen fassen ließen; in diese wenigen Zeilen sind 32 
Erinnerungen an klassische Stellen verwoben, weniger eigentliche Zitate, als 
im Flusse der bewegten Darstellung schwimmende Wendungen, die lauter 
Reminiszenzen an Worte der alten Weisheit sind. Dem in staunenswerter 
Belesenheit in den Klassikern heimischen heiligen Manne sind sie nur so in 
die Feder geflossen. 

Basilius kennt die Formvollendung der klassischen Literatur. Aber höher 
als deren Verständnis steht ihm die ethische Frucht der Beschäftigung mit 
ihr. Daher empfiehlt er sorgfältige Auswahl der Lektüre. Er denkt 
nicht an Exzerpte oder Chrestomathien, aber er denkt an einen nicht in der 
Wahl des Stoffes der Lektüre gebundenen oder gehemmten Lehrer der 
Jugend, der, wenn er auch Gesang nach Gesang eines Epos, Buch für Buch 
einer historischen oder einer philosophischen Schrift mit seinen Schülern 
liest, doch manches überschlägt, manches kursorisch, manches bei den Ideen 
der Schrift verweilend und meditierend liest und die Grammatik nur als Mittel 
zum genauen Verständnisse der Lektüre, nicht aber die Lektüre als ein 
Exerzierfeld zur Aneignung der Grammatik verwertet. 

»Bei der Blume geht der eigentliche Genuß (des Blumenfreundes) über 
Duft und Farbe nicht hinaus; für die Bienen hingegen besteht er noch 

131 9* 



darin, Honig aus ihr zu gewinnen. So gibt es auch für jenen, der nicht aus- 
schließlich nach dem Anmutigen und Gefälligen (nach der Sprach- 
schönheit) greift, das dergleichen Schriften bieten, eine (besondere) Ernte. 
Ganz in dem Sinn, wie es von der Biene heifit, hat man mit den Schriften 
zu verfahren. Sie kommt nicht unterschiedslos zu allen Blumen und müht 
sich auch nicht, an irgendeinem Orte, wohin sie flog, alles davonzutragen, 
sondern nur, was ihrer Aufgabe (Honig zu bereiten für die Menschen und 
sich) dienlich ist, wird mitgenommen, das übrige bleibt unberührt. So werden 
auch wir, wofern wir mit Verständnis arbeiten, nur soviel uns angeht und 
mit der Wahrheit sich verträgt, von ihnen (den Schriften) uns darreichen 
lassen und über das übrige leicht hinweggehen (bei ihm nicht verweilen).« 

Basilius vergleicht die durch die Beschäftigung mit den »Schriften« 
gewonnene ethische Kraft, verbunden mit der Kenntnis der Ahnungen der 
eigentlich religiösen dogmatischen Wahrheit, die auch in dieser sich kund- 
gibt, dem Blätterwerk eines Baumes, die christliche Erkenntnis aber und 
das christliche Leben der goldenen Frucht. 

»Des Baumes Vollendung besteht darin, daß er zu seiner Zeit mit Früchten 
prangt, aber auch mit Laubwerk bedeckt ist und beides auf seinen Zweigen sich 
wiegt. Ebenso hat die Seele vorzugsweise ihre Frucht in der (christlichen) 
Wahrheit, ohne daß deswegen in dem Schmuck der profanen Weisheit 
für sie ein Mangel an Reiz läge. Sie ist das Laubwerk, welches der in dem 
Gründer Blätter versteckten Frucht Schutz und liebliches Ansehen gewährt — .« 

Es ist bemerkenswert, daß Basilius die Beschäftigung* mit der klassischen 
Literatur als eine Geistesschulung, als eine Vorbereitung zur Vertiefung 
der christlichen Wahrheit in den Seelen betrachtet. Er weiset auf Moses hin, 
»der erst, nachdem er bei den Ägyptern in die Schule gegangen war, zum 
Aufschlüsse über die Wahrheit (zu ihrem tiefen Erfassen) gelangte«. Er weiset 
auf Daniel hin, der durch den Vergleich der gründlich studierten chaldäi- 
schen Weisheit mit der Offenbarung Gottes zur Begeisterung für das Gesetz 
der Väter sich erhob. — 

»Erst dadurch, daß wir uns gewöhnen, in spiegelndem Wasser die Sonne 
zu betrachten, werden wir tüchtig, dem Sonnenlichte selbst das Auge zu nähern.« 

Solchen Inhaltes ist die kleine Schrift des heiligen Mannes über die 
profane (griechische) Literatur. Ihre Bedeutung steigert sich, wenn wir das 
Leben des Heiligen selbst und die Zeit, in der er schrieb, in Erwägung ziehen. 

Im Eingang der Schrift sagt Basilius: 

»Das Alter, in welchem ich stehe, und mancherlei Erfahrungen, die ich 
in mir gesammelt habe, und die vielfältige Berührung mit dem in allem be- 
lehrenden Wechsel, in welche ich trat, haben mir eine derartige Bekanntschaft 

132 



mit den menschlichen Verhältnissen verschafft, daß ich Menschen, wie ihr seid, 
die eben ins Weltleben treten, ein sehr verläßlicher Wegweiser sein kann.« 

Das Alter, von dem Basilius spricht, ist nicht etwa das Greisenalter. 
Denn er, geboren 329 oder 330 n. Chr., gestorben 379, erreichte nur 50 Jahre. 
Aber es ist das vollends gereifte Alter, die Zeit der Abgeklärtheit und der 
Entschiedenheit. Der Mann, der als Ephebos die Unterweisung seines Vaters, 
eines griechischen Rhetors, genoß, der im 21. Lebensjahre die Hochschule, 
sozusagen, griechischen Lebens bezog, der in Athen fünf oder sechs Jahre 
lang rhetorischen, grammatischen, philosophischen, mathematischen, astronomi- 
schen, medizinischen Studien oblag, der Mann, der, obwohl Sohn einer sehr 
christlichen Mutter, der heiligen Makrina, obwohl von Jugend an tief religiös, 
ernst und asketisch in sich gekehrt, doch erst in seinem 34. Lebensjahre die 
Taufe empfing (363 oder 364) und den Episkopat von Caesarea (370) antrat 
— er war wohl geeignet, der Jugend Weisungen zu geben. Und wenn er 
in den letzten neun Jahren seines Lebens mit dem Ansehen eines Episkopos 
und zugleich eines großen Gelehrten die Jugend von der »profanen Literatur« 
nicht wegdrängen, sondern zu ihr hinziehen wollte, als zu einem Mittel, die 
Glaubensüberzeugung zu festigen, wenn er mit seiner Schrift von der Jugend 
und von der Wissenschaft gewissermaßen Abschied nahm, um der große 
Gründer des morgenländischen Mönchtums noch in seinen letzten Tagen zu 
werden, so trägt seine Schrift alle Gewähr für die Annahme in sich, sie sei 
von ihm als Ausdruck seiner tiefsten Überzeugung geschrieben. 

Das Jahrhundert, in welchem Basilius und sein etwa um zehn Jahre 
älterer, um zehn Jahre später gestorbener Freund Gregorios von Nazianzos 
lebten, läßt uns eher eine Zurückweisung als eine Verteidigung der heidni- 
schen Literatur von Seiten der beiden Gleichgesinnten erwarten. Gerade drei 
Jahrzehnte früher, als die beiden Freunde in Athen dem Studium oblagen 
und der ältere den jüngeren gegen die Nörgeleien und Witzeleien der zum 
großen Teil heidnischen älteren Kommilitonen, die an den n6oi (den Füchsen) 
den Neuangekommenen, ihr Mütchen kühlten, verteidigte, hatte die blutigste 
aller Christenverfolgungen, die diocletianische, gewütet Es war, als hätte 
das Heidentum noch einmal vor seinem Ersterben mit eiserner Faust das 
Christentum erdrosseln wollen. Es wäre begreiflich gewesen, wenn die Christen, 
wenn ihre Glaubensvorkämpfer, die Bischöfe, eben erst aufatmend von dem 
Jammer einer Schreckenszeit ohnegleichen, die klassische Literatur, das Erbe 
vorchristlicher Zeiten, den Stolz der Verfolger, wenigstens ignoriert, wenn 
nicht feindlich sich gegen sie gekehrt hätten. Sie taten es nicht. Und bald 
nach dem Aufhören der Verfolgung erhob die Leugnung der Gottheit Christi, 
der Arianismus, ein Christentum ohne den wahren Christus, das Haupt. Er 

133 



überflutete die katholische Welt Er nahm die Musensitze ein und drängte 
sich in die Metropolen. 

Als Gregorios 378 in Konstantinopel seine glanzende bekehrende Bered- 
samkeit entfaltete, mußte er in einem Privathause Missionstätigkeit üben; die 
Gotteshäuser waren alle in arianischem Besitz. Erst als Erzbischof von Kon- 
stantinopel und von dem Kaiser Theodosius geschützt, sah er die katholische 
Lehre obsiegen. (380.) Es war nicht zu erwarten, daß katholische Episkopoi 
in so sturmbewegten Zeiten sich für die antike Literatur interessierten. 

Und gerade fünf Jahre nach dem Abschluß der Studien der beiden 
Freunde in Athen erließ Kaiser Julianus, der Abtrünnige, das Edikt, in 
welchem er den Christen verbot, sich mit der klassischen Literatur zu be- 
schäftigen und Studienheimstätten zu besuchen, als wären sie geistig minder- 
wertig und nicht wert, zu antiken Geistesgroßen aufzublicken! — Sollten 
nicht die Christen die Verachtung, mit der sie behandelt wurden, mit der 
Verachtung der Geistesschätze der Vorfahren ihrer Feinde erwidern? — Und 
doch nennt Gregorios Athen das Fundament (6daphos) der Pflege der 
Wissenschaften, »das goldene Athen«, — er rühmt die Redekunst, »die 
feuerschnaubende«, — die Grammatik, »welche die Zunge helleni- 
siert«, — die Philosophie, die »hochfliegende, die aufwärts schreitende«. 
— Wehmütig blickt er im fünften Carmen zurück auf die Freuden des Lernens: 

»Stunden, den Musen geweiht, ihr flöget dahin in die Lüfte, 
Blumen der Jugendzeit, ihr duftetet mir, ihr verwelkten!« 

Und in der ersten seiner zwei Reden gegen Julianus, die er steliteutikoi, 
an den Pranger stellende, nennt, ruft er dem Kaiser zu: »Woher kam dir 
der Gedanke, die Christen der Wissenschaft zu berauben? Welcher Hermes 
Logios hat dir das in die Seele gelegt? Welche böse Teichinen (Zauberer) 
und tückische Dämonen haben dich sagen lassen : Unser (der Heiden) Eigen- 
tum ist das Wissen und das hellenische Denken, Euer (der Christen) ist die 
Unvernunft und die tölpische Einfalt, und eure Weisheit besteht in dem 
steten: Glaube nur, glaube!« 

Und doch schreibt Basilius: »Soweit in den Schriften der Alten Schatten- 
bilder der Tugend liegen, mögen profane Anweisungen Umrisse der Wahr- 
heit geben.« »Wer gewissenhaft darauf (auf die Vergleichung des Schatten- 
bildes mit der Wirklichkeit) bedacht ist, in gar manchem und auf mancherlei 
Art nimmt dieser zu wie mächtige Strome.« 

Und so glaubte denn der heil. Basilius mitten unter den Arbeiten, die 
sein Episkopat ihm auferlegte, an christliche Jünglinge ein Wort zugunsten 
der Pflege der klassischen Literatur richten zu sollen. Allerdings tut er es 
weniger mit Hervorhebung der durch diese Pflege zu gewinnenden Politur 

134 



des Geistes, als vielmehr vom ethischen Gesichtspunkte aus. Es ist der Stand- 
punkt, von dem aus Muretus im XVI. Jahrhundert sprach: »Non igitur, 
cum poetarum libros interpretamur, inanibus fabellis nutricum more animos 
ducimus, sed sementem quandam virtutis atque doctrinae facimus: non 
in levibus minimeque frugiferis rebus operam sumimus, sed praecepta 
sapientiae, quo facilius in animos influant, insatiabili quadam admirabilium 
rerum varietate condimus.« — Über dem ethischen Standpunkte stände noch 
der eigentlich religiöse. Die Gottesidee, die Unsterblichkeitsahnung der Alten 
ließe sich auch aus den »Schriften« herauslesen. Auch in diesen liegt eine 
Theodicee. Sie wurde in den Schulen des Mittelalters vor dem Zeitalter des 
Humanismus verstanden. Vielleicht hätten die Gegner des klassischen Studiums 
weniger Anlaß, sich feindlich zu äußern, wenn der Jugend nicht immer nur 
Vertrautheit mit den alten Sprachen als Ziel des klassischen Studiums, als 
Ziel mühevoller acht Jahre vor Augen gehalten und harte Mittel zur Er- 
reichung dieses Zieles verwendet würden. Im Getriebe des späteren Berufs- 
lebens der Mehrzahl der der Mittelschule Entwachsenen schwindet doch 
rasch diese mühsam errungene Vertrautheit. Der Herzensaufschwung 
würde nicht schwinden. Die providentielle Erhaltung des größten Teiles der 
antiken Literatur durch die Männer der Kirche trüge die schönste Frucht in 
der Festigung des Charakters und der christlichen Überzeugung. 





Altwienerisches aus Wolfgang Schmeltzls »Lob- 
spruch«, £ Von Ferd. Kotek. % 

Es dürfte nicht unpassend erscheinen, daß in dieser Jubiläumsschrift auch 
einer der ältesten »Schulmeister zu den Schotten«*) das Wort ergreift 

und uns von der Vergangenheit unserer Vaterstadt und von der Statte 
seines Wirkens einiges erzählt. 

Wolfgang Schmeltzl war zu Kemmat in der Oberpfalz wahrscheinlich 
zu Beginn des XVI. Jahrhunderts als der Sohn eines frommen, braven Hand- 
werksmannes geboren, »dem er wohl nichts verdankte als einen stets auf das 
Praktische gerichteten Sinn«.**) Auf den Wunsch seines Vaters begab er sich 
frühzeitig auf die Wanderschaft. Er bekleidete zu Amberg das Amt eines 
Kantors, besuchte das seinem Heimatsorte benachbarte Nürnberg, kam nach 
Sachsen und schließlich »auf der schaitten« (v. 66)***) nach Wien. 

Den Bildungsgrad, der ihn zum Schulmeister befähigte, mag er sich 
erst in Wien erworben haben. Er trat bei seiner Ankunft zuerst als Musikus 
bei den Schotten ein und betrieb zugleich die notigen Studien, um sich auf 
den Schulmeisterstand vorzubereiten; denn in der Vorrede zur »Judith« (1542) 

*) So nennt sich Schmeltzl auf dem Titelblatt seines Dramas »Judith«, 1542. 
**) Wolfgang Schmeltzl, »Zur Geschichte der deutschen Literatur im XVI. Jahrhundertc. Von 
Franz Spengler, Wien, 1883, S. I. 
***) Plätten, Flachboot. 

136 



sagt er, er sei zu Wien »die vergangen Jar in studio gestanden«. Als Ende 
September 1541 Abt Wolfgang Traunsteiner die Leitung des Stiftes über- 
nahm, der eine ganz besondere Sorgfalt dem Jugendunterrichte zuwendete, 
wurde er von diesem als Schulmeister angestellt. Im Schottenstifte verlebte 
er die glücklichsten Tage seines Lebens. Wien wurde ihm zur zweiten 
Heimat und zum Dank schrieb er seinen »Lobspruch«*). 

»Wie von hellem Sonnenlichte beglänzt, reich und üppig, liegt jenes 
Wien vor uns, das er so beredt und mit so urkräftigem Behagen schildert**). 

»Die damaligen Einrichtungen des Klein-Wien müssen Grofl-Wien inter- 
essieren; das Einstige lebt vor dem geistigen Auge auf zum Beklagen, zum 
Belachen, zum Beloben, je nach seiner Übereinstimmung oder seinem Gegen- 
satze.«***) 

Schon das Auflere der Stadt findet Schmeltzls größtes Wohlgefallen. 

Die Gassen sind 

„4&bfd? unb wol rifun 

gerabt, audb weit t>nb fcfc4n purgiert." (v. 313 u. 314.) 

Jede hat zum Absperren eine Kette. 

Die Häuser sind mit Bildern reich geschmückt, mit Türmen und Giebeln 
wohl versehen, die Fenster durch Eisengitter geschützt. Die Höfe sind ge- 
räumig und gut gepflastert. Weite und tiefe Keller dienen zum Ablagern 
des Weines (v. 295 ff.). Die ganze Stadt ist durch Basteien geschützt, an 
denen die sogenannten »Katzen« (v. 1261), hochaufragende Vorsprünge, ange- 
bracht sind. Die Stadt wird von militärisch organisierten Stadtwächtern Tag 
und Nacht bewacht. Wer durch eines der Stadttore sie betreten will, muß 
zuvor bei der Torwache seinen Namen nennen und angeben, woher er komme 
und zu wem er gehen wolle. 

„Sie Uffcn ffeota inb 0tat fcinein, 

£r fog bann, wer fein XOitt wetb fein, 

(Beb antsaygnng, von wann er laaff 

Bein namen fefereiben» fieyf ig aaff." (▼. 1440 ff.) 

Zahlreiche Märkte sorgen reichlich für die Verpflegung der Stadt So 
ist am Neuenmarkt ein großer Getreidemarkt (v. 774). Am Graben der Fleisch- 

*) «in Aobfprncfe ber bocfel&Ucfeen weitber&mbten fbftnigUcfecn etat TDiam in (Dfterteid?, 
vcAUfyt wiber ben (Tyrannen vnb grbfeinbt CbrifH nit bic wenigift, fonbern bie b&fefte gaisptbefeßigong 
ber Cbriftenbeit iß. — 2&& 2fcb& fflay. etc. vnferem allergenebigften gerrn ;a Atyren befeferiben 
bvrefe XPolfg. 6d?melQl, 6cfealmaiftcr *»n heberten vnb Äarger bafelbft im 1548 dar. Die Wiener 
Stadtbibliothek besitzt das einzige uns erhaltene Exemplar der zweiten Auflage, von welchem 
M. Kuppitsch(Wien, 1849) einen Faksimiledruck veranstaltete, wonach in dieser Abhandlung zitiert wird. 
*•) Spengler, S. 5. 

***) »Ein Lobsprach der Stadt Wien in Österreich« von Wolfg. Schmeltzl. Sprachlich erneuert 
und bearbeitet von August Silberstein, 1892, S. 9. Daraus wurden auch einige Bemerkungen in die 
Abhandlung aufgenommen. 

137 



markt (v. 798). 70 Fleischer haben daselbst ihre Verkaufsstände errichtet; 
doch darf jeder nur eine bestimmte Sorte feilbieten. 

„Gd&wtt wunbct vbtv tponber, 

«in yeber fein flcyfd? fcet bfunfccr 

6cfe&ffen, felbrcn, rinfcren, fcfeweincn." (▼. 802—804.) 

Jeden Freitag ist großer Viehmarkt auf dem Gries.*) In der Nähe des 
Friedhofes bei St. Peter ist ein Geflügel- und Gemüsemarkt (v. 826 ff.). Am 
Hof, den ein herrlicher, reich mit Gold verzierter Brunnen schmückt (v. 836 f.), 
verkauft man Holz, Heu, Stroh, Holzkohlen, Fische und Krebse ; der eigent- 
liche Fischmarkt ist aber in der Nähe des Judenplatzes**); fünf uralte Linden 
zieren ihn. Am Hohenmarkt (v. 906 ff), wo der Pranger mit dem Richtplatz 
und das »Narrenkötterchen« steht, werden Obst, Wildbret, auch lebende 
Tiere feilgeboten. 

„(Pfft futfefht fayl fünft felQam vitd), 

TDotft, fod?e, btsnb, I aqcii lebenbig." (▼. 928 n. 929.) 

Am Bauernmarkt bringt das Landvolk die Produkte der Landwirtschaft 
zum Verkaufe (v. 944 ff.). Auf der Brandstatt verkauft man Hausgeräte 
(v. 587— 59*)- 

Jeden Dienstag und Samstag ist Wochenmarkt (v. 75 1 ff.). Zweimal im 
Jahre, zu Katharina und am » Auffartag«, ist Jahrmarkt (v. 767). Wer Waren 
zu Markte bringt, dem ist jeder Kauf untersagt (v. 768 u. 769). 

Um jede Übervorteilung zu verhüten, ließ der Bürgermeister Hermes 
Schallautzer auf dem Neuenmarkt ein steinernes Normalmaß, nach dem das 
Getreide gemessen werden mußte, und daneben einen Pranger aufstellen. Er 
ordnete an, daß auf jedem Markte eine Nachbildung dieses Stadtmaßes und 
Prangers sich finde. Wer nicht genau nach diesem Maße das Getreide ver- 
kauft oder sonst irgendwie den Käufer zu betrügen sucht, wird zu seiner 
Schmach öffentlich auf diesem Pranger ausgestellt (v. 786 — 795). 

„£t?ot ftd? aintt im tauft vergeffn, 
tHift fftlfd? ober ben Fftuff ntt freit, 
wirb er an felben Pranger gfrelt." 

Am Lugeck ist der Versammlungsort der Kaufleute aus aller Herren 

Länder (v. 325 ff.). Hier herrscht ein stetes Getriebe; die Trachten aller 

Nationen kann man hier schauen, in allen Sprachen hört man reden, so daß 

Schmeltzl ausruft: 

##34? fcoefrt id> wer gen Babl r>tsmcn, 
XOq afle fprad? ein anf ang gnomen." 



*) Eigentlich »Brockelgestein«. Bezeichnung für Ufer. VergL »Salzgriesc 
**) Bei der Erwähnung des Fischmarktes zählt Schmeltzl eine Menge der erlesensten Fische 
auf, die man dort zu Markte bringt. 

138 



Damit auch die Leute aus der Provinz diese Märkte leicht besuchen 
können, verkehren vom Rotenturm die sogenannten »Schützen« nach Baden, 
Krems und Wr.-Neustadt (v. 954 ff.)« Es sind dies Gesellschaftswagen, die 
täglich verkehrten, in denen man durch Decken gegen Sonne und Regen 
geschützt war. 

An Kirchen und Klostern war Wien besonders reich. Schmeltzl 
zählt folgende Orden auf, die zu seiner Zeit in Wien existierten : Augustiner, 
Minoriten, weiße Brüder am Hof, die Dorotheer, in deren Kirche sich das 
Grabmal von Niklas Salm*) befand, Kreuzherren bei St. Johann und vier 
Bettelorden (v. 607 — 620). Mit besonderer Begeisterung spricht er von den 
Schotten auf der Freiung, bei denen er als Schulmeister eine Anstellung 
fand, die ihn vollends befriedigte. 

„3Dcr Bdbm&ql Fein pcffer fdbmal$gnsb fonfc." (y. 1528.) 

An der Spitze des Klosters stand damals der Abt Wolfgang Traunsteiner. 
11 Brüder sind außer dem Abte noch daheim im Konvent 

„VttfktnbiQ, gelcrt, Ufcti gern 

XDa» fidb gcbdrt *n (Bottee efrrn." (v. 1472— 1473.) 

Andere sind außerhalb des Klosters in der Seelsorge oder Administration 
der Klostergüter tätig. 

Auf Stiftskosten wird eine Schule erhalten, an der 16 arme Jünglinge 
Freiplätze haben und vom Kloster die Verpflegung genießen; doch 

„Zin ycbct ba misf fleifig fein, 

3is itfufct» rcpctiern, fr» oufßcfen, 

Ulan lefl jr fyain nit mnflfy gcfen, 

t>nb mag *a glcicfe fo wol fhsfciern, 

21U t)tt et vit gelte *u venera." (y. 1480— 1486.) 

Schmeltzl rühmt die herrliche Orgel in der Kirche, 

„fein fcfe&ic <Prgel, fr ba fedbt 

ttlancfr ftymwercf, refdb, gut vnb geredet." (y. 1498 f.) 

die Uhr auf dem Turme: 

„tJm &?urn flehet eine X>t getieft 
JBeftenfeig, grtebt fle long *eyt bleibt, 
(Bewältiget fyben )aiget treibt. (1491— 1493.) 

Er bewimdert den Klostergarten, besonders den Stumpf eines Maulbeer- 
baumes, auf dem 8 Tische bequem Platz fanden, der aber in der Türkennot 

•) Verteidiger Wiens bei der Türkenbelagerung 1529. Er starb 1530. Nach der Aufhebung 
des Klosters anter Kaiser Josef wurde das Grabmal von den Nachkommen des Grafen nach Raitz 
in Mähren geführt; von dort auf Anregung des Wiener Altertumsvereines wieder nach Wien ge- 
bracht und in der Votivkirche bald nach ihrer Einweihung 1878 aufgestellt. 

139 



mit noch anderen 300 Bäumen niedergehauen wurde (v. 1501 — 1506). Schließlich 
wird er in den Klosterkeller gefuhrt, wo es ihm so gut gefallt» daß er ausruft: 

„3Da wer gitt fein, 

XDcmi fcfe bet wafyi im gomen Aonb." 

Als Frauenkloster werden folgende genannt: St Ludwig, St Jacob, 
Hieronymus, Anna und Himmelpforte. 

Unter den Kirchen findet begreiflicherweise der Stephansdom 
Schmeltzls größte Bewunderung. Um das Gotteshaus herum zieht sich ein 
Friedhof; auf der Spitze des Turmes glänzen Stern und Halbmond.*) Er 
besteigt den kunstvoll gebauten Turm, besieht die 160 Zentner schwere 
Glocke, deren Klöppel allein 7 Zentner wiegt, die Uhr**) und das Preim- 
glöcklein, das täglich zum Frühchore und zum Vespergebete eine Stunde 
lang geläutet wird. 

Die Kirche hat 5 Tore. Er findet da 

„3De0 tleybboro grob meebß bey bet tbor."***) (▼• 429.) 

und macht die satirische Bemerkung 

,&*t binber im vil SrAbtr Utffn, 

(Bebn fnron t&glidb an» wib ein 

floeb wii jniemanbt nie tteybbart fein." 

An einem dieser Tore findet er einen Turm 

„3Dcr wttd?f erf* ans bet ctbt berf&r. 
(Brab gegn bem anbern, bey ber tbAt, 
3n bet »eit, grof, fefcon, form, geftalt, 
T>on ftochveref anffbaivt wie ber alt 
Glaub, wer ber Corcf nit Fbrnnen bar, 
Cr »er bergUicfe verfertigt gar." (y. 441 ff.; 

Ferner fesselt Schmeltzls Aufmerksamkeit das Grab Kaiser Friedrichs.!) 

„ttoeb eins mir aud> von bergen gfdt, 
De» alten Sayfer 5tibricb» grab, 
Drob id> mieb febr vcrwnnbert bab. 
t>on Hlarmelftein fo fefcon gemaefet, 
Da» aim fein bertj im leib boeb Uubt. 



*) Diese wurden zur Zeit der ersten Türkenbelagerung 1529 befestigt, am die Türken 
abzuhalten, auf den Turm zu schießen. Erst am 15. Juli 1686 wurde wieder feierlich das Kreuz 
aufgesetzt 

**) Wurde erst durch den Dombaumeister Schmidt beseitigt. 
***) Des Neidhart von Reuenthal, spater Neidhart Fuchs der Bauernfeind genannt, des heiteren 
Minnesangers Grabmal ist es nicht, wie nachgewiesen ward. Es ist noch immer, sogar wieder- 
hergestellt, an der gleichen Stelle zu sehen. Wahrscheinlich legte man ihm bereits zu jenen Zeiten 
irrtümlich den Inhalt bei und Schmeltzl betont allerdings nur den Neid in Neidhart; aber gerade 
dieser im Gegensatz zu der Wohlhabenheit der Bauern seiner Zeit hat zur Ausgestaltung des mit 
Fabeln bereicherten edlen Minnesängers geführt. (Silberstein, S. 77.) 

f) Friedrich III., Vater Maximilians I. 

140 



2D* fid)t mm mand> tpifkoti ftyon 

t>no fdhitx oen gongen pafffon 

t>on Herten ßoin auf graben rein, 

31* m&fet von gole wio fylbet fein. 

Poliert mffUcfe, oa» ba Mcfc baf 

ferftefeft orinn aU im fpiegcl gUf . 

Det 5a*fto> begrebnuf barbey 

Sinbfht gemalt t>nb gfcfrriben frey." (v. 478—491.) 

Er bewundert das hohe Gewölbe des Chors, auf 18 Pfeiler gestützt, 
von dem an Seilen kunstvoll gearbeitete Engel- und Heiligenfiguren herab- 
hängen (v. 491 — 498). Er erwähnt zwei Orgeln, von denen die größere 
1738 Pfeifen zählt 

So begeistert ist Schmeltzl von der Pracht des Gotteshauses, daß er ausruft: 

„TÜatlid> wirbt ftc vergleicht in bem 
Dem Cempel *o giernfalem." (▼. 501 f.) 

Im Innern des Domes fallt der ganz aus Marmor gearbeitete Taufstein 
auf, der in der Mitte des Schiffes steht*) Besonders erweckt Schmeltzls 
Bewunderung der kunstvoll gebaute Predigtstuhl, auf dem gerade Bischof 
Nausea**) der andächtig horchenden Menge das Wort Gottes verkündet. 

„Den Prebicjftbnl iA> fcfeawet an, 

(Bcbacbt: ,wc lebt ein tllcnfdb, ber tan 

t>on ftainwerg fo fubtil bing macbn^!' 

fflein bertj vor freubn mir tbct lacbn. 

jDie Ünblein glescfr »*« in bem Wwff 

Bicb narten, Fberten gugel auff. 

2hufr manebe Fror, Aber unb fcbUutg . 

3n ftain gebauten auff bem gang. 

Bicb frdmbten, panmpten r*ber flcb, 

@o frey aU teeren» Ubcnbig. 

3Der maiftar, ber bif ftoef gepawt 

£at ßcb fo FnnfUicb fclb* eingebaut 

tJn ftein am Prcbigftocl fein basf. 

Bebaut anben *u *tm S^fttt auf." (v. 455—469.) 

Außer dem Dome werden noch erwähnt: die Kirche »Bey vnser fraven 
auff der Gstettn« (v. 629) mit dem Konsistorium des Bistums Passau. Die 
St. Salvatorkirche nächst dem Rathaus mit der Aufschrift: »bey vnserm 
Herrn« (v. 635). St. Michael »Ein große Pfarr vnd Schul darbey« (v. 652). 
St. Clara mit einem Spital und Pfründnerhaus. In der Nähe befindet sich 
das einzige Bierhaus.***) Ein zweites Spital war bei St Marx (v. 674 ff). Für 

*) Jetzt in einer eigener Kapelle, der Taufkapelle, aufgestellt 

**) Seit 1541 als Nachfolger Fabers Bischof. Früher Lehrer an der Universität. Gelehrter 
Theologe, der den Vermittlung«- und Reformideen Ferdinands I. zuneigte. 

***) Um den für Wien so wichtigen Weinbau zu schützen, mußte von der Gesetzgebung die 
Verbreitung des Bieres möglichst eingeschränkt werden. 

Das Bürgerspitalbrauhaus wurde 1529 in das Kloster zu St Clara übertragen. 

141 



infektiös Erkrankte war das Spital St Johann vor dem Schottentor erbaut. 
v. 718 ff. wird ein Spital und Versorgungshaus erwähnt, in das man sich 
ratenweise einkaufen konnte. Diego de Seraua erbat sich von der königlichen 
Majestät, daß ihm aus dem Gute des Minoritenordens ein Grund gespendet 
wurde, auf dem er diese Wohltätigkeitsanstalt erbaute; außerdem bekam er 
das Gut Wolkersdorf und jährlich eine bestimmte Summe Geldes. 

An der Spitze der Stadtgemeinde steht der Bürgermeister,*) der jährlich 
gewählt wird. Ihm zur Seite stehen 12 Bürger, der sogenannte »Innere Rat« 
(v. 1005 ff.). Diese dürfen kein Handwerk treiben. Der von der königlichen 
Majestät ernannte Stadtrichter erhält durch Wahl 12 Beisitzer; diese bilden 
den »Äußeren Rat« (v. 1013 ff.). Die Aufsicht über die Brücken, deren 
etliche über die Donau führen (v. 71 — 82), haben der Brückenmeister, Brücken- 
hauptmann und sieben Mautner. Die eine Hälfte der Brückenmaut zieht die 
königliche Majestät ein, die andere die Stadtgemeinde, die damit die Stadt- 
gebäude zu erhalten hat (v. 101 — 106). Die Mautner sorgen auch für die 
Eisgewinnimg und Konservierung. 

„JUgoi* tu ein grub i>int)totoct, 

pieibt Fbalt im Bunter aU im T&iitter." 

Ganz besonders nimmt man darauf Bedacht, daß die Lebensmittel 
unverfälscht und in richtigem Gewichte abgegeben werden. 

„2Ulen ^anbw tv d ti n tft bereifen, 

3Da» fle itientftjt* befefewaren fott«. 

Den Pecfn fbUfee fonberltcfe ooffUgn, 

3Do* brot in w&felicb Uifien wegn. 

JDergleicfe auffs Ulalwercf bat man ad?t, 

Der armen not erfUicb beraubt, 

Damit nit mangel brot, flcyfcb, wein." (v. 1 131— "37-) 

Zur Zeit Schmeltzls zählte die Wiener Stadtgemeinde 50.000 Mitglieder. 

„£in gfamltc (Bcmoin auf allen &anben." (v. 1139 f.) 

Wenn der Feind naht oder Feuer ausgebrochen ist, werden die Bürger 
durch Glockenschlag zur Hilfeleistung gerufen. Damit sich alles geordnet 
vereinige, ist die Stadt in vier Viertel geteilt. Das Widmer sammelt sich am 
Graben, das Stubmer am Lugeck, das Schottenviertel am Hof und das Kärnter 
am Neuenmarkt (v. 1141 ff.). Von wo der Feind naht, wird durch ein weißes 
Tuch, wo das Feuer wütet, durch ein rotes Tuch oder nachts durch Laternen 
von diesen Farben angedeutet. Nach einer großen Feuersbrunst im Jahre 1525» 

*) Zur Zeit der Abfassung des »Lobgesang« war Bürgermeister Wiens Sebastian Schrants, 
dessen Wahl die äußere Veranlassung zu dieser Dichtung bot. 

142 



bei der 600 Häuser niederbrannten, wurde eine Feuerordnung herausgegeben, 
die strengstens befolgt werden mußte (v. 11 73 ff.). 

Jeder Hausherr hat strenge darauf zu sehen, daß der Rauchfang stets 
gereinigt sei. Auf dem Boden des Hauses hat er mit Wasser gefällte Fässer 
und Bottiche, Leitern und Krücken zum Abstoßen der brennenden Balken 
bereit zu halten. Sobald der Glockenschlag die Feuersbrunst ankündigt, 
haben auf der Stelle alle Handwerker, die Hilfe bringen können (Zimmer- 
leute, Maurer, Schlosser, Schmiede, Ziegeidecker), mit ihren Werkzeugen 
herbeizueilen. Elf Bader sind bestellt, die mit ihren Ledereimern sich eiligst 
bei der Brandstätte einfinden und Hand anlegen müssen. Müßige Zuschauer 
werden nicht geduldet. In jedem Hause muß sich ein Brunnen befinden, mit 
Ketten und Seilen wohlversehen. Jeder, der einen Brandleger bekannt macht, 
erhält 100 Pfund Pfennige; und wenn er auch zuerst mit dem Brandleger 
gemeinsame Sache gemacht hatte, bleibt er straflos. Wer einen Dieb an der 
Brandstelle erwischt und dem Gerichte zufuhrt, erhält 10 Pfund Pfennig. 
Beim Bistum, bei den Klostern, Spittelmeistern, Brückenmeistern und Stadt- 
kämmerern müssen stets Rosse und Wagen, Feuerhaken und Leitern bereit 
sein. Für freiwillige Hilfeleistungen werden Prämien verabreicht. 

Ängstlich sind die Obrigkeiten darauf bedacht, den Erbfeind der Stadt, 
den Türken, so rasch als möglich zurückzuschlagen; denn 

„JEe XDienn feem ftfcrcfn ouffgeben wir, 
3!eber ec leib wib Ubn verlur. (v. 1097 f.) 

Voll Bewunderung einer solchen, die Stadt beglückenden und erhal- 
tenden Obrigkeit ruft Schmeltzl aus: 

„0, mein 5**onb, wie ein feiig gab, 
2Dic vn* gwif fbumbt von biml berab, 
fein foUb bod> wtyfc <Pbrigt*eit, 
OTit bem verflanb wib bapfferfeit ! 
34? glaub, ba» Gott bureb bife gab 
Bifbet Ut 8tat erbalten bab." (v. 11 15 ff.) 

Die Universität Wiens hat einen guten Ruf. 

„IDit ned?f* no4? Pari? wirt fit $elt. (v. 550.) 

Sie besitzt eine eigene Druckerei (v. 581 f.) und 12 stattliche Häuser, 

in denen die zahlreichen Studenten tadellose Herberge finden. 

Swo'lflf gewaltige bcwfer feinb 

XOtit vtfo vom grunb fd^n atsflrgefArt, 

(Bcfreyt vrib boeb privilegiert, 

JDarinn fle wonen, baben plag. 

fBs ift f&nvar ein tbenrer fd?aQ, 

JDann t>it $twi$Ud> vor Furien jarn 

gtlidj? taufent in flubio warn." (v. 574—580.) 

143 



Die Hörer sind in vier Nationen geschieden: Österreicher, Bayern, 
Ungarn, Sachsen. 

Die Promotionen werden mit großem Pomp im St. Stephans-Dome beim 
reichgeschmückten Kreuzaltare vorgenommen (v. 515 ff.). In feierlichem Zuge 
erscheinen die vier Fakultäten, durch ihre Tracht, besonders durch die Kopf- 
bedeckung, von einander unterschieden. Zuerst die Lizentiaten und Magister, 
dann die Bakkalauren und schließlich die Studenten. Lange dauern die Dis- 
putationen. Hierauf erteilt der romischen königlichen Majestät Kammer- 
prokurator und Rat den Promovierten die Insignien ihrer Würde. Zu dieser 
Feier werden die obersten Staatsbeamten und viele Prälaten eingeladen. 

„2fodb Me Regierung isnb t>tt PreUtn, 

Die ße mit 5lety *<*?» erpatn, 

fco warn in fold?er frcrligFeit." (t. 543—545«) 

Der Türmer von St. Stephan verkündet durch Trompetenschall Beginn 
und Ende der Feierlichkeit. 

Nur die Furcht vor dem Erbfeinde der Christenheit, dem Türken, vermag 
den Frohsinn der Wiener zu trüben. Ist dieser Feind zurückgeschlagen, so 
beginnt wieder das lustige Freudenleben, das bisweilen sogar einem Schmeltzl 
bange macht, so daß er ausruft: 

„0 XXHtnn, befber vnb beffer tiefe, 

Bttnft wirbt bein vngl&cf nur gerne»?«, 

Dein name XDienn in wain verffrert." (v. 1327 ff.) 

In der Schottenau*) trieben die Adeligen ihre Ritterspiele. Hier herrschte 
stets bewegtes Leben; denn hier waren die geräumigen Weinkeller. An 
Wein muß Wien und Umgebung ganz besonders gesegnet gewesen sein. 
Schmeltzl erzählt, daß zur Zeit der Weinlese viele Tausende in der Schottenau 
beschäftigt sind. Das Lesen dauert vier Wochen. Täglich kommen 1500 Pferde 
mit 300 weinbeladenen Wagen an und müssen oft ihre Fahrt dreimal wieder- 
holen. Viel Wein wird auf der Donau ins Ausland verführt und dafür werden 
Gold, Silber und Spezereien geholt. 

t>on wegen fcer wtinwad>» fo grof) 

S«ert man herab on vnfeerlof 

<Bott>t vrib fylber, fpecerey. (v. 175—179.) 

Kein Wunder, daß sich Wolfgang Schmeltzl, bei dem »ein stark reali- 
stischer Zug sich allerdings nicht verkennen läßt«,**) in einem solchen Lande 
äußerst glücklich fühlte. 

*) Wahrscheinlich die jetzige Brigittenau. » 

**) Spengler, S. 79. 

144 



<P (Pfterreid?! 
XOo mag man ftnfcen bctn geUtd?«? 
Sein lanfc mir nie paß gfallen bat 
JDu baf* *en namen mit ber ti?at." (v. 45—48.) 

Und verständlich ist uns das Gebet, mit dem er seinen »Lobgesang« 

schließt: 

„2fad? i>ttt, id) bitt, ifto fcer xrttt fcein, 

0o laß XPienn feie mein 5«yt!>off feyn!"*) (v. 1598 u. 1599.) 




•) Dieser Wunsch ging ihm nicht in Erfüllung; denn er starb wahrscheinlich als Pfarrer zu 
St. Lorenzen auf dem Steinfelde. 



145 




Eine Frage zu Rafaels „Schule von Athen". Jf Von 
Heinrich Lammasch. £ 

Wiederum — ich weiß nicht zum wievielten Male — standen wir 
in der Camera della Segnatura, die für mich die Stätte höchster 
Kunstblüte ist Unsere Augen wandten sich von der »Disputa del 
sagramento« zur »Schule von Athen« und von dieser zu jener. Wir bewun- 
derten außer der Große der beiden Kompositionen im ganzen die charak- 
teristische Schönheit und Vollendung der einzelnen Figuren. Dabei war es 
uns ein leichtes, die Gestalten der Disputa mit Namen zu nennen, denn durch 
Ausdruck und Attribute sind sie alle völlig kenntlich. Wer aber sind die 
verschiedenen Persönlichkeiten, die in der »Schule von Athen« vereinigt 
sind? Nur einzelne von ihnen sind zweifellos kenntlich, so Sokrates, Alkibiades, 
Ptolemäus, Diogenes. Aber selbst eine der beiden Mittelfiguren des Bildes 
ist bestritten. Ein Stich aus dem Jahre 1550 bezeichnet das Bild als: »Paulus 
in Athen« und Schriftsteller des XVI. Jahrhunderts wiederholen diese Deu- 
tung, ja einer derselben erklärt das Bild dahin, daß Petrus und Paulus den 
griechischen Philosophen das Christentum predigen. Erst im XVII. Jahr- 
hundert wird die von Vasari um die Mitte des XVI. Jahrhunderts gegebene 

146 



Deutung der beiden Mittelfiguren als Plato und Aristoteles zu einer ziemlich 
allgemeinen. Ihren schönsten Ausdruck hat sie wohl in der Charakteristik 
Goethes gefunden, die viel zur Verbreitung dieser Auffassung beitrug. Neue- 
stens hat Hermann Grimm versucht, gegen sie anzukämpfen und die Deutung 
der Aristoteles genannten Figur als Paulus wieder aufgenommen, damit aber 
wenig Anklang gefunden. Meines Erachtens spricht für diese Auffassung 
auch nicht viel anderes als ein Gefühl, ein Bedürfnis, auch auf diesem Bilde, 
dem Gegenstücke der Verherrlichung der triumphierenden Kirche, irgend 
einen Hinweis auf das Christentum zu finden. Enthalten doch alle anderen 
großen Fresken Rafaels in diesen päpstlichen Gemächern Beziehungen auf 
Kirche und Christentum : der Brand im Borgo, die Vertreibung des Heliodor, 
der Rückzug Attilas, die Messe von Bolsena, die Befreiung Petri und selbst 
der Parnaß, auf dem neben Apoll und den Musen, neben Virgil, Homer und 
Sappho der Sänger des »Inferno« und des »Paradiso« verherrlicht ist. Und 
auf diesem Bilde allein sollte jede Beziehung zum Christentum fehlen? 

Vielleicht hatte dasselbe Gefühl auch schon Vasari dazu veranlaßt, ein- 
zelne der Figuren als Evangelisten und insbesondere jenen Schreiber links, 
dem ein Knabe eine Tafel vorhält, als Matthäus zu bezeichnen. Trotz dieser 
meines Erachtens richtigen Empfindung, die der Hypothese Grimms zugrunde 
liegt, mochte ich doch nicht bezweifeln, daß die beiden Figuren, die im 
Mittelpunkt des Bildes stehen, wirklich Plato und Aristoteles sind. Besteht 
auch kein Zweifel über die Deutung dieser zwei Gestalten, so bleiben doch 
noch viele andere Fragen offen. Und so mochte man fast in der Sicherheit, 
mit der wir im stände sind, die Personen der Disputa zu nennen, und in der 
Ungewißheit, die in Betreff vieler Figuren der »Schule von Athen« obwaltet, 
ein Spiegelbild finden, einerseits der klar umrissenen Gestalt und der Un- 
vergänglichkeit der christlichen Dogmen und anderseits des Schwankens und 
der Vergänglichkeit der philosophischen Theorien, die ebenso wie ihre Au- 
toren oft rasch der Vergessenheit und Unkenntlichkeit verfallen. 

Oft hatte uns insbesondere die Frage beschäftigt, wer jene jugendliche 
Lichtgestalt sei, die, abgesehen von Plato und Aristoteles, mehr als alle 
andern die Augen des Beschauers auf sich zieht, weil sie, im Gegensatze zu 
allen übrigen, die, untereinander zu Gruppen verbunden, in Diskussion ver- 
tieft sind, aus dem Bilde heraus ihren Blick dem Beschauer zuwendet, als 
wollte sie ihm, auf sich selbst deutend, eine Botschaft verkünden, ein Rätsel 
losen, dessen die andern nicht Herr geworden sind, jene hehre Gestalt im 
weißen Gewände, die, weniger als die andern mit individuellen Zügen aus- 
gestattet, in fast überirdischer Reinheit und typischer Schönheit, unbeteiligt 
an den Beratungen und Forschungen der Philosophen und, wie es scheint, 

147 I0 * 



von niemandem unter ihnen gekannt, erhobenen Hauptes durch ihre Reihen 
schreitet, einem andern, vielleicht höheren Ziele zugewandt. Über dem Haupte 
des edlen Jünglings ist eine auffallend lichte Stelle, einer Verklarung ähnlich, 
die allem Anschein nach nicht durch Abblättern der Farbe entstanden ist, 
sondern einer besonderen Intention des Künstlers entspringt. Diese lichte 
Stelle findet sich auch auf allen besseren photographischen Reproduktionen. 

Wer ist dieser Jüngling? 

Vasari bezeichnet ihn als den den Evangelisten Matthäus begleitenden 
Engel. Doch wann sind Engel ohne Flügel, in einen Mantel eingehüllt dar- 
gestellt worden? Zudem ist die Deutung jenes Schreibenden als Matthäus jetzt 
allgemein aufgegeben und kommt man dahin überein, ihn für Pythagoras zu 
halten. 

Die heute herrschende Auffassung bezeichnet diesen Jüngling als Fran- 
cesco Maria della Rovere, Herzog von Urbino. Aber wie kommt dieser 
unter die Philosophen? Freilich hat Rafael auch sonst Züge von Zeitgenossen 
in der »Schule von Athen« verewigt, so Giulia Farnese und Federico Gon- 
zaga. Aber wie klein und an wie verborgener Stelle angebracht ist das 
Kopfchen der schönen Giulia, das von vielen Beschauern gar nicht bemerkt 
wird. Und auch Federico Gonzaga nimmt nur eine untergeordnete Stelle 
im Bilde ein. Auch sein eigenes Bildnis und das Sodomas hat Rafael auf 
dem Fresco untergebracht, aber am äußersten Rande, mehr in das Ge- 
mälde hineinschauend, als in ihm befindlich. 

Diese Gestalt aber, nach der wir fragen, ist nächst Plato und Aristoteles 
jene, welche durch ihre ideale Schönheit und ihre isolierte Stellung im Bilde 
am meisten die Aufmerksamkeit auf sich lenkt. Und sie sollte niemand 
anderen darstellen als einen Höfling und Nepoten? 

Zudem hat die neuere Geschichtsforschung gezeigt, daß gerade zur Zeit, 
als Rafael in der Stanza della Segnatura malte, Francesco von Urbino wegen 
der ihm beigemessenen Mitschuld an der Ermordung des Kardinals Alidolfi 
beim Papste in höchster Ungnade stand. Und trotzdem sollte ihn Rafael in 
den Gemächern eben dieses Papstes an einer der bedeutendsten und auf- 
fallendsten Stellen dieses Bildes verherrlicht und verewigt haben I 

»Wer also ist es?« fragte ich wieder einmal und meine Frau antwortete, 
vielleicht geleitet von jenem Takte, der Frauen bei intellektuellen Problemen 
das Große erfassen läßt, weil sie durch geistige Detailarbeit weniger abge- 
stumpft sind: »Ich glaube es zu wissen, es ist Christus unter den Schrift- 
gelehrten.« 

Liegt es nicht nahe, das Thema des Evangeliums vom Heiland unter 
den jüdischen Schriftgelehrten bei einer Darstellung der klassischen Philo- 

148 



sophie in den Gemächern des Oberhauptes der Christenheit in dieser Weise 
zu variieren? 

Vielleicht ist diese Hypothese geeignet, jener berechtigten Empfindung 
genüge zu tun, die Vasari bewog, den Evangelisten Matthäus, und die Her- 
mann Grimm bestimmte, Paulus in die Schule von Athen zu versetzen. Viel- 
leicht ist es ein höherer als Matthäus und Paulus, den Rafael unter den 
Philosophen erscheinen ließ, ohne daß diese ihn erkannten, weil die Zeit der 
Erfüllung noch nicht gekommen war. 

Die Frage ist gestellt. Mögen Berufenere sie entscheiden. 




149 



ORFVET 




LflBORf\ 



ST. BENEDICTUS 



Monte Cassino. £ Von Karl Grafen Lanckoronski. £ 

Wen der Schnellzug heutzutage in wenigen Stunden aus dem ewigen 
Rom nach dem lärmenden Neapel bringt, der erblickt ungefähr 
nach halber Fahrt mitten in den schongeformten Sabinerbergen 
auf einzeln stehendem, abgeplattetem Bergkegel einen weitläufigen, festungs- 
artigen Bau. Es ist das Kloster Monte Cassino, das man getrost das berühmteste 
der Welt nennen kann. Eine wirkliche Festung, welche es auch Jahrhunderte 
hindurch in der Tat gewesen ist, hat es zu sein aufgehört, die feste Burg 
aber der Wissenschaften und Künste, welche es von jeher war, ist es ge- 
blieben. 

Der heilige Benedikt, einer der großen Männer, die, wie 700 Jahre nach 
ihm der seraphische Heilige von Assisi, indem sie ihrer eigenen Zeit das 
gaben, dessen sie bedurfte, für alle Zeiten gelebt haben, hat es 529 n. Ch. 
auf den Ruinen eines Apollotempels gegründet. Schon vorher hatte er 
seine ersten Kloster über dem Aniotale bei Subiaco, von denen mehrere 
noch fortbestehen, ins Leben gerufen. Die meisten Klosterbauten von 
Monte Cassino, welche wir heute bewundern, sind 1000 und 1200 Jajire 



150 



jünger als das Haus, das den gottgesandten Gründer beherbergte, geben aber 
eben dadurch Zeugnis von der Kontinuität der hohen Kultur, die von diesem 
Berge aus die Welt befruchtet hat. Wie das Erzbistum und Patriarchat von 
Aquileja im Friaulischen an der Grenze des zivilisierten Italien und der 
Barbarei, lag die Abtei von Monte Cassino eine Tagesreise südlich von Rom 
an der Grenze des Machtgebietes der Sarazenen und ist von diesen wieder- 
holt zerstört worden, wie Aquileja durch Attila und die Langobarden. Es 
hat sich aber immer wieder erhoben, und gerade wie die Patriarchen von 
Aquileja sind die Äbte von Monte Cassino tatkräftige Anhänger und Helfer 
der deutschen Kaiser während ihrer Römerzüge gewesen. In das XI. Jahr- 
hundert, die Zeit der höchsten Machtentfaltung von Kaisertum und Papsttum, 
fiel wie die des Aquilejensischen Patriarchats auch jene dieses Klosters, und als 
der große Abt Desiderius, der Sohn des Langobardenfürsten Landulf von 
Benevent, die neu erbaute Kirche mit feierlichem Pompe im Jahre 107 1 ein- 
weihte, war der nachmalige Gregor VII. als Erzdiakon Hildebrand dabei zu- 
gegen. Desiderius ist später als Papst in seinem geliebten Monte Cassino 
gestorben. Vorher schon hatte die Abtei in der Person des Kanzlers Friedrich 
von Lothringen der Kirche ein Oberhaupt, Stephan X., geschenkt, und im 
Jahre 1108 bestieg nochmals ein Mönch von Monte Cassino als Gelasius H. 
den päpstlichen Thron. Ein Jahrhundert später weilte der gewaltige Innozenz III. 
hier und bald darauf berief Kaiser Friedrich II. einige Cassinenser auf die 
Lehrstühle der Universität Neapel. 

Aber auch nachdem mit dem Untergange der Hohenstaufen und mit 
der Verlegung der päpstlichen Residenz nach Avignon die Zeit des größten 
weltlichen Glanzes und der höchsten Machtentfaltung der Abtei vorüber war, 
blieb sie ein Hochsitz gelehrter Forschung und der Übung aller Künste und 
Wissenschaften, und es ist unvergessen, daß die Lehre Galileis in Abt Benedikt 
Castelli von Monte Cassino einen beredten Verteidiger fand. 

Den Besucher von heute, der die schone Barockkirche, das Archiv und 
die Bibliothek besichtigt und dann den Blick von der herrlichen Loggia del 
Paradiso und anderen Aussichtspunkten aus über die charakteristische alte 
Stadt, das Tal des Garigliano, das burgengeschmückte des Liris und die 
malerischesten Bergketten der Welt schweifen läßt, umfangt der Hauch einer 
anderthalb Jahrtausende alten, an Ruhmestiteln jedweder Art reichen Ver- 
gangenheit. Aber auch von kräftig pulsierendem Leben der Gegenwart fühlt 
er sich umfangen. Auf den weiten Gängen munteres, oft lautes Getriebe 
junger Alumnen, denn das zum italienischen Nationaldenkmal erklärte Kloster 
besteht als geistliche Erziehungsanstalt fort, und in den Zellen tüchtige 
Künstler im Mönchsgewand, meist Deutsche aus der Schule der Benediktiner- 

151 



Schwesterabtei von Beuron in Württemberg. Überreich finden wir Grotten 
und Kapellen der Monchsstadt von Monte Cassino, geschmückt mit Fresken, 
Statuen, Reliefs und Ornamenten dieser Schule, die, ähnlich wie jene der 
englischen Präraffaeliten, kirchliche Tradition mit dem Studium der Natur 
glücklich zu vereinigen weiß. 

So erfüllt der Geist unermüdlicher Arbeit und verfeinerter Kultur nicht 
bloß in der Erinnerung, sondern in nie rastender Betätigung auch heute noch 
diese Stätte, einen wichtigen Brennpunkt menschlicher Gesittung. 




152 




Abt Martin Marty und die Sioux. Jf Von Ferdinand 
Lebzelter, ft 



Wenn der uralte Benediktinerorden in Erfüllung eines wahren Missions- 
berufes vor tausend Jahren Europa zivilisierte, so haben die An- 
gehörigen dieses Ordens auch seit jener Zeit, seit welcher die Kirche 
mit der Missionierung überseeischer Gebiete begonnen, sich berühmten 
missionierenden Zeitgenossen angereiht und erfüllen diese Aufgabe auch 
noch heute. Brasilien und die Philippinen, in hervorragender Weise das 
riesige Gebiet von Süd-Zanzibar tragen noch gegenwärtig Missionen der 
Benediktiner, von welchen die Süd-Zanzibar-Mission erst im vorvergangenen 
Jahre ihren dem Verfasser personlich befreundeten Bischof Spieß, einen 
Tiroler, durch die aufständischen Neger in Deutsch-Ostafrika verloren hat. 

Aus allen diesen Tätigkeitsgebieten der Benediktiner-Missionäre soll 
aber heute nur der Verdienste gedacht werden, welche sich dieselben um 
einen der interessantesten Stämme Nordamerikas, um die einst viel genannten 
und viel gefürchteten Sioux erworben haben — allen voran Martin Marty. 

i53 



Vor weniger als 100 Jahren war die Rothaut noch unumschränkte Ge- 
bieterin der großen Strome, Prärien und Wälder bis an den Fufi der Felsen- 
gebirge. 

Was heute in den Reservationen langsam dem Aussterben entgegen- 
geht, waren freiheitsliebende Stamme, die, mag die Geschichte der nord- 
amerikanischen Kriege sie auch mit manchem Schatten treffen, den Unfrieden, 
der zu so viel Blutvergießen gefuhrt, nicht begonnen haben. So lange die 
Kolonien der Weißen sich auf die Ostländer des Mississippi beschränkten, war 
Friede und Eintracht zwischen dem weißen und roten Mann und die Beamten 
und Jäger der alten Nordwest-Pelzgesellschaft hielten die besten Beziehungen 
zu den eingebornen Stämmen, deren hervorragendster, weil kühnster und 
mächtigster, die Sioux waren. 

Doch nach Nordwest, zu den Siedlungen der Sioux, bereitete sich vorwiegend 
der immer stärker werdende Zug der Einwanderer vor, welche Einwanderungs- 
richtung zum Casus belli werden sollte. Denn das Wandern hieß Verdrängen. 
Wohl war*) noch in den Dreißigerjahren des vergangenen Jahrhunderts das 
Siedlungsgebiet der Sioux groß genug, trotzdem der Stamm 40.000 bis 
50.000 Kopfe zählte, wovon er 8000 bis 10.000 berittene und wohlbewaffnete 
Krieger ins Feld stellen konnte. 

Im Norden bis an die kanadische Grenze, im Westen bis an die Felsen- 
gebirge, in Osten bis zum oberen Mississippi und im Süden bis zur Nordgrenze 
von Kansas reichend, entsprach dieses Gebiet etwa dem heutigen Minnesota, 
Nord- und Süd-Dakota und einem Teile von Nebraska. 

Es lag im Interesse der Regierung der Vereinigten Staaten, zur Besied- 
lung der enormen, aber menschenleeren Landgebiete die Tore weiter zu offnen. 

Schon mußten, um dem Einwandererstrome Platz zu schaffen, zahlreiche 
Stämme im Süden über den Mississippi gedrängt werden. 

Das mag zwingende Notwendigkeit gewesen sein; nur das »Wie« ent- 
sprach nicht den Versprechungen, die wohl gegeben, aber nur wenig ge- 
halten wurden. 

Die europäische Einwanderung nahm die vorausgesehene nordwestliche 
Richtung und der Zusammenstoß mit den weniger willigen Sioux war un- 
vermeidlich. 

Immerhin verstand sich der Stamm zu einem Vertrage mit den Ver- 
einigten Staaten, welcher 1837 zu Prärie du Chien dahin abgeschlossen 
wurde, daß die Sioux gegen ein Jahrgeld das ganze Gebiet östlich vom 
Mississippi an die Vereinigten Staaten abtraten, welcher Abtretung im 
Jahre 1851 die Räumung von ganz Minnesota folgte. Ließ schon die Er- 

*) Nach Catlin. 

154 



füllung der Vertragsbedingungen von 1837 seitens der Vereinigten Staaten 
manches zu wünschen übrig, so war die verderbliche Wirtschaft der so- 
genannten Indianeragenten die Ursache, daß nunmehr die Sioux den Kriegs- 
pfad betraten. 

Ein Militärdetachement wurde überfallen und vernichtet. General Harney 
antwortete mit einem blutigen Strafzug. 

Wieder wurde vereinbart und es blieb bis 1862 verhältnismäßig ruhig, 
bis abermals Reibereien mit den Kolonisten auf Dakotagebiet einen neuen 
Aufstand zur Folge hatten. 

Abermals geschlagen, wanderte ein Teil nach Kanada aus, während ein 
anderer sich in das »heilige Land« der Sioux, die Black-Hills, zurückzog. 
Die Mehrzahl unterwarf sich und ging in die Reservationen. Wieder wurde 
(1868) ein Vertrag geschlossen, nach welchem sich die Regierung verpflichtete, 
das Land nordlich vom North-Plattefluß und ostlich vom Big-Horn als Indianer- 
gebiet zu betrachten, keinem Weißen das Betreten dieses Gebietes ohne Zu- 
stimmung der Indianer zu gestatten und nicht zuzugeben, daß ein Weißer 
sich dort niederlasse oder das Land durchziehe. 

Allein man hatte in Amerika vergessen, mit den Einwandererzügen gerade 
nach Dakota hin und mit den Begleiterscheinungen der Pacificbahn zu rechnen. 

So mehrte sich Siedlung um Siedlung, Dorf um Dorf, ja einzelne der 
letzteren waren bereits mit der für Amerika charakteristischen Schnelligkeit 
zu Städten und Mittelpunkten des Verkehrs herangewachsen. 

Fehlte noch eines, so war es die Entdeckung von Goldfeldern in den 
Black-Hills. Die Reservationen der Indianer waren bereits ringsum von 
Kolonisten umgeben und die Regierung begehrte die Abtretung der Black- 
Hills. Bot sie auch den Sioux hiefur 30 Millionen Dollars, das »heilige Land« 
war ihnen nicht feil. Des langen Feilschens müde und wohl wissend, daß 
eine so hohe Summe nicht bezahlt werden wird, begehrten die Sioux für 
die Abtretung der Black-Hills die Summe von 250 Millionen Dollars. 

Die Union sah den Krieg voraus und, um Überfallen auf die Kolonisten 
vorzubeugen, gedrängt durch das Verlangen nach Kolonistengebieten und 
schließlich auch durch die nicht mehr aufzuhaltende Schärfung der Situation, 
entschloß sie sich zu offenem Vorgehen. 

Die Sioux befehligte Sitting-Bull. 

»Komm und hole mich«, war dessen Antwort auf die Aufforderung 
General Crooks an Sitting-Bull, sich zu unterwerfen. 

General Sheridan rückte von drei Seiten gegen die Indianer vor. Da 
tagte jener verhängnisvolle 25. Juni 1876, an welchem der kühne Reiter- 
general Custer, durch ein Scheingefecht der Sioux in einen Engpaß gelockt, 

i55 



mit seiner ganzen Truppe bis auf einen Mann, der noch als Hiobsbote ent- 
kommen konnte, vernichtet wurde. Crook und Sheridan engten die Indianer 
immer mehr ein, bis endlich Sitting-Bull, jeden weiteren Widerstand als 
unnütz erkennend, sich mit seinen Indianern auf kanadisches Gebiet flüchtete. 
Die amerikanische Regierung verlangte die Rückkehr der Indianer in die 
Reservationen. Sitting-Bull gab die Antwort : Die Regierung der Vereinigten 
Staaten hat zweiundfünfzig Verträge mit den Sioux geschlossen und nicht 
einen gehalten. 

Das war der Zeitpunkt, welchen der Benediktinerabt von St. Meinrad 
im Staate Indiana, Martin Marty, als gekommen erachtete, um, von den Sioux 
bereits als ihr einstiger Missionär gekannt und geachtet, als Friedensvermittler 
einzugreifen. Wohl fehlte es nicht an warnenden Stimmen, welche Abt Marty 
von der gefahrlichen Unternehmung abzureden versuchten, doch ohne Erfolg. 

Marty beschloß, die aufgeregten Indianer und ihren Oberhäuptling 
Sitting-Bull personlich aufzusuchen und sie zu einem geordneten Leben in 
den Reservationen zurückzubringen, vor allem aber alles daranzusetzen, 
weiteres Blutvergießen zu verhindern. Nach langem beschwerlichen Marsche, 
bis 1 20 km nördlich der kanadisch-amerikanischen Grenze, traf er Sitting-Bull, 
der mit seinen Sioux in der Nähe von French-Creek ein Lager aufgeschlagen 
hatte. Nicht nur, daß ihm kein Haar gekrümmt wurde, ward Marty ehren- 
voll im Lager empfangen. 

»Du kommst wohl aus Amerika«, begrüßte ihn der Häuptling. »Du bist 
aber ein Priester und als solcher willkommen. Der Priester tut niemandem 
etwas zu leide; wir wollen Dir Speise und Schutz gewähren und Deinen 
Worten lauschen.« 

Und wenn irgend einer, so war Marty der richtige Mann zu einem 
heiklen Verkehr mit den Indianern. Sein tiefernstes Wesen, die unerschütter- 
liche Ruhe seines würdevollen Auftretens, wenig Worte, aber diese von 
Gehalt — dies alles dem Indianer verwandte Züge — imponierten dem Natur- 
volke, dazu befähigte ihn sein weitgehender Einfluß sowohl bei der Re- 
gierung als den Stämmen wie keinen zweiten zu dieser Mission. 

Trotzdem waren die Verhandlungen schwierig. Immerhin erzielte Marty 
vorläufig die Hauptsache: das Versprechen Sitting-Bulls, gegen die Weißen 
nichts zu unternehmen. Volle vierzehn Monate verweilte Marty in den Lagern 
der Indianer und zehn weitere Jahre widmete er von seiner Abtei aus seinem 
Lebensziele : der friedlichen Pazifizierung der Sioux. So ganz glatt ging dies 
allerdings nicht, nach jahrelanger Ruhe kam es wieder zum Kampfe, in 
welchem Sitting-Bull fiel. Doch endlich sah er doch sein Werk vollendet, die 
Sioux hatten die Streitaxt gegen die Weißen begraben und Standing-Rock 

156 



wurde noch bei Lebzeiten des zum Bischof von Süd-Dakota ernannten Marty 
eine blühende friedliche Niederlassung der Indianer. Gerne übernahmen 
Benediktiner, wie Beda Marty, Bernhard Straflmaier, Franz Gerschwyler, 
Martin Kenel und andere, das mühevolle Werk, die weiten Entfernungen des 
Missionsbezirkes trotz glühender Sonnenhitze im Sommer, trotz der furcht- 
baren Kälte des Dakotawinters, zu durchziehen, um dem Indianer nicht nur 
Seelenhirten zu sein, sondern auch zu helfen, wo sie helfen konnten. 

Zu Grand-River, wo Sitting-Bull im letzten Kampfe am 15. Dezember 1890 
gefallen war, hatte sich der greise Häuptling Red-Cloud zum katholischen 
Kongresse — wie solche alljährlich abgehalten wurden — als Gast ein- 
gefunden. Als man ihm, dem halb Erblindeten, sagte, Bischof Marty stehe 
vor ihm, erhob er sich von seinem Sitze, ergriff Martys Hand mit großer 
Innigkeit und versicherte ihn mit zitternder Stimme, er sei glücklich, den 
Bischof noch einmal gesehen zu haben.*) 

1896 starb Marty zu Saint Cloud und ein protestantisches Blatt widmete 
ihm einen Nachruf, der mit den Worten schloß: »Bischof Marty ist dahin- 
gegangen, allein er hat dem Volke, welches er geliebt und für welches er 
gearbeitet, das Licht und die Lehre eines makellosen christlichen Lebens 
hinterlassen.« 

Um so wehmütiger liest sich, verhältnismäßig wenige Jahre nach Martys 
Tod, die heutige Lage der Sioux. 

»Zeitverschwendung**) nennt ein amtlicher Bericht, das Land der Reser- 
vationen noch produktiv zu machen.« 

»Und wie in der Pine-Ridge-Reservation, so in Standing-Rock- und 
Coow-Creek . . . . « »Auf der ganzen Strecke zwischen Pierre und Bismarck 
sieht man am anderen Missouriufer verlassene Häuser . . . .« »Auf Jahre sieht 
der indianische Farmer sein Getreide durch die heißen Winde dahinwelken. 
Der ausgestreute Hafer ergibt für ihn nichts als Stroh und furchtbare Hagel- 
wetter schlagen ihm selbst das noch zu Boden . . . . « 

Die Sioux, ein schöner, kräftiger, intelligenter Menschenschlag, sind 
zum Bettlerdasein, der sogenannten »Rations-Indianer«, verurteilt. Martin 
Marty brauchte dies nicht mehr zu erleben. 

Es bedarf aber gar nicht der Ungunst des Bodens allein. Wie jedes 
von europäischer Kultur umschlossene Naturvolk, schmilzt auch dieser Stamm 
langsam, aber ohne Halt zusammen, und die Zeit ist absehbar, in welcher 
der letzte der Sioux gewesen sein wird. 



*) »Katholische Missionen 1897/98«, S. 223. 
**) Nach Dr. Deckert »Nordamerika« in Sievers »Länderkunde«, S. 460. 

157 



Wenn Deckert seiner Schilderung der heutigen Sioux noch anfügt, daß 
sie sich manche ihrer alten religiösen Gebräuche erhalten haben, so erkennt 
er damit Marty auch ein kulturgeschichtliches Verdienst zu : Ohne Intervention 
dieses bei beiden Teilen einflußreichen Priesters würden ohne Zweifel die 
im Kampfe um ihre Existenz — wie sie schon genügend gezeigt hatten — 
zum äußersten entschlossenen Indianer nicht früher den Kriegspfad verlassen 
haben, bis sie von der amerikanischen Übermacht schließlich gänzlich auf- 
gerieben worden wären und die GottesbegrifFe eines auch geistig wohl ver- 
anlagten Volkes hätten sich nicht bis zur Gegenwart lebend erhalten können. 

Aber auch ohne diesen der Religionsgeschichte der Völker geleisteten, 
von dem Missionär wohl weniger gewollten Dienst ist Martys Name ehren- 
vollen Gedenkens wert, weil er im vollsten Maße der edelsten aller Auf- 
gaben gerecht geworden — der Vermittlung des Friedens. 





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158 




Die geistigen Anlagen der Tiere. 91 Von Alois Prinz 
Liechtenstein. 91 

Die liberalen Zeitungen Österreichs haben mich häufig als Kalksburger 
Zögling, als Jesuitenschüler bezeichnet. Es ist dies ein verzeihlicher 
Irrtum politischer Gegner. In Wahrheit wurde ich zu Hause erzogen 
durch ausnahmslos freidenkerische Dozenten; es mag der mir angeborene 
Widerspruchsgeist, verbunden mit der Gnade Gottes gewesen sein, welcher aus 
mir einen gläubigen Katholiken und einen strammen Konservativen entstehen 
ließ. Am Schottengymnasium habe ich meine Semestralprüfungen abgelegt, 
am Schottengymnasium maturiert. Eines meiner Lieblingsstudien war Natur- 
geschichte, und Professor Ferdinand hat mir regelmäßig ins Zeugnis die Note 
»Vorzüglich« eingetragen; ich bin mein Leben lang ein großer Tierfreund und 
ein eifriger Jäger geblieben. Die Lektüre der Werke Darwins, seiner An- 
hänger und Nachbeter, wie seiner frühesten und neuesten Widersacher, aber 
auch eigene ununterbrochene Beobachtung und Erfahrung haben mein Urteil 
in den einschlägigen Fragen geschärft und gefestigt, so daß ich als halbwegs 
kompetenter Laie ein Wort mitreden darf. Dies will ich versuchen, bin mir 
aber der Schwierigkeit der Aufgabe voll bewußt ; denn ich werde möglicher- 
weise den Gelehrten zu populär, dem Publikum zu abstrakt schreiben, und 
niemanden vollauf befriedigen. 

Bekanntermaßen ist heutzutage der Darwinismus im vollsten Nieder- 
gange begriffen. Von seinem System, von seiner Deszendenztheorie und von 
der natürlichen Zuchtwahl ist, sobald der Autoritätsglauben einer vernünftigen 
und gewissenhaften Kritik gewichen ist, nichts mehr aufrechtgeblieben, als 
Schlagworte und Gemeinplätze, welche der Halbgebildete noch wiederholt, 
während die Eingeweihten sie still bei Seite legen. 

159 



Es ist allerdings fraglich, ob die Darwinsche Erklärungsweise der 
Entstehung und der Mannigfaltigkeit der Unterschiede und Ähnlichkeiten 
der Tier- und Pflanzenarten jemals durch eine andere, wissenschaftlich ein- 
wandfreie ersetzt werden wird. 

Es genügt aber, daß man den Irrtum als solchen erkannt hat, um ihn 
pflichtmäßig zu verwerfen. Schon damit nähert man sich der Wahrheit, wenn 
man auf einem falschen Wege umkehrt. Darwin und seine Schule haben die 
wichtigste und entscheidendste Tatsache des organischen Lebens merk- 
würdigerweise gänzlich außer acht gelassen: 

In jeder geologischen Periode, während der silurischen und devonischen, 
während der karbonischen, tertiären und diluvialen Zeit, von den Anfangen 
des Lebens auf Erden bis in unsere Tage, müssen sämtliche Organismen 
eine ökonomische Einheit gebildet haben; es hat zu allen Zeiten 
ein wirtschaftliches Gleichgewicht die Tier- und Pflanzenwelt 
beherrscht. 

Die Vegetation hat die Aufgabe, die Luft zu reinigen, den Boden zu 
lockern, Stickstoff und Sauerstoff nebst vielen anderen atmosphärischen 
Bestandteilen mit den zersetzbaren Gesteinen und dem Wasser zu mengen 
und Humus zu bilden. 

Die Vegetarianer des Tierreiches verzehren und lichten die Pflanzen, 
die sonst im eigenen aufgestapelten Moder ersticken und die kaum erst 
gereinigte Luft wieder verpesten würden. 

Die fleischfressenden Raubtiere aller Kategorien nähren sich von den 
Vegetarianern und retten so die Pflanzenwelt vor dem sonst unvermeidlichen 
Untergange. Ohne sie würde die grünende, blühende, Früchte tragende 
Pflanzendecke unseres Planeten zerstampft, abgeweidet, mit Stumpf und Stiel 
vernichtet. Ohne Raubtiere wäre die Erde binnen kurzem schmucklos, nackt 
und ode, ein Leichenfeld, bedeckt mit den bleichenden Gebeinen verhungerter 
Weidetiere. 

Die Allesfresser, welche weder Pflanzen- noch Fleischkost verschmähen, 
Bären, Dachse, Schweine, zahllose Insekten und mikroskopische Lebewesen, 
haben offenbar eine subsidiäre, moderierende Bestimmung, damit das Äqui- 
librium zwischen Fauna und Flora in feinerer Weise, mit den geringsten 
Schwankungen aufrecht erhalten werde. 

Der Kreislauf des Lebens ist also zweifellos die vornehmste 
Ursache der Mannigfaltigkeit in der Natur, des Bestandes der un- 
zähligen~[Arten, ihrer Merkmale', ihrer Instinkte. Die Natur ist ein 
musterhaft regierter Staat, der das wirtschaftliche Wohlergehen des einzelnen 
fördert und dem Gedeihen der Gesamtheit unterordnet. Jedem Geschöpfe und 

160 



jeder Klasse der lebendigen Wesen ist ein Platz und eine Sphäre der Wirk- 
samkeit angewiesen ; in diesem wohlumgrenzten Kreise bewegt sich die Frei- 
heit der Organismen, vermag ihn aber nicht zu überschreiten. 

Was in einem Staate, den Menschen gründeten und verwalten, 
der bürgerlichen Berufsklasse durch äußeren Zwang, Bureaukratie, 
Polizei und Gewerberecht auferlegt wird, das besorgt die Natur 
bei jeder Art ihrer Geschöpfe durch den inneren Zwang ihrer 
physischen und intellektuellen Konstitution. 

Man hat die Tiere nicht ohne guten Grund deshalb mit Maschinen ver- 
glichen; nur sind sie vollkommener, feiner, zweckmäßiger konstruiert als 
diese, weil der Schöpfergeist unvergleichlich erhabener, mächtiger, schärfer 
ist als der Geist des Menschen, der Maschinen erfindet und betreibt. 

Das Tier ist zwar kein Perpetuum mobile, wohl aber ist es eine Maschine, 
die, für Lebenszeit aufgezogen, sich selbst heizt, säubert, reguliert und repa- 
riert und durch Generationen vervielfältigt. Gewiß ! Der Vergleich des Tieres 
mit der Maschine hinkt, wie jeder Vergleich. Es können eben die beiden 
Konstrukteure, Gott, der Allmächtige und Allweise, einerseits und der sterb- 
liche Mensch, sein schwaches Ebenbild und Geschöpf, anderseits nicht wohl 
auf eine Linie bezüglich der Trefflichkeit ihrer Werke gestellt werden. 

Ich glaube, daß jede Art der lebendigen Wesen des Pflanzen- 
und Tierreiches unter dem unentrinnbaren Zwange einer physi- 
schen und, wenn sie höher entwickelt ist, auch intellektuellen 
Konstitution steht, deren Zweck das Wohl und Gedeihen der Ge- 
samtheit ist. Jede Art und virtuell jedes Individuum einer Art hat ge- 
nügenden Spielraum für Wachstum, Erhaltung, Fortpflanzung unter der Be- 
dingung und so lange, als die Bedürfnisse des Naturganzen befriedigt werden. 
Jede Art hat natürlich-soziale Funktionen, wegen deren sie lebt, ohne welche sie 
zum Tode verurteilt ist. Produktion und Konsum in der Natur halten 
einander die Wage wie auf dem inneren Markte eines gut geleiteten 
Erwerbsgebietes, das sich selbst genügt und nach lebhaftem Tausch- 
handel alle Erzeugnisse seines Fleißes selbst verbraucht. 

Von diesem allein richtigen Standpunkte aus müssen wir nicht 
bloß über die physischen, sondern noch mehr über die geistigen 
Eigenschaften der Tiere urteilen. 

Darwin und sein Anhang haben den Tieren einen Intellekt angedichtet, 
der bloß dem Grade nach von dem menschlichen verschieden sein sollte. Es 
war dies ein grober Fehler. Jeder Anthropomorphismus, auf die Tierseele an- 
gewendet, ist eine Täuschung, die zwar unwillkürlich und naheliegend, aber 
gründlich und ausgiebig ist. 

161 ii 



Es handelt sich eben um incommensurable Dinge: der Geist 
des Menschen ist von Hause aus auf die zunehmende Beherrschung 
und Umwandlung der Natur gerichtet, und seine Fähigkeiten ver- 
bürgen ihm auf diesem Wege von Generation zu Generation größere 
Erfolge. 

Die Seele des Tieres ist stationär, bewegt sich im Kreise, 
schreitet nicht vorwärts; sie erhebt sich nicht über die Natur, 
sondern ist ein integrierender Bestandteil derselben; ein kleines 
Räderwerk in dem großen Betriebe des Lebens, nicht ein Werk- 
führer, der ihn beaufsichtigt, leitet, ausdehnt oder verbessert 

Nur wenn wir von dem Zweck des Tieres im Haushalte der Natur aus- 
gehen, können wir seine Denk- und Gefühlsweise verstehen. Jede Analogie 
mit unseren menschlichen Eigenschaften des Geistes und des Herzens fuhrt 
uns auf Abwege. Das Tier ist weder gescheiter noch dümmer, es ist weder 
besser noch schlimmer als wir; es ist anders; nicht der Quantität, sondern 
der Qualität nach weicht es intellektuell und moralisch von uns ab. Das Haus- 
tier ebenso wie das wilde. Vieltausendjährige Zähmung vermag nicht zwischen 
Mensch und Tier Gemeinsamkeit der Gedanken oder auch nur Verständnis 
ihrer beiden logischen Gesetze hervorzubringen, nur gegenseitige Ange- 
wohnung und bis zu einem gewissen Grade parallel laufende Interessen zu 
erzeugen. Die guten Beziehungen zwischen Mensch und Haustier, ihre Liebe 
zu einander fufien sogar zum großen Teile auf wohlmeinenden Mißverständ- 
nissen und Vorurteilen ; der Mensch setzt beim Tiere Ideen und Empfindungen 
voraus, deren er allein fähig ist; das Tier verfallt in denselben Irrtum und 
hält den Menschen innerlich für einen gleichgesinnten Kollegen; beide sind 
zufrieden und vertragen sich. 

Die Denkgesetze von Mensch und Tier sind grundverschieden. 
Ihre Mechanik, selbst wenn das letzte Resultat dasselbe ist, geht 
andere Wege, verwendet andere Mittel. 

Nicht umsonst spricht man vom Verstände des Menschen und 
vom Instinkt des Tieres; der Sprachgebrauch wählt andere Worte, 
wo wesentliche Kontraste schwer definiert werden können. 

Einige Beispiele, die ich meinen Erfahrungen als Jäger entnehme, werden 
die Richtigkeit meiner Ansicht beweisen: 

Während einer Reitjagd kam ich einstens mit einer Gruppe anderer 
Reiter auf eine Anhöhe inmitten eines waldigen Hügellandes. Hier blieben 
wir stehen, denn wir hörten die Meute jagen und sich uns nähern. Plötzlich 
kam, der Meute weit voraus, die er durch Kreuz- und Quergänge ermüdet 
hatte, der gejagte Hirsch zu uns Reitern herangetrollt; ohne die mindeste 

162 



Scheu vor uns ging er gelassen etwa hundert Schritt zwischen uns durch, 
kehrte dann auf seiner eigenen Spur ruhig zurück, sprang hierauf mit weitem 
Satze in einem rechten Winkel von seiner Spur ab, drehte sich um, so daß 
sein Haupt der Spur zugekehrt war, und blieb so, im lichten Stangenholze 
vollkommen ungedeckt, ruhig stehen, ohne sich weiter um uns und unsere 
Pferde zu kümmern, die rechts und links von ihm auf wenige Schritt Distanz 
ebenfalls die kommenden Ereignisse erwarteten. 

Unter lautem Geläute näherte sich die Meute, lief auf der Spur des 
Hirsches an ihm und an uns vorbei, würdigte weder ihn noch uns eines 
Blickes, weil sie sich ausschließlich von der Witterung leiten ließ, verlor die 
Spur des Wildes, lief im Jagdeifer ein gutes Stück weiter, verstummte und 
suchte, sich immer weiter entfernend, im Walde vergeblich den Hirschen, 
der sie durch den sogenannten Widergang oder Haken, eine allbekannte 
List gejagten Wildes, getäuscht hatte. 

Der Hirsch, für welchen wir Reiter samt den Pferden sozusagen Luft 
zu sein schienen, ging, sobald die Meute still geworden war, bequemen 
Schrittes zwischen uns durch und verschwand, ohne sich weiter zu beeilen, 
auf seiner früheren Fährte im Walde. 

Als Augenzeuge einer so sonderbaren und doch typischen Jagdepisode 
war es mir sofort klar, daß die eben beschriebene Handlungsweise des 
Hirsches und der Hunde Denkgesetzen entspringt, welche mit unserer 
menschlichen Logik auch nicht die entfernteste Ähnlichkeit darbieten; daß 
sie Affekten ihre Entstehimg verdankt, welche zwar einerseits Selbsterhaltungs- 
trieb und anderseits Blutgier und Beutelust sind, also auch der menschlichen 
Natur entsprechen, aber doch unfehlbar zu anderen Ergebnissen führen, weil 
ihr Rhythmus, ihr Ursprung und ihr Ziel fernab liegen von den menschlichen 
Leidenschaften. 

Was dieser Hirsch getan hat, um sich der Verfolgung durch die Meute 
zu entziehen, scheint teilweise viel klüger, teilweise viel törichter als das 
Benehmen eines Menschen im gleichen Falle, etwa eines Verbrechers, dem 
die Polizei mit Bluthunden auf der Spur ist. Es ist aber weder dumm noch 
gescheit, denn es geschieht offenbar unbewußt, unter dem Druck eines 
Zwanges, dem der Hirsch und die Hunde gehorchen müssen, eines Zwanges, 
der unter den nämlichen äußeren Bedingungen jedesmal sich wiederholen 
wird, in der einförmigsten Weise. 

Es ist nämlich nicht die Ausdünstung des ganzen Hirschtelles, sondern 
jene der Sohlen seiner Läufe, welche vorzugsweise die Hunde bei der Ver- 
folgung leitet. Dieser Anreiz ist so überwiegend, daß die Meute mit offenen 
Augen, J ohne nach seitwärts einen Blick zu werfen, auf wenige Schritt am 

163 11* 



Hirsche vorbeilaufen mufl, wenn er nach vollzogenem Widergange von seiner 
Spur abgesprungen ist. Furchtlos steht er zwischen den Pferden, ohne die 
Reiter im Sattel zu beachten; denn die Witterung der Pferde überwiegt, 
und die wilden Ahnen des Pferdes grasten harmlos neben den seinen, ge- 
horten samt dem Ur und Wisent zu seinen ungefährlichen vegetarischen 
Kameraden. Ein Zusammenhang zwischen Jägern, Pferden und Hunden be- 
steht für den Hirschen nicht Die Meute ist jedenfalls die Hauptsache in 
seinem unangenehmen Abenteuer; alles übrige ist ihm gleichgültig. Denn, 
wovor er flieht, ist das Geheul der Raubtiere, welches schon seinen Alt- 
vordern denselben Schrecken einflößte wie ihm. 

Nie würde ein Mensch, etwa der von Bluthunden verfolgte Verbrecher, 
von selbst eine List, wie jene vom Hirschen spontan angewendete, ersinnen. 
Er müßte zuerst belehrt werden, daß es allein der Geruch seiner Sohlen ist, 
welcher ihn verrät und seinen Feinden ausliefert. Nie würde er, wie der 
Hirsch, welcher von seiner Spur abgesprungen ist, offen auf wenig Schritt 
neben derselben stehen bleiben, denn wie sollte er ahnen, daß die Hunde 
im Jagdeifer ihrer eigenen Nase nach an ihm vorbeilaufen müssen, ohne ihre 
Augen zu gebrauchen, ohne ihn eines Blickes zu würdigen; nie würde ein 
Mensch, der in so wunderbarer Weise der Todesgefahr entronnen wäre, sich 
gelassen vom Schauplatz entfernen wie jener Hirsch ; er würde fortlaufen, so 
schnell als er kann, um zwischen sich und die Meute einen möglichst großen 
Vorsprung, eine weite Distanz zu setzen. 

Auch die Hunde würden, wenn sie mit ihrer feinen Nase einen dem 
menschlichen ähnlichen Verstand verbinden konnten, sich im vorliegenden 
Falle anders benommen haben. Sie hätten nie gebellt, denn dieser Lärm dient 
dem Wilde zur Warnung; sie hätten rechts und links geschaut und den 
Hirschen, der ungedeckt neben seiner Fährte stand, bemerkt; sie wären, als 
die Spur, der sie folgten, plötzlich aufhörte, umgekehrt, hätten den Hirschen 
wiedergefunden und ihn gefangen. 

Wir haben es also bei den Beziehungen dieser jagenden Raubtiere zu 
ihrer vegetarischen Beute mit seelichen Vorgängen zu tun, welche keine 
Analogie mit den Denkprozessen bieten, die sich bei uns Menschen abspielen. 
Um das Gleichgewicht zwischen den grasfressenden und den fleisch- 
fressenden Säugetieren aufrecht zu erhalten, sind beiden Instinkte 
von der Natur verliehen, welche einen unentrinnbaren Zwang auf 
sie ausüben und gleiche Chancen zwischen sie verteilen, den einen, 
um sich zu retten, den andern um sie zu fangen und zu verzehren. 
Diese Instinkte, welche teilweise sehr hochentwickelte psychische Vorgänge 
auslösen, sind aber qualitativ und essentiell grundverschieden vom mensch- 

164 



liehen Verstände, von der menschlichen Vernunft; jeder Vergleich zwischen 
so unähnlichen Potenzen ist daher unstatthaft. 

Möge es mir gestattet sein, aus meinen Erfahrungen weitere Beispiele 
zum Beweise der Richtigkeit meiner Ansicht vorzubringen: In den March- 
auen nahm ich einmal an einer Treibjagd auf Niederwild teil. Einige von uns 
waren längs der Richtung des Triebes aufgestellt, andere derselben gegen- 
über, dort, wo der Trieb enden sollte. Ich stand ganz ungedeckt mit meinem 
Leibjäger auf einer Waldwiese. Plötzlich kam ein Rudel Hochwild, zumeist 
Tiere, aber auch Spießer und Sechserhirsche, ins Freie heraus, sahen mich 
und blieben auf kaum achtzig Schritt vor mir stehen. Ich und mein Jäger 
bewegten uns, sprachen laut mit einander; das Rudel Hochwild beobachtete 
uns mit Interesse, aber ohne die geringsten Anzeichen von Scheu und Arg- 
wohn. Der Wind zog vom Wilde zu uns. Plötzlich schreckte das Leittier, 
das ganze Rudel antwortete im Chor und eine wilde Flucht begann; aber 
nicht von uns weg, sondern auf uns zu und links und rechts an uns auf 
wenige Schritt vorüber: Das Rudel hatte von den etwa fünfhundert Schritt 
weit postierten, am Ende des Waldes aufgestellten, vollkommen unsichtbaren 
Schützen Wind bekommen. Der Anblick des Menschen hat eben an und für 
sich nichts Erschreckendes für die wilden, von Pflanzen sich nährenden Säuge- 
tiere, es wäre denn, dafl dieselben durch häufiges Anschießen diese Er- 
scheinung mit dem Knall des Schusses und dem Pfeifen der Kugel geistig 
in Verbindung zu setzen genötigt worden sind. Im Urzustand von Mensch 
und Tier ist ja ersterer wohl kaum in der Lage, dem Hochwild ernstlich 
nachzustellen. Erst der Geruch des Menschen, wenn ihn der Wind dem 
Hirschen zubringt, muß ihn warnen und zur Flucht nötigen, weil die Witte- 
rung des Menschen, der ja ein Allesfresser ist, der Witterung des Raubtieres 
ähnlich sein dürfte. 

Als großer Hundefreund gehe ich selten ohne meinen alten Teckel im 
Walde spazieren ; die feine Unterscheidungsgabe seiner Nase und deren Rück- 
wirkimg auf seinen Gedankengang sind mir Gegenstand täglichen Studiums. 
Wenn ich zufällig einen Hasen aus seinem Lager aufstöbere und den Dachs- 
hund herbeirufe, so schnuppert er ohne besonderes Interesse den Boden ab, 
auf welchem der Hase gelegen war. Auch wenn ich mit ihm das verlassene 
Lager umkreise, bleibt seine Stimmimg noch immer gelassen, gleichgültig; 
erst wenn ich ihn auf etwa fünfzig Schritt vom Lager auf die Spur des 
Hasen führe, gibt er freudig Laut und beginnt eifrig zu jagen. Die Sohle der 
Hasenläufe fangt nämlich nicht sofort, sondern erst nach einer Reihe von 
Sprüngen an, jenen Geruch auszudünsten, welcher das Raubtier zur Ver- 
folgung der Beute anreizt. — Verstand und Überlegung, Begreifen im mensch- 

165 



liehen Sinne hat mit den geistigen Vorgangen, die das Raubtier auf der Jagd 
und das Beutetier auf der Flucht bewegen, nichts zu tun. Das verfolgte 
pflanzenfressende Wild wittert, wenn ihm der Wind gunstig ist, auf weiteste 
Entfernung die Raubtiere; diese folgen im großen ganzen dem Wilde nur 
auf der Spur. 

Wäre den Raubtieren eine schärfere Witterungsfahigkeit gegeben als 
den Beutetieren, oder auch nur eine gleich scharfe, so wäre das Gleich- 
gewicht in der Natur gestört, das arme, wehrlose Wild konnte weder in Ruhe 
grasen und wiederkäuen, noch, gejagt, sich retten. Mit ihrer überlegenen 
Witterungsfahigkeit vermögen sie beizeiten den Raubtieren auszuweichen 
und genießen eine beinahe absolute Sicherheit, sobald die Raubtiere nicht 
zufällig ihre halbwegs frische Spur finden. 

Diese der Ökonomie des Naturganzen dienenden Instinkte des Tieres 
sind sein Schicksal, unentrinnbar, unabänderlich. Weder jahrtausendlange 
Zähmung durch den Menschen, noch durch ihn bewirkte Akklimatisation 
vermögen die geistigen Anlagen der Tiere auch nur im geringsten zu modi- 
fizieren. Naturam expellas furca, tarnen usque recurret. Im Haustiere, ob kurz 
oder lange in des Menschen Gesellschaft lebend, steckt das wilde Tier mit 
der Mission, die ihm innerhalb der freien Natur vom Schopfer angewiesen 
war. Wie es dem Zwang entweicht, beginnt es sich wieder dieser Mission 
zu widmen. 

Daher die scheinbar widersinnigen Kontraste in dem Benehmen der 
Tiere im wilden und gezähmten Zustande: Das Raubtier als Haus- und Zelt- 
genosse des Menschen ist gemütlich, friedfertig, anhänglich; denn an der 
reichbesetzten Tafel des Herrn findet es mühelos die Fleischkost, die es sich 
sonst durch unverdrossene angestrengte Jagd in kaum zureichendem Quantum 
hätte verschaffen müssen. Die vegetarischen Haustiere, die unter des Menschen 
Obhut und Führung ihre Nahrung mehr oder minder selbst sich auf der 
Weide suchen müssen, sind ihm weit weniger anhänglich und verwildern 
ohne weiteres. Das gefahrliche Raubtier, an den Menschen gewöhnt, wird 
absolut harmlos; manche Pflanzenfresser werden, sobald sie die Scheu vor 
dem Herrn der Schöpfung verloren haben, demselben lebensgefahrlich. 

Der Hund, dieser durch Rassenzüchtung von seiner Urgestalt abge- 
wichene Wolf, ist dem Menschen ein bis in den Tod treuer Freund geworden. 
Die sibirischen Jägervolker, welche den Hund zum Ziehen ihrer Schlitten 
gebrauchen, verweigern ihm nach der Schneeschmelze das Futter und prügeln 
ihn aus den Zelten hinaus. Über den Sommer wird dort der Hund, was er 
ursprünglich gewesen, ein Wolf, und fristet sein Leben schlecht und recht 
mittels der freien Jagd, die er im Rudel ausübt; beim ersten Schnee stellt 

166 



er sich bei den Zelten wieder ein als Bittender, der sich gerne wieder ein- 
schirren läßt ins Joch des Menschen, unter der Bedingung reichlicherer 
Fleischkost. Er ist eben von der Natur nicht bloß zum Fangen lebenden 
Wildes, sondern auch zum Vertilgen von Aas und Abfallen bestimmt; er muß 
sich schon in grauer Vorzeit um die Wohnstatten der Menschen eingefunden 
haben als Dieb und Bettler, als eine Art freiwillige Sanitatspolizei, wie noch 
heute Schakal und Hyäne um jedes Lagerfeuer afrikanischer oder asiatischer 
Nomaden. 

Auch der grimmige, starke Lowe fühlt sich glücklich und zufrieden in 
des Menschen Gesellschaft, wird ohne weiteres sein verträglicher Gefährte; 
allerdings ist sein Appetit so gewaltig, daß seine ständige Gesellschaft nur 
in besonders gastfreien und vermöglichen Haushaltungen statthaft ist. Die 
ägyptischen Pharaonen waren auf ihren Spaziergängen von ihren Löwen be- 
gleitet, und der Negus, der Beherrscher von Abessinien, nimmt sie auf seinen 
Provinzbereisungen und Kriegszügen mit. Der Negus, seine Hofherren, 
Diener und Krieger spielen mit den Löwen, wie wir mit großen, gutmütigen, 
etwas phlegmatischen Doggen. 

Die Löwen des Negus verlassen hin und wieder den königlichen Troß, 
wenn er durch waldige Gegend zieht, weil ihre Jagdpassion sie verleitet; 
nach einem, höchstens zwei Tagen finden sie sich wieder ein, weil die reich- 
besetzte Tafel des Monarchen ihnen eine regelmäßigere und üppigere Nahrung 
bietet, als das scheue flüchtige Wild im Dornengestrüppe der tropischen 
Einöde. 

Der Tiger wurde, wie Marco Polo berichtet, ebenso wie der Jagdpanther, 
Chitah, von den mongolischen Jägern im Dienste des Großkhans Kublai zum 
Fange der Gazellen abgerichtet; jedenfalls werden junge Tiger in Indien 
heutzutage von den englischen Offizieren häufig als Quartiergenossen und 
Spielkameraden gehalten (pet-tigers, Lieblings- oder Schoßtiger genannt). 
Gut gefuttert mit gekochtem oder rohem Fleisch sind sie so ungefährlich, 
daß sie von den Offizieren meistens erst in völlig ausgewachsenem Zustande 
an Menagerien abgegeben werden. Wird sein Hunger rechtzeitig und aus- 
giebig gestillt, so ist das Raubtier eben kein solches mehr; wenigstens für 
die Zeit der Verdauung. Eine bloß scheinbare, aber recht unangenehme 
Ausnahme bildete allerdings ein Tiger, der, neben dem Toilettespiegel sitzend, 
von seinem Herrn, einem englischen Kapitän, der sich eben rasierte, ge- 
streichelt wurde. Der Kapitän hatte sich eben in den Finger geschnitten 
und der Tiger leckte und sog an demselben das frische Blut; plötzlich merkte 
der Offizier, daß der Tiger den Finger nicht mehr loslassen wollte und 
dumpf knurrte. Der Offizier erkannte sofort, daß sein Liebling, da er einer 

167 



Raubtierart angehört, welche das warme Blut seiner Opfer zu trinken gewohnt 
ist, diese seine Natur nicht werde überwinden können; er stand auf, ging 
mit dem am Finger weitersaugenden Tiger zu seiner Pistolenschatulle, lud 
die Waffe so gut es ging mit der freigebliebenen Hand, hielt sie an die 
Stirne des Raubtieres und erschoß es. 

Jedes Raubtier dürfte bei geeigneter Behandlung so weit zähmbar sein, 
daß es in »Symbiose«, nämlich frei mit dem Menschen in gemeinsamem Haus- 
halte, dessen Kosten allerdings vorwiegend der letztere trägt, zu leben sich 
bequemt, ohne ihm Gefahr zu bringen. Ja es kommen höchst bemerkenswerte 
Fälle vor, wo das Raubtier, ohne jung eingefangen zu sein, von selbst, aus 
eigener Wahl sich dem Menschen anschließt. 

Amerikanische Trapper, siebenbürgische und kroatische Hirten unserer 
Militärgrenze haben nicht selten junge Bären von der erschossenen Mutter 
weg nach Hause getragen, aufgezogen und das Tier, von ihnen gefuttert, 
wurde ihr Begleiter und Freund; aber kürzlich brachten illustrierte Sport- 
blätter aus Kanada die Momentphotographie eines großen wilden Bären, der, 
aus dem Urwalde tretend, ein tüchtiges Stück Plumpudding aus der Hand 
eines Koches empfängt, welcher die Mahlzeiten einer Partie Holzknechte 
zubereitete; letztere sehen lachend dem eigentümlichen Schauspiele dieser 
ehrbaren Annäherung zu. Der Koch hatte nämlich durch ein paar Wochen 
bemerkt, daß dieser Bär, durch den Duft der Braten und des Fettes, sowie der 
Mehlspeisen angelockt, jedesmal zur Mittagstunde aus dem Walde trat und 
traurig mit stummer Bitte zusah, wie ohne ihn gegessen wurde. Ermutigt 
durch das freundliche Entgegenkommen des Koches und die wohlwollende 
Neutralität der Gesellschaft, hatte er allmählich seine angeborene Schüchtern- 
heit überwunden, schließlich das süße Futter dankbar personlich in Empfang 
genommen. Nur mit der Hand streicheln ließ er sich nicht. Im Nationalpark 
von Yellowstone war es schon seit längerer Zeit Sitte, daß die Hotelgäste 
nach dem Speisen der Fütterung der wilden Bären zusahen, die in den Vor- 
garten regelmäßig kamen, um die Reste und Abfalle aufzuzehren. Seit einiger 
Zeit mußte es ausdrücklich den Touristen im Yellowstone Park verboten 
werden, auf Spaziergängen den Bären Futter vorzuwerfen, weil dieselben in 
ihrer Unersättlichkeit zudringlich geworden waren. Im Yellowstone Park ist 
es nämlich absolut verboten, auf das Wild zu schießen; seine Zutraulichkeit 
nimmt daher mitunter bedenkliche Formen an. 

Wesentlich anders, ja entgegengesetzt, ist das Verhalten vieler an und für 
sich im wilden Zustande harmloser und furchtsamer pflanzenfressender Tierarten, 
wenn sie durch Domestikation die Scheu vor dem Menschen abgelegt haben. 

168 



Jene Waffen, die sie sonst nur aus Notwehr gegen verfolgende Raub- 
tiere gebrauchen, wenden sie nun aus Mutwillen wider den Herrn der 
Schöpfung an. Der zahme Rehbock, der zahme Hirsch, sie sind im höchsten 
Grade lebensgefährlich; ohne irgend eine Herausforderung seitens des 
Menschen, ja plötzlich während der gierig aufgenommenen Fütterung mit 
willkommenen Leckerbissen, stürzen sie sich auf ihn, durchbohren ihn mit 
ihrem Gehörn und zerfleischen seine Leiche. Der gezähmte Elch, dessen 
Schaufeln als Angriffswaffe minder tauglich sind, erschlägt unversehens mit den 
spitzigen Hufen seiner starken Vorderläufe den Wärter; selbst die Hirschkuh, 
die scheinbar sanfte, haut mit den Läufen unbarmherzig gegen Erwachsene 
und namentlich gegen Kinder, trampelt auf ihren Opfern herum, so lange sie 
sich bewegen. 

Der Hengst beißt und schlägt ohne erkennbaren Grund den Stallburschen, 
muß stets durch den Stock in Respekt gehalten werden; dem Stier imponiert 
der Stock nicht einmal, reizt ihn vielmehr, weil er ihn, seinem Instinkte gemäß, 
für das Gehörn eines Rivalen hält; nur die Peitsche, die ihn von ferne 
empfindlich trifft, die Waffe, gegen welche er sich nicht zu schützen versteht, 
zwingt ihn zum Rückzuge. Bloß die Kastration beugt den Trotz von Hengst 
und Stier, verwandelt sie in willige Knechte des Menschen. 

Der Vorteil, welchen die Symbiose mit dem Menschen diesen pflanzen- 
fressenden Säugetieren bietet: regelmäßige Ernährung und Obdach gegen 
die Unbill des Wetters, ist eben keineswegs so überwiegend, daß er ihnen 
den Verzicht auf die Freiheit rechtfertigen könnte; jenseits des Zaunes, außer- 
halb des Stalles winkt die Weide, der stets gedeckte Tisch der Natur, und 
das Winterhaar, welches von selber ihm wächst, schützt den Hirsch, das 
Pferd, das Rind gegen die Kälte. Warum sollte er die Waffen, die ihm zur 
Abwehr und zum Angriff gegeben sind, nicht in Ernst und Scherz, aber 
stets im Vollbewußtsein der eigenen Kraft, wider ein Wesen erheben, dem 
er in der freien Natur scheu ausweicht, dem er jedoch im engen Räume, 
nach erfolgter Angewöhnung, seine physische Überlegenheit leicht beweisen 
kann. Stoß, Biß und Hufschlag waren seine Argumente im Kampfe mit 
seinesgleichen, wann die Eifersucht ihn erregte, und in der Notwehr gegen 
das Raubtier, wann der Selbsterhaltungstrieb und die Verzweiflung ihn 
leiteten; nun richten sich diese Argumente wider den Hirten, den Reiter, den 
Kutscher, den Tierwärter, der dem freigeborenen Weidegänger seine herrische, 
unbequeme Gesellschaft aufgedrängt hat. 

Höchst merkwürdig und lehrreich ist das Verhalten der Haustiere, 
welche der Mensch in Gegenden und Verhältnisse bringt, für welche die 
Natur sie nicht ursprünglich bestimmt hatte. Das Schaf ist zweifellos der 

169 



degenerierte Abkömmling wilder Tiere, welche auf Bergen wohnen; sei es, 
daß es aus dem Mufflon, dem sardinisch-korsikanischen Wildschafe, oder aus 
dem asiatischen Argali Kleinasiens und Persiens, vielleicht selbst aus dem 
zentralasiatischen Pamir- oder Kaschgar-Schafe entstanden ist. Jedenfalls war 
sein freier Ahnherr ein Gebirgswild, das sich gegen rauhe Stürme leicht 
dadurch schützen konnte, daß es in Schluchten «ich einstellte, oder von 
einem Berghang auf den entgegengesetzten zog. Auch der Ur, der Stamm- 
vater unseres Hausrindes, dessen letzte Exemplare im sechzehnten und 
siebzehnten Jahrhundert noch in den Parks polnischer Großen lebten, war als 
Waldbewohner an rauhe Winde nicht gewohnt 

Der Mensch, der sie zähmte, hat die Schafe in die baumlose Steppe 
Südrußlands eingeführt und die Hausrinder auf den offenen Prärien von 
Texas, Neumexiko, Utah, den Steppenländern der Vereinigten Staaten. 

Sobald nun der Polarsturm von Norden über die Ebenen der Ukraine 
braust, sind die Schafherden in größter Gefahr. Eine Panik ergreift sie, 
welche alles mit sich fortreißt; sie laufen mit dem Winde; auch in der 
nächsten Nähe der Hürde vermögen die Hirten sie nicht mehr zu wenden 
und in Sicherheit zu bringen; tagelang und Dutzende von Meilen weit rennen 
sie, bis sie tot zusammenbrechen; ja es kommt vor, daß sie, am steilen Ufer 
des Schwarzen Meeres angelangt, sich zu Tausenden kopfüber in die Flut 
stürzen. Ein ähnliches tragisches Schicksal trifft die Rinderherden in den 
amerikanischen Prärien, wenn der Blizzard, der kalte Schneesturm, sie im 
Freien ereilt; sie beginnen vor demselben einen Dauerlauf, der nur mit der 
Erschöpfung und dem Tode endet. Die Farmer haben in manchem Winter 
furchtbare Verluste an ihrem Vieh zu beklagen; infolgedessen haben einige 
unternehmende und kluge Leute die letzten Reste jener großen Büffelherden, 
welche einstens in Millionen von Exemplaren die Prärien bevölkerten, ein- 
gefangen, gezähmt und vermehrt Sie haben damit glänzende Geschäfte 
gemacht; denn der Bison, der eingeborene Bewohner der zentralen Gras- 
steppen des nordamerikanischen Kontinents, kümmert sich um die Exzesse 
des dortigen Klimas nicht; er ist ihnen gewachsen. Wie der Schneesturm 
anhebt, dreht er seine mächtige breite wollige Stirn trotzig gegen denselben, 
legt sich nieder und läßt sich gemütlich anblasen und einschneien. Seitdem 
dieses stoische Verhalten des Büffels erkannt und gewürdigt worden ist, 
wird er massenhaft gezüchtet und hoch geschätzt und bezahlt. Er hat, so 
weit der Blizzard weht, als Haustier eine große Zukunft. 

Die Instinkte des Tieres, seine geistigen Anlagen reichen eben nur 
aus innerhalb jener Umgebung, für welche die Natur es geschaffen hat. 
Auch die Erfahrungen, die es erwerben kann, überschreiten niemals den 

170 




Kreis jener Gedanken, deren es fähig ist in Erfüllung seines ursprünglichen 
Zweckes. Die Akklimatisation, welche der Mensch den Tieren gewaltsam 
auferlegt, erzeugt daher mitunter seltsam paradoxale Zustande. Die europäische 
Biene, in den ewigen Frühling des tropischen Nordaustralien nach Queensland 
versetzt, speicherte in den ersten Jahren enorme Vorräte in Erwartung des 
Winters auf; da dieser ausblieb, wurde das Tierchen, welches das Symbol 
des Fleißes bisher gewesen war, so faul, daß es jetzt nur für seine tägliche 
Nahrung sorgt und nutzlos für den Menschen geworden ist. (Die australische 
eingeborene Biene legt sich bloß in den regenarmen Gegenden für die Zeit 
der blumenlosen, sommerlichen Dürre einen hinreichenden Vorrat an.) In 
einigen Gebieten des Kontinents von Australien war die Beweidung durch 
Rinder und Schafe unmöglich. Es gab, untermischt mit gesundem Futter, 
viele giftige Gräser, und der Instinkt unserer Haustiere, der für unsere Flora 
vollkommen genügt, greift dort daneben. Auch auf Weiden, welche im 
großen ganzen nahrhaft und unschädlich sind, gewöhnen sich dort manche 
Schafe ein seltsames Laster an. Ein gewisses Kraut mit berauschenden Eigen- 
schaften mundet ihnen, obwohl es ihnen verderblich ist. Man nennt diese, 
dem langsamen Absterben geweihten Tiere, Indigofresser. Sie trennen sich, 
auf der Suche nach diesem Lieblingsgerichte, von der Herde, magern zu 
Skeletten ab und gehen schließlich zugrunde. 

In den Gebirgen von Neuseeland endlich hat die Einführung des Schafes 
einem bisher tugendhaften, früchteverzehrenden Papagei, dem schwarzen 
Kea, verbrecherische Gelüste erweckt; er fliegt dem dummen Vierfüßler auf 
den Rücken, klammert sich in die Wolle fest, hackt ihm mit dem kräftigen 
Schnabel das Fell auf und frißt ihm Löcher in die fette Niere. Das arme 
Schaf, das sich nur zu wälzen brauchte, um den frechen Feind zu erdrücken, 
ist nicht im stände, diesen einfachen Gedanken zu fassen. Er ist außerhalb 
seines Repertoirs. Es läuft, mit seinem Peiniger auf dem Rücken, wie toll 



171 



herum und geht unfehlbar an den eiternden Wunden zugrunde. Der Papagei 
wird aber von den Ansiedlern als improvisiertes Raubtier nunmehr uner- 
bittlich verfolgt und befindet sich bereits auf dem Aussterbeetat Dieser 
Konflikt ist eine Komödie oder Tragödie der Irrungen, welche entstehen, 
wenn der Mensch in den Haushalt der Natur ein neues Glied einfugt, welches 
zu den übrigen nicht paßt. Das insulare, bezüglich der Fauna und Flora 
bisher isolierte Neuseeland wird durch die Akklimatisationen, welche der 
weiße Kulturmensch dort ausfuhrt, gänzlich revolutioniert. Sogar das ange- 
stammte gelbgrüne Gras der Insel weicht den europaischen Sämereien, und 
viele Gattungen origineller Baume und Gesträuche vermögen sich nicht mehr 
gegen die Invasion der englischen Gewächse zu behaupten. Es ergeht ihnen 
wie dem Riesenvogel Moa, der nur mehr in Museen vorkommt, und dem 
braunen Maorivolke, das auch bald nur mehr der Geschichte angehören wird. 

Ich kann diesen Aufsatz nur schließen, indem ich seinen Grundgedanken 
wiederhole, in gedrängter und gekürzter Form: Es ist das Tier wie mit 
seinem Korper auch mit seinem Geiste eingepfercht in den Gesamthaushalt 
der Natur als ökonomischer Bestandteil'; es ist eingefugt als Räderwerk in 
die komplizierte, fein und genau funktionierende Maschine. 

Der Mensch ist zwar, was den Korper anbelangt, der gebrechlicher und 
schwächer ist als jeder tierische Organismus, ebenfalls als Teil einverleibt dem 
gesamten Systeme der ihn umringenden Natur; durch seinen Geist steht er 
jedoch über derselben, als Beherrscher und Verwalter; er kann sie benützen, 
veredeln, verwüsten; er hat sie seit dem Beginne der historischen Zeiten mehr 
und mehr verwandelt zu seinem Nutzen und Frommen, und hat die Kräfte, 
die in ihr schlummern, geweckt, geregelt und eingerichtet zu seinem Vorteil. 

Sein Geist ist ein fortschreitender, die Seele der Tiere stationär; er ist 
Chauffeur und Lenker des Automobils, sie sind die Bestandteile des Mecha- 
nismus. Menschen- und Tierseele soll man nicht miteinander vergleichen. 




172 




Psychologie des Verbrechens. Aus einem unge- 
druckten Vortrag. J| Von Franz von Liszt. J| 

Psychologie des Verbrechens bedeutet den Versuch einer kausalen 
Erklärung, mithin einer wissenschaftlichen Erkenntnis des Verbrechens. 
Sie ist die Anwendung des Denkgesetzes der Kausalität auf ein 
besonderes Gebiet unserer Erfahrung; jenes Denkgesetzes, durch welches 
wir Ordnung in die scheinbar regellose Flucht der Erscheinungen zu bringen, 
sie miteinander als Ursachen und Wirkungen unter einer obersten Einheit 
zu verknüpfen uns bemühen. Sie ist die Antwort auf die uralte Frage: 
Woher stammt das Übel, die Sünde, das Verbrechen in dieser Welt? 

Wie die kausale Erkenntnis selbst, die den Menschen über das Tier 
erhebt, das Ergebnis einer unübersehbar langen Entwicklung durch den 
Kampf ums Dasein ist, so ist auch ihre Ausdehnung auf die verschiedenen 
Gebiete menschlicher Erfahrung nur Schritt für Schritt erfolgt. Es kann uns 
daher nicht wundernehmen, wenn auch die Psychologie des Verbrechens 
in der Entwicklungsgeschichte des menschlichen Denkens nicht mit einem 
Schlage, sondern in stufenweisem Fortschritt und mit steigender Klarheit 
sich durchgesetzt hat. 

i73 



Das naive Denken aller Völker, wie es in den religiösen Mythen sich 
widerspiegelt, vermag* die Sünde wie das Verbrechen (die beiden Begriffe 
bedeuten ja ursprunglich ein und dasselbe) nicht anders zu erklären, als durch 
den Hinweis auf transzendente, übersinnliche und übermenschliche Kräfte. 

In großartiger Einfachheit tritt uns diese Auffassung noch entgegen in 
der griechischen Tragödie. Es ist der unerforschliche und unabwendbare 
Ratschluß der Gotter, der den Menschen zum Verbrechen treibt, er mag 
wollen oder nicht; sein unentrinnbares Schicksal, sein Fatum ist es, daß er 
Verbrecher wird. Sophokles hat uns in seinem »Odipus« die alte Auffassung 
wiedergegeben: Was Menschenwitz vermag, hat der Held getan, um dem 
von den Göttern ihm bestimmten Schicksal zu entgehen; und dennoch tötet 
er den Vater und lebt mit der Mutter in geschlechtlicher Gemeinschaft — 
ohne es zu wissen und wollen. Und Euripides faßt (im »Herakles«) die Über- 
zeugung der Vorzeit in die ergreifenden Worte: 

»Wer ankämpft wider göttliches Verhängnis, der müht sich wohl und 
ringt, allein sein Ringen und Mühen ist Torheit. Was geschehen muß, 
geschieht; kein Mensch vermag es je zu ändern.« 

Viel häufiger freilich ist die uns aus dem Alten Testament geläufige 
dualistische Auffassung. Wird Gott als der unendlich Gütige gedacht, so 
kann er die Sünde und das Verbrechen unmöglich gewollt haben. Sie muß 
daher zurückgeführt werden auf ein besonders böses Prinzip. Und dieses 
tritt dem Prinzip des Guten entweder als gleichberechtigte Macht gegenüber, 
mit ihm im ewigen Kampfe liegend, wie der Tag mit der Nacht, wie der 
Sommer mit dem Winter; oder aber als ein untergeordnetes Prinzip, das 
nur im Rahmen der göttlichen Zulassung die Menschen zum Abfall von 
Gott, zur Sünde, zum Verbrechen zu verleiten die Macht hat. Durch die 
Schlange ist die Sünde in die Welt gekommen, so lehrt uns die biblische 
Überlieferung. Aber Gott hat es gewußt und er hat es zugelassen. 

Allmählich erst zieht das Bedürfnis nach Aufdeckung des Kausal- 
zusammenhanges zwischen den Erscheinungen der Sinnenwelt auch das Ver- 
brechen in seine Kreise. Der übersinnliche Hintergrund weicht immer weiter 
zurück; im Menschen selbst wird die Ursache des menschlichen Handelns 
gesucht. Damit beginnt die Psychologie des Verbrechens, die kausale Er- 
klärung des Verbrechens aus der Psyche des Verbrechers heraus. Sie ge- 
schaffen zu haben, ist das Verdienst der Dichtung, nicht der Wissenschaft; 
am allerwenigsten das Verdienst der Jurisprudenz. 

Aber auch in der Lösung des einmal gestellten Problems ist die Ent- 
wicklung langsam vor sich gegangen und wie überall vom Einfachen zum 
Zusammengesetzten vorgeschritten. Ich möchte drei Entwicklungsstufen in 

i74 



der psychologischen Erklärung des Verbrechens unterscheiden; es sei mir 
gestattet, sie an die Dichtungsformen des Epos, des Dramas, des Romans 
anzuknüpfen. 

Das Volksepos ist das Hohelied von den Großtaten der kriegerischen 
Vorfahren. Da ist der wettergehärtete Jäger- und Hirtenstamm in die frucht- 
baren Flußtäler herabgestiegen und hat die schwächeren Ackerbauer über- 
wunden und auf ihrem Gebiet sich niedergelassen. Wenn jetzt die seßhaft 
gewordenen Nachkommen der Eroberer am friedlichen Herdfeuer von den 
Kriegszügen der Väter und Großväter singen und sagen, da fehlt in den 
überlieferten stürmischen Ereignissen nicht die blutige Gewalttat, nicht der 
Mord und die Brandstiftung, der Frauenraub und die Plünderung ; aber auch 
nicht die heimliche Meintat, der Treubruch, der Verrat, der hinterlistige 
Überfall. Klar und scharf, als ausgeprägte Individualitäten, heben die Täter 
dieser Taten, die Helden der Vorzeit, sich von einander ab: Achilles und 
Hektor, Hagen von Tronje und Kriemhild. Die psychologische Erklärung 
ihrer Handlungen, auch ihrer Verbrechen, ist klar und einfach; was sie tun,- 
ist die notwendige Folge ihrer psychologischen Eigenart: Von Zweifel und 
Bedenken, von einem Zagen und Schwanken ist da keine Rede. Es ist wie 
bei den Gestalten der alten Glasgemälde oder bei Hodlers Wandmalereien; 
sie wirken durch ihre verblüffende Deutlichkeit, gerade weil die Perspektive 
mangelt 

Genauere Betrachtung der menschlichen Psychologie lehrt aber, daß die 
Taten des Menschen, die guten wie die bösen, so eindeutig nicht erklärt 
werden können; daß jede einzelne von ihnen das Ergebnis eines manchmal 
recht harten und langwierigen Kampfes ist zwischen den Motiven und Gegen- 
motiven und zwischen diesen allen und dem Charakter des Handelnden. Und 
die Aufgabe des Dichters wird es, diesen Kampf zu schildern; die Eigenart 
seines Helden uns klar zu machen, die Leidenschaften, die ihn zum Ver- 
brechen hinzureißen drohen, und die Hemmungsvorstellungen aufzudecken, 
die ihn vor dem Fall zu schützen im stände wären; den verschlungenen 
Fäden des psychischen Lebens nachzugehen bis zu der Stelle, wo der 
tragische Knoten sich knüpft. Die großen Dramatiker aller Jahrhunderte 
haben diese Aufgabe sich gestellt. Shakespeares »Verbrechergestalten« bilden 
auch heute noch eine schier unerschöpfbare Fundgrube für den Kriminal- 
psychologen. Ibsen hat das Problem, wenn ich so sagen darf, mathematisch 
zugespitzt: Wie die Figuren eines Schachbrettes stellt er die Personen seiner 
Dramen einander gegenüber, jede mit einem bestimmten Charakter, der in 
der Berührung mit den äußeren Verhältnissen und mit den übrigen Personen 
zu einer genau bestimmten, daher im voraus zu berechnenden Reaktion führen 

i75 



muß. Sie alle aber handeln nach dem von Schiller im »Wallenstein« formu- 
lierten Gesetz der psychischen Kausalität: 

»Des Menschen Taten und Gedanken, wißt, 

Sind nicht wie Meeres blind bewegte Wellen, 

Die inn're Weit, sein Mikrokosmos, ist 

Der tiefe Schacht, aus dem sie ewig quellen . . . 

Hab' ich des Menseben Kern erst untersucht, 

So weiß ich auch sein Wollen und sein Handeln.« 

Wenn der Dramatiker, trotz aller Emanzipationsgelüste, an eine gewisse 
Einheit von Raum und Zeit doch immer gebunden bleibt und daher den 
Charakter seines Helden als einen fest gegebenen hinstellen muß, der nur 
geringe Wandlungen durchzumachen vermag, so wird der Roman, der sich 
in aller Breite ergehen und dem Flufl der Ereignisse folgen kann, geradezu 
darauf hingewiesen, den Charakter selbst in seiner allmählichen Entwicklung, 
in seiner stufenweisen Bildung unter dem Einfluß der Umwelt aufzuzeigen. 
Da wird die Eigenart des Helden genetisch erklärt aus der Eigenart seiner 
Erzeuger; da spielt die erbliche Belastung ihre verhängnisvolle Rolle und 
die Sünden der Väter werden heimgesucht an den Kindern bis ins dritte 
und vierte Glied ; da tritt die Bedeutung des Milieus in den Vordergrund und 
mit ihm die Entwicklung der die Eigenart bestimmenden Einflüsse der Natur 
und der Menschen. Nur wer das Kind und sein Lebensschicksal kennt, wird 
den gereiften Mann verstehen: Das ist der feste, bis zur Ermüdung immer 
wiederkehrende Grundgedanke gerade des modernen Romans. 

Es ist ein gewaltiger Weg, den die Psychologie des menschlichen 
Handelns und damit auch die Psychologie des Verbrechens zurückgelegt 
hat von der biblischen Schilderung des ersten Brudermordes bis zu Wilhelm 
Specks »Zwei Seelen« oder Klara Viebigs »Absolvo te«. Aber es ist auch 
klar, daß mit der Vertiefung des Problems die Problemstellung selbst sich 
verschoben hat. Die Erklärung aus der Psyche des Täters genügt uns nicht 
mehr. Die Erkenntnis, daß dieser Mensch unter diesen äußeren Verhältnissen 
so und nicht anders handeln konnte, drängt uns zu der weiteren Frage: 
Wie kommt es, daß dieser Mensch so ist und nicht anders? Es genügt uns 
nicht, zu wissen, daß unter ähnlichen Verhältnissen verschiedene Menschen 
ganz verschieden handeln, auch wenn wir die verschiedenen Reaktionen 
restlos zurückzufuhren vermögen auf die Verschiedenheit der Charaktere; 
sondern wir wollen ergründen, weshalb denn Menschen, die derselben Zeit, 
demselben Volk, derselben gesellschaftlichen Schicht angehören, die vielleicht 
aus derselben Familie hervorgegangen sind, so ganz verschiedene Charaktere 
besitzen. 

176 



Damit ist aber gesagt, daß die Psychologie des Verbrechens nicht die 
letzte Antwort auf die Frage nach den Ursachen des Verbrechens sein kann. 
Die psychologische Erklärung ist uns unentbehrlich geworden; aber sie be- 
friedigt uns nicht mehr: Sie drängt über sich selbst hinaus. 

Das ist ja gerade das Wesentliche in unserem Verlangen nach kausaler 
Erkenntnis der Welt und ihrer Erscheinungen, daß wir, sobald wir die Ur- 
sache einer Erscheinung festgestellt haben, weiter fragen müssen nach der 
Ursache der Ursache. Ob wir es wollen oder nicht: Der Regreß von der 
Ursache der Wirkung zu der Ursache der Ursache fuhrt uns weiter, immer 
weiter, bis wir an die Grenze unseres Erkennens gelangt sind und doch 
immer noch die suchende Sehnsucht in unserer Brust empfinden nach der 
letzten ursachlosen Ursache, die nicht mehr erkannt, sondern nur im Glauben 
erfaßt werden kann. 

In diesem Bemühen, über die psychologische Erklärung des Verbrechens 
hinaus zu einer kausalen Erkenntnis der Psyche selbst zu gelangen, hat die 
Dichtkunst in der Wissenschaft unserer Tage einen Bundesgenossen ge- 
funden. Von zwei Seiten zugleich hat die Wissenschaft sich des Problems 
bemächtigt. Die Namen Cesare Lombroso und Karl Marx bezeichnen die 
beiden großen Strömungen, die erst in jüngster Zeit in einem gemeinsamen 
Bette ihre mächtigen Wogen weitertragen. 

Die naturwissenschaftliche Erkenntnis, daß alles menschliche Handeln, 
daß die bleibende Eigenart des Menschen und seine einzelnen Reaktionen 
körperlich gebunden sind, daß die seelischen Funktionen von ihrer anatomisch- 
physiologischen Grundlage nicht losgelost werden können, mußte zu der 
Folgerung führen, daß auch die verbrecherische Tat in der körperlichen 
Eigenart des Verbrechers ihre tieferliegende Ursache hat. So gelangte Lom- 
broso zu seiner Theorie vom geborenen Verbrecher; nach ihm ist das Ver- 
brechen eine individual-pathologische Erscheinung. 

Die sozialwissenschaftliche Erkenntnis aber, daß alle Erscheinungen 
des gesellschaftlichen Lebens in den gesellschaftlichen Verhältnissen ihre 
Wurzeln haben und daß unter diesen die wirtschaftlichen Verhältnisse der 
Gütererzeugung und Güterverteilung die ausschlaggebende Rolle spielen, 
mußte zu der Folgerung führen, daß auch die Kriminalität, als gesellschaftliche 
Erscheinung, in den gesellschaftlichen Verhältnissen, und zwar überwiegend 
in den wirtschaftlichen Verhältnissen ihre zureichende Ursache haben müsse. So 
gelangte der Marxismus in scharfer Zuspitzung zu der Annahme, daß das Ver- 
brechen die notwendige Wirkung unserer kapitalistischen Produktionsweise 
sei ; und die moderne Soziologie, in weiterer und zweifellos richtigerer Fassung, 
zu der Theorie vom Verbrechen als einer sozial-pathologischen Erscheinung. 

177 12 



Fast allgemein wird heute zugegeben, daß beide Theorien in ihrer Ein- 
seitigkeit unrichtig sind, daß sie aber in ihrer Verbindung uns den vorlaufigen 
Abschluß der Bestrebungen darstellen, die auf die kausale Erkenntnis des 
Verbrechens gerichtet sind. Die Soziologie, auch die der materialistischen 
Geschichtsauffassung, vermag die unendlich abgestufte Verschiedenheit der 
menschlichen Individuen nicht in Abrede zu stellen ; und die Anthropologie muß 
zugeben, daß auch die erbliche Belastung aus der Umwelt erklärt werden 
kann und muß, in der die Erzeuger des erblich Belasteten gelebt haben. 
Diese Verbindung der beiden einander scheinbar unversöhnlich gegenüber- 
stehenden Auffassungen wird uns gegeben durch die bekannte Formel: Das 
Verbrechen ist das Produkt aus der Eigenart des Täters und den ihn um- 
gebenden Verhältnissen. Über diese Formel vermögen wir einstweilen nicht 
hinauszukommen. 

Die Dichtung war es, die das Problem der Psychologie des Verbrechens 
gestellt hatte. Die Wissenschaft hat, freilich erst in der zweiten Hälfte des 
XIX. Jahrhunderts, das Problem aufgenommen und weitergeführt; sie hat 
die Psyche des Verbrechers selbst kausal zu erfassen gesucht Die Wissen- 
schaft : d. h. die Anthropologie und die Soziologie. 

Die Rechtswissenschaft und mit ihr Gesetzgebung wie Rechtsprechung 
aber hat diese Fortschritte der kausalen Erkenntnis bisher überwiegend be- 
kämpft oder, im besten Falle, vornehm ignoriert Sie steht in ihrer heute 
noch herrschenden Richtung auf dem Standpunkte des naiven Denkens. Das 
Problem einer kausalen Erklärung des Verbrechens existiert für sie nicht; 
die Annahme einer dem Kausalgesetz entrückten Willensfreiheit macht es 
ihr unmöglich, nach der Ursache des Verbrechens zu fragen. Sie begnügt 
sich damit, nach der Art des Onkel Braesig das Verbrechen aus der Sünd- 
haftigkeit der menschlichen Natur zu erklären. Und doch muß es einleuchten, 
daß die Bekämpfung des Verbrechens wirkungslos bleiben muß, so lange 
sie nicht an den Wurzeln des Verbrechens einsetzt. 

Mit diesem Gedanken steht und fällt die sogenannte neue oder »jung- 
deutsche« Kriminalistenschule. Daß ihr Sieg und damit die Umgestaltung 
unserer Anschauungen über Verbrechen und Strafe nur eine Frage der Zeit 
ist, daran zweifle ich keinen Augenblick. Wann freilich der Tag kommen 
wird — wer vermag es zu sagen? 



? 



i 7 8 




Woher hat Schiller den Stoff zu seinem „Taucher" 
genommen? J| Von Hugo Mareta. $| 

Die »Zeitschrift für den deutschen Unterricht«, 20. Jahrgang, 4. Heft, 
S. 230 u. ff., bringt einen Aufsatz von H. Braune mit dieser Über- 
schrift. Der Verfasser sagt, wie es auch bisher alle Erklärer der Ge- 
dichte Schillers getan haben, »woher Schiller den Stoff zu seinem »Taucher* 
genommen hat, ist nicht bekannt«. 

Nur so viel weiß man bis jetzt, daß Schillers Gedicht mit einer Erzählung 
des Jesuiten Athanasius Kircher (gest. 1680) in seinem Werke »Mundus sub- 
terraneus« übereinstimmt. Schiller hat aber, wie wir aus seinen Briefen ent- 
nehmen, das Werk Kirchers nicht gekannt. Er muß also den Stoff in einem 
Buch gefunden haben, dessen Verfasser aus Kircher geschöpft hat, an das er 
sich aber während der Ausarbeitung seines Gedichtes nicht mehr erinnern 
konnte. Von Benützung einer Quelle kann, wie sich später zeigen wird, keine 
Rede sein, der Dichter schuf aus der Erinnerung. 

Braune glaubt die Quelle Schillers in einer Zeitschrift gefunden zu haben: 

Monatliche Unterredungen Einiger Guten Freunde Von Allerhand Büchern 
und anderen annemlichen Geschichten. Herausgegeben von A. C. 1689, S. 72 ff. 

»Wie mir denn eine sonderliche Historie beyfallet von einem solchen 
Taucher in Sicilien, der den abscheulichen Meeres-Schlund in Charibdim er- 
forschet hat, welche ich bei dem Kirchero mit Verwunderung gelesen, und 
daran gar nicht zweifele, weil sie aus denen actis publicis vom Archio secretario 
dem Kirchero mitgeteilet worden. Ohngefahr vor 500 Jahren zu Zeiten Konig 
Friedrichs des II in Sizilien, ist ein Perlen- und Corallen-Fischer Nahmens Ni- 
kolaus gewesen, welcher von Jugend auf sich zum Wasser gehalten, im Schwim- 
men und untertauchen sich geübet, und seine Nahrung mit Corallen- und Perlen- 

l 79 I2 * 



Fischen gesuchet, offt 4 oder funff Tage in der See geblieben, und sich von 
rohen Fischen erhalten. Das vornehmste aber ist, daß er sowol inn- als außer- 
halb des Wassers offt einen gantzen Tag ohne Athem-Holen leben können. 
Nachdem nun einsmals der Sicianische König Friedrich zu Messina gewesen, 
und viel von diesem Nicoiao gehöret, ihn auch für sich kommen, und von 
allerley seltsamen Dingen, so im Wasser befindlich, Erzählung thun lassen, 
wurde er begierig, die Beschaffenheit des nahe gelegenen Charybdis zu er- 
fahren, da sich das Meer versenket, und gleich dabey wieder hervor broddelt, 
mit schrecklichem Wüten und grosser Gefahr der hinüber schiffenden. Sel- 
bigen gefahrlichen Ort zu erforschen, befahl der König dem Nicoiao sich 
hinunter zu lassen, und Bericht einzuholen. Und damit er desto williger seyn 
möchte, ließ der König einen güldenen Pocal hineinwerffen, mit dem Ver- 
sprechen, wenn er ihn wieder herausbringen würde, solte er ihm verehret 
sein. Nikolaus ließ es ihm belieben, verspricht seyn bestes darbey zu thun, 
macht sich freudig in den Strudel, und komt nach 3 Viertel-Stunden wieder 
empor, den Pocal in der Hand haltend. Darauf wird er in des Königs Pallast 
geführet, und nachdem er als von Arbeit ziemlich abgemattet, mit einer guten 
Mahlzeit erquicket worden, vor den König gestellet, den er also angeredet: 
Gnädigster König, was von Ew. Majest. anbefohlen worden, habe ich ver- 
richtet. Aber nimmermehr hätt ich eurem Befehl nachkommen wollen, wenn 
ich zuvor gewußt hätte, was ich nun erfahren habe, und wenn ihr mir auch 
eur halb Königreich hättet verehren wollen. Denn es sind vier Dinge, so 
diesen Ort nicht alleine mir, sondern auch den Fischen selbst höchstgefährlich 
machen: Erstlich die große Gewalt des aus dem tieffen Schlund heraufffahrenden 
Wassers, welchem auch der stärkste zu widerstehen sich nicht unterstehen 
darf. Also habe ich auch nicht vermocht hindurchzudringen, habe daher durch 
Neben -Wege mich zum Grund machen müssen. Hernach seynd Allenthalben 
sehr viel spitzige und scharffe Stein-Klippen, durch welche ich nicht ohne 

Lebensgefahr und Zerfetzung meiner Haut den 
Grund erlangen mußte. Zum dritten ist ein 
starker Strom der Unter-Erdischen Wasser, so 
durch die Felsen dringen, und denen aus dem 
Schlund steigenden Wassern entgegenarbeiten, 
auch so grausam, daß einer für Furcht erstarret, 
sterben möchte. Zum vierdten waren viel große 
ungeheure Polypi oder vielfüßige Fische, deren 
Leib den größten Mann übertreffen kunte, 
selbige hingen an den Seiten der Klippen, mit 
langen ausgestreckten Füssen, so dem Ansehen 




180 



nach 10 Fuß-Länge übertraffen. Wenn deren einer mich ertappt hätte, wäre 
ich durch das Umfangen todt gedrücket worden. Zwischen den nähesten Klippen 
hielten sich auff viele ungeheure Meer-Hunde, mit dreyfachen Zähnen im 
Munde, so nicht viel kleiner als die Delphine, für denenselben kann niemand 
sicher seyn, denn wen ein solcher erschnappet, darf ihm keine Rechnung eines 
längeren Lebens machen. Als nun Nikolaus dieses ordentlich erzehlet hatte, 
fragte der König, wie er denn den Becher so bald hätte finden können? 
Darauff antwortete Nikolaus: Der Becher hätte wegen des hin und wieder 
laufFenden und streitenden Wasser-Stromes nicht perpendicular oder gerade 
können zu Grunde gehen, sondern wäre hin und wieder zur Seiten geworffen 
worden, biß er in flache und etwas ausgehölete Klippen gefallen, da hätte er 
ihn liegen sehen, und herauff geholet. Denn wenn der Becher recht in den 
Schlund gefallen wäre, hätte er ihn unmöglich erlangen können. Es wäre 
auch daselbst eine solche TiefFe, daß es den Augen als die finstere Nacht 
vorgekommen. Der König fraget ihn, ob er sich noch einmal hinunter wagen 
wolte, da er zwar mit nein antwortet, allein als ein solcher Becher an einen 
Beutel voll Dukaten gebunden, wiederum hinunter geworffen, hat er sich 
dessen belieben lassen, ist wieder hinunter gefahren, aber nicht wieder herauf 
kommen, und vielleicht von einem Polypo oder See-Hunde erwischet worden.« 

Braune geht von der Voraussetzung aus, Schiller habe gerade bei dieser 
seiner ersten Ballade größere Vorstudien gemacht. Er habe in der Universitäts- 
bibliothek von Jena diese Zeitschrift gelesen und habe vielleicht in ihr den 
Stoff zu seiner Ballade gefunden. Einen Beweis für seine Behauptung kann 
er nicht bringen. 

Man kann sich nicht leicht vorstellen, daß Schiller im Jahre 1797, als er 
mit unermüdlichem Eifer an seinem »Wallenstein« arbeitete, eine Zeitschrift 
aus dem XVTL Jahrhundert, die mit seiner Arbeit in gar keinem Zusammen- 
hange stand, gelesen habe, etwa um in ihr den Stoff für eine Ballade zu 
finden. 

Vielleicht hat die Hypothese, die ich auf- 
stelle, mehr Anspruch auf Wahrscheinlichkeit. 

Schiller hat den Stoff zu seiner Ballade 
in einem Werke des berühmten Predigers 
Abraham a Sancta Clara (geb. 1644, gest. 1709 
in Wien) nicht gesucht, sondern zufällig ge- 
funden, wahrscheinlich nicht unmittelbar vor 
dem Beginne seiner Arbeit an dem Gedichte, 
dann aber konnte er sich nicht mehr erinnern, 
wo er ihn gefunden. 




181 



Abraham ist unerschöpflich in der Erzählung von Fabeln, Historien und 
Schwänken. Als ich in den Sechzigerjahren des vorigen Jahrhunderts, zunächst 
für lexikalische Zwecke, sämtliche Werke dieses überaus fruchtbaren Schrift- 
stellers las, fand ich in dem Werke, das betitelt ist: 

Etwas für Alle, 

Das ist: 

Eine kurtze Beschreibung 

allerley 

Stands- Ambts- 

Und 

Gewerbs-Persohnen 

Mit beygeruckter 

Sittlichen Lehre und Biblischen 

Concepten. 

Dritter und letzter Theil, 

verfertiget durch 
P. Abraham k S. Clara. 
Würtzburg 171 1, 
folgende Erzählung in dem Kapitel, das die Überschrift hat: Der Perlen- 
Fischer. S. 422. 

»Durch sein wundersames Wassertauchen aber endlich genommes un- 
glückliches Ende, hat sich in der Welt sehr bekannt gemacht der Sicianische 
Pescecola oder Fisch-Niclaus. Denn dieser Mensch, welcher sich von Jugend 
auff an das Schwimmen geleget, und mit Austern, Muscheln, Corallen und 
andern aus dem Grunde des Meers herausgeholten Sachen genehret, hat 
endlich solche Geschicklichkeit erlanget, daß er nicht allein vier biß funff 
Tage unterm Wasser bleiben können : allwo er zu Stillung des Hungers rohe 
Fische gegessen : sondern endlich gar einen Wasser-Bothen abgegeben, welcher 
in einem kleinen wolverwahrten Felleissen die BriefFe unter dem Wasser fort- 
getragen, und hin und wieder gebracht. Als nun einsmahls Konig Friedrich 
von Sicilien zu Massana sich aufhielte, und viel Wundersames von dem be- 
nachbarten Charybdi oder Sicilischen Meer- Würbein gehöret, dessen innerliche 
Bewantnus aber zu wissen verlangte ; bewegte er diesen Taucher durch eine 
an dem gefährlichsten Orth hinabgeworffene große güldene Schale, daß er 
sich hinunter machte, und nach drey viertel Stunden, als ein Sieger mit der 
güldenen Schüssel wieder hervor kam, auch dem Konige, nach etwas 
genommener Ruhe, erzehlete, was er allda gesehen: Nemlich einen Strohm, 
der mit solcher Gewalt aus dem innersten Abgrundt der See herauf strudelte, 
daß auch der stärckste Mensch ihm nicht zu widerstehen vermöchte: ferner 

182 




viel Felsen und Klippen, und dabey eine unterierdische Fluß-Röhre, welche 
sich mit hefftiger Gewalt zwischen solchen Felsen heraus stürtzet, und durch 
deren Gegen-Ströhmung erschröckliche Wirbel verursachete. Endlich die Menge 
der mit grausamen Füssen entsetzliche Viel-Füsse, deren einer vom Leibe 
grosser als ein Mensch gewesen, nebst vielen Hund-Fischen, die mit einer 
dreyfachen Reihe Zähne gewaffnet waren. 

Der König fragte ihn, wo er dann die Schale wieder bekommen, da 
berichtete er, dafl selbige nicht geraden Weges nach dem Abgrund gesuncken, 
sondern von den widerwertigen Ströhmen an eine Seite in einen hohlen 
Felsen wäre getrieben worden, woselbst er sie heraus gelanget. Man forschete, 
ob er noch einmal Lust hätte, in diesen Abgrund sich hinein zu wagen? 
Aber er antwortete mit Nein: Doch da man einen Beutel mit Ducaten fullete, 
und abermahls eine köstliche Schale daran knüpffete, und r beides zusammen 




wiederum hineinwarff, ließ sich Pescecola den Geitz verleiten, und sprang von 
neuem in solchen Würbel-Schlund, solches heraus zu holen. Allein weder er, 
noch der Ducaten-Beutel, noch die dran geknüpffte andere güldene Schale 
kahmen wieder zum Vorscheine, sondern es bliebe alles unten in dem 
abscheulichem Abgrunde.« 

Ich werde nun aus den Briefen Schillers und seines Freundes Goethe 
die Möglichkeit zu erweisen versuchen, daß Schiller bei seiner Lektüre 
Abrahams diese Erzählung zufällig gefunden hat. 

Ich stelle das bezügliche Materiale zusammen. Schiller arbeitete an dem 
»Taucher« vom 5. Juni 1797 bis zum 14. d. M., wie er selbst in seinem 
Kalender bemerkt. Goethe schreibt dem Freunde am 14. Juni: »Ich wünsche, 
daß der Taucher möge glücklich absolvirt seyn.« Schon am 18. Juni schreibt 
Schiller an Goethe: »Ich habe auch etwas weniges poetisiert, ein kleines 
Nachstück zum Taucher«, und Goethe antwortet am 21.: »Ich lege den 
Handschuh wieder bei, der zum Taucher wirklich ein artiges Nach- und 
Gegenstück macht, und durch sein eignes Verdienst das Verdienst jener 
Dichtung um so mehr erhöht.« 

Am 7. Juni, also während er am »Taucher« arbeitete, las Schiller seinem 
Freunde das Vorspiel (»Wallensteins Lager«) vor. 

Aber schon am 1. Februar hatte Schiller seinem Verleger Cotta über 
den Druck seines »Wallenstein« geschrieben: »Außer dem Trauerspiel ist noch 
ein dramatisches Vorspiel dabey, welches zu jenem wesentlich gehört und 
einen Teil seines Innhalts ausmacht.« (Jonas, »Schillers Briefe«, V, 120.) 

Am 21. Juli schreibt Schiller an Cotta: »Sie erhalten hier den Prolog 
welchen ich mir bald zurückerbitte.« (Jonas, V, 223). Am 7. August 1797 
schreibt Schiller an den Komponisten Zelter (Jonas, V, 235): »Herr Mendel- 
sohn sagte mir sehr viel Schönes von der Melodie zu dem Reiterliede und 
machte mich sehr verlangend darnach. Ihrem Wunsche gemäß Ihnen etwas 
aus dem Stücke selbst zu senden war mir unmöglich, es liegt noch zu roh 
hingeworfen da, als daß ich mich entschließen konnte, es aus der Hand zu 
geben. Soviel bemerke ich indeß, daß bloß Soldaten den Chor ausmachen.« 

An demselben Tage schreibt er an Goethe: »Herder hat mir nun auch 
unsere Balladen zurückgeschickt, was für Eindruck sie aber gemacht haben, 
kann ich aus seinem Brief nicht erfahren. Dagegen erfahre ich daraus, daß ich 
in dem Taucher bloß einen gewissen Nicolaus Pesce, der dieselbe Geschichte 
entweder erzählt oder besungen haben muß, veredelnd umgearbeitet habe.« 

Aus diesen Briefen ergibt sich, daß Schiller im Sommer 1797 die Ge- 
schichte, die seinem »Taucher« zu gründe liegt, schon gelesen haben mußte, 
daß er sich aber nicht mehr erinnern konnte wo. 

184 



Länger als ein Jahr war Schiller mit den beiden andern Teilen seines 
»Wallenstein« beschäftigt. Am 18. September 1798 schreibt er an Goethe über 
den Prolog und verspricht ihm, er werde ihn in einigen Tagen erhalten. 
(Jonas, V, 431.) Schon am 21. September schreibt er wieder: »Der Prolog soll 
in der Gestalt, die er jetzt bekommt, als ein lebhaftes Gemähide eines 
historischen Moments und einer gewissen soldatischen Existenz ganz gut aut 
sich selber stehen können. Nur weiß ich freilich nicht, ob alles, was ich dem 
Ganzen zulieb darinn aufnehmen mußte, auch auf dem Theater wird erscheinen 
können. So ist z. B. ein Capuziner hineingekommen, der den Kroaten predigt, 
denn gerade dieser Charakterzug der Zeit und des Platzes hatte mir noch 
gefehlt« (Jonas, V, 432.) 

Am 4. Oktober 1798 schreibt Goethe an Schiller: »Ich schicke einen 
Band des Pater Abraham, der Sie gewiß gleich zu der Capuzinerpredigt 
begeistern wird«, und Schiller antwortet am 5. Oktober (Jonas, V, 542): »An 
die Capuzinerpredigt will ich mich also machen, und habe gute Hoffnung 
von dem würdigen Abraham.« Und schon am 8. schreibt er: »Hier erhalten 
Sie meine Kapuzinerpredigt. Da sie nur für ein paar Vorstellungen in Weimar 
bestimmt ist, und ich mir zu einer andern, die ordentlich gelten soll, noch 
Zeit nehmen werde, so habe ich kein Bedenken getragen, mein würdiges 
Vorbild in vielen Stellen bloß zu übersetzen und in andern zu copieren. Den 
Geist glaube ich so ziemlich getroffen zu haben.« (Jonas, V, 545.) Am 9. Ok- 
tober schreibt er: »Hätte ich gedacht, daß die Capuzinerpredigt Morgen früh 
nicht zu spät kommen würde, so hätte sie noch besser ausfallen müssen. Im 
Grund macht es mir große Lust, auf diese Fratze noch etwas zu verwenden; 
denn dieser Pater Abraham ist ein prächtiges Original, vor dem man Respekt 
bekommen muß, und es ist eine interessante und keineswegs leichte Aufgabe 
es ihm zugleich in der Tollheit und in der Gescheidigkeit nach- oder gar 
zuvorzuthun. Indeß werde ich das möglichste versuchen.« (Jonas, V, 546.) 

Wenn hier Schiller so eingehend und so anerkennend über Abraham 
sich äußert, können wir nicht leicht glauben, daß er nur die kleine Schrift 
»Auf, auf, ihr Christen«, die er für die Kapuzinerpredigt benützte, gelesen 
habe. Es ist mehr als wahrscheinlich, daß er schon früher, und zwar vor dem 
Juni 1797, sich mit Abraham beschäftigt hat, wie der Brief vom 1. Februar 
1797 an seinen Verleger Cotta vermuten läßt. Mußte es ihm ja doch darum 
zu tun sein, den Ton kennen zu lernen, in welchem er die Soldaten des 
Dreißigjährigen Krieges reden lassen mußte. 

Unmittelbar nachdem ich den letzten Satz geschrieben hatte, las ich in 
der soeben, am 18. Dezember 1906, erschienenen 21. Lieferung von Salzers 
»Geschichte der deutschen Literatur« folgende Sätze: 

185 



Goethe sandte seinem Freunde Abrahams Schrift »Auf, auf, ihr Christen« 
mit der Bemerkung: »Es ist ein so reicher Schatz, der die höchste Stimmung 
mit sich führt.« Wir wissen, daß Schiller ihn zu heben verstand, indem er 
aus dem genannten Büchlein wie aus anderen Werken Abrahams für seine 
Kapuzinerpredigt vieles entlehnt oder dessen Eigenart glücklich nachgebildet 
hat. (Salzer, 724.) Und Seite 727 nennt er Abrahams Werk »Etwas für alle« 
eine Sammlung von kostlichen Genrebildern aus allen Standen, die, der Wirk- 
lichkeit abgelauscht, an Feinheit der Beobachtung kaum ihresgleichen in 
unserer Literatur haben. 

Es ist für mich eine erfreuliche Überraschung, in diesen Worten Salzers 
eine Bestätigung meiner vierzig Jahre alten Hypothese zu finden. 



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Aus dem geistigen Leben Niederösterreichs im XV. 
Jahrhundert Eine Skizze. 91 Von Anton Mayer. £ 

Bei einer Erörterung der Frage, wie das geistige, speziell aber das 
wissenschaftliche Leben, mit dem allein wir uns hier befassen wollen, 
in Niederösterreich im Laufe des XV. Jahrhunderts sich entwickelt, 
welchen Höhepunkt es erreicht hat und welchen Anteil auch Niederöster- 
reicher an demselben genommen haben, sind zwei Faktoren, die vor allen andern 
dabei mitbestimmend gewesen sind, ins Auge zu nehmen: die auf dem Konzil 
zu Basel 141 8 beschlossene Durchführung einer Reform der österreichischen 
Klöster und der stetige Aufschwung der Wissenschaft und ihrer Lehre an 
der Wiener Universität. 

Die Bedeutung der Klosterreform, die zuerst im Benediktinerkloster 
Melk eingeführt wurde, lag nämlich nicht allein darin, daß nach einer langen 
Periode gelockerter Disziplin und geminderten Ordensgeistes die Mönche 
der ursprünglichen Regel und einem strengen Ordensleben wieder unter- 
worfen wurden, sondern auch in dem, daß gerade durch diese Weltentsagung 
und Weltentfremdung der Sinn für wissenschaftliche Tätigkeit geweckt, dem 
Studium zugewendet wurde, daß die Leuchte der Wissenschaft dort, wo sie 
erloschen war, wieder zu strahlen begann und es neben Mönchen, die nur 
der Askese und dem Gebete lebten, auch solche gab, welche außer ihren 
strengen Verpflichtungen den durch die Reform umgeackerten Boden klöster- 

187 



liehen Lebens mit ihrem wissenschaftlichen Samen besäten.*) Die Klöster Melk 
und bei den Schotten in Wien, beide von einer Reihe weiser und frommer Äbte 
mit Maß und Verständnis gelenkt, haben in der Reformepoche auch diese beiden 
Richtungen in exemplarischer Weise verwirklicht Ihre Wirksamkeit hat, wie 
später und in einem noch viel höheren Grade das der Mauriner und des Klosters 
St Blasien im Schwarzwalde, klar gezeigt, daß gründliche Pflege der Wissen- 
schaft, vereint mit wahrer Frömmigkeit, am besten vor dem Verfalle schütze. 

Dem Wesen und den Aufgaben eines Klosters entsprechend, beschäftigten 
sich die jetzt reformierten Mönche in erster Linie mit ihren religiösen und 
kirchlichen Obliegenheiten, manche unter ihnen aber auch mit Studien in 
Theologie, Mystik und Scholastik, mit Aristoteles, auch mit Untersuchungen 
über den Gregorianischen Kirchengesang, hie und da noch mit lateinischer 
und deutscher Poesie. Insoferne die literarischen Ergebnisse solcher Studien 
über das Niveau einfacher Mönchsgelehrsamkeit sich erhoben, sind sie wohl 
dem Einflüsse der Universität zuzuschreiben, da es Ordensgeistlichen nunmehr 
leichter war, Universitätsstudien zu betreiben, als früher, wo nur sehr wenige 
die Universität in Paris besuchen konnten. 

Schon in den ersten Dezennien des XV. Jahrhunderts hatte sich auch 
die Wiener Universität durch namhafte Fortschritte vor allen Universitäten 
diesseits der Alpen ausgezeichnet**) Während am Ende des XIV. Jahr- 
hunderts die Theologie den Ton angab, ihre Koryphäen, Heinrich von Langen- 
stein und Heinrich von Oyta, allein als die Seele der Universität bezeichnet 
wurden, waren bald auch die anderen Disziplinen, abgesehen von einigen, die 
erst spät eine ständige Vertretung gefunden haben,***) zu hoher Bedeutung 
gelangt. Namentlich war dies in der Artistenfakultät der Fall, in welcher in 
der zweiten Hälfte des XV. Jahrhunderts die berühmten Lehrer in Mathematik, 
Physik und Astronomie einen großen Schüler- und Gelehrtenkreis an sich 
zogen, demzufolge die Wiener Universität zur ersten Universität Europas 
sich emporschwang und die noch immer angesehene Pariser Universität in 
Schatten stelltet) Dieser Aufschwung mußte auf das geistige Leben in 
Niederösterreich, besonders aber auf jenes in der Stadt Wien den nach- 
haltigsten Einfluß ausüben. 



*) G. Frieß, Studien über das Wirken der Benediktiner in Österreich für Kultur, Wissenschaft 
und Kunst In den Programmen des Gymnasiums in Seitenstätten 1868 — 1872. — Dr. Anton Mayer, 
Die geistige Kultur in Niederösterreich von ihren Anfangen bis in die Gegenwart I. Band, Wien, 1878. 
**) A. Kink, Geschichte der kaiserlichen Universität, Wien, I. Band, S. 82. 
***) Das Zivilrecht %. B. hatte lange keine ständige Vertretung an der Wiener Universität und 
bis 1494 kam nur hie und da ein Legist vor. (H. Denifle, Die Entstehung der Universitäten des 
Mittelalters bis 1400. S. 625.) 
t) Kink a. a. O., S. 82. 

188 



Die Zahl derer, die als leitende oder mitwirkende Kräfte an jenen 
geistigen Strömungen in den Klostern und an der Universität beteiligt waren, 
war nicht gering, daher der Ausspruch eines der gelehrtesten Forscher in den 
Gebieten geistigen Lebens im Mittelalter auch hier gelten kann, »es charakteri- 
siere das XV. Jahrhundert, daß es auf einmal eine Fülle von Talenten her- 
vorrief, die für mehrere Jahrhunderte ausreichte, und daß sich zu diesem 
Übermaß von Geist und Genialität der gewaltigste Gegensatz strenger Ab- 
tötung der Sinne, der vollsten Aufgebung aller Lebensannehmlichkeiten 
gesellte«.*) 

Welchen Anteil nun die reformierten niederösterreichischen Kloster 
an der Wissenschaft, welchen Niederösterreicher am wissenschaftlichen 
Leben der Universität hatten, auf diese beiden Fragen aus dem Gebiete 
geistigen Lebens in Niederösterreich während des XV. Jahrhunderts in einem 
kurzen Überblicke einzugehen, sei im folgenden die Aufgabe. 

Als Vorbild strenger Ordensdisziplin und wissenschaftlicher Tätigkeit 
tritt uns vor allem das Kloster Melk schon unter dem ersten Reformabte 
Nikolaus Seyringer von Matzen**) (1418 — 1425) entgegen. Hervorgegangen 
aus der theologischen Fakultät der Wiener Universität, an der er das Bakka- 
laureat der Theologie erworben und 1401 auch das Rektorat bekleidet hatte, 
erscheint Nikolaus unter seinen Mitbrüdern nicht nur als ein strenger Ordens- 
mann, sondern auch als ein Freund geistiger Bestrebungen. Wie der Ge- 
schichtschreiber Melks, Ignaz Keiblinger, sagt,***) war das Kloster unter 
ihm ein Vereinigungspunkt österreichischer Gelehrten, mit welchen er stets 
literarische Verbindungen hatte und bei denen er in hohem Ansehen stand, 
dabei aber noch eine Pflanzschule für fromme und gelehrte Männer, von 
welchen mit Vorliebe das Studium der Heiligen Schrift eifrig betrieben und 
selbst die Dichtkunst nicht vernachlässigt wurde, wie es vom Prior Peter von 
Rosenheim, der dem würdigen Abte überdies in den Geschäften des Klosters 
zur Seite stand, und von dem Konventualen Leonhard Peuger, einem 
Sprößling des niederösterreichischen Rittergeschlechtes der Peuger, bekannt 
istf) Es ist wahrscheinlich, daß unter jenen, die damals als Freunde des Abtes 
Nikolaus oder sonst aus wissenschaftlichem Drange in Melk verkehrten, auch 



*) C. v. Hofler, Die romanische Welt und ihr Verhältnis zu den Reformideen des Mittel- 
alters. Sitzangaberichte der kais. Akademie der Wissenschaften. 91. Band [1878], S. 257. 
•*) Niederösterreich V.U.M. B. 
***) Ignaz Keiblinger, Geschichte des Stiftes Melk. I. Band, S. 498 f. 
f) Peter von Rosenheim war Verfasser mehrerer größerer theologischer Schriften und hatte sich 
auch in lateinischer Poesie rersucht, während Peuger einen deutschen Psalter und mehrere religiöse 
und moralische Dichtungen schrieb. 

189 



Johann Gerson,*) der Doctor doctissimus und berühmte Kanzler der Pariser 
Universität, sich befand und auf seiner Reise über Wien nach Frankreich das 
Kloster Melk besuchte. 

Nikolaus nächste Nachfolger, die Äbte Leonhard von Straubing (1426 
bis 1433), Christian Eibenstein von Schirmannsreith (1433 — 1451), welcher dem 
niederösterreichischen Rittergeschlechte der Eibensteiner entsprossen war,**) 
und Stephan von Spanberg (145 1 — 1453), setzten in seinem Geiste fort, was 
er zur Ehre und zum Ruhme von Melk begonnen hatte. Zu Abt Leonhards 
Zeit lebte daselbst Konrad von Nürnberg, der sich nach seinen theologischen 
Studien in Wien außer der Theologie noch viel mit Mathematik, Medizin 
und Musikgeschichte befaßte und nebst verschiedenen Schriften auch eine 
über die Verbesserung des Gregorianischen Gesangs hinterließ. Der Abt 
selbst wendete der Ausbildung der jüngeren Klostergenossen alle Sorgfalt zu 
und erwarb sich noch das große Verdienst, auch den Kunstsinn über das 
Kloster hinaus gekräftigt zu haben, als er den Bau der herrlichen gotischen 
Stiftskirche, der vielfache geistige Anregungen den dabei beschäftigten 
Künstlern der nächsten Umgebung bot, vollendete. Es ist ja bekannt, daß 
gerade im XV. Jahrhundert die Kleinkünste in Krems, Stein und in der 
Wachau mit Sorgfalt betrieben wurden und daher eines hohen Rufes sich 
erfreuten. Seitdem fanden dann auch in der neuen Stiftskirche der Chorgesang 
der Mönche und der Figuralgesang mit den Sängern beim Gottesdienste eine 
besondere Pflege, so daß damals die Musikschule in Melk weit und breit ge- 
feiert war. Sollte da des Konrad von Nürnberg Schrift über die Verbesserung 
des Gregorianischen Gesanges mit dem gepriesenen reinen Gregorianischen Chor- 
gesang der Melker Mönche vielleicht nicht im Zusammenhang gestanden sein ? 

Einen noch höheren Aufschwung nahmen die wissenschaftlichen Arbeiten 
unter Abt Christian, wodurch jüngere strebsame Kräfte umsomehr bestimmt 
wurden, in Melk einzutreten. Fünf Meister der freien Künste, darunter Johann 
Schlitpacher und Johann von Geißenfeld, welcher später Prior war und als 
Verfasser von Kommentaren zu den Paulinischen Briefen erscheint, wie auch 
mehrere Bakkalauren der Theologie ließen sich einkleiden, für die Novizen 
nahm der Abt sogar einen Meister der freien Künste als Lehrer auf, andere 
wieder schickte er zur weiteren Ausbildung an die Universität. Daß bei einer 
derartigen wissenschaftlichen Richtung in der Leitung des Hauses Gelehrte 
auch ungestört ihren Studien sich hingeben konnten, ist erklärlich. Die Chronik 



*) Mit Gerson stand auch Herzog Albrecht V. in freundschaftlichen Beziehungen, wie ans 
Gersons Versen, die Wiens Lob enthalten, hervorgeht: Austria felix, felix stndiosa Vienna | Dax quibus 
est talis traditus in regimen. (Schwab, Johannes Gerson. Wartburg 1858.) • 

**) Wißgrill, Schauplatz des landsässigen niederösterreichischen Adels. II. Band, S. 369 ff. 

I90 



verzeichnet denn auch als solche Johann von Speier (de Spira), einen frommen 
Asketen, dabei feinen und gründlichen, doch nach dem Inhalte seiner Schriften*) 
nur zu ängstlichen Denker, Martin Senging,**) Konrad von Würzburg, der 
im Kirchenrechte, Scholastik und Mystik sehr erfahren war,***) vor allem aber 
Johann Schlitpacher oder Johann von Weilheim, der vielseitig gebildet war 
und dessen Schriften Philosophie, Kirchenrecht, Mathematik, Physik und 
Musik umfassen und der auch religiöse und moralische Gedichte und Lobreime 
auf gelehrte Zeitgenossen an der Wiener Universität dichtetet) Ihn hatte einer 
der ausgezeichnetsten Theologen des Kartäuserordens in Österreich, Vinzenz, 
Prior der Kartause in Aggsbach bei Melk, sowohl in einen gelehrten Streit mit 
Marquard Sprenger »über mystische Theologie«, mit dem Benediktiner Bern- 
hard Waging in Tegernsee über die »doeta ignorantia«, eine damals beliebte 
philosophische Untersuchung, mit der sich namentlich auch der große Gelehrte 
Nikolaus von Cusa beschäftigte, verwickelt, als auch in einen mehrfachen 
Schriften- und Meinungsaustausch mit dem tief gelehrten Mondseer Benediktiner 
Hieronymus von Werd »über das Alter der Welt« und mit Dr. Johann Keck 
von Tegernsee »über die Kirchenvereinigung« gezogen. Es war gleichsam ein 
geistiger Wettkampf, der da zwischen Melk und Aggsbach mit Mondsee und 
Tegernsee über Fragen, welche gerade damals die kirchlichen und geistigen 
Kreise lebhaft bewegten, gefuhrt wurde. Die Zeit der folgenden Äbte bis zum 
Schluß des Jahrhunderts war zwar eine an schweren Heimsuchungen und Prü- 
fungen reiche, daher den stillen wissenschaftlichen Arbeiten weniger günstige. 
Aber unter Abt Stephan von Spanberg, der Magister der freien Künste, Bakka- 
laureus in der Theologie war und in den Jahren 1438 und 1439 selbst an der theo- 
logischen Fakultät in Wien gelehrt hatte, und seinem Nachfolger Johann IV. Haus- 
heimer (1453 — 1474)9 der ebenfalls Bakkalaureus der freien Künste war, fand das 
wissenschaftliche Leben doch keine Unterbrechung.ft) Zur Zeit des frommen 
Abtes Ludwig III. (1474 — 1480) beschäftigte sich der Konventuale Leonhard von 
Feldorf, wie seine Schriften in der Stiftsbibliothek beweisen, viel mit griechi- 

*) Seine Schriften füllen in Kropfis Bibliotheca MellicensU 5 Quartblätter. 
**) Senging in Niederösterreich, entweder bei Stockeran (U. M. B.) oder bei Totsenbach 
(O. W. W.). 

***) Bei Kropff, 1. c, 4 Quartblatter, 
f) Seine bei Kropff L c. angeführten Schriften fallen 22 Qnartblatter. Mit Recht sagt Chmel, es 
wäre nur zu wünschen, daß ein gelehrter Benediktiner die Werke dieses rielseitigen und fleißigen 
Mannes zum Gegenstande einer eigenen Abhandlung machen möchte, um aus ihnen auszuziehen, was 
den Stand der damaligen Gelehrsamkeit, die Höhe der Bildung bezeichnen könnte. (Denkschriften 
der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften.) (Chmel, Zur Kritik der österreichischen Geschichte. 
Beiträge zur Beleuchtung der kirchlichen Zustande Österreichs im XV. Jahrhundert. II., S. 370, 
Note 4.) 

tt) Abt Johann IV. war selbst Verfasser mehrerer Schriften, die Kropff, I.e., auf S. 351— 3 56 
▼erzeichnet. 

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sehen und römischen Philosophen und unter dem Abte Augustin von Ober- 
Nalb (1480 — 1483)*), einem Bakkalaureus der freien Künste, dichtete Erhard 
Geut von Waidhofen oder, wie er sich selbst nennt, von Neumarkt an der Ips, 
in deutscher und lateinischer Sprache. 

Wie Melk war das Schottenkloster zu Wien seit der Einfuhrung der deutschen 
Mönche (August 14 18) und damit auch der Reform durch Abt Nikolaus von 
Respitz (141 8 — 142 8) eine glanzvolle Statte wissenschaftlichen Eifers geworden.**) 
Abt Nikolaus, gleich seinem Amtsbruder in Melk an der Wiener Universität 
herangebildet, setzte als Konservator derselben die Beziehungen zu ihr ununter- 
brochen fort und sein Nachfolger Johann V. von Ochsenhausen (1428 — 1446), 
einer der gefeiertsten Äbte, «ein leuchtender Stern« des Klosters, legte noch 
besonderen Wert darauf, daß mehrere Konventualen selbst akademische Grade 
erlangen. Auch die folgenden gelehrten Äbte forderten wissenschaftliche 
Bestrebungen ihrer Konventualen: Martin (1446 — 1461), der die Universitäten 
Lemberg, Krakau besucht und an der Wiener Universität Vorlesungen gehalten 
hatte, und Johann VI. (1466 — 1467), einer der gelehrtesten Äbte des Schotten- 
stiftes, Doktor der Theologie, ein Mann von seltener Beredsamkeit, bei dessen 
längerem Leben der wissenschaftliche Ruf des Hauses wohl noch ruhmvoller 
geworden wäre. In der Zeit dieser Äbte sind nach Hauswirths »Geschichte 
der Schottenabtei« als Gelehrte und Verfasser literarischer Werke die 
Mönche Johann Nagler, Wolfgang von Enzersdorf und Johann Öder be- 
sonders hervorzuheben. Wie kaum ein anderes Kloster war gerade das der 
Schotten zu der Universität nicht nur offiziell bei kirchlichen Feierlichkeiten, 
sondern auch sonst noch zu einzelnen Lehrern an derselben, wie deren 
bedeutende Geschenke von Büchern in der Stiftsbibliothek heute noch beweisen, 
in den freundlichsten Beziehungen gestanden. Dies erklärt auch, daß sich die 
wissenschaftliche Bedeutung des Schottenklosters bis in das XVI. Jahrhundert 
hinein, bis in die Zeit des berühmten Abtes Benedikt Chelidonius, erhalten hat 

Aus der Geschichte der Benediktinerklöster Göttweig***), Seitenstetten,f) 
Klein-Mariazelltt) und Altenburgftt) sind uns zwar weit mehr deren äußere als 
die inneren Schicksale, unter letzteren auch nur die auf das geistige Gebiet sich 
beziehenden Ereignisse von Klosterreform, Visitationen durch diesen oder jenen 

*) In Niederosterreich, bei Rctx, V. U. M. B. 
**) Dr. Ernst Hauswirth, Geschichte der Benediktinerabtei *u den Schotten in Wien, 
Wien 1858. 

***) Adalbert Dun gel in der Topographie von Niederosterreich, herausgegeben yom Vereine für 
Landeskunde von Niederösterreich, III., 543 ff. 

f) G. Frieß, in Sebastian Brunners Benediktinerbuch, 
tt) Otto Eigner, Geschichte des aufgehobenen Benediktinerklosters Klein-MariazeU in Öster- 
reich. (Wien 1900.) 

tft) Honorius Burger, Geschichte des Benediktinerstiftes Altenburg. 

192 



Abte ausgenommen, bekannt- Erst nähere Studien in den Handschriften oder 
anderen Aufzeichnungen dieser geistlichen Korporationen konnten noch manche 
Beweise für eine wissenschaftliche Richtung auch in deren Häusern bringen. In 
Göttweig haben sich namentlich die Äbte Peter II. von St. Polten (1402 — 1431) 
und Lukas von Stocktall (1437 — 1439) wegen der bedeutenden Bauten, die unter 
ihnen ausgeführt wurden (die gotische Kirche, Kreuzgang und Refektorium), 
hervorgetan. Von diesen Baufuhrungen gilt das gleiche, was bereits oben 
von Melk gesagt wurde. Unter Abt Wolfgang von Retz (1444 — 1457) hatte 
Äneas Sylvius, Geheimsekretär Friedrichs HI. (IV.), nachmals Papst Pius II., 
Göttweig besucht und während seines Aufenthaltes daselbst eine ihm bisher 
unbekannte Handschrift des Jornandes »De rebus Gothorum« benützt. Der- 
selbe Abt ließ auch 1447 einen Codex Privilegiorum des Klosters anlegen.*) 
In Seitenstetten wird nur Abt Kilian Heumader (1477 — 1505) wegen der 
Pflege und Förderung der Wissenschaft unter seinen Brüdern gerühmt. Er hat 
auch die Bibliothek mit wertvollen Inkunabeln bereichert, von denen noch 150 
vorhanden sind, und ließ die Kirche mit herrlichen Glasmalereien schmücken. 
Das Kloster Klein-Mariazell war immer ein Haus guter Ordensdisziplin nach 
dem Muster von Melk. In dieses stille, abseits gelegene Kloster zogen sich 
gelehrte Ordensgenossen aus anderen Klostern gerne zurück. Auch Nikolaus von 
Dünkelspühel, einer der gelehrtesten Theologen seiner Zeit, lange die be- 
deutendste Persönlichkeit an der Wiener Universität und Beichtvater des 
Herzogs Albrecht V., verbrachte hier die letzten Jahre seines Lebens ; er starb 
am 7. März 1433. Zeitweilig lebten hier auch Wolfgang von Steyer, ein fleißiger 
Schonschreiber und Schriftsteller, und Nikolaus von Speier aus Melk. In Klein- 
Mariazell war der gelehrte Johann Schlitpacher auch eine Zeitlang Prior. 
Bei den anderen Klöstern und Stiften, z. B. Zwettl, Geras, Herzogen- 
burg, auf denen die Folgen der stürmischen Ereignisse des XV. Jahrhunderts 
oft schwer lasteten, zu welchen dann mitunter noch Mangel an Nachwuchs 
jüngerer Kräfte kam, können nur die Namen einiger Äbte und Pröbste hervor- 
gehoben werden, sei es, weil sie akademische Würden bekleideten, sei es, 
daß sie als Freunde der Wissenschaft bekannt sind, so in Klosterneuburg die 
Pröbste Georg I. (1418 — 1442) und Simon IL (145 1 — 1465), welch letzterer 
gleich dem Klosterneuburger Chorherrn Koloman Knapp ein erprobter Rechts- 
gelehrter war, im Chorherrnstifte St. Polten Probst Christian (1426 — 1439), der 
die Bibliothek herstellte, und sein Nachfolger Kaspar von Meiselstein (1439 
bis 1456), welcher Doktor der Dekretalen und ehemaliger Lehrer an der Uni- 
versität**) war, in Herzogenburg Probst Ludwig Gösselin (1457 — 1465), der 

*) In der Manußkriptensammlung der Stiftsbibliothek. 376 Pergamentblätter Grofifolio. 
**) Aschbach, Geschichte der Wiener UniTersität, I., 474 f. 

193 13 



beider Rechte Doktor sich nannte, und im Chorhermstifte St. Dorothee in Wien 
Stephan von Landskron (1458 — 1477), der Verfasser der bekannten »Himmels- 
straß« und anderer Schriften.*) Wie daraus zu ersehen ist, haben sich die 
regulierten Chorherren mit Vorliebe auf das Studium des Kirchenrechtes verlegt. 
Ein höchst bemerkenswertes Bild harter Arbeit und strenger Ordens- 
disziplin in harmonischer Verbindung mit der Sorge für die Geisteskultur 
gaben die niederösterreichischen Kartauserkloster Mauerbach, Gaming und 
Aggsbach in ihren stillen, von der Welt abgeschiedenen Tälern. Mehrere 
Handschriften, die einst neben vielen andern ihr Eigentum waren und gegen- 
wärtig in der Hofbibliothek sich befinden, geben heute noch von dem 
wissenschaftlichen Eifer dieser Mönche ein schönes Zeugnis. Schon Heinrich 
von Oyta und Heinrich von Langenstein, die beiden großen Theologen, 
zogen sich gerne in die einsame Kartause Mauerbach zurück und predigten 
mitunter hier; jener hielt sogar für einen neugeweihten Kartäuser die 
Primizpredigt und schenkte der Bibliothek das Manuskript seines großen 
Werkes »lectura supra psalterium«,**) welche Widmung die dankbaren 
Kartäuser nach seinem Tode im Kodex bestätigten. Ein Kartäuser von Mauer- 
bach übersetzte auch des Heinrich von Langenstein schönes Werk »speculum 
animae« ins Deutsche,***) andere Bewohner dieser Kartause wieder schrieben 
schöne, nicht selten prachtvolle Codices. Es ist daher nicht anzunehmen, daß 
der Verkehr mit diesen berühmten und angesehenen Lehrern der Universität 
so ganz ohne weitere geistige Erfolge für Mauerbach sollte geblieben sein. 
Noch mehr wissenschaftlicher Eifer kann, wie die Quellen dartun, den Mönchen 
der Kartause Gaming nachgerühmt werden.f) Mehrere Prioren, selbst 
literarisch schaffend, waren gleichen Bestrebungen ihrer Ordensgenossen über- 
aus freundlich gesinnt Als einer der ersten verdient in dieser Hinsicht 
Christoph Hüpfel von Ips (1443 — 1451) genannt zu werden. Der Prior 
Nikolaus Kempf aus Straßburg (1451 — 1458) war Magister der Wiener 
Universität und hatte mehrere philosophische Schriften und geistliche Bücher 
verfaßt. Sein Nachfolger im Priorate, Siegmund Phanzagel (1458 — 1483), 
welcher aus dem bekannten reichen Wiener Bürger- und Ratsgeschlechte 
der Phanzagelft) stammte, war durch ein Vierteljahrhundert nicht nur die 

») Kirchliche Topographie, XV. Bd., S. 68. 
**) Dr. Theodor Wie de mann, Mauerbach, Im XIII. Band der Berichte und Mitteilungen, 
des Altertumsvereines zu Wien. Kodex Nr. 4235 und 3953 in der k. k. Hofbibliothek. 

***) Dies heysset Spygel der seien. Kodex der Hofbibliothek, Nr. 3968. (Dr. Th. Wiedemann 
a. a. O.) 

f) Heinrich Zeißberg, Zur Geschichte der Kartause Gaming. Archiv für Kunde öster- 
reichischer Geschichtquellen. LX. Band (1880). 

ff) Mehrere urkundlich genannte Phanzagel finden sich in den vom Altertumsvereine zu Wien 
herausgegebenen Quellen zur Geschichte der Stadt Wien I/i, Nr. 509 und I/2, Nr. 2167. 

1-9+ 



Zierde seines Klosters, sondern auch des ganzen Ordens. Er hatte an der 
Wiener Universität studiert und war Magister der Artistenfakultät. Ein 
ebenso durch Klugheit als Wissenschaft und Fleiß hervorragender Prior 
war Johann IV. (i486 — 1491), welcher das Doktorat der Rechte besaß. Als 
Beweis dafür aber, wie die Gaminger Kartause unter dem wissenschaftlichen 
Einflüsse der Wiener Universität stand, möge nur dienen, daß von Gaminger 
Kartäusern an ihr promoviert wurden: Benedikt Neubeck von Scheibbs, 
Heinrich v. Eckenfeld aus Wien (sehr gelehrt), Thomas Papier von Zistersdorf, 
Kaspar von Perchtoldsdorf, Martin Turner von Mödling, Balthasar von 
Wien, Michael Wildendorfer aus Wien, Chrisogonus aus Krems, Martin voa 
Klosterneuburg u. m. a., wie man sieht, eine stattliche Zahl Niederösterreicher 
für Gaming allein, außerdem noch eine ziemliche Anzahl, deren Wiege nicht 
in Niederösterreich zu suchen ist In der Kartause Aggsbach waren gleich- 
falls einige Prioren, die durch ihre Kenntnisse und Schriften in geist- 
lichen Kreisen gefeiert waren, unter andern Prior Christian von Salzburg, 
ein in den Dekretalen sehr unterrichteter Mann, von dem sich mehrere 
Handschriften in der Gaminger Bibliothek befanden. Auch auf den ge- 
lehrten Vinzenz von Aggsbach sei nochmals verwiesen, dessen Schriften 
über die mystische Theologie heute noch in der Melker Bibliothek sich 
befinden.*) 

Wo die geistige Kultur so vorsorgliche Pflegestätten gefunden, wo 
tiefe Denker und Arbeiter des Geistes neben ihrem beschaulichen Leben 
ungestört ihren Lieblingsstudien sich hingeben konnten, mußte auch für 
Bibliotheken entsprechende Vorsorge getroffen sein. Und wahrlich! Für die 
Bibliotheken, diese wissenschaftlichen Rüstkammern, wurde im XV. Jahr- 
hundert viel geschrieben, geschenkt**) und angeschafft, darunter so manches 
künstlerisch wertvolle Manuskript. Über die Manuskripte in der Melker und 
Schottenbibliothek***) sind wir durch vorzügliche Kataloge gut orientiert. In 
Melk erhielt die Bibliothek seit dem Abte Nikolaus von Matzen und seinen 
Nachfolgern einen wertvollen Schatz von Handschriften (z. B. das Unterrichts- 
buch für den jungen Ladislaus Posthumus u. v. a.). Die Schottenbibliothek zählt 
gegenwärtig 750 Handschriften, von denen nahezu die Hälfte dem XV. Jahr- 
hundert angehört, 54 im Kloster selbst geschrieben, 151 gekauft, die übrigen 



*) Catalogus codicnm manu scriptorum, qui in bibliotheca monasterii Mellicensis O. S. B. 
serrantur. Vindobonae. 

**) Über Bücherschenkungen an Klöster siehe Zapp er t, Liber daüvus, Sitzungsberichte, XIII. Bd. 

(1854). 

***) Dr. Albert Hübl, Catalogus codicnm manu scriptorum, qui in bibliotheca monasterii B. M. V. 
ad Scotos Vindobonae servantur. Vindobonae 1899. 

195 *3* 



durch Tausch oder Schenkung erworben wurden.*) Sie sind wohl die her- 
vorragendsten Bibliotheken in österreichischen Benediktinerklöstern. Das 
8oojährige Jubiläum des hl. Bernhard, des Stifters des Zisterzienserordens, bot 
auch den niederösterreichischen Zisterzienserklöstern Heiligenkreuz, Zwettl 
und Lilienfeld die Gelegenheit, ihre Manuskriptenkataloge zu veröffentlichen.**) 
Mit Ausnahme von zerstreuten Mitteilungen besitzen wir über die Hand- 
schriften von Seitenstetten, Herzogenburg, Geras, Klosterneuburg, Göttweig***) 
und Altenburgf) noch keine vollständigen Kataloge, daher wir über den 
wissenschaftlichen Geist und seine Schöpfungen in diesen Klöstern und Stiften 
während des XV. Jahrhunderts, wie wir bereits erwähnten, noch eine viel zu 
geringe Kenntnis erlangen konnten. 

Wenn wir die wissenschaftlichen Erfolge der Reform der niederöster- 
reichischen Klöster seit 141 8 unparteiisch prüfend überblicken, jene Persön- 
lichkeiten voll tiefer Frömmigkeit und hohen sittlichen Ernstes, welche durch 
Studien und literarische Arbeiten selbst tätig gewesen, nochmals im Geiste 
vorüberziehen lassen, dabei auch der sturmbewegten Tage, der politischen und 
sozialen Wirren, welche über die einzelnen Häuser mit oft mehr weniger 
Schaden hinwegzogen, gedenken, so werden wir zugeben müssen, daß die 
Reform wissenschaftliche Früchte doch auch reichlich getragen hat. Der 
Einfluß, welchen die Universität damals auf einzelne Klöster, wie Melk, 
Schotten in Wien und Gaming, genommen hat, wurde bereits quellenmäßig 
dargetan. Er war nicht gering. Die Zisterzienser hatten sich gleichfalls nach dem 
Beispiele der Pariser Universität bald nach der Gründung der Universität in 
Wien ein im Zusammenhange mit dieser und neben ihr ein selbständiges 
Kollegium bei St. Nikolaus in der inneren Stadt (Singerstraße) für Studierende 
ihres Ordens errichtet und ebenso lehrten Dominikaner und Augustiner 
Eremiten an der theologischen Fakultät. Wenn daher einige meinen, daß »der 
Einfluß der Universität, den man sich von ihrer Gründung auf eine hohe 
geistige Kultur in den Klöstern versprach, sich nicht eingestellt hat«,tt) so 
ist das zwar nur cum grano salis zu nehmen. Er hat sich überall dort ein- 

*) Urban von Melk schenkte als Zeichen der Verehrung and des Dankes sieben wertvolle 

Codices, Dr. Johann Polczmacher, Rektor der Wiener Universität, 43 Codices, meist juridischen Inhalts. 

**) Xenia Bernardina 1891. 

***) Der kritisch und mit wahrem BenediktinerfleiÖe gearbeitete Handschriftenkatalog in drei 

Foliobanden des Klosters Göttweig von P. Vinzenz Werl harrt noch der Veröffentlichung. (Dr. Ant. 

Mayer, Geschichte der geistigen Kultur, I., 271.) 

f) Das Benediktinerstift Altenburg besaß einen Schatz von Handschriften, die aber, als man 
sie im 30jährigen Kriege retten und nach Krems in Sicherheit bringen wollte, den Schweden in die 
Hände fielen. Nur wenige von ihnen, meistens theologischen Inhalts, blieben verschont und befinden 
sich heute in Altenburg. (Fräst, Merkwürdige Handschriften der österreichischen Stifte Altenburg, 
Herzogenburg und Heiligenkreuz in den Jahrbüchern der Literatur, 1823, IV. Heft, Notizenblatt S. 38.) 
ff) Albin Czerny, Die Klosterschule in St. Florian (Linz 1873), S. 16. 

196 



gestellt, wo die Bedingungen dazu vorhanden waren, wie die Beispiele von 
Melk und den Schotten in Wien, ja selbst die von Wien so abseits gelegenen 
Kartausen Mauerbach und Gaming zeigten. 

Es erübrigt nur noch, die Frage kurz in Erwägung zu ziehen, welchen 
Anteil Niederösterreicher am wissenschaftlichen Leben der Universität hatten, 
wobei es sich uns zunächst doch nur darum handeln kann, auf jene Persönlich- 
keiten hinzuweisen, welche in der einen oder anderen Fakultät als Professoren 
oder in akademischen Würden der Universität als Rektoren oder Dekane in 
den Universitätsakten genannt werden; ihre wissenschaftliche Tätigkeit zu 
schildern, ist hier nicht die Aufgabe. 

Wie Aschbach in seiner Geschichte der Wiener Universität sagt, hatte sich 
in der Theologie aus den alten Doktoren und Lehrern Heinrich von Langenstein 
und Heinrich Oyta, Peter von Pulkau, Franz von Retz und ihren unmittelbaren 
Schülern in den ersten Dezennien des XV. Jahrhunderts eine neue Lehrer- 
generation herausgebildet, in welcher gerade Niederösterreicher, welche aber 
meistens dem Weltklerus angehörten, in nicht geringer Zahl vertreten waren. 
Wir verweisen unter diesen auf Peter von Pillichsdorf, Stephan von Enzers- 
dorf, Peter von Pirchenwart, Andreas von Weitra, Urban von Melk, Jakob 
und Thomas von Wullersdorf, auf Johann von Eggenburg, Thomas Ebendorfer 
von Haselbach und Petrus Czech von Pulkau, von welchen später mehrere 
auch Kanonikate bei St. Stephan erhalten hatten, auf den Domdechant Paul 
Leubmann von Melk, ferner auf die ausgezeichneten Kanzelredner Andreas 
von Heiligenkreuz und Franz von Retz, einen der gelehrtesten Dominikaner 
seiner Zeit, auf Nikolaus von Matzen und Nikolaus von Respitz (Röschitz), 
die bekannten nachmaligen Äbte, und deren innigsten Freund Peter von 
Klosterneuburg, auf die Rektoren der Bürgerschule zu St. Stephan Kolo- 
man von Neustadt, Peter Deckinger und Marquard von Stockerau. In dieser 
Fakultät waren also Niederösterreicher nicht allein der .Zahl nach, sondern 
noch ganz besonders ihrer wissenschaftlichen Leistungen halber als Lehrer wie 
auch als Schriftsteller hervorragend vertreten, außerdem waren mehrere von 
ihnen auch mit wichtigen politischen und kirchlichen Missionen entweder vom 
Landesfürsten oder von ihrer Fakultät betraut, wie Franz von Retz, Urban von 
Melk, Peter von Pulkau, vor allen aber Thomas Ebendorfer, was auf das hohe 
Ansehen schließen läßt, das dieselben in und außerhalb der Universität genossen. 

Doktoren und Professoren des Rechts, unter welchem man anfangs nur 
das kanonische oder Dekretalenrecht verstand, waren damals fast ausschließlich 
Geistliche, wie denn überhaupt dieser Gegenstand der juridischen Fakultät, 
in welchem manche Niederösterreicher, wie Koloman von Klosterneuburg, 
Kaspar von Meiselstein, Paul Päutl von Wien, Johann von Perchtoldsdorf, 

197 



Thomas von Zwettl und Alexius Tuner von Drosendorf, einen großen Ruf 
sich erworben hatten, neben der Theologie auch in den niederösterreichischen 
Klostern und Stiften mit Vorliebe betrieben wurde. Der erste, der sich 
»utriusque juris« schrieb, das weltliche Recht aber kaum gelesen haben 
dürfte, war ebenfalls ein Niederösterreicher, Wolfgang von Herzogenburg. 

Waren in der juridischen Fakultät weniger Niederösterreicher zu finden, 
als man hätte erwarten dürfen, so waren sie dagegen wieder stärker in der 
medizinischen Fakultät vertreten, die gegen die Mitte des XV. Jahrhunderts 
eine Reihe angesehener Ärzte aus Niederösterreich in ihrer Mitte zählte 
und schon als eine »geschlossene Körperschaft« nach außen hin erschien, was 
sie in erster Linie dem energischen Auftreten des auch am herzoglichen 
Hofe angesehenen Anatomen Johann Aygel aus Korneuburg, als er Dekan 
und Rektor war, zu verdanken hatte. An Ruf und Bedeutung standen ihm 
Michael Puff von Schrick, Pankratius Kreutzer von Traismauer und Eberhard 
von Klosterneuburg wohl wenig nach, eines Johann Silber von St. Polten, Wolf 
Hymel von Melk, Michael Mannersdorfer von Klosterneuburg und Bartholo- 
mäus von Wien nicht zu vergessen. 

Auffallenderweise war gerade die angesehenste Fakultät, die der Artisten, 
welche doch die meisten Schüler, Bakkalauren, Magister und Professoren in 
ihrer Mitte zählte, in der aber die rheinische Nation die anderen Nationen 
weit überwog, am wenigsten von Niederösterreichern besucht. Wir finden 
daher als Dekane dieser Fakultät nur einen Nikolaus von Matzen, Petrus 
Czech von Pulkau, Zink von Herzogenburg, Urban von Melk, Jakob und 
Johann von Wullersdorf, die aber alle bald in die theologische Fakultät über- 
getreten waren und hier dann eine langjährige Lehrtätigkeit entfalteten, ferner 
Michael Zehenter von Wien, Paul von Stockerau und Oswald von Weikers- 
dorf. In Georg von Rusbach, einem Schüler Peuerbachs, lernen wir auch 
noch einen der hervorragendsten Niederösterreicher in dieser Fakultät kennen. 

Waren es zwar nur Namen von Niederösterreichern, die bei den einzelnen 
Fakultäten aufgezählt wurden, so bedeuteten sie aber doch weit mehr denn 
Namen, sei es betreffs der sozialen Stellung ihrer Träger, sei es wegen des 
guten Klanges, den sie in der damaligen wissenschaftlichen Welt hatten. 
Gehen wir endlich noch daran und überblicken wir die gedruckten Verzeich- 
nisse der Rektoren, Dekane, Doktoren und Magister im XV. Jahrhundert, 
so ergibt sich, daß unter den 125 Rektoren in dieser Zeit 86 Nichtnieder- 
österreicher und 39 Niederösterreicher waren, und zwar 21 aus der theo- 
logischen, 8 aus der artistischen, 7 aus der medizinischen und 3 aus der 
juridischen Fakultät, wobei zu bemerken ist, daß die Namen nur einmal 
gezählt sind, einige von diesen Rektoren ihre akademische Würde aber mehr- 

198 



mals bekleideten,*) daher etwas mehr als ein Drittel der Rektoren gebürtige 
Niederösterreicher waren. Von den 227 Dekanen der vier Fakultäten waren 
179 Nichtniederosterreicher und nur 48 Niederösterreicher**), aus der Ge- 
samtziffer der vortragenden Magister und Doktoren, die 940 beträgt,***) ent- 
fallen aber nur 144 auf Niederösterreicher, darunter $2 aus Wien, 7 aus 
Krems, je 6 aus Brück a. d. L. und Herzogenburg, je 5 aus Eggenburg und 
Wallsee, je 4 aus Klosterneuburg, Perchtoldsdorf, Stein und Weitra u. s. w., 
von welchen die meisten zwischen den Jahren 1440 und 1460 lasen. Auch 
unter den Vortragenden überragte also die »Rheinische Nation« die Ange- 
hörigen der anderen Nationen. 

Um die Mitte des XV. Jahrhunderts hatte sich an der Universität die 
Blüte wissenschaftlichen Lebens in ihrer ganzen Fülle entfaltet. Damit war 
aber nicht nur die Universität, sondern die Stadt Wien selbst auch zu einer 
Zentrale geistigen Verkehrs nach auöenhin geworden. Namentlich waren 
von der Artistenfakultät jetzt alle Neuerungen, aller Fortschritt ausgegangen. 
Johann von Gmunden, dieser geniale Bahnbrecher in Mathematik, Physik 
und Astronomie, sowie seine Nachfolger Georg von Peuerbach und Regio- 
montanus (Johann Müller von Königsberg) hatten im Wetteifer mit den 
ausgezeichneten Gelehrten ihrer Zeit diese Disziplinen in Wort und Schrift 
zu epochemachender Bedeutung entwickelt Dazu kam, daß die beiden letzt- 
genannten auch die ersten Humanisten waren und den noch reinen, unver- 
dorbenen Humanismus an der Universität einführten, indem sie, bevor sie noch 
Kollegien über Mathematik und Astronomie hielten, über lateinische Dichter 
lasen. »Der Ton und der Geist, der seither die Hochschule beherrschte, die geistige 
Entwicklung und Richtung, welche diese nun durchlief, war jetzt meistens von 
der Artistenfakultät bedingt, «t) deren geistige Häupter jene Männer waren. 

Durch sie hatte sich jetzt auch außerhalb der Universität ein reger 
geistiger Verkehr, der nicht selten noch durch die Bande der Freundschaft 



*) Z.B. Paul Leubmann von Melk und Paul Päutl von Wien je fünfmal; Thomas Wölfel 
▼on Wallersdorf, Thomas Ebendorfer von Haselbach und Petras Czech von Pulkau je dreimal; 
Urban von Melk, Reicher von Pirchenwart, Andreas von Weitra, Jakob von Wallersdorf and Andreas 
von Pottenbrunn je zweimal. Selbstverständlich kommen auch bei den Nichtniederösterreichern 
■solche Wiederwahlen mehrmals vor. 

**) Auch hier gilt das gleiche wie von den Rektoren, nur daß die Ziffer der wiederholten 
Wahl sich steigert; so war Thomas Ebendorfer, vielleicht die geschäftskundigste Persönlichkeit an der 
Universität, sogar I7mal, Pankratias Kreutzer I2mal, Puff von Schrick umal Dekan u. s. w. Die 
Ziffer der Wiederholungswahlen beträgt 114. In erheblicher Weise steigert sich die Ziffer der 
Wiederwahl auch bei den Nichtniederösterreichern. 

***) Eine auffallend hohe Ziffer. Im Jahre 1453 gab es in der philosophischen Fakultät allein 82, 
im Jahre 1476 sogar 105 vortragende Doktoren und Magister. (Kink, Geschichte der k. k. Uni- 
versität Wien, I., 145.) 

t) Aschbach, Geschichte der Wiener Universität, I., 339. 

199 



belebt wurde, mit den gelehrtesten Fachgenossen in Deutschland und Italien 
entsponnen. Die eifrigste und wichtigste Persönlichkeit in demselben war 
Georg von Peuerbach. Schon frühzeitig, noch als junger Magister im Alter 
von 17 Jahren, hatte er auf seiner italienischen Reise in Rom mit dem be- 
rühmten Kardinal Nikolaus Cusa, der ihn bei sich aufgenommen und sich schon 
damals über wichtige mathematische und astronomische Probleme mit ihm unter- 
redet und darüber Pläne gefaßt hatte, ebenso in Bologna mit Giovanni Bianchini, 
einem der bedeutendsten Humanisten Italiens und auch Kenner der Astronomie, 
Freundschaft geschlossen und stand seither im wissenschaftlichen Briefwechsel 
mit ihnen. In Wien dann verband Peuerbach innigste Freundschaft mit Regio- 
montanus, seinem lieben Schüler und Gehilfen bei seinen astronomischen 
Arbeiten, mit Stephan Kolb, nachmals Abt der Schotten (1479 — 1482), mit 
Äneas Sylvius, der eben als Kaiser Friedrichs III. Geheimschreiber in der 
kaiserlichen Kanzlei in Wien, welche damals schon und auch später noch als 
ein Hort humanistischer Bildung galt, beschäftigt war (1442 — 1455) und der, wie 
aus einem Gedichte Peuerbachs an Stephan Kolb hervorgeht,*) auch zu den 
Freunden Cusas zählte, endlich mit Johannes Bohemus**), dem Astronomen 
Kaiser Friedrichs, mit dem Priester Johannes Troster oder Troster u. m. a. 

Als Kardinal Cusa, der große Theologe, Mathematiker und Philosoph, 
welcher als Humanist doch den Geist der neueren Zeit der Wissenschaft 
einhauchen wollte,***) nach der Synode in Salzburg zu Anfang des Jahres 145 1 
in Klosterangelegenheiten als päpstlicher Legat nach Wien gekommen war,f) 
wurde die alte Freundschaft zwischen ihm und Peuerbach im erneuten persön- 
lichen Meinungsaustausch noch mehr bekräftigt 

Auch mit dem die Wissenschaft, besonders aber den Humanismus kräftig 
fordernden gelehrten Kardinal Bessarion, der 1450 als päpstlicher Legat nach 
Wien gereist war, teils um die Zwistigkeiten zwischen Kaiser Friedrich DL 
(IV.) und seinem Bruder Herzog Albrecht VI. zu schlichten, teils einen 



*) Xystus Schier, De sodalitate Danubiana. Manuskript in der k. k. Hofbibliothek in Wien. 
**) Albin Czerny, Ans dem Briefwechsel des großen Astronomen Georg von Penerbach im 
»Archiv für österreichische Geschichtsquellenc, Bd. 72, S. 281 — 304. Stephan Kolb beschäftigte sich, 
als er noch Mönch in Melk war, viel mit Studien der Schriften franzosischer Theologen, besonders 
mit Wilhelm von Paris, und war auch Verfasser lateinischer Gedichte. In diese Zeit ist auch Peuer- 
bachs Gedicht an Kolb zu setzen. 

***) Robert Zimmermann, Der Kardinal Cusa als Vorläufer Leibnizens, in den Sitzungs- 
berichten der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, Bd. VIII, 307. 

f) Cusa hielt bei dieser Anwesenheit in Wien auf dem Stephansfreithofe (»auf sand Steffens- 
freythoff zu wyene«), und zwar von der daselbst befindlichen Kanzel herab am ersten Fastensonntage, 
14. März 145 1 — also zehn Jahre vor Johann von Kapistran — eine Predigt »vber den heyligen pater 
nosterc. Für die Wiener, die in Scharen herbeigeströmt sein mochten, war Cusas Erscheinen als 
Prediger auf der Kanzel sicher ein Ereignis. Diese Predigt ist im Kodex Nr. 50, Fol. 31 sq., in der 
Schottenbibliothek enthalten. (Dr. A. Hübl, Catalogus etc. Nr. 57, S. 58.) 

290 



Kreuzzug gegen die Türken zu stände zu bringen, verband Peuerbach in- 
folge ihrer persönlichen Begegnungen von jetzt an enge Freundschaft Die 
zwischen ihnen erörterten wissenschaftlichen Pläne für eine zweite Reise 
Peuerbachs nach Italien, um an dem Hauptsitze der neu erstehenden Renais- 
sance auch griechische Quellen für die astronomische Wissenschaft zu ver- 
werten, ließen für diese reiche Errungenschaften Untersuchungen von weit- 
reichender Wirkung erwarten. Da starb kurz vor dieser Reise Georg von 
Peuerbach am 8. April 1461 im Alter von erst 38 Jahren. 

Dieses unerwartete Ereignis war für die mathematischen, physikalischen 
und astronomischen Studien im allgemeinen, speziell aber für das Lehramt 
derselben an der Universität, dem vornehmsten Sitze der Wissenschaft der 
Astronomie in ganz Europa, nebenbei aber auch für den wissenschaftlichen 
und gesellschaftlichen Verkehr der Gelehrten in Wien, dessen Seele Peuerbach 
gewesen ist, ein schwerer Schlag, um so schwerer, als auch Regiomontanus 
nicht lange mehr in Wien verblieb. Dieser nämlich fühlte sich, der bedeutendsten 
geistigen Kraft in den astronomischen Forschungen und der Spitze aller 
geistigen Verbindungen beraubt, nunmehr in Wien vereinsamt. Die hohen 
Versprechungen, welche der Stadtrat von Nürnberg ihm zur Verwirklichung 
seiner großen Projekte gemacht hatte, fanden daher bei ihm Gehör und bewogen 
ihn, den Sitz seiner wissenschaftlichen Tätigkeit nach Nürnberg zu verlegen. 

Von jetzt ab begann der Humanismus nahezu ausschließlich die Artisten- 
fakultät zu beherrschen und erreichte am Ende des Jahrhunderts in der 1497 von 
Konrad Celtis begründeten gelehrten Donaugesellschaft (Sodalitas Danubiana) 
auch den Höhepunkt seiner Bedeutung und seines Einflusses nicht nur an 
der Universität durch die Magister Paul von Stockerau, Wolfgang Hayden 
und Johann Goldberger, beide aus Wien, sowie durch Bernhard Perger*) u. m. a., 
sondern auch in den maßgebenden gelehrten Kreisen Wiens. 

In dieser Zeit sind die Spuren des aufwärtsstrebenden Humanismus, 
wenngleich vereinzelt, auch schon außerhalb der Universität, sowohl in Wien 
als auch in Niederosterreich, zu verfolgen, in Wien an der Bürgerschule zu 
St. Stephan, an welcher der später bekannte Vertreter des Humanismus an der 
Universität und Mitglied der gelehrten Donaugesellschaft auch eine Zeitlang 
Rektor war, nämlich Bernhard Perger, in Niederosterreich an den Bürger- 
schulen zu Wiener-Neustadt und Krems, in diesem oder jenem Kloster und 
Stift infolge des Verkehrs mit Humanisten, z. B. in Klosterneuburg unter 
dem Probsten Jakob mit dem Humanisten Ladislaus Suntheim. 

*) Über Bernhard Perger und seine Bedeutung für den Humanismus siehe Gustav Bauch, 
Die Rezeption des Humanismus in Wien. Eine literarische Studie zur deutschen Universitätsgeschichte 
(Breslau 1903), S. 14 ff. 

201 




Ein verschollenes Oppositionsblatt. J| Von J. Minor. £ 

In den hochinteressanten Briefen von Knigge an den vermeintlichen Blumauer, 
die Professor Fournier vor etlichen Jahren in der »Neuen Freien Presse« 
(26. Oktober 1902) veröffentlicht hat, ist auch die Rede von dem »sehr 
hell denkenden Juden« Michaelis, welchen der Herzog von Mecklenburg- 
Strelitz zu seinem Hof buchhändler ernannt habe, und von seinem Oppositions- 
journal. »Michaelis«, so schreibt Knigge, »hat sein Zutrauen so sehr erworben, 
daß ihm der Herzog die uneingeschränkteste Preöfreiheit zugestanden hat ; der 
erste Gebrauch, den Michaelis davon macht, besteht darin, daß er auf Bitten 
einiger Freunde ein Journal, ,Die Flüchtlinge', ankündigt, in welches er jede Klage 
über Druck und Betrug aufzunehmen und dazu Verschwiegenheit verspricht«. 
Dieser jüdische Hofbuchhändler ist in der Geschichte unserer Literatur 
in mehrfacher Hinsicht von Interesse. Er ist der erste Jude, der als Verlags- 
buchhändler mit unseren führenden Geistern in Berührung gekommen ist 
Was das besagen will, das kann man noch deutlich daran erkennen, daß in 
den Briefwechseln der Zeit der »Jude« niemals vergessen wird. Schiller 
schreibt, daß er mit dem »Juden Buchhändler« den Vertrag abgeschlossen 
habe, und Friedrich Schlegel redet von einem »Juden«, der vielleicht auch 
sein Verleger werde. Er ging, obwohl Anfanger, gleich sehr rührig ins Zeug; 



202 



er nahm den ersten » Musen- Almanach« Schillers, die erste größere Schrift von 
Friedrich Schlegel über die »Griechen und Romer« und das »Philosophische 
Journal« von Niethammer in Verlag. Und anfangs lauten die Urteile aller 
seiner Autoren auffallend günstig über ihn! Der sonst sehr absprechende 
Friedrich Schlegel nennt ihn einen unternehmenden, wohlhabenden, nach 
seinen Briefen zu urteilen nicht ungebildeten Mann; er war auch mit seiner 
personlichen Bekanntschaft sehr zufrieden und gestand ihm (was in diesem 
Munde etwas heißen will) viel Bildung und Geist zu, freilich mit dem 
bezeichnenden Zusatz: »Viel Männlichkeit scheint er wohl nicht übrig zu 
haben«. Sogar der Leipziger Verlagsbuchhändler Goschen muß von dem 
jungen Rivalen eine sehr gute Meinung gehabt haben. Wilhelm Schlegel 
fand ihn für Michaelis sehr interessiert und Göschen riet ihm ausdrücklich 
zu, ihm gleichfalls etwas in Verlag zu geben, freilich wiederum nicht ohne 
einen bedenklichen Zusatz: »daß er ihm auf der Kippe zu stehen scheine«. 
Diesen Zusatz suchte Friedrich Schlegel mit den Worten zu parieren: »Wie 
jeder Anfanger, der unternehmend ist«. Den Kennern des Schillerischen 
Briefwechsels ist es aber kein Geheimnis, daß der Dichter mit Michaelis 
schlimme Erfahrungen machte und daß das Unternehmen des» Musen- Almanachs« 
eine Zeitlang an dem Verleger zu scheitern drohte, den Humboldt in seinen 
Briefen an Schiller einen elenden Menschen und Körner einen Lumpen 
nennt. Dann aber ist Schillers Unmut mit einem Male besänftigt und er freut 
sich deutlich, seinen Freunden mitteilen zu können, daß der ungerecht 
Beschuldigte sich völlig gerechtfertigt habe und daß ihm ein infamer Betrug 
mitgespielt worden sei. Ein Geschäftsgenosse (heute würde man lieber gleich 
sagen: ein »unredlicher« Geschäftsgenosse) hatte ihm eine bedeutende Bar- 
summe auf der Post unterschlagen und, offenbar um die Defraudation zu 
verheimlichen, seine ganze geschäftliche Korrespondenz abgeschnitten, so 
daß Verleger und Autoren ganz außer Verkehr gesetzt waren. Der durch 
diesen Betrüger hervorgerufenen Verwirrung Herr zu werden, besaß Michaelis 
allerdings nicht genug »Männlichkeit«. Das Erscheinen des »Musen- Almanachs« 
zog sich trotz den Versprechungen des Verlegers von Monat zu Monat, von 
Woche zu Woche hinaus ; und Schiller, der seinerzeit mitleidig genug Goethe 
eingestanden hatte, daß er »dem armen Tiere« doch Unrecht getan habe, ist 
nun wieder voll Ungeduld und voll Verzweiflung über den »dummen Menschen«, 
der absolut nicht zu Geschäften tauge, der die Unordnung selbst sei. Er spottet 
auch über das »epigrammatische Honorar«, das er Goethe im Auftrag des Ver- 
legers überschickt; und glaubt, ihn auf einer offenbaren Lüge ertappt zu 
haben, da Michaelis ihm schon vor vierzehn Tagen geschrieben habe, daß er 
Geld abgeschickt habe, und das Geld heute noch nicht eingetroffen sei. 

203 



Dieser Mann, der eben Hof buchhändler eines »helldenkenden« Fürsten ge- 
worden war, plante, während Schiller die Exemplare seines» Musen- Almanachs« 
ungeduldig erwartete, das Oppositionsjournal. Am 7. Dezember 1795 schreibt 
er an Knigge :*) »Mein neues Unternehmen ,DieFlüchtlinge', bitte ich mit 
Ihren Beiträgen zu unterstützen. So oft gute Beiträge einlaufen, soll ein Heft 
erscheinen; von Zeit zu Zeit sollen Kupferstiche von verfolgten Männern 
geliefert werden. Wie gefallt Ihnen die Behandlung des Verlegers vom 
,Grauen Ungeheuer'?**) Ich wünschte jemanden in Erfurt zu haben, der mir 
die Geschichte der Verhaftnehmung erzählen wollte ; sie muß in die »Flücht- 
linge 4 und, meines Bedünkens nach (I), einfach erzählt, ohne alle Anmerkungen 
eingerückt werden. In dem ersten Stücke werden Sie eine Übersetzung 
einer Schrift finden, die noch unter der Presse ist: »Memoire sur les moyens 
de prevenir les dangers d'une alliance entre la Russie et l'Autriche, par 
Marquis de Lansdowne'. Der berühmte Oppositionsredner zeigt sich hier 
in seiner ganzen Pracht und Würde. Die Schrift hat bei einem B(erliner?) 
Zensurgerichte nicht Gnade gefunden, bei mir soll ihr der Schutz werden, 
den sie verdient«. Und einige Monate später, am 7. April 1796, meldet er: 
»Soeben lese ich in der ,National-Zeitung* des Paters Kraß Verbannung aus 
dem Lande Hildesheim, welche ich nun auch schon habe abdrucken lassen. 
Ich bitte Sie also, dafür zu sorgen, daß der Pater dasjenige, was er jetzt 
etwa noch bekannt machen will, mir im Manuskript zusendet. Von Leipzig 
aus, wohin ich morgen reise, sende ich Ihnen mein erstes Heft. Ich hoffe, 
die Einleitung, ,Geist der Opposition' überschrieben, in Ihrem Geiste 
verfaßt zu haben. Ich habe mich bemüht, das Wesen der Opposition aus- 
einanderzusetzen; ich habe freimütig und warm gesprochen, weil ich meinen 
Charakter nicht verleugnen mag. Wir wollen nun den Erfolg abwarten.« In 
demselben Briefe gibt ihm Knigges in Wien verbotenes »Manifest« Gelegenheit, 
auf Verbindungen mit höheren Kreisen anzuspielen: »Ich hätte leicht Gelegen- 
heit, es bei dem Kronprinzen und Prinzen Heinrich von Preußen anzubringen.« 

Aber auch an Schiller hatte er inzwischen schon etwas von dem neuen 
Journal verlauten lassen. »Ich lege«, schreibt er ihm am 11. März 1796, »hier 
eine Abschrift von einem Plane zu einem Werke bei, dessen Ausfuhrung 
mich jetzt beschäftigt. Die unbedingte Preßfreiheit, in deren Genuß mich die 
liberale Denkungsart meines Fürsten setzt, wird mich auf diesem Weg 
vielleicht sehr nützlich werden lassen. Das erste Heft dieses Oppositions- 



*) »Aus einer alten Kiste«, Seite 205. 
**) Der Herausgeber des »Neuen grauen Ungeheuers € war Rebmann, der Verleger ein gewisser 
Vollmer. Über die Erfurter Angelegenheit, auf die Knigge hier anspielt, vgl. Arnold, »Geschichte der 
deutschen Polenliteratur«, I, 163. 

204 



Journals soll noch zur Ostermesse erscheinen. Wenn Sie es erlauben, so 
sende ich Ihnen den Inhalt des zweiten Heftes vor dem Abdrucke zur Durchsicht. 
Die kahle, wässerige Kritik der Herren in der Bibliothek,*) sowie die übrigen 
elenden Urteile, womit das Publikum heimgesucht wird, werden hier behandelt, 
wie Sie es wohl nicht der Mühe wert halten, nichtsdestoweniger aber nötig 
wird, da der Nachteil solcher Urteile mit einem solchen unverschämt-anmaßend 
ausgesprochenen Tone wirklich sehr bedeutend ist Da ich durchaus nichts 
ins Publikum befördern möchte, was Ihnen mißfallen könnte, so werde ich 
Ihnen diese Aufsätze alle vorher zur Durchsicht senden.« 

Der Herausgeber von Schillers Geschäftsbriefen, Karl Goedeke,**) wußte 
über dieses Oppositionsjournal keine Auskunft zu geben. In dem alten 
Schiller-Archiv des Freiherrn L. von Gleichen-Rußwurm zu Greifenstein ob 
Bonnland habe ich aber den folgenden Entwurf***) mitten unter Papieren von 
Schillers eigener Hand gefunden, der, wie sich nun herausstellt und wie auch 
die engeren Züge der Handschrift verraten, nicht von Schiller, sondern von 
Michaelis herrührt. 

»Die Flüchtlinge. Ein Oppositionsjournal. 

Alle bedrängten und verfolgten Kinder der Wahrheit und Schönheit, des 
Rechtes und der Tugend sollen hier eine sichere Freistätte finden, ihre gute 
Sache soll hier gegen ihre Widersacher geführt, und von der mächtigen 
Opposition, zu welcher jeder freigesinnte und Wahrheit liebende Mann als 
solcher schon durch eine ursprüngliche Vereinigung gehört, in Schutz ge- 
nommen werden. Opposition umfaßt hier alle durch Vernunft und ihre 
Produkte — Wahrheit, Recht und Pflicht — gewissen, möglichen und not- 
wendigen Gegensätze. Alles also, was den Verletzungen der Wahrheit und 
Schönheit, des Rechtes und der Pflicht, in Reden und Taten, in der Nähe 
und Ferne, durch kleinmütige Rüge und strenges Urteil entgegengesetzt 
wird, findet in diesem Journal seinen Platz — wider alle Attentate auf die 
Wahrheit in ihrem weiten großen Gebiete und in ihrem inneren Bezirke auf 
die Schönheit, auf alles, was die Kultur derselben und ihre Ausbreitung 
beförderte, auf Entwicklung des Wahren und Darstellung des Schönen, wie, 
wenn, von wem, und wo sie auch gemacht sind, können sie nur als solche 
erwiesen werden, erhebt sich in diesem Journale die Oppositionspartei, die 
ohne äußere Vereinigung in einem unsichtbaren, unauflöslichen Bunde 
steht, als strenge und eifrige Anhängerin der Wahrheit. Gegen alle Beugungen 

*) Gemeint ist, wie sich unten ergeben wird, die Nene Bibliothek der Wissenschaften. 
**) Seite 189, 191. 
***) Damit sind meine Ausführungen in Seufferts »Vierteljahrsschrift für Literaturgeschichte«, IL, 
393 ff., richtiggesteUt. 

205 



des Rechtes, auf was für Art und von wem und wo sie auch geschehen, gegen 
alle Eingriffe in die unveräußerlichen Rechte der Menschheit, gegen alle offen- 
bare und heimliche Kränkungen der Gerechtigkeit und gegen Bedrückungen 
und Unterdrückungen aller Art, gegen politische, religiöse und philosophische 
Verletzungen und Verfolgungen, gegen schlechte Gesetze und verderbliche 
Einrichtungen sowie gegen schlechte Regenten und elende Minister, gegen 
widerrechtliches Herkommen, sowie gegen neuerfundene Formen der Unge- 
rechtigkeit, gegen alte und junge Rechtsverdrehungen und Rechtsbeschrän- 
kungen, gegen große und kleine Rebellen auf dem Schauplatze der Welt u. s. w. 
treten hier die Männer des Rechtes und der Gerechtigkeit mit edler Frei- 
mütigkeit auf und rufen allen ohne Ausnahme zu: discite justitiam moniti! 

Aber auch allen Höhnungen der Pflicht, allen Widersachern der Sitt- 
lichkeit, allen Schändungen der Tugend, allen Spottern der einigen, echten 
Religion, allen Werken der Finsternis und ihren Dienern, allen Antipoden 
der echten Aufklärung und ihren Versuchen, sie zu hindern und zu ver- 
schreien, allen Angriffen auf das Heiligste der Menschheit und allen Feinden 
des Guten widersetzt sich hier die mächtig laute Stimme des Sittengesetzes 
und spricht das Anathema über sie aus.« 

Dieses Programm, das seinem Verfasser alle Ehre macht, enthält in der 
schärferen Tonart der Revolutionszeit, was Schlözers Briefwechsel und seine 
Staatsanzeigen in ruhigeren Zeiten gewollt hatten. Schiller mußte es not- 
wendig auch an Armbrusters »Schwäbisches Museum« erinnern, in dem einst- 
mals sein eigenes schwäbisches Martyrium als Akt souveräner Willkür die 
Teilnahme der Zeitgenossen erregt hatte ; und es ist nicht unmöglich, daß er 
selber etliche Worte und Zeilen rot unterstrichen hat. Aber weder dieses 
Programm noch Michaelis' briefliche Versicherung, daß die »unterbrochene 
Ordnung« in seihen Geschäften auch durch eine langwierige Krankheit ver- 
ursacht worden sei und daß er durch sein »gänzliches Zurückziehen« nicht 
den glücklichsten Vorfall in seinem Leben: mit Schiller bekannt geworden 
zu sein, in den unglücklichsten verwandeln möge, konnte Schiller bewegen, 
seiner Bitte nachzugeben und ihn mit einigen Zeilen zu erfreuen. Das »Xenien«- 
Manuskript vom Juni 1796 enthält vielmehr die folgende Nummer (450), die 
dann aber im Almanach doch weggelassen wurde: 

Flüchtlinge. 
Flüchtlinge, sagt, wer seyd ihr? Von wannen trägt euch die Woge? 
Habt ihr wo ein Gewerb? Streift ihr als Räuber umher? 

Hier wird, wie die kundigen Herausgeber der »Xenien«*) gezeigt haben, 
unter Benützung einer Homerischen Lieblingswendung auf eine Stelle in der 

*) In den Schriften der Weimarer Goethe-Gesellschaft 8, 51 und 177. 

206 



gedruckten Ankündigung* des Oppositionsjournals gestichelt, welche, mit An- 
spielung zugleich auf die französischen Emigranten, gesagt hatte : »Wer diese 
Flüchtlinge sind, woher sie kommen und wohin sie gehen, was sie wollen 
und warum sie wandern, wird man durch ihre Bekanntschaft von ihnen selbst 
am besten erfahren. Auch auf ihrer Flucht wird ihr freier Anstand keinen 
die Kinder eines guten Hauses verkennen lassen. Also vergönne man ihnen 
die Aufnahme, die sie in mehr als einer Rücksicht verdienen werden.« 

Schiller also war mit Michaelis fertig ; nun war der paradoxe Verfasser 
des Aufsatzes über den Republikanismus in den alten Republiken, Friedrich 
Schlegel, sein Mann. Diesen hatte Michaelis schon früher »mit Gewalt« für 
die Oppositionsblätter geworben; er hatte ihm die Rezensionen der »Hören« in 
der Neuen Bibliothek der Wissenschaften und in Jacobs » Annalen der Philo- 
sophie und des philosophischen Geistes«, für deren Verfasser Friedrich Schlegel 
Garve und Heydenreich hielt, zugeschickt, um gegen die beiden für Schiller 
einzutreten. Darauf bezieht sich also auch die Stelle in dem oben zitierten 
Brief von Michaelis an Schiller, nach der im zweiten Stück der Oppositions- 
blätter ein Angriff auf die Bibliothek erfolgen sollte. Friedrich Schlegel*) 
bleibt auch später, als Schiller ihm die »Hören« selbst öffnete und sein 
Bruder Wilhelm die Rezension für die Schillerische Zeitschrift passend fand, 
dabei, daß er sie in die Oppositionsblätter geben müsse, weil er es ver- 
sprochen und auch Michaelis schon alles dazu geschickt habe. Und als später 
Schiller durch seine späteren »Hören «-Rezensionen aufgebracht war, bittet 
er, um mit Schiller in einem leidlichen Verhältnis zu bleiben, seinen Bruder, 
diesem gegenüber davon Gebrauch zu machen, daß er doch auch gegen die 
Feinde der »Hören« geschrieben habe. Es kann also kaum einem Zweifel 
unterliegen, daß die von Haym und von mir (in Friedrich Schlegels »Jugend- 
schriften«) so lange vergebens gesuchte Rezension Friedrich Schlegels in 
dem zweiten Stück der Oppositionsblätter enthalten sein muß. Ob er auch, 
wozu er große Lust hatte, im geheimen ein Paar Blätter über die harmoni- 
sche Ausbildung und Goethe und Politik hineingegeben hat, könnte nur aus 
dem Inhalt des verschollenen Journals selbst festgestellt werden. Von diesem 
wissen wir nichts weiter, als daß das erste Stück durch Freimütigkeit und 
Neuheit gefallen habe. Nicht umsonst aber hatte Bertuchs Journal des Luxus 
und der Moden die Anzeige des Unternehmens und eine günstige Beurteilung 
des ersten Heftes gebracht. In Bertuchs Verlag, in Weimar selbst, ist nach 
dem Ausgang der napoleonischen Kriege ein anderes Oppositionsblatt er- 
schienen, das von F. L. Lindner herausgegeben wurde.**) 



*) Vergleiche die Briefe an seinen Bruder, herausgegeben von Walzel. 
**) Siehe Geiger, «Alt- Weimar«, 244 ff. ; »Baltische Monatsschrift«, 42, 531 ff. 

207 



Michaelis aber konnte auf keinen grünen Zweig kommen. Im Jahre 
1797 wollte Friedrich Schlegel genau wissen, daß er von seinem Herzog 
zwei Anweisungen, jede zu 3000 Talern, die erste zahlbar zu Neujahr, er- 
halten habe ; Niethammer (der offenbar noch Forderungen an ihn hatte) möge 
also den Augenblick ergreifen. Im März 1798 war Michaelis personlich bei 
Friedrich Schlegel, den er mit Anerbietungen bestürmte ; er wollte die zweite 
Auflage seiner Erstlingsschrift und gleich auch den zweiten Band drucken» 
Aber auch Friedrich Schlegel hält ihn nun für einen Windbeutel und gibt 
ihm nur aufschiebende Antworten. Das Letzte, was ich von ihm weiß, ist in 
einem Briefe von J. Görres an Villers vom 1. August 1808 enthalten: »Daß 
Sie Herrn Michaelis für Ihren Geistesverwandten erklären, tut mir leid, der 
allzu großen Herablassung wegen. Es ist der Buchhändler Michaelis in Neu- 
Strelitz, der dort böslichen Bankerott gemacht, viel geabenteuert hat, zu 
Paris dann im Bicfetre fataler Wechselgeschäfte wegen saß, später nach 
Bitsch (Festung in Lothringen) gefuhrt wurde, dort ausriß und hier sprach- 
meistert, und zwar einer der Vertrauten von J. H. Voß ist. Er hat sich bei 
seiner Herkunft Ihrer Freundschaft gerühmt und ein Manuskript ihrer Parallele 
der deutschen und franzosischen Dichter vorgezeigt, das er von Ihnen er- 
halten haben wollte. Ich glaube sehr gerne, daß er wichtigere Sachen, als das, 
was Sie anfuhren, aufgeschnappt von Ihnen und eingetragen haben kann. Die 
Mumie liegt nicht so fern, daß sie ihm nicht allenfalls auch eingefallen sein 
konnte, ganz treffend finde ich sie übrigens auch nicht ; an den Toten sollen 
Haar und Nägel fortwachsen, und ich glaube immer, die französische Sprache 
wächst in bedeutenderen Teilen, wenn sie gleich von innen durch gewaltsame 
Einwirkung erstarrt. Mir ist sein Buch (»Geist und Charakter der franzosi- 
schen Sprache und Literatur, ein Fragment«, Mannheim, 1808) sehr absprechend 
und oberflächlich vorgekommen, er brachte mir's, als ei^s geschrieben hatte, 
weil er mir, als einem bekannten Franzosen-Nichtfreunde einen Gefallen 
damit zu tun glaubte. Ich nahm deswegen, um ihn zu überraschen, die Partei 
der Sprache, und was er zur Verteidigung seiner Meinung beibrachte, lief 
auf nichts heraus; was er wußte, war schon in dem Buch gedruckt.«*) 

Auch hier wird man die Abneigung der Heidelberger Romantiker gegen 
den Voßischen Kreis in Anschlag bringen müssen, um den problematischen 
Mann, den am Ende doch der ehrliche Voß seines Vertrauens würdigte, 
nicht vorschnell zu verdammen. Von Heidelberg ging Michaelis nach Tübingen, 
wo er an Cottas »Morgenblatt« Beschäftigung fand; der verkrachte Buch- 
händler als Literat im Dienste des Großbuchhändlers.**) 



*) Bei M. Idler, 80 ff. 
**) Görres-Briefe II, II 6, 324. 



208 




Das Gymnasium im Vormärz. J| Von Anton Frei- 
herrn v. Niebauer. J| 

Wenn seit dem gTOÖen Sturmjahre unser gesamtes Unterrichtswesen 
auf neue Grundlagen gestellt wurde, so konnte es nicht fehlen, 
daß das Gebiet der Gymnasien durchgreifende Änderungen erfuhr, 
sowohl was die Anzahl dieser Schulen als deren Einrichtung betrifft. 

Beispielsweise bestanden in Wien früher zwei Piaristengymnasien, nämlich 
das sogenannte akademische Gymnasium im alten Universitätsgebäude und 
das Gymnasium in der Josefstadt, ferner ein Benediktinergymnasium, das zu 
den Schotten auf der Freiung. Das Gymnasium der Theresianischen Akademie 
war nur den Zöglingen der Anstalt zugänglich. Im ganzen mithin drei öffent- 
liche Gymnasien, so daß zahlreiche Schüler aus entlegenen Wohnungen kamen. 
Gleichwohl konnte man kaum von einer Überfüllung der Klassen sprechen. 
Die Bevölkerung war relativ eine geringere, die Eltern bestimmten nicht so 
häufig wie jetzt ihre Sohne für die humanistischen Studien, anderseits hatte da- 
mals der Privatunterricht eine beträchtlichere Ausdehnung. Wie anders gegen- 
wärtig, wo fast jeder Bezirk von Wien ein Gymnasium besitzt und der Andrang 
von Schülern selbst die Einrichtung von Parallelklassen erforderlich macht! 

Ich selbst besuchte das Schottengymnasium. Nach der Lage unserer 
Wohnung hatte ich zwar näher zum akademischen Gymnasium, mein Vater 
glaubte aber, dem Unterricht der Benediktiner den Vorzug geben zu sollen. 

Der Unterricht zerfiel zu jener Zeit in einen vormittägigen und einen 
nachmittägigen. Am Montag, Mittwoch, Freitag und Samstag wurde derselbe 



209 



H 



sowohl am Vormittage als am Nachmittage mit je zwei Stunden erteilt, und 
zwar von 8 — 10 Uhr, worauf die Anhörung der heiligen Messe (Studenten- 
messe) folgte, und von 2 — 4 Uhr (in den Sommermonaten von 3 — 5 Uhr). 
Dienstag nachmittag« entfiel der Unterricht, der Donnerstag blieb ganz frei. 
Diese Pausen gestalteten den Unterricht weniger anstrengend als gegen- 
wärtig, wo in allen Klassen der Unterricht in continuo von 8 — 12 Uhr erteilt 
wird und auch der zarteren Konstitution der Schüler der unteren Klassen 
eine gleich andauernde Aufmerksamkeit zugemutet wird. Allerdings hatten 
damals die Schüler an den Tagen mit nachmittägigem Unterricht den Weg 
zum Gymnasium zweimal zu machen, was aber für die körperliche Erholung 
umso günstiger war, als Turnübungen und Jugendspiele noch nicht bestanden. 

Das Gymnasium zählte damals sechs Klassen (vier sogenannte Gram- 
matikalklassen und zwei sogenannte Humanitätsklassen). Das Schuljahr begann 
am 1. Oktober, um mit 31. Juli zu enden, richtiger mit 7. August, denn damals 
bestanden noch öffentliche Schlußprüfungen (sogenannte Ehrenprüfungen), 
welche für jede Klasse einen Tag in Anspruch nahmen, daher im ganzen 
sechs Tage. Der 7. August war der Schlußfeier (Klassenverlesung und 
Prämienverteilung sowie Ausgabe der Zeugnisse) gewidmet. Dann erst 
nahmen die Ferien ihren Anfang. Gegenwärtig sind unsere Gymnasiasten 
besser daran. Denn der Umstand, daß die Maturitätsprüfungen in der ersten 
Julihälfte abgehalten werden, schließt das Schuljahr für die Schüler der 
anderen Klassen schon zu Anfang Juli und da das Schuljahr mit dem 
16. September beginnt, sind die Ferien reichlicher bemessen als früher, wie 
sie denn auch mehr in eine günstigere Jahreszeit fallen. Trotzdem hatten wir 
damals auch Ferialaufgaben auszuarbeiten und mit dem Beginn des Schul- 
jahres die Elaborate abzuliefern, was jetzt alles nicht mehr der Fall ist. 

Wenn wir nun den Charakter des Gymnasiums des Vormärz präzisieren 
sollen, so war das Gymnasium damals wesentlich Latein-, humanistische 
Schule, seinem Herkommen aus den alten Klosterschulen entsprechend. 
Darauf deutete schon die Nomenklatur der Klassen hin, Parva, Principia, 
Grammatik, Syntax, Poesie, Rhetorik. Auch die Klassifikation war lateinisch 
(Eminens, ademinens u. s. w.), die Schulzeugnisse in lateinischer Sprache ab- 
gefaßt. Ebenso der am Ende des Schuljahres ausgegebene Katalog über Schüler 
und Fortgangsresultate. Bei jenen, die vom Schulgeld befreit waren, hieß es 
exemtus a didactro, der Stipendist erschien als stipendiatus. Auch die Ge- 
burtsstätte der Schüler wurde in lateinischer Sprache angegeben, so bei einem 
meiner Kollegen, der das Licht der Welt in Tribuswinkel erblickt hatte, 
austriacus tribusvincHensis. Die Hauptgegenstände waren Latein, Griechisch 
(von der dritten Klasse an), Geschichte, Geographie. Mathematik wurde 

319 



ziemlich primitiv behandelt, Geometrie bildete keinen Lehrgegenstand. Die 
Naturwissenschaften (Zoologie, Botanik, Mineralogie, Physik), welche gegen- 
wärtig, dem Zuge der Zeit folgend, einen so breiten Raum im Gymnasial- 
unterricht einnehmen, fehlten ebenfalls im Lehrplane des Gymnasiums. Alle 
diese genannten Fächer waren, ebenso Psychologie, Logik, Moralphilosophie, 
den zwei sogenannten philosophischen Jahrgängen aufbehalten, die bereits 
an der Universität zu absolvieren waren und die eine Vorstufe bildeten für 
die Zulassung zu einem Fakultätsstudium, zu welchem man sonach auch 
damals erst nach acht Jahren gelangen konnte. Bei dieser Einschränkung 
des Gymnasialunterrichtes konnte natürlich eben mit einer geringeren Anzahl 
von Lehrstunden das Auslangen gefunden werden. Es wurde aber dadurch 
auch die Institution des Klassenlehrers möglich, in der Art, daß sowohl in 
den vier Grammatikalklassen als in den zwei Humanitätsklassen je ein Pro- 
fessor — mit Ausnahme des Unterrichtes in der Religion, wofür eine eigene 
Lehrkraft bestand — den gesamten Unterrichtsstoff, sämtliche Gegenstände zu 
lehren hatte. Der erstgedachte Klassenlehrer stieg daher mit seinen Schülern 
durch die vier unteren Klassen auf, um dann von dem Lehrer für die zwei 
Humanitätsklassen abgelöst zu werden. Die Einrichtung erheischte daher an 
jeder Anstalt vier Professoren für die unteren und zwei Professoren für die 
oberen Klassen. 

Es lag in der Natur der Dinge, daß der betreffende Lehrer wohl nicht 
für jedes Fach gleiche Vorliebe und intensive Ausbildung mitbrachte. Jetzt, 
wo die obgedachten, früher ausgeschlossenen Fächer in den Kreis des Gym- 
nasiums traten, wäre natürlich eine solche Einrichtung nicht mehr tunlich. 
Ausdehnung, wie Verschiedenheit des zu bewältigenden Lehrstoffes mußte 
von selbst zur Institution der Fachlehrer führen. Freilich ging aber dabei 
auch ein Vorteil verloren. Der Klassenlehrer, der die Verwendung des Schülers 
in den verschiedenen Gegenständen beobachten konnte, ihn fortwährend vor 
sich hatte, gewann ein verläßlicheres Bild über das Gesamtindividuum, dessen 
Veranlagung und Eifer, als es dem Fachlehrer möglich sein mag, der, vielleicht 
Fanatiker seines speziellen Faches, den Schüler eben nur nach den Leistungen 
in diesem einen beurteilt. Namentlich im Untergymnasium war dieser Gesichts- 
punkt wohl nicht ohne Wichtigkeit. Jetzt ist das zusammenfassende Urteil, 
wie es der Lehrerkonferenz obliegt, doch schwieriger zu gewinnen, auch 
für die Nachfrage der Eltern liegt die Sache gegenwärtig nicht so einfach. 

Besonders intensiv, wie schon angedeutet, wurde im Gymnasium des 
Vormärz die lateinische Sprache, die einen überwiegenden Raum des 
Unterrichts einnahm, kultiviert. Von der 3. Klasse an hatten wir als Lehrbuch 
bereits eine lateinisch abgefaßte Grammatik (Praecepta linguae latinae) und 

211 14* 



mußten wir bei Prüfung dieses Gegenstandes lateinisch antworten. Außer 
schriftlichen Hausarbeiten war einmal in der Woche die zweistündige 
Nachmittagsschule für eine Übersetzung aus dem Deutschen in das Lateinische, 
in den zwei Humanitatsklassen für freie Ausarbeitungen als Schularbeit 
reserviert So lernten wir bald Livius, Cornelius Nepos, Suetonius, Julius 
Cäsar, Sallustius Crispus, spater Tacitus, Horaz, Ovid, Seneca und selbst 
lateinische Komödien kennen. Auf den Brief des Horaz an die Pisonen, 
abgeteilt in die sich ergebenden einzelnen Praecepta, wurde ein Hauptgewicht 
gelegt In der Tat lernten wir nicht allein den Sprachbau kennen und 
würdigen, wir gewannen auch wahren Genuß an der Lektüre der Klassiker. 

Eine besonders hervorragende Stelle nahm aber auch der Unterricht in 
der Geschichte ein, der sich in einer Reihe von Spezialgeschichten 
ausbreitete. Derselbe begann bereits in der zweiten Klasse, und zwar 
merkwürdigerweise mit einem sehr eingehenden Lehrbuch der Geschichte 
des österreichischen Kaiserstaates, ohne daß wir früher ausreichende 
Gelegenheit zum Studium der alten Geschichte gehabt hatten. Nur das 
Notdürftigste lernten wir in der ersten Klasse über die Römerzeit in einem 
Ubersetzungsbuch (Döring) kennen. Die Überfuhrung in das Mittelalter bis 
zur Zeit der Babenberger besorgte die Einleitung des gedachten Geschichts- 
buches und allenfalls ein Diktat des Professors zu Ende des ersten Studien- 
jahres, welches wir dann in der Ferialzeit zwischen der ersten und zweiten 
Klasse zu memorieren hatten. In der dritten Klasse folgte die Geschichte von 
Deutschland und von Frankreich, in der vierten die Geschichte von Spanien, 
England und Rußland. Erst in den Humanitatsklassen gelangten wir, Jahr- 
hunderte zurückeilend, zum Studium der alten Geschichte und, im Zusammen- 
hange damit, der alten Geographie. Überhaupt schloß sich dem Geschichts 
Studium stets der Unterricht in der Geographie des betreffenden Landes an. 

Minder intensiv wurde das Griechische betrieben, doch lernten wir den 
Sprachbau genügend kennen und konnten schließlich die Odyssee mit Vor- 
teil lesen. 

Geschichte der deutschen Literatur bildete keinen Lehrgegenstand. Der 
Unterricht beschränkte sich darauf, bei der Lehre über die wichtigsten 
Formen der altklassischen Dichtkunst auf hervorragende deutsche Muster 
der einschlagigen Art aufmerksam zu machen. Ausgewählte Beispiele hatten 
wir zu memorieren. Hier war natürlich dem betreffenden Lehrer ein größerer 
Spielraum eingeräumt und kam es viel auf seinen Geschmack und auf das 
Interesse an, welches er selbst der Sache entgegenbrachte. Ich hatte das 
Glück, auch in dieser Beziehung in dem unvergeßlichen Professor der 
Humaniora P. Berthold Sengschmidt einen ausgezeichneten Lehrer zu haben. 

ai? 



Selbst dichterisch veranlagt, verfaßte er zur festlichen Schlußfeier des 
Schuljahres 1847 einen wohlgelungenen Epilog, dessen Eingangsverse ich 
hier ansetzen mochte: 

»Verklungen sind die letzten Jubeltöne, 
Verhallt die Namen, die ihr Klang begrüßt I 
Zur Neige geht ein Fest, das kaum begonnen, 
Und mit ihm schwindet wieder uns ein Jahrl 
So schauen wir denn an des Jahres Marken 
Mit ernstem Blick auf den durchmess'nen Raum, 
Ob wir gewonnen, was wir heiß erstrebt, 
Ob nicht den Schein wir für die Wahrheit nahmen 
Und was uns kostbar dünkte, eitler Tand? 
An ihren Früchten sollt Ihr sie erkennen, 
Sprach zu den Seinen einst des Meisters Mund, 
Denn, wenn die Blüte auch das Aug' erfreut, 
Die Frucht erst gibt dem Baume seinen Wertl 



Bald brachte die neue Zeit die große Gymnasialreform, zu welcher 
Exner, Bonitz und Josef Mozart die Bausteine gefügt. An Stelle des alten, 
sechsklassigen trat das achtklassige Gymnasium mit Fachlehrern und mit der 
Maturitätsprüfung, wogegen die zwei philosophischen Jahrgange, im alten 
Sinne, aufgelassen wurden. Mit allen Schauern, die sie auch gegenwärtig 
noch umgeben, trat die Maturitätsprüfung in der zweiten Septemberhälfte 
des Jahres 1850 in die volle Wirklichkeit und ich und die Kollegen desselben 
Jahrganges waren die ersten in Österreich, die sie abzulegen hatten. So be- 
fanden wir uns gänzlich Unbekanntem gegenüber. »Ob Glück, ob Unglück 
aufgeht, lehrt das Ende!« Ol die bange Sorge, die uns bedrückte I Die Unruhe 
der letzten Nacht vor der Prüfung 1 

»Und die Nacht 

Vor der Schlacht 

Ward gar bange zugebracht I« 

Und als wir nun in den Prüfungssaal traten, da saßen sie, die hoch- 
würdigen Professoren in schwarzen Klostermänteln, ein Femgericht! In ihrer 
Mitte ein Mann in bürgerlicher Kleidung mit dem Ausdruck herber Strenge: 
Schulrat Enk! Und das Verhör begann 

Wer beschreibt aber auch das einzige Gefühl nach glücklich bestandener 
Prüfung? Alles, was den Kopf so sehr erfüllte und bedrückte, ist mit einem 
Male wie entschwunden! Ein wichtiger Abschnitt des Lebens ist abgeschlossen, 
ein neuer beginnt! Die Pforten der Hochschule tun sich auf! Und wie der 
Römer mit Stolz sich als civis romanus benannte, nennt sich nun der Abiturient 
des Gymnasiums mit Selbstbewußtsein: »Civis Academicus!« 

213 




Das Studium der feineren Hirnorganisation und seine 
Erfolge in den letzten 50 Jahren. Jf Von Heinrich 
Obersteiner. J| 

Wenn es sich auch um eine Festschrift zu einer Säkularfeier handelt, 
so will ich mich doch bescheiden, nur auf ein halbes Jahrhundert in der 
Entwicklung eines Zweiges der Naturwissenschaften zurückzublicken, 
da ja nahezu so weit meine personlichen Eindrücke reichen und ich überhaupt 
in der folgenden Darstellung manchmal mehr personlich zu werden beabsichtige, 
als vielleicht der Gegenstand erwarten läßt; ja selbst die Wahl des Themas, 
Fragen, die mich seit Beginn meiner Universitätsstudien, oder noch länger, 
beschäftigen, denen ich mein wissenschaftliches Leben vor allem gewidmet 
habe, ist eine aus persönlichen Gründen entsprungene. Es geschieht dies aber 
durchaus nicht aus Selbstüberhebung, sondern lediglich in Anlehnung an die 

214 



Aufforderung des Jubiläumskomitees, womöglich Aufsatze zu liefern, »die 
ein Streiflicht auf die geistige Entwicklung des Verfassers und damit auf die 
Bildungsgeschichte unserer geliebten Heimat werfen«. 

Und so sei es mir denn gestattet, nicht so sehr von mir, als von einem 
Gebiete der Wissenschaft zu sprechen, das die schwierigsten Fragen des mensch- 
lichen Lebens, die unserer Psyche, zu losen bestimmt ist. 

Es war kurz vor der drohenden Matura, als unser Lehrer der Physik 
und Mathematik, Professor Sigismund Gschwandner, dessen hervorragende 
pädagogische Bedeutung wir wohl erst später vollauf zu würdigen verstanden, 
sich an einzelne von uns in der Klasse mit der Frage wandte, welchem 
Berufe wir uns zuzuwenden gedächten; allein mit der einfachen Beantwortung 
der Frage nicht zufrieden, verlangte er dann auch noch die Begründung für 
die betreffende Wahl. Ich erinnere mich, dafi einer meiner, seither längst 
verstorbenen Kollegen, der auch Mediziner werden wollte, meinte, er werde 
sich diesem Studium widmen, weil es ein erhebendes Gefühl sei, der leidenden 
Menschheit helfen zu können. Als an mich die Reihe kam, faßte ich die 
Sache von einem anderen Standpunkte auf und motivierte meinen Entschluß 
mit dem lebhaften Interesse, das mir die Vorgänge in der belebten Natur 
einflößten und mit dem Wunsche und Streben, in das geheimnisvolle Wirken 
dieser Kräfte Einblick zu gewinnen; ganz besonders seien es die höchsten 
Leistungen des tierischen und menschlichen Organismus, die mit dem Nerven- 
system verknüpften, welche mich anzögen. 

Mit solchen Idealen in der Brust bezog ich 1865 die Universität; bitter 
aber war die Enttäuschung, als ich dann gleich zu Beginn meiner medizini- 
schen Studien aus dem Munde des hervorragenden Anatomen und unüber- 
troffenen Lehrers Hyrtl hören muflte, für das Gehirn gelte heute noch der 
Satz : obscura textura, obscuriores morbi, functiones obscurissimae oder »Die 
Anatomie des inneren Baues des Gehirns ist und bleibt wahrscheinlich für 
immerdar ein mit sieben Siegeln verschlossenes und überdies noch in Hiero- 
glyphen geschriebenes Buch«. 

Tatsächlich hat man sich um die Mitte des vorigen Jahrhunderts weniger 
mit dem Studium des Hirnbaues — wohl angesichts der Schwierigkeiten, die 
es darbietet — abgegeben als etwa zu Beginn desselben, wo eine ganze 
Reihe hervorragender Anatomen (Rolando, Reil, Burdach, Soemmering, 
Vicq d'Azyr u. a.) auf diesem Gebiete eifrig und mit großem Erfolge tätig 
gewesen waren. Auffallen mag es auch, daß vor 50 Jahren weniger die Fach- 
anatomen es waren, von denen die Hirnanatomie gepflegt wurde und denen 
wir auch bedeutungsvolle Erweiterungen unserer einschlägigen Kenntnisse 
verdanken, als etwa der auf dem neurologischen und laryngologischen Ge- 

215 



biete gleich hervorragende Wiener Kliniker Türk oder der Urologe Stilling. 
Dieser letztere erzählte mir, wie er sein Vergnügen daran finde, sich des 
Morgens mit seinen Hirn- und Rückenmarksschnitten abzugeben und sich erst 
dann seinem eigentlichen Berufe in der Praxis, der ihn auf ganz andere Gebiete 
lenkte, zu widmen. Eines läflt sich aus diesem letzteren Beispiele entnehmen 
— welch geheimnisvolle Anziehungskraft die Beschäftigung mit der Erforschung 
des Nervensystems auf einen naturwissenschaftlich denkenden Menschen aus- 
üben kann; ich vermag mir nicht vorzustellen, daß umgekehrt ein Hirnanatom 
sich in seinen freien Stunden, gewissermaßen als Amateur, den größten Teil 
seines Lebens hindurch mit den Erkrankungen der Urethra befassen wird. 

Um nun wieder auf meine Person zurückzukommen, so fand sich für 
die anfangliche Enttäuschung voller Ersatz, als ich im nächsten Jahre im 
physiologischen Institute unter B rücke s Leitung zu arbeiten begann. Hier 
wurde uns an der Hand des Lehrers und im Wettstreite eines kleinen Kreises 
begeisterter Freunde und Mitschüler die so notwendige Aneiferung zum 
Beobachten und Forschen auch auf dem Gebiete des Nervensystems zuteil. 

Zu gleicher Zeit aber erlitt die Stagnation auf dem Gebiete der Hirn- 
forschung einen mächtigen Stoß durch das Auftreten Meynerts — es hatte 
der ganzen Kraft eines so hervorragend genialen Denkers bedurft, um diesem 
Forschungsgebiete neues Leben einzuhauchen, um die dem Verdorren nahen 
Äste zu frischem Grünen und zu reichlichem Blühen zu bringen. 

Und nun sehen wir, wie vom Beginne der Siebzigerjahre angefangen 
in allen Kulturländern sich eine immer größere Anzahl von ernsten Forschern 
dem Studium des Nervensystems widmet, wie gleichzeitig Anatomie und 
Physiologie und auch Pathologie gepflegt und weiter ausgebaut wurden — 
es wäre überflüssig und hier auch nicht der Ort dazu, Namen zu nennen, es 
sind deren auch zu viele. 

Die so unerwartet rasche Entwicklung und Ausbildung dieser Doktrinen, 
die immer mehr zunehmende Spezialisierung der Untersuchungsmethoden 
riefen dann bald das Bedürfnis nach Lehr- und Forschungsstätten wach, an 
denen Gelegenheit zu vertieftem Studium und eingehenderen Arbeiten in 
dieser Richtung geboten wäre, ja es konnte auch mit Sicherheit die steigende 
Bedeutung solcher Institute vorausgesehen werden. Es sind nun gerade 
25 Jahre her, daß ich versuchte, einzelne Ärzte oder Studierende zu der- 
artigen Studien heranzuziehen — und damit war der Grund zu dem jetzigen 
neurologischen Institute an der Wiener medizinischen Fakultät gelegt. 

Anfangs ging die Entwicklung und Ausbildung dieses Institutes, sowie 
anderer ähnlicher, die später entstanden, nur sehr langsam, mühevoll vor sich, 
aber es war doch ein kontinuierlicher erfreulicher Fortschritt zu bemerken, 

216 



bis endlich eine neue Periode in der Geschichte der Hirnforschung eintrat, die 
bezeichnenderweise mit dem Beginne unseres Jahrhunderts zusammenfallt 

Über Anregung von Wilhelm Hies und über Antrag der königlich 
sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften hatte die vom 16. bis 20. April 
1901 in Paris tagende internationale Assoziation der Akademien beschlossen, 
daß eine Spezialkommission eingesetzt werde, die eine nach einheitlichen 
Grundsätzen erfolgende Durchforschung, Sammlung und allgemeine Nutz- 
barmachung des auf Gehirnanatomie bezüglichen Materiales zu beraten hätte. 
Diese Kommission hätte auch insbesondere die Errichtung von Zentralinstituten 
in Erwägung zu ziehen, in denen die Methoden der Forschung entwickelt, 
das vorhandene Beobachtungsmaterial aufgespeichert und der allgemeinen 
Benützung der dabei interessierten Gelehrten zugänglich gemacht würden. 

Am 5. Juni 1903 wurde in London eine siebengliedrige Zentralkommission 
aus Vertretern verschiedener Länder gewählt, der anzugehören auch ich die 
Ehre hatte und die mit der Durchfuhrung dieser Arbeit betraut wurde. Am 
25. Mai 1904 konnten wir der in London tagenden internationalen Assoziation 
der Akademien unseren Antrag fest formuliert vorlegen, welcher auch in 
folgender Form zum Beschlüsse erhoben wurde: »Die einzelnen in der 
Assoziation vertretenen Akademien und Gesellschaften werden ersucht, 
namens der Assoziation bei ihren betreffenden Regierungen oder sonstigen 
zustehenden Instanzen den Antrag zu stellen, Spezialinstitute oder Instituts- 
abteilungen für die Erforschung des Zentralnervensystems zu" begründen, 
soweit solche nicht vorhanden oder auf anderem Wege zu beschaffen sind.« 

In Ausführung dieses Beschlusses sind nun bereits verschiedene Staaten 
darangegangen, solche Zentral- oder Spezialinstitute zu errichten, respektive 
bereits bestehende Institute mit dieser Funktion zu betrauen, so in 
Österreich das unter meiner Leitung stehende neurologische Institut, in 
Amerika die ungemein reich dotierte Wistar-Institution in Philadelphia, ferner 
in Deutschland, der Schweiz, in den Niederlanden, in England, Ungarn, und 
es ist mit Sicherheit zu erwarten, daß auch noch eine Reihe weiterer Staaten 
nachfolgen wird. Diese Zentralinstitute verfügen über alle technischen Be- 
helfe, die zum Studium des Nervensystems notig sind, haben die entspre- 
chenden Hilfskräfte an Assistenten, Demonstratoren, Präparaten, sie besitzen 
ferner großangelegte Sammlungen von Präparaten (makro- und mikro- 
skopischen), reich ausgestattete Bibliotheken und werden sich untereinander, 
sowie die wissenschaftlichen Arbeiter überhaupt, über das bei ihnen zur 
Verfügung stehende Studienmateriale immer im laufenden erhalten. 

Es unterliegt keinem Zweifel, daß durch die Realisierung dieser schönen 
Idee, deren Vater, W. Hies, leider der Wissenschaft zu früh entrissen 

217 



wurde, das Studium der Hirnanatomie, namentlich aber die eingehenderen 
Arbeiten auf diesem Felde, wesentlich erleichtert wurden. 

Die Voraussetzung von dem steigenden Bedürfnisse nach solchen For- 
schungsstätten hat also durch die höchste wissenschaftliche Instanz, die inter- 
nationale Assoziation der Akademien, ihre Approbation erhalten und sich 
auch praktisch durch das rege Interesse, das diese Institute bei den Forschern 
finden, als richtig bewährt. 

Es bedarf vielleicht einer Rechtfertigung, daß ich in so breiter Weise 
einen den meisten anscheinend recht ferne liegenden Gegenstand behandelt 
habe. Zu meiner Entschuldigung mochte ich aber anfuhren, daß es von 
einem gewissen allgemeinen kulturhistorischen Interesse scheint, zu zeigen, 
wie im Laufe eines Menschenalters ein lange Zeit hindurch ganz stief- 
mütterlich behandeltes Wissensgebiet zur Anerkennung gelangt ist und sich 
zu großer Bedeutung emporgeschwungen hat. 

Es ist dies ein wesentlich anderer Vorgang als bei ganz neuen Spezial- 
fachern, z. B. der Bakteriologie, die in wenigen Jahren gleich nach ihrer 
Geburt so rasch heranwuchsen. Schon Plato, Aristoteles, Galen und Vesalius 
haben Hirnanatomie getrieben, aber das Feld war schließlich lange brach 
gelegen und bedurfte erst besonderer Kräfte, die wie ein warmer Frühlings- 
regen die Saat zu mächtigem Keimen anregten. 

Nun aber, nachdem wir erfahren haben, wie intensiv jetzt das Studium 
des Nervensystems betrieben wird, geziemt sich wohl eine viel wichtigere 
Frage, die* sich aber als selbstverständliches Postulat aufdrängt: was sind 
denn die positiven Erfolge dieses wachsenden Interesses an der Erforschung 
des feineren Hirnbaues? 

Eines muß ohne weiteres zugestanden werden, daß nämlich in dieser An- 
gelegenheit ungemein viel Papier, Tinte und Druckerschwärze verbraucht wurde. 

Unübersehbar ist die Anzahl großer und kleiner, guter und schlechter 
Arbeiten auf dem einschlägigen Gebiete ; bedauerlicherweise darf man zu- 
geben, daß die Mehrzahl dieser rein theoretischen Arbeiten gut oder 
wenigstens nicht schlecht ist, da ein oberflächlicher Beobachter sich nicht 
gerne an so subtile und schwierige Fragen heranwagt. Wenn ich sage »be- 
dauerlicherweise«, so ist dies recht personlich gemeint, denn immer mehr 
wächst auf meinem Tische der Stoß von Arbeiten, die ich lesen soll und 
auch lesen will; wie bequem wäre es, wenn ich den größten Teil davon 
als wertlos ungelesen beiseite legen dürfte! 

Ich will zur Illustrierung des eben Gesagten nur wenige Zahlen an- 
fuhren; so sind in den Jahren 1901 bis 1905 in dem Jahresberichte für Neuro- 

218 



logie und Psychiatrie blofi über normale Anatomie des Nervensystems 
resp. je 271, 312, 374, 426, 476 Arbeiten referiert, wobei keineswegs an Voll- 
ständigkeit gedacht werden kann ; dazu kommen aber noch ungezählte weitere 
Arbeiten über Physiologie, pathologische Anatomie und auch solche über 
Klinik des Nervensystems, von denen viele auch Beiträge zum Verständnis 
des Hirnbaues und der Funktionen des Nervensystems liefern — man fragt 
sich da allerdings bestürzt, wohin das noch führen wird. 

Aus dem Wiener neurologischen Institute allein sind seit seinem Be- 
stehen über 200 Arbeiten, das Nervensystem betreffend, hervorgegangen — 
mea culpa! 

Man mag nun über diese Zahlen denken, wie man will, gewiß macht's 
die Quantität nicht aus; eine erfreuliche Tatsache geht aber doch daraus 
hervor, daß das Interesse für die Erforschung jenes geheimnisvollen Mechanismus, 
der unserer Denkarbeit als materielle Grundlage dient, gegen früher ein unver- 
gleichlich regeres geworden ist. Und das muß doch auch zugestanden werden, 
je mehr rüstige Hände sich an einem Baue beteiligen, um so rascher wird 
er in die Höhe wachsen, selbst wenn auch dazwischen einmal ein unge- 
schickter Arm etwas umwirft, was andere schon aufgebaut hatten. 

Und tatsächlich haben wir einen tiefen Einblick in den so komplizierten 
Bau des Nervensystems gewonnen, ein Fortschritt, den wir erst völlig zu 
würdigen vermögen, wenn wir uns vergleichshalber auf den Standpunkt 
zurückversetzen, den wir vor 50 Jahren einnehmen konnten. 

Jedes Jahr bringt neue Methoden, welche uns wieder neue Details im 
Aufbau der Nervenzelle und Nervenfasern klarlegen, die Vervollkommnung 
der technischen Hilfsmittel, der Mikrotome und Mikroskope, enthüllt uns 
weitere Struktureigentümlichkeiten, die uns bisher fremd waren. Präparate 
von o'oi Millimeter Dicke sind jetzt etwas Gewöhnliches und sehr oft müssen 
wir Schnitte von 0*005, selbst 0*003 Millimeter Dicke anfertigen, um die 
feinsten Fäserchen und Körnchen klar zu sehen. 

Aber nicht bloß den feineren Bau der einzelnen Elemente und ihre 
eventuellen krankhaften Veränderungen wollen wir erforschen, sondern auch 
die Verbindungen und Beziehungen, die zwischen ihnen bestehen. Die ge- 
samte Architektonik des Nervensystems müssen wir kennen lernen, um auch 
Schlüsse auf seine funktionellen Leistungen ziehen zu können. 

Von hervorragendstem Werte für das Verständnis des Gehirns ist es 
ferner, dessen Entwicklung in ontogenetischer und phylogenetischer Beziehung 
kennen zu lernen; die embryologische und vergleichend anatomische For- 
schung verschaffen uns Aufschlüsse von größter Wichtigkeit. Wir können 
dabei z. B. von der Erwägung ausgehen, daß für Leistungen, die beim 

219 



Kinde in einer gewissen Entwicklungsperiode noch nicht ausführbar sind, 
oder daß für Fähigkeiten, die einer bestimmten Tierart abgehen (z. B. das 
Sehen bei blinden Tieren), auch die dazu notwendigen cerebralen Apparate 
nicht oder nur unterwertig ausgebildet sein werden. 

Die pathologische Anatomie gestattet uns durch Untersuchung des er- 
krankten Gehirns eine Parallele zu ziehen zwischen den im Leben beob- 
achteten Erscheinungen einerseits und Ort und Art der Erkrankung ander- 
seits, während wir im Tierexperimente gewissermaßen eine Kontrolle für 
diese, die Funktion der einzelnen Hirnorgane betreffenden Fragen haben 
werden. 

Ich habe nur einige Beispiele kurz angeführt, wie wir uns auf so ver- 
schiedenen Wegen unsere heute bereits sehr reichen Kenntnisse über Bau und 
Leistung des Nervensystems verschaffen konnten. 

All diese zahlreichen Forschungsmethoden haben uns mancherlei be- 
deutsamen Aufschluß gebracht über das innere Getriebe in jener höchst 
merkwürdigen und feinst organisierten Maschine, die wir Nervensystem nennen; 
sie haben uns die Wege kennen gelehrt, auf denen die äußeren Sinnesreize 
den Zentralstätten des Gehirns zugeführt und auf denen anderseits die 
Willensimpulse zu den ausführenden Muskeln geleitet werden; sie haben 
uns auch aufgeklärt über mannigfache und verwickelte Beziehungen, die 
zwischen den Empfindungen des Sinneslebens und den willkürlichen und 
unwillkürlichen motorischen Betätigungen bestehen; die letzte und wohl 
auch interessanteste Frage nach den materiellen Grundlagen des Seelenlebens 
ist aber leider noch immer nicht in befriedigender Weise geklärt. 

Wir wissen allerdings ganz wohl, daß der Rinde des Großhirns bei den 
Bewußtseinsvorgängen eine hervorragende Rolle zukommt, daß sie nicht in 
größerer Ausdehnung geschädigt werden darf, ohne daß sich auf psychischem 
Gebiete Defekte zeigen. Es wäre aber ganz gefehlt, die einzelnen Abteilungen 
der Großhirnrinde zu bestimmten Seiten des rein psychischen Lebens in 
Beziehung bringen zu wollen, noch irriger wäre es, wie man auch schon ver- 
suchte, die einzelnen Vorstellungen an je eine Nervenzelle ketten zu wollen. 

Wenn irgend eine Muskelgruppe funktionell ausgeschaltet wird, wenn 
beispielsweise auf dem Gebiete des Gesichtssinnes eine Störung eintritt und 
wir eine Läsion der Gehirnrinde anzunehmen berechtigt sind, so sind wir fast 
immer in der Lage, genau den Ort anzugeben, an welchem diese Läsion zu 
suchen ist. Anders bei vielen psychischen Alterationen oder bei solchen 
motorischen oder sensiblen Erscheinungen, die wie etwa die hysterischen im 
Grunde auch nur als psychisch aufzufassen sind ; es ist dies jene Gruppe von 
krankhaften Symptomen, die man als »funktionelle« bezeichnet, womit man 

220 



zum Unterschiede von den »organisch bedingten« ausdrücken will, dafi ihnen 
eine mit unseren jetzigen Hilfsmitteln nachweisbare lokale Schädigung des 
Nervensystems nicht entspricht. 

Wir müssen daher gestehen, dafi uns heute noch für die Erscheinungen 
des gesunden wie des kranken Seelenlebens wohl eine physiologische, aber 
noch keine ausreichende anatomische Erklärung zu Gebote steht. 

Ja, ich mochte sogar behaupten, daß die Aussichten für eine baldige 
befriedigende Lösung dieser Fragen recht geringe sind und dafi von diesem 
Kapitel und nur von diesem einzigen die Siegel, die von den übrigen schon 
zum großen Teil gebrochen wurden, nicht so bald gelöst werden dürften. 




ot i 




Ein Blatt dankbarer Erinnerung. J| Von Engelbert 
Pernerstorfer. J| 

Wo man hinhört, vernimmt man heute wieder und wieder die stärksten 
Klagen über unsere Mittelschule, insbesondere Klagen über das Gym- 
nasium. Sie werden nicht nur von Eltern erhoben, auch diejenigen, 
die das Gymnasium verlassen, denken nicht gern an die in ihm verbrachte Zeit 
zurück. Es geht nicht an, alle diese Klagen als unberechtigt zu erklären, es 
gibt ohne Zweifel viele Mißstände, die dringend der Verbesserung harren. 

Wie kommt es, dafl so viele aus der älteren Generation nie mit Schrecken 
an ihre Gymnasialzeit zurückgedacht haben? Wie kommt es, dafl viele auch 
heute noch, nach ach so viel Jahren, vielmehr mit Lust und Wehmut an die 
Schulzeit sich zurückerinnern? 

Es ist nicht, wie man vielleicht annehmen konnte, das verklärende Jugend- 
gedenken, das auch die Gymnasialzeit mit einschließt, es sind vielmehr ganz 
positive, konkrete Tatsachen, die vor unserem geistigen Auge auftauchen 
und uns jene Zeit so schön und prächtig erscheinen lassen. Vor allem ist es 
das Bild unserer Lehrer, das uns wiederersteht und das unser Herz mit Ehr- 
furcht und Dankbarkeit erfüllt. Die meisten von ihnen sind tot, einige leben 

222 



noch in hohem Alter, aber fast alle haben sich unserer Erinnerung so stark 
eingeprägt, daß sie erst mit uns selbst verlöschen wird. 

Nun wäre es unwahr, ja heuchlerisch, wenn man etwa behaupten wollte, 
sie alle wären bedeutende Männer gewesen. Nein, sie waren in der Regel 
Menschen wie andere, mit manchen von uns Jungen nur zu deutlich ge- 
sehenen Schwächen und Unzulänglichkeiten. Aber sie waren fast alle Männer, 
die den Lehrberuf in sich hatten, für die der Unterricht junger Menschen- 
kinder eine Herzens- und Lebenssache war. Und das gab ihnen ihren be- 
sonderen Wert, ihren unverwischbaren Charakter, ihre starke Wirkung. Man 
kann wohl sagen, viele von ihnen hingen an uns jungen Leuten, freuten sich 
an unseren Fortschritten, bekümmerten sich ob unserer Faulheit. Sie waren 
nicht blofl amtliche Organe, die Fortgangsnoten verzeichnen, für die die 
Schüler nichts weiter sind als zu erledigende Aktenstücke, sie trauerten und 
freuten sich unsertwegen. Wir waren für sie nicht abgetan, wenn wir das 
Schulgebäude verließen, sie trugen Sorge, zu wissen, wie es uns auch sonst 
gehe, ob wir nicht auch noch anderer Hilfe bedürftig seien als bloß derer, 
die beim Unterricht gewährt werden konnte. Meine Professoren wußten, daß 
meine Mutter bitter arm war und sobald es anging, verhalfen sie mir zu 
einem bescheidenen Verdienste, schon von der dritten Klasse an. 

An ihre Liebe und Sorgfalt kann ich nur mit tiefster Rührung zurück- 
denken. Der Eindruck, den ich in diesem Sinne erfuhr, ist vielleicht deshalb 
so stark geworden und geblieben, weil er gleich von der ersten Klasse an 
sich geltend gemacht hat. 

Im Herbste des Jahres 1862, schon zwölf Jahre alt, kam ich in die erste 
Klasse. Das Schottengymnasium galt zu jener Zeit für das strengste und 
beste von den damals bestehenden vier Gymnasien Wiens. Ungefähr 120 
hatten die Aufnahmsprüfung bestanden. Sie alle waren in einer Klasse bei- 
sammen. Aber in unheimlicher Weise verringerte sich die große Zahl. Und 
wenn während der Unterrichtsstunde der Lateinprofessor zu einem Buben 
sagte: »Der Herr Vater soll am Sonntag zu mir kommen!«, so wußten wir, 
das war das Todesurteil. Am nächsten Montag war es gewöhnlich schon 
vollstreckt. Von Montag zu Montag schmolz der ungefüge Haufe. Nichts- 
destoweniger waren wir am Ende des ersten Semesters noch immer um 80 
herum. 

Die Entscheidung über Sein oder Nichtsein lag beim Klassenlehrer, 
der Latein und Deutsch unterrichtete. Und ihm, als einem Repräsentanten 
des Lehrertums, der meinem jungen Herzen so unendlich wohlgetan hat, ihm 
mochte ich dieses Erinnerungsblatt aut das Grab legen, in dem er wohl schon 
dreißig Jahre ruht. 

223 



Er hiefl Stephan Dachauer und war schon zu meiner Zeit ein alter 
Mann. Wenigstens wies sein weißlockiger Tituskopf darauf hin, wenn auch 
sonst seine kleine, etwas behäbige Korpulenz durchaus nicht seine Behendig- 
keit und Beweglichkeit hemmte. 

Er war ein Lehrer nach Gottes Herzen. Noch sehe ich ihn wie gestern 
vor mir, wenn er an einem heißen Sommertag irgend eine Schwierigkeit der 
lateinischen Grammatik erklärte. Wie lief er von Bank zu Bank, daß ihm 
die Schweißtropfen unaufhörlich übers Gesicht liefen, wie bemühte er sich, 
fast jedem einzelnen die Sache zu erklären, wie war er unerschöpflich in 
tausend Ubersetzungsbeispielen. Was er uns lehrte, das sollten wir ganz be- 
greifen und er war steinunglücklich, wenn's mit dem Verstehen haperte. Aber 
unermüdlich ließ er Beispiel auf Beispiel konstruieren und kam dabei in 
einen Eifer, der seine Persönlichkeit ausfüllte. An ihm konnte man ersehen, 
was es heißt, sich eine Aufgabe zu stellen. In diesen Stunden gab's für ihn 
nichts als die jeweilige kleine Aufgabe, in der ihm die Welt aufging. In ge- 
wissen Augenblicken stieg förmlich in ihm die Spannung auf den höchsten 
Punkt. Besonders als es im Unterricht zu schwereren Dingen kam, z. B. zur 
Anwendung des absoluten Ablativs, da durchbohrte sein Auge den Exa- 
minanden, wenn er ihm ein Übersetzungsbeispiel gab und mit einer Art 
fieberhafter Erregung erwartete er die Antwort. Und gelang sie, da ver- 
klärte sich dieses Auge, glitt formlich zärtlich über den Jungen und machte 
ihn stolz. Er war ein echter Lehrer, denn er verstand die Kunst, seine 
Schüler zu zwingen, die Sache zu verstehen, wenn nicht um ihrer selbst 
willen, so doch um ihm keinen Kummer zu machen. Wollt's aber einmal bei 
einem gar nicht gehen, so hatte seine Verzweiflung keine Grenzen. Aber 
er wurde lange, lange nicht ungeduldig. Er schob den Stein wieder und 
wieder. Er seufzte, er trommelte mit den Fingern auf den Tisch, er schickte 
mit dem Ausdruck des fassungslosen Entsetzens seine Blicke zur Decke, 
aber er ließ nicht nach, solange er noch die geringste Hoffnung hatte. 

Ich habe ihn als Menschen nicht weiter gekannt, aber in der Schule ist 
er mir Heb und wert geworden wie ein Vater. Daß ich's nur gestehe, der 
würdige Mann hatte auch mit mir seine schweren Sorgen. Das Latein, das 
mir späterhin keine sonderlichen Schwierigkeiten machte, es wollte mir an- 
fangs nicht in den Kopf. O diese Kompositionen! Professor Stephan (wir 
Schüler nannten die Professoren immer mit ihrem Klosternamen) hatte die 
Gewohnheit, die Fehler mit einem Rötel anzuzeichnen. Wie konnte eine 
solche Komposition mit den derben, dicken Rötelstrichen, denen man den 
Zorn und die Erbitterung des Autors förmlich ansah, aussehen 1 Meine erste 
Komposition war ganz besäet mit solchen Strichen und darunter stand 

224 



die ominöse Ziffer 9. Die Sache besserte sich zwar etwas, aber es ging nur 
langsam vorwärts. Und mit Zittern erwartete ich jede neue Komposition. 
Und daß er nicht die Geduld mit mir verlor, dafl er doch sah, daß ich lernte 
und gerne lernen wollte, daß er mir vertraute, das danke ich ihm heute noch 
mit heißem Danke. Hätte er mich vorzeitig zu den Toten geworfen, so wäre 
es mit dem Studium aus gewesen. Mein brennendster Wunsch wäre dahin 
gewesen. 

So war das erste Semester zu Ende gegangen und nach der damaligen 
Sitte der Lokation war ich ungefähr in der Mitte der ganzen Gesellschaft. 
Kein überaus ehrenvoller Platz! Da kam dann ein Tag, der mir unvergeßlich 
bleiben wird. Es war einer jener gefürchteten Tage, an dem die vom Pro- 
fessor ausgebesserten und zensurierten Kompositionen zurückgegeben wurden. 
Sie wurden ausgeteilt und jeder öffnete das Heft mit Zittern und -Zagen. 
Und als auch ich es tat, da flimmerten mir die Augen. Nur Weiß und Schwarz 
leuchtete mir entgegen und unter der Arbeit war der einzige rote Fleck auf 
der ganzen Seite und dieser Fleck stellte eine kräftige Null darl Daß ich 
etwa hätte abschreiben können, war ganz ausgeschlossen. Vor mir, neben 
mir, hinter mir, alles brannte im höllischen Feuerrot. Nur ich war ein weißer 
Engel. Wenn einem durch 45 Jahre ein solcher Tag unvergeßlich bleibt, 
so hat er eine Bedeutung fürs Leben gehabt. Und so war es. Er hatte diese 
Bedeutung nicht durch die Tatsache einer fehlerlosen Arbeit, sondern durch 
den tiefen Eindruck, den das Benehmen meines Lehrers auf mich machte. 
Er legte seine Augen mit solcher Liebe auf mich, als hätte ich etwas Besonderes, 
heiligmäßig Gutes getan, er machte mich selbstbewußt und mein kleines 
Bubenherz flog dem alten Manne mit tiefster Ergebenheit, mit heiligster 
Liebe zu. 

Und von da war seine Zuneigung zu mir unwandelbar. Er hielt etwas 
auf mich. Er stützte mich, wenn ich wieder strauchelte, was ja auch nicht 
ausblieb, aber er wußte, jetzt werde es gehen. Und es ging. Zwei Jahre lang 
war er unser Lehrer in Latein und Deutsch. Ich verdanke ihm, das Lernen 
gelernt zu haben. Und das ist das beste, was man einem Lehrer nach- 
sagen kann. 

Gesegnet sei sein Andenken, wie das Andenken aller jener meiner 
Lehrer am Schottengymnasium, die mir viel persönliche Liebe entgegen- 
gebracht und mich auf alle Weise gefördert haben. Sie waren streng 
mit uns. Sie haben uns nicht verweichlicht. Und wenn ihre Forderungen 
vielleicht manchesmal hart gewesen sind, ich und kein Verständiger trägt es 
ihnen nach. Schließlich soll nur derjenige sich dem Studium widmen, dessen 
geistige Beschaffenheit ihn befähigt, größere Anstrengungen zu ertragen und 

225 15 



ihnen zu entsprechen. Man wird auch einen körperlich schwachen Menschen 
nicht gerade zum physischen Athleten für geeignet halten. 

Wie lieb mir die Schule war, dafür habe ich eine untrügliche Erinne- 
rung. Wir hatten die Monate August und September Ferien. Natürlich 
freuten wir uns unbändig auf sie und wir wären keine normalen Buben 
gewesen, wenn uns die Aussicht auf wochenlange Ungebundenheit nicht 
elektrisiert hätte. Diese Ferien wurden auch in vollen Zügen von uns armen 
Jungen genossen, denen keine Sommerfrische winkte und die auch die 
Sommerzeit in Wien verbringen mußten. Aber der damals noch unermeß- 
liche Prater mit seinen Auen und der Kahlenberg und der Kobenzl, das 
waren weite Gebiete und sie wurden von Wien aus zu Fuß durchstreift. Da 
waren keine Verkehrsmittel wie heute, und wären sie dagewesen, sie hätten 
unser Budget überschritten. Da waren, wenn der Sinn nicht so ins weite 
ging, zur traulichen Lektüre der Augarten, zum fröhlichen Spiele der Liechten- 
steingarten. Es war schon und lustig in den Ferien. Wenn aber die zweite 
Hälfte des September nahte, da kam auch die Sehnsucht nach der Schule 
und es war ein herrlicher Tag, an dem man die neuen Bücher kaufte. 

Nun ging's wieder mit frohem Mute ins Schulleben, mit all seiner Freude, 
wohl auch mit manchem Leide. 

Indem ich diese schlichten Zeilen niederschreibe, muß ich lächeln. Das 
Komitee für die Jubiläumsfeier setzte den letzten Termin zur Einsendung 
der Beiträge für die Festschrift auf den 15. April. In letzter Stunde schreibe 
ich meinen mitten im Trubel der Wahlbewegung auf der Reise. So haben's 
ja die meisten von uns mit den schriftlichen Arbeiten gemacht. Geschrieben 
wurden sie gewöhnlich in den letzten Stunden, wenn bereits die Zeit drängte. 
Sie waren doch nicht selten recht gut. Und ich werde auch diese Zeilen für 
gut halten, wenn sie dem Leser eine fröhlich-sanfte Erinnerung erwecken oder 
als ein wenn auch schwaches Zeichen der dankbaren Erinnerung erscheinen. 

Warnsdorf, 12. April 1907. 




226 



traf 



OCTRVIflNU 



fluqusrus 




Zur Frage nach der Einheit des römischen Reiches. 9t 
Von Ivo Pfaff. ft 



Die sogenannte Kaiserherrschaft in Rom krankte von vornherein an dem 
Mangel einer wahren Rechtsbasis; durch Gewalt und List begründet, 
konnte das Imperatorentum den Charakter der Usurpation niemals ganz 
abstreifen. Darin rächte sich nicht nur das ursprüngliche Unrecht, sondern 
noch mehr die Unwahrheit, mit der sich die Alleinherrschaft hinter der Mas- 
kerade republikanischer Formen im Anfange geborgen hatte;*) dadurch wurde 
es ihr unmöglich, eine neue feste Verfassung und damit einen sicheren Boden 
zu gewinnen. Die Herrscher hatten keinen Rechtstitel, an den sie selbst und 



•) Wenn E. Meyer in Sybels »Histor. Zeitschrift«, Neue Folge, Bd. 55, S. 385 ff., in ein- 
seitiger Betonung der anfänglich gesteigerten Macht des Senates beweisen will, daß Augustns nicht 
an Cäsar, sondern an Sulla und Pompejns anknüpfen wollte, so ist dies meines Erachtens nicht richtig. 
Siehe dawider auch die Ausführungen von Gardthausen »Augustus und seine Zeit«, I. Teil, 3. Bd., 
S. 1273 u. 1335 ff. Die ganze Ämterkumulierung und die Art, wie der schlaue Augustus dies inszenierte, 
spricht dagegen, daß er nur die Republik auf eine neue Grundlage stellen wollte. Daß Augustus, 
der die Volksversammlung selbstredend zu beseitigen trachtete, den Senat, den er als Zensor beliebig 
zusammensetzen konnte, eine reichere Tätigkeit entfalten ließ, erklärt sich eben gerade aus dem 
heuchlerischen Spiel mit republikanischen Formen, die man als Imperator und Zensor zu bloßen 
Formen degradieren konnte, was ja auch in nachaugustischer Zeit reichlich geschah. 

Wahr ist aber, daß Augustus die XII Tafeln und das nationale jus sacrum wieder als Grundlage 
des romischen Rechtes betonte, um dadurch »die auflösenden Tendenzen der untergehenden Republik 
zu paralysieren«. Er fühlte eben, als ein großer Staatsmann, daß ein national-römisches Recht und 
eine intensive Pflege des Religionswesens dem Staate gerade bei dieser Veränderung in der Leitung 
not tue. (Über das Religionswesen dieser Zeit siehe insbesondere Boissier »La religion romaine 
d' Auguste aux Antonius«.) 



227 



15* 



an den die Untertanen hätten glauben können.*) Das Bewußtsein immer- 
währender Lebensgefahr versetzte die Cäsaren in eine Kriegsstimmung gegen- 
über der ganzen Welt**) Über die Nachfolge auf dem Throne entscheidet 
der Zufall; niemand vermag hier eine feste Voraussage zu machen. 

Das ist der tiefe Gegensatz zwischen dem Imperatorentum einerseits und 
dem Königtum so vieler asiatischer und germanischer Stämme anderseits. 
Hier glauben Herrscher und Beherrschte an die göttliche Weihe der obersten 
politischen Gewalt, während in Rom diese mehr einen faktischen als recht- 
lichen Charakter an sich trug. Und doch strebt jede Alleinherrschaft nach 
Kontinuität. Dies ist so sehr wahr, daß zu einer Zeit, wo das Cäsarentum noch 
sehr weit von einer Erbmonarchie entfernt war, wo die Kaiser bald vom 
Senat, bald von Prätorianern, bald von den Truppen in den Grenzlagern er- 
nannt wurden, viele Imperatoren durch Adoption ihren Nachfolger designierten. 
Dieser hoffte daraus einen Rechtstitel ableiten zu können, während der Adop- 
tierende sich gegen Mordanschläge gesicherter glaubte, wenn für den Fall 
seines Ablebens ein Nachfolger schon in Bereitschaft wäre. Oft wurde schon 
bei voller Regierungsfahigkeit des Imperators ein Mitregent angenommen.***) 
Wie schwer es übrigens für einen Mann war, den orbis romanus in Gehorsam 
zu erhalten, zeigt die Tatsache, daß immer häufiger in den entlegeneren 
Provinzen Gegenkaiser ausgerufen wurden und sich längere Zeit behaupteten. 
Den Höhepunkt erreichte dieser Zustand in der Zeit zwischen Severus 
Alexander und Domitius Aurelianus. Nicht lange nach dessen Tod versuchte 
Carus seinen beiden Söhnen die Thronfolge zuzuwenden; aber alle drei wurden 
bald nacheinander ermordet und der Gardeoberst Diocletian ward zu Chalcedon 
zum Kaiser ausgerufen (284). Dieser erhob, um Palast- und Lagerver- 
schwörungen zu erschweren und zugleich die Arbeit der Verwaltung zu er- 
leichtern, ja erst wahrhaft zu ermöglichen, seinen Kriegsgenossen Maximianus zum 
Mitkaiser (Augustus) und zwei designierte Nachfolger zu Nebenkaisern (Caesares). 

Es ist kein Zufall, daß dies mit der Einführung einer ganz unver- 
schleierten Despotie zeitlich zusammentrifft; denn Diocletian befolgte hierin, 



*) Gerade die besten anter den Kaisern mußten darunter innerlich leiden, wahrend die 
schlechteren sich als Gewaltherrscher fühlten und nach einem Rechte gar nicht fragten. 

**) Bezeichnend ist eine Äußerung des Septimius Severus. Als sein besiegter Gegenkaiser Albinos 
an seine Großmut appellierte und dabei auf den Wechsel des Glückes hinwies, ihn daran erinnernd, 
wie leicht Severus jetzt in der gleichen Lage sich befinden könnte, da antwortet dieser hart: »dann 
würde ich mich gefaßt in das Schicksal ergeben, das dir jetzt bevorstehtc und ließ den Gegner hin- 
richten. Wohl bemerkt: Severus gab gar nicht vor, ein besseres Recht zu haben als sein Gegner. 
Also nicht Recht und Unrecht, sondern ein wildes Glückspiel; wer es verliert, muß es bezahlen. 
***) Gründe hiefür: bald um der Ungeduld desjenigen, der Mitregent werden wollte, entgegen- 
zukommen, bald weil ein solches Vorgehen die Situation beider gesicherter erscheinen ließ; bald weil 
die ungeheure Ausdehnung des Römerreiches eine Teilung der Arbeit notwendig machte. 

228 



wie in dem gesteigerten Zeremoniell, das Beispiel der neupersischen Macht- 
haber. Ihm war die verlogene Gaukelei mit republikanischen Einrichtungen 
zuwider und so stellte er die absolute Herrschaft offen als solche hin. Durch 
die Mehrheit von Herrschern sollte der Absolutismus nicht etwa eingeschränkt, 
sondern im Gegenteil gefestigt werden; vom Willen des Hauptkaisers war 
die Nachfolge ganz und gar abhängig. 

Durch diese Bestimmungen Diocletians war endlich eine feste Ordnung für 
die Herrschaft geschaffen worden und Diocletian, der sich bewußt war, jedes 
Opfer für das Reich darbringen zu wollen, brauchte über die Willkürlichkeit 
seiner Neuerung sich keine Skrupel zu machen. Allein dieselbe litt an dem 
einen großen Fehler, daß Diocletian bei seinen Nachfolgern Charaktereigen- 
schaften voraussetze, die zwar ihn selbst auszeichneten, die aber äußert selten 
sind, nämlich Selbstbeherrschung und Entsagungsfahigkeit. Er legte nach zwanzig 
Jahren die oberste Macht nieder und zwang seinen Genossen das Gleiche zu tun ; 
die Caesares rückten zu Augusti vor und der Ranghöhere von ihnen, Galerius, 
den Diocletian übrigens adoptiert hatte, nahm selbst wieder Caesares an. 

Bald darauf hatte das Reich sechs Kaiser, deren einer — Constantinus 
— die übrigen aus dem Wege räumte und sich wieder zum Monarchen im 
vollsten Sinne des Wortes machte. Er vollendete die orientalische Despotie, 
begünstigte die neue Hauptstadt im Orient, die ganz gleiche Rechte mit Rom 
erhielt. Diese zwei gleichgestellten Hauptstädte sollten aber die Einheit des 
Reiches so wenig aufheben als die beibehaltene Einteilung desselben in vier 
Präfekturen*); noch weniger konnten die zahlreichen Residenzstädte jetzt und 
in der Folge diese Bedeutung haben**); denn es erschien immer als etwas 
Zufälliges, wo ein Kaiser seinen Sitz nahm, zumal wenn er denselben wechselte. 
Es dürfen also Mailand, Trier, Ravenna, Paris, Nikomedien u. s. w. nicht 
neben Rom und Konstantinopel gestellt werden. 

Constantin wollte, daß nach seinem Tode das Reich unter fünf Kaiser 
(seine 3 Söhne und 2 Neffen) geteilt werde; sein grausamer und mißtrauischer 
Sohn Constantius ließ aber die meisten in Constantinopel anwesenden männ- 
lichen Verwandten ermorden und auch die Brüder verstanden es nicht, ein- 
trächtig zu regieren. Constantinus wurde ermordet, als er seinem Bruder 
Constans ein Stück seines Anteils zu entreißen versuchte. Gegen Constans 
standen zwei Gegenkaiser auf; er mußte flüchten und wurde getötet. Glück- 
licher war Constantius, der beide Gegner besiegte; zugleich erhob er seinen 
Vetter Gallus zum Caesar und übertrug ihm die Verwaltimg des Morgen- 

*) Vgl. Mommsen Inschrift r. Hissarlik in Hermes, Bd. 17, S. 529 ff. Auch das offizielle 
Verzeichnis der Staatsämter, die notitia dignitatnm . . . in partibus orientis .... in partibus 
ocddentis wird mit Recht für die hier rertretene Anschauung angeführt 

**) Siehe Burchhardt, »Die Zeit Constantin des Großen«, 2. Absch., S. $6 fg. 

229 



landes; einen andern Vetter, Julianus, betraute er mit der Verwaltung des 
Abendlandes. Dieser wurde sein Nachfolger (361 — 363). 

Auf Julian folgte Jovianus, der jedoch nur bis 364 regierte. Zu dessen 
Nachfolger wurde Valentinian I. gewählt. Dieser überließ seinem Bruder 
Valens den Osten; gegenüber den von allen Seiten anstürmenden Barbaren 
war nämlich ein geteiltes Kommando unerläßlich. Deshalb nahm Valentinians 
Sohn Gratian, nach dem tragischen Untergang seines Oheims Valens (378), 
den tapferen Spanier Theodosius I. zum Mitregenten für den Osten an (379), 
während im Westen sein unmündiger Bruder Valentinian II. nominell sein 
Mitkaiser war. Gratian, der in Trier residierte, machte sich durch Bevorzugung 
der Franken verhaßt und wurde in Lyon 383 ermordet. Für den unmündigen 
Valentinian IL herrschte faktisch die Mutter Justina und mehr noch der 
Franke Arbogast; als der junge Kaiser sich von diesem befreien wollte, 
wurde er ermordet und ein gewisser Eugenius auf den Thron erhoben. 
Theodosius besiegte diesen jedoch, starb aber bald darauf (395). Als er seinem 
achtjährigen Sohn Arkadius den Osten, dem elfjährigen Honorius den Westen 
zuwies, befand er sich ganz auf dem Standpunkte Diocletians; eine Spaltung 
des romischen Reiches in zwei selbständige Reiche lag gewiß nicht in seiner 
Absicht*). Nach wie vor wurden die Gesetze gemeinsam ausgefertigt**), nach 
den beiden Konsuln, von denen einer vom Regenten des Ostens, der andere 
von dem des Westens ernannt wird, erfolgt die Datierung im ganzen Reiche, 
so daß die beginnende Entfremdung der Reichshälften als etwas lediglich 
Faktisches, rechtlich nicht Anerkanntes bezeichnet werden muß. Man konnte 
diesen Zustand das Widerspiel zu einer Personalunion nennen. Während bei 
dieser zwei Reiche einen und denselben Herrscher haben, hatte das eine 
romische Reich zwei Hauptstädte und zwei Kaiser. 

Dem Arkadius wurde im Jahre 401 ein Sohn geboren, der bei der feier- 
lichen Taufe den Namen Theodosius erhielt***) und der schon im folgenden 



•) Vgl. Becker, »Weltgeschichte«, 8. Aufl., Bd. 4, S. 171 fg. Herzberg in Oncken, S. 834. 
Bei Esmarch, R. R. G., 2. Aufl., S. 393, findet sich dagegen folgende Auffassung vertreten: »Nach- 
dem noch einmal der große Theodosius (379—395) das Ganze mit starker Hand zusammengefaßt hatte, 
werden durch seine Veranstaltung seine Söhne selbständige Beherrscher zweier getrennter 
Reiche, von denen jedes fortan seine eigenen Wege ging.« Auch Voigt, R. R. G., in., nimmt seit dem 
Jahre 395 eine dauernde Trennung der Reichshälften an, ohne das rein Faktische, nicht Rechtliche 
dieses Zustandes hervorzuheben. Daher ist es nötig, vom Rechtsstandpunkt aus zu betonen, daß an 
der Einheit des Reiches festgehalten wurde und daß die diversen Teilungen hieran nichts geändert 
haben. Siehe auch Mommsen Abriß des Staatsrechtes, S. 354, und Bruns-Lenal »Geschichte und 
Quellen des röm. Rechts« in Hol tzendor ff- Kohler Enzyklopädie«, § 57, S. 143 u. 148. 

**) Eine ganze Reihe solcher Fälle findet sich verzeichnet bei Mommsen Inschr. v. Hissarlik 
Hermes, Bd. 17, S. 529 ff. 

***) Güldenpennig, »Gesch. des oström. Reiches unter den Kaisern Arkadius und Theodosius IL«, 
S. 136 ff. 

230 



Jahre zum Mitkaiser erhoben wurde*). Beim # Tode des Arkadius war 
Theodosius II. erst sieben Jahre alt und hatte, da auch die Mutter bereits 
verstorben war, seine älteste Schwester Pulcheria, selbst kaum dem Kindes- 
alter entwachsen, einen maßgebenden Einfluß auf die Geschicke des Ostens.**) 
Wohl war sich Honorius seiner Pflicht bewußt, für die Kinder seines 
Bruders und für die Sicherheit des Reiches zu sorgen, aber die unruhigen 
Verhältnisse im Westen vereitelten alle Vorsätze des schwachen Mannes***). 
Als er 423 starb, hatte sein sechsjähriger Schwestersohn Valentinian III. den 
nächsten Anspruch zur Thronfolge. Theodosius wollte nun die Verhältnisse 
in Italien persönlich ordnen, wurde aber angeblich durch Krankheit in 
Thessalonich zur Rückkehr gezwungen. Sein Kanzler Helio brachte die Ab- 
zeichen der kaiserlichen Würde nach Rom und nahm daselbst am 23. Ok- 
tober 425 die feierliche Inthronisation Valentinians III. vor. Eindringlicher 
konnte der Gedanke der Reichseinheit wohl nicht zum Ausdrucke gebracht 
werden, als indem der Regent des Westens von dem in Constantinopel 
residierenden Kaiser eingesetzt und mit dem Diadem gleichsam belehnt wurde. 

IL 

Darüber, wer unter den Mitkaisern der Erste, das Haupt, sei, entschied 
kein fester Grundsatz, außer etwa der Wille des Vorgängers; namentlich 
darf man sich die Stellung nicht als von vornherein an eine der beiden 
Hauptstädte verfassungsmäßig gebunden denken. 

Auch hierin vollzog sich die Ausgestaltung via facti. 

Diocletian residierte meist in Nikomedien (Bithynien); seine Nachfolger 
Galerius, Constantin teils dort, teils an anderen Orten der östlichen Hälfte, 
was das Übergewicht dieser über den Westen verstärkte. Dieses war aber 
in der höheren Bildung und dem größeren Wohlstand und, seit der großen 
Wendung durch Constantin, auch in der vollständigen Christianisierung des 
Ostens begründet. Durch lange Zeit also hatte man sich gewöhnt, den Schwer- 
punkt des Reiches im Osten zu suchen. Eine vorübergehende Verschiebung 
der Verhältnisse fand statt, als beim Tode des Arkadius seine Kinder 
Theodosius II. und Pulcheria im zartesten Alter standen, während sein Bruder 
Honorius im Westen herrschte. Jetzt freilich hätte es natürlicher scheinen 
müssen, in diesem das schützende Haupt zu erblicken. Aber seine persön- 
lichen Eigenschaften waren nicht darnach und der Westen hatte, wie gesagt, 
eine Art Zurücksetzung erfahren. 

*) Güldenpennig, »Gesch. des oström. Reiches unter den Kaisern Arkadius und Theodosius II«, 
S. 198. 

**) Ebenderselbe, a. a. O., S. 192 ff. und auch Gregorovius, «Athenais«, S. 40 ff. 
***) Gregororius, »Athenais«, S. 13. 

231 



Trotz seines kindlichen Alters wird Theodosius II. mit seinem Oheim 
zusammen als Konsul genannt; die Gesetze wurden in beider Namen erlassen; 
ja als Honorius dem ausgezeichneten Feldherrn Constantius seine Schwester 
Placidia zur Gemahlin gab und ihn zum Mitkaiser ernannte, verweigerte 
diesem der damals zwanzigjährige Theodosius geradezu die Anerkennung. 
In dieser Zeit, wo die politischen Verhältnisse und die persönlichen Eigen- 
schaften es unmöglich machten, daß Honorius oder Theodosius eine ent- 
schiedene Oberherrschaft ausgeübt hätten, erweiterte sich der Riß, der das 
Römerreich in zwei Hälften teilte; aber gleichwohl wurde der juristische 
Gedanke der Reichseinheit festgehalten und von Theodosius H. auch sogleich 
praktisch betont, als mit dem Tode seines Oheims Honorius sich die Lage 
der Dinge änderte. Gegenüber dem unmündigen Valentinian HI. fühlte er 
sich als das schützende Oberhaupt und der Westen erkannte ihn auch als 
solches an. 




232 




Schule, Amt und Leben. J| Von Alexander Poppoviö. 

Nun sind es also wieder ein paar Jahre her, seit unser Jahrgang die 
Vierteljahrhundertfeier seiner Maturitätsprüfung beging. Ich denke 
gerne an diese Feier, es ist eine echte Schottenerinnerung, voll von 
Herzlichkeit und Wärme. Aber Zeit und Leben gingen unaufhaltsam darüber 
hinweg,, wie sie dereinst auch über die acht Jahre Gymnasium hinweg- 
gegangen waren. 

Wir waren »reif« erklärt worden für das akademische Studium — wieder 
ein hochbedeutsamer Lebensabschnitt, der damit für jeden einzelnen von uns 
begann, Abschluß und Krönung des Gebäudes unserer Geistesbildung und 
zugleich eine Überleitung zum künftigen praktischen Leben. Bei aller Dank- 
barkeit für das Viele und Große, das die Alma Mater uns gegeben, bei 



*33 



aller Ehrfurcht vor dem Adel, den jede — auch die vorübergehendste — 
Berührung mit der Wissenschaft auf unser Denken und Fühlen ausströmen 
muß — die Ehrlichkeit zwingt mich, zu bekennen: eine derart in das innerste 
Leben der Persönlichkeit hinabreichende, ihr Eigenstes umgestaltende Macht 
ist den Universitätsjahren in meiner Erinnerung nicht eigen wie der Gymnasial- 
zeit. Vielleicht liegen dem vor allem individuelle Einflüsse, innere und 
äußere, zu gründe. Ganz sicher ist es ja auch, daß im allgemeinen jenes 
eigentliche Studentenwesen als ein alle Verhältnisse und Empfindungen des 
Jünglings durchdringendes und bestimmendes, seinem Leben Richtung und 
Farbe gebendes Element draußen in den kleinen Universitätsstädten, die im 
Kerne nichts als Universitätsstädte sind, tiefere Wurzel schlägt, besser gedeiht 
und sich kräftiger entwickelt als an der großen Universität der Weltstadt 
mit ihren Tausenden von Hörern, meist ohne individuelles Verhältnis zwischen 
Lehrer und Schüler, mit ihrer Art von wissenschaftlichem Fabriksbetrieb im 
großen. Nur zu leicht geht da auch jene eigentlich wissenschaftliche Arbeit, 
die nur hier gelernt und geübt werden kann, im geistlos-schablonenhaften 
Brot- und Fachstudium — mit anderen Worten in einer auf möglichst kurze 
Zeit zusammengedrängten »Büffelei« als Vorbereitung auf die systemisierten 
Prüfungen auf — und ganz besonders den Juristen, die eine möglichst 
rasche Versorgung im Staatsdienst oder an sonst einer Stelle im öffentlichen 
Leben anstreben, droht diese Gefahr. Ich schmeichle mir, ihr für meine 
Person nicht ganz zum Opfer gefallen zu sein. Ich habe, von allem positiven 
Wissensstoff abgesehen, mit Ehrfurcht in der Seele den Begriff strenger 
Wissenschaft — den früher nur geahnten, klar erfassen gelernt; ich habe 
den lebendigen Reiz, den als ein gewaltiger Organismus lebendiger 
Entwicklung das anscheinend trockene Material von Rechts- und Staatslehre 
zu üben vermag, wenn es nur in die rechten gestaltenden Hände kommt, 
freudig in mir verspürt, aus Büchern wirkend und mit verdoppeltem Leben 
aus dem Munde einzelner mächtiger Persönlichkeiten. Nebenbei machte ich 
von der Lehr- und Lernfreiheit ausgiebigen Gebrauch, indem ich auch 
außerhalb des Fakultätsverbandes in verlockenden Kollegien, philosophischen, 
historischen und namentlich literarhistorischen, hospitierte. In all dem, ganz 
besonders aber in dem, was ich außerhalb der Hörsäle, aus Büchern und 
anderswo, mir an Bildungselementen und Anregungen holte, war kaum 
noch die leiseste Vorandeutung für die Art, wie sich die Arbeit meines 
Lebens künftighin gestalten sollte, dagegen sehr kräftig ausgeprägt und 
ungestört weiterwirkend die vorwiegend ästhetische Tradition, wie sie 
sich im Gymnasium als die meine Geistesrichtung beherrschende aus- 
gebildet hatte. 

234 



Und eines schonen Tages war ich Doctor juris und sehr froh, bei dem 
großen Zudrange eben absolvierter Rechtshörer als unbesoldeter Rechts- 
praktikant beim Wiener Landesgerichte untergekommen zu sein. Meine 
Tätigkeit bestand nun hauptsachlich darin, daß ich Vorladungsformularien 
ausfüllte und Vernehmungsprotokolle, die der Untersuchungsrichter mir 
diktierte, als der ihm zugewiesene »Schriftführer« niederschrieb und mitunter- 
fertigte. Aus den Himmeln der Wissenschaftlichkeit, in denen bis vor kurzem 
mein Aufenthalt gewesen, ein ziemlich tiefer Sturz .... 

Seitdem ist nun schon wieder fast ein Vierteljahrhundert vorüber. Ich 
bin, vom Justizdienst bald in die Verwaltung übergegangen, nun immerhin 
einigermaßen über das Diktandoschreiben hinaus. Auch der innere Mensch 
hat sich, glaube ich, einigermaßen in mir gefestigt, gemessen an dem 
Gärungszustand, in dem sich der Abiturient, der Student, der Praktikant 

— für meine Erinnerung ziemlich schwer unterscheidbare Übergangsstadien 

— befanden. Wenn ich die Elemente auseinandersuche, aus denen sich dies 
nun leidlich ausgegorene heutige Ich zusammensetzt, so finde ich nur einige 
wenige, die ganz oder größtenteils in der Zeit nach Vollendung der Studien 
als Nova dazutreten, in der Zeit vorher kaum, gar nicht oder andeutungs- 
weise für mich vorhanden waren. Neu war für mich das große und wichtige 
Lebenselement, das man »Gesellschaft« nennt. Man soll die entwicklungs- 
geschichtliche Bedeutung des reicheren geselligen Verkehres, der nicht nur 
Schliff der äußeren Formen zu Zweck und Folge hat, sondern, in richtigen 
Grenzen gehalten, auch auf eine vielseitigere, kräftigere und zugleich 
verfeinerte Entfaltung des inneren Menschen hinwirkt, nicht unterschätzen. 
Noch später führte mich mein Weg zum ersten Male nach Italien. Mit 
Italien trat eine neue Welt von Vorstellungen und damit, daß es Vorstellungen 
reinster Schönheit waren, Genüssen in mein Leben. Während bis dahin mein 
Interesse am Künstlerischen durch Poesie und Musik so gut wie ausgefüllt 
gewesen, begann von da an auch die bildende Kunst etwas personlich 
Erlebtes für mich zu werden. Dann überhaupt: die Freude am Reisen als 
dem fröhlichen Weg zu allem Natur- und Kulturreichtum der Welt, von der 
ich seit dem ersten Versuch immer energischer besessen war, und die Lust 
am Studium und an der Pflege fremder lebender Sprachen, die ich teils 
als notwendige Voraussetzung zu wahrhaftem Reisegenuß, teils als einen 
Selbstzweck von unvergleichlicher Bedeutung für die Geistesbildung im 
großen erkannte, sie schließen in meiner Erinnerung die Reihe der im 
wesentlichen nachgymnasialen Faktoren meines geistigen Werdens. 

Mich lockt nun die Frage: was von dem, wie viel von dem, was ich 
heute etwa bin, stammt in gerader Linie vom Gymnasium her, könnte nicht 

*3S 



sein, ohne daß ich die acht Jahre des Gymnasiums und speziell des 
Gymnasiums zu den Schotten in Wien, auf mich hätte wirken lassen? Hiebei 
muß von dem unerforschlich kleinen und doch alles umfassenden Dinge, der 
Urzelle begrenzten Seins, die man Individuum nennt, folgerichtig abgesehen 
werden, muß auch fuglich bei Seite gelassen werden, was — ganz 
unvermeidlich auf dem Urgründe der Gymnasialbildung weiterbauend — 
doch ganz spezifische Universitätsbildung ist. Über die Bedeutung des 
juristischen Fachstudiums für den praktischen Juristen, entferne ihn die Praxis 
seines Alltagsgeschäftes auch noch so weit von den Höhen und Tiefen der 
rechts- und staatswissenschaftlichen Doktrin, darüber ist hier mit keinem 
Worte zu reden. Ich will vom Gymnasium sprechen — von seiner Nach- 
wirkung in Amt und Leben. Da sei es gleich von allem Anfange an 
festgestellt, daß ich nicht im mindesten die Absicht habe, als unbedingter 
Lobredner des Bestehenden etwa auch die gegenwärtige Ordnung und den 
Betrieb der Studien als ein »Noli me tangere«, das über Kritik und Besserung 
erhaben ist, hinzustellen. Weder berufen fühle ich mich, noch geneigt, diese 
undankbare Aufgabe zu übernehmen. Im Gegenteile: Vieles hat mir sehr 
eingeleuchtet und sein Echo in meinen eigenen Erfahrungen gefunden, was 
man immer wieder an* scharfer Kritik über die bestehenden Gymnasial- 
einrichtungen hören kann. So habe ich z. B. oft mit einer Art Beschämimg 
empfunden, daß uns die Schule mit den Dingen der umgebenden Natur zu 
wenig vertraut machte, um in Wald und Flur, Feld und Garten Bäume und 
Sträucher der gewöhnlichsten Arten mit annähernder Sicherheit unterscheiden, 
nennen, geschweige denn sie anderen beschreiben zu können. Und wenn der 
naturgeschichtliche Unterricht — zu meiner Zeit wenigstens — noch lange 
nicht auf der Höhe unseres naturwissenschaftlich-technischen Zeitalters stand, 
so scheint es nach allem fast wie eine Art Naturgesetz, daß der welthistorische 
in unseren" Schulen immer so etwas wie ein halbes Jahrhundert hinter der 
Zeit zurück sei. Wir wenigstens — und mir scheint wohl auch, den 
unmittelbar der unseren folgenden Generationen ging es damit nicht viel 
anders — wir haben in bedeutend eingehenderer Weise von den Schicksalen 
der alten Phönizier erfahren als von den die unmittelbare Gegenwart 
gestaltenden Weltereignissen der letzten Dezennien. Mit dieser Scheu vor dem 
Fertigwerden mit dem Kapitel: »Neueste Geschichte« — die ja, ich verkenne 
es nicht, auch tiefere Ursachen haben mag — hängt auch eine Lücke in der 
Gymnasialbildung zusammen, die besonders dem nachmaligen Juristen fühlbar 
wird. Wissenschaften der aller verschiedensten Art, denen der als »reif« 
entlassene Abiturient sich zuwendet, finden einen durch die Mittelschule wohl 
bereiteten Boden, es finden sich Keime darein versenkt, die in der akademisch 

236 



ernsten Behandlung nur zur rechten Bedeutung aufzugehen brauchen. Die 
Juristerei — so recht die Wissenschaft des für alle Menschen bedeutungs- 
vollen Tageslebens inmitten der staatlich organisierten Gemeinschaft — sie 
allein findet nichts dergleichen vor, nicht den leisesten Schatten eines 
Verständnisses für die rechtlichen Grundgedanken der Menschheitsentwicklung 
und — was fast noch befremdlicher — für die ökonomischen. Vielleicht 
ließe sich auch dem leicht abhelfen, wenn — was ja oft gefordert wurde — 
beim Geschichtsunterrichte weniger Nachdruck auf Schlachten und Jahres- 
zahlen gelegt würde, dagegen mehr auf die schrittweise fortschreitende 
Kulturentwicklung in Staat, Gesellschaft und Familie, wobei dem Recht und 
der Wirtschaft maßgebende Rollen zugewiesen sind. Und nur noch einer 
Lücke im Erziehungsplan, deren Vorhandensein ich in späterer Zeit oft 
peinlich empfunden habe, sei gedacht: der viel zu geringen Pflege der 
Redekunst an unseren Gymnasien — ja, man könnte wohl sagen: ihres 
Garnichtvorhandenseins, vergleicht man damit die mit allem Recht so hoch 
entwickelte Pflege, die die Kunst schriftlichen Ausdruckes findet — 
unentbehrlich für jeden, am unentbehrlichsten für denjenigen, der gleich dem 
Beamten täglich von amtswegen zu stilisieren, zu »formulieren« hat — , 
bedenkt man anderseits die immer fortschreitenden Ansprüche, welche in 
bezug auf die Beherrschung des frei gesprochenen Wortes das immer mehr 
in die Öffentlichkeit dringende Leben an den praktischen Juristen, den 
Advokaten oder Parlamentarier nicht nur, sondern ganz ebenso auch an den 
richterlichen oder administrativen Beamten stellt. Freilich, mit all dem wären 
wieder Mehrforderungen an Zeit und Lernkraft unserer Schüler aufs Programm 
gesetzt, von deren Abhilfe heischender »Überbürdung« so viel gesprochen 
wird. Wie dafür Raum schaffen? ist eine schwer zu beantwortende Frage. 
»Man werfe die altklassischen Sprachen oder wenigstens das Griechische 
dafür über Bord.« Dieser rasch gegebenen Antwort werde ich mich wohl 
hüten, zuzustimmen. Ich werde mich auch hüten, mich in das Gestrüpp der 
Pros und Kontras dieser zu den allerstrittigsten gehörigen Tagesfrage 
einzulassen. Meine pro domo gebildete unmaßgebliche Privatmeinung 
auszusprechen scheue ich mich aber nicht: es ist ja gewiß kein unumstöß- 
liches Axiom, daß das Griechische und in seiner Gestalt die gesamte antike 
Kultur immer und für alle Zeiten den Grundpfeiler der Menschheitsbildung 
abgeben muß, bloß, weil es so durch Jahrtausende war. Es wird so bleiben, 
bis ein passender Ersatz gefunden ist, eine neue universelle Bildungs- 
grundlage, über die sich die ganze zivilisierte Welt geeinigt hat und die wir 
heute noch nicht kennen, die ganz besonders auch in der eigenen Literatur- 
Vergangenheit des einzelnen besonderen Volkes, so herrliche Schätze sie 

*37 



bergen Inöge, nicht liegt. Kulturschicht auf Kulturschicht lagern die 
Jahrhunderte im Laufe der Menschheitsentwicklung, noch immer bildet die 
Antike die breite Basis für alle darüber gelagerten jüngeren Schichten, die 
sie stützt und von innen heraus durchleuchtet Erst wenn dem nicht mehr 
so sein wird, wenn der Kulturreichtum, den die neuen geschichtlichen 
Perioden darüber getürmt, selbsteigen und in sich selbst gefestigt bis zur 
Undurchsichtigkeit sein wird, vielleicht wird dann auch das Auge, das den 
Überblick über das Ganze sucht, von jenen tieferen Schichten absehen 
dürfen, ähnlich wie wir heutzutage von altägyptischer oder assyrischer Kultur 
unabhängig geworden sind, und vielleicht wird dann der gebildete Laie es 
dem gelehrten Fachmann überlassen können, noch tiefer zu bohren, um in 
eine persönliche Berührung mit dieser Kultur zu treten, persönlich, wie sie 
nur die jahrelange Versenkung in ihre Sprache schafft. 

Gleichviel aber wie, mit welchem Lehrplan die sogenannte humanistische 
Bildung zu erzielen, eben dieser Bildung, die heute nur das Gymnasium 
mit Latein und Griechisch gibt, will ich heute ein Loblied singen. Ein 
Loblied von einem ganz bestimmten Standpunkt aus: von dem des im 
öffentlichen Leben stehenden Beamten. 

Ein geistreicher Rechtslehrer hat einst gesagt: Gebildet ist, wer viel 
vergessen hat. Wenn das wahr ist, dann hat meine amtliche Laufbahn mir 
reichlich Gelegenheit gegeben, mich als »Gebildeten« zu betätigen. Um beim 
Griechischen zu bleiben, so sind es außer den Anfangsversen der Diade, 
vom „Mijviv &t8s" ... bis „Aiöc ffiieXsCsTO ßooXVj", die ich noch immer auswendig 
weiß, wohl nur ein paar armselige Brocken von Worten und Sätzen, die in 
meinem Gedächtnis haften. Und auch sonst — wenn ich auch nur eine blasse 
Ahnung mehr von einem der mathematischen oder mathematisch-physikalischen 
»Beweise« hätte, die ich in Zeiten vor der »Matura« so oft in Träumen mit 
unheimlicher Selbstverständlichkeit und verwirrendem Gewimmel von Ziffern 
und Zeichen auf einer geträumten Tafel vor mir erstehen sah! Und doch, ich 
betrachte dies alles als nicht verloren. Auch abgesehen von jener seltsamen 
psychischen Fakultät (die ich das latente Gedächtnis nennen möchte), einmal Ge- 
wußtes und Beherrschtes, wenn es auch gänzlich entschwunden scheint, bei 
geringerer äußer Nachhilfe aufs rascheste und vollständigste wieder in sich auf- 
leben zu lassen — auch davon abgesehen: ich bedaure nicht, all das, und mag 
mir auch nie im Leben wieder eine Erinnerung daran begegnen, gewußt, gekannt, 
gekonnt zu haben. All das, mir einst geistig in Fleisch und Blut übergegangen, 
mag ich infolge des geistigen Stoffwechsels auch keine Ahnung von seiner 
Zusammensetzung mehr haben, betrachte ich als einen kostbaren inneren Besitz, 
den — behaupte ich — kein Stand so nötig hat wie der Beamte. 

238 



Der Beamte, der — judizierend, regierend, verwaltend — in Menschen- 
schicksal eingreift — mit jenem vielleicht minimalen Bruchteil von Macht, 
der von der großen Machtzentrale Staat auf ihn als winziges Teilorgan des 
Ganzen übertragen ist, er hat mehr als alles und mehr als irgend ein anderer 
notig, Mensch zu sein. Jenes restlose Aufgehen im Beruf und Sichgestalten 
nach dem Beruf, wie es dem Angehörigen anderer Berufe frommen mag — 
auch da nur innerhalb gewisser Grenzen — die sogenannte glückliche 
»Einseitigkeit« etwa, die man dem Künstler als sein Privileg zugestanden 
hat, sie würde, auf den Beruf des Beamten übertragen, zur Verzerrung jedes 
gedeihlichen Prinzipes, zur trostlosen Schablonen- und Formelherrschaft. Es 
gibt keinen schlechteren Beamten als den, der nichts als Beamter ist. 
Dagegen scheint mir der beste derjenige, dem man den Beamten am 
wenigsten anmerkt. Das alles möchte ich aber nicht gesagt haben, um etwa 
durch Paradoxe zu glänzen. Keineswegs ein Widerspruch mit seiner Eigenart, 
sondern in der tiefsten Natur des Beamtenberufes im modernen Staate ist es 
gelegen, daß der Kreis seiner Aufgaben nicht ein durch starre Grenzsäulen 
ein für allemal abgesteckter ist, daß die Wissenschaft, die die gedeihliche 
Bewältigung seiner Aufgaben lehrt, sich nur zum allergeringsten Teile in 
den Gesetz- und Lehrbüchern der Verwaltungskunde erschöpft. Wie der 
Kreis der Aufgaben, die der Staat selbst in der unbegrenzten und unbegrenz- 
baren Vielheit seiner Funktionen aufsaugt, ein beständig wechselnder, 
wachsender ist und wie die Lebensgesetze, die den Staat und seine Verwaltung 
beherrschen, sich aus diesen Einflüssen immer wieder neu gebären, so steht 
auch der einzelne Beamte mit jedem neuen Fall, in dem er zu entscheiden, 
»amtszuhandeln« hat, einer neuen Forderung des Lebens gegenüber. Er 
wird ihr nur gewachsen sein, wenn er nicht nur weiß, was das Gesetz, 

— wo es eines gibt — vorschreibt und wie in tausend ähnlichen Fällen 
entschieden und »geamtshandelt« worden, sondern, wenn sein Blick auch 
klar und geschult ist, um wahrzunehmen, was in dem neuen Falle, 
aller äußeren und inneren Ähnlichkeit zu Trotz, etwa neu ist, aus dem 
Schema herausfallt und darum — sollen nicht wichtige Interessen verkümmern — 
eine neuartige Behandlung fordert. Die Gesetze — die wichtigsten wenigstens 

— ihre Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte, hat er an der juridischen 
Fakultät kennen gelernt, die Kenntnis der Praxis und das Geschick ihrer 
Handhabung kann ihm nur die Praxis geben. Alles andere — wie ich meine 
das Wichtigste — muß er schon von früher her mitgebracht haben. Ich 
sage: vom Gymnasium her. Freilich, gesunden Menschenverstand, wie man 
das Allerwesentlichste davon zusammenfassend nennen könnte, vermag auch 
das Gymnasium dem nicht zu geben, der ihn nicht hat, aber es vermag ihn 

239 



zu starken und zu entwickeln, wie keine Lehranstalt sonst bis heute — sei 
es auch an grammatikalischen oder mathematischen Problemen, die in gar 
keinem näheren Zusammenhang stehen mit den praktischen Aufgaben des 
künftigen Lebens. Um so besser, mochte ich beinahe sagen 1 Die Unbefangenheit, 
welche die allgemeine Bildung und in ihr die Abwesenheit irgend eines auf 
ein bestimmtes Fach, auf bestimmte konkrete Ziele gerichteten Spezialdrills 
in den jungen Seelen nicht nur beläßt, sondern festigt und großzieht, ist ein 
nicht hoch genug zu schätzender Gewinn. Sie läßt es als Vorteil erscheinen, 
daß lauter — anscheinend so überflüssige Sachen gelehrt werden, daß es 
keine Konvikte für angehende Richter oder Verwaltungsbeamte nach dem 
Muster der Militär- oder Malerakademien, Handelsmittelschulen u. dgl. gibt, 
sondern humanistische Lehranstalten, in denen — wie das Wort selbst sagt 

— »Menschen« herangebildet werden. Die großen Devisen, die im Laufe der 
Jahrhunderte in der Herrschaft über die Menschheit einander ablösten, sie 
ergänzen sich gegenseitig, sie machen einander nicht entbehrlich. Ebenso- 
wenig als die liberalen Ideen tot sind, weil wir heute mehr von den 
sozialen sprechen, ebensowenig ist der Humanismus als weltbeherrschende 
Macht entthront, weil die Geschichte des letzten Jahrhunderts so lebhaft von 
den nationalen Kämpfen wiederhallte. Im Gegenteil — wir brauchen ihn 
auch heute noch, brauchen ihn dringender als je — zur Abwehr gegen die 
Verwirklichung jenes bitteren Dichterwortes von dem Wege, der schließlich 

— zur »Brutalität« zurückführt. Wir Beamte, denen ein Stück Menschen- 
schicksal — ein im modernen Staate täglich wachsendes — in die Hand 
gegeben ist, brauchen ihn am allerdringendsten. Die Fähigkeit und Neigung, 
alles Menschliche menschlich zu erkennen und keinem Menschlichen sich zu 
verschließen, sie wird uns aber durch das Gymnasium vermittelt. Durch das 
Gymnasium, wenn es ist, wie es sein soll. Nur dasselbe ist es aber, von 
einer anderen Seite erfaßt, wenn ich sage: das Gymnasium gibt uns den 
historischen Sinn, das Verständnis für den inneren Zusammenhang alles 
Werdens — in der großen Völkerbewegung sowohl wie in den Schicksalen 
des kleinen einzelnen. Aber das besorgt nicht nur der Unterricht in der 
Weltgeschichte — mit mehr oder minder vielen Jahreszahlen, Schlachtennamen 
und ähnlichem Gedächtnisballast wird die ja überall gelehrt. Viel kräftiger, 
lebendiger und intimer werden wir mit dem Geist eines Volkes, einer 
vergangenen Epoche in Berührung gebracht, wenn wir — ihre Sprache 
lernen. Und da stehen wir wieder ganz dicht vor der vielumstrittenen Frage 

— und da scheint mir eines der gewichtigsten Argumente »pro« zu liegen: 
die Ermöglichung eines inneren Eindringens in den Geist der antiken Welt 
durch die Beschäftigung mit ihren Sprachen. Ja, wenn die Wichtigkeit dieses 

240 



Eindringens für den heutigen Menschen geleugnet wird — dann steht es freilich 
anders. Ich möchte mir aber von meinem Standpunkte hier nur eine kleine 
Abschweifung in den Amtsstil gestatten und sagen: Der Beamte »hebt«, 
wenn er die Lage der Dinge kennen lernen will, vor allem — »den Vorakt 
aus« — der größte Vorakt in der Entwicklung der Gesamtmenschheit ist — 
die Antike. Die Vorakten muß man aber, um genau informiert zu sein, im 

Originale lesen. 

So weit der Beamte. Wir sind aber nicht nur Beamte — sondern auch 
Menschen. Das ist ja — ich betone es noch einmal — gewiß kein Gegensatz, 
aber es deckt sich nicht. So viel Menschentum ich für den richtigen Beamten 
und von ihm in Anspruch nehme, es muß sich nicht und darf sich nicht im 
Beamtentum erschöpfen, sein Kreis ist weiter, ist unendlich. Und ich preise 
mein Schicksal, daß ich mein Leben für mich habe, das ich mir nach Lust 
zurechtgeschmiedet, in Arbeit und Genuß, unter einer freundlichen Sonne 
und unterstützt unter liebevoll helfenden Händen und das nur mir gehört 
und nichts zu schaffen hat mit allen Pflichten und Zielen der Allgemeinheit. 
Allen holden Lebensmächten sag ich Dank dafür — aber der altehrwürdigen 
Schule vor allem, die die erste war, diesem engen persönlichen Leben weiten 
Inhalt, den Inhalt einer Welt zu leihen. Und nicht zuletzt danke ich für den 
hellen Glanz, den sie durch die Freude am Schönen darüber verbreiten half. 
Ich weiß wohl: der ästhetische Sinn ist dem Individuum eigen als sein 
individuellster Besitz, er wächst oder verschrumpft je nach der Fülle der 
Nahrung, die ihm zu Teil wird und akkommodiert sich vielfach der Art dieser 
Nahrung. Aber es läßt sich durch eine jahrelange systematische Lehr- 
einwirkung viel daran fördern, verkümmern oder verderben. »Bei den 
Schotten« haben sie ihr Möglichstes getan, damit natürliche Anlage auf 
diesem Gebiete sich frei und natürlich und, vom Besten befruchtet, zum 
Höchsten entwickle. Und wenn ich die Elemente überschaue, aus denen das 
Glück meines Lebens sich zusammensetzt, so finde ich — nach dem der 
Familie — keines, das ich auch nur annähernd so hoch bewerte als die lange 
Kette ästhetischer Freuden, die sie mich genießen lehrten. 




241 



16 




Hamerling als Schottengymnasiast. 91 Von Michael 
Maria Rabenlechner. 91 

Robert Hamerling kam als der Sohn des Webers Franz Hammerling zu 
Kirchberg am Walde am 24. März 1830 zur Welt. In der Taufe erhielt 
das Kind den Namen »Rupertus«. Zur Zeit der Geburt dieses ihres 
(ersten und einzigen) Sprößlings besaßen die Eltern noch ein kleines Häuschen, 
Kirchberg am Wald Nr. 88; darin stand der Webstuhl, an dem der Mann sein 
Geschäft selbständig betrieb. Aber schon ein Jahr nach der Geburt des Kindes 
brach das Unglück herein. Der Mann verlor seine bescheidene Habe und mußte 
fort in die Fremde, die Mutter aber begab sich mit dem Kinde in ihren 
Geburtsort Groß-Schönau — gleichfalls im niederösterreichischen Waldviertel 
in der Nähe des Städtchens Weitra gelegen. Für die nächsten Jahre fand 
sie und das Kind bei ihrem Bruder Hilfe in der Not. Hier also, in Groß- 
Schönau, wuchs unser Dichter auf bis zu seinem zehnten Lebensjahre — ein 
stilles, scheues Kind mit reichem Innenleben. Hier in diesem Dörfchen ver- 



242 



fertigte er auch in seinem siebenten Lebensjahre seine ersten Verse. An der 
dem Zisterzienserstifte Zwettl inkorporierten Pfarre Groß-Schönau fungierte 
damals als Kaplan ein junger, herzensguter Priester, P. Hugo Traumihler. 
Dieser versah auch an der dortigen Schule die Stelle eines Katecheten. 
P. Hugo Traumihler wurde in der Schule auf unseren Knaben aufmerksam, 
nahm sich des seltsamen, schüchternen Kindes gerne an und förderte es 
umsomehr, als der Knabe im Stifte Zwettl einen Ordensbruder P. Hugos 
als Großoheim besaß, den damals in ganz Niederösterreich bekannten und 
geschätzten Priestergreis P. Ambros Haßlinger. Von diesem Stifte Zwettl 
nun wurden je nach Bedarf (nach kritischer Aufnahmsprüfung) stimmbegabte 
Knaben aufgenommen, denen die Verpflichtung zukam, am Chore der Stifts- 
kirche zur Orgel den feierlichen Kirchengesang zu besorgen, wofür hingegen 
sie im Stifte unentgeltlich Verpflegung und Gymnasialunterricht erhielten. 
Obgleich mit keinen besonderen Stimmitteln begabt, fand unser Dichter doch 
auf Fürsprache P. Hugos und P. Ambros 1 1840 Aufnahme ins Zwettler 
Sängerknabenkonvikt und trug durch vier Jahre die bezügliche graue Uni- 
form. In diesen vier Jahren absolvierte unser Poet im Stifte Zwettl die vier 
ersten Gymnasialklassen — oder besser gesagt: Kleriker des Stiftes Zwettl 
erteilten die Zeit hindurch Privatunterricht und am Schlüsse jedes Semesters 
war die offizielle Privatistenprüfung am Piaristengymnasium in Krems. Die 
letzte dieser acht Prüfungen fand Sommer 1844 statt. Damit waren die vier 
Jahre des Sängerknabendienstes um und es hieß somit, Abschied nehmen 
von der Waldheimat und die klösterliche Stille vertauschen mit der geräusch- 
vollen Residenz an der Donau, wo der Vater als Diener eines Baron Pidoll 
(in der Bäckerstraße) Stellung gefunden hatte. Also findet am 15. August 1844 
frühmorgens der Abschied statt vom Stifte Zwettl und noch am Abend des 
gleichen Tages weilt der Vierzehnjährige nach vierjähriger Trennung wieder 
bei seiner Mutter, die (notgedrungen von ihrem Manne getrennt) in der da- 
maligen Vorstadt Wieden in der Schlössel-(heute Lambrecht-)gasse Nr. 595 
(gegenwärtig Nr. 4 — übrigens schon seit Jahren ein Neubau) wohnte. 

In Wien gab es damals drei Gymnasien — nicht mehr; das Piaristen- 
gymnasium in der Josefstadt, das Piaristengymnasium in der Stadt (wegen 
der Nähe der Universität auch »das akademische Gymnasium« genannt) und 
das Schottengymnasium. Von seiner Wohnung auf der Wieden wäre viel- 
leicht unserem Knaben das Piaristengymnasium in der Josefstadt das be- 
quemer erreichbare gewesen. Aber P. Haßlinger stand mit etlichen Mit- 
gliedern des Schottenstiftes in treundschaftlicher Beziehung und so empfahl 
er diesen seinen Großneffen recht warm. Bereitwillig findet darum unser 
Dichter unentgeltliche Aufnahme am Schottengymnasium, in dessen Haupt- 

243 16* 



katalog demnach — Oktober 1844 bis August 1846 — der Name »Rupert 
Hammerling« als Absolvent der beiden Humanitätsklassen verzeichnet 
ist. — 

Das österreichische Gymnasium des Vormärz umfaßte sechs Klassen. 
Die ersten vier hießen die Grammatikalklassen, die beiden letzten — das 
Obergymnasium — waren die Humanitatsklassen. Jede dieser sechs Klassen 
hatte ihren besonderen Namen. Die erste Grammatikaiklasse hieß »Parva«, 
die zweite »Principia«, die dritte »Grammatik«, die vierte »Syntax« ; die erste 
Humanitätsklasse hieß »Poesie«, die zweite »Rhetorik«. Matura gab es nicht. 
Gelehrt wurde Religion, Latein, Geographie und Geschichte, Mathematik 
und von der dritten Klasse an auch Griechisch. Die deutsche Sprache wurde 
nicht gelehrt, doch war dem Humanitätsprofessor gestattet, ab und zu ein 
deutsches Pensum zu geben, das dann zu Hause schriftlich ausgearbeitet 
werden mußte. 

Das Gymnasium des Vormärz entsprach also beiläufig den ersten sechs 
Klassen des gegenwärtigen österreichischen Gymnasiums. 

Werfen wir einen kurzen Blick auf das Schulleben jener Tage. 

Anfangs Oktober beginnt damals das Schuljahr, und zwar (wie noch 
heute) mit einem feierlichen Hochamte. Dann setzt sofort der regelmäßige 
Unterricht ein mit seinen Aufgaben und Prüfungen. Es wird viel aufgegeben 
und es wird strenge geprüft. Damals unterscheidet man tägliche, wöchent- 
liche und monatliche Prüfungen. Die täglichen Prüfungen haben die Tages- 
lektion zum Gegenstande, die wöchentlichen Prüfungen umfassen das Studium- 
gebiet einer Woche, die Monatsprüfungen begreifen den Stoff eines Monats. 
Diese Monatsprüfungen finden stets in Gegenwart des Präfekten statt (»Prä- 
fekt« — die Bezeichnung damals für Gymnasialdirektor). Die letzte Monats- 
prüfung in jedem Semester heißt Ehrenprüfung und wird öffentlich in einem 
besonderen Saale abgehalten. An dieser Prüfung dürfen nur die besseren 
Schüler teilnehmen. Dabei sind anwesend der Vizedirektor (»Vizedirektor« — 
damals so viel wie Landesschulinspektor), hohe Staatsbeamte und Angehörige 
der Prüflinge. Bei diesen Ehrenprüfungen wird besonders strenge examiniert. 
Feierlich ist der Schluß des Schuljahres, der anfangs August statthat. Da ver- 
sammeln sich im Festsaale des Gymnasiums alle Schüler und deren Angehörige 
zu einem Schulfest, der sogenannten »Verlesung«. Eine lateinische Rede 
eines älteren Humanitätsklassenschülers leitet stimmungsvoll das Ganze ein. 
Dann tönt ein festlicher Tusch und die drei besten jeder Klasse treten vor 
und empfangen als Prämien ihres Fleißes — jeder aus ihnen — ein schön ge- 
bundenes Buch lehrhaften Inhalts, weiter werden die drei bis vier nächst- 
besten Schüler jeder Klasse feierlich genannt und belobt und schließlich werden 

244 



die Noten aller Schüler verlesen und jedem aus ihnen ein gedrucktes Ver- 
zeichnis dieser Schlußresultate eingehändigt. Dann geht's in die Ferien. Fünf- 
mal des Jahres werden die Schüler zur Beichte gefuhrt, alltäglich ist Schul- 
messe, an jedem Sonntag und Feiertag ist zudem Exhorte, in den ersten drei 
Tagen der Karwoche werden täglich zweimal Predigten gehalten, die so- 
genannten Exerzitien. Streng wird auf Disziplin gesehen. Damals gibt's auch 
noch ein Ehrenbuch und ein Schandbuch — dieses in schwarzes Papier ge- 
bunden mit schwarzem Schnitt, das andere in rotem, goldgepreßtem Leder 
mit reichem Goldschnitt. Die Eintragungen in diese zwei bedeutungsvollen 
Bücher geschehen von zwei zu zwei Monaten. Glücklich der, der den Weg 
ins Ehrenbuch gefunden — wehe dem, der im Schandbuch steht, es ist der 
erste Schritt zur Exklusion. . . .*) 

Wie dem Kenner sofort klar sein dürfte, mahnt in diesem Schulleben 
des Vormärz noch so manches an die Jesuitenschulen der vortheresianischen 
Zeit. Und das wäre auch wahrhaftig nicht das Tadelnswerteste der vor- 
märzlichen Mittelschule Österreichs! Wäre hingegen nur nicht auch das 
Lehrsystem ein so völlig veraltetes gewesen! Reichten die bezüglichen Ver- 
ordnungen ja gerade unverändert zurück bis in die Zeit Maria Theresias. So 
gab es an den damaligen Gymnasien (von den völlig veralteten Lehrbüchern 
gar nicht zu sprechen) nicht einmal — Fachlehrer. An einer Klasse eines 
Gymnasiums wirkten überhaupt nur je zwei Lehrer, der eine, der Religion 
dozierte und der zweite, der sämtliche übrigen Gegenstände zu lehren 
hatte. Da der Religionsprofessor für alle sechs Klassen dieselbe Persönlich- 
keit war, wirkte demnach an einem österreichischen Gymnasium des Vor- 
märz, soferne es nicht Parallelklassen besaß, stets nur ein Lehrpersonal von 
sieben Personen. — Aber genug davon und damit wieder zurück zu unserem 
Humanitätsklassenschüler Rupert Hammerling. — 

Die Lehrer unseres Poeten am Schottengymnasium während beider 
Jahre waren P. Leander Knöpf er, der Religion lehrte und als Exhortator 
fungierte, und P. Berthold Sengschmitt, der Humanitätsprofessor. Dieser 
stieg von der fünften zur sechsten Klasse mit seinen Schülern auf. 

In dieser Zeit finden wir unter der österreichischen Gymnasialjugend 
den schönen Gebrauch, daß häufig Absolventen eines Gymnasiums einem 
besonders beliebten Lehrer dessen künstlerisch ausgeführtes Bild widmeten. 
So auch die Studenten des Schottengymnasiums obigen beiden Lehrern, und 

*) Näheres und sehr Interessantes über dieses Schalleben des Vormärz (speziell am Schotten- 
gymnasium) findet sich in der ans Anlaß der Säkularfeier des Schottengymnasiums von Dr. Albert 
Hubl verfaßten Festschrift, die — quellenmäßig genau gearbeitet — eine Geschichte des Unterrichts 
im Schottenstifte gibt. 

M5 



zwar 1840 dem P. Leander und 1844 dem P. Berthold. Beide Bilder sind 
Lithographien, das P. Leanders gezeichnet von Eybl, das andere gezeichnet 
von Gabriel Decker. Dieses letztere Bild (gedruckt bei J. Höfelich) zeigt uns 
einen behaglich im Lehnstuhl sitzenden Priester mit überaus gemütlichem 
Gesichtsausdruck. Und was auf diesem Bilde die Physiognomie spricht, das 
war auch in Wirklichkeit der Fall. P. Berthold Sengschmitt war ein herzens- 
guter Mann, gemütlich im Verkehr mit seinen Schülern — stets bereit, ihnen 
hilfreich unter die Arme zu greifen, dabei hochgebildet — ein begeisterter 
Verehrer unserer großen deutschen Dichter, selbst im stillen sogar ein Poet.*) 

Auch unserem Knaben gegenüber erwies sich P. Berthold recht wohl- 
wollend. 

Der Knabe war indes auch nicht unfleißig. 



Nr. 36. 



Hammerling Rupertus Austr. Kirchberg ad silv. Ex. 
a did. primae Humanitati adsiduam dedit operam, atque 
in tentamine publico prioris cursus semestris anni 1845 



primam eminenter 
g- acced. ad eminent 
2. primam 

« acced. ad eminent 
acced. ad eminent 

primam 



a morum cultura 

e doctrina reiigionis 

ex auctorum interpretatione et stylo 

e studio linguae Graeciae 

» » Geographiae et historiae. 

» > mathesis 

relatus est 



Viennae, in Gymnasio C. R. ad Scotos die 7. mensis 
Martii anni 1845. 



Conradus Luttinger Bertholdus Sengschmitt 
Praefcctus Gymnasii. Professor publicus. 



*) Vgl. hierüber meinen Aufsatz »Von einem Lehrer Hamerlings« in Roseggers »Heim- 
garten«. XX. Jahrgang, pag. 830 ff. 



246 



Dies, wortlich nach dem uns vorliegenden Original, das erste Zeugnis 
unseres Dichters am Schottengymnasium, am Ende des ersten Semesters der 
ersten Humanitätsklasse. Und in den folgenden drei Zeugnissen treffen wir 
nur noch bessere Noten: primam eminenter, d. i. vorzüglich, oder doch 
wenigstens accedentem ad eminentiam, und die Note prima — genügend — 
kehrt nicht wieder. 





Sitten 


Religion 


Latein 


Griechisch 


Geschichte u. 
Geographie 


Mathematik 


I. Hum.-Klasse 
2. Semester 


prima 
eminenter 


prima 
eminenter 


acced. ad 
eminentiam 


prima 
eminenter 


prima 
eminenter 


acced. ad 
eminentiam 


2. Hum.-Klasse 
I. Semester 


prima 
eminenter 


prima 
eminenter 


acced. ad 
eminentiam 


prima 
eminenter 


acced. ad 
eminentiam 


acced. ad 
eminentiam 


2. Hum.-Klasse 
2. Semester 


prima 
eminenter 


acced. ad 
eminentiam 


acced. ad 
eminentiam 


acced. ad 
eminentiam 


acced. ad 
eminentiam 


acced. ad 
eminentiam 



Sind's auch keine hervorragenden Zeugnisse: unser Student brauchte 
sich ihrer wahrhaftig nicht zu schämen. 

Aber in einem Gegenstande hatte unser Kleiner Nachsicht — ent- 
schiedene Nachsicht notig gehabt — Nachsicht, die ihm der seelengute, warm- 
herzige P. Berthold auch reichlich angedeihen ließ. P. Berthold Sengschmitt 
kannte in unserem Knaben das Poetlein in herba : diktierte er ja doch wieder- 
holt deutsche Schulpensa, die unser Poet in Versen abgefaßt, als die besten 
Leistungen der Klasse herab vom Katheder. Vielleicht nun ist die Nachsicht, 
die ihm P. Berthold in jenem gewissen Gegenstande so großmütig angedeihen 
ließ, mit eine Folge der Erfahrung gewesen, auf wie argem Kriegsfuß ein 

Poet steht mit den Zahlen, Quadrat- und Kubikwurzeln. Hamerling 

hat nämlich mathematisches Talent gründlich gemangelt. In seiner Selbst- 
biographie hat unser Dichter dem wackeren Schottenpriester für dieses 
humane Entgegenkommen humorvoll-freundlich ein schönes Ehrensäulchen 
aufgerichtet. »Wenn ich als Gymnasiast bei den Schotten in der Mathematik 
secundam (zweite) und in den übrigen Gegenständen primam eminenter (vor- 
züglich) bekommen sollte, so glich der gute P. Berthold die Sache dadurch 
aus, daß er mir in allen Gegenständen accedentem ad eminentiam (beinahe 
vorzüglich) gab.*) . . . hätte P. Berthold Sengschmitt den Menschen vom 
rein mathematischen und nicht lieber die Mathematik vom rein menschlichen 



*) Hamerling denkt an das Zeugnis des zweiten Semesters der II. Humanitätsklasse. 

247 



Standpunkte betrachtet, so wäre ich »durchgefallen«, hätte ein Handwerk 
lernen müssen, und man würde jetzt Schuhe oder Kleider statt Prologe und 
»Festblätter« bei mir bestellen.«*) 

So wandert also vom i. Oktober 1844 an — den Schulpack unterm 
Arme — ein blondhaariger Jüngling alltäglich früh 7 Uhr von der Lambrecht- 
gasse auf der Wieden den ungefähr dreiviertel Stunden langen Weg in die 
»Stadt« auf die Freiung ins Schottengymnasium. Die Kleidung des Burschen 
ist fadenscheinig, die bleiche, kränkliche Gesichtsfarbe deutet auf schlechte 
Ernährung: das Studentlein ist blutarm. Mittags gibt ihm in der Leopoldstadt 
das Kloster der barmherzigen Brüder einen Freitisch, denn der Vater ver- 
mag gerade mit seinem Dienergehalt die Wohnung für Weib und Kind zu 
zahlen ; die Mutter verdient zwar einiges durch Näharbeit und nimmt außer- 
dem gegen Entgelt ein Findelkind in Pflege, aber das alles reicht nicht aus 
für die Kosten eines bescheidenen Haushaltes: oft muß unser Student ohne 
Frühstück in die Schule und hungernd abends ins Bett . . .**) Scheu und äußer- 
lich unbeholfen sitzt er unter seinen Kollegen auf der Schulbank. »Menschen- 
scheu und äußerlich unbeholfen«, so wenigstens schildert ihn uns sein Gym- 
nasialkollege Rudolf Schwingenschlögl, der mit ihm im gleichen Jahr- 
gang war.***) 

Aber was vermag schließlich auch das düsterste äußere Leben dem an- 
zuhaben, in dessen Innern wohltuend licht die Wunderblume der Phantasie 
sprießt. Die Muse läßt sich durch Ungemach wahrhaftig nicht verdrängen; 
schon seit dem siebenten Lebensjahre ist sie ja unserem Dichter treu, und 
jetzt keimen nicht mehr bloß lyrische Gedichte in großer Zahl empor — der 
Jüngling greift vielmehr nach höherem Lorbeer. So gibt ihm Luise Brach- 
manns Ballade »Kolumbus« den Stoff zu einem zweiaktigen Drama 
»Kolumbus«, das er Dezember 1844 vollendet. Etliche Monate darauf be- 
geistern den frommen Jüngling Chateaubriands »les martyrs« zu einer 
fünfaktigen Tragödie »Die Märtyrer«, und die frommen Exhorten P. Leanders 
— sie liegen uns als Buch (Wien, 1840) gedruckt vor — mögen ihn wohl bei der 
Stoffwahl eines dritten größeren Werkes beeinflußt)*) haben, der Kanzone: 
»Eutychia, oder die Wege zur Glückseligkeit«. Diese beiden letzteren 



*) »Stationen meiner Lebenspilgerschaft« (Hamburg, 1889), pag. 70 ff. 
**) Eingehenderes hierüber im ersten Bande meiner Hamerling- Biographie (Hamburg 1896), 
auf den ich auch bezüglich des folgenden Absatzes als Hauptquelle verweise. 

***) Vgl. hiezu »Ungedruckte Briefe von Robert Hamerling«, I. Teil (herausgegeben von 
Bock-Gnadenau, Wien, Allgemeine Nationalbibliothek Nr. 163 — 165), pag. 86 ff. 

t) Vgl. hierüber die interessante Untersuchung von Dr. Max Vancsa im Vorworte seiner 
»Eutychia «-Ausgabe (Allgemeine Bücherei, herausgegeben von der Österreichischen Leo-Gesellschaft. 
Neue Folge, Nr. I, Stuttgart und Wien, 1900), pag. 6. 

248 



Stücke überreicht er nach wiederholter gründlicher Umarbeitung in von ihm 
selbst besorgter prächtiger, noch heute wohlerhaltener*) Reinschrift seinen 
beiden Lehrern; und zwar die Tragödie dem P. Berthold Sengschmitt, die 
Kanzone P. Leander Knöpfer. Daneben ist er im zweiten Semester der zweiten 
Humanitätsklasse die Seele eines in dreizehn Nummern erschienenen, hand- 
schriftlich hergestellten Gymnasiastenjournals »Aurora« — und findet zu alle- 
dem noch das Behagen, sich zu dem hübschen Tochterchen Adelheid seines 
Firmpaten Köfferlein in ein zartes Verhältnis hineinzuträumen — ein platoni- 
sches Hangen und Bangen, das ihn schließlich sogar veranlaßt, seinen Tauf- 
namen Rupert in »Robert« zu verwandeln — »der Liebe wegen — Robert 
lispelt sich's viel schöner«. Diese Taufnamenveränderung geschieht just um 
dieselbe Zeit, wo er auch anfangt, seinen Familiennamen mit nur einem »m« 
zu schreiben. 

Aber wir geraten abseits von unserem Thema. Denn vorliegende Zeilen 
wollen nicht die Biographie Hamerlings während der Zeit seines Schotten- 
gymnasialbesuches bieten, sondern haben lediglich diesen letzteren im Auge; 
und nachdem wir über Hamerlings Lehrer und seinen Studienfortgang alles 
Wesentliche bereits berichtet, sei unserer Publikation der eigentliche Wert 
verliehen durch Mitteilung dessen, was der Schottenschüler Rupert Hammerling 
Interessantes über sein Schottenschulleben in seinen Tagebüchern äußert. 

Hamerling hat Zeit seines Lebens fleißig Tagebuch geführt. In seinem 
fünfzehnten Lebensjahre hat er sich das erste angelegt, und wenige Wochen 
vor seinem Scheiden hat ihm erst tatsächlich der Tod den bezüglichen Stift aus 
der Hand genommen. Das erste Blatt dieses Tagebuches ist datiert vom 
15. August 1844. Es schildert uns die Übersiedlung vom Stifte Zwettl nach 
Wien. Die Tagebücher der folgenden zwei Jahre gelten — wer will's dem 
sensitiven Poetenherzen etwa verübeln? — in erster Linie der Muse und 
der — Liebe, doch auch die Schule gelangt auf ihnen einigermaßen zu ihrem 
Rechte. 

Aber nunmehr habe das Wort Robert Hamerling. Der Größte unter 
denen, die bisher auf den Bänken des Schottengymnasiums gesessen, soll im 
folgenden zu uns sprechen und uns ausschließlich selber von seinem 
Schottengymnasialbesuch berichten. An einer einzigen Stelle nur wollen wir 
aus ganz gewichtigem Grunde die gebotenen Äußerungen unseres Dichters 
für einen Moment unterbrechen.**) 

*) Siehe das Bezügliche im Vorworte von Vancsas »Eutychia«-Ausgabe (L c.)> pag. 7, sowie im 
Vorworte zu der von mir besorgten Aasgabe der »Märtyrer« (im ersten Bändchen von A. Breitners 
»Literaturbilder der Gegenwart«, Dresden, 1901), pag. 19 ff. 

**) Die Mitteilung der folgenden Tagebuchblätter geschieht aus dem mir vorliegenden Original- 
manuskripte von Hamerlings Jugendtagebüchern. 

249 



i. Oktober 1844. 
Beginn des Schuljahres. Heiligengeistamt. 

6. Oktober. 
Ich wurde zum ersten Male examiniert, und zwar aus der lateinischen 

Grammatik. 

7. Oktober. 
War Beichttag. 

22. November. 
. . . Sitten und Religion im Ehrenbuche. 

9. Jänner 1845. 
Nachmittags 4 Uhr begleiteten wir unseren Mitschüler Müller zum 
Grabe. Er wurde von dem hochwürdigen Herrn P. Leander unter Assistenz 
der beiden Herren P. Berthold und Maurus eingesegnet bei den PP. Serviten, 
und dann ging der Zug unter Begleitung der Hoboistenbande durch Thury 
(er wohnte in der Rossau, Porzellangasse) auf den Gottesacker vor der Nuß- 
dorferlinie. 

5. März. 
Zum 46. Male examiniert (ex Geogr) und nachmittags zum 47. Male 

(ex hist). Heute ist der letzte Tag dieses Semesters. 

6. März. 
Prüfungstag für das I. Semester 1845. Um 8 Uhr fanden wir uns im 

Prüfungssaale*) ein. Dieser ist ziemlich geräumig; im Hintergrunde befinden 
sich ungefähr zehn kurze Bänke in zwei Reihen für die Studenten; die 
ersten beiden sind rot ausgeschlagen, aber ziemlich antik. In der Mitte des 
Saales, ziemlich entfernt von den Bänken, sind die Plätze für den Herrn 
Professor, Herrn Präfekten und den Herrn Vizedirektor; linker Hand für 
den Herrn Professor, mit rotem Teppich behängt, sowie die beiden übrigen, 
die sich in der Mitte des Saales befinden. Zwischen den beiden Tischen 
des Herrn Präfekten und Herrn Vizedirektors ist ein einfacher Stuhl für 
den Herrn Prälaten. Hinter diesen nun stehen die Sitze (rot ausgeschlagene 
Stühle) für die Zuhörer und Fremden. An den Wänden hängen vier in ver- 
goldete Rahmen gefaßte Bildnisse . . . dies ist ungefähr die Beschaffenheit 

des Saales. Um 8 Uhr fand sich auch schon der Herr Vizedirektor 

Walch ein mit dem Herrn Präfekten und Professor. Nun wurde das 
Griechische vorgenommen. Ich ward gerufen und übersetzte das Kapitel 

*) Gegenwärtig (and schon seit Jahren) dient dieser einstige Prnrongssaal als Lehnümmer der 
achten Klasse. 

250 



»Demütigung des stolzen Arztes Menekrates« aus den Aelian. Es ging ziem- 
lich gut. Nun fanden sich auch mehrere Fremde ein als Zuhörer. Es war un- 
gefähr 9 Uhr, als der Herr Vizedirektor sich entfernte. Jetzt wurde Latein 
vorgenommen, wo ich nicht gerufen wurde; es wurde examiniert bis n Uhr; 
hierauf kam die Religionslehre, wo ich über den sechsten Paragraphen der 
zweiten Periode ausgefragt wurde und glücklich meine Aufgabe löste. Nun 
war es 12 Uhr und es wurde für Vormittag geschlossen. 

Nachmittag um 2 Uhr fanden wir uns wieder ein. Es war jetzt außer 
dem Herrn Präfekten und Professor niemand hier, bis später einige Fremde, 
größtenteils Frauenzimmer, wie Vormittag erschienen. (NB. Vormittag habe 
ich vergessen, zu bemerken, daß der hochwürdige Herr Prälat sich um 
7*10 Uhr einfand und sich über eine Stunde bei uns aufhielt.) Es wurde bis 
724 Uhr Mathematik vorgenommen, wobei ich nichts zu tun bekam; hierauf 
bis 4 Uhr Geographie und dann bis 5 Uhr Geschichte, wo ich wieder 
examiniert wurde — und zwar über den Bilderstreit im § 8, dann noch 
etwas vom neunten Pharagraphen. 

Ich kam auch hier gut durch. Nun war die Prüfung geendet. Der Herr 
Präfekt nahm einen Bogen, worauf die Namen der sieben ersten standen, 
die er herablas und die dann, wie sie gerufen worden waren, hinaustraten. 
— Dann begaben wir uns nach Hause. Ich war ziemlich vergnügt, daß die 
Prüfung gut ausgefallen war; überhaupt war keiner unter uns, der bei der- 
selben dem Herrn Professor Schande gemacht hätte. Es waren 32, die er 
zur Ehrenprüfung zugelassen hatte. 

10. März. 
Der erste Tag des zweiten Semesters! Ich stand um 7*7 Uhr auf, ging 

dann in die Schule, wo wir gesetzt wurden; mir wurde der dritte Platz der 
vierten Bank zugewiesen. 

12. März. 
Nachmittag bekamen wir durch den Schuldiener die Zeugnisse. 

11. April. 
Ich ging Vormittag in die Schule, wo wir die Prüfungskomposition 

machten für den ersten Monat des zweiten Kursus . . . Nachmittag bekamen 
wir die Komposition zurück, die wir in der ersten Woche dieses Semesters 
zu machen gehabt hatten. Mein Herr Vater sagte mir, daß er Mittwoch den 
9. d. M. beim Herrn Professor gewesen sei, der ihm sagte, daß ich in der 
Hist. em. und in den Praecept. acced. habe; daß er mit mir ganz wohl zu- 
frieden sei und auch über Unruhe keineswegs zu klagen habe, nur sei 
kein rechtes Leben in mir. 

251 



22. April. 
Vormittag examinierte mich der hochwürdige Herr Professor aus der 
Geographie. Ich war nicht vorbereitet, quia (fatendum est enim) non credidi, 
me posse interrogari, cum examinabar paullo ante; sed spes me fefellit; 
tertiae adscribi classem meruissem; tantum in modum ignaviae indulseram; 
Dom. rever. Prof. re cognita me »an didicerim?« interrogat. Nego. Benig- 
nissimus nunc, se indulgere mihi velle dixit, »quia antea tale quidquam 
nunquam acciderit«. Pepercit mihi immerenti. Sed aliis temporibus monitum sit. 

2g. April. 
Hatten wir die erste monatliche Prüfung des zweiten Semesters. (Ich 
stand im Ehrenbuche Religio, mores und Griechisch.) Examiniert wurde ich 
aus den lateinischen Praecept. de narratione. 

8. Mai. 

. . . wegen der Firmung . . . ging ich zum hochw. Herrn Professor 
Leander, um mich prüfen zu lassen. Er gab mir zuerst die Frage: Zu welchem 
Zwecke ich gefirmt werden wolle? 

Ich (beantwortete ihm dies nach dem Schulbuche, S. 226). 

H. H. Professor: »Sind Sie entschlossen, die Lehre Jesu Ihr ganzes 
Leben hindurch standhaft zu bekennen?« 

Ich: »Ja.« 

H. H. Professor: »Versprechen Sie das ernstlich und feierlich? 

Ich: »Ja«. 

Nun war es zu Ende. Er gab mir den Zettel und ich ging nach Hause. 
Der Zettel lautet: 



Firmungsname: Johann Bapt 



Daß Hammerling, Rupert, Stud. der isten Hum.-Cl., 
vermöge der bei der vorgenommenen Prüfung ge- 
zeigten Kenntnisse zum Empfange des hl. Sakramentes 
der Firmung könne zugelassen werden, bezeuget 
Wien, am 8ten Mai 1845. 



Leander Knöpfer 

Pr. doct. rel. c. r. gy m - *d scotos. 



13. Mai. 
War ich beim Leichenbegängnisse des Mitschülers Friedrich Weil, 
der an einer Operation am Fuße starb. 



252 



18. Mai. 

Ich kam zur Exhorte etwas zu spät; ging deshalb nach derselben zum 
Herrn Professor. Er sagte zu mir: 

»Nun, was bringen Sie mir, lieber Hammerling?« 

Ich brachte meine Sache vor. 

Hoch würden Herr Professor: »Nun ja, gehen Sie um eine Viertelstunde 
eher fort und lernen Sie auch fleißig; ich habe Sie jetzt schon einige Male 
unvorbereitet gefunden. Wenn Sie eine Entschuldigung haben, warum bringen 
Sie dieselbe nicht vor der Schule vor? Und wenn Sie einen Anstand haben, 
warum kommen Sie denn nicht? Sie wissen ja, daß ich mir ein Vergnügen 
daraus mache, Ihnen behilflich zu sein. Lernen Sie fleißig; Sie können einmal 
was Tüchtiges leisten; lernen Sie also — nicht für die Schule, lernen Sie 
fürs Leben. — Nun sehen Sie, daß Sie recht gesund werden. Schonen Sie 
sich so viel als möglich im Gehen; gehen Sie lieber um eine Viertelstunde 
früher fort, so werden Sie nicht zu laufen brauchen. Dissolvieren Sie sich 
nicht. Adieu, mein Alter!« 

Also sagte er. 

6. Juni. 

Zweite Monatsprüfung. Non exam. Im Ehrenbuch Sitten, Religion, 
Geographie, Geschichte, Griechisch. 

i. Juli. 
Mane ex Geographia examinatus respondere nequeo. Me dimittit D. 
Professor. Post scholam me ad ipsum confero et »me capite laborasse«, 
inquam, »et excusationem proferre ausum non esse, cum et antecedente die 
aliquam protulissem«. Benigne respondit, et suasit mihi, ut saepius exeam 
cura valetudinis. 

21. Juli.*) 
Nachmittag exam. ex Praecept. lat. 8 Vers, lat. 2 Ep. ad Pis. em * Nachher 
beim Herrn Professor. Vulneratus in intimo corde redii. Hernach in die 
Brigittenau gegangen (Brigittenauer Kirchtag). . . . 

27. Juli. 
Berthold. Namensfest des Herrn Professors. Die Exhorte hielt Herr 
P. Hieronymus Hofbauer sehr gut. Die Sentenz »Die Erde sei der Vorhof des 
Himmels« gefiel mir besonders. Dann gingen wir zum Herrn Professor. Man 
gab meine Gratulation ab. Er fragte, wer es gemacht. Zwischen uns beiden 
ward übrigens kein Wort gewechselt. 

*) Zur Kommentierung dieses Tagebuchblattes sei bemerkt, daß die Exponenten die er- 
haltenen Noten bezeichnen: 2 = secunda (nicht genügend), em. = eminentia (vorzüglich). 

253 



Ende des Schuljahres. 

Prüfungstag. Examiniert ex Relig., ex Graec, ex Hist. 
Verlesung. Ging sehr erfreut weg. 



3. August. 

4. August. 
7. August. 



12. August. 
. . . Vorgestern war ich beim Herrn Professor. Der sprach: »Er gehört 
zu den Besten in den schriftlichen Aufsätzen.« Gräßlich! . . .*) 



Meldete mich. 



30. September. 
1. Oktober. 



Heiligengeistamt um 7» 9 Uhr. 

7. Dezember. 
Habe ich wie den 6. beim Vater zugebracht. Derselbe begab sich Vor- 
mittags zum Herrn Professor Berthold, ihm über meine Krankheit Bericht 
zu erstatten. Auf seinen Antrieb ging er nachmittags mit mir zum Herrn 
Dr. Oberhofer, dem nichts an mir auffiel als das Herzklopfen. Er lud mich 
auf öftere Besuche ein. 

22. Dezember. 
Wieder zum ersten Male seit 7. d. M. das Kolleg besucht. Hakensellner**) 
sagt mir, daß mein Gedicht »Elegie auf dem Schlachtfelde von Aspern« bei 
der Monatsprüfung vom 15. d. M. publiziert und übrigens diktiert worden ist. 



Hier ist die Stelle, wo wir unseren Dichter — wie schon oben ange- 
deutet — unterbrechen. Denn die Verse, deren Hamerling in diesem Tage- 
buchblatt vom 22. Dezember gedenkt, haben sich erhalten. Sie haben sich 



*) Dieses »Gräßlich!« ist nur so zu verstehen (vergl. hiezu übrigens auch »Stationen meiner 
Lebenspilgerschaft«, pag. 77), daß Hamerling gerne »der Beste« genannt worden wäre. Was hätte 
aber da erst der junge Grillparzer in sein Tagebuch schreiben müssen! GriUparzer absolvierte 
Grammatikal- und Humanitätsklassen an dem bis 1807 bestandenen Gymnasium zu St Anna. Siein 
Humanitätsprofessor Stein (später Universitätsphilologieprofessor) kritisierte ihn bezüglich seiner 
deutschen Aufsätze kurz und bündig : »Verrät nicht das geringste Ohr für die Schönheiten der Sprache.« 
**) Ein Mitschüler Hamerlings. Vgl. hiezu »Juventus Caesarei regii Gymnasii ad scotos 
Viennae e moribus et progressu in literis censu exeunte anno scholastico CIDIDCCCXLVI. Vindo- 
bonae Typia Caroli Ueberreuter«. 

254 



sogar in dreifacher Form erhalten. Da erinnern wir uns einer interessanten 
Mitteilung des schon früher erwähnten Rudolf Schwingenschlögl. Man weiß, 
im Gymnasium des Vormärz gab der Humanitätsprofessor ab und zu ein 
deutsches Pensum. Manchmal ging der Auftrag dahin, ein solches Pensum 
sei von der ganzen Klasse in Versen abzufassen, so gut es eben jeder ver- 
möchte. Da berichtet nun Schwingenschlögl, daß Hamerling seinen ihm näher 
stehenden Kollegen manchmal so eine versifizierte Aufgabe besorgte. »So 
verfaßte er in einer entsprechenden Anzahl die »Schilderung des Morgens' 
oder die »Schilderung eines Weinlesefestes' in Versen, bis endlich der Herr 
Professor dahinter kam und unserem Poeten das Gefälligsein ernstlich verbot.« 
So wörtlich Schwingenschlögl.*) Von einer »Elegie auf dem Schlachtfelde 
von Aspern« erwähnt nun Schwingenschlögl allerdings nichts; aber unmöglich 
wär's gar nicht, daß zwei aus diesen drei erhaltenen Elegien Schulkollegen 
zu gute kamen. Sei dem wie immer: — als gewiß willkommene Charakteristik 
der unmittelbar durch das Schottengymnasium veranlaßten Jugendpoesien 
Hamerlings seien diese drei Elegien hier mitgeteilt:**) 



Elegie auf dem Schlachtfelde von Aspern. 

(Erste Elegie.) 

Leise, wie dem Totenland entstiegen, 
Sanken Schatten nieder aufs Gefild, 
Titans letzte Strahlenblicke wiegen 
Sich im stillen Weiher, hehr und mild. 
Aber in Betrachtungen versunken 
Staunt mein Auge, wie von Wehmut trunken, 
Ernst hinaus in diese stille Pracht, 
In die stumme, regungslose Nacht. 

Hier, wo Schweigen ruht in tiefer Stille, 
Strömte Donner einst auf weitem Plan, 
Brausend stieg aus grausem Kampfge wühle 
Wutgeschrei wie Stürme himmelan. 
Kampflust tobte im ergrimmten Streite, 
Riß den Bruder von des Bruders Seite, 
Die gesunk'ne Schar, des Todes Raub, 
Lag gestreckt im blutdurchmengten Staub. 



*) Vgl. »Ungedruckte Briefe«, 1. c, I. Teil, pag. 86. 
**) Der Abdruck geschieht nach dem mir vorliegenden Originalmanuskript. 

255 



Aber herrlich, mitten im Gefechte, 
Sah man Ostreichs Krieger da als Mann 
Tapfer streiten mit gewalt'ger Rechte, 
Nimmer schnöder Feigheit Untertan. 
Und, für Gott und Vaterland gesunken, 
Bauten Ostreichs Söhne feuertrunken 
Einen Wall mit ihren Leichen hin 
Vor der Freiheit dräuenden Ruin. 

Heldsöhne, die Walhallas Wonne 
Nun durch eine Ewigkeit beglückt, 
Die, zu ihres Heldenmutes Lohne, 
Nun der ewig grüne Lorbeer schmückt, 
Unerloschen in des Ruhmes Hallen 
Werden eure Namen flammend strahlen 
Ewig hell im ungetrübten Glanz, 
Wie der Sterne schimmernd heller Kranz. 

Als der Ahnen Schar vor grauen Jahren 
Brach der Römerfessel schnödes Band 
Und, verdunkelt von Thuiskos Scharen, 
Das Gestirn der Römerglorie schwand, 
Mußte wohl, von Staunen hingerissen, 
Schon der Erdkreis mit Gewißheit schließen 
Aus der Väter hoher Tapferkeit 
Auf die Heldensöhne künft'ger Zeit. 

Und so ward es — ihrer hohen Ahnen 
Blieben späte Heldenenkel wert — 
Ihr, ja, ihr bezeugt es, heil'ge Manen, 
Sieggekrönt und ewig hochverehrt 
Unerloschen in des Ruhmes Hallen 
Werden eure Namen flammend strahlen 
Ewig hell im ungetrübten Glanz, 
Wie der Sterne schimmernd heller Kranz. 



(Zweite Elegie.) 

Trüber irret mein Blick hinaus in die schweigende Ferne, 

Die nun die Schleier der Nacht wieder in Dämmerung hüllt 1 
Ringsum schweigende Ruh und melancholisches Dunkel, 

Nur in der Eiche Laub lispelt der Abendwind. 
Leise Schauer der Nacht erfüllen die Seele mit Wehmut, 

Helle wie Sternenlicht dämmert Erinnerung auf. 
Hai wie hallte dereinst, als hier der Franke gewütet, 

Brüllender Donner der Schlacht weithin im ebnen Gefild, 

256 



Von den Rossen zerstampft und von deutschem Blute gerötet 

Und vom Gelärme durchtobt wie von des Windes Gewalt 
Hai wie standet ihr da, des Vaterlands mutige Söhne, 

Kühn, mit flammender Brust, tief im Ge wühle der Schlacht; 
Und für den eigenen Herd und für sie, die heilige Freiheit, 

Scheut ihr nicht Wunden und Tod drohende Pfeile nicht mehr. 
Bleich, mit greulichem Blick, ging der Tod im Sturme der Feldschlacht 

Ungesehen hindurch, schwebend in leiserem Tritt, 
Bricht manch ritterlich Herz, das ihn ohne Schauder erwartet, 

Und der schwirrende Pfeil zuckt in die tapferste Brust, 
Sterbend sinkt der Held. Ein Wort auf ersterbender Lippe 

Freiheit und Vaterland lallet sein bleicherer Mund. 
Nacht umfloret sein Aug' — ein einziger Funke Besinnung 

Blieb noch im Herzen zurück, das nun schon langsamer schlügt 
Nichts verleidet den Schritt in die seligen Auen des Friedens, 

Eine Beklemmung allein füllt ihn mit bebender Angst 
Angstvoll denket er noch, da erschallet der donnernde Ruf: Siegl 

•Sieg« hallt sein brechendes Herz wider und schlägt nicht mehr. 
Also deiner würdig sind manche siegend gefallen, 

Deutsches Vaterland, das stets nur hohes erzeugt, 
Würdig waren sie dein auch, unvergeßlicher Hermann, 

Der du, ein Deutscher, dereinst Freiheit der Ahnen erkämpft! 
Würdig strahlen fürwahr, für die heilige Freiheit gesunken, 

Diese Helden mit dir ewig im Tempel des Ruhms. 



(Dritte Elegie.) 

Geweihter Boden, mit betränten Blicken 

Grüßt dich mein Aug' mit Lust zugleich und Trauer; 

Die gold'ne Sonn 1 ist längst hinabgesunken 

Und mich umweh'n des Abends leise Schauer. 

Was rauscht um mich? Ich sehe mit Entzücken 

Ersteh'n die Heldenschar, die feuertrunken 

Für Freiheit hingesunken I 

Heroen, für das Vaterland gefallen, 

Ihr habt des Sieges Palmen kühn errungen; 

Vom Ruhmeslorbeer stolz die Stirn umschlungen, 

Zogt ein ihr in Walhallas Wonnehallen. 

Aus eurem Blut, das kämpfend ihr vergossen, 

Muß euch ein ewig grüner Lorbeer sprossen. 



Du, deutsches Volk, sahst Siegspaniere wehen, 
Sahst deine Throne minder drohend wanken, 
Sahst feig den übermüt'gen Feind entweichen, 
Als diese Helden siegbegeistert sanken. 



*57 "7 



Du bautest deine prangenden Trophäen, 

Die an des Himmels Sternenmeere reichen, 

Auf diese Heldenleichen. 

Drum ehre sie und laß noch dankbar ihnen 

(Als stummen Nachruf im vereinten Chore 

Bis an des Totenreiches dunkle Tore) 

Des Angedenkens warme Tränen rinnen, 

Des Volks Gedächtnis, wie des Sängers Lieder 

Gibt Leben ja den toten Helden wieder. 

* * 

* 

19. Jänner 1846. 
Zum erstenmal seit 22. Dezember wieder das Kolleg besucht. 

9. Februar. 
Dominus Professor mihi concessit dornt manere tamdiu donec memet 
ipsum idoneum sentiam ad examen semestrale perferendum. (Gratiasl) 

9. März. 

Tentamen semestrale meum! Hora VEH ad Pontium me contuli et 
dein iimus ad D. Professorem Bertholdum, qui nos ad D. Praefectum duxit. 
Paullopost venit et Rev. D. Professor Rel. Leander et Pontium examinavit 
dicens non opus omnino esse, ut et me examinet. Me interrogavit de sanitate 
mea, deinde mihi gratias egit »pro poemate pulchro« dicens laudandam esse 
diligentiam meam etc. etc. Post horam finitum erat omne tentamen. 

Examinati hilares dimissi abiimus. 

11. Mai. 

Heute ist das erste Blatt der Zeitschrift »Aurora« erschienen. Diese 
wird von unserem Kollegen Wiesner redigiert, erscheint wöchentlich einmal ; 
monatlich wird mit 20 Kr. Konventionsmünze pränumeriert; ich und Pruggner*) 
liefern dazu die Beiträge und erhalten dafür den Reinertrag des Ganzen. 
Bisher hat pränumeriert: 1. der Redakteur selbst (I), 2. sein Herr Papa, 
3. seine Frau Mama, 4. ein Student. 

29. Mai. 

Herr Professor eröffnete uns in der Schule, daß unsere Zeitschrift 
»Aurora«, von welcher er, man weiß nicht wie, den ersten Bogen erhascht 
hat, aufhören müsse, da periodische Blätter, die zirkulieren, verboten sind. 

15. Juni. 
Unsere »Aurora« wird (doch ohne Titel 1) fortgesetzt« 



*) Hamerlings Jugendfreund and Landsmann Anton Brückner, der in den Tagebüchern des 
Dichters und in der Selbstbiographie oft genannt ist Er schrieb sich damals Pruggner. 

a 5 8 



27- Juli. 
Dem Herrn Professor meine »Märtyrer« zum Namensfeste überreicht! 
Er sagte: »Gut, mein Kind; ich danke Ihnen; werd' es mit Vergnügen 
durchlesen. Laß Vater und Mutter grüßen. Adieu, mein Kind.« 

7. August. 

Hatten wir unsere Verlesung. Nach derselben begab ich mich zum 
Herrn Professor, begierig, was er über meine »Märtyrer« sagen würde, da 
ich gehört, er habe dieselben bei der Prüfung am 5. d. M., welcher ich 
nicht beigewohnt, öffentlich vorgelegt. Er behandelte mich zwar äußerst 
gütig gab sich aber nicht die geringste Mühe, nur ein ein- 
ziges Wort über mein Drama zu verlieren. 

Wer so recht vom Grund seines Herzens Dichter ist, kann urteilen, 
sonst aber keiner, wie sehr das gänzliche Übersehen eines guten Willens 
in die tiefste Brust hineinschneidet. Das mühevoll ausgearbeitete Werk von 
einem ganzen Jahr auf zwanzig Bogen abschreiben, mit einem Herzen voll 
banger Erwartung angstvoll harrend der Dinge, die nach einer solchen 
Haupt- und Staatsaktion, wie man meinte, erfolgen sollen — all diese Mühe 
hätte doch ein »Ihr Werk hat mir gefallen oder nicht« verdient. Herr Re- 
ligionsprofessor Leander Knöpfer, dem ich die »Eutychia« überreichte, 
hat doch wenigstens gesagt: »Ich müsse fleißig gewesen sein.« Nach diesen 
Worten nahm ich freilich einen sehr untergeordneten Rang unter den 
schreibenden Leuten ein und wäre die »Eutychia« das schönste Gedicht von 
der Welt, denn es gibt zehnmal dickere Bücher als meine »Eutychia« — 
aber er hat doch wenigstens bewiesen, daß er wisse, ob mein Büchlein dünn 
oder dick sei! Nichts mehr von dem närrischen Zeug! Man prallt überall 

mit der Nase an! Alles ist anders, als man denkt! Wenn's so fort geht 

wie komme ich weiter? Hätte ich wenigstens Geld! O, mein heiliges 

römisches deutsches Reich, nimm doch einmal Notiz von mir armem Teufel ! 

Das ist das letzte Tagebuchblatt, das sich mit dem Schottengymnasium, 
beziehungsweise mit unseres Dichters Professoren beschäftigt. Und just dieser 
pessimistische Stoßseufzer findet in unseres Dichters Selbstbiographie Berück- 
sichtigimg unter versöhnender Kommentierung. »Diese Schweigsamkeit«, 
heißt's in den »Stationen«, »kränkte mich damals. Jetzt, wo ich sie zu begreifen 
glaube, kann ich sie nur billigen. Ohne Zweifel fand man es bedenklich, 
einen Schüler durch frühzeitigen Beifall zur Beschäftigung mit Neben- 
dingen aufzumuntern.«*) 



*) VgL »Stationen« pag. 77. 

259 17» 



Unsere Mitteilungen sind zu Ende. Denn als unser Dichter August 1846 
das Schottengymnasium verlassen, trat er zu diesem fürderhin in keinen Ver- 
kehr mehr. 

Aber doch — eine bezügliche Äußerung aus Hamerlings letzten 
Lebensjahren ist uns erhalten und mit ihr möge auch unsere schüchterne 
Skizze freundlich ausklingen. Hamerling sprach das Wort zu P. Vinzenz 
Knauer, dem gelehrten vornehmen Mitgliede des Schottenstiftes, mit dem 
der Schopfer der »Atomistik« in den Achtzigerjahren zeitweilig Briefe ge- 
wechselt. 

»Ich erinnere mich oft und gerne ans Wiener Schottengymnasium«, 
äußerte damals Hamerling zu P. Knauer. 

»Ich erinnere mich oft und gerne« — die jubilierende Klosterschule 
wird sicher freudig-stolz dies Wort des großen Dichters mit bunter Initiale 
in ihre hundertjährige Chronik schreiben. 




260 




Wi 



gymnasio. Ein Beitrag zur Kenntnis des gegen- 
w ax dgenZustandes des österreichischen Gymnasiums. 
Von August Scheindler. J| 

Aus dem Studentlein, das in den Jahren 1869 — 1871 die VIL und 
r-\ VIII. Klasse der Jubelanstalt besuchte und im Juli 1871 mit einem 
Maturitätszeugnisse »mit Auszeichnung« von ihr Abschied nahm, 
ist im Laufe der Zeiten ein Gymnasialprofessor, Gymnasialdirektor und 
schließlich gar ein Gymnasialinspektor geworden. Schon daraus ersieht der 
geneigte Leser, daß ich eigentlich nie vom Gymnasium weggekommen 
bin; dies trifft umsomehr wörtlich zu, als ich auch während meiner Uni- 
versitätsstudien als Instruktor immer im Dienste des Gymnasiums ge- 
standen bin. 



261 



Da ist es denn nicht zu verwundern, wenn ich mich mit dem Gymnasium 
formlich verwachsen fühle und mir sein Schicksal, besonders seine Wert- 
schätzung in der Öffentlichkeit recht nahe geht. Habe ich doch besonders in 
meiner gegenwärtigen Stellung so oft Gelegenheit, wenn ich dem Unterrichte 
beiwohne oder den Vorsitz bei den mündlichen Maturitätsprüfungen führe, 
ich übertreibe nicht, mit Ehrfurcht zu beobachten, was das Gymnasium der 
Jugend für kostbare Bildungswerte überliefert, wie die Jugend an ihnen 
erstarkt, wie z. B. die zehnjährigen Knaben in der I. Klasse schon nach 
einigen Monaten ihre geistige Physiognomie verändern, wie die Knaben 
von Stufe zu Stufe in geistiger Zucht wachsen, was oft das Gymnasium 
selbst aus dem schwerfalligen Knaben vom Dorfe in acht Jahren gemacht, 
wie es ihm Reife und Fähigkeit verliehen hat, an die schwierigsten geistigen 
Probleme heranzutreten. Natürlich gelingt es dem Gymnasium nicht, aus 
jedem Schüler den göttlichen Funken zu schlagen; ja, man muß sogar 
sagen: bei verhältnismäßig nicht gerade wenigen gelingt es ihm nicht; 
denn nur ungefähr ein Viertel seiner Schüler führt es jetzt in geradem 
Wege von der I. bis zur VIII. Klasse und von ihnen etwa 96 Prozent durch 
die Maturitätsprüfung; und selbst unter diesen ist noch hie und da eine 
erkleckliche Zahl, die zwar reif erklärt wurde, tatsachlich aber nur dem 
Fleiße, nicht wirklicher Reife die glückliche Ankunft am Ziele verdankt. 
Aber in jedem Jahre finde ich unter den Abiturienten bei den Maturitäts- 
prüfungen Jünglinge zu einer geistigen Höhe emporgediehen, die mich mit 
Staunen und hoher Freude erfüllt. Heil der Anstalt, die Jahr für Jahr solche 
Früchte zeitigt, selbst wenn ihrer weniger wären, als sie wirklich sind; sie 
braucht sich auch der nicht ganz reifen und nicht ganz wohlgestalteten 
durchaus nicht zu schämen ! Denn daß nicht alle Schüler zum selben geistigen 
Maße heranwachsen, liegt in tausend anderen Verhältnissen und kann gegen 
das Gymnasium ebensowenig einen Vorwurf bilden, wie etwa, daß nicht alle 
zu gleicher Körperhöhe gelangen. Auch muß man immer bedenken, daß das 
Gymnasium in erster Linie keine Erziehungs-, sondern eine Unterrichtsanstalt 
ist, daß es seine Schüler nur den geringeren Teil der Lehrzeit bei sich hat 
und neben seinem eine Menge anderer Einflüsse auf sie dulden muß, ohne 
auch nur die schädlichsten von ihnen abhalten zu können. Endlich sind ja 
Prüfungsleistungen exakt überhaupt nicht meßbar und so hat natürlich manches 
Maturitätszeugnis mehr die Bedeutung einer Hoffnung für die Zukunft als 
einer vollwertigen Bescheinigimg für die Gegenwart; ob sich diese Hoffnung 
erfüllt, darauf nimmt das Gymnasium keinen Einfluß mehr ; als fertige Menschen, 
als Menschen, die nichts mehr zu lernen hätten, entläßt es ohnehin auch die 
besten nicht ; es schickt seine jungen Leute überhaupt nicht ins Leben, sondern 

262 



an die Hochschule, befähigt, dort erst die Wissenschaft kennen zu lernen. Ich 
denke also, ein billiger Beurteiler wird weder nach der einen noch anderen 
Richtung- vom Gymnasium allein absolute Vollkommenheit fordern, sondern 
auch ihm das Recht der UnVollkommenheit wie allen menschlichen Ein- 
richtungen zubilligen. 

Trotzdem aber kann ich behaupten, daß sich seit etwa 50 Jahren auch die 
Leistungen und inneren Erfolge des Gymnasiums allmählich, aber stetig gehoben 
haben und das geistige Niveau seiner Abiturienten im allgemeinen gestiegen ist. 

Eben deshalb darf man nicht, wie es so oft geschieht, das heutige 
Gymnasium nach den Erfahrungen vor 30 und noch mehr Jahren beurteilen • 

Damit will ich natürlich keinen Stein auf das Gymnasium von ehedem 
werfen; im Gegenteil, ich bin ihm heute noch dankbar, besonders dem lieben 
Schottengymnasium, das mich, den Fremdling, der vom damals noch viel 
ferneren Oberösterreich gekommen war, liebevoll aufgenommen und nach- 
drücklich strenge zu gründlicher, genauer Arbeit erzogen, das mich gerade 
in den entscheidenden Jünglingsjahren lernen gelehrt hat. 

Aber in gewissem Sinne ist natürlich auch die Schule das Kind ihrer 
Zeit und wie sich innerhalb des letzten halben Jahrhunderts viele Verhält- 
nisse in Österreich geändert haben — man erblickt darin wohl im ganzen 
«inen kulturellen Fortschritt — so kann man auch behaupten, daß, obgleich 
4ie Organisation und der Lehrplan des Gymnasiums wesentlich derselbe 
geblieben ist, dennoch der Unterrichtsbetrieb an ihm sich vervollkommt und 
entsprechend den modernen pädagogischen Anschauungen verfeinert hat, der 
innere Erfolg des Unterrichtes gestiegen ist und daß sich die Organisation 
des Jahres 1849 als lebenskräftig erwiesen hat. Wenn nun des ungeachtet in 
der Gegenwart das österreichische Gymnasium heftige Anfeindungen erfahrt, 
ja, von ernsten Männern klipp und klar behauptet wird, seine Uhr sei 
abgelaufen, so müßte diese Erscheinung, für sich genommen, Bedenken 
erregen — und man hört ja auch wirklich gelegentlich die Äußerung: Es 
muß etwas faul sein am Gymnasium, denn woher sonst der Lärm? — 

Doch verliert sie an Gewicht, wenn man erwägt, daß auch auf geistigem 
Gebiete keine Erscheinung für sich besteht, sondern jede einzelne ein Ergebnis 
unzähliger Wechselwirkungen ist. Und so ist es denn eher im Gegenteil kein 
Wunder, wenn in einer Zeit, wo versucht wird, mit allem Überkommenen 
aufzuräumen, und auf allen Gebieten, auf politischem nicht minder als auf 
wirtschaftlichem, auf moralischem ebenso wie auf dem der Kunst und 
Literatur, auf eine vollige Umwertung der überlieferten Begriffe hingearbeitet 
wird, die allgemeine Bewegung auch vor dem Gymnasium und seinem 
Bildungswerte nicht Halt macht. 

263 



Glücklicherweise ist sich aber der ernste und denkende Mann darüber 
klar, mag er über das Gymnasium welcher Ansicht immer sein, daß auf dem 
Gebiete der intellektuellen und sittlichen Ausbildung- 'der Jugend jäher 
Umsturz geradezu Verbrechen wäre und daß es sich vernünftigerweise auf 
diesem so überaus wichtigen und für die Zukunft des Staates so bedeutungs- 
vollen Gebiete doch nur um eine Entwicklung der bestehenden und durch 
Tradition gefestigten Einrichtungen handeln kann. 

Darum bin ich der frohen Zuversicht, daß die Freunde des öster- 
reichischen Gymnasiums trotz des Lärmes des Tages für seine Zukunft auch 
heute nicht zu bangen brauchen und ich hege dieses Vertrauen umsomehr, 
weil ich in meiner Stellung an der Spitze einer größeren Anzahl von 
Gymnasien seit mehr als 10 Jahren tagtäglich beobachte, wie gerade seine 
spezifischen Bildungsmittel unter allen Umständen sich bewähren und sogar 
unter den ungünstigsten ihren Wert nie vollständig einbüßen. 

Wenn ich aber auch einen Einblick in den Zustand und die Erfolge 
ziemlich vieler Gymnasien besitze, so bin ich mir doch recht wohl bewußt, 
daß auch ich nicht über das Gymnasium im allgemeinen zu urteilen 
berechtigt bin, weil auch mir die genaue Kenntnis aller einzelnen Anstalten 
nicht zu Gebote steht; ich werde also mit allgemeinen Behauptungen sehr 
sparsam sein und den Geltungsbereich meines Urteiles genau abgrenzen. 
Immerhin wird, wem Sachkenntnis nicht Trübimg des Urteils und Vorein- 
genommenheit, sondern Grundbedingung für ein richtiges, objektives Urteil 
bedeutet, meinen Ausführungen insoferne wenigstens mehr Gewicht denn 
manchen Gegnern des Gymnasiums einräumen, als diese ihre Kenntnis 
der Leistungen des Gymnasiums zumeist aus ihrer eigenen Schulzeit oder aus 
den Erfahrungen mit ihren Söhnen schöpfen, also sich auf frühere Zustände 
oder die gegenwärtigen einer einzigen Anstalt und diese entweder aus der 
Erinnerung oder nur aus mittelbarer Quelle beziehen, — und daher kommt es 
denn auch, daß, soweit überhaupt Urteile auf Grund konkreter Tatsachen 
angeführt werden, infolge der geänderten Verhältnisse auch sie heute gar 
nicht mehr zutreffen oder sich als unzulässige Generalisierung vereinzelt 
dastehender Vorkommnisse erweisen — während ich mir mein Urteil von 
verschiedenen Standpunkten aus durch unmittelbare Einsicht in die wirklichen 
Verhältnisse habe bilden, berichtigen und schärfen können. Denn ich habe 
als Lehrer an drei, als Direktor an zwei Gymnasien gedient, als Landes- 
schulinspektor habe ich mich gegenwärtig um zwanzig zu kümmern und daß ich 
nicht aus Berichten, also am grünen Tische, sondern durch eigene Anschauung 
mir mein Urteil bilde, dafür kann ich anführen, daß ich seit zehn Jahren über 
80 Inspektionen durchgeführt, jedes Jahr alle oder doch fast alle Anstalten 

264 



meines Amtsbezirkes mindestens vorübergehend visitiert, daß ich ferner Jahr 
um Jahr an 6 — 7 Anstalten die Maturitätsprüfungen in den Hauptterminen, 
nach den Ferien alle Wiederholungsprüfungen abgenommen habe. Ich bitte 
den geneigten Leser, hierin keinen Akt von Ruhmredigkeit zu erblicken, 
sondern lediglich den Nachweis, aber auch zugleich den Geltungsbereich 
meiner Urteilsberechtigung. 

Und selbst unter diesen Umstanden mochte ich das Hauptgewicht 
meiner Darlegungen nicht in den Urteilen, sondern in den konkreten Tat- 
sachen, spezieller noch in den Zahlen und statistischen Angaben erblickt 
sehen, die alle amtlichen Publikationen entstammen. Wer die Literatur über 
die Gymnasialfrage kennt, wird mir, glaube ich, zustimmen, daß die meisten 
Anklagen gegen das österreichische Gymnasium auf einer volligen Unkenntnis 
der tatsachlichen Verhältnisse beruhen; diese Anklagen kehren immer und 
immer wieder, ohne deshalb richtiger zu werden; ich halte es deshalb 
geradezu für eine Pflicht der Berufenen, vor allem die Kenntnis der wirk- 
lichen Verhältnisse weiteren Kreisen zu vermitteln ; nur so kann es gelingen, 
wenigstens die unberechtigten Vorwürfe gegen das Gymnasium auf Grund 
früher bestandener, heute aber beseitigter oder vielleicht einzeln, aber nicht 
allgemein wirklich vorkommender Übelstände zu beseitigen und teilweise 
berechtigte Klagen auf das richtige Maß zurückzuführen. 

Zunächst sei mit einem Worte des weitverbreiteten Irrtums gedacht, 
daß am Gymnasium der Unterricht in der Mathematik und in den Natur- 
wissenschaften — man denke, im Zeitalter der Naturwissenschaften! — allzu 
stiefmütterlich bedacht und das Gymnasium eigentlich nur eine Schule zur 
Erlernung der alten Sprachen sei. 

Lehrplanmäßig ist das Verhältnis der Unterrichtszeit zwischen den 
sprachlichen und realistischen Disziplinen am Gymnasium vom Anfang an 
das von 104 zu 70 wöchentlichen Stunden und in den Vorbemerkungen zum 
Organisationsentwurf vom Jahre 1849 heißt es wortlich: 

»Als den Gegenstand, in welchem an Gymnasien gleichsam der Schwer- 
punkt des ganzen Unterrichts zu ruhen habe, hat man bekanntlich die 
klassischen Sprachen angesehen; die Durchführung jenes Gedankens wurde 
aber aUerwärts immer schwieriger, je mehr Raum und selbständige Geltung 
die sogenannten Realien forderten und sich zu erobern verstanden, und 
sie ist gegenwärtig unmöglich. Mathematik und Naturwissenschaften lassen 
sich nicht ignorieren; sie gestatten auch nicht, daß man die Kraft ihres 
Lebens zum leeren Schatten irgend einer anderen von ihnen wesentlich ver- 
schiedenen Disziplin mache. Der vorliegende Lehrplan verschmäht in dieser 
Hinsicht jeden falschen Schein, sein Schwerpunkt liegt nicht in der klassischen 

265 



Literatur, noch in dieser zusammen mit der vaterländischen, obwohl beiden 
Gegenständen ungefähr die Hälfte der gesamten Unterrichtszeit zugeteilt ist, 
sondern in der wechselseitigen Beziehung aller Unterrichtsgegenstände 
aufeinander. Dieser nach allen Seiten nachzugehen und dabei die humanisti- 
schen Elemente, welche auch in den Naturwissenschaften in reicher Fülle 
vorhanden sind, überall mit Sorgfalt zu benützen, scheint gegenwärtig die 
Aufgabe zu sein. Wenn sich hiedurch die Schwierigkeiten gesteigert haben, 
so gibt es keine andere Beruhigung, als welche in dem Gedanken liegt, 
daß sie nicht willkürlich erzeugt, sondern durch wohlbegründete Bedürfnisse 
der Zeit aufgenötigt und daß sie nicht unüberwindlich sind.« S. VII. 

In neuerer Zeit nun. ist dieses Verhältnis zu gunsten der naturwissen- 
schaftlichen Disziplinen sogar noch etwas verschoben worden, indem der 
Geographie (in III), der Botanik (in V) und Physik (in VII) je eine Wochen- 
stunde zugelegt werden kann. 

Der faktische Betrieb der mathematisch-naturwissenschaftlichen Diszi- 
plinen an den Gymnasien ist nach dem Urteile von Fachmännern, die 
Gymnasium und Realschule zu beobachten Gelegenheit haben, trotz des 
geringeren Zeitausmaßes nach Umfang und Erfolg dem an Realschulen 
mindestens annähernd gleich; in den naturwissenschaftlichen Gegenständen 
hat jedes Gymnasium Lehrmittelsammlungen von einer Reichhaltigkeit, die 
allen Anforderungen des Unterrichtes vollkommen entspricht. Überhaupt ist 
im gesamten Unterrichte der Anschauung im weitesten Maße Rechnung 
getragen. Es gibt in Niederösterreich kein Gymnasium, das nicht Anschauungs- 
mittel für den Religionsunterricht, Bilder, Tafeln, Modelle zur Ver- 
anschaulichung des antiken Lebens, Bilder für den geschichtlichen, kunstr 
geschichtlichen, kultur- und literarhistorischen Unterricht, Anschauungs- 
mittel sogar für den psychologischen Unterricht besäße; an nicht wenigen 
Anstalten sind förmliche archäologische Sammlungen eingerichtet worden; 
Gipse, Bilder als Wandschmuck und für die künstlerische Erziehung de* 
Gymnasialjugend finden sich heutzutage an jedem Gymnasium meines Amts- 
bezirkes. Schon daraus ist zu ersehen, daß auch die Klage nicht berechtigt 
ist, am Gymnasium lernten die Schüler nicht »sehen«, »beobachten«. Abei" 
auch das Zeichnen wird an 17 Gymnasien in Niederösterreich als obligater 
Gegenstand gelehrt, an allen übrigen als freier Gegenstand betrieben. 

Die modernen Sprachen werden an allen Anstalten unterrichtet; an 
7 Realgymnasien ist Französisch obligater, an drei Gymnasien in Wien relativ- 
obligater Gegenstand ; Englisch ist relativ-obligat eingeführt an zwei Gymnasien 
in Wien, erweiterte Sammelkurse sind an einem Wiener Gymnasium für 
beide Sprachen eingerichtet. . 

266 



Unterricht in Gesang, Kalligraphie, Stenographie wird an allen Gymnasien 
in Niederösterreich erteilt, an mehreren wird auch die Instrumentalmusik 
gepflegt. 

In welchem Umfange für die körperliche Ausbildung der Jugend am 
österreichischen Gymnasium gesorgt wird, ist in einem eingehenden Artikel der 
»Wiener Zeitung« (Nr. 30, Jahrgang 1907, S. 5) dargelegt An allen nieder- 
österreichischen Gymnasien ist der Turnunterricht eingerichtet, an acht ist 
er obligat, das Jugendspiel findet an allen Anstalten Pflege, endlich finden 
fast an allen alljährlich Schulausflüge, Märsche u. s. w. statt. Zudem werden 
alljährlich fast an jedem Gymnasium in Niederösterreich Schülerakademien, 
Schulfeste u. dgl. abgehalten, vielfach gemeinsam Museen, Theater unter 
Führung von Lehrern besucht, ja in Wien werden seit einigen Jahren eigene 
Konzerte blofl für die Mittelschüler (Symphonie und a capella) im großen 
Musikvereinssaale veranstaltet. 

Kann angesichts dieser Tatsachen noch jemand mit Recht dem Gymna- 
sium allgemein — denn vereinzelt können ja da und dort Mängel in 
all diesen Richtungen bestehen — den Vorwurf machen, daß es die Natur- 
wissenschaften vernachlässige, die Schüler nicht zum Sehen erziehe, die 
körperliche Ausbildung der Jugend vernachlässige, die Jugend ohne Er- 
ziehung zur Kunst, namentlich ohne Kenntnis der griechischen und römischen 
Kunst entlasse, daß es keine Gelegenheit zur Erlernung moderner Sprachen 
biete, die Bildung des Gemütes versäume ? Ich denke, ich darf auf Grund 
der angeführten Tatsachen die Frage entschieden verneinen. 

Auch das sei noch hervorgehoben, daß lehrplanmäßig der Unterricht im 
Deutschen die Schüler des Gymnasiums fast bis zur Literatur der Gegenwart, 
wenigstens der unmittelbaren Vergangenheit, der Geschichtsunterricht bis zur 
Schwelle der Gegenwart führt. Es besteht somit die Klage, das Gymnasium 
entlasse seine Schüler ohne Orientierung über die literarischen und politi- 
schen Zustände unserer Zeit, nicht mehr zu Recht. 

Doch all das will ich hier nur kurz gestreift haben. 

Sein eigentümliches Gepräge aber erhält das Gymnasium durch den 
Unterricht in den klassischen Sprachen; über den Betrieb und Erfolg dieses 
Unterrichtes herrschen nun schon gar vielfach ganz verkehrte, völlig irrige 
Vorstellungen; auf diesem Gebiete die tatsächlichen Verhältnisse darzulegen, ist 
der Hauptzweck dieses Aufsatzes. Es scheint mir umsomehr Veranlassung dazu 
vorhanden zu sein, als daraus die heftigsten Angriffe auf das Gymnasium ent- 
standen sind. Und zwar sind es zweierlei Gegner, die zu gemeinsamem Sturmlauf 
wider das Gymnasium sich verbunden haben: die erste Gruppe hält über- 
haupt den Unterricht in den beiden klassischen Sprachen für überlebt, unzeifr 

267 



gemäß, wertlos, ja schädlich für die moderne Jugendbildung, oder zwar an 
sich für wünschenswert und gut, aber für ein Hindernis des Besseren, weil 
er wichtigeren Gegenstanden Zeit und Raum wegnimmt, und fordert deshalb 
seine Abschaffung. Mit dieser Gruppe von Gegnern will ich mich hier nicht 
weiter befassen; denn ich will mich in theoretische Erörterungen tunlichst 
wenig einlassen und brauche dies umsoweniger, als ich die Meinung dieser 
Gegner durch das herrliche Buch von Zielinski: »Die Antike und wir« 
(autorisierte Übersetzung von E. Schoeler, Leipzig, Dieterichsche Verlags- 
buchhandlung, Theodor Weicher, 1905) für unübertrefflich und endgültig 
widerlegt betrachte. Wem es in dieser Frage um die Wahrheit zu tun ist, 
der muß dieses Buch lesen. Vergnügen und Gewinn wird gewiß jeder, auch 
der Gegner aus ihm schöpfen. 

Die zweite Gruppe der Gegner beruft sich auf Tatsachen oder was sie 
dafür hält und formuliert ihren Standpunkt gegen den altklassischen Unterricht 
am Gymnasium folgendermaßen: Wir anerkennen den Wert klassischer 
Bildung; aber das österreichische Gymnasium gibt sie in Wirklichkeit seinen 
Schülern nicht; es wird von den alten Autoren so gut wie nichts gelesen und 
die Schüler gelangen zu keiner Selbständigkeit in den alten Sprachen; ja, wie 
der Unterricht in ihnen am Gymnasium betrieben wird und nicht anders be- 
trieben werden kann, wird die Antike den Schülern geradezu verleidet; es ist 
zweckentsprechender, auf die Erlernung der alten Sprachen und die Lektüre 
der Originalwerke zu verzichten und die Schüler durch die Lektüre der 
Hauptwerke der griechischen Literatur in deutscher Übersetzung, durch den 
Geschichtsunterricht und durch das Zeichnen in das Verständnis des Altertums 
einzufuhren. Also: Abschaffung des Unterrichtes in den alten Sprachen und Ein- 
führung der Jugend in das klassische Altertum auf Grund von Übersetzungen. 

Hier hat nun die Aufklärung über die tatsächlichen Verhältnisse einzu- 
setzen und ich komme damit zum eigentlichen Thema, denn es ist klar, daß 
die Meinung dieser Gegner widerlegt ist, wenn ihre Voraussetzung als hin- 
fallig und das ungünstige Urteil über den Erfolg des Unterrichtes in den 
klassischen Sprachen am Gymnasium als tatsächlich unrichtig erwiesen wird. 

Ich werde also im folgenden nachweisen: 1. daß der altklassische Unter- 
richt am österreichischen Gymnasium zu einem tatsächlichen reellen Erfolge 
gelangt, die Jugend in die Kenntnis der römischen und griechischen Literatur 
in ihren bedeutendsten Erscheinungen wirklich einfuhrt und bis zu einem 
gewissen Grade der Selbständigkeit bringt; 2. daß diejenigen, die die Lektüre 
der Originalwerke durch die von deutschen Übersetzungen derselben ersetzt 
wissen wollen, das eigentliche Wesen des altklassischen Unterrichtes und 
seine Bedeutung für die Ausbildung der Jugend gänzlich verkennen. 

268 



Um meine erste Behauptung zu beweisen, müßte ich eigentlich die Aus- 
weise der absolvierten Lektüre in den alten Sprachen, wie sie in den ge- 
druckten Jahresberichten der österreichischen Gymnasien alljährlich vorliegen, 
hier zum Abdrucke bringen. Das ist natürlich nicht möglich, glücklicherweise 
auch nicht notwendig; es genügt, wenn ich hier die Ausweise zweier An- 
stalten meines Inspektionsbezirkes anführe, die ich ganz absichtslos, rein aufs 
Geratewohl wähle.*) Ich nehme dazu die Angaben aus- dem gedruckten Jahres- 
berichte eines Gymnasiums in Wien und eines außerhalb Wiens vom Schul- 
jahre 1905/06, den sich jeder Leser zur Nachprüfung ohneweiters von der 
betreffenden Anstaltsdirektion verschaffen kann. 

Das Wiener Gymnasium — es ist das Staats-Gymnasium im XIX. Be- 
zirke — bringt S. 19 ff. folgende Angaben über den Umfang der im bezeich- 
neten Schuljahre absolvierten Lektüre aus den klassischen Autoren (auf die 
kürzeste Form gebracht): 

Latein. III. Klasse: Nepos: 6 Biographien, Curtius Rufus: 6 Stück. 
IV. » Cäsar, »bell, gall.« : 4 Bücher (2 mit Auslassungen). 
Ovid, »Metamorphosen« : 235 Verse aus dem 
I. Buche. 
V. » Livius: 2 Bücher. 

Ovid: 1076 Verse (723 aus 4 Büchern »Metamor- 
phosen«, 149 aus 3 Büchern »Fasten«, 111 aus 
2 Gedichten der »Tristien«, 51 aus einem Briefe 
[»Epist. ex Ponto«], 42 aus den »Amores«). 

VI. » Sallust: »bell. Jug.« 

Cicero: 1. Catil. Rede. 

Vergil: 1 Buch »Aeneis«, 1 Ekloge, 122 Verse 

aus dem II. Buche der »Georgica«. 
Cäsar, »bell, civ.« : 63 Kapitel aus dem III. Buche. 

VII. » Cicero: 2 Reden (pro Archia, pro Milone) und 

Laelius. 
Vergil: 3 Bücher (2 in Auswahl). 
VIII. » Tacitus, »Germ.«: 1 — 27; »Annalen« 4 Bücher (in 
Auswahl). 
Horaz: 37 Oden (19 aus dem L, 7 aus dem II., 
6 aus dem III. und 5 aus dem IV. Buche), 
2 Epoden, 4 Satiren (je 2 aus dem I. und 
IL Buche), 5 Episteln (eine nur teilweise). 

*) Wer Zweifel in die Aufrichtigkeit dieser Versicherung hegt, dem empfehle ich nachträglich 
die gedruckten Jahresberichte von Kalksburg, Melk, Frans Josef-Gymnasium in Wien einzusehen. 



269 



Griechisch. V. Klasse: Xenophon, »Anabasis«: 5 Stuck. 

Homer, »Dias«: 2 Gesänge. 
VL » Homer, »Dias«: 8 Gesänge (5 mit Aus- 
lassungen). 
Herodot: Aus dem L Buche, das VII. und 
VIII. Buch zumeist. 
VII. » Demosthenes: 5 Reden. 

Homer, »Odyssee«: 6 Gesänge. 
VUL » Plato: »Apologie«, »Krito« und »Euthy- 
phron«. 
Homer, »Odyssee«: 3 Gesänge. 
Sophokles: »Aias«. 
Hiezu kommt noch folgende Privatlektüre: 
Latein. V. Klasse (25 Schüler): 20 — 40 Kapitel Livius XXII: 13 Schüler. 
VI. » (30 » ): Sallust, Catilina und Reden und Briefe aus 

den Historien: 3 Schüler; Catilina allein: 
6 Schüler; einzelne Kapitel des Catilina: 
2 Schüler; einzelne Reden und Briefe: 
5 Schüler. 
Vergil: 1 Buch 10 Schüler, 1 zumeist 1, je 

1 Ekloge 2 Schüler. 
Cicero: 11 Schüler die übrigen 3 Catilinarien, 

alle oder einzelne. 
Ovid, »Metamorphosen» : Ungefähr ein halbes 
Buch. 
VTI. » (29 » ): je 1 Rede Ciceros 13, je 2 Reden 6, 3 Reden 

1 Schüler und »Cato maior« 9 Schüler. 
Sallust, Catilina: 2 Schüler. 
Phaedrus: 2 Schüler. 

Vergil: 1 Buch 13 Schüler, 2 Bücher 5 Schüler, 
2 — 3 Eklogen 2 Schüler, Auswahl aus 
»Georgica« 1 Schüler. 
VIII. » (28 » ): Tacitus, »Agricola«: 13, »Annalen«, 14 bis 

43 Kapitel: 5 Schüler. 
, Vergil, »AeneTs«: 1 Buch 1 Schüler. 
Catull: Auswahl 4 Schüler. 
Properz: Auswahl 2 Schüler. 
Griechisch. V. Klasse: Xenophon, »Anabasis«: je 1 Stück 5, je 2 Stück 

5 Schüler. 

370 



VI. Klasse: Fast alle Schüler 2 — 5 Gesänge der »Ilias«. 

Xenophon, »Kyrop.«: 5 Stück 1, 3 Stück je 
2 Schüler; »Erinnerungen«: 1 Stück 1, 2 Stück 
2 Schüler; »Helleraka« : 1 Buch in Auswahl 
1 Schüler. 
Herodot: 2 Stück 1, je 3 Stück 2, je 5 Stück 2, 
je 6 Stück 2, 12 Stück 1 Schüler. 
VII. » Demosthenes: je 1 Rede 15 Schüler, 2 Reden 

1 Schüler, 3 Reden 1 Schüler. 

Homer, »Odyssee«: je 1 Gesang 2 Schüler, je 

2 Gesänge 12 Schüler, je 3 Gesänge 2 Schüler, 
je 4 Gesänge 5 Schüler und 9 Gesänge 
1 Schüler. 

Homer, »Ilias«: 1 Gesang 1 Schüler. 
VIII. » Homer, »Odyssee«: 1 Gesang 1 Schüler. 
Demostheftes: 1 Rede 1 Schüler. 
Plato: 1 Dialog 2 Schüler. 
Aristophanes, »Wolken«: 1 Schüler. 
Ich bemerke noch, daß an dieser Anstalt in der V. bis VIEL Klasse 
Englisch relativ obligat gelehrt wird, dafl an diesem Unterrichte fast alle 
Schüler teilnehmen und von der VI. Klasse an manche auch englische Privat- 
lektüre treiben. 

Das Gymnasium außerhalb Wiens, dessen Lektüreverzeichnis ich nun 
folgen lasse, ist das in Oberhollabrunn; im Jahresberichte für das Schuljahr 
1905/06, S. 43 ff, finden sich folgende Angaben: 

Latein. III. Klasse: 6 Biographien des Nepos, 16 Stück Curtius Rufus. 
IV. » Cäsar, »bell, gall.«: 4 Bücher (3 mit Auslassungen). 

Ovid: 224 Verse aus den »Metamorphosen«. 
V. » Livius: 2 Bücher. 

Ovid: 1582 Verse (1310 aus den »Metamorphosen«, 
38 aus den »Fasten«, 234 aus den »Tristien«). 
VI. » Sallust: »bell. Jug.« 

Cicero: 1. Catil. Rede. 

Vergil: 1 Buch »Aenei's«, 2 Eklogen, 608 Verse 
aus den 4 Büchern »Georgica«. 
VII. » Cicero: 2 Reden, Laelius. 

Vergil, »Aeneis«: 6 Bücher (davon 4 nur teilweise). 
VIII. « Tacitus, »Germania«: 1 — 27; »Annalen« : Auswahl 
aus 6 Büchern. 

271 



Horaz: 30 Oden (12 des I., 7 des II., 7 des HL, 
4 des IV. Buches und »carm. saec), 3 Epoden, 
3 Satiren, 3 Episteln. 
Griechisch. V. Klasse: Xenophon, »Anabasis«: 8 Stück, »Kyrop.« 

2 Stück. 
Homer, »Ilias«: 2 Gesänge. 
VI. » Homer, »Ilias«: 8 Gesänge. 

Xenophon, »Kyrop.« : 3 Stück, »Memorab.« 1 Stück. 
Herodot: Abschnitte aus dem L, II., HL, V., VI., 
VIL und Vffl. Buche. 
VII. » Demosthenes: 5 Reden (1 nur teilweise). 

Homer, »Odyssee«: 7 Gesänge und ein Teil eines 
Gesanges. 
VlLL » Plato, »Apologie«: 2 Dialoge und Schlußkapitel 
eines dritten. 
Sophokles: 1 Tragödie. 
Homer, »Odyssee«: 2 Gesänge. 
Dazu noch folgende Privatlektüre: 
Latein. HE. Klasse (51 Schüler): Nepos: 3 BiogTaphien, 1 Stück aus Curtius: 

1 Schüler. 
IV. » (39 » ): Nepos: je 1 Schüler 2, 3, 4, 5, 6, 8, 14 Bio- 

graphien. 
Cäsar, »bell, gall.«: 2 Schüler Teile eines 
Buches, 1 Schüler das ganze »bell. gall.«. 
V. » (30 » ): Cäsar, »bell, gall.« : 2 Schüler je 1, 1 Schüler 

3 Bücher. 
Ovid: 1 Schüler 3, 1 Schüler 22, 1 Schüler 
2^, 1 Schüler 27, 1 Schüler 32 und 1 Schüler 
61 Gedichte. ♦ 

Livius: 1 Schüler Teile eines Buches, 
1 Schüler 2 Bücher und Teile eines dritten, 
1 Schüler 4 Bücher. 
VI. » (39 » ): Cicero: je 1 Rede 2, je 2 Reden 2, je 

3 Reden 4, 4 Reden 1, 6 Reden 1, 
25 Reden 1, »Somnium« 2, Auswahl aus 
den Briefen 1 Schüler. 
Vergil: 8 Eklogen, »Georgica« 1 Schüler 
ganz, 1 Schüler 2 Stück, 1 Schüler 3 Stück. 
Cäsar, »bell, civ.« : 1 Buch 2 Schüler. 

272 



Livius: i Buch 2, 2 Bücher 1, 28 Bücher 1 Schüler.*) 
VII. Klasse: (29 Schüler): Vergil: je 1 Buch »Aene'is« 8 Schüler, 1 Ekloge ein 

Schüler. 

Cicero : 1 Rede 1 Schüler, 2 Reden 1 Schüler, 1 philo- 
sophische Schrift 1 Schüler, 3 philosophische 
Schriften 1 Schüler. 

Livius: 1 Buch 1 Schüler. 
VIIL » (25 « ): Tacitus, »Germania«: g-anz 3 Schüler, Teile eines 

Buches der »Annalen« 5 Schüler, »Dialogus« 
1 Schüler. 

Vergil, »AeneTs« : 1 Buch teilweise 1 Schüler, »Geor- 
gica«, ein halbes Buch. 

Cicero: 1 Rede 1 Schüler. 

Horaz : 9 Oden, 2 Epoden 1 Schüler. 
Griechisch. V. Klasse: Xenophon: 1 Buch »Hellenika« 1 Schüler, 2 Bücher 

1 Schüler, Stücke aus »Anabasis« 2 Schüler, aus 
»Kyrop.« 3 Schüler, »Memorab.« 2 Schüler, »acta 
apostolorum« 2 Schüler, »evang.s.Lucae« 2 Schüler. 

Homer, »Ilias« : je 3 Gesänge 2 Schüler. 
VI. » Homer, »Ilias« : 3 Schüler je 1 Gesang, 4 Schüler 
je 2 Gesänge, 2 Schüler je 3 Gesänge, 3 Schüler 
je 4 Gesänge, 1 Schüler 5 Gesänge, 2 Schüler je 
sechs Gesänge, 1 Schüler 8 Gesänge, 1 Schüler 
9 Gesänge, 2 Schüler je 14 Gesänge, 1 Schüler 
15 Gesänge, 3 Schüler die »Batrachomyomachia«. 

Herodot: 3 Schüler je 3 Stück, 1 Schüler 5 Stück, 

1 Schüler 6 Stück. 

Xenophon, »Hell.«: I. Buch 1 Schüler, »Memorab.« 

2 Schüler und »Kyrop.« 2 Stück 1 Schüler. 
VII. « Demosthenes: je 1 Rede 10 Schüler, je 2 Reden 

4 Schüler. 

Lysias: je 1 Rede 2 Schüler. 

Homer, »Odyssee« : je 1 Gesang 2 Schüler, je 3 Ge- 
sänge 4 Schüler, 10 Gesänge 1 Schüler. 

Homer, »Ilias« : je 1 Gesang 2 Schüler. 

Brief Philipps: 1 Schüler. 



•) Ein einziger Schüler hat privat gelesen: Livius in— X, XXV— XLV, alle Eklogen und 
die »Georgica«, den ganzen Sallust samt dem »Pseudosallustiana«, 25 Reden Ciceros, Auswahl aus 
den Briefen; das »Bellum Alexandrinum«, »Africanum« und »Hispaniense«. 

273 18 



VIII. Klasse: Homer, »Ilias«: 2 Gesänge 1 Schüler. 

Homer, »Odyssee« : »Telemachie« 4 Schüler, 2 Ge- 
sänge 3 Schüler, 3 Gesänge 1 Schüler. 
Bacchylides: 1 Schüler. 
Lukian: je 2 Dialoge 2 Schüler. 
Demosthenes, »Kranzrede« : 3 Schüler. 
Plato: 1 Dialog 1 Schüler. 
Sophokles: 1 Drama 1 Schüler. 

Überblicken wir diese Angaben, so ergibt sich folgendes Bild vom 
Umfange der klassischen Lektüre eines Schülers dieser beiden Anstalten: 

Nepos: 6 Biographien. 

Curtius: 6 — 16 Stück. 

Cäsar: »bell, gall.« 4, »bell, civ.« 1 — 2 Bücher. 

Ovid: von 1200 — 1806 Verse. 

Livius: 2 Bücher. 

Sallust: 1 Schrift. 

Cicero: 3 Reden, 1 philosophische Schrift. 

Vergil: 1 Ekloge, einige hundert Verse aus den »Bucolica«, »Aeneis«, 

4 — 7 Bücher. 
Tacitus: »Germania« 1 — 27, 4 — 6 Bücher »Annalen« in Auswahl. 
Horaz: 34 — 39 Oden und Epoden, 3 — 4 Satiren, 3 — 5 Episteln. 
Xenophon: bis zu 8 Stücken aus der »Anabasis«. 

» » 5 » » » »Kyrop«. 

» » 2 » » den Memorabilien. 

Homer: »Ilias« 10 Gesänge, »Odyssee« 9 — 10 Gesänge. 
Herodot: 1 — 2 Bücher. 
Demosthenes: 5 Reden. 
Plato: »Apologie« und 2 Dialoge. 
Sophokles: 1 Tragödie. 

Dazu kommen bei einem mehr oder weniger großen Bruchteile der Schüler 
Ergänzungen aus Nepos, Curtius, Cäsar, Ovid, Sallust, Cicero, Vergil, Tacitus, 
Horaz; einige Schüler lesen Nepos, Cäsar, Livius, Vergil ganz, Cicero zum 
großen Teile; dazu aus den Elegikern Catull und Properz; ferner aus 
Xenophon, Homers »Ilias« und »Odyssee«, Demosthenes, Herodot, Plato, 
Sophokles. Von Schriftstellern außerhalb des Kanons: Lukian, Aristophanes, 
Lysias, Bacchylides. Einige Schüler haben den ganzen Homer gelesen. 

Dieser Umfang der obligatorische^ Lektüre entspricht im ganzen und 
großen dem Ausmaße der Forderungen des Lehrplanes, nur von Homer wird 

274 



durchschnittlich mehr gelesen, als der Lehrplan vorschreibt ; ferner war dies 
das ungefähre Ausmaß der altklassischen Lektüre an allen 19 Gymnasien 
meines Amtsbezirkes im vorigen Schuljahre ; an einzelnen wurde ja in diesem 
und jenem Autor etwas mehr, an einzelnen etwas weniger gelesen, aber im 
ganzen und großen stimmen alle mit diesem Ausmaße überein, wie sich jeder- 
mann aus den gedruckten Jahresberichten überzeugen kann; endlich wird 
der angegebene Umfang seit ungefähr acht Jahren an allen Gymnasien meines 
Amtsbezirkes erreicht, was sich gleichfalls aus den Jahresberichten konstatieren 
läßt; wir haben somit in obigen Angaben das Normalausmaß der obligaten 
Lektüre an den bezeichneten Anstalten seit etwa acht Jahren zu erblicken. 

Am meisten schwankt natürlich der Umfang der Privatlektüre; aber 
betrieben wird sie an allen Anstalten, die ich übersehe. 

Daß diese weit über den Rahmen der Schulautoren hinausgeht, dafür 
führe ich aus den anderen Jahresberichten des vorigen Schuljahres noch an: 
von lateinischen Autoren wurden privat noch gelesen: Phaedrus, Eutrop, 
Vellejus Paterculus, Sueton, Tibull, Terenz (»Andria«, »Phormio«) Plautus 
(»Trinummus«, »Menaechmi«, »Aulularia«), Petron, Ennius, Lucilius, Martial, 
Plinius, Eugippius (»Vita S. Severini«); von griechischen: Hesiod, Theokrit, 
Quintus Smyrnaeus, Herondas, Aeschylus (»Perser«, »Prometheus«), Euripides 
(»Alkestis«, »Iphigenie in Aulis«, »Elektra«, »Bacchen«, »Kyklops«), griechi- 
sche Lyriker, Isokrates, Thukydides, Plutarch und das »Neue Testament«. 

Die Große der Teilnahme am Betriebe der Privatlektüre zeigt die Tat- 
sache, die z. B. im Sommertermine 1906 bei den Maturitätsprüfungen fest- 
gestellt wurde, daß Privatlektüre an allen vollständigen Gymnasien in 
Niederösterreich gepflegt wurde, an vielen von allen Schülern der VIII. Klasse 
im Umfange eines Jahrespensums; für den Ernst und Gründlichkeit dieser 
Lektüre kann ich darauf hinweisen, daß sich aus der Privatlektüre bei den 
mündlichen Maturitätsprüfungen in diesem Termine an allen 27 vollständigen 
Gymnasien, nur 4 ausgenommen, Schüler zum Examen aus ihrer Privat- 
lektüre gemeldet haben; tatsächlich geprüft wurden 81, d. i. 12*3 Prozent, 
aus Latein, 92, d. i. 14 Prozent, aus Griechisch, fast alle mit gutem, einzelne 
mit vorzüglichem Erfolge. 

Doch das ist nur die kontrollierte Privatlektüre, d. h. diejenige, die die 
Schüler unter einer gewissen Mithilfe der Schule betreiben und aus der sie 
sich von Zeit zu Zeit vom Fachlehrer prüfen lassen. Daneben wird noch 
manches auch von der altklassischen Literatur gelesen, wovon der Schüler 
seinem Fachlehrer gar nichts sagt. Hievon ist hier natürlich nicht die 
Rede; aber aus meiner Erfahrung kann ich sagen, daß diese ganz private 
Lektüre an Umfang der kontrollierten Privatlektüre nicht viel nachsteht. 

275 18* 



Man sage ja nicht: das Papier ist geduldig"; das geben die Professoren 
ins Programm, aber gelesen wird es nicht. Das Ungeheuerliche einer solchen 
Behauptung springt sofort in die Augen:, der Lehrer, der etwas Unwahres 
drucken ließe, das alle Schüler in die Hand bekommen müssen, würde seine 
Autorität als Lehrer, seine Integrität als Mensch einbüßen. Und das sollte 
ein vernünftiger, anständiger Lehrer tun? Überdies wohnen die Direktoren 
den Lehrstunden so oft bei, daß sie über das Ausmaß der Lektüre stets genau 
orientiert sind; es ist also ausgeschlossen, daß unter ihrer Verantwortung 
unwahre Angaben in den gedruckten Jahresbericht Aufnahme finden können. 
Endlich, was die beiden obigen Anstalten betrifft, so habe ich sie im Vor- 
jahre selbst inspiziert ; ich habe also die personliche Garantie, daß alle Angaben 
absolut richtig sind. 

Aus dem Angeführten dürfte ich wohl mit einiger Wahrscheinlichkeit 
den Schluß ziehen können, daß wir es hier mit dem ungefähren Umfange 
der Lektüre der klassischen Autoren an allen Gymnasien in den Ländern 
Österreichs mit einigermaßen gleichen Verhältnissen wie in Niederösterreich 
zu tun haben ; also, wenn man will, mit dem Normalumfange am österreichischen 
Gymnasium im allgemeinen. Doch will ich auf diesen Schluß kein be- 
sonderes Gewicht legen; es genügt die Tatsache, daß an einer Anzahl von 
Gymnasien dies alles wirklich gelesen wird ; denn daraus folgt allerdings mit 
zwingender Notwendigkeit, daß die allgemeine Behauptung, es werde am 
Gymnasium von der altklassischen Literatur so gut wie nichts gelesen, jeden- 
falls unrichtig ist. 

Diese Richtigstellung eines weitverbreiteten falschen Urteiles über 
die Leistungen im Unterrichte in den alten Sprachen am österreichischen 
Gymnasium glaubte ich aber auch jenen tüchtigen und wackeren Männern 
schuldig zu sein, denen dieser Erfolg in erster Linie verdankt wird ; was die 
Lehrer an Zeit, Arbeit und Energie aufwenden müssen, um dieses Resultat 
zu erreichen, kann nur der richtig würdigen, der durch eigene Anschauung 
die Verhältnisse kennt; namentlich bedeutet der intensive Betrieb der 
Privatlektüre für die Lehrer Opfer an schulfreier Zeit und eine Mühewaltung, 
die wohl ein ehrenvolles Zeugnis für ihre vornehme Auffassung der Berufs- 
pflichten ablegt. 

Mit diesem Aufschwung der Lektüre steht auch die Tatsache in ursäch- 
lichem Zusammenhang, daß seit einer Reihe von Jahren für die schriftlichen 
Maturitätsprüfungen aus dem Lateinischen und Griechischen vielfach Stellen 
aus Schriftstellern vorgelegt werden, die nicht zum Kreise der Schulschrift- 
steller gehören. So war dies im Sommertermine 1906 von den 17 vollständigen 
Gymnasien meines Amtsbezirkes der Fall 

276 



an 8 für die Übersetzung- aus Latein, 
» 14 » » » » Griechisch.*) 

Einer der Gründe für die Wahl solcher Stellen ist zweifellos der, daß 
die Schulschriftsteller von allen oder doch einzelnen Schülern ganz oder fast 
ganz gelesen sind, für die Prüfung aber nur ungelesene Stellen in Betracht 
kommen können; ich sage ausdrücklich: einer der Gründe; denn ich weiß, daß 
auch andere Rücksichten für die Wahl solcher Stellen maßgebend sein können. 

Angesichts dieser Tatsachen darf da noch jemand von einer Petrifizierung 
unseres Gymnasiums sprechen? 

Doch wir wollen ganz nüchtern und leidenschaftslos auf dem Gebiete 
der Tatsachen bleiben. 

Ich glaube auf die Zustimmung aller meiner Leser rechnen zu dürfen, 
wenn ich nun zusammenfassend behaupte: Es wird gegenwärtig an den Gym- 
nasien, richtiger an nicht wenigen Gymnasien, verhältnismäßig viel aus den 
alten Literaturen gelesen. Daraus ergibt sich von selbst: es wird auch rasch 
gelesen; dfenn wenn bei so geringem Stundenausmaß, wie es am österreichi- 
schen Gymnasium den alten Sprachen zugeteilt ist (50 Latein- und 28 Griechisch- 
stunden in der Woche, von denen nur 24, beziehungsweise 15 auf die Lektüre 
fallen, gegen 32, beziehungsweise 22 in Preußen), ein so großes Pensum auf- 
gearbeitet wird, kann dies nur bei raschem Fortschritte der Lektüre erreicht 
werden ; das ist ganz selbstverständlich. Ferner ergibt sich daraus von selbst : 
die Grammatik spielt von dem Momente an, wo zur Autorenlektüre über- 
gegangen wird, nur mehr eine nebensächliche Rolle ; denn eine so umfangreiche 
Lektüre kann grammatisch nicht zerpflückt werden ; das schließt sich geradezu 
gegenseitig aus. Tatsächlich wurden auch zur Zeit der Herrschaft des gramma- 
tistischen Betriebes der alten Lektüre täglich nur einige Zeilen des Autors ab- 
solviert, der Umfang der Jahresleistung war darum auch entsprechend gering. 

Endlich ergibt sich eine dritte Folgerung von selbst: Wenn die Schüler 
in solchem Ausmaße die Privatlektüre betreiben, so kann der Grund schließlich 
doch nur darin liegen, daß sie Interesse für die Sache haben; durch Zucht- 



*) OberhoUabrunn: TibuU III, 3; Krems: Tibull I, 10, 1—32; Melk: Tibull II, I, 37—82; 
Wr.-Neustadt: Vitruv de archit. IX, praef. I— 12; Franz Josef-Gymn., Wien: Ilias latina 697—737; 
Staatsgymn., TU. Bez. : Tibull II, 5, 1—66 teilw. ; im XVII. Bez. : Catull 64, 132—166 ; XIX. Bez. : Tibull 
1, 1, 42—73 ; Oberhollabrunn : Plutarch, Lykurg XII; Krems: Euripides: »Medea« 1293— 1329 ; Wr.-Neu- 
stadt: Lykurg, Rede gegen Leokrates 84—87; Seitenstetten : Plutarch, i«pl <ptXa8sX<ptac XVIII; Kalks- 
burg: Isokrates, aaYrffopixos 100 — 106; Akad. Gymn., Wien: Plutarch, Aristides 4; Franz Josef-Gymn.: 
Euripides, »Troerinnen« 740—779; Staatsgymn., III. Bezirk: Lykurg, Rede gegen Leokrates 83—87; 
Elisabeth-Gynro. : Aeschylus, »Perser« 350—394; Staatsgymn., VI. Bezirk: Aeschylus, »Agamemnon« 
SO3—538; Staatsgymn., VIII. Bezirk: Lykurg, Rede gegen Leokrates 46— 50 ; Maximilian-Gymn. : 
Euripides, »Iphigenie in Aulis« 44—92; Karl Ludwig-Gymn. : Isokrates, Euag. 13—18; Staatsgymn., 
XVIL Bezirk: Euripides, »Hekabe« V, 1—27. 

277 



mittel irgend welcher Art lassen sich auf die Dauer solche Ergebnisse nicht 
erzielen. Wo aber Interesse, da muß auch Freude vorhanden sein ; wo Freude, 
kann kein Ekel herrschen; es kann also mit Recht niemand behaupten, daß 
die Lektüre der alten Autoren durch den Betrieb am Gymnasium den Schülern 
verleidet werde. 

Nun höre ich den Einwand: Gut, es wird jetzt am Gymnasium viel 
gelesen; aber die Schüler »fretten« sich mit Hauslehrern und Übersetzungen 
fort, bringen es jedoch zu keinem selbständigen Können. 

Was die Hauslehrer betrifft, so sind seit neun Jahren genaue Daten 
über die Zahl der Schüler, die häusliche Nachhilfe in den Gegenständen des 
Gymnasiums genießen, vorhanden. Seit dem Jahre 1898 wird nämlich an 
jedem Gymnasium in Niederösterreich im dritten Monate jedes Schuljahres 
seitens der Klassenvorstände eine Umfrage in den einzelnen Klassen ge- 
halten, die Ergebnisse dieser Erhebungen werden in der zweiten Monats- 
konferenz zur Kenntnis des gesamten Lehrkörpers gebracht, auffallige Er- 
scheinungen im Schöße desselben und mit den betreffenden Eltern besprochen 
und die tatsächlichen Verhältnisse immer in Evidenz gehalten. 

In den letzten fünf Jahren betrug nun an den niederösterreichischen 
Gymnasien die Zahl der Schüler, die häusliche Nachhilfe genossen, und zwar 

im Schuljahre 1902/03 15*91 Prozent 

» 1903/04 15-50 » 

» » 1904/05 16*29 * 

» » 1905/06 16*85 » 

» » 1906/07 16*84 » 

Nun liegen die Verhältnisse in Wien anders als auf dem Lande; denn 
in der Großstadt ist die Zahl der Eltern, die das häusliche Lernen ihrer 
Söhne nicht beaufsichtigen, sei es, daß sie es nicht können oder daß sie nicht 
wollen, viel größer als auf dem Lande. 

Dies zeigt sich auch in folgenden Ziffern: 

An den Gymnasien in Wien betrug die Zahl der Schüler mit häuslicher 
Nachhilfe 

im Schuljahre 1902/03 i9 # 95 Prozent 

» » 1903/04 19*29 » 

» » 1904/05 19*08 » 

» » 1905/06 19*21 » 

» » 1906/07 19*29 » 

Und selbst an den Wiener Gymnasien herrschen große Differenzen in 
diesen Zahlen; einige wenige Anstalten mit Schülern, die vorwiegend aus 
der wohlhabendsten Klasse der Bevölkerung stammen, zeigon einen relativ 

278 



ziemlich hohen Prozentsatz (bis zu 30 und 40 Prozent); weitaus die meisten 
dafür unter 10 Prozent. 

An den Gymnasien außerhalb Wiens betrug" sie in diesen Jahren 
11-87 Prozent, 11-71 Prozent, 13-5 Prozent, 14-5 Prozent, 14-39 Prozent 

Naturgemäß entfallt aber überall der größte Teil dieser Schüler auf die 
Unterstufe; in den vier Klassen des Obergymnasiums sind Schüler mit häuslicher 
Nachhilfe geradezu selten und erreichen im allgemeinen nicht 5 Prozent. Ganz ver- 
schwindend gering ist aber die Zahl der Schüler, die häusliche Nachhilfe in 
den klassischen Sprachen haben; solche Schüler sind tatsächlich eine Ausnahme. 

Daraus ist ersichtlich, daß das Hauslehrerwesen für den Erfolg der alt- 
klassischen Lektüre gar nicht in Betracht kommt. 

Über die Verbreitung des Mißbrauches gedruckter Übersetzungen sind 
natürlich genaue Daten nicht zur Verfügung. 

Gesetzt aber, der obige Einwurf träfe allgemein zu, so müßten die Gegner 
doch einräumen, daß auch dann noch der sachliche Gewinn der Schüler größer 
wäre, als wenn sie die antiken Schriftsteller nur aus Übersetzungen kennen 
lernten; denn mit einem verständnislosen Auswendiglernen der gedruckten 
Übersetzung erreicht der Schüler im Schulunterrichte gar nichts; er muß also 
immerhin Original und Übersetzung sprachlich vergleichen, also doch eine 
gewisse sprachliche Übung vornehmen; er hat dabei nicht allen Gewinn, den 
der erntet, der sich aus eigener Kraft, durch eigene Arbeit das Original zum 
vollen Verständnis bringt, aber jedenfalls mehr als derjenige, der das Original 
gar nicht kennt und ganz von der Übersetzung abhängt; dabei gilt auch heute 
noch von den meisten Übersetzungen, in gewissem Sinne von allen, das Wort 
Goethes, daß man, um diese zu verstehen, das Original genau kennen muß. 

Doch ist auch dieser Einwurf in seiner allgemeinen Fassung ganz sicher un- 
richtig ; die ganze Art unseres Unterrichtsbetriebes schließt einen größeren Umfang 
dieses Unfugs, geschweige denn seine allgemeine Verbreitung geradezu aus. 

Zunächst wird beim Eintritt in die Lektüre eines neuen Autors aus- 
nahmslos die sogenannte Präparationsmethode gehandhabt, d. h. es wird der 
Schriftsteller in der Schule gemeinsam unter der Leitung des Lehrers ge- 
lesen, erklärt und übersetzt; die Schüler haben dann zu Hause nur das in 
der Schule Erarbeitete zu wiederholen; sind die Schüler allmählich mit dem 
Schriftsteller vertrauter geworden oder sind sie auf der Oberstufe des Gymna- 
siums soweit gebracht, daß man ihnen eine selbständige Leistung zutrauen 
kann, erst dann müssen sie zu Hause allein »präparieren«; aber auch daläßt 
sie der Lehrer auf keiner Stufe ohne Hilfe, denn von Stunde zu Stunde gibt 
er vor Schluß des Unterrichtes Winke für das Verständnis der zur häus- 
lichen Präparation aufgegebenen Stelle (Vorpräparation). Diese Winke ent- 

279 



stammen aber der individuellen Auffassung des Lehrers, z. B. über eine 
strittige Stelle; da hilft nun dem Schüler der urteilslose Gebrauch einer ge- 
druckten Übersetzung gar nichts, weil in ihr diese Stelle vielleicht ganz 
anders verstanden wird. Ferner müssen die Schüler das neue Wortmaterial 
selbst im Lexikon nachschlagen, ins Präparationsheft eintragen; diese Hefte 
sieht der Lehrer ein; die neuen Vokabeln werden ausgefragt u. s. w. Bei einem 
solchen Betriebe ist, das wird mir wohl jeder zugeben, der allgemeine 
Gebrauch von Übersetzungen seitens der Schüler so gut wie ausgeschlossen. 

Endlich wird vom Schüler durchaus nicht verlangt, daß er ein fertiges 
Verständnis, eine völlig zutreffende Übersetzung in die Schule bringe; es 
wird ihm gewiß nicht übel genommen, wenn er über einzelnes nicht völlig 
ins reine gekommen ist, wofern er nur zeigt, daß er sich tatsächlich bemüht 
hat. Bei so einsichtigen und maßvollen Forderungen fehlt für den redlichen 
Schüler jeder Anlaß zum Gebrauch einer Übersetzung und wird planmäßig 
auf Selbständigkeit der Schüler hingearbeitet. 

Aber, wenn trotzdem noch Zweifel möglich wären, endgültig widerlegt 
wird obige Behauptung vom allgemeinen Mißerfolge des altsprachlichen 
Unterrichtes durch die Ergebnisse der Maturitätsprüfungen. 

Für die beiden alten Sprachen besteht die Forderung bei der Maturitäts- 
prüfung, der Kandidat habe die Fähigkeit zu erweisen, »einen in der 
Schule nicht gelesenen Abschnitt eines Schriftstellers, der keine besonderen 
sachlichen und textkritischen Schwierigkeiten bietet, nach kurzer Überlegung 
auf Grund gründlichen grammatischen Verständnisses gewandt übersetzen zu 
können«. (Weisungen zur Führung des Schulamtes, S. 33.) Dieser Forderung 
können Schüler unmöglich entsprechen, wenn sie sich durch das Ober- 
gymnasium lediglich mit Übersetzungen fortgeholfen haben, auch nicht, wenn 
durchgehends die leichteren Autoren bei den Prüfungen vorgelegt würden, 
was durchaus nicht der Fall ist. In manchen Jahrgängen sind z. B. unter 
meiner Leitung allen Abiturienten ausnahmslos Tacitus, Horaz, Plato, Demo- 
sthenes, Sophokles vorgelegt worden, und stets werden die leichteren Autoren, 
wie Livius, Sallust, Herodot, nur vereinzelt herangezogen. Trotzdem ge- 
staltete sich tatsächlich in den Schuljahren 1904/05 und 1905/06 das Ergebnis 
der Prüfungen an den niederösterreichischen Gymnasien folgendermaßen: 

I. Sommertermin 1906. 

Zahl der gemeldeten Kandidaten 730 (Vorjahr 728), davon 

öffentliche Schüler 681 ( » 682) 

Privatisten 8 ( » 5) 

Externe 41 ( » 41) 

280 



Hievon wurden vollständig" geprüft 688, d. i. 94*46 Prozent der Ge- 
meldeten (Vorjahr 95*06 Prozent); zieht man nur die öffentlichen Schüler in 
Rechnung, so kamen 96*6 Prozent der Gemeldeten (Vorjahr 96*8 Prozent) zur 
Prüfung. 

Von den vollständig geprüften Kandidaten erhielten: 

1. ein Zeugnis der Reife mit Auszeichnung 150, d. i. 21*9 Prozent der 
Geprüften (Vorjahr 17* 19 Prozent); 

2. ein Zeugnis der Reife 498, d. i. 72*3 Prozent (Vorjahr 76*3 Prozent). 
Somit wurden approbiert 648, d. i. 94*4 Prozent (Vorjahr 93*21 Prozent) 

und reprobiert 39, d. i. 5*6 Prozent (Vorjahr 679 Prozent). 

Da 6 Kandidaten eine zweite Wiederholungsprüfung Ende Jänner 1907 
ablegen, so waren vorläufig endgültig reprobiert 33, d. i. 5*1 Prozent der end- 
gfültig geprüften Kandidaten (Vorjahr 5*14 Prozent). 

Wiederholungsprüfungen erhielten im Sommertermine 69, d. i. 10*02 Prozent 
der vollständig Geprüften (Vorjahr 11*5 Prozent), von denen 59, d. i. 85-5 Pro- 
zent (Vorjahr 85 Prozent), die Prüfung sogleich bestanden, 6, d. i. 8*6 Prozent 
(Vorjahr 15 Prozent), die Erlaubnis einer Wiederholung der Wiederholungs- 
prüfung erhielten. Unter den reprobierten sind 3 1 öffentliche Schüler, 8 Externe. 

Der Prozentsatz der endgültig reprobierten öffentlichen Schüler beträgt 
nur 3*9 Prozent (Vorjahr 4*16 Prozent). 

IL Herbsttermin 1906. 

Gemeldet: 42 Kandidaten. 

Hievon vollständig geprüft 2^ d. i. 547 Prozent. 

Hievon reif 7, d. i. 30*4 Prozent (Vorjahr 33*3 Prozent) 

reprobiert 11, d. i. 47*8 » » 46*6 » 

Wiederholungsprüfung 5, d. i. 21*8 » » 20*1 » 

IH. In beiden Terminen 1906. 

Gemeldet: 772 Kandidaten (Vorjahr 753). 

Hievon vollständig geprüft 711 Kandidaten, d. i. 92-1 Prozent (Vorjahr 
93*9 Prozent); 

davon approbiert 655 Kandidaten, d. i. 92*17 Prozent der vollständig 
Geprüften (91*54 Prozent); 

reprobiert 50 Kandidaten, d. i. 7*03 Prozent der vollständig Geprüften 
(8-o6 Prozent); 

Wiederholungsprüfung 6 Kandidaten, d. i. o*8 Prozent der vollständig 
Geprüften (0*4 Prozent); 

sonach endgültig reprobiert 45 Kandidaten, d. i. 6'i Prozent der voll- 
ständig Geprüften (Vorjahr 9 Prozent). 

281 



Von den öffentlichen Schülern, die hier allein in Betracht kommen, 
bestanden somit die Maturitätsprüfung nicht im erstgenannten Jahre 4*1 Prozent, 
im verflossenen Schuljahre 3*9 Prozent, also beide Male rund 4 Prozent. 

Was speziell die alten Sprachen betrifft, so war das Prüfungsergebnis 
im Jahre 1906 außerordentlich günstig; denn von samtlichen Reprobationen 
entfallen nur vier ausschließlich auf diese, dagegen 15 lediglich auf die 
übrigen Gegenstände bei genügenden Leistungen in den alten Sprachen. 

Und hiemit stimmt vollständig, was jeder, der auch nur einigermaßen 
personliche Erfahrungen bei diesen Prüfungen gemacht hat, bestätigen wird: 
Die Prüfung aus den alten Sprachen macht verhältnismäßig nur sehr wenigen 
Schülern Schwierigkeiten; sind die Prüfungen aus Mathematik, Physik und 
Geschichte überstanden, so atmen die schwächeren Kandidaten auf und man 
sieht es ihnen am Gesichte an, daß sie vor den Sprachen keine Angst haben. 

Nur mit einem Worte will ich hier die Fabel vom weitverbreiteten 
Schwindel bei den Maturitätsprüfungen, der selbst von Examinatoren unter- 
stützt werde, berühren. Genaue amtliche Erhebungen lassen diese Behauptung, 
die, soweit sie die Lehrer betrifft, eine Verleumdung ist, als eine zumeist auf 
Renommisterei, Übertreibung und Verallgemeinerung beruhende Unwahrheit 
erscheinen, die noch dazu von vornherein schon so unwahrscheinlich als 
möglich ist; wenigstens habe ich bisher nur immer davon gehört, daß die 
Kommissionen unbarmherzig, hart, grausam, und wie die schonen Epitheta 
alle lauten, seien, und die Gymnasialprofessoren stehen im allgemeinen nichts 
weniger als im Rufe allzu großer Milde; auch habe ich nie klagen gehört, 
sie seien blind und taub, viel eher, daß sie zu scharf sehen und hören. Und 
glaubt jemand im Ernste, daß heute, wo die Direktoren und Landesschul- 
inspektoren ihre Hauptaufgabe in dem häufigen Besuche des Unterrichtes 
erblicken, irgend ein Schwächling seinen schlecht vorbereiteten Schülern 
durch Täuschung der Kommission über die Prüfung hinweghelfen könnte, 
ohne daß der Vorsitzende et weis davon merkt? 

Dem gegenüber kann ich auf Grund meiner Erfahrung feststellen, daß 
die Ergebnisse der Prüfung sowohl in ihrem schriftlichen als mündlichen 
Teile in der Regel mit den Leistungen im Schuljahre und untereinander 
völlig übereinstimmen und bedeutendere Differenzen auch dann zu den Aus- 
nahmen gehören, wenn von Fall zu Fall auch einmal der Vorsitzende der 
Prüfungskommission von seinem Rechte, selbst Fragen an die Prüflinge zu 
richten oder ihnen selbstgewählte Stellen aus den Autoren vorzulegen, Ge- 
brauch macht. 

Ich glaube somit durch Tatsachen erwiesen zu haben, daß die Be- 
hauptung, das Gymnasium gebe seinen Schülern keine klassische Bildung, 

282 



sie lernten da von der antiken Kultur so gut wie nichts kennen, sie lernten 
die alten Autoren nicht verstehen u. s. w., durch den wirklichen Erfolg des 
altsprachlichen Unterrichtes am Gymnasium widerlegt wird. 

Aber — so lautet ein anderer Einwurf, den man nicht gar selten hören 
kann — wie kommt es, daß die Gymnasiasten, kaum daß sie die Maturitäts- 
prüfung hinter sich haben, ihre alten Klassiker, wie man zu sagen pflegt, 
hinter den Ofen werfen und nie mehr das Bedürfnis empfinden, die alten 
Sprachen weiter zu betreiben? Darauf ist zunächst zu erwidern, daß dies, 
wenn es auch tatsächlich der Fall ist, keinen Beweis gegen die Fruchtbarkeit 
des Betriebes der klassischen Sprachen am Gymnasium bilden konnte; denn 
im gleichen Maße trifft dies so ziemlich auf alle übrigen Gegenstände, Natur- 
geschichte, Physik, Geschichte mitinbegriffen, zu. 

Man muß vielmehr die Gründe für diese Erscheinung anderswo als in 
den LehrgeTgenständen suchen. 

Zunächst liegt es in der Natur des jungen Menschen, alles, was er 
lange Zeit unter einer Art Zwang betrieben hat, sobald dieser aufhört, mit 
einem gewissen Gefühle der Befreiung beiseite zu schieben. Ein weiterer 
Grund ist, daß die meisten jungen Leute vom Fachstudium, das für sie etwas 
Neues ist, dessen Wichtigkeit für ihren Lebensberuf sie erfüllt, völlig in 
Anspruch genommen werden; ferner treten auch mit dem Abschied von dem 
Gymnasium bereits gesellschaftliche Beziehungen, die Welt selbst mit ihren 
tausend Anforderungen an sie heran, diese beginnt nun ihr Erziehungswerk und 
entzieht die jungen Leute dem einseitigen Bücherstudium, so daß sie überhaupt 
kaum mehr als ihr Fachstudium betreiben können. Endlich trifft es sicherlich 
zu, daß ein großer Prozentsatz der Gymnasialschüler den Bildungsgang des 
Gymnasiums mitmacht nicht aus Neigung oder Überzeugung, sondern weil 
sie von den Eltern dazu bestimmt werden und weil das als der am meisten 
begangene Weg zur Versorgung durch den Staat erscheint, zu jenem Ideal, 
dessen Erreichung angeblich weniger Initiative, persönliche Tatkraft, Wagemut 
und Umsicht erheischt als der freie Wettbewerb im schwierigen Kampf ums 
Dasein. 

Meine zweite Behauptung ging nun dahin, daß diese Gegner aber auch das 
Wesen und die eigentliche Bedeutung des altklassischen Unterrichtes völlig 
verkennen, wenn sie die Einführung der Jugend in das Verständnis des 
Altertums durch die Lektüre der Hauptwerke der klassischen Literatur in 
deutscher Übersetzung, durch den Geschichtsunterricht und das Zeichnen 
und hierin ausreichenden Ersatz für den Betrieb der alten Sprachen erblicken. 

Um dies zu zeigen, muß ich zunächst darlegen, worin der oberste Zweck 
des altklassischen Unterrichtes liegt. Man kann bekanntlich eine Sprache zu 

283 



verschiedenen Zwecken lernen. Die lateinische und griechische Sprache lernen 
die Schüler am Gymnasium nicht der Grammatik willen, obwohl auch ihre 
Erlernung keinen zu verachtenden geistigen Gewinn abwirft, auch nicht um 
sie sprechen und schreiben zu können, sondern um die bedeutendsten Schrift- 
steller des Altertums gründlich zu verstehen. Aus der Lektüre aber ergibt 
sich ein zweifacher Nutzen: zunächst lernen die Schüler Tatsachen, Ideen 
kennen, das nennen wir den sachlichen Gewinn; so bedeutend dieser auch 
ist, denn hier werden die jungen Geister zu den Wurzeln unserer heutigen 
Kultur geführt, sie bekommen dadurch die Grundlage für die geschichtliche 
Bildung — der eigentliche Gewinn liegt aber darin, daß die Erkenntnis des 
Sachlichen verbunden ist mit einer außerordentlich fruchtbaren sprachlichen 
und gedanklichen Übung. Am Gymnasium werden ja die alten Autoren nicht 
bloß gelesen, sondern in die Muttersprache übersetzt, in möglichst muster- 
gültiger Form übersetzt, die in gemeinsamer Arbeit gefundene Übersetzung 
wird im Zusammenhange vom Lehrer am Schlüsse vorgetragen. Es handelt 
sich also bei unserem Unterricht nicht lediglich um den Inhalt, sondern, und 
zwar vorwiegend, um die Umprägung der Gedanken des Autors aus der 
fremden in die Muttersprache. Dieses Ringen des Geistes um den vollständig 
zutreffenden, das Original völlig erschöpfenden, möglichst restlos wieder- 
gebenden Ausdruck im Deutschen ist unendlich viel mehr als das bloße 
Erkennen und Verstehen des sachlichen Inhaltes (dieses ist natürlich ein- 
geschlossen), es ist ein wirkliches Produzieren der Gedanken des Autors 
in der Muttersprache; dabei spielen geistige Kräfte mit, die bei dem bloßen 
Verstehen des Gelesenen völlig in Ruhe bleiben. Handelte es sich also bloß 
um die Sache, um den Inhalt, so könnten wir sie auch aus Übersetzungen 
die Schüler erkennen und verstehen lehren; vielmehr kommt bei der Lektüre 
der klassischen Autoren ebenso das Sachliche als das Sprachliche, ebenso 
Inhalt als Form in Betracht, das letztere noch mehr als das erstere. Darum 
ist die Lektüre von Übersetzungen psychologisch etwas ganz anderes, weil 
bei ihr die eigene produktive Geistestätigkeit ausgeschaltet ist. 

Um A dies an einem konkreten Beispiele zu erweisen, wähle ich auf das 
Geratewohl die Stelle Tacitus ann. II, 39 f., deren Durchnahme ich unlängst 
einmal in der VIII. Klasse eines hiesigen Gymnasiums beigewohnt habe. Es 
ist die Rede vom Auftreten des Pseudo-Agrippa. Wer diese Erzählung liest, 
lediglich um des Inhaltes willen, erfahrt gewiß eine interessante Begebenheit, 
die ihn an das Auftreten anderer Pseudopersönlichkeiten in der Geschichte 
erinnern wird; die feinen psychologischen Bemerkungen, die Tacitus in die 
Erzählung einflicht, werden unzweifelhaft sein Nachdenken anregen und das 
Verständnis für solche geschichtliche Erscheinungen vertiefen. Wer aber die 

284 



Stelle des Tacitus ins Deutsche übersetzt, der sieht sich namentlich im 
2. Teile des c. 39 vor den schwierigsten psychologischen und sprachlichen 
Aufgaben; ich setze sie im Wortlaut hieher: 

Eodem anno mancipii cuiusdani audacia, ni mature subventum foret, 
discordiis armisque civilibus rem publicam perculisset. Postumi Agrippae 
servus, nomine Clemens, conperto fine Augusti pergere in insulam Planasiam 
et fraude aut vi raptum Agrippam ferre ad exercitus Germanicos non servili 
animo concepit. Ausa eius inpedivit tarditas onerariae navis; atque interim 
patrata caede ad maiora et magis praecipitia conversus furatur cineres vectusque 
Cosam Etruriae promunturium ignotis locis sese abdit, donec crinem barbamque 
promisisset: nam aetate et forma haud dissimili in dominum erat. 

Tum per idoneos et secreti eius socios crebrescit vivere Agrip- 
pam, occultis primum sermonibus, ut vetita solent, mox vago 
rumore apud inperitissimi cuiusque promptas aures aut rursum 
apud turbidos eo.que nova cupientes. atque ipse adire municipia 
obscuro diei neque propalam aspici neque diutius isdem locis, sed 
quia veritas visu et mora, falsa festinatione et incertis valescunt, 
relinquebat famam aut praeveniebat. 

Was für gedankliche und sprachliche Schwierigkeiten müssen die 
Schüler überwinden, namentlich im letzten, gesperrt gedruckten Drittel, bis 
sie etwa zu folgender Übersetzung gelangen: »Dann sorgen geeignete Leute, 
die ins Geheimnis eingeweiht waren, dafür, daß sich zunächst durch Gespräche 
im Geheimen, wie gewöhnlich bei Verbotenem, dann durch flüchtiges Gerede 
vor den Unerfahrensten, die ja für derartiges ein geneigtes Ohr haben, oder 
anderseits vor unruhigen Köpfen, die darum stets Neuerungen wünschen, 
die Kunde verbreitet, Agrippa sei noch am Leben. Und er selbst betrat 
Landstädte im Dämmerlicht, ohne sich dabei in der Öffentlichkeit den 
prüfenden Blicken auszusetzen oder an einem und demselben Orte länger zu 
verweilen, sondern verschwand, kaum daß man eben erst von ihm sprach, 
oder tauchte anderswo auf, ehe die Kunde seines Kommens sich verbreitete ; 
denn die Wahrheit gewinnt durch Augenschein und Dauer, Trug aber durch 
Eile und Unklarheit.« Ja, welche geistige Arbeit liegt zwischen den vier 
Worten des Tacitus: »relinquebat famam aut praeveniebat« und der Über- 
setzung: »er verschwand, kaum daß man eben erst von ihm sprach, oder tauchte 
anderswo auf, ehe die Kunde seines Kommens sich verbreitete«, eine Über- 
setzung, die natürlich nur durch eine sorgsame Interpretation unter der Leitung 
des Lehrers gewonnen werden kannl Dabei muß der Gedanke zunächst von 
seinem sprachlichen Gewände ganz losgelöst und dann erst wieder in ein 
neues und noch dazu vom Originale so ferne abliegendes gekleidet werden. 

285 



Indem der Schüler gezwungen wird, solche Probleme zu lösen, lernt 
er zunächst natürlich die Gedanken des Originales viel tiefer, gründlicher 
und allseitiger erfassen, als beim bloßen dahineilenden Lesen, das sich mit 
den Tatsachen und ihrer logischen Entwicklung zufrieden gibt; damit ist 
aber nur ein Teil der Arbeit getan. Dann hat er erst noch für die Gedanken 
des Autors die treueste, beste, klarste, alle Nuancen des Originales wieder- 
gebende Form im Deutschen zu finden; da heißt es probieren und suchen 
und wenden, bis endlich unter den vielen Möglichkeiten die beste gewählt 
wird. Daß dieser Prozeß, dieses Ausfeilen der Übersetzung, das dem alt- 
sprachlichen Unterrichte fast allein zukommt, den Geist des Schülers übt, 
die Gewandtheit im Gebrauche der Muttersprache erhöht und die Fähigkeit, 
fremde Gedanken voll zu erfassen, ausbildet und dies in um so höherem 
Grade, je weiter die alten Sprachen syntaktisch von der Muttersprache 
abliegen, kann wohl nicht zweifelhaft sein. Wiederholt sich nun dieses geistige 
Ringen tagtäglich, immer an neuem Materiale, in neuen Formen, so daß tat- 
sächlich alles Mechanische und Gedächtnismäßige ausgeschlossen ist, so ist das 
ein Stahlbad für den jugendlichen Geist, dessen roborierender Wirkung kaum 
eine andere geistige Übung gleichkommt. 

Darin also liegt der große Nutzen der Lektüre der klassischen Autoren; 
nicht ausschließlich darin, daß der Jüngling, wie in unserem Falle, die Geschichte 
vom Auftreten des Pseudo-Agrippa kennen gelernt hat, also im Sachlichen, 
sondern daß er sie sogar in neuer sprachlicher Form, die vom Original weit 
abliegt, selbst gebildet hat, also im Sachlichen und Sprachlichen zusammen. 

Gewiß wird der sachliche Gehalt der Autoren, der inhaltliche Fort- 
gang der Erzählung, die Entwicklung der Gedanken bei der Lektüre durch 
Rückblicke, Verknüpfung der einzelnen Fäden und dergleichen didaktisch- 
methodische Mittel mehr im Schüler wach erhalten, damit er schließlich weiß, 
was er gelesen und wie der Schriftsteller den Inhalt angeordnet hat, auch 
warum, in welcher Absicht und mit welchen Mitteln — ganz wie wir es im 
deutschen Unterrichte, z. B. bei der Lektüre eines Dramas machen — und 
werden so wichtige Fragen in betreff des Inhaltes und der Form besprochen; 
aber all das reicht nicht heran an den Gewinn für die Denk- und sprachliche 
Gestaltungskraft, die dem Schüler daraus erwächst, daß er die ganze Gedanken- 
reihe des Autors nicht nur selbst mit dem Autor durchgedacht, sondern in 
ganz neuer sprachlicher Form geradezu geschaffen hat. Eine Übersetzung 
lesen, heißt etwas Fertiges kennen lernen; das Original selbst übersetzen, ist 
eigenes Schaffen; was von beiden bildender, interessanter und der Jugend 
angemessener ist, kann für den Pädagogen nicht zweifelhaft sein. Aus dieser 
Art der Erkenntnis der für die Jugend bedeutendsten Schriftwerke der 

286 



Griechen und Romer bildet sich ein Niederschlag von Ideen, der das Denken 
und Fühlen des Menschen bleibend beeinflußt, der dem Menschen einen 
gewissen Charakter verleiht und ihn deutlich unterscheidet von allen, die 
diesen Bildungsweg nicht zurückgelegt haben. Einzelheiten kann ja der 
Mensch auch aus zusammenfassenden Darstellungen der antiken Kultur 
erfahren; ja, wer z. B. Friedländers »Sittengeschichte Roms«, Beckers 
»Gallus« u. dgl. liest, lernt gewiß auf engem Rahmen mehr Züge vom alten 
Kulturleben kennen als der Gymnasialschüler aus seiner ganzen Lektüre. 
Aber die realen Kenntnisse haften nicht, sondern schwinden und haben 
weniger bildenden Wert. Und der beste Unterricht in der Geschichte der 
klassischen Volker des Altertums findet keinen fruchtbaren Boden, wenn die 
Schüler die Sprache und die Literatur dieser Volker nicht kennen; er kann 
für einige Zeit Tatsachen beibringen, aber Tatsachen allein sind Stein, nicht 
Brot. Jenes geistige Ringen bei dem Übersetzen geht in Fleisch und Blut 
über und erzeugt dauernde Dispositionen im Individuum. 

Hiemit glaube ich gezeigt zu haben, daß, wer behauptet, daß die Jugend 
durch die Lektüre von Übersetzungen und durch den Geschichtsunterricht in 
die Kulturwelt der Griechen und Römer besser eingeführt werde als bei dem 
gegenwärtigen Betriebe der alten Sprachen, das Wesen und die Bedeutung des 
altklassischen Unterrichts gänzlich verkennt. Über die Wichtigkeit des Zeichnens 
für das Verständnis der antiken Kunst verliere ich kein Wort. Auch heute 
schon ist der Zeichenunterricht wie überhaupt eines der Mittel der Erziehung 
der Jugend zur Kunst überhaupt, so auch zum Verständnis der antiken Kunst. 
Als Ergebnis meiner bisherigen Darlegungen darf ich wohl folgendes fest- 
stellen: Das österreichische Gymnasium ist entsprechend den modernen Forde- 
rungen auf didaktisch-methodischem Gebiete in einem stetigen Fortschritte 
begriffen, von Stagnation und Petrifizierung kann mit Recht nicht gesprochen 
werden. Es zeigt sich dieser Fortschritt in allen Disziplinen und Fertigkeiten, 
besonders aber auch im Betriebe und Erfolge des altsprachlichen Unterrichtes. 
Aber auch der äußere Erfolg, d. i. das Ergebnis der Klassifikation, ist 
durchaus günstig; es stellt sich nämlich die Zahl der versetzten Schüler am 
Schlüsse der letzten sechs Schuljahre an den niederösterreichischen Gymnasien 
folgendermaßen : 

1900/01 wurden 867 Prozent reif zum Aufsteigen erklärt 

1901/02 » 87*8 » » » » 

1902/03 » 867 » » » » 

1903/04 » 86*39 * • • * 

1904/05 » 87*26 » » » » 

1905/06 » 89*4 » » » » 

287 



Aus diesen Zahlen ist neben der ziemlich großen Beständigkeit noch zu 
ersehen, zunächst daß ein relativ großer Prozentsatz der Schüler das Unterrichts- 
ziel erreicht, dann aber, daß sich dennoch die notwendige Auslese vollzieht 

Daß sie in der richtigen Weise vor sich geht, zeigt der Prozentsatz 
der Approbationen auf den drei Stufen des Gymnasiums. Am Ende des Schul- 
jahres 1905/06 betrug derselbe: 
auf der Unterstufe (I. und II. Klasse) der 19 Anstalten meines 

Amtsbezirkes 85*5 Prozent 

auf der Mittelstufe (III.— VI. Klasse) 88-5 

• • Oberstufe (VII. und VIII. Klasse) 96-6 

Also auch diese Zahlen bestätigen durchaus meine Behauptungen und 
ergänzen meine Darlegung in der Richtung, daß die Anforderungen am 
Gymnasium der Leistungsfähigkeit der Jugend im wesentlichen entsprechen. 

Doch läßt sich nicht verkennen, daß die Wirklichkeit neben den Licht- 
seiten an unseren Gymnasien auch ihre Schattenseiten zeigt, die- mitunter 
beim Zutreffen ungünstiger Umstände Anlaß zu argen Unzukömmlichkeiten 
bieten. Ich halte mich im Interesse der Wahrheit verpflichtet, hier auf einzelne 
Erscheinungen dieser Art offen hinzuweisen; denn daß Schäden bestehen, wird 
allgemein gefühlt; aber wo sie ihren Sitz haben, ist bis jetzt wenigstens nur 
von sehr wenigen richtig erkannt worden. Damit also die Heilung in Hinkunft 
am rechten Punkte ansetze, will ich in einigen wichtigeren Punkten mit 
meinen Ansichten nicht zurückhalten. 

Neben seiner inneren hat das Gymnasium in Österreich auch eine 
extensive Entwicklung von einer kaum glaublichen Ausdehnung erfahren. In 
den letzten 10 Jahren ist nämlich die Zahl der Gymnasien in Österreich von 
187 zu Beginn des Schuljahres 1896/97 auf nicht weniger als 245 zu Beginn 
des Schuljahres 1 906/07 gestiegen, hat also um 58, d. i. 31 Prozent zugenommen; 
in dieser Zeit ist die Zahl der Gymnasialschüler von 61.422 auf 87.501 
angewachsen: die Zunahme beträgt somit 26.079 Schüler, d. i. 42*4 Prozent. 

Gewiß liegt in diesen Ziffern ein erfreuliches Moment, insoferne sie 
beweisen, daß das Streben nach höherer Bildung in immer weitere Kreise 
der Bevölkerung dringt, und insoferne in ihnen ein Zeichen des Vertrauens 
zum Gymnasium wenigstens bei einem größeren Teile des Publikums er- 
kannt werden kann. 

Nichtsdestoweniger müssen sie aber schwere Bedenken wachrufen. Auf 
eines hat schon der österreichische Finanzminister Dr. R. v. Korytowski bei 
der Vorlage des Budgets für das Jahr 1907 im österreichischen Abgeordneten- 
hause hingewiesen, nämlich, daß eine Überproduktion auf dem Gebiete des 
Gymnasiums, wie überhaupt der Mittelschule, sehr ungesunde Zustände 

288 



erzeugen kann, weil die aus ihr Hervorgegangenen meist vom Staat und 
seinen Mitteln leben wollen und wenigstens in der Gegenwart der Bedarf 
des Staates an Kandidaten für Staatsämter in Überfülle gedeckt sei. 

Ein weiteres Bedenken dieser Hypertrophie des Gymnasiums liegt in 
folgendem: Ein erheblicher Prozentsatz seiner Schüler tritt aus ihm ins prakti- 
sche Leben über. Durch das Angebot von jungen Leuten, die das Gymnasial- 
maturitätszeugnis besitzen, finden Bewerber ohne Gymnasialstudien und ohne 
Maturitätszeugnis auch in solchen Stellungen keine Berücksichtigung mehr, 
für die weder das eine noch das andere irgendwie erforderlich oder auch nur 
nützlich ist; ja, es hat sich daraus der Zustand entwickelt, daß die Maturitäts- 
prüfung nunmehr geradezu die unerläßliche Vorbedingung für die Erlangung 
einer großen Zahl solcher Stellen geworden ist. Dadurch aber wird wieder 
die Zahl derjenigen immer mehr erhöht, die das Gymnasium nicht zur Vor- 
bereitung für die Universität besuchen, sondern denen es nur um die 
Berechtigung zur Erlangung solcher Stellen zu tun ist. Dieses Übel hat 
unlängst wieder Professor Dr. Otto Steinwender in einem Artikel des »Neuen 
Wiener Tagblatt«, betitelt »Produktive Berufe« (vom 2. August 1906, Nr. 211) 
drastisch beleuchtet. 

Infolge dieser Verhältnisse wird die Errichtung immer neuer Gymnasien 
gefordert; in Kürze sind sie überfüllt, ohne daß die überfüllten älteren 
Anstalten eine dauernde Minderung ihrer Frequenz erfuhren; denn immer 
bewirkt die Gelegenheit das Zuströmen neuer Schülermassen, die sonst nie 
an den Besuch eines Gymnasiums gedacht hätten. 

Doch nicht von der volkswirtschaftlichen und sozialen Seite mochte ich 
hier die Gefahren, die das Anwachsen der Zahl der Gymnasien und Gymnasial- 
schüler mit sich bringt, schildern — das kann ich berufeneren Männern über- 
lassen — sondern lediglich vom Standpunkte der Schule aus. 

Für das Gymnasium bedeutet der rapide Zuwachs an neuen Anstalten 
zunächst eine außerordentliche Steigerung des Bedarfes an Lehrern. Nun fällt 
infolge einer Überproduktion in den Achtzigerjahren des vorigen Jahrhunderts 
noch in die erste Hälfte des letzten Dezenniums für eine große Anzahl von 
Fachgruppen der fast gänzliche Mangel des Nachwuchses an Lehrkräften, 
der für gewisse Gruppen auch heute noch besteht. Es fehlte und fehlt 
auch heute noch gerade für die alten Sprachen an geprüften und für 
das Lehramt rite, d. i. durch die Probepraxis vorbereiteten Lehrern; der 
Abgang wird durch ungeprüfte Supplenten gedeckt, die, ehe sie noch ihre 
Fachstudien beendigt haben, eine Last auf sich nehmen müssen, zu groß für 
den Anfänger, der sonst keine Sorgen hat und seine ganze Kraft und Zeit 
dem Lehramte widmen kann, fast unerträglich für den von Prüfungssorgen 

289 19 



Bedrückten. Obwohl seit 1893 auch Supplenten ohne Probejahr der fach- 
männischen Leitung eines erfahrenen Professors speziell unterstellt werden, 
kann es doch nicht ausbleiben, daß bei der Unfertigkeit solcher Anfanger 
im einzelnen Falle Mißgriffe vorkommen und Lücken in den Kenntnissen der 
Schüler entstehen, die nachträglich die schlimmsten Folgen für ganze Klassen 
nach sich ziehen. Für den jungen Mann aber, der vorzeitig den Fachstudien 
entzogen wird, ergeben sich gleichfalls schwere Nachteile; er kommt erst 
verspätet, zu oft gar nicht mehr zur Ablegimg seiner Prüfung, verliert 
jedenfalls die Gelegenheit, seine Fachkenntnisse zu vertiefen und unbehindert 
heranzureifen, oder erkauft die Vollendung seiner eigenen Bildung neben 
der anstrengenden Lehrtätigkeit zu teuer mit einer Schwächung oder gar 
dem Verluste seiner Gesundheit. Da aber das Manko an Lehrkräften jahre- 
lang andauert, leidet die notwendige Kontinuität des Unterrichtes und ein 
häufiger Lehrerwechsel, noch dazu in den unteren Klassen, verschuldet nicht 
selten eine Unsicherheit in den Elementen, namentlich in den Sprachen, wo 
der Unterricht auf den Resultaten der vorangehenden Klassen fuflt, die 
nicht wenigen Schülern das Mitkommen erschwert, ihnen jede Freude, jeden 
Genuß an der Lektüre raubt und sich kaum mehr oder doch nur mit 
großen Opfern an Zeit und Kraft beseitigen läßt. Anderseits werden der 
Universität immer wieder unfertige junge Männer entzogen und der Staat 
schädigt so selbst seinen Nachwuchs an Lehrern in empfindlichster Weise. 
In welchem Umfange sich dieser die Anstalten und den Nachwuchs alterierende 
Prozeß alljährlich wiederholt, lehrt ein Blick in das Jahrbuch für das höhere 
Unterrichtswesen in Österreich. Ich führe nur an, daß an den Gymnasien in 
Niederösterreich, das an der ersten Universität des Reiches ein Reservoir 
an jungen Lehrkräften für seinen Bedarf besitzt wie kein anderes Kronland, 
noch im Schuljahre 1905/06 87 Supplenten in Verwendung waren, von denen 
nur 32, d. i. 367 Prozent, geprüft waren. 

Doch die Nachteile einer das Angebot so weit übersteigenden Nachfrage 
sind damit noch keineswegs erschöpft. Das Lehramt ist ebenso individuell 
und im Grunde genommen unkontrollierbar wie das des Priesters, des Arztes, 
ja, es setzt vielleicht ein noch feineres Pflichtgefühl voraus als irgend ein 
anderes Amt in der Gesellschaft, weil seine Tätigkeit sich auf in gewisser 
Hinsicht wehrlose Menschen erstreckt ; denn der Lehrer am Gymnasium steht 
Knaben und Jünglingen gegenüber, unreifen Menschen, die selbst noch kein 
sicheres Urteil besitzen über das, was der Lehrer mit ihnen vornimmt und in 
welcher Absicht, und für die der Lehrer die höchste Autorität sein muß. 
Wenn ein Beamter, ein Richter u. s. w. einen Irrtum, eine Nachlässigkeit 
begeht, so gibt es Instanzen, die dafür Remedur schaffen können; den Fehler 

290 



des Lehrers, sei es ein sachlicher, didaktischer, methodischer oder pädagogi- 
scher, kann niemand mehr gut machen ; man kann im besten Falle verhindern, 
daß derselbe Fehler ein zweitesmal begangen wird, das ist aber auch alles; 
und doch sind diese Fehler nicht selten von schwereren Folgen begleitet als in 
irgend einem anderen Berufe. Aus diesem Grunde schon wäre die sorgfältigste 
Prüfung der ins Lehramt Tretenden besonders hinsichtlich ihrer ethischen 
und pädagogischen Eignung dringend geboten. Wie steht es nun damit in 
Wirklichkeit? Zunächst wird überhaupt tatsächlich nur die wissenschaftliche 
Eignung zum Gymnasiallehramte geprüft. Herrscht aber Mangel an Bewerbern 
für erledigte Lehrstellen, so übt dieser Umstand schon einen verderblichen 
Druck auf die Prüfungskommissionen, unter dem die Anforderungen an die 
Lehramtskandidaten in wissenschaftlicher Hinsicht leiden müssen; dann wird 
bei geringem Angebote und großem Bedarfe auch noch das wissenschaftliche 
Zeugnis kaum besonders streng beurteilt werden, sondern selbst Bewerber mit 
sehr schwachen Zeugnissen und offenkundigem Mangel an Fachbildung 
werden nicht zurückgewiesen und erhalten die Stellen; von einer Be- 
dachtnahme auf die ethischen und pädagogischen Qualitäten kann gar nicht 
die Rede sein; daß dadurch auch Männer ins Gymnasiallehramt kommen 
können, denen in ethischer und pädagogischer Hinsicht die Eignung fehlt, 
muß theoretisch wenigstens jedermann zugeben. Allerdings besteht ja für 
das Gymnasiallehramt, überhaupt das Mittelschullehramt, das sogenannte 
Probetriennium, nach dessen Ablauf der wirkliche Lehrer erst definitiv im 
Lehramte bestätigt wird und den Professortitel erhält. Allein in der Praxis 
wird dies kaum jemals versagt und es ist auch bei Mangel an Lehrkräften 
außerordentlich schwer, die Absicht der Vorschrift zu erfüllen. 

Die Steigerung des Bedarfes an Lehrern, namentlich zu einer Zeit der 
Unterproduktion, schafft somit schwere Gefahren für die Gründlichkeit, 
Solidität und Kontinuität des Unterrichtes an zahlreichen, man kann fast 
sagen an allen Anstalten, ebenso für die Heranbildung des Nachwuchses an 
Lehrkräften und infolge der Unmöglichkeit einer sorgfältigen Auslese nicht nur 
nach der Richtung der wissenschaftlichen, sondern besonders auch der ethischen 
und pädagogischen Befähigung, auch für den Gymnasiallehrerstand selbst. 

Von diesem Standpunkte aus zeigt es sich, daß nicht das Bedürfnis nach 
neuen Gymnasien und das Vorhandensein der finanziellen Mittel für ihre Er- 
richtung in erster Linie ausschlaggebend, sondern vor allem der Bedarf an voll- 
ständig geeigneten und vorgebildeten Lehrkräften gedeckt sein muß; die, wenn 
auch nur zeitweise Verwendung ungeprüfter Lehrer muß gänzlich aufhören. 

Aber dieser Massenzudrang zum Gymnasium ändert sogar seinen 
Charakter, nimmt ihm jedenfalls den der ehemaligen Elitschule. Was das 

291 19* 



wieder bedeutet! Zunächst muß ich ein Mißverständnis abwehren. Aus je 
breiteren Volksschichten das Gymnasium sein Schülermaterial erhält, umso- 
mehr empfängt es Tüchtigkeit, Talent, Fleiß, Gesundheit ; und diesen Auftrieb 
in der Gesellschaft wird jedermann nur begrüßen müssen. Meine Ausführungen 
können also keineswegs die Forderung einer Drosselung des allgemeinen 
Bildungsbedürfnisses bedeuten. Allein zweifellos sicher ist, daß, je mehr 
Schüler das Gymnasium erhält, umsomehr — das muß zunächst nicht 
relativ, sondern absolut verstanden werden — darunter Elemente sein werden, 
die sich mit der Zeit aus den verschiedensten Gründen, vielfach sogar ohne 
jedes Verschulden ihrerseits, als für das Gymnasium untauglich erweisen 
und ausgeschieden werden müssen; das vollzieht sich aber nicht immer 
so einfach und leicht, im Gegenteil öfter unter schweren Kränkungen der Eltern, 
die namentlich mit den bereits Heranwachsenden nicht wissen, was sie mit ihnen 
anfangen sollen. Daraus nun entstehen mehr oder minder berechtigte Vorwürfe 
gegen die einzelnen Anstalten, die, gewöhnlich verallgemeinert, in weiteren 
Kreisen Mißstimmungen nähren und dem Gymnasium Feinde schaffen. Aber 
selbst unter den am Gymnasium bleibenden Schülern kommen nicht wenige 
bei ungünstigen äußeren Verhältnissen nur mit dem Aufgebot aller Kräfte 
den sich immer steigernden Anforderungen in den Lehrgegenständen nach, 
bringen dadurch angeborene oder später erworbene Krankheitsdispositionen 
zum Ausbruch oder müssen aus anderen Gründen auf das Studium an der 
Hochschule verzichten und sich einem Erwerbe zuwenden, erreichen also 
das eigentliche Ziel des Gymnasiums überhaupt nicht. Ein bald kleinerer, 
bald größerer Bruchteil der Schüler besucht ohnehin ohne inneren Beruf 
das Gymnasium, kommt auch nur unter dem Drucke der Schule und äußerer 
Vorteile mühsam ihren Anforderungen nach, wird aber doch mitgeschleppt, 
bis Humanitätsgründe es unmöglich machen, ihn abzustoßen. So bildet sich 
ein Ballast, der den Fortschritt der Gesamtheit hemmt und die Kraft und 
Energie des Lehrers geradezu aufreibt. Je größer aber die Schülerzahl ist, 
um so zahlreicher sind natürlich auch diese retardierenden Elemente, um so 
mühevoller und schwieriger wird die Arbeit des Lehrers. 

Aber obige Zahlen lehren noch ein zweites: es besteht ein ungeheures 
Mißverhältnis in der Zunahme der Zahl der Anstalten und der Schüler ; denn 
die erstere beträgt 31, die letztere 42*4 Prozent; dies tritt als Überfüllung 
einer großen Zahl von Gymnasien in die Erscheinung. 

Die Folgen derselben treffen die Lehrenden und die Lernenden. 

Ich beginne wieder mit den Lehrenden, weil ich denen vollständig 
zustimme, die diesem Faktor im Schulleben die größte Wichtigkeit zumessen; 
es steckt ja in der Tat ein gut Teil Wahrheit in der Behauptung, daß mit 

292 



sehr tüchtigen Lehrern auch bei minder guter Organisation die Schule 
gedeihe, mit schlechten auch bei der besten nichts Rechtes zu stände komme. 

Nun kann man oft hören: Was liegt daran, ob in einer Klasse 30 oder 
60 bis 70 Schüler sitzen? Tatsächlich war dies weniger von Bedeutung zu 
der Zeit, als die Lehrtätigkeit in der Schule vorwiegend im Prüfen und 
Aufgeben der Lektion bestand. Heute aber wird am Gymnasium unter- 
richtet, es wird möglichst die ganze Klasse in Atem gehalten, das tägliche 
Lehrpensum wird immer sorgfältig durchgearbeitet und eingeübt und dem 
entwickelnden und dem Anschauungsunterrichte der breiteste Raum gewährt; 
da ist es für den Lehrer gewiß mehr als die doppelte Anstrengung, wenn 
er statt 30 Schüler 50 bis 60 vor sich hat; ich sage mehr als die doppelte 
Anstrengung, weil an seine Gewandtheit, Schlagfertigkeit, Beherrschung des 
Stoffes und der Schüler die höchsten Anforderungen gestellt werden. 

Es bedeutet also in so überfüllten Klassen schon der Schulunterricht 
selbst für die Lehrer einen ungeheuren Verbrauch an Nervenkraft; nun erst 
gar die endlosen Korrekturarbeiten 1 Welche Ansprüche an die Zeit, Kraft, 
Geduld und Ausdauer der Lehrer bringen diese mit sich! Hier liegt die 
Quelle einer ungeheuren Überbürdung der Lehrer, der Grund des raschen 
Verbrauches ihrer Kräfte, des Unmutes und der Verdrossenheit, denen 
schwächere Naturen anheimfallen müssen. Und so sind denn auch manche 
Forderungen zu verstehen, die nicht selten in Lehrerkreisen laut werden, 
Forderungen von Erleichterungen, Abschaffung der Korrekturarbeit und ähn- 
liche, über die man sich ja umsoweniger wundern darf, als wir ja in einer 
Zeit leben, in der allgemein lauter und skrupelloser die Rechte verteidigt und 
reklamiert werden, die Pflichten gemeiniglich nur zaghafte Anwälte in der 
Öffentlichkeit finden. Daß aber ein ständig überarbeiteter, verdrossener, mut- 
und freudloser Lehrer für die Jugend in der Regel mindestens kein Glück 
ist, bedarf keines weiteren Wortes. 

Die Uberfüllung der Klassen ist aber auch ein Nachteil für die Schüler 
selbst; denn der einzelne kann schwer jene Berücksichtigung finden, dem 
Lehrer so nahe treten, als es Erziehung und Unterricht erheischen würden; 
es ist dem Lehrer in so überfüllten Klassen einfach unmöglich, die Indivi- 
dualität jedes einzelnen, seine Vorzüge und Schwächen, genauer kennen zu 
lernen, geschweige denn ihr Rechnung zu tragen. Ist auch im öffentlichen 
Unterrichte die Gleichheit aller Schüler und peinlichste Gerechtigkeit oberstes 
Prinzip — und es wird heute vielfach verkannt, daß gerade darin ein wich- 
tiges erziehliches Moment liegt, daß in der Schule keine Unterschiede, keine 
Ausnahmen gemacht werden — aber bis zu einem gewissen Grade soll der 
Lehrer individualisieren können; dazu fehlt ihm nun in überfüllten Klassen 

293 



jede Möglichkeit. Bei der Beurteilung der schriftlichen Arbeiten z. B. sollte 
der Lehrer stets das Elaborat des Schülers als Ganzes betrachten und auf 
sich wirken lassen, Richtiges und Falsches sorgfaltig gegeneinander abwägen 
können; wie wäre das auch nur denkbar, wenn der Lehrer in der Korrektur- 
arbeit infolge der übergroßen Schülerzahl formlich erstickt? Daß da ein äußer- 
licher, mechanischer Maßstab, das Zählen der Fehler, Platz greifen muß, ist 
natürlich. Der billig Denkende kann dies nur als einen notwendigen Akt der 
Selbsthilfe begreifen und hinnehmen. 

Mit welcher Wucht sich schließlich noch äußere Rücksichten geltend 
machen und dem Lehrer sein Amt zur Qual und Pein machen, wie sich auch 
diese mit der Zunahme der Schülerzahl mehren und steigern, brauche ich 
gleichfalls nicht weiter auszuführen. 

So viel steht fest: In der Überfüllung muß vom Standpunkte des Schul- 
mannes eine der Hauptschwierigkeiten erblickt werden, mit denen das Gymnasium 
heute zu kämpfen hat ; sie ist eines der Hauptübel, eine der Quellen der Un- 
zufriedenheit der Lehrer, der Schüler und der Eltern, wie sie vielfach zutage tritt. 

Dazu kommt noch ein Umstand, der das Übel verstärkt, ich meine den 
Mangel an Zeit zum Unterrichten. Schon vom Hause aus — und hier berühre 
ich einen wunden Punkt der Organisation des österreichischen Gymnasiums 
— ist das Stundenausmaß für alle Gegenstände aufs allerknappste bemessen 
worden. Das Prinzip der Zweistufigkeit und der Verschmelzung der humani- 
stischen und realistischen Bildungselemente haben eine derartige Ökonomie 
in der Zuteilung der wöchentlichen Stundenzahl an die einzelnen Gegenstände 
notwendig gemacht, daß unter den einfacheren Verhältnissen beim Insleben- 
treten der Organisation zur Not das Auslangen gefunden werden konnte. 
Seither sind aber die Ferien immer mehr und länger geworden; in Wien 
z. B. dauern die Sommerferien an beiläufig der Hälfte der Gymnasien fast 
schon volle 1 1 Wochen. Gewiß haben sie auf die Erholung der Jugend einen 
günstigen Einfluß und ich besitze nicht den Mut, heute, in der Zeit der 
hygienischen Rücksichten und der Besinnung auf die ungeheure Wichtigkeit 
der körperlichen Ausbildung der Jugend, ein Wort dagegen zu sagen; ich 
gebe sogar zu, daß sie unter gewissen Verhältnissen notwendig sind und 
wohltätig wirken, wenn ich auch allzu großer Wehleidigkeit in der Erziehung 
der Jugend nicht das Wort rede. Aber was die Jungen in dieser Zeit vergessen, 
wie schwer — namentlich in Gegenständen, die von Klasse zu Klasse sich auf- 
bauen, in denen also ein präsentes Wissen und sicheres Können die not- 
wendige Vorbedingung für das Fortschreiten im Unterrichte bildet — der Über- 
gang zum neuen Lehrpensum sich gestaltet, was es für Anstrengung kostet, 
nach so langen Ferien die Schüler wieder in Zug zu bringen, das kann nur 

*94 



der ermessen, der das selbst mitgemacht hat. Jedes Jahr erlebt es der tüch- 
tigste Lehrer, daß er am Anfange des Schuljahres die mühsamen Errungen- 
schaften des Vorjahres fast verwischt findet. 

Aber auch die eigentliche Unterrichtszeit selbst ist durch die Verlänge- 
rung der Pausen zwischen den Unterrichtsstunden auf Kosten der Lehrstunden 
erheblich geschmälert worden. Ich konstatiere natürlich nur eine Tatsache 
und übe keine Kritik. Was aber die Verkürzung der Unterrichtsstunde auf 
50 Minuten für einen Ausfall an Unterrichtszeit im Jahre ausmacht, läflt sich 
leicht ausrechnen; er ist mit etwa drei Wochen gewiß nicht zu hoch be- 
messen. Der Lehrer muß auch diesen Ausfall durch größere Intensität der 
Arbeit decken; das Lehrpensum ist ja gleich geblieben, die Anforderungen 
an den äußeren und inneren Erfolg des Unterrichtes aber werden immer 
großer. Durch diesen Mangel an Zeit kommt eine schädliche Hast in den 
Unterricht, die die Nerven der Lehrenden und Lernenden in gleicher Weise 
überspannt. Aber auch die häusliche Tätigkeit der Jugend muß leider mehr 
als z. B. an den Gymnasien des Deutschen Reiches in Anspruch genommen 
werden. Das hat sein Gutes, insofern sich dadurch der Junge an selbständige 
Arbeit gewöhnt; aber es geht dadurch dem Schüler leicht viel Zeit verloren, 
da die Jugend, sich selbst überlassen, die Zeit meist nicht so energisch ausnützt, 
als dies in der Schule unter Leitung des Lehrers möglich wäre, wenn eben 
die wöchentliche Stundenzahl besonders in den Gegenständen vermehrt würde, 
die am leichtesten mit einem Minimum von häuslicher Arbeit der Schüler 
sich zufrieden geben könnten und die eine Herabsetzung der Zielforderung 
nicht vertragen, weil damit überhaupt ein lohnender Ertrag des Unterrichtes 
ganz unmöglich würde. Man vergleiche nur das Stundenausmaß z. B. in den alten 
Sprachen an unseren Gymnasien und an den Gymnasien des Deutschen Reiches ; 
bei uns sind dem Lateinunterrichte 50, dem im Griechischen 28, in Deutschland 
außer an Reformanstalten mindestens 68 und 36 Stunden in der Woche zu- 
gemessen. Und doch ist das Lehrziel bei uns nicht erheblich niedriger als in 
Deutschland, der Erfolg, so weit ich ein Urteil habe, nicht wesentlich geringer. 

Zu all dem kommt noch das ausschließliche und weitgehende System 
des Fachlehrertums und des Aufsteigens der Lehrer, das die Gefahren der 
Überfüllung und des geringen Ausmaßes der Unterrichtszeit erheblich steigert, 
und hier berühre ich wieder einen Punkt der Organisation. 

Das macht sich in mehrfacher Weise ungünstig geltend: Zunächst darin, 
daß zu viele Lehrer in einer Klasse und manche mit nur wenigen Stunden 
in der Woche unterrichten.' Darunter leidet auf alle Fälle die Konzentration, 
weil begreiflicherweise jeder einzelne sich nur um sein Fach kümmert; es 
leidet die erziehliche Einwirkung auf die Jugend, weil möglicherweise der 

295 



eine Lehrer fordert, was der andere verbietet; endlich aber auch geht dem 
eigentlichen Unterrichten viel Zeit verloren, weil die Erfahrungen des 
einen Lehrers mit seinen jeweiligen Schülern den andern nichts nützen« 
sondern auch von diesen selbst erworben werden müssen; statt einer oder zwei 
müssen drei und mehr Personen alle Schüler kennen lernen. Gewiß wirkt der 
Wechsel der Lehrer Stunde für Stunde auch erfrischend auf die Schüler; auch 
ist nicht zu leugnen, daß das gleiche Urteil mehrerer Lehrer über den Schüler 
eine größere Objektivität und Sicherheit besitzt als das eines einzigen; aber 
diese Vorzüge erscheinen gegenüber den Nachteilen der größeren Schwierigkeit 
der Konzentration und der einheitlicheren erziehlichen Leitung verschwindend 
auf der Unterstufe, d. h. in den vier untersten Klassen, wo das wissenschaftliche 
Moment des Unterrichts an Wichtigkeit dem erziehlichen weit nachsteht 

Am Obergymnasium wieder hindert unser System des Aufsteigens der 
Lehrer von der V. — VIII. Klasse in manchen Gegenstanden die Berücksichti- 
gung der Individualitat des Lehrers, seine Spezialisierung und stellt in wissen- 
schaftlicher Hinsicht zu große Anforderungen an ihn. 

Von dem Philologen z. B., der Latein und Griechisch von der V. bis zur 
Vm. Klasse zu unterrichten hat, werden Fachkenntnisse vorausgesetzt, die 
kaum ein Universitatsprofessor besitzt. Es ist zu viel verlangt, wenn ein 
Mann so völlig zu Hause sein soll auf dem Gebiete der lateinischen und 
griechischen Historiker, Epiker, Dramatiker und Redner u. s. w., daß er das 
Ganze beherrscht und jede einzelne Frage genau kennt. Stellt also unser System 
an das Wissen und die Kenntnisse des einzelnen zu hohe Anforderungen, so 
fuhrt es außerdem oft noch zu einem unpsychologischen Vorgang bei der 
Lehrfacherverteilung; es gibt vortreffliche Lehrer, deren Charakter die 
Dichtung fremder ist, andere, die dem Kunstredner ohne inneres Verständnis 
gegenüberstehen, andere, denen das Rhetorische, nicht aber das nüchterne 
Prosaische »liegt«. Diese feinere Differenzierung der Lehrerindividualitaten 
kann bei unserem System keine oder nicht immer volle Berücksichtigung 
finden; es widerspricht einer solchen geradezu; und welche Früchte konnte 
sie zeitigen! An den Gymnasien Deutschlands geht diese Differenzierung so 
weit, daß nicht selten in einer Klasse ein Lehrer den lateinischen Prosaiker 
gibt, ein anderer den Dichter. Allerdings hat es auch sein Gutes, wenn ein 
Lehrer die Schüler mehrere Jahre hindurch in einem Gegenstande führt. Aber 
am Obergymnasium geht das wissenschaftliche dem pädagogischen Moment vor. 

Diese Nachteile unseres Systems konnten auf der Unterstufe durch 
eine ganz leise Abschwächung des Fachlehrersystems, auf der Oberstufe 
durch Abgehen vom Prinzipe des Aufsteigens der Lehrer und durch größere 
Spezialisierung gemildert und nach und nach vermieden werden. Erhielte 

296 



z. B. der klassische Philologe noch die Lehrbefahigung für Geschichte auf 
der Unterstufe — dabei könnte es sich nur noch um Mittelalter und Neuzeit 
handeln — so wäre es möglich, auf der Unterstufe neben dem Religions- 
lehrer mit zwei Lehrern in jeder Klasse auszukommen — einer hätte alle 
humanistischen Gegenstände (Latein, Griechisch, Deutsch, Geschichte), einer 
die realistischen (Geographie, Mathematik, Naturwissenschaften) zu lehren. 
Auf der Oberstufe könnten die individuellen Anlagen und Neigungen der 
Lehrer, ihr engeres Arbeitsgebiet, mehr Berücksichtigung finden und durch 
Förderung der Vertiefung der Lehrer auf einem Gebiete (z. B. Homer, 
Plato, Cicero, römische Dichter u. s. w.) die Schüler tiefer, sicherer und 
geschickter in den Gehalt der antiken Schriftwerke eingeführt werden. Aber 
man mißverstehe mich nicht: nur Verschiebungen in der Zusammensetzimg der 
Fachgruppen, anderseits wieder die Entlastung eines oder des andern umfang- 
reichen Faches von Nebenfachern, endlich die oben angedeutete Erweiterung 
scheinen mir durch praktische Erfahrungen gefordert und die Vorsorge hiefur auf 
der Universität notwendig; und nur soweit könnte ich Änderungen in der 
wissenschaftlichen Ausbildung unserer Gymnasiallehrer das Wort reden; 
gegen die erst unlängst empfohlene Heranbildung der Gymnasiallehrer an einer 
Bildungsanstalt für Mittelschullehrer aber muß auch ich mich ganz entschieden 
aussprechen. Der Lehrer am Gymnasium muß sich auf der Universität die 
Befähigung zur selbständigen wissenschaftlichen Arbeit ebenso erwerben wie 
der künftige Hochschullehrer; die Lehrenden am Gymnasium und auf der 
Hochschule darf keine unübersteigliche Kluft trennen, sondern es soll auch 
in Hinkunft jedem die Möglichkeit offen stehen, sich vom Gymnasiallehrer 
zum Hochschullehrer emporzuarbeiten; dieser Zusammenhang zwischen 
Universität und Gymnasium hat sich in Osterreich seit jeher als so heilsam 
erwiesen, daß im beiderseitigen Interesse daran nicht gerüttelt werden darf. 
Die reine, eigentliche Wissenschaft wird ja am Gymnasium in keinem Fache 
gelehrt; aber die Gegenstände rücken namentlich auf der Oberstufe allmählich 
der Grenze der Wissenschaft so nahe, daß der Lehrer die Wissenschaft 
selbst beherrschen muß. Zudem ist die Methode am Gymnasium der Ausfluß 
fachwissenschaftlicher Erkenntnis; sie kann kein Drill, keine von außen bei- 
zubringende Schablone ersetzen, sondern methodisch tüchtig wird der Lehrer 
am Gymnasium nur durch eigene Arbeit, durch eigene Vertiefung in den 
Gegenstand, durch fortgesetzte eigene Beobachtung. Dazu bedarf es unaus- 
gesetzter fachlicher Fortbildung; die Grundlage dafür muß ihm das Uni- 
versitätsstudium bieten, und zwar das reine Fachstudium. 

Bei den großen Anforderungen, die dieses an den Universitätshörer 
stellt, kann die praktisch-pädagogisch-didaktische Ausbildung ohne Ge- 

297 



fahrdung des Fachstudiums oder Überbürdung des jungen Mannes nicht 
nebenher gehen, sondern naturgemäß nur nachfolgen; ohne gründliche Fach- 
kenntnisse ist zwar eine Routine möglich, aber diese allein vermag dem 
Unterrichte keine nachhaltige Wirkung zu geben. Wenn aber behauptet 
wird, das Anwachsen der Wissenschaften mache eine Beherrschung der- 
selben in den vier Jahren des Universitätsstudiums unmöglich, so ist das gewiß 
richtig; aber es wird dabei übersehen, daß es sich in dieser Zeit nicht darum 
handeln kann, daß der Lehramtskandidat die Wissenschaft ganz beherrsche, 
sondern nur darum, daß er sich die Fähigkeit erwerbe, sich in seiner Wissen- 
schaft selbständig weiter zu bilden; fertig wird man ja mit der Wissenschaft 
nimmer, denn diese wirft jeden Tag neue Probleme auf, die auch der Ver- 
treter der reinen Wissenschaft, der Universitätslehrer, erst nach und nach losen 
oder deren Lösung sich zu eigen machen kann. Die wissenschaftliche Befähi- 
gung, die Fortschritte der Wissenschaft sich anzueignen, muß auch der 
Gymnasiallehrer besitzen. 

Nach meinen obigen Andeutungen über die methodische Ausbildung 
der Lehrer brauche ich wohl nicht erst von dem Gerede einer geistigen Bevor- 
mundung der Gymnasiallehrer durch Direktoren und Landesschulinspektoren zu 
sprechen. Wenn je irgend einmal der Versuch gemacht worden sein sollte, 
den Lehrern am Gymnasium eine bestimmte Methode aufzunötigen und 
amtlich vorzuschreiben, so müßte die Schuld vorzugsweise doch auf die 
Lehrerschaft fallen, daß sie sich eine derartige Beschränkung gefallen ließ; 
denn unsere grundlegenden Bestimmungen über die Rechte der Lehrer 
tragen in ihrem ganzen Geiste der Freiheit des Lehrers in einem Grade 
Rechnung, daß sie liberaler gar nicht gedacht werden können. 

Ich bin mit meinen Auseinandersetzungen zu Ende. Ich glaube gezeigt 
zu haben, daß die Organisation des österreichischen Gymnasiums sich als 
anpassungsfähig erwiesen hat und daß der tatsächliche Zustand desselben 
eine tiefgreifende Änderung nicht erheischt; das Gymnasium löst heute seine 
Aufgabe im ganzen in durchaus erfreulicher Weise und weist einen unver- 
kennbaren Fortschritt seines inneren und äußeren Erfolges auf, trotzdem es mit 
nicht geringen Schwierigkeiten zu kämpfen hat. Und gerade dies stellt der 
Organisation des Gymnasiums sowohl wie seinen Lehrern das beste Zeugnis 
aus. Wie groß muß die Kraft, die dem Gymnasium vermöge seiner ganzen 
Einrichtung innewohnt, sein, wie wissenschaftlich tüchtig, pflichttreu und 
opferwillig die Lehrer am Gymnasium, wenn trotz mancher Ungunst der 
äußeren Verhältnisse, zu der schließlich noch die öffentlichen Angriffe auf 
das Gymnasium zählen, solche Erfolge erzielt und ein derartiger Fortschritt 
erreicht wird! Ist da die Hoffnung unberechtigt, daß, wenn die Hemmnisse 

298 



zunächst gemildert und in absehbarer Zeit beseitigt werden, der Staat und 
die Gesellschaft des Gymnasiums noch mehr froh werden wird als einer 
Statte für feine und edle Bildung der Jugend, wie sie von keiner anderen 
übertroffen wird? Darum möge das österreichische Gymnasium das Glück 
ungehinderter Entwicklung genießen und von gewaltsamem Eingriff verschont 
bleiben, jetzt und immerdar! 

Dem lieben Schottengymnasium in Wien aber möge auch fernerhin ein 
segens- und ruhmreiches Wirken beschieden sein! Quod Deus bene vertat! 

Wien, im März 1907. 




299 




Über den Schottenorganisten Johann Rasch, fe 
Von Joseph Seemüller, flft 

Es ist sonderbar, daß • das hiesige Schottenkloster zweyen Schriftstellern, 
einem Schulmeister, und einem Organisten einst Brod gegeben hat, 
deren Andenken von mir wieder erwecket werden sollte. Beyde Latein 
gelehrt, beyde lustige Kopfe, beyde deutsche Dichter, wie man sie im 
XVI. Jahrhunderte haben konnte. Vom ersten, nämlich Wolfgang Schmälzel 
von Kemnat aus der Oberpfalz gebürtig, habe ich mich bereits in der Buch- 
druckergeschicht Wiens, und ihrem Nachtrage erschöpfet. Nun habe ich 
aber auch auf den ebenso unbekannten, allein gelehrteren Johann Rasch, der 
nicht mehr in jenen Zeitraum gehörte, Jagd gemacht, und lege hier das Auf- 
gebrachte vor.« So leitet Denis 1797 in seinen »Lesefrüchten«, II, 135, den 
Abschnitt ein, in dem er — als der erste — das Andenken an Leben und 
Schriften des Johann Rasch erneuert. Später hat Hugo Mareta — mein 
Lehrer, dem diese Zeilen ehrerbietigen Gruß wieder bringen dürfen — die 
Austriacismen des Halbverschollenen für seine lexikalischen Studien zur 
niederösterreichischen Mundart benützt und Nagl-Zeidlers »Deutschöster- 
reichische Literaturgeschichte« hat auf Grund der von Denis gegebenen Um- 
risse das Bild des Mannes reicher zu zeichnen und Hauptgattungen seiner 
Schriftstellerei in literarhistorische Zusammenhänge zu stellen gesucht. Dort 
sind auch die verstreuten Bemerkungen der Früheren zu Raschens Leben 
oder einzelnen seiner Schriften verzeichnet. Unter diesen hebe ich Keib- 
lingers knappe Notiz (Geschichte von Melk, I, 15), daß Rasch seine »Folge 

300 



«der österreichischen Fürsten« — das von Denis an letzter Stelle genannte 
Werk — 1615 vollendet habe, deswegen hervor, weil dieses unbewährte 
Datum von den Späteren unbesehen hingenommen wurde — außerdem noch 
mit dem Irrtum, daß es sich um einen Druck handle — und weil gerade 
diese Arbeit Raschens den Anstoß zu den folgenden Notizen gegeben hat. 
Als ich die Nachwirkungen der österreichischen (sogenannten Hagenschen) 
Chronik von den fünfundneunzig Herrschaften verfolgte, trat mir in jener 
Schrift der Schottenorganist als Historiker entgegen und dieser und jener 
Detailzug zu seinem Leben und seiner Persönlichkeit, den sie enthielt, dazu 
noch einiges andere aus sonstigen Quellen wird demjenigen, der einmal das 
Ganze seiner interessanten Erscheinung in die Literaturgeschichte fest ein- 
fügen wird, als Ergänzung des bisher Bekannten vielleicht willkommen sein. 
Für wertvolle Nachweisungen aus Wiener Archivalien bin ich Oberarchivar 
Hermann Hango lebhaft zu Dank verpflichtet. 

Was bisher von Raschens Lebensumständen bekannt war, entstammt 
durchaus seinen eigenen Schriften (und sie sind auch in biographischer Be- 
ziehung noch nicht ausgeschöpft). Aus ihnen wissen wir, daß er in jungen 
Jahren 1559 »im Lande Sachsen der Schule nachzog« (Kirch Gottes A2'), 
von catholischer religion in Lutherischen landen was verfüeret ward, aber 
Gewissensbisse empfand und zum ainign warer Kirchs schaffstal zurückkehrte 
(ebenda, Ai*), daß er angefangene juridische Studien vernachlässigte, die 
Philosophie ganz verließ (vgl. unten), Kalender machte, Buchhandel trieb, 
daß er dem Schottenkloster in Wien lang . . . gedient, dessen brots gelebt 
(Schottencloster 1586, &2% und zwar seind des /570. Jars (Ein New: All 
Järiger Calender 1583, D3). Aber den Titel Schottenorganist, den er seit 
Denis führt, gibt er sich selbst nirgends. In welcher Eigenschaft er Diener 
des Klosters war, darauf deutet nur eine Stelle der letztgenannten Schrift 
(F 2 1 ), an der er von der Erneuerung der Schottenorgel 15 17 und von der 
Einrichtung einer Kirchencantorey auff der lehrschuel redet: als dan neben 
anderen studiis ein berüemte Musica zun Schotten bißher ist gehalten und 
erhalten worden, und unter den Ursachen dieser Musikfreundlichkeit auch 
anführt, das A. 75/5 in der zusamenkunjfft dreyer Künigen allhie, aller ley 
zur selben zeit im Geist und verstandt der kunst hocher weder gmainiglich 
unser jetzige hofierer und dischsinger (welches ich da ex pro/es so meines 
künstlens und dienst s zu melden nit umb gehen sol) sich haben hören lassen. 
Ist künstlen hier auch nicht eindeutig, so weist dienst in diesem Zusammen- 
hang doch sicher auf eine Amtsstellung in der Kirchenkantorei. Die Polemik 
der eben angezogenen Stelle geht sofort in ein Lob der vergangenen Zeit 
über : In summa, musica ecclesiastica erschwunge sich, hebte an zu blüeen und 

301 



grainen, so lang, biß es ttzt verwelcket und scheuzlich oder unformklich wird 
und gar bübisch ; und der auch sonst bekannte Erasmus Lapicida, Priester, 
ein männlein bey hundert jaren oder drüber, der sich ins Stift eingekauft und 
dort noch bey manns gedencken gestorben, einer der archimusici, die die 
Schottenkantorei gefordert, sei zu seiner zeit in künstlichkeit der Kirchen- 
gsäng, nit in leichtfertigen, liederischen neuen modis tonorum, wie sein compo- 
sition bezeugt, ein fürtrefflicher Musicus gewesen ; auch den berühmten Paul 
Hoffhaymer, Organist von Saltzburg, der damals am ersten die Regal oder 
Portatifinstrument auff und für brachte, lobt er. Sonst ist er über musi- 
kalische Dinge, die ihm jedesfalls jahrelang pflichtmäßig nahelagen, merk- 
würdig schweigsam. Was er selbst nicht sagt, teilt aber mit aller wünschens- 
werten Deutlichkeit das Weinbuch des Schottenviertels (Hs. des Wiener 
Stadtarchivs) mit, das ein zum Zweck der Weinauflage angelegtes Ver- 
zeichnis der Steuerträger enthält: dort ist er zum Jahr 1587 als Johann 
Rasch, organist, aufgeführt (s. Uhlirz' Regesten im Jahrb. d. Kunstsamml. des 
Ah. Kaiserh. XVIII, s. CXV, nr. 15844). 

Auch der Buchhändler Rasch hat eine urkundliche Spur hinterlassen: 
die Rechnung des Wiener Bürgerspitals von 1582 (a. a. O. Nr. 15829) ver- 
zeichnet den Preis eines Meßbuches, der an Johann Rasch gezahlt wurde. 
Seine Eigenschaft als Wiener Bürger ist aber nur mehr durch den Titel 
Bürger zu Wien bezeugt, den er auf dem ersten Blatt seines Cometen Buech's, 
dessen Widmung vom 6. Jänner 1582 datiert ist, sich beilegt. Die erhaltenen 
Oberkammeramtsrechnungen des Stadtarchivs, die den Empfanng vom burger- 
recht verzeichnen, aber auch diejenigen nennen, denen die Taxe nachgesehen 
wurde, enthalten seinen Namen nicht; sie fehlen aber für die Jahre 1570, 
I 574» x 57 6 und 1582, und in das Jahr 1582 wird man die Verleihung des 
Bürgerrechts an ihn am liebsten setzen wollen, wenn man den Umstand damit 
in Verbindung bringen darf, daß er sowohl seinen Calender als die Practica 
auf 1583 dem Wiener Stadtrat widmete. 

Von Rasch dem Musiker sind heute vier Hefte geistlicher Gesänge be- 
kannt, die Eitners Quellenlexikon verzeichnet. Es ist nicht zu bezweifeln, daß 
unser Rasch ihr Komponist war: sie sind sämtlich 1572 in München von dem- 
selben Adam Berg gedruckt, der auch der Hauptdrucker seiner Schriften 
war; und die Quatuor vocum Cantica quaedam Ecclesiastica de nativitate 
Salvatoris nostri Iesu Christi tragen Widmung an Abt Martin von Mondsee, 
sowie 17 Jahre später der Schriftsteller Rasch seine Kirch Gottes dem Abt 
Hieronymus desselben Klosters zuschreibt, darumb das von derselben (d. i. E. G) 
Gottshaus mier in meinen jungen tagen guetes beschehen ist. Worin die 
Wohltat bestand, sagt deutlicher die Widmimg des Liederheftes: Canobii 

302 



quondam tractavi munere vestri Principium Cantus, Organicigue modi. Dort 
wurden die Grundlagen seines musikalischen Könnens gelegt. Auch die drei 
anderen Hefte tragen Widmungen: In Monte Olivarum an Abt Konrad von 
Neuberg, die Cantiunculae Pascales an Abt Georg von Steirgarsten, das Salve 
Regina an Bischof Urban von Gurk (der 1563 — 1568 auch Administrator des 
Wiener Bistums war). An ein Exemplar der Baßstimme dieser letztgenannten 
Komposition knüpft sich eine Verwirrung, die seit 1888 — da Eitner in seinem 
Artikel über Rasch in der »Allgemeinen deutschen Biographie« die alte hand- 
schriftliche Notiz, die er »auf der Baflstimme des Salve Regina von 1572« fand: 
Praceptor in ccenobio Grivensi in Carinthia, auf Rasch selbst bezogen hatte — 
in dessen Biographie gedrungen ist: wie konnte er 1572 Lehrer im Kärntischen 
Griffen gewesen sein, da er seit 1570 Schottenorganist war? Das Exemplar 
der Münchener kgl. Staatsbibliothek, in dem nach dem Zusammenhange 
Eitners die Notiz zu vermuten war (ich konnte es durch Guido Adlers Güte 
auf dem hiesigen musik-historischen Institut einsehen), enthält keinerlei alten 
handschriftlichen Vermerk. Vielleicht geht Eitners Angabe auf das Exemplar 
der Baßstimme zurück, das er später in seinem Quellenlexikon als auf dem 
Berliner Kircheninstitut befindlich verzeichnet. Wie dem auch sei — eine 
handschriftliche Eintragung jenes Inhalts kann nur entweder ohne alle Be- 
ziehung auf Rasch sein (etwa auf einen Besitzer des Heftes hindeuten) oder 
auf eine Zeit in Raschens Leben weisen, die vor 1570 liegt. Den Versen, die 
die Widmung an Bischof Urban begleiten, ist nur der allgemeine Ausdruck 
schuldiger Dankbarkeit für empfangene Wohltaten zu entnehmen; vielleicht 
deuten sie auch auf eine frühere Dankbezeugung (ebenfalls musikalischer Art?) 
hin, deren Spur sonst verloren wäre: 

Quae tibi consueto posui modulamine, Princeps, 

Est series ipso carminis apta CAoro, 
Qua tibi quae dederis non immemor ante bonorum 

Et meritis volui gratior esse tuis. 
Hanc etiam vultu placidissimo et accipe partem, 

Grata et prceteriti dona laboris habe, 

Dafl diese musikalischen Werkchen die frühesten Erzeugnisse sind, mit 
denen Rasch in die Öffentlichkeit tritt, dafl sie mit dem Jahr 1572 beginnen 
und soviel wir sehen auch aufhören, dafl er von seiner Organisten- und 
Musikereigenschaft später selbst nicht mehr redet, zu ganz anders gearteten 
Veröffentlichungen übergeht, zum Kalendermachen, Praktikenstellen und was 
damit zusammenhängt, von da zu historisch-antiquarischer Schriftstellerei, all 
das verrät, dafl er in seinem Stand — der sozial in die Gruppe der Spielleute 

303 



gehorte (Gesch. d. Stadt Wien, IL, 2, 740) — Befriedigung nicht fand und 
vor der Öffentlichkeit lieber auf Wegen erschien, die er sich von seinem 
Aufenthalt an hohen Schulen her gebahnt hatte — freilich als Nebenläufer, 
weil ihm der akademische Grad fehlte. Er nimmt sich selbst, nicht ohne 
bitteren Ton, von »hochgelerten« aus, beruft sich aber als Kalendermacher 
mit Bedeutung auf seine Studien beim Wiener Professor Reisacher (er war 
1565, Sommersemester, als Johann Resch ex Pdchling immatrikuliert, gratis, 
Matrikel IV, BL 143, Universitätsarchiv), als Historiker will er blofl Sammler 
sein und rechnet sich zu den »Seichtgelerten«. Daß er aber mit seinem Wollen 
in aufsteigender Linie sich bewegt und mit den Doktoren und Magistern 
wetteifert, zeigt seine letzte, nicht mehr zum Druck gelangte Arbeit »Öster- 
reichische Fürsten«. 

Sie verdient in seiner Entwicklung besondere Aufmerksamkeit, weil in 
ihr die gelehrten Sammlerneigungen Raschens an ihrem bedeutendsten Gegen- 
stand zum Ausdruck kommen, weil gerade sie dem wunden Punkt seines 
Ehrgeizes — auf dem Wege zum akademischen Grad gewesen zu sein, ohne 
ihn erreichen zu können — entsprungen scheint, weil sie endlich die kenn- 
zeichnenden Merkmale seiner gelehrten Arbeit, lebendigstes Interesse am 
Suchen und Sammeln ohne Fähigkeit des Sonderns von Wert und Unwert, 
am deutlichsten zeigt. Die Fabelherrscher der Chronik von den Herr- 
schaften spielen in ihr eine große Rolle: Rasch kennt sehr wohl das Ver- 
dammungsurteil, das zu seiner Zeit über diese Teile seiner Quelle schon 
gefallt war, er verzeichnet es sogar und laßt die Wirklichkeit ihrer An- 
gaben in Zweifel — aber diese Nachrichten sind in alten Schriften über- 
liefert — Rechtsanspruch genug für seine Neigung, sie wenigstens be- 
dingungsweise als wahr anzunehmen, sie zu wiederholen und Schlüsse darauf 
zu bauen. 

Das Werk ist in mehreren Handschriften erhalten, unter denen nr. 8213 
der Wiener Hofbibliothek wahrscheinlich ein vielfach korrigiertes Konzept 
des Verfassers ist. Ich kenne es auch aus der Klosterneuburger Hand- 
schrift 694: diese ist vom Schulmeister Matthaeus Roder in Grinzing, im 
Auftrage des Propstes Andreas von St. Dorothea in Wien, angefertigt, mit 
einer Vorrede an den Klosterneuburger Konvent versehen und am 13. Jänner 
1614 vollendet worden. Die weitestgehende Jahreszahl im Texte selbst ist 
161 2. Diese Umstände der Anfertigung der Kopie lassen denn vermuten, 
daß Rasch 161 2 oder 16 13 gestorben war; von diesen beiden Jahren ist 161 2 
das wahrscheinlichere, weil die Steuerverzeichnisse der Stadt Wien unseren 
Rasch bis 161 1 als Zahler auffuhren (für Hanndtierung und Khriegs Contri- 
hition\ s. Uhlirz im Jahrb. XVm, s. CXXIX, Reg. nr. 15880. 

3<H 



Auf BL 10' f. der Hs. 8213 entwickelt er seinen Plan: er will liefern 
1. ein Österreichisch Zeitbuech, wan ieder fürst gelebt und wie lang er regiert 
hab, 2. Osterr. Fürstenbuch, 3. Osterr. Kirchenbuech, 4. Osterr. Mappabuech, 
5. Osterr. Historibuech, 6. Osterr. Stätbuech. Diese Ordnung und Einteilung 
ändert er in Nachträgen: ein Historibuech des lands ob der Ens soll hinzu- 
kommen, und in dem Exemplar cod. vind. 7709 ist auch ein Buech von 
Wienn eigens genannt. 

Unter den Gründen seines Geschichtschreibens steht obenan die Berück- 
sichtigung der Antiquitäten (Hs. 8213, Bl. 4): Gegenwärtige zueständ, was 
sich zu unsern Zeiten begibt und fürgeht, beschreib ich nit, merck es nit auf, 
seit mal iedermenigklich selbst es im gsicht, geheer und wissen hat, dazue 
nun alle potentaten hochgelertiste historicos halten, antiquarios, bibliothecarios. 
So seind iezt vil zeitungschr eiber, die alles was ihnen immer zuekummt oder 
was sie überall auf den gössen aufklauben künnen oder im Lufft vom wind 
auffangen, wares, unwares, es gilt ihnen gleich, järlich zwier auf die franc- 
f ordermeß drucken lassen, ihr relation continuirn. Auch die briefmaler, form- 
Schneider, kupf er Stecher, poeten, dichter, landbrennerische zeitungtrager und 
liedlsinger es in gmäl, reimen, gsang und pasquill bringen, das demnach alles 
den nachkumlingen auf mehr weg zur gedächtnuss verlassen, perpetuirt wierd. 

Bl. 8' ff. richtet er An die weidweisen guetherzigen leser collectors aller 
seiner Österreichischen historiwerk notige entschuldigung. In ihr steht das 
meiste Biographische beisammen: Im jar deß hails 1565 hab ich hie zu Wienn 
alte verzaichnußen der österreichischen fürsten bekumen und abgeschriben. 
A. 1567. 1568, als ich erstmals in alte libereien und über alte gschicht- 
büecher kam, vorhin des historilesens mich nit achtete, es auch nit verstuende, 
und von weldgelerten leüten dise Spruch herete: Non est doctus qui multa seit, 
sed qui seit idonea vitae. Sat studuit, qui didicit prodesse — was nun gwisses 
meinen jaren endlich mier fürzunemmen sey bedenckend, begunte ich das an- 
gefangne Studium iuridicum aus Ursachen zu vernachlässigen, philosophiam 
gar zuverlassen, allain was Osterreich vor unser und vor langer Zeit gewesen 
sei, mit fleissigem lesen und nachsuechen in aller lay büechern, die ich haben 
künde, ein guete weil zuebrachte. 

Viel sei schon über Osterreich geschrieben, von Sylvius, Cuspinian, 
Lazius u. a., aber es bleibe noch viel zu finden und jene haben manches 
falsch berichtet. Auch die Warnung, daß man mit wahrheitgemäßer Geschicht- 
schreibung Anstoß errege, wurde ihm getan: 

Solch für haitun g und Warnung machten mier selbenmals ein bedencken, 
das colli gieren einzustellen, also auch hunezther ich nicht [Bl. 9] fürbracht 
hab, sundern A° 1571 aufs jarlich kalender und practic stellen, dan endlich 

305 20 



wider mein vermainen ainige kramerey iemals anzufangen oder zu treiben, 
wegen catholischer religion und antiquiteten A° 1576 auff den buechhandl 
mich begeben hab. Wie aber in allen disen dreien, nämlich des kalendermachens, 
der alten librei, und des catholischen buechfüerens fürgseczter bemühung es 
mier ergangen, ich in grossen schaden kumen, spöttlich gemacht und in vilen 
verhindert sei worden, ist bey manchem gueten mann noch in gar gueter ge- 
dächtnuSy vorab an dem ort, wo ich seint A* 1570 noch bisher umbs brod diene. 

Auch dadurch, daß so viel Hohe und Vornehme mit Geschichtschreiben 
sich abgeben, läßt er sich nicht von seinem Vorhaben abhalten und setzt die 
egoistischen Motive, von denen jene geleitet werden — politische, religiöse, 
literarische — auseinander: 

(Bl. 9'.) Zwar mein gschlächt kan ich nit herfür streichen, aufmutzen 
noch mehr draus machen, weder was meine eitern und voreitern, geringstes 
Stands, bäum und handwercker, doch alte on nachjag- [Bl. 10] ende halsherren, 
die diß land noch nie gehabt hat, freigeborne Österreicher, drunter thails bei 
denn kaisern Friderico 3. und Maximiliano 1. kriegsleüt und hoffuerleiU, 
doch allzeit in ehren erkennet, gewesen seind, welches ich von mier allain dar- 
umb melde, und billüh, das ainer wegen armuet und schlechtigkait nit zu 
verachten noch zu verwerffen ist, und das mancher mier widerwärtiger hoch- 
tragner neuer edlmann oder landsaß, der durch kramer und wuechergewerb 
sich begraast, durch hofdiensts schindämbtl sein sach hinf Her bracht, in den 
adel sich eingedrungen, durch partitpractic landgüeter kaufft, ein grosser herr 
worden, aber seinn vater oder doch seinn ohn nit nennen darff, noch ainiger 
loblichkait sich geignen kan — tua te commendant, non aliena laudatio .... 
Bin von fugend an ich der schuel nachgezogen, aber nit vil erlernen künnen, 
wie man wol offt manchen seicht gelerten magister oder doctor findt, denens 
auch fält . . . die ihrer kunst eben so wol bedürffen als ich der meinen. Zum 
histori lesen und samlen, wie ieder wol sihet und selbst erfehrt, kain hoch- 
gelertigkait sundern nner ein hocher verstand und fleiß von noeten ist ; dan 
wer latein und altteütsch versteht, alle schrifften und abbreviaturn lesen 
kan und einn köpf Judicium) hat, der ist schon giert gnueg zun historien ; 
sunst kain seicht gelerter, vil weniger ein ungelerter, gar kaine gschicht oder 
schrifft lesen noch stellen dürfften. 

Aus dem Klosterneuburger Exemplar kenne ich eine Stelle, die bio- 
graphisch noch weiter zurückzufuhren scheint: Ein geschriebenes altes Histori 
buech von Bairn und Österreich hab Ich Anno 7558 in der Kirchen Sacristey 
des Marckhs Haistatt gesehen; da Ich demselben newlich durch einem guetten 
freündt nach fragte^ wird mir zu Antwortt, ein Praedicant habs entfremdt 
und sey mit enthloffen. Dardurch seindt die Zeüchleüth (wohl Zechleut?) in 

306 



groß nachtheil und schaden kommen. Aber die Jahreszahl 1558 ist hier nicht 
unverdächtig: die Klosterneuburger Handschrift ist eine Kopie und Rasch 
selbst sagt doch an anderer Stelle, daß er vor Mitte der 60er Jahre mit dem 
Lesen von Historien sich nicht abgab, es auch nicht verstand (vgl. oben) — die 
Hallstädter Hs. hat er aber nicht bloß gesehen, sondern auch eine Geschichte 
Bayerns und Österreich in ihr erkannt. 

Noch sei aus derselben Kopie die Stelle citiert: In Pechlarn, in meinem 
gebüertsheimet . . . wie mir gesagtt, sey in der Pfarrsacristey zwischen der Mauer 
und Almer ein altgeschriebnes Österreichisches Historibuech ohnlangst gefunden 
worden, daz hatt ein Caplan hinwegk genohmmen — weil sie unzweideutig 
seinen Geburtsort nennt. Die Form Pachlern gebraucht der Druck seiner 
Hauer Practic, Wien, Nassinger, 1589: ihre Widmung an Propst Balthasar 
von Klosterneuburg wird u. a. auch damit begründet, das mein Vatter, säliger, 
da er sich von Pachlern aufs Tulnerfeld herab gesetzt, deß Gottshauß (Kloster- 
neuburg) unterthan war. 

Plan und Vorarbeiten seiner Österreichischen Fürsten reichen weit zurück: 
Schon im Schottenkloster 1586 teilt er Bl. A 2 mit, daß er in samlung Oster - 
reicher historien einen besundern theil von der zeit nach auff und abnemung 
Haidnischer, Judischer und Christlicher religion gar vom Sündfluß her in 
genere 9 wo Gott wil auch von etlichen Stifftungen dieses Lands in specie was 
zu schreiben für genommen und angefangen hatte; der Lobspruch auf Öster- 
reich im Konzept der Österreichischen Fürsten (BL 3') 

Land Osterreich bist überall, 

der teütschen gmaines hospital, 
bekannt in aller loblichkait u. s. w. 

steht bereits auf dem Schlußblatt der Hauer Practic (1589), anfangs wörtlich 
gleich, aber mit anderem Schlüsse, der von seinem historischen Plan redet: 

was weiter billichs lob zu sagn 

im Chronicbuech wird fürgetragn, 
welchs ich von dier gefangen an 

zu schreiben, Gott es enden kan. 

Dieses »Chronikbuch« hat zur Zeit, als er die (ohne Jahr erschienene) 
Schrift Hauß Osterreich (einen Auszug aus Stumpfs Schweizerchronik) her- 
ausgab, bereits eine Form gewonnen, die mit der Einteilung in der Hs. 8213 
sich nahe berührt: eine Disposition für acht Bücher wird dort (A 3) entwickelt. 
Die Ausführung des lange gehegten Plans wird wohl in die Jahre töoo bis 
161 2 zu setzen sein. Das Konzept in der Handschrift 8213, dessen Korrek- 

307 20* 



turen in der Kopie cod. vind. 7709 berücksichtigt sind, scheint noch nicht 
die endgültige Form des Werkes gewesen zu sein. Die Klosterneuburger 
Handschrift enthält Merkmale, die auf neuerliche Redaktion hindeuten; an 
dieser arbeitete er noch 161 2. Im selben Jahr ist Raschens Tod zu ver- 
muten. Ob denn der unermüdliche Siebziger sein Hauptwerk zur letzten 
Feile gebracht hat, steht dahin. 

Wien, 24. März 1907. 




308 




Die Lehen des Stiftes Schotten. J| Von Albert Starzer. 

Im Gegensatze zu den niederösterreichischen Stiften kam das Schottenstift 
erst spät in den Besitz von Lehen und auch da nicht infolge Gunst 
eines Landes- oder Kirchenfürsten, sondern durch Kauf. Deren so er- 
worbenen Lehen sind zwei; beide sollten bereits erworbenen Grundbesitz in 
den betreffenden Ortschaften arrondieren und womöglich das Stift zur 
alleinigen »Herrschaft« des jeweiligen Ortes machen. Aber nicht deswegen 
sind diese beiden Lehen merkwürdig, sondern weil bei jedem Lehen dem 
Stifte hinsichtlich des ferneren Besitzes Verpflichtungen auferlegt worden 
sind, die in den betreffenden Jahrhunderten sonst längst außer Übung waren. 



309 



Das erste Lehen, welches das Stift erwarb, war »der Hof mitsamt dem 
Thurm und allen Zugehörungen und Öiensten« zu Stammersdorf. Er ging vom 
Landesfürsten zu Lehen und ward seit einer Reihe von Generationen an die 
Familie Sweinpeck verliehen.*) Sie hatte dazu andere Lehen zu Stammersdorf, 
welche der Landesfurst an die von Ror hintangegeben hatte, gegen Ende des 
XV. Jahrhunderts erworben, sah sich aber zu Beginn des XVI. Jahrhunderts 
aus uns unbekannten Gründen veranlaßt, den gesamten großen Besitz mit 
lehensherrlicher Genehmigung zu veräußern. Der Käufer war Abt Johann VIII. 
Krembnitzer, der dadurch für das Schottenstift alle »herrschaftlichen« Rechte, 
ausgenommen die Landgerichtsbarkeit, in Stammersdorf erwarb; denn einer 
seiner Vorgänger, Abt Matthias Fink, hatte 1470 jene Grunddienste in 
Stammersdorf, die nicht denen von Ror und Sweinpeck zustanden, gekauft.**) 

Schon beim Kaufe mochte Abt Johann daran gedacht haben, das 
lehensherrliche Band zu losen; so ist es zu erklären, daß weder er noch seine 
Nachfolger mit dem »Hof samt Thurm und Zubehör« in Stammersdorf belehnt 
wurden, sondern stets um »Urlaub« ansuchten, der ihnen von der landes- 
fürstlichen Lehensstube »aus erheblichen Ursachen« stets gewährt wurde.***) 
Worin die »erheblichen Ursachen« bestanden, sagt keiner der Urlaubsbriefe. 
Wir können aber auf sie aus anderen auf das landesfürstliche Lehen zu 
Stammersdorf vorhandenen Urkunden schließen. Abt Konrad Weichselbaum 
bot dem Landesfürsten für die »Freimachung« des Hofes mit dem Turme 
in Stammersdorf das Patronatsrecht über die St. Peters- und St. Ruprechts- 
kirche in Wien an, welches dem Stifte laut Stiftbrief zustand.f) Da mit den 
zu diesen beiden Kirchen gehörigen Einkünften zwei Geistliche »ziemlich wol 
erhalten« werden konnten, bewilligte König Ferdinand I. im Jahre 1533 die 
Allodialisierung des Lehens in Stammersdorf, jedoch mit einer seit langem 
nicht mehr geübten Einschränkung, nämlich Einholung der lehensherrlichen Be- 
willigung, sollte das Stift das jetzt zum freien Eigentum oder Allod werdende 
Stammersdorf verkaufen.fi") Abt Konrad und auch seine Nachfolger scheinen 
die Bedingung ohne weiters angenommen zu haben, doch wegen der »schweren 
zeitläufte« verging mehr als ein Jahrzehnt, ehe die Regierung den Tausch 
durchführen konnte. Am 30. Mai 1544 stellte Abt Wolfgang Traunsteiner 
den Verzichtbrief auf die Patronatsrechte über St. Peter und St. Ruprecht 
ausftt), am folgenden 22. Oktober erst unterfertigten Statthalter und Kanzler 



*) Notizenblatt 1854, 359. 
**) Hauswirth, »Abriß einer Geschichte der Benediktinerabtei U. L. F. zu den Schotten«, 43. 
***) »Quellen zur Geschichte der Stadt Wien«, Abt. I, Bd. 5, Nr. 5244, 5247, 5253, 5258. 
t) »Fontes rer. Austr.«, 2. Abt, Bd. 18, Nr. I. 
tt) »Quellen zur Geschichte der Stadt Wien«, Abt. I, Bd. 5, Nr. 5289. 
ttt) Ebenda, Nr. 5338, Hauswirth a. a. O., 63. 

310 



die Allodialisierungsurkunde für Stammersdorf,*) das bis zum heutigen Tage 
bei dem Stifte geblieben ist. 

Das zweite Lehen war der Neudeggerhof zu St. Ulrich bei Wien, ein 
Rittermannslehen unter der Lehensherrlichkeit der Bischöfe von Passau. Er 
war im heutigen siebenten Gemeindebezirk in unmittelbarer Nähe der Kirche 
St. Ulrich gelegen, welche das Schottenstift 1302 gegen die Kirche Maria 
am Gestade eingetauscht hatte, nachdem es schon 12 16 in St. Ulrich, damals 
Zaismannsbrunn genannt, Besitz erworben hatte. Ihn zu arrondieren, speziell 
durch den Neudeggerhof, währte Jahrhunderte. 

Der Neudeggerhof war ein Haus und Turm, der wahrscheinlich seit der 
Türkenbelagerung 1683 baufällig war und an der Wende des XVII. zum 
XVIII. Jahrhundert in das Haus Konskriptionsnummer 54 umgebaut worden 
ist. Zu ihm gehorten zu Anfang des XVII. Jahrhunderts 61 Häuser, Wein- 
gärten im Obern Buchfeld, die zum Teil an das Kloster St. Laurenz in Wien 
weiterverliehen waren, Weingärten in der langen Gasse zu Matzleinsdorf, 
welche gegen sechs Joch Äcker in Inzersdorf an das Gut Margarethen um- 
getauscht wurden, endlich die gesamte Dorfobrigkeit zu St. Ulrich.**) 

Zu Anfang des XVII. Jahrhunderts war der unstreitig gut bestiftete 
Hof an die Familie Westernach verliehen worden. Nach dem Tode des 
Hieronymus Westernacher überließ ihn 1632 das Hochstift Passau pfandweise 
an Karl Freiherrn von Kirchberg, Offizial des Bistums in Niederösterreich, 
für eine ausständige Offizialatsbesoldung von 3500 fl. Nach ihm wurde 1681 
Franz Dominik Graf Pötting damit belehnt, der den Hof 1694 samt Zubehör 
an das Schottenstift um 9000 fl. verkaufte. Der Lehensherr gab seine Zu- 
stimmung, hielt jedoch hiebei an der Anschauung des alten deutschen Lehens- 
rechtes fest, daß der Lehensträger oder Vasall seinem Lehensherrn Kriegs- 
dienste zu leisten schuldig ist. Das konnten aber Geistliche nicht, denn desiit 
esse miles, qui factus est miles Christi und qui clericus efficitur aut votum 
religionis assumit, hoc ipso feudum amittit, heißt es im Lehenrecht. Kam nun 
ein Geistlicher doch z. B. durch Erbschaft zu einem Lehen, so mußte er 
einen Vertreter, Lehenträger oder Provasallus geheißen, stellen, der alle 
Pflichten des Belehnten gegenüber dem Lehensherrn zu erfüllen hatte. In 
Niederösterreich war man längst von der starren Auslegung dieses Gesetzes 
insoweit abgegangen, daß zwar nicht ein einzelner Geistlicher, zumal Ordens- 
geistlicher, lehensfähig war, jedoch geistliche Korporationen Lehen besitzen 



*) »Quellen «ur Geschichte der Stadt Wien«, Abt 1, Bd. 5, Nr. 5340. 
**) Lehensakten, Neudeggerhof, im k. k. Archiv für Niederösterreich (Statthalterei), die für alle 
folgenden Angaben Quelle sind. Nach diesen Akten sind die Ausführungen Feils in »Berichte und Mit- 
teilungen des Altertums-Vereines zu Wien«, 3, 124, richtigzustellen. 

3ii 



und auch weiter verleihen konnten. An diese Anschauung kehrten sich die 
juridischen Räte des Passauer Bischofs nicht, sondern verlangten von dem 
Schottenstifte, daß es einen Lehenträger stelle, und zwar einen, der dem Bis- 
turne genehm sei, da die Abtei von der bischoflichen Residenz zu entfernt 
sei und durch die Vertretung das Hochstift eine genauere Evidenz ȟber das 
genießende Lehen« erhalte; nebstbei wollten Bischof und Kapitel von Passau 
einer ihnen genehmen Familie auf diesem Wege einige Vorteile verschaffen. 
Sollte diese Familie aussterben, war das Lehen apert, das heißt fiel an den 
Lehensherrn zurück. Abt Sebastian L, Faber und sein Kapitel gingen auf diese 
Bedingungen ein und schlugen den ihrem Hause wohlgesinnten Ferdinand 
Grafen von Herberstein und dessen eheliche männliche Nachkommen als 
Lehenträger vor. Der Passauer Bischof belehnte ihn 1695 mit dem Neudegger- 
hof und fortan erscheinen in den Lehenbüchern die Grafen Herberstein als 
Lehenträger. 

Um aber das Recht des Stiftes an dem Neudeggerhof für den Fall 
des Erlöschens der Grafen Herberstein zu sichern, bot es dem Hochstifte 
Passau eine »Ehrenschaft« von 2000 Dukaten an, wofür ihm zugestanden 
wurde, daß es nach dem Aussterben der bereits gewählten Lehenträgerfamilie 
noch drei weitere Familien für diese Stelle in Vorschlag bringen könne. Das 
Stift machte von diesen einem Rechte Gebrauch, als 1765 die Nachkommen 
jenes Ferdinand Grafen von Herberstein im Mannesstamme erloschen. Es 
schlug Franz Josef Grafen von Lamberg und dessen männliche ehelichen 
Nachkommen vor, die auch vom Hochstifte Passau angenommen wurden. Bis 
in das erste Jahrzehnt des XIX. Jahrhunderts waren die Grafen von Lam- 
berg Pro vasallen des Stiftes Schotten für den Neudeggerhof; 1808 wurde Graf 
Josef Lamberg als Provasall belehnt. Damals war aber der Neudeggerhof 
nicht mehr ein bischöflich-passausches Lehen, sondern ein landesfürstliches. 
Entsprechend dem Reichsdeputations-Hauptabschlusse von 1803 waren nämlich 
die geistlichen Fürstentümer, darunter auch Passau, säkularisiert worden und 
durch den Preßburger Frieden von 1805 hatte Österreich die Territorial- 
purifikation in den Erzherzogtümern ob und unter der Enns von auswärtigen 
geistlichen und weltlichen Fürsten angenommen. Damit waren auch deren 
Lehen an den Landesfürsten gediehen. Hinsichtlich des Neudeggerhofes bestand 
jetzt die Singularität, daß bei einem landesfürstlichen Lehen der Lehensinhaber 
durch einen Lehenträger vertreten war. Schon im Jahre 1808 suchte Abt 
Andreas Wenzel an, sein Stift von der Verpflichtung, einen Provasallen zu 
stellen, zu entheben und zu erlauben, daß der jeweilige Abt unmittelbar mit 
dem Neudeggerhof belehnt werde. Die landesfürstliche Lehensstube befür- 
wortete sein Ansuchen, und nachdem Graf Josef Lamberg 1809 »den feier- 

312 



lichsten Verzicht für sich und seine Familie auf dieses Lehenträgeramt geleistet« 
hatte, wurde Abt Andreas, 1833 Abt Sigismund Schultes und 1862 Abt Othmar 
Helferstorfer belehnt Er war der letzte, der die Belehnung erhielt, denn 
1865 wurde der Neudeggerhof entsprechend dem Lehens- Allodialisierungs- 
gesetze allodialisiert, nachdem schon 1848 alle Grund- und Ortsobrigkeits- 
rechte aufgehoben und 1849 die Vorstadt St. Ulrich wie die anderen Vor- 
städte in allen Gemeindeangelegenheiten dem Gemeinderate und Magistrate 
der Stadt Wien untergeordnet worden war. 




313 



Der alte Hochaltar der Schottenkirche und sein 
Sandrart-Bild. J| Von Heinrich Swoboda. $| 

Jeder alte Schottenstudent erinnert sich gewiß noch des ehemaligen pom- 
pösen Hochaltars der Stiftskirche, vor dem wir so oft beim Gymnasial- 
gottesdienst das »Prostrati ante thronum« sangen. Um sein kolossales 
Altarbild herum war eine mächtige Rahmenarchitektur bis an die Kirchen- 
decke empor mit vier Pilastern und zwei vortretenden Säulen aufgebaut 
Zwischen diesen Säulen, halb gegen das Bild, halb gegen das Schiff zu 
gewendet, standen zwei überlebensgroße gewappnete Gestalten, der Stifter 
Herzog Heinrich Jasomirgott mit dem Schwerte und gegenüber sein Vater 
Leopold der Heilige mit einer Fahne in der Hand und zu Füßen eine Kirche. 
So ungefähr war es, und jeder von uns hat noch den Kontrast in Erinnerung 
zwischen dem hohen schwarzen und schweren Altarbau und den weißen, 
wenig vergoldeten Figuren mit barock bewegtem Mantel und der hohen Fahne. 
Ich glaube aber, viele der ehemaligen Kollegen hätten damals und mehr noch 
heute Schwierigkeiten der Frage gegenüber gehabt, was das große, figuren- 
reiche Bild vorstellte. Mir war es immer in Erinnerung als eine Darstellung 
der Seligen, als deren Masseneinzug in den Himmel. Hat da nur die verklärende 
Jugendphantasie etwas in das Bild hineingelegt, was vielleicht nicht in erster 
Linie damit beabsichtigt war? Eine Aufnahme in den Himmel sollte es wohl 
sein, aber nicht diejenige aller Heiligen, sondern die Himmelfahrt Mariens. 
Daraufweist das Titelfest der Kirche, das alljährlich am 15. August gefeiert wird. 
Aber die Schottenkirche ist nicht nur die älteste Marienkirche Wiens, sondern 
sie wurde schon bei ihrer Gründung auch dem heiligen Gregorius Magnus 
geweiht, der, als größter unter allen Päpsten gefeiert, jedenfalls auch der 
größte aller Sohne des heiligen Benediktus genannt werden darf. Darum 
und wahrscheinlich auch, weil schon vorher ein Himmelfahrtsbild von Tobias 
Pock auf dem Seitenaltar unserer Kirche bestand, hat der Maler des Hochaltar- 
bildes, Joachim Sandrart, eine Schar von Heiligen dargestellt, um so auch den 
zweiten Titelheiligen S. Gregorius unterbringen zu können. 

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Über dieser kolossalen viereckigen Bildfläche war aber hoch oben ein 
weit kleineres Rundbild eingesetzt, auf dem in himmlischer Glorie ein ehr- 
würdiger Gott Vater, Christus mit dem Kreuz zur Rechten und der heilige 
Geist, über beiden schwebend, dargestellt waren. Warm in der Farbe, klar 
im Aufbau und einfach in seiner Dreigliederung. Unten der rauschende Einzug 
der Vielen in den Himmel, oben ein ruhiger Glorienblick, ein Gegengruß, 
ein Echo aus dem Himmel. 

Und an den höchsten Feiertagen wurde dieser eindrucksvolle Altar noch 
unten mit silbernen Reliquiarien und einem hochragenden Kreuz geziert. So 
sahen wir ihn oft. Das »ante thronum tuum, o Trinitas« konnte sich sehr zu- 
treffend auf diesen Altar beziehen. Seine Art von Säulenstellung ist übrigens 
auch kunstgeschichtlich als letzter Rest des altchristlichen Baldachinaufbaues 
interessant. 

Doch der Altar besteht nicht mehr, ja er ist sozusagen verschwunden. 

Als unser Professor Ernest aufgehört hatte, Religion und Kirchen- 
geschichte vorzutragen und nicht mehr sein stereotypes »Denken — Schließen 
— Urteilen!« predigte, begann er als Abt Hauswirth selbst in die Wiener 
Kirchen- und Kunstgeschichte einzugreifen und die glänzende Restaurierung 
durchzuführen. Dabei mußte auch der alte Hochaltar 1883 einem marmorenen 
Nachfolger weichen, den Meister Ferstel mit Anklängen an Renaissancegrab- 
mäler entworfen, und an die Stelle des mehr als 200 Jahre alten Ölbildes ist 
jetzt ein blinkendes Mosaik mit der thronenden Gottesmutter getreten. Das alte 
Altarbild wurde als Geschenk den kaiserlichen Sammlungen übergeben. Hatte 
es doch, von Joachim Sandrart gemalt, einen bedeutenden Kunstwert! Aber 
es war so groß, daß es weder im Belvedere noch im Kunsthistorischen Hof- 
museum untergebracht werden konnte. Und so lag es denn, auf eine Holzrolle 
aufgewickelt, jahrelang in den Magazinen begraben. 

Ein glücklicher Zufall fügte es, daß die Altarbildwand in der 1905 
errichteten Zwischenbrückner Notkirche, deren Baukosten Seine Majestät der 
Kaiser trug, gerade so hoch und breit ausfiel, daß unser altes Schottenbild, 
wie dafür gemalt, hinpaßte. Zuerst konstatierten wir die Identität der Masse aus 
dem Inventar der kaiserlichen Sammlung, dann wurde das Bild selbst auf dem 
Fußboden des Museums aufgerollt. So sah ich nach einem Vierteljahrhundert 
wieder die alten Heiligenfiguren. Da kam die Mutter Gottes heraus, auf 
Wolken knieend und in den Himmel einziehend, dann Johannes Baptista, 
dann die Heiligengruppen wie emporschwebende Seelen, andere stehend auf 
der Erde und voll Himmelssehnsucht emporblickend. 

Seine Majestät gab in allergnädigster Weise die Zustimmung zur zunächst 
leihweisen Übertragung und so zog die Himmelfahrt ex cavernis terrae in 

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einen armen, religiös und seelsorglich verlassenen Wiener Bezirk. Dort be- 
herrscht das prächtige Bild die ganze Kirche; andere Kinder singen davor 
ihre Lieder und von einer anderen Gemeinde konnte es dort jetzt heißen: 
prostrati ante thron um . . . 

Das Bild war anscheinend vor Dezennien furchtbar restauriert worden. 
Beim einfachen Waschen rann eine gelbe Masse herunter, so wie schmieriger 
Fußbodenlack. Unter der undurchsichtigen kaffeebraunen Schicht kam das 
schönste Himmelblau heraus, der heilige Johann Baptista zeigte uns bald sein 
wahres Antlitz, und kräftige, fast zu grelle Lichter hoben die Gestalt Mariens, 
so daß sie niemand mehr übersehen wird. 

Der tüchtige und vorsichtige Restaurator Hermann Rietschi besserte alle 
Schäden sorgfaltig aus und so erstanden die lieben Heiligen zum zweiten 
Male aus ihrem Grabe und hielten glorreiche Urständ in der »Allerheiligen 
Kirche« im XX. Bezirke, die von unserem Bild den Namen bekam, und wo 
jeder das alte Schottenaltarbild wiederfinden kann. 

An all diese Erinnerungen klang die Stimmung an, mit der ich in den 
heurigen Ferien auf den Nürnberger Johannis-Friedhof hinausfuhr, um das 
Grab Sandrarts aufzusuchen. 

Beinahe hätte ich dem toten Meister etwas erzählen wollen, von dem 
Schicksal eines seiner größten Bilder. Es klingt ja wie eine Klage in seiner 
Grabschrift, daß er keine liberi, sondern nur libri auf Erden zurückgelassen 
habe. Wie wenn seine Werke nicht auch seine Kinder wären! Gerade jenes 
eine Wiener Bild von seiner Hand hat auf so viele jugendliche und empfäng- 
liche Seelen eingewirkt. 

Eine Ehrenkette mit der kaiserlichen Medaille schmückt noch das Grab, 
in welches der Meister 1688 gebettet wurde, in einer prunkliebenden stolzen 
Zeit, in der Wien das Zentrum des Interesses der Kulturwelt war, ähnlich wie 
später in der Kongreßzeit. Um die Mitte des XVTL Jahrhunderts war der 
schon berühmte Künstler hieher zu Kaiser Ferdinand HE. berufen worden, 
um »das höchste Haupt der Welt in dero kaiserlichem Ornat lebhaft« abzu- 
malen. Für diese und andere Porträte erhielt er außer einer »mildreichen 
Remuneration« eine »schöne güldene Kette samt der kaiserlichen Medaylie«, 
einen Adelsbrief mit Wappen und »dem Zusatz einer königlichen Krone«. 
Im Verlauf der nächsten Jahre malte er sieben Altarblätter für das Stift 
Lambach in Oberösterreich, worunter das Martyrium des heiligen Placidus 
und seiner Schwester Flavia von einem der Stiftspatres, Koloman Fellner, in 
Kupfer gestochen wurde. 

Wir übergehen die Namen aller einzelner Bilder, die von seiner Hand 
bei uns sich noch finden. Eine, wie ich höre, in Vorbereitung befindliche 

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DAS LXXKRK DKR S( HOTTEN KIRCHE VOR 1883. 



von RUDOLF v. ALT. 



KKiKvn \i i»ks iii' k kn dk. h.ws r. v. m.utiinkk in wikn. 



Monographie über Sandrart wird das alles hoffentlich nachtragen.*) Bisher 
hatte Sandrart außer den Künstlerlexika keine eigene wissenschaftliche Bio- 
graphie, denn was Rochlitz im 169. Bändchen der Klassischen Kabinetts- 
bibliothek im altertümelnden Stil über ihn schreibt, ist nur eine lückenhafte 
Paraphrase jener Lebensskizze, die sich in des Meisters eigenen Werken 
findet, und übergeht ebenso wie die Lexika unser Altarbild mit Stillschweigen. 

Joachim von Sandrart auf Stockau war ein bedeutender Künstler für seine 
Zeit. Geboren in Frankfurt am Main 1606, wurde er ein Schüler Gerard 
Honthorsts, der seiner realistischen Anlage entsprach, und später ein Nach- 
ahmer noch größerer Vorbilder, wie Rubens, Tizians, Tintorettos, Paolo Vero- 
neses. Aber ebenso wird von ihm erzählt, daß er bei seinem siebenjährigen 
Aufenthalt in Rom den bereits meisterhaft malenden Claude Lorrain zum 
Landschaftzeichnen nach der Natur gebracht habe und daß er das Zentrum 
der deutschen und holländischen Künstlergesellschaft in Rom bildete. Auch 
ein personlicher Freund Galileis war Sandrart. Sein Hauptwerk ist die 
Schützengesellschaft im Rathaus von Amsterdam. Als besonders charak- 
teristisch für ihn, respektive die Honthorstsche Beeinflussung seiner Kunst gilt 
der »Tod Senekas« im Berliner Museum. Oft erwähnt werden die bekannten 
zwölf realistischen Monatsbilder in der Münchener Pinakothek. Neben den 
zahlreichen Altarbildern, die mehr den Eklektiker hervortreten lassen, malte 
er gut bezahlte Porträtbilder, wenn es sein mußte auch zwei an einem Tage. So 
hatte er wirklich, wie Rubens von sich sagte, mit seinem Pinsel den Stein der 
Weisen überflüssig gemacht und war ein reicher Mann geworden. Aber auch 
die Reichtümer seines Geistes, seiner Kunst, seiner Wissenschaft und Sprach- 
kenntnisse rühmte man damals von Holland und England bis nach Rom und 
Sizilien. Seine schriftstellerische, hauptsächlich kunstgeschichtliche Tätigkeit 
steht in unseren Augen heute sogar hoher als seine Kunst, die wenig Eigenes 
hatte. Die hochtrabenden Worte seiner Zeitgenossen nennen den idealistisch- 
realistischen Nachahmer von Rubens undTitian, den unermüdlichen Kupfer- 
stecher aller antiken Statuen, die auch in seinen Heiligenbildern erkennbar 
nachwirken: »princeps pictorum« und »nostri secli Sandrartus Apelles«. 
Richtiger hätten sie ihn den deutschen Vasari genannt. 

Aber zu seinem glänzenden Rufe, der in Wien schon gefestigt war, 
kam noch ein besonderer Umstand, der ihm den Auftrag zum Hochaltarbild 
der Schottenkirche eingetragen haben mag. 

Der Prior von Lambach P. Johann Schmitzberger war 1669 Abt bei 
den Schotten in Wien geworden und wollte die unter Abt Anton (1642 bis 



*) Siehe Anmerkung am Schlüsse dieses Aufsatzes. 

317 



1648) begonnene Restaurierung der Stiftskirche glänzend zu Ende führen. 
1648 war die erneuerte Kirche in ihrem baulichen Teil fertig gestellt und 
eingeweiht worden und hatte bald darauf zwei kleine Seitenaltarbilder von 
Sandrart, 1652 und 1654, die jetzt noch an der alten Stelle mit neuen Altar- 
rahmen zu sehen sind, erhalten.*) 

Als letzte Zier sollte nun der Hochaltar kommen, nachdem zwei andere 
große Seitenaltarbilder Tobias Pock gemalt hatte. Mehrere Modelle waren 
für den Hochaltar und sein Bild entworfen worden. Künstler-Protektions- 
versuche begannen bereits bis an den kaiserlichen Hof hin ihr Spiel zu 
treiben, als bald nach der erwähnten Wahl Schmitzbergers die Aufmerksam- 
keit auf Sandrart sich lenkte. 

Der neue Prälat kannte wohl noch aus der Zeit her, wo er Prior in 
Lambach war, den dort so sehr bewährten Künstler. 

Obendrein standen seine Bilder in Wien bei St. Stefan und im Profeßhaus 
der Jesuiten, der jetzigen Kirche Am Hof, vor aller Augen. Heute sieht man 
nur flüchtig, wenn man durch den unausgebautenTurm geht, das riesige Kreuzi- 
gungsbild unseres Meisters, hoch oben in fast ewiger Finsternis hängen. Nur 
wenn sich ein neugieriger Sonnenstrahl hin verliert, leben einige dieser 
bewegten Figuren wieder auf, die von den Zeitgenossen so sehr bewundert 
wurden, daß ein italienischer Maler davon sagte: Chi la invidi, ben sia, non che 
Timiti. Und ähnlich urteilte Mario Fiorentino, vom Kaiser nach Wien berufen: 
Dieser Manier zu malen gehe nichts ab, was zur Kunst erfordert werde, und 
es erscheine hier la natura aemula con arte rarissima. Ursprünglich hing dieses 
Bild im Passionschor, wo jetzt der neugotische Herz Jesu-Altar steht. 

Die drei Sandrart-Bilder in der Kirche Am Hof kennen aber die wenigsten, 
obwohl eines davon, die Flucht nach Ägypten, eine vierfaltige raffinierte 
Lichtwirkung zeigte, die, einstens enthusiastisch bewundert und besungen, 
jetzt unter einer Lack- und Staubkruste kaum mehr zu erkennen ist. 

Jedenfalls auch mit Rücksicht auf all diese Arbeiten erhielt unser 
Meister bald nach dem Jahre 1669 den Auftrag zu dem vielumworbenen 
Schottenaltarbild. Der vierundsechzigjährige Künstler lebte damals in Augs- 
burg. Nur kurze Zeit war ihm für das figurenreiche Bild gegönnt, damit 
»selbiges Blatt gegen nächstfolgendem Fest S. Michaelis, wohin man nur 
7 Monate gezehlet, färtig seyn solte: damit Ihr. Kays. Majest. in Besuchung 
dieser schonen neuen Kirche, alles vollzogen und in Ordnung finden mochte«. 

Sandrart hielt Wort, und 1671 wurde der Hochaltar eingeweiht. Inter- 
essant ist die alte, gleichzeitige Beschreibung des Bildes, die wir einem 

*) Hauswirth, »Geschichte der Benediktiner Abtei zu den Schotten«, 1858. S. IOO. Für eines 
dieser Bilder erhielt Sandrart 300 fl. Die Geschichte des Hochaltarbildes fuhrt Hauswirth nicht an. 

3i8 



Anhang seiner »Teutschen Akademie« entnehmen, wo es in seiner, jedenfalls 
von ihm selbst inspirierten Biographie, S. 23, heißt: 

»Dieses Altarblat wird benamet / die himmlische Gloria, und ist ein- 
gerichtet / wie folget. Oben in dem kleineren Blat des Ovals, erscheinet die 
Gottheit / ganz Glorios und hellglänzend.*) Des großen Blats erste Figur 
oben auf / ist Unser liebe Frau in himmlische Freude durch die Engel 
erhoben / die von obgedachten Gottlichen Strahlen anmutig beschienen wird. 
Um sie her stehen die himmlischen Chore der Engel und Heiligen / die Pro- 
pheten und Vätter des Alten Testaments: welche / ie weiter sie von besagtem 
Himmelsglanz abstehen / ie mehr sich das Licht verlieret: daher dann / zur 
Zierde des ganzen Werks / etliche Bilder in finstern Schatten unter die 
Wolken gebracht worden. Es sind auch die bässer (1) hinabstehende Bilder 
beyderseits dergestalt zertheilet / daß zur repraesentation einer großen mänge 
Bilder / desto mehr Raum geblieben: wormit sich auch in der mitten / wie 
notig / eine durchsichtige Oeffhung gefunden. Auf der ersten Seiten sind 
die zwölf Apostel / neben den Patronen der Kirche / als S. Benedictus, 
Scholastica, Rosalia, Benno, Gregorius und Rochus, auch ganz unten auf den 
Wolken / ein schöner nackender stark ausgemachter S. Sebastian / zu sehen. 
Auf der andern Seiten / stehen unten sehr viel anmutige heilige Jungfrauen / 
als S. Catharina, Ursula, Elisabetha, Barbara, Sophia, Apollonia, und mehr 
andere mit gegen den Himmel erhobenen Gesichtern: unter denen auch Maria 
Magdalena, im fliegenden Haar / etwas bloß / und theils mit Leinwat bekleidet. 
Diese und die Engel vermehren dieses Werks Anmutig — und Lieblichkeit / mit 
ihrer himmlischen Zier / auch schönst gebildeten holdseeligen Angesichtern. 
Alle diese Bilder sind in herrlich — und prächtigen Gewändern / von weiß / 
gelb / blau / purpur / roht / und mit andern schonen Farben / ausgemahlet / bey 
bescheidener und vernünftiger Zusammenordnung der Coloriten. Ist also dieses 
Werk / wegen der furtrefflichen Harmonie und Einstimmung /nicht weniger auch 
wegen der herrlichen Invention, guter Zeichnung / und fürtrefflichen variablen 
Gesicht-Bildungen/Kleider und Haarbünde/überhoch zu schätzen und zu preisen.« 

Daß auf diesem Bilde eine Reihe gleichzeitiger Porträts angebracht 
wurde, ist schon mit Rücksicht auf die Lambacher Bilder anzunehmen. Der 
heilige Benno unten in der Mitte scheint die Züge des Künstlers zu tragen. 
Schon in Augsburg war das Bild, im Stadtsaal ausgestellt, von allen Nota- 
bilitäten und vielen tausend Personen besucht worden. In Wien hat es »Ihr. 
Kays. Maj. samt dero ganzen Hof besucht und wol durchsehen / und neben 
allen anderen Kunstverständigen gerühmet und gelobet«. 

*) Dieser Teil des Altarwerkes, ein Dreifaltigkeitsbild, hing nach der Abtragung des Altars 
im Schottenkloster gegenüber dem Choreingang. 

319 



Die Biographie schließt mit der Erzählung, daß Sandrart 1673, ein Jahr 
nach dem Tod seiner ersten Frau, wieder geheiratet habe und der neuen 
Verwandschaft zu Liebe von Augsburg nach Nürnberg übersiedelt sei. Dort 
habe »die Akademie der Kunstliebenden« an ihm einen »fürtrefflichen Vor- 
steher« erhalten und »lernet aus seinen Diskursen / was andere weit über 
Land und Wasser holen müßten«. 

Dort starb er auch am 14. Oktober 1688. Seine junge Witwe setzte ihm 
folgende Inschrift, die ich mir abschrieb, weil sie bisher nicht publiziert ist: 

HIC SITUS EST 

DN. IOACHIMUS DE SANDRART, IN STOCKAU. 

SERENISSIMO ELECTORI PALATINO RHENI 

PHILIPPO WILHELMO 

A CONSILIIS, ET D. MARCI EQUES, 

PICTORUM UBIQUE FACILE PRINCEPS, 

ITALIA, ANGLIA, BELGIO, PERAGRATIS, 

NON ABSQUE SINGULAR! MAX. ARTIF. PRAECONIO, 

LECTISSIMARUM FOEMINARUM MARITUS 

A° M.DC.XXXVH. DOMINAE IOHANNAE DE MILCKAU, 

QUAM A° M.DC.LXXH. TRISTISSIMUS AMISIT 

DEINDE A° M.DC.LXXHI. DOMINAE ESTH. BARB. BLOMMARTAE 

QUAM NISI MORTE NUNQUAM OFFENDIT SUA 

NATUS FRANCOF. D.XII MAI AO M.DC.VL 

MORTUUS NORIMBERGAE D.XTV OCTOBR. A° M.DC.LXXXVHI- 

LIBEROS NULLOS SED LIBROS PLURES RELIQUIT 

CUM ET LIBERIS ET LIBRIS AETERNITAS PROPAGETUR 

VIDUA MOESTISS. VTRO OPT. MERITO. 

H. M. F. F.*) 

Auf den Seiten des Gruftsteines ist sein Wahlspruch zu lesen: VTVRE 
POVR MOVRIR — MOVRIR POVR VTVRE und gegenüber der mit 
einem gekrönten Totenkopf verstärkte Lehrpruch: DER DV BIST DER 
WAR ICH — DER ICH BIN WIRST DV WERDEN. Vorne: SELIG 
SIND DIE TODTEN DIE IN DEM HERN STERBEN und auf der Rück- 
seite: HERR ICH WARTE AVF DEIN HEIL. 

Joachim Sandrart ist zu unterscheiden von dem Zeichner und Stecher 
Johann gleichen Namens, seinem Neffen, und dem Jakob Sandrart, welch 
letzterer im selben Grabe mit ihm ruht und bei Lebzeiten seine Werke ver- 
legt hatte. Unter diesen, in der Grabschrift erwähnten vielen Büchern ist 



*) hanc memoiiun fieri fecit 

320 



die Teutsche Akademie der edlen Bau-, Bild- und Mahlerey- 
Künste, eine reichhaltige Kunst- oder Künstler-Geschichte, Technik und 
Ästhetik mit antiquarischem Einschlag das Bedeutendste. Das zweibändige 
Werk mit 360 Bildern erschien in Nürnberg 1675. In der Iconologia Deorum 
aus dem Jahre 1680 findet sich auch eine unterhaltende, aber damals sehr 
ernst gemeinte Darstellung des Palmen-Ordens, dem Sandrart mit dem Titel 
»der Gemeinnützige« angehörte. Die andern hohen Herren, Fürsten, Künstler 
und Dichter, welche Mitglieder dieser Sprachreinigungsgesellschaft für vater- 
ländische Sitten, Zucht und deutsches Wesen waren, führten hochtrabende, 
mitunter geradezu lächerliche Namen. Die Insignien aus diesen »durch- 
leuchtigst-fruchtbringenden Teutschen Palmen-Hain« zieren das Grab unseres 
Meisters, mit seinem und seiner beiden Frauen Wappen — mitten zwischen 
den Gräbern von Albrecht Dürer, Wenzel Jamnitzer, Veit Stoß, Pirkheimer 
und unserer Zeitgenossen, des Malers Anselm Feuerbach und Augusts von 
Essenwein, der 1892 als Direktor des Germanischen National-Museums starb. 
So reihen sich merkwürdige Bilder hoher und eigenartiger Kultur der 
Vergangenheit aneinander, wenn wir unseres alten, verschwundenen Schotten- 
altars gedenken und sein, in der Notkirche wiedererstandenes Bild betrachten. 
Aber es war eine schone Fügung, daß gelegentlich dieser Studie der ganze 
Altar eine Art Auferstehung feiern sollte. Bei dem Bestreben, wenigstens 
eine Photographie desselben mitveröffentlichen zu können, stellte sich die 
überraschende Tatsache heraus, daß in keiner Wiener Sammlung, auch nicht 
im Schottenstift selbst eine Photographie oder Zeichnung des alten Altars sich 
erhalten habe. Er war also wirklich verschwunden. Da kam durch Herrn 
Landesarchivar Dr. Mayer und kaiserlichen Rat Klobasser die Kunde, daß 
Rudolf Alt das Innere der Schottenkirche vor ihrer Veränderung gemalt habe. 
Insbesondere dem unermüdlichen Nachsuchen Herrn Klobassers gelang es 
schließlich, das prachtvolle Bild im Besitze des Advokaten Dr. Hans Ritter 
v. Mauthner aufzufinden, der dann seinerseits in dankenswertester Weise die 
Erlaubnis zur Reproduktion gab. Und so hat diese Festschrift unerwartet 
eine sinnige Zier erhalten, die den Lesern, allen lieben alten Kollegen, nicht 
nur den Altar und sein Bild, sondern auch weihevolle Erinnerungen an die 
Studienzeit ins Gedächtnis ruft. 

Anmerkung: Während der Drucklegung des Aufsatzes erschien in den »Studien zur deutschen 
Kunstgeschichte« die Monographie : Joachim von Sandrart als Künstler nebst Versuch eines Katalogs 
seiner noch vorhandenen Arbeiten. Von Paul Kutter. Mit sieben Lichtdrucktafeln. Straßburg. Heitz 
I907, 145 Seiten. Wir haben unseren Ausfuhrungen nichts hinzuzufügen. Im Gegenteil wären die 
Sandrart-Bilder in der Kirche am Hof noch von Kutter anzuführen gewesen. Auch die interessante 
Grabschrift bringt er nicht. Dafür sind die Charakteristik Sandrarts und seine Lebensdaten sehr 
eingehend und anziehend dargestellt. 

321 21 




Anna virumque cano. Jf Von Friedrich Freiherrn 
v. Wieser. 31 



Der tönende Vers, mit dem die Äneide anhebt — wer von den Kollegen 
meines Gymnasialjahrganges erinnert sich nicht, wie wir ihn memoriert, 
ihn und so viele von den folgenden Versen hinzu, als jeden von uns 
sein Gedächtnis tragen ließ? Vielleicht hätten wir das Epos noch weiter 
memoriert, wenn uns Virgil ganz das gewesen wäre, was uns Homer ge- 
worden war. Homer hatten wir in unser Herz geschlossen, in feierlicher 
Abstimmung haben wir ihn mit allen gegen eine einzige Stimme über Schiller 
gestellt. Es war eine denkwürdige Szene. Wir hatten schulmäßig sauber die 
Lektüre des sechsten Buches der Ilias beendet, da las uns Pater Clemens 
zum Lohne in dem treuen Deutsch der Vossischen Übersetzung die Stelle 
vor, die den Abschied des helmbuschumflatterten Hektor von Andromache 
schildert. Zum Vergleiche las er uns sodann die bekannten Schillerschen 

322 



Strophen und unvergeßlich für immer erhob sich vor uns hoch über diese 
die einfache, erschütternde Wahrhaftigkeit der Homerischen Dichtung. Und 
wie tief ergriff uns das Nibelungenlied, als wir es im Urtext kennen lernten ! 
Das Mittelhochdeutsch hat für uns Süddeutsche, für uns Österreicher zum 
Zauber der Muttersprache noch den besonderen des eigenen Dialekts und 
der Dialekt spricht hier mit dem Glänze der Schriftsprache, er ist würdig, 
reckenhafte Taten zu künden von gottähnlichen Menschen. Von einem 
österreichischen Dichter besungen, traten die Gestalten des Nibelungenliedes 
unserer innersten Empfindung näher als alle die, von denen wir durch die 
antike Dichtung erfahren hatten, und wir konnten uns im jugendlichen Über- 
schwang selber als die Helden fühlen, die sich zu Bechelären trafen. 

Zwischen Epos und Geschichte verschwimmen die Grenzen selbst für 
den gereiften Mann, um wieviel mehr für den Knaben! Das Epos wächst 
aus der Geschichte und die Geschichtschreibung, auch die echtwissenschaft- 
liche, strebt auf ihren Hohen epische Wirkungen an, die sie — darin dem 
Naturalismus verwandt — durch den Reiz der Wahrhaftigkeit steigert. Für 
mich hatten als Knaben selbst die trockensten Berichte unseres Geschichts- 
lehrbuches, die Namen und Regierungsjahre der Könige, die Jahreszahlen 
der Schlachten den bestrickenden Reiz der Wirklichkeit. Der nüchterne 
»Pütz« war mir darum wertvoller als jeder Roman, ich wußte jeden neuen 
Band vom bloßen Lesen schon auswendig, bevor noch das Schuljahr be- 
gonnen hatte. Jene gewaltige Masse von geschichtlichen Einzelheiten, die 
Ernest Hauswirth uns diktierte und von uns unerbittlich forderte, hatte für 
mich keine Schrecken, ich wetteiferte mit meinem Klassenkollegen Heinrich 
Friedjung in dem Verlangen, sie alle treulich zu behalten und sie jederzeit 
auf die Frage unseres Professors zu präsentieren. Friedjung ist seitdem 
selber Geschichtschreiber geworden, einer der besten, die in Österreich zu 
nennen sind. Ich hatte den gleichen Wunsch, Geschichte zu studieren, be- 
sonders seit ich Macaulay gelesen hatte, den »Tizian der englischen Prosa«, 
der trotz allem, was er gegen die alten Historiker sagt, doch auch ihrer 
epischen Richtung angehört, deren reichste Blüte er vielleicht bedeutet. 

Ich bin kein Historiker geworden, ich wurde Jurist und lernte beflissen 
das, was uns über gewesenes und geltendes Recht tradiert wurde. Lebhaftes 
Interesse erwachte erst in mir, als ich im Verlaufe meiner Studien über 
Staat und Gesellschaft Näheres erfuhr. Eines Tages bekam ich Spencers 
»Einleitung in das Studium der Soziologie« zur Hand. Welche Erleuchtung, 
aber auch welche Umwandlung! Ich las und verschlang, was ich las. Ganz 
der Autorität des großen Denkers hingegeben, glaubte ich ihm aufs Wort, 
wenn er die »Große-Mann-Theorie« bekämpfte und jene Geschichtsauffassung 

323 21* 



verhöhnte, der ich bis dahin gehuldigt hatte, »deren Anfang und Ende das 
arma virumque bildet«. Hier fand ich den tonenden Vers Virgils als Motto 
eines unreifen Irrtums ausgehängt und liefl mir es gefallen, mit schmerzlicher. 
Wonne ließ ich mich belehren, daß die Ideale meiner Jugend trügerisch 
gewesen waren. Ich ließ mich belehren, daß nur für kindliche Völker und 
Menschen die Taten hervorragender Männer die einzigen erinnerungswerten 
Dinge der Vergangenheit seien. Ich las und wurde überzeugt, daß es 
recht gleichgültig ist, von wem England erobert ward, welche Herrscher sich 
den Eroberungen widersetzten und wie sie fielen, was Alfred tat und was 
Canut sagte, wer bei Agincourt focht und wer bei Flodden siegte, welcher 
König abdankte und welcher usurpierte. Ich las und wurde überzeugt, daß 
die »Große Mann-Theorie« höchstens eine teilweise Wahrheit besitze, wenn 
man sie nämlich auf frühe Gesellschaften beschränkt, die darauf ausgehen, 
sich einander zu vernichten oder zu unterjochen, und in denen der fähige 
Führer als allwichtig dargestellt werden darf, obgleich selbst hier die Zahl 
und Eigenschaften seines Gefolges nicht so sehr außer acht gelassen werden 
sollten ; daß aber, sobald der Krieg aufhört, das Geschäft der ganzen männ- 
lichen Bevölkerung zu sein, ohne Aufdrängen, ohne den Gedanken an einen 
König oder Gesetzgeber neue Institutionen, neue Tätigkeiten, neue Ideen, 
Meinungen und Gewohnheiten in die Erscheinung treten, deren Entwicklung 
man nicht verstehen wird, auch wenn man sich blind läse über den Bio- 
graphien aller großen Herrscher. Ich las und wurde überzeugt, daß die 
Gesellschaft den großen Mann bilden muß, bevor er sie neubilden kann, so daß 
alle jene Veränderungen, deren nächster Urheber er ist, ihre Hauptursache 
in den Generationen haben, von denen er abstammt. Daß durch keine Mög- 
lichkeit ein Aristoteles von einem Vater und einer Mutter mit Gesichts- 
winkeln von 50 Grad kommen könne oder ein Beethoven von einem Kani- 
balenstamm, dessen Chor zur Vorbereitung auf ein Festmahl von Menschen- 
fleisch eine Art rhythmischen Geheules ist. Daß Shakespeare seine Dramen 
nicht hätte schreiben können ohne die Fülle des Lebens, das ihn in England 
umgab, ohne die Sprache, welche Hunderte von Generationen durch den 
Gebrauch entwickelt und bereichert hatten. Daß das strategische Genie 
Moltkes nicht hätte triumphieren können, hätte es nicht eine Nation von 
40 Millionen gegeben, die ihm Männer zur Verfugung stellte von starken 
Körpern, stämmigem Charakter, gehorsamer Natur und fähig, Befehle in- 
telligent auszufuhren. Daß derjenige, welcher behufs Erklärung gesellschaft- 
licher Erscheinungen beim großen Manne verweilt, jenen ungeheuren Vorrat 
latenter Kraft, die dieser auslöst, und jene unermeßliche Anhäufung von 
vorausgehenden Tatsachen übersieht, von denen sowohl er selbst wie diese 

324 



Kräfte herrühren, und daß eine solche Erklärung nicht mehr Rationalität 
besitzt, als wenn jemand bei den überschwänglichen Wirkungen eines Körnchens 
Pulver verweilt, ohne die entzündete Ladung, die Bombe, die Kanone und 
jene ganz enorme Summe von Hilfsmitteln zu erwähnen, wodurch Ladung, 
Bombe, Kanone und das Pulverkörnchen erzeugt worden sind. 

Die Augen waren geöffnet und erhielten nun von überall her bestäti- 
gende Eindrücke. Ich will davon nicht im einzelnen berichten, ich will ja 
überhaupt nicht so unbescheiden sein, an diesem Platze von mir zu berichten. 
Meine Absicht geht dahin, an dem einzigen Falle, den ich genau kenne — 
und ich bitte um Verzeihung, wenn dies mein eigener ist — zu zeigen, was 
aus den Wissenskeimen werden kann, die die Schule in die junge Seele ein- 
pflanzt Zunächst waren die geschichtlichen Wissenskeime, die mir unter 
allen im Gymnasium empfangenen weitaus die wertvollsten gedünkt hatten, 
durch Spencers grausame Logik verschüttet worden. Vielleicht hätte ich 
schon früher durch seine Argumente durchzudringen versucht, wenn diese 
nicht für mein Gefühl infolge des außerordentlichen Eindruckes undurch- 
dringlich zusammengewachsen wären, den ihre dichterische Ausfuhrung in 
Leo Tolstois Meisterwerk »Krieg und Frieden« auf mich gemacht hat. 
Tolstoi verdunkelt zwar in den begleitenden Erklärungen, mit denen er seine 
Erzählung von dem russischen Feldzug Napoleons durchbricht, den scharf 
gefaßten Gedanken Spencers ins Mystische, auch seine Bemühung, Napoleons 
übermenschliche Gestalt auf gewöhnliches Menschenmaß herabzudrücken, ist 
zu absichtlich, um nicht Widerspruch zu erregen, aber die Art und Weise, 
wie er den Anteil der Unteroffiziere und der gemeinen Soldaten an den 
kriegerischen Ereignissen, vor allem an der Schlacht von Borodino schildert, 
ist von höchster dichterischer Größe. Der Feldherr tritt zurück, das Gefühl 
der Massen entscheidet den Ausgang, die Schlacht von Borodino, die die 
Russen nicht zu gewinnen vermochten, hat ihnen gleichwohl den Sieg ge- 
bracht, das Wild ist weidwund und der nächste Angriff mußte es erlegen. 
Den namenlosen Kämpfern in Reih und Glied ist hier ein künstlerisches 
Denkmal errichtet, weit großartiger als dasjenige, das Virgil in seinem prunk- 
vollen Epos für den götterentsprossenen Ahnherrn der römischen Cäsaren 
schuf, weit großartiger, weil es so schlicht, so durchaus wahrhaftig ist. Der 
Wirklichkeitszauber der Geschichte, hier war er vollendet, hier agierten nicht 
die Helden, sondern die Massen lebten, hier war echtes Leben dargestellt von 
einem, der selber einmal ausgezogen war und dem die Gabe verliehen war, 
alles darzustellen, wofür menschliche Sinne empfänglich sind. 

Mein Traum war von jetzt ab, namenlose Geschichte zu schreiben. 
Indes, auch daraus wurde nichts. Der aufiälligste gesellschaftliche Zusammen- 

3*5 



hang ist der der Volkswirtschaft — wie konnte man sich an irgend einen 
tiefer verborgenen Zusammenhang wagen, wenn man nicht diesen zuerst er- 
klärt hätte? Die Volkswirtschaft aber kann man nicht erklären, ohne den 
Wert erklärt zu haben 1 Und so faßte ich zunächst hier an und trieb gar 
bald auf der einen Planke der Werttheorie in das schier uferlose Meer der 
gesellschaftlichen Erscheinungen hinaus. Welche Schicksale ich da hatte, 
davon werde ich nichts weiter erzählen, ich werde vielmehr meine Be- 
scheidenheit, die sonst fuglich angezweifelt werden könnte, aufs glänzendste 
beweisen, indem ich von meinen personlichen Erlebnissen nun gänzlich 
schweige. Mit einem Ruck überspringe ich Jahre und Jahrzehnte, um den 
Versuch zu machen, nach Maß dessen, was ich seit meiner ersten Bekannt- 
schaft mit Spencer noch von anderen gelernt, und nach Maß der Kräfte, die 
ich heute erworben habe, in kurzen Worten zu zeigen, wie sich die Leistung 
des großen Mannes zu der des Volkes verhält 

Spencer hat ohne Zweifel recht, auch das Genie ist von der geschicht- 
lichen Vorbereitung abhängig. Spencer hat in so beredter Weise auseinander- 
gesetzt, wie viel auch das größte Genie der geschichtlichen Vorarbeit ver- 
dankt, daß darüber nichts weiter zu sagen notwendig ist. Es könnte höchstens 
noch auf jene zeitlich nächste Vorarbeit hingewiesen werden, die endlich 
geradezu in Mitarbeit übergeht. Die Spannung des gesellschaftlichen Be- 
dürfnisses, die Not der Zeit, sei es, daß sie durch materielle Entbehrung, durch 
Unfrieden, Gewalttätigkeit, Zuchtlosigkeit geschaffen wäre, sei es auch, daß 
sie die Not des nach Klarheit verlangenden Denkens, des nach Befreiung 
ringenden Gefühles wäre, die Anstrengungen der Vorläufer, der Wetteifer 
der Mitgenossen in Sturm und Drang, der gespannte Anteil der begierigen 
Zuschauer und Zuhörer — ohne all das ist die Leistung des großen Mannes 
nicht zu denken. Er ist darin das Geschöpf seiner Zeit, die das Produkt der 
Vergangenheit ist. Wenn er sich in die Einsamkeit zurückzieht, so geschieht 
es zunächst deshalb, um die Eindrücke zu sammeln, die ihn tiefer getroffen 
haben als alle die anderen. Aber in der Einsamkeit findet er auch das er- 
lösende Wort, das die anderen nicht suchen wollen oder nicht finden können. 
Er findet es, ihnen allen zum Trotz, oft genug in einem erbittert feindlichen 
Gefühle gegen sie, die das Altgewohnte nicht lassen wollen, während ein 
Neues zu schaffen ist, ein Neues, welches zunächst vom Alten sich so fremd 
abhebt, daß es nicht seine geschichtliche Folge, sondern seine Aufhebung 
scheint. Dieses Neue, das im geheimnisvollen Dunkel einer großen Seele 
entstanden ist, hat nur in ihr entstehen können. Wie immer wir überzeugt 
sein mögen, daß auch die Kraft, die in der großen Seele wirkt, in den 

326 



früheren Zustanden der Gesellschaft ihre Ursachen haben müsse, so sind wir 
doch nicht im stände zu sagen, wie sie aus ihren Ursachen hervorgegangen 
ist. Hier ist für unser menschliches Auge ein wirklich Neues, nicht bloß eine 
alte Kraft, die sich in neue Form nach Regeln umsetzt, welche wir zu be- 
herrschen oder nur irgendwie zu ahnen vermochten. Wir sehen die Tatsache 
der Entwicklung, aber wir begreifen ihre Notwendigkeit nicht. Immer wieder 
mußte unerwartet und überraschend aus dem freien Räume des Geistes der 
Funke des Talentes, des Genies aufblitzen, um den Weg der Entwicklung 
weiter zu offnen, durch das Licht eines neuen Gedankens, durch den Hauch 
neuer Empfindung, durch den Mut zu neuer Tat Jedes neue Werk des großen 
Mannes, das zum Gesamtwerk des Menschengeschlechts hinzuwächst, ist wohl 
klein im Vergleiche zu dem, was schon vorausgeschaffen ist, aber löst sich 
nicht das Gesamtwerk des Menschengeschlechtes in eine unendliche Reihe 
von Fortschritten auf, von denen jeder nur die Leistung eines großen Mannes 
sein konnte? Ohne die großen Männer wäre keine Entwicklung, sie bilden 
die Triebe, durch die die Menschheit wächst, ohne sie wäre die Welt nicht 
die Welt, wäre denn auch das Volk nicht das Volk. 

Spencer hat wiederum recht, wenn er sagt, auch das Genie sei machtlos 
zur Ausführung seines Werkes, falls nicht der ungeheure Vorrat an Kräften 
da wäre, den die mitexistierende Bevölkerung, ihr Charakter, ihre Intelligenz, 
ihre Einrichtungen darstellten. Der Anteil, den das Volk hiedurch an dem 
Werke des großen Mannes hat, kann gar nicht zu hoch eingeschätzt werden. 
Niemand fühlt dies besser als die großen Männer selbst. Wie viele von ihnen 
werden nicht klein in der Begierde, mit der sie nach der öffentlichen An- 
erkennung verlangen, die ihnen die Aussicht gibt, daß sie alle jene mit- 
existierenden Kräfte für ihr Werk dienstbar machen können! Wie viele von 
ihnen erniedrigen sich nicht geradezu dadurch, daß sie nach dem bloßen 
Beifall lechzen und ihn schon für wirkliche Anerkennung nehmen! Aber 
auch diejenigen, die die leere, mit Worten dargebrachte Huldigung verachten, 
werden wie oft von jenem edleren Ehrgeiz verzehrt, der es nicht erwarten 
kann, in den Taten der anderen fortzeugend anerkannt zu werden! Nur die 
ganz Gewaltigen sind ihres Werkes so sicher, daß sie das volle Gleichgewicht 
in sich selber finden, wohl wissend, daß sie für die Menschheit gearbeitet 
haben und daß ihre Arbeit auf fruchtbares Land fallen und sodann tausend- 
fältige Früchte tragen wird. Sie erkennen das wahre Verhältnis, daß sie das 
Samenkorn bringen und daß die anderen es aufnehmen, einpflanzen und durch 
ihre tätige Arbeit zur Reife bringen müssen. Der Fortschritt, zu dem sie 
das Beispiel geben, ist erst vollendet, wenn ihr Beispiel von den anderen 
nachgeahmt ist; der Gedanke, den der eine vorausgedacht hat, muß von den 

327 



vielen aufgenommen, sein erhöhtes Gefühl muß von ihnen begleitet, die 
tätige Anstrengung, die er fordert, muß von ihnen mitgemacht werden. Auf- 
genommen, begleitet, mitgemacht — die Menge kann es den Besten ja 
niemals gleichtun, sie muß nur so weit mittun, um ihnen auf ihrer Hohe Hilfe 
zu geben, um sie verständnisvoll zu ergänzen, um ihre Idee überall in die 
volle Wirklichkeit umzusetzen, aber so weit ist ihr Mittun unentbehrlich, ja, 
indem die Menge auf diese Weise die Ideen der großen Männer vollzieht, 
wird sie zugleich der berufene Richter über sie. Nur diejenige Neuerung, 
die die Probe der allgemeinen Erfüllung besteht, erweist sich als echt 
menschlich und wird dem Gesamtwerke der menschlichen Kultur einverleibt, 
nur für sie bleibt das Schatzhaus der aufgespeicherten Volksenergie dauernd 
geöffnet, deren sie bedarf, um ins Große zu wachsen. Aber wie dürfte man 
es übersehen, daß sie dieses Schatzhaus ihrerseits bereichert! Zur vor- 
handenen Kraft weckt sie, und in welchem Umfange, neue Kräfte. Das 
Volk, das das endgültige Urteil über seine großen Männer spricht, wird zu 
diesem Urteil erst durch diese befähigt, durch sie erst wird es auf den 
Richterstuhl erhoben, die Stimme, mit der es den Spruch fallt, ist das Echo der 
Stimme, mit der sie gesprochen haben. Darum faßt das Volk sein Richterurteil 
zuerst oft ganz irrig, solange es nämlich noch in seiner Verwirrung und Schwäche 
geblieben ist, es findet die Wahrheit erst, bis es sich durch Nachahmung und 
Übung gereinigt hat. Oft erst nach Generationen und Generationen hat es 
den Gehalt der Lehre, die ihm gebracht worden war, ganz erfaßt und sein 
Urteilspruch löst sich sodann in bewundernde Huldigung und Unterwerfung. 
In einem Punkte hat Spencer durchaus unrecht. Die Persönlichkeit des 
Führers ist nicht nur in den ersten rohen, vernichtenden Kämpfen »all- 
wichtig«, sie bleibt es immerdar, ja, ihre Bedeutung wächst mit den Aufgaben 
der Kultur. Keinerlei Fortschritt kann ohne Führung gelingen, kein kriegeri- 
scher und vollends kein friedlicher. Gerade so wie in den dunkeln Anfangen, 
von denen die Geschichte Kunde gibt, stehen am Eingang und Ausgang des 
letzten Jahrhunderts, das die Menschen durchlebt haben, kriegerische und 
neben diesen friedliche Führer : Napoleon und Bismarck mit Moltke, Beethoven 
und Wagner, Goethe und Ibsen oder Tolstoi oder wer es sein wird, dem 
die Nachwelt den höchsten Preis der Dichtung zuerkennen wird, Lamarck 
und Darwin, eine Reihe ohne Ende — wer kann es voraussagen, welche 
Namen, die uns heute noch nicht geläufig sind, eine späte Nachwelt auf die 
Dauer hervorhebt? Sobald die Menschheit auf die Kräfte des Durchschnitts- 
menschen beschränkt wäre, wäre sie zum Stillstand verurteilt. Eher noch 
hätten die vernichtenden Kämpfe der ersten Horden und Stämme ohne den 
»all wichtigen« Führer zu ihrem ziellosen Ende gelangen können, als daß die 

328 



Aufgaben eines wissenschaftlichen Zeitalters, eines sittlich empfindenden Zeit- 
alters ohne überragenden Führer erfüllt werden könnten. Der Stollen, der aus 
dem Dunkel der Unkultur zum Licht hinauf getrieben wird, ist dort eröffnet 
worden, wo das Gestein am weichsten war und am wenigsten Widerstand 
bot, der Fortschritt wagt sich an immer härteres Gestein und immer schwerer 
wird daher die Aufgabe der Führer, die mit dem diamantenen Vorbohrer 
des Geistes an der Spitze arbeiten. 

Als ich den Spencerschen Gedankengang kennen lernte, hat er in mir 
eine begleitende Vorstellung erweckt, die Spencer selbst ganz fern liegt und 
die ich nur durch ein Mißverständnis hinzugefügt hatte. Gerade sie machte 
auf mich besonderen Eindruck. Es war die Vorstellung des physischen Über- 
gewichtes der Masse gegen den einzelnen. Der große Mann ist »nur eine 
Nummer in der ungeheuren Zahl«, was vermöchte er gegen die Übermacht! 
Muß nicht immer die große Zahl das Gesetz geben? Es ist dieselbe Vor- 
stellung, die heute die Besitzenden ängstlich macht, wenn sie der Überzahl 
der Besitzlosen gedenken, und die sie mit Recht ängstlich machen darf, 
sobald sie sich gestehen müssen, daß sie vor der Masse geistig nichts voraus- 
haben, denn dann muß das Gesetz der großen Zahl gelten. Wie anders aber 
im Bereiche des voranschreitenden Geistes! Der Neuerer betritt jungfräu- 
liches Land, er ist der erste, der einzige, er hat niemand neben sich, über sich, 
er steht über allen anderen, die erwartend nach ihm schauen und sich ihm 
unterordnen, um aus seiner Hand die Gaben zu empfangen, deren Vorrat 
sich nicht mindert, so viel er auch abgibt, weil ihr geistiger Inhalt dem Ge- 
setze der Materie nicht unterworfen ist. Die geistigen Vorkämpfer dürfen 
furchtlos weiterschreiten: solange sie den Fortschritt bringen, solange wird 
ihr Gesetz, wird das Gesetz der kleinen Zahl gelten. 

Spencer hat es nicht vermocht, die bedeutungsvollen Wahrheiten, die 
er lehrte, an der richtigen Linie gegen den Irrtum abzugrenzen. Die Art und 
Weise, wie er dem Irrtum unterlegen ist, zeigt, wie sehr er darin recht hat, 
daß jeder Gedanke durch den Geist der Zeit mitbestimmt ist, in der er aus- 
gesprochen wird. Spencer ist des naturwissenschaftlichen Geistes seiner Zeit 
voll und sieht von den gesellschaftlichen Zusammenhängen daher das, was 
naturwissenschaftlicher Bestimmung fähig ist oder fähig werden könnte. 
Spencer ist des freiheitlichen Sinnes seines englischen Vaterlandes voll und 
sucht daher den Arbeitsraum für das Volk gegen die Eingriffe einer be- 
fehlenden Gewalt durchaus frei zu halten. So auch spricht Tolstoi aus der 
Empfindung für den gemeinen Mann heraus, dessen Leiden ihn in Rußland 
umgeben, so war die ältere Geschichtschreibung im Sinne der Fürsten und 
Großen gedacht, die die Macht im Lande hatten. Der Gesichtskreis, in welchem 

329 



heute die gesellschaftlichen Probleme überblickt werden, ist um vieles weiter 
als je. Während der alte Liberalismus von den gebildeten Oberschichten 
getragen wurde, ist jetzt die Aufmerksamkeit auch den proletarischen Massen 
zugewendet, zugleich aber geht eine Strömung von den Massen weg nach 
dem Übermenschen zu. Tolstoi und Nietzsche bezeichnen die beiden Pole des 
heutigen Empfindens. Ihre Bestrebungen scheinen völlig entgegengesetzt und 
doch, wenn man sie von ihrer Ausdrucksform auf ihren Gefühlsursprung 
zurückfuhrt, so sprechen sie beide die gleiche Not der Zeit aus. Durch 
manche Erfahrungen an dem überlieferten Begriff der Freiheit irre geworden, 
ringen wir nach einem neuen Begriff, der dem Individuum gerecht wird und 
der Menge ihr Recht gibt. Worum handelt es sich im Grunde? Daß auch 
die proletarischen Massen der Freiheit teilhaftig werden sollen, die öffent- 
lichen Entscheidungen aus ihren Interessen mitzubestimmen, und daß doch 
der Drang nach Entwicklung nicht verkümmert werde, der die höchste Ent- 
faltung aller persönlichen Kräfte fordert. Ist es wirklich ein neuer Begriff 
der Freiheit, den wir hiezu benötigen? Oder sind es nicht vielmehr auf er- 
weiterter Grundlage dieselben alten Elemente, die immer durch ihre Ver- 
einigung die Entwicklung gebracht haben! Der Übermensch wird erst zum 
Propheten, indem er zur Masse spricht, die Masse wird erst zum kraftvoll 
geordneten freien Volk, indem sie sich unter die besten Führer stellt 

Das Volk und seine Führer! Sind wir also durch die Schule irregeleitet 
worden, als sie uns »arma virumque« singen lehrte und unseren Blick auf 
den Helden in Waffen lenkte? Ich habe der Schule, unmittelbar nachdem ich 
unter Spencers Einfluß geraten war, diesen Vorwurf gemacht, heute urteile 
ich anders. Die ersten Wissenskeime, die sie in das jugendliche Gemüt ein- 
gepflanzt hat, haben Wind und Wetter zähe überdauert, und es war gut Ich 
könnte jetzt nicht mehr so wie damals die trockenen Daten der Geschichte 
mit der freudigen Begierde des Sammeins in mich aufnehmen, aber ich sehe 
genau ein, daß sie vorerst gesammelt werden mußten, um den Weg vom 
einzelnen ins allgemeine zurückzulegen, den jede Wissenschaft fordert Der 
gesellschaftliche Zusammenhang der friedlichen Arbeit scheint mir heute bei 
weitem wichtiger als die Zusammenstöße in Waffen und bei diesen selbst 
könnte ich niemals mehr den Blick auf die voranschreitenden Führer be- 
schränken. Hat die Schule uns aber nicht doch auch die dunkeln Massen 
des Gefolges gezeigt, die den Führer begleiten? Neben Achilles die Myr- 
midonen, neben Hektor die Trojaner, neben Äneas den treuen Achates und 
die andern Gefährten, neben Siegfried, Günther und Hagen, neben Rüdiger, 
Dietrich und Etzel ihre Mannen? Und war es zu wundern, daß der erste 

330 



Blick ins Weite hinaus, den uns die Schule eröffnete, auf die schimmernden 
Waffen und auf den heldenhaften Mann fiel, der die andern um Hauptes- 
länge überragt und vor ihren Schlachtreihen den Einzelkampf ausficht? Spencer, 
der volles Licht auf den Anteil der Menge geworfen hat, hat den der Führer 
zu enge umschrieben, ja fast ausgelöscht. Die Schule hat uns doch die beiden 
Kräfte gewiesen, die zum Erfolge zusammenwirken, den Führer und sein 
Volk. Ich bleibe ihr dafür dankbar. 




33i 




Der Stein des Anstoßes. J| Von Rudolf Winter. £ 

Hoch oben im Gebirge auf einem schmalen Pfade, der sich zwischen 
hohen Felsen und einem jähen Abgrunde dahin zog, lag ein Stein, 
so groß, daß zwei Wanderer just Platz fanden, auf ihm zu ruhen. Wie 
lange er dort gelegen sein mag, keiner konnte es sagen, aber wie er dahin- 
gekommen, darüber kann bei Gelehrten keine Frage sein. Es hatte wohl 
einstens, durch unterirdische Gewalten erschüttert, der Berg gebebt und der 
Stein war von dem Gipfel, dessen Teil er war, losgerissen und hieher ge- 
rollt oder er mochte früher anderswo gelegen haben und eine Lawine hatte 
ihn hieher getragen. 

Aber es war nicht die richtige Stelle, wohin die Naturgewalten ihn ge- 
bracht. 

Eine Strecke weiter, dort wo der Weg sich erweiterte, hätte er liegen 
sollen, hier sperrte er die Hälfte des schmalen Pfades und zwang alle, die 
des Weges zogen, ihm auszuweichen, was die Menschen nicht gerne tun. 

Aber es wäre irrig zu glauben, daß seine Lage nur jene verdroß, welche 
ihm ausweichen mußten, seine Lage verdroß ihn vielmehr mehr als diese — 
denn das Bewußtsein, ein Stein des Anstoßes zu sein, muß auch einen Stein 
verdrießen, wenn sein Herz nicht auch von Stein ist. 

Und das traf bei dem seinen wahrhaftig nicht zu, denn ein Stein, der 
durch unendlich lange Zeiten täglich so viel zu schauen und zu hören bekam 
wie dieser, konnte nicht gefühllos bleiben. Freilich, es gehorte auch dazu 
eine gewisse natürliche Anlage, denn es gibt Steine, die sehr viel sehen und 



332 



hören und doch immer gefühllos bleiben, so daß die Gefühllosigkeit der 
Steine sprichwörtlich geworden ist. 

Und was sah er nicht alles! 

Da die Seite des Berges, auf welcher er lag, gegen Osten gewendet 
war, sah er hundert und hundert Male die Sonne den Himmel vergolden und 
sie hervortreten, die hohe Konigin des Tages, sah, wie sie die Erde erweckte 
aus ihrem Schlummer, und sah, wie sie sich immer höher und höher erhob, 
ein Meer von Licht verbreitend. 

Und er sah rings seltene Blumen blühen, die nicht im Tale gedeihen, 
sah Bäume, die nur hoch über den Hütten der Menschen grünen, und fühlte 
sich umweht von den Zauberlüften der Höhe. 

Bunte Falter, nach denen keine mutwillige Hand haschte, und Vögel, 
deren Kehlen süße Lieder entquollen, hielten Rast auf ihm, den zum Teile 
grünes Moos bedeckte und auf dem manch' Blümlein wurzelte. 

Und wenn des Winters Stürme angebraust kamen, der Schnee in 
weißen Flocken niederrieselte, alles ringsum in glitzerndes Weiß hüllte und 
tiefes Schweigen die Natur erfüllte, das nur das Krächzen der Raben 
störte, so fand er sich inmitten auch dieses Großen und Gigantischen mächtig 
gehoben. 

Ob in nächtlicher Stunde Berggeister — schlimme, gute, schöne und 
häßliche — die droben ihr Wesen trieben, mit ihm in Verkehr traten, ihn zum 
Vertrauten machten, ihn Begriffe wie Tugend und Laster, Hoffnung, Verlieren 
und Gewinnen, Lieben und Hassen kennen lernen ließen, darüber schweigt 
die Sage, doch wir dürfen wohl glauben, daß dem so war. 

Aber auch die Menschen waren ihm nicht fremd geblieben. Im Winter 
freilich, da kam ihm kein menschliches Wesen nahe — aber bald, nachdem 
der Frühling erwacht war, da kamen sie hinauf gepilgert, die einen, weil sie 
so ihren Weg kürzten, die anderen, weil ihnen das Erklimmen der Berges- 
höhen eine Lust war. 

Von denen, die gekommen waren, bekam er keine angenehmen Worte 
zu hören — er lag ihnen eben im Wege und er war ja der Stein des An- 
stoßes. Alle gaben ihrem Grolle Ausdruck, die einen mit diesen, die anderen 
mit jenen Worten, die sich nach der Stimmung und dem Bildungsgrade der 
Wanderer richteten. Das kränkte ihn sehr, denn es war ja ganz und gar 
nicht seine Schuld, daß er allen im Wege lag. 

Wäre er ein kleiner Stein gewesen, er wäre schon längst in den Ab- 
grund geschleudert worden, aber er war eben so groß und schwer, daß er 
einem Fußtritte, den stets die Menschen für alles, was ihnen im Wege liegt, 
bereit haben, nicht wich. 

333 



Und da er sich nicht selber bewegen und den Platz nicht räumen 
konnte, so blieb er denn liegen, duldete und härmte sich. 

Da erklangen einst fröhliche Stimmen und eine lustige Gesellschaft er- 
klomm den Weg: alte und junge Männer und unter ihnen ein Mädchen, 
schon wie er noch keines gesehen. Sie stützte sich auf den Arm eines jungen 
Mannes, der sie seine Braut nannte und zu ihr gar freundliche Worte sprach. 

■Sieh' da, der Weg ist versperrt,« — rief das Mädchen — »welch ein 
häßlicher Stein! Rasch, Herr Ritter, räumt ihn mir aus dem Wege!« 

Und der Angesprochene eilte und stemmte sich an den Stein und wollte 
ihn fortbewegen und in den Abgrund schleudern. Aber er konnte es nicht, 
denn der Stein war zu schwer. Und das Mädchen lachte auf und sagte: 
»Drachen und ähnliche Ungeheuer haben einst die Ritter ihren Schonen 
zu liebe getötet und ihr vermögt nicht diesen Stein zu rücken!« 

Nun eilten die andern hinzu, stemmten sich an den Stein, aber sie alle 
konnten ihn nicht fortbewegen. 

Und da lachte das Mädchen, sprang auf den Stein und auf der anderen 
Seite hinab und alle fanden das entzückend. 

Sie eilten weiter und ließen den Stein zurück. 

Was er erlebt, tat ihm sehr wehe. Er hätte so gerne der Schönen 
als Ruheplatz gedient und wäre erfreut gewesen, wenn sie die Blüm- 
lein gepflückt, die auf ihm sproßen. Und er versank in schmerzliches 
Trauern — der Stein des Anstoßes und es war ihm so unsäglich leid, daß er 
das war. — 

Bald darauf kamen zwei wüste Gesellen des Weges daher, die ohne 
Sinn für die Schönheit der Natur den Berg bestiegen, weil sie einen freien 
Tag hatten und das Bergsteigen eben Mode war. 

Sie führten Wein und Speise mit sich, sangen rohe Lieder und sprachen 
unsittliche Reden. 

»Hier wollen wir Mittagsrast halten, auf diesem Steine. Er sei Tisch 
und Stuhl zugleich«, rief der eine der beiden, und sie begannen ihren Mund- 
vorrat auszukramen und lagerten sich auf dem Steine. Sie zechten lustig 
drauf los, bis sie berauscht waren, sangen mit heiseren Stimmen immer neue 
wüste Lieder und erzählten sich immer neue Zoten, worüber sie so wild 
lachten, daß ihr rohes Lachen als Echo wieder erklang. Endlich als der Wein 
zur Neige gegangen, lagerten sie sich auf dem Steine und schliefen schwer 
berauscht wohl einige Stunden. 

Als sie endlich ernüchtert erwachten, da lobten sie sehr den Stein, der 
ihnen eine gute Lagerstätte geboten, auf dem sie so lustige Stunden verbracht 
hatten und gössen wie zum Danke die Neige der Flaschen über ihn. 

334 



Im Fortgehen riefen sie : »Auf Wiedersehen im nächsten Jahre, alter 
Geselle!« — 

Als sie fort waren, da wurde dem Steine so schwer um das Herz wie 
noch nie ... es betrübte ihn unendlich, daß er allen, die des Weges ge- 
kommen, ein lästiger Stein des Anstoßes gewesen — auch ihr, der lieblichen 
Mädchenblüte — und es tat ihm so maßlos wehe, daß es just nur diese rohen 
Gesellen waren, denen er gefiel — er fühlte sich wie entweiht, der sich ein 
Opferstein zu sein wähnte, auf dem nun zerknickte Blumen geblüht dem 
Höchsten zum Preise . . . und der a Wein, der über ihn gegossen war, schmerzte 
ihn wie Feuer. 

Nun wünschte er nur noch eines : in den Abgrund zu stürzen, an dessen 
Rande er lag und in Staub zu zerschellen, den die Winde zerstreuen. 

Vernichtung seiner selbst war sein einziger Wunsch . . . der einzige 
Wunsch des Festgebannten, Regungslosen. — 

Da dämmerte der Abend ; es wurde immer dunkler und dunkler — die 
Nacht brach herein .... Stern auf Stern entflammte und an der Sichel des 
Mondes zogen leichte Wolken vorbei. 

Da nahte sich dem Steine eine leuchtende Gestalt, schon, im Prangen 
ewiger Jugend. Und sie sprach: 

»Ich bin die gute Fee dieses Berges — ich weiß, was dich drückt — 
und ich schätze dich ob deines Schmerzes. Jedem Wesen, jedem Dinge in 
meinem Bereiche kann ich Gutes tun nach seiner Art, jedem einen Wunsch 
erfüllen. Dem Hirten, der dort unten seine Herde hütet, kann ich die Geliebte 
gewinnen oder ihn einen Schatz finden lassen, den Vogel ein Lied singen 
lehren, das die Vögel des Paradieses sangen .... über dich könnte ich eine 
Saat der schönsten Blumen ausstreuen — aber du willst ein anderes Ge- 
schenk, vor dem andere zittern, das dir aber zum Heile ist und das ein guter 
Geist dir geben kann. Wenn dir es auch gelänge, dich von deinem Platz 
zu bewegen, du fühltest dich nicht glücklicher, wärest du auch nicht mehr 
der Stein des Anstoßes, denn unauslöschlich bliebe dir in der Erinnerung, 
daß du ein solcher gewesen und du könntest des Leides, das du darob er- 
fahren, nicht mehr vergessen, nicht vergessenes Leid aber dauert fort — du 
kannst nicht mehr glücklich werden, also vergehe ! Vernichtung ist das große 
Geschenk, das du willst und das dir werden soll.« 

Und als sie so gesprochen, erbebte die Erde und es erhob sich ein ge- 
waltiger Orkan .... und der Stein stürzte, von unsichtbaren Händen gehoben, 
in die Tiefe, zerschellte in Staub — und diesen zerteilten die Winde. 

Der Stein des Anstoßes war nicht mehr und es war nicht mehr sein 
Schmerz. — 

335 




Natale di Roma. £ Von Heinrich Ritter v. Wittek. g 

Ein herrlich strahlender Frühlingsmorgen ist über der ewigen Stadt 
aufgegangen. Goldige Lichter spielen um die ernsten Palast- und 

Kirchenfassaden, die sich in schier unübersehbarer Reihe den Korso 
entlang gegen die Piazza del Popolo hinaufziehen. Aus der dämmernden 
Vorhalle unseres Gasthofes in die lichtumflossene Prachtstraße hinaustretend, 
gewahren wir an allen Gebäuden, wo öffentliche Ämter und Dienste ihren 
Sitz haben, festlichen Flaggenschmuck. Die italienische Trikolore und neben 
ihr das gelb-purpurne Banner der Stadt Rom flattern einträchtig im leichten 
Morgenwinde. Eine der blitzblanken Carrozzellen, die unserm Gasthof gegen- 
über auf dem kleinen Platze, zu dem der Korso sich vor der schonen 
Kirche San Carlo erweitert, der Fahrgäste harren, ist sofort, uns bemerkend, 
herübergeeilt. Mit einschmeichelndem »Volle, volle?« ladet uns der Wagen- 
lenker ein, sein Fuhrwerk zu benützen. Wir fragen ihn, was der Flaggen- 
schmuck bedeute. »Nol so, sarä una festa civile« ist die Antwort. Feste gibt 
es ja viele in Rom, bürgerliche und kirchliche. Damit ist die Sache für uns 
vorläufig abgetan. 

Unsere Morgenfahrt geht durch eine der noch im tiefen Schatten 
liegenden Querstraßen an dem stolzen Stadtpalaste der Borghese vorüber, 
dessen Doppelkolonnaden den im vollen Frühlingsgrün prangenden Garten 
reizvoll einfassen, zum Tiberufer. Im vollen Sonnenglanze entrollt sich ein 
unvergleichlich großartiges Stadtbild unserem Auge. Mächtige Brücken über- 
spannen den Strom, dessen geräumiges Flutbett im ganzen Stadtbereiche von 
massiven Quadermauern eingeschlossen ist, die den erhöhten Ufern mit ihren 



336 



aussichtsreichen Straßenzügen und neugepflanzten Baumreihen zum Schutze 
dienen. 

Uns gegenüber steht am Ausgang der statuengeschmückten Engelsbrücke 
die in barbarischen Kriegsstürmen verwitterte Engelsburg, Kaiser Hadrians 
Grabturm. Sein zinnengekrönter, mit dem vergoldeten Engelsbilde geschmückter 
Rundbau, das Denkmal eines Menschenfreundes auf dem Cäsarenthron, eines 
Weltbeherrschers, dem Regenteneifer, Wissensdurst und Reiselust moderne 
Züge leihen, scheint beifällig auf das Regulierungswerk der späten Enkel 
seines Volkes herabzublicken, die sich rühmen dürfen, daß es ihnen gelang, 
den tückischen Wildstrom — Roms alten Feind — zu bändigen und seinen 
Verwüstungen ein Ziel zu setzen. 

Von der Hadriansburg nur durch den kurzen Zwischenraum getrennt, 
den die Häuserzeile des Borgo nuovo ausfüllt, überragt diese bescheidenen 
Wohnstätten die prächtige Hochburg des Vatikans, dessen Ostfront mit ihren 
schöngegliederten Fensterreihen den vollen Frühsonnenschein zurückstrahlt. 
Dicht neben dem päpstlichen Palaste, den Raffaels Pinsel geschmückt, 
schwingt sich aus dem Häusermeere in bläulichem Silberglanze die kühn 
gewölbte Kuppel des St. Petersdomes zum Äther empor, das Wahrzeichen 
des vornehmsten Heiligtums der katholischen Christenheit, das Meisterwerk 
Michelangelos, ein Wunder der durch fromme Begeisterung zu unvergleich- 
licher Höhe erhobenen Kunst. Wer vermöchte unbewegt sich dieser 
geheiligten Stätte zu nahen, die das Grab des Apostelfürsten in sich schließt, 
seit Jahrhunderten das Wanderziel frommgläubiger Pilgerscharen aus allen 
Ländern des Erdkreises, der geweihte Gnadenort, wo das Gefühl inniger 
Andacht durch den bewundernden Anblick der erhabensten Schönheit 
gesteigert wird und jedes empfängliche Gemüt eine weihevolle Erhebung 
empfindet, deren Erinnerung den scheidenden Besucher für sein ferneres 
Leben begleitet! 

Den St. Petersplatz verlassend, bringt uns das behende Gefährt, dem 
wir uns wieder anvertrauten, rasch durch die düsteren Gassen des Borgo 
vecchio zwischen Spital- und Klostermauern an den Fuß der außerhalb der 
Porta S. Spirito des leoninischen Viertels abzweigenden Steilrampe, die zum 
Kloster S. Onofrio hinanführt. Wunderbar schön ist der mit Recht viel- 
gerühmte Rundblick, der sich von der Höhe der Klosterterrasse über die 
unten vorbeiziehende Lungara und den Einschnitt des Strombettes hinweg 
auf die an diesen anschließenden Stadtteile eröffnet. Den weiten Raum vom 
St. Petersdome im Westen bis zu den hochragenden Zinnen des Kapitols 
im Südosten ausfüllend, breitet sich, gegen die grünbelaubte Höhe des Monte 
Pincio im Norden hin allmählich ansteigend, die Riesenstadt mit ihren unzähligen 

337 22 



Türmen, Kirchen und Palästen, den Hügeln und Tälern des Bodens in wellen- 
förmiger Anpassung folgend, vor uns aus. Aus dem Häusergewirr, das den 
alten Campus Martius bedeckt, tritt hinter den Kirchen des Circo Agonale 
und seiner Umgebung der dunkle Kegelstumpf des Augustus-Mausoleums 
deutlich hervor. Vom Höhenrande ober den äußersten Straßenzeilen grüßt 
aus dunkler Laub wand die Villa Medici herüber; neben ihr leuchtet im 
Sonnenglanze von der Hohe der spanischen Treppe die zierliche doppel- 
türmige Kirchenfassade S. Trinitä dei Monti. Aus der Mitte des tiefer unten 
zum Tiberufer abfallenden alten Stadtkerns hebt sich, breit ausladend, die 
wuchtige Rotunde des Pantheons. Tief eingeschnittene Straßenzüge steigen 
den Abhang des Quirinalhügels hinan, auf dessen Hochfläche der Königs- 
palast in gelblichem Schimmer erglänzt. Hinter den Kirchenkuppeln und 
Palastgiebeln des unteren Korsoviertels ragt das Kapitol mit seinen dunklen 
Aufbauten in die verschwimmenden Konturen der weiten Prospekte hinein, 
die in der begrünten Höhe des Aventin und in dem kulissenartig vor- 
tretenden Höhenzuge des Janiculus mit seinen Villen und Parkanlagen ihren 
Abschluß finden. 

Auch Trastevere, dessen schnurgerade Hauptstraße wir von S. Onofrio 
zurückkehrend durchfahren, trägt festlichen Fahnenschmuck. Jetzt erfahren 
wir auch den Anlaß. »C'& oggi il Natale di Roma« meldet uns in gehobener 
Stimmung der Lenker unseres Fahrzeugs. Es ist richtig. Wir hatten, wie 
auf Reisen üblich, des Datums nicht geachtet. Der 21. April aber, den wir 
heute schreiben, ist nach der Überlieferung, die hier offiziell festgehalten 
wird, der Jahrestag der Gründung Roms.*) Wie ein Zauberspruch wirkt 
dieses Wort. Es rollt mit einem Schlage die bis in das Sagendunkel der 
Vorzeit rückblickende Perspektive einer mehr als dritthalbtausendjährigen 
Geschichte auf, die über die sieben Hügel des Tibertals, unterhalb der Anio- 
mündung und über die auf und zwischen ihnen erbaute Stadt, deren Lebens- 
kraft unerschöpflich scheint, gleich einem mächtigen Strome dahingerauscht 
ist, Entwicklungen, Ereignisse und Katastrophen wie Schuttmassen eines 
zertrümmerten Gebirges aufhäufend und deren Spuren dem Boden ihres 
Schauplatzes in Gestalt von Bauwerken, Denkmälern und Reliquien eingrabend. 



*) Am 20. April 1483 wurde der Gründangstag Roms, Natale Romanae urbis, von der 
Sodalitas litteraria auf Anregung des berühmten Humanisten und Latinisten Pomponius Laetus, des 
Schülers und späteren Nachfolgers des Kritikers Laurentius Valla, zum erstenmal auf dem Quirinal 
gefeiert » Anniversarius urbis conditae dies est XX Aprilis, quae consuevit . . . a doctis urbis celebrari, 
quod (si recte memini) Pomponius Laetus Poeta Laureatus primus a paucis annis citra introduzit« 
(Burkard-Chigi, fol. 390). S. Gregorovius, »Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter«, Stuttgart, 1894, 
7. Band, S. 577. Jetzt wird nicht der 20., sondern der 21. April als Jahrestag der Stadtgründung 
festlich begangen. (Vgl. Gsell-Fels, »Italien in 60 Tagen.« Leipzig und Wien I905, II. Teil, S. II.) 

33» 



Auf diesem engen Räume zusammengedrängt, berühren sich hier die 
verschiedenen Kulturepochen, die zugleich Entwicklungsphasen der ganzen 
Menschheit sind: heidnische Antike, christliches Altertum, frühes und späteres 
Mittelalter, Beginn, Blüte und Niedergang der Renaissance, Neuzeit bis zur 
modernsten Gegenwart mit ihren technischen Fortschritten und geschäftlichen 
Spekulationen. Gar seltsam sind in Rom die Schöpfungen dieser Kultur- 
stufen in einander verwoben. Allenthalben findet man hier antike Tempel, 
Thermen und Basiliken in christliche Kirchen umgewandelt, Grabmäler in 
Trutzburgen umgeschaffen, Kolonnaden antiker Theater und Reste von 
Triumphbogen in mittelalterliche Baronalpaläste oder bescheidene Wohn- 
häuser eingebaut. Kaum befremdet es, in modernen Prachtstraßen und Park- 
anlagen Bruchstücken der Servianischen Stadtmauer oder Bauresten zu 
begegnen, an die sich der Name Marius knüpft. Sie erglänzen abends im 
Lichte der elektrischen Bogenlampe und das Kolosseum, dem neuestens auf den 
wegweisenden Straßentafeln ganz richtig die römische Vokalisation »Coloseo« 
zurückgegeben worden ist, strahlt bei Wohltätigkeitsfesten in weiß-rot-grüner 
bengalischer Beleuchtung. Wenn uns aber Rom ungeachtet mancher Sonderbar- 
keiten seines modernen Zuschnitts schon vermöge der Fülle und Mannig- 
faltigkeit seiner Bau- und Kunstdenkmale wie versteinerte Geschichte 
anmutet, so erhöht sich dieser Eindruck noch dadurch, daß diese Geschichte 
nicht die einer Stadt oder eines einzelnen Volkes, sondern die der gesamten 
Kulturwelt ist. War doch »die Stadt« von Anbeginn der Sitz einer Herrscher- 
gewalt, die sich vom ager romanus allmählich über ganz Italien ausdehnte und 
späterhin den ganzen im römischen Weltreiche aufgegangenen Erdkreis der 
politischen und kulturellen Vorherrschaft seiner Metropole unterwarf. »Tu 
regere imperio populos, Romane, memento« ruft schon der große Epiker 
der augusteischen Zeit seinen Stammesgenossen zu. Keine Verherrlichung 
der ewigen Stadt aber reicht wohl an jene Prachtstrophe des Carmen 
saeculare heran, in der Horaz die unvergleichliche Erhabenheit der welt- 
gebietenden Metropole in der frommen Ekstase religiöser Weihe und patrio- 
tischer Begeisterung feiert: 

»Alme Sol, curru nitido diem qui 
Promis et celas aliusque et idem 
Nasceris, possis nihil urbe Roma 
Visere maius.« 

Der Gedanke der Suprematie Roms geht aber mit dem Zusammenbruche 
des Cäsarenreiches nicht verloren; er beherrscht trotz Verfall und Ver- 
wilderung die Gemüter und prägt den mittelalterlichen Reimspruch: »Roma 
Caput Mundi Regit Orbis Frena Rotundi.« Weit mächtiger als der Gedanke 

339 22* 



der politischen Vorherrschaft, die noch in den phantastischen Träumen Cola 
di Rienzo's um die Mitte des XIV. Jahrhundertsge spensterhaft wieder auftaucht, 
knüpft im Mittelalter die dominierende religiöse Idee alle christlichen Völker 
an Rom, den echten Sitz der Päpste, seine Heiligtümer, Märtyrergräber und 
Wallfahrtsstätten. Dank den reichen Mitteln, die von allen Seiten in Rom 
zusammenströmen, sieht die beginnende Neuzeit unter der fordernden Pflege 
kunstbegeisterter Päpste eine neue Blütezeit der Künste sich entfalten, die 
in der vordem unerreichten Vollendung ihrer Schöpfungen dem künstlerischen 
Triebe neue Richtungen vorzeichnet und der aus ihren Trümmern wieder- 
erstehenden Siebenhügelstadt ihren unvergänglichen Stempel aufdrückt. So 
hat Rom, auch nachdem es aufhörte, die politische Hauptstadt der Welt zu 
sein, seine führende Stellung behauptet und noch heute dauert sie in kirch- 
licher Hinsicht wie auch für manche Zweige der Wissenschaften und Künste 
unbestritten fort. Die Kunstschätze, die ihre Galerien in erdrückender Fülle 
vereinigen, die Reichtümer ihrer Bibliotheken und antiquarischen Sammlungen 
erhalten der Tiberstadt für alle Zeiten den Rang einer der vornehmsten 
Pflegestätten der Kunst und Wissenschaft. Es gereicht dem italienischen 
Staate zur Ehre, daß er, der Pflichten dieses Besitzes eingedenk, der 
Erhaltung und Nutzbarmachung der von den Altvordern überkommenen 
Vermächtnisse angelegentliche Fürsorge zuwendet und daß man nunmehr 
auch bei der Berücksichtigung der modernen Bedürfnisse der neuen Haupt- 
stadt von jener Methode rücksichtslosen Eingreifens zurückgekommen zu 
sein scheint, die in den ersten Dezennien nach der Besitzergreifung das 
schmerzliche Bedauern der ergebensten Freunde Italiens hervorrief. 

Darin aber, daß die großen Epochen der kulturgeschichtlichen Entwick- 
lung sich in Rom als der weltbeherrschenden Kapitale wie sonst nirgends 
konzentriert haben und in den Monumenten dieser unvergleichlichen Stadt uns 
noch heute sichtbar und greifbar gegenüberstehen, liegt wohl der Haupt- 
grund jener magnetischen Anziehungskraft, die den fremden Besucher — auch 
abgesehen von den religiösen Momenten — an die ewige Stadt fesselt. Diese 
Attraktion wird für jeden Geschichtsfreund noch dadurch verstärkt, daß ihm 
die historischen Personen und Ereignisse, denen er auf römischem Boden 
begegnet, zum größten Teil wohlbekannt, viele von ihnen aus Studien und 
Lektüre wohl vertraut und sie sohin seiner Teilnahme nähergerückt sind, 
wie denn auch gar manche der erwähnten Vorgänge zur Geschichte des 
eigenen Vaterlandes in naher Beziehung stehen oder selbe geradezu mit- 
gestalten halfen. 

Solche Gedanken begleiten uns, indem wir am Nachmittage des römi- 
schen Gründungsfestes durch das Gewimmel der flutenden Menge den Korso 

340 



abwärts dem von den hochgetürmten Gerüsten des Nationaldenkmals ver- 
hüllten Burgfelsen des Kapitals zuschreiten. 

Am Palazzo Venezia, einem der unserem Staate noch verbliebenen Be- 
sitztümer aus dem reichen Erbe der meerbeherrschenden Republik, vorüber 
betreten wir den geräumigen viereckigen Platz, der die Gedenksäule Trajans 
und die Ausgrabungen seines Forums umgibt. Hier grüßt uns von der Vorder- 
wand des die eine Ecke des Platzes einnehmenden Kirchleins, das dem heiligen 
Namen Maria geweiht ist, das altehrwürdige Wappenbild des Doppelaars 
zum Zeichen des kaiserlichen Schutzes, unter dem dieses Gotteshaus steht 
Zum Gedächtnis des Entsatzes von Wien 1683 erbaut, ist es zugleich ein 
Denkmal der erfolgreichen Hilfsaktion, die Papst Innozenz XI. zur Rettung 
unserer schwer bedrängten Heimat einleitete. Verfolgen wir den Weg weiter, 
der uns durch enge, krumme Gassen, in denen ärmliches Getriebe zwischen 
vernachlässigten Miethäusern an den Wechsel der Zeiten mahnt, zur Höhe 
des Kapitols, zum Forum Romanum und zu den Kaiserpalästen des Palatins 
führt, so gewinnen die uns noch von der Schule her geläufigen Namen der 
Helden, Staatsmänner und Herrscher an der Stätte, die ihre Ruhmestaten, 
ihre Verirrungen und gar oft ihren Sturz gesehen, beim Anblick der Monu- 
mente ihres Zeitalters Gestalt und Leben. Es scheint uns, als ob aus den 
leichten Nebelschleiern, die das Forum umwallen, die gewaltigen in die 
malerischen Falten der weißen Toga gehüllten Gestalten der alten Romer 
zwischen den hochragenden Säulen der Tempel auftauchen sollten, und der 
Widerhall unserer Schritte in den schauerlichen Korridoren der Kaiser- 
paläste täuscht uns den drohnenden Marschtakt der erzgepanzerten Prätorianer- 
Kohorten vor, die den Clivus Victoriae hinansteigen. 

Aber auch andere, ganz individuelle Erinnerungen werden in uns 
lebendig. Es ist unsere eigene goldene Jugendzeit, die mit jenen Schatten- 
bildern in uns wieder auflebt und in der die alten Römer mit ihrer markigen 
Lapidarsprache uns sehr nahe angingen. Bildet diese Beziehung doch den 
unvergeßlichen Sammelpunkt und ihre Erfassung ein Hauptziel der fröhlichen 
Gymnasialjahre, in denen uns, unterstützt durch die sorgsam gepflegte An- 
eignung der klassischen Sprachen, der Einblick in die Kulturwelt der Antike 
aufging, die Vorgänge und handelnden Personen unserem Verständnisse 
nähertraten und die Begeisterung für das Große und Herrliche dieser Kultur- 
epoche, für die in ihr leuchtenden Vorbilder der Seelengröße, Bürgertugend 
und Vaterlandsliebe unsere jungen Herzen entzündete. Angesichts der Senats- 
kurie, aus der Ciceros flammende Reden den Verschwörer Catilina zur Flucht 
trieben, vor den Marmorbalustraden der Rostra, wo Antonius das Volk zur 
Rache für den ermordeten Cäsar aufrief, auf der Via sacra, die Horaz zum 

34i 



Schauplatz einer seiner kostlichsten Satiren gewählt hat, im Anblick des 
Kolosseums und der zerfallenen Kaiserpaläste, die in ihren Erbauern uns die 
so wohlbekannte Reihe der römischen Cäsaren von Augustus bis Domitian 
vor das Auge stellen, ist es da zu wundern, wenn die lieben Schulerinnerungen 
des Schottengymnasiums im Herzen des alten Studenten lebendig werden? 
Ehrwürdige Priester im schlichten Benediktinertalar walten in diesen Er- 
innerungen an erster Stelle: unsere einmütig verehrten trefflichen Professoren. 
Unvergeßlich sind ihre Züge unserm Geiste eingeprägt, so verschieden nach 
Erscheinung und Eigenart, so übereinstimmend in ihrer edlen, von wahrhaft 
christlichem Geiste durchleuchteten Humanität, in der wohlwollenden Güte 
und unermüdlichen Sorgfalt, mit der sie ihren ebenso hohen als schwierigen 
Beruf erfüllten und die ihnen anvertraute Jugend durch Lehre und Beispiel 
zum Guten und Rechten anleiteten. Wie viele von ihnen schon dahingegangen 
sind und von den Mühen und Sorgen des Lehramtes ausruhen, ihnen allen 
bewahrt das dankbare Gemüt ihrer einstigen Schüler stets die treueste 
pietätvolle Erinnerung. Den hochverehrten Lehrern unserer Jugend aber, die 
uns die Gnade der Vorsehimg erhalten hat, schlägt' unser Herz heute wie 
vordem in unwandelbarer Liebe und Anhänglichkeit entgegen und begleitet 
ihre Lebenswege mit den innigsten Segenswünschen. 

Während wir, von diesen Empfindungen bewegt, den schonen leicht- 
geschwungenen Parkweg hinansteigen, der vom Eingang in der Via S. Teodoro 
zu den Kaiserpalästen des Palatins emporführt, hat die Sonne sich schon tief 
geneigt. Von der Hochfläche des Palasthügels, auf der die Farnesischen 
Gärten im Frühlingsschmucke prangen, fallt der Blick auf den hochragenden 
Senatorenpalast, der die Steilwand des Kapitolfelsens krönt, mit dem Glocken- 
turm, dessen eherne Stimme in den blutigen Wirren des Mittelalters so oft 
den Ruf zu den Waffen über die weiten Trümmerfelder der verödeten Stadt 
ertönen ließ. Zu unsern Füßen liegt, allmählich im Abendschatten ver- 
schwimmend, das Forum mit seinen Triumphbogen, Säulenresten und Tempel- 
trümmern, das Denkmal des gewaltigsten Staatswesens, das die Erde gesehen. 
Die schwindenden Sonnenstrahlen vergolden noch die jenseits des Forums 
sich öffnenden mächtigen Wölbungen der Constantins-Basilika und die Bogen- 
reihen des Flavischen Amphitheaters, das neben dem Titusbogen den Aus- 
blick begrenzt. 

O Rom, selbst in deinen Ruinen unvergleichlich groß und schön! Wie 
eine nach jeder Verdunklung heller strahlende Sonne leuchtest du in der 
Geschichte der Menschheit ! Zu dir haben in allen Zeiten die edelsten Geister 
sich hingezogen gefühlt. Du hast ihr Sehnen gestillt und ihrem Streben den 
Stempel der Vollendung aufgedrückt. Du hast Petrarca krönen gesehen, auf 

342 



deinen Monumenten ruhte von S. Onofrio aus, wo er sein letztes Asyl erreicht, 
Tassos erlöschender Blick. In deiner Kirche hat Gustav Adolfs königliche 
Tochter den Frieden gefunden. Und dürfen wir Deutsche es vergessen, daß 
kein Geringerer als Goethe, dessen jugendschönes Marmorbild heute den 
borghesischen Park ziert, es war, der — in dir zum Klassiker gereift — 
deinen Zauber uns wie schon unsern Vätern vertraut gemacht, daß Mommsen 
die Geschichte deines Altertums mit ehernem Griffel gezeichnet und 
Gregorovius der Schilderung der späteren Geschicke seiner Adoptivvaterstadt 
und ihrer geistlichen Beherrscher den besten Teil seiner reichen Forscher- 
kraft gewidmet hat? 

So bist du, ewige Stadt, uns eine doppelt geheiligte Stätte, der uner- 
schöpfliche Fruchtboden, dem die edelsten Blüten der Religion, Wissen- 
schaft und Kunst entsprossen sind. In diesem Sinne dürfen wir dich, hehre 
Roma, als die geistige Heimat jedes Gebildeten begrüßen, den Ursprung und 
die Fundgrube einer Fülle idealer Besitztümer, die unser geistiges Leben 
den Schätzen deiner Literatur, Kunst und Geschichte entnommen hat. Aus 
diesem Bewußtsein entspringt das rege Gefühl einer inneren Zugehörigkeit 
und ehrfurchtigen Liebe, die das deutsche Gemüt von jeher an die ewige 
Roma knüpft. 

Wie sinnig hat der Volksglaube sich diese Beziehungen zurechtgelegt, 
indem er dem scheidenden Fremdling durch die magische Kraft des Ab- 
schiedstrunkes aus der Fontana Trevi die Wiederkehr verbürgen läßt! Jeder 
Freund und Bewunderer aber, an dem sich die Kraft dieses Zaubers bewährt, 
wird es als beglückende Gunst empfinden, gleich uns an Ort und Stelle feiern 
zu dürfen »il Natale di Roma«. (21. April 1906.) 




343 




Erzherzog Carls Dankgesinnung gegen seinen ehe- 
maligen Lehrer Bischof Grafen Hohenwart. J| Von 
Cölestin Wolfsgruber. J| 

Einem Werke, welches Dankbarkeit dem Andenken unvergeßlicher Lehrer 
und einer dem Herzen teuren Lehranstalt zu ihrem Jubelfeste weiht, 

dürfte sich ungesucht einfugen der Ausdruck dankender Gesinnung 
eines der edelsten Söhne Österreichs gegen einen seiner Lehrer. 

Neun Lebensjahre zählte Erzherzog Carl, der dritte Sohn des Groß- 
herzogs Leopold, da der Priester Sigismund Graf Hohenwart als Lehrer an 
seine Seite trat. Durch zehn Jahre oblag er seiner Aufgabe an diesem Prinzen 
mit all dem Eifer und der Gewissenhaftigkeit, die Erfolg verbürgen. 
Hohenwarts lehrende und erziehliche Tätigkeiten und Sorgen brachten es 
dahin, daß das weiche Wesen des werdenden Jünglings gehärtet und gestählt, 
er für seinen großen Erdenberuf vorbereitet wurde. Ja, wir fürchten nicht 
den Vorwurf, uns mit unserer Behauptung zu überschlagen, wenn wir sagen, 

344 



Osterreich verdanke zum guten Teile dem erziehlichen Einwirken Hohenwarts 
den großen Feldherrn und edlen Charakter Erzherzog Carl. Schreibt er 
doch selbst in einem kurzen Rückblick, den er im Alter von 43 Jahren auf 
seine Jugendentwicklung machte: »Ich wurde mit einem empfindlichen Herzen 
geboren. Meine Erziehung war kollegialisch, vereint mit drei meiner Brüder, 
ganz nach den Grundsätzen einer militärischen Subordination. Wir wurden 
zur strengen Erfüllung unserer Pflichten angehalten, aber niemand wußte 
mein Zutrauen oder meine Liebe zu gewinnen, weder Eltern noch Erzieher. 
Längere Kränklichkeit, bei der ich von meinem Erzieher verlassen, ver- 
nachlässigt, zurückgesetzt, von meinen Brüdern durch mehrere Zeiten 
getrennt wurde, isolierte mich vollends und hätte sich nicht der nunmehrige 
Wiener Erzbischof (Sigismund Graf Hohenwart) väterlich um mich ange- 
nommen, wer weiß, was aus mir geworden wäre. Aber dieser würdige 
Mann vermochte als Untergebener nicht ganz so zu wirken, wie er es 
ge wünschen hätte.« 

Diese Worte aus der kurzen Selbstbiographie des Erzherzogs Carl 
sind uns die Bürgschaft dafür, wie treu und lauter seine dankende Gesinnung 
zum Ausdruck gebracht ist in den Briefen, die er an seinen ehemaligen 
Geschichtslehrer geschrieben hat. Die Lernzeit des Erzherzogs Carl hat 
v. Zeißberg mit bewundernswerter Sorgfalt und Genauigkeit geschildert, 
Oberst v. Angeli hat dem »beharrlichen Kämpfer für Deutschlands Ehre« 
als »Feldherrn und Heeresorganisator« ein Werk von fünf Bänden gewidmet. 

Doch zarter zwar, aber nicht minder eindringlich als der Donner der Ge- 
schütze der Schlachten, die der Sieger von Aspern gelenkt, sprechen zu uns 
seine Briefe an Hohenwart. In ihnen findet seinen vollendeten Ausdruck das 
menschlich Edle in der Gesinnung des Mannes, der durch die Hohe seiner 
Stellung mit freiem Blick die Weite und Größe des Lebens überschaute. 
Wir bieten diese Schreiben, deren Urschrift im Archiv der Albertina erliegt, 
in treuer Wiedergabe und geben den Juwelen nur die schlichte Fassung der 
notwendigsten Erklärungen. 

1791 kehrten Herzog Albert und Erzherzogin Christine als Statthalter 
nach dem beruhigten Belgien zurück. Der 20jährige Erzherzog Carl sollte 
sich unter ihrer Leitung zum Statthalter bilden. Er nahm den Weg über 
Prag, um der Krönung seiner Eltern beizuwohnen. Hohenwart wollte den 
Prinzen den für ihn so bedeutsamen Lebensabschnitt nicht beginnen lassen, 
ohne ihm ernste Lehren und Mahnungen ins Herz zu legen. Carl antwortete 
am 9. September aus Prag: 

»Liebster Graf Hohenwart! Ich bitte Sie um Verzeihung, wenn ich 
einige Tage gezaudert habe, Ihnen zu antworten. Die verschiedenen Feste 

345 



haben mich bis nun daran gehindert. Ich danke Ihnen recht sehr für Ihren 
Brief und die Reflexionen über meinen künftigen Stand, welche Sie mir 
darin machen. Seien Sie versichert, daß ich Ihrem Rate folge und ohne 
Vorurteile, aber wohl mit den Gesinnungen der wärmsten Dankbarkeit und 
mit dem festen Vorsatze hingehe, mich beliebt zu machen und mich so 
bescheiden als möglich zu betragen. Dies wird der Gegenstand aller meiner 
Gedanken, meiner Sorgen und meiner ganzen Anstrengung sein. Ich schmeichle 
mir, alles wird glücklich von statten gehen. Bald wird sich alles dies zeigen. 
Wie es immer gehen mag, bitte ich Sie, liebster Freund, mir immer ferners 
zu schreiben und mit Ihrem guten Rat beizustehen. Sie wissen, daß dies 
das größte Vergnügen, was Sie mir tun, und das größte Zeichen der Freund- 
schaft, was Sie mir geben können. 

Meine Abreise, glaube ich, wird gegen den 20. d. M. vor sich gehen. 
Von den hiesigen Festen schreibe ich Ihnen nichts, ich berufe mich in 
diesem Punkte auf die Zeitung. Heute rücken fünf Grenadierbataillone aus, 
um vor meinem Vater zu manövrieren. Als mein Vater zu Theresienstadt 
war, ließ er die ganze Garnison ausrucken und besah selbe. Darüber sagte 
ein Soldat, der dabei war, man sagt, der jetzige Kaiser mag uns nicht und 
der selige Kaiser hatte uns gern. Allein, dieser war oft hier und hat uns 
nie ausrucken lassen und angesehen. Das hiesige Grenadierkorps ist, was 
man prächtiges sehen kann, so auch die Carabinier, so mein Bruder Franz 
eines dieser Tage vor meinem Vater exerzieren wird. 

Adieu, mein bester Freund, erhalten Sie mir immer Ihre Freundschaft 
und geben Sie mir durch die guten Räte, so Sie mir von Zeit zu Zeit 
zuschicken, ferners Beweise davon. Meine Brüder, besonders mein Bruder 
Franz, machen Ihnen tausend Complimente.« 

Noch weilte Carl in Prag, als er erfuhr, die päpstlichen Bullen für 
Hohenwart als Bischof von Triest seien angekommen und der Tag seiner 
Konsekration stehe bevor. Man wußte, daß der neuernannte Bischof »nicht am 
besten im Gelde steht, weil er so guttätig und alles für andere ausgibt«. Das 
gab Carl Gelegenheit, seiner Verehrung für den ehemaligen Lehrer besondern 
Ausdruck zu geben. Er schrieb an ihn am 19. September: 

»Liebster Graf Hohenwart! Die Dankbarkeit war jederzeit eine von 
den Pflichten, so mir am meisten ist eingeprägt worden. Erlauben Sie 
mir, daß ich Ihnen die meinige für alle die Mühe, so Sie sich mit mir 
gegeben haben, durch Überschickung der hier beigeschlossenen Banko- 
zettel beweise. Ich wünschte, Ihnen dadurch zur Formierung Ihres Hauses 
nützlich sein zu können. Nur bedauere ich, Ihnen meine Dankbarkeit nur 
durch eine solche Kleinigkeit beweisen zu können. Nehmen Sie den guten 

346 



Willen und seien Sie versichert, daß ich jede Gelegenheit mit Freude 
ergreifen werde, Ihnen in etwas Wichtigerm dienen zu können. Ich reise 
morgen von hier ab und hoffe am 29. d. M. in Roermonde einzutreffen. 
Erhalten Sie mir Ihre teuerste Freundschaft und seien Sie von der meinigen 
versichert.« 

Die äußeren und inneren Verhältnisse boten dem Erzherzog Carl 
reichlich zu Mitteilungen Anlaß. Am 30. Jänner 1792 schrieb er aus Brüssel 
nach Triest: 

»Bester Freund. Sie können sich nicht einbilden, bester, teuerster 
Freund, wie sehr mich Ihr Brief vom 12. d. erfreut hat, um so viel mehr, 
da ich so lange von Ihnen keine Nachrichten erhalten hatte. Ich kenne in 
diesem Brief meinen alten guten Freund, Ihr Herz und alle die Gesinnungen, 
welche Sie jederzeit für mich gehabt hatten und welche ich Sie bitte mir immer 
zu erhalten. Empfangen Sie als ein Zeichen der meinigen für Sie die Medaillen 
der hiesigen Inaugurationen und die s. g. jetons, welche man jährlich schlagt 
und welche ich mir die Freiheit nehme, Ihnen zu überschicken. Jährlich 
werde ich Ihnen die Medaillen oder jetons, welche noch werden geprägt 
werden, übermachen. 

Ich bin Ihnen so viel schuldig, bester Freund, daß mir die Ausdrücke 
fehlen, um Ihnen meine Dankbarkeit zu beweisen, wie ich es wünschte. 
Ihre guten Räte habe ich mir sehr oft zunutze gemacht, besonders in dem 
Falle, wo sich verschiedene Sachen und Umstände ergeben haben, welche 
Sie mir vorgesagt hatten und welchen ich damals nicht geglaubt hatte. Allein 
ich kann Ihnen, bester Freund, zu meinem und Ihrem Tröste sagen, daß ich 
mich dann und wann durch die Mittel herausgezogen habe, welche Sie mir 
schon damals in prophetischem Geist angegeben hatten. 

Mir geht es hier in allem Verstand recht gut, meine Tante und mein 
Onkel überhäufen mich mit Gnaden und verschaffen mir alle Mittel, mich 
zu den Geschäften tauglich zu machen und mich in selben zu unterrichten. 
Allein im Lande geht es immer sehr unruhig zu und ich furchte, dies wird 
nie ein Ende nehmen, bis nicht in Frankreich alles wird beruhigt sein. So 
weit dieser Zeitpunkt entfernt zu sein scheint, so wenig scheint es der eines 
Krieges mit Frankreich zu sein, welcher vielleicht für die Beruhigung von 
ganz Europa zu wünschen ist. Gott weiß, wie alles dieses ein Ende nehmen 
wird und in was für einer Absicht er seine Rute über Frankreich aus- 
gestreckt hält. 

Erlauben Sie, bester Freund, daß ich mich Ihrem Gebet empfehle, 
erbitten Sie mir von Gott seinen Segen, welchen ich, so viel es in mir steht, 
werde zu verdienen suchen. Geben Sie mir öfters Ihre Nachrichten und 

' 347 



zählen Sie mich unter Ihre Freunde, unter einen von denen, welcher Sie 
zärtlich liebt und umarmt. Mein Onkel und meine Tante besonders lassen 
Ihnen tausend schöne Sachen sagen.« 

Der Unglückstag der Schlacht von Jemappes (6. November 1792) über- 
lieferte Belgien den Franzosen. Christine flüchtete nach Bonn, um dort ihren 
erkrankten Gemahl »bei ihrem Bruder (Kurfürst Maximilian von Köln) 
abzusetzen«,*) Carl aber schrieb in dieser so trauervollen Zeit von Bonn am 
19. November an Hohenwart: 

»Liebster Freund. Verzeihen Sie, liebster Freund, wenn ich gezaudert 
habe, auf Ihren teuersten Brief vom 25. v. zu antworten. Allein die traurigen 
Szenen, deren ich Augenzeuge in Niederlanden war, beschäftigten mich 
ganz und gaben mir Gelegenheit, viele und wichtige Betrachtungen zu 
machen. Leider fürchte ich, daß wir noch dergleichen traurige Zufälle 
werden erleben müssen. Bilden Sie sich nur ein, was der Verlust eines 
Landes, die Auflosung einer halben Armee, da alle Wallonenregimenter 
so an Desertion gelitten, dafl sie fast gänzlich zu nichts geworden, der 
Verlust der Magazine, so diese Armee ernähren und kleiden sollten, 
die Unzufriedenheit des Teiles des Landes, so wir noch erhalten haben, 
für Folgen haben könne, und Sie werden einsehen, daß man ohne Schrecken 
nicht darauf denken kann. Unsere Armee steht noch teils in der Gegend 
von Namur, die Zitadelle von Antwerpen ist besetzt. Allein, da der Feind 
so viel Kräfte hat und das ganze Land für sich gesinnt findet, uns über 
Mecheln, so ihm schon in die Hände gefallen, in den Rücken zu kommen 
droht und wir zu Löwen nur auf einige Tage Vorrat haben, werden wir uns 
gezwungen sehen, hinter der Maas Magazine anzulegen, uns dann dahin zu 
ziehen und zu suchen, den Winter hindurch die Ufer der Maas zu behaupten 
und das Lüttichsche und Luxemburgsche zu verteidigen. Was werden wir 
aber dann machen, wenn der Feind GM. Brentano, wie wir es uns erwarten, 
wird gezwungen haben, Trier zu verlassen. Bisher hofften wir, die preußische 
Armee wird ihn unterstützen kommen, allein nun hat sie ganz über den 
Rhein gesetzt und befindet sich in der Gegend von Montabaur. 

Verzeihen Sie, bester Freund, wenn ich Ihnen von bloß militärischen 
Gegenständen schreibe. Allein ich wollte Ihnen die traurige Lage schildern, 
in welcher wir uns in Niederland befinden und welche mich, wie Sie glauben 
können, ganz beschäftigt. Gewiß verdient mein Bruder alle diese Unglücke 
nicht. Für meine Person konnte nichts Unterrichtenderes sein als wie Augen- 
zeuge von allen diesen Unglücken sein zu müssen. Ich bin nun seit zwei 
Tagen in Bonn, da der Herzog Albrecht krank geworden und hergekommen 

*) Christine an Fürstin Liechtenstein d. d. 18. November. Wolf, Mar. Christ. II. 143. 

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ist, um seine Gesundheit wieder herzustellen und dann wieder zu der Armee 
zurückzukehren. Mein Bruder hat mich an seine Person angewiesen. Ich 
folge ihm überall und dadurch glaube ich genug den Vorwurf von mir 
abgelehnt zu haben, daß ich mich zu sehr den Gefahren aussetze. 

Leben Sie wohl, bester Freund, und seien Sie versichert, daß meine 
Freundschaft für Sie immer die nämliche ist; meine Dankbarkeit für die 
Liebe, so Sie für mich haben wollen, ist unaussprechlich. Ich umarme Sie 
zärtlichst. Die Erzherzogin und der Herzog machen Ihnen tausend Complimente.« 

Erzherzog Carl, der durch einen glänzenden Angriff die blutige Schlacht 
bei Neerwinden entschieden hatte, zog unter ungeheuren Freudenbezeigungen 
des Volkes am 28. April 1793 als Generalstatthalter der österreichischen 
Niederlande in Brüssel ein. Bischof Hohenwart stellte sich mit einem Glück- 
und Segenswunsche ein. Carl erwiderte aus Brüssel am 5. Oktober: 

»Liebster, teuerster Freund. Ihre immer fortdauernde Freundschaft 
und Liebe für mich, die Gesinnungen, mit welchen Ihr Brief voll ist, die 
Wünsche, welche Sie mir machen, haben mich äußerst gerührt Empfangen 
Sie meinen heißesten Dank dafür und zählen Sie auf meine Freundschaft. 
Wie glücklich wäre ich, wenn ich Ihnen in etwas meine Dankbarkeit 
beweisen oder die Mühe vergelten konnte, welche Sie sich mit mir 
gegeben haben. 

Sie beurteilen meine Lage recht gut, bester Freund, sie ist sehr 
beschwerlich. Ein Land leiten zu müssen, welches, noch voll vom Geiste 
verschiedener Revolutionen, in Parteien geteilt ist und in welchem noch immer 
ein stilles Feuer unter der Asche glimmt, welches besonders durch unsere 
Nachbarn erhalten wird, ist sehr schwer. Und was mir auch oft sehr hart 
fallt ist, Befehle aus der Entfernung von 200 Meilen, aus einem Lande, wo 
man weder mit der hiesigen Lage, noch mit der Verfassung dieser Provinzen 
bekannt ist, zu erhalten, mich oft gezwungen zu sehen, diese Befehle nicht 
ausüben zu können, aber sie doch manchmal ohngeachtet wiederholter Vor- 
stellungen ausüben zu müssen, obwohl ich von dem Schaden überzeugt bin, 
der daraus entstehen muß. 

Nun, mit der Zeit und mit vieler Geduld darf ich mir schmeicheln, daß 
es mir vonstatten gehen wird, die Ruhe vollkommen herzustellen; der 
Ausschlag des franzosischen Krieges kann, wenn er glücklich ist, am meisten 
dazu beitragen. Die Franzosen haben erst kürzlich entschieden, Elsaß zu 
verlassen, alle Truppen, sowohl von dem Rhein als die Armee, so an der 
Mosel stand, gegen Niederland zu vereinigen und nebst der beträchtlichen 
Macht, so schon hier gegen uns steht, einen Haupteffekt zu machen, um 
Niederland wieder zu erobern. Gott gebe, daß es ihnen nicht gelinge! Die 

349 



Jakobiner häufen Laster auf Laster, alle Mittel, um ihren Zweck zu erreichen, 
sehen sie als erlaubt an. Ich hoffe, daß die Greuel, so sie verüben, ihren 
Untergang herbeibringen werden. Mit unsern Armeen werden wir nicht 
dazu gelangen. 

Wie glücklich wäre ich, wenn ich hoffen konnte, diesen Sommer nach 
Wien kommen, Sie dort sehen und umarmen zu können. Erhalten Sie mir 
immer, bester Freund, Ihre teuerste Freundschaft Ich empfehle mich Ihrem 
Gebete und umarme Sie zärtlichst. Zählen Sie auf meine unbeschränkte 
Freundschaft.« 

Es waren Tage unausgesetzter Kämpfe. Kaiser Franz befehligte in Person 
seine Truppen in der sechzehnstündigen Schlacht von Tournay am 18. Mai 1794. 
Erzherzog Carl schrieb vom Hauptquartier Tournay am 25. Mai an seinen ver- 
ehrten Lehrer, der seit 10. Jänner ernannter Bischof von Sankt Polten war. 

»Bester, teuerster Graf Hohen wart! Mitten unter dem Getümmel der 
Waffen und unter kriegerischer Beschäftigung erhielt ich Ihre zwei wertesten 
Briefe vom 25. April und 3. Mai. Urteilen Sie von meinem Vergnügen, 
Nachrichten von einem alten guten Freunde zu bekommen, da ich das nicht 
haben konnte, von welchem ich mir geschmeichelt hatte, Sie während meiner 
Anwesenheit in Wien sehen und von meiner immerfortdauernden Freund- 
schaft versichern zu können. 

Je mehr ich lebe und in die Welt komme, desto mehr fühle ich, desto 
mehr lerne ich kennen, wie viel Dank ich Ihnen schuldig bin, wie heilsam 
Sie mir geraten, wie wahr und gegründet alle die Grundsätze waren, so Sie 
mir gegeben, alle die Gesinnungen, so Sie mir eingeflößt haben. Die Mühe, 
welche Sie sich mit mir gegeben, das Gute, was Sie an mir getan haben, 
kann ich durch nichts als durch Dankbarkeit, durch Freundschaft vergelten; 
zählen sie aber ganz auf selbe. Ich werde mich tätigst verwenden, damit 
der Karaczaische Oberlieutenant Mikolitsch, für welchen Sie sich annehmen, 
womöglich bald aus der franzosischen Gefangenschaft erlöst werde. Über- 
haupt werde ich mit Vergnügen jede Gelegenheit ergreifen, in welcher ich 
Ihnen in etwas werde dienen und Beweise von meiner Dankbarkeit und von 
meiner immerfortdauernden Freundschaft geben können.« 

Am 19. November 1794 drückte Kaiser Franz seinem »lieben Bruder« 
Carl herzlichstes Bedauern aus, daß seine Nervenzustände ihm abermals 
»eine Ungelegenheit« gemacht, und am 5. Jänner 1795 ward der Kaiser so 
sehr beunruhigt, daß er ihn aufforderte, nach Wien zu kommen, »um hier 
unter meinen Augen ganz zu genesen und Dich dann mit verdoppeltem 
Eifer meinem Dienste zu widmen«. Am 26. Jänner war Erzherzog Carl in 
Wien und am 8. Februar meldete er dem Bischof von St. Polten: 

35o 



»Kaum hatte ich Ihren wertesten Brief vom 6. d. erhalten, als ich zu 
Seiner Majestät eilte, ihm Ihr Gesuch um Erhaltung eines Kanonikats im Prager 
Stift für Ihre vierte Nichte und das von der seligen Kaiserin gegebene Ver- 
sprechen unterlegte. Se. Majestät sagte mir, es sei schon entschieden, das erste 
in Prag vakant werdende Kanonikat an Ihre Nichte zu verleihen, und Er habe 
auch schon deswegen mehrere, welche um selbes eingekommen waren, ab- 
gewiesen. Wie sehr freut es mich, Ihnen die Versicherung davon im Namen 
Sr. Majestät geben zu können, noch mehr aber würde es mich erfreut haben, 
wenn ich etwas hätte beitragen können, Ihnen diese Gnade erhalten zu 
machen. Kann ich* Ihnen aber noch ferners in etwas dienen, so disponieren 
Sie mit mir. Jede Gelegenheit wird mir erwünscht sein, Ihnen Beweise von 
meiner Achtung, meiner Dankbarkeit, meiner Freundschaft geben zu können. 

Ich erwarte mit Ungeduld den Augenblick, Sie hier zu umarmen, 
Ihnen hier mündlich Versicherungen meiner Liebe und Freundschaft zu geben.« 

Im Februar 1796 übernahm Erzherzog Carl das Kommando über die 
Niederrheinarmee. Hohenwart stellte sich wie billig mit einem besonders 
innigen Glückwunsch ein. Carl erwiderte ihm am 4. März: 

»Bester Freund! Ich danke Ihnen tausendmal, bester Freund, für die 
Wünsche, die Sie für mich bei der Antretung des Kommandos der Armee 
machen wollen. Doppelt fühle ich, wie schwer diese Bürde, besonders für 
einen jungen Mann, in der jetzigen Lage der Sachen ist, auch verlangte, auch 
wünschte ich mir sie nicht. An Eifer, an gutem Willen, an Anstrengung 
aller meiner Kräfte, um die Gnade Sr. Majestät, das Vertrauen der Armee 
zu verdienen, um dem Staate nützliche Dienste zu leisten, soll es mir nicht 
fehlen. Gott gebe mir nur seinen Segen dazu. 

Helfen Sie mir auch durch Ihr Gebet, ihn zu erflehen, und beten Sie 
dann beständig für einen Ihrer Freunde, der sich in einer beschwerlichen 
Lage finden wird, in welcher Fehltritte entscheidend für das Wohl des 
Staates und das seinige sind. 

Sobald meine Abreise von hier bestimmt sein wird, sollen Sie davon 
unterrichtet werden. Bei meiner Durchreise werde ich mich bei Ihnen 
wenigstens einige Augenblicke aufhalten, um Sie noch zu umarmen, Ihnen 
nochmals tausendmal für das, was Sie für mich taten, zu danken. Gott wird 
es Ihnen vergelten; ich kann es nur durch eine aufrichtige Freundschaft für 
Sie, denn viel habe ich Ihnen zu danken — und vielleicht sehe ich Sie dann 
nicht mehr. 

Leben Sie wohl, bester Freund, und lieben Sie mich. Ich verdiene Sie, 
denn meine Liebe, meine Verehrung, meine Freundschaft, meine Dankbarkeit 
die haben Sie ganz.« 

35i 



Im zweiten Franzosenkriege stand Erzherzog Carl unter dem Drange 
der schwierigsten Arbeiten, als er den Entschluß faflte, mit dem größten 
Teile der Armee aus der Schweiz nach Deutschland zu marschieren. »Selten 
wohl stand ein Feldherr vor einer schwierigeren Entscheidung«.*) Doch da 
sich die wichtigsten Geschäfte um die Augenblicke seiner Zeit stritten, vergaß 
er des geliebten Lehrers nicht und schrieb ihm am 29. August 1799 un- 
mittelbar vor dem Aufbruche aus dem Hauptquartiere Kloten: 

»Liebster Freund! Mitten unter meinen reichen und leider oft so unan- 
genehmen Beschäftigungen erhielt ich Ihren teuersten Brief vom 16. d. Ich 
kann Ihnen mit Worten nicht ausdrücken, wie sehr mich der spanische bei- 
liegende Brief sowie das Andenken des Baron Schwarzer rührten. Ich bitte 
Sie, diesem für die überschickten Heilungsmittel innigst zu danken. Mit Ver- 
gnügen werde ich nach hergestellter Ruhe — Gott gebe sie uns nur bald, 
sonst — die Gemälde empfangen und ich bitte Sie, diesem unbekannten 
Freund meinen wärmsten Dank und Rührimg bekannt zu machen. 

Wie oft denke ich nicht an Sie, teuerster Freund, wie oft zolle ich Ihnen 
nicht in Gedanken den größten Dank für die mir eingeflößten Grundsätze. Sie 
waren mein zweiter Vater, nie werde ich vergessen, was Sie an mir taten. 
Könnte ich Ihnen nur Beweise meiner Dankbarkeit geben. Nehmen Sie die 
Versicherung meiner Verehrung, meiner Freundschaft und Liebe als solchen. 
Nur mit mir werden diese meine Gesinnungen ein Ende nehmen. Ich umarme 
Sie tausendmal zärtlichst vom Grunde meines Herzens, das ganz für Sie schlägt.« 

Während des Feldzuges 1799 war Erzherzog Carl neuerdings von einer 
Nervenkrankheit befallen worden, die ihn nötigte, im Jahre 1800 der Wieder- 
herstellung seiner Gesundheit zu leben. Doch nach der Schlacht von Hohen- 
linden am 3. Dezember d. J. trat er wieder als Oberfeldherr an die Spitze 
der Armee, die freilich nur noch aus Trümmern bestand, so daß er dem 
kaiserlichen Bruder lediglich raten konnte, Frieden zu schließen. Am 
9. Jänner 1801 ernannte Kaiser Franz seinen Bruder Carl zum Feldmarschall 
und Präsidenten des Hofkriegsrates. Als solcher richtete er unter einem 
beispiellosen Andrang schwieriger Arbeiten am 28. März von Wien aus an 
den Bischof von St. Polten folgendes Schreiben: 

»Liebster Freund I Ich benütze den ersten freien Augenblick nach 
meiner Genesung, um mich ganz den Gefühlen meines Herzens zu überlassen 
und Ihnen, teuerster Freund, für den Anteil zu danken, den Sie an meiner 
Gesundheit nahmen. Gottlob befinde ich mich nun um Vieles besser, nur 
bleibt mir noch etwas Schwäche und Empfindlichkeit übrig, so aber, wie ich 
hoffe, durch den Gebrauch stärkender Mittel nach und nach verschwinden wird. 

*) v. Angeli, Erzherzog Carl, 1896, II., 303. 

352 



Dem Leutnant Schröder, so zum Tode condemniert war, wurde das 
Leben geschenkt, wie Sie schon wissen werden. Kann ich beitragen, Jemandem 
Gutes zu tun, so wissen Sie, ist dies meine angenehmste Pflicht. — Konnte 
ich nur oft dazu Gelegenheit finden. 

Ob und wann ich die Schriften, so Sie mir zuschickten, lesen werde, 
kann ich Ihnen nicht sagen, denn ich bin mit Geschäften außerordentlich 
überhäuft und glaube, daß ich nicht so bald werde etwas freier atmen können. 

Ich schmeichle mir, das Vergnügen zu haben, Sie bald wieder sehen 
und umarmen zu können, da Seine kaiserliche Majestät nach Ostern nach 
Budweis gehen werden, um die böhmische Legion noch vor ihrer Auflösung 
in Augenschein zu nehmen, und sodann über Linz nach Wien zurückreisen 
werden und ich Seine Majestät begleiten werde. Der Augenblick, wo ich 
meinen zweiten Vater wiedersehen und ihm nochmals für alles, was er für 
mich tat, werde danken können, wird ewig der glücklichste meines Lebens 
sein. Ich umarme Sie indessen tausendmal zärtlichst.« 

Hohen warts Neujahrswunsch 1802 erwiderte der Erzherzog Feldmarschall 
liebfreundlich wie immer: 

»Bester Freund! Empfangen Sie meinen herzlichsten Dank für die 
Wünsche, so Sie für mich beim Eintritte des neuen Jahres machen wollen. 
Unter den vielen, so ich von allen Seiten erhalte, sind keine angenehmer 
für mein Herz als die, welche ich von Ihnen, von meinem alten wahren, 
guten Freund, den ich aufrichtig liebe und schätze, empfange. Ich weiß, 
daß sie aus einem redlichen Herzen, einer geraden Seele kommen, und ich 
bin überzeugt, daß, was Sie mir sagen, wahr ist, daß Sie es fühlen; ein Gefühl, 
welches desto angenehmer ist, da es leider ein Unglück meines Standes ist, meist 
von den Menschen nicht das zu hören, was sie empfinden oder was sie denken, 
sondern das, was sie wünschen, daß wir für ihre Empfindungen ansehen. 

Mit eben der Aufrichtigkeit, mit welcher ich überzeugt bin, daß Sie 
mir schrieben, mit eben dem warmen Gefühl der Freundschaft wünsche ich 
Ihnen auch zum herannahenden neuen Jahr alles mögliche, Glück und Segen, 
mir die Erhaltung Ihrer teuersten Freundschaft.. 

Ich habe Seiner Majestät Ihren Glückwunsch und Ihre Danksagung für 
die Aufnahme der zwei Taubstummen in das Institut zu Füßen gelegt und 
Seine Majestät haben mir aufgetragen, Ihnen für ersteren herzlich zu danken. 
Die Erzherzogin Marie, der Herzog Albert, meine Brüder und Schwestern 
gaben mir auch sämtliche den nämlichen Auftrag. 

Sie haben wohl recht, bester Freund, daß die Besiegung seiner Neigungen 
vielleicht so schwer, noch schwerer als die der Feinde ist! Sie kennen die 
meinigen und Sie beurteilen sie recht. 

353 23 



Zu meiner Schande muß ich gestehen, daß ich in Tacitus und Horaz noch 
nicht viel gelesen habe, allein ich will mich nun ernstlich über selbe machen. 
Immer werden Sie, bester Freund, mir gegenwärtig sein, so oft ich in selben lesen 
werde. Und dieser Gedanke wird mir die Lektüre noch angenehmer machen. 

Erhalten Sie mir immer Ihre teuerste Freundschaft und zählen Sie 
ganz auf die meinige. Da sie auf Hochachtung, Dankbarkeit und Liebe ge- 
gründet ist, so wird sie unerschüttert so lang als mein Leben dauern.« 

Dieser lebendige und offene Ausdruck der dankerfüllten Stimmung des 
Erzherzogs Carl gegen seinen ehemaligen Lehrer ist zugleich der letzte, der 
erhalten ist. Hohenwart war auch der Geschichtslehrer des Kaisers Franz 
gewesen und dieser übertraf in Betätigung edelster Dankbarkeit gegen den 
ehemaligen Lehrer womöglich seinen Bruder. Am 14. April 1803 starb der 
Fürsterzbischof von Wien, Kardinal Migazzi. Bald darauf erschien Hohenwart 
vor seinem kaiserlichen Herrn. Kaiser Franz zeigte dem hochgewürdigten 
Lehrer seine Sammlung wertvoller Kupferstiche. Bei einem derselben fragte 
der Kaiser rasch: »Nun, kennen Sie den?« Betroffen erwiderte Hohenwart: 
»Gewiß, Euer Majestät treugehorsamster Bischof von St. Polten.« »Sehen Sie«, 
sagte der Kaiser, »daß Sie ihn nicht kennen. Das ist der neue Erzbischof 
von Wien.«*) Tatsächlich richtete Kaiser Franz mit einer Eilfertigkeit, die 
sonst nicht in seinem Wesen lag, schon am 25. April an den Präsidenten 
der vereinigten Hof kanzlei das Handschreiben, in dem er Hohenwart das 
Erzbistum Wien verlieh. Von da an wurde der briefliche Gedankenaustausch 
zwischen den beiden hochragenden Männern, Erzherzog Carl und Erzbischof 
Hohenwart, durch den personlichen Verkehr wohl mehr als ersetzt. Immerhin 
dürften diese wenigen noch erhaltenen Schreiben zu dem Urteile berechtigen, 
daß sie mehr noch den Schreiber ehren als den damit Beglückten. Denn 
wenn es wahr ist, daß Pietät und Dankbarkeit Kennzeichen einer edlen, großen 
Seele sind, dann ist der größte Feldherr, den Österreich seine Dynastie ge- 
schenkt hat, wohl auch einer der edelsten und besten Menschen gewesen. 




*) S. Brunn er, Clemens Maria Hoffbauer und seine Zeit, 1858, 6. 

354 




Aus dem schottischen Literaturwinkel. (Literarisch- 
pädagogische Jubiläums-Arabesken.) 51 Von Jakob 
Zeidler. 51 

Ein Wiener Witzwort redet von »weltlichen Schottnern«, d. h. von 
ehemaligen Schottenschülern, die in mannigfachen Berufssphären den 
Genius des Hauses, dem sie die Grundlagen ihrer höheren Geistes- und 
Charakterbildung verdanken, zum Ausdruck bringen. Das Witzwort ist ein 
Wahrwort; denn Generationen auf Generationen entwickelten ihre Geistes- 
form unter den Bildungseinflüssen des Hauses und pflanzten sie fort in die 
verschiedensten Kreise des Lebens und Wirkens.*) Die Benediktinerparole 
•ex scholis omnis nostra salus, omnis felicitas, divitiae omnes ac splendor 
constansque stabilitas***) gilt in ausgezeichneter Weise für die Schotten. In 

*) Vgl. Jakob Zeidler, »Studien und Beiträge zur Geschichte der Jesuitenkomödie und des 
Klosterdramas« (Theatergeschichtliche Forschungen, herausgegeben von B. Litzmann, IV. H., Hamburg 
und Leipzig, L. Voß, 1891), S. 9. ff. 

**) Magnoald Ziegelbauer, »Historia rei litterar. O. S. B.«, T. I., p. 65. 



355 



23* 



historische Perspektive gerückt, ist nun der Genius des Hauses nichts anderes 
als der Geist Sankt Benedikts*) in der eigenartigen Form, die er in der 
Wiener Luft angenommen hat. Bilden ehrliche Arbeit auf dem Gebiete von 
Kirche und Schule, Wissenschaft und Wirtschaft, wie sie die »Regula« zur 
Pflicht macht, das Fundament: so nahm der ursprünglich mehr ländliche 
Orden innerhalb des Burgfriedens von Wien, dessen Geschicke er Jahr- 
hunderte hindurch teilte, aus dessen Kreis und Umkreis er immer wieder den 
Grundstock seines Nachwuchses empfing, mählich mehr und mehr städtische, 
ja großstädtische Züge in sein Wesen auf.**) Um das recht zu verstehen, 
braucht man das Schottenstift nur mit anderen angesehenen Ordenshäusern 
in Nieder- und Oberösterreich zu vergleichen, Stadt und Land stehen einander 
gegenüber. Man denke nur an die Kremsmünsterer Schulidylle Adalbert 
Stifters, an Arneths reizende Bilder aus -St. Florian und ähnliches — und 
man begreift, warum Robert Hamerling in »Stationen meiner Lebens- 
pilgerschaft« das Kapitel, das von seinem Übergang aus dem Waldviertier 
Stift Zwettl in das Schottengymnasium (1844 — 1847) erzählt, mit der Über- 
schrift: »Aus dem Kloster in die Welt« bezeichnet hat.***) Die charak- 
teristischen Grundlagen der Klosterschule, die Haupttypen der geistlichen 
Lehrer, denen wir schon in dem ehrwürdigen St. Gallen Ekkehards begegnen, 
blieben die gleichen: aber statt friedlichen Waldwebens rauschte hier in die 
Lehrzimmer das vielbewegte Leben der Residenz und der Studiosus, der 
»von der Wieden in die Stadt« kam, empfing schon auf dem Schulweg 
die Eindrücke einer reichen Außenwelt und trat in der Schule in einen Kreis 
gleichstrebender Genossen, eine Sodalitas, welche die vielseitigste Anregung 
bot. Bezeichnend wurde aus dem »bescheidenen Lyriker des Stiftes 
Zwettl« in der Wiener Luft ein Dramatiker, aus dem scheuen Klosterschüler 
ein lebensfroher Studiosus. Standen ja auch seine Professoren, wenn sie auch 
im Talar der Benediktiner lehrten, den Einwirkungen von Zeit und Welt 
nicht fremd gegenüber. Keine Wellenbewegung des Wiener Kulturlebens, 
deren Wogen nicht auch nach den Pforten des Schottenstiftes gebrandet hätten. 
Die Tradition, der Geist der »Regula«, wurde bewahrt, dabei aber das Ver- 
ständnis erhalten auch für die neuen Formen, in denen die ewigen Ideale 
des Guten, Wahren und Schonen in den wechselnden Epochen erschienen. 
Phantasie und Gemüt der einander ablösenden Generationen fanden hier 



*) Jakob Zcidlcr, »Der Geist Sankt Benedikts«. (Festschrift für P. Hugo Mareta, Wien, 1892) 
und Derselbe, Feuilleton der »Wiener Zeitung«, 1886, Nr. 228. 

**) Dr. Em est Hauswirt h, »Abriß einer -Geschichte der Benediktiner- Abtei . • . zu den 
Schotten in Wien«. (Wien, 1855), a. v. St. 
***) 1. c. (Hamburg 1889), S. 72—122. 

356 



immer Spielraum zur Entfaltung: nur wies man Phantastik und Schwärmerei 
zurück und hielt die Schüler, ohne daß sie es in vollem Umfang erkannten, 
an der Stange, so daß sie bei aller jugendlichen Begeisterung für das Ideale, 
niemals den Sinn für den Realismus des Daseins verloren. Das, was Goethe 
die »Forderungen des Tages« genannt hat, forderte die eiserne Schul- 
ananke unnachsichtlich von Begabten und Minderbegabten. Für verkanntes 
Geniewesen, für Forderung von Hypochondrie, wie sie vereinsamende Sonder- 
erziehung begünstigt, war hier kein Nährboden. Lernen galt in dieser Schule 
als oberstes Gesetz, von dem schielende Humanität und falsches Mitleid 
niemanden enthob, weder den Reichen noch den Armen, weder den Be- 
gabten noch den Minderbegabten — und selbst klar erkannter Genialität wurde 
nicht das Recht der Launenhaftigkeit, der Fahrigkeit und wechselnden Lust 
zur Arbeit zugebilligt. So haben wir, recht im Geiste der »Regula«, vor 
allem arbeiten und lernen gelernt. 

Das kräftige Außen des Stadtlebens aber, das hier in die Schulharmonie 
des Guten, Wahren und Schonen als Unterstimme hereinklang, gestattete der 
Jugend zwar ein Spielen und Träumen, ließ aber das Leben nie völlig zum 
Traum werden, sondern lenkte den Blick durch hundert Zäune und Lücken 
des Schulgeheges auf den Handel und Wandel des wirklichen Lebens. So 
steckt in jedem wohlgeratenen Schottenschüler etwas von dem »gesunden 
Sinn«, den Grillparzer als Erbstück der Österreicher anspricht, und zugleich 
etwas von jener eigenartigen »Wiener Gescheitheit«, jener Fähigkeit, in 
die Dinge von oben hineinzublicken, die, ein Produkt jahrhundertlanger 
großstädtischer Kultur*), jedem richtigen Wiener, mag er im übrigen noch so 
naiv oder noch so idealistisch sein, im Blute liegt und ihn nie der Notwendig- 
keit vergessen läßt, die er, mag es ihn auch zu bloß innerlicher Bildung 
drängen, seiner Stellung als »Zoon politikon« schuldig ist. Wie sehr nun 
alle diese schon in der Natur des Wiener Schulpublikums begründeten Ele- 
mente durch die Schottenerziehung gefordert und — wo notwendig — gehemmt 
wurden, zeigt am besten das System, das man in dieser Schule allzeit gegen- 
über dem Literatenwinkel, der natürlich wie in jeder höheren Schule auch 
hier in allen Epochen bestand, einhielt. Hamerling, später selbst Professor, 
der das pädagogische Prinzip richtig erfaßt hat, mag auch hier unser Kron- 
zeuge sein. Er entwickelte, wie erwähnt, als Studiosus scotensis reiche 
poetische Tätigkeit, schrieb neben vielen Gedichten zwei Dramen, einen zwei- 
aktigen »Kolumbus« (1844), funfaktige »Märtyrer« (1845), dazu ein Lehr- 
gedicht in drei Gesängen »Eutychia, oder die Wege zur Glückselig- 

•) Nagl und Zeidler, »Deutsch-österreichische Literaturgeschichte«, II. Band, S. 527 ff., 
S. 553 u. s. 

357 



keit«*) in wohlklingenden Kanzonen. Die »Märtyrer« überreichte er dem 
Professor P. Berthold Sengschmitt.**) Dieser, der erste gelehrte Germanist 
der Schottenschule, forschte der heimischen Mundart nach, sammelte für ein 
Idiotikon, freute sich der uraltgotischen Überreste, die unsere Sprache bewahrt 
hat, und Gedichte, deren Manuskripte im Kloster liegen, zeigen ihn, wie den 
Dichter des »Naz«, den Piaristen Misson, als gewandten Dialektdichter. Die 
»Euty chia«, recht eine Frucht der Einwirkung des Religionslehrers P. Leander 
Knöpf er, übergab Hamerling diesem. Knopf er tat nur den lakonischen 
Ausspruch: »Ich bewundere Ihren Fleiß«; Sengschmitt legte die 
»Märtyrer« bei der öffentlichen Jahresprüfung auf den »Tisch des Hauses«, 
äußerte sich jedoch darüber nicht. »Diese Schweigsamkeit« — meint Hamer- 
ling — »kränkte mich damals. Jetzt, wo ich sie zu begreifen glaube, kann 
ich sie nur billigen. Ohne Zweifel fand man es bedenklich, einen Schüler 
durch frühzeitigen Beifall zur Beschäftigung mit Nebendingen zu ermuntern.« 
Daneben war allerdings »für die Betätigung poetischen Talents innerhalb 
der Schule selbst eine Art von legitimem Spielraum abgesteckt«, indem 
»von Zeit zu Zeit als deutsches Schulpensum ein Thema gegeben wurde, das 
nach Belieben auch in Versen ausgeführt werden durfte«. Es ist die »Ars 
docendi«, die Michael Denis nach dem Vorbild des humanistischen 
Unterrichtes auch in den Deutschunterricht eingeführt hatte, indem er Schüler, 
»die Fähigkeit und Lust hatten, poetische Versuche in verschie- 
denen Sprachen ausarbeiten« ließ. In dieser freien Form lebte das Prinzip 
der »Imitatio« bis in meine Studienzeit fort, natürlich auch der illegitime 
Musendienst. Was Hamerling von dem Wochenblatt »Aurora« erzählt, das 
er handschriftlich 1846 mit den Mitschülern Brückner und Wiesner heraus- 
gab, hat sich, wie ich durch handschriftliche Zeugnisse noch aus dem letzten 
Jahrzehnt belegen könnte, mutatis mutandis in allen Epochen wiederholt. Die 
»Aurora« wurde vom Katheder herab zwar feierlich verboten, »da hand- 
schriftlich in Umlauf gesetzte Blätter« nicht gestattet wären, bestand 
aber — wie die Schüler glaubten — geheim, zwar ohne Titel, fort, bis sie »an 
der großen Zahl der Abonnenten zu Grunde ging«, da die Verfasser 
»müde wurden, die einzelnen Nummern so oft abzuschreiben«. 

In allen Zeiten wirkte fördernd auf die Hebung der poetischen Stimmung 
die Horazlektüre; in dem letzten halben Jahrhundert, besonders wenn sie 



*) Herausgegeben von Dr. Max Van es a in der Bücherei der Leo-Gesellschaft. Vgl. als 
Quellen von Hamerlings Gedicht neben den »Totenkränzen« von Zedlitz, Klopstock, Milton 
und vor allem die Exhorten Knopfers (s. »Christkatholische Erbauungsreden zunächst für die 
studierende Jugend«. Wien 1840.). 

**) J. Zeidler, »Mitteilungen der Gesellschaft für deutsche Erziehungs- und Schulgeschichte« 
(Berlin, 1895, V. 3), S. 216 ff. 

358 



feinsinnig P. Klemens Kickh leitete, welcher, der echte christliche Humanist, 
»ganz wie die Biene«, mit welchem Kirchenväterzitat er sein ganzes Wesen 
bezeichnend eine Programmarbeit einleitet, den Nektar der antiken Blüten- 
pracht zu gewinnen und in formvollendeter Art den Schülern zu kredenzen 
wußte. 

Freilich der Sinn für Poesie wurde seit den Fünfzigerjahren der 
Schottenschülerschaft an einem deutschen Dichtwerk in Sexta erschlossen, 
wenn P. Hugo Mareta die Lektüre des Nibelungenliedes begann. Wie 
bei jeder Kunstleistung läflt es sich nur schwer beschreiben, wie es Mareta 
verstand, ohne viele grammatische Unterweisung für seine Wiener Buben 
das Mittelhochdeutsche aus dem heimischen Dialekt hervorwachsen zu lassen. 
Wie mit einem Ruck waren wir mitten in dem »Ez troumde Kriemhilte«, 
der Klang der fremd-vertrauten Laute rauschte wohltuend in unser Ohr — 
unser ganzes Verhältnis zur lieben Muttersprache war mit einem Male ein 
anderes. Wir sahen, ohne daß uns etwa systematisch die Gesetze der Laut- 
verschiebungen entwickelt worden wären, indem der Lehrer nur ganz im 
Vorbeigehen eine oder die andere Bemerkung machte, die Mittelhochdeutsch, 
Dialekt und Schriftsprache verglich, auf die Grundlagen unserer Sprache und 
wurden selber zu Beobachtungen und Vergleichungen angeregt, so daß der 
Schatz, welchen jeder Wiener in der Kenntnis des heimischen Idioms besitzt, 
lebendig und wirksam wurde. Etwas von der frischen Waldluft, die Jakob 
Grimms deutsche Grammatik durchzieht, flutete durch das Lehrzimmer. Aber 
auch sonst war Maretas Nibelungenlektüre ein pädagogisches Meisterstück 
individueller Art. Intuitiv kam den Schülern zum Bewußtsein, sie hätten das 
Werk eines hohen Dichtergeistes vor sich, wovon der Lehrer mit Pfeiffer 
und Bartsch der Liedertheorie K. Lachmanns gegenüber aus tiefster 
Seele überzeugt war. Auch hier fielen, ohne daß viel über die verschiedenen 
Hypothesen gesprochen wurde, an passenden Stellen bei der Interpretation 
Streiflichter auf den ganzen gelehrten Untergrund, auf dem sich P. Hugos 
Erklärung aufbaute ; auf uns Schüler aber ging die Überzeugung sozusagen 
unmittelbar von der Persönlichkeit des Meisters über. Das war kein gewöhn- 
liches Lehren und Lernen, sondern inneres poetisches Empfinden und philo- 
logische Analyse woben wie Zettel und Einschlag ineinander, so daß sich 
das hehre Lied als einheitliches Ganze dauernd in unsere Seelen prägte. 
Hier kamen selbst die Trägeren oder Minderbegabten in lebendigeren Schwung. 
Kein Wunder, daß es P. Hugo wie einen personlichen Schlag empfand, 
der die Wurzeln seiner Lehrkunst traf, als für einige Zeit das Mittelhoch- 
deutsche im Gymnasium aufgehoben und er verurteilt war, das Nibelungen- 
lied in Verdeutschungen, die ihm als »Verballhornungen« erschienen, zu 

359 



lesen. Hier setzte er sich wie der grimme Hagen zur Wehr und hat in und 
außer der Schule manches scharfe Wort, manchen spitzen Sarkasmus über 
den Wandel der Dinge gesprochen. Er hat auch neben anderen gleich- 
gesinnten Lehrern nicht wenig dazu beigetragen, daß das Mittelhochdeutsche 
wieder in unseren Gymnasien ertönen darf. Mareta wurde durch die Auf- 
hebung der Boden entzogen, von dem aus er seinen Schülern gerade die 
Herrlichkeit unserer österreichischen Dichtung in Geist und Herz senkte. Im 
heimischen Grund wurzelt sein ganzes Wesen. Wie Sengschmitt ist er 
Dialektforscher, gab Proben eines Idiotikons der niederösterreichischen Mund- 
art heraus und schrieb über Abraham a Sankta Clara. Er hätte das Zeug 
und die Begabung zum Forscher und Gelehrten in hohem Maße besessen; 
stellte aber sein reiches Wissen und Können entsagend in den Dienst der 
»Ars docendi« und hat so Schule gemacht in seinem Fache in weiterem 
Sinne, als dies dem Mittelschullehrer gewöhnlich gegönnt ist. Die Geschichte 
wird Mareta den Anteil nicht vorenthalten, der ihm an dem Aufschwung 
gerade der deutschösterreichischen Literaturforschung gebührt, zu deren an- 
gesehensten Vertretern Mareta-Schüler zählen und deren Ausgang haupt- 
sächlich von dem steigenden Interesse an Grillparzer datiert.*) Für diesen, 
dem wir Studenten noch häufig auf unseren Schulwegen begegneten, wußte 
unser Lehrer frühzeitig Ehrfurcht zu erwecken und gleichzeitig die Begeisterung 
für das Burgtheater, wo er — ein eifriger Besucher — die ganze Grillparzer- 
Renaissance miterlebte, die Laube seit 1851 ins Werk setzte. Wie aber über 
Grillparzers Dichten, leuchtete über dem Lehren unseres Deutschmeisters 
die Sonne von Weimar und Goethes hoher Name. Gerade weil er uns an 
einem Werk heimischer Kunst wie dem Nibelungenlied, einem leuchtenden 
Juwel alldeutscher Dichtung, zuerst den Sinn für Poesie auszulösen verstand, 
bewahrte er uns dauernd, während er die Liebe zur deutschösterreichischen 
Literatur hegte und pflegte, vor allem Partikularismus und engherzigem 
Regionalismus. In Begleitung unserer Lehrer folgten wir Studenten Grill- 
parzers Leichenzuge, der sich schier unabsehbar durch die Straßen Wiens 
bis zum Währinger Friedhof bewegte, und empfingen hier Eindrücke, die 
Mareta später im Unterricht zu vertiefen wußte. Merkwürdig ist aber, wie 
der Meister zu begeistern verstand, ohne dabei jemals in Pathos und Rhetorik 
zu verfallen, sondern immer kurz und präzis blieb. Unnachsichtlich verfolgte 
er auch in Schülerarbeiten die Phrase und drang in der mündlichen Rede 
unbarmherzig auf das »richtige Wort«. 

*) Vgl. Die Widmung der Wiener Neudrucke (Nr. 1), Wien, Konegen, 1883, von Dr. August 
Sauer herausgegeben; ferner die von Prof. Jak. Minor besorgte oben zitierte Festschrift für P. Hugo 
Mareta (Wien 1892). — Zeidler, 1. c. »Mitteilungen« und Deutsch-österreichische Literaturgeschichte«, 
I. B. f p. XII ff. 

360 



Trat so durch Maretas Lehrtätigkeit für die Schottenschüler der zweiten 
Hälfte des ablaufenden Jahrhunderts die babenbergische und die vormärz- 
liche Literaturblüte Österreichs wirksam aus dem Gesamtbild des deutschen 
Schrifttums hervor, so fallen die Anfänge des Schottengymnasiums zusammen 
mit dem Morgenrot der letztgenannten Epoche, die sich abhob von der 
nationalen Begeisterung der napoleonischen Kriege und dem Glanz des 
Wiener Kongresses und ihre erste Legitimation auf dem gemeindeutschen 
Parnaß durch Grillparzers »Ahnfrau« und »Sappho« erhielt. 

Im Literatenwinkel der Schule gings damals lebhaft zu. Eduard von 
Bauernfeld, der in seiner Person die ununterbrochene Tradition von Alt- 
österreich bis fast zur keimenden Moderne darstellt, gab hier, keck wie der 
Küchenjunge Leon Grillparzers, den Ton an und neben ihm Moritz 
Schwind, der später die Stimmungen und Schwingungen der Wiener 
Romantik in Farben umsetzte, wie Franz Schubert in Tone. Der Musiker 
ist erst später mit den beiden genannten Schottenschülern in Verbindung 
getreten und hat viel von ihrem Wesen angenommen. Moritz Schwind läßt 
noch im Stil seiner Briefe an Bauernfeld die Erinnerung an die gemein- 
same Schulzeit erkennen und verfällt zuweilen noch in den launigen Vers- 
epistelton des jugendgrünen Schulparnasses. In beiden ist die Erinnerung an 
diese Epoche und ihre Nachwirkung noch lange erkennbar. Bauern feld 
sagt in »Aus Alt- und Neuwien«*): »Die Grundlagen meiner Bildung 
verdanke ich dem Schottengymnasium, welches sich während 
meiner Schulfrequenz (von 1813 bis einschließlich 1818) beinahe 
durchgehends tüchtiger Lehrer zu erfreuen hatte«. Vor allem hebt er 
P. Leander König hervor, einen »begeisterten« und zugleich »geist- 
reichen und witzigen Lehrer«, der die Sonne Homers und des Humors 
in den Schulstuben aufleuchten ließ und den Ernst der Wissenschafts- 
pflege, wie Goethe fordert, mit »Heiterkeit der Seele« durchdrang, kurz, 
eine Persönlichkeit, was, alle Methodik und Pädagogik in Ehren, doch immer 
die Hauptwirksamkeit des Lehrers, natürlich mit tüchtigem Fachwissen ver- 
bunden, auf die* Schüler ausüben wird. 

Wie solcher tüchtiger Lehrer Art, wirkte Leander besonders auf be- 
gabtere Schüler viel durch gewisse »Allotria«, die er trieb. Sie bestanden 
zunächst in Extrastunden, in denen er mit Freiwilligen Homer las. Bauern- 
feld und seine Freunde gedachten noch lange seiner wirksamen Interpretation 
und ließen die »Alten nicht hinter sich, die Schule zu hüten«, sondern be- 
trieben, wie Bauernfelds »Tagebücher«**) zeigen, auch später noch Homer- 

*) Vgl. »Gesammelte Schriften«, XII. Bd., Wien, 1873, S. 3 ff. 
**) Vgl. »Jahrbuch der Grillparzer-Gesellschaft«, Bd. V, S. I— 127. 

361 



lektüre und anderweitige philologische Studien. Neben den homerischen 
liebte P. Leander allerdings auch Allotria, welche den »Hörnenden«, »nicht 
minder aber auch dem Trofl«, der nur Zuhörer in den Homerstunden ab- 
gab, behagten. Es waren satirische Ausfälle, zuweilen »recht bedenk- 
liche« Sarkasmen, die der hochbegabte Lehrer als Herzenserleichterung 
gegen die Studienhofkommission losließ, in deren Anordnungen sich mehr 
und mehr der Geist des »Systems Metternich-Sedlnitzky« geltend machte, 
der Schule und Geistesleben nicht nur als Politikum, sondern als Bureau- 
kratikum betrachtete und, wie Bauernfeld meint, »alle seine Ehren und 
Würden nur für die goldene Mittelmäßigkeit bewahrte und einen 
jeden, der nur ein Bischen Talent an den Tag legt, für seinen ge- 
borenen Feind hält«. Es waren recht scharfe Bonmots, zuweilen im Geist 
Nestroys, mit denen P. Leander sich den Ärger über »didaskalische 
Metamorphosen par ordre du Mufti« von der Seele redete. Es ist be- 
kannt,, welches stillwirkende Verdienst sich manche österreichische Schul- 
männer, wie die Briefe des Gymnasialdirektors Heinz el und andere Doku- 
mente beweisen, um das österreichische Geistesleben erworben haben, indem 
sie auch in schwerer Zeit tapfer an richtig Erkanntem festhielten, bis der 
Thunsche »Organisationsentwurf«, jene klassische Bibel des Gymnasial- 
unterrichtes, all diesen vereinzelt wirkenden Bestrebungen offiziellen Aus- 
druck verlieh. Weihevoller, zu formlichen Exhorten gestalteten sich andere 
Exkurse P. Leanders, zu denen ihn die tiefgreifende religiöse und literari- 
sche Bewegung veranlaßte, die in Wien mit der eindringenden Romantik 
begann, durch Friedrich Schlegel literarisch, durch Zacharias Werner 
religiös propagiert und später durch Klemens Hofbauer, Anton Passy und 
Veith fortgeleitet wurde. Sie packte manche studierende Jünglinge in tiefster 
Seele, zeitigte in den einen Hang zu Mystizismus und unklarer Schwärmerei 
und weckte in anderen unreifen Spottgeist. Bauern feld spöttelt schon in 
der Posse »Der Magnetiseur«,*) deren Konzeption noch in die Schulzeit 
fällt, über die Verbindung von Mystik und Romantik, macht sich aber in 
den »Tagebüchern« wiederholt Vorwürfe über seine ketzerischen Neigungen, 
meint aber, er sei trotzdem »nicht selten in der Stimmung, ein Glaubens- 
märtyrer zu werden«. Im Freundeskreise waren Kontroversen über religiöse 
Fragen nichts Seltenes und vor allem die Persönlichkeit Zacharias Werners 
interessierte ihn lebhaft Ein Nachklang jener Stimmung ist es, wenn Bauern- 
felds »Tagebuch« 1823 verzeichnet: »Den toten Zacharias Werner be- 
trachtet, seine Leiche begleitet.« Am tiefsten ergriff diese Strömung 



•) Vgl. E. Hörn er, »Bauemfcld«, 19OO, S. 31 f. 

362 



Bauernfelds Studiengenossen Andreas Schumacher*) (geb. zu Wien 1803, 
gest. daselbst 1868), der in vielen seiner Gedichte, sowie als Calderon- 
Übersetzer den Einfluß Werners erkennen läßt und 1834 für sein »Der 
ewige Dom, Novelle aus den Zeiten des Markgrafen Leopolds des 
Heiligen« (Wien, Mechitaristen) den Preis des Vereines zur Verbreitung 
guter katholischer Bücher gewann. Später, an der Revolution von 1848 aktiv 
beteiligt, wurde Schumacher zu zehnjähriger Festungshaft verurteilt, von der 
er zwei Jahre bis zu seiner Begnadigung (1851) in Kufstein abbüßte. Im 
Jahre 1843 gab er »Lebensbilder aus Österreich«**) heraus, an denen 
vielfach auch Mitglieder des Freundeskreises Bauernfelds beteiligt sind. 
Ein Artikel Schumachers «Erinnerung an F. L. Zacharias Werner« 
läßt uns die Stimmung erkennen, die ihn und seine Genossen in den Studien- 
jahren der genannten Bewegung gegenüber ergriff. »Zweifel und Schwanken 
umringten mich« — schreibt er — »ich stand einsam in der Welt«. Die 
»waldgrünen frischen Dichtungen des wunderlichen und doch so 
erhabenen Werner« trugen ihn »über die Niederungen der Erde hin- 
weg zu jenen heiligen Bergen, auf denen das Kreuz im Abendgolde 
glüht«. Werners »Ideen« galten ihm »für das Evangelium des XIX. Jahr- 
hunderts«. All diese Wirkung der Schriften wurde übertroffen durch Werners 
personliches Auftreten in Wien, des »alten Mönchs Jrner in Mitte des 
lebenslustigen Wiens«. »Das Volk, das ihn verlacht und gelästert, hörte 

ihn und staunte und wußte nicht, was ihm geschehen — und brach in 

lautes Weinen aus und verließ den Tempel, den es so lebenslustig besucht, 
mit zerknirschtem Herzen und rotgeweinten Augen.« »So hab ich geseh'n 
und erlebt im Jahre des Heils 1814« — schließt Schumacher. 

P. Leander trat derartigen Stimmungen, wo sie in der Jugend zu 
Exaltation ausarteten, klärend und beruhigend gegenüber und schloß solche 
Exkurse im Hinblick auf die Spötter mit den Worten: »Bleiben Sie Christen 
im Geiste und in der Wahrheit — das ist die Hauptsache, darauf 
kommt alles an«. So hat Bauernfeld recht: »Wir verdanken dem 
Manne viel, der uns frühzeitig Lust und Geschmack für Literatur 



*) VgL Warzbach, »Biogr. Lexikon c, Fr. Brummer, »Lexikon der deutschen Dichter des 
XIX. Jahrhunderts, IL, 44 f. — Vgl. »Jahrbuch der Grillparzer-GeseUschaft«, V., S. 156, und dass. VIII., 
»Das spanische Drama am Wiener Hofburgtheater zur Zeit GriUparzers«, von Wolfg. von Wurzbach, 
über die Wiener Calderon-Übersetzung, für die Schumacher (1817) »Liebe, Macht und Ehre«, 
»Die Kreuzerhöhung«, »Der Arzt seiner Ehre« (1828) übersetzte. — S. 12, off. — 
Homer, L c, S. 35. 

**) Vgl. »Lebensbilder aus Österreich«. Ein Denkbuch vaterländischer Erinnerungen unter 
Mitwirkung sinnverwandter Schriftsteller und Künstler zum Besten der bei dem verheerenden Brande 
vom 3. Mai 1842 verunglückten Familien von Steyr, herausgegeben von Andreas Schumacher, 
Wien, 1843, Tauer & Sohn, Schulhof, Nr. 413, S. 325—335. 

* 363 



und Kunst beigebracht, auch sonst unseren Geist nach mancher 
Seite geweckt.« Er erschien den Freunden noch lange als Führer, auch 
nachdem sie aus der Schule ins Leben getreten waren. So hat denn 
M. Schwind in dem Ölgemälde »Ritter Kurts Brautfahrt« recht bezeich- 
nend dem »Anführer der Scharwache« »ziemlich getreu die scharfen 
Gesichtszüge und die lange hagere Gestalt Leander Königs« ver- 
liehen. In der Kollektivart des Schulparnasses traten »Bauernfeld und die 
Freunde« auch in das wirkliche Poeten- und Künstlertum über. Unter 
ii. November 1822 verzeichnet Bauernfelds »Tagebuch«: »Eine Art 
Journalgesellschaft mit den Freunden. Politika werden in franzosi- 
scher Sprache abgehandelt.« — Unter 5. Jänner 1823: »Dramatische 
Parodie auf die Freunde« u. s. w. 

An der »Cicade«: Der Unterhaltung gewidmet und heraus- 
gegeben von Karl Friedrich Weiß und seinen Freunden (Druck und 
Verlag bei Felix Stuckhölzer von Hirschfeld)« waren Bauernfeld und 
Schumacher mit Beiträgen beteiligt, die zum Teil noch in der Gymnasial- 
zeit entstanden waren. Recht den sodalenhaften Charakter, das Wesen der 
Studentenhetärie, trägt das Unternehmen der »Wiener Shakespeare-Über- 
setzung«, die in 43 Teilen mit Vignetten von Schwind, die in der litho- 
graphischen Anstalt Trentsenskys hergestellt wurden, von 1824 — 1825 bei 
Sollinger erschien und sich lange großer Verbreitung in Wien erfreute. 
Bauernfeld schreibt im »Tagebuch« zum 28. Februar 1824: »Trentsenskys 
Plan, einen deutschen Shakespeare herauszugeben. Ich und die 
Freunde sollen übersetzen. Werd ichs im stände sein?« Damit ist 
das ganze Studentenhafte Milieu gekennzeichnet, in dem das Unternehmen 
gedieh, wobei sich »Begeisterung, Gewissenhaftigkeit und Pietät«, 
die »häufig philologischen Streit bis aufs Messer entfachten«, mit 
launigstem Jugendtreiben von echter Altwiener Färbung verbanden. In »Alt- 
und Neu-Wien« redet Bauernfeld von dem Wagnis unter der Spitzmarke 
»Shakespeare als Nahrungsquelle«, wie denn die ganze Poeten- und 
Künstler-Burse im Solde Trentsenskys stand, der den einzelnen wöchent- 
lich, wie den Arbeitern seiner Anstalt, ihre Gagen auszahlte. Wir lesen in 
Bauernfelds »Tagebuch« unter dem 16. März 1824 auch: »Trentsensky 
zahlte mir hundert Gulden Shakespeare-Vorschuß. Ich habe noch 
nicht um 5 Groschen übersetzt.« Dabei entspann sich der gemütlichste Ver- 
kehr zwischen Trentsensky, seinem Hause und den übersetzenden Bursalen. 
Die Gesellschaft lebte sich ganz in Shakespeare ein, so daß sie sich in 
der Konversation »Shakespearescher Floskeln und der beliebten 
»Humoures« — wie seinerzeit — si parva licet componere magnis — 

364 



Goethe mit Lenz und Genossen, bediente.« Das ging- aber mählich auf das 
ganze Haus Trentsensky, die lithographische Anstalt und auch die »Damen 
des Kreises« über. Therese, Trentsenskys geistreiche Schwester, wußte 
sich »geschickt in den blühenden Unsinn zu fügen«. »Reichte ihr z. B. 
einer von uns beim Nachtisch einen Apfel mit den Worten des Fähnrichs 
Pistol: »So iß und sei fett, schönste Callipolis!« — war sie nicht faul, 
flugs zu erwidern: »Kommt, gebt uns Sektl« — »Gebt mir was Sekt!« 
jubelte der Chorus, worauf wir uns wacker zutranken.« Unterm März 1824 
notiert das »Tagebuch«: »24 stündiger Ball bei Trentsensky. Morgens 
halb 7 Uhr legte ich mich dort schlafen. Am Vormittag gabs noch einen 
Kotillion, dann Diner, dann wieder Tanz« — oder am 4. April 1824: 
»Parodie auf Trentsensky und den ganzen Kreis vorgelesen. Un- 
geheurer Erfolg.« Und so geht's lustig fort in Arbeit und Festen in dem 
Kreise, den Bauernfeld anführte, welcher teils mit den Freunden, teils 
allein den Löwenanteil an der Übersetzung hat. Schumacher bearbeitete 
allein »Venus und Adonis« und unter Bauernfelds Mithilfe die »Liebes- 
klagen und Sonetten« in einer Art, die ihn nicht unebenbürtig neben den 
Übersetzungen von Bodenstedt und Simrock erscheinen läßt. Sein Talent 
ging allerdings später in Übersetzerrobot, zu der ihn des Lebens Not zwang, 
unter. Er übertrug zahlreiche Romane und Theaterstücke aus dem Französi- 
schen, Englischen und Spanischen ; verfaßte aber auch selbständig Erzählungen, 
Novellen, Romane und Skizzen für Almanache, Taschenbücher und später 
Zeitungen. In seiner Sammlung von »Novellen und Erzählungen« (Wien, 
Michael Lechner, Universitätsbuchhändler, 1835) verarbeitet er auch volks- 
tümliche Sagen- und Märchenstoffe. Völlig subjektivistisch, mit Nachklängen 
Wertherscher Sentimentalität, die mit romantischem Mystizismus verfließt, ist 
die Darstellung in »Das Ende eines Dichters« in den »Erinnerungs- 
blättern«, einer »Sammlung von Novellen und Erzählungen«, die 
Schumacher gemeinsam mit Bernhard Jäkle herausgab (I. Bändchen, 
Wien, 1839, Seite 1 — 88). Mehr und mehr wandte sich Schumacher dem 
historischen Roman zu, einer Gattung, die schon Karoline Pichler, angeregt 
durch Freiherrn von Hormayr, und Ignaz Aurel Feßler in Österreich 
gepflegt hatten, noch bevor sie seit 1820 durch Walter Scotts Einfluß Mode- 
form geworden war. Hieher gehört vor allem Schumachers »Der Prinz 
von Lothringen«. Unter dem Einfluß dieser Richtung und der durch Auer- 
bach propagierten Dorfgeschichte nahm der Sinn für die Wirklichkeitsver- 
hältnisse seit den Vierzigerjahren zu und es bildete sich in Wien, nicht ohne 
Einwirkung des franzosischen Vorbildes der Eugen Sue, Dumas, Paul de 
Kock sowie des Engländers Boz-Dickens, des Londoner Skizzisten, auch 

365 



ein »Wiener Lokalroman« heraus, nach Anton Schönbach*) »ein merk- 
würdiges und schätzbares Gewächs« eine »Dichtung, die aus der 
Stadt selbst emporgediehen ist, ihre Luft, ihr Wesen, alles für sie 
Bezeichnende in sich aufnimmt und an den Leser weitergibt«. Alle 
fremden Literatureinflüsse zugegeben, hat die Gattung ihre bodenständige 
Vorläuferin in der »Wiener Skizze«, wie sie mehr in historischer Art im 
Vormärz Schlager pflegte, mehr im humoristischen Ton »wienerischer 
Kurzweil« der treffliche Franz Gräffer, seinem Beruf nach und als Schrift- 
steller Antiquar, Kuriositäten- und Raritätenkrämer, in »Wiener Dosen- 
stücken«, »Wiener Memoiren«, »Wiener Tabletten«, »Historischen 
Raritäten« und zahlreichen anderen Sammlungen ins Publikum brachte — 
»lauter Wiener Objekte, nichts als Wien«, — neben Castelli einer 
der wichtigsten Vorarbeiter der Friedrich Schlögl, E. Pötzl, V. Chiavacci 
und ihrer jüngsten Epigonen und zugleich 'einer der Ahnherren des welt- 
berühmten Wiener Feuilletons. Die »Wiener Skizze« reicht aber schon 
ins Mittelalter auf den sogenannten Seifried Helbling zurück und hat schon 
damals die Grundlagen einer spezifischen Wiener Novellistik, wie sie die 
Erzählung von der »Wiener Meerfahrt« darstellt, geboten. Die Gattung 
ist nie ausgestorben in Wien und hat in Geschichten wie »Der Hausball«,**) 
jene tolle Episode aus dem Wiener Faschingsleben, die bekanntlich Goethe 
im »Tiefurter Journal« 1781 in ziemlich getreuem Anschluß an das Original 
novellistisch verarbeitete, in zahlreichen Wochenschriften-Erzählungen, deren 
vertiefteste Form Schreyvogel-West bietet, endlich in den unzähligen 
Taschenbuch- und Almanach-Novellen des Vormärzes sich zu einer typischen 
Wiener Literaturerscheinung herausgebildet, die in ihrer Gesamtheit den 
Boden bildet, aus dem Meisterwerke wie Grillparzers »Armer Spielmann«, 
Kabinettstücke wie die A. Stifters und der Ebner v. Eschenbach ebenso 
hervorwuchsen wie etwa aus der Wiener Posse in ihrer Gesamtheit die 
Wunderblüte von F. Raimunds Volksstück emporgeblüht ist.***) Zu den 
stimmungsvollsten Wiener Novellisten gehört auch Ferdinand v. Saar, 
der mit Franz Nissel und Sigmund Schlesinger einige Zeit den schottischen 
Literaturwinkel bevölkerte. Der »Wiener Lokalroman« hat niemals die 
Vollendung der »Wiener Novellistik« erreicht und ist niemals über gute 
Ansätze hinausgekommen, da seine talentiertesten Vertreter leider meistens in 
Vielschreiberei untergegangen sind. Dies gilt in eminentem Sinn von Anton 



*) »Über Lesen und Bildung«, 4, Graz, 1894, S. 119, S. 139 ff. 
**) Vgl. »Wiener Neudrucke«, Nr. 3. 

***) Jakob Zeidler, »Vergessene Geschichten aus der Väterzeit« (»Wiener Mode«, XVI., 1903, 
H. 18, S. 886 ff.). 

366 



Langer*) (geb. 12. Jänner 1824 zu Wien, gest. daselbst 7. Dezember 1879), der ein 
Jahrzehnt vor Hamerling bei den Schotten studierte und in Schumachers 
zitierten »Lebensbildern« (1843) mit der Skizze »Die Wiener Hand- 
lungsdiener« das Gebiet betrat, auf dem er zeitlebens seine größten Er- 
folge erzielte. In Bäuerles Theaterzeitung (1846) veröffentlichte er schon 
eine historische Erzählung »Der Bauherr« aus der Zeit Leopolds L, 1855 
erschien sein »Charakterbild aus dem Wiener Leben«, »Der letzte 
Fiaker«. Einzelne Szenen, so gleich die stimmungsvolle Exposition, die Morgen- 
fahrt des Fiakers im Prater, sind klassisch und man ärgert sich, daß Langer 
es an der nötigen Sorgfalt und Feile fehlen läßt. 1857 erschienen »Die 
Carbonari in Wien«, ein förmlicher Schlüsselroman, 1861 »Ein Wiener 
Kostkind«, »Der Tambour von der Mobilgarde« und so jährlich neue 
Produktion, die zuletzt in Fünfkreuzerromanfabrikation ausartet. Überall er- 
kennt man, daß Langer die Wiener Vergangenheit und Gegenwart in einem 
treuen Gedächtnis stets zu literarischer Prägung bereithielt. 

In einem gewissen Zusammenfließen von Wiener Tageschronik und 
Wiener Historie liegt die Eigenart seines Schaffens, wie selbst die Volks- 
zeitschrift »Hansjörgel«, die er seit 1850 redigierte, zeigt. In beiläufigen 
Bemerkungen, in Ausdrücken und Wendungen merkt man, wie dieser 
Tageschronist sein Gebiet in allen Schichten seiner historischen Entwicklung 
kennt. Meisterhaft behandelt er den Dialekt, den er unverfälscht im väter- 
lichen Greislerladen in Mariahilf hörte und wissenschaftlich durch P. Bert^ 
hold geadelt sah. Wie als Romancier und Journalist, bietet Langer auch 
als Theaterdichter Lokalbilder aus Wiens Gegenwart und Vergangenheit, 
deren Perle wohl »Ein Judas von anno Neun« bildet. 

Der Einfluß Bäuerles und Langers ist auch in den späteren Romanen 
Schumachers, so in »Ein Wiener Kaufherr« und vor allem in »Wolf- 
gang Schmeltzl« (Ein Wiener Sittenbild aus den Tagen Ferdinands L, 
Wien 1867, Josef Ritter v. Geitler), erkennbar. Die Geschichten dreier Wiener 
Familien, deren Schicksale es mit sich bringen, daß ihre drei Sprößlinge in 
jungen Jahren »verlorene Söhne« werden, bilden die Exposition des 
Romanos, dessen Held der Schottenschulmeister Wolfgang Schmeltzl ist, 
der die Trias durch seine Lehrkunst wieder für die Gesellschaft und die 
Wissenschaft rettet. Den Höhepunkt, in dem alle die vielverschlungenen 
Fäden zusammenlaufen, bildet die Darstellung von Schmeltzls Komödie 
»Der verlorene Sohn« durch die Schottenschüler, eine Art öffentlicher 
Bußakt für die Bekehrten. Diese Szene ist die gelungenste im ganzen Roman, 
der keine Ansprüche als die eines gewöhnlichen Zeitungsromanen erheben 

*) N agl-Zeidler, »Deutschosterreichiflche Literaturgeschichte«, II. Band, S. 572 f. 

367 



kann, der ungeschickt in der Komposition, zuweilen verworren bis zur Un- 
Verständlichkeit ist und für uns hier nur Interesse hat durch die Art, wie in 
das Milieu der Zeit Schmeltzls und des eindringenden Protestantismus 
Jugenderinnerungen und Stimmungen aus Schumachers Studienzeit hinein- 
gearbeitet sind und eine Art Vorbild gegeben wird, das in den Formen der 
Vorzeit auf die Bewegungen des Jahres 1848 hindeutet. In Schmeltzls 
Stellung zum Katholizismus glauben wir oft Anklänge an P. Leander 
Kon ig zu hören. Merkwürdig verschlingen sich so durch die Persönlichkeit 
des Autors und den Helden des Romanes Gegenwart und Vergangenheit 
der Schottenschule. Wolfgang Schmeltzls Name verbindet diese dauernd 
mit der Wiener Lokalliteratur und der Wiener Theatergeschichte. Der ein- 
gewanderte Pfälzer fand im Wiener Schottenstift, wie er mit humoristischer 
Anspielung auf seinen Namen sagt, nicht nur eine »Schmalzgrube« in 
materieller Richtung, sondern auch geistig und gemütlich war der Wiener 
Boden das richtige Milieu für seine Wirksamkeit als Schulmeister und Poet 
dazu. Als Kantor zu Amberg hatte Schmeltzl häufig Nürnberg besucht, 
wo damals Hans Sachs und Albrecht Dürer wirkten. Die Pegnitzstadt 
war der Hochsitz der Renaissance der deutschen Kunst, die unter der Ein- 
wirkung des humanistischen Lebensideals emporblühte. Auch die Keime einer 
Neublüte deutschen Schrifttums setzten damals an, die allerdings die Religions- 
wirren bald wie Mehltau trafen, so daß für nichts Raum blieb als für Satire, 
Polemik, Apologetik und eine dürre Schulmeisterpoesie in lateinischer und 
deutscher Sprache. 

Hans Sachs ist in seiner Gesamterscheinung nicht weniger ein Produkt 
der Renaissance als sein größerer Landsmann Dürer. Seine geistige Ahnen- 
schaft leitet auf Männer zurück, die unmittelbare Schüler des Enea Silvio 
Piccolomini (später Papst Pius IL) waren, der als Protonotar Kaiser 
Friedrichs III. (IV.) von Wien aus, als »erster Apostel«, das Evangelium 
der Stilschonheit des Schreibens und der Ästhetik des Lebens predigte. In 
den Kreis habsburgischen Mäzenatentums gehören aber die Steinhöwel 
und Nyklas v. Wyle, welche Silvios »Ars scribendu auf die deutsche 
Schreibkunst anwandten und durch Translationen reiche Schätze humanistischen 
Schrifttums in allgemeineren literarischen Verkehr brachten. Dieses Brünnlein 
bewässerte aber auch das schlichte Dichtergärtlein Hans Sachsens. Aus 
dem Kreis der Nürnberger Künstler und Humanisten hat Kaiser Maxi- 
milian I. den Konventualen des Ägidenklosters Benediktus Chelidonius 
als Abt ans Schottenkloster zu Wien versetzt, wo durch das Mäzenatentum 
des Kaisers, die Tätigkeit des »deutschen Erzhumanisten« Konrad 
Celtis und die »gelehrte Donaugesellschaft« für einige Zeit der Mittel- 

368 



punkt des deutschen Humanismus war. Wie Silvio hatte Celtis mit der 
scholastischen Opposition der Wiener Universität zu kämpfen. Die Schotten- 
schule schloß sich unter ihrem neuen Abt der neuen Richtung an. Der äußere 
Ausdruck dafür war die Einfuhrung der *Ludi scenico-scholastici* nach dem 
Vorbild des akademischen Dramas der Humanisten. Am 10. März 15 15 wurde 
des Abtes *Voluptatis cum vir tute disceptatio* durch die Konviktoren des 
Schottenstiftes, in der Hauptrolle Graf Salm, unter der Leitung ihres Lehrers 
Dr. Chilimarus aufgeführt. Die Vorrede des Abtes*) in dem gedruckten Text 
weist ausdrücklich auf die Gegnerschaft hin, welche in scholastischen Kreisen 
gegen die Einführung derartiger Schulkomödien bestand. Unser lateinisches 
Prunkstück zeigt aber auch den akademischen Humanistendramen gegenüber 
eine Neuerung. Wir werden zu dem Genuß der jambischen Carmina und 
vierstimmigen sapphischen Chore eingeladen durch Knittelverse in deutscher 
Sprache : 

»Kurzweil wir Euch zu dieser Zeit 

Erbieten und viel Fröhlichkeit 1« 

So geht jedem Akt ein Prolog in deutschen Versen voran, um auch 
Lateinunkundigen das Verständnis zu ermöglichen. Dieser äußeren Erscheinung 
entspricht auch der innere Gehalt des Stückes, das reich an volkstümlichen 
Elementen ist, durch den Teufel an die geistlichen Bürgerspiele und durch 
einige komische Figuren an die Nürnberger Fastnachtsspiele gemahnt» 

Unschwer konnte Hans Sachs in »Pallas und Venus« (1530) des 
Abtes Lateinspiel in eine Komödie seines Stiles umdeutschen. Die huma- 
nistisch-volkstümliche Tradition des Chelidonius lebte im Schottenstift 
fort und so konnte unter Abt Wolfgang Traun steiner der Schulmeister 
Schmeltzl das deutsche Schuldrama, das ihm im protestantischen Sachsen 
nahegetreten war, in die Wiener Klosterschule verpflanzen, der »Jugend 
und dem gemainen Mann zu Nutz und Belehrung«. So begründete jener 
Abt, der sich freiwillig als Klosternamen den Namen des Ordensstifters, 
Sankt Benedikt, wählte, dessen Familiennamen wir nur in der huma- 
nistischen Transkription Chelidonius kennen, den die Zeitgenossen 
Musophilus zubenannten und der in Freundesverkehr mit Albrecht Dürer 
stand, für immer die Tradition seines Hauses, das fest im Ordensstatut wurzelt 
und bei konservativem Sinn dennoch die fortleitenden Tendenzen der 
wechselnden Epochen erkennt und ihnen Raum zu schaffen weiß, ohne den 
Rahmen der historischen Entwicklung zu durchbrechen. So sind die Schotten 
alt geworden und dennoch jung geblieben und waren, wie auch die Zeit- 

*) Vgl. Jak. Z eidler, »Das Wiener Schauspiel im Mittelalter« (Bd. III. der »Geschichte der 
Stadt Wien«), S. 88 ff. 

369 *4 



laufte wechselten, immer populär in Wien wie kein zweiter Orden. In diesem 
Geist lebte sich auch Schmeltzl ein und drückte ihn mehr als in seinen 
steifleinenen Schulkomödien aus in dem leichten Redefluß seines »Lob- 
spruch der Stadt Wienn in Österreich« (1548), der unzweifelhaft hoher 
steht als der »Lobspruch der Hauptstadt Wien in Österreich«, den 
Hans Sachs 1567, wohl auf Bestellung, als Text zu einer »Kontrafaktur« 
der Stadt, ohne eigene Anschauung, auf Grund der dürren Stadtbeschreibung 
in Sebastian Franks +Germaniae chronikon«, machte. Schmeltzls »Lob- 
spruch« ist eigentlich eine »Wiener Skizze«, die auf eigener Anschauung 
beruht und ihre literarischen Grundlagen in der •Descriptio urbis Vünnensis 
per Aeneam Silvium edita*, einer Epistel voll poetischer Lichter, reich an 
Humor und an satirischen Seitenhieben gegen die scholastischen Universitats- 
zopfe, in flottem Latein geschrieben, das oft wie ein humanistischer Vorklang 
des modernen Wiener Feuilletons ertönt. Der Anklang ist aber kein müßiges 
Spiel, sondern es läßt sich tatsachlich von den lateinischen »Descriptiones« 
von Wien, wie sie die italienischen Humanisten, voran Enea Silvio und 
Bonfini, der mit Matthias Corvinus zu Wien lebte, verfaßten, Glied um 
Glied der Weg verfolgen, der bis zu Schlager und G raff er und ihren 
Epigonen leitet. Ein wichtiges Glied bilden auch die »Lobsprüche«. Für 
Schmeltzl wie für Silvio und Bonfini war die landschaftliche Schönheit, die 
geographische Lage der Stadt die Grundlage, von der sich ihr materielles 
Wohlbehagen und der Charakter ihrer Bewohner abhebt. Als »Rosengarten, 
Lust und Paradeyß« erscheint ihm die Donaustadt, und »wer sich zu 
Wienn nit neren kan, ist überall ein verdorbner Mann«. Aus diesen 
materiellen Elementen wächst die gemütliche und geistige Physiognomie der 
Stadt hervor: Lebenslust, Geselligkeit, Sangesfreudigkeit: 

»Ich lob' dies Ort für alle Landl 
Hier sind vil Singer SaitenspiL 
Allerley G'sellschaft, Freuden vil.« 

So schärften Dankbarkeit und Liebe zu seiner zweiten Vaterstadt den 
Blick Schmeltzls, hoben sein dichterisches Vermögen weit über seine ge- 
wöhnlichen Grenzen und ließen ihn gleich dem erfindungsreichen Odysseus 
die Stadt nicht nur erschauen, sondern auch ihren Sinn richtig erfassen. Indem 
er seine Schilderung auf den natürlichen Gaben des Landes und der geo- 
graphischen Lage der Stadt, die ihre historischen Geschicke und dadurch die 
Eigenart des Wienertums psycho- und ethnologisch bestimmten, aufbaute : hat 
er die dauernden Farben festgehalten — und sein Bild gilt für die Stadt 
»ze Wiene« des Nibelungenliedes nicht minder als für sein »edles Wien«, 

370 



die »Zier und Befestigung der Christenheit« gegen den Ansturm 
Mahomeds, als auch für das Wien des Vormärz, das Gräffers »Wienerische 
Kurzweil« schildert, sowie für das Wien der modernen Skizzisten. 

So ist denn sein Andenken immer erhalten geblieben in der Wiener 
Tradition, Gräffer nennt ihn neben Silvio und Bonfini unter seinen Vor- 
läufern und hat sein Leben wiederholt legendarisch ausgeschmückt, so in der 
»szenischen Vision« »Des Wundermannes Walten in Wien oder der 
Güter höchstes ist die Kraft«, wo Schmeltzl mit seinen Zeitgenossen 
Wolfgang Lazius, dem großen Historiker und Verfasser der ersten Geschichte 
Wiens (»Vienna Austriae«, 1546), und dem abenteuerlichen Paracelsus zu- 
sammen in Verbindung mit St. Germain gebracht wird. Auch an anderer 
Stelle erzählt Gräffer »Des Wolfgangi Schmälzelii luminose fata«. 

Schumacher verarbeitete, was Geschichte, Legende und die Schriften 
Schmeltzls boten, in seinem Roman und schloß so den Kreis, der Gegenwart 
und Vergangenheit der Schottenschule verbindet. 




371 



24* 




Zur stilistischen Würdigung des Zeno Veronensis. 
Von Karl Ziwsa. £ 

Die in zwei Büchern geordneten 93 Predigten (tractatus) des heiligen 
Zeno, Bischofs von Verona (f um 372 n. Chr.), zeigen die Stileigentüm- 
lichkeiten der sogenannten Africttas, womit allerdings die Frage, ob 
Z. eine schriftstellerische Individualität sei, nicht entschieden ist. Einen Beitrag 
zur Lösung dieser Frage dürfte die Untersuchung über die Verwendung 
derjenigen Kunstmittel liefern, die geradezu den Lebensnerv der apologetisch- 
homiletischen Beredsamkeit bilden, nämlich die Verwendung von Beispielen, 
Bildern, Allegorien. Diese Kunstmittel bewertet Z. selbst mit den Worten: 
unum evidens adhuc pro/eramus exemplum, quamvis non possit verisitnile 
tantam virn habere quam veritas (I, 16, 13). Dies Wahrscheinliche aufzu- 

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finden, um das Wahre zu erweisen oder zu erläutern, und zwar mittels eines 
Bildes, eines Gleichnisses, mag dieses der eigenen Beobachtung, dem eigenen 
Nachdenken entstammen oder anempfunden verwertet sein, setzt eine gewisse 
geistige Kraft voraus, die sich auch in der sprachlichen Durchführung zu 
dem bestimmten Erläuterungszwecke eigenartig offenbart. Die Erkenntnis 
dieser tatsächlichen Beziehung dürfte zum Nachweise der Eigenart des Schrift- 
stellers ein weniges beizutragen im stände sein. 

Die Mehrzahl der zur Erläuterung oder Beweisführung von Z. ver- 
wendeten Bilder ist der Beobachtung der Natur, des Tier- und Menschen- 
lebens entlehnt. Sie werden entweder in gedrängter Kürze vorgeführt oder 
in breiter, umständlicher Ausführung, insbesondere wenn die Ähnlichkeiten 
sich nicht auf das Hauptsächliche beschränken, sondern auch das Nebensäch- 
liche durch das exegetische Geschick zur Vergleichung herangezogen wird. 
Ein Beispiel der ersten Art ist das Bild vom wilden Ölbaume, der durch 
das Pfropfreis zum edlen Ölbaum wird peritissimi agricolae artificis manu 
(I, 16, 13). Dieses mit wenigen Worten geschilderte Bild wird zu einem Evidenz- 
schluß a minori ad maius verwendet mit den Worten: si homo potest facere, 
ut sit arbor, quod non fuit, ...quanto tnagis deus kontinent poterit excitare in 
id, quod fuit (nämlich antequam peccasset in paradiso). . . Daß übrigens dieser 
Traktat, den die Handschriften mit de resurrectione überschreiben, der bild- 
lichen Rede einen weiten Spielraum einräumt, liegt schon im Thema begründet, 
das durch das Paradoxon »non homines tantum sed paene omnia suis mortibus 
vivunt* (Kap. 8) und dessen Nachweis glaubhaft gemacht wird. Dieses Prinzip 
der Unvergänglichkeit, des Wiedererstehens nach dem Vergehen, findet Z. — 
und mit ihm auch andere Kirchenväter — in den Sternschnuppen erkennbar: 
stellae . Jabuntur e caelo. . .quas. .redivivi luminis lege suis sedibus resurrexisse 
agnoscas, ferner in der Sonne, die auf- und niedergeht an einem Tage, um 
am nächsten wieder zu erstehen, was sie nicht konnte, wenn sie nicht unter- 
ginge: adimitur ei ortus, sieiauferatur occasus; im Monde, dessen wechselnde 
Gestalt geradezu an die menschlichen Altersstufen erinnert: vere Talionis 
humanae omnia in se lineamenta depingit. An das Kind in der Wiege gemahnt 
der Mond: dubio cornu primo quasi de cunis apparet, dann reift er zur puella, 
zur virgo heran und füllt endlich seine silberne Scheibe, um allmählich zu 
altern und schließlich sua motte reviviscens vom Ende den Anfang wieder zu 
gewinnen: sumat rursus de fine principium. Das nächste Kapitel (9) bringt zu 
demselben Nachweise die bekannte Wundersage vom Vogel Phönix, von dem 
es heißt: ipsa est. . .sibißnis, ipsa principium. Dieses Paradestück der heidnischen 
Sage konnte vielleicht, in einer christlichen Erbauungsrede verwendet, 
befremden ; allein es ist nicht zu vergessen, daß der Vogel Phönix geradezu 

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als ein Symbol der Auferstehung in jenen Frühzeiten des Christentums galt 
und in diesem Sinne ein häufiger Schmuck christlicher Gräber war. An 
heidnische Vorstellungen, die auch im Christenvolke noch lebendig waren, 
anzuknüpfen und diese mit dem Gehalt der neuen Heilslehre zu füllen, lag 
im wohlverstandenen Interesse der damaligen Kirche und vollends Z. hatte 
guten Grund, heidnischen Ansichten nicht auszuweichen, da unter seinen 
Zuhörern auch philosophisch gebildete Heiden waren, wie aus den Einleitungs- 
worten zu I., 3 erhellt: Fortassis de circumstantibus doctis quispiam in cachinnos 
erumpat, quod...audeam de iustitia disputare. Übrigens ist ihm jener Wunder- 
vogel nicht mehr und nicht weniger als ein Beweismittel für die Wahrhaftig- 
keit der Auferstehung, wenn er die Wundermär mit den Worten einleitet: 
Similiter Phoenix avis illa pretiosa resurrectionis evidenter nos edocet iura, 
und sie mit der Aufforderung schließt: eruöesce, christiana conscientia...quem- 
adtnodum rursum eadetn, quae es, sis melior futura cognosce. Die Kette dieser 
allegorischen Beweise wird endlich durch ein wieder dem Naturleben ent- 
lehntes Bild geschlossen, nämlich das Bild vom Saatkorn, das zwar vergeht, 
in die Erde geborgen, *et tarnen in eo id, quod intus est, reviviscit . . .felix 
caput.. quasi ab inferis emensum in superna sustollit* (Kap. 10). 

Dieselbe Paradoxie, daß Untergang die Voraussetzung der Wieder- 
erweckung sei, kehrt in der Betrachtung des Ostertages wieder, des dies 
sempiternus . . .pro/erens sibi de fine principium, natalitia infinita de occasu 
II-» 45)i ein Gedanke, den die inhaltsverwandten Traktate H., 46, 47, 49 in 
die Worte fassen: idem sui successor idemque decessor oder parit sibi de fine 
principium. Um diese Wahrheit anschaulich zu machen, wird das gemeine Jahr 
mit seinen zeitlich verschiedenen Naturerscheinungen kurz geschildert und 
diese allbekannten Ereignisse unter die Behauptung gestellt: quis non haec 
caelestibus mysteriis coaptata cognoscat? Daran schließt sich die im einzelnen 
durchgeführte Erläuterung: Der in die Flucht geschlagene Winter — discussa 
convolutae hiemis tristitudine — bedeutet die Götzendiener und die Knechte 
weltlicher Lüste. Der Frühling bezeichnet den Taufquell; was dort die 
schmeichelnden Frühlingslüfte — novo vento Favonio blandiente — an Blumen- 
duft und Blumenmannigfaltigkeit hervorbringen, wirkt hier der heilige Geist 
una nativitate ecclesiae flores clarissimi ac dulces nostri funduntur infantes. 
Der reiche Sommer, der die Garben zu verschiedenen Getreidehaufen schichtet, 
ist ein Bild der Gläubigen, die sich als kostbares Getreide in die Scheunen 
Gottes zu bringen trachten: populus.. semet pretiosum frumentum divinis 
horreis inferre desiderans. Endlich erinnert der weinreiche Herbst mit seiner 
Weinlese an die Märtyrer. Da wird aber nicht das Blut der Rebe, sondern 
das des Winzers vergossen zu dem Zwecke, daß durch die Weinlese eines 

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kostbaren Todes das selige Leben erworben werde: ut vita beata pretiosae 
mortis vindemia comparetur. 

In ähnlicher Weise, nur erheblich knapper der Ausfuhrung nach wird 
der Ostertag II., 53 als saeculorum pater omni genere fructuum . . . pollens . . . 
quatuor temporum munera expungens (= distribuens) gepriesen : er bereitet 
dem Winter der Sünder ein Ende; der lächelnde Frühling macht sie durch ver- 
schiedene Gnadengaben zu verschiedenen Blumen; mit dem Heilswasser benetzt, 
erfreuen sie sich der Ernte des sonnenklaren Sommers, indem sie panem novum 
coeperint manducare und auf den herbstlichen Traubenmost — autumnale mustum 
— nicht zu warten brauchen; panis und mustum bezeichnen die Eucharistie. 

Doch kehren wir zu II., 45 zurück, in dessen Schlußteil ganz klar aus- 
gesprochen ist, daß der Ostertag, der II., 51 geradezu resurrectionis exemplum 
genannt wird, sich auf das Geheimnis der Auferstehung des Herrn beziehe: 
gut in omnibus omnia est, gut' vere aeternus est ac sine nocte dies; ihm dienen 
die zwölf Stunden in den Aposteln, die zwölf Monate in den Propheten, ihn 
künden die vier heilsamen Jahreszeiten der Evangelien. Man kann nicht be- 
haupten, daß diese bis ins einzelne durchgeführte Allegorie ungezwungen und 
leicht verständlich sei, besonders der oberwähnte Schlußteil macht den Ein- 
druck des Gesuchten, Gekünstelten und bringt sich durch diese Eigenart um 
die beabsichtigte Wirkung, das Übersinnliche, Geheimnisvolle erklärlich zu 
machen. Fast mochte es scheinen, Z. habe sich in dem Bestreben, das Ge- 
heimnisvolle zu erklären und mit den Erfahrungen des Alltagslebens in Bezug 
zu setzen, weiter fortreißen lassen, als mit einer schlichten und überzeugenden 
Deutung vereinbar ist. 

Diese Annahme bestärkt die Betrachtung des Traktats IL, 38, in dem 
Z., ausgehend von der Gewohnheit, festliche Anlässe mit einem Freuden- 
mahle zu feiern, die Neophyten auffordert: nativitatis tantae festa laeto cele- 
brare convivio, aber im Gegensatze zu dem kurz geschilderten wüsten Kom- 
ment der Weltleute, insbesondere der Heiden: caelesti prandio 7 Aonesto, puro, 
salubri atgue perpetuo. Nun wird ein Festmahl geschildert, mit dessen Zu- 
rüstung und Ausstattung eine ganze Reihe biblischer Personen bis auf Christus 
und den neuen Bund in Bezug gesetzt wird. Wenn man vom pater familias 
absieht, unter den man den Priesterkönig Melchisedech oder vielleicht besser 
Gott selbst verstehen kann, sind alle mit Namen und bestimmten Ver- 
richtungen genannt, so die tres pueri, die das Salz der Weisheit auf das 
Gemüse streuen, Christus, der Öl darauf gießt, Moses, Abraham, Isaak, Jakob, 
Joseph, Noe, Petrus, Tobias, Johannes der Täufer, Paulus, David, Zachäus 
und schließlich nochmals Christus, der Süßigkeiten (dulcia) verteilt — sie alle 
sind in das Bild des caeleste prandium hineingestellt und zwar, wie man sieht, 

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ohne eigentliche Ordnung. Denn z. B. von Noe, der keinem etwas verweigert, 
was er an Vorräten als arcarius aufgespeichert hat, springt die Aufzählung 
auf Petrus über, der recentes marinos affatim pisces apponit cum sarda amabili, 
und auf Tobias, der fluvicUis piscis interanea . . . accurat et assat. Zwischen 
Johannes — mel attulit et locustas — und David — lue urgent eum subministrat 
et caseum — ist Paulus gestellt, der einzige in der ganzen Schar, der nichts 
anderes beisteuert als die Ermahnung: ne alter alterum manducantem denotet. 
Was sollen nun all diese auf leibliche Nahrung bezüglichen Zitate von Per- 
sonen oder Handlungen aus der Bibel? Nach einer Deutung derselben suchen 
wir in dem Traktat vergebens, die, wenn überhaupt im Sinne des Predigers 
gelegen, seinen Zuhörern wohl ebenso notwendig war wie uns. Auch die 
denkbare Annahme, Z. habe nur die Reihenfolge der Zitate notiert, deren 
Deutung aber dem mündlichen Vortrage vorbehalten, befriedigt nicht. Denn 
es ist nicht einzusehen, weshalb bei dieser großen Anzahl biblischer Zitate 
gerade das Wichtigste, deren Deutung, einer schriftlichen Fixierung nicht 
bedurft hätte. Was haben überhaupt all diese Einzelheiten mit dem caeleste 
prandiutn zu tun, das nichts anderes bedeutet als die Eucharistie? Vielleicht 
weist uns den richtigen Weg die im Anschlüsse an Christi dulcia zitierte 
Psalmenstelle (118, 103): quam dulcia faueibus meis eloquia tua super mel et 
favum ort meo. Wenn für den Psalmisten, von dem es kurz vorher heißt, 
prior qui hoc prandio pastus est ante nos, Gottes Gesetz, die eloquia, ein 
frandium war, das mit der Eucharistie auf eine Stufe gestellt wird, so kann 
dies im alten Bunde genossene Mahl nur eine Vorbedeutung, nur ein Symbol 
auf das Himmelsmahl des neuen sein und auch den übrigen Zitaten ist ein 
darauf bezüglicher symbolischer Sinn zuzusprechen, insoferne sie Handlungen 
oder Verrichtungen ausdrücken, die sich auf die Zurüstung eines Gastmahles 
beziehen. Hiebei deckt sich allerdings Bild und dessen Gegenstand nicht bis 
ins einzelne und es wäre gewiß eine müßige Frage, was etwa Johannis Honig 
und Heuschrecken bedeuten oder Petri Seefische und die Flußfische des 
Tobias. Die Allegorie dient hier nur dem einen Gedanken der Vorbedeutung 
eines geistigen Festmahles durch eine Reihe auf leibliche Mahlzeiten über- 
haupt bezüglicher Handlungen, wofür eben aus der Bibel Personen und Zeit- 
umstände ausgewählt sind. Eine unmittelbare Beziehung für jede einzelne 
Handlung ist nicht herzustellen, wohl auch von dem Verfasser nicht be- 
absichtigt. Denn wo es in seiner Absicht lag, ein allegorisches Bild bis ins 
einzelne zu erläutern, gebrach es ihm nicht an dem notwendigen Geschick, 
dies auch durchzuführen. 

Dies zeigt sich z. B. im Traktat über des Propheten Jonas Schiffbruch 
(II., 17). Im 2. Kapitel, das ausschließlich das Schicksal des Propheten be- 

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handelt, wirkt wie ein Miterlebtes die plastische Schilderung des Seesturmes: 
subito compngnantium ventorutn flatu lacessitutn fremit mare . . . procellae . . 
insaniunt, horrendum Sibilant funes, getnunt . . antemnae, retunsa undique 
iter non invenit prora. Aber die rhetorische Deklamation, die an antike Vor- 
bilder erinnert, ist hier nicht Selbstzweck, sondern ihre Einzelheiten finden 
im folgenden Kapitel (3.) allegorische Deutung, die mit den bescheidenen 
Worten eingeleitet ist: quantum datur intellegi. Das Schiff wird als ein Bild 
der Synagoge gefaßt — navis typus est synagogae — die Schiffer sind die 
Pharisäer und Schriftgelehrten, das Überbordwerfen der Geräte bezeichnet 
die Zurückweisung der Propheten, die wütenden Winde sind die Konige, die 
Judäa über den Erdkreis zerstreuten, das Meer bedeutet diese Welt, seine 
Wellen bezeichnen Juden und Heiden, die sich gegen Gott erhoben — ja, 
um alle übrigen Einzelheiten zu übergehen, selbst das Holz des Schiffes 
findet eine Deutung im Hinweis auf das Kreuz des Herrn und dieses Heils- 
geheimnis ist durch den im Schiffe schlafenden Jonas vorbedeutet: Jonas in 
navi dormiens sacramenti dominici imaginem praeferebat. In diesem Traktat 
ist also die Absicht erkennbar, durch das poetische, eine biblische Erzählung 
ausführende und erweiternde Bild eine Menge von Einzelheiten zu gewinnen, 
die in der darauffolgenden Erläuterung Bezug und Bedeutung erhalten. 

Dieselbe Kleinarbeit in der Durchführung der Allegorie zeigen noch 
zwei Traktate des 2. Buches (27 und 44), die überdies Z. als wohlbewanderten 
Fachmann in praktischen Berufen erscheinen lassen. In H. 27 wird mit Bezug 
auf Isaias (Kap. 5) dem ersten Weinberge Gottes, dem Judenvolke, der zweite, 
das christliche Volk, gegenübergestellt. In diesen neuen Weinberg wurde die 
ganze prophetische Kraft übertragen — in quam omnis fructus propheticus 
decucurrit (Kap. 1) — und zwar durch die Veredlung der Weinstocke, ein 
Symbol der geistigen Erneuerung. Um dies klar zu machen, verbreitet sich Z. 
im ganzen 2. Kapitel über die einzelnen Geschäfte des Winzers, vom Ab- 
schneiden des Senkreises bis zum Einlagern des Weines im Keller des Haus- 
vaters, und zwar: mensura servata amputatur in surculum — palmes in scrobem 
dimittitur — Uli iungitur lignum (als Stütze) — ubi adoleverit in vitem, eins 
crines luxuriosi falce tondentur — tabulatis (Hängegerüst) infertur, nodis 
adstringitur — oculis apertis folia procedunt — sequaces fructus — uva 
detrahitur . . calcatur, prelo premitur — pretiosum fluentum . . et bibitur et . . 
cellis vinariis infertur. Im Vergleiche zu der inhaltlich ähnlichen Stelle im 
Cato maior des Cicero (XV. 52, 53) ist die Schilderung des Weinbaues bei Z. 
viel breiter und ausführlicher, was schon aus dem Grunde beabsichtigt er- 
scheint, weil all diese Einzelheiten des Winzergeschäftes im folgenden Kapitel (3) 
gedeutet werden im Sinne der geistigen Wiedergeburt des Menschen, und 

377 



zwar: quantutn spiritaliter mediocritas nostra conicere potest. Denn unter aus- 
drücklichem Bezug auf jede einzelne der angeführten Phasen des Weinbaues 
schildert Z. den Lebensgang des nach der Taufe Verlangenden — das ist das 
zugeschnittene Senkreis — bis zur Aufnahme des Märtyrers dominicae 
habitationis in recondita, womit der Weinkeller des Hausvaters identifiziert wird. 
Der andere obenerwähnte Traktat (IL, 44), wahrscheinlich im Anschlüsse 
an die Lesung des ersten Korintherbriefes (5, 7) gehalten, handelt von der 
Zubereitung des Weizens — die dominico de comparatione tritici lautet die 
Überschrift in mehreren Handschriften — und verwertet gleichfalls die Ent- 
wicklung eines Naturvorganges bis zum Eingreifen menschlicher Berufstätig- 
keit als Gleichnis für geistige Wahrheiten. Ein alltäglicher Vorgang, die 
Brotbereitung, wird hier in seinen zeitlich abgestuften Einzelheiten vorgeführt. 
Aus Unkraut und Disteln hat Gottes Gnade herrliches Getreide werden lassen; 
nunmehr sorgfaltig gereinigt und gemahlen — molaris lapidis pio pondere 
feliciter fracta (Kap. 1) — und gesiebt, ist es zu blendend weißem Mehl ge- 
worden, das ohne Sauerteig nur mit Wasser gemischt und geknetet ist. 
Hierauf mit Salz bestreut, wurde es zu einem ungesäuerten Brote — in panes 
azymos reddita — , nachdem vorher der Teig mit Öl glatt gestrichen worden 
war — levigata est oleo, was sich wohl auf die Osterbrote bezieht, wie ja 
tatsächlich der Traktat ad neophytos post iaptisma, die bekanntlich am Oster- 
tage die Taufe empfingen, in einigen Handschriften betitelt ist. Während bis 
hierher ein Bezug auf eine zu vermittelnde geistige Wahrheit fehlt, dient 
das Folgende bereits allegorischen Zwecken: hi quos videtis . . . suave 
redolentes . . . excocti non furno sed fönte, non humano sed igne divino. Ge- 
meint sind in den Osterbroten die Neophyten, die im Taufquell und durch 
gottliches Feuer sozusagen gar geworden sind (excocti). Was sonst irdischem 
Brote widerfahren kann, wie Verderbnis durch Luft, Rauch, Kälte, davor 
bleiben sie bewahrt; nicht angeschwärzt, nicht altbacken, nicht verbrannt, 
nicht teigig, noch schimmelig, schmecken sie wie Milch und haben auch die 
Farbe der Milch. Man sieht, daß an dieser Stelle Bild und dessen Deutung 
nicht so scharf gesondert ist, wie an der früheren, vielmehr beides zum 
Schaden der Deutlichkeit in einander fließt. Ja, daß nicht etwa die Osterbrote, 
sondern vielmehr die Neophyten Gegenstand dieser Betrachtung sind, wird 
erst recht klar im 2. Kapitel, wo sich Z. als pistor f und zwar einen armen 
Bäcker bekennt, gegen den vielleicht der Vorwurf erhoben werden konnte: 
quod nonnulli forma videntur minores. In Fortsetzung dieses Bildes fordert Z. 
seine Gehilfen auf: si quid sciunt dicant, falls er unredlich sollte vorgegangen 
sein. Es ist nun nicht anzunehmen, daß sich Z. mit den Priestern und Diakonen 
an der Bereitung der wirklichen Osterbrote beteiligt habe, sondern der Vor- 

378 



wurf mindergewichtigen Brotes bezieht sich darauf, daß manche der in die 
Glaubensgemeinschaft Aufgenommenen minderwertig erschienen. Wäget sie, 
ruft Z. aus, ihr habt das alte Gewicht: invenietis nullum habere minus. Es 
handelt sich also um minores dem Gewichte nach, womit der frühere Aus- 
druck minores forma trotzdem vereinbar ist, wofern man nur Gestalt und Ge- 
wichtsmenge in Beziehung gebracht annimmt. Als Ergebnis dieses Nach- 
wägens versichert Z.: tripondes sunt omnes, numismatis sacriuna libra signati, 
was wiederum nur allegorischen Sinn hat, verstanden von den Neophyten, 
die durch das Bekenntnis ihres Glaubens an den dreieinigen Gott vollwichtig 
sind und die Z. geradeso gekennzeichnet wissen will wie den Denar (II., 35): 
denarium aureum triplicis numismatis unione signatum. 

Schließlich möge noch die Verwendung von Naturbeobachtungen, aber 
nicht zum Zwecke des Vergleiches, sondern zum Nachweise eines sittlichen 
Prinzipes erwähnt werden. So wird in dem Traktat über die Geduld (I., 6, 2) 
diese Tugend als Regulator in den Naturerscheinungen und dem Tierleben 
nachgewiesen. Durch sie bleiben die Zeitabschnitte in verwandtschaftlichem 
Zusammenhange — cognata conexione — der schnelle Lauf der Sonne wird 
durch sie gezügelt — nunquam antevertit auroram — wie der des scheinbar 
irrenden Mondes, und gar das wild aufgeregte Meer — nunc pulsantibus 
caelum nunc requirentibus terram aestuantibus undique vitreis armatum montibus 
— bricht schließlich in sich selbst zusammen dank der mira patientia. In- 
sofern diese alles Vor- oder Unzeitige verhindert, ist sie die Spenderin der 
Fruchtbarkeit für die sprossenden Fluren, die goldgelben Erntefelder, den 
reichbehängten Weinstock und die halbreife Olive. Vogel und Fische, ihren 
Führern folgend, durchstreifen die Lüfte, durchfurchen die Gewässer zu be- 
stimmten Jahreszeiten : et patienter veniunt et patienter excedunt. 

Dieser Typus der Naturbeobachtung ohne allegorische Tendenz findet 
sich auch I., 8, wo Z. nachweist, daß alles auf Erden Gott fürchtet — nulla 
natura quae non timeat deum (Kap. 2) — . Dies zeige sich, wenn der Himmel 
erdröhnt, die Sonne durch Wolken, die der Blitz durchzuckt, verdunkelt 
wird, die Erde bebt oder sich selbst in einem klaffenden Krater verschlingt. 

Beispiele dieser Art, die lediglich rhetorischen Zwecken dient, gibt es 
bei Z. eine ansehnliche Menge; unter diesen fallen die vielen aus dem 
Militärwesen entlehnten Bilder auf, die Z. auch auf diesem, ihm doch ferne- 
liegenden Gebiete bewandert erscheinen lassen. So heißt es von der Jldes, 
sie sei invictum adversus diaboli impetus propugnaculum pariter ac telum, 
animae inpenetrabilis lorica und weiter nee desertorem praemiis triumphalibus 
honorabit (I., 2, 3) ; exsertis mucronibus . . velut testudine . , resistunt (porci 
!•> 2, 5) ; sapientia . . armata vocis tuba et gladio Linguae . . congregat turbas 

379 



(L, 3, 2) und als Schulbeispiel dieser Art die Schilderung der Heimsuchungen 
Jobs, die geradezu als ein Feldzug des Teufels gegen den Diener Gottes 
dargestellt werden (II., 15, 1): fatnigerabile committitur proelium . . diabolus 
horrendutn totis intonans armis ministrisque . . in auxilium concitatis terribili 
increpans tuba . . face furiali succensa impetibus crebris . . . dei facultates 
invadit. 

Über Zenos Bildungsgang wie überhaupt über seine Lebensverhältnisse 
und Schicksale sind wir so gut wie gar nicht unterrichtet, so daß wir auf 
seine Predigten allein angewiesen sind, wenn seine geistigen Fähigkeiten 
und seine schriftstellerische Bedeutung charakterisiert werden sollen. Sein 
Eigenurteil: homo imperitissimus et elinguis . . audeam disputare (I., 3, 1) oder 
mihi rustico . . ignoscite (IL, 27, 1) und quantum . . mediocritas nostra conicere 
potest (IL, 27, 3) werden wir wohl nicht unterschreiben, vielmehr aus der Art 
der von Z. ausgewählten Bilder und Gleichnisse und deren Durchführung 
den Schluß ziehen, daß er ein gebildeter und erfahrener Mann war, dessen 
Gesichtskreis keineswegs auf religiöse Dinge beschränkt ist, wenn er auch 
selbstverständlich sein weltliches Wissen und seine weltliche Erfahrung stets 
in den Dienst religiöser Gedanken stellt. Seine allegorisierende Kunst hat 
größtenteils das Richtige getroffen und ihre Absicht, Übersinnliches, Geheim- 
nisvolles der menschlichen Erkenntnis näher zu bringen oder sittliche Wahr- 
heiten zu begründen, mit Erfolg erreicht Wo sie versagte, erlag sie der 
Undeutbarkeit eines Glaubensgeheimnisses oder sie brachte sich selbst um 
die beabsichtigte Wirkung durch Häufung belangloser, nebensächlicher Ein- 
zelheiten oder durch den Mangel an Verständlichkeit und jenem Maße von 
Beschränkung, das es vermeidet, ein poetisches Bild zur Hauptsache, zum 
rhetorischen Paradestück werden zu lassen. 

Wien. 




380 




Nachwort des Zeichners. Ein Stück Entwicklungs- 
geschichte. 99 Von Maximilian Liebenwein. J| 



Die vorausgehende Reihe von Aufsätzen ehemaliger Schottenschüler 
gliedert sich logisch in zwei Teile. 

Die einen befassen sich mit einem Thema aus dem gegenwärtigen 
Wissensgebiet oder Wirkungskreise oder auch mit einem Erlebnis der Ver- 
fasser und sind nur dadurch lose aneinandergereiht, daß sie von alten 
Schülern des jubilierenden Gymnasiums stammen; die anderen stehen im 
engen geistigen Zusammenhang mit der Geschichte des Stiftes oder seiner 
Schule oder geben eine Erinnerung an die Schulzeit, an diesen oder jenen 
Lehrer wieder, der dem Herzen des Verfassers besonders nahe stand. 

381 



Und doch war für mich, den Zeichner, der diese Aufsatze lesen mußte, 
bevor sie zum Buche aneinandergefügt wurden, das Bild unserer Schulzeit 
nur unvollständig gegeben. 

Mir ward die ehrende Aufgabe, dem Buche durch den Schmuck der 
Bilder seine äußere Gestalt zu geben. So will ich, obwohl es dem Bildner 
ziemte, schweigsam zu sein, es auch versuchen, in einem Nachworte dem 
Bildnis unserer alten lieben Schule jene Züge hinzuzufügen, die noch fehlen. 

Es sind deren hauptsächlich zwei. 

Erstens ist nirgends die Wichtigkeit und wissenschaftliche Ausdehnung 
des Unterrichts in den naturgeschichtlichen Fächern erwähnt und die 
schlichte Große unseres edlen verstorbenen Lehrers P. Stephan Fellner, der 
uns in diesen Fächern unterrichtete. Die Naturgeschichte ist in den Gym- 
nasien des benachbarten Bayern als Kinderspielzeug, mit dem sich der 
humanistisch Gebildete nicht abzugeben braucht, in das Untergymnasium 
verbannt. Die Lehrmittelsammlungen sind dort gering, die Stundenanzahl auf 
eine Stunde wöchentlich beschränkt. So ist die Pflege der Naturwissenschaften 
bei ihrer heutigen ungeheuren Wichtigkeit, bei der Schulung, die das sonst 
so vernachlässigte Auge durch sie erlangt, ein Hauptvorzug unseres öster- 
reichischen Gymnasiums und bewirkt, daß bei uns trotz der kürzeren Lehrzeit 
von acht Jahren eine größere Bildungssumme überliefert und ein höheres 
und allgemeineres Lehrziel erreicht wird. 

Zweitens finden sich in unserem Buche nur schüchterne Andeutungen 
vor, wie ausgelassen und schlimm wir Buben oft gewesen sind und was für 
einen schweren Stand unsere Professoren oft mit den anvertrauten Rangen 
gehabt haben, so daß man meinen könnte, wir seien Engel gewesen, »die 
nicht fühlen, die nicht weinen«. 

Seit Wilhelm Buschs Meisterwerk »Max und Moritz« und Dr. Ludwig 
Thomas »Lausbubengeschichten« und »Tante Frieda« hat der »Lausbub« das 
Bürgerrecht in der deutschen Literatur erhalten. Warum sollt' es ihm in 
diesem Buche versagt sein, zumal da die Lausbuben von damals nicht gerade 
die schlechtesten Männer geworden sind? 

Der »Lausbub«, der unglückliche Stunden hat, in denen er die Schule 
tödlich haßt, der aber doch gern zur Schule geht, weil ihm mancher Lehr- 
gegenstand Spaß macht, weil er sich zu Hause gründlich langweilt und 
weil er in der Schule mit gleichgesinnten Spießgesellen seine Streiche voll- 
führen kann; der für die Ehre seines Gymnasiums im Kampfe mit Real- 
schülern manche blaue Beule und manche blutende Schramme mit heim- 
bringt; der an einigen seiner Lehrer mit schwärmerischer Hingabe hängt, 
während er andere wieder neckt und peinigt: eben dieser Lausbub ver- 

382 



dient es, als unvermeidliches Inventarstück jeder Klasse hier verewigt zu 
werden. 

Am besten ist es, ich erzähle zu diesem Zwecke einige meiner eigenen 
Schicksale aus jenen fröhlichen acht Jahren, die uns erst so lang vorkommen 
und nachher so kurz gewesen sind. 

Ich bin eigentlich schon durch meine Geburt dazu bestimmt gewesen, 
meine Hosen auf denselben Bänken glatt zu scheuern wie mein Berufsgenosse 
Moritz von Schwind. 

Mein Großvater Paul Liebenwein war ein Freund des alten Direktors 
P. Albert Gatscher, der in meiner Familie, so lange er lebte, als Haus- 
geistlicher funktionierte, der meinen Vater getraut und meinen Vater, meinen 
Bruder und mich getauft hatte. Mein Vater war ebenfalls Schottenschüler, 
und zwar um das Sturmjahr 48 herum. 

Er war ein Mitschüler des jüngst verstorbenen Altmeisters der Schauspiel- 
kunst Josef Lewinsky und ging von der fünften Klasse zum Kaufmannstand 
über. Von dem Jahrgange lebt, glaube ich, niemand mehr als ein greiser 
Chorherr zu Herzogenburg. 

So ward ich im Herbste 1879 der Mannschaft des hl. Benedikt über- 
geben und kam in die erste Klasse des Schottengymnasiums. Die Genies 
waren freilich bei uns nicht so dicht gesät, wie in jener Schottenklasse von 
anno 1813, in der Schwind, Bauernfeld und Lenau beieinander saßen; aber 
es war, wie sich später zeigte, sprühenden Witzes und Geistes ein reichliches 
Lager aufgehäuft: Buben aus Familien mit alter Wiener Kultur, die von 
daheim eine Grundfeste vererbter geistiger Güter mitbrachten, auf der gute 
Lehrer lustig weiterbauen konnten. 

Mein erster Ordinarius war P. Stephan Fellner, der uns im Deutschen 
und im Lateinischen unterrichtete. Eine hohe schlanke Gestalt von edler 
Anmut, ein jugendliches Gesicht mit leicht ergrauten Haaren. Für mich, der 
in einer Familie voll komischer Vorurteile aufgewachsen, war er mit seiner 
klaren und reinlichen Denkweise ein hohes und unbegreifliches Ereignis. Ich 
fand heuer, als wir mein Vaterhaus in Wien verkauften und alten Kram 
sichten und ordnen mußten, ein Tagebuch aus jener fernen Kinderzeit, das 
in unbegrenzter Verehrung und in kindisch überschwenglichen Ausdrücken 
von ihm spricht. Auf jeder Seite nur Stephan und Stephan. 

Gewöhnlich, wenn man in solchen Tagebüchern aus der Knabenzeit 
liest und blättert, haben sich die Eindrücke von damals verwischt und ver- 
schoben und was damals geschrieben ward, scheint uns ein Wahngebilde 
unreifer Jahre, unfertigen Denkens. Bei mir hat sich der Eindruck, den ich 
von meinem ersten Klassenlehrer damals empfing, in späteren Jahren nur 

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vertieft ; ganz natürlich — denn ein Kind von zehn Jahren kann eines Mannes 
Wert nur ahnen, nicht begreifen. 

So stelle ich mir heute noch Ekkehard von St. Gallen vor, den Mann, 
der glückselig, da er die Prüfung bestanden. Ich habe selten etwas Edleres 
gesehen, als dieses Profil mit der leicht gebogenen Nase und den unsagbar 
feinen, fast mädchenhaften Mund, der so erfreulich lachen konnte und sich 
im Ärger nur leicht verzog. 

Der Drang, künstlerisch zu gestalten, der sich seit meinem vierten 
Lebensjahre darin äußerte, daß ich täglich einen Bogen Papier mit den 
Gebilden meiner ungezügelten Kinderphantasie, mit Tigerjagden, Elefanten, 
Rittern, Eisenbahnen, Kanonen, Dampfschiffen und Zirkuspferden beklexte, 
hat damals schon eine große Rolle in meinem Leben gespielt. Er nimmt 
den größten Teil der Geisteskräfte für sich in Anspruch und so ist's kaum 
verwunderlich, daß ich, der in der ersten und zweiten Klasse Vorzugsschüler 
war, allmählich mit dem Wachsen dieses Triebes tiefer und tiefer sank, das 
heißt nicht etwa moralisch, sondern nur in der Lokation, die zu meiner 
Schulzeit noch üblich war. 

Der Trieb, äußere Eindrücke los zu werden, indem ich sie darstellte, 
ward mit den Jahren immer mächtiger, er besudelte Hefte und Bücher, keine 
Schuldisziplin konnte ihn hemmen. So machte er auch meinen Lehrern viel 
zu schaffen. Denn der Lehrer, der von seinen Schülern Aufmerksamkeit für 
den Gegenstand fordern muß, kann es begreiflicherweise nicht dulden, wenn 
einer der Schüler stets ein Blatt Papier vor sich hat und mit einem krausen 
Gewirr von Griechen und Romern, von Rittern und Räubern bedeckt, die 
ihm viel wichtiger erscheinen als das Dornengestrüpp der griechischen 
Formenlehre. 

Neben dieser Wut zu zeichnen und zu klexen, entwickelte ich mich 
auch nach und nach zum Lausbuben. Die »Flegeljahre« nennt man's ge- 
wöhnlich, die sich sowohl im Leben des einzelnen gesunden Individuums, 
als auch in der Geschichte ganzer Volker nachweisen lassen. 

Da sieht man auf dem Schulweg, was andere Buben treiben, oder man 
wird angerannt, eben weil man ruhig und sittsam seiner Wege geht. Da hört 
man von älteren Brüdern und Vettern, was in anderen Klassen und Schulen 
vorgeht. Die Vettern schneiden furchtbar auf, wie lustig es im Theresianum 
ist, man glaubt ihnen alles, und um die Ehre der Schotten zu retten, müssen 
sie übertrumpft werden. 

Auch alte Traditionen, vererbt von einer Klasse auf die andere, wirken 
mit. So bestand seit den Zeiten meines Vaters eine Feindschaft mit den 
Realschülern. Mein Vater raufte noch auf den Glacis und in den Stadtgräben, 

384 



bis das Erscheinen eines »Staberlwachters« Freund und Feind zum Ausreißen 
zwang, und wir rauften im Volksgarten in der Nähe des Theseustempels oder 
dort, wo heute das Denkmal Grillparzers steht, mit den Nachkommen und 
Nachfolgern derselben, Realschülern, meist so lange, bis der Invalide ange- 
humpelt kam und die Streitenden schied. 

Die Gegner verhöhnten sich zuerst gegenseitig, wie dies ja auch die 
homerischen Helden getan haben. »Suppenlateiner«, »Lateinprotzen«, »Küchen- 
lateiner« hieß man uns und zu unserer Verhöhnung sang man »Als die Römer 
frech geworden«. Wir hingegen, stolz auf unsere humanistische Bildung, wie 
man in späteren Jahren nie mehr ist, nannten sie »Realaffen« und stimmten 
als Schlachtgesang ein lateinisches Kirchenlied an, das wir vom Schulgottes- 
dienst her kannten, wie die Mönche von St. Gallen und Reichenau in der 
Hunnenschlacht. Am beliebtesten waren »Dies irae« und »Vexilla regis pro- 
deunt«, wohl des kriegerischen Anfangs wegen. 

Die Realschüler mit ihren Reißbrettern und großen Linealen waren aber 
weit besser bewaffnet als wir und wir haben oft Schläge bekommen. Da 
traten drei meiner Freunde und ich zusammen und berieten, wie diesem 
taktischen Mangel abzuhelfen wäre. Die drei Helden waren, soviel ich mich 
dessen erinnern kann, ein gewisser Ziegler, ein kleiner Hiller, Urenkel des 
alten Haudegens, der anno 1809 das IV. Korps und 18 13 die österreichische 
Südarmee führte, und Graf Robert Lamezan-Salins, jetzt Generalstabshauptmann. 
Alle drei sind vor dem Obergymnasium ausgetreten, aber ich habe sie noch 
in lieber Erinnerung. 

Wir beschlossen, um der Not des Vaterlandes ein Ziel zu setzen, eine 
Hoplitentruppe zu organisieren. Die Bewaffnung war folgende: Unter der 
Weste wurde mit dem Rücken nach vorn die griechische oder lateinische 
Grammatik aufgeklappt hineingeschoben, um *die Brust zu schützen. Ein 
Lexikon wurde auf den linken Unterarm geschnallt — der Schild des Ajax aus 
den sieben Rinderhäuten ist kaum dicker gewesen ? Unsere kurzen hölzernen 
Lineale wurden durch längere aus Eisen oder Messing ersetzt. Die Durch- 
führung der letzteren Maßregel wurde den Eltern gegenüber, die das Geld 
dazu hergeben mußten, durch einen angeblichen Wunsch des Mathematik- 
professors begründet. Es war Winter und wir beschlossen, die neue Bewaffnung 
in Verbindung mit dem Fernkampf der Schneebälle zu erproben. 

Unsere Vortruppe stellte auch bald den Feind im Volksgarten fest und 
das wohlbekannte »Als die Römer frech geworden« scholl uns aus einer 
befestigten Stellung hinter Schneehaufen entgegen. Hiller setzte sich gegen- 
über mit den Seinen fest, die anderen traten nebenan links und rechts in die 
Schützenlinie. Ich führte eine Umgehungsabteilung und erschien plötzlich in 

385 25 



der linken Flanke der Realschüler, schwang die blitzende Klinge des 
Lineals im Kreise über meinem Kopf und rief mit heller Kinderstimme: 
»Marsch, marsch!« und die Flankenabteilung stürmte. Auch Hiller sprang, 
seines Ahnen Tat bei Aspern wiederholend, aus der Deckung heraus und 
schrie: »Ein Hundsfott, wer noch schießt!« 

Und ein Handgemenge sondergleichen begann, in dem die neue Be- 
waffnung einen glänzenden Sieg erfocht. Die Reißschienen splitterten unter 
dem scharfen Hieb der eisernen Romerschwerter und mancher Finger wurde 
blutig gehauen. Da kam der Invalide vom Tempel gelaufen, ich steckte 
noch schnell meinen Gegner, mit dem ich keuchend rang, mit dem Kopf in 
einen Schneehaufen, und froh des erfochtenen Sieges trollten wir heimwärts. 

Es war dies unsere letzte Rauferei im Volksgarten, denn uns selber 
graute vor unseren Erfolgen. 

Aber nicht bloß dem braven Miltiades, sondern auch dem guten The- 
mistokles machten wir den Rang streitig. Wir lieferten auch einmal eine See- 
schlacht auf dem Teich oder Tümpel der Hochramalpe bei Purkersdorf, und 
zwar nicht gegen die Perser, sondern gegen das Leopoldstädter Gymnasium. 

Wir waren unser 6 oder 7 mit Erlaubnis der Eltern dahin ausgezogen, 
um zu rudern. Die Leopoldstädter ritten am Ufer auf gemieteten Eseln 
spazieren und waren noch stolzer als wir. Das ärgerte uns. Darum rief einer 
von uns aus dem Schiffe zu ihnen hinüber: »Seid uns gegrüßt, ihr Eseln von 
Brabant!« Die Leopoldstädter konnten sich das natürlich nicht gefallen lassen, 
und sie stiegen von ihren Eseln herunter in die geschnäbelten Schiffe, um 
uns anzurennen. Das ist manchem von ihnen sehr übel bekommen, obwohl 
sie in der Mehrzahl waren. Ich will aber nicht verschweigen, daß ich in 
jener Seeschlacht mit einem nagelneuen Sommeranzug bis über die Hüften 
ins Wasser fiel. 

Auch in den geheiligten Räumen des Gymnasiums selbst ist viel gerauft 
und gebalgt worden, daß oft der Staub aufstieg wie beim Reiterangriff. 
Aber man würde irren, wollte man glauben, unser einziges Interesse wären 
die Katzbalgereien gewesen. Sie waren vielmehr nur die notwendige Be- 
tätigung körperlicher Energie und die Entschädigung für das lange Still- 
sitzen, denn damals gab's noch keine obligaten Jugendspiele, und Tennis, 
Fußball u. s. w. waren in Wien noch so gut wie unbekannt. 

Auch die ärgsten Schlingel unter uns hatten viele höhere Interessen. 
Cäsar und Livius freuten uns und mir war das höchste die Naturgeschichte, 
das Sammeln von Insekten, der Umgang mit Hunden, Pferden und Katzen, 
oder gar mit wilden Tieren, sowie die bildende Kunst, die mir freilich noch 
das verschleierte Bild zu Sais war. 

386 



Im Eltemhause war — außer in den Ferien, wo ich Schmetterlinge 
jagte, auf Bäumen und Felsen kletterte und des Vaters Pferd in die 
Schwemme ritt — wenig Anregung für mich zu holen. Denn außer meinen 
Lehrbüchern bekam ich nur alle 14 Tage eine Lieferung von Corvins illu- 
strierter Weltgeschichte zu Gesicht, sonst aber nur die blödsinnigsten Jugend- 
schriften, deren geistiger Tiefstand mir damals schon Ekel einflößte. 

Dafür war das Haus meines mütterlichen Großvaters für mich ein 
Paradies. Mein Großvater war des Kaisers Leibkammerdiener und kaiser- 
licher Jagdleiter, Forstmann von Beruf, und diente seinem kaiserlichen Herrn 
seit dessen viertem Lebensjahre. Er war einer der erfahrensten Weidmänner 
Österreichs und noch im hohen Alter ein fürtrefFHcher Schütze. Er wohnte 
in jenem alten Hause auf dem Ballhausplatz (Nr, 6), das durch Schwibbogen 
mit der Burg und dem Ballhaus verbunden war und vor einigen Jahren 
zugleich mit dem Ballhaus abgerissen wurde. Seine Wohnung war voll Jagd- 
trophäen und gute Bilder und Kupferstiche von Gauermann, Pausinger, 
Ridinger und andere herrliche Dinge hingen an den Wänden. Außerdem 
war er Entomologe, besaß große Sammlungen, die mir stets offen standen, 
eine reiche Bibliothek wissenschaftlicher Werke und war ein Kunstfreund. 
Künstler und Gelehrte gingen bei ihm aus und ein. Zu einer Zeit, da in der 
Naturwissenschaft, namentlich in der Entomologie, noch vielfach die trost- 
loseste Systematik herrschte, wies er voll Verständnis auf die Bedeutung 
des Biologischen hin und war ein Mitkämpfer jener biologischen Bewegung, 
die von Brehm ausging. 

Meine Sonntage verbrachte ich stets bei ihm, und sie waren Festtage 
für mich. Denn erstens kriegte ich etwas Besseres zu essen als zu Hause, 
und zweitens war ich viel mit ihm allein und durfte ihn fragen, was ich 
wollte, ohne je eine abweisende Antwort zu bekommen. Dann erzählte er 
auch wohl von seinen Feldzügen, vom Feldmarschall Radetzky, vom Oberst 
Kopal und dem Sturm auf St Lucia, oder wie er anno 49 mit seinem jungen 
Kaiser über die brennende Brücke bei Raab geritten. Oder er unterwies 
mich in der Unterscheidung der Hirschfahrten, in der Handhabung des 
Gewehres und der Saufeder, zeigte mir seine Pulverhörner und machte aus 
Pulver einen Speiteufel, so daß die ganze Wohnung nach Pulver roch und 
die Großmutter schimpfte. 

Dann pflegte er zu sagen: »Der Max muß auch einmal Pulver riechen«, 
und seine grauen Habichtaugen leuchteten hell unter den buschigen Brauen. 

Aber auch Kunstschätze besaß er : Gute alte Möbel, chinesische Malereien 
und ein Buch, in das Kupferstiche alter Meister eingeklebt waren. Über 
diesem Buche saß ich oft stundenlang, hielt mir die Ohren zu, daß mich 

387 25* 



niemand störe und bestaunte mein Lieblingsbild, Albrecht Dürers »Ritter, 
Tod und Teufel.« 

Meiner Mutter war das nun gar nicht recht, daß ich mich in dieses 
alte Bild so verbohrte, und sie schalt mich, daß ich nicht lieber etwas »Nütz- 
liches« tue, anstatt das abscheuliche Bild anzuschauen, von dem kein Mensch 
weiß, was es bedeutet. Da lachte der alte Herr in seinen graurötlichen 
Schnurrbart und meinte: »Das wird dem Buben schon nützlich sein, der 
weiß es selbst vielleicht besser als wir, was ihm gut tut.« 

Das war mein Großvater! 

Wenn ich von der Lehrzeit bis zur V. Klasse nichts erwähne als die 
paar Bubenstreiche und das Milieu im Hause des Großvaters, so geschieht 
dies, weil bis dahin alles glatt gegangen war und in meiner Erinnerung sonst 
wenig haften geblieben ist Ich war trotz mancher Plage ein glücklicher 
Bub, ich hatte im Sommer goldene, ungetrübte Ferien, und immer noch 
eine anständige Sittennote, ich hatte wackere, treue Freunde unter den Mit- 
schülern, und das Schicksal hatte bis dahin noch niemals rauh in mein Leben 
eingegriffen. 

Um so rauher sollte es mich in der V. Klasse mitnehmen. Nicht, daß 
jenes Jahr meiner Gymnasialzeit ganz unerfreulich gewesen wäre. Im Gegen- 
teil. P. Stephan war wieder unser Ordinarius. Er lehrte uns Mineralogie und 
Botanik. In seiner eindringlichen, sachlich schlichten und vornehm wissen- 
schaftlichen Art lehrte er uns die Schätze der Erde kennen, mit weitem 
Blick auf andere Fächer, Chemie und Geographie, übergreifend. Ich war 
sein bester Schüler in diesem Jahrgang und gewissermaßen sein Assistent, 
und ein Blitz aus seinen Augen beglückte mich, wenn ich eine schwierige 
Kombination von Kristallformen richtig auflöste und die Formel dafür fand, 
oder selbst eine Frage an ihn richtete, die mir zum tieferen Verständnis 
nötig schien. 

Im Griechischen hatten wir das Glück, mit P. Klemens Kickh Homer 
zu lesen. Hier trat uns zum ersten Male die wahrhaft künslerische Inter- 
pretation eines alten Klassikers entgegen. Noch sind mir die Stunden in 
froher Erinnerung, da er die Einleitung gab, und da wir von Hektors Ab- 
schied lasen, 

»Der für seine Hausaltäre 
Kämpfend fiel, ein Schirm und Hort; 
Auch in Feindes Munde fort 
Lebt noch seines Namens Ehre.« 

Auch darf nicht des ausgezeichneten Unterrichtes in der deutschen 
Metrik vergessen werden, der uns durch P. Columban Welleba zuteil wurde, 

388 



und der vergnügten Augenblicke, die wir erlebten, wenn er uns eine Schiller- 
sche Ballade vorlas, z. B. den »Handschuh«. Dabei hat er uns zu unserem 
höchsten Gaudium sämtliche beteiligten wilden Tiere vorgemacht. 

Doch es war auch ein neuer, ganz junger Professor auf dem Plan er- 
schienen, der jetzige Herr Direktor, der uns in der V. und VI. Klasse im 
Latein unterrichtete, mit dem ich gelegentlich des Jubiläums einen ehren- 
vollen und ehrlichen Frieden geschlossen habe, der auf gegenseitiger Wert- 
schätzung beruht. 

Wenn wir damals auf dem Kriegspfade wandelten, so war's eigentlich 
weder seine noch meine Schuld, sondern wie mir's jetzt nach 24 Jahren vor- 
kommt, die Schuld eines gewissen Marcus Tullius Cicero, den die Romer 
zwar den Vater des Vaterlandes nannten, den ich aber trotzdem nicht leiden 
kann. Wenn er noch lebte, würde ich, so wie es einst geschehen ist, auf 
seinen Kopf einen hohen Preis aussetzen, damit er keine Reden mehr hält 
oder schreibt. Cicero und der Verfasser des deutsch-lateinischen Übungs- 
buches Dr. Süpfle waren es, die uns entzweiten. 

Dazu kam noch vor Ende des I. Semesters eine fürchterliche Kata- 
strophe, die mir mein Zeichnen eintrug. Ich verstieg mich nämlich zu Bild- 
nissen meiner Professoren, die nach und nach zu Zerrbildern wurden, zu 
denen mich die Freude am Charakteristischen verleitete. Diese Karikaturen 
fanden reißenden Absatz in den Reihen der Mitschüler, und einer, dem ich 
ahnungslos vertraute, sammelte an 80 Blätter und lieferte sie dem Direktorat 
aus. Da zog sich ein schweres Gewitter über meinem schuldigen Haupte 
zusammen. Mein Vater wurde zitiert und ihm eröffnet, dafl ich mit genauer 
Not dem Consilium abeundi entgangen war. Ein »Entsprechend« in Sitten 
war die Folge, das ich nun bis in die VIII. Klasse nicht mehr losbrachte. 

Der Ephialtes, der mich verraten, wurde zwar von der Klasse halb 
gelyncht, aber das Wohlwollen vieler meiner Lehrer hatte ich auf einige 
Zeit gründlich verscherzt. 

Da traf mich gleich zu Anfang des II. Semesters der V. Klasse ein 
noch schlimmerer Schlag: Mein Großvater, die Sonne meiner Knabenzeit, 
ward totkrank und legte sich zum Sterben nieder. Noch in den letzten 
Tagen hat er mir so viel Liebes und Gutes erwiesen und immer so ernst und 
gütig zu mir gesprochen, daß ich nur mit Rührung, daran denken kann. 
Jedesmal hatte er noch ein Geschenk für mich, Gegenstände, die ihm teuer 
waren, die Schädel erbeuteter Tiere, Bücher, Steine und exotische Käfer. 
Am 12. März war's, da ging's ans Sterben. Da kam noch der Kaiser, um 
seinem alten Diener und Weidgesellen Lebewohl zu sagen, und am 13. 
morgens, als ich zur Schule ging und an der Tür die bange Frage tat, 

389 



erhielt ich die Auskunft: »Heute mittags, wenn du wieder kommst, wird er 
nicht mehr sein!« 

Da saß ich auf meiner Schulbank und ließ Kopf und Ohren hängen, 
und es war mir im höchsten Grade gleichgültig, was vorging. Neben mir 
saß Ephialtes, dem das ebenso gleichgültig war, und versuchte es zwei- oder 
dreimal, sich mit einigen schalen Witzen wieder bei mir anzubiedern. Ich 
reagierte nicht darauf, und als er das viertemal herankam, gab ich ihm 
mitten in der Lateinstunde in meiner Verzweiflung eine solche Ohrfeige, 
daß er zur Bank hinausfiel. 

Professor Anton Sauer war natürlich nicht entzückt darüber, denn das 
war auch in unserer berüchtigten Klasse noch nicht vorgekommen. Er be- 
fahl mir, mich hinauszustellen. Da bäumte sich mein Stolz unbändig auf und 
ich sagte »Nein« und blieb sitzen. Ein saftiger Eintrag ins Klassenbuch 
war die Folge dieser Gehorsamsverweigerung. 

Als ich auf den Ballhausplatz kam, hatte ich zur selben Stunde meinen 
Großvater verloren. Die Affare in der Schule schien mir nichtig und gering 
beim Anblick des lieben Toten, den ich tränenlos anstarrte, von schluchzenden 
Verwandten umgeben. War's doch das erste Mal, daß der Tod nahe an mir 
vorbeigegangen, sein Opfer fordernd. 

Aber es sollte noch schlimmer kommen. Den nächsten Tag saß ich 
wieder verstimmt auf meiner Schulbank. — Erste Stunde: Griechisch. — 
Professor Klemens kommt und schlägt das Klassenbuch auf; er liest kopf- 
schüttelnd die Notiz. Er hatte meinen Großvater gekannt, ihn hochgeschätzt 
und bereits von seinem Tode vernommen. 

Er blickte auf, sah mich durchdringend an, und sprach mit einer Schärfe, 
die wir sonst nie von ihm gehört: »Liebenwein! Ich habe Sie bis heute trotz 
alles Unfugs für einen guten Jungen gehalten! Ich scheine mich getäuscht 
zu haben; in derselben Stunde, da Ihr edler Großvater mit dem Tode ringt, 
können Sie eine Roheit begehen! Pfui!« — Das war zu viel auf einmal! 
Auch des gütigsten aller Lehrer Achtung verscherzt! Da brach ich weinend 
zusammen, der gestern noch mit Trotz gewappnet war. Ich bin dann nach 
der Stunde zu ihm in die Wohnung gegangen und habe ihm mit erstickter 
Stimme erzählt, wie alles gekommen war. Da zog er mich liebreich an sich 
und fuhr mir mit der milden Hand leise über meinen kurzgeschornen Kopf 
und sprach: »Sie sind doch ein guter Junge! Aber seien Sie nie gewalttätig! 
Geschrieben steht: Selig sind die Sanftmütigen!« Seine Stimme klang wieder 
wie sonst so weich und seine blauen Augen leuchteten, und an der Brust 
des alten Hofpredigers habe ich den ersten großen Schmerz meines Lebens 
ausgeweint. 

390 



Wenn es in diesem Jahre noch glimpflich ablief, so ereilte mich doch 
infolge neuer Streiche die längst angedrohte und gefürchtete Wiederholungs- 
prüfung aus Latein am Ende der VI. Klasse mit der schönen und ver- 
lockenden Aufgabe, das ganze Werk Cäsars »De bello civili« in den Ferien 
zu übersetzen. — Heute weiß ich, daß mir das sehr gesund gewesen ist, 
denn ich bin noch ein recht guter Lateiner geworden und habe mit »Lobens- 
wert« im Lateinischen maturiert. 

Mit einer ungeheuren Energie ging ich ans Werk, schon um meine 
Eltern, die mich entgleist sahen, zu versöhnen, und bis zum i. September 
hatte ich den ganzen Bürgerkrieg verdaut. Denn zu Egydi hatte ich was 
Wichtigeres zu tun: Die Hirschbrunft, die um diese Zeit beginnt, war der Grund 
meines Fleißes, und ich schlich nun mit den Forstadjunkten auf den Almen 
umher, um der Hirsche Schrei durch den Nebel zu hören, lederbehost, mit 
einer frechen Feder auf dem Hute. 

Die Nachprüfung bestand ich glänzend. 

Bevor ich hier weiter berichte, sei es mir erlaubt, kurz drei Elemente 
zu charakterisieren, die neben den Professoren im Leben eines Schülers die 
wichtigste Rolle spielen und es versüßen oder auch versalzen können. Das 
sind: Erstens die Mitschüler, zweitens die Eltern und drittens der obligate 
Hauslehrer, den Eltern, die dem Fortgang ihrer studierenden Söhne selber 
nicht folgen können, deiT Kindern aufs Genick zu setzen pflegen. 

Meine Mitschüler kann ich nur loben. Trotz unserer Ausgelassenheit 
herrschte in der Klasse ein sehr guter Geist. Fälle von Roheit sind kaum 
vorgekommen und eisernes Zusammenhalten — alle für einen, einer für 
alle — war uns eine ritterliche Pflicht. Angeberei ist seit dem üblen Streiche 
des Ephialtes nie wieder vorgekommen. Unsere Lehrer hätten sie auch in 
keiner Weise begünstigt, und die ganze Klasse hätte sich eher ermorden 
lassen, bevor einer den Mund aufgetan hätte zum Verrat. 

Ihr lieben alten Freunde! ich kann euch nicht alle nennen, aber einige 
von euch muß ich doch begrüßen an dieser Stelle! 

Da grüß ich vor allen dich, du sprühender Geist, voll treffsicheren 
Witzes, erfindungsreicher Lederer, gegen den Odysseus ein Waisenknabe 
war! — Dich auch, alter Walzl, der mit mir denselben Weg zur Schule 
ging, und mit dem ich, Kirschen und Marillen essend, in den Bäumen der 
Falknerei des Belvederes saß, wo wir manchen Streich ausheckten! Auf dem 
steinernen Rücken barocker Gartensphinxe reitend, zwischen gestutzten 
Hecken schleichend haben wir dort im Garten Prinz Eugens, des edlen 
Ritters, manch goldenen Traum geträumt! Euch grüß ich, ritterlicher 
Mingazzi und gutmütiger Hänisch, in dessen Vaterhause noch die schöne 

391 



Altwiener Sitte edler Kammermusik gepflegt wurde! Euch, Albert und 
Hoffmann, ihr Professorenkinder, durch die ich mit medizinischer Wissen- 
schaft in Berührung kam, dich, kleiner Mayr, der als Bezirkshäuptling jetzt 
irgendwo durch Bosniens grüne Berge reitet, und dich, Dr. Schnitzer, jetzt 
Bezirksarzt in Wiener-Neustadt, der unerkannt als bester Mathematiker unter 
uns wandelte, was vielen bei der schriftlichen Matura zum Heile gediehen ist. 

Ferner dich, guter Kamerad, Muster eines Primus für alle Zeiten, Gustav 
Ritter von Thaa, du Vorbild der Pflichttreue, und endlich euch beide, ihr 
Freunde meines Herzens, mit denen ich so lang zusammen kam, bis uns 
Lander, Beruf und Meere trennten: Egon von Pflügl und Ernst Luban, nun 
selbst ein Erzieher der Jugend 1 Im ganzen waren wir über 30, am Schlüsse 
34, von denen 3$ die Prüfung bestanden haben. 

Nun die Eltern! Das ist oft ein sehr schwieriges Kapitel. Denn jeder 
Lehrer weiß, daß es nebst solchen Eltern, die vernünftig genug sind, sich 
von ihren Kindern ein klares Bild machen zu können, noch zweierlei 
Gattungen Eltern gibt: Die einen sind stets die Verteidiger ihrer Rangen, die 
andern fühlen sich stets als Staatsanwälte. Ersterer Gattung gehorte meine 
gute Mutter an, der zweiten Gattung mein Vater. 

Mein Vater war Kaufmann in einem Landorte Niederösterreichs und 
kam nur einmal in der Woche auf zwei Tage nach Wien, um nachzusehen, 
seine eiserne Strenge und eine Atmosphäre der Bedrückung mit sich bringend. 
Daher empfand ich in jungen Jahren nie das Gefühl der Freude, wenn er 
kam. In seinen Augen hatten wir grundsätzlich immer unrecht, selbst dann, 
wenn auch der Dümmste einsehen mußte, daß wir recht hatten. Er war der 
Pater familias im strengen romischen Sinne, und seine Autorität zu wahren 
war für ihn die Hauptsache im Familienleben. Das Geschäft, einseitige 
Zeitungslektüre und die große Liebe zum Sparpfennig hatten ihm alle Poesie 
aus Leben und Sprache verdrängt. Doch hat er mich nie geschlagen, war 
gütig gegen Notleidende und' gegen Tiere, und die Liebe zur Alpenwelt 
und Touristik verklärte ihm seine freie Zeit, so viel dies bei seinem nüchternen 
Charakter möglich war. Dabei liebte er mich und war innerlich auf mich 
sehr stolz, machte mir aber, wo er konnte, das Leben sauer. 

Die Mutter war, wie bei der übermäßigen Strenge des Vaters nur 
natürlich, immer der Verteidiger, und bei ihr hatten immer die Professoren 
unrecht. Ich wußte diese Eigenschaft, wenn ich ein »Nichtgenügend« heim- 
brachte, weidlich auszunützen, um mein Leben angenehmer zu gestalten. Im 
übrigen war sie mit ihrer vormärzlichen Mädchenschulbildung der Aufgabe 
nicht gewachsen, zwei Sohne, von denen einer die Universität, der andere 
das Obergymnasium besuchte, zu beaufsichtigen. Sie sperrte deshalb, um 

392 



sicher zu gehen, samtliche im Hause vorhandenen Bücher ein, upi uns vor 
allem den Storchenglauben zu bewahren, und uns vor der Demoralisation 
durch die deutschen Klassiker' zu schützen, die in ihren Augen alle »un- 
passend« waren. Weil ich sehr schnell und leicht lernte, und nach ihrer 
Meinung zu viel zeichnete, obwohl sie auf meine ziel- und planlose Zeichnerei 
unmäßig stolz war, mußte mir der Hauslehrer Extraaufgraben geben, damit 
ich den ganzen Tag beschäftigt war. Ich konnte also mit Fug und Recht 
von Überbürdung sagen. 

Der Hauslehrer! Noch seh ich ihn vor mir, den armen, lieben, guten 
Menschen, mit dem Papierkragen und dem abgetragenen Salonrock über 
dem Jägerhemd, oft im Winter vor Kälte zitternd, denn sein Röcklein war 
so dünn! Er hatte einen roten Bart und eine noch rötere Nase, war ein sehr 
tüchtiger Philologe und konnte vielleicht gerade deshalb meine Vorliebe für 
die Naturgeschichte nicht begreifen. Wie oft hat der Gute, wenn er über 
Ciceros Phrasen in Verzückung geriet, mich unaussprechlich gelangweilt! 
Aber wie oft hat er mich auch gegen meinen Vater in Schutz genommen 
oder mir im Schweiße seines Angesichts bei Mathematikaufgaben geholfen! 
Und das war keineswegs sein Fach und auch nicht seine Pflicht und eine 
schwere Anstrengung für ihn! 

Wir haben uns gern gehabt und alles Gute sei ihm unvergessen! 

Das war also meine Umgebung, als ich zu meinem Heile in der sechsten 
Klasse in die Hände meines lieben und hochverehrten Freundes und Lehrers 
Professor Hugo Mareta, kam, der an mir vollbrachte, was die Familie nie 
gekonnt hätte: die Erziehung zum Manne. P. Stephan war zwar wieder 
unser Ordinarius, aber das Ereignis dieses Jahres war Hugo! Wir kannten 
ihn schon vom Sehen aus und ein Ruf war ihm vorausgegangen, der wie 
ein schneidiger Wind vor ihm herblies. 

Wir sollten den schneidigen Wind auch gleich in der ersten Stunde zu 
spüren bekommen: 

Meine Klasse war der erste jener unglücklichen Jahrgänge, denen durch 
einen ungeschickten Versuch des Unterrichtsministeriums das Mittelhochdeutsch 
entzogen war. Und so eröffnete Professor Hugo den deutschen Unterricht mit 
einer gewappneten Rede gegen die neue Verordnung, so voll Witz und Schärfe, 
daß sie sein Liebling Abraham a Santa Clara nicht besser hätte halten können. 

Wenn es einen Maria Theresien-Orden für Schulmänner gäbe, den man 
bekommt, wenn man zum Nutzen der Allgemeinheit gegen den Befehl 
handelt, P. Hugo hätte ihn mehr als einmal verdient; denn unkluge Ver- 
ordnungen hat er immer als Luft betrachtet und ist ruhig zum Heile der 
ihm anvertrauten Jugend den Weg gegangen, den er für gut fand. 

393 



i 



Wie lauschten wir Buben und wie zwinkerten wir uns lustig mit den 
Augen zu, wenn er einen seiner glänzenden Witze machte! Und uns Laus- 
buben auf den letzten Bänken liebte er besonders. Die, die blitzende Augen, 
rechtschaffene Fäuste und eine laute Stimme hatten; die ihm offen ins Ge- 
sicht sahen, nicht allzubrav waren und ein gutes Deutsch schrieben, die 
hatten es bei ihm gewonnen! 

Wie zersplitterten vor ihm alle Scheingroßen in tausend Scherben, wie 
erbarmungslos zog er gegen jede Schwäche des Geistes und des Charakters 
zu Felde! 

Er wußte die Bildungsmöglichkeiten der Großstadt für seinen Unter- 
richt meisterhaft zu nützen und verlangte von uns kategorisch den Besuch 
des Burgtheaters und der öffentlichen Sammlungen. Mich und viele andere, 
die zu Hause noch wie Wickelkinder gehalten wurden, obwohl wir physio- 
logisch das Alter der Mannbarkeit bereits erreicht hatten, befreite er dadurch 
aus der geistigen Knechtschaft des Vaterhauses, die ich um so tiefer empfand, 
als ja mein Großvater nun tot war, und mein junges Herz hat dem Befreier 
zugejubelt, wie es noch heute tut, wenn ich seiner gedenke! 

Seine nähere Bekanntschaft beim Examinieren machte ich zuerst im 
Deutschen. Er sah mich lange und scharf vom Kopf zum Fuß musternd an 
und sagte dann — denn auch mir war Frau Fama vorausgeflogen — mit 
verhaltenem Lachen: »So, das ist also der berühmte Liebenwein!« 

Als er mich im Verlauf des Examens durch keine seiner gefürchteten 
»Verständnisfragen« aus dem Sattel gehoben hatte, nickte er beifallig und 
sagte: »Na, aufs Hirn und auf den Schnabel g'falln sind wir alle zwei nicht!« 
Von diesem Tage an liebten wir uns und so ist es auch geblieben. 

Und jeder Tag brachte nun Überraschungen und ich ging so gern zur 
Schule wie noch nie. Was war das für ein Festtag, wenn eine deutsche 
Schul- oder Hausarbeit zurückkam! Freilich, für manchen meiner Mitschüler, 
besonders in den vorderen Reihen, oft ein Tag des Zornes und des Schreckens; 
denn seit Professor Hugos Regiment hatte eine »Umwertung aller Werte« 
angefangen. Wie lustig war es, wenn der Stoß Hefte vor ihm lag und der 
vernichtende Feldzug gegen alles schlechte Deutsch, gegen Zeitungs- und 
Amtsschimmelstil, Gartenlaubenstil und Backfischstil, gegen alle »diesbezüg- 
lich«, »anläßlich«, »vorstehend«, »nachstehend« und »umstehend«, gegen die 
»Gemeinplätze« und »Bandwurmsätze«, die Inversion mit und, gegen die 
»Jetztzeit«, das »Platzgreifen« und »Hint-ansetzen« begann! Es gab ein 
ganzes Verzeichnis verbotener Dinge: Adam und Eva, Demosthenes, das 
arme Reh in Winterschilderungen, patriotische Kundgebungen am Schlüsse 
eines Aufsatzes u. s. f. 

394 



Am kostlichsten aber waren die Randbewerkungen, eines der wichtigsten 
Erziehungsmittel dieses erlauchten Geistes. Sie gemahnten an die Rand- 
bemerkungen der aufgeklärten Despoten des XVIII. Jahrhunderts, an das 

»Liebe Frau von Kemeter 
Näh 1 sie lieber Hemeter« 

Kaiser Josef des II., und an das klassische 

»Der Rittmeister von Blücher kann sich zum Teufel scheren« des alten 
Fritz. 

Da stand z. B. auf dem umgebogenen Rande des Heftes zu lesen : 

»Gartenlaube! Pfui Teufel!« 
oder: 

»Gemeinplatz! Gemeinplätze und öffentliche Meinungen sind private 
Faulheiten!« 

Dann wieder bloß ein lakonisches »Uü«, »Uijegerl!« oder »Au weh!« 
oder die Frage; 

»Sind Sie ein i4jähriger Backfisch oder vielleicht gar eine höhere 
Tochter?« 

Ich will nur einen konkreten Fall erwähnen, der mich selbst betraf. 
Mein Lieblingsdichter war damals Scheffel und ich ahmte ihn einmal in einer 
Schularbeit aus Leibeskräften nach. Als die Arbeit zurückkam, stand darunter: 

»Kaum genügend!« 

»Scheffeln S* nicht so! Hätten Sie weniger gescheffelt, so hätten Sie eine 
bessere Note bekommen. Nachahmung fremder Art ist immer schimpflich, 
verfehlt und unwürdig. Goethe sagt: Das höchste Glück ist die Persönlichkeit!« 

Diese Korrektur habe ich mir für mein Leben gemerkt und die darin 
enthaltene künstlerische Wahrheit auch auf meinem Gebiete — der bildenden 
Kunst — zu meinem Heile befolgt. Wie kläglich nimmt sich dagegen der 
armselige Rat eines meiner akademischen Lehrer aus: ich solle mich stets 
vor dem Einschlafen mit großen Gedanken beschäftigen! Von jener Korrektur 
aber gelten für mich die Verse Liliencrons: 

»Schwamm ich viele Jahre lang 
Steuerlos im Leben, 
Hat mir heut' der scharfe Gang 
Wink und Ziel gegeben!« 

Den höchsten Triumph feierte Hugos Lehrkunst bei der Lektüre des 
Nibelungenliedes, das wir ja doch nur in Inhaltsangaben und »Verwässe- 
rungen« lesen sollten. Denn er half nach und las uns die schönsten Stellen 
aus dem Urtext vor, oder zitierte sie aus dem Gedächtnis; und da geschah 

395 



etwas, das uns noch nie geschehen war: Des Liedes Recken, durch die neue 
Verordnung verdammt in den Gräbern zu schnarchen, wuchsen lebendig aus 
ihrer Gruft hervor und schritten gewaffhet durch die Schulstube. Und mit 
ihnen wuchs des Lehrers Gestalt auf zur Reckengroße! 

»Breit was er zen brüsten, die bein ihm waren lang, 
und eislich sein gesihene, er hete h£rlichen gangl« 

Das große Lied hat mich seit jenen Tagen durchs Leben geleitet, ich 
kann's heute halb auswendig, und wenn ich eine Donaureise mache, so ge- 
hört die Ausgabe von Bartsch und Pfeiffer stets zu den Inventargegenständen 
meines Rucksacks. Mein Leben lang werd' ich mich freuen, daß uns in 
alten Maeren so »wunders viel geseit«. 

An unserem Verhältnis zu P. Hugo ist eines merkwürdig gewesen. 
Trotz der schwärmerischen Verehrung, die wir ihm entgegenbrachten, machte 
unsere Lust nachzuahmen und auch meine sogenannte Zeichenkunst vor ihm 
nicht halt wie vor P. Stephan, an den sich diese Künste nie herangewagt 
haben. Aber es war niemals der leiseste Spott in diesen Äußerungen des 
jugendlichen Übermutes enthalten, im Gegenteil: sie waren stets eine Art 
Huldigung für ihn, so wie etwa die Karikaturen des »Kladderadatsch« und 
Juchs Zeichnungen im Wiener »Figaro« stets eine Huldigung für den alten 
Bismarck waren. Er war in diesen Darstellungen immer der sieghafte Recke 
und Kämpfer, der mit allem geistigen Unfug gründlich aufräumt. 

Das Schuljahr 1884/85 ist das letzte gewesen, in dem Professor Stephan 
mein Lehrer war. Ich bin wieder wie das Jahr vorher sein Assistent ge- 
wesen, sein Lieblingsjünger, wenn ich so sagen darf. Von den schwächern 
Schülern streng den vorgeschriebenen Lehrstoff fordernd, ist er mit uns 
andern, die Interesse zeigten, oft über diese Grenze hinausgegangen und 
vollendete nun mit der Zoologie und der Anatomie des Menschen das stolze 
Gebäude, das er im Vorjahr begonnen. Alles auf vergleichende Anatomie 
gründend, nahm er oft, um die Reihe der Wesen zu schließen, die Paläonto- 
logie zu Hilfe, ließ uns tiefe Blicke in die Entwicklungsgeschichte tun, und 
vor uns taten sich die Wunder des biogenetischen Grundgesetzes auf, die 
Wunder der Anpassung und der Mimicry. Die Naturaliensammlung hatte er 
in den wenigen Jahren, seit er ihr Leiter war, auf den Stand moderner 
Wissenschaft gebracht, und in der richtigen Erkenntnis, daß in der Natur- 
geschichte alle reine Büchergelehrsamkeit tot ist und dem Wissen stets das 
Sehen und Erkennen vorausgehen muß, als eine Neuerung die Sektion 
frischer Tierkadaver, von der Teichmuschel angefangen bis zum Kaninchen, 
in der Schule eingeführt. Wie zierlich und sicher führte er das Messer bei 
der Sektion! und vor keiner Wahrheit zurückschreckend, scheute er sich 

396 



keineswegs, auch die Geschlechtsteile zu zergliedern und als anatomisches 
Merkmal der einzelnen Tierklassen mit in Betrachtung zu ziehen. 

Noch ist mir die letzte Stunde im Gedächtnis, die er bei uns gewesen. 
Die Anatomie des Menschen war durchgenommen, und nachdem er einen 
groß gedachten Rückblick über das ganze Wissensgebiet gegeben, kam er 
auf das im Lehrbuch fehlende Kapitel zu sprechen. 

»An den Storch glaubt von Ihnen keiner mehr,« begann er, »dafür 
habe ich schon von der Botanik an gesorgt. Aber an Stelle des Aberglaubens 
hat der Gebildete in einer so ernsten und heiligen Sache die Pflicht, das 
Wissen zu setzen!« Mit hohem Ernste gab er dann in kurzen Umrissen jene 
Aufklärungen, die heute die moderne Pädagogik im Kampfe gegen die 
herrschende Prüderie so gebieterisch verlangt, und die erst vor kurzem ein 
rückschrittlicher Minister in Preußen von neuem verboten hat, nachdem sie 
versuchsweise schon eingeführt waren. 

Ich seh* ihn noch vor mir auf dem Katheder stehen. Sein Antlitz 
leuchtete im Bewußtsein einer edlen Tat. — Er stand wie ein Heiliger! 

Von dem heiligen Ernste der Wissenschaft muß ich aber auf etwas 
Lustiges kommen. Die geistlichen Lehrkräfte des Stiftes reichten damals 
nicht ganz aus, und so hatten wir im Griechischen einen weltlichen Supplenten. 
Dieser hatte den gleichen Namen mit einem der geistlichen Professoren und 
wurde deshalb von uns Buben, um Verwechslungen vorzubeugen, »Antonius 
Civilis« zubenannt. Seine Stellung bei uns war keine beneidenswerte, denn 
wir belustigten uns damit, ihn zu ärgern, wo wir konnten. Sein Fehler war 
eben, daß er sich allzu leicht und zu sichtbar ärgerte. Eines Tages hatte ich 
eine schöne Abbildung des Felsentempels von Abu Simbel gesehen und 
die vier Steinkolosse am Tempeleingang machten auf mich einen tiefen Ein- 
druck. Als ich nun den nächsten Tag in die Schule kam, da hatte Antonius 
Civilis den Bart unten viereckig genau so wie ein ägyptischer Konig gestutzt, 
und in seiner steifen Haltung glich er auf ein Haar jenen Kolossen. Also ein 
Stück Papier her und dem Antonio Civili die Doppelkrone von Ober- und Unter- 
ägypten aufs Haupt gesetzt! Das Bild war nicht geschmeichelt, aber schreiend 
ähnlich und ich grinste, befriedigt durch mein Werk. Darunter aber schrieb ich: 

»König Da — Schau — Den — An, 
Sohn des Schau — tma — Da — Her, 
Aus der Dynastie der — « 

Hier wurde ich in meiner löblichen Tätigkeit von Antonius Civilis 
unterbrochen. 

Mein Glück war dabei, daß er mich nicht eine Minute später erwischt 
hat, denn ich wollte einen sehr respektlosen Ausdruck schreiben. 

397 



Die nächste Stunde war das schöne Bild bereits in den Händen Pro- 
fessor Stephans, der es dem Katalog entnahm und emporhielt, indem er sich 
mähte, ernst zu bleiben. Es entspann sich folgender Dialog: 

»Was haben Sie denn da schon wieder gemacht?« 

»Ich habe in der Griechischstunde einen ägyptischen Konig gezeichnet.« 

»Sie! der ist aber wenig königlich! Und welcher Dynastie sollte Seine 
Majestät angehören?« 

»Es ist mein größtes Glück, daß sie noch nicht draufstand.« 

»Dann will ich nicht indiskret sein und Sie auch zu keiner Unwahrheit 
verleiten! Mir genügt Ihre Auskunft vollkommen! Also lassen Sie sich bei 
der Erforschung ägyptischer Geschichte nicht mehr erwischen, und treiben 
Sie in jeder Stunde nur den vorgeschriebenen Gegenstand. Es könnte sonst 
der Tag kommen, wo der Krug zum Brunnen geht!« 

Daß ich dieses Jahr im Griechischen keine besonders guten Zeiten mehr 
hatte, brauche ich kaum zu erwähnen. 

In jenem Jahre, das ich füglich als das Ende meiner Bubenzeit be- 
zeichnen kann, ist außer der Bekanntschaft mit P. Hugo noch etwas ge- 
schehen, das gestaltend in mein Leben eingriff: Das »Ewig- Weibliche« trat 
in den engen Gesichtskreis des Knaben. 

Ich berichtete früher schon, daß P. Hugo uns den Besuch klassischer 
Stücke im alten Burgtheater kategorisch befahl. Und da habe ich in einer 
Vorstellung des »Götz von Berlichingen« an die Schauspielerin Stella Hohen- 
fels, die Georg, den Reiterjungen gab, mein Herz verloren; ja ich habe sie 
sogar angedichtet, was aber weiter keinen Erfolg hatte, als wenn der Mops 
den Mond anbellt. Ich erwähne diesen Vorfall, weil damals die Legende von 
St. Jörg, dem Drachentöter, im Zusammenhange mit Siegfried und der 
Nibelungensage zum ersten Male meine Phantasie gefangen nahm, und die 
ersten Keime meines Zyklus »St. Jörg, eine fromme Märe«, der im Jahre 
1904 vollendet ins Leben trat, in diese ferne Kinderzeit zurückreichen. 

Fräulein Stella Hohenfels ist aber schon im Dezember 1884 von dem 
Throne der Anbetung verdrängt worden, und zwar durch die Schwester 
eines meiner Mitschüler, die mir »herrlich in der Jugend Prangen« entgegen- 
trat, und in meinem Leben, ihr selber unbewußt, die Rolle des Schutzengels 
gespielt hat, der mich an Abgründen und Klippen vorbeigeführt hat 

Und ich schwur mir, als ich sie zum ersten Male gesehen, kein Lausbub 
mehr und ihrer wert zu seinl Es ist mir zwar nicht ganz gelungen, aber die 
Wahrheit des klassischen Schlußwortes des Faust: 

»Das Ewig- Weibliche zieht uns hinan!« 
hat sich doch bewährt: Ich war über Nacht zum Jüngling geworden und 

398 



habe ihr zu liebe manche Unart abgelegt und manches Gute getan; ja ich 
hätte für sie jede Heldentat vollbracht, wie Don Quixote für seine imaginäre 
Dulcinea von Toboso. 

Ich ahnte nicht, daß die VII. Klasse mir meine gymnasiale Leidenszeit 
bringen sollte, und damit im Zusammenhange die Entscheidung der wichtigsten 
Lebensfrage, der Berufswahl. 

Von meinen Eltern war ich für den ärztlichen Beruf bestimmt, und war 
vorläufig auch ganz damit einverstanden. Die Aussicht, Anatomie treiben zu 
können, schien mir verlockend, und der leidenden Menschheit helfen zu können, 
schien mir auch nicht übel. Aber es sollte anders kommen, und das kam so : 

In der VII. Klasse war unser Lehrer in Physik und Mathematik Pro- 
fessor Alfred Nitzelberger. Gegen die überwiegende Mehrzahl der Schüler 
gütig, ja nachsichtig, hatte er die Eigenschaft, in jeder Klasse ein paar 
Schüler »anzuspießen«, wie es der Wiener nennt. Diese verfolgte er dann, 
was im gründe genommen gar nicht so ernst gemeint war. 

Unter diesen Unglücklichen war ich. Ich hatte mir seine Abneigung in 
meiner Lausbubenzeit im Untergymnasium redlich verdient. 'Erstens durch 
vergnügtes Grinsen während des Unterrichtes, und zweitens dadurch, daß 
ich über seine »Kathederblüten« Buch führte und mich dabei erwischen ließ. 
Drittens war in jener von Ephialtes ausgelieferten Gemäldesammlung einige- 
male sein Bildnis vertreten, obwohl er es bei mir nicht bestellt hatte. 

So machte er mir das Leben in der Mathematik sauer und ich fand es 
auch ganz in der Ordnung, denn in der Mathematik war ich schwach. 

Aber in der Physik war es für mich, P. Stephans gewesenen Famulus, 
kränkend, von meinem Throne als Primus in Naturwissenschaften gestoßen 
zu sein. Als der Zensurzettel — damals eine neue Einführung — kam, war 
ich in der Physik noch gar nicht geprüft worden und im Zettel prangte ein 
unverdientes »Fast nichtgenügend«. 

Da tat ich, von meiner Mutter gehetzt, das Dümmste, was ich tun 
konnte: Ich beschwerte mich beim Direktor, und habe so selber die Ver- 
folgung heraufbeschworen. Ich wurde nun jeden Montag früh nebst den 
beiden anderen Lieblingen, die P. Alfred in unserer Klasse hatte, in Physik 
so lange examiniert, bis ich etwas nicht wußte, und dann hieß es: »Seh'ns, 
Sie vorlauter Bursch, Sie können halt doch nichts!« und ich bekam ein 
saftiges »Nichtgenügend«. 

Zu diesen kleinen Leiden kamen noch andere Umstände: in einer 
Familie, die ich im Sommer kennen gelernt, wurde ich unmäßig verhätschelt 
und bewundert, und in mir wurde ein recht unzeitgemäßer künstlerischer 
Hochmut großgezogen. 

399 



Dann lernte ich durch meinen Freund Luban einen verkrachten Maler 
kennen, der mich in der Klexerei mit Ölfarben unterwies, ohne selbst malen 
zu können, und meine bescheidenen Versuche, ganz unmögliche künstlerische 
Aufgaben mit meiner knabenhaften Geisteskraft zu lösen, überschwenglich 
lobte. Er schwätzte mir den Kopf voll und ewig kehrte die Phrase wieder: 
»Geben Sie doch das Studium auf, wozu brauchen Sie mit Ihrem Talent all 
das dumme Zeug!« 

Trotzdem traute ich der Sache nicht recht. Aber es waren noch andere 
Dinge, die mir zu denken gaben. Im Oktober 1884 hatte ich den Leichenzug 
Makarts gesehen. Es war dies wohl das einzige Mal, daß Wien wirklich am 
Grabe eines Künstlers trauerte; und in meiner Jünglingsphantasie hatte der 
lange Leichenzug und bald darauf die dem allgemeinen Besuche geöffnete 
Werkstatt des toten Meisters einen unauslöschlichen Eindruck hinterlassen. 

Sollt* ich's nicht auch versuchen, um die Krone hoher Kunst zu werben? 

Da kam im Frühjahr 1886 der Franzose Eduard Detaille nach Wien 
und malte auf der Terrasse der Falknerei im Belvedere, wo mein Freund 
Walzl wohnte, österreichische Soldaten. Er war mit Walzls Vater, dem 
Oberstleutnant von Walzl, von Paris her befreundet. 

Da nahm mich Walzl an einem Sonntag einmal mit, das zu sehen, und 
bat mich, einige Zeichnungen einzustecken. 

Detaille stand da und malte Farbenfleck an Farbenfleck mit französi- 
scher Virtuosität, ohne erst zu zeichnen, die Figur eines ungarischen In- 
fanteristen »prima« auf eine graue Leinwand. Wir sahen lange stumm und 
bewundernd zu. Dann ließ sich Detaille in einer Modellpause meine Zeich- 
nungen zeigen. Die Unterredung war komisch, denn ich konnte kein Wort 
französisch, und Detaille nur wenig deutsch. Walzl machte den Dolmetsch, 
wenn wir uns nicht verstanden. Endlich fragte er mich, was ich werden 
wolle. Ich sagte, mein Vater wünscht, daß ich Arzt werde. Drauf sagte 
Detaille, beinahe heftig: »Monsieur, Sie werden ein Maler!« 

Das gab mir den Mut, vor meinen Vater zu treten und ihn zu bitten, 
daß ich Maler werden dürfe. Ich äußerte dabei auch den Wunsch, vom 
Gymnasium auszureißen und den Gedanken sofort in die Tat umzusetzen. 
Da kam ich aber schön an. Ich erkenne es heute als weise und klug, daß 
mich mein Vater nicht einfach davonlaufen ließ in eine ungewisse, vielleicht 
kummervolle Zukunft. Was ich aber über die Kunst und die Künstler von 
ihm hören mußte, das machte mein Herz erzittern. Die Kunst, die geliebte 
Kunst, war ihm ein »brotloser, ein unnützer Beruf«, eine »Hanswursterei, un- 
würdig eines ernsten Mannes«. Die Künstler »Faulenzer, Nichtstuer, Aben- 
teurer, Taugenichtse«, »verkrachte Existenzen, so wie du!« Es ist ein Glück, 

400 



daß ich mir das ganze Lexikon bitterböser Worte nicht gemerkt habe. In 
meinem Innern aber grollte es und in der Bitterkeit meiner Seele reifte der 
mannhafte Entschluß, den ungleichen Kampf mit dem Vater aufzunehmen 
und durchzukämpfen. Denn am Ende des Kampfes stand leuchtend und 
lockend der Ruhm, der mir so leicht erreichbar schien, der die Schritte des 
Achill einst beflügelt und Hagen noch vor dem letzten Kampfe sprechen ließ : 
»Man soll daz hiute kiesen, wem man des besten müge jehen.« 
Ich erinnere mich, daß damals gerade Professor Hugo wie alle Jahre 
einmal ein Thema nach freier Wahl als deutsche Hausarbeit gab. Da wählte 
ich das Thema aus dem »Siegesfest«: 

»Von des Lebens Gütern allen 
Ist der Ruhm das höchste doch, 
Ist der Leib in Staub zerfallen 
Lebt der große Name noch!« 

Die Arbeit, ohne Konzept in letzter Stunde aus einem überquellenden 
Herzen geschrieben, war eine der besten, und Professor Hugo las sie im 
Auszuge in der Klasse vor. Freilich knüpfte er daran die Bemerkimg: 
»Wenn Sie aber in der Physik all weil so brav sind, da wird's schlecht aus- 
schauen mit'n Ruhm, mein lieber Liebenwein!« 

Vorderhand sah es damit auch recht traurig aus. Professor Alfred riet 
mir jede Woche einmal das Studium aufzugeben und Apotheker zu werden, 
also nicht ganz dasselbe, was ich gewollt hatte, und einmal fragte er mich, 
was ich denn eigentlich werden wolle. 

Da sagte ich's rund und trotzig heraus: »Maler.« Denn der Entschluß 
stand fest, und ich beschloß Ernst zu machen und mich mit einem erfahrenen 
Künstler von Ruf zu besprechen. 

Der verkrachte Maler gab vor, mit Professor Christian Griepenkerl sehr 
befreundet zu sein, was natürlich sein Ansehen heben sollte; und ohne daß 
meine Eltern davon wußten, gingen wir zu ihm auf die Akademie. 

»Transpirierend und beklommen 
Bin ich an die Tür gekommen I« 

Ich war mit einer großen Mappe bepackt, und der Maler hatte seinen 
breitkrempigsten Hut aufgesetzt, um sein Künstlertum deutlich zu machen. 
Ich merkte bald, daß seine Freundschaft mit dem alten Christian gar nicht 
so dick war, trotzdem brachten wir aber mein Anliegen vor. Dann sah 
Christian aufmerksam Blatt für Blatt meiner Mappe durch, teils lächelnd, 
teils kopfschüttelnd. Und dann begann er mir in seiner liebenswürdigen, 
oldenburgischen Mundart den Kopf zu waschen wie folgt: 

401 26 



»Sie, das ist ja ein dolles Zeug! Und deswegen also wollen Sie vom 
Gymnasium desertieren? Wissen Sie was, lernen Sie ordentlich Ihre griechi- 
sche Grammatik weiter, die Ihnen gar nichts schaden wird, und kommen 
Sie dann nach der Matura wieder 1 Und jetzt zeichnen Sie nach der Natur, 
damit Sie sehen, wie wenig Sie noch können, und geben Sie den Unsinn 
auf, sich an Dinge zu wagen, die kaum ein alter Meister bewältigt Geben 
Sie mir die Hand, und versprechen Sie mir gescheit zu sein ! Zur Belohnung 
dürfen Sie an Samstagen unten in der Aula zeichnen!« 

Das war meine erste Begegnung mit meinem jetzigen, sehr verehrten, 
lieben Freunde und Bundesbruder Christian Griepenkerl, und durch die 
Kopfwaschung mit meinem Geschick und dem Gymnasium versöhnt, habe 
ich die heiligen Hallen der Akademie verlassen. 

Ich berichtete auch meinem Vater von dieser Unterredung und ver- 
sprach ihm, ausharren zu wollen, und bat ihn, nach der Matura Maler werden 
zu dürfen. Nach langem Hin- und Herreden, qualvollen Auseinandersetzungen, 
Beratungen mit der Verwandtschaft, die natürlich größtenteils gegen das 
Abenteuer war und wollte, daß ich einen »anständigen« Beruf ergreife, gab 
mein Onkel, der Pathologe Kundrat, der mir immer die Stange hielt, wenn's 
was durchzusetzen gab, den Ausschlag, und ich durfte den brotlosen und 
unnützen Beruf ergreifen, in dem ich mich nun schon seit 20 Jahren des 
Kampfes und des Lebens freue. 

Den Professor Griepenkerl hatte mein Vater von dort an ins Herz ge- 
schlossen, indem er sagte: »Es scheint doch auch einzelne vernünftige und 
nüchtern denkende Leute unter den Künstlern zu geben!« Eduard Detaille 
aber haßte er und nannte ihn einen »franzosischen Windbeutel, der mit 
seinem gewissenlosen Geplapper dummen Buben den Kopf verdreht!« 

Hatte nun die Unterredung mit meinem lieben Freunde Christian die 
Aussöhnung mit dem Gymnasium bewirkt, so gab mir seine Erlaubnis, im 
Gipsmuseum der Akademie Antiken zu studieren, auch einen bedeutenden 
Stoß nach vorwärts für das Verständnis der klassischen Literatur des Alter- 
tums. Natürlich konnte ich mit meinem damaligen Können und meiner 
geringen Kenntnis des menschlichen Körpers die Antike nicht verstehen, 
wie sie der versteht, der auf Grund technischer Kenntnisse und eigenen 
Könnens die Vorzüge eines Werkes zu würdigen weiß. 

Mein Verständnis war daher vorderhand bloß ein »literarisches.« 

Ich lebte nun — das Geplänkel mit P. Alfred ausgenommen — mit 
allen meinen Lehrern in Eintracht und Frieden und insbesondere zu P. Hugo 
und unserem Logiker P. Andreas Borschke gestaltete sich mein Verhältnis 
immer herzlicher. Im Deutschen zählte ich zu den besten der Klasse. 

402 



Aber mein unseliges Zeichnen sollte mir gegen Ende des II. Semesters 
noch einen Verdruß mit P. Alfred eintragen; den letzten. 

Auf Seite 209 meines Physikbuches hatte ich, aller gebotenen Vorsicht 
zum Hohn, als Trost im Leide das liebe blonde Mädchengesicht meines 
Schutzengels gezeichnet. Ich besitze das Blatt noch. Das erwischte nun Pro- 
fessor Alfred, in meinem Lehrbuch blätternd. Ich erntete einen grimmigen 
Sermon, in dessen Verlauf mein Heiligtum eine »Gans« und ich selbst ein »nix- 
nutziger Bursch, aus dem doch nur ein Pudelscherer oder höchstens ein 
Holzscheiber wird«, genannt wurde und mußte als Straf auf gäbe 25mal den 
raffiniert verfaßten Satz schreiben: 

»Ich soll meine Lehrbücher nicht durch unnütze Kritzeleien verun- 
stalten.« 

In meinem Busen keimten natürlich damals keine Dankgefiihle und ich 
war sehr einverstanden damit, als nach der Stunde mein lustiger Freund 
Lederer zu mir kam, mir treu die Hand schüttelte und sagte: »Ich werde 
dich rächenl« 

Ich sah noch, wie Lederer das Lichtmaß für den Kubikinhalt des Tinten- 
fasses auf dem Katheder nahm. Den nächsten Tag kam er mit einem zylindrisch 
nach den Maßen zugeschnittenen Stück einer Salzgurke in die Schule, das 
heimlich vor der Mathematikstunde ins Tintenfaß verschwand, doch so, daß 
es ganz von der Tinte bedeckt und unsichtbar war. 

Allein der Mensch denkt und Gott lenkt. P. Alfred tauchte diesmal 
seine Feder gar nicht ein. Vor der nächsten Stunde — Logik — war keine 
Zeit mehr, die Professorenfalle zu entfernen und so blieb dem P. Andreas, 
der heftig eintunkte, das ganze Tintenfaß an der Feder stecken. Als er die 
Sache näher untersuchte, blieb ein schwarzer unkenntlicher Gegenstand übrig, 
von dem niemand wußte, was er sei und woher er kam und wie die Kaaba 
in Mekka vom Himmel gefallen schien. 

Professor Andreas hat sich später nach der Matura über die Geschichte 
sehr gefreut, als ich sie ihm erzählte — . 

Die Ferien des Jahres 1886 brachten zwei Ereignisse, die auf mein 
Leben in der achten Klasse von großem Einflüsse sein sollten: 

In den ersten Tagen des September, kurz vor Schulbeginn, starb 
P. Alfred. So hat mich der Tod der Möglichkeit beraubt, auch mit ihm, zum 
Manne gereift, einen ehrenvollen Frieden zu schließen; Fiducit! 

Das Gymnasium, einer wichtigen Lehrkraft für die oberen Klassen 
plötzlich beraubt, war in großer Verlegenheit Da trat der alte P. Sigismund 
Gschwandtner, der seit einigen Jahren schon sich zurückgezogen hatte, noch 
einmal auf den Plan und übernahm den Physikunterricht im Obergymnasium 



403 



26* 



und das Direktorat Wir hatten nun wider alles Erwarten noch in letzter 
Stunde das Gluck, Schüler dieses bedeutenden Mannes zu werden. 

Zweitens war mein braver Hauslehrer, vielleicht müde geworden im 
bitteren Kampfe um das tägliche Brot, in ein Priesterseminar eingetreten. 
Ich bat also meinen Vater, mir keinen neuen Instruktor zu nehmen und da 
diese Mafiregel eine Ersparnis bedeutete, war mein Vater leicht dafür zu 
gewinnen. 

Ich stand also nun ganz auf eigenen Beinen. 

Wenn ich an dieses glückliche Jahr 1886/87 denke und an dieses herr- 
liche Zusammenwirken aller Lehrkräfte, so kann ich es nur mit zwei Dingen 
vergleichen: Entweder mit dem Zusammenspiel eines geschulten Orchesters 
zu einer großen Sinfonie oder mit einer jener Mustervorstellungen klassischer 
Stücke im alten Burgtheater, wo auch die kleinsten Rollen von Meistern 
besetzt waren. 

Da war der herrliche Sigismund, der verborgene Fähigkeiten ans Licht 
zu ziehen wußte ; der, ohne hart zu sein, eine eiserne Disziplin hielt. An mir 
vollbrachte er durch seinen Physikunterricht das Wunder, daß mir plötzlich 
noch in alten Tagen das Verständnis für Mathematik aufging. 

Da war Andreas mit seiner Psychologie und P. Cölestin Wolfsgruber, 
heute eine Zierde der Wiener Universität, mit seiner Kirchengeschichte, 
beide auch Verfasser der betreffenden Lehrbücher. Dann P. Emmerich, der 
uns all unsere Bübereien, die wir in früheren Jahren in seinen Stunden 
vollbracht, durch rührende Güte bei der mündlichen Maturitätsprüfung ver- 
golten hat! Ferner der kleine Columban, der uns Vaterlandskunde gab, die 
moderne Wissenschaft der Statistik heranziehend, und der den vielgerügten 
Fehler des Geschichtsunterrichtes vermied, den Anschluß an die Gegenwart 
zu versäumen. Denn er schloß, obwohl das Lehrbuch nur bis 1866 reichte, 
mit dem Jahre 1878 und der Erwerbung Bosniens und der Herzegowina. Da 
war endlich er, unser Grieche, Professor Heinrich Maschek, eine Titus 
Manliusnatur von unerschütterlicher Gerechtigkeit. Ganz durchdrungen von 
der Große antiken Geistes und der Schönheit der griechischen Originale, ist 
er oft in der Genauigkeit seiner Übersetzungen etwas weit gegangen; denn 
»schad* is's um an jeden Beistrich, der ned übersetzt wird!« pflegte er zu 
sagen. Aber wenn er uns in seiner realistischen Weise die Personen des 
Altertums lebendig in die Gegenwart versetzte und in der heimischen deutschen 
Mundart sprechen ließ, z. B. aus dem Leben des Sokrates erzählte, so lieferte 
er Kabinettstücke volkstümlicher Erzählerkunst, ähnlich den Bildern alter 
Meister, die biblische und antike Menschen schlicht in der Tracht ihrer Zeit 
behandelten ! Ich glaube, ihn hat, so lange er wirkte, nie ein Schüler gehaßt, 

404 



denn sein Urteil, mochte er loben oder verdammen, war nie von einer 
Stimmung oder Neigung diktiert; und sein goldener Humor verklärte uns 
die Schulstube und das rcowcat und frcrotol des Philoktet! 

Über allen aber thronte, lenkend und lehrend, wirkend und wehrend, 
Hugo als Ordinarius mit Latein und Deutsch. Er lehrte uns des Tacitus 
klassische Kürze und künstlerische Knappheit und Horazens zierliche Lieder 
würdigen, er lenkte die Strahlen der Sonne von Weimar in unser junges 
Herz. Was ich aber noch hoher schätze als seine Lehrkunst und seinen 
wissenschaftlichen Ernst, das ist der sittliche Einfluß seiner Persönlichkeit, 
die alle Schwäche und Feigheit zu bekämpfen wußte; Angstmeiertum und 
Streberei, Heuchelei und falsche Frömmigkeit zertrat er, wo sie sich zeigten. 

Noch denk ich an jenen Morgen des 7. Juli 1887, als ich selbfunft 
im Frack der Prüfungskommission harrte. Da kamst, ein gutes Omen, zuerst 
du gegangen, lieber Hugo (verzeih' mir das rhetorische »Du«), und hast ge- 
sehen, daß wir ein wenig blaß waren und uns das Herz in die Hosen gesunken 
war. Und du sprachst zu mir: 

»Kopf hoch! Sie waren sonst doch nie verzagt! Wie sagt das Nibelungen- 
lied? »Durch vorhte ich nine tuoN 

Und meine junge Seele hat sich hoch aufgerichtet und in jener Stunde 
durch deinen Spruch zu rechter Zeit den Ritterschlag empfangen für den 
Kampf des Lebens, das mir noch hinter rosigen Wolken verborgen lag. 

Den Spruch des großen Liedes hab ich mir zu eigen gemacht. 

Sei es nun beim Pfeifen lechzender Klingen auf studentischer Mensur 
gewesen oder zu Roß und unter Helme auf wagemutigen Adjutantenritten 
oder im papiernen Krieg der Zeitungen, wenn die Meute der Banausen, 
Pharisäer und Philister hinter mir her war: Mancher hat's gemerkt, daß ich 
von dir Schwertleite empfangen, daß du meine Speere geschnitzt, daß ich 
dein Schüler war! 

20 Jahre sind seitdem vergangen, wieder schreiben wir Juli, schon 
fielen die Blumen des Frühlings unterm Sensenschnitt und von meinem 
Turme seh ich das Korn in Garben stehen. Auch mein Leben ist der Reife 
genaht und bald geht's abwärts dem Greisenalter zu. Doch wenn es mich 
nicht tiefer beugt als dich, der hellen Geistes als achtzigjähriger Held noch 
unter uns Lebenden wandelt, dann soll mir das Greisenalter willkommen sein. 

Oft hab ich von solchen, die aus ihrer Gymnasialzeit keine Erinnerungen 
bewahrt haben als etwa das Gähnen während des Unterrichtes und die 
schläfrigen Gesichter eines halben Dutzends Normallehrer, die vielen unnützen 
Aufgaben und die Plackerei vor der Prüfung, die Verwunderung darüber 
vernommen, daß ich mich gern an jene alten Zeiten erinnere; und dabei ist 

405 



mir der gute Tacitus eingefallen, wie er kopfschüttelnd in seiner Germania 
niederschrieb: »ipsi fidem vocant« — »Sie aber nennen's Treu«. 

Mögen sie sich kopfschüttelnd über uns alte Schottenschüler wundern, 
wie der alte brave Römer über unsere Ahnen ; wir und unsere alten Lehrer, 
die ein warmes, menschlich fühlendes Herz für uns hatten und nicht gleich 
jeden jungen Übermut als Verbrecherseele von sich stießen, wir wissen es 
und dies Buch sei ein Zeugnis davon: 

Es gibt noch eine Treu! 

Burghausen, im Juli 1907. 




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INHALTSVERZEICHNIS. 



Seite 
Vorwort 

Adler Siegmund, Jur.-Dr., k. k. Professor an der Wiener Universität 

Ungarn nach dem Tode Kaiser Josefs II I — 20 

Berger Alfred Freiherr v., Jur.- und Phil.-Dr., k. k. Universitätsprofessor, Direktor des 
Deutschen Schauspielhauses in Hamburg 

»Aus der Jugendzeit« , . . . , 21 — 23 

Berger Wilhelm Freiherr v., Jur.-Dr., Mitglied des österreichischen Herrenhauses, Guts- 
besitzer 

Grüne Jugend 24—28 

Call Guido Freiherr v., Jur.-Dr., k. u. k. Geh. Rat, k. k. Handelsminister a. D., Erster 
Sektionschef im k. u. k. Ministerium des Äußern 

Aus der Zeit der Errichtung unserer Gesandtschaft am Hofe des Schah . . 29 — 35 
Chiari Hans, Med.-Dr., k. k. Hofrat, Professor an der Straßbnrger Universität, korre- 
spondierendes Mitglied der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften 

Eine Erinnerung an Prof. Sigismund Gschwandner 36 — 38 

Daum Adolf, Jur.-Dr., Hof- und Gerichtsadvokat 

Vom Geben. Eine Winterbetrachtung 39— 49 

Dedekind Alexander, Phil.-Dr., Kustos der Sammlung ägyptischer Altertümer des Aller- 
höchsten Kaiserhauses 

Geschichte der kaiserlichen Sammlung altägyptischer Objekte in Wien . . . 50 — 58 
Doblhoff Josef Freiherr v., Schriftsteller 

Mittelmeerfahrt (1873) 59—68 

Dorn v. Marwalt Alexander Ritter, Jur.-Dr., k. k. Kommerzialrat, Gemeinderat der 
Stadt Wien, Schriftsteller 

Meine Bombe (Auch ein Jubiläum) 69 — 76 

Dreger Moritz, Phil.-Dr., Kustos am k. k. Museum für Kunst und Industrie, Privatdozent 

Zur Kunst Kleine Erlebnisse und Anmerkungen eines Kunstfreundes . . . . 77—80 
Enslein Peter, k. k. Regierungsrat, k. k. Rechnungsdirektor i. P. 

Heiliger Abend. Wiener Skizze 81—86 

Friedjung Heinrich, Phil.-Dr., Schriftsteller, Ehrendoktor der Heidelberger Universität 

Entwürfe zu einer österreichischen Kaiserkronung 87 — 95 

Fuchs Ernst, Med.-Dr., k. k. Hofrat, k. k. Professor aa der Wiener Universität 

Auf Xenophons Spuren 96 — 106 

Günther Edler v. Kronmyrth Raimund, Jur.-Dr., Hofkonzipist der k. k. statistischen 
Zentralkommission 

Spitzbergen 107— 116 



Seite 
Jettel v. Ettenach Emil, Jur.-Dr., Sektionschef im k. u. k. Ministerium des Äußern 

Weltrecht 117 — 119 

Kaiinka Ernst, PhiL-Dr., k. k. Professor an der Innsbrucker Universität 

Einiges von den Anfangen des Griechentums und der griechischen Schrift . . 120—125 
Kickh Klemens, Theol.-Dr., Kapitular des Stiftes Schotten, kaiserlicher Rat, k. u. k. Hof- 
prediger L P. and Hofkaplan, f. e. geisü. Rat, em. Professor am k. k. Schotten- 
gymnasium 

Aus einer Schrift des heiligen Basilius über die klassischen Stadien .... 126 — 135 

Kotek Ferdinand, PhiL-Dr., Snbprior des Stiftes Schotten, Professor am k. k. Schotten- 
gymnasium 

Altwienerisches aas Wolfgang Schmeltzls »Lobsprach« 136 — 145 

Lammasch Heinrich, Jur.-Dr., k. k. Hofrat, k. k. Professor an der Wiener Universität, 
Mitglied des Herrenhauses 

Eine Frage xu Rafaels »Schale von Athen« 146 — 149 

Lanckoronski-Brzezie Karl Graf v., Jor.-Dr., k. u. k. Geh. Rat and Kammerer, Mitglied 
des Herrenhauses, korrespondierendes Mitglied der kaiserlichen Akademie der 
Wissenschaften 

Monte Cassino 150—152 

Lebzelter Ferdinand, k. k. Polizeirat 

Abt Martin Marty und die Sioux 153—158 

Liebenwein Maximilian (siehe Schluß des Inhaltsverzeichnisses) 

Liechtenstein Alois Prinz von und zu, Landmarschall von Niederösterreich, Reichsrats- 
abgeordneter, k. u. k. Legationssekretär und Rittmeister a. D. 

Die geistigen Anlagen der Tiere 159—172 

Liszt Franz Ritter v., Jur.-Dr., Geheimer Justizrat, k. Professor an der Berliner Universität 

Psychologie des Verbrechens. Aus einem ungedruckten Vortrag 173 — 178 

Mareta Hugo, Kapitular des Stiftes Schotten, k. k. Schulrat, em. Professor am k. k. 
Schottengymnasium 

Woher hat Schiller den Stoff zu seinem »Taucher« genommen? 179—186 

Mayer Anton, PhiL-Dr., n. ö. Landesarchivar und Bibliothekar, Konservator der k. k. 
Zentralkommission für Kunst- und historische Denkmale 

Aus dem geistigen Leben Niederösterreichs im XV. Jahrhundert. Eine Skizze 187 — 201 
Minor Jakob, PhiL-Dr., k. k. Hofrat, k. k. Universitätsprofessor, wirkliches Mitglied der 
kaiserlichen Akademie der Wissenschaften 

Ein verschollenes Oppositionsblatt 202—208 

Niebauer Anton Freiherr v., k. u. k. Geh. Rat, Sektionschef im k. k. Finanz- 
ministerium a. D., Mitglied des Herrenhauses 

Das Gymnasium im Vormärz 209 — 213 

Obersteiner Heinrich, Med. -Dr., k. k. Hofrat, k. k. Universitätsprofessor, korrespondierendes 
Mitglied der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften 

Das Studium der feineren Hirnorganisation und seine Erfolge in den letzten 

60 Jahren 214—221 

Pernerstorfer Engelbert, Redakteur, Reichsratsabgeordneter 

Ein Blatt dankbarer Erinnerung 222—226 

Pf äff Ivo, Jur.-Dr., k. k. Universitätsprofessor in Prag 

Zur Frage nach der Einheit des romischen Reiches 227 — 232 

f Poppovic* Alexander, Jur.-Dr., Ministerialrat im k. k. Handelsministerium 

Schule, Amt und Leben 233—241 

Rabenlechner Michael, Phil.-Dr., k. k. Gymnasialprofessor 

Hamerling als Schottengymnasiast 242 — 260 



Seite 
Scheindler August, Phil. -Dr., k. k. Landesschulinspektor 

Pro gymnasio. Ein Beitrag zur Kenntnis des gegenwärtigen Zustandes des 

österreichischen Gymnasiums 261 — 299 

Seemüller Joseph, Phil.-Dr., k. k. Universitätsprofessor, wirkliches Mitglied der kaiserlichen 
Akademie der Wissenschaften 

Über den Schottenorganisten Johann Rasch 300 — 308 

Starzer Albert, Phil.-Dr., Archivdirektor der k. k. n. o. Statthalterei 

Die Lehen des Stiftes Schotten 309 — 313 

Swoboda Heinrich, Theol.- und PhiL-Dr., k. u. k. Hofkaplan, k. k. Universitätsprofessor 

Der alte Hochaltar der Schottenkirche und sein Sandrart-Bild 314 — 321 

Wies er Friedrich Freiherr v., Jur.-Dr M k. k. Hofrat, k. k. Universitätsprofessor, korrespon- 
dierendes Mitglied der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften 

Anna virumque cano 322 — 331 

Winter Rudolf, Jur.-Dr., k. k. Oberfinanzrat 

Der Stein des Anstoßes 332 — 335 

Wittek Heinrich Ritter v., Jur.-Dr., k. u. k. Geh. Rat, k. k. Minister a. D., Mitglied 
des Herrenhauses und des Abgeordnetenhauses 

Natale di Roma 336 — 343 

Wolfsgruber Colestin, Theol. -Dr., Kapitular des Stiftes Schotten, k. u. k. Hofprediger 
und Hofkaplan, k. k. Universitätsprofessor, f. e. geistl. Rat 

Erzherzog Carls Dankgesinnung gegen seinen ehemaligen Lehrer Bischof Grafen 

Hohenwart 344— 354 

Zeidler Jakob, k. k. Gymnasialprofessor, Direktor-Stellvertreter der Prüfungskommission 
für das Zeichenlehramt an Mittelschulen, Mitglied mehrerer Prüfungskommissionen 
Aus dem schottischen Literaturwinkel (Literarisch-pädagogische Jubiläums- 
Arabesken) 355—371 

Ziwsa Karl, k. k. Hofrat, Leiter der k. k. Theresianischen Akademie und Direktor des 
Gymnasiums 

Zur stilistischen Würdigung des Zeno Veronensis 37 2 — 3**0 

Liebenwein Maximilian, Kunstmaler 

Nachwort des Zeichners. Ein Stück Entwicklungsgeschichte 381—406 




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BUCHSCHMUCK 

LIEBE NWEI, 



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